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sein mieses Image


CLEMENS TÖNNIES
Der Fleischbaron über
CORONA

der Kinderimpfung
Nutzen und Risiken
wirklich wir«
ABBA-REVIVAL
Björn: »Das sind

zurück ins Weiße Haus bringen


Ein perfider Plan soll Donald Trump
DEUTSCHLAND

Steuern sparen
ERBSCHAFTEN
Streit vermeiden,
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Nr. 45 | 6.11.2021
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zum Ablauf der Laufzeit gekündigt wird. Sky Entertainment Plus: Das Sky Entertainment Plus Paket umfasst zusätzlich den Zugang zu Netflix Basis (beinhaltet aktuell SD und die gleichzeitige Nutzung von Netflix auf einem Gerät) des Anbieters Net-
flix International B.V. Voraussetzung für die Nutzung des Netflix Dienstes über die Sky Q Plattform im Rahmen des Pakets Sky Entertainment Plus ist eine Sky Q IPTV Box, welche mit dem Internet verbunden ist. Für die Internetverbindung anfallende
Kosten sind kein Bestandteil des Sky Abonnements. Der Netflix Dienst steht auf Sky Go und der Sky Q App für Smart-TVs nicht zur Verfügung. Sobald der Netflix Dienst im Rahmen des Sky Entertainment Plus Abonnements aktiviert ist, kann er auch
außerhalb von Sky Q über die Plattformen und Apps von Netflix genutzt werden. Das Sky Entertainment Plus Abonnement gewährt den Zugang zum Netflix Dienst wie oben näher beschrieben. Für Netflix Accounts, die mit Sky Entertainment Plus
verbunden sind, gilt für die Dauer des Sky Entertainment Plus Abonnements Folgendes: Die Geschäftsbedingungen von Sky regeln das Abonnementverhältnis des Kunden mit Sky sowie das Sky Entertainment Plus Abonnement selbst, während die
Nutzungsbedingungen von Netflix die Benutzung des Netflix Dienstes durch den Kunden regeln. Alle Ansprüche des Kunden im Hinblick auf das Entertainment Plus Abonnement müssen gegenüber Sky geltend gemacht werden. Sky erklärt hiermit
im Namen von Netflix, dass die Netflix Nutzungsbedingungen in Bezug auf die Laufzeit, die Rechnungsstellung, den Preis, ausdrückliche Zusicherungen/Gewährleistungsansprüche/Garantien (soweit vorhanden), Probezeiträume und Kündigungen
nicht anwendbar sind. Und Netflix wird in Bezug auf den jeweiligen Netflix Account keine Entgelte in Rechnung stellen. Free-TV: Die Verfügbarkeit der Sender kann unter der angegebenen URL eingesehen werden: sky.de/senderempfang. Die Sky Q
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Abonnements. UHD-Inhalte sind über die Sky Q IPTV Box nicht verfügbar. Apps: Nicht enthalten ist die Nutzung von kostenpflichtigen Apps/Mediatheken wie z. B. Prime Video, DAZN etc. Hierfür ist ein separates Abonnement des jeweiligen Anbieters
nötig. Alle Preise inkl. MwSt. Angebot gültig vom 9.11. bis 31.12.2021. Stand: Oktober 2021. Änderungen vorbehalten. Sky Deutschland Fernsehen GmbH & Co. KG, Medienallee 26, 85774 Unterföhring. Fotos: The White Lotus – S1 © Home Box Office, Inc.
All rights reserved. HBO® and all related programs are the property of Home Box Office, Inc.; Greta Thunberg: Ein Jahr, um die Welt zu verändern – S1 © BBC Studios/Alex Board; Tatort © Das Erste HD
Eine echte
HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 10, 18


Erdbeer-
Kommt Donald Trump zurück? Kaum eine Frage beschäf-
tigt die USA so sehr wie die nach dem Ex-Präsidenten. Die
raschung!

Scott McIntyre / DER SPIEGEL


SPIEGEL-Redakteure René Pfister und Marc Pitzke reisten
durchs Land, um die Stimmung ein Jahr nach der Wahl Joe
Bidens zu erkunden. Pitzke recherchierte um Mar-a-Lago
herum, wo Trump residiert; Pfister folgte ihm zu Auftritten
in Alabama und Iowa. Alles spricht dafür, dass Trump noch
einmal ins Rennen ums Weiße Haus einsteigen will – und sie-
gen könnte. Auch weil die Republikaner die Wahlgesetze zu
ihren Gunsten verändern. Es handle sich um einen »der riskantesten und gefährlichsten Momen-
te in der Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft«, sagt der Investigativjournalist Bob
Woodward im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteur Roland Nelles.

Seehofer | Seite 32

Um den Modelleisenbahnkeller von Bundesinnenminis-


ter Horst Seehofer ranken sich viele Mythen, vor Jahren
durfte lediglich ein ARD-Team dort filmen. Zum Ge-
spräch über seinen Abschied aus der Politik nach 50 Jah-
ren lud der CSU-Politiker die SPIEGEL-Redakteurin
Quirin Lepper t / DER SPIEGEL

­Melanie Amann und ihren Kollegen Martin Knobbe jetzt


in sein Ferienhaus im Naturpark Altmühltal ein. Ein
Teil des Gesprächs fand im Keller statt, wo Seehofer eine
Angela Merkel im Maßstab 1:87 präsentierte sowie die
Stationen seines Lebens im Miniaturformat. Stolz zeig-
te er auch das selbst geschriebene Computerprogramm,
mit dem die 18 Züge vollautomatisch gesteuert werden.
Nur an grüner Landschaft fehle es noch, entschuldigte sich Seehofer. Die wolle er nun bald nach­
rüsten, demnächst habe er ja viel Zeit dafür.

Beziehungen | Seite 62
Hannes Jung / DER SPIEGEL

Sebastian und Christiane sind seit fast 36 Jahren verheiratet, sie ha-
ben so manche Schlacht gemeinsam geschlagen. Doch in der Pande-
mie hat sich das Paar entfremdet. Er respektiert die Coronamaßnah-
men, sie hat Angst vor einem übergriffigen Staat. Er ist geimpft, sie
nicht, weil ihr der Piks riskanter erscheint als eine Erkrankung. Das
Ehepaar aus der Nähe von Berlin ließ Reporterin Frauke Hunfeld in
sein Leben, beide sprachen offen über ihre Beziehung und alles, was sie beschäftigt: Was bedeu-
tet Solidarität? Unterdrückt der Mainstream die Minderheit? Manchmal, sagen sie, seien alle
­Argumente ausgetauscht, und es herrsche Schweigen. Nach den Gesprächen bedankten sich die
Eheleute: So intensiv hätten sie schon lange nicht mehr miteinander diskutiert.

SPIEGEL GELD / »Dein SPIEGEL«


Mehrere Hundert Milliarden Euro vererben die Deutschen pro Jahr. In jedem fünften Erbfall Wer Erdbeeren mag, wird unser
kommt es zum Streit. Die neue Ausgabe von SPIEGEL GELD, die diesem Heft beiliegt, erklärt, Gourmet-Frühstück Erdbeere
wie sich Zoff um Nachlasse vermeiden lässt. Außerdem geht es darum, wie Immobilienbesitzer
sich für Klimarisiken rüsten sollten und wie man zu lieben, denn es schmeckt so
Weihnachten Gold oder Aktien verschenken kann. Kin- unvergleichlich fruchtig.
der hingegen müssen keine Geschenke kaufen, Selbst­
gemachtes bringt mehr Spaß und ist umweltfreundlicher. Schon probiert?
Das Kinder-Nachrichten-Magazin »Dein SPIEGEL« hat
für seine Titelgeschichte Winterbasteleien getestet, die
garantiert gelingen. Au­ßer­dem in der neuen Ausgabe:
ein Besuch in Lützerath – dem Dorf, das dem Kohle­
abbau weichen soll. Das Heft erscheint am kommenden
Dienstag.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 5


INHALT TITEL

10 | USA  Wie die Republikaner


versuchen, das Wahlsystem zu
manipulieren
DER SPIEGEL 75. Jahrgang | Heft 45 | 6.11.2021

18 | Demokratie  Die Journalis-


ten Bob Woodward und Robert
Costa im spiegel-Gespräch
über das Risiko einer zweiten
Trump-Präsidentschaft

DEUTSCHLAND

8 | Leitartikel  Die Politik


trägt große Mitschuld
an der vierten Coronawelle

22 | Rätselhafter Todesfall eines


russischen Diplomaten in Berlin /
Parteiausschlussverfahren gegen
Linkenpolitiker Lafontaine /
Der gesunde Menschenverstand /
So gesehen: Der beste Chef

26 | Ampelgespräche  SPD,

Octavio Jones / REUTERS


Grüne und FDP streiten über
eine gemeinsame Außenpolitik

30 | Koalitionsverhandlungen 
Wie die Schuldenbremse
außer Kraft gesetzt werden soll

Sein Racheplan 32 | Karrieren  spiegel-


Gespräch mit Horst Seehofer
über sein Leben zwischen
Politik und Hobbykeller
USA  Es gibt kaum Zweifel daran, dass Donald Trump eine zweite Amtszeit anstrebt
und für die Präsidentschaftswahl 2024 erneut kandidieren will. Die Republikaner 36 | Analyse  Sind Mitglieder­
befragungen wirklich geeignet,
versuchen nun, in etlichen Bundesstaaten die Wahlgesetze so zu ändern, dass ein Parteivorsitzende zu finden?
Sieg wahrscheinlicher wird. Über ein demokratiegefährdendes Experiment. | 10, 18
38 | Extremismus  Behörden
gehen gegen Staatsdiener
vor, die sich mit Coronaleugnern
verbrüdern

40 | Pflege  Wie das System


­reformiert werden kann

46 | Sicherheit  So überführten
Ermittler den mutmaßlichen
Drohschreiber »NSU 2.0«
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

48 | Corona  Juristin Frauke


Thomas Rabsch / DER SPIEGEL

Rostalski und Mediziner Frank


­Ulrich Montgomery im spiegel-
Streitgespräch über die Impfpflicht
Silas Stein / dpa

52 | Pandemie  Neun Menschen


erzählen, wieso sie sich erst
jetzt gegen Corona impfen lassen
Thomas Gottschalk Clemens Tönnies Marieke Lucas Rijneveld
Der TV-Entertainer schreibt über Der Großschlachter spricht Die niederländische Autorin 54 | Strafjustiz  Eine Mutter
das Ende der Leichtigkeit im über eigene Fehler und seine ­erzählt begnadet von ­tötete offenbar fünf ihrer sechs
Unterhaltungsfernsehen. | 122 Pläne für eine Agrarwende. | 80 ­verstörenden Beziehungen. | 124 Kinder – warum?

6 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEBAT TE SPORT

58 | Die Zeit nach Merkel  97 | Wo Frauen beim Preisgeld


Der Konservatismus muss sich aufgeholt haben / Warum gibt es
neu erfinden jetzt in Portugal Monsterwellen?

98 | Titelkampf  Schachwelt-
REPORTER meister Magnus Carlsen
gerät durch YouTube-Stars
60 | Familienalbum / Was in Bedrängnis

Thilo Schmülgen / REUTERS


macht man, wenn einem der
Hund geklaut wird? 100 | Schach  Carlsen-Heraus-
forderer Jan Nepomnja­
61 | Eine Meldung und ihre schtschi über den Niedergang
­Geschichte  Ein liberianischer der ­russischen Schule
Taxifahrer wird zum Helden
102 | Sportmedizin  Mehr Kohle satt
62 | Beziehungen  Aus dem All- Kreuzbandrisse in der Pandemie
Während die Politik in Glasgow über Klimaschutz redet, wird
tag einer Ehe in Zeiten von Corona
auf der Welt immer mehr Kohle verfeuert. Eine Reise zu den Schau-
plätzen eines gefährlichen Booms. | 72
68 | Kolumne  Alles Gutsch WISSEN

104 | Walkot ist Turbodünger


WIRTSCHAF T für die Meere / Analyse:
­Rangliste der Klimasünder
70 | Politik ignoriert EEG-Skan-
dal / Kanülen werden knapp 106 | Medizin  Wie sinnvoll ist
die Coronaimpfung für Kinder?
72 | Energiewende  Die globale
Gier nach Kohle 110 | Raumfahrt  Der
­Zwergstaat Liechtenstein greift
77 |  Eine Renaissance der nach den Sternen

Michael Ciaglo / Getty Images


­Atomkraft wäre schädlich für
Deutschland 112 | Psychiatrie  Die total
­verrückte Familie Galvin
78 | Koalitionspläne  Zerschla-
gen FDP und Grüne die Bahn?
KULTUR
80 | Ernährung  Fleischbaron
Clemens Tönnies im spiegel- 114 | Nordamerikanische Warten auf die Kinderimpfung
Gespräch über seine Ideen für Fotografie / Ein neuer Tom-
Wann kommt die Coronaimpfung für unter Zwölfjährige? Besonders
nachhaltige Tierhaltung Hanks-Film / Gedanken
bei Kindern stiegen die Infektionszahlen zuletzt dramatisch. Auch die
zum Stadt­leben nach Corona
Kleinen können unter Langzeitfolgen leiden. | 106
84 | Affären  Wie Daimler beim
Dieselskandal getrickst hat 116 | Karrieren  Abba sind
­zurück – mit neuer Musik und
jüngeren Versionen ihrer selbst
AUSLAND
119 | Die Macher der Abba-Show
86 | Der lange Abschied von
­Österreichs Ex-Kanzler Kurz / 122 | Gastbeitrag  Thomas
Steht Äthiopien vor dem Zerfall? ­Gottschalk über den Verlust von
Freiheit im Unterhaltungs-TV
88 | Algerien  spiegel-­
Gespräch mit Präsident Tebboune 124 | Literatur  Die verstörenden
über seinen Streit mit Frankreich Romane der Marieke Lucas
Photoshot / picture alliance

­Rijneveld
91 | Belarus  Tausende Schutz­
suchende sind in Minsk gestrandet 128 | Kino  Ein Film porträtiert
den wilden Autor Thomas Brasch
92 | Hongkong  An Bord eines
Kreuzfahrtschiffs suchen die 130 | Serienkritik  »The Shrink
­Bürger Erholung von der Zero- Next Door« liefert abgründigen
Covid-Politik Humor So gut wie neu
SPIEGEL-TV-Programm | 85 Bestseller | 123 Abba sind mit einer neuen Platte zurück – nach fast 40 Jahren.
Impressum, Leserservice | 132
94 | Rumänien  Europas Nachrufe | 133 Personalien | 134
Ein Treffen mit Björn Ulvaeus, der daran arbeitet, dass seine Band
Corona-Katastrophengebiet Briefe | 136 Hohlspiegel / Rückspiegel | 138 wirklich unsterblich wird. | 116

Titelfotos [M]: Getty Images (3) Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 7


Die selbst verschuldete Welle
LEITARTIKEL  Offenbar brauchen wir hier in Deutschland erst ein Trauma, um die Pandemie in den Griff
zu bekommen. So lange wird gestümpert und gespalten.

satorischen und finanziellen Fähigkeiten dieses Landes


nicht aus. Statt die Menschen zu motivieren, werden sie
verunsichert.
Bislang ist noch jede neue Coronawelle von einem
Steuerungsversagen der Politik mit angeschoben worden.
Seit Monaten gelingt der Regierung keine funktionieren-
de Impfkampagne.
Die schlechten Impfquoten werden mit einem traurigen
Schulterzucken hingenommen, der Gesundheitsminister
übte sich eine Zeit lang lieber in PR-Sprech zum baldigen
»Auslaufen der epidemischen Lage« und suggerierte ­damit
einen Freedom Day. Hinter der schönen Fassade verbarg
sich – wieder mal – nichts.
Wo ist denn die massive Aufklärungskampagne auf
allen Kanälen? Es gibt kein Aufbäumen gegen diese Krise.
Jüngstes Beispiel: Es war absehbar, dass mindestens die
Älteren ab Herbst mit einer Drittimpfung geboostert wer-
Daniel Biskup / laif

den müssen. Man hätte das planen, gezielte Angebote


machen, vielleicht sogar die Impfzentren rechtzeitig wie-
der hochfahren können. Geschehen ist nichts. Die Politik
handelt nicht vorausschauend, sie reagiert ­bestenfalls hek-

U
Coronaleugner bei ngeimpfte sind keine Opfer. In einer Gesellschaft tisch. So lässt sich diese Krise nicht bekämpfen.
einer CDU-Wahl- der Freien hat jede und jeder das Recht, nach eige- Im vergangenen Jahr wurde die Beschaffung des vor
kampfkundgebung
in Stralsund ner Fasson glücklich zu werden. Oder eben unglück- allem in Deutschland entwickelten Impfstoffs nicht ener-
lich. Wenn sich die Politikerin Sahra Wagenknecht oder gisch genug vorangetrieben. Wir setzten lieber auf Des-
der Fußballer Joshua Kimmich nicht impfen lassen wollen, infektionsspender. Es gibt in diesem Land Kommunal-
dann ist das ihre Sache. Nur müssen beide mit den Kon- politiker, die die Anschaffung von Luftfiltern für Kitas
sequenzen ihres Handelns leben. behindern und bereitgestellte Fördergelder nicht nutzen.
Und die sind vielfältig: mangelnder Eigenschutz; der Bis heute.
Vorwurf, sich auf Kosten anderer unsolidarisch zu ver- Schon die zweite und dritte Welle führte durch unent-
halten; potenzielle Inanspruchnahme medizinischer Res- schlossenes politisches Handeln und bleiern-infantile Mi-
sourcen, die etwa Unfallopfern fehlen könnten. Und na- nisterpräsidentenkonferenzen zur Erosion staatlicher und
türlich kann es sein, dass Wagenknecht und Kimmich politischer Autorität. Ein nicht enden wollender Däm-
künftig an bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens mershutdown war das Ergebnis. Statt nur einmal gegen
nicht mehr teilhaben dürfen. Dass sie nicht mehr ins Kino die damaligen Virusvarianten eine Niedriginzidenzstra-
oder ins Restaurant gehen können, weil dort die 2G-Regel tegie auszuprobieren, um in der Folge wieder mehr Frei-
gilt. Auch das ist ihre Wahl, kein Schicksal. Willkommen heiten zu ermöglichen.
in der freiheitlichen Demokratie. Das Virus mag gefährlich und heimtückisch sein, die
Der Druck auf die Ungeimpften wird wachsen. Je ­höher Krise, die es ausgelöst hat, ist allerdings menschengemacht
sich die vierte Welle aufbaut, desto lauter werden die Rufe und selbst verschuldet. Die geschlossenen Schulen, die
nach Einschränkungen für jene rund neun Millionen leidenden Familien, die Freiheitseinschränkungen, die
Die Politik ­Erwachsenen, die sich impfen lassen könnten, es aber Langzeitfolgen, das Sterben – alles nicht zwingend. Die
wider alle Vernunft nicht tun. vierte ist die erste Welle, bei der wir mit dem Impfstoff
handelt In Baden-Württemberg gelten für Ungeimpfte bereits das beste Instrument im Kampf gegen Corona zur Ver-
nicht voraus­ neue Kontaktbeschränkungen – und das ist gut so. Aller- fügung haben – und es nicht ausreichend einsetzen.
schauend, dings zeugen solche Einschränkungen nicht von klugem,
vorausschauendem politischem Handeln, sie sind nur das
Es geht auch anders. In Spanien besteht laut Wissen-
schaftlern Hoffnung auf Herdenimmunität, rund 80 Pro-
sie reagiert letzte Mittel in höchster Not. Weil die Krankenhäuser zent der Bevölkerung sind vollständig geimpft, die Inzi-
­bestenfalls wieder viel zu voll sind. denz liegt unter 30.
Zwangsmaßnahmen sind häufig ein Eingeständnis der Viele Spanier waren infiziert, es sind ähnlich viele Men-
hektisch. So eigenen Hilflosigkeit. Sie polarisieren und spalten eine schen gestorben wie in Deutschland, obwohl das Land
lässt sich diese Gesellschaft. All das wäre in diesem Herbst vermeidbar kleiner ist. Dieses Trauma hat sicher dazu beigetragen,
gewesen, wenn, ja wenn die Politik aus ihren Fehlern und dass sich die Spanier aus der Krise herausimpften. Hof-
Krise nicht Patzern gelernt hätte. Hat sie aber nicht. Nach wie vor fentlich kommen wir auch ohne Trauma zur Vernunft.
bekämpfen. nutzen wir die technischen, wissenschaftlichen, organi- Sebastian Fischer n

8 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


TITEL

Der gefährlichste
Rentner der Welt
USA  Donald Trump lässt kaum einen Zweifel
daran, dass er noch einmal als Präsidentschaftskandidat
­antreten will. Geänderte Wahlgesetze sollen seine
­Rückkehr ins Weiße Haus garantieren. Es wäre nichts
anderes als: ein Staatsstreich mit legalen Mitteln.

Ex-Präsident Trump vor Anhängern in Florida im Juli: »Hier wird euch euer Land weggenommen!«

10 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


TITEL

M
uss man sich vor die­
sem Mann wirklich
fürchten? Vor einem
Pensionär, der die rote
Krawatte immer noch
ein bisschen zu lang
gebunden trägt und
sich das dünne, inzwischen deutlich grauer
gewordene R ­ esthaar so kunstvoll über den
Schädel frisieren lässt?
Er zieht jetzt wieder über die Bühnen von
Arizona, Alabama, Iowa, und wie jeder Vete­
ran der Unterhaltungsbranche kennt er die
Hits, die seine Fans in Ekstase versetzen. Er
muss nur ein paar Akkorde anspielen, und
die Menge tobt. Ein kurzes »Hillary« genügt,
und die Fans schreien: »Lock her up!« Wenn
er den Finger hebt und auf die Kameras zeigt,
die seinen Auftritt filmen, erhebt sich der hei­
lige Zorn der Zuhörer: »CNN sucks«, brüllen
sie, CNN kotzt uns an.
Und doch liegt über Donald Trumps Auf­
tritten eine seltsame Mischung aus Weiner­
lichkeit und Nostalgie. Er spricht von den
großen Tagen, als er noch im Weißen Haus
saß und anwies, eine Mauer an der Grenze
zu Mexiko bauen zu lassen. »Damals hieß
unser Motto noch: ›Amerika zuerst!‹ Jetzt
heißt es: ›Amerika zuletzt!‹«
Trump ist an diesem warmen Oktobertag
nach Iowa gekommen, um zu jammern: über
die Trickser und Gauner bei den Demokraten,
die ihn angeblich um den Wahlsieg betrogen
haben. Über die Verräter in den eigenen Rei­
hen, die nicht den Mumm besaßen, sich da­
gegen zu wehren. »Hier geht es nicht nur
darum, dass mir die Wahl gestohlen wurde«,
ruft Trump seinen Fans zu, »hier wird euch
euer Land weggenommen!«
Wie jeder entmachtete Patriarch sieht sich
Trump umzingelt von Schwächlingen und
Duckmäusern, die er gepäppelt und gepflegt
hat und die ihm dann in einem Augenblick
der Schwäche das Messer in den Rücken ram­
men. Er lästert über den Gouverneur von
Georgia, der nur mit seiner Hilfe ins Amt ge­
kommen sei und dann nicht den Mut gefun­
den habe, ihm die nötigen Stimmen zum
Wahlsieg in dem Bundesstaat zu besorgen. Er
klagt über den Supreme Court, der sich wei­
gerte, die Beschwerden über die Wahl auch
nur anzuhören, obwohl er, Trump, doch selbst
drei konservative Richter berufen habe. »Jetzt
haben sie die schlechtesten Umfragewerte,
soweit man zurückdenken kann.« Er be­
schimpft die Schwächlinge im Justizministe­
rium: »Sie waren verängstigt und impotent.«
So geht es fast eine halbe Stunde lang.
Trump klingt, als läse er die Timeline eines
Eva Marie Uzcategui / Getty Images

Verschwörungstheoretikers auf Facebook vor:


Es geht um sinistre Mächte, die heimlich
Wahlbriefe verschickt hätten, um Kisten mit
gefälschten Stimmzetteln, die nachts unter
Tischen hervorgezogen worden seien. Es
ist, man muss es so deutlich sagen, absoluter
Unsinn.
Es hat schon häufiger Debatten über die
mentale Verfassung Trumps gegeben. Nach

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 11


TITEL

mit dem Ex-Präsidenten verscherzen. »Ich


wäre nicht besonders schlau, wenn ich die
Unterstützung eines Mannes ablehnen würde,
der 91 Prozent der republikanischen Wähler
in Iowa hinter sich hat«, sagt er.
Noch hoffen viele Republikaner darauf,
dass der Partei der Albtraum einer zweiten
Trump-Kandidatur erspart bleibt. »Kein ernst
zu nehmender Republikaner in Washington
will, dass Trump zurückkehrt«, sagt ein inti-
mer Kenner der Partei, der aus Furcht vor
dem langen Arm des Ex-Präsidenten lieber
anonym bleiben will. Interessenten für die
Präsidentschaftskandidatur gäbe es genü-
gend: Ted Cruz, der Senator aus Texas, gehört
genauso dazu wie der ehemalige Vizepräsi-
dent Mike Pence oder Floridas Gouverneur
Ron DeSantis, der im Moment noch die bes-

MediaPunch / IMAGO
ten Aussichten hätte, Trump zu schlagen.
Doch fast niemand wagt, Trump offen anzu-
greifen – im Gegenteil: Das Establishment
der Partei, für das Trump nur Verachtung
übrig hat, huldigt dem Pensionär in Florida
wie einem Guru.
»Trump

T
rump hat nicht nur die Grenzen zwi-
liegt in den schen Wahrheit und Lüge eingerissen –
Um­fragen er hat auch dafür gesorgt, dass die
vorn. Er ist Repu­blikaner zu einer Partei der Demokratie-
feinde mutiert sind. Eine Handvoll republi-
derjenige, der kanische Senatoren und mehr als 100 Kon-
im Moment gressabgeordnete stimmten am 6. Januar
das Sagen hat.« dafür, Joe Biden nicht als Sieger der Präsi-
dentschaftswahl anzuerkennen – und das, ob-
Bill Kristol, Kolumnist wohl ein wütender Mob von Trump-Anhän-
Bestimage

gern zuvor durch das Kapitol gezogen war


und bei den Unruhen fünf Menschen ums
Luxusklub Mar-a-Lago, Pensionär Trump, Fans: Das Establishment huldigt ihm wie einem Guru
Leben kamen. »Er spürt die Macht«, sagt
Trumps Nichte Mary. Und er wisse, dass er
dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar rief Partei und das Land kaum etwas mehr als sich nur dann vor seinen juristischen Proble-
Nancy Pelosi, die Chefin der Demokraten im die Frage, ob Trump vor einem Comeback men schützen kann, wenn er noch einmal den
US-Repräsentantenhaus, den US-General- steht. Seine Abwahl am 3. November 2020 Sprung ins Weiße Haus schafft.
stabschef Marc Milley an und nahm ihm das jährt sich gerade zum ersten Mal, der Mo- In vielen Bundesstaaten haben die Repu-
Versprechen ab, dass er interveniert, falls ment seines Machtverlusts. Noch hat er sich blikaner damit begonnen, die Wahlgesetze
Trump in einem letzten Akt der Verzweiflung nicht zu einer erneuten Kandidatur erklärt, zu ihren Gunsten zu verändern. Dazu gehö-
einen Atomkrieg anzetteln sollte. aber alle Indizien deuten darauf hin, dass ren unter anderem Regelungen, wonach es
Der Präsident sei verrückt, sagte Pelosi in der ehemalige Präsident die verbleibenden künftig verboten ist, Wahlberechtigten Was-
dem Telefonat. »Er ist seit langer Zeit ver- Jahre nicht damit verbringen wird, sein Golf- ser zu reichen, die vor einem Wahllokal
rückt. Also erzählen Sie mir nicht, Sie wüss- handicap zu verbessern. »Es gibt wenig Schlange stehen – aber noch viel gravierender
ten nicht, wie es um seinen Geisteszustand Zweifel, dass er noch einmal antreten will«, ist, dass künftig Parlamente in den Bundes-
bestellt ist.« Milley, über ein Jahr Trumps sagt Bill Kristol, der seit Jahrzehnten eine staaten das letzte Wort über die Wahlleute
engster militärischer Berater, erwiderte: »Ma- feste Größe in der konservativen Szene Wa- haben sollen, die dann den Präsidenten der
dame Speaker, ich stimme Ihnen voll zu.« shingtons ist und einst als Stabschef Dan USA bestimmen. Hier liegt der Keim für einen
Muss man sich vor so einem fürchten? Quayles diente, des Vizepräsidenten von Coup, den Trump schon einmal versucht hat
Einem Mann, der so lächerliche Lügen über George H. W. Bush. »Trump liegt in den Um- und der 2024 Realität werden könnte.
die Wahl verbreitet, dass kein Gericht in den fragen vorn, er hat das Geld und Einfluss auf Trump hat sich ein sehr eigenwilliges
USA ihnen Glauben geschenkt hat? Einem Wähler. Er ist im Moment derjenige, der das Hauptquartier für seinen Rachefeldzug aus-
Immobilienjongleur, dem die Steuerfahndung Sagen hat.« gesucht – einen Ort, der ihn in seiner Illu-
auf den Fersen ist und der im Jahr 2024 bei Trump arbeitet systematisch daran, Ge- sion unterstützt, im Grunde nie abgewählt
der nächsten Präsidentschaftswahl 78 Jahre folgsleute in den Kongress zu bugsieren und worden zu sein. Seit ihn Biden im Januar
alt sein wird? Einem Loser, der für die Repu- sich die Loyalität der alten Garde zu sichern. aus dem Weißen Haus vertrieben hat, lebt
blikaner nicht nur das Weiße Haus verspielte, In Iowa ruft er Chuck Grassley auf die Bühne, er die meiste Zeit des Jahres in seiner Resi­
sondern auch die Mehrheit im Senat und im ein Urgestein der US-Politik. Der 88-Jährige denz in Palm Beach, die in den Zwanziger-
Repräsentantenhaus? sitzt seit 40 Jahren im US-Senat, er hat sieben jahren des vergangenen Jahrhunderts von
Wenn den Republikanern etwas an ihrem Präsidenten kommen und gehen sehen. einer reichen Erbin an der Atlantikküste
Überleben liegt, müssten sie eigentlich auf Eigentlich muss er vor niemandem mehr Floridas erbaut worden war und die er 1985
maximalen Abstand zu ihrem ehemaligen einen Bückling machen. Aber selbst ein Ve- zu einem Spottpreis von rund zehn Millio-
Präsidenten gehen. Und doch elektrisiert die teran wie Grassley mag es sich lieber nicht nen Dollar kaufte.

12 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


TITEL

E
Trump ließ das Anwesen in einen exklusi- seine Prominenz noch steigern. Im Frühjahr igentlich müsste es für die Demokraten
ven Privatklub umwandeln, und als er es An- gewährte der Hausherr dem Autor Michael ein Kinderspiel sein, Trump von der
fang des Jahres zu seiner neuen Heimat mach- Wolff eine Audienz, der schon in Trumps Macht fernzuhalten. Als er aus dem
te, gab es Gemurre unter den Nachbarn. Laut erstem Amtsjahr einen Bestseller über den Amt schied, glaubten nur noch 34 Prozent der
den Statuten des Klubs darf dort niemand Präsidenten veröffentlicht hatte. Trump habe Amerikaner, er mache einen guten Job; es war
seinen Hauptwohnsitz haben. Aber Trump ihn im Foyer von Mar-a-Lago empfangen, ein – auch in historischen Maßstäben –
behauptete einfach, er sei kein Gast, sondern erzählt Wolff. Der Ex-Präsident nenne den ­desaströser Wert. Die Universität Quinnipiac
ein Angestellter. Damit war die Sache erledigt. Ort seinen »Thronsaal« und sitze »teils als hat im Oktober eine Umfrage veröffentlicht,
Die Mitglieder der feinen Gesellschaft von Zeremonienmeister, teils als Gastgeber« dort nach der 58 Prozent der Amerikaner nicht
Palm Beach, die ohnehin zu Trump neigen, auf einem breiten Stuhl, während Bittsteller möchten, dass er noch einmal antritt. Das
hießen den neuen Mitbürger herzlich will- und Journalisten auf einem Sofa daneben Problem ist nur: Präsident Biden ist nach
kommen: »Wir sind extrem glücklich, Trump Platz nehmen müssten. Als er Trump einem Anfangshoch kaum beliebter als sein
wieder hier zu haben«, erzählte Toni Holt ­besuchte, sei gerade ein republikanischer Vorgänger.
Kramer, eine führende Society-Lady von ­Senator aus Kansas zu Besuch gewesen, der Der Demokrat war eine Notlösung, ein
Palm Beach, dem SPIEGEL. »Er hat eine gro- ihn aber kaum interessiert habe. Irgendwann, Verlegenheitskandidat, der vor allem deshalb
ße politische Zukunft vor sich, und die be- so Wolff, habe Trump einfach ein Telefonat das Rennen um die Präsidentschaftskandida-
ginnt jetzt bei uns.« des Fox-News-Moderators Hannity ange- tur gewann, weil er die Extreme vermied. Er
Rund um Mar-a-Lago entwickelte sich in- nommen und jeden an dem Gespräch teil- war nicht so unerfahren wie Pete Buttigieg,
nerhalb weniger Monate ein eigenwilliges haben lassen. nicht so links wie Bernie Sanders, nicht so
politisches Soziotop. Sean Hannity, Trumps Es gibt viele Theorien, welchen Typus Poli- unverschämt reich wie Michael Bloomberg.
treuester Knappe im Sender Fox News, kauf- tiker Trump repräsentiert. Einen Populisten Biden versprach, die Nation nach der Dauer-
te sich ein 5,3 Millionen teures Anwesen, das des postfaktischen Zeitalters? Einen Auto- hysterie der Trump-Jahre wieder in den Nor-
nur rund vier Kilometer von Mar-a-Lago ent- kraten wie Victor Orbán oder Jair Bolsonaro? malmodus zurückzuführen, und die Rech-
fernt liegt; ihm folgte der konservative Mo- Gar einen Faschisten, wie manche Demo­ nung ging auch auf – der Demokrat gewann
derator Neil Cavuto, der sich eine Villa für kraten meinen? Wolff, der Trump in den ver- gegen Trump mit einem Vorsprung von rund
7,25 Millionen zulegte. Auch Trumps Kinder gangenen Jahren immer wieder aus der Nähe sieben Millionen Stimmen.
rückten in die Nähe des Vaters: Ivanka und beobachtet hat, hält nichts von solchen Er- Doch die Zahl war nur scheinbar ein kom-
ihr Mann Jared Kushner kauften auf einer klärungsversuchen. Trump sei ein verrückter fortabler Sieg. In den entscheidenden Swing
Privatinsel bei Miami ein 32 Millionen Dollar Egomane und wisse nur eines: dass er zurück States holte Biden nur hauchdünne Mehr-
teures Grundstück vom spanischen Schmacht- möchte ins Weiße Haus. »Ich bin mir sicher, heiten: In Arizona hatte er 10 457 Stimmen
sänger Julio Iglesias. Donald Jr und seine dass Trump 2024 wieder für das Präsidenten- mehr als die Republikaner, in Georgia 11779,
Freundin Kimberly Guilfoyle sicherten sich amt kandidieren wird«, sagt Wolff. »Er muss in Wisconsin 20 682. »Joe Biden hat ins­
ein knapp zehn Millionen Dollar teures Haus der einstige und auch der künftige König sein, gesamt 51,3 Prozent der Stimmen erhalten«,
in Jupiter, nur 30 Autominuten nördlich von um Donald Trump zu bleiben und sich die sagt der demokratische Datenanalyst David
Palm Beach. Anbetung der Republikaner zu bewahren.« Shor. »Wären es 51 Prozent gewesen, hätte
In Mar-a-Lago empfängt der Patriarch Gäs-
te und ehrgeizige Jungpolitiker, die aus Wa-
shington, D. C., und allen Teilen des Landes Angriff auf die Demokratie
kommen, um seinen Segen für ihre weitere
politische Karriere zu empfangen. »Kiss the Neue Wahlgesetze in den US-Bundesstaaten seit Januar 2021, die …
ring« heißt die Zeremonie in republikani- … Bürgern die Stimmabgabe erschweren, dazu zählen u. a. die Behinderung
schen Kreisen. Im März sprach der Autor J. D. der Briefwahl und strengere Regeln bei der Wählerregistrierung und -identifizierung.
Vance dort vor, der Senator in Ohio werden … die Durchführung der Wahlen beeinträchtigen, dazu zählen u. a. die
möchte und auf Empfehlung des Internet- Entmachtung von lokalen Wahlbeamten und Eingriffe in die Wahlabwicklung.
milliardärs und Trump-Freunds Peter Thiel ME
vorgelassen wurde. Kevin McCarthy, der Chef republikanisch kontrolliertes Parlament
der Republikaner im Repräsentantenhaus, ist demokratisch kontrolliertes Parlament NH
in Mar-a-Lago ebenso regelmäßiger Gast wie WI VT
der Unternehmer Mike Lindell – ein ehema-
liger Junkie, der mit Bettwaren zu einem Ver- NY
mögen gekommen ist und der eine Prämie WA ID MT MN IL MI MA
ND
von fünf Millionen Dollar für jeden ausgelobt
hat, der die Behauptung widerlegen kann, NV WY
OR SD IA IN OH PA NJ CT RI
Trump sei die Wahl gestohlen worden.
Wer in Mar-a-Lago eingelassen werden
will, muss entweder viel Geld haben – die UT
CA CO NE MO KY WV VA MD DE
Aufnahmegebühr für den Klub wurde im Jahr
2017, kurz vor Trumps Amtsübernahme, von
100 000 auf 200 000 Dollar erhöht – oder AZ NM KS AR NC SC In Georgia
seine unbedingte Loyalität zu Trump unter TN ist es verboten,
Beweis stellen. Der Kissenproduzent Lindell wartenden Wählern
LA AL
zum Beispiel schämt sich nicht zu bekennen, AK Ein neues OK MS GA Wasser zu geben.
dass er Trump für einen Gesandten Gottes Gesetzespaket in
hält. »Das kann man schon an den Wundern Texas benachteiligt
vor allem
erkennen, die geschahen, als Trump ins Wei- HI Minderheiten. TX FL
ße Haus eingezogen ist«, sagt er.
Reporter haben in Mar-a-Lago keinen Zu- S Quellen: Gesetze zur Wahlbehinderung nach Brennan Center for Justice, Stand: 4. Oktober 2021;
tritt – es sei denn, Trump glaubt, sie könnten
‘

Gesetze zur Wahldurchführung nach States United Democracy Center, Stand: 6. Juni 2021

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 13


TITEL

er die Wahl verloren.« Mit anderen Worten: der beiden demokratischen Senatoren
Die Demokratie in den USA hängt am seide- Gespaltenes Land ­ yrsten Sinema und Joe Manchin wurde
K
nen Faden. ­Bidens Sozialpaket von 3,5 auf 1,75 Billionen
Biden wird die Mehrheit im Kongress und »Wen würden Sie wählen, wenn heute die Dollar halbiert. Und obwohl er vergangene
republikanische Präsidentschaftsvorwahl
das Weiße Haus nur verteidigen können, 2024 wäre?«, Zustimmung unter Woche vor seinem Abflug nach Europa den
wenn er Erfolge vorweisen kann. Doch über Republikanern in Prozent Eindruck erweckt hatte, er sei mit Manchin
dem Präsidenten braut sich gerade ein per- so gut wie einig, gab es bis zum Donnerstag-
fekter Sturm zusammen: Rekordinflation, abend immer noch keine Einigung bei den
Donald J. Trump
eine Migrationskrise an der Südgrenze, dazu Demokraten.

47
der Streit mit der eigenen Partei. Bidens Es ist ein Spektakel, wie es sich die Repu-
fast fünf Billionen Dollar teure Reformpake- Ron DeSantis blikaner nicht schöner malen könnten. Eine
te hängen schon seit Monaten in der Luft. 12
Regierungspartei, die ihren Wählern eine
Selbst wenn der Präsident bald einen Kom- Karotte nach der nächsten vor die Nase hält,
promiss zimmern sollte – es wird ihm schwer- nur um sie dann schnell wieder wegzuziehen.
fallen, daraus noch eine Erfolgsgeschichte Mike Pence Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es keine
zu machen. 12 Donald
kostenfreie College-Ausbildung für junge
Biden war mit der Zusage angetreten, ein Trump Jr Amerikaner geben wird. Die fiel nicht etwa
anderes Amerika zu schaffen, ein Land, das den ­Forderungen herzloser Republikaner
6
sich wieder um den Stahlarbeiter in Ohio 3 zum Opfer, sondern wurde insbesondere auf
kümmert und die Walmart-Verkäuferin in Wunsch der Demokraten Manchin und Sine-
Michigan. Trump hatte 2016 auch deshalb Ted Cruz, Nikki Haley, ma gestrichen. Das Sozialpaket kann sich
die Wahl gewonnen, weil er all jene enttäusch- Mitt Romney, zwar immer noch sehen lassen – aber wird
ten Arbeiter einsammelte, die sich unter den Marco Rubio jeweils das Biden nach diesen chaotischen Verhand-
Demokraten Bill Clinton und Barack Obama lungen noch nutzen?
dem eisigen Wind der Globalisierung aus- Er hat weder das Charisma Clintons noch
gesetzt sahen. Biden, der im Gegensatz Zustimmung zu US-Präsidenten nach jeweils das rhetorische Talent Obamas. Bidens Ver-
zu Clinton und Obama nie eine Eilteuniver- 288 Tagen im Amt, in Prozent sprechen war, dass nach dem Wüterich Trump
sität besucht hat und in dem Städtchen Scran- wieder ein solider Handwerker ins Weiße
ton in Pennsylvania aufgewachsen ist, ver- Biden Trump Haus einzieht, der vielleicht nicht sonderlich
sprach, dass sich die Demokraten wieder um 60 unterhaltsam ist, aber das Land so professio-
ihre Stammwählerschaft bemühen würden; nell regiert, dass die Amerikaner ruhig schla-
53
dass ihre Sorge die Main Street sei, nicht die fen können. Schon zu Beginn seiner Amtszeit
Wall Street. 50 hatte Biden keine überragenden Umfrage-
Für ein paar Monate sah es so aus, als werte, aber er genoss zumindest einen ge-
45
könnte Biden ein neuer FDR werden, ein wissen Vertrauensvorschuss.
Nachfolger des legendären Franklin Delano 40 43 Dann kam der Sommer und mit ihm der
Roose­velt, der die USA in den Dreißiger­ 38 chaotische Abzug aus Afghanistan. Die meis-
jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem ten Amerikaner teilten den Wunsch Bidens,
New Deal aus der Großen Depression geführt 30 nach 20 endlosen Kriegsjahren endlich einen
und das Fundament für den modernen ame- Schlussstrich unter das unselige Militär­
rikanischen Sozialstaat gelegt hatte. Bidens abenteuer am Hindukusch zu ziehen. Aber
Programm klang ähnlich ambitioniert. Er es ist eine Sache, einen Krieg zu verlieren –
brachte ein knapp zwei Billionen Dollar teu- und eine ganz andere, nach so langer Zeit
3 Tage 100 200
res Konjunkturprogramm in den Kongress im Amt schmachvoll von den Taliban aus dem Land
und schnürte ein Infrastruktur- und Sozial- geworfen zu werden, die amerikanisches
paket, das die USA ein wenig europäischer Kriegsgerät in den Händen halten, das ge-
und sozial­demokratischer machen sollte: mit Umfrage zur Legitimität der Präsident- kauft worden war, um die Islamisten zu be-
einer staat­lichen Kitaplatzgarantie, zwei kos- schaftswahl 2020, Angaben in Prozent kämpfen.
tenfreien Studienjahren an »community col- Das Debakel war mehr als nur ein Manage-
»Biden hat die Wahl legitim gewonnen.«
leges« und einer bezahlten dreimonatigen mentfehler – es zerstörte das Vertrauen vieler
Elternzeit. Um das Klima zu schonen, wollte »Biden hat die Wahl nicht legitim Amerikaner in einen Präsidenten, den sie we-
gewonnen.«
Biden das Eisenbahnnetz ausbauen und ein gen seiner ständigen Versprecher und seines
mehr als 500 Milliarden Euro teures Pro- Zustimmung unter allen Befragten hohen Alters von 78 Jahren ohnehin miss-
gramm unter anderem zur Förderung erneuer­ trauisch beäugen. Seit dem desaströsen Rück-
barer Energien auflegen. 63 36 zug sind Bidens Umfragewerte konstant im
Aber kaum hatte Biden seine ambitionier- negativen Bereich, nur zwei Nachkriegsprä-
ten Ideen angekündigt, wurden sie im Kon- unter Demokraten sidenten waren nach rund einem Amtsjahr
gress von Lobbyinteressen und ängstlichen 97 3 noch unbeliebter als Joe Biden: Gerald Ford
Senatoren geschreddert. Es ist nicht die und Donald Trump.
Schuld des Präsidenten, dass die Demokraten unter Republikanern
Was Biden fehlt, ist die Dynamik, die vie-
im Senat nur über eine hauchdünne Mehrheit le Amerikaner von einem Präsidenten erwar-
verfügen. Doch im Wahlkampf hatte er damit 21 78 ten. »Sleepy Joe« nannte Trump seinen He-
geworben, mit seiner jahrzehntelangen Er- rausforderer im Wahlkampf, und das Gemei-
fahrung auch in schwierigen Situationen S Quellen: Morning Consult/Politico vom 8. bis 11. Oktober
ne an dem Schmähwort ist, dass es ein Korn


Kompromisse zwischen den gegnerischen 2021, Befragte: 803 registrierte Republikaner, an 100 fehlende Wahrheit enthält. Vielleicht würden die Ame-
Prozent: »einen anderen Kandidaten«, »würde nicht wählen«;
Lagern schmieden zu können. Nun aber steht FiveThirtyEight, Stand: 3. November 2021; CNN/SSRS vom rikaner Biden noch verzeihen, wenn er vor
er als ein Mann da, der nicht einmal seine 3. August bis 7. September 2021, Befragte: 1838 registrierte
Wähler, an 100 fehlende Prozent: »weiß nicht«,
laufender Kamera einnickt wie offenbar zu-
eigenen Leute überzeugen kann. Auf Druck »unentschieden«, keine Angabe letzt in Glasgow während des Klimagipfels;

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aber dann müsste er wenigstens das Gefühl


vermitteln, sich jenen Aufgaben zu widmen,
die im Moment so drängend sind: der galop­
pierenden Inflation und der Krise an der me­
xikanischen Grenze, wo in den vergangenen
zwölf Monaten bereits mehr als 1,7 Millionen
Migranten aufgegriffen worden sind – der
höchste je erhobene Wert.
»Bei den Demokraten macht sich Panik
breit«, sagt ein westlicher Diplomat, der häu­

Genaro Molina / Los Angeles Times / Polaris / laif


fig auf dem Capitol Hill unterwegs ist. Am
Dienstag verlor Terry McAuliffe die Gouver­
neurswahl in Virginia klar gegen den Repu­
blikaner Glenn Youngkin; es war mehr als
nur eine Schlappe für die Partei des Präsiden­
ten – es war eine Katastrophe. Zuletzt hatten
die Republikaner vor zwölf Jahren den Gou­
verneursposten in dem Staat für sich geholt,
bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen
Jahr gewann Biden Virginia mit einem Vor­
sprung von mehr als zehn Prozentpunkten.
Dass die Demokraten innerhalb eines Jahres
so eingebrochen sind, lässt sie nichts Gutes
für die Zukunft ahnen. Wenn sie nicht einmal »Es erinnert
Virginia halten können – einen Staat, den sie
eigentlich auf ihrer Seite wähnten –, wie wol­
mich an das,
len sie dann im Herbst 2022 die knappe Mehr­ was im
heit im Kongress verteidigen, in dem sich Deutschland
traditionell immer die Partei schwertut, die
zwei Jahre zuvor die Präsidentschaftswahl der Dreißiger-
Adriana Zehbrauskas / DER SPIEGEL

gewonnen hat? jahre


­geschehen ist.«
B
iden, das wird der Partei immer klarer,
hat aller Voraussicht nach nicht die Bill Gates,
­Republikaner
Kraft, sich 2024 noch einmal um das
Präsidentenamt zu bewerben. Zugleich fehlt
es an einer überzeugenden Alternative. Vize­
präsidentin Kamala Harris, die natürliche Trump-Unterstützer, Lokalpolitiker Gates: »Beispiellos in der Geschichte unserer Demokratie«
Kronprinzessin, ist ebenso unbeliebt und un­
geschickt in der Führung ihres Stabes im Wei­ Der Satz klingt harmlos, aber im Kern staben des Gesetzes folgen und dennoch eine
ßen Haus. Bisher ist niemand zu erkennen, bedeutet er nichts anderes als die Vorbe­ Wahl stehlen.«
der die Autorität hat, eine Partei hinter sich reitung des nächsten Staatsstreichs. »Die Das Drehbuch für den Coupversuch am
zu versammeln, die – bezogen auf Deutsch­ größte gegenwärtige Bedrohung für die ame­ 6. Januar hatte der konservative Jurist John
land – in ihrer ideologischen Spannweite von rikanische Demokratie ist das Risiko einer Eastman geschrieben. In einem Memo für
der CSU bis zur Linkspartei reicht. gestohlenen Präsidentschaftswahl im Jahr das Weiße Haus schlug er vor, dass Vizeprä­
Zugleich ist Trump so agil wie eh und je. 2024«, sagt der Harvard-Politologe Daniel sident Pence einfach die Stimmen jener Wahl­
Er stellt Biden als einen Präsidenten dar, Ziblatt, der ein Standardwerk über den An­ leute ignorieren solle, in deren Bundesstaaten
der das Ansehen der USA ruiniert hat und griff von Autokraten auf westliche Demo­ der Ausgang der Wahl umstritten war. Pence
das Land im Chaos versinken lässt. »Illega­le kratien geschrieben hat. Laut einer Über­ lehnte ab – er wollte nicht als Abrissbirne
­Migranten und tödliche Drogenkartelle sicht des Brennan Center in New York haben der US-Demokratie in die Geschichte ein­
kontrollieren unsere Grenzen«, schreit Trump seit Jahresbeginn 19 republikanische Bun­ gehen.
seinen Fans in Iowa zu. »Die Inflation be­ desstaaten Gesetze auf den Weg gebracht, Doch ein zweites Mal soll ein Staatsstreich
stimmt die wirtschaftliche Entwicklung. Chi­ die es insbesondere für schwarze Amerika­ nicht scheitern, dafür sorgen die Republikaner
na nimmt uns die Arbeitsplätze weg, und die ner  schwerer machen sollen, ihre Stimme gerade. In mehr als einem Dutzend Bundes­
Taliban haben Afghanistan übernommen.« ab­zugeben. staaten haben sie Gesetze auf den Weg
Es ist maßlos übertrieben, aber genau der Unter anderem wollen Republikaner die ­gebracht oder bereits verabschiedet, die die
Ton, der so gut wie überall in der Republika­ Antragsfristen für die Briefwahl verkürzen Kontrolle über die Wahl in Richtung der Par­
nischen Partei angeschlagen wird. Auf der und schärfere Auflagen bei der Identifizierung lamente verschiebt. In Arizona zum Beispiel
anderen Seite stehen nicht Politiker mit einer im Wahllokal durchsetzen – was dazu führen liegt ein Gesetzentwurf vor, wonach künftig
anderen Meinung – sondern Verräterinnen könnte, dass bestimmte Wählergruppen Senat und Repräsentantenhaus mit einfacher
und Verräter, die mit allen Mitteln von der ausgeschlossen werden. Aber im Kern, so Mehrheit darüber entscheiden können,
Macht vertrieben werden müssen. »Wenn wir ­Ziblatt, wollen die Republikaner das Funda­ ­welche Wahlleute sie bestimmen – und sich
unser Land retten wollen, gibt es nur eine ment dafür legen, die Legitimität eines Wahl­ damit zur Not über den Willen des Volkes
Chance«, sagt Trump. »Wir müssen starke siegs der Demokraten bei der Präsident­ hinwegsetzen.
und unerschrockene Republikaner auf jeder schaftswahl 2024 grundsätzlich infrage Richard L. Hasen, ein führender Wahl­
Ebene installieren, und wir brauchen eine zu stellen. »Meine Sorge ist nicht, dass die rechtsexperte der USA, hat dieses Szenario
Generalüberholung unseres gesamten Wahl­ Republikaner das Recht brechen. Sondern in einem Aufsatz ausgeführt. »Der mögliche
systems.« im Gegenteil: dass sie sehr genau den Buch­ nächste Coup wird in sorgfältig argumen­

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Kalifornien oder an der Ostküste der USA


nicht mehr leisten wollen.
So wurde Maricopa County zu einem La-
bor für die demografische Veränderung, die
in den gesamten Staaten vor sich geht und
die es für die Republikaner immer schwerer
macht, Wahlen zu gewinnen. In der Nacht
zum 4. November geschah dann das Unvor-
stellbare: Ausgerechnet der konservative
Fernsehsender Fox News meldete als erstes
Medium, dass Biden die ehemalige Republi-
kaner-Hochburg Arizona geknackt habe.
Im Weißen Haus schlug die Nachricht wie
eine Bombe ein. Trump, der bis dahin davon
überzeugt war, die Wahl gewonnen zu haben,
weil er Florida geholt hatte und in Pennsyl-
vania vorn lag, wies seinen Schwiegersohn
Jared an, den Medienmogul Rupert Murdoch

Doug Mills / The New York Times / Redux / laif


anzurufen, damit dieser in der Redaktion von
Fox News interveniere – vergebens. Trump
begann, getrieben von seinem Anwalt Rudy
Giuliani, noch in der Wahlnacht, die große
Lüge vom Wahlbetrug zu stricken. Er trat vor
die Kameras und sagte: »Ganz ehrlich: Ich
habe diese Wahl gewonnen.«

E
r setzte damit seine Fußtruppen in
Präsident Biden: Ein Spektakel, wie es sich die Republikaner nicht schöner malen könnten
Marsch. In Pennsylvania heizte der
Kongressabgeordnete und Trump-Jün-
tierten juristischen Schriftsätzen daherkom- rund viereinhalb Millionen Einwohner, mehr ger Jim Jordan eine Menge an, die vor dem
men, die Thomas Jefferson zitieren und als die Hälfte des gesamten Bundesstaates im Parlament des Staates die Parole »Stop the
h istorische Präzedenzfälle anführen«,
­ Südwesten der USA. Steal« schrie. Richard Grenell, Trumps ehe-
schreibt Hasen. Tatsächlich lässt die mehr Fast 70 Jahre lang war Arizona fest in repu­ maliger Botschafter in Deutschland, flog nach
als 230 Jahre alte US-Verfassung zumindest blikanischer Hand. Der einzige Demokrat, Nevada und behauptete, es würden illegale
theoretisch die Möglichkeit zu, dass die Lan- der es nach dem Zweiten Weltkrieg bei einer Stimmen gezählt: »Das gibt rechtschaffenen
desparlamente die Wahlleute aussuchen – Präsidentschaftswahl geschafft hat, sich dort Menschen das Gefühl, das System sei kor-
eine Regelung allerdings, die schon seit vie- eine Mehrheit zu sichern, war Bill Clinton. rupt.« Aber nirgendwo sonst nahmen die
len Jahrzehnten keine Anwendung mehr Aber in den vergangenen Jahren sind immer Dinge einen so irrwitzigen Verlauf wie in
gefunden hat. mehr junge Familien nach Arizona gezogen, Mari­copa County.
»Die Bühne für ein neues Chaos ist schon die das warme Wetter im Winter schätzen »Was wir erleben, ist beispiellos in der Ge-
gebaut«, schrieb Robert Kagan vor sechs Wo- und sich die horrenden Immobilienpreise in schichte unserer Demokratie«, sagt der Lokal-
chen in einem Beitrag für die »Washington politiker Bill Gates, der als eines von fünf
Post«. Kagan ist eine Institution in Washing- Mitgliedern des Maricopa County Board of
ton – ein ehemaliger Neokonservativer, der Prekäre Mehrheit Supervisors für die Zertifizierung des Wahl-
über Jahre die Republikaner beraten hat, sich ergebnisses verantwortlich war. »Es erinnert
dann aber von Trump abwandte. Seine Frau Bei den Midterm-Wahlen 2022 werden alle mich an das, was im Deutschland der Drei-
Sitze im Repräsentantenhaus und 34 Sitze
Victoria Nuland ist eine der einflussreichsten im Senat neu gewählt, aktuelle Sitzverteilung ßigerjahre geschehen ist.« Gates ist ein Mann,
Beamtinnen im State Department. der noch vor kurzer Zeit in der Mitte der Re-
Kagans Essay zeichnet eine US-Demokra- Repräsentantenhaus: 435 Sitze publikaner stand, ein durch und durch solider
tie, die kurz vor dem Kollaps steht. Es sei naiv 220 Demokraten Republikaner 212 Konservativer. Der Jurist glaubt an den Kapi­
zu glauben, ein Tag wie der 6. Januar könne Mehrheit bei 218 Sitzen, drei Sitze sind vakant talismus und an den Freihandel und findet,
sich nicht wiederholen, schreibt er. »Die Ver- Senat: 100 Sitze
dass der Staat sich aus dem Leben der Bürger
einigten Staaten bewegen sich auf die größte 50* 50
so weit wie möglich heraushalten sollte. Gates’
politische und verfassungsrechtliche Krise persönlicher Held heißt Ronald Reagan, den
seit dem Bürgerkrieg zu – mit der durchaus Mehrheit bei 51 Sitzen (bei Gleichstand zählt die Stimme er bewundert, weil er als Präsident in den
der demokratischen Vizepräsidentin Kamala Harris)
denkbaren Möglichkeit, dass es in den nächs- Achtzigerjahren Autokratien in der ganzen
ten drei oder vier Jahren zu Fällen von Sitzgewinne/-verluste der Präsidentenpartei Welt bekämpft hat und schließlich den Kom-
­Massengewalt kommt, dem Zusammenbruch bei vergangenen Midterm-Wahlen munismus in die Knie zwang.
der bundesstaatlichen Ordnung und einer 0 1994 1998 2006 2010 2014 2018 Als junger Student in Harvard schloss sich
Spaltung des Landes in republikanische und 2002
Gates der republikanischen Studentenver-
demo­kratische Enklaven, die sich gegenseitig bindung an und trat der Federalist Society bei,
Senat
bekämpfen.« die es sich zur Aufgabe gemacht hat, konser-
Wer dies für ein etwas zu apokalyptisches –50 Repräsentanten- vative Juristen zu fördern. Doch seit der Wahl
Szenario hält, dem empfiehlt sich ein Besuch haus ist Gates für viele Parteifreunde Verbrecher
in Maricopa County, das neben Mar-a-Lago und Staatsfeind zugleich. Im Senat von Ari-
Präsident Clinton Bush Obama Trump
zu einer zweiten Pilgerstätte für Trump-Jün- zona berieten die Republikaner allen Ernstes
ger und Verschwörungstheoretiker geworden * inkl. zwei Unabhängige darüber, ob sie Gates und seine Kollegen im
ist. Es liegt im Herzen von Arizona und zählt S Quelle: Brookings Institution Board of Supervisors festnehmen lassen


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­sollten. Danach mussten Polizisten imitieren kann. Wie der Ex-Präsident kanischen Abgeordneten«, sagte
vor seinem Haus aufziehen, um ihn denkt sich Taylor Greene Spottna- ­ onald Trump laut Aufzeichnungen
D
und seine Familie zu bewachen. men für ihre Gegner aus. Ihren demo- Trumps in einem Telefonat am 27. Dezember
»Gott sei Dank waren die Beamten kratischen Kollegen David Cicilline Verbündete zu Jeffrey Rosen, der in den letzten
da«, sagt Gates. »Wir hatten Angst, bezeichnet sie als »Abgeordneten Tagen der Trump-Administration
dass die Leute das Recht in die eigene Mussolini«; Nancy Pelosi, die Chefin das Department of Justice kommis-
Hand nehmen.« Eine berechtigte Sor- der Demokraten im Repräsentanten- sarisch leitete.
ge: Am 6. Januar, als der Mob von haus, nennt sie »Speaker Maskhole«, Es gäbe genügend Gründe, Trump
Trump-Anhängern in Washington das ein Ausdruck, der absichtlich wie loszuwerden – auch deshalb, weil sich
Kapitol stürmte, hatten Fans des Prä- »asshole« klingen soll. viele Frauen und Männer in der Repu­
sidenten in der Nähe des Parlaments Wenn man so will, ist Taylor blikanischen Partei für qualifiziert
von Phoenix eine Guillotine errichtet. Greene die logische Folge der Trump- halten, nach der Wahl im November
»Es war offensichtlich, dass dies ein Revolution. Die Republikanische Par- 2024 das Oval Office zu übernehmen.
Zeichen für uns war«, sagt Gates. tei hatte immer einen extremen Flü- Aber dafür müssten sie erst einmal
Gates ist ein gewissenhafter Mann gel. Sie beheimatete Paranoiker wie den Mut finden, Trump aus dem Weg
und war offen für jeden seriösen Hin- Joseph McCarthy, der in den Fünf- zu räumen.
weis auf mögliche Betrügereien bei zigerjahren Jagd auf angebliche und Abgeordnete Traditionell ist die Konferenz der
der Wahl. »Ich wäre der Erste gewe- echte Kommunisten machte, und för- Taylor Greene: evangelikalen Faith and Freedom
sen, der das Ergebnis infrage gestellt derte Figuren wie Sarah Palin, deren QAnon-Anhängerin Coalition das erste große Schaulaufen
und Frau für die Basis
hätte«, sagt er. »Aber die Hinweise Qualifikation in ihrer offen zur Schau des republikanischen Bewerberfelds.
gab es einfach nicht. Wir hätten es gestellten Ignoranz bestand. Aber mit Das ist in diesem Jahr nicht anders.
uns natürlich einfach machen und auf Trump hat sich diese Melange aus Als die Konferenz im Juni in Orlando
Zeit spielen können. Der Druck auf Wissensverachtung und Gossenstolz stattfindet, sind fast alle versammelt,
uns war enorm. Aber das wäre nicht an die Spitze der Partei gesetzt. die sich Hoffnungen auf eine große
richtig gewesen.« Also beschlossen Dabei hätten die Republikaner et- Zukunft machen: der texanische
Gates und seine Kollegen, den Wahl- liche Gelegenheiten gehabt, Trump ­Senator Cruz, Floridas Gouverneur
sieg Bidens zu zertifizieren – was ge- nach der Wahl abzuschütteln. Sie hät- DeSantis, der ehemalige Vizepräsi-
nügte, sie zu Hassfiguren in der eige- ten Biden zur Präsidentschaft gratu- dent Pence.
nen Partei zu machen. lieren können, als Trump zu behaup- Noch vor Kurzem wäre ein Event
Ende Mai statteten Marjorie ten begann, er sei um seinen Wahlsieg Gouverneur DeSantis: wie die Faith and Freedom Coalition
­Taylor Greene und ihr Kollege Matt betrogen worden. Sie hätten den Prä- Bindeglied zum ein Heimspiel für Pence gewesen.
Partei-Establishment
Gaetz Maricopa County einen Be- sidenten einen Verbrecher nennen Aber als er an diesem Freitagmorgen
such ab – zwei republikanische Kon- können, als dieser am 6. Januar einen ans Rednerpult tritt, kommt es
gressabgeordnete aus Georgia und Mob anstachelte, der in Sprechchören zu Tumulten. Im Publikum erhebt
Florida, deren Verehrung für Trump verlangte, Vizepräsident Pence auf- sich ein halbes Dutzend Männer
nur noch von ihrer zweifelhaften Re- zuknüpfen. Es hätte die Möglichkeit und Frauen und schreit: »Verräter,
putation übertroffen wird. Taylor gegeben, mit den Demokraten für Verräter!« Pence muss sich Mühe ge-
Greene wurde bekannt durch ihre eine Amtsenthebung zu stimmen und ben, nicht aus dem Konzept zu kom-
Behauptung, jüdische Weltalllaser ihn für alle öffentlichen Ämter zu dis- men, während die Störer abgeführt
hätten Waldbrände in Kalifornien qualifizieren. werden.
Fotos: Elizabeth Frantz / REUTERS; Calvin Knight / AP; Saul Loeb / REUTERS; Atef Safadi / epa; Douglas P. DeFelice / Getty Images

ausgelöst. Gegen Gaetz läuft ein Er- Seit sich Pence am 6. Januar dem

W
mittlungsverfahren, weil er ein 17-jäh- ären die Republikaner ver- Senator Cruz: Willen von Trump widersetzte und
riges Mädchen auf Reisen eingeladen nünftig gewesen, hätten sie Ex-Feind, der zum mit der Zertifizierung der Wahlleute-
und Sex mit ihr gehabt haben soll. einen Schlussstrich unter das Verbündeten wurde stimmen den Weg für die Präsident-
Als Taylor Greene die Bühne eines Kapitel Trump gezogen – allein des- schaft Bidens frei gemacht hat, gilt er
Hotels in einem Vorort von Phoenix halb, weil der Ex-Präsident eine ti- im Trump-Lager als Schwächling und
betrat, fragte sie: »Lasst mich nur zur ckende Zeitbombe ist. Die New Versager. In seinen vier Jahren im
Sicherheit noch einmal fragen: Wer ­Yorker Justiz hat Ende Juli Anklage Weißen Haus war Pence loyal bis zur
hat am 3. November die Wahl in Ari- wegen des Verdachts auf Steuer­ Selbstverleugnung, das Duo Trump/
zona gewonnen?« Die Menge ant- betrug gegen die Trump-Organisa­ Pence wirkte immer ein bisschen so,
wortete wie aus einer Kehle: »Trump, tion  erhoben. Vier Wochen später als hätte sich der Teufel einen Trap-
Trump, Trump.« Genau, antwortete wies das amerikanische Justizminis- pistenmönch als Stellvertreter ge-
Greene, »wir in Georgia sehen die terium die Steuerbehörde an, Trumps wählt. Auch an diesem Morgen in
Sache genauso«. Taylor Greene trug Finanzunterlagen an den US-Kon- Tochter Ivanka: Florida müht sich Pence brav durch
an diesem Abend noch ein Spottgebet gress zu leiten – dort wollen die Chefdiplomatin und sein Manuskript, und obwohl sich
auf Anthony Fauci vor, Bidens medi- ­Demokraten unter anderem heraus- -beraterin Trump inzwischen fast bei jedem Auf-
zinischen Chefberater. Es begann mit finden, ob Trump als Präsident indi- tritt über seinen ehemaligen Vize lus-
den Worten: »Gegrüßet seist du, hei- rekt Geld von ausländischen Unter- tig macht (»Ihm fehlt einfach die Cou-
liger Fauci voller Masken, der Covid- nehmen oder Regierungen erhalten rage«), verliert Pence kein böses Wort
Impfstoff ist mit dir.« Sie kündigte hat. Und auch Trumps Wahllüge über den Ex-Boss.
außerdem ein Impeachment-Verfah- könnte noch ein Nachspiel vor den »Ich glaube, dass niemand die
ren gegen Biden an und erklärte, der Gerichten haben. Kraft hat, Trump aufzuhalten«, sagt
Präsident werde in Wahrheit von radi­ Im Sommer wurde ein Memo pu- der konservative Autor Bill Kristol.
kalen Linken im Keller des Weißen blik, aus dem hervorgeht, dass Trump Der Ex-Präsident sei im Grunde nur
Hauses gefangen gehalten. Spitzenbeamte zu Falschaussagen noch durch ein äußeres Ereignis zu
Aber der eigentliche Clou des drängen wollte. »Sagen Sie einfach, Sohn Donald Jr:
stoppen. Eine Anklage wegen Steuer-
Abends bestand darin, dass sie wie die Wahl war korrupt, und überlassen Einpeitscher und delikten zum Beispiel oder eine poli-
keine andere Trump und seinen Stil Sie den Rest mir und den republi­ Beißhund der Familie tische Krise. Aber Kristol weiß, dass

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dies womöglich Wunschdenken ist: »Ich bin


sehr pessimistisch.«
Viel spricht im Moment dafür, dass die Re­
publikaner sich ihrem Schicksal ergeben und

»Unsere Demokratie
Trump kampflos das Feld überlassen. 2016
war fast das gesamte republikanische Esta­
blishment zunächst gegen Trump. Damals

brennt«
hatten seine Gegner noch den Mut, ihn offen
anzugreifen. »Was ich von Donald Trump
denke? Dieser Mann ist ein pathologischer
Lügner. Er kennt nicht den Unterschied zwi­
schen Wahrheit und Unwahrheit, praktisch
jedes Wort, das aus seinem Mund kommt, ist SPIEGEL-GESPRÄCH  Die beiden US-Journalisten Bob Woodward und
eine Lüge«, sagte Ted Cruz im Mai 2016. »Ich
glaube, Trump hat von nichts eine Ahnung«, Robert Costa über Donald Trumps Versuch, die Wahl 2020
zürnte auch Lindsey Graham, der Senator zu stehlen. Und warum die Gefahr real ist, dass er damit bei der nächsten
aus South Carolina. »Er ist ein Mann, der Wahl erfolgreich sein könnte.
Rassismus schürt, ein fremdenfeindlicher, reli­
giöser Fanatiker.«
Auf der Bühne in Orlando nun schwärmt Woodward, 78, ist der unermüdliche Ent- SPIEGEL: Herr Woodward, Herr Costa, wie
Graham von seinem Freund Trump, mit dem hüller unter Amerikas Journalisten. Seit er wahrscheinlich ist es, dass Donald Trump zur
er so gern Golf spielt. »Alles lässt sich auf Anfang der Siebzigerjahre den Watergate- Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 antritt?
einen Punkt zurückführen«, sagt er: »Trump Skandal mit seinem damaligen Kollegen Woodward: Laut den Umfragen ist es ganz
hat geliefert.« Er spricht von den 200 konser­ Carl Bernstein von der »Washington Post« klar, dass er die Nominierung der Republika­
vativen Richtern, die der Präsident nominiert ans Licht brachte und Präsident Richard ner gewinnen kann, zumindest im Moment,
habe; er lobt die Entscheidung des Präsiden­ ­Nixon daraufhin zurücktreten musste, ist er aber alles ändert sich ständig.
ten, die US-Botschaft in Israel nach Jerusalem zum politischen Chronisten der US-Haupt- SPIEGEL: Trumps frühere Pressesprecherin
zu verlegen. Graham betont, wie wichtig es stadt geworden. Woodward ist ein hartnä- Stephanie Grisham sagte kürzlich, sie glaube,
sei, dass die Republikaner die Kongresswah­ ckiger, in Washington bestens vernetzter Re- wenn Trump zurückkomme, werde er auf
len im kommenden Jahr gewinnen. »Denn chercheur, der noch immer neue Skandale Rache aus sein. Denken Sie das auch?
das bedeutet, dass die Partei Trumps nicht tot und Affären aufdeckt. Der Präsidentschaft Costa: Es ist klar, dass Trump nicht nur an
und begraben ist.« von Donald Trump hat Woodward gleich einer Rückkehr ins Präsidentenamt interes­
Trump, das hat er schon durchblicken las­ drei Bücher gewidmet, das jüngste, »Peril«, siert ist, sondern dass er auch die Republika­
sen, könnte nach den Kongresswahlen im erschien Ende September auf Englisch. Er nische Partei davon überzeugen will, dass sie
November 2022 verkünden, ob er tatsächlich schrieb es zusammen mit dem »Post«-Jour- seine Behauptung verbreitet, die Wahl sei vor
antreten wird. Der Zeitpunkt wäre günstig, nalisten Costa, 36. Am 24. Januar wird das einem Jahr gestohlen worden. Wenn er erneut
weil die Republikaner gute Chancen haben, Buch auf Deutsch bei Hanser unter dem Titel kandidiert, dann aus Rache und wegen der
das Repräsentantenhaus wieder zurückzu­ »Gefahr« erscheinen. Lüge, er habe die Wahl gewonnen, nicht Joe
erobern, und Trump den Sieg als seinen Erfolg
verkaufen könnte – es sei denn, jemand fasst
sich doch ein Herz und meutert gegen den
Patriarchen. In Orlando lässt Ted Cruz kurz
aufhorchen. In seiner Rede sagt er, die Demo­
kratie in den USA sei so gefährdet wie nie
zuvor. Der Feind sei wie der Terminator: »Er
schläft nicht und hat keine Seele.« Aber klar,
er meint nicht Trump, sondern »die Linke«.
Trump hat die Republikaner nicht einfach
unterworfen. Er hat sie dazu gebracht, seine
Realität als die einzig gültige anzuerkennen.
Wer ihm folgen will, muss nicht nur seine
Glaubenssätze akzeptieren, sondern auch
seine alternativen Fakten. Trump verlangt
totale Gefolgschaft.
Schon für die Philosophin Hannah Arendt,
die in Deutschland den Aufstieg der National­
sozialisten erlebte und in den Vierzigerjahren
in die USA floh, war das Wechselspiel aus
Wahrheit und Lüge ein wichtiges Machtin­
strument von Politikern. »Der ideale Untertan
totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte
Nazi oder engagierte Kommunist«, schrieb sie
Ken Cedeno / UPI / ddp

1951, »sondern es sind Menschen, für die der


Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, zwi­
schen wahr und falsch, nicht länger existiert.«
Trump hat die idealen Untertanen längst
gefunden.
René Pfister, Marc Pitzke  n Trump-Anhänger beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar: »Eine sehr koordinierte Kampagne«

18 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


TITEL

Biden. Republikaner auf höchster Vereinigten Staaten noch nie erlebt,


Ebene fühlen sich nicht in der Lage, die ganze Welt fand das unglaublich.
diese Lüge zu entkräften. Trump ist Damals dachten die Chinesen wirk-
auf dem Weg in den Wahlkampf, auch lich, dass die USA kollabieren könn-
wenn er noch nicht offiziell seine ten. China, Russland und Iran waren
Kandidatur angekündigt hat. Er hält in militärischer Alarmbereitschaft. In
Kundgebungen ab und wettert gegen einer solchen Situation kann es zu
Biden. Trump ist in keiner Weise ver- Fehlern und Fehlinterpretationen
schwunden. Er schwebt wie ein Schat- kommen, und die Dinge können
ten über der politischen Szene, und schnell eskalieren. Milley sprach er-
alle erwarten seine Rückkehr. neut mit General Li, um ihn zu be-

MediaPunch / IMAGO
SPIEGEL: Die Republikaner bringen ruhigen.
derzeit in mehreren Bundesstaaten SPIEGEL: Nancy Pelosi, die führende
neue Wahlge­setze auf den Weg, die Demokratin und Sprecherin des Re-
es ihnen leichter machen könnten, die präsentantenhauses, rief Milley nach
Wahl zu manipulieren. Bereiten sie dem Sturm auf das Kapitol an, weil
damit die Bühne für Donald Trumps Reporter Woodward, verwirrt sei. Trump wütete im Oval sie besorgt war, dass Trump Atom-
Comeback vor? Costa Office gegen alle möglichen Leute, er waffen einsetzen könnte.
Costa: James Clyburn, der Bürger- war außer Kontrolle. Eine Woche Costa: Dieser Anruf ist ein histori-
rechtler und führende schwarze De- nach seiner Wahlniederlage im ver- scher Moment. Der ranghöchste Of-
mokrat im Kongress, hat gesagt, dass gangenen November sagte die von fizier des Militärs und die Sprecherin
die Demokratie in Flammen stehe. Trump ernannte CIA-Direktorin des Repräsentantenhauses machen
Unsere Demokratie brennt, weil die Gina Haspel, das Land sei auf dem sich Sorgen um den Oberbefehls­
Republikaner all diese Wahlgesetze Weg zu einem rechten Putsch. Trump haber. Was wird er tun, was könnte
im ganzen Land verabschieden. Doch verhielt sich wie ein Sechsjähriger, der er tun? Pelosi ist eine erfahrene Ge-
in Washington streiten sich die De- einen Wutanfall hat. setzgeberin, die sich in Fragen der
mokraten nach wie vor darüber, wie SPIEGEL: General Milley verglich nationalen Sicherheit gut auskennt.
sie die Republikaner daran hindern Trumps Ausbrüche sogar mit Szenen Ihr Anruf diente dazu sicherzugehen,
könnten, diese Gesetze zu ändern. aus dem Kriegsfilm »Full Metal Ja- dass der Präsident nicht verrückt-
Sie sind uneins, ob sie den Filibuster cket«. spielt und Atomwaffen abfeuert oder
im Senat abschaffen sollen, um so Costa: Milley erlebte hautnah die Wut einen anderen Militärschlag startet.
eigene Regelungen verabschieden zu des Präsidenten und den Zerfall sei- SPIEGEL: Wäre das möglich gewesen?
können, die das Treiben der Repub- ner Präsidentschaft. Nach dem Tod Costa: Pelosi weiß so gut wie alle in
likaner stoppen würden. Es gibt also von George Floyd wollte Trump den höchsten Rängen der US-Regie-
eine echte Spaltung in der Demokra- Kampftruppen nach Washington ho- rung, dass es eigentlich bestimmte
tischen Partei in der Frage, wie weit len, um gegen die »Black Lives Mat- Verfahren und Prozeduren für den
man gehen soll, um den Republika- ter«-Bewegung vorzugehen. Trumps Einsatz militärischer Mittel gibt. Zu-
nern entgegenzutreten. militärische Führer wehrten sich da- gleich hat der Präsident aber laut Ver-
SPIEGEL: Tun die Demokraten und gegen, und er ging auf sie los. Er war fassung das Recht, das Militär direkt
Joe Biden genug, um das Comeback so unzufrieden mit Milley und Ver- anzuweisen, Atomwaffen einzusetzen.
von Trump und dem Trumpismus zu teidigungsminister Mark Esper, dass Woodward: Wir haben eine Abschrift
verhindern? er auf sie wie der völlig durchgeknall- des Telefonats zwischen Pelosi und
Woodward: Es ist noch nicht klar, wo- te Marine-Ausbilder von »Full Metal Milley bekommen. Es ist eines der
hin die Biden-Präsidentschaft führt, Jacket« wirkte. außergewöhnlichsten Gespräche, die
was ihre legis­lative Agenda ist. Politik SPIEGEL: Erst im Nachhinein stellte ich als Reporter je gesehen habe, in
wird an Erfolg und Misserfolg gemes- sich he­raus, wie nahe die USA und mancher Hinsicht sogar noch mehr
sen. Kann Biden die Demokratische China in dieser Zeit einem bewaffne- als die geheimen Aufnahmen von Ri-
Partei zusammenhalten? Vieles deu- ten Konflikt gekommen sind. General chard Nixon aus dem Watergate-
tet darauf hin, dass er damit große Milley musste seinen chinesischen Skandal. Pelosi sagt zu Milley: Der
Schwierigkeiten hat. Aber wenn er es Amtskollegen beruhigen, weil die Chi- Präsident ist verrückt. Wir können
schafft, sie zusammenzuhalten, wird nesen dachten, Trump würde einen ihm nicht trauen. Wir brauchen die
ihm das eine gewisse Glaubwürdig- Angriff anordnen. Wie kam es dazu? Zusicherung, dass es Verfahrenskon-
keit verleihen, die er im Moment Woodward: Es gab zwei Anrufe von trollen für den Einsatz von Atomwaf-
nicht hat. Milley bei den Chinesen. Vor der fen gibt. Und Milley sagt: Ich stimme
SPIEGEL: Was würde passieren, wenn »Wir erleben Wahl hatten die USA Geheimdienst- Ihnen 100-prozentig zu.
Trump tatsächlich zum zweiten Mal informationen, die zeigten, dass die SPIEGEL: Was tat der General dann?
zum Präsidenten gewählt würde? In gerade Chinesen dachten, wir würden sie an- Woodward: Milley rief die Wachkom-
Ihrem Buch beschreiben Sie ihn als einen der greifen. Milley rief seinen Amtskol- mandanten aus dem War Room im
eine Bedrohung für die nationale Si-
cherheit, in seinen letzten Monaten
riskantesten legen in Peking an, General Li, den
er seit fünf Jahren kannte, um ihm zu
Pentagon zusammen. Er ordnete an,
dass er immer dann, wenn ein Befehl
im Amt dachten führende Militärs Momente ­ versichern, dass dies nicht geschehen für eine militärische Aktion oder den
sogar, er würde verrückt werden.
Woodward: General Mark Milley, der
in der ameri- werde.
SPIEGEL: Der zweite Anruf erfolgte
Einsatz von Atomwaffen kommt, mit
am Tisch sitzen muss. Und er ging
Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, ka­nischen nach dem Angriff auf das Kapitol im durch den Raum, zeigte auf jeden die-
glaubte wirklich, dass Trump geistig Präsident- Januar – warum? ser Offiziere und bat sie im Wesent-
Woodward: Der Aufruhr im Kapitol lichen um einen Eid: Haben Sie es
Das Gespräch führte der Redakteur Roland
schaft.« am 6. Januar war ein ungeheuerliches verstanden? Jawohl, Sir. – Verstan-
Nelles. Bob Woodward Ereignis. So etwas haben wir in den den? Ja, Sir. – Verstanden? Jawohl,

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 19


TITEL

Sir. Er zieht so eine zusätzliche Sicherung Costa: … und er bietet ihm die Verlockung
in das Verfahren zum Abfeuern der Atom- der Macht an. Der Moment hat fast etwas
waffen ein. Biblisches. Trump deutet auf den Mob
SPIEGEL: Nachdem Sie dies aufgedeckt hatten, draußen und sagt: Wenn diese Leute sagen,
wurde Milley vor allem von Republikanern sie hätten die Macht, würden Sie dann nicht
hart angegriffen. Sie sagten, er untergrabe gern den Sieg Bidens annullieren? Pence
die Befehlskette. Einige warfen ihm sogar wehrt sich, Trump lässt den Sirenengesang
­Verrat vor. des Mobs ins Oval Office wehen. Trump öff-
Woodward: Milley hat vor dem Kongress net die Tür, er will dem Pöbel draußen zu-
unter Eid ausgesagt und alles bestätigt, was hören. Der Präsident ist in völligem Einklang
wir ­berichtet hatten. Er sah es als seine Pflicht mit seinem Mob auf der Straße.
an, das Land zu schützen. SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass der
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Trump und seine 6. Januar nur die Generalprobe für weitere
Kumpane den Mob am 6. Januar zum Kapitol politische Unruhen, weitere Aufstände ist?
lenkten? Wollten sie eine Situation schaffen, Woodward: Das ist durchaus möglich. Sollte
in der sie einen Notstand erklären konnten, Trump die Nominierung seiner Partei erhal-
um die Kontrolle über das Land zu erlangen? ten, würde die nächste Präsidentschaftswahl
Costa: Auf jeden Fall gab es eine sehr koordi- ein Wettstreit werden, wie wir ihn noch nie
nierte und intensive Kampagne, um Bidens gesehen haben. Wir wissen nicht, was in
Sieg zu kippen. Trump nutzte verschiedene Trumps Kopf vorgeht, aber schauen Sie sich
Taktiken, um zu versuchen, seine eigene Prä- an, was er immer wieder sagt. Schon vor der
sidentschaft zu sichern. Er übte Druck auf das vorigen Wahl hat er behauptet: Wenn ich ver-
Justizministerium aus, auf Vizepräsident liere, wurde die Wahl gestohlen. Bis heute
Mike Pence, auf Abgeordnete und auf Beam- wiederholt er diese Formel. Millionen Men-
Nächste Woche te in verschiedenen Bundesstaaten. Es ging schen scheinen ihm zu glauben, obwohl es
im SPIEGEL: ihm nur darum, an der Macht zu bleiben. keinerlei Beweise für seine Behauptungen
Unser Buch enthüllt, dass John Eastman, ein gibt. Was wir in den Vereinigten Staaten er-
konservativer Anwalt, damals ein zweiseitiges leben, ist einer der riskantesten und gefähr-
Memo verfasste, das viele Leute inzwischen lichsten Momente in der Geschichte der ame-
als Entwurf für einen Staatsstreich bezeich- rikanischen Präsidentschaft.
nen. Eastman skizziert, wie Vizepräsident SPIEGEL: Wird der Ausschuss, der im Kon-
S-Magazin Mike Pence als Präsident des Senats versu-
chen könnte, Bidens Wahlsieg zu annullieren.
gress eingerichtet wurde, um den 6. Januar
zu untersuchen, mehr herausfinden als Sie?
Das Stilmagazin Es ist ein windiger Plan, aber Präsident Costa: Reporter haben Notizbücher, Stifte
Trump verfolgt ihn mit Nachdruck, und er und Aufnahmegeräte; der Kongress dagegen
vom SPIEGEL drängt seinen Vizepräsidenten, ihm zu folgen. kann Vorladungen aussprechen. Der Aus-
SPIEGEL: Aber Mike Pence wehrte sich da- schuss will herausfinden, was die Leute im
gegen. Weißen Haus unter Trump konkret getan ha-
Costa: Pence, dieser konservative Republika- ben. Das Justizministerium hat bereits Hun-
ner aus Indiana, war hin- und hergerissen. Er derte Personen im Visier, die an dem Auf-
wollte dem Präsidenten gegenüber loyal sein, stand beteiligt waren, aber die Frage, die sich
Themen der Ausgabe: aber auch das Gesetz respektieren. Letztend- aufdrängt, lautet: Was ist damals im Weißen
lich hat er sich auf die Seite der Rechtsstaat- Haus passiert? Wie viel davon wurde von
Gute Gaben lichkeit gestellt. Er musste sich mit vielen Leu- Trump gesteuert, von oben koordiniert? Aus
ten beraten, mit seinen Anwälten, sogar mit diesem Grund verschickt der Ausschuss die-
Aktivistinnen und Sozial- dem früheren Vizepräsidenten Dan Quayle, se Vorladungen an ehemalige Trump-Helfer
unternehmer empfehlen der unter George H. W. Bush diente. Und das wie Steve Bannon, seinen einstigen Wahl-
faire und nachhaltige alles zeigt, dass das amerikanische System, kampfchef Dan Scavino oder den früheren
die amerikanische Demokratie auf eine harte Stabschef Mark Meadows.
Weihnachtsgeschenke Probe gestellt wurde, von einem Präsidenten, Woodward: Ich gebe ein Journalismusseminar,
der alles tat, um an der Macht zu bleiben. und wir haben mit den Studierenden darüber
Kulinarische Weltreise SPIEGEL: Trump traf Pence am 5. Januar, kurz diskutiert, was vor sich geht und wie Journa-
bevor Pence als Präsident des Senats offiziell lismus funktioniert. Einer sagte: Was bringt
Drei Restaurant-Initiativen verkünden sollte, dass Biden die Wahl ge- es eigentlich, nachträglich die Wahrheit he­
bieten Geflüchteten Jobs wonnen hatte. Was wollte Trump? rauszufinden?
und Perspektiven Costa: Es ist eine aufschlussreiche Szene. SPIEGEL: Was war Ihre Antwort?
Trump übt maximalen Druck auf Pence aus. Woodward: Ich glaube, dass die Wahrheit eine
Einen Tag vor dem Sturm auf das Kapitol ganze Menge bewirkt. Unser ganzes Re­
versammelt sich der Mob bereits draußen auf gierungssystem ist in der Verfassung und
der Pennsylvania Avenue, nicht weit vom in den Gesetzen auf der Prämisse aufgebaut,
Weißen Haus entfernt, wo sich Trump und dass die Wahrheit mehr erreicht als alles
Pence treffen. Die Straßen sind voll von ­andere, aber man muss sie finden. Man
Außerdem: Trump-Anhängern, überall sind rote Mützen muss ihr Gewicht verleihen. Wenn sie nicht
Das fotografierte Interview zu sehen. Sie wollen am kommenden Tag in b ­ eiden politischen Parteien dasselbe
gegen die offizielle Verkündigung von Bidens ­Ge­wicht hat, bleibt die Gefahr von Instabi­
mit Designer Mark Braun Wahlsieg im Kongress protestieren. lität bestehen.
SPIEGEL: Trump empfängt Vizepräsident SPIEGEL: Herr Woodward, Herr Costa, wir
Pence im Oval Office … danken Ihnen für dieses Gespräch.  n

20 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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Rolf Zöllner / epd


Mit Schutzanzug, Atemmaske und viel Fingerspitzengefühl reinigt eine Expertin eine Passionsdarstellung aus dem 18. Jahrhundert.
Das Werk gehört zum Kunstschatz des Klosters Neuzelle in Brandenburg, der seit mehr als 20 Jahren restauriert wird. 2025 sollen die Arbeiten
­beendet sein.

Russischer Diplomat tot aufgefunden


GEHEIMDIENSTE  Unter ungeklärten Umständen ist in Berlin ein 35-jähriger Botschaftssekretär der russischen
Auslandsvertretung ums Leben gekommen. Offenbar hatte er Verbindungen zum Nachrichtendienst FSB.

A n der russischen Botschaft in Berlin hat sich ein ungeklärter


Todesfall ereignet. Nach Informationen des SPIEGEL ent­
deckten Objektschützer der Berliner Polizei am 19. Oktober
gegen 7.20 Uhr einen leblosen Körper auf dem Gehweg vor einem
kämpfung zuständig und wird von westlichen Nachrichtendiensten
mit dem sogenannten Tiergartenmord in Verbindung gebracht, bei
dem im Sommer 2019 in Berlin ein Exil-Georgier erschossen wor­
den war. Im Fall des tot aufgefundenen Diplomaten stimmte die
Botschaftsgebäude in Berlin. Re­animierungsversuche durch her­ russische Botschaft nach SPIEGEL -Informationen einer Obduktion
beigerufene Rettungskräfte blieben erfolglos. Offenbar war der der Leiche nicht zu. Aus Sicherheitskreisen hieß es, die Umstände
Mann aus einem oberen Stockwerk des Botschaftskomplexes an des mutmaßlichen Sturzes und die Todesursache seien »unbe­
der Behrenstraße im Bezirk Mitte gestürzt. Der 35-Jährige war laut kannt«. Da der Tote Diplomatenstatus besaß, habe die Staatsan­
einer offiziellen Diplomatenliste seit Sommer 2019 als Zweiter Bot­ waltschaft kein Todesermittlungsverfahren durchführen können. So
schaftssekretär in Berlin akkreditiert. Den deutschen Sicherheitsbe­ sei auch unklar geblieben, ob es Hinweise auf ein Fremdverschul­
hörden galt er allerdings als getarnter Mitarbeiter des russischen den gab. Nach SPIEGEL -Informationen ist der Leichnam des Diplo­
Inlandsgeheimdienstes FSB. Zudem soll er mit einem hochrangigen maten inzwischen nach Russland überführt worden. Die russische
Beamten des zweiten Direktorats des FSB verwandt gewesen sein. Botschaft sprach auf Anfrage von einem »tragischen Unfall«, der
Die Abteilung ist in Russland unter anderem für Terrorismusbe­ aus »ethischen Gründen« nicht kommentiert werde. FIS, KNO, MGB, SRÖ

22 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Bescheidener hatten ihre Zapfenstreiche pom-
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
pöser zelebriert. CDU-Altkanz-
Zapfenstreich
Das Gaus-Prinzip
ler Kohl ließ die Bundeswehr
REGIERUNG  Bundeskanzlerin 1998 vor der Kulisse des Kaiser-
Angela Merkel (CDU) wird doms in Speyer aufmarschieren.
ihren Abschied von der politi- Für Gerhard Schröder (SPD)
schen Bühne bescheidener ge-
stalten als ihre Vorgänger. Die
internen Planungen sehen vor,
dass Merkel am 2. Dezember
organisierte die Bundeswehr
eine Zeremonie mit rund
800 geladenen Gästen, bei der
auf Bitten Schröders »My Way«
V or Jahre musste die da-
malige »taz«-Journalis-
tin Bettina Gaus von
Berlin nach Köln fliegen, der
de. Als die Grünen-Kanzler-
kandidatin Annalena Baer-
bock, die Kurzzeithoffnung
vieler Linker, im Wahlkampf
mit einem Großen Zapfen- von Frank Sinatra angestimmt ARD-Presseclub hatte sie und einen vermeidbaren Fehler
streich der Bundeswehr auf wurde. Merkels Musikwünsche mich eingeladen. Wir lernten nach dem anderen machte,
dem Gelände des Verteidi- werden derzeit noch als Ge- uns am Flughafen kennen. war Gaus eine der Ersten, die
gungsministeriums geehrt wird. heimsache gehandelt. Nach »Darf ich gleich Ihre Hand hal- sich traute, die Lage nüchtern
Zunächst hatte die Kanzlerin dem Abschied für die Kanzlerin ten?«, war einer der ersten Sät- zu beschreiben: »Das war’s!«
für einen Festakt auf dem Eh- hat das Protokoll der Bundes- ze, die sie sagte. »Ich habe Wenn die Grünen ins Kanzler-
renhof des Kanzleramts votiert. wehr noch gut zu tun: Eine furchtbare Flugangst.« Und so amt wollen, müssten sie Baer-
Das dortige Areal ist aber zu Woche später soll Verteidi- griff sie beim Start meine Hand bock gegen Robert Habeck
klein für Fackelträger, das gungsministerin Annegret und hielt sie so fest, wie noch tauschen, schrieb Gaus, dies-
Stabsmusikkorps der Bundes- Kramp-Karrenbauer mit einem nie jemand meine Hand gehal- mal für den SPIEGEL . Wenige
wehr und die zu erwartenden Großen Zapfenstreich geehrt ten hat. Ich war beeindruckt Tage vor ihrem Tod kommen-
Ehrengäste. Merkels Vorgänger werden. MGB von dieser Offenheit. Selbst im tierte sie den Fall des »Bild«-
Umgang mit den eigenen Chefredakteurs, der Sex mit
Ängsten war sie furchtlos. jüngeren Untergebenen hatte.
Ausschlusskampf sätze. »Es ist in keiner Weise, In der vorigen Woche ist Sie geißelte den »merkwürdig
vor allem als Mandatsträger, so- Bettina Gaus gestorben, sie prüden Ton« gerade linker
um Lafontaine lidarisch oder loyal, zur Nicht- wurde nur 64 Jahre alt. Ihr
LINKE  Im Parteiausschlussver- wahl der eigenen Partei aufzu- Tod ist ein schwerer Verlust,
fahren gegen den früheren Bun- rufen«, heißt es im Ausschluss- nicht nur für die, die ihr nahe Die Fähigkeit, frei von
deschef der Linken und saarlän- antrag. Im Saarland tobt ein waren. Sie stand für etwas, Schablonen zu denken,
dischen Landtagsfraktionschef heftiger Machtkampf zwischen das rar geworden ist, ich will
Oskar Lafontaine kommt es am Lafontaine und dem Landesvor- es das Gaus-Prinzip nennen.
frei von der Erwartung
14. November zu einer münd- sitzenden Thomas Lutze. Vor Bettina war eine engagierte des eigenen Lagers,
lichen Verhandlung. Das geht einigen Monaten hatte die Lan- Linke, sie hatte ein feines Ge- dieses Prinzip ist ihr
aus einem Ladungsschreiben
der zuständigen Landesschieds-
desschiedskommission entschie-
den, die Lafontaine-Unterstüt-
spür für Ungerechtigkeit.
Aber sie war keine Ideologin,
Vermächtnis.
kommission hervor. Linken- zerin Astrid Schramm aus der das unterschied sie von vielen.
Mitglieder hatten den Parteiaus- Partei auszuschließen, die sich Sie vertrat eine Position we- Moralistinnen und Moralisten,
schluss beantragt, weil Lafon- gegen die Entscheidung wehrt. der aus Prinzip, noch weil es durch den der falsche Ein-
taine im Bundestagswahlkampf Im Gegenzug wurde die linke sich in ihren politischen und druck entstehe, Frauen seien
explizit dazu aufgerufen hatte, Landtagsvizepräsidentin Barba- publizistischen Kreisen so ge- »stets und grundsätzlich die
im Saarland mit der Zweitstim- ra Spaniol kürzlich aus ihrer hörte. Sie leistete sich den Lu- Opfer in Beziehungen mit
me nicht die Linke zu wählen. Fraktion ausgeschlossen. Ihr xus, die eigene Position jedes männlichen Vorgesetzten«.
Die Antragsteller sehen darin wird vorgeworfen, mit dem Mal neu zu erarbeiten. Frei Dem sei aber nicht so. Gaus,
einen Schaden für die Partei Landesvorsitzenden Lutze pak- von der Erwartungshaltung die selbst mal eine Affäre mit
und eine Verletzung der Grund- tiert zu haben. TIL ihrer vermeintlichen Schwes- einem älteren Vorgesetzten
tern und Brüder im Geiste. hatte, schrieb auch hier aus
Auch frei von Angst vor deren Erfahrung: »Ich fand den
Reaktionen. So ragte Gaus Mann halt toll.«
mit der Zeit immer weiter he- Bei Bettina Gaus wusste
Nachgezählt raus aus einem gesellschaftli- man vorher nie genau, zu wel-
chen Diskurs, der zunehmend chem Schluss sie kommen
Förderung von Schwimmbädern durch den Bund, in Mio. € schablonenhaft, reflexartig würde. Weil sie jedes Mal aufs
2018
8 2020 gab es nur noch 4700 für die Schwimmaus-
bildung nutzbare Bäder. 20 Jahre zuvor waren es
6700. Nur noch 40 Prozent der unter Zehnjährigen
und verbohrt geworden ist.
Als Hengameh Yaghoobifa-
Neue abwog, furchtlos und
unbefangen, waren ihre Bei-
rah in einer »taz«-Kolumne träge zum Zeitgeschehen so
in Deutschland gelten als sichere Schwimmer.
Polizisten auf »die Müllde- anregend. Die Fähigkeit, frei
2019
126 ponie« wünschte, »nur von
Abfall umgeben. Unter ihres-
von Schablonen zu denken,
frei von der Erwartung des
gleichen« hatte die linke eigenen Lagers. Dieses Prin-
»taz«-Autorin Gaus als Erste zip ist ihr Vermächtnis. Wir
2020
179 den Mut, den Text als das ein-
zuordnen, was er war: eine
alle, die wir diese zunehmend
polarisierte Gesellschaft bil-
Verletzung der Menschenwür- den, sollten es annehmen.

2021
229 An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
im Wechsel.
S Quellen: Bundesministerium des Innern, DLRG


Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 23


CHAPPATTES WELT Polens Polizei als
Internetwächter
SOZIALE MEDIEN  Die Regie­
rungen von Ungarn, Polen und
Tschechien versuchen in Brüs­
sel, das Gesetz über digitale
Dienste zu verwässern, mit dem
Techkonzerne wie Facebook,
Amazon und Google stärker re­
guliert werden sollen. Sie be­
fürchten, dass die Netzwerke
mit dem »Digital Services Act«
nicht mehr in ihrem Sinne funk­
tionieren würden, Minderheiten
oder politische Gegner sie da­
nach besser nutzen könnten,
um sich gegen Kampagnen oder
Repressalien zu wehren. Um die
anderen Staaten unter Druck
zu setzen, haben laut EU-Diplo­
maten nun polnische Vertreter
einen Vorschlag zu den soge­
nannten »trusted flaggers« ein­
gebracht. So werden in dem Ge­
setzentwurf unabhängige und
vertrauenswürdige Personen
oder Organisationen genannt,
die besondere Expertise besit­
Argumente ignoriert? land und der Europäischen Position, »im Alleingang die zen und deren Meldungen über
Union nicht gefährdet«. Dabei ­Sicherheit der Gasversorgung illegale Inhalte von Plattform­
GASVERSORGUNG  Im Verfah­ hatte in dem noch laufenden bestimmter Mitgliedstaaten, Re­ betreibern mit Priorität bearbei­
ren für die Zertifizierung des Zertifizierungsverfahren der gionen oder sogar der gesamten tet werden sollen. Die national­
Gaspipelinebetreibers Nord Präsident des polnischen »Ener­ EU zu gefährden«. Sascha Mül­ konservative polnische Regie­
Stream 2 AG hat das Bundes­ gy Regulatory Office« just die ler-Kraenner, Bundesgeschäfts­ rung, die die Justiz ihres Landes
wirtschaftsministerium offenbar Unabhängigkeit des Pipeline­ führer der Deutschen Umwelt­ weitgehend unter ihre politische
Argumente der zuständigen betreibers angezweifelt: Dass hilfe, fordert deshalb einen Stopp Kontrolle gebracht hat, soll
polnischen Regulierungsbehör­ die Nord Stream 2 AG vom rus­ des Pipelineprojekts: »Die alte ­gefordert haben, dass auch die
de ignoriert. Das Ministerium sischen Staatskonzern Gazprom Bundesregierung ignoriert die Polizei ein solcher »trusted
hatte Ende Oktober mitgeteilt, kontrolliert werde, stelle »be­ berechtigten Bedenken unserer flagger« werde. Andere EU-
dass eine Zertifizierung des sonders hohe Risiken für die Nachbarn.« Es sei offensicht­ Staaten befürchten, dass Polens
Unternehmens als unabhängi­ Versorgungssicherheit dar«, lich, dass Nord Stream 2 die Regierung so mitentscheiden
ger Transportnetzbetreiber die heißt es in einem Schreiben der Energiesicherheit in Europa be­ könnte, welche Posts in sozialen
»Sicherheit der Gasversorgung polnischen Behörde. Mit seiner drohe und die Einhaltung Netzwerken erlaubt sind – und
der Bundesrepublik Deutsch­ Marktmacht sei Gazprom in der der Klimaziele gefährde. CSC welche nicht. AKM, MBE

Der beste Chef


Auf der Suche nach einem neu­ gen Assessmentverfahrens er­ ‣ Vor 200 CSU-Mitgliedern
en Parteichef hat sich die CDU mittelt werden. In einem müssen sie eine Rede halten, in
nun auf ein Verfahren geeinigt. ­eigens in der Brandenburger der ironiefrei die Wörter »Au­
Ein Teil der Partei hatte bisher Cargolifter-Halle aufgebauten genhöhe«, »Freundschaft« und
SO GESEHEN  Wie die
eine Mitgliederbefragung be­ Parcours werden Aspiranten »Gemeinsamkeit« vorkommen.
CDU ihren neuen fürwortet, während ein ande­ mit typischen Vorsitzenden­ Bonuspunkte gibt es für die
Vorsitzenden findet rer Teil Delegierte auf einem situationen konfrontiert: korrekte Aussprache der Voka­
Parteitag über den Vorsitz ab­ ‣ Vor einer Trümmerkulisse bel »Oachkatzlschwoaf«.
stimmen lassen wollte. Die werden ihnen von Michael Die bisherige Parteispitze gibt
einen wollten, dass es unbe­ »Bully« Herbig Witze ins Ohr sich gewillt, das Ergebnis ohne
dingt der an der Basis populäre geflüstert. Wer lacht, fliegt raus. Ansehen der Person zu akzep­
Friedrich Merz wird, die an­ ‣ Nach Betrachtung eines tieren. Der Beste solle gewinnen.
deren wollten das unbedingt Schmähvideos eines blauhaari­ Nur eine einzige Zulassungs­
verhindern. Die überraschende gen YouTube-Stars müssen sie voraussetzung hat man sich aus­
Lösung: Jetzt macht es die auf einer simulierten Pressekon­ bedungen: Der Nachname
CDU doch ganz anders. ferenz glaubhaft die Meinungs­ des Kandidaten muss mindes­
Der neue Vorsitzende soll freiheit im Internet verteidigen. tens fünf Buchstaben lang sein.
nun mithilfe eines aufwendi­ Wer zuckt, ist gescheitert. Stefan Kuzmany

24 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Kahrs schweigt geschenk machte. Dabei geht
es auch um die Rollen des
CUM-EX-SKANDAL  In der ­heutigen Bürgermeisters Peter
Steueraffäre um die Privatbank Tschentscher und seines Vor-
Warburg will der Ex-SPD-Poli- gängers Olaf Scholz (beide
tiker Johannes Kahrs nicht vor SPD). Beide bestreiten, auf Ent-
dem Untersuchungsausschuss scheidungen des Finanzamts
der Hamburger Bürgerschaft Einfluss genommen zu haben.
aussagen. Das teilte er dem Die Kölner ermitteln gegen
Gremium mit. Kahrs kann sich Kahrs wegen des Verdachts der
auf ein Auskunftsverweige- Begünstigung. Er könnte der
rungsrecht berufen, weil die Warburg-Bank geholfen haben,
Staatsanwaltschaft Köln gegen eine Steuerrückzahlung zu-
ihn ermittelt. Der Ausschuss nächst zu verhindern. Kahrs’

Mario Mommens
will klären, ob die Hansestadt Anwalt wollte sich zu den Vor-
der Bank zu Unrecht ein Steuer- würfen nicht äußern. SMS

»Fragen von Leben


»Skurrile Aktion«
Rüstungsexporte politisch zu
begründen.
und Tod« SPIEGEL: Greenpeace hat einen
Der Ex-Chef Gesetzentwurf vorgeschlagen.
DER AUGENZEUGE  Kitesurfer Adrian Grünau, 32,
Bafa / picture alliance / dpa

des Bundesamts Wallraff: Innovativ daran ist das


für Wirtschaft Verbandsklagerecht. Derzeit hilft der Freiwilligen Feuerwehr Sankt Peter-Ording
und Ausfuhr- können nur die im Ausland von aus einer misslichen Lage.
kontrolle, Ar- deutschen Kriegswaffen be-
nold Wallraff, drohten Menschen klagen, aber »Der Tag war ziemlich wild, Ich hatte kurz Sorge, dass
72, fordert von wer macht das schon? Diese wie von der Wettervorhersage das Ärger gibt. Leichtsinnige
den Ampelpar- Menschen brauchen Vertreter, angekündigt. Wir hatten Kiter müssen oft aus dem
teien ein Gesetz zur Beschrän- die ihre Interessen wahrneh- Windstärke 9, und durch eine Wasser gerettet werden, des-
kung von Rüstungsexporten. men. Was im Umweltschutz gilt, Sturmflut stand der Strand in halb haben wir hier und da
sollte auch bei Fragen von Le- Sankt Peter-Ording teilweise einen schlechten Ruf. Wenn
SPIEGEL: Herr Wallraff, im ers- ben und Tod gelten. hüfthoch unter Wasser. Zum dann auch noch ein Kiter ein
ten Halbjahr 2021 ist die Zahl SPIEGEL: Sollten Auslandstätig- Kiten ist das ein Highlight, Feuerwehrboot klauen würde,
der deutschen Rüstungsexport- keiten deutscher Rüstungsfir- aber wassersporttechnisch wäre das blöd. Ich musste
genehmigungen weiter gesun- men besser kontrolliert werden? war nicht viel los. An solchen mich ein bisschen eingewöh-
ken. Eine gute Nachricht? Wallraff: Ja, denn die jetzige Tagen surfen nur die, die es nen, weil das Boot schwer zu
Wallraff: Das ist für den Mo- Rechtslage bietet große Schlupf- wirklich beherrschen. Fußgän- lenken war. Kleine Sandbänke
ment eine gute Nachricht, aber löcher. Derzeit sind nur techni- ger waren viele da, deshalb musste ich umfahren, einmal
wir müssen abwarten. Traditio- sche Unterstützungstätigkeiten war auch die Freiwillige hat mich der Wind mit dem
nell werden im zweiten Halb- untersagt, wenn es um Massen- Feuerwehr unterwegs. Durch Kite rausgehoben.
jahr immer mehr Rüstungsgüter vernichtungswaffen geht. In Zu- die Flut wurden Menschen auf Das war nicht meine erste
genehmigt als im ersten. Außer- kunft sollte jede Art von tech­ Sandbänken eingeschlossen Rettungsaktion. Ich habe
dem wirken die massenhaften nischer Unterstützung genehmi- und mussten gerettet werden. schon Kanufahrer oder ande-
Genehmigungen der Jahre 2015 gungspflichtig werden, egal ob So eine Aktion habe ich be- re Kitesurfer aus dem Wasser
bis 2019 nach, damals gingen es sich um Blaupausen, Ausbil- obachtet. Die Feuerwehrleute geholt. Als ich vor 17 Jahren
mehr als 50 Prozent der deut- dung oder Wartung handelt. haben ein Luftkissenboot ein- angefangen habe, musste ich
schen Kriegswaffen an proble- Auch die Beteiligung an auslän- gesetzt, konnten die Rettung noch erklären, was Kiten für
matische Drittländer wie Saudi- dischen Rüstungsfirmen sollte damit aber nicht zu Ende eine Sportart ist. Jetzt ist es
Arabien, Ägypten und die Ver- genehmigungspflichtig werden. bringen, weil es eine Panne ein Trend, dadurch fehlt vie-
einigten Arabischen Emirate, SPIEGEL: Die Haltung der Am- hatte. Deshalb haben sie das len das nötige Bewusstsein für
­alles Parteien im Jemenkrieg. pelparteien ist nicht schlüssig. Boot an einen Pfahl im Was- die Risiken.
SPIEGEL: Was würden Sie den Einerseits will man Rüstungs­ ser angebunden und mussten Wenn ich einen Einsatz be-
Ampelparteien raten? exporte einschränken, anderer- dann auch schon zu einem merke, schaue ich noch auf-
Wallraff: Wenn sie es ernst seits europäisch abstimmen. ­anderen Einsatz. Das Wasser merksamer hin als sowieso
­meinen, sollten sie sich auf ein Wallraff: Nach dem Lissabon- stieg höher, das Boot löste schon. Vor allem weil ich ge-
scharfes Rüstungsexportkon­ Vertrag sind allein die Mitglieds- sich und trieb samt Pfahl ab. sehen habe, dass auch bei der
trollgesetz einigen. Es braucht länder für Fragen nationaler Mit meinen Kumpels Ste- Feuerwehr nicht immer alles
zwingende Rechtskriterien, die ­Sicherheit zuständig. Eine ein- phan Meier und Mario Mom- glattläuft und die Technik
für einen Export erfüllt sein heitliche europäische Rüstungs- mens habe ich das gesehen nicht immer zu 100 Prozent
müssen. Sonstige Rüstungsgüter politik, noch dazu eine restrik­ und das Luftkissenboot am funktioniert. Für mich war
werden zum Teil bislang wie tive, würde schon an Frankreich Rand der Dünen auf den Sand das eine skurrile Aktion, aber
normale Waren behandelt und scheitern. Es ist immer gut, sich gezogen, da war es kurz si- die Leute von der Freiwilligen
unterliegen der Handelsfreiheit. europäisch abzustimmen, aber cher. Dann habe ich mich Feuerwehr sind die wahren
Der grundsätzliche Anspruch die Koalitionspartner sollten reingesetzt und es mit dem Helden, die jeden Tag Leben
auf eine Genehmigung sollte dies nicht als Ausrede nehmen, Kite zurück zur Strandauf- retten.«
abgeschafft werden. Auch sollte die Gesetze in Deutschland fahrt gebracht. Aufgezeichnet von Anika Freier
die Regierung sich verpflichten, nicht zu verschärfen. CSC

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Wenn drei sich streiten


AMPELGESPRÄCHE  Nach außen hin wollen die Verhandler ein Bild der Harmonie vermitteln. Doch tatsächlich
herrscht Misstrauen, die Differenzen sind groß. Ein Stimmungsbild am Beispiel der Arbeitsgruppe Außenpolitik.

D
er Unterhändler geht ans Telefon. Im- händlerin. »Alles konstruktiv. Es geht voran.« »So nicht, Heiko«, fuhr er den Außenminister
merhin. »Hallo«, meldet er sich, »hier Und wie löst man die Streitpunkte? Es tue ihr an, »nicht so von oben herab!«
ist das Trappistenkloster.« Offenbar so leid, dazu könne sie nichts sagen. Es ist ein gigantisches politisches Experi-
will er das Schweigegelübde brechen, das sich Auch Unterhändler Nummer vier bis sechs ment. Fast 300 Fachleute der drei Parteien
die Verhandler von SPD, Grünen und FDP versichern: Es gehe voran, Gespräche kon­ sitzen seit zehn Tagen in 22 Arbeitsgruppen
für die Ampelgespräche auferlegt haben. struktiv, Stimmung gut. zusammen, um die Politik der Ampelregie-
Hoffnung keimt auf, der Unterhändler redet. Auftritt Unterhändlerin Nummer sieben. rung festzulegen. Nichts soll nach außen drin-
Und redet. Exakt 21 Minuten lang. Schließlich Gute Stimmung? Na ja, sagt sie. Und plötzlich gen. Nur so, glauben die künftigen Koalitio-
legt er auf. Wirklich gesagt hat er nichts. klingt das alles etwas anders. Am vergange- näre, könne man verhindern, dass über die
Sein Kollege meldet sich per SMS und hat nen Freitagmorgen etwa kamen die Außen- Öffentlichkeit Druck aufgebaut wird und die
einen Tipp. »Schreiben Sie doch mal, wie die politikerinnen und -politiker zu ihrer dritten Gespräche am Ende scheitern. Nach außen
Verhandler es schaffen, die Koalitionsver- Runde im Jakob-Kaiser-Haus zusammen. bemühen sich die Verhandlerinnen und Ver-
handlungen wochenlang geheim zu halten«, SPD-Verhandlungsführer und Noch-Außen- handler um Harmonie. Doch tatsächlich ist
sagt er, »das ist doch eine super Story.« minister Heiko Maas leitete das Gespräch und man bei vielen Streitpunkten noch weit von
Unterhändlerin Nummer drei gehört, wie fertigte einen Vorschlag der Grünen mit einer einer Einigung entfernt.
ihre beiden Kollegen, zur Arbeitsgruppe wegwerfenden Handbewegung ab. Als woll- Es geht nicht nur um inhaltliche Differen-
Außen- und Sicherheitspolitik. Hier werden te er sagen: Könnt ihr vergessen. zen. Gerade die Grünen reagieren empfind-
viele strittige Themen verhandelt: Verteidi- Reinhard Bütikofer, Europaparlamentarier lich auf alles, was sie als Arroganz des sozial-
gungsausgaben, Rüstungsexporte, Chinapoli- und früher einmal Grünenvorsitzender, habe demokratischen Wahlsiegers wahrnehmen,
tik. »Die Stimmung ist gut«, sagt die Unter- es da kaum noch auf seinem Stuhl gehalten. Bütikofers Ausbruch ist durchaus sympto-

Axel Heimken / AFP

Rückkehr deutscher Soldaten aus Afghanistan: Ein Untersuchungsausschuss soll Abzugsdebakel aufarbeiten

26 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

matisch. Und sie misstrauen Olaf Scholz und Die Frontlinien verlaufen nicht nur quer
seinen Verhandlern. Die Sondierungen haben durch die AG, sondern auch durch die Par­
das eher verstärkt. Während die FDP danach teien. Bei den Grünen sind Realos und Linke
als Punktsieger dastand, mussten die Grünen nicht immer einig, bei der SPD liegen Pazi-
sich dafür rechtfertigen, nicht mehr heraus- fisten wie Fraktionschef Rolf Mützenich mit
geholt zu haben. Das darf ihnen beim Koali- den Pragmatikern aus dem Scholz-Lager über
tionsvertrag nicht noch einmal passieren. Kreuz. Die SPD-Delegation wird angeführt
Die Sozialdemokraten wollen das Werk von Heiko Maas, dessen Amtsführung in der
knapphalten. Es reiche doch, wenn man sich letzten Legislaturperiode von Grünen und
auf die Grundlinien verständige. So unter FDP scharf kritisiert wurde.
Freunden. Detaillierte Vereinbarungen? Die Die Zitrusparteien setzten bereits im Son-
waren, heißt es bei den SPD-Verhandlern, nur dierungspapier durch, dass in dieser Wahl-
in der Großen Koalition nötig. Da kam man

Dominik Butzmann
periode ein Untersuchungsausschuss das De-
aus unterschiedlichen politischen Lagern und bakel des Rückzugs aus Afghanistan aufarbei-
hatte es mit der gewieften Taktikerin Merkel tet. Das richtet sich auch gegen den geschäfts-
zu tun, die noch jeden Koalitionspartner führenden Außenminister Maas.
kleinregierte. Damals sei der Koalitionsver- Der wiederum kniet sich nach Wahrneh-
trag ein »notariell beglaubigtes Zeugnis des Rolf Mützenich (SPD): Der Parteilinke mung anderer Verhandler voll in die Gesprä-
Misstrauens« gewesen. ist ein Gegner der nuklearen Teilhabe che rein, obwohl er doch eigentlich schon mit
Jetzt sei die Lage aber eine andere, im und will, dass die Atombomben seiner Ministerkarriere abgeschlossen hatte.
Grunde wollten alle drei Partner das Gleiche: aus Deutschland abgezogen werden. Er wirke keineswegs lustlos oder desinteres-
Fortschritt, Modernisierung, Klimaschutz. siert, wie es ihm als Minister oft vorgeworfen
Für die Grünen klingt das zu schön, um wurde. Womöglich hofft er, dass das Außen-
wahr zu sein. Sie befürchten, dass auch Scholz ministerium doch wieder an die Sozialdemo-
nach der Merkel-Methode vorgehen wird, kraten fällt. Auch als Verteidigungsminister
wenn er erst einmal Kanzler ist. Sie wollen ist Maas im Gespräch.
deshalb alles so genau wie möglich ausbuch- Das FDP-Team führt Alexander Graf
stabieren. Wenn man das nicht tue, heißt es, Lambsdorff, bei den Grünen ist formal
werde man am Ende über den Tisch gezogen. Außenexperte Omid Nouripour zuständig,
Das gilt auch für die Außenpolitik. In der doch Liberale und Sozialdemokraten haben
Arbeitsgruppe wird das Programm für drei eher den Eindruck, dass die Delegation der
Ressorts verhandelt: Auswärtiges Amt, Ver- Grünen faktisch von einer Doppelspitze ge-
teidigung und Entwicklungspolitik. Im Wahl- führt wird. Verteidigungsexpertin Agnieszka
kampf wurde über diese Themen wenig ge- Brugger trete sehr bestimmt auf und halte
stritten, in den Sondierungsgesprächen kleis- Vorträge über feministische Außenpolitik.
Nils Stelte / OSTKREUZ

terte man die Differenzen zu, jetzt müssen Immerhin konnten sich die drei Teams auf
die großen Fragen geklärt werden. Das Ver- einen Verhandlungsort einigen. Nachdem sie
hältnis zu den USA, zu China und Russland, am ersten Tag im Willy-Brandt-Haus und an
die Zukunft der Nato, Auslandseinsätze der den Folgetagen im Jakob-Kaiser-Haus getagt
Bundeswehr, Deutschlands Rolle in der Welt. hatten, lud Maas die Unterhändler am Mon-
Der Streit beginnt schon bei der Länge des Agnieszka Brugger (Grüne): Die tag ins Auswärtige Amt. Man versammelte
gemeinsamen Papiers. Maximal fünf Seiten Verteidigungsexpertin gehört zu den sich im Konrad-Adenauer-Saal, dort gefiel es
darf das Verhandlungsteam aufschreiben. Das ­Parteilinken und tritt mit Omid allen so gut, dass man beschloss, bis auf Wei-
haben die Parteispitzen verfügt. Schriftgröße ­Nouripour als Verhandlungsführerin auf. teres dort zu tagen.
elf, Schriftart Calibri, Zeilenabstand 1,5. Zeit Die SPD-Verhandler betonen vor allem
zum Nachverhandeln soll es nicht geben, Kontinuität. Die Grundzüge der deutschen
nächsten Mittwoch um 18 Uhr ist Abgabe. Außenpolitik seien – anders als in den
Auf der Arbeitsebene rebellieren die Grü- USA, Polen oder Frankreich – nicht um­
nen gegen diese Vorgabe. Es sei unmöglich, stritten. Grüne und FDP wollen dagegen vor
die künftige Politik dreier Ressorts auf fünf allem im Umgang mit autoritären Staaten
Seiten abzubilden, argumentieren sie. Wider- wie China und Russland eine deutliche Kurs-
spruch bei der SPD: Die Vorgabe sei klar. korrektur.
»Daran wird nichts geändert. Man kann da- Grünenchefin Annalena Baerbock hat
rüber lamentieren, aber das ist für die Gale- vollmundig einen harten Kurs gegenüber
Mar tin Lengemann / WELT / ullstein bild

rie«, sagt einer der Beteiligten. ­China angekündigt. Aber was genau soll das
Gerade in der Außenpolitik müsse nicht ­heißen? Wie buchstabiert man eine werte-
alles detailliert festgehalten werden, argumen- basierte Außenpolitik im Koalitionsvertrag
tieren die Sozialdemokraten. Es gehe darum, aus? Die Passage, in der vom »Systemwett-
ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, bewerb mit autoritären Staaten und Dikta-
um Leitplanken, um einen Rahmen – »und turen« die Rede ist, sei besonders schwer in
nicht um zehn Gesetzesvorhaben«. das außenpolitische Kapitel des Sondierungs-
Bislang wimmelt es im Text der AG vor papiers hineinzuverhandeln gewesen, heißt
roter, grüner und gelber Farbe bei den Passa- es bei den Grünen.
gen, über die man sich noch nicht einig ist. Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Der Denn in der SPD will vor allem das
Jede Partei macht ihre eigenen Vorschläge, Scholz-Lager keine echte Korrektur. Lang-
erst wenn sie sich einigen, wird der Passus gelernte Diplomat führt das außenpoli- jährige Wegbegleiter von Scholz gehen davon
schwarz. Wird eine Formulierung an die Pres- tische Team der Liberalen und gilt aus, dass er im Wesentlichen an Merkels
se durchgestochen, wird sie gestrichen. als Kritiker von Außenminister Maas. außenpolitischem Kurs festhalten will. Die

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Peter Rigaud / DER SPIEGEL


Peter Rigaud / DER SPIEGEL
Goetz Schleser / laif
Daniel Hofer

Omid Nouripour (Grüne): Der Nils Schmid (SPD): Der Annalena Baerbock (Grüne): Heiko Maas (SPD): Der
Realo hat mitunter Mühe, sich Außenpolitikexperte will am Die Ex-Kanzlerkandidatin Außenminister wirbt in den
als Chef der grünen Verhand- Abschreckungspotenzial der fordert ein Ende der Ostsee- Verhandlungen für eine
lungsgruppe zu behaupten. Nato festhalten. pipeline Nord Stream 2. pragmatische Außenpolitik.

beiden kleineren Koalitionspartner, heißt es Programm überhaupt nicht erwähnen. Prag- rungssicherheit für langfristige multinationa-
in der SPD, hätten eben lange nicht regiert, matiker wie Scholz und Baerbock beteuern, le Kooperationsprojekte sowie hochkomple-
und in der Opposition könne man zugespitz- sie wollten eine Änderung der nuklearen Ab- xe Großprojekte mit großen Finanzvolumina
ter formulieren. Sie würden, in der Wirklich- schreckungsstrategie nur gemeinsam mit allen gewährleistet« werden könne. Aber auch der
keit angekommen, schon einsehen, dass man Bündnispartnern erreichen. Keiner dürfe ein- Verteidigungshaushalt selbst müsse kontinu-
auch gegenüber China vor allem deutsche seitig vorgehen. De facto ist das eine Absage ierlich steigen. So könne »Deutschland eben-
Interessen im Auge behalten müsse. Und ge- an ein atomwaffenfreies Deutschland. falls das vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel der
nau das werde ein Kanzler Scholz tun. Ver- Das will SPD-Fraktionschef Rolf Mütze- Nato erreichen«.
änderungen werde es nur in Nuancen geben, nich verhindern. Der Parteilinke ist ein ent- Rechne man alle Projekte zusammen, die
mehr nicht. schiedener Gegner der nuklearen Teilhabe. bisher durch den Verteidigungshaushalt nicht
Zu den heikelsten Streitpunkten gehört die Am vergangenen Wochenende warb er in finanziert werden könnten, komme man auf
Zukunft der in Deutschland stationierten US- einem Interview mit dem Deutschlandfunk eine Summe von circa 40 Milliarden Euro,
Atomwaffen, der sogenannten nuklearen Teil- für ein Entscheidungsmoratorium – »Wir wol- rechnen die Haushaltsexperten des Ministe-
habe. Als Teil der atomaren Abschreckung len jetzt mal vier Jahre Ruhe, fünf Jahre Ruhe riums vor. Die Unterhändler haben das Papier
der Nato lagern im rheinland-pfälzischen haben« –, um in dieser Zeit über die Atom- aus dem Ministerium interessiert zur Kennt-
Fliegerhorst Büchel US-Atombomben, die im waffen zu verhandeln: »Vielleicht kriegen wir nis genommen. Im Koalitionsvertrag wollen
Ernstfall von Bundeswehrpiloten mit deut- dann diese Dinger ja auch letztlich raus – am sie es nicht berücksichtigen.
schen »Tornado«-Kampfjets zu ihren Zielen liebsten so schnell wie möglich.« Ein besonders plakatives außenpolitisches
gebracht werden können. Man konnte die Äußerung als ein Plädoyer Streitthema wird gar nicht von den Außen-
Doch die Flugzeuge sind uralt und müssen für einen kalten Ausstieg aus der nuklearen politikern verhandelt: die Ostseepipeline
dringend ersetzt werden. In der Luftwaffe Teilhabe verstehen. Mützenich weiß, dass Nord Stream 2. Das Projekt gehört zum Port-
heißt es, dass von 85 »Tornados« im Moment sein Kurs von vielen Grünen geteilt wird, etwa folio der AG Energie. Dort ist allerdings zu
nur noch 15 einsetzbar seien. Und es wird dem Parteilinken Jürgen Trittin. Mit welcher hören, dass selbst die Grünen, die die Gas-
nicht besser. Es gibt kaum noch Ersatzteile, Formulierung man den Konflikt im Koali- leitung aus Russland ablehnen, nicht über
und die Struktur der Jets ist so marode, dass tionsvertrag auflösen will, ist unklar. dieses Thema reden wollen. Man werde das
selbst neue Teile nicht mehr helfen würden. Auseinandersetzungen zwischen SPD Fass nicht noch einmal aufmachen, heißt es.
Das Verteidigungsministerium hat im ver- und Grünen gab es schon am ersten Tag der Wie werden die Außenverhandler am Ende
gangenen Jahr eine Vorentscheidung über die Verhandlungen. Auch da ging es um das ihre Konflikte lösen? Ein beliebter Ausweg
Nachfolge getroffen. Danach sollen die »Tor- transatlantische Bündnis. Der sozialdemo- ist, die besonders schwierigen Passagen den
nados« für die nukleare Teilhabe ab Mitte des kratische Unterhändler Nils Schmid schlug Parteispitzen zur Entscheidung weiterzurei-
Jahrzehnts durch amerikanische F-18-Jets er- die Formulierung »Abschreckungspotenzial« chen. Doch ein Verhandler warnt: Zu lange
setzt werden, andere »Tornados« durch den der Nato vor. Doch das lehnten die Grünen Textpassagen oder ungelöste Konflikte wür-
»Eurofighter«. Doch den endgültigen Kauf- sofort ab. »Ihr habt ein Problem mit dem den auf der nächsthöheren Ebene einfach ge-
beschluss muss die neue Regierung fällen, und Wort Abschreckungspotenzial?«, fragte strichen, ohne dass die Fachpolitiker noch
zwar spätestens Anfang 2023. Schmid nach. Ja, lautete die Antwort, man einmal mitreden können. »Die Gruppe muss
Verzögert sie die Entscheidung, riskiert sie, verstehe die Verteidigungsallianz als »Dia- ein Interesse daran haben, möglichst alles
dass die »Tornados« außer Dienst gestellt logforum«. selbst zu einen«, sagt er.
werden müssen, bevor neue Flugzeuge ver- Ein zentrales Problem wird die Arbeits- Mit substanziellen Ergebnissen ist nicht
fügbar sind. Es wäre der kalte Ausstieg aus gruppe ohnehin nicht lösen können: die Fra- zu rechnen. »Bei den Koalitionsverhand­
der nuklearen Teilhabe. Die außenpolitischen ge des zukünftigen Verteidigungshaushalts. lungen wird man sich auf Kompromissfor-
Verwerfungen im Bündnis wären unüberseh- Eine angemessene Ausstattung der Bundes- meln einigen«, sagt Wolfgang Ischinger, Lei-
bar. Vor allem mit den Amerikanern, aber wehr wollen alle drei Parteien, doch was ge- ter der Münchner Sicherheitskonferenz. Er
auch mit Partnern wie etwa den Niederlän- nau das heißt, werden wohl die Finanzpoliti- erwarte die eigentlichen Konflikte erst nach
dern oder Italienern, die ihre Kampfflugzeug- ker entscheiden müssen. den ­Verhandlungen: »Den Koalitionsvertrag
flotten gerade mit erheblichem finanziellen In einem vertraulichen Papier für die zu schreiben ist das geringere Problem. Die
Aufwand modernisieren. Unterhändler schlägt die Haushaltsabteilung ­Probleme beginnen mit dem Regieren.«
In ihren Wahlprogrammen fordern Grüne des Verteidigungsministeriums vor, per Ge- Matthias Gebauer, Konstantin von ­Hammerstein,
und SPD ein Deutschland ohne Atomwaffen, setz ein »Sondervermögen Bundeswehr« ein- Christiane Hoffmann, Christoph Schult,
während die Liberalen das Thema in ihrem zurichten, »mit dem Planungs- und Finanzie- Severin Weiland  n

28 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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DEUTSCHLAND

Wenn sich das Monopolunternehmen oder ein bundesweites Stromladenetz


Milliarden am Finanzmarkt leiht, um für E-Autos. Auch der schon be-
damit sein Schienennetz zu moder- stehende Energie- und Klimafonds
nisieren, dann nimmt es staatliche soll deutlich aufgestockt werden.

Finanzieller
Investitionen vor, ohne dass die Solche Sondertöpfe haben eine
­neuen Kredite dem Bund als Neu­ willkommene Nebenwirkung: Sie ma-
verschuldung angerechnet werden. chen Mittel im regulären Haushalt

Bypass
So ähnlich könnte es auch im Woh- frei, die die neue Regierung für ande-
nungsbau laufen, lautet ein Vorschlag re Vorhaben, wie Subventionen für
der Scholz-Leute. Dazu würde die den Klimaschutz, nutzen kann.
öffentlich-rechtliche Bundesanstalt Derartige staatliche Zuschüsse sind
für Immobilienaufgaben (BImA) zu nichts anderes als Geldgeschenke der
KOALITIONSVERHANDLUNGEN  Sondervermögen, einem staatlichen Wohnungsbau- Regierung. Profitieren würde zum
unternehmen mutieren. Als GmbH Beispiel ThyssenKrupp, wenn das
Nebenhaushalte, Schattenetats: wie die dürfte sie sich Milliardensummen lei- Unternehmen seinen Stahl künftig
Ampel Milliarden am Bundeshaushalt vorbei hen, um damit die von Scholz anvi- mit Wasserstoff herstellen würde, was
mobilisieren will sierten 400 000 neuen Wohnungen viel teurer ist als mit Koks. Damit
im Jahr zu bauen. Stahl aus Deutschland weiterhin wett-
»Die BImA könnte sich das Geld bewerbsfähig wäre, könnte der Staat

S
chon vor seinem möglichen zu sehr günstigen Konditionen lei- den Preisnachteil ausgleichen. Für
Amtsantritt als Finanzminister Geld übrig hen«, beschreibt Jens Südekum, Wirt- solche Maßnahmen eignen sich Kon­
befallen Christian Lindner schaftsprofessor an der Universität in struktionen à la BiMA oder KfW nicht.
Zweifel. »Bei dem, was man gelegent- Investitionen des Düsseldorf, die Vorteile. »Sie würde Sie dürfen kein Geld verschenken.
Bundes in Mrd. €
lich hören kann zu großen Investi- von der hervorragenden Bonität des Doch selbst für diese Variante kur-
tionsgesellschaften und -fonds, habe Ist Soll Bundes profitieren.« Südekums Urteil sieren in den Verhandlungsgruppen
ich ordnungspolitische Bedenken«, hat Gewicht, er unterhält gute Kon- Fondskonstruktionen. Eine sieht vor,
gesteht der FDP-Chef. 71,3
71 takte ins künftige Regierungslager. dass der Wirtschaftsstabilisierungs-
Seine künftigen Partner SPD und Scholz hegt große Sympathien für fonds, mit dem die Regierung wäh-
Grüne hegen weniger Skrupel. In der den finanziellen Bypass, mit dem sich rend der Pandemie viele Unterneh-
60
Koalitionsarbeitsgruppe 22 zu Steu- der Etat umgehen lässt. Mit einer ähn- men rettete, umgebaut wird zu einem
ern und Finanzen spielen die von 50,
0,3
0, 3 lichen Konstruktion sorgte er als Ers- Transformationsfonds, der den Wan-
50
Lindner gefürchteten Vehikel eine ter Bürgermeister Hamburgs für Tau- del zur klimafreundlichen Wirtschaft
zentrale Rolle. Sie bieten den künfti- 3,9, 838 sende neue Wohnungen. begleitet. Die Idee stammt aus dem
gen Koalitionären einen unschätz­
40 38 138 ,1,9 Auch mit der Förderbank KfW ha- Wirtschaftsministerium.
36,1
6,1
baren Vorteil: Mit ihnen ließen sich 33,3
,2534
34
ben die künftigen Koalitionäre Neues Funktionieren würde sie so: Im
teure Vorhaben am Bundeshaushalt vor. Deren Kreditprogramme wollen Gegenzug für das Geld, das der Staat
vorbei finanzieren, die Vorgaben der 20
sie massiv ausbauen, um den Wandel an ThyssenKrupp zahlt, bekäme er
im Grundgesetz verankerten Schul- zur klimaneutralen Wirtschaft zu Anteile an der Stahlsparte. Willkom-
denbremse einfacher einhalten. ­befördern. Weil die KfW Geld nur mener Nebeneffekt: »Wenn der Staat
Die Neukoalitionäre stehen vor verleiht, eignet sie sich besonders für statt Subventionen Eigenkapital zur
einer großen Aufgabe: 50 Milliarden solche Projekte, bei denen Erlöse Verfügung stellt, zählen diese Sum-
Euro wollen sie Jahr für Jahr zusätz- 2016 2020 ­erwirtschaftet werden, mit denen men bei der Berechnung der Schul-
lich aufbringen für Investitionen in die Kredite zurückbezahlt werden denbremse nicht mit, selbst wenn das
Klimaschutz und Infrastruktur. Das S Quelle: BMF können. Als Beispiele nennt ein Geld über neue Kredite beschafft
Problem: Kredite in diesem Ausmaß Unterhändler Offshore-Windparks wurde«, sagt Ökonom Südekum. Der
dürfen sie im Bundeshaushalt nicht Grund: Die Regierung erwirbt in glei-
aufnehmen, weil sie sich ab 2023 wie- cher Höhe Vermögenswerte.
der an die Schuldenbremse halten Für die Liberalen stellen die Pläne
wollen. Sie erlaubt dem Bund nur eine Breitseite an Zumutungen dar.
eine eng begrenzte Neuverschuldung. Sie fürchten, dass sich SPD und Grü-
Höhere Steuern kommen auch nicht ne zusammentun, um den Einstieg in
infrage, die FDP will sie nicht. die Staatswirtschaft zu planen. Den-
Jetzt ist Kreativität gefragt. Der noch werden sie nicht alle Überlegun-
künftige Kanzler und Noch-Finanz- gen ablehnen können – oder auch nur
minister Olaf Scholz (SPD) beauftrag- wollen, vor allem nicht, wenn ihr Vor-
te vor Monaten seine Fachleute, Ideen sitzender tatsächlich das Amt des
zu entwickeln, wie künftig Milliarden ­Finanzministers anstrebt.
aufzutreiben wären für Vorhaben aller Lindner stünde dann vor einem
Art. Ihre Ergebnisse fließen nun ein noch viel größeren Problem. Schwie-
in die Koalitionsgespräche. riger, als frisches Geld aufzutreiben,
Im Mittelpunkt der Überlegungen ist, es tatsächlich auszugeben. Bislang
stehen Umwegfinanzierungen über verwaltete Scholz die im Vergleich
Nebenhaushalte, Sondervermögen überschaubare Investitionssumme
und Schattenetats. Sie haben den Vor- von rund 40 Milliarden Euro. Jedes
Daniel Hofer / laif

teil, dass sie den traditionellen Haus- Jahr hatte er Reste übrig. Bei mehr
halt unberührt lassen. Als Vorbild als doppelt so viel Geld fällt das Pro-
dient dabei ausgerechnet ein umstrit- FDP-Chef Lindner blem nicht geringer aus.
tenes Staatsunternehmen: die Bahn. Christian Reiermann  n

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DEUTSCHLAND

Quirin Lepper t / DER SPIEGEL


Christsozialer Seehofer im Modelleisenbahnkeller: »Einfach abschalten geht nicht, sonst macht man Fehler«

»Ich baue da mein Leben nach«


SPIEGEL-GESPRÄCH  Bundesinnenminister Horst Seehofer, 72, hört nach 50 Jahren
in der Politik auf. Zum Abschluss hat der CSU-Politiker in seinen Modelleisenbahnkeller eingeladen,
in dem auch die Kanzlerin eine bedeutende Rolle spielt.

V
om Balkon ihres Ferienhauses in G-7-Gipfel in Elmau besuchte. Als Horst See- Horst Lorenz Seehofer, 72, nach 50 Jahren
Schamhaupten im bayerischen Natur- hofer 2018 zu seiner eigenen Überraschung die Politik verlassen.
park Altmühltal öffnet sich für Horst Bundesinnenminister wurde, verfrachtete das Die Familie Seehofer kommt dreimal im
und Karin Seehofer ein Panoramablick auf Technische Hilfswerk die Scheiben auf seinen Jahr nach Schamhaupten, an Ostern, Weih-
die sanften Hügel des Schambachtals. Kein Balkon. »Die ganze Prozedur hat nur 800 nachten und in den Sommerferien. Horst See-
Nachbargebäude ragt ins Bild, und doch stört Euro gekostet«, sagt Seehofer. Viel billiger als hofer kaufte das Ferienhaus Mitte der Neun-
etwas die Aussicht: eine Reihe mannshoher alle Fenster zu verstärken. Jetzt ist der Minis- zigerjahre von seinen Schwiegereltern, weil
Scheiben aus Panzerglas vor der Balustrade. ter gegen Scharfschützen abgeschirmt. Dafür er es satt hatte, an den Urlaubsstränden von
»Unsere Obama-Platten«, sagt Seehofer. fühlt sich sein Balkon so gemütlich an wie der Portugal oder Mallorca von deutschen Tou-
Die Glasscheiben wurden 2015 zum Schutz Zeugenstand in einem Mafiaprozess. risten angesprochen zu werden. Er überlegt,
von Barack Obama gekauft, als er den Karin Seehofer hasst die Obama-Platten, bald ganz hierherzuziehen.
aber wird sie nicht mehr lange sehen müssen. In dem Ferienhaus fand Seehofer Raum
Das Gespräch führten die Redakteurin Melanie Amann
und der Redakteur Martin Knobbe in Seehofers Ferien- Ihr Mann wird wohl nur noch wenige Wochen für seine Leidenschaft: eine Modelleisenbahn.
haus. geschäftsführend im Amt sein. Danach will Seit mehr als 25 Jahren baut er an seiner

32 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

­ nlage, die sein Leben nachzeichnet.


A bin. Wenn Sie da das Dach zu früh »Merkel Zoff hatte Seehofer auch mit fast allen
Sie erstreckt sich über 20 Quadrat­ aufkleben, haben Sie später keine an irgendeinem Punkt. Mit Helmut Kohl
meter auf Holzgestellen in einem Kel­ ­Chance, noch die Beleuchtung anzu­ wusste genau, über den Zahnersatz, den Seehofer »zu-
lerraum. Hier hat er kilometerlang bringen, denn der Kleber ist so stark, dass ich diese sammenstreichen« sollte. Mit Edmund
Stromkabel verlegt, zwei Bahnhöfe
gebastelt und Schienen für 18 Züge
dass Sie das Plastik beschädigen. Da
können Sie nur alles neu kaufen.
Koalition Stoiber über die Kopfpauschale in der
Krankenversicherung, über die er sei-
gebaut. Auch Angela Merkel spielt SPIEGEL: Aber entspannend ist Ihr nicht in die nen stellvertretenden Fraktionsvorsitz
eine bedeutende Rolle. Hobby für Sie schon? Luft jagen aufgab. Und natürlich mit Angela Mer-
Seehofer lädt zunächst zum Ge­ Seehofer: Es war ja immer mein Ding kel über seinen »Masterplan Migra-
spräch ins Wohnzimmer, er trägt Pan­ anstelle des Urlaubs. Ich habe da
wollte.« tion«, die Obergrenze und seine Forde-
toffeln. manchmal gesessen, bis es hell wurde. rung, Flüchtlinge an der deutschen
Man verliert jede Vorstellung von Zeit. Grenze zurückzuweisen.
SPIEGEL: Herr Minister, wann haben SPIEGEL: Sind Sie auch mal verzwei­
Sie angefangen mit dem Bau Ihrer felt an Ihrem Mammutprojekt? SPIEGEL: Sie waren hier, als die Kanz­
Modelleisenbahn? Seehofer: Natürlich gab es Momente lerin am 4. September 2015 versuch­
Seehofer: Daheim in Gerolfing hatte der Verzweiflung. Finden Sie mal auf te, Sie auf dem Handy zu erreichen,
ich schon eine, aber nur in ganz klei­ so einer Anlage die Ursache für einen um über den Umgang mit den Flücht­
ner Norm. So richtig ging mein Pro­ Kurzschluss. Es reicht, wenn eine klei­ lingen aus Budapest zu beraten.
jekt erst los, als ich wusste, dass wir ne Schraube blöd aufs Gleis fällt. So­ Seehofer: Ich habe mein Handy an
dieses Haus bekommen. Und als ich lange das Ding da liegt, können Sie den diesem Abend zur Seite gelegt, wie
erfahren habe, dass es Computerpro­ Stromkreis nicht einschalten. Und dann ich es öfter im Urlaub mache. Aber
gramme gibt, mit denen man alles, suchen und suchen Sie und gehen nicht wer mich finden will, der findet mich.
was man im Kopf hat, maßstabs­ ins Bett, bevor der Fehler gefunden ist. Ich habe auch schon einmal die Poli­
gerecht planen kann. SPIEGEL: Gibt es andere Politiker, die zei zu Gerd Müller geschickt, als ich
SPIEGEL: Liegt die Begeisterung dafür Ihre Leidenschaft teilen? ihn fragen wollte, ob er mit ins Kabi­
bei Ihnen in der Familie? Seehofer: Kurt Biedenkopf war so nett kommt. Er ging damals auch
Seehofer: Meine Heimat Ingolstadt ist einer … nicht ans Handy.
eine Eisenbahnerstadt, das Betriebs­ SPIEGEL: … der langjährige und mitt­ SPIEGEL: Am nächsten Morgen haben
werk dort hat mich schon als Kind fas­ lerweile verstorbene CDU-Minister­ Sie dann mit Merkel telefoniert.
ziniert. Aber vor allem war mein Vater präsident in Sachsen. Seehofer: Da war die Entscheidung
ein begnadeter Bastler. Der hat für mei­ Seehofer: Den habe ich mal in seinem gefallen. Ich habe ihr gesagt, dass das
ne zwei Schwestern ein Kettenkarussell Ferienhaus am Chiemsee besucht, ein großer Fehler war, dass wir den
gebaut, alles im originalgetreuen Maß­ dessen Anlage war auch grandios. Korken nicht mehr auf die Flasche
stab. Und für uns Söhne hat er eine bekommen. Sie hat das zur Kenntnis
Eisenbahn gebaut, die fuhr einfach im Karin Seehofer serviert Weißwürste und genommen.
Kreis, das war fantastisch. Irgendwann alkoholfreies Bier. Seehofer trinkt seit SPIEGEL: Haben Sie damals Fehler
gab es dann auch eine Weiche, sodass seiner Herzmuskelentzündung, die ihn ­gemacht, die Sie bereuen?
es nicht immer der gleiche Kreis war, 2002 beinahe das Leben kostete, keinen Seehofer: Meine Überzeugung war da­
dann kam ein Tunnel dazu. So ent­ Alkohol mehr. Seehofers gehen nach mals: Wenn jemand als Asylbewerber
wickelte sich diese Bahn immer weiter. langer Zeit wieder öfter aus, auf Ge- in Europa schon registriert ist, dann
Im Sommer stand sie auf dem Speicher, burtstagsfeiern, zu Freunden. Politische kann man ihn an der Binnengrenze zu­
im Winter wurde sie runtergeholt. Ir­ Freunde habe er keine gehabt, sagt See- rückweisen. So habe ich das im »Mas­
gendwann stand sie mal wieder da zum hofer, bis auf seinen Förderer Theo Wai- terplan Migration« beschrieben, aber
Abtransport, jemand aus der Familie gel. In der Politik konkurriere man doch Kanzlerin Merkel das war für die Kanzlerin vollkommen
ging nachts auf die Toilette und stieg ständig mit allen, auf jeder Ebene. Und im Maßstab 1:87 indiskutabel. Mein Fehler war, dass ich
auf die Eisenbahn drauf. Da war die diesen Punkt damals in der Fraktion
Landschaft kaputt. nicht zur Abstimmung gestellt habe.
SPIEGEL: Was macht Ihnen so viel Das habe ich versäumt, und die Frak­
Spaß am Modellbau? tion ist Frau Merkel gefolgt, die gesagt
Seehofer: Früher habe ich immer hat: Gebt mir vier Wochen Zeit für eine
schon jeden Amiga-Computer auf­ europäische Lösung. Die ist bekannt­
geschraubt, weil ich kapieren wollte, lich nie gekommen. Wegen des Egois­
wie der funktioniert. Heute ist das mus einiger EU Staaten wie Bulgarien,
anders, die meisten Leute wissen Rumänien, Ungarn, auch Österreich.
nicht, was eine Platine ist, manche SPIEGEL: Der Streit mit Merkel 2018
können nicht mal einen Fahrradreifen gipfelte in Ihrem Satz: »Ich lasse mich
flicken. Bei der Eisenbahn haben Sie nicht von einer Kanzlerin entlassen,
alles auf einmal: Sie bauen mit Holz. die nur wegen mir Kanzlerin ist.« Das
Sie haben mit Elektrik zu tun. Sie klang sehr überheblich.
können programmieren. Seehofer: Das Zitat betraf die Richt­
SPIEGEL: Verarbeiten Sie beim Bas­ linienkompetenz der Kanzlerin. Für
teln, was Ihnen in der Politik passiert? mich, der als CSU-Chef im Kabinett
Quirin Lepper t / DER SPIEGEL

Oder schalten Sie einfach ab? saß, war unvorstellbar, dass eine Kanz­
Seehofer: Einfach abschalten geht lerin mir gegenüber diese Karte ziehen
nicht, sonst macht man Fehler. Ich würde. Das hätte sie auch nie gegen­
baue da ja mein Leben nach. Zum über der SPD getan. Diese Klarstellung
Beispiel den Bahnhof Bonn, wo ich war mir wichtig, aber Angela Merkel
18 Jahre lang immer ausgestiegen ist damit professionell umgegangen.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Damals setzten Sie die Seehofer: Ich hatte Markus Söder im
­Koalition aufs Spiel. letzten Herbst in einem Vieraugen­
Seehofer: Nein! Angela Merkel wuss­ gespräch angeboten, mein Amt auf­
te genau, dass ich diese Koalition zugeben. Er hatte ja immer von einer
nicht in die Luft jagen wollte, kein Kabinettsumbildung und von Verjün­
Vierteljahr, nachdem wir sie mühsam gung gesprochen. Aber dann wollte
gebildet hatten. Völlig abstrus! Es gab er doch Kontinuität. Trotzdem war
dann einen fast schon historischen klar, dass ich in meinem Alter keine
Moment: Die CDU saß in einem zentrale Figur in diesem Wahlkampf
Raum, wir saßen im anderen, und die sein konnte. Oder hätten Sie mich in

Quirin Lepper t / DER SPIEGEL


Kanzlerin pendelte zwischen den ein Zukunftsteam gesteckt?
Räumen, immer wieder mit neuen SPIEGEL: Aber von Ihnen hat man,
Vorschlägen, wie wir das jetzt in der wenn überhaupt, Kritik an der eige­
Migrationsfrage formulieren. Und wir nen Fraktion gehört.
haben einen Kompromiss gefunden, Seehofer: Es ist kein Geheimnis, dass
keinen idealen, aber so ist das in der 1 ich auf den letzten Metern nicht un­
Politik. Das werden Sie mit der Am­ bedingt in einem Liebesverhältnis zur
pel noch mehr erleben. Fraktion stand. Wir hatten viele Vor­
SPIEGEL: Sie spielen diesen Streit he­ haben, die nach meiner Überzeugung
runter. Wie hält man es in der Politik für unsere Gesellschaft und die inne­
miteinander aus, wenn man sich so in re Sicherheit wirklich essenziell ge­
die Haare bekommen hat? wesen wären, die allesamt vom Bun­
Seehofer: Viele dachten damals, Frau deskabinett beschlossen waren, aber
Merkel und ich könnten uns nicht er­ dann nicht kamen.
tragen. Das ist alles Käse, wir hatten SPIEGEL: Welche meinen Sie?
doch täglich miteinander zu tun. Kann Seehofer: Die Kinderrechte sollten ins
ja sein, dass Angela Merkel mal zu Grundgesetz, der unselige Begriff
ihrem Büro sagt: »Muss das sein, dass Rasse dafür endlich verschwinden –
der jetzt kommt?« Aber das verbuche das wurde blockiert. Ein schärferes
ich als Normalität im menschlichen Waffenrecht ist gescheitert und das
Umgang. Wer anders denkt, kennt Demokratiefördergesetz für den
auch das Wesen der Angela Merkel Kampf gegen den Rechtsextremis­
nicht. Sie will ihren Job als Kanzlerin 2 mus. Dabei waren all diese Projekte
gut machen, da ist sie wie eine preu­ fix und fertig, bis ins Detail abgeklärt,
ßische Soldatin, die lässt sich nicht von mit der SPD, die Kanzlerin hat sich
Stimmungen aus der Spur bringen. zweimal wegen der Demokratieför­
SPIEGEL: Ohne Merkel an der Spitze derung eingeschaltet, die wollte das
hat die Union die Wahl verloren. unbedingt. Nur unsere Abgeordneten
Seehofer: Es fehlte uns die personelle haben sich gesperrt. Da braucht jetzt
und die inhaltliche Breite, vor allem niemand jammern, dass die Men­
auf dem Gebiet, das für uns als CSU schen uns nicht wegen der inneren
immer essenziell war: die Sozialpoli­ Sicherheit gewählt haben.
tik für die kleinen Leute. Manchmal SPIEGEL: Sind Sie deshalb so selten in
hätte ich vor Ärger am liebsten den der Fraktionssitzung aufgetaucht?
Fernseher zum Fenster rausgeworfen. Seehofer: Ich bin immer hingegangen,
Olaf Scholz sprach von Rentengaran­ wenn meine Themen auf der Tages­
tie, von Mindestlohn, von Respekt. ordnung standen. Dass das so selten
Und was kam von uns? Nichts. geschah, lag sicher nicht an mir. In der
SPIEGEL: Das Thema steuerliche Ent­ Fraktion hat sich ein anderer Stil ent­
lastung hat die CSU schon beharrlich wickelt. Da herrschte manchmal ein
gespielt. Ton, auch gegenüber der Kanzlerin,
Seehofer: Entlastung, na schön. Was das wäre früher undenkbar gewesen.
soll man bei dem Wort denken? Die SPIEGEL: Sie selbst haben den Ton der
Abschaffung der kostenlosen Corona­ politischen Debatte aber mit verschärft:
tests ist jedenfalls für viele keine Ent­ Sie haben über die Abschiebung von
lastung. Oder dass Mieter die höhe­ 69 Afghanen an Ihrem 69. Geburtstag
ren Heizkosten wegen des höheren gescherzt, die Migration als »Mutter
CO2-Preises selbst zahlen sollen – aller Probleme« bezeichnet und die
auch keine Entlastung. Es scheint, als Flüchtlingspolitik als »Herrschaft des
Quirin Lepper t / DER SPIEGEL

wüssten viele unserer Leute nicht Unrechts«. Und da war Ihr Kampf »bis
mehr, wie es ist, die Hälfte des Ein­ zur letzten Patrone« gegen Zuwande­
kommens für Miete auszugeben. Wer rung in die Sozialsysteme.
nur als Lobbyist unterwegs ist, wird Seehofer: Für die Patrone habe ich
auf diesem Feld für die Leute im Land mich mehrfach entschuldigt, das war
3
nichts erreichen. ein Fehler. Wir müssten jetzt eigent­
SPIEGEL: Manche Unionsleute fragen: lich jede Aussage durchgehen, mit
1 | Politiker Seehofer mit Ehefrau Karin im Ferienhaus
Wo war eigentlich unser Innenminis­ 2 | Als Torwart bei lokalem Promifußballturnier 3 | Geschenk ihrer speziellen Situation, ihrem Kon­
ter im Wahlkampf? eines Freundes zur ersten Wahl in den Bundestag text und ihren Gründen. Aber ich

34 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

möchte hier nur sagen: Man kann ein Zitat


oder eine Idee noch so oft vorbesprechen.
»In entspannten Zeiten überlege, ob ich Berlin auf ein großes Plakat
an die Wand hänge. Aber ich habe schon
Wie sie ankommen, ist eine ganz andere Ge- stelle ich die Kanzlerin einen Zug aus Berlin, mit Graffiti besprüht.
schichte.
SPIEGEL: Es hat Sie aber nicht ernsthaft über-
auf den größten Bahnhof, SPIEGEL: »Don’t use ticket«, steht drauf.
Seehofer: Die Stimmung einer Hauptstadt …
rascht, dass der Satz mit der Patrone damals also nach Bonn.« SPIEGEL: Und hier ein Langnese-Aufkleber.
viele Menschen entsetzt hat? weil Sie so gern Eis essen?
Seehofer: Der Satz fiel auf einem Politischen Seehofer: Ja, während der Coronazeit war ich
Aschermittwoch. Da herrscht Volksfeststim- oft zum Essen im Kanzleramt. Angela Merkel
mung, bei der die Leute auf den Bänken ste- lich war die CSU nicht immer freundlich zu wusste, dass ich Eis liebe, also gab es das oft
hen und schunkeln. In dieser Atmosphäre sind Ihnen. als Nachtisch.
die Worte gefallen. Das passiert nicht, wenn Seehofer: Hauptsache, der Erfolg war da. Wir SPIEGEL: Wo ist denn die Kanzlerin?
man abends im Wohnzimmer vor dem Fern- regieren seit 70 Jahren. Seehofer: Ich hatte bei einem Besuch eines
seher sitzt. SPIEGEL: Einer Ihrer Züge wird von einer Spielzeugherstellers in der Nähe von Nürn-
SPIEGEL: Sie selbst sind nicht wieder zur Wahl Dampflok gezogen. berg Angela Merkel mit Pagenfrisur und ro-
angetreten. Hat Ihnen das die bittere Nieder- Seehofer: Die habe ich noch selbst erlebt, und tem Janker bekommen. Die war dominant,
lage leichter gemacht? in diesem Schienenbus hier bin ich als junger überdimensioniert, größer als die Lok. Des-
Seehofer: Wie bitte? Muss ich das noch extra Handballer zu den Auswärtsspielen gefahren. halb habe ich sie ausgetauscht, als mir Leute,
sagen? Wenn Sie 32 Jahre lang regiert haben, Den habe ich von Annette Widmann-Mauz die ich gar nicht kenne, Frau Merkel im rich-
und dann treten Sie mit so einem Desaster bekommen … tigen Maßstab zugeschickt haben, 1:87.
ab? Das hat mich wahnsinnig geärgert. SPIEGEL: … der Integrationsbeauftragten der
Kanzlerin. Seehofer holt fünf kleine Schachteln hervor, eine
Jetzt zeigt Seehofer seine Eisenbahn, es geht Seehofer: Dass sie mir mal eine Lok schenkt, winzige Merkel, die eine Raute macht, gibt es
zwei Treppen hinab in den Keller, vorbei an hätte ich nie gedacht. Unser Verhältnis war zweimal, eine andere Merkel trägt Handtasche
einem Modell des Gebäudes der CSU-Landes- nicht störungsfrei. und Handy. Auch ihn selbst gibt es als Figur
leitung, das Seehofer zu seinem Abschied als SPIEGEL: Ihr erstes Ministeramt war das des und Sigmar Gabriel, den damaligen SPD-Vor-
Parteichef bekommen hat. Viel wurde über Gesundheitsministers. sitzenden und Wirtschaftsminister.
die Eisenbahn bereits geschrieben, auch im Seehofer: Dafür steht das St.-Marien-Kran-
SPIEGEL . Sehen durfte sie bislang nur ein kenhaus, mit Notaufnahme und Telefonzelle. SPIEGEL: Wo steht die Kanzlerin üblicher-
Fernsehteam für eine ARD-Sendung von Rein- Und für den Landwirtschaftsminister dieser weise?
hold Beckmann, zusammen mit dem damali- Bauernhof hier. Der sieht jetzt kleiner aus als Seehofer: In entspannten Zeiten stelle ich sie
gen Bahn-Chef Rüdiger Grube. er ist, es fehlt noch die Natur drum herum. auf den größten Bahnhof, also nach Bonn.
SPIEGEL: Wo lebt der Innenminister Seehofer? Dann ist sie die Chefin der Anlage, und ich
SPIEGEL: Das ist ja riesig. Seehofer: Der bekommt eine Polizeistation, stehe neben ihr, der Gabriel steht dann mit
Seehofer: Der Bau ist fertig, aber alle Gleise, die muss ich aber noch besorgen. Die steht großem Abstand daneben. Ich würde eine
die jetzt noch nicht so schön mit Schotter ver- dann an der Hauptstrecke, weil die Bundes- zweite Merkel auch nach Schwarzburg stellen,
sehen sind, liegen künftig unter der Oberflä- polizei die Hauptstrecken betreut. zur CSU. Aber da brauche ich erst noch mich
che. Hier auf der rechten Seite habe ich schon SPIEGEL: Der Bonner Bahnhof ist dominant, selbst ein zweites Mal.
zwei Schattenbahnhöfe im Untergrund, da war es damals eine gute Zeit? SPIEGEL: Und wo steht die Kanzlerin in we-
kommen noch mehr dazu. Und die ganze Seehofer: Das war die Zeit mit Helmut Kohl, niger entspannten Zeiten?
Landschaft, das Grüne fehlt. mit Strauß, Waigel, am Ende dann der fulmi- Seehofer: Dann kommt sie auf die Fenster-
SPIEGEL: Haben Sie extra für uns aufgeräumt? nante Wahlsieg 1990, verantwortlich war die bank.
Seehofer: Nein, das ist immer so: Eine Werk- CSU. Und acht Jahre später hat trotz der Wahl- SPIEGEL: Wenn es bald vorbei ist mit der Poli-
statt muss sauber sein. niederlage Kohls der Stoiber in Bayern gesiegt. tik, können Sie hier jeden Tag basteln. Haben
SPIEGEL: Wo beginnt Ihr Leben? Sie Sorge, dass es dann vielleicht weniger
Seehofer: Also, die Seite hier rechts, das ist Seehofer war mehr als 10 Jahre lang CSU-Vor- Freude machen könnte?
die weltpolitische. Hier der Bahnhof Bonn, sitzender, fast 33 Jahre lang Abgeordneter im Seehofer: Ich weiß schon, was Sie denken. Jetzt
der schaut wirklich so aus. Da hinten ist das Bundestag und im Bayerischen Landtag, er wird er in ein Loch fallen. Ständig höre ich das
Eisenbahnbetriebswerk von Ingolstadt, das saß in sechs Regierungen. Zwei davon führte von Freunden: Was machst du jetzt nur? Wie
kann ich von hier vorne steuern. er selbst an, als Ministerpräsident von Bayern. schlägst du die Zeit tot? Ich verstehe diese Fra-
In der jetzigen Bundesregierung ist er mit gen nicht. Ich gehe leidenschaftlich gerne spa-
Am vorderen Ende der Eisenbahnanlage steht 13 Amtsjahren der dienstälteste Minister. zieren. Ich fahre auf meinem E-Bike. Ich spie-
ein großer Bildschirm, auf dem der Standort le Keyboard. Ich lese furchtbar viel, meist fünf
eines jeden Zugs zu sehen ist. Seehofer erklärt, SPIEGEL: War die Politik früher besser? bis sechs Bücher parallel. Dann das ganze
er habe alles selbst programmiert, über Mo- Seehofer: Wir hatten zumindest Typen in der Internet. Und dann sind da die Familie, meine
nate. Jetzt suche sich jeder Zug beim Fahren CSU: Günther Beckstein, Barbara Stamm, Alois Enkel und die vielen Freundschaften, die ich
automatisch ein Gleis, das frei sei. Glück, Otto Wiesheu, Hans Zehetmair und Hans so lange nicht pflegen konnte. Da soll meine
Maier, dieser Professor, der bayerischer Kultus- Freizeit nicht gut gefüllt sein?
SPIEGEL: Was würden Sie als Heimat in dieser minister war. Diese Typen gibt es heute nicht SPIEGEL: Es gibt also nichts, wo Sie sich jetzt
Anlage bezeichnen? mehr. Und ich frage mich schon, woran das liegt. umstellen müssen?
Seehofer: Hier links ist mein bayerisches Le- SPIEGEL: Heute gibt es Markus Söder. Haben Seehofer: Beim Autofahren wird es schwierig.
ben, wir haben unser Wohnhaus in Gerolfing wir im Wahlkampf den Söder erlebt, vor dem Ich werde seit Jahrzehnten von anderen Leu-
nachgebaut. Der Bahnhof Schwarzburg, ein Sie immer gewarnt haben? ten gefahren. Ich muss mich erst wieder d ­ aran
ans Fränkische erinnernde Fachwerkhaus, das Seehofer: Dazu hören Sie von mir nichts. gewöhnen, eine rote Ampel zu sehen und
ist die CSU. Sie liegt zwischen dem Hoch- und SPIEGEL: Wir sehen nirgends einen Bahnhof selbst zu bremsen. Das macht ja dann nie-
dem Mittelgebirge. für Berlin. mand mehr für mich.
SPIEGEL: Auf diesem Bahnhof bewegen Sie Seehofer: Das ist ein Riesenproblem: Zwei SPIEGEL: Herr Seehofer, wir danken Ihnen für
sich mit gemischten Gefühlen, oder? Schließ- Großbahnhöfe kriege ich nicht unter. Ich dieses Gespräch.  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

nicht zur weiteren Spaltung beigetra-


gen, weil die beiden Sieger nach der
Wahl ihre inhaltlichen Forderungen
umstandslos ad acta legten. Die Gro-
ße Koalition arbeitete wie zuvor, Olaf

Die Mär vom guten


Scholz durfte seine Rolle als Wieder-
gänger Angela Merkels unbehelligt
durch die Parteichefs spielen.
Man kann darin einen Sieg der

Mitgliederentscheid politischen Vernunft sehen, aber si-


cher kein Argument für einen Mit-
gliederentscheid.
Womit wir beim stärksten Ein-
wand gegen ein solches Auswahlver-
ANALYSE  Die Urwahl gilt als Königsweg innerparteilicher Willensbildung. fahren wären: Es produziert keine
Die Erfahrung zeigt, dass das ein Irrtum ist. guten Ergebnisse. Aus dem ersten
SPD-Mitgliederentscheid im Jahr
1993 ging Rudolf Scharping als Sieger

W
enigstens einmal in diesen hervor. Es dauerte fünf Jahre, bis die
schweren Zeiten marschiert SPD sich davon erholte und der sei-
die CDU an der Spitze. Die nerzeit unterlegene Gerhard Schrö-

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL; Julia Steinigeweg (r.)


drei größten Parteien Deutschlands der Kanzler wurde.
suchen neue Vorsitzende. Die SPD, Aus diesem Debakel hat die SPD
weil sich eine Hälfte des Führungs- gelernt. Die beiden Vorsitzenden, die
duos zurückziehen wird. Die Grünen, es mit Kühnerts Hilfe an die Spitze
weil die Amtsinhaber nach Minister- geschafft hatten, wollte man dem
ämtern streben und laut Satzung ihr Wähler nicht präsentieren. Diesmal
Parteiamt niederlegen müssen. Und bestimmten die Sozialdemokraten
die CDU, weil Armin Laschet geschei- den Verlierer der Urwahl zum Spit-
tert ist. zenkandidaten. Das Votum der Mit-
Aber einzig die Christdemokraten glieder war deshalb ein Erfolg, weil
wollen ihre neue Führung per Mit- die Partei es konterkarierte.
gliederbefragung bestimmen. So hat Man muss sich nur das Verhalten
es vor zwei Jahren auch die SPD ge- von Parteien anschauen, die die Mit-
macht. »Wer kein Vertrauen in seine CDU-Politiker Mehrheit kam zustande, weil der da- gliederbefragung bereits ausprobiert
Mit­glieder hat, der kann auch kein Röttgen, Merz malige Juso-Chef Kevin Kühnert haben. Die Grünen, bei denen die
Vertrauen beim Wähler gewinnen«, einen überproportionalen Einfluss auf Basisdemokratie zur politischen
sagt Tilman Kuban, der Chef der Jun- das Wahlergebnis nehmen konnte. DNA gehört, haben in diesem Jahr
gen Union. Seine Jugendorganisation war straff ihre Spitzenkandidatin anders als
Die Mitgliederbefragung gilt als organisiert, motiviert, und sie setzte beim letzten Mal nicht per Urwahl
Goldstandard innerparteilicher De- ihre Ressourcen zielgerichtet ein. bestimmt. Sie wurden mit dem bes-
mokratie. Sie soll die wahre Stim- Kühnert hat deshalb jetzt auch ten Ergebnis ihrer Geschichte be-
mung an der Basis besser widerspie- eine Mitgliederbefragung über die lohnt.
geln als andere Verfahren, zur Befrie- neue Koalition ins Spiel gebracht. So Die SPD wird die neuen Vorsitzen-
dung beitragen und zu besseren sichert man Macht. Was basisdemo- den wieder in bewährter Manier aus-
­Ergebnissen führen. kratisch daherkommt, ist oft nur Ak- kungeln, ohne die Mitglieder zu be-
Leider leistet sie nichts von alle- tivistenherrschaft. fragen. Die Partei hat Wichtigeres zu
dem. Das führt zu einem weiteren Pro- tun, als sich über die Parteispitze zu
Vor allem der erste Punkt wirkt blem der Mitgliederentscheide: Sie zerlegen.
zunächst plausibel. Warum eine klei- tragen wenig zur Befriedung bei. Sie Selbst die CDU, die ihr Herz für
ne Elite entscheiden lassen, wenn fördern eher die Polarisierung. die Basisdemokratie entdeckt hat,
man den Willen der gesamten Partei Der Niedergang der einst unan- geht den Schritt zur Urwahl nur halb-
ermitteln kann? Genauso argumen- tastbaren baden-württembergischen herzig. Die Mitglieder dürfen abstim-
tieren auch Befürworter von Volks- CDU begann, als die Partei 2004 den men, aber formal entscheidet der
entscheiden: Direkte Demokratie ist Nachfolger von Parteichef Erwin Teu- Parteitag. Die Satzung wird nicht ge-
demokratischer. fel per Urwahl suchte. Der damals ändert. So ganz traut die Führung der
Doch das Delegiertenprinzip in entstandene Riss konnte nie gekittet eigenen Basis dann doch nicht. Bei
Parteien ist keine demokratisch min- werden. Heute regiert in Stuttgart ein der SPD war es ähnlich.
derwertige Form politischer Organi- Ministerpräsident der Grünen. Das heißt nicht, dass der Mitglie-
sation – genauso wie die parlamen- Generell gilt, dass die Anhänger derentscheid sinnlos ist. Er hat eine
tarische Demokratie keine moralisch Was basis­ der Parteien moderater sind als ihre wichtige Funktion: Er ist der perfek-
defizitäre Form der Herrschaftsaus- Mitglieder. Die Wahl eines Friedrich te Krisenindikator. Wenn eine Partei
übung ist.
demokratisch Merz zum Vorsitzenden würde die ganz unten ist, dann lässt sie ihre
Beim Mitgliederentscheid über den daherkommt, Hundertprozentigen in der CDU ju- Basis über den Vorsitz abstimmen.
Vorsitz der SPD beteiligten sich nur ist oft nur beln lassen. Ob das auch bei den Wäh- Es ist nur folgerichtig, dass die
54 Prozent aller Parteimitglieder. Von lern gut ankäme, ist fraglich. CDU sich für diesen Weg entschie-
diesen stimmten am Ende 53 Prozent Aktivisten­ Bei der SPD hat die Wahl eines den hat.
für das neue Vorsitzendenduo. Die herrschaft. dezidiert linken Vorsitzendenduos Ralf Neukirch  n

36 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


4

2
1
DEUTSCHLAND

in Uniform auf, in der Hand ein Schild: »Beim


Faschismus mache ich nicht mit«. Gemeint
waren offenbar die Anti-Corona-Maßnahmen.
Bei den »Polizisten für Aufklärung« sind

Querdenker vom Amt


gleich mehrere Beamtinnen und Beamte ­aktiv,
die sich in der Pandemie radikalisiert haben.
Der Verein vertrete »Positionen der Corona-
leugner und Querdenker« und werbe »in ag-
gressiver Weise um aktive und pensionierte
EXTREMISMUS  Ein Maulwurf in der Berliner Justiz soll den antisemitischen Polizeibeamte«, heißt es in einem Schreiben
des nordrhein-westfälischen Innenministe-
Hetzer Attila Hildmann vor Ermittlungen gewarnt haben. Es ist riums, das vor der Truppe warnt. Eine An-
nicht der einzige Fall von Staatsdienern, die zu Coronaleugnern überliefen. frage ließ der Verein unbeantwortet.
Vorsitzender des Ende 2020 in einem
Autobahnhotel an der A 9 gegründeten Ver-

A
nfang des Jahres, Deutschland steckte bat um Aufnahme. »Ich bin Demokratin und eins ist der pensionierte Polizeibeamte Karl
gerade im zweiten Shutdown, tobte im gegen den Zionismus«, schrieb sie in der Mail. Hilz, 64. Auf Demonstrationen tritt der B ­ ayer
Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuz- »Danke für alles und weiter so.« mit Cowboyhut auf. Die derzeitigen Politiker
berg eine Protestparty. Gefeiert wurde in der Gegen die offenbar ins Querdenkerlager sind für ihn »Hochverräter«, Markus Söder
Wohnung von Michael B., einem bekannten übergelaufene IT-Expertin laufen Ermittlun- gehöre »festgenommen, eingesperrt und vor
»Querdenker« der Hauptstadt. Bei Demos gen wegen des Verdachts des Geheimnisver- das Kriegsverbrechertribunal geschickt«,
verkleidet er sich als »Captain Future«, mehr- rats und der versuchten Strafvereitelung. skandierte er. Inzwischen beobachtet der
fach zogen er, seine Anhängerinnen und An- Ihren Job ist die Frau bereits los, ihre Woh- ­bayerische Verfassungsschutz Hilz – wegen
hänger ohne Mund-Nasen-Schutz durch Bah- nung wurde durchsucht. Zu den Vorwürfen »sicherheitsgefährdender demokratiefeind-
nen oder versuchten, vor einem Impfzentrum nahmen sie und ihr Anwalt keine Stellung. licher Bestrebungen«.
Menschen von einer Spritze abzubringen. In Berlin sind die Behörden alarmiert. Ähnlich radikal tritt ein vom Dienst sus-
Bei Captain Futures Party rückte schließlich »Einen vergleichbaren Fall hat es in der Ber- pendierter Kriminalhauptkommissar aus Nie-
die Polizei an. Dabei trafen die Beamten auch liner Justiz nach meiner Erinnerung noch dersachsen auf. In der Querdenkerszene gibt
eine Frau an, die wie sie für den Staat arbei- nicht gegeben«, sagt Justizsenator Dirk Beh- Michael Fritsch den »Schutzmann mit Herz
tete: Efstathia M., 32, IT-Administratorin bei rendt (Grüne). Nun werden die IT-Systeme und Hirn«, bei der Bundestagswahl kandi-
der Berliner Generalstaatsanwaltschaft. der Staatsanwaltschaft umgebaut, um miss- dierte er erfolglos für »Die Basis«. Öffentlich
Im Mai schließlich erreichten auch die bräuchliche Zugriffe zu verhindern. »Ein sol- beklagt der Beamte den angeblichen Verlust
­Generalstaatsanwaltschaft Hinweise, dass sich cher Vorgang darf sich nicht wiederholen«, der Demokratie in Deutschland oder ver-
Mitarbeiterin M. in der Szene der Corona- sagt Behrendt. gleicht die bundesdeutschen Sicherheitsbe-
leugner herumtreibe. Die Behörde war alar- Der Fall von Efstathia M., so er sich be- hörden mit dem Terrorregime des NS-Staats.
miert, doch da war es bereits zu spät: Eine wahrheitet, wäre allerdings nicht der einzige, Fritschs Dienststelle, die Polizei Hannover,
Überprüfung ergab, dass M. offenbar heimlich in dem Staatsdiener ins Querdenkerlager hat Klage auf Entfernung aus dem Beamten-
auf interne Akten über Querdenker und übergelaufen sind. Verlässliche Zahlen gibt verhältnis gegen ihn eingereicht. Unter an­
Rechtsextremisten zugegriffen hatte – da­ es nicht, aber die Beispiele häufen sich. Der derem wirft sie Fritsch die Verbreitung von
runter war auch ein Holocaust-Leugner, der FDP-Innenexperte Benjamin Strasser fordert Verschwörungserzählungen vor. Über einen
als »der Volkslehrer« durchs Land tingelt. deshalb »Wachsamkeit innerhalb der Behör- Anwalt ließ der Polizist mitteilen, dass er die
Wie der SPIEGEL und die ARD in dieser den und eine Kultur des Hinsehens« sowie Vorwürfe »vollumfänglich« bestreite.
Woche enthüllten, soll die Frau auch Attila strenge Sanktionen. Sollten Beamte über eine legitime Kritik
Hildmann, der in der Pandemie vom Vegan- Auf der Seite der »Polizisten für Aufklä- an den Coronamaßnahmen hinausschießen,
koch zum antisemitischen Hetzer geworden rung« ist ein Video von einem Oberkommis- drohten »harte disziplinarrechtliche Konse-
ist, vor einem Haftbefehl gewarnt haben. Un- sar aus Siegen zu sehen. Zu sphärischen Klän- quenzen, bis zur Entfernung aus dem Dienst«,
mittelbar nachdem das Dokument im Febru- gen läuft er durchs Berliner Regierungsviertel. sagte der bayerische Innenminister Joachim
ar von einer Richterin unterschrieben worden Als er am Bundestag vorbeikommt, hört man Herrmann (CSU) dem SPIEGEL : »Polizisten,
war, hatte Efstathia M. offenbar einen Weg ihn aus dem Off sagen: »Mit Beginn dieser die gegen unsere obersten Grundsätze der
gefunden, darauf zuzugreifen. Krise wurde mir klar, dass ich diesen Weg so Demokratie arbeiten, haben bei der Polizei
Interne Unterlagen, die SPIEGEL TV und der nicht mitgehen kann. Nicht solange diejeni- nichts verloren.«
SPIEGEL auswerten konnten, zeigen, dass Hild- gen, die gemeinhin Volksvertreter genannt Im Internet und den sozialen Netzwerken
mann über Fotos den Haftbefehl in voller Län- werden, sich dazu aufschwingen, selbst die fordern Coronaleugner teils unverhohlen
ge durchgestochen bekommen hatte. Bereits größten Verbrecher zu werden.« Beamte dazu auf, Dienstinterna an die Szene
im November 2020, wenige Wochen bevor er Der Oberkommissar ist vom Dienst suspen- durchzustechen. »Du möchtest endlich dei-
sich in die Türkei absetzte, hatte er zudem per diert, gegen ihn läuft ein Disziplinarverfahren. nem Gewissen folgen und bisher unbekannte
Telegram Details zu laufenden Ermittlungen Der Grund: Bei einer Berliner Demo der Par- Fakten (Insiderwissen) in die Öffentlichkeit
erhalten. So erfuhr Hildmann, dass die Berliner tei »Die Basis«, die Coronaleugner und Ver- bringen?«, heißt es etwa auf der Seite des
Strafverfolger sein Handy zu diesem Zeitpunkt harmloser der Pandemie versammelt, trat er Vereins »Mutigmacher«, der mit mehreren
nicht abhörten. »Wenn ich mehr erfahre, geb Gruppen der Querdenkerszene verbunden
ich dir natürlich Bescheid«, schrieb der mut- ist. Für Polizistinnen und Polizisten ist ein
maßliche Maulwurf und fügte zwei Herzen an. eigener Kontaktbutton eingerichtet.
Ob auch dieser Hinweis von Efstathia M.
stammte, geht aus den Unterlagen nicht her-
Politiker sind für den Zumindest in einem Fall hat der Verein ein
als »Verschlusssache – nur für den Dienstge-
vor. Allerdings meldete sich bereits im Juni ­pensionierten Polizisten brauch« eingestuftes Dokument bereits ver-
2020 eine Frau unter diesem Namen bei der
Chatgruppe von Attila Hildmann, der damals
»Hochverräter«, Söder öffentlicht, ein Papier des Bundeskriminalamts
(BKA) zu den Coronaprotesten. Wie es bei den
schon Verschwörungsmythen verbreitete, und ist ein »Kriegsverbrecher«. Querdenkern landete, ist unklar. Nachdem das

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DEUTSCHLAND

Antisemit Hildmann im Mai 2020


vor Reichstagsgebäude,
Hildmann-Haftbefehl (Ausriss)

[M] DER SPIEGEL; Christian Mang / REUTERS (li.); Sebastian Wells / OSTKREUZ (re.)
BKA mit Konsequenzen gedroht hatte, nahmen in Berlin »ordentlich aufräumen«. In Ahr- ­ elegram suchte laut der »Thüringer Allge-
T
die »Mutigmacher« es wieder aus dem Netz. weiler errichtete die Truppe in einer Grund- meinen« eine in dem Verfahren beteiligte
Besonders heftig geht es in Querdenker- schule eine »Kommandozentrale«. Mit füh- Anwältin gezielt nach Eltern, die sich an einer
gruppen auf Telegram zu, die sich an Bundes- renden Köpfen der Querdenkerbewegung Klage beteiligen wollten. Einzige Bedingung:
wehrangehörige richten. Sorgen bereitet den verfasste Eder zackig klingende Befehle und Der Nachname müsse mit einem bestimmten
Behörden neben dem Kanal »Soldaten & Re- rief alle »verfügbaren Kräfte« zum Einsatz. Buchstaben anfangen – für diese Fälle war,
servisten« der »Veteranen-Pool«. Dort wird Am Ende ließ die Stadt die Schule räumen – Zufall oder nicht, Dettmar zuständig.
kaum ein Blatt vor den Mund genommen. statt zu helfen, störte die Truppe nur. In seinem Beschluss tauchten Gutachter
»Kommt man hier vom Labermodus der De- »Wir müssen bei solchen Umtrieben nicht auf, deren Thesen in Kreisen von Coronaleug-
mos endlich in einen Kampfmodus des wirk- nur auf Polizisten und Soldaten achten, son- nern gern gehört werden. Sie zweifelten die
lichen Widerstandes?«, fragt einer. Ein ande- dern auch auf die Justiz«, sagt Thüringens Übertragung von Corona durch Aerosole und
rer behauptet: »Wir sind im Krieg.« Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer. die Aussagekraft von PCR-Tests an. Im Mai
Die Gruppe entstand im Frühjahr und »Auch manche Staatsanwälte und Richter sind hob das Thüringer Oberlandesgericht den Be-
­beschreibt sich als Zusammenschluss von anfällig für Querdenkerthesen.« schluss auf, im Oktober stellte auch der Bun-
­»Veteranen aus Bundeswehr und ehemaliger Das zeigt wohl auch der Fall des Weimarer desgerichtshof klar: Es gebe »keine Befugnis
Nationaler Volksarmee«. Das Vorbild kommt Familienrichters Christian Dettmar. Unter des Familiengerichts«, gegenüber Schulen so
aus den Niederlanden, wo sich Ex-Militär­ dem Aktenzeichen 9 F 148/21 sprach er im etwas anzuordnen.
angehörige bei Coronademos vor die Protes- April einen mehr als 170 Seiten langen Eil- Richter Dettmar brachte die Aktion Er-
tierenden und gegen Polizisten stellten. beschluss und untersagte zwei Schulen die mittlungen der Staatsanwaltschaft Erfurt
Laut Bundesregierung weist sie »Bezüge gängigsten Coronamaßnahmen: Das Tragen ein – wegen des Verdachts auf Rechtsbeu-
zur Querdenker-, Coronaleugner- sowie von Masken dürfe ebenso wenig vorgeschrie- gung. Mehrfach gab es Hausdurchsuchungen,
Reichs­bürgerszene auf«. Ein genaues Bild, wie ben werden wie Schnelltests und das Einhal- auch bei den Sachverständigen und der Mut-
viele der dort Aktiven tatsächlich Soldaten, ten von Mindestabständen. Die Coronaleug- ter der zwei Kinder. Dettmars Rechtsanwalt
Polizistinnen oder Reservisten sind, hat sie ner jubelten. Dettmar wurde zu ihrer Ikone. Gerhard Strate hält den Vorwurf der Rechts-
allerdings nicht, wie aus der Antwort auf eine In Weimar hatte die Mutter zweier Schul- beugung für »abwegig«. Er sieht in dem Ver-
Kleine Anfrage der Linkenpolitikerin Martina kinder durch die Maskenpflicht das Wohl fahren den Versuch der »Einschüchterung
Renner hervorgeht. ihres Nachwuchses gefährdet gesehen – und einer unabhängigen Richterschaft«.
Einige Dutzend der Ex-Militärs versuchten fand in Dettmar einen derart verständnisvol- Die Staatsanwaltschaft ermittelt indes wei-
im Sommer, sich im Hochwassergebiet an der len Richter, dass schnell Zweifel aufkamen, ter. Bis zum Jahresende will sie das Verfahren
Ahr als Helfer in Szene zu setzen. Angeführt ob alles mit rechten Dingen zuging. abschließen. Dann wird sie über eine mögli-
wurden sie von Oberst a. D. Maximilian Eder, Dass Dettmar Masken in seinem Gerichts- che Anklage gegen den Richter entscheiden.
einem Ex-KSK-Soldaten. Auch er ist inzwi- saal nicht sonderlich mochte, war in Justiz- Adrian Altmayer, Maik Baumgärtner,
schen ein Fall für den Verfassungsschutz, bei kreisen bekannt. Womöglich deshalb wurde Roman Höfner, Max Hoppenstedt, Sven Röbel,
einer Demo forderte er, KSK-Kämpfer sollten er für die Coronakritiker interessant. Auf Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter  n

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DEUTSCHLAND

wie Beatrice Winkler. Immerhin: SPD, Grüne


und FDP haben sich jetzt vorgenommen,
­einiges besser zu machen. Wie konkret sie
dabei werden, ist offen.

Die Vergessenen
In Deutschland gibt es 4,6 Millionen Pfle-
gebedürftige, und weil die meisten von ihnen
alt sind, steigt ihre Zahl mit der demografi-
schen Entwicklung. Rund 80 Prozent werden
daheim umsorgt, meist von Frauen, doch von
PFLEGE  In kaum einem Politikbereich sind Reformen so nötig diesem größten Pflegedienst der Nation ist
nur selten die Rede.
wie bei der Betreuung von Alten und Schwachen. Die häusliche Pflege gerate an ihre Belas-
Die Beispiele von drei Familien zeigen, was sich jetzt ändern muss. tungsgrenze, schimpft Verena Bentele, Präsi-
Von Milena Hassenkamp und Cornelia Schmergal dentin des Sozialverbands VdK. »Es darf
­darum keinen Koalitionsvertrag ohne die
Stärkung der Angehörigenpflege geben. Sonst

E
s ist zwecklos, Buletten zu pürieren. Frage« des Jahrzehnts. Doch ausgerechnet werden wir als Sozialverband mit und für
Beatrice Winkler hat das versucht. Die bei der Betreuung von Senioren und Schwerst- unsere über zwei Millionen Mitglieder auf die
kleinen Fleischbröckchen passen nicht kranken hinterlässt die schwarz-rote Koalition Straße gehen.«
durch den Schlauch, dessen Ende im Bauch eine Großbaustelle. Die versprochene Er­ Die letzte große Reform liegt mehr als eine
ihres Mannes steckt. Hühnerfrikassee da- höhung der Pflegeleistungen fiel aus. Wer sich Legislaturperiode zurück. Damals definierte
gegen rutscht schnell durch, auch zermatsch- mit einer 24-Stunden-Pflegekraft aus Ost- Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU)
ter Kartoffelsalat ist eine gute Wahl für Pa- europa behilft, muss fürchten, dass das die Pflegegrade neu. Seit 2017 sind diese
tienten, die im Wachkoma liegen. Arbeitsverhältnis nicht legal ist. Und Heim- ­Regeln in Kraft. Doch noch immer fühlen sich
An diesem Novembertag drückt Beatrice bewohner wissen noch immer nicht, ob sie viele Angehörige übersehen.
Winkler mit einer dicken Spritze eine dunkle sich die explodierenden Kosten für ihren Platz Oft beginnt die Pflege mit einem Schock.
Pampe in die Magensonde: Schokoladentor- auf Dauer leisten können. Als Bayerns Ge- Einem Schlaganfall. Einem Sturz. Oder einem
te, fein püriert. 15 Uhr, Kaffeezeit. Ihren sundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) Auto, das auf der Bundesstraße wendet. Im
Mann hat sie im Rollstuhl in die Küche ge- jüngst gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Juni 2013 rasten Beatrice und Frank Winkler
schoben. Deutschland vor einer »humanitären Kata­ mit ihrem Motorrad frontal in das Fahrzeug
Warum sollte er sich von künstlichem strophe« warnte, klang das, als wären die vor ihnen. Sie hatten keine Chance zu brem-
Nährstoffbrei ernähren, den es abgepackt zu Regierenden in den vergangenen Jahren nicht sen. Es dauert ziemlich lange, bis Beatrice
kaufen gibt – bloß weil er nicht schlucken dabei gewesen. Winkler alle Knochen aufgezählt hat, die sich
kann? »Mein Mann hat gern und gut geges- Umso erstaunlicher ist, dass auch die an- das Paar damals gebrochen hat.
sen«, sagt sie, »und ich habe immer frisch gehende Ampelkoalition bemerkenswert Ihr Mann musste in den folgenden Mona-
gekocht.« ­ambitionslos bleibt. Im Sondierungspapier ten mehrmals operiert werden. Am Tag nach-
Sie ist dabei geblieben, auch in den acht tauchte das Wort »Altenpflege« gar nicht auf. dem man die letzten Schrauben aus seinem
Jahren, die ihr Mann in einer Art Schlaf ver- Erst als die Arbeitsgruppe Gesundheit sich Knie geholt hatte, gab sein Herz auf. Er wur-
bracht hat. Nur dass der Pürierstab jetzt ihr am Dienstag im Raum »Baden« in der Baden- de reanimiert, doch sein Gehirn war zu lange
wichtigstes Küchenutensil geworden ist. Württembergischen Landesvertretung traf, nicht durchblutet. »Hypoxischer Hirnscha-
Frank Winkler ist rund um die Uhr auf zeigte sich leiser Ehrgeiz. Auf der Tagesord- den«, sagten die Ärzte.
Pflege angewiesen. Oder besser gesagt: auf nung zum Thema Pflege standen auch die In der Reha realisierte Beatrice Winkler,
seine Frau. Sie weckt ihn um Viertel nach Heimkosten, die verworrenen Leistungen – dass ihr Mann nie mehr der sein würde, der
sechs, sie rasiert und wäscht ihn, sie wechselt und die Lage der pflegenden Angehörigen er einmal war. Dass er nie wieder würde spre-
seine Windeln, hievt ihn mit einem elektri- chen können, nie lächeln. Wie es ihm geht,
schen Lift in den Rollstuhl und bringt ihn mit- kann sie seither nur erahnen: Liegt er ent-
tags wieder zu Bett, sie streichelt ihn um halb Teure Pflege spannt da, oder verzieht er sein Gesicht?
drei wach, um ihn erneut in den Rollstuhl zu Beatrice und Frank Winkler sind seit der
Monatliche Kosten*, die Pflegebedürftige
wuchten und später eine Runde durch den bei Heimunterbringung in Deutschland Schule befreundet und inzwischen seit 23 Jah-
kleinen Ort in der Lausitz zu schieben. Am selbst übernehmen müssen, in Euro ren verheiratet. Sie ist gelernte Kranken-
Abend, wenn sie ihren Mann gegen 22 Uhr schwester, es wäre ihr nie in den Sinn gekom-
für die Nacht fertig gemacht hat, legt sie sich für Pflege** men, sich nicht um ihren Mann zu kümmern.
auf eine schmale Schlafstätte neben seinem für Unterkunft, Essen, Investitionskosten Sie riss die Wand aus dem Wohnzimmer,
Pflegebett. wie etwa Modernisierung, Instandhaltung um sein Pflegebett hineinzuschieben, und
Sie führt ein Leben, das kaum Raum für stritt mit den Kassen über den passenden Roll-
2125
anderes lässt. Den gesetzlichen Kassen ist das 1891
2015 stuhl. Berufstätige Angehörige haben im Not-
genau 901 Euro pro Monat wert. So hoch ist 1795 fall Anspruch auf nur 10 bezahlte Tage »kurz-
das Pflegegeld in der höchsten Stufe, Pflege- zeitige Arbeitsverhinderung«, wie es offiziell
grad fünf. Mit mehr finanzieller Anerkennung 1252 heißt, wegen der Pandemie sind es derzeit
1229
1187 1198
kann niemand rechnen. Und Beatrice Winkler ausnahmsweise 20 Tage. Danach können sie
findet, es wäre an der Zeit, das zu ändern. sich in der Regel ein halbes Jahr von ihrem
In den Nachrichten verfolgt sie genau, wie Arbeitgeber freistellen lassen, unbezahlt.
in Berlin über die Pflege gesprochen wird. Die 693 786 873 »Viel zu wenig«, findet Beatrice Winkler, die
608
53-Jährige wird das Gefühl nicht los, man nie wieder berufstätig war.
habe sie vergessen, sehr lange schon. »Wir Hätte Frank Winkler, der früher als Schwei-
2018 2019 2020 2021
werden nicht wahrgenommen«, sagt sie. ßer gearbeitet hat, keine private Berufs­­­­
* Durchschnitt; ** einrichtungseinheitlicher
Der scheidende Gesundheitsminister Jens Eigenanteil ab Pflegegrad 2 unfähigkeitsversicherung und keine kleine
Spahn (CDU) nannte die Pflege »die soziale S Quelle: vdek, Stand: Juli 2021, Daten jeweils zum 1. Juli Erwerbsminderungsrente, käme die Familie

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Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND

Wachkomapatient Winkler, Ehefrau Beatrice: »Wir werden nicht wahrgenommen«

heute mit dem Geld nicht aus. Mit 901 Euro tungsbudget« hatte die Große Koalition ver­ den berechnet wird. Meist sind die Helferin­
Pflegegeld, sagt Beatrice Winkler, könne sie sprochen, umgesetzt hat sie es nie. nen jedoch 24 Stunden in Bereitschaft.
keine großen Sprünge machen. Beatrice Winkler sagt, sie halte sich mit Das Bundesarbeitsgericht hat diese Praxis
Verbraucherschützer und Pflegeexperten den kleinen Fortschritten aufrecht, die ihr kürzlich erschwert. Eine bulgarische Betreue­
halten es für einen Skandal, dass die Große Mann mache. Dass er sich heute von der ­Seite rin erstritt, dass auch ihre Bereitschaftszeit
Koalition die Zahlungen nicht erhöht hat. auf den Rücken drehen kann. Dass er im Roll­ bezahlt werden muss – zum Mindestlohn.
Noch Ende 2020 hatte das Gesundheits­ stuhl sitzen kann. Und dass er es offensichtlich Der Fall zeigte, was seit Jahren in der Pflege
ministerium festgestellt, die Leistungen müss­ genießt, wenn sie in der Küche Musik auf­ stillschweigend geduldet wird: Arbeitsverhält­
ten um fünf Prozent steigen. Erwartete Kos­ dreht, um seinen Rollstuhl trippelt und vor­ nisse am Rande der Ausbeutung.
ten: 1,8 Milliarden Euro. sichtig seinen Arm schwenkt. »Wir tanzen«, Doch das Urteil stellt viele Haushalte vor
Zu der Erhöhung kam es nie, weil Spahn sagt sie dann. »Das haben wir früher so gern ein Problem. Die wenigsten Pflegebedürftigen
andere Schwerpunkte setzte. Er kündigte gemacht.« könnten die Kosten für eine 24-Stunden-Be­
­öffentlichkeitswirksam an, vor allem Heim­ Auf externe Hilfe hat sie nur kurz vertraut. treuung zum Mindestlohn aufbringen. Auch
bewohner finanziell entlasten zu wollen. Für Einmal habe eine Pflegekraft ihren Mann fal­ für die Pflegekassen wäre der Aufwand im­
die Pflege zu Hause reichte dann das Geld len lassen, erzählt sie. Seitdem kümmert sich mens, wenn für die Sorge im eigenen Haushalt
nicht mehr: Das 1,8-Milliarden-Euro-Verspre­ die Familie ausschließlich selbst. Nur einmal künftig gleich mehrere Personen eingesetzt
chen wurde zur Gegenfinanzierung der Heim­ in der Woche kommt ein Pflegedienst, der die werden müssten. »Wenn fünf bis sechs Pflege­
reform gestrichen. Kanüle in Frank Winklers Hals wechselt. kräfte vernünftig bezahlt werden sollen, einen
Der Chef des Verbraucherzentrale Bundes­ Weil es Deutschland seit Jahren nicht Mindestlohn von elf Euro vorausgesetzt, lan­
verbands, Klaus Müller, sprach von einem schafft, die Probleme zu lösen, suchen viele det man bei Beträgen von mehr als 10 000
»bösen Foul«. VdK-Präsidentin Bentele Betroffene Hilfe in Osteuropa. Rund 250 000 Euro pro Monat – viel mehr, als ein Heim
mahnt: »Angehörigenpflege darf nicht zur Privathaushalte sind nach Schätzungen des ­kostet«, sagt Rothgang. »Das kann man der
Armuts- und Krankheitsfalle werden.« Aller­ Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Roth­ ­Solidargemeinschaft nicht zumuten.« Und
dings scheint die Ampelkoalition nun für eine gang auf Betreuer aus dem Ausland angewie­ auch keinem privaten Haushalt. Doch weil
Erhöhung durchaus offen. sen, die sogenannte Live-in-Pflege. Agenturen die Lösung des Problems kompliziert wird,
Pflegeexperten fordern schon lange, den vermitteln die Arbeitskräfte für ein paar Mo­ hat die Politik sich bislang weggeduckt.
Wirrwarr an Leistungen zu entschlacken – nate nach Deutschland. In Broschüren und Menschen wie Elisabeth Müller stehen nun
von der Kurzzeit- und Verhinderungspflege im Internet werben sie mit: »Hausengel«, vor einem Dilemma. Ihren richtigen Namen
bis zur Tages- und Nachtpflege, für die je eige­ »Helfer aus Polen« oder »Omas neue Polin«. möchte sie nicht nennen, denn was sie in
ne Anträge nötig sind. Einfacher wäre es, ein Allerdings ist an dem Deal oft vieles faul. ihrem Haus in Unterfranken macht, ist eigent­
Guthaben einzuführen, über das die Men­ Die Laien erhalten einen Lohn, der zwar um lich nicht mehr legal.
schen frei verfügen könnten – auch, um sich einiges höher liegen mag als in ihrer Heimat, In ihrem Wohnzimmer hängen die Bilder
eine Auszeit zu verschaffen. So ein »Entlas­ aber offiziell nur für 30 bis 40 Wochenstun­ einer glücklichen Familie: Hochzeiten, Ge­

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DEUTSCHLAND

burtstagsfeiern, Neugeborene. Ihr


altes Leben endete vor 16 Jahren, als
ihr Mann beim Joggen mit einem
Herzstillstand umfiel. Er wurde wie­
derbelebt, blieb aber ein schwerer
Pflegefall, der rund um die Uhr auf
Hilfe angewiesen ist.
Für Elisabeth Müller ist klar, dass
sie ihren Mann nicht in ein Pflege­
heim geben will. »Jemand, der sich
nicht selbst äußern kann, ist im Heim
verloren«, sagt sie.
Heute denkt sie manchmal dar­
über nach, was gewesen wäre, wenn
der Rettungsdienst früher gekommen
wäre. Oder noch später. Wie ihr Le­
ben wäre, wenn Herbert nicht über­
lebt hätte. Es sind dunkle Gedanken.
Aber wer jemanden zu Hause pflegt
und solche Gedanken noch nie hatte,
meint Müller, der lüge.
Unter Müllers Füßen, in einer Ein­
liegerwohnung im Souterrain, lebt
jetzt die Lösung des Problems. Seat
kommt aus Montenegro, seit sieben
Jahren arbeitet er in deutschen Fami­
lien, um seine eigene daheim zu finan­
zieren. Seat hat vier Kinder und eine
Frau. Elisabeth Müller möchte nicht,
dass er bei dem Gespräch dabei ist.
Es gehe hier schließlich um sie und
ihren Mann, nicht um den Pfleger,
Fotos: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

sagt sie. Sie kann sehr resolut sein.


Lange Zeit hat sie Herbert selbst
betreut, auch ein ambulanter Pflege­
dienst half, aber als sie selbst ins
Krankenhaus musste, war damit
Schluss. »Meine einzige Sorge war:
Wenn ich jetzt sterbe, was ist dann
mit meinem Mann?«, sagt Müller.
Seitdem hat sie verschiedene Vermitt­
lungsdienste von 24-Stunden-Kräften Ehepaar Winkler Irgendwann kommt Seat aus seiner Manchmal wünsche sie sich, dass
ausprobiert. Binnen eines Jahres am Hauslift, pürierte Souterrainwohnung nach oben. Der es einfach zu Ende gehe, sagt Müller,
Schokoladentorte,
arbeiteten in ihrem Haus sechs Men­ Ordner mit Schrift- Mann aus Montenegro trägt einen »weil ich mich alleingelassen fühle!«
schen aus Polen, Bosnien-Herzego­ verkehr mit Trainingsanzug und lächelt zurückhal­ Sie meint, der Politik seien Angehö­
wina und Montenegro. der Pflegekasse: tend. Drei Monate will er bei den Mül­ rige und Pflegebedürftige wie sie und
So viel lässt sich sagen: Vermutlich Ein Leben, das kaum lers bleiben, so lange gilt sein Visum. ihr Mann egal: »Bei den vielen Pro­
Raum für anderes
hatten es nicht alle mit Elisabeth Mül­ lässt Seat nimmt Herberts Arme und blemen, die wir im Land haben – wo
ler leicht, und umgekehrt hatte auch legt sie vorsichtig um seinen Hals. sollen wir denn da noch mit rein?«
sie nicht immer Glück. Da war der Dann zieht er ihn mit Elisabeth Mül­ Der BIVA-Pflegeschutzbund ap­
Mann aus Montenegro, der im Som­ ler gemeinsam aus dem Sessel hoch. pelliert an die Politik, das Problem zu
mer als Baggerfahrer in Polen arbei­ Seat sei stark wie »Batman«, sagt sie lösen. Ansonsten sei das Modell für
tete und im Winter in der Pflege, da anerkennend, die Hände sanft auf den die meisten nicht mehr bezahlbar,
war der Kriegstraumatisierte aus Bos­ Rücken ihres Mannes gelegt. Wäh­ »oder der Schwarzmarkt floriert«.
nien, der täglich schrie, ein anderer, rend Seat Herbert Schritt für Schritt Pflegeökonom Rothgang sieht eigent­
der nur dann bleiben wollte, wenn sie durchs Wohnzimmer zieht, beobach­ lich nur eine legale Lösung, die den
schwarz 200 Euro mehr bezahlte. So tet Müller die beiden Männer. Als sie wenigsten gefallen dürfte: »Wenn
erzählt Müller das. Es klingt nach ver­ im Flur verschwinden, läuft sie hinter­ pflegebedürftige Personen wirklich
zweifelten Menschen, die in einem her. Auf ihren Mann hat sie am liebs­ Beaufsichtigung brauchen rund um
verzweifelten System arbeiten. ten selbst ein Auge. die Uhr, dann müssen sie im gemein­
Manche wurden Freunde. Patrick Schon heute überweist sie jeden schaftlichen Wohnen oder im Heim
aus Polen zum Beispiel oder Dana Monat 2800 Euro an Seats Agentur. versorgt werden.« Dafür gibt es aber
aus Sarajevo. »Es ist immer eine Wie viel davon an den Mann aus nicht genug Plätze. Ein Teufelskreis.
Glückssache, wen man bekommt«, Montenegro selbst geht, kann sie Anfangs hat auch Heiner Gerdes
sagt Elisabeth Müller, und es klingt, nicht sagen. Sicher ist nur: Wenn eine noch versucht, das Leben seiner
als ­spräche sie über eine Lotterie. legale Rund-um-die-Uhr-Pflege künf­ ­Eltern mit einem ambulanten Pflege­
Nur dass es bei der Lotterie um Men­ tig dreimal so teuer wäre, könnte Eli­ dienst zu organisieren. Als der Vater
schen geht. sabeth Müller sie nicht bezahlen. bettlägerig und blind wurde, siedelte

42 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

er Anfang 2019 in ein Heim um. Für die Mut- bewusst, dass er privilegiert sei, sagt er. Er Eltern aussuchen.« Er findet, die Pflegever-
ter organisierte Gerdes eine ebenerdige Woh- wolle nicht kleinlich sein, es gehe ihm nicht sicherung solle neu gedacht werden. Für die
nung. Eine Studentin zog mit ein, um ein Auge um sein Geld, sondern das Prinzip. Betreuung am Bett müsse die Allgemeinheit
auf die Mutter zu behalten. Es ging eine Wei- Gerdes hat zwei Geschwister, die – so er- aufkommen. »Das sollte die Verantwortung
le gut. So lange, bis die Seniorin stürzte. Seit zählt er das – weitaus weniger verdienten als der Pflegekassen sein.«
einem Jahr lebt auch sie im Heim. er. Daher sei es selbstverständlich, dass nur Was klingt wie die spezielle Sicht eines
Für zwei Plätze in zwei nahe gelegenen er die Heimkosten für seine Eltern überneh- Privilegierten, ist eine Forderung, die viele
Häusern in Baden-Württemberg müssen die me. »Wir verstehen uns sehr gut, wir teilen Pflegeexperten teilen. Seit ihrer Gründung
Senioren nun insgesamt 6100 Euro aus eige- auch die Besuche im Heim auf«, sagt er. Vor vor einem Vierteljahrhundert folgt die Ver-
ner Tasche zuzahlen – jeden Monat. Ihre Ren- allem der Vater ist auf tägliche Hilfe angewie- sicherung dem Teilkaskoprinzip. Sie deckt
te reicht gerade mal für die Hälfte, die Eigen- sen. Weil er nicht sehen kann, braucht er je- also nicht alle Leistungen ab, sondern nur
tumswohnung ist bereits verkauft, und auch mand, der ihm beim Essen den Löffel zum einen Teil. Ein Grund war, die Beitragslast
die bescheidenen Einnahmen daraus gehen Mund führt. Nur fragt sich Gerdes, wie sich überschaubar zu halten. Ein anderer, dass
bald zur Neige. das Verhältnis zwischen Geschwistern ver- ­Familien einen Teil der Verantwortung für die
Gerdes heißt in Wahrheit anders. Weil es ändert, wenn der eine für die Pflege zahlt, Bedürftigen tragen – und es keinen Anreiz
um das Innenleben seiner Familie geht, hat weil er muss, und die anderen nicht können, geben sollte, Senioren oder Schwerstkranke
der 54-Jährige gebeten, seinen richtigen Na- selbst wenn sie wollten. vorschnell ins Heim abzuschieben.
men nicht zu nennen. Er sagt, es gehe für ihn Vor allem: Warum müsse ein erwachsenes Was aber, wenn die Pflegekosten so ex-
völlig in Ordnung, dass die Pflegekosten sei- Kind für seine Eltern aufkommen – unabhän- plodieren wie derzeit und auch Normalver-
ne Erbschaft aufzehren. Die Frage ist nur, wer gig davon, wie es seine Kindheit erlebte? Die diener überfordern? Schließlich möchten alle
danach für die Plätze seiner Eltern zahlt. Elternbeihilfe könne man nur ablehnen, wenn Parteien bessere Löhne in der Altenpflege
Es ist ein Problem, dass alle knapp 900 000 man nachweisen könne, dass man misshandelt durchsetzen. Steigen die Personalausgaben
Heimbewohner und deren Angehörige um- worden sei, sagt er. Er hat das bereits nach- und bleiben zugleich die Leistungen der Pfle-
treibt. Eine Statistik der Pflegekassen belegt, gelesen. gekasse konstant, zahlen im Teilkaskomodell
dass jeder von ihnen im Bundesschnitt derzeit »Was eine Misshandlung ist, ist sehr sub- die Pflegebedürftigen selbst – und nicht etwa
2125 Euro monatlich selbst für seinen Platz jektiv«, findet Gerdes. Und das Verhältnis zu die gesetzliche Versicherung.
zuschießen muss. In Baden-Württemberg seinen Eltern sei, nun ja, nicht immer das Bes- Um das Problem zu lösen, gibt es viele
oder NRW erreichen die Kosten leicht 2500 te gewesen. Sein Vater habe »sich den Arsch Vorschläge. Sozialverbände wie der VdK for-
Euro, in einzelnen Städten liegen sie um die aufgerissen für Gott und die Welt«, jedenfalls dern, die Pflegeversicherung zum Vollkasko-
3000 Euro, so wie auch Familie Gerdes das außerhalb der Familie. Seine eigenen Kinder system umzubauen.
erlebt. Tendenz steigend. Doch während die sahen ihn nur selten. Die gesetzlichen Pflegekassen wiederum
Eigenanteile explodieren, blieben die Leis- Für seine Kinder müsse jeder Verantwor- wollen die private Konkurrenz anzapfen. Weil
tungen der Pflegekasse konstant. tung übernehmen, auch finanziell, so sieht diese eine Kundschaft mit höheren Einkom-
Von Januar 2022 an wird es einen neuen Gerdes das. »Aber niemand kann sich seine men und geringeren Gesundheitsrisiken ab-
Zuschlag für Heimbewohner geben, aber das sichere, solle sie einen milliardenschweren
Projekt hat viele Tücken. Der sogenannte Ausgleich zahlen. Auch der SPD schwebte so
Eigenanteil für die eigentliche Pflege soll im Gepflegtes Wachstum etwas bereits vor. Doch bei den Koalitions-
ersten Heimjahr um 5 Prozent sinken, im verhandlungen ist der Vorschlag bislang ver-
Leistungsbezieher aus der sozialen
zweiten um 25, im dritten um 45 und erst ab Pflegeversicherung mintes Gelände. Er erinnert entfernt an die
dem vierten Jahr um 70 Prozent. Bürgerversicherung, die Grüne und SPD drin-
Die bittere Wahrheit ist: Nur die wenigsten 4,3 Mio. gend wollten, die FDP aber ebenso dringend
Bewohner werden von den höheren Stufen 4 Mio. 4,34 Mi
Mioo. ablehnt.
3,7
7 Mio
Mio.
profitieren, die Mehrheit erlebt das zweite 3,3 Mi
Mioo. Allerdings drängt die Zeit, und die Gesell-
Jahr im Heim ohnehin nicht mehr, wie Pa- schaft muss sich bald klar entscheiden, was
tientenschützer schimpfen. Und die prozen- 2,27Mi
,7MiMio.
o..o. sie bereit ist, in die Pflege ihrer schwächsten
,25Mi
,24Mi
,6Mi o.o
o..o.
tuale Entlastung bezieht sich nicht auf die 1,1 2 , ,23Mi
22,23Mi
MioMio
o.
o o.o.o
. Mitglieder zu investieren. Sollen nur die Bei-
2Mi
,1oMi
Mio o..
o
gesamten Kosten, sondern nur auf die Pflege- 2 Mio.
17,17Mi ,1o
,18Mio
,18Mi Mi ,.19
,9
8Mio
Mi Mi
o.
o 1.o
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2Mio
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o.. .o.
o..o tragszahler aufkommen – und will die neue
1,51 ,
5 MiMio o. o.
o
leistung. Für Unterkunft, Verpflegung oder Bundesregierung damit Gefahr laufen, Klein-
ihren Anteil an Umbaumaßnahmen müssen 1,1 Mi
Mioo. und Mittelverdiener überproportional zu be-
die Betroffenen weiterhin allein aufkommen. lasten? Oder soll es künftig einen dauerhaften
Dabei ist fast jeder dritte Heimbewohner Steuerzuschuss geben? Um diese Gerechtig-
schon heute auf Unterstützung vom Sozial- keitsfragen auszuloten, sind Koalitionsver-
amt angewiesen. Im vergangenen Jahr gab 1995 2000 2010 2020 handlungen kein schlechter Ort.
der Staat mehr als vier Milliarden Euro für Beatrice Winkler ist bald selbst auf Hilfe
die »Hilfe zur Pflege« aus. Keine andere So- angewiesen. Sie braucht ein neues Hüftge-
zialleistung ist derart gestiegen. Und Wissen- Pflegebedürftige in Deutschland, 2021 lenk. Die Tage übersteht sie nur mit Schmerz-
schaftler prophezeien, dass der Trend nach tabletten, die Operation hat sie seit Jahren
der Reform anhalten wird. im Heim vor sich hergeschoben, um ihren Mann nicht
Auch erwachsene Kinder werden für den 0,9 Mio. alleinzulassen.
sogenannten Elternunterhalt zur Kasse ge- Jetzt steht der Termin. Noch in diesem
beten – jedenfalls dann, wenn ihr jährliches Gesamt Monat soll es so weit sein, wenn die Kasse ihr
Bruttoeinkommen die gesetzte Marke von 4,6 Mio. Okay für einen ambulanten Dienst gibt, der
100 000 Euro übersteigt. Vom kommenden sich für einige Zeit um ihren Mann kümmert.
Jahr an wird daher auch Heiner Gerdes für Beatrice Winkler hat schon vorgekocht,
die Heimkosten seiner Eltern zahlen. zu Hause der Gefrierschrank in der Küche ist gefüllt mit
Er arbeitet als Unternehmensberater, beim 3,7 Mio. 42 Plastikdöschen. »Nudeleintopf« steht da-
Gespräch sitzt er mit Brille und akkurat ge- rauf, »gebratener Fisch« oder »Frikassee«.
bügeltem Hemd vor dem Bildschirm. Ihm sei S Quellen: Geschäftsstatisik der Pflegekassen, BMG Alles so fein püriert wie möglich.  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 43


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es enthält Daten, die nicht öffentlich


zugänglich waren. Staatsschützer
­finden heraus, dass Informationen
über Başay-Yıldız kurz vor dem Ver-

Schachmatt für »Beaker«


schicken des Faxes von einem Com-
puter im 1. Frankfurter Polizeirevier
ab­gerufen worden waren. Und auf
dem Smartphone jener Beamtin, von
deren Gerät aus die Abfrage erfolg-
SICHERHEIT  33 Monate brauchten Ermittler, um jenen Mann zu fassen, te, stoßen die Ermittler auf eine
rechtsextreme Chatgruppe hessischer
der hinter den Hassmails des »NSU 2.0« stehen soll. Sein entscheidender Fehler Polizisten.
war wohl, dass er beim Schachspiel nicht verlieren wollte. Der Verdacht lag nahe, dass es
einen direkten Zusammenhang zwi-
schen den Hassmails des »NSU 2.0«

A
ls ein mobiles Einsatzkomman- und einem möglichen rechten Netz-
do der Polizei am Abend des werk bei der Polizei gab. In den
3. Mai seine Wohnung im Ber- ­folgenden Jahren tauchten immer
liner Wedding aufbrach, war Alexan- mehr Drohschreiben auf, von denen
der M. wohl gerade auf dem Weg in einige diese Hypothese stärkten.
die Küche. Ein Beamter stürmte an Auch sie standen in zeitlichem Zu-
ihm vorbei ins Wohnzimmer, in dem sammenhang mit Abfragen an Poli-
der Computer lief. Die Polizisten zeicomputern.

chess.com
wollten unbedingt verhindern, dass Geschickt wurden die Pamphlete
der Rechner sich abschaltete. Sie in erster Linie an Frauen, neben
fürchteten, dass sie dann nicht mehr Başay-Yıldız auch an die Kabarettistin
auf die Daten hätten zugreifen kön- Idil Baydar und an die Linkenpoliti-
nen, nach denen sie seit fast drei Jah- kerinnen Janine Wissler und Martina
ren fieberhaft gesucht hatten. Renner. Die Suche nach den Absen-
Am Ende wunderten sich die Fahn- dern führte zum russisch-niederlän-
der, wie dürftig der Computer gesi- dischen Mailanbieter Yandex und
chert war, stationärer PC, älteres Mo- dem dort geführten Account »tuer-
dell, ohne große Finessen. Mit diesem kensau«. Doch dann verlor sich die
Gerät also soll ein mehrfach vorbe- Spur in den Tiefen des Darknets.
strafter und arbeitsloser IT-Techniker Hessens Innenminister Beuth, in
Boris Roessler / dpa

Clemens Bilan / epa


33 Monate lang Angst und Schrecken der Affäre zunehmend unter Druck,
unter Politikerinnen und Politikern, setzte schließlich einen Sonderermitt-
Künstlerinnen, Publizisten und Juris- ler ein. Zwei Sprachwissenschaftle-
tinnen verbreitet haben. rinnen des Bundeskriminalamts er-
Alexander M., 53, ist nach Über- stellten ein linguistisches Gutachten,
zeugung der Ermittler jener Mann, Profilbild des Mithilfe von Details aus den Er- das erstaunliche Parallelen zwischen
der hinter 116 rechtsextremen Droh- mut­­maßlichen Täters mittlungen lässt sich nun nachzeich- den Drohschreiben und verschiede-
auf einer Schach-
schreiben mit dem Absender »NSU Seite, Betroffene
nen, wie die Polizei Alexander M. als nen Kommentaren im rechtsextre-
2.0« steht. Unter der Bezeichnung Başay-Yıldız, Wissler: mutmaßlichen Täter identifizierte. Es men Blog »PI-News« aufzeigte.
»SS Obersturmbannführer« soll er Ihre Tochter werde deutet vieles darauf hin, dass er zwei Auffällig häufig tauchten in beiden
mehr als 30 Personen beleidigt oder man »schlachten« entscheidende Fehler machte: Er war Fällen einige sonst eher selten ver-
mit Mord bedroht haben. Fragmente als Hobby-Schachspieler zu ehrgeizig. wendete Wörter wie »kongenial« auf.
dieser Schreiben konnten die Beam- Und er rechnete nicht mit der Hart- Auch Zitate aus einem Liedtext, in
ten auf der Festplatte seines Compu- näckigkeit eines Frankfurter SEK- dem ein Serienmörder aus dem ver-
ters sichern. Zudem hat die Staats- Beamten, der zufällig seine Schach- gangenen Jahrhundert besungen wird,
anwaltschaft Frankfurt am Main in Leidenschaft teilte. fanden sich sowohl in Drohmails als
einer 120-seitigen Anklageschrift vie- Der Fall beginnt am 2. August 2018 auch in Blog-Kommentaren. Und mit-
le andere Vorwürfe gegen M. zusam- mit einem Fax, das in der Kanzlei der unter bezogen sich Kommentare und
mengetragen: Volksverhetzung, ver- Frankfurter Rechtsanwältin Seda Drohschreiben auf dieselben lokalen
suchte Nötigung, illegaler Waffenbe- Başay-Yıldız eingeht. Die Juristin Geschehnisse aus dem Soldiner Kiez
sitz, Besitz von Kinderpornografie. wird in dem Schreiben als »miese Tür- in Berlin.
M. bestreite die Tatvorwürfe, so kensau« beschimpft, die sich »ver- Die BKA-Expertinnen hatten auf-
Nadja Niesen, Sprecherin der Staats- pissen« solle, »solange du hier noch grund sprachlicher Merkmale ohne-
anwaltschaft. Allerdings habe er sich lebend rauskommst«. Ihre Tochter hin auf Berlin als Wohnort des Droh-
bisher nicht zu den erdrückenden Be- werde man »schlachten«. Darunter schreibers getippt. Ihre Analyse legte
weisen geäußert, sagen Ermittler. In steht der Name des toten Terroristen nahe, dass es vermutlich dieselbe
der gerade erhobenen Anklage heißt Uwe Böhnhardt aus der Mördertrup- Person war, die sich auch unter Nut-
es, dass M. als Einzeltäter gehandelt pe »Nationalsozialistischer Unter- zernamen wie »Elefant im Porzellan-
habe, ohne erkennbares Netz von grund« (NSU). Unterzeichnet ist das laden«, »Gomorrha« oder »Ober­
Unterstützern. Und ohne konspirati- Fax mit dem Kürzel »NSU 2.0«. simulant« auf »PI-News« austobte.
ve Hilfe von Polizisten, wie lange ver- Das Fax stürzt die hessische Poli- Doch selbst dieser Hinweis brach-
mutet worden war. Wann der Prozess zei und Innenminister Peter Beuth te noch keinen Durchbruch. Alle Ver-
gegen M. beginnt, ist noch unklar. (CDU) in eine schwere Krise. Denn suche scheiterten, über technische

46 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

Lösungen und Fallen an die Namen oder Ad- tote Mäuse. M. sei ein Einzelgänger, der von
ressen der Kommentatoren zu gelangen. Ale- Hartz-IV-Leistungen lebte und an der Bus-
xander M. benutzte den Tor-Browser, der die haltestelle manchmal Selbstgespräche führte,
IP-Adressen seines Anschlusses verschleierte. so sagen es Ermittler.
Allerdings nicht immer und überall: Beim Vor der Erstürmung seiner Wohnung wur-
Schach im Netz vernachlässigte er seine Si- de M. überwacht. Er verbrachte die Tage wohl
cherheitsvorkehrungen. Und zu seinem Pech meist nach demselben Muster: Nachmittags
spielte ein Polizist des Frankfurter Spezial- kaufte er ein, dann setzte er sich, eingedeckt
einsatzkommandos (SEK), der zufällig ins mit alkoholischen Getränken, bis spät in die
Landeskriminalamt abgeordnet war, auch Nacht vor seinen Computer. Die Fahnder
gern digital. wollten ihn überraschen, während das Gerät
Der Beamte wühlte sich durch die Akten angeschaltet war.
und verfolgte die Idee, dass der mutmaßliche Sie waren überzeugt, den Richtigen ge-
Täter seine Internet-Pseudonyme womöglich funden zu haben. M. hatte bereits mehrere
auch auf anderen Plattformen verwenden Verurteilungen und Freiheitsstrafen hinter
könnte. Einen Nutzer mit dem Profilnamen sich. Beleidigung und Bedrohung, Urkunden-
»Obersimulant« fand der SEK-Mann etwa fälschung, Störung des öffentlichen Friedens,
auf der Website Chess.com. Was aber noch Besitz von Kinderpornografie. Das Berliner
wichtiger war: Das dazugehörige Profilbild Amtsgericht Tiergarten bescheinigte ihm
dieses Nutzers war eine Figur aus der »Mup- 2006 »chronische Geldnot« und einen »im-
pet Show«, der rothaarige »Beaker«. Und als pulsiven und aufbrausenden Charakter«. M.
»Beaker von der Muppetshow« hatte auch sei »auf der steten Suche nach Anerkennung
ein »Obersimulant« auf »PI-News« schon ein- und Aufmerksamkeit«.
mal Grüße verschickt. Vor allem aber verfügte er offenbar über
Bei seinen aufwendigen Recherchen im das rhetorische Talent, sich bei Anrufen in
Netz stieß der Ermittler auf weitere einschlä- Behörden Respekt zu verschaffen und Aus-
gige Profile, hinter denen sich vermutlich im- künfte herauszulocken. Schon 1992 soll er
mer derselbe Mensch versteckte: »Ernst Blau- sich als Polizist ausgegeben haben, 1994 wur-
saeufer« oder »Wumme« zum Beispiel. Men- de er wegen Amtsanmaßung verurteilt.
schen mit diesem Profilnamen waren seit Die hessischen Ermittler glauben, dass M.
Jahren auch auf Chess.com aktiv. Sie hatten auf diesem Weg auch an einige der Informa-
sich dort offenbar mit erfundenen Klarnamen tionen gekommen sein muss, die er für seine
wie »Ernst Möller« oder »Frank Dietrich« Drohschreiben verwendet habe. Vermutlich
angemeldet. Und sie waren, wie der Ermittler habe er auf Polizeirevieren und in Meldeäm-
herausfand, noch nie zur selben Zeit einge- tern angerufen, sich als Kollege ausgegeben,
loggt gewesen. der dringend eine Personenabfrage machen
Eines aber hatten diese Nutzerprofile ge- müsse. Da er wegen eines Systemversagens
meinsam: Wer auch immer sie nutzte, war ein gerade nicht an die Daten komme, bitte er um
überdurchschnittlich guter und ehrgeiziger eine telefonische Übermittlung.
Spieler mit einer Vorliebe für Blitzschach: nur In mehreren Fällen habe das wohl funk-
drei Minuten Bedenkzeit pro Partie. Wer da- tioniert, weil M. nach den Erkenntnissen der
bei gewinnen will, darf keine Sekunde ver- Ermittler das sogenannte Spoofing beherrsch-
schwenden. Mit einem langsamen Tor-Brow- te: Auf dem Display der Angerufenen er-
ser, der erst einen zeitraubenden Umweg über schien die Rufnummer einer Polizeibehörde,
ein Anonymisierungsnetzwerk nimmt, hat die M. in seinem Computer erzeugen konnte.
man keine Chance. Alexander M. wollte aber Andere Informationen, etwa Handynummern
nicht verlieren, spielte nach den Erkenntnis- von Politikerinnen, habe er sich vermutlich
sen der Fahnder mit einem regulären Browser aus dem Internet zusammengesucht.
im offenen Netz und riss damit wohl die ent- Einige Betroffene zweifeln indes, dass sich
scheidende Lücke in seine Tarnung. das so abgespielt haben könnte. Der »NSU
Über Abfragen bei Chess.com und einem 2.0« sei nach ihrem Umzug auch an ihre neue
Telekommunikationsanbieter stießen die Adresse gekommen, obwohl diese sogar im
Staatsschützer des hessischen Landeskrimi- Polizeicomputer gesperrt gewesen sei, sagt
nalamts schließlich erst auf die IP-Adresse die Anwältin Başay-Yıldız. Ein Einzeltäter
seines Computers und dann auf seine An- wäre von Berlin aus dazu wohl kaum in der
schrift in Berlin. M. hauste dort in einer weit- Lage gewesen, glaubt die Juristin.
gehend vermüllten Einzimmerwohnung, Die Frankfurter Ermittler halten ihre An-
kaum mehr als 30 Quadratmeter groß. In klage dennoch für plausibel. Vor einigen
seiner Küche entdeckten die Polizisten zwei ­Jahren, sagen sie, habe M. mit dem Berliner
Einwohnermeldeamt darüber gestritten, ob
seine eigene Adresse für Abfragen gesperrt
werden müsse, weil er sich bedroht fühle.
Chronische Geldnot, M. habe argumentiert, es sei doch ein Leich-
tes, eine Behörde anzurufen, sich als Beamter
ein aufbrausender auszugeben und an fremde Adressdaten
Charakter und tote Mäuse zu kommen. Das habe er schließlich auch
selbst schon so gemacht.
in der Küche. Matthias Bartsch  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 47


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Frau Rostalski, Herr Montgomery,


Deutschland steht vor dem zweiten Corona-
winter, die vierte Welle ist da. Die Inzidenzen
sind so hoch wie nie, Mediziner warnen vor
einer Überlastung der Intensivstationen. Das
liegt vor allem daran, dass nur knapp 67 Pro-

»Der Mensch darf irrationale zent der Bevölkerung vollständig geimpft


sind. Brauchen wir doch eine Impfpflicht?
Montgomery: Aus medizinischer Sicht wäre

Entscheidungen treffen« eine Impfpflicht unbedingt zu wünschen.


Dann hätten wir weniger Tote, weniger
schwere Verläufe und könnten früher auf
Kontaktbeschränkungen verzichten. Es ist

»Wir müssen der Unvernunft der Schlüssel zur Rückkehr in die Normalität
für uns alle. Dass Gesundheitsminister Jens
Spahn und die Bundeskanzlerin eine Impf-

eine Grenze setzen« pflicht früh ausgeschlossen haben, war vor-


eilig und falsch.
Rostalski: Ob eine Impfpflicht gerechtfertigt
ist, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Sie
SPIEGEL-STREITGESPRÄCH  Die Juristin Frauke Rostalski, Mitglied muss einem legitimen Zweck dienen, in dem
im Deutschen Ethikrat, und der Mediziner Frank Ulrich Montgomery, Fall, die Gesundheit der Menschen zu schüt-
zen und das Gesundheitssystem vor einem
Chef des Weltärztebundes, diskutieren über die Impfpflicht, Kollaps zu bewahren. Da sich mit einer Imp-
einen Lockdown für Ungeimpfte und die Frage, ob man in der Pandemie fung inzwischen jeder besonders Gefährdete
den Menschen vor sich selbst schützen muss. selbst schützen kann, kann er den Staat nicht
mehr in Anspruch nehmen. Es geht nun um
das Gesundheitssystem. Steht es wirklich vor
dem Kollaps? Und welche Gruppen belasten
die Intensivstationen besonders?
Montgomery: Sie wollen also in erster Linie
nur möglichen Opfern die Pflicht auferlegen,
sich zu impfen, und nicht denjenigen, die sie
potenziell anstecken? Da gehe ich als Arzt
nicht mit. Wir brauchen eine Impfpflicht vor
allem für die, die andere gefährden. Ich dach-
te, nach unserer Verfassung hört meine Frei-
heit auf, wo die des anderen anfängt.
Rostalski: Ich finde es nicht gut, wenn Sie hier
von Opfern und Tätern sprechen. Wer sich
nicht impfen lässt, ist kein Täter. Auch jemand
aus einer Risikogruppe muss sich weder schul-
dig fühlen noch schämen, wenn er sich an-
gesteckt hat. Wenn wir schon von Opfern
sprechen, dann sind es doch die Kinder, die
extreme Einschränkungen hingenommen ha-
ben, was ihre Freiheit und Bildung angeht.
Das wurde bisher nicht ausgeglichen.
Montgomery: Ja, wir haben einen ganzen
Jahrgang um seine Bildungschancen betrogen.
Ich habe übrigens nicht von Tätern gespro-
chen, den Begriff haben Sie eingeführt. Ich
mache mir aber Sorgen, wenn unter dem
Schlagwort Verhältnismäßigkeit der absolute
Lebensschutz in eine Abwägung gerät.
Rostalski: Es ist aber nun einmal so, dass Ge-
sundheit und das Leben in unserer Rechts-
gemeinschaft gegen andere Freiheitsrechte
abgewogen werden. Es gibt keinen absoluten
Lebensschutz. Wir fahren auch Auto, obwohl
das lebensgefährlich ist. Dieses Risiko neh-
Dominik Asbach / DER SPIEGEL

men wir als Gesellschaft hin für die Freiheit,


sich schnell fortzubewegen.
SPIEGEL: Ich darf aber nicht mit Tempo 100
durch die Innenstadt fahren.

Strafrechtlerin Rostalski Das Gespräch moderierten die Redakteurin Annette


Groß­bongardt und der Redakteur Maik Großekathöfer.

48 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


DEUTSCHLAND

Rostalski:  Ja, um andere zu schützen, die das


dort selbst nicht tun können. Gegen Covid-19
kann ich mich aber impfen lassen.
Montgomery: Mich würde interessieren, Frau
Rostalski, was Sie zur Verhältnismäßigkeit
sagten, wenn wir ein Virus hätten, das so an-
steckend ist wie die Delta-Variante und so
tödlich wie Ebola.
Rostalski: Dann wäre eine Impfpflicht unter
Umständen zu rechtfertigen. Aber bei Coro-
na ist das eben derzeit nicht der Fall.
Montgomery: Ich bin Arzt, ich will Leben ret-
ten, wo immer es geht.
Rostalski: Das widerspricht nicht meinem
Anliegen. Aber eine Impfpflicht wäre ein er-
heblicher Eingriff in die Körperintegrität, in
die Intimität einer Person sozusagen. Der
Körper ist in unserem Rechtssystem eine so
bedeutsame Grenze, die nur unter besonde-
ren Umständen überschritten werden darf.
Daher darf der Staat uns auch nicht zwingen,
Blut zu spenden, auch wenn wir damit Leben
retten würden. Eine Impfpflicht ist ein we-
sentlich stärkerer Eingriff als ein Lockdown.
Die staatliche Schutzpflicht endet bei der
Eigenverantwortung. Die habe ich auch,
wenn ich in einen Wald gehe, wo mir ein Ast
auf den Kopf fallen könnte. Da kann ich nicht
vom Staat verlangen, dass er den Wald ab-
holzt.
SPIEGEL: Ungeimpfte gefährden nicht nur sich,
sondern auch andere. Das ist dann so, als lie-
fe ich durch einen Wald, an dessen Bäumen
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

gesägt wird.
Rostalski: Wenn der Einzelne mit dem Impfen
in der Lage ist, sich selbst zu schützen, wird
der Staat aus seiner Verantwortung entlassen.
Mediziner Montgomery
Montgomery: Das Problem ist nur, dass sich
zu wenige Menschen impfen lassen, dadurch
bleibt ein Risiko für die Gesamtheit, auch weil da leisten wir uns eine akademische Debatte gute Möglichkeit, weil ich dann weiß, an die-
sich in nicht verhinderten Infektionen neue über Verhältnismäßigkeit. sem Tag habe ich das Virus nicht in mir. Das
Mutationen entwickeln können. Rostalski: Es geht hier nicht um eine akade- weiß ich nicht, bloß weil ich geimpft bin.
Rostalski: Zum Selbstschutz darf aber keiner mische Debatte, sondern um handfeste, har- Montgomery: Ach, entschuldigen Sie, diese
gezwungen werden. Auch wenn wir das als te Maßnahmen, die der Bevölkerung auferlegt Selbsttests sind ja nett gemeint, aber die ha-
unvernünftig beurteilen, in einem freiheitli- werden. Ihre Beispiele passen nicht. Ein psy- ben eine relativ hohe Fehlerquote. Sie müssen
chen Rechtsstaat darf der Mensch auch irra- chisch Kranker kann eben nicht für sich selbst dann schon PCR-Tests machen, dafür brau-
tionale Entscheidungen treffen – solange er entscheiden. Und ein Arzt dient dem Gesund- chen Sie medizinisches Personal. Ist da die
dadurch nicht andere gefährdet. heitsschutz, er steht in Kontakt zu kranken Impfung nicht der einfachere Weg? Ich kann
Montgomery: Ich finde, wir machen es uns zu Menschen. Bei manchen Erkrankungen kann diese Überhöhung des Rechts auf Unvernunft
einfach, wenn wir sagen, der Mensch darf halt Schutz geboten sein. nicht nachvollziehen. Wenn einer über den
unvernünftig sein. Wir brauchen da irgend- Montgomery: Das heißt, Sie sind für eine Ku’damm in Berlin rast, ist er unvernünftig.
wann auch ein bisschen Führung. Sonst habe Impfpflicht für Ärzte und Pflegepersonal? Wenn er dabei jemanden tötet, werten Ge-
ich die doch auch, warum nicht bei dieser Rostalski: Sicher muss man über Ärztinnen richte das mitunter als Mord. Da wird der
tödlichen Krankheit? und Ärzte und Pflegepersonal besonders Unvernunft eine Grenze gesetzt. Warum nicht
Rostalski: Paternalismus ist hier fehl am Plat- nachdenken. Aber wir müssen auch fragen, auch bei Corona?
ze, in unserer Verfassung ist die Eigenver- ob es nicht ebenso effektive mildere Alter- Rostalski: Ku’damm-Raser werden nicht we-
antwortung zentral. nativen gibt. Etwa tägliche Tests. gen ihrer Unvernunft bestraft, sondern weil
Montgomery: Bei psychiatrisch Erkrankten Montgomery: Mit dem Testen komme ich sie andere verletzen ­– die sich dagegen nicht
mit Selbstgefährdungspotenzial haben wir doch immer zu spät. Wenn ich Glück habe, schützen können.
erhebliche Eingriffsrechte bis hin zu der Fra- kann ich vielleicht die eine oder andere In- Montgomery: Dann möchte ich, dass derjeni-
ge, welche Medikamente wir ihnen verabrei- fektion erwischen. Viel klüger ist es doch, die ge, der sich nicht impfen lassen will, immer
chen dürfen. Einen offen Tuberkulosekranken Infektion von vornherein zu verhindern. eine Maske trägt. Masken halten 95 bis 98
darf ich zwangsbehandeln. Als Arzt muss ich Rostalski: Aber da wollen Sie wieder pater- Prozent der Infektionen ab, wenn man sie
mich gegen Hepatitis B impfen lassen, wenn nalistisch den Einzelnen vor sich selbst schüt- richtig trägt. Oder leiten Sie aus der Unver-
ich mit Blut zu tun habe. Hier handelt der zen. Wir sagen doch auch nicht: Du darfst nunft einiger weniger ab, dass alle immer
Staat, aber in so einer Pandemie, die unsere nicht rauchen, du darfst nicht an einem Gum- Maske tragen müssen?
Wirtschaft gefährdet, die Versorgung in den miseil von einer Brücke springen! Obwohl Rostalski: Eine Maskenpflicht in öffentlichen
Krankenhäusern, ja, das Leben der Menschen, das alles hochgefährlich ist. Der Test ist eine Verkehrsmitteln ist ein vergleichsweise gerin-

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 49


DEUTSCHLAND

ger Eingriff in die Freiheit des Einzelnen. Für vor allem wenn Berufsfreiheit von der Imp-
die Dauer der Pandemie erscheint mir das Deutsche Impfskepsis fung abhängig gemacht wird. Ein Lockdown
zumutbar auch gegenüber bereits Geimpften. nur für eine bestimmte Gruppe in der Zeit, in
SPIEGEL: Hinter der Frage von Herrn Mont- Bevölkerungsanteil, der vollständig der eine Gefahr für das Gesundheitssystem
gegen Covid-19 geimpft ist; ausgewählte
gomery steckt doch: Wir haben knapp 70 besteht, könnte daher eine weniger eingriffs-
europäische Länder
Prozent Erstgeimpfte in Deutschland, somit intensive Maßnahme sein.
sind 30 Prozent noch nicht geimpft. Nimmt Portugal SPIEGEL: Ließe sich eine Ausgangssperre für
da nicht, wie der ehemalige Bundesrichter 87% Ungeimpfte eines bestimmten Alters wirklich
Thomas Fischer gesagt hat, eine Minderheit Spanien begründen?
die Mehrheit in Geiselhaft und erpresst sie? 80% Rostalski: Maßnahmen gegen bestimmte
Rostalski: Von einer Erpressung würde ich Gruppen lassen sich rechtfertigen, wenn Sie
hier unter keinen Umständen sprechen. Die Dänemark begründen können, dass es sich um »Störer«
Minderheit der Ungeimpften löst keinen 76% handelt, wie man im Gefahrenabwehrrecht

folgt 72%
Druck auf andere aus, solange die sich effek- Italien sagt. Wir waren lange Zeit alle Störer, aber
k
Grafi
tiv selbst schützen können. Der Staat soll das wenn es jetzt um den Schutz des Gesundheits-
Gesundheitssystem schützen. Anfangs gingen systems geht, kann man es auf diejenigen be-
wir von einem Kollaps aus, wenn Triage-Si- Frankreich grenzen, die die Intensivstationen voraus-
tuationen drohen. Wenn Ärzte entscheiden 68% sichtlich besonders belasten.
müssen, wer das lebensrettende Beatmungs- Vereinigtes Königreich Montgomery: Ich bin nicht sicher, ob das der
gerät erhält und wer nicht. Derzeit geht es 67% richtige Weg ist.
um eine Überlastung von Pflegern und das Rostalski: Aus Gründen der Verhältnismäßig-
Deutschland
Verschieben von Operationen. Wann genau keit ist es der bessere Weg, als zu sagen, ich
67%
liegt der Kollaps vor? Darüber müssen wir impfe jetzt zwangsweise die ganze Bevölke-
uns als Gesellschaft noch klar werden. S Quelle: Our World in Data; Stand: 4. November rung durch.
Montgomery: Lassen Sie mich Ihre Argumen- Montgomery: Das Impfen ist kein dramati-
te abräumen. Wir erleben bereits einen medi- ich fürchte einen langwierigen Rechtsstreit, scher Eingriff, es birgt kein hohes gesundheit-
zinischen Kollaps. Covid-19-Patienten liegen der mit ethischen Argumenten verbrämt wird. liches Risiko.
im Schnitt 18 Tage auf der Intensivstation, zwei Dass wir eine Herdenimmunität erreichen, Rostalski: Es ist ein erheblicher Eingriff in die
Drittel von ihnen sterben. Andere Patienten sehe ich nicht. Deswegen brauchen wir auch Integrität des Körpers. Und der muss gut be-
bleiben im Schnitt drei bis vier Tage und ver- die Booster. Und zwar nicht nur für die über gründet werden.
lassen die Station zu einem viel höheren Pro- 60-Jährigen, sondern für jeden, bei dem die Montgomery: Aber ich kann ihn doch begrün-
zentsatz lebend. Das ist eine unbeschreibliche Immunität nachlässt. den. Mit der Impfung schließe ich aus, dass
Belastung für das Personal, das es auch satthat, SPIEGEL: Ärztepräsident Klaus Reinhardt hat ein Mensch sich selbst und andere gefährdet.
sich wegen der Unvernunft der Unwilligen ab- einen Lockdown für Ungeimpfte gefordert, Selbst wenn ein Geimpfter erkrankt, wird er
zurackern. Sie wollen nicht mehr auf der In- wenn die stationäre Versorgung gesichert wer- einen leichteren Verlauf haben.
tensivstation arbeiten. Und wir können 20 Pro- den müsse. Österreich hat so einen Lockdown Rostalski: Noch einmal: Jeder kann sich selbst
zent der Betten gar nicht belegen, weil uns die bereits angekündigt. Was halten Sie davon? schützen. Es kann valide Gründe für einen
Leute fehlen. Und Sie werden verstehen, dass Rostalski: Es kommt darauf an, das Gesund- Einzelnen geben, sich nicht impfen zu lassen,
ich als jemand, der in seinem Leben Tausende heitssystem vor dem Zusammenbruch zu die wir akzeptieren müssen. Zum Beispiel,
Spritzen in alle möglichen Körperteile versenkt bewah­ren. Man müsste schauen, welche Per- wenn jemand für sich das Risiko, an Corona
hat, das nicht als den großen Eingriff ansehe. sonen die Intensivstationen am stärksten zu erkranken, nicht als so hoch einschätzt.
Rostalski: Ich bin überzeugt, dass die Pflege- ­belasten – und diesen Menschen notfalls be- Mit jeder Impfung können Nebenwirkungen
kräfte erschöpft sind, aber nicht nur wegen sondere Einschränkungen auferlegen. einhergehen oder das sehr seltene Ereignis
Corona. Ich kann aber nur davor warnen, Montgomery: Wen wollen Sie wegsperren, die eines Impfschadens. Wenn jemand das für
Herr Montgomery, hier pauschal ein Bild vom Älteren mit den Impfdurchbrüchen, die eh sich ausschließen möchte und eine persön­
Pflegepersonal zu zeichnen, das Ungeimpfte schon am meisten unter der Pandemie leiden? liche Risikoentscheidung trifft, müssen wir
abschätzig behandelt. Einem Raucher mit Auf den Intensivstationen liegen derzeit eher diese akzeptieren, solange das Gesundheits-
Lungenkarzinom sollte auch nicht vorgehal- die 30- bis 69-Jährigen, in der Altersklasse system nicht kollabiert.
ten werden, dass er selbst schuld ist. sind viele Menschen nicht geimpft. Montgomery: Und wenn dieser Mensch klug
Montgomery: Die Pflegekräfte behandeln sie Rostalski: Wir müssen mit der Impfpflicht wäre, ließe er sich impfen und könnte sein
nicht abschätzig – sie gehen schlicht aus dem vorsichtig sein, denn sie ist ein hoher Eingriff, Leben genießen. Das Risiko einer Impfung
Beruf, weil sie einfach nicht mehr können. ist geringer als das einer Nichtimpfung.
SPIEGEL: Nach einem Coronaausbruch in ei­ SPIEGEL: Dass der Fußballer Joshua Kimmich
nem Seniorenheim in Brandenburg sind nicht geimpft ist, hat für ziemliche Aufregung
11 Menschen gestorben, 44 weitere Bewohner gesorgt. Hat er das Recht, sich so zu entschei-
sind an Covid-19 erkrankt. Nur die Hälfte des »Man muss auch den, auch in seiner Vorbildfunktion?
Pflegepersonals war geimpft. manchmal auf die Weisheit Rostalski: Ich werde mich nicht daran betei-
Montgomery: Das ist furchtbar. Für Menschen,
die im Gesundheitssektor arbeiten, gibt es
der Ärzte vertrauen.« ligen, ein moralisches Urteil über Herrn Kim-
mich zu fällen. Ich beobachte aber mit Schre-
eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen, Frank Ulrich Montgomery cken, wohin wir uns in der öffentlichen De-
um die uns anvertrauten Personen nicht an- batte bewegen – dass wir Menschen nach
zustecken und in Gefahr zu bringen. Da soll- ihrem Impfstatus bewerten und über sie den
te die Politik jetzt handeln und eine rechtliche Stab brechen.
Pflicht wagen. »Ich beobachte mit Schrecken, Montgomery: Auf die Person Kimmich be-
SPIEGEL: Und was ist mit Kassiererinnen und dass wir Menschen nach zogen, sehe ich das genauso. Aber in vielen
Kellnern? Oder Eltern kleiner Kinder? Stadien müssen Menschen, die ihm zugucken,
Montgomery: Ich wünsche mir aus medizini- ihrem Impfstatus bewerten.« zujubeln und sein Gehalt mitfinanzieren, ge-
scher Sicht eine allgemeine Impfpflicht. Aber Frauke Rostalski impft oder genesen sein. Ich erkenne da einen

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DEUTSCHLAND

Widerspruch, den sollte die Bundesliga auf- Wenn die alle Covid-19 bekommen hätten, platz gilt 3G, sogar im Homeoffice. Ich sehe
lösen und ungeimpfte Spieler dort nicht spie- wären – bei einer Sterblichkeit von einem das aber sehr kritisch, wie gesagt.
len lassen. Prozent – 1,92 Millionen Menschen gestorben. Montgomery: Ich war gerade in Rom, auf der
SPIEGEL: Warum ist eine Impfpflicht bei Ma- Da kann ich den Leuten nur sagen: Lasst euch Piazza Navona und am Petersdom standen
sern möglich, aber nicht bei Covid-19? impfen! Unsere Aufgabe ist auch, etwas zu die Leute dicht an dicht, ohne Maske. Die
Rostalski: Ich bin gespannt, wie das Bundes- schützen, das in Deutschland begrifflich ver- Menschen haben dort die Freiheiten wieder,
verfassungsgericht über die anhängigen Kla- pönt ist: die Volksgesundheit. Wir müssen an von denen wir noch träumen.
gen urteilt. Der Masernimpfstoff ist jedenfalls alle denken. Jetzt kann mir Frau Rostalski Rostalski: Unsere Impfkampagne steht in der
länger erprobt als der gegen Covid-19, und wieder Paternalismus vorwerfen, aber man Kritik, weil wir auf viele Bevölkerungsgrup-
die Kinder haben einen großen Eigennutzen. muss auch manchmal auf die Weisheit der pen nicht in dem Maße zugegangen sind, wie
Eine Masernerkrankung verläuft in der Regel Ärzte vertrauen. man es hätte tun müssen. Mit niedrigschwel-
schwer, es gibt keine Therapie. Bei Corona SPIEGEL: 68 Prozent der Befragten sagen, Co- ligen Impfangeboten haben wir erst relativ
bekommen die Kinder vielleicht nur leichten rona sei häufig ein Vorwand für mehr staat- spät begonnen.
Schnupfen. liche Kontrolle, 79 Prozent halten die Grund- Montgomery: Es hat anfangs gar keine zentral
Montgomery: Die Abwägung von Nutzen und rechtseingriffe für gravierender als die Gefahr gesteuerte Impfkampagne gegeben. Und
Risiko ist tatsächlich entscheidend. Für die durch das Virus. Und 84 Prozent meinten, der dann natürlich das Debakel rund um Astra-
über Zwölfjährigen wissen wir, dass der Nut- Druck sei zu groß. Wie kommt das? Zeneca, um die Nebenwirkungen. Die Kako-
zen einer Coronaimpfung höher ist als das Rostalski: Da kann ich nur mutmaßen. Men- fonie der unterschiedlichen Einschätzungen
Risiko. Ob wir eine Impfung für jüngere Kin- schen könnten sich nicht ernst genommen hat die Leute verunsichert. Je transparenter
der kriegen? Da bin ich mir nicht sicher, weil fühlen als mündige Bürgerinnen und Bürger. wir sind, je weniger wir beschönigen, desto
die Krankheit bei ihnen in der Regel mild Druck erzeugt Gegendruck. Mich überrascht mehr bestärken wir leider auch diejenigen,
verläuft. Und der Impfstoff mag neu sein, er daher nicht, dass mehr Druck auf Ungeimpf- die sowieso schon widerwillig sind. Das ist
baut aber auf etwas auf, das über Jahre in der te nicht zu mehr Impfungen geführt hat. das Dilemma einer Demokratie.
Krebstherapie entwickelt wurde. Die Neben- Montgomery: Wir erleben eine Distanz zum SPIEGEL: 2G gilt inzwischen vielerorts – eine
wirkungen sind zu vernachlässigen, es gibt Staat. Das hat nichts mit der Medizin zu tun. Impfpflicht durch die Hintertür?
keine Langzeitfolgen. Und wenn mir Juristen Manche Menschen leiten aus ihren vielen Rostalski: Ich finde es jedenfalls problema-
ständig mit dem Recht auf körperliche Un- Rechten ab, sich absolut unsozial und gegen tisch von der Politik, erst zu sagen, es solle
versehrtheit kommen, da muss ich sagen: den Staat verhalten zu dürfen. Sie greifen so- keine Impfpflicht geben. Und dann schränkt
Wenn ich mir manche Tätowierung oder man- gar Rettungskräfte und Feuerwehrleute an, man mit 2G die Freiheit in bestimmten Teilen
ches Piercing ansehe, dann wüsste ich, womit die ihnen helfen wollen. Ich glaube, diese ge- doch ein. Das ist ein indirekter Impfzwang.
man die Haut besser hätte perforieren können. nerelle Staatsverdrossenheit beeinflusst die Der andere Weg, die Impfpflicht, wäre dann
SPIEGEL: Das Bundesgesundheitsministerium Impfdebatte. Manche denken: Da ist eine nicht der bessere, aber der ehrlichere ge­
hat 3000 Menschen befragen lassen, wieso Obrigkeit, die mir den Impfstoff einflößen will. wesen. Die Politik hat ein Versprechen ge-
sie eine Impfung bislang abgelehnt haben. Und wir beschäftigen uns mit diesem Unsinn. geben, und das kann und sollte sie jetzt nicht
Eine Antwort lautet: Die Impfstoffe seien Rostalski: Ich gebe Ihnen recht, eine allge- brechen.
nicht ausreichend sicher und erprobt, sie meine Politikverdrossenheit und mehr Popu- SPIEGEL: Was können wir jetzt tun, um die
fürchteten Impfschäden. Was sagen Sie diesen lismus in unserer Gesellschaft können eine vierte Welle möglichst gut zu überstehen?
Leuten, Herr Montgomery? Ursache sein. Ungeimpfte pauschal als »ab- Montgomery: Impfen, impfen, impfen! Wir
Montgomery: Neulich hat mich ein amerika- solut unsozial« zu bezeichnen, finde ich aber haben es selbst in der Hand.
nischer Journalist gefragt, ob mir eigentlich mehr als schwierig. Rostalski: Es ist wichtig, dass wir als Gesell-
klar sei, dass in den USA rund 6200 Men- SPIEGEL: Spanien, Portugal und Italien haben schaft im Gespräch bleiben, aufeinander zu-
schen an der Coronaimpfung gestorben sind. eine höhere Impfquote als wir. Was ist in gehen. Wir sollten alles versuchen, um das
SPIEGEL: Und? Deutschland schiefgelaufen? Freund-Feind-Schema aufzubrechen.
Montgomery: Stimmt. Knapp 192 Millionen Rostalski: In Italien gibt es einen indirekten SPIEGEL: Frau Rostalski, Herr Montgomery,
Amerikaner wurden vollständig geimpft. Impfzwang, der ist supereffektiv. Am Arbeits- wir danken Ihnen für dieses Gespräch.  n

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DEUTSCHLAND

»Der Druck macht mich skeptisch«


PANDEMIE  Neun Menschen erzählen, was sie bislang abgehalten hat – 
und wieso sie sich nun doch gegen Corona impfen lassen.

Joshua Kimmich ist der bekannteste Un­ impfen zu lassen. Bei der Arbeit musste ich de bin ich nicht sauer, aber auf die Gesetz-
geimpfte der Republik: Er wolle noch auf mich alle zwei Tage testen, aber das war gebung. Die 3G- und 2G-Regeln sind besser,
­Studien zu Langzeitfolgen warten, hat okay. Ich hatte auch keine Angst vor Coro- als wenn alles schließen müsste. Dennoch
der Fußballnationalspieler gesagt. Seither na und keine Berührung damit im Freundes- ist man ja gezwungen, sich impfen zu lassen.
steht er in der Kritik. Was aber hat andere oder ­Familienkreis. Die 3G-Regel hat mich Ich mache das jetzt nur, um es hinter mir
­Menschen bislang davon abgehalten, sich nicht beeinflusst, weil ich sowieso nicht viel zu haben.«
impfen zu lassen? Und warum tun sie weggehe und mein Arbeitgeber die Tests
es jetzt doch? Der SPIEGEL hat sich bei bezahlt hat. Die ganzen Maßnahmen wer- Juliane, 31
Impfaktionen in Bremen, Stuttgart den gemacht, damit die Leute sich impfen »Als die Impfungen gegen
und im sächsischen Wurzen umgehört. lassen, so wie ich jetzt. Wenn ich vor einem Corona angefangen haben,
halben Jahr geflogen wäre, hätte ich noch war ich schwanger. Ich wollte
Sarah May Simon, 41 einen kostenlosen PCR-Test machen kön- mich die ganze Zeit impfen
»Ich habe mich seit 1991 nen. Jetzt würde mich der pro Flug 60 Euro lassen, aber es gab erst keine
nicht impfen lassen und habe kosten, und ich müsste danach in Quarantä- Empfehlung von der Impfkommission für
auch sonst kein großes ne. Die Impfung gibt mir keine Sicherheit, Schwangere. Und als die da war, war ich
­Bedürfnis, zu Ärztinnen zu ich habe jetzt einen Aufkleber im Impfpass schon so weit, dass ich beide Impfungen
gehen, ich bin gesund. Als und fertig.« nicht mehr vor der Geburt geschafft hätte.
die Impfstoffe gegen Corona rauskamen, Dann habe ich entschieden, mich direkt
dachte ich: Das geht aber ganz schön Marius Mateiciuc, 20 impfen zu lassen, wenn meine Tochter auf
schnell. Sonst werden Impfstoffe über Jahre »Meine Mutter hat die der Welt ist. Heute ist sie drei Wochen alt.
getestet. Jetzt komme ich mir vor wie in Falschnachrichten gelesen, Die Impfung gibt meinen Kindern und mir
einem Versuchslabor. Es heißt, geimpft dass man mit der Impfung Sicherheit: Auch mein Sohn kann sich
würde ich Corona mit einem glimpflichen einen Chip eingesetzt be- noch nicht impfen lassen, er ist erst drei.
Verlauf überstehen. Aber ob ich daran kommt. Sie wusste, dass das Während der Schwangerschaft war ich
­kaputtgehe oder nicht, das kann mir auch nicht stimmen kann, aber die Nachrichten deshalb sehr vorsichtig. Am Anfang war
niemand sagen. Ich bin keine Verschwö- haben sie verunsichert. Deshalb hat sie noch Lockdown, da war das nicht so
rungstheoretikerin, ich bin auch nicht grund- sich nicht impfen lassen und wollte auch schwer. Dann bin ich immer wieder zur
sätzlich gegen Impfen. Nur der Druck, der nicht, dass ich es mache. Inzwischen hat Arbeit nach Leipzig gependelt. Ich habe
für die Impfung aufgebaut wird, macht sie mit mehreren Leuten gesprochen, sich versucht, mich an meinen Kaffeebecher
mich skeptisch. Aber das Leben kann jeden informiert und sich dann doch für die oder mein Handy zu klammern, um
Tag vorbei sein. Deshalb habe ich keine ­Impfung entschieden. Ich wollte mich von ­möglichst nichts sonst anzufassen. Wenn
Lust, mich ständig aussperren zu lassen, Anfang an impfen lassen, das macht den ich mit der Zweitimpfung durch bin,
mich immer wieder erklären zu müssen Alltag gerade viel einfacher. Aber meiner sind alle im nächsten Umfeld unserer
oder 20 Euro für einen Schnelltest zu zah- Mutter zuliebe habe ich gewartet.« ­Kinder geimpft. Ich bin froh, dass das
len, das kann ich mir auch gar nicht leisten. bald abgehakt ist.«
Auch logistisch ist das schwierig: Ich denke Wasim Allo, 25
ja nicht, dass ich morgen eine Cola trinken »Ich wurde stigmatisiert, weil Eren Gökdemir, 33
gehen will. Das ist eine Entscheidung in ich mich nicht impfen lassen »Ich war Proband in der
dem Moment. Da ist es dann schon netter, wollte. Die Leute reagierten ­Curevac-Studie in Tübingen.
einen QR-Code im Handy zu haben. Das mit Unverständnis und woll- Auf Reddit, einem Online­
Impfzentrum an der Messe schließt jetzt, ten wissen, ob ich Angst vor forum, hatte ich einen Post
und die zweite Impfung ist am anderen der Impfung habe. Wenn meine Freunde zu der Studie gesehen und
Ende der Stadt. Den Organisatoren ist völ- was unternehmen wollten, haben sie mich mich dort gemeldet. Eine Hälfte der Pro-
lig egal, ob die Menschen damit Probleme gar nicht mehr gefragt. Oder sie haben aus banden hat den Wirkstoff bekommen und
haben. Aber ein bisschen gut fühlt es sich Nettigkeit gefragt, aber eigentlich nicht ge- die andere Hälfte eine Kochsalzlösung.
auch an: Ich kann dann wieder frei über wollt, dass ich mitkomme. Ich habe bisher Was ich bekommen habe und ob es mich
mein Leben bestimmen.« einfach keinen Sinn in der Impfung gesehen. geschützt hat, weiß ich nicht. Aber ich
Ich bin jung, fit und gehöre nicht zur Risiko- dachte: Das ist eine Gefahr, der ich mich
Rojhat Dur, 26 gruppe. Ich habe Corona auch gar nicht so gern aussetze. Ich habe kein besonderes
»In 15 Tagen fliege ich in die mitverfolgt, weil ich der Meinung bin, dass Risiko, schwer zu erkranken. Und weil ich
Fotos: Anika Freier / DER SPIEGEL

Türkei und besuche meine man sowieso nichts machen kann und es kein Risikopatient bin, wollte ich dann
Verwandten, wir haben uns nichts bringt, sich da zu viele Gedanken zu mit einem zugelassenen Impfstoff warten
seit 15 Jahren nicht gesehen. machen. Zu gewissen Themen habe ich und andere vorlassen. Aber jetzt sind alle
Ich habe mich mit John- mich dann ganz zurückgehalten, weil ich Risikopatienten durchgeimpft, zumindest
son & Johnson impfen lassen, damit die die Informationen gar nicht hatte und man hoffe ich das. Als die 2G-Regel eingeführt
Impfung anerkannt ist, wenn ich fliege. Vor- schnell zu einer Gruppe gezählt wird, wo wurde, habe ich entschieden, mich auch
her habe ich keinen Grund gesehen, mich man gar nicht reingehört. Auf meine Freun- richtig impfen zu lassen.«

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Steffen Herrmann, 50
»Eigentlich bin ich dem Flexibel bleiben.
­Ganzen gegenüber skeptisch
eingestellt. Ich kritisiere den
Druck, der da gemacht wird.
Lesen Sie den SPIEGEL,
Letzte Woche bin ich 50 ge­
worden und wollte mit meiner Familie es­ solange Sie möchten.
sen gehen. Wir haben ein Restaurant ge­
sucht, das wir gut kannten und wo ich bis­ Frei Haus.
her das Gefühl hatte, dass die nicht so Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
streng mit den Maßnahmen sind. Das hat
dieses Mal nicht geklappt, wir mussten Über 3 % sparen.
wieder gehen. Aber ich sehe es nicht ein, Für nur € 5,60 pro Ausgabe statt € 5,80 im Einzelkauf
für einen Test quer durch die Stadt zu lau­ Ohne Risiko.
fen und 15 Euro zu bezahlen, um zu bewei­
sen, dass ich ­gesund bin. Ich wohne in Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
einem Dorf und arbeite von zu Hause aus. Vergünstigte Tickets.
Die Wahrscheinlichkeit, mich oder andere Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
zu infizieren, ist da nicht groß. Außerdem auf www.spiegel-live.de
habe ich eine Autoimmunerkrankung, die
ich gerade halbwegs im Griff habe. Ich hat­
te Angst, was eine neue Impfung da aus­
lösen könnte. Mittlerweile haben mir aber
einige, die die gleiche Erkrankung haben,
erzählt, dass sie damit keine Probleme hat­
ten. Ich habe ­einfach dem Druck, der von
außen gemacht wurde, nachgegeben. Jetzt
Einfach jetzt anfordern:
ist es so – und ich kann auch wieder in die
Sauna gehen.« abo.spiegel.de/flexibel
Dominic Machule, 17 oder telefonisch unter 040 3007-2700
»Für viele Attraktionen, zum (Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
Beispiel fürs Kino, braucht
man eine Impfung oder einen Keine
Test. Hier in Wurzen ist das
nicht so ein Problem, in Leip­ Mindest-
zig schon. Es nervt einfach, sich jedes Mal
testen zu lassen, und wenn man keinen laufzeit
Ausweis dabeihat, kann man sich nicht mal
testen lassen. Ich wurde von meinem Vati
zu der Impfung überredet. Er hat sich schon
sehr früh impfen lassen, weil er das für die
Arbeit brauchte. Er hat alles gut vertragen,
mal sehen, wie das bei mir ist. Es ist einfach
viel praktischer, wenn man den Impfaus­
weis vorzeigen kann. Und die Impfung ist
nicht so schmerzhaft, wie immer einen Test
zu machen. Viele meiner Freunde sind nicht
geimpft, weil sie nicht wissen, was genau in
dem Impfstoff drin ist. Ich habe auch Angst
vor der Impfreaktion, aber ich lasse es ein­
fach zu.«

Elke Arnold, 59
»Ich habe mich impfen lassen,
weil man so gut wie gezwun­
gen wird. Nur Geimpfte und
Genese dürfen überall rein,
das ist schon wie eine Pflicht
geworden. Auch an der Arbeit war das ein
Thema, außer mir sind fast alle geimpft. Als
die Impfstoffe raus­kamen, dachte ich: Das
lasse ich nie machen. Es gibt keine Lang­
zeiterfahrung, und die Impfung ist nicht gut
getestet. Was ist in einem halben Jahr oder
in einem Jahr? Das weiß man alles nicht.
Ich habe immer noch ein bisschen Angst.«
Aufgezeichnet von Anika Freier n

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DEUTSCHLAND

»Frau K., Sie sollten darüber nach­


denken, ob Sie mit dieser Lebenslüge
leben wollen oder ob Sie noch was
klären können«, wendet sich Richter
Kötter an die Angeklagte.
Bei dieser Beweislage könnte die
Kammer eine lebenslange Haftstrafe
gegen sie verhängen und die beson­
dere Schwere der Schuld feststellen.
»Das andere Ende wäre ein Frei­
spruch mit Einweisung in eine psy­
chiatrische Klinik«, erläutert Kötter.
Zwei Gutachter hat das Gericht be­
auftragt, den Psychiater Pedro Faust­
mann und die Rechtspsychologin Sa­
bine Nowara, sie sehen dafür keinen
Anlass.
»Aber Psychiater könnten Dinge
übersehen, weil nur Sie mitteilen kön­
nen, wie furchtbar verletzt Sie in
Ihrem Leben sein mögen.« Kötter
sucht den Blick der Angeklagten:
»Gehen Sie in sich, ob Sie noch was
sagen wollen.«
Christiane K. schaut zurück, mit
großen Augen, wortlos.
Morgens zwischen 7.20 Uhr und
11.30 Uhr, so steht es in der Anklage­

Sascha Steinbach / epa


schrift, habe sie Melina, 19 Monate
alt, Leonie, 2, Sophie, 3, Timo, 6, und
Luca, 8, einen betäubenden Medika­
mentencocktail in die Trinkbecher
und Fläschchen gemischt. Als sie ein­
geschlafen waren, habe sie das Bade­
wasser eingelassen und die Kinder
nacheinander unter Wasser gedrückt.

Wut, Rache, Verzweiflung


Ein fünffacher heimtückischer Mord,
so bewertet Staatsanwalt Heribert
Kaune-Gebhardt die Tat. Bis zum
­Todeseintritt, hatte eine Rechtsmedi­
zinerin vor Gericht erklärt, müsse es
STRAFJUSTIZ  Christiane K. hat offenbar fünf ihrer sechs Kinder getötet. bei jedem Kind drei bis fünf Minuten
gedauert haben.
Wie kann eine Mutter so etwas tun? Im Prozess hat das Landgericht Wuppertal Nur ihr Ältester blieb verschont.
nach Erklärungen für das Unfassbare gesucht. Von Beate Lakotta Der Elfjährige war zur Tatzeit in der
Schule. Am Vormittag hatte sie dort
angerufen und ihn unter einem Vor­

A
m Ende des neunten Verhand­ Christiane K., 28 Jahre alt, ist an­ wand aus dem Unterricht nehmen
lungstags, es ist Anfang Juli, geklagt, am 3. September 2020 in lassen. Die Geschwister seien bei
sitzt Christiane K. wie immer ihrer Wohnung in Solingen fünf ihrer einem Verkehrsunfall ums Leben ge­
schweigend und äußerlich unbewegt sechs Kinder ermordet zu haben. Am kommen, erzählte sie ihm. Zusammen
auf der Anklagebank des Wupper­ Morgen des Tattages hatte ihr Noch- nahmen sie die Bahn zum Düsseldor­
taler Landgerichts hinter ihren Ver­ Ehemann, Vater von vieren ihrer Kin­ fer Hauptbahnhof. Dort stellte sie ihn
teidigern. Eine kleine Frau mit lan­ der, das endgültige Aus der Beziehung vor die Alternative, ob er mit ihr vor
gem, blondem Haar im rot karierten bestätigt – mit einem WhatsApp-Pro­ den Zug springen wolle oder weiter­
Holzfällerhemd, die Augen sorgfältig filfoto, das ihn mit seiner neuen fahren zur Oma nach Mönchenglad­
mit Kajal umrandet, fast wirkt sie wie Freundin zeigte. Christiane K. hat bach. Der Junge wollte zur Oma,
ein Teenager. behauptet, ein maskierter Fremder Christiane K. warf sich vor einen ein­
Jochen Kötter, der Vorsitzende sei in ihre Wohnung eingedrungen, fahrenden Zug, überlebte jedoch und
Richter, hat soeben aus Briefen vor­ habe sie gefesselt und ihre Kinder in kam verletzt ins Krankenhaus.
gelesen, die sie aus dem Gefängnis der Badewanne ertränkt. Vor Gericht Eine Mutter, die ihre Kinder tötet –
nach Hause geschrieben hat: »Ich schweigt sie. wie kann das sein? War es Rache? Ein
wüsste mal gerne, was ich verbrochen Die fünfte Strafkammer gibt sich Christiane K. vor gescheiterter Mitnahmesuizid? War
habe, dass mein Leben so ein Trüm­ alle Mühe, K. gerecht zu werden – nur dem Landgericht die sechsfache Mutter, von den Vätern
merhaufen ist«, schreibt sie da. Und: wie, wenn sie nicht spricht? Die Be­ Wuppertal: der Kinder im Stich gelassen, emotio­
War es Rache?
»Nebenan sitzt eine, die hat ihre weisaufnahme hat bis dahin nicht den Ein Mitnahmesuizid?
nal überfordert?
Tochter fast verhungern lassen. Und kleinsten Hinweis auf einen Fremden Oder einfach Am dritten Verhandlungstag zeigt
mit solchen Leuten sitzt man hier!« in der Wohnung erbracht. nur Überforderung? der Vorsitzende auf dem Saalbild­

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DEUTSCHLAND

schirm Fotos: den grauen Wohnblock von


außen, die vielen Briefkästen an der Tür, im
»Die Kinder sind schon würde von einem schwarzen Mann mit Ka­
puze verfolgt. Er würde sie mit einem Messer
Hausflur vor der Wohnung ein Regal mit Kin­ da oben. Ich gleich bedrohen. Sie hyperventilierte, weinte, aber
derschuhen, drinnen ein helles, freundliches
Wohnzimmer, an den Wänden Geburtsfotos
auch.« Dann springt sie sie hat sich nicht geöffnet. Ich habe öfter den
Krankenwagen geholt.« Als sie Christiane K.s
der Kinder und Kinderzeichnungen. Ein Kri­ vor den Zug. Mutter danach fragte, habe die nichts von
minalbeamter erinnert sich: Es habe unor­ dem schwarzen Mann gewusst.
dentlich ausgesehen, aber nicht schmutzig 2009 bekommt Christiane ihr erstes Kind,
oder verwahrlost – »für einen Haushalt mit von einem Jungen aus der Nachbarschaft. Er
sechs Kindern okay«. will, dass sie abtreibt, aber sie will es behalten.
Nächstes Foto: »Hier haben wir das Eta­ Schule ihres ältesten Sohns und lässt ihn zu In der 10. Klasse bricht sie die Schule ab, hat
genbett«, sagt Kötter. »Das war das Kind, so einem Treffpunkt am Rathaus schicken. Dort kaum Kontakte, will sich nur um ihren Sohn
wie ich es abgedeckt habe«, kommentiert der holt sie ihn ab. Von unterwegs überweist sie kümmern. Von ihrem 18. Geburtstag an be­
Beamte die Aufnahme, sie zeigt einen nack­ noch Geld für den Jungen an ihren Bruder. kommt sie Hartz IV.
ten Jungen mit feuchtem Haar. So hätten sie Um 13.34 Uhr schreibt sie an Pascal: »Die Den Vater ihres zweiten Kindes lernt sie
alle fünf Kinder gefunden – in die Betten ge­ Kinder sind schon da oben, ich gleich auch.« auf einem Sexportal namens Kaufmich.de
legt, wie zum Schlafen. Auf dem Bildschirm – Er: »Hör auf mit diesem Scheiß, lass es.« kennen. Der Mann erscheint als Zeuge:
ist nun der Kopf eines Mädchens zu sehen, – »Die Kinder sind tot. Ruf die Polizei«– Beim ersten Mal habe er gezahlt, danach
gebettet auf eine gelbe Kuschelente. Chris­ »Nein, verdammt« – »Ich meine es ernst, die nicht mehr. Auch er drängt auf Abtreibung,
tiane K. hatte schon bei den ersten Bildern Kinder leben nicht mehr.« aber sie entscheidet sich wieder für das Kind.
den Blick abgewendet, Tränen laufen ihr Dann springt sie. Erst mit Pascal K. wird alles anders: Er
übers Gesicht. Was der Prozess über Christiane K. zutage freut sich über ihre zwei Kinder, bald ist sie
Am Morgen nach dem Tod der Kinder er­ gefördert hat: Sie wächst mit Mutter, Vater, von ihm schwanger mit dem dritten, sie hei­
klärte sie im Krankenhaus einer Kriminal­ jüngerem Bruder auf, in äußerlich geordneten, raten 2013.
beamtin, sie wisse nur noch, dass die Kinder bürgerlichen Verhältnissen. Der Gutachterin Bald darauf verliert Pascal seinen Job bei
Schnupfen gehabt hätten und nicht zur Schu­ erzählt sie, sie sei der »Sonnenschein der Fa­ der Bundeswehr, leidet unter Depressionen,
le gegangen seien. Danach sei alles schwarz. milie« gewesen. Ihrem Verteidiger Thomas hat keine feste Arbeit. Zeugen beschreiben
Erst Wochen später erzählte sie der Gefäng­ Seifert vertraut sie an, der Vater, ein Super­ ihn als liebevollen Vater, doch immer wieder
nispsychologin und später auch den Gutach­ markt-Filialleiter, habe sie und den Bruder läuft er für Wochen aus der gemeinsamen
tern von dem maskierten Mann. gedrängt, nackt im Garten zu spielen, er habe Wohnung fort, trinkt, lebt auf der Straße oder
Er habe gesagt, er werde ihr Leben zer­ von ihr entsprechende Fotos gemacht. Jahre wohnt bei seiner Mutter.
stören, so wie sie seines zerstört habe. Dabei später, 2013, wird der Vater wegen Besitzes Christiane K. sagt, er sei wie ihr »siebtes
habe er sie mit »Nele« angesprochen, einem von Kinderpornografie verurteilt. Kind«. Mal will sie ihn loswerden, reicht die
Namen, den sie vor Jahren auf einem Erotik­ Christiane K. sagt, sie sei im Alter von Scheidung ein, zieht sie wieder zurück. Im
portal benutzt habe, wo sie und ihr Mann zwölf Jahren vergewaltigt worden, von einem September 2020 sind sie und Pascal seit einem
selbst gemachte Aufnahmen hochgeladen Bekannten der Großeltern. Damals habe sie Jahr auseinander – eigentlich. Aber noch im
hätten. In einem unbeobachteten Moment sich geritzt, Tabletten geschluckt. Ein Aufent­ August haben sie Sex miteinander. Sie habe
habe sie aus der Wohnung flüchten können. halt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie noch ein siebtes Kind gewollt und Pascal »wie
Eine abstruse Geschichte, die Ermittler dauerte drei Monate. Seifert stellt in den einen Samenspender« betrachtet, sagt sie der
haben nichts gefunden, was für ihren Wahr­ Raum, sie sei auch vom Vater missbraucht Gutachterin.
heitsgehalt spricht. Dafür haben sie Chat­ worden, das bestreitet sie. Aus dem Gefängnis schreibt sie an ihre
verläufe vom Tattag sichergestellt. Demnach Eine ehemalige Klassenlehrerin aus der Mutter: »Ich habe ihm vorgespielt, dass ich
ist Christiane K. vom frühen Morgen bis Hauptschule sagt aus: Christiane K. sei eine ihn wieder vollständig in mein Leben lassen
zum Mittag beinahe ununterbrochen in Kon­ »gute Schülerin gewesen, unauffällig«, bis zur würde. Aber das war mein Racheplan. Immer
takt mit ihrer Mutter und ihrem Mann Pascal. siebten Klasse. »Da hat sie uns erzählt, sie wenn er nicht in meiner Nähe war, habe ich
Es stellt sich heraus: Am Abend zuvor hat
sie in ihrem WhatsApp-Status einen Fake-
Chat mit einem anderen Mann gepostet, um
seine Eifersucht zu wecken, ein geübtes Be­
ziehungsmuster. Doch diesmal läuft es nicht
wie erwartet – und das Unheil nimmt seinen
Lauf.
Als Antwort postet Pascal am nächsten
Morgen das Kussfoto mit seiner neuen Freun­
din. Er schreibt: »Ich liebe dich nicht mehr.
Ich fange neu an mit einer neuen Beziehung.«
– Sie: »Dann mach. Die Kinder siehst du nicht
mehr.« Und an die Mutter: »Er hat eine Neue.
Sascha Steinbach / epa-EFE / Shutterstock

Ich kann echt nicht mehr.«


Zwischen 9.15 und 10.37 Uhr schreibt sie
wenig – ein mögliches Zeitfenster für die Tat.
Nur ihre Mutter meldet sich aus dem Super­
markt: Welche Limonadensorte sie kaufen
solle? Antwort: »Nimm mal nur Zitrone,
Orange und Waldmeister.« Später sucht
Christiane K. auf dem Bahnportal nach Zug­
verbindungen, aber da sind die Kinder wohl
schon tot. Zweimal telefoniert sie mit der Blumen und Kerzen vor dem Tatort in Solingen: In die Betten gelegt wie zum Schlafen

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 55


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hinter seinem Rücken mein Leben neu geplant


und mit anderen Männern geschrieben.«
»Wenn sie Dinge Rolle gespielt: »Sie waren die Erzeuger, und
Frau K. konnte ihr Leben unabhängig davon
Verteidiger Thomas Seifert versucht Zwei- aufbaut, meint sie, das gestalten.« Dabei zeige sie wenig Empathie:
fel an der Schuld seiner Mandantin zu säen:
Hätte nicht auch der Kindsvater ein Motiv
Recht zu haben, »Ich habe sie gebeten, mir die fünf Kinder zu
beschreiben. Bei einer Person, die gerade ihre
gehabt? Der Hartz-IV-Empfänger, so stellt es diese zu zerstören.« Kinder verloren hat, würde ich erwarten, dass
Seifert in den Raum, könnte ja einen Auftrags- dabei etwas passiert«, erinnert sich Nowara.
killer engagiert haben, um Unterhaltszahlun- »Aber da war nichts. Kein Ausbruch, keine
gen zu entgehen. Gefühle.«
Seifert mutmaßt, Christiane K. leide an Warum es Christiane K. als Mutter möglich
einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, als Am 18. Verhandlungstag erstellen die vom gewesen sei, das zu tun? Nowara äußert dazu
Folge des Missbrauchs. Grob gesagt, bedeute Gericht bestellten Experten ihre Gutachten. eine interessante Hypothese: Lege man an sie
das, »dass sie körperlich die Tat begangen hat, Der Vorsitzende erkundigt sich bei Psychiater den gleichen Maßstab an wie an Männer, die
aber psychisch nicht dabei war«. Oder ihr Ge- Faustmann nach der dissoziativen Störung: vergleichbare Taten begehen, passten viele
hirn könnte als Frühchen im Brutkasten mit »Eine Art Autopilot, der normale Alltags- ihrer Persönlichkeitsmerkmale in das Raster
zu wenig Sauerstoff versorgt worden sein. Ein handlungen verrichtet, und darunter irrlichtert klassischer Psychopathen. Die weibliche Psy-
radiologisches Gutachten könne dies belegen. eine zweite Persönlichkeit, die diese Tötungen chopathie ist ein noch weithin unterbelichte-
Die vom Gericht bestellten Gutachter win- vornimmt – könnte es das gewesen sein?« tes Forschungsfeld, aber Christiane K. als
ken ab: Nichts von alldem habe sich vor der Faustmann winkt ab: Die parallelen Chats Psychopathin – »das könnte ein Teil der Er-
Tat gezeigt. mit Pascal und der Mutter am Tattag, dazwi- klärung sein, warum es ihr möglich war«, sagt
Der Verteidiger bestellt einen Privatgut- schen das Telefonat mit der Schule, dazu der Nowara. Eine Krankheit sei das aber nicht
achter, den Münchner Psychiater Thomas komplexe Tatablauf – all das zeige, dass und alles weitere Spekulation.
Schwarz. Der attestiert Christiane K. nach Christiane K. imstande war, differenziert zu Der Vorsitzende schaut sorgenvoll: »Wo
einem dreistündigen Gespräch eine »gemisch- handeln. Alles wirke »gut organisiert«. die Wissenschaft aufhört, das haben die Gut-
te Persönlichkeitsstörung mit eingeschränkter Aber etwas anderes scheint in Christiane achter uns deutlich gemacht. Und mit dem
sozialer Kompetenz«, als Folge des möglichen K. zu irrlichtern, ein irritierendes Ego, das in Rest ist man allein.«
frühkindlichen Hirnschadens oder der Ver- ihren Briefen an die Mutter zutage tritt. Der In seinem Schlussplädoyer bezeichnet der
gewaltigung in der Jugend. »Vollkommen Vorsitzende liest vor: »Rücktransport mit Staatsanwalt die Tat als »Mitnahmesuizid«,
überfordert« sei sie in eine »akute Verzweif- Stop in Duisburg, Highlight der Reise: Bin aber aus »stark ichbezogenen Motiven« – die
lungssituation« geraten. Sie sei vermindert ausgestiegen, da ging ein Gegröle los: Ham- besondere Schwere der Schuld liege bei fünf-
schuldfähig, ihre »psychopathologische mergeile Frau, die Blondine würde ich auch fachem Mord auf der Hand.
Grundstruktur« sei »am besten in einem psy- nicht von der Bettkante stoßen ... Aber gut Verteidiger Seifert fordert Freispruch, es
chiatrischen Krankenhaus zu behandeln«. zu wissen: Ich habe nach wie vor Wirkung stünden zu viele Zweifel im Raum. Komme
Doch selbst Schwarz muss einräumen, dass auf Männer.« Einmal erscheint sie in schulter- dies nicht infrage, solle das Gericht Chris­tiane
die Angeklagte im Alltag »tadellos funktio- freier roter Bluse vor Gericht. K. wegen Totschlags zu acht Jahren und Ein-
nierte«. Zeugen geraten über ihre freundli- Im Gespräch habe Christiane K. sich selbst- weisung in die Psychiatrie verurteilen. Das
chen, gut geratenen Kinder ins Schwärmen, bewusst präsentiert, sagt Rechtspsychologin Mordmerkmal Heimtücke sei nicht nachzu-
Christiane K. pocht gegenüber den Gutach- Sabine Nowara. Sie habe ein überdurchschnitt- weisen; ihr eigener Todeswunsch habe bei der
tern darauf, ihr Kühlschrank sei immer voll lich positives Selbstbild, sei manipulativ, deu- Tat im Vordergrund gestanden.
gewesen, jedes Jahr ein Urlaub mit allen Kin- te Situationen in ihrem Sinne um: »Wenn sie K. verzichtet auf ein letztes Wort.
dern, teures Spielzeug. Sie erwähnt ein Mo- Dinge aufbaut, meint sie, das Recht zu haben, Nach 20 Verhandlungstagen verurteilt
dellauto für 300 Euro, nicht ohne Stolz. Das diese zu zerstören« – alles in allem nicht un- das Gericht K. am Donnerstag wegen Mordes
Haushaltsbuch: tipptopp. Die Kredite konn- erhebliche narzisstische Persönlichkeitszüge. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und
ten bedient werden, niemals habe sie sich In Beziehungen trete sie sehr bestimmend stellt die besondere Schwere der Schuld
überfordert gefühlt. auf. Die Männer hätten eine untergeordnete fest. Nach einer solchen Tat, die von einer
Mutter begangen werde, wünsche man sich,
dass sie irgendwie entschuldigt werden kön-
ne, sagt Richter Kötter. »Man wünscht sich
Auflösung, Erlösung: Sie war eben krank
oder verwirrt. Aber da muss ich Sie enttäu-
schen. Wir halten die Angeklagte für voll
schuldfähig.«
Christiane K., sagt der Vorsitzende, habe
die Kinder weniger aus Sorge um deren künf-
tiges Wohl getötet, sondern aus Verzweiflung
über das Scheitern ihres Lebensentwurfs, aus
Wut und aus Rache. Wie Medea, die sagen-
hafte Königstochter, habe die »narzisstisch
strukturierte Angeklagte« ihren Ehemann für
die Demütigung und den empfundenen Ver-
rat bestrafen wollen.
Ihr sei zu wünschen, »dass sie diese Taten
Sascha Steinbach / epa

in ihr Leben integrieren und vor allem ihrem


ältesten Sohn etwas vermitteln kann, was ihm
hilft zu verstehen, was geschehen ist«.
Als Kötter endet, sieht K. verweint aus.
Die Verteidigung hat angekündigt, Revision
Wohnungstür der Familie von Christiane K.: Im Alltag »tadellos funktioniert« einlegen zu wollen.  n

56 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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D E B AT T E D I E Z E I T N A C H M E R K E L

Manifest eines modernen Konservatismus


Entweder die CDU implodiert. Oder sie erfindet sich neu.
Von Andreas Rödder

D
ass Konservative keine Zukunft Der Sündenfall der deutschen Konser- mer wieder mit Entwicklungen arran-
haben, ist ein Befund so alt wie vativen war ihr Pakt mit dem National- gieren, die ihnen eigentlich nicht ge-
der Konservatismus selbst. sozialismus. Und wer die Gewalt sieht, fallen. Im 19. Jahrhundert lehnten sie
Auch 2021 spricht manches dafür, al- die beim Sturm auf das Kapitol am die liberale Demokratie ab, für Kon-
lein schon im Hinblick auf regierende 6. Januar wütete, wird die Dia­gnose servative im 21. Jahrhundert ist sie
und nicht mehr regierende Konserva- teilen, dass die USA sich bereits in eine Selbstverständlichkeit. Zuge-
tive in Europa. Schon in den Neun- einer Verfassungskrise befinden. spitzt: Konservative verteidigen heu-
zigerjahren ist die Dem,ocrazia Cris- Vergleichsweise stabil sah dem- te, was sie gestern bekämpften.
tiana in Italien zerfallen. Im vergan- gegenüber die deutsche Union aus Man kann dies als Grundhaltung
genen Jahrzehnt bewegte sich das Christdemokraten und Christsozialen der gelassenen Selbstdistanz verste-
französische Mitte-rechts-Spektrum unter Angela Merkel aus. Am Ende hen. Sie vermeidet sowohl den An-
in Richtung Bedeutungslosigkeit, und ihrer Kanzlerschaft hat sie aber nicht spruch auf die absolute Wahrheit, der
in den Niederlanden fielen die Christ- nur das schlechteste Ergebnis aller Zei- die Linke oft so unerträglich macht,
demokraten einer Zersplitterung des ten eingefahren. Offenkundig ist auch, als auch das schlecht gelaunte Ressen-
Parteiensystems zum Opfer, die fast dass der Kurs einer permanenten An- timent und den kulturpessimistischen
alle europäischen Länder mit Verhält- passung nach links eine entkernte Zynismus vieler Rechter. Der Sinn für
niswahlrecht erfasst hat. CDU hinterlassen hat, die nicht mehr Unzulänglichkeit eröffnet Konserva-
Die gegenwärtig erfolgreichste kon- weiß, wofür sie steht und wie sie sich tiven eine tolerante Offenheit und
servative Partei Europas regiert im unterscheidet. Menschenfreundlichkeit. Und der
Vereinigten Königreich, wo Boris Die Union nach Merkel steht an Sinn für Ambiguität und Wider-
Johnson, nachdem er den Brexit in einem existenziellen Scheideweg: sprüchlichkeit ermöglicht ihnen eine
nationalpopulistischer Manier betrie- Entweder sie implodiert. Oder erfin- Form der Kritikfähigkeit, die der
ben hat, nun die sozialpolitischen Tra- det sich neu, so wie sie es in den Sieb- identitätspolitischen Linken auf
ditionen der Tories ausgepackt hat, die zigerjahren schon einmal getan hat, ihrem Weg zur kulturellen Hegemo-
Margaret Thatcher in den Achtziger- als Partei der bürgerlichen Mitte, in- nie abhandengekommen ist.
jahren bekämpfte. Der Ausgang des dem sie sich auf ihre Wurzel eines Der Konservatismus hat kein in-
Experiments ist völlig offen und selbst- liberalen Konservatismus besinnt, der haltlich fixiertes Programm wie der
gewisses deutsches Bashing mindes- nicht nostalgisch zurückblickt, son- Liberalismus die Freiheit oder der
tens voreilig. Allerdings ist Johnson dern den Wandel gestalten will. ­Sozialismus die Gleichheit. Er ist viel-
in seiner anarchischen Inkonsistenz Politik beginnt, so sagen insbeson- mehr eine bestimmte Haltung zum
ebenso wenig ein belastbares Vorbild dere Christdemokraten gern, mit dem Wandel. Und schon darin liegt eine
für seriösen Konservatismus wie Se- Menschenbild. Ein konservatives Paradoxie, denn ohne Veränderung
bastian Kurz in Österreich, der zwar Menschenbild ist von der Fehlbarkeit gab und gibt es keine Bewegung des
mit markanten Positionierungen er- des Menschen geprägt. Was heute als Bewahrens, ohne Wandel keine Kon-
folgreich war, aber offenbar, wenn unverrückbar richtig gilt, kann uns servativen. Zugleich liegt genau hier
auch von ihm bestritten, der Versu- morgen als völlig falsch erscheinen. der Grund so vieler Missverständnisse
chung der Korruption erlag. Und was der Mensch auch tut, es über »Konservatismus«, wenn er mit
Das ist zwar kein exklusiv konser- schafft unvorhergesehene Folgen. Die traditionalistischen oder reaktionären
Mar tin Lengemann / WELT / ullstein bild

vatives Phänomen. Konservative nei- Marktliberalisierungen der Achtzi- Anschauungen gleichgesetzt wird.
gen aber dazu, Irregularitäten mit gerjahre endeten in Staatshaftung, Nichts jedoch könnte falscher sein.
dem Zweck zu rechtfertigen, den eige- Gleichstellung erzeugt neue Un-

T
nen Untergang zu verhindern. Dies gleichheit, und dem postmodernen raditionalisten wollen den
verbindet sich mit einer zweiten, der »Ende der großen Erzählung« folgte Wandel verhindern, damit al-
populistischen Versuchung: dem An- das neue Narrativ der Diversität. les so bleibt, wie es ist. Reak-
spruch auf einen vermeintlichen Für Konservative erwächst daraus tionäre wollen das Rad in eine imagi-
Volkswillen, den sie gegen den Trend eine Haltung der Bescheidenheit und näre bessere Vergangenheit zurück-
der Zeit, die Medien und die etablier- der Skepsis gegenüber Moden und drehen. Beides halten Konservative
Rödder, 54, ist
ten Institutionen richten, wie es in Professor für Neueste vermeintlichen Gewissheiten. Kon- wahlweise für illusorisch oder gefähr-
Polen und in Ungarn der Fall ist. Das- Geschichte an der servative kultivieren demgegenüber lich. Sie wissen, dass der Wandel in
selbe gilt für Donald Trump, wobei Johannes-­Gutenberg- einen Sinn für Ambiguität und Wider- der Welt ist, und sie wollen ihn so ge-
der trumpistische Populismus sogar Universität in Mainz, sprüchlichkeit, ja für die Paradoxien stalten, dass die Menschen ihn ver-
Mitglied der CDU
reguläre Wahlen delegitimiert. und Mitgründer der und Aporien der Dinge. kraften und mitkommen können.
Auch historisch gesehen ist Populis- »Denkfabrik R21. Neue Das gilt auch sich selbst gegenüber. Diese konservative Grundhaltung
mus freilich ein Spiel mit dem Feuer. Bürger­liche Politik«. Denn Konservative müssen sich im- unterscheidet sich zugleich von Uto-

58 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


CDU-Politiker Laschet, Merkel Ein liberaler Konservatismus er-
kennt an, dass Deutschland ein Ein-
wanderungsland geworden ist, das
Migration steuern muss und zugleich
von allen Beteiligten Anstrengungen
zur Integration verlangt, die auf für alle
verbindlichen kulturellen Alltags­
erwartungen beruht. Gesellschaftspoli-
tisch wird ein liberaler Konservatismus
jederzeit bemüht sein, Benachteiligun-
gen zu überwinden. Ausgewogene Be-
teiligungen nicht nur von Männern und
Frauen sollten eine Frage des Common
Sense sein. Zugleich bestehen sie dar-
auf, dass Ungleichheiten aufgrund
freier Entscheidungen und unter-
schiedlicher Leistungen zu einer offe-
nen und freien Gesellschaft gehören,
und daher lehnen sie gruppenbezoge-
ne Quoten oder Paritäten ab. Das setzt
aber voraus, niedrigschwellige Benach-
teiligungen verschiedenster Art früher

Ingmar Björn Nolting / laif


zu erkennen und entgegenzusteuern.
Konservative Politik wird nach
neuen Wegen in der Bildungspolitik
suchen, um auch unter Einsatz staat-
licher Mittel eine neue Chancenoffen-
sive zu eröffnen, die nicht nur auf
pien einer neuen Welt oder gar eines und Mitte. Hinzu kommt der Vorrang dem Papier bestehende Chancen
neuen Menschen, deren totalitäre Di- der Gesellschaft vor dem Staat. Dieser schafft. Sie wird dabei nicht überse-
mension das 20. Jahrhundert in aller schützt nach liberal-konservativer hen, dass wachsende Vermögensun-
Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Auffassung (und entgegen manch ob- gleichheiten insbesondere durch ku-
Den Wandel verträglich zu gestal- rigkeitsstaatlicher Traditionen gerade mulative Vererbung zu strukturell so
ten, bedeutet keineswegs, nur die in Deutschland) die Gesellschaft, ohne unterschiedlichen Lebenschancen
Pausentaste des Fortschritts zu drü- sie zu regulieren oder gar zu erziehen. führen, dass zumindest ein Zielkon-
cken, um sich ihm mit zeitlicher Ver- So unterscheiden sich liberale Kon- flikt mit der Unantastbarkeit des
zögerung doch anzupassen. Konser- servative von Sozialisten beziehungs- Eigentums besteht.
vatives Denken erfordert eine stete weise Sozialdemokraten im Verhältnis

F
Abwägung, wo Prinzipien zu bewah- zum Staat, von Liberalen im Verhält- amilienpolitisch werden Konser-
ren, wo auch Veränderungen rück- nis zum Fortschritt, von Grünen in der vative heute deutlicher als vor
gängig zu machen sind (wie bei der Ablehnung, die Menschen umzuerzie- 20 Jahren die Notwendigkeit ak-
Kernenergie) und wo der Wandel zu hen, und von der AfD in der Akzep- zeptieren, gleichberechtigte Erwerbs-
akzeptieren ist, auch wenn man ihn tanz des Wandels und der modernen möglichkeiten und Karrierechancen
vormals abgelehnt hat (wie etwa Welt. Zugleich lassen sich unterscheid- zu schaffen, und zugleich darauf be-
die Strafbarkeit von Vergewaltigung bare politische Positionen formulieren, stehen, Familien selbst zu überlassen,
in der Ehe). Auch Linke sind ja nicht um zentrale Herausforderungen der wie sie ihr Leben führen wollen.
auf einer Einbahnstraße ins Glück Zwanzigerjahre zu adressieren. Liberale Konservative setzen auf
unterwegs, sondern müssen sich im- In globaler Hinsicht liegen diese in Pluralismus unterschiedlicher Indivi-
mer fragen, wo sie recht behalten den massiven geopolitischen Verände- duen statt auf ständisch gegliederte
haben (etwa mit der Demokratie) rungen, vor allem durch den Aufstieg Diversität, auf Gleichberechtigung
und wo sie fehlgegangen sind (zum Chinas, denen Deutschland und Euro- statt Gleichstellung, auf bessere
Beispiel im Umgang mit Gewalt). Ein pa nur zusammen mit den USA be- Chancen statt auf eine neue Welt. Sie
weltoffener, liberaler Konservatismus gegnen können. Dazu gehört auch, glauben an die Innovationsfähigkeit
– und nur ein solcher hatte schon his- dass Deutschland als stärkste Macht einer offenen bürgerlichen Gesell-
torisch eine Zukunft – ist ein perma- in Europa in eine handlungsfähige schaft und kämpfen für eine stete Ver-
nentes Balanceproblem zwischen europäische Ordnung investieren besserung der überkommenen Ver-
den Extremen alternativloser Anbie- muss, ohne der Ideologie einer »im- Konservative hältnisse. Ohne Zynismus und Res-
derung und dogmatischer Starrsin- mer engeren Union« oder den Rufen sentiment, sondern mit guter Laune
nigkeit, eine stetige Suche nach der nach einer Transferunion zu verfallen. müssen und Gelassenheit, zu der auch ein
goldenen Mitte zwischen weißer Wirtschaftspolitisch wird ein libe- sich immer Blick in die Geschichte verhilft: Ob
Flagge und letztem Graben. raler Konservatismus die Prinzipien wieder mit es die Tories nach der Parteispaltung
Dafür bedient er sich einer an Aris- der Ordnungspolitik wiederbeleben, von 1846 waren oder die Christdemo-
toteles orientierten Form des Den- die dem Markt realistische Regeln Entwicklungen kraten nach dem Machtverlust von
kens, die nicht von Theorien und abs- setzt und ihn dann seine kreativen ­arrangieren, 1969 ­­– immer wieder sind Konserva-
trakten Modellen, Utopien und Sta- Kräfte entfalten lässt. Das gilt für die ihnen tive dem drohenden Untergang ent-
tistiken ausgeht, sondern von Erfah- die Klima- und Energiepolitik ebenso kommen und haben als Gestalter des
rungswerten und Alltagsvernunft, wie für Antriebstechniken der Auto- ­eigentlich Wandels Erfolg gehabt. Auch die CDU
Realismus und Pragmatismus, Maß mobilproduktion. nicht gefallen. hat jetzt die Chance. Diese.  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 59


TIERLIEBE
REPORTER
»Was macht man,
wenn einem der
Hund geklaut wird,
Frau Brandts?«
SPIEGEL: In ganz Berlin hängen
Plakate: »Jack Russell Oskar
vermisst – 5000 Euro Finder-
lohn«. Was ist passiert?
Brandts: Meine Mutter war
vor zwei Monaten mit unserem
Oskar beim Drogeriemarkt.
Sie hat ihn draußen angeleint;
als sie zurückkam, war er weg.
Es ist furchtbar.
SPIEGEL: Sind Sie zur Polizei
gegangen?
Brandts: Ja. Zeugen haben ge-
sehen, wie ein Zwölfjähriger
Oskar entführt hat. Wir haben
einen Aufruf im Internet ge-
startet, auf den sich der Bruder
des Täters gemeldet hat. Mein
Mann hat dann mit dem Jungen
gesprochen.
SPIEGEL: Was hat er gesagt?
Brandts: Er hat gestanden. Er
sagte, er habe Oskar mitge-
nommen, weil seine Eltern ihm
keinen Hund kaufen wollten.
SPIEGEL: Hatte er Oskar dabei?
Brandts: Nein. Er hat ihn noch

Kriegskind, 2002
am selben Tag kurz abgeleint,
da ist Oskar davongelaufen.
Er sagt die Wahrheit, es gibt
Zeugen.
SPIEGEL: Was ist dann passiert?
FAMILIENALBUM Sönke C. Weiss, 54, aus Dortmund Brandts: Wir haben die Plakate
aufgehängt, seitdem bekommen

T his is Sierra Whiskey. We’re having a


situation.« Sierra Whiskey – das war mein
Funk- und Rufname, als ich im Sommer
2002 als Kommunikationsmanager für ein inter-
Ladefläche und befahl dem Bruder des Mädchens
ein Zelt zu bauen, als Schutz vor der Sonne. Woher
ich den Mut und die Ruhe nahm, erinnere ich heu-
te nicht mehr, ich hatte irgendwie auf Autopilot ge-
wir Hinweise. Eine Tiertraine-
rin sagte, wir sollten Spuren
von den Sichtungsorten zu uns
nach Hause legen. Ich bin
nationales Hilfswerk in Afghanistan im Einsatz schaltet. Aus ihren Turbanstoffen und Gewehren abends durch die Stadt gegangen
war. Die Situation, um die es ging, war ein etwa bauten die Männer eine Art Zelt im Sand, während und habe getragene Kleidung
zwölfjähriges Mädchen, das hochschwanger in ich den Erste-Hilfe-Koffer bereit machte, meine und Brathähnchen an einer
einer Hütte lag – vier Autostunden von Herat im Hände desinfizierte und der Mutter des Mädchens Kordel hinter mir hergezogen.
Westen des Landes entfernt. Es ging ihm schlecht, bei der Geburt assistierte. Schon wenige Augenbli- SPIEGEL: Brathähnchen?
es war weggetreten. Der Bruder bat mich, das cke später durften wir ein neues Leben begrüßen. Brandts: Er sollte Witterung
Mädchen zur nächsten Krankenstation zu brin- Die Männer umarmten mich, als ob wir eine Fami- aufnehmen. Es war mir unan-
gen, wozu ich mich auch bereit erklärte. Offiziell lie wären. »Allah meint es gut mit dir«, sagte mein genehm, aber Oskar bedeutet
aber war es mir sofort über Funk verboten wor- Fahrer. Stunden später kamen wir an einer Kran- uns alles. Er ist wie unser Kind.
den, denn eine Regel lautete: Keine Zivilisten in kenstation an, wo wir Mutter und Kind wohlbehal- Leider ist er bisher nicht nach
Fahrzeugen mitnehmen. Wir platzierten das ten ablieferten. Ich durfte dem Jungen einen Na- Hause gekommen. Falls Sie ihn
Mädchen und seine Mutter trotzdem auf die men geben und entschied mich für Hamid. sehen: Er hat einen schwarz-
Rückbank. Mein Fahrer warnte mich: »Wenn es In der »Firma« gab’s dann noch ordentlich braunen Kopf und einen wei-
stirbt, bringen die uns um.« Denn in der Zwi- Stress, weil ich »organisationsfremde Personen« ßen Fleck auf dem Rücken. Er
schenzeit hatten sich hinten auf unserem Pick-up befördert hatte, aber es war mir egal. Wenige Mo- ist frech, aber auch scheu.
mehrere Männer aus dem Dorf niedergelassen, nate nach Hamids Geburt kam zu Hause meine Rascheln Sie mit irgendetwas,
die wohl aufpassen wollten, dass alles gut geht. eigene Tochter zur Welt. Ich war dabei und wuss- knien Sie sich hin. Dann rufen
Sie waren mit Kalaschnikows bewaffnet. te, was zu tun war. Heute ist Hamid 19 Jahre alt. Sie die Polizei oder schreiben
Wir fuhren über die buckelige Piste in Richtung Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. eine Mail an Finding-
Herat. Alle wurden gut durchgeschüttelt, bis ge- Aufgezeichnet von Dialika Neufeld Oskar@gmx.de. PYI
schah, wovor ich mich gefürchtet hatte. Dem Mäd-
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
chen platzte die Fruchtblase, inmitten von Wüste Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: Friederike Brandts, 31,
und Bergen. Ich sprang aus dem Wagen, rannte zur familienalbum@spiegel.de ist Projektmanagerin.

60 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Stattdessen brachte er das Geld
erst mal ins Haus seiner Tante. Zur

Das Geld auf der Straße


Sicherheit, wie er sagt.
Kurz darauf machte sich eine Ge-
schäftsfrau namens Musu Yancy auf
den Weg zur lokalen Radiostation und
sprach eine Botschaft in das Mikrofon.
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE  Warum ein liberianischer Sie hatte ihre Einnahmen einem Geld-
­Motorradtaxifahrer zum Nationalhelden wurde kurier gegeben, der sie nach Monro-
via zu ihrem Händler bringen sollte.
Unterwegs habe der Kurier die Tasche

D
er Tag, der alles ändern würde, In der siebten Klasse musste er die verloren, 11 000 Dollar darin gehör-
begann für Emmanuel Tuloe Schule abbrechen. Dabei sei er immer ten ihr, der Rest stammte von anderen
wie die anderen: mit einem lee- gern hingegangen in die »Voice of Geschäfts­leuten aus der Gegend.
ren Bauch. Er frühstücke nicht, sagt Hope Christian School«. Sein Lieb- Über das ­Radio bat sie den unbekann-
er, weil er kein Geld dafür habe. Erst lingsfach: Wissenschaft. Doch die ten Finder darum, das Geld zurück-
nach der Arbeit könne er sich eine Großmutter schaffte es nicht mehr, zubringen.
Cook Bowl leisten, eine Schale Ma- genug zu essen auf den Tisch zu brin- Manche sagten, Tuloe sei verrückt.
niok oder Reis aus einer der Straßen- gen. Statt etwas über Wissenschaft zu Manche sagten, er werde arm ster-
küchen. Wenn es gut laufe, mit einem lernen, lernte Emmanuel nun, wie ben, weil er so dumm sei, seine ein-
Stückchen Fleisch darin. man Motorradtaxi fährt. zige Chance auf Reichtum zu verge-
Tuloe ist 18 Jahre alt und fährt ein Motorradtaxis sind in Liberia eines ben. Tuloe aber sagt: »Ich war erleich-
Phen-Phen, ein Motorradtaxi, in der der gängigsten Fortbewegungsmittel. tert.« Das Geld machte ihm Angst.
liberianischen Provinz. Er stieg an Die Kunden winken die Phen-Phen Als er der Frau die Tasche gab,
jenem Morgen auf die Maschine sei- vom Straßenrand heran oder steigen habe sie gelacht, getanzt, das Geld
nes Chefs, eine schwarze TVS, und auf Sammelparkplätzen auf. gezählt. Nicht ein Schein fehlte. Zur
machte sich auf, um sich sein Essen Die Reisetasche, die er an jenem Belohnung gab sie Tuloe 1500 Dollar.
zu verdienen. Es war der 10. Oktober, Morgen am Straßenrand liegen sah, 1000 davon schenkte er seiner Tante.
ein Sonntag. war pinkfarben und lag auf einem Warum er das Geld nicht behalten
Knapp zwei Wochen nach den Er- Grasstreifen. Tuloe entschied sich an- habe? »Weil Oma mich so erzogen hat.«
eignissen, sitzt er in Monrovia, der zuhalten. Er nahm die Tasche hoch, Die Medien feierten ihn tagelang
Hauptstadt Liberias, rund sieben öffnete sie und fing an zu zittern, so als Helden, als Ikone der Ehrlichkeit.
Autostunden von seinem Zuhause erzählte es später seine Tante, die Präsident George Weah lud ihn nach
entfernt auf einem roten Plastikstuhl, ebenfalls dabei war. Brot sei in der Monrovia ein, sicher auch, weil er die
ein schüchterner Teenager, der sich Tasche gewesen, erinnert sich Tuloe, Chance auf positive PR erkannte. Es
noch nicht daran gewöhnt hat, über eine Hose. Und ein riesiger Batzen gibt ein Video von der Begegnung.
sich selbst zu sprechen. Er trägt neu- Geld. Tuloe sitzt umgeben von wichtigen
erdings ein gebügeltes Hemd und An- Emmanuel Tuloe verdient am Leuten an einem großen Tisch, vor
zughosen wie ein Geschäftsmann. Mit Tag nur ein paar Euro. Liberia ist Aufregung starr wie ein Stein. Der
leiser Stimme beginnt er zu erzählen. eines der ärmsten Länder der Welt. Präsident sagt, er sei ein Vorbild. Er
Es geschah zwischen zehn und elf In der Tasche befanden sich mehr als verspricht ihm ein Stipendium für sei-
Uhr am Morgen, sagt er. Er fuhr in 50 000 US-Dollar. ne Schulausbildung, dann schenkt er
einer Kolonne mit fünf anderen Mo- Tuloe könnte mit 50 000 Dollar ihm 10 000 Dollar und zwei Motor-
torrädern. Tuloe fuhr vorn. Eine Kun- für sich und seine Familie ein Haus räder, brandneu und glänzend, eine
Liberias Präsident
din auf dem Sitz. Sie waren in einem aus Ziegeln bauen. Wieder in die Weah, Tuloe,
rote und eine blaue TVS.
Ort namens Kpallah gewesen, wo es Schule gehen. Oder sein eigener Chef Screenhot von der Ehrlichkeit wird in diesem von
einen Brautpreis zu bezahlen gab, werden, mit einem eigenen Motorrad. Website Bnn.de Korruption geplagten Land reich be-
und befanden sich auf dem Rückweg, lohnt, so lautete die Botschaft. Tuloe
als er am Straßenrand die Tasche sah. verzieht während seiner Ehrung kei-
Tuloe stammt aus der Region Nim- ne Miene, vielleicht ist er starr vor
ba County im Norden von Liberia, Glück, vielleicht vor Überforderung.
einer armen ländlichen Gegend mit Bald meldeten sich erste Freunde
viel Grün und wenig Infrastruktur. Er und verlangten, Tuloe müsse Ruhm
mag Fußball und Musik, sagt er, fragt und Lohn mit ihnen teilen, weil sie
man ihn nach seinen Vorbildern, dabei waren, als er die Tasche fand.
PRESIDENTIAL PRESS OFFICE HANDOU / EPA

nennt er als Erstes seine Großmutter. Emmanuel Tuloe, die Ehrlichkeits-


Tuloes Vater starb, als er ein klei- ikone, aber bleibt dabei: Er sei der
ner Junge war, seine Mutter lernte er erste Finder.
nie kennen. So kam es, dass er mit Wie er sich die Zukunft vorstelle,
seinen acht Geschwistern bei der jetzt, wo sie ihm offensteht? Er werde
Großmutter aufwuchs. Sie wohnen in in Monrovia bleiben und zur Schule
einem Armenviertel, in einem unge- gehen, so wie es der Präsident für ihn
strichenen Lehmhaus mit drei Zim- entschieden habe, sagt Tuloe. Er hat
mern und »schlechten Türen«. Die jetzt ein eigenes Bankkonto. Er kann
Großmutter baute Reis und Maniok seiner Familie helfen. Und er wird
an, um sie zu ernähren. Tuloe sagt, in sich ein Frühstück leisten können, je-
jeder freien Minute habe er auf dem den Morgen, für eine lange Zeit.
Feld arbeiten müssen. Dialika Neufeld n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 61


REPORTER

Haus der Eheleute am Rand von Berlin: Jeder lebt auf seiner Etage, manchmal treffen sie sich in der Mitte

62 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


REPORTER

Bis Corona uns scheidet


BEZIEHUNGEN  Jahrzehntelang haben sie ihr Leben gemeinsam gelebt, ein Haus gebaut, die Kinder großgezo-
gen, Höhen und Tiefen einer Ehe miteinander erlebt. Dann kommt die Pandemie, und plötzlich stellen sie fest,
dass sie schon lange in unterschiedlichen Welten leben. Von Frauke Hunfeld (Text) und Hannes Jung (Fotos)

E
r kauft die Konzertkarten nur noch für Er dachte, sie sind sich einig. Sie gehen da ein Haus gebaut am Rand von Berlin. Ein
sich. Sie kann ja oft nicht mit, weil sie zusammen durch, und irgendwann ist alles Holzhaus, mit Schilfkläranlage, kleinen Fens-
nicht geimpft ist und weil die Testerei wieder wie vorher. tern zur Nordseite, Glas und riesigen Fenstern
umständlich ist und teuer. Sie haben das früher Ihr waren die Coronamaßnahmen unheim- gen Süden, offen für Wärme und Licht. Nach-
gern zusammen gemacht. Die Liebe zur Musik lich. Sie kannte niemanden, der Corona hat. barn aus dem Ort empörten sich anfangs über
und der Besuch von Oper und Konzert zählten Er sagt: Klar habe ich mitbekommen, dass die »Scheunenoptik« des neuen Hauses. Sie
zu den Dingen, die sie immer verbunden ha- es ein paar Leute gab, die Corona und seine haben es mit Zellulose ökologisch dämmen
ben. In der Wut hat er zu ihr gesagt: Wenn du Gefährlichkeit für eine Erfindung hielten und lassen, zu einer Zeit, als über die Nachhaltig-
dich nicht impfen lässt, dann unterschreibe sich entsprechend geäußert haben. Ich habe keit moderner Dämmstoffe noch nicht allzu
bitte, dass du auch auf intensivmedizinische das erst mal beiseitegetan, und ich dachte, das viel nachgedacht wurde. Das Haus hat drei
Behandlung verzichtest, wenn du krank wirst. sind ein paar Bekloppte, die muss man nicht Etagen und eine hoch liegende Terrasse.
Sie trifft sich mit Leuten, die er nicht mehr weiter ernst nehmen. Schwere Gründerzeitmöbel, geerbt von der
kennt. Da reden sie ganz offen: über die neu- Sie sagt: Ich habe gedacht, irgendwie ist Oma, der Fußboden ist aus Spanplatten, das
esten Studien, aber auch über das, was jeder das eine Art von Panikmache, die jemandem war damals schon Avantgarde.
erlebt, als Ungeimpfter. Über die Konflikte in politisch ins Spiel passt. Wir haben ein öko- Am Anfang der Coronazeit hat Sebastian
der Familie, die Beschimpfungen in Medien logisches Problem, wir haben ein Flüchtlings- wahnsinnig viel zu tun. Nie war IT so wichtig
oder von Freunden, die keine mehr sind. Auch problem, wir haben ein Verteilungsproblem wie jetzt. Die Leute gehen ins Homeoffice,
darüber, wie man ungeimpft und ohne Test und so weiter. Ich habe eigentlich darauf ge- das Land digitalisiert sich. Sebastian steht je-
und nicht genesen zu einem Besuch in ein wartet, dass etwas passiert, was den Blick da- den Morgen um halb sechs auf, fährt mit der
Krankenhaus kommt, durch den Personalein- von weglenkt. Etwas, das uns alle beschäftigt. Bahn zur Arbeit in die Stadt und fällt um halb
gang nämlich. Welcher Friseur trotzdem die Deswegen habe ich von Anfang an auf die elf ins Bett. Christiane dagegen hat Zeit. Sie
Haare schneidet und wo man sich demnächst Zahlen geachtet, die als Begründungen heran- ist aufgrund mehrerer Vorerkrankungen zu
Lebensmittel besorgen könne, wenn die gezogen wurden für einzelne Maßnahmen. Hause. Jetzt kann sie nicht mehr zum Chor
Supermärkte Ungeimpfte nicht mehr rein- Und ich fand die sehr widersprüchlich. und nicht mehr schwimmen gehen. Die meis-
lassen. Dass es so kommen wird, da sind sie Um über diese Zeit zu sprechen, haben sich ten Kontakte entfallen oder finden nur noch
sicher, in ihrer kleinen Gruppe, die sich über die beiden in ihrem Haus mit dem SPIEGEL virtuell statt. Sie ist nachts lange wach, viel
den Messengerdienst Telegram gefunden hat. gemeinsam an ihren Esstisch gesetzt. Später im Internet unterwegs und schläft morgens,
In ihrer Wut hat sie zu ihm gesagt: Du willst erzählten sie in Einzelgesprächen und langen wenn sie kann, bis zehn. In der Zeit, in der
gar nicht wissen, was auf der Gegenseite pas- Telefonaten, wie sie zurückblicken auf die ver- Corona das beherrschende Thema ist, spre-
siert, weil du konfliktscheu bist und bequem gangenen Monate. chen die beiden nur selten miteinander.
und weil es dich infrage stellen könnte. Die Tür zum Garten steht offen und lässt Sie sagt: Ich hätte gerne mit ihm geredet
Sebastian und Christiane. Er hat dunkle Lo- die letzte Oktobersonne herein. Vom Esstisch über Corona. Ich habe ihm Links geschickt, ich
cken, sie hat helle Locken. Er ist Mathematiker, aus, an dem das Gespräch stattfindet, hat man habe mich überall informiert, aber er wollte
sie hat Musikwissenschaften studiert. Er ist seit einen fantastischen Blick in den Garten. Vor das alles gar nicht wissen. Und das werfe ich
30 Jahren im Staatsdienst, sie hat immer wieder 20 Jahren sind sie hier rausgezogen und haben ihm auch vor, dass er alles mitmacht und Ar-
neu angefangen, neu anfangen müssen. Er ist gumentationen von Leuten, die ich für ziem-
zuständig für die IT-Systeme in einer Berliner lich wissenschaftlich halte, nicht zur Kenntnis
Justizbehörde. Sie hat an der Oper gearbeitet,
am Theater, in der Politik, hat Fortbildungen
»Das sind ein paar nimmt, gegen die staatlichen Maßnahmen,
gegen die Wirksamkeit der Masken, gegen das
gemacht zum systemischen Coach, zu Natur- Bekloppte, die muss man Schließen der Schulen und so weiter.
heilverfahren. Zwei Söhne haben sie großge-
zogen, beide sind erwachsen und gehen ihren
nicht ernst nehmen.« Er sagt: Sie hat viel KenFM konsumiert,
Wolfgang Wodarg und alternative Medien,
Weg, einer lebt in der Schweiz, der andere in Sebastian die, wie sie sagt, eigene Erkundigungen ein-
Berlin. Sie sind seit fast 36 Jahren verheiratet. ziehen und auch Leute interviewen, die nicht
Am Anfang der Pandemie hat er gar nicht der Meinung sind, die in den offiziellen Me-
gemerkt, was in ihr vorgeht. Sie haben ihre dien vorherrschend ist. Ich kannte das meiste
Kontakte eingeschränkt, erzählt Sebastian, »Ich kannte niemanden, davon vorher nicht. Ich habe versucht, mich
und Vorsicht walten lassen, besonders wenn
sie die alten Eltern besucht haben, keine Um-
der Corona hat.« damit ein bisschen auseinanderzusetzen.
Und ich habe mich sofort abgestoßen gefühlt­
armung, Abstand, so Sachen. Man wusste nicht Christiane davon. Auf mich wirkte das so: Sie sind die
viel, und deswegen waren sie beide vorsichtig. Erleuchteten, und alle anderen sind nur doofe

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 63


REPORTER

Lemminge, alle staatshörig und leider ah- gen durch Sachsen zog. Sebastian gab als
nungslos, was wirklich abgeht. Und ich habe »Ich war entsetzt, Hauptdarsteller einen unglücklich Verliebten
mir nicht vorstellen können, dass das, was dort
verkündet wird, bei Christiane auf fruchtbaren
dass sie solchen Leuten und war Budgetverantwortlicher. Er sollte
Christiane ausschließen, weil sie zwar Maske
Boden fallen könnte. vertraut.« und Kostüm machen wollte, aber als Teil-
Im Garten blühen Anemonen und die letz- Sebastian
nehmerin gar nicht offiziell angemeldet war.
ten Sonnenblumen, die Hagebutten leuchten Er hat es noch geschafft, sie ins Hauptzelt
tiefrot. Die Grundstücksgrenze verschmilzt einzubestellen, mehr nicht. »Ich habe mich
mit den Wiesen davor, auf denen im Abend- gewundert, weil er so rumgeeiert hat und ich
licht Pferde stehen. Corona, Drosten, Wodarg
und das RKI scheinen sehr weit weg. Über
»Ich höre mir nicht kapiert habe, was er mir eigentlich sa-
gen wollte«, sagt Christiane, »ich hab erst
den Bäumen am Horizont kreist ein Milan. alle Seiten an.« hinterher erfahren, dass er mich eigentlich
Im Sommer 2020 wird kurz alles besser. Christiane wegschicken sollte.« Sie lachen sich heute
Die Zahlen sinken, Masken fallen, man kann noch kaputt darüber.
sich wieder zu mehreren treffen. Christiane Vier Wochen später waren sie verlobt, drei
geht schwimmen und singt im Chor, Sebastian fen. Christiane ist jetzt manchmal bis in die Monate später verheiratet. Christiane wurde
spielt Tennis und läuft durch den Wald. Über Morgenstunden im Netz. Sie kochen nur noch exmatrikuliert, weil sie sich weigerte, der FDJ
das Thema Impfung reden sie kaum. Sebas- am Wochenende zusammen, Sebastian isst beizutreten. »Mein Sektionschef wollte Rek-
tian weiß, dass Christiane misstrauisch ist. abends nichts mehr. Wenn es zu Treffen in tor werden, und dazu brauchte er eine FDJ-
Sie sagt: Ich kenne seine Einstellung zu mei- größerem Kreis kommt, warnt Sebastian die Mitgliedschaft von 100 Prozent. Also haben
ner Einstellung der Medizin gegenüber. Ich Leute vor. Christiane wundert sich, dass nie- sie versucht, erst mich da reinzuloben, dann
möchte möglichst viel auf natürlicher Basis mand über das redet, worüber eigentlich ge- reinzupressen. Je mehr Druck, desto weniger
machen, mit therapeutischen Ölen oder mit rade alle reden. Es kommen auch nicht mehr haben sie mich dazu gekriegt, so war das
Vitaminen oder mit Kräutern, Homöopathie viele, ob wegen Corona, wegen der Mei- schon immer bei mir.«
und Frequenzmedizin, solche Sachen. Das sind nungsverschiedenheiten oder wegen der an- Sebastian studierte Mathematik im letzten
alles Dinge, die Sebastian bestenfalls aushält, gespannten Stimmung. Als seine Schwester Studienjahr. Er stammt wie Christiane aus
dass ich die mache. Aber er teilt sie überhaupt mit ihrem Mann und den Töchtern einmal zu einer christlichen Familie, aber er wählt einen
nicht. Im Gegenteil, ich habe da früher auch Besuch ist, ruft er vorher an und bittet, das anderen Weg: »Ich ließ mich konfirmieren,
immer schon mal böse Bemerkungen geerntet. Minenfeld irgendwie zu umgehen. Sie hört ging aber auch zur Jugendweihe. Später wur-
Er sagt: Meine Meinung ist, wenn solche von diesen Anrufen zum ersten Mal. de ich sogar FDJ-Sekretär meiner Studien-
Mittelchen am Anfang wirken, ist das ganz viel »Bist du jetzt sehr enttäuscht?«, fragt er. gruppe. Keiner wollte es machen, also habe
Einbildung. Und irgendwann lässt diese Wir- Christiane ist wütend. »Warum machst du ich es gemacht, für ein Jahr, bis ich jemand
kung nach. Dann muss wieder etwas anderes so was?«, fragt sie. »Das ist Entmündigung. anderes überreden konnte. Ich kann schlecht
gesucht werden. Das kostet auch durchaus Geld. Schämst du dich für mich?« Er antwortet Nein sagen.«
Gegen Corona hilft das jedenfalls nicht. nicht. Schenkt Tee nach. 1986 und 1988 werden die Söhne geboren.
Er sagt: Irgendwann fing sie damit an, dass Die kleine Familie zieht nach Berlin, zieht

I
m Herbst steigen die Zahlen wieder, die die Bundesrepublik doch gar keine richtige schwarz in eine leer stehende Wohnung im
Maßnahmen werden verschärft, und was Verfassung habe und in Wirklichkeit eine Herzen des Prenzlauer Bergs, nahe der Geth-
sich auch verschärft, ist der Ton zu Hau- GmbH sei. Und ich dachte: Ach, du Scheiße. semanekirche. Christiane engagiert sich in
se. Sebastian erinnert sich an eine Diskussion Jetzt ist sie in eine Ecke gerutscht, die echt ein der Opposition. Der Moment am Abend des
über Winfried Stöcker, einen Professor aus Problem ist für mich. Ich arbeite in einer Jus- 7. Oktober 1989, als unter ihrem Fenster die
Lübeck, der auf eigene Faust einen Impfstoff tizbehörde. Und was aus Reichsbürgern tat- Demonstranten vorbeiziehen und die Geräu-
entwickelt hat. sächlich werden kann, bekomme ich mit. Dass sche aus dem Fernseher von den gleichen
Er sagt: Er hat ihn Freiwilligen verabreicht die Leute ihr eigenes Süppchen kochen, wie ­Geräuschen von der Straße übertönt werden,
und soll die dafür vorgesehenen Regeln nicht gewaltaffin die teils sind. Dass sie so etwas auf hat sich ihr für immer eingebrannt. Sie läuft
eingehalten haben. Dafür wurde er angezeigt. den Leim geht, das hat mich entsetzt. zur Kirche und demonstriert mit. Nur durch
Das hat Christiane wahnsinnig aufgeregt. Das Sie sagt: Für mich war das völlig neu. Ich Zufall entgeht sie einer Verhaftung. Bei der
war so ein Punkt, wo ich festgestellt habe, dass wollte versuchen, das zu verifizieren. Weil Großdemo auf dem Alexanderplatz ist sie Ord-
sie mit den Institutionen des Staates immer ­Sebastian sich sehr gut zeitgeschichtlich aus- nerin. Die grüngelbe Ordner-Schärpe mit der
weniger einverstanden ist. Dass sie immer kennt. Viel besser als ich und ich dann eben Aufschrift »Keine Gewalt« hat sie immer noch.
mehr auch Sprache übernommen hat, die in gedacht habe, ich könnte mit ihm darüber re-

N
diesen alternativen Medien verwendet wird. den, was daran denn substanziell ist. Also ja, ach dem Mauerfall ist Christiane kurz
Und dass angeblich auf den »Querdenker«- wir haben keinen Friedensvertrag. Ja, formal beim Demokratischen Aufbruch, dann
Demonstrationen überhaupt keine Rechten ist die Bundesrepublik immer noch nicht un- bei Bündnis 90. Sebastian verliert sei-
gewesen seien, sondern alles ganz vernünftige abhängig. Und ich weiß auch, dass es Leute nen Job bei einem EDV-Betrieb. Sie gehen
Leute, die nur die Freiheit verteidigen. Ich war gibt, die versuchen, innerhalb der Bundesre- nach Bonn, Christiane arbeitet als wissen-
entsetzt, dass sie Menschen vertraut, die tat- publik Areale zu freien Republiken zu machen. schaftliche Mitarbeiterin im Bundestag und
sächlich fast schon so was wie eine Sekte bilden. Damit hab ich aber auch nicht so ein Problem organisiert den Zusammenschluss von Bünd-
Sie sagt: Mich ärgert das, weil Sebastian wie er. Diese Überlegungen gab es in der DDR nis 90 und den Grünen. Sebastian findet nach
mich schon lange genug kennt. Ich bin sicher auch schon, zum Beispiel die freie Republik kurzer Arbeitslosigkeit einen Job als Sachbe-
nicht rechts, aber ich gucke alle Seiten an. Ich Rügen auszurufen. arbeiter im ­Bundesamt für Güterverkehr.
lese auch AfD-Papiere. Wenn man jeden, der Plötzlich geht es nicht mehr nur um Coro- Unterhalb ­seiner Qualifikation, aber er sieht
die Maßnahmen kritisch sieht, gleich zum na. Es geht darum, wie man lebt und wem es nach der Zeit der Arbeitslosigkeit als Chan-
Staatsfeind macht, dann entstehen genau die man vertraut. Es geht auch darum, wie man ce. Für ­Sebastian ist das Glas meistens halb
Gruppen, die Sebastian sektenartig nennt. gelebt hat und wem man vertraut hat. voll. 1997 kehren sie zurück nach Berlin.
Sebastian und Christiane versuchen, das Kennengelernt haben sich Christiane und An einem Abend im Herbst vor dem zwei-
Thema zu meiden. Er fährt früh zur Arbeit, Sebastian im Sommer 1985 auf der Tournee ten Lockdown kommt Sebastian nach Hause.
läuft danach durch den Wald, geht früh schla- eines Studententheaters, das mit Pferdewa- Christiane sitzt weinend vorm Fernsehgerät,

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REPORTER

der ist ein bisschen bekloppt. Sondern dann


mache ich mir um meine Familie unheimlich
Sorgen.
Sebastian schüttelt den Kopf und kann das
alles gar nicht fassen: »Es haben sich doch
jetzt Hunderte Millionen Leute impfen las-
sen«, sagt er, »und nichts ist ihnen passiert.
Spätestens jetzt müssten die Bedenken doch
weg sein.«
»Vieles davon wird sich im Zweifel erst
später zeigen«, sagt Christiane. »Impfneben-
wirkungen und auch Todesfälle dürfen in der
Statistik nicht erfasst werden.« »Woher hast
du das?«, fragt Sebastian, »wer sagt, die dür-
fen nicht erfasst werden?«
»Ich könnte dir das alles vorspielen«, sagt
Christiane. »Du erwartest von mir immer, ich
solle dir die Argumente zu so einem Themen-
komplex in kleinen Häppchen und gut sortiert
vor die Füße legen. Damit du nur noch sagen
musst: Brauche ich, brauche ich nicht. Glau-
be ich, glaub ich nicht. Und alles andere
kommt in den Müll. Man muss sich bestimm-
te Positionen einfach auch selbst erarbeiten.«
Einen Tag bevor Sebastian seinen Impf-
termin hat, erzählt er seiner Frau davon. Zu
spät, wie sie findet, denn Sebastian ist jetzt
nicht nur anderer Meinung, sondern eine Ge-
fahr auch für ihre Gesundheit. Für sie fast ein
Verrat. Der Streit eskaliert.
Sie sagt: Es gab Informationen, und denen
ist auch nicht wirklich widersprochen worden,
dass diejenigen, die geimpft worden sind, in
den ersten Tagen ansteckend sein können. Und
dass die Spikes, die erzeugt werden, um in den
Körpern die Abwehrkräfte herzustellen, über
die Atemluft sich auch in den Körpern der
Ungeimpften festsetzen. Dass sie die Gefäß­
wände durchlöchern und Mikroblutungen aus­
lösen. Und ich hatte keine Möglichkeit, Vor­
kehrungen zu treffen. Ich fand das extrem
unsolidarisch von Sebastian.
Er sagt: Ich habe davon noch nie gehört.
Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Es
scheint mir eine elegante Ausrede, die Infek­
Paar Christiane, Sebastian: Sie reden trotz allem gut übereinander
tion der Ungeimpften den Geimpften in die
Schuhe zu schieben.
es läuft ein Film über das Ende der DDR. Sie nen Maßnahmen, das hat mit dem Staat, in Was ist Wahrheit, was ist Meinung? Wem
sagt: Jetzt ist es wieder so weit. »Es war die dem wir jetzt leben, nichts zu tun. kann man trauen, was wissen wir wirklich?
totale Endzeitstimmung«, sagt Sebastian. Die Impffrage schwebt immer drängender Biologen oder Mediziner sind sie beide nicht.
Sie sagt: Ich sah diesen Film und hatte das über ihnen. Für Sebastian ist klar, dass er sich Er kommt mit Statistiken, sie sieht sich in
Gefühl, dass gerade all diese Dinge, gegen die impfen lassen möchte. Er hat die Bilder aus ihrem Umfeld um.
ich in der DDR gekämpft habe, gegen staat­ Bergamo und New York gesehen, und er ist Sebastian und Christiane leben inzwischen
liche Willkür und für Meinungsfreiheit und froh, dass eine Impfung bald möglich ist. Für auf getrennten Etagen in ihrem Haus. Er
Selbstbestimmung, dass das ­gerade in diesem Christiane ist klar, dass sie sich nicht impfen oben, sie unten. Treffen tun sie sich nur noch
Land zu Ende geht. Die ­Versammlungsverbote, lässt. Sie misstraut der schnellen Entwicklung, in der Mitte, dort liegen das geräumige Wohn-
dass Leute von Park­bänken gejagt werden, sie misstraut der Firma Pfizer, sie glaubt nicht zimmer und die Küche. Sebastian sagt: Es
die Vereinzelung und die Angstmache. Und an die Notwendigkeit und befürchtet Folge- geht nicht um Atemluft. Es geht ums Ganze.
dass es noch schwieriger ist, dagegen etwas zu schäden. Sebastian hat seine Studien, sie hat Es geht um die Grundfesten unserer Bezie-
unternehmen, weil ­Lobbyisten und Privat­ ihre Quellen. Wenn sie davon anfangen, strei- hung. Ich weiß nicht, von wo wir losgehen
unternehmen jetzt ­entscheiden, wer sprechen ten sie schnell. Meistens lassen sie es. können, worauf wir uns noch einigen können.
darf und wer nicht. Sie sagt: Wenn ich von jemandem wie Christiane ist inzwischen wegen der Corona-
Er sagt: Ich konnte die Analogie nicht se­ ­Professor Bhakdi höre, der jahrzehntelang in politik bei den Grünen ausgetreten.
hen, und ich sehe sie immer noch nicht. Ich Deutschland Mediziner ausgebildet hat, wa­ Sie waren immer schon ziemlich verschie-
kann mich an die DDR noch gut erinnern. rum die Impfung in den Gefäßwänden Mikro­ den. Sie weiß, dass er Konflikte eigentlich
Und da habe ich immer Angst gehabt: vor der verletzungen auslöst und dass die Leute nach hasst. Er ist kein Streithansel und kein Egoist,
Polizei, vor der Staatssicherheit, vor staatli­ innen verbluten, dann stell ich mich doch und, sicher, das hat sie auch geliebt an ihm.
chen Organen. Und bei aller Kritik an einzel­ nicht hin und sage nur: Der hat ein Rad ab, Er sucht immer den Kompromiss, immer das

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REPORTER

Arrangement, auch wenn es auf seine Kosten Er sagt: Ich versuche, mich anzunähern.
geht. Er weiß, dass sie ganz anders ist, und, »Ich fühle mich nur Ich lese jetzt öfter Abhandlungen auf der Inter-
sicher, das hat er auch geliebt an ihr: Sie
scheut keine Auseinandersetzung, lässt sich
über die Vergangenheit mit netplattform des Netzwerks Kritischer Richter
und Staatsanwälte zu den juristischen Aspek-
ungern etwas vorschreiben. Sie sucht das Sebastian verbunden.« ten der Maßnahmen und einer Impfpflicht.
Haar in der Suppe nicht nur, sie findet es auch. Christiane Da kann ich eher andocken.
Sie hat niemals ein Problem damit, in der Sie sagt: Ich habe Angst. Angst vor einem
Minderheit zu sein. übergriffigen Staat. Angst, dass meine Söhne
Nur jetzt ist es anders. Jetzt geht es um das Folgeschäden durch die Impfung haben.
Leben und den Tod, um alles, woran man
glaubt, um alles, wogegen man ist oder war.
»Ich versuche, Angst, dass Sebastian und ich es nicht schaffen.
Dass ich das alles hier aufgeben muss. Angst
Es gibt Momente, da sind die beiden wie die mich anzunähern.« vor Einsamkeit.
zwei Hälften dieses Landes: Sie haben so viel Sebastian Angst vor Corona hat sie nicht. Sie fühlt
gemeinsam. Sie sind so verschieden. Sie spre- sich gerüstet. »Ich habe sehr viel in den gan-
chen die gleiche Sprache. Aber es gibt so ­viele zen Jahren gemacht, um mein Immunsystem
Missverständnisse. Sie hat trotzdem Hoffnung: »Auf der einen auf einen guten Stand zu bringen. Was nicht
Er liebt Systeme und Strukturen. Öfter Seite werden formal die Regeln immer härter, heißt, dass ich es nicht doch kriegen kann.
­haben sie sich wegen ihrer Pillenschachteln aber die Leute scheinen das immer weniger Und ich gebe auch denen nicht recht, die sa-
gestritten, erzählt Sebastian. »Es hat lange ausführen zu wollen. Ich sehe das bei man- gen, das sei harmlos. Es ist schon eine sehr
gedauert, bis sie akzeptiert hat, dass es ein chen Einkaufsläden, bei manchen Arztpra- ernste Erkrankung. Aber sie hat nicht annä-
gutes System ist, mit diesen gefächerten xen, bei manchen anderen Veranstaltungen, hernd die Ansteckung und nicht annähernd
Schachteln den Überblick über ihre vielen da machen wir die Tür hinter uns zu, und die Reichweite und auch nicht annähernd die
Medikamente zu behalten.« dann wird die Maske abgenommen. Und ob Mortalitätsrate, die sie immer behauptet ha-
Und davon nimmt sie reichlich, ganz klas- man geimpft oder getestet wurde – man muss ben.« Und wenn sie doch einen schweren Ver-
sische Medikamente mit den üblichen Neben- die Bescheinigung oft nicht zeigen, man muss lauf hätte? »Dann ist es auch einfach Zeit zu
wirkungen. Muss sie nehmen. »Ich finde es es nur sagen.« Ob sie denn lügen würde, um gehen«, sagt Christiane.
ziemlich widersprüchlich, dass sie all diese im Chor mitzusingen? »Das wäre so ziemlich Gehen heißt sterben? »Ja.«
Sachen nimmt und sich dann aber nicht imp- das Einzige, wofür ich bereit wäre zu lügen.« Sebastian sagt nichts dazu. Er guckt an-
fen lässt«, sagt Sebastian. Und grinst dann. »Quatsch«, sagt sie. »Na- gestrengt aus dem Fenster.
»Es ist eine Abwägung«, sagt Christiane. türlich lasse ich mich vorm Singen testen.«

S
»Bei jedem einzelnen Medikament wäge ich Einmal, an einem der letzten schönen Tage ebastian hat Angst, dass Christiane sich
ab, nehme ich das, nehme ich das nicht? Wie in diesem Herbst, waren sie noch Kraniche ansteckt und dass es sie schwer trifft,
lange nehme ich das? Und ich habe in den gan- gucken zusammen, bei Linum, einem Dorf in aufgrund ihrer Vorerkrankungen. Sie
zen Jahren darum gekämpft, meine Anzahl und Brandenburg, wo die Tiere zu Tausenden hat keine Patientenverfügung und keine Voll-
die Dosis der Medikamente zu reduzieren.« Kraft sammeln vor ihrer großen Reise gen macht für ihn ausgestellt. Und sie weiß auch
Früher haben sie gesagt: Sie ergänzen sich. Süden. In vielen Kulturen gelten die eleganten noch nicht, ob sie das macht. Sie ist sich nicht
Heute reiben sie sich auf. Sie liebt den Zwei- Vögel als Symbole des Glücks. Und als treu: sicher, dass er in ihrem Sinne handeln würde.
fel. Er liebt die Gewissheit. Wenn ein Kranich nach ein paar wilden Jah- Sie hat ihr Hochzeitskleid von vor 35 Jah-
Sie gehen sich aus dem Weg, aber wie lan- ren die Richtige gefunden hat, verlässt er sie ren am Schrank hängen, mit einem Schild
ge kann man sich aus dem Weg gehen, wenn sein Leben lang nicht mehr. noch dran von der Reinigung. Sie will es
man einen so langen gemeinsamen Weg hin- Sebastian möchte seine Frau nicht verlie- ­verkaufen, aber der Laden, an den sie es
ter sich hat? Das Private ist politisch. Das ren. Aber er möchte auch sein bisheriges Le- ­geben wollte, hat Corona nicht überlebt.
Politische wird privat. ben nicht verlieren und seine Überzeugungen. »Wegschmeißen kann ich das irgendwie
Sie haben den Pool abgebaut, an dem sie Er ist entschiedener geworden mit den Jahren. nicht«, sagt sie.
noch im Sommer zusammengesessen haben, Wenn er, bei aller Kritik, dem Staat grund- Sie wirken immer noch wie ein Paar. Sie
ein heller rechteckiger Fleck aus platt ge- sätzlich nicht traut, nicht mehr an Rechtsstaat- reden trotz allem gut übereinander. Als sie
drücktem Gras erinnert an vergnügliche lichkeit, an Meinungsfreiheit und Demokratie fotografiert werden, fassen sie sich intuitiv an
Bade­stunden. glaubt, was soll er dann bitte in einer Justiz- den Händen. Sie sagt über ihn: Er ist ein echt
Sebastian kommt von draußen rein, die behörde? lieber Mensch. Er sagt über sie: Sie ist tatsäch-
Plane ist nicht trocken geworden, sie hatten Sie sagt: Ich fühle mich im Moment nur lich etwas sehr Besonderes.
sie über die Wäschespinne gehängt, jetzt über- noch über die Vergangenheit mit Sebastian Sie überlegen, ob sie bereit sind, mit vol-
legen sie, wo sie sie ausbreiten können, damit verbunden, nicht in der Gegenwart. Ich ver- lem Namen im SPIEGEL zu erscheinen. Sie
sie nicht schimmelt. Katzenfutter fehlt. suche mit Meditation, mit Ölen, mit neuro- hat erst nichts dagegen, er zögert. Er denkt
linguistischer Programmierung mit meinen noch mal nach, dann sagt er: »Ich habe nichts

E
s ist kalt geworden. Sie werden nicht negativen Emotionen zurechtzukommen. Wo- zu verstecken.« Jetzt zögert sie. Schließlich
mehr spontan zusammen ins Restaurant hin das führt, weiß ich nicht. entscheiden sie sich gemeinsam dafür, dass
gehen können in den kommenden Mo- Der Kater kommt, ignoriert Sebastian wie nur die echten Vornamen genannt werden
naten, nicht ins Theater, nicht ins Konzert. einen unwürdigen Nebenbuhler und lässt sich sollen. Wer sie kennt, wird sie erkennen, das
Test­kapazitäten sind rar, gerade auf dem von Christiane streicheln. Futter nimmt er dann ist okay. »Aber es gibt Radikalinskis«, sagt
Land. Manche Einrichtungen öffnen nur für doch von ihm. Sebastian trägt es mit Fassung. sie, »wer weiß, auf was für Ideen Leute kom-
Geimpfte und Genesene. Der Garten ist im Man wartet, dass er mal aus der Haut fährt. men.« »Es sind schon Steine geflogen in Lä-
Winter keine Option. Spaziergänge fallen aus, Es geht doch gerade um ihr gesamtes bishe- den, die auch an Ungeimpfte verkaufen. Ra-
denn Christiane ist nicht gut zu Fuß. Reisen riges Leben, um ihre Vergangenheit, um ihre dikalinskis auf beiden Seiten«, fügt er hinzu.
als Ungeimpfte ist schwierig. Zukunft. Er ist so ruhig, so rational. Kann es »Ihr werdet euch niemals trennen«, sagt
Sebastian wird weiter zum Sport gehen. sein, dass allein das sie manchmal wahnsinnig der ältere Sohn.
Durch den Wald laufen, ein Bier nach dem macht? »Ich habe bis heute nicht begriffen, wie
Training mit den anderen, ins Konzert. Chris- Er hat sich entschuldigt, für den Spruch ausgerechnet ihr ein Paar werden konntet«,
tiane ist weiter eingeschränkt. mit der intensivmedizinischen Behandlung. sagt der jüngere Sohn. n

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REPORTER

Ich muss mich auch nicht mehr so


aufregen. Joshua Kimmich ist nicht
geimpft? Mir egal. Seine Entschei-
dung. Elke Heidenreich hat irgend-
was Böses bei Lanz gesagt? Mir egal.

Die Gnade der frühen Geburt


Ich liebe Elke Heidenreich trotzdem.
Verschont mich mit diesen ständigen
Viel-Lärm-um-nichts-Debatten. Das
sollen die Jüngeren machen. Die
­haben noch genug Empörung im Blut
ALLES GUTSCH  Über meinen 50. Geburtstag, Radio Paradiso und die Vorteile, und einen Twitter-Account. Nicht
endlich ein mittelalter weißer Mann zu sein mal über das Gendern, ein beliebtes
Empörungs-Sujet mittelalter Männer,
rege ich mich auf. Das wäre mir zu

V
or ein paar Tagen bekam ich klischeehaft. Lieber sammle ich
eine E-Mail, die mit den ­schöne gegenderte Wörter, die ich in
­Worten begann: »Hallo Frau der Zeitung lese, und erfreue mich
Gutsch, immer mehr Deutsche über an ihrem märchenhaften Klang und
50 tragen moderne Mini-Hörgeräte der exotischen Schreibweise. Groß-
kostenlos zur Probe und entscheiden koalitionär*innen. Welpen*innen-
sich begeistert für ein Leben mit mehr schutz. Sinti*zze und Roma*nja.
Lebensqualität.« Wunderbar!
Dass man mich mit Frau Gutsch Ich weiß auch nicht, ob es kor­-
ansprach, egal. Im Herzen bin ich rekt LGBTQ-Community oder
genderfluid. Aber warum bekomme LGBTQIA+-Community heißen muss
ich jetzt ständig Altersprodukte an- und was sich genau hinter jedem ein-

Illustration: Mario Wagner / DER SPIEGEL


geboten? Weitsichtbrillen. Thrombo- zelnen dieser geheimnisvollen Buch-
sestrümpfe. Und immer wieder: Hör- staben verbirgt. Womöglich ist alles
geräte. Dabei höre ich sehr gut! etwas kompliziert für den Alltags­
Bislang landeten in meinem Spam- gebrauch. Aber dann denke ich an
Ordner vor allem Sexangebote. Pros- meine eigene Jugend, wo ich ja ganz
tituierte aus Osteuropa, Schwanzver- genauso sprach. Ich war in der FDJ,
längerungspillen oder dubiose Mittel, in der DSF und auch im DRK. Ich war
mit denen ich bald »ficke wie ein Welt­ in der FDJDSFDRK-Community.
meister«. Aber das ist vorbei. Irgend- Manchmal träume ich davon, noch
wie wissen die im Internet Bescheid mal jung zu sein. Quasi in der Zeit
und haben die Angebote umgestellt. gen? Offensichtlich sind die 70-Jäh- zurückzureisen. Und dann bin ich
Altersgerecht sozusagen. rigen jetzt meine Buddys. wieder 12 oder 16 Jahre alt. Sobald
Im Dezember werde ich 50. Es fällt Regelmäßig spiele ich auch Fußball. die Zeitmaschinen in den Handel
mir im Übrigen leichter, diesen Satz In einer Altersklasse, die Alte Herren kommen, kaufe ich mir eine. Aber ich
zu schreiben, als ihn auszusprechen. heißt. Dort begann ich mit 40. Als würde lieber in meine eigene Jugend
Ja, natürlich ist das albern. Zumal der ich zum ersten Mal die Umkleidekabi­ zurückreisen. Die aktuelle Jugend –
Weg des Lebens seit Ewigkeiten be- ne betrat und mir strenger Mobilat- das wäre mir zu anstrengend. Man
kannt ist: Erst ist der Mensch jung. Geruch entgegenschlug, dachte ich: muss so aufpassen. Mit seinen Wor-
Später alt. Jung ist besser. Oje. Alte Herren – das Hospiz für Fuß- ten, seinen Fotos.
Manchmal sagen mir jetzt Freunde baller. Heute bin ich fußballerisch be- Als ich 13 Jahre alt war, äußerte
aus Überzeugung oder Mitgefühl: reits ein alter Alter Herr. Na und? Ich ich die Meinung, dass es gerechtfertigt
»Aber du bist doch noch total jung!« spiele, bis sie mich vom Platz tragen. sei, Menschen an der Berliner Mauer
Ich antworte dann: »Wisst ihr, wann Ganz im Geiste des großen Oliver zu erschießen. Denn wer flüchtet, ist
ich mein Abitur gemacht habe? Vor Kahn: weiter, immer weiter! ein Staatsfeind. Diese Meinung mei-
31 Jahren.« Anschließend schweigen Klinge ich zu negativ? Mit 50 bin nes jugendlichen Ichs ist mir heute
die Freunde betreten. ich offiziell ein mittelalter weißer zutiefst unangenehm, ob ihrer ab-
Die 50 liegt genau zwischen 30 Mann. Und natürlich hat es Vorteile grundtiefen Dummheit. Zum Glück
und 70 – 20 Jahre sind es in die eine und bringt vielfältige Freuden mit gab es damals kein Instagram. Ich
wie in die andere Richtung. Aus al­- sich, ein mittelalter weißer Mann zu habe den Unsinn nicht gepostet, nie-
ter Gewohnheit, weil ich aus dieser sein. Zum Beispiel erwartet niemand mand kann heute meine Jugendsün-
juvenilen Richtung komme, fühle ich
mich den 30-Jährigen natürlich emo-
mehr von mir, besonders progressiv
zu sein. Weder politisch noch musi-
Warum den wieder aus dem Netz kramen wie
jüngst bei der Grüne-Jugend-Spre-
tional viel näher. Das sind meine kalisch, noch modisch. Das ist un­ bekomme ich cherin Sarah-Lee Heinrich.
­Buddys!
Dann las ich im Internet, dass der
gemein entlastend. Im Auto höre ich
jetzt oft Radio Paradiso. Werbeclaim:
ständig Das ist: die Gnade der frühen Ge-
burt, die man als 50-Jähriger genießt.
­Musiker Ed Sheeran in diesem Jahr »Berlins beste Hits mit der meisten Hörgeräte Geboren wurde ich übrigens an
30 Jahre alt wurde. Der Musiker Sting
wurde 70 Jahre alt. Ed Sheeran ist mir
Abwechslung«. Erst war es mir pein-
lich, und wenn jemand mit mir im
angeboten? einem 25. Dezember. Das hat nun
einen weiteren Vorteil: Niemand er-
total egal, und ich kenne kaum einen Auto fuhr, verstellte ich schnell den Ich höre wartet an dem Tag, an dem ich 50
Song von ihm. Bei Sting aber rufe ich
sofort: »Roxanne, you don’t have to
Sender. Heute denke ich: egal. Der
Zug der Coolness ist längst weg, mein
doch sehr werde, eine große Feier von mir. Alle
haben Besseres zu tun. Danke, Jesus.
put on the red light!« Was soll ich sa- Freund. gut! Jochen-Martin Gutsch n

68 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


E in e g u te N a c h r ic h t v o n L in o la :

D ie e r s te D e s in fe k t io n s - H a n d c r e m e
f ü r h y g i e n i s c h g e p fl e g t e H ä n d e

L in o la s e p t
H a n d - H y g ie n e - B a ls a m
In a k t iv ie r t C o ro n a v ire n (in n e r h a lb
v o n 2 m in ; 4 lo g -S t u fe n g e m ä ß E N 1 4 4 7 6 )

E n t f e r n t 9 9 ,9 9 % d e r B a k t e r i e n u n d
C o ro n a v ire n (S A R S - u n d b e s t im m te
E r k ä lt u n g s v ire n )

F e u c h t ig k e it s s p e n d e n d u n d r ü c k fe t te n d

H a u tv e r t rä g lic h k e it d e r m a to lo g is c h g e te s te t
Id e a l fü r u n te r w e g s : t ro p ft n ic h t , k le b t n ic h t ,
z ie h t s c h n e ll e in

L in o la s e p t
B io z id p r o d u k te v o r s ic h t ig v e r w e n d e n .
V o r G e b ra u c h s te t s E t ik e t t u n d P ro d u k t in fo r m a t io n le s e n . H a n d - H y g ie n e - B a ls a m
A C H T U N G S ic h e
Fu n k e
r h e i t s i n f o r m a t i o n e n : F l ü s s i g k e i t u n d D a m p f e n t z ü n d b a r . V o n H i t z e , h e i ß e n O b e r fl ä c h e n ,
n , o ffe n e n F la m m e n s o w ie a n d e re n Z ü n d q u e lle n a r te n fe r n h a lte n . N ic h t ra u c h e n . D a r f
P Z N : 1715 28 4 3
n ic h t in d ie H ä n d e v o n K in d e r n g e la n g e n . In h a lt / B e h ä lte r e in e r z u g e la s s e n e n E n t s o r g u n g s -
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T e l.: + 4 9 5 2 1 8 8 0 8 - 0 0 . M O – F R 0 8 :0 0 – 1 5 :0 0 U h r

IN IH R E R A P O T H E K E
WIRTSCHAFT

Marc-Steffen Unger
Stahlwerk in
Duisburg

Politik ignoriert Energieabzocke


SK ANDALE  Nach der Aufdeckung eines milliardenschweren Systems zum Einsparen der EEG-Umlage
wollen die Parteien die beteiligten Konzerne von Bayer bis Daimler nicht zur Rechenschaft ziehen.

D ie Parteien der alten oder möglichen


neuen Regierung zeigen wenig oder
gar kein Interesse, den Zehn-Milliar-
den-Euro-Skandal um den mutmaßlichen
offenbar zu erkennen, dass die Industrie
ihrer Ansicht nach ohnehin mit zu hohen
Abgaben belastet sei. Lediglich die Grünen
denken zumindest darüber nach, ob man
genen Woche berichtet, dass sich Konzerne
mit Wissen der Bundesregierung viele Jahre
lang mit fragwürdigen Modellen um die
Zahlung der EEG-Umlage gedrückt haben.
Missbrauch des Erneuerbare-Energien-­ die von der Industrie über dubiose Tricks Konkret ging es um das sogenannte Schei-
Gesetzes (EEG) aufzuarbeiten und das Geld eingesparte EEG-Umlage noch zurückholen benpachtmodell. Dabei pachten Unterneh-
für die von Industriekonzernen geprellten und Stromkunden gutschreiben kann, die men Teile von Kraftwerken (Scheiben) und
Verbraucher zurückzuholen. Union und infolge der Trickserei höhere EEG-Lasten werden so mithilfe ausgeklügelter Verträge
SPD, die für die Gesetzeslücke verantwort- tragen mussten. Man lasse von Juristen prü- auf dem Papier zu Mitbesitzern dieser
lich sind und während ihrer Regierungszeit fen, ob der von der alten Regierung im EEG Kraftwerke. Die Erzeugung und Nutzung
eine weitreichende Amnestie für Großkon- verankerte Amnestie-Paragraf gekippt wer- von Strom für die eigene Produktion ist von
zerne wie Bayer, Evonik, Currenta, Daimler den könne, heißt es im Umfeld des energie- der EEG-­Abgabe befreit. Als die Sache auf-
oder ThyssenKrupp durchsetzten, schwei- politischen Sprechers, Oliver Krischer. Die flog und Nachzahlungen in Milliardenhöhe
gen beharrlich. Die SPD wählte in dieser Neigung, die Koalitionsverhandlungen mit drohten, drängten einige Konzerne erfolg-
Woche eine Anwältin von BBH, einer in die dem heiklen Thema zu belasten, ist trotz reich auf eine Amnestie. Verbraucherschüt-
Affäre involvierten Kanzlei, zur Präsidentin der hohen Summe von zehn Milliarden zer fordern eine Entlastung der übervorteil-
ihres Wirtschaftsforums. Auch die FDP Euro jedoch auch bei den Grünen nicht aus- ten Stromkunden. Die Konzerne beharren
schweigt, gab aber in Gesprächen in Berlin geprägt. Der SPIEGEL hatte in der vergan- auf der Rechtmäßigkeit ihrer Modelle. FDO

70 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Teure Impfparty Deutsche wünschen 15 Prozent befürworten die
Aufnahme zusätzlicher Kredite,
in Thüringen mehr Investitionen rund 8 Prozent plädieren für
PANDEMIE  Mit einer exquisiten FINANZPOLITIK  Die meisten höhere Steuern. Rund 63 Pro­
Fete hat die Kassenärztliche Deutschen befürworten eine zent der Deutschen dagegen
Vereinigung (KV) in Thüringen staatliche Investitionsoffensive. sind dafür, im Gegenzug andere
die Schließung des Impfzen­ Wie aus einer repräsentativen Ausgaben zu senken. Wo der
trums in Erfurt gefeiert. Neben Onlineumfrage im Auftrag des Staat sparen sollte, ist in der
einem üppigen Speisen- und gewerkschaftsnahen Instituts Rotstift-Fraktion weitgehend
Getränke­angebot ließ man sich für Makroökonomie und Kon­ unumstritten. Gut 59 Prozent
auch bei der Unterhaltung der junkturforschung (IMK) hervor­ sind dafür, dass die Regierung

snapshot-photography / ullstein bild


Gäste nicht lumpen. Zu den ge­ geht, wollen rund vier von fünf die Subventionen kürzt, nur
buchten Showacts gehörte der Bundesbürgern, dass die nächste 9 Prozent befürworten Abstri­
Künstler Jan Delay. Die Gesamt­ Bundesregierung mehr Geld für che bei der sozialen Sicherheit.
kosten für den Abend, inklusive Gesundheit und Pflege einsetzt. Sollte der Staat bei der Finan­
Künstlerhonorare oder Cate­ Starke Zustimmung finden hö­ zierung seiner Ausgaben in
ring, beliefen sich auf rund here Investitionen auch in den Schwierigkeiten geraten, ändern
Delay
195 000 Euro. Wie viel Geld Bereichen Bildung (79 Prozent), sich die Präferenzen der Deut­
­allein auf Delay entfiel, wollte Klimaschutz (70 Prozent) und schen, so geht es aus der Umfrage
die KV nicht offenlegen – es sei Testmöglichkeit gegeben. Man öffentliche Sicherheit (67 Pro­ hervor. Für den Fall eines öf­
»wie in der Branche üblich, habe durch die Veranstaltung zent). Mehr Geld für neue fentlichen Defizits befürworten
Stillschweigen vereinbart« wor­ zeigen können, dass mit einer ­Straßen und Brücken sowie für rund 31 Prozent der Befragten,
den. Insider gehen von einem Impfung Normalität wieder Fuß- und Radwege wünschen die staatlichen Kredite zu er­
mittleren bis hohen fünfstelligen möglich sei. Neben Mitarbeitern lediglich 58, beziehungsweise höhen. Ebenso viele plädieren
Betrag als Gage für einen sol­ von Impfstellen, Bundeswehr­ 54 Prozent der Befragten. Nur ­dafür, Ausgaben zu kürzen. Le­
chen Auftritt aus. Die Rahmen­ soldaten, Fraktionsvorsitzen­ wenige Deutsche sind dafür, diglich 24 Prozent würden bei
bedingungen für die Feier (Mot­ den, Landtagsabgeordneten und dass der Staat im Gegenzug sei­ einem Minus im Staatshaushalt
to: »Danke fürs Impfen«) waren Oberbürgermeistern war auch ne Einnahmen erhöht. Lediglich die Steuern erhöhen. MS
schwierig: Die Sieben-Tage-Inzi­ Thüringens Gesundheitsministe­
denz der Coronainfektionen in rin Heike Werner (Die Linke)
Erfurt lag über 250. Die KV zugegen. Die KV wird aus einem VW Ost bekommt Ver- soll Teil der Volkswagen AG
sagt, man habe »konsequent 2G Anteil der Kassenhonorare an werden. Die bislang schlechter­
umgesetzt«, auch habe es eine die Ärzte finanziert. MUM treter im Aufsichtsrat gestellten Mitarbeiterinnen und
AUTOINDUSTRIE  Im Volks­ Mitarbeiter werden schrittweise
wagen-Konzern erhalten die den Haustarifvertrag erhalten.
Schlauch (»Butterflys«) etwa für ostdeutschen Standorte künftig Auch strategisch hat Ost­
Blutentnahmen reichen wür­ eine stärkere Mitsprache. Erst­ deutschland für VW zuletzt an
den. B. Braun gibt ebenfalls den mals rückt ein Vertreter der bis­ Bedeutung gewonnen. Das
Tipp, »die Indikation für die lang eigenständigen Volkswagen Werk in Zwickau war der erste
Anlage eines Verweilkatheters Sachsen GmbH in den Auf­ Produktionsstandort, der kom­
sorgfältig abzuwägen«. Venöse sichtsrat. Der Betriebsratschef plett auf E-Mobilität umgestellt
Zugänge gelten in der Medizin der sächsischen Tochtergesell­ wurde, dort entstehen die Elek­
B. Braun

als Routinemaßnahme. Über sie schaft Jens Rothe, 51, wurde troautos ID.3 und ID.4. Sach­
können Medikamente oder In­ vom Registergericht als neues sen-Betriebsratschef Rothe ist
fusionen verabreicht und Blut Mitglied des Kontrollgremiums seit 1991 bei der Sächsischen
Kanülen sind knapp entnommen werden. B. Braun bestellt. Die Personalie ist Aus­ Automobilbau angestellt, der
begründete die Lieferprobleme druck eines stärkeren Zusam­ späteren Volkswagen Sachsen.
GESUNDHEIT  Krankenhäuser mit kurzfristigen Absagen von menwachsens von VW in Ost Er folgt im Aufsichtsrat des VW-
und Rettungsdienste sind vom bereits gebuchten Frachtkapazi­ und West gut 30 Jahre nach der Konzerns auf Athanasios Stimo­
Mangel eines medizinischen täten. Das Familienunterneh­ Wende. Die Sachsen GmbH, zu niaris, der dort die Lkw-Tochter
Standardprodukts betroffen: Es men sieht aktuell eine Verbesse­ der unter anderem die Gläserne MAN vertreten hatte und kürz­
fehlen Kanülen für venöse Zu­ rung der Situation. Man erwar­ Manufaktur in Dresden gehört, lich zurückgetreten ist. SH
gänge. Der Hersteller B. Braun te, im November die Kunden
teilte seinen Kunden im Okto­ mit dem durchschnittlichen Mo­
ber mit, dass man mit »Liefer­ natsbedarf beliefern zu können.
unterbrechungen, Verzögerun­ Eine Bevorratung sei allerdings
gen und Teillieferungen« bei nicht möglich. Auch könne man
­bestimmten Produkten rechnen nicht ausschließen, dass ange­
müsse. Auch andere Anbieter sichts der angespannten Lage
sind betroffen. Bei einem gro­ im Transportsektor auch künftig
ßen Rettungsdienst in Baden- Einschränkungen auftreten
Württemberg wird bereits das könnten. B. Braun zählt zu den
Üben mit den Venenverweil­ wichtigsten Anbietern von
kanülen untersagt. Auch sollen ­Zugängen im deutschen Markt.
Jens Schlueter / epa

Notfallsanitäter oder Notärzte Mancherorts hat sich daher der


prüfen, ob der Patient den umgangssprachliche Begriff
­Zugang wirklich brauche oder »Braunüle« für einen Venen­ Rothe
ob auch einfache Nadeln mit verweilkatheter etabliert. MUM

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

Die schwarze Sucht


ENERGIEWENDE  Die Menschheit muss aus der Kohle aussteigen, dem Klimakiller Nummer eins,
das weiß inzwischen jedes Kind. Warum also nimmt der Verbrauch weiter zu? Und was ist
mit Deutschland, taugt es als Vorbild? Unsere Reporter haben weltweit nach Antworten gesucht.

1074
Milliarden
Tonnen
Kohlereserven
gibt es
­weltweit
Ende 2020.
Quelle: BP

6593
Kohlekraft-
werke sind
derzeit aktiv.
Quelle: Bloomberg

7575
Millionen
Tonnen
Kohle wurden
David Maurice Smith / Agence VU / laif

2020
­gefördert.
Quelle: IEA
Kohleabbau in
Australien

72 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WIRTSCHAFT

D
ie Widersprüche auf diesem Planeten China sogar dem historischen Rekord von branche ist. Ein Wohlstandsfaktor. 91 459
erscheinen dieser Tage noch verwirren- 2014 nähern. Menschen arbeiteten vergangenes Jahr in
der, als sie es sonst schon sind. Im schot- Der Preis für australische Standardstein- Südafrika unmittelbar im Kohlesektor. Knapp
tischen Glasgow reden rund 25 000 Politike- kohle (Newcastle Coal) verfünffachte sich eine halbe Million Jobs hängen insgesamt am
rinnen, Aktivisten und Beraterinnen über die zwischen September 2020 und Anfang Ok- Bergbau. In einem Land mit mehr als 34 Pro-
Rettung des Weltklimas. Sie tun das unter tober 2021 bis auf 269 Dollar je Tonne. Seit- zent Arbeitslosigkeit und hoher Armut wiegt
einer riesigen Erdkugel, die von der Hallen- her ist er gesunken, aber immer noch rund das schwer.
decke hängt. dreimal so teuer wie vor 14 Monaten. Tatsächlich ist die Regierung zerstritten.
Blau, grün und majestätisch sieht sie aus, Die Renaissance der Kohle ist atemberau- Präsident Cyril Ramaphosa spricht sich im
wie die Verheißung einer leuchtenden Zu- bend, allen Lippenbekenntnissen der Staaten- Gegensatz zu seinem Energieminister für
kunft. »Eine Dekade des Handelns« solle be- führer zum Trotz. Und sie vollzieht sich weit- einen schnelleren Wechsel zu erneuerbaren
ginnen, wie es die scheidende Bundeskanz- gehend unbemerkt von der Öffentlichkeit an Energien aus. Er hat im vergangenen Jahr ein
lerin Angela Merkel formulierte. vielen Schauplätzen rund um die Erde. So Klimaprogramm wiederbelebt und es für
Und dann ist da diese Landstraße in der schnell manche Länder auch aussteigen mö- Unternehmen einfacher gemacht, eigenen
Inneren Mongolei, in der Nähe der Stadt Or- gen, andere verfeuern längst umso mehr. Wo- Solar- und Windstrom zu erzeugen.
dos. Auf dem Asphalt verweht der Kohlestaub ran liegt das? Ist der Abschied von der Kohle Wie viele andere Entwicklungsländer hat
in Mustern, als wäre er Schnee, schwarzer eine Illusion? Südafrika Probleme, seinen wachsenden
Schnee. Das Pulver überzieht die Zweige der SPIEGEL -Korrespondenten haben rund Energiebedarf zu decken. Seit 2007 gehören
mickrigen Tannen, die am Rande stehen. Es um den Erdball recherchiert. In China, wo ein Stromabschaltungen, um eine Überbelastung
färbt die Laster schwarz, die hier entlang- globaler Riese versucht umzusteuern. In der Kraftwerke zu verhindern, zum Alltag im
donnern, ein Lkw nach dem anderen, Dut- Polen, wo Kohle Teil des Nationalstolzes ist. Land am Kap. Es gibt feste Zeitpläne, ver-
zende, Hunderte. Sie holen ihre Fracht aus In Deutschland, das sich als Blaupause für schiedene Stufen und Apps, auf denen sie
dem Kohlerevier, das keine fünf Fahrminuten den Ausstieg sieht und vielleicht doch nur das angezeigt werden. Bei der höchsten Stufe,
jenseits der Stadtgrenze beginnt. beste Beispiel dafür ist, welche Unsummen Stufe 8, müssen die Menschen dreimal täglich
Auf einer Abraumhalde beobachten fünf der Entzug kostet. Und in Südafrika, das so für 4,5 Stunden auf Strom verzichten. Die
Männer das wüste Treiben unter ihnen. Es gern Vorreiter wäre und doch nicht lassen wirtschaftlichen Schäden gehen in die Mil-
sind Einkäufer auf der Suche nach Kohle. Ein kann von seiner Sucht. liarden. Mitunter versanken ganze Städte in
wenig schmallippig sind sie, über ihren Auf- Dunkelheit.
traggeber erzählen sie nichts, nur dass sie Südafrika: Ein Minister für Klimazerstörung Mehr Energie musste her, und dafür wur-
­extra aus dem mehr als 300 Kilometer ent- Als im September eine hochrangige Dele­ den Windparks gebaut und einer der größten
fernten Yan’an angereist sind. »Wir haben gation mit Klimapolitikern aus den USA, Solarparks Afrikas. Zugleich beschloss das
gestern ein paar Gruben in der Nähe be- Deutschland und Großbritannien nach Süd- Land den Bau von zwei gigantischen Kohle-
sucht«, erzählt der eine und ist enttäuscht. afrika reiste, um zu besprechen, wie das Land kraftwerken mit einer Leistung von je rund
»Die verkaufen uns keine Kohle, alles ist für von der Kohle loskommen könnte, hatte Ener- 4800 Megawatt. Zusammen werden sie den
große Unternehmen reserviert.« gie- und Bergbauminister Gwede Mantashe größten Kohlekraftwerkskomplex Afrikas
Die Männer sind im Kohlefieber, und da gerade Wichtigeres zu tun. Der Minister zog bilden. Der Solarpark erzeugt gerade mal
sind sie derzeit nicht die Einzigen im Reich es vor, sich um Familienangelegenheiten zu 96 Megawatt.
der Mitte. China kann vom angeblichen kümmern und überließ die Gruppe der Um- Ein ewiges Hin und Her. Hier werden
schwarzen Gold gerade nicht genug bekom- weltministerin Barbara Creecy und anderen Windparks gebaut, dort neue Kohlekraftwer-
men. Wie viele andere Länder steckt die Kabinettskollegen. Sein Fernbleiben war ein ke. Und es gibt mal wieder jede Menge ­schöne
Volksrepublik mitten in einer veritablen Ener- Statement: Wir lassen uns von anderen nicht Bekenntnisse, auch in Glasgow. Dort unter-
giekrise – und fällt in ihrer Not auf alte Ge- vorschreiben, was wir mit unseren Ressourcen zeichneten am Donnerstag Vertreter von
wohnheiten zurück: ausbuddeln, importieren, machen. Kein Mitarbeiter seines Ministeriums ­Industrie- und Schwellenländern ein »Coal-
verbrennen, so viel, wie nur geht. Schon im war erschienen. to-Clean-Statement«, um ihren Willen zu be-
Anflug auf Ordos waren aus der Luft zahl- Südafrika ist der siebtgrößte Kohleprodu- kräftigen, aus der Kohle auszusteigen. Nicht
reiche Tagebaue zu sehen, die in der zweit- zent der Welt. 248 Millionen Tonnen Kohle mit dabei: China, Indien, Australien.
wichtigsten Kohleförderregion Chinas die wurden 2020 gefördert. Es deckt gigantische Die Regierungen Deutschlands, Großbri-
Erdoberfläche perforieren. 86 Prozent seines Strombedarfs aus Kohle, tanniens, Frankreichs und der USA wollen
Kohle ist der CO2-intensivste aller fossilen ist Treibhausgasemittent Nummer 13 der Welt diese Inkonsequenz nicht länger mitansehen.
Brennstoffe, ein Relikt aus der industriellen und der größte auf dem afrikanischen Konti- Sie haben beschlossen, »Südafrika bei der
Frühzeit, dunkle Vergangenheit. So sehen es nent. Trotzdem will der deutsche Entwick- Energiewende zu unterstützen«. 8,5 Milliar-
die Umweltbewegten auf der Klimakonfe- lungshilfeminister Gerd Müller ausgerechnet den Dollar ist ihnen das wert, knapp 700 Mil-
renz. Die Welt muss sich davon verabschie- Südafrika zu einem Modellstaat der Klima- lionen stammen aus Deutschland.
den, so schnell wie möglich. wende machen, zu einem Wunderland der Was würde es kosten, alle Schwellenländer
Die Realität indes ist eine andere. Sie er- erneuerbaren Energien. Wie passt das zu- auf einen solchen grünen Pfad zu lenken? Die
zählt nicht vom Ausstieg, sondern vom un- sammen? Summen sind schwindelerregend. Die Welt-
aufhaltsamen weiteren Aufstieg. Seit dem Das Team fuhr nach Mpumalanga, der bank schätzt die erforderlichen Hilfsmittel
Jahr 2000 ist der weltweite Konsum um mehr Herzregion der südafrikanischen Kohleför- allein für Asien auf 13 Billionen Dollar. Da
als 60 Prozent gestiegen. Der Boom zeigt derung und -verbrennung. Die Region liegt nehmen sich die 100 Milliarden Dollar, die
kaum Anzeichen der Ermüdung. Klimakrise im Nordosten, nicht unweit des Kruger-Na- die Industrieländer dafür auf der Weltklima-
hin, Klimakrise her: Kohle wird verheizt, als tionalparks, das Wasser ist knapp, die Luft konferenz ausgerufen haben, ziemlich be-
gäbe es kein Morgen. gelb. Saure Grubenwässer verseuchen die scheiden aus. Zumal sie erst ab 2023 vollum-
In diesem Jahr soll der globale Verbrauch Böden, zahlreiche Flüsse und Seen sind durch fänglich fließen.
nach Prognosen der Internationalen Energie- Schwermetalle vergiftet. Viele Menschen wer-
agentur (IEA) um 4,5 Prozent steigen. Der den krank von der Kohle, einerseits. Anderer- China: Der schwarze Riese
Rückgang von vier Prozent im Pandemiejahr seits bietet sie Zehntausenden ein Einkommen. Kein Land steht bei der Entwöhnung von der
2020 wäre damit mehr als wettgemacht. Laut Der Brennstoff ist für Südafrika ungefähr Kohle vor derartigen Herausforderungen wie
IEA könnte sich die Kohlenachfrage 2021 in das, was für die Deutschen die Automobil- China. Die Volksrepublik verbrennt mehr als

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 73


WIRTSCHAFT

die Hälfte aller Kohle weltweit, im Jahr 2020


Von wegen Ausstieg bläst sie etwa 14 Gigatonnen CO2 in die Luft,
das sind 14 Milliarden Tonnen, eine Zahl mit
Kohlenutzung weltweit 2021, installierte Kraftwerksleistung in Gigawatt elf Ziffern.
Polen 30 Russland 43
Der Bedarf ist so groß, weil China mit Koh-
le nicht nur heizt und sein enormes Inventar
an Stahlwerken befeuert, sondern zuletzt
Deutschland
42 auch 57 Prozent seiner Elektrizität daraus
Japan
generierte. 70 Prozent des gesamten Stroms
USA wird von Fabriken verbraucht – nicht zuletzt
233 49
Südkorea
von jenen, in die viele Konzerne der alten
35 Industrieländer erhebliche Teile ihrer Pro-
China duktion ausgelagert haben. Das CO2 steigt
1047
nun aus den Schornsteinen in Dongguan und
Changchun in die Atmosphäre, stellvertre-
Indien 233
bis unter 12,5 tend für Duisburg oder Cincinnati. Ein Argu-
12,5 bis unter 25 Indonesien 37 ment, das chinesische Politiker gern anführen,
25 bis 50 wenn sie wegen ihrer Emissionen in der Kri-
mehr als 50 tik stehen.
Südafrika 43 Australien 25
derzeit keine Dennoch hat Peking in jüngerer Zeit ernst-
Kohlekraftwerke haften Willen gezeigt, das Problem anzuge-
hen. Auch weil die Folgen der Klimaerhitzung
in China unübersehbar sind. Die nur wenige
Kohlekraftwerke, installierte Leistung Die größten CO2- Meter über dem Meeresspiegel gelegene
in Gigawatt, ausgewählte Regionen Emissionsquellen Zement Mega­city Shanghai ist hochgradig gefährdet,
weltweit‚ + 141 %
China Indien USA EU-28 in Mrd. Tonnen, Dürren und Starkregen mehren sich. Erst im
Veränderung 2021 Oktober standen weite Teile der wichtigsten
+ 425 % gegenüber 2000 Kohleprovinz Shanxi unter Wasser.
1000 in Prozent
gegenüber dem Die chinesische Führung weiß das. Es gibt
Jahr 2000
dort keine relevanten Stimmen mehr, die den
30 Klimawandel als Werk des Menschen leug-
nen. Im vergangenen Jahr hat Staats- und
Gas Parteichef Xi Jinping vor der Uno-General-
+ 62 %
500 versammlung angekündigt, China werde
2060 klimaneutral sein. Von 2025 an soll die
Kohleverbrennung ein Plateau erreichen und
dann langsam sinken, bis 2030 will das Land
den Höchststand seiner Emissionen über-
schritten haben.
0
Viele Delegierte aus dem Westen hatten
2000 2021 Öl gehofft, Xi Jinping würde zum Klimagipfel
+ 12 %
weitergehende Zusagen machen. Doch er mag
20
Neu- und Rückbau von Kohlekraftwerken auf den Neubau von Kohlekraftwerken zu-
weltweit, Leistung in Gigawatt nächst nicht verzichten, lediglich im Ausland
will er keinen Kapazitätsaufbau mehr fördern.
90
Immerhin: Bei den erneuerbaren Energien
will Peking in die Vollen gehen. Die Regie-
60 rung hat unlängst präzisiert, dass der Strom-
verbrauch aus Quellen, bei denen kein CO2
30 Netto- freigesetzt wird, von knapp 16 auf 80 Prozent
zubau
0 + 11,6 im Jahr 2060 steigen soll. Das schließt den
Atomstrom mit ein, doch Vorrang hat alles,
– 30 was grün ist: In den Wüstenregionen des Lan-
10 des, versprach Xi Mitte Oktober, werde er
zusätzliche Solar- und Windkraftanlagen mit
2000 2021
Kohle
einer installierten Kapazität von 100 Giga-
+ 64 % watt bauen. Allein das wäre mehr als alle
Erneuer­baren des regionalen Rivalen Indien
zusammengenommen. »China hat eine recht
konsistente Vision davon, wie dieses Jahr-
zehnt verlaufen soll«, sagt Lauri Myllyvirta,
Ex­perte für Chinas Energiesektor beim
­Centre for Research on Energy and Clean Air
in ­Helsinki.
Die Vorgaben für die drei folgenden De-
0
kaden seien noch ziemlich unkonkret. Aber
1900 1950 2000 2021* man müsse Präsident Xi »zugutehalten, dass
S Quellen: Global Energy Monitor, Global Carbon Project * ab 2020 Schätzungen seine Festlegung auf CO2-Neutralität enormen


74 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WIRTSCHAFT

Wandel hervorgerufen hat«, sagt Michael die Europäische Union gäbe, die gerade das
­Davidson von der University of California in Programm »Fit for 55« aushandelt, mit dem
San Diego. »Die Stimmen innerhalb Chinas sie bis 2055 klimaneutral sein will.
Energiesektor, die nach einem Ausbau der
Kohlekapazitäten rufen, scheinen leiser zu Deutschland: Vorbild und
werden.« abschreckendes Beispiel
Dass trotzdem noch neue Hochöfen und Zumindest was den Zeitraum angeht, eignet
Kohlekraftwerke geplant und errichtet wer- sich der Abschied Deutschlands von der Koh-
den, sei keine politische Heuchelei, so David- le nicht als Vorbild. Er dauert nämlich schon
son, sondern ein Versuch der Branche, vor seit 1957.
dem avisierten Peak schnell noch Kapazitäten Nach dem Krieg schien die deutsche Stein-
hinzuzufügen. Die Führung in Peking ver- kohle unersetzlich zu sein, als Rohstoff für
folge dieses Vorhaben kritisch. die Stromerzeugung, für die Stahlproduktion
Schon jetzt schreitet der Ausbau der Er- und sämtliche mit Dampf betriebenen
neuerbaren rasant voran. Dank eines Regie- ­Maschinen. Rund um die Zechen entstanden
rungsprogramms werden gigantische Dach- Industrieunternehmen und Fabriken, die
flächen mit Fotovoltaik bestückt, und auch den wirtschaftlichen Aufstieg der jungen Re-

Piotr Malecki / DER SPIEGEL


die Wasserkraft kommt verstärkt zum Ein- publik begründeten.
satz. China ist auf dem besten Weg zum alles Die Freude währte nicht lange. Deutsche
dominierenden Klimatech-Marktführer. Ziel Steinkohle – das zeigte sich recht schnell –
ist es, die Preise für Wind- und Solarkraft- war international nicht wettbewerbsfähig.
anlagen so weit zu drücken, dass sich Invest- Während sie in Ländern wie den USA,
ments in Kohlemeiler nicht mehr rechnen. Gewerkschafter Kolorz
­Australien und Südafrika oberflächennah ab-
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ge- gebaut werden konnte, lagerte das Gruben-
langten China dabei enorme Fortschritte. nach Schätzungen der Europäischen Umwelt- gold im Ruhrgebiet und im Saarland in Tiefen
Bereits heute ist Strom aus modernen Son- agentur daran jedes Jahr. Dort die Bergleute, von bis zu 1200 Metern und unter dicht be-
nenkollektoren und Windrädern günstiger die ein rebellisches Erbe verwalten. Sie waren siedelten Ballungszentren.
als Kohlestrom. es, die 1989 die Öffnung gen Westen herbei- Der Aufwand, um das schwarze Gestein
streikten. an die Oberfläche zu holen, war immens. Ki-
Polen: Eine Frage der nationalen Ehre Nun soll Polen bis 2049 aus der Kohle lometerweit musste Wasser in riesigen Men-
In der Stadtmitte sieht Katowice aus, als woll- aussteigen, das sieht ein neues Abkommen gen abgepumpt, mussten Schächte gegraben
te die alte Kohle- und Industriestadt ihre Ver- vor. Bis dahin sind die Einkommen der Berg- und die Oberflächen mit aufwendigsten Kon­
gangenheit so schnell abschütteln, wie es nur leute gesichert, ein Fonds soll den Übergang struktionen gestützt werden. Zudem wurde
geht. Der Hauptplatz heißt jetzt Markt, er ist sozial abfedern. »Wir haben zugestimmt«, Öl in den Sechzigerjahren immer billiger und
mit frischen Steinplatten und EU-Geld reno- sagt ­Kolorz. Zufrieden wirkt er nicht damit. verdrängte die Kohle in vielen Bereichen.
viert, es gibt Cafés und hölzerne Sitzbänke, Bei der Unterzeichnung in Warschau holte Doch die Förderung komplett einzustellen
die sogar bequem sind. Und mitten hindurch er in seiner Rede weit aus: »Wir sind ent- fiel dem deutschen Gesetzgeber nicht ein.
fließt ein künstliches Bächlein, vier Meter täuscht. Es waren Bergleute, die den Kom- Mehr als 600 000 Arbeitsplätze hingen zu
breit und glasklar. munismus besiegt haben.« Neun von ihnen Hochzeiten an der Kohle. Dazu kam die
Vom Markt sind es etwa zwei Kilometer starben, als die Miliz 1981 in den nahe ge- Angst, als Exportnation komplett von Roh-
zurück in die Vergangenheit. Der Weg zum legenen Zechen Wujek das Feuer auf Strei- stoffimporten aus Drittstaaten wie Saudi-Ara-
Hauptquartier der Gewerkschaft Soli­darność kende eröffnete. bien abhängig zu werden.
führt entlang der Gleise, ein Förderturm Wenn die Solidarność heute die Kohle ver- So entschloss sich Deutschland zu einem
kommt in Sicht, bröckelige Mietskasernen. teidigt, dann verteidigt sie damit auch die schleichenden Ausstieg. Der Staat erfand 1974
Dominik Kolorz, der schlesische Soli­darność- polnische Lebensweise. Die Bergleute haben zunächst den Kohlepfennig, einen Aufschlag
Chef, ist zwei Meter groß und hat acht Jahre das Land nach dem Krieg wiederaufgebaut, auf den Strompreis. Als die Abgabe vom Ver-
unter Tage gearbeitet. Er sagt: »Wir bezwei- sie arbeiteten in der Zeche, die Zeche fi­ fassungsgericht gekippt wurde, wandelte man
feln ja nicht den Klimawandel, wir sollten nanzierte ihre Häuser, ihre Fußballplätze und ihn in eine direkte Subventionierung aus dem
aber die Kohle als Energieträger nicht leicht- Kulturzentren. Eine staubige, aber übersicht- Staatshaushalt um.
fertig infrage stellen.« liche Welt. Enorme Summen hat das verschlungen.
Polen ist der größte Steinkohleproduzent Kolorz will die Kohle nicht leichtfertig Mit 295 Milliarden Euro, rechnete das Forum
der EU, zu mehr als 70 Prozent hängt die preisgeben. Weder der Wind noch die Sonne Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft aus,
Stromversorgung des Landes an der Kohle. reichten aus, um den Boom anzutreiben, den wurde die Steinkohle bis zum Jahr 2008
In Schlesien, dem historischen Revier, fahren das Land seit dem EU-Beitritt erlebt. Es gebe ­subventioniert. Erst 2007 – die Europäische
rund 50 000 Kumpel täglich in die rund schließlich Technologien, die den Abgasen Union hatte die Subventionen mehrfach
20 Zechen ein. Bis zu einer halben Million das Kohlendioxid entziehen könnten, sagt er. ­gerügt – kam es zum Umdenken. Bis 2018,
Menschen sind direkt und indirekt vom Stein- Gut, das Prinzip sei noch nicht ausgereift, nur so wurde per Gesetz verankert, sollten die
kohlebau abhängig, schätzt Kolorz. wisse bei der Atomkraft auch niemand, wohin letzten Zechen in Deutschland geschlossen
Dabei ist die Förderung schon lange nicht mit dem strahlenden Müll. werden.
mehr rentabel. Aber nach den Grubenschlie- Den polnischen Ausstiegsplan muss noch Aus den Resten der Ruhrkohle AG schu-
ßungen in den Neunzigerjahren, die gewalti- die EU-Kommission genehmigen. Schneller fen Bund, NRW und das Saarland eine Stif-
ge Proteste auslösten, traute sich keine Re- jedenfalls könne die Transformation auf kei- tung. Sie wurde mit Milliarden ausgestattet
gierung mehr an das Problem heran. nen Fall gehen, warnt Kolorz. Die Solidarność und erhält Dividendenzahlungen des Che-
So wurde Polens Energiewende immer werde sich zu wehren wissen, wenn die EU miekonzerns Evonik, der ihr mehrheitlich
wieder aufgeschoben. Der Streit wuchs sich die Treibhausgase schon bis 2030 um 55 Pro- gehört.
zu einem Kulturkonflikt aus. Hier eine immer zent reduzieren wolle. Die Stiftung sorgte dafür, dass Bergleute
klimabewusstere Bevölkerung, die unter Das in Kohle versteinerte Polentum könn- anderweitig Beschäftigung fanden, und sie
Smog leidet; rund 40 000 Menschen sterben te dem Rest Europas egal sein. Wenn es nicht soll die immensen Ewigkeitskosten für die

76 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WIRTSCHAFT

STROMERZEUGUNG

Aufmarsch der Untoten


Die Rufe nach einer Renaissance der Kernkraft werden lauter. Doch Atom- ist kein Grünstrom.
Plötzlich sind sie wieder da. Die Befür­ zwischen 11 und 17 Cent. Fotovoltaik­ neue AKW-Projekte kaum zu gewinnen.
worter der Kernenergie. Die Untoten des strom kann man in sonnenreichen Gebie­ Nur wenn in Frankreich der Staat und
Deutschen Atomforums. ten für 2 bis 6 Cent pro Kilowattstunde ­damit der Steuerzahler das Risiko über­
All die Ingenieure und Wissenschaftler, produzieren. Windstrom für etwa 2 bis nimmt, werden neue Kraftwerke über­
die seit 30 Jahren »unmittelbar vor der 8 Cent. Nicht eingerechnet sind darin die haupt noch geplant.
Fertigstellung« des inhärent sicheren Kostenexplosionen, die durch Fehlplanun­ Wirklich preiswert ist Atomstrom nur
Atommeilers stehen, die den smarten Ku­ gen, Sicherheitsrisiken und die ewigen Ver­ dort, wo längst abgeschriebene AKW im­
gelhaufenreaktor für den Hinterhof fast zögerungen bei der Bau­zeit von Atom­ mer noch am Netz hängen. Doch mit jeder
serienreif haben – aber wie in Jülich nicht meilern entstehen können. Verlängerung der Laufzeit steigt das Ri­
einmal die Forschungsreaktoren an ihren Im finnischen Olkiluoto etwa baut der siko eines atomaren Unfalls. Die meisten
eigenen Instituten in den Griff bekamen. französische Atomkonzern Areva seit dem Atomkraftwerke liegen zur Kühlung an
Sie alle haben gerade Oberwasser. Jahr 2005 an einem europäischen Druck­ Flüssen oder Küsten. Auf Überschwem­
­Fordern lautstark, was sie immer schon wasserreaktor. Eigentlich hätte der Meiler mungen wie in Deutschland vor wenigen
verlangt haben. Eine Verlängerung der bereits im Jahr 2009 ans Netz gehen sol­ Monaten oder steigende Meeresspiegel
Laufzeiten für die bestehenden Atommei­ len. Doch angefangen bei den Fundamen­ sind sie nur ungenügend vorbereitet.
ler und mehr Geld für den Bau neuer An­ ten über den Stahl bis hin zu diversen Ein Weiterbetrieb deutscher AKW ist
lagen. Dem Klima zuliebe. ­Sicherheitsmängeln lief so ziemlich alles ohnehin reines Wunschdenken – selbst
Verhindert werden kann der Klimakol­ schief, was schieflaufen konnte. Immer wenn der zwischen Bundesregierung und
laps nur, wenn die Stromerzeugung konse­ wieder wurde der Starttermin verschoben Betreibern geschlossene Ausstiegsvertrag
quent auf eine dezentrale Versorgung mit – zuletzt auf den Sommer 2022. Experten noch einmal geändert werden sollte.
regenerativen Energien umgestellt wird. schätzen, dass sich die Kosten von ur­ Die Reaktorkerne sind entweder längst
Nur leider haben die meisten europäi­ sprünglich angesetzten drei Milliarden ent­laden oder so optimiert, dass sie mit
schen Länder in der Vergangenheit zu we­ Euro etwa vervierfacht haben dürften. den vorhandenen Brennelementen nur
nig in grünen Strom investiert. Selbst die Nicht besser sieht es im französischen noch die zugelassene Restlaufzeit schaf­
Bundesrepublik als ehemaliges Vorzeige­ Flamanville aus. Dort klempnert der fen. Für einen Weiterbetrieb müssten neue
land der Energiewende hängt mit ihren Energiekonzern EDF zusammen mit Are­ Brennelemente beschafft werden. Ein
Ausbauplänen weit zurück, steuert gar auf va seit 2007 an einem angeblichen Zu­ langwieriger und teurer Prozess.
einen Versorgungsengpass zu. Denn im kunftsreaktor. Auch hier musste der Start Zumal Ersatzteile und notwendige
kommenden Jahr sollen die letzten fünf wegen immer neuer Sicherheitsfragen Prüfgeräte an den Standorten kaum mehr
Atommeiler vom Netz gehen und bis spä­ Jahr für Jahr verschoben werden. Die vorhanden sind. Das hoch spezialisierte
testens 2038 der Ausstieg aus der Kohle­ Kosten stiegen von gut 3 auf inzwischen Personal wurde schon vor Monaten in den
verstromung besiegelt sein. fast 20 Milliarden Euro. Für die Inbetrieb­ Vorruhestand geschickt oder wanderte
Genau hier liegt das Einfallstor der Befür­ nahme peilen EDF und Areva nun das ab und ist kaum zu ersetzen. Noch gravie­
worter einer Kernkraft-Renaissance. Um Jahr 2024 an. render: Für einen Wiederbetrieb gibt es
ausreichend CO2-freien Strom in den Net­ Private Investoren sind aufgrund dieser keine gültigen Genehmigungen mehr. Sie
zen zu haben, fordern die Atomapologe­ Unberechenbarkeit und wegen der un­ wiederzuerlangen, heißt es in Aufstellung
ten, die Laufzeiten der noch bestehenden gelösten Endlagerfrage des Atommülls für eines Betreibers, dürfte Jahre dauern,
deutschen Meiler um 10 bis 15 Jahre zu wenn es wegen verschärfter Sicherheits­
verlängern. Zudem verlangen sie den Bau anforderungen überhaupt klappt.
neuer Kraftwerke, um bezahlbaren Strom Der wahre Grund für die Atomeupho­
langfristig zu sichern. Ihr Vorbild: Frank­ rie liegt Experten zufolge woanders: im
reichs Staatspräsident Emmanuel Macron, komplexen System der Taxonomie. Seit
der gerade ein neues Atomzeitalter aus­ Monaten streiten die EU-Regierungschefs
gerufen hat. darüber, wie sich Anreize für eine CO2-­
Und tatsächlich: Die Rhetorik der arme Wirtschaft schaffen lassen. Produk­
AKW-Befürworter verfängt. Selbst in te, die CO2-frei hergestellt werden, sollen
Deutschland, wo sich Teile der Industrie, deutlich besser gestellt werden.
Wirtschaftsgrößen wie Ex-BASF-Chef Jür­ Wenn es also Frankreich gelingt, dass
gen Hambrecht sowie Gruppen der FDP Atomstrom wie erneuerbare Energien
und AfD für einen Wiedereinstieg stark­ ­eingestuft wird, dann ließe sich nicht nur
machen – auch wenn einige noch ver­ in AKW angeblich grüner Wasserstoff
brämt von einer »Übergangstechnologie« produzieren und verkaufen. Auch Autos,
sprechen. Schaut man sich jedoch deren Stahl und Chemieprodukte aus Frank­
Argumente an, bleibt von den vermeint­ reich, Polen und England könnten dann
lichen Vorteilen wenig übrig. Atomkraft grün deklariert und preiswerter gehandelt
Gutschalk / IMAGO

ist keineswegs preiswert. Im Gegenteil. werden als Waren, die konventionell er­
Sie ist im direkten Vergleich sogar unver­ zeugt werden.
hältnismäßig teuer. Und das wäre für die deutsche Wirt­
Die Kilowattstunde Strom aus einem schaft tatsächlich ein Problem.
neu errichteten Atomkraftwerk kostet AKW-Schaltzentrale Frank Dohmen n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 77


WIRTSCHAFT

Pumpen und die Filterung des verseuchten


Bergbauwassers tragen.
Trotzdem blieben bis zuletzt Dutzende
Steinkohlekraftwerke am Netz, befeuert mit

Das Ende der Bahn,


preiswerter Importkohle. Und auch die noch
umweltschädlicheren Braunkohlemeiler gal­
ten als unabdingbar für die Grundversorgung.

wie wir sie kennen


Der endgültige Kohleausstieg sieht nun vor,
dass bis 2038 der letzte Meiler vom Netz geht.
Die Betreiber erhalten dafür Entschädigungs­
zahlungen von fast 4,4 Milliarden Euro, ob­
wohl die meisten Kraftwerke wegen der stei­
genden CO2-Preise ohnehin an die Rentabili­ KOALITIONSPLÄNE  Grüne und FDP wollen den Staatskonzern
tätsgrenze gestoßen wären. zerschlagen und mehr Wettbewerber auf die Schiene
Mit dem Geld erkaufte sich die Regierung
die Sicherheit, keine Entschädigungsklagen holen. Sie haben auch schon einen Plan, wie sie die widerstrebende
zu kassieren, und die Hoffnung, dass die SPD für dieses Vorhaben gewinnen können.
Braunkohlelöcher ordnungsgemäß rekulti­
viert werden.

Z
Zuzüglich weiterer fünf Milliarden Euro wischen Grünen und Liberalen gibt es bei dem weitere Wert­berichtigungen im
Anpassungsgeld für ältere Arbeitnehmer und in der Verkehrspolitik eine Menge Dis­ Raum stehen.
der 40 Milliarden Euro Strukturhilfen für die sens. Das geht vom Tempolimit über ein All das liefert Grünen und FDP Argumen­
Braunkohleregionen könnte der lange Aus­ Moratorium für den Bau neuer Straßen bis te, bei der DB gründlich durchzukehren. Zu­
stieg aus der Kohle die Steuerzahler mehr hin zur grundsätzlichen Frage, wie viele Ver­ mal das Unternehmen, so sehen es vor allem
als 350 Milliarden Euro gekostet haben – bote den Bürgerinnen und Bürgern zuzu­ die Grünen, in der Klimapolitik eine wichtige
ohne dass auch nur ein Cent in eine saubere muten sind. Nur in einer Sache sind sich die Funktion übernehmen und ihre Fahrgast­
Stromversorgung investiert wurde. Und beiden Parteien einig: über die Zukunft der zahlen bis 2030 verdoppeln soll. Eine funk­
wenn die neue Koalition den Ausstieg be­ Deutschen Bahn. tionierende Bahn wäre für die Partei eine
schleunigt, wird es noch teurer. Die Still­ Nach SPIEGEL-Informationen haben die Trophäe, die sie dringend brauchen kann.
legung eines nagelneuen Kraftwerks wie künftigen Koalitionspartner am Dienstag Der FDP geht es bei einer Zerschlagung
jenes in Datteln, das gerade erst ans Netz ­darüber verhandelt, wie es mit dem für eine weniger ums Klima. Die Liberalen wollen
gehen durfte, wird nicht zum Nulltarif zu Verkehrswende wichtigen Schienenkonzern mehr Konkurrenz auf den Fernstrecken der
haben sein. weitergehen soll. Die beiden kleineren Part­ Bahn ermöglichen und den profitablen Lo­
ner in einer künftigen Ampelkoalition haben gistikkonzern DB Schenker verkaufen – um
Wege aus der schwarzen Sucht sich dabei gegen die SPD untergehakt und Schulden zu tilgen und Geld für Investitionen
Die Macht der Kohle ist simpel zu erklären: fordern eine grundlegende Neuaufstellung freizubekommen.
Sie war über ein Jahrhundert lang billiger bei der Aktiengesellschaft, die zu 100 Prozent Im extremen Modell würde der Infrastruk­
Brennstoff für den ökonomischen Auf­stieg. im Besitz des Bundes ist. turbereich in eine gemeinwohlorientierte,
Den Ausstieg muss man sich leisten ­können. Auf dem Tisch liegen Pläne, die manche ­öffentliche Gesellschaft abgespalten. Damit
Die enormen Summen, die Deutschland Führungskraft im Bahntower erzittern lassen blieben in der Konzernzentrale am Potsdamer
dafür verfeuert hat, kann selbst im wohlha­ dürfte – und Wettbewerbern wie Flixtrain die Platz die drei Transportbereiche ­Regio-, Fern-
benden Europa kaum einer bezahlen. Länder Chance zum Angriff bieten. und Güterverkehr übrig. Das gemäßigte Mo­
wie Indonesien, Vietnam oder Bangladesch Verschiedene Modelle werden diskutiert. dell sieht die Bildung einer Holding vor, unter
müssten nicht nur massiv unterstützt werden, Sie alle laufen auf eine Zerschlagung der Bahn der dann der Netzbetrieb neben dem Zug­
sagt Ottmar Edenhofer, Direktor am Pots­ in ihrer bisherigen Form hinaus: Der Bereich betrieb organisiert wäre, mit einem eigenen
dam-Institut für Klimafolgenforschung. Die DB Netze, der die Schieneninfrastruktur, die Vorstand und einem separaten Budget. For­
Hilfsgelder müssten auch an klare Bedingun­ Bahnhöfe und die Energieversorgung unter­ mal bliebe die Einheit des Konzerns erhalten,
gen geknüpft werden. Sonst werde das nichts hält, soll vom Betrieb der Züge getrennt die Umstrukturierung wäre weniger zeitauf­
mit dem Kohleausstieg. ­werden. wendig. Schon in der Vergangenheit gab es
Entscheidend sei zudem, dass Kohle teurer Schon vor Monaten hatten beide Parteien dafür Pläne.
wird als Atomkraft und Erdgas. Gerade bei sich mit Experten dazu ­intensiv ausgetauscht. Eine Trennung von Netz und Betrieb träfe
Erdgas ist das kompliziert. Die aktuelle Herausgekommen ist eine gemeinsame Hal­ auf Wohlwollen in der EU-Kommission. Die
Knappheit hat zu einem Preisanstieg von tung, die diametral zur SPD steht. Die will, dortigen Wettbewerbshüter sehen Staatshil­
mehr als 70 Prozent geführt. Das macht Gas­ wohl auch aus Rücksicht auf die mächtige fen an den integrierten Konzern kritisch, hät­
kraftwerke unrentabel. Und je weniger die Eisenbahngewerkschaft EVG, den sogenann­ ten aber mit großzügiger Unterstützung für
Energiekonzerne in die Erschließung neuer ten integrierten Betrieb von Schiene und eine eigenständige Netzgesellschaft, die allen
Gasfelder investieren, weil fossile Energie Fahrgeschäft beibehalten. Wettbewerbern zugutekommt, kein Problem.
grundsätzlich als Auslaufmodell gilt, desto Doch die Bahn ist in einem desolaten Zu­ Die SPD ist derzeit noch gegen eine Auf­
extremer steigen die Preise. stand. Auf mehr als 30 Milliarden Euro ist spaltung. Insbesondere, weil sie dazu führen
Der einzige Ausweg aus dieser Misere sei die Verschuldung angewachsen. Das hat mit würde, dass die Arbeitnehmervertretung im
ein einheitlicher Mindestpreis für CO2 unter der Coronapandemie zu tun, in der die Züge Konzern durcheinandergerät. Die EVG be­
den größten Emittenten USA, China, der EU auf Geheiß des Bundesverkehrsministers fast fürchtet, dass die Konkurrenzgewerkschaft
und am besten auch Indien, sagt Edenhofer. im normalen Takt gefahren sind – bei einer GDL an Einfluss gewänne. Deren Anführer
Ohne ein solches System werde es schwer, in Auslastung von 20 Prozent der ursprüng­ Claus Weselsky hatte in der Tarifauseinan­
den kommenden Jahrzehnten von der Kohle lichen Passagierzahlen. Auch Misswirtschaft dersetzung in diesem Sommer lautstark eine
loszukommen. drückt auf die Bilanz, etwa hoch defizitäre Aufspaltung gefordert.
Frank Dohmen, Georg Fahrion, Claus Hecking, Auslandsbeteiligungen wie die britische Ar­ Die Bedenken der SPD wollen FDP und
Jan Puhl, Fritz Schaap, Gerald Traufetter n riva oder der verlustbringende Güterverkehr, Grüne ausräumen, indem sie Olaf Scholz und

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WIRTSCHAFT

seinen Genossen bei der Besetzung


der Bahn-Spitze entgegenkommen. Reformkandidat Schenker 627
Sowohl Liberale als auch Grüne pla-
nen, den Vorstand und Aufsichtsrat Gewinne und Verluste Netze Fahrweg 302
umzubauen. Konzernchef Richard der Deutschen Bahn im
1. Halbjahr 2021, –7 Netze Personenbahnhöfe
Lutz soll abgelöst werden, genauso bereinigtes Ebit nach
wie der für die Infrastruktur zustän- ausgewählten Geschäfts- –31 Arriva
dige DB-Vorstand Ronald Pofalla. feldern, in Mio. Euro
Der CDU-Mann ist ein Vertrauter –211 Cargo
von Nochkanzlerin Angela Merkel –359 Regio
und genießt in einer Ampelregierung
keinen Rückhalt. –1144 Fernverkehr
Auch der Aufsichtsratschef Mi-
S Quelle: Deutsche Bahn
chael Odenwald soll weg. Er ist von

Bundesverkehrsminister Andreas
Scheuer (CSU) als Staatssekretär auf
den einflussreichen Posten verscho-
ben worden. Bleiben könnte der Fi-
nanzvorstand Levin Holle, der erst
seit Februar 2020 vom SPD-geführ-
ten Bundesfinanzministerium zur
Bahn gewechselt ist.
Für den Job an der Spitze kommt
eine Frau infrage, die von der SPD
seit Langem favorisiert wird: die ehe-
malige Chefin der Berliner Verkehrs-
Harald Schön / Picture Press / ddp

betriebe und heutige Güterverkehrs-


vorständin der DB, Sigrid Nikutta.
Die wortgewandte, promovierte
Psychologin gilt als Marketingtalent –
auch in eigener Sache. Sie hätte im
Gegensatz zum heutigen Bahn-Chef
Lutz den Vorteil, einen Aufbruch im
Konzern zu verkörpern. Die gebürti-
ge Bielefelderin mit polnischen Wur- Rahmen der transeuropäischen Ver- die Milliardenhilfen, mit denen der
zeln ist ­beliebt in der Arbeitnehmer- kehrsnetze könnten die Anbieter ihre Staat die Bahn in der Coronakrise ge-
schaft und wäre die Wunschkandida- Züge quer durch Deutschland schi- stützt hat.
tin der EVG-Mitglieder im Aufsichts- cken. So jedenfalls stellt es sich die Schwämmlein plädiert dafür, die
rat. Grüne wie Liberale könnten mit FDP vor, und die Grünen hätten Trassenpreise dauerhaft an die Kos-
der Personalie Nikutta leben, solange nichts dagegen. ten der Nutzung zu koppeln, was eine
mehr Wettbewerb auf der Schiene Die Ökopartei hat noch einen wei- Absenkung von etwa 80 Prozent im
gewährleistet ist. teren Bahn-Konkurrenten eng im Vergleich zum aktuellen Niveau be-
Zwei Länder gelten vor allem den Blick: Flixtrain. Dessen Mitgründer deuten würde. An einem solchen
Liberalen dabei als Vorbild: Schwe- André Schwämmlein war für die Grü- Schritt hätte eine unabhängige
den und Italien. nen in Fürth schon zu Schülerzeiten Betreiber­gesellschaft eher Interesse
Die Skandinavier haben in ihrer als Fraktionschef im Kreistag tätig. als die Bahn in ihrer jetzigen Form,
Netzgesellschaft ein einfach zu be- Die Zugsparte des Flixmobility-Kon- so Schwämmleins Kalkül.
dienendes Computersystem geschaf- zerns bietet derzeit zwar gerade Kommt es tatsächlich zu einer
fen, auf der sich Zugbetreiber mit mal ein halbes Dutzend Strecken in ­Zerschlagung, will der Flix-Gründer
geringem Aufwand Verbindungen Deutschland an, hat aber große Pläne. verstärkt in Flixtrain investieren.
sichern können. In Deutschland ist »In Ländern, die erfolgreich Wett- »Wir könnten schon 2022 unser An-
dafür viel Papier und Geduld nötig. bewerb auf die Schiene gebracht ha- gebot ausweiten, indem wir beispiels-
Italien wiederum besticht durch ben, sind Infrastruktur und Betrieb weise auf unseren bestehenden Stre-
sein Angebot an Hochgeschwindig- getrennt«, sagt Schwämm­lein. Des- cken mehr Fahrten anbieten«, sagt
keitsverbindungen. Zwei Unterneh- halb müsse auch Deutschland den Schwämmlein dem SPIEGEL. »Ent-
men liefern sich dort einen lebhaften Staatskonzern entflechten. Anders scheidender aber ist das Signal, dass
Wettbewerb. Eines davon ist Italo. als die heutige Bahn hätte ein eigen- es sich lohnt, auch in neue Züge zu
Dahinter steht ein milliardenschwerer ständiger Netzbetreiber ein wirt- investieren.«
Infrastrukturfonds: Global Infrastruc- schaftliches Interesse daran, mehr Nun müssen Grüne und FDP nur
ture Partners (GIP), mit Hauptsitz in Wettbewerb und damit mehr Verkehr noch einen Kompromiss mit der SPD
New York. auf die Schiene zu bringen. finden. Schwämmlein sieht in der Pri-
In Branchenkreisen gilt es als Der zweite entscheidende Hebel vatisierung der Betreibergesellschaft
wahrscheinlich, dass GIP, ebenso wie sind aus Sicht des Flixtrain-Chefs nicht den entscheidenden Kniff für
Friso Gentsch / dpa

die französische Staatsbahn, Ange- dauerhaft niedrigere Trassenpreise. mehr Wettbewerb und vermutet, dass
bote für den deutschen Markt ma- Derzeit sind sie für den Personen­ es auf eine Holding-Lösung hinaus-
chen würden, wenn eine neue Bun- fernverkehr bis Ende Mai 2022 weit- läuft. Die tut der Klientel der SPD
desregierung die Eintrittsbarrieren gehend ausgesetzt – auf Druck der deutlich weniger weh.
für neue Wettbewerber senkt. Im Managerin Nikutta EU-Kommission, als Ausgleich für Martin Hesse, Gerald Traufetter n

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WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Herr Tönnies, Sie haben sich


im vergangenen Jahr ziemlich erfolg-
reich um den Titel »Buhmann der
Republik« beworben. Da war der

»Wir hätten uns mehr


­Coronaausbruch in Ihrem Schlacht-
betrieb, der die miesen Lohn- und
Lebensbedingungen Ihrer Arbeiter

kümmern müssen«
offenbart hat. Und dann sind Sie ja
ohnehin die Symbolfigur für: Massen-
viehhaltung, Billigfleisch, Bauern­
ausbeutung, Klimazerstörung. Haben
wir etwas vergessen?
SPIEGEL-GESPRÄCH  Fleischbaron Clemens Tönnies, 65, über sein Image Tönnies: Sklavenhaltung.
als Sklavenhalter und seine Ideen für die Agrarwende SPIEGEL: Genau. Es standen Leute vor
Ihrem Haus, die »Hängt ihn auf« riefen.
Tönnies: Und »Schneidet ihm den
Kopf ab«. Die haben die Kameras an
unserem Privathaus verhängt, sind
mit Leitern da hoch. Das war nicht
witzig. Ich war für die der Mann, der
Covid nach Deutschland einge-
schleppt hat. Aber klar, über uns als
Unternehmen ist damals etwas herein­
gebrochen. Wir hatten tatsächlich ge-
glaubt, wir hätten einen der pandemie-
sichersten Betriebe, das ist uns auf die
Füße gefallen. Es war ein unglaub­
liches Wechselbad: Im März 2020
schrieb uns Landwirtschafts­ministerin
Julia Klöckner noch: Bitte verhindern
Sie Regallücken, damit wir keine
Hamsterkaufpanik bekommen. Wir
haben danach unglaubliche Mengen
produziert. Das war die Zeit, als man
sogar noch darüber diskutiert hat, ob
Masken etwas bringen. Erst viel spä-
ter haben wir begriffen, wie sich bei
uns Aerosole ausbreiten und dass ein
Superspreader die Kollegen noch
über acht Meter Entfernung ange-
steckt hat.
SPIEGEL: Sie gelten als Perfektionist,
keiner zerlegt so viele Schweine wie
Sie in Deutschland. Ihr Geschäftsmo-
dell beruht auf Masse, mit gut 25 000
Schlachtungen am Tag und gut sieben
Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Ist Ih­
nen schon mal der Gedanke gekommen,
Sie hätten das Falsche perfektioniert?
Tönnies: Sie meinen, ich wäre besser
Uhrmacher geworden?
SPIEGEL: Vielleicht um zu erkennen,
wann die Zeit für etwas abgelaufen
ist. Angesichts der Diskussionen um
Klimaziele und Fleischverzicht könn-
te Ihre Größe bald nicht mehr ange-
messen sein.
Tönnies: Niemand fragt, ob die Auto-
mobilindustrie zu groß geworden ist.
SPIEGEL: Ob die auf dem Holzweg ist,
fragt man schon.
Thomas Rabsch / DER SPIEGEL

Tönnies: Wir haben in den letzten


50 Jahren die Ernährung in Deutsch-
land mit unserem Unternehmen si-
chergestellt. Waren wir damit auf dem

Das Gespräch führten die Redakteure Jürgen


Großschlachter Tönnies: »Sie meinen, ich wäre besser Uhrmacher geworden?« Dahlkamp und Nils Klawitter.

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WIRTSCHAFT

Holzweg? Nein. Aber wir müssen uns ver- Tönnies: Mir ist nicht bekannt, dass sich der SPIEGEL: Im Gegensatz zum Bauern geht Ihr
ändern, weil die Gesellschaft sich verändert. Verband als »nicht tariffähig« bezeichnet System an 1,20 Euro nicht kaputt.
SPIEGEL: Die Zukunftskommission Landwirt- ­hätte. Tönnies: Na ja, auch wir schreiben dieses Jahr
schaft sagt: weg von der Massenproduktion SPIEGEL: Warum machen Sie nicht mehr kein positives Ergebnis. So wie unsere gesam-
für den Export, hin zu regionalen, nachhalti- Druck? te Branche. Uns fehlt das Geschäft in China,
gen Kreisläufen. Und zu Qualitätsware. Was Tönnies: Ich bin zwar Mitglied, aber nur einer wohin Öhrchen, Pfötchen oder Schwänzchen
heißt das für Sie? unter hundert. gehen. Die Teile des Schweins, die hier in
Tönnies: Dass wir Lösungen anbieten müssen. SPIEGEL: Immerhin der Größte. Sie reden von Deutschland keiner isst. Wegen der Afrikani-
Wir drängen etwa darauf, dass unsere 11 000 Nachhaltigkeit, Mindestlöhnen. Bisher waren schen Schweinepest, die in Deutschland auf-
Bauern die Haltungsformen der Tiere um- Sie bekannt dafür, dass Sie mit billigen Werk- getaucht ist, haben die Chinesen die Grenzen
stellen. Da haben wir etwas falsch gemacht. vertragsarbeitern, die oft durch windige Sub- dichtgemacht. Wir können solche Teile jetzt
SPIEGEL: Was waren die Fehler? unternehmer abgezockt wurden und in men- nur noch an Tiermehlfabriken verkaufen, da-
Tönnies: Wir haben Ställe dichtgemacht und schenunwürdigen Absteigen hausten, billige mit fehlen uns 30 Euro pro Tier. Pfötchen
beheizt. Völlig falsch. Luft ranzulassen ist Massenware herstellen. Woher der Sinnes- nach Asien, das war ja meine Idee, und das
viel besser, die Schweine genießen das gera- wandel? hat lange Zeit den Schweinepreis für deutsche
dezu, sogar im Winter. Da wurden wir von Tönnies: Unser Erfolg liegt nicht darin be- Bauern höhergehalten. Aber klar, jetzt kön-
Spezialisten falsch beraten. Mir ist es schon gründet, dass wir Leute ausbeuten, sondern nen Sie mir schon wieder einen Vorwurf ma-
vor 13 Jahren so vorgekommen, als hätten die beste Technologie entwickelt haben, um chen: dass wir überhaupt etwas nach China
wir es übertrieben. Brauchen wir diese im- Nutztiere als Ganzes zu vermarkten. Aber verschiffen.
mensen Tagesgewichtszunahmen bei den wir haben Fehler gemacht: Wir hätten schon SPIEGEL: Genau, welchen Sinn ergibt das in
Schweinen? Solche Dinge sehe ich heute noch vor fünf Jahren genauer darauf achten müs- Zeiten des Klimawandels, vor allem wenn die
kritischer. sen, wie die Subunternehmer ihre Arbeiter Chinesen gerade selbst dabei sind, ihre Mast-
SPIEGEL: Wenn Sie das vor Jahren schon ge- unterbringen. Wir hätten die Subunternehmer kapazitäten drastisch auszubauen?
sehen haben, warum kommen dann bis heu- stärker kontrollieren oder früher ersetzen Tönnies: Weil es nachhaltig ist. Sollen wir
te nur zwei Prozent Ihrer Tiere aus den bes- müssen. Wir hätten uns mehr kümmern müs- stattdessen rund ein Drittel des Schweins weg-
seren Haltungsformen 3 und 4, die Frischluft sen. Nur mit Ombudsleuten zu arbeiten hat werfen? Ich kenne natürlich das Argument:
und mehr Platz vorsehen? nicht gereicht. Mit den Transporten versaut Ihr das Klima.
Tönnies: Auch Haltungsform 2 ist mehr, als SPIEGEL: Heute sind alle fest angestellt? Aber es kommen so viele Frachtcontainer aus
das Gesetz vorgibt. Wenn Sie das dazuzählen, Tönnies: Die allermeisten der 6000 Leute hier China, mit Waren aller Art, die ohne unsere
sind wir bei über 40 Prozent. am Standort Rheda und an den anderen deut- Pfötchen leer wieder zurückgehen würden.
SPIEGEL: Haltungsform 2, die Tierwohl sug- schen Standorten sind fest angestellt. Und wir SPIEGEL: Wer sagt denn, dass die ganze Welt
geriert, wenn ein paar Strohfitzelchen und haben bis heute in der Region Werkswohnun- mit Fleisch vollversorgt sein muss? Viele Stu-
eine Spur mehr Licht zur Verfügung stehen, gen für 4700 Mitarbeiter geschaffen, die von dien legen doch nahe, dass der Fleischkonsum
ist doch Augenwischerei. uns betreut werden und einen guten Standard runtermuss, auch in China, wenn wir die Kli-
Tönnies: Sie unterschätzen die Anstrengun- haben. maziele erreichen wollen.
gen, so ein System zu drehen. Haltungsform 2 SPIEGEL: Wird Fleisch in Zukunft teurer? Tönnies: Gute Idee. Dann rufen Sie Herrn Xi
war wichtig, um das Schwungrad zur Um- Tönnies: Ja, und das muss es auch, aber nicht Jinping an und sagen ihm, so gehe es bei ihm
stellung anzuwerfen. Wir haben ja Program- unbezahlbar. Wir sollten den Weg gehen, den auf keinen Fall weiter. Wünsche Ihnen viel
me angestoßen: das Stroh-Schwein, das Fair- Ex-Landwirtschaftsminister Jochen Borchert Erfolg. Kurz- und mittelfristig bleibt es für
Schwein, das Kräuter-Schwein – alles weit mit seiner Kommission aufgezeigt hat: Eine uns dabei: Solange die Chinesen Pfötchen
über den gesetzlichen Standards. Und wir gewisse Zeit gibt es eine Art Fleischsteuer, wollen, liefern wir sie. Sonst landen wir bei
fördern Bio. 40 Cent pro Kilo, die aufgeschlagen werden. einem Schwein, das nur noch zu 68 Prozent
SPIEGEL: Tönnies, der Vorreiter der Verände- Das Geld geht in einen Fonds, aus dem die verwertet wird. Mehr vom Tier wollen die
rung – klingt irgendwie nach einem überdreh- Bauern Zuschüsse bekommen für den Umbau Deutschen und auch die anderen Europäer
ten Witz à la Monty Python. ihrer Ställe zu mehr Tierwohl. nicht essen.
Tönnies: Oft ist es auch so: Tönnies macht SPIEGEL: Wird der Verbraucher mitziehen? SPIEGEL: Also immer weiter so mit der Fleisch-
Gutes und spricht dann nicht drüber. Nehmen Tönnies: Das müssen wir sehen. In der Ver- menge, die in Deutschland erzeugt wird? Big
Sie den Mindestlohn. Da hab ich unserem gangenheit war es so: Sobald er an einer Ecke is beautiful?
Verband gesagt, wir müssen vorwegmarschie- etwas billiger kriegt, kauft er da. Dazu haben Tönnies: Nein. Wir sind schon dabei, die Pro-
ren, raus aus der Schmuddelecke mit den Bil- wir und der Handel mit seinen Tiefpreisen duktion in Deutschland runterzufahren. Völ-
liglöhnen, da müssen wir mal ein Signal set- ihn ja erzogen. lig klar, das Essverhalten ändert sich, Bauern
zen. Warum zahlen wir nicht zwölf Euro die SPIEGEL: Für den Umbau brauchen Sie die steigen aus, weil es sich für sie nicht mehr
Stunde? Bauern. Die bekommen im Augenblick dürf- lohnt. Deshalb werden wir weniger Tiere ha-
SPIEGEL: Zugleich sind Sie dafür bekannt, Ta- tige 1,20 Euro pro Kilo ohne Aussicht auf ben, zumindest in Deutschland.
riflöhne zu torpedieren, auch durch den Ver- ­Besserung. SPIEGEL: Dafür bauen Sie in Spanien ein neu-
band der Deutschen Fleischwirtschaft, in dem Tönnies: Der Preis ist eine Schande. es Werk auf. Wofür brauchen die Spanier Sie
Sie mit anderen Unternehmen sitzen. Viele SPIEGEL: Sind Sie für die Preisbildung nicht denn? Die haben genug Schweinefleisch.
Ihrer Arbeiter bekommen bis heute nur den mitverantwortlich? Tönnies: Spanien ist ein Exportland und
Mindestlohn von 9,60 Euro. Wie passt das Tönnies: Der wird durch eine Branchenkom- wächst. Die haben Flächen für Futter, und die
zusammen? mission ermittelt, die Vereinigung der Erzeuger- produzieren Schweine. Nicht für Deutsch-
Tönnies: Tönnies und die Branche verhandeln gemeinschaften. land, sondern für China und andere Länder.
schon seit Februar mit den Gewerkschaften, SPIEGEL: Und Sie unterbieten diese Preise Das, was wir hier an Ställen abbauen, wird in
und ich fordere auch schon lange öffentlich mitunter noch durch sogenannte Hauspreise, der Konsequenz eins zu eins in Spanien auf-
einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag ... oder? gebaut.
SPIEGEL: ... der sich merkwürdigerweise im- Tönnies: Ja, wenn es nicht anders geht, wenn SPIEGEL: Das ist das Gegenteil von klima-
mer wieder verzögert. Warum bezeichnet sich es im Kessel kocht und es ein drastisches freundlich.
Ihr Arbeitgeberverband als »nicht tariffähig« Überangebot gibt, dann machen wir Haus- Tönnies: Wir Deutschen sind gut darin, Zu-
und behindert solche Verhandlungen? preise. Das ist aber selten. kunftsmärkte abzugeben. Die Batteriepro-

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WIRTSCHAFT

duktion, die Fotovoltaik – die Solar- gebeten, damit ich den letzten Schlacht­
panels kommen heute aus China. betrieb dort rette. Hab ich gemacht.
Wenn wir jetzt auch noch die Tier- Wichtig ist, dass wir den ländlichen
bestände übertrieben schrumpfen, Raum nicht vernichten.
bekommen wir bald das Schweinefilet SPIEGEL: Die Agrarpolitik wirkte in
per Flieger aus Chile, weil der deut- den vergangenen 16 Jahren wie ge-
sche Verbraucher das gern hätte. lähmt. Was erwarten Sie von der
SPIEGEL: Solche Importe sollen ­neuen Regierung?
­künftig durch eine Carbon-Boarder- Tönnies: Das Papier der Borchert-
Tax, eine Art Zoll auf CO2, besteuert Kommission muss jetzt schnell um-
werden. gesetzt werden, damit die Landwirte
Tönnies: Na, dann ist ja alles gut. wissen, wo es langgeht. Und das Bau-

Bernd Thissen / dpa


Dann können wir hier mit der Land- recht muss geändert, Stallumbauten
wirtschaft aufhören, und alle Land- müssen schneller genehmigt werden.
wirte bekommen eine Heidschnu- Viele Bauern würden ja gern in tier-
ckenherde, für die Idylle. Wollen Sie freundliche Ställe investieren, dürfen
das so? aber nicht.
SPIEGEL: Wenn Ihnen Deutschland Schlachtstraße in Leute im Landkreis Vechta, wie es SPIEGEL: Sie sind 65, werden Sie das
als Produktionsstandort so am Her- Rheda-Wiedenbrück: denen stinkt. alles überhaupt noch aktiv erleben?
»Der Preis ist
zen liegt, warum ist Tönnies dann eine Schande«
Tönnies: Gülle ist sehr wohl ein Pro- Tönnies: Ich werde mich langsam zu-
eigentlich ein dänisches Unterneh- blemlöser und kann eine entscheiden- rückziehen. Mein Sohn Max über-
men? Der Sitz Ihrer Holding ist in de Rolle in der Agrarwende spielen. nimmt immer mehr Verantwortung.
Brörup. Mit Gülle verhindern wir, dass die Mein Lebensplan ist es nicht, in der
Tönnies: Weil wir international Felder überdüngt werden, und nutzen Deichsel tot umzufallen. Das machen
­agieren. die natürlichen Ressourcen. Vor allem andere, die sich für unentbehrlich
SPIEGEL: Das könnten Sie auch von aber ist Gülle besser als Kunstdünger. ­halten. Patriarchen, in deren Schatten
Deutschland aus. Bei Kunstdünger ist die CO2- und die nichts und niemand gedeiht.
Tönnies: Wenn Sie denken, das hätte Energiebilanz in der Produktion SPIEGEL: Waren Sie nicht genau so
steuerliche Gründe, muss ich Sie ent- ­katastrophal. Außerdem ist Kunst- einer?
täuschen. dünger inzwischen himmelteuer, weil Tönnies: Vielleicht zu Zeiten, als ich
SPIEGEL: Wir hätten noch eine Idee, man für die Produktion Öl oder Gas noch Cowboystiefel trug. Ist schon
warum: weil Sie so verhindern kön- braucht. Das können wir uns nicht länger her.
nen, dass Arbeitnehmervertreter im mehr leisten. Und umgekehrt wird SPIEGEL: Die Streitigkeiten mit Ihrem
Aufsichtsrat sitzen. So wie das in das geschmähte Abfallprodukt Mist Neffen und Mitgesellschafter Robert
Deutschland bei mehr als 500 Mit- oder Gülle plötzlich etwas wert. Frü- sind legendär. In diesem Jahr machte
arbeiterinnen und Mitarbeitern her musste man für die Entsorgung ein möglicher Verkauf Ihres Unterneh-
Pflicht wäre. zahlen, heute gibt es Geld dafür. mens Schlagzeilen. Es kam nicht dazu,
Tönnies: Da wissen Sie mehr als ich. SPIEGEL: Um klimaneutral zu werden, waren die Angebote nicht gut genug?
Tönnies hat in Deutschland aktuell reicht das nicht. Was tun Sie sonst? Tönnies: Wir haben in der Familie vor
rund 170 Betriebsräte im Unterneh- Tönnies: Wir haben einen klaren etwa einem Jahr gesagt, wir müssen
men. Allerdings lassen sich unsere Plan, um nachhaltig Lebensmittel zu jetzt aufhören zu streiten. Und wir
mehr als 20 europäischen Gesell- erzeugen, und sind weiter, als viele haben entschieden, den Wert der Fir-
schaften in Dänemark besser bündeln denken. Der größte Teil unserer west- ma zu sondieren – und zwar mit der
als in einer deutschen GmbH. fälischen Bauern verfüttert das Futter, Maßgabe: Beide, also Robert und ich,
SPIEGEL: Ihre Lieferanten mästen im das sie selbst auf dem Hof haben. gehen raus. Es gab einen potenziellen
Jahr 16 Millionen Schweine in Noch allerdings brauchen wir zu­ Käufer ...
Deutschland. Wie viele werden das sätzlich Soja für die Einweißversor- SPIEGEL: ... der angeblich aber nur
in zehn Jahren noch sein? Schweine gung ... etwa zwei Milliarden zahlen wollte.
Tönnies: Kann ich Ihnen nicht sagen. für die Welt SPIEGEL: ... wofür massenhaft Savan- Tönnies: Falsch, das Angebot war
Wir sind intensiv dabei, die Tierhal- ne umgepflügt und Regenwald abge- weit höher und äußerst attraktiv.
tung zu verändern, und das wird uns Die größten holzt wird. SPIEGEL: Und?
Bestände kosten. Nur wenn jetzt Um- Schweinefleisch- Tönnies: Spätestens Anfang 2023 Tönnies: Wir haben uns damals Zeit
Exporteure 2020,
weltschützer sagen, die Hälfte sei aus- in Mio. Tonnen wird kein Schwein mehr bei Tönnies genommen, unsere ganzen Betriebe
reichend, dann verstehen sie nicht, geschlachtet, das Soja aus gerodeten in Europa zu besuchen. Da habe ich
was sie damit anrichten. Wir würden USA Regenwald- oder Savannenflächen gesehen, was für ein großartiges
den Nährstoffkreislauf zerstören, 2,4 bekommen hat. Wir wechseln zu hei- Unternehmen wir haben, und mich
also: den Kreislauf vom Boden zum Spanien mischen Eiweiß- und nachhaltigen gefragt: Sind wir eigentlich verrückt,
Futter, vom Futter zum Schwein, vom 2,1 Sojaquellen, vorzugsweise aus Euro- das aus der Hand zu geben? Das The-
Schwein zur Gülle als Bodendünger pa. Und was noch aus Südamerika ma Verkauf ist also durch. Robert,
und dann wieder zum Futter. Ohne Deutschland kommt, muss zumindest nachhaltig Max und ich haben mit großer Über-
Tierhaltung gibt es keine Biolandwirt- 1,8 zertifiziert sein. zeugung entschieden, dass wir das
schaft, ohne Fleisch kein Gemüse, Kanada SPIEGEL: Als Nächstes fordern Sie Unternehmen gemeinsam in Fami-
weil ich Gülle und Mist als Dünger 1,2 noch einen grünen Landwirtschafts- lienhand weiterentwickeln wollen.
brauche. Wir setzen auf die natür­ minister. SPIEGEL: Und jetzt soll der Friede
lichen Kreisläufe rund um die Nutz- Dänemark Tönnies: Ich habe keine Probleme mit plötzlich halten?
tierhaltung. 1,1 grünen Ministern. Herr Habeck hat Tönnies: Da bin ich mir ganz sicher.
SPIEGEL: Seit wann ist denn Gülle ein mich damals, als er Minister in Schles- SPIEGEL: Herr Tönnies, wir danken
Problemlöser? Fragen Sie mal die S Quelle: ITC wig-Holstein war, nach Kellinghusen Ihnen für dieses Gespräch. n

82 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Unter Offenheit verstehen wir,
Zugang zu den Erfolgschancen
internationaler Märkte zu schaffen.
Wussten Sie, dass alle Bauten und Brücken auf unseren Euroscheinen
erfunden sind? Aus gutem Grund, denn man wollte kein Land und
keine Kultur über die andere stellen. Das ist Offenheit, wie wir von der
DZ BANK sie verstehen und leben. Unvoreingenommen auf Kulturen
und Märkte zuzugehen, um Chancen zu finden und gemeinsam zu
nutzen. Mehr über Offenheit und unsere Haltung erfahren Sie unter:
dzbank.de/haltung
WIRTSCHAFT

seine Erkenntnisse in einem 30-seiti­


gen Gutachten zusammengetragen,
das dem SPIEGEL und dem Recher­
cheteam des Bayerischen Rundfunks
(BR) vorliegt. Beauftragt hat ihn die
amerikanische Anwaltskanzlei Mil­
berg, die viele Kläger von Großbri­
tannien über die Niederlande bis
Deutschland vertritt.
Die US-Juristen setzten aus gutem
Grund auf Domke. Der Autoindustrie
ist er inzwischen leidvoll bekannt. Als
erster externer Experte konnte er vor
sechs Jahren nachweisen, wie Volks­
wagen seine Abgassoftware so mani­
puliert hatte, dass dreckige Diesel auf
dem Prüfstand sauber erscheinen.
Zusammen mit dem SPIEGEL über­
führte Domke anschließend Opel und

Gordon Welters
Porsche der Abgasschummelei. Nun
also Daimler.
IT-Spezialist Domke bei Testfahrt in Lübeck
Der Konzern ist, im Gegensatz zu
VW, bisher glimpflich davongekom­
men in der Dieselaffäre. Die Staats­
anwaltschaft Stuttgart verdonnerte
Daimler vor zwei Jahren zu einer

Daimlers schmutziges
Strafe von 870 Millionen Euro. In den
USA einigte man sich auf einen Ver­
gleich, dort musste das Unternehmen

Geheimnis
insgesamt 2,2 Milliarden Dollar zah­
len. Die Rechnung fiele ungleich hö­
her aus, sollten die europäischen Ver­
braucherklagen zuungunsten von
Daimler entschieden werden. Es geht
AFFÄREN   Der Stuttgarter Autokonzern kam bisher glimpflich um etliche Tausend Euro pro Auto.
Bei rund 15 000 allein in Deutschland
durch den Dieselskandal. Das könnte sich nun ändern: Ein Hacker hat erstmals anhängigen Klagen könnte der Streit­
die Software einer E-Klasse geknackt. Er kann belegen, wie wert schnell eine dreistellige Millio­
Mercedes die Motoren seiner Kunden offensichtlich manipulierte. nenhöhe annehmen.
Die Spuren sind verräterisch. Und
sie fügen sich in einen weiteren Skan­

A
lles sieht an diesem Tag nach dem Ergebnis, dass das Auto deutlich dal, in den VW, Daimler und BMW
einem ganz normalen Auto­ zu viel gesundheitsschädliche Stick­ verstrickt waren: In einem Kartell
kauf aus. Ein Familienvater oxide ausstößt. »Eine dieser Ab­ tauschten sich die Autobauer in den
schaut sich bei einem Gebrauchtwa­ schalteinrichtungen ist eigentlich auf Nullerjahren über Technologien aus.
genhändler in Lübeck eine geräumige der Straße immer aktiviert, wodurch Eine der Absprachen betrifft genau
E-Klasse von Daimler an. Der schwar­ der Wagen praktisch die gesamte Zeit jene Abgasreinigung, deren Algorith­
ze Kombi mit sechs Zylindern (Bau­ Davon- im dreckigen Modus fährt«, sagt men Domke nun minutiös zerlegt hat.
jahr 2015) ist für sein Alter gut in gekommen Domke. Dabei geht es im Kern um den soge­
Schuss. Schnell einigt man sich auf Erstmals konnte er exakt rekon­ nannten SCR-Katalysator, der die
25 000 Euro. Strafen der EU- struieren, wie Daimlers Softwarespe­ Stickoxide aus den Abgasen unschäd­
Kommission gegen
Doch der Käufer ist kein normaler das deutsche zialisten die Abgasreinigung offenbar lich macht, mithilfe von AdBlue.
Kunde, sondern Felix Domke, von Be­ Autokartell, in manipulierten – und so den Diesel­ Das harnstoffhaltige Mittel wird in
ruf Hacker und einer der besten sei­ Millionen Euro skandal in Stuttgart auslösten. Für den Katalysator eingespritzt, das Be­
nes Fachs. Kaum zu Hause, schließt den Autobauer könnte das teuer wer­ hältnis für die Flüssigkeit platzierten
VW
er den Bordrechner der E-Klasse an den. Denn das Kraftfahrt-Bundesamt die Ingenieure neben dem Sprittank.
500
seinen Computer an und macht sich (KBA) hat 34 Mercedes-Modelle, da­ Der AdBlue-Tank durfte nicht zu groß
ans Werk. Ihn interessiert ein schmut­ BMW runter jenes von Domke, wegen un­ sein, weil sonst der Kofferraum zu
ziges Geheimnis, das er tief in der 370 zulässiger Abschalteinrichtungen zu­ klein geworden wäre. Außerdem soll­
Technik des Autos vermutet. rückgerufen. Mehrere Zehntausend ten die Autobesitzer den Tank zwi­
Daimler*
Ein Jahr ist das nun her, 5000 Ki­ Besitzer klagen auf Schadensersatz. schen den Wartungsintervallen nicht
0
lometer mehr stehen auf dem Tacho, Auch eine Sammelklage des Verbrau­ selbst auffüllen müssen. Das sei ins­
und Domke ist fündig geworden. * Auch Daimler war an den cherzentrale Bundesverbands ist auf besondere US-Kunden nicht zuzu­
Gleich an acht Stellen im Software­ Absprachen beteiligt, hatte dem Weg. muten gewesen.
sich aber als erster Konzern
code des Wagens hat der IT-Spezialist selbst angezeigt und dafür Bisher scheiterten die Kläger häu­ Und so musste wohl auch bei
sogenannte Abschalteinrichtungen eine Kronzeugenregelung fig daran, dass sie nicht nachweisen Daimler eine Steuerung her, die den
erhalten.
identifiziert. Sie reduzieren ganz of­ konnten, wie Daimler trickste. Das Verbrauch des Mittels reduzierte.
fensichtlich die Abgasreinigung, mit S Quelle: EU-Kommission Problem scheint gelöst. Domke hat »Diesen Zweck erfüllen die von mir

84 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WIRTSCHAFT

identifizierten Abschalteinrichtungen«, sagt


Domke. In der Software stieß er auf zwei SPIEGEL TV Programm
unterschiedliche Betriebsweisen. Eine, in der
der SCR-Katalysator effizient funktioniert,
aber sehr viel AdBlue verbraucht – damit
konnte der Daimler-Wagen offenbar die Ab-
gasmessungen auf dem Prüfstand bestehen.
Und einen Alternativmodus, der vom Her-
steller Bosch ursprünglich wohl für Ausnahme­
situationen vorgesehen war, wenn dem Auto
extreme Leistung abverlangt wird. Bei den
Daimler-Fahrzeugen auf der Straße kam er
offenbar zum Dauereinsatz.
Diverse Programmierungen sorgten dafür,
die Reinigungsleistung des Katalysators zu
reduzieren. So schaltet der Kat bei einer be-
stimmten Abgasmenge, die bei rund 100 Ki-
lometer pro Stunde entsteht, in den Schmutz-
modus um. Ähnlich funktioniert eine weitere
Abschalteinrichtung, die schon bei geringen

SPIEGEL TV
Stickoxidmengen greift.
Besonders auffällig: Die Motorsteuerung
schaltet besonders schnell auf schmutzig, Flüchtlingsfamilie Jacobi
wenn der Katalysator ein bestimmtes Alter
erreicht hat. Dieses scheint schon nach einem
Prozent der Lebensdauer erreicht, also nach SPIEGEL TV für Begegnungen. Unsere Innenstädte
rund 3000 gefahrenen Kilometern. Physika- MONTAG, 8. 11., 23.25 – 0.00 Uhr, RTL veröden – nicht erst seit Corona.
lisch lässt sich das kaum rechtfertigen. Erklä- Wie werden sie wieder lebendig und
ren könnte man es damit, dass Autos ihren Gestrandet vor den Toren lebenswert? Immer mehr Städte
Abgastest für die Typgenehmigung in neuem Europas und Kommunen begreifen die Krise als
Zustand absolvieren. Die afghanische Flüchtlingsfamilie Chance und stellen die Weichen
Die Mercedes-Techniker unternahmen Jacobi versucht seit Monaten, nach Deutsch- für eine soziale und klima­freund­liche
­offenbar alles, damit ihr Wagen fast durch- land zu gelangen, und scheitert an der Stadt. »plan b« begleitet Menschen
gängig im Schmutzmodus fährt. So verhindert kroatischen Grenze. Ihr Schicksal löst in Paris, Hameln, Bremen und Kiel,
eine Softwareeinstellung, dass das Auto nach eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. die heute schon an den Städten von
einem kurzen Stopp von bis zu vier Minuten morgen bauen.
wieder in den sauberen Betriebszustand Das schnelle Geld mit fremden
wechselt. Auch riegelt der Wagen ab einem Luxuskarossen
bestimmten Verbrauch von AdBlue die Ab- Wie Betrüger teure Leasingfahrzeuge ZDFZOOM
gasreinigung gänzlich ab. »Mir fiel es schwer, mit gefälschten Papieren einfach MITTWOCH, 10. 11., 22.45 – 23.15 Uhr, ZDF
den Wagen überhaupt mal im sauberen Mo- ­weiterverkaufen. Die neuen Opfer
dus zu fahren«, klagt Domke. einer alten Masche. Digitale Verführer – Wie süchtig
Die Mercedes-Anwälte dürften Mühe ha- machen Videospiele?
ben, die Richter von der Zulässigkeit all die- Coronatote in Altenheimen
ser Abschalteinrichtungen zu überzeugen. Warum gibt es keine
Für den Aschaffenburger Motorenforscher Impfpflicht für Pflegekräfte?
Kai Borgeest sind die von Domke beschrie-
benen Abschalteinrichtungen die bisher
dreistesten, die er kenne. Auf Anfrage von PLAN B
SPIEGEL und BR erklärte Daimler, dass es SAMSTAG, 6. 11., 17.35 – 18.05 Uhr, ZDF
sich »im Zusammenspiel und Gesamtkontext
des hochkomplexen E missionskontrollsys- Lebenswerte Citys –
Wie sich Städte neu erfinden
SPIEGEL TV

tems« nicht um »unzulässige Abschaltein-


richtungen« handle. Leerstand und immer gleiche, aus-
Das sehen Domke und die Anwälte anders. tauschbare Ladenketten. Viele Jugendlicher vor Computerspiel
Wie ein Schuldeingeständnis wirkt auf sie, Autos, wenig Grün und kaum Platz
dass Daimler per Softwareupdate alle acht Computerspiele können süchtig machen
Abschalteinrichtungen, die Domke identifi- – vor allem junge Menschen sind ge­
ziert hat, abstellte. Dem IT-Experten fiel das fährdet. Experten schlagen Alarm: Durch
auf, nachdem er sich das vom Kraftfahrt-Bun- Corona haben sich die Spielzeiten
desamt vorgeschriebene Update aufgespielt vieler Jugendlicher um bis zu 75 Prozent
hatte. erhöht. Insider aus der Games-Branche
Seither kann Domke seine Kinder ohne berichten, mit welchen Mechanismen
schlechtes Gewissen mit der E-Klasse chauf- Game-Designer versuchen, die Nutzer
SPIEGEL TV

fieren. »Der Wagen hält die Grenzwerte möglichst lange ans Spiel zu binden.
­mühelos ein«, sagt er. Nur AdBlue muss er Und mit welchen Kniffen die Spieler dazu
jetzt regelmäßig nachkippen. Stadtmöbelgestalter David Neumann, gebracht werden, sich das auch immer
Frank Dohmen, Gerald Traufetter n Robin Lang mehr kosten zu lassen.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 85


AUSLAND

Neil Hall / epa


»The time for words has now moved to the time for action«, die Zeit der Worte ist vorbei, nun beginnt die Zeit der Taten. Dieses und weitere Zitate
aus einer Videobotschaft von Queen Elizabeth II. anlässlich der Weltklimakonferenz schmücken zurzeit den berühmten Piccadilly Circus in
London. Die 95-jährige Monarchin hatte ihre Reise nach Glasgow aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen, Thronfolger Prinz Charles und
sein Sohn Prinz William nahmen an ihrer Stelle teil.

Angst vor Neuwahlen


Kurz und sein Team, aber auch der neue Kanzler Schallen-
berg vermittelten in den ersten Tagen den Eindruck, dass ein
Comeback in absehbarer Zeit möglich wäre. Doch je länger
Kurz’ Abschied vom Kanzleramt zurückliegt, desto kleiner wer-
ANALYSE   Anfang Oktober trat Sebastian Kurz als
den seine Chancen. Parteiintern verfügt Kurz nur in Wien über
österreichischer Kanzler zurück. Einen Monat eine Hausmacht. Das Abrücken in den umliegenden Bundes­
später spricht immer weniger für ein Comeback. ländern verstärkt sich mit jeder Umfrage, in der die ÖVP auf
das niedrige Niveau der Sozialdemokraten abstürzt. Die große
Am 6. Oktober 2021 passierte etwas, das auch für die skandal- ­Sorge der Parteigranden in der Provinz: Wenn es jetzt zu Neu-
erprobte österreichische Innenpolitik ein Novum ist – die Justiz wahlen käme, müssten die Konservativen mangels Alternativen
durchsuchte Wohnungen und Büros von engsten Vertrauten mit Kurz als Frontmann antreten. Dann würde die Partei wohl
von Sebastian Kurz. Der Verdacht: Der ÖVP-Bundeskanzler und das Kanzleramt verlieren – und damit erstmals seit 35 Jahren in
seine Leute sollen seinen Weg zum Parteivorsitz und Kanzleramt der Opposition landen.
auf illegale Weise geebnet haben, mit frisierten Umfragen und Noch hat Kurz nicht aufgegeben, man werde die »falschen
geschönter Berichterstattung in einer Boulevardzeitung, bezahlt Vorwürfe« ausräumen, versichert er. Doch die Dinge entwickeln
mit Steuergeldern. Kurz kam einer Entmachtung mit Rücktritt sich nicht gut für den Altkanzler: Eine mitbeschuldigte Mei-
zuvor und übergab an Gefolgsmann Alexander Schallenberg. nungsforscherin will mit der Justiz kooperieren, erste ÖVP-­
Die Dynamik, die vor einem Monat die Ära Kurz beendete, Kader lehnen sich öffentlich auf, in diskreten Zirkeln entwickeln
überraschte Anhänger wie Gegner. Kurz galt als Prototyp für Parteifreunde Alternativszenarien. Kurz selbst wirkt der Ent-
einen populistisch angehauchten neuen Konservativismus. wicklung bislang nicht wahrnehmbar entgegen. Seit Mitte Okto-
­Dauerkanzler, EU-Kommissionspräsident, Uno-Generalsekretär, ber meidet er die Öffentlichkeit. Es läuft auf einen langen Ab-
alles wurde ihm zugetraut – nur kein vorzeitiges Scheitern. schied hinaus. Oliver Das Gupta

86 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Dürre im der Dürre sind langfristig
schlimmer als das Feuer«, sagt
Feuchtgebiet die Biologin Cristina Cuiabália
BR ASILIEN  Wissenschaftler von Sesc Pantanal, dem größten
und Umweltschützer kämpfen privaten Reservat in Brasilien.
für die Rettung des größten Mehr als 90 Prozent seiner
Feuchtgebiets der Erde, des ­Fläche fielen im vergangenen
Pantanal, gelegen an der Grenze Jahr den Flammen zum Opfer.
zu Bolivien und Paraguay. Seit Rinderfarmer und Sojapflanzer
drei Jahren herrscht in der von sind für die Zerstörung des
der Unesco zum Welterbe der ­Pantanal mitverantwortlich.
Menschheit erklärten Region Obwohl Brandrodung zeitweise

Gregorio Borgia / dpa


extreme Trockenheit. Bei ver­ verboten wurde, legen sie nach
heerenden Waldbränden wie vor Feuer, um ihre Felder
vor einem Jahr wurde fast ein von Buschwerk und Unkraut zu
Erdoğan
Viertel des riesigen Naturpara­ säubern. Dabei gerät das Feuer
dieses zerstört. Insgesamt seien oft außer Kontrolle. »Viele Far­
knapp 17 Millionen Wirbeltiere mer hoffen, dass die Regierung

»Hochemotionale Reaktion«
im Feuer ums Leben gekom­ von Präsident Jair Bolsonaro
men, ergab eine Hochrechnung die Umweltgesetze lockert«,
von Universitäten, NGOs sagt die Tropenökologin Cátia
und ­öffentlichen Institutionen. Nunes. Spezialisten aus Kalifor­
TÜRKEI  Der inhaftierte Bürgerrechtler
Die Wasseroberfläche in dem nien und Australien beraten
Schwemmgebiet, das von meh­ ­Naturschützer im Pantanal jetzt Osman Kavala spricht über Erdoğans Verschwörungs-
reren großen Flüssen gespeist bei der Bekämpfung von Busch­ theorien und seine Hoffnung auf Freilassung.
wird, hat sich in den vergan­ bränden, die Schutzgebiete
genen 30 Jahren um 29 Prozent ­werden mithilfe von Drohnen Seit vier Jahren türkischen Öffentlichkeit nicht
reduziert, errechnete die On­ und Satelliten überwacht. Den­ sitzt Unternehmer ganz durch. Und trotzdem
lineplattform MapBiomas. noch bricht immer wieder Feuer Kavala, 64, in der war die Initiative der Botschaf­
In diesem Jahr gibt es zwar we­ aus, da es nicht genug Fahr­ Türkei im Gefäng- ter nützlich, weil sie zeigte,
niger Brände, aber dennoch zeuge gibt, die schnell genug zu nis. Präsident Recep dass Menschenrechte in inter­
ACC / AFP

­keine Entwarnung: »Die Folgen den Brandherden gelangen. JGL  Tayyip Erdoğan nationalen Beziehungen eine
wirft ihm vor, die Rolle spielen.
Proteste im Istanbuler Gezi-Park SPIEGEL: Erdoğan drohte sogar,
Steht Äthiopien vor aller. Der Friedensnobelpreisträ­ 2013 orchestriert zu haben die Botschafter zu unerwünsch­
ger, der als zunehmend bera­ und am gescheiterten Putsch­ ten Personen erklären zu lassen.
dem Zerfall? tungsresistent gilt, befehligt eine versuch 2016 beteiligt gewesen Kavala: Für mich sieht das wie
ÄTHIOPIEN  Immer weiter eska­ Armee, die sich laut Beobach­ zu sein. Der SPIEGEL hat eine hochemotionale Reaktion
liert der Konflikt zwischen der tern in einem Zustand der Auflö­ Kavala über dessen Anwälte aus. Zum Glück folgten den
äthiopischen Regierung von sung befindet. Vor einem Jahr Fragen ­zukommen lassen. ​ Worten keine Taten. Wenn es
Abiy Ahmed und den Tigrayern begann Abiy einen Feldzug in einen Eingriff in die Justiz gab,
aus dem Norden des Landes. Am Tigray. Ziel war es, die Regional­ SPIEGEL: Herr Kavala, warum wie die Regierung behauptet,
Sonntag und Montag eroberten regierung unter Führung der interessiert sich Präsident dann fand dieser vor zwei Jah­
die Tigray Defense Forces (TDF) TPLF (Volksbefreiungsfront) zu Erdoğan so sehr für Ihren Fall? ren statt, als der Europäische
zwei strategisch wichtige Städte entmachten. Im Juni dieses Jah­ Kavala: Ich glaube nicht, dass Menschenrechtsgerichtshof
nordöstlich von ­Addis Abeba. res wendete sich das Blatt, seit­ sich der Präsident für die De­ (EGMR) meine Verhaftung für
Seitdem bewegen sie sich an­ her sind die Tigrayer auf dem tails des Falls interessiert oder rechtswidrig erklärte.
scheinend weiter auf die Haupt­ Vormarsch. Mittlerweile werden für die Anschuldigungen gegen SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie
stadt zu. Am Dienstag verhängte beiden Kriegsparteien Verbre­ mich. Aber wofür er sich inte­ jemals freikommen, solange
die Regierung den Ausnahme­ chen gegen die Bevölkerung vor­ ressiert, ist, wie lange ich im Erdoğan an der Macht ist?
zustand und rief die Hauptstäd­ geworfen, die schwereren Vor­ Gefängnis bleibe. Er will die Kavala: Ich denke, dass wir bis
ter dazu auf, sich zu bewaffnen. würfe richten sich jedoch gegen ­Legende aufrechterhalten, wo­ zu den nächsten Wahlen eine
Für Äthiopien zu sterben, so Abiys Truppen. Mehr als fünf nach es sich bei den Gezi-Pro­ angespannte politische Lage
Abiy Ahmed, sei nun die Pflicht Millionen Menschen sind allein testen 2013 um eine auslän­ ­haben werden. Deshalb könnte
in Tigray auf humanitäre Hilfe dische Verschwörung gegen die meine Freilassung bloß ein
angewiesen. Ziel der Tigrayer Regierung gehandelt hat. Wunsch bleiben. Andererseits
scheint es zu sein, Abiy zu stür­ SPIEGEL: Erst kürzlich haben hat das Ministerkomitee des
zen und ein Unabhängigkeits­ zehn westliche Botschafter Europarats erklärt, dass es ein
referendum durchzusetzen. Laut Ihre Freilassung gefordert. War Vertragsverletzungsverfahren
Alex de Waal, Experte für das das hilfreich? gegen die Türkei eröffnet, wenn
Horn von Afrika und Direktor Kavala: Es wäre nur rational ich bis Ende November nicht
der World Peace Foundation der ­gewesen, wenn die Türkei das freikomme. Wenn die Kosten,
Amanuel Sileshi / AFP

Tufts University, könnte der Statement der Botschafter ernst die durch die Nichtbeachtung
äthiopische Staat zerfallen. Abiy genommen hätte – als Vorwar­ des EGMR-Urteils entstehen,
sehe sich auf einer göttlichen nung, dass das Ministerkomitee für die Regierung größer sind
Mission und sei »bereit, Äthio­ des Europarats ein Vertrags­ als die Vorteile durch meine In­
pien mit sich in den Abgrund zu verletzungsverfahren eröffnen haftierung, könnte ich vor den
Äthiopische Regierungssoldaten reißen«. FSC könnte. Leider kam das in der Wahlen freikommen. POP, SEB

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 87


AUSLAND

D
er Weg zum Präsidentenpalast in Algier
führt hinauf über eine kurvige Straße,
an deren Ende schwer bewaffnete Mili­
tärgardisten an einem Schlagbaum stehen.

»Die Politik, das bin ich«


Dahinter erstreckt sich die weitläufige An­
lage des Palasts mit weiß gekalkten Gebäuden
und begrünten Innenhöfen, in denen Spring­
brunnen plätschern.
Seit Dezember 2019 hat hier Abdelmadjid
SPIEGEL-GESPRÄCH  Algeriens Präsident Tebboune tritt als Reformer Tebboune seinen Amtssitz. Der 75-Jährige
folgt als Präsident auf die zwei Jahrzehnte
auf. Aber ist er das wirklich? Hier spricht er über Journalisten im Gefängnis, lang währende Herrschaft von Abdelaziz
seine Macht über die Militärs und den Streit mit Emmanuel Macron. Bouteflika, jenem greisen, kranken Autokra­
ten, der das Land gegen Ende seiner Amtszeit
von einer Villa am Meer aus regierte, unter­
stützt vom allmächtigen Militär. Im Frühjahr
2019 hatten die Algerier genug von dem kor­
rupten, unfähigen Herrscher und zogen zu
Hunderttausenden auf die Straße. Kurz zuvor
hatte Bouteflika angekündigt, zum fünften
Mal kandidieren zu wollen. Die Protestbewe­
gung Hirak, die daraufhin entstand, zwang
ihn noch im selben Jahr zum Rücktritt. Bei
der Präsidentschaftswahl im Dezember er­
hielt Tebboune die meisten Stimmen.
Die Wahlbeteiligung lag allerdings bei nur
40 Prozent, es war ein historisch niedriger
Wert. Viele Anhänger der Protestbewegung
boykottierten die Wahl, sie hatten eine län­
gere Übergangszeit gefordert statt sofortiger
Neuwahlen – mehr Zeit, um sich politisch
organisieren zu können. Doch die Armee
setzte die Wahlen durch, für die nur 5 von
23 Kandidaten zugelassen wurden, die alle
aus dem Umfeld des alten Machtapparats
stammten.
Algerien ist für Europa von entscheidender
politischer und strategischer Bedeutung:
Flüchtlingsrouten verlaufen durch das Land,
von hier setzen Jahr für Jahr Einwanderer
nach Europa über. Zudem schickt die Regie­
rung Erdgas über Pipelines nach Spanien und
in andere europäische Länder. Algerien ist
flächenmäßig der größte Staat auf dem
­afrikanischen Kontinent, mit direkten Gren­
zen in die von Banden und islamistischen
Grup­pierungen beherrschten Unruheregio­
nen im Norden Malis, wo französische und
deutsche Truppen immer wieder angegriffen
wer­den. Zu den anderen Nachbarn Algeriens
zählen Libyen, Tunesien und Marokko,
der Regierung in Algier kommt in der Region
eine Schlüsselrolle als Vermittler und Garant
für Stabilität zu – wenn sie diese Rolle denn
übernimmt.
Tebboune versucht gerade, sein Land
außenpolitisch neu zu positionieren: Er be­
müht sich um die Nähe zu neuen Partnern
wie den USA, Italien und Deutschland, auch
um sich von der ehemaligen Kolonialmacht
Arslane Bestaoui / DER SPIEGEL

Frankreich zu lösen. Im Oktober brach er


die diplomatischen Beziehungen zu Paris ab.
Anrufe aus dem Büro Emmanuel Macrons,
mit dem er sich duzt und früher regelmäßig
telefonierte, nimmt er seither angeblich nicht
mehr entgegen. Es gehöre zu Algeriens neu­
er Souveränität, solche Krisen auszuhalten,
Politiker Tebboune in seiner Residenz: »Wir gelten als eine Art Nordkorea« heißt es aus Tebbounes Umfeld.

88 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


AUSLAND

SPIEGEL: Herr Präsident, Ende September


stellte Emmanuel Macron in einem Gespräch
mit jungen Algeriern die Frage, ob Algerien
vor der Kolonialisierung durch die Franzosen
überhaupt eine Nation gewesen sei. Danach
brachen Sie die diplomatischen Beziehungen
zu Frankreich ab. Rechtfertigt ein einziger
Satz eine solch radikale Reaktion?
Tebboune: Man rührt nicht an die Geschichte
eines Volkes, und man beleidigt die Algerier
nicht. Was da zum Vorschein kam, ist der alte
Hass der Kolonialherren, dabei weiß ich, dass
Macron weit davon entfernt ist, so zu denken.
Warum hat er das gesagt? Ich denke, es ge­
schah aus wahlstrategischen Gründen. Es ist
derselbe Diskurs, den der rechtsextreme Jour­
nalist Éric Zemmour seit Langem führt: Alge­
rien sei keine Nation gewesen, erst Frankreich
habe das Land zu einer Nation gemacht.
Ryad Kramdi / AFP

Macron hat sich mit dieser Äußerung auf die


Seite jener gestellt, die die Kolonialisierung
rechtfertigen.
SPIEGEL: Dabei verstanden Sie sich bisher gut Anti-Regierungs-Protestierende im April: »Wir mussten den Staat vollkommen neu aufbauen«
mit ihm. Sie hatten gemeinsame Projekte –
auch für die Aufarbeitung der Geschichte bei­ eine Ausnahme machen. Aber was alles an­ Tebboune: Ich habe Steuern für alle Gehälter
der Länder. Bedauern Sie die derzeitige Krise? dere betrifft, müssen wir auch nicht mehr mit­ unter 30 000 Dinar, knapp 190 Euro, abge­
Tebboune: Ich bereue nichts. Macron hat voll­ einander kooperieren, vielleicht ist das jetzt schafft, ich habe den Mindestlohn erhöht.
kommen unnötig einen alten Streit neu auf­ einfach vorbei. Macron hat die Würde der Bisher vergessene ländliche Regionen werden
gelegt. Wenn Zemmour so etwas sagt, was Algerier verletzt. Wir waren keine Untermen­ jetzt besonders gefördert. Eine der wichtigs­
macht das schon, dem schenkt niemand Be­ schen, wir waren kein Volk von Nomaden­ ten Aufgaben aber ist es, eine neue Moral in
achtung. Aber wenn ein Staatschef erklärt, stämmen, bevor die Franzosen kamen. Verwaltung und Wirtschaft einzuführen. Seit
Algerien sei keine eigenständige Nation ge­ SPIEGEL: Gegenüber einem anderen europä­ zwei Jahren sagen wir der Korruption den
wesen, ist dies sehr schwerwiegend. Ich wer­ ischen Land, gegenüber Deutschland, schlagen Kampf an.
de nicht derjenige sein, der den ersten Schritt Sie sehr viel versöhnlichere Töne an. Warum
macht. Sonst verliere ich alle Algerier, es geht eigentlich, was verbindet Algerien mit der Tebboune war lange genug Teil des Macht­
hier nicht um mich, sondern um ein nationa­ Bundesrepublik? apparats in Algier, um zu wissen, wie skrupel­
les Problem. Kein Algerier würde akzeptie­ Tebboune: Die Deutschen sind uns immer mit los die Regierung unter Bouteflika vorging.
ren, dass ich mit jenen Kontakt aufnehme, Respekt begegnet, sie haben uns nie überheb­ Der alte Staatschef ließ über Jahre viele Mil­
die uns beleidigt haben. lich behandelt, außenpolitisch gab es nie liarden Dollar außer Landes bringen. Noch
SPIEGEL: Der französische Präsident hat vo­ ­Unstimmigkeiten. Außerdem bewundere ich immer suchen die neuen Machthaber über
riges Jahr bei einem Historiker einen Bericht Angela Merkels Durchhaltevermögen und weltweit beauftragte Beratungsfirmen nach
in Auftrag gegeben, mit Empfehlungen, wie ihre Bescheidenheit. Ich bedaure sehr, dass den gestohlenen Geldern – in den USA, in der
Paris mit seiner Kolonialgeschichte umgehen sie geht. Ich werde nie vergessen, wie sie sich Schweiz und anderen europäischen Ländern.
soll. Was haben Sie von ihm, von Frankreich persönlich um mich gekümmert hat, als ich Auch in Algerien stellte die neue Regierung
erwartet – eine Entschuldigung? in Deutschland in medizinischer Behandlung angeblich große Summen sicher, so ist zumin­
Tebboune: Unser Land braucht keine Ent­ war. Deutschland ist für uns in vielerlei Hin­ dest im Umfeld des Präsidenten zu hören. Für
schuldigungen von Macron für etwas, das sicht ein Vorbild. die Wirtschaft kündigte Tebboune zahlreiche
1830 oder 1840 geschehen ist, aber wir wollen SPIEGEL: Sie würden die Kooperation mit Reformen an. Aber wie viel davon wird er tat­
eine volle und uneingeschränkte Anerken­ Deutschland auch wirtschaftlich gern aus­ sächlich umsetzen können? Ist das Ministerium
nung der Verbrechen, die die Franzosen be­ bauen. Was erwarten Sie nach dem Regie­ für landesweite Start-ups, das er ins Leben rief,
gangen haben. Macron hat dies ja schon ge­ rungswechsel in Berlin? nur ein großer Bluff – oder der Versuch, tat­
tan. Er hat 2017 öffentlich erklärt, die Koloni­ Tebboune: Ehrlich gesagt alles, was möglich sächlich etwas zu bewegen? Und was bedeutet
sierung sei ein Verbrechen gegen die Mensch­ ist. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, es, wenn der Militärchef ebenso oft im Fern­
lichkeit gewesen. Wissen Sie, die Deutschen dass wir gemeinsam ein großes Krankenhaus sehen zu sehen ist wie der Präsident?
haben in Oradour-sur-Glane 1944 ein ganzes in Algier bauen. Ein Haus, das alle Spezial­
Dorf vernichtet. Bis heute wird dieses Mas­ gebiete der Medizin abdeckt, für den gesam­ SPIEGEL: Schon vor Ihrem Amtsantritt ließ
sakers gedacht, und zu Recht wird seiner ten Maghreb. Ein afrikanischer Präsident das Militär hochrangige Mitglieder des alten
­gedacht. Aber in Algerien gab es Dutzende könnte sich dann endlich hier, auf seinem Machtapparats hinter Gitter bringen – da­
Oradour-sur-Glane. Die Franzosen haben die eigenen Kontinent, behandeln lassen anstatt runter Bouteflikas Bruder Saïd, der anschlie­
Bewohner zahlreicher Dörfer in Grotten ge­ in der Schweiz. Wir wären bereit, einen Groß­ ßend verurteilt wurde. Folgten unter Ihnen
bracht, Holz dazugegeben und angezündet. teil dieses Projekts zu finanzieren. Auch bei weitere Verhaftungen?
Die Leute sind elendig erstickt. erneuerbaren Energien gibt es viel Potenzial. Tebboune: Natürlich. Derzeit gehe ich vor
SPIEGEL: Es gibt also keine Aussicht auf ein Mit deutscher Hilfe könnten wir Europa mit ­allem gegen die Korruption in den unteren
baldiges Ende der Krise mit Frankreich? Sonnenenergie beliefern. Etagen vor. Was auf Regierungsebene gesche­
Tebboune: Nein, wenn die Franzosen jetzt SPIEGEL: Sie haben vor knapp zwei Jahren hen ist, war eine unverzeihliche Verschwen­
nach Mali oder Niger wollen, müssen sie eben versprochen, die alten Verhältnisse zu been­ dung der Reichtümer dieses Landes. Bei der
neun statt vier Stunden fliegen. Allerdings den und eine neue Zeit beginnen zu lassen. alltäglichen Korruption sind es die Bürger, die
werden wir bei der Bergung von Verletzten Wie viel davon ist inzwischen wahr geworden? bezahlen. Das ist nun vorbei. Niemand soll

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AUSLAND

je wieder in einem Rathaus einen »Presse­ Tebboune: Man kann uns nun um Hil- im Westen des Landes legen Schnell-
Schein hinlegen müssen, um einen fe bitten. Die Uno kann sich an uns boote ab, mafiöse Netzwerke sollen
neuen Pass zu bekommen. freiheit heißt wenden oder auch die Afrikanische sie betreiben. Die Regierung meidet
SPIEGEL: Kann man ein System und nicht, Fake Union. Wenn die Malier morgen vor das Thema der illegalen Migration,
Gewohnheiten, die sich seit Jahrzehn-
ten verfestigt haben, einfach so ändern?
News zu einem Angriff stehen, dann würden
wir auf ihre Bitte hin intervenieren.
wo sie kann. Es gibt keine offiziellen
Zahlen über die Flüchtlinge; algeri-
Tebboune: Es beginnt mit den grund- produzieren Aber unsere Soldaten sind Algerier, sche Journalisten, die Zahlen aus spa-
legenden Dingen. Wir mussten den oder sein die Familien haben; ich werde sie nischen Statistiken veröffentlichen,
Staat vollkommen neu aufbauen, es nicht für die Interessen anderer in den sagen, sie begäben sich schon damit
gab hier zuvor etwas, das ich einen Land zu ver­ Tod schicken. Es sind in der Vergan- in Gefahr. Einige von ihnen, so erzählt
informellen Staat nennen würde. Ich unglimpfen.« genheit genügend Algerier gestorben. es ein Journalist, der anonym bleiben
habe viele Leute aus der Privatwirt- Die große Frage in Mali ist, wie man möchte, würden schon wegen Face-
schaft in die Regierung geholt, der das Land wieder vereinen kann. Al- book-Einträgen verhaftet. Es herrsche
Regierungssprecher war zuvor Fern- gerien wird auf jeden Fall niemals erneut ein Klima der Angst.
sehmoderator. Der Mann, der heute eine Teilung Malis akzeptieren.
das Ministerium für Start-ups leitet, SPIEGEL: Frankreich ist nicht das ein- SPIEGEL: Spricht es nicht gegen Ihre
war Teil der Protestbewegung 2019. zige Land, mit dem Sie Probleme ha- Politik, dass so viele Algerier versu-
Wir stellen den Rechnungshof gerade ben. Ihrem Nachbarstaat Marokko chen, ihr Land zu verlassen?
wieder neu auf. Wir gehen gegen haben Sie ein Überflugverbot des al- Tebboune: Es ist nicht die wirtschaft-
Schwarzgeld vor. Und wir haben über gerischen Luftraums erteilt. Warum? liche Lage, die die Jungen nach Euro-
eine neue Verfassung abgestimmt, die Tebboune: Die Marokkaner wollen pa treibt. Es ist der Traum von einem
den Bürgern mehr Rechte gibt. Algerien spalten. Ihr Vertreter bei der Leben in Europa. In Algerien muss
SPIEGEL: Und dennoch fürchten Ihre Uno äußerte sich wohlwollend zu den niemand unter Hunger leiden. Unter
Bürger mehr denn je Repressionen, Unabhängigkeitsbestrebungen in jenen, die fliehen, sind viele Medi­
trauen sich nicht, ihre Meinung zu einem Teil unseres Landes, der Kaby- ziner und Anwälte, die relativ gut ver-
äußern. Journalisten werden in Ihrem lei. Niemand, auch der König nicht, dienen. Aber vergessen wir bitte
Land festgenommen. Sind Sie nicht korrigierte seine Äußerungen. Am nicht: Es gibt auch sehr viele Algerier,
nur die zivile Fassade eines nach wie Ende brachen wir die Beziehungen ab. die sich Visa besorgen, nach Paris und
vor existierenden Militärregimes? SPIEGEL: Aber Sie unterstützen doch Marseille fliegen und nach zwei Wo-
Tebboune: Das algerische Volk weiß, auch die Unabhängigkeitsbewegung chen wieder heimkehren.
dass das nicht stimmt. Ich war es, der in der Westsahara, den Polisario. Ma- SPIEGEL: Aber viele glauben nicht
den Armeechef nominiert hat. Ich rokko reklamiert dieses Gebiet für mehr an eine ernsthafte Demokrati-
übe neben dem Präsidentenamt die sich. Warum tun Sie das? sierung. Sie haben Journalisten fest-
Funktion des Verteidigungsministers Tebboune: Wir sind dafür, dass das nehmen lassen – ist das jenes neue
aus. Die Geheimdienste wurden unter sahraouische Volk selbst über sein Algerien, das Sie einst versprachen?
meine Kontrolle gestellt, sie unter- Schicksal bestimmen soll. Nur Ma- Tebboune: In Frankreich sitzen Jour-
stehen nicht mehr dem Militär. Das rokko hält sich nicht daran. Wissen nalisten im Gefängnis, in den USA
ist die neue, durch die Verfassung ab- Sie, es gibt etwas, das mich in der öf- ebenso, warum sollte es keine in
gesicherte Realität in Algerien – kei- fentlichen Wahrnehmung beider Län- ­Algerien geben? Wir haben hier
ne Abhängigkeiten mehr, sondern der stört. In Marokko ist der König 180 Tageszeitungen, es arbeiten
souveränes Handeln. reich, die Analphabetenrate liegt aber 8500 Journalisten im Land, aber
SPIEGEL: Wie sieht derzeit das Kräfte- noch immer bei 45 Prozent, bei uns wenn zwei oder drei davon zu Recht
verhältnis zwischen Armee und Prä- sind es nur 9 Prozent. Europa stellt verurteilt wurden, sagt man, ah, die
sident aus? sich Marokko fälschlicherweise wie stecken da Journalisten ins Gefängnis.
Tebboune: Das kann ich Ihnen sagen. eine schöne Postkarte vor, wir aber Zur Pressefreiheit zählt nicht die Frei-
Der Armeechef, den ich anleite, hat gelten als eine Art Nordkorea. Dabei heit, Fake News zu produzieren oder
von mir die Anweisung erhalten, das sind wir ein sehr offenes Land. sein Land zu verunglimpfen. Wenn
Militär zu modernisieren. Im Übrigen diese roten Linien überschritten wer-
hat er genug zu tun mit der heiklen Und trotzdem verlassen viele junge den, dann ist die Justiz gefragt.
Tebboune beim
Situation an unseren Grenzen. Die SPIEGEL-­Gespräch*:
Algerier, selbst ganze Familien dieses SPIEGEL: Allen, die es bezweifeln, sa-
Politik, das bin ich. Niemand wird sie »Ich bedaure, dass Land und setzen über das Mittel­ gen Sie also, es sei Ihnen ernst mit
an meiner Stelle ausüben. Ich war es, Angela Merkel geht« meer nach Europa über. Von Oran dem Wandel?
der die Sperrung des algerischen Luft- Tebboune: Der Hirak, der Aufstand,
raums für französische Militärflug- ist zu Ende, der Hirak das bin jetzt
zeuge angeordnet hat. Ich war es ich. Dieser Aufstand war eine natio-
auch, der die gleiche Maßnahme für nale Bewegung, keine Ansammlung
marokkanische Flugzeuge befahl. kleiner Splittergruppen. Ich habe den
Aber man bekommt dieses Bild nicht 22. Februar, den Beginn der Proteste
aus der Welt, dass Algerien in Wahr- 2019, zum Feiertag erklärt, weil diese
heit ein Militärstaat ist. Bewegung den Verfall unseres Staates
SPIEGEL: Sie haben einen Passus in gestoppt hat. Vielleicht erinnern Sie
Arslane Bestaoui / DER SPIEGEL

die neue Verfassung aufgenommen, sich an die Bilder, zu sehen war ein
dass Algerien Truppen ins Ausland widerstandsfähiges Volk mit ausge-
entsenden kann. Werden Sie eigene prägtem Freiheitssinn – ähnlich wie
Soldaten nach Mali schicken? früher in Kuba, in Vietnam und ande­
ren revolutionären Staaten.
* Mit den Redakteurinnen Britta Sandberg SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken
und Monika Bolliger in Algier. Ihnen für dieses Gespräch.  n

90 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


AUSLAND

Flüchtlinge in Minsk ze nach Polen geschafft. Sieben Tage seien


sie unterwegs gewesen, irgendwann gingen
ihnen das Wasser und das Essen aus. Ihren
Fahrer nach Deutschland aber, der von den
Schleppern organisiert worden war, hätten
sie nicht gefunden. Die polnische Polizei habe
die Erschöpften zur Grenze zurückgebracht,
wo der belarussische Grenzschutz sie
schnappte. 100 Dollar hätten sie den Beamten
zahlen müssen, damit diese sie nicht wieder
Richtung Polen drängten.
»Die behandeln uns wie Fußbälle«, sagt
ein Mann um die fünfzig aus der nordsyri-
schen Stadt Hasaka vor dem Einkaufszentrum
in Minsk. Er sei 21 Tage im Niemandsland
festgehalten worden. Wie so viele andere Mi-

Christina Hebel / DER SPIEGEL


grantinnen und Migranten hat der Syrer kein
gültiges Visum mehr für Belarus, sie werden
nur noch für wenige Tage ausgestellt. Bis zu
3500 Dollar zahlen die Menschen für Flug,
Papiere und Unterkunft pro Person. Lange
können die Geflüchteten nicht in den Hotels
in Minsk bleiben. Wenn sie es in den ersten
Tagen nach der Ankunft nicht in die EU schaf-
fen, müssen sie sehen, wo sie bleiben. Die

»Dann geh in den Wald«


ersten schlafen in den Parks von Minsk. »Ent-
weder du zahlst den verlangten Preis für eine
Unterkunft, oder du musst dir anhören: Dann
geh zurück in den Wald«, erzählt Ali.
Aljona Tschechowitsch von der Menschen-
BELARUS  Diktator Lukaschenko lockt Migranten aus dem Nahen Osten rechtsorganisation Human Constanta warnt
bereits vor einer »humanitären Katastrophe«
ins Land – mit dem Versprechen, sie könnten nach Deutschland in Minsk und im Grenzgebiet. Der Herbst sei
reisen. Doch Tausende Schutzsuchende sind nun in Minsk gestrandet. dieses Jahr relativ mild gewesen, doch schon
bald werde es frieren. In Facebook-Gruppen
kursieren Videos von Toten im Niemands-

V
or dem Einkaufszentrum Galleria im Minsk. Dreimal musste er zurück nach Minsk land, die sich schwer verifizieren lassen. Zehn
Zentrum von Minsk stapeln sich Ruck- fahren. Der Wald hat ihm bisher kein Glück Menschen sollen an der Grenze gestorben
säcke und Schlafsäcke. Dutzende Män- gebracht. sein, Aktivisten halten die wirkliche Zahl für
ner und Frauen in dicken Jacken hocken auf Ali will nach Deutschland – wie die meisten höher.
dem Boden, einige dösen, andere telefonie- Flüchtlinge in Belarus, denen von Schleppern Das Rote Kreuz in Belarus gilt als regime-
ren. Der Satz »Träumen Sie von Größerem« der Weg in die EU versprochen wird. Schät- nah und scheint mit der Situation überfordert
leuchtet über ihnen, eine Bank macht Wer- zungen zufolge halten sich derzeit zwischen zu sein. Internationale Organisationen der
bung für eine neue Kreditkarte. 15 000 und 20 000 Schutzsuchende im Land Uno und Ärzte ohne Grenzen haben in Minsk
Es sind vor allem Geflüchtete aus dem Irak, auf. Jeden Tag kommen unzählige weitere am nur kleine Büros. Sie sind auf die Koopera-
die sich im Zentrum der belarussischen Minsker Flughafen an. Mehr als 50 Verbin- tion der Behörden angewiesen. Für die
Hauptstadt versammeln. »Klein Bagdad« dungen aus Bagdad, Istanbul, Dubai und Da- Hauptstadt hat Lukaschenkos Sicherheits-
nennen manche Belarussen den Ort. Auch Ali maskus zählt der Winterflugplan jede Woche. apparat offenbar den Befehl ausgegeben, die
kommt oft hierher. Der 23-Jährige eilt mit Es sind vor allem Iraker, aber auch Syrer Migranten weitgehend gewähren zu lassen.
zwei Freunden durch die Drehtür des Ein- und Afghanen, die nach Belarus fliegen. Dik- Wenn es dämmert, ziehen die Geflüchteten
kaufszentrums, hoch in den fünften Stock in tator Alexander Lukaschenko, der von Kreml- weg vom Einkaufszentrum zu einem Park-
das türkische Restaurant Ramiz. Zwei Frauen, chef Wladimir Putin pro­tegiert wird, lässt seit platz in der Nähe. Mit ihren Schlafsäcken und
die dunklen Haare mit einem Kopftuch be- Monaten Schutzsuchende mit Touristenvisum Gummistiefeln wirken die Flüchtlinge wie
deckt, sitzen auf gepolsterten Bänken, neben in sein Land. Belarus-Route heißt der Weg Camper, würden nicht gestikulierende Män-
ihnen schlafen Kinder. Auf dem Boden liegen gen Westen, den das Regime gezielt ausgebaut ner sie zu einem der wartenden Kleinbusse
Rucksäcke, an denen Erde klebt. hat. Es ist Lukaschenkos Versuch, die EU zu geleiten.
»Sie sind wohl gerade aus dem Wald zu- spalten und Rache zu üben für die harten Ali sitzt wenige Tage später ebenfalls wie-
rück?«, sagt Ali, er setzt sich mit seinen Freun- Sanktionen der Union. Litauen und Polen der in einem Wagen in Richtung Polen. Ver-
den an einen freien Tisch und bestellt Linsen- haben ihre Grenzen weitgehend abgeriegelt such vier des Grenzübertritts endet irgend­
suppe. Ali ist ein schmaler, blasser Mann mit und schicken Geflüchtete wie Ali zurück. »Als wo nördlich an der litauischen Grenze, wie
Bart, bis vor Kurzem habe er Hemden und wir um Asyl gebeten haben, lachten die pol- die Männer berichten. Sie schaffen es hinüber
Hosen im Nordirak verkauft, erzählt er. Ge- nischen Grenzsoldaten uns nur aus«, sagt er. nach Litauen, werden dort von Grenzern aber
rade einmal sechs Dollar am Tag habe er ver- Er weiß, dass das ein Bruch gegen die Regeln zurückgedrängt.
dient, »das war kein Leben.« Seit Anfang der Europäischen Union ist, in der Schutz- Völlig entkräftet landen die Männer
Oktober ist der Kurde in Belarus. Dreimal suchende eine Chance auf ein Asylgesuch be- schließlich wieder in Minsk. Ali sagt, er gehe
schon sei er »im Wald« gewesen, wie er das kommen müssen. nicht zurück in den Irak. »Und wenn wir es
Gebiet an der EU-Außengrenze zu Polen Bei ihrem dritten Versuch, erzählt Ali, hät- 17-mal probieren müssen, ich gebe nicht auf.«
nennt, etwa 250 Kilometer südwestlich von ten sie es einige Kilometer weit über die Gren- Christina Hebel  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 91


AUSLAND

eingesperrt sind, in einem der am dichtesten


besiedelten Territorien der Welt. Zweitens,
weil ihre Regierung, anders als etwa die in
Singapur, keine Anstalten macht, die Grenzen
zum Ausland allmählich zu öffnen, und sei es
nur für eine »Reiseblase« mit einer anderen
Stadt. Nicht einmal mehr ins benachbarte
Macau kann man aus Hongkong hinüberfah-
ren, ohne danach in Quarantäne zu müssen.
Die beiden chinesischen Sonderverwaltungs-
zonen werden darauf warten müssen, bis
­Peking seine strikte Null-Covid-Politik än-
dert. Das wird dauern.
Und drittens, weil sich Hongkong für
viele nicht nur wegen der Pandemie wie ein
Gefängnis anfühlt: 2020 verhängte Chinas
Führung ein drakonisches Staatssicherheits-
gesetz über die Stadt. Wer prominent an der
Protestbewegung beteiligt war, sitzt mittler-
weile im Gefängnis, hat ein Verfahren am Hals

Marc Fernandes / NurPhoto / IMAGO


oder ist mit Glück ins Exil entkommen. Fast
90 000 Menschen haben die Stadt seit vori-
gem Sommer verlassen, mehr als viermal so
viele wie in den zwölf Monaten davor.
Für die Zurückgebliebenen und für den
Not leidenden Tourismussektor hat sich die
Stadt ein Trostpflaster ausgedacht: Seit Ende
Juli legt die »Genting Dream« dreimal die
Luxusliner »Genting Dream«: Jede Kabine hat ihren eigenen Luftkreislauf Woche zu einer »Kreuzfahrt nach nirgendwo«
ab, nur ein paar Hundert Seemeilen aufs Süd-
chinesische Meer hinaus und wieder zurück,
zwei oder drei Tage lang, ohne Landgang.

Kreuzfahrt nach
Ähnliche Touren gibt es auch in Singapur und
in Taiwan.
»Ich mache das für meine Kinder, zum

nirgendwo
zweiten Mal bereits«, sagt eine Mutter, etwas
atemlos, weil ihr Sohn dauernd aus der Warte­
schlange tanzt. »Kinder brauchen Abwechs-
lung. Das Anstellen hier, das Boarding, die
Passkontrolle, das fühlt sich an wie Ferien.«
HONGKONG  Wegen der strengen Corona-Einreiseregeln haben die meisten Er freue sich aufs Spielcasino, sagt der äl-
tere Herr mit der Baseballmütze. Anders als
Menschen die Stadt seit fast zwei Jahren nicht verlassen. Für sie gibt es in Macau ist Glücksspiel in Hongkong verbo-
jetzt Schiffsreisen ohne Ziel, mit Dauertracking und »Oktoberfest at Sea«. ten. Doch sobald die »Genting Dream« inter-
nationale Gewässer erreicht, nehmen auf
Deck 7 die Croupiers an ihren Tischen Platz,

W
er sich für eine Kreuzfahrt auf der wo die »Genting Dream« zum Auslaufen be- beginnen die einarmigen Banditen zu blinken.
»Genting Dream« einschifft, be- reitliegt. »Für meine Frau und mich ist es einfach die
kommt zwei Dinge in die Hand ge- Jahrzehntelang ragte hier die Landebahn erste Urlaubsreise nach fast zwei Jahren«,
drückt: eine Schlüsselkarte mit der Kabinen- des legendären Kai-Tak-Flughafens in den sagt Ahmad, 52. »Das Leben ist sehr anstren-
nummer und einen schwarzen Knopf mit Hafen hinaus. 1998 wurde er wegen Platznot gend in dieser Stadt. In den vergangenen zwei
einem weißen Barcode. (und wegen des berüchtigt heiklen Anflugs) Jahren war es besonders anstrengend.«
»Sieht aus wie ein Spieljeton«, sagt ein geschlossen und in den Westen der Stadt ver- Manche seiner Bekannten, sagt der Logis-
älterer Passagier mit Baseballmütze und legt; seit 2013 steht ein modernes Kreuzfahrt- tikmanager, gingen übers Wochenende aus
lacht. terminal an seiner Stelle. Wo zuvor Maschi- Verzweiflung manchmal in ein Hotel, um
»Nein, das ist Tracey«, antwortet die jun- nen nach London, Tokio und New York ab- ihrem Alltag zu entfliehen. »Aber da weiß
ge Frau am Boarding-Gate. »Verlieren Sie das gehoben hatten, stachen Luxusliner Richtung man nicht, wer vor einem im selben Bett ge-
nicht. Müssen Sie immer bei sich haben.« Shanghai, Singapur und Sydney in See – bis legen hat. Könnte auch jemand ohne Test und
»Warum?« Anfang 2020, als die Pandemie den Touris- Impfung gewesen sein.«
»Falls sich jemand mit dem Virus ansteckt. mus in Asien zum Erliegen brachte. Staat um Das ist auf der Kreuzfahrt ausgeschlossen,
Damit wir wissen, wo Sie gewesen sind, in Staat machte die Grenzen dicht, unter zwei denn die »Genting Dream« darf pande­
welchem Restaurant, in welcher Bar. Tracey Wochen Hotelquarantäne kommt seither nie- miebedingt nur mit der Hälfte der insgesamt
ist ein Tracking-Gerät.« mand mehr in die meisten Länder der Region möglichen 3352 Passagiere fahren, und an
Ein lauer Oktoberabend in Hongkong, hin- hinein, auch deren eigene Bürger nicht. Bord kommen nur vollständig Geimpfte und
ter dem Victoria Harbour geht die Sonne Die Hongkonger trifft das besonders hart. Getestete. Wer aus medizinischen Gründen
unter und in den ersten Wolkenkratzern die Erstens, weil sie, anders als die Menschen in nicht geimpft werden kann, bekommt eine
Beleuchtung an – ein stimmungsvolles Pa­ China, Taiwan, Australien oder Neuseeland, andere Schlüsselkarte und darf manche Räu-
norama, von der Kowloon Bay aus betrachtet, nicht in einem Land, sondern in einer Stadt me nicht betreten.

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AUSLAND

In jeder Kabine liegt ein Stapel


Broschüren aus, eine davon erklärt
Etwas abseits sitzen Selina und
Gunnar in einem Windfang, sie aus
»Ich könnte vorn öffnet sich eine kreisrunde Ba­
lustrade zum Deck 6 hinunter. Am
im Detail, wie das Schiff belüf­ ­ Hongkong, er aus Schweden. Sie sind stundenlang Vortag war dort eine Showbühne auf­
tet  wird: Nur frische Seeluft wird verheiratet, und ihre Kreuzfahrt ist an der Reling gebaut, ein junges Paar sang vor halb
durch die Ventilation gepumpt, exakt eine Art Abschiedsreise. Nach mehr leeren Rängen. Heute steht ein Bingo­
25 Kubikmeter pro Passagier und als zwei Jahren kann Gunnar einen
stehen und abend auf dem Programm. Wieder
Stunde. Jede Kabine hat ihren eige­ Geschäftstrip nach Stockholm nicht aufs Meer bleiben viele Stühle leer. Das muss
nen Luftkreislauf, damit sich keine länger aufschieben, gern würde er sei­ schauen.« wohl so sein, aus Seuchenschutzgrün­
Aerosole verteilen können. Die Zu­ ne Frau mitnehmen. »Keine Chance«, den; an der Bar klebt vor jedem zwei­
luft kommt von der einen Seite des sagt sie. »Schweden im Spätherbst und ten Hocker ein Warnschild: Diesen
Schiffes, die Abluft entweicht auf der nach der Rückkehr dann zwei Wochen Platz bitte freihalten.
anderen. hier in einem kleinen Hotelzimmer, Unten stehen zwei unverdrossene
Aber das ist nur der eine Teil der das halte ich nicht aus.« An einer ge­ Conférenciers vor der Bingotafel,
virenfreien Kreuzfahrt, den anderen meinsamen Quarantäne, lacht sie, sei oben sitzen die Passagiere mit ihren
erbringen die Passagiere. Es besteht schon so manche Ehe zerbrochen. Caipirinhas, alle exakt im Pandemie­
Maskenpflicht, und außer in den zwei Sie sind sich nicht ganz einig, was abstand zueinander und mit einem
großen Messen ist für alle Restaurants sie von ihrer ersten »Cruise to now­ Auge auf dem Smartphonebildschirm
eine Reservierung nötig, vom Tep­ here« halten sollen. Gunnar neigt – es liegt eine gewisse Tristesse über
panyaki-Tempel bis zur Whisky- grundsätzlich nicht zum Überschwang, der Szene. Wer gedacht hat, auf einer
Lounge. Selina sagt: »Ich brauche keinen Land­ Kreuzfahrt nach nirgendwo sei dem
Reserviert werden muss auch gang, mir reicht der Blick auf die of­ Eingesperrtsein an Land zu entkom­
für die Karaokebar, den Pool auf fene See.« So geht es wohl vielen Men­ men, findet sich zwar auf hoher See
Deck 16, die Zipline und das Fitness­ schen ihrer Stadt. Auf durchschnittlich und im Luxus wieder, aber viel freier
studio, wo strenge Abstandsregeln 42 Quadratmeter Wohnfläche leben als das Leben in Hongkong fühlt sich
gelten. Außerdem wird dort alle an­ EU-Bürger, weniger als 14 sind es in das auch nicht an.
derthalb Stunden 30 Minuten lang Hongkong. Da sind die meisten Ka­ Die Eltern schauen tagsüber ihren
desinfiziert. Jede Terminbuchung ist binen auf der »Genting Dream« grö­ Kindern am Pool zu, ältere Frauen
eine kleine Matheaufgabe. ßer. »Ich könnte stundenlang an der und Männer sitzen im Casino und an
»Wir wissen gerade nicht, was wir Reling stehen und einfach nur aufs den Spielautomaten. Paare dösen in
heute machen«, sagt eine deutsche Meer hinausschauen.« der Sonne oder stellen sich für die
Passagierin am ersten Abend auf ho­ Scarlett auf Deck 7 ist anderes ge­ Zipline an, im Restaurant hocken
her See. Sie lebt schon eine Weile in wohnt, Kreuzfahrten sind ihr Beruf. meistens dieselben Leute beisammen.
Hongkong. »Hier ist ja praktisch am »Miami, Nassau, Sint Maarten«, zählt Außer beim Oktoberfest ist niemand
Morgen schon alles ausgebucht.« Sie sie auf, »Mexiko, Kuba, Jamaika und ausgelassen, nach Mitternacht wird
steht etwas unentschlossen auf dem Barbados.« Sie habe die ganze Kari­ es still auf den Gängen. Eigentlich
Gang vor ihrer Kabine; aus den Laut­ bik bereist und Duty-free-Artikel ver­ bleiben alle für sich.
sprechern dringt plötzlich exotische, kauft. Wie Sunny auf dem Oberdeck Am Morgen nach dem Bingoabend
doch irgendwie vertraute Musik: »Ro- stammt sie aus China, allerdings ist läuft die »Genting Dream« wieder im
sa-­munde / schenk mir dein Herz / und in ihrem Laden weniger los als beim Victoria Harbour ein. Die Decks wer­
sag ja.« Das muss der Auftakt zum Oktoberfest. »Hier sind manchmal den einzeln und im Halbstundentakt
»Oktoberfest at Sea« sein, auch dafür mehr Verkäuferinnen als Kunden geräumt, damit es an den Fahrstühlen
lag eine Broschüre in der Kabine. unterwegs«, sagt sie. »Ich bin froh, nicht zum Gedränge kommt. Jeder
Für das Oktoberfest ist keine Re­ dass ich wieder im Business bin, doch hat Zeit, sich an den Flüssigkeits­
servierung nötig, denn das findet auf auf dieser Kreuzfahrt geht es anschei­ spendern noch einmal gründlich die
dem Oberdeck unter freiem Himmel nend mehr ums Entertainment als Hände zu desinfizieren. Unten auf
Animateure,
statt. Sunny, die Frau an der Bar, ums Shoppen.« Kandidatinnen für
Deck 6 werden die »Traceys« einge­
stammt aus Nordchina, trägt ein Aber auch das Entertainment lässt Tanzwettbewerb: sammelt, an der Gangway stehen
Dirndl, zwei lange Zöpfe, eine Atem­ zu wünschen übrig. Ein Stück weiter Die Masken sitzen zwei junge Frauen im Dirndl und win­
schutzmaske und Klinikhandschuhe, ken. Die Kinder bekommen einen
mit denen sie Bier, Brezen und Obatz­ Luftballon.
ter verteilt. Knapp die Hälfte der Be­ Zwei Tage später meldet die
satzung, sagt ihr Kollege, stamme »South China Morning Post«: »Schiff
vom chinesischen Festland. wird angewiesen, den Dienst einzu­
Das habe mit dem Lohnniveau im stellen – Angst vor Covid-19.« Auf
Kreuzfahrtgeschäft zu tun, ruft er der »Spectrum of the Seas«, einem
noch – doch er ist kaum mehr zu ver­ anderen Luxusliner, der auch gerade
stehen, denn die Musik, inzwischen nach nirgendwo auslaufen sollte, wur­
ein deutscher Mallorcahit, dröhnt de ein Besatzungsmitglied positiv ge­
­immer lauter vom Amphitheater testet: ein Mann, doppelt geimpft und
der »Genting Dream« in den Nacht­ mit einer »sehr niedrigen Virenlast«,
himmel über der Südchinesischen wie die Behörden melden. Aber es
See hinaus. Zwei Animateure, beide hilft nichts, die Kreuzfahrt wird ab­
Bernhard Zand / DER SPIEGEL

mit Seppelhut und Mund-Nasen- gesagt, alle Passagiere müssen von


Schutz, locken erst Männer, dann Bord und werden nach Hause ge­
Frauen und schließlich Paare zum schickt. Null Covid heißt null Covid,
Preistanz auf die Bühne. Es wird ge­ Ausnahmen gibt es nicht. In drei Wo­
schwitzt und geht ekstatisch zu, aber chen darf das Schiff wieder ablegen.
die Masken sitzen. Bernhard Zand  n

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AUSLAND

als korrupt und gleichgültig empfinden. Ver-


schärft wird die Lage durch Fake News
zur Impfung, die auch Priester der ortho­
doxen Kirche und etablierte Fernsehsender

In der roten Zone


verbreiten.
Als Genoveva Cadar ihren Klinikalltag
schildert, fährt neben ihr ein Löschfahrzeug
vorbei. In den vergangenen Monaten sind in
Rumänien bei Bränden auf Intensivstationen
RUMÄNIEN  Das Land kämpft gerade mit der schlimmsten Coronawelle mehr als 20 Menschen gestorben.
»Auch wir haben Angst vor Feuer«, sagt
seit Beginn der Pandemie – auch weil Impfgegner und die orthodoxe Cadar. Durch die großen Mengen an gelager-
Kirche die Krise verharmlosen. Unterwegs in einem Katastrophengebiet. tem Sauerstoff steigt das Brandrisiko, wenn
es in Stromleitungen der Kliniken zu einem
Kurzschluss kommt. Rumänien gibt weniger

H
err Florescu muss erst vor Kurzem Ge- ihnen in der Intensivmedizin. Am Eingang als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts
burtstag gefeiert haben. In einer Ecke des Marius-Nasta-Krankenhauses wirbt für sein Gesundheitswesen aus, damit ist es
seines Zimmers hat er Luftballons ver- ein Schild: »Wir atmen gemeinsam«. Cadar ein Schlusslicht in der EU. Viele Kliniken sind
staut, auf denen »Happy Birthday« steht. Sein arbeitet hier seit 30 Jahren. Die Krise jetzt renovierungsbedürftig. Auch das medizini-
Apartment liegt im Zentrum von Bukarest, sei aber mit nichts vergleichbar, sagt die sche Personal ist knapp, Ärztinnen, Pfleger,
es ist übersichtlich, in einem Regal hat er eine Frau, die ihren Kittel über einem bunten Kleid Klinikmitarbeiter.
Marienikone und Fotos seiner Enkelin arran- trägt. Cadar sagt, sie brauchte dreimal mehr
giert. Florescu liegt auf dem Sofa, als die Ret- Genoveva Cadars Klinik hat in einem über- ­Personal für ihre Station. Seit dem Beitritt
tungssanitäter eintreffen. Sie tragen Schutz- dimensionierten, roten Lkw neue Intensiv- zur EU sind Tausende rumänische Ärztinnen
anzüge und Visiere. Vor elf Tagen ist Florescu betten geschaffen, weil die Plätze nicht reich- und Ärzte in Länder ausgewandert, wo sie
positiv auf Covid-19 getestet worden. ten. Acht Menschen hängen dort an Beat- mehr verdienen. 5000 praktizieren allein in
Nun ist er nicht mehr ansprechbar, sein mungsschläuchen. Auf dem Kissen einer Deutschland. Um die größten Lücken zu
Gesicht fahl. Die beiden Sanitäter heben ihn ­Patientin liegt ein Foto ihrer Familie, dem schließen, helfen Medizinstudierende nun
auf den Boden. Während einer mit der Herz- Mann daneben hält eine Pflegerin die Hand. in Krankenhäusern und Impfzentren.
druckmassage beginnt, pumpt der andere Ohne Pause und ohne Rhythmus piepen die In dieser Krise ist Rumäniens Regierung
Sauerstoff aus einem Beutel in die Lunge des Maschinen. nur geschäftsführend im Amt, nachdem
Mannes. Florescu ist 86 Jahre alt, zu seinem »Die meisten kommen viel zu spät ins ­Anfang September die Koalition aus Bürger-
Schutz soll hier nur sein Nachname stehen. Krankenhaus«, berichtet Genoveva Cadar. lichen und Liberalen zerbrochen war. Vlad
Er ist Diabetiker, ein Risikopatient. Geimpft Sie hätten kein Vertrauen in die Ärzte. »Sie Voiculescu von der liberalen Partei USR-Plus
ist er nicht. vertrauen niemandem, nicht mal einander.« war zweimal Gesundheitsminister, zuletzt
Der Rentner gehört damit zu den rund Längst ist die Impfquote auch zum Grad- von Dezember 2020 bis April dieses Jahres.
65 Prozent der Rumänen, die sich bislang messer der Skepsis gegenüber dem Staat Er sitzt in einem schmucklosen Arbeitszim-
nicht haben impfen lassen – weshalb die Kran- ­geworden. Neben Rumänien hat sich die mer, als er sich per Zoom meldet, und macht
kenhäuser Rumäniens seit Wochen überfüllt ­Situation auch in anderen osteuropäischen einen erschöpften Eindruck. Rumänien er-
sind. Um Platz für die vielen Covid-19-Pa- Staaten wie Bulgarien, Lettland und Litauen lebe gerade »eine humanitäre Katastrophe«,
tienten zu finden, müssten sie manchmal drei verschlechtert. In vielen osteuropäischen Län- sagt er.
Krankenhäuser anfahren, bevor ein Bett frei dern ist weniger als die Hälfte der Menschen Voiculescu galt einst als Hoffnungsträger
sei, berichten die Sanitäter – oder sie müssten geimpft, die Zahl der Todesfälle steigt drama- junger und progressiver Rumänen. Es war ein
Patienten über Stunden im Rettungswagen tisch an. Feuer, das ihn vor sechs Jahren erstmals ins
versorgen. Die meisten Kranken sind nicht Rumäniens jüngste Notlage ist ein Symp- Amt brachte: Als es Ende Oktober 2015 in
geimpft. tom für die Krisen, mit denen das Land dem Bukarester Club Colectiv brannte, star-
Anfang des Jahres sah alles noch gut aus: seit Jahren kämpft. Mit der Pandemie traf ben 65 Menschen. Recherchen enthüllten
Als die ersten Impfungen auf den Markt ka- ein marodes Gesundheitssystem auf das später, dass einige Verletzte Infektionen er-
men, zählte Rumänien zur Spitze. Wochen- ­Misstrauen gegenüber einem Staat, den viele lagen, die sie sich erst im Krankenhaus zu-
lang impfte das Land schneller als viele an- zogen, weil Desinfektionsmittel bis zur Un-
dere EU-Staaten. Während Deutschland über wirksamkeit verdünnt worden waren. Die
die Priorisierungen für verschiedene Alters- Trauriger Spitzenreiter Katastrophe wurde zum Symbol eines kaput-
gruppen stritt, verteilte Rumänien ohne Dis- ten Gesundheitssektors.
Bestätigte Coronatote je 1 Million Einwohner
kussion Impfungen für Obdachlose. im Sieben-Tage-Durchschnitt Voiculescu macht den rumänischen Prä­
Seit dem Herbst aber erlebt das Land im sidenten Klaus Iohannis und den Noch­
Südosten der EU seine schlimmste Corona- Rumänien Deutschland ministerpräsidenten Florin Cîțu für die der-
welle seit Beginn der Pandemie. Polen, zeitige ­Coronakatastrophe verantwortlich.
Ungarn und weitere Staaten haben Patienten 20 »Die beiden wollten die Champions der Lo-
aufgenommen. Anfang November stirbt in ckerungen sein«, sagt Voiculescu. Im Mai
Rumänien etwa alle drei Minuten ein Mensch ­lockerte Rumänien die Coronamaßnahmen,
an Covid-19. Kein anderes Land der Welt hat 10
etwa zur selben Zeit sank auch die Zahl der
derzeit eine höhere Todesrate pro Einwohner. Impfungen. Im Sommer verkündete die Re-
Wie konnte es so weit kommen? gierung, die Pandemie sei besiegt. »Wenn
Eine, die dazu viel erzählen kann, ist Ge- Länder wie Deutschland weiter Maßnah­men
0
noveva Cadar. Die 56-jährige Ärztin leitet die ergreifen, wie kann man dann glauben, dass
März Okt. März Okt.
»rote Zone« einer Klinik für Pneumologie in 2020 2021 unser schwaches Gesundheitssystem das
Bukarest. In diesem Covid-19-Bereich sind ohne Maßnahmen abfedern könnte?«, fragt
mehr als 100 Patienten untergebracht, 15 von S Quelle: Our World in Data, Stand: 3. November Voiculescu.

94 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


AUSLAND

naopfern. Sie sprechen von Kran­


kenhäusern, die leer sein sollen –
das würden eigene Videoaufnahmen
vom April belegen. Nur anschauen
könne man diese Videos nicht, leider
habe noch niemand Zeit gefunden,
sie ins Netz zu stellen. Auf Nach­
fragen wechseln die drei das Thema
oder reagieren mit Gegenfragen.
Auch Abgeordnete wie die rechts­
extreme Politikerin Diana Șoșoacă
wettern regelmäßig gegen Impfungen
und behaupten, die Vakzinen mach­
ten unfruchtbar. Trotzdem bieten ihr
Fernsehsender wie România TV oder
Antena 3 regelmäßig eine Bühne. Bei­
de zählen zu den größten Sendern
Rumäniens und haben sich in den ver­
gangenen Jahren immer wieder an
Hetzkampagnen beteiligt. Aber auch
Bischöfe der orthodoxen Kirche rie­
ten Gläubigen vom Impfen ab. Erz­

Petrut Calinescu / DER SPIEGEL


bischof Teodosie etwa behauptete
jüngst sogar, die EU habe Impfungen
gestoppt. Der Patriarch selbst ließ
im Sommer verkünden, er sei nicht
geimpft.
Für die Ärztin Genoveva Cadar
sind vor allem diese Kampagnen
Um die rasche Zunahme der Infek­ Sanitäter in der Mehr als jeder Zweite in Rumänien schuld daran, dass viele Patienten
tionen zu stoppen, hat die Regie­rung Desinfektions­ glaubt sogar, dass Regierungen Viren sich nicht impfen lassen und im Falle
schleuse:
Ende Oktober wieder Einschrän­ Manchmal müssen im Labor entwickeln, um die Frei­ einer Infektion zu spät ins Kranken­
kungen verhängt. Wer ­Geschäfte oder sie drei Kranken­ heit der Menschen einzuschränken. haus kommen. Jahrelang habe die
Behörden betreten will, braucht häuser anfahren, um Befeuert wird das durch Verschwö­ Regierung zu wenig in Bildung in­
nun den Grünen Pass, muss also noch ein Bett für rungsmythen auf Social-Media-Platt­ vestiert. »Jetzt haben die Leute zu
einen Patienten zu
­geimpft, getestet oder genesen sein. finden formen, aber auch über große Fern­ Gesundheitsfragen eine Meinung
Zwi­schen 22 und 5 Uhr morgens sehkanäle. statt Fakten.« Die meisten ihrer Pa­
dürfen Per­­sonen ohne Pass nicht auf Einer der selbst ernannten Aufklä­ tienten würden im Krankenhaus
der Straße  sein. Außerdem sollen rer ist Dan Dobre. Der 24-Jährige hat ­bereuen, dass sie sich nicht haben
Impf­marathons an den Wochenenden auf Facebook mehr als 40 000 Follo­ impfen lassen.
helfen – tatsächlich ist die Impfquote wer. Einen seiner aktuellen Posts zu Cadar rechnet damit, dass sich die
in den vergangenen Tagen deutlich Covid-19 hat die Plattform bereits mit Lage in Rumänien erst im Dezember
gestiegen. einer Warnung versehen. Dobre entspannt. Bis die Impfkampagne
Um die Quote weiter zu steigern, macht sich darin über die Corona­ und der Lockdown wirkten, werde
besuchte Nochpremier Cîțu jüngst maßnahmen der Regierung lustig und es noch dauern. Außerdem gibt es
zwei Impfzentren. Er ließ sich dabei rät zu gesunder Ernährung als Waffe weiter Ausnahmen: Gottesdienste
von der Presse und dem Leiter der gegen das Virus. Früher sei er ein Fan der orthodoxen Kirche sind weiter­
Impfkampagne begleiten, einem Mili­ des Gesundheitsministers Voiculescu hin kaum eingeschränkt.
tärarzt. Dem Militär vertrauen rund gewesen, erzählt Dobre. Heute be­ Zur selben Zeit, als die Sanitäter
70 Prozent der Rumänen, der eigenen ginnt er seine Reden gegen Impfun­ den Rentner Florescu in dessen Woh­
Regierung vertraut dagegen nicht ein­ gen mit den Worten »Ich bin kein nung wiederzubeleben versuchen,
mal jeder Fünfte. Bislang waren es Impfgegner, aber ...«. Den Grünen feiert die orthodoxe Kirche den Hei­
jedoch vor allem Politiker, die die Pass vergleicht er mit den Anfängen ligen Dumitru. Fernsehberichte zeigen
Impfung bewarben. des Holocaust. mehrere Hundert Menschen beim
Der rumänische Gesundheits­ Der junge Marketingberater sagt, Gottesdienst an der Patriarchen-Ka­
experte Vlad Mixich glaubt, das sei er beziehe seine Informationen unter thedrale in Bukarest, der nun aller­
ein großer Fehler gewesen. Stars wie anderem von »Journalisten« einer dings im Freien stattfindet. Etwas wei­
die Tennisspielerin Simona Halep Alle drei Nichtregierungsorganisation und lädt ter demonstrieren ein paar Hundert
könnten der Impfkampagne mehr zum Treffen in deren Büro im Zen­ Impfskeptiker gegen den Grünen Pass.
nützen als jeder Politiker. Im Sozialis­ Minuten stirbt trum Bukarests. Dort trifft man Dobre, Um 20.21 Uhr wird Herr Florescu
mus sei es sicherer gewesen, der Poli­ ein Mensch mit Rollkragenpulli und Hipster­- für tot erklärt. Dann eilen die Sanitä­
tik nicht zu vertrauen, das hätten vie­
le Menschen bis heute verinnerlicht.
an Covid-19, brille, zwischen Podcast-Mikros und
­Kameras.
ter hinaus, zum nächsten Fall. Später
wird in das kleine Apartment in Bu­
Den jüngsten Anstieg der Impfquote das ist Dobre und seine Mitstreiter be­ karest ein Bestatter kommen, der sich
führt Mixich auf die hohen Todes­ die höchste haupten, dass die Zahlen über rund auf Covid-Tote spezialisiert hat. Bis
zahlen und die neuen Restriktionen 48 000 Covid-Tote in Rumänien ge­ dahin liegt der Rentner allein auf sei­
zurück. Das Misstrauen gegenüber
Todesrate fälscht seien. Der angebliche Beweis: nem Teppich.
der Impfung aber bleibe. weltweit. zwei Obduktionsberichte von Coro­ Lina Verschwele n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 95


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Tennisturnieren weltweit, in Mio. Dollar

4,42
3

Millionen US-Dollar erhielt


Ashleigh Barty aus Australien
für ihren WTA-Finals-Sieg
2019 und gewann damit das 2
bisher höchste Preisgeld
für ein einzelnes Turnier.

Australian Open
French Open
Wimbledon
US Open 1 Barty nach
Bei den vier Grand-Slam-Turnieren ihrem WTA-
werden gleiche Prämien für Frauen Finals-Sieg
und Männer bezahlt. 2019 in
Shenzhen,
WTA-Finals* (nur Frauen) Wimbledon China
ATP-Finals* (nur Männer) und
WTA-Finals
* Maximalbetrag ohne Niederlagen abgesagt
in der Gruppenphase 0
S Quellen: perfect-tennis.com, WTA 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021

Imago
€

Um gleiche Bezahlung für Männer und Frauen wird in vielen Sportarten heftig gestritten. Im Tennis gibt es zumindest bei einigen Turnieren
­inzwischen die Gleichbehandlung der Geschlechter. Die Australierin Ashleigh Barty, heute 25, gewann vor zwei Jahren das WTA-Finale
in China und kassierte dafür 4,42 Millionen Euro – das höchste jemals gezahlte Preisgeld im Tennis, für Männer und Frauen. Das nächste
WTA-Finale beginnt kommende Woche in Mexiko.

GUT ZU WISSEN für die höchste gesurfte Welle Nazaré hat anderen Big-­
der Saison ausgezeichnet Wave-Hochburgen wie Hawaii
Warum gibt es jetzt in ­wurde. Fotos und Videoauf-
nahmen des Stunts werden
den Rang abgelaufen, weil
hier im Herbst und Winter we-
Portugal Monsterwellen? ­gerade von Experten ausge-
wertet. Der ­Kaventsmann,
sentlich häufiger hohe Wellen
auftreten als anderswo. Der
den Steudtner heruntergerast Grund: Wegen eines Canyons
Der einst verschlafene Fischer- wird er von den Wasser­ war, könnte 25 Meter hoch fällt der Meeresboden vor
ort Nazaré an der Westküste massen überrollt wie von einer ­gewesen sein – das wäre ein ­Nazaré steil auf bis zu 5000
Portugals ist in den vergange- ­Lawine. Wenn der Havarist neuer Weltrekord. Meter Tiefe ab. Die Atlantik-
nen Jahren zu einem Hotspot dann wieder auftaucht – alle dünung trifft ungebremst auf
für Touristen geworden. Die Sportler tragen spezielle Ret­ die Küste. Vor dem Nordstrand
Besucher werden angelockt von tungs­westen – und von den von Nazaré türmen sich Was-
einem Spektakel, das sich am Jetskipiloten eingesammelt sermassen, begünstigt durch
Nordstrand der Gemeinde ab- wird, gibt es Applaus. Winde und Strömungen,
spielt. Wenn die Wetterbedin- Die Monsterwellen-Saison zu Bergen auf, die donnernd
gungen stimmen, stürzen sich in Nazaré beginnt im Oktober, in sich zusammenstürzen.
Henrique Casinhas / ZUMA Wire / IMAGO

dort die mutigsten Wellenreiter wenn die ersten Herbststürme Ab März beruhigt sich
der Welt in Brecher, die mit- über den Nordatlantik fegen das Meer. Big-Wave-Profis wie
unter höher sind als 20 Meter. und die Dünung Richtung Steudtner weichen aus in an­
Die Ritte der Big-Wave-­ Europa rollt. Am 29. Oktober dere Reviere auf die Südhalb-
Surfer sind von einer Klippe vergangenen Jahres gelang kugel, nach Südafrika oder In-
aus gut zu beobachten. dem deutschen Surfprofi donesien. Von Juni bis Ende
Die Matadore lassen sich von ­Sebastian Steudtner, 36, vor August bevölkern vornehmlich
­getunten Jetskis in die sich Nazaré ein Ritt, für den er Badegäste die Strände von
aufbäumenden Wasserwände ­vorige Woche zum dritten Mal ­Nazaré – und genießen die mit­
ziehen. Stürzt ein Surfer, mit dem Big-Wave-Award Surfer Steudtner 2020 unter spiegelglatte See. GP

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SPORT

Weltmeister Carlsen

Tom Jenkins / Guardian / eyevine / ddp


Duell der Denker:
Tradition gegen Spaß
TITELKAMPF  Die alte Schachwelt wird von einem Digitalboom überrollt. Die WM in Dubai wird zum Gradmesser
dafür, wie hoch das Renommee der Großmeister noch ist.

A
ls Covid-19 gerade begonnen hatte, Mit Videos wie »Gewinne in acht Zügen« In zweieinhalb Wochen beginnt in Dubai
die Welt in Atem zu halten, konnte hat er es auf seinem YouTube-Kanal zu mehr der Kampf um die Schach-Weltmeisterschaft
Levy Rozman sein Glück kaum fassen. als 1,2 Millionen Abonnentinnen und Abon- zwischen Titelträger Magnus Carlsen aus
»Mein Leben hat sich verändert«, twitterte nenten gebracht; auf dem Live-Streaming-Por- ­Norwegen und Herausforderer Jan Nepom­
er im Juli 2020. »Ich gebe den Unterricht tal Twitch folgen ihm eine halbe Million Fans. njaschtschi aus Russland – das Ereignis des
auf und bin nun Vollzeit online.« Allen, »die Die Karriere habe ihm mehr eingebracht, als ­Jahres für die Traditionalisten des Denk-
das möglich gemacht haben«, dankte der er es sich je hätte träumen lassen, sagt er am sports. Doch was ist das eigentlich noch wert,
US-Amerikaner mit einem Herz-Emoji. Telefon. Allein auf Twitch habe er in etwas in ­Zeiten wie diesen?
Rozman, 25, Undercut-Haarschnitt, halb- mehr als zwei Jahren rund 425 000 Dollar Über 75 Millionen Mitglieder – mehr als
runde Brille, stammt aus Brooklyn, New York, eingenommen, umgerechnet 367 000 Euro. doppelt so viele wie im Januar 2020 – meldet
und ist Internationaler Meister im Schach – Die Coronapandemie hat YouTuber wie die weltweit größte Schachwebsite Chess.com.
der zweithöchste Rang im Weltschach. Bis Rozman zu einer Marke gemacht. Und Mehr als zehn Millionen Nutzerinnen und
zum Frühjahr 2020 brachte er Kindern die dem Schachsport bescherte sie eine nie Nutzer loggen sich jeden Monat ein, um
Grundlagen des Denkspiels bei. Dann kam ­gekannte Popularität. Als Sportklubs und gegeneinander zu spielen oder zu üben.
das Virus, die Welt ging in den Lockdown, und -vereine während des Lockdowns schlie- Auch der Anbieter Lichess.com spricht von
Rozman sattelte auf Onlinelehrstunden um. ßen mussten, fanden Millionen Menschen einem »ungeheuren Wachstum«. In den ers-
In nur ­wenigen Monaten stieg er unter dem auf Onlineportalen zum Spiel der Könige, ten Wochen der globalen Quarantäne vor
Künstlernamen »GothamChess« zu einem der zusätzlich angelockt von der auf Netflix aus- über einem Jahr seien die Server ­völlig über-
­größten Internetstars der Schachszene auf. gestrahlten Serie »Das Damengambit«. lastet gewesen. Allein im O­ ktober verzeich-

98 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


SPORT

nete die Plattform mehr als 88 Mil- und September richtete die Fide die lem jene, die das Spiel lernen wol-
lionen Partien. Olympiade, das wichtigste Mann- len, und jene, die damit Geld ver-
Vor allem die schnelle Form des schaftsturnier im Schach, erneut di- dienen«, sagt er, »das Spitzenschach
Spiels scheint bei den Nutzern einen gital aus. Dieses Mal ging alles glatt. wird von dem Hype nicht unbedingt
Nerv zu treffen. Blitzschach lässt dem Vergangenes Jahr mussten sich die ­erfasst – weil Topspieler in ihrer ei­
Akteur über die gesamte Partie we- Finalisten Russland und Indien den genen Blase, in geschlossenen Tur-
niger als 10 bis 15 Minuten Bedenk- Sieg teilen. Ein technischer Blackout nieren spielen.«
zeit. Ideal für eine Partie in der Bahn, hatte einen Server lahmgelegt. Auch Ullrich Krause, 53, spielt
in der Mittagspause oder auf dem Klo Ungemach lauert auch an anderer gern Onlineschach. »Das ist für mich
– ein völlig anderes Spiel, als die Par-
tien von Nerds, die sich stundenlang
Boomendes Stelle. Weltmeister Carlsen etwa
startete in der Coronazeit eine eige-
so entspannend wie eine Stunde
­joggen gehen«, sagt der Präsident des
gegenübersitzen. Brettspiel ne, hoch dotierte Turnierserie. Da­rin Deutschen Schachbundes (DSB).
Der Weltschachverband Fide sieht Die Schachplattform traten die besten Spieler der Welt Vereine, die Onlinetraining und -kur-
den Hype daher mit Besorgnis. Er Chess.com gegeneinander an. Sie duel­lierten se anbieten, hätten vom Boom pro-
­begrüße es, dass Schach bei so vielen sich in schnellen, kurzweiligen Par- fitiert und sogar neue Mitglieder
Menschen für Unterhaltung sorge, aktuell über tien. Fans weltweit bejubelten das ­gewonnen. In seinem Heimatklub,

75
sagt Fide-Generaldirektor Emil Su- neue Format, sie verfolgten die Wett- dem Lübecker Schachverein, stellten
tovsky, 44. Aber er fürchte, »dass kämpfe live unter anderem auf sich regelmäßig jun­ge Erwachsene
das Schachspiel seine Wurzeln und Twitch und YouTube – bei der gera- vor, die online zum Schach gekom-
seinen Ruf als einzigartige Subkul- de beendeten Serie insgesamt mehr men seien und nun ans Brett wol-
tur  verliert, wenn es ganz oder fast Millionen als 100 Millionen Mal. len. »Das hat es vorher nie gegeben«,
ganz auf den Spaßfaktor ausgerich- Mitglieder Am Ende gewann natürlich: Mag­ sagt Krause.
tet  wird«. nus Carlsen. Frauen allerdings seien bislang

9,2
»Typisches Traditionalistenden- und rund Dessen Unternehmen Play Mag- kaum unter den Neulingen gewesen
ken« nennt das Georgios Souleidis. nus versucht den Brückenschlag zwi- – trotz der Netflix-Serie »Das Da-
Der glatzköpfige Schachtrainer kann schen der alten Schachwelt und der mengambit«, in dem ein Mädchen
mit dem elitären Blick auf das Spiel profitablen Moderne. Den Kern sei- die Schachwelt erobert. Das Spiel sei
wenig anfangen. »Das klassische Millionen ner 2013 gestarteten Firma, die mitt- nach wie vor eine von Männern do-
Schach will doch kaum einer mehr täglich gespielte lerweile an der Börse gelistet ist, bil- minierte Welt, gibt Krause zu.
spielen, geschweige denn sehen«, sagt Schachpartien det die Schach-App Play Magnus. Sie Nicht einmal zehn Prozent der
er. »Die Aufmerksamkeitsspanne der ermöglicht es Spielern, gegen ein DSB-Mitglieder sind weiblich. Was
Menschen wird immer kürzer. Sie Täglich aktive Computerprogramm anzutreten, das auch am Umfeld des Sports liegt. Im-
wollen Action. Das macht die schnel- Spieler, in Mio.: die Spielweise des Weltmeisters auf mer wieder berichten Spielerinnen
len Spiele so attraktiv.« 6 unterschiedlichen Levels imitiert. von Anzüglichkeiten und sexueller
Souleidis ist selbst ein Gewinner 5 Außerdem ist Play Magnus an wei- Belästigung durch Kollegen.
des Schachbooms. Unter dem Na- 1 teren Schachunternehmungen betei- Um von der Euphorie im Netz zu
men »The Big Greek« betreibt er ligt. Der Jahresumsatz im vergan­genen profitieren, hat Krauses Verband ver-
Anfang Ende April
einen der größten deutschen Schach- 2020 2020 2021 Jahr: knapp acht Millionen Dollar. gangenes Jahr die Deutsche Schach-
kanäle auf YouTube. Sein populärs- S Quelle: Chess.com
Aber selbst Superstar Carlsen, lan- Online-Liga gegründet – ein Team-
tes Video »Die goldenen Eröffnungs- ge Zeit der Posterboy der Schach­ wettbewerb, an dem Bundes­ligisten
regeln« wurde bis heute 1,3 Millio- szene, muss sich heute die Aufmerk- wie Werder Bremen oder Bayern
nen Mal geklickt. Die Partien der samkeit mit YouTubern und Video- München teilnehmen. Mehr als eine
Weltmeisterschaft zwischen Carlsen streamern auf Twitch teilen. Sie haben Ergänzung in der Sommerpause kön-
und ­Nepomnjaschtschi werde er auf es geschafft, über die Online­kanäle ne Onlineschach indes nicht sein, sagt
seinem Kanal »selbstverständlich« Millionen neuer Spieler zu glühenden Krause. »Das Spiel am Brett wird es
analysieren, sagt er. Fans zu machen. nie ersetzen.«
Szenegrößen wie Rozman und Schachcoach Rozman glaubt, dass Entsprechend zurückhaltend rea­
Souleidis haben das 1500 Jahre alte der Onlineboom nur wenig zur gierte der Verband, als der amerika-
Spiel mit lockeren Sprüchen, Selbst- Popularität des Spitzenschachs bei- nische Marktführer Chess.com eine
ironie und klug erklärten Spielzügen tragen wird. »Es profitieren vor al- Kooperation anbot. Der DSB lehnte
ins 21. Jahrhundert geholt. Von dieser ab, er setzt weiter auf die Hamburger
Begeisterung will auch der Weltver- Firma Chessbase. Die biete nicht nur
band profitieren. Nur wie? Unterstützung für Breiten- und Ka-
Fide-Generaldirektor Sutovsky dersportler an, sondern auch Schu-
hofft, »dass der Boom nicht nach lungsprogramme und DVDs. Obwohl
einem Jahr vorbei ist«. Deshalb in- Krause zugibt, dass dies wohl nicht
vestiere der Verband in Schach-Bil- mehr ganz zeitgemäß sei. Auch mit
dungsprogramme, wolle so noch mehr den Videoportalen TikTok und Snap-
junges Publikum für den Sport be- chat hadert der DSB noch.
geistern. Außerdem plane er Turniere Immerhin: Für die Finalrunde der
für Spieler, die Schach online gelernt Deutschen Schach-Online-Liga im
­haben und sich nun am Brett beweisen kommenden Jahr überlegt der DSB,
wollen. »Komplett auf die Onlinewelt technisch noch einmal richtig aufzu-
Foto: Phil Bray / Net flix

umsteigen wollen wir nicht«, sagt der rüsten. Die Teilnehmer sollen mit je-
israelische Großmeister. weils zwei Videokameras überwacht
Für den traditionsbewussten Welt- werden. Im laufenden Spielbetrieb
verband ist der Onlineboom Neuland Szene aus Netflix-Serie »Das Damengambit« wurde offenbar viel geschummelt.
und Balanceakt zugleich. Im August Matthias Fiedler, Florian Pütz  n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 99


SPORT

Nepomnjaschtschi: Es ist nicht hilf-


reich, in die Geschichte zu schauen.
Es geht darum, was ich heute tue.
SPIEGEL: Carlsen hat seinen Titel drei-

»Eine russische Schach-


mal verteidigt, gegen Viswanathan
Anand, Sergej Karjakin und Fabiano
Caruana. Was macht Sie zuversicht-

schule gibt es nicht mehr«


lich, ihn schlagen zu können?
Nepomnjaschtschi: Um mich für die-
ses Match zu qualifizieren, musste ich
viele, viele unterschiedliche und bril-
lante Spieler schlagen. Erst bei den
SCHACH  WM-Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi, 31, über den Niedergang Qualifikationsturnieren und anschlie-
seines Sports daheim und seine Chancen gegen Magnus Carlsen ßend beim Kandidatenturnier, wo
acht Spieler um den Sieg gekämpft
haben. Jetzt ist nur noch einer übrig,
SPIEGEL: Herr Nepomnjaschtschi, Sie SPIEGEL: Weil das Interesse am gegen den ich gewinnen muss.
spielen gegen Magnus Carlsen um den Schach nicht mehr so groß ist? SPIEGEL: Gibt es auf diesem Niveau
WM-Titel. Können Sie sich an das erste Nepomnjaschtschi: Es wurde wieder- überhaupt noch unterschiedliche
Aufeinandertreffen mit ihm erinnern? belebt, als Sergej Karjakin sich für die Spielstile?
Nepomnjaschtschi: Das war 2002 bei WM 2016 qualifizierte. Das war noch Nepomnjaschtschi: Zuallererst muss
der U-12-Europameisterschaft in Spa- mal ein Schub. Aber tatsächlich ist das man vielseitig sein. Es ist leider nicht
nien. Norwegen war kein Schachland. Interesse nicht mehr so groß wie zu mehr so wie vor 50 Jahren, als Com-
Und als ich gegen diesen Typen aus den Zeiten, als Garri Kasparow und puter noch keinen Einfluss hatten.
Norwegen spielen musste, habe ich Anatolij Karpow gegeneinander an- Spieler wie Michail Tal …
nicht allzu viel von der Partie erwar- traten. Vielleicht liegt es an den Fort- SPIEGEL: ... der achte Weltmeister,
tet. Ich glaube, er hat ganz gut ge- schritten der Computer. Die Program- auch Zauberer von Riga genannt ...
spielt, ist aber irgendwann eingebro- me ermöglichen es, dass das Publikum Nepomnjaschtschi: ... spielte geniale
chen. Ich habe gewonnen und wurde verfolgen kann, welchen Zug ein Spie- Kombinationen. Heute wissen wir,
am Ende Erster, er Sechster. ler machen sollte. Wenn er das nicht dass sie ihre Schwächen hatten, aber
SPIEGEL: Kurz darauf sahen Sie Carlsen macht, heißt es: Wie kann er so einen die Züge waren spektakulär. Wahr-
bei der WM in Griechenland wieder. Fehler machen? Wie kann er ein scheinlich wurde das Schach mithilfe
Nepomnjaschtschi: Eine Runde vor Schach-Großmeister sein? der Computer technischer, ruhiger
Schluss habe ich plötzlich gesehen, SPIEGEL: Die russische Schachschule und Remis-lastiger. Inzwischen sind
dass dieser Typ in Führung liegt. war berühmt. Wie steht es um sie? die besten Spieler Computer. Wir
Während er dann Remis spielte, ge- Nepomnjaschtschi: Im Moment gibt können versuchen, von ihnen zu ler-
wann ich meine Partie und damit das es nichts, was als russische Schachschu- nen, es ist ein anderes Spiel als früher.
Turnier. Aber es war klar, dass er ein le bezeichnet werden könnte. Als die SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt,
sehr talentierter Junge ist. Sowjetunion Anfang der Neunziger zer- dass Sie sich früher wie ein Profi
SPIEGEL: 2011 holte Carlsen – damals fiel, sind viele starke Spieler ausgewan- ­gefühlt, aber nicht wie einer gelebt
schon Weltranglistenerster – Sie dann dert. Sie haben ihr Wissen woanders hätten. Was meinten Sie damit?
in sein Team. Wofür? vermittelt, jetzt existiert die russische Nepomnjaschtschi: Ich habe nicht ge-
Nepomnjaschtschi: Wir haben von Schachschule überall auf der Welt. nug Zeit mit Schach verbracht. Ich
2011 bis 2013 zusammengearbeitet SPIEGEL: Liegt ein besonderer Druck habe Hobbys mehr Aufmerksamkeit
und gemeinsame Trainingseinheiten auf Ihnen, weil Russland so eine gro- geschenkt. Lesen, mit Freunden ab-
absolviert. Er kam ein paarmal nach ße Historie hat? hängen, Filme schauen, Fußball spie-
Russland, ich flog nach Norwegen. len. Natürlich habe ich mich auf Tur-
Das war nützlich für uns beide. Ein Carlsen-Heraus­ niere vorbereitet, aber das hat nicht
richtiges Team waren wir nie. forderer ausgereicht. Man muss seine Zeit
SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis heute? ­Nepomnjaschtschi nutzen, um sich zu verbessern. Das
Nepomnjaschtschi: Wir sind befreun- ist ein nie endender Prozess.
det. Ich freue mich immer über Ge- SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich auf die
spräche mit ihm – während der WM WM vor?
wird das etwas eingeschränkt sein. Nepomnjaschtschi: Die Routine ist
SPIEGEL: Russland, beziehungsweise dieselbe wie bei anderen Turnieren,
die ehemalige Sowjetunion, hat das das Niveau ist ein anderes. Die Vor-
Schachspiel jahrzehntelang domi- bereitung geht tiefer, nimmt mehr
niert. Nun wartet Ihr Heimatland seit Zeit in Anspruch, es sind viel mehr
15 Jahren auf den Titelgewinn. Wie Leute beteiligt. Ich bereite meine
groß ist die Unterstützung im Land? ­Eröffnungen vor, meine Wettkampf-
Nepomnjaschtschi: Der russische härte, und ich versuche, fit zu sein.
Foto: Robin Utrecht / action press

Schachverband unterstützt mich sehr SPIEGEL: Nach dem Kandidatenturnier


und bietet organisatorische und tech- haben Sie verraten, wer Ihre Sekun-
nische Hilfe an. Aber ich glaube, die danten waren. Wie viele Sparringspart-
Leute überschätzen das manchmal: Es ner stehen Ihnen bei der WM zur Seite?
ist nicht so, dass das ganze Land für Nepomnjaschtschi: Das ist ein Ge-
einen Mann arbeitet, so wie zu Sowjet- heimnis.
zeiten. Heute ist das ganz anders. Interview: Florian Pütz  n

100 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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SPORT

Verletzter Leibold zum ersten Mal veröffentlicht haben.


Demnach ereignet sich bei den Profis
fast ein Drittel der Verletzungen nach
der Sommerpause (Grafik).
Auffallend auch: Bundesligaprofis
sind seltener betroffen als Amateure,
deren Verletzungsquote ist bis zu
doppelt so hoch. Und während bei
den Profis meist Gegner die Auslöser
sind, reißen bei den Amateuren
­Bänder vor allem ohne Kontakt. Bei
Frauen bis zu siebenmal häufiger als

Daniel Marr / Spor t foto Zink / picture alliance


bei ­Männern.
Selbst Kleinigkeiten entwickeln
sich zur Gefahr, wenn sie das gewohn-
te Bewegungsmuster beeinträchtigen.
»Eine Blase am Fuß kann das Gang-
bild ändern, ein neuer Schuh den
Grip beeinflussen«, sagt Krutsch.
Der 41-jährige Mediziner ist selbst
Fußballer. Er spielte in der Jugend von
Nürnberg, schaffte es als Innenvertei-
Unfallchirurg ist zudem Hüter eines diger in die zweite Mannschaft des VfB
weltweit einzigartigen wissenschaft- Stuttgart. Einen Kreuzbandriss erlitt

Das Kreuz mit


lichen Schatzes. Seit 2014 wertet die er erst, nachdem er seine Karriere be-
Uniklinik Regensburg, wo Krutsch endet hatte. »Als Mediziner ergab sich
Professor ist, anhand umfangreicher die Chance, bei der Ärzteweltmeister-

dem Knie
Befragungen Kreuzbandrisse von schaft anzutreten«, sagt er. »Leider
Spielern aus, von der Bundesliga bis hatte ich ein paar Kilo zugelegt und
hinunter zu den regionalen Bezirks- war nicht mehr so fit.« Für den Bän-
ligen. Seit 2016 werden auch die Bän- derriss sorgte dann ein einfacher Aus-
derrisse im professionellen Frauen- fallschritt. Ein typischer Fall. Dass er
SPORTMEDIZIN  Die Gefahr von Kreuzbandrissen fußball erfasst. das Drama selbst erlebt hat, »hilft, die
Mehr als 1000 Fälle sind dort Spieler zu verstehen«, sagt er.
steigt – besonders in der Pandemie. Dank eines ­dokumentiert. Die Daten erlauben Pascal Köpke zum Beispiel. Vor
Registers können Wissenschaftler nun vorher- vorherzusagen, in welchen Situatio- fast einem Jahr riss dem Stürmer des
sagen, wer besonders gefährdet ist und wann. nen die Verletzungen auftreten und FC Nürnberg in einem Spiel ein
wer besonders gefährdet ist. Kreuzband. Wie es dazu kam, kann
Gerade haben Krutsch und seine er sich bis heute nicht erklären. »Das

D
as Pokalspiel gegen den 1. FC Kollegen reichlich Arbeit. »Wir sehen passierte während eines Laufs aus
Nürnberg läuft gerade 18 Mi- Gefährlicher etliche Fälle als Folge des Lock- dem Nichts.« Nach mehreren Rück-
nuten, da erwischt es den Ham- Saisonstart downs«, sagt er. Der Mediziner sitzt schlägen in der Reha kämpft er im-
burger Fußballprofi Tim Leibold. Der Ende vergangener Woche in einem mer noch um sein Comeback. Es gebe
27-jährige Verteidiger des HSV läuft Verletzung des Restaurant am Berliner Hauptbahn- für Fußballer fast nichts, was schlim-
mit dem Ball. Von rechts stürmt ein vorderen Kreuzbandes hof vor einem Latte macchiato. Er mer sei. »Gerade noch bist du fit
im deutschen Fußball,
Gegner heran, kickt mit dem einen im Saisonverlauf*, kommt vom Jahreskongress der auf dem Platz. Wenn du dann reali-
Bein den Ball ins Aus – und rammt in Prozent ­Orthopäden und Unfallchirurgen, hat sierst, dass du monatelang ausfällst,
mit dem anderen Leibold unglücklich Profis
über Knieverletzungen im Profifuß- ist das hart.«
in dessen rechte Kniekehle. Der Ge- ball gesprochen und sich mit Kollegen Das Kreuzbandregister zeigt, dass
troffene wälzt sich am Boden. Helfer 10 ausgetauscht. es besonders im Amateurbereich um
tragen den Spieler vom Platz. Eine Viele Spieler seien nach der langen Prävention schlecht bestellt ist. Zwar
genaue Untersuchung zeigt: Leibold 0 Wettkampfpause nicht fit genug ge- gibt es spezielle Trainingsmethoden,
erlitt einen Kreuzbandriss. Nun fällt August Juli wesen, hätten sich überschätzt, den um solche Verletzungen zu verhin-
er mindestens bis zum Sommer aus. Körper überlastet, vermutet er. Auch dern. Doch es sei nicht einfach, den
Einer, der Leibold von Platz half, Halbprofis etliche Hobbykicker legten nach der Trainern diese Kenntnisse zu vermit-
ist Werner Krutsch, Mannschaftsarzt Zwangspause offenbar munter los teln, so Krutsch. Zudem fehle bei
des 1. FC Nürnberg und zugleich Spe- 10 und landeten in orthopädischen Pra- Spielern häufig die Bereitschaft, sich
zialist für Kreuzbänder, die den Ober- xen oder gar auf dem OP-Tisch. Ge- vor Spielen richtig aufzuwärmen.
0
schenkelknochen mit dem Schienbein naueres wissen Krutsch und Co. am Selbst für den Profibereich könn-
August Juli
verbinden und das Kniegelenk stabi- Ende der Saison, wenn die Ergebnis- ten die Daten spannende Erkennt-
lisieren. Verletzungen an den Kreuz- se ausgewertet sind. nisse liefern. So möchte Krutsch etwa
Amateure
bändern sind bei Sportlerinnen und Das Phänomen hat ihn jedenfalls he­rausfinden, wie sich ein Trainer­
10
Sportlern besonders gefürchtet. Sie- nicht überrascht. »Wir beobachten wechsel auswirkt. Er vermute, dass
ben bis neun Monate dauert es, bis 0
regelmäßig zu Beginn der Saison bestimmte Coaches durch ihren Spiel-
sie wieder fit sind. Früher bedeutete August Juli
einen Anstieg der Kreuzbandverlet- stil immer die gleichen Verletzungs-
dies oft das Karriereende. zungen«, sagt er. Das ergibt sich aus muster hervorriefen – egal welches
*Durchschnitt 2014 bis 2019
Krutsch behandelt in seiner Nürn- S Quelle: Kreuzbandregister
Vergleichszahlen des Registers, die Team sie trainierten.


berger Praxis nicht nur Verletzte. Der im deutschen Fußball Wissenschaftler um Krutsch gerade Michael Fröhlingsdorf  n

102 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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WISSEN

Yelena Vereshchaka / ITAR-TASS / IMAGO


Hexenwerk am Nachthimmel, Invasion von Außerirdischen? Nein, nur Physik. Der Sonnenfleck AR2887 auf unserem Zentralgestirn war gerade
Schauplatz heftiger Eruptionen. Die Folge: Besonders viele energiegeladene Teilchen – Protonen und Elektronen – rasen auf die Erde zu. Nach rund
18 Stunden treffen sie auf das Magnetfeld des Planeten, wo sie herumgewirbelt werden und sich polwärts bewegen. Da rumpeln sie aneinander
mit erdeigenen Atomen, mit Sauerstoff und Stickstoff etwa, wodurch sich in rund 100 Kilometer Höhe ein magischer Lichtschleier bildet. Das Nord-
licht ist vor allem im Polargebiet zu sehen, wie auf dem Foto in Nordrussland – und ganz selten auch über Deutschland.

Es wird eng
weile die billigste Art der Energieerzeugung dar, womit der
­Niedergang von Kohle und Gas eingeleitet sein dürfte.
Die ­Nutzung von Erdöl liegt in diesem Jahr bereits unter
dem Niveau von 2019.
ANALYSE  Kann die Welt den CO₂-Ausstieg noch
Was bedeuten die Ergebnisse des Berichts zum CO2-Budget?
rechtzeitig schaffen? Sie zeigen: Unmöglich ist es nicht, dass die Weltgemeinschaft
ihr Ziel erreichen kann, den globalen Temperaturanstieg auf
Die weltweiten CO2-Emissionen, die auf fossile Brennstoffe zu- 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Aber: Es wird eng. Und an dras-
rückgehen, liegen im Jahr 2021 voraussichtlich nur knapp unter tischen Einschnitten führt kein Weg vorbei. Um als Menschheit
dem bisherigen Höchststand des Jahres 2019. Das geht aus den auch nur eine 50-prozentige Chance zu haben, das 1,5-Grad-Ziel
neuen Daten eines internationalen Forschungsteams zum »Glo- zu ­er­reichen, dürften noch 420 Milliarden Tonnen (420 Giga­
bal Carbon Budget« hervor. Im Vergleich zum Coronajahr 2020 tonnen) CO2 ausgestoßen werden. Das entspricht 11-mal dem
werden die Kohlendioxidemissionen 2021 bis zum Jahresende ­pro­­gnostizierten Emissionswert dieses Jahres. Für eine ebenso
um 4,9 Prozent steigen, auf 36,4 Milliarden Tonnen CO2. Schon wahrscheinliche Chance, die Erderwärmung auf 1,7 Grad zu
2022 droht der CO2-Ausstoß allerdings eine neue Rekordmarke ­begrenzen, bleibt ein »Restbudget« an CO2 von 770 Milliarden
zu erreichen. China wird allein in diesem Jahr für 31 Prozent der Tonnen – 20-mal die Menge dieses Jahres.
weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sein. Dass die weltweiten CO2-Emissionen in elf Jahren mit einem
Die Klimawissenschaftlerin Corinne Le Quéré von der Uni- Schlag auf null sinken, erscheint nicht realistisch – zumal
versity of East Anglia hat dennoch einen Grund für verhaltenen der Klimagipfel in Glasgow wohl nicht auf einen Durchbruch
Optimismus gefunden. »Erneuerbare Energien sind die einzige hinsteuert. Aber mit jeder Reduktion erkauft sich die Weltge-
Energiequelle, die während der Pandemie weitergewachsen meinschaft Zeit – denn wenn weniger vom Budget aufgebraucht
ist.« In vielen Weltregionen stellen die Erneuerbaren mittler- wird, reicht es noch für ein paar Jahre länger. Viola Kiel

104 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Turbodünger für die Meere Wachstum von Phytoplankton richtig in 99 Prozent der Blauwale ­kamen inner­
Schwung bringt. Vom Phytoplankton er- halb von nur 50 bis 60 Jahren um. Zuvor
TIERE  Ausgerechnet einige der größten nährt sich wiederum das Zooplankton. Je ­verleibten sich die Bartenwale allein im
Lebewesen der Welt fressen vor allem mehr Wale, desto mehr Walkot und desto Südpolarmeer pro Jahr nach Schätzung
­winziges tierisches Plankton und kleine gesünder das Ökosystem und das Zusam- der Forscher rund 430 Millionen Tonnen
­Fische. Wie unfassbar groß der Appetit der menspiel der Arten – und andersherum. Krill ein. Heute liegt dort der Gesamt­
Bartenwale aber wirklich ist und welche 321 Wale haben Savoca und seine Kolle- bestand an den gar­nelenförmigen Krebs­
Folgen er hat, das haben Forscher jetzt erst gen und Kolleginnen zwischen 2010 und tieren bei nur noch der Hälfte – was auch
­herausgefunden. Manche der Säuger fasten 2019 mit GPS-Geräten, Kameras und Be- anderen Arten schadet. ME
monatelang, aber wenn sie fressen, dann schleunigungsmessern ausgerüstet und mit
richtig. Sie nehmen dreimal mehr Nahrung Drohnen eingehend beobachtet. Von
zu sich als gedacht. Blauwale, so schreibt der Größe der Mäuler schlossen sie auf die
der Ökologe Matthew Savoca von der Menge Wasser, die die Tiere täglich mit

Wildestanimal / Moment / Getty Images


­Stanford University in der Fachzeitschrift ihren Barten filtern konnten. Dort, wo sich
­»Nature«, vermögen sich täglich sogar die Wale labten, untersuchten die Wissen-
16 Tonnen Krill einzuverleiben. Sind die schaftler zudem die Planktondichte im
Vielfraße also dabei, die Weltmeere zu lee- Meereswasser.
ren? Nein, ganz im Gegenteil: Nach ihren Die aufwendige Studie lässt nun erah-
Fressorgien produzieren die Wale viel mehr nen, welche Folgen der indus­trielle Walfang
Kot, als Wissenschaftler erwartet haben. nach sich gezogen hat. ­Allein im 20. Jahr-
Und dieser Kot wirkt auf den oberen Mee- hundert haben Menschen fast drei Mil­
resbereich wie Turbodünger, der das lionen der Meeresgiganten ­getötet. 90 bis

»Wir lassen der Pandemie


Simonsen: Ja. Wir werden diese alle Menschen über 65 Jahren
wahrscheinlich bis zum Früh- zu verabreichen. Notfalls könn-

freien Lauf«
jahr erreichen, dann ist die Pan- ten wir den Coronapass oder
demie zumindest bei uns vor- die Masken wieder einführen.
bei – es sei denn, es kommt SPIEGEL: Dänemark hat eine
eine neue Variante auf, die Im­ der höchsten Impfquoten
Dänemarks Top­ SPIEGEL: Ist Corona in Däne- pfungen durchbrechen kann; der Welt. Wie haben Sie das
epidemiologin mark jetzt Geschichte? das wäre dann eine andere Situ- ­geschafft?
Lone Simonsen, 62, Simonsen: Noch lange nicht. ation. Aber im Moment ist Simonsen: Wir Dänen setzen
ist Professorin Wenn Sie nicht geimpft sind, die Pandemie etwas, womit wir traditionell sehr großes Vertrau-
für Epidemiologie wird das Virus Sie diesen Winter gut umgehen können. In etwa en in die Behörden und in die
an der Roskilde-­ erwischen. Aber diese Pande- zwei bis drei Wochen werden Politik. Das hat uns geholfen.
Universität und mie hat jetzt einen völlig ande- wir allerdings an eine Schmerz- Wir hier neigen dazu, das zu
­leitet dort das neue PandemiX- ren Charakter. Sie stellt keine grenze gelangen und mehr als tun, was man uns rät, weil wir
Forschungszentrum. Bedrohung mehr für die Gesell- 500 Menschen im Krankenhaus unseren Teil zur Bekämpfung
schaft insgesamt dar. Wir kön- haben. der Krankheit beitragen wollen.
SPIEGEL: Frau Simonsen, in nen ihr jetzt freien Lauf lassen, SPIEGEL: Und dann machen Sie SPIEGEL: Es gibt also keine
­ änemark sind Sie bekannt als
D auch wenn sie lokal noch grö­ wieder alles dicht? ­Dänen, die glauben, dass es gar
»Corona-Lone«, weil Sie die ßere Ausbrüche verursachen Simonsen: Nein, wir werden nie keine Pandemie gebe und
Epidemiologin im Rampenlicht könnte. Aber diese werden nicht wieder in den Lockdown gehen, ­Impfstoffe gefährlich seien?
sind, die der ­Öffentlichkeit mehr so tödlich sein wie vor denn wir erwarten nicht, dass Simonsen: Diese Leute gibt es
die Pandemie ­erklärt. Gefällt der Einführung der Impfstoffe. die Zahl der Todesfälle drama- sehr wohl, sie sind laut in den
Ihnen diese ­Erweiterung Ihres SPIEGEL: Ist die Herdenimmu­ tisch ansteigen wird. Wir sind sozialen Medien, aber wenige.
Vornamens? nität in Sicht? jetzt dabei, die dritte Dosis für Damit das so bleibt, müssen wir
Simonsen: Auf jeden Fall, ich immer wieder erklären, worum
bin sogar stolz darauf. es bei dieser Pandemie geht: Es
SPIEGEL: Ihr Land hat vor eini- ist ein tödliches Virus im Um-
gen Wochen alle Coronamaß- lauf. Das Einzige, was es aufhal-
nahmen aufgehoben, keine Mas­ ten kann, ist Immunität. Und
ken, kein Coronapass. Jetzt Immunität kann nur von einem
­haben Sie bei 5,8 Millionen Ein- Impfstoff kommen, der weitge-
wohnern 2000 Fälle pro Tag, so hend risikolos ist – oder von
viele wie seit Anfang des Jahres einer natürlichen Infektion, die
nicht mehr. Sind Sie besorgt? Sie töten oder ernsthaft schä­
Simonsen: Nicht sehr. Wir kön- digen könnte. Das war’s. Das ist
nen uns das leisten. Wir sehen die einzige Wahl, die Sie haben.
zwar einen raschen Anstieg der SPIEGEL: Könnte Deutschland
Infektionen, nicht aber der dem dänischen Beispiel folgen?
schweren Verläufe und Todes- Feiernde in Immerhin haben wir 85 Prozent
Lars Just / DER SPIEGEL

fälle. Dafür gibt es einen einzi- Kopenhagen nach der über 60-Jährigen geimpft.
gen Grund: Die Impfrate in Aufhebung Simonsen: Nein, diese Impf­
der Coronamaß-
unserem Land ist sehr hoch. nahmen
quote reicht wohl noch
Etwa 95 Prozent der Menschen im September nicht. Ich denke, Sie brauchen
über 50 sind immunisiert. mindestens 90 Prozent. ME

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 105


WISSEN

F
ür den Tag, an dem die Impf-
dosen tatsächlich in ihrer Praxis
ankommen, haben sich der Kin-
derarzt Dan Finkelstein und seine

Wann sind die Kinder dran?


Kollegen gut vorbereitet. Sie werden
dann wieder den Parkplatz neben
ihrer Praxis in Chevy Chase im Bun-
desstaat Maryland freiräumen und
dort ihre fünf- bis elfjährigen Patien-
MEDIZIN  Die Coronazahlen stiegen zuletzt steil an – vor allem bei ten wochentags und samstags im
Kindern, die stärker gefährdet sind als lange vermutet. In England sind schon ­Drive-through-Verfahren impfen. Die
Eltern müssen einfach nur vorfahren,
mehr als 90 Kinder nach einer Infektion gestorben. In den USA dann setzen die Mitarbeiterinnen und
wird deshalb mit Hochdruck die Impfung der unter Zwölfjährigen vorbereitet. Mitarbeiter der Praxis durch das
Und in Deutschland? ­offene Fenster einen kleinen Piks.
Finkelstein und sein Team betreu-
en rund 25 000 Kinder, die meisten
von ihnen leben im Nordwesten der
Hauptstadt Washington und in Mary-
land, 7500 davon sind in der Alters-
gruppe zwischen fünf und elf Jahren.
Nachdem deren Impfung in der Vor-
woche die Zulassung durch die Food
and Drug Administration (FDA) er-
halten hat und am vorigen Dienstag
auch von den Centers for Disease
Control and Prevention (CDC) geneh-
migt wurde, wartet der Kinderarzt
nun darauf, endlich die ersten Vakzi-
nen geliefert zu bekommen. 2000
junge Patienten, ist er überzeugt, wer-
den sie hier in der Woche impfen kön-
nen. Die Dosen, ist er sich sicher, wer-
den reißenden Absatz finden.
Finkelsteins Praxis nahm bereits
an der Moderna-Impfstoffstudie für
diese Altersgruppe teil: »Die 90 Plät-
ze waren sofort voll«, erzählt der
­Pädiater. »Die Eltern fragen uns
seit Monaten, wann die Impfung
für die jüngeren Kinder endlich
kommt.«
Finkelstein praktiziert seit mehr
als 20 Jahren als Kinderarzt. Warum
hält er es für so wichtig, die Kleinen
zu impfen? »Die große Mehrheit der
Kinder ist zwar nicht signifikant
­betroffen, wenn sie diese Krankheit
bekommen«, sagt er. »Manche aber
schon, sie kommen ins Krankenhaus.
Einige wenige versterben daran.«
Aus der Sicht vieler Eltern gäbe es
aber noch einen weiteren Grund. Die
Immunisierung mit der Spritze, so Fin-
kelstein, eröffne den Kindern die Mög-
lichkeit, nach den vielen Monaten der
Einschränkungen durch die Pandemie
wieder ein halbwegs normales Leben
zu führen, »ohne Angst und ständige
Sorge um die Krankheit«.
In den USA haben sich bisher rund
zwei Millionen Kinder zwischen fünf
und elf Jahren mit dem Virus ange-
steckt, 8300 wurden ins Krankenhaus
Carolyn Kaster / AP

Coronaimpfung einer eingewiesen, 173 sind gestorben. Mit


fünfjährigen
Risikopatientin in
der Notfallzulassung der FDA könn-
den USA ten nun rund 28 Millionen Kinder ge-
impft werden.

106 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WISSEN

Es ist aber nicht so, dass alle Eltern das


auch gleich angehen wollten. Laut einer
»In der Pandemie ist es Die Stiko, ein 18-köpfiges Gremium aus
ehrenamtlich arbeitenden Ärzten und Wis-
­Oktoberumfrage der Kaiser Family Founda- wichtig, nicht nur senschaftlerinnen, brauchte vor der Pandemie
tion sind nur 27 Prozent der Eltern bereit, ihre
Kinder in dieser Altersgruppe sofort impfen
schnell zu entscheiden, im Durchschnitt sechs Monate bis drei Jahre,
um eine Impfempfehlung zu erarbeiten. In-
zu lassen, 33 Prozent wollen abwarten. 5 Pro- sondern auch richtig.« zwischen treffen sich die Mitglieder fast
zent würden es nur tun, wenn es zum Beispiel ­wöchentlich zu rund zweistündigen Online-
von der Schule verlangt würde, und weitere konferenzen, um mit der rasanten wissen-
30 Prozent geben an, ihr Kind auf keinen Fall schaftlichen Entwicklung Schritt zu halten.
impfen lassen zu wollen. Die meisten Eltern wahrscheinlich leichtes Spiel haben. Anfang Stiko-Vorsitzender ist Thomas Mertens, ein
sorgen sich vor allem wegen möglicher Oktober habe die Zahl von Coronaausbrüchen bärtiger Ulmer Virologe im Ruhestand. Je-
Nebenwirkungen oder Langzeitschäden. In an Schulen, meldet das Robert-Koch-Institut mand, der noch voll im Berufsleben stehe,
ökonomisch schlechter gestellten Familien (RKI), ein neues »Höchstniveau« erreicht. würde den Vorsitz jetzt in der Pandemie gar
geben die Hälfte der Eltern an, Sorge zu ha- Schnell zu handeln, mahnte der erfahrene nicht schaffen, sagt er.
ben, sich wegen der Kinderimpfung frei von Seuchenbekämpfer Mike Ryan von der Welt- Die Impfkommission arbeitet nach den
der Arbeit nehmen zu müssen. gesundheitsorganisation WHO im März Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Es
In Deutschland hingegen werden die jün- 2020, sei in einer Pandemie entscheidend. gehe nicht um die persönlichen Meinungen
geren Kinder voraussichtlich noch eine ganze Keine Frage: Wenn nicht bald wieder Schutz- der Mitglieder, so Mertens, sondern darum,
Weile warten müssen auf ihre Coronaimp- maßnahmen an den Schulen ergriffen werden, die verfügbaren Daten und Studien – die von
fung. Es gibt 9,2 Millionen Kinder in Deutsch- die Kinderimpfung nicht bald zugelassen der Stiko-Geschäftsstelle am Robert Koch-
land, die jünger sind als zwölf Jahre. Sie sind wird, und wenn nicht auch das Tempo der Institut aufgearbeitet und zusammengefasst
die Einzigen, die sich derzeit noch nicht durch Boosterimpfungen für die Erwachsenen end- werden – einzuschätzen und die richtigen
eine Impfung vor Sars-CoV-2 schützen kön- lich Fahrt aufnimmt, dann steht erneut ein Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Von
nen. Die Europäische Arzneimittelagentur düsterer Coronawinter bevor. Dann könnten der Politik, sagt Mertens, werde man sich
(Ema) kündigte an, wahrscheinlich erst im viele der Ungeimpften, darunter die Kinder, dabei nicht unter Druck setzen lassen. Und
Dezember über die bedingte Zulassung des sich infizieren, ebenso jene, bei denen der der potenzielle Schaden, argumentiert Stiko-
Biontech/Pfizer-Impfstoffs für die Fünf- bis Impfschutz wieder nachlässt. In England kann Mitglied Meerpohl, der durch eine drei bis
Elfjährigen entscheiden zu wollen. Danach man das bereits sehen: Dort mussten allein vier Wochen später ausgesprochene Emp-
muss auch noch die Ständige Impfkommission in der dritten Oktoberwoche fast eine Viertel- fehlung entstehen könne, weil man sich bei
(Stiko) beraten, ob sie diese Impfung für alle million Schüler wegen einer Coronainfektion einer Entscheidung ausreichend sicher sein
oder nur für vorerkrankte Kinder dieser Al- oder als enge Kontaktperson von Infizierten wolle, sei vermutlich geringer als der Scha-
tersgruppe empfiehlt (woran sich Ärzte und zu Hause bleiben. den, der entstehen würde, wenn man eine
Eltern allerdings nicht halten müssen). Wahr ist, dass Sars-CoV-2 Kindern deutlich Empfehlung vier Wochen später widerrufen
Die Fallzahlen in Deutschland stiegen zu- weniger anhaben kann als Erwachsenen. Nut- müsse.
letzt rasant, vor allem bei den Kindern und zen und Risiko der Impfung, so argumentiert Doch wie lange darf man mit einer Ent-
Jugendlichen. Bei den Fünf- bis Neunjährigen die Stiko, müssten deshalb bei den Jüngeren scheidung warten, wenn die Fallzahlen in die
erreichte die Sieben-Tages-Inzidenz pro besonders sorgfältig gegeneinander abgewo- Höhe schießen und die ersten Intensivstatio-
100 000 Einwohner in der letzten Oktober- gen werden, noch sorgfältiger als bei den nen schon wieder befürchten, dass sie wegen
woche mit 194 den zweithöchsten Stand seit Booster- und Erwachsenenimpfungen. »Ich Überfüllung demnächst Patienten in andere
Pandemiebeginn, bei den Zehn- bis Zwölf- glaube, man kann den Spieß auch umdrehen«, Krankenhäuser verlegen müssen? Die Ent-
jährigen mit knapp 237 sogar einen neuen sagt Stiko-Mitglied und Kinderarzt Jörg Meer- scheidung, ob man die Empfehlung für die
Höchststand. In acht Landkreisen und einer pohl, der als Direktor des Instituts für Evidenz Boosterimpfung in Deutschland vielleicht
kreisfreien Stadt wurden in der Altersgruppe in der Medizin des Universitätsklinikums auch auf unter 70-Jährige ausweiten wolle,
der 10- bis 19-Jährigen Inzidenzen von über Freiburg und von Cochrane Deutschland be- werde »in wenigen Wochen« fallen, kündigte
500 pro 100 000 Einwohner registriert. sondere Expertise in wissenschaftlicher, so- Mertens diese Woche an. Eine derartige Emp-
Durch die ansteckendere Delta-Variante, genannter evidenzbasierter Medizin besitzt. fehlung habe vor allem das Ziel, die Virus-
das kältere Wetter, das es nicht mehr erlaubt, »Gerade im Pandemiefall mit großem Hand- übertragung zu vermindern, und diene weni-
die Fenster ständig offen zu halten, und die lungsdruck ist es ganz besonders wichtig, ger dem Schutz des Geimpften. Der Impf-
Abschaffung der Maskenpflicht für Schülerin- nicht nur schnell zu entscheiden, sondern schutz vor schwerer Erkrankung lasse schließ-
nen und Schüler in etlichen Bundesländern auch richtig. Allein schon deshalb, weil sehr lich nicht von heute auf morgen nach. Die
wird das Virus in den kommenden Wochen viele Menschen davon betroffen sind.« Politik meine zwar ständig, unter Zeitdruck

Die vierte 295

Welle 224
Bestätigte Corona- 177
Neuinfektionen je
100.000 Einwohner
in Deutschland, 0–11 12–17 18–59 60+ 89
Wochendurchschnitt, Jahre Jahre Jahre Jahre
nach Altersgruppen
27.6. 31.10.
Impffortschritt nach
Altersgruppen* bisher kein zugelas- 42 % von 4,5 Mio.
= 1 Mio. Menschen sener Impfstoff für
9 Mio. Kinder 85 % von 24 Mio.
* Stand: 4. Nov.
ungeimpft
S Quelle: RKI, Impf-


dashboard.de, BMG vollständig geimpft 73 % von 45 Mio.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 107


WISSEN

zu stehen, aber dieser sei oft »selbst dass der Vorteil der Impfung die
gemacht«. Nachteile einer Impfung in dieser
Auch die Europäische Arzneimit- ­Altersgruppe überwiegt‹«, sagt Meer-
telagentur Ema scheint es nicht be- pohl.
sonders eilig zu haben. Während die Bei älteren Menschen überwiege
US-Arzneimittelbehörde FDA nur der Nutzen einer Coronaimpfung ihre
23 Tage brauchte, um die von Bion- Risiken eindeutig, sagt der Mediziner,
tech und Pfizer für die Zulassung »da muss ich wissenschaftlich gar nicht
des Kinderimpfstoffs eingereichten ganz scharf sehen, da kann ich als Mit-
Unterlagen zu sichten und zu bewer- glied der Stiko schon früh entschei-
ten, plant die EMA für die Beurtei- den«. Doch in jüngeren Altersgrup-
lung genau der gleichen Unterlagen pen, wo die Balance von Nutzen und

Stefan Boness / Ipon


40 Tage ein – mindestens. Risiko enger zusammenrücke, »da
Wie erfolgreich allerdings schnel- muss das Bild schärfer werden, damit
les, entschiedenes Handeln in einer ich mit einer einigermaßen ausreichen-
Pandemie sein kann, auch wenn man den Sicherheit sagen kann: ›Okay, die
dadurch mehr Risiken eingeht, zeigt Vorteile überwiegen mit hoher Wahr-
das Beispiel Israel. Dort sind bereits Stiko-Vorsitzender keinen »Green Pass« mehr, der etwa scheinlichkeit die Nachteile‹«.
seit Ende Juli – fast zwei Monate vor Mertens: Virologe im vor dem Betreten von Shoppingmalls, Dass das nervenzermürbend lange
Ruhestand
der FDA-Zulassung – die Auffri- Restaurants oder Fitnessklubs ver- dauern kann, ließ sich im Sommer
schungsimpfungen für alle über langt wird. beobachten. Ferienwoche um Ferien-
60-Jährigen, deren zweite Impfung Als Nächstes soll in Israel über die woche verstrich, während die Stiko
mindestens fünf Monate zurückliegt, Impfung der Fünf- bis Zwölfjährigen die uneingeschränkte Impfempfeh-
gestartet. Schrittweise hat das Land entschieden werden. Weil dieses The- lung für alle über Zwölfjährigen prüf-
immer mehr Bevölkerungsgruppen ma auch dort besonders kontrovers te. Viele Eltern suchten unterdessen
eingeschlossen – und den dritten diskutiert wird, soll es zusätzlich zur händeringend nach Ärzten, die ihre
Schuss schließlich Ende August für Empfehlung der Impfkommission Kinder vor dem Ende der Ferien mit
alle über Zwölfjährigen empfohlen. auch eine öffentliche Anhörung zum der von der Ema bereits zugelassenen
Die wissenschaftlichen Erkennt- Thema geben. Impfung auch ohne allgemeine Stiko-
nisse zu Risiko und Nutzen haben Das Problem bei der Kinderimp- Empfehlung immunisieren würden.
israelische Forscher dabei in Echtzeit fung: Vor allem von den männlichen Der politische Druck wuchs immer
zusammengetragen. Die Studien, im Jugendlichen und jungen Erwachse- weiter, bis die Bundesländer die Impf-
»New England Medical Journal« und nen weiß man, dass sie nach der Imp- zentren für alle Kinder und Jugend-
in »The Lancet« veröffentlicht, zeigen fung an einer Herzmuskelentzündung lichen ab zwölf Jahren öffnen ließen.
nun eindeutig, dass die dritte Impfung erkranken können. Diese tritt zwar Die Stiko prüfte derweil Studie um
sowohl die erneute Ansteckung, als sehr selten auf, ungefähr mit einer Studie, bis am 27. Juli schließlich eine
auch das Risiko für schwere Verläufe Wahrscheinlichkeit von 1 zu 16 000, Untersuchung von Wissenschaftlern
und Krankenhauseinweisungen dras- und verläuft meist milde. Aber es gibt aus Ohio als unbegutachteter, soge-
tisch senkt. auch einzelne Fälle mit schwerem nannter Preprint veröffentlicht wur-
Um eine drohende nächste Pande- Verlauf. Die Aufgabe von der Ema de, die zeigte: Das Risiko für männ-
miewelle und weitere Lockdowns zu und auch von der Stiko, die parallel liche Jugendliche und Erwachsene,
verhindern, setzte Premierminister zum Zulassungsverfahren der Ema an einer Myokarditis zu erkranken,
Naftali Bennett im Sommer alles auf eine Empfehlung erarbeiten will, ist bei einer Covid-19-Infektion rund
die Karte »dritte Impfung«. Im »Eco- ­besteht nun darin, mithilfe aller ver- sechsmal höher als bei einer Covid-
nomist« begründete Bennett den fügbaren wissenschaftlichen Evidenz Impfung.
Schritt auch damit, dass er den Impf- Aufgefrischt abzuwägen, ob die Gefahr durch Diese Studie sei gemeinsam mit
skeptikern zuvorkommen wollte: Sars-CoV-2 für Kinder größer ist als zwei anderen Arbeiten »wesentlich«
»Wenn sich Personen trotz doppelter Verabreichte Covid- die Gefahr durch diese Nebenwir- für die Entscheidung der Stiko gewe-
19-Boosterimpfungen
Dosis anstecken, untergräbt dies das je 100 Einwohner kung der Impfung. sen, die Impfung Mitte August dann
Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaftliche Evidenz, erklärt doch für alle über Zwölfjährigen zu
Israel
Impfstoffe und hält andere davon ab, Meerpohl, sei dabei ein sich kontinu- empfehlen, erzählt Mertens. Diese
sich impfen zu lassen.« Anstatt sich, Vereinigtes ierlich entwickelnder Prozess. Man gründliche Vorgehensweise dauere
Königreich
wie von vielen Experten gefordert, auf könne sich das wie beim Werfen einer nun mal, sagt er, auch wenn sich man-
USA
die kleine Gruppe der Ungeimpften zu Münze vorstellen. Die Wahrschein- che darüber ärgerten. In die Kritik
konzentrieren, beschloss man in Israel, Deutschland lichkeit für Kopf und Zahl betrage gerät der Stiko-Vorsitzende indes we-
durch die Drittimpfung das Vertrauen 40
jeweils 50 Prozent. Aber bei wenigen niger für die Arbeit seiner Kommis-
in deren Wirksamkeit zu festigen. Würfen erhalte man unter Umstän- sion, sondern eher für manche seiner
Es war also auch eine politische den eine unrealistische Verteilung. Äußerungen in den Medien, die in
30
Entscheidung, keine rein medizini- Erst nach ausreichend vielen Würfen kritischen Ohren fast schon nach
sche – und Bennett hat recht be­ zeige sich eine gleichmäßige Vertei- Impfskepsis klangen – auch wenn der
halten: Mittlerweile sind mehr als 20 lung. Für ein aussagekräftiges Ergeb- Stiko-Vorsitzende das wohl sicher
40 Prozent der Bevölkerung dreimal nis benötige man daher ausreichend ­anders gemeint hat.
geimpft, die täglichen Neuinfektionen 10 große Datenmengen. »So wird auch So sagte Mertens beispielsweise im
liegen nur noch im mittleren dreistel- in der Wissenschaft das Bild mit der Juli bei »Markus Lanz«, er persönlich
ligen Bereich. So hat das Land den 0 Zeit immer schärfer, bis es uns dann würde seine Enkel nicht gegen Co-
Boostershot zum festen Bestandteil 1. Juli 31. Okt.
irgendwann erlaubt ist zu sagen: vid-19 impfen lassen. Und vorigen
eines vollständigen Impfschutzes 2021 2021 ›Jetzt sehen wir zumindest so klar, Sonntag äußerte er in den ARD-­
­erklärt. Ohne ihn gibt es zukünftig S Quelle: Our World in Data dass wir einigermaßen sicher sind, »Tagesthemen« zum Thema Kinder-

108 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WISSEN

impfungen: »Es handelt sich ja um kleine Kör- kürzlich geimpft wurde und dann verstarb.
per, Organismen, wo alles noch wachsen muss Der ursächliche Zusammenhang mit der Imp-
und wo alle Organe noch wachsen müssen. fung wird in diesem Fall noch untersucht, in
Also, es muss schon genau überlegt werden.« den anderen Fällen konnte er nicht geklärt
Das war allerdings schon deshalb missver- werden.
ständlich, da dies ja genauso für eine Covid- Allerdings zeigen Studien eben auch: Co-
19-Erkrankung und deren mögliche Folgen vid-19 ist für Kinder offenbar doch nicht so
gilt – an der Nutzen-Risiko-Abwägung ins- harmlos, wie von vielen lange behauptet wur-
gesamt also nichts ändert. de. In Deutschland sind bislang 29 unter
Mertens steht bis heute zu seiner Enkel- 20-Jährige – 19 davon mit bekannten Vor-
aussage. Schließlich habe sie der seinerzeit erkrankungen – im zeitlichen Zusammenhang
noch geltenden Stiko-Empfehlung entspro- mit einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben, in
chen, sagt er. Und seinen Satz von den wach- Großbritannien 93 unter 19-Jährige. Und
senden Organen will er als allgemeine Für- schätzungsweise 11 000 Kinder und Jugend-
sorgepflicht für die Kinder und seine Sorge liche zwischen 2 und 16 Jahren, schreibt die
um Nebenwirkungen verstanden wissen. Gesundheitswissenschaftlerin Nisreen Alwan
Dass bei Kinderimpfungen der Abwä- von der University of Southampton im re-
gungsprozess besonders schwierig ist, lässt nommierten »British Medical Journal«, haben
sich nicht bestreiten. Die FDA stützte sich bei in Großbritannien seit über einem Jahr blei-
ihrer Bewertung der Impfung für die Fünf- bis bende Krankheitssymptome.
Elfjährigen sowohl auf die klinischen Studien »Bei uns kann man sehen, was passiert,
von Pfizer als auch auf eine eigene Modell- wenn man das Virus ungehindert die Kinder
rechnung. An den Studien nahmen insgesamt infizieren lässt«, sagt Alwan. Es helfe Kindern
4700 Kinder in den USA, Finnland, Spanien nicht, in den Schulen so zu tun, als gäbe es
und Polen teil. 3100 der Kinder bekamen den das Virus nicht mehr. Wegen der vielen Qua-
Impfstoff, der Rest ein Placebo. 1444 der rantänefälle sei oft kein durchgehend gere-
Impfstoffempfänger hat man zwei Monate gelter Unterricht mehr möglich. Es sei »un-
nach der letzten Dosis weiterbeobachtet. Die ethisch«, die Kinder nicht mit allen Mitteln
Nebenwirkungen waren »im Allgemeinen vor Sars-CoV-2 zu schützen, während sich die
leicht bis mittelschwer und traten innerhalb meisten Erwachsenen durch eine Impfung in
von zwei Tagen nach der Impfung auf, und Sicherheit gebracht hätten.
die meisten verschwanden innerhalb von ein Auch eine vor wenigen Tagen veröffent-
bis zwei Tagen«, schreibt die FDA in ihrer lichte Studie der TU Dresden, die gemeinsam
Begründung. Herzmuskelentzündungen tra- mit dem RKI und mehreren Krankenkassen
ten in den Studien nicht auf. Solche seltenen auf der Basis von mehr als 150 000 Patienten-
Nebenwirkungen sind jedoch kaum je in kli- daten aus Deutschland, darunter fast 12 000
nischen Studien zu beobachten, sondern zei- Kinder und Jugendliche, erstellt wurde, hat
gen sich meist erst in der breitflächigen An- eindeutig ergeben: Kinder und Jugendliche,
wendung. die an Covid-19 erkrankt waren, leiden drei
Um dennoch das Risiko für eine Herzmus- Monate nach der Infektion deutlich häufiger
kelentzündung nach der Impfung zu bewer- unter Symptomen wie Müdigkeit und Er-
ten, das gerade als am höchsten bei Jungen schöpfung, Husten, Hals-, Kopf- und Bauch-
im Alter von 12 bis 17 Jahren betrachtet wird, schmerzen, Angst und Depressionen als
führte die FDA mithilfe einer Modellrechnung Gleichaltrige, die keine Infektion durchge-
eine eigene Bewertung durch. Demnach kam macht haben. »Die Quintessenz ist«, mahnte
die FDA zu dem Ergebnis, »dass der Nutzen RKI-Chef Lothar Wieler am Mittwoch in der
des Impfstoffs insgesamt seine Risiken bei Bundespressekonferenz: »Bitte lasst uns die
Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren über- Kinder schützen.«
wiegen würde«. Nachdem sich die 18 Mit- Die Stiko will diese Studie und andere neue
glieder des Expertenkomitees in der vorver- Daten zur Krankheitslast bei Kindern in ihre
gangenen Woche beraten hatten, stimmten Überlegungen hinsichtlich der Empfehlung
sie ab. Ihr Votum: 17 dafür, eine Enthaltung. für die Kinderimpfung einbeziehen. Mertens
Unter den rund zwei Millionen 12- bis findet die Untersuchung »sehr interessant«.
17-Jährigen, die in Deutschland schon geimpft Am Dienstag allerdings, elf Tage nach der
wurden, sind bislang sechs Todesfälle bekannt Veröffentlichung, hatte der Stiko-Chef sie
geworden, die im zeitlichen Zusammenhang »noch nicht genau gelesen«.
mit der Impfung auftraten. Etwa jenes 12-jäh- Für Kinderarzt Finkelstein aus Maryland
rige Kind aus Cuxhaven, das seit Jahren an wäre es ein großer Fehler, nicht auch die Kin-
einer kardiovaskulären Vorerkrankung litt, der so schnell wie möglich zu impfen. »Ich
kann mir vorstellen, dass es in Europa bald
ähnlich wie in den Vereinigten Staaten zu-
gehen wird«, sagt er. »Über die Feiertage wer-
»Die Quintessenz ist«, den viele Menschen unterwegs sein und ihre
Familie treffen.« Das Reisen, das kältere Wet-
mahnte RKI-Chef Wieler, ter, geschlossene Fenster – für Finkelstein
»bitte lasst uns perfekte Bedingungen, in denen sich das Virus
rasant verbreiten kann.
die Kinder schützen.« Veronika Hackenbroch, Kerstin Kullmann n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 109


WISSEN

nieren kann? Kritiker bezweifeln das.


a z o n , USA ) Satellitenkonstellationen
e r ( Am Die an dem Projekt beteiligten chine­
k t K u i p 1 T e l e s a t ( K an a d a ) für Breitbandinternet,
je 1/ ngyun (CASIC sischen Forscher arbeiten eng mit
Pro 167 864 / 1 Ho , geplante / aktuelle Größe
6 /0 650 / 1 Ga l ax y Spa c Chi na ) dem chinesischen Militär zusammen,
3 e( ausgewählter Flotten
3 2 3 00 / 2 K l e o Co nn C h i na ) warnt Filip Jirouš, ein tschechischer
ect
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ch ten Chinaexperte bei der Wissensplatt­
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) in, form Sinopsis, die mit der Prager
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Karlsuniversität verbunden ist. Die
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von dieser Frage scheint das Projekt

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sein, wie Europa ein geostrategisch

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wichtiges Hightech-Thema erst ver­
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schläft und dann verstolpert.


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Doch was kann der Zwergstaat der


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fernöstlichen Supermacht überhaupt


/ 35

Griff
bieten? Liechtenstein verfügt noch
6372

nicht einmal über einen eigenen Welt­


raumbahnhof. Es hält aber einen für

nach den
China interessanten Trumpf: eine be­
gehrte Funkfrequenz.
Schon 2014 hat eine Firma aus

Sternen
Liechtenstein diese bei der Interna­
tio­nalen Telecommunication Union
(ITU) in Genf beantragt und zugeteilt.
Möglich war dies, weil Frequenzen

SA)
12.9

nach dem Prinzip »Wer zuerst kommt,

X, U
mahlt zuerst« verteilt werden – egal
92

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wie klein ein Antragsteller ist. Erst

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die Funkfrequenz macht die Kommu­

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nikation zwischen den Satelliten und
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den Empfangsgeräten am Boden
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möglich. Die meisten anderen Mit­


66
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00 bewerber stammen aus den USA und


.0 China. Auch Amazon plant ein eige­
42
nes Himmelsnetz namens Kuiper,
S Quelle:
Großbritannien ist mit OneWeb am


Stiftung Wissenschaft
und Politik, eigene Recherchen
Start, Kanada mit Telesat. Große
europäische Nationen wie Frankreich
RAUMFAHRT  Der Zwergstaat Liechtenstein will zusammen mit China und Deutschland hingegen haben
es verschlafen, sich rechtzeitig um
eine riesige Satellitenflotte aufbauen, die schnelleres Internet und autonomes Frequenzen zu bemühen. Europas
Fahren ermöglichen soll. Auch eine deutsche Firma ist an dem Deal letzte Hoffnung ist nun daher Liech­
beteiligt. Kritiker warnen vor einem Missbrauch durch die Volksarmee. tenstein.
Das vorläufige Nutzungsrecht für
die Frequenz liegt derzeit bei einer

W
egen der vielen Casinos im Monaten. Der Auftraggeber: Shang­ kleinen Aktiengesellschaft namens
Land gilt Liechtenstein als hai Spacecom Satellite Technology Trion Space AG. Michael Frommelt,
»Las Vegas der Alpen«. Nun Ltd. Im Anzeigentext hieß es: Das Präsident des Verwaltungsrats von
will der Kleinstaat an einem weitaus Projekt »bringt unserem Land eine Trion, möchte auf Anfrage des
größeren Pokertisch mitspielen: dem Vielzahl von Vorteilen«. Doch wel­ SPIEGEL dazu aber nichts weiter
wachsenden Geschäft mit Satelliten. chem Land – das ist die Frage, über ­sagen: »Wir sind gegenwärtig in
Das Fürstentum plant rund 300 die im Fürstentum gerade heftig ge­ gericht­lichen Verfahren«, schreibt er
von ihnen ins All zu schießen, die stritten wird. per E-Mail. »Unsere Anwälte raten
dann in rund 1000 Kilometer Höhe Liechtensteins stellvertretende Re­ uns in dieser Phase grundsätzlich, kei­
die Erde umkreisen sollen. Gesteuert gierungschefin Sabine Monauni muss­ »Viele ne Öffentlichkeitsarbeit zu betrei­
von Vaduz aus, sollen sie schnelle
Kommunikationsverbindungen für
te gegenüber dem Parlament bereits
einräumen: »Die Regierung ist sich
Satelliten­ ben.«
Das übernimmt Florian Krenkel,
selbstfahrende Autos, Fabriken oder der Risiken bezüglich des Einflusses konstellatio­ der als Sprachrohr von Fürst Hans
das »Internet der Dinge« ermög­ der chinesischen Investoren im Ge­ nen geraten Adam II. und Erbprinz Alois gilt und
lichen. Liechtenstein begibt sich da­ samtprojekt bewusst.« Die Betreiber die Raumfahrtpläne Liechtensteins
mit in direkte Konkurrenz zur »Star­ versichern jedoch: Es gebe keine chi­
schnell in nach außen lobpreist. Krenkel war
link«-Satellitenflotte, die Elon Musk nesische Dominanz, die Kontrolle finanzielle einst Pressesprecher des ehemaligen
mit seinem Raumfahrtunternehmen liege in Liechtenstein. Schieflage.« österreichischen Bundeskanzlers
SpaceX aufbaut. Ob eine strategische Allianz zwi­ Wolfgang Schüssel und gilt in Liech­
Marco Aliberti,
»Neue Jobs in Liechtenstein kom­ schen einem der kleinsten Staaten der Europäisches
tenstein als schillernde Figur. Der Fürs­
men aus dem All«, verkündeten ganz­ Erde und der bevölkerungsreichsten Institut für Welt- tenflüsterer mischte schon mit, als sich
seitige Zeitungsanzeigen bereits vor Großmacht auf Augenhöhe funktio­ raumpolitik der Kleinstaat vor rund 20 Jahren lei­

110 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WISSEN

denschaftlich um eine Verfassungsreform zoff­ Vergabe immerhin an mehrstufige Bedingun­ in Europa verwehrt bleiben. »Wenn in
te. »Noch ­heute sträuben sich bei einigen Lan­ gen. Im Fall von Liechtenstein bedeutet das: Deutschland entwickelte Satellitentechnik
desbewohnern die Nackenhaare, wenn der Innerhalb von etwa zwei Jahren müssen zehn von chinesischen Trägerraketen aus ins All
Name Krenkel im Zusammenhang mit der Prozent der angemeldeten Satelliten im All geschossen wird, kann das bedeuten, dass
Verfassung ­erwähnt wird«, schreibt das »Vater­ angekommen sein – das wären 30 Stück. Der diese Satelliten ihre Dienste nicht in den
land«, die auflagenstärkste Tageszeitung des Countdown tickt also für die kleine, junge USA anbieten dürfen«, sagt Marco Aliberti,
Landes. Böse Zungen nennen ihn »Überregie­ Raumfahrtnation. Rechtsexperte am Europäischen Institut für
rungschef« oder »Rasputin am Fürstenhof«, Um den Aufbau der Konstellation tech­ Weltraum­politik in Wien. Die meisten kom­
schreibt das »Vaterland«. nisch zu bewerkstelligen, hat sich der Liech­ merziellen Weltraumprojekte machten des­
Inzwischen sorgt das Satellitenprojekt tensteiner Frequenzbesitzer mit einer deut­ halb einen Bogen um China, so Aliberti: »Bei
auch international für Unruhe. Die Liechten­ schen Firma zusammengetan: der Kleo europäischen Weltraumfirmen stammen rund
steiner Flotte soll auf beliebten Umlauf­ ­Connect GmbH. Kleo Connect soll auch für 88 Prozent der Investitionen aus Europa und
bahnen um die Erde kreisen: nah genug am den Aufbau eines Operationszentrums in den USA. Chinesische Investitionen sind re­
Boden, um eine zu große zeitliche Verzöge­ Liechtenstein zuständig sein, welches die lativ selten.«
rung der ­Signale zu verhindern, aber zugleich Satellitenflotte steuern soll. Falls China die Die Liechtensteiner Himmelsstürmer
weit genug entfernt, um eine möglichst große Satelliten missbräuchlich nutzen würde, ­stecken in einer Zwickmühle: Ohne chine­
Fläche abzudecken. Auf einem dieser Filet­ zum Beispiel für militärische Zwecke, könn­ sisches Geld können ihre Satelliten nicht
stückorbits kreisen bereits Satelliten, die Elon te Liechtenstein sie deaktivieren. Das Fürs­ ­abheben – doch mit ihm schrumpft der poten­
Musk mit seinem Raumfahrtunternehmen tentum soll gleichsam über einen roten zielle Kundenkreis. »Wir sehen keine An­
SpaceX in die Umlaufbahn geschickt hat. ­Ausschaltknopf ver­fügen, versichert die zeichen für die Beschränkung des Markt­
Was, wenn die Satelliten sich dort oben ins ­Firma. zugangs«, gibt sich Kleo Connect zweck­
Gehege kommen, wenn sie zum Beispiel Diese Sicherheitsvorkehrungen überzeu­ optimistisch.
außer Kontrolle geraten und dann zusammen­ gen nicht alle Experten. »Kleo Connect ist für Der Weg zu den Sternen könnte vielleicht
stoßen? mich ein Beispiel dafür, wie sich ausländische sogar über einen Konkurs führen, spekulieren
In einem Fernsehinterview spielte Kren­ Investoren in innovative Firmen im Bereich Fachleute. Die Zahlungsunfähigkeit sei nicht
kel die Crashgefahr herunter: »Vor vielen der Weltraumtechnologie einkaufen«, kriti­ außergewöhnlich, sagt Weltraumexperte Ali­
Jahren sind einmal zwei Satelliten zusam­ siert der Politikwissenschaftler Daniel ­Voelsen berti: »Viele Satellitenkonstellationen geraten
mengestoßen, von denen ist aber nichts mehr von der Stiftung Wissenschaft und Politik schnell in finanzielle Schieflage, wie zum
übrig geblieben«, versicherte er: »Die sind (SWP) in Berlin: »Dabei droht ein Verlust der ­Beispiel Iridium, OneWeb oder Leosat. Sie
mit einer Geschwindigkeit von ungefähr entsprechenden Expertise. Das schwächt die scheitern am klassischen Henne-Ei-Problem:
80 000 Stundenkilometern zusammenge­ europäische Weltraumindustrie und schränkt Ohne eine Funkfrequenz finde ich keine In­
knallt, und da bleibt nichts mehr über.« den politischen Gestaltungsspielraum ein.« vestoren, aber ohne Investoren ist es schwie­
Schön wär’s. Er warnt davor, dass das Satelliteninternet rig, das Anrecht auf eine Frequenz zu be­
»Die durchschnittliche Kollisionsgeschwin­ unter Firmen wie Amazon, SpaceX und chi­ kommen.«
digkeit in diesen Orbithöhen beträgt rund nesischen Wettbewerbern aufgeteilt wird. Der Konkurs ist für viele Satellitenbetrei­
36 000 Kilometer pro Stunde, Relativ­ Europa wäre ohne eine eigene Konstellation ber häufig ein normales Entwicklungs­stadium,
geschwindigkeiten von 80 000 Stundenkilo­ fremden Machtinteressen ausgeliefert bei wie die Verpuppung für einen Schmetterling.
metern sind im Erdorbit kaum zu erreichen«, Datenschutz, Wettbewerb oder Meinungs­ Auch OneWeb ging diesen Schritt einst, da­
kommentiert Holger Krag, Leiter des Raum­ freiheit. Europas Verschlafenheit gebiert eine mals half es der Firma vielleicht sogar, dass
fahrtsicherheitsprogramms der europäischen Provinzposse. zu den Bietern auch chinesische Investoren
Raumfahrtagentur Esa, trocken. Krag wacht Doch es ist ohnehin längst nicht sicher, gehörten, deren Angebote den Preis hoch­
über Satelliten in der Erdumlaufbahn. Täg­ dass das Vorhaben überhaupt gelingt. Solan­ trieben und anderen Geldgebern gegenüber
lich bekommt er mehrere Kollisionswar­ ge chinesische Investoren maßgeblich mit­ als Drohkulisse wirkten. Nicht völlig abwegig,
nungen, alle paar Tage muss er künstliche reden, könnte dem Satellitennetz der Zugang dass irgendwann sogar die Esa in Liechten­
Trabanten aus dem Weg manövrieren, damit zu lukrativen Märkten in den USA oder sogar stein mit einsteigt – vor allem wegen der
sie nicht von Weltraumschrott getroffen ­wertvollen Frequenz.
­werden. »Europa hätte die Möglichkeit, bei dieser
Zur erdumkreisenden Müllhalde tragen Zukunftstechnologie ­politisch sein eigenes
kaputte Satelliten ebenso bei wie ausgebrann­ Schicksal in die Hand zu nehmen«, sagt der
te Raketenoberstufen, mit denen die Geräte Politikexperte Daniel Voelsen von der SWP:
hochgeschossen werden. Über 36 000 Schrott­ »Noch ist es dafür nicht zu spät, aber es ist
teilchen von mehr als zehn Zentimeter Größe wichtig, auf europäischer Ebene jetzt bald
schwirren im Orbit umher. Ihre Zahl könnte eine Grundsatzentscheidung zu dieser Frage
sich in den nächsten Jahren verfünffachen, zu treffen. Dabei wird es auch auf die neue
vor allem durch die neuen Megakonstella­ Bundesregierung an­kommen.«
tionen wie OneWeb, Starlink oder Kuiper Das Liechtensteiner Pokerspiel geht in
mit Hunderten und vielleicht bald Tausenden die nächste Runde. Falls die hochfliegenden
Satelliten – und bald vielleicht auch Hun­ Pläne platzen, hat das Las Vegas der Alpen
derten Satelliten aus Liechtenstein (siehe bereits ein neues Ass im Ärmel. Mit einem
­Grafik). Blockchain-Gesetz setzt der Zwergstaat
»Im All herrschen Zustände wie im Wilden auf die Spekulationsblase bei Digital­
Westen«, sagt Chris McLaughlin von der kon­ währungen wie Bitcoin, Dogecoin und
kurrierenden Konstellation OneWeb: »Das ­dergleichen. Auch ein griffiges Motto macht
Joe Marino / UPI / laif

erinnert an Spekulanten, die einst ihre Claims schon die Runde: »Crypto Country Liechten­
im Nirgendwo absteckten, um vom Eisen­ stein«. Und im Gegensatz zu Satelliten hin­
bahnbau zu profitieren.« terlassen Digitalwährungen wenigstens
Um Spekulanten auszubremsen, knüpfen ­keinen Müll.
die Frequenzwächter bei der ITU in Genf die Start einer »Falcon 9«-Rakete von SpaceX Hilmar Schmundt n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 111


WISSEN

rete, fast jedes Mal, wenn sie bei ihm Unter-


schlupf fanden, missbrauchte. Da ist Bruder
Brian, von dem alle dachten, er hätte in Ka-
lifornien eine Karriere als Rockstar gemacht,

Die verrückteste
bis er dort tot aufgefunden wurde – er hatte
seiner Freundin und sich in den Kopf geschos-
sen. Oder Bruder Michael, der Hippie der

Familie Amerikas
Familie: Eigentlich zählte er gar nicht zu den
sechs Verrückten in der Familie, und trotzdem
landete er in der forensischen Psychiatrie,
nachdem er von der Polizei wegen Hausfrie-
densbruch aufgegriffen worden war.
PSYCHIATRIE  Bei den Galvins aus Colorado Springs litten sechs Doch Kolkers Buch erzählt mehr als nur
von dem Fluch, der auf einer Familie liegt. Es
­ eschwister an Schizophrenie, trotzdem führte die Familie ein halbwegs
G handelt zugleich von diesem Fluch selbst: der
normales Leben – und wurde sogar zum Forschungsgegenstand. Schizophrenie, einer Krankheit, die vom Wis-
senschaftsmagazin »Nature« einmal zur »viel-
leicht schlimmsten, die die Menschheit be-

D
ieses eine Mal wenigstens schien alles oder die nüchterne Präzision, mit der dieser fällt« erklärt wurde. Knapp jeder 100. Erden-
glattzulaufen. Fast alle waren gekom- ihre Geschichte protokolliert hat. Kolker hat bürger erkrankt irgendwann im Laufe seines
men, und Mimi Galvin erhoffte sich dafür mit Psychiatern, Therapeutinnen und Lebens daran, die Häufigkeit scheint in allen
nach all den Schicksalsschlägen der letzten Pflegern der Galvins gesprochen, Freundin- Kulturen weltweit ähnlich. Erstmals treten
Jahre an diesem Thanksgiving endlich wieder nen und Nachbarn befragt, Krankenakten und die schizophrenen Episoden meist bei Jugend-
ein glückliches Zusammensein ihrer Familie. Tagebücher durchforstet. lichen oder jungen Erwachsenen auf.
Den ganzen Tag hatte sie in der Küche ver- Lange Zeit schienen die Galvins in Colo- Kolker führt dem Leser die verstörende
bracht, um das Festmahl zuzubereiten. Do- rado Springs eine amerikanische Vorzeige- Vielgesichtigkeit der Schizophrenie vor Au-
nald, ihr ältester Sohn, wohnte vorüberge- familie zu sein. Ohne Babysitter und ohne gen: Sie wurde als ein Leiden der Seele, der
hend wieder zu Hause. Jim, der zweite, war Nanny zog Mimi ihre vielen Jungs groß, die Familie, des Hirns oder der Gene begriffen;
mit Ehefrau und seinem kleinen Sohn gekom- Klamotten nähte sie, wo irgend möglich, erklärt wurde sie nicht. Sie wurde mit Insulin-
men. Auch für sieben weitere Söhne und für selbst. Mimi war bekannt dafür, dass sie vor- oder Elektroschocks behandelt, mit Hirnchi-
die beiden Jüngsten, die Töchter, war die ­Tafel zugsweise dicke Bücher las und die Genea- rurgie, Psychoanalyse oder Neuroleptika;
im Esszimmer gedeckt. Nur John, der Dritte logie aller europäischen Königshäuser bis geheilt wurde sie nicht. Letztlich stehen die
in der Geschwisterfolge, fehlte. zurück ins Mittelalter aufsagen konnte. Ihren Fachleute einem Schizophrenen heute immer
Dann kam es, wie es kommen musste. Wie Mann Don, einen Luftwaffenoffizier, feierte noch hilf- und ratlos gegenüber.
früher, in ihrer Kindheit, gingen Donald und die Lokalpresse wiederholt wegen seines aus- Zugleich sagt die Art, wie diesem Krank-
Jim, kaum dass sie sich trafen, mit den Fäus- gefallenen Hobbys: der Falkenzucht. heitsbild begegnet wurde, viel darüber aus, wie
ten aufeinander los, nur dass es diesmal hef- Hinter der Fassade wies das Familienidyll sich das Menschenbild im Verlaufe des
tiger war denn je. Jim, der immer der Unter- da längst Risse auf. Ständig rangelten die Jungs 20. Jahrhunderts gewandelt hat: Kolker erzählt,
legene gewesen war, witterte eine Schwäche miteinander. Kaum hatten die Eltern das Haus wie sich die beiden großen Psychoanalytiker
seines Gegners. Die Medikamente, die Do- verlassen, wurden organisierte, oft brutale Sigmund Freud und Carl Jung über die auto-
nald nehmen musste, raubten seine Kraft. Jim Schlägereien daraus. Donald, der Älteste, ließ biografischen Notizen von Daniel Paul Schreber
war entschlossen, diese Chance zu nutzen. die anderen gegeneinander antreten. Oder er unversöhnlich zerstritten, den ersten authenti-
Donald floh hinter den gedeckten Tisch. wählte einen aus, den dann die anderen auf schen Bericht eines Schizophrenen. In dem Ge-
Als Jim ihm folgte, schmetterte er ihm die sein Geheiß gemeinsam verprügelten. lehrtenstreit ging es um die »Nature-Nurture-
Tafel entgegen. Messer und Gabeln purzelten Don und Mimi zogen es vor wegzugucken. Frage«, die die Psychiatrie bis heute umtreibt: Ist
durch den Raum, die Hoffnung der Mutter »So sind Jungs eben«, hieß es dann. Erst als das Leiden angeboren, oder treibt die Umwelt
auf ein einträchtiges Thanksgiving lag in Donald bereits im College war, ließ es sich den Kranken in den Wahn?
Scherben. Verbittert hackte sie in der Küche nicht länger leugnen: Nun kam heraus, dass Im Jahr 1960 setzte dann Alfred Hitchcock
das Lebkuchenhaus entzwei: »Ihr Jungs ver- ihr Sohn einmal mitten in ein Lagerfeuer ge- mit seinem Thriller »Psycho« der damals vi-
dient es nicht«, schluchzte sie. sprungen war, dass er eine Katze langsam zu rulenten Theorie von der schizophrenen Mut-
Die Szene entstammt einem Buch, in dem Tode gequält hatte und dass er schon mit zwölf ter ein Denkmal. Ihr zufolge sind es die über-
der US-Reporter Robert Kolker die Geschich- den ersten Selbstmordversuch unternommen mächtigen Mütter, die ihre Kinder Zuflucht
te einer in dieser Form wohl beispiellosen hatte. Für die Eltern begann ein Albtraum, aus im Wahn suchen lassen. Auch Mimi Galvin
Familientragödie erzählt: Die Galvins aus dem es fortan kein Entrinnen mehr gab. wurde, zusätzlich zur Sorge um die kranken
Colorado sind die weltweit vermutlich ein- Der Leser von Kolkers Buch fühlt sich in Söhne, noch die Last der Schuld aufgebürdet.
zige Familie, in der sechs Geschwister an Schi- einen Film von David Lynch versetzt, in dem Anschließend wurde dann der später ver-
zophrenie erkrankten*. Zum Zeitpunkt des unter dem Kleinstadtrasen das verborgene filmte Roman »Einer flog übers Kuckucks-
Thanksgiving-Desasters im Jahr 1972 hatte Grauen emporquillt. Ganz gleich, in welchen nest« zum Manifest der Anti-Psychiatrie-­
sich das Leiden nur bei den beiden Ältesten Winkel des galvinschen Familienlebens Kol- Bewegung. Die Zweifel am Nutzen der Psy-
manifestiert. Die Brüder Brian, Peter, Matt ker leuchtet, es tritt Ungeheuerliches zutage. chopharmaka trug diese auch in die Familie
und Joe sollten noch folgen. Da ist Familienvater Don, der dem Chaos Galvin hinein: War die Therapie der Schizo-
Es ist eine atemberaubende Lektüre. Man daheim entkommen wollte, indem er bei Af- phrenie am Ende womöglich schlimmer als
weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die fären Trost suchte. Nach einem Schlaganfall die Krankheit selbst?
Schonungslosigkeit, mit der sich alle noch wurde er in den Ruhestand versetzt, sodass Als dann ab den Achtzigerjahren das Zeit-
lebenden Galvins dem Autor offenbarten, seine Frau nun neben sechs seelisch kranken alter der biologischen Psychiatrie anbrach und
Söhnen auch noch einen gelähmten Ehemann die Gene immer mehr ins Visier der Seelen-
* Robert Kolker: »Hidden Valley Road. Im Kopf einer zu versorgen hatte. Da ist Bruder Jim, der kundler rückten, entdeckte die Forschung den
amerikanischen Familie«. 512 Seiten; btb; 22 Euro. seine kleinen Schwestern Mary und Marga- Wert der Galvins als Studiengegenstand. Die

112 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


WISSEN

Familie bekam nun Besuch von Wis- weise eine Rolle auch bei der Entste- jüngsten, die, kaum dass sie an der
senschaftlern, die ihnen Blut abnah- hung von Schizophrenie. Boarding-School und damit der Höl-
men und physiologische Tests mit Kolkers größte Leistung aber be- le ihrer Kindheit entronnen war, den
ihnen durchführten. Es handle sich steht darin, dass er das Schicksal der allzu katholischen Namen ablegte
um die »vielleicht verrückteste Fami- Galvins nicht nur als Leidens-, son- und sich fortan Lindsay nannte.
lie Amerikas«, sagte einmal die Har- dern zugleich auch als Heldenge- Wie so viele Geschwister psychisch
vard-Psychiaterin Lynn DeLisi. schichte, besser gesagt: als Heldin- Kranker stand sie stets im Schatten
Die Häufung von Erkrankungen nengeschichte erzählt. Mit Hochach- der Brüder, die alle Aufmerksamkeit
in dieser Familie gilt unter Forschern tung und Bewunderung spricht er von bekamen. So musste sie allein damit
als Indiz für eine starke erbliche Kom- Mimi Galvin, die es bei all ihrer Wi- fertig werden, dass nichts daheim be-
ponente. DeLisi suchte im Erbgut der dersprüchlichkeit vollbracht hat, über rechenbar war. Wenn sie nach Hause
Galvins nach Auffälligkeiten – und Jahrzehnte das private Irrenhaus in kam, musste sie stets darauf gefasst
sie wurde fündig. Alle erkrankten der Hidden Valley Road in Colorado sein, dass einer der Brüder gerade im
Galvin-Brüder teilen eine Mutation Springs zu führen. Wenn es möglich Großfamilie Galvin: Wohnzimmer urinierte, um die Teufel
Mal waren alle Fische
in einem Gen namens SHANK2. Die- ist, eine solche Lebensleistung noch im Aquarium vergiftet,
im Keller zu bekämpfen, oder dass
ses hilft bei der Kommunikation von zu steigern, dann ist dies ihren Töch- mal die Möbel aus ein anderer gerade alle Fische im
Nervenzellen und spielt möglicher- tern gelungen, besonders Mary, der dem Haus geräumt Aquarium vergiftet hatte. Einmal
fand sie im Haus sogar gähnende Lee-
re vor – Donald hatte, warum auch
immer, die Möbel samt und sonders
in den Garten getragen.
Manchmal, wenn die Brüder im
Erdgeschoss wüteten, sah sie keinen
anderen Ausweg, als sich im Eltern-
schlafzimmer einzuschließen. Dort
kauerte sie und hoffte, dass die Polizei
kommen würde, ehe die Tür einge-
treten war. Verlass war im Tollhaus
ihrer Kindheit einzig auf die sexuellen
Zudringlichkeiten von Bruder Jim.
Es ist schwer zu begreifen und da-
bei dennoch typisch in ihrer Opfer-
rolle, dass Lindsay bei alledem nicht
Wut oder gar Hass empfand, sondern
Schuldgefühle dafür, dass sie ver-
schont blieb von dem Wahn, der ihre
Brüder vor ihren Augen einen nach
dem anderen befiel.
Lindsay widmete einen großen Teil
ihres weiteren Lebens den erkrankten
Brüdern. Für Peter, der immer der auf-
sässigste von ihnen gewesen war, über-
nahm sie zeitweilig die Vormund-
schaft; in Matt, der sich für Paul Mc-
Cartney hielt, sah sie vor allem das
Opfer, weil er seinerseits unter den
Großen zu leiden hatte; und selbst Do-
nald, den einstigen Tyrannen im El-
ternhaus, besucht sie bis heute regel-
mäßig im psychiatrischen Pflegeheim.
So ist es vor allem Lindsays Für-
sorge zu danken, dass die Sprengkraft
der Schizophrenie die Familie Galvin
nicht zu zerreißen vermochte. Kolker
war dabei, als sich nach dem Tod der
92-jährigen Mimi die noch lebenden
Geschwister versammelten. Jim und
Joe waren inzwischen verstorben,
beide an durch jahrzehntelangen Psy-
chopharmakakonsum verursachtem
Organversagen.
Ihre Gespräche hat Kolker proto-
kolliert. Entstanden ist eine anrüh-
Penguin Random House

rende Collage aus Kindheitserinne-


rungen, Verrücktheiten, Witzeleien
und Streitereien – eine Momentauf-
nahme ganz normalen Wahnsinns.
Johann Grolle n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 113


KULTUR

Mer yl McMaster / Cour tesy of the ar tist, Stephen Bulger Galler y, Pierre-François Ouellette ar t contemporain
McMaster-Fotografie »From a Still Unquiet Place«, 2019

Gegen den Bilderstrom​


AUSSTELLUNGEN  Gleich drei deutsche Museen widmen sich jetzt der Gegenwartsfotografie aus den USA
und Kanada. Eine jüngere Künstlergeneration kämpft mit leisen Irritationen um Aufmerksamkeit.

K önnen diese Bilder lügen? So viele


noch dazu? Gleich drei Ausstellun-
gen präsentieren unter dem gemein-
samen Titel »True Pictures« Fotokunst aus
findung von Instagram war. Doch was ist
mit ihren Nachfolgerinnen und Nachfol-
gern? Als Fotokünstler gegen den Bilder-
strom im Internet zu konkurrieren ist
trägt ein Gewand mit Schottenmuster und
aufwendigen Kopfschmuck, über ihren
­Rücken hängen Ketten mit Medaillons, die
Porträts ihrer Ahnen enthalten. Ganz
den Vereinigten Staaten und Kanada: Dort ­extrem schwer. Viele Werke scheinen State- ­anders der Stil der New Yorkerin Anne Col-
haben sich früh eigene fotografische Tradi- ments gegen die Flüchtigkeit zu sein, die lier, die auch im Sprengel Museum ver­
tionen herausgebildet, und wie die sich bis Bilder sollen nicht gefallen, sondern irritie- treten ist, sie fotografiert Einzelbilder aus
in die digitale Gegenwart hinein weiterent- ren, und das oft bewusst nur leise. Die Ka- ­alten, romantischen Comics ab, zeigt gern
wickelt haben, ist momentan Thema im nadierin Meryl McMaster, die europäische Augen, aus denen Tränen kullern – womög-
Braunschweiger Museum für Photographie, und kanadisch-indigene Vorfahren hat, lich weil sie selbst den vordigitalen Zeiten
im Kunstmuseum Wolfsburg sowie im macht ebendiese Wurzeln zum rätselhaften nachweint. Die Wolfsburger beschränken
Sprengel Museum in Hannover. Natürlich Motiv. Auf einem Selbstporträt, das für sich auf die Werke der US-Künstlerin La-
kommen Berühmtheiten wie Cindy Sher- Hannover ausgewählt wurde, sieht man sie Toya Ruby Frazier, sie knüpft direkt an die
man vor, die eine Meisterin der (persiflie- von hinten, sie steht in der grasgrünen Hei- alte und große Tradition der gesellschafts-
renden) Selbstdarstellung lange vor der Er- matgegend ihres Vaters in Saskatchewan, kritischen Dokumentarfotografie an. UK

114 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Musikalischer seiner Brüder unter dem Namen
Biermösl Blosn Kabarett ge-
Staffellauf macht und nun in mehrjähriger
POP  Helge Schneider schmach- Arbeit Kolleginnen und Kolle-
tet in sehr teutonischem Eng- gen wie die Jazzmusikerin Bar-
lisch von der Liebe, die Toten bara Dennerlein oder den Sän-
Hosen entschuldigen sich bei ger Konstantin Wecker für seine
ihren Müttern für ihr sündiges Blues-Nummern-Revue gewor-
Leben. Und Gerhard Polt be- ben. »Die Idee war, die einzel-

Karen Kuehn / Apple TV+


schwert sich, er wolle das nen Beiträge wie Perlen an einer
­Gewinsel (»Gewuisl«) seiner Kette aufzufädeln«, sagt Well,
­lamentierenden Mitmenschen die stets mitklingende Harfen-
nicht mehr hören. Zahlreiche stimme sei »die Schnur, die alles
prominente Entertainer ver­ zusammenhält und verbindet«.
Hanks in »Finch«
sammeln sich auf dem Album Das Album ist ein Benefizwerk,
»Open Harp Blues« (Trikont) die Erlöse gehen an eine Schwei-
Der letzte Mensch rung für sich, vor allem aber für zu einem furiosen popmusikali- zer Hilfsorganisation, die unter
seinen Hund. Finch weiß, dass schen Staffellauf, indem sie die- anderem herzkranke Kinder in
STREAMING  Im Grunde hat er bald sterben wird, doch er selbe, mit einer Harfe einge- Afrika mit neuen Herzklappen
Tom Hanks diese Rolle schon will seinen Hund und seine bei- spielte Blues-Vorgabe variieren. versorgt. Well hat selbst im
einmal gespielt – den einsams- den Roboter in Sicherheit brin- Den Anstoß zu dem furiosen ­Alter von 14 Jahren eine Herz-
ten Mann auf Erden, der sich gen und begibt sich mit ihnen Projekt und das Blues-Motiv klappe eingesetzt bekommen,
einen Gefährten erfinden muss, auf eine Reise durch die USA. lieferte der bayerische Musiker »ich verdanke dieser Erfindung
um nicht den Verstand zu ver- Einmal mehr zeigt Hanks, was Christoph »Stofferl« Well. Er jetzt schon über 45 Jahre meines
lieren: in der Robinson-Crusoe- für ein großartiger Schauspieler hat viele Jahre lang mit einigen Lebens«. HÖB
Variation »Verschollen«. In sei- er ist. Er braucht sehr wenig,
nem neuen Film »Finch«, der um seine Figuren mit Leben zu
nun auf Apple TV+ zu sehen ist, füllen, er kann seine Zuschauer
wird er in der Rolle des Titel­ rühren, ohne je rührselig zu
helden auf sich selbst zurückge- werden. Ein bewegendes End-
worfen, weil eine globale Ka­ zeitdrama. Schade nur, dass
tastrophe weite Teile der Erde es nicht – wie ursprünglich ge-
in eine Staubwüste verwandelt plant – im Kino läuft, sondern

Zachi Razel & Kerem Halbrecht / Shutterstock


hat und die Sonnenstrahlen an den Streamingdienst ver-
­lebensgefährliche Intensität er- kauft wurde. So majestätische
reicht haben. In einem Schutz- Landschaften sieht man auf der
anzug sucht Finch nach Nah- Leinwand selten. LOB

Geteilte Freude von 250 Dollar. Jeder Käufer


darf sich Hoffnung machen, das
KUNST  Andy Warhol war ein Original erwischt zu haben statt
Fan der seriellen Produktion einer Roboterreproduktion.
und hätte wohl die Verwertung Eine geschäftstüchtige und auch Illustration aus »Stadt nach Corona«
seiner Zeichnung von drei Feen hintersinnige Aktion: Die Aura
begrüßt – auch wenn niemand des Unikats wurde gleichzeitig Sog nach draußen ten kann? Seit Jahren steigen
mehr sagen kann, wo genau sei- geschwächt und vervielfältigt, die Immobilienpreise schneller
ne »Fairies« aus dem Jahr 1954 das Sammlerglück ist ebenso SACHBÜCHER  »Vergeude nie als das Durchschnittseinkom-
geblieben sind. Eine New Yor- geteiltes Sammlerleid. Dahinter eine gute Krise«, lautet ein Rat, men. Zugleich ist es vielen Men-
ker Künstlergruppe ließ einen steckt das Künstlerkollektiv der von Winston Churchill schen zu eng geworden in ihren
Roboter 999 Kopien anfertigen, und Start-up MSCHF (sprich: stammen soll. Nun taucht er in Vierteln, weil immer weiter
mischte das Original unter sie mis­chief, englisch für Unfug). dem Aufsatzband »Die Stadt nachverdichtet wird. Gibt es für
und verkaufte die insgesamt Deren Mitglieder zerschnitten nach Corona« auf, und bei der sie Auswege? Alle sprechen von
1000 Blätter zum Stückpreis auch einen Kunstdruck von Da- Lektüre wird klar, dass die der Landliebe, dem Sog des
mien Hirst, verkauften die ab- ­Metropolen längst mehr als nur ­Lebens weit draußen, ein Mega-
gebildeten 88 bunten Punkte eine einzige Krise zu bewältigen trend lässt sich bisher jedoch
sowie das Gerippe einzeln – haben. Allein der Forderung, nicht ausmachen. Groß ist da-
und erzielten das Zehnfache des den stationären Handel nach gegen nach wie vor die Zahl
Ursprungswerts. Eine andere der Pandemie wiederzubele- leer stehender und verfallender
Idee wirkte wie ein Statement ben, steht die Erkenntnis gegen- Häuser in der Provinz. Nicht
gegen Waffennarren: Schuss- über, wie unattraktiv die frühe- nur die Städte sind in der Krise,
MSCHF / Ferrari Press / ddp

waffen wurden eingeschmolzen re Shopping-Monokultur in den sondern das gesamte Land ist
und das Metall zu Schwertern Zentren war. Und wie sieht es es. Churchill zufolge wäre damit
geschmiedet. Die Musikerin in Zukunft mit der medizini- auch das nicht zu vergeudende
Grimes ließ sich mit einem bei schen Versorgung aus, wenn es Potenzial enorm. UK
einer Gala blicken. Bereits im zwar Kliniken gibt, sich das
Doris Kleilein, Friederike Meyer
November sollen neue Streiche Pflegepersonal das Wohnen in (Hg.): »Die Stadt nach Corona«. Jovis;
MSCHF-Aktion mit Hirst-Werk der New Yorker folgen. CPA der Stadt aber nicht mehr leis- 192 Seiten; 24 Euro.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 115


KU LT U R

»Das sind wirklich wir«

Baillie Walsh / Universal Music


Abba-Mitglieder Ulvaeus,
Fältskog, Lyngstad, Andersson
in Motion-Capture-Anzügen

KARRIEREN  Es ist eines der größten Comebacks der Musikgeschichte: Abba sind wieder da, nach fast
40 Jahren Funkstille. Mit einem neuen Album – und verjüngten Versionen ihrer selbst.

D
er Weg vom Abba-Hotel, das über dem Livestream, dass sie mit Agnetha Fältskog Halle in London, in die 3000 Besucher pas-
Abba-Museum liegt, zum Abba-Studio und Anni-Frid Lyngstad ein neues Album auf- sen und in der Abba auch dann noch singen
dauert so lange wie eines der berühm- genommen haben: Die »Pause« sei vorbei. könnten, wenn die vier Mitglieder gestorben
testen Lieder der Popgruppe, »The Winner Abba sind zurück. Eine Sensation, für die das sind. So muss wohl ein Abba-Comeback aus-
Takes It All«. Fünf Minuten, mit der Fähre. Wort »Sensation« ausnahmsweise angebracht sehen.
Hier, zwischen den Stockholmer Inseln Djur- ist. Groß, größer. Größenwahnsinnig. The win-
gården und Skeppsholmen, umgeben von Auf Tour gehen wollen die vier mit der ner takes it all.
Karussell, Kastell und kleinen schwedischen neuen Platte »Voyage« allerdings nicht. Statt- Ist das der Moment, in dem Pop unsterb-
Kulturgütern, war der eine ganz große schwe- dessen haben sie virtuelle Versionen ihrer lich wird?
dische Popkulturexport, Abba, nie weg. jungen Ichs erstellen lassen. Avatare, die aus- 1982 hatte die Gruppe, deren Mitglieder
Für den Rest der Welt schon. sehen sollen wie die Mitglieder der Popgrup- damals alle über 30 Jahre alt waren, ihren
Fast 40 Jahre lang. pe im Alter von Ende zwanzig bis Mitte drei- letzten gemeinsamen Auftritt in der Öffent-
Im September verkündeten Björn Ulvaeus ßig und anstelle der über 70-Jährigen auf der lichkeit, an einem Samstagabend in der
und Benny Andersson dann jedoch in einem Bühne stehen. In einer eigens dafür gebauten BBC. Agnetha Fältskog sang damals mit

116 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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­glänzenden Augen »Thank You for Fans die Köpfe durch eine Abba-Foto- ­umzugehen, bestand darin, diesen
the Music«, und Björn Ulvaeus, wand, für einen Augenblick sind sie Björn Ulvaeus als eine historische
neben Benny Andersson einer der Abbas Karriere Agnetha Fältskog oder die anderen. Person zu begreifen. Als jemanden,
Song­writer von Abba, wirkte bei die- Im Museum liegt in einem Glaskasten der in den Siebzigern gelebt hatte.
sem Auftritt nicht mehr so juvenil wie 1974 Anfänge die »Stjärngitarren«, die sternförmige SPIEGEL: Als jemand anderes.
auf den frühen Fotos der Band. Er Agnetha Fältskog, Glitzergitarre, die Björn Ulvaeus am Ulvaeus: Als jemand anderes, dessen
Anni-Frid Lyngstad,
trug einen Bart, der ihm da schon die Benny Andersson
6. April 1974 beim Eurovision Song Geschichte ich erzählen wollte. Mei-
Ausstrahlung eines Elder Statesman und Björn Ulvaeus Contest in Brighton spielte. Über dem nen Avatar zu sehen ist zwar irgend-
verlieh. veröffentlichen ihre Museum, in einem Hotelzimmer, in wie seltsam, aber nicht so merkwür-
Eine Ausstrahlung, die Ulvaeus erste Single, das dem das WLAN-Passwort abba1974 dig, wie die Leute meinen. Seit wir
Liebeslied »Waterloo«.
heute, mit 76 Jahren, perfektioniert Sie gewinnen damit
lautet, scheinen die farbenfrohen 1982 eine Pause eingelegt haben,
hat. Eine Minute vor dem verabrede- beim Eurovision Song Bühnenoutfits, die Anni-Frid Lyng­ ­werde ich täglich in der einen oder
ten Interviewtermin steigt er an die- Contest in Brighton stad und Benny Andersson beim ESC anderen Form an Abba erinnert: Ich
sem Vormittag im Oktober aus sei- – ihr internationaler trugen, schon in der Garderobe zu schlage eine Zeitung auf oder lese et-
Durchbruch.
nem roten Tesla. Effizientes Timing, hängen: noch so eine Fotowand. So was im Internet, und plötzlich taucht
dynamischer Gang, rein ins Back- 1982 Rückzug gesehen, haftet der Gruppe schon da ein Video oder so etwas auf. Ich
steinhaus, das früher als Lager diente Abba treten in einer lange etwas Avatarhaftes an. bin also daran gewöhnt. Wenn je-
und heute Anderssons »Riksmix- BBC-Show zum Abba, das war früher auch ein mand, der nicht in der Öffentlichkeit
letzten Mal auf.
ningsverket« beherbergt. Übersetzt ­f lorierendes Zweifamilienunter­ steht, sich selbst von vor 40 Jahren
heißt das »Nationales Mixwerk«, der 1999 Kultstatus nehmen, bis sich Anfang der Acht- gegenüberstünde, dann wäre das et-
Name des Studios. Das Abba-Erfolgs­ zigerjahre erst Ulvaeus und Fältskog, was anderes. Aber es ist natürlich
Ulvaeus trägt ein schwarzes Sakko musical »Mamma dann Andersson und Lyngstad trenn- eigenartig, sein jüngeres Ich zu sehen
Mia!« feiert seine
zu schwarzer Hose und schwarzem Premiere in London.
ten. Eine Marke, die für gute Laune und zu wissen, dass dieses jüngere Ich
Brillengestell, dazu natürlich keine und heile Welt stand. Für Tradition. ewig leben könnte, weil es aus Nullen
Plateausohlen wie beim ESC-Sieg 2021 Comeback Aber auch für Innovation, für schöne und Einsen besteht.
1974, sondern schwarze Halbschuhe. Abba veröffentlichen neue Welten: Abba drehten Musik- SPIEGEL: Macht es Ihnen ein mulmi-
das neue Album
Er nimmt Platz, schlägt die Beine »Voyage« und
videos, als noch niemand von Musik- ges Gefühl, dass irgendwann, wenn
leichtfüßig übereinander und lächelt kündigen eine videos sprach. Sie brachten ein Sie einmal nicht mehr auf der Welt
sein bekanntes Björn-Ulvaeus-Spitz- Bühnenshow an. ­Album auf CD raus, als alle noch sind, immer noch eine Version von
mauslächeln, das keinen Tag gealtert einen Plattenspieler im Wohnzimmer Björn Ulvaeus in London auf der
zu sein scheint. Er macht einen ver- stehen hatten. Sie machten aus einem Bühne stehen wird?
schmitzten Eindruck, aber auch einen Song (»Mamma Mia«) ein Erfolgs- Ulvaeus: Ehrlich gesagt, denke ich
professionellen, ist mehr Popunter- musical und einen Hollywoodfilm. nicht viel darüber nach. Ich überlege
nehmer als Popstar. Unternehmerisch waren sie ihrer eher, ob ich wieder jung sein möchte.
Zeit stets ­voraus. Aber auch künst- SPIEGEL: Und?
SPIEGEL: Herr Ulvaeus, wenn ein Ab- lerisch? Ulvaeus: Und, offen gesagt: Nein, das
ba-Fan Sie auf der Straße fragt, wo möchte ich nicht.
Sie in den vergangenen 40 Jahren ge- SPIEGEL: Über das Abba-Museum ha- SPIEGEL: Warum nicht?
steckt haben – was antworten Sie ben Sie mal gesagt, Sie hätten sich Ulvaeus: Weil ich mich gerade so
dann? zuerst nicht daran beteiligen wollen: wohlfühle mit mir selbst.
Ulvaeus: Ich hatte ganz gut zu tun. »Ich bin ja noch am Leben – und dann SPIEGEL: Vermissen Sie mit 76 nicht
Benny und ich haben unter anderem sollte ein Museum über mich und manchmal Ihr Popstarleben als
zwei Musicals geschrieben. Außer- mein Leben entstehen?« Haben Sie 34-Jähriger?
dem bin ich ins Immobiliengeschäft auch mit Björn Ulvaeus, dem Avatar, Ulvaeus: Nein, nein, vermisse ich
eingestiegen und habe das Abba-Mu- gefremdelt? nicht. Was ich jetzt mache, macht mir
seum aufgebaut. Ich war also ziemlich Ulvaeus: Nein, eben weil ich das mehr Spaß: Wir haben Lieder ge-
busy. Nur nicht mit Abba. ­Museum gemacht hatte und mich die schrieben, ein Album aufgenommen
SPIEGEL: Als das Geld für Ihren ersten ganze Zeit mit der Siebzigerjahre­ und erleben dieses herrliche Aben-
Hit »Waterloo« reinkam, beschlossen Pop-Phänomen version von mir selbst auseinander- teuer mit den Avataren. Das Leben
Benny Andersson und Sie, täglich von Abba 1974 setzen musste. Meine Art, damit könnte nicht besser sein.
morgens bis abends Songs zu schrei- SPIEGEL: Sie kommen offenbar besser
ben. Wie sieht heute ein normaler Tag mit dem Älterwerden klar als andere.
in Ihrem Leben aus? Ulvaeus: Ich bin offensichtlich sehr
Ulvaeus: Ich habe vier oder fünf Mee- privilegiert. Altern ist etwas anderes,
tings pro Tag, auch über Zoom, weil wenn man krank und arm ist. Es ist,
ich an so vielen Projekten beteiligt im Allgemeinen, nichts Gutes. Bei mir
bin. Eines davon ist Pop House Enter- ist es nun mal so, dass es mir körper-
tainment, die Firma, der das Museum lich sehr gut geht. Ich mache täglich
gehört, ein Hotel und all diese Sachen eine Stunde Sport. Ich jogge auf
Olle Lindeborg / AP Photo / picture alliance

auf Djurgården. einem Laufband. Ich mache … Was


ist das? (Ballt beide Hände zu Fäusten,
Wer auf Djurgården das Abba-Gebiet schiebt abwechselnd einen Arm von
erkundet, kriegt den Eindruck, dass sich und zieht den anderen an seinen
es sich gut verkauft, in die Haut der Körper heran.)
Schweden, vor allem aber gedanklich SPIEGEL: Ein Crosstrainer?
in ihre extravaganten Siebzigerjahre- Ulvaeus: Ein Crosstrainer. Und ich
Outfits zu schlüpfen: Vor dem Ein- habe ein Vibrationsgerät, mit dem ich,
gang des Abba-Museums stecken Sie wissen schon, Sachen mache.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 117


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prophetisch anmutenden Zeilen wiederholt:


»So gut wie neu« und »Es nimmt eine neue
Dimension an«.
1979 ist nun auch das Jahr, dem die Ava-
tare nachempfunden sind.

SPIEGEL: Warum 1979?


Ulvaeus: Die Avatare sollten aus irgendeiner
Phase unserer aktiven Karriere stammen,
nach dem Motto: Abba, wie sie die Leute
kennen, kehren zurück. Wir hätten uns jeden
­Zeitpunkt zwischen 74 und 82 aussuchen
können. Aber ich denke, die beiden Ladys
wollten diese Zeit.
SPIEGEL: Wieso?
Ulvaeus: Nun, sie sahen beide zu dieser
Zeit sagenhaft aus. Aber das taten sie auch
davor. Will sagen: Ich weiß es nicht. Sie haben
das beschlossen, Benny und ich mussten mit-
ziehen.
SPIEGEL: Bei der Pressekonferenz waren
­Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad
nicht dabei. Jetzt auch nicht. Meiden die bei-
den das Rampenlicht des Comebacks?
Ulvaeus: Ja, das tun sie. Sie sind wahre Künst-

Industrial Light & Magic / Universal Music


lerinnen. Wir haben übrigens hier zusammen
gearbeitet – und dort (deutet auf den Auf-
nahmeraum nebenan). Diese kreative Arbeit,
das Singen und das Musikmachen, ­lieben die
beiden. Der Rest interessiert sie überhaupt
nicht. Nur muss jemand über diese Platte
sprechen. Also haben Benny und ich gesagt:
Wir machen das.

Abba-Bandmitglieder als Avatare: Gemacht für die Ewigkeit Auf einem Tisch neben dem Mischpult
liegt ein Notizblock mit dem Logo des
SPIEGEL: So ein Muskelvibrationsgerät? Ulvaeus: (lacht) Ja! ­»Mamma Mia!«-Musicals. Daneben steht
Ulvaeus: Ja, genau. Es soll sehr effizient SPIEGEL: »… wishing every show was the last ein Minimoog-Synthesizer, das Instrument,
sein. show.« dessen strudelnder Sound 1975 in den Re­
SPIEGEL: Wenn Sie so fit sind, warum gehen Ulvaeus: Das ging mir damals so und Frida frain der Abba-Sehnsuchtshymne »SOS«
Sie dann nicht selbst auf Tournee? Wie gera- auch: Wir wollten nach Hause und nicht mehr ­führte.
de, mal wieder, die Rolling Stones. auf Tour sein. Im Riksmixningsverket haben Abba sich
Ulvaeus: Das wäre so ein Affentheater. Keiner 2017 zusammengesetzt, um die Gesänge für
von uns empfindet auch nur den geringsten »Super Trouper« ist einer von vielen Nummer- »Don’t Shut Me Down« und »I Still Have
Wunsch, das zu tun. Es steht absolut außer eins-Hits, die Abba seit ihrem Sieg beim ESC Faith in You« aufzunehmen, zwei neue Songs.
Frage. 1974 hatten. Teils lesen sich die Titel wie Kurz- Einfach so, aus Spaß.
SPIEGEL: Bereits im Jahr 2000 haben Sie das trips durch Europa: »Mamma Mia«, »Chiqui- Aus zwei Songs wurden fünf.
Angebot ausgeschlagen, für eine Milliarde tita«, »Voulez-Vous«. Oft sind diese Hits von Aus fünf Songs wurde Ernst.
US-Dollar auf Tour zu gehen. Warum? eingängigen Hooklines getragen, von den in Ein Album.
Ulvaeus: Soweit ich weiß, ging es da um ein Refrains zu einem Superorgan verschmelzen- Die Platte ist gelungen. Die zehn Tracks
ganzes Jahr. Und ich weiß nicht, um wie vie- den Stimmen der Frauen und, fast immer, von auf »Voyage« bewegen sich – passend zu den
le Konzerte … der ganz großen Geste. zwei Songs, die das Comeback einläuteten –
SPIEGEL: Etwa 120. Von 1973 bis 1981 veröffentlichten Abba zwischen balladesker Kaminfeuerromantik
Ulvaeus: Ja, Sie können sich vorstellen, dass acht Alben. Sie verkauften Millionen. und nostalgischer Aufforderung zum Tanz.
uns das umbringen würde. Das wäre so Zu den Fans zählt die discoerprobte Kylie »Ich vermisse die guten alten Zeiten, als du
schlimm gewesen. Minogue, aber auch Ex-Nirvana-Schlagzeu- mit mir getanzt hast«, heißt es in einem Stück.
SPIEGEL: Ist das Lampenfieber bei Abba so ger Dave Grohl. Abba ist Musik für die ganze In einem anderen tanzen Abba »durch die
groß? Familie, Volksmusik für Teenager. Sound­ Nacht«. Das klingt nicht bemüht oder peinlich
Ulvaeus: Ist es nicht. ­gewordene Paillettenhemden. Disco ohne wie manches musikalische Alterswerk. Eher
SPIEGEL: Ist das Reisen das Problem? Kokain, Rock ohne Heroin, Pop mit viel als hätte die Discokugel etwas Patina ange-
Ulvaeus: Der ganze Rest. Das Sozialleben. Es ­Dopamin. setzt.
tut einem nicht gut, auf Tour zu sein. Darum Abbas Songs handeln von der Liebe, vom »Little Things« heißt ein Weihnachtslied,
haben wir beschlossen: Nein, machen wir Drama, Herzschmerz, Verlangen. Und von darin schauen die Abba-Mitglieder Kindern
nicht. der Trennung. beim Spielen zu. In einem anderen Song ist
SPIEGEL: Das erinnert an eine Zeile aus 1979 kündigten Ulvaeus und Fältskog ihre das Objekt der Beobachtung eine Hummel:
»Super Trouper«, die Sie geschrieben haben Scheidung an. »Sie ist nur ein winziger flauschiger Ball, und
und die Anni-Frid Lyngstad gesungen hat: 1979 brachten Abba ihr Album »Voulez- ich frage mich, wie sie überhaupt fliegen
»All I do is eat and sleep and sing …« Vous« raus, das in den ersten Minuten die kann.« Abba – immer noch familientauglich.

118 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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SPIEGEL: Mit 53 haben Sie gesagt: »In meinem


ABBA-SHOW IN LONDON
Alter macht man keine Popmusik mehr.« Wie­

Eine Art Auferstehung


so geht das mit 76 wieder?
Ulvaeus: Wer sagt denn, dass es Popmusik ist?
Wir haben einfach die Musik gemacht, auf die
wir Lust hatten: Diesmal schreiben wir, was Die Band baut in London ihre eigene Arena, auf der Bühne werden aber
uns gefällt. Und was uns gefällt, das nehmen
wir auf. Wir haben nicht rumgegrübelt. Wir nur ihre Avatare stehen. Ist das einfach irre – oder die Zukunft?
haben nicht darauf geachtet, was andere Leu­
te machen. Wenn das also Popmusik ist, dann Die Baustelle liegt zwischen der Halte­ Bilder von Abba würden ihn ja, wie so
ist das Zufall. stelle Pudding Mill Lane und der Siedlung viele Menschen, schon sein ganzes Leben
SPIEGEL: In meinen Ohren klingt das Album Sugar House Island. Zwischen Pudding­ lang begleiten.
nach Pop. mühle und Zuckerhaus also. Das klingt Die Abba-Avatare baut »Industrial
Ulvaeus: Ah! Gut! Aktuelle Popmusik wird süß, sieht aber nicht so aus: Am Horizont Light & Magic«, eine Firma, die einst
ja meist von jungen Künstlern geschrieben ragen hier, im Londoner East End, Hoch­ »Star Wars«-Regisseur George Lucas ge­
und performt. Ältere Leute sind nicht mehr häuser in den Himmel. »Warning«, steht gründet hat und die heute zum Disney-
so nah am Zahn der Zeit. In den Siebzigern an der Wand vor einem Privatgelände, Konzern gehört. Dass es Avatare sind und
befanden Benny und ich und Abba uns im »Robowatch«. In einem Bau, der aus keine Hologramme, ist Andersson wichtig.
Pop-Mainstream. Wir waren Pop. Aber wenn alten Schiffscontainern besteht, liegt ein Hologramme seien nicht dreidimensional,
man zehn Jahre lang Pop, Pop, Pop, Pop ge­ Café; als wäre es die Kulisse für einen sagt er, sie gäben das bloß vor. Bei den
macht hat, dann verlässt man diese Strömung re­tro­futuristischen Science-Fiction-Film. Avataren sei das anders.
vielleicht für eine Weile. Und vielleicht lässt In dieser Umgebung entsteht die Abba- 160 Infrarotkameras haben die vier
man sie für immer hinter sich. Arena, ein Riesengebäude, das im halb Abba-Mitglieder beim Performen gefilmt,
SPIEGEL: Hören Sie privat inzwischen ganz ­fertigen Zustand eher nach dunkler Bedro­ über einen Zeitraum von fünf Wochen.
andere Musik? Klassik? hung aussieht als nach einer Popshow Die gescannten Daten fließen in die Ava­
Ulvaeus: Ich höre alle Arten von Musik. Klas­ für die ganze Familie – ein riesiges Raum­ tare, die begleitet von einer zehnköpfigen
sik? Immer. Beethoven? Immer. Aber ich höre schiff, das in London parkt und auf den Liveband auf der Bühne der Arena
mir auch die Charts an, wo es gelegentlich Start wartet. Noch arbeiten Männer mit 22 Songs spielen sollen. Darunter die ers­
wirklich gute Songs gibt. In unserer Glanzzeit Helmen und Warnwesten daran. ten zwei Singles des neuen Albums
haben wir geguckt: Was machen die Bee Gees Im Mai 2022 soll die Arena fertig sein »Voyage«, aber auch altbekannte. Das
gerade, was ist das? und die Show beginnen, so Benny Anders­ Ganze solle sich anfühlen wie ein norma­
SPIEGEL: Sie verfolgen nicht mehr minutiös, son und Björn Ulvaeus vor zwei Monaten les Konzert, sagt Andersson. »Man soll
was Billie Eilish gerade macht. bei einer live auf YouTube übertragenen nicht denken: ›Wow, was für eine coole
Ulvaeus: Wir haben uns entspannt. Pressekonferenz, die ebenfalls in London Technologie!‹ Dann haben wir versagt.«
SPIEGEL: Vor zwei Jahren haben Sie noch stattfand. Die Stadt ist schon länger Die Stadt London habe ihnen die Flä­
­einmal eines Ihrer alten flamboyanten Outfits Abba-Gebiet: Vor mehr als 20 Jahren hatte che, auf der sich ursprünglich tatsächlich
angezogen. das Musical »Mamma Mia!« hier seine ein Parkplatz befand, für fünf Jahre zur
Ulvaeus: Das war bei der Eröffnungsnacht Premiere, und vor über 40 Jahren ver­ Verfügung gestellt. Danach sollen dort
von »Mamma Mia! The Party« in London. Es suchten mehr als drei Millionen Men­ Wohnungen gebaut werden. Und die
tat gut zu wissen, dass ich es immer noch tra­ schen, eines der 11 212 Tickets für Abba in ­Arena? Sei nicht in den Grund eingelassen,
gen kann. Aber das war nur Spaß. Ich habe der Royal Albert Hall zu bekommen. könne wieder eingepackt und bewegt
es also, so schnell es ging, wieder ausgezogen. Bei der Pressekonferenz trugen Ulvae­us werden, in eine andere Stadt. Vielleicht
SPIEGEL: Haben Sie früher eigentlich gern und Andersson Schwarz, als wären sie geht also die Abba-Arena eines Tages auf
Plateauschuhe getragen? zu einer Beerdigung gekommen. Dabei Tour. Wenn Abba es schon nicht tun.
Ulvaeus: (guckt runter, auf seine Schuhe ging es um eine Art Auferstehung: Die Jurek Skrobala  n
mit Profilsohle) Wenn ich wählen müsste, Bandmitglieder von 1979 kommen für die
­wären mir normale Schuhe lieber. Ich bin Show als computergenerierte Avatare
­normalerweise auch nicht in Plateauschuhen zurück, in einer eigens erbauten Kathed­
rumgelaufen, aber ich habe gelernt, wie man rale. In einer Zeit, in der kommerziell
darin geht. Ich bin sogar darin gesprungen. erfolgreiche Bands wie Coldplay ankün­
Wir hatten ein Podest, das ungefähr so digen, klimaneutral touren zu wollen,
hoch war (zeigt an die hintere Kante des ­gehen Abba erst gar nicht auf Tour.
Mischpults, neben dem er bis eben gesessen »Das Gebäude ist so konstruiert, dass
hat). Und ich bin in meinen Stiefeln auf es für ein transzendentes Musikerlebnis
der Bühne von diesem Podest runterge­ sorgt«, sagt Ludvig Andersson. Er sitzt
sprungen. in einem Büro in Soho, zehn Kilometer
SPIEGEL: Was machen Sie, wenn auf einer von der Baustelle entfernt. Der jüngste
Party plötzlich »Dancing Queen« läuft? Sohn von Abba-Mann Benny Andersson
Ulvaeus: Ich war noch nie auf einer Party, auf ist einer der Produzenten von »Abba
der »Dancing Queen« lief, glaube ich. Voyage«, der Show mit den Avataren.
SPIEGEL: Oh. Er erinnert sich noch daran, wie er als
Ulvaeus: Wenn ich auf eine Party von Leuten Kind vom coolsten Mädchen der Schule,
gehe, die ich kenne, spielen die nicht einer Punkerin, gehänselt wurde, weil
ABBA Voyage

­»Dancing Queen«. Falls das liefe, würde ich sein Vater in dieser »verdammt lächer­
vermutlich einfach lächeln und versuchen, lichen Gruppe« gespielt habe. Es mache
höflich zu sein: »Ja, ja, das ist ›Dancing ihm nichts aus, seinen Vater als Avatar
Queen‹.« zu sehen, sagt Ludvig Andersson. Die Geplante Abba-Arena (Illustration)
SPIEGEL: Und wenn der Song im Radio läuft?

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 119


KU LT U R

SPIEGEL: Okay, aber es gab in den ver-


gangenen zehn Jahren zumindest
eini­ge dieser Hologramm-Shows –
mit Tupac, Frank Zappa, Roy Orbi-
son, Buddy Holly …
Ulvaeus: … Michael Jackson.
SPIEGEL: Allesamt verstorbene Mu-
siker. Warum Avatare, wenn Sie noch
leben?
Ulvaeus: Weil man sie genau dann
machen sollte.
SPIEGEL: Wieso?
Ulvaeus: Der Schädel ändert sich mit
dem Alter nicht. Der Rest des Kör-
pers schon, er fällt auseinander. Aber

Rober t Harding / mauritius images


der Schädel ist auch im Alter derselbe
wie mit, sagen wir, 20. Wenn man
also versucht, solche Avatare auf Ba-
sis alter Videos oder Fotos zu erstel-
len, werden sie nie so gut, wie wenn
man wirklich nachmisst. Das haben
sie bei uns getan. Alles wurde gemes-
sen. Das heißt, dass sie viel lebendi-
Ulvaeus: Dann höre ich manchmal zu. Was Abba machen, passt aber auch Besucherin in ger sein werden.
Aber wenn ich Videos oder so im in eine Zeit, in der das Virtuelle eine Stockholmer SPIEGEL: Das Wort »Avatar« hat sei-
Abba-Museum:
Fernsehen sehe, dann gucke ich mir normale Bühne für Popstars darstellt. Unternehmerisch nen Ursprung im Sanskrit und meint
selbst nicht gern zu. Ich schaue mir Der Rapper Travis Scott spielte ihrer Zeit stets dort die Verkörperung einer Gottheit
nie Interviews an, die ich gegeben im vergangenen Jahr bei »Fortnite voraus auf Erden.
habe. Da zappe ich lieber zu einem Battle Royale« einen Überraschungs- Ulvaeus: Oh, wirklich? Das wusste
anderen Kanal. gig. Heißt naturgemäß: Er ließ seinen ich nicht.
SPIEGEL: Sie werden sich also nicht Avatar dort auftreten. Knapp 28 Mil- SPIEGEL: Können Sie sich damit iden-
oft die »Abba Voyage«-Show an- lionen Spieler schauten zu. tifizieren?
sehen? Immerhin müssten Sie dann So einen Avatar ließ auch der Ulvaeus: Nein, kann ich nicht. Es
einer Version Ihrer selbst zugucken. R&B-Sänger The Weeknd für sich ist eindeutig nicht göttlich. Es ist
Ulvaeus: Nein, ich werde mir die wohl tanzen, im Rahmen eines Konzerts die Verkörperung von etwas auf
nicht oft ansehen. Während der Pro- vor drei Monaten, diesmal auf Tik- ­Erden, ja. Die Verkörperung von
ben und bis zur Premiere schon. Ab Tok. Und der Rap-Pop-Superstar Lil uns selbst, weil wir unsere Seelen in
und an werde ich da sein. Ich kann Nas X zeigt sich in Videos auch mal ­diese Avatare gesteckt haben, mittels
mir vorstellen, dass es für mich auf als virtuelle Variante seiner Selbst. Motion Capture. Als hätte man uns
musikalischer Ebene spannend sein Als wären die Binärcodes eine zweite in die Avatare eingegossen. Das sind
könnte. Ich habe es noch nicht gese- Haut für ihn. mehr als unpersönliche Avatare.
hen. Es ist noch in der Mache. Pop ist ein Vehikel, mit dem sich Das sind wir. Das sind wirklich wir.
Grenzen überschreiten lassen, nicht Das fand ich auch so faszinierend
Die Show mit den Avataren klingt nur beim Sprung vom Analogen ins ­daran: Wenn man sich die Avatare
jetzt schon, ungesehen, nach der ab- Digitale. Michael Jackson und Prince anguckt, glaubt man nach einer Wei-
soluten Überhöhung. ließen Gender- und Identitätsgrenzen le, dass man tatsächlich Abba zu-
Sie fügt sich aber auch gut in eine hinter sich, David Bowie probierte schaut.
Ära, in der die Endlichkeit die großen Images an wie andere Kleider. Pop ist SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, Abba
Namen der Pop- und Rockgeschichte auch dazu da, Tabus zu brechen. Der wäre Pop für das Hier und Jetzt.
erreicht: In den vergangenen zehn Tod könnte eines der letzten dieser »Abba Voyage« hat den Anschein, als
Jahren starben Prince, David Bowie, Tabus sein. wäre es gemacht für die Ewigkeit.
Aretha Franklin, Leonard Cohen, Ulvaeus: Ja (lacht).
Whitney Houston, George Michael, SPIEGEL: Ein im Pop wiederkehrender SPIEGEL: Ist das nicht eine Art Wider-
Tom Petty und B. B. King. Zuletzt Wunsch lautet zum Beispiel, »forever spruch?
Charlie Watts, die scheinbar unka- young« zu sein, wie die Gruppe Alpha­ Ulvaeus: Stimmt, das klingt wider-
puttbare Rhythmusmaschine der ville mal sang. Wollten Sie sich mit den sprüchlich. Nur: Als wir die Musik
­Rolling Stones. Avataren diesen Wunsch erfüllen? geschaffen haben, sind wir davon aus-
Abba sind wohl die ersten gealter- Ulvaeus: Was mich daran gereizt hat, gegangen, dass sie für das Hier und
ten Popstars, die öffentlichkeitswirk- war die Idee, etwas zu machen, das Jetzt ist. Wir haben nie erwartet, dass
sam ihr Vermächtnis ordnen. Die so bisher noch niemand gemacht hat. Es sie so lange überdauern würde. Nie-
klar bestimmen, welches Bild die ging darum, Grenzen zu überschrei- »Ich war noch mals! Gewissermaßen ist das also
Nachwelt von ihnen haben soll. ten. Aber nicht darum, ewig jung zu kein Widerspruch. Die Musik hat be-
Mit einer Show, die Raum und Zeit bleiben.
nie auf einer wiesen, dass sie zwar vielleicht nicht
aushebeln und ihrer Musik wohl SPIEGEL: Die Avatare erinnern an Party, auf für alle Zeiten gemacht ist, aber mög-
einen Hauch Ewigkeit verleihen soll. ­etwas, das schon gemacht wurde: der ›Dancing licherweise für 10, 20 weitere Jahre.
Mit einem Album, das ihr letztes ­Hologramme. Nachdem sie nun schon 40, 50 Jahre
sein soll, wie Benny Andersson kürz- Ulvaeus: Das ist eine alte Technologie. Queen‹ lief.« lang da war.
lich sagte. Worüber wir hier sprechen, ist neu. Björn Ulveaus Jurek Skrobala  n

120 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Die Kraft von innen
Verletzende Erfahrungen können uns dauerhaft
belasten. Forschung und Therapie zeigen
Wege zurück in ein zufriedenes Leben.
Jetzt
im Handel
KU LT U R

ge nach weiblicher Emanzipation gar


nicht stellte, sie bestimmte, wo es
langging, und ich hatte, bei allem Ge­
maule, immer das Gefühl, dass die
Richtung, die sie vorgab, irgendwie

Immer geht es jetzt um alles


stimmte. Und wenn nicht, dann pa­
rierte ich trotzdem, auch als Mutti mir
verbot, mit 17 die Schule zu verlassen
um Journalist zu werden. Ihre Ant­
wort auf meine längliche Begründung
GASTBEITRAG  Thomas Gottschalk über den Graubereich zwischen Richtig und dieses Entschlusses reichte, um ihn
Falsch und das Ende der Leichtigkeit in der deutschen TV-Unterhaltung sofort aufzugeben: »Ich knall dir
gleich eine!«
Diversität war kein Thema, Mi­
An diesem Samstag kehrt Gottschalk, men und folgte ohne Widerspruch gran­ten waren wir selber. Meine El­
71, auf die legendäre Wettcouch zu- Caesar in den Gallischen Krieg, ob­ tern waren aus Schlesien geflüchtet,
rück: Aus Nürnberg präsentiert der wohl man schon wusste, wie er aus­ ein Schicksal, das mich nicht betraf,
TV-Entertainer eine Neuauflage der ging. Da hatten die Generationen vor mit dem ich aber gut leben konnte,
Un­terhaltungsshow »Wetten, dass ..?«. uns schwer gespoilert. Homeschoo­ denn meine flotten Gene ließen mich
Für den SPIEGEL hat er aufgeschrie- ling und Stoßlüften kamen nicht mal schneller reden, als meine oberfrän­
ben, wie lockere Sprüche seine Kar- in meinen seltenen Albträumen vor. kische Umgebung mir folgen konnte.
riere geprägt haben – und warum er Pubertäre Depressionen oder an­ Als auf andere nach dem Abitur
die Freiheit vermisst, nicht immer dere Formen von Trübsinnigkeit, die der Ernst des Lebens wartete, stellte
ernsthaft sein zu müssen. sich bei vielen Mitmenschen bis ins ich mich wieder nicht in die Reihe,
hohe Alter fortsetzen, blieben mir er­ sondern nervte im Bayerischen Rund­

D
ie deutsche Mentalität, die Din­ spart, obwohl ich bei den Mädchen funk so lange rum, bis man mir beim
ge des Lebens nicht auf die regelmäßig abblitzte. Immerhin ver­ Jugendfunk eine Chance gab. Mit
leichte Schulter zu nehmen, sicherte mir Roy Black »Irgendje­ meinen naiv-fröhlichen Programm­
habe ich vielleicht deswegen nie ver­ mand liebt auch dich«, und es gab so vorschlägen machte ich in den Redak­
standen, weil ich sonst meine gesam­ oft »hitzefrei«, dass ich keinen Anlass tionsrunden keinen Stich und dachte
te Karriere versemmelt hätte. Schon sah, das Klima retten zu müssen. mir daraufhin Kopfschmerzthemen
Gottschalk, geboren
1950 in Bamberg,
die Schule nahm ich leicht, auch wenn Die Kriegerwitwen wurden weni­ aus, mit denen ich sofort eine Punkt­
hat in seiner langen ich mich dort schwertat. Dieser Wi­ ger, die Wohlstandsmillionäre ver­ landung hinlegte. Eine Statistik, nach
Karriere zahlreiche derspruch hielt mich aber nicht davon mehrten sich, und auch, wenn wir der die Selbstmordrate bei der Bun­
Radio- und Fernseh- ab, trotz schlechter Noten und da­ nicht dazugehörten, hatte man das deswehr eine steigende Tendenz zeig­
sendungen mode-
riert – allen voran die
durch bedingtem häuslichen Gezeter, Gefühl, es ging aufwärts. Mein Vater te, war mein journalistischer Einstieg
Spielshow »Wetten, immer gerne hinzugehen. Man saß starb früh, aber meine Mutter hatte in die »ernsten Themen«. Den steini­
dass ..?«. mit Gleichaltrigen in geheizten Räu­ uns derart im Griff, dass sich die Fra­ gen Pfad der Recherche verließ ich
bei erster Gelegenheit und interview­
te fortan internationale Popstars, die
nach München kamen und sich wun­
derten, warum ein Mensch namens
Ilja in Husarenuniform eine Popsen­
dung moderierte, die »disco« hieß.
Der »Musik-Report« des BR war ein
Hort oberflächlicher Musikbetrach­
tung, und ich war dafür der geeignete
Reporter. Johnny Cash fragte mich,
was ich wissen wollte, und ich fragte
ihn, was er erzählen wollte. Diese
Wurschtigkeit habe ich während mei­
ner gesamten Karriere beibehalten,
mich immer damit selbst entschuldi­
gend, dass es ja nie wirklich um etwas
Wichtiges ging. Im Morgenrot meines
Schaffens marschierten die Bay City
Rollers ein, dann kamen viele Stars
wie Elton John und Madonna, aber
bei Justin Bieber und Miley Cyrus
machte ich dann das Licht aus und
begrüße seitdem mit eiserner Freund­
lichkeit nette Menschen, die man mir
zuvor erklären muss.
Dass sich bei einer solchen beruf­
lichen Laufbahn nie der Sinn für
Katja Lenz / dpa

Entertainer Gottschalk
Ernsthaftigkeit, Verantwortung und
1999 auf Mallorca Nachhaltigkeit eingestellt hat, mag
für gutwillige Fans meines Wirkens

122 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


KU LT U R

in der deutschen Unterhaltungsszene nach-


vollziehbar sein. Aber für eine nachwachsende
Generation, die woke und ernsthaft unter-
wegs ist, bin ich einer dieser alternden weißen
Männer, die nichts dazugelernt und den BELLETRISTIK SACHBUCH
Schuss nicht gehört haben. Ich weiß, dass ich
vieles heute nicht mehr sagen könnte, was Eine Frau erzählt der Erneut wendet sich der
mir einst Lacher und Beifall beschert hat. Ich Tochter von ihrem Leben, Bestsellerautor dem
das wiederum geprägt 20. Jahrhundert zu, schil­
habe es damals ohne Arg gesagt und weiß, ist vom frühen Verlust der dert das Jahrzehnt vor
dass ich dabei öffentlich nie jemandem zu eigenen Mutter – die dem Beginn des Zweiten
nahe treten, geschweige denn, ihm wehtun war die berühmte Schau­ Weltkriegs – und zwar
spielerin Romy Schneider. über ausgewählte Roman­
wollte. Meine Mutter stand immer als Geist Nicht einmal eigene zen. Sophie Scholl kommt
neben mir, und es hing ein »Ich knall dir gleich Erinnerungen sind ihr ebenso vor wie Pablo
eine« in der Luft. Aber ich behaupte weiter- geblieben. | Platz 12 Picasso. | Platz 1
hin bockig, dass die »Sieben Zwerge« Schnee-
wittchen das Leben gerettet haben und dass
1 (–) Sebastian Fitzek 1 (–) Florian
Illies
Playlist  Droemer; 22,99 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro
die Welt kein bisschen besser wird, wenn es
dann doch »Sieben Kleinwüchsige« waren. 2 (2) Antje Rávik Strubel 2 (2) Hape Kerkeling
Nicht im Märchen, nicht im Unterhaltungs- Blaue Frau  S. Fischer; 24 Euro Pfoten vom Tisch! Piper; 22 Euro
fernsehen, in dem ich immer noch unterwegs
bin. Aber ich stolpere nun dauernd über sol- 3 (1) Dirk Roßmann / Ralf Hoppe 3 (–) Barack Obama / Bruce Springsteen
che Sachen und will es weder begreifen noch Der Zorn des Oktopus  Lübbe; 20 Euro Renegades Penguin; 42 Euro

hinnehmen, dass mich im Netz Influencerin- 4 (4) Marianne Koch


4 (3) Kerstin Gier Vergissmeinnicht – Was man
nen zur Ordnung rufen, die sich erst ihre Fin- Alt werde ich später
bei Licht nicht sehen kann S. Fischer; 20 Euro dtv; 18 Euro
gernägel ankleben, bevor sie mich beschimp-
fen. Was immer ich da sage, ist eine Meinung, 5 (5) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt 5 (1) Roland Kaiser / Sabine Eichhorst
zu der ich im Laufe eines längeren Lebens Die Früchte, die man erntet Wunderlich; 24 Euro Sonnenseite Heyne; 20 Euro
gekommen bin. Und es geht beruflich weiter-
hin um nichts. Dass ich Eric Clapton lieber 6 (6) Jonathan Franzen 6 (5) Elke Heidenreich
im Radio höre und spiele als Drake, lasse ich Crossroads  Rowohlt; 28 Euro Hier geht’s lang! Eisele; 26 Euro

mir gerne vorwerfen. Dass ich weder vor ein 7 (8) Harald Welzer
7 (8) Edgar Selge
Mikrofon noch vor eine Kamera gehöre, be- Hast du uns endlich gefunden Rowohlt; 24 Euro Nachruf auf mich selbst S. Fischer; 22 Euro
haupten Dutzende kluger und engagierter
Journalisten seit Jahrzehnten. Sie mögen ja 8 (–) Bernhard Schlink 8 (7) Laura Malina Seiler
recht haben. Aber was ich da von mir gebe, Die Enkelin  Diogenes; 25 Euro Zurück zu mir Rowohlt; 15 Euro
ist eine Meinung, man kann anderer sein, und
ich finde das völlig in Ordnung. Man konnte 9 (7) Volker Klüpfel / Michael Kobr 9 (3) Anne Fleck
Morgen, Klufti, wird’s was geben Ullstein; 14 Euro Energy! dtv; 25 Euro
mal streiten, ohne sich zu beschimpfen. Das
scheint mir verloren gegangen zu sein. Auch 10 (10) Joe Miller / Uğur Şahin / Özlem Türeci
10 (9) Juli Zeh
und gerade wenn es um mehr geht als um Über Menschen Luchterhand; 22 Euro
Projekt Lightspeed Rowohlt; 22 Euro
musikalische Präferenzen und modischen Fir-
lefanz. Jetzt, wo ich endlich anfange, mich zu 11 (10) Dora Heldt 11 (12) Boris Herrmann / Andreas Wolfers
trauen, auch mal den Mund aufzumachen, Geld oder Lebkuchen dtv; 15 Euro
Allein zwischen Himmel und Meer
 C. Bertelsmann; 24 Euro
wenn es um Substanzielles geht, merke ich,
wie schwer mir das fällt. 12 (–) Sarah Biasini 12 (13) Eckart von Hirschhausen Mensch, Erde!
Die Leichtigkeit im Umgang miteinander Die Schönheit des Himmels Zsolnay; 22 Euro Wir könnten es so schön haben dtv; 24 Euro
darf auch dann nicht verloren gehen, wenn
13 (–) Cecelia Ahern Sommersprossen – Nur 13 (20) Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste
die Schwere des Themas sie anscheinend ver- zusammen ergeben wir Sinn Fischer Krüger; 20 Euro
bietet. Diesen Punkt haben wir leider hinter gemeinsame Wirklichkeit Droemer; 20 Euro

uns gelassen. Einer anderen Meinung zu sein 14 (12) Susanne Abel 14 (–) Stefan Aust / Adrian Geiges Xi Jinping –
darf Widerspruch und meinetwegen auch Stay away from Gretchen  dtv; 20 Euro der mächtigste Mann der Welt Piper; 22 Euro
­Widerstand erzeugen. Aber keinen Hass. Und
da stehen wir gerade. Mein Unterhaltungs- 15 (–) Ellen Sandberg 15 (19) Frank Schätzing Was, wenn wir einfach
mantra »Es geht doch um nix« hat ausgedient. Das Geheimnis Penguin; 20 Euro die Welt retten? Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
Es geht mittlerweile immer um alles. Die Gu- 16 (4) Sarah J. Maas Das Reich der sieben Höfe – 16 (–) Hendrik Streeck
ten gegen die Bösen. Woke oder tot. Die Auf- Silbernes Feuer  dtv; 21 Euro Unser Immunsystem Piper; 22 Euro
gewachten gegen die Entschlafenen. Dazwi-
schen gibt es nichts. Ich vermisse diesen Frei- 17 (11) Hervé Le Tellier 17 (11) Daniel Schreiber
raum. Im Graubereich zwischen Richtig und Die Anomalie  Rowohlt; 22 Euro Allein Hanser Berlin; 20 Euro
Falsch durfte man ein Suchender sein, der
zwar immer strebend sich bemüht, aber eben 18 (15) Ursula Poznanski 18 (–) Norbert Häring
auch irrlichtert, blödelt und provoziert. Shelter Loewe; 19,95 Euro Endspiel des Kapitalismus Quadriga; 22 Euro

Ich habe mal irgendwo gelesen, ich hätte 19 (13) Eva Menasse 19 (–) Peter Wohlleben
die Leichtigkeit ins deutsche Fernsehen Dunkelblum Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro Der lange Atem der Bäume Ludwig; 22 Euro
­gebracht. Das war zu Beginn meiner Kar­riere
nicht meine Absicht. Es ist auch nicht 20 (17) Simon Beckett 20 (–) Volker Struth
mein Ziel, sie an deren Ende wieder mitzu- Die Verlorenen Wunderlich; 24 Euro Meine Spielzüge  Piper; 22 Euro
nehmen.  n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 123


KU LT U R

Autorin Rijneveld von dem Preis sagen. Das Glück gehörte ihr
einige Stunden lang allein. Sie sei in ihr Hotel
gegangen, so erzählt sie es, setzte sich in
die Badewanne und dachte: »Jetzt bin ich
Schriftsteller.«
Bis zu diesem Moment, sagt sie, habe sie
nicht daran geglaubt, dass ausgerechnet ihr
das gelingen könnte. Während ihrer Grund­
schulzeit gab es Zweifel, ob sie überhaupt
jemals lesen und schreiben lernen würde, oft
hatte sie Dinge, die sie an einem Tag gelernt
hatte, am nächsten Tag schon wieder verges­
sen. Die Fantasiewelt verdrängte in ihrem
Kopf den Schulstoff. Später halfen ihr Nach­
hilfe- und Therapiestunden.
Beim Schreiben ihres Debütromans sei sie
einer Art innerem Drang gefolgt. Das mag
etwas klischeehaft klingen, aber die Lektüre
wischt alle Einwände hinweg. Schon die ers­
ten Kapitel, die ersten 30, 40 Seiten, sind von
einer Wucht und Schönheit, wie sie nicht häu­
fig vorkommen: ein eigener Ton, so noch nicht
gehört, noch nicht gelesen. Eigentümliche
Szenen der Zuneigung wie diese sind in »Was
man sät« zu entdecken: »Matthias war schon
früher auf den See gegangen, er lief zusam­
men mit ein paar Freunden die Poldertour
mit. Das war eine Strecke von 30 Kilometern,
und der Sieger bekam ein Euterbrötchen mit
Senf und eine Goldmedaille mit der Jahres­
zahl 2000. Am liebsten hätte ich ihm einen
Gefrierbeutel über den Kopf gezogen, damit
ihm lange warm blieb, den Klackverschluss
um seinen Hals zugedrückt. Er wuschelte mir
kurz durchs Haar, ich strich es schnell wieder
glatt, wischte mir ein paar Krümel vom Schlaf­
anzugoberteil.«
Bei der Booker-Prize-Verleihung sagte
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

­Rijneveld, dass sie überwältigt sei und so


glücklich »wie eine Kuh mit sieben Eutern«.
Nach gut einem Jahr ist die Euphorie etwas
abgeklungen, aber die Dankbarkeit für die
Anerkennung ist noch immer groß, und es
wird deutlich, dass hier jemand ermutigt wur­
de, dessen Talent zwar überbordend, doch
dessen Selbstvertrauen löchrig ist. Die Zwei­
fel sind ein ständiger Begleiter. »Ich habe jetzt
nicht mehr so große Angst, dass mir alles ver­

Unerhört sie selbst


loren geht, wenn ich einen Tag nichts ge­
schrieben habe«, sagt Rijneveld. »Ich habe
jetzt schon was geschafft, den Preis nimmt
mir ja niemand mehr weg.«
Sie ist nach Berlin gekommen, um die deut­
LITERATUR  Als mögliche Übersetzerin des Amanda-Gorman-Gedichts sche Übersetzung ihres zweiten Romans
»Mein kleines Prachttier« vorzustellen. Allein
geriet sie in einen Shitstorm, jetzt ist ihr zweiter Roman erschienen: dieser Titel ist verwirrend, einerseits klingt
Marieke Lucas Rijneveld ist in jeder Hinsicht eine Ausnahmeschriftstellerin. er altmodisch schön, zugleich wirft er die Fra­
ge auf, was damit wohl gemeint sein könnte.
Es ist ein grauer, regnerischer Tag im Oktober,

D
ass sie den International Booker Prize aus dem Rennen geschlagen, Michel Houelle­ das Interview findet im Haus des Suhrkamp
erhalten würde, erfuhr Marieke Lucas becq und Daniel Kehlmann zum Beispiel. Zu­ Verlags statt. »Hallo, ich bin Marieke Lucas
Rijneveld wenige Stunden vor der dem war es ihr Debütroman »Was man sät«, Rijneveld«, sagt die Person mit den blonden,
Preisverleihung. Sie war 29 Jahre alt, außer­ der ausgezeichnet wurde, die Geschichte halblangen Haaren, vorn in einer auffällig
halb der Niederlande so gut wie unbekannt, einer streng religiösen Bauernfamilie, in der rechtwinkligen Stufe geschnitten. Sie trägt ein
und sie hatte einige namhafte Mitbewerber ein Kind stirbt und die Traurigkeit alle Über­ schwarzes, bis obenhin geknöpftes Hemd,
lebenden voneinander wegtreibt. Bis die Ze­ durchwirkt von einem Blumenmuster, eine
Marieke Lucas Rijneveld: »Mein kleines Prachttier«. Aus
dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhr- remonie in jenem August 2020 begann, durf­ schwarze Hose, schwarze Halbschuhe. Doch
kamp; 364 Seiten; 24 Euro. te Marieke Lucas Rijneveld niemandem etwas bemerkenswert ist vor allem ihr Lächeln,

124 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


KU LT U R

schüchtern, offen, umwerfend zu­ »An Cancel eines Mannes, der eine 14-Jährige da­ ein Mann sei. Er taucht darin nur am
gleich. »Nice to meet you.« Die flos­ bei beobachtet, wie sie ihre Kindheit Rande auf, ist eine Art Gegenfigur zu
kelhaften Worte, die in der Regel ja
Culture betei- abstreift, und sich nach ihr verzehrt. der durch Trauer ruinierten Familie.
routiniert runtergerattert werden, lige ich mich Das klingt allerdings viel eindeutiger, Rijneveld aß gerade eine Creme­
wirken aufrichtig. Dieser Eindruck – nicht. Ich bin als dieses schillernde Werk daher­ schnitte, als die Frage sie traf. Das
dass hier jemand meint, was er sagt, kommt. Es gleicht einem Blick durch scheint sie noch genau zu wissen, sie
und darum ringt, mit dem Gesagten immer noch ein Kaleidoskop, jedes Kapitel bringt erzählt es wie nebenbei, eine Kleinig­
möglichst nah an die eigenen Ge­ für Meinungs- einen weiteren Dreh, und das ganze keit, die verrät, wie detailliert Rijne­
danken und Gefühle heranzurei­
chen – wird das Treffen begleiten.
freiheit.« Bild verändert sich ständig.
Eine entscheidende Brechung be­
veld die Welt wahrnimmt.
Als sie von diesem Besuch nach
Zum Auftakt an Marieke Lucas steht natürlich darin, dass eben Ma­ Hause radelte, habe sie die Erzähl­
Rijneveld die Frage: »Wie möchten rieke Lucas Rijneveld »Mein kleines stimme des Tierarztes bereits in ihrem
Sie angesprochen werden?« Sie Prachttier« geschrieben hat, mittler­ Kopf gehört. »Ich habe mich gleich
wuchs als Marieke Rijneveld auf weile 30 Jahre alt, eine gefeierte ans Schreiben gemacht und für zwei,
einem Bauernhof in einem »sehr klei­ Schriftstellerin und ein Vorbild für drei Monate nicht mehr aufgehört,
nen Dorf« in Nordbrabant in den Nie­ andere, die sich nicht eindeutig männ­ ich wusste nicht genau, wohin es ging,
derlanden auf. Als sie von zu Hause lich oder weiblich identifizieren. ich wusste nur, dass ich weiterschrei­
auszog, um in Utrecht eine Ausbil­ Wäre dieses Buch von einem älteren ben musste, um es nicht zu verlieren.«
dung zu beginnen, entschied sie sich, Mann geschrieben worden, würde Bei »Was man sät« sei das ganz an­
den zweiten Vornamen Lucas einzu­ man einzelne Szenen als unzumut­ ders gewesen, den Roman habe sie
fügen. In ihrem Wikipedia-Eintrag bare Grenzüberschreitung empfin­ genau komponiert und sechs Jahre
steht, sie »identifiziert sich sowohl den. Aber ein anderer Autor hätte es daran gearbeitet.
mit dem männlichen als auch mit dem eben auch nicht so geschrieben, nicht Was beide Bücher verbindet, ist
weiblichen Geschlecht«. so schwebend und spielerisch. Lite­ Rijnevelds Art zu erzählen. Das
Sie selbst kann mit großer Selbst­ ratur kann einen mitnehmen auf Nebeneinander eines fast altmeister­
verständlichkeit davon sprechen, wie schwieriges, neues Terrain; Rijnevelds lichen hohen Tons und die Unver­
sie empfindet, warum sie keine Wahl Bücher sind dafür exemplarisch. Die blümtheit, einfach alles zur Sprache
für ein Geschlecht treffen möchte; Empathie, die aus ihrer Erzählstimme zu bringen: die Besamung von Rin­
dazu später mehr. Doch sie ist einver­ spricht, entzieht der Geschichte den dern genauso wie das Antlitz eines
standen, dass in diesem Text das femi­ Boden für einfache moralische Urtei­ Toten, der sich erhängt hat; das He­
nine Personalpronomen benutzt wird. le. Und als Person verweigert sie sich rabsegeln eines Bilds von Königin
Die Mitarbeiter des Suhrkamp solchen Kategorien ebenfalls. »Ich Beatrix im Moment eines erzwun­
Verlags haben auf einem Tisch über habe Schwierigkeiten mit dem Wort genen Beischlafs ebenso wie die
20 Exemplare ihres neuen Romans Missbrauch«, sagt Rijneveld, »für ­Keulung von zig Kühen aufgrund der
drapiert, auf einem Stapel thront ein mich ist es vor allem ein Buch über Maul- und Klauenseuche. Diese
kleiner Plastikhirsch mit einem Ge­ verbotene Liebe, über ein Mädchen Schriftstellerin ist so jung und so un­
weih. Ein schräger Scherz, der zu dem und einen Tierarzt, die beide auf der erhört sie selbst, dass man ihre Bü­
Buch passt. Es erzählt von einem Suche nach jemandem sind, der sie cher fast etwas ungläubig liest. Woher
14-jährigen Mädchen, das den sieht.« Die Widmung, fast unschein­ nimmt sie die Sprachgewalt, den
Wunsch in sich spürt, wie ein Junge bar auf einer der ersten Seiten abge­ Reichtum an Metaphern?
im Stehen pinkeln zu können, und druckt, lautet »Für dich«. Rijneveld ist mit der Bibel aufge­
gern erleben würde, dass zwischen Eigentlich sollte ihr zweiter Roman wachsen, täglich habe ihr Vater der
ihren Beinen »ein Geweih« wächst, von einer Flutkatastrophe erzählen, Familie daraus vorgelesen, und bis
kein besonders großes, lieber ein klei­ die 1953 in den Niederlanden Zer­ heute hält sie deren Sprache für das
ner Pimmel, wie ihn die Marmor­ störung und Tod brachte. Das Buch Schönste. Sie habe sich in ihrem Kopf
engelchen in der Kirche haben. Die Dichterin Gorman war sogar schon angekündigt. Dann eingenistet. Während ihrer Schulzeit
Mutter dieses Mädchens ist abwe­ im Januar bei aber war Rijneveld bei Freunden ein­ entdeckte sie dann die Bücher von
send, vielleicht ist sie gestorben, viel­ der Amtseinführung geladen, und einer fragte, was die Roald Dahl für sich und die »Harry
von Joe Biden: Ein
leicht liegt sie ewig betäubt von Me­ Ende der Chancen­ ­Figur des Tierarztes aus ihrem Debüt Potter«-Romane von J. K. Rowling.
dikamenten im Bett, vielleicht lebt ungleichheit »Was man sät« eigentlich genau für Eine neue Sprache für Rijneveld und
sie aber auch irgendwo fern von ihrer eine neue Erkenntnis: Sie ist nicht al­
Familie. Die Leserin weiß es nicht so lein auf der Welt mit ihrer blühenden
genau, denn das Mädchen, das mit Fantasie. »Das fand ich irgendwie
seinem Vater und dem älteren Bruder schade, aber auch beruhigend.« Als
auf einem Bauernhof lebt, ist sehr sie 16 war, bekam Rijneveld Unter­
fantasiebegabt. richt bei einer Logopädin, denn sie
Die Geschichte wird aber nicht lispelte stark. Dort in der Praxis hing
aus ihrer Perspektive erzählt, sie ist ein Gedicht von Anna Enquist. Heu­
das kleine Prachttier, der Augenstern te verehrt sie die viele Jahre ältere
eines erwachsenen, viel älteren Man­ niederländische Schriftstellerin, Psy­
nes, eines Tierarztes, der in schmerz­ choanalytikerin und Pianistin. Da­
haft intensiver Liebe zu ihr entbrannt mals haben sie deren Verse so beein­
ist. Er ist der Erzähler, was der Ge­ druckt, dass Rijneveld anfing, selbst
Patrick Semansky / dpa

schichte eine herausfordernde Win­ Gedichte zu schreiben.


dung verleiht. Denn wer sich auf den Doch so wichtig das Lesen für sie
Roman einlässt, der ohne Absätze auch gewesen sei – stärker habe sie
und mit nur sehr wenigen Punkten das Schreiben geprägt. Die Erfah­
erzählt wird, befindet sich im Kopf rung, dass sich, wenn sie den Laptop

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 125


KU LT U R

aufklappt und loslegt, eine Art Register in


ihrem Kopf öffnet, auf das sie schreibend und
FASZINATION nur schreibend zugreifen könne, sei manch­
mal fast ein bisschen magisch. »Dann komme
ERDE ich überallhin.« Wenn sie das Schreiben be­
endet, mache sich häufig ein Gefühl breit von
– was jetzt?
Die Möglichkeit, schreibend auf die Welt
zu reagieren, scheint für Marieke Lucas Rijne­
veld eine Art Haltegriff zu sein. 15 Monate
liegt es nun zurück, dass sie den Booker P ­ rize
erhielt, und gleich ein halbes Jahr nach dieser

Samir Hussein / WireImage / Getty Images


Ehre geriet sie im Februar in eine scharfe
­Auseinandersetzung. Es ging um die Frage,
wer Amanda Gormans Gedicht »The Hill
We Climb« übersetzen darf. Rijneveld sagt
heute, sie habe diese Situation wie einen
Sturm empfunden.
Im niederländischen Verlag Meulenhoff
wollte man den Übersetzungsauftrag an sie
vergeben, den jungen Star der Literaturszene,
eine Dichterin zudem, denn neben ihren Ro­ »Harry Potter«-Erfinderin Rowling
manen hat Rijneveld in Holland auch schon
zwei Gedichtbände veröffentlicht. Doch sehr Bibel auch ist – was von der Kanzel gepredigt
schnell wurde Einspruch laut: Rijneveld teile wird, ist meist gebieterisch. Rijneveld hat
als Weiße nicht die Diskriminierungserfah­ ­solche Eindeutigkeiten abgestreift.
rungen der schwarzen US-Dichterin Gorman Den Namen Lucas wählte sie, weil ihr Fan­
und sei deshalb die Falsche für diese Aufgabe. tasiefreund in Kindheitstagen so hieß, und als
Heute sagt sie: »Ich denke, dass Amanda sie die Entscheidung traf, habe sie gedacht,
und ich mehr Ähnlichkeiten haben, als man­ der Name passe, er gehörte ohnehin schon zu
che Leute glauben. Ich denke, dass man das­ ihr. »Ich habe das getan in der Vorstellung,
selbe erfahren kann auf verschiedene Weise, dass ich noch zurückkann zu Marieke oder
und ich glaube, dass übersetzen oder etwas weiter zu Lucas. Oder ich behalte beide, blei­
begreifen, dass Empathie und etwas fühlen, be dazwischen, so ist es bis heute, dass ich
das all das nichts mit Hautfarbe zu tun hat.« mich mehr dazwischen fühle und noch keine
Der Konflikt war für sie aber auch mit der Wahl treffe, und vielleicht werde ich mich
288 Seiten, durchgehend vierfarbig, Erkenntnis verbunden, dass es einen Unter­ auch nie entscheiden.«
KIFYRHIR�á�������º schied gibt zwischen den Aufträgen, die nicht Ein anderer wichtiger Freund ihrer Kind­
weiße und weiße Menschen bekommen – und heit, »Harry Potter«, führte sie im vergange­
dass diese Chancenungleichheit ein Ende nen Sommer noch mal mitten hinein in die
­haben muss. Debatte um die Frage, ob das eigene Ge­
Rijneveld hat sich, als die Diskussion im schlecht eine biologische Tatsache ist oder
Qualmende Vulkane, Februar losbrach, sofort selbst aus dem Spiel frei bestimmt werden kann. Ausgerechnet
einsame Wüsten, genommen und ist von dem Auftrag zurück­ »Harry Potter«-Schöpferin J. K. Rowling stritt
traumhafte Atolle getreten. Sie hätte die Arbeit nicht mehr in dafür, am Determinismus der Biologie fest­
Freiheit machen können, sagt sie heute. Der zuhalten. Rijneveld fand das mindestens hei­
und pulsierende Metropolen: Sturm traf eine verletzbare Person. Eigentlich kel. Aber sie strahlt auch Gelassenheit aus,
Über 50 faszinierende wollte sie keine öffentliche Antwort geben, als es im Gespräch darum geht.
Aufnahmen aus dem All und aber sie spürte, wie traurig sie war, dass sie Anders als viele alte Fans von Rowling
nicht still bleiben konnte. Sie reagierte mit liegt es ihr fern, die Schriftstellerin zu ver­
die spannenden Geschichten einem Gedicht. Der Titel: »Alles bewohn­ dammen. »An Cancel Culture beteilige ich
dahinter präsentiert bar«. Die ersten zwei Zeilen: »Den Wider­ mich nicht, ich bin immer noch für Meinungs­
dieses Buch, basierend auf der stand nie aufgegeben, das Urgerangel in freiheit.« Das Werk »Harry Potter« betrach­
Freud und Leid / der Kanzelpredigt nie blind te sie losgelöst von dieser Diskussion, für sie
beliebten SPIEGEL-Kolumne gehorcht«. bleiben es weiterhin wichtige und gute Ro­
»Das Satellitenbild Die Begegnung mit Rijneveld ist die Be­ mane, auch wenn sie sich gewünscht hätte,
der Woche«. gegnung mit einem empfindsamen Menschen, dass jemand mit dem Einfluss und so vielen
es ist keine harte Schale spürbar, kaum eine Followern wie Rowling einfühlsamer gehan­
Schutzschicht. Doch »das Urgerangel in Freud delt hätte.
und Leid«, von dem sie schrieb, kennt sie gut. Die Kanzelpredigt behagt Rijneveld eben
Dort, wo sie herkommt, in ihrer calvinisti­ nicht. Wobei so eine Kanzel nicht zwangs­
schen Familie, sei es schwer gewesen, den läufig in einer Kirche stehen muss, in den so­
Eltern zu erklären, dass sie sich vielleicht zialen Medien werden ständig neue erbaut.
mehr wie ein Junge fühlt, dass sie nicht ein­ Wie heißt es in ihrem Gedicht? »Den Wider­
fach nur Marieke sein will, sondern fortan stand nie aufgegeben.« Es ist ein sanfter, fan­
Marieke Lucas. Sie war damals 19 Jahre alt. tasiebefeuerter Widerstand. Marieke ­Lucas
Die Eltern, sagt sie, haben das als schrecklich Rijneveld erprobt ihn in ihrer Literatur.
empfunden. Aber so schön die Sprache der Claudia Voigt  n

126 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


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KU LT U R

dettenanstalt der Nationalen Volks-


armee einrücken und durfte sie auch
dann nicht verlassen, als er seinen
Vater darum bat.
Er verteilte als junger Dichter 1968
in Ost-Berlin Flugblätter gegen die
Niederschlagung des Prager Frühlings
und wurde dafür in den Knast gewor-
fen, weil sein Vater ihn an die Stasi
verriet. Er protestierte 1976 gegen die
Ausbürgerung des Liedermachers
Wolf Biermann und siedelte bald da-
rauf gemeinsam mit seiner damaligen
Freundin Katharina Thalbach in den
Westen über.
Von alldem berichtet der Film

Peter Har twig / Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany


»Lieber Thomas«. Er ist, in Anbe-
tracht der vielen dramatischen
­Wendungen, ein verblüffend ruhiges
Werk. In wunderschön stilisierten
Schwarz-Weiß-Bildern sieht man
einem sensiblen und begabten Jun-
gen, der im Kindesalter von Claudio
Magno gespielt wird, beim Aufwach-
sen in einer Cottbuser Wohnung zu.
Das Heim der Funktionärsfamilie
Brasch wirkt wie ein Musterhaushalt
der sozialistischen Aufbauzeit – und
wie ein idyllisches Gegenstück zur
Drillhölle der Kadettenkaserne, in die
der strenge Vater (Jörg Schüttauf) den

Der Unwiderstehliche
jungen Helden bald einliefert.
Nach überstandener Schulzeit
wird der nun von Schuch dargestellte
Jungdichter Brasch als frecher, um-
schwärmter, nur manchmal zorniger
KINO  Regisseur Andreas Kleinert und sein grandioser Draufgänger im Kreis junger Kunst-
begeisterter gezeigt. Er ist der König
Hauptdarsteller ­Albrecht Schuch erzählen die Lebensgeschichte einer Boheme, in der geraucht und
des tollen, unglücklichen Dichters Thomas Brasch. getrunken, diskutiert und geliebt
wird, als ob es kein Morgen gäbe. Wie
die Frauen und Männer, die hier in

2
00 000 Dollar für ein Leben. Das Der reale, im Jahr 1945 geborene jungem Ungestüm malen, schreiben
ist der Deal, den ein Verleger an und 2001 gestorbene, Schriftsteller und Musik machen, interessiert sich
einem New Yorker Bar­tresen der Thomas Brasch hat über die Ableh- auch der Filmemacher Kleinert erst
Siebzigerjahre dem deutschen Schrift- nung des Lebensberichts-Deals, der mal nicht für die Spießigkeit des
steller Thomas Brasch vorschlägt. So- ihm bei einem New-York-Aufenthalt DDR-Alltags draußen vor der Tür.
bald Brasch seine Lebensgeschichte tatsächlich angeboten wurde, ge- Die Zwänge in Ausbildungsstätten
aufgeschrieben habe, auf grob ge- schrieben: »Es war richtig, alle Vor- und am Arbeitsplatz, die Zumutun-
schätzt 800 Seiten, sei ihm das Hono- schläge abzulehnen, meinen Gefäng- gen einer von Kommunisten und
rar sicher, verspricht der Amerikaner. nisaufenthalt oder meinen Weggang kaum geläuterten Nazis geprägten
Der Film »Lieber Thomas« zeigt aus der DDR oder die Kadettenschu- Zwangsgemeinschaft bleiben zu-
dieses Fünftelmillion-Dollar-Angebot le als Literatur zu verwursten oder zu nächst ausgesperrt. Dafür schwelgt
als Märchenszene. In einem himmel- sensationalisieren.« »Lieber Thomas« im jugendlichen
hohen, fast menschenleeren Festsaal Nun haben der Drehbuchautor Leichtsinn ostdeutscher Hippies und
plaudern zwei trinkende Männer am Thomas Wendrich und der Regisseur Nonkonformisten, für die nach der
Tresen. Der ältere verkündet raun- Andreas Kleinert zwar keine Litera- Feier stets vor dem Fest zu sein
zend und großspurig, was er zu bieten tur, aber einen spektakulären Kino- scheint. Oder wie es in einem Brasch-
hat – und im Gesicht des Schauspie- film aus den Sensationen im Leben Gedicht heißt: »Wolken gestern und
lers Albrecht Schuch, der den Brasch des Dichters Brasch gemacht. Regen / Jetzt ist keiner mehr hier / Ich
spielt, sieht man ein Leuchten. Brasch wuchs im Osten Deutsch- bin nicht dagegen / Singe und trinke
Einen Moment lang wirkt es so, als lands als Sohn eines hohen SED- mein Bier«.
wäre da ein Kerl überraschend der Funktionärs auf, des vor den Nazis »Ich wollte davon erzählen, dass
Glücksfee begegnet, die ihn mit Glanz nach England geflohenen Horst man als junger Mensch in der DDR
und Gold überschütten will. Dann Brasch, eines Katholiken mit jüdi- Brasch-Darsteller Spaß haben konnte«, sagt der Regis-
wird sein Blick ernst, die Idee ist ver- scher Mutter, und seiner gleichfalls Schuch in seur Kleinert, der 1962 geboren wur-
»Lieber Thomas«:
worfen, das Biografieprojekt wird nie jüdischen Frau Gerda. Er musste als Betreuungs­bedürftiger de und selbst im Osten Deutschlands
zustandekommen. Elfjähriger für vier Jahre in die Ka- Luftikus aufwuchs, im Zoom-Interview. Im

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Film will sein Schriftstellerheld einmal mit


einer Gefährtin nach Rumänien reisen, doch Der Schriftsteller Brasch von dem man nicht weiß, ob er losgeht oder
nicht«.
das Visum für die Urlaubstour wird ihnen wurde geliebt: für seinen Auch Braschs schönstes Gedicht ist ein Do-
verweigert. So bleiben sie im Land und wäl-
zen sich an der Ostsee nackt im Sand, wäh-
Mut, seine Ausstrahlung kument der Zerrissenheit, aus dem natürlich
auch Kleinerts Film zitiert: »Was ich habe,
rend ihnen mit Feldstechern ausgerüstete – und für Gedichte will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin will
DDR-Grenzwächter beim Liebesspiel zu­
sehen.
voller Poesie und Zorn. ich nicht bleiben, aber / die ich liebe will ich
nicht verlassen, aber / die ich kenne will ich
»Die gesellschaftlichen Bedingungen sind nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe will ich
nicht unbedingt ausschlaggebend dafür, nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich
ob ein Mensch glücklich oder unglücklich nicht hin / bleiben will ich, wo ich nie gewesen
ist«, sagt der Regisseur. Seinen Protagonisten Der Schriftsteller Brasch, auch davon han- bin«.
Brasch sieht man in jungen Jahren selig delt »Lieber Thomas«, war eine sensationel- »Lieber Thomas« ist eine Huldigung vor
an einer Werkbank in der DDR-Provinz le Begabung – und wurde zu einem unglück- allem an den Lyriker und magischen Verfüh-
­rackern und später todtraurig durch New lichen Helden der deutsch-deutschen Litera- rer Brasch. Der Film ist manchmal kitschig,
York streifen. tur. In späten Berliner Jahren erschien der wenn mit Schriftzügen verzierte Frauenkör-
Der Filmemacher Kleinert hat 1999 mit von Kokain- und Alkoholsucht gezeichnete per dazu herhalten müssen, die Verbindung
dem düsteren Nachwende-Kinodrama »Wege Dichter auch vielen Verehrerinnen und Ver- von Erotik und Dichtkunst zu belegen. Aber
in der Nacht« viele Kritikerinnen und Kritiker ehrern als tragische Figur. der Schauspieler Schuch, der zuletzt in eini-
begeistert und dann eine Menge Fernsehfilme In der DDR flog er von der Filmhoch­schule gen großen Kinorollen zu sehen war, stürzt
und »Polizeiruf 110«-Folgen gedreht, von und musste sich nach kurzer Zeit im Knast sich mit Witz und Lässigkeit in die Aufgabe,
denen einige mit Preisen ausgezeichnet wur- und zwei Jahre lang an der Werkbank einer den Charme eines Kerls lebendig zu machen,
den. »Lieber Thomas« ist ein Projekt, an dem Fabrik bewähren, natürlich wurde er bespit- von dem der Regisseur Kleinert sagt: »Wenn
er fast zehn Jahre gebastelt hat. zelt. Sein wohl bekanntester Erzählband »Vor er in einen Raum kam, haben alle die Luft
Der Film zeigt Stationen und Traumbilder den Vätern sterben die Söhne« durfte im angehalten. Er wurde geliebt für seine Aus-
eines historischen Familiendramas, das sich ­Osten nicht erscheinen, angeblich wegen strahlung, für seine Konsequenz, für seine
bereits in Kinowerken und Romanen als loh- »DDR-untypischer Tristesse«. Nach der Aus- Direktheit – und auch ein bisschen dafür, dass
nender Erzählstoff erwies. In Annekatrin reise in den Westen war das Buch dort ein er ein authentischer Macho war.«
Hendels Dokumentation »Familie Brasch – Bestseller, auch Braschs Theaterstück »Love- Tatsächlich ist Schuchs Brasch ein betreu-
Eine deutsche Geschichte« aus dem Jahr 2018 ly Rita« wurde zum Hit. Seine erste Regie- ungsbedürftiger Luftikus und Melancholiker.
beispielsweise oder im Roman »Ab jetzt ist arbeit fürs Kino, die Gangsterballade »Engel Im Kino wirkt es, als blickten die Sängerinnen
Ruhe«, den die Radiojournalistin und Autorin aus Eisen«, schaffte es 1981 zu den Filmfest- und Schauspielerinnen an der Seite des Dich-
Marion Brasch 2013 veröffentlicht hat. Sie ist spielen nach Cannes und gewann den Baye- ters überlegen-fürsorglich auf ihren allzeit
Thomas Braschs 16 Jahre jüngere Schwester. rischen Filmpreis. flirtbereiten Gefährten. Die Darstellerinnen
Es gibt kluge Leute, die das Schicksal der Danach gelangen Brasch hochgelobte Ioana Iacob, Emma Bading und Jella Haase
Kulturpolitiker- und Künstlerfamilie Brasch Übersetzungen etwa von Shakespeare-Dra- (die der jungen Katharina Thalbach staunens-
mit den Triumphen und Wirrungen in der men, aber nur noch wenige eigenständige wert ähnelt) treten nicht als Groupies auf,
Familie des Literaturnobelpreisträgers Tho- Werke. Bis zu seinem Tod schrieb er an einem sondern als Frauen, die sich mit dem erst auf-
mas Mann vergleichen. Das mag ein bisschen angeblich auf 20 000 Seiten angewachsenen gekratzten, dann verzagten Poeten durchaus
schief sein, aber alle vier Kinder des stellver- Romanmanuskript, das bis heute nicht voll- selbstbewusst eine Weile amüsieren – und
tretenden DDR-Kulturministers Horst Brasch ständig veröffentlicht ist. In einem Fernseh- unverdrossen ihrer Wege gehen, wenn ihnen
(1922 bis 1989) und seiner aus Wien stammen- porträt des Journalisten Georg Stefan Troller etwas Besseres, Verlässlicheres in die Quere
den Frau Gerda zeigten künstlerisches Talent. sagte er einmal, er fühle sich »auf einem Stuhl kommt.
Thomas war der Star. Der zweitjüngste festgeschnallt wie auf einem Schleudersitz, In seinen besten Momenten erinnert Klei­
Sohn Klaus, ein Schauspieler, nahm sich 1980 nerts Film an das russische Kinomeisterwerk
das Leben. Der drittjüngste Sohn Peter, ein »Leto« aus dem Jahr 2018, den in Leningrad
Dramaturg und Autor von Kinderstücken, spielenden, elegant den Geist einer Ära le-
starb unter unklaren Umständen wie Thomas bendig machenden Film des Regisseurs Kirill
im Jahr 2001. Marion Brasch hat über ihre Serebrennikow über einen sowjetischen Acht-
Erinnerungsarbeit einmal gesagt: »Ich bin zigerjahre-Rockstar. In schlechteren Momen-
froh, in dieser Familie gelebt zu haben. Das ten lässt er einen an Oskar Roehlers Fassbin-
waren alles sehr interessante Leute. Ich bin der-Hommage »Enfant Terrible« von 2020
weder wütend, noch muss ich jemandem denken, die als allzu schlichte Verklärung
­vergeben.« eines unsympathischen Egomanen im Ge-
Mit Wut und Anklage hat Kleinerts Film dächtnis geblieben ist.
gleichfalls nichts im Sinn. Auch die Verklä- Aus allen drei Filmen kann man übrigens
rung der Lebensverhältnisse von Künstler- lernen, wie sehr das Auftreten von scheinbar
menschen und Oppositionellen in der DDR besonders eigensinnigen und nur der eigenen
liege ihm fern, sagt Kleinert. Er hält seine Mission verpflichteten Künstlermenschen
Dichterbiografie für ein politisches Werk. vom Geist der Zeit geprägt ist, in der sie leben.
»Weil sie die Zuschauerinnen und Zuschauer Die Obsession, die eigene Arbeit unbedingt
hoffentlich dazu bringt, die jetzigen gesell- jeder Art von Kommerz verweigern zu müs-
Jens Rötzsch / OSTKREUZ

schaftlichen Zustände zu hinterfragen und die sen, ist jedenfalls unter Kreativen heutzutage
eigenen Lebensentwürfe zu überprüfen.« Er deutlich weniger verbreitet als vor ein paar
schildere eine Zeit, die chaotisch und fast im- Jahrzehnten – heute würden wohl nur weni-
mer anstrengend war, so Kleinert. »In erster ge zu einem 200 000-Dollar-Angebot für ihre
Linie aber porträtiere ich einen Menschen, Biografie einfach Nein sagen.
der vor allem eines war: frei.« Autor Brasch 1999 Wolfgang Höbel n

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 129


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ten Marty Markowitz, in dessen Villa


Herschkopf residierte.
Nocera begann zu recherchieren
und legte ein augenscheinliches Aus-
beutungs- und Abhängigkeitsverhält-

Brutal ödipal
nis offen, das fast drei Jahrzehnte lang
währte. Rund drei Millionen Dollar
Honorar soll Herschkopf in dieser
Zeit von Markowitz kassiert haben.
In der achtteiligen Serie wird der
SERIENKRITIK Helfer oder Hochstapler? »The Shrink Next Door« erzählt von offenkundige therapeutische Miss-
einem dubiosen Psychiater – und liefert abgründigen Humor. brauch nun als pechschwarze Komö-
die erzählt. Bei allen bizarren Aus-
wüchsen der Beziehung bleibt die
Inszenierung subtil und die histori-
sche Ausstattung präzise. Die Ge-
schichte beginnt Anfang der Achtzi-
gerjahre in einem mittelständischen
jüdischen Milieu, wie man es aus frü-
hen Woody-Allen-Filmen kennt. Pro-
bleme mit der eigenen Sexualität
werden bei den Protagonisten von
Problemen mit den streng religiösen
Familien überlagert. Viel Stoff für
Therapiesitzungen.
Ike erkennt schnell, wo bei Marty
der Schuh drückt: Seine Bar-Mizwa
hat der sensible Junge damals vor Auf-
regung mit Durchfall auf dem Klo ver-
bringen müssen. Nun organisiert er
ihm einfach mit bemerkenswertem

Beth Dubber / Apple TV+


Pragmatismus eine weitere. In einer
der schönsten Szenen sieht man, wie
Therapeut und Patient in Zeitlupe wie
13-jährige Jungs in die Luft geworfen
werden.
Der Psychiater verfügt über das

Ö
dipus geht immer, da macht genistet hat: Erst dichtet er ihm einen Darsteller Rudd, Talent, leichthändig echte Traumata
man als Psychiater eigentlich Mutterkomplex an, dann befreit er Ferrell aufzuarbeiten – und dabei immer
nie was falsch. Dr. Isaac »Ike« ihn vom vermeintlichen familiären neue wie den Kirschbaum-Mutter-
Herschkopf (Paul Rudd) ist nicht Ballast, um die emotionale Leerstelle Komplex zu konstruieren. So hält er
unbedingt ein Musterexemplar seines mit der eigenen Person zu besetzen. Marty im ewigen Reparaturstatus, ge-
Berufsstands, aber Freud hat er Dr. Herschkopf ist das, was man im mäß dem Motto: Die Seele ist eine
stets parat. Meist setzt er dessen wahrsten Wortsinn einen Seelen- Baustelle.
Theorien ein, um sein Gegenüber ge- klempner nennt. Mit grobem Werk- Es ist erstaunlich, wie zurückhal-
fügig zu machen. So wie in dieser zeug schraubt er sich in den Kopf tend die beiden Hauptdarsteller Rudd
Szene, als er mit seinem Patienten seines Gegenübers – und von dort und Ferrell in der Comedy agieren.
Martin »Marty« Markowitz (Will Fer- aus über das Herz in die Brieftasche. Rudd wurde spätestens als Ant-Man,
rell) in dessen Garten darüber streitet, Bald residiert der Psychiater samt Fa- dem niedlichsten aller Marvel-Helden,
ob der schöne Kirschbaum gefällt milie in der Villa seines vermögenden zum Superstar; Ferrell hat sich mit Fil-
werden soll. Patienten, während Marty im kleinen men wie »Ricky Bobby – König der
Marty liebt den Baum, der Thera- Gästehaus auf zärtliche Zuwendun- Rennfahrer« zum Großmeister grotesk
peut will ihn weghaben, vermeintlich gen wartet. überzeichneter Heldenporträts hoch-
um seinem Patienten zu helfen. »The Shrink Next Door« basiert auf gespielt. Gemeinsam sah man die bei-
Herschkopf erklärt: »Ein Freudianer dem gleichnamigen Podcast des da- den 2013 in »Anchorman – Die Legen-
würde sagen, dass dieser Baum der maligen »New York Times«-Kolum- de kehrt zurück«, damals gaben sie
Phallus deiner Mutter ist, ein großer, nisten Joe Nocera. Der war im Jahr zwei notgeile Medienfuzzis mit auf-
drohender Totem ihres verbotenen 2010 in die Hamptons gezogen – in gerissenen Hemden und offenen Ho-
Begehrens für dich. Oder ihr Geburts- direkte Nachbarschaft zu einem Psy- sen im US-Fernsehmilieu.
kanal, in den du dich zurückziehen chiater der New Yorker High Society, »Ein Freudia- In »The Shrink Next Door« ist der
willst.« Der Patient bricht zusammen, der regelmäßig rauschende Feste fei- ner würde Humor weniger derb – und zugleich
der Therapeut umarmt ihn und ver- erte: Das war der echte Dr. Hersch- abgründiger. Gerade Rudd liefert als
spricht: »Ich liebe dich angemessen, kopf. An den Wänden der Villa hingen
sagen, dass Psycho-Schmock eine beängstigend
du wirst blühen wie dieser Baum.« Bilder, die ihn mit Prominenten wie dieser Baum doppelbödige Performance: Wenn er
Brutal ödipal könnte man die Tour Gwyneth Paltrow oder Henry Kissin- der Phallus seinen Patienten umarmt, sieht das
nennen, mit der sich der Psychiater ger zeigten. Dann traf der Journalist oft so aus, als legte er ihm eine Schlin-
der Apple-TV-Serie »The Shrink Next in dem Haus auf einen stillen Mann, deiner Mutter ge um den Hals.
Door« im Leben seines Patienten ein- den er für den Gärtner hielt: den ech- ist.« Christian Buß n

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132 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Aaron Beck, 100 Doğan Akhanlı, 64
NACHRUFE Der Psychiater hat den Umgang Er hat viele Romane und auch
mit seelisch erkrankten Men- fürs Theater geschrieben.
schen revolutioniert. Aaron Doch einer breiten deutschen
Beck, einer der Begründer der Öffentlichkeit wurde der
kognitiven Verhaltenstherapie, deutsch-türkische Schriftsteller
wurde 1921 in Providence im Doğan Akhanlı erst bekannt,
US-Bundesstaat Rhode Island als er 2017 auf Betreiben der
geboren. Er studierte in Yale türkischen Regierung in Grana-
Medizin und diente als junger da, Spanien, vorübergehend
Arzt zur Zeit des Koreakriegs festgenommen wurde. Angeb-
in einem Militärkrankenhaus. lich soll Akhanlı an einem
­Mitte der Fünfzigerjahre wech- ­bewaffneten Raubüberfall be-
selte Beck an die medizinische teiligt gewesen sein. Tatsächlich
Fakultät der University of Phila­ ging es Präsident Recep Tayyip

Horst Galuschka / picture alliance / dpa


delphia. Zu Beginn seiner Kar- Erdoğan wohl darum, einen
riere folgte er noch dem psycho- weiteren Kritiker mundtot zu
analytischen Ansatz, wonach machen. Akhanlı hat sich zeit­
depressive Patienten ein Leidens­ lebens mit den Mächtigen
bedürfnis haben sollen, das es ­angelegt, mehrmals saß er des-
zu analysieren und zu therapie-
ren gelte. Beck aber gewann
den Eindruck, dass sich mit die-
ser langwierigen Methode kaum
etwas ausrichten lässt, und ent-
Bettina Gaus, 64 wickelte seine eigene, pragma­
Besser ein Komma oder ein Semikolon? Für sie war diese Frage tischere Therapie: Er ging davon
keine Kleinigkeit. Sie diskutierte die genaue Bedeutung der aus, dass depressive Menschen
einen, dann der anderen Variante. Und am Ende war vielleicht vor allem in negativen Überzeu-
doch ein Punkt die Lösung. Erst wenn ein Satz präzise das gungen von sich selbst gefangen
ausdrückte, was die Kolumnistin sagen wollte, durfte er veröffent- seien, und prägte den Begriff

C. Hardt / Future Image / IMAGO


licht werden. Dieselbe Präzision verlangte sie auch den Objekten der »automatischen Gedanken«.
ihrer oft scharfen politischen Analysen ab, nie gab sie sich mit Mit seiner Verhaltenstherapie
einem bloßen Eindruck zufrieden: Bettina Gaus nahm die Politik sollen diese sich ständig wieder-
beim Wort. Für die in München geborene Tochter des Journalis- holenden Denkmuster erkannt
ten und Diplomaten Günter Gaus gehörte die politische Debatte und überwunden werden.
von Kindheit an zum Abendbrot wie in anderen Haushalten Nachdem Beck gute Erfolge
die Butter. Aus dem Schatten des Vaters trat die Absolventin der verzeichnen konnte, erweiterte
Deutschen Journalistenschule schnell: zunächst als Korrespon- er seine Methode, um auch halb in der Türkei im Gefängnis.
dentin für die Deutsche Welle und die »taz« aus Ost- und Zentral­ ­Persönlichkeits-, Angst- oder 1991 floh er mit seiner Frau und
afrika, dann als Leiterin des »taz«-Parlamentsbüros. Als politi- Essstörungen behandeln seiner Tochter nach Deutsch­
sche Korrespondentin der »taz« schrieb sie ungezählte Kolumnen, zu können. Mit seiner Tochter, land, wo er eine Karriere als
Kommentare und Analysen, bis der SPIEGEL sie im April 2021 der Psychologin Judith Beck, Schriftsteller begann. Scho-
als Kolumnistin gewinnen konnte. Da war sie längst eine der gründete der mehrfach ausge- nungslos setzte er sich mit der
ton­angebenden Stimmen im deutschen Journalismus und gefragte zeichnete Psychiater 1994 das europäischen Gewaltgeschichte
Gesprächspartnerin. Bis zuletzt bildete Gaus junge Journalistin- »Beck Institute for Cognitive des 20. Jahrhunderts auseinan-
nen und Journalisten aus, nahm Teil an der politischen Debatte, Behavior Therapy«. Das Aus­ der, insbesondere mit dem Völ-
schmiedete Pläne für Reisen und arbeitete an der These für ihren bildungs- und Forschungs­ kermord an den Armeniern im
nächsten Text. Bettina Gaus starb am 27. Oktober in Berlin. KUZ zentrum verfolgt das Ziel, mit- Osmanischen Reich. In Spanien
hilfe der Verhaltenstherapie verbrachte Akhanlı letztlich nur
»weltweit Leben zu verbes- kurze Zeit in Haft, zwei Monate
Nelson Freire, 77 sern«. Aaron Beck starb am lang musste er sich allerdings
Das Konzertritual beherrschte der brasilianische Pianist perfekt. 1. November in seinem Haus in ­regelmäßig bei der Polizei mel-
Aber so routiniert er Zugaben lieferte, der kleine Virtuose mit der Philadelphia. KK den, ehe er nach Deutschland
grandiosen Technik wirkte stets ein wenig introvertiert – als spielte aus­reisen durfte. Die Erfahrung
das einstige Wunderkind für sich selbst. Schon mit vier Jahren hatte diente ihm als Anlass für seine
der Apothekersohn aus Boa Esperança zu üben begonnen; als er eindrucksvolle Autobiografie
sechs war, zog die Familie seinetwegen nach Rio de Janeiro. Nach »Verhaftung in Granada«. Sein
R. Donnell / The New York Times / Redux / laif

zweijährigem Feinschliff beim Wiener Pianistenguru Bruno Seidl­ Freund Günter Wallraff konnte
hofer war Freire rasch weltweit gefragt. Doch Starrummel und Ter- dem Vorfall deshalb auch etwas
mindruck waren ihm zuwider. Lieber feilte er an der Binnenbalance Positives abgewinnen. Dank der
bei Schubert oder einer perlenden Tonkaskade von Chopin so lan- »irrsinnigen Festnahme in Spa-
ge, dass Konkurrenten ihn mehr bewunderten als das weniger kun- nien werden jetzt endlich seine
dige Publikum. Jahrelang spielte er mit der Kollegin Martha Arge- Bücher auch ins Deutsche über-
rich im Duo, danach konzertierte er noch seltener. Als er 2019 setzt«, sagte er damals. Doğan
einen Armbruch erlitt, musste der in sich selbst ruhende Künstler Akhanlı starb am 31. Oktober
notgedrungen die Tasten aufgeben, die sein Leben gewesen waren. nach kurzer schwerer Krankheit
Nelson Freire starb am 1. November in Rio de Janeiro. SAL in Berlin. POP

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 133


PERSONALIEN

»Ich bin
süß«
Ziemlich genau vor einem Jahr
machte Harry Styles, 27, bri­
tischer Popstar und Teenie­
schwarm, Furore als Coverboy
der US-»Vogue«: Er war nicht
nur der erste Mann, der diese
Ehre genoss, er war auch der
Erste, der dies in einer elabo­
rierten Abendrobe tat. Jetzt trat
er in New York im kurzen Kleid
auf. Im Madison Square Garden
gab Styles mit seiner Band zwei
Vorstellungen mit Halloween­
flair, nannte das ganze »Harry­
ween« und verkleidete sich als
Dorothy, die Hauptfigur aus
dem Musical »Der Zauberer
von Oz«. Styles tanzte ausgelas­
sen in seinem blau karierten
Kleid und roten Glitzerschuhen
und riss die tätowierten Arme
in die Luft, er schwenkte sein
Röckchen und amüsierte sich:
»Ich bin süß«, befand er. Die
Schleife in seinem kurzen Haar
hielt, doch die künstlichen
Wimpern inklusive Mascara lös­
ten sich im Laufe des Auftritts,
wie »Variety« berichtet. Der
ehemalige One-Direction-Sän­

Theo Wargo / Getty Images


ger überraschte das Publikum
nicht nur mit seinem Outfit. Als
Hommage an die originale
­Dorothy, 1939 von Judy Garland
verkörpert, sang er »Some­
where over the Rainbow«. KS

Auf Klimasause Seine 50 Gäste ließ er von der »Heuchler« nennen lassen; der
107-Meter-Jacht »Lana« (Wo­ »enorme Energieverschwender«
Wenn Milliardäre feiern, sind chenmiete 1,8 Millionen Euro) mache »seinen Beitrag zur CO2-
häufiger Jachten, Hubschrauber mit dem Hubschrauber zu Reduktion«, indem er sich mit
und jede Menge Champagner einem Beachklub fliegen. Dort einer Jacht und einem Hub­
im Spiel. Wenn der Gastgeber gab es Pizza, Sushi, Krustentiere schrauber transportieren lasse,
jedoch gleichzeitig Autor eines und – warum auch nicht – Cham­ schrieb ein Twitter-User iro­
Buchs ist, das den Titel »Wie pagner. Türkische Medien wie nisch. Wenige Tage vor der
wir die Klimakatastrophe ver­ die »Hurriyet« berichteten darü­ brenn­stoffintensiven Sause war
hindern« trägt, kann das un­ ber, wie auch schon zuvor von Gates in Australien noch als
John Keatley / REUTERS

angenehm auffallen. So ist es Gates’ Tour mit dem Luxus­schiff Klima­aktivist gefeiert worden.
jetzt Bill Gates, Mitbegründer entlang der Küste. Der Helikop­ Er soll geholfen haben, den
von Microsoft ergangen, nach­ tereinsatz brachte das Fass wohl ­australischen Premier zu über­
dem er vergangene Woche zum Überlaufen, in den sozialen zeugen, sich zur Klimaneutra­
­seinen 66. Geburtstag feierte. Netzwerken musste Gates sich lität bis 2050 zu bekennen. KS

134 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Die Wahrheit sagen reich. Dabei muss Strout keine Endlich ein
Angst vor mangelndem Interesse
Die Schriftstellerin Elizabeth an ihren Büchern haben. Ihr ­schlechtes Vorbild
Strout, 65, findet, dass es zu ­Erfolgsrezept: die Wahrheit Anfang des Jahres verschwand
­viele Frauen im Literaturbetrieb ­sagen. Das habe sie allerdings in Paris plötzlich Diary Sow, 21,
gibt. Die »Sunday Times« hat auf die harte Tour gelernt, ver­ eine senegalesische Studentin.
errechnet, dass sich das Verhält­ riet sie der »Sunday Times«. Viele Menschen nahmen Anteil
nis von männlichen und weib­ Als 30-jährige Autorin kam sie und waren sehr beunruhigt. Es
lichen Bestsellerautoren in den nicht recht voran mit ihrer hieß, sie wäre womöglich ent­
vergangenen 20 Jahren um­ Schreiberei, bis ihr beim Besuch führt worden, manche fürchte­
gekehrt hat. Demnach kamen einer Comedyshow in New York ten sogar, sie könnte ermordet
61 Prozent der Hardcover-Top­ auffiel, dass das Publikum im­ worden sein. Man suchte sie in
titel im Jahr 2000 von Män­ mer dann lachte, wenn eine Krankenhäusern, Studentinnen
nern, 2020 hingegen lieferten Wahrheit ausgesprochen wurde. und Studenten verteilten Flug­
Frauen 57 Prozent dieser Kate­ Um dem Phänomen auf den blätter, der Präsident Senegals
gorie. Das sei keine gute Ent­ Grund zu gehen, nahm Strout setzte seine diplomatischen

Senegalese Presidency / AFP


wicklung, sagte Strout der Zei­ an einem Comedykurs teil, der Kräfte ein, um sie rasch wieder­
tung. So verengten sich die Per­ mit einem Liveauftritt abschloss. zufinden. Als die junge Frau,
spektiven, sie wünscht sich, dass Das sei extrem stressig gewesen: die mit einem Stipendium nach
Männer und Frauen gleicher­ »Das hat mich bestimmt zwei Paris gekommen war, Wochen
maßen auf dem Buchmarkt ver­ Jahre meines Lebens gekostet«, später wohlbehalten wieder
treten sind: »Wir müssen das so Strout. Gleichzeitig genoss sie ­auftauchte und statt eine Erklä­
mischen.« Sie bedauert auch jeden Lacher, den sie provo­ rung abzugeben, ihren zweiten
den Rückgang der männlichen zierte: »Es hatte fast etwas Ero­ Roman ankündigte, schlug die habe auch etwas Befreiendes:
Leserschaft im fiktionalen Be­ tisches.« Wiederholt hat sie das Sorge vieler Menschen in Wut Seit ihrer Kindheit habe sie
Experiment trotzdem nicht. um. Man warf Sow vor, sie in ihrer Heimat als braves und
Fortan hielt sie sich aber an die habe mit den Ängsten anderer fleißiges Mädchen gegolten,
Maxime, dass Wahrheiten für gespielt, um ihr Buch besser zu das immer alles richtig mache.
gute Texte unerlässlich sind. verkaufen – kein ganz unplau­ Sie ist zweimal als »beste Schü­
Mit großem Erfolg. Ihre Bücher sibler Gedanke. »Ich habe krän­ lerin Senegals« ausgezeichnet
­finden sich regelmäßig in den kende Nachrichten auf Insta­ worden und galt vielen als Vor­
A . Smith / Guardian / eyevine / ddp

Bestsellerlisten der »New York gram erhalten«, klagt Sow jetzt bild. Mit diesem Bild habe sie
Times«. Und für ihren Roman in einem Interview. Man habe nun aufgeräumt: »Ich bin vom
»Olive Kitteridge« über eine wi­ sie als Hure beschimpft. Sie Podest gefallen, auf das man
derborstige pensionierte Lehre­ sehe aber keinen Grund dafür, mich setzen wollte.« Ihr Roman
rin, die kein Blatt vor den Mund sich zu rechtfertigen oder sich »Je pars« (»Ich verschwinde«)
nimmt, wurde Strout mit dem schlecht zu fühlen. Im Gegen­ ist seit Donnerstag in den fran­
Pulitzerpreis ausgezeichnet. KS teil. Der plötzliche Hass auf sie zösischen Buchhandlungen. PE

Das Geheimnis Hall genau diese Fragen. Ihre Fa­


miliengeschichte mütterlicherseits
der Mutter schien mysteriös. Ewing galt in
Die britische Schauspielerin Rebecca Opernkreisen als »exotisch«, Hall
Hall, 39, feiert mit ihrem Regiedebüt fand immer, dass sie wie eine
nicht nur künstlerisch, sondern auch Schwarze aussah, die Mutter sprach
privat einen Neuanfang. Ihr Film lange Zeit wenig über ihre Vorfah­
»Seitenwechsel« erzählt die Ge­ ren. Als Hall 2008 in den USA lebte,
schichte zweier amerikanischer Frau­ beschäftigte sie das Thema noch
en im New York der Zwanzigerjahre. ­stärker. Die Lektüre des Romans
In der Kindheit waren sie Freundin­ »Seitenwechsel« (1929) der afroame­
nen gewesen, beide mit schwarzen rikanischen Autorin Nella Larsen
Elternteilen, beide eher hellhäutig. öffnete Hall die Augen: Ihr Groß­
Als sich ihre Wege trennen, gibt sich vater war ein Schwarzer, der sich als
eine bald als Weiße aus, ein Phäno­ Weißer ausgab. Nach und nach hörte
men, das in der Zeit – und auch spä­ sie von rassistischen Erfahrungen,
ter noch – immer wieder vorkam. die ihre Mutter als Kind in den USA
Die andere lebt als Schwarze unter machen musste, ohne diese einord­
Schwarzen in Harlem. Fragen nach nen zu können. Was hat Hall aus die­
Identität, Rasse, Familiengeschichte sen Erkenntnissen über ihre Identität
treiben diesen Film an. Das Dreh­ gelernt? »Vielleicht wechsle ich
buch auf der Grundlage des gleich­ permanent die Seiten«, schreibt sie.
namigen Romans verfasste die Sie könne sich nicht aussuchen,
ddp socialmediaser vice

­Tochter von Sir Peter Hall, Gründer wie sie aussehe, aber sie könne sich
der Shakespeare Company, und entscheiden, die Geschichte ihrer
der amerikanischen Opernsängerin ­Familie wertzuschätzen. »Und ich
Maria Ewing bereits vor mehr als hoffe, mit diesem Film damit begon­
zehn Jahren. Damals beschäftigten nen zu haben.« KS

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 135


BRIEFE einen Scherbenhaufen, und das
wäre eine schreckliche Schande.
Dirk Roßmann, Gründer der Drogeriekette
Rossmann, Burgwedel (Nieders.)

Die Menschheit muss die Folgen


ihres unbesonnenen Verhaltens
illusionslos zur Kenntnis nehmen:
der Unfähigkeit, dieses umzuset- Hunger und mangelnde medizi- Das Klima hat Fieber. Ohne wir-
zen, weil es uns an nötigem ehr- nische Versorgung sind weiter an kungsvolle globale Maßnahmen
lichem Willen zur Vernunft zu der Tagesordnung. Es fehlt eine wird es weiter steigen und vor
sehr mangelt. Mit einem persön- wirkliche internationale Entwi- allem ungewiss lange anhalten.
lichen Blick in den Spiegel zeigt cklungs- und Wirtschaftspolitik Eine einfache Therapie gibt es
sich das wahre Dilemma. auf Augenhöhe, mit der Forde- nicht, auf jeden Fall wird sie teu-
Rüdiger Reupke, Isenbüttel (Nieders.) rung, in den jeweiligen Ländern er werden und nicht ohne Ein-
die vorhandenen gesellschaftli- schränkungen auskommen.
Das ist mal ein wirklich gutes Ti- chen Strukturen anzuerkennen Dr. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger,
telbild. Es hat mich sehr bewegt und die Religionen zu achten. Die Bad Dürkheim (Rhld.-Pf.)
und ist auch dringend notwendig. Fördergelder müssen aber ergeb-
Bislang sahen wir Bilder von der nisorientiert und kontrolliert in-
Erde immer als diesen gewaltigen vestiert werden. Lieber Macho als
blauen Planeten, der in seiner Lutz Grosskopf, Erfurt
Schönheit unantastbar scheint. Macher
Aus dem Weltall betrachtet, Ich habe die Titelstory mit gro- Nr. 43/2021  Reformstau – Unterwegs in
scheinen unsere irdischen Nöte ßem Interesse gelesen, insbeson- einem Deutschland ohne Tempolimit
oft unwirklich und lächerlich dere die letzten Sätze: »Wacker-
Das wahre Dilemma klein. Das Gegenteil ist der Fall: nagel hält es für sinnvoll, dass die Wow! Nach Abwahl von Ver-
Wenn wir nicht endlich verste- Menschheit schrumpft. Weniger kehrsminister Scheuer keimte
Nr. 44/2021  Der Planet kollabiert – Wie hen, dass wir Raubbau an unse- Menschen verbrauchen weniger Hoffnung auf Normalisierung auf,
stoppen wir das?
ren Lebensgrundlagen betreiben, Ressourcen: Das ist der größte aber so wie CSU-Legende und
Wenn ich wieder mal, wie hier werden lebensnotwendiges Blau Hebel.« Ich wünsche mir, dass ­Pilotenscheininhaber Strauß die
beim Thema Metalle, lesen muss, und Grün sicher immer weiter der SPIEGEL einen Beitrag zum Nichtbesteuerung von Flugbenzin
welche grundsätzlichen strate- von der Erdoberfläche verschwin- Thema Bevölkerungsentwicklung für Privatpiloten mal durchsetzte,
gisch-strukturellen Fehlentschei- den. Der Planet wird in weiten im Kontext der Energiewende wird wohl Rennfahrer­lizenz­be­
dungen unsere überbezahlten Teilen unbewohnbar. Was fehlt: veröffentlicht und aufzeichnet, sitzer FDP-Chef Lindner jegliches
»Supermanager« in Zusammen- Auf dem Bild sieht das Weltall un- welche Maßnahmen erforderlich Tempolimit – egal ob bei 130 Kilo-
arbeit mit der Politik getroffen versehrt und rein aus. Sollte man sind, damit die Menschheit metern pro Stunde oder bei 310
haben und leider immer noch die Millionen Teile von Welt- schrumpft. Ich weiß, dass dieses Ki­lometern pro Stunde – verhin-
treffen, bin ich sprachlos. Schade. raumschrott, die wir dorthin ge- Thema tabuisiert ist, hoffe aber, dern wollen. Klientel- und Sym-
Dr. Jean-Arno Topp, München schossen haben, nicht auch ein- dass der SPIEGEL den Mut hat, bolpolitik aus ideologischen Grün-
mal sichtbar machen? sich auch mit unbequemen The- den – Liberalität, Freiheit! Quasi
Ich hatte mir schon Wörter wie Inka Brunke, Hannover men zu befassen. nach dem Motto: Lieber wie ein
Wiederverwertung und Aufarbei- Rainer Sager, Essen verrückter Macho rasen – als wie
tung an den Rand geschrieben, Welch ein Segen, dass es den ein vernünftiger Macher regieren.
als ich endlich das Wort Recycling SPIEGEL gibt. Erkenntnisse wie Chapeau und Dank für die auf- Anders Eriksson, Bühl (Bad.-Württ.)
las. Das Aufatmen hielt aber nicht »rund 67 Tonnen Kupfer allein in rüttelnde Titelstory; die Ausführ-
lange an, als ich las, dass »die einer Windkraftanlage auf See« lichkeit und der Überblick – das Ein sehr schöner Bericht. Leider
Menschheit schrumpfen« muss. und die schändlichen, menschen- macht dem SPIEGEL keiner nach. fehlt noch das i-Tüpfelchen: Poli-
Das wäre zwar sinnvoll, wenn verachtenden Förderbedingun- Und was lernt man daraus? Wir zeibehörden, die ihre Kontroll-
man gleichsam an Hungersnöte gen, unter denen unter anderem müssen uns umstellen. Und zwar daten samt Standortangaben
oder Wasserknappheit denkt, dieses kostbare Metall in einer schnell. Jede und jeder Einzelne über die Medien vorab verbrei-
aber wie soll das gehen? Solange der weltgrößten Kupferminen im ist gefordert, jeder kleine Betrieb, ten. Da fährt man langsam vorbei
Verhütung und Abtreibungsrecht Norden Chiles gewonnen wird, jede große Firma muss mitma- und gibt 200 Meter weiter wieder
auf der einen Seite verhindert haben mich sprachlos gemacht. chen. Nicht nur hierzulande, son- richtig Gummi. Man stelle sich
werden und Bildung sowie Men- Wer stellt sich angesichts dieser dern weltweit. Denn eine wirk- vor, der Warenhausdetektiv wür-
schenrechte nicht für alle Men- großartigen Recherche nicht die liche Umkehr wird nur möglich de seinen Besuch am Regal eben-
schen gelten, wird es für die Frage: Warum habe ich das alles sein, wenn auf der Ebene der so anmelden.
Menschheit auf unserem Planeten in dieser erschreckenden Deut- Supermächte ein Umdenken ein- Christof Sperl, Kassel
eine Zweiklassengesellschaft ge- lichkeit nicht schon vor der Bun- setzt. Ich weiß, das klingt un-
ben. Deshalb muss ein Umden- destagswahl erfahren können? wahrscheinlich, das betonen auch Die neuerliche Aneinanderrei-
ken global stattfinden – nicht die Dennoch: Danke! immer wieder die Berufsskepti- hung der immer gleichen lau­
Ausbeutung. Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) ker; aber was wir brauchen, ist warmen Begründungen für ein
Barbara Lissack, Dresden Hoffnung, nicht Skepsis – und allgemeines Tempolimit auf deut-
Durch den Einsatz von E-Mobi­ immerhin ist der Mensch ein ler- schen Autobahnen im Beitrag von
Es könnte, sollte, müsste, bräuch- lität, Solardächern, Windrädern nendes Wesen. In zehn Jahren Herrn Fichtner ist einfach nur er-
te? Stopp! Die Fakten sind ein- und Lastenfahrrädern bleiben werden wir klüger sein, hoffent- müdend. Ich selbst danke jeden-
deutig! Wir scheitern nicht an trotzdem in Teilen des globalen lich zum Besseren. Denn sonst falls, obschon SPD-Mitglied, den
mangelndem Wissen, sondern an Südens und Ostens die Teller leer, überlassen wir unseren Enkeln Ampelverhandlern der FDP, dass

136 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021


Opfern entstandenen Lebenswer­
Die Frauenunion der Die Grünen und die Mit diesem Artikel ke zu eigen gemacht, und merk­
CSU will zwar kein SPD haben für die haben Sie mich würdigerweise wird dieses Ver­
Verbot der Prostitu­ Ampel weit mehr ­einmal wieder daran brechen in den meisten Artikeln
auch noch gefeiert. Künstler, die
tion, aber eine Krimi­ geopfert als den erinnert, warum sich nicht mehr wehren können,
nalisierung der Klimaschutz. Schon ich seit gefühlten wurden in der miesesten Weise
Freier. Selten etwas in den Sondierungs­ 40 Jahren Abonnent beklaut, und (fast) alle empfinden
so Widersinniges gesprächen (!) hat bin. Gründliche das als gut. Es ist wohlfeil, sich
über Kritiker, Sachverständige,
gelesen! Das wäre sich gezeigt, welcher ­Recherche, bedachte Auktionatoren mitunter lustig zu
etwa so, als dürfte ein Schwanz die kom­ Analyse und machen. Niemand ist perfekt.
Bäcker Brötchen menden Jahre mit dis­ruptive Schluss­ René Böll, Maler und Grafiker, Köln

anbieten, der Kunde dem Hund wedeln folgerungen. Kleinkriminelle ohne Reue. Ob
diese aber nicht wird: die FDP. Dr. Hartmut Buhck, Berlin jemand Geld, Zeugnisse oder
kaufen. Jürgen Blöhs, Hamburg Bilder fälscht, ist letztlich egal.
Allen gemein ist ein krimineller
Joachim Kaden, Backnang
(Bad.-Württ.) Geist, der glaubt, durch Schlau­
Nr. 44/2021  Ökotechnologien heit andere zu seinem Vorteil aus­
Nr. 43/2021  Annalena Baerbock brauchen Kupfer, Nickel,
kündigt im SPIEGEL-Gespräch Kobalt. Plündern wir tricksen und sich an der Unwis­
Nr. 43/2021  CSU-Frauen eine Wende der Energiepolitik den Planeten im Namen des senheit seines Opfers bereichern
erwägen Sexkaufverbot durch die Ampelkoalition an Klimaschutzes? zu können.
Ulrich Bihler, Homburg (Saarl.)

sie eine weitere symbolpolitische dungsbewusstsein ein Tempo­ Auffassungen über die treiben­ Endlich wieder einmal eine Nach­
Beschneidung von Freiheitsrech­ limit verherrlichende Artikel ver­ den, oft unheilvollen Kräfte des richt von den Beltracchis. Vor
ten durch Einführung eines all­ mischt Fakten. Wenn es so ein­ Westens. Andere Kulturkreise ­allem freut mich, dass Frau Bel­
gemeinen Tempolimits offenbar fach wäre, dann verbieten Sie mit westlichen Werten zu züch­ tracchi ihrer Erkrankung weiter­
verhindern konnten. doch morgen Kreuzfahrtschiffe, tigen oder unsere kränkelnden hin Widerstand leistet. Reue über
Benedict Bock, Essenheim (Rhld.-Pf.) Rauchen – und Alkohol sowieso. Demokratiemodelle anderen diese köstliche Gaunerkomödie
Alle diese Dinge sind erwiesener­ Völkern überzustülpen – im häu­ würde nicht ins Bild passen. Als
Ein Tempolimit ist Klimaschutz, maßen der Gesundheit kaum zu­ fig herbeigeführten Zweifelsfall ihr Buch »Selbstporträt« 2014
Lärmschutz und Gesundheits­ träglich. Wie meist im Leben gilt mit kriegerischer Gewaltanwen­ ­erschien, habe ich es unbesehen
schutz in einem, und eine Reform doch der Grundsatz des verant­ dung –, all dieses darf nach dem gekauft, aus Sympathie und Freu­
der Berechnungsmethoden für wortungsvollen Umgangs mit den Lesen des Beitrags infrage gestellt de darüber, dass da jemand die
Straßenverkehrslärm ist überfäl­ Spielregeln. bleiben. Verlogenheit und Profitgier der
lig. In der bisherigen Form sind Sascha Hancke, Weichering (Bayern) Ursula und Bernd-Ulrich Maciejewsky, Kunstszene so schön vorgeführt
diese Berechnungen unrealistisch Annaberg-Buchholz (Sachsen) hat. Was ich nicht ahnte: Das
und schützen nicht die Gesund­ Buch ist ein Meisterwerk als Gau­
heit der lärmgeplagten Anwoh­ Idealistisch bis Idealistisch bis märchenhaft, wie nerkomödie. Ich habe es zweimal
ner, sondern die »freie Fahrt für simpel laut Herrn Kishore Mah­ gelesen und viele Male ver­
freie Bürger«. märchenhaft bubani doch unterschiedliche schenkt. Es wäre wirklich schade,
Rosemarie Fano, Kirchheim-Teck Nr. 43/2021  Daten lügen nicht – der Weltanschauungen zur globalen wenn es in Vergessenheit geriete.
(Bad.-Württ.) Autor Kishore Mahbubani über Ostasiens Einheit führen könnten. Gäbe es Leider spricht mich Beltracchis
erfolgreicheren Umgang mit Covid-19 da nur nicht uns Menschen. Sind eigenständige Malerei nicht an;
Jetzt bin ich seit über 30 Jahren wir doch das großartige Wesen, von ehrlichen Nachschöpfungen
SPI EGEL -Abonnent und habe »China hat nicht den Wunsch, das sich mittels Denkvermögen seiner Vorbilder könnte er aber
mich wirklich selten gewundert dem Westen seine Sicht aufzu­ über die eigene Ratio hinwegzu­ natürlich nicht leben.
über Ihre Berichterstattung. Der zwingen« – eine erstaunliche setzen vermag. Und das seit jeher Dr. Michael Schunck, Ludwigshafen
offensichtlich mit gehörigem Sen­ Feststellung angesichts der drin­ tut und weiter tun wird. Prädikat: (Rhld.-Pf.)
genden Warnung von Bildungs­ hoffnungslos.
ministerin Karliczek vor dem Tom Brüderl, Landshut (Bayern) Mit dem Text leistet sich der
­Einfluss der chinesischen Konfu­ SPIEGEL einen Beitrag zur immer
KORREKTUR
zius-Institute an verschiedenen wieder zu beobachtenden Rela­
Zum Artikel »Und raus bist du«
in Heft 44/2021, Seite 51:
deutschen Universitäten. Köstliche tivierung, Verharmlosung oder
Rüdiger Patschan, Berlin gar Bewunderung und Nobilitie­
Das Geld aus dem Digitalpakt Gaunerkomödie rung von Fälschern und ihren
kann anders als berichtet nur Der Beitrag des Herrn Mahbuba­ Nr. 43/2021  Malerei – Helene Beltracchi Straftaten. Das ist unethisch und
teilweise, nicht vollständig ni spricht für die bewährte Mei­ und die Fälschungen ihres Mannes eines Presseorgans, das sich jen­
verwendet werden, um Schü­ nungsvielfalt des SPIEGEL . Mei­ seits vom Boulevard verortet, un­
lerinnen und Schüler mit digi­ ne Ehefrau und ich bedanken uns In allen Artikeln, die ich zu den würdig.
talen Lernmitteln auszust­atten; ausdrücklich bei Ihnen. Und so Beltracchis gelesen habe, kommt Heinrich Wagener, Bergisch Gladbach
die Geräte gehören nach nebenbei: Manches Kopfschüt­ eine Gruppe, die in meinen Au­ (NRW)
36 Monaten nicht der Schule, teln aufgrund uns nicht genehmer gen die wichtigste ist, kaum oder
sondern werden nach deren Beiträge verwandelte sich jetzt in allenfalls am Rande vor: die »ko­ Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Angaben an den Leasinggeber Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
laute Begeisterung. Die Aussagen pierten« Künstler! Da hat sich gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
zurückgegeben. des Autors bekräftigen unsere jemand ihre unter oft größten unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 45 / 6.11.2021 DER SPIEGEL 137


HOHLSPIEGEL R Ü C KS P I E G E L

Zitate
Die »Berliner Zeitung« zu den SPIEGEL -
Aus der »Leonberger Kreiszeitung«
Enthüllungen über ein Compliance-
Verfahren innerhalb der »Bild«-Zeitung,
die von der »New York Times« aufgegrif-
Aus der »Badischen Zeitung«: »Über Seiten­ fen wurden (»Vögeln, fördern, feuern«,
hiebe des Wahlkampfs – er mit der Raute, Nr. 11/2021):
sie mit dem Linkskoalitionsvorwurf –
­können die Politprofis Merkel und Scholz Jetzt als Ist es Zufall, dass in dieser Woche ausgerech-
hinwegsehen. Jedenfalls kann sie mit net ein »New-York-Times«-Artikel die Ab-
dem Sozialdemokraten im Kanzleramt
­ruhig schlafen, wie sie jüngst erzählte.«
Kalender setzung des »Bild«-Chefredakteurs Julian
Reichelt ausgelöst hat? Reichelt wird Macht-
missbrauch vorgeworfen. Der SPIEGEL deck-
te im März die Vorwürfe auf, nach einer kur-
zen Auszeit war Reichelt wieder im Amt.
Aus dem »Schwarzwälder Boten« Nach dem Artikel in der »New York Times«,
von dem der Autor selbst sagt, er habe kaum
Neuigkeiten enthalten, wurde Reichelt von
Aus einer Artikelbeschreibung bei Amazon: seinen Aufgaben freigestellt. Ben Smith, der
»Schalten Sie einfach den Milchschäumer Autor des Artikels, sagte im Interview mit der
ein, während Sie sich unter Wasser befinden, »Zeit«, ihn wundere, wie lange das gedauert
um ihn zu reinigen. Rosten Sie niemals.« habe: »Schon wegen fünf Prozent der be-
kannten Vorwürfe wäre ein amerikanischer
Manager sofort gefeuert worden.«

Die »Stuttgarter Zeitung« über


die SPIEGEL -Recherchen zum Verrats-
Skandal in der Berliner Justiz (»Die
Akte Attila«, SPIEGEL+ am 1. November):

Der rechtsradikale Verschwörungserzähler


Attila Hildmann soll von einer ehemaligen
Mitarbeiterin der Berliner Justiz interne In-
formationen zu Ermittlungen gegen ihn er-
In einer Berliner Edeka-Filiale
halten haben. »Wir müssen leider von einem
Maulwurf in den eigenen Reihen ausgehen«,

Aus einer Meldung der Polizeiinspektion


€ 19,99 sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft,
Martin Steltner, am Montag in Berlin. Nach
Im Buchhandel
Kelheim: »In der Zeit vom 15.10.2021 bis den Recherchen des ARD-Politikmagazins
und überall, wo es
zum 18.10.2021 nahmen bisher unbekannte »Kontraste«, des Rechercheformats
Kalender gibt
Täter Kontakt mit einer 55-jährigen Frau »STRG_F« des NDR und des SPIEGEL han-
per WhatsApp auf. Dabei gaben sie sich als delt es sich um eine ehemalige Angestellte
Tochter der Seniorin aus.« aus der IT-Abteilung der Generalstaats­
Geschichte kompakt und anwaltschaft. Laut SPIEGEL schickte die Frau
anschaulich erzählt: Hildmann den Haftbefehl im Original.
Über die größten Erfindungen
und Entdeckungen der Menschheit Die »Frankfurter Allgemeine« über die
sowie die größten Abenteurer vom SPIEGEL publik gemachte Begrün-
dung des gescheiterten Parteiausschluss-
und ihre Expeditionen.
verfahrens gegen Sarah Wagenknecht
(»Wagenknecht hat der Linken ›schweren
Anzeige aus der »Berliner Zeitung« + Wochenkalender Schaden zugefügt‹«, SPIEGEL .de am
18. Oktober):
+ 54 Blatt
Von der Website des »Wiesbadener Kuriers«: Nachdem die Linkspartei Anfang September
»Die Einrichtung und der Betrieb seien + 25 x 35,5 cm entschieden hatte, Sahra Wagenknecht nicht
auch wegen der ganz speziellen Anforde- + Spiralaufhängung aus der Partei auszuschließen, ist nun die Be-
rungen bezüglich der Transport- und gründung öffentlich geworden … In dem Do-
­Lager­bedingungen des Impfstoffs notwendig + Eindrucksvolle Bilder & kument, das der Zeitschrift DER SPIEGEL
­gewesen. Mehr als 4,7 Impfungen waren informative Texte vorliegt, werden schwere Vorwürfe gegen
in den Impfzentren durchgeführt worden.« Wagenknecht erhoben, die bis 2019 Fraktions-
vorsitzende der Linkspartei war und im Bun-
destagswahlkampf Spitzenkandidatin in
Besuchen Sie uns im Internet: Nordrhein-Westfalen. Demnach habe Wagen-
www.harenberg-kalender.de knecht mehrfach gegen Grundsätze und Ord-
nung der Partei verstoßen und sich partei-
Transparent im saarländischen Merchweiler schädigend verhalten.
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138 DER SPIEGEL Nr. 45 / 6.11.2021
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