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Hausmitteilung

30. Dezember 2013 Betr.: Titel, neue Väter, Pussy Riot

D as Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren wird
Ausmaße annehmen, die die Welt bei historischen Ereignissen noch nicht
gesehen hat: zahlreiche Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs, Tausende
Erinnerungsprojekte, allein in Deutschland rund 150 Neuerscheinungen auf dem
Buchmarkt. In der Titelgeschichte (Cover-Foto: kanadische Soldaten in einem
Einsatz an der Somme im Jahr 1916) geht SPIE-
GEL-Redakteur Klaus Wiegrefe den Fragen
nach, wie es zu der Urkatastrophe des 20. Jahr-
hunderts kommen konnte und welche Bezüge
sie zur Gegenwart hat. Der Artikel ist der Auf-
takt einer sechsteiligen Serie, die Wiegrefe und

BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL


SPIEGEL-Redakteur Alfred Weinzierl entwor-
fen haben. Der SPIEGEL wird darin die Folgen
des Ersten Weltkriegs beschreiben, wie sie bis
in die Gegenwart hinein nachwirken. „Die
Reportagen aus dem Heute zeigen: Die Ge-
schichte des Ersten Weltkriegs ist noch lange
nicht vorbei“, sagt Weinzierl (Seite 28). Weinzierl, Wiegrefe

D ass es ihrem Gesprächspartner ernst ist mit der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie, merkte SPIEGEL-Redakteurin Susanne Amann an einer Randbemer-
kung: Er sei nur noch bis Donnerstagabend für Rückfragen zu erreichen, sagte ihr
einer der Manager, mit denen sie über neue Vaterrollen und den Wandel in Unter-
nehmen sprach – danach sei Familienzeit, und er wolle nicht mehr gestört werden.
Viele Männer mit Kindern fordern bei ihren Arbeitgebern Rücksicht auf familiäre
Belange ein, für etliche Firmen eine neue Erfahrung. Amann und ihre Kollegin
Simone Salden waren am Ende ihrer Recherchen überrascht, wie vielfältig, kreativ
und flexibel Unternehmen inzwischen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse
reagieren. „Da vollzieht sich ein Wandel, der die Arbeitskultur, aber auch das
Familienbild verändert“, sagt Amann. „Auffällig ist, dass es häufig Männer mit
einer erfolgreichen Frau sind, die Vorreiterrollen übernehmen“ (Seite 58).

M it knapp zwei Stunden Verspätung landete Nadeschda Tolokonnikowa


zusammen mit Ehemann Pjotr Wersilow und Mitstreiterin Marija Aljochina
am vergangenen Freitagmorgen am Moskauer Flughafen Wnukowo. Mehr als vier-
einhalb Stunden hatte der Flug UN 158 aus Sibirien gedauert, wo Tolokonnikowa
in einem Straflager inhaftiert gewesen war. Die freigelassene Wortführerin der
feministischen Aktionsgruppe Pussy Riot schnappte sich ihr Gepäck und wimmelte
erst einmal drei Dutzend wartende Reporter ab. Dann setzte sie sich zu Matthias
Schepp, dem Moskauer SPIEGEL-Korrespondenten, ins Auto. Tolokonnikowa und
Schepp hatten sich bei einem
Interview kennengelernt, das
zu Beginn ihrer zweijährigen
Haftstrafe schriftlich und über
ihren Anwalt geführt wurde.
„Ausnahmsweise habe ich
mich über den Dauerstau in
DENIS SINYAKOV

Moskau richtig gefreut“, sagt


Schepp. „Wir konnten aus-
führlich und in Ruhe über alles
Schepp, Tolokonnikowa reden“ (Seite 70).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 5
In diesem Heft
Titel
Der Erste Weltkrieg beeinflusst die Politik
noch heute ........................................................ 28
Deutschland
Panorama: Merkel will Juncker auf
EU-Spitzenposten verhindern / Schäuble muss
mehr Schulden machen / Fußballeinsätze
der Bundespolizei kosten 38 Millionen Euro ..... 12
Europa: Eiszeit zwischen Berlin und
der EU-Kommission in Brüssel .......................... 16
Im SPIEGEL-Gespräch verteidigt EZB-Präsident
Mario Draghi seinen Kurs zur Euro-Rettung ..... 20
Parteien: Bei den Grünen erobern junge
Frauen die einstigen Domänen der Männer ...... 24
Karrieren: Wie der FDP-nahe
Regierungssprecher Georg Streiter den
Absturz der Liberalen überlebte ....................... 25
Flüchtlinge: Der engherzige Umgang
der deutschen Behörden mit den Opfern
des syrischen Bürgerkriegs ................................ 26
Hessen: Ministerpräsident Volker Bouffier
erklärt, wie die Grünen vom Gegner
zum Koalitionspartner der CDU wurden .......... 38
Prostitution: Ein Staatsanwalt kämpft
gegen Bordellbetreiber ...................................... 40
Allein in Brüssel Seiten 16, 20
FRANCOIS LENOIR / REUTERS

Zeitgeschichte: Das lange verschollene Tagebuch


des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg ............ 42 EZB-Präsident Mario Draghi sieht Fortschritte bei der Überwindung der
Sorgerecht: Warum ein dreijähriges Mädchen Euro-Krise. Er mahnt im SPIEGEL-Gespräch weitere Reformen an, doch
in Hamburg starb .............................................. 44 Kanzlerin Angela Merkel stößt mit ihren Plänen in Brüssel auf Widerstand.
Mit Risiken und Nebenwirkungen – das System
der Jugendhilfe ................................................. 45
Legenden: Die französische Königstochter
Marie Thérèse soll in Thüringen begraben sein ... 47
Gesellschaft
Szene: Alligatoren-Show in Florida / Vater, Mutter, tot Seite 44
Psycho-Druck an Silvester ................................ 48 Eine Dreijährige aus Hamburg wurde geprügelt und getreten, bis ihre
Eine Meldung und ihre Geschichte – warum
ein übergewichtiger Franzose aus
Leber riss. Nach ihrem Tod muss jetzt geklärt werden, ob wirklich
den USA nicht nach Hause reisen durfte .......... 49 der Vater schuld ist – und warum der Staat das Mädchen nicht schützte.
Essay: Die Grundschule erzieht unsere
Kinder zu normierten Alleskönnern – Plädoyer
für die Rückkehr zur Langsamkeit .................... 50
Ortstermin: Wie eine bewegungsunfähige
Rollstuhlfahrerin Politik machen möchte ........... 55
Wirtschaft
Das perfekte Schulkind Seite 50
Trends: Ist die Bankenabgabe verfassungswidrig? / Die Grundschule ist zu einer Fabrik geworden, in der die Fleißigen und
Spendensammler fürchten Einbruch Angepassten belohnt werden, nicht die Neugierigen. Sie fördert den Fleiß,
wegen IBAN / Betriebsprüfung bei EADS ........ 56 nicht die Phantasie. Ein Plädoyer für mehr Langsamkeit an den Schulen.
Management: Wie sich die Unternehmen auf
die neuen Väter einstellen (müssen) .................. 58
Handel: Das Image von Hörgeräten soll
aufpoliert werden .............................................. 61
Globalisierung: Ohne philippinisches Personal
wäre der Kreuzfahrt-Boom nicht denkbar ........ 62
Jobs: Firmen aus dem SPD-Umfeld profitieren
Ende einer
von Dumpinglöhnen ......................................... 64
Getränkeindustrie: Der Erfolg der
Legende Seite 120
Szenelimonaden ................................................ 66 Sein Modehaus an der
Ausland Düsseldorfer Königsallee
Panorama: Weltausstellung unter Mafia- ist eine Institution. Doch
Einfluss / Fallschirm für EU-Beamte ................. 68 Ende Mai schließt Albert
Russland: SPIEGEL-Gespräch mit der Eickhoff sein Geschäft.
MICHAEL DANNENMANN / PHOTOSELECTION

freigelassenen Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Im SPIEGEL-Gespräch


Tolokonnikowa über ihre Zeit in Lagerhaft, erklärt der legendäre
ihre neuen Pläne und ihre Tochter .................... 70 Einzelhändler, der Gianni
Amnestie für Chodorkowski & Co. – Versace in Deutschland
taktisches Manöver Putins oder der Beginn
neuer Reformen? ............................................... 74
bekannt machte, warum:
Türkei: Erdogans Machtkampf mit der „Man hat den Eindruck,
Gülen-Bewegung gefährdet seine politische nicht mehr in der Mode-,
Zukunft ............................................................. 78 sondern in der Finanz-
Kommentar: Die Tragödie im Südsudan ............ 80 branche zu arbeiten.“
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Israel: Gottlos in kurzem Rock – das neue Leben
einer ultraorthodoxen Jüdin in Tel Aviv ........... 82
Global Village: Ein Inder in Coventry stellt einen
Weltrekord im Tomatenzüchten auf ................... 86
Sport
Szene: Großbaustelle Sotschi / Deutschlands
größtes Handballtalent sucht sein Glück beim
FC Barcelona .................................................... 87
Galoppsport: SPIEGEL-Redakteur
Stefan Willeke über sein neues Leben
als Mitbesitzer eines Rennpferds ....................... 88
Medien
Trends: Bjarne Mädel wünscht sich bessere
Bedingungen für den „Tatortreiniger“ / Merkels
schrägster Blog-Beitrag ..................................... 93
Satire: Trost und Tipps für die Medienopfer
des Jahres 2013 .................................................. 94
Pressefreiheit: Oligarchen wollen
„Forbes“ übernehmen ....................................... 97
Wissenschaft · Technik
Prisma: Lemuren suchen Schutz in Höhlen /
Höhenluft schützt vor Gehirnerschütterungen ... 98

„Man wollte mich brechen“ Seite 70


NSA: Eine Spezialeinheit des US-Geheim-
dienstes dringt in staatlichem Auftrag weltweit
in Rechner und Computernetze ein ................. 100
Im SPIEGEL-Gespräch erzählt die Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Der Werkzeugkasten der NSA ........................ 102
Tolokonnikowa von der Zeit ihrer Haft, ihrem Glauben und dem selbstge- Medizin: Kampf gegen Falten – warum sich

DENIS SINYAKOV
zeichneten Fluchtplan, den ihre kleine Tochter ihr ins Straflager brachte. schon junge Frauen Botox spritzen lassen ....... 106
Kriminalpsychologie: Das Seelenleben
der Selbstmord-Mörder ................................... 107
Tiere: Wie ein Dachs, ein Maulwurf und ein
Delfin zu Helden der Archäologie wurden ...... 108

Der Werkzeugkasten der NSA Seiten 100, 102 Kultur


Szene: 2013 war das Jahr des David Bowie /
Interne Dokumente belegen, dass der amerikanische Geheimdienst NSA Rumäniens ehemaliger Wirtschaftsminister hat
eine große Bandbreite von Hard- und Software entwickelt hat, um weltweit ein bewegendes Buch geschrieben ................... 110
unbemerkt in Computer, Mobiltelefone und Netzwerke einzudringen. Autoren: Nach sieben Jahren Pause veröffentlicht
Zadie Smith endlich wieder einen Roman ....... 112
Essay: Der russische Schriftsteller
Wiktor Jerofejew über seine widerstreitenden
Gefühle für die Winterspiele in Sotschi ........... 116
Mode: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Sooo gemein! Seite 94 Unternehmer Albert Eickhoff über das Ende
des klassischen Einzelhandels und
Von Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bis zu Moderator Markus Lanz: den Verlust der Eleganz durch das Internet ..... 120
2013 war das Jahr der selbsternannten Medienopfer. Der SPIEGEL fühlt Jahresbestseller 2013 ...................................... 123
Filme: Hollywood entdeckt eine lukrative
mit den Betroffenen und spendet ihnen in persönlichen Zeilen etwas Trost. Zielgruppe: die Senioren ................................. 124
Literaturkritik: Der Eigenbrötler Arno Schmidt
lebt in einem Briefband zum
100. Geburtstag spektakulär wieder auf .......... 126

Wie lebt man Briefe .................................................................. 8


Impressum, Leserservice ................................. 128
richtig? Seite 112 Register ........................................................... 130
Personalien ...................................................... 132
Hohlspiegel / Rückspiegel ................................ 134
Mit ihrem Debütroman
Titelbild: Foto [M] Ullstein
„Zähne zeigen“ wurde Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten
sie im Jahr 2000 berühmt.
Inzwischen lebt Zadie
Smith in London und New
York, hat zwei weitere Tischvorlage
Romane geschrieben und Von der vegetarischen
DIRK EUSTERBROCK / DER SPIEGEL

zwei Kinder bekommen. Küche aus China bis zum


Nach sieben Jahren Pause Wild aus deutschen Wäl-
kommt nun „London dern: Der KulturSPIEGEL
NW“ heraus, ein Buch stellt die Küchentrends
über die großen Fragen: des Jahres 2014 vor und
Was ist ein gelungenes erklärt, was sie zu bedeu-
Leben? ten haben.
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Briefe

Der unintelligente, irrationale Geist weist


sich durch Glaube, Liebe, Hoffnung als
„Ob Religion oder Magie – der Mensch aus.
HANS-ULRICH RAHE, BAD SALZDETFURTH

Wert der Anschauungen ent- Selbst Atheisten sollen also anfällig für
scheidet sich nicht im Jenseits, Übersinnliches sein. Das soll wohl auch
erklären, warum das Christentum nach
sondern durch ihre Menschen- 2000 Jahren überlebt hat. Die historische
Wahrheit sieht anders aus: Die „Weih-
freundlichkeit im Diesseits.“ nachtsbotschaft“ ist ein Angebot an den-
kende und glaubensbereite Menschen
und will zur einer Lebensentscheidung
THOMAS STALLER, KRIFTEL AM TAUNUS herausfordern. Diese Entscheidung kann
SPIEGEL-Titel 52/2013 selbstverständlich auch negativ ausfallen.
Das unterscheidet das Christentum von
anderen Religionen.
Nr. 52/2013, Zwischen Religion und das heißt nicht fassbare Kraft, die helfen NORBERT JACKISCH, GELSENKIRCHEN
Magie – Woran glaubt der Mensch? könnte. Auf alle Fälle bleibt uns damit
der Nährboden für Glücksbringer, Mas-
Glücksbringer und Priester kottchen, Schamanen, Medizinmänner,
Hellseher, Priester und dergleichen wohl
Nr. 51/2013, Ein Nacktfoto und seine Fol-
gen – das Leben der Ägypterin Aliaa Mahdi
Als Atheistin kann ich sehr gut mit dem noch sehr lange erhalten.
Rest magischen Denkens leben, das die
Evolution dem Homo sapiens in die Wie-
DIETER MORITZ, WUTHA-FARNRODA (THÜRINGEN)
Kreativ polarisierend
ge gelegt hat. Schließlich hat sie uns dazu Der aufschlussreiche, Mensch wie Reli- Natürlich kann eine einzelne Frau nicht
ja auch noch einen Verstand gegeben. gion entlarvende Artikel macht deutlich, Ägypten oder den Islam verändern, aber
Dass heute mehr und mehr Menschen wie einfach wir trotz der vielen „un- für sich hat sie alles verändert. Wie hätte
erkennen, dass Religionen nichts anderes glaublichen“ technischen Errungenschaf- denn ihre Zukunft ausgesehen, was hätte
sind als von Menschen ausgedachte My- ten gestrickt sind. Es ist zum Schmunzeln. sie noch zu erwarten gehabt, hätte sie
then, gibt mir Hoffnung. Vielleicht gelingt Zum Schmunzeln ist hingegen nicht, wie sich gefügt? Sie steht für ein mündiges
es uns im 21. Jahrhundert endlich, wahr- groß der Einfluss der Verwalter eines Leben in Freiheit, Würde und Selbstbe-
haft menschliche Werte wie Mitgefühl, technokratischen und im Grunde unver- stimmung, für die Werte der Aufklärung
Solidarität und Toleranz zu verwirkli- ständlichen Glaubenssystems – des Chris- und des Humanismus: „Ich ziehe mich
chen, anstatt unser Verhalten weiter von tentums – in unserer Öffentlichkeit und aus, also bin ich.“ Nicht schlecht, dieser
zwanghaften religiösen Wahnvorstellun- Politik ist. mutigen Frau gehört die Zukunft – der
gen bestimmen zu lassen. ELKE METKE-DIPPEL, WETZLAR Kultur, aus der sie kommt, eher nicht.
DR. GABRIELE FÖRSTER, FRANKFURT A. M. HANS REINHARDT, BALJE (NIEDERS.)

Die junge Frau mit Heiligenschein und Schade, dass der SPIEGEL die von der
ängstlicher Körperhaltung wegen einer Geschichte der Frauenrechte her hoch-
schwarzen Katze soll wohl die heilige brisante und berührende Lebensgeschich-
Maria, die Mutter von Jesus Christus, te der Frau Mahdi von einem männlichen
darstellen. Diese Titelbild zu Weihnach- Klugscheißer schreiben ließ! Es wird hier
ten, dem Fest, an welchem wir Christen nach dem Sinn gefragt, gegen lebenser-
uns an die Geburt von Jesus Christus er- stickende, erniedrigende Zwangserzie-
innern, ist respektlos. Wann wird der hung mit regelmäßiger körperlicher Miss-
SPIEGEL endlich aufhören, den christ- handlung zu rebellieren; aber nach dem
MATTHIAS JUNG / LAIF

lichen Glauben als Aberglauben dar- Sinn, seine Stirn mehrmals am Tag auf
zustellen? den Boden zu schlagen, so dass sie blaue
MANFRED WEISS, MARKDORF (BAD.-WÜRTT.) Flecke bekommt, wird nicht gefragt!
GABRIELA VOTAVA, BORKWALDE (BRANDENB.)
Der Mensch glaubt an das, was ihm hilft, Devotionalien im Wallfahrtsort Kevelaer
die Unwägbarkeiten des Lebens besser Und selbst wenn die Aliaa hinter dem
zu ertragen. Trotz der stetig wachsenden Ein für uns Rationalisten doch recht des- Foto vielleicht nicht das hergibt, was sich
wissenschaftlichen Erkenntnisse und illusionierender Artikel. Die positiven manch einer wünscht – sie ist erst einmal
rasant zunehmenden technischen Mög- Seiten dieser Erkenntnis blieben aber zu Künstlerin, und da darf das Werk auch
lichkeiten, das Leben angenehmer zu wenig benannt. Die geniale Schaltung un- gern mal über der Person stehen. Aber
gestalten und zu verlängern, bleibt die seres Hirns, unlösbare komplexe Proble- so viel Reflexion gestatten Sie sich nicht.
Urangst des denkenden Individuums vor matiken unseres Daseins auf greifbare Din- JOHANNA BÄHN, BRÜSSEL
dem menschlich nicht Beherrschbaren ge herunterzubrechen, ist schlicht über-
und vor dem Tode erhalten. Unser Ge- lebensnotwendig. Wir wären sonst längst Der entblößte weibliche Körper als De-
hirn hat trotz der bemerkenswerten evo- kollektiv verrückt geworden. Auch für die monstrationssubjekt und -objekt wirkt
lutionären Erweiterung der Erkenntnis- moderne Medizin ergibt sich ein weiter- umso konfrontativer und kreativ pola-
und Leistungsfähigkeit nicht seine letzte gehendes Heilungspotential. Es bleibt risierender, wenn er auf fanatisch rigide
Überlebensstrategie verloren. Wenn abzuwarten, wie sie mit der doch ernüch- Strukturen trifft, mit ihren Attributen Ver-
menschliche Erklärungsversuche versa- ternden Erkenntnis umgeht, dass ein guter mummung, erhobene Kalaschnikow und
gen oder nicht angenommen werden, Arzt auch ein guter Schamane sein muss. religiös verbrämtes Dominanzstreben.
hilft der Glaube an eine immaterielle, HENRY TINNEY, REUTLINGEN WINFRIED BURGER, EBENSFELD (BAYERN)

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Briefe

Nr. 51/2013, Warum Altpolitiker in seren derzeitigen Politikern fehlt es eben Nr. 51/2013, Der unheimliche Aufstieg
Deutschland zu Lichtgestalten werden an Alter und/oder Überzeugungskraft des Handelsriesen Amazon
und/oder Arroganz. Diesen Gedanken
„Früher war mehr Lametta“ fände ich sehr tröstlich, würde er doch er-
klären, warum es so wenige Charisma-
Backpinsel mit echten Borsten
Danke für eine stringente argumentative tiker gibt. Rücksichtslos, verlogen, scheinheilig,
Widerlegung von all dem „Stuss“, den pseudokundenfreundlich und so derart
STEFFEN RÖSSLER, LEIPZIG
die ehemaligen Politiker gegensätzlich zu marktmachtversessen, dass es an Größen-
ihren damaligen Haltungen jetzt – häufig Man sollte auch bedenken, dass die bis- wahn grenzt – das ist Amazon. Was als
ungefragt – von sich geben. weilen nervigen Belehrungen ehemaliger Fortschritt gepriesen wird, entpuppt sich
BJÖRN SCHEFFCZYK, WASSERBURG AM INN Alphatiere nur durch das falsch adressierte als menschenverachtendes Profitmonster,
Bedürfnis nach einer Heiligenverehrung gepaart mit monopolistischem und unver-
Der SPIEGEL gehört zu den ganz weni- funktionieren können. schämtem Geschäftsgebaren. Als Buch-
gen Zeitschriften, die es wagen, den Alt- SVEN HESS, BERLIN händler und Einzelhandelskunde sage ich:
bundeskanzler zu kritisieren. Wie Sie „Es reicht!“
richtig schreiben, hat Schmidt zu seiner CHRISTOPH LEPPER, SOEST (NRW)
Regierungszeit Waffenexporte keines- Nr. 51/2013, Warum Alice Schwarzers
wegs gebremst. Auch der brutalsten Mili- Kampagne gegen die Prostitution naiv ist
tärdiktatur Lateinamerikas, Argentinien,
lieferte er in den siebziger Jahren doppelt
so viele Waffen wie vorherige Bundes-
Ein paar Wahrheiten
regierungen. Schade, dass dieser Artikel naturgemäß
nicht vor der unglückseligen Kampagne

EXCLUSIVE / CONTOUR
MARTIN KLEIN, MARGETSHÖCHHEIM (BAYERN)
der Alice Schwarzer erscheinen konnte!
Jahrelang dachte ich, ich wäre die Einzige, BARBARA DORENBECK-KNOBLOCH, ESSEN
die die penetranten alten Alleswisser un-
erträglich findet. Danke, dass Sie in die Diskussion über
REGINA HENDEL, ZWICKAU das Verbot der Prostitution ein paar Amazon-Chef Bezos
Wahrheiten eingeführt haben, die in den
Diese Persönlichkeiten haben ihre Meta- Talkrunden meistens zu kurz kommen. Vor kurzem suchten wir Backpinsel mit
morphose vom „weisen Elefanten“ zum DR. HANS KNÖPFEL, MÜNCHEN echten Borsten, fanden aber nur solche mit
„weißen Elefanten“, der ja bekanntlich Kunststoffborsten. Via Amazon hatte ich
mehr Ärger macht, als dass er nutzt, wohl Großes Mitleid den Männern, die es umgehend Zugriff auf den gesuchten Pin-
gar nicht mitbekommen. nötig haben, Sex zu kaufen. Meine Ver- sel. Das ist es, was in der Berichterstattung
JOHANN BENKER, FELLBACH (BAD.-WÜRTT.) achtung indes ist nicht minder groß. von ARD bis SPIEGEL nicht vorkommt.
Gänzlich unerträglich ist es, dass in einer Bei Amazon erhält man Dinge, nach denen
Das besserwisserische Genörgel der Alt- Gesellschaft, in der die Geschlechterge- man sonst lange suchen müsste.
vorderen bei gleichzeitiger Verklärung rechtigkeit und die Würde des Menschen MARKUS KLEIN, HÖGSDORF (SCHL.-HOLST.)
der (eigenen) Vergangenheit ist schwer im Grundgesetz stehen, Prostitution of-
zu ertragen. Manchmal hat man den Ein- fenbar für gesellschaftsfähig gehalten Amazons Zauberformel ist einfach und
druck, „Früher war mehr Lametta!“ wird. Es soll naiv sein, eine Denkweise könnte von jedem Händler vor Ort ge-
scheint das Leitmotiv dieser Elder States- ändern zu wollen? nutzt werden: Der Kunde ist König. Für
men zu sein. BARBARA SIMONS, STUTTGART ein – nicht mal defektes – Handy erstattet
CONSTANZE KRAUS, LUDWIGSHAFEN TERRE DES FEMMES Amazon auch nach Wochen den vollen
Kaufpreis. Versuchen Sie das mal in ei-
Elke Schmitter stellt die Frage, ob die Un- nem Elektronikmarkt.
terzeichner, zu denen auch ich gehöre, et- JÜRGEN LÖLL, NEUKIRCHEN-VLYN (NRW)
was über Prostitution wissen: Die Namen
CHRISTIAN IRRGANG / AGENTUR FOCUS

mit Angabe des Berufs sind alle online, Bei der Kritik kommt mir ein Aspekt zu
darunter viele Psychologen, Sozialpäd- kurz: dass alle Menschen auch Kunden
agogen, Ärzte, Therapeuten und Politiker sind. Die Geiz-ist-geil-Masche ist immer
– was wohl besagt, dass die Unterzeichner noch allzu präsent.
etwas über den Gegenstand wissen. CLEMENS JUNG, BRÜCKEN (RHLD.-PF.)
DAGMAR BOUZ, WAGENINGEN, NIEDERLANDE
Böse ist Jeff Bezos nicht, nur größenwahn-
Es stellt sich die Frage, wer hier als naiv sinnig, aggressiv und unmenschlich. Böse
Altkanzler Schmidt bezeichnet werden muss. Zu glauben, dass für die Gesellschaft wird es aber in einigen
in einem Flatrate-Bordell selbstbestimmte Jahren sein, wenn dieser Egomane sein
Vor allem die Kritik am ebenso zynischen junge Frauen freiwillig ihren Körper zu Ziel erreicht hat: die Innenstädte geschäfts-
wie dummen Geschwätz von Altkanzler Markte tragen, das ist schon mehr als naiv! frei zu machen, zu veröden. Das Aller-
Helmut Schmidt über die Menschenrech- Frau Schwarzer viktorianische Prüderie zu schlimmste ist aber: Die Politik macht nix,
te musste mal wieder geäußert werden. unterstellen ist jedoch schlichtweg lächer- schaut tatenlos zu. Geht’s noch?
WERNER KRENNRICH, OPPENHEIM (RHLD.-PF.) lich. Fakten werden mit dem Argument ULI BECK, BAD URACH (BAD.-WÜRTT.)
der selbstbestimmten Sexualität schönge-
Vielleicht sind es ja Alter, Arroganz und redet. Es geht hier um den Kampf gegen Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
Überzeugungskraft, die Schmidts Charis- die Ausbeutung der „Ware“ Frau, um eine schrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektro-
nisch zu veröffentlichen. Mail an: leserbriefe@spiegel.de
ma ausmachen. Insofern lautet eine Ant- Zunahme des Frauenhandels und der Or-
wort auf Ihre rhetorische Frage, woher ganisierten Kriminalität. In einer Teilauflage befindet sich im Mittelbund ein acht-
die Verehrung für ihn kommt, leider: Un- SUSANNE FRIEDRICH, SCHÖFFENGRUND (HESSEN) seitiger Beihefter der Deutschen Post, Bonn.

10 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Panorama

E U R O PA

Merkel gegen
Juncker
Bundeskanzlerin Angela Merkel will
offenbar verhindern, dass der Luxem-

GEERT VANDEN WIJNGAERT / AP


burger Jean-Claude Juncker einen
der demnächst frei werdenden EU-
Spitzenposten bekommt. Juncker
hatte vor Weihnachten erklärt, dass
er bereit sei, als Spitzenkandidat der
Europäischen Volkspartei in die Euro-
pawahl 2014 zu ziehen. Bei einem Merkel, Juncker
Wahlsieg des konservativ-liberalen
Lagers könnte Juncker Anspruch auf und Regierungschefs zu Gegnern ge- gut, dass Angela Merkel Deutschland
das Amt des EU-Kommissionspräsi- macht hat. Auch das Verhältnis zwi- und Europa führt“, so Juncker.
denten erheben, dessen Ernennung schen Juncker und Merkel selbst gilt Der Spitzenkandidat der europäi-
nach dem Lissabon-Vertrag erstmals als belastet. schen Christdemokraten soll bei
maßgeblich von den neuen Mehr- Um Merkels Vorbehalte wissend, ver- einem Kongress im März in Dublin
heiten im Europaparlament abhängt. sucht Juncker jetzt, bei der CDU-Vor- gekürt werden. Merkel bemüht sich,
Doch Merkel soll versuchen, eine Spit- sitzenden guten Eindruck zu machen. den irischen Ministerpräsidenten
zenkandidatur Junckers zu hintertrei- Die Bundeskanzlerin sei „eine begna- Enda Kenny oder den polnischen
ben. Sie fürchtet, dass sich der Luxem- dete Erzählerin“, schrieb Juncker in Premier Donald Tusk zu einer Kandi-
burger mit seiner unverblümten Kritik einem Namensbeitrag für das „Han- datur zu überreden. Beide zeigten
an Freund und Feind viele EU-Staats- delsblatt“. Es sei daher „richtig und sich interessiert.

H AU S H A LT AFD IRAN

Mehr Schulden Premiere für Lucke Deutsche Zurückhaltung


Finanzminister Wolfgang Schäuble Die Bundesspitze der Anti-Euro-Partei Während einige europäische Länder
(CDU) muss 2014 mehr Schulden ma- Alternative für Deutschland (AfD) sich der neuen iranischen Regierung
chen als geplant. Die Nettokreditauf- versucht erstmals, einen ihrer amtie- gegenüber öffnen, droht Deutschland
nahme des Bundes soll bei rund acht renden Landesvorsitzenden zu ent- den Anschluss zu verpassen. Die italie-
Milliarden Euro liegen. Das geht aus machten. Die Parteispitze um Bundes- nische Außenministerin Emma Bonino
Planungsunterlagen des Bundesfinanz- sprecher Bernd Lucke beschloss jetzt, traf unlängst in Teheran Präsident Has-
ministeriums hervor. Damit fällt die auf dem nächsten Parteitag der AfD san Rohani und ihren Amtskollegen
Neuverschuldung des Bundes zwei Hessen am 11. Januar die Abwahl des Dschavad Sarif. In London wird ein
Milliarden Euro höher aus als im Haus- gerade erst ins Amt zweites Treffen der beiden Außenmi-
haltsentwurf der alten Regierung für gekommenen Landes- nister erwogen, die sich bereits im Sep-
2014 vorgesehen. Die neue Etatpla- chefs Volker Bartz tember in New York kennengelernt ha-
JENS MEYER / AP / DPA

nung ist notwendig, weil der Bundes- zu beantragen. Im ben. Die Bundesregierung plant keine
tag den Regierungsentwurf wegen der Bundesvorstand rech- derartigen Gespräche, wie aus Regie-
Bundestagswahl nicht mehr verab- net man damit, dass rungskreisen zu erfahren ist. Dabei
schiedete. Die Summe an neuen Kredi- die hessischen Mitglie- könnte Rohani schon Ende Januar in
ten ist gerade noch mit der Zielvorga- der dem Antrag folgen Deutschland auftreten, er ist zur
be der Großen Koalition vereinbar, werden. Unter ande- Lucke 50. Münchner Sicherheitskonferenz
im neuen Jahr einen strukturell ausge- rem weigert sich Bartz eingeladen. Ein Treffen in Berlin wäre
glichenen Haushalt vorzulegen – also seit geraumer Zeit, die Herkunft an- derzeit aber verfrüht, heißt es aus dem
einen Etat, bei dem abgesehen von geblicher Doktor- und Professorentitel Umfeld der Regierung. Bislang habe
Konjunktureinflüssen die Einnahmen offenzulegen, die er führt. Deswegen Iran außer Ankündigungen nichts ge-
die Ausgaben decken. Mit den zusätz- hatte ihn der Bundesvorstand offiziell liefert. Zunächst wolle man abwarten,
lichen neuen Schulden will Schäuble verwarnt, bislang vergeblich. Bartz wie Teheran sich im Atomstreit und
Beschlüsse des Koalitionsvertrags fi- lehnt einen Rücktritt ab: „Ich bleibe in Syrien verhalte. Außerdem wolle
nanzieren, etwa Investitionen in die standhaft.“ Gelingen die Abwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel die
Verkehrsinfrastruktur. Das Bundeska- Bartz und die Neuwahl eines Vor- israelische Regierung beruhigen, die
binett will den Entwurf Ende Februar stands, wäre das bereits der dritte in stets behauptet, der Westen lasse sich
beschließen. kurzer Zeit. von Iran hinters Licht führen.
12 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

BUNDESPOLIZEI
neue Einsatztaktik, die seit Ende 2012 SOZIALES
an Schwerpunkten ein massiveres Auf-
treten und rigoroseres Eingreifen der
Fußballeinsätze kosten Ordnungshüter vorsieht. Dies gilt be- Reformen drücken
38 Millionen Euro sonders bei Spielen von Eintracht
Frankfurt, Hansa Rostock und Dyna-
mo Dresden, deren Anhänger als be-
Rentenniveau
Die Bundespolizei muss an Wochenen- sonders gewaltbereit gelten. Zwar re- Die von der Bundesregierung geplan-
den mehr Beamte als im Vorjahr ein- gistrierte die Bundespolizei bei Fuß- ten Wohltaten wie die höhere Mütter-
setzen, um Fußball-Fans vom Prügeln balleinsätzen 16 Prozent weniger Ver- rente, abschlagfreie Rente mit 63 oder
oder Randalieren abzuhalten. Wie aus letzte (insgesamt 270); dagegen stiegen Lebensleistungsrente werden zukünf-
dem internen Lagebericht für die Fuß- die Zahlen der Straftaten insgesamt tige Rentenerhöhungen schmälern.
ballsaison 2012/13 hervorgeht, stieg die (2860) als auch die der Gewaltdelikte Nach Schätzungen des Münchner Cen-
Zahl der Bundespolizisten, die bei (751) auf neue Höchststände. ter for the Economics of Aging (MEA)
Ligaspielen für die Sicherheit in am Max-Planck-Institut für Sozial-
Zügen und auf Bahnhöfen zu- recht und Sozialpolitik wird das Ren-
ständig sind, gegenüber der Vor- tenniveau im Jahr 2030 wegen der
saison um 14 Prozent, die ihrer neuen Leistungen um bis zu 2,5 Pro-
Dienststunden um 11 Prozent. zentpunkte geringer ausfallen als
Entsprechend hoch sind die erwartet. „Dabei könnte es sogar
Kosten für die Fan-Eskorte: Sie unter die gesetzlich vorgeschriebene

MALTE CHRISTIANS / PICTURE ALLIANCE / DPA


erreichten bei der Bundespoli- Mindestmarke von 43 Prozent des
zei in der vergangenen Saison Einkommens vor Steuern rutschen“,
38 Millionen Euro. Der Bericht warnt MEA-Direktor Axel Börsch-Su-
verweist auf eine unverändert pan. Aus den Versprechungen folgten
gewaltbereite Szene von rund langfristig sowohl höhere Beitragssät-
1700 Risikofans, die meist an ze als auch Mehrausgaben der gesetz-
jedem Wochenende mit dem lichen Sozialkasse. Beides mindert
Zug zu einem Spiel fahren. Hin- über die Rentenformel automatisch
zu kommt aber nun noch eine Rentenerhöhungen.

E
s gibt Zeiten, in denen Wörter etwas anderes bedeuten Ich höre jetzt manchmal, die Staatsanwaltschaft Hannover
als sonst. Sie werden umgewidmet. Für mich ist gerade habe gnadenlos gegen den ehemaligen Bundespräsidenten
eine solche Zeit. Es geht um die Wörter „Gnade“ und Christian Wulff ermittelt, weil sie jeden Stein umdrehte. Sie
„gnadenlos“. Das alles begann in der „gnadenbringenden“ habe wenig gefunden, und deshalb hätte es den Prozess
Zeit, der Weihnachtszeit. nicht geben dürfen. Ich sehe das anders, ich bin froh
Gnade gilt als etwas Schönes. Christen sehen in der Gnade über diese Art der Gnadenlosigkeit und damit über den
Gottes das Beste, was ihnen widerfahren kann. In der weltli- Prozess.
chen Ordnung ist die Gnade ebenfalls positiv konnotiert. Prä- Nach journalistischen Recherchen sah sich Wulff dem Ver-
sidenten, Könige oder Diktatoren begnadigen Verurteilte vor dacht ausgesetzt, korrupt gehandelt zu haben. Die Staats-
Ablauf der Strafe und geben ihnen damit die Freiheit zurück. anwaltschaft Hannover griff das auf und leitete ein Ermitt-
Folgerichtig ist „gnadenlos“ ein Wort, vor lungsverfahren ein. Wulff ließ das keine
dem der Zuhörer erschreckt. Es verknüpft TREIBHAUS BERLIN andere Wahl, als vom Amt des Bundesprä-
sich mit Härte, mit Unerbittlichkeit, mit sidenten zurückzutreten. Den Job war er
Brutalität. Gnade ist gut, Gnadenlosigkeit los, aber der Verdacht blieb.
schlecht oder gar böse. Gemeinhin gilt das
so, aber nicht in diesen Tagen, nicht für
Gnade und Wie könnte ihn Wulff loswerden? Doch nur
durch einen Prozess, dem gnadenlose, also
mich.
Putin hat seinen Kritiker Michail Chodor-
die Fakten gründliche Ermittlungen vorausgegangen
sind, einen Prozess, der mit einem Urteil
kowski begnadigt, er hat dafür gesorgt, dass endet, an dem keine Zweifel kleben. Gna-
Marija Aljochina und Nadeschda Tolokon- denlosigkeit hat in diesem Sinne einen hö-
nikowa von Pussy Riot unter eine Amnestie heren Wert als Gnade. Denn nur so hat
fallen. Gut, dass die drei frei sind. Jeder Wulff Grund zur Hoffnung auf einen Frei-
Tag im Lager ist ein Tag in der Hölle. Aber spruch, der nicht gleich zum „Freispruch
diese Gnade kommt als Willkürakt daher, zweiter Klasse“ umgewidmet wird.
als Herrschergestus, als spöttelnde Milde Chodorkowski, Aljochina und Tolokonni-
zur Weihnachtszeit. kowa hatten keine Chance auf ein solches
Kaum hatte Aljochina die Hölle verlassen, sagte sie, die Am- Urteil. Sie waren in Ungnade gefallen und konnten
nestie sei ein „PR-Gag“. Sie zeigte damit, dass ihr die Frei- Freiheit vor dem Ablauf der zweifelhaften Strafe nur
heit, die ihr Putin geschenkt hatte, nichts bedeutet, dass sie durch Putins Gnade erlangen. Ein Rechtsstaat dagegen
keine Angst hat, diese Freiheit zu verlieren. Die Vorausset- zeichnet sich dadurch aus, dass die Fakten mehr zählen als
zung von Putins Gnade war ein fragwürdiger Prozess, und das Kalkül von Politikern. Ein Prozess ist auch ein Forum
damit ist diese Gnade nur eines seiner Herrschaftsinstru- zur Offenlegung von Fakten. Wir sollten ihn nicht gering-
mente wie der Prozess selbst. schätzen. Dirk Kurbjuweit

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 13
Panorama

AKTIONEN
soll zeigen, dass wir alle selbst verant- sind weltweit in den Medien. Selbst
wortlich für unser Handeln auf Erden Patti Smith hat die Aktion auf ihrer
sind. Dass man keiner Frau verbieten Facebook-Seite geteilt.
„Dieses Bild wird kann, über ihren eigenen Körper SPIEGEL: Schön, nur was bringt das?
Witt: Wir richten uns nicht gegen Gläu-
bleiben“ Entscheidungen zu treffen. Genau das
tut Kardinal Meisner jedoch, indem er
Abtreibungen ablehnt. Das ist ein
bige, sondern gegen die Institution und
Menschen wie Meisner, die sie nutzen,
Die Hamburger weltfremder Ansatz, gegen den Femen um Frauen zu unterdrücken. In vielen
SERGIENKO / AGENTUR FOCUS

Femen-Aktivistin und kämpft. Berichten steht jetzt was zur Haltung


Philosophiestudentin SPIEGEL: Dafür muss man bei der Weih- Meisners zur Abtreibung, zur Pädophi-
Josephine Witt, 20, nachtsmesse auf den Altar springen? lie. Wir haben mit unserer Aktion die
über ihren barbusigen Witt: Femen lebt von Provokation, wir Aufmerksamkeit darauf gelenkt.
Protest im Kölner müssen schockieren. Für uns war diese SPIEGEL: Das Echo in den Medien ist
Dom traditionelle Weihnachtsmesse, bei der verheerend. Die „Bild“-Zeitung
sich seit Jahrhunderten niemand außer schreibt: „Du Nackt-Mädchen nervst“,
SPIEGEL: Frau Witt, Sie haben sich beim dem Prediger äußern darf, der beste der Leitartikler in der „Süddeutschen
Protest „I am God“ auf den Oberkör- Moment, dagegen etwas zu tun. Zeitung“ wirft Ihnen Spätpubertät
per gepinselt. Warum halten Sie sich SPIEGEL: Und was bewirkt eine solche und Narzissmus vor.
für Gott? Aktion ganz konkret? Witt: Der Mann hat wie viele andere
Witt: Ich halte mich nicht für Gott, das Witt: Das Bild einer nackten Frau auf leider nicht verstanden, worum es bei
war natürlich eine Provokation. Sie dem Altar ist ein Bild, das bleibt. Wir Femen geht. Es geht uns nicht um Nar-

TNS Forschung nannte die Namen von Politikern.


Angela Joachim
Merkel Gauck BELIEBTHEIT Anteil der Befragten, Veränderungen zur letzten Umfrage im
die angaben, dass der jeweilige Politiker September 2013, in Prozentpunkten
künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle
Frank- Im September nicht auf der Liste
Walter
Wolfgang Steinmeier Ursula Sigmar
Schäuble von der Gabriel „Dieser Politiker ist mir unbekannt.“
Leyen
Hannelore
Angaben in Prozent
Kraft
Horst
Seehofer

Thomas
de Maizière Gregor
Gysi
Peter
Altmaier Klaus
Wowereit
78
76
69
65 64 62
58
51
46 44
38
36

+ 11 +9 + 10 +8 +24 +9 +7 +7 –5

7 5 15 4 12 7 19 8

Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.

14 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland
Frau“ diesen „wohl auch am nötigs-
ten“ hätten.
CHRISTOPHER ADOLPH / ACTION PRESS

Witt: Das klingt für mich wie Hohn.


Aber dass man einen 80-Jährigen, der
sein ganzes Leben auf der katholi-
schen Kirche aufgebaut hat, nicht
überzeugen kann, ist mir klar. Dafür
ist er zu alt. Es war ja aber auch seine
letzte Weihnachtsmesse.
SPIEGEL: Auch junge Leute schütteln
Aktivistin Witt auf dem Altar des Kölner Doms den Kopf über Femen.
Witt: In meiner Generation sind viele
zissmus, im Gegenteil: Wir gehen rück- Weltmeisterschaft, dann macht man mit sexualisierten Rollenbildern von
sichtslos und fahrlässig mit unserer sich natürlich keine Freunde damit. devoten Frauen aufgewachsen. Wir
Zukunft um. Solch ein Protest bringt Wir sind nicht da, um gefeiert zu verdrehen diese Bilder.
Risiken mit sich, ich selbst saß bereits werden, wir sind da, um Aktionen zu SPIEGEL: Sie werden also weitere Got-
in Tunesien im Gefängnis. machen, um die Leute zum Nachden- tesdienste stürmen?
SPIEGEL: Warum verstehen so viele ken zu bringen. Witt: Nein, wir haben noch nie einen
Menschen Femen nicht? SPIEGEL: Meisner hat Sie während des Protest wiederholt. Keine Sorge: Wir
Witt: Wenn wir Weihnachten attackie- Gottesdienstes in seinen Segen einge- haben genug kreative Ideen für neue
ren oder wie kürzlich die Fußball- schlossen, da Sie als „arme, kranke Proteste.

SPIEGEL-UMFRAGE
In Merkels Sog Terrorgefahr
Zu Beginn der Großen Koalition erreicht Bundeskanzlerin Angela Merkel
„Die Terrorgefahr für Deutschland
neue Beliebtheitsrekorde. Auch etliche ihrer Kabinettsmitglieder
wird im kommenden Jahr ...“
sind im Aufwind, besonders profitieren können die SPD-Minister
Frank-Walter Steinmeier (Außen) und vor allem Sigmar Gabriel (Wirtschaft). ... eher
Die sozialdemokratische Familienministerin Manuela Schwesig 41
zunehmen 59
ist allerdings mehr als der Hälfte der Befragten unbekannt.
... eher 43
abnehmen
21
... gleich 10 Umfrage
Dezember
bleiben 15 2012

Winfried Christian Andrea


Kretschmann Lindner Nahles Finanzielle Situation
Hans-Peter
Friedrich
Sahra „Meine persönliche finanzielle Situation
Wagenknecht wird sich im kommenden Jahr ...“
Manuela
Schwesig Johanna Alexander
Wanka Dobrindt ... eher 37
verbessern
... eher ver- 37
schlechtern
... nicht 22
ändern

Arbeitslosigkeit
33 33 33 „Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland
wird im neuen Jahr ...“
27
24 GESAMT WEST OST
21 ... eher 45 46 40
19 17 sinken
... eher 46 44 53
steigen
39 31 26 37 29 55 57 50
TNS Forschung vom 17. und 18. Dezember; 1000 Befragte; Angaben
TNS Forschung für den SPIEGEL am 17. und 18. Dezember; 1000 Befragte ab 18 Jahren in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“, keine Angabe

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 15
Deutschland

A
uf Seite 157, gleich zu Anfang im E U R O PA

Sackgasse Brüssel
Europa-Teil des schwarz-roten
Koalitionsvertrags, findet sich
ein Evergreen, den schon viele Bundes-
regierungen intonierten. Es geht um die
deutsche Sprache, das heißt ihren Ge-
brauch in den europäischen Institutionen:
„Deutsch muss auch in der Praxis den an-
deren beiden Verfahrenssprachen Eng- Das neue Europa steckt fest. Die EU-Kommission wehrt
lisch und Französisch gleichgestellt wer-
den“, steht da.
sich gegen jeden Machtverlust, viele Mitgliedstaaten
Ein frommer Wunsch, der vermutlich haben die deutsche Dominanz satt. Die Europa-Gegner
wieder einmal einer bleiben wird, ganz
wie zu Zeiten von Helmut Kohl oder Ger- wittern ihre Chance, auch in Merkels Lager.
hard Schröder. Die beiden wollten auch,
dass im Verhandlungsalltag von EU-Kom-
mission und Europa-Parlament mehr
Deutsch gesprochen wird – an der Domi-
nanz von Englisch und Französisch hat
sich freilich bis heute nichts geändert.
Von Angela Merkel ist nicht überliefert,
dass sie dem jahrzehntealten sogenann-
ten Sprachenstreit je mehr als pflicht-
schuldige Aufmerksamkeit geschenkt hät-
te. Ob das auf Englisch oder Französisch
verhandelt wird, das ist ihr ziemlich egal.
Wichtiger ist Merkel: Ihr Europa der Zu-
kunft soll im Innern deutlich deutscher
werden, es soll ein anderes Europa sein
und ganz bestimmt nicht das von Helmut
Kohl. Es ist nicht mehr das Kommissions-
Europa, sondern eines, in dem die Natio-
nalstaaten wieder wichtiger werden. Das
würde den Bruch mit mehr als sechs Jahr-
zehnten europäischer Entwicklungsge-
schichte und einem Teil der deutschen
Staatsräson bedeuten.
Was damit an ein Ende käme, ist die
„Methode Monnet“, benannt nach dem
Franzosen Jean Monnet, einem kühnen
Nachkriegsvisionär, der vor allem ein be-
gnadeter Taktiker war. Sein Name steht
für das Leitmotiv der europäischen Eini-
gung, das er erfand: dass Zuständigkeiten
immer dann „vergemeinschaftet“ werden,
wenn es politisch irgendwie geht, und im-
mer dort, wo es objektiv geboten ist. Dass
die Brüsseler EU-Kommission, die „Hüte-
rin der Verträge“, also Zug um Zug mäch-
tiger wird. In der Praxis heißt das seit
den fünfziger Jahren: erst Kohle und
Stahl, dann die Landwirtschaft, der große
Binnenmarkt für Waren und Dienstleis-
tungen, der Euro, Zuständigkeiten bei In-
nen- und Justizpolitik, Soziales, Außen
und am liebsten auch eine gemeinsame
Armee. Nach fast jeder Vertragsverän- Mit der EU-Kommission liegen die Deut- das Kommando behalten, wenn es an den
derung, nach fast jedem Grundsatzurteil schen so hart über Kreuz wie lange nicht. weiteren Umbau Europas geht – eine
des Europäischen Gerichtshofs hatten die Mit ihrer wohl schärfsten Waffe, dem Wett- Kampfansage an die machtbewussten
EU-Kommission und das Europa-Parla- bewerbsrecht, bedrohen die Brüsseler das Eurokraten und ihre vergemeinschafteten
ment am Ende mehr Kompetenzen als derzeit wichtigste innenpolitische Projekt Kompetenzen. „Wir brauchen aber die
vorher – und die Mitgliedstaaten weniger. Merkels, die Energiewende. Umgekehrt Gemeinschaftsmethode, um die kleinen
Wer mit dieser Linie brechen will, pro- macht Merkel kaum einen Hehl daraus, Mitgliedstaaten vollwertig in die Entschei-
voziert Widerstände, Merkel braucht also dass bei den nächsten großen Schritten zu dungen zu integrieren“, kritisiert Kommis-
Verbündete. Doch die bisherige Bilanz einer engeren Wirtschafts- und Währungs- sionsvizepräsident Olli Rehn.
sieht bitter aus: Die Widerstände wach- union die EU-Kommission eher abseits- Mit diesem Konflikt ließe sich aus Ber-
sen, die Zahl der Verbündeten schrumpft. stehen möge. Die Mitgliedstaaten sollen liner Sicht durchaus leben, die Kanzlerin
16 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Sackgasse Brüssel. Beim Versuch zu
führen hat sich die Kanzlerin vorerst fest-
gefahren.
Als einer der Ersten bekam Kommis-
sionschef José Manuel Barroso ihren Är-
ger zu spüren. Beim EU-Gipfel nahm
Merkel den Portugiesen sogar persönlich
zur Seite und kritisierte ohne Umschwei-
fe: Das gerade eröffnete Wettbewerbsver-
fahren gegen das deutsche Erneuerbare-
Energien-Gesetz (EEG) sei ein „Affront“.
Über die zuletzt deutlich ausgeweiteten
Ausnahmen für energieintensive Unter-
nehmen könne man ja reden. Aber eine
Generalattacke auf das Kernstück der
deutschen Energiewende-Politik sei eine
Anmaßung, so Merkel. Seit 2002 habe die
EU-Kommission nie grundsätzliche Ein-
wände gegen die Subventionen für erneu-
erbare Energien erhoben, warum dann
jetzt plötzlich?
Doch die Kommission will hart bleiben,
das Verfahren läuft weiter wie geplant.
Und in den Schubladen der EU-Zentral-
behörde steckt noch mehr, was den Kon-
flikt anheizen wird: Die energieintensi-
ven Betriebe sind in Deutschland nicht
nur von der EEG-Umlage weitgehend be-
freit, sondern auch von Gebühren für die
Nutzung der Stromtrassen. Eine Entschei-
dung, ob das mit dem Wettbewerbsrecht
vereinbar ist, soll wohl in der ersten Jah-
reshälfte 2014 fallen. Daneben prüft Brüs-
sel seit einiger Zeit die Staatshilfen für
zahlreiche deutsche Regionalflughäfen
von Frankfurt-Hahn über Zweibrücken
bis Kassel-Calden. Auch das Monopol der
Deutschen Bahn auf das Schienennetz
wird in Brüssel kritisch gesehen. Die EU-
Kommission moniert die Preise, die pri-
vate Bahnbetreiber für die Benutzung der
Strecken zahlen müssen.
Und das Prüfverfahren wegen der ho-
hen deutschen Exportüberschüsse hat ge-
rade erst begonnen. Formal zu Recht, wie
das Kanzleramt einräumt, wütend ist
JERRY LAMPEN / ANP PHOTO / ACTION PRESS

man trotzdem. Denn auf der anderen Sei-


te habe die Kommission Frankreich und
anderen Ländern längere Fristen als ge-
plant eingeräumt, um ihre Haushalts-
defizite unter die zulässige Höchstgrenze
zu bringen.
Dass die Deutschen derart unter Druck
kommen, sehen manche Partner mit einer
gewissen Schadenfreude, wie sich jüngst
bei einem Abendessen des italienischen
und ihre Berater wollen es darauf ankom- und Regierungschefs harsche Worte an- EU-Botschafters zeigte. Fast zwei Stun-
men lassen. Aber auch im Kreis der Mit- hören, die Stimmung am Tisch drehte ge- den lang drehte sich die Debatte auch um
gliedstaaten stehen die Deutschen inzwi- gen sie. Hinterher warnte auch der deut- die deutschen Handelsüberschüsse. Viel-
schen weitgehend allein da. Merkels sche EU-Kommissar Günther Oettinger leicht könnten diese durch die Strafzah-
jüngster Vorstoß für eine reformorientier- das Kanzleramt: „Deutschland ist zwar lungen für das EEG wieder ausgeglichen
te, gemeinsame Wirtschafts- und Finanz- das größte Mitgliedsland, aber eben nur werden, schlug ein Teilnehmer unter dem
politik – nach deutschem Vorbild – wurde eines von 28. Mit dem Lissabon-Vertrag Gelächter aller Anwesenden vor.
von kleinen und großen EU-Ländern glei- haben die Mehrheitsentscheidungen in Die deutschen Vertreter in Brüssel weh-
chermaßen blockiert. Die Kanzlerin muss- der EU zugenommen. Deswegen muss ren sich nach Kräften in den Verfahren,
te sich beim EU-Gipfel in der zweiten Berlin genau wie alle anderen Kompro- aber Kommissionschef Barroso hat nichts
Dezemberhälfte von mehreren Staats- missbereitschaft zeigen.“ mehr zu verlieren. Seine Amtszeit endet
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 17
Deutschland

im Sommer 2014. Und gut Wichtige Ereignisse 2014 weiterhin fast doppelt so rungen könnten nur sie selbst in ihrem
Freund mit Angela Merkel groß wie das Bundeskabi- Kreis vereinbaren – im Rat der Staats-
1. Januar
wird er ohnehin nicht nett bleiben. Das führt zu und Regierungschefs.
Griechenland übernimmt
mehr, obwohl maßgeblich die Ratspräsidentschaft bizarr geschnittenen Res- Hier stand Angela Merkel zuletzt mal
sie es war, die ihm zwei von Litauen. sorts: Die aus Zypern als Siegerin da, mal als Verliererin. Aber
Amtszeiten an der Spitze stammende Kommissarin meistens weitgehend allein.
Februar
der Brüsseler Kommission Androulla Vassiliou etwa Ihre Vorstellungen von der Banken-
Die politischen Parteien
verschaffte. Daran mag sie bestimmen ihre Spitzen- betreut den Bereich Kul- union setzten die Deutschen gegen denk-
heute nicht mehr gern er- kandidaten für die Europa- tur, obwohl die EU-Kom- bar breiten Widerstand der übrigen
innert werden. wahl. Erstmals können sie mission laut Lissabon-Ver- 17 Euro-Länder durch. Monatelang hatte
Im Kanzleramt haben einen Kandidaten für das trag für diesen Bereich sich Finanzminister Wolfgang Schäuble
sich inzwischen die Kom- Amt des Kommissions- keinerlei Eingriffsrecht (CDU) gesträubt, der EU-Kommission das
missionskritiker durchge- präsidenten aufstellen. hat. Auch der Malteser To- entscheidende Wort bei der Abwicklung
setzt, allen voran der 14. bis 17. April nio Borg ist für etwas zu- maroder Banken einzuräumen. Am Ende
Abteilungsleiter Europa, Letzte Plenarsitzung des ständig, das die EU gar bekam er seinen Willen: Künftig werden
Nikolaus Meyer-Landrut. alten Europaparlaments. nicht regeln darf: die Vertreter nationaler Abwicklungsanstal-
Aus Berliner Sicht will die Frühjahr Gesundheitspolitik. Vier ten darüber entscheiden, welches Kredit-
EU-Kommission zu viel Der Stresstest für weitere Kommissare teilen institut notfalls geschlossen wird. Die EU-
und kann zu wenig. Bar- europäische Banken sich die außenpolitischen Kommission darf dem Votum zwar wi-
roso gilt in Berlin als über- durch EZB und EU- Ressorts: Außen- und Si- dersprechen, doch die Finanzminister der
fordert, das Kommissar- Bankenaufsicht beginnt. cherheitspolitik (Ashton, Mitgliedstaaten, also Schäuble und seine
kollegium als unsteuerbar. 22. bis 25. Mai Großbritannien), EU- Kollegen, können den Einspruch der
Genüsslich wird in Ber- Wahlen zum neuen Europa- Nachbarschafts- und Er- Kommissare aushebeln. Der Beschluss zur
lin über das Beispiel mit parlament; anschließend weiterungspolitik (Füle, Bankenunion stellt die Weichen für eine
den „Olivenöl-Kännchen“ nominiert der Europäische Tschechien), Humanitäre weitergehende und tiefere Integration,
gespottet: Im Mai dieses Rat, bestehend aus den Hilfe (Georgieva, Bulga- aber anders als früher. Der Schritt stärkt
Jahres verkündete ein 28 Staats- und Regierungs- rien) und Entwicklungs- vor allem Rechte und Kompetenzen der
Sprecher der EU-Kommis- chefs der Mitgliedstaaten, politik (Piebalgs, Lett- Mitgliedstaaten, nicht der Kommission.
sion, die kleinen, offenen den Präsidenten der EU- land). Neue deutsche Handschrift pur also – nur
Gefäße auf Millionen Re- Kommission. Da, wo es aber wirklich die Stimmung war danach auf dem Tief-
stauranttischen in Europa 1. Juli zählen würde, werde die punkt. Als die Finanzminister mit Cham-
würden komplett verbo- Italien übernimmt die Kommission nicht ernst pagner auf die Einigung anstoßen wollten,
ten. Künftig solle Olivenöl Ratspräsidentschaft. genommen, heißt es in habe sich ein südeuropäischer Diplomat
in einem „besonders ver- 1. bis 3. Juli Berlin. Nur zehn Prozent abgewandt, berichtete die „Süddeutsche
schlossenen und nicht Konstituierende Sitzung der Empfehlungen der Zeitung“. An diesem Abend schmecke
wieder auffüllbaren Ge- des neuen EU-Parlaments Brüsseler an die EU-Mit- alles deutsch, habe er gesagt, und „deut-
fäß“ angeboten werden. in Straßburg; Wahl des gliedstaaten in Sachen schen Sekt trinke ich nicht“.
Es gehe um mehr Hygiene Parlamentspräsidenten Wirtschaftspolitik seien Dahinter steckt der ungeklärte Streit
und besseren Verbrau- und des Präsidiums. 2012 tatsächlich auch über den richtigen Kurs in der Euro-Krise
cherschutz, so die Brüsse- 14. bis 17. Juli umgesetzt worden. Die und die Lehren daraus. Um Schulden-
ler Behörde, damit solle Vollversammlung Kommissionsskeptiker im staaten härter zu kontrollieren, setzte
verhindert werden, dass des Europaparlaments; Kanzleramt vermuten da- Merkel 2010 fast im Alleingang durch,
den Kunden schlechtes frühestmöglicher Termin hinter etwas sehr Grund- dass der Internationale Währungsfonds
zur Wahl des Kommissions-
Olivenöl untergejubelt sätzliches: Nach der aku- mit das Kommando bei Rettungsprogram-
präsidenten.
werde. Doch die ver- ten Euro-Krise stünden men übernimmt – und nicht die EU-
mutlich gutgemeinte Für- Herbst jetzt große Reforment- Kommission allein. Nach dem Vorbild
sorge kam gar nicht gut Der designierte Kommis- scheidungen an, welche der heimischen „Agenda 2010“ drängt
sionspräsident und der
an. Verschreckt vom öf- den Brüsseler Beamten Deutschland die Südstaaten seitdem zu
Europäische Rat wählen
fentlichen Aufschrei, zog die von den Regierungen nicht mehr zukämen, weil Reformen und zum Sparen. Die wieder-
die Kommission zurück, der Mitgliedstaaten vor- nur nationale Regierungen um fordern von Berlin, mehr für den
von einem Alleingang des geschlagenen künftigen sie vor ihren Parlamenten deutschen Binnenkonsum zu tun, mehr
Agrarkommissars Dacian EU-Kommissare aus. und Bürgern rechtfertigen zu investieren und nicht so viel in die an-
Ciolos war plötzlich die Die Kommission muss könnten. „Was jetzt an Re- deren Euro-Staaten zu exportieren.
Rede. vom EU-Parlament bestätigt formen wirklich nottut, Dazu kann niemand den vermeintli-
Tatsächlich ist die schie- werden. können nur Nationalstaa- chen Klassenstreber Deutschland zwin-
re Größe der EU-Kommis- 1. November ten legitimieren“, sagt ei- gen. Aber beim jüngsten Gipfel reichte
sion ein Problem. Aber Die neue EU-Kommission ner der wichtigsten Mer- die Kraft immerhin, Merkel unsanft zu
weil jedes Land am Ende nimmt die Amtsgeschäfte kel-Vertrauten dazu. Eine stoppen. Sie hatte mit Nachdruck eine
doch einen eigenen Kom- auf. Rentenreform in einem gemeinsame, abgestimmte Wirtschafts-
missar behalten möchte, 4. November Land, eine Lockerung des politik vorgeschlagen, bei der sich die
lehnten es die Staats- und Der zentralisierte Kündigungsschutzes für Euro-Länder in einzeln zugeschnittenen
Regierungschefs – auch Aufsichtsmechanismus Jugendliche in einem an- Verträgen auf Strukturreformen ver-
Merkel – im Mai ab, die für europäische Banken deren, das könne nicht als pflichten. „Wenn wir keine weiteren Re-
Zahl der Kommissare zu (SSM) soll in Kraft treten. „vergemeinschaftete Kom- formen unternehmen, werden wir irgend-
verringern, wie es vertrag- 30. November petenz“ bei der EU-Kom- wann wieder in Schwierigkeiten sein“,
lich eigentlich vorgesehen Ende der zweiten und mission landen, heißt es. warnte Merkel beim Abendessen der
war. So wird das Brüsse- letzten Amtszeit von Herman Entscheidungen mit der- Staats- und Regierungschefs. Doch nicht
ler Machtzentrum mit ins- Van Rompuy als Präsident artiger innenpolitischer einmal von traditionell deutschfreundli-
gesamt 28 Kommissaren des Europäischen Rats. Sprengkraft für die Regie- chen Staaten wie Österreich, den Nieder-
18 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

landen oder Finnland kam Zustimmung,


von den Südeuropäern ganz zu schwei-
gen. „Ich brauche diese Reformverträge SPI EGEL-GESPRÄCH

„Diese perverse Angst“


nicht, mir muss keiner etwas über Refor-
men erzählen, ich habe sie schon ge-
macht“, blaffte Spaniens Ministerpräsi-
dent Mariano Rajoy. Merkels Konzept sei
„einfach noch nicht ausgegoren“, kriti-
sierte der österreichische Bundeskanzler
Werner Faymann. Merkel setzte zwar EZB-Präsident Mario Draghi, 66, verteidigt seine Politik:
nach und warnte unverblümt: Wenn ein-
zelne Länder bald wieder in Schwierig-
Die Befürchtungen der Deutschen hätten sich nicht bestätigt,
keiten steckten, sei es mit der deutschen die Lage in der Euro-Zone habe sich verbessert. Für
Geduld vorbei. „Glaubt nicht, dass der
Bundestag dann wieder zur Hilfe eilt.“
die Niedrigzinsen macht er die Finanzmärkte verantwortlich.
Aber es half nichts, ihre Idee wurde ver-
schoben, ein schwerer Dämpfer. SPIEGEL: Herr Draghi, kennen Sie Andrea aus allen Teilen der Welt investieren wie-
So steht Angela Merkels neues, deut- Nahles? der in Europa. Mit anderen Worten: Die
sches Europa zu Beginn des Jahres 2014 Draghi: Den Namen habe ich schon mal meisten finanzwirtschaftlichen Daten
in den Sternen: Widerstand der Kommis- gehört, aber ich kenne sie nicht persönlich. drehen in die richtige Richtung.
sion, kaum Unterstützung der anderen SPIEGEL: Frau Nahles ist die neue deutsche SPIEGEL: Wollen Sie sagen, die Euro-Krise
Mitgliedstaaten. Und als Nächstes will Arbeitsministerin und Chefin von Jörg sei vorüber?
auch noch die CSU mobilmachen – gegen Asmussen, Ihrem bisherigen Kollegen im Draghi: Das nicht, aber die Befürchtungen
Europa ganz allgemein. Direktorium der EZB. Dass er diesen in Teilen der deutschen Öffentlichkeit
Die Schwesterpartei von Merkels CDU prestigeträchtigen Job aufgibt, hat in haben sich nicht bestätigt. Was wurde uns
plant einen dezidiert brüsselkritischen Deutschland große Überraschung ausge- nicht alles vorgeworfen: Als wir vor zwei
Europawahlkampf, wie aus einem vier- löst. Haben Sie ihn etwa vertrieben? Jahren die europäischen Banken mit zu-
seitigen Strategiepapier der CSU-Landes- Draghi: Jörg und ich hatten ein hervorra- sätzlicher Liquidität ausgestattet haben,
gruppe für das traditionelle Treffen ihrer gendes persönliches und berufliches Ver- hieß es: Jetzt kommt die große Inflation.
Bundestagsabgeordneten in Wildbad hältnis. Dass er wieder in die Regierung Nichts ist passiert. Als ich meine Erklä-
Kreuth hervorgeht. „Wir brauchen eine wechselt, betrachte ich als großen Verlust rung in London abgab, war von einer Ver-
Entzugstherapie für Kommissare im Re- für uns. Natürlich waren wir nicht bei je- letzung des Mandats der Zentralbank die
gulierungsrausch“, heißt es in dem Papier der Gelegenheit einer Meinung. Rede. Dabei hatten wir von Anfang an
(„Europas Zukunft: Freiheit, Sicherheit, SPIEGEL: Asmussen ist bereits der dritte klargestellt, dass wir uns innerhalb un-
Regionalität und Bürgernähe“), das auch deutsche Zentralbanker, der seinen Job seres Mandats bewegen. Jedes Mal hieß
eine Verkleinerung der EU-Kommission vorzeitig aufgibt, nach Bundesbank-Chef es, um Gottes willen, dieser Italiener zer-
zum Ziel erklärt. Gegen Kompetenzüber- Axel Weber und dem früheren EZB-Di- stört Deutschland. Es gab diese perverse
schreitungen der Brüsseler Behörde will rektor Jürgen Stark. Woran liegt es, dass Angst, dass sich die Dinge zum Schlech-
die CSU künftig mit Hilfe eines neuen die Deutschen in der EZB nicht glücklich ten entwickeln, aber das Gegenteil ist
Gerichtshofs schärfer vorgehen. „Streit- werden? passiert. Die Inflation ist niedrig, und die
fälle sollen durch einen europäischen Draghi: Die Fälle sind miteinander nicht Unsicherheit hat sich verringert.
Kompetenzgerichtshof entschieden wer- vergleichbar. Jörg hat klargestellt, dass es SPIEGEL: Die ökonomische Krise in Europa
den, dem Verfassungsrichter der Mit- ausschließlich familiäre Gründe waren, droht den Euro noch immer zu sprengen.
gliedstaaten angehören.“ Bei wichtigen die ihn bewogen haben, wieder nach Ber-
EU-Entscheidungen seien Volksabstim- lin zu gehen. Ich habe keinen Grund, dar- Trendwende
mungen abzuhalten und generell EU- an zu zweifeln. Wirtschaftswachstum ausgewählter Euro-
Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zu- SPIEGEL: Weber und Stark jedenfalls sind Länder, Veränderung des BIP gegenüber
rückzuübertragen. „In Betracht kommen wegen Ihrer Politik zurückgetreten, die dem Vorjahr, in Prozent
hier Teile des überregulierten Binnen- vor eineinhalb Jahren in Ihre berühmte
marktes sowie der Regionalpolitik.“ Londoner Ankündigung mündete, „alles 2013 2014 Quelle: EU-Kommission
So weit mag die Kanzlerin nicht gehen. Notwendige“ zu tun, um den Euro zu ret-
Aber ihr Schwenk weg von der traditio- ten. Das hieß: im Notfall auch die Staats- 0,5
DEUTSCHLAND 1,7
nellen deutschen Europa-Linie ist eben anleihen von Krisenländern aufzukaufen
leicht misszuverstehen: Merkel will we- und milliardenschwere Risiken zu über-
0,3
niger „Brüssel“, aber „mehr Europa“. nehmen, für die am Ende vor allem die IRLAND 1,7
Doch um die gemeinsame Steuerung in deutschen Steuerzahler haften würden.
jenes Brüsseler Gremium zu holen, dem Können Sie verstehen, dass viele Bun-
sie selbst angehört, den Rat der Staats- desbürger damit hadern? FRANKREICH 0,2 0,9
und Regierungschefs nämlich, muss Mer- Draghi: Weber und Stark sind zurück-
kel der EU-Kommission öffentlich deren getreten, bevor ich EZB-Präsident wurde. –1,8
0,8 PORTUGAL
Fehler unter die Nase reiben, sie macht- Aber die Wahrheit ist doch, dass sich die
politisch schwächen. Darauf warten die Verhältnisse in der Euro-Zone seither we-
Europa-Gegner nur, auch in ihrem eige- sentlich gebessert haben. Sehen Sie sich –1,8
0,7 ITALIEN
nem Lager – und sie geben sich längst die jüngsten Entwicklungen
nicht zufrieden mit nur ein bisschen mehr an: Bisherige Krisenländer –4,0
Gewicht für die deutsche Sprache in Brüs- wie Irland oder Portugal ver- 0,6 GRIECHENLAND
seler Amtsstuben. NIKOLAUS BLOME, lassen den Rettungsschirm, die Risiko-
PETER MÜLLER, CHRISTIAN REIERMANN, aufschläge für Kredite an Krisenländer in –1,3
GREGOR PETER SCHMITZ, CHRISTOPH SCHULT
Südeuropa gehen zurück, Kapitalanleger 0,5 SPANIEN

20 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Das Wachstum ist gering, die Arbeits-
losigkeit in Südeuropa auf Rekordniveau.
Draghi: Die Krise ist nicht überwunden;
aber es gibt viele ermutigende Zeichen.
Die Wirtschaft erholt sich in vielen Län-
dern, die Ungleichgewichte im europäi-
schen Handel nehmen ab, die Haushalts-
defizite in der Währungsunion sinken.
Das ist mehr, als vor einem Jahr zu er-
warten war.
SPIEGEL: Aber der Schuldenstand in vielen
Euro-Ländern steigt nach wie vor an, und
die Bereitschaft zu Reformen nimmt ab.
Griechenland zum Beispiel verfehlt wei-
terhin vereinbarte Ziele. Benötigt das
Land ein weiteres Rettungsprogramm?
Draghi: In Griechenland hat sich manches
zum Besseren entwickelt, aber das Land
muss mehr tun, daran gibt es keinen
Zweifel.
SPIEGEL: Tatsächlich ist die Lage verhee-
rend. Wenn der Staat zusätzliche Hilfs-
kredite in Anspruch nehmen muss, wird
Griechenland endgültig zum Kostgänger
der übrigen Euro-Zone. Wie soll das Land
jemals wieder auf eigene Beine kommen?
Draghi: Manche Länder benötigen eben
ein Programm, das drei Jahre lang läuft,
andere brauchen etwas länger. In Grie-
chenland war die Ausgangslage beson-
ders schwierig, also müssen wir mit dem
Land nun besonders viel Geduld haben.
Das ist keine Überraschung.
SPIEGEL: Auch in anderen Ländern lahmt
der Reformprozess. Frankreich beispiels-
weise macht wieder mehr Schulden, und
die geplanten Reformen auf dem Arbeits-
markt oder im Steuersystem kommen
nicht schnell genug voran. Wie besorgt
sind Sie über die Entwicklung im zweit-
größten Land der Euro-Zone?
Draghi: Frankreich steht vor demselben
Problem wie andere Länder, die ihren
Haushalt in Ordnung bringen und Struk-
turreformen machen müssen. Viele Staa-
ten haben zuerst Steuern erhöht und In-
vestitionen gekürzt. Das ist der einfachste
Weg, aber beides schwächt das Wachs-
tum. Der erfolgversprechendere Weg ist,
die laufenden Staatsausgaben zurück-
zufahren und Strukturreformen auf dem
Arbeitsmarkt einzuleiten.
SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass Frank-
reich das nicht tut. Sind Sie es nicht lang-
sam leid, das Land immer wieder zu
Reformen zu drängen, aber nichts pas-
siert?
Draghi: Der Lateiner sagt: „Repetita iu-
vant“ – „wiederholen ist hilfreich“. Je
weniger sich in einem Land verändert,
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL

desto häufiger wiederhole ich meine Bot-


schaften. Das funktioniert.
SPIEGEL: Wir haben eher das Gefühl, dass
die Zahl der Regierungen wächst, die Ihre
Melodie nicht mehr hören können. Die
neue Koalition in Deutschland zum Bei-
spiel will die Rentenreformen aus den
EZB-Chef Draghi rot-grünen Regierungsjahren wieder zu-
rückdrehen und einen flächendeckenden
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 21
Deutschland

Mindestlohn von 8,50 Euro einführen. Ist rend die Inflationsrate bei 1,3 Prozent
das die Politik, die dem Euro hilft? 4 liegt. Halten Sie das für eine normale und
Draghi: Es ist zu früh, die Politik der neuen
Billiges Geld gesunde Entwicklung?
deutschen Regierung zu beurteilen. Nur so Leitzins der Zentralbanken, Draghi: Normal und gesund ist das nicht.
viel: Die Krise hat gezeigt, dass die Wäh- in Prozent Der Realzins sollte unter normalen Um-
rungsunion unvollendet ist, die Schwächen 3 ständen positiv sein. Heute ist er in eini-
müssen behoben werden. Deutschland gen Ländern negativ, in anderen positiv
hilft dem Euro am besten, wenn es seine Quelle: Thomson Reuters Datastream
und sogar zu hoch. Wir sind uns der Risi-
Wettbewerbsfähigkeit weiter stärkt und ken dieser Fragmentierung sehr bewusst.
das Wachstum fördert. Was immer dabei 2 SPIEGEL: Welche Risiken meinen Sie?
hilft, ist richtig, alles andere ist falsch. Draghi: Erstens ist die Stabilität des Fi-
SPIEGEL: Manche Ökonomen vertreten nanzsystems gefährdet, wenn Zinsen zu
noch eine ganz andere Theorie. Sie halten EURO-ZONE lange zu niedrig sind. Bislang sehen wir
die deutsche Wettbewerbsfähigkeit für 1 aber lediglich in speziellen und lokal be-
0,25
das eigentliche Problem der Euro-Zone grenzten Märkten übertriebene Preisstei-
und fordern, die deutschen Exporte staat- USA gerungen, beispielsweise auf einigen Im-
lich zu drosseln. Was halten Sie davon? mobilienmärkten in Europa. Das zweite
Draghi: Wenig. Dahinter steckt eine me- 2008 2009 2010 2011 2012 2013
gravierende Risiko ist, dass die Inflation,
chanistische Betrachtung des Wirtschafts- die jetzt schon deutlich unter unserem
geschehens, mit der ich kaum etwas an- Ziel von zwei Prozent liegt, weiter fällt.
fangen kann. Wir werden die Schwachen länder zurückführen, und die Zinsen wer- Noch sehen wir keine Deflation, also auf
nicht stärker machen, indem wir die Star- den wieder steigen. breiter Front sinkende Preise. Aber wir
ken schwächen, hat Abraham Lincoln ge- SPIEGEL: Die Bürger können es in den Mit- müssen sehr wachsam sein, dass wir nicht
sagt. Das gilt auch für die Wirtschaft. teilungen ihrer Lebensversicherung nach- dauerhaft unter ein Prozent Inflation und
Wäre Deutschland weniger wettbewerbs- lesen, dass sie wegen der Zinsentwick- damit in die Gefahrenzone rutschen.
fähig, würde die Euro-Zone insgesamt lung von Jahr zu Jahr weniger ausgezahlt SPIEGEL: Wie wollen Sie darauf reagieren
verlieren, weil dann weniger produziert bekommen. Die Wahrheit ist: Die Sparer – sollen die Zinsen noch weiter sinken?
werden könnte. zahlen den Preis für die Euro-Rettung. Draghi: Im Moment sehen wir keinen un-
SPIEGEL: In Deutschland ist die EZB-Poli- Draghi: Ich bin mir sicher, dass die Ver- mittelbaren Handlungsbedarf. Wir haben
tik auch deshalb unbeliebt, weil Sie die sicherungen sich nicht auf den Leitzins keine japanischen Verhältnisse. Dort hat-
Zinsen für Geldanlagen inzwischen so berufen, wenn sie ihre Mitteilungen ver- te sich die Erwartung sinkender Preise ver-
weit gedrückt haben, dass sie häufig nicht schicken. Nur diesen Zinssatz können wir festigt. In der Euro-Zone sind die Markt-
mehr ausreichen, die Preissteigerungsrate steuern. Die langfristigen Zinsen werden teilnehmer überzeugt, dass die Inflation
auszugleichen. Mit anderen Worten: Wer zum großen Teil auf den globalen Finanz- wieder auf unter, aber nahe zwei Prozent
spart, ist der Dumme. märkten bestimmt. Wenn die amerikani- ansteigen wird. Zudem hat Japan lange
Draghi: Das ist nicht die Schuld der EZB. sche Notenbank Fed beschließt, US- Zeit geldpolitisch nicht so entschlossen
Der Zusammenhang zwischen den von Staatsanleihen im Wert von einer Billion reagiert wie die EZB. Und schließlich wa-
der EZB bestimmten kurzfristigen Zins- Dollar im Jahr zu kaufen, dann verändert ren die Banken und Unternehmen in
sätzen und den langfristigen Marktzinsen das die Zinsen in der ganzen Welt. Japan in einem schlechteren Zustand als
auf Anlagen, die für die Sparer relevant SPIEGEL: Die Fed hat jetzt angekündigt, diejenigen heute in der Euro-Zone.
sind, ist in Deutschland nicht sehr stark. ihre Anleihekäufe zu reduzieren. Was heißt SPIEGEL: Die Verfassung der europäischen
SPIEGEL: Wie bitte? Es ist doch ein erklär- das für die Euro-Zone und den Euro? Kreditinstitute ist schlecht genug. Des-
tes Ziel Ihrer Politik, indirekt auch die Draghi: Die bisherigen Marktreaktionen halb soll nun die Bankenunion kommen,
langfristigen Zinsen zu drücken. haben gezeigt, dass die Ankündigung der um gleiche Bedingungen für alle Kredit-
Draghi: Nein, insbesondere in den vergan- Fed keine großen Effekte hatte. Die Wi- institute der Euro-Zone zu schaffen. Wie
genen Jahren konnten wir die langfristi- derstandsfähigkeit der Märkte ist größer wichtig ist das Projekt für die Rettung der
gen Zinsen gar nicht kontrollieren – weil als vor einem Jahr. Währungsunion?
die Investoren wegen der Euro-Krise SPIEGEL: Davon haben die deutschen Spa- Draghi: Extrem wichtig. Das europäische
hochgradig verunsichert waren. Jeder hat rer wenig. Derzeit bekommt man auf ein Finanzsystem ist immer noch zersplittert.
deswegen Geld nach Deutschland ge- entsprechendes Konto in Deutschland Zwar klaffen die Finanzierungskosten
bracht, in sichere deutsche Staatsanlei- etwa 0,8 Prozent Zinsen im Jahr, wäh- für Banken innerhalb der Euro-Zone
hen. Das ist der Grund, nicht mehr so weit ausein-
weshalb die Zinsen in ander wie vor zwei Jahren.
Deutschland gesunken sind. Aber bei der Kreditverga-
Wir nehmen die Sorgen der be sind die Unterschiede
Sparer sehr ernst. Aber wie noch immer sehr groß, in
können wir reagieren? Wir einigen Ländern ist der
betreiben Geldpolitik für Kreditfluss gestört. Die
die gesamte Euro-Zone, Bankenunion kann helfen,
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL

nicht für ein einzelnes das Vertrauen in grenzüber-


Land. Wenn es uns gelingt, schreitende Kreditgeschäf-
die Unsicherheit zu ver- te wiederherzustellen. Das
treiben, werden viele Inves- wichtigste Ziel unserer
toren wieder Geld aus Bilanzanalyse ist Transpa-
Deutschland in ihre Heimat- renz. Wir wollen beleuch-
ten, was in den Bilanzen
* Nikolaus Blome, Martin Hesse, der Banken liegt.
Wolfgang Büchner und Michael
Sauga in der EZB-Zentrale in Frank- SPIEGEL: Die EU-Regierun-
furt am Main. Draghi (2. v. r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Wir haben keinen Plan B“ gen haben sich gerade auf
22 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
die Zusammenarbeit hat sich verbessert.
Bundesbank-Präsident Weidmann Nehmen Sie die jüngste Zinssenkung:
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann
hatte anfangs einige Vorbehalte, aber da-
nach hat er bekräftigt, dass dieser Schritt
gerechtfertigt war. Ich habe schon oft ge-
sagt, dass ich großen Respekt vor der
Bundesbank als Institution habe und für
das, was sie den Deutschen bedeutet.
SPIEGEL: Das klingt jetzt ein bisschen sehr
nach weihnachtlicher Harmonie. Manche
Ökonomen in Deutschland sprechen vom
„Club Med“, wenn sie über die Südeuro-
päer im EZB-Rat reden, und werfen Ih-
nen vor, die Inflationspolitik der italieni-
schen Zentralbank aus den siebziger Jah-
ren zu kopieren.
Draghi: Es sind nur Einzelne, die mir un-
terstellen, ich würde Italien helfen, weil
ich Italiener bin. Das trifft mich nicht. Ich
habe oft genug bewiesen, dass ich mich
strikt an den Auftrag der Zentralbank
halte und eine Politik für die gesamte
Euro-Zone betreibe. Das gilt auch für
meine Kollegen im EZB-Rat. Niemand
dort denkt in nationalistischen Katego-
rien, das tun eher diejenigen, die eine
solch ungerechtfertigte Kritik vorbringen.
SPIEGEL: Die EZB-Politik wird aber nicht
nur von der Bundesbank skeptisch ge-
sehen, sondern auch vom Bundesverfas-
sungsgericht geprüft. Voraussichtlich An-
fang des Jahres wird das Gericht darüber
entscheiden, ob das Anleihekaufpro-
gramm der EZB im Einklang mit dem
Grundgesetz steht. Machen Sie sich Sor-
ERIC TSCHAEN / REA / LAIF

gen über das Urteil?


Draghi: Es hat keinen Sinn, sich vorher
über eine Gerichtsentscheidung Gedan-
ken zu machen. Wir sind aber sicher, dass
wir uns mit all unseren geldpolitischen
Entscheidungen innerhalb unseres Man-
ein Verfahren geeinigt, wie künftig mit die Liquidation der Bank, also gibt es ge- dats bewegen.
Banken umgegangen werden soll, die nug Druck, eine Lösung zu finden. SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Ihnen die
nicht überlebensfähig sind. Erfüllt der SPIEGEL: In welchem Zustand befinden Richter eine Grenze für Staatsanleihe-
neue Abwicklungsmechanismus Ihre sich die europäischen Banken? käufe setzen?
Wünsche? Draghi: Um das herauszufinden, werden Draghi: Es gibt heute schon Grenzen. Wir
Draghi: Mein Wunsch ist, dass ein solcher wir die Bilanzen der Banken 2014 umfas- haben von Anfang an gesagt, dass unser
Mechanismus wirklich funktioniert. Wir send überprüfen. Vorher lässt sich das Programm auf den Kauf von Papieren
als Aufsicht entscheiden nur, ob eine nicht abschließend beurteilen. Aber das mit kurzer Laufzeit beschränkt sein wür-
Bank überlebensfähig ist oder nicht. Bankensystem steht heute viel besser da de. Darüber hinaus können wir nur ab-
Dann muss die Abwicklungsbehörde ent- als vor vier Jahren. Seitdem ist rund eine warten, wir haben keinen Plan B.
scheiden, was mit dieser Bank zu tun ist: halbe Billion Euro frisches Kapital in die SPIEGEL: Jetzt benötigen Sie erst einmal
schließen, aufspalten oder verkaufen. Das Banken der Euro-Zone geflossen, viele einen Nachfolger für den ausscheiden-
Problem ist: In dem Moment, wo wir sa- Institute haben ihre Geschäftsmodelle den EZB-Direktor Asmussen. Die Bun-
gen, die Bank ist nicht überlebensfähig, geändert. Sicher ist aber auch, dass fast desregierung hat Sabine Lautenschläger
muss extrem schnell gehandelt werden. alle Banken viel profitabler und mit vorgeschlagen, die bisherige Vizepräsi-
Und es ist sicher, dass es nicht funktio- niedrigeren Kosten betrieben werden dentin der Bundesbank. Was halten Sie
niert, wenn Hunderte Personen quer könnten. von ihr?
durch Europa erst darüber beraten müs- SPIEGEL: Sie zeichnen ein sehr positives Draghi: Ich kenne Frau Lautenschläger seit
sen, was zu tun ist. Bild von der Euro-Zone, viele deutsche Jahren und schätze ihre Arbeit als Auf-
SPIEGEL: Aber ist das mit dem nun gefass- Geldpolitiker dagegen sehen die EZB- seherin. Die Mitglieder des Zentralbank-
ten Beschluss gewährleistet? Politik immer noch sehr kritisch. Wie lan- rates zu benennen ist Sache der Regie-
Draghi: Wenn dringender Handlungsbe- ge kann der Konflikt zwischen Ihnen und rungen der Euro-Zone. Aber ich würde
darf besteht, gibt es ein Schnellverfahren, Bundesbank-Präsident Jens Weidmann es sehr begrüßen, wenn der frei werdende
das dem EU-Rat und der EU-Kommission noch weitergehen? Direktoriumsplatz mit einer Frau besetzt
24 Stunden gibt, um über Beschlüsse des Draghi: Ich würde eher von Konvergenz werden könnte.
Abwicklungsmechanismus zu entschei- sprechen als von Konflikt. Unsere Positio- SPIEGEL: Herr Draghi, wir danken Ihnen
den. Wenn sie nicht entscheiden, droht nen haben sich einander angenähert, und für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 23
MÜLLER-STAUFFENBERG / IMAGO
JOCHEN ZICK / ACTION PRESS
Migrationspolitikerin Amtsberg, Fraktionskollegin Verteidigungspolitikerin Brugger

stützt die Gründung des bundesweiten Angesicht des Leids kullerten bei ihr
PA R T E I E N Netzwerks „Polizeigrün“, in dem sich schon mal die Tränen.

Grüne
zurzeit ein paar Dutzend Polizisten mit Amtsberg will nicht herzlos sein. Aber
grünem Parteibuch zusammenschließen. sie weiß, dass inzwischen auch viele Wäh-
Grüne Polizisten wie Mihalic könnten ler der Grünen Angst davor haben, dass

Frontfrauen
„als Türöffner in beide Richtungen agie- Europa den Flüchtlingsströmen aus Afrika
ren“, hofft Özdemir. nicht mehr Herr wird. Sie plädiert für eine
Mihalic hat für grüne Verhältnisse eine „realistischere Flüchtlingspolitik“, auch
untypische Karriere gemacht. Nach der wenn das zu Streit mit Flüchtlingsaktivis-
Die Grünen haben traditionell Realschule machte sie eine Ausbildung ten führt, die am liebsten die Tore Europas
ein schwieriges Verhältnis zu bei der Polizei und durchlief dort alle Sta- für Migranten ganz öffnen würden.
Polizei und Militär. Junge Frauen tionen, von der Streife bis zum Drogen- Eine neue Tonlage schlägt auch Agnes
dezernat. Heute ist die 37-jährige Polizis- Brugger an, die neue Verteidigungspoli-
in der Fraktion sollen tin Sprecherin der Grünen für Innere tikerin der Fraktion. Schon früh hat sie
dieses Problem nun beheben. Sicherheit in der Bundestagsfraktion und eine Diskussion über ein Konzept für eine
will das „Verhältnis der Grünen zur Poli- grüne Bundeswehr angeregt.

O
liver Malchow ist nicht unbedingt zei ändern“. Jetzt muss sie für die Grünen möglichst
das, was man einen Fan der Grü- Mihalic ist eine von mehreren jungen konkrete Antworten geben. Brugger will
nen nennt. Der Chef der Polizei- Frauen, die den Grünen ein neues Image eine Bundeswehr, die weniger Panzer für
gewerkschaft GdP hat oft genug gehört, geben sollen. In der Partei werden zwar die Landesverteidigung hat, aber mehr
wie die Prominenten der Partei hart mit schon lange alle Posten streng nach Quote Soldaten für Friedensmissionen unter
seinen Leuten ins Gericht gingen, das hat vergeben. Aber bisher war es am Ende Uno-Führung. Den Afghanistan-Einsatz
die Sympathie nicht gefördert. Als er Mit- doch so, dass harte Themen wie Innere der Bundeswehr lehnte Brugger bisher
te Dezember die Grünen im Bundestag Sicherheit oder Verteidigung bei den ab. Aber sie könnte sich vorstellen, dass
besucht, sagt er: „Wissen Sie, wie sauer Männern landeten. die Truppe häufiger etwa in Afrika ein-
die Kollegen sind, ständig von Leuten kri- Das soll nun anders werden. Neben Mi- gesetzt wird, um im Auftrag der Uno
tisiert zu werden, die nie an vorderster halic ist auch die 28-jährige Agnes Brug- Gräueltaten an Zivilisten zu stoppen.
Front waren?“ ger in der Fraktionsführung vertreten, sie Dass die Grünen Frauen nach vorn stel-
Plötzlich geht Irene Mihalic dazwi- kümmert sich dort um die Verteidigungs- len, hat auch ganz eigennützige Gründe.
schen. Als ehemalige Polizistin sei sie politik. Die 29-jährige Luise Amtsberg Traditionell holte die Partei bei jungen
sehr wohl an der Front gewesen, sagt die wiederum ist zuständig für den Schutz weiblichen Wählern die meisten Stimmen,
Bundestagsabgeordnete. Bei Polizeiein- der europäischen Grenzen und die Flücht- doch bei der letzten Bundestagswahl hat
sätzen habe sie schon Wohnungen von lingspolitik. sie ausgerechnet bei den 18- bis 24-Jähri-
Muslimen durchsucht. Sie wisse, wie die Gefördert wurden die Frauen vor allem gen die schwersten Verluste erlitten.
raue Realität in den deutschen Großstäd- von der neuen Fraktionschefin Katrin Allerdings schaffen es die grünen Frau-
ten aussehe. Das Gespräch mit dem Mann Göring-Eckardt. Die Grünen brauchten en nicht überall nach vorn. Franziska
von der Polizeigewerkschaft entspannt in der Sicherheitspolitik neue Konzepte, Brantner wechselte mit der Bundestags-
sich merklich. sagt sie, auch wenn dies „in manchen Fäl- wahl vom Europaparlament nach Berlin.
Bisher waren Polizisten für die Grünen len mit früheren Positionen kollidiert“. In Straßburg war die 34-Jährige für Au-
meist der Feind. Sie rissen die Aktivisten Göring-Eckardt ist kürzlich mit Luise ßenpolitik zuständig, dieses Thema hätte
der Partei weg von den Eisenbahngleisen Amtsberg nach Italien gereist, es ging um sie gern weiter betreut.
vor Gorleben. Lange war es in der Partei die afrikanischen Flüchtlinge, die sich zu Doch im Auswärtigen Ausschuss in Ber-
grundsätzlich umstritten, ob man das Tausenden auf den Weg nach Europa ma- lin tummeln sich traditionell die Alpha-
Gewaltmonopol des Staates akzeptiert. chen. In den vergangenen Jahren war die männchen außer Dienst, auch Jürgen Trit-
Nun sagt Parteichef Cem Özdemir: „Im Flüchtlingspolitik das Feld von Claudia tin zieht es dorthin. Für Brantner ist kein
Verhältnis zur Polizei müssen die Grünen Roth, die ehemalige Parteichefin wählte Platz. Sie muss sich um die Themen Frauen
eine Schwachstelle beheben.“ Er unter- dabei eher einen emotionalen Ansatz: Im und Familie kümmern. RALF BESTE

24 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

Streiter hat bereits eine ereignisreiche Streiters Werdegang ist dennoch un-
KARRI EREN Laufbahn hinter sich. Er war unter ande- gewöhnlich, weil die Partei, die ihn berief,
rem Lokalredakteur beim Kölner „Ex- nicht mehr regiert. Der Abschied von der

Lohn des press“, Parlamentskorrespondent des


„Stern“ und Politikchef bei der „Bild“-
Zeitung. Als ihn Röslers Ruf ereilte, ar-
FDP ist ihm nicht schwergefallen. Rösler
hatte Streiter zum stellvertretenden Re-
gierungssprecher ernannt, weil er Chris-

Schweigens beitete Streiter für die FDP-Europaabge-


ordnete Silvana Koch-Mehrin.
Wer Streiter den Vorwurf der Wen-
toph Stegmanns, einen Vertrauten von
Guido Westerwelle, loswerden wollte.
Für Streiter sprach, dass er keine Verbin-
Georg Streiter war der digkeit macht, hat ein falsches Ver- dung zu Westerwelle hatte. Mehr verband
FDP-Mann unter den Regierungs- ständnis vom Amt des stellvertretenden Rösler und Streiter nicht.
sprechern. Überraschend Regierungssprechers. Der wird zwar Streiter war klug genug, sich nicht als
von einer Partei benannt, muss sich aber FDP-Sprecher in der Bundesregierung zu
darf er unter Schwarz-Rot im Amt vor allem der Kanzlerin und ihren In- gerieren. Er begriff, dass Merkel seinen
bleiben – jetzt für die CSU. teressen unterordnen. Nur dann wird er Wert nicht daran maß, was er sagte, son-
zu einem Teil ihres Teams. Sonst bleibt dern daran, was er verschwieg. Er traf

E
s war ein Tag des Abschiedneh- er von allem, was wichtig ist, ausge- keine ungewollten Festlegungen, er ver-
mens in der Bundespressekonfe- schlossen. mied alles, was die Kanzlerin angreifbar
renz – nur nicht für den, von dem Streiter ist nicht der Erste, der sich als machte. Er verstand schnell, was sie von
es alle erwartet hatten. Der Sprecher des flexibel erwiesen hat. Thomas Steg war ihm erwartete. Bei einer Pressekonferenz
Familienministeriums bedankte sich für stellvertretender Regierungssprecher für während der Unruhen in der Ukraine
die gute Zusammenarbeit, die Sprecherin die rot-grüne Bundesregierung unter wurde Streiter gefragt, ob die Bundesre-
des Wirtschaftsministeriums verabschie- Kanzler Gerhard Schröder. Er blieb es in gierung Sanktionen gegen Kiew ausschlie-
dete sich in den Mutterschutz. Dann ging der darauffolgenden Großen Koalition ße. „Solche Fragen kann ich nicht seriös
das Wort an Georg Streiter. Der stellver- unter Merkel. Steg machte seine Sache so beantworten“, sagte Streiter. Der Journa-
tretende Regierungssprecher hatte keine gut, dass er Merkels Vertrautem Ulrich list insistierte: „Ich stelle Ihnen die Frage.
Mitteilung zu machen. Wilhelm die Show stahl. Die Kanzlerin Wollen Sie sie nicht beantworten?“ Strei-
Kein Hauptstadtjournalist hatte damit war sehr zufrieden mit Steg. Die SPD ters Antwort: „Genau.“ So erwirbt man
gerechnet, dass Streiter bei der letzten weniger. sich den Respekt der Kanzlerin.
vorweihnachtlichen Presse- Aber Streiter tat noch
konferenz überhaupt noch mehr im Sinne seiner Che-
im Saal sitzen würde. Strei- fin. Wenn nichtautorisierte
ter war der FDP-Mann in Urlaubsbilder der Kanzle-
der Sprecher-Riege, vor gut rin in die Hände deutscher
zwei Jahren von dem da- Medien gelangten, war die
maligen FDP-Chef Philipp Chance groß, dass der Spre-
Rösler berufen. Inzwischen cher diskret eingriff.
sind die Liberalen aus dem Den Verantwortlichen
Bundestag geflogen. Union wurde freundlich dargelegt,
und SPD regieren, Streiter warum es auch in ihrem
hätte als einer der Ersten Interesse sein könnte, die
sein Amt verlieren müssen. Bilder nicht zu publizieren.
Doch Streiter bleibt – ein Oft erschienen sie dann
kleines Weihnachtswunder nicht. Von der Kanzlerin
im Berliner Politikbetrieb. kam postwendend Lob.
Er spricht nun als Vertreter Merkel fand Streiters Ar-
der CSU für die Bundesre- beit so überzeugend, dass
gierung, auch weil er eine sie ihren Kollegen Horst
Grundregel des politischen Seehofer auf ihn aufmerk-
Betriebs verinnerlicht hat: sam machte. Der CSU-Chef
Der Sprecher hat vielleicht suchte gerade einen neuen
eine eigene Meinung. Aber Sprecher in Berlin. Seehofer
die behält er für sich. sah nur ein Problem, aber
Von der FDP zur CSU, das war schnell behoben:
dem unbedarften Beobach- Seit einer Woche ist Streiter
ter erscheint das als ziem- Fördermitglied der CSU. So
lich großer Schritt. Die Lis- viel Flexibilität muss sein.
te der Gegensätze zwischen Ist Streiter ein guter
beiden Parteien ist lang – Sprecher? Ein Glücksbrin-
vom Betreuungsgeld über ger ist er definitiv nicht.
MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA

die Pkw-Maut bis zur Vor- Koch-Mehrin, die er zuerst


ratsdatenspeicherung. An- betreute, wurde zum Rück-
dererseits: Angela Merkel zug aus ihren Ämtern ge-
hat schon ganz andere zwungen. Das Schicksal
Sprünge vollzogen. Muss von Philipp Rösler und der
ein stellvertretender Spre- FDP ist bekannt. Schon
cher prinzipienfester sein fragt sich mancher in Berlin:
als die Bundeskanzlerin Überlebenskünstler Streiter Was wird nun aus Horst
selbst? Seehofer? RALF NEUKIRCH

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 25
Deutschland

Präsident Gauck, syrische Flüchtlinge


„Tun wir wirklich alles?“

sperrt. Und über Verwandte in Deutsch-


land verfügt er nicht. Härtefälle? Ausnah-
meregelungen? Unbürokratische Hilfen?
Geredet wird gern darüber, im Bewilli-
gungsalltag für Syrien-Flüchtlinge kom-
men sie eher nicht vor.
Einen Helfer hat Bilal immerhin gefun-
den. Der heißt Aram Ali, 24, ist Deutsch-
Syrer, studiert Jura in Hannover und un-
terstützt viele syrische Bürgerkriegsopfer.
Vor 13 Jahren schon ist seine Familie aus
Syrien geflohen. Alis Onkel ist Kinderarzt
und steckt mit Frau und zwei Kindern im
umkämpften Aleppo fest. Die Familie hat-
te es bereits nach Beirut geschafft, dann
lehnte das Uno-Flüchtlingswerk das Visum
für Deutschland ab. „Eine Begründung
gab es nicht“, sagt Ali. Die Familie kämpf-
te sich zurück ins zerbombte Aleppo.

CUNEYT KARADAG / PICTURE ALLIANCE / DPA


Alis Tante, die Schwester des Kinder-
arztes, lebt in Schleswig-Holstein. Sie ver-
suchte, den Bruder über das Familien-
nachzugsprogramm der Bundesländer
nach Deutschland zu holen. Sie ging zur
Ausländerbehörde und legte ihren Ge-
haltszettel vor. Das Einkommen reichte
nicht, um vier Personen einzuladen. Nur
zwei hätten kommen dürfen. Jetzt harrt
die ganze Familie weiter in Aleppo aus.
her. Bislang sind über verschiedene Auf- So geht es vielen, die sich für syrische
FLÜCHTLINGE nahmeprogramme der Innenminister Bürgerkriegsflüchtlinge engagieren wol-

Enges Herz
kaum mehr als 2000 Flüchtlinge aus Sy- len. Überall stoßen sie auf Hürden,
rien nach Deutschland gekommen. Das Behinderungen, Einschränkungen. „Die
liegt vor allem an den bürokratischen Politik muss solchen Flüchtlingen mit An-
Hürden, die sich ihnen in den Weg stel- gehörigen in Deutschland die Einreise
Deutsche Politiker rühmen sich len. Zum Vergleich: Insgesamt sind seit ohne Vorbehalte gestatten“, fordert der
ihres Engagements für syrische Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisa-
Flüchtlinge. Doch in der Praxis über 23 000 Syrer auf eigene Faust in tion Pro Asyl, Günter Burkhardt.
Deutschland eingereist – die meisten mit Wie man mit Flüchtlingen auch umge-
verbauen die Behörden eher Hilfe von Schleusern. hen könnte, macht Schweden vor. Seit Sep-
den Weg in die Bundesrepublik. Der Rechtsanwalt Abdeljabbar Bilal, 42, tember gewähren die Skandinavier jedem
ist so ein Fall. Er gelangte über das Mittel- Syrien-Emigranten, der ins Land kommt,

W
enn es darum geht, Menschlich- meer und Italien nach Deutschland. 3000 unbefristet Aufenthalts- und Arbeitsrecht.
keit mit Worten unter Beweis Dollar hat er für die Passage mit einem Mit der Folge, dass in diesem Jahr bereits
zu stellen, ist die deutsche Poli- Kutter von Ägypten nach Sizilien bezahlt. 10 000 Syrer Aufnahme fanden. Und die
tik häufig vorneweg. Als im September Dann legte er noch mal 10 000 Dollar Zahl wird weiter steigen, weil die Vertrie-
die ersten Flüchtlinge aus Syrien eintra- drauf, damit seine Frau und die fünf Kin- benen ihre Familie nachholen dürfen.
fen, gab der damalige Bundesinnenminis- der nachfolgen konnten. „Wenn du Kin- Inzwischen sind die Zweifel an der hart-
ter Hans-Peter Friedrich (CSU) vollmun- der hast, machst du alles – und bezahlst herzigen deutschen Flüchtlingspolitik
dig die Parole aus: „Deutschland gibt die alles“, sagt Bilal. Jetzt hat er zwar für sich ganz oben angekommen, im Schloss
Richtung vor.“ und die Familie Asyl in Deutschland be- Bellevue. „Tun wir wirklich schon alles,
5000 Syrer, so hatte die Bundesregie- antragt. Aber dafür ist er sein gesamtes was wir tun könnten?“, fragte Bundes-
rung bereits im Frühjahr verkündet, Geld los, er ist ein mittelloser Mann. präsident Joachim Gauck in seiner Weih-
sollten in Deutschland Schutz vor den Offiziell wollen Bundes- und Länder- nachtsansprache. Und forderte dann:
Schrecken des Bürgerkriegs finden. minister solche Schicksale möglichst ver- „Machen wir unser Herz nicht eng!“
Als sich die Innenminister von Bund meiden. Syrische Flüchtlinge können sich Bislang ist dies ein frommer Wunsch.
und Ländern Anfang Dezember zu ihrer deshalb beim Uno-Flüchtlingshilfswerk Das jedenfalls ist der Eindruck bei Aram
halbjährlichen Tagung trafen, wurde die in der libanesischen Hauptstadt Beirut Ali und seinen syrischen Freunden. Täg-
Zahl noch einmal um 5000 erhöht. „Die registrieren lassen, das in Abstimmung lich späht Ali im Internet, ob es Neues
Menschen in Syrien haben einen An- mit den deutschen Behörden Einreise- aus Aleppo und von seinem Onkel gibt.
spruch auf Schutz und Hilfe auch in bewilligungen erteilt. Oder sie können Er will weiter versuchen, die ganze Fa-
Europa“, verkündete Boris Pistorius, SPD- sich von Verwandten in Deutschland ein- milie nach Deutschland zu holen. „Man
Innenminister aus Hannover. laden lassen. Wenn deren Einkommen ist so verdammt ohnmächtig“, sagt er.
Allerdings: Wenn es darum geht, den hoch genug ist und sie eine Krankenver- „Die Verfahren müssen vereinfacht wer-
edlen Worten Taten folgen zu lassen, ist sicherung für die Besucher abschließen. den. Alles andere ist ein Förderprogramm
es mit der Humanität nicht mehr weit Aber Bilal war der Weg nach Beirut ver- für Schlepper.“ HORAND KNAUP

26 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Der nahe ferne Krieg
Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts,
prägen bis heute die internationale Politik. Schweißt die Erinnerung an Millionen Tote
die Völker zusammen, oder befördert sie alte Feindbilder? Von Klaus Wiegrefe

J
oachim Gauck, der elfte Präsident Büsten des Dichters Heinrich von Kleist
1914 DER KRIEG der Bundesrepublik Deutschland, und des Sozialdemokraten Friedrich
UND DAS HEUTE 2014 führt sein Amt von einer ehemaligen Ebert, nach der Flucht Kaiser Wilhelms II.
Hohenzollernresidenz aus. Erinnerungen ins Exil der erste deutsche Präsident. An
Auch 100 Jahre nach dem Ausbruch des an Preußens Gloria sind im Schloss Belle- der Wand hängen zwei Gemälde, ein
Ersten Weltkriegs sind seine Folgen vue jedoch fast komplett beseitigt wor- deutscher Künstler hat eine italienische
gegenwärtig: In einer sechsteiligen Serie den. Kein Pomp, keine Uniformen, weni- Landschaft gemalt, ein Italiener – Cana-
analysiert der SPIEGEL, wie etwa auf dem ge Fahnen. Die zweite Tür links hinter letto – eine Ansicht von Dresden.
Balkan alte Ressentiments fortdauern, dem Eingangsportal führt in einen Salon, Gauck gefällt diese Symbolik. Völker
wie Frankreich und Russland auf das in dem Gauck Besucher empfängt. schauen oft unterschiedlich auf die Welt,
Jubiläum blicken oder wie die USA mit Im sogenannten Amtszimmer stehen auch auf die Vergangenheit. Der Bundes-
ihrer Rolle als Weltpolizei umgehen. auf dem Regal hinter dem Schreibtisch präsident sagt, das beunruhige ihn nicht,
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Der Erste Weltkrieg Serie (I)

Deutsche Soldaten in Frankreich 1918


Orgie der Gewalt

zum Gedenken, weil sie aus dem mörde-


rischen Konflikt zwischen der alliierten
Entente und Mittelmächten als souveräne
Staaten hervortraten.
Der Erste Weltkrieg wird in den kom-
menden Monaten zum Mega-Thema der
öffentlichen Gedenkkultur werden. Der
internationale Buchmarkt legt allein in
Deutschland rund 150 Titel vor, in Frank-
reich sogar doppelt so viele – wahrschein-
lich ein Weltrekord für ein historisches
Thema. Die Geschichte einer Generation,
die längst das Zeitliche gesegnet hat, wird
neu erzählt, neue Fragen werden gestellt,
neue Debatten entfacht werden. Londons
Premierminister David Cameron stellt
sogar Mittel zur Verfügung, damit alle
Kinder aus staatlichen britischen Schulen
die ehemaligen Schlachtfelder an der
Westfront besuchen können.
Im pazifistisch gesinnten Deutschland
wäre ein solcher Appell undenkbar.
Aber die Westeuropäer haben im Ers-
ten Weltkrieg ja einen höheren Blutzoll
entrichtet als in jedem anderen Krieg
ihrer Geschichte, weshalb sie ihn „The
Great War“ oder „La Grande Guerre“
nennen. An Maas und Somme starben
doppelt so viele Briten, dreimal so viele
Belgier und viermal so viele Franzosen
wie im Zweiten Weltkrieg. Auch deshalb,
so sagt Gauck im Amtszimmer des Ho-
henzollernschlosses, könne er sich „eine
deutsche Beschäftigung mit dem Ersten
Weltkrieg nur als Respekt vor dem Leid
derer vorstellen, die damals durch uns
bekämpft wurden“.
Der „Große Krieg“ war nicht nur be-
sonders blutig, mit ihm begann eine neue
Epoche der Kriegsführung: mit Panzern,
Flugzeugen, sogar chemischen Waffen.
THE ART ARCHIVE / IMPERIAL WAR MUSEUM

Sein Ergebnis sollte die Zeitläufte auf


Dauer bestimmen – in vielen Regionen
ein ganzes Jahrhundert lang.
Der SPIEGEL wird deshalb in den kom-
menden Wochen die Folgen des Ersten
Weltkriegs beschreiben, wie sie bis in die
heutige Zeit wirken: den Aufstieg der USA
zur Weltpolizei, den besonderen Blick
Frankreichs auf Deutschland, die ethni-
schen Feindseligkeiten auf dem Balkan,
da er die Gründe kenne. Im kommenden Verwundungen nach Hause zurück: ohne die willkürlichen Grenzziehungen im Na-
Jahr allerdings werden die Augen der Nase, ohne Kiefer, mit nur einem Arm. hen Osten – vieles davon belastet und er-
Welt auf den ersten Mann im Staate ge- Nicht nur Frankreich, Belgien und Groß- schwert das friedliche Zusammenleben
richtet sein, denn der 100. Jahrestag des britannien planen internationale Gedenk- der Völker bis in die Gegenwart hinein.
Ersten Weltkriegs steht bevor. Es wird veranstaltungen, Kranzniederlegungen, Auf dem politischen Kalender 2014
das bislang größte mediale Geschichts- Konzerte und Ausstellungen, sondern sind auch daher diverse Gipfeltreffen vor-
ereignis des 21. Jahrhunderts werden. auch ferne Nationen wie Neuseeland gesehen, mal mit und mal ohne Gauck.
Und Gauck vertritt die Verlierer. oder Australien, deren Identität sich im Die Queen wird die Staats- und Regie-
Mehr als 60 Millionen Soldaten aus Krieg herausgebildet hatte. rungschefs der Commonwealth-Mitglie-
fünf Kontinenten waren an dieser Orgie Die Erinnerung an 1914/18 bietet der in der Kathedrale von Glasgow emp-
der Gewalt beteiligt; beinahe jeder sechs- schließlich gleichfalls für Polen, Balten, fangen. Australien, Neuseeland, Polen
te Mann starb, und Millionen kehrten mit Tschechen und Slowaken einen Grund und Slowenien planen jeweils Treffen von
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Serie (I) Der Erste Weltkrieg

Staats- oder Ministerpräsidenten aller andere Nation repräsentiert und der sich gen Zeitpunkt: In zahlreichen Ländern
oder ausgewählter Teilnehmerstaaten des erinnert an die unterschiedlichen Schreck- Europas lässt sich vor den Wahlen zum
Ersten Weltkriegs. nisse, die mit dem deutschen Staat ver- EU-Parlament im Mai 2014 ein Anschwel-
Ganz oben auf Gaucks Liste steht bunden sind“. len nationalistischer Strömungen und anti-
der 3. August, an dem er mit dem fran- Der 73-Jährige hofft, dass der Erinne- deutscher Ressentiments beobachten.
zösischen Staatspräsidenten François rungsparcours den Europäern vor Augen In einer Meinungsumfrage erklärten
Hollande der Toten am Hartmannsweiler führt, was sie an der europäischen Inte- kürzlich 88 Prozent der befragten Spanier,
Kopf gedenken wird, einer zwischen gration nach 1945 haben. Das „Absolut- 82 Prozent der Italiener und 56 Prozent
Deutschen und Franzosen damals schwer setzen des Nationalen“ à la 1914/18 habe der Franzosen, der Einfluss Deutschlands
umkämpften Bergkuppe im Elsass. Au- schließlich keinem der Kriegsgegner in der Europäischen Union sei zu groß.
ßerdem zählt der Bundespräsident zu den glückliche Zeiten gebracht. Und nicht wenige vergleichen die heutige
mehr als 50 Staats- und Regierungschefs Aber er weiß, dass die Erinnerung an Bundesrepublik mit dem Reich des bra-
aller damals in den Krieg verwickelten die Schrecken eines Krieges nicht nur ehe- marbasierenden Kaisers Wilhelm II.
Länder, die der belgische König Philippe malige Gegner versöhnen, sondern auch Im vergangenen August gewann ein bri-
in der Festung von Lüttich begrüßen wird. vernarbte Wunden aufreißen kann. In- tischer Journalist aus einem Gespräch mit
Der ehemalige DDR-Bürger sieht sich sofern kommt der Jahrestag des Ersten dem Presseattaché an der Deutschen Bot-
dabei als „der Deutsche, der heute eine Weltkriegs zu einem denkbar ungünsti- schaft in London den Eindruck, Berlin wol-
le am liebsten unter dem Stichwort Ver-
söhnung an den Gedenkveranstaltungen
der Nachbarländer teilnehmen. Es folgte
ein Aufschrei in der britischen Presse: Die
Deutschen wollten den Briten verbieten,
den Sieg im Ersten Weltkrieg zu feiern.
Gauck vernimmt solche Episoden nicht
ungerührt: „Man kann nur hoffen, dass
die Stimme der Aufgeklärten stärker ist
als in der Zwischenkriegszeit.“
Und wenn nicht? „Europa ist zu fried-
lich, als dass ich wieder in Kriegsszena-
rien denken kann, aber wir haben auf
dem Balkan gesehen, dass mitten in ei-
THIERRY TRONNEL nem befriedeten Jahrzehnt plötzlich ar-
chaische Hassmechanismen wieder grei-
fen können“, mahnt Gauck.
Solche „Ja, aber“-Sätze zum Ersten
EU-Gipfel-Teilnehmer in Brüssel 2013 Weltkrieg sind oft zu hören. In Zeiten
Unfriede unter Europäern der Nato mit integrierten Streitkräften
kann sich kaum noch jemand einen Krieg
zwischen Europäern vorstellen. Doch es
lässt sich im 21. Jahrhundert auch auf an-
dere Weise Unfrieden stiften. Was früher
die Mobilmachung der Streitkräfte war,
kann heute die Drohung sein, einen Staat
wie Griechenland in die Pleite zu schi-
cken, wenn dessen Bürger nicht den For-
4 derungen europäischer Finanzminister
nachkommen. Historiker unterschiedli-
cher Couleur registrieren mit Unbehagen,
3 dass die Zeitläufte von 1914 dem Europa
dieser Tage nicht so fern sind.
Schon vor einem Jahrhundert war die
Welt auf ihre Weise globalisiert. Der
interkontinentale Handel boomte, und
1 2 die Exportquoten lagen so hoch wie dann
erst wieder in der Ära von Helmut Kohl.
Deutsche trugen Jacken aus indischer
Baumwolle und tranken Kaffee aus Zen-
tralamerika. Sie arbeiteten als Friseure
in London, als Bäcker in St. Petersburg,
als Dienstmädchen in Paris – während im
Ruhrgebiet Polen schufteten.
Wer es sich erlauben konnte, reiste
durch Europa, ohne Pass. Professoren
Deutsch-britisch-russisches Familientreffen in Coburg 1894 schrieben sich mit ihren Kollegen in Ox-
ford oder an der Sorbonne auf Englisch
1 Kaiser Wilhelm II. 2 Königin Victoria von England 3 Zarewitsch Nikolaus von Russland,
oder Französisch. Die regierenden Adels-
später Zar Nikolai II. 4 Prince Edward von Wales, später König Edward VII.
häuser waren miteinander verwandt, Kai-
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BPK
Begeisterte Rekruten in Berlin auf dem Weg an die Front 1914
Versagen des deutschen Bürgertums

ser Wilhelm II., der britische König Der Anschlag zählt nicht zu den Ruh- entlasten zwar nicht Kaiser Wilhelm II.,
George V. und Zar Nikolai II. sogar Cou- mestaten der serbischen Geschichte, und der zwischen nassforschen Auftritten und
sins. Man nannte sich „Willy“, „Nicky“ zunächst galten die Sympathien in den ängstlicher Zurückhaltung schwankte.
und „George“ und besuchte einander bei Hauptstädten Europas den trauernden Aber sie betonen auch Versagen oder Ver-
Familienfeiern, zuletzt bei der Hochzeit Habsburgern. In glücklichen Zeiten hät- säumnisse Russlands (US-Historiker Sean
der Tochter des Kaisers in Berlin 1913. ten sich die Majestäten bei der Beerdi- McMeekin), Frankreichs (der deutsche
So stellt sich die Frage, wie es trotz der gung der Ermordeten versammelt und Historiker Stefan Schmidt), Österreich-
vielen transnationalen Bindungen und freundliche Sätze gewechselt. Ungarns (Rauchensteiner) oder aller
Begegnungen dazu kommen konnte, dass Doch der 83-jährige Kaiser Franz Großmächte gemeinsam (der australische
am 4. August 1914 der deutsche Angriff Joseph, Onkel des Opfers von Sarajevo, Autor Christopher Clark).
mit einem Ritt lanzentragender Ulanen beschloss, den serbischen Nationalismus, Zwei nur scheinbar festgefügte Blöcke
über die belgische Grenze begann. Was der sein marodes Reich bedrohte, zu standen einander gegenüber: die Kaiser-
war damals los an den Tischen der Kabi- attackieren und auszuschalten. Bereits reiche Deutschland und Österreich-Un-
nette? Wieso forderte dieser Krieg so 65 Jahre saß der Monarch auf dem Thron, garn auf der einen Seite, die sogenannte
grausam viele Opfer? Und warum fand schon mehrfach hatte er einen Krieg ge- Entente aus französischer Republik,
er über vier Jahre kein Ende? gen Belgrad erwogen. Das Attentat schien russischem Zarenreich und britischer
Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als jene Berater zu bestätigen, die einen Aus- Monarchie auf der anderen. Schon diese
am 28. Juni 1914 der Wiener Thronfolger gleich für unmöglich hielten. Der Erste Konstellation zeigt: Es ging 1914 nicht um
Franz Ferdinand das bosnische Sarajevo Weltkrieg „wurde entfesselt, und Öster- Demokratie und Menschenrechte, um Ka-
besuchte. Ein Trupp serbischer Selbst- reich-Ungarn war es, das die Fesseln lös- pitalismus oder Planwirtschaft.
mordattentäter, von serbischen Regie- te“. So eindeutig urteilt der Wiener His- Obwohl im Frühjahr keine der beiden
rungsstellen ausgerüstet, erwartete ihn toriker Manfried Rauchensteiner. Seiten einen Angriff plante, sahen alle
bereits. Es sind solche Sätze, die eine Debatte Großmächte Krieg als legitimes Mittel der
Die jungen Männer träumten von ei- wieder aufflammen lassen, die längst ent- Politik an und hielten einen Waffengang
nem großserbischen Reich, einschließlich schieden schien. In den sechziger Jahren mittelfristig sogar für unvermeidbar.
der Serben aus dem österreichisch-unga- hatte der Hamburger Historiker Fritz Denn die Hauptbeteiligten fürchteten um
rischen Vielvölkerimperium. Als der Fah- Fischer die Bundesrepublik erschüttert Ansehen, Einfluss, sogar die Existenz:
rer von Erzherzog Franz Ferdinand wen- wie kein Historiker vor oder nach ihm. Frankreich glaubte, den Rüstungswettlauf
den musste, weil er sich verfahren hatte, Fischer behauptete, Berlins „Griff nach gegen Deutschland verloren zu haben,
feuerte der 19-jährige Gymnasiast Gavrilo der Weltmacht“ sei die Haupt-, wenn und drängte Russland, das Reich von Os-
Princip in den offenen Wagen. Die Her- nicht sogar alleinige Ursache des großen ten her unter Druck zu setzen. Deutsche
zogin, in den Unterleib getroffen, starb Sterbens gewesen. Und nach einem hit- Militärs nahmen an, auf Dauer den Rus-
auf der Fahrt in die Residenz, der Thron- zigen Streit unter Kollegen setzte sich sei- sen unterlegen zu sein, was dafür sprach,
folger verblutete an einer Halswunde. ne Ansicht im Grundsatz durch. schnell loszuschlagen. Der Zar schließlich
Drei der Verschwörer wurden hingerich- Doch pünktlich zum Jahrhundertgeden- unkte, Großbritannien könne die Fronten
tet, weitere zu teilweise hohen Haftstra- ken stellen neue Forschungen dieses Bild wechseln, und rüstete auch deshalb auf.
fen verurteilt. nachhaltig in Frage. Die Wissenschaftler Und in London ging die Angst um, das
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 31
eeblockade
Serie (I) Der Erste Weltkrieg Britische S

SEEBLOCKADE SEEKRIEG
dynamische Reich werde dem Empire Die britische Seeblockade Skagerrak- Vor dem Skagerrak lie-
den Rang ablaufen. schwächte die Volkswirt- schlacht ferten sich Briten und
Dazwischen funkten kleine Staaten schaften der Mittelmäch- Deutsche mit rund 250
wie Serbien, die die Großen gegeneinan- te nachhaltig. Dabei ver- Schiffen die größte See-
der auszuspielen suchten. stieß die Blockade gegen schlacht des Krieges, sie
Ein fragiles, hochkomplexes System, das Völkerrecht. Allein endete unentschieden.
dessen Steuerung Umsicht und Weitblick in Deutschland starben Danach verzichtete das
erforderte. Historiker Clark schätzt die 800000 Menschen an Reich auf einen weite-
Zahl der Entscheider im Sommer 1914 auf den Folgen von Unter- ren Versuch, die See-
einige hundert: Monarchen, Minister, Mi- ernährung. blockade aufzubrechen.
litärs und Diplomaten. Es waren überwie-
gend ältere Männer, zumeist Adlige. GROSS- London 1914 bis 1917
Die Gefahr, dass Russland im Fall eines B R I TA N N I E N Ende 1918
österreichischen Angriffs auf Serbien den Berlin
slawischen Brüdern in Belgrad beisprin-
1914 Ypern DEUTSCHES REICH
gen werde, sah Österreichs Kaiser Franz BELGIEN
Joseph durchaus. Er bat daher den deut-
schen Verbündeten um Rückendeckung, WESTFRONT
und am 5. Juli 1914 sprach Wiens Bot- LUX.
Der Schlieffen-Plan sah
schafter bei Kaiser Wilhelm II. im Neuen
vor, Frankreich in einem
Palais in Potsdam vor. Paris Vauquois
Feldzug rasch zu besie- Verdun
So etwas gibt es in der Weltpolitik im-
mer wieder: Ein eher schwacher Bünd- gen. Vor Paris scheiterte
nispartner – Österreich-Ungarn – versucht der Angriff. Der Stellungs- Wien
Hartmannsweiler Kopf
aus egoistischen Motiven, eine befreun- krieg an der Westfront Belfort
dete Großmacht – das Reich – in einen prägt bis heute das Bild Mai 1915 bis
regionalen Konflikt hineinzuziehen. Es vom Ersten Weltkrieg. Okt. 1917
war auch nicht das erste Mal, aber vor FRANKREICH
1914 hatten die Deutschen immer ge-
bremst. Isonzo
Und diesmal? Der Kaiser erkannte, 1 1. Finnland I TA L I E N
dass Russland „keineswegs kriegsbereit“ 2 2. Estland
sei; er und seine Berater hielten das Risi- 3 3. Lettland Okt.
4. Litauen 1918
ko eines österreichischen Blitzkriegs ge- 4 5. Polen
gen Belgrad daher für beherrschbar. „Ein 6. Tschechoslowakei
7. Österreich
ALPEN
schnelles fait accompli und dann freund- 5 8. Ungarn
6 9. Jugoslawien
Italien trat im Mai 1915
lich gegen die Entente, dann kann der auf der Seite der Entente
10. Türkei
Choc ausgehalten werden“, notierte Kanz- 7 8 11. Syrien in den Krieg ein. Sogar in
ler Theobald von Bethmann Hollweg. 12. Irak
den Hochalpen bekämpf-
9 13. Palästina
Der liberalkonservative Jurist aus Bran- ten sich Italiener und
denburg war eine Schlüsselfigur in der
10 insbesondere die Truppen
sogenannten Juli-Krise. Zeitgenossen
11
Österreich-Ungarns. Die
schildern den früheren Beamten als 12
Staatsgründungen Verluste waren auf bei-
ausgleichenden Menschen, keinen Scharf-
macher. Aber im Sommer 1914 machte und Mandatsgebiete den Seiten sehr hoch.
in Folge des Ersten Weltkriegs 13
er sich die Einschätzung der Militärs zu
eigen. Sollte der Zar nicht zurückzucken,
dann wollten diese lieber ins Feld ziehen,
solange St. Petersburg die Aufrüstung land drohe mit der Euro-Krise den Kon- Auch Frankreichs Präsident Raymond
nicht abgeschlossen hatte. „Besser jetzt tinent ein drittes Mal zu ruinieren, so be- Poincaré, ein Anwalt aus der Gegend
als später“, lautete die Devise von Gene- ruht diese Zählung auf der Annahme, der von Verdun, der aus Angst vor dem
ralstabschef Helmuth von Moltke. Blankoscheck habe anno 1914 zum Krieg Reich einen stramm antideutschen Kurs
Heute weiß man: Die Hast war unbe- geführt. Die von Kanzlerin Angela Mer- verfolgte, hielt einen Krieg für unver-
gründet und das Zarenreich ein Riese auf kel geforderten Wirtschaftsreformen in meidbar. Als Poincaré auf dem Höhe-
tönernen Füßen. Aber beim Gabelfrüh- Südeuropa erscheinen aus dieser Perspek- punkt der Juli-Krise St. Petersburg be-
stück mit dem Wiener Botschafter stellte tive manchem Betrachter sogar als die suchte und den Eindruck gewann, der
Wilhelm II. den sogenannten Blanko- Fortsetzung wilhelminischer Machtpolitik wankelmütige Zar Nikolaus II. erwäge
scheck aus: Wien könne mit „voller Unter- mit anderen – eben wirtschaftspoliti- ein Nachgeben in der Serbien-Frage,
stützung“ rechnen, Franz Joseph möge schen – Mitteln. drängte der Lothringer: „Wir müssen
sich mit dem Angriff auf Serbien beeilen. Allerdings hätten 1914 auch die Entente- standhaft bleiben.“
Mit dem Blankoscheck wurde aus einer Mitglieder die Eskalation jederzeit stop- Wenig ist den Briten vorzuwerfen, die
lokalen Krise ein europäischer Konflikt, pen können – vorneweg das Zarenregime, sich vor 1914 zumindest zeitweise um ein
er war der entscheidende Beitrag des das sich auf Serbiens Seite stellte, weil gutes Verhältnis zum Reich bemüht hat-
Reichs zur „Urkatastrophe“ des 20. Jahr- eine aufgeheizte Öffentlichkeit danach ten – wenn auch nicht aus Friedensliebe,
hunderts. verlangte und weil man mit einem starken sondern aus machtpolitischem Kalkül.
Wenn heute italienische Leitartikler Serbien gegebenenfalls einen Zwei-Fron- Kanzler Bethmann Hollweg nahm des-
wie Eugenio Scalfari behaupten, Deutsch- ten-Krieg gegen Wien führen konnte. halb an, London werde im Kriegsfall neu-
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Krupp-Kanone „Dicke Bertha“

ULLSTEIN BILD
RUSSLAND Moskau 200 km

FRONT- Riga Mittelmächte Entente-Mächte


VERLÄUFE
und Verbündete und Verbündete
August Nov. Ende Vorstöße Vorstöße
1914 1914 1917 der Mittelmächte der Entente
Bedeutende
1918 Schlachten

OSTFRONT Französischer Renault-Panzer

RUE DES ARCHIVES


Tannenberg
Zunächst marschierten russische
Truppen in Ostpreußen ein; sie
Brest-Litowsk
mussten aber nach ihrer Nieder-
lage bei Tannenberg zurückweichen.
Warschau
Lodz Kiew

In Galizien stand Österreich-Ungarn


Krakau Lemberg sogar vor einer Niederlage, die erst
Entlastungsangriffe des deutschen Britisches Sopwith-Kampfflugzeug

J ULE S GE RVAIS-CO URTE LLE M O N T


Verbündeten abwendeten.
1917 schied Russland aus dem Krieg
aus. Während der Friedensverhand-
Nov./Dez. lungen von Brest-Litowsk besetzten
1914 deutsche Einheiten große Teile des
Aug. ehemaligen Zarenreichs.
ÖSTERREICH- 1916
UNGARN
BALKANKRIEG
Nach dem Kriegseintritt
p bis
Sept. Bulgariens auf Seiten der
Sara- Dez. 1916 RUMÄNIEN Mittelmächte standen die-
jevo se 1915 vor einem Sieg auf
Sept. dem Balkan. Die Entente lan-
S E R B I E N 1918 dete in Griechenland und
BULGARIEN
MONTE- stoppte den Vormarsch.
NEGRO Dez. 1915 bis
1915 Sept. 1918 Konstantinopel OSMANISCHES
REICH
ALBANIEN
GALLIPOLI
Gallipoli
Ende 1914 erklärte das Osmanische Reich den Entente-Mächten den Krieg.
Diese scheiterten bei dem Versuch, die Gallipoli-Halbinsel zu besetzen. Historiker Quellen: Putzger
Historischer Weltatlas,
Britische GRIECHEN- April 1915 schätzen die Verluste beider Seiten auf insgesamt 500 000 Mann. Australier und BSV Großer Historischer
Seeblockade LAND bis Jan. 1916 Neuseeländer gedenken der Schlacht bis heute. Weltatlas

tral bleiben – und Downing Street 10 ließ maßvoll gegen Serbien vorzugehen. Al- hatte diesen Plan entworfen. Die Nach-
ihn viel zu lange in diesem Glauben. lerdings nahm er den Blankoscheck nicht teile wurden jetzt offenkundig: Die Mili-
So stand Europa wenige Wochen nach zurück, und auf den kam es an. tärs hatten einen Krieg ohne Großbritan-
dem Attentat von Sarajevo am Rande Am 29. Juli eröffnete die k. u. k. Do- nien kalkuliert, obwohl das Konzept
des Abgrunds. Es sei 1914 zugegangen nauflottille das Feuer auf Belgrad, einen vorsah, Belgien zu überrennen, dessen
wie heute in der Euro-Krise, argumen- Tag später befahl Zar Nikolaus II. die rus- Neutralität Großbritannien seit 1832
tiert Historiker Clark in seinem Bestseller sische Generalmobilmachung. garantierte.
„Die Schlafwandler“: Alle hätten ge- Fortan bestimmte die Logik des soge- Als ebenso folgenschwer erwies sich
wusst, dass sie mit dem Feuer spielten, nannten Schlieffen-Plans das Schicksal der aus dem Plan resultierende Zeitdruck:
und dennoch habe jeder versucht, die all- Europas. Deutschland fürchtete einen Sobald Russlands Mobilmachung lief,
gemeine Gefahr zum eigenen Vorteil zu Zwei-Fronten-Krieg, und da die russische musste das Kaiserreich im Westen angrei-
nutzen. Armee Monate benötigte, um ihre fen – oder sich von der Idee eines Sieges
Immerhin überkamen Wilhelm II. Truppen vollständig zu mobilisieren, verabschieden. Ein diplomatisches Kri-
Ende Juli Zweifel an der Klugheit seiner wollte der Große Generalstab in Berlin senmanagement war in Schlieffens Plan
Politik. Der Kaiser halte „wirre Reden, diese Zeit für einen schnellen Sieg über nicht vorgesehen.
aus denen nur klar hervorgeht, dass er Frankreich nutzen. Anschließend sollte Vor die Wahl zwischen Krieg und poli-
den Krieg jetzt nicht mehr will“, notierte das Heer Richtung Osten marschieren. tischer Niederlage gestellt, entschied sich
ein Minister in Berlin. Wilhelm Zwo for- Der berühmte Generalstabschef Alfred die im Macht- und Prestigedenken der
derte den Wiener Verbündeten jetzt auf, Graf von Schlieffen, verstorben 1913, Zeit verhaftete Reichsleitung für die At-
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Serie (I) Der Erste Weltkrieg

tacke. Der „Sprung ins Dunkle“, sagte Der Krieg sei „groß und wunderbar“ (So-
Kanzler Bethmann Hollweg bedauernd, ziologe Max Weber), die Deutschen „das
sei „schwerste Pflicht“. auserwählte Volk“ (Ökonom Werner
Anfang August erklärte Deutschland Sombart), eine „Reinigung“ des Men-
zuerst Russland, anschließend Frankreich schen stehe bevor (Dichter Thomas
den Krieg. Am 4. August ergriff dann Mann). Nun wirkte sich aus, dass im
auch Großbritannien Partei, nachdem der Reich, aber auch in Großbritannien und
Einmarsch in Belgien begonnen hatte. Frankreich rechtsnationale Verbände jah-
So fiel ein Dominostein gegen den relang für Volk und Vaterland getrom-
nächsten – ohne dass ein Nutzen erkenn- melt hatten und beträchtliche Teile der
bar war. Es gab in der Menschheitsge- europäischen Jugend paramilitärischen
schichte unzählige Kriege, aus Freiheits- Organisationen angehörten. In St. Peters-
streben, aus Rache, aus wirtschaftlichen burg stürmte der Mob die Botschaft des
Gründen; der Krieg, der sich im Sommer Reichs, in London wurden Werkstätten
1914 über Europa ausbreitete, war an dort ansässiger deutscher Handwerker
Sinnlosigkeit schwer zu überbieten. verwüstet. Die europäischen Gesellschaf-
Von Kaiser Wilhelm II. ist überliefert, ten, schreibt der Berliner Historiker Chris-
er habe Tränen in den Augen gehabt, als toph Nübel, seien „militarisierte Gesell-
er die deutsche Mobilmachung unter- schaften“ gewesen – im Gegensatz zum
zeichnete. Bald darauf reiste er mit einem Europa der Gegenwart.
Sonderzug ins Hauptquartier, das zu- Die Bereitschaft, fürs Vaterland in den
nächst in Koblenz aufgeschlagen wurde. Krieg zu ziehen, war groß. In England
Viel hatte der Monarch dort nicht zu sa- meldeten sich mehr Freiwillige, als die
gen, die Militärs und Bethmann Hollweg Armee ausrüsten konnte. Aus Briefen las-
bestimmten im Krieg den Kurs. sen sich die Motive der Männer ableiten;
Ihre größte Sorge galt der Arbeiter- oft trieb sie Abenteuerlust oder der
schaft, die an den Werkbänken der Rüs- Wunsch, sich als Mann in einem schein-
tungsfabriken stand und das Gros der Sol- bar ritterlichen Kampf zu beweisen.
daten stellte. Einige 100 000 Menschen „Ich finde den Krieg herrlich. Es ist wie
hatten in den letzten Julitagen auf Anti- ein großes Picknick, aber ohne das über-
Kriegs-Demonstrationen der SPD gegen flüssige Beiwerk, das normalerweise da-
das „verbrecherische Treiben der Kriegs- zugehört“, notierte ein britischer Offizier.
hetzer“ protestiert. Innerhalb von Wochen zerstob diese
Würden sie sich verweigern? Vorstellung. Wie zu Napoleons Zeiten
Die SPD-Führung fürchtete, dass der stürmten die Männer mit Hurra-Rufen
Kaiser notfalls Polizei und Armee auf die voran – und trafen auf die Waffen des
Sozialdemokraten hetzen werde, und tat- 20. Jahrhunderts. Maschinengewehre
sächlich hatten Wilhelm und seine Gene- spuckten bis zu 600 Kugeln pro Minute
räle erwogen, führende Genossen festzu- aus, Feldkanonen feuerten in schneller
nehmen. Folge Schrapnellgranaten, mähten Infan- singt, pfeift, brüllt es, und das Eisenzeug
Aber mit der russischen Mobilmachung teristen nieder. „Wenn so ein Ding traf, explodiert. Schrecklich, wie viele Tote
änderte sich die Lage. Seit den Zeiten dann gab’s eben nur Gehacktes“, schrieb herumliegen.“
von Karl Marx verabscheute die deutsche ein deutscher Soldat nach Hause. So sahen die Schlachtfelder des neuen
Linke das repressive Zarenregime, das Die Dynamik der industriellen Revo- Krieges aus.
jetzt als Aggressor dastand. Am 4. August lution hatte Europa einst die Herrschaft Zu ihrer Überraschung stießen die
erklärte der SPD-Vorsitzende Hugo Haa- über einen Großteil der Welt gebracht, Deutschen bereits in Belgien auf heftigen
se im Reichstag: „Wir lassen in der Stunde nun schlug sie auf den alten Kontinent Widerstand, und die mit den Kämpfen
der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.“ zurück. Eine gigantische Tötungsmaschi- einhergehenden Kriegsverbrechen sind
Anschließend stimmten die SPD-Ab- nerie sorgte dafür, dass im Durchschnitt bis heute unvergessen. Die Besatzer re-
geordneten den Kriegskrediten zu, ohne täglich 6000 Soldaten starben. agierten auf angebliche oder tatsächliche
die der Krieg nicht zu finanzieren gewe- Ein französischer Infanterist notierte: Angriffe von Partisanen mit drakonischer
sen wäre. Das Protokoll der Reichstags- „Die Anhöhe gleicht einem feuerspeien- Härte. Dörfer wurden geplündert, Häuser
sitzung verzeichnet „wiederholten stür- den Vulkan: Schrapnellrauch, gelbe, rote, niedergebrannt, rund 5500 Zivilisten er-
mischen Beifall und Händeklatschen“. grüne Leuchtraketen, die der Artillerie schossen, darunter Frauen und Kinder.
Heute gilt die Zustimmung als dunkelste melden, das Feuer zu eröffnen oder ein- In der altehrwürdigen Universitätsstadt
Stunde in der langen Geschichte der SPD. zustellen; Leuchtkugeln, die die ganze Löwen töteten Soldaten der 1. Armee
Mindestens ebenso bedeutend war frei- ,Todesschlucht‘ in bleiches Magnesium- 248 Zivilisten, vertrieben rund 10 000 Ein-
lich das Versagen des deutschen Bürger- licht tauchen, das die Truppen beim Vor- wohner und brannten einen Teil der Stadt
tums, das jene Studenten und anderen marsch blendet, überall explodieren Gra- nieder, einschließlich der berühmten Bi-
Hurra-Patrioten stellte, die auf vielen Fo- naten und hinterlassen einen roten Feu- bliothek. Zu Hunderttausenden flohen
tos aus den Sommertagen 1914 zu sehen erschein und schwarzen Rauch. Es ist ein Belgier ins neutrale Holland, setzten über
sind: strahlende Burschen, mit Blumen in höllischer Lärm: Vor und hinter uns heult, den Ärmelkanal oder entkamen nach
Gewehrläufen, an den Eisenbahnwaggons Frankreich.
kecke Sprüche („Ausflug nach Paris“). Video: Briefe aus dem Jetzt lud sich der Krieg auch ideolo-
Künstler, Professoren, Pastoren, Intel- Krieg gisch auf. Die alliierte Propaganda trom-
lektuelle lieferten in jenen Wochen und spiegel.de/app012014weltkrieg melte gegen die Verbrechen der „Hun-
Monaten die dazu passenden Parolen: oder in der App DER SPIEGEL nen“. Dagegen protestierten Künstler und
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Aufgebrachte Bürger in London 1915
Steine gegen deutsche Geschäfte

Westen in einen Stellungskrieg mündete.


Dieser wurde zum Signum der Jahre
1914/18 – und zum Alptraum der Soldaten.
Geplagt von Ratten, Läusen, Wanzen
duckten sich die Infanteristen fortan in
Schützengräben, Stollen und Unterstän-
den, in die oft Grundwasser lief. An vie-
len Orten Ostfrankreichs, etwa auf dem
Hartmannsweiler Kopf im Elsass oder in
Vauquois bei Verdun, sind heute noch die
Überreste der kilometerlangen Graben-
systeme zu sehen. Sie bestanden in vor-
derster Linie aus Spanischen Reitern und
mannshohen Stacheldrahtverhauen, dann
folgten drei Grabenzüge für die Wach-
posten, die Hauptkampftruppe und die
Reservetruppen, jeweils Hunderte Meter
voneinander getrennt und oft im Zick-
zack angelegt. Briten oder Franzosen soll-
ten beim Eindringen nicht gleich freie
Schussbahn haben.
Wenige Kilometer weiter hinten gab
es zwei weitere Linien mit noch mehr
Gräben, Unterständen, MG-Stellungen,
Schießscharten. Der Nachschub von Mu-
nition und der Austausch der Soldaten
liefen über sogenannte Verbindungsgrä-
ben. Um die Orientierung nicht zu ver-
lieren, tauften die Soldaten Bunker und
PICTURE ALLIANCE / DPA

Unterstände auf Namen wie „Bremer


Ratskeller“ oder „Berthalust“.
Bei stundenlangem Beschuss mussten
die Männer ausharren. „Rings um uns
fliegt alles in die Luft“, notierte ein fran-
zösischer Soldat, „es ist ein pausenloses
Gelehrte wie der Maler Max Liebermann, ten Deutschen vermochten nicht, die fran- Donnerrollen. Erdklumpen, Steine pras-
der Theologe Adolf von Harnack, der zösische Armee einzukreisen. seln uns auf den Rücken, Granatsplitter
Theaterregisseur Max Reinhardt mit ei- Deren Oberbefehlshaber Joseph Joffre pfeifen dauernd vorbei.“ Die Explosionen
nem „Aufruf an die Kulturwelt“, der den zog alle verfügbaren Reserven zusam- schleuderten zersplitterte Baumstämme,
Überfall auf Belgien rechtfertigte. Deut- men. Der Winzersohn aus Südfrankreich Kanonenteile, menschliche Körper hoch
sche „Kultur“ stand gegen französische und Veteran von 1870/71 ließ sogar Pari- in die Luft. Experten schätzen, dass
„Zivilisation“; Pflicht, Ordnung, Volksge- ser Taxen beschlagnahmen, um Soldaten knapp 60 Prozent der militärischen Opfer
meinschaft gegen Individualismus, Demo- an die Front zu karren. auf das Konto der Artillerie gingen.
kratie, Menschenrechte. Fünf Tage dauerten die grauenhaften Er sei mit den Nerven runter und müs-
Und Erfolgsmeldungen heizten die Kämpfe, dann brach Generalstabschef se aus dem Graben raus, rief ein franzö-
Stimmung an: Ende August 1914 siegte Moltke am 11. September die Schlacht ab sischer Oberleutnant seinem Kameraden
das Heer unter Paul von Hindenburg und und befahl seinen Leuten den Rückzug zu. Der Versuch, den Verwirrten zurück-
Erich Ludendorff bei Tannenberg, etwa bis hinter die Aisne. Noch heute streiten zuhalten, scheiterte. „Kaum ist er am
hundert Kilometer südlich von Königs- Experten, ob diese Entscheidung voreilig Schützengrabenrand, als ihm eine ex-
berg; es zwang den Zaren zum Rückzug, war. Moltke erlitt jedenfalls einen Ner- plodierende Granate den Kopf abreißt“,
dessen Armee in Ostpreußen einmar- venzusammenbruch und wurde abgelöst. berichtete der Kamerad. „Ich starre wie
schiert war. Die Marne-Schlacht markiert die gro- benommen das Stück Unterkiefer an, das
Anfang September schien der Krieg im ße Zäsur des Ersten Weltkriegs, denn noch am Körper verblieben ist, während
Westen sogar gewonnen, als deutsche Schlieffens Plan eines schnellen Sieges aus seinem durchschossenen Hals Blut
Truppen vor Paris standen; als die fran- über Frankreich war damit gescheitert. und Knochenmark in den Schützengra-
zösische Regierung nach Bordeaux flüch- Beide Seiten versuchten noch, sich wech- ben fließen.“
tete und der Stadtkommandant die Spren- selseitig zu umfassen, aber am Ende des Andere Kämpfer umgaben sich mit
gung des Eiffelturms vorbereiten ließ. sogenannten Wettlaufs zum Meer zog einem Panzer scheinbarer Todesverach-
Aber dann ereignete sich das „Wunder sich die Front von der Schweiz bis zur tung, der Schriftsteller Ernst Jünger („In
an der Marne“, von dem heute jedes Kanalküste. Stahlgewittern“) ist das bekannteste Bei-
Schulkind in Frankreich erfährt. Denn Das Reich musste nun jenen Zwei-Fron- spiel. Aus Jünger sprach eine verwundete
die nach den Eilmärschen und den Kämp- ten-Krieg führen, den die Militärs unbe- Seele. Am 17. Oktober 1915 notierte er in
fen in glühender Sommerhitze erschöpf- dingt hatten verhindern wollen und der im seinem Tagebuch, er habe Knochenreste
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 35
Serie (I) Der Erste Weltkrieg

einer Hand gefunden: „Ich hob sie auf Elsass und Lothringen, die seit 1871 zum Doch bis 1917 liefen sich alle Großoffen-
und hatte den geschmackvollen Plan, sie Reich zählten, dazu das Saarland und die siven fest.
zu einer Zigarrenspitze umarbeiten zu linksrheinischen Gebiete. Sogar Belgien Besonders deutlich wurde das in der
lassen. Jedoch es klebte noch grünlich wollte er dominieren. viereinhalb Monate dauernden Schlacht
weißes Verwestes zwischen den Gelen- Auf der Liste des Zaren oder mancher an der Somme, in der Briten und Franzo-
ken, deshalb stand ich von meinem Vor- Berater standen Konstantinopel, die Dar- sen den Deutschen gerade einmal zehn
haben ab.“ danellen, große Teile Ost- und Mitteleu- Kilometer abnahmen – und das mit dem
Bis heute streiten Experten, ob die Grä- ropas bis hin zum südlichen Schlesien Verlust von 600 000 Mann bezahlten. Bei
ben mehr Leben retteten oder kosteten. und Ostpreußen. Verdun starben 300 000 Soldaten, ohne
Sie schützten die Soldaten, aber sie mach- Nur die Briten hielten sich zurück; nie- dass sich der Frontverlauf wesentlich
ten es auch möglich, dass sich feindliche mand sollte Kontinentaleuropa beherr- änderte. Und die sogenannte Brussilow-
Truppen auf wenige Dutzend Meter nä- schen, auch nicht die Verbündeten. Lon- Offensive östlich von Lemberg brachte
hern konnten, was das gegenseitige Töten don wollte sich die Option bewahren, bei zwei Millionen Russen Tod, Verwundung,
erleichterte. Konflikten die lukrative Schiedsrichter- Gefangenschaft. Der Geländegewinn:
Eigentlich hätte der Erste Weltkrieg rolle zu übernehmen. zwischen 50 und 125 Kilometer.
mit dem Beginn des Stellungskriegs ein Da das Kräfteverhältnis ungefähr aus- Die angreifenden Generäle hatten gro-
Ende finden müssen, schließlich hatte geglichen war, hofften beide Seiten, sie ße Schwierigkeiten, ihre Massenheere zu
die deutsche Generalität vor 1914 darauf könnten den Sieg noch erringen – wenn steuern. Es dauerte manchmal Tage, bis
bestanden, dass ein Zwei-Fronten-Krieg nur der nächste Angriff erfolgreich wäre. Befehle die Front erreichten. Vor allem
nicht zu gewinnen sei. Und tatsächlich aber hielten die ausgeklügelten Vertei-
erwog Moltkes Nachfolger Erich von digungsstellungen dem Dauerfeuer der
Falkenhayn Friedenssondierungen, um Artillerie stand.
zunächst die Russen aus dem Spiel zu Bei Verdun verschossen kaiserliche
nehmen. Kanoniere in den ersten acht Stunden
Doch zu erfolgversprechenden Ver- zwei Millionen Granaten. Bis heute,
handlungen kam es bis 1917 nicht. knapp hundert Jahre danach, zeigt sich
Nicht im Osten, nicht im Westen. die Natur dort als kraterüberzogene
Es gibt dafür mehrere Erklärungen. Mondlandschaft. Sie ist nur mit einem

YORGOS KARAHALIS / REUTERS


Zunächst die extrem hohe Zahl der Flaum aus Büschen, Bäumen, Sträu-
Opfer. Bis heute ist der 22. August 1914 chern überzogen.
mit 27 000 Toten der blutigste Tag der Als die Deutschen nach der Kano-
französischen Militärgeschichte. Deut- nade vorrückten, stießen sie zu ihrem
sche und Belgier verloren bereits bis Entsetzen auf überlebende französi-
Ende 1914 rund die Hälfte ihrer Feld- sche Soldaten, die erbittert kämpften.
heere, bei den Armeen Russlands und Protestplakat in Zypern 2013 Die Schlacht von Verdun ist das
Österreich-Ungarns überstieg die Zahl Antideutsche Ressentiments bekannteste Beispiel dafür, dass beide
der Toten, Verwundeten, Gefangenen Seiten den Einsatz erhöhten und
die Millionengrenze. dem Leiden der eigenen Leute mit
Solche Opfer durften nicht umsonst „fataler Gleichgültigkeit“ begegneten,
gewesen sein. Eine „Preisgabe des mit wie die Historiker Gerhard Hirschfeld
so viel Blut eroberten Landes“ schien und Gerd Krumeich schreiben*.
wie eine „Pflichtverletzung gegen die Aus strategischen Gründen war es
Gefallenen“, beschrieb Kanzler Beth- wenig sinnvoll, Hunderttausende Sol-
mann Hollweg die vorherrschende daten für die Eroberung der Festungs-
Sicht auf deutscher Seite. Die Alliier- anlagen um Verdun zu opfern – und
ten argumentierten ähnlich. genauso unangemessen, diese um je-
Das Eingeständnis, keinen Sieg er- den Preis zu verteidigen.
rungen zu haben, fiel umso schwerer, Der Krieg nahm spätestens 1916 totale
als die Regierungen aller Großmächte Züge an. In Deutschland, Frankreich,
politisch geschwächt in den Krieg ge- Österreich-Ungarn mussten rund 80 Pro-
zogen waren. Der Zar und die beiden zent der wehrfähigen Männer an die
Kaiser der Mittelmächte fürchteten Front oder auf See. Eine ganze Genera-
sogar Revolutionen, wenn sie ohne tion wurde von den dortigen Erlebnis-
Triumph nach Hause kämen. sen geprägt: Charles de Gaulle war da-
Statt nach Kompromissen zu suchen, bei, Winston Churchill, Ludwig Erhard,
wurden die Wunschlisten für den Fall Adolf Hitler, nach dem Kriegseintritt
eines Siegs immer länger: Bethmann der USA auch Harry Truman, später
Hollweg wollte beträchtliche Gebiete Präsident und Begründer der Nato.
Frankreichs und Belgiens sowie Lu- Um die gigantische Tötungsma-
xemburg annektieren, Mitteleuropa schinerie am Laufen zu halten, wur-
beherrschen und Stützpunkte auf den den hinter der Front Gleise verlegt,
Färöer-Inseln oder den Kapverden er- Straßen gebaut, Munitionsdepots
richten – und solche Forderungen gal- errichtet. Logistiker kalkulierten bei
ten in Berlin noch als gemäßigt.
AKG

Frankreichs Staatspräsident Poin- * Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich: „Deutschland


caré hätte das Reich am liebsten in Ein- Französische Karikatur Wilhelms II., 1914 im Ersten Weltkrieg“. S. Fischer, Frankfurt am Main;
zelstaaten aufgeteilt. Er verlangte das Ideologisch aufgeladener Krieg 331 Seiten; 24,99 Euro.

36 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
BILDERWELT
Gefallene britische Soldaten in Ypern 1914
Von Kratern überzogene Mondlandschaft

den großen Schlachten mit einem Nach- ser und seine Berater Anfang 1917 den sohn Joachim Gauck heute Bundesprä-
schubbedarf von täglich gut 120 Eisen- uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen sident ist. Warremann brachte von der
bahnzügen. Frachter. Also auch gegen US-Schiffe. Front einen Helm mit nach Hause, den
Die Entgrenzung der Gewalt spiegelte Es war wohl die schwerste Fehlent- ein Streifschuss über der linken Schläfe
sich in der Waffentechnik wider. Ingenieu- scheidung Wilhelms II., denn der totale eingedellt hatte. Warremann hatte offen-
re entwickelten Flammenwerfer, Panzer, U-Boot-Krieg erzielte nicht die gewünsch- kundig großes Glück gehabt.
Kampfflugzeuge. Sogar Giftgas wurde ein- ten Erfolge – und zugleich stellten sich Der Helm mit der Delle ist inzwischen
gesetzt, zunächst von den Deutschen, die USA nun gegen die Mittelmächte. verlorengegangen, erzählt Gauck im
dann auch von den Alliierten. Bis Juli 1918 waren eine Million ausge- Amtszimmer des Schlosses Bellevue, aber
In Zeiten dieses totalen Krieges ent- ruhte GIs auf dem alten Kontinent gelandet. der Anblick habe sich ihm so tief ein-
schied nicht mehr das Feldherrngenie, son- Bald drängten die alliierten Truppen auf geprägt, dass er den Helm „noch heute
dern die wirtschaftliche und militärische breiter Front die deutschen Divisionen zu- zeichnen“ könne.
Mobilisierungskraft über Sieg und Nieder- rück. Der Krieg war verloren, noch bevor Wenn der Opa mit alten Veteranen
lage. 1917 konnte Russland nicht mehr mit- er das Gebiet des Reichs erreicht hatte. abends beisammensaß und sie vom Krieg
halten – ausgerechnet jene Macht, die der Am Abend des 7. November 1918 pas- erzählten, wunderte sich der junge Joa-
deutsche Kaiser, sein Kanzler und die Mi- sierte eine deutsche Kolonne aus drei Wa- chim über die ausgelassene Stimmung.
litärs einst am meisten gefürchtet hatten. gen beim belgischen Chimay die Front. Wie konnte man derart fröhlich sein, es
Die russische Wirtschaft kollabierte, der Pioniere hatten auf dem Weg sämtliche war doch so knapp gewesen?
Zar trat zurück, und die Aussicht auf eine Minen geräumt; eine große weiße Fahne Erst viel später verstand er: Die Män-
Bodenreform ließ die Soldaten, überwie- prangte auf dem ersten Auto, ein Trom- ner schätzten das Zusammensein mit
gend Bauern, in Scharen desertieren. peter blies kurze Signale. Niemand sollte Kameraden, die wie sie dem Tod in den
Der neue Machthaber Lenin wollte versehentlich das Feuer eröffnen, schließ- Schützengräben ins Auge gesehen hatten.
Frieden um jeden Preis, und im Dezem- lich wollte die deutsche Delegation einen Nur sie verstanden, was das bedeutete.
ber begannen in Brest-Litowsk Gespräche Waffenstillstand vereinbaren. Und darum feierten sie das Leben.
mit Vertretern Berlins. Lenin verzichtete Französische Militärfahrzeuge brach-
schließlich auf ein Viertel des europäi- ten die Gruppe unter Führung des katho-
schen Territoriums, auf das Baltikum, auf lischen Reichstagsabgeordneten Matthias Lesen Sie im nächsten Heft:
Polen, auf Finnland, die alle nach natio- Erzberger zu einem Zug, der am nächsten Fast 100 Jahre lang ignorierte Russland den
naler Unabhängigkeit strebten. Morgen bei Compiègne hielt. Ersten Weltkrieg. Nun wird das ehemalige
Nach dem Frieden von Brest-Litowsk Die Atmosphäre war eisig, als der fran- Zarenreich geehrt und gefeiert. Außer-
konnten die Mittelmächte endlich jenen zösische Marschall Ferdinand Foch, seit dem: Eine Reise durch Bosnien mit Gavrilo
Ein-Fronten-Krieg führen, den einst Ge- kurzem Oberbefehlshaber der Alliierten, Princip (Foto), Namensvetter und Groß-
neralstabschef Schlieffen gewollt hatte. und drei britische Offiziere die Deutschen neffe des Sarajevo-Attentäters von 1914.
Aber zuvor waren die USA in den Krieg in einem Waggon ihres Zuges empfingen.
eingetreten. Und dieser Zug brachte die Am Morgen des 11. November unter-
„entscheidende strategische Wende“, wie zeichnete Erzberger den Waffenstillstand.
der Historiker Gerhard P. Groß schreibt. „Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es
Die größte Industrienation der Erde stirbt nicht“, erklärte er pathetisch. „Très
hatte das englische Mutterland schon seit bien“, antwortete Foch. Auf einen Hände-
1914 mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen, druck verzichteten die Beteiligten lieber.
Munition tatkräftig unterstützt. Im Glau- Um 11 Uhr schwiegen die Waffen.
ben, das Empire werde an den Verhand- Zu den Überlebenden des Ersten Welt-
FILIP HORVAT

lungstisch treten, wenn man den Nach- kriegs zählte auch der Rostocker Maurer-
schubhahn zudrehte, beschlossen der Kai- geselle Franz Warremann, dessen Enkel-
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HESSEN

„Ein Ringen“
Ministerpräsident Volker Bouffier, 62, über den schwierigen
Weg zur schwarz-grünen Koalition –

FRANK RUMPENHORST / DPA


und den schnellen vom Loser zur Lichtgestalt

Regierungspartner Bouffier, Al-Wazir nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags*: „Zwei Parteien mit einem sehr klaren Profil“

SPIEGEL: „Die Grünen sind noch weit, weit SPIEGEL: Noch 2012 haben die Grünen Ihre Bouffier: Wir haben unsere Mitglieder
weg von einer verantwortlichen Regie- Partei hart kritisiert, weil ein CDU-Land- über die Verhandlungen informiert und
rungspartei, da ist noch sehr viel Ideolo- tagsabgeordneter Homosexualität indirekt mit ihnen diskutiert. Bei unserem kleinen
gie im Spiel und sehr viel Träumerei.“ als Krankheit dargestellt und Muslimen Parteitag gab es dann ein einstimmiges
Herr Bouffier, wissen Sie, von wem der unterstellt hat, die Weltherrschaft ergreifen Ergebnis für den Koalitionsvertrag mit
Satz stammt? zu wollen. Jetzt steht im Koalitionsver- den Grünen. Was kann überzeugender
Bouffier: Der könnte von mir sein. trag, dass schwule Jugendliche bei ihrem sein? Die erste Empfehlung für Schwarz-
SPIEGEL: Erinnern Sie sich auch, wann Sie Coming-out unterstützt werden sollen und Grün nach der Landtagswahl kam übri-
ihn gesagt haben? Muslime einen wertvollen Beitrag zum gens aus dem Kreisverband Fulda.
Bouffier: Das muss lange her sein. Zusammenhalt der Gesellschaft leisten. SPIEGEL: Sie haben für die CDU auch im
SPIEGEL: Es war im Sommer 2012, in einem Was ist von der Hessen-CDU, diesem kon- Bund verhandelt. Warum hat in Hessen
Interview der „Süddeutschen Zeitung“. servativen Kampfverband, noch übrig? Schwarz-Grün geklappt – und im Bund
Vorige Woche, knapp eineinhalb Jahre Bouffier: Das war die Meinung eines nicht?
später, haben Sie einen Koalitionsvertrag Abgeordneten, nicht die der hessischen Bouffier: Mein Eindruck bei den Sondie-
mit den Grünen unterschrieben. Was hat CDU. Sie überzeichnen das Bild unserer rungen im Bund war: Die Grünen waren
sich geändert? Partei. Aber die hessische CDU kann nur noch nicht so weit. In den Gesprächen
Bouffier: Keine der Wunschkoalitionen verstehen, wem bewusst ist, dass wir hier konnte man die Angst, dass wir es tatsäch-
bekam eine Mehrheit, deshalb haben wir über vier Jahrzehnte lang ohne Unterbre- lich ernst meinen, förmlich spüren. Ihre
mit Sozialdemokraten und Grünen lange chung in der Opposition waren. Da ist Unterhändler dachten, dass wir irgend-
zusammengesessen und sondiert. Wir die Erkenntnis gereift, dass wir nur eine wann sagen würden: Es geht nicht. Aber
wollen jetzt in Hessen eine stabile Regie- Chance haben, wenn wir zusammenhal- dieser Satz kam von der Union nicht.
rung mit den Grünen bilden. Der Weg ten. Wir kennen unsere Wurzeln und Tra- SPIEGEL: War’s das für Schwarz-Grün im
dahin war weit und außergewöhnlich, das ditionen, die werden wir nicht aufgeben, Bund?
stimmt schon. Aber die hessischen Grü- obwohl wir eine moderne Partei sind. Bouffier: Jedenfalls haben die Grünen eine
nen waren realistischer als ihre Kollegen SPIEGEL: Als die CDU im Bund über die Chance vertan. Ich sehe nicht, dass sich
von der Bundespartei. Am Abend der Gleichstellung der Homo-Ehe im Steuer- in den nächsten vier Jahren im Bund die
Bundestagswahl hat Tarek Al-Wazir … recht diskutierte, kam der schärfste Ge- Koalitionsfrage stellt.
SPIEGEL: … der hessische Grünen-Chef … genwind aus Hessen, vor allem von den SPIEGEL: Und wenn Vizekanzler Sigmar
Bouffier: … kritisiert, dass das Steuerer- Parteiorthodoxen aus Fulda, einer beson- Gabriel mit seiner SPD die Koalition plat-
höhungsprogramm der Grünen im Bund ders konservativen Parteigliederung. Wie zen lässt?
von vielen Menschen als Bedrohung überzeugen Sie Ihre Leute vom Bündnis Bouffier: Warum sollte er das tun? Er hat
wahrgenommen wurde und nicht als An- mit den Grünen? sich eine der wichtigsten Aufgaben vor-
gebot für eine gute Zukunft. Besser hätte genommen, die unser Land derzeit zu
ich das nicht sagen können. * Am 23. Dezember in Wiesbaden. vergeben hat. Er will die Energiewende
38 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

erfolgreich gestalten. Wenn er beweisen und werden erreichen, dass es leiser wird, hung gibt, in Hessen wollen Sie zum zwei-
will, dass er das kann, wird er die ganze und zwar durch Maßnahmen, die wir mit ten Mal innerhalb kurzer Zeit die Grund-
Legislaturperiode brauchen. dem Betreiber Fraport und der Flugsiche- erwerbsteuer anheben.
SPIEGEL: Gabriel musste noch vor kurzem rung gemeinsam ausarbeiten. Gegen jede Bouffier: Auch das ist uns nicht leicht-
viel Kritik einstecken. Erkennen Sie eine einseitige Anordnung von uns würden gefallen. Die Grünen wollten in ihrem
Parallele zu sich? Fraport oder die Fluggesellschaften sofort Regierungsprogramm sogar einen Wasser-
Bouffier: Ich sehe zumindest, wie schnell klagen. Dann hätten wir einen langen cent einführen, ein Entgelt für die Was-
es geht, vom Loser zur Lichtgestalt hoch- Rechtsstreit, aber für den Lärmschutz sernutzung; das hätte nicht nur Haus-
geschrieben zu werden. Nach der verlore- nichts erreicht. käufer getroffen, sondern alle Bürger. Ich
nen Bundestagswahl und nach dem ver- SPIEGEL: Sowohl Umwelt- als auch Wirt- glaube nicht, dass die Erhöhung der
korksten Parteitag in Leipzig war Gabriel schaftsverbände bezweifeln, dass Sie Ihr Grunderwerbsteuer um einen Prozent-
ein Parteichef auf Abruf – so haben es je- Versprechen halten können: mehr Wachs- punkt jemanden davon abhalten wird,
denfalls die Berliner Journalisten gesehen. tum für den Flughafen und zugleich we- eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen.
Zwei Wochen später gilt er ihnen als Mann, niger Lärm für die Anwohner. SPIEGEL: Sie haben auch am Koalitionsver-
der in die Annalen der Sozialdemokratie Bouffier: Das geht, mit intelligenten Lö- trag mit der SPD im Bund mitgearbeitet.
eingeht wie vor ihm nur Willy Brandt. sungen. Entscheidend sind auch leisere Sind Sie der Meinung des CSU-Chefs
SPIEGEL: Auch Sie galten vor der Land- Horst Seehofer, dass es Ausnahmen beim
tagswahl als Auslaufmodell. Mindestlohn geben muss?
Bouffier: Persönlich habe ich mich nie so Bouffier: Ja. Der Mindestlohn ergibt zum
gesehen. Ich nehme wahr, dass der SPIE- Beispiel für Schüler und Studenten kei-
GEL ein Interview mit mir interessant nen Sinn, ebenso wenig für Rentner, die
findet. Aber ich übe mich auch in Demut, sich durchs Zeitungsaustragen etwas da-
weil ich weiß: Das kann schnell wieder zuverdienen möchten. Hier würden Ar-
anders sein. beitsplätze vernichtet. Wir stehen zu dem,
SPIEGEL: Wenn Schwarz-Grün in Hessen Er- was im Koalitionsvertrag steht. Aber man
folg hat: Wäre das ein Signal für den Bund? muss auch darüber nachdenken, ob der
Bouffier: Wir haben hier eine Lösung für Mindestlohn vernünftig ist, wenn er aus-

RALPH ORLOWSKI / REUTERS


Hessen, das ist keine Blaupause für den nahmslos für alle gelten soll.
Rest der Welt. Aber wenn wir hier Erfolg SPIEGEL: Ist ein Koalitionsvertrag gut,
haben, hat das natürlich Auswirkungen. wenn wenige Tage nach dem Abschluss
Hier kommen zwei Parteien mit einem schon über seine Inhalte gestritten wird?
sehr klaren Profil zusammen. Wenn wir Bouffier: Ich weiß, dass es hier unterschied-
in Hessen in der Lage sind, erfolgreich liche Auffassungen gibt, und beide Seiten
zusammenzuarbeiten – warum soll das müssen sich jetzt verständigen. Das wer-
im Bund nicht klappen? den wir mit den Sozialdemokraten tun.
SPIEGEL: Sind die Grünen inzwischen eine
bürgerliche Partei?
„Wenn wir in Hessen erfolg- SPIEGEL: Einerseits werden Sie in der
CDU-Spitze gelobt, weil Sie gerade
Bouffier: Jedenfalls stammen viele ihrer reich zusammenarbeiten – das Zukunftsbündnis Schwarz-Grün ge-
Wähler aus dem bürgerlichen Milieu im schmiedet haben. Andererseits findet sich
besten Sinne. Ob die Grünen deswegen
warum soll das im Bundeskabinett zum ersten Mal seit
schon eine bürgerliche Partei sind? im Bund nicht klappen?“ Jahrzehnten kein Minister aus Hessen.
SPIEGEL: Viele Kernkompetenzen, auf die Wie passt das zusammen?
Volker Bouffier
bürgerliche Wähler Wert legen, haben Sie Bouffier: Darüber freuen wir uns natürlich
in der Regierung den Grünen überlassen: nicht. Wir haben eine Große Koalition,
Wirtschaft, Infrastruktur, Straßenbau, Flugzeuge. Deren Einsatz kann man da gibt es von unserer Seite nur wenige
Verkehr, Landwirtschaft. durch ein kluges Kostenmanagement be- Plätze im Kabinett zu vergeben. Wir sind
Bouffier: Das ist uns nicht leichtgefallen. schleunigen: Je leiser das Flugzeug, desto trotzdem gut in Berlin vertreten, unter
Es war ein schwieriges Ringen. Aber in geringer die Landegebühren. Dadurch anderem durch den neuen CDU-General-
dem Ergebnis liegt auch eine Chance: lohnt es sich für die Fluggesellschaften, sekretär Peter Tauber.
Wir können zeigen, dass wir als Union auf modernere Maschinen umzurüsten. SPIEGEL: Bleiben Sie dabei, dass Sie die
viel breiter aufgestellt sind, als mancher SPIEGEL: Diese Umrüstung kann Jahrzehn- vollen fünf Jahre als Ministerpräsident
glaubt. Und die Grünen können zeigen, te dauern. Der künftige grüne Verkehrs- absolvieren wollen?
dass sie in der Lage sind, ein starkes Indu- minister Al-Wazir steht aber unter Druck, Bouffier: Aber ja. Ich werde 67 Jahre alt
strieland verantwortlich mitzugestalten. schon bald deutliche Verbesserungen sein, wenn die Legislaturperiode zu Ende
SPIEGEL: Die Wirtschaft ist noch skeptisch beim Lärm vorweisen zu müssen. Werden ist. Das passt.
gegenüber Ihrer Koalition. Dem Frank- Sie intervenieren, wenn er doch zu här- SPIEGEL: Und wann werden Sie anfangen,
furter Flughafen drohen Sie mit Plan- teren Mitteln greift? einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin
änderungen und veränderten Betriebs- Bouffier: Der Vorstandschef der Fraport aufzubauen?
genehmigungen, wenn es nicht leiser hat zugesagt, dass wir schon 2014 längere Bouffier: Jetzt geht es darum, unsere Ko-
wird. Bis vor kurzem hat Ihre Regierung Lärmpausen am Flughafen erreichen kön- alition zu einem Erfolg zu machen. Über
behauptet, da sei überhaupt nichts zu nen. Und für die Koalition gilt: Wir sind alles andere reden wir später.
machen, weil die Betriebszeiten am Flug- eine gemeinsame Regierung. Was wir ma- SPIEGEL: Also volle fünf Jahre – Ehren-
hafen verbindlich festgelegt seien. chen, werden wir gemeinsam besprechen wort?
Bouffier: Es ist nicht unsere Absicht, Ge- und vertreten. Auch in denjenigen Berei- Bouffier: Auf solche Fragen gibt es kein
nehmigungen und den Plan zu ändern. chen, die grüne Minister zu verantworten Ehrenwort. Churchill hat einmal gesagt:
SPIEGEL: Im Koalitionsvertrag steht es haben, wird es keine Revolutionen geben. In der Politik ist eine Woche eine lange
anders. SPIEGEL: Schon jetzt muten Sie Ihren An- Zeit. Jetzt gehen wir hier erst einmal an
Bouffier: Da steht drin, dass wir uns dies hängern einiges zu. Im Bund hat die CDU die Arbeit. INTERVIEW: MATTHIAS BARTSCH,
als letztes Mittel vorbehalten. Wir wollen versprochen, dass es keine Steuererhö- PETER MÜLLER

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 39
wegen Steuerhinterziehung und nicht-
gezahlter Beiträge zur Sozialversiche-
rung. Schon der Chicagoer Gangsterboss
Al Capone wurde einst wegen Steuerhin-
terziehung und Geldwäsche zur Strecke
gebracht.
Auf die Idee kam Hendrik Timmer,
Staatsanwalt in Kleve. Und er hatte damit
Erfolg. Im Mai verurteilte das Landgericht
Kleve beide Angeklagten zu Freiheitsstra-
fen. Inzwischen hält Timmer schon Semi-
nare zu dem Thema, war bei der Kölner
Polizei und sogar beim Bundeskriminal-
amt.
Timmers Kniff hat bundesweit zu Un-
ruhe in der Rotlichtszene geführt. Bor-
delle, Laufhäuser und Saunaclubs sind
oft so organisiert, dass die Prostituierten
dort – angeblich oder tatsächlich – als
Selbständige arbeiten. Dieses verbreitete
Geschäftsmodell steht nun auf der Kippe.
Nach dem Klever Urteil haben Verteidi-
gung und Staatsanwaltschaft Revision
beim Bundesgerichtshof eingelegt. Dann
könnte höchstrichterlich entschieden wer-
den, wann Prostituierte in Puffs und Sau-
naclubs rechtlich wie Arbeitnehmerinnen
zu behandeln sind.
Mit käuflichem Sex werden in Deutsch-
land Milliarden Euro umgesetzt. 2002
wollte die rot-grüne Bundesregierung
Prostitution aus der Illegalität holen und
die Rechte von Huren stärken. Prostitu-
tion ist seitdem nicht mehr sittenwidrig;
Zuhälterei nur noch strafbar, wenn sie
NORBERT ENKER / DER SPIEGEL

ausbeuterisch, kupplerisch oder dirigis-


tisch stattfindet.
Deutschland ist zum Ziel von Sextou-
risten geworden, weil anderswo die käuf-
Ankläger Timmer liche Liebe nicht so einfach zu haben ist.
Ein Großteil der Prostituierten hierzu-
lande sind junge Frauen aus Osteuropa.
Viele von ihnen werden von Schleppern
PROSTITUTION angelockt, Ermittler vermuten unter ih-

Olgas Buchführung
nen Opfer von Menschenhandel. Polizei
und Justiz beklagen, dass sie kaum gegen
Missstände im Prostitutionsgewerbe an-
kommen. 2011 wurden gerade einmal 32
Personen wegen Zuhälterei verurteilt; we-
Ein Staatsanwalt in der niederrheinischen Provinz geht gegen gen Menschenhandels waren es 121.
Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug in Die Regierung hatte bei ihrem Gesetz
von 2002 selbstbestimmte, selbständige
Bordellen vor – und versetzt die Rotlichtszene in Aufregung. Sexarbeiterinnen vor Augen. Sie sollten
ihren Lohn einklagen können und in die

O
lga G. ist eine penible Buchhalte- versteckt hatte, ordentlich verpackt in Renten-, Kranken- und Arbeitslosenver-
rin. Jeden Tag notierte sie in ihren Plastiktüten, teilweise unter ihrem Wasch- sicherung einzahlen. Diese Gruppe ist
karierten Kladden Tageseinnah- becken. Dort wurden sie gefunden, als eine verschwindend kleine Minderheit ge-
men und -ausgaben, die Art der Dienst- im März 2012 eine der größten Polizeiak- blieben – 44 offiziell als Prostituierte bei
leistungen und deren Dauer. tionen stattfand, die es je am Niederrhein der Sozialversicherung angemeldete Frau-
Die blonde Russlanddeutsche war jah- gegeben hat: 250 Beamte – eine schwer- en gibt es in ganz Deutschland.
relang Puffmutter in Emmerich am Nie- bewaffnete Spezialeinheit vom Zoll, die Als Staatsanwalt Timmer das Verfah-
derrhein und erledigte für ihren bosni- Steuerfahndung, Polizei und Staatsan- ren gegen die Betreiber des Fun Garden
schen Lebensgefährten Esed D. die Buch- waltschaft – durchsuchten die Etablisse- und der Villa Auberge vorbereitete, fand
führung. In zwei Ausführungen – eine ments Fun Garden und Villa Auberge so- er Belege, dass einige der Frauen in den
mit geringen Summen fürs Finanzamt, wie die Wohnungen der 40-Jährigen und Etablissements Opfer von Menschenhan-
eine andere mit viel höheren Beträgen ihres 53-jährigen Partners. del waren und zur Prostitution gezwun-
für die private Tasche. Auf Grundlage der Aufzeichnungen gen wurden. Doch er stieß auch auf die
Dumm nur, dass sie die DIN-A5-Hefte packt die deutsche Justiz Bordellbetrei- bekannten Probleme. Die betroffenen
mit der doppelten Buchführung zu Hause ber einmal von einer anderen Seite an: Frauen, das wurde ihm schnell klar,
40 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

würden ihm kaum helfen können. „Viele fang der Dienstleistungen mussten Freier Esed D. wurde zu fünf Jahren und neun
haben Angst auszusagen.“ ein „Stichgeld“ entrichten, von 50 Euro Monaten Gefängnis verurteilt, seine Le-
Timmer kommt aus der Wirtschafts- aufwärts. Einen Teil dieses Betrags durf- bensgefährtin und Geschäftspartnerin we-
abteilung der Staatsanwaltschaft. Als er ten die Frauen behalten. gen Beihilfe zu zweieinhalb Jahren.
Olga G.s Buchführung sah, fand er einen Timmer und seine Kollegen fanden Be- Das Modell sei in der ganzen Branche
Dreh, um erfolgreich gegen die Betreiber lege, dass Frauen nicht aus freien Stücken üblich, sagt Olga G.s Verteidiger Andreas
vorzugehen. „Im Kern geht es um die ins Bordell gekommen waren. Olga G. Kost. „Sie haben sich nie als Arbeitgeber
Frage: Arbeiten die Prostituierten als hatte in einem ihrer Hefte mehrmals die gefühlt.“ Beide Bordelle seien vom Zoll
Selbständige? Wenn nicht, muss ihr Ar- Ausgaben für neue Kräfte notiert; etwa und der Gewerbeaufsicht kontrolliert
beitgeber im Bordell Steuern entrichten „2000 Euro für vier ungarische Mädchen“. worden. Auch das Finanzamt habe sich
und Beiträge für die Sozialversicherung Das Geld für die mutmaßlichen Schlep- mit zehn Euro pro Tag und Frau zufrie-
abführen.“ perdienste mussten die jungen Frauen ab- dengegeben.
Puffmutter Olga G. und ihr Partner be- arbeiten. Wegen der Schwierigkeiten, Steuern
teuerten, dass die Frauen selbständig bei Von etwa 200 Frauen, die die Polizei im Rotlichtgewerbe einzutreiben, hatten
ihnen gearbeitet hätten. Bis zu 1000 Frau- identifizieren konnte, fanden nur einige Finanzbehörden in vielen Kommunen be-
en sollen es zwischen 2005 und 2011 ge- den Mut auszusagen. Sie seien mit fal- schlossen, dass Bordellbetreiber einen
wesen sein, und sie sollen in diesem Zeit- schen Versprechungen nach Deutschland Pauschalbetrag für jede Frau abführen
raum weit mehr als 60 000 Freier bedient gelockt und mit Schlägen gefügig ge- können – eine Vorauszahlung auf ihre
haben. Große Schilder in beiden spätere Steuererklärung. Das wa-
Puffs sollten den Männern sug- ren am Niederrhein zehn Euro.
gerieren, dass dort selbständige In der Realität nahmen die Be-
Sexarbeiterinnen Hand anlegten, treiber in den Emmericher Be-
die sogar ihre Preise eigenstän- trieben den Frauen zwar das
dig festgelegt hätten. Geld ab, reichten es aber nicht
Olga G.s Kladden ließen aber immer ans Finanzamt weiter.
andere Schlüsse zu. Da gab es Und korrekte Steuererklärungen
einen Strafgeldkatalog für die hat auch kaum eine der Damen
Frauen: 50 Euro, wenn sie zu abgegeben.
spät ihre Schicht antraten, 10 Dennoch sagt Anwalt Kost:
Euro, wenn sie die Küche nicht „Die angebliche Scheinselb-
aufgeräumt hatten, oder 100 ständigkeit hat im Umgang mit

MARKUS VAN OFFERN


Euro, wenn eine nicht mehr den Behörden vor Ort nie eine
arbeiten wollte oder konnte. Rolle gespielt.“ Er sieht in dem
Es war ihnen verboten, von Einsatzkommando in Emmerich am Rhein 2012 Urteil des Landgerichts den
sich aus die Kunden anzuspre- Versuch, „die Branche in den
chen, und sie durften auch keinen Griff zu kriegen“. Holger Rettig
Mann ablehnen. Über den Erfolg vom Unternehmerverband Ero-
ihrer Dienste wurde ebenfalls tik Gewerbe sorgt sich um die
Buch geführt. Für jeden Freier, Auswirkungen der Gerichtsent-
der die Huren nach getaner Ar- scheidung. „Das Urteil der Kle-
beit in einem Fragebogen benote- ver Richter betrifft mehr oder
te, gab es Fünf-Euro-Gutschriften. weniger alle, die solche Prostitu-
Mitentscheidend für die Justiz tionsstätten betreiben.“ Er habe
war, dass keine der Frauen in den sich schon an die Rentenver-
beiden Clubs ein eigenes Zim- sicherungsträger gewandt, „die
mer hatte. Olga G. oder eine sollen Kriterien aufstellen, wann
Thekenkraft wiesen die Zimmer eine Tätigkeit sozialversiche-
zu. In den Notizen finden sich rungspflichtig ist“.
dazu Uhrzeiten, Zimmernum- Staatsanwalt Timmer hat trotz
FUN-GARDEN.DE

mern und ein Schrägstrich oder seines Erfolgs Revision gegen das
ein Kreuz – was für eine halbe Urteil eingelegt. Er stört sich dar-
oder eine ganze Stunde steht. an, dass Olga G. als Gehilfin und
Durchschnittlich 1300 Euro Website-Auftritt des Fun Garden 2012: „Täglich neue Girls“ nicht als Mittäterin verurteilt
zahlten die Frauen monatlich wurde. Hauptsächlich hofft er
den Bordellbetreibern. Teilweise mussten macht worden. Pass und Mobiltelefon aber auf eine höchstrichterliche Entschei-
sie auch für den eigenen „Eintritt“ in die mussten einige gleich nach der Ankunft dung zu den Kriterien, nach denen die
Saunaclubs aufkommen – 50 Euro pro in den Bordellen abgeben. Ein paar we- Selbständigkeit der Prostituierten zu be-
Tag. Für fünf und später zehn Euro durf- nige deutsche Frauen sagten aus, dass sie stimmen ist.
ten sie in einem der Zimmer schlafen, freiwillig im Puff arbeiteten. In Emmerich am Rhein hat das Urteil
wenn keine Kunden da waren. Gearbeitet Am Ende zeigt sich erneut, wie schwer des Landgerichts allerdings bisher wenig
wurde in Schichten, etwa von 13 Uhr bis es ist, Menschenhandel vor Gericht zu bewirkt: Der Verkehr im Fun Garden
6 Uhr morgens. belegen. Zwölf Fälle hatte Timmer ange- kam nur während der Durchsuchungs-
Die Kundschaft in Emmerich kam auch klagt, in nur zwei Fällen wurde Esed D. aktion kurz zum Erliegen. Ein neues
aus den benachbarten Niederlanden. Ein- schuldig gesprochen. Mit seinem Steuer- Etablissement verspricht „täglich eine
mal über den Rhein – und schon war man kniff war der Ankläger erfolgreicher. Das Vielzahl an internationalen Girls Ü21“.
im „Garten der Lüste“, wie der Fun Gar- Gericht stellte fest, dass die Betreiber Es nennt sich Sun Temple und behauptet:
den für sich warb, mit „nahezu täglich Steuern hinterzogen und Sozialversiche- Die „weiblichen Gäste sind selbständig
neuen Girls (18+)“ und einer Happy Hour rungsbeiträge nicht gezahlt hätten, im- und bieten ihre Dienste auf eigene Rech-
am Nachmittag für 35 Euro. Je nach Um- merhin in Höhe von 4,1 Millionen Euro. nung an“. BARBARA SCHMID

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 41
PICTURE-ALLIANCE / DPA
Nationalsozialisten Rosenberg (l.), Hitler 1923: „Tiefster Kopf der Bewegung“

vaten Ermittlern nachgegangen. Im Juni


ZEITGESCHICHTE übergab die US-Zollbehörde die Doku-

„Rechts vom Führer“


mente dem Museum. Nun sind sie erst-
mals vollständig einsehbar.
Zwar muss die Geschichte des Zweiten
Weltkriegs nicht neu geschrieben werden.
Die Tagebücher ermöglichen aber einen
Das Tagebuch des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg umfassenden Blick in die dumpfe Gedan-
dokumentiert dessen dumpfe Gedankenwelt und kenwelt des Mannes, in dem Wissen-
schaftler seit langem den Chefdenker der
bietet Einblicke in den zerstrittenen Führungszirkel Hitlers. nationalsozialistischen Bewegung sehen.
Seine Notizen, alle handschriftlich, do-

A
ls um ihn herum die Welt im Rosenberg fest und konfiszierten wenig kumentieren nicht nur die ambivalente
Chaos versank, sinnierte Alfred später seine Aufzeichnungen. In den Liebe des NS-Ideologen zum „Führer“
Rosenberg über Rilke: „Welch Nürnberger Prozessen wurde der ehema- und seinen fanatischen Hass auf das
eine ferne, in manchem aber doch wie- lige Reichsminister 1946 unter anderem Judentum. Sie bieten auch Einblicke in
der anregende Welt“, schrieb der Reichs- wegen Verbrechen gegen die Menschlich- den zerstrittenen Führungszirkel Adolf
minister am 3. Dezember 1944 in sein keit zum Tode verurteilt und erhängt. Hitlers. Was Forscher rückwirkend mit
Tagebuch. Rainer Maria Rilkes „Briefe Seitdem galten die meisten seiner Klad- dem wissenschaftlichen Etikett der Poly-
aus Muzot“ zeigten „menschlich schöne den als verschollen – mehr als sechs Jahr- kratie veredeln, dem Nebeneinander von
Seiten“ und beinhalteten „die geistige zehnte lang. wetteifernden NS-Chargen, stellt sich bei
Aussprache mit Menschen“. Erst im Sommer 2013 entdeckten ame- Lektüre des Tagebuchs als kleingeistiger
Viele Bücher waren Rosenberg nicht rikanische Fahnder die jetzt vorliegenden Hahnenkampf dar. Joseph Goebbels? Ein
geblieben. Ein Jahr zuvor hatten alliierte 425 Seiten. Ein Ankläger aus den Nürn- Mann, der Minister spielt. Hermann Gö-
Bomben seine Villa in Berlin-Schmargen- berger Prozessen, Robert Kempner, hatte ring? Erledigt die laufenden Regierungs-
dorf zerstört. Aus der Bibliothek seien sie nach den Gerichtsverhandlungen kur- geschäfte nicht richtig. Joachim von
„nur noch Reste“ herausgeholt worden, zerhand mitgenommen. Dass Rosenbergs Ribbentrop? Zu großspurig und ohne
schrieb Rosenberg, alle „zerrissen, ver- Manuskript wiedergefunden wurde, ist politische Gesinnung. Rudolf Heß? Magen-
beult, noch immer voller Mörtelstücke auch auf Recherchen des SPIEGEL zu- leidend und entscheidungsschwach.
und Glassplitter“. Der Tagebucheintrag rückzuführen. Den Hinweisen, die ein So groß Rosenbergs Verachtung für
vom 3. Dezember blieb der letzte. Mitarbeiter entdeckt hatte, war das Wa- seine Mitstreiter war, so klein blieben die
Fünf Monate später kapitulierte Nazi- shingtoner Holocaust Memorial Museum Selbstzweifel. Er, der Nationalsozialist
Deutschland. Alliierte Truppen nahmen mit Hilfe von Staatsanwaltschaft und pri- der ersten Stunde, rühmte sich seiner Teil-
42 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

nahme am gescheiterten Putschversuch satzstab in Frankreich geraubte Kunst- und überlastet“, schrieb er im Juli 1943. Der
der Nazis 1923 („mit der Pistole in der Kulturgut begutachtet hatte, notierte er „Führer“ werde nur „sehr einseitig unter-
Hand“), genoss später bei Banketts den stolz: „Die Kunstschätzer beziffern den richtet“. So vermisse das Volk „eine dau-
Sitzplatz neben Hitler („rechts vom Füh- Wert auf nahezu 1 Milliarde Mark!“ ernd feste Führung“.
rer“) und war stolz auf die eigene histo- Einen Monat später organisierte er eine Die Macht im Osten musste Rosenberg
rische Bedeutung („ein Stück Geschichte „antijüdische Tagung“ in Frankfurt am zu seinem Unmut nicht nur mit Reichs-
der n.s.-Revolution“). Main. Es sei „das erste Mal in der euro- führer-SS Heinrich Himmler teilen („Ich
Seinen Mentor Hitler lernte der Archi- päischen Geschichte“, schrieb Rosenberg, habe nicht 20 Jahre ein Problem bear-
tekt aus dem baltischen Reval 1919 kennen. dass zehn europäische Nationen planten, beitet, um Herrn Himmler zu ,beraten‘“),
Kurz darauf trat er der NSDAP bei. 1923 „diese Rasse aus ganz Europa auszuson- sondern auch mit dem berüchtigten
wurde er Chefredakteur des national- dern“. Und jetzt stehe „auch die Macht Reichskommissar und Gauleiter Erich
sozialistischen Parteiorgans „Völkischer hinter dieser Einsicht in eine geschicht- Koch: Der sei ein „Musterbeispiel wild-
Beobachter“. Historiker vermuten, dass liche Notwendigkeit“. gewordenen Spießbürgertums“ und gera-
es seine Hetzartikel über den jüdischen Seinen Wahn von der Vernichtung des de geeignet „für die Schweinezucht“, ätz-
Charakter des Bolschewismus waren, die europäischen Judentums konnte der Anti- te Rosenberg. Sein ernüchtertes Fazit:
Hitlers Glauben an die Existenz „Alles Mögliche tobt sich in der
einer „jüdisch-bolschewistischen Ostpolitik aus.“
Weltverschwörung“ festigten. Auch die Liebe des Chef-
Rosenberg war ein enger ideologen zu seiner Partei war
Vertrauter des „Führers“. 1930 längst abgekühlt. Die NSDAP
erschien sein Hauptwerk „Der verliere ihre Gestalt, hatte er
Mythus des 20. Jahrhunderts“. schon kurz nach Kriegsbeginn
Unter Historikern gilt das Buch befürchtet: zu viel parvenü-
als eine theoretische Grundlage hafte Protzerei und kleinbür-
für den Massenmord an den gerliche Schwächlichkeit.
europäischen Juden. Nach der Da das „Dritte Reich“ kurz
Machtübernahme der Nazis vor dem Zusammenbruch
machte Hitler seinen langjäh- stand, suchte Rosenberg nach

JENNIFER CORBETT / AP / DPA


rigen Gefolgsmann 1934 zum Schuldigen für die Misere –
„Beauftragten des Führers für und fand sie erneut bei den
die Überwachung der gesam- Männern um Hitler. Die seien
ten geistigen und weltanschau- „Schädlinge“ und betrieben
lichen Schulung und Erziehung eine Politik ohne Plan: „Keine
der NSDAP“. Sachlichkeit mehr, keine Stetig-
Zwei Jahre später, am 11. Au- Tagebuchseiten: Mehr als sechs Jahrzehnte lang verschollen keit und keine Kenntnis, weil
gust 1936, schrieb Rosenberg man dazu Mühe braucht.“
stolz, der „Führer“ habe ihn als „tiefsten semit schon bald in die Praxis umsetzen. Rosenbergs Hass entlud sich vor allem
Kopf der Bewegung“ und „Kirchenvater Im Frühjahr 1941 machte ihn Hitler zum an Propagandaminister Joseph Goebbels.
des Nationalsozialismus“ bezeichnet. Leiter des späteren Reichsministeriums Der lasse „Nigger-Musik wie sonst er-
Nachdem im November 1938 in Deutsch- für die besetzten Ostgebiete: „Rosenberg, tönen und echt-plutokratische Unter-
land die Synagogen gebrannt hatten, no- jetzt ist Ihre große Stunde gekommen!“ haltungsfilme einer weltstädtischen Film-
tierte der NS-Ideologe kühl: „Schaden an Der notierte gerührt: „20 Jahre antibol- industrie abrollen“. Goebbels sei „genau-
Volksgut: fast 2 Winterhilfswerke: 600 schewistischer Arbeit sollen ihre politi- so wie seine Produkte“. Auch die Partei
Millionen!“ sche, ja weltgeschichtliche Auswirkung empfinde bei dessen Treiben Resignation:
Ein Jahr später schloss Hitler mit Stalin erfahren.“ Hitler habe ihm „das Schick- „Muss denn erst alles Porzellan zerschla-
einen Nichtangriffspakt: „Ich habe das sal eines Raumes … mit 180 Millionen gen werden, ehe was geschieht!“
Gefühl“, schrieb Rosenberg, „als ob sich Menschen“ anvertraut, „einen Konti- Dass die deutschen Städte in Schutt
dieser Moskau-Pakt irgendwann am Na- nent“. Rosenberg stand im Zenit seines und Asche lagen, störte Rosenberg wenig,
tionalsozialismus rächen wird.“ Schließ- Erfolgs. im Gegenteil. Die Bombenangriffe auf
lich habe man die Sowjets „20 Jahre als Von nun an ging’s bergab. Berlin und Hamburg sah der fanatische
jüdisches Verbrechertum hingestellt“. Die verheerende Niederlage der Wehr- Nationalsozialist als Wink des Schicksals:
Doch Rosenberg ließ sich schon bald macht in Stalingrad 1943 war aus der „Angesichts dieser Vernichtung der Groß-
von Hitlers militärischen Erfolgen über- Sicht des Reichsministers eine „Katastro- städte erscheint mir für die Zukunft eine
zeugen. Polen wurde innerhalb kurzer phe“. Rosenberg resignierte zusehends. Chance für Wiederentdeckung des Länd-
Zeit besetzt, im Osten begann der deut- Seine Eifersucht auf die „Männer der lichen gegeben.“
sche Rassen- und Vernichtungskrieg. Am Praxis“ in Hitlers Umgebung wuchs. Dorthin, ins Ländliche, zog sich der
29. September 1939 schrieb Rosenberg, Der „Führer“ wandte sich nach und Reichsminister nun gern zurück. „Gestern
für den „Führer“ seien die Juden das nach von seinem Chefideologen ab. zum ersten Mal in meiner Blockhütte in
„Grauenhafteste, was man sich überhaupt Vorbei die Zeiten, als er Rosenberg als Michendorf übernachtet“, schrieb er im
vorstellen könnte“. Hitler wolle Polen „Torhüter des Ostens“ rühmte und mit Oktober 1944, „ein Bild tiefsten Friedens,
dreiteilen: „Zwischen Weichsel u. Bug: den Worten schmeichelte: „Sie sind doch während die Welt herum tobt.“
das gesamte Judentum (auch a. d. Reich) unser Theoretiker.“ Hitler gab seinem Einen Monat später resignierte Hitlers
sowie alle unzuverlässigen Elemente“. erfolglosen Reichsminister kaum noch Chefideologe offenbar vollends. Und er
Fortan beteiligte sich Rosenberg mit Gelegenheit zur Vorsprache. fand noch einmal große Worte. „Ich kann
dem ihm unterstellten „Institut zur Erfor- Rosenberg reagierte auf den Liebes- begreifen, dass ein Nietzsche in seiner
schung der Judenfrage“ und dem „Einsatz- entzug wie ein trotziges Kind. Seine kri- Welt verrückt wurde“, notierte er am
stab Reichsleiter Rosenberg“ an der Plün- tischen Sticheleien machten nun auch vor 12. November 1944, „er sah alles kommen
derung jüdischen Kulturguts in Europa. Hitler nicht halt: Der sei mit den „mili- und konnte es nicht ändern.“
Nachdem er im Januar 1941 das vom Ein- tärischen und außenpolitischen Fragen FELIX BOHR, AXEL FROHN

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 43
Deutschland

Gewaltopfer Yagmur Y.
Innerlich verblutet

Ermittler der Staatsanwaltschaft und In-


spektoren der Sozialbehörde klären.
Vermutlich war es eines der Kern-
probleme der Jugendhilfe in Deutschland,
das auch im Fall Yagmur in die Kata-
strophe führte. „Die ideologische Über-
höhung leiblicher Elternschaft macht
viele Richter blind für die Gefahren, die
Kindern von Eltern drohen können“, sagt
Thomas Böwer, Vizepräsident des Deut-
schen Familienverbands und langjähriger
Jugendhilfeexperte der Hamburger SPD.
Den präzise definierten Rechten leibli-
cher Eltern stünden eher diffuse Rechts-
normen zum Schutz gefährdeter Kinder
gegenüber (siehe Kasten).
Dass Eltern das Sorgerecht haben,
heißt noch nicht unbedingt, dass sie für
ihr Kind tatsächlich sorgen – diese Er-
fahrung musste auch Yagmur machen,
von Anfang an.
Kurz nach der Geburt erklärt ihre Mut-
ter, Melek Y., gegenüber dem Jugendamt,
sie fühle sich mit dem Kind überfordert
und wolle es in eine Pflegefamilie geben;
angeblich nur vorübergehend, das Sorge-
recht wolle sie behalten. Dabei konnte
die junge Frau schon für ihr erstes Kind

RUEDIGER GAERTNER / RUEGA


offenbar keine Verantwortung überneh-
men. Der Junge lebt bei ihren Eltern.
Yagmur ist nur wenige Tage alt, als sie
zu ihrer Pflegemutter kommt. Inés M.,
gelernte Modedesignerin, lebt und arbei-
tet im bürgerlich-betuchten Hamburger
Stadtteil Rotherbaum. Das Baby wird
zum Nesthäkchen der Pflegefamilie.
SORGERECHT Für den damals dreijährigen Sohn ist
es schon bald wie eine Schwester, und

Tödlicher Kompromiss auch Inés M. fehlt schnell jene Distanz,


zu der man ihr im Pflegeeltern-Crashkurs
des Jugendamts geraten hat: „Natürlich
wusste ich, als ich Yagmur bekam, dass
In Hamburg wurde ein dreijähriges Mädchen totgeprügelt. dies eine temporäre Angelegenheit sein
Eine Richterin hatte das Kind wieder zu den sollte. Aber mit jedem Tag ist sie mir
mehr ans Herz gewachsen. Wir wurden
Eltern geschickt, obwohl ein Jugendamt davor gewarnt hatte. ein eingeschworenes Team.“
Von Yagmurs Tod hat die 43-Jährige

A
nfang Mai wäre Yagmur noch zu Doch die Richterin, die am 7. Mai über aus den Medien erfahren. Vor fast einem
retten gewesen. Eine Familien- Yagmurs weiteren Lebensweg entschied, Jahr hatte sie das Kind zum letzten Mal
richterin am Amtsgericht Ham- einigte sich mit dem Anwalt der Eltern gesehen. Seitdem hielt sie zur Mutter via
burg-St. Georg hätte den Tod des Kindes und einer Expertin des Jugendamts auf Smartphone Kontakt. Mehrfach hatten
vielleicht verhindern können – und auch einen Kompromiss: die von Jugendhel- die beiden Frauen Treffen mit ihren Kin-
das Martyrium davor. fern begleitete Rückkehr des Kindes zu dern vereinbart, die Melek Y. immer wie-
Der Riss der Leber, der dazu führte, seinen leiblichen Eltern. der kurzfristig absagte.
dass das Mädchen am Morgen des Dabei lag ein Antrag auf Entziehung Vor drei Wochen schickte sie ein
18. Dezember in der Wohnung seiner des Sorgerechts seit Februar in den Akten. Handy-Video: Yagmur tanzt vor dem
Eltern innerlich verblutete, war nur Das Jugendamt Hamburg-Eimsbüttel hat- Fernseher zu türkischer Musik. Am Bild-
die schwerste vieler schwerer Verletzun- te ihn gestellt, weil die Staatsanwaltschaft rand: Melek Y., lachend.
gen, die Gerichtsmediziner bei der Ob- Hamburg gegen Yagmurs Eltern wegen Inés M. ist kaum zu verstehen, als sie
duktion entdeckten. Mehrere schlecht des Verdachts ermittelte, ihre Tochter die Szene schildert, so sehr muss sie wei-
verheilte Rippenbrüche, dazu Armfrak- schwer misshandelt zu haben. nen: „Als ich es zum ersten Mal sah, dachte
turen sowie Blutergüsse am gesamten Was die Beteiligten letztendlich dazu ich, sie wolle mir zeigen, dass Yagmur nun
Körper – all das lässt ahnen, mit welcher bewog, das Kind aus der Obhut des Ju- endlich in ihrer Familie angekommen ist.“
Brutalität die Dreijährige monatelang gendamts, der Sicherheit eines Kinder- In einer Familie mit einer Mutter, die
misshandelt wurde, mutmaßlich von ih- schutzhauses, in die Hölle seines elterli- gut ein Jahr lang, bis 2012, in einer Ob-
rem Vater. chen Heims zu überführen, müssen jetzt dachlosenunterkunft lebte; verheiratet
44 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
„Schockstarre“
behörden und Familienrichter in der
Regel stärker die Eltern, das verhin-
dert auch das Kinder- und Jugend-
schutzgesetz nicht. Das Elternwohl ist
jedoch oft nicht gleichzusetzen mit
Warum die Jugendhilfe in der Krise steckt dem Wohl des Kindes. Viele Pädago-
gen wünschen sich deshalb Regelun-
gen wie sie in den USA üblich sind.

I
n Deutschland sind die Eltern von Dort bekommen Eltern, denen ein un-
rund einer Million Kindern nicht ter dreijähriges Kind weggenommen
in der Lage, ihren Nachwuchs wurde, ein Jahr lang Zeit, ihr Leben
ohne Hilfe zu erziehen. Nach dem Wurden ambulante Hilfen früher ein mit Hilfsangeboten wieder in den
Tod der elfjährigen Chantal aus Ham- bis zwei Jahre lang für acht bis zehn Griff zu bekommen. Gelingt ihnen
burg 2012 beherrschte das Thema für Stunden pro Woche gewährt, erhalten das nicht, bleibt das Kind bei der
kurze Zeit die Medien. Wolfgang Familien heute in einigen Ländern nur Pflegefamilie.
Hammer, Abteilungsleiter der Kinder- noch drei Stunden wöchentlich. Im
und Jugendhilfe in der Hamburger Jahr 2010 wurden zwei von drei Hilfe-
Sozialbehörde, warnte Kollegen in maßnahmen nach nur einem Jahr wie-
anderen Bundesländern in einer Mail, der beendet, vor fünf Jahren war es
man dürfe nicht weiterwursteln „nach nur die Hälfte. Vielerorts gibt es zu- In Deutschland gibt es etwa 60 000
dem Motto ‚Alles wird gut‘“: Die Hil- dem keine Kombinationen aus ambu- Pflegekinder. Davon sind nur 14 000
fen zur Erziehung steckten in einer lanten und stationären Maßnahmen bei Menschen untergebracht, die ih-
Krise, die Jugendämter seien an Gren- mehr. Oft kommen Kinder in zerrüt- nen bereits vertraut waren. Das sind
zen gestoßen, die Situation sei „struk- tete Familien zurück – es sind Hilfen kaum mehr als 20 Prozent, in den
turell hoch gefährlich“. Der Appell ohne Langzeitkonzept. Niederlanden liegt der Wert bei 70
verhallte, wieder einmal. Die Jugend- Prozent. Im Durchschnitt kostet die
hilfe kostet den Staat rund sieben Mil- Unterbringung eines Kindes in einer
liarden Euro im Jahr. Acht Gründe, Wohngruppe 45 120 Euro im Jahr, den
warum dennoch immer wieder Kinder Pflegefamilien werden im Mittel nur
sterben: Viele Mitarbeiter der Jugendämter, so 14 206 Euro gezahlt. Studien zeigen,
hat es das Deutsche Jugendinstitut dass der Erfolg der Erziehung in
festgestellt, sind angesichts der Todes- Pflegefamilien wesentlich davon ab-
fälle in eine „Schockstarre“ gefallen. hängt, wie diese professionell von den
Sie hätten Angst, für Fälle wie Chan- Jugendämtern unterstützt werden.
Im Mittelpunkt der Jugendhilfe stehen tal verantwortlich gemacht zu werden. Ein Mitarbeiter des Jugendamts be-
drei Arten von Hilfe: die Erziehungs- Sozialarbeiter sind oft schlecht be- treut rund 50 Pflegekinder; Fachleute
beratung bei ersten Erziehungsproble- zahlt und von der Bürokratie zer- halten jedoch eine Zahl von maximal
men; die ambulanten Hilfen für Fami- mürbt. Viele ältere Mitarbeiter sind 30 für angemessen.
lien; schließlich die Vermittlung in der Arbeit mit schwererziehbaren
Pflegefamilien oder die Unterbrin- Kindern und Jugendlichen kaum ge-
gung in Kinder- und Jugendwohnun- wachsen. Gleiches gilt für Kräfte, die
gen, wie die früheren Heime heute gerade von der Hochschule kommen.
zumeist heißen. Derzeit bekommen Die Fachleute sind sich einig, dass
die Eltern jedes 17. Kindes unter 21 die Hilfen zur Erziehung reformiert
Jahren Unterstützung von Sozial- werden müssen, aber es gibt kaum
arbeitern. Aus der ehemaligen Für- Fortschritte. Einige SPD-regierte Bun-
sorge für gestrandete Kinder ist ein Nicht selten sind schon die Anamnesen desländer hatten ein Reformpapier
Reparaturbetrieb für die auseinander- ungenügend: Es fehlt an Wissen und vorgelegt, das offenbar in erster Linie
driftende Gesellschaft geworden. Kin- Zeit herauszufinden, warum Eltern darauf abzielte, Kosten zu reduzieren;
der sind die ersten Opfer der Proble- schlagen oder Kinder verwahrlosen. der Plan wurde verworfen. Jetzt liegt
me Erwachsener: Schulden, Sucht, Traditionell wird die Jugendhilfe in ein Entwurf der Arbeitsgemeinschaft
psychische Erkrankungen, exzessiver Deutschland überwiegend von kirch- der Landesjugendbehörden (AGJF)
Medienkonsum. lichen oder privaten Trägern geleistet. vor, in der unter anderem Fachleute
Für die Kommunen hat die Arbeitsauf- der zuständigen Ministerien zusam-
teilung zwei Vorteile: Sie können die menarbeiten. Die Hilfen zur Erzie-
Verantwortung abschieben und Kosten hung dürfe man nicht mehr als Für-
sparen, indem sie den günstigsten Trä- sorge verstehen, sie würden sich als
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ger beauftragen. „gesellschaftliche Zukunftsinvestition“
von 1990 gewährt Eltern ein Recht auf auszahlen, argumentiert die AGJF.
Hilfe, wenn sie mit ihrem Nachwuchs Kinder, denen geholfen wird, stünden
überfordert sind. Die damit verbun- später dem Arbeitsmarkt zur Ver-
dene Kostenexplosion haben in erster fügung und fielen nicht dem Staat
Linie die Kommunen zu tragen. Weil Es gibt zu wenig Abstimmung zwi- zur Last. Das sei effektiver, als sie
diese aber mit hohen Schulden kämp- schen Jugendhilfe und Gesundheits- dauerhaft in die Sozialsysteme zu ent-
fen, versuchen sie zu sparen. system. Zudem unterstützen Sozial- lassen. UDO LUDWIG, ANTJE WINDMANN

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 45
mit einem Mann, der als Schläger poli-
zeibekannt ist. Zwei Menschen, die im
Problemviertel Mümmelmannsberg ein
Kind großziehen wollen, das zwei Jahre
lang in behüteten Verhältnissen inklusive
privaten Kindergartens gelebt hatte.
Inés M. ahnt jene Zerrissenheit, die
unvermeidbar ist, wenn Welten zwischen
den Lebenswelten liegen. Aber es scheint,
als wolle sie davon nichts wissen; noch
immer nicht. „Die hatten doch eine Chance
verdient“, sagt sie – und es klingt wie eine
Beschwörung jener Geister, die sie gese-
hen und immer wieder verdrängt hat,
wenn Yagmur nach Besuchen bei ihren
leiblichen Eltern lädiert zu ihr zurückkam.
All die großen Hämatome und kleinen
blauen Flecke meldete die Pflegemutter
dem Jugendamt. Die leibliche Mutter hat-
te stets Erklärungen parat. Den Experten
im Amt genügten die Erzählungen offen-
bar. Beispielsweise die Mär, dass das Kind
im Schwimmbad mit dem Kopf an die
Wand geknallt sei. Oder die Geschichten
von der zwölfjährigen Nichte, die Yagmur
aus Unachtsamkeit fallen gelassen habe.
Aber Inés M. erinnert sich auch an
sogenannte Hilfeplangespräche, in denen
Melek Y. verwarnt worden sei. Die Mut-
ter müsse besser aufpassen, solche Unfäl-
le könnten die Rückführung des Kindes
gefährden. Misstrauisch sei sie dennoch
nicht geworden, sagt Inés M. Und wieder
weint sie, weil sie weiß, dass das nicht
stimmt. „Eigentlich ist es ganz einfach;
man muss sich das Kind ansehen, aber
FOTOS: RUEDIGER GAERTNER / RUEGA

das hat keiner getan.“


Dabei gab es auch andere Warnsignale.
Wann immer Melek Y. und ihr Mann
Hüseyin ihre Tochter abholen wollten,
um ein paar Stunden mit ihr zu verbrin-
gen, habe sich das Kind mit Händen und
Füßen gegen die Übergabe gewehrt: „Im
Kindergarten hatte sie sich bei den Er-
ziehern festgekrallt, zu Hause an mir.“ Eingang zum Tathaus, Yagmur mit Eltern
Im Herbst 2012 muss das Mädchen im „Man muss sich das Kind ansehen“
Rahmen der schrittweisen Rückführung
mehrere Tage bei seinen leiblichen Eltern nachdem sie an der Bauchspeicheldrüse
verbringen. Die Folge: Yagmur isst und operiert worden ist, in die Obhut des Ju-
trinkt nicht mehr. Sie kommt ins Kran- gendamts und lebt fortan in einem Kin-
kenhaus. Die Ärzte diagnostizieren eine derschutzhaus.
Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Wenige Wochen zuvor, am 11. Januar,
Auch als Yagmur wenige Tage nach ihrer hatten sich Inés M. und ihr Sohn im Kran-
Entlassung erneut eingeliefert wird, blei- kenhaus schweren Herzens von Yagmur
ben sie bei ihrem Befund. verabschiedet; endgültig und auf Bitten
Gut zwei Wochen später ist sie wieder des Jugendamts, weil das Kind mit psycho-
in der Klinik. Weil sie jetzt extrem schielt, somatischen Beschwerden auf den Wech-
wird der Rechtsmediziner Klaus Püschel sel zwischen zwei Familien reagiert habe.
hinzugezogen. Der stellt ein Schädel- M.s Anträge, ihr ehemaliges Pflegekind
Hirn-Trauma fest, das dem Kind offenbar besuchen zu dürfen, wurden abschlägig
ein Jahr zuvor gewaltsam zugefügt wor- beschieden. Ebenso ihre Bitte, Yagmur
den ist – und einen Riss der Bauchspei- ein Osterkörbchen ins Kinderhaus schi-
cheldrüse, den seine Kollegen im Kinder- cken zu dürfen. Der Antrag des Rechts-
krankenhaus allem Anschein nach zwei- anwalts Rudolf von Bracken, die damals
mal übersehen haben. Auch der Riss ist Zweijährige aus der Obhut des Jugend-
nach Ansicht des Experten eine Folge von amts in die ihrer leiblichen Eltern zu über-
Gewalt. führen, hatte dagegen Erfolg.
Püschel erstattet Anzeige, die Staats- Nun ist Yagmur tot, gestorben im Kreis
anwaltschaft ermittelt. Yagmur kommt, ihrer Familie. GUNTHER LATSCH

46 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Deutschland

fortan ihre Halbschwester gelebt, die ihr Ein alter Senator und Geheimrat will
LEGENDEN Vater mit der Kammerfrau gezeugt hatte. gar bei einem Spaziergang das Gesicht
Diese sei dann auch Herzogin von An- der Gräfin erhascht haben und bezeugte

DNA der goulême geworden und ruhe heute in eine auffällige Ähnlichkeit mit der fran-
dem Grab in Slowenien. Die echte Marie zösischen Königsfamilie.
Thérèse aber sei außer Landes gebracht Doch bewiesen ist nichts. Eine Ex-

Dunkelgräfin worden. humierung im Jahre 1890 brachte keine


Die Hildburghäuser haben Indizien für Erkenntnisse. Es fand sich die Leiche ei-
eine französische Herkunft ihrer myste- ner erwachsenen weiblichen Person; von
Der MDR will im riösen früheren Einwohnerin gesammelt. der Bekleidung war nichts mehr zu sehen,
thüringischen Hildburghausen Ihr meist stummer Begleiter, genannt der erhalten waren nur Reste eines Paars wei-
das Geheimnis einer Leiche Dunkelgraf, entpuppte sich nach seinem ßer Atlasschuhe.
Tode als französischer Diplomat. Seinen 2002 sollte das Grab erneut geöffnet
lüften: Im städtischen Wald wird Pass hatte Außenminister Charles Mau- werden, doch die Stadt stellte sich quer.
eine Königstochter vermutet. rice de Talleyrand höchstselbst unter- Er werde sich notfalls „vor das Grab le-
zeichnet. Im Nachlass der Gräfin habe gen“, um diese „Leichenfledderei“ zu ver-

A
m 7. Februar 1807, gegen Mitter- sich ein goldgefasstes Opalkollier mit hindern, verkündete Bürgermeister Stef-
nacht, fuhr ein eleganter vierspän- „zart, hineinzisilierten“ Lilien befunden. fen Harzer von der Linkspartei seinerzeit.
niger Reisewagen am Gasthaus Die Lilie war das Zeichen der Bourbonen. Nun, elf Jahre später, ist er begeistert:
„Zum Englischen Hof“ in Hildburghausen Auch an einem Schreibtisch wurde „das „So viel Berichterstattung hatten wir seit
vor. Eine tiefverschleierte junge Dame gesamte Bourbonenwappen mit der ty- 180 Jahren nicht mehr.“ Der Bürgermeis-
verließ die Kutsche und bezog die obere pischen Königskrone“ entdeckt. ter lobt den wissenschaftlichen Ansatz
Etage. Niemand kannte ihre des MDR und sieht vor seinem
Identität, ihre beiden Begleiter Bourbonen-Prinzessin Marie Thérèse geistigen Auge bereits einen
gaben sich schweigsam. „Busplatz für französische Reise-
30 Jahre lang lebte die Frau gruppen“.
mit ihrem Geheimnis am Rande Der Stadtrat hat der Exhumie-
des Thüringer Waldes. Wenn rung zugestimmt. Bei einem Bür-
man sie traf, war sie dunkel ge- gerentscheid votierten zwar 69
wandet und trug einen Schleier Prozent gegen die Grabung,
vor dem Gesicht. Kaum jemand doch die Wahlbeteiligung war zu
hörte sie je sprechen. Die Hild- gering. „Der Mythos wird dem
burghäuser nannten sie schließ- Kommerz geopfert“, klagt Dun-
lich die „Dunkelgräfin“. 1837 kelgräfin-Aktivist Karl-Heinz
wurde die mysteriöse Bewohne- Roß, ein Gegner der Exhumie-
rin anonym am Stadtberg begra- rung. Seine größte Sorge ist nun,
ben. Im Kirchenbuch ist der Ster- dass die Franzosen die Leiche
befall als Sophia Botta aus West- aus dem seit 176 Jahren liebevoll
falen eingetragen. gepflegten Grab am Stadtberg
Seit 200 Jahren wird in Thürin- nach Paris holen.
gen über die geheimnisvolle Frau Frühestens im Mai will der
gemunkelt: Sie entstamme in MDR das Geheimnis in einem
Wahrheit dem französischen Kö- Film lüften. Nur Eingeweihte
EIGENTUM KLOSTER DER ELISABETHINERINNEN KLAGENFURT (O.); B. GROSSMANN / STADTMUSEUM HILDBURGHAUSEN (U.)

nigshaus. Moderne Wissenschaft wissen bisher, dass die beauftrag-


soll nun Aufklärung bringen. Im ten Forscher im Grab die Über-
Oktober ließ der Mitteldeutsche reste einer Frau fanden, deren
Rundfunk (MDR) ausgraben, was Oberschenkelknochen kurioser-
von der Dunkelgräfin übrig ist. weise vertauscht waren und de-
Der öffentlich-rechtliche Sender ren Gebiss seiner Trägerin große
will klären lassen, ob die 1837 am Schmerzen bereitet haben muss.
Stadtberg begrabene Frau tat- Die Dame habe sich wohl mit
sächlich die bürgerliche Sophia Eitergeschwüren gequält und
Botta oder doch „Madame Ro- kaum essen können; die For-
yale“ war: Marie Thérèse, die äl- scher hätten bis auf die Wurzeln
teste Tochter des französischen sehen können. Möglicherweise
Königs Ludwig XVI. und seiner sei dies auch die Todesursache
Frau Marie Antoinette. der Gräfin gewesen.
Bisher gehen Historiker davon Die Experten haben nun aus
aus, dass Marie Thérèse in Slo- Teilen des Oberschenkelknochens
wenien bestattet ist. Doch die DNA extrahiert, die mit der ih-
Thüringer glauben an einen Prin- res mutmaßlichen Bruders Louis
zessinnen-Tausch zu Lebzeiten. Charles verglichen werden soll.
Die junge Frau sei nach dem Tod Dessen Herz war von Königstreu-
ihrer Eltern während der Fran- en gerettet und konserviert wor-
zösischen Revolution von einem den. Die Wissenschaftler wollen
Gefängniswärter geschwängert auch DNA lebender Personen
worden. Diese Schande habe mit heranziehen: von Nachfahren in
dem Tausch verschleiert werden weiblicher Linie des Hauses
sollen. Als Marie Thérèse habe Exhumierte Knochen: Von Eitergeschwüren gequält Habsburg. STEFFEN WINTER

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 47
Szene

Was war da los,


Herr Gillette?
Christopher Gillette, 26, Alligatoren-Bändi-
ger aus Florida, über seinen Platz in der Nah-
rungskette: „Keine Missverständnisse,
das ist kein gezähmter oder betäubter
Alligator. Der Bursche würde mich tö-
ten, wenn ich mich falsch verhielte. Ein
Freund von mir, der auch mit diesen Tie-
ren arbeitet, hat kürzlich seinen halben
Arm verloren. Mir ist außer ein paar
Kratzern zum Glück noch nichts passiert.
Alligatoren haben fast mechanische Ver-
haltensmuster, die muss man sehr genau
kennen, um nicht gebissen zu werden.
Ich arbeite in drei verschiedenen Tier-
parks in Florida, dort führe ich Alligato-
ren-Shows für Touristen durch. So habe
ich mir die Gebühren fürs College und
die Uni verdient. Ich bin nahe den Ever-
glades aufgewachsen, und schon als
Kind fing ich Eidechsen, Schildkröten
und Schlangen. Dann habe ich mich
hochgearbeitet bis zum Alligator. Dass
ich in der Nahrungskette unter ihm ste-
he, dass ich letztlich ein Stück Fleisch
bin für ihn, das macht den besonderen
HGM-PRESS

Reiz aus. Ob ich verrückt bin? Definitiv.


Sonst machst du den Job nicht.“ Gillette

Warum steht man Silvester so unter Druck, Herr Reimann?


Bruno Reimann, 70, ist emeritierter erntet Kopfschütteln bei den Nach- Reimann: Nein. Alle gesellschaftlichen
Professor für Soziologie an der barn. Andererseits ist der Druck, der Feiern waren in früheren Zeiten mit
Universität Gießen. heute auf solchen Ritualen lastet, in einem viel höheren Zwang verbunden.
unserer spätmodernen und individua- Ich denke an Kaiserfeiern. Oder an reli-
SPIEGEL: Herr Reimann, woher kommt lisierten Gesellschaft sehr viel geringer giöse Festtage in katholischen Gegen-
dieser Druck, aus Silvester die beste geworden, als er es in früheren Zeiten den. Dabei nicht mitzumachen war so
Party des Jahres machen zu müssen? war. gut wie unmöglich. Wir haben heute
Reimann: Die Menschen aller Gesell- SPIEGEL: Früher war Silvester also noch eine viel größere Selbstbestimmung.
schaften haben Rituale geschaffen, um anstrengender? Die Individualisierung hat dazu geführt,
die Zeit zu strukturieren. Geburtstage, dass gemeinschaftliche Feste wie Na-
Jahrestage, Jubiläen. Um dem Fluss tionalfeiertage an Bedeutung verlieren,
des Ewiggleichen zu entrinnen, während persönliche Feiern wie Ge-
segmentieren wir die Zeit. Silvester ist burtstage opulenter werden. Besonders
da ein ganz wichtiger Punkt. Man Kindergeburtstage werden von Eltern
braucht diese Wegmarken für die see- heute als Großereignisse organisiert.
lische Ökonomie. Und indem diese SPIEGEL: Ist das gut oder schlecht?
Rituale zu sozialen Tatsachen werden, Reimann: Ich halte das für einen
an denen alle teilhaben, entsteht die Fortschritt. Es deutet aber auch das
Erwartungshaltung: Das soll nun gefäl- Dilemma der Silvesterfeier an: Als
ligst ein großer Abend werden! persönliches Ereignis bleibt der Jah-
BRITTA PEDERSEN / DPA

SPIEGEL: Kann man sich dem entziehen? reswechsel für jeden bedeutsam.
Reimann: Schwerlich. Soziale Rituale Zur gemeinschaftlichen Feier aber
gehen mit Konventionen einher. Wer besteht im Grunde kein Anlass.
in Köln am Rosenmontag nicht mit- SPIEGEL: Schon mal an Silvester vor
lacht, dem geht’s schlecht. Wer zu Mitternacht zu Bett gegangen?
Silvester nie Raketen steigen lässt, Feuerwerk am Brandenburger Tor Reimann: So weit bin ich noch nicht.

48 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Gesellschaft

Dickes Ding
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum ein übergewichtiger Franzose in den USA feststeckte

A
ls der Franzose Kevin Chenais am cm breit. Kevin passt nicht hinein. Mitar- Mary 2“ stehen, so erzählt es die Familie.
2. Mai 2012 auf dem Flughafen beiter von British Airways schlagen ihnen Die „Queen Mary 2“ ist eines der größten
von Chicago landete, hoffte er, vor, am nächsten Tag zu fliegen, in einer Passagierschiffe der Welt. Sie benötigt
endlich im Paradies zu sein. Die Straßen größeren Maschine. Man würde der Fa- für die Überquerung des Atlantiks acht
waren breit, die Malls riesig, und überall milie eine Nacht im Hilton Hotel zahlen. Tage. Kevin fragt sich, ob er Europa in
sah er dicke Menschen. Er habe sich Kevin fügt sich. diesem Jahr noch wiedersehen werde.
sofort wohl gefühlt, sagt Kevin. Er wiegt Am folgenden Morgen fährt die Fami- Das nächste Schiff nach England legt
226 Kilogramm. lie erneut zum Flughafen. Sie setzen sich am 19. November ab. Kevins Eltern kau-
Die Ärzte in den USA wollten et- fen drei Tickets. Sie ziehen mit Kevin
was gegen seine Fettleibigkeit tun, die in ein Hotel in der Nähe des Hafens
von einer seltenen Stoffwechselkrank- von New York und warten.
heit verursacht wird. Er würde sich Zehn Tage vor der Abfahrt des
in die Mayo Clinic in Rochester, Min- Schiffs trifft bei ihnen eine E-Mail
nesota, begeben, so war sein Plan. Er ein. Eine Mitarbeiterin der Reederei
würde 18 Monate lang bleiben, um Cunard fordert weitere Informatio-
abzunehmen. In dieser Zeit, hoffte nen über Kevins Gesundheitszu-
Kevin, würde es ihm gelingen, seine stand. Die Familie wendet sich an
Würde zurückzuerlangen. Sein Vater das französische Konsulat in New
wollte ihn in die USA begleiten. York und bittet einen Arzt, ihrem
Kevin Chenais ist 22 Jahre alt, er Sohn die Seetauglichkeit zu beschei-
wuchs in einer kleinen Stadt mit nigen. Sie bekommen das Attest.
Äckern und Bäumen in Frankreich GARY STONE / BULLS / NEWS INTERNATIONAL Am 16. November, drei Tage vor
auf, an der Grenze zur Schweiz. Als der geplanten Abreise, entscheidet
Kind konnte er wegen seiner Krank- die Reederei, Kevin aus Sicherheits-
heit nicht regelmäßig zur Schule ge- gründen nicht mitzunehmen. Kevins
hen, er war zu Hause oft allein. Mutter beginnt zu weinen.
Die US-amerikanischen Ärzte, die Die Medien erfahren von dem Vor-
sich um ihn kümmern, erforschen fall, die Geschichte erscheint im lo-
Kevins Körper, sie unterziehen ihn kalen Fernsehen. Danach teilt eine
vielen Tests. Doch Kevin nimmt freundliche Frau der Fluglinie Virgin
nicht ab. Mit den Monaten in der Kli- Atlantic der Familie mit, dass sie
nik gehen die Ersparnisse der Fami- Chenais neun Sitze in einer Maschine anzu-
lie zu Ende, Kevins Visum läuft ab. bieten habe, kostenlos. Die Familie,
Schließlich muss er die Klinik verlas- sagt die Anruferin, tue dem Unter-
sen, zurück nach Hause. nehmen leid. Mitleid ist zwar nicht
Am 30. Oktober 2013 fliegt er mit das, was Kevin will. Aber er möchte
seinem Vater und seiner Mutter, die nach Hause.
gekommen sind, um ihn abzuholen, Drei Wochen später als geplant –
in einer kleinen Maschine von Ro- am 19. November – trifft die Familie
chester nach Chicago. Dort gehen in London ein. Sie will mit einem
die drei zum Schalter von British Air- Zug von Eurostar weiterreisen, doch
ways. Sie haben in einer Boeing 777 wegen der Sicherheitsvorkehrungen
für Kevin ein Ticket in der ersten Aus der „Welt“ im Eurotunnel befördert das Unter-
Klasse nach London gebucht. Die Sit- nehmen Kevin nicht. Eine Ambulanz
ze dort sollen 73,66 cm breit sein, so bringt ihn bis nach Ferney-Voltaire,
haben sie es im Internet gelesen. seine Heimatstadt in Frankreich.
Doch weil sie zu spät kommen, verpassen in eine Lounge. Eine Mitarbeiterin von Inzwischen wohnt Kevin mit seinen El-
sie die Maschine. Das Bodenpersonal von British Airways taucht auf und erklärt tern in einem Hotel. Ihr altes Haus in der
British Airways bucht die Familie auf den der Familie, dass man Kevin wegen seiner Nähe mussten sie verkaufen, um den Auf-
nächsten Flug um. gesundheitlichen Probleme doch nicht enthalt in Amerika bezahlen zu können.
In der Wartezone des Flughafens mitnehmen könne. Man werde drei wei- Kevin sitzt oft auf seinem Bett und
kommt eine Angestellte der Fluglinie auf tere Nächte im Hotel zahlen. schnitzt Figuren aus Holz, manchmal
sie zu. Sie fragt die drei, ob Kevin die an- Am Morgen danach informieren zwei fährt er auch in ein Einkaufszentrum.
deren Passagiere wegen seines Gewichts Mitarbeiterinnen von British Airways die Sein größter Wunsch ist es, zurück
stören würde. Seltsame Frage, findet Ke- Familie darüber, dass auch andere Air- nach Amerika zu fliegen. Die USA, sagt
vins Mutter. „Nein“, sagt sie. lines Kevin nicht transportieren würden. er, seien das einzige Land, in dem sich
Am Abend steigen die Eltern mit Kevin Sie reichen ihnen ein Stück Papier, auf Dicke unsichtbar machen können.
in eine Boeing 747. Die Sitze sind 53,34 dem die Abfahrtszeiten der „Queen KATRIN KUNTZ

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 49
Gesellschaft

E S S AY

Du sollst keine Fehler machen!


Die Grundschule erzieht unsere Kinder zu normierten Alleskönnern.
Plädoyer für die Rückkehr zur Langsamkeit. Von Hauke Goos

V
or einiger Zeit sollte meine Tochter in der Schule ein Schule stolz darauf, die Kinder adäquat aufs Gymnasium vor-
Bild malen, ein Selbstporträt; die Lehrerin wollte offen- zubereiten, was immer das heißt.
bar herausfinden, wie die Kinder sich selbst sehen. In dem Wort „adäquat“ steckt ein grundlegendes Missver-
Meine Tochter war damals sechs Jahre alt. Sie war gerade ständnis: die Annahme nämlich, die Grundschule sei lediglich
aus dem Kindergarten in die Vorschule gewechselt, ein dazu da, aus Kindern Gymnasiasten zu machen.
phantasievolles Kind, das sagten jedenfalls die Kindergärt- Die Grundschule ist zu einer Fabrik geworden, in der unsere
nerinnen, eigenwillig, etwas verträumt. Kinder tauglich gemacht werden, normiert, formatiert und sor-
Das Bild, das meine Tochter tiert, in der die Fleißigen und
von sich zeichnete, zeigt ein die Angepassten belohnt wer-
kleines Mädchen mit großen den und es alle anderen, die
braunen Augen und kurzen Zappeligen, die Neugierigen,
braunen Haaren. Vor dem die Verspielten, die Anstren-
Mund trägt es ein dreieckiges genden schwer haben.
Tuch. Eine Art Räubermaske, Aber Kinder sind kein Roh-
keine Ahnung, wie sie darauf material. Der Gedanke an die
kam. Verwertung, das Starren auf
Sie werde dieses Bild nicht die neuen Pisa-Zahlen, ist das
aufhängen, sagte die Lehrerin. größte Problem der Bildungs-
Meine Tochter müsse sich an politik. Der Zweck der Grund-
die Regeln halten. Sie solle ein schule ist nicht vorrangig die
neues Bild zeichnen, eines, auf Herstellung zukünftiger Abitu-
dem ihr Gesicht deutlich zu er- rienten.
kennen sei. Also malte sie ein Auch damals, bei meinen
zweites Porträt, es zeigt ein Söhnen, gab es Dinge, die uns
lachendes Mondgesicht. Das irritierten. Der Punktabzug in
Räubermaskenbild verschwand einem Referat etwa, mit viel
in ihrer Mappe. Liebe fürs Detail auf farbige
Dort fanden wir es am Ende Pappe gebracht, weil mein
der Vorschulzeit: ein Selbst- Sohn das Thema „Atomkraft“
porträt, das keines sein durfte. auf den Unfall in Tschernobyl
Dies war der Moment, in dem verengt hatte – und weil er für
wir anfingen, an der Schule zu Abgelehntes Selbstporträt eines sechsjährigen Mädchens den Text nicht das vorgesehene
zweifeln. Papier verwendet hatte.
Unsere beiden Söhne, heute Die zappeligen und neugierigen Trotzdem spornten wir die
zwölf Jahre alt, hatten dieselbe beiden an, wir mahnten und
Grundschule besucht: einen Schüler sind im forderten und lockten, endlose
langgestreckten Flachbau am Bildungssystem nicht vorgesehen. Nachmittage, manche Abende
Stadtrand Hamburgs, ehrgeizi- und Ferientage verbrachten
ge Eltern, engagierte Lehrer, wir über Mathe-Aufgaben,
große Ziele. Morgens werden die meisten Kinder mit dem Auto über Aufsätzen, Gedichten und Referaten. Wir lernten Voka-
zur Schule gefahren, nach dem Abschiedskuss stehen die Müt- beln und das Malrechnen, auf Autofahrten memorierten wir
ter noch für einen Augenblick zusammen und klagen darüber, die Hauptstädte sämtlicher Bundesländer.
wie viel den Kleinen abverlangt wird. Eine Mittelklasse-Grund- Meine Söhne stöhnten oft über das Pensum. Manchmal en-
schule in einer Mittelklasse-Gegend, mit Mittelklasse-Proble- deten Lernnachmittage in Tränen. Je mehr Zeit der Schulstoff
men. vom Nachmittag fraß, desto ungeduldiger wurden wir oft.
Meinen Söhnen jedenfalls hatte die Grundschule zunehmend Wenn die Grundschule schon so mühsam und unerfreulich war,
weniger Spaß gemacht. Anfangs bejubelten sie die kleinen dachten wir: Wie sollte es später dann auf dem Gymnasium
Abenteuer des Schulalltags, sie ließen sich verblüffen und ver- werden?
zaubern, sie freuten sich auf den Ausflug zum Bauernhof oder Im vergangenen Sommer stießen wir auf das Buch eines
zur Feuerwehr. Das Lernen war Spiel, keine Anstrengung. Kollegen. Henning Sußebach, Redakteur bei der „Zeit“, ist Va-
Das änderte sich. Spätestens in der dritten Klasse rückte die ter einer damals zwölfjährigen Tochter, das Mädchen geht aufs
weiterführende Schule ins Blickfeld, ihr kleines Schulleben Gymnasium, der Vater hat das Gefühl, dass vieles falsch läuft
kreiste nun um den Übertritt aufs Gymnasium. Das Tempo, an der Schule. Also hat er sich hingesetzt und seinem Kind
hieß es damals, ziehe „merklich“ an, augenscheinlich war die einen Brief geschrieben.
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Wir Eltern würden die ganze Kindheit beschleunigen, jeden Morgen zu unserer Grundschule fahren und jeden Mittag
schreibt Sußebach, immer mehr Stoff in immer weniger Zeit wieder abholen. Begründung: Unsere Schule arbeite „wissen-
stopfen. Wir könnten Wichtiges nicht mehr von Drängendem schaftlicher“ und bereite besser aufs Gymnasium vor.
unterscheiden. Weil wir alles für die Zukunft ausrichten wollten, Bei einem Elternabend, noch vor dem ersten Schultag, kam
schrumpfe die Gegenwart. Und weil wir gierig seien und die es zu folgendem Dialog: Die Schule, sagte die Lehrerin, sei
Zeit „vernutzten“, raubten wir unseren Kindern die Freizeit, mittags um 13.15 Uhr zu Ende. Andere Schulen machten erst
die Freiheit – und die Kindheit. um 13.30 Uhr Schluss, sagte eine Mutter. „Wo bleibt denn dann
Sußebach schrieb diesen Brief an seine Tochter unter dem die Viertelstunde?“ Wenn jeden Tag eine Viertelstunde fehle –
Eindruck des Gymnasiums. Ich glaube, dass die „Vernutzung“, wo packe man dann den Unterrichtsstoff hin? „Wann lernen
das Abrichten, die Eile und die Ungeduld, schon früher beginnt: die das denn?“
in der Grundschule, mitunter bereits in der Vorschule. Die Frage ist: Warum machen wir Eltern uns solchen Druck?
Ich dachte an die Tochter eines Bekannten, die bei ihrem Warum halten wir Leistungsorientierung für wichtiger als wirk-
ersten „Lernentwicklungsgespräch“, noch in der ersten Klasse, liches Verständnis des Stoffes, als menschliche Beziehungen?
mit ihrem Lehrer eine Art Vertrag schließen sollte: „Ich muss In Zeiten, in denen die durchschnittliche deutsche Frau ge-
schneller werden.“ rade noch 1,4 Kinder bekommt, trägt das Kind mehr denn je
Ich dachte an die Grundsätze der Schule, die so oder ähnlich zuvor zum Status bei: mein Haus, mein Auto, mein Kind.
die Grundsätze vieler Schulen in Deutschland sind: Begabun- Schwierigkeiten in der Schule, ein mittelmäßiges Abitur oder
gen entfalten, soziale Kompetenzen stärken und ausbauen, gar eine Lehre zum Bäcker oder zum Tischler sind in diesem
sich spielerisch die Welt aneignen. Und ich erschrak darüber, Plan nicht vorgesehen.
dass bei all der Lernerei so wenig Kindheit übrig bleibt. Gleichzeitig empfinden viele Mittelklasse-Eltern die Zukunft
Wir fingen an, anders auf die Tage unserer Kinder zu schauen. immer mehr als Zumutung. Wir sind eine Generation, die nicht
Wir hörten anderen Eltern genauer zu, wenn sie über das Pensum wie selbstverständlich davon ausgehen kann, dass es unsere
klagten, über die quälenden Kinder einmal besser haben
Nachmittage, über Schule und werden als wir selbst.
ihre Folgen, und irgendwann be- Früher erlernten die meisten
griffen wir, dass unsere Grund- in Deutschland einen Beruf –
schule nur ein Beispiel ist für häufig hatten sie einen einzi-
den Takt in ähnlichen Gegen- gen Arbeitgeber, bis zur Rente.
den, für das Deutschland am Be- Heute weiß kaum noch einer,
ginn des 21. Jahrhunderts. ob es den Beruf, den er erlernt
Ich bin inzwischen davon hat, in 10 oder 20 Jahren wei-
überzeugt, dass wir einen Feh- terhin geben wird. Je größer
ler machen, einen schweren die Unsicherheit wird, desto
Fehler. Und dass die Geschich- größer wird die Sehnsucht
ten aus der Grundschule zusam- nach einer Schule, die gegen
menlaufen zu einer Geschichte den Wandel immun macht.
über einen verhängnisvollen Und weil wir diese Sehn-
Mainstream in der deutschen sucht haben, investieren wir so
Bildungspolitik. viel Zeit in Hausaufgaben, in
Ich glaube, dass dieser Feh- Betreuung und kritische Beglei-
ler kaum wiedergutzumachen tung. Wir sehen diese Zeit tat-
ist. Und ich glaube, dass wir El- sächlich als Investment, wir
tern irgendwann bedauern wer- messen den Aufwand am Er-
den, die Kindheit unserer Kin- trag. Zwei Nachmittage gelernt
der nicht stärker gegen die Zu- für eine Vier in Englisch? Of-
mutungen der Bildungspolitik fenkundig stimmt die Rendite
verteidigt zu haben. Akzeptiertes Selbstporträt des sechsjährigen Mädchens nicht, deshalb nehmen wir die
Vier persönlich.
I Die meisten Kinder verlassen die So ökonomisieren wir Eltern
das Lernen; den Druck, den
Fangen wir mit uns selbst an. Grundschule, ohne ein einziges Mal wir selbst spüren, geben wir an
Mit uns Eltern. ausgezeichnet worden zu sein. unsere Kinder weiter. Dass wir
Vor einiger Zeit haben die es der Schule überlassen, die-
Lehrer der Grundschule mei- sen Druck auszuüben, soll un-
ner Tochter darüber diskutiert, ob die Anforderungen für die ser schlechtes Gewissen erleichtern. Es fragt sich, warum sich
Note „Eins“ heraufgesetzt werden sollen. Bis dahin war es er- die Schule so viel von uns Eltern gefallen lässt.
forderlich, für ein „sehr gut“ mindestens 95 Prozent der Auf- Vor kurzem nahm ein Lehrer an der Grundschule meiner
gaben richtig zu lösen. Künftig liegt die Latte bei 98 Prozent. Tochter Elternzeit. Er war Vater einer Tochter geworden, jetzt
Die Kinder in unserem Hamburger Stadtteil seien so „leistungs- wollte er sich um sein Baby kümmern.
stark“, sagten die Lehrer, die Eltern so ehrgeizig, so „bildungs- Dieser Lehrer macht sich viele Gedanken über pädagogische
nah“, da seien 98 Prozent doch eine schöne Herausforderung. Konzepte, über individualisiertes Lernen und Förderung, die
Und eine klare Botschaft: Du sollst keine Fehler machen! Kinder lieben ihn dafür. In der Klasse hat er einen Teppich
Das bedeutet: Die meisten Kinder werden die Grundschule verlegen lassen, die Kinder sollen sich in der Schule wohlfühlen.
verlassen, ohne jemals eine Eins geschrieben zu haben, ohne Sie sitzen an Vierertischen, im Klassenraum verteilt, so lernen
jemals ausgezeichnet worden zu sein. sie, aufeinander achtzugeben, nicht nur auf den Lehrer.
Das Traurige daran ist: Die Lehrer haben nicht einmal Der Vertretungslehrer, der die Klasse während der Elternzeit
unrecht. Die Eltern in unserem Stadtviertel sind tatsächlich übernahm, kehrte als Erstes zum Frontalunterricht zurück. Als
„bildungsnah“ und „leistungsstark“, die allermeisten jedenfalls. die Elternzeit beinahe vorüber war, luden die Eltern der Klasse
Es gibt Eltern, die ihr Kind aus einem benachbarten Stadtteil zu einem Elternstammtisch ein. Als dort jemand behauptete,
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Gesellschaft

die Klasse hänge, was den Lernstoff angehe, hinter dem Soll Mehr nicht. Ankommen, Stillsitzen lernen, das Alphabet er-
zurück, wandten sich die Eltern an die Schulleitung. Der forschen, das war das Ziel. Sich an einen neuen Abschnitt ge-
Vertretungslehrer solle die Klasse doch bitte übernehmen, schlu- wöhnen, der eine weitere Etappe der Kindheit sein sollte, nicht
gen sie vor, der bisherige Klassenlehrer sei anderweitig zu ihr Ende. Lernen, welche Freude das Lernen bereiten kann.
verwenden. Vor fünf Jahren hat der neuseeländische Forscher John Hattie
So erpressen wir Eltern die Schule, zu Lasten unserer Kinder. eine Metastudie zu Lernerfolgen veröffentlicht, insgesamt
Wir nehmen unsere Abstiegsängste ernster als deren Wohl. 50 000 Einzelstudien wertete er aus, die Erfahrungen von mehr
als 250 Millionen Schülern. Ergebnis: Kinder lernen am besten,
II wenn das Verhältnis zum Lehrer stimmt.
Anders ausgedrückt, in den Worten von Linus, neun Jahre
Im Sommer, nach der dritten Klasse, kehrte ein Kind nicht alt: „Ich glaube, Frau W. mag keine Kinder.“
aus den Ferien an unsere Schule zurück: Linus, ein Kinder- Mittlerweile besucht er eine Privatschule, seine Eltern neh-
gartenfreund meiner Tochter. Er heißt in Wirklichkeit anders, men jeden Tag eine knappe Stunde Autofahrt auf sich, für die
ich habe seinen Namen geändert. Linus’ Eltern hatten ihn neue Schule zahlen sie sogar. Und sie bedauern, so lange mit
von der Schule genommen. Sie hielten es einfach nicht mehr diesem Schritt gezögert zu haben. Seine alte Grundschule hat
aus. ihn ohne Einwände ziehen lassen.
Linus ist ein lebhafter Junge, Warum aber wird jemand
früher hätte man gesagt: aufge- überhaupt Lehrer? Welches
weckt, mit einem großen Be- Menschenbild leitet ihn? Wel-
wegungsdrang. ches Kinderbild?
Andererseits: Ist es nicht nor- Kann es sein, dass manch-
mal, dass Neunjährige das stun- mal auch Menschen in diesen
denlange Stillsitzen mühsam Beruf drängen, denen für eine
finden? Dass ihnen ein Schul- Karriere außerhalb der Schule
tag, von morgens um 8.30 Uhr der Mut fehlt? Oder die Phan-
bis mittags um 13.30 Uhr, un- tasie?
endlich lang vorkommt? Lehrer, habe ich in unserer
Linus, sagte seine Klassen- Schule gelernt, diskutieren
lehrerin, sei „verspielt“. Er sei weit weniger miteinander, als
nicht in der Lage, sich auch nur man annehmen könnte, im
zehn Minuten lang zu konzen- Grunde überhaupt nicht. Sie
trieren. Es dauerte nicht lange, streiten nicht über pädagogi-
bis die Klassenlehrerin bei sche Konzepte, sie helfen ein-
Linus eine Art Behinderung ander auch nicht – warum ist
ausmachte. ADS, vermischt es eigentlich so abwegig, dass
mit ADHS, ein Zappler, ein ein Lehrer, der mit einer Klasse
Hampler. Ein Problememacher. nicht zurechtkommt, einen
Und die Lehrerin stellte an Kollegen bittet, sich mal für
die Eltern die besorgte Frage: zwei oder drei Stunden dazu-
„Haben Sie mal überlegt, Rita- zusetzen? Und ihm anschlie-
lin zu geben?“ ßend zu sagen, was ihm aufge-
Nun ist eine ADHS-Diagno- fallen ist?
se nicht ganz einfach: Es gibt
Fachleute, die behaupten, dass III
ADHS viel zu häufig diagnos-
tiziert werde. Wie es übrigens Im Sommer wurde unser Nach-
auch Fachleute gibt, die Ritalin Zeichnung des Erstklässlers Oskar, sechs Jahre alt barsjunge eingeschult. Nennen
für eine schlechte Lösung hal- wir ihn Oskar. Oskar war sechs-
ten – jedenfalls nicht für die Kann es sein, dass Menschen einhalb, als er in die Schule
erstbeste. Und es gibt Fachleu- kam.
te, die beklagen, dass in unse- Lehrer werden, denen für einen Ich kenne Oskar, weil er häu-
ren Schulen die Abweichung anderen Beruf der Mut fehlt? fig bei uns klingelt, um sich mit
vom Normalfall zunehmend meinem jüngsten Sohn zu ver-
zum Therapiethema werde. abreden. Oskar liebt alles, was
Was Linus denn anstelle, fragten die Eltern. mit Natur zu tun hat. Die beiden holen mit dem Käscher Kaul-
Er quatsche ständig dazwischen, sagte die Lehrerin. Er laufe quappen aus dem nahe gelegenen Teich, sie beobachten Bienen,
durch die Klasse; er frage nach, obwohl die Lehrerin einen neulich begruben sie eine Amsel, die gegen eine Scheibe ge-
Sachverhalt bereits erklärt habe. flogen war.
Dass die Grundschule so ist, wie sie ist, hängt auch mit den An der Schule gefiel ihm am meisten, dass er dort Lesen ler-
Pisa-Studien zusammen, mit denen die OECD Kenntnisse und nen sollte. Er will Tierpfleger werden, am liebsten in einem
Fähigkeiten 15-jähriger Schüler ermittelt. Troparium; irgendjemand hatte ihm verraten, dass es hilft,
Der Schock war groß, als 2001 die ersten Pisa-Ergebnisse wenn man als Tierpfleger lesen kann.
veröffentlicht wurden. Deutschland war bestenfalls Mittelmaß. Die schulärztliche Untersuchung hatte bei Oskar ergeben,
Damit sich das änderte, möglichst rasch, sollten Schulsystem dass er zurückhaltend und verspielt ist, dass er vieles weiß und
und Unterrichtskonzepte überdacht werden, auch in der Grund- das, was er weiß, gern mit anderen teilt. Ein Traumkind also.
schule. Oskar bekam dann eine Lehrerin, die in dem Ruf steht, ihre
Vor kurzem fanden wir beim Aufräumen ein altes Zeugnis Schüler besonders erfolgreich aufs Gymnasium vorzubereiten.
meiner Frau aus der ersten Klasse, 1974. Einziger Kommentar: Nach einer Woche Grundschule wurde Oskars Mutter von
„Annette hat einen guten Anfang gemacht.“ der neuen Lehrerin hereingerufen. Oskar, sagte sie, habe De-
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Gesellschaft

fizite. Er höre nicht, was die Lehrerin sage; er sei feinmotorisch Linie Kinder sind: unterschiedlich begabt, widerborstig, eigen-
ungeschickt; er müsse dringend zur Ergotherapie. Und damit sinnig, verspielt, manchmal laut?
aus Oskar ein erfolgreicher Schüler werde, empfahl sie überdies Ich glaube, dass wir Eltern uns häufiger auf die Seite unserer
noch, seine „auditive Wahrnehmung“ überprüfen zu lassen Kinder stellen sollten. Nicht bei Kleinkram, bei dem, worauf
(Kann er das, was er hört, verarbeiten?), einen Besuch beim viele Eltern ihre Kraft verwenden, bei der Auswahl des Pau-
Kinderpsychologen, beim Zahnarzt (Kommen seine Verspan- sensnacks oder der Ausstattung für den Klassenausflug. Son-
nungen vom Kreuzbiss?) und beim Logopäden (leichtes Lis- dern bei dem großen Projekt, das darin besteht, so viel Schule
peln). Es klang nach einem Totalschaden. wie nötig zu ermöglichen und so viel Kindheit wie möglich.
Natürlich wollen auch Oskars Eltern nur das Beste für ihr Wir sollten, beispielsweise, den Lehrer darüber informieren,
Kind, also suchten sie eine Ergotherapeutin für ihren Sohn. dass unser Kind fortan allein für seine Hausaufgaben verant-
Dort soll er Zuhören lernen und Motorik, sie üben Konzentra- wortlich ist.
tion und handwerkliches Geschick. Wir sollten den Lehrern sagen, dass auch unser Kind viel zu
Oskar arbeitet jetzt doppelt: Schule plus Hausaufgaben, dazu lange vor seinen Hausaufgaben hockt – anstatt so zu tun, als wäre
Ergo. Eine Belohnung, ein anerkennendes Wort von seiner Oskar der Einzige, der mit der Menge an Lernstoff überfordert ist.
Lehrerin erfuhr er nicht. Alle bekamen irgendwann einen Sti- Wir sollten Kinder wie Oskar nicht allein lassen mit einem
cker für ihre Arbeiten oder ein Smiley, nur Oskar nicht. Pensum, das sie überfordert, indem wir, gemeinsam mit den
Inzwischen versteht Oskar, Lehrern, so tun, als ließe sich
dass es zur Schule keine Alter- diese Überforderung durch
native gibt, „dass man da hin- Organisation und Disziplin be-
muss“. Nach Schule und Ergo- seitigen.
therapie liegt er häufig auf dem Wir sollten es nicht länger
Sofa und starrt vor sich hin. für selbstverständlich halten,
Und fragt jeden Abend: Wann dass die Schule Elternbeteili-
ist wieder frei? gung voraussetzt – und wir soll-
20, höchstens 30 Minuten sol- ten auf Elternabenden über
len Erstklässler jeden Tag an Grundsätzliches streiten, mit
ihren Hausaufgaben sitzen, den Lehrern, miteinander –
heißt es. Oskars Mutter stoppte weil jeder weiß, dass es auf
bei ihrem Sohn die Zeit, mal Faktenwissen, auf Mess- und
kam sie auf 60, mal auf 75 Mi- Zählbares, auf Punkte und No-
nuten, irgendwann erlaubte sie ten immer weniger ankommt.
ihrem Kind, nach der Hälfte Und was hindert uns daran,
der Aufgaben aufzuhören. uns regelmäßig bei unseren
Eine mutige, souveräne Ent- Kindern zu bedanken: für ihre
scheidung, die einen Nachteil Geduld, ihre Ausdauer – und
hat: Oskar muss jetzt den Rest ihre Bereitschaft, sich jahre-
der Aufgaben in der Schule er- lang, Tag für Tag einem Druck
ledigen. auszusetzen, den viele Erwach-
Er bringt nun häufig Arbeits- sene für sich selbst kaum ak-
zettel mit nach Hause, auf die zeptieren würden?
die Lehrerin einen knappen Wir sollten anfangen, über
Kommentar geschrieben hat: die Grundschule zu diskutie-
„Mehr hat Oskar in dieser Stun- ren, am besten öffentlich. Die
de nicht geschafft!!!“, stand Grundschule vernichtet einen
dann da. Oder: „Oskar hat heu- Teil der nachwachsenden Ta-
te zwei Schulstunden lang gar lente, weil sie unsere Kinder
nichts gemacht.“ Oder: „Oskar Zeichnung des achtjährigen Linus hauptsächlich nach Anforde-
verweigerte sich heute total.“ rungsprofilen sortiert; unter
Einmal bekam seine Mutter Den Druck, den Schüler jahrelang dem Vorwand, sie zukunfts-
einen Anruf von der Schule: tauglich zu machen, planiert
Oskar weine seit drei Stunden. aushalten, würden viele Erwachsene sie die Kindheit unserer Kin-
Oskars Mutter ist selbst Päd- kaum für sich akzeptieren. der.
agogin, in einem Kindergarten. Neulich sollten die Kinder in
Sie weiß, wie man ein Kind be- der Klasse meiner Tochter Tie-
ruhigt; sie weiß auch, dass drei Stunden eine unerhört lange re darstellen, pantomimisch. Meine Tochter entschied sich für
Zeit sind. Ob man ein Kind in der ersten Klasse nicht einfach die Ente. Damit die anderen Kinder die Ente nicht sofort erra-
trösten könne? ten, dachte sie sich etwas Besonderes aus: Sie würde eine be-
Nein, lautete die Antwort. Keine Zeit. hinderte Ente darstellen, mit einem gebrochenen Flügel bei-
Nach drei Wochen bat die Ergotherapeutin darum, mit spielsweise.
Oskars Lehrerin sprechen zu dürfen. Oskar, sagte sie, sei ein Nach der Stunde wurde meine Tochter von ihrer Lehrerin
Kind, dem man viel Zeit lassen müsse. dafür kritisiert. Der Einfall sei geschmacklos.
Die Antwort der Lehrerin lautete: „Ja, wie viel Zeit denn Als sie uns zu Hause davon erzählte, dachten wir kurz über
noch?“ die Kritik nach. Dann nahmen wir unsere Tochter in den Arm
und lobten sie, für ihren wunderbaren Einfall.
IV
Wir Eltern müssen die Frage beantworten, was wir eigentlich Video: Grundschüler im Stress
wollen. Ob wir Lego-Kinder wollen, unauffällig, folgsam, viel- spiegel.de/app012014schule
seitig verwendbar – oder ob wir Kinder aushalten, die in erster oder in der App DER SPIEGEL

54 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
KARLSRUHE
Ist da jemand?
ORTSTERMIN: Besuch bei einer Frau im Rollstuhl, die die Politik
zu etwas bewegen will

S
ilvia Giehle hat lange, lockige Haare, wurden teilweise ausgerissen, mehrere Aber auch dort war ihr Budget für deut-
ein klares, ruhiges Gesicht, mit ih- Rippen brachen, der Unterkiefer, ein sche Helfer zu klein.
rem Mund bewegt sie einen Stab, Schlüsselbein. Sechs Wochen lang lag sie Deshalb sitzt Bozena jetzt neben ihr.
der die Funktion eines Fingers erfüllt. Sie im Koma, mehr als anderthalb Jahre ver- Sie wurde von einer polnischen Agentur
kann sich mit dem Stab die Brille auf die brachte sie im Krankenhaus und in der vermittelt und kostet weniger als die deut-
Nase zurückschieben, wenn die rutscht. Reha. Neunmal wurde sie operiert. schen Kräfte, die Hälfte. Diese Frauen
Der Stab ist aus Metall und hat einen Silvia Giehle ist jetzt 51, lebt allein und kommen mit dem Bus aus Polen oder aus
Gumminippel am unteren Ende. Ihr Vater braucht Hilfe, 24 Stunden am Tag. Weißrussland. Sie bleiben meist für vier
hat ihn für sie gebastelt. Sie kann damit 2,5 Millionen Pflegebedürftige gibt es Wochen, sind nicht ausgebildet und spre-
den CD-Spieler bedienen, sie blättert in Deutschland. Schwerstbehinderte, die chen kein Deutsch.
damit in der Zeitung, sie surft im Inter- in Heimen leben, müssen die Pflege, die Silvia Giehle glaubt, dass das Leben
net, tippt E-Mails. Sie schreibt häufig ihnen zugewiesen wird, annehmen. Sie einfacher sein könnte, sie denkt dabei
an Politiker und an Zeitungen. Das kann können nicht selbst entscheiden, wer sie an die Politik, an den Artikel 19 der
sie eigenständig tun, dafür Behindertenrechtskonven-
braucht sie Bozena, ihre tion. 2009 hat Deutsch-
Pflegerin, nicht. land die Uno-Behinderten-
Für alles andere schon. rechtskonvention ratifi-
Bozena schenkt ihr Kaf- ziert, damit wurde sie
fee ein, sie sagt etwas geltendes Recht. In Arti-
auf Polnisch dazu. Silvia kel 19 gibt es das Recht
Giehle trinkt durch einen auf Assistenz: Menschen
langen Strohhalm. Die Bei- mit Behinderungen sollen
ne kann sie noch ein biss- selbst wählen dürfen, wo
chen bewegen, die Arme und mit wem sie leben
gar nicht mehr. Sie sitzt wollen. Aber Deutschland
in ihrem Wohnzimmer in ist streng. Wer 24 Stunden
einem Dorf in der Nähe Pflege braucht und dafür
von Karlsruhe, sie sagt, zusätzlich staatliche Hilfe
die Politik reiche bis in sucht, muss seine gesam-
CIRA MORO / DER SPIEGEL

ihr Wohnzimmer hinein, ten Finanzen offenlegen,


deshalb schicke sie diese muss fast alles verbrau-
E-Mails. chen und erhält erst dann
An 600 Bundestagspoli- Unterstützung. Es bleibt
tiker hat sie geschrieben häufig kaum mehr als der
und an 250 Zeitungsredak- Körperbehinderte Giehle: 600 Mails, eine Antwort Sozialhilfesatz. Es ist nicht
tionen, erhielt aber, sagt das, was Silvia Giehle un-
sie, nur eine einzige Ant- ter selbstbestimmtem Le-
wort darauf. ben versteht.
Die Leute mögen das Thema nicht, das wann kämmt, wäscht, wer ihnen die Nase Deshalb die Petition, die sie seit Jah-
weiß sie. Es klingt zunächst sperrig. Es putzt und das Frühstück reicht. Silvia ren an Abgeordnete verschickt. Sie führt
geht um den Artikel 19 der Behinderten- Giehle, dickköpfig, selbständig, wollte das Beispiel Schweden darin auf, wo
rechtskonvention der Vereinten Nationen. das nicht. Sie trinkt den Kaffee in ihrem das Recht auf persönliche Assistenz gilt,
Es geht aber auch um die Freiheit des eigenen Zimmer, in ihrer eigenen Woh- für jeden, der es braucht. Und von
Menschen. Um die Frage, ob einem Men- nung. Steuern finanziert wird, so wünscht sie
schen wie ihr noch Freiheit bleibt. Nach dem Unfall, sagt sie, war sie zu- sich das.
Am 2. Februar 1992 saß Silvia Giehle rück zu ihren Eltern gezogen, in ihr altes Silvia Giehle hat bisher niemanden ge-
in einem Auto in der Nähe von Bordeaux, Kinderzimmer, aber ein altes Kind wollte funden in der deutschen Politik, der ihr
auf der Rückreise von einer Familienfeier, sie nicht sein. Sie erstritt sich Schmerzens- Anliegen zu seinem machen will. Sie
die gleichzeitig ihre Verlobungsfeier war. geld und Rente, suchte sich in Hamburg denkt jetzt darüber nach, ob sie es im
Sie war damals 30 Jahre alt, arbeitete als eine Wohnung. Sie organisierte sich wech- Europaparlament versuchen will.
Bankkauffrau in Deutschland. Ihr Freund, selnde Helfer, halbtags, ganztags, Mini- Im Moment bleibt ihr nur das Leben
ein Franzose, war zu schnell gefahren, er jobs. Zivildienstleistende spielten eine mit Bozena oder anderen Frauen, sie
übersah einen Lastwagen. maßgebliche Rolle dabei. Dann kam die kommen aus Krakau oder Lódz. Sie bie-
Sie wurde von fliegenden Trümmern Bundeswehrreform, und es gab keine tet den Frauen ein eigenes Zimmer, einen
am Kopf getroffen. Die Folge war ein Zivildienstleistenden mehr. Fernseher, mit polnischem Programm.
Schädelhirntrauma, der erste und zweite Sie zog aufs Land, zurück in das Dorf Sie hat nicht den Eindruck, dass das
Halswirbel brach, der Hals wurde aufge- ihrer Eltern, weil sie glaubte, dass das ein europäisches Zukunftsmodell ist.
schlitzt, die Nervenwurzeln beider Arme Leben und die Helfer dort billiger seien. BARBARA HARDINGHAUS

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 55
Trends

SPENDEN
in der Kürze der Zeit kaum ab-
schreiben können. Durch die Umstel-
lung auf das europäische Zahlungs-
Krisenhelfer in Not system SEPA sind auch telefonische
Spenden, bei denen die Einverständnis-
Die bevorstehende Umstellung der erklärung zur Lastschrift mündlich er-
Kontodaten auf international einheit- folgt, nicht mehr ohne weiteres mög-
liche Standards könnte für Hilfsorgani- lich. Die neuen Richtlinien zwingen zu
sationen gravierende Folgen haben. einem Mandat, das schriftlich und mit
„Wir rechnen zunächst mit Einbrüchen einer Unterschrift im Original ver-
MAN-Militärlaster beim Spendenaufkommen zwischen sehen sein muss. „Die Klientel, die am
20 und 30 Prozent“, sagt Daniela Felser, treuesten und am meisten spendet, ist
Geschäftsführerin des Deutschen Spen- die Generation 60 plus“, sagt Felser.
V O L K S WA G E N
denrats, einer Interessenvertretung „Je öfter die Bank Überweisungsträger
spendensammelnder gemeinnütziger nicht anerkennt, weil sie falsch aus-
Organisationen. Vom 1. Februar an gefüllt wurden, desto mehr sinkt die
Kampf der Schwestern werden die bisherigen Kontonummern
und Bankleitzahlen durch 22-stellige
Bereitschaft zu spenden“, befürchtet
sie. Eine Erörterung des Problems mit
VW-Chef Martin Winterkorn ist, wie IBAN- und 11-stellige BIC-Nummern Banken und den großen TV-Sendern
ein Vertrauter berichtet, „stinksauer“ ersetzt. Bislang wurden bei Katastro- blieb bislang ohne zufriedenstellendes
über eine Auseinandersetzung zwi- phen wie dem Hochwasser im Sommer Ergebnis. Vor allem für Organisatio-
schen den Konzerntöchtern Scania und im Fernsehen oft leicht zu merkende nen, die dauerhaft auf Spenden ange-
MAN. Der Streit könnte dazu führen, Kontonummern eingeblendet. Künftig wiesen sind, könnte nach Ansicht
dass ein Auftrag über 2,2 Milliarden werden potentielle Spender die des Rats die Kontoumstellung zur
Euro verlorengeht. Die schwedischen Ziffern- und Buchstabenkombination Existenzfrage werden.
und norwegischen Streitkräfte wollten
einen Großauftrag zum Kauf von
Militärlastwagen an Rheinmetall MAN
vergeben. Dagegen legte der beim Aus-
schreibungsverfahren unterlegene Lkw-
Hersteller Scania Einspruch ein. Jetzt
prüft die schwedische Wettbewerbs-
behörde den Deal. Dies könnte dazu füh-
ren, dass der Auftrag neu ausgeschrie-
ben wird und letztlich ein Konkurrent
den Zuschlag erhält. Dass eine VW-

JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES


Tochter (Scania) die andere (MAN) der-
art attackiert, „ist eine Riesensauerei“,
sagt ein VW-Manager. Mittlerweile hat
Scania seinen Einspruch zurückgenom-
men. Doch die Überprüfung der Auf-
tragsvergabe durch schwedische Behör- Hochwasser in Passau
den wird dadurch wohl nicht gestoppt.

Volkmer: Es gibt den Earth Overshoot Car-Sharing zum Beispiel ist ein neues,
KONSUM
Day, an dem die Nachfrage nach natür- nachhaltiges Geschäftsfeld entstanden.
lichen Ressourcen die Reproduktion SPIEGEL: Ist die Forderung nach Kon-
„Weniger verbrauchen“ dieser Ressourcen übersteigt. Norma-
lerweise müsste der Tag am 31. De-
sumverzicht nicht elitär?
Volkmer: Nein, es geht um bewussten
Werbeagenturchef Michael zember eines Jahres sein. Tatsächlich Konsum. Ein Beispiel: Auch Menschen
Volkmer, 48, über seine aber rückt er immer weiter nach vorn, mit geringem Einkommen bestellen
Initiative „Zeit statt Zeug“, jetzt sind wir schon bei August. Wir sich bei Amazon eine Bohrmaschine.
über deren Website man müssen einfach weniger verbrauchen. Was wäre, wenn Amazon einem Inte-
Zeit statt Konsumgüter SPIEGEL: Steht Ihr Plädoyer für Kon- ressenten vorschlägt: „Leih sie dir
verschenken kann sumverzicht nicht im Widerspruch zu vom Nachbarn, der hat erst kürzlich
Ihrem Job als Werber? eine gekauft.“ Durch die Datenerhe-
SPIEGEL: Der Weihnachtskaufrausch ist Volkmer: Ich bin überzeugt, dass globa- bung wäre das möglich – und Amazon
vorbei, hatte Ihre Initiative eine Chan- le Konsumgüterhersteller langfristig könnte auch daran verdienen.
ce? Danach verschenkt man beispiels- nur überlebensfähig bleiben, wenn sie SPIEGEL: Mehr Zeit haben die
weise Vorlesezeit statt eines Buchs. Produkte anbieten, die einen gesell- Menschen damit auch nicht gewonnen.
Volkmer: Es gibt eine Gegenbewegung. schaftlichen Mehrwert haben. Auch Volkmer: Aber es bewirkt ein Inne-
„Zeit statt Zeug“ existiert seit etwa Autohersteller müssen sich fragen: halten: Benötigt meine Frau wirklich
einem Jahr, seitdem haben wir 17 000 Was machen wir eigentlich über- das dritte Fläschchen Parfum? Viel-
Zeitgeschenke ausgeliefert. morgen? Da kommt man schnell auf leicht gefiele ihr ein Waldspaziergang
SPIEGEL: Wie kam es zu der Initiative? das Thema Mobilität allgemein. Mit mit mir viel mehr.
56 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Wirtschaft

E U R O PA

Delors’ Denkfabrik
Der frühere EU-Kommissionspräsident
Jacques Delors gründet eine proeuro-
päische Denkfabrik in Berlin. Finan-
ziert wird das Team, das anfangs aus
fünf bis zehn Mitarbeitern bestehen
soll, von Delors’ Pariser Institut „Notre
Europe“ und der Hertie School of
Governance. Unter der Leitung des
Berliner Ökonomen Henrik Enderlein

MARKO DJURICA / REUTERS


soll der Thinktank die politische und
wirtschaftliche Entwicklung in der
Staatengemeinschaft analysieren so-
„Eurofighter“-Kampfjet wie öffentliche und vertrauliche Ge-
spräche zwischen Politikern, Wissen-
schaftlern und Wirtschaftsvertretern
A F FÄ R E N
organisieren. Die Organisation wolle
die politische Integration des Konti-
nents fördern, stehe aber zugleich für
Betriebsprüfung bei EADS einen „pragmatischen und überpar-
teilichen Kurs“ in der Europapolitik,
sagt Enderlein. Ende März soll das
In der Affäre um mögliche Schmier- den, um „über Scheinverträge Gelder „Jacques Delors Institut-Berlin“ mit
geldzahlungen beim Verkauf von aus den Partnerunternehmen abzuzie- einem Symposium eröffnet werden.
15 Kampfflugzeugen des Typs „Euro- hen und für korrupte Zwecke verfüg-
fighter“ an Österreich hat EADS bar zu machen“. Unterdessen neigen
Deutschland nun die Betriebsprüfer sich die internen Untersuchungen der
im Haus. Die Beamten suchen angeb- Affäre offenbar dem Ende zu. Im No-
lich nach Belegen für mehr als 100 Mil- vember 2012 hatte EADS-Chef Tom
lionen Euro, die im Zusammenhang Enders in der Sache schnelle Aufklä-
mit dem Geschäft an Offshore-Firmen rung versprochen und eine „Tiefen-
und fragwürdige Berater geflossen bohrung“ angekündigt. Daraufhin
sein sollen. Bei EADS heißt es dage- wurde die Wirtschaftskanzlei Clifford
gen, es handle sich um eine „normale Chance mit internen Untersuchungen
Prüfung, ohne irgendeinen Schwer- betraut, die ursprünglich schon im ver-
punkt“. Staatsanwälte in München gangenen Frühjahr abgeschlossen sein
und Wien ermitteln seit gut einem sollten. Anwälte hatten sich immer
Jahr in dem Fall. Inzwischen gibt es wieder über die angeblich „rauen Me-
mehr als ein Dutzend Beschuldigte. thoden“ der internen Ermittler be-
Laut einem vertraulichen Papier aus schwert. Dies habe die Mitarbeit etli-
dem Oktober gehen die österrei- cher Beteiligter „nicht gerade geför-
chischen Ermittler weiter davon aus, dert“ und das Projekt somit verzögert.

LUZPHOTO / FOTOGLORIA
dass „EADS versucht hat, Schmier- EADS erklärt dagegen, die längere
geldzahlungen an Unternehmen bzw. Ermittlungsdauer sei auf die Fülle an
Beamte zu leisten“. Dabei sei „im Rah- Material zurückzuführen. Clifford
men des EADS-Konsortiums eine kri- Chance, so beteuert das Unternehmen, Delors
minelle Vereinigung“ gegründet wor- arbeite „äußerst professionell“.

WÄ H R U N G S U N I O N
zugutekämen, dann würden Institute begünstigt, die zu ihrer
Rettung wenig bis nichts beigetragen hätten. Für deutsche
Häuser bedeute dies fast eine Enteignung. Auch die geplan-
Bankenabgabe verfassungswidrig? te Höhe der neuen Bankenabgabe birgt nach Einschätzung
der Schäuble-Beamten verfassungsrechtliche Risiken. Schon
Experten des Bundesfinanzministeriums haben Zweifel, ob bei der bestehenden nationalen Abgabe sei mit Blick auf
die kürzlich von den EU-Finanzministern beschlossene Ban- deren Höhe das zulässige Maximum ausgereizt. Nach den
kenunion grundgesetzkonform ist. Die Beamten von Finanz- Plänen der EU-Finanzminister sollen deutsche Banken zum
minister Wolfgang Schäuble (CDU) stoßen sich vor allem europäischen Abwicklungsfonds jährlich eine Milliarde Euro
daran, dass der bislang von deutschen Banken über eine Ab- beisteuern. Die bisherige nationale Variante bringt nur die
gabe finanzierte nationale Abwicklungsfonds auf europäi- Hälfte zusammen. Eine höhere Abgabe verstoße gegen die
sche Ebene überführt werden soll. Wenn diese Einzahlun- Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, heißt es im Bundes-
gen, bislang rund 1,8 Milliarden Euro, ausländischen Banken finanzministerium.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 57
Wirtschaft

MANAGEM ENT

Die Karriereväter
Familienfreundliche Maßnahmen zielten bisher vor allem auf Mitarbeiterinnen.
Doch plötzlich sind es die Männer, die neue Arbeitszeitmodelle fordern
und monatelange Auszeiten nehmen. Die Unternehmen müssen sich umstellen.

V
or ein paar Jahren wäre Gerd Gö- beitet Teilzeit, weil er eine kleine Tochter seine volle Stelle aufgab. „Ich habe mich
bel für die meisten Personalchefs hat. damals schon gefragt, ob man in einer
wahrscheinlich eine Zumutung ge- Vor knapp drei Jahren hat der 47-Jäh- Führungsfunktion überhaupt Teilzeit ar-
wesen – und für seine Kollegen zumin- rige seine Arbeitszeit reduziert, nach der beiten kann“, sagt Göbel, der ein Team
dest eine Überraschung. Denn Göbel ist Geburt seiner Tochter arbeitete er 40 Pro- von fünf Leuten leitet. Der Versuch aber
als Gruppenleiter im Bereich Portfolio- zent, dann 60, inzwischen sind es 80 Pro- hat ihm recht gegeben: Einen Tag die
management und Vermögensverwaltung zent. In seiner Abteilung mit 80 Mitar- Woche ist er zu Hause, wenn auch immer
bei der Commerzbank beruflich erfolg- beitern war der Banker der erste Vater, erreichbar über seinen BlackBerry.
reich, leitet ein eigenes Team. Und er ar- der in Elternzeit ging, und der erste, der Göbel ist eine Ausnahme. Noch.

58 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Betreuende
Väter *
Denn tatsächlich gehört er zu den vie- zieht. Jahrzehntelang galt das Fa- 2009 vation und die Bindung an den
len Vätern, denen es nicht mehr reicht, milienfoto auf dem Büroschreib- Arbeitgeber enorm steigert. Und
die Woche über zu arbeiten und die eige- tisch als maximaler Ausweis der 23,4
Personalchefs geben längst offen
nen Kinder nur am Wochenende zu se- eigenen Familienfreundlichkeit. Prozent zu, dass eine Väter-Karriere auch
hen. Zu den Männern, die ihre Kinder Männer, die sich explizit um ihre 2012 dem beruflichen Aufstieg för-
trotz ihres beruflichen Engagements im Kinder kümmerten, wurden derlich sein kann: Bringen die
Alltag erleben wollen. Und die selbstbe- wenn nicht als „Weicheier“ oder 29,3
Karriereväter doch neben Sozial-
wusste und beruflich erfolgreiche Frauen „Schluffis“, dann doch zumindest Prozent kompetenz oft auch gutes Orga-
an ihrer Seite haben, die eine Beteiligung als sonderbare Wesen wahrge- nisationstalent und eine hohe Ar-
*Anteil der Kinder,
an der Erziehung und Betreuung der ge- nommen, die sich dem gängigen deren Väter Elterngeld beitseffizienz mit.
meinsamen Kinder als selbstverständlich Rollenbild vom hart arbeitenden, bezogen haben Gleichzeitig bemängeln 85 Pro-
einfordern. karriereorientierten Alleinverdie- Quelle: Stat. Bundesamt zent aller Männer, dass familien-
Mit „familiären Gründen“ und seinen ner widersetzten. freundliche Maßnahmen in Un-
„beiden sehr jungen Kindern“ begründete Diese Zeiten jedoch scheinen vorbei ternehmen sich vor allem an die weib-
Jörg Asmussen Mitte Dezember seinen zu sein. 91 Prozent der Väter sagen laut lichen Kollegen richten. Und es sind die
Rückzug vom Top-Job als Direktoriums- einer Studie, dass sie auch unter der Wo- Männer, die ihre Firmen in Sachen Fami-
mitglied der Europäischen Zentralbank. che Zeit mit ihrer Familie verbringen wol- lienfreundlichkeit deutlich schlechter be-
Und auch für das überraschende Ende len. Seit die damalige Familienministerin werten als Frauen, wie eine Studie von
der Politikkarriere von Roland Pofalla, Ursula von der Leyen (CDU) das Eltern- A. T. Kearney zeigt, die im Januar veröf-
jahrelang einer der einflussreichsten Män- geld mit seinen Partnermonaten ein- fentlicht wird. „Die Unternehmen müs-
ner an der Seite von Kanzlerin Angela geführt hat, ist die Zahl der Väter, die in sen sich bewegen, wir brauchen dringend
Merkel, sollen vor allem familiäre Gründe Elternzeit gehen, auf ein Rekordhoch von neue Modelle, müssen Arbeit in Teilen
ausschlaggebend gewesen sein. 27 Prozent gestiegen. In bestimmten ganz neu denken“, sagt Martin Sonnen-
Es ist ein Kulturwandel, der sich lang- Branchen müssen sich Väter vor Kollegen schein, Zentraleuropa-Chef der Beratung.
sam, aber anscheinend unaufhaltsam voll- inzwischen rechtfertigen, wenn sie nach Wie das gehen kann, zeigt die Robert
der Geburt ihres Kindes nicht mindestens Bosch GmbH. Unter dem Stichwort „Fle-
zwei Monate zu Hause bleiben. xibles Arbeiten“ bietet der Konzern sei-
Zwar sind bundesweit noch immer nur nen Mitarbeitern nicht nur Gleit- und Teil-
knapp 20 Prozent aller Teilzeitbeschäftig- zeitmodelle an, sondern ermutigt sie ex-
ten männlich – aber mit stark steigender plizit, von verschiedenen Orten aus zu
Tendenz: Der Anteil der Männer hat sich arbeiten. Führungskräfte können sich ihre
in den vergangenen zehn Jahren mehr Arbeitszeit sogar frei einteilen. Letztlich
als verdoppelt, während die Zahl der komme es nur auf das Ergebnis der Ar-
Frauen um etwa 30 Prozent gestiegen ist. beit an, heißt es beim Unternehmen. In-
Und im kürzlich unterzeichneten Koali- terne Netzwerke wie papas@bosch helfen
tionsvertrag findet sich erstmals in der beim Austausch, in einem Pilotprojekt ar-
Geschichte der Bundesrepublik ein Pas- beiteten erstmals 100 Führungskräfte von
sus zur Rolle des „aktiven Vaters“ und zu Hause aus oder in Teilzeit.
die Forderung nach „besseren Rahmen- Bosch ist nicht das einzige Großunter-
bedingungen, damit Väter und Mütter nehmen, das auf diese Weise versucht,
Aufgaben in Familie und Beruf partner- seinen Mitarbeitern die Vereinbarkeit von
schaftlich aufteilen können“. Beruf und Familie zu erleichtern. Der Ver-
Dem neuen Selbstverständnis müssen sicherungskonzern Ergo etwa bietet sei-
sich zähneknirschend auch die Arbeit- nen Führungskräften Seminare zum The-
geber stellen, die sich doch gerade erst ma „Familienbewusste Führung“ an, um
daran gewöhnt hatten, besser auf die Mitarbeiter mit Personalverantwortung
Belange ihrer weiblichen Mitarbeiter ein- für die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter zu
zugehen. Plötzlich sind es die männlichen sensibilisieren. Außerdem hat der Kon-
Angestellten, die von ihren Personalver- zern gerade ein Projekt zum Thema „Füh-
antwortlichen neue Arbeitszeitmodelle rung in Teilzeit“ gestartet und ermöglicht
einfordern und monatelange Auszeiten den Vätern, Urlaubs- und Weihnachtsgeld
nehmen, die ganze Nachmittage in Ka- ganz oder teilweise in Urlaubstage um-
lendern blocken, weil sie die Kinder aus zuwandeln. Bis zu 42 Tage mehr Urlaub
der Kita abholen müssen, oder wichtigen im Jahr können so genommen werden,
Meetings fernbleiben, weil ein Laternen- ohne dass monatliche Gehaltseinbußen
umzug oder Schulfest ansteht. „Männer entstehen.
werden für Unternehmen damit genauso Da geschehen ganz erstaunliche Din-
unberechenbar wie Frauen – und das ist ge – und das ausgerechnet in Deutsch-
auch gut so“, sagt Volker Baisch, der land, bislang nicht eben Vorreiter in fort-
Unternehmen berät, wie sie väterfreund- schrittlicher Unternehmenskultur. „Die
licher werden können. deutsche Arbeitswelt ist nach wie vor
Der Handlungsdruck also wächst, denn sehr männlich ausgerichtet“, sagt Stefan
TIM WEGNER / LAIF / DER SPIEGEL

bereits heute kämpfen die Unternehmen Reuyß vom Institut für sozialwissenschaft-
darum, gute Leute zu finden und sie dann lichen Transfer in Berlin. Leistung werde
auch zu halten. Da genügt es nicht mehr, immer noch durch Anwesenheit definiert,
Teilzeit-Banker Göbel (r.) mit Kollege und den Mitarbeitern einen firmeneigenen noch immer herrsche die Präsenz- an-
Kindern auf einem Spielplatz Kita-Platz zu offerieren: Umfragen unter stelle einer Ergebniskultur. Gerade jün-
Vätern zeigen, dass die Vereinbarkeit von gere Mitarbeiter aber „stellen das immer
Beruf und Privatleben die Arbeitsmoti- häufiger in Frage und verlangen nach
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 59
Wirtschaft

anderen Modellen“. Und sie tauschen ziale und emotionale Kompetenz, diese
sich aus: Seit ein paar Jahren existiert ein Eigenschaften sind auch im beruflichen
bundesweites Väternetzwerk für berufs- Umfeld und für uns als Unternehmen
tätige Männer mit Familie. wichtig.“
Möglich ist mittlerweile eigentlich fast Doch die Umsetzung solcher Ziele
alles – selbst in Führungsjobs. Das zeigt stößt im beruflichen Alltag auch an Gren-
das Beispiel von Lutz Cauers. Der 49-Jäh- zen. „Ich persönlich freue mich für jeden
rige leitet die Konzernrevision bei der Kollegen, der sich um seine Kinder küm-
Deutschen Bahn, er hat über hundert Leu- mert oder in Elternzeit geht, und finde
te unter sich und berichtet direkt an Bahn- das auch richtig“, sagt ein Manager.
Chef Rüdiger Grube. Sein Büro liegt in „Aber als Chef denke ich natürlich sofort:
Berlin, ein zweiter Standort in Frankfurt. O Gott, jetzt muss ich schon wieder müh-
Außerdem ist er an drei weiteren Stand- sam dafür sorgen, dass wir arbeitsfähig
orten in Deutschland, vier in Europa, bleiben.“
Asien und den USA verantwortlich. Sein Das wird vor allem in mittelständischen
Lebensmittelpunkt aber ist Nürnberg, Betrieben schnell zum Problem: „Wenn
dort wohnen seine Frau und die drei Söh- in einem Handwerksbetrieb ein oder
ne, der jüngste erst wenige Wochen alt. zwei Spezialisten für mehrere Monate
In Nürnberg lässt er sich gerade ein ausfallen, ist das natürlich eine Katastro-
Büro bei einer Konzerngesellschaft ein- phe“, sagt der Berater Baisch. Doch das
richten, mindestens einen Abend unter Bewusstsein für die neuen Anforderun-
der Woche ist er bei der Familie. Ansons- gen sei durchaus vorhanden. „Viele Mit-
ten fliegt er oft früh am Morgen Richtung telständler wissen noch nicht, wie sie auf
Berlin oder fährt nach Frankfurt, im Zwei- die neuen Bedürfnisse der neuen Väter-
fel nimmt er die Kinder auch mal mit ins generation reagieren sollen.“ Aber auch
Büro. „Meine Frau ist Inhaberin eines hier experimentieren die ersten Unter-
mittelständischen Unternehmens, da war nehmen mit Jahresarbeitszeitkonten, fle-
einfach völlig klar, dass sie die Familien- xiblen Arbeitszeiten, Eltern-Kind-Büros
arbeit nicht allein leisten kann“, sagt Cau- oder externer Kinderbetreuung.
ers. „Und ich will es auch nicht, denn ich Das sorgt für Zufriedenheit bei den ei-
will meine Kinder aufwachsen sehen.“ genen Mitarbeitern, hat aber noch einen
Für ihn ist es selbstverständlich, Eltern- anderen, positiven Effekt: Sind bestimmte
abende oder Fußballspiele in seinen Stellen zeitlich befristet zu besetzen, ha-
Tagesablauf genauso einzuplanen wie ben Kollegen die Chance, sich zumindest
wichtige Geschäftstermine, im Zweifel temporär zu verändern. Das gilt insbeson-
delegiert er an seine Führungskräfte oder dere für Führungsaufgaben, wie Marcus
arbeitet spät am Abend. „Das alles geht Chromik weiß: Der 41-Jährige ist als Be-
aber nur, weil der Arbeitgeber das mit- reichsvorstand Group Risk Management
macht, da es nicht nur Lippenbekenntnis- bei der Commerzbank für das Kreditrisi-
se gibt, die im Zweifel nichts wert sind.“ komanagement zuständig und hat nach
So wie Cauers denken immer mehr der Geburt seines heute knapp zweijähri-
Männer – und die Konzerne reagieren. gen Sohns selbst Elternzeit genommen.
Beispielsweise die Lufthansa, die ihren Er unterstützt es als Vorgesetzter des-
70 000 Mitarbeitern deutschlandweit zwar halb, wenn seine Mitarbeiter sich um ihre
schon lange alle möglichen Teilzeit- Kinder kümmern wollen. „Das ist doch
modelle anbietet. Aber inzwischen merkt für ein Unternehmen auch immer die
man auch dort, dass das nicht mehr reicht. Chance, aufstrebende Nachwuchskräfte
Bettina Volkens ist Personalvorstand für eine befristete Zeit Führungsaufgaben
TIM WEGNER / LAIF / DER SPIEGEL (O.); MICHAEL PASTERNACK / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

bei der Lufthansa Group und Mutter von ausprobieren zu lassen, sie zu testen.“
zwei Kindern. „Starre Modelle funktio- Er selbst habe seine Elternzeit genos-
nieren nicht“, sagt sie. Als Unternehmen sen, sagt er. Er habe durch den Abstand
müsse man die Mitarbeiter einbinden. Ihr den Kopf freibekommen und so die
Ziel ist es, die Kultur offener für indivi- Chance gehabt, strategischer über Dinge
duelle und flexible Arbeitszeitmodelle zu nachzudenken. Und das, obwohl er wäh-
machen. Ein Baustein dafür ist das Pilot- rend dieser Zeit für seinen Arbeitgeber
projekt „New Work Space“: In der Per- nicht völlig unerreichbar war. Einmal am
sonalabteilung teilen sich 80 Mitarbeiter Tag schaltete er seinen BlackBerry an,
50 Arbeitsplätze, auch die Führungskräfte für Notfälle war seine private Telefon-
sitzen jeden Tag an einem anderen nummer hinterlegt, ein paarmal telefo-
Schreibtisch. „Es ist erlaubt, ja es ist sogar nierte er mit seiner Vertretung.
erwünscht, manchmal von zu Hause aus „Letztlich ist es ein Geben und Neh-
zu arbeiten“, sagt Volkens. men“, sagt Chromik. Komme das Unter-
Solche Modelle aber funktionieren nur, nehmen dem Mitarbeiter entgegen, sei
wenn sie vorgelebt werden. Volkens’ Ziel dieser auch eher bereit, in Sondersitua-
ist es deshalb, „mehr Männer dazu zu er- tionen einzuspringen. „Hätte sich die
mutigen, Elternzeit zu nehmen und Teil- Euro-Krise in dieser Zeit dramatisch ver-
zeit zu arbeiten“. Sie sagt das auch im In- schärft“, sagt er, „wäre ich natürlich sofort
teresse des Unternehmens: „Eine aktive Vater Chromik, Lufthansa-Vorstand Volkens in die Bank gekommen.“
Vaterrolle zu übernehmen fördert oft so- „Mehr Männer ermutigen“ SUSANNE AMANN, SIMONE SALDEN

60 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
und die junge Kopfhörergeneration wird bene-Seite stößt. Einmal draufgeklickt,
HANDEL möglicherweise früher mit Hörproblemen bekommt man sofort das Angebot zu

Großer
zu kämpfen haben. einer kostenlosen Telefonberatung durch
Nun will Audibene schaffen, was dem Hörgeräteakustiker.
Marktführer Kind und den Großfilialisten Die Berliner vertreiben Hörgeräte aller

Lauschangriff
Geers, Amplifon und Fielmann bislang Hersteller und bieten sie 10 bis 20 Prozent
nicht gelang: die Neupositionierung des billiger an. Im Moment geht das oft noch
Hörgeräts als hippes Gadget. „Wir müs- auf Kosten der Marge, doch wenn die Or-
sen weg von der Vorstellung des fleisch- derzahlen steigen, können die Audibene-
Das Internet-Start-up Audibene farbenen Hakens hinterm Ohr“, sagt Vie- Macher große Stückzahlen billiger ein-
will Hörgeräte von ihrem tor. Denn heutzutage sind hochwertige kaufen, so das Kalkül.
Greisen-Image befreien. Jüngere Hörgeräte nicht nur verschwindend klein, Mit dem Absatz der hochspezialisier-
sondern echte Hightech-Geräte, die sich ten Techno-Lauscher ist es aber nicht ge-
Kunden sollen die Scheu per Funk mit dem Handy, dem Fernseher tan. Den Zuschuss der Krankenkassen,
vor den Ohrenhaken verlieren. oder dem iPad verbinden. der sich am 1. November auf 785 Euro
Doch wie durchbricht man die Hemm- fast verdoppelt hat, erhält nur, wer sich

N
ormalerweise sorgen transparente schwelle der potentiellen Kunden? Über das Gerät von einem Hörgeräteakustiker
Designerkleider und tiefe Rücken- das Netz, glauben die Gründer. „Wer anpassen lässt.
ausschnitte auf den roten Teppi- schlecht hört, informiert sich heutzutage Also sind die Gründer durchs Land ge-
chen dieser Welt für Aufmerksamkeit. doch erst einmal im Internet“, sagt Vietor. zogen und haben bislang 360 niederge-
Doch Anfang 2013, bei der Berlin-Premie- Dort kommt der Ratsuchende an Audi- lassene Meisterbetriebe als Partner ge-
re von Quentin Tarantinos Blutrunst-Wes- bene kaum noch vorbei. Die Homepage wonnen, allesamt kleine, inhabergeführte
tern „Django Unchained“, war der große der Berliner ist derart optimiert, dass je- Geschäfte. Audibene schickt seine Kun-
Aufreger ein kleines Kabel, das dem der, der in einer Suchmaschine „schlecht den zu diesen Akustikern, die gegen eine
Schauspieler Christoph Waltz, damals 56, hören“ eingibt, ganz schnell auf die Audi- Anpassungspauschale den gesamten Ser-
übers Ohr hing: „Ja“, gab der Os- vice und damit den Löwenanteil
car-Preisträger freimütig zu, „ich der Arbeit erledigen. Am Gerät
habe ein geschädigtes Gehör.“ selbst verdienen die Techniker
Ein Filmstar, der sich zu seiner nichts, das stellt Audibene den Kun-
Ohrprothese bekennt: Schöner hät- den direkt in Rechnung. Dennoch
te es nicht kommen können für das sei die Kooperation für die Akusti-
Berliner Start-up-Unternehmen Audi- ker lukrativ, sagt Vietor: „Wir ver-
bene. Die beiden Gründer Marco schaffen zusätzliche Kunden, weil
Vietor, 33, und Paul Crusius, 32, wir Menschen erreichen, die sonst
sind im April 2012 angetreten, den nicht in ein Hörgerätegeschäft gehen
Altersmuff aus der Hörgerätebran- würden. Wir machen den Kuchen
che zu vertreiben. Mit ihrer Inter- größer.“ Im Schnitt bekämen ihre
netplattform wollen sie Jüngeren Partner fünf Prozent mehr Zulauf.
die Abscheu vor den elektroni- Ein Ziel hat Audibene bereits er-
schen Lauschern nehmen – mit ei- reicht: Das Durchschnittsalter seiner
nem jungen Beraterteam, einem fri- Kunden liegt derzeit bei 62 und da-
schen Netzauftritt, Kampfpreisen mit zehn Jahre unter dem der tradi-
und personalisiertem Service. tionellen Abnehmer. Nicht der aus-
Tatsächlich leidet der Geschäfts- therapierte Opa ist die Zielgruppe,
zweig bisher unter einem Stigma. sondern internetaffine Erstversorger
Während Brillen längst zum Life- zwischen fünfzig und Ende sechzig
style-Accessoire geworden sind, mit leichtem bis mittlerem Hörver-
gelten Hörgeräte als Symbol des lust. Denn die greifen öfter zu den
Alterns. „Wer schwer hört, wirkt ausgefeilten, teuren Hightech-Gerä-
leicht begriffsstutzig, desinteres- ten, die bis zu 2800 Euro kosten.
siert oder zurückhaltend“, sagt Mit der Idee, Hörgeräte schick
Stephan Baschab, Hauptgeschäfts- zu machen, stehen die Berliner al-
führer der Bundesinnung der Hör- lerdings nicht allein da. Auch das
geräteakustiker. Das will keiner Schweizer Unternehmen RS Audio
sein, und deshalb gestehen sich vie- AG hat die Schwerhörigen als
le Menschen ihre Schwerhörigkeit Einkommensquelle entdeckt. Seit
oft jahrelang nicht ein. August verkauft die Firma simple
Circa jeder dritte Deutsche über Hörverstärker unter dem Label Cla-
50 Jahre leidet unter einer Hörmin- ratone zum Preis von 280 bis
derung – etwa 14 Millionen Men- 570 Euro in Schweizer Postfilialen,
schen. Doch nur 2,5 Millionen tra- seit Oktober auch in Migros-Elek-
gen ein Hörgerät. Ein Feld, das sich tronikmärkten. Die Mitnahmeware
zu beackern lohnt, analysierten der ist, anders als ein Hörgerät, kein
FREDERIC J. BROWN / AFP

Online-Marketing-Experte Vietor Medizinprodukt und mithin keine


und der Unternehmensberater Cru- Konkurrenz zu Audibene.
sius. Zumal der Markt, der 2012 Freuen wird es die Gründer trotz-
schon 1,3 Milliarden Euro umsetzte, dem nicht: Einige Geräte erinnern
Jahr für Jahr um fünf Prozent doch sehr an fleischfarbene Haken.
wächst. Die Zahl der Älteren steigt, Schauspieler Jodie Foster, Waltz: Schwerhöriger Star MICHAELA SCHIESSL

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 61
Wirtschaft

FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS / DER SPIEGEL


1

90 Prozent aller global gehandelten


GLOBALISI ERUNG Waren werden inzwischen über die Mee-
re transportiert. Dazu kommen mehr als

Aufsteiger im Unterdeck 20 Millionen Menschen weltweit, die je-


des Jahr eine Kreuzfahrt buchen, allein
1,4 Millionen in Deutschland. Was aber
kaum jemand weiß: Über 50 Prozent der
Die Philippinen profitieren vom Export billiger Arbeitskräfte – Seeleute auf den Weltmeeren stammen
vor allem für die Seefahrt. Ohne das Personal des Magsaysay- von den Philippinen, zusammen sind es
fast 700 000, eine gigantische Zahl. Und
Konzerns wäre der Erfolg der Kreuzfahrtbranche nicht möglich. jedes dritte der weltweit 250 000 Crew-
Mitglieder auf Kreuzfahrtschiffen ist phil-

D
as Schiff schaukelt, der Bug kracht Tourismusmetropolen nachgestellt. Nur ippinischer Herkunft.
in die raue See. Wassermassen drei solcher Hightech-Ungetüme gibt es Sie gelten als freundlich. Anders als
stürzen über das Deck, Sekunden weltweit, eines in Kanada, eines in Polen Indonesier, Chinesen oder Osteuropäer
später steigt die Schiffsspitze wieder me- und eines eben hier: an der Maritime sprechen sie zudem akzentfrei Englisch.
terhoch in den Himmel. Regengüsse und Academy of Asia and the Pacific auf den Es ist die zweite Amtssprache, ein Relikt
Sturmböen peitschen gegen die Scheiben Philippinen, rund drei Autostunden west- aus den amerikanischen Kolonialjahren.
der Brücke. Am Horizont rückt die Sky- lich von Manila, direkt am Südchinesi- Und sie sind jung, das Durchschnittsalter
line New Yorks langsam näher. Jedenfalls schen Meer gelegen. der Philippiner liegt bei 23 Jahren.
sieht es so aus. Querol, ein kleiner Mann mit schwar- Vor allem aber sind sie billig, weil Ree-
Plötzlich aber ändert sich die Umge- zem schütteren Haar, ist Vertriebsmana- dereien wie die in Italien registrierte Cos-
bung. Statt auf die Freiheitsstatue fährt ger von Magsaysay, der größten Schiffs- ta Crosiere oder deren deutsche Schwes-
der Tanker nun auf die Wesermündung crew-Vermittlung der Philippinen – und ter Aida sie nicht direkt, sondern über
zu. Die Umgebung ist flach und unspek- damit Herr über das Personal von Hun- Magsaysay anstellen. Statt italienischen
takulär, die See ruhig. Das Schiff gleitet derten Kreuzfahrt- und Containerschiffen Gehältern und Arbeitnehmerrechten be-
still dahin, die Brücke bewegt sich kaum. sowie Tankern. Der Konzern verleiht Kö- kommen sie einen Vertrag mit Magsay-
Ein einziger Knopf macht den Unter- che, Kellner, aber auch Ingenieure an die say – zu philippinischen Konditionen.
schied. Reedereien dieser Welt und kassiert dafür Ohne diese Arbeitskräfte, das ist in der
Alexander Querol hat kein Problem eine sogenannte Besatzungsgebühr. Au- Branche ein offenes Geheimnis, bräche
mit dem schnellen Wechsel. Der Manager ßerdem betreibt die Firma eigene Schiffe der Markt zusammen. Sie kochen, putzen
steht breitbeinig auf der imaginären und unterhält Callcenter für amerikani- die Bäder, machen die Betten, servieren
Schiffsbrücke und schaut den Nachwuchs- sche und kanadische Unternehmen. Speisen, reparieren Motoren, streichen
kadetten beim Steuern des Schiffssimu- 40 000 Seefahrer schippern auf Magsay- die Reling. Im besten Fall stehen sie auch
lators zu. Sechs gigantische Hydraulik- say-Ticket über die Weltmeere. Erst im mal als Zweiter Offizier auf der Kom-
arme unter dem Kommandozentrum er- Juni orderte etwa der deutsche Markt- mandobrücke – alles zu einem Bruchteil
zeugen die heftigen Bewegungen, auf führer Aida mehr als 300 Leute bei Mag- europäischer Gehälter. Sechs Monate
riesigen 360-Grad-Monitoren werden die saysay: für sein neues Schiff, das ab 2015 oder länger sind sie weg von der Familie
Hafeneinfahrten berühmter Handels- und von Hamburg aus den Dienst aufnimmt. und Freunden, sie arbeiten sieben Tage
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4 5

die Woche, haben keinen Tag frei, sind 1 Schiffssimulator für angehende Kapitäne lang als Kellnerin ausgebildet wird. Bä-
rund um die Uhr ansprechbar für Gäste 2 Kadetten im Ausbildungszentrum cker müssen umgerechnet rund 2500 Euro
und Vorgesetzte. „Würden Sie in Deutsch- zahlen, Köche 3300 Euro, dafür dauert
3 Kochlehrling beim Abschmecken
land genügend Personal für diese strapa- der Kurs auch rund sechs Monate. Die
ziösen Jobs finden?“, fragt Querol. Es ist 4 Servicepersonal in nachgebauter Kabine Gebühr entspricht in etwa dem Jahres-
wohl eher eine rhetorische Frage. 5 Kadetten bei Zerlegen eines Schiffszylinders gehalt eines Handwerkers oder Bauern.
Bestürzt reagierten die Reedereien Kuan Wongs Ausbilder sind streng. Der
deshalb nach dem Supertaifun „Haiyan“, Das Times-Plaza-Gebäude liegt mitten Maître demonstriert den Schülern, in wel-
der Anfang November für fast 6000 Tote im Zentrum Manilas, der quirligen Mil- chem Winkel die Kellner zum Gast stehen
und Schäden in Milliardenhöhe auf den lionenmetropole des Inselstaats. Zwi- müssen, erinnert, sich diesem beim Auf-
Philippinen sorgte. Aida, Costa Crociere, schen Garküchen und fliegenden Händ- legen der Servietten zuzuwenden, mahnt,
Princess Cruises – alle riefen bei Querol lern befindet sich ein gesichtsloser Beton- das Lächeln nie zu vergessen. „Wir trai-
an, um zu erfahren, was mit den Familien klotz mit einer kleinen Shopping-Mall im nieren hier keine Unterwürfigkeit“, sagt
vor Ort sei. Denn viele seiner Mitarbeiter Erdgeschoss. Ein paar Stockwerke weiter Paolo Santino Guevara, Chef des MIHCA.
kommen von der Insel Leyte, wo es die oben wird im Magsaysay Institute for „Sie sollen keine Diener sein, sondern
größten Zerstörungen gab. Ob von den Hospitality and Culinary Art (MIHCA) einen guten Job am Gast machen.“
anfangs mehr als 2000 Vermissten je- das weltweite Kreuzfahrtpersonal im Der Drill lohnt sich, auch wenn die
mand zur Verwandtschaft der Bediens- Gastronomiebereich geschult. Ausbildung erst mal viel kostet. „Dafür
teten gehört, wollten die Reedereien In dieser Ausbildungsstätte hat Mag- kann ich später an Bord viel mehr ver-
wissen – was glücklicherweise nicht der saysay Deck für Deck das Innere der dienen als zu Hause“, sagt Kuan Wong.
Fall war. Kreuzfahrtschiffe originalgetreu nachbau- Etwa 600 Euro im Monat, vielleicht auch
Dann wäre das Geschäft bedroht ge- en lassen: Im vierten Stock finden sich 800 Euro werden sie und ihre Kollegen
wesen – und das ausgerechnet vor Weih- Empfangsschalter und die Kabinen von später auf einem Schiff als Kellnerin und
nachten. 399 Euro kostete ein Reisespe- Aida und Costa, einen Stock höher sind Zimmermädchen verdienen, dazu kommt
zial, mit dem Aida in der Weihnachtszeit die Küchen und Waschküchen der Schiffe das Trinkgeld. Als Teamleiterinnen kann
warb: eine Woche rund ums Mittelmeer installiert, noch mal einen Stock höher es das Doppelte werden.
schippern, Vollpension und Kinderbe- stehen die runden Aida-Tische im Speise- Das ist viel Geld in einem Land, in dem
treuung inklusive. Ohne die niedrigeren saal. Hier lernen Leute wie Bianca Kuan 60 Prozent der Menschen weniger als
Löhne wären Kreuzfahrten für die Mas- Wong, Cappuccino zuzubereiten wie in zwei US-Dollar am Tag zum Leben ha-
sen kaum erschwinglich. Die Reisen wa- Italien, Brot zu backen wie in Deutsch- ben, in dem Cholera und Typhus zum
ren ausgebucht. land und Steaks zu grillen wie in Ameri- Alltag gehören und in bestimmten Stadt-
Magsaysay-Manager Querol weiß ge- ka. Die 22-Jährige ist dezent geschminkt, teilen Manilas 80 000 Menschen auf einem
nau, dass die großen Reedereien von sei- sie trägt eine graue Arbeitsbluse mit Quadratkilometer ohne Kanalisation in
nen Landsleuten abhängig sind – und das steifem weißen Kragen und einen dunkel- illegalen Hütten leben.
macht ihn stolz. Man kann es so sehen: blauen Rock. Aufmerksam, routiniert und Alle Reedereien unterliegen der Inter-
Deutschland exportiert Autos, Russland freundlich bedient sie ihre Gäste, nichts national Convention on Standards of
Rohstoffe. Die Philippinen exportieren wackelt, jede Bewegung sitzt. Training, Certification and Watchkeeping
eben ihre Menschen. Und das tun sie 45 000 philippinische Peso, etwa 750 for Seafarers, einem internationalen Ab-
hochprofessionell. Euro, zahlt sie dafür, dass sie vier Monate kommen über Ausbildung und Sicherheit
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von Seefahrern, das weltweit streng kon- eine astronomische Summe für philippi-
trolliert wird. Außerdem müssen alle phil- nische Verhältnisse. Dank des Gehalts JOBS

Genosse
ippinischen Seefahrer bei der staatlichen können seine Frau Nancy und die 16- und
Philippine Overseas Employment Orga- 19-jährigen Töchter hier im Dorf leben –
nisation registriert sein, die Mindeststan- auch wenn der Preis hoch ist: „Wir neh-

Ausbeuter
dards festsetzt. Kein Mensch darf an Bord men in Kauf, dass mein Mann nie da ist“,
eines Schiffs, der nicht entsprechend re- sagt Nancy. Aber seit man auf den Schif-
gistriert und geschult ist, keine Reederei fen auch mit Mobiltelefonen und Skype
kann diesen Kodex umgehen. kommunizieren könne, sei es erträglicher.
Das Regelwerk gibt es auch dank Mag- „Wenn er sieht, dass der Rechner ‚online‘ Über ein Firmengeflecht ist
saysay. Das Unternehmen gehört einer anzeigt, ich aber bei Skype nicht antwor- die SPD an Postdiensten beteiligt.
der mächtigsten Familien der Philippinen. te, will er immer gleich wissen, ob ich Die Firmen zahlen nur wenige
Die Chefin Doris Magsaysay Ho macht wieder in der Mall shoppen war und Geld
ihren Einfluss bei Bedarf direkt beim Prä- ausgegeben habe“, scherzt sie. Cent pro Brief und behindern die
sidenten Benigno Aquino geltend. Aller- Geht es nach Magsaysay-Manager Gründung von Betriebsräten.
lei Privilegien hat sie den Seeleuten damit Querol, soll das Modell Seamen’s Village

D
verschafft, sei es eine kostenlose Gesund- auf den ganzen Philippinen Schule ma- ie Straße ist an diesem Morgen zu-
heitsversorgung, höhere Renten oder chen. Er träumt sogar davon, dass seine gefroren, aber der Mann radelt
steuerfreie Einkommen. Landsleute irgendwann nicht mehr nur trotzdem im Stehen. Er muss sich
Mit dem Geld versorgen sie oft die ge- die Hilfskräfte sind, sondern auf den Brü- beeilen, und das Papier in seinen Körben
samte Familie. Rund 21 Milliarden Dollar cken der Schiffe kommandieren. ist schwer. Um halb eins in der Nacht hat
transferieren zehn Millionen Exilarbeiter Deshalb hat der Konzern ein eigenes sein Wecker geklingelt. Dann hat er die
Jahr für Jahr in ihr Heimatland. Knapp maritimes Institut gegründet, in dem verschnürten Stapel der „Kieler Nachrich-
5 Milliarden Dollar tragen dazu allein die künftige Kapitäne und Chefingenieure ten“ verteilt, jetzt sind die Briefe an der
Seefahrer bei, obwohl sie nur fünf Pro- ausgebildet werden. Drei Jahre lang müs- Reihe, die er zuvor am Küchentisch sor-
zent der Wanderarbeiter stellen. sen die Kadetten hier lernen, danach tiert hat. An sechs Tagen in der Woche
„Wir sind das Rückgrat unserer Wirt- schließt sich ein Jahr Praxis auf einem geht das so, insgesamt 12 bis 14 Stunden
schaft“, sagt Magsaysay-Manager Querol. Schiff an. Vergeben werden die Plätze in am Tag. Sein Lohn für diesen Doppeljob
einem strengen Auswahlprozess, aus- im vergangenen Monat: rund 850 Euro.
schließlich an junge Menschen aus armen Jochen Schneider* ist das, was seine
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS / DER SPIEGEL

Familien. Das Studium kostet nichts, be- Chefs „Hybridzusteller“ nennen. Bundes-
zahlt wird es von der staatlichen Entwick- weit nutzen Zeitungsverleger die Logistik
lungsbank. 5000 Bewerbungen gehen je- ihrer Botendienste, um der Deutschen
des Jahr für die etwa 120 Plätze ein. Post mit dem Austragen billiger Briefe
Nereus Calma hat einen der begehrten Konkurrenz zu machen. Es ist ein Wett-
Plätze bekommen. Der 18-Jährige will In- bewerb, der auf Niedriglöhnen fußt.
genieur werden und nimmt dafür aller- Schneider gehört zu den Menschen, für
hand in Kauf: Geweckt wird um 3.40 Uhr, die die SPD im Wahlkampf gestritten
ab 4 Uhr ist eine Stunde Sport, danach hatte. In den Koalitionsverhandlungen
Körperpflege, ab 6 Uhr Frühstück, zwi- mit der Union setzten die Sozialdemo-
Kulturzentrum im „Seamen’s Village“ schen 7 und 17 Uhr findet der Unterricht kraten einen flächendeckenden Mindest-
Modell für die gesamten Philippinen statt. Lediglich um 13 Uhr ist eine Stunde lohn von 8,50 Euro durch, und die neue
Mittagspause. Das Gelände darf außer Arbeitsministerin Andrea Nahles will den
„Seefahrer zu sein ist kein Job, sondern sonntags nicht verlassen werden, Handy Missbrauch von Werkverträgen und Leih-
eine Karriere. Durch unsere Seeleute ent- und Computer sind tabu. Geschlafen wird arbeit einschränken.
steht hier etwas wie eine Mittelschicht.“ in Achtbettzimmern, man ist stolz darauf, Doch wenn es um das eigene Geschäft
Dass er mit dieser Einschätzung nicht dass sie klimatisiert sind. geht, scheinen die Genossen andere
falsch liegt, ist im „Seamen’s Village“ zu Calma, klein und drahtig, stammt aus Schwerpunkte zu dulden. Dann lassen sie
besichtigen, einer Siedlung in Cavite, Bukidnon in Mindanao, einer der ärms- zu, dass Verdienste weit unter den zukünf-
eineinhalb Autostunden südlich von Ma- ten Gegenden des Landes. Seine Eltern tigen Mindestlohn gedrückt, Arbeitneh-
nila. Hier wohnen etwa 500 Familien, in sind geschieden, seine Mutter arbeitet merbelange missachtet und wirtschaftli-
denen mindestens ein Mitglied zur See bei der lokalen Kommunalverwaltung. che Beteiligungen mit Hilfe komplizierter
fährt, teilweise schon seit Jahren. Sea- Sie verdient 5000 philippinische Peso im Firmenkonstruktionen verschleiert wer-
men’s Village ist ein Dorf im Dorf, ein- Monat, knapp 90 Euro. Er hat drei Brü- den – wie in der Zustellerbranche. Über
gezäunt und von Sicherheitspersonal be- der und eine Schwester, sollte er die ihre Medienholding DDVG sind die
wacht. Für philippinische Verhältnisse Ausbildung am Magsaysay-Institut beste- Sozialdemokraten an fünf privaten Post-
sind die Häuser groß und gutausgestattet, hen und irgendwann auf einem Schiff diensten beteiligt.
in den Hofeinfahrten stehen SUVs und anheuern, will er für die gesamte Familie Zu 23,1 Prozent zum Beispiel gehört
Kleinbusse, die Gärten sind akkurat sorgen. An Bord könne man locker 6000 den Genossen das Medienhaus Madsack
gepflegt. Die Community betreibt eine Dollar im Monat verdienen, schätzt er. in Hannover. Die Verlagsgesellschaft
eigene Schule und ein Kulturzentrum, „Ich möchte meiner Mutter helfen.“ bringt nicht nur die „Hannoversche All-
das gerade vergrößert wird, auch einen Vor kurzem hat Calma eine Reportage gemeine Zeitung“ oder die „Kieler Nach-
eigenen Pool können die Bewohner über Olympiastädte gesehen. München kam richten“ heraus, sondern stellt über
nutzen. auch darin vor. Die Gegend hat ihm gut Tochtergesellschaften auch Briefe in
Jamry Salazar ist einer der Männer, gefallen. „Irgendwann“, sagt Calma, „will Deutschland zu: mit Nordbrief in Schles-
die sich diesen Luxus leisten können. Er ich meine Mutter einladen und mit ihr wig-Holstein und Mecklenburg-Vorpom-
arbeitet als Mechaniker auf einem Con- eine Kreuzfahrt nach Deutschland ma- mern, der Citipost in Niedersachsen, Maz-
tainerschiff, das gerade in Rotterdam chen. Als Gast“. Dass München nicht am
liegt. 2000 Dollar bekommt er im Monat, Meer liegt, weiß er nicht. JANKO TIETZ * Name von der Redaktion geändert.

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Wirtschaft

Zustellerfirmen von einem Tochterunter-


nehmen geschult, eingekleidet und aus-
gestattet werden. Dazu haben sie sich per
Werkvertrag verpflichtet. So wandern Er-
löse zurück in die Verlagskasse. „Das sind
Scheingesellschaften“, sagt der Ver.di-
Gewerkschafter Thomas Domres. Verlag
und Anwälte äußern sich dazu nicht.
Die verschachtelte Firmenstruktur er-
schwert die Gründung von Betriebsräten.
Bereits vor fünf Jahren hatte Gewerk-
schafter Domres versucht, Nordbrief-Mit-
arbeitern bei der Gründung eines Be-
triebsrats zu helfen. Rund 20 Zusteller
kamen zu einer ersten Informationsveran-
staltung im Gewerkschaftshaus. Danach
wurde Domres’ Kontaktmann im Betrieb,
Peter Zachewicz, entlassen – fristgerecht
und sofort freigestellt. Eine Abfindung
von 1500 Euro erstritt er vor Gericht.

QUELLE: YOUTUBE
Bei der Citipost in Hannover haben
Briefträger der Subunternehmen ähnliche
Probleme. 2011 entließ die Zeitungs-Ver-
Nordbrief-Austräger: Schmale Löhne gehören zum Ertragsmodell triebs-GmbH Döhren kurzerhand ihre
gesamte Belegschaft von 15 Zustellern,
mail in Brandenburg und der sächsischen und dieselben Geschäftsführer: Horst Stöl- nachdem diese einen Betriebsrat gegrün-
LVZ Post. Und auch das Dresdner Druck- ting und Volker Ehlers. GLM Gesellschaft det hatten. Und als wenige Monate später
und Verlagshaus, an dem die DDVG für Logistikmanagement mbh, WVK Mitarbeiter der Vertriebsgesellschaft im
40 Prozent der Anteile hält, betreibt einen Werbe-Vertrieb-Kiel GmbH oder TVG Bezirk List denselben Plan verfolgten,
eigenen Postdienst. Transport und Vertriebs GmbH – Firmen drückten ihnen Vorgesetzte einen vor-
Schmale Löhne für Briefträger gehören wie diese sind heute auf Büros im Um- gefassten Brief in die Hand: „Ich stehe
überall zum Ertragsmodell. Durch sie zie- kreis verteilt und werden von ehemaligen für den Job als Wahlvorstand nicht mehr
hen die Firmen große Aufträge an Land: Angestellten geleitet. zur Verfügung“, stand darin. „Mehr als
Gerichte, Kommunalverwaltungen, Lan- Zu den Eigentümern der Gesellschaf- die Hälfte ließ sich einschüchtern und un-
desbehörden und auch die Nürnberger ten gehört jetzt eine Reihe von Anwälten, terschrieb“, sagt Hans-Uwe Behrens von
Bundesagentur für Arbeit. Es zählt der die Partner der Kieler Kanzlei Brock Mül- der Gewerkschaft Ver.di.
niedrigste Preis. Zugleich gibt es neben ler Ziegenbein sind. Zwischen der Kieler Während die Firma in List dazu heute
den Brief-Dachmarken ein ausgeklügeltes Verlagsspitze und etwa dem Rechtsanwalt schweigt, gibt der Döhrener Geschäfts-
Firmennetz, das trickreich verbirgt, wer Ulrich Ziegenbein bestehen seit langem führer „wirtschaftliche Gründe“ an. Die
hinter den Niedriglöhnen steht. Verbindungen. Er war oft als Notar für SPD-Medienholding streitet ihre Ver-
Wenn Jochen Schneider am Morgen sie tätig. antwortung ab. Die Anteile der Post-
seine Weste überzieht, steht auf seinem Auf dem Papier sind sie eigenstän- unternehmen würden „in keinem einzi-
Rücken „Kieler Nachrichten“ und auf sei- dig – von ihren Gewinnen profitiert der gen Fall von der DDVG direkt gehalten“,
nen Fahrradtaschen „Nordbrief“. Er „ist Verlag dennoch: Zu „marktüblichen“ Prei- sagt DDVG-Geschäftsführer Jens Berend-
angehalten, sämtliche Anstrengungen zu sen müssen regelmäßig Angestellte der sen. Sie habe daher auch keinen „direk-
unternehmen, um die Briefe zuzustellen“. ten Einblick“. Ähnlich argumentiert Mad-
Das liest er in dem Nordbrief-Handbuch, Auf Kosten der sack: Die Verlagsgesellschaft sei an den
das ihm sein Chef gegeben hat. hat in den Zustellgesellschaften „nur minderheitlich
Ob der geplante Mindestlohn ihm hel-
Arbeitnehmer Koalitionsverhand- beteiligt“. Deshalb sei „die Lohngestal-
fen wird, ist fraglich. Schneider wird nicht lungen die Einführung tung“ ausschließlich „Sache dieser Unter-
nach Stunden bezahlt. Er erhält einen eines flächen- nehmen“.
deckenden, gesetzlichen
Stücklohn pro Brief, den er nicht genau Mindestlohns von
Im April dieses Jahres hatte Berendsen
100%
kennt, weil in jedem Monat ein neuer den Madsack-Konzernbetriebsrat besucht.
Durchschnittswert errechnet wird. Selbst 8,50 € „Man setze weiter auf Kostensenkung“,
DDVG- durchgesetzt
in guten Monaten verdient er so nicht Medienholding gab er zu Protokoll. Anschließend schrieb
mehr als 4,50 Euro in der Stunde. Viele ein Potsdamer Betriebsrat einen Brief:
23,1 %
seiner Kollegen beziehen deshalb zusätz- „Betreibt die SPD als Wirtschaftsunter-
lich Leistungen aus Hartz IV. Madsack-Mediengruppe nehmerin eine gegensätzliche Politik zu
Allerdings findet Schneider weder den u.a. Regionalzeitungen wie „Hannoversche ihren Aussagen als Partei?“, fragte er.
Kieler Zeitungsverlag noch dessen Toch- Allgemeine“ und „Kieler Nachrichten“ (37 %); SPD-Schatzmeisterin Barbara Hen-
terfirma Nordbrief auf seinen Gehalts- außerdem Logistikunternehmen dricks, die nun Bundesumweltministerin
zetteln wieder. Die Firmen im Briefkopf zur Briefzustellung, ist, antwortete im Juli darauf: Eine Ren-
darunter
tragen zwei unterschiedliche Namen, je- 61,2%* dite von rund zehn Prozent sei „notwen-
weils Kürzel aus drei Buchstaben. Wie Durch Stücklohn- dig“, um „Investitionen in Zukunftsaus-
sie lauten, soll nicht im SPIEGEL stehen. verträge verdienen gaben aus eigener Kraft zu finanzieren“.
Zusteller weniger als
Schneider hat Angst um seinen Job. Und aus dem „Drittgeschäft“ schöpften
Bis vor drei Jahren hatten Nordbrief 5€ die SPD-Verlage einen hübschen Zusatz-
formal eigenständige pro Stunde.
und seine Zustellgesellschaften einen ge- Zustellerfirmen ertrag: 60 Cent zu jedem klassisch ver-
meinsamen Sitz in einem Bürogebäude * mittelbar dienten Euro. K RISTIANA L UDWIG

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Wirtschaft

JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL


WOSTOK-LIMONADE.DE

Etikett des Softdrinks Wostok, Limonadenhersteller Wiegert: Vom Underdog zum Krawattenträger mutiert?

schen Zuckerwasser-Branche. Mehr als


GETRÄNKEINDUSTRIE hundert neue Sorten kommen jedes Jahr

Hippe Brause
auf den Markt. In Hamburg entstanden
neben fritz-kola noch Lemonaid und Pre-
mium-Cola, in Berlin Wostok und Skull,
in München und der bayerischen Provinz
Aufbruchstimmung in der Zuckerwasser-Branche: Überall im Sutherlandia und Club-Mate. Alle sind hip
und cool und irgendwie nachhaltig – bio,
Land entstehen neue Limonaden. Doch wer zu Fair Trade und natürlich antikapitalistisch.
viel Erfolg hat, macht sich beim Stammpublikum verdächtig. Anders eben, das ist wichtig im Hambur-
ger Schanzenviertel, in Berlin-Kreuzberg

F
ür eine erfolgreiche Brause braucht seiner PR-Beraterin in seinem Büro im oder im Münchner Glockenbachviertel,
man Wasser, Zucker, Kohlensäure Hamburger Stadtteil Billbrook und wirkt wo sich die Großstadt-Boheme gern mit
und noch ein paar andere Zutaten. unentschlossen. Seine Firma hat in einer den durchdesignten Flaschen schmückt
Aber vor allem braucht man eine Ge- alten Seifenfabrik Quartier bezogen. Im und trinkend die Welt verbessert.
schichte. Erdgeschoss packen einige der inzwi- Das Attribut Hipster-Getränk weist Mir-
Die Geschichte von fritz-kola geht so: schen 30 Mitarbeiter Kisten und Kühl- co Wiegert pikiert zurück. Nein, nein, nie-
Beim Pizzaessen diskutieren die beiden schränke für den nächsten Messeauftritt. mals sei es darum gegangen, cool zu sein.
Hamburger Studenten Mirco Wiegert und Neben der Cola, die sie mit deutschem „Wir sind Stinos“, sagt er. „Stinknormale
Lorenz Hampl über die Allmacht des „k“ schreiben, gibt es inzwischen auch Li- Menschen, die eine gute Cola machen wol-
Großkonzerns Coca-Cola und beschlie- monaden und Apfelsaftschorle. Abgefüllt len.“ Das Underdog-Image, das seinem
ßen, ihm Konkurrenz zu machen – David werden die Flaschen an drei Standorten, Getränk anhaftet, habe er nie gefördert.
gegen Goliath. Ihr Produkt soll mehr Kof- verteilt über Deutschland. Zu kaufen gibt „Darum geht es uns auch gar nicht.“
fein enthalten, aber weniger süß sein. Die es sie nun auch in London und Paris, in Dass es vor allem um das Image geht,
Inhaltsstoffe besorgen sie in einer Apo- Amsterdam und Prag. zeigen die krampfhaften – und weitge-
theke, in ihrem Studentenwohnheim tüf- Mehrere Millionen Liter Brause setzen hend erfolglosen – Bemühungen der In-
teln sie an der perfekten Rezeptur. Die Wiegert und Hampl jedes Jahr ab. Wie dustrie, den Erfolg der Kultlimonaden zu
Flaschenetiketten mit den Gesichtern der viel genau, das bleibt geheim, ebenso wie kopieren. Mit geblümtem Retro-Etikett
beiden Gründer entstehen im Kopier- die Rezeptur, Gewinn und Umsatz. Nicht und dem Versprechen, „100% natürlich“
laden und werden mit Klebestift aufge- einmal ihre langfristigen Ziele wollen sie zu sein, versucht Warsteiner, seiner Sur-
bracht. Die Gründer lagern die ersten 170 verraten. Aus gutem Grund, denn die Le- fer-Limo Aloha ein Plätzchen in den
Kisten im Keller ihrer Eltern und karren gende von der netten, kleinen Klitsche Kühlschränken der Szenekneipen und
sie mit einem alten VW-Bus zu den Ham- aus Hamburg muss bleiben, auch wenn Programmkinos zu sichern. Selbst Coca-
burger Szenekneipen. Tolle Story. die beiden Gründer inzwischen deutlich Cola wollte mit The Spirit of Georgia für
Heute, gut zehn Jahre später, müssen mehr verkaufen als ihre inländischen viel Geld ein Heile-Welt-Getränk auf den
Wiegert und Hampl dafür sorgen, dass Konkurrenten, von denen es immer mehr Markt bringen – ein Flop.
ihr Gründungsmythos seinen Charme be- gibt. Der Spagat zwischen Nischen-Image
hält. Wiegert, 38, schwarzes T-Shirt, aus- Spätestens seit dem Erfolg von Bionade und Massenmarkt gelingt nur den we-
gewaschene Jeans, sitzt zusammen mit herrscht Aufbruchstimmung in der deut- nigsten.
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„In dem Moment, wo klar wird, dass und ist der neueste Schrei in den Hipster- fen und stellt es auf die Theke. „So viel
hinter der Marke ein großer Konzern steht, Hochburgen. Seine Geschichte trifft den Wostok trinkt der deutsche Staatsbürger
verliert so ein Getränk für viele seinen gleichen Nerv wie die von fritz-kola. pro Jahr.“ Er hat das ausgerechnet: Zwei
Charme und damit auch seine Funktion Fast 20 Jahre lang arbeitete der Nie- Tropfen mal 80 Millionen Einwohner
als Statussymbol“, sagt der Werber Stefan derländer van Velzen als Fotograf in macht eine Million Flaschen – so viel will
Kolle, der mit seiner Hamburger Agentur Russland, wo er Fotoreportagen über alte er dieses Jahr verkaufen. Auch fünf Mil-
auch Bionade beraten hat. Die Geschichte Arbeitslager machte und neue BMW für lionen Flaschen seien nicht schädlich fürs
der kleinen Familienbrauerei aus Unter- den osteuropäischen Markt ablichtete. Image, meint er, „eineinhalb Zentiliter pro
franken ist ein Lehrstück über die Regeln Wodka trank er nie, dafür Baikal – die Bundesbürger“. Problematisch sei erst die-
der Getränkeindustrie. Nach dem Ausstieg sowjetische Kampfansage an Coca-Cola se „Krawattenträgermentalität“, wie sie
der Gründerfamilie gehört Bionade inzwi- aus den siebziger Jahren. 2008 zog er in der Getränkeindustrie vorherrsche.
schen komplett zum Oetker-Konzern. Es „Wenn man die anderen über Exklusivver-
gibt sie in PET-Flaschen bei Starbucks, träge aus dem Kühlschrank rausdrückt –
McDonald’s und im ICE – aber aus vielen „Großkonzerne sind scheiße so was, würden wir nie machen.“
angesagten Szenekneipen sind die Fla- uncool. Die Leute unter- Bei fritz-kola soll das schon vorgekom-
schen seitdem verschwunden. Das „offi- men sein. „Das war ein neuer Vertrieb-
zielle Getränk einer besseren Welt“, wie stützen lieber die netten ler“, sagt Mirco Wiegert. Man habe gleich
es zum G-8-Gipfel 2007 beworben wurde, geklärt, dass so etwas nicht gehe. Trotz-
hat seine Street-Credibility verspielt. Jungs von nebenan.“ dem stehen die Hamburger im Ruf, von
„Großkonzerne sind uncool. Die Leute Underdogs zu kommerziellen Krawatten-
unterstützen lieber die netten Jungs von nach Berlin, doch die Sehnsucht nach trägern zu mutieren. fritz-kola gibt es in-
nebenan“, sagt Joris van Velzen, 44. Mit Russland ließ ihn nicht los. Er vermisste zwischen bei Edeka und Rewe und ver-
nebenan meint er beispielsweise die ehe- sein liebgewonnenes Getränk und be- einzelt auch bei Kaufland. „Wir glauben
malige Brauerei in Berlin-Kreuzberg, in schloss, es nach Deutschland zu bringen. an die soziale Marktwirtschaft“, sagt Wie-
deren Obergeschoss er seine Firma hat. In Moskau machte er den ehemaligen gert. Dass seine Getränke irgendwann
Die Regale stehen voll mit alten Radios Leiter des zuständigen Staatsinstituts aus- auch bei Penny im Regal stehen, will er
und Sowjet-Nostalgiekrempel, von der findig, der ihm das Rezept gab. In dem nicht ausschließen. „Wenn wir da mit un-
Decke hängen Spinnweben, in der Ecke hessischen Provinzstädtchen Butzbach seren Glasflaschen reinkommen, wäre
steht eine Bar. Aus dem Kühlschrank holt ließ er die ersten 30 000 Flaschen abfül- das doch revolutionär.“
van Velzen eine Flasche mit hellbraunem len. Ein neuer Name, ein lustiges Etikett, In den meinungsstarken Szenekneipen
Inhalt. Das Etikett ziert eine russische Deckel drauf, fertig. würden sie es Mainstream nennen und
Kolchosarbeiterin. Wostok heißt sein Ge- „Das ist Underdog“, sagt van Velzen. Er fritz-kola über kurz oder lang von der
tränk. Es schmeckt nach Fichtennadelöl lässt zwei Tropfen in ein Schnapsglas lau- Karte streichen. KONRAD DAUBEK
Ausland Panorama

LI BANON

Tod eines Kritikers


Die politischen Fraktionen des Liba-
non stehen im Ruf, ihre gefährlichen
Probleme nicht zu lösen, sondern nur
aufzuschieben. Auch der Autobomben-
anschlag vom vergangenen Freitag im
Zentrum Beiruts, bei dem der ehemali-
ge Finanzminister Mohammed Schat-
tah und mindestens vier weitere Men-
schen ums Leben kamen, zählt wo-
möglich zu den Spätfolgen eines alten
Konflikts. Es geht um die Frage, wer
vor neun Jahren den sunnitischen Pre-
mierminister Rafik Hariri in einer ge-

PIERO OLIOSI / POLARIS / LAIF


waltigen Explosion sterben ließ. Ein
internationales Sondertribunal soll ab
Mitte Januar in Beirut darüber ent-
scheiden. Angeklagt in Abwesenheit
Simulation der Expo-Skyline sind fünf Mitglieder der schiitischen
Hisbollah. Der jetzt ermordete Minis-
ter Schattah war einer der engsten Ge-
I TA L I E N
fährten Hariris – und einer der schärfs-
ten Kritiker der Hisbollah. Er hatte
noch Stunden vor seinem Tod getwit-
Mafia profitiert von der Expo tert, dass die Islamisten-Gruppe die
Macht im Lande an sich reißen wolle.
Außerdem kämpft die Hisbollah-Miliz
Kurz bevor die ersten Pavillons der schaft, indem sie sich deren Zwecken auf Seiten Baschar al-Assads im Nach-
Expo 2015 in Mailand gebaut werden, andient.“ Am vorvergangenen Mitt- barland Syrien. Schattah galt als Geg-
warnen Experten vor einer Unterwan- woch wurden unter anderem in der ner des Diktators.
derung der Prestige-Veranstaltung Lombardei acht Leute aus dem Um-
durch die kalabrische ’Ndrangheta. feld des kalabrischen Mancuso-Clans Hisbollah-Anhänger in Beirut
„Es wird uns gelingen, die Expo mafia- festgenommen. Ihr Geschäftszweig: Im
frei zu halten“, hatte Innenminister Auftrag örtlicher Unternehmer trieben
Angelino Alfano versprochen – doch sie Schulden im Schnellverfahren ein,
die Gangster sind offenbar schon da: gegen eine Erfolgsbeteiligung von 50
Bereits 29 Aufträge wurden wegen Prozent. Für zusätzliches Aufsehen
Mafiaverdachts widerrufen und sechs sorgte auch der in Mailand inhaftierte
Firmen ausgeschlossen. Rosy Bindi, Cosa-Nostra-Chef Totò Riina, der
die Vorsitzende der parlamentari- beim Hofgang den Tod des Staats-
schen Anti-Mafia-Kommission, kon- anwalts Nino Di Matteo gefordert
statiert einen Siegeszug der kalabri- hatte. Der berühmte Ankläger aus
schen Unterweltbosse im reichen Palermo musste daraufhin seine Teil-

KHALIL HASSAN / REUTERS


italienischen Norden: „Heute braucht nahme an einem Mafiaprozess in der
die ’Ndrangheta in der Lombardei lombardischen Hauptstadt absagen.
nicht mehr wie früher auf Gewalt Riinas Worte seien, sagte Di Matteo,
zurückzugreifen, auf Nötigung und „ein eindeutiger Mordbefehl, den er
Erpressung. Sie durchdringt die Wirt- nach draußen transportieren wollte“.

E U R O PA
standen. Aktuelles Beispiel ist Barro- mulierung ist jedoch Absicht. Damit
sos deutscher Kabinettschef Johannes müssen Anwärter formalen Kriterien
Laitenberger: Für den 49-Jährigen wur- genügen, nicht aber einen bestimmten
Fallschirm für Beamte de die Stelle eines stellvertretenden
Leiters des Juristischen Dienstes ge-
Dienstgrad haben. Intern heißt diese
Methode „parachutage“, weil Beamte
Mit einem einfachen Trick werden schaffen und ausgeschrieben. Der mit mit diesem „Fallschirmabwurf“ von
Beamte der Europäischen Kommission einem monatlichen Nettogrundgehalt oben platziert werden. Die EU-Kom-
in Führungspositionen gehievt. Unter von gut 14 000 Euro dotierte Job stand mission dementiert jede Trickserei: Es
Präsident José Manuel Barroso wur- auch externen Bewerbern offen – ob- hätten sich, so ein Sprecher, mehrere
den so mehrere Beamte mit Posten wohl eine Vergabe an einen Kandida- starke Kandidaten beworben, darunter
versorgt, obwohl sie dafür auf der Lei- ten ohne Kenntnis der EU-Verwaltung Laitenberger, ein „höchst kompetenter
ter der EU-Laufbahn zu weit unten kaum Sinn hat. Diese Externen-For- Beamter“.
68 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Panorama Ausland

ACHILLEAS ZAVALLIS / HAYTHAM PIC / STUDIO X


Syrisches Chaos Gut und Böse, so klar verteilt wie auf kurdischer PKK und türkischem Militär: Unterstützt aus der
dem Drachentöter-Relief des Tores der St.-Thomas-Kirche Türkei, kämpften Dschihadisten der Nusra-Front dort gegen
sind die Rollen im nordsyrischen Grenzort Ras al-Ain nicht die PKK. Als die Kurden im Juli 2013 schließlich die Islamis-
mehr. 2012 wurde die Stadt Opfer des Krieges zwischen ten vertrieben, plünderten diese noch die Kirche.

SCHWEIZ
zent der Ägypter hinter Armee und
Regierung, das bringt Stabilität.
SPIEGEL: Werden Sie, wie geplant, auf
„Die erste Blüte, die sich öffnet“ einer Nilinsel das teuerste Hotel Ägyp-
tens bauen?
Der politisch einflussreiche Unterneh- dermatt ist nicht gefährdet. Nachdem Sawiris: Wir setzen all unsere Projekte
mer Samih Sawiris, 56, über die wir jahrelang Überschüsse hatten, in Ägypten fort. Demnächst wollen wir
Eröffnung seines ersten Luxusresorts musste ich hier eben mit privaten Mit- zudem mit der Regierung tausend
in der Schweiz und die Lage in seiner teln einspringen. Ein Scheitern wäre Schulen bauen. Es ist ein guter Zeit-
Heimat Ägypten schmerzhafter gewesen. Das Hotel ist punkt, in Ägypten zu investieren.
die erste Blüte, die sich öffnet und
SPIEGEL: Wer in Ihrem Hotel The Chedi zeigt, dass die Saat richtig gepflanzt
in Andermatt absteigen möchte, muss wurde.
im Januar für eine Übernachtung bis SPIEGEL: Warum investieren Sie lieber
zu 1500 Euro hinblättern. Welche Kun- in der Schweiz als in Ägypten?
den wollen Sie ansprechen? Sawiris: Ich ahnte, dass in Ägypten ir-
Sawiris: Wir können es uns nicht leis- gendwann ein Aufstand losbrechen
ten, weniger Luxus anzubieten als die würde. Die Schere zwischen Arm und
URS FLUEELER / KEYSTONE ZÜRICH

anderen Hotels in den Bergen. Reich war zu groß geworden. In Husni


SPIEGEL: Ihr Konzern macht Verluste, Mubaraks letzten Jahren war eine
die Touristen meiden Ihre Baderesorts Hälfte der Bevölkerung gegen ihn, die
am Roten Meer. Gefährdet das Ihre andere apathisch. Nach seinem Sturz
weiteren Investitionen in der Schweiz? regierten die Muslimbrüder so schlecht,
Sawiris: Die Krise in Ägypten hat uns dass sie fast das ganze Volk gegen sich Milliardär Sawiris
sehr weh getan, aber das Projekt An- aufbrachten. Jetzt aber stehen 90 Pro-
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 69
Aktivistin Tolokonnikowa nach ihrer Freilassung
Ausland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Ich will Gerechtigkeit“


Die Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa über ihre Pläne
nach der Haft, Gemeinsamkeiten mit dem Unternehmer
Michail Chodorkowski und Zeichnungen ihrer fünfjährigen Tochter

Trotz der kurzen Nächte seit ihrer Ent- SPIEGEL: Wie sah Ihr Haftalltag aus? außen auch mal etwas kaufen kann. Ich
lassung wirkt Nadeschda Tolokonnikowa Tolokonnikowa: Die meiste Zeit habe ich habe gerade mal 25 Rubel im Monat be-
ausgeruht und kampfeslustig, als sie am in einer Strafkolonie in Mordwinien ver- kommen, dafür dass ich tagaus tagein
vergangenen Freitag dem SPIEGEL ein bracht. Dort war mein Tag so: 5.45 Uhr Uniformen genäht habe. Das sind in Euro
erstes langes Interview gewährt. Das Ge- aufstehen, zwölf Minuten Frühsport, umgerechnet 60 Cent. Hätte ich nicht Le-
spräch findet im Auto statt, auf der Fahrt dann Frühstück und Zwangsarbeit als bensmittelpakete erhalten, wäre es mir
vom Moskauer Flughafen Wnukowo ins Näherin. Ob du aufs Klo gehen oder eine schlecht ergangen. Ganz dringend müsste
Zentrum. Neben ihr sitzt Ehemann Pjotr rauchen konntest, hing von der Laune auch dafür gesorgt werden, dass Gefan-
Wersilow. Tolokonnikowa ist gut gelaunt, der Wachen ab. Das Mittagessen war fett gene Mithäftlinge nicht fertigmachen.
ihre Fingernägel sind leuchtend rot la- und von schlechter Qualität. Um sieben Auch Bildungsmaßnahmen finde ich
ckiert. Die 24-Jährige kommt schnell auf Uhr war Feierabend, dann kam der Zähl- wichtig: Warum soll nicht mal eine Thea-
die „schlimmen Verhältnisse in unseren appell auf dem Lagerhof. Danach manch- tertruppe im Knast zu Gast sein?
Gefängnissen und im Land überhaupt“ mal noch Schneeschippen oder andere SPIEGEL: Weil das russische Strafsystem
zu sprechen. Aufräumarbeiten. Dann in der Schlange auf Strafe und Rache, nicht auf Besserung
Gegen Wladimir Putin hege sie keinen stehen, um sich notdürftig zu waschen. aus ist.
Hass, sagt sie, aber das System, das er Dann ab ins Bett. Tolokonnikowa: Um das zu ändern, sind
geschaffen habe, wolle sie unbedingt ver- SPIEGEL: Konnten Sie Bücher lesen? meine Mitstreiterin Marija Aljochina und
ändern. Dann beginnt die Pussy-Riot-Ak- Tolokonnikowa: Dazu war so gut wie kei- ich gerade dabei, eine Menschenrechts-
tivistin zu singen, es sind Zeilen aus ei- ne Zeit. Meine intellektuellen Übungen organisation für Strafgefangene zu grün-
nem Lied, das sie während der Haft ge- fanden an der Nähmaschine statt. den. Wir nennen sie „Zone des Rechts“,
schrieben hat und mit dem sie sich über SPIEGEL: Sind Sie in der Haft anständig weil Zone in Russland das geläufige Wort
Putins Hang zu Macho-Fotos lustig behandelt worden? für Strafkolonien ist und weil wir wollen,
macht. Tolokonnikowa: Nein. Es war fürchterlich. dass dort Gesetze und Menschenrechte
„Du fängst einen Hecht, aber ich will den Man hat alles versucht, um mich zu bre- geachtet werden. Die Bürokraten, die für
Aufstand“, heißt es da. Bevor sie eine chen und zum Schweigen zu bringen. Am unser Strafsystem verantwortlich sind,
Pressekonferenz im Studio des oppositio- schlimmsten und kaum auszuhalten wa- sollten sich vom Humanismus leiten las-
nellen Fernsehsenders Doschd gibt, fährt ren die Kollektivstrafen. Wegen einer sen und nicht vom Prinzip der Knute.
sie erst einmal zu ihrer fünfjährigen Toch- kleinen Geste oder wenn ich die Lager- Mich hat das alles so beschäftigt, dass ich
ter Gera, die seit ihrer Verhaftung bei To- leitung aufforderte, das Gesetz einzuhal- in der Haft sogar in meinen Träumen die-
lokonnikowas Schwiegereltern lebt. ten, sind gleich hundert Leute ins Straf- se neuen, menschenwürdigen Strafanstal-
bataillon abkommandiert worden. Dort ten gesehen habe. Ich habe im Übrigen
SPIEGEL: Nadeschda Andrejewna, wie füh- waren Schläge an der Tagesordnung. Ich auch davon geträumt, den linken slowe-
len Sie sich nach Ihrer Rückkehr aus der
Haft in Sibirien? „Es war fürchterlich. Man hat alles versucht,
Tolokonnikowa: Es ist nicht leicht, wieder
in der Realität anzukommen, von der ich um mich zu brechen und zum Schweigen zu bringen.“
ja zwei Jahre lang abgeschnitten war. Und
wenn ich ehrlich bin, drückt mich auch wurde besser behandelt als andere, ein- nischen Philosophen Slavoj Žižek endlich
die Last der Verantwortung sowohl denen fach weil die öffentliche Aufmerksamkeit einmal zu treffen. Er ist ein großes Vor-
gegenüber, die noch in Haft sind, wie ge- so hoch war. Bei mir hat man sich auch bild für mich.
genüber jenen, die mich und Pussy Riot an die gesetzlich vorgeschriebene Ar- SPIEGEL: Haben Sie schon konkrete Pläne
in dieser schwierigen Situation unterstützt beitszeit von acht Stunden gehalten. Die beziehungsweise bereits über neue Ak-
haben. Seit ich am Montag voriger Woche anderen Frauen mussten oft bis zu 16 tionen nachgedacht?
aus der Haft entlassen wurde, schlafe ich Stunden lang malochen. Tolokonnikowa: Dafür war in der Haft
jede Nacht nur zwei bis drei Stunden. SPIEGEL: Wie könnte das russische Straf- wahrlich genug Zeit. Wir werden die
Jetzt ist die Zeit, denen etwas zurückzu- system reformiert werden? Rechte von Strafgefangenen und die Re-
geben, die an mich geglaubt haben. Viel- Tolokonnikowa: Ich erhebe hier jetzt keinen form des Lagersystems demnächst in den
leicht werde ich Fehler dabei machen. Ich Anspruch auf die letzte Wahrheit. Aber Mittelpunkt unserer Performances rücken.
denke, auf diesem Weg werde ich Hilfe nötig wären: mehr Sport, eine größere SPIEGEL: Womit haben Sie sich während
brauchen von Menschen, die politisch Auswahl unter den Arbeiten, entspre- der Haftzeit aufrecht gehalten?
DENIS SINYAKOV

denken und denen nicht alles egal ist. chend den Talenten und Neigungen der Tolokonnikowa: Durch Prinzipientreue, die
Häftlinge, eine angemessene Bezahlung, Unterstützung von außen und durch mei-
Das Gespräch führte der Redakteur Matthias Schepp. so dass man sich ohne Unterstützung von nen Glauben.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 71
DENIS SINYAKOV

Pussy-Riot-Mitglieder Tolokonnikowa, Aljochina: „Wir wollen eine Menschenrechtsorganisation für Strafgefangene gründen“

SPIEGEL: Stimmt es, dass Ihnen Ihr Vater Tolokonnikowa: Nein, aber das bedeutet den, gleichzeitig aber auch zu einem Sex-
auf Ihren Wunsch eine Ikone in die Haft nicht, dass ich mich von der Performance symbol. Das ist eine Rolle, die Ihnen als
gebracht hat, wie ein kremlnahes Boule- distanzieren möchte. Ich wollte damals Wortführerin einer feministischen Punk-
vardblatt schrieb? unbedingt etwas gegen das Bündnis von band nicht gefallen kann.
Tolokonnikowa: Ja, ein Bildnis der Mutter- Kreml und Kirche tun, und dazu schien Tolokonnikowa: Na ja, wenn ich ein Sex-
gottes. Allerdings musste der Rahmen uns die Erlöserkathedrale der beste Ort symbol bin, dann bestimmt nicht im klas-
draußen bleiben, weil er aus Glas war zu sein. sischen Sinne. Ich bin gegen das traditio-
und ich ja mit den Scherben einen Selbst- SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass sich nelle Rollenbild der Frau. Aber wenn
mordversuch hätte unternehmen oder an- orthodoxe Christen beleidigt fühlten, als jemand unsere spartanischen und kämp-
dere hätte attackieren können. Den Rah- Sie Patriarch Kirill, das Oberhaupt der ferischen Auftritte wie in der Erlöser-
men habe ich dann nach meiner Freilas- orthodoxen Kirche, als „Hundling“ be- kathedrale sexy findet, dann ist das eben
sung von meiner Oma bekommen und schimpften? so. Niemand wird behaupten können,
am Donnerstag, vor meinem Abflug nach Tolokonnikowa: Natürlich verstehe ich das. dass unser Protest in der Kirche zum klas-
Moskau, wieder mit dem Bild zusammen- Aber vergessen Sie bitte nicht die staat- sischen Frauenbild passt.
gefügt. liche Propaganda bei dem Ganzen. Vom SPIEGEL: Sie legen Wert darauf, gut aus-
SPIEGEL: Sie haben sich in der Haft also politischen Kern unseres Auftritts war in zusehen. Auch im Plexiglaskäfig im Ge-
mit einer Ikone getröstet? den Kreml-Medien nie die Rede. Unsere richtssaal waren Sie immer geschminkt.
Tolokonnikowa: Sie war mir wichtig, weil Performance wurde einfach als eine Ak- Tolokonnikowa: Na und? Auch Männer
mein Vater und ich seit je eine starke Tra- tion gegen die Religion als solche darge- sollten Wert auf ihr Aussehen legen und
dition in unserer Familie aufrechterhalten stellt. Das war sie aber nicht. mal zu Kosmetik greifen. Ich bin für
haben: Immer wenn wir zusammen in SPIEGEL: Glauben Sie an Gott? Gleichberechtigung. Jeder sollte die An-
eine Kirche gegangen sind, haben wir Tolokonnikowa: Ich glaube an das Schicksal. teile in sich, die zum klassischen Män-
eine Ikone gekauft, die uns besonders gut Und in der Tiefe meiner Seele bin ich ner- oder Frauenbild gehören, so aus-
gefiel. So ist mit der Zeit bei uns zu Hause eine orthodoxe Christin. Ich halte insbe- leben, wie es seiner Persönlichkeit ent-
eine richtige Ikonensammlung zusam- sondere das Neue Testament für wichtig. spricht.
mengekommen. Wenn Sie so wollen, lie- Was Jesus und seine Jünger gepredigt und SPIEGEL: Was halten Sie von den „Femen“-
gen da meine geistigen Wurzeln. getan haben, war etwas Großes. Gruppen, die mit nackten Brüsten politi-
SPIEGEL: Und ausgerechnet Sie initiierten SPIEGEL: Durch die Verurteilung zu zwei schen Protest ausüben?
in der wichtigsten Kirche des Landes eine Jahren Lagerhaft sind Sie weltweit zu ei- Tolokonnikowa: Ich bewundere diese Frau-
politische Protestaktion – würden Sie die ner Ikone der Freiheit und des Kampfes en für die Hartnäckigkeit und die Regel-
Aktion heute noch einmal machen? gegen das autoritäre Putin-System gewor- mäßigkeit, mit der sie Aktionen durch-
72 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Ausland

führen. Halb ausgezogen aufzutreten stadt Saransk fahren, weil ich dort mein SPIEGEL: Wie haben Sie Ihrer Tochter er-
wäre allerdings nicht mein Ding. Gesuch um vorzeitige Haftentlassung ein- klärt, dass Sie im Gefängnis sitzen?
SPIEGEL: Hat der ehemalige Ölunterneh- reichen musste. Ich konnte zum ersten Tolokonnikowa: Sie wusste schon früh, was
mer und Oligarch Michail Chodorkowski Mal in dieser Zeit wieder kurz fernsehen. ich tue. Sie hat die Musikclips von uns
recht, wenn er nach der Amnestie für Und was bekam ich in den Nachrichten gesehen, natürlich nur die ohne grobe
Pussy Riot und seiner Freilassung durch zu sehen: anderthalb Minuten für den Schimpfwörter. Ich habe ihr früh erklärt,
Putin der Staatsmacht bescheinigt, dass Bürgerkrieg in Syrien und die vielen Op- was Wahlen sind, und sie wusste genau,
sie „ein wenig menschlicher“ ist? fer dort, zwanzig Minuten über Putin und wer Wladimir Putin ist. Einmal habe ich
Tolokonnikowa: Es gibt kein Tauwetter. Da- wie er in Sibirien einen großen Hecht ge- ihr im Scherz erzählt, dass Putin be-
mit haben wir in der Sowjetunion immer fangen hat. Das ist doch verrückt. stimmt am 4. März, dem Tag der Präsi-
eine von oben initiierte Öffnungspolitik SPIEGEL: Uns scheint, dass Sie auch jenseits dentenwahl 2012, zu uns nach Hause
bezeichnet. Die Regierung war einfach der staatlichen Propaganda gegen Pussy kommt. Das ist nämlich auch der Ge-
gezwungen, auf den Druck von unten, Riot nicht allzu beliebt sind. burtstag von Gera. Sie ist damals vor
auf den Druck der Gesellschaft zu reagie- Tolokonnikowa: Im Lager habe ich ja genau Schreck unter den Tisch gekrochen.
ren. Das ist das Ergebnis der kolossalen mit dieser Bevölkerungsmehrheit zu tun SPIEGEL: Machen Sie sich Vorwürfe, dass
und täglichen Anstrengungen der Men- gehabt. Und wenn ich den Frauen dort Sie und Ihr Mann die Tochter wegen Ihrer
schen, die in Russland für Bürger- und unsere Aktion erklärt habe, waren sie politischen Aktionen vernachlässigt ha-
Menschenrechte eintreten. Ich fürchte schnell auf unserer Seite. Die Menschen ben?
aber, dass es nach den Olympischen Win- in Russland können zwischen Wahrheit Tolokonnikowa: Solch eine Frage würde
terspielen in Sotschi wieder zu neuen und Lüge unterscheiden. Moderne Kunst man einem Mann nie stellen.
Repressionen kommt. Putin sind diese hat zudem immer negative Reaktionen SPIEGEL: Sie haben Gera zum Beispiel mit
Spiele ungeheuer wichtig, er wollte für hervorgerufen. Wir sind ja nicht ein 100- zu Demonstrationen genommen, gleich-
etwas Entspannung sorgen. Wenn auslän- Dollar-Schein, der jedem gefällt. Im Ge- sam als eine Art Schutzschild. Die
dische Staatschefs nun nach Sotschi rei- genteil: Es ist Aufgabe des modernen „Frankfurter Allgemeine Sonntagszei-
sen, legitimieren sie damit den Kurs Pu- Künstlers, die Gesellschaft zu provozie- tung“ hat Sie sogar mit Terroristen der
tins. Sie sollten seine Spiele boykottieren. ren und zu spalten. deutschen Terrororganisation Rote Ar-
SPIEGEL: Chodorkowski hat Sie in einem SPIEGEL: In Briefen, die Ihre freigelassene mee Fraktion verglichen, die ihre Kinder
offenen Brief etwas von oben herab als Mitstreiterin Marija Aljochina Ihnen im im Stich ließen.
Mädels angeredet – was halten Sie von Gefängnis schrieb, entsteht der Eindruck, Tolokonnikowa: Dahinter steckt eine zu-
ihm und seinen Plänen, in die Schweiz als hätte Pussy Riot gegen eine kommer- tiefst paternalistische Sicht. Immer noch
zu gehen? zielle Verwendung ihrer Marke nichts ein- wird versucht, Frauen auf ihr Privatleben
Tolokonnikowa: Unsere Lebenswege sind zuwenden. Wollen Sie Ihren Ruhm zu zu reduzieren, auf Mann und Kinder,
sehr unterschiedlich. Wir haben nur eines Geld machen? Heim und Herd. Sicher macht jede beruf-
gemeinsam: die Lagererfahrung. Ich hof- Tolokonnikowa: Nein. Es gab mal die Über- lich aktive Frau Abstriche bei ihren Kin-
fe, dass sie bei uns Pussy-Riot-Aktivis- legung, Geld zu verdienen, um Nicht- dern. Das ist bei mir als Polit-Aktivistin
tinnen dazu führt, dass wir uns mit aller regierungsorganisationen zu helfen, die nicht anders als bei Geschäftsfrauen, von
Kraft für die Freilassung Unschuldiger, beispielsweise den Feminismus und den denen es in Russland Gott sei Dank mehr
für die Verbesserung der Haftbedingun- Umweltschutz in Russland voranbringen und mehr gibt. Oder bei einer Ministerin.
gen und ein demokratischeres politisches wollen. Wir saßen ja mit einer ganzen Und nicht zuletzt kämpfen wir ja für Ver-
System in Russland einsetzen. Wenn Reihe von Unternehmerinnen in Unter- änderungen, damit unsere Kinder einmal
Chodorkowski unsere Projekte unterstüt- suchungshaft. Sie drängten uns dazu. Wir in einem besseren Russland leben.
zen will, bitte. Wir werden ihn oder an- haben uns aber schnell von solchen Ideen SPIEGEL: In Briefen an Ihre Mitstreiterin
dere aber bestimmt nicht um finanzielle verabschiedet. Marija Aljochina äußern Sie den Ver-
Hilfen bitten. Natürlich hat er länger und SPIEGEL: Werden Sie im Ausland auftre- dacht, dass die dritte Pussy-Riot-Aktivis-
unter härteren Bedingungen im Knast ge- ten? tin, Jekaterina Samuzewitsch, mit der
sessen als ich. Vielleicht wäre Michail Tolokonnikowa: Sicherlich. Nicht auf Kon- Staatsmacht zusammengearbeitet habe,
Chodorkowski auch nicht der schlechtes- zerten, aber mit Vorträgen über das rus- um auf Bewährung freigelassen zu wer-
te Präsident für unser Land. sische Strafsystem. den. Werden Sie Jekaterina jetzt treffen,
oder sind Sie heillos zerstritten?
Tolokonnikowa: Wir werden uns bald se-
„Ich habe eine große innere Ruhe gewonnen, hen. Und ich denke inzwischen, dass sie
eben die Gelassenheit eines Häftlings.“ freigekommen ist, weil der Druck auf den
Kreml groß war.
SPIEGEL: Sind Sie Putin dankbar, dass er SPIEGEL: Was werden Sie als Erstes tun, SPIEGEL: Was wollen Sie in Ihrem Leben
Pussy Riot amnestiert hat? wenn Sie am heutigen Freitagabend Ihre in Freiheit nun erreichen?
Tolokonnikowa: Ich bin denen dankbar, die fünfjährige Tochter Gera sehen? Tolokonnikowa: Gerechtigkeit, Wahrheit
uns all die Monate hindurch in Russland Tolokonnikowa: In Ruhe Kater und Häschen und Schönheit.
und im Ausland unterstützt haben. Meine mit ihr malen. SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass Sie das
Freilassung ist das Verdienst des Volkes SPIEGEL: Wie haben Sie während der Haft Leben im Lager verändert hat?
und nicht das unserer politischen Füh- mit Ihrer Tochter Kontakt gehalten? Tolokonnikowa: Ich verstehe Russland jetzt
rung. Wir müssen deshalb weiter Druck Tolokonnikowa: Wir durften einmal in der viel besser, einfach weil ich es dort mit
machen. Woche miteinander telefonieren, manch- Frauen aus sozialen Gruppen zu tun hat-
SPIEGEL: Die große Mehrheit des russi- mal ging es auch zweimal. Und alle te, die ich sonst nie getroffen hätte. Das
schen Volkes hat Ihren Auftritt in der Kir- drei Monate hat Gera mich besuchen ist für eine Polit-Aktivistin wie mich
che aber abgelehnt und Ihre Strafe gut- können. Sie hat mir dann Zeichnungen ziemlich wichtig. Außerdem habe ich eine
geheißen. mitgebracht. Einmal hatte sie sogar ei- große innere Ruhe gewonnen, eben die
Tolokonnikowa: Ja, unter dem Eindruck der nen Plan für mich gemalt, wie ich dem Gelassenheit eines Häftlings.
staatlichen Propaganda. Einmal durfte Lager entkommen kann. Einen Flucht- SPIEGEL: Nadeschda Andrejewna, wir dan-
ich aus dem Lager in die Provinzhaupt- plan. ken Ihnen für das Gespräch.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 73
Ausland

ben: Da nimmt der mächtige Vizechef


der Präsidialadministration die wohl be-
RUSSLAND rühmteste noch lebende Dissidentin,
Ljudmila Alexejewa, in seinem Wagen

Nach dem Gnadenakt mit und bringt sie an ihren Arbeitsplatz


im Sacharow-Zentrum, einer Kreml-
kritischen Nichtregierungsorganisation.
NGOs wie dieser wurde Ende 2012 mit
Der frühere Ölmagnat Chodorkowski ist seit kaum zehn Tagen einem neuen Gesetz fast der Geldhahn
begnadigt, da macht sich Russlands Oberstes Gericht daran, die zugedreht, in letzter Zeit aber bekamen
Urteile gegen ihn zu revidieren. Ein Zeichen für seine Rückkehr? einige von ihnen sogar staatliche Unter-
stützung.
Im Juni noch ließ die Kreml-Führung

E
s war wie diesmal, kurz vor Weih- men Zwillinge Gleb und Ilja empfing, dis- den Bürgermeister der Stadt Jaroslawl
nachten. Am 16. Dezember 1986 kutierte das politische Moskau, wie die verhaften, der einst Mitglied der Staats-
klingelte in der Gagarinstraße in Freilassung des Ex-Oligarchen und ande- partei war, dann aber zur Opposition
Gorki, heute Nischni Nowgorod, das Te- rer Kreml-Kritiker zu verstehen sei. Die überlief. Auch gegen den Liberalen
lefon. Drei Techniker hatten es am Abend Zeitung „Kommersant“ wagte die Pro- Jewgenij Roisman setzte sie Ermittler in
zuvor gebracht und angeschlossen. Nun gnose: „Wir stehen womöglich vor der Marsch, um dessen Wahl zum Bürger-
ließ sich Generalsekretär Mi- meister von Jekaterinburg zu
chail Gorbatschow mit diesem verhindern, der viertgrößten
Apparat verbinden: Andrej Stadt Russlands.
Sacharow war dran, der nach Im September aber traf Wla-
Gorki verbannte Dissident. dimir Putin beim jährlichen Fo-
Gorbatschow eröffnete Sacha- rum des sogenannten Waldai-
row, er dürfe sofort nach Mos- Clubs erstmals mit Vertretern
kau zurück. der Opposition zusammen: mit
Sieben Jahre lang hatte der den liberalen Politikern Wladi-
weltbekannte Atomphysiker mir Ryschkow, Boris Nemzow
zwangsweise in der Stadt an der und Gennadij Gudkow – alle-
Wolga verbracht, in einer 42- samt Leute, die Monate zuvor
Quadratmeter-Wohnung und noch von den Staatsmedien
unter ständigen Schikanen von verteufelt worden waren.
Geheimdienst und Polizei. Gor- Überraschend auch, dass der
ki war ein sogenannter geschlos- Anti-Korruptions-Kämpfer Ale-
sener Ort, kein Ausländer durf- xej Nawalny nach einer Verur-
te ihn betreten. teilung wegen angeblicher Un-
Gorbatschow hatte zwei Mo- terschlagung gleich wieder frei-
nate zuvor den Abbau aller nu- kam, er durfte sogar an der
klearen Mittelstreckenraketen Moskauer Oberbürgermeister-
ins Gespräch gebracht, die wahl teilnehmen.
Welt war überrascht. Nun lan- Schließlich verkündete Putin
dete er einen neuen Coup an zum Jahresende eine Amnestie,
der Heimatfront und befreite die 20 000 Verurteilten die Frei-
sein Land von dem Makel, ei- heit bringen könnte. Als Erste
nen Mann der Wissenschaft durften zwei Aktivistinnen der
mundtot gemacht zu haben. Punkgruppe Pussy Riot ihre
Die Zeichen standen auf Re- Zellen verlassen. Und der Fall
HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF

form. des unter Hausarrest stehenden


Wird die Freilassung Michail Kreml-Gegners Sergej Udal-
Chodorkowskis eine ähnliche zow wurde zur Überprüfung an
Wirkung haben? Auch er war – die Staatsanwaltschaft zurück-
zumindest im Westen – zehn gegeben.
Jahre lang Symbol für politi- Schon zu Sowjetzeiten waren
sche Willkür und eine vom Amnestien ein wichtiges politi-
Staat gesteuerte Justiz. Auch sches Instrument, so etwa der
ihn hatte der Kreml aus Mos- Freigelassener Chodorkowski in Berlin: „Hundertprozentiger Russe“ große Begnadigungsakt im
kau verbannt, auch er wurde Frühjahr 1953 nach Stalins Tod.
über Nacht befreit. Der Gnadenakt soll Formierung eines neuen politischen Mo- Von den gut 2,5 Millionen Häftlingen ka-
dafür sorgen, dass nicht noch mehr Schat- dells, das sich nicht nur in der Form, son- men damals 1,2 Millionen frei – es war das
ten auf die Olympischen Spiele von Sot- dern auch im Inhalt vom bislang bekann- Zeichen für die Einstellung des Massen-
schi fällt. Aber ist er ein Zeichen für Tau- ten unterscheiden wird.“ terrors und die Auflösung des Lagersys-
wetter im Putin-Reich? Es hat in den vergangenen Monaten tems. Und die Rückkehr Sacharows wie
Während Michail Chodorkowski im tatsächlich überraschende Zeichen gege- auch die Freilassung weiterer Kreml-Kri-
Berliner Nobelhotel Adlon seine ersten tiker ebnete den Weg für Gorbatschows
Nächte in Freiheit verbrachte, während Video: Michail Chodorkowskis Gesellschaftsumbau, die Perestroika.
er alte Vertraute und über die Weih- Vergangenheit Dass Wladimir Putin nach dem harten
nachtsfeiertage endlich auch seine Frau spiegel.de/app012014chodorkowski Durchgreifen gegen die Opposition ver-
Inna, deren Tochter und die gemeinsa- oder in der App DER SPIEGEL gangenes Jahr nun mildere Töne an-
74 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
schlägt und Liberale ins System einzubin- hoben sei, könne er nicht nach Moskau Die russische Ausgabe des Magazins
den versucht, interpretiert die Zeitung zurück, wiederholte der frühere Unter- „Forbes“, die seit Jahren Fachleute in Sa-
„Kommersant“ als Beleg für einen „poli- nehmer am Freitag. Das Präsidium des chen Chodorkowski-Vermögen recher-
tischen Konflikt“, in den das Land durch Obersten Gerichts kündigte nun an, sich chieren lässt, geht davon aus, dass er „ge-
Putins restriktiven Kurs inzwischen gera- am 23. Januar mit dieser Frage zu be- genwärtig mindestens noch über 100 bis
ten ist. Putins Popularität ist 2013 so nied- fassen – gut möglich, dass auch dies Teil 250 Millionen Dollar verfügt“. Womög-
rig wie noch nie. Nach einer Umfrage des eines Deals zwischen dem Kreml und lich sei sein Vermögen aber auch um ein
Lewada-Zentrums halten nur noch 47 Chodorkowski ist. Vielfaches höher und der ehemalige Öl-
Prozent der Bevölkerung die Politik des Bis dahin wird der frühere Chef des Ju- magnat immer noch Milliardär.
Kreml-Chefs für „gut“, 31 Prozent lehnen kos-Konzerns seine eigenen finanziellen Kern seines Restimperiums ist die in
sie strikt ab. Angelegenheiten ordnen. Im Berliner Ad- Gibraltar residierende GML Ltd, die
Auch die Wirtschaftslage verschlechtert lon empfing er vorige Woche den Finanz- mehrere Tochterfirmen besitzt. Wie viele
sich. Wachstumsraten von sechs und mehr fachmann Frank Rieger. Der Ostdeutsche der im Ausland befindlichen Jukos-Akti-
Prozent sind Geschichte, im November hatte von 2000 an als Leiter des Rech- va die Firma GML noch verkaufen konn-
gab es gar keine Steigerung mehr. 22 Mil- nungswesens für Jukos gearbeitet. te, ist unklar. Im Februar 2006 wurde ein
liarden Dollar wanderten in den ersten Rieger wird Chodorkowski möglicher- 49-Prozent-Anteil am slowakischen Pipe-
neun Monaten des Jahres 2013 in Form weise erklärt haben, mit wie viel Geld er line-Betreiber Transpetrol für 103 Millio-
„illegaler oder dubioser Zahlungen“ ins in sein neues Leben starten kann. Zum nen Dollar veräußert. Zehn Monate
Ausland ab, wie die Chefin der Zentral- Zeitpunkt seiner Verhaftung im Oktober später stießen die Jukos-Manager die
bank beklagte. Ein Fünftel des litauische Raffinerie Mazeikiu
Exports wurde über Offshore- nafta für 1,49 Milliarden Dollar
Unternehmen abgewickelt, aus- ab.
ländische Investitionen gehen Die Fäden hält seit 2003
zurück, die Korruption nimmt Jukos-Vizepräsident Leonid
groteske Ausmaße an. Newslin in der Hand, er flüch-
Selbst staatstragende Parteien tete kurz vor der Verhaftung
halten den extrem antiliberalen des Chefs nach Israel. Als rus-
Kurs in der Politik inzwischen sische Behörden versuchten, in
für bedenklich. Die den Oligar- der Schweiz fünf Milliarden
chen nicht gerade freundschaft- Dollar von ehemaligen Jukos-
lich gesinnten Kommunisten in Managern beschlagnahmen zu
der Staatsduma bezeichneten lassen, brüstete sich Newslin:
Chodorkowskis Verfolgung als „Das sind nicht die letzten fünf
klar politisch motiviert. Igor Le- Milliarden, über die wir ver-
bedew, ultranationalistischer Vi- fügen. Und das Geld ist an
zechef der Duma, kommentier- einem guten Ort.“
te: Wenn sich Bestrafung über Für die Schweiz hat Chodor-
Jahrzehnte hinziehe, werde es kowski inzwischen ein Visum
„schwierig“, über eine „Objek- beantragt, seine zweite Frau
tivität“ der Rechtsorgane zu Inna lebt dort mit den Kindern.
sprechen. Sie hat die Angelegenheiten
Putin fällt es im Moment nicht ihres Mannes nie kommentiert.
sonderlich schwer, die Zügel lo- Inna war 18, als sie Chodor-
ckerer zu lassen. Die Kreml-Geg- kowski 1986 kennenlernte. Sie
ner verfügen über keinen nen- wuchs in bescheidenen Verhält-
nenswerten Einfluss mehr. Und nissen auf, hat ihren Vater nie
auch wenn Chodorkowski nach gekannt und war zeitweise von
Russland zurückkehren sollte, der älteren Schwester erzogen
würde er nicht zum Helden der worden, die früh verstarb.
Opposition – weil er ja nur durch „Michail war alles für mich,
Putins Gnade freikam. Mann, Vater und Schwester in
Insofern überrascht nicht, einem“, sagte sie der Zeitschrift
was sich vorige Woche im „Snob“ im Jahr 2011.
Obersten Gericht in Moskau Geht sie mit ihm nun doch
tat: Dessen Chef ordnete an, nach Moskau zurück? In einem
ALAMY

das Urteil im zweiten Prozess Interview bekräftigte ihr Mann


gegen Chodorkowski zu über- Magnat Chodorkowski 1994: „Das Geld ist an einem guten Ort“ vergangenen Freitag, er ver-
prüfen und zu verringern – das stehe sich als „hundertprozen-
Moskauer Stadtgericht habe neu einge- 2003 wurde Chodorkowskis Vermögen tiger Russe“, ihm gefalle es, in Russland
führte Strafgesetze nicht berücksichtigt. auf acht Milliarden Dollar geschätzt. Der zu leben.
Auch das Urteil im ersten Chodor- Jukos-Konzern, den er während der Auch Dissident Andrej Sacharow kehr-
kowski-Prozess stellt er wegen „neuer Privatisierungen 1995/1996 zu einem te nach seiner Begnadigung nach Moskau
Umstände“ nun in Frage. Gemeint ist ein Schnäppchenpreis von rund 300 Millio- zurück, ins Ausland gehen wollte er nicht.
Spruch des Europäischen Gerichtshofs nen Dollar gekauft und dann moderni- Politisch spielte er keine große Rolle
für Menschenrechte vom Juli 2013. Straß- siert hatte, war zu der Zeit 33,7 Milliarden mehr. CHRISTIAN NEEF, MATTHIAS SCHEPP
burg hatte es als „unbegründet“ bezeich- Dollar wert. Doch dann trieb der Kreml
net, dass Chodorkowski 400 Millionen die damals größte private Ölfirma in den Lesen Sie auch auf Seite 116:
Euro Steuern an den Staat zahlen soll. Bankrott, der Staatskonzern Rosneft riss Der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew
Solange diese Forderung nicht aufge- sich die Filetstücke unter den Nagel. über die Olympischen Spiele in Sotschi.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 75
AP/ DPA
Premier Erdogan vor einem Bild des Staatsgründers Atatürk: Eine „Bande“, die es darauf abgesehen habe, der Türkei zu schaden

Millionen Dollar in Schuhkartons gefun-


TÜRKEI den. Doch das ist längst nicht alles, son-
dern wohl erst der Anfang einer noch grö-

Erdogans Endspiel ßeren Erschütterung. Auch Erdogan gerät


zunehmend in den Strudel der Korrupti-
onsaffäre. Der zurückgetretene Stadtent-
wicklungsminister Erdogan Bayraktar for-
Eine Korruptionsaffäre weitet sich zur Staatskrise aus – derte den Premier vergangene Woche auf,
die Regierungspartei ist gespalten und die politische sein Amt niederzulegen. Denn er habe
die fraglichen Bauprojekte auf Anwei-
Zukunft des despotisch regierenden Premiers in Gefahr. sung des Premiers genehmigt.
Die Ermittler haben offenbar noch wei-

D
er Istanbuler Staatsanwalt Zeke- kel gefährdet die Macht der AKP und tere Verhaftungen vorbereitet, zu den
riya Öz ermittelte gegen die Elite droht sie zu zerreißen – ausgerechnet in Verdächtigten soll auch Erdogans Sohn
des Landes, gegen die Unberühr- einem Wahljahr, in dem Erdogan sich Bilal zählen. Der 32-Jährige ist Gründer
baren: Politiker, Journalisten, Anwälte wohl zum Präsidenten küren lassen will. und Vorstandsmitglied der einflussrei-
und Generäle. Öz war der wichtigste Straf- Am 25. Dezember traten die Minister chen Stiftung Türgev, die ein staatliches
verfolger unter Premier Recep Tayyip Er- für Wirtschaft, Inneres und Stadtentwick- Grundstück im Istanbuler Stadtteil Fatih
dogan, er half diesem, gegen das „Erge- lung zurück, nachdem ihre Söhne verhaf- überaus günstig erwarb – und im Gegen-
nekon“ genannte Netzwerk vorzugehen, tet worden waren. Diese sollen Schmier- zug Schmiergeld in Höhe von rund drei
dessen Mitglieder angeblich einen Putsch gelder für die Vermittlung von Baulizen- Millionen Euro gezahlt haben soll.
gegen die Regierung vorbereiteten. Nur zen und öffentlichen Aufträgen kassiert Mittlerweile wurde eine gerichtliche
wenige Monate nach Ende des fünf Jahre haben. Einen Tag später feuerte Erdogan Vorladung für Bilal Erdogan veröffent-
dauernden Prozesses hat sich Öz nun ge- sieben weitere Minister, die freien Posten licht, unterschrieben von dem Istanbuler
gen seinen einstigen Förderer gewendet. besetzte er mit Vertrauten. Staatsanwalt Muammer Akkaş. Doch die
Kurz vor Weihnachten verhafteten Poli- Zudem wurden mehrere hohe Man- Polizisten weigerten sich, die Festnahme
zisten mehr als 50 Verdächtige, darunter datsträger sowie der Chef der staatlichen von ihm und einer Reihe AKP-Abgeord-
Politiker der Regierungspartei AKP, ein- Halkbank verhaftet, die Ölgeschäfte mit neter zu vollstrecken, wohl auf Anwei-
flussreiche Geschäftsleute sowie die Söh- Iran eingefädelt haben sollen. Um die sung aus der Politik; auch Akkaş wurde
ne dreier Minister. Die Ermittlungen wur- Sanktionen gegen Teheran zu umgehen, von dem Fall abgezogen. Am Donnerstag
den von Öz angestoßen – den man dar- die Geldgeschäfte mit iranischen Banken äußerte er sich in einer Erklärung: „Meine
aufhin von dem Fall abzog. Denn die verbieten, sollen sie Erdöl gegen Gold im Ermittlungen wurden blockiert. Die Justiz
Affäre hat Erdogan in die schwerste Krise Wert von mehreren Milliarden Euro ein- wurde offen unter Druck gesetzt.“
seiner fast elfjährigen Amtszeit geführt. getauscht haben. Im Haus des Bank- Erdogan versucht unterdessen, die Af-
Der Korruptionsskandal im inneren Zir- managers wurden bei einer Razzia 4,5 färe als Verschwörung gegen seine Regie-
78 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Ausland

rung darzustellen. Er spricht von einer Gülen-Bewegung durchgestochen und Re- Nach fast elf Jahren im Amt erscheint
„Bande“, die es darauf abgesehen habe, gierungskritiker öffentlich denunziert. In Erdogan zunehmend entrückt und selbst-
der Türkei zu schaden. Seine Tiraden je- den vergangenen Monaten jedoch begann herrlich; fähige Berater hat er inzwischen
doch irritieren selbst Anhänger. Und je die Allianz zu bröckeln. Erdogan wurden weitgehend durch loyale Jasager ersetzt.
lauter er schimpft, desto deutlicher wird, die Gülen-Anhänger offenbar zu mächtig, Manche Politiker lässt Erfolg gelassen
dass der einst populäre Regierungschef gleichzeitig erschienen sie ihm wohl als we- werden, Erdogan hingegen hat sich in den
um seine politische Zukunft kämpft. nig loyal, weshalb er etliche Beamte entließ, vergangenen Jahren in vielerlei Hinsicht
Der frühere Istanbuler Bürgermeister die der Gemeinde zugerechnet werden. Gü- genau zu jenem Typus des autokratischen
war mit dem Versprechen angetreten, len-Anhänger in der Justiz gingen darauf- Herrschers entwickelt, den er einst ab-
mit der Vetternwirtschaft seiner Vorgän- hin erfolglos gegen den Geheimdienstchef schaffen wollte. Kritiker werden unter
ger zu brechen. Auch deshalb wurde er vor, einen wichtigen Vertrauten des Pre- ihm weggesperrt, nirgends sitzen so viele
2002 gewählt und seine Regierung seither miers. Im November kündigte Erdogan an, Journalisten und angebliche Terrorver-
zweimal bestätigt. Doch so sauber, wie die Nachhilfeschulen von Gülen schließen dächtige in Haft wie in der Türkei.
Erdogan behauptete, regierte die AKP zu lassen. Die Bildungseinrichtungen be- Schon im Sommer reagierte Erdogan
nicht, Korruptionsvorwürfe begleiten sie reiten Schüler auf die Aufnahmetests der starrsinnig, beschimpfte seine Kritiker als
seit langem. Bereits in den 2010 von Universitäten vor, eine wichtige Einnahme- „Penner“ und ließ sie mit Reizgas beschie-
WikiLeaks veröffentlichten Botschafts- quelle der Bewegung. Die Zeitung „Hür- ßen. Auch jetzt zeigte er sich unnachgie-
depeschen berichten US-Diplomaten riyet“ nannte das eine „Kriegserklärung“. big: 500 Polizisten wurden versetzt; zudem
über „Korruption auf allen Ebe- versuchte er, jedoch erfolglos,
nen“ in der Türkei. mittels eines Dekrets die Kontrol-
„Wir haben seit Jahren Kor- le über Ermittlungen zu gewin-
ruption innerhalb der Regierung nen. Anders als bei den Gezi-Pro-
thematisiert, aber niemand woll- testen wird Erdogan die Krise mit
te es hören“, sagt die Abgeord- Härte allein diesmal nicht in den
nete Ayşe Danişoglu von der Griff bekommen. Schon jetzt
Oppositionspartei CHP. „Aber es zeigt sich, dass die Partei an der
brauchte erst einen Streit im is- Affäre zerbrechen könnte. Vori-
lamischen Lager, damit der gen Freitag leitete die AKP ein
Schmutz der vergangenen Jahre Ausschlussverfahren gegen drei
sichtbar werden konnte.“ kritische Abgeordnete ein.
Nie zuvor waren die Anschul- Damit rückt Erdogans Ziel,
digungen so detailliert – und nie sich im Sommer zum Staatsprä-
zuvor waren sie so gefährlich für sidenten wählen zu lassen, in wei-
den Regierungschef. Denn erst- te Ferne. Vor allem, weil er diesen
mals greifen nicht nur Oppositio- Posten mit erheblich mehr Macht-
nelle Erdogan an, sondern auch befugnissen ausstatten möchte –
bisherige Getreue, vor allem aus die nötige Zweidrittelmehrheit im
dem Umfeld des türkischen Pre- Parlament wird er wohl nicht
digers Fethullah Gülen. mehr bekommen. Als Premier je-
Gülen lebt im Exil in den doch kann er kein weiteres Mal
USA, seine Anhänger haben antreten, das verbietet das Par-
weltweit Schulen, Medienhäuser, teiengesetz. Möglicherweise wird
Kliniken und Unternehmen ge- er nun versuchen, dieses umzu-
gründet. Die Gülen-Gemeinde schreiben, um weiterzuregieren.
ULAS YUNUS TOSUN / DPA

präsentiert sich der Öffentlich- Dagegen regt sich in der AKP al-
keit als zivilgesellschaftliche lerdings Widerstand. Insbesonde-
Bewegung, die sich vor allem für re Staatspräsident Abdullah Gül
Bildung einsetzt. Aussteiger be- opponiert gegen den langjährigen
schreiben die Gemeinde hinge- Weggefährten.
gen als hierarchisch, politisch, Protestierende Erdogan-Kritiker: „Korruption auf allen Ebenen“ Und auch das wichtigste Argu-
islamistisch. ment vieler Bürger, Erdogan zu
Lange kooperierten Gülen und Erdo- Die Ermittlungen sind daher wohl auch wählen, wird immer schwächer: die Wirt-
gan erfolgreich: Gülen sicherte dem Pre- eine Rache der Gülen-Bewegung an dem schaft. Die Lira fiel vergangenen Freitag
mier Wählerstimmen, Erdogan schützte Regierungschef. Erdogan spricht von einer auf ein Rekordtief. Ausländische Investi-
die Geschäfte der Gemeinde. Von Erdo- „sehr schmutzigen Operation“ und wirft tionen gehen bereits seit längerer Zeit zu-
gan gefördert, übernahmen Gülen-An- den Gülen-Anhängern vor, einen „Staat rück – doch gründet sich auf diesem Ka-
hänger wichtige Posten in Polizei und Jus- im Staate“ errichten zu wollen. Gülen ant- pital der Boom der vergangenen Jahre.
tiz. Gemeinsam rangen sie dann mit dem wortete mit einer Videobotschaft: „Möge Sollten Investoren nun weiter Gelder ab-
Ergenekon-Prozess ihre größten Gegner Gott Feuer über die Häuser derer bringen, ziehen, hätte dies einen Konjunkturein-
nieder: Militär und säkulare Opposition. die den Dieb nicht sehen, aber stattdessen bruch zur Folge. Eine Wirtschaftskrise
Der als Gülen-Unterstützer geltende jene verfolgen, die den Dieb jagen.“ könnte Erdogan Wählerstimmen kosten.
Staatsanwalt Zekeriya Öz leitete dieses Es ist bereits das zweite Mal innerhalb Zu den Kommunalwahlen im März
größte Verfahren der jüngeren türkischen kurzer Zeit, dass Erdogan in Bedrängnis schickt die Opposition erstmals seit lan-
Geschichte. Die Beschuldigten sollen Ter- gerät. Im Sommer demonstrierten mehr ger Zeit einen Kandidaten mit ernst-
roranschläge geplant haben, um die Regie- als drei Millionen Menschen monatelang haften Siegchancen ins Rennen um die
rung zu stürzen. Beobachter kritisieren den gegen den Abriss des Gezi-Parks in Istan- Metropole Istanbul. Innerhalb der AKP
Prozess, der im August 2013 nach fünf Jah- bul. Doch es ging schnell um mehr: um wächst nun die Nervosität, denn sie
ren endete, als Farce. Regelmäßig wurden den zunehmend despotischen Regierungs- wissen: Wer Istanbul verliert, verliert die
Details aus dem Verfahren an Medien der stil des Premiers. Türkei. MAXIMILIAN POPP

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 79
Ausland

KO M M E N TA R

Die afrikanische Tragödie


Von Bartholomäus Grill

D
er Uno-Sicherheitsrat rief die ungenutztes Agrarland, dass es halb ehemaligen Stellvertreter vor, einen
höchste Alarmstufe aus. US- Afrika allein ernähren könnte. Putsch angezettelt zu haben, Machar
Präsident Barack Obama Das Problem war die politische Eli- bestreitet dies. Derweil fallen seine
mahnte, der Südsudan stehe am Ab- te Südsudans: ein durch und durch Marodeure über die Dinka her, im
grund. Diplomaten, die aus der Haupt- korrupter, inkompetenter Haufen von Hinterland bekriegen sich Milizen in
stadt Juba ausgeflogen wurden, warn- Ex-Kriegern, die den Haushalt plün- wechselnden Allianzen. Der Hass der
ten vor einem Bürgerkrieg. derten. „Als wir an die Macht kamen, Ethnien vergiftet das Land.
Dabei ist der längst ausgebrochen. vergaßen wir, wofür wir kämpften, Es ist ein Konfliktmuster, wie es
Am Donnerstag der vorvergangenen und begannen, uns auf Kosten unseres sich in vielen afrikanischen Staaten
Woche überrannten rund 2000 Re- Volkes zu bereichern“, schrieb Präsi- seit den frühen sechziger Jahren wie-
bellen in Akobo einen derholt: Immer wieder kam
Stützpunkt der 7500 Mann es zu Staatsstreichen, Mili-
starken Uno-Truppe, die Der moderne Staat und die tärrevolten oder Aufstän-
den fragilen Frieden im Demokratie nach westlichem Muster den, bei denen ethnische
Land sichern soll. Auch in Gräben aufbrachen und am
Juba und in Bor belagerten sind nur eine Kulisse. Ende eine Machtclique die
bewaffnete Horden Uno- nächste ablöste. Der moder-
Basen. ne Staat und die Demokra-
Die Regierungsarmee tie nach westlichem Muster
schlägt seither mit aller sind in manchen Ländern
Härte zurück, es kommt zu Afrikas nur eine Kulisse,
schweren Gefechten und hinter der sich die herr-
Racheakten an der Zivilbe- schenden Eliten hemmungs-
völkerung, Menschenrecht- los bedienen. „Militärische
ler berichten von Massen- Banden“ nennt sie der süd-
exekutionen. Südsudan, afrikanische Literaturnobel-
der jüngste Staat der Welt, preisträger John Maxwell
gegründet am 9. Juli 2011, Coetzee. „Ihre Handlungen
versinkt in Chaos und werden in den Medien re-
Anarchie. Schwarzseher be- spektvoll als Politik beschrie-
fürchten, dass das Land ben, nicht als Verbrechen.“
seinen dritten Geburtstag Die Täter werden dabei
nicht mehr erleben wird. von einer naiven internatio-
Just in einer Phase, in der nalen Gemeinschaft unter-
Afrika einen ungeahnten stützt: Gemessen an seiner
YNA / DPA

Wirtschaftsaufschwung er- Einwohnerzahl hat Südsu-


lebt, spielt sich wieder ein- dan kurzfristig wohl mehr
mal eine Tragödie ab, die Versorgung von Flüchtlingen mit Trinkwasser im Südsudan Hilfe erhalten als jedes
allen Klischees vom Konti- andere Entwicklungsland.
nent der Krisen, Kriege und Katastro- dent Salva Kiir 2012 in einem Brief Und so zeigt sich hier erneut das Kar-
phen entspricht. Und wieder einmal an 75 leitende Staatsbeamte, die er dinalproblem Afrikas: das Versagen
ist die Tragödie selbst verschuldet. der Unterschlagung von vier Milliar- der politischen Klasse. Die Helden des
Alles begann 2005, nach einem fast den Dollar bezichtigte. Doch auch Neubeginns mutieren zu machtsüch-
40 Jahre dauernden Sezessionskrieg, dem Staatschef wird Misswirtschaft tigen „Big Men“, die ihren morali-
als die sudanesische Regierung in vorgeworfen. Kiir herrscht wie ein Au- schen Kompass verloren haben –
Khartum und die Aufständischen im tokrat. Und er instrumentalisiert die wenn sie denn je einen hatten.
Süden Frieden schlossen. Sechs Jahre Rivalitäten zwischen den beiden größ- Jungen Afrikanern, die in eine bes-
später stimmten 99 Prozent der Süd- ten Volksgruppen, den Dinka und den sere Zukunft aufbrechen wollen,
sudanesen bei einem Referendum für Nuer. Der schwelende Konflikt brach bleibt da nur eines: Sie müssen sich
die Unabhängigkeit. im vergangenen Juli offen aus, als Kiir, von diesen Despoten befreien. An-
Ein neuer Staat war geboren, mit ein Dinka, das gesamte Kabinett feu- dernfalls wird die unendliche Serie
rund zwölf Millionen Einwohnern, je- erte und Vizepräsident Riek Machar, der Selbstzerstörung fortgesetzt. Und
der dritte davon ist unterernährt, drei einen Nuer, absetzte. was kann die Außenwelt tun? Mehr
Viertel sind Analphabeten. Aber das Einst kämpften beide gemeinsam Blauhelme entsenden. Und alle Hilfe
Land hat jede Menge Erdöl, wertvolle gegen das Regime in Khartum. Nun einfrieren, bis die Kriegsfürsten zur
Mineralien, Tropenhölzer und so viel sind sie Erzfeinde. Kiir wirft seinem Vernunft kommen.

80 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Entzünden von Lichtern
zum Chanukka-Fest

ISRAEL

Die Gottlose
Aviva David war 18, als sie heiratete und begann, das
Leben einer ultraorthodoxen Ehefrau zu führen.
Sie gebar sechs Söhne, putzte und kochte. Dann entdeckte
sie das Internet und damit eine neue Welt. Und
entschied, die alte zu verlassen. Von Julia Amalia Heyer
Ausland

D
jango Unchained“ ist ihr Lieb- drei Jahre alt geworden. Aber als er Ge-
lingsfilm, bis jetzt. Sie muss im- burtstag hatte, war sie nicht dabei. Sie
mer noch lachen, wenn sie an den war auch nicht bei der Bar Mizwa ihres
wippenden Riesenzahn auf dem Kut- ältesten Sohnes, sie wusste nichts von der
schendach von Dr. Schultz denkt; selbst Feier, denn sie, die Mutter, war nicht ein-
das Gemetzel im Salon von Leonardo geladen. Nachdem sie ihre Familie ver-
DiCaprio fand sie nicht zu blutrünstig. lassen hatte, nachdem sie von ihrer Fa-
Den Schauspieler Leonardo DiCaprio milie verstoßen wurde, hat sie sich eine
allerdings kannte Aviva David bis vor kleine Wohnung gemietet, zwei Straßen
kurzem nicht. Auch Quentin Tarantino entfernt von ihrem alten Zuhause.
war ihr kein Begriff. „Django Unchained“ Ihr Ehemann Schai hat beim Beit Din,
war der erste Film, den sie gesehen hat. dem Rabbinischen Gericht, das alleinige
Aviva David ist 33 Jahre alt, geboren Sorgerecht für die Söhne beantragt. Er
in Jerusalem, aufgewachsen in einer Welt, behauptete, sie sei unzurechnungsfähig,
die keine Kinos kennt und keine Film- drogensüchtig, Anhängerin einer Sekte.
stars. Einer Welt in Schwarzweiß, wie sie Er engagierte einen Privatdetektiv, der
sagt. Bis vor kurzem führte sie ein Leben, Beweise erbringen sollte, dass Aviva die
das so auch im 19. Jahrhundert stattge- Schuld am Scheitern ihrer Ehe trage. Der
funden haben könnte. Detektiv fand keine Affäre, keine Dro-
Sie sitzt in einem Café in Jerusalem, gen; er fand etwas viel Schlimmeres:
nicht weit von ihrer neuen Wohnung. „Ihre Frau“, schrieb er an Avivas Ehe-
Blasse Haut mit Sommersprossen, blaue mann, „hat sich von Gott abgewendet.“
Augen, schwarzes Haar. Schneewittchen- In der Straße, wo die Familie früher
lächeln, wenn sie sich erinnert, wie sie gemeinsam wohnte, hingen plötzlich Pla-
erschrak, als im Kinosaal plötzlich das kate. „Tod der Ketzerin in unserer Mitte“
Licht ausging. Wie sie nach der Hand ih- stand darauf. Die Rabbiner und Avivas
rer Freundin fasste, die ihr sagte: „Keine Ehemann waren sich einig: Eine Frau, die
Sorge, Aviva, das ist ganz normal.“ Wie nicht mehr an Gott glaubt, dient dem Sa-
sie sich die ganze Zeit wunderte, dass tan. Ihre Legitimität als Mutter hatte sie
Frauen neben Männern sitzen. damit verwirkt. Aviva suchte sich einen
Vor einigen Monaten hat Aviva David Anwalt; sie forderte gemeinsames Sorge-
ihr altes Leben beendet und ein neues recht. Sie gab Urinproben ab, um zu be-
begonnen. Sie hat die Welten gewechselt. legen, dass sie keine Drogen nahm. Es
In der alten, ihr vertrauten heiratete sie half nichts, das Gericht vertagte die Ent-
mit 18 und gebar ihrem Mann sechs Söh- scheidung immer wieder. In der Zwi-
ne. In dieser Welt betreute sie tagsüber schenzeit sollten die Jungen bei ihrem
die Kinder, sie wusch und putzte und Vater bleiben, „zum Wohle der Kinder“.
kochte, zwischendrin betete sie, und Das Beit Din ist kein normales Gericht,
nachts befriedigte sie ihren Mann. Sie war es ist eine religiöse Institution – und diese
nie im Kino, nie im Theater, nichtliturgi- entscheidet über Konversion, Adoption,
sche Musik und Romane waren verboten. Hochzeit und Scheidung aller in Israel le-
Einmal am Tag ging sie mit den jüngeren benden Juden. Die Richter sind Rabbiner,
Kindern auf den Spielplatz: Sie führte sie folgen orthodoxen Vorstellungen.
das Leben einer ultraorthodoxen Frau. Es gibt in Israel keine Zivilehe; jede
Mit dieser Welt hat sie gebrochen, auch Religionsgemeinschaft regelt selbst, wer
deshalb, weil diese Welt sie verstoßen hat. wen heiraten darf. Jüdische Frauen müs-
Denn Aviva hatte begonnen, an dem zu sen vor der Hochzeit ein rituelles Bad
zweifeln, der diese Welt zusammenhält: nehmen; und sie werden nach dem Zeit-
Gott. Sie sagt: „Vielleicht war ich einfach punkt ihrer Periode und dem letzten Ge-
zu neugierig.“ Neugier passt nicht gut zu schlechtsverkehr gefragt. Die Daten wer-
einem Leben, das bestimmt wird von jahr- den abgeglichen, denn Sex während der
hundertealten Sitten und Bräuchen. Menstruation gilt als unrein; behinderte
In der neuen Welt ist sie auf sich ge- Kinder oder Totgeburten könnten nach
stellt, sie lebe jetzt „auf der Erde“, sagt Meinung der Rabbiner die Folge sein.
sie, „endlich“. Aber die Codes, die hier Will ein Paar, egal ob gläubig oder
gelten, sind ihr fremd. Auf der Straße nicht, geschieden werden, dann kann nur
schaut sie sich von den Frauen ab, was der Ehemann die Trennung von seiner
sie anziehen könnte. Sie mag gern kurze Frau von den Rabbinern beglaubigen las-
Röcke in knalligen Farben, will aber nicht sen. Nur durch den „Get“, einen Schei-
„wie eine Prostituierte aussehen“. An die- dungsbrief, wird die Trennung rechtskräf-
sem Tag im Café trägt sie einen Jeansrock, tig. Frauen, denen der Get verweigert
der knapp ihre Knie bedeckt, und ein wird, sind „gefesselt“. Bekommen sie da-
T-Shirt. Seit kurzem lackiert sie sich die nach mit einem anderen Partner weitere
Nägel, im Augenblick dunkelviolett. Seit Kinder, gelten diese offiziell als „Mamse-
kurzem weiß sie auch, dass sie von zwei rim“, Bastarde, und bekommen in Israel
Gläsern Rotwein Kopfweh bekommt. später selbst keine Heiratsgenehmigung –
GETTY IMAGES

Seit Aviva David die Welten gewech- weil sie nicht als Juden anerkannt werden.
selt hat, darf sie ihre sechs Kinder nicht „Dass Orthodoxe über das Zusammen-
mehr sehen. Ihr jüngster Sohn ist gerade leben von Mann und Frau entscheiden,
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 83
Ausland

dass sie das rechtliche Monopol besitzen ler kommt aus einem religiösen Haushalt. In dem Laden gab es einen Computer,
über Ehe und Scheidung, ist absurd in ei- Säkulare Israelis fürchten, in nicht allzu mit Internetzugang. Dort fing Aviva an
ner Demokratie“, sagt Tomer Persiko, Re- ferner Zukunft von ihnen dominiert zu zu lesen. Wollte wissen, was es auf sich
ligionsforscher an der Tel Aviver Univer- werden. Schon jetzt sind in Jerusalem hatte, mit ihrem Glauben, mit Gott, der
sität. Werbeplakate, die Frauen zeigen, verbo- ihr so viel auferlegte. Warum durfte sie
Israel ist ein Land der Widersprüche: ten; es gibt Buslinien, in denen Frauen nicht studieren, sondern nur putzen? Wie
Vor ein paar Monaten wurde Tel Aviv hinten und Männer vorn sitzen müssen. konnte Gott gut sein, aber zugleich so un-
von einer US-Zeitung zur zweitinnova- Viertel der Ultraorthodoxen betritt man gerecht? Im Internet sah sie diese andere
tivsten Stadt der Welt gekürt. Und doch als Frau in Jeans und T-Shirt besser nicht. Welt, zum ersten Mal eine Welt in Farbe.
leben hier Menschen, die weder Compu- Das Paradox dieser Parallelwelt: Finan- „Vielleicht ist tatsächlich meine Neugier
ter noch Fernsehen oder Radio besitzen, ziert wird sie vom israelischen Staat, und an allem schuld“, sagt sie wieder, unter
weil die Geräte gegen das göttliche Rein- damit von seinen steuerzahlenden Bür- dem Herbstsonnenschirm im Café, und
heitsgebot verstoßen. Bekanntmachun- gern. Die frommen Familien werden ali- knabbert am violetten Daumennagel.
gen werden auf Plakate an Mauern ge- mentiert, damit die Männer sich aus- Ihre Ehe war nie gut gewesen, über die
pinnt wie im Schtetl im 19. Jahrhundert. schließlich dem Tora-Studium widmen Jahre aber wurde sie schlechter. Mit
Israel ist eine Demokratie, aber es ist können. Es war David Ben-Gurion, Isra- Schai, ihrem Mann, war sie am glücklichs-
auch ein Land, in dem Rabbiner darüber els erster Regierungschef, der diese Ent- ten, wenn sie ihn vor seinen Prüfungen
bestimmen, welche Form gefüllte Teig- scheidung traf. Für ihn waren die Hare- in der Jeschiva, seiner Bibelschule, ab-
taschen haben müssen. Ein Land, in dem dim, die Ultrareligiösen, ein aussterben- fragen durfte. Gemeinsam lasen sie den
man bis zu zwei Jahre ins Gefängnis kom- des Phänomen, er wollte sie beschützen. jüdischen Philosophen Maimonides, bei
men kann, wenn man eine Hochzeits- Bei der Parlamentswahl im Januar 2013 dem es auch um die Frage geht, wie sich
zeremonie im traditionellen Stil, aber hat Jair Lapid, der jetzige Finanzminister, Glaube und Vernunft vereinbaren lassen.
ohne Erlaubnis des Rabbinats durchführt. auch deshalb so viele Stimmen erhalten, Aviva trieb diese Frage um, denn der
Diese Hochzeit hat dann zwar keine recht- weil seine Partei damit warb, die Privile- Glaube war es, der ihr Leben diktierte.
liche Wirkung, wird aber etwa Und gleichzeitig saß die Ver-
von Paaren gefeiert, die bereits nunft widerspenstig in ihrem
zivilrechtlich im Ausland gehei- Hirn und sagte ihr, dass es
ratet haben, doch auf die tradi- noch eine andere Existenz
tionellen Rituale nicht verzich- gebe. Warum also gab Gott ihr
ten wollen. Dieses Gesetz wur- dieses Leben vor? Sie stellte
de im Jahr 2013 verabschiedet. die Frage ihrem Mann.
Das Leben in der strengreli- „Du bist verrückt, Frau“,
giösen Gemeinschaft kannte schrie Schai. Er nahm ihr den
Aviva David seit ihrer Kindheit. Maimonides weg.

AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL


Ihre Mutter kam aus Frank- Wer seine Tochter die Tora
reich, mit jedem Jahr im Heili- lehrt, der lehrt sie den Leicht-
gen Land wurde sie religiöser. sinn, steht im Talmud. Sie durf-
Aviva besuchte eine ultraortho- te ihn jetzt nicht mehr abfragen.
doxe Mädchenschule; als sie 18 Stattdessen las sie noch mehr
war, arrangierten die Eltern im Internet. Dort fand sie ein
ihre Heirat mit Schai. Ein rab- Forum, in dem Menschen, die
binischer Hochzeitslehrer in- Frühere Ultrareligiöse David: „Meine Neugier ist schuld“ früher sehr religiös waren, über
struierte sie, was im Ehebett zu ihre Zweifel an Gott schrieben.
tun sei. Selbstverständlich nur, falls ihr gien der Ultraorthodoxen zu kappen. Sie Manche hatten nur den Glauben zurück-
Mann keine anderen Wünsche habe. Zwei- müssten ebenfalls „Wehrdienst leisten gelassen, andere ihre ganze Familie. Aviva
mal traf sie Schai in einem Café, dann hei- und arbeiten gehen wie alle Israelis“, so las sich durch alle Archivbeiträge.
rateten sie. Sie liebten sich nicht, sie kann- Lapid. Nun ist er seit Monaten in der Re- Zu dieser Zeit wurde sie zum sechsten
ten sich ja nicht. gierung und hat gesehen, dass es nicht Mal schwanger. Nach fünf Söhnen: eine
„Wir heiraten nicht den Menschen, den einfach ist, den Gottesfürchtigen zu sagen, Tochter. Sie war glücklich. Die Schwan-
wir lieben, sondern wir lieben denjenigen, wie sie zu leben haben. Denn diese haben gerschaft verlief ohne Komplikationen.
den wir heiraten“, sagt Aviva. Sie sagt heftig gegen die Wehrpflicht demon- Sie hatte jetzt einen Computer zu Hause,
aber auch: „Es muss nicht immer schlecht striert – und die Reform ist ein Kompro- damit sie von dort aus arbeiten konnte.
sein.“ Bei ihr allerdings war es nicht gut. miss mit so vielen Ausnahmen, dass nicht Unter einem anderen Namen meldete sie
14 Stunden am Tag studierte Schai die mehr Ultraorthodoxe eingezogen werden sich bei Facebook an. Wenn Schai in der
Tora, er ging morgens aus dem Haus und als bisher. Synagoge oder in der Jeschiva war, traf
kam nie vor 23 Uhr zurück. Sie fand ihn Aviva David arbeitete trotz ihrer Kin- sie sich manchmal mit Menschen, die sie
unnahbar, kühl und lieblos. Sie fühlte sich der einige Stunden in der Woche in einem im Internetforum kennengelernt hatte.
oft einsam, sie hätte auch gern studiert. kleinen Laden für Elektrobedarf, für fünf Menschen, die zweifelten an Gott und
Neun Monate nach ihrer Hochzeit bekam Euro Stundenlohn führte sie die Bücher. der Religion. Menschen wie sie.
Aviva ihren ersten Sohn, fünf weitere folg- Für alle Belange, die nicht das Studium In der 34. Woche ihrer Schwanger-
ten, zwischen ihren Schwangerschaften der Heiligen Schrift betreffen, sind bei schaft bekam sie heftige Bauchschmerzen.
lagen nie mehr als 18 Monate. den Ultraorthodoxen die Frauen zustän- Sie spürte ihre Tochter, die trat und boxte.
Mehr als zehn Prozent beträgt der An- dig. Oft kümmern sie sich allein um die Alles in Ordnung, sagten die Ärzte. Die
teil der Strengreligiösen an der jüdischen vielen Kinder, manche arbeiten nebenher Schmerzen wurden stärker, Aviva konnte
Bevölkerung, und er wächst stetig. Wie sogar noch als Putzfrau oder Sekretärin. sich kaum mehr bewegen. Tage später ge-
viele wie Aviva aussteigen, ist nicht be- Für bessere Jobs fehlt ihnen oft die Aus- bar sie ihre tote Tochter. Jetzt war sich
kannt – aber es sind wenige. Ultraortho- bildung. Wo nur Gott und die Religion Aviva sicher: Es gab keinen Gott. Sie und
doxe Frauen bekommen im Schnitt mehr zählen, ist wenig Platz für Mathematik Schai stritten nun öfter. Sie bat ihren Rab-
als sechs Kinder; jeder dritte Grundschü- oder Fremdsprachen. bi um Hilfe; um die Erlaubnis, zu verhü-
84 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL
Ultraorthodoxe Familie in Jerusalem: Kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet

ten. Gott wird dich belohnen, der Messias zu führen. Es ist die einzige Organisation Am Tag, als Aviva ihren Mann verließ,
wird kommen, sagte der alte Mann nur. dieser Art für Aussteiger, seit über 20 Jah- spuckte eine Bekannte ihr auf der Straße
Vier Monate nach der Totgeburt wurde ren gibt es sie. vor die Füße. „Du kannst zur Hölle ge-
Aviva wieder schwanger; mit 30 Jahren Nicht weit von Aviva Davids altem hen“, schrie sie. „Aber deine Kinder wirst
bekam sie ihren sechsten Sohn. Der All- Haus, wo ihr Mann mit den Kindern lebt, du nicht mitnehmen!“
tag wurde unerträglich; es gab nieman- hängen Plakate, auf denen vor Hillel ge- Um den Kleinsten kümmern sich jetzt
den, dem sie sich anvertrauen konnte. warnt wird: Sie werden dich zwingen, andere Frauen. Manchmal geht Aviva
„Halte dich an Gott, zerstöre deine Fa- Schweinefleisch zu essen. Sie werden dich David heimlich zum Spielplatz. Dann
milie nicht“, sagte ihre Mutter. zwingen, dich zu prostituieren. Sie wer- trägt sie ihre alten Kleider: lange Ärmel,
Aber sie hielt ihr Leben nicht mehr aus. den dich in die Hölle zwingen. langer Rock, dicke Strumpfhosen. Statt
Man könne sich die Welt, in der die Ul- Der Weg aus dem Fundamentalismus der Perücke, die sie früher trug, trägt
traorthodoxen lebten, als nichtreligiöser sei so schmerzhaft und schwierig, dass sie ein Kopftuch. Sie will ihre Kinder
Mensch nur schwer vorstellen, sagt Amos Sofer jedem zuerst rät, er solle doch, nicht noch mehr verängstigen. „Mama,
Sofer und versucht es mit einem Bild. wenn es irgendwie gehe, „in seiner Welt bist du eine Hexe?“, hat ihr ältester Sohn,
„Nehmen wir mal an, Sie werden im bleiben“. Die Suizidrate bei ehemals Re- er ist jetzt 13, sie neulich gefragt, als er
Busch ausgesetzt. Ohne Gewehr, ohne ligiösen sei dreimal so hoch wie im israe- sie sah.
Wasser, ohne Gaskocher. Und Sie haben lischen Durchschnitt. Das neue Leben sei An den Wochenenden fährt sie gele-
vorher nicht diese Überleben-im-Busch- am Anfang eine riesige Leerstelle. Ohne gentlich mit dem Bus nach Tel Aviv, dort
Filme gesehen“, sagt er. Gott sei da nicht mehr viel: keine Ausbil- joggen die Menschen selbst am Sabbat.
Der Weg, den Sie zurücklegen müssen, dung, kein Einkommen, große Einsam- Sie liebt es zu beobachten, wie die Sonne
um die Welten zu wechseln, sei enorm. keit. Die Familien verstoßen ihre Söhne im Meer verschwindet. Auf ihrer Face-
Sofer, 49, wuchs selbst in einer ultra- und Töchter; es wird so getan, als wären book-Seite steht jetzt ihr richtiger Name.
orthodoxen Familie auf. Die Organisa- sie gestorben. Die ultraorthodoxe Ge- Dort hat sie ein Video der Sängerin Ri-
tion, für die er seit Jahren ehrenamtlich meinschaft setze die Abkehr von der Re- hanna gepostet, „We Found Love“.
arbeitet, hat in einem ockerfarbenen ligion mit Selbstmord gleich, sagt Sofer. Vor kurzem haben die Rabbiner ihrem
Apartmenthaus im Norden Tel Avivs eine Jeder Aussteiger bekommt bei Hillel Mann das alleinige Sorgerecht zugespro-
Wohnung gemietet. Sie hilft religiösen psychologische Betreuung und einen chen; sie, die Mutter, darf ihre Kinder
Aussteigern, den sogenannten Zweiflern, Mentor. Dieser muss rund um die Uhr an- zweimal die Woche für zwei Stunden se-
den Alltag außerhalb ihrer Gemeinschaft sprechbar sein. „Sie haben nicht einmal hen. Sie hat sich vorgenommen, endlich
zu meistern. „Hillel“ heißt der Verein, Geld fürs Essen, wollen aber alles auspro- Rad fahren zu lernen.
benannt nach dem liberalen jüdischen bieren, was vorher verboten war“, sagt
Philosophen und Rabbiner. Sofer. Er zählt auf: Drogen, Fallschirm- Video:
Hillel hilft vor allem jüngeren Ultra- springen, Homosexualität, Bordellbesu- Der Aussteiger Ido Lev
orthodoxen bei der Job- und Wohnungs- che. Als es noch keine Handy-Flatrate spiegel.de/app012014orthodoxe
suche, beim Versuch, ein normales Leben gab, haben sich viele verschuldet. oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 85
Ausland

COVENTRY
Nische des Ruhms
Ein Inder in England macht sein
GLOBAL VILLAGE:
Heimatland glücklich – mit Tomaten.

I
n einem englischen Hinterhof hat Sur- 4,29 Meter Schnurrbart in dünnen Würs- Studiengebühren nicht bezahlen. Er
jit Singh Kainth einen Weltrekord auf- ten um den Hals zu wickeln? wurde Busfahrer. Mit 53 Jahren dann
gestellt, aus Versehen. Im April 2013 Das Selbstwertgefühl der Inder sei vom Herzinfarkt, Vorruhestand. Kainths Tage
hatte er ein Pflänzchen gekauft, acht Zen- Rang bestimmt, schließlich lebten sie in wurden still. Bis die Tomate kam.
timeter hoch, und es in einen Blumenkü- einer zutiefst hierarchischen Gesell- Am 11. September, bei leichtem Regen
bel gesteckt. Er hatte es gegossen und schaftsordnung, sagen die einen. Indien, und laufender Kamera, erfolgte die Be-
umsorgt, es mit Stöcken gestützt und sich die aufstrebende Nation, hungere nach weisaufnahme im Hinterhof der Kainths.
zum Morgengebet vor den Topf gestellt. Anerkennung von der Welt, besonders Kainth wusste, der letzte Rekord lag bei
Und Solanum lycopersicum, die Toma- vom Westen, sagen die anderen. Und er- 488 Früchten von einer Pflanze, aufge-
tenpflanze, wuchs und gedieh. Er nannte hebend ist es auch, wenn 121 653 Inder stellt von einem gewissen Graham Tran-
sie „die Magische“. Er gab ihr sogar einen gemeinsam ihre Hymne singen und damit ter aus Bridgnorth, England. Unter der
richtigen Namen, wie einem Kind: „Fa- Pakistan, den alten Feind und Rekord- Aufsicht zweier unabhängiger Zeugen, ei-
teh“. Das ist Panjabi und heißt Sieg, die halter, übertrumpfen. ner Stadträtin in tomatenrotem Blazer
tiefere Bedeutung aber, sagt und eines Repräsentanten
Kainth, sei „höchste Vollen- der Nationalen Gemüse-
dung“. Gesellschaft Großbritan-
Etwas zu geben, ohne et- niens, Abteilung West Mid-
was dafür zu erwarten, nach lands, wurden die Tomaten
diesem Motto lebt Kainth, gezählt. Es waren 1355.
68 Jahre alt, ein Mann mit Dann gab es Kekse.
schlohweißem Bart. Jeden Es sind aufregende Tage
Morgen schaut er sich in in Coventry, gerade ist die
seinem Wohnzimmer in Guinness-Urkunde einge-
Coventry die Live-Übertra- troffen, Kainth träumt vom
gung vom Goldenen Tempel Einstieg ins Tomaten-Busi-
in Amritsar an, dem Heilig- ness. Er hortet Tütchen
ROBIN BIDGOOD / BPM MEDIA

tum der Sikhs. voller Samen. Vier hat er


Seine Tochter aber ent- schon getestet, die Nach-
deckte, dass es im „Guin- kommen von „Fateh“ sprie-
ness-Buch der Rekorde“ ßen neben dem Heizkörper.
eine Disziplin namens „Die Nun wartet er auf Anrufe
meisten Tomaten von einer der internationalen Saat-
Pflanze“ gab. Die Kainths Tomatenzüchter Kainth (r.): „Höchste Vollendung“ gut-Mogule.
bewarben sich, und plötz- Kainth ist jetzt nicht
lich brachte Antrag Num- mehr Busfahrer im Ruhe-
mer 441556 Glanz in ihr Le- stand. Er ist, so schrieben
ben hinter zugezogenen Spitzengardinen. „Wir sind stolz auf unsere Strebsam- es ihm die Verantwortlichen vom „Guin-
Auf einmal war Kainth 7000 Kilometer keit“, sagt Kainth. Auch er hütet eine Tro- ness-Buch“, „Teil einer elitären Gruppe
weiter östlich in den Schlagzeilen. phäe aus alten Zeiten: den Ausweis seines von Weltrekordhaltern“. Der Abgesand-
Zwar wanderte Kainth, geboren im ehemaligen College für Landwirtschaft te der Nationalen Gemüse-Gesellschaft
Punjab, schon 1967 nach Großbritannien in Indien. Kainth, eines von acht Kindern, nannte ihn „Herr Grüner Daumen“. Und
aus – in seiner Vitrine steht eine Porzel- jüngster Sohn eines Tuchhändlers, war so hat Kainth, stolzer Absolvent einer
langlocke mit dem Bildnis der Queen. der Einzige in der Familie, der studiert indischen Landwirtschaftsschule, in der
Doch der Wunsch nach Glorie ist in In- hat. Natürlich kennt auch er das Gefühl, neuen Heimat zu seinem alten Leben zu-
dien so übermächtig, dass selbst die Er- einmal herausragen zu wollen aus der rückgefunden.
folge der verlorenen Söhne zählen. Die Masse in einem Land der 1,2 Milliarden. Seine englischen Nachbarn wünschten
„Hindustan Times“ schreibt von einer Er weiß, dass es in Indien leichter sein ihm alles Gute. Kainth sagt, er sei zu
richtigen „Besessenheit“ der Inder, sich kann, sich das Ohrhaar 18,1 Zentimeter Tränen gerührt gewesen, das sei „die
in Rekordbüchern wiederzufinden. Und lang wachsen zu lassen, als die Grenzen totale Integration“. Aber es gibt auch
das Unternehmen Guinness World Re- seiner Kaste zu überwinden. Doch nie noch dieses andere Gefühl. „Dass ich als
cords ernannte 2012 einen eigenen Ver- hätte er sich fröhlich die Zähne ziehen Außenstehender“, fängt Kainth seinen
treter in Indien, die Zahl der Antragstel- lassen, damit 496 Strohhalme in seinen Satz an und sucht die richtigen Worte
ler dort stieg in den vergangenen sieben Mund passen, so wie jener Inder, der sich für seine Freude, diese Freude, dass er,
Jahren um 361 Prozent. sogar in „Guinness“ umbenannte. der Fremde, die Briten in ihrer liebsten
Doch was, fragen sich indische Intel- Für Kainth sollte Großbritannien Disziplin, der Gartenarbeit, geschlagen
lektuelle, treibt die Menschen eigentlich den Durchbruch bringen, hier wollte er hat. Seine Tomaten haben ihn britischer
dazu, 23 Yoga-Positionen auf einem fah- weiter zur Universität gehen. Doch in als die Briten gemacht. Und Indien ju-
renden Motorrad zu machen oder sich Schottland angekommen, konnte er die belt. SANDRA SCHULZ

86 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Szene Sport

Gerüstarbeiten an Olympiaanlage
nahe Sotschi am 15. Dezember

O LY M P I S C H E S P I E L E

MIKHAIL MORDASOV / AFP


Im Matsch
Rund anderthalb Monate vor den Zufahrtsstraßen müssen noch geteert Ampeln funktionieren größtenteils
Olympischen Spielen in Sotschi gleicht werden, und bereits fertiggestellte noch nicht, Straßenschilder und
die Stadt am Schwarzen Meer weiter- Gehwege sind schon wieder abgesackt, Wegweiser fehlen. Wer in ein Taxi
hin einer riesigen Baustelle. Zwar er- die Platten zerbrochen – die Stadien steigt und kein Russisch kann, hat
leuchten des Abends bunte Strahler liegen in der Imeritin-Bucht, der größ- ein Problem – nahezu kein Fahrer
den Himmel über dem Olympiapark, te Teil der Fläche war Sumpf, und der spricht Englisch, und die Preise für
wo fünf Eishallen und das Olympia- Boden ist nach wie vor feucht. Auf den Ausländer sind abenteuerlich. Russ-
stadion stehen, aber rund um die Wett- künstlich angelegten Grünflächen steht lands Präsident Wladimir Putin hat
kampfstätten an der Küste graben sich Wasser, der Rollrasen ist braun, und den Bauarbeitern Urlaubsverbot
von Sonnenaufgang bis in die Nacht dort, wo vor fünf Jahren noch alte während der traditionellen Neujahrs-
Bagger durch den Matsch, Lastwagen Feigen- und Mandarinenbäume blüh- ferien vom 1. bis zum 8. Januar erteilt.
kippen Sand und Steine ab; allerorten ten, stehen nun in Reih und Glied Er sagt, es gebe noch genug Dinge,
wird gesägt, geschweißt, gehämmert. kümmerliche Sträucher im Staub. Die die zu Ende gebracht werden müssten.

HANDBALL
club der Welt. Entdeckt hatten die Ka-
talanen den Linkshänder, der für die
Rhein-Neckar Löwen spielte, bei ei-
Aus der Komfortzone nem Turnier im Schwarzwald. Baum-
gärtner spielt aktuell in der zweiten
Zu verweichlicht und zu umsorgt seien Mannschaft Barcelonas, sein Kontrakt
viele deutsche Nachwuchshandballer, läuft vorerst bis Sommer 2015. „Es war
kritisiert seit langem Alfred Gislason, die beste Entscheidung meines Le-
Trainer des Rekordmeisters THW Kiel. bens“, sagt der Abiturient. In der be-
Während Skandinavier wie THW-Star rühmten Nachwuchsakademie von
Aron Palmarsson schon als Teenager Barça teilt er sich mit drei Jugend-
den Weg ins Ausland suchten, um sich lichen ein Zimmer, die Futsal spielen –
im harten Profigeschäft durchzusetzen, eine in Spanien sehr populäre Varian-
verkümmerten deutsche Junioren in te des Hallenfußballs. „Dort ist er ge-
einer „Komfortzone“. Dabei sei es oft zwungen, spanisch zu sprechen“, be-
leistungsfördernd, sich in einer neuen tont Markus Baur. Der Juniorentrainer
Kultur zu behaupten, glaubt Gislason. im Deutschen Handballbund hält
ALEKSANDAR DJOROVIC / IMAGO

Florian Baumgärtner, einer der talen- Baumgärtner für einen potentiellen


tiertesten deutschen Rückraumspieler, Weltklassemann. „Er hat alle Voraus-
hat im Sommer den Sprung gewagt – setzungen, um ein ganz Großer zu
der 18-jährige Heidelberger steht seit- werden“, sagt der Weltmeister von
her beim FC Barcelona unter Vertrag, 2007, „er könnte unserer National-
dem mit sieben Champions-League- mannschaft in wenigen Jahren wirk-
Triumphen erfolgreichsten Handball- Handballtalent Baumgärtner lich weiterhelfen.“
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 87
GALOPPSPORT

Lauf, Mister
Detective, lauf!
SPIEGEL-Redakteur Stefan Willeke hat sich
mit Freunden ein Rennpferd gekauft. Nun
taucht er ein in ein Milieu, in dem sich Adlige,
Zocker und Ex-Fußballstars tummeln.
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

Hengst Mister Detective, Mitbesitzer Willeke in Neuenhagen bei Berlin


Sport

E
s gibt verschiedene Modelle der Al- jährige Galopper startet im Oktober in
tersvorsorge, ich habe mich für ein Baden-Baden. Der Sieger bekommt
Rennpferd entschieden. Es ist ein 100 000 Euro. Aber daran ist nicht zu den-
fuchsfarbener Hengst mit einer interes- ken. Unser Hengst ist ein Neuling.
santen Blesse, und man muss sagen: Er Ich habe ihn mir angesehen. Er ist kei-
sieht sehr gut aus. Nein, man muss es an- nes dieser hysterischen Rennpferde. Er
ders ausdrücken, ohne falsche Beschei- schmust gern mit jedem seiner Besucher.
denheit: Er sieht phantastisch aus. Drei In ihm steckt etwas ungewöhnlich Zuge-
seiner Füße sind weiß, bei jedem Wetter wandtes. Im Rennstall nennen sie ihn
trägt er helle Stiefel. „Showman“, weil er sich seiner Wirkung
Ich habe den Hengst gemeinsam mit bewusst ist. Sein Blick ist tiefgründiger
vier Freunden gekauft, er hat uns als der seiner Nachbarn.
13 000 Euro gekostet, jeden von uns 2600, Während unserer ersten Besitzerver-
und ich muss vorausschicken: Ich bereue sammlung werde ich zum Geschäfts-
nichts. Dieser Hengst ist ein großes, le- führer ernannt. Weil ich von Pferden zu
bendiges Versprechen. wenig verstehe, muss ich das Rennkonto
Ich bin in diese Sache hineingezogen verwalten. Wir gelten von nun an als Syn-
worden, wie man in ein Komplott ver- dikat. So nennt man Menschen, die sich
wickelt wird. Der Februar 2013 war ange- ein Rennpferd teilen.
brochen, als mich einer meiner späteren Der Name unseres Hengstes soll mit D
Mitbesitzer fragte: „Machst du mit?“ Ich beginnen, wegen der Mutter Do the Deal.
hatte bloß mal auf braven Touristenpfer- Ein Mitbesitzer schlägt Dealer vor. Aber
den gesessen, in den Rocky Mountains, der Rennstall Hoppegarten ist entsetzt.
in Schottland, das war’s. Dealer? Bei einem Sport, der ständig un-
Ich habe meine Gründe, auf ein Renn- ter Manipulationsverdacht steht? Ich bin
pferd zu setzen. Im Idealfall könnte aus für Django Unchained, aber wir einigen
ihm ein begehrter Deckhengst werden, uns auf Detective, den Grund dafür habe
und das Sperma des Hengstes wäre dann ich vergessen. Doch weil dieser Name
meine Tantieme. Als Decktaxe werden beim irischen Verband schon vergeben
manchmal mehrere tausend Euro gezahlt. ist, heißt er Mister Detective.
Ich lasse mich gern auf Dinge ein, die auf Unser Trainer im Rennstall Hoppe-
dem Prinzip der Wette beruhen. Mein garten findet, dass Mister Detective ein
Großvater mütterlicherseits verlor vor „Scheißname“ ist. „Weil Detektive immer
Jahrzehnten im Spielcasino Baden-Baden hinterherkriechen“, sagt er. Wie fast alles
seine Ersparnisse, weil er glaubte, beim sagt er auch das mit seinem unerschütter-
Roulette ein teuflisch gutes System ge- lichen Lächeln, und er fügt hinzu: „Man
funden zu haben. Ärzte würden sagen: kauft immer die Hoffnung.“ Die Stute
Es liegt eine familiäre Disposition vor. Danedream beispielsweise hat 3,8 Millio-
Außerdem habe ich eine tiefe Sympa- nen Euro Preisgelder eingaloppiert.
thie für menschliche Ausnahmezustände, Unser Trainer ist in der Galopperszene
wie sie sich am zuverlässigsten in Lebens- ein bekannter Mann. Er heißt Roland
welten entfalten, die von Träumern und Dzubasz, ist 45 Jahre alt. Aus jedem
Besessenen bevölkert werden. Ich bin seiner Sätze hört man den Berliner her-
auch ein Fan von Schalke 04. Später sind aus. In der Galopp-App, die ich auf mei-
noch andere Gründe hinzugekommen, nem Smartphone installiere, steht er in
zum Beispiel das Wildschwein-Dinner mit der Trainer-Rangliste im Moment auf
Gräfin Tini, aber ich will nicht vorgreifen. Platz vier.
Als ich dem Hengst im März 2013 vor- Dzubasz ist einer dieser selten gewor-
gestellt werde, schaut er mich zuerst nur denen Männer, die in den Grauzonen des
von der Seite an. Er ist ein Galopper und Lebens den Mittelpunkt ihrer Autorität
steht im Rennstall Hoppegarten, östlich gefunden haben. Er ist klein, drahtig,
von Berlin. Hoppegarten ist eine legen- meist gelassen. Er hinkt, sein rechtes Bein
däre Rennbahn, die eine Ahnung von den wurde bei einem Reitunfall verletzt.
vibrierenden Momenten des Triumphs Wenn er morgens am Zaun des Trainings-
verströmt. Als im Jahr 1868 das erste Ren- geländes lehnt und seinen Reitern zu-
nen stattfand, regierte König Wilhelm I. schaut, schweigt er. Er verströmt keine
in Preußen. Später tauchten Gerhard Euphorie, aber auch keinerlei Aggression.
Schröder, Richard von Weizsäcker, Chris- Er macht seine Arbeit. Er kennt sich aus.
tine Neubauer hier auf, Axel Schulz, Wal- Galoppsport-Journalisten erzählen über
ter Scheel und Verona Pooth. Walter ihn, dass man ihn schwer durchschauen
Scheel und Verona Pooth, das ist in etwa könne, und das ist als Kompliment ge-
die Hoppegartener Spannbreite. meint. Er spricht aus, was ihm mitteilens-
„N. N.“ steht noch auf dem Namens- wert erscheint, das meiste behält er für
schild neben unserer Box im Rennstall. sich. Mit 59 Siegen im Jahr 2012 ist er
Der Vater unseres Pferdes heißt Excellent Champion geworden, obwohl sein Renn-
Art, die Mutter Do the Deal. Der Vater stall kleiner ist als die Ställe seiner wich-
ist Brite, die Mutter Irin. Unser Hengst tigsten Konkurrenten. In Westdeutsch-
ist noch sehr jung, zwei Jahre alt. Das land prägen die reichen Besitzer bedeu-
höchstdotierte deutsche Rennen für zwei- tender Gestüte den Sport. Im Rennstall
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 89
Sport

unseres Trainers gibt es Menschen, die zu sehen ist – Klaus Fischer, den ich im- ihm ein Foto von Mister Detective und
sich zu zehnt ein Pferd teilen. mer sehr bewundert habe, als Mensch frage ihn, ob wir jetzt Gegner seien. Er
Wir haben unser Syndikat Hongkong und als Fallrückzieher. denkt kurz nach, dann antwortet er: „Ja.“
genannt und unter diesem Namen beim Ich bekomme Rechnungen von Huf- Allofs sagt, er habe einen Anzug ge-
Direktorium für Vollblutzucht und Ren- schmieden (Alu-Eisen vorn und hinten) tragen, als er in die Maschine nach Ba-
nen registrieren lassen. Hongkong ist ein und Tierarztpraxen (Influenza-Impfung). den-Baden stieg. Wake Forest war zuvor
übermütiger Name. Die Stadt verwandelt Ich beschäftige mich mit der Logik von in Hoppegarten gelaufen, hatte gesiegt,
sich in ein Irrenhaus, sobald die interna- Wettquoten. Ich bin angekommen. Max dann folgte Baden-Baden, und Allofs war
tionalen Rennen beginnen. Das Größte, von Merveldt, einer der Pressesprecher außer sich. Sein Hengst war etwas ange-
das meiste, das Neueste, das ist Hong- der Rennbahn Hoppegarten und der Nef- schlagen, die Körpertemperatur stimmte
kong. Dorthin wird man eingeladen, fe eines Pferdezüchters, begrüßt mich an nicht, und dennoch setzte sich Wake
wenn man auf dem Weg zur Weltspitze einem Junitag mit dem Satz: „Ich habe Forest durch. Danach bekam Allofs einen
ist. Wer seinen Rennstall Hongkong Sie schon gesucht.“ Vielleicht werde mich silbernen Teller überreicht, der mit etwas
nennt, leidet nicht unter Illusionslosigkeit. Tini Gräfin Rothkirch demnächst in ihren Phantasie an die Schale des deutschen
In der Gruppe der zweijährigen Hengs- Hoppegartener Rennklub einladen, sagt Fußballmeisters erinnert, aber er sagt
te gehört Mister Detective bald zu den er, vielleicht. auch: „Wer nicht verlieren kann, sollte
Hoffnungsträgern, gemeinsam mit Karl- Die Gräfin, wie man sie nennt, trägt sich kein Rennpferd kaufen.“
theodor, den man im Rennstall „KT“ an besonderen Tagen exquisite Hüte, sie Wake Forest war als junges Pferd noch
nennt. Die „Sport-Welt“, das Blatt der ist die Grande Dame der Hoppegartener unscheinbar, spät geboren, im Mai. Aber
Galopperszene, schreibt über uns: „Der Gesellschaft. Es gibt jetzt eine winzige er hatte, sagt Allofs, von Beginn an etwas,
Stall Hongkong erwarb Mr Detective, Verbindung zwischen Tini Gräfin Roth- das ihn überzeugt habe: „Er hat Charak-
dem der Betreuer eine weite Entwicklung kirch und Claudio Pizarro – mich. ter, er war mir gleich sympathisch.“ Ich
und einen guten Eindruck in der Arbeit In Hoppegarten sehe ich unseren Trai- verstehe, was er meint.
bescheinigt und als realistische Ziele zwei ner konzentriert vor Monitoren stehen, Ich werde meine Kollegen, Freunde
Auktionsrennen im Herbst vorgibt.“ er beobachtet die Rennen in Krefeld, und Verwandten nach Baden-Baden ho-
Man darf es mit der Hoffnung nicht Neuss oder Leipzig. Er trägt einen Anzug. len. Ich erkundige mich, was ein Reisebus
übertreiben. Man kann ein junges Pferd Ich habe Respekt vor Männern, die zu samt Fahrer kosten würde, der am 18. Ok-
zugrunde richten, wenn man es in ein bedeutsamen Anlässen ihren Anzug aus tober rund 80 Personen nach Baden-
aussichtsloses Rennen schickt. Ein Pferd, dem Schrank holen, hin und wieder ein Baden brächte. Noch hat unsere Familie
das bei seinem Debüt als Verlierer endet, abgegriffenes Handy aus der Tasche zie- Baden-Baden stets als Verlierer verlassen,
kehrt womöglich traumatisiert in den hen und danach wieder auf schmutzige Mister Detective könnte die Revanche
Stall zurück. Es ist ein Rennpferd, kein Bildschirme starren. Es ist diese faszinie- sein. Ich verschicke gerahmte Fotos von
Zirkuspony. Es wird darauf trainiert zu rende Entschiedenheit, die von ihnen ab- Mister Detective, an meine Eltern, meine
gewinnen. Es hat Empfindungen. Es spürt strahlt. Die Entschiedenheit mag einge- Schwester, meinen sechsjährigen Neffen.
die Demütigung, die sich in der Nieder- bildet sein, aber das nimmt ihr nichts von Im Juli passiert etwas Seltsames. Mister
lage ausdrückt. Wir müssen aufpassen. ihrer Anziehungskraft. Detective gerät in die Pubertät. Er wächst
Wir müssen Mister Detective vor unseren Mister Detective macht solche Fort- sehr schnell und frisst sehr viel. Auf der
Tagträumen beschützen. schritte, dass der Trainer etwas Unerwar- Sandbahn, die besonders viel Kraft kostet,
Als die Rennsaison in Hoppegarten be- tetes tut: Er meldet ihn für das große Ren- wird er von Karltheodor regelmäßig ab-
ginnt, ist Mister Detective noch nicht da- nen in Baden-Baden an. Mister Detective, gehängt. „Er muss sich zurückmelden“,
bei. Er muss üben. Ich habe mir einen das steht für mich fest, ist ein Ausnahme- mahnt unser Trainer.
Besitzerausweis besorgt, mit einem gro- pferd. Er hat eine „Nennung“ für Baden- Einmal, bei meinem Besuch im Stall,
ßen B. Ich darf meinen Wagen auf dem Baden, das bedeutet: Wir zahlen – wie liegt Mister Detective entspannt auf dem
Parkplatz der Ehrengäste abstellen, ich beim Pokern – in einen Jackpot ein. Neh- Boden. Flamingo Star, Born to Run, Cos-
gehöre jetzt dazu. Ich habe mir den Film men wir ihn vorzeitig aus dem Rennen, mic Wind und die meisten anderen Pferde
„Seabiscuit“ angeschaut, der die wahre bleibt unser Einsatz im Jackpot. dösen im Stehen, nur Mister Detective
Geschichte eines Galoppers nacherzählt, Die Nachricht „Baden-Baden“ trifft legt sich hin wie ein Hund. Seine Gelas-
eines Hoffnungsträgers im Amerika der mich wie ein Blitz. Baden-Baden ist eine senheit ist schwer zu ertragen. Vielleicht
Großen Depression. Ich habe mir Bü- entscheidende Etappe auf dem Weg zur liegt es an der Sommerhitze. Unser Hengst
cher gekauft, „Rivalen der Rennbahn“, Spitze. Im Jahr 2012 hat der Fußball- ist Ire, hohe Temperaturen machen ihm
„Kämpferherz Gondolo“, all dieses Zeug. manager Klaus Allofs dieses Rennen ent- womöglich mehr zu schaffen als Karl-
Ich habe erfahren, dass der Fußballprofi schieden, mit seinem Hengst Wake Forest. theodor. Ich weiß es nicht. Was weiß man
Claudio Pizarro vom FC Bayern Mün- Ich muss zu Allofs. schon über einen Jungen in der Pubertät?
chen viele Galopper besitzt. Ich habe ein Ich treffe ihn in einer Lounge im Fuß- „Er muss bald aufwachen“, sagt unser Trai-
altes Foto entdeckt, auf dem der junge ballstadion des VfL Wolfsburg, Allofs ist ner. Und er muss 40 Kilo abnehmen. Er
Stürmer Klaus Fischer mit Rennpferden ein Geschäftsführer des Vereins. Ich zeige nimmt tatsächlich 40 Kilo ab, weil der
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

LARA WILLEKE

Rennpferdbesitzer Willeke, Allofs Rennbahn-Organisatoren in Hoppegarten Galopprennen in Hannover im Oktober 2013*

90 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL
Hoppegartener Rennklub-Chefin Rothkirch (r.), Partygäste: Irgendwas zwischen „wow“ und „huch“

Trainer ihn in den kommenden Wochen die besonderen Pferde, die sich erst im Fachblatt „Sport-Welt“, inzwischen ist er
fordert. Ob Baden-Baden noch in Frage entscheidenden Augenblick zeigen. In ei- der Chef. Er setzt sich mit mir in eine
kommt, soll sich bei einem kleineren Ren- ner fast vergessenen Studie der Gesamt- Bäckerei. Über Mister Detective sagt er:
nen in Dresden entscheiden, am 6. Okto- hochschule Kassel habe ich gelesen, dass „Er ist noch jung, er kommt schon noch.“
ber. Das erste Rennen überhaupt. fuchsfarbene Galopper auf Sprintstrecken Danach: „Es gibt welche, die keine Lust
Ich kann leider nicht dabei sein, aber wie dieser die besten Resultate erzielen. haben, manche sind nicht ganz richtig
drei meiner Mitbesitzer fahren hin. Ich Als Mister Detective in die Startbox im Kopf.“ Ein Galopper sei wie eine
habe mich im Internet bei einem Wett- geführt wird, sieht man keine Anzeichen Wundertüte.
anbieter angemeldet, damit ich zu Hause von Aufregung. Das Rennen beginnt, auf Danach erzählt er von seinem eigenen
einen Livestream des Rennens empfangen dem Bildschirm des Fernsehers sehe ich Hengst, Mauriac. Er wurde in Baden-
kann, und ich habe Nachbarn zu uns ein- ein Pferd mit einer Blesse an der Spitze Baden Vierter, dann hörte der Jockey die-
geladen. Kollegen des SPIEGEL habe ich des Feldes. Wahnsinn, das ist er, Mister ses Röcheln. Offenbar, stellte ein Tierarzt
dazu ermutigt, auf Mister Detective zu wet- Detective. Der Kommentator aber sagt: fest, verengt sich beim Rennen die Luft-
ten. Meine Familie, meine Freunde, die Joy to the World geht an die Spitze. Was röhre. Stress. „Okay“, sagte Peter Scheid
Freunde meiner Mitbesitzer, alle setzen redet der da? Er sagt auch: „Etwas schwer schließlich, „binden wir ihm die Zunge
auf ihn. Wenige Stunden vor dem Rennen auf die Beine kommt Mister Detective.“ fest.“ Aber das Problem blieb. Scheid
gilt er als Toto-Favorit, das bedeutet: Das Das leicht unscharfe Fernsehbild hat mich schaut mich fragend an. Dann holt er sich
meiste Geld liegt, jedenfalls zeitweise, auf getäuscht, Mister Detective liegt in Wahr- ein Stückchen Bienenstich, und wir spre-
Mister Detective. Im Führring in Dresden, heit zurück. Wie groß ist sein Abstand? chen sehr lange übers Röcheln.
wo dem Publikum die Pferde vorgestellt 15 Längen? Dann ist das Rennen vorbei. Peter Scheid hat sein Pferd verkauft.
werden, lobt ihn der Sprecher der Renn- Regungslos sitze ich vor dem Fernseher, Es lebt jetzt in der Toskana. Und plötzlich
bahn wegen seiner Schönheit. Mister De- auch meine Gäste sagen nichts. Mister hat es ein großes Rennen gewonnen.
tective wiehert oft, er macht einen glückli- Detective wurde Letzter. Scheid sagt: „Du weißt es nie.“
chen Eindruck. Er paradiert wie ein Sieger. Als ich meinen Mitbesitzern in unserer In Langenhagen bei Hannover ist Mis-
Es gibt Pferde, die Trainingshelden blei- WhatsApp-Gruppe Hongkong die Mit- ter Detective wie ausgewechselt. Sein
ben und im Rennen versagen. Und es gibt teilung sende: „Die Letzten werden die zweites Rennen. Er ist nervös, schon auf
Ersten sein“, erwidert niemand etwas. dem Weg zum Führring steigt er. Der Jo-
Baden-Baden ist gestorben. ckey, ein Mongole, hat den Auftrag, Mis-
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

Später wird unser Trainer sagen: „Er ter Detective unter Druck zu setzen. Mis-
ist ins Rennen gegangen, wie er rausge- ter Detective trägt Scheuklappen, damit
kommen ist.“ Ohne Anstrengung. Er hat- er sich nicht ablenken lässt. Als sich die
te gar nicht geschwitzt. Auch nach dem Startboxen öffnen, zieht er in die Spit-
Absatteln blieb er guter Laune und wie- zengruppe, aber er fällt auf der 2000 Me-
herte unbekümmert. Ist er Phlegmatiker? ter langen Strecke ins Mittelfeld zurück.
Ich fahre zu Peter Scheid nach Köln. Er wird Sechster. Sechster von neun. Eine
Der Journalist ist seit 37 Jahren beim deutliche Steigerung. Ich frage mich bloß:
Warum wurde Karltheodor Dritter?
* Mister Detective unter dem in Rot gekleideten Jockey Die Rennsaison 2013 geht langsam
Trainer Dzubasz mit Mister Detective Bayarsaikhan Ganbat aus der Mongolei. zu Ende. Roland Dzubasz, unser Trainer,
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 91
Sport

hat 56 Siege errungen, mit anderen Pfer- Prinz von Preußen. Wegen der anregen-
den, in der Trainer-Rangliste wird er den Gespräche im Rennklub kommt er
Zweiter. Schließlich stellt er uns eine oft nach Hoppegarten, doch er wettet nie.
Frage, die ihm ganz normal vorkommt: So steht der Prinz dann amüsiert auf der
Sollen wir ihn kastrieren lassen? Ein Wal- Kaisertribüne und sagt über sich: „Ich
lach hätte ein besseres Leben. Er dürfte habe keine Ahnung.“ Von Pferden ver-
draußen auf die Koppel, weil er beim Ge- steht er nichts.
ruch der Stuten nicht mehr durchdrehen Ich rufe Andrasch Starke an, Deutsch-
würde. Vor allem könnte er sich auf die lands erfolgreichsten Jockey. Ich will von
Arbeit konzentrieren. Mister Detective ihm wissen, wie er das macht: Ständig
gilt als „hengstig“, er lässt sich für die wechselt er die Pferde, ständig gewinnt
falschen Themen begeistern. Er muss er. Mehr als 2000 Siege. Sein Keller ist
den Ernst des Lebens erkennen. Im Jahr voller Pokale. In Ascot reichte ihm die

ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ / DER SPIEGEL


2014 wird er drei, bei Dreijährigen ent- Queen die Hand. Starke hat wenig Zeit,
scheidet sich meist, was in ihnen steckt. bald fliegt er nach Hongkong. Er sei in
Mister Detective schaut in letzter Zeit der Lage, sagt er, eine Zwei-Minuten-
oft aus dem Fenster seiner Box. Sehnt er Beziehung zu einem Pferd aufzubauen,
sich nach Freiheit? Kastrieren oder nicht allein für die Dauer des Rennens. Er
kastrieren? nennt das „die schnelle Nummer“. Es
Tini Gräfin Rothkirch, die Chefin des gebe nur wenige Jockeys auf der Welt,
Rennklubs in Hoppegarten, hat zum Ab- die diese Nummer beherrschten.
schluss-Dinner der Rennsaison eingela- Würden Sie im kommenden Jahr auch
den. Ein Trainer hat ein Wildschwein er- Mister Detective reiten, Herr Starke?
legt, es wird gegrillt und tranchiert. Heute Pferdeliebhaber Willeke mit Mister Detective „Ja, gern“, sagt er, „ich nehme nicht
geht es leger zu, niemand muss sich eine Kastrieren oder nicht kastrieren? nur Favoriten.“
Krawatte umbinden. Ein frostiger Win- Es ist inzwischen Dezember, wir haben
terabend bricht an, auf die Kaisertribüne chen und großen Gesten versichern sich uns entschieden. Ein Tierarzt schreibt mir
wurden Heizstrahler gestellt. Die Gräfin, Menschen gegenseitig ihrer Existenz, von am Nikolaustag: „Der Hengst ist vollstän-
die sich um Sponsoren bemüht und sich denen man sich kaum vorstellen kann, dig kastriert.“ Einen Deckhengst Mister
gelegentlich mit Karl Lagerfeld trifft, er- dass sie sich außerhalb dieser Welt jemals Detective wird es nie mehr geben, aber
zählt mir von ihrem Hengst Marientaler, begegnen. Franz Prinz von Auersperg das wird unsere Beziehung nicht beein-
der in dieser Saison nur einmal gelaufen wird gleich erwartet, der mit dem Hengst trächtigen. Ich werde ihn nicht verkaufen,
ist, erfolglos. Er habe sich in einem Bun- Pastorius den Prix Ganay in Paris gewann. falls einer der Tschetschenen anrufen soll-
ker des angrenzenden Golfplatzes ge- Ein Mann namens Dr. Helmut Schmidt, te. Ich habe ihn gern.
suhlt, das war seine auffälligste Tat. Rostocker Honorarkonsul der Tsche- Die Weihnachtsfeier unseres Trainers
„Wie heißt Ihr Rennstall?“, fragt mich chischen Republik, ist schon da. Ein Spar- beginnt mit der kürzesten Rede der Welt.
die Gräfin. kassenchef aus dem Rheinland schlendert „Für die einen war das Jahr schön“, sagt
„Hongkong.“ unschlüssig vorüber, der Präsident des Roland Dzubasz, „für die anderen nicht.“
Die Gräfin reißt die Augen auf und Bad Doberaner Rennvereins erläutert sei- Ich lerne den Besitzer von Karltheodor
macht ein respektvolles Geräusch, irgend- nen Siegelring, der letzte Direktor des kennen, einen gutgelaunten Arzt aus der
was zwischen „wow“ und „huch“. Volkseigenen Betriebs Vollblutrennbah- Lüneburger Heide. Karltheodor ist im
Später hält der Inhaber der Rennbahn, nen der DDR taucht auf, und an einem kommenden Jahr für das Derby in Ham-
Gerhard Schöningh, eine Rede, die davon Stehtisch kippen knorrige Männer in burg genannt, den Höhepunkt des Ga-
handelt, dass er mit Hoppegarten die winddichten Parkas ihr Bier. Das sind die loppsports. Ich bin ein bisschen neidisch,
Nummer eins in Deutschland werden will. Trainer. Einer von ihnen ist Roland Dzu- aber das vergeht sehr schnell.
Hoppegarten war schon so gut wie pleite, basz. Er wollte zuerst nicht kommen, er Der Transportunternehmer, der schon
da tauchte dieser Millionär auf. Er ist In- mag solche Feiern nicht. Tausende Pferde zu Rennen gebracht hat,
vestmentbanker in London und besitzt Wo steckt eigentlich Prinz von Preu- sagt über Mister Detective: „Wie er in
11 bis 14 Pferde, genau weiß er das nicht. ßen? den Hänger steigt – er ist ein Sieger.“ Die
Seine Stute Little Annabell ist gerade ver- Er fühlte sich nicht gut, er ist 69. Gele- wichtigste Phase seiner Entwicklung be-
letzt, eine Sehne wurde überdehnt. Er gentlich rebelliert sein Herz. Er wartet ginnt in diesem Winter.
sagt zu mir: „Es ist ein Unterschied, ob auf mich in der Lobby eines Hotels in Jeff Bezos, der Amazon-Gründer, hat
man ein Rennpferd besitzt oder es tat- Potsdam, trägt ein Lodenjackett und fährt gesagt, dass gedruckte Zeitungen etwas
sächlich auf die Bahn bringt.“ mich in seinem grünen Jaguar durch die für Menschen seien, die sich auch Pferde
Dann berichtet er von den Supermäch- Stadt. Franz-Friedrich Prinz von Preußen kaufen. Das könnte stimmen. Bezos hat
ten seiner Welt, dem Emir von Dubai, ist ein Urenkel des letzten deutschen Kai- die „Washington Post“ gekauft, ich habe
der Herrscherfamilie von Katar und dem sers. Er versprüht die Ironie eines Nach- mich für Mister Detective entschieden.
tschetschenischen Diktator Ramsan Ka- kommen, der aus einer überladenen Welt Ich möchte mit Bezos nicht tauschen.
dyrow, der den Rothschilds den Hengst stammt, die von Republikgründung zu Wahrscheinlich ist Mister Detective
Meandre für sechs Millionen Dollar ab- Republikgründung immer weiter entleert nicht der Fleißigste, aber er ist neugierig
kaufte. Es sieht so aus, als verließe nicht wurde und schließlich ihren Sinn verlor. und hat einen Sinn für Überraschungen.
nur der Kapitalismus die Demokratie, Über die sogenannten besseren Kreise Er wäre auch ein guter Reporter gewor-
sondern auch der Galopprennsport. Auf sagt er: „Scheißkaviar.“ Er lacht. den. Ich glaube, dass er die Gabe besitzt,
halbem Weg, schon ziemlich weit im Os- Sein Vater wurde noch im Potsdamer sein Können eine Zeitlang zu verbergen.
ten, liegt Hoppegarten, die Residenz ei- Stadtschloss geboren. Sein Urgroßvater, Es wäre dumm von ihm gewesen, zu früh
ner versprengten Konföderation. Kaiser Wilhelm II., regierte eine Zeitlang auf sich aufmerksam zu machen. Ganz
Gräfin Tinis Feier ist ein Ereignis, von von Potsdam aus das Reich. In einem auf- sicher: 2014 wird sein Jahr.
dem man nicht glaubt, dass es sich heute wendig umgebauten Pferdestall eines kai- Ich werde einen Anzug tragen, sobald
noch ereignen kann. Mit kleinen Anspra- serlichen Ulanen-Regiments wohnt heute er die Rennbahn betritt.
92 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Trends Medien

INTERNET COM EDY

Skurriler Merkel-Hit
Der wöchentliche Podcast von Angela
„Ziemlich gehetzt“
Merkel, „Die Kanzlerin direkt“, wird Schauspieler Bjarne Mädel, 45, über arbeiten für anderthalb Stunden
allmählich beliebter. Laut einer Spre- die preisgekrönte Reihe „Der Tatortrei- „Tatort“ dauern doppelt so lang.
cherin der Bundesregierung rufen der- niger“ (7., 8., 9. Januar, 22 Uhr, NDR) SPIEGEL: Leidet die Qualität darunter?
zeit durchschnittlich 66 000 Nutzer das Mädel: Das lassen wir nicht zu. Wir
Kurzvideo jeweils in der Woche nach SPIEGEL: Der NDR hat Ihre Reihe kriegen das hin, weil wir ein hervor-
der Veröffentlichung auf. Im Vorjahr anfangs im Programm versteckt und ragendes Team sind und so großartige
kaum Werbung dafür gemacht. Kollegen wie Fritzi Haberlandt oder
Werden Sie vom Sender immer noch Florian Lukas bei uns spielen. Aber
so stiefmütterlich behandelt? wir sagen den Kollegen vorher immer
Mädel: Ich tue mich schwer mit einer schon, dass sie den Text so gut beherr-
Antwort. Wir bekommen Anerken- schen müssen, dass sie ihn nachts rück-
nung, aber in erster Linie verbal. „Der wärts sprechen können. Sonst kom-
Tatortreiniger“ war anfangs ein men wir nicht durch den Tag.
Experiment, der Erfolg hat alle über- SPIEGEL: Wo hapert’s noch?
rascht. Zwei Grimme-Preise in Folge, Mädel: Wir hoffen weiterhin auf einen
damit hätte niemand gerechnet. Jetzt festen Sendeplatz. Damit die Zuschauer
wäre es Zeit für den nächsten Schritt. wissen: Immer dienstags kommt der
Ich würde mir wünschen, dass der „Tatortreiniger“, und das über ein paar
NDR sagt: Was braucht ihr, wie kön- Wochen hinweg. Stattdessen strahlt der
nen wir euch helfen, die Qualität zu NDR jetzt im Januar an drei Tagen hin-
Podcast der Kanzlerin halten? tereinander drei neue Folgen aus – und
SPIEGEL: Also: Was brauchen Sie? die nächsten drei, die wir gerade ge-
waren es nur 18 000 gewesen. Die Vor- Mädel: Auf jeden Fall würde ein größe- dreht haben, meines Wissens im Januar
lieben der Deutschen sind dabei eini- res Budget helfen. Dann wären wir 2015. Wenn ich Programmplaner wäre,
germaßen skurril. Am unbeliebtesten nicht gezwungen, alles in einem Raum würde ich doch sagen: „Wir zeigen das
war ein Podcast der Kanzlerin zu zu drehen. Und wir könnten uns mehr so schnell wie möglich!“ Oje, jetzt hab
Deutschland und den EU-Finanzen Zeit lassen. Wir sind schon ziemlich ich aber viel geschimpft. Eigentlich
mit knapp 12 000 Zugriffen. Favorit gehetzt. Pro Folge haben wir vier wollte ich nur sagen, dass ich es toll
hingegen war ein Beitrag, in dem sich Drehtage, also zwölf Tage für 90 Minu- finde, dass wir so etwas Schönes wie
Merkel anlässlich einer Fahrradmesse ten Film. Das ist Wahnsinn. Dreh- den „Tatortreiniger“ machen dürfen.
für eine „Stärkung des Radverkehrs“
aussprach und etwa feststellte, dass
Fahrradfahren „eine Fortbewegung ist,
die die eigene Gesundheit unterstützt,
wenn man sich vernünftig im Straßen-
verkehr verhält“. Das Video wurde
mehr als 290 000-mal angeklickt.

ZAHL DER WOCHE

219 Minuten …
... betrug die durchschnittliche täg-
liche Fernsehnutzung der Deutschen
im Jahr 2013. Im Vergleich zum Vor-
jahr bedeutet das einen Rückgang um
drei Minuten. Die meistgesehene Sen-
dung war mit 21,61 Millionen Zuschau-
ern das Champions-League-Finale
Dortmund gegen Bayern am 25. Mai
im ZDF. Auf Platz zwei kam das TV-Du-
ell Merkel gegen Steinbrück, das von
fünf Sendern übertragen wurde. Drei
„Tatort“-Folgen schafften es in die Top
Ten der quotenstärksten Sendungen,
darunter zwei Fälle aus Münster und
IMAGO

Til Schweigers Einstand in Hamburg.


Mädel in „Der Tatortreiniger“

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 93
Medien

4 1

STERN / DPA (4); DDP IMAGES (2); GETTY IMAGES (1); SÜDD. VERLAG (6)
2

5
S AT I R E

Liebe Medienopfer!
2013 war das Jahr der selbsternannten Pressegeschädigten, von Markus Lanz bis
Peer Steinbrück. Nicht nur Prominente litten unter der Branche, sondern
auch die Journalisten selbst. Markus Brauck und Alexander Kühn spenden Trost.

1
Die Medien, liebe SYLVIE MEIS traf es noch schlimmer. Als Ihre Frau sinnvortäuscher, Thesensklave. Und wie
ehemals VAN DER VAART, kön- Urlaub machte, kam nicht nur die „Bild“- sich die Redaktionen hinter Ihrem Rü-
nen so gemein sein. Da lieferten Zeitung, sondern gleich deren Chefredak- cken lustig machen über Ihre manierierte
Sie in den vergangenen zwölf Mo- teur Kai Diekmann zu Ihnen in den Og- Art zu reden und je-de Sil-be ein-zeln zu
naten unermüdlich Boulevardstoff: Tren- gersheimer Bungalow, nebst Gattin Katja setz-en? Unser Tipp für 2014: Machen Sie
nung, Seitensprungbeichte, Scheidung. Kessler. Diekmann las Ihnen aus Ihrem Ihre eigene Show. Statt „Menschen bei
Vom Ex-Liebhaber erpresst, von der bes- Briefwechsel mit Franz Josef Strauß vor, Maischberger“ eben „Talker bei Yogesh-
ten Freundin verraten, vom Glück verlas- Kessler kochte. Ein paar Tage lang wohn- war“. Da kommen dann reihum Beck-
sen. Trotzdem gab es Ausgaben von ten die beiden sogar bei Ihnen. Wir müs- mannillnerlanzjauchplasbergwill zu Ih-
„Bild“, „Gala“ und „Bunte“, bei denen sen uns wundern, Kanzler der Einheit. nen, bringen jeweils ein paar Talk-Gäste
Sie es nicht auf den Titel geschafft haben. Schauen Sie eigentlich nie „Aktenzeichen ihrer Wahl mit – und alle hängen an Ihren
Wenn Ihnen 2014 diese Demütigung er- XY“? Noch nie etwas vom publizistischen Lippen, während Sie wieder mal die Welt
spart bleiben soll, müssen Sie täglich Enkeltrick gehört? Alte Leute sollten ver- am Beispiel Ihres Bäckers, Ihres Hundes
nachlegen im Selbstbezichtigungshand- dammt gut aufpassen, wen sie ins Haus oder Ihres Bauchnabels erklären.

4
werk: 1. Januar: „Sylvie: Ich kann nicht lassen.

3
kochen.“ 2. Januar: „Sylvie: Ich hasse Das war gar nicht nett, DOMINIK
meine Haare.“ 3. Januar: „Sylvie: Mein Das hätten Sie nicht gedacht, WICHMANN, wie die „Berliner
Leben langweilt sogar meinen Therapeu- RANGA YOGESHWAR, dass aus- Zeitung“ über Sie und Ihre ersten
ten.“ Undsoweiterundsofort. gerechnet Sie zu den Medien- acht Monate als Chefredakteur

2
opfern des Jahres 2013 zählen, des „Stern“ schrieb. „Dr. W. Ichmann“
Am Vortag der Bundestagswahl oder? Wo Sie doch so präsent sind in den würden Sie in der Redaktion genannt,
gab es auf einen Streich 40 Mil- Talkshows von Beckmann bis Jauch und und das habe mit „der Art zu tun“, wie
lionen Medienopfer – 40 Millio- so klug über NSA, Amazon, Facebook, Sie „das Blatt“ machten und sich in Kon-
nen deutsche Haushalte, denen Überwachung und alles, was gerade so ferenzen beeilten, „es vor allen anderen
die „Bild“ gratis in den Briefkasten ge- gefragt wird, reden können. Wahrschein- selbst zu loben“. Gemein ist das vor allem
liefert wurde. Sie hingegen, notorischer lich merken Sie nicht einmal, wie Sie da deshalb, weil Sie selbst ein netter Kerl
Nobelpreiskandidat Dr. HELMUT KOHL, ausgenutzt werden. Als Erklärclown, Tief- sind und der „Stern“ unter Ihnen ja selbst
94 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
7
MELANIE GRANDE / WDR (3); DOC-STOCK (7); EIBNER-PRESSEFOTO (8); VON ERICHSEN / DPA (10)

9
8
3 10
Helmut Kohl und Markus Lanz für super- kann hier hinten Sigmund Gottlieb se- der Kritik ungerecht behandelt. Wenn
dufte Kerle hält. Und weil Sie dem Leser hen.“ Das war höchst unkollegial. Wir Fernsehen gerecht wäre, hätte Herbert
gegenüber eine so tolle Transparenz pfle- dagegen wussten schon immer, dass Sie Feuerstein längst eine eigene Show, Sa-
gen, dass Sie zum Titelbild auch immer in Wahrheit selbst ein „verkappter Sa- muel Koch wäre nie gestürzt, Sie würden
noch drei missglückte Versuche abdru- tiriker“ sind (eine Formulierung, die das im RTL-Regionalfenster das Wetter ansa-
cken. Unser Tipp: Nicht nur mit dem Le- Fachblatt „Titanic“, das sich wie wir auch gen und Sigmund Gottlieb wäre Lokal-
ser kommunizieren, sondern auch mal gern in Briefform äußert, einmal auf zwei reporter in Oberammergau. Kein Witz:
mit den eigenen Redakteuren – dann lau- SPIEGEL-Redakteure angewendet hat). Sie können sich jeden Tag entscheiden:
fen die nicht gleich zur nächstbesten Ta- Sie, Herr Gottlieb, parodieren bloß, wie aushalten oder abhauen. Außer Ihrem
geszeitung, um sich auszuheulen. weit man im öffentlich-rechtlichen Rund- Ego zwingt Sie niemand.

5 9
funk kommen kann. Wenn Sie oben sind,
Dass es dich, hippes Online-Portal Gruß an die Kanzlerin! Abgesehen vom Ausverkauf ei-

7
HUFFINGTONPOST, gleich zum niger Zeitungen und Zeitschrif-
Start in Deutschland so hart tref- Vermutlich sind Sie, liebes TES- ten, die seit Urbeginn zum Axel-
fen würde, hatte niemand erwar- TOSTERON, das erste Hormon, Springer-Reich gehören, haben
tet. Die „Zeit“ hat Helmut Schmidt als das jemals in der „FAZ“ inter- Sie, MATHIAS DÖPFNER, eigentlich
Herausgeber. Du bekamst Cherno Joba- viewt wurde, wenn auch nur in nichts Verwerfliches getan. Außer viel-
tey. Schmidt hat Hamburg vor der Sturm- der Sonntagsausgabe. Das war eine hüb- leicht diesem nervigen Gequatsche über
flut gerettet, Atomwaffen nach Deutsch- sche Idee vom Kollegen Volker Zastrow – Start-up-Kultur, in der sich Kreativität
land gebracht und raucht mit 95 immer und vermutlich das einzige Mal, dass Sie neuerdings nach der Bartlänge bemisst.
noch Kette. Jobatey hat „Verstehen Sie sich im vergangenen Jahr über die Presse Aber sonst? Sie haben ja sofort auf kol-
Spaß …?“ ruiniert, nervte im „Morgen- freuen konnten. Ansonsten waren Sie ja legiale Kritik reagiert und gleich wieder
magazin“ als notorisch fröhlicher Frühauf- für alles Schlechte verantwortlich. Für richtig Geld in Journalismus investiert.
steher und trägt mit 48 immer noch Turn- „die Verblödung der Männer“ durch Eigentlich wollten wir Ihnen raten: Keine
schuhe. Aber vielleicht ist das ein schiefer „überschießendes Testosteron“, für „holz- Angst vor der nächsten Kehrtwende,
Vergleich. Die „Zeit“ titelte neulich: „44 schnittartig rumkrachenden Testosteron- wenn das neue Projekt auch nicht so su-
1/2 Wahrheiten über die Liebe“. Die Huff- Quatsch“ im Kino, für „Testosteron-ge- per läuft. Aber das wissen Sie ja längst.

10
po beschäftigte das Thema: „So kommen steuerte Typen“ in der Politik. Aber in
Sie auch in Zukunft noch an Ihre Pornos“. der „Welt am Sonntag“ haben wir dann Die Boulevardblätter nen-
Das sind beides natürlich ganz heiße Eisen. doch noch etwas Schönes über Sie gefun- nen Eure Exzellenz HANS-

6
den: „Ohne Testosteron und Östrogene PETER TEBARTZ VON
Sie mühen sich redlich, SIG- wäre die Welt ein menschenleerer Ort.“ ELST „Protzbischof“, weil
MUND GOTTLIEB vom Bayeri- Was für ein versöhnlicher Satz. Hat be- Ihr Euch von Geld, das für die Armen
schen Rundfunk, Ihre Landes- stimmt eine Frau geschrieben. vorgesehen war, eine hübsche Kapelle

8
regierung stets gut aussehen zu bauen ließet, einen frei schwebenden Ad-
lassen, insbesondere Ihren Ministerpräsi- Was soll man Ihnen, MARKUS ventskranz und eine frei stehende Bade-
denten Horst Seehofer. Und dann machte LANZ, noch raten? Aussteigen, wanne. Das war nicht nett. Und dazu
sich in der „heute show“ des ZDF Oliver auswandern, ein Zeugenschutz- kam dann auch noch das Pech, dass Eure
Welke so billig über Sie lustig, als er für programm? Alles Quatsch. Sie im Vergleich zur Kirchenhistorie gar nicht
einen Sketch seinen Kopf in einen Plas- sind kein Medienopfer. Da können Sie so außergewöhnliche Prasserei exakt zu
tikhintern stecken musste und rief:„Ich noch so viel jammern, Sie würden von dem Zeitpunkt herauskam, als die katho-
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 95
Medien

ZDF / DPA (11); T. RAUPACH (15); STEFFEN / DPA (13); PUR / BREUEL-BILD (14); BEHRENDT / JMSPHOTO.DE (12)
13
11 14
12
15
lische Kirche einen Papst bekam, der Be- ein Video zu zeigen, in dem Sie im Non- maßen. Wenn also die Medienkrise selbst
scheidenheit einfordert. Aber tröstet Euch: nenkostüm an einem Kruzifix lecken. einem wie Ihnen derart zu schaffen
Noch in 400 Jahren werden die Menschen Okay, das Filmchen war nicht besonders macht, dass er sich gezwungen sieht, in
in Limburg Euren Namen kennen als Ziel lustig. Aber das Verhalten des Senders einer „Zeit“-Beilage einen liebedieneri-
von Seniorenkaffeefahrten: „Besuchen war echt spießig, eher so achtziger Jahre. schen Text über das Kreuzfahrtschiff
Sie die Residenz des Borgia von der Damals klinkte sich der Bayerische Rund- „Queen Mary 2“ zu schreiben, in dem es
Lahn.“ Die Geschichte wird Euch recht funk aus der Übertragung des „Scheiben- von überflüssigen Adjektiven nur so wim-
geben. Den Vatikan frequentieren Tou- wischers“ aus, weil Dieter Hildebrandt melt, dann macht uns das allmählich Sor-
risten ja auch nicht deshalb so massenhaft, für bajuwarische Verhältnisse den Satire- gen. Hoffentlich zahlt sich das für Sie we-
weil sie die Bescheidenheit der Renais- bogen überspannt hatte. Haben Sie ge- nigstens aus, etwa mit einer Extraportion
sance-Päpste bestaunen wollen. lesen, wie nun nach Hildebrandts Tod Kaviar bei Ihrer nächsten Leserreise auf

11
ausgerechnet der BR ihm verbale Kränze diesem Nobelkahn, wenn Sie zahlenden
Warum alle Welt auf Sie flocht und das Programm für Gedenksen- „Zeit“-Lesern wieder „tiefe Einblicke ins
eingedroschen hat wie auf dungen freiräumte? Grämen Sie sich also Innenleben der Vereinigten Staaten
ein lahmes Pferd, MARIET- nicht, sondern seien Sie sich jetzt schon gewähren“, was der Veranstalter als „Un-
TA SKLOMKA, nur weil postumer öffentlich-rechtlicher Würdi- terhaltung auf höchstem Niveau“ an-
Sie Ihren Job machen, haben wir ohnehin gung gewiss. preist. Und das alles, inklusive „Champa-

13
nicht verstanden. So richtig haben wir gner-Empfang im Hamburger Verlags-
zwar auch nicht begriffen, warum Sie in „Teile der Medien“, so ha- haus“, ab schlappen 1752 Euro pro Person
Ihrem Interview mit Sigmar Gabriel auf ben Sie geklagt, Ex-Kanz- in einer Besenkammer ohne Bullauge.
diesem Dings, dieser Sache, also auf der lerkandidat PEER STEIN- Auch in der Krise gilt: Hummer ist der
Verfassung herumgeritten sind. Aber dass BRÜCK, hätten Sie wäh- beste Koch.

15
ausgerechnet der ehemalige Pop-Beauf- rend des Wahlkampfs schlecht behandelt.
tragte Gabriel ein Interviewthema been- Mag sein. Aber waren an Ihrer Nieder- Auch du, SPIEGEL, bist im
det, weil er es für Quatsch hält, fanden lage nicht vielmehr Teile Ihres Körpers vergangenen Jahr gehörig
wir dann doch überraschend. Unser Rat: schuld? Die Hand, die Sie für üppige unter die kollegialen Mühl-
Pöbeln Sie zurück. Brechen Sie einfach Rednergagen aufhielten? Der Gaumen, räder geraten. Zwei Chef-
mal ein Interview mit dem Satz ab: „Die- der sich gegen billigen Pinot Grigio redakteure weg, ein neuer da und dann
sen Blödsinn muss ich mir nicht mehr län- sträubte? Der Mund, der darüber frei- noch der Mann von „Bild“! Irgendwie
ger anhören, Herr Söder.“ Und weil sich mütig plapperte? Das Hirn, das dieses geht es bei dir nie leise zu, und immer
SPD und CSU ja neuerdings liebhaben, Plappern nicht verhinderte? Schließlich: hört die ganze Branche zu und redet mit.
muss dann Andrea Nahles für Markus der Stinkefinger? Das Schöne an der ver- Und wie manche Kollegen über dich
Söder eintreten und ihn öffentlich einen lorenen Wahl ist doch: Jetzt dürfen Sie schreiben, das ist wirklich schlimm. Aber
netten Kerl nennen. Das wird lustig. wieder so nehmen und sich benehmen, stell dir nur mal vor, wie du selbst über

12
wie es Ihrem Wesen entspricht. Genießen dich getextet hättest in den letzten paar
Wie ärgerlich war das, was Sie es. Monaten: „Die Akte SPIEGEL – Einbli-

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sich der WDR Ihnen gegen- cke in das wichtigste Nachrichten-Maga-
über erlaubte, verehrte Ko- Und Sie, JOSEF JOFFE, zin der Welt“, „Inside SPIEGEL – Ein Re-
mikerin CAROLIN KEBE- sind doch verdienter Pu- dakteur packt aus“, „Die verlorene Ehre
KUS. Der Sender weigerte sich, auf dem blizist, Leitartikeldrechsler des Rudolf A.“. Oder noch schlimmer:
Kanal Einsfestival, den eh keiner guckt, und „Zeit“-Ikone gleicher- Niemand hätte sich aufgeregt.
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geblatt „Washington Post“ für die ver- Neben Usmanow wird noch ein zwei-
PRESSEFREIHEIT gleichsweise läppische Summe von 250 ter Oligarch mit einer möglichen Über-
Millionen Dollar; das „Wall Street Jour- nahme der russischen „Forbes“-Ausgabe

Werkzeug der nal“ wurde bereits 2007 vom australi- in Verbindung gebracht: Michail Procho-
schen Tycoon Rupert Murdoch übernom- row, bei den Präsidentschaftswahlen im
men. Die „New York Times“ brauchte März 2012 mit acht Prozent auf Platz drei

Oligarchen eine mittlerweile zurückgezahlte 250-Mil- und Mehrheitseigentümer des New Yor-
lionen-Dollar-Spritze des mexikanischen ker Basketballclubs Nets.
Mobilfunkunternehmers Carlos Slim zum Prochorows Annäherungsversuche
Magnaten aus der ehemaligen Überleben. blieben im Frühjahr jedoch erfolglos,
Sowjetunion wollen Für „Forbes“ ist das Geschäft mit Aus- nun versucht es Usmanow. Der Oligarch
die Presse unter ihre Kontrolle landslizenzen nach wie vor eine lukrati- hat zuvor schon andere kritische Blätter
ve Einnahmequelle. „Forbes“ blickt auf wie die Tageszeitung „Kommersant“ auf
bringen. Jüngstes Ziel: die eine stolze, fast hundertjährige Geschich- Kreml-Linie gebracht. Usmanow scheint
russische Ausgabe von „Forbes“. te zurück. In jüngster Zeit bröckelten je- mit seiner Kampagne offenbar darauf zu
doch die Gewinne ab, die vier Forbes- setzen, Anzeigenkunden zu verschrecken

D
ie russische „Forbes“-Redaktion Brüder sind zudem im fortgeschrittenen und „Forbes“ wirtschaftlich zu schwä-
ist spezialisiert auf investigative Alter, der Herausgeber Steve Forbes ist chen.
Recherchen, sie enthüllte die plötz-66 Jahre alt. Springer will sich zu dem Konflikt
lichen Vermögenszuwächse der Freunde Auch publizistisch hat das größte nicht äußern. Verkaufspläne gäbe es
Wladimir Putins, die Geschäftsinteressen Wirtschaftsblatt der Welt schon bessere nicht. Doch wenn der Druck zu groß wird
von Abgeordneten der Regierungspartei Zeiten gesehen: Heute und Anzeigenkunden sich
„Einiges Russland“ und die eigenartige werden in der US-Aus- zurückziehen, könnte sich
Verquickung amerikanischer Ölkonzerne gabe häufig belanglose das ändern.
mit der russischen Mafia. Essays gedruckt statt du- Widerstand der Forbes-
Zurzeit recherchieren die Journalisten biose Machenschaften auf- Familie haben zwielichtige
in eigener Sache. Sie wollen herausfinden, gedeckt. Superreiche, die nach der
wer hinter den Attacken steckt, mit denen Nicht so in Russland. Macht im Verlag greifen,
ein Unbekannter seit Wochen versucht, Neben gutem Journalis- jedenfalls nicht zu er-
„diese Festung des unabhängigen und kri- mus fällt dort „Forbes“ warten. Das zeigt das Bei-
tischen Journalismus in Putins Reich“, so auch und vor allem durch spiel der Ukraine. Die dor-
der Chefredakteur eines Konkurrenzblat- seine stabilen Gewinne tige „Forbes“-Ausgabe ent-
tes, sturmreif zu schießen. auf – der Axel-Springer- hüllte vor gut einem Jahr
Im Verdacht haben sie vor allem den Konzern ist mit den Ein- die Verbindung eines rät-
Moskauer Oligarchen Alischer Usmanow, nahmen höchst zufrieden. selhaften Jung-Oligarchen
laut „Forbes“ mit 17,6 Milliarden Dollar Die Umsatzrendite sei zur Familie des Präsiden-
Russlands reichster Mann. Denn ausge- zweistellig, heißt es aus ten Wiktor Janukowitsch.
rechnet dessen Medien verbreiten in ho- dem Verlag. Russischer „Forbes“-Titel Sergej Kurtschenko,
hem Tempo geschäftsschädi- nicht einmal 30 Jahre alt
gende Gerüchte über einen und nach eigenen Angaben Herr über ei-
angeblich unmittelbar bevor- nen Jahresumsatz von zehn Milliarden
stehenden Verkauf der russi- Dollar, verwies die Geschichte öffentlich
schen Lizenzausgabe von ins Reich der Fabel, nahm sie aber so
„Forbes“, die vom deutschen ernst, dass er das Blatt im Juli einfach
Axel-Springer-Konzern her- einkaufte.
ausgegeben wird. Ein Enkel des Gründers, Miguel Forbes,
Die Übernahme der Russ- verantwortlich für die ausländischen Li-
land-Ausgabe könnte womög- zenzausgaben, nickte den Deal ab. Für
lich nur der Auftakt für den eine Stellungnahme war er nicht zu er-
Kauf des amerikanischen reichen.
Mutterverlags sein, mutma- Die neuen Besitzer stoppten einen Text
ßen Branchenkenner. Dann über das Umfeld von Janukowitschs Vize-
würde aus dem „capitalist Premier Sergej Arbusow, der wie Kurt-
tool“, dem Handwerkszeug schenko zu den Vertrauten des Januko-
des Kapitalisten, wie das witsch-Sohns Alexander gezählt wird.
stolze Motto der Zeitschrift Auch ein Text über die plötzliche Abkehr
heißt, ein Instrument in der des Regierungslagers von der EU durfte
Hand eines Superkapitalisten. nicht erscheinen.
Dann diente das Blatt den Kurtschenko installierte bei „Forbes“
wirtschaftlichen und politi- Ukraine einen neuen Chefredakteur, der
schen Interessen des neuen sich mit den Befindlichkeiten der Super-
SERGEY KOZMIN / AGENTUR FOCUS

Eigners – und nicht mehr, wie reichen auskennt: Michail Kotow hat lan-
bisher, der Aufklärung. ge für die Internetseite Gazeta.ru gearbei-
Die weltbekannten Mar- tet. Das Nachrichtenportal gehörte dem
ken der US-Presse stehen Stahl- und Gasmagnaten Alischer Usma-
weit mehr unter Druck als now – jenem Mann, dem Interesse an
Blätter in Europa. Zuletzt „Forbes“ Russland nachgesagt wird.
kaufte Amazon-Gründer Jeff BENJAMIN BIDDER, MARTIN U. MÜLLER,
Bezos das Investigativ-Vorzei- Milliardär Usmanow: Interesse am „capitalist tool“ MATTHIAS SCHEPP

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 97
Prisma

U N FÄ L L E GESCHICHTE

Tödlicher Sog Alltagsleben in der Antike


Strömungen an den Badestränden Olivenöl wurde nicht nur in der Küche verwendet, Legionäre schmierten es sich
fordern in Australien jedes Jahr mehr bei Feldzügen, etwa im kalten Germanien, auch als Kälteschutzmittel auf die Haut –
Todesopfer als Buschbrände, Über- solche kuriosen Beispiele aus dem Alltagsleben im antiken Rom präsentiert der
schwemmungen, Tropenstürme und Althistoriker Karl-Wilhelm Weeber. So waren Trennwände in den Gemeinschafts-
Haiattacken zusammen. Das hat der latrinen der Römer überflüssig, weil den Stadtbewohnern, wie Weeber schreibt,
australische Geomorphologe Rob „Affektschranken beim Defäkieren“ fehlten.
Brander ermittelt. Demnach verlieren Karl-Wilhelm Weeber Auch beschäftigt sich der Autor mit der Fra-
bei den Naturkatastrophen jährlich Wasser, Wein & Öl – ge, ob in der Stadt „pandemischer Alkoholis-
18 Menschen ihr Leben; im Schnitt ein Die Lebenssäfte mus“ herrschte, wie gut die römische Feuer-
Mensch pro Jahr stirbt nach einer der römischen Welt wehr organisiert war – und ob Masseure in
Haiattacke. Den tückischen Rück- Primus Verlag, den öffentlichen Bädern deshalb einen so
strömungen in den Brandungszonen Darmstadt; 160 Seiten; zweifelhaften Ruf genossen, weil sie „ihre
der Strände fallen dagegen jedes Jahr 39,90 Euro. ölgetränkte Fingerfertigkeit auch gern mal
21 Schwimmer zum Opfer. zu erotischen Massagen“ einsetzten.

GESUNDHEIT

Höhe schützt Hirn


Schläge auf den Kopf schaden dem
menschlichen Hirn in höher gelegenen
Regionen offenbar weniger als in tie-
fer gelegenen. Auf diesen Unterschied
ist ein Team um den Epidemiologen
Dawn Comstock von der Colorado
School of Public Health gestoßen, das
Sportunfälle amerikanischer High-
school-Athleten untersucht hat.
Demnach traten bei jungen Sportlern
31 Prozent weniger Gehirnerschütte-
rungen auf, wenn ihre Wettkämpfe
an Orten stattfanden, die mindestens
200 Meter über dem Meeresspiegel
liegen. Mögliche Erklärung: In der
Höhenluft schwellen die Blutgefäße im
Hirn an; zudem konzentriert sich ver-
BIOSPHOTO / IMAGES.DE

mehrt Flüssigkeit um die Gefäßwände


herum. Dadurch dehnt sich das Denk-
organ aus und kann bei Schlägen nicht
Kattas auf Madagaskar mehr so leicht von innen gegen die
Schädelwand geschleudert werden.

TIERE
Kattas – Lemuren, die nur auf der
Insel vor Mosambik vorkommen – zur
Nachtruhe immer wieder in dieselben
Schlafhöhlen der Kalksteinhöhlen zurückziehen. Wie

Lemuren Sauther vermutet, machten die in


Gruppen lebenden langschwänzigen
Halbaffen schon vor Jahrtausenden
Urmenschen nutzten den Eingangs- die Erfahrung, dass sie in den festen
bereich von Höhlen als Wohn- und Behausungen am Boden vor Raubkat-
Schlafstätte. Jetzt hat Michelle Sauther zen sicherer waren als in den Wipfeln
von der University of Colorado in von Bäumen. Außerdem boten ihnen
DUANE BURLESON / AP / DPA

Boulder herausgefunden, dass sogar die Höhlen leichteren Zugang zu


schon wildlebende Primaten diese Wasser und Nährstoffen. „Wir glauben,
Verhaltensweise zeigen. Bei Feldfor- dass dieses Verhalten der Kattas Teil
schungen im Südwesten Madagaskars eines uralten Primatenerbes ist, das
beobachtete die Anthropologin, wie wahrscheinlich Millionen von Jahren Football-Spieler
sich die etwa 40 Zentimeter langen zurückreicht“, sagt Sauther.
98 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Wissenschaft · Technik

Am Ohr des Teufels Millionen Liter Quellwasser spru-


deln täglich aus den drei Felskammern des „Devil Spring
System“ in Florida. Die Quellhöhlen heißen „Kleiner Teufel“,
„Teufelsauge“ und „Teufelsohr“. Einen schaurigen Blick
genießt der Taucher am Teufelsohr: Das klare Quellwasser
vermischt sich mit den bräunlichen Fluten des nahen Santa
Fe River – düster leuchtet das Wasser in der Mittagssonne.

ALAN YOUNGBLOOD / PICTURE ALLIANCE / LANDOV / DPA

HIGHTECH
von der University of Southern Cali- zu überwinden und den Druckern zu
fornia ist es jetzt gelungen, diese mehr Schnelligkeit zu verhelfen: Statt

Tuning für Hürden zumindest im Forschungslabor Stunden nimmt die Fertigung homo-
gener Objekte, die nur aus Kunstharz

3-D-Drucker bestehen, nur noch wenige Minuten in


Anspruch. Einen ähnlichen Zeitsprung
hat das Team um den Ingenieurs-
3-D-Drucker könnten in vielen Indu- wissenschaftler Yong Chen auch bei
striebereichen die Produktionsprozes- dreidimensionalen Körpern geschafft,
se revolutionieren. Allerdings galt die die sich aus mehreren Materialien zu-
Technik bisher noch als relativ lang- sammensetzen. „Für die 3-D-Drucker
QUELLE: YOUTUBE

sam. Als besonders schwierig erwies eröffnen sich mit dieser Weiterent-
es sich auch, Objekte aus unterschied- wicklung Möglichkeiten, an die wir
lichen Materialien mit den Hightech- bisher nicht zu denken wagten“, er-
Spritzdüsen herzustellen. Ingenieuren 3-D-Drucker klärt Yong Chen.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 99
NSA-Zweigstelle in Texas
QUELLE: GOOGLE EARTH

NSA

Die Klempner aus San Antonio


Sie wird gerufen, wenn der normale Zugang versperrt ist: Die Hacker-Einheit TAO gilt
als Wunderwaffe der NSA. Sie unterhält ein eigenes Schattennetz, infiltriert Rechner
weltweit und fischt sogar Geräte aus der Post, um deren Platinen zu manipulieren.
Technik

E
s war im Januar vor vier Jahren im schen Spionage. Die Dokumente belegen Aggressive Angriffe, so geht es auch
texanischen San Antonio: Zahlrei- auch, welch umfangreichen Werkzeug- aus einer Selbstdarstellung hervor, gehö-
che Hausbesitzer standen da plötz- kasten sich die TAO zugelegt hat. Und ren ausdrücklich zu den Aufgaben der
lich in ihren Vorgärten vor verschlossenen wie sie mit ihm die technischen Schwä- Einheit. Mitte des vergangenen Jahr-
Garagen. Sie wollten zur Arbeit oder zum chen der IT-Branche – von Microsoft über zehnts hatte sich die Spezialabteilung
Einkaufen fahren, doch die Fernbedie- Cisco und Huawei – für ihre diskreten Zugang zu 258 Zielen in 89 Ländern ver-
nungen für die Garagentore waren tot. Zugriffe eiskalt ausnutzt. schafft – fast rund um den Globus. Im
So sehr sie auch auf ihnen herumdrück- Die Einheit sei das „Wunderkind im Jahr 2010 liefen demnach weltweit
ten, die Tore bewegten sich keinen Milli- amerikanischen Geheimdienstverbund“, 279 Operationen.
meter. Betroffen waren vor allem An- sagt der NSA-Experte Matthew Aid. TAO-Spezialisten griffen in der Ver-
wohner im Westen der Stadt, rund um „Getting the ungettable“, das Unerreich- gangenheit auf geschützte Netzwerke de-
den Military Drive. bare erreichen, so bezeichnet die NSA mokratisch gewählter Staatschefs zu. Sie
Im Auto- und Pendlerland USA war selbst ihre Aufgabe: Es gehe nicht um infiltrierten Netzwerke von Telekommu-
die mysteriöse Garagentorblockade bald Quantität, sondern um Qualität, be- nikationskonzernen in Europa. Und sie
ein Thema für die Kommunalpolitik. Der schrieb eine frühere TAO-Chefin ihre knackten die für sicher gehaltenen, ver-
Bezirksverwaltung gelang es schließlich, Arbeit, nachzulesen in einem internen schlüsselten BlackBerry-Mail-Server –
das Rätsel zu lösen. Für den Fehler eine „längere TAO-Operation“ sei
mit den Fernbedienungen war ein dazu notwendig gewesen, heißt es
Nachrichtendienst der Vereinigten in den Unterlagen.
Staaten verantwortlich, die Natio- Die Einheit ist ein Kind des In-
nal Security Agency (NSA), die in ternets. 1997, als weltweit noch
San Antonio einen Standort un- nicht einmal zwei Prozent aller
terhält. Die NSA musste einräu- Menschen über einen Netzzugang
men, dass eine ihrer Antennen auf verfügten und noch niemand an
derselben Frequenz sendet wie Facebook, YouTube oder Twitter
die Fernbedienungen der Garagen. dachte, wurde sie gegründet. Die
Die Geheimdienstler versprachen ersten TAO-Mitarbeiter bezogen
Abhilfe, die Tore ließen sich bald ihre Büros im NSA-Hauptquartier
wieder öffnen. in Fort Meade, Maryland, abge-
Aber die Episode machte den schottet vom Rest des Geheim-
Texanern bewusst, wie sehr die dienstes. Rund um die Uhr sollten
Arbeit des Geheimdienstes inzwi- sie nach Möglichkeiten suchen,
schen in ihren Alltag hineinragt. sich in den globalen Kommunika-
Auf der Lackland Air Force Base tionsverkehr zu hacken.
von San Antonio arbeiten schon Dafür aber brauchte die NSA ei-
seit langem rund 2000 NSA-Mitar- nen neuen Typus Mitarbeiter. Die
beiter. Im Jahr 2005 übernahm der TAO-Angestellten, die in San An-
Geheimdienst noch dazu eine still- tonio Zutrittsberechtigungen für
gelegte Sony-Chipfabrik im Wes- die speziell gesicherte Etage ha-
ten der Stadt und investierte 30,5 ben, sind meist deutlich jünger als
Millionen Dollar in ihren Ausbau. der Durchschnitt der NSA-Beleg-
Auf dem gewaltigen Areal mit schaft. Sie sehen aus wie Nerds –
zwei rechteckigen Gebäuden, ver- und sind es auch. Ihre Mission: das
bunden durch ein metallenes Oval, Einbrechen, Manipulieren und Aus-
wurde danach aufwendig umge- beuten von Computernetzwerken.
baut. Die Übernahme des Gebäu- Nur logisch, dass die NSA das
des durch die NSA war Teil jener Personal auf großen US-Hacker-
atemberaubenden Expansion der Konferenzen rekrutiert: NSA-Chef
Behörde, die dem 11. September Keith Alexander trat dort in den
2001 folgte. Geheimdokumente der NSA und von Booz Allen vergangenen Jahren mehrmals auf
In einem der beiden Hauptge- und warb um Vertrauen und Nach-
bäude residiert seither eine Elite- wuchs – manchmal in Jeans und
einheit der NSA, die von diesem Ausbau Dokument. Die TAO habe „einige der T-Shirt, manchmal im legeren kurzen
profitierte und in den vergangenen Jah- wichtigsten Erkenntnisse beigesteuert, Uniformhemd. Die Rekrutierungsstrate-
ren so schnell wie kaum eine andere die unser Land je gesehen hat“. Ihre Ein- gie ist offenbar erfolgreich, kaum ein an-
wuchs: das Büro für maßgeschneiderte heit nehme „die härtesten Geheimdienst- derer Bereich innerhalb der Behörde
Operationen, „Office of Tailored Access ziele“ ins Visier. wächst so schnell wie die TAO. Einheiten
Operations“, kurz TAO. Es ist die opera- Die Ex-TAO-Chefin definierte damals der Truppe gibt es mittlerweile auch in
tive Speerspitze der NSA, eine Art die Zukunft ihrer Abteilung so: Die Trup- Wahiawa auf Hawaii, in Fort Gordon,
Klempnertruppe, die gerufen wird, wenn pe müsse neben der Aufklärung „Atta- Georgia, auf dem NSA-Außenposten
der normale Zugang zu einem Ziel ver- cken in Computernetzen als integrierten Buckley Air Force Base bei Denver – und
sperrt ist. Teil militärischer Operationen“ ermögli- natürlich in San Antonio.
Laut internen NSA-Dokumenten, die chen. Damit die NSA erfolgreich sei, müs- Eine Spur der Hacker führt nach
der SPIEGEL einsehen konnte, sind die se die TAO das „Fundament legen, um Deutschland: Ausweislich eines Papiers
Klempner vom Dienst bei vielen heiklen allgegenwärtigen, dauerhaften Zugang aus dem Jahr 2010, das die „wichtigsten
Operationen der amerikanischen Dienste zum globalen Netzwerk zu erreichen“. TAO-Kontaktstellen“ im In- und Ausland
beteiligt. Das Einsatzgebiet der TAO-Spe- Was letztendlich nichts anderes heißt, mit Namen, Mailadressen und „sicheren
zialisten reicht vom Anti-Terror-Kampf als dass sie Hacker mit staatlichem Auf- Telefonnummern“ auflistet, gab es eine
über Cyberattacken bis hin zur klassi- trag sind. solche TAO-Verbindungsstelle in Darm-
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 101
Technik

Otto-Katalog für Spione


NSA-Papiere belegen: Der Geheimdienst verfügt über Hintertüren für zahlreiche Produkte.

W
enn es um moderne Schutz- den, die dank Feedtrough selbst „Neu- es „TAO-Personal erlaubt zu sehen, was
wälle für Firmennetze geht, starts und Software-Upgrades“ über- auf dem anvisierten Monitor angezeigt
spart der zweitgrößte Netz- stehen können. So sichern sich die wird“, gibt es schon für 30 Dollar. Eine
werkausrüster der Welt nicht mit Eigen- US-Spione eine dauerhafte Präsenz in „aktive GSM-Basisstation“, also ein
lob. Die eigenen Produkte seien „ideal“, fremden Netzwerken. Die Software, so Werkzeug, das es ermöglicht, sich als
um Unternehmen und Rechenzentren heißt es im Katalog, „ist bereits auf zahl- Handy-Funkmast auszugeben, um so
vor unerwünschten Zugriffen von außen reichen Zielplattformen im Einsatz“. Mobiltelefone zu überwachen, kostet
zu schützen, schwärmen die PR-Leute Die Spezialisten von ANT – die Buch- dagegen 40 000 Dollar. Computer-
des US-Unternehmens Juniper Net- staben stehen vermutlich für „Advan- wanzen, als normale USB-Stecker ge-
works. Die Leistung der Spezialrechner ced“ oder „Access Network Technolo- tarnt, die unbemerkt über Funk Da-
sei „unerreicht“, die Firewalls seien die gy“ – sind die hochbegabten Hand- ten senden und empfangen, gibt es im
„besten ihrer Klasse“. Vor dem US-Ge- werksmeister der NSA-Abteilung für Fünfzigerpack für mehr als eine Million
heimdienst NSA aber schützen sie nicht. maßgeschneiderte Operationen, Tailored Dollar.
Spezialisten des Dienstes ist es schon Access Operations (TAO). Wo deren her- Doch die Abteilung ANT stellt nicht
vor Jahren gelungen, die digitalen kömmliche Einbruchs- und Abschöpf- nur Spionage-Hardware her, sie ent-
Schutzwälle des Unternehmens zu methoden nicht ausreichen, stehen die wickelt eben auch Software für Spezial-
durchlöchern. Und nicht nur Juniper- ANT-Leute mit ihren Spezialwerk- aufgaben. Besonders gern versuchen die
Kunden sind betroffen: Eine Art Pro- zeugen parat. Sie können damit in ANT-Entwickler offenbar, ihren Schad-
duktkatalog, den der SPIEGEL einsehen Netzwerkausrüstungen eindringen, Han- code im sogenannten BIOS zu platzie-
konnte, belegt, dass eine NSA-Abtei- dys und Computer überwachen, Daten ren, einer Software, die direkt auf der
lung namens ANT auch die Sicherheits- ausleiten oder gar verändern. Derlei Hauptplatine eines PC sitzt und beim
produkte anderer Branchengrößen aus- „Implantate“ (NSA-Jargon) sind maß- Einschalten als Erstes geladen wird.
gehöhlt hat, darunter der amerikanische geblich daran beteiligt, dass der US- Das hat eine Reihe unschätzbarer
Weltmarktführer Cisco, sein chinesi- Geheimdienst ein globales Schatten- Vorteile: Ein so infizierter PC oder Ser-
scher Herausforderer Huawei – sowie Netzwerk errichten konnte. ver scheint normal zu funktionieren, für
die Produzenten von Massenprodukten Manches Gerät ist richtig günstig: Ein Virenschutz- oder andere Sicherheits-
wie der US-Hersteller Dell. manipuliertes Monitorkabel etwa, das programme bleibt die Infektion unsicht-
Im Visier der Spezialisten für bar. Mehr noch: Selbst wenn die
geheime Hintertüren sind alle Festplatte eines so infizierten
Ebenen unseres digitalen Lebens: Rechners komplett gelöscht und
von ganzen Rechenzentren über ein neues Betriebssystem aufge-
einzelne Computer und Note- spielt wird, funktionieren die
books bis zu Mobiltelefonen. ANT-Schadprogramme weiter
Für fast jedes Schloss findet sich und sorgen dafür, dass später er-
im ANT-Werkzeugkasten ein neut Späh- und Schnüffelsoftware
Schlüssel. Es ist wie in der Fabel auf den vermeintlich gesäuberten
vom Hasen und vom Igel. Egal Rechner nachgeladen wird. „Per-
welche Wand die Firmen aufbau- sistence“ nennen die ANT-Ent-
en – die NSA-Spezialisten stehen wickler das – sie haben damit
schon dahinter. Dieser Eindruck dauerhaft Zugriff.
jedenfalls entsteht, wenn man Im Angebot ist auch ein Pro-
durch den rund 50-seitigen Otto- gramm, das sich in der Firmware
Katalog für Agenten blättert, in von Festplatten der Hersteller
dem NSA-Mitarbeiter das jeweils Western Digital, Seagate und
Passende zum Abschöpfen ihrer Samsung einnistet – die bei-
Ziele bei der Abteilung ANT be- den erstgenannten Unternehmen
stellen können. Sogar die Preise stammen aus den USA. In diesen
der elektronischen Einbruchs- Fällen kompromittiert der US-
werkzeuge sind vermerkt, von Geheimdienst also US-Technik.
0 bis 250 000 Dollar. Andere ANT-Programme zielen
Im Fall von Juniper heißt einer auf Internet-Router für den pro-
der digitalen Dietriche „Feed- fessionellen Einsatz oder auf
trough“, Futtertrog. Diese Spio- Hardware-Firewalls, die etwa Un-
nagesoftware nistet sich in Juniper- ternehmensnetze vor Angriffen
Firewalls ein und sorgt dafür, dass aus dem Internet schützen sollen.
weitere NSA-Programme in den Auszug aus NSA-Produktkatalog Viele der digitalen Angriffs-
Großrechner geschmuggelt wer- waffen lassen sich „per Fernzu-

102 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
MARK WILSON / GETTY IMAGES
Vertreter großer Computerunternehmen, Präsident Obama im Weißen Haus am 17. Dezember: Ziel ist es, „Endgeräte zu kapern“

griff“ installieren, also über das Inter- stadt – im „European Security Operations meisten mexikanischen Sicherheitsbehör-
net. Andere erfordern das physische Center“ des „Dagger Complexe“ bei den beaufsichtigt, die zum Hoheitsbe-
Abfangen von Endgeräten, um diese Griesheim. reich des Sekretariats zählten. Wer etwas
mit Schadsoftware oder Wanzen zu be- Allein der Zuwachs in der texanischen über den Sicherheitsapparat des Landes
stücken. Dependance ist beeindruckend, wie als wissen möchte, ist hier also an der rich-
Aus den eingesehenen Unterlagen „streng geheim“ eingestufte Dokumente tigen Adresse.
ergibt sich nicht, dass die erwähn- belegen, die der SPIEGEL auswerten Insofern war es nur naheliegend, dass
ten Unternehmen die NSA unterstützt konnte. Demnach waren im „Texas Cryp- die TAO, die Abteilung für maßgeschnei-
oder Kenntnis von den Überwachungs- tologic Center“ im Jahr 2008 nicht einmal derte Operationen, den Auftrag bekam,
lösungen hätten. „Cisco arbeitet mit 60 TAO-Spezialisten beschäftigt. Bis sich das Sekretariat vorzunehmen. Das
keiner Regierung zusammen, um eigene 2015 sollen es 270 sein. Dazu gehören US-Heimatschutzministerium und die
Produkte zu verändern oder sogenann- 85 Fachleute der Abteilung „Anforderun- Geheimdienste, so hieß es in dem Auf-
te Sicherheitshintertüren in unseren gen & Zielauswahl“, 2008 waren es noch trag, müssten schließlich alles über Dro-
Produkten zu installieren“, so eine 13. Die Zahl der Softwareentwickler soll genhandel, Menschenschmuggel und die
Stellungnahme des Konzerns. Bei Wes- von 3 im Jahr 2008 auf 38 im Jahr 2015 Sicherheit der mexikanisch-amerikani-
tern Digital, Juniper Networks und
Huawei hieß es, man wisse nichts von
derlei Modifizierungen. Dell beteuerte Der Erfindungsreichtum der NSA erinnert
generell, sich an die Gesetze aller an den legendären „Q” aus James Bond.
Länder zu halten, in denen die Firma
tätig sei.
Viele der im Katalog angebotenen steigen. Von San Antonio aus werden schen Grenze wissen. Das Sekretariat sei
Softwarelösungen stammen aus dem Ziele im Nahen Osten, auf Kuba, in eine „potentielle Goldmine“ für die Aus-
Jahr 2008, manche betreffen Server, die Venezuela und Kolumbien angegriffen – werter. Als Ziel nahmen sich die TAO-
heute nicht mehr verkauft werden. und im 200 Kilometer entfernten Mexiko, Leute die Systemadministratoren und
Doch die staatlichen Hacker entwickeln dessen Regierung die Hacker im Visier Telekommunikationsingenieure der Be-
ihr Arsenal permanent weiter. Auf man- hatten. hörde vor. Operation „Whitetamale“ lief
chen Seiten des Katalogs werden neuere Das mexikanische Sekretariat für öf- an, benannt nach den in Mexiko belieb-
Systeme aufgeführt, gegen die 2008 fentliche Sicherheit, das Anfang 2013 in ten Maistaschen.
noch keine Angriffswaffen zur Verfü- der Nationalen Sicherheitskommission Das NSA-Büro für die Zielerfassung,
gung standen. Aber, so versprechen aufging, war damals zuständig für die das 2002 auch Angela Merkel ins Visier
die Autoren, man arbeite bereits an Polizei, die Terrorabwehr, das Gefängnis- genommen hatte, schickte den TAO-Leu-
Wegen, um auch diese Systeme „bald system und den Grenzschutz. Die meis- ten eine Liste mit Funktionären des Se-
zu unterstützen“. JACOB APPELBAUM, ten der rund 20 000 Mitarbeiter arbeiteten kretariats, die als Ziele interessant seien.
JUDITH HORCHERT, CHRISTIAN STÖCKER im Hauptquartier an der Avenida Con- Zuerst drang die TAO in deren Postfächer
stituyentes, einer vielbefahrenen Straße ein, das war vergleichsweise einfach.
in Mexico City. Von hier aus werden die Dann infiltrierten die Spezialisten das ge-
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 103
Technik

samte Netzwerk und schnitten den Da- Denn wenn die Spezialeinheit einen ist so aggressiv wie effektiv. Laut dem
tenverkehr mit. Rechner irgendwo auf der Welt zu ihrem Etatplan für die US-Geheimdienste sollen
Bald kannten die NSA-Spione die Ser- Ziel erklärt und in eine entsprechende Da- bis Ende 2013 weltweit rund 85 000 Com-
ver der Behörde, die dazugehörigen IP- tenbank aufgenommen hat, werden die puter von den NSA-Spezialisten infiltriert
Adressen, die Rechner für den Mailver- Geheimdienstler benachrichtigt, sobald sein. Die mit Abstand meisten dieser In-
kehr und die Adressen diverser Mitarbei- das Betriebssystem des Computers kolla- fektionen erledigen die TAO-Teams über
ter. Und sie beschafften Diagramme über biert und der Nutzer der Bitte nachkommt, das Internet.
die Struktur der Sicherheitsbehörde, in- den Hersteller Microsoft zu benachrichti- Bis vor wenigen Jahren agierten die
klusive Videoüberwachung. Die Opera- gen. Offenbar werden diese Crash-Benach- NSA-Agenten wie Cyberkriminelle und
tion lief offenbar über Jahre, bis der richtigungen mit dem NSA-Spionagewerk- verschickten Spam-E-Mails mit Links, die
SPIEGEL darüber im Oktober erstmals zeug XKeyscore aus dem allgemeinen In- auf virenverseuchte Websites führten.
berichtete (SPIEGEL 43/2013). ternetverkehr herausgefischt. Kennt man die Sicherheitslücken eines
Der Fachbegriff für diese Form der Die automatisierten Crash-Meldungen Internet-Browsers, kann es ausreichen,
Ausspähung lautet „Computer Network seien eine „hübsche Methode“, um sich dass die Zielperson eine manipulierte
Exploitation“ – Ausbeutung von Compu- „passiven Zugriff“ auf einen Rechner zu Website aufruft, um ihren Rechner mit
ternetzwerken. Ziel sei es, „Endgeräte zu verschaffen, heißt es in einer internen Spähsoftware zu infiltrieren. Besonders
kapern“, heißt es in einer NSA-Präsen- Präsentation. Zunächst werden dabei nur populär ist bei den NSA-Hackern Micro-
tation. Aufgezählt werden darin alle Ge- Daten erfasst, die vom betroffenen Com- softs Internet Explorer. Doch die Spam-
räte, die unseren digitalen Alltag bestim- puter aus ins Internet wandern. Verän- Methode funktionierte viel zu selten.
men: „Server, Workstations, Firewalls, derungen auf dem Rechner selbst werden Mittlerweile hat die Abteilung TAO ih-
Router, Telefone und Telefon-Schaltan- noch nicht durchgeführt. Aber die Feh- ren Werkzeugkasten aufgerüstet. Sie ver-
lagen“. Hinzu kommen Sca- fügt über ein ausgefeiltes Ar-
da-Systeme, Steuermodule senal, das unter dem Ober-
für Industrieanlagen, die in begriff „Quantumtheory“
Fabriken und Kraftwerken geführt wird. „Bestimmte
eingesetzt werden. Wer sie Quantum-Missionen haben
unter Kontrolle bringt, kann eine Erfolgsquote von bis zu
Teile der kritischen Infra- 80 Prozent, während Spam
struktur eines Landes aushe- bei weniger als einem Pro-
beln. zent liegt“, heißt es in einer
Das berüchtigtste Beispiel NSA-internen Präsentation.
für einen derartigen Angriff Ein ausführliches Doku-
ist Stuxnet, ein Superwurm, ment mit dem Titel „Quan-
der im Juni 2010 entdeckt tum-Fähigkeiten“, das der
wurde. Er war von den Ame- SPIEGEL einsehen konnte,
rikanern und israelischen enthält als Zielobjekte viele
Geheimdiensten entwickelt populäre Dienstanbieter wie
worden, um das iranische Facebook, Yahoo, Twitter
Atomprogramm zu sabotie- und YouTube. „NSA Quan-
ren – mit Erfolg: Es wurde tum funktioniert am besten
um Jahre zurückgeworfen, gegen Yahoo, Facebook und
nachdem Stuxnet die Scada- statische IP-Adressen“, heißt
Steuerungstechnik, die die Geheimdokument zum Quantum-Programm es da. Nutzer von Google-
Iraner in der Uran-Anreiche- Diensten dagegen könne die
rungsanlage von Natans ein- NSA mit dieser Methode
setzen, manipuliert und bis zu 1000 Zen- lermeldungen legen wertvolle Informa- nicht ins Visier nehmen – das könne nur
trifugen unbrauchbar gemacht hatte. tionen frei. Etwa darüber, was mit dem der britische Geheimdienst GCHQ, der
Neue Techniken entwickelt und testet Rechner der jeweiligen Zielperson nicht den Quantum-Werkzeugkasten von der
die Sonderabteilung der NSA in einem stimmt. Also auch, welche Sicherheits- NSA übernommen hat.
eigenen Entwicklungsbereich. Dort sitzen lücken sich ausnutzen lassen, um dem ah- Besonders beliebt ist bei den Staats-
die eigentlichen Tüftler – und ihr Erfin- nungslosen Opfer Schad- und Spähsoft- Hackern die Methode „Quantum Insert“.
dungsreichtum, in fremde Netze, Rechner ware unterzujubeln. Obwohl die Methode Damit hat das GCHQ Mitarbeiter des
oder Smartphones einzudringen, erinnert in der Praxis kaum Bedeutung haben soll, halbstaatlichen Telekommunikationsan-
an eine zeitgemäßere Version des legen- haben die Agenten der NSA ihren Spaß bieters Belgacom angegriffen, um über
dären „Q“ aus den James-Bond-Filmen. damit, denn sie lieben Scherze auf Kosten deren Rechner in das firmeneigene Netz-
Wie kreativ die Truppe vorgeht, zeigt sich des Software-Riesen aus Seattle. werk vorzudringen (SPIEGEL 46/2013).
bei einer Einbruchsmethode, die auf die So heißt es in einer internen Grafik an- Die NSA nahm so Verantwortliche der
Fehleranfälligkeit des Microsoft-Betriebs- stelle des Microsoft-Originaltextes hämisch: Organisation erdölexportierender Länder
systems Windows setzt. „Diese Meldung kann von einem auslän- in der Wiener Zentrale ins Visier. In bei-
Windows-Nutzer kennen das Fenster, dischen Sigint-System abgefangen werden, den Fällen verschaffte sich das Spionage-
das auf ihrem Bildschirm aufploppt, wenn um detaillierte Informationen zu sammeln konsortium Zugang zu wertvollen Wirt-
das System einen Fehler erkannt hat. Mit und Ihren Computer besser anzuzapfen.“ schaftsdaten.
einem Standardtext werden die Kunden Sigint steht für technische Aufklärung. Die Insert-Methode beruht wie andere
aufgefordert, einen Fehlerbericht an den Das Infiltrieren von Zielrechnern mit Quantum-Varianten darauf, dass die NSA
Hersteller zu schicken und das Programm sogenannten Implantaten oder Trojanern neben dem Internet ein Schattennetz be-
neu zu starten. Für die TAO-Spezialisten ist eine der Kernaufgaben der Hacker, treibt, mit einer eigenen, gut versteckten
bieten diese „Crash Reports“ eine will- die ihren Spähwaffen Namen wie „Wü- Infrastruktur, „schwarzen“ Routern und
kommene Gelegenheit zum Ausspähen tender Nachbar“, „Brüllaffe“ oder „Was- Servern. Zum Teil werden in das Schat-
des Computers. serhexe“ geben. Aber was putzig klingt, tennetz der NSA offenbar auch Router
104 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
ARMIN KÜBELBECK
NSA-Niederlassung in Griesheim bei Darmstadt: Eine Spur führt nach Deutschland

und Server aus fremden Rechenzentren aufruf! Schieße! Hoffe!“ Manchmal seien Was die Abteilung innerhalb der NSA
in aller Welt eingemeindet, indem sie die Spionagewerkzeuge aus dem schwar- so besonders macht, sind nicht nur Er-
von den Staatshackern per „Implant“ zen Netz „zu langsam, um das Rennen folgsmeldungen wie diese. Ungewöhnlich
verseucht und anschließend aus der zu gewinnen“. Häufig genug aber seien ist, dass sie anders als die meisten NSA-
Ferne kontrolliert werden (siehe Kasten sie erfolgreich. Insbesondere bei LinkedIn Operationen häufig physischen Zugang
Seite 102) klappe das Infiltrieren mit Quantum In- zu ihren Zielen braucht, etwa um eine
Der Geheimdienst versucht auf diese sert inzwischen in mehr als 50 Prozent zentrale Mobilfunkstation zu manipulie-
Weise, seine Ziele anhand ihrer digitalen aller Versuche. ren.
Lebenszeichen zu erkennen und zu ver- Die NSA hat dabei nicht nur Einzelper- Dafür kooperiert die NSA mit anderen
folgen. Das kann eine bestimmte Mail- sonen im Visier. Im Gegenteil: Besonders Geheimdiensten wie der CIA oder dem
adresse sein oder das Cookie einer Web- interessant sind ganze Netze und Netzbe- FBI und deren Informanten vor Ort, die
site. Cookies sind kleine Dateien, die treiber – zum Beispiel die Glasfaserkabel, bereit sind, bei der Mission zu helfen.
Websites auf den Computern ihrer Besu- die einen großen Teil des weltweiten In- Auf diese Weise kann die TAO auch Netz-
cher anlegen, um diese später wiederzu- ternetverkehrs über den Grund der Welt- werke angreifen, die nicht ans Internet
erkennen. Ein Cookie allein identifiziert meere leiten. In einem Dokument mit der angeschlossen sind. Wenn nötig, stellt das
dabei nicht die Person, die vor dem Rech- Einstufung „streng geheim“ und „nicht FBI auch einen behördeneigenen Jet zur
ner sitzt. Hat man jedoch weitere Infor- für Ausländer“ wird zum Beispiel ein Er- Verfügung, damit die Klempner rechtzei-
mationen, etwa die Mailadresse, mit der folg bei der Erkundung des sogenannten tig zum Ziel gelangen, dort eine halbe
sich der Nutzer eindeutig erkennen lässt, Sea-Me-We-4-Kabelsystems beschrieben. Stunde lang an einem Server schrauben
ist ein Cookie wie ein Fingerabdruck im Dieser Unterwasser-Kabelstrang ver- und unerkannt wieder verschwinden.
Netz. bindet Europa mit Nordafrika und den Die Abteilung TAO sei ein einzigartiges
Haben die TAO-Teams die Gewohnhei- Golfstaaten und erstreckt sich von dort Instrument der USA, heißt es in einer
ten ihrer Ziele ausspioniert, können sie aus weiter über Pakistan und Indien bis Stellungnahme der NSA. Sie versetze den
zum Angriff übergehen. Von nun an ar- nach Malaysia und Thailand. Seinen Aus- Dienst in die Lage, „die Nation und ihre
beitet das Quantum-System weitgehend gangspunkt nimmt das Kabelsystem in Verbündeten an vorderster Front zu ver-
automatisch: Taucht in einem Datenpa- Südfrankreich, bei Marseille. Zu den Be- teidigen. Sie konzentriert sich dabei auf
ket, das durch die überwachten Kabel treibern gehören France Télécom, heute die Informationsbeschaffung im Ausland
und Router fließt, die Mailadresse oder bekannt als Orange, und Telecom Italia durch die Ausbeutung von Computernet-
das Cookie auf, schlägt das System Sparkle. Orange gehört bis heute teilwei- zen.“ Zu Einzelheiten über die Aufgaben
Alarm. Es ermittelt, welche Website die se dem französischen Staat. der TAO äußere sich die NSA nicht.
Zielperson gerade aufrufen möchte, und Am 13. Februar 2013, so wird in dem Manchmal jedoch arbeiten auch die
aktiviert einen der „schwarzen“ Server Papier stolz verkündet, sei es der TAO modernsten Spione der Welt sehr kon-
des Geheimdienstes, die den Codenamen gelungen, „Informationen über das Netz- ventionell und fangen einfach nur die
Post ab. Bestellt eine Zielperson, eine Be-
hörde oder ein Unternehmen einen neu-
Wenn nötig, stellt das FBI auch einen en Rechner oder Zubehör, dann leitet die
behördeneigenen Jet zur Verfügung. TAO die Postlieferung in eine geheime
Werkstatt um. Dort wird das Paket vor-
sichtig geöffnet, um an sogenannten „La-
„Foxacid“ tragen. Dieser NSA-Server werkmanagement des Sea-Me-We-4-Un- destationen“ Schadsoftware aufzuspielen
versucht, sich blitzschnell zwischen den terwasser-Kabelsystems zu erlangen“. Mit oder mittels Hardware-Einbauten Hinter-
Rechner der Zielperson und die von ihr Hilfe einer „Website-Maskerade-Aktion“ türen für den Geheimdienst zu schaffen.
angeforderte Website zu schieben. Ein habe man sich Informationen über „die Der Rest kann dann wieder bequem vom
Taschenspielertrick fürs Internet. Im Fall Verschaltung bedeutsamer Teile des Netz- Rechner aus erledigt werden.
der Belgacom-Ingenieure bekamen diese werks“ verschafft – offenbar waren die Diese kleinen Unterbrechungen in der
statt ihrer angeforderten persönlichen Hacker hier wieder mit der Quantum-In- Lieferkette gehörten zu den „produktivs-
LinkedIn-Seite eine perfekte Kopie vom sert-Methode erfolgreich. ten Operationen“ der Elite-Hacker, heißt
NSA-Server. Huckepack und unsichtbar Das TAO-Team hackte demnach eine es in einem Geheimdokument. Mit ihrer
für den Nutzer transportiert die mani- interne Website des Betreiberkonsor- Hilfe erlange man Zugänge zu Netzen
pulierte Seite Spähsoftware, die auf die tiums und kopierte Unterlagen über die „überall auf der Welt“. Ein wenig altes
Sicherheitslücken im Rechner der Ziel- technische Infrastruktur. Doch das war Handwerk überlebt also auch noch im
person abgestimmt ist. nur ein erster Schritt. „Weitere Opera- Internetzeitalter. JACOB APPELBAUM,
Es ist wie ein Wettrennen der Server. tionen sind für die Zukunft geplant, um LAURA POITRAS, MARCEL ROSENBACH,
JÖRG SCHINDLER, HOLGER STARK,
Im Spionage-Slang eines der Dokumente zusätzliche Informationen über dieses CHRISTIAN STÖCKER
liest sich das so: „Warte auf einen Seiten- und andere Kabelsysteme zu erlangen.“
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 105
Botox-Behandlung
Unschöne Nebenwirkung

Zur Dermatologin Maja


Hofmann kommen mittler-
weile junge Damen, deren
Gesicht noch von Babyspeck
glänzt und die sich von ihr
Ratschläge im Anti-Falten-
Kampf erhoffen. Hofmann ist
Oberärztin an der Berliner
Charité, sie betreut die Pri-
vatsprechstunde für ästheti-
sche Dermatologie. Über die
gerade erst volljährigen Frau-
en, die sie aufsuchen, sagt sie:
„Ich bin froh, wenn sie zu mir
kommen, dann kann ich ih-
nen ehrlich meine Meinung
sagen.“
Was verspricht sich eine
junge Frau ohne Falten vom

CULTURA RM / VARIO IMAGES


Nervengift? Was soll es brin-
gen? „Botox kann durchaus
präventiv wirken“, sagt Hof-
mann. „Wenn ein Muskel des
Körpers lange genug gelähmt
ist, verlernt das Gehirn, ihn
zu benutzen. So wird die
Die Berliner Psychologin Ada Borken- Muskulatur, die für die Mimik zuständig
MEDIZIN hagen fürchtet, dass sich Klassenunter- ist, weniger aktiv.“

Jünger alt
schiede hierzulande bald im Gesicht Wer früh mit Botox beginne, könne
ablesen lassen: „Frauen aus der Mittel- also tatsächlich die Entstehung von Falten
schicht werden sich in Zukunft jahre- verhindern. Hofmann sieht dennoch we-

aussehen
lang Botox-Spritzen und Hyaluronsäure- nig Sinn in einer solchen kosmetischen
Injektionen leisten – so wie sie heute Behandlung. Denn wenn das Botox ab-
zur Kosmetikerin oder zum Friseur ge- gesetzt werde, funktionierten die lahm-
hen.“ Auf der anderen Seite werde es gelegten Muskeln nach einiger Zeit oft
Schon junge Frauen lassen sich Frauen geben, die sich diese teure Pro- wieder ganz normal. Patienten müssten
Botox spritzen, damit phylaxe nicht leisten könnten – oder sich also jahrzehntelang das Nervengift
Falten gar nicht erst entstehen. wollten. spritzen lassen. Das werde teuer, sagt Hof-
Das Schönheitsideal, möglichst falten- mann.
Dermatologen halten diese frei durchs Leben zu kommen, setzt im- Zudem gebe es noch keine Studien
teure Prophylaxe für überflüssig. mer jüngere Altersgruppen unter Druck. zu einer speziellen Langzeitfolge von
In den USA ist die vorbeugende Anti-Fal- Botox: Möglich sei etwa, so Hofmann,

B
ei ihrem ersten Mal war Seyda S. ten-Behandlung („Preventive Botox“) be- dass die Patienten im Laufe der Zeit
erst 23. Sie arbeitete in einem Kauf- reits weit verbreitet. In den geneigten immun dagegen würden. Aus der Neu-
haus, es gab dort viele Spiegel, in Kreisen stellt sich nicht mehr die Frage, rologie, wo Botox – höher dosiert –
denen sie sich kritisch betrachten konnte. ob Botox gespritzt wird, sondern: ab zum Beispiel bei Spastiken eingesetzt
Auf ihrer Stirn entdeckte die junge Frau wann. wird, sind solche Abwehrreaktionen
drei feine Linien. Um zu verhindern, dass Im Jahr 2009 machte ein Foto der skan- bekannt. „In der kosmetischen An-
die zarten Linien zu Falten werden, ließ dalumwitterten US-Schauspielerin Lind- wendung können wir noch keine Ent-
sie sich Botox spritzen. sey Lohan die Runde. Jung, hübsch, aber warnung geben“, warnt die Charité-
Seyda S. ist heute 26 Jahre alt. Alle vermutlich schon über den Zenit ihrer Ärztin.
drei Monate bekommt sie eine Spritze Karriere hinaus, ließ die damals 23-Jähri- Hofmann behandelt Falten deshalb erst
unter die Haut, eine Sitzung kostet ge offensichtlich allerlei mit ihrem Ge- dann, wenn sie wirklich sichtbar sind.
280 Euro – viel Geld. Aber was soll sie sicht anstellen. Lohan habe es dadurch „Als Arzt muss man Grenzen setzen“,
machen? Sie sagt: „Alle meine Freunde geschafft, so lästerte daraufhin der briti- sagt sie. „Man muss sagen können: Das
tun das.“ sche „Guardian“, bereits mit Anfang ist ein normales Gesicht, das kann man
Das Nervengift Botulinum Toxin A zwanzig wie eine 36-Jährige auszusehen. lassen, wie es ist.“
(Botox) kam bislang vor allem bei Män- Denn Botox hat auch eine unschöne Von übertriebener Eile rät sie ohnehin
nern und Frauen um die vierzig zum Ein- Nebenwirkung. Bei Schauspielerinnen ab. Denn aus ihrer langjährigen Erfah-
satz: gegen Zornesfurchen und Krähen- wie Meg Ryan oder Nicole Kidman führ- rung weiß sie, dass sich fast jede leicht
füße. Unter die Haut gespritzt, lähmt es ten die Spritzen dazu, dass grotesk glatte, sichtbare Falte noch mit Botox glätten
die Muskeln und glättet Falten, die sich maskenhafte Gesichter entstanden. Selbst lässt. „Man verpasst nichts, wenn man
durch die Mimik ausbilden. Doch neuer- wenn die Prozedur besser gelingt, lässt wartet“, sagt Hofmann. Das den Patien-
dings lassen sich auch Jüngere die Gift- eine vorübergehend zur Bewegungslosig- tinnen zu sagen ist ihr wichtig. „Sonst
Spritze setzen – prophylaktisch, bevor keit verdammte Stirn schon manch junge stehen hier irgendwann Kinder vor der
die ersten Falten zu sehen sind. Frau alt aussehen. Tür.“ KERSTIN KULLMANN

106 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Wissenschaft

sucht, die sich in der Schweiz zwischen mord mit einem Haustier“. In der Fach-
KRI M I NALPSYCHOLOGI E 1991 und 2008 ereigneten. Das Ziel der literatur findet sich dazu bislang nur ein
Wissenschaftler ist eine Typisierung jener Fall aus Deutschland: Ein pensionierter

Morden, um Täter, deren Verbrechen in der Öffent- Metzger tötete mit einer Nagelpistole
lichkeit stets viel Aufmerksamkeit erre- zunächst seine Frau, dann seine beiden
gen. Die psychologischen Profile sollen Hunde und schließlich sich selbst.

zu sterben dann helfen, die Hochgefährlichen aufzu-


spüren, bevor sie zuschlagen.
In der Regel ereignet sich der tödliche
Ausbruch zwischen dem 30. und 49. Le-
Wie die Untersuchung zeigt, eignet sich bensjahr – danach steigt das Risiko einer
Was treibt Menschen an, die die vermeintlich friedliebende Schweiz Bluttat mit anschließendem Suizid erst
erst andere und dann sich besonders gut zur Erforschung des suizi- bei über Siebzigjährigen wieder sprung-
selbst töten? Forscher versuchen, dalen Mördertypus. Wie Panczaks Team haft an.
ermittelt hat, liegt die Anzahl von Selbst- Auch der Kriminalwissenschaftler Adam
die Persönlichkeit von mord-Morden in der Schweiz höher als Lankford von der University of Alabama
Selbstmord-Killern zu enträtseln. in den meisten anderen westlichen Na- hat jüngst versucht, das prototypische
tionen. Das liegt weniger an den depri- Charakterbild eines selbstzerstörerischen

A
uf den ersten Blick gibt es wenig mierenden Lebensumständen in dem Killers zusammenzusetzen. In der Fach-
Gemeinsamkeiten zwischen dem Land der Schokoladenliebhaber als an zeitschrift „Justice Quarterly“ untersuch-
84-jährigen Rentner aus Linz, der der Verfügbarkeit von Waffen. Soldaten te der Professor Amokläufe, die sich in
43-jährigen Mutter aus Krefeld und dem der Schweizer Armee bewahren ihr Ge- den Jahren 1966 bis 2010 in den Vereinig-
in New York lebenden 35-jährigen Vater. wehr in der Regel zu Hause auf und be- ten Staaten zugetragen hatten. Lankford
Doch in den vergangenen Wochen wur- halten dieses häufig auch nach Ende des interessierte sich insbesondere für den
den diese drei Menschen auf entsetzliche Wehrdienstes. „Unterschied zwischen Attentätern, die
Weise zu Schicksalsgenossen: Zuerst Laut Panczak stellen die Selbstmord- leben, und jenen, die starben“.
mordeten sie, danach brachten sie sich Mörder „eine ganz eigene Daseinsform“ Der Gelehrte fand Anhaltspunkte für
selbst um. dar. Meist handelt es sich dabei um Män- ein „fundamentales Gefälle in der Seelen-
Der alte Mann aus Linz erschoss in der ner. Sie empfinden sich selbst als gede- lage und den Verhaltensmustern“ zwi-
Neurologie eines Krankenhauses seine mütigt, ihr Selbstwertgefühl schwankt schen diesen beiden Arten von Mördern.
Frau und sich. Die Mutter aus Krefeld zwischen Minderwertigkeit und Größen- Demnach gehen bei jenen Amokschüt-
brachte ihre sechsjährige Tochter um und wahn. Doch anders als gewöhnliche Killer zen, die in selbstmörderischer Absicht
warf sich anschließend vor einen Zug. fallen diese Delinquenten vor der Tat töten, Selbsthass und Hass eine verhäng-
Dmitriy Kanarikov, der Vater aus New kaum durch Alkoholexzesse oder häus- nisvolle Allianz ein: Einerseits fühlen sie
York, schubste wenige Tage vor Weih- liche Gewalt auf. sich von der Gesellschaft schikaniert und
nachten seinen dreijährigen Sohn vom Auch von den üblichen Selbstmördern ungerecht behandelt; andererseits hassen
Dach eines 52-stöckigen Wolkenkratzers unterscheiden sie sich: In der Regel gehen sie sich selbst dafür, dass sie mit der Welt
in Manhattan und sprang dann hinterher. einem Suizid mehrere gescheiterte Ver- nicht klarkommen.
Für Psychologen und Sicherheitskräfte suche voraus, aus dem Leben zu scheiden. Lankford sieht darin starke Parallelen
stellt dieser verstörende Menschenschlag Die auf Selbstzerstörung programmierten zu terroristischen Selbstmord-Attentä-
eine erhebliche Herausforderung dar. Täter hingegen bringen sich sofort um – tern, deren Anschläge oft zu Unrecht als
Während die Experten die Beweggründe oder erzwingen ihre Tötung durch Poli- politisch motiviert eingestuft werden. Tat-
von Mördern und auch Selbstmördern zisten. sächlich litten auch solche Terroristen an
weitgehend ausgeleuchtet haben, ist we- Es sei „ein allgemeiner Irrglaube“, so psychischen Problemen und seien im
nig bekannt über Täter, die beides zu- Panczak, dass die Selbstmord-Mörder klinischen Sinne suizidal. „Sie sind vor
gleich sind. „Die Risikofaktoren für den überwiegend einfachen Verhältnissen ent- allem getrieben von dem Wunsch zu
sogenannten Mord-Selbstmord wurden stammten. Das Bild des Verrohten, der töten und getötet zu werden – wie die
bislang kaum erforscht“, sagt Radoslaw durch die Umstände von Kindesbeinen Amokschützen.“
Panczak vom Institut für Sozial- und Prä- an auf Amok getrimmt wird, ist demnach Dem Forscher fiel auf, dass sich ihr in-
ventivmedizin der Universität Bern. nicht stimmig. Vielmehr kämen die Täter nerer Konflikt in der Art zeigt, in der sich
Gemeinsam mit Kriminologen hat der aus allen Bildungsschichten. diese Täter auf ihre Feldzüge begeben:
Epidemiologe systematisch alle Mordfälle Mitunter kommt es dabei zu bizarren Sie rücken schwerer bewaffnet an als an-
mit anschließendem Selbstmord unter- Taten, darunter dem „erweiterten Suizid- dere Mörder und bringen besonders viele ROCKY MOUNTAIN NEWS / POLARIS
DAVID TORRES / AP / DPA
THÜRINGER ALLGEMEINE

Schüler Steinhäuser um 2000 Kanarikov-Leichnam in New York Schüler Klebold 1998

Selbstmord-Mörder: Zwischen Minderwertigkeit und Größenwahn

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 107
Wissenschaft

Menschen um – so wie der 19-jährige Ro-


bert Steinhäuser, der im April 2002 in Er- TIERE

Schatzgräber auf
furt zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei
Schüler und einen Polizisten massakrier-
te. Mit einer Reisetasche voll Waffen und

vier Beinen
Munition zog der Gymnasiast, Mitglied
eines Schützenvereins, los. Eine Pump-
gun trug er auf dem Rücken. Wegen eines
gefälschten Attests war er kurz vor der
Abiturprüfung von der Schule geflogen. Amerikanische Archäologen
Entgegen dem äußeren Eindruck wür- haben drei Säugetiere zu
den nicht die Spezialeinheiten der Polizei Helden ihrer Zunft gekürt: Zu den
über das Schicksal des Angreifers ent-
scheiden, ist Lankford überzeugt: „Ob Erwählten gehört auch
der Amokschütze am Ende tot ist oder ein Dachs aus Brandenburg.

BLICKWINKEL / IMAGO
festgenommen wird, hängt allein von sei-

B
nen Motiven und Intentionen ab.“ Mit erühmt wollte der Erdmarder gar
jeder zusätzlich verwendeten Waffe und nicht werden, als ihm die Idee kam,
jedem weiteren Toten steige die Wahr- seine unterirdische Wohnhöhle bei
scheinlichkeit signifikant, dass der Killer Stolpe an der Oder zu erweitern. Doch
am Ende selbst auch stirbt. weil er dabei ein Prunkgrab untergrub,
Für die Polizei wäre es von großem kennt man ihn jetzt auch in New York
Vorteil, wenn sie Suizid-Attentäter schnell und Paris.
als solche erkennen könnte. „In solchen Zuerst brachte der Wühler einen Hals-
Situationen auf eine friedliche Kapitula- reif ans Tageslicht. Dann flogen zwei
tion zu setzen kann kontraproduktiv Schläfenringe in die Luft – Haarschmuck
sein“, meint Lankford. aus dem Mittelalter. Als der Bursche auch
Wie fatal sich solche Fehlentscheidun- einen menschlichen Knochen zutage för-
gen auswirken können, zeigt laut Lank- derte, verständigte der örtliche Denkmal-
ford das Massaker an der Columbine pfleger die Behörden.
Highschool im US-Bundesstaat Colorado: Der herbeigeeilte Archäologe Felix
Am 20. April 1999 töteten Eric Harris und Biermann setzte umgehend den Spaten
Dylan Klebold zwölf ihrer Mitschüler und an – und stieß auf eine slawische Adels-
MC2 JOSHUA SCOTT / U.S. NAVY
einen Lehrer und erschossen sich danach bestattung aus dem 11. bis 12. Jahrhun-
selbst. dert. In dem Grab lagen die Überreste
„Statt den beiden Schützen sofort in einer bewaffneten Kriegerkönigin vom
das Schulgebäude zu folgen, haben die Volk der Ukranen, das sich erst nach
ersten Polizeibeamten vor Ort zunächst blutigem Widerstand dem Christentum
das Gelände abgeriegelt. Durch diese Ver- unterworfen hatte.
zögerung verbluteten einige der Opfer, Mittlerweile liegen acht weitere Ske-
während sich die Täter längst umgebracht lette des heidnischen Friedhofs frei. Eine
hatten“, argumentiert Lankford. Frau ruhte dort mit einer Münze im
Der Gelehrte glaubt sogar, dass auf Mund: Reisegeld fürs Jenseits.
Selbstmord programmierte Todesschüt- Ruhm und Ehre sei dem Dachs – so je-
zen andere Orte attackieren als jene, die denfalls sieht es das amerikanische Fach-
überleben wollen. Neben Schulen griffen blatt „Archaeology“, das den schaufeln-
die Selbstmord-Killer in den USA insbe- den Pelzträger und seinen Fund jetzt zu
sondere Fabriken und Lagerhäuser an. den „10 mitreißendsten Geschichten“ des
Womöglich suchen die tief Gekränkten Jahres 2013 gekürt hat. Die Entdeckung
den Ort ihrer vermeintlichen Demütigung steht auf einer Hitliste mit so hochkaräti-
auf: ihren Arbeitsplatz. gen Funden wie den Urmensch-Schädeln
Eine Erscheinung der modernen Zeiten von Dmanisi (SPIEGEL 43/2013) und den
sind die Selbstmord-Killer indes nicht. Be- in Leicester aufgespürten Gebeinen des
reits im 17. Jahrhundert brach eine regel- Tyrannenkönigs Richard III.
rechte Bewegung verwirrter Geister über Der Vierbeiner von der Oder muss sei-
Europa herein, die mit ihren Mordtaten nen Rang in den Top Ten der Archäologie
GETTY IMAGES

eine Hinrichtung erzwingen wollten. Das allerdings mit zwei Kollegen teilen. Aus-
Kalkül der irren Meuchler: Wenn sie ihre gezeichnet wurde auch ein britischer
Taten auf dem Schafott nur eifrig bereu- Maulwurf, der in der römischen Festung
ten, würden sie nach ihrer Exekution di- Epiacum Keramik aus dem Boden klaub-
rekt ins Paradies emporfahren. te. Dritter im Bunde ist ein Delfin, der in pedo aus dem 19. Jahrhundert hoch – eine
Das wahnhafte Morden nahm derartige der kalifornischen Marinebasis Point militärische Rarität.
Ausmaße an, dass der dänische König Loma für die Minensuche ausgebildet Drei Säugetiere als Wegweiser zu
drastische Abschreckungsmaßnahmen be- wird. historischen Schätzen – nach Ansicht
fahl: Die Delinquenten wurden erst wo- Als der Flipper im vergangenen März der Spatenzunft muss das als seltener
chenlang ausgepeitscht, bevor ihnen am an einer Stelle anschlug, wo die Trainer Glücksfall gelten. Bislang, heißt es, hät-
Tag der Hinrichtung die Knochen gebro- gar keine Testmine versenkt hatten, be- ten vor allem Maulwürfe hin und wieder
chen und schließlich noch die Hände ab- gaben sich Taucher auf den Meeresgrund ein paar schäbige Scherben ans Licht
gehackt wurden. FRANK THADEUSZ und holten einen verrosteten Howell-Tor- gebracht.
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Noch länger her ist es, dass ein Terrier
in der Dordogne an einem umgestürzten
Baum jaulte und unter den Wurzeln den
Zugang in die mit Felszeichnungen aus-
gemalte Steinzeithöhle von Lascaux fand,
gerühmt als „Sixtinische Kapelle der Vor-
zeit“. Die Geschichte aus dem Jahr 1940
ist allerdings legendenhaft überformt und
weckt Zweifel.
Sicher ist dagegen, dass die Vertreter
der Fauna oft das Gegenteil bewirken: Sie
nerven und behindern den Forschungs-
betrieb. In den Camps der Archäologen
wimmelt es zuweilen von Fliegen. Den
einen beißt eine Schlange, den anderen
sticht ein Skorpion. Der britische Earl of

FELIX BIERMANN
Carnarvon, der die Suche nach dem Pha-
Dachs, slawisches Kriegergrab bei Stolpe rao Tutanchamun finanzierte, erlag den
Folgen einer Mückenattacke. Der Moskito
stach ihn 1923 im Tal der Könige ins Ge-
sicht. Der Piks entzündete sich zu einer
grauenhaften Wundrose. Der Adlige starb.
Jens Fog Jensen vom Nationalmuseum
in Kopenhagen geriet jüngst gar in den
Schlund eines Eisbären, als er auf der
Insel Clavering in der Grönlandsee nach
Wetterstationen suchte, die von den
Nazis errichtet worden waren. Nur durch
mehrere Kopfschüsse, abgefeuert von ei-
nem Team-Mitglied, ließ sich der Petz da-
von überzeugen, den Armen nicht weiter
zu zerfleischen.
MC2 DAVID COTHRAN / U.S. NAVY
Einige Tiere haben indes wirklich heiße
Spuren aufgetan. Die Ägyptologie zum
Beispiel ist auf ewig einem Esel dankbar,
der 1996 in der Oase Baharija im Boden
einbrach. Aus dem Spalt glänzte es – eine
Minensuch-Delfin in Point Loma, geborgener Howell-Torpedo Katakombe. Über 230 Balsamierte wur-
den geborgen, viele waren kunstvoll um-
wickelt und bemalt. Als „Tal der golde-
nen Mumien“ machte die Stätte weltweit
Furore.
Mit dem Grautier aus der Wüste kann
sich der Dachs aus Brandenburg zwar
nicht messen. Doch auch ihm gelang ein
Volltreffer. Bei den Arbeiten auf dem sla-
wischen Friedhof sei auch ein „Häupt-
lingsgrab“ zum Vorschein gekommen, „in
dem ein etwa 40 Jahre alter Warlord mit
einem Eisenschwert lag“, erklärt der Aus-
gräber Biermann.
Die Analyse zeigt, dass der Mann einst
einen Lanzenstich in den Kopf überlebt
hatte. Zwei gebrochene Rippen verheilten
ebenso wie eine Wunde am Schädeldach,
verursacht wohl durch ein Schwert. Der
TED NANCARROW

Raufbold starb offenbar erst durch einen


Maulwurf, römische Festung Epiacum in Nordengland Pfeil. Das eiserne Projektil lag zwischen
seinen Knochen.
Über seine Mörder muss nicht lange
Zwar stolperte das Pferd von Howard Immerhin, im Jahr 2007 gelang es spekuliert werden. Die Ukranen waren
Carter im Jahr 1900 über eine versiegelte der Promenadenmischung Zach, die Er- von Kreuzzüglern umzingelt. Er gehörte
Sargkammer, in der sich eine herrliche kenntnisse der Alttestamentler zu meh- zu den letzten Heiden des Kontinents.
Statue befand. Doch das war es auch ren. Das Tier fiel beim Gassigehen MATTHIAS SCHULZ
schon fast. im „Ramot-Wald“ bei Jerusalem in
Selbst der Hund taugt wenig zum ein Loch, das sich im Nachhinein als Video: Der Goldesel von
schnüffelnden Schliemann. Nur selten Weinpresse aus der Zeit des Ersten Ägypten
taucht er als Helfer in den Grabungs- Tempels (961 bis 587 vor Christus) ent- spiegel.de/app012014esel
berichten auf. puppte. oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 109
Szene

L I T E R AT U R

Volk ohne Heimat


Mit vorbereiteten Massenverhaftungen
in Konstantinopel begann am 24. April
1915 die große Mordkampagne gegen
die Minderheit der Armenier, die doch
schon viel länger als die Türken in
Anatolien siedelten. Etwa eine Million
Menschen fanden im Lauf von zwei
Jahren den Tod. Eines der ersten euro-
päischen Länder, die sich damals für
die Flüchtlinge öffneten, war Rumä-
nien, das Zehntausende aufnahm, viel-
leicht weil es dort bereits seit Jahrhun-
derten auch armenische Gemeinden,
Schulen, Kirchen, Klöster gab. Unter
den Flüchtlingen war der 22-jährige
Garabet Vosganian, dessen Familie in
der Ortschaft Focşani Fuß fasste. Er
wurde Kaufmann und gewann später
in der Gemeinde wachsendes Ansehen
als Fotograf, Maler, Chronist und Kir-
chenvorsteher. Dieser Lokalpatriarch,
in aller Leidensgröße standfest wie ein
Baum, ist nun zur Zentralfigur eines
großartigen Romans geworden. Viel-
farbig und vielschichtig breitet er die
armenisch-rumänische Familiensaga,
Gemeindehistorie und Leidensge-
schichte eines Volkes ohne Heimat aus,
das auch in der Diaspora
TERRY O'NEILL / GETTY IMAGES

Mal um Mal zu den Ver-


lierern gehörte und sich
doch nicht auslöschen
ließ: unter der Nazi-
Herrschaft Staatenlose Bowie 1974
ohne Schutz, unter der
sowjetischen Besatzung
zu einem Teil in die So- S TA R S
wjetrepublik Armenien
„repatriiert“ und später
Comeback aus dem Nichts
Varujan
Vosganian noch weiter nach Sibi-
Buch des rien umgesiedelt, unter
Flüsterns dem Ceauşescu-Regime
Aus dem Rumäni- enteignet und mit Pan- 2013 war ein eigenartiges Pop-Jahr. Es kam ohne Revolution aus, ohne neuen Stil,
schen von Ernest zergewalt zwangskollek- ohne neuen Superstar. Alle machten einfach weiter. Vielleicht war David Bowie,
Wichner. Paul tiviert. Der Erzähler, der seit 50 Jahren im Geschäft und mittlerweile 66, der Mann des Jahres, weil er
Zsolnay Verlag,
Wien; 512 Seiten;
dokumentarisches Mate- genau darin am besten war. Sein Album „The Next Day“ klang, als hätte er die
26 Euro. rial mit Leidenschaft und guten Momente aus seiner langen Karriere noch einmal zusammengeschoben.
schwelgerischer Detail- Lange hatte er nichts mehr veröffentlicht, es hieß, er sei krank und habe sich
lust zu einem Roman zurückgezogen. Umso erstaunlicher dann diese Rückkehr aus dem schein-
verdichtet hat, ist Garabets Enkel Va- baren Nichts – und zumindest in Deutschland war „The Next Day“ das erste
rujan Vosganian, 55, von Beruf Wirt- Album Bowies, das es an die Spitze der Charts schaffte. Geschickt auch, wie er,
schaftswissenschaftler, konservativer anstatt Interviews zu geben, sein Leben und sein Werk sprechen ließ:
Politiker und bis Oktober 2013 Rumä- 311 000 Besucher zog es in die große Bowie-Ausstellung im Victoria & Albert Mu-
niens Minister für Handel und Indu- seum in London. Und als würde das noch nicht reichen, als wollte er zeigen, wie
strie. Das mächtige „Buch des Flüs- fern ihm jede Nostalgie ist, wirkte er auch noch als Gastsänger in einem Song der
terns“ ist sein erster Roman. Er selbst kanadischen Rockband Arcade Fire („Reflektor“) mit, auf einer der besten Platten
kommt darin nur als kleiner Junge vor, des Jahres. Bowie hat ausgeschlossen, noch einmal auf Tour zu gehen. Muss er
doch es ist das Buch einer Lebenslei- auch nicht, die Ausstellung erledigt das für ihn: Im Herbst wurde sie in Toronto
denschaft und, wenn man so will, eine gezeigt, in den kommenden Jahren wandert sie nach São Paulo, Chicago,
Art südosteuropäisches Gegenstück Paris und schließlich ins niederländische Groningen. Einen Termin in Deutschland
zu Gabriel García Márquez’ „Hundert gibt es noch nicht.
Jahre Einsamkeit“.
110 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Kultur

KINO IN KÜRZE „Das erstaunliche Leben des


Walter Mitty“ war ursprünglich eine
„Das Geheimnis der Bäume“. Kurzgeschichte von James Thurber, zwei
In dieser Naturdokumentation folgt der Seiten, erschienen 1939 im „New Yor-
Oscar-Preisträger Luc Jacquet („Die ker“, die Story eines Mannes, der von
Reise der Pinguine“, „Der Fuchs und Abenteuern träumt, die er nie erlebt.
das Mädchen“) dem französischen 1947 wurde der Stoff mit Danny Kaye
Botaniker Francis Hallé in den Dschun- verfilmt. Jetzt adaptiert der Komödien-
gel von Peru und Gabun. „Hier berührt star Ben Stiller (Regie und Titelrolle) die
der Wald den Himmel“, erklärt Bruno Geschichte für die Gegenwart: als eine
Ganz mit Märchenonkelstimme aus Mischung aus Action-Spektakel und
dem Off, „hier spüre ich die Kraft des Selbsthilfe-Ratgeber. Walter, ein schüch-

20TH CENTURY FOX


Lebens.“ Pflanzen und Tiere könnten terner Traumtänzer, arbeitet diesmal
perfekt zusammenleben, wenn nur in New York bei der Zeitschrift „Life“, die
der Mensch nicht stören würde. Doch gerade ihre letzte Ausgabe vorbereitet;
Jacquet vertraut nicht allein auf seine er muss einen verschollenen Fotografen
eindrucksvollen Luft- und Detailauf- (Sean Penn) kontaktieren. Hätte der Stiller in „Walter Mitty“
nahmen, sondern mischt diese immer Fotograf ein Handy, wäre der Film nach
wieder mit Tricksequenzen aus dem 15 Minuten zu Ende. Hat er Hubschrauber ins Meer, rast auf einem
Computer: Blätter wachsen im Zeit- aber nicht, und deshalb Skateboard eine Bergstraße hinunter
raffer, Bäume leuchten in Neonfarben, reist Walter dem Mann hin- und überlebt einen Vulkanausbruch. Ein
Insekten summen – „Avatar“ trifft terher, unter anderem nach erstaunlicher Aufwand für die Erkennt-
„Biene Maja“. Island. Er springt von einem nis: außer Spesen nichts gewesen.

R.M. GUERA

„Django Unchained“-Illustrationen

COMICS
ken an. Jetzt hat sich ein Team von mit ihm Jagd auf Rassisten macht.
Zeichnern um den serbischen Comic- Sogar die Gesichter der Figuren

Djangos Rückkehr Autor R. M. Guéra wiederum von


Tarantino inspirieren lassen: Es adap-
tierte seinen jüngsten Film, den Wes-
ähneln denen der Hauptdarsteller
Jamie Foxx, Christoph Waltz und
Leonardo DiCaprio. Der Meister
Der Oscar-Preisträger Quentin Taran- tern „Django Unchained“, als Graphic selbst ist von dieser Hommage natür-
tino hat nie eine Filmhochschule Novel. Das Comic-Buch (Eichborn lich begeistert. „Ganz besonders
besucht. Stattdessen guckte er schon Verlag; 272 Seiten; 19,99 Euro) erzählt liebe ich Western-Comics“, schreibt
als Kind unzählige Filme, gern obsku- Szene für Szene die Geschichte des Tarantino im Vorwort, der neue
ren Action-Schund, später jobbte er in schwarzen Sklaven Django nach, der „Django Unchained“-Comic sei „im
einer Videothek – und er las Comics. vom weißen Kopfgeldjäger Dr. King Grunde die erste Entwurfsfassung
Diese Einflüsse sieht man seinen Wer- Schultz befreit wird und gemeinsam des Drehbuchs“.
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AU TO R E N

Das Glück und die Sprache


Nach sieben Jahren Pause veröffentlicht die Schriftstellerin
Zadie Smith einen neuen Roman. Wieder einmal beschäftigt sie sich
mit den großen Fragen. Diesmal: Was ist ein gelungenes
Leben? Und wie genau müsste sich das anfühlen? Von Philipp Oehmke
Kultur

V
or ein paar Monaten, Mitte Sep- ten die Buchstaben des Postcodes für den
tember, so erzählt es Zadie Smith, Nordwesten Londons, dort, in Kilburn,
sei sie nachts von einer Dinner- spielt der Roman, in den Sozialbauten der
party nach Hause geeilt. Sie musste den Einwanderer und Schlechtergestellten,
Babysitter auslösen, es regnete, Smith zog dort ist auch Smith aufgewachsen.
ihre hohen Absätze aus und rannte, die Smith erzählt aus unterschiedlichen Per-
Gedanken bei diversen Krankheiten, die spektiven die Geschichten von vier Protago-
sie sich holen könnte, barfuß durch die nisten, deren Schicksale teils zusammen-
Straßen von Manhattan. In der Lobby ih- hängen und die alle auf unterschiedliche
res Wohnhauses gegenüber der New York Weise und mit unterschiedlichem Engage-
University, wo sie Literatur unterrichtet, ment versuchen, etwas zusammenzuzim-
blickte der Portier verlegen in sein Tele- mern, das man ein Leben nennen kann.
fon, als die Schriftstellerin hineinstürmte. Da sind zwei Freundinnen seit Kindes-
Smith sagt, sie müsse furchtbar ausgese- tagen, Leah und Natalie, Frauen Mitte
hen haben, wie eine Wasserleiche. dreißig inzwischen, die eine weiß, die an-
Auf einem Tisch in der Besucherecke dere schwarz, beide aus den Sozialsied-
der Lobby lag ein schmaler abgegriffener lungen. Die eine hieß mal Keisha, doch
Bildband, den sie an jedem anderen Tag, nennt sich nun Natalie, sie wird Rechts-
an dem man nicht barfuß, nicht vom Re- anwältin, eine Traummutter, mit einem
gen durchweicht, nicht beschwingt vom anscheinend wunderbaren Mann, eine
Wodka in der Lobby stünde, vielleicht Aufstiegsgeschichte, ein gutgebautes Le-
übersehen hätte. Aber aus irgendeinem ben; die andere, Leah, arbeitet für eine
Grund fiel ihr das Buch auf. Es hieß „The Wohltätigkeitsorganisation zwischen den
World’s Masterpieces: Italian Painting“, immer noch gleichen Siedlungstürmen,
erschienen 1939, auf der ersten Seite war sie hintergeht ihren Mann, indem sie ent-
eine Widmung auf Deutsch zu lesen. gegen der Absprache heimlich die Pille
Smith blätterte, nass und frierend, in dem weiternimmt, weil sie nicht daran glaubt,
Buch herum, und entdeckte ein Werk aus dass Kinder das verkorkste Leben der
der Zeit um 1500 von Luca Signorelli, ei- Eltern retten können.
nem Meister der florentinischen Schule,
das einen muskulösen nackten Mann von
hinten zeigt, der einen leblosen Körper Am Ende steht ein Ziel,
geschultert hat. das Glück heißen kann,
Zadie Smith wollte am nächsten Mor-
gen eigentlich einen neuen Roman begin- Erfolg, aber eben auch
nen, doch stattdessen schrieb sie einen
Essay, zweieinhalb Monate lang – über völlige Abgekämpftheit.
den Tod. „Über leblose Körper“, sagt sie,
„über Leichen und darüber, dass sie in Das ist nur einer der vielen losen Hand-
der heutigen westlichen Kultur nicht lungsstränge in „NW“, gemein haben sie
mehr vorkommen.“ alle die Suche danach, wie sich Glück an-
Zweieinhalb Monate später, Ende No- fühlen könnte, heute, inmitten der Kom-
vember, steht Smith wieder in der Lobby pliziertheiten immer unübersichtlicher
ihres Gebäudes, es ist später Vormittag, werdender Lebensentwürfe.
der Essay ist gerade in der „New York Unten in Zadie Smiths Lobby stellt sich
Review of Books“ erschienen. Smith hat nun heraus, dass der Babysitter, der für
ihn „Man vs. Corpse“ genannt, Mensch die Tochter Katherine bestellt war, nicht
gegen Leiche. Sie hält Katherine, ihre kommen wird. Der Vater, ein nordirischer
dreijährige Tochter, an der Hand. Dichter, mit dem Smith vor kurzem noch
Zadie Smith ist gerade 38 geworden. ein zweites Kind bekommen hat, hat kei-
Ein Text über den Tod? Wieso? ne Zeit oder ist nicht da. Auch das sind
Smith sagt, dass wir, wenn wir an un- solche Kompliziertheiten. Da stehen wir
seren Tod denken, eigentlich über die also: eine Schriftstellerin, ein Journalist
Zeit davor reden, die Zeitspanne zwi- und eine Dreijährige. Gemeinsam sollen
schen Geburt und Tod, zwischen Neuge- nun der Roman, Erzählkonzepte, die Ab-
borenem und Leiche, über das Leben bildung von Wirklichkeit und die Wahr-
also. Und darüber, was in diesem Leben heitsmöglichkeiten von Literatur bespro-
gemacht, erreicht, vollendet und hinbe- chen werden. Smith greift sich noch ein
kommen werden muss. Eine Familie, ein Malbuch für Katherine (sie glaubt selbst
Beruf, eine Liebe oder mehrere, materiel- nicht daran, dass das funktioniert) und
le Errungenschaften, eine Hinterlassen- ein iPad mit Zeichentrickfilmen drauf
DIRK EUSTERBROCK / DER SPIEGEL

schaft, Spuren. Sterben kann nur, wer ein (das will sie eigentlich nicht, aber es ist
Leben gehabt hat. Aber was soll das sein, ein Notfall), dann sagt sie: „Die Frage,
ein Leben, zumal ein geglücktes? ob man Kinder haben sollte und, wenn ja,
Diese Frage schwebt auch wie eine Re-
genwolke über Smiths jüngstem Roman, * Zadie Smith: „London NW“. Aus dem Englischen von
der „London NW“ heißt und kommende Tanja Handels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln;
Woche auf Deutsch erscheint*. NW lau- 432 Seiten; 22,99 Euro.

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 113
Kultur

wie sie das eigene Lebenskonzept perfek- ben sie unvollendet, oft fehlt die Inter- den Beruf zu noch mehr Leistung heraus.
tionieren, macht die Leute verrückt.“ punktion. Gedankenströme, für die Smith Das ist es, was ihr daran gefällt. Es ist die
Sie zieht Katherine in ein Café am Wa- sich von Virginia Woolf hat inspirieren einzige Dimension, in der sie Elternschaft
shington Square Park, wo es Kuchen gibt, lassen, sicherlich auch von James Joyce. begreifen kann. Auf jeden Schritt folgt
den Katherine mag. „Auch für einige der Denken und Sprechen vereinen sich: der nächste, und am Ende steht ein Ziel,
Figuren in meinem Roman hat die Kin- „Was ist das für eine Furcht? Sie hat mit das Glück heißen kann, Erfolg, aber eben
derfrage den Stellenwert einer ethischen Tod und Zeit und Altern zu tun. Ganz auch völlige Abgekämpftheit.
Entscheidung erlangt, aber das sollte sie einfach: Ich bin achtzehn in meinem Kopf Eine komplizierte Freundschaft stand
nicht. Heute sagt man, irgendwie fühle bin ich achtzehn und wenn ich nichts ma- schon im Zentrum von Smiths Debüt-
ich jetzt das Bedürfnis, Kinder zu haben. che wenn ich mich einfach nur ganz ruhig roman „Zähne zeigen“, diesem überra-
Vor hundert Jahren und eigentlich zu je- verhalte dann ändert sich daran auch schenden Welthit aus dem Jahr 2000, der
der Zeit gab es die Frage des ‚Bedürfnis- nichts und ich bleibe immer achtzehn. Smith zu dem literarischen Superstar ge-
ses‘ nicht. Es ist die falsche Frage. Das Für immer. Die Zeit steht still. Ich werde macht hat, der sie seitdem ist, da war sie
ist, als würde man sich fragen: Möchte niemals sterben.“ 25. Damals war es eine Männerfreund-
ich wirklich diese Stereoanlage haben?“ Der Stillstand des eigenen Lebens, am schaft, doch auch in ihr standen verschie-
Wer an das Leben die falschen Fragen schmerzlichsten wird er in Relation zur dene Blickwinkel auf das Leben gegen-
stellt, bekommt möglicherweise auch die besten Freundin, mit der man doch unter einander. Smith ging es immer um philo-
falschen Antworten. Auch das ist eine gleichen Bedingungen gestartet war, da- sophische und psychologische Konzepte,
Wahrheit aus „NW“. Es ist diese Sorte mals, als man zusammen in den Sozial- die sie hinter den Handlungssträngen und
falscher Fragen, die sich die
vier Figuren immer wieder
stellen, ohne es zu wissen,
und an denen sie am Ende
alle scheitern.
Leah Hanwell, zum Bei-
spiel, mit ihr beginnt der Ro-
man, bemerkt nicht, dass
sie eigentlich glücklich ist,
weil ihr Leben nach außen
hin nicht glücklich aussieht.
Blass und rothaarig und
irischstämmig, hat sie in ih-
rer Jugend mehr gekifft und
Ecstasy genommen als stu-
diert, sie hat Dinge begonnen
und abgebrochen, schließ-
lich doch einen Abschluss
hinbekommen und arbeitet
jetzt als einzige Weiße in
einer Wohltätigkeitseinrich-
tung. Ihr Mann, ein Friseur,
ist halb algerisch, halb kari-
bisch und attraktiver als sie,
wie Leah findet. Sie liebt ihn

SIMON WHEATLEY
wirklich und schon lange, sie
sind unbemerkt glücklich zu-
sammen, sie schlafen gern
miteinander, woraus für Leah Jugendliche in Kilburn im Nordwesten Londons: Hochhäuser, schlimmer als Flachbausiedlungen
aber – bitte – keine Kinder
resultieren sollen, was sie ihm aber nicht bauten von Kilburn aufwuchs. Natalie, dem Personal ihrer Romane versteckte.
sagen kann. ehemals Keisha, die sich heute mit ihrem So war es auch in den beiden Nachfolge-
Denn jene Zeit zwischen Geburt und Leben so weit entfernt hat von Leah. Ihr romanen, „Der Autogrammhändler“ und
Tod, zwischen Mensch und Leiche also, Mann ist ein Banker, zusammen leben „Von der Schönheit“, Smith erzählte über-
über die Zadie Smith in ihrem Essay ge- sie nicht in den Sozialbauten, sondern in bordend, manchmal virtuos, doch meist
schrieben hat, schreitet lediglich voran einem viktorianischen Haus, wo sie Din- linear und konventionell.
für Leah, ohne dass Leah sie füllen wollte nerpartys geben, zu denen sie auch Leah Das ist in „NW“, ihrem vierten Roman,
oder könnte. Sie weigert sich, das Leben und ihren Friseur manchmal einladen. nun anders, insofern ist dieser Roman mit
als einen zu navigierenden Weg zu Leah kann den Gesprächen dort über Bio- seinen unterschiedlichen, teils fragmen-
begreifen von Punkt A nach B nach C, Essen, Celebritys, Elite-Kitas und Immo- tarischen Erzählperspektiven auch als
dazwischen eine Karriere, eine Familie, bilien nicht folgen, einmal wundert sie ein Formen- und Selbsterkundungsexpe-
vielleicht ein Haus. Nein, die Zeit führt sich über das Leben der Freundin: „Hin- riment einer Autorin zu verstehen, die
nirgendwo anders hin als in den Tod – ter diesen Terrassentüren ist alles erfüllt sieben Jahre lang keinen Roman mehr
bedrückt von dieser Angst zündet sie den und voller Bedeutung. Die Gesten, die veröffentlicht hatte, in dieser Zeit zwei
nächsten Joint an und erstarrt. Blicke, die unhörbaren Gespräche. Wie Kinder bekam, ihren literarischen Werk-
Das sind möglicherweise zeittypische wird man nur so erfüllt? So erfüllt von zeugen nicht mehr traute und lieber Zei-
Beklemmungen, und sie spiegeln sich in lauter Dingen voller Bedeutung?“ tungstexte und Essays schrieb. Ihre The-
der Art zu denken und zu reden. In Leahs Natalie hat auch zwei Kinder, die Kin- men zuletzt: Freude, Essenslieferdienste,
Passagen hat Zadie Smith die Sätze des- der sind ganz süß und machen Arbeit, sie Joni Mitchell, der Facebook-Film, der
wegen kurz geschrieben, manchmal blei- fordern Natalie neben ihrem aufreiben- Rapper Jay-Z. An einem Essay über die
114 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Fernsehserie „The Wire“, die von schwar- Ihre Mutter war 1969 aus Jamaika nach Leben am Ende um die Ohren fliegt, sucht
zen Drogen-Gangs in Baltimore handelt, England gekommen, sie wollte als Model sie Trost bei einem Drogen und Frauen
scheiterte sie, nachdem sie alle fünf Staf- in London arbeiten und traf Smiths Vater, verkaufenden Hustler. Felix wiederum hat-
feln zweimal gesehen und sieben Notiz- der Fotograf war. Mit zwölf, die Eltern te seine Träume als Filmemacher begra-
bücher vollgeschrieben hatte. Interessan- ließen sich scheiden, zog Zadie mit der ben, auch kurzzeitig Drogen verkauft, sich
terweise finden sich in „NW“ nun Elemen- Mutter aus dem Sozialbau in eine Woh- dann aber gefangen. Aber selbst wenn je-
te, die an die Serie erinnern: ein ähnliches nung um die Ecke, die Mutter war inzwi- mand alles richtig macht, so wie Felix, ist
Milieu in den von Einwanderern bewohn- schen nicht mehr Model, sondern So- es zugleich auch vergebens. Dann vernich-
ten Sozialsiedlungen; mit dem Hustler zialarbeiterin und arbeitete in den Sied- tet einen der Zufall. So geht es zu in Zadie
Nathan eine Figur, die auch aus „The lungen. „Ich erfuhr“, sagt Smith, „dass Smiths rauer Welt von „NW“.
Wire“ stammen könnte; und Slang- es schlimmere Siedlungen gab als unsere. Eine Welt zu beschreiben, die ein Au-
Dialoge, die so authentisch klingen, dass Die Regel war: Die Hochhaussiedlungen tor gut kennt, birgt die Gefahr der Kli-
sie gar nicht authentisch sein können sind schlimmer als die Flachbausiedlun- schees. So oft wurde das zu Beschreiben-
(Smith hat sie in Wahrheit nur immer wei- gen. Unsere war mittlere Höhe, es gab de schon gedacht und gesagt, dass die
ter verdichtet). sogar eine Grünfläche. Es gab Jugend- Worte leer und tot sein können. Ein Au-
Einer ihrer Essays befasste sich auch Gangs, ich hing mit vielen wilden Typen tor schlafwandelt dann durch seine Sätze.
mit ihrer „novel nausea“, wie sie es nennt, rum. Ich weiß, dass meine Mutter uns So hat Smith es mal gesagt. Sie hat dar-
ihrer Müdigkeit, Romane zu lesen und immer da rausbringen wollte. Das war über viel nachgedacht, und in dem Jahr,
vor allem zu schreiben. ihr sehr wichtig. Uns Kindern nicht. Für als sie die Arbeit an dem Roman begann,
2007, hat sie noch einmal ei-
nen Essay dazu geschrieben.
Smith hat ihn „Fail Better“
genannt, Besser scheitern,
und darüber nachgedacht,
was gutes Schreiben sein
könnte und wie man ein
Scheitern verhindern könn-
te. Sie schreibe, bekennt
Smith in dem Text, damit sie
nicht durch ihr ganzes Leben
schlafwandle.
Deswegen hat sie sich in
„NW“ den Ort ihrer Jugend
noch einmal neu erschlossen,
deswegen musste jede Figur
seine eigene Sprache bekom-
men, die direkt in ihren Kopf
und ihre Seele führt. „Ein
großartiger Roman ist die Er-
fahrung der Welt durch ein
PATRICK MCMULLAN / DDP IMAGES

Bewusstsein, das nicht dein


eigenes ist“, schreibt Smith
in dem Essay. So gesehen ist
Zadie Smith ein großartiger
Roman gelungen.
Auf dem Weg zurück nach
Hause (Katherine hat trotz
Schriftsteller Franzen, Smith: Sich über die Unmöglichkeit austauschen, die sich Schreiben nennt iPad-Filmen nicht länger als
45 Minuten durchgehalten)
Katherine, Smiths Tochter, hat das uns Kinder war es das einzige Leben, das fällt Zadie Smith ein, dass sie am Abend
Malen längst aufgegeben, sie soll jetzt wir kannten.“ mit Jonathan Franzen zum Essen verab-
einen Trickfilm auf dem iPad gucken, Die männlichen Figuren in „NW“ sind redet ist. Sie ist mit vielen Schriftsteller-
kann sich aber für keinen entscheiden. solche wilden Typen. Interessanterweise kollegen befreundet, sogar mit Daniel
Während der Debatte mit der Tochter hat Smith sie weniger unglücklich und ge- Kehlmann. Sie mag es, sich mit den an-
über den geeigneten Film sagt Smith: trieben gezeichnet als die beiden Frauen, deren über diese Unmöglichkeit auszu-
„Meine Vorstellungskraft war ausgetrock- obwohl bei den Männern nun wirklich tauschen, die sich Schreiben nennt.
net. Ich konnte mich nicht mehr dazu alles schiefläuft: Einer der beiden erlebt Sie ist in der Lobby ihres Wohnhauses
bringen, den Kern jeder Erzählung, das nicht mal das Ende des Romans. Diese stehen geblieben, denkt nach, während
ewige Und-dann-und-dann zu schreiben: Männer, Nathan und Felix, beide schwarz, sie spricht. „Schreiben gehörte für mich
Aber dann? Kein dann, hat Kafka mal stehen dafür, wie scheiße ein Leben wirk- nie in die Kategorie der Dinge, die mich
geschrieben. In diesem Zustand, man lich sein kann, wenn man mal die eigenen glücklich machen. Das hat es noch nie
könnte es Schreibblockade nennen, ver- Neurosen beiseitelässt. getan. Irgendwie bin ich froh, dass ich es
ursacht der Gedanke an einen Roman In Nathan war Natalie, als sie noch Kei- tue, aber Glück? Nein.“
nur noch Übelkeit.“ sha hieß, in der Schule verknallt, er wäre Die Tochter Katherine unterbricht sie:
Zadie Smith hat die Übelkeit überwun- fast Profifußballer geworden, aber inzwi- „Warum muss ich immer so lange war-
den, dafür ist sie literarisch an den Ort schen ist er ein obdachloser Herumtreiber. ten?“ Selbst über diese Frage denkt
gegangen, den sie am besten kannte, den Trotzdem scheint Nathan als einzige Figur Smith eine Weile nach. Dann sagt sie zur
Ort ihrer Jugend, und sie hat versucht, Demut gefunden zu haben und in sich zu Tochter: „Ich weiß es nicht. So ist das
ihm eine Sprache zu geben. ruhen, und als Natalie ihr selbstoptimiertes Leben. 
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Kultur

E S S AY

Das Paradies! Die Hölle!


Ein russischer Schriftsteller denkt über die Olympischen Spiele in Sotschi nach
und gerät in Streit mit sich selbst. Von Wiktor Jerofejew

LEBEDEV ARTUR / ITAR-TASS / ACTION PRESS


Eissporthalle in Sotschi: „Monströses Insekt“

A
m 7. Februar 2014 werden um 20.14 Uhr ganz bestimmt in Armut lebten – ein elendes sommerliches Chaos. Nun bin
und sehr pompös die XXII. Olympischen Winterspiele ich wieder nach Sotschi gefahren, habe meine achtjährige Toch-
eröffnet werden. Nichts wird ihnen im Weg stehen. ter Maja mitgenommen, ihr das Schwimmen beigebracht und
Weder die Anti-Schwulen-Gesetze noch Russlands imperiales sie mit Rosen und Magnolien verzückt. Aber bereits im Anflug
Gebaren in der Ukraine, auch nicht die Tatsache, dass diese auf Sotschi erkannte ich, dass sich die Stadt radikal verändert
Spiele schon lange die putinschen Spiele genannt werden. hat. Ich bekam Lust, einen alten Bekannten zu treffen – den
Der Westen wird seine Feindseligkeit gegenüber Putins Russ- amtierenden Bürgermeister.
land hinunterschlucken und gemeinsam mit dem Rest der Welt Als mir Anatolij Pachomow voller Stolz und Liebe die olym-
bei der Eröffnung erscheinen. Zwar wird der eine oder andere pischen Objekte in ihren kosmischen Dimensionen vorführte,
wichtige Politiker oder weltbekannte Prominente die Spiele traute ich meinen Augen nicht. Eispaläste, die aussehen wie
boykottieren, weil man Putin nicht die Hand geben will, eine monströse gedrungene Insekten. Prachtvolle Autobahnkreuze.
Ansicht, die auch die russische Opposition teilt, aber für die Tunnel wie Eingangshallen von Fünfsternehotels. Hotels am
meisten hat Putin die rote Linie noch nicht übertreten, die der Meer und in den Bergen. Das olympische Dorf. Ich überlegte,
weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko bereits über- woran mich das alles erinnerte. Die neue Eisenbahnlinie mit
schritten hat (obwohl Putin mit einem Fuß nah dran ist). Der ihren filigranen Brücken, die hoch in die Berge nach Krasnaja
Westen wird es nicht wagen, Hunderten Sportlern aus aller Poljana führt, ließ mich an die Harry-Potter-Romane denken
Welt das Fest zu verderben (den meisten von ihnen ist Putins und an Gleis neundreiviertel. Aber alles zusammen?
Politik ohnehin egal), außerdem muss er ja sowieso irgendwie Ich konnte an diesem Tag zwei Träume besichtigen: Der
mit Putin auskommen. eine Traum ist es, dass die Olympischen Spiele in Sotschi ein
In Sotschi jedenfalls wird Putin den großzügigen und be- Verweis auf die Erschaffung von St. Petersburg sein sollen.
scheidenen Zaren geben. Ob die russischen Sportler Siege er- Hier wie dort wurde in den Sumpf gebaut. Nur dass es dort
ringen oder nicht, wird ihn nur in Maßen beschäftigen. Denn Fichten gab und hier Bambus. Dort arbeiteten sich Leibeigene
er selbst wird der strahlende Sieger dieser Spiele sein und in zu Tode, und hier schuften Fronarbeiter aus Tadschikistan?
die russische Geschichte eingehen als Schöpfer eines neuen Der Bürgermeister sagte: njet. Das haben Russen gebaut,
Sotschi, das von seinen Gnaden in ein irdisches Paradies ver- mehr noch, Russen aus dem Kuban-Gebiet. Für mich ein klarer
wandelt worden ist. Fall von Lokalpatriotismus, aber die Einwohner von Sotschi
Für mich hat Sotschi auch etwas von einem Paradies, es war stöhnten trotzdem, überfordert von den vielen Baustellen und
mein Kinderparadies, in dem es nach Rosen duftete und hohe der Anordnung, entweder umzuziehen oder ihre baufälligen
Palmen raschelten, das Paradies der Regierungssanatorien in Behausungen in Schuss zu bringen. Stöhnen ist sehr russisch.
Stalin-Architektur. Mitte der fünfziger Jahre kam ich hierher, Wir fuhren durch die Stadt – die Dächer waren in einem
mein Vater (ein hochrangiger sowjetischer Diplomat) brachte Rot umgestrichen, das zu einer Stadt in Südeuropa passen wür-
mir im Schwarzen Meer schwimmen bei, hier war ich glücklich de. Das war der zweite Traum, den ich hier sah: der Traum
und begriff zum ersten Mal, dass das Leben ein Geschenk ist. von Konstantinopel. „Konstantinopel muss uns gehören!“,
Als Erwachsener sah ich Sotschi mit anderen Augen: als ein träumte Dostojewski. Statt Konstantinopel haben wir die Olym-
sich endlos an der Küste entlangziehender Ferienort, in dem piastadt Sotschi bekommen. Aber wem wollen wir damit dro-
die Fassaden der Sanatorien zerbröselten und die Einwohner hen? Es wird sich bestimmt irgendjemand finden.
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Vor zwei Jahren war ich zuletzt in Krasnaja Poljana, in den „Ach was“, so schimpfte ich weiter. „Die Amnestie ist nur
Bergen oberhalb von Sotschi. An meinem Fenster donnerten eitle Selbstdarstellung. Alle hängen trotzdem am Haken des
auf staubiger Straße wildgewordene Lastwagen vorbei – all das Kreml. Und die neueste Mogelpackung: Sie laden die Schwulen
erinnerte an einen neorealistischen italienischen Film, der in ei- genauso wie alle anderen ein. Herzlich willkommen! Und ne-
ner Liebestragödie endet. Ich war ganz sicher: Das schaffen die benbei ziehen sie die Schrauben an. Weißt du, wonach das
nie bis zum Beginn der Spiele. Rücksichtslos fällten sie Bäume, aussieht?“
rannten gegen abrutschende Berge an – es konnte einem angst „Wonach?“, fragte ich mich selbst zurück. Nach 1936. Die
und bange werden um die Umwelt. Doch wie stand es eigentlich Spiele in Berlin! Dort haben die Nazis angeordnet, während
um die Ökologie der Sümpfe vor der Erbauung von Petersburg? der Wettkämpfe Juden und Homosexuelle nicht zu verfolgen,
Trat damals die Newa über die Ufer? Weiß das noch jemand? antisemitische Artikel wurden verboten!
Auf die Frage nach den wahnsinnigen Summen, die für die „Also weißt du, das kann man doch nicht vergleichen. Wer
Spiele ausgegeben wurden (50 Milliarden Dollar, die teuersten ist denn heute Stalin und wer Hitler? Ja, wir sind vom Weg ab-
aller Zeiten!), sagte der Bürgermeister, dass erstens da gebaut gekommen. Statt uns heute gemeinsam mit der Ukraine in
wurde, wo vorher nichts war, und zweitens sehr viel Geld aus Richtung Europa zu bewegen, streben wir nach dem uns kul-
privater Hand geflossen sei. turell fernen und unschönen Eurasien. Doch Petersburg bleibt
„Halt!“, erwiderte ich. „Nicht mehr als zehn Prozent! Wir als europäische Hauptstadt Russlands in der Geschichte beste-
haben im Wesentlichen mit staatlichen Geldern gebaut! Und hen. Auch Sotschi wird zu unserer Europäisierung beitragen.
mehr als die Hälfte davon ist veruntreut worden! Himmel- Und stell dir doch mal vor, was die Sportler und Touristen den-
schreiende Korruption!“ ken werden, wenn sie in Sotschi angekommen sind. Sie werden
Und während ich dies ausrief, spürte ich, wie sagen: Man hat uns erzählt, Russland sei ein
ich mich spaltete. In mir erwachte die Stimme Kühlschrank. Dabei ist Russland die reinste
des Kritikers der russischen Realität, der den „Weißt du, wonach Riviera!“
Bürgermeister fragt: „Laut eines unabhängigen „Genau“, höhnte die unzufriedene Stimme
Gutachtens, das von dem Oppositionellen Bo- das aussieht?“ in mir, „da haben sie sich vielleicht was ausge-
ris Nemzow in Auftrag gegeben wurde, kostete „Wonach?“ dacht! Winterspiele in den Subtropen! Geht’s
ein Meter der in die Berge führenden Autobahn noch?“
200 000 Dollar! Hätte man diese Gelder nicht „Nach 1936. „Nun ja, so vollkommen daneben ist es auch
besser ins Gesundheitswesen gesteckt? In die Homosexuelle und wieder nicht, immerhin gibt es da hohe Berge
Bildung?“ und Schneefelder.“
Pachomow sagte: Man braucht ein Ziel, ein Juden durften „Du bist also dafür?“
Team und Motivation – dann kriegt man alles da auch nicht „Weißt du, vor ungefähr zehn Jahren habe
hin. ich eine Autobiografie mit dem Titel ‚Der gute
Und wieder empörte ich mich. Die Motiva- verfolgt werden.“ Stalin‘ geschrieben. Über meinen Vater und
tion? Welche Motivation? Sich nicht vor den über meine Kindheit unter Stalin. Ich habe nie-
Ausländern zu blamieren? Für das Gesund- mals geglaubt, dass wir ein Staat der guten Sta-
heitswesen, so dachte ich mir, gilt dieses Trio Ziel, Team und lins werden, aber wir können wohl nicht anders regieren, das
Motivation nicht. Die Gelder wären bestimmt versickert. haben wir nicht gelernt. Der schlechte Stalin – das ist das Jahr
„Sotschi ist also die historische Replik auf Petersburg“, fuhr 37: der große Terror. Und der gute Stalin, das ist der, der sich
meine kritische Stimme fort. „Dort erwarb sich Peter der um das Volk sorgt, Staudämme baut. Solch ein guter Stalin hat
Große Weltruhm, und wer tut es hier?“ Giftig: „Die einfa- sich die Olympischen Spiele in Sotschi vorgenommen und zieht
chen Bauarbeiter?“ Nachdrücklich: „Die zugereisten Gast- das bis zum Ende durch. Viele Ausländer, die lange in Russland
arbeiter aus Mittelasien, Sklaven, denen man die Pässe ab- leben, sind der Meinung, Russland müsse den Putinismus durch-
genommen hat!“ stehen, bevor sich die Demokratie durchsetzen könne.“
Der Bürgermeister schwieg (kein Wort über russische Arbeiter). „Soll das eine Rechtfertigung sein?“
Dann sagte ich, auf einmal wieder versöhnlich, mit einem „Die Kommunisten haben unser Land vor der Revolution das
feinen Lächeln zum Bürgermeister: „Die Sonne Russlands geht Gefängnis der Völker genannt. Dann haben sie selbst ein Super-
nun in Sotschi auf.“ gefängnis der Völker daraus gemacht. Seit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion sind nur 22 Jahre vergangen. Russlands Herz

D
er Bürgermeister nickte erfreut. Er kann nur über Sot- schlägt bis heute im Gefängnis. Wir haben nicht das schlechteste
schi sprechen. Natürlich auch über sein harmonisches Regime, ja, es gibt eine Menge Mist, aber historisch gesehen ist
Familienleben, vor allem aber über Sotschi. Er sagte, es nicht das übelste. Wenn wir uns auf eine neue Revolution
er habe die Kriminellen aus Sotschi vertrieben … Die hätten einlassen, erwartet uns eine Katastrophe.“
es mit der Angst gekriegt … Beispiellose Sicherheitsmaßnah- So also schließt sich der Kreis der russischen Geschichte. Ich
men … Natürlich, dachte ich, schon wieder versöhnlich, Sotschi habe lange mit mir selbst gestritten, aber nun bin ich, trotz
ist ein Geschenk an den Sport, an die Sportler, an die Sportbe- aller Bedenken, für das europäische St. Petersburg. Klar, die
geisterten. Machthaber haben beschlossen, ihr neues Petersburg im olym-
1980 wurden die Moskauer Spiele wegen des Einmarschs pischen Sotschi zu erschaffen. Klar, die da oben meinen, dass
der UdSSR in Afghanistan vom Westen boykottiert. Es wurden sie nun umso leichter repressive Gesetze in der Duma durch-
gestutzte Spiele. Ich weiß noch: Unserer Intelligenzija gefiel bringen werden. Dennoch rufe ich laut aus: „Dank an die Bau-
das nicht. Man fand, der Boykott sei nicht ins gesellschaftliche arbeiter! Dank an den Bürgermeister mit dem entschlossenen
Bewusstsein gedrungen. Die Amerikaner wären doch besser Blick! Glücksmomente für die Fans! Erfolg für die Sportler!
gekommen. Verliert nicht den Verstand, wenn ihr gewinnt, und rauft euch
„Die Machthaber werden den ganzen Ruhm einheimsen“, nicht die Haare, wenn ihr verliert. Das sind nur Spiele.“
sagte die kritische Stimme in mir, „und das heißt, wir werden
diejenigen feiern, die Pussy Riot zu Lagerhaft verurteilten, Jerofejew, 66, ist einer der wichtigsten
Chodorkowski zehn Jahre hinter Gittern hielten.“ Literaten Russlands. Vor kurzem erschien
„Aber sie haben sie doch freigelassen!“ Das war wieder mei- im Hanser Berlin Verlag sein Roman „Die
DER SPIEGEL

ne hoffnungsvolle Stimme. „Die Olympischen Spiele von Sot- Akimuden“. Den Essay übersetzte Beate
schi werden leichter atmen können!“ Rausch.
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Kultur

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Gianni, komm nach Lippstadt“


Albert Eickhoff ist eine Legende der deutschen Mode.
Nach mehr als 50 Jahren schließt er nun sein Couture-Haus.

Die Karriere von Albert Eickhoff, 78, Eickhoff: Ich schildere Ihnen, nur ein Bei- war im August in München zur Mode-
begann in der tiefsten Provinz. 1961 er- spiel, einen Einkauf in Paris bei dem Label woche und fuhr über die Maximillian-
öffnete er in Lippstadt ein Geschäft für Céline. Wir fragen: Für welche Summe straße, da können Sie gar nicht so schnell
Damenoberbekleidung. In zwei Räumen müssen wir Taschen ordern? Die Antwort: die Labels ausrufen, wie sich die großen
zeigten er und seine Frau Brigitte exklu- Ihr Budget beträgt 45 000. Die Firma legt Designermarken nebeneinander drängeln.
sive Mode aus Berlin sowie kurze Zeit die Verteilung des Budgets fest, ohne Für einen Multibrand-Store kann es kaum
später auch aus Paris und Rom. Bald war Rücksicht auf die Wünsche des Unterneh- noch gutgehen. Es gibt Persönlichkeiten
„Eickhoff“ in Westfalen richtungweisend mers. Für die Hälfte des Geldes dürfen in der Branche, die behaupten, in fünf
dafür, was deutsche Frauen trugen. wir Taschen auswählen, die uns gefallen. bis zehn Jahren wird es nur noch Mono-
Schauspielerinnen und Präsidentengat- Für den Rest müssen wir schwer verkäuf- brand-Stores und Kaufhäuser geben.
tinnen kauften hier ein. 1981 zog das liche und uninteressante Modelle nehmen. SPIEGEL: Wie verschafft man sich als Kun-
Familienunternehmen nach Düsseldorf. Bei den Kleidern läuft es genauso. Am din dann noch einen Überblick?
Auf der Königsallee wurde ein Geschäft Ende haben Sie eine Menge Sachen, die Eickhoff: Es gibt ja weiterhin noch einzelne
eröffnet, dessen Schaufensterdekora- Sie eigentlich nicht möchten. Ähnliche Er- Unternehmen wie unseres, Unger in
tionen legendär sind. Ende Mai kom- fahrungen machen wir auch bei anderen Hamburg oder Theresa in München.
menden Jahres wird „Eickhoff“ nach 53 Labels. Das ist nicht besonders freudvoll. Aber es wird nicht leichter für die Kun-
Jahren schließen. SPIEGEL: Auf der Königsallee gibt es heute din. Und zeitaufwendiger: Da die Hose,
fast nur noch Läden großer Marken. da den Pullover und, wo auch immer, den
SPIEGEL: Herr Eickhoff, warum geben Sie Eickhoff: Es ist der Lauf der Zeit. Jede Mantel. Sie werden darauf getrimmt, alles
auf? Stadt sieht mittlerweile gleich aus. Ich von einer Marke zu kaufen. Auf diese
Eickhoff: Die guten Zeiten gehen zu Weise verdienen die Modefirmen
Ende. Meine Frau und ich haben mehr Geld.
über Jahrzehnte ein Angebot an SPIEGEL: Sie haben Ihr Geschäft 1961
Mode zusammengestellt, das Kun- in Lippstadt gegründet. Kam Ihnen
dinnen aus ganz Deutschland lock- das damals nicht irrsinnig vor, 16
te. Später haben das meine Tochter Jahre nach Kriegsende in der bie-
und mein Schwiegersohn übernom- deren BRD exklusive Damenmode
men. Doch in den letzten Jahren zu verkaufen – und das ausgerech-
wurde es merklich schwieriger. net in der westfälischen Provinz?
Heute schreiben die großen Mode- Eickhoff: Es war sehr waghalsig. Am
häuser dem Einzelhandel vor, was Eröffnungstag saßen wir hinter
er in welchem Umfang zu kaufen dem Vorhang unseres Schaufens-
hat. Alle reden nur noch von Bud- ters, und die Passanten, die vorbei-
get, Budget, Budget. Man hat den gingen, schüttelten ausnahmslos
Eindruck, nicht mehr in der Mode-, den Kopf, weil die Modelle so ex-
sondern in der Finanzbranche zu klusiv waren. Wir hatten die Cou-
arbeiten. ture Deutschlands in unser Ange-
SPIEGEL: Die Krise der Einzelhänd- bot aufgenommen, die Berliner
ler geht auf die großen Modekon- Ateliers Staebe-Seger, Uli Richter,
zerne zurück? Detlev Albers. Und natürlich heg-
Eickhoff: Über Jahrzehnte wurden ten wir Sorge, sie könnten unver-
die heute berühmten Modemarken käuflich sein in Lippstadt.
mit viel persönlichem Engagement SPIEGEL: Wieso wurde das Geschäft
vom Einzelhandel zu dem ge- „Eickhoff“ trotzdem ein Erfolg?
macht, was sie heute sind. Doch Eickhoff: Wir haben, als die Branche
dies scheint in Vergessenheit gera- noch nicht blühte, das richtige Ge-
ten zu sein. Heute kommen Sie als spür bewiesen. So gehörten wir im-
SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL

Einzelhändler in einen Designer- mer zu den Ersten, die etwas im


Showroom in Paris oder Mailand, Angebot hatten. Wir kauften sehr
und ständig springt irgendein jun- bald auch in Frankreich ein. Wäh-
ger Mann um sie herum und ruft: rend in deutschen Modefirmen wei-
„Sie kennen ja Ihr Budget.“ Das terhin die hohe Schneiderkunst re-
macht einen völlig verrückt.
SPIEGEL: Was ist mit „Budget“ in Das Gespräch führte die Redakteurin Claudia
diesem Fall gemeint? Geschäftsmann Eickhoff: „Nun bin ich leicht müde“ Voigt.

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Eickhoff-Geschäfte in Lippstadt 1961, Düsseldorf

QUELLE: BUCH THE MIRROR OF WORK (2, O.L. + U.); THOMAS MAYER (O.R.)
Versace-Schau in Lippstadt 1978: „Die Sachen müsst ihr euch ansehen!“

gierte, beeinflusste der Look der jungen men. Sie war eine phantastische Kauffrau war entscheidend für den Erfolg unseres
Leute, der Look der Straße, die Mode- und stets sehr extravagant gekleidet, sie Unternehmens.
macher in Paris, es war die Zeit der Prêt- trug immer einen strengen Knoten und SPIEGEL: Hätte auch schiefgehen können,
à-porter-Mode, denken Sie nur an Rive bodenlange Kleider. oder?
Gauche von Yves Saint Laurent, indivi- SPIEGEL: Lippstadt liegt in einer Region, Eickhoff: Dieses Risiko mussten wir einge-
duelle und exklusive Kleider von der in der in den sechziger Jahren auch der hen. Mitte der siebziger Jahre waren wir
Stange. Bald waren wir das erste Geschäft Wohlstand schnell wuchs. Unternehmen auf der Messe in Florenz, meine Frau ging
in Deutschland für all diese Mode. wie Miele und Bertelsmann befinden sich mit ein paar Freunden in die Uffizien,
SPIEGEL: Woher kam Ihr Gespür für Mode? in der Umgebung. War das ein Grund für aber ich wollte nicht. Mich interessierte
Eickhoff: Ich habe eine kaufmännische Ihren Erfolg? zu der Zeit nur Mode, Mode, Mode. Ich
Ausbildung absolviert, aber schon als jun- Eickhoff: Man nannte mich in der Branche ging in das Hotel, in dem auch ein unbe-
ger Mann wollte ich in die Modebranche. der „Junge Unrast“. Meine Frau und ich kannter Designer namens Gianni Versace
Vielleicht habe ich das Gespür von mei- waren wahnsinnig umtriebig. Wenn uns in einem kleinen Zimmer seine erste Kol-
ner Großmutter. Die ließ früher in mei- etwas gefiel, dann haben wir das auch lektion zeigte. Als ich die Freunde nach-
nem Elternhaus in Horn in Westfalen ins Sortiment aufgenommen. Wir waren her zum Essen traf, sagte ich: Die Sachen
schon Schneiderinnen für sich arbeiten da nicht zurückhaltend. Wir vertrauten von diesem Gianni Versace müsst ihr
und verkaufte die Modelle an andere Da- stets unserem eigenen Geschmack. Das euch ansehen! Ich könnte sie heute noch
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 121
QUELLE: BUCH THE MIRROR OF WORK

KRAM / ROBA PRESS


Partner Versace (oben l.), Eickhoff (M., mit Bart) 1978, Nachfolger Susanne und Stefan Asbrand-Eickhoff 2006: „Eigentlich immer mutig“

malen: schilfgrüner und erikaroséfarbe- Branche war damals viel unkomplizierter. SPIEGEL: Was macht guten Stil aus?
ner Strick. Wir haben sofort eingekauft, Bald waren wir richtige Freunde. Jil Eickhoff: Eine klare Linie und nicht alles
und zurück in Lippstadt hatten wir gro- mochte besonders meine Frau. Mit De- von einem Designer. Die Kundin ist über
ßen Erfolg damit. Nachdem das zwei Sai- signern wie Sander oder Versace ist „Eick- die Jahrzehnte sehr selbstbewusst ge-
sons gut lief, fuhren wir nach Mailand hoff“ hochgeschwemmt worden. Wir hat- worden. Früher glaubten uns die Damen
und sagten: Gianni, komm nach Lipp- ten in unseren großen Jahren schon sehr blind. Das war vielleicht auch nicht ideal,
stadt, wir machen dich groß. früh alle bedeutenden Marken an der aber heute meinen viele Frauen, sie
SPIEGEL: Hatten Sie keine Angst vor der Hand. Es war unglaublich. brauchten den Blick von außen nicht
eigenen Courage? SPIEGEL: Wann begann die Krise? mehr, und das ist eben doch oft ein
Eickhoff: Ich war eigentlich immer sehr Eickhoff: Mitte der neunziger Jahre began- Irrtum.
mutig. Nach einer Woche rief Gianni an nen die großen Modefirmen wie Prada SPIEGEL: Gab es eine Moderichtung, von
und sagte: „Wir machen den Deal.“ Mei- ihre eigenen Shops auch in Deutschland der Sie heute sagen: Das war nichts?
ne Antwort: „Du wirst es nicht bereuen.“ zu eröffnen. Damit veränderte sich vieles. Eickhoff: Ja, die Midi-Mode. Die Röcke,
Wir haben 40 Models engagiert, aus der Nach dem Tod von Gianni holte uns die die auf der halben Wade endeten, stehen
ganzen Welt. Auch die junge Jerry Hall, damalige Versace-Direktorin in ihr Büro, im Grunde kaum einer Frau. Das wird
die damals schon mit Mick Jagger zusam- nachdem wir schon eingekauft hatten, sich nie wieder durchsetzen. Victoria
men war. Es war ein großer Auftrieb in Beckham hat diese Mode allerdings
Lippstadt, wie auf dem Hügel von Bay- wirklich phantastisch abgewandelt, mit
reuth. Alle Auguren der Mode reisten an. „Herr Eickhoff, alles gut und ihren engen, längeren Kleidern, die bis
„Hier kommt der Berg zum Propheten“, schön, aber Sie müssen übers Knie reichen, hat sie einen Stil
wurde nachher von Antonia Hilke berich- geprägt, das hätte ihr kaum jemand zu-
tet. Das war unser eigentlicher Durch- mehr Waren abnehmen, Sie getraut.
bruch. Versace wurde rasant größer, SPIEGEL: War Ihnen die Mode jemals über?
machte sich ein Jahr später selbständig, kaufen zu wenig.“ Eickhoff: Nein. Wirklich nie. Aber nun bin
und wir schwammen in seinem Kielwas- ich leicht müde. Ich möchte jetzt ein schö-
ser mit. Nun kam selbst jemand wie Mil- und sagte: Herr Eickhoff, ich weiß, was nes Privatleben mit meiner Frau. Wir ha-
dred Scheel nach Lippstadt. Sie für Versace getan haben, alles gut ben das Geschäft 53 Jahre betrieben. Ich
SPIEGEL: Sie gingen 1981 nach Düsseldorf. und schön, aber Sie müssen mehr Waren habe genug getan.
Warum? abnehmen, Sie kaufen zu wenig. Von da SPIEGEL: Über 50 Jahre haben Sie aus-
Eickhoff: Wir dachten, das kann noch nicht an kam der Stress von allen Seiten. Wir schließlich Damenmode verkauft. Wie
alles gewesen sein. Es war eine Zeit, in haben dem getrotzt, doch die besten Zei- halten Sie es mit Ihrer eigenen Kleidung?
der uns einfach alles gelang. Damals kam ten gingen langsam zu Ende. Es wurde Eickhoff: Ich schätze „Mode“ für Herren
auch ein Beitrag über „Eickhoff“ in der freudlos. nicht wirklich. Ich bin ein konservativer
Sendung „Bitte umblättern“, und durch SPIEGEL: Finden Sie, dass deutsche Frauen Typ und trage grundsätzlich Mailänder-
den Autor des Beitrags István Bury lern- gut gekleidet sind? grau oder Dunkelblau mit einem weißen
ten wir Jil Sander kennen. Sie fuhr mit Eickhoff: O ja. Ich fürchte aber, das Inter- Hemd, manchmal ein feiner Streifen
ihrem Rolls-Royce vor, und wir waren net wird sich nachteilig auf den Kleidungs- Bleu. Aber nur manchmal.
uns schnell einig, dass wir ihre Kleider in stil der deutschen Frauen auswirken, weil SPIEGEL: Herr Eickhoff, wir danken Ihnen
unser Sortiment aufnehmen wollten. Die dort ja keine Beratung mehr stattfindet. für dieses Gespräch.
122 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
SD13-114
Kultur

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Der digitale
Jahresbestseller 2013 Fachmagazin „buchreport“; nähere

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die rechnen konnte des Jahrhunderts
Carl’s Books; 19,99 Euro S. Fischer; 19,99 Euro

Ein weibliches Mathe-


Genie, das in das süd- Das Geschichtspanorama
afrikanische Atomwaffen- zeichnet ein präzises
programm gerät, Bild von der Stimmung kurz
stürmt die Bestsellerliste vor dem Ersten Weltkrieg
2 Timur Vermes 2 Rolf Dobelli
Er ist wieder da Die Kunst des klaren Denkens
Eichborn; 19,33 Euro Hanser; 14,90 Euro
3 Dan Brown 3 Guido Maria Kretschmer
Inferno Anziehungskraft
Bastei Lübbe; 26 Euro Edel Books; 17,95 Euro
4 Khaled Hosseini 4 Meike Winnemuth
Traumsammler Das große Los
S. Fischer; 19,99 Euro Knaus; 19,99 Euro
5 Jussi Adler-Olsen 5 Dieter Nuhr
Erwartung Das Geheimnis des perfekten
dtv; 19,90 Euro Tages Bastei Lübbe; 14,99 Euro
6 Volker Klüpfel / Michael Kobr 6 Bronnie Ware
Herzblut 5 Dinge, die Sterbende am meisten
Droemer; 19,99 Euro bereuen Arkana; 19,99 Euro
7 Kerstin Gier 7 Christopher Clark
Silber – Das erste Buch der Träume Die Schlafwandler
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8 Suzanne Collins 8 Rolf Dobelli
Die Tribute von Panem – Die Kunst des klugen Handelns
Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro Hanser; 14,90 Euro
9 John Green 9 Eben Alexander
Das Schicksal ist ein mieser Blick in die Ewigkeit In dieser Ausgabe:
Verräter Hanser; 16,90 Euro Ansata; 19,99 Euro
10 Jussi Adler-Olsen 10 Frank Schirrmacher Die Urkatastrophe
Das Washington-Dekret Ego – Das Spiel des Lebens
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11 Dora Heldt 11 Hannes Jaenicke
Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Die große Volksverarsche Die Aussteiger
gewonnen dtv; 17,90 Euro Gütersloher Verlagshaus; 17,99 Euro Video-Reportage über ehemals
12 Anne Gesthuysen 12 Rüdiger Safranski
Wir sind doch Schwestern Goethe – Kunstwerk des Lebens orthodoxe Juden
Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Hanser; 27,90 Euro
13 Nina George 13 Malala Yousafzai mit Christina Lamb Der Goldesel
Das Lavendelzimmer Ich bin Malala Video über vierbeinige Archäologen
Knaur; 14,99 Euro Droemer; 19,99 Euro
14 Robert Galbraith 14 Christine Westermann
Der Ruf des Kuckucks Da geht noch was
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Gefährliche Liebe Oetinger; 18,95 Euro Knaus; 19,99 Euro
20 Elizabeth George 20 Michail Gorbatschow
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FILME

Graues Gold

CBS FILMS / KOBAL COLLECTION


Jugendliche verlieren mehr und mehr die Lust am Kino.
Hollywood reagiert und setzt nun auf die Senioren.

A
ls Ende November der Berliner „Transformers“-Film gucken, und ansons- Eine Reihe überraschend erfolgreicher
Zoo-Palast nach fast dreijähriger ten nicht in der Lage sind, 90 Minuten lang Blockbuster für Senioren hat dazu ge-
Umbauzeit wiedereröffnet wurde, die Klappe zu halten. Flebbes Kino ist eine führt, dass Hollywood seine Produktions-
feierten die Premierengäste eine Zeiten- Kampfansage an das Kino der Jugend. politik umstellt.
wende. Sie betraten nicht bloß ein Kino, Flebbe, der schon seit rund fünf Jahren Der Film „Best Exotic Marigold Hotel“
sondern eine mondäne Seniorenresidenz am Ku’damm ein erfolgreiches Luxuskino über ein paar britische Rentner, die sich
des Films. Stufenlos verstellbare Sessel für eine ältere, zahlungskräftige Klientel in Indien aufs Altenteil begeben, spielte
aus Leder, versehen mit Halterungen für betreibt, setzt auf einen Wachstums- fast 140 Millionen Dollar ein, weit mehr
Champagnerflaschen – in kaum einer markt. In keiner anderen Altersschicht als das Zehnfache seiner Kosten.
Oper gibt es einen solchen Komfort. gewinnt das Kino so viele Zuschauer hin- Actionfilme wie „R. E. D.“, in dem eine
Der Geruch von Nachos werde niemals zu wie in der Generation der über 60-Jäh- über 60-jährige Helen Mirren mit einem
durch diese Hallen wehen, rief Kinobetrei- rigen, in den vergangenen zehn Jahren Maschinengewehr durch die Gegend bal-
ber Hans-Joachim Flebbe von der Bühne rund 80 Prozent. lert, oder „The Expendables“, in dem Syl-
und erntete Applaus. Es war eine Kampf- In Großbritannien machen die über 45- vester Stallone, mittlerweile 67, die Kno-
ansage an das Kino der anderen, die Li- Jährigen schon heute ein Drittel aller Ki- chen seiner kaum halb so alten Kontra-
terbecher Cola in den Saal schleppen, die nobesucher aus, ähnliche Zahlen werden henten zertrümmert, haben es bereits zu
mit Popcorn die Sessel verkleben, die un- bald auch in den USA erwartet. „Es gibt Fortsetzungen gebracht.
entwegt twittern, während sie den neuen immer mehr ältere Zuschauer, aber sie Inzwischen dreht Hollywood Ü-60-
fühlen sich unterversorgt“, sagt Nancy Versionen erfolgreicher Filme. Die Ko-
* Michael Douglas, Robert de Niro, Morgan Freeman, Utley vom Hollywood-Studio Fox Search- mödie „Last Vegas“, in der vier Freunde
Kevin Kline. light. „Darin liegt eine riesige Chance.“ (unter anderen Michael Douglas und
124 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Kultur

Morgan Freeman) ein Wochenende mit wie der bislang erfolgreichste Film in der darsteller Daniel Craig, 45, mitspielen. Sie
Zocken, Saufen und Frauen verbringen, Karriere der 49-Jährigen. wäre das älteste Bond-Girl aller Zeiten.
erinnert stark an den beim jungen Pu- Cameron Diaz, 41, ist einer der best- Schon im letzten Film „Skyfall“ wirkte
blikum enorm erfolgreichen Blockbus- bezahlten Hollywood-Stars. An ihrer Ko- 007 ungewohnt erwachsen. Zum ersten
ter „Hangover“. mödie „Bad Teacher“ verdiente sie über Mal beschäftigte sich der Held mit seiner
Die Hollywood-Studios werben gerade 40 Millionen Dollar. eigenen Kindheit, um herauszufinden,
heftig um die Mitglieder des amerikani- Meryl Streep wurde erst mit Mitte fünf- wie er der wurde, der er ist. Vielleicht
schen Seniorenverbands ARPP und schal- zig ein Superstar. „Der Teufel trägt Prada“ führt der demografische Wandel dazu,
ten Anzeigen in dessen Zeitschrift, die und „Mamma Mia!“ sind ihre mit Abstand dass sogar das Blockbuster-Kino reifer
32 Millionen Leser erreicht – Tendenz größten Kassenerfolge. Nun ist sie über und komplexer wird.
steigend. In den nächsten 50 Jahren wird sechzig und dreht romantische Komödien, Statistiken belegen, dass ältere Zu-
sich die Zahl der Rentner in den USA die „Wie beim ersten Mal“ heißen. schauer gern Geschichten über ihre eige-
mehr als verdoppeln. Es ist noch nicht lange her, da warfen ne Generation mögen und dass sie ein
Die Generation der Baby-Boomer, die Schauspielerinnen Hollywood Altersdis- starkes Interesse an historischen Stoffen
nun wieder ins Kino gehen kann, weil kriminierung vor, weil sie keine Rollen haben. Sie erwarten Filme, die ihnen das
die eigenen Kinder aus dem Haus sind, bekamen und sich männliche Stars wie Gefühl geben, ihre knapper werdende
findet in den heutigen Filmen dann auch Tom Cruise oder Johnny Depp auf der Lebenszeit sinnvoll zu nutzen.
die Stars ihrer Jugend wieder: Denn Tom Leinwand nur mit Frauen zeigten, die Sie gehen eher selten ins Kino, um gro-
Hanks oder Julia Roberts, Arnold Schwar- halb so alt waren wie sie selbst. ße Spektakel zu sehen. Der Film darf
zenegger oder Jodie Foster sind immer Kein Mann verschliss auf der Leinwand nicht zu schnell sein, sonst kommen sie
noch da. Ein Drittel aller Filme, die Holly- mehr junge Frauen als James Bond. Doch nicht mit. Er darf nicht zu laut sein, sonst
wood gerade produziert, wendet sich an im nächsten Film der Serie soll Penélope klirren ihnen die Ohren. 3-D finden sie
ein älteres Publikum, schätzen Experten. Cruz, 39, nur sechs Jahre jünger als Haupt- meist auch nicht so toll, denn viele von
Ein erstaunlicher Wandel, denn nahezu ihnen tragen ohnehin schon eine Brille.
vier Jahrzehnte lang war Hollywood fast Filme für Jugendliche werden von Jahr
ausschließlich auf das junge Publikum zu Jahr teurer, weil sie ihr Publikum im-
fixiert. Als Mitte der siebziger Jahre mit mer wieder aufs Neue mit aufwendigen
Filmen wie „Der weiße Hai“ und „Krieg Bildern und Effekten beeindrucken müs-
der Sterne“ die Ära der Blockbuster be- sen. Doch jede 200-Millionen-Dollar-Pro-
gann, strömten Jugendliche auf einmal duktion ist ein enormes Risiko. Senioren-
in bis dahin ungekannten Massen in die filme sind dagegen billig. „Hangover 3“
Kinos, Filme wurden zu Events. kostete über 100 Millionen Dollar, „Last
Teenagerkomödien prägten die Acht- Vegas“, der Film über vier alte Männer-
ziger, am Ende des Jahrzehnts begann freunde, nur gut ein Viertel davon.
mit „Batman“ die Ära der Comic-Ver- Besonders beliebt sind die Alten bei
filmungen, die bis heute das amerikani- Meryl Streep, Tommy Lee Jones den Kinobesitzern auch deshalb, weil sie
sche Kino dominieren. Seit den achtziger in „Wie beim ersten Mal“ Zeit haben, tagsüber ins Kino zu gehen.
Jahren vernachlässigte Hollywood zu- Auf diese Weise sorgen sie für eine gleich-
nehmend das erwachsene Publikum. Die mäßige Auslastung der Säle. Zudem ist
Älteren schauten sich lieber zu Hause es ihnen nicht besonders wichtig, den
Fernsehserien wie „Die Sopranos“ an. Film gleich am ersten Wochenende zu
Doch inzwischen hat sich das Freizeit- sehen. Sie vertrauen eher auf die Mund-
verhalten Jugendlicher geändert: Sie ver- propaganda und müssen nicht mit teurer
bringen mehr Zeit im Internet und schau- Werbung angelockt werden.
en, oft illegal, Filme im Netz, statt ins Gleichzeitig verfügen sie über mehr
Kino zu gehen. Geld als die Jugendlichen. Sie können
Die 10- bis 29-Jährigen besuchten 1999 sich unter Umständen sogar eine Flasche
in Deutschland durchschnittlich noch Champagner zum Film leisten. Einige von
sechs- bis siebenmal pro Jahr ein Kino, ihnen gehen auch ins Kino, um sich dort
BARRY WETCHER / DPA (O.); 20TH CENTURY FOX / DDP IMAGES (M.); FRANK MASI / AP (U.);

2011 nur noch viermal. Auch in den USA Opern-Übertragungen aus der New Yor-
lässt der Kinobesuch bei den Jugendli- Judie Dench, Celia Imrie in ker Met anzuschauen.
chen nach. Sie stellen zwar noch immer „Best Exotic Marigold Hotel“ Die Finanzkraft des älteren Publikums
den Großteil des Publikums, gehen aber ist der Grund, warum im Vorprogramm
vor allem in Eventfilme wie „Thor“, „Tri- mancher Filme sogar Werbespots für den
bute von Panem“ oder „Der Hobbit“. neuen BMW laufen, für ein Auto, das sich
Demografisch gesehen spielten junge Jugendliche kaum leisten können. „Die
Männer, früher Hollywoods wichtigste demografische Entwicklung spricht für
Zielgruppe, eine zunehmend geringere das Kino“, sagt Volker Nickel vom Zen-
Rolle, Frauen und ältere Zuschauer da- tralverband der deutschen Werbewirt-
gegen eine größere, sagt Sean Bailey, Pro- schaft.
duktionschef bei Disney. „Wenn man sich Und die Jugendlichen? Müssen draußen
anschaut, wie viele wunderbare ältere bleiben. Die britische Kinokette Vue bie-
Schauspielerinnen wir haben, dann erge- tet inzwischen Vorführungen an, zu denen
ben sich großartige Möglichkeiten.“ Zuschauer unter 18 nicht mehr zugelassen
Tatsächlich profitieren vor allem die sind – unabhängig von der Altersfreigabe
weiblichen Stars jenseits der vierzig von Helen Mirren in „R. E. D.“ des Films. Platzanweiser wachen über die
dem neuen Trend, Sandra Bullock etwa. Ordnung im Saal und sind angehalten,
Ihr Weltraumepos „Gravity“ spielte fast Seniorenfilm-Darsteller jeden Besucher zu entfernen, der sich
700 Millionen Dollar ein, doppelt so viel Nicht so laut, sonst klirren die Ohren danebenbenimmt. LARS-OLAV BEIER

D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 125
Kultur

Zuchtmeister der flauen Rede


Ein Briefband aus 44 Jahren zeigt den strengen
LITERATURKRITIK:
Eigenbrötler Arno Schmidt von bisher unbekannten, beinahe freundlichen Seiten.

E
r könne, teilte der Autor mit, „als rühmter Kauz: Der „deutsche Joyce“ hat- der Gegenwart nicht. „Intelligenz lähmt,
Resultat so enger dürftijer Kindheit, te mit seinen Romanen, die in vertrackter schwächt, hindert?: Ihr werd’t Euch wun-
nich großzügich denk’n. Ich habe Weise, aber mit durchaus spannender dern!: Scharf wie’n Terrier macht se!!“,
nie gelernt, mich richtich zu benehmen, Story historische und utopische Stoffe, heißt es im „Steinernen Herz“, einem der
in keiner Gesellschaft … Speziell Mir eign von der griechischen Welt bis ins Jahr früheren Romane Schmidts – ein Zitat,
war die Isoliertheit, von BabyBeinen an“. 2014, verhandeln, eine Art Alleinstel- das auf Plakaten verbreitet wurde, auf
Wer so von sich spricht und dabei lungsmerkmal in der ambitionierten dem Höhepunkt seines Ruhms als Non-
schon orthografisch mitteilt, dass er die Literatur. Auch als sein Werk immer konformist und Zuchtmeister der flauen
Konvention, auch wo er sie beherrscht, mehr ins Obsessive ging, das Kreuzwort- und flauschigen Rede.
für verbesserungswürdig hält, aus dem rätselhafte zunahm und die Altherren- Und ebendieses Temperament ist zu
kann nur ein großer Schriftsteller werden. besessenheit zwanghafte Züge bekam – erfahren in dem editorisch einerseits
Und in der Tat ließ der 1979 verstorbene „nur 1 Hand vermochte sie noch zu bän- bewundernswert genauen, andererseits
Arno Schmidt lebenslänglich kaum ein dijen; während die andere lustichst in rätselhaft verschwiegenen Briefband: So
Missverständnis darüber ent- werden die Adressaten der
stehen, dass er sich für in- Briefe – von Kollegen wie
telligenter als fast alle, für Böll und Andersch über
gebildeter als die Gelehrten Verleger wie Rowohlt und
und für tüchtiger als die Unseld bis hin zu Lesern,
Fleißigen hielt. Freunden und Verwandten
Für Besuche hatte er kei- – sinnvoll und sachlich vor-
ne Geduld, für Geselligkeit gestellt, doch findet sich
keine Zeit und für öffent- kein Hinweis darauf, welch
liche Auftritte wenig Sinn rotem Faden diese Aus-
– so stellen dann die Briefe wahl folgt.
eines solchen Eigenbrötlers Wenn sie aber den Sinn
nicht, wie bei dieserhalb haben sollte, diesen rauen
durchschnittlichen Naturen, Solitär der deutschen Lite-
eine Seite persönlichen ratur einem unbefangenen
Umgangs dar, sondern bil- Publikum vorzustellen,
MAX EHLERT / DER SPIEGEL

den ihn beinahe vollkom- dann erfüllt sie diesen


men ab. Zweck: Wir treffen einen
Damit ist der gerade er- rastlos fleißigen Autor an,
schienene Band „Und nun einen unduldsamen Kolle-
auf, zum Postauto!“, der 160 gen, einen treulich verlege-
Briefe aus 44 Lebensjahren Autor Schmidt 1959 nen Sohn, einen freund-
versammelt, eine gute Ge- lich-großzügigen Mentor,
legenheit, einen Autor neu einen immer interessanten
in Augenschein zu nehmen, Geist – und den bekannt
der in seinem enorm produktiven Schrift- ihren Reizen wühlte & praßte“ –, schlug produktiven Pedanten: Am 20. Februar
stellerleben Höhen und Tiefen in extremis sich das Publikum nicht nur wacker 1957 belehrt er den Knaur Verlag darüber,
ausgeschritten hat: Begonnen hatte der durch die umfangreichen Typoskripte, dass man im einbändigen Lexikon dieses
im Januar 1914 geborene Schmidt auf sich sondern folgte auch der verhängnisvollen Hauses „aufs korrekteste kostbare Zeilen
allein gestellt und in drastischer Armut. Liebe des Privatgelehrten für zu Recht einsparen“ könnte, indem man bei ma-
Über Jahre musste er um Veröffentlichung fast vergessene Autoren wie Klopstock, thematischen Formeln „anstatt des von
kämpfen, weil seine Vorliebe für Sexual- de la Motte Fouqué und Schnabel. Als Ihnen verwendeten wagerechten Bruch-
wortspiele, seine Verachtung für die ade- Entdecker und Reklamefachmann zog striches den schrägen“ einführte. „Ich
nauersche Melange aus Katholizismus der Komet Arno Schmidt am Lebens- nehme ein beliebiges Beispiel: Spalte 1803
und Wiederbewaffnung – sowie schließ- ende einen breiten Schweif hinter sich geben Sie die Formel für das Verdich-
lich sein orthografischer Eigensinn diverse her, dessen Partikel in der Mehrzahl in- tungsverhältnis an; mit schrägem Bruch-
Verleger überforderten. zwischen verglüht sind. strich geschrieben sähe das so aus:
Doch als er im Alter von 65 Jahren Und auch sein Werk strahlt nicht mehr (VH + VC)/VC
überraschend starb, war der Goethepreis- so hell, seine Gemeinde trifft sich zu Ver- Sie würden allein an dieser einen Stelle
träger und Autor des gewaltigen Werks sammlungen und diskutiert im Netz, doch dadurch 2 Zeilen sparen; und ebenso an
„Zettel’s Traum“ weit mehr als ein be- über die Gruppe der Eingeweihten hinaus 30 anderen.“
ist Schmidt ein mausetoter Klassiker. Was Und endlich Friede auf Erden, Ord-
„Und nun auf, zum Postauto!“. Briefe von Arno
dann auch wieder schade ist. nung in den Palästen und fließend Wasser
Schmidt. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Denn einen so angriffslustigen, bärbei- in den Hütten aller Autoren!
Suhrkamp Verlag, Berlin; 296 Seiten; 29 Euro. ßigen, hellwachen Geist findet man in ELKE SCHMITTER

126 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Impressum Service
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
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Kultur, Gesellschaft Tel. (030) 886688-200, Fax 886688-222 der Webadresse www.spiegel.de/briefkasten Hinweise,
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26620-0, Fax 26620-20
MITGLIED DER CHEFREDAKTION Kontakt zum SPIEGEL aufnehmen, stehen Ihnen fol-
Nikolaus Blome (Leiter des Hauptstadtbüros) DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid, Fide- gende Wege zur Verfügung:
lius Schmid, Benrather Straße 8, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679- Post: DER SPIEGEL, c/o „Briefkasten“, Ericusspitze 1,
ART DIRECT ION Uwe C. Beyer 01, Fax 86679-11
20457 Hamburg
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Anne Seith, An der Welle 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. (069) entsprechenden PGP-Schlüssel finden Sie unter
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Christiane Hoffmann, René Pfister. Redaktion Politik: Nicola Abé, Dr. www.spiegel.de/briefkasten)
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Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus Dettmer, Cornelia Schmergal, Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche
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128 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Register
GESTORBEN in Europa werden sollte. Später verschlug
es ihn nach Hamburg, wo er mehr als ein
SONNTAG, 5. 1., 22.25 – 23.10 UHR | RTL Michail Kalaschnikow, 94. Er stammte Vierteljahrhundert lang als Lead-Altist in
SPIEGEL TV MAGAZIN aus einer Bauernfamilie mit 18 Kin- der NDR Bigband angestellt war und von
dern, hatte nicht einmal die Mittelschule anderen Formationen als Star-Saxofonist
Die ukrainische Lady Gaga – Die märchen- absolviert – und wur- engagiert wurde. Herb Geller starb am
hafte Geschichte von Kamaliya; de zum wohl be- 19. Dezember in Hamburg.
Dass kein Tier leide – Veganes Leben in rühmtesten russischen
Deutschland; Profit mit dem Leid – Erfinder. Nachdem Helga M. Novak, 78. Sie war eine beherz-
Wuchermieten für Bruchbuden. der Panzerkomman- te Dichterin, und das in doppeltem Sinn.

RUSSIANLOOK / FACE TO FACE


dant Kalaschnikow Sie war mutig und umtriebig, wovon ihre
im Krieg gegen Nazi- gleichzeitig zarte und ungestüme Lyrik
MITTWOCH, 1. 1., 19.15 – 20.15 UHR | ZDF Deutschland 1941 eine Zeugnis ablegt: „wo es trostlos ist / dahin
TERRA X schwere Verletzung will ich gehen“. Und sie verschenkte ihr
auskuriert hatte, kon- Herz ohne Rückversicherung, „liederlich
Abenteuer Alaska struierte der techni- und liebestoll“, wie es in einer anderen
Alaska ist ein Ort der Extreme – und sche Autodidakt das Gedichtzeile heißt. Geboren wurde sie in
der Superlative. Im größten Bundes- Schnellfeuergewehr AK 47. Das A stand Köpenick, mit 15 rebellierte sie gegen die
staat der USA gibt es drei Millionen für Awtomat, das russische Wort für Au- Adoptiveltern. Weitere Stationen: Inter-
Seen, 25 000 Gletscher und 3000 Flüs- tomat (im Militärjargon Maschinenpisto- nat, Journalistikstudium in der DDR. Poli-
le), das K für seinen Nachnamen, die Zahl tische Verheißungen, an die sie glaubte.
erinnerte an das Jahr, in dem der Prototyp Mit Anfang zwanzig hatte sie eine kurze
des Gewehrs vorgestellt wurde, der später Liaison mit der Stasi, bevor sie das Land
mit rund hundert Millionen Exemplaren verließ und nach Island zog. Zwischen-
am weitesten verbreiteten und wohl ro- durch Rückkehr in die DDR, Literaturstu-
bustesten Schusswaffe der Welt. Sie half dium in Leipzig, dann 1966 Ausbürgerung
Armeen, Guerilleros und Terroristen, sie wegen ihrer Nähe
war die Standardwaffe der DDR-Volks- zum Regimekritiker
armee, und die USA rüsteten Sicherheits- Robert Havemann.
kräfte in Afghanistan mit ihr aus. Mosam- Tatsächlich war es
bik, Osttimor und Simbabwe nahmen das eine Liebesgeschich-
Gewehr mit dem sichelförmigen Magazin te: „Wir hatten ganz
ISOLDE OHLBAUM / LAIF
in ihr Staatsemblem auf. Der Konstruk- andere Dinge zu tun,
Grizzlybär in Alaska teur avancierte zum General, wurde zum als dauernd Politik
Volkshelden, mit den höchsten Orden der zu betreiben.“ Immer
se. Weite Teile sind völlig unbesiedelt. Sowjetunion ausgezeichnet. An seiner wieder brach sie auf,
Ein optimaler Lebensraum für Grizz- Erfindung verdiente er keine Kopeke. Sie lebte lange in Polen,
lys, Elche und Eisbären. In einer der wurde nicht patentiert, zudem sind schät- fernab der Städte und
letzten Wildnisregionen des Planeten zungsweise neun von zehn AK 47 illegale des Literaturbetriebs. Erzählt hat sie ihr
haben auch viele Deutsche ihr Glück Nachbauten. Immerhin ließ ihm ein Leben in einer autobiografischen Trilogie,
gefunden. Die SPIEGEL-TV-Autoren Schnapsproduzent, der gläserne Kalasch- deren letzter Band „Im Schwanenhals“
Christopher Gerisch und Kay Siering nikows mit Wodka-Füllung herstellt, all- vor wenigen Monaten erschienen ist.
besuchten sie und verbrachten mit jährlich ein paar dieser Exemplare zukom- Helga M. Novak starb an Heiligabend in
ihren Kamerateams insgesamt neun men. Michail Kalaschnikow starb am Rüdersdorf bei Berlin.
Wochen in dem Naturparadies. 23. Dezember in Ischewsk.
Edgar Bronfman, 84. Schnapshersteller
Herb Geller, 85. Der war er, einer der reichsten Männer der
SONNTAG, 5. 1., 19.30 – 20.15 UHR | ZDF Altsaxofonist gehörte Welt und ein unermüdlicher Streiter für
TERRA X zur Riege amerika- die Rechte der Juden. Der 1929 in Mont-
nischer Jazzmusiker, real geborene Bronfman begann seine
Geheimbünde die sich in Europa Karriere im Spirituosenunternehmen sei-
Teil 1: Der Code der Illuminaten wohler fühlten als im nes Vaters. Ab 1981 war er Präsident des
Seit Dan Browns Erfolgsroman Mutterland des Jazz. Jüdischen Weltkongresses. In Österreich
PEOPLE PICTURE

„Illuminati“ ist der Geheimbund einem Schon Ende der fünf- half er 1986, die Nazi-Vergangenheit des
Millionenpublikum bekannt. Im Mai ziger Jahre siedelte Präsidenten Kurt Waldheim aufzudecken.
1776 in Ingolstadt gegründet, hatte sich der in Los Angeles Schweizer Banken bewegte er zur Zah-
der Illuminaten-Orden die Unter- geborene Geller auf lung von 1,25 Milliarden Dollar als Ent-
wanderung des Staates vorgenommen. den alten Kontinent über. Auslöser war schädigung für die im Krieg einbehaltenen
Nur zehn Jahre lang operierte die der frühe Tod seiner ersten Frau und mu- Vermögen jüdischer Holocaust-Opfer. Und
Bruderschaft. Bis heute halten sich sikalischen Partnerin Lorraine Walsh, An- in Moskau verhandelte er mit Gorba-
Gerüchte, dass die „Erleuchteten“ noch lass aber die höhere Wertschätzung des tschow erfolgreich über die Ausreise von
immer existieren und ihre Ziele im europäischen Publikums für Jazz. In den Juden aus den Staaten des Ostblocks. Als
Verborgenen zu erreichen suchen. Die sechziger Jahren spielte er in Paris mit Bronfman 2007 von seinem Amt zurück-
SPIEGEL-TV-Autoren Jens Nicolai den ebenfalls aus den USA emigrierten trat, hatte er den Weltkongress zu einer
und Kay Siering folgen dem legendä- Musikern Kenny Clarke und Kenny Drew der wichtigsten internationalen jüdischen
ren Orden und erkunden andere in der Kenny Clarke/Francy Boland Big Organisationen gemacht. Edgar Bronf-
geheime Organisationen. Band, die eine der populärsten Big Bands man starb am 21. Dezember in New York.
130 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Personalien

Königliche Knabbermaus Queen sei sehr verärgert darüber


gewesen, dass Polizisten, die im
Von der englischen Königin Elizabeth Buckingham-Palast für ihre Sicher-
II., 87, heißt es, sie schalte nächtens heit sorgen sollen, sich aus Schalen
selbst die Lampen in ihren Wohnsit- mit Nüssen, Mandeln und anderem
zen aus, um Stromkosten zu sparen. Naschzeug bedient hätten. Das Ange-
Jetzt kommt heraus, dass sie auch bot sei einzig und allein für den
den Verbrauch von Knabbereien pein- Zugriff Ihrer Majestät im Privattrakt
lich genau überwacht. Im Prozess des Palastes aufgestellt worden.
gegen Journalisten der wegen einer Nachdem die königliche Knabber-
Abhöraffäre eingestellten britischen maus den Schwund bemerkt hatte,
Boulevardzeitung „News of the soll sie eigenhändig den Füllstand
World“ wurden vor Gericht E-Mails in den Behältnissen markiert haben,
des Königshauskorrespondenten um den Mundraub der Ordnungs-
verlesen. Darin wird behauptet, die ALPHA / AGENCY PEOPLE IMAGE
kräfte belegen zu können.

Experiment mit Wolle zeugte Veganer und Familienvater


sämtliche Rindviecher, die zu der Farm
Mit Milch und Fleisch kann der Holly- gehörten, die er vor kurzem in seiner
wood-Regisseur James Cameron, 59, Wahlheimat Neuseeland erworben hat.
(„Titanic“, „Avatar“) rein gar nichts an- Die Schafe immerhin dürfen bleiben,
fangen: Deswegen verkaufte der über- sie sollen fortan allerdings nur noch
Wolle liefern. Cameron will außerdem
Getreide anbauen, um sein Land im
Einklang mit seinem veganen Lebens-
stil zu bewirtschaften. Finanziell
abhängig dürfte der Filmemacher von
DENNIS VAN TINE / RETNA / CORBIS

diesen Agrarexperimenten nicht sein:


Allein an dem Kassenschlager „Avatar“
soll Cameron 350 Millionen Dollar
verdient haben, entsprechend hoch
dürfte der Vorschuss für die ange-
kündigten drei Fortsetzungsfolgen aus-
fallen.

Knaller für alle den – und dies verletze die religiösen


SCOTT BARBOUR / GETTY IMAGES

Gefühle von Hindus, hieß es. Bei Stan-


Der dritte Tag des indischen Lichterfes- dard Fireworks stieß die Kritik auf
tes Diwali ist der mächtigen hinduisti- Verständnis. Seither gibt es Böller, die
schen Gottheit Lakshmi gewidmet. Um mit dem Abbild Hitlers versehen sind.
die Göttin des Glücks, der Fruchtbar- Im Ausland kommt die Alternative
keit, der Schönheit und anderer ange- allerdings nicht so gut an; insbesondere
nehmer Dinge anzulocken, werden deutsche Feuerwerksimporteure zeigen
Kerzen angezündet, die Häuser hell be- kein Interesse an den Hitler-Knallern.
leuchtet und Feuerwerks- Große Spenderin
körper abgebrannt. In man-
chen Gegenden Indiens ist Sie gilt als sehr talentiert – und ein
Diwali auch das Neujahrs- bisschen langweilig. Reich und berühmt
fest. Die südindische Firma ist die Country-Pop-Sängerin Taylor
Standard Fireworks bot Swift, 24, in jedem Fall. Nun zeigt sie
daher Böller an, die ein Ab- sich auch noch großzügig: Anlässlich
bild von Lakshmi zeigen, ihres Geburtstags am 13. Dezember
ganz traditionell als vier- überreichte die mehrfache Grammy-
armige, hübsche Frau. In Preisträgerin dem Nashville Symphonie-
der jüngeren Vergangenheit orchester einen Scheck in Höhe von
kam es aber immer wieder 100 000 Dollar. Die Musiker ihrer Hei-
zu Beschwerden aus der matstadt haben den Zuschuss bitter
Bevölkerung: Weil das nötig: Im Juni stand die Konzerthalle
Papier der Knaller nach Ge- in Nashville aus finanziellen Gründen
brauch auf der Straße her- kurz vor der Schließung, im August
umliegt, gerät die zerfetzte willigten die Musiker ein, für ein
Göttinnen-Darstellung Jahr auf 15 Prozent ihres bisherigen
unter die Füße der Feiern- Gehalts zu verzichten.
132 D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4
Oliver Bierhoff, 45, DFB-Manager,
kümmert sich im Jahr der Fußball-
WM auch um die Teamfähigkeit ober-
bayerischer Landfrauen. Mitte Januar
wird Bierhoff in Aufkirchen am Starn-
berger See zu Bäuerinnen aus der
Region sprechen. Thema seines Vor-
trags: „Gemeinsam auf dem Weg –
motiviert und entschlossen“. Die Ver-
anstalter teilten mit, Bierhoff freue
sich auf den Gedankenaustausch mit
den Damen und spreche bei Bedarf
auch gern über Fußball.

John F. Kennedy, 1963 in Dallas er-


mordeter US-Präsident, wurde nach
seiner Wahl 1960 von der Bonner
Bundesregierung genauestens unter
die Lupe genommen. Wie aus Akten
des Bundesarchivs in Koblenz hervor-
geht, erhielt Bundeskanzler Konrad
Adenauer von Verteidigungsminister
Franz Josef Strauß eine „Charakter-
Skizze“ über den Amerikaner. Kenne-
dy rauche selten, hieß es da, hege
eine Abneigung gegen stärkere alko-
holhaltige Getränke und trinke lieber
„gelegentlich ein Glas Bier“. Der
mächtigste Mann der Welt habe zwar
kaum „Begabung für Fremdsprachen“
und „kein Interesse für Mathematik“,
sei aber ein unermüdlicher Arbeiter
aus „innerem Zwang“. Er habe in vier
Jahren nur einmal 14 Tage lang die
Arbeit ruhen lassen. Ferien empfinde
er als „Störung“. Was das „Familien-
leben“ des umtriebigen Kennedy
anging, kam der Bericht, den Kanzler
Adenauer zur Lektüre empfahl, aus
heutiger Sicht zu überraschenden Er-
kenntnissen: Der katholische Politiker
habe „keinerlei ,Affären‘“ und stehe
für eine „weitgehende, fast ausnahms-
los strikte Beachtung der religiösen
Vorschriften“.

Roland Jahn, 60, Bundesbeauftragter


MYRIAM ROEHRI / MADAME FIGARO / LAIF

für die Stasi-Unterlagen, muss den


Spott früherer Weggefährten ertragen.
Seine Behörde hat alle Außenstellen
informiert, dass dort „Wandzeitungen“
angebracht werden sollen, die über
die Arbeit des Bundesbeauftragten in-
formieren. Frühere Bürgerrechtler
stören sich schon seit längerem daran,
dass auf der Homepage der Jahn-
Behörde immer wieder über Jahns Jenseits von Hollywood und schön“. Darin spielt die Französin
Vita, dessen Interviews und Auftritte eine Schülerin aus gutem Hause, die
berichtet wird. Das grenze an Perso- Eigentlich wollte die Tochter eines Lkw- sich ohne wirtschaftliche Not prostitu-
nenkult, lästern sie. Seit die Direktive Fahrers und einer Buchhalterin aus der iert. Obwohl Ozon („Swimming Pool“)
zur Wandzeitungskampagne kursiert, Pariser Banlieue Anthropologin ihr „eine große Karriere“ zutraut, zieht
wird darüber gescherzt, ob demnächst oder Tierärztin werden. Inzwischen es Vacth nicht nach Hollywood. Die
auch wieder die aus DDR-Zeiten be- ist Marine Vacth, 22, eine international Schauspielerin überlässt ihre berufliche
kannten „Straßen der Besten“ einge- bekannte Schauspielerin: Das ehemalige Zukunft angeblich dem Zufall, glaubt
führt werden: Wandzeitungen und Yves-Saint-Laurent-Model schaffte aber fest an weitere „Herzensprojekte“.
Besten-Straßen waren Klassiker der den Durchbruch mit der Hauptrolle in Im Moment ist sie im sechsten Monat
SED-Propaganda. François Ozons letztem Film „Jung schwanger.
D E R S P I E G E L 1 / 2 0 1 4 133
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus den „Lübecker Nachrichten“: „Am Zitate


21. Dezember dauert es vom Sonnenunter-
gang bis zum Sonnenaufgang in Lübeck Die „Washington Post“ zur SPIEGEL-
exakt sieben Stunden und 28 Minuten.“ Berichterstattung über die Lauschangriffe
des amerikanischen Geheimdienstes NSA:

Das deutsche Nachrichten-Magazin DER


SPIEGEL hatte im Oktober berichtet,
dass die NSA über eine Anlage auf dem
Dach der US-Botschaft in Berlin Merkels
Handy-Gespräche abhören könne. Das
Magazin schrieb außerdem, dass die
Aus der „Südostschweiz“ NSA weltweit von 80 US-Botschaften
und anderen Regierungseinrichtungen
aus ähnlich verfahre. Diese Enthüllun-
Aus einem Interview mit ARD-Reporter gen – und vor allem Berichte über das
Klaus Scherer in der Sonntagsbeilage Belauschen der Telefonate befreundeter
„So“: „Wenn ich neben Piloten sitze, die Regierungen – bereiteten der Obama-
keine gebügelten Hemden tragen, und Administration ernsthafte diplomatische
unten diese unendliche Weite sehe, dieses Probleme.
Unverdorbene, zum Teil auch Unberühr-
te – das fasziniert mich.“ Die „tageszeitung“ zum SPIEGEL-Bericht
„Getrennt gegen Putin“ über die Olympia-
Absage von Bundespräsident Joachim
Gauck (Nr. 51/2013):

Die nun schon eine Woche währende Auf-


regung um Gaucks Termingestaltung stei-
gert sich immer mehr. Nachdem sich zu-
Aus der „Süddeutschen Zeitung“ nächst nur Hinterbänkler der CDU und
SPD kritisch zu Gaucks Vorhaben geäu-
ßert haben, soll nach neuesten Meldun-
Aus der „Nürnberger Zeitung“: „6500 gen des SPIEGEL auch Bundeskanzlerin
Witwer wurden am Zensus-Stichtag in Angela Merkel ihre Verärgerung darüber
Nürnberg erfasst – und fast fünfmal so zum Ausdruck gebracht haben, dass sie
viele Witwerinnen.“ in die Pläne des Bundespräsidenten nicht
eingeweiht worden sei und Gauck zudem
nichts gegen die politische Interpretation
Aus einer dpa-Meldung: „Damals war der seines Fernbleibens unternehme. Es ist
Zugführer durch einen Schlag mit einer in der Tat eine absurde Dynamik entstan-
Eisenstange schwer verletzt worden, er den. Gaucks Nichtreise wird unentwegt
starb sieben Jahre später an Blutkrebs politisch gewertet – als Protest gegen die
und konnte nie wieder arbeiten.“ Menschenrechtslage und homophobe Ge-
setzeswerke in Russland –, ohne dass die-
ser seine Entscheidung jemals mit einer
Aus der „Mittelbayerischen Zeitung“: politischen Wertung verknüpft hätte.
„Aber der Bezirk Oberpfalz lässt seine
Karpfen, die Schleien, die Hechte und die Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIE-
Störe nicht absaufen.“ GEL-Bericht „Unkenntnis und Ignoranz“
(Nr. 49/2010) über die Nazi-Vergangenheit
des Auswärtigen Amtes:

„Das Auswärtige Amt war eine verbre-


Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“ cherische Organisation“ – mit dieser me-
dienwirksamen Formel legte eine Histo-
rikerkommission, die unter Joseph Fi-
Aus der „Sächsischen Zeitung“: „Das zu- scher eingesetzt worden war, im Jahr 2010
rückliegende Jahr könnte man ganz gut ihr Ergebnis über deutsche Diplomaten
unter einem Motto zusammenfassen: Die im „Dritten Reich“ vor … Es waren zu-
Lage ist gut, aber nicht hoffnungslos.“ nächst außeruniversitäre Historiker des
SPIEGEL und der „FAZ“ sowie Daniel
Koerfer (in einem Interview in der
Aus der TV-Zeitschrift „Gong“: „Der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszei-
Schornsteinfeger Thomas Thiele (Chris- tung“), die Skepsis gegenüber dem Be-
tian Holdt), der als Gutachter hinzugezo- richt der Kommission äußerten. Schließ-
gen wurde, vermutet, dass das Paar an lich gelangte auch die institutionelle
einer Kohlenmonoxid-Vergiftung durch Fachwissenschaft zu einem zunehmend
einen fehlerhaft eingebauten Ofen starb. kritischen Urteil … „Das Amt“ fiel als
Auch dieser wird ermordet.“ wissenschaftlich nicht ausreichend durch.
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