Sie sind auf Seite 1von 156

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Bhopal, SPIEGEL-Chronik

A m Mittwoch dieser Woche soll das Dämmen von Häusern in Deutschland


endgültig zur nationalen Aufgabe werden. Mit dem „Aktionsprogramm
Klimaschutz 2020“, mit weiteren Fördermitteln und neuen steuerlichen Anreizen
will das Kabinett sicherstellen, dass die Energiewende gelingt. Es ist ein sehr
ambitioniertes Projekt, zudem ein sehr lukratives, vor allem für Teile der Wirtschaft;
aber es darf bezweifelt werden, dass es auch sinnvoll ist. Ein Team von Redak-
teuren reiste durch die Republik, traf Mieter und Vermieter, die sich über „den
Dämmwahn“ beschwerten, Architekten, die vor den Folgen luftdicht verpackter
Häuser warnten, und recherchierte, wie Industrie und Lobbyverbände die Gefah-
ren der Dämmstoffe verharmlosen. Eine Gesprächspartnerin war Umwelt- und
Bauministerin Barbara Hendricks. Sie hat ihr Haus in Kleve sanieren lassen. Dach
und Heizung ließ sie erneuern, auf die Dämmung verzichtete sie. Seite 62

V
or 30 Jahren, in der Nacht vom
2. auf den 3. Dezember 1984,
strömte hochgiftiges Gas aus einer
Pestizidfabrik im indischen Bhopal,
Tausende Menschen starben, 200 000
erkrankten. Bis heute steht Bhopal
für das schlimmste Chemieunglück
aller Zeiten, und noch immer fordert
es neue Opfer. Redakteurin Simone
Salden und SPIEGEL-Mitarbeiterin
Salden, Backhaus in Bhopal
Anne Backhaus besuchten die Geis-
terfabrik, sie trafen Familien, die sich
vor der Geburt des nächsten Kindes fürchten, sprachen mit Hebammen, die von
schrecklichen Missbildungen berichteten. „Man hat das Gefühl, als wäre das
Unglück erst gestern geschehen“, so Salden. Ergänzt wird die Reportage durch
mehrere Videos, sie sind in der iPad-Ausgabe zu sehen; unter anderem erzählt
der Magnum-Fotograf Raghu Rai, wie er einst das Desaster mit der Kamera
festhielt. Zum 30. Jahrestag des Unglücks ist am Dienstag auf SPIEGEL ONLINE
außerdem ein Multimedia-Spezial zu finden, das den Ablauf der Katastrophe
und ihre Folgen in Bildern und Videos zeigt. Seite 82

W as ist geschehen 2014, was bleibt in Erinnerung? Wie jedes Jahr im


Dezember blicken Redakteure in der SPIEGEL-Chronik zurück auf die
vergangenen zwölf Monate, analysieren die großen Ereignisse, erfreuliche und
beängstigende. Zur ersten Kategorie gehört zweifellos die Fußballweltmeister-
schaft. Reporter Alexander Osang beobachtete die deutsche Mannschaft
während des Turniers und erzählt nun, warum die Spieler in entscheidenden
Momenten alles richtig machten. Zur zweiten Kategorie zählen der neue
kalte Krieg in Europa und die Triumphe der
Terroristen des „Islamischen Staats“. Warum sie
so schnell zu einem Machtfaktor im Nahen Osten
wurden, beschreiben unsere Korrespondenten aus-
führlich. Außerdem blickt Autor Dirk Kurbjuweit auf
Angela Merkels Strategien zur Krisenbewältigung,
und in der Rubrik „Helden des Alltags“ werden
Frauen wie die junge Friedensnobelpreisträgerin
FOTO: RAJU / DER SPIEGEL

Malala Yousafzai porträtiert. Die Chronik erscheint


an diesem Donnerstag; auf vielfachen Wunsch wird
sie den Abonnenten des SPIEGEL zugestellt, und
natürlich ist sie wie immer auch im freien Verkauf
erhältlich.

DER SPIEGEL 49 / 2014 5


Die Verzweiflung
der Schwarzen

FOTOS S. 6: STEPHEN LAM / REUTERS (O.); B. VON JUTRCZENKA / DPA (M.L.); BARBARA KLEMM / FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (M.R.); GETTY IMAGES (U.L.); S.7: GLADIEU/LE FIGARO MAGAZINE/LAIF (O.); MARTIN MAI / DER SPIEGEL (M.); DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL (U.)
USA Nach den tödlichen Schüs-
sen weißer Polizisten auf
schwarze Jugendliche in Fergu-
son und Cleveland ist Amerika
in Aufruhr. Die tragischen
Ereignisse zeigen, wie tief die
Spaltung der Gesellschaft in
Schwarz und Weiß noch immer
ist. Auch Präsident Barack
Obama hat daran kaum etwas
verändern können. Seite 90

Weibliche
Solidarität
Koalition Der Macho-Spruch
von Unionsfraktionschef
Volker Kauder gegen
die Familienministerin wird
zum Eigentor. Sogar der
Kanzlerin ist er so peinlich,
dass sie sich bei Manuela
Schwesig entschuldigt. Denn
Angela Merkel will die
Frauenpolitik nicht der SPD
überlassen. Seite 28

Kampf gegen
die Viren
Medizin Ebola, Chikungunya,
Dengue-Fieber: Der britische
Wissenschaftler Jeremy Farrar
erklärt im SPIEGEL-Gespräch,
vor welchen Erregern sich
Der Kanzler, die Nazis und die Frauen
die Menschheit am meisten Zeitgeschichte Das Leben des früheren Bundeskanzlers Helmut
fürchten muss – und wie diese Schmidt wird neu bewertet. Eine Biografie beleuchtet seine Rolle
besiegt werden können. zur NS-Zeit, er sei zeitweise „von Nazi-Ideologie kontaminiert
„Wir sollten die Infektionskrank- gewesen“. Journalist Klaus Harpprecht berichtet von Schmidts ge-
heiten nie unterschätzen“, heimem Liebesleben und sagt im SPIEGEL-Gespräch: „Er hat
warnt Farrar. Seite 108 seine Freundin abgelegt, als er Kanzler wurde.“ Seiten 48, 136

6 Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Fotos Vario Press, dpa


In diesem Heft

Titel 80 Lufthansa Vorstandschef Spohr baut den


Konzern radikal um
62 Immobilien Die von der Regierung
propagierte Wärmedämmung ist 82 Umweltskandale 30 Jahre nach der
unwirtschaftlich und umweltschädlich Chemiekatastrophe von Bhopal leidet
eine neue Generation von Opfern
Deutschland
Ausland
14 Leitartikel Frau und Mann im Machtkampf
88 Der thailändische Student Wasan Setsit
16 Teure „Eurofighter“-Abbestellungen /
über seine Festnahme nach einer Protest-
Neue Hürden im Bahn-Regionalverkehr /
aktion / Britische Armee sucht Rekruten
Oettinger warnt Frankreich /
Kolumne: Der schwarze Kanal 90 USA Die Enttäuschung der Afroamerikaner
über Präsident Obama
20 Innere Sicherheit Strafanzeige gegen
unbekannt – die Suche nach undichten 98 Essay Wladimir Putins Erfolg
Stellen im Parlament versprechende Strategie, die Anti-
Russland-Front aufzubrechen
23 Geheimdienste Schon 2005 wusste der BND
100 Sklaverei Wie ein Zwangsarbeiter aus einer Woody Allen,
von US-Spionage gegen Deutschland
pakistanischen Ziegelbrennerei freikam Regisseur, erzählt bei einem
24 Rüstung Piloten der Bundeswehr sind
alarmiert über Sicherheitsmängel beim 104 Global Village Die Bewohner eines Treffen in Paris, warum sein
Militärhubschrauber NH 90 griechischen Urlaubsorts wehren sich gegen
einen kanadischen Bergbaukonzern neuer Film „Magic in the
25 Parteien Der aussichtslose Kampf von Moonlight“ in die Welt der
SPD-Chef Gabriel um eine linke Mehrheit Zauberei führt. Er hasse das
27 Kommentar Die Linke und Wissenschaft
ihre Machtperspektive in Thüringen 106 Steinzeithunde durften kein Mammut- normale Leben, „eine trauri-
28 Koalition Wie die Union ihren Ruf als fleisch fressen / Zu wenig Schmerzmittel ge, eine tragische Geschichte,
Partei der gesellschaftlichen nach einem Kaiserschnitt die Realität“. Seite 132
Modernisierung aufs Spiel setzt 108 Medizin SPIEGEL-Gespräch mit dem briti-
29 Frauenquote Interview mit Headhunterin schen Tropenarzt Jeremy Farrar über neue
Christina Virzí über die Seuchen – und wie sie zu besiegen sind
schwierige Suche nach guten Frauen 112 Klima Führt die Erderwärmung zu einer Aus-
30 Verteidigung Der Nato fehlt das Geld, um breitung von Quallen und Tintenfischen?
ihre Pläne für Osteuropa zu verwirklichen 114 Geschichte Die Erben des Dschingis Khan –
32 Ausländer Wie der Bund die Zahl der der sagenhafte Aufstieg des Mogulreichs
Abschiebungen erhöhen will 116 Psychologie Warum manche Cybermob-
36 Baden-Württemberg Neue Gräben in der bing-Opfer die Attacken selbst inszenieren
CDU?
38 Generationen Bundesfinanzminister Sport
Wolfgang Schäuble und Gesundheitsexperte 119 Golfer Florian Fritsch über seine Flug-
Jens Spahn, beide CDU, streiten im angst / Der älteste Fußballprofi der Welt
SPIEGEL-Gespräch über Generationenge- 120 Fifa Aufstand gegen Sepp Blatter
rechtigkeit und die Zukunft der Union 123 Fußball Der bizarre Transferstreit um
40 Justiz Das Bundesverfassungsgericht ent- Nationalspieler Marco Reus Olga Tokarczuk,
scheidet, ob Richter zu wenig verdienen
42 FDP Fraktionsgelder in der Parteikasse? beliebte polnische Autorin, ist
46 Strafjustiz Gerhard Strates Buch zum Fall
Kultur Unterzeichnerin eines offe-
Mollath 124 Rapper Haftbefehl über den Tod der nen Briefs an die Europäer.
48 Zeitgeschichte Eine neue Biografie Tuğçe Albayrak in Offenbach / Das alters-
schwache Album der Band AC/DC / Darin fordern polnische Intel-
hält Exkanzler Helmut Schmidt Nähe lektuelle, sich Russlands
zum NS-Regime vor Kolumne: Zur Lage der Welt
126 Literaten Eine Reise zu polnischen Auto- Präsident Wladimir Putin stär-
Gesellschaft ren, die wegen der Ukraine-Krise um ihr ker zu widersetzen. Seite 126
eigenes Land fürchten
50 Sechserpack: Die Aura der U-Bahnen / 132 Regisseure Begegnung mit dem grandiosen
Bio für Haustiere Realitätsverweigerer Woody Allen
51 Eine Meldung und ihre Geschichte 136 Zeitgeschichte SPIEGEL-Gespräch mit
Ein Flüchtling aus Uganda dem Politikchronisten Klaus Harpprecht
und seine Wahl zum Mr. Tutzing über die Macht- und Liebesaffären der
52 Landwirtschaft Warum ein Milchbauer alten Bundesrepublik
seine Kühe verkauft 140 Pop Ein opulenter Bildband zeigt den
56 Terror Der Hamburger Psychiater Andreas Aufstieg der Rolling Stones
Krüger über das Entstehen der 142 Literaturkritik Botho Strauß veröffentlicht
Gewaltbereitschaft deutscher IS-Kämpfer sein privatestes Buch
58 Ortstermin Im Europa-Park Rust treffen
sich Chaplin und Mandela Medien
145 „heute show“ kommt täglich – im
Wirtschaft Netz / Odenwaldschule-Film darf nicht
60 Bahn kämpft gegen Verspätungen / mehr ausgestrahlt werden Hanif Masih,
Ex-IG-Metall-Chef Huber plant Abgang 146 Fernsehshows Entertainer Joko und Klaas
bei Siemens / CDU-Politiker sperren sich setzen auf den Sadismus der Zuschauer ehemaliger Leibeigener in
gegen Steuerentlastung einer pakistanischen Ziegel-
72 Industriepolitik SPIEGEL-Gespräch mit 10 Briefe brennerei, genießt nach
Minister Sigmar Gabriel über Kohle, seiner Befreiung durch eine
135 Bestseller
Fracking und die Angst der Deutschen
76 Energie Der Ökopionier Lichtblick 150 Impressum, Leserservice Hilfsorganisation besonders
Wegweiser für
hat ein Modell für die Stromversorgung 151 Nachrufe Informanten:
das Ausschlafen. Fast 36 Mil-
der Zukunft entwickelt 152 Personalien www.spiegel.de/ lionen Menschen weltweit
79 Euro Griechenland braucht wieder Geld 154 Hohlspiegel / Rückspiegel briefkasten leben als Sklaven. Seite 100

Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 49 / 2014 7
Briefe

„Ihr Hintergrundbericht ist spannender als jeder Krimi –


politische Aufklärung und Geschichtsdarstellung aus der Sicht
der Akteure par excellence.“
Torsten Thiele, Bietigheim (Bad.-Württ.)

Decke über Deutschland Ihr Cover suggeriert, die Kanzlerin sei


eine „kalte Kriegerin“; dies grenzt an Ge-
schen Empfindlichkeiten missachtete; nicht
zuletzt die unrühmliche Rolle Merkels in
Nr. 48/2014 Kalte Krieger – Geschichte schichtsklitterei. Nicht sie ist eine „kalte Vilnius! Das genau ist Merkels Politik: De-
einer Machtprobe: Wie Merkel und Putin Europa
Kriegerin“, sondern Putin ist durch den cke über Deutschland und warm halten.
an den Rand des Abgrunds brachten
Bruch des internationalen Rechts einer. Hartwig Deitermann, Lahr (Bad.-Württ.)
Ausgerechnet die immer gesprächsbereite, Wolfgang Rinnebach, Hannover
alle diplomatischen Kanäle offen haltende
Bundeskanzlerin auf eine Verhaltensstufe Eine Frau ohne Perspektive, ohne Ver-
Mutig und klug
mit dem verlogenen heißen / kalten Krieger ständnis für die Geschichte – Angela Mer- Nr. 47/2014 Bodo Ramelow, der Linken-Kandidat für
das Amt des Ministerpräsidenten, über sein Verhältnis
Putin zu stellen ist ungeheuerlich. Schämt kel. Sie und Westerwelle passten perfekt
zur DDR
euch! zusammen: Wegducken, wenn’s blitzt, still-
Günter Krug, Berlin halten, es wird schon. Sie hätte besser vor Da will einer mit markigen Sprüchen ganz
Vilnius „intensiver“ mit Putin reden sollen. locker und unverkrampft rüberkommen.
Auf drei SPIEGEL-Titel dieses Jahres zum Da kann Steinmeier nur scheitern, trotz Das geht spätestens am Ende leider schief,
Ukraine-Konflikt, in denen die Akteure geradliniger Kommunikationsstrategie. als Ramelow sein krudes Geschichtsver-
bemerkenswert schlicht in Gute und Böse Hanns Kern, Würzburg ständnis entlarvt („Wir wollen ja keine Ein-
eingeteilt werden – der Tiefpunkt in Num- heitspartei gründen. Das ist schon einmal
mer 31 „Stoppt Putin jetzt!“ –, folgt end- Die Tatsache, dass Putin unsympathischer schiefgegangen“). Wer bei der Zwangsver-
lich eine differenzierte, sachliche Behand- wirkt, macht ihn nicht gefährlicher als einigung von KPD und SPD von einer Par-
lung der Krise mit Einbezug der zum Ver- einen sympathischen Obama oder Stol- teigründung schwafelt, hat nix verstanden.
ständnis unverzichtbaren Vorgeschichte. tenberg, die eigentlich nur ihre Einfluss- Auch die Relativierung des SED-Unrechts
Statt aufdringlicher, einseitiger Meinungs- sphären mit aller Kraft erweitern wollen mit Hinweis auf Frau Merkel und andere,
vorgabe eine genau recherchierte, aufklä- und eher die Interessen des Kapitals als die sich angepasst haben, ist, um die Spra-
rende Darstellung von Interessenlagen und die der Demokratie vertreten! che des Herrn Ramelow zu benutzen,
Fakten. Das ist SPIEGEL-Niveau! Vasco Esteves, Berlin schlicht zum Kotzen.
Heinz Birner, München Alexander Hübner, Dresden
Frau Merkel hat in dem bislang nie unter-
Beide, die Kanzlerin wie auch der rus- brochenen Dialog mit Herrn Putin viel Ge- Es ist immer weniger verständlich, warum
sische Präsident, stehen für ein politisches duld bewiesen – wenn sie immer wieder sich halb Deutschland darüber mokiert,
Gestern, das längst als überwunden galt. gegen eine Betonmauer rennt, darf wohl dass dieser Mann der erste Ministerprä-
Dr. Marko Michels, Schwerin auch sie an einem bestimmten Punkt ver- sident der Linkspartei werden könnte.
ärgert, frustriert und enttäuscht sein. Ramelow scheint doch eine grundehrliche
Allein die verbale und visuelle Gleichset- Wilfried Kunz, Marienberg (Sachsen) Haut zu sein, hat mit den Verbrechen des
zung Merkel (Ukraine) und Putin (Neu- SED-Regimes nicht das Geringste zu tun.
russland) als „kalte Krieger“ ist höchst un- Die Titelgeschichte und auch das -bild sind Da hat unsere Republik schon ganz andere
angemessen und problematisch. Sie igno- insofern eine journalistische, politische „Landesväter“ – Stichwort: Filbinger – ge-
riert die Tatsache, dass Putin ein „heißer“ und moralische Glanzleistung, als der SPIE- habt.
Krieger ist, der einen Krieg und ethnischen GEL sich damit selbst korrigiert, und zwar Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)
Konflikt im Osten der Ukraine mit Tau- nach gründlicher, sauberer Aufarbeitung
senden Opfern zur Besatzung eines Teils der bisher wenig bekannten Vorgeschichte. Ein tolles Interview, mutig und klug durch
eines bisher friedlichen Landes führte. Erhard Eppler, Schwäbisch Hall, Bundesminister a. D. Bodo Ramelow, und ein toller Essay – klug
Tobias Weihmann, Berlin und mutig durch Stefan Berg. So viel Herz
„Gipfel des Scheiterns“ – eine hervor- und Hirn auf drei Seiten. Da macht Ver-
Es muss jeden überzeugten Europäer zwi- ragende Analyse der Entwicklung des gangenheitsaufarbeitung richtig Spaß.
schen Lissabon, Murmansk und Perm an- Konflikts um die Ukraine. Der deutschen Jo Konrad, Großerlach-Morbach (Bad.-Württ.)
widern, wenn zwei mittelmäßige Politiker, Kanzlerin, folgsame Verbündete des ame-
atavistisch nachkriegsgeprägt, ihren Macht- rikanischen Präsidenten, stünde es gut an, Ich glaube Ramelow nicht ein einziges
fantasien freien Lauf lassen dürfen und da- anstelle verbaler Kraftmeierei gegen Russ- Wort seiner hohlen Lippenbekenntnisse.
durch die europäische Idee gefährden. land die Amerikaner über Mentalität und Eine Unverschämtheit ist seine Darstel-
Reinhard Metzger-Haitz, Rottenburg (Bad.-Württ.) Befindlichkeiten der Russen aufzuklären – lung, die mehrfach umbenannte SED habe
und Obama in seiner Arroganz und Herab- die DDR-Aufarbeitung „zeitweise schlei-
Eine hervorragende Recherche der Vorge- lassung gegenüber Putin zu bremsen. fen lassen“. Die Beschönigung und Ver-
schichte der Krise. Bleibt nur die Frage, Wolf Wehran, Algaida (Spanien) harmlosung der Zustände in der DDR ist
wo Sie jene Redakteure Ihres Blattes ver- doch die Lebensgrundlage dieser Partei,
steckt haben, die in den letzten Monaten Welch fantastischer Essay über das westli- deren Mitgliederstamm ganz überwiegend
so eindrücklich über Moskau als einzig- che Versagen der jüngsten Ukraine-Politik! noch aus jenen besteht, die keine Skrupel
artigen Ort des Bösen berichtet haben, Das pseudohumanitäre Gedusel um die hatten, politisch Andersdenkende als feind-
während Nato und EU doch altruistisch Freilassung Tymoschenkos, einer umstrit- lich-negative Elemente von der Stasi zer-
für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. tenen Oligarchin; das Versagen Brüssels in setzen zu lassen.
Dr. Klaus Schuberth, Nürnberg Person des Tschechen Füle, der die russi- Thomas Hasseier, Berlin

10 DER SPIEGEL 49 / 2014


Briefe

Wie der FC Bayern Debatte der Extreme


Nr. 47/2014 Vorabdruck aus einer Biografie über Nr. 47/2014 Warum die Bundesregierung von ihren
die Toten Hosen Klimaschutzzielen abrückt
Werter Herr Campino, wenn Sie verhin- Eigentlich muss man mit Kohle nur den
dern wollen, dass der Plebs Ihre Songs mit- Bedarf decken, der übrig bleibt, wenn alle
grölt, dann müssen Sie anspruchsvollere besseren Optionen ausgereizt sind. Statt-
Lieder schreiben. Haben Sie jemals Bob- dessen ist man schon längst dabei, Kohle-
Dylan-Songs in Fußballstadien gehört? kraftwerke zum Ersatz für die abgeschal-
Mia Herber, Wadgassen (Saarland) teten Atomkraftwerke zu machen. Und
zwar nur aus einem einzigen Grund: weil
Wie Campino 1987 noch Publikum und die großen Energiekonzerne damit kurz-
Ordner anpöbelte, Songs wie „Liebesspie- fristig sehr viel Geld verdienen können.
ler“ grölte – das war Punk. 1990 sah ich Und auch das geht nur, weil CO²-Zertifi-
sie das erste Mal live in der Siegerland- kate fast verschenkt werden und die Koh-
halle. Ein großartiges Konzert. Und es war lekraft mit Riesensummen gestützt wird.
klar, wo sie politisch standen. Das letzte Jens Büscher, Bad Arolsen (Hessen)
Aufblitzen einer Provokation war sicher-
lich das Anti-Bayern-Lied. Heute braucht Sie haben es deutlich ausgesprochen: Die
Campino nicht mehr zu den Bayern zu ge- Parteien richten ihre Meinung zur Energie
hen. Die Toten Hosen sind der FC Bayern. nach den potenziellen Wählerstimmen.
Die Schnittmenge der Böhse-Onkelz-Tote- Damit gerät die Diskussion immer wieder
Hosen-Kapuzenpulliträger wuchs stetig. in eine Debatte der Extreme. Genauso wie
Jetzt singen auch sie Campinos Lieder. Gabriel nicht an einer weiteren Nutzung
Doch damit war das bittere Ende noch lan- der Kohleverstromung vorbeikommt, wer-
ge nicht erreicht. „Tage wie diese“ lieferte den auch China und Indien weiter steigend
im letzten Jahr nicht nur den Soundtrack Steinkohle verstromen.
für jeden Abi-Ball, jedes Schützenfest und Dr.-Ing. Frank Leschhorn, Brisbane (Australien)
jede CDU-Wahlparty, sondern auch für
jedes Public Viewing und jede Fanmeile.
Sie waren klanglich und geistig überall Die gehen ran wie Blücher
dort, wo unendliche Freude und/oder pa-
triotische Bierseligkeit unter Trikot- oder Nr. 47/2014 Kolumne: Mein Leben als Frau
Polohemdenträgern herrschte – Deutsch- „Hallo Schöne“, „Wie geht’s“, das nennen
landfahnenschwenken inklusive. Sie sexistisch? Das sind normale Sätze, die
Michael Plügge, Wilnsdorf (NRW) ein Mann einer Frau sagt, um ins Gespräch
zu kommen. Oder was sollten wir Ihrer
Es ist schon lange nicht mehr hip, aus Prin- Meinung nach tun? Vor ihnen kraulen?
zip gegen Deutschland zu sein. Das hat Laurent Astel-Graaf, München
der „liebe Herr Campino“ noch nicht
bemerkt. Wenn der Zeitgeist einen derart Wir sollten endlich damit aufhören, sexis-
überholt, wird man wohl allmählich alt. tische Übergriffe einfach „wegzulächeln“.
Rainer Trendelberend, Düsseldorf Das öffnet den Tätern Tür und Tor, da sie
sich bestätigt und sicher fühlen.
Christiane Scharnweber, Düsseldorf

Welch ein Menschenbild Ihre Frage „Lächerlich, oder?“ muss ich


Nr. 47/2014 Bei edlen Daunenjacken ist die Herkunft leider mit Ja beantworten.
der Füllung oft zweifelhaft
Adrian Wotka, Hannover
Die Verbraucher können es wissen, müssen
es wissen, wie rüde den Gänsen in Ungarn Beobachtet man Mädels in Klubs, sieht
und Polen und vermutlich auch anderswo man, dass sie sich nicht mit „Hallo Schö-
ihr Federkleid entrissen wird, das haben ner“ begnügen, sie schrecken vor nichts
schon TV-Dokumentationen gezeigt. Wie zurück, die gehen ran wie Blücher, wenn
behindert im Denken und (Mit-)Fühlen sie sich einen Knaben ausgeguckt haben.
müssen Zeitgenossen sein, die den Bro- Sexuelle Belästigung geht heute genauso
schüren der Modebranche glauben? Welch von Frauen aus. Nur mit dem Unterschied,
ein Menschenbild steht hinter den Schre- dass sich keiner darüber aufregt.
ckensmeldungen aus den Folterkammern Dr. Ulrike Beyer, Villenbach (Bayern)
des Umgangs mit unseren „Nutztieren“?
Bärbel Starkloff, Bad Harzburg Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-
kürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen:
Das Bild der bei lebendigem Leibe gerupf- leserbriefe@spiegel.de
ten Gans und die Schreie kriege ich nicht
mehr aus dem Kopf. Können Verbraucher In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe
und Tierschützer etwas tun? befindet sich im Mittelbund ein 16-seitiger
Norbert Hartmann, Lübeck Beihefter der Firma Kibek, Elmshorn.

12 DER SPIEGEL 49 / 2014


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Frau gegen Mann


Die Einführung der Quote ist ein magerer Kompromiss, aber der kann das Bewusstsein verändern.

W
ir befinden uns im Jahr 2014. Deutschland wird im te ja auch erfolgreichen Frauen schaden, weil es leichtfällt,
neunten Jahr von einer Frau regiert. Für die Lan- sie als Quotenfrauen zu denunzieren.
desverteidigung ist eine Ministerin zuständig. In der Die Eroberung der Arbeitswelt durch Frauen ist eine der
Regierung liegt der Anteil der Frauen bei fast 40 Prozent. größten sozialen Umwälzungen der vergangenen Jahrzehnte.
Frauen in Führungspositionen, so sollte man meinen, sind Sie hat das Verhältnis zwischen den Geschlechtern verändert,
längst eine Selbstverständlichkeit. und die Entwicklung ist noch lange nicht an ihrem Ende an-
Sind sie nicht. gelangt. Hier findet eine überfällige Machtverschiebung statt,
Seit Jahrzehnten wird in Deutschland über das Recht von die auf Kosten der Männer geht.
Frauen auf Beruf und Karriere diskutiert. Kaum jemand stellt Ohne Reibungen, ohne Aggressionen kann dieser Prozess
es noch grundsätzlich infrage. Wer mag, kann sich sogar auf nicht ablaufen. Die Auseinandersetzung findet in allen Lebens-
das Grundgesetz berufen, aber zwischen Recht und Realität, sphären statt: in der Politik und der Wirtschaft, am Arbeitsplatz,
zwischen Bekenntnis und Wirklichkeit klafft eine Lücke. im Freundeskreis und zu Hause in der Ehe oder Beziehung.
Der Anspruch von Frauen auf Führungspositionen versteht Das muss man nicht bedauern, denn so ist das nun einmal
sich in Deutschland bis heute nicht von selbst. Das hat in einem gesellschaftlichen Machtkampf. Es ist auch nicht
die Debatte um die Frauen- verwerflich, wenn Männer ihre
quote in der vergangenen Wo- Positionen verteidigen, und es
che wieder gezeigt. Sie wurde ist noch weniger verwerflich,
emotional und moralisch unge- wenn Frauen diese Positionen
mein aufgeladen geführt. Rhe- beanspruchen.
torisch kam sie nicht ohne Der Schlagabtausch hat aller-
billige Geschlechterklischees dings auch vorgeführt, wie frus-
aus. Eine verkrampfte Debatte triert und verunsichert Männer
mit unterschwelliger Aggressi- wie Frauen sind. Frauen, weil
vität. sie noch lange nicht da sind, wo
An ihrem Ende steht nun das sie hinwollen. Männer, weil sie
Quotengesetz (siehe Seite 28). sich schon jetzt bedroht fühlen.
Es ist ein kleiner Schritt, ein ma- Frauen müssen sich noch im-
gerer Kompromiss. Nur wenige mer jeden Schritt auf dem Weg
Frauen werden davon profitie- zur Gleichberechtigung erkämp-
ren. Es gibt so gut wie keine fen. Ihr Anspruch auf Karriere
Sanktionen für Unternehmen, ist keineswegs selbstverständlich.
die sich nicht an die selbst ge- Es wird auch nicht genügend da-
wählten Vorgaben halten. So et- für getan, dass sie ihren Führungs-
was nennt man Symbolpolitik. job mit der Familie vereinbaren
Aber manchmal sind Symbo- können. Und Männernetzwerke
le in der Politik nicht unwichtig. schließen Frauen häufig aus,
Sie können dabei helfen, die wenn es um den Aufstieg in einer
Wirklichkeit zu verändern, sie Firma oder einem Konzern geht.
können sogar das gesellschaftliche Bewusstsein beeinflussen. Zugleich geraten viele Männer in die Defensive. Der Auf-
Dazu trägt auch die Auseinandersetzung um die Quote bei. stieg der Frauen macht ihnen Angst, weil er für sie Konkur-
Frauen haben verstanden, dass sie anders auftreten und renz und Verlust bedeuten kann. Dass es jetzt langsam reicht
andere Ansprüche stellen müssen, wenn sie es nach oben mit der Emanzipation, meint nicht nur ein versprengtes
schaffen wollen. Autobauer haben gemerkt, dass sie Grüppchen Ewiggestriger. Dazu gesellen sich jüngere Männer,
Abteilungsleiterinnen brauchen, wenn sie Autos entwickeln die um ihre Karriere fürchten, wenn die Quote Frauen fördert.
wollen, die Frauen kaufen. Und sogar Medienhäuser sind Und wenn sie Karriere und Vaterschaft miteinander verbinden
dabei einzusehen, dass sie Frauen in der Führung brauchen, wollen, fehlt es ihnen an Rollenmodellen.
wenn sie Politik und Gesellschaft aus unterschiedlichen Frauen diskutieren seit Jahrzehnten, wer sie sein wollen
Perspektiven beschreiben wollen. Dass die Wirtschaft an- und wohin sie wollen. Männer wissen vor allem, was sie nicht
gesichts der schrumpfenden Bevölkerung auf weibliche sein sollen: arrogant, dominant, testosterongesteuert.
Arbeitskräfte angewiesen ist, hat sich auch schon herum- Auf der Suche nach neuen Rollen für Frauen und Männer
gesprochen. ist die Quote nur ein kleines Kapitel. Selbstverständlich wird
FOTO: HUGH KRETSCHMER

Wirklich trostlos an der Quote ist, dass es sie überhaupt die Gleichberechtigung erst werden, wenn auch Männer neue
geben muss. Dass es nicht möglich war, den Frauen Zugang Selbstbilder entwickeln. Darüber zu reden hilft übrigens.
zu Führungspositionen ohne Brechstange zu öffnen, ist für Island veranstaltet für die Uno eine Konferenz über Gleich-
Männer wie Frauen bedauerlich. Die Zwangsmaßnahme könn- berechtigung, zu der nur Männer eingeladen sind.

14 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wohnen
Ausverkauf von
Bundesimmobilien
Der Bund hat seit der Wie-
dervereinigung den Großteil
seines Wohnungsbestands an
Investoren verkauft. Das geht
aus der Antwort der Bundes-
regierung auf eine Anfrage
der Linksfraktion hervor. Seit
1994 hat der Bund demnach
knapp 353 000 Wohnungen
veräußert – übrig geblieben
sind nur noch etwa 46 000.
Das Bundesfinanzministe-
rium beziffert die Verkaufs-
erlöse in dem Schreiben auf
rund 7,8 Milliarden Euro.
Allerdings räumt es ein, dass
für Zehntausende verkaufte
Wohnungen der heutigen
Bundesanstalt für Immobi-
lienaufgaben keine Erlöszah- Eurofighter
len vorlägen; die Einnahmen
dürften also noch wesentlich Airbus fordert 500 Millionen Euro
höher liegen. Zu den größten
Geschäften gehörte der Ver- Auf das Wehrressort von Ursula von der werkhersteller MTU Anfang des Jahres
kauf von fast 64 000 Eisen- Leyen (CDU) kommen zusätzliche Kosten ähnlich verfahren war. Aufgrund der „an-
bahnerwohnungen an den Im- von mindestens einer halben Milliarde nähernd gleichen Sach- und Rechtslage“ im
mobilienkonzern Deutsche Euro zu. Laut internen Papieren aus dem Fall Airbus seien die Ansprüche wohl gül-
Annington zur Jahrtausend- Verteidigungsministerium forderte der Her- tig, heißt es in einer vertraulichen Vorlage
wende und von 83 000 Woh- steller Airbus in einem Brief vom 28. Au- für Rüstungsstaatssekretärin Katrin Suder.
nungen der Bundesversiche- gust zunächst 514,2 Millionen Euro als Aus- Die Kosten könnten sogar noch steigen, da
rungsanstalt für Angestellte gleichszahlung von der Bundeswehr. Hin- Airbus weitere Forderungen in Höhe von
an den Hedgefonds Fortress tergrund ist die Reduzierung der deutschen 220,7 Millionen Euro über die Nato-Agen-
im Jahr 2004. Für die stellver- Bestellung von „Eurofighter“-Kampfjets tur Netma geltend machen werde. Diese
tretende Fraktionschefin der von 180 auf 140 Modelle. Das hatte die würden am Ende auf Deutschland zukom-
Linken im Bundestag, Caren Bundesregierung 2011 beschlossen. Die Ju- men, heißt es in dem Papier. Nüchtern
Lay, steht fest: „Mit dieser risten im Verteidigungsministerium gehen wird konstatiert, dass die Bundeswehr ähn-
Privatisierungspolitik trägt davon aus, dass der Anspruch von Airbus liche Ausgleichszahlungen bereits in der
der Bund eine erhebliche gerechtfertigt ist, da man mit dem Trieb- Vergangenheit „zu akzeptieren“ hatte. mgb
Mitschuld an der aktuellen
Mietenexplosion.“ sve

Auszahlungs- Glücksspiel Markt verzockt (Grafik).


Sonstige quote: Darüber hinaus scheint aber
1,7 Milliarden verzockt der nicht regulierte Markt im
Staatliche Geldspiel- Über 70 Milliarden Euro ge- Internet kräftig zu wachsen.
49% Lotterien geräte ben Bürger in Deutschland 17 Milliarden setzten Spieler
6,8 29,1 85% jährlich für Glücksspiele aus. in Internetkasinos ein, min-
Das ergibt sich aus einer Un- destens dreimal so viel wie
tersuchung der Länder zur zwei Jahre zuvor. Hinzu kom-
Glücksspieleinsätze Bewertung des Glücksspiel- men Onlinepoker und Inter-
Kasinospiele/ in Deutschland, 2013 staatsvertrags, den diese 2011 netlotterien. Rund drei Mil-

48,1 Mrd.€
Glücksspiel- abgeschlossen haben. Ziel liarden gaben Tipper zudem
Einnahmen der
automaten Veranstalter der damaligen Vereinba- für Sportwetten aus. Eigent-
10,5 im staatlich (Bruttospielerträge) rung war es, das Glücks-
spiel in Deutschland neu
lich wollten die Länder diesen
Bereich mit Lizenzen regu-
regulierten Markt
9,4 zu regeln und den lieren. Doch die vorgesehene
Mrd.€ Schwarzmarkt zu bekämp- Vergabe von 20 Konzessio-
FOTO: GETTY IMAGES

fen. Dies scheint nur teil- nen an Wettanbieter scheiter-


95% weise gelungen. So wurden te bisher. Rechtsstreitigkeiten
2013 zwar etwa 48 Milliarden blockieren das Verfahren auf
Euro im staatlich regulierten unbestimmte Zeit. mif

16 DER SPIEGEL 49 / 2014


Deutschland
Europa schreibung für eine regionale Jan Fleischhauer Der Schwarze Kanal
Warnung an Paris
EU-Kommissar Günther Oet-
Schnellstrecke im DB-Sinne
zu verändern: Der etwaige
neue Betreiber solle „ver-
Der Papst hat recht
tinger hält Sanktionen gegen pflichtet“ werden, das „einge- Papst Franziskus hat in der ver-
Frankreich weiter für möglich, spielte Team“ der DB „zu gangenen Woche gesagt, Europa
obwohl diese in der vergange- übernehmen“. Der Verkehrs- sei krank, müde und pessimis-
nen Woche von EU-Kommis- verbund Rhein-Ruhr, für die tisch geworden. Man gewinne
sionspräsident Jean-Claude Ausschreibung verantwort- den Eindruck „der Alterung“
Juncker verhindert wurden. lich, lehnte die von Grube ge- wie bei einer „Großmutter“, die
„Sanktionen sind nur aufge- forderte Übernahmeverpflich- nicht mehr „fruchtbar und le-
schoben, nicht aufgehoben“, tung „wegen erheblicher bendig ist“. Das ist im Hinblick
sagt der CDU-Politiker. Die rechtlicher Bedenken“ ab. was auf unsere älteren Mitbürgerin-
EU-Kommission habe in ihrer nen ein gewagtes Sprachbild,
Stellungnahme deutliche Kri- aber wenn ich nach Deutschland
tik an den Haushaltsplänen CDU schaue, muss ich sagen: Der
Frankreichs geäußert. Oettin- Strafanzeige gegen Papst hat recht. Mir fielen bei
ger verlangte, dass die sozia- der Rede sofort Andrea Nahles
listische Regierung einen Mohring und ihre Rente mit 63 ein. Müde, krank, pessimistisch:
Sanierungsplan vorlegt: „Wir Dem Fraktionschef der CDU Das sind die Gründe, die die Arbeitsministerin dafür
brauchen belastbare Refor- im Thüringer Landtag, Mike nennt, warum sie Menschen, die 45 Jahre gearbeitet ha-
men auf dem Arbeitsmarkt.“ Mohring, wird vorgeworfen, ben, nicht zutraut, zwei, drei Jahre weiterzumachen.
Frankreich habe mit seinen die Mitgliederliste seines Kreis- Vielleicht ist auch nur Andrea Nahles müde und pessi-
hohen Defiziten schon zwei- verbands Weimarer Land ma- mistisch, aber das macht es nicht besser. Wie man jetzt
mal „die Latte gerissen“. nipuliert zu haben. Die Erfur- weiß, bewerben sich für die Nahles-Rente nicht Gerüst-
Wenn Paris bis Anfang März ter Staatsanwaltschaft prüft bauer und Eisenbieger, denen vor Erschöpfung die Zange
nicht einen grundlegenden derzeit eine anonyme Straf- aus der Hand fällt, sondern vor allem kerngesunde Fach-
Reformplan vorlege, müsse anzeige. „Seit mehr als zehn arbeiter, die noch locker ein paar Jahre im Job durch-
die EU-Kommission reagie- Jahren meldet dieser Kreisver- halten würden. Den Leuten kann man keinen wirklichen
ren. „Es ist auch eine Frage band gegenüber der Landes- Vorwurf machen: Wer sein Geld bekommt, egal ob er
der Glaubwürdigkeit“, meint partei erheblich überhöhte sich morgens aus dem Bett quält oder nicht, muss schon
Oettinger. pau Mitgliederzahlen“, heißt es ziemlich preußisch veranlagt sein, wenn er trotzdem zur
darin. Mohring führe „mindes- Arbeit geht. Dem einen oder anderen wird bald auf-
tens 119 Scheinmitglieder“, gehen, dass ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fällt,
Regionalverkehr darunter 19 Verstorbene. Die aber dann ist es zu spät.
Neue Hürden Die SPD ist stolz darauf, Arbeiterpartei zu sein. Bis
heute findet man in ihren Broschüren die Erinnerung an
Der Staatskonzern Deutsche die Zeit, in der sie für die Emanzipation des Industrie-
Bahn AG (DB) will offenbar proletariats stritt. Aber das ist Vergangenheit. Seit Länge-
neue Hürden für Wettbewer- rem schon kümmert sich die Partei eher darum, wie man
ber im regionalen Schienen- sich der Arbeit entzieht oder sie so gestaltet, dass sie nur
verkehr errichten. Künftig sol- ein Übergang zwischen Phasen der Freizeit ist. Im
FOTO: MARCO KNEISE / THUERINGER ALLGEM / WAZ FOTOPOOL; PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

len bereits in den Ausschrei- Arbeitsministerium werden laufend Verordnungen zur


bungen für Regionalstrecken Stressprävention ersonnen. Das Leitbild ist nicht mehr
die Standards der DB bei Ge- der fleißige Malocher, dem das Land seinen Aufstieg ver-
hältern und Sonderleistungen Mohring dankt, sondern die Alleinerziehende, der alles zu viel ist.
für Lokführer und Zugbeglei- Die Hinwendung der SPD zur postmaterialistischen
ter auch für die Mitbieter ver- Gesellschaft mag auch mit der Akademisierung ihrer Füh-
bindlich sein. Zudem müsste Namen wurden den Ermittlern rungsriege zusammenhängen. In der Parteispitze muss
das Unternehmen, das den in einer Tabelle geliefert, je- man lange suchen, bis man auf jemanden stößt, der eine
Zuschlag erhält, die DB-Be- weils mit Vermerk: „Austritt“, Fabrikhalle außerhalb von Werksbesuchen gesehen hat.
schäftigten übernehmen – zu „verzogen“ oder „verstorben“. Der letzte namhafte SPD-Politiker ohne Studium war
den gleichen Bedingungen, Mehr Mitglieder bedeuten für Franz Müntefering, von dem der Satz stammt: „Wer nicht
die der Staatskonzern gewähr- Kreisverbände mehr Delegier- arbeitet, soll auch nicht essen.“ So ein Satz trägt einem
te. Diese Praxis sei in ande- te auf Landesparteitagen und heute in der SPD ein Parteiausschlussverfahren ein.
ren europäischen Ländern höhere Finanzzuschüsse. Für Ein weiteres Problem, das der Papst angesprochen hat,
längst die Regel, sagt eine Mohring kommen die Vorwür- ist der zunehmende Egoismus in unserer Gesellschaft.
Bahn-Sprecherin. Noch im fe zu einem ungünstigen Zeit- Was die Facharbeiter zusätzlich bekommen, fehlt an-
Frühjahr war Bahn-Chef Rü- punkt, da er sich nach dem schließend bei den Jüngeren. Ich habe gelesen, dass die
diger Grube mit einem ähn- absehbaren Machtverlust der Regierung für ihre Rentengeschenke im kommenden Jahr
lichen Vorstoß in Nordrhein- CDU in Thüringen anschickt, 20-mal so viel ausgibt wie für ihre gesamte Kinder- und
Westfalen gescheitert. In den Parteivorsitz zu überneh- Jugendpolitik. Vielleicht sollte man sich in Zukunft
einem Schreiben hatte er an men. Mohring weist die Vor- wieder mehr am Heiligen Vater orientieren: Franziskus
Ministerpräsidentin Hannelo- würfe zurück. Er habe keinen war 76 Jahre alt, als er sein Amt antrat.
re Kraft (SPD) appelliert, sich Zugang zur Mitgliederkartei
dafür einzusetzen, die Aus- seines Verbands. ama An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und Jakob Augstein im Wechsel.

Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel DER SPIEGEL 49 / 2014 17
Deutschland

Bundesregierung
„Verfassungswidrig
und unwürdig“
Der Einsatz von Fachleuten
aus Wirtschaft und Wissen-
schaft in Bundesministerien
ist verfassungswidrig. Zu
diesem Befund kommt Bernd
Hartmann, Professor für
Öffentliches Recht an der
Universität Osnabrück, in
einem 80-seitigen Gutachten.
Seit Jahrzehnten ist die Aus- Straßenszene in Berlin
leihe von Experten aus Wirt-
schaft und Wissenschaft in
Ministerien und Bundes- Identität ein Deutscher müsse auch deutsche Vorfah-
ämtern gängige Praxis. Teil-
weise arbeiten sie über zwei Wer ist deutsch? ren haben. Gleichzeitig förderte die Unter-
suchung zahlreiche Ressentiments zutage –
Jahre in der Verwaltung. Sie Die Definition nationaler Identität hat sich speziell gegenüber Muslimen. So gaben
spinnen Netzwerke und grundlegend verändert. Zu diesem Schluss 37,8 Prozent an, dass nicht deutsch sein
schreiben an Gesetzen mit. kommt eine Studie des Berliner Instituts könne, wer ein Kopftuch trage. Die Studie
Für Hartmann ist die Kon- für empirische Integrations- und Migra- „Deutschland postmigrantisch“ gehört zu
taktpflege „kein Selbstzweck, tionsforschung. Demnach definiert die den bislang größten Erhebungen auf dem
sondern soll dem Unterneh- überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Gebiet der Integrations- und Migrationsfor-
men zu mehr Einfluss ver- das Deutsch-Sein nicht mehr ausschließlich schung in der Bundesrepublik. Rund zwei
helfen“. Aufgabe der öffent- über Abstammung, sondern über andere Jahre lang hatte ein Wissenschaftlerteam
lichen Verwaltung sei aber, Kriterien. An erster Stelle steht die deut- um die Berliner Forscherin Naika Foroutan
im Interesse der Allgemein- sche Sprache: 96,8 Prozent der Befragten an der Untersuchung gearbeitet; insgesamt
heit zu arbeiten. Resümee waren der Meinung, deutsch sei, wer wurden 8270 Personen jeweils 80 bis 100
des Wissenschaftlers: „Ver- deutsch sprechen könne. Am zweithäufigs- Fragen gestellt. Die ausführlichen Ergeb-
bände und Wirtschaftsunter- ten nannten 78,9 Prozent zusätzlich das nisse der Studie werden am Mittwoch in
nehmen partizipieren an der Vorhandensein eines deutschen Passes als der Berliner Humboldt-Universität vorge-
Verwaltung, um eigene In- Bedingung. Lediglich 37 Prozent meinten, stellt. srö
teressen gezielt durchzu-
setzen. Das ist verfassungs-
widrig und eines Rechtsstaa-
tes unwürdig.“ Wie aus einer Zeugen. Viele bekamen erst beziehungsweise modernisiert
SWR-Dokumentation hervor- einmal einen gehörigen Schre- worden sein. Unstimmigkei-
geht, waren zuletzt 42 ex- cken, als die Fahnder vor der ten über die Kostenübernah-
terne Mitarbeiter in sechs Tür standen. Dabei kann me seien der Grund für die
obersten Bundesbehörden ihnen allerdings in der Regel Verzögerung. Von rund 5700
tätig, darunter im Auswärti- nichts mehr passieren, da die Bahnhöfen und Haltestellen
gen Amt, im Entwicklungsmi- Verfahren rechtskräftig abge- sind derzeit 495 mit Über-
nisterium und im Forschungs- schlossen sind. Als Zeugen wachungskameras bestückt,
ministerium. kn aber müssen sie Auskunft ge- aufgezeichnet wird nur an
ben über die Rolle der Bank 141 Bahnhöfen. aul
bei der Steuerhinterziehung.
Steuerhinterzieher Dabei soll es um bis zu zehn,
Großaktion gegen meist Schweizer Institute Hochmoselbrücke
FOTOS: PABLO CASTAGNOLA /ANZENBERGER (O.); RALPH PETERS / IMAGO (U.)

gehen. Die kann die Beihilfe


Banken teuer zu stehen kommen: 300 höfe mit Videotechnik kommt Gefährlicher Abhang
Mit einer erfolgversprechen- Millionen Euro zahlte etwa nicht voran. Zwar hatte eine Die Standfestigkeit der in
den Strategie geht die Wup- die Schweizer Großbank UBS gemeinsame Arbeitsgruppe Bau befindlichen 158 Meter
pertaler Steuerfahndung ge- nach langen Verhandlungen. von Bahn und Bundespolizei hohen Straßenbrücke über
gen Banken vor, die bei Steu- Credit Suisse wurde 2012 we- zehn Verkehrsknoten Priori- das Moseltal bei Bernkastel-
erhinterziehungen Beihilfe gen Beihilfe zu 149 Millionen tät eingeräumt, doch bislang Kues betreffend, sind weitere
geleistet haben. Zunächst Euro verurteilt. bas ist nichts geschehen. Selbst in massive Zweifel aufgetaucht.
wurden Selbstanzeigen der Hamburg, Berlin-Ostkreuz Die riesigen Brückenpfeiler
vergangenen Jahre ausgewer- und Mannheim herrscht Still- seien auf dem „instabilen
tet und den jeweiligen Ban- Überwachung stand. Dort sollten die Bahn- Hang“ am Moselufer bei Ür-
ken zugeordnet. Steuerfahn- höfe als Erste bereits bis zig nicht ausreichend gesi-
der aus NRW schwärmten Blinde Bahnhöfe Februar 2014 zum Schutz vor chert, warnt der renommierte
dann im ganzen Bundesgebiet Die von der Bundesregierung Terroranschlägen und zur Aachener Ingenieurgeologe
aus und vernahmen die Er- vollmundig angekündigte Verfolgung schwerer Strafta- Rafig Azzam. In dieser Form
statter von Selbstanzeigen als Ausrüstung deutscher Bahn- ten mit Kameras ausgerüstet sei eine Brücke dort „verant-

18 DER SPIEGEL 49 / 2014


wortungslos“. Ein „Gefähr- ren. Deutschland plant, ge-
dungsrisiko für Menschenle- meinsam mit Italien, den Nie-
ben“ sei „nicht ausgeschlos- derlanden und einigen skan-
sen“, so der Wissenschaftler. dinavischen Nationen eins
Azzam, der unter anderem von vier Trainingszentren im
als Gutachter der Staatsan- Nordirak zu eröffnen. Bis zu
waltschaft im Verfahren zum hundert deutsche Soldaten
Einsturz des Kölner Stadtar- könnten dort Kurden ausbil-
chivs tätig ist, kritisiert insbe- den. Die lokalen Sicherheits-
sondere die von der Straßen- kräfte wünschen sich von der
bauverwaltung vorgelegten Truppe vor allem schnelle
Untersuchungen zum Brü- Hilfe beim Suchen und
ckenbau. Diese seien „weder Entschärfen von Minen und
vollständig noch im Ergebnis Sprengsätzen. Den Schutz Pegida-Demonstranten in Dresden
nachvollziehbar“. Viele rele- des Lagers bei Arbil sollen
vante Sicherheitsaspekte sei- andere Nationen überneh-
en nicht oder zu wenig beach- men, für die nur leicht be- Der Augenzeuge
tet worden, etwa der Einfluss waffneten deutschen Solda-
von Wasserströmen im Unter-
grund. Im September hatte
ten ist deswegen aus Sicht
der Regierung auch kein Bun-
„Unheimliche Symbolik“
bereits der Geologe Jean- destagsmandat nötig. Erste Frank Richter, 54, ist Direktor der Sächsischen
Frank Wagner von der Uni- Ausbilder könnten im Früh- Landeszentrale für politische Bildung. Zufällig
versität Trier den Hang für jahr 2015 in den Irak gehen. traf er in Dresden auf eine Demonstration der
„rutschgefährdet“ erklärt und Von einer Entsendung von „Patriotischen Europäer gegen die Islamisie-
zusätzliche Standsicherheits- Bundeswehrsoldaten in das rung des Abendlandes“ (Pegida), die seit Wo-
berechnungen gefordert. Die Kommandozentrum der in- chen montags auf die Straße gehen. Zuletzt
Bürgerinitiative „Pro Mosel“, ternationalen Anti-IS-Koali- waren es 5500 Menschen. Richter war 1989
die das Projekt auch wegen tion (Operation „Inherent Re- Kaplan der Dresdner Hofkirche und einer der
des massiven Eingriffs in die solve“) in Kuwait hat das Ver- Köpfe der Dresdner Bürgerbewegung.
Landschaft ablehnt, will die teidigungsministerium indes
Stellungnahme Azzams zum Abstand genommen. gor, mgb „Ich kam mit Rupert Neudeck von Cap Anamur aus der
Anlass nehmen, eine „Straf- Frauenkirche, als wir die Demonstranten sahen. Es war
anzeige wegen Baugefähr- dunkel, Deutschlandfahnen überall, Menschen hielten
dung“ zu stellen. Das rhein- Thüringen leuchtende Handys in die Höhe. Neudeck sagte spontan:
land-pfälzische Infrastruktur- Merkel mischt ‚Wie im Nationalsozialismus‘. Tatsächlich gab es solche
ministerium, das den Bau der Szenen schon. Rechte Hände nach oben gestreckt, Lichter
Brücke verantwortet, sieht sich ein wie Fackeln. Es ist eine unheimliche Symbolik. Die Leute
trotz der Warnungen bislang Bundeskanzlerin Angela Mer- wollen das Abendland retten, doch die Sprache scheint
keinen Grund für einen Bau- kel (CDU) mischt sich in den aufgesetzt. Ich habe einen jungen Demonstranten gefragt,
stopp: „Alle uns vorliegen- Poker um das Amt des Thü- was denn das Abendland sei, er konnte keine Antwort ge-
den Studien und Expertisen ringer Ministerpräsidenten ben. Die geistigen Strategen haben sich offenbar bei der
gehen davon aus, dass ein. Sie rät ihren Parteifreun- Begrifflichkeit vertan. Zu hören ist eine Beschwörung der
der Hochmoselübergang den, bei der Wahl am kom- Nation, der deutschen Kultur. Die Redner sagen, sie seien
dort sicher errichtet werden menden Freitag nicht mit ei- keine Extremisten, und sie grenzten sich von Nazis ab.
kann“, sagt ein Ministe- nem eigenen Kandidaten an- Doch was die Masse will, bleibt unklar. Die Menschen lau-
riumssprecher. mab zutreten. „Das schweißt die fen schweigend durch die Stadt, mitunter rufen sie die alte
anderen nur zusammen“, sag- Parole der Montagsdemos: ‚Wir sind das Volk‘. Die Insze-
FOTOS: ARNO BURGI / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); MATTHIAS RIETSCHEL / DDP IMAGES (U.)

te Merkel laut Teilnehmern nierung ist gut. Die Attacke gilt offensichtlich der Umset-
Bundeswehr in der Runde der Unions-Mi- zung des Asylrechts und ist beherrscht von der Sorge, dass
Irak-Mission ohne nisterpräsidenten am vergan- es von Wirtschaftsflüchtlingen missbraucht wird. Es ist ein
genen Donnerstagabend in ernstes Thema, und ich habe Verständnis für die Demons-
Bundestagsmandat Berlin. Die Thüringer CDU tranten. Natürlich dürfen sie die politischen Akteure dazu
Die Planungen für die Aus- hatte entschieden, einen eige- befragen. Man darf freilich nicht naiv sein und sollte auch
weitung des deutschen En- nen Kandidaten gegen den die Strippenzieher sehen. Man sollte die Menschen auf
gagements beim Kampf ge- Fraktionschef der Linken, der Straße nicht pauschal mit Rechtsextremisten gleichset-
gen den „Islamischen Staat“ Bodo Ramelow, ins Rennen zen. Ich glaube, sie haben ein großes Informationsdefizit
im Nordirak präzisieren sich. zu schicken. Ob dies die am- bei diesem Thema. Als Landeszentrale für politische
Mitte vergangener Woche tierende Regierungschefin Bildung organisieren wir seit zwei Jahren zahlreiche Ver-
entsandten Bundeswehr und Christine Lieberknecht oder anstaltungen zum Thema Asyl. Dieser Dialog ist wichtig,
Auswärtiges Amt ein vier- Fraktionschef Mike Mohring häufig verändert sich die Stimmung danach positiv. Die
köpfiges Erkundungsteam in sein soll, ist offen. Ramelow, Sachsen sind nicht per se ausländerfeindlicher als anderen-
die Kurdengebiete, um letzte der mit SPD und Grünen orts. Sie haben Ängste und Sorgen, die ihnen genommen
Details für die Ausbildung zum ersten Ministerpräsiden- werden müssen. Im Gespräch, im Dialog. Denn Deutsch-
der Peschmerga-Kämpfer ten der Linkspartei gewählt land ist keine Insel, Sachsen kein Schrebergarten. Wir sind
durch die Bundeswehr und werden will, hat eine Mehr- ein Einwanderungsland und müssen uns für die Welt
andere Nationen festzuzur- heit von einer Stimme. mp öffnen.“ Aufgezeichnet von Steffen Winter

DER SPIEGEL 49 / 2014 19


Deutschland

Jagdfieber in Berlin
Innere Sicherheit Aus Ärger über Enthüllungen in den Medien will die Bundes-
regierung gegen Informanten mit einer Strafanzeige ermitteln lassen. Was als
Abschreckung gedacht ist, wird das Vertrauen der Bürger in den Staat beschädigen.

K
laus-Dieter Fritsche war sichtlich mentarische Kontrolle und Aufklärung all- klärung und Kontrolle durch Parlament
angefasst, als er Mitte November zu oft: Zeugen im Untersuchungsausschuss und Presse größer denn je: Konsequent
den Saal 2400 im Bundestag betrat. dürfen, wenn es brisant wird, nur geheim hat die Bundesregierung in den vergange-
Das Maß sei voll, erklärte der Geheim- vernommen werden; Akten werden groß- nen Jahren Politikfelder zur Verschluss-
dienstkoordinator des Kanzleramts mit flächig geschwärzt – aus Angst, dass echte sache erklärt.
tonloser Stimme und regloser Mimik den oder vermeintliche Staatsgeheimnisse an Das verhindert Transparenz und
Abgeordneten. Wegen des fortgesetzten die Öffentlichkeit kommen könnten. schwächt das Vertrauen der Bürger in eine
Verrats von Dienstgeheimnissen, so Frit- Nach diversen Enthüllungen – von der Exekutive, die nach Belieben die Grenzen
sche, werde die Bundesregierung Anzeige NSA-Affäre bis zu geplanten Panzerliefe- der Geheimhaltung erweitert – und über-
erstatten. Es könne nicht angehen, dass rungen an Saudi-Arabien – steigt in Berlin dies willkürlich über den Umgang mit In-
immer wieder als „geheim“ eingestufte In- die Nervosität: In der Wahrnehmung der formanten entscheidet: Wer der Regierung
formationen aus dem Sicherheitsbereich Regierung hat die Zahl der an Medien lan- illegal besorgte Steuer-CDs aus der
nach außen gelangten. cierten Geheimdokumente deutlich zu- Schweiz offeriert, darf sich über eine Be-
Die Parlamentarier im Vertrauensgre- genommen, zugleich auch die Zahl der lohnung in Millionenhöhe freuen. Und na-
mium, das die Finanzierung der Geheim- Medien, die sich systematisch um solche türlich lancieren Regierungsvertreter auch
dienste kontrolliert, reagierten gern brisante Neuigkeiten, solange es den
konsterniert. Einige Wochen eigenen Interessen dient. Mit Strafverfol-
zuvor hatte Kanzleramtschef gung muss dagegen rechnen, wer Erkennt-
Peter Altmaier eine ähnliche nisse über den Sicherheitsapparat, die dem
Drohung Richtung Bundestag Bund unangenehm sind, an die Öffentlich-
ausgesprochen – nachdem im keit bringt.
NSA-Untersuchungsausschuss Auslöser für die beabsichtigte Strafan-
interne Papiere durchgestochen zeige der Regierung ist die Berichterstat-
worden waren. „Im Wiederho- tung des SPIEGEL und der Süddeutschen
lungsfall“ werde die Regierung Zeitung. Am 20. Oktober hatte der SPIE-
strafrechtlich aktiv werden, hat- GEL (43/2014) gemeldet, der Bundesnach-
te Angela Merkels Adjutant ge- richtendienst (BND) mache prorussische
warnt. Separatisten für den Absturz von Flug
Jetzt machen die beiden MH17 in der Ukraine verantwortlich. Der
Männer aus dem Kanzleramt Bericht bezog sich auf eine geheime Sit-
Ernst: Schon Anfang Dezember zung des Parlamentarischen Kontrollgre-
soll ein Schriftsatz mit der Straf- miums, in der BND-Chef Gerhard Schind-
anzeige gegen „Unbekannt“ an ler seine These mit einer Auswertung von
die Berliner Staatsanwaltschaft Kanzlerin Merkel, Adjutant Altmaier Satellitenaufnahmen und Fotos unterlegt
gehen. Fahnder der Behörde Großflächig geschwärzt hatte.
sollen dann aufklären, wie ver- Diese Information sollte nach dem Wil-

FOTOS: HENNING SCHACHT / ACTION PRESS (L.); KAY NIETFELD / DPA (R.O.); CHRISTIAN THIEL (R.U.)
trauliche Regierungsinformationen an die Informationen bemühen. Vor diesem Hin- len der Bundesregierung ebenso wenig pu-
Öffentlichkeit kamen. tergrund lässt sich die Strafanzeige als Ver- blik werden wie eine Meldung über Pro-
„Verrat von Dienstgeheimnissen“, lautet such einer Abschreckung verstehen. bleme des Bundesamts für Verfassungs-
der Vorwurf der Bundesregierung. Er rich- Die Auseinandersetzung zwischen Exe- schutz bei der Gewinnung von V-Leuten
tet sich ganz allgemein gegen Informan- kutive, Legislative und der Presse als vier- (SPIEGEL 44/2014), die ebenfalls Gegen-
ten – sogenannte Whistleblower – aus ter Gewalt berührt den Kernbereich der stand der Strafanzeige werden könnte. Im
Politik und Behörden. Als erste Adressaten Inneren Sicherheit. Robustes Auftreten ge- Fall der Süddeutschen Zeitung störten die
jedoch dürfen sich die Abgeordneten des gen geheime Informanten und undichte Regierungsvertreter Recherchen über die
Bundestags fühlen; vor allem jene, die im Stellen – im Englischen „leaks“ genannt“ – technische Aufrüstung des BND.
Vertrauensgremium, im NSA-Untersu- liegen international im Trend: Wie in den Sobald die Anzeige in Berlin eingeht,
chungsausschuss oder im Parlamentari- USA nach den Enthüllungen von Edward stehen die Staatsanwälte vor der heiklen
schen Kontrollgremium mit der Arbeit von Snowden steht nun, ausgelöst durch das Aufgabe, potenzielle Informanten im Kreis
Geheimdiensten befasst sind. Kanzleramt, wohl auch in Deutschland gewählter Volksvertreter und anderer Per-
Es ist ein Einschüchterungsversuch der eine Debatte über den Nutzen und Scha- sonen, die mit Geheimdiensten zu tun ha-
Regierung, wie es ihn in Deutschland lange den von Whistleblowern an. ben, finden zu müssen.
nicht gegeben hat. Und die Kanzlerin und Auf der einen Seite gibt es ein berech- Die Ermittler sind freilich nicht die Ein-
ihre Minister belassen es nicht bei juris- tigtes Interesse des Bundes an Geheimhal- zigen, die in Berlin nach undichten Stellen
tischen Attacken. tung mancher Sachverhalte, um etwa die suchen sollen. Im Verteidigungsministeri-
Wenn es um die Arbeit der Sicherheits- Innere Sicherheit zu gewährleisten. Auf um und im Auswärtigen Amt wird bereits
behörden geht, erschweren sie die parla- der anderen Seite ist der Bedarf an Auf- nach Whistleblowern gefahndet. Es geht
20 DER SPIEGEL 49 / 2014
Untersuchungsausschuss, Pressekonferenz zur NSA-Affäre in Berlin: „Verrat von Dienstgeheimnissen“?

DER SPIEGEL 49 / 2014 21


Deutschland

dabei um interne Nato-Dokumente, die in die Arbeit einer Gruppe eigens angeheu- tangieren. Weil sie sich in ihrer Kontroll-
den vergangenen Monaten mehrfach in erter Wirtschaftsprüfer der KPMG. Diese funktion wegen der bislang verhinderten
die deutsche Presse gelangten. Die Bun- mussten sich regelmäßig in den Zug nach Snowden-Aussage behindert fühlt, hat die
desregierung fing sich daraufhin Beschwer- Koblenz setzen, um die nun geheimen Pa- Opposition inzwischen das Bundesverfas-
den aus mehreren Partnerländern ein. Da- piere in einer dort angesiedelten Behörde sungsgericht eingeschaltet.
rin wurde vor einer Beeinträchtigung der einsehen zu können. Erst Monate später, Selbst Regierungsvertreter im Ausschuss
Zusammenarbeit gewarnt, sollten die Be- als sich die Klagen über den Reiseverkehr halten die demonstrative Geheimhaltung
richte nicht abzustellen sein. Auch eine häuften, machte das Ministerium die Do- mitunter für übertrieben. So wurde im
Nato-interne Ermittlung wurde eröffnet. kumente mit der Formel „VS – Nur für Bund ernsthaft erwogen, den SPD-Ob-
Ein Höhepunkt war offenbar erreicht, den Dienstgebrauch“ wieder leichter zu- mann Christian Flisek wegen Geheimnis-
als es um geheime Beschlüsse des Nato- gänglich. verrats anzuzeigen – er hatte sich in einem
Rats ging, die Luftraumüberwachung über Wie weit der Drang nach Geheimhal- Pressegespräch nach Ansicht der Regie-
dem Baltikum wegen der Ukraine-Krise tung im Bund reicht, bekommen insbeson- rung zu weit vorgewagt.
zu verstärken. Darüber hatte ein SPIEGEL- dere die Abgeordneten des NSA-Untersu- Zwischen Staatsräson und Pressefreiheit
Reporter in einem Tweet berichtet. Da- chungsausschusses zu spüren. So sind we- gibt es einen natürlichen Interessenkon-
mals warnte die Führung des Außenamts sentliche Teile der Zeugenbefragungen flikt, wie sich seit der SPIEGEL-Affäre 1962
in einem Brief das Verteidigungsministe- nicht öffentlich, Medienvertreter also nicht immer wieder gezeigt hat. Bundesregie-
rium ausdrücklich vor „nachhaltigen Zwei- zugelassen. In einer der letzten Zusam- rungen wie zurzeit das Kabinett Angela
feln“ der Bündnispartner in Nato und EU menkünfte sorgte die Regierung erstmals Merkels argumentieren gern mit einem
an der deutschen „Verlässlichkeit im Um- dafür, die Befragung eines BND-Mannes „Kernbereich exekutiver Eigenverantwor-
gang mit sicherheitspolitisch sensiblen Vor- sogar als „streng geheim“ einzustufen. Das tung“, den es geheim zu halten gelte –
gängen“. Das dürfe man „nicht zulassen“, bedeutet, dass die Abgeordneten danach praktischerweise definiert die Exekutive
hieß es in dem Schreiben. ihre Notizen in der Geheimschutzstelle ab- gleich selbst, wie umfänglich dieser Be-
Wochenlang wurde daraufhin im Aus- geben müssen und die Ergebnisse der Sit- reich zu sein hat.
wärtigen Amt nach einem potenziellen In- zung nicht einmal im Abschlussbericht auf- Hier liegt auch das eigentliche Problem.
formationsleck geforscht. Mitarbeiter tauchen dürfen. In anderen Fällen stoppten Kaum jemand wird zwar bestreiten, dass
mussten in dienstlichen Erklärungen ver- im Saal anwesende Regierungsvertreter es in parlamentarischen Demokratien ei-
sichern, dass sie keine Dokumente aus während einer öffentlichen Sitzung Zeu- nen Kern staatlichen Handelns geben
ihrem Bereich weitergegeben hätten. Zu- genaussagen, die aus ihrer Sicht zu weit kann und geben muss, der geheim bleibt.
gleich wurden die Dokumenten-Verteiler gehen. Die Frage ist allerdings, wie groß dieser
eingeschränkt und bestimmte Papiere in Auch die Vorbereitung wird den Abge- Kern sein darf – und sein muss. Die „na-
der Geheimhaltung heraufgestuft. Das soll- ordneten nicht leicht gemacht. So wurde tionale Sicherheit“ jedenfalls ist in der
te Mitarbeiter von der Weitergabe abschre- deutlich, dass BND-Zeugen sich mit Un- Vergangenheit zu oft als Argument miss-
cken, heißt es in Berlin. terlagen vertraut machen konnten, die braucht worden, um Pannen und Rechts-
Auch im Verteidigungsministerium dem Ausschuss noch gar nicht vorlagen verstöße von Behörden und Beamten zu
mussten einzelne Mitarbeiter entsprechen- oder erst kurz vor der Sitzung zugestellt vertuschen.
de Erklärungen unterzeichnen. Nach der wurden. Viele von der Bundesregierung Das Vertrauen in staatliche Institutionen
anhaltend kritischen Berichterstattung übersandte Dokumente sind überdies bis werde durch Enthüllungen der Medien un-
über die Pleite-Drohne „Euro Hawk“ sorg- zur Unkenntlichkeit geschwärzt: Sogar das terminiert: Diese Sichtweise hat sich in
te der damalige Abteilungsleiter Detlef Damenprogramm beim Berlin-Besuch den Spitzen der Sicherheitsbehörden fest-
Selhausen Ende Dezember 2013 dafür, dass eines NSA-Direktors wurde mit dicken gesetzt. Es sind dieselben Behörden, die
plötzlich das Nachfolgeprojekt des „Euro schwarzen Balken versehen. von geheimen Lauschangriffen der Ame-
Hawk“ umfassend als geheim eingestuft Schließlich werden wichtige Themenfel- rikaner auf das Handy der Kanzlerin nichts
wurde. der auf Betreiben der Regierung im Aus- wussten – bis der SPIEGEL diese beschrieb.
Die Maßnahme erschwerte nicht nur die schuss gar nicht erst behandelt, weil sie Nikolaus Blome, Matthias Gebauer, Hubert Gude,
parlamentarische Kontrolle, sondern auch angeblich den Untersuchungsbereich nicht Frank Hornig, Gordon Repinski, Marcel Rosenbach

FOTOS: RAINER JENSEN / DPA (L.); THOMAS KIENZLE / DPA (R.)

Geheimdienstkoordinator Fritsche, Whistleblower Snowden: Staatsräson kontra Pressefreiheit

22 DER SPIEGEL 49 / 2014


Fern bedient
Geheimdienste Bereits 2005
lagen dem BND Hinweise vor,
dass Deutschland nicht nur
Partner der USA war – sondern
auch deren Spionageziel.

D
ie Überwachungsanlage, die der
Bundesnachrichtendienst (BND)
im Frühjahr 2005 in seinen Labors
untersuchte, verfügte über besondere Fä-
higkeiten. Sie war fast so sensibel wie ein
Mensch, sie konnte sehen, hören, fühlen.
Das mit Kameras, Mikrofonen und Senso-
ren ausgestattete System reagierte sogar
auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit Ex-BND-Chef Hanning 2006 im Bundestag: Signale an Rechner des US-Militärs
und der Raumtemperatur. Der Hersteller,
ein Unternehmen aus den Vereinigten Dort steht in der Betreffzeile klar und un- Der damalige BND-Präsident August
Staaten von Amerika, drängte in den deut- missverständlich: „Nachrichtendienstliche Hanning hielt die US-Spionageaktivitäten
schen Markt. Aufklärung deutscher Behörden und Hoch- gegen Deutschland für so gewichtig, dass
Was die IT-Spezialisten des BND-Refe- technologieunternehmen durch US-Nach- er das Thema am 8. Februar 2005 in der
rats 26E („Operative Unterstützung und richtendienste mithilfe von Sicherheitstech- Nachrichtendienstlichen Lage im Bundes-
Lauschtechnik“) noch mehr beeindruckte nik zur Raumüberwachung.“ kanzleramt zur Sprache brachte. Ob sich
als die in der Bedienungsanleitung des Dass mit dem Mustergerät etwas nicht aus den Erkenntnissen des Nachrichten-
Geräts beschriebenen Finessen, waren jene stimmte, hatten die BND-Spezialisten re- dienstes Konsequenzen ergaben, ist nicht
Eigenschaften, die darin keine Erwähnung lativ schnell erkannt: So verfügte die Hard- bekannt. Der BND mag dazu keine Stel-
fanden. Denn als die Techniker ein Mus- ware über eine Rechenleistung, die für die lung nehmen.
tergerät probeweise an ein simuliertes beschriebenen Funktionen viel zu hoch er- Antworten wird es womöglich im NSA-
Internet anschlossen, erlebten sie Sonder- schien. Bei genauerer Betrachtung stießen Untersuchungsausschuss geben. „Wir wer-
bares: Die Überwachungsanlage versuchte, sie auf raffinierte Fähigkeiten, etwa die den klären müssen, wie die damalige
Signale an eine IP-Adresse zu senden, die „vergleichende Bildanalyse“. Wenn jemand Bundesregierung mit den Informationen
einem Rechner des US-Militärs zugeschrie- den Raum betrat, begann automatisch die umging“, sagt der Ausschussvorsitzende
ben werden konnte. Aufzeichnung. Die BND-Spezialisten Patrick Sensburg (CDU), „einschließlich
Mehr noch: Das Hightech-Teil ließ sich schlossen daraus, dass die Anlage ein der Frage, ob man vielleicht zu blau-
via Internet mit geheimen Zusatzfunktio- Eigenleben führte – egal ob der Kunde den äugig gegenüber der US-Behörde aufge-
nen fernsteuern. Wer auch immer diese Bewegungsmelder abgeschaltet oder gar treten ist.“
Sicherheitsanlage in seinen Büros instal- nicht erst installiert hatte. Den Verdacht, dass die USA mit allerlei
lieren sollte, der würde sich nach Über- Verblüfft waren die Nachrichtendienstler Tricks auch bei ihren Verbündeten an In-
zeugung der BND-Experten ungebetene auch, als sie sich die Verkaufsstrategie des formationen kommen wollten, hegte der
Gäste ins Haus holen: US-Geheimdienste. US-Unternehmens genauer ansahen. Ihre BND offenbar schon lange. „Nach den hier
Beschrieben werden diese Erkenntnisse Hightech-Überwachungsanlage bot die Fir- vorliegenden Erfahrungen befassen sich
in einem vierseitigen BND-Bericht, den ma weit unter Wert an – und kümmerte die US-Dienste seit Jahrzehnten wissen-
der SPIEGEL einsehen konnte. Das Papier sich „zielgerichtet“ um Aufträge in „sicher- schaftlich mit der Implementierung ver-
belegt: Dem Auslandsnachrichtendienst la- heitsempfindlichen Bereichen“. Als Beispie- steckter Sicherheitslücken in IT-Produkten
gen bereits Mitte der Nullerjahre Hinweise le nennt der BND „Rüstungsunternehmen zur nachrichtendienstlichen Gewinnung
vor, dass Deutschland für die USA nicht und Hightech-Unternehmen in Konkurrenz- von Informationen“, heißt es in dem Pa-
nur ein geschätzter Bündnispartner, son- position zu US-Unternehmen, Ministerien, pier von 2005. Klingt wie eine Vorschau
dern auch ein konkretes Ziel für Spiona- Sicherheitsbehörden“. Einen verlockenden auf die Snowden-Enthüllungen.
geangriffe war. Großauftrag einer Supermarktkette hinge- Dass die BND-Spezialisten sich die
Aufschlussreich ist der Report auch, weil gen habe die Firma abgelehnt. Überwachungstechnik so genau anschau-
er die Erklärungen und Beteuerungen ent- Besonders trickreich erschien den BND- ten, ging auf den Hinweis eines Informan-
larvt, die die Bundesregierung im Zuge Leuten die Camouflage des Unterneh- ten zurück, der über die Spionageaktivitä-
der Enthüllungen des Whistleblowers Ed- mens: Um die US-Herkunft der Technik ten des Herstellers ausgepackt hatte. Über-
ward Snowden 2013 verbreitete. Ob Kanz- zu verschleiern, versuche es sich als Zulie- rascht waren die Nachrichtendienstler
leramtsminister Ronald Pofalla oder Innen- ferer für deutsche Partner „mit traditionell nicht, als sich seine Aussagen im Labor be-
minister Hans-Peter Friedrich: Routiniert guten Geschäftskontakten in sicherheits- stätigten. Der Fall sei „symptomatisch für
FOTO: MICHAEL KAPPELER / DDP

beschworen sie die Freundschaft der Re- empfindliche Bereiche“. Sogar das Außen- die nach hiesiger Auffassung weit verbrei-
gierungen, die Zusammenarbeit der Diens- ministerium geriet offenbar ins Visier. Es tete nachrichtendienstliche Ausforschung
te, das große transatlantische Vertrauen – werde großer Druck auf die deutsche Ver- deutscher Institutionen durch befreundete
und mussten es doch besser wissen. triebsstruktur ausgeübt, das Auswärtige oder verbündete Nationen“, notierten die
Zum Beispiel aufgrund des als „geheim“ Amt als Kunden zu akquirieren, notierte Fachleute aus Pullach.
eingestuften Papiers vom 23. März 2005. der BND. Maik Baumgärtner, Hubert Gude

DER SPIEGEL 49 / 2014 23


Deutschland

Verschmorte
Prestigeflieger. Ein Zwischenfall aus der scheinlich durch Auslösen der Lösch-
Vergangenheit sei „extrem gefährlich“ anlage. Verwundert vermerkten die Me-
gewesen, sagt der Vorsitzende der Inter- chaniker: „Kein Auslösen der Sicherung“

Platine
essengemeinschaft des fliegenden und – offensichtlich ein Konstruktionsfehler,
luftfahrttechnischen Personals der Bun- dessen Folgen fatal hätten ausgehen
deswehrhubschrauber, Reinhard Schlepp- können.
horst. „Die gleiche Steuereinheit hätte die
Rüstung Ursula von der Leyen Der Oberstleutnant a. D. meint damit Kerosinzufuhr für das zweite, noch funk-
den Beinahe-Absturz eines Bundeswehr- tionierende Triebwerk abschalten können,
will neue Hubschrauber für die Transporthubschraubers vom Typ NH 90 wenn der Helikopter länger in der Luft
Bundeswehr – doch ein Beinahe- in Usbekistan. Am 19. Juni hatte ein für geblieben wäre“, sagt Pilotenvertreter
Absturz nährt Zweifel an der medizinische Evakuierungen ausgerüs- Schlepphorst. Schon seit vielen Jahren ist
teter NH 90 vom Flughafen Termez mit bei Hubschraubern Standard, dass zwei
Zuverlässigkeit der Maschinen. Ziel Masar-i-Scharif abgehoben, dem getrennte Systeme die beiden Triebwerke
deutschen Stützpunkt im Norden Afgha- ansteuern, und nicht wie beim NH 90 nur

D
as einstündige Treffen am vergan- nistans. Schon nach wenigen Minuten eines.
genen Mittwoch im Berliner Bend- hörten die Piloten einen lauten Knall, Das Untersuchungsteam schrieb in ei-
lerblock lief für die Verteidigungs- Funken schossen aus dem Triebwerk. nem vertraulichen Bericht, es sei „nicht
ministerin erfreulich. Ursula von der Leyen Sie lösten den Feuerlöschmechanismus auszuschließen“, dass der Fehler auch bei
konnte eine Gruppe zuständiger Koali- aus. anderen Hubschraubern des Typs NH 90
tionsabgeordneter ohne großen Streit von Mit nur einem Triebwerk drehte die auftritt. Deshalb blieb die NH90-Flotte der
einem großen Hubschraubergeschäft über- Crew um, zurück nach Termez. Doch dann Bundeswehr zunächst am Boden.
zeugen: 8,5 Milliarden Euro wolle sie für spielte die Elektronik der Maschine ver- Doch zur Verwunderung der Piloten
Kampf-, Transport- und Marinehubschrau- rückt: Monitore wurden schwarz, der rech- wurde das Flugverbot nach wenigen
Tagen wieder aufgehoben. Der Herstel-
ler Airbus hatte zwischenzeitlich ver-
sichert, der Triebwerksausfall mit an-
schließender Zerstörung der Platine sei
„extrem unwahrscheinlich“ und „inner-
halb der akzeptierten Ausfallwahrschein-
lichkeiten“.
Die Bundeswehr schloss sich der
Sichtweise des Herstellers an. Bei dem
Vorfall in Termez handele sich „um
einen Einzelfall“, heißt es in einem Schrei-
ben der Untersuchungskommission vom
„General Flugsicherheit“ vom 18. No-
vember dieses Jahres. „Der Verdacht, dass
es sich um einen Serienfehler handelt, hat
sich nicht erhärtet“, versichert auch ein
Sprecher von Verteidigungsministerin von
der Leyen. So sei bei Tests und in fünf
Jahren regulärem Flugbetrieb insgesamt
16-mal die Löschfunktion ausgelöst wor-
den – nie habe es Folgen gegeben wie
in Termez. Auch der Versuch, den Feh-
ler in Tests zu wiederholen, sei nicht ge-
lungen.
Schlepphorst findet es merkwürdig,
dass sich das Verteidigungsministerium
der Darstellung von Airbus angeschlossen
Gefechtsübung mit Hubschrauber NH90: Ruß und zerflossener Lötzinn hat. „Der Hersteller hat natürlich kein
Interesse, dass in einer solchen Situation
ber ausgeben. Im Rahmen der Möglich- te Scheibenwischer fing an, wild zu wi- sein Produkt in einem schlechten Licht
keiten sei das ein ordentliches Verhand- schen. Die geöffnete Heckklappe begann, dasteht“, sagt der ehemalige Bundes-
lungsergebnis mit der Industrie. Trotz sich wie von Geisterhand zu schließen. Die wehrpilot.
früherer Kritik nickten auch die SPD- Maschine habe nur heil landen können, Noch in diesem Jahr soll der Haushalts-
Vertreter in der Runde. Der Deal ging weil der Pilot sehr erfahren gewesen sei, ausschuss entscheiden, ob die neuen Hub-
durch. sagt Schlepphorst. schrauber bestellt werden. 122 NH 90 ste-
Um kurz nach 19 Uhr schloss von der Nach dem Beinahe-Crash machten hen auf der Wunschliste des Ministeriums.
Leyen die Veranstaltung. Ihre Staatssekre- Techniker der Bundeswehr eine besorg- Grünen-Haushälter Tobias Lindner mahnt
tärin Katrin Suder fuhr zum parlamentari- niserregende Entdeckung. Die Platine bereits, nichts „überhastet“ zu beschließen.
schen Abend von Airbus Helicopters, die des Bedienungspanels über dem Kopf „Die Bundesregierung muss über den Vor-
FOTO: GETTY IMAGES

Ministerin zum Empfang der Rheinischen der Piloten war verschmort. Die Me- fall zwingend Transparenz herstellen,
Post. Alles fühlte sich gut an. chaniker fanden Ruß und zerflossenen wenn sie eine Milliardenentscheidung vom
Ein paar Tage später ist das Wohlge- Lötzinn. Offenbar hatte ein zu heftiger Parlament erwartet.“
fühl verflogen, denn es gibt Kritik an dem Stromfluss die Platine verschmort, wahr- Gordon Repinski, Gerald Traufetter

24 DER SPIEGEL 49 / 2014


Der Glaubens-
krieg
Parteien Diese Woche könnte
erstmals ein Linker Ministerpräsi-
dent werden. Doch im Bund sind
SPD und Linke unversöhnlich.
Die Profiteurin: Angela Merkel.

W
enn Sigmar Gabriel wissen will,
wie es um die Chancen eines
rot-rot-grünen Bündnisses steht,
muss er nur Sahra Wagenknecht zuhören.
Oder etwas von ihr lesen. In der vergange-
nen Woche ging es im Plenum des Bun-
destags um Angela Merkels Haushalt, un-
ter anderem wurden die Etats des Kanz-
leramts, Verteidigungsministeriums oder SPD-Chef Gabriel: Die Realität ist träger als die Beschlusslage der Sozialdemokraten
Innenressorts verhandelt. Aber Wagen-
knecht nahm sich zeitgleich lieber den „Gysis bunte Truppe“ im Bundestag ist tragen, dass die Vernünftigen in der Links-
SPD-Chef vor, den sie, ganz im Duktus dagegen durchsetzt von Sektierern und partei die Oberhand gewinnen.“
des Klassenkampfes, als Verräter an der Verschwörungstheoretikern, die offen mit Gabriel will die Debatte erst einmal aus-
Arbeiterschaft beschimpfte. der Hamas sympathisieren und die Bun- sitzen. Jedes rot-rot-grüne Gedankenspiel
Gabriel sei ein gelehriger Schüler Ger- desrepublik für einen Büttel der CIA hal- würde die Frage aufwerfen, wie er mit Leu-
hard Schröders, verbreitete Wagenknecht. ten. Gerade die Westdeutschen in der ten regieren will, die kaum verblümt das
„Wenn konservative Politiker beim Sozial- Fraktion blockieren den Weg an die Existenzrecht Israels infrage stellen.
abbau nicht weiterkommen, dann erledigen Macht, weil in ihrem dogmatischen Mikro- Doch Gabriel weiß auch, warum 2009
Sozialdemokraten die schmutzige Arbeit.“ kosmos jeder Kompromiss als Verrat an Frank-Walter Steinmeier und vier Jahre
Es ist zum Verzweifeln. Seit gut einem der reinen Lehre gilt. später Peer Steinbrück so kläglich gegen
Jahr ist Gabriel Vizekanzler in Merkels Das bringt Gabriel in eine verzwickte Merkel scheiterten. Am Ende konnten bei-
Kabinett. Die Regierungsmaschine SPD Lage. Da sind einerseits die Pragmatiker de nicht erklären, mit welchem Partner sie
schnurrt, die Genossen haben die Rente mit in seiner Partei, die bereits keine Chance die Kanzlerin ablösen wollten. Deshalb
63 auf den Weg gebracht, den Mindestlohn, mehr für eine Koalition mit der Linken will Gabriel die Hoffnung auf ein rot-rot-
zuletzt die Frauenquote. Doch Gabriels Mü- sehen. „Es wird nach der Bundestagswahl grünes Bündnis nicht ganz fahren lassen.
hen und Plagen nützt wenig. Die Umfragen 2017 kein rot-rot-grünes Bündnis geben“, Vor Kurzem traf er sich in Erfurt mit
verharren bei 25 Prozent, und die Linke, sagt der Netzexperte Lars Klingbeil, „die dem designierten Ministerpräsidenten Ra-
ohne die Gabriel Merkel nicht ablösen Linkspartei ist mit ihren außenpolitischen melow, zuvor gab es auch ein Treffen mit
kann, führt sich auf, als wäre die SPD unter Positionen nicht regierungsfähig, und da- Katja Kipping und Bernd Riexinger, den
Gabriel zu einer neoliberalen Partei mutiert. ran ändert sich offensichtlich auch nichts.“ beiden Chefs der Linkspartei. Auch wenn
Es war ein geschickter Zug des SPD- Andererseits wollen sich die SPD-Lin- es Gabriel öffentlich anders sagen würde:
Chefs, kurz nach der Bundestagswahl 2013 ken nicht damit abfinden, auf unabsehbare Er bereitet eine Art Arbeitsteilung mit der
per Parteitagsentscheid das Tabu einer Zeit zum Juniorpartner der Union degra- linken Konkurrenz vor.
Koalition mit der Linkspartei im Bund auf- diert zu werden. „Wenn wir Rot-Rot-Grün Er sieht die Sache so: In Deutschland
zuheben. Doch die Realität ist deutlich trä- kategorisch ausschließen, können wir den existiert ein linkes und ein konservatives
ger als die Beschlusslage der Sozialdemo- Wahlkampf einstellen“, sagt Parteivize Lager, beide können ungefähr die Hälfte
kraten. Im Moment spricht kaum etwas Ralf Stegner. Und auch wenn er die Links- der Stimmen auf sich vereinen. Ein Macht-
dafür, dass ein linkes Bündnis im Jahr 2017 partei momentan kaum für regierungsfähig wechsel kann also nur gelingen, wenn SPD,
Merkel aus dem Kanzleramt verjagen hält, setzt er Hoffnung in das Thüringer Grüne und Linke an einem Strang ziehen.
könnte. Bündnis: „Die Koalition kann dazu bei- Gabriel hat sich dazu entschieden, jene
Am kommenden Freitag wird voraus- Bürger anzusprechen, die ihr Kreuz auch
sichtlich erstmals eine rot-rot-grüne Koali- Sitzverteilung im Thüringer Landtag mal bei der CDU machen. „Wer sich an-
tion unter Führung des Linken Bodo Ra-
melow die Macht in einem deutschen Bun- Koalition 46 45 Opposition strengt, der hat etwas davon“, rief er am
vergangenen Donnerstag im Bundestag.
desland übernehmen. Aber in den Augen Er sucht das Heil der SPD also in der Mitte.
Gabriels besitzen die Linken in Thüringen Um das zu unterstreichen, wird er an die-
all jene Tugenden, die den Parteifreunden Die Linke 28 CDU 34 sem Montag das „Wirtschaftsforum“ der
FOTO: CHRISTIAN THIEL

in der Hauptstadt leider fehlen: Sie sind SPD gründen. Es soll die Kontakte zwi-
diszipliniert, machtbewusst und so prag- schen Politik und Wirtschaft intensivieren.
matisch, dass sie sogar damit einverstan- SPD 12 Michael Frenzel, der Ex-TUI-Chef, wird
den waren, die DDR zum Unrechtsstaat das neue Gremium leiten. Er soll dafür sor-
zu erklären. Grüne 6 AfD 11 gen, dass sich die Bosse für die SPD er-
DER SPIEGEL 49 / 2014 25
Deutschland

wärmen. Für das erste Treffen haben sich


rund 50 Wirtschaftsexperten und Unter-
nehmer angekündigt. Darunter auch Ban-
ker Harald Christ, 2009 noch im Schatten-
kabinett von Frank-Walter Steinmeier.
Der neue Kurs lässt der Linken Luft, das
ist Gabriel klar. Die Abgehängten und Ar-
beitslosen werden ihr Heil eher bei der
Partei suchen, die einen Mindestlohn von
zwölf Euro verspricht und eine Erhöhung
der Hartz-IV-Regelsätze auf 500 Euro im
Monat. Die Lehre aus dem letzten Bun-
destagswahlkampf lautet für Gabriel:
Wenn es darum geht, den Bürgern Wohl-
taten zu versprechen, zieht die SPD gegen
die Linke immer den Kürzeren.
Gabriel weiß, dass gemäßigte Linke wie
Gregor Gysi und Dietmar Bartsch lieber
heute als morgen ein Bündnis mit der SPD
eingingen. Gerade für die Pragmatiker aus
dem Osten wäre eine Regierungsbeteiligung
in Berlin der Ausweis dafür, endlich in der
Bundesrepublik angekommen zu sein. Die
Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten
sei eine „Zäsur, die Wirkung zeigen wird“,
hofft Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn.
Gesprächskreise zwischen Sozialdemo-
kraten und Funktionären der Linkspartei
gibt es schon lange. Am 17. Dezember ist
eine Weihnachtsfeier von Bundestags-
abgeordneten geplant, die von Rot-Rot-
Grün träumen. Das Problem ist nur, dass
zu diesen Treffen immer nur diejenigen
kommen, die ohnehin von der Zukunft
des Bündnisses überzeugt sind.
Derzeit gibt es aber bis zu zwei Dutzend
Hyperfundis in der Linken-Bundestags-
fraktion, die jeden Kompromiss mit der
SPD ablehnen. Ein stabiles rot-rot-grünes
Bündnis brauchte also einen ausreichen-
den Puffer, um nicht auf die Voten der
Quertreiber angewiesen zu sein. Rot-Rot-
Grün müsste sich eine gewisse Prise Irrsinn
leisten können, so kalkulieren Gabriel wie
auch Gysi.
Im Moment mag in der Linkspartei nie-
mand den Kampf mit den Fundis aufneh-
men. Auch Leute wie Bartsch treiben lie-
ber die SPD vor sich her. „Bewegt sich die
SPD nicht, dann ist das die Jobgarantie für
Angela Merkel“, sagt er. Und Wagenknecht,
die wirklich Einfluss auf den linken Rand
hätte, will keinen Konflikt riskieren, weil
sie ihren Aufstieg auch dem Zuspruch des
Sektiererflügels verdankt.
Für die Demokratie sind das keine guten
Aussichten. Im Jahr 2017 wird Merkel seit
zwölf Jahren Kanzlerin sein, und wenn
sich der Wahlkampf vor allem um die Fra-
ge dreht, wer sie wieder ins Kanzleramt
bringt, die Grünen oder die SPD, dann
wird die Sache ziemlich ermüdend.
Gabriel galt als das größte Wahlkampf-
talent in der SPD seit Gerhard Schröder.
Im Moment muss sich Merkel nicht allzu
sehr davor fürchten. Markus Deggerich,
Horand Knaup, René Pfister, Gordon Repinski

26 DER SPIEGEL 49 / 2014


Der alte Schwefelgeruch
Kommentar Am Testfall Thüringen zeigt sich, wie das politische System Die Linke diszipliniert.
Von Gerhard Spörl

I
mmer mal wieder kommt es vor, dass sich Landtags-
wahlen zu nationalen Ereignissen auswachsen. So
geschah es vor knapp 30 Jahren, als der erste grüne
Minister in Hessen den Amtseid leistete, so war es vor
dreieinhalb Jahren, als Winfried Kretschmann erster grü-
ner Ministerpräsident in Baden-Württemberg wurde. Und
so könnte auch Thüringen eine Zäsur erleben, wenn am
kommenden Freitag der Ministerpräsident gewählt wird
und Bodo Ramelow von der Linken eine Mehrheit be-
kommen sollte.
Jedes Mal handelt es sich um hochpolitische Akte mit
einiger Symbolkraft. Natürlich zählt das Ergebnis, vor
allem dann, wenn es so dramatisch knapp zugeht wie dies-
mal in Thüringen mit seiner Ein-Stimmen-Mehrheit. Aber
es lohnt sich auch, den politischen Prozess zu würdigen, Linken-
der dafür sorgt, dass solche Ereignisse mit überregionaler Fraktionschef
Bedeutung überhaupt zustande kommen. Ramelow
Mit dem Prozess ist das politische System gemeint, das
sich Deutschland halb freiwillig, halb aufgezwungen vor
65 Jahren gegeben hat. Es ist kompliziert, es hat wie jedes Heute ist sie eine wilde Mischung aus Neuem und Altem.
andere System Widersprüche und Widrigkeiten, aber es Dort finden sich ideologisch abgehärtete Abgeordnete,
bewährt sich regelmäßig, denn es übt osmotische Wirkung die Gregor Gysi bis auf die Toilette verfolgen lassen. Da-
auf neue Parteien aus. Die tauchen auf, gewinnen Anhän- neben gibt es respektabel gewordene Altkommunistinnen
gerschaft und Mandate und werden dann vom politischen wie Sahra Wagenknecht und kompromissgeneigte Ge-
System entweder integriert oder ausgesiebt. werkschafter wie Bodo Ramelow. Überdies hängt dieser
Nur ein kurzes Leben blieb den Piraten vergönnt. Partei noch der alte Schwefelgeruch an, den Stasi und
Allerlei nationalkonservative Parteien, wie die DSU, ver- SED ausströmten. Was daraus entsteht, hängt von der
suchten sich nach der Vereinigung zu etablieren, scheiter- Machtperspektive ab, in einem Land wie Thüringen oder
ten jedoch damit. Die AfD, die im Thüringer Drama eine in Berlin.
parasitäre Rolle spielen möchte, ist der neueste Anlauf,

S
eine Partei rechts von der CDU zu begründen. o ist Die Linke ein Beispiel dafür, wie das politische
Die Partei Die Linke ist erheblich weiter. Sie hat sich System auf Parteien einwirkt und sich dadurch er-
der inneren Folgerichtigkeit des politischen Systems un- neuert. Damit hat Deutschland zugleich für Buntheit
terworfen. Dazu gehört es, nicht nur immer wieder Abge- und Stabilität gesorgt. Darin liegt ein Vorzug, der sich im
ordnete in den Landtag zu schicken, sondern die Teilhabe Vergleich mit anderen Ländern erschließt.
an der Regierung anzustreben. Wenn eine Partei lange Frankreich ist eine erstarrte Demokratie, in der sich
genug hier und da mitregiert hat, Linke und Rechte abwechseln und jetzt hilflos zuschauen,
ist es konsequent, die Chance zu wie die nationalkonservative Rechte erstarkt. Auch in
Heute ist Die Linke nutzen und einen Ministerpräsiden- England sorgt das Mehrheitswahlrecht für ein Duopol,
eine wilde Mischung ten zu stellen. Und natürlich ist die auch dort wächst eine ressentimentgeladene Rechte au-
aus Altem und nächste Stufe die Beteiligung an ßerparlamentarisch heran, die vom Machtkartell hilflos
Neuem. Was daraus einer Bundesregierung.
Keine Partei kommt aus diesem
bekämpft wird. Italien hat schon mehrere Implosionen
des rechten wie des linken Lagers hinter sich und ringt
wird, hängt von Rationalisierungsprozess so heraus, mühsam um ein bisschen Kontinuität.
der Machtperspektive wie sie einmal hineingegangen ist. Die Beharrungskraft der deutschen Demokratie hat
ab, in Thüringen Aus radikalen Ideen werden prag-
matische Ziele, dazu bietet die Ge-
mehrere Ursachen, aber eine davon ist das politische
System mit seinem Primat der Machtbeteiligung. Parteien,
und in Berlin. schichte der Grünen wie der Linken die sich neu bilden, können lange behaupten, dass sie
Anschauungsunterricht. Neue Eli- systematisch Opposition betreiben möchten. Irgendwann
ten bilden sich, für die das Projekt Machtbeteiligung das ändern sie ihre Orientierung, wenn sie nicht eine flüchtige
höhere Ziel ist, dem sich Randgruppen aus der Gründungs- Erscheinung bleiben wollen. Dann müssen sie beweisen,
phase entweder unterwerfen oder durch Auszug entziehen. ob sie einen Unterschied machen oder nicht.
Vor allem junge Parteien häuten sich beständig. Die Linke hat sich der normativen Kraft des politischen
Die Linke ist einen langen Weg gegangen und jetzt auf Prozesses gebeugt. Das muss man nicht gut finden, es ist
einer Zwischenetappe angelangt. Ursprünglich war sie ein aber auch nicht zu leugnen. Auf diesem Weg dürfte sie
FOTO: MARIA FECK / LAIF

Traditionsverband für versprengte SED-Mitglieder und selbst dann bleiben, wenn es in Thüringen nicht auf An-
Stasi-Spitzel, eine Wärmehalle für Menschen, die sich die hieb klappen sollte. Für diese Partei liegt die Zäsur schon
DDR zurückwünschten, als der Kapitalismus übernahm. im Versuch, den alten Schwefelgeruch loszuwerden.

DER SPIEGEL 49 / 2014 27


Familienministerin Schwesig, Fraktionsvorsitzende Kauder, Oppermann

Merkels
rade erlebt: die Macho-Sprüche, die Ver- Kauders Macho-Spruch hat in Erinne-
achtung, das Nicht-ernst-genommen-Wer- rung gerufen, wie schwer sich manche in
den. Sie hat das alles überwunden. der Union bis heute mit Merkels Moderni-

Mädchen
„Und danach sind Sie zu einer der mäch- sierungskurs tun. Einerseits bewundern sie
tigsten Politikerinnen der Erde aufgestie- die Intelligenz und das taktische Geschick
gen“, sagt Schwesig. Es ist der Moment, in der Kanzlerin. Gerade Kauder ist für seine
dem es einem der Männer im Hintergrund Loyalität zur mächtigsten Frau Deutsch-
Koalition Solidarität unter Ost- zu viel wird. „Na, wir wollen aber nicht, lands bekannt. Andererseits haben sie sich
dass sich so etwas wiederholt“, schreitet noch immer nicht ganz daran gewöhnt, von
frauen: warum die Kanzlerin Kanzleramtschef Peter Altmaier ein. einer Frau geführt und regiert zu werden.
ihre Ministerin gegen Fraktions- Merkel ist die Sache mit Kauder pein- Für die SPD-Ministerin war die Heul-
chef Kauder in Schutz nahm lich. In langen Jahren hat sie die Union susenattacke ein Geschenk. Hatte Schwesig
vom Image des konservativen Männerver- vorher als etwas verbissene Verhandlungs-
eins befreit. Es ist ihr Projekt. Ihre Karriere führerin gegolten, der es an Geschick und

D
ie Tür öffnet sich, Angela Merkel und die Modernisierung der Union fielen Fingerspitzengefühl fehlt, verhalf Kauder
und die Familienministerin stehen dabei zusammen. Der persönliche Aufstieg ihr zu einer Welle der Solidarität – auch in
sich jetzt direkt gegenüber. „Das Angela Merkels gegen die konservative den eigenen Reihen. In der Union konnten
tut mir wirklich leid“, sagt die Kanzlerin Männerriege und die inhaltliche Liberali- manche nicht schnell genug Abstand ge-
zu Manuela Schwesig. Es ist der vergange- sierung der Partei und ihre Öffnung für winnen vom Fraktionsvorsitzenden. Von
ne Dienstagmittag im Kanzleramt. Vor ein modernes Frauenbild verliefen parallel. einem „Atavismus“ war die Rede.
dem Koalitionsgipfel am Abend sind die Dank des Modernisierungskurses von Besonders enttäuscht über den Verlauf
zuständigen Minister zu einem vertrauli- Merkel und ihrer Familienministerin Ursula der Quotendebatte sind die Frauen in der
chen Treffen mit Merkel zusammengekom- von der Leyen gelang es, den Sozialdemo- Unionsfraktion. Sie fürchten, dass die
men, um über die Frauenquote zu beraten. kraten eines ihrer ureigenen Themen strei- CDU bei gesellschaftspolitischen Themen
Aber bevor man in das Gespräch ein- tig zu machen. Seit von der Leyen verband wieder ins Hintertreffen zu geraten droht.
steigt, möchte Merkel sich entschuldigen. man Themen wie Elterngeld und Frauen- „Wir müssen aufpassen, dass wir gesell-
Eigentlich will sie Abbitte leisten für ihren quote mit der Union. Die SPD dagegen ver- schaftliche Weichenstellungen nicht ver-
Fraktionsvorsitzenden, der Schwesig am lor den Nimbus der Modernisierungspartei. schlafen“, warnt Karin Maag, Vorsitzende
Morgen als „weinerlich“ abgekanzelt hatte. Die Partei, die vor fast hundert Jahren das der Gruppe der Frauen in der Unionsfrak-
Nun klingt es fast so, als schäme sich die Frauenwahlrecht erkämpft hatte, hatte beim tion. „Das bedeutet auch, dass wir Frauen-
Kanzlerin für ihn. „Das geht so nicht“, sagt Thema Gleichberechtigung inhaltlich und und Familienthemen nicht gegen Wirt-
Merkel zu Schwesig, und das habe sie auch personell zu wenig Überzeugendes zu bie- schaftsthemen ausspielen können.“ Kau-
Volker Kauder erklärt. ten. Das schlug sich auch im Wahlergebnis der hatte die Frauenquote vor allem als
Schwesig ist überrascht, schließlich nieder. In den vergangenen zwei Bundes- bürokratische Belastung für die Wirtschaft
kommt es nicht alle Tage vor, dass die tagswahlen hat die SPD vor allem die jün- kritisiert. „Ich würde mir wünschen, dass
Kanzlerin sich entschuldigt. „Na, Sie wis- geren Frauen als Wählerinnen verloren. wir offensiv vertreten, dass die Frauenquo-
sen ja, wie das ist, Sie waren ja selbst mal Doch jetzt könnte sich der Trend um- te für die Wirtschaft eine Bereicherung ist
Familienministerin“, antwortet sie. „Ja, kehren. Inzwischen wird den Sozialdemo- und keine Belastung oder gar Gefahr“,
mich haben sie auch Zonenwachtel ge- kraten wieder erheblich mehr Kompetenz sagt Elisabeth Motschmann, Mitglied im
FOTO: HENNING SCHACHT

nannt“, flachst Merkel. bei Frauen- und Familienthemen zugetraut Bundesvorstand und Spitzenkandidatin ih-
Es ist ein Moment der doppelten Soli- als der Union. Und dank des hartnäckigen, rer Partei für die Bürgerschaftswahl in Bre-
darisierung über Parteigrenzen hinweg: aber von Anfang an aussichtslosen Wider- men im kommenden Jahr.
von Frau zu Frau, von Osten zu Osten. stands der Konservativen darf die SPD die Das Verhältnis der Unionsfrauen zu ih-
Merkel kennt nur zu gut, was Schwesig ge- Frauenquote jetzt für sich verbuchen. rem Fraktionschef ist seit Langem belastet.
28 DER SPIEGEL 49 / 2014
Deutschland

Schon im Streit um das Betreuungsgeld Kauder mag sich von dem Rüffel der halb Stunden dauerte das Feilschen, man
kam es zu emotionalen Szenen, bei denen Kanzlerin nicht bremsen lassen. Er weiß blieb hungrig, Mineralwasser musste her-
schließlich Kauder das „christliche Men- zwar, dass sie in allen wichtigen Fragen beigeschafft werden. Einig wurde man sich
schenbild“ bemühte, um den Frauen die das letzte Wort hat. Aber als Fraktionschef nicht. In dieser Woche müssen nun die
Zustimmung zur ungeliebten „Herdprä- hat er Möglichkeiten, bei missliebigen Pro- Fraktionschefs die Sache klären.
mie“ abzunötigen. Das kam nicht gut an. jekten mit Einwänden zu stänkern. Vergan- Das Spiel lässt sich fortsetzen. Denn im
Beim Thema Quote verbündeten sich gene Woche ermunterte er die Familien- kommenden Jahr steht ein Projekt an, das
die Unionsfrauen unter Führung der da- politiker seiner Fraktion, sich Schwesigs mindestens ebenso viel Anlass zu hart-
maligen Arbeitsministerin von der Leyen Gesetzentwurf zur Familienpflegezeit noch näckigem Widerstand bieten wird wie die
2013 sogar mit der Opposition. Zwar wei- einmal ganz genau anzusehen – unter be- Quote: das Gesetz zur Entgeltgleichheit,
gerte sich Kauder damals, die Abstimmung sonderer Berücksichtigung der Interessen das Lohnunterschiede zwischen Frauen
freizugeben, und die Unionsfrauen muss- der Wirtschaft. Dabei war eigentlich schon und Männern abbauen soll. Es ist – wie
ten das von den Grünen vorgeschlagene alles geklärt gewesen. die Quote – im Koalitionsvertrag verein-
Quotengesetz ablehnen. Doch im Gegen- Und so saßen die Familienexperten bei- bart. Aber der Teufel steckt wie immer im
zug versprach die Kanzlerin ihnen damals, der Fraktionen bereits am Donnerstag- Detail. Melanie Amann,
die Quote ins Wahlprogramm der Union abend, zwei Tage nach dem Eklat um die Christiane Hoffmann, Horand Knaup,
zu bringen. Und hielt Wort. Frauenquote, wieder zusammen. Dreiein- Ann-Katrin Müller, Gordon Repinski

erst mal nur begrenzt. Aktuell hat ihnen


„Zu wenig ganz tolle Frauen“ die Debatte sogar richtig geschadet.
SPIEGEL: Inwiefern?
Virzí: Es gab Unternehmen, die sich wäh-
Personalvermittlerin Christina Virzí über die Tücken der Quote rend der Quotendiskussion an die Spitze
der Bewegung setzen und mit schönen
Statistiken schmücken wollten. Da wur-
Virzí, 34, ist Geschäftsführerin von den Frauen auf Posten gehoben, die von
The Female Factor in Frankfurt am außen kamen und das Unternehmen
Main und vermittelt Frauen in Führungs- nicht kannten. Viele hatten nie in einem
positionen. Aufsichtsrat oder Vorstand gesessen.
Diese Frauen mussten scheitern. Sie
SPIEGEL: Haben Sie Ihre Urlaubspläne für wurden einfach verbrannt. Deswegen
das nächste Jahr schon verworfen, nach- bin ich auch gegen die Quote, obwohl
dem sich die Koalition jetzt endgültig ich aus Überzeugung Frauen vermittle.
auf die Details der Frauenquote verstän- Wir brauchen Frauen in den Unterneh-
digt hat? men, wir brauchen einen Kulturwandel,
Virzí: Mein Mann hat in weiser Voraus- aber nicht so.
sicht alle Urlaube fest gebucht, da gibt SPIEGEL: Bundesfrauenministerin Manue-
es kein Zurück. la Schwesig ist überzeugt, dass die Quote
SPIEGEL: Spüren Sie seit der Einigung ver- diesen „Kulturwandel“ bringen wird.
gangene Woche eine größere Nachfrage Virzí: Frühestens in einer Dekade. Die
aus der Wirtschaft? jetzt 16-Jährigen werden das vielleicht
Virzí: Die ist seit Langem hoch, schon we- erleben. Womöglich dauert es auch noch
gen der Debatte. Aber unsere Auftrags- länger, denn wir brauchen viel mehr För-
lage wird stetig besser. Und es gibt auch derung von klein auf. Durchsetzungs-
immer noch Unternehmen, die sich bis- stärke und Spaß am Wettbewerb lernt
lang gar nicht um Spitzenfrauen bemüht Virzí man im Kleinkindalter.
haben. Die suchen nun händeringend. SPIEGEL: Sie vermitteln über 1800 Frauen
SPIEGEL: Dabei war die Wirtschaft doch in Spitzenjobs, die ein Jahreseinkom-
gewarnt, seit Jahren wird über ein Quo- Aber die Frauen wollen ja gute Leistung men von mindestens 200 000 Euro erzie-
tengesetz diskutiert. bringen, mehr als eine Handvoll Posten len müssen. Ist die Quote für diese Frau-
Virzí: Ja, manche wollten es nicht wahr- nehmen die sicherlich nicht an. en überhaupt ein Thema?
haben. Man muss aber auch zugeben, SPIEGEL: Wie wird die Wirtschaft dann zu Virzí: Ja, für alle. Quotenbefürworterin-
dass der Bedarf nicht leicht zu decken genügend Frauen kommen? nen habe ich allerdings wenige kennen-
ist. Von den ganz tollen Frauen gibt es Virzí: Wir holen uns die Frauen auch jetzt gelernt. Die einen sagen, die Quote sei
zu wenige. schon aus dem Ausland, etwa aus Groß- nötig, weil man in den vergangenen Jah-
SPIEGEL: Wenn es nicht genug weibliche britannien. In anderen Ländern wie der ren gesehen habe, dass es anders nicht
Führungskräfte in Deutschland gibt, wer- Schweiz oder den Niederlanden ist das gehe. Und dann gibt es diejenigen, die
den dann ein paar wenige Frauen ein Dut- ähnlich. Dort greift man auf Auslände- stöhnen: „O Gott, dann muss ich mir
zend Aufsichtsratsposten bekommen? rinnen zurück, weil man selber, allein noch mehr blöde Sprüche von Männern
FOTO: TIM WEGNER / LAIF

Virzí: Das glaube ich nicht. Ungewöhnlich aufgrund der Bevölkerungszahl, nicht anhören, etwa dass Merkel uns Frauen
wäre es zwar nicht, die Männer sitzen genügend gute Frauen hat. Die deut- den roten Teppich ausrollt.“
schließlich auch in mehreren Gremien. schen Frauen profitieren von der Quote Interview: Ann-Katrin Müller

DER SPIEGEL 49 / 2014 29


Stumpfer
Speer
Verteidigung Die Nato
will viel schneller als bisher
in Osteuropa eingreifen
können. Was allerdings fehlt,
sind Geld und Logistik.

A
ls sich Mitte September die Gene-
ralstabschefs aller 28 Nato-Länder
in der litauischen Hauptstadt Vil-
nius trafen, sollte es ein Zeichen der Stär-
ke gegenüber Russland werden. Doch das
Ergebnis war ernüchternd. Die Pläne für
eine schnelle Eingreiftruppe, wie sie die
Staats- und Regierungschefs des Bündnis-
ses zwei Wochen zuvor beschlossen hat-
ten, erwiesen sich als unrealistisch. 5000
Mann, die innerhalb von zwei Tagen ein-
satzbereit sein sollen? Nicht machbar, lau-
tete das Fazit der Generäle. Dann müssten
die Soldaten ja „in Uniform schlafen“, reg-
te sich Amerikas ranghöchster Militär, Ge-
neral Martin Dempsey, auf.
Frühestens 2016 wird die „Very High
Readiness Joint Task Force“ bereitstehen.
Bis dahin soll eine Art „Speerspitze light“
als Abschreckung gegenüber Russland die-
nen, so wollen es die Nato-Außenminister
kommende Woche festlegen. Dabei han-
delt es sich im Kern um die bereits beste-
hende „Nato Response Force“ (NRF).
Die Einsatzregeln für die NRF wurden
vor Jahren beschlossen, weit vor Ausbruch
der Ukrainekrise, zu einer Zeit, als Russ-
land noch als friedfertiger Partner galt. Bin-
nen 30 Tagen sollen bis zu 25 000 Soldaten
weltweit zur Verfügung stehen, inklusive
schwerem Gerät wie Panzern. Mehrere
Manöver wurden abgehalten, ein echter
Einsatz blieb der Truppe erspart. Die Füh-
rung der NRF übernimmt ab 1. Januar tur-
nusgemäß das Deutsch-Niederländische
Korps. Der Kommandostab, rund 400 Sol-
daten und ziviles Personal, sitzt im west-
fälischen Münster.
Rund 5000 der NRF-Soldaten sollen jetzt
die neue provisorische Speerspitze bilden.
Von einer Einsatzbereitschaft binnen 48
Stunden ist nicht mehr die Rede, die Frist
ist auf fünf Tage bemessen. Aber auch das
bereitet den Militärs Kopfschmerzen, ge-
rade auch den deutschen.
Da ist vor allem die ungeklärte Kosten-
frage. Bislang gilt in der Nato das Prinzip,
dass dasjenige Land bezahlt, das die Trup-
pen stellt. Amerikaner und Kanadier sehen
die Europäer in der Verantwortung, die je-
doch kommen angesichts fast überall sin-
kender Verteidigungsbudgets schon jetzt
30 DER SPIEGEL 49 / 2014
Deutschland

an ihre Grenzen. Vor allem die großen nehin nicht die erhoffte Unterstützung
Truppensteller Deutschland, Frankreich vorgefunden, sagt ein hochrangiger Nach-
und Großbritannien weigern sich, die richtendienstler. Er verweist darauf, dass
Hauptlast zu tragen. die Bevölkerung in den Separatistengebie-
Ohne sie aber wird die schnelle Ein- ten Donezk und Luhansk keineswegs be-
greiftruppe nicht funktionieren, geplant geistert aufgestanden sei für die Sache
ist nämlich eine jährliche Rotation. Das Moskaus. 
bedeutet: Während eine Nation das In den Nato-Mitgliedsländern häufen
Kommando hat, soll sich die andere auf sich inzwischen auch kritische Stimmen
die Nachfolge vorbereiten, die dritte hat zur Öffentlichkeitsarbeit des Bündnisses.
noch erhebliche Nachwirkungen ihres ge- „Die gehen immer mit Informationen zu
rade abgeschlossenen Einsatzes. Bliebe es den Medien, die nur zu 50 Prozent ge-
bei nur drei „Rahmennationen“ Deutsch- sichert seien“, moniert ein Vertreter eines
land, Frankreich und Großbritannien, Landes das Vorgehen. 
müssten alle drei Länder ständig Truppen Mal war von 1000 russischen Soldaten
bereithalten – eine logistische und finan- die Rede, welche die Rebellen in der Ost-
zielle „Herkulesaufgabe“, so ein Nato- ukraine im Kampf unterstützten. Dann er-
General. klärte der Nato-Oberbefehlshaber in
Will die Speerspitze innerhalb von fünf Europa, Philip Breedlove, es sei nur knapp
Tagen an jedem möglichen Einsatzort in die Hälfte. Oft ist auch die Wortwahl un-
Europa sein, müssen zusätzlich Truppen- genau. Anfang vorvergangener Woche
transporter angemietet werden und quasi sprach Breedlove etwa von „Spezialein-
rund um die Uhr bereitstehen. Das kostet, heiten und regulären Einheiten der russi-
allein eine sogenannte Verlegeübung schen Armee“ in der Ukraine; wenige

Deutsch-Niederländisches Korps: „In Uniform schlafen“

schlägt mit 25 Millionen Euro zu Buche. Tage später präzisierte der US-General sei-
„Die Aufstellung der Eingreiftruppe mag ne Aussage: Es handele sich „vor allem um
politisch ein Symbol der Entschlossenheit Ausbilder und Berater“, nicht um „Kampf-
der Allianz sein“, sagt der Nato-General, verbände“.
„doch mit einem realen Einsatz rechnet Aus Geheimdienstkreisen von Nato-
niemand.“ Mitgliedstaaten kommt ebenfalls Kritik.
Zumal eine klassische militärische Ag- Deren Russlandexperten widersprechen
gression Russlands gegen einen Nato-Staat Alarmmeldungen der Nato-Zentrale aus
derzeit kaum zu erwarten ist. Weder gebe den vergangenen Wochen über „umfang-
es entsprechende politische Absichten reiche russische Luftaktivitäten in Europa“.
im Kreml noch erkennbare Vorbereitun- Die Dienste beobachten zwar seit Jahren
FOTO: FRISO GENTSCH / DPA

gen für eine Invasion in die Ukraine, einen „kontinuierlichen Anstieg von Rou-
heißt es in Geheimdienstkreisen. Mit tineaktivitäten“ – mehr jedoch nicht. Der
den jetzt zusammengezogenen russischen Luftraum der Nato sei bislang nicht ver-
Truppen an der ukrainischen Grenze sei letzt worden, heißt es, die Russen wären
nicht einmal die Besetzung von „Neu- ja „nicht dusselig“. Matthias Gebauer,
russland“ möglich. Moskau habe dort oh- Christoph Schult, Klaus Wiegrefe

DER SPIEGEL 49 / 2014 31


Protestcamp gegen eine drohende Abschiebung in München

Verliebt, verlobt, verhaftet


Ausländer Die Bundesregierung will die Zahl der Abschiebungen steigern. Damit treibt sie
die Asylpolitik weiter in einen Konflikt zwischen Machbarkeit und Menschlichkeit.

E
in Hochzeitsfoto: Das Brautpaar Mit dem Gesetz aus dem Haus von Bun- Welt schaffen lässt. Es ist, wie so oft im
steht auf einer Holzbrücke, irgend- desinnenminister Thomas de Maizière rea- Ausländerrecht, ein einziges Dilemma.
wo im Grünen, ganz romantisch. Sie giert die Koalition auf eine Misere. Auf Das Dilemma, dass zu wenige von den
im weißen Kleid. Er im schwarzen Smo- Not und Elend der deutschen Abschiebe- Richtigen und zu viele von den Falschen
king. Sie weiß. Er schwarz. Sie aus West- politik. Not, weil es tatsächlich die von abgeschoben werden. Das Dilemma, dass
falen. Er aus Westafrika. Und in den Ge- den Innenministern immer wieder beklag- es einerseits ohne Abschiebungen nicht
sichtern: das gleiche Lachen. Glück hat ten Fälle gibt: notorische Kriminelle, die geht, weil Gerichtsurteile auch durchge-
keine Hautfarbe. sich hier festkrallen, in Extremfällen jahr- setzt werden müssen; dass der Einzelfall
Wer es nicht besser weiß, hält es für das zehntelang und voller Verachtung für ei- andererseits aber fast immer schwer aus-
Glück, das von tausend Hochzeitsfotos nen Rechtsstaat, der es nicht mal schafft, zuhalten ist, sobald die Akte ein Gesicht
strahlt, das Glück einer gemeinsamen Zu- Leute wie sie aus dem Land zu befördern. bekommt und Papier sich in ein mensch-
kunft. Aber das hier leuchtet mehr, leuch- Aber auch Elend. Weil es genauso die liches Schicksal verwandelt.
tet anders. Weil beide wissen, wie viel anderen Fälle gibt, in denen Behörden mit Dazu noch das Dilemma, dass eine Ab-
Glück sie hatten, dass ihre Zukunft in der ganzen Härte des Gesetzes Ausländer schiebung meist nur noch die „Ehrlichen
Deutschland liegt. Das Hochzeitsbild ist rauswerfen, die nicht nur ihre Chance in und die Dummen“ trifft, wie es selbst in
nämlich noch etwas anderes, eine Art Ziel- Deutschland gesucht haben, sondern auch Vollzugsbehörden heißt. Denn am Ende
foto: Sina Rosenberg, 22, Studentin aus Ib- eine Chance für das Land gewesen wären. lassen sich oft nur die abschieben, die ihre
benbüren, und Aboudou Razaki Yekini, Menschen, die arbeiten wollten, sich ein- Pässe nicht weggeworfen und sich keine
27, abgelehnter Asylbewerber aus Benin, leben, eingliedern, einmischen. Legende zurechtgezimmert haben, wo-
haben einen Wettlauf gegen die Zeit ge- Der Gesetzentwurf, der ansonsten ein nach sie von Häschern gejagt oder gar
wonnen. Hochzeitstermin stand gegen großzügigeres Bleiberecht für Geduldete gefoltert wurden.
Abschiebetermin. Am Ende kam der Be- vorsieht, entscheidet sich an dieser Stelle Und noch verfahrener wird alles da-
scheid vom Gericht, dass Yekini alle Pa- für mehr Härte. Er legt eine schärfere durch, dass die Abschiebung als härteste
piere für die Trauung zusammen hat, einen Gangart gegen Ausländer ein, die unter Form der Ausländerpolitik auch ihre um-
Tag bevor das Flugzeug abgeflogen ist, das kein Bleiberecht fallen. Mit schnelleren strittenste ist. Ein Symbolthema, Weltan-
ihn zurückbringen sollte. Aus dem Ab- Abschiebungen, mit langjährigen Wieder- schauungsthema. Auf der einen Seite die
schiebeknast nach Benin. einreisesperren. Und mit einer neuen Kirchen, die Flüchtlingsverbände, auf der
Es ging also um das Glück der Rosen- Grundlage für die Abschiebehaft, die der anderen die Innenministerkonferenz, die
bergs, aber so wie in jedem Abschiebefall Bundesgerichtshof in diesem Sommer weit- auf ihrer Sondersitzung im Oktober for-
FOTO: NICOLAS ARMER / DPA

ging es auch um größere Fragen. So groß, gehend kassiert hatte – seitdem sind die derte, „bestehende Ausreisepflichten kon-
dass sich in der kommenden Woche das Abschiebeknäste so gut wie leer. sequent durchzusetzen“. Dazwischen zu-
Bundeskabinett damit befassen wird – mit Wer sich aber die deutsche Abschiebe- nehmend Landesregierungen wie die von
einem Gesetzentwurf nämlich, der das praxis genauer anschaut, die Mühsal des Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz, die
Aufenthaltsrecht neu sortiert und dabei Einzelfalls, der ahnt auch, dass sich die Mi- nicht länger für mehr Härte kämpfen
auch die Regeln für das Abschieben. sere mit einem neuen Gesetz nicht aus der wollen.
32 DER SPIEGEL 49 / 2014
Deutschland

Klar ist, dass früher deutlich mehr Aus- kommen, kurz vor seiner Hochzeit, haben nem Deutsch, das rau, eckig, aber ganz
länder abgeschoben wurden. Im Jahr 2000 die Behörden den Rechtsstaat offenbar in gut verständlich ist.
waren es noch rund 35 000. Dann gingen einen kalten Apparat verwandelt. Und dann ging es eben so, wie es im
die Zahlen zurück; seit 2008 pendelten sie Leben manchmal geht: Sina Rosenberg,
sich bei 8000 ein. Jetzt werden es allerdings
wieder mehr, 10 198 im vergangenen Jahr,
eine ähnliche Zahl wird für 2014 erwartet.
S o wie es die beiden erzählen, hatten
sich Yekini und Sina Rosenberg im Au-
gust 2012 in Hamburg kennengelernt, in
Studentin im Fach Öffentliche Verwaltung,
damals Praktikantin beim Hamburger
Senat, heute Angestellte der Stadt Braun-
Und noch etwas ändert sich: Vor ein paar einem Bus der Linie 12 nach Bergedorf. schweig, keine Asyl-Aktivistin, einfach nur
Jahren kamen nicht mal mehr 50 000 Asyl- Yekini hätte gar nicht in Hamburg sein dür- ein Mädchen, das einen Jungen im Bus
bewerber nach Deutschland. Dass man fen, er war als Asylbewerber in Sachsen- kennenlernt, verliebte sich in Yekini. Zwei
von den abgelehnten nur wenige nach Anhalt gemeldet. Er hatte den Behörden Jahre später wollten sie heiraten, und das
Hause schickte, schien deshalb „nicht so nach der Einreise im Herbst 2011 einen fal- hätte eigentlich der Moment sein können,
gravierend“, wie Bayerns Innenminister schen Namen gegeben und ein falsches Ge- wo der Staat sich zurückzieht.
Joachim Herrmann (CSU) zugibt. Bei burtsdatum, er hatte seinen Pass versteckt. Aber als die beiden am 20. August ver-
200 000 Asylbewerbern im laufenden Jahr Alles, damit sie ihn nicht abschieben konn- liebt, verlobt und doch sicher bald verhei-
könnte es mit der Gelassenheit aber bald ten, obwohl sein Asylantrag als „offensicht- ratet zum Standesamt gingen, wo Yekini
vorbei sein: Den 7548 Abschiebungen bis lich unbegründet“ durchgefallen war. eine eidesstattliche Versicherung zu seiner
Ende September standen im laufenden Und tatsächlich: Yekini war auch nicht Identität ablegen sollte, standen plötzlich
Jahr 38 940 Ausländer gegenüber, die so- politisch verfolgt worden, er wollte, sagt drei Polizisten neben ihm. Nahmen ihn
fort hätten gehen müssen. er, einfach nur die Welt sehen, raus aus noch auf dem Flur fest. Kurz vorher hatte
Als Argument für konsequentes Abschie- Afrika, eine neue Chance, vielleicht als Yekini seinen Pass vorgelegt, seine Tarn-
ben taugt solch ein Zahlenverhältnis jeden- Profifußballer, vielleicht als IT-Spezialist. Identität aufgegeben; einen Tag später saß
falls nicht. Solange es auch einen wie Abou- Das sind Gründe, für die es kein Asyl er in Haft und sollte, so die Ansage, am
dou Razaki Yekini fast erwischt hätte, kann geben kann, aber andererseits auch das, 10. September abgeschoben werden.
man sich aber genauso fragen, ob es über- was jeder Deutsche zu seinen Grundrech- „Das war die schlimmste Zeit meines Le-
haupt mehr sein sollten. Sein Fall zeigt, ten zählen würde; das Recht, aus seinem bens“, erinnert sich Yekini, „Haft ist etwas
dass alle Voraussetzungen für eine Abschie- Leben das Beste zu machen. „Ich will doch für Kriminelle, ich hatte keinem etwas Bö-
bung erfüllt sein können, nach Recht und arbeiten, will ein Plus für dieses Land sein, ses getan, ich wollte nur meine Traumfrau
Gesetz hätte man Yekini ins Flugzeug set- man sollte Menschen wie mir die Chance heiraten und mit ihr eine Zukunft aufbau-
zen müssen. Doch mit dem Versuch, ihn geben zu zeigen, was sie für Deutschland en.“ Und während die Zeit bis zum Ab-
im letzten Moment aus dem Land zu be- leisten können“, sagt Yekini heute, in ei- schiebetermin ablief, kämpfte seine Freun-

Asyl 312
in Deutschland Schleswig- 312
Holstein
Mecklenburg-
Vorpommern
319
11 Hamburg
631 Nieder- Bremen Berlin
sachsen 487
293
Branden- 195
Sachsen- burg
Nordrhein- Anhalt
Westfalen
2499 Sachsen
Hessen 330 863

823 Thüringen
417
Rheinland-
Pfalz Abschiebungen
255 durch die
Bundespolizei
179 Bayern
Saarland
Baden- 1297
Württemberg
975

Asylerstanträge 2013

bis 2999 3000 bis 6000 bis 10000 bis 15000


5999 9999 14999 und mehr
Brautpaar Yekini, Rosenberg
Abschiebungen 2013 Quellen: Bamf, BMI

DER SPIEGEL 49 / 2014 33


din mit der deutschen Bürokratie um die ein wegweisendes Urteil zur Abschiebe-
letzte Bescheinigung, die für die Trauung haft gefällt. Es ging um sogenannte Dub-
noch gefehlt hatte, die eidesstattliche Ver- lin-Fälle, also Flüchtlinge, die nach Deutsch-
sicherung ihres Mannes. Für die musste ein land durchgereist waren, obwohl sie in
Notar in die Abschiebehaft in Berlin-Kö- einem anderen EU-Staat zum ersten Mal
penick kommen, die Bescheinigung zum europäischen Boden betreten hatten. Nach
Standesamt senden, das Standesamt schick- der Dublin-Verordnung hätten sie dort
te sie zum Oberlandesgericht Hamm, das bleiben müssen.
Oberlandesgericht zurück zum Standesamt. Für diese Fälle, die in den vergangenen
Dort kam sie gerade noch rechtzeitig an, Jahren einen Großteil der Abschiebehäft-
bevor Yekini nach Benin geschickt werden linge ausmachten, verbot der BGH die
sollte. Die Ausländerbehörde des Saale- Haft. Der Grund: Der Bund habe es ver-
Kreises in Sachsen-Anhalt wollte mit Hin- säumt, in ein Gesetz zu fassen, wann
weis auf den Datenschutz vergangene Fluchtgefahr bestehe und eine Haft ge-
Woche dazu keine Stellung nehmen. rechtfertigt sei. Seitdem zählt die größte
deutsche Abschiebehaftanstalt in Berlin-

A ch, das sind immer diese Einzelfälle,


stöhnt einer der führenden Männer
bei der Bundespolizei. Diese plakativen
Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt
Die Knäste sind fast leer
Köpenick mit ihren 200 Plätzen nur noch
30 Insassen, die im brandenburgischen Ei-
senhüttenstadt mit rund 100 Plätzen weni-
Fälle, die ständig den Blick auf das Große ger als 10.
und das Ganze verstellten. Nämlich dass Das kann man natürlich gut oder
in Europa die meisten Asylbewerber nach schlecht finden, wie so vieles im Auslän-
Deutschland kämen. Und warum gerade derrecht, alles eine Frage des Standpunkts.
nach Deutschland? Weil hier so halbherzig Dieses Lagerdenken führt dazu, dass jedes
abgeschoben werde. Weil es oft Jahre dau- Bundesland auch auf seine Art mit Ab-
ere, bis einer wieder zurückmüsse. Wenn schiebungen umgeht. Die Asylparagrafen
überhaupt. Das, genau das, sei der Haupt- sind Bundesgesetze, die Abschiebungen
grund, der größte „Pullfaktor“. selbst aber sind Ländersache. Und An-
Ob man ihn damit namentlich zitieren sichtssache. Und eine Profilierungschance.
kann? Bloß nicht. Es gibt weiterhin Länder, die damit ihr
Die Bundespolizei schiebt im Auftrag Verhältnis zu Recht und Ordnung definiert
der Länder ab. Manchmal melden die Län- wissen wollen, Bayern etwa oder Sachsen,
der dann 30 Kandidaten für einen Abschie- wo die Unions-Innenminister Joachim
beflug an, 50 Polizisten sollen sie begleiten, Herrmann und Markus Ulbig gern beto-
aber 25 Ausländer kommen nicht, zum Bei- nen, dass die „Ausreisepflicht konsequent
spiel weil sie vorher untergetaucht oder durchzusetzen“ sei.
nicht flugfähig sind. Der Frust des Bundes- Innenminister de Maizière Ulbig hat gerade Arbeitsgruppen in
polizisten ist der Frust, den man genauso Schärfere Gangart allen Polizeidirektionen angekündigt, die
aus den Ausländerbehörden von Städten sich um straffällige Asylbewerber küm-
und Kreisen hört; und so wie die eine Seite Es ist einer der Fälle, die zeigen, dass es mern. Am Ende sollen, was sonst, schnel-
ihren Yekini hat, so hat die andere ihren ohne Abschiebungen nicht geht, Abschie- lere Abschiebungen stehen. In Bayern,
Ibrahim F. Denn auch die Beamten erzäh- ben aber nur sehr schwer geht. Bereits vor glaubt Minister Herrmann, stehe der Groß-
len gern ihre Einzelfälle, unter der Hand, drei Jahren hatte eine gemeinsame Arbeits- teil der Wähler hinter einem rigorosen
egal ob das nun den Blick aufs Große und gruppe der Länder, die Rückführungspro- Kurs.
Ganze versperrt oder nicht. bleme lösen soll, einen verbitterten Bericht Doch auf der anderen Seite kommt
Ibrahim F. also. Fiel auf, weil er am über Vollzugsdefizite geschrieben. Viele selbst in konservativen Milieus gerade et-
7. August aus Freetown, Sierra Leone, ein- Abschiebungen müssten abgebrochen wer- was ins Rutschen. In Bayern gewährten in
reiste und zwei Tage später Schüttelfrost den, weil Ausländer sich wehrten, mit diesem Jahr schon mehr als hundert Ge-
hatte. Er meldete sich in einem Hamburger Selbstmord drohten oder sich selbst ver- meinden Kirchenasyl. Ein sprunghafter An- FOTOS: PATRICK PLEUL / DPA (O.); THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES (U.)
Krankenhaus, Ebola-Verdacht, F. hatte letzten. In anderen Fällen komme es erst stieg, auch beseelt von Papst Franziskus,
Glück: ein Verdacht, der sich nicht bestä- gar nicht mehr zum Versuch einer Abschie- der erst vergangene Woche wieder forderte,
tigte. Es zeigte sich aber, dass Ibrahim F., bung, weil Politiker vor Protestgruppen das Mittelmeer nicht zum Friedhof werden
abgelehnter Asylbewerber, schon seit 2002 einknickten und sich lieber zurückhielten, zu lassen, die Herzen zu öffnen.
mit einer Duldung in Hamburg lebte und als auf die Ausreise zu pochen. „In den vergangenen Jahren ist ein Wan-
behauptete, in Sierra Leone politisch ver- Auf einer sogenannten Problemstaaten- del spürbar, der selbst vor den Innen-
folgt zu werden. In dem Land also, das er liste führt die Bundesregierung 28 Staaten, behörden nicht haltmacht“, sagt der Frank-
gerade besucht hatte. die sich zieren, ihre Staatsbürger zurück- furter Asylanwalt Reinhard Marx. Und so
Sein Vorstrafenregister verzeichnet für zunehmen; China, Nigeria und Pakistan gibt es auch Länder, die den Wandel zum
November 2005 Drogenhandel mit Crack, gehören dazu, ebenso Ägypten und Iran. politischen Programm machen. Nieder-
für Dezember 2007 Freiheitsberaubung, Nicht zu vergessen die Länder, in die aus sachsen etwa, früher bekannt für eine har-
für März 2008 räuberischen Diebstahl, für guten Gründen nicht abgeschoben werden te Linie, hebelt immer mehr Abschiebe-
2010 zwei Verurteilungen wegen Drogen- darf – nach Afghanistan etwa werden nur beschlüsse mit seiner Härtefallkommission
handels, für 2012 eine gefährliche Körper- junge, ledige Männer und Straftäter zu- aus. Die kann sich aus humanitären Grün-
verletzung. Warum Ibrahim F. bisher nicht rückgeschickt. den über Recht und Gesetz hinwegsetzen,
abgeschoben wurde, darüber schweigen In diesem Jahr ist die Arbeit der Ab- und damit sie dazu die Chance bekommt,
die Hamburger Behörden – aus Gründen schieber noch schwieriger geworden. Im müssen die Ausländerbehörden jetzt je-
des Datenschutzes. Sommer hat der Bundesgerichtshof (BGH) dem vor seiner Abschiebung mindestens
34 DER SPIEGEL 49 / 2014
Deutschland

zweimal sagen, dass er sich an die Kom- Bleiberecht für geduldete Asylbewerber, entgehen. Außerdem sollen die Behörden
mission wenden kann. die seit Jahren in ständiger Angst vor dem notfalls Computer oder Speichersticks
Dort reicht eine einfache Mehrheit aus, Rauswurf leben mussten. Er gilt künftig durchflöhen dürfen, um herauszufinden,
damit der Fall bei Minister Boris Pistorius für junge Leute, die vier Jahre erfolgreich mit wem sie es zu tun haben.
(SPD) landet, mit der Bitte um einen Gna- in Deutschland zur Schule gegangen sind – Die Abschiebeknäste werden sich wohl
denakt – in Hamburg zum Beispiel muss bisher mussten es sechs sein. Außerdem auch wieder füllen, weil der Entwurf klar-
das Votum einstimmig sein. Und während für Erwachsene, die gut Deutsch sprechen, stellt, wann tatsächlich Fluchtgefahr be-
in Niedersachsen der damalige Innen- ohne staatliche Hilfe klarkommen und seit steht – so wie es die EU verlangt hat. Was
minister Uwe Schünemann (CDU) 2012 nur acht Jahren hier leben; mit einem Kind dann zu Abschiebehaft führen kann, ge-
46-mal eine Ausweisung stoppte, kippte reichen sechs Jahre. hört zu den üblichen Begleiterscheinungen
Pistorius in den ersten acht Monaten dieses Einer der letzten Streitpunkte zwischen einer illegalen Einreise: dass Asylbewerber
Jahres bereits 79 Abschiebebeschlüsse. Union und SPD war vorige Woche, wann einen Schleuser bezahlt oder Behörden
Eine andere Landesregierung geht noch die Bewerber weitgehend in der Lage sein einen falschen Namen gegeben haben.
weiter: In Rheinland-Pfalz ist für Abschie- müssen, ihren Lebensunterhalt selbst zu Fluchtgefahr gilt auch für Dublin-Fälle,
bungen nicht mehr das Innenressort, son- verdienen: irgendwann später, wie die SPD wenn es konkrete Hinweise gibt, dass ein
dern die Integrationsministerin zuständig, meint, oder, so die Union, gleich zu Be- Asylbewerber in Deutschland bleiben will,
die Grüne Irene Alt. „Wir schauen anders ginn, wenn sie den Antrag stellen, und ab- statt ein laufendes Verfahren in einem an-
auf die Fälle“, sagt sie, „wir wollen uns für sehbar auch in Zukunft. deren EU-Staat abzuwarten.

die Flüchtlinge einsetzen, eine Politik der Mindestens so wichtig ist ein anderer Und die Behörden können jahrelange
Willkommenskultur anbieten.“ Abschie- Passus: Ausländer, die Behörden anfangs Wiedereinreisesperren verhängen. Nur der
bungen? „Wir beachten natürlich die Bun- mit erfundenen Namen und Lebensge- umstrittene Plan, Abschiebekandidaten
desgesetze, aber ich bin überzeugt, dass schichten geleimt hatten, können trotz- notfalls ohne Richter in Gewahrsam neh-
wir – von unumgänglichen Einzelfällen ab- dem in vielen Fällen ein Bleiberecht er- men zu dürfen, fehlt im aktuellen Entwurf.
gesehen – auch ohne Abschiebungen aus- halten – wenn sie rechtzeitig zum Antrag Jetzt muss doch ein Richter so etwas an-
kommen könnten.“ Abschiebehaft? „Soll- doch noch ehrlich werden. Ohne diese Re- ordnen, und mehr als vier Tage darf der
te abgeschafft werden.“ Zwar hat auch gelung wären Tausende von vornherein Gewahrsam nicht dauern.
Rheinland-Pfalz im vorigen Jahr 255 Aus- chancenlos. Ebenfalls für ein freundliches
länder gegen ihren Willen heimgeschickt,
aber 780 sind freiwillig ausgereist, geför-
dert mit Geld aus einem mit 1,3 Millionen
Willkommen steht eine Aufenthaltserlaub-
nis für Ausländer mit Bildungsabschlüssen,
die in Deutschland nicht anerkannt sind.
F ür Aboudou Razaki Yekini sind die Jah-
re der Angst dagegen zu Ende. Er hat
seine Traumfrau gefunden, das war sein
Euro gefüllten Landestopf. „Damit können Sie dürfen für 18 Monate einreisen, um Glück, in jeder Weise. Nur dass er deshalb
sich die Menschen eine Existenz in ihrer ihre Lücken zu schließen, und noch mal noch lange nicht Deutscher werden kann,
Heimat aufbauen, das ist immer besser als 12 Monate bleiben, um hier eine Stelle zu das wird noch Jahre brauchen, und dass
eine Zwangsmaßnahme“, sagt Alt. finden. er jetzt erst mal nur geduldet ist und nur
Andererseits setzt der Entwurf aber auf unter strengen Auflagen arbeiten darf.

S o ist die Republik, hier so, dort so. Und


nun auch der Gesetzentwurf der Bun-
desregierung, mal so, mal so. Einerseits
mehr Härte, wenn ein Ausländer gehen
soll, aber partout nicht gehen will. Wer
noch keine fünf Jahre im Land ist, wer
Aber das ist ein anderes Kapitel des deut-
schen Ausländerrechts, noch eines, das
man so oder so sehen kann.
untermalt die Republik damit ihre neue, auch noch getrickst hat, der hat künftig Jürgen Dahlkamp, Horand Knaup,
weiche Linie, mit einem freundlicheren schlechtere Chancen, der Abschiebung zu Maximilian Popp, Andreas Ulrich

DER SPIEGEL 49 / 2014 35


Kontrahenten Strobl, Wolf

Schwarzer
entscheid, wer ihr Spitzenkandidat bei der Der Absender trommelte in gewagter Syn-
Landtagswahl 2016 werden soll. Am Frei- tax für das letzte der sechs Duelle: „Wie
tag wird das Ergebnis feststehen. Sie wissen, ist Appenweier der Wahlkreis

Showdown
Nach einer Serie von sechs Großveran- von Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang
staltungen zeichnet sich noch kein Sieger Schäuble, und dieser wird dabei sein und
ab. Der Bundespolitiker Strobl, 54, spielt mit Sicherheit für Thomas Strobl versu-
seine Bekanntheit und sein politisches chen, Stimmung zu machen. Entgegnen
Baden-Württemberg Wer Gewicht aus; er ist nicht nur CDU-Landes- wir dem und machen für Guido Wolf Stim-
chef, sondern auch stellvertretender Vor- mung!!“
vermag den grünen Minister- sitzender der Bundestagsfraktion und Vize Manche Christdemokraten erinnern die
präsidenten Kretschmann von Parteichefin Angela Merkel. Sein Ri- Scharmützel an den vorigen Mitgliederent-
zu stürzen? Die CDU kämpft – vale Guido Wolf, 53, Präsident des Land- scheid vor zehn Jahren. Der Zweikampf
tags von Baden-Württemberg, setzt auf von Günther Oettinger und Annette Scha-
vorerst mit sich selbst. eine Sympathie-Offensive. van 2004 artete zu einer Schlammschlacht
Doch der Showdown vor der eigent- aus und spaltete die Partei auf Jahre. Noch

A
n Thomas Strobl kommt keiner un- lichen Wahl könnte der CDU mehr scha- immer sind sich die beiden Lager nicht
gegrüßt vorbei. Der Kandidat hat den als nützen. Bis vergangenen Donners- grün. Das städtisch-liberale neigt eher
sich an der einzigen Tür postiert, tag hatten erst 43 Prozent der Mitglieder Strobl zu, das ländlich-konservative hin-
die vom Vorraum der Arena Hohenlohe ihr Votum abgegeben. Eine Massenmail, gegen Wolf.
in Ilshofen in die Halle führt. Gegenüber die die Landesgeschäftsstelle an die Wahl- Der Politik-Profi Strobl schien bislang
einer Biertheke schütteln Strobl und seine berechtigten schickte, klang verzweifelt: den glatteren Lauf zu haben. Seine Kam-
Frau Christine, beide in Schwarz gekleidet, „Seien Sie dabei – nutzen Sie diese Mög- pagne ist sorgsam orchestriert. Pünktlich
die Hände der eintreffenden CDU-Mitglie- lichkeit! Gehen Sie wählen! Eine hohe zum ersten Aufeinandertreffen der Kon-
der, als wären sie hier die Gastgeber. Wahlbeteiligung gibt unserem Spitzen- kurrenten lagen in der Halle Zettel mit
Sein Konkurrent, Guido Wolf, steht ein kandidaten Rückenwind für den Land- dem Ergebnis einer Meinungsumfrage von
paar Meter weiter, schon innerhalb des tagswahlkampf! Wir wollen Grün-Rot 2016 Infratest dimap aus. Demnach trauten 33
Saales. Man übersieht ihn leicht inmitten ablösen!“ Prozent der Befragten Strobl zu, die Partei
seiner Helfer. Er nimmt sich Zeit für kleine Desinteresse wäre für die Partei noch erfolgreich in die Landtagswahl zu führen,
Gespräche und lässt Parteifreunde in sei- schlimmer als ein Zweikampf mit harten Wolf nur 21 Prozent. Unter den Unions-
nem Rücken unbeachtet vorbeigehen. Ein Bandagen, wie er zuletzt auf einer Sitzung anhängern fiel die Differenz mit 39 zu 24
Fehler? „Wolf ist halt bescheiden“, sagt ei- der Landtagsfraktion moniert wurde. Die Prozent noch größer aus.
ner seiner Anhänger, der die Veranstaltung CDU-Landesgeschäftsstelle hatte in einer In der vorvergangenen Woche nominier-
vorvergangene Woche besucht. „Strobl früheren Mail an Funktionsträger auf das te der Landesvorstand Strobl – neben des-
FOTO: UWE ANSPACH / DPA

neigt zur Show.“ Ergebnis einer Meinungsumfrage verwie- sen Schwiegervater Schäuble – erneut für
Das schwarze Duell im Südwesten steht sen, das für Strobl vorteilhaft war. das Präsidium der Bundes-CDU. In der
kurz vor der Entscheidung. Bis Dienstag Dessen Lager wiederum ärgerte sich Bunten erschien vergangenen Donnerstag
bestimmen die knapp 70 000 Mitglieder über E-Mails wie die eines CDU-Funk- ein Doppelinterview mit Strobl und seiner
der CDU Baden-Württemberg per Brief- tionärs aus Tuttlingen – Wolfs Heimatort. Frau. Kaum ein Tag, an dem er sich nicht
36 DER SPIEGEL 49 / 2014
Deutschland

zu Wort meldet, gern auch per Pressemit- te zum grauen Anzug, sein silberner Sei-
teilung der Landes-CDU. Strobl warnt vor tenscheitel sitzt wie immer perfekt.
einer Überforderung der Kommunen bei Er habe ja vorgehabt, in Berlin zu sein,
der Flüchtlingsunterbringung, Strobl steht angesichts des historischen Datums. „Aber
den Beamten gegen Gehaltskürzungen bei. bei euch ist es viel gemütlicher.“ Strobl re-
Wolf setzt dagegen auf seine Nahbarkeit. det über Bundespolitik, er erklärt, dass es
Er war Richter, Bürgermeister in Nürtin- ein historischer Fehler der SPD sei, in Thü-
gen und Landrat in Tuttlingen. „Runter ringen „der umbenannten SED“ an die
vom hohen Ross, nah bei den Menschen“, Macht zu verhelfen. Dann spricht er über
so lautet sein Motto. In seinem Kurzpro- Baden-Württemberg: Standortfeindlich sei
gramm schreibt er: „Guido Wolf ist genau- die grün-rote Landesregierung, sie rufe
so wie Lothar Späth, Erwin Teufel und Bundesmittel für den Straßenbau nicht ab
Günther Oettinger in der Kommunal- und und sorge für Schulchaos.
Landespolitik zu Hause.“ Der Hobbydich- Am folgenden Abend tritt sein Kontra-
ter tourt schon seit Monaten durchs Land, hent im Theater Alte Kelter in Winnenden
über 200 Veranstaltungen hat er absolviert, auf. Wolf, dunkler Anzug, schwarze Brille,
er nennt es eine „Graswurzelkampagne“. stützt sich auf einen stoffbezogenen Steh-
Zudem weiß er die Mehrheit in der tisch und wettert über den Länderfinanz-
Landtagsfraktion hinter sich. Dort gibt es ausgleich. Er warnt: Wer den einen Win-
Vorbehalte gegen den Parteichef. „Strobl fried – Ministerpräsident Kretschmann –
war nie richtig drin in der Landespolitik“, wähle, bekomme den anderen Winfried
sagt ein Abgeordneter. Er setze keine im Doppelpack dazu, den in der Union
eigenen Akzente, sondern passe sich an. verhassten Verkehrsminister Hermann.
„Strobl versteht es, sich an die Spitze einer Wolf hat ein bisschen mehr fürs CDU-Herz
Bewegung zu setzen“, so der Abgeordnete. im Programm. Er sagt: „Es muss Familie
Seine Initiativen seien nur Tünche, etwa sein, die über Familie entscheidet. Es darf
das Förderprogramm „Frauen im Fokus“. nicht der Staat sein, der über Familie ent-
Im Hintergrund geht es auch um Pfrün- scheidet.“ Und über die Schulen: „Wir wol-
den und potenzielle Ämter. So fürchten len keine Gleichmacherei.“
einige Landtagsabgeordnete, Strobl könne In Umfragen liegt die CDU stabil bei
sein Personal vor allem unter den Bundes- rund 40 Prozent, so stark wie Grüne und
tagsabgeordneten rekrutieren. SPD zusammen. Doch während sich Strobl
Strobl hält sich zugute, die Partei nach und Wolf beharken, schraubt Ministerprä-
der traumatischen Niederlage gegen Grün- sident Kretschmann seine Popularität auf
Rot 2011 geeint und modernisiert zu ha- den Rekordwert von 70 Prozent – und hat

Während sich Strobl und Wolf beharken, schraubt


der Regierungschef seine Popularität auf Rekordwerte.
ben. Der Mitgliederentscheid war seine seine Landesvater-Wahlkampagne noch
Idee. Weite Teile des Regierungspro- nicht einmal gestartet.
gramms will er von der Basis erarbeiten Eine niedrige Mitgliederbeteiligung,
lassen. „Wir haben die Fenster und die Tü- kombiniert mit einem knappen Ergebnis,
ren in der CDU Baden-Württemberg ganz wäre für die CDU ein PR-Desaster. Mit
weit geöffnet“, ruft er bei seinen Reden 60 zu 40 Prozent gewann Oettinger seiner-
ins Publikum. Und: „Wir haben einen Neu- zeit gegen Schavan, die Wahlbeteiligung
anfang gemacht.“ von damals 71 Prozent scheint unerreich-
Er selbst war allerdings schon für die bar. Gut möglich, dass dann in der Partei
alte Regierung in wichtiger Funktion tätig. weitere Gräben aufreißen. Wie in Nord-
Er diente unter Stefan Mappus als Gene- rhein-Westfalen 2010. Dort siegte bei einer
ralsekretär. Wenn sein Kontrahent Wolf Wahlbeteiligung von 53 Prozent der Bun-
heute sagt: „Wegen Überheblichkeit haben despolitiker Norbert Röttgen nur knapp
wir die letzte Wahl verloren“, dann richtet mit 55 zu 45 Prozent gegen den volksna-
sich das auch gegen Strobl. hen Landesminister Armin Laschet – und
Die beiden liefern sich einen Wettlauf ging dann bei der Landtagswahl unter.
der Volkstümlichkeit bei Veranstaltungen Zur Siegerkür am Tag vor Nikolaus sol-
wie dem Dämmerschoppen der CDU len beide Kandidaten in Stuttgart sein,
Waldkirch bei Freiburg. Rund 30 Partei- man will Geschlossenheit ausstrahlen. Die
freunde sind am Abend des 9. November beschwören die Rivalen auch am Ende
in den Orgelbauersaal gekommen. Zur Be- ihres Auftritts in Ilshofen. Es sei nicht ein-
grüßung wird dem Gast ein Lied auf dem getreten, was man der Partei prophezeit
Leierkasten vorgespielt, es gibt Weinschor- habe, „dass wir uns zerlegen, dass wir uns
le und Hefezopf. Das Lied endet, Strobl spalten“, entgegnet Strobl einem Kritiker
ruft „Bravo“, es folgt ein zweites, darauf am Saalmikrofon. Und Guido Wolf sagt:
ein Kurzvortrag über die Geschichte des „Am 5. Dezember muss klar sein: Grün-
Orgelbaus in Waldkirch. Dann darf der Rot ist unser Gegner, Kretschmann ist un-
Kandidat reden, er trägt eine rosa Krawat- ser Gegner.“ Jan Friedmann

DER SPIEGEL 49 / 2014 37


Deutschland

„Ich war viel schlimmer als Sie“


SPIEGEL-Streitgespräch Tut die Große Koalition zu viel für die Alten? Stößt sie die Jungen
vor den Kopf? Und was kommt nach Angela Merkel? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
diskutiert mit Jens Spahn, der beim CDU-Parteitag ins Präsidium aufsteigen will.

Schäuble: Was sind Sie eigentlich von Beruf, abbezahlen. Trotzdem tun wir viel zu für den Koalitionsvertrag gestimmt, auch
Herr Spahn? wenig, um uns auf die Probleme einer Sie. Das Ganze war ein Kompromiss, um
Spahn: Bankkaufmann. Nicht Jurist wie Sie. älter werdenden Gesellschaft vorzube- eine stabile Regierung hinzubekommen,
SPIEGEL: Kann dieses Gespräch gut gehen, reiten. und das ist es, was der Wähler wollte. CDU
Herr Schäuble? Wenn er kein Jurist ist? Schäuble: Darüber lohnt es sich zu streiten, und CSU haben den Verzicht auf neue
Schäuble: Es wird schwer, fürchte ich. aber der Ton macht die Musik. Ein Streit Schulden und auf Steuererhöhungen
SPIEGEL: Wir versuchen’s trotzdem. Beim zwischen den Generationen ist das Letzte, durchgesetzt, was der SPD sehr, sehr
CDU-Parteitag kommende Woche in Köln was wir brauchen. Sonst fällt das Land aus- schwergefallen ist nach ihrem verbohrten
kandidiert Jens Spahn für das Präsidium. einander. Wahlkampf. Aber, stimmt schon: Wir zah-
Anders als sonst gibt es mehr Kandidaten SPIEGEL: Der Verteilungsstreit lässt sich len auch einen Preis.
als Posten. Stört das den friedlichen Pro- kaum vermeiden. Was Sie für Kitas oder SPIEGEL: Als Antwort auf die Rente mit 63
porz? Bildung für junge Menschen ausgeben, wollen die Jüngeren in der CDU es Rent-
Schäuble: Ach was, mich interessieren Pro- können Sie nicht an die Älteren ausschüt- nern umgekehrt einfacher machen weiter-
porzfragen nicht so sehr. Ich kandidiere ten, wie gerade geschehen. zuarbeiten, wenn sie wollen. Das müssten
ja auch, und ich bin einfach Wolfgang Spahn: Wir als junge Generation würden doch alle Generationen begrüßen?
Schäuble. etwas falsch machen, wenn wir etwa die Spahn: Eigentlich ja, aber heute ist es so:
Spahn: Na ja, die Jüngeren sind im Präsi- Rente mit 63 nicht laut kritisieren würden. Wer zusätzlich zur Rente arbeitet, muss

FOTOS:WERNER SCHUERING/ DER SPIEGEL )L.U.R.)


dium wirklich nicht überrepräsentiert. Das Sie setzt einfach das falsche Signal in einer trotzdem weiter in die Renten- und Ar-
ist ein Grund, warum ich antrete, unter- Zeit, wo die Rente mit 67 gerade Akzep- beitslosenversicherung einzahlen, obwohl
stützt von der Jungen Union und der Mit- tanz gewonnen hatte. Wir haben im ersten er aus beiden Kassen kein Geld mehr be-
telstandsvereinigung in der CDU. Jahr der Großen Koalition viel zu sehr auf kommen kann: Er kann ja nicht mehr ar-
Schäuble: Jugend allein ist keine Qualifi- die Gegenwart geschaut und viel zu wenig beitslos werden und bezieht schon Rente.
kation. Weder irgendein Landesverband gefragt, wie wir auch noch 2030 erfolgreich Das will aber Herr Schäuble nicht.
noch die Junge Union haben ein Anrecht sind. Dabei sind wir schon heute die zweit- Schäuble: Nach dieser Logik kann man
auf einen Platz im Präsidium. Die Dele- älteste Nation auf der Welt. nur dann dazu motiviert werden, Solidar-
gierten dürfen wählen, wen sie wollen. Schäuble: Da ist was dran, Herr Spahn, aber leistungen zu erbringen, wenn man sie an-
SPIEGEL: In der Praxis wird aber genau be- ich darf Sie daran erinnern: Wir alle haben schließend auch selbst in Anspruch neh-
achtet, dass Mann und Frau, alle Regionen
und Altersschichten vertreten sind.
Schäuble: Früher machten wir den Witz:
Wenn eine evangelische Frau mit Vertrie-
benenhintergrund aus dem Arbeitnehmer-
lager antritt, ist sie drin. Aber im Ernst:
Natürlich sollte eine Volkspartei alle Re-
gionen und die verschiedenen gesellschaft-
lichen Milieus in der Führung abbilden.
Spahn: Jugend ist kein Wert an sich, das
stimmt schon. Alter aber auch nicht.
Schäuble: Alter bringt immerhin Erfahrung,
und die kann selten schaden. Trotzdem
habe ich viel Sympathie für die Kandidatur
von Jens Spahn. Er ist mir als einer der
Streitlustigeren in der Partei und im Parla-
ment aufgefallen. Damit kann er einem
manchmal ganz schön auf die Nerven ge-
hen, aber das gefällt mir.
SPIEGEL: Jens Spahn streitet sich gern über
die Frage, ob die Große Koalition zu viel
für die Älteren tut und zu wenig für die
Jüngeren. Gefällt Ihnen das auch?
Spahn: Moment mal. Die Schwarze Null,
der ausgeglichene Bundeshaushalt, ist ein
toller Erfolg. Dafür kämpfe ich, seit ich
vor 19 Jahren in die Junge Union einge-
treten bin. Keine neuen Schulden mehr
zu machen ist gut für alle künftigen Ge-
nerationen. Sie müssten die nämlich sonst
38 DER SPIEGEL 49 / 2014
men darf. Aber Solidarität ist eben nicht Und er ist wichtig, damit die arbeitenden kann. Das ist völlig selbstverständlich für
ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Leistungsträger, die eh schon alles bezah- meine Generation. Und darum ist für viele
Spahn: Der sinnvolle Verzicht auf Beiträge len, nicht überstrapaziert werden. Ich räu- so schwer, sich vorzustellen, dass es ganz
zur Arbeitslosenversicherung kostet bis- me aber ein: Neben der kalten Progression schnell auch wieder anders sein könnte.
lang nur 60 Millionen Euro im Jahr. Gegen gibt es weitere Zukunftsdebatten, die wir Dass wir etwas dafür tun müssen, um diese
die Milliarden für die anderen Renten- angehen müssen. Freiheit zu bewahren.
regelungen ist das ein Klacks. Schäuble: Dann führt sie doch, ihr Helden! Schäuble: Ich bin da bei Ihnen: Wie kann
Schäuble: Sie rechtfertigen einen Fehler, Spahn: Ich finde, wir müssen aufpassen, man den Leuten klarmachen, dass etwas,
den Sie machen wollen, mit etwas, das Sie dass wir nicht zu träge werden. Deutsch- was sie als Selbstverständlichkeit sehen, in
gerade selber einen Fehler genannt haben. land geht es so gut wie seit Jahrzehnten Wahrheit sehr, sehr wertvoll ist? Darauf
Herr Spahn, Sie sind auf dem Holzweg! nicht, und mein Eindruck ist, jetzt wollen müssen wir Antworten finden. Mit den al-
SPIEGEL: Es stimmt doch, dass 60 Millionen die Deutschen das erst mal genießen. Die ten Geschichten allein gewinnt man nichts,
gegenüber sechs Milliarden Euro etwa für Kehrseite ist: Wir sind inzwischen zu we- zumindest keine Zustimmung bei den Jün-
die Mütterrente kaum ins Gewicht fallen. nig neugierig, alles Neue wird zu oft re- geren. Die junge Generation ist heute viel
Schäuble: Nach dieser Logik sind Fehler flexhaft abgelehnt. Aber mit Angst gestal- weltoffener, als es meine Generation in die-
okay, solange sie „nur“ 60 Millionen Euro tet man die Zukunft nicht. sem Alter war. Aber wenn unsere Kinder
kosten. So was leuchtet vielleicht SPIEGEL- Schäuble: Das ist ein Gedanke, der mich und Enkelkinder in einer Welt leben wol-
Redakteuren ein. Aber zu Hause im Wahl- auch umtreibt: Wie bekommen wir so viel len, in der die Menschenrechte eingehalten
kreis komme ich damit nicht durch. Im Spannung in unsere Gesellschaft, dass da- werden und in der es sozial gerecht zugeht,
Übrigen: Das Geld für die Mütterrente raus Energie, Dynamik entsteht, die wir dann muss Europa in der Globalisierung
stammt nicht aus dem Bundeshaushalt, das für die Zukunft brauchen? Es ist gut, dass weiter eine Rolle spielen. Das ist die Ge-
ist der Unterschied. ihr da Fragen stellt. Es ist gut, dass wir schichte, die wir heute erzählen müssen.
SPIEGEL: Ein anderes Signal an die Jüngeren euch haben. Ihr müsst drängen, so entsteht Spahn: Wir finden es großartig, dass wir
könnte doch sein, die kalte Progression im Bewegung in einer Gesellschaft. Ich war mit dem Handy jederzeit mit jedem auf
Steuerrecht zu beseitigen. Dann bleibt de- viel schlimmer als Sie, Herr Spahn! der Welt kommunizieren und für 49 Euro
nen, die heute arbeiten, mehr vom Gehalt. SPIEGEL: Herr Schäuble, Ihre Generation nach Barcelona fliegen können. Anderer-
Wie steht es damit? kam in die Politik nach der Erfahrung des seits ist das Bedürfnis nach Heimat eher
Schäuble: Die Debatte über Entlastungen Zweiten Weltkriegs. Jüngeren Politikern größer geworden. Wo bin ich zu Hause?
bei der sogenannten kalten Progression fehlt dieser biografische Hintergrund. Wie Was prägt mich? Ein Schützenverein kann
weckt völlig überzogene Erwartungen. sehr prägt das die Politik? ja bei Facebook sein. Aber es ist immer
Derzeit liegt die Inflation noch nicht mal Spahn: Wir haben alle gerade 25 Jahre Mau- noch mein Schützenverein.
bei einem Prozent. Da geht es für die meis- erfall gefeiert, und jeder wurde gefragt: SPIEGEL: Die Älteren wissen also eher, was
ten Bürger am Ende bloß um eine Entlas- Wo warst du am 9. November 1989? Ich sie an Europa haben als die Jüngeren?
tung von einigen Euro im Monat, wenn muss ehrlich sagen: Ich war damals neun Schäuble: Ist das so? Sind europaskeptische
wir die kalte Progression abbauen. Jahre alt, ich weiß es nicht mehr. Ich bin Kräfte etwa jugendliche Parteien? Gerade
Spahn: Der Abbau der kalten Progression in einem Europa groß geworden, in dem bei den Älteren wie in der AfD sehe ich eine
war immer eine unserer Kernforderungen. man von Spanien bis Tschechien frei reisen ganze Menge an Modernitätsverweigerung.

Wolfgang Schäuble,
72, Bundesfinanzminis-
ter, sitzt seit über 40
Jahren im Bundestag,
war Parteichef der
CDU und zweimal Bun-
desinnenminister.

Jens Spahn, 34, ist ge-


sundheitspolitischer
Sprecher der Unions-
Bundestagsfraktion
und gilt als eines der
Nachwuchstalente der
Partei. Dennoch ging
Spahn bei der Regie-
rungsbildung im vergan-
genen Jahr leer aus.
Mit einer Kampfkandi-
datur will er nun seinen
Aufstieg ins CDU-Präsi-
dium erzwingen.

DER SPIEGEL 49 / 2014 39


Deutschland

12 Euro netto
SPIEGEL: So ging es in der CDU lange auch zu bekommen. Aber nur die CDU kann
zu. Sie selber, Herr Schäuble, waren einer dies auch im katholischen Münsterland er-
der ersten prominenten CDU-Politiker, die reichen.
sich für steuerliche Gleichstellung gleich- SPIEGEL: Herr Spahn, wir dachten, Sie seien
geschlechtlicher Lebenspartnerschaften ein Fan von Schwarz-Grün? Justiz Deutsche Richter klagen,
eingesetzt haben. Hat das Beispiel Jens Spahn: In CDU und sogar in der CSU müs-
Spahns, der sich offen zu seiner Homose- sen Sie keinen mehr überzeugen, dass sie verdienten zu wenig.
xualität bekennt, dabei eine Rolle gespielt? schwarz-grüne Bündnisse möglich sind. Nun muss das Bundesverfas-
Schäuble: Nein, ich lerne viel von meinen Entscheidend ist, wie sich die Grünen ent- sungsgericht entscheiden.
Kindern. Das ist ja das Schöne, wenn man wickeln: Beschäftigen sie sich weiter damit,
das Glück hat, nicht alleine alt werden zu Hartz IV und die Steuern erhöhen zu wol-

A
müssen: Kinder sorgen dafür, dass man len wie vor der Bundestagswahl, oder fin- ndreas Voßkuhle ist nicht zu be-
versteht, wie sich die Dinge verändern. den sie ihre bürgerlichen Wurzeln wieder? neiden. Im Terminkalender des
SPIEGEL: Hat es in der Politik Auswirkungen, Schäuble: Also, ich war bei den Koalitions- Präsidenten des Bundesverfas-
dass Herr Spahn homosexuell ist? verhandlungen dabei und kann sagen: An sungsgerichts steht am Mittwoch, 10 Uhr,
Schäuble: Das spielt heute Gott sei Dank CDU und CSU ist Schwarz-Grün nicht ge- die öffentliche Verhandlung in einem Ver-
keine Rolle mehr. Aber es war ein langer scheitert. Horst Seehofer hat den Grünen fahren, das einem heiklen Balanceakt
Weg. Viele in der älteren Generation, ich an dem Abend der letzten Gespräche noch gleichkommt: Er muss mit seinen Senats-
auch, mussten das lernen. Ich erinnere nachgerufen: Lasst euch ruhig Zeit, ihr kollegen Recht sprechen in eigener Sache.
mich noch, bei der Bundestagswahl 1994 braucht nur Ja zu sagen! Wir haben drei Deutschlands ranghöchste Richter sollen
haben viele Jüngere gerade aus den länd- Stunden auf das Ergebnis ihrer Beratungen darüber befinden, ob die Besoldung von
lichen Gemeinden in meinem Wahlkreis gewartet und waren ganz fröhlich. Dann mehr als 20 000 Richtern und gut 5000
zum ersten Mal mehrheitlich Grün ge- kam das Nein der Grünen. Die haben sich Staatsanwälten angemessen ist. Seit Jahren
wählt. Da kann ich nicht auf die jungen nicht getraut. beschweren sich die Träger des Rechts-
Leute schimpfen, da muss ich schon über- Spahn: Aber Herr Schäuble, wir sind uns staats über eingefrorene Gehälter oder die
legen: Bin ich selbst noch auf der Höhe doch einig, in der Großen Koalition möch- Streichung von Weihnachtsgeld.
der Zeit? ten wir nach der nächsten Bundestagswahl Manche argumentieren in Klageschrif-
Spahn: Die entscheidende Frage ist doch: nicht wieder aufwachen? ten gar, ihre Entlohnung unterschreite ver-
Wie schafft es eine große Volkspartei wie Schäuble: CDU und CSU dürfen niemals fassungsrechtliche Garantien. In sieben
die CDU, für alle attraktiv zu bleiben? Ich das Ziel haben, eine Große Koalition fort- Fällen haben die zuständigen Verwaltungs-
wünsche mir da mehr kontroverse Diskus- zusetzen. Aber wenn das Wahlergebnis gerichte die Verfahren in Karlsruhe vor-
sionen, das macht eine Partei doch erst wieder so ist, wird auch der Abgeordnete gelegt.
spannend. Der CDU-Ortsverband von Spahn 2017 sagen: Der Wähler hat so ent- Nun muss Voßkuhles Zweiter Senat
1950 oder 1980 sah ganz anders aus als der schieden, also müssen wir die Große Koa- Maßstäbe für ein faires Entgelt finden,
von 2014. Die Hälfte unserer Mitglieder ist lition fortsetzen. ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man
über 60 Jahre alt. Wir freuen uns über je- SPIEGEL: Immer noch mit Angela Merkel? entscheide als Betroffener. Das ist insofern
des ältere Mitglied … Schäuble: Diese Frage können Jüngere si- schwierig, weil Beamte von den gleichen
Schäuble: … sehr freundlich, danke … cherlich noch besser nicht beantworten als Einschnitten betroffen sind – und Voß-
Spahn: … aber wir müssen schon darauf ich. kuhle als Professor, wie einige andere Ver-
achten: Wie sind wir für neue Mitglieder Spahn: Diesen Rat nehme ich gern an. fassungsrichter, auch dieser Berufsgruppe
attraktiv? Was ist der Mehrwert einer Mit- Schäuble: Wer Angela Merkel nachfolgt, angehört.
gliedschaft? Die Leute wollen mitgestalten. diese Frage beantwortet man, wenn sie Erwartet wird Anfang des kommenden
Mitgliederentscheid und direkte Kommu- sich stellt. Ich kann Ihnen als ehemals Be- Jahres deshalb ein wegweisendes Urteil,
nikation, mit solchen Elementen kann es troffener versichern: Kronprinz ist kein tol- bei dem es im Kern um die Frage geht,
funktionieren, auch in der CDU. ler Posten. Die Demokratie trifft keine Per- wie viel dem Staat ein sauber funktionie-
SPIEGEL: Herr Schäuble, warum hadert die sonalentscheidungen auf Vorrat. render Rechtsstaat wert ist.
Union so oft mit gesellschaftlichen Verän- SPIEGEL: Wie lange machen Sie noch Politik, Falls Voßkuhles Senat den Klägern aus
derungen, etwa mit der Frauenquote? Herr Schäuble. So lange wie Herr Spahn? Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und
Schäuble: Wir hadern nicht, wir haben den Schäuble: Ist ja gut. Wenn Sie mich das erste Sachsen-Anhalt folgt, könnten sich in Zei-
Blick aufs Ganze. Wir haben Verantwor- Mal sagen hören, „Früher war alles besser“, ten von Schuldenbremse und schlechter
tung für alle Schichten in der Bevölkerung. holen Sie mich bitte aus der Politik raus. Kassenlage enorme Herausforderungen für
Die Kehrseite ist: Eine Volkspartei hat es SPIEGEL: Herr Schäuble, Herr Spahn, wir die Finanzminister der Länder ergeben.
schwer, zugleich gesellschaftliche Avant- danken Ihnen für dieses Gespräch. Falls nicht, würde das den Frust der äch-
garde zu sein. zenden Klientel verstärken – und ein Sig-
Spahn: Sie muss aber zumindest auf gesell- nal setzen für junge Juristen, die sich als-
schaftliche Veränderungen reagieren. Die bald entscheiden müssen: für oder gegen
Debatte über die Gleichstellung gleichge- den Dienst am Staat.
schlechtlicher Partnerschaften war für uns Ein 27 Jahre alter lediger Richter oder
eine Wertedebatte. Wenn zwei Menschen Staatsanwalt bezieht in NRW derzeit 3653
FOTO: WERNER SCHUERING/ DER SPIEGEL

verbindlich sagen, dass sie füreinander ein- Euro brutto – oder, je nach privater Kran-
stehen, dann ist das eine zutiefst konser- kenversicherung, etwa 2600 Euro netto;
vative Position. Volker Beck von den Grü- andere Bundesländer zahlen teils noch we-
nen hat es nicht schwer, für die Gleichstel- niger (siehe Grafik). „Die Politik erweckt
lung im hippen Köln-Mitte eine Mehrheit immer wieder den Eindruck, als handelte
es sich hier um Spitzenverdiener“, moniert
* Mit den Redakteuren Peter Müller und Nikolaus Blome Spahn, Schäuble beim SPIEGEL-Gespräch* Christian Friehoff, Vorsitzender des Rich-
in Schäubles Büro in Berlin. „Kronprinz ist kein toller Posten“ terbundes in Nordrhein-Westfalen, „dabei
40 DER SPIEGEL 49 / 2014
Verfassungsrichter Voßkuhle (M.), Kollegen: Maßstäbe für ein faires Entgelt finden

kommt eine junge Richterin auf einen Sprüngen reicht das bei einer Familie mit als Dammbruch: „Seit den Siebzigerjahren
Stundenlohn von 12 Euro netto.“ zwei Kindern nicht“. konnte die Justiz immer unter den Besten
In einem Vergleich der Mitgliedstaaten Zuweilen eng wird es im Alltag indes auswählen – diese Zeiten sind offenbar
des Europarats rangiert Deutschland bei bei einem anderen Kläger: Werner Schade, vorbei.“ Zumal die Belastung vor allem
den Einstiegsgehältern in absoluten Zahlen 53, seit gut 20 Jahren Richter am Verwal- für junge Richter zugenommen habe, so
im Mittelfeld; und dass Richter anfangs tungsgericht Halle. Schade ist Alleinver- Lüblinghoff: Eine 60-Stunden-Woche sei
zehn Prozent weniger verdienen als der diener, seine Frau ist zu 80 Prozent schwer- heute zu Beginn „völlig normal“.
Durchschnitt der Bevölkerung – das behindert, benötigt einen Rollstuhl. Von Bislang lebten Exekutive und Judikative
kommt sonst nur noch in Armenien vor. Schades etwa 4350 Euro netto monatlich „vom Einsatz der jeweils Besten in ihren
Wahr ist aber auch, dass deutsche Rich- gehen 820 Euro an die studierende Tochter. Fachrichtungen“, hat das Verwaltungs-
ter gern die Vorzüge ihrer Altersversor- Er fährt einen 23 Jahre alten Toyota Co- gericht Halle festgehalten; die Besoldungs-
gung verschweigen: Selbst auf der nied- rolla, den er vom Schwiegervater geerbt entwicklung indes lasse befürchten, dass
rigsten Stufe entspricht ihre Pension dem, hat; sein jährlicher Erholungsurlaub er- Justiz und Beamtenschaft ihre Aufgaben
was ein Anwalt mit einem Jahreseinkom- schöpfte sich zuletzt auf je eine Woche, „fortdauernd schlechter erfüllen werden“.
men von 100 000 Euro brutto an Rente be- 2013 am Gardasee, 2014 am Bodensee. Dabei weisen die Verwaltungsrichter
kommt. Wundert es da, wenn Juristen mit weit verklausuliert auf ein heikles Spannungs-
Dennoch: In seiner Vorlage nach Karls- überdurchschnittlichen Noten – sogenann- feld hin, dem vor allem Staatsanwälte,
ruhe kommt das Verwaltungsgericht Halle ten Prädikatsexamen – lieber für Jahres- aber auch Richter immer wieder ausge-
zu dem Ergebnis, dass die Richterschaft in gagen von 90 000 Euro in renommierten setzt sind: Erwartungen von Vorgesetzten
den vergangenen 30 Jahren von der allge- Kanzleien anheuern? oder aus der Politik zu widersprechen dür-
meinen Einkommensentwicklung „greif- Insider beklagen, in weniger attraktiven fe keine „Bedrohung der Lebensgrundla-
bar“ abgekoppelt wurde: Von 1983 bis 2010 Regionen würden inzwischen mehr Kan- gen des Amtsträgers und seiner Familie in
sei die Richterbesoldung um 27 Prozent didaten ohne „Prädikat“ eingestellt als sich bergen“. Soll heißen: Richter sind nur
hinter anderen Einkommen zurückgeblie- noch vor Jahren üblich. Dass im Bezirk dann wirklich unabhängig, wenn sie nicht
ben. Dies stelle „ein Sonderopfer“ dar, Hamm im laufenden Jahr voraussichtlich aus finanziellen Gründen dringend auf die
weil Richter und Beamte einen Beitrag zur etwa ein Drittel der neuen Richter nur ein nächste Beförderung angewiesen sind.
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte „befriedigend“ vorweisen könne, bezeich- „Lehrer, Polizisten und Juristen sind das
leisten müssten, der „weit über das ande- net Joachim Lüblinghoff, Vorsitzender des Rückgrat unseres Staates“, erklärt Peter Bie-
ren Gruppen Auferlegte hinausgeht“. Richterrats am Oberlandesgericht Hamm, senbach, Rechtsexperte der CDU-Fraktion
So sieht es auch der Hallenser Staatsan- in NRW, wo im vorigen Jahr gut tausend
walt und Kläger Norbert Hartge. „Wenn Bescheidener Einstieg Richter und Staatsanwälte vor dem Düssel-
schon, dann müssten alle leiden“; nur weil dorfer Landtag lautstark demonstrierten,
Richter und Beamte nicht streiken dürften, Monatliche Bruttobezüge von Richtern und „wir müssen sie deshalb angemessen bezah-
„geht hier seit Jahren eine Schere auf“. Staatsanwälten zu Karrierebeginn* in €, 2013 len.“ Der Hallenser Staatsanwalt Hartge for-
Tatsächlich müssen Richter und Beamte Hamburg 3944 muliert es noch deutlicher: Für Diätenerhö-
seit Jahren härtere Einschnitte hinnehmen hungen oder die Bankenrettung sei Geld
als Angestellte im öffentlichen Dienst. In Bayern 3822 vorhanden, aber nicht für die Richterschaft.
Sachsen-Anhalt büßten sie 2005 nach dem Schleswig-Holstein 3687 „Sind wir etwa nicht systemrelevant?“
Urlaubs- auch noch ihr Weihnachtsgeld Wenn Richter schlecht bezahlt würden,
weitgehend ein. Und in den Folgejahren Nordrhein-Westfalen 3653 warnt der ehemalige Bundesverfassungs-
wurden ihre Bezüge immer wieder gar richter Udo Di Fabio, „erodiert irgend-
nicht oder verspätet angehoben. Durchschnitt 3582 wann der Rechtsstaat“: Die Motivation der
Durch diese zusätzlichen Sparmaßnah- Staatsdiener müsse „aufrechterhalten blei-
men, rechnet Hartge vor, fehlten ihm „lo- Rheinland-Pfalz 3556 ben“. Dabei gehe es aber nicht nur um
cker 1000 Euro im Monat“. Obwohl der Sachsen-Anhalt 3539 Geld, sondern um Anerkennung, so Di Fa-
52-Jährige stellvertretender Abteilungslei- bio: „Manchmal wäre es schon gut, wenn
FOTO: ULI DECK / DPA

ter ist, wird er nach „R1“ bezahlt, der nied- Bremen 3471 Politiker den Richtern sagen würden, wel-
rigsten Besoldungsstufe. Er behauptet che beeindruckende Leistung sie für ihre
nicht, dass seine knapp 6000 Euro brutto Saarland 3168 relativ bescheidene Besoldung bringen.“
monatlich wenig seien, aber „zu großen *Besoldungsgruppe R1, 27 Jahre, ledig; Quelle: Deutscher Richterbund Dietmar Hipp, Barbara Schmid

DER SPIEGEL 49 / 2014 41


Fraktionsstand beim Parteitag 2013
Für 250 Euro pro Quadratmeter angemietet

Ihre Präsenz auf den drei Parteitagen ließ


sich die Fraktion reichlich Steuergeld kos-
ten: 250 Euro pro Quadratmeter, teilte ein
FDP-Sprecher mit, seien an „die partei-
eigene Firma ProLogo GmbH“ gegangen.
Insgesamt betrugen die Standmieten
44 030 Euro, inklusive Mehrwertsteuer. Die
Bundestagsfraktion, darauf legen die Libe-
ralen Wert, habe damit aber kein „Spon-
soring“ betrieben, sondern lediglich „über
ihre Tätigkeit“ informiert.
Die Messestände der Fraktion hatte die
Berliner Werbeagentur Goldland geplant
und betreut. Und es war nicht ihr einziger
Auftrag von den Parlamentariern: Neben
allerlei gelb-blauem PR-Tand wie Butter-

Durchlaufende
fraktionen für 2013 untersucht. Auch hier brotdosen, Fahrrad-Hosenklammern oder
fiel beim Posten „Öffentlichkeitsarbeit“ Einkaufswagen-Chips produzierte die
vor allem die FDP-Fraktion auf: Allein von Agentur den Kino-Spot, schuf das Design

Posten
Januar bis Oktober zahlte sie die Rekord- der Kampagne „Freiheit bewegt“ und or-
summe von 6,09 Millionen Euro. Die Kon- ganisierte Briefsendungen ans Wahlvolk.
trolleure prüfen derzeit, ob ein Teil davon Die Post aus dem Bundestag glich mit-
womöglich widerrechtlich für Parteiange- unter verblüffend den Werbebroschüren
Liberale Was hat die FDP-Bundes- legenheiten verwendet wurde. der Partei. Die Fraktion dagegen bekräf-
Bei der FDP finden sich zumindest An- tigte, dass sie mit der Briefflut (an mehr
tagsfraktion mit 17 Millionen haltspunkte für eine kreative Vermischung als drei Millionen Haushalte) nur über ihre
Euro Steuergeld gemacht? Der von Fraktions- und Parteifinanzen. So sub- Parlamentstätigkeit informieren wollte.
Bundesrechnungshof prüft. ventionierte die liberale Bundestagsfraktion Ähnlich argumentierte sie im Fall des
spätestens von 2012 an mehrere Parteitage, Imagefilms: Der Spot, so erklärte die Frak-
indem sie dort teure Ausstellungsflächen an- tionsspitze bereits im Sommer vergange-

B
lühende Landschaften, glückliche mietete. Präsent waren die Parlamentarier nen Jahres, sei ein „Element der Informa-
Familien, zufriedene Unternehmer: etwa im April 2012 beim Bundesparteitag tionsreihe ,Freiheit bewegt‘“, mit der sie
Die FDP-Bundestagsfraktion hatte in Karlsruhe sowie im darauffolgenden die Bevölkerung „regelmäßig über unsere
sich mächtig ins Zeug gelegt, um zu zeigen, März im Berliner Estrel-Hotel. parlamentarische Arbeit“ unterrichte.
wie unverzichtbar sie für Deutschland ist. Und auch im Mai vergangenen Jahres Die „Informationsreihe“, so heißt es in
In einem aufwendig produzierten Image- konnte die FDP ihre Bundestagsabgeord- Kreisen der aufgelösten FDP-Fraktion, sei
Spot, vorgeführt in den Kinos aller 16 Lan- neten als Mieter gewinnen: Im Eingangs- intern höchst umstritten gewesen. Vor al-
deshauptstädte, inszenierten die Parlamen- bereich des Sonderparteitags auf dem lem die Vergabe des – angeblich millionen-
tarier wenige Monate vor der Bundestags- Nürnberger Messegelände, dem sogenann- schweren – Agenturauftrags an Goldland
wahl eine heile Welt in Blau-Gelb. ten Markt der Möglichkeiten, präsentierte habe für Kritik am damaligen Fraktions-
Genutzt hat der Aufwand freilich nichts. sich die Fraktion auf dem Stand Nummer manager Boris Böhme gesorgt.
Im September 2013 scheiterte die FDP 40 – mit 72 Quadratmetern eine der größ- Wie viel Geld an Goldland ging, wollte
knapp an der Fünfprozenthürde und flog ten Ausstellungsflächen überhaupt. Ähnlich die Fraktion schon damals nicht sagen. Eine
aus dem Deutschen Bundestag. Das fröh- geräumige Areale hatten nur die Auto- Aufschlüsselung der Kosten sei nicht mög-
liche Filmchen geriet in Vergessenheit, ge- mobilhersteller Audi und VW gebucht. lich, erklärte ihr damaliger Justiziar, da die
nauso wie die Fraktion, die es hatte pro- Zahlungen der Fraktion zum großen Teil
duzieren lassen und die sich inzwischen
in Liquidation befindet.
17,3 „nur durchlaufende Posten“ gewesen sei-
en – an „Subunternehmer“ von Goldland.
Den Nachlassverwaltern in der Berliner Üppig bemessen Eine Antwort, ähnlich ausweichend wie
Parteizentrale könnte der Kino-Spot hin- Ausgaben der FDP-Bundestags- die auf die Frage, warum man sich
gegen noch unangenehme Fragen besche- ausgerechnet für Goldland entschieden
fraktion für Öffentlichkeitsarbeit
ren. Er war Teil einer teuren Kampagne, habe. Bei einer Ausschreibung habe die
2009 bis 2013*, in Mio. €
die sich die Bundestagsfraktion in den Agentur das „beste Konzept“ vorgelegt, so
vorläufig letzten Jahren ihres Bestehens der Justiziar, die Ausschreibungsunterlagen
geleistet hatte: Laut Parlamentsdokumen- zum Vergleich: könnten jedoch nicht eingesehen werden.
ten gab sie von 2009 bis 2013 insgesamt Das üppige Honorar aus dem Steuer-
17,3 Millionen Euro für Öffentlichkeits- 8,4 säckl mussten sich die Werber indes sauer
*FDP nur bis 22. Oktober 2013
arbeit aus – mehr als die Fraktionen von Quelle: Deutscher Bundestag verdienen. Die Arbeit für die FDP-Frak-
CDU/CSU, SPD und Grünen zusammen tion sei „hartes Brot“ gewesen, schrieb
(siehe Grafik). 4,7 eine ehemalige Goldland-Texterin in ihrem
Der bemerkenswert freigiebige Umgang
4,6 4,0 Blog. „Der Kunde erwies sich als ziemlich
mit Steuergeld beschäftigt mittlerweile den resistent, wenn es darum ging, ausgetre-
Bundesrechnungshof, der seit Anfang des
Jahres die Rechnungen aller Bundestags- FDP Linke Grüne SPD Union
tene Wege zu verlassen.“
Sven Röbel, Andreas Wassermann

42 DER SPIEGEL 49 / 2014


Deutschland

Schmuddelecke der Medizin


Strafjustiz Der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate rechnet mit der forensischen Psychiatrie ab.
Von Gisela Friedrichsen

K
ein Zweifel: Das Vertrauen in die nem geschlossenen Wahnsystem diagnos- Was Strate verallgemeinernd schreibt,
Justiz ist angeschlagen. Nach einer tizieren müssten.“ Dieses Zitat stammt aus ist natürlich nicht fair gegenüber jenen –
Reihe von Fehlurteilen, die in jüngs- dem Buch von Gerhard Strate über den raren – Gutachtern, die sich, innerlich und
ter Zeit anlässlich von Wiederaufnahme- Fall Mollath, das Anfang Dezember er- äußerlich unabhängig, nicht als Protago-
verfahren ans Licht gekommen sind und scheint*. Für den Anwalt, der Gustl Mol- nisten einer schier allmächtigen forensi-
mit Fassungslosigkeit öffentlich diskutiert lath im Wiederaufnahmeprozess vor dem schen Psychiatrie gefallen. Die nicht ein-
wurden, schwindet die Akzeptanz des Landgericht Regensburg verteidigt hat, ist fach willkürlich entscheiden, ob einer für
Rechtsstaats. die Sache eindeutig. gesund zu halten ist oder für krank. Diese
Spektakuläre Fälle wie Ulvi K., Horst Voller Bitterkeit rechnet er mit der fo- Aufrechten, die selbst als Gutachter vor
Arnold, Harry Wörz, Rudi Rupp und an- rensischen Psychiatrie ab, der er jede Art Gericht nicht vergessen, dass sie als Ärzte
dere haben den Glauben, wenigstens vor von Wissenschaftlichkeit abspricht: „Kleb- Bedrängten beizustehen haben – und jeder
Gericht gehe es mit rechten Dingen zu, rige Sprachfäden, zweifelhafte Psychophar- Angeklagte ist ein Bedrängter –, müssen
weithin erschüttert. maka mit schwersten Nebenwirkungen so- sich nicht getroffen fühlen.
Zu oft lagen diesen „Justizirrtümern“ wie die optionale Anwendung von körper- Der Einfluss, den psychiatrische Gutach-
methodisch mangelhafte, unhaltbare psy- lichem Zwang lassen sie allenfalls als eine ten auf Gerichtsentscheidungen haben,
chiatrische Gutachten renommierter Sach- Schmuddelecke der Medizin erscheinen“, sollte hellhörig machen. Liegt einem Rich-
verständiger zugrunde, deren Expertisen schreibt er. ter die Expertise eines Sachverständigen
vor, wird er dem gutachterlichen Rat fol-
gen. Nur höchst selten wird kritisch hin-
terfragt. Haben erst einmal zwei, drei oder
noch mehr Sachverständige eine Diagnose
gestellt, sinken die Chancen für den An-
geklagten oder den im Maßregelvollzug
Untergebrachten, die Umwelt vom Gegen-
teil zu überzeugen, gegen null.
Dann ist die „Stille Post“ unterwegs, wie
Strate sie nennt, und das vom geschätzten
Kollegen Festgestellte wird einfach abge-
schrieben. Jeder wehrhafte Strafverteidi-
ger kennt dieses Prozedere aus leidvoller
eigener Erfahrung.
Bisweilen übertreibt Strate. Aber er legt
den Finger in Wunden eines Systems, das,
wie er schreibt, „blind, taub und stumm“
geworden ist für die Fragwürdigkeit seines
Handelns. Er fügt diesem System Schmer-
zen zu, wühlt in dessen Wunden. Das darf
er als Anwalt, das muss er.
Sein Buch ist eine Schmach für jene, die,
namentlich genannt, ihre leichtfertigen
Expertisen darin zitiert finden. Es ist ein
Ärgernis für die Leser, die nicht glauben
Strafverteidiger Strate: Spezialist für Wiederaufnahmefälle wollen, dass es zuweilen tatsächlich an
Kontrolle mangelt hinter den Fassaden
von den Richtern aus Zeitmangel oder Ar- Strate ist Strafverteidiger, Spezialist für mächtiger Justizpaläste. Es ist ein böses,
beitsüberlastung – oder weil man doch Verfassungsbeschwerden und Wiederauf- ein aufklärerisches Buch.
schon so lange vertrauensvoll zusammen- nahmefälle. Er hat in seinem Berufsleben „Ob ein Psychiater die Persönlichkeits-
arbeite – nach schnellem Augenschein sämtliche Schwachstellen und Fehlerquellen merkmale seines Gegenübers positiv oder
durchgewinkt worden waren. Wem aber der Strafjustiz kennengelernt, weil er akri- negativ interpretiert, liegt in seinem Er-
ist das Versagen mehr anzulasten? Den bisch, fast besessen dem Unrecht hinterher- messen. Beeindruckt ihn die beharrliche
Psychiatern, die sich unbegrenzter Deu- spürt, das die Gerichte und ihre Helfer bis- Geradlinigkeit, die er bei ihm zu erkennen
FOTO: BERTOLD FABRICIUS / PRESSEBILD

tungshoheit erfreuen? Oder den Juristen, weilen an denen verüben, die ihnen ausge- vermeint, dann hat der Proband Glück
die vor ihnen katzbuckeln? liefert sind – an den Schwachen, den leicht gehabt. Ein anderer Gutachter hätte die-
„Wenig vertrauenerweckend sind die zu Stigmatisierenden. An einem Gustl Mol- selben Zeichen vielleicht als unerbittlichen
offensichtlichen Omnipotenzfantasien vie- lath, einem Ulvi K. und wie sie alle heißen. Starrsinn interpretiert und ein Minuszei-
ler Apologeten der forensischen Psychia- chen in die entsprechende Spalte seines
trie, die von sich und ihrer Profession * Gerhard Strate: „Der Fall Mollath – Vom Versagen der
Formblatts gemacht.“
derart eingenommen sind, dass sie sich Justiz und Psychiatrie“. Orell Füssli Verlag, Zürich; Wer will Rechtsanwalt Strate hier wider-
eigentlich selbst das Gefangensein in ei- 288 Seiten; 19,95 Euro. sprechen? I

46 DER SPIEGEL 49 / 2014


Deutschland

Zum Vergessen
Zeitgeschichte Eine neue Biografie untersucht das Leben Helmut Schmidts im „Dritten Reich“.
War der Altkanzler einst Nazi, oder hat er nur ein schlechtes Gedächtnis?

D
er junge Luftwaffenoffizier war of- hauptete, es habe sich um eine Auszeich- Den Großteil des Krieges verbrachte
fenkundig begabt. Sein Vorgesetz- nung gehandelt, Schmidt wehrte sich mit Schmidt in der Etappe. Als Flak-Experte
ter attestierte ihm am 1. Februar dem Hinweis, man habe ihn einschüchtern entwarf er Ausbildungsrichtlinien und Be-
1942 „Organisationstalent“, das „Sich- wollen. dienungsvorschriften für Geschütze oder
durchsetzen in schwierigen Lagen“, „gute 1981 unterstellte Israels Ministerpräsi- reiste für Vorträge durch das von den Deut-
dienstliche Leistungen“. Der 23-jährige dent Menachem Begin sogar eine Verstri- schen besetzte Europa. An der Front war
Hamburger neige zwar zu „vorlautem Ver- ckung Schmidts in den Holocaust („Ich der Luftwaffenmann nur kurz: fünf Mona-
halten“, habe aber einen „geraden Cha- weiß nicht, was er mit den Juden an der te 1941 vor Leningrad und Moskau und
rakter“. Und auch ideologisch sei er fest Ostfront getan hat“), obwohl es keinen schließlich ab Januar 1945 im Westen.
verankert: „Steht auf dem Boden der Hinweis gibt, dass der Wehrmachtoffizier Biografin Pamperrien argumentiert
nat.soz. (nationalsozialistischen –Red.) in irgendeiner Weise an NS-Verbrechen nicht so plump wie Begin oder Strauß,
Weltanschauung und versteht es, dieses beteiligt war. aber auch ihr Buch ist zuweilen selbst-
Gedankengut weiterzugeben.“
Der Name des Offiziers: Helmut
Schmidt, von 1974 bis 1982 Kanzler der
Bundesrepublik, vielfacher Bestsellerautor
und heute der bei Weitem populärste Ex-
politiker des Landes.
Die Passage über die Haltung des Sol-
daten zum Nationalsozialismus ist eine
von insgesamt drei bislang unbekannten
politischen Beurteilungen aus Schmidts
Wehrmachtsakte im Freiburger Militär-
archiv. Die Autorin Sabine Pamperrien hat
die Dokumente für ihr Buch über Schmidts
Leben bis 1945 ausgewertet*.
Auch die anderen Zeugnisse bescheini-
gen dem Oberleutnant „einwandfreie na-
tionalsozialistische Haltung“ (30. Septem-
ber 1943) oder enthalten den Vermerk:
„Nationalsozialistische Haltung tadelfrei“
(18. September 1944). War also ausgerech-
net Helmut Schmidt, als Enkel eines Juden
und damit „Mischling 2. Grades“ (NS-Jar-
gon), Anhänger der Nazis? Hatte die alte
Bundesrepublik neben dem NSDAP-Mit-
glied Kurt Georg Kiesinger (1966 bis 1969)
einen zweiten Kanzler mit brauner Ver-
gangenheit?
Sabine Pamperrien legt das nahe. Schmidts
Denken sei zeitweise „von Nazi-Ideologie
kontaminiert“ gewesen, schreibt sie und
wirft dem Altkanzler damit implizit Le-
gendenbildung vor, wenn es um die eigene
Geschichte geht. Schließlich hat der Sozi-
aldemokrat 1992 für sich in Anspruch ge-
nommen, zwar nicht im Widerstand, wohl
aber „Gegner der Nazis“ gewesen zu sein.
Der Streit um Schmidts Vita im „Dritten
Reich“ flackert seit Jahrzehnten immer
wieder auf. Der damalige CSU-Chef Franz
Josef Strauß warf ihm 1975 Nähe zum
Regime vor, weil Schmidt von einem Vor-
gesetzten als Zuschauer zu einem der
Prozesse gegen die Attentäter des 20. Juli
FOTO: SVEN SIMON

abkommandiert worden war. Strauß be-

* Sabine Pamperrien: „Helmut Schmidt und der Scheiß-


krieg“. Piper Verlag, München; 352 Seiten; 19,90 Euro. Wehrmachtsoldat Schmidt 1940: „Was ich noch sagen wollte“

48 DER SPIEGEL 49 / 2014


gerecht im Ton und einseitig im Urteil. Schmidts Deutschlehrerin Erna Stahl Schmidt erlebte und erlitt die sogenann-
Maßstab der Bewertung ist der Wider- zählte später zum Hamburger Zweig der te Winterkatastrophe der Wehrmacht 1941
stand. Pamperrien hält dem Altkanzler Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Sie vor Moskau persönlich mit. Hitler über-
sogar vor, dass er sich 1942 mit Loki kirch- sagte nach 1945 ihrem einstigen Zögling nahm damals den Oberbefehl des Heeres,
lich trauen ließ: „Wie konnten beide auf auf den Kopf zu, dass er „auf der Ge- was der Jungoffizier für einen Akt des Grö-
diese weitgehend gleichgeschaltete Insti- genseite“ gestanden habe. Einem Partei- ßenwahns hielt. In der Kriegsgefangen-
tution bauen?“ freund schrieb Schmidt 1979, obwohl schaft notierte er dazu: „erstmaliger
Dennoch lässt sich das Buch nicht leicht- seine Eltern „klar gegen Hitler und die Knacks im persönlichen Vertrauen zum
hin abtun, denn die Autorin hat nicht nur NSDAP eingestellt“ gewesen seien, sei er Führer“ – ein ungewöhnlicher Grund, sich
neue Dokumente aufgetan, sondern auch in den ersten Jahren der Hitler-Diktatur von dem Diktator abzuwenden.
die vielen autobiografischen Bücher und „unter den Einfluss der braunen Macht- Wann es zum irreversiblen Bruch
Äußerungen Schmidts systematisch analy- haber“ geraten. Schmidts mit dem Regime kam, lässt sich
siert. Sie stieß dabei auf eine beträchtliche Der junge Schmidt habe dazugehören nicht eindeutig rekonstruieren. In den Auf-
Anzahl von Faktenfehlern und Wider- wollen, urteilt selbst Hartmut Soell, einst zeichnungen von 1945, also früh verfasst,
sprüchen. Assistent der SPD-Fraktion, Autor einer datiert er die „endgültige Abkehr von Idee
Wann etwa hat der junge Schmidt er- wohlwollenden Schmidt-Biografie und und Praxis des NS“ auf 1942. Das wäre
kannt, dass die Nazis Verbrecher waren? wohl der beste Kenner der Geschichte des zwar später, als er heute behauptet, jedoch
Schon Anfang 1933, weil er als Schüler Altkanzlers. immer noch früher als die von vielen an-
die „Schießereien und Prügeleien“ zwi- 1937 begann Schmidts Wehrdienst, der deren Deutschen.
schen Nazis und Kommunisten in der nach dem deutschen Überfall auf Polen in An diesem Befund ändern auch die nun
Endphase der Weimarer Republik mit- Kriegsdienst überging. Seine damalige Be- aufgetauchten Beurteilungen durch Vorge-
bekommen hatte? Oder erst bei dem Be- wusstseinslage beschrieb der Lehrersohn setzte nichts. Der SPIEGEL hat das Freibur-
such des Prozesses gegen Attentäter vom rückblickend als „gespalten“: „Während ger Militärarchiv sowie führende Militär-
20. Juli? Beide Datierungen hat Schmidt ich einerseits den Nationalsozialismus ab- historiker wie Rolf-Dieter Müller, Wolf-
verbreitet. lehnte und ein schlimmes Ende des Krieges gang Wette oder Manfred Messerschmidt
Oder: Ab wann hat Schmidt gewusst, erwartete, zweifelte ich andererseits nicht befragt – und alle sind sich einig: Formu-
dass ein Großvater Jude war? Der Alt-
kanzler behauptet, er sei wegen dieser Schmidt hat sich inzwischen eine Kopie seiner Akte
Verwandtschaft von Anfang an „kein
Nazi“ gewesen. Doch die Angaben zum
kommen lassen. Den Inhalt will er nicht kommentieren.
Zeitpunkt, an dem ihn seine Eltern ein- an meiner Pflicht, als Soldat für Deutsch- lierungen wie „steht auf dem Boden der
weihten, variieren zwischen 1933, 1934, land einzustehen …“ nationalsozialistischen Weltanschauung“
1935 und 1936. Notizen aus der Kriegsgefangenschaft finden sich vielfach in Personalunterlagen
Sabine Pamperrien nimmt an, dass belegen den Zwiespalt. Sie zeigen freilich der Wehrmacht. Über die wahre politische
Schmidt vieles schlichtweg vergessen hat. auch, dass der allen Beurteilungen zufolge Haltung des jeweiligen Soldaten sagen sie
Sie hat den Eindruck, er fülle die Lücken, schneidige und fähige Soldat politisch noch nichts aus.
indem er auf Schilderungen anderer über eine Weile „irrlichterte“ (Soell). Schmidt hat sich inzwischen eine Kopie
gemeinsam Erlebtes zurückgreife. Dem- Da findet sich zwar für Ende 1938 – also seiner Akte aus Freiburg kommen lassen.
nach präsentiert Bestsellerautor Schmidt nach der sogenannten Reichskristallnacht – Den Inhalt will er nicht kommentieren.
dem Publikum nicht nur eigene, sondern der Eintrag „Scham über die Judenverfol- Biografin Pamperrien ist jedenfalls in Un-
auch angelesene „Erinnerungen“ – eine gung“. Und im Jahr darauf notiert Schmidt gnade gefallen. Der Altkanzler hatte ihr er-
Vermutung, die langjährige Wegbegleiter sogar: „nunmehr klare Kontra-Stellung laubt, die Wehrmachtsakte einzusehen; ein
des heute 95-Jährigen teilen. zum N.S.“. Allerdings versah er diesen bereits vereinbarter Besuch in seinem Pri-
Die von Schmidt verbreitete Version, er Satz mit der Einschränkung, „Hitler per- vatarchiv kam nicht mehr zustande, als die
sei noch nicht einmal am Anfang des „Drit- sönlich“ sei von dieser Kontra-Stellung Stoßrichtung ihrer Recherchen absehbar war.
ten Reiches“ dem Zeitgeist erlegen, ist „noch ausgenommen“. Die Öffentlichkeit kann sich darauf ein-
nach Pamperriens Recherchen jedenfalls Der ehrgeizige Offizier betrieb seine stellen, demnächst auch von Schmidt per-
nicht zu halten. Der aufgeweckte Teenager Versetzung an die Front, wollte zu den sönlich wieder Neues über das Leben un-
ließ sich von der Begeisterung mitreißen, Fallschirmjägern, einer Elitetruppe der ter dem Hakenkreuz zu erfahren. Im März
welche die Nazis unter Jugendlichen zu Wehrmacht, was allerdings misslang. Für 2015 erscheint sein nächstes Buch „Was ich
entfachen wussten. Er gehörte zu der Min- 1940 vermerkte er im Rückblick: „immer noch sagen wollte“.
derheit der Jungen seiner Schule, die 1933 wieder noch Annäherung an einzelne NS- Eines der Themen: wie es damals war,
in die HJ eintraten. Ideen“. in der Nazi-Zeit. Klaus Wiegrefe

Helmut Schmidt im „Dritten Reich“


März 1937 1939 August 1941 bis Januar 1942 1944 ab Dezember 1944
Abitur an der reformpäda- Als Feldwebel der Einsatz an der Ostfront, Schmidt wird als Zuschauer zu einem der Einsatz des Ober-
gogischen Lichtwarkschule Reserve Einsatz unter anderem vor Prozesse gegen die Hitler-Attentäter vom leutnants als
in Hamburg, danach sechs- bei der Luftvertei- Leningrad und Moskau; 20. Juli abkommandiert und lässt sich Batteriechef
monatiger Reichsarbeitsdienst digung Bremens Eisernes Kreuz 2. Klasse am selben Tag davon entbinden. an der Westfront

1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945


Oktober 1937 1940 1942 bis 1944 April 1945
Einberufung zum Versetzung als Leutnant Referent beim Schmidt gerät bei Soltau
Wehrdienst bei der der Reserve zum Reichs- Reichsluftfahrt- in britische Kriegsgefangen-
Flakartillerie in luftfahrtministerium ministerium schaft, aus der er Ende
Bremen-Vegesack nach Berlin August wieder entlassen wird.

DER SPIEGEL 49 / 2014 49


1 2 3

FOTOS: @TAVEPONGPRATOOMWONG / EYEEM.COM (1); @DINALF / EYEEM.COM (2); @DELPINOEGEA / EYEEM.COM (3); @STREETAMATIC / EYEEM.COM (4); @DRKAIN / EYEEM.COM (5); @BRETTWORTH / EYEEM.COM (6)
4 5 6

Sechserpack Untergrundbahnen sind die Arbeitspferde des Nahverkehrs, undenkbar ist das Großstadtleben ohne sie. Zugleich
bilden sie in magischer Konzentration die Aura des Ortes ab, den sie durchpflügen. Ansichten aus Bangkok (1), Haifa (2), Barce-
lona (3), Washington (4), Budapest (5), Hongkong (6) – aus einem Zwischenreich, das schnell durchquert werden will. Und muss.

Ernährung se, außerdem Reis oder Kar- Menschen, die keine Tiere kleiner Pudel mit kurzen
toffeln und Öl. Leinöl und haben. Die muss ich nicht Beinen und weißem Fell. Er
Warum frisst Lachsöl sind gut wegen der überzeugen. bekommt jeden Tag rohes
Ihr Hund nur bio, Omega-3- und -6-Fettsäuren. SPIEGEL: Was frisst Ihr Hund? Fleisch, meistens vom Rind.
Frau Stix? Selbst der mäkeligste Hund Stix: Ich habe einen Bichon SPIEGEL: Sie essen bio, Ihr
fängt dann das Fressen an. Frisé, der sieht aus wie ein Hund isst bio, teilen Sie das
Martina Stix, 50, Inhaberin eines SPIEGEL: Auch veganes Futter Essen?
Ökoladens für Tiere, über ist im Angebot. Der arme Stix: Nein, ich esse meines
Gemüse und Reis-Käse-Kekse Hund. am Tisch, und Telfi bekommt
Stix: Wieso? Da gibt es zum seines im Napf. Aber im La-
SPIEGEL: Frau Stix, Sie haben Beispiel einen sehr schönen den bieten wir zum Beispiel
in Hamburg „Poodlewohl“ er- Gemüseeintopf mit Kartoffeln, Reis-Käse-Kekse an. Die Kek-
öffnet, einen Laden mit Bio- Zucchini und Soja. Aber ob se gibt es in zwei Varianten,
futter für Hunde und Katzen. man seinen Hund vegan er- für Menschen und für Hunde.
Warum sollen Hunde bio nährt, ist eine Glaubensfrage. Dabei sind es die gleichen
fressen? SPIEGEL: Aus Ihrem Viertel, Kekse.
Stix: Weil in konventionellem Hamburg-Eimsbüttel, kom- SPIEGEL: Sie essen Hunde-
Fleisch Antibiotika und Hor- men Proteste: Einer schrieb kekse?
mone stecken. Das ist nicht auf Facebook, er hätte lieber Stix: Nein, ich nicht. Aber
artgerecht. Man kann Hunde eine Dönerbude als Ihren manche meiner Kunden
mit Dosen- und Trockenfut- Laden in der Nachbarschaft. sitzen abends mit ihrem
ter ernähren. Aber am besten Stix: Ich nehme das nicht Hund auf dem Sofa vor dem
ist es, die Mahlzeiten selbst ernst – auch die werden sich Fernseher und essen Hunde-
zuzubereiten: rohes Fleisch, schnell daran gewöhnen. Stix kekse: einen für den Hund,
aber auch ein bisschen Gemü- Und wahrscheinlich sind das einen fürs Herrchen. red

50 DER SPIEGEL 49 / 2014


Gesellschaft
digen musste in den Straßen der Hauptstadt. Er erzählte, wie
er sich immer stärker hingezogen fühlte, zu diesem Kampfsport,
aber auch zu ein paar jungen Männern, mit denen er trainierte.
Schönheitsfehler Vielleicht war es der Applaus nach dem Wahlsieg, vielleicht
war es die Tatsache, dass sich plötzlich jemand für ihn interes-
Eine Meldung und ihre Geschichte sierte: Er dachte jedenfalls, dass er nun frei sei, und erzählte
den Zeitungsleuten seine Geschichte. Die ersten Reaktionen
Warum sich ein Flüchtling aus waren gut. Die Münchner Abendzeitung attestierte Tutzing „ge-
Uganda zum Mr. Tutzing wählen ließ lungene Integration“. Ein schwuler Schwarzer im schwarzen
Bayern, Schönheitskönig, demokratisch legitimiert: leben und
leben lassen, Libertas Bavariae.

M
ichael Kyejjusa saß am Flughafen bei Kampala in Ugan- „Aber ich bin nicht frei“, sagt Kyejjusa ein paar Wochen
da und hoffte und weinte, und eine Frau vom Sicher- später. Mr. Tutzing sitzt in seinem Zimmer, das er mit drei Afri-
heitspersonal fragte, was ihm fehle. Er habe Bauch- kanern teilt, in einem Haus, das 15 Asylbewerbern Obdach bie-
schmerzen, log er. Tatsächlich war er auf der Flucht. Sein Herz tet. Draußen läutet die Glocke der Mutter-Gottes-Kapelle, drin-
klopfte, seine Schuhe drückten. Unter den Einlagen steckten nen flimmert stumm das Erste Deutsche Fernsehen. Die Roll-
Fahndungsplakate, gefaltet, eines auf jeder Seite. läden sind runtergelassen, ein Zimmergenosse betet zu Allah.
Den deutschen Behörden würde er sie zeigen, um bleiben zu Normalerweise haben sie hier keinen Besuch. Nur manchmal
dürfen. Vor anderen würde er schweigen. Er würde niemandem kommen Leute mit ausrangierten Klamotten vorbei. In der Ecke
von seiner heimlichen Liebe zu einem Mann erzählen, uner- hängt der Trachtenjanker, ein Geschenk von irgendwem aus
wähnt lassen, warum er von der Polizei in Kampala gesucht Tutzing. Kyejjusa flüstert. „Nichts hat sich verändert. Es ist nicht
wurde. Uganda ist eines der schwulenfeindlichsten Länder der mehr als eine schöne Erinnerung.“
Welt. Über Deutschland wusste er, Kurz nach der Wahl im Bierzelt
dass es ein freies Land sei. Aber er schickte er bei Facebook eine Freund-
hatte gelernt, vorsichtig zu sein. schaftsanfrage an Miss Tutzing, er
Er schwieg, als er im Juni 2013 in will ja junge Menschen kennenler-
der Erstaufnahmeeinrichtung in nen, aber er weiß nicht, wo. Er hat
Gießen ankam. Er schwieg weiter, kein Geld, das er in Bars ausgeben
als er in einem Flüchtlingshaus in könnte. Kyejjusa geht in die Kirche,
Tutzing unweit des Starnberger aber da sind nur alte Menschen. Er
Sees landete, wo er auf die Entschei- würde gern als Lkw-Fahrer arbeiten.
dung wartet, ob er bleiben darf. Oder, vielleicht, als Model. Es hat
Michael Kyejjusa, 26, beschloss, sich bislang nicht ergeben. Die
sein Schweigen zu brechen, als er Freundschaftsanfrage an Miss Tut-
an einem Septembertag im Trach- zing ist ohne Antwort geblieben.
tenjanker auf einer Bierzeltbühne „Ich bin nicht frei“, sagt er noch
stand, vor etwa 300 Menschen. Es einmal auf seinem durchgelegenen
war ein spontaner Entschluss gewe- Bett. Eigentlich, sagt er, seien die
sen, an der Wahl zum Mr. Tutzing Menschen hier gut zu ihm. Sie hät-
teilzunehmen. Er hatte nichts zu Kyejjusa ten ihn ja gewählt. Es existiert auch
verlieren, dachte er, schon gar nicht ein Unterstützerkreis für Asylbe-
bei einem Schönheitswettbewerb. werber, Menschen, die ihre Freizeit
Also kandidierte er, gegen mehrere für Flüchtlinge opfern. Sie erledigen
ortsansässige Männer. Behördengänge, geben Deutsch-
Er zählte durch, ein paar andere unterricht. Gute Menschen, eigent-
Asylbewerber waren da. Er kam auf lich, aber was gut ist, das ist manch-
sieben potenzielle Stimmen. Er mal nicht leicht zu entscheiden.
trank Apfelschorle statt Bier. Dies- Die Helfer fragten ihn, warum
mal hatte er wirklich Bauchschmer- Von Merkur-online.de er unbedingt über seine Homo-
zen. Sein Haar, zu kleinen Zöpf- sexualität sprechen musste. Michael
chen gezwirbelt, hatte er mit einem Hut bedeckt. So kamen die Kyejjusa sagte ihnen, dass er deswegen nach Deutschland ge-
zarten Konturen seines schwarzen Gesichts besser zur Geltung. kommen sei. Sie sagten ihm, er solle es lassen.
Er gewann mit 57 Stimmen, hatte 36 mehr als der Zweite. „Tutzing ist ein Nest. Das ist nicht normal, wenn hier einer
Michael Kyejjusa, Flüchtling aus Uganda, war nun Mr. Tutzing. homo ist“, sagt eine Frau vom Unterstützerkreis am Telefon.
Gemeinsam mit Miss Tutzing posierte er für die Lokalpresse. Michael Kyejjusa hat schon einmal gehört, dass er nicht normal
Er kannte Aufsteigergeschichten aus Uganda, von Menschen, sei. Da war er noch in Uganda.
die es in die Zeitung geschafft hatten und plötzlich ein anderes, Als dann wieder eine Zeitung ein Interview wollte, erzählte
besseres Leben führten. Diese Menschen, das wusste er, hatten er, dass er Uganda wegen „der politischen Unruhen“ verlassen
FOTO: SIMON PFANZELT / DER SPIEGEL

meistens eine emotionale Geschichte zu erzählen. Michael habe. Er wolle, so ist es nachzulesen, „eine Arbeit finden, um
Kyejjusa entschied, dass er auch eine emotionale Geschichte meine Träume zu verwirklichen und eine Familie hier aufbauen
hatte, die er jetzt nicht mehr verschweigen würde. zu können“. Alles sollte ganz römisch-katholisch klingen. Wäh-
Er erzählte also von jenem Tag vor mehr als zehn Jahren, an rend des Interviews saß jemand vom Unterstützerkreis daneben
dem er allein aus seinem Dorf im Bezirk Wakiso nach Kampala und hörte mit, was Michael Kyejjusa sagte.
zog, weil nun auch seine Großmutter tot war. Seine Eltern lebten Dass diese Familie, die er aufbauen will, eine Familie mit
schon lange nicht mehr. Er erzählte, dass er dort anfing zu zwei Vätern wäre, sagte er nicht. Er schwieg, wieder.
boxen. Nicht weil er boxen wollte, sondern weil er sich vertei- Simon Pfanzelt

DER SPIEGEL 49 / 2014 51


D
ie Nora geht, als Erste. Vorsichtig
löst der Bauer den Riemen, der sie
an ihrem Platz hielt, legt der Kuh
ein Halfter an. Sie kennt das nicht. Sie ist
hier geboren, hat ihr ganzes Leben in die-

Die letzte Kuh


sem Stall verbracht.
Die Ohren zucken, sie sträubt sich kurz,
dann folgt sie dem Bauern nach draußen.
Blinzelt ins Helle, mag nicht über die Me-
tallrampe auf den Lkw nach oben gehen,
bockt, wird geschoben und gezogen und
setzt dann doch Klaue vor Klaue, rumpelt Landwirtschaft Die Großen wachsen, die
die Ladefläche lang, wird angebunden
gleich hinter der Fahrerkabine, steht da, Kleinen weichen – Bauernhöfe verschwinden,
stumm.
Draußen ist ein Herbsttag, strahlend. Im
besonders die der Milchbauern. Für Familien
Stall, im Halbdunkel, ist das Rumoren der wie die Auers bedeutet das: Der Stall leert
Jungbullen, das Malmen der Milchkühe zu
hören, die Walli steht da noch, die Kerstin,
sich. Und ein neues, stilleres Leben auf dem
die Ute, Schwarzbunte Holsteiner, neun Land beginnt. Von Barbara Supp
sind es, das Melken am Morgen ging
schnell. Es war das letzte Mal; die beiden
Männer, die im Stall bei ihren Kühen ste-
hen, wussten es am Morgen noch nicht.
Konrad Auer, blaue Arbeitshose, klein,
zäh, Jahrgang 1937. Thomas Auer, grüne
Arbeitshose, groß, kräftig, Jahrgang 1975.
Milchbauern, noch.
Die letzten in Murbach, einem Häuser-
haufen mit hundert Menschen darin, nicht
weit von der Schweizer Grenze. Mitten im
Dorf steht der Hof der Auers, das Wohn-
haus, der Viehstall, die Scheuern mit den
Maschinen für die hundert Hektar Fläche,
die sie bewirtschaften, das meiste davon
gepachtet; Grünland, Ackerland, Wald, das
ist der Dreiklang in diesem buckligen Land
im Südwesten der Republik.
Altes Bauernland, aus dem die Höfe
verschwinden. Wo die Dörfer nun aus Ein-
und Zweifamilienhäusern bestehen, mit
Ziersteinmauern und Sonnenterrassen und
Anwohnern, für die der Bauer derjenige
ist, der stört. So wie die Auers an diesem
Morgen. Von einer Wiese am Rand des
Nachbardorfs war Futter zu holen, zent-
nerschwere, in Plastik geschweißte Ballen;
Thomas im Schaufellader, Konrad im Trak-
tor, der den Anhänger zieht: ein Maschi-
nenballett, über Jahre geübt. Stumm be-
obachtet von einer Sonnenterrasse her,
von einem Anwohnerpaar, das in die Rich-
tung sah, aus der das Dröhnen kam.
Zwischendurch, beim Bauern, immer
wieder der Griff zum Telefon; nein, da war
nichts. Aber dann, kurz vor Mittag, meldet
es sich doch. Der Viehhändler. Kurz nach
Mittag werde er kommen.
Eine Viertelmillion Milchbauern gab es
in Deutschland Anfang der Neunzigerjah-
re, jetzt sind es weniger als 90 000, an die-
sem Abend, in Murbach, wird es wieder
einer weniger sein.
„Es isch herb zugegangen hier, immer
an der Schmerzgrenze“, sagt Thomas Auer.
„Mer wird nit reich, als Bauer“, sagt sein
Vater. „Mir jedenfalls nit.“ Kuhstall der Familie Auer in Murbach

52 DER SPIEGEL 49 / 2014


Gesellschaft

Ein paar Wochen vor dem Anruf des „Es isch eifach koi Sonne komme“, sagte „’s war absehbar, dass es aufhört“, sagt
Viehhändlers, ein nasser Tag, an dem auf der Konrad, der Vater. Konrad Auer. „Im Hinterkopf war’s scho
dem Feld nichts zu machen war; Vater und „Den ganze Sonntag gschafft, für nix“, lang.“ Noch ein paar gute Monate, viel-
Sohn saßen drinnen in der Wohnstube sagte Thomas, der Sohn. leicht sogar ein, zwei Jahre, das war die
über dem Stammbaum der Auers, er geht „Berufsrisiko“, sagte Konrad Auer, und Hoffnung. Sie hielt bis zu diesem März.
ins 18. Jahrhundert zurück. Anselm Auer, Thomas nickte dazu. Es gibt viele Berufs- Das Milchgeld war in diesem Frühjahr so
Landwirt, geboren 1759. Götz Auer, Land- risiken für Bauern, alte und neue. Das hoch wie schon lange nicht mehr. Die
wirt, geboren 1757. Konrad Auer, Landwirt, Wetter. Die Globalisierung. Die Agrar- Kühe kalbten, Milch war da, der Plan kam
geboren 1749. Zu sehen war eine Dynastie politik. auf, einen besseren Traktor zu kaufen. Das
kleiner Leute mit Vieh im Stall. Und es gibt ein hässliches Wort für das, Geschäft, sagt Thomas Auer, war unter-
Sie sprachen über das Heu, das nicht was auf dem Hof der Auers passiert: schriftsreif. Abends wollte der Verkäufer
trocknen wollte, und den Sommer, der „Strukturwandel“. Es klingt wie ein Urteil, kommen. Aber der Notarzt war schneller.
keiner war. Den Sonntag hatten sie durch- gegen das es keinen Einspruch gibt. Es hat Er nahm die Mutter mit, nach einem
FOTO: MARTIN STORZ / DER SPIEGEL

gearbeitet, weil der Wetterbericht gesagt mit Brüssel und der EU zu tun und mit Schlaganfall.
hatte: Es wird für ein paar Tage schön. Der Wladimir Putin und der Ukraine und den Die Mutter liegt jetzt in der Stube im
Wetterbericht trog. Grünen und mit der ganzen Welt, man Krankenbett, lernt, sich wieder zu bewe-
Die Entscheidung war gefallen, ein paar kann die Geschichte der Landwirtschaft gen, „ja“, kann sie sagen, nur „ja“, und
Kühe waren schon weg, demnächst wür- an der Geschichte der Auers erzählen; man wenn man sagt, „sag Thomas“, dann sagt
den die letzten zum Viehhändler gehen. kann erzählen, was ein Bauer war, früher, sie’s. Sonst nichts. Mit 16 konnte sie schon
Irgendwann demnächst. und was davon heute noch gilt. ziemlich gut Traktor fahren. Konrad Auer
spricht davon mit großem Respekt.
Er steht im Stall und krault seine Lieb-
lingskuh Ute, er sagt, für ihn sei Bauer „der
schönschte Beruf“ gewesen, und man ver-
steht das eigentlich nicht, wenn man seine
Geschichten von früher hört. Geboren im
Nachbardorf, Bauernkind, eines von sieben
Geschwistern. Als er neun ist, brennt der
Hof ab, die Versicherung zahlt nicht viel,
die Familie: von jetzt an bettelarm. Schuf-
ten, den Hof erhalten, das ist seine Jugend.
Er selbst soll später der Bauer werden. Für
einen, der sechs Geschwister auszahlen
muss, ist das ein schlechtes Geschäft.
In Murbach gab es Irmgard, eine Halb-
Für die waise, mit ihrer Mutter und einem Knecht
neuen Leute zusammen führte sie den Hof. 1963 war
Hochzeit. Dann kam zwölf Jahre lang kein
in den Dör- Kind.
fern ist der
Dann, 1975, kam Thomas. Dann, 1978,
kam der erste Teil vom neuen Stall.
Bauer der- Denkt groß, sagten die Berater vom
Landwirtschaftsamt. Ihr müsst mithalten
jenige, der können. 25 Kühe? Denkt größer.
lärmt und „Wachst“, sagten die Agrarpolitiker, die
Deutschland nie wieder abhängig von
Gülle sprüht Importen sehen wollten, Fleisch, Milch,
und stört. Getreide, so wie es nach dem Zweiten
Weltkrieg war. Die EWG predigte dann
dasselbe. Und die Höfe wuchsen. Die Heu-
wender kamen, die Mähdrescher, die gro-
ßen Traktoren. Und die Schulden, natür-
lich. Und bald auch die Überschüsse, die
Milchseen, die Butterberge.
Denkt groß, sagten die Berater, und die
Auers stellten sich 30 Kühe in den Stall.
„Ihr macht uns kaputt“, sagten Nachbarn,
die nur 8 Tiere hatten oder 10. 30 Kühe –
hier im Südwesten war das viel.
Zehn Kühe fasst der Viehtransporter,
der an diesem strahlenden Herbsttag kurz
nach Mittag in den Hof rangiert ist, er
parkt mit der Rückfront nahe am Stall.
Aus dem Führerhaus stieg Raphael
Kraft, Juniorchef eines Viehhändlers aus
Bonndorf im Schwarzwald, ein massiger
junger Mann, nun steht er mit Thomas
DER SPIEGEL 49 / 2014 53
Gesellschaft

Auer im Stall hinter dem knochigen Hin- jetzt fütterst du die Kühe. Ein Bauer sieht nicht gedeckelt sind, also nicht primär dem
tern von Ute, verhandelnd, gestikulierend. abends, was er gemacht hat, hundert Bal- kleinen Familienbetrieb, sondern den Gro-
Es ist ein Stall, der zu seiner Zeit mo- len gepresst, den Mais geerntet, den Raps ßen zugutekommen, der Firma Südzucker
dern war, jetzt ist er es schon lange nicht gesät. oder der Agrargenossenschaft Rhönperle
mehr. Ein Anbindestall: Die Kuh kann Ein Bauer ist frei und selbstverantwort- oder dem Landgut von Prinz Charles.
stehen, liegen, fressen, Mist machen und lich. Aber selbstständig? Ist er nicht. Ein Die Ellen. Komm, komm, sagt Thomas
Milch produzieren, sonst nichts. Sie bleibt Milchbauer schon gar nicht. Auer, der sie zum Lkw führt. „Komm hoch,
immer an ihrem Platz, den ganzen Tag. Ein freier Unternehmer produziert et- da siehsch doch die anderen.“ Die Ellen
Erst später kamen moderne Laufställe auf, was, sucht sich seine Käufer, handelt einen beruhigt sich und rumpelt hoch.
die den Kühen mehr Licht, mehr Luft, Preis aus, verkauft. Ein Milchbauer produ- Die Nächste ist eine Kalbin, die noch
mehr Bewegung erlauben. Biobauern dür- ziert etwas, das wird abgeholt, zur Molke- keine Milch, also auch keinen Namen hat.
fen ihre Kühe schon heute nicht mehr in rei gebracht, und irgendwann später er- „Brav, Mädle, ganz brav.“
der Anbindung halten, für die anderen soll fährt er, was die für die Milch bezahlt. Die Abende der beiden Männer werden
es ab 2020 verboten sein. Thomas Auer hat das Kaufmannsden- in Zukunft ruhiger sein, und länger. Beide
Ein Bauer muss seine Tiere nutzen. Und ken, aber einem Milchbauern nützt es mögen Autorennen im Fernsehen. Thomas
er kann sie mögen. Wer die Auers mit nichts. Er hat seine Molkerei, bekommt ei- schaut sich gern Talkshows und Dokumen-
ihren Tieren sieht, denkt: Die mögen sie. nen diktierten Preis, so ist das System. tationen an, auch auf Phönix, auf N-tv,
Gleichzeitig stehen die Kühe in diesem Es ist ein System, das sich für die Klei- und lustige Filme. Zurzeit nur lustige Fil-
Stall, seit Jahren. nen nicht mehr lohnt, und das sind Höfe me. Was er am wenigsten mag, ist die
Als er gebaut wurde, regten sich gerade wie der der Auers heute: die Kleinen. Um Sendung „Bauer sucht Frau“.
die ersten grünen Gedanken in der Politik; ihnen zu helfen und Überschüsse zu be- „Er isch ja alleinstehend. Er hat vergesse,
Tierschützer und Ökologen spielten keine kämpfen, hatte Brüssel 1984 die Milchquo- a Frau zu suche.“ Sagt Konrad.
so große Rolle damals. Aber nun tun sie te eingeführt: Kontingente, die nicht über- „Pff“, sagt Thomas. „I bin ja net der Ein-
es. Schweine sollen etwas mehr Platz be- schritten werden dürfen. Aber sie wurden zige. ’s isch a Landwirtschaftsproblem.“
kommen, Hühnern soll man nicht mehr überschritten. Es half nichts. Große wuch- Für einen Bauern ist es schwierig, eine
den Schnabel kürzen, Kühe sollen nicht sen weiter, Kleine gaben auf. Nun, ab April Frau zu finden, für einen Milchbauern fast
mehr angebunden stehen. Das ist kuh- 2015, gibt es keine Quote mehr. Das heißt: unmöglich. Die Frau heiratet ja die Kühe
freundlich gedacht, und es kostet. Jeder darf wachsen, so viel er kann. mit, die jeden Morgen und jeden Abend
Bei den Auers war kein Platz für einen Und andere tun es schon. Andere in der nach dem Melker brüllen. Es sei denn, der
modernen Laufstall, der Hof liegt ja im Region stellen sich jetzt Ställe für 150, 200, Bauer hat Melkroboter und die Kühe mel-
Dorf. Sie hätten aussiedeln müssen, raus 250 Kühe hin, und im Norden und Osten ken sich selbst.
auf die grüne Wiese. Eine halbe Million Deutschlands stehen ohnehin riesige Be- Die Klara verlässt den Stall, rutscht aus,
Schulden vielleicht. Für welche Zukunft? triebe. Der Milchpreis sinkt und wird wei- kommt hoch, zögert an der Rampe, hinten
Konrad wischt der Ute über die Stirn, ter sinken, das ist absehbar. schiebt Konrad, vorn zieht Thomas, die
alle Milchkühe haben einen Namen, sagt „Es hett uns des Fürchte gelehrt“, sagt Klara geht.
er, weil das, was man melkt, einen Namen Konrad Auer, die Ute kraulend, während „Wir sind fremder im Ort als früher“,
braucht. Sohn und Händler verhandeln. Die Ute sagt Konrad. „’s isch nimmer so viel Ver-
Ute, die Beste, gab monatelang knapp bleibt erst mal im Stall. ständnis da.“
50 Liter am Tag. Sechs Jahre alt und gut Die Walli. Acht Jahre alt, fünf Kälber. „Dass es halt mal stinkt, wenn man Gül-
aussehend, hoch angesetztes Euter, gerade Sie geht zum Abmelken mit, dann geht le pumpt“, sagt Thomas.
Beine, klarer Blick. Aber sie müsste längst sie zum Schlachter. Ein Kalb bekommt sie „Oder a bissle Stroh rumfliegt“, sagt
wieder sicher tragend sein, und das ist sie sicher nicht mehr. Konrad.
nicht. „Sie vergisst die Brunst, die Liebe Die Uschi. Siebenjährig, trächtig mit Die Leute wollen ein Dorf, das kein Bau-
vergisst sie“, sagt Konrad. dem vierten. erndorf mehr ist.
Ute gibt viel, zu viel vielleicht, und hat Eine „Landwirtschaft, die vom Familien- Und auch die, die immer hier waren, än-
die Probleme moderner Hochleistungs- betrieb geprägt ist“, heißt es in den Agrar- dern sich. Weil viele, die Bauern waren, kei-
tiere: Viele sind früh verschlissen, krank, berichten, sei das Leitbild der deutschen ne Bauern mehr sind. Im Musikverein, wo
unfruchtbar. Wenn der Viehhändler sie Politik. Aber die Familienbetriebe sterben Thomas Posaune spielt und der Vater viele
nicht mitnimmt, wird sie zum Schlachter weiter, in den vergangenen drei Jahren wa- Jahre Tuba, ging es früher um acht abends
müssen. Konrad hofft also, dass der Händ- ren es 15 an jedem Tag. Weil der Druck so los, dann um sieben, dann um sechs. Wenn
ler sie nimmt. groß ist, dass er die Betriebe erstickt. ein Geburtstag war, früher, dann lud man
Die Kerstin geht am Halfter nach drau- Da ist der Druck der Discounter, der da- später abends ein, mit Rücksicht auf die
ßen, blinzelt, auch sie kennt nur das Leben für sorgt, dass die Milch manchmal billiger Geburtstagsgäste, die vorher zu den Tieren
im Stall. als Wasser ist. Die Discounter drücken die mussten. Heute, sagt Thomas, „fanget die
Die Erna. Vorsichtig, Klaue vor Klaue Preise, immerzu und derzeit ganz beson- um 18 Uhr an. Und der Bauer hockt bis um
setzend, an der Stalltür rutscht sie aus, ders, da der Russland-Boykott zu einem halb achte im Stall, dann duscht er und zieht
kämpft sich auf die Beine, scheut vor der Überangebot an Milch, Fleisch, Äpfeln sorgt. sich um, und wenn er dann dazukommt
Rampe und geht dann doch. Und da ist der Druck der Großproduzen- zum Fest, sind zwei, drei Stund verpasst“.
Eigentlich, sagt Konrad, eigentlich hät- ten, der Konkurrenz auf dem Weltmarkt Bald werden sie ein Leben haben, das
ten er und die Frau gar nicht mehr gewollt, und in Europa. Subventionen, so heißt es, näher an dem der anderen ist. Wie wird
FOTOS: MARTIN STORZ / DER SPIEGEL

dass der Thomas Bauer wird. sollen den bäuerlichen Familienbetrieb am sich das anfühlen? Was kommt?
Der Thomas aber wollte. Leben erhalten. Nur dass die Subventionen Die Karen, die vorletzte.
Ein Bauer, findet Thomas Auer, ist alles Thomas Auer ist noch eine Kuh vom
Mögliche auf einmal. Er ist Landmaschi- Animation: Die Deutschen neuen Leben entfernt.
nenmechaniker, Kaufmann, Tierkundler, und die Milch Was soll er machen? Er hat sich beraten
Pflanzenkundler, ein Bauer ist einer, dem spiegel.de/sp492014milch lassen. Biogas? Vielen Bauern geht es lan-
keiner sagt: Jetzt säst du, jetzt pflügst du, oder in der App DER SPIEGEL ge nicht so gut dabei, wie man denkt.
54 DER SPIEGEL 49 / 2014
Biobauer werden? Auch schwierig, au-
ßerdem passt es nicht zu ihm. Er hält es
für „unökonomisch“, für „Ideologie“.
Mutterkuhhaltung? Sieht nett aus,
macht nicht so viel Arbeit, man nimmt ro-
buste Rassen, lässt sie das ganze Jahr drau-
ßen auf der Weide mit ihren Kälbern, ver-
kauft dann das Fleisch. Aber man muss es
sich leisten können, sagen die Berater. Um
davon leben zu können, brauchte man
Fleischpreise wie in der Schweiz.
Er mag die Arbeit auf dem Acker, mit
den Maschinen. Er wird weiter Mais, Raps,
Weizen, Gerste anbauen. Ein Ackerbauer
hat Vorteile. Es ist nicht wie bei der Milch,
es ist eher wie bei einem Unternehmer:
Vater Auer (r.), Sohn Thomas (M.), Kuh Nora Man kann entscheiden, wann die Gerste
verkauft wird oder der Raps. Ob der Dün-
ger jetzt bestellt wird oder später, weil
der Preis vielleicht noch sinkt. Auf seinem
iPad verfolgt Thomas Auer den Welt-
markt, die Politik, die Börsen. Die Ukraine
hatte eine gute Getreideernte, trotz Krieg,
man kriegt das zu spüren, sagt Thomas
Auer.
Er wird die Kälber und Jungbullen, die
er noch im Stall hat, mästen und ver-
kaufen, und er wird sich Arbeit suchen; ir-
gendwas, bei dem man, wenn’s geht, unter
freiem Himmel ist. Lohnarbeit bei Bauern
über den Maschinenring; oder Gartenar-
beit auf der Insel Mainau, Tulpen pflanzen,
Tulpenzwiebeln ziehen, solche Dinge.
Die Ute geht aus dem Stall, als letzte.
Die Ute will nicht, nein, absolut nicht.
Der Jungbauer zieht, der Altbauer schiebt,
die Ute kämpft, es dauert, dann ist sie doch
im Transporter.
Gerätescheune mit ausrangiertem Traktor Wie es sich anfühlt – „komisch“, sagen
sie beide. Sonst nichts.
Jetzt also das andere Leben.
Die Kühe bei der Kontrollstelle abmel-
den.
Der Molkerei Bescheid geben, dass
der Milchwagen nicht mehr zu kommen
braucht.
Kaffee trinken mit der letzten Milch aus
dem eigenen Stall.
Thomas Auer sagt, dass er die nächsten
beiden Tage weg sein werde, auf einem
Auf dem Ausflug mit dem Musikverein.
Tisch stehen Konrad Auer sagt, dass der Musikverein
ihm immer gutgetan habe. „Wenn unter
Kaffee, Tag a Kuh kaputtgange isch und abends
Kuchen und
war Musikprobe, da hosch der Kuh net
nachtraure könne. Danach war’s besser.“
die letzte Über dem Wald steht der Nebel, ein
paar Wochen später, es ist Zeit für Herbst-
Milch aus gespräche, das Gras muss siliert werden,
dem eigenen die Gülle muss raus. Im Wald gibt es Ar-
beit. Im Winter werden sie das Scheunen-
Stall. dach richten, sagen die Auers, und nach
den Maschinen sehen.
Auf dem Tisch steht jetzt die blaue Papp-
schachtelmilch von Omira.
Draußen im Stall steht nichts mehr, was
Bauer Auer, Jungvieh einen Namen trägt. I

DER SPIEGEL 49 / 2014 55


Gesellschaft

Deutscher IS-Kämpfer Denis Cuspert*


„Lust am Leid eines Gegenübers“

Krüger: Es ist aber sehr wahrscheinlich,


dass solche Kinder unbewusst Bewäl-
tigungsstrategien ausprägen, die solche
Entwicklungen befördern. Traumatisierte
Kinder neigen dazu, sich selbst für schuldig
zu halten. Sie versuchen so, all den
Schrecklichkeiten ihres Lebens irgend-
einen nachvollziehbaren Sinn zu geben.
Über diesen Umweg finden sie aus ihrer
Ohnmacht zurück zur Macht – und die ist
gewaltvoll: Gemäß der Maxime von ihrer
eigenen Schuld müssen sie sich ja wie ein
schuldiger Täter verhalten. So versuchen
sie unbewusst, ihrer Opferrolle zu entflie-
hen. Der innere Druck wird immer größer

„Biografien
hölle, üblicherweise voller Ohnmacht, vol- und in der Folge auch das Ausmaß der
ler Momente des absoluten Ausgeliefert- Gewalt. Und fatalerweise verfestigt sich
seins. Die Erfahrung, Konflikte erfolgreich mit jeder neuen Tat die ursprüngliche

der Vorhölle“
und friedlich zu bewältigen, aber fehlt. Traumatisierung.
SPIEGEL: Ist das nicht ein bisschen zu ein- SPIEGEL: Warum?
fach, den Terror deutscher Dschihadisten Krüger: Ein Mensch, der, wie manche
allein mit einer schrecklichen Kindheit zu Dschihadisten, anderen den Kopf abtrennt,
Terror Das Verhalten deutscher erklären? gerät aller Wahrscheinlichkeit nach jedes
Krüger: Das mag einfach klingen, und die Mal in eine Flashback-Situation: Er verhält
IS-Kämpfer sei pathologisch, sagt Erklärung trifft vielleicht auch nicht auf sich wie automatisiert nach dem alten, ver-
der Hamburger Psychiater alle Mitläufer zu. Aber das Verhalten innerlichten Muster und bestätigt damit
Andreas Krüger – und wohl auch vieler Anführer sollten wir unter diesem vor sich selbst immer wieder die Richtig-
Aspekt betrachten. Religion, die radikale keit seines Tuns.
nicht mehr zu ändern. Auslegung des Islam, spielt da nur die ver- SPIEGEL: Erklären Sie sich so auch den of-
brämende Rolle. Wir werden präventiv nur fensichtlichen Stolz dieser Leute über eine
Krüger, 50, ist Spezialist für die Folgen früh- wirken können, wenn wir versuchen, ne- Hinrichtung?
kindlicher Traumata. Der Hamburger Kinder- ben den soziologischen und sozialen Mus- Krüger: Ja. Und die Verhaltensmuster die-
und Jugendpsychiater, Autor mehrerer Fach- tern auch die traumapsychologischen Me- ser Terroristen werden sich wohl auch
bücher, arbeitet eng mit Einrichtungen der chanismen dieses Terrors zu verstehen. Sie kaum mehr ändern lassen. Der Zeitpunkt,
Jugendhilfe zusammen. sind vermutlich beträchtlich für das Aus- zu dem sie zur Ausbildung von Empathie
maß der Gewalt verantwortlich. und Mitgefühl fähig gewesen wären, ist
SPIEGEL: Herr Krüger, etwa 500 junge Män- SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. vorüber. Wer in dieser Weise wiederholt
ner aus Deutschland kämpfen für die Ter- Krüger: Die dauerhafte Erfahrung von trau- sadistisch tötet, spaltet seine Menschlich-
rororganisation „Islamischer Staat“ (IS) – matischer Ohnmacht ist letztlich die Es- keit ab, sonst könnte er sich selbst nicht
Sie meinen, das hätte verhindert werden senz, aus der heraus es einem Menschen ertragen. Ich erlebe Jugendliche, die grau-
können. Wie kommen Sie darauf? erst möglich wird, sadistisch gewalttätig same Gewalttaten begehen und anschlie-
Krüger: Ich lerne Menschen mit einem der- zu werden. Kindern ist ja zunächst einmal ßend Mitleid zeigen, da besteht noch Hoff-
artigen Potenzial bereits als Kinder kennen. die Fähigkeit gegeben, Empathie und Mit- nung. Oft berichten sie von einer Art in-
Viele berichten von ihrer Angst vor den ei- leid zu entwickeln. Aber dieses natürliche nerem Teufel, der sie antreibt. Fängt man
genen Gewaltausbrüchen. Erhalten sie dann Programm kann zum Erliegen kommen, sie in dieser Phase der Einsicht und des
keine umfassende Hilfe, kann in ihnen eine wenn ein Kind sein Leben und seine wich- Mitleids nicht irgendwie ein, übernimmt
Krankheit der perfiden Gewalt ausbrechen. tigen Beziehungen dauerhaft als unerträg- der Teufel.
Sie äußert sich zum Beispiel in den Taten lich und beschädigend erlebt. SPIEGEL: Wie wollen Sie die Heranwach-
von Intensivstraftätern, aber eben genauso SPIEGEL: Aber trotzdem wird es deshalb ja senden rechtzeitig einfangen?
im sogenannten Dschihad-Kult. nicht zwangsläufig gewalttätig oder ein is- Krüger: Wir brauchen Hilfsstrukturen, die
SPIEGEL: Sie bezeichnen den islamistischen lamistischer Terrorist. sich auf die gesamte Lebenssituation sol-
Terror als Krankheit? cher Kinder beziehen und in denen Sozial-
Krüger: Das Ausmaß an ungehemmter, sa- arbeiter, Psychologen, Pädagogen, Trau-
distischer Gewalt, die damit einhergeht, ist matherapeuten, auch Imame wirklich zu-
pathologisch. Anders lässt sich diese Lust sammenarbeiten. Die üblichen Lösungen
am exzessiven Leid eines Gegenübers nicht reichen nicht aus – ein paar Projektmittel,
bezeichnen. In der Regel steht dahinter eine zwei zusätzliche Sozialarbeiter, ein Kin-
frühe, hochkomplexe Traumatisierung: dertherapeut in halber Stelle. In allen Städ-
Misshandlungen, Vernachlässigung, Demü- ten müssen vielmehr jene an einen runden
tigungen, Ausgrenzung – in der Familie, Tisch verpflichtet werden, die im Alltag
QUELLE: YOUTUBE (O.)

der Schule, der Peergroup, einem ganzen Kontakt zu gefährdeten Kindern haben.
Land. Es sind Biografien wie aus der Vor- Sonst werden wir Radikalisierungen wie
Krüger dieser ohnmächtig zusehen.
* Szene aus einem IS-Propaganda-Video vom Juni. Interview: Katja Thimm

56 DER SPIEGEL 49 / 2014


Gesellschaft

„Oder wenn die Eltern Massenmörder gewesen wären“, sagt


Eugene Chaplin. Er hat das Gesicht eines Clowns, die müden
RUST Augen und dann wie aus dem Nichts ein Lachen mit weit nach
oben gezogenen Mundwinkeln. Man kennt es.
„Dein Name allein macht dich zu keinem besseren Men-
schen“, sagt Kweku Mandela. „Es liegt an dir, ihn hochzuhalten.
Unsere Väter und Großväter haben bewiesen, dass jeder
Väter und Söhne Mensch einen Unterschied machen kann, unabhängig von sei-
ner Herkunft. Als Politiker wäre ich allerdings eine komplette
Ortstermin Im Europa-Park Rust Null. Es wird auch keinen zweiten Charlie Chaplin geben.“
Ein paar Schritte weiter, vor der Achterbahn „Arthur“, steht
tauschen sich Chaplin und Mandela ein Mann mit ausgelatschten Schuhen, Moustache und Bam-
über das Leben aus. busstöckchen. Die Füße nach außen gestellt. Das ist „Albert
de Paris“, ein Schweizer maghrebinischer Herkunft, der seit
28 Jahren im Park Charlie Chaplin darstellt: „Aber mein Bart

D
ie anderen sind schon vorn bei den Gänsen am Mär- ist echt, hier, fühlen Sie. Und das Haar auch.“
chenwald. Er ist ein wenig zurückgeblieben. Es sind Er habe alles über Chaplin gelesen. „Ich bin auch exakt so
die Füße. Ihre Spitzen zeigen auffällig nach außen. Das groß und so schwer wie er. Ich sehe seine Filme immer wieder.
macht das Gehen mühsamer. „Man ist eben immer der Sohn In jeder Situation überlege ich, wie Charlie jetzt wohl reagieren
von irgendjemandem“, sagt Eugene Chaplin. würde. Mein Sohn!“, ruft er plötzlich und umarmt Eugene
Es ist der erste Tag der Wintersaison im Europa-Park Rust, Chaplin mit großer Geste. Der reagiert etwas irritiert.
Deutschlands größtem Freizeitpark. „Ich meine“, sagt Chaplin, Später sitzt Kweku Mandela mit Chaplin im VIP-Shuttlebus.
„wenn dein Vater Polizist ist, und du fällst vom Rad, machen Er hat mit vielen Leuten vor weiß lackierten Tannenbäumen
die Leute auch ihre Bemerkungen.“ Eine Besuchergruppe in die Kameras gelächelt und sich von einer lustigen Maus
kommt ihm entgegen, die Leute tragen lustige Pe-
rücken und angebissene Liebesäpfel. „Für mich war
er immer nur mein Vater.“
Am Teich bei den Gänsen wartet ein dunkelhäuti-
ger junger Mann mit schwarzem Hütchen und einem
SC-Freiburg-Schal um den Hals. Es ist Kweku Man-
dela. „Mein Großvater liebte Chaplin“, sagt er und
kniet sich nieder, um eine afrikanische Maske zu
knipsen, die riesenhaft aus dem Wasser beim „Aben-
teuerland“ ragt. „Im Gefängnis gab es alle drei
Monate Kino, da hat er die Filme gesehen.“ – „Mein
Vater hasste die Apartheid“, sagt Chaplin. „Es em-
pörte ihn. Wie jede Dummheit. Aber begegnet sind
sich die beiden nie.“
Die Nachgeborenen haben sich vorhin beim Mittag-
essen kennengelernt, als Ehrengäste des Parks. Eu-
gene Chaplin ist für eine Ausstellungseröffnung aus
der Schweiz hierhergekommen, Zirkusbilder seines
Freundes Rolf Knie, die im Europa-Park gezeigt wer-
den. Kweku Mandela hatte gemeinsam mit Unicef-
Botschafterin Sabine Christiansen einen Scheck für Ehrengäste Mandela jr., Chaplin jr. (r.), Chaplin-Darsteller: „Boxen, Musik und Frauen“
ein Wasserprojekt in Afrika bekommen. Es sind die
gesammelten und gespendeten 50-Cent-Münzen aus einer Was- umarmen lassen, die als Weihnachtsmann verkleidet war. Ob
serkanone im Park. er noch eine Runde drehen wolle, fragt der Fahrer. „Nein, ich
„Mein Großvater liebte Boxen, Musik und die Frauen“, sagt will nach Frankreich rüber.“ In das richtige, nicht in den Nach-
Mandela. „Genau wie mein Vater,“ sagt Chaplin. „Sie waren bau im Park. Und wohin dort? „Egal wohin.“
eben Männer“, sagt Mandela. Nelson Mandela hatte sechs Kinder Eugene bleibt sitzen. „Mein Vater war Charlie Chaplin“,
aus drei Ehen, Charlie Chaplin vier Ehen und elf Kinder. Eugene sagt er. „Aber wussten Sie, dass mein Großvater mütterlicher-
ist jetzt zum zweiten Mal verheiratet, mit einer Mongolin, sie ha- seits Eugene O’Neill hieß?“ Der US-amerikanische Dramatiker.
ben Zwillinge, dazu kommen die fünf Kinder aus der ersten Ehe. Vier Pulitzer-Preise. Ein Nobelpreis. Es kann immer noch
Eugene Chaplin ist jetzt 61 Jahre alt, er war künstlerischer schlimmer kommen.
Direktor eines Zirkus und hat Filme gedreht. „My Tribute“ „Es ist verflixt schwer, ein Chaplin zu sein“, hat Albert gesagt.
heißt einer davon und handelt von Charlie Chaplin. Kweku Er persönlich sei froh, nicht in diese Gestalt hineingeboren
Mandela hat mit 29 Jahren schon Filme produziert, einer seiner worden zu sein: „Du wirst an deinem Vater gemessen, ob du
Filme handelt von Nelson Mandela. Kweku Mandela ist erfolg- willst oder nicht. Du darfst keinen Fehler machen. Und darüber
reich. Doch mit einem anderen Familiennamen hätte er ver- hinaus musst du noch etwas Eigenes leisten. Das ist doppelt
mutlich keinen Scheck zusammen mit Sabine Christiansen be- schwer.“
FOTO: MARIA IRL / DER SPIEGEL

kommen. Name ist Schicksal. In seiner Heimatstadt wissen sie nicht, womit genau er sein
„Du kommst in einen Saal, und alle glauben, dich zu kennen“, Geld verdient. Seinen wahren Familiennamen möchte Albert
sagt Mandela. Verflucht er manchmal seinen Namen? Nein, nicht gedruckt sehen.
sagt er. „Wobei es schwieriger wäre, wenn Mr Chaplin auch Aus Rücksicht gegenüber seinen Kindern.
Schauspieler wäre und ich ein Politiker.“ Alexander Smoltczyk

58 DER SPIEGEL 49 / 2014


Hamburger Hauptbahnhof

Verkehr Homburg: Bis Mitte des Jahres waren wir sehr zufrieden, aber

„Wir handeln“ im Juni legte ein Sturm im Ruhrgebiet den Bahnverkehr für
mehrere Tage lahm. Im Herbst kamen dann die Warnstreiks
Ulrich Homburg, 59, Vorstand der Lokführer.
Personenverkehr der Deutschen Bahn, über SPIEGEL: Es scheint, als seien Sie beim Erfinden immer neuer
die Zunahme der Verspätungen Ausreden kreativer als bei der Lösung des Problems.
Homburg: Emotional kann ich das Argument nachvollziehen,
SPIEGEL: Herr Homburg, wir waren für 18 Uhr verabredet. aber zur Wahrheit gehört auch, dass große Teile des Netzes
Angenommen, ich hätte mich erst 5 Minuten und 58 Sekun- und wichtige Bahnhöfe hoch belastet und zum Teil auch über-
den danach gemeldet, hätte ich mich dann eigentlich ver- lastet sind. Ich kann aber weder ein größeres Netz herzaubern
spätet? noch die Zahl der täglich fahrenden Züge reduzieren. Also
Homburg: Ein Zug gilt in Europa als verspätet, wenn er 5 Mi- prüfen wir gerade Hunderte Maßnahmen, die alle sehr klein-
nuten und 59 Sekunden zu spät abfährt. Nach dieser Defini- teilig sind.
tion wären Sie also gerade noch pünktlich gewesen. SPIEGEL: Zum Beispiel?
SPIEGEL: In der Schweiz gilt ein Zug bereits als verspätet, wenn Homburg: Wir analysieren bei Bahnhöfen mit vielen Reisenden
er drei Minuten nach Plan losfährt. Warum hat die Bahn trotz und häufigen Verspätungen, ob etwa die Lage der Wartehäus-
der großzügigeren Auslegung solche Probleme mit der Pünkt- chen und Aufsichtsräume auf den Bahnsteigen für ein schnel-
lichkeit? leres Ein- und Aussteigen verändert werden kann. Wo das der
Homburg: Wenn wir als Verkehrsmittel nicht verlässlich sind, Fall ist, werden wir umbauen.
haben wir ein Problem. Daher will ich auch gar nicht schön- SPIEGEL: Im nächsten Jahr will die Bahn die bislang größte Mo-
reden, dass zuletzt weniger als 70 Prozent der Fernzüge dernisierung der Infrastruktur starten. Für viele Kunden klingt
pünktlich waren. Aber wir handeln und haben uns die Ur- das wie eine Drohung.
sachen noch einmal angeguckt. Ein Ergebnis ist, dass die Homburg: Die Herausforderungen werden dadurch nicht
witterungsbedingten Verspätungen in den vergangenen vier kleiner. Doch wir haben jahrelang die Unterfinanzierung der
Jahren um 50 Prozent zugenommen haben. Infrastruktur beklagt. Jetzt können wir das Thema endlich
SPIEGEL: Der Winter ist in diesem Jahr allerdings weitgehend angehen. Es wird zu Einschränkungen kommen, doch
ausgefallen. Warum ist die Bahn trotzdem so unpünktlich? wir passen die Fahrpläne rechtzeitig an. Versprochen. böl

Gesundheitskarte weniger Geld als bislang Tests nicht wie geplant verge- Foto des Versicherten zeigt.
Zeitverzug überweisen. So könnte die ben werden konnten, fallen Allerdings ist ihr Nutzen
FOTO: BODO MARKS / DPA (O.); CARSTEN KOALL (U.)

Umlage, die AOK, Barmer die Rücklagen der Gematik überschaubar: Gespeichert
entlastet Kassen und Co. pro Jahr und Mit- höher als erwartet aus. Ins- sind bislang nur Stammdaten
Die Verzögerungen beim glied zahlen, 2015 von derzeit gesamt hat das umstrittene wie Alter, Adresse oder Versi-
Ausbau der elektronischen 1,50 auf dann 1,09 Euro sin- Kartenprojekt bislang rund chertenstatus. Wann mit der
Gesundheitskarte haben für ken. Darauf haben sich die eine Milliarde Euro an Bei- Karte auch ein elektronisches
die gesetzlichen Krankenkas- Gesellschafter der Gematik tragsgeldern verschlungen. Rezept oder eine Patienten-
sen einen positiven Neben- geeinigt, zu denen die Ver- Vom 1. Januar 2015 an wird akte gelesen werden kann, ist
effekt: Sie müssen der Betrei- bände von Kassen, Ärzten, beim Arztbesuch nur noch unklar. Die Karte sollte
bergesellschaft Gematik im Kliniken und Apothekern die elektronische Gesund- ursprünglich bereits im Jahr
nächsten Jahr voraussichtlich gehören. Weil Aufträge für heitskarte akzeptiert, die ein 2006 eingeführt werden. cos

60 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wirtschaft
Steuern treten soll. Die CDU-Spitze
CDU-Politiker dagegen will beim Parteitag,
der kommenden Montag in
gegen Abbau Köln beginnt, andere wirt-
Vor dem CDU-Parteitag ver- schaftspolitische Themen in
abschiedet sich die Parteifüh- den Mittelpunkt stellen, zum
rung von dem Ziel, die Steuer- Beispiel das geplante Freihan-
zahler noch in dieser Legisla- delsabkommen mit den USA,
turperiode zu entlasten. „Wir TTIP. „Das Freihandels-
sollten bei der kalten Progres- abkommen muss neben der Flugabwehrsystem „Asrad“
sion keinen Beschluss fassen, Nato die zweite Säule der
der noch in dieser Legislatur- transatlantischen Partner-
periode finanzwirksam wird. schaft werden und zügig und Rheinmetall
Dafür sehe ich derzeit keinen zielorientiert weiter verhan- Vorladung in Griechenland
Spielraum“, sagte Hessens delt werden“, heißt es im
Ministerpräsident Volker Entwurf zum wirtschaftspoli- Der Rüstungskonzern Rheinmetall bekommt zunehmend
Bouffier, einer der Stellver- tischen Leitantrag. Zudem Ärger mit der Justiz. Geht es nach dem Willen griechischer Er-
treter von Kanzlerin Angela stellt die Partei „kostenloses mittler, sollen sich demnächst 13 frühere und jetzige Manager
Merkel an der Parteispitze. WLAN in allen öffentlichen vor einem Athener Gericht verantworten. Sie werden seit Kur-
„Jeder, der das fordert, soll Gebäuden, in der Bahn und zem offiziell als Beschuldigte geführt. In der vergangenen Wo-
mir zunächst sagen: Wer soll auf Flughäfen“ in Aussicht. mp che gingen die ersten Vorladungen zu Vernehmungen in Grie-
das bezahlen?“ Ähnlich äu- chenland raus. Seit Ende 2013 laufen die Ermittlungen wegen
ßerte sich der Regierungschef Soziales Bestechung von Amtsträgern bei Rüstungsaufträgen des Düs-
von Sachsen-Anhalt, Reiner Regierungsbeirat seldorfer Konzerns. Der Vorwurf: Ein früherer Repräsentant
Haseloff. „Die Beseitigung soll Provisionen von Rheinmetall verwendet haben, um Beam-
der kalten Progression wäre rügt Rentenpaket te und Militärs zu schmieren. Unter anderem geht es dabei um
wünschenswert, doch derzeit Der Sozialbeirat der Bundes- das Flugabwehrsystem „Asrad“ sowie den Kauf und die Moder-
haben wir den finanziellen regierung hat dem Renten- nisierung von U-Booten. Auch die Staatsanwaltschaft Bremen
Spielraum dafür nicht.“ Auch paket der Großen Koalition ermittelt in diesen Fällen – und arbeitet sich in das Top-Ma-
Parteichefin Merkel hält die ein schlechtes Zeugnis aus- nagement vor. Unter dem guten Dutzend Beschuldigter ist der
Frage angesichts der geringen gestellt. In seinem Gutachten langjährige Generalbevollmächtigte, Chief Compliance Officer
Inflation derzeit eher für ein für das Jahr 2014 fordert das und Chefjurist der Firma. Also der Mann, der Korruption im
Symbolthema. Der CDU-Ar- Gremium eine „Nachbesse- Haus bekämpfen sollte. Der 62-Jährige, der auf eine SPIEGEL-
beitnehmerflügel sowie die rung der Finanzierungsrege- Anfrage nicht reagierte, schied Ende Juni bei Rheinmetall aus.
Mittelstandsvereinigung MIT lungen“ bei der Mütterrente. Der Konzern hat illegale Zahlungen stets bestritten. Mitarbei-
bestehen auf einen Beschluss, Die Rentenerhöhungen für ter seien „strengen Compliance-Richtlinien verpflichtet“. js
der ein Gesetz zum Abbau Seniorinnen, deren Kinder
der kalten Progression ver- vor 1992 geboren wurden,
spricht, das noch in dieser werden derzeit aus Beitrags-
Legislaturperiode in Kraft mitteln bezahlt. „Systema- Siemens
tisch korrekt“ sei es aber, die- Ex-IG-Metall-Chef
se Anerkennung der Kinder-
erziehungszeiten aus dem plant den Abgang
Bundeshaushalt zu finanzie- Beim Münchner Siemens-
FOTOS: RHEINMETALL / DDP IMAGES / DAPD (O.R.); STEFAN BONESS / VISUM (U.R.); CHRISTIAN THIEL (U.L.)

ren, heißt es in dem Papier. Konzern steht Anfang nächs-


„Ausdrücklich“ weisen die ten Jahres eine Zäsur an.
Experten darauf hin, dass die Nach der Hauptversammlung
Kosten der Mütterrente und am 27. Januar will sich der
der abschlagsfreien Rente mit ehemalige IG-Metall-Chef Huber
63 andere Reformen er- Berthold Huber, 64, aus dem
schwerten. Angesichts des de- Aufsichtsrat zurückziehen. sitzenden übernommen, eine
mografischen Wandels raten Der gebürtige Schwabe war Ausnahme wurde nur für den
sie dazu, flexible Übergänge Mitte 2004 in das Kontrollgre- damaligen IG-Metall-Chef ge-
in den Ruhestand zu schaffen. mium eingerückt, seit 2009 macht. Daher ist es gut mög-
Sinnvoll sei eine Neuregelung fungiert er dort als stellvertre- lich, dass demnächst Birgit
der Hinzuverdienstgrenzen tender Vorsitzender. Das frei Steinborn, 54, als oberste Be-
für Vorruheständler. Die Bun- werdende Mandat soll der triebsratschefin die Aufgabe
destagsfraktionen von Union Siemens-Unternehmensbeauf- übernimmt. Sie wäre die ers-
und SPD diskutieren in einer tragte der IG Metall, Rein- te Frau in dieser Funktion bei
Arbeitsgruppe derzeit über hard Hahn, 58, übernehmen. Siemens. Huber sitzt derzeit
ähnliche Pläne. Ursprünglich Wer Huber als Vize-Chefkon- auch noch in den Kontrollgre-
wollten sie noch im Dezem- trolleur nachfolgt, war Ende mien von VW, Audi und der
ber einen Abschlussbericht vergangener Woche noch Porsche Automobil-Holding.
vorlegen. Nun haben sie den offen. Bei Siemens wird das Nach Aussagen einer IG-Me-
Termin aber auf Mitte Januar wichtige Amt traditionell tall-Sprecherin will er diese
Bouffier verschoben. cos vom Gesamtbetriebsratsvor- Mandate vorerst behalten. did

DER SPIEGEL 49 / 2014 61


Titel

Verdämmt in
alle Ewigkeit
Immobilien Die Regierung treibt Vermieter und
Hausbesitzer an. Mit luftdicht verpackten Gebäuden soll
die Energiewende gelingen. Doch Studien zeigen:
Wärmedämmung ist oft unwirtschaftlich und umweltschädlich.

W
enn Stefan Reischle, 57, aus Mün- zer, Feuerwehrleute und Ökonomen zeich-
chen-Oberföhring nach Hause nen ein anderes Bild als die Regierung. In
kommt, muss er das Licht ein- der Realität stellt sich heraus, dass der
schalten, leider auch bei Tage. Seit die Fas- Schießscharteneffekt bei gedämmten Fas-
saden der Wohnanlage mit einer 18 Zenti- saden noch das geringste Problem ist.
meter dicken Dämmschicht aufgepolstert Bei zahlreichen Bauprojekten stehen
wurden, fällt nur noch wenig Sonnenlicht Aufwand und Ertrag in einem schlechten
durchs Fenster. „Das ist der Schießschar- Verhältnis. Studien belegen, wie sich Bau-
teneffekt“, sagt Reischle. Vor dem Umbau herren systematisch verschätzen, wenn sie
sei seine Eigentumswohnung viel heller auf die Angaben der Dämmstoffhersteller
gewesen. vertrauen. Die Kosten der Wärmedäm-
Nach Ansicht der Bundesregierung hat mung sind oft höher, die Energieeinspa-
Reischle trotzdem alles richtig gemacht. rungen hingegen niedriger als erwartet.
Die Große Koalition aus CDU/CSU und Hunderttausende Haushalte sind von die-
SPD treibt Immobilienbesitzer und Ver- sen Fehlkalkulationen bereits betroffen.
mieter an, zum Gelingen der Energiewen- Eigenheimbesitzer müssen bei der Finan-
de beizutragen. Dämmen lohne sich, sagt zierung nachschießen. Mieter werden für
Bundeskanzlerin Angela Merkel, es handle teure Energiesparmaßnahmen zur Kasse
FOTOS: LAURENT CERINO/REA / LAIF (O.L.); JENS WOLF / PICTURE-ALLIANCE / DPA (O.R.); GÜVEN PURTUL (U.L.); INGO WAGNER / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.R.)

sich um eine „Investition in die Zukunft“. gebeten, die sich bei der Heizkostenbilanz
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel kaum bemerkbar machen.
schwärmt von großen Einsparmöglichkei- Zudem tauchen Probleme auf, mit de-
ten bei den Heizkosten, er spreche aus ei- nen die Bürger so nicht gerechnet haben.
gener Erfahrung. Umwelt- und Bauminis- Die luftigen Platten aus Styropor sind dem
terin Barbara Hendricks hat eine Werbe- Alltag oft nicht gewachsen. Vögel hacken
kampagne „Die Hauswende“ gestartet, das Löcher in Fassaden, Nagetiere nisten sich
Motto lautet: „Wer sein Haus liebt, schiebt in Hauswänden ein. Abfallexperten fragen
eine energetische Sanierung nicht auf.“ sich, wie das ganze Styropor eigentlich ent-
An diesem Mittwoch will das Kabinett sorgt werden soll, wenn eine Fassadendäm-
ein „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ mung nach 20 oder 25 Jahren erneuert wer-
beschließen. Die staatlichen Fördermittel den muss? Womöglich als Sondermüll? Ar-
für Wärmedämmung werden demnach auf- beitsmediziner sehen die Gesundheit von
gestockt, die steuerlichen Anreize vergrö- Bauarbeitern gefährdet, sollten diese ohne
ßert, und der Druck auf Dämm-Muffel Mundschutz mit den Platten hantieren. Ar-
wird erhöht. chitekten gruseln sich, wenn historisch
Schon heute muss bei jeder Fassaden- wertvolle Fassaden unter matratzendicken
arbeit, die mehr als zehn Prozent der Flä- Normplatten verschwinden.
che betrifft, gleich die ganze Wand mit Fast eine Milliarde Quadratmeter Wärme-
Dämmplatten beklebt werden, andernfalls dämmplatten kleben hierzulande bereits an
drohen bis zu 50 000 Euro Strafe. Bis zum Hauswänden, drei Viertel davon aus Styro-
Jahr 2050 soll der gesamte Immobilienbe- por, das entspricht etwa der Fläche Ham-
stand zumindest einmal gründlich durch- burgs. In den meisten Platten steckt das gif-
saniert werden, das wären etwa 375 000 tige Brandschutzmittel HBCD, dessen Ein-
Gebäude pro Jahr. Die staatliche KfW Ban- satz für Dämmzwecke nur noch bis August
kengruppe hat ausrechnen lassen, dass ins- 2015 erlaubt ist.
gesamt fast 840 Milliarden Euro investiert Und nun steht die Frage im Raum, ob
werden müssten, um die Ziele der Bundes- das Material zur Gefahr für Leib und
regierung zu erfüllen. Leben werden kann. Wenn in der Vergan-
Doch lohnt sich Dämmen wirklich? genheit mal wieder eine Dämmfassade in
Viele Bauherren, Mieter, Bauplaner, Ar- Flammen aufging, wiegelte die Branche
chitekten, Energieberater, Denkmalschüt- ab: Die Styroporplatten seien definitions-
DER SPIEGEL 49 / 2014 63
Titel
Dämmen lohnt sich
Verflechtungen von Politik und
Industrie bei der energetischen
gemäß „schwer entflammbar“, es bestehe habt“, sagt Reischle – weshalb die Eigen- Gebäudesanierung
kein Grund zur Sorge. Doch eine noch un- tümergemeinschaft den Verantwortlichen Aufsichtsrats-
veröffentlichte Analyse der Bauminister wegen seiner Fehlkalkulation auf Scha- vorsitzende
aus den Bundesländern hat ergeben, dass densersatz verklagt hat.
schon eine in Brand gesetzte Mülltonne Der Verein Haus & Grund, eine Lobby-

DA R MER / DAV I DS
eine Gefahr für die Hausbewohner darstel- vereinigung der Immobilienbesitzer mit
len kann. 900 000 Mitgliedern, hat in den vergange-
Nun halten die meisten Bundesbürger nen Jahren viele Sanierungsprojekte im
den Klimaschutz zu Recht für wichtig und Detail untersucht. Anders als die Werbe-
die Energiewende deshalb für ein sinnvol- kampagnen der Regierung behaupten,
les Projekt. Die Deutschen wissen um die lohnt sich eine Dämmung demnach nur,
Gefahren der Erderwärmung. Sie haben, wenn es sich um ein unsaniertes Haus aus POLITIK Iris Gleicke, SPD
jedenfalls mehrheitlich, auch nichts dage- den frühen Nachkriegsjahren handelt. Parl. Staatssekretärin
im BMWi
gen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle Doch solche Immobilien gibt es in Deutsch-
übernimmt, wenn es ums Energiesparen land kaum noch. „Die Qualität unserer Bundesministerium
geht. Viele von ihnen haben bereits vor Häuser ist weitaus besser, als es die für Wirtschaft
Jahren das Dach abgedichtet, doppelver- Regierung in ihren Berechnungen unter- und Energie
glaste Fenster eingebaut oder eine neue stellt“, sagt Hauptgeschäftsführer Kai
Heizung angeschafft, weil sich mit diesen Warnecke.
Maßnahmen, anders als häufig bei der Typischerweise könnten Eigenheimbe- Umweltministerium
Fassadendämmung, tatsächlich viel Geld sitzer damit rechnen, durch eine gedämm-
sparen lässt. te Fassade maximal 30 Prozent des Ener-
Jetzt aber beschleicht die Bürger das gieverbrauchs einzusparen (siehe Grafik
Gefühl, sie würden hinters Licht geführt. Seite 69). Doch dann lohnt sich die Sache
Sie misstrauen den aufwendigen Werbe- finanziell nicht.
kampagnen der Regierung und den Ver- Im Musterbeispiel des Immobilienver-
sprechungen der Industrie, zumal einige bands macht sich die Fassadendämmung
Politiker ein erstaunlich enges Verhältnis – ohne Berücksichtigung eines möglichen
zu den Dämmstoffherstellern pflegen. In Anstiegs bei den Brennstoffkosten sowie Bauausschuss Mitglied
Internetforen tauschen Hausbesitzer Hor- ohne Kapitalkosten – erst nach über 50 des Bundestags
rorgeschichten über kaputtsanierte Häuser Jahren bezahlt. Doch dass eine Fassade
aus, in denen der Schimmel blüht. Mieter überhaupt so lange hält, würden nicht ein-
protestieren gegen die Verschandelung mal die Dämmstoffhersteller behaupten.
ihres Viertels. Erstmals seit Jahren ist der Doch woran liegt es, dass die Regierung
Absatz von Dämmplatten in Deutschland verspricht, Dämmen werde sich lohnen,
leicht zurückgegangen. während es in der Realität häufig anders
Dass die Regierung den Hausbesitzern ist? Harald Simons, Professor an der Hoch-
verstärkt Druck macht, empfinden viele schule für Technik, Wirtschaft und Kultur
Energie- und Klimafonds Berichterstatter
nicht nur als staatlichen Übereifer. Der Leipzig, vertritt die Ansicht, dass sich die
der Bundesregierung
verordnete Dämmwahn gefährdet auch die Dämmindustrie diverser – legaler – Tricks
Bereitschaft der Bürger, beim Klimaschutz bedient, um den Nutzen einer Fassaden-
mitzumachen. dämmung möglichst großzurechnen. So
Das ist wahrscheinlich die größte Gefahr werde nach einer DIN-Verordnung statt
der neuen deutschen Plattenkultur: Sie be- des tatsächlichen Energieverbrauchs ein –
Wirtschaftsausschuss Mitglied
droht die Akzeptanz der Energiewende, theoretischer – „Energiebedarf“ angesetzt. des Bundestags
anstatt sie zu befördern. Den Bewohnern eines Hauses wird dabei
unterstellt, jeden Quadratmeter Wohnflä-
Die Rechnung geht nicht auf che bei Tag und Nacht konstant auf Wohl- Beauftragter für
Energiepolitik
Stefan Reischle aus München-Oberföhring fühltemperatur zu halten: eine realitäts-
hat für die Dämmplatten, die seine Eigen- ferne Annahme.
tumswohnung verschatten, einen hohen „Die Eigenheimbesitzer sind viel klüger,
Preis bezahlt. Insgesamt 3,2 Millionen als die Regierung glaubt“, sagt Simons. als es die Planer vorschreiben. Sie lüften,
Euro kostete der Umbau der Wohnanlage „Sie wissen genau, dass es ihnen keinen wenn sie die Fenster geschlossen halten
mit insgesamt 220 Parteien. Eine Million Vorteil bringt, Heizkosten einzusparen, die sollen. Und manchmal vergessen sie ein-
Euro entfielen auf die Fassade. In der Ei- sie in Wahrheit nie hatten.“ fach, die Heizung abzudrehen.
gentümerversammlung war die Rede da- Die von der Regierung gestützten Pro- Der grüne Energieexperte Oliver Kri-
von, die Investition werde sich rasch be- gnosen gehen außerdem von einem An- scher, ein ausgewiesener Befürworter der
zahlt machen. stieg der Brennstoffkosten von bis zu fünf Energiewende, teilt deshalb inzwischen
Darauf warten die Betroffenen bis heute Prozent pro Jahr aus – tatsächlich aber die Skepsis vieler Bauherren: Die Fassa-
vergebens. Vor dem Umbau im Jahr 2010 sind die Preise für Öl und Gas in der jüngs- dendämmung sei „nicht immer der sinn-
zahlte Reischle etwa hundert Euro im Mo- ten Zeit stark zurückgegangen. Möglich, vollste Weg der Energieeinsparung“.
nat für Heizung und Warmwasser. Dabei dass sich diese Entwicklung wieder um-
ist es geblieben, trotz der vergleichsweise kehrt. Doch solange die Energiepreise glo- Die Mieterfalle
milden Winter, die den Energiebedarf ten- bal so niedrig sind wie im Augenblick, geht Um die eigenen vier Wände zu verschö-
denziell verringert haben. „Die Wärme- die Rechnung nicht auf. nern, war Christoph Baumgarten kein Auf-
dämmung hat auf die Heizkosten in der Und schließlich zeigt sich in der Realität, wand zu groß. Die Dielen seiner Berliner
Wohnanlage keinen messbaren Effekt ge- dass sich die Bewohner anders verhalten, Altbauwohnung hat er eigenhändig abge-
64 DER SPIEGEL 49 / 2014
ORGANISATIONEN WIRTSCHAFT
Gegründet im Jahr 2000
auf Initiative
Vors. d. Geschäftsführung der rot-grünen
Bundesregierung
Gesellschafter:
Bundesrepublik Deutschland (50 %), KfW Bankengruppe (26 %)
Allianz SE (8 %), Deutsche Bank AG (8 %), DZ Bank AG (8 %)
BLEI CKER / CA RO

von der Dena


ins Leben gerufen

Stephan Kohler
Sprecher der Geea
Mitglieder
Branchenübergreifender
Zusammenschluss von
Unternehmen und Verbän-
Förderung den aus Industrie und sowie Wirtschaftsverbände
Kampagne, von und verschiedene Institute
Handwerk
der Geea ins
Leben gerufen und Vereine
Förderung

Kampagnenpartner
N I L S BA H N S E N / DJ V

gefördert
von der Zusammenschluss von Unter-
Dena nehmen und Verbänden aus
dem Bereich Energieeffizienz
im Gebäudesektor

Volkmar Vogel, CDU


M E TO D I P O P OW / I M AG O

Beiräte

(Dämmstoffe)

Dena ist
fachlich unter-
Johannes Kahrs, SPD stützender
Partner
ULLSTEIN BILD

Kampagne
des Vereins

Dena ist sowie Wirtschaftsverbände


Thomas Bareiß, CDU
Kooperations- und weitere Institute
partner

schliffen. Den Quarzsandputz in der Küche „nachhaltige Einsparung von Energie zu mensfunktionäre sprechen von Investi-
hat er gemeinsam mit einem befreundeten bewirken“, wie es in der Modernisierungs- tionsstau, Mietervertreter von der „systema-
Künstler aus Köln aufgetragen. ankündigung heißt. tischen Vernichtung bezahlbaren Wohn-
Zusammen mit seinem zwölfjährigen Baumgarten jedoch kann keine Erspar- raums“.
Sohn würde der Elektronikhändler gern nis erkennen. Im Gegenteil: Wenn die Sa- Dabei hatten es Deutschlands Energie-
weiter in seinem 80-Quadratmeter-Domizil nierung in einigen Monaten abgeschlossen politiker doch so gut gemeint, als sie An-
im Berliner Stadtteil Pankow wohnen; ist, soll seine Warmmiete von derzeit 435 fang des Jahrtausends das Dämmen zur
doch es sieht nicht so aus, als könnte er auf gut 734 Euro steigen. Ein Aufschlag nationalen Aufgabe erklärten. Damit mög-
sich die Bleibe noch lange leisten. von knapp 70 Prozent – und für Baumgar- lichst viele Hauseigentümer mitmachen,
Sein Vermieter, die Berliner Wohnungs- ten ein klares Signal: „Die Gewobag“, sagt so entschieden sie, dürfen die gesamten
gesellschaft Gewobag, will eine Zentral- er, „will uns hier raushaben.“ Modernisierungskosten für neue Doppel-
heizung sowie neue Armaturen, Fenster Baumgarten ist nicht der Einzige, der mit fenster oder Plattenfassaden innerhalb
und Elektroleitungen einbauen. Vor allem der deutschen Dämmförderung hadert. von zehn Jahren auf die Miete aufge-
aber will das Unternehmen die gesamte Überall in der Republik klagen Betroffene schlagen werden. Im Gegenzug sinken
Hausfassade mit 14 Zentimeter dicken über die unerwünschten Folgen des die Heizkosten für die Bewohner, so lau-
Hartschaumplatten bekleben, um eine staatlichen Styropor-Zwangs. Unterneh- tete die Rechnung, sodass am Ende alle
DER SPIEGEL 49 / 2014 65
bei, „Wohnungen leerzuziehen und an-
schließend teurer zu vermieten“.
So könnte es auch im Fall von Christoph
Baumgarten ausgehen, denn Vorschrift ist
Vorschrift. Als kommunales Unternehmen
halte man sich „an geltende Gesetze“, lässt
der Vermieter Gewobag wissen: „Bei In-
standsetzungen und Modernisierungen ist
die Energieeinsparverordnung zwingend
einzuhalten.“
Haus in Flammen
Die Jugendlichen aus der Gagfah-Siedlung
in Delmenhorst dachten an einen Streich,
als sie im Juni 2011 mehrere Müllcontainer
ansteckten. Doch die Sache geriet außer
Kontrolle. Mit hoher Geschwindigkeit grif-
fen die Flammen auf die benachbarten
Häuser über, das Feuer wurde zum Groß-
brand. Fünf Mehrfamilienhäuser standen
Sanierungsopfer Baumgarten: „Die wollen uns hier raushaben“ in Flammen, rund 50 Wohnungen wurden
teils schwer beschädigt, 170 Feuerwehrleu-
profitieren: Eigentümer, Mieter und das Welche großen sozialen Probleme damit te waren im Einsatz.
Klima. verbunden sind, zeigt sich in Dortmund, Die Frage, wieso sich das Feuer so
So war es gedacht, aber so funktioniert wo derzeit der Wohnungsriese Deutsche schnell durch mehrere Hausfassaden fres-
es nicht. In der Praxis führt vor allem die Annington zahlreiche Mietobjekte energe- sen konnte, beschäftigt seither Bandschutz-
teure Dämmung der Wände dazu, dass die tisch aufrüstet. Vor den Maßnahmen, so experten, Baufachleute und auch die Poli-
Modernisierungskosten die späteren Ein- geht aus einer Analyse des örtlichen Mie- tik. War etwa die in Delmenhorst großzü-
sparungen häufig um den Faktor drei bis tervereins hervor, kostete der Quadrat- gig aufgebrachte Dämmung aus Polystyrol,
vier übersteigen, wie der Deutsche Mieter- meter die Bewohner oft nur zwischen vier besser bekannt unter dem Markennamen
bund ermittelt hat. und fünf Euro. Nachdem die Fassadenplat- Styropor, für die Ausbreitung des Feuers
In ländlichen Regionen, wo viele Woh- ten montiert waren, lagen die Mieten da- verantwortlich?
nungen leer stehen, schieben die Besitzer gegen um fast zwei Euro höher – und Offiziell gilt das Dämmmaterial, dem
nun selbst sinnvolle Modernisierungen waren so für Hartz-IV-Empfänger, Gering- Zusatz chemischer Brandschutzmittel sei
auf, weil sie für ihre teuren Energiespar- verdiener oder Kleinrentner unerschwing- Dank, als „schwer entflammbar“. Doch
heime keine Mieter finden. In Großstädten lich geworden. seit es in den vergangenen Jahren in min-
wie Berlin dagegen, in denen Wohnraum Gedacht war die Dämmplatte mal als destens 60 Fällen zu teils schweren Brän-
knapp ist, können die Maßnahmen vielen Waffe gegen den Klimawandel, in der Rea- den an gedämmten Fassaden kam, sind
Eigentümern gar nicht aufwendig genug lität aber ist sie zu einem Instrument der viele Experten skeptisch geworden.
sein. Je dicker die Dämmung, desto stärker sogenannten Gentrifizierung geworden, Frankfurts Feuerwehrchef Reinhard Ries
können die Mieten steigen – und desto grö- wie aus einer Studie für die Grünen-nahe forderte nach einem Großbrand, „dass die-
ßer die Chance, ungeliebte Bewohner aus Heinrich-Böll-Stiftung hervorgeht. Die ser Dämmstoff sofort überprüft werden
ärmeren Schichten durch zahlungskräftige- energetische Modernisierung, heißt es muss“. Und so gab die Bauministerkonfe-
re Kundschaft zu ersetzen. Von „energeti- darin, belaste vor allem „Haushalte im un- renz der Bundesländer eine Untersuchung
scher Segregation“ sprechen die Experten. teren Einkommensbereich“ und trage dazu in Auftrag, um herauszufinden, „ob be-
stimmte Außenbrandszenarien, wie ein in
Dämmstoffplatten Brand geratener Müllmischcontainer aus
Mauerwerk 89,5 mm dick* (2003) Kunststoff, zusätzliche Maßnahmen erfor-
Klebemörtel 124,7 mm dick* (2012) dern“, wie es in der Beschreibung hieß.
Das Ergebnis dieser Untersuchung lag
Klebemörtel und bei der jüngsten Bauministerkonferenz vor
Armierungsgewebe zwei Wochen in Chemnitz nun vor – und
es trägt nicht zur Entwarnung bei. Der bis-
Putzuntergrund lang unveröffentlichte „Abschlussbericht
Putz zum Brandverhalten von Wärmedämmver-
bundsystemen mit Polystyroldämmstof-
Fassadenfarbe fen“ beschreibt detailliert, wie der erste
Brandversuch stattfand. An einer 60 Qua-
dratmeter großen Fassade mit Polystyrol-
FOTO: GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

Tellerdübel
* Durchschnittswerte
platten entzündeten die Experten Feuer
zur Befestigung Quelle: Fachverband Wärme-
dämm-Verbundsysteme an einer Holzkrippe. Wenig später loderte
die Wand.
„15 Minuten nach Entzünden der Brand-
Gegen die Wand quelle“, heißt es im Abschlussbericht, „hat-
Schichten im Wärmedämm-Verbundsystem te sich der Brand zum Vollbrand entwi-
mit EPS-Fassadendämmplatten ckelt und über die gesamte Wandfläche –
verbunden mit massiver Flammen- und
66 DER SPIEGEL 49 / 2014
Ausschnitte aus Kampagnen-Website „Dämmen lohnt sich“, Hausbrand in Hamburg, Dämmabfall auf Mülldeponie: Clips zur besten Sendezeit

Rauchentwicklung – ausgebreitet.“ Das riegel verhindern, dass sich ein Feuer aus- Nachteil des nützlichen Helfers: Er gilt
Wärmedämmverbundsystem „einschließ- breitet. als hochgradig toxisch. Die Liste seiner
lich der Brandschutzmaßnahmen hat bei Aber reicht das aus? Skeptiker warnen, möglichen Wirkungen liest sich schauer-
diesem 1. Versuch versagt“, so der Bericht dass die Sicherheitsmaßnahmen nur funk- lich: kann Säuglinge über die Muttermilch
weiter. Die Fachleute lieferten dafür auch tionieren, wenn sich die Wärmedämm- schädigen; kann vermutlich die Fruchtbar-
eine Erklärung: Verantwortlich für das schicht in einem tadellosen Zustand befin- keit beeinträchtigen; sehr giftig für Was-
rasante Brandgeschehen sei offenbar, „dass det, also zum Beispiel keine Löcher auf- serorganismen. Weil die Chemikalie so be-
durch die Hitze geschmolzenes und ablau- weist. Doch diese Besorgnis schaffte es ständig ist, haben Forscher Partikel sogar
fendes Polystyrol sich an der Brandquelle nicht in den Abschlussbericht. in der Arktis gefunden.
im Sockelbereich entzünden kann, die Vielleicht wollten die Minister die Be- Der Dortmunder Architekt und Profes-
Brandlast also während des Brandverlaufs wohner von Häusern, an denen bereits der sor für Bauökonomie Bert Bielefeld fühlt
zunächst noch zunimmt“. Putz von der Dämmplatte bröckelt, nicht sich an die Wirtschaftswunderjahre erin-
Die Expertise bestätigt im Wesentlichen, nervös machen. nert. „Auch damals war man begeistert
was Kritiker wie der Frankfurter Feuer- von Baustoffen mit tollen Eigenschaften
wehrchef Ries schon vermutet hatten: Fas- Wohin mit dem Müll? wie Asbest oder PCB. Über die langfristige
sadenplatten aus Styropor sind gefährli- Das Gift, das Wissenschaftler aus der gan- Wirkung hat man nicht nachgedacht“, sagt
cher, als die Industrie in ihren Wärme- zen Welt Alarm schlagen lässt, trägt den er. Bielefeld ist ein scharfer Kritiker des
dämmkampagnen behauptet. Zwar gebe Namen Hexabromocyclododecan. Dabei luftdichten Häuserverpackens mit billigem
es keinen Grund, bereits bestehende Ge- ist HBCD, so die Kurzform, eigentlich Polystyrol: „Die ökologischen Auswirkun-
bäude nachzurüsten. Aber es „wird ein eine Wunderwaffe der Chemie. Billig gen dieser Materialien sind heute noch gar
Merkblatt entwickelt, das Maßnahmen im und sehr langlebig; ein Stoff, der verhin- nicht abschätzbar.“
FOTOS: EIK ZIMMERMANN (L.); GÜVEN PURTUL (R.)

Falle von nah am Gebäude vorhandenen dert, dass Dinge in Flammen aufgehen, Industrie und Lobbyverbände spielen
größeren Brandlasten aufzeigen soll“, so bei denen das auf keinen Fall passieren die Gefahr herunter. „HBCD-haltige
der Bericht. Konkret geht es zum Beispiel darf: Theatervorhänge, Autositze, Fern- Dämmstoffe sind für Mensch und Umwelt
darum, dass Mülltonnen künftig nicht seher. unbedenklich“, heißt es etwa beim Che-
mehr in direkter Nähe zur Hausfassade Perfekt also, um auch leicht entzünd- miekonzern BASF, einem der großen
aufgestellt werden sollten. liche Styropor-Dämmung sicherer zu ma- Hersteller von Dämmmaterial. Der Stoff
Für Neubauten hingegen schlagen die chen. Seit etwa 30 Jahren versetzt die sei fest mit dem Styropor verbunden und
Gutachter sogar eine Verschärfung der Dämmindustrie ihre Produkte deshalb mit kaum wasserlöslich.
Brandschutzvorschriften vor. Laut Ab- HBCD; mittlerweile stecken mehrere Tau- Die Papiere der EU-Chemikalienbehör-
schlussbericht können sogenannte Brand- send Tonnen in deutschen Fassaden. de und des Umweltprogramms der Verein-
68 DER SPIEGEL 49 / 2014
Titel

ten Nationen lesen sich anders. Bei der unternehmer Henner Buhck hat den Müll
Produktion, dem Einbau und dem Abriss abtransportiert. „Der Gesetzgeber verlangt,
von Styroporplatten werde HBCD freige- dass wir zukünftig 70 Prozent des Bau-
setzt – aber auch, während die Dämmung abfalls recyceln. Bei Dämmsystemen ist
an der Fassade klebt. Mehr als eine Tonne das aber nicht ohne Weiteres möglich, weil
des Gifts gelangt auf diese Weise jährlich das Polystyrol von Klebstoff und Klinker
in die Umwelt, allein in der EU. Mehrere kaum zu trennen ist“, sagt er. Und nur rei-
Studien haben Spuren des Stoffes in Ge- nes Styropor lässt sich wiederaufbereiten.
bäuden nachgewiesen, in der Luft und im Buhcks Mitarbeiter haben den Dämm-
Hausstaub. Ebenso in menschlichem Blut abfall deshalb in eine Müllverbrennungs-
und in der Muttermilch. anlage gefahren. Dort wurde das Styropor
Das wichtigste Anti-Gift-Abkommen verfeuert; es brennt sehr gut, schließlich
der Welt, die Stockholm-Konvention der ist es aus Erdöl hergestellt.
Vereinten Nationen, hat HBCD auf die Lis-
te der verbotenen Chemikalien gesetzt. Die Lobby
Ab August 2015 darf es in der EU nicht Wenn im Deutschen Bundestag über das
mehr zum Einsatz kommen, fast vier Jahre Thema Wärmedämmung diskutiert wird,
nachdem es als besorgniserregend einge- schlägt die Stunde des Abgeordneten Volk-
stuft wurde. Eigentlich genug Zeit für die mar Vogel aus Kleinsaara in Thüringen.
Industrie, sich umzustellen. Tatsächlich hat Der CDU-Politiker ist nicht nur Mitglied
der amerikanische Chemiekonzern Dow im Bauausschuss und in der Bundesstiftung
Chemical inzwischen ein neues, offenbar Baukultur. Er sitzt seit 2013 auch in einem
ungefährliches Flammschutzmittel entwi- „Fachbeirat“ der Deutschen Rockwool Mi-
ckelt. Die meisten deutschen Dämmplat- neralwoll GmbH & Co. OHG, eines füh-
ten-Unternehmen wollen ihre Produkte renden Unternehmens der Dämmstoff-
noch bis Jahresende darauf umstellen. industrie. Etwa 16 000 Euro bringt ihm die-
Doch acht Hersteller, die nach eigenen se Nebentätigkeit nach eigenen Angaben
Angaben die Hälfte des europäischen im Jahr ein. Allzu aufwendig ist der Job
Marktes beherrschen, wehren sich. Sie wol- nicht. In diesem Jahr traf sich der Rock-
len erwirken, dass der Einsatz von HBCD wool-Beirat bei zwei Sitzungen für jeweils
in Dämmplatten bis mindestens 2019 er- drei bis fünf Stunden in Berlin. Der von
laubt bleibt. In ihrem Antrag geben sie sich Rockwool gezahlte Stundenlohn für Vogels
pragmatisch: „Die wirtschaftlichen Auswir- Beiratstätigkeit dürfte damit im vierstelli-
kungen einer verweigerten Zulassung wür- gen Bereich liegen. Ministerin Hendricks
den schwerer wiegen als die Vorteile für Auch dank Rockwool weiß Vogel gut Die eigene Fassade ausgespart
die Umwelt“, schreiben sie. Um die Klima- über die Bedürfnisse der Dämmstoffindus-
schutzziele der EU zu erreichen, müsse der trie Bescheid. So trat der Abgeordnete am eine Art Kontaktmann: „Ich berichte Rock-
Nachschub an Styropordämmung gesichert 13. November ans Rednerpult im Deut- wool, was wir politisch in Berlin angehen,
sein. Im nächsten Jahr will die EU-Kom- schen Bundestag, um eine „finanzielle Auf- und lasse mich nicht von dem Unterneh-
mission über den Antrag entscheiden. stockung“ des Gebäudesanierungspro- men beeinflussen.“ Zumal Vogel nicht
Zum Problem werden die giftigen Plat- gramms der Bundesregierung zu fordern, der einzige Bundestagsabgeordnete bei
ten spätestens bei ihrer Entsorgung. „Es damit dieses „langfristig gut ausgestattet“ Rockwool ist. Auch sein Parteifreund Tho-
rollt eine riesige Sanierungswelle auf uns sei. Außerdem sprach er sich dafür aus, mas Bareiß sowie Johannes Kahrs von
zu“, sagt Architekt Bielefeld. Wenn man derartige Sanierungsmaßnahmen künftig der SPD sind Rockwool-Beiräte. Bareiß
die Dämmsysteme irgendwann aufwendig von der Steuer absetzen zu dürfen, ein ist der Beauftragte für Energiepolitik in
beseitigen müsse, werde das wohl nicht Vorschlag, der sich sicherlich positiv auf der CDU/CSU-Fraktion. Haushaltspoliti-
ohne erneute staatliche Subventionen ge- die Geschäfte der Dämmstoffhersteller aus- ker Kahrs ist einer der Berichterstatter für
hen, prognostiziert er. wirken würde. den Energie- und Klimafonds, der wieder-
Die Interessenverbände der Dämm- Hat Vogels politisches Engagement für um Geld für das Gebäudesanierungspro-
industrie bestreiten dieses Szenario. Wie Wärmedämmung womöglich mit seiner gramm bereitstellt.
viel Dämmabfall schon jetzt jedes Jahr an- Nebentätigkeit zu tun? Der Abgeordnete Der Dämmstoffindustrie ist es im Zuge
fällt, wissen sie aber nicht genau. Eine Pro- streitet das ab. Er versteht sich eher als der Energiewende leichtgefallen, enge
gnose des Industrieverbands Hartschaum
geht von 10 000 Tonnen jährlich aus. Hohe Kosten – später Nutzen Amortisation der Aufwendungen zum Vergleich:
In Hamburg-Harburg lässt sich aktuell für die Dämmung Durchschnittliche
beobachten, wie kompliziert es ist, ausran- Beispielrechnung Preissteigerung
gierte Dämmplatten zu beseitigen. 162
Wohnungen hat die Provinzial-Versiche-
für eine Fassadendämmung
Zweigeschossiges Einfamilienhaus
ohne Energiepreis-
steigerung
und Zinskosten
51 pro Jahr für Erdgas
Jahre zwischen 1993
und 2013: 3,9 %
rung auf einer Halbinsel mitten im Har-
mit 160 m² Wohnfläche
burger Hafen errichten lassen. Eine Traum-
immobilie mit rotbrauner Klinkerfassade,
Heizkosten vor Dämm-Maßnahmen*
ohne Warmwasser 1949 € /Jahr
Energiepreis-
steigerung um 3 %
31 Jahre
FOTO: GORDONWELTERS.COM

Wasserblick und eigenem Steg. Weil der


beauftragte Baukonzern schlampig arbei-
tete, müssen Arbeiter die Dämmung nun
Mehrkosten für Dämm-Maßnahmen
bei einer Fassadensanierung 20160 € Energiepreis-
steigerung um 5 %
26 Jahre

wieder abreißen. Energiekosten-Einsparung 398 € /Jahr Energiepreis-


500 Kubikmeter haben sie schon ab- * angenommener Gaspreis: Grundpreis 13,99 €/Monat und 5,18 ct/kWh
geschlagen, der Hamburger Entsorgungs- bei einem Jahresverbrauch von 25600 kWh; Beispielrechnung: Haus & Grund
steigerung um 7 % 23 Jahre

DER SPIEGEL 49 / 2014 69


Titel

Heizung

Dach
30 % bis 35 % Nicht ganz dicht
Typische Wärmeverluste
lohnt sich manchmal“, sagt sie, „aber nicht
immer.“
Doch politische Konsequenzen will die
15 % bis 20 %
eines frei stehenden Ressortchefin nicht ziehen. An der Kam-
Einfamilienhauses pagne von Industrie und Dena, nach der
sich „Dämmmaßnahmen in kurzer Zeit
energetisch amortisieren“, hat sie nichts
Baujahr vor 1995 auszusetzen.
Quelle: FIZ Karlsruhe An den einschlägigen Vorschriften will
sie nichts ändern. Die Umweltministerin
weiß, dass eine Große Koalition so gut
Fenster wie jeden Bürgerprotest aussitzen kann,

Wand
20 % bis 25 % wenn Union und SPD nur fest genug zu-
sammenhalten. Die Zahl der Kritiker ist

20 % bis 25 % überschaubar. Allenfalls der SPD-Bau-


experte Michael Groß spricht aus, was
viele Bürger denken. „Wir müssen disku-
Lüftung tieren“, sagt er, „ob wir in den entspre-
Boden chenden Verordnungen die heute vorge-
5 % bis 10 % 10 % bis 20 % sehene Pflicht zur Fassadendämmung
nicht entschärfen.“
Kontakte zur Politik zu knüpfen. Klima- lichen Unternehmens kassiert. Allein das Geht es nach Fachleuten, sollte die Re-
schutz ist ein Gewinnerthema. Hier ver- Bundeswirtschaftsministerium, das zu den gierung Kosten und Nutzen der Maßnah-
bindet sich grüne Rhetorik mit schwarzen Dena-Anteilseignern gehört, will von ihm men endlich realistisch bewerten. Sie müss-
Zahlen. Wenn es darum geht, die Bürger und seinen Kollegen nun 200 000 Euro zu- te die praxisferne Vorschrift kippen, wo-
vom Segen der nahezu luftdicht verpack- rückfordern. nach Hauseigentümer schon bei normalen
ten Häuser zu überzeugen, machen Politik Auf die Unterstützung des CDU-Abge- Reparaturen am Außenputz zum Dämmen
und Wirtschaft gemeinsame Sache, etwa ordneten Vogel kann die Dämmstoffindus- verpflichtet sind.
bei der Kampagne „Dämmen lohnt sich“. trie dagegen weiter hoffen. Im September Sie müsste dafür sorgen, dass alle Ener-
Hier preist der frühere „Tagesthemen“- veröffentlichte dieser einen Beitrag in gieberater in der Republik auch wirklich
Moderator Ulrich Wickert in einem gefüh- einer Publikation des Gesamtverbands Energieberater sind – und nicht etwa Stu-
ligen Werbespot die Fassadendämmung an Dämmstoffindustrie; die Überschrift lau- ckateure und Fassadenbauer auf der Suche
(„Häuser sind wie ein Familienmitglied“). tete: „Dämmstoffindustrie – ein verläss- nach einem neuen Kunden, wie es heute
Der Clip lief monatelang zur besten Sende- licher Partner der Klimaschutzpolitik“. mitunter der Fall ist. Und sie sollte in Wer-
zeit im Fernsehen. bekampagnen nicht länger gemeinsame
Hinter der Kampagne steht zum einen Was tun? Sache mit der Dämmstoffindustrie ma-
der Verein „Qualitätsgedämmt“, dessen Umweltministerin Barbara Hendricks ist chen, die ihre Preise in den vergangenen
Vorstand mit Vertretern aus der Dämm- keine dogmatische Umweltschützerin. Sie Jahren deutlich gesteigert hat. Das Bun-
industrie besetzt ist, und zum anderen, fährt kein Elektroauto, ist gegen ein Tem- deskartellamt vermutet, dass es sich dabei
als sogenannter Kooperationspartner, die polimit auf Fernstraßen und bekennt, dass sogar um illegale Preisabsprachen handeln
Deutsche Energie-Agentur (Dena). Diese sie „für den Klimaschutz nicht auf Lebens- könnte – und hat gegen 20 Firmen bereits
gehört zu 76 Prozent dem Staat. Der Rest qualität verzichten würde“. Hendricks ist Ermittlungen eingeleitet.
wird von Finanzinstituten wie der Deut- gelernte Finanzpolitikerin, der die Kom- Eine nüchterne Betrachtung der Vor-
schen Bank gehalten. Das Dena-Logo auf mentare zum Umsatzsteuerrecht noch im- und Nachteile aller Energiesparmaßnah-
den Werbebroschüren der „Dämmen lohnt mer vertrauter sind als die Paragrafen der men würde der Energiewende nützen, weil
sich“-Kampagne wirkt wie ein staatliches Verpackungsverordnung. sie deren Akzeptanz bei Mietern und
Gütesiegel, das der Initiative Seriosität Am vergangenen Freitag sitzt Deutsch- Hausbesitzern erhöht. Die Deutschen wol-
verleiht. lands oberste Energiesparpolitikerin im len den Klimaschutz, aber sie wollen ihn
An der Unabhängigkeit der Dena frei- Restaurant des Berliner Reichstags. Vor ihr mit Sinn und Verstand, und sie wollen
lich gibt es Zweifel. Sie finanziert sich auch liegt das 60-seitige „Aktionsprogramm Kli- nicht von der Politik zu ihrem Glück ge-
aus Drittmitteln. Eine von der Dena veröf- maschutz 2020“, das sie diese Woche ins zwungen werden.
fentlichte „Sanierungsstudie“ wurde vom Kabinett bringt, ein politischer Erfolg. Sie So wenig wie Umweltministerin Hen-
Chemieriesen BASF unterstützt, der wie- kann Deutschlands Immobilienbesitzern dricks, als sie vor ein paar Jahren darüber
derum zu den großen Herstellern von Pro- rund 1,2 Milliarden Euro an Steuervorteilen nachdachte, ihr Privathaus im niederrhei-
dukten für die Fassadendämmung zählt. und Zuschüssen versprechen, wenn sie nischen Kleve energietechnisch aufzurüs-
Die Sanierungsstudie kam, wenig überra- Geld fürs Energiesparen ausgeben. ten. Sie ließ eine neue Heizung einbauen
schend, denn auch zu dem Schluss, dass Natürlich hat Hendricks registriert, dass und das Dach abdichten; die Außenwände
Dämmen finanziell vorteilhaft ist. in der Bevölkerung der Widerstand gegen aber rührte sie nicht an. Sie hatte offenbar
Dena-Chef Stephan Kohler hat eine Ein- das Dämmen wächst. Sie kennt die Unter- genau nachgerechnet. Und sie wollte ihre
flussnahme der Industrie auf die Dena stets suchungen der Mietervereine, nach denen schöne weiße Klinkerwand erhalten.
bestritten. Zum Ende des Jahres wird er oft die Bezieher kleiner Einkommen die Sven Becker, Alexander Neubacher,
dennoch als Vorsitzender der Geschäfts- Lasten der Fassadenumhüllung tragen. Sie Ann-Kathrin Nezik, Güven Purtul, Michael Sauga
führung ausscheiden. Kohler war zuletzt weiß um die ökologischen Probleme der
wegen seines üppigen Gehalts in die Kritik Dämmplatten, und sie kennt die Berech- Video: Dämmstreit
geraten. Laut Bundesrechnungshof hat der nungen von Experten, nach denen sich der im Kiez
Manager in den vergangenen Jahren viel Plattenbau in einem Großteil der Fälle spiegel.de/sp492014daemmen
zu hohe Bezüge als Chef des halbstaat- nicht rechnet. „Die Fassadendämmung oder in der App DER SPIEGEL

70 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wirtschaft

„Europa muss aufpassen“


SPIEGEL-Gespräch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, 55, über seine industriepolitische
Offensive, den Kampf für ein Freihandelsabkommen und die Angst der Deutschen vor Fracking

schaftsforschung, ist ganz anderer Auffas- dung von Glaubenssätzen als um Ökono-
sung. Er beschreibt Deutschland nicht als mie. Wir hatten nie eine so hohe Beschäf-
kraftstrotzenden Industriestandort, son- tigung wie heute – und dennoch behauptet
dern als wirtschaftlichen Scheinriesen, der ein Teil des Sachverständigenrats, dass der
von der Substanz lebt. Hat er recht? Mindestlohn am sinkenden Wirtschafts-
Gabriel: Niemand behauptet, dass es nicht wachstum schuld sei, bevor er überhaupt
auch Herausforderungen gibt. Unser Erfolg in Kraft getreten ist.
als Industrienation ist nicht auf alle Tage SPIEGEL: Nicht nur Ökonomen kritisieren
gesichert. Und Herr Fratzscher weist zu Ihre Politik. Auch viele Industriekonzerne
Recht darauf hin, dass der Staat zu wenig von Siemens bis BMW sind mit der wirt-
Geld in die öffentliche Infrastruktur steckt. schaftlichen Entwicklung unzufrieden und
Außerdem ist die Investitionsquote der investieren lieber im Ausland.
Privatwirtschaft seit Jahren viel zu niedrig. Gabriel: Das tun sie leider bereits seit zehn
Darüber mache ich mir Sorgen. Man muss Jahren, und zwar vor allem dann, wenn
nicht Volkswirtschaft studiert haben, um sie viel Energie verbrauchen. Europa –
zu wissen, dass die Investitionen von heute nicht nur Deutschland – ist für die ener-
die Wettbewerbsfähigkeit und der Wohl- gieintensive Industrie ein schwieriger
stand von morgen sind. Standort geworden. Daran zu arbeiten,
SPIEGEL: Aber auch in Ihrer Partei gibt es halte ich für unsere Hauptaufgabe. Europa
einige, die nicht sonderlich traurig sind, muss aufpassen, dass es nicht als abgehäng-
wenn sich schmutzige Industrien wie Koh- ter Kontinent ohne Wachstum gilt. Das
le oder Chemie aus Deutschland verab- Problem mit unserer wirtschaftlichen Ent-
schieden. Haben Sie dafür Verständnis? wicklung liegt nicht in Deutschland, es
Gabriel: Mein Eindruck ist, dass die SPD liegt in Europa. Wir haben im Kampf ge-
derzeit die einzige Partei ist, die sich um gen die Eurokrise zu viel Wert auf Sparen
eine aktive Industriepolitik kümmert. Und und zu wenig Wert auf Wachstum gelegt.
SPIEGEL: Herr Minister, haben Sie etwas dazu gehört auch nachhaltiges Wachstum. Deshalb setze ich jetzt große Hoffnungen
dagegen, wenn wir Sie als „Genosse der Wer auf Wachstum verzichten will, wird auf das 300-Milliarden-Euro-Investitions-
Bosse“ anreden? schnell Verteilungskonflikte erleben, bei programm von Kommissionschef Juncker.
Gabriel: Erstens bin ich außerhalb der SPD denen in der Regel nicht Familien und Ar- SPIEGEL: Derzeit streitet die Koalition, ob
nur in einer Institution gern Genosse, und beitnehmer die Gewinner sind. Über Ver- sie das Konzept mit Haushaltsmitteln un-
das ist die Volksbank. Und zweitens wäre zicht kann man leicht predigen, wenn man terstützen soll. Viele in der Union sind da
es eine ziemlich unzutreffende Beschrei- Politiker ist oder ein hohes Einkommen zurückhaltend. Was meinen Sie?
bung. hat. Wir leben aber nicht im postmateriel- Gabriel: Wenn wir Deutsche in Europa in-
SPIEGEL: Gerhard Schröder, einer Ihrer Vor- len Biedermeier, sondern in einer globalen vestieren, dann investieren wir in unsere
gänger als SPD-Chef, hat diesen Titel aber Industriegesellschaft. Nicht das Bewahren eigene Zukunft. Denn unsere Exporte ge-
mit Stolz getragen und der SPD damit jene ist sozialdemokratisch, sondern der Fort- hen immer noch zu 60 Prozent in die EU.
Wirtschaftskompetenz verschafft, die ihn schritt. Man kann die Probleme der Indus- Deshalb sollte die Wachstumsstrategie Jun-
am Ende ins Kanzleramt brachte. Ist das triegesellschaft – etwa im Klimaschutz – ckers in einer gemeinsamen deutsch-fran-
für Sie kein Vorbild? nur mit den Instrumenten der Industrie- zösischen Initiative unterstützt werden.
Gabriel: Schröder hat seine Wirtschaftskom- gesellschaft bewältigen, also Technologie. Deutschland und Frankreich müssen ihre
petenz nicht mit Etiketten gewonnen, son- SPIEGEL: Was befürchten Sie? Differenzen beseitigen und in Europa wie-
dern mit dem, was er praktisch getan hat, Gabriel: Ich sehe drei große Herausforde- der an einem Strang ziehen. Reformen in
und zwar in Zusammenarbeit mit Unter- rungen. Wir brauchen bezahlbare Energie, Frankreich und Investitionen in Deutsch-
nehmen und Gewerkschaften. Als uns da- wir müssen unsere Fachkräftebasis sichern, land, das ist eine gute Kombination.
mals geraten wurde, doch die Old Econo- und wir benötigen eine Antwort auf die SPIEGEL: Die Skepsis Ihres Koalitionspart-
my aufzugeben und nur noch auf Internet digitale Revolution. Es ist nicht ausge- ners ist aber durchaus berechtigt. Schon
und Finanzmärkte zu setzen, ist er dem macht, wer der Innovationstreiber in der in der Vergangenheit sind EU-Gelder häu-
zum Glück nicht gefolgt. Es geht uns nächsten Phase der industriellen Entwick- fig in unsinnigen Projekten versickert. Wa-
Sozialdemokraten immer darum, gute lung ist: ein paar große Datenkonzerne rum sollte das diesmal anders sein?
Arbeit und guten Lohn in Deutschland aus Kalifornien oder die klassische deut- Gabriel: Wir wollen keine konjunkturellen
zu halten, davon profitieren nicht nur die sche Industrie. Strohfeuer entzünden, und wir benötigen
angeblichen „Bosse“, sondern vor allem SPIEGEL: Nach Ansicht der Wirtschaftswei- auch keine weitere Nord-Süd-Autobahn
FOTO: STEPHANIE PILICK / DPA

Arbeitnehmer und ihre Familien. sen ist die größte Konjunkturbremse der- in Portugal. Was wir aber brauchen, sind
SPIEGEL: Ihr Berater Marcel Fratzscher, der zeit die Große Koalition, mit ihren Be- Investitionen in moderne Telekommuni-
Chef des Deutschen Instituts für Wirt- schlüssen zum Mindestlohn zum Beispiel. kationsnetze, in Energieeffizienz, in For-
Können Sie das nachvollziehen? schung und Entwicklung.
Das Gespräch führten die Redakteure Michael Sauga und Gabriel: Manchmal habe ich das Gefühl, den SPIEGEL: Juncker stellt doch fast kein neues
Gerald Traufetter. Professoren geht es mehr um die Verkün- Geld bereit, sondern klebt nur neue Eti-
72 DER SPIEGEL 49 / 2014
ketten auf alte EU-Fördertöpfe. Wie soll
daraus eine Investitionsoffensive werden?
Gabriel: Juncker schafft neue Anreize, um
mehr privates Kapital für die Finanzierung
von Infrastrukturprojekten zu mobilisie-
ren. Es ist ja nicht so, dass es in Europa an
Kapital mangelt. Im Gegenteil: Viele Un-
ternehmen oder Versicherungskonzerne
wissen gar nicht, wo sie ihr vieles Geld
sinnvoll anlegen sollen. Da ist es doch bes-
ser, sie investieren es in Junckers Projekte,
als es in Finanzmarktprodukte zu stecken,
die derzeit kaum etwas abwerfen.
SPIEGEL: Die Unternehmen werden nur
dann mitmachen, wenn sie dabei auch
verdienen können. Wollen Sie mit öffent-
lichem Geld private Gewinne schaffen?
Gabriel: Natürlich nicht. Es geht um geeig-
nete Rahmenbedingungen für Investitio-
nen. Wenn wir etwa wollen, dass in länd-
lichen Regionen modernere Telekommu-
nikationsnetze verlegt werden, müssen wir
den Netzbetreibern die Möglichkeit geben,
damit auch Geld zu verdienen.
SPIEGEL: Mit anderen Worten: Sie wollen
den Wettbewerb zugunsten der Deutschen
Telekom einschränken.
Gabriel: Nicht einschränken, aber auf eine
globale Perspektive ausrichten. Wir mer-
ken oft gar nicht, dass die Unternehmen,
die in Europa groß erscheinen, im welt-
weiten Maßstab eher klein sind. Unsere Stahlwerk von ThyssenKrupp in Duisburg
Regulierung auf dem Telekommunikations-
markt ist in manchen Punkten zu rigide.
SPIEGEL: Bislang war es aber ein Prinzip Gabriel: Wir haben eine Menge getan, etwa ne dazu zwingen, 22 Millionen Tonnen
deutscher Wirtschaftspolitik, Staat und mit der Reform des Erneuerbare-Energien- Kohlendioxid bis 2020 einzusparen. Führt
Unternehmen sauber zu trennen. Plädie- Gesetzes. Das haben damals Medien wie das nicht dazu, dass Kraftwerke geschlos-
ren Sie jetzt für eine Industriepolitik nach der SPIEGEL als „Artenschutz für Stahlko- sen werden und die Strompreise steigen?
französischem Vorbild? cher“ diskreditiert. Außerdem sorgen wir Gabriel: Das sind auf fünf Jahre verteilt 4,4
Gabriel: Ich halte das für eine überholte dafür, dass die politisch verursachten Kos- Millionen Tonnen zusätzlich pro Jahr. Zur
Debatte. Richtig ist, dass der Staat nicht ten in der Energiepolitik nicht dazu führen, Einordnung: Im vergangenen Jahr war der
der bessere Unternehmer ist. Aber was dass Tausende in der Grundstoffindustrie Stromsektor für 316 Millionen Tonnen CO2
spricht dagegen, dass der Staat die richti- ihren Arbeitsplatz verlieren. verantwortlich. Da kann man ja wohl
gen Rahmenbedingungen für mehr Inves- SPIEGEL: Dennoch wollen Sie jetzt zum Er- kaum von einem Kohleausstieg sprechen.
titionen in Infrastruktur oder Forschung reichen des Klimaziels die Energiekonzer- SPIEGEL: Müssen also Kohlekraftwerke in
steckt? Für mich ist aktive Industriepolitik Deutschland geschlossen werden?
kein Schimpfwort. Gabriel: Es wird in ganz Europa über die
SPIEGEL: Für Topmanager liegen die Proble- Weite Spanne Zeitachse Kraftwerksstilllegungen geben,
me ganz woanders. BASF-Chef Kurt Bock Strompreise für Industriekunden, weil wir einfach gigantische Überkapa-
zum Beispiel hält die deutsche Energie- in Dollar je Megawattstunde zitäten haben. Aber ich habe nicht die
Deutsch-
wende für eine Methode, „sich wirtschaft- 169 land Absicht, den Konzernen Vorschriften zu
lich ins eigene Fleisch zu schneiden“. machen, wie sie ihre Anlagen auslasten.
Gabriel: Es wird darauf ankommen, dass Groß- Den Abbau von Überkapazitäten soll der
wir diesem Trend zu permanent steigen- britannien 14O Markt entscheiden und nicht die Politik.
den Energiekosten entgegentreten. Und 126 149% SPIEGEL: Besonders viel CO2 stoßen die
deshalb wende ich mich gegen eine Kohle- Mehrpreis deutschen Braunkohlekraftwerke aus. Gilt
gegenüber
ausstiegsdiskussion in Deutschland, weil USA Ihre Zusage auch für die?
man nicht zeitgleich aus der Atomenergie Gabriel: Ja, sicher. Nach unserem Konzept
und aus der Kohle aussteigen kann, ohne 84 wird der Anteil von Stein- und Braunkohle
dass die Preise explodieren. Ich bin über- Frankreich an der deutschen Energieerzeugung in den
68 USA
FOTO: INA FASSBENDER / REUTERS

zeugt, dass die Energiewende gelingt, aber 57


kommenden Jahrzehnten abnehmen. Die
wir müssen aufpassen, dass wir das Land erneuerbaren Energien werden im Jahr
nicht überfordern. 2035 rund 55 Prozent Anteil am Strom-
SPIEGEL: Da sind doch vor allem Sie als Wirt- markt haben, der Rest muss woanders her-
schaftsminister gefordert; schließlich sind kommen – auch aus der Kohle. Wir reden
Sie für die Gesetze auf dem Strommarkt also über einen langen Zeitraum, in dem
verantwortlich. 2005 2013 Quelle: IEA wir noch fossile Kraftwerke brauchen.
DER SPIEGEL 49 / 2014 73
Wirtschaft

SPIEGEL: Die Stromkonzerne fordern für Gabriel: Wir lassen jetzt erst einmal nur die Gabriel: Ich kann die Deutschen jedenfalls
ihre Kohle- oder Gaskraftwerke, die von Forschung und Entwicklung zu, weil auch beruhigen, dass das Freihandelsabkommen
der Energiewende bedroht sind, Finanzhil- die Industrie weiß, dass die gegenwärtigen mit den USA dies nicht nötig machen wird.
fen. Werden Sie dem Drängen nach einem Methoden vermutlich auch nach heutigem Es geht doch gar nicht darum, dass Stan-
sogenannten Kapazitätsmarkt nachgeben? Recht nicht erlaubt wären. In ein paar Jah- dards gesenkt würden. Kein Freihandels-
Gabriel: Nein, ich bin strikt gegen flächen- ren könnten diese Gefahren und techni- abkommen der Welt kann deutsche oder
deckende Kapazitätsmärkte, wie sie vom schen Schwierigkeiten beseitigt sein. Was europäische Gesetze aushebeln. Und es
Lobbyverband der Energiewirtschaft ge- ich nicht mag, ist, alles gleich in alle Ewig- kann auch nicht kommende Gesetze durch
fordert werden, denn das treibt die Kosten keit zu verbieten. die Drohung von Entschädigungszahlun-
weiter in die Höhe. SPIEGEL: Bei der CCS-Technologie, bei der gen verhindern.
SPIEGEL: Ähnliche Vorbehalte wie gegen die CO2 aus Kraftwerken aufgefangen und in SPIEGEL: Sie glauben also noch daran, TTIP
Kohle haben die Deutschen derzeit bei die Tiefe gepresst wird, ist das passiert. durchsetzen zu können?
vielen Großtechnologien. Ist aus dem Volk Gabriel: Die Vorgängerregierung aus Gabriel: Verpassen wir diese Chance, indem
der Tüftler und Schrauber eine Gesell- CDU/CSU und FDP hat in der Tat mit wir eine zum Teil hysterische Debatte um
schaft von Technikfeinden geworden? Blick auf die damaligen Landtagswahlen diese Dinge führen, werden uns vermutlich
Gabriel: Zunächst muss man sich fragen, wa- in Schleswig-Holstein ein, wie ich finde, unsere Kinder verfluchen, weil die sozialen,
rum die Menschen so reagieren. Manche absurdes Gesetz beschlossen. Da wurde ökologischen und ökonomischen Standards
Heilsversprechen der Vergangenheit haben öffentlich der Eindruck erzeugt, die Ab- dann in Asien gesetzt werden, und das sind
sich eben als unbegründet herausgestellt. speicherung von CO2 sei ungefähr genauso sicherlich andere, als wenn wir sie setzen.
Denken Sie an die Atomenergie. Außer- gefährlich wie die Endlagerung von Atom- SPIEGEL: Besonders umstritten bei TTIP ist
dem sind die wirtschaftlichen Erfolge, die müll. Dabei hat einer der prominentesten der Investorenschutz, mit dem Unterneh-
Gott sei Dank erzielt wurden, in den letz- Forscher des Weltklimarats, der deutsche men vor Schiedsgerichten gegen belasten-
ten Jahren nicht immer allen Menschen Ökonom Ottmar Edenhofer, für die Erfor- de Gesetze im Ausland vorgehen können.
zugutegekommen. Das senkt die Bereit- schung der CO2-Speicherung plädiert. Gabriel: Ich glaube, dass die Schiedsgerichte,
schaft, die Lasten mitzutragen, die eine Schließlich wollen viele Länder dieser wie wir sie bislang kennen, schlecht und
wachsende Industriegesellschaft mit sich Welt die Kohle weiternutzen. Wir brau- zum Teil nicht nur überflüssig sind, son-
bringt. chen in Deutschland eine neue Vereinba- dern sogar gefährlich sein können. Darauf
SPIEGEL: Müssen die Politiker nicht den Bür- rung darüber, dass industrielle Wertschöp- haben wir aber schon reagiert. Beim Frei-
gern besser erklären, warum diese eine fung die Voraussetzung dafür ist, dass in handelsabkommen mit Kanada hat Europa
Technologie akzeptieren sollten? unserem Land Wohlstand existiert. dafür gesorgt, dass der Investitionsschutz
Gabriel: Es stimmt, die Politik kann nicht SPIEGEL: Schließt das auch Gentechnik ein? deutlich besser und rechtsstaatlicher ist als
immer den Weg des geringsten Wider- Gabriel: Ich bin gegen den Einsatz grüner in vielen anderen Abkommen. Das kön-
stands gehen. Ob Freihandelsabkommen, Gentechnik in der Lebensmittelproduk- nen wir noch weiter verbessern. Auch die
Fracking, Kohlendioxid-Speicherung: Wir tion. Aber warum ich etwas dagegen ha- Kanadier haben in der Vergangenheit
müssen die Bedenken  ernst nehmen, aber ben soll, dass aus einer gentechnisch ver- schlechte Erfahrungen damit gemacht.
wir dürfen nie mit Ängsten spielen, weil änderten Kartoffel industriell verwendete SPIEGEL: Wie wollen Sie Ihre Parteilinke
wir hoffen, damit bei der nächsten Wahl Stärke gewonnen werden soll, das habe dabei mitnehmen, die Sturm läuft beim
Stimmen zu gewinnen. Linke Politik ist ich nie verstanden. Die entsteht in ge- Investorenschutz?
Aufklärung und nicht Angstmacherei. Und schlossenen Kreisläufen, kommt nicht mit Gabriel: Beim Freihandelsabkommen zwi-
Aufklärung ist nichts anderes als der Aus- dem Menschen in Berührung und schont schen Europa und Kanada sieht es derzeit
tausch von Argumenten. die Umwelt, weil sie unter anderem viel so aus, dass eine komplette Streichung des
SPIEGEL: Warum hat dann Ihr Ministerium Wasser in der Herstellung spart. Investitionsschutzkapitels von niemandem
einen Gesetzentwurf mit eingebracht, der SPIEGEL: Werden Sie es als Wirtschaftsmi- in Europa unterstützt wird. Auch von kei-
einem Verbot der Schiefergas-Förderung nister schaffen, die Deutschen für Chlor- ner sozialdemokratischen Regierung. Wir
mithilfe von Fracking gleichkommt? hühnchen zu begeistern? werden weiter versuchen, Verbesserungen
gemeinsam mit anderen zu erreichen. Am
Ende werde ich – wie ich es in der SPD
zugesagt habe und wir es auch beschlossen
haben – selbstverständlich den SPD-Par-
teitag beziehungsweise den Parteikonvent
vor der Abstimmung um Zustimmung bit-
ten. Und ich bin sicher: Die SPD wird sich
nicht gegen ganz Europa und gegen alle
anderen sozialdemokratischen Regierun-
gen in Europa stellen.
SPIEGEL: Muss das Abkommen also durch-
kommen, koste es, was es wolle?
Gabriel: Wir müssen begreifen, worum es
hier eigentlich geht: Die Welt verschiebt
sich gerade. Wenn die Asiaten sagen, wir
FOTO: DIRK GANZER / DDP IMAGES

leben in einem pazifischen Jahrhundert,


dann ist das kein überzogener Anspruch.
Deshalb müssen wir Europäer uns ins
Zeug legen, dass wir dabei noch eine Rolle
spielen. Wir sollten da keine Angst haben.
Braunkohlenförderung in Garzweiler bei Köln SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
74 DER SPIEGEL 49 / 2014
Virtuelle Kraftwerke
Energie Der Ökostromanbieter Lichtblick hat ein Konzept für die Stromversorgung der Zukunft
entwickelt. Es könnte zum Modell für die Branche werden.

Lichtblick-Chef Tschischwitz

B
is vor Kurzem galt der Ökostrom- schlecht ausgelastet und müssen vom Netz den zu Menschen, die den Energiemarkt
pionier Lichtblick aus Hamburg als genommen werden. aktiv gestalten“, prophezeit Tschischwitz.
Nischenanbieter, die großen Ener- Außerdem wird immer mehr Energie de- Dieser Trend sei nicht mehr aufzuhalten.
gieversorger nahmen ihn kaum zur Kennt- zentral in vielen kleinen Einheiten produ- „Schon in wenigen Jahren“, glaubt er,
nis. Neuerdings aber pilgern Vertreter von ziert und zunehmend auch gespeichert. „steht das ganze System quasi auf dem
Konzernen wie E.on, RWE oder EnBW „Verbraucher werden zu Erzeugern, Kun- Kopf.“
zum Stammsitz des Unternehmens. Sie las- Wie genau der dezentrale Energiemarkt
sen sich erklären, wie die Zukunft ihrer bei ganz normalen Familien aussehen
e Mobi
Branche aussehen könnte – und wie sie
o m b ör s le B
atte
könnte, erprobt der Ökostromanbieter ge-
auch noch Geld verdienen können. St r rie rade in einem neu errichteten Reihen-
Schon in wenigen Jahren wird es haus am Vogelhüttendeich in Ham-
nach Ansicht des Lichtblick-Chefs burg-Wilhelmsburg. Elf Familien
Heiko von Tschischwitz den wohnen dort auf mehreren Eta-
Günstig eingekaufter
klassischen Energiemarkt von Strom wird gespeichert, gen. Sie sind Teil einer mehr-
heute nicht mehr geben. In jährigen Studie, die Licht-
B lo

eigener Strom mit


ckh

dieser alten Welt produzier- Gewinn verkauft. blick gemeinsam mit dem
t ro m

e i zk

ten wenige Versorgungs- Bundesumweltministerium


Ökos

unternehmen gewaltige
Der durchführt. Erprobt wird
raftw

Mengen Strom in Atom-, ein völlig neues Mobili-


Schwarm-Dirigent
e

Kohle- oder Gaskraft- Das Blockheiz- täts- und Energiekonzept.


rk

werken. Über ein weit- Die Steuerung einer dezentralen kraftwerk erzeugt
Wärme und Strom.
Anders als normale
verzweigtes Netz wurde Stromerzeugung Häuser richtet die Ham-
die Energie dann zu Fir- burger Immobilie ihren
men- und Haushaltskun- gesamten Energiehaus-
den transportiert, die ei- Beim Strom- halt nach Sonne, Wind
Wa r m w

t te ri e

nen zuvor festgelegten erzeugen und dem minütlich


Preis dafür bezahlten. mit Gas fällt schwankenden Börsen-
e Ba

Wärme ab.
asse

Ein Massengeschäft, sim- Günstig eingekaufter preis für Strom aus. Ist ge-
pel, berechenbar und man- Strom wird gespeichert, nug regenerativer Strom
n är
rsp

gels Konkurrenz auch noch eigener Strom mit vorhanden, werden überdi-
tio
eic

Gewinn verkauft.
Sta

hoch profitabel. mensionale Strom- und Wär-


he

Netzstabilität
r

Seit die Bundesregierung die durch bedarfs- mespeicher mit im Haus pro-
FOTO: DANIEL PILAR / LAIF

Energiewende vorantreibt und gerechte duzierter Energie oder billigem


Ökostrom aus Sonne und Wind in Steuerung. Ökostrom aus dem Netz gefüllt.
den Markt drängt, funktioniert das Ist der Strompreis dagegen hoch,
Str rf
Geschäftsmodell der Versorgungsunter- om
netz n b eda weil die Sonne nicht scheint und der
nehmen nicht mehr. Viele Kraftwerke sind E ig e Wind nicht bläst, werden große Mengen
76 DER SPIEGEL 49 / 2014
Wirtschaft

der Speichervorräte automatisch in das


öffentliche Netz eingespeist und dort zu
Höchstpreisen verkauft.
Die gesamte Installation besteht aus drei
Hauptkomponenten. Auf dem Dach wurde
eine Fotovoltaikanlage installiert, die das
gesamte Haus bei Sonnenschein mit Ener-
gie versorgen kann. Gleichzeitig speist sie
drei moderne, schrankgroße Lithiumbat-
terien, die den Verbrauch der Bewohner
auch ohne Sonne einen Tag lang decken
können.
Ein kleines Blockheizkraftwerk im Kel-
ler produziert Strom für das öffentliche
Netz und die Batterie, gleichzeitig stellt
sie die gesamte Heizungswärme, die in
zwei großen Warmwasserspeichern vorge-
halten wird.
Auf dem Hof stehen Ladesäulen für
zwei Elektroautos der Marke BMW i3. Die
Hausbewohner sollen die Autos kostenlos
nutzen können. Einzige Bedingung: Sie
melden ihre Strecken früh genug per
Smartphone-App an. Sind keine Fahrten
geplant, stehen die Batterien der Autos
ebenfalls zur Verfügung, um Engpässe im
öffentlichen Stromnetz zu schließen – ge-
gen Entgelt, versteht sich.
„Wie hoch genau die Ersparnis für jede
Familie sein wird, können wir derzeit noch
nicht genau beziffern“, sagt Lichtblick-
Technikchef Christian Appel. Der Grund:
Die Anlage wurde erst vor wenigen Tagen
in Betrieb genommen, die Elektroautos
von BMW werden erst Anfang Dezember
geliefert. Der Plan sieht vor, dass sich die
Investitionen in wenigen Jahren amortisie-
ren werden. Der Fahrstrom für die Autos
könnte nach derzeitigen Überlegungen so-
gar kostenlos sein.
Auch volks- und energiewirtschaftlich
ist das Projekt sinnvoll. Denn mit entspre-
chender Steuertechnik und Software könn-
ten nicht nur in einem einzelnen Haus,
sondern bundesweit auch Tausende dezen-
trale Anlagen blitzschnell zu „virtuellen
Kraftwerken“ zusammengeschaltet wer-
den. Back-ups für wind- und sonnenarme
Zeiten in Form großer Kraftwerke wären
dann kaum noch nötig.
Das Potenzial ist gewaltig, nicht nur bei
Windparks und Blockheizkraftwerken. So
prophezeit die Investmentbank UBS in ei-
ner Ende August erschienenen Studie, dass
Deutschland und Europa in den nächsten
Jahren einen wahren Boom bei Kombi-An-
lagen aus Fotovoltaikmodulen und großen
Speicherbatterien erleben werden. Die bis-
lang exorbitanten Preise der Batterien wür-
den sich durch den Einstieg in die Massen-
fertigung halbieren.
Für klassische Stromversorger ist diese
Entwicklung verheerend. Sollte sich der
Trend durchsetzen, würden noch mehr
Kraftwerke überflüssig. Gleichzeitig wür-
den sie massiv Kunden verlieren. Denn
Häuser wie das Vorzeugeobjekt in Ham-
DER SPIEGEL 49 / 2014 77
Wirtschaft

SPIEGEL GESCHICHTE
FREITAG, 5. 12., 20.15 – 21.10 UHR | SKY
burg sind für sie ein Albtraum. „Solche die Entwickler, dass sie mit der eigentlich
London Calling Systeme können wir weder steuern noch für das Blockheizkraftwerk entwickelten
Großbritannien hat in den letzten abrechnen“, klagt ein Strommanager. Es Steuersoftware ein Juwel in den Händen
50 Jahren so viele kreative Musiker fehlen Erfahrung und die notwendigen hielten. Mit Anpassungen, so ihre Analyse,
hervorgebracht wie kaum ein ande- EDV-Systeme. sei die Software auf den ganzen dezentra-
res Land. Die vierteilige Dokumen- Genau die hat Lichtblick zu bieten. Und len Energiemarkt anwendbar. Und so
tationsreihe betrachtet die Entwick- das ist der Grund, warum große und kleine investierte Lichtblick Millionen Euro in
lung der britischen Popmusik aus Firmen der Energiebranche derzeit ver- neue EDV-Systeme und neue Softwareent-
der Perspektive anderer Kunstfor- suchen, mit dem Ökostromanbieter ins wickler.
men und Einflüsse: die erstaunliche Geschäft zu kommen. Nicht nur klassische Inzwischen ist die Plattform in einer
Bedeutung der Kunsthochschulen Stromversorger sind darunter, sondern ersten Version fertig. „Der Verkauf von
und der Modeszene sowie die zen- auch große Wind- und Solarparkbetreiber, Software und die Steuerung von dezentra-
trale Rolle der Impresarios, Mana- führende Batterieproduzenten und nam- len Einheiten wird ein wichtiges Standbein
ger und Hintermänner der Bands. hafte Hersteller von Elektroautos wie unseres Geschäfts werden“, sagt Tschisch-
VW, BMW oder der kalifornische Vorreiter witz. Tatsächlich ist die Resonanz enorm.
Tesla. Nicht nur Stromkonzerne wie RWE und
SPIEGEL TV WISSEN „Diese völlig unterschiedlichen Systeme EnBW erwägen, die Lichtblick-Lösung
FREITAG, 5. 12., 21.55 – 22.40 UHR | PAY TV können wir mit unserer Software in belie- ganz oder in Teilen zu übernehmen. Auch
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN biger Anzahl einbinden, steuern und zu Windparkbetreiber wie Statkraft verhan-
virtuellen Kraftwerken zusammenschal- deln derzeit über den Anschluss ihrer
Der Motocross-Adel – Fahren für ten“, erklärt Lichtblick-Geschäftsführer Anlagen.
die Familienehre Gero Lücking. An solchen Lösungen tüf- Gleichzeitig prüfen Automobilhersteller
Davide von Zitzewitz liebt Motor- teln auch Konzerne wie die Deutsche Te- wie BMW, VW und Tesla, ob sie ihren
räder, seit er fünf Jahre alt ist. lekom oder Google. Doch ihnen fehlen Kunden standardmäßig die Möglichkeit
Bereits seit drei Generationen gilt wichtige Kenntnisse über den komplizier- bieten sollten, sich mit der Autobatterie
die Leidenschaft der Familie schnel- ten deutschen Strommarkt. Von konkreten
len Gefährten. Vater und Onkel
blicken auf erfolgreiche Motorsport-
Anwendungen hierzulande sind sie des-
halb noch weit entfernt.
Der Umweltverband WWF
karrieren zurück. Davide tut es Anders Lichtblick mit seinem hat das Hamburger Unter-
ihnen nun nach. Im schleswig-hol-
steinischen Tensfeld geht der
„Schwarm-Dirigenten“, wie das System
intern genannt wird. Entstanden ist die
nehmen zum „exklusiven
22-Jährige als Lokalmatador an den Plattform ausgerechnet in einer Phase, in Energiepartner“ erkoren.
Start, muss aber gegen die inter- der das Unternehmen den größten Rück-
nationale Konkurrenz bestehen. schlag seiner 16-jährigen Firmengeschichte in das Lichtblick-System einzuklinken.
SPIEGEL-TV-Autor Stefan Witte hat zu verkraften hatte. Denn eigentlich wollte Geplant ist eine Smartphone-App, mit
die Vollgas-Familie begleitet. es den Energiemarkt gemeinsam mit dem der man sein Fahrzeug ganz nach Belie-
Wolfsburger VW-Konzern aufmischen. ben für einen Tag, eine Woche oder auch
Doch der spektakuläre Plan, Tausende länger anmelden kann. Hersteller von
SPIEGEL TV MAGAZIN von VW gebaute Blockheizkraftwerke an großen Hausbatterien wie Varta oder
SONNTAG, 7. 12., 23.30 – 0.15 UHR | RTL Privathaushalte zu verkaufen und damit Sonnenbatterie haben ähnliche Rahmen-
Großkraftwerke zu ersetzen (SPIEGEL verträge bereits mit Lichtblick abge-
Die weiße Hölle – Polizei sprengt 37/2009), ging nicht auf. schlossen.
Crystal-Meth-Ring; Ein rätselhafter Von Anfang an litten die Anlagen unter Im Laufe dieser Woche will das Unter-
Patient – seltene Krankheiten bei etlichen Kinderkrankheiten, die mühsam nehmen sein neues Energiekonzept auch
Kindern; Scheidung per Skype – das beseitigt werden mussten. Und als nach öffentlich vorstellen. Dann sollen die rund
virtuelle Ende der Ehe. fünf Jahren Entwicklungszeit endlich eine 600 000 eigenen Energiekunden angeschrie-
ausgereifte Version des Kleinkraftwerks ben und zum „Mitmachen“ animiert wer-
vom Band rollen sollte, wollte VW das den. Skeptiker glauben allerdings, es könn-
Geschäft nicht mehr mit Lichtblick allein te noch Jahre dauern, bis sich der Markt
betreiben. ändert und aus normalen Kunden Produ-
Eine Exklusivvereinbarung mit dem zenten werden.
Hamburger Energieunternehmen wurde In Politik und bei Verbänden zumindest
nicht umgesetzt. Lichtblick hat dagegen ist die Unterstützung groß. Die NRW-Lan-
inzwischen Klage eingereicht. Es geht um desregierung etwa hält das Projekt für rich-
Schadensersatz in mehrstelliger Millionen- tungweisend. Der Umweltverband WWF
höhe. VW bemängelte bereits während der hat das Hamburger Unternehmen vor
Partnerschaft, dass gemeinsam vereinbarte einigen Wochen sogar zum „exklusiven
Produktionskapazitäten nicht ausgelastet Energiepartner“ erkoren.
worden seien. Deshalb, so die Lesart in Das gesamte Konzept, heißt es beim
Wolfsburg, habe man sich nach weiteren WWF, habe so überzeugt, dass man sich
Partnern umsehen müssen. gemeinsam mit Lichtblick „für die Ener-
„Für uns war das eine sehr harte Zeit“, giewende und deren Umsetzung“ ein-
sagt Tschischwitz. Erstmals musste das Un- setzen wolle. Das gilt selbst dann noch,
ternehmen Personal ab- und nicht aufbau- wenn die Schwarmsoftware des Ökostrom-
en. Von den damals rund 500 Stellen wur- anbieters demnächst auch bei Kohlever-
den 60 gestrichen. Doch die Schockstarre stromern wie RWE oder Vattenfall zum
Kind bei einer Untersuchung währte nicht lange. Schon bald entdeckten Einsatz kommen sollte. Frank Dohmen

78 DER SPIEGEL 49 / 2014


Der Kranke
entlässt sich
Euro Griechenland will die
Troika loswerden, doch es erfüllt
seine Verpflichtungen nicht.
Trotzdem wollen die EU-Partner
weitere Hilfen beschließen.

E
s ist wohl kein Zufall, dass das
Wort Pathos aus dem Griechischen Demonstration gegen Sparpolitik am vergangenen Donnerstag in Athen
kommt. Der griechische Minister-
präsident Antonis Samaras jedenfalls nutzt
in seinen Reden gern jene emotionale An- Lage doch besser entwickelt, als von den Steuerschulden sollen schneller beglichen
sprache, die schon Aristoteles als effektives Pessimisten vorhergesagt. werden. Hier hatten die Griechen vor Kur-
Stilmittel bezeichnete. Aber anders als die ehemaligen Krisen- zem die internationalen Geldgeber damit
„Die Ära der Rettungspakete geht zu länder Irland oder Portugal, die ihre Auf- provoziert, dass sie säumigen Steuerschuld-
Ende“, versprach Samaras im September lagen geradezu mustergültig erfüllten, hin- nern bis zu hundert Ratenzahlungen er-
bei einem Auftritt in Thessaloniki. „Grie- ken die Hellenen bei den großen Refor- möglichen wollen.
chenland sieht dem neuen Griechenland men, die das Land wieder wettbewerbs- Dabei gibt es durchaus positive Nach-
entgegen.“ fähig machen sollen, von jeher hinterher. richten aus Griechenland. Zum ersten Mal
Der Applaus seiner Landsleute war Angesichts der bevorstehenden Präsident- seit 2007 wächst die Wirtschaft, die Arbeits-
ihm sicher, doch Samaras Versprechen schaftswahl habe der Reformeifer in den losigkeit geht zurück, auch wenn immer
kam verfrüht. Einen Vorgeschmack darauf, vergangenen Monaten sogar noch einmal noch ein Viertel aller Griechen keinen Job
was es bedeuten würde, Griechenland aus nachgelassen, heißt es in der Brüsseler EU- hat. Es wird dieses Jahr mit 23 Millionen
der Obhut der Aufseher von EU-Kommis- Kommission. Touristen gerechnet, so viel wie noch nie.
sion, Europäischer Zentralbank (EZB) und Zurzeit geht es bei einem Gesetzespaket Jorgo Chatzimarkakis, Ex-Europaabge-
Internationalem Währungsfonds (IWF) zu nicht voran, mit dem die Griechen die Auf- ordneter der FDP, war positiv überrascht,
entlassen, bekam die Regierung in Athen lagen der Troika erfüllen wollten. So soll als er vor ein paar Wochen in das Land
nach den Ankündigungen des Regierungs- beispielsweise die Qualität in der Verwal- seines Vaters übersiedelte. Innerhalb von
chefs. Je öfter Samaras von einer „saube- tung erhöht werden, indem Beamte künf- drei Stunden hatte er seinen Wohnsitz
ren Lösung“ sprach, desto stärker stiegen tig auch nach Leistung bezahlt werden. angemeldet und eine neue Krankenversi-
die Renditen für langfristige griechische cherungsnummer. „Das ging alles elektro-
Staatsanleihen. Waren es Anfang Septem- Finanzhilfen für Athen nisch“, staunte der Politiker, der seit Kur-
ber noch 5,8 Prozent gewesen, schossen Erstes und zweites Rettungs- zem als griechischer Sonderbotschafter für
sie anschließend auf knapp 9 Prozent. paket von Euroländern, das Athener Außenministerium arbeitet.
Das Fazit der Finanzmärkte: Griechen- EFSF und IWF Doch in anderen Bereichen regiert trotz

6€
land ist noch nicht reif für die Selbststän- massiver europäischer Entwicklungshilfe
digkeit.
1 , der alte Schlendrian. Noch immer fehlt

17Mrd.
Es sei wie mit einem Kranken, der die so etwas wie ein zuverlässiges nationales
Intensivstation überlebt habe und sich Katasteramt, in dem die Größe und die
kurzerhand selbst entlassen wolle, raunt ET
Eigentümer der Grundstücke verbindlich
ein hochrangiger EU-Beamter: Ein Rück- . P AK011 eingetragen sind.
2 März 2 d. €
fall ist programmiert, der anschließende ab M r Die unklaren Besitzverhältnisse gelten
Pflegeaufwand werde viel größer, als 3 ,6 F als eines der wichtigen Entwicklungs-
14 EFS end e
wenn der Patient gleich im Krankenhaus vom leib hemmnisse. Die EU schickte deshalb hol-
b s
bliebe und seine Genesung ruhig angehen Vertel bi 4: ländische Experten, um bei der Errichtung
ließe. Wenn in vier Wochen das zweite i t
M e 201 € eines entsprechenden Systems zu helfen.
Hilfsprogramm offiziell ausläuft, wird das End Mrd. Es kam Anfang des Jahres zu einer öffent-
Land, so viel steht fest, eine weitere 1,8 rd. € lichen Ausschreibung, die dann von den
Anschlussfinanzierung der EU-Partner be-
3 , 0 .€ 8
2 IW en
M
,0 F de Griechen einfach annulliert wurde. Auch
nötigen.
Am vergangenen Mittwoch kam es in
Paris zum Eklat, weil die Troika die Be-
7 rdM T ab
M a i 20
10
e
m
vo leib
r b bis
V tel 6:
i t 0 1
die Finanzierung der Katasterämter wurde
plötzlich infrage gestellt, obwohl diese
sogar Einnahmen generieren könnten.
E M rz 2 . €
dingungen für die Auszahlung der letzten . P AK . € ä rd „Wir haben wieder über ein Jahr ver-
1 Mr d M M
FOTO: YANNIS KOLESIDIS / DPA

9 n , 0
Kredittranchen als nicht erfüllt ansah. Im r
52, Ländzone
e 16 loren“, sagt einer der Brüsseler Beamten
Haushalt für 2015 machte sie ein Loch von o n o müde. Zwar hatte die Regierung Fortschrit-
v Eur €
rund zwei Milliarden Euro aus. Die Grie- r
de Mrd . te bei den Katasterämtern zugesagt. Aber
chen warfen der Troika vor, die Zahlen , 1 möglicherweise hat das Ganze einem der
künstlich schlechtzureden. In der Vergan- 20 IWF lokalen Oligarchen nicht gefallen, die im
vom
genheit, so das Argument, habe sich die Quelle: EFSF, IWF Hintergrund die Fäden ziehen. Je unklarer
DER SPIEGEL 49 / 2014 79
Gesprengte
die Eigentumsansprüche, desto besser las- amten aus allen Euroländern in Brüssel
sen sich damit Geschäfte machen. über sogenannte vorbeugende Finanz-
Den Interessen der Superreichen, die in hilfen, die vom ESM zur Verfügung gestellt

Fesseln
Griechenland jahrzehntelang unbehelligt werden sollen. Von diesem Instrument gibt
vom Fiskus Milliardenvermögen anhäufen es zwei Varianten, Griechenland soll die
konnten, fiel im Juni auch Charis Theo- strengere verordnet bekommen. Sie ist mit
charis zum Opfer. Der Generalsekretär für schärferen Auflagen und strengerer Kon-
öffentliche Einnahmen sollte im Finanz- trolle verbunden. Lufthansa Vorstandschef Carsten
ministerium die Steuerverwaltung revolu- Über die Höhe der Hilfeleistungen be-
tionieren und nicht nur den Mittelstand, steht schon weitgehend Einigkeit. Grie- Spohr will den Konzern
sondern auch die Elite mit den guten Ver- chenland wird rund zehn Milliarden Euro grundlegend umbauen. Setzt
bindungen besteuern. Auf Druck der in- bekommen. Für das neue Programm muss er sich durch, verlieren
ternationalen Geldgeber war dieser Posten der ESM keine zusätzlichen Mittel mobili-
eines obersten Steuerfahnders geschaffen sieren. Aus dem aktuellen Hilfspaket sind die Piloten teilweise ihre Macht.
worden. Er hatte bis 2018 einen unkünd- noch 10,8 Milliarden Euro übrig, die dafür

D
baren Fünfjahresvertrag, selbst der Pre- vorgesehen waren, die Kapitalausstattung er 3. Dezember 2014 könnte ein-
mierminister durfte ihn nicht entlassen. griechischer Banken aufzupolstern. Bis mal als historisches Datum in die
IWF und EU-Kommission waren über- jetzt wurden sie nicht gebraucht. Lufthansa-Geschichte eingehen –
zeugt, einen sicheren Weg gefunden zu Dieses Geld soll nun zum größten Teil als jener Tag, an dem sich Deutschlands
haben für eine wirklich unabhängige Steu- umgewidmet werden, damit es zur Finan- größte Fluglinie endgültig von ihren alten
erverwaltung. Doch Theocharis wurde so zierung des griechischen Staatshaushalts Strukturen verabschiedete.
unter Druck gesetzt, dass er schließlich genutzt werden kann. Die Aktion muss Vormittags um halb zehn treffen sich im
„aus persönlichen Gründen“ zurücktrat. der Gouverneursrat des ESM einstimmig Lufthansa Aviation Center am Frankfurter
Bei der Bekämpfung der Korruption leis- billigen. In einem halben Dutzend Mit- Flughafen 7 Frauen und 13 Männer zur letz-
ten Finnen Entwicklungshilfe, sie schulten gliedsländern, darunter Deutschland, wer- ten Aufsichtsratssitzung des Konzerns in
700 Mitarbeiter, es gibt 30 „Projektpläne“. den zudem anschließend die nationalen diesem Jahr. Es dürfte alles andere als ein
Doch in der Praxis hakt es wie so oft. Bis- Parlamente beteiligt. Routinetreffen werden, möglicherweise so-
her gab es nur eine substanzielle Beschlag- Damit das Anschlussprogramm zu Be- gar begleitet von neuen Streiks der Piloten.
nahme sowie eine Festnahme, heißt es in ginn nächsten Jahres wirksam werden Kurz vor dem Mittagessen steht das
einem Tätigkeitsbericht der EU-Task-Force, kann, müssen die Finanzminister der Euro- wichtigste Thema auf der Tagesordnung:
die Griechenland berät. gruppe es spätestens am 8. Dezember be- Die Aufsichtsräte, darunter Adidas-Chef
Veränderungen sind mühsam und gelin- schließen. Ob das gelingt, bleibt fraglich. Herbert Hainer oder der ehemalige SAP-
gen allenfalls bei starkem internationalem Voraussetzung dafür ist, dass Griechenland Finanzvorstand Werner Brandt, sollen das
Druck. So hatte sich die OECD 2013 vier bis Ende des Jahres alle Auflagen aus dem neue Billigkonzept von Firmenchef Carsten
Bereiche der griechischen Wirtschaft an- zweiten Programm erfüllt. Spohr unter dem Arbeitstitel „Wings“ be-
geschaut und dabei 555 störende Verwal- Als Ausweg bietet sich die Verlängerung schließen. Unter anderem sollen bis zu sie-
tungsvorschriften entdeckt. Hotels, Mari- des aktuellen Programms an. Neben den ben Langstreckenjets vom Typ Airbus
nas oder Wellnesszentren beispielsweise Mitteln für die Bankenrettung, die aller- A330 für den Einsatz nach Florida oder in
mussten ihre Preise vorab bei den Behör- dings zweckgebunden sind, blieben bis den Indischen Ozean angemietet werden.
den genehmigen lassen und teilweise über jetzt 1,8 Milliarden Euro übrig. Die Um- Stimmt die Mehrheit zu, und davon ist
ein ganzes Jahr das einmal genehmigte setzung aller Reformversprechen voraus- auszugehen, werden künftig neben Kurz-
Preisschema beibehalten. Vor Kurzem gesetzt, kämen die Griechen bis weit ins und Langstreckenjets in der klassischen
konnten die Wirtschaftsexperten der nächste Jahr damit aus. Im ESM-Jargon blau-gelben Lufthansa-Bemalung mit dem
OECD mit Genugtuung feststellen, dass heißt dieser Kniff „technische Verlänge- Kranich und den gelb-dunkelroten Maschi-
die Gesetze ersatzlos gestrichen wurden. rung“. Auch diese Maßnahme muss vom nen des bisherigen Billigablegers German-
Bei anderen Wettbewerbshemmnissen Gouverneursrat gebilligt werden. wings noch weitere Flugzeuge aus der gro-
lief es weniger gut. Während in ganz 16 Milliarden Euro sind bis März 2016 ßen Lufthansa-Familie am Himmel kreu-
Europa frische Milch im Supermarkt zehn noch aus einem Hilfsprogramm des IWF zen, auch wenn man ihnen ihre Herkunft
oder elf Tage lang verkauft werden darf, übrig, auf dessen Geld und Kontrolle wür-
galt in Griechenland eine Frist von fünf den die Griechen am liebsten verzichten.
Tagen (SPIEGEL 2/2014). Die OECD rech- Doch die Vertreter Deutschlands, Finn- Große Flotte, kleine Zahlen
nete vor, dass dies den griechischen Ver- lands und der Niederlande machten ihrem Lufthansa* im Vergleich
Quellen: Bloomberg, jeweils letzter Geschäftsbericht
braucher jährlich 33 Millionen Euro kostet. Verhandlungspartner aus Athen Ende ver- * Lufthansa Passage Gruppe
Nachdem der Reformvorschlag Griechen- gangener Woche klar: Ohne den IWF läuft
lands Milchfunktionäre zu erbitterten Pro- kommendes Jahr gar nichts.
testen anregte, darf die Milch nun sieben Chatzimarkakis, der Sonderbotschafter
Tage im Regal stehen. Immerhin können des griechischen Außenministers Evange- Konzernflotte 622 217 226 297
dem griechischen Konsumenten nun, an- los Venizelos, wünscht sich von den Euro-
ders als früher, fettreduzierte Reispuddings päern, dass sie auch die Populisten der Fluggäste 104,6 44,5 64,8 81,7
und Joghurts angeboten werden, notierten Linkspartei Syriza an den Verhandlungs- in Mio.
die OECD-Leute dankbar. tisch zwingen, die mit ihrer Fundamental- 694
Die Fortschritte sind mühsam – und müs- opposition gegen die Troika alle Wahlum- 576 523
sen auch nach Überzeugung von Bundesfi- fragen anführt.
nanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) „Ohne Zusagen der gesamten politischen
326
mit einem dritten Rettungspaket für Grie- Klasse sollte es keine frischen Gelder ge-
chenland abgesichert werden. Ende voriger ben“, sagt er. Christoph Pauly, Nettoergebnis
Woche beriet eine Runde von Spitzenbe- Christian Reiermann, Christoph Schult in Mio. Euro

80 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wirtschaft

Mitglieder das aus rechtlichen Gründen


nie zugeben dürfen.
Der Konzernchef will trotzdem hart
bleiben, aus gutem Grund. Denn noch nie
war das Geschäftsmodell der deutschen
Vorzeige-Fluggesellschaft so akut gefähr-
det wie jetzt. Allein Emirates und zwei
weitere arabische Konkurrenten wollen
ihre Flotten in den kommenden Jahren um
insgesamt über 800 Flugzeuge ausbauen.
Das sind mehr Maschinen, als der Lufthan-
sa-Konzern heute betreibt. Die drei größ-
ten Billiganbieter in Europa haben zu-
sammen ebenfalls mehrere Hundert Jets
bestellt.
Seit Spohrs Amtsantritt im vergangenen
Mai musste der Konzern schon zweimal
eine Gewinnwarnung herausgeben. „Wir
stehen an einem Wendepunkt“, warnt der
für das Passagiergeschäft zuständige Vor-
stand Karl Ulrich Garnadt, „in den nächs-
ten 12 bis 18 Monaten wird sich entschei-
den, ob dieses großartige Unternehmen,
dieses Symbol für Luftverkehr der Spitzen-
klasse, auch in zehn Jahren noch relevant
Lufthansa-Chef Spohr ist für Kunden.“
Branchenkenner, aber auch viele Luft-
hansa-Angestellte hatten Spohr ein solch
nicht ansieht: in tiefem Brombeerrot und (KTV) ab. Er verpflichtete Weber und seine entschiedenes Auftreten zunächst gar nicht
ein bis zwei weiteren Farben angestrichene Nachfolger, alle Lufthansa-Flugzeuge ab ei- zugetraut. Als der Aufsteiger, der seit 20
Kurz- und Langstreckenjets unter dem Mar- ner bestimmten Größe nur von vergleichs- Jahren im Unternehmen arbeitet, Anfang
kennamen Eurowings. Die Beteiligung ge- weise teuer bezahlten Cockpit-Angestell- Mai nach monatelangen Querelen und
hört seit gut einem Dutzend Jahren zum ten aus dem Stammhaus steuern zu lassen. Zweifeln an seiner Eignung endlich an die
Konzern und bedient bislang ausgewählte Bereits Spohrs Vorgänger versuchten, Führungsspitze rücken durfte, wurde er-
Strecken im Auftrag von Germanwings. das Abkommen auszuhebeln. Um die ste- wartet, dass er sich erst mal zurückhalten
Unter ihrer Dachmarke soll demnächst tig anwachsenden Verluste auf innerdeut- und das von seinem Vorgänger Christoph
nicht nur die stark wachsende eigene schen und europäischen Strecken einzu- Franz entwickelte Sparprogramm „Score“
Flotte betrieben werden. Auch das Flug- dämmen und gegen neu aufgetauchte zurechtstutzen würde.
geschäft von Germanwings und dem ge- Wettbewerber wie Ryanair oder Easyjet Doch alle irrten sich. Indem er Wings
planten Langstrecken-Billigableger der zu bestehen, ersannen sie Günstigangebo- nicht nur als Vehikel für kürzere und
Lufthansa soll zu dem geplanten übergrei- te unter Schlagworten wie „Lufthansa-Ex- mittellange Verbindungen nutzt, sondern
fenden Eurowings-Verbund stoßen. Er soll press“ oder „Lufthansa-Light“. Die Expe- auch für Langstrecken, begeht Spohr einen
alles in allem einmal bis zu 150 Flugzeuge rimente wurden jedoch schnell wieder Kulturbruch, wie ihn keiner seiner Vorgän-
umfassen. beendet, unter anderem weil der Konzern- ger wagte.
Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die tarifvertrag bei den Cockpit-Kosten keine Schon seit Wochen zieht er durch die
drei hauseigenen Spezialanbieter für güns- tiefen Einschnitte zuließ. Firma wie ein Wanderprediger, um für
tige Direktverbindungen abseits der gro- Spohr will die gut 20 Jahre alten Fesseln, seine Botschaft zu werben, die da heißt:
ßen Verkehrsdrehscheiben Frankfurt und die ihm sein Mentor Weber hinterlassen Wenn die Lufthansa weiterwachsen will,
München dann unter einer neuen Holding hat, nun sprengen und bei Wings Piloten muss sie Kosten senken. Das aber geht nur
mit dem Namen Wings firmieren. beschäftigen, die nicht unter das Regel- mithilfe von Wings. Das traditionelle Ge-
Für die Lufthansa bedeutet diese Umor- werk fallen. Möglich wird das, weil er als schäft mit Umsteigepassagieren, warnt er,
ganisation eine tiefe Zäsur, vielleicht sogar Basis für das Konzept die Billigtochter dürfte dagegen eher stagnieren.
die größte, seit der ehemalige Vorstands- Eurowings nutzt. Für sie gilt der KTV nicht. Vielen Piloten gefällt zwar nicht, was
und spätere Aufsichtsratschef Jürgen We- Er würde nur greifen, wenn die Maschinen ihr oberster Chef zu sagen hat, aber sie
ber den Konzern Anfang der Neunziger- einen Lufthansa-Schriftzug, eine Lufthan- schätzen ihn trotzdem: Er ist einer von
jahre vor der Pleite rettete. sa-Flugnummer oder den Kranich im Logo ihnen – mit der Lizenz, einen Airbus A320
Das Staatsunternehmen war damals viel trügen. All das aber ist bei Wings nicht zu fliegen.
zu schnell gewachsen. Mehrere Tausend der Fall. Das zeigte sich vor Kurzem bei einer
Mitarbeiter mussten die Firma verlassen, Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Dialogveranstaltung mit Flugzeugführern.
außerdem übernahm der Bund für die An- Cockpit (VC) wirft Spohr dennoch Tarif- Ein Pilot bedankte sich danach sogar
gestellten Versorgungsansprüche in Mil- bruch vor. Mit ihrem bislang längsten schriftlich, dass der Lufthansa-Chef per-
liardenhöhe. Streik seit Neugründung des Unterneh- sönlich Rede und Antwort gestanden hatte.
Auch die Piloten mussten Opfer brin- mens vor fast 60 Jahren protestierten die „Wäre gut, wenn er auch in Zukunft
gen – in Form empfindlicher Gehaltsein- Flugzeugführer offiziell nur gegen die ge- daran teilnimmt“, schrieb er im hauseige-
bußen. Im Gegenzug handelten sie Politik plante Beschneidung ihrer vergleichsweise nen Intranet, Spohr sei einfach ein „glaub-
und Geschäftsführung Zugeständnisse üppigen Frührenten. Tatsächlich aber ging würdiger Typ“.
wie den sogenannten Konzerntarifvertrag es vor allem um Wings, auch wenn die VC- Dinah Deckstein, Martin U. Müller

DER SPIEGEL 49 / 2014 81


Im Schatten der Welt
Umweltskandale Dreißig Jahre nach der größten
Chemiekatastrophe der Geschichte leidet im
indischen Bhopal eine neue Generation von Opfern.
Hilfe bekommt sie nicht.

Gasopfer in Bhopal

W
enn der Monsun den Staub des Schwermetallen verseucht. Doch tagtäg- zung an Mitarbeitern im Einsatz. Das
indischen Sommers von der lich tränken hier die Bauern ihre Tiere, Werk sollte geschlossen und an einen an-
Landschaft, den Hütten und den und die Frauen holen Wasser, um damit deren Standort verlegt werden. Nötige
Menschen in Bhopal wäscht, dann wird ihre Kinder und ihre Wäsche zu waschen. Wartungsarbeiten wurden ausgesetzt, das
aus den trockenen Erdlöchern hinter dem Mehr als eine halbe Million Menschen sind Kühlsystem für die Gastanks und andere
Slum J. P. Nagar ein See. Lachende Kinder betroffen. Die Aktivistin Rachna Dhingra Sicherheitsvorrichtungen waren bereits ab-
baden darin. Fischer warten darauf, dass nennt es eine „unendliche Katastrophe“, gebaut.
ein Zupfen an ihren Angelschnüren einen die sich hier in Bhopal vollzieht. „Und die Die Nacht vom 2. auf den 3. Dezember
Fang ankündigt. Büffel verschlingen gierig Welt schaut einfach weg.“ 1984 war sternenklar. Gegen Mitternacht
die fleischigen Stängel der Wasserlilien. Nur rund 500 Meter sind es von dem entwichen durch ein Leck innerhalb weni-
Im Hinduismus gilt Wasser als die Quel- trüben See bis zum ehemaligen Fabrik- ger Stunden 27 Tonnen der hochgiftigen
le allen Lebens. In Bhopal aber beginnt gelände von Union Carbide. Hinter den Chemikalie Methylisocyanat (MIC). Eine
mit dem Regen jedes Jahr ein Kreislauf Wellblechdächern der Siedlung rosten die Gaswolke zog über die Stadt und tötete
des Todes. Ruinen der Fabrik wie ein Mahnmal in den Tausende Menschen. Selbst „die Vögel fie-
„Die Menschen können das Gift nicht Himmel. Sie sind stumme Zeugen der Tra- len vom Himmel“, schrieb der SPIEGEL in
sehen, nicht riechen oder schmecken“, sagt gödie, die hier vor genau 30 Jahren ihren seiner Titelgeschichte (50/1984). Die Bilder
Rachna Dhingra, „aber es ist da.“ Es steckt Anfang nahm. Und bis heute kein Ende aus Bhopal erinnerten auf schreckliche
im Wasser, im Fleisch der Fische und in findet. Weise an die Giftgasangriffe im Ersten
der Milch der Wasserbüffel, in dem dunk- Ende der Siebzigerjahre hatte das in- Weltkrieg.
len Uferschlick, mit dem die Slumbewoh- dische Tochterunternehmen des US-Che- Die Ärmsten der Armen, die Bewohner
ner die Ritzen ihrer Häuser stopfen. Dhin- miekonzerns Union Carbide, der heute zu der Slums neben der Fabrik, waren am
gra, 37, steht in ihrer blauen Kurta, dem Dow Chemical gehört, begonnen, in stärksten betroffen. Überall lagen die Ster-
langen traditionellen indischen Kleidungs- Bhopal das Schädlingsbekämpfungsmittel benden, die Gliedmaßen im Todeskrampf
stück, auf einer kleinen Anhöhe und ver- Sevin zu produzieren. Die 1,8-Millionen- verdreht, die Münder geöffnet wie bei Fi-
sucht mit zorniger Stimme, die Fischer zur Metropole Bhopal ist die Hauptstadt von schen, die nach Luft schnappen. Bis heute
FOTO: ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL

Vernunft zu bringen. „Das ist Selbstmord“, Madhya Pradesh, einem ländlich gepräg- sind mehr als 200 000 Menschen erkrankt
ruft sie ihnen zu. ten Bundesstaat im Herzen Indiens, etwas und bis zu 30 000 an den Folgen des Un-
Was heute ein See ist, diente der nahe größer als Italien. Die Fabrik sollte der glücks gestorben. Eine genaue Zahl wird
gelegenen Chemiefabrik einst als Grube Stadt wirtschaftlichen Aufschwung brin- es nie geben. Viele, die in dieser Nacht ih-
für ihre ungefilterten Abwässer. Mehr als gen, auf dem Gelände wurden tonnenwei- ren letzten Atemzug taten, wurden von
11 000 Tonnen Material wurden hier abge- se giftige Chemikalien gebunkert. Doch keiner Statistik erfasst. Denn die Einzigen,
laden. Jetzt sind Boden und Grundwasser die Geschäfte liefen nicht, bereits im Win- die ihre Namen gekannt hatten, waren
mit Quecksilber, Nickel und anderen ter 1984 war nur noch eine Minimalbeset- ebenfalls tot.
82 DER SPIEGEL 49 / 2014
Wirtschaft

Die muslimischen Friedhöfe quollen sie zur Witwe gemacht und zu einer Kämp- maligen Union-Carbide-Geländes leben.
über vor Leichen, die Totengräber schau- ferin. Bee ist Muslimin, eine Frau mit sanft- 200 Kinder werden derzeit kostenfrei im
felten Gräber im Akkord. Die Hindus, die mütigem Blick und starker Stimme. Das „Chingari Trust“ gefördert. Sie leiden un-
ihre Toten verbrennen, türmten Scheiter- Tuch ihres roten Saris liegt wie ein Kopf- ter Autismus, ihre Füße oder Hände sind
haufen aus menschlichen Leibern auf. tuch über ihrem Haar. Sie streitet seit vie- verkrüppelt. Manche wurden taub oder
Nach dem Gas betäubte der Geruch des len Jahren für die Rechte der Überleben- blind geboren. Viele sind geistig zurück-
Todes die Stadt. den. Und für die Anerkennung und Ver- geblieben. „Diese Kinder werden nie ein
In diesem Dezember jährt sich das Gas- sorgung der nächsten Opfergeneration. normales Leben führen können“, sagt Ra-
Desaster von Bhopal zum 30. Mal. Es ist „Zuerst waren wir dem Gas ausgesetzt“, shida Bee.
noch immer das größte Chemieunglück erzählt Rashida Bee, die selbst noch immer In den ärmlichen Wohngebieten, durch
der Geschichte. Schlimmer noch als die unter Atembeschwerden leidet, „jetzt ver- die die Gaswolke 1984 zog und die heute
unkontrollierte Verklappung von queck- giften sie uns und unsere Kinder mit jedem am stärksten von den giftigen Überresten
silberhaltigen Abfällen im japanischen Schluck Grundwasser, den wir trinken.“ betroffen sind, lebt in etwa jeder siebten
Minamata. Vergleichbar nur mit den Lang- Sie verweist auf die zahlreichen wissen- Hütte ein behindertes Kind. Die Rate der
zeitwirkungen der Nuklearkatastrophe in schaftlichen Studien, die die Verunreini- Früh- und Totgeburten bei Frauen, die
Tschernobyl. Manche sprechen in Anleh- gungen des Wassers in den Wohngebieten dem Gas ausgesetzt waren, ist etwa drei-
nung an den Abwurf der Atombombe über rund um die verrottete Fabrik beweisen. mal so hoch wie im nationalen Durch-
Hiroshima und das Ausmaß des Schre- Und die zu keinerlei ernsthaften Konse- schnitt. Doch es fehlen wissenschaftliche
ckens von „Bhoposhima“. quenzen vonseiten der Regierung geführt Langzeitstudien. Keine Behörde, kein
Doch das, was in jener Dezembernacht haben. Krankenhaus hier führt Buch über die Ab-
geschah, war nur der Auftakt einer Apo- Zusammen mit der Hinduistin Champa normalitäten. Hebammen aus den Siedlun-
kalypse viel größeren Ausmaßes. Die öko- Devi Shukla, die ihren Ehemann und ei- gen, die schon vor dem Unglück prakti-
logische Tragödie, die nachhaltige Vergif- nen Sohn an das Gas verlor, hat Rashida zierten und die Entwicklung seit Jahren
tung der Umwelt und der Menschen in Bee deshalb vor zehn Jahren den „Chin- beobachten, berichten von grausigen Miss-
Bhopal, hat sich in den drei Jahrzehnten gari Trust“ gegründet. Das Reha-Zentrum bildungen, Föten mit grünlich verfärbter
seit jener Nacht vollzogen – und sie voll- wird durch Spenden finanziert und wid- Haut und deformiertem Kopf. „Die Geburt
zieht sich noch immer. met sich behinderten Kindern aus mittel- eines Kindes ist normalerweise ein Grund
Die Gründe für das Elend sind bekannt. losen Familien, die in der Nähe des ehe- zum Feiern“, erklärt Parwati, die aus einer
Die wichtigste Quelle für die aktuelle Um-
weltverschmutzung ist das Fabrikgelände,
das nie professionell gereinigt wurde. Auf
dem 35 Hektar großen Gebiet lagern noch
immer rund 350 Tonnen hochgiftiger Ab-
fälle, alte Reste der Pestizidproduktion,
verpackt in einfache Plastiksäcke, mitten
in der Stadt. Das ehemalige Firmengelän-
de, das inzwischen dem Staat Madhya
Pradesh gehört, gleicht heute einer Geis-
terfabrik. In den Laboren liegen zerbro-
chene Reagenzgläser auf dem Boden, die
alten Tanks rosten unkontrolliert vor sich
hin. Eine Überlegung, die Abfälle mithilfe
der Deutschen Gesellschaft für Internatio-
nale Zusammenarbeit zu entsorgen, schei-
terte 2012.
Bis heute existieren keine Sperrzonen
um das Gelände. Die einfache Ziegelmau-
er rund um die Fabrik ist löchrig. Im Som-
mer, bei Temperaturen über 45 Grad, legt
sich der rötliche Staub aus der Fabrik über
die angrenzenden Hütten. Bei Regen wird
der belastete Boden in die benachbarten
Slums gespült. Auf dem Fabrikgelände gra-
sen die Ziegen der Anwohner.
Die alten Verdunstungsbecken, in die
Union Carbide seine hochgiftigen Abwäs-
ser pumpte, sind bis heute nicht markiert,
geschweige denn für die Öffentlichkeit
gesperrt. Es gibt keinerlei Maßnahmen, um
FOTO: ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL

eine weitere Verunreinigung des Grund-


wassers zu stoppen.
„Die Menschen, die in jener Nacht ge-
storben sind, waren die Glücklichen“, sagt
Rashida Bee. „Die Unglücklichen haben
überlebt.“
Bee, 58, hat durch das Desaster sechs Ehemalige Fabrikanlage von Union Carbide in Bhopal
Familienmitglieder verloren. Das Gas hat
DER SPIEGEL 49 / 2014 83
großen gesundheitlichen Problemen. Viele Die Umweltschützerin beklagt das mangeln-
Jahre pflegte sie ihre Mutter, ihr Vater de Verantwortungsgefühl von Großkonzer-
starb 2008 an einen Lungenödem. Als An- nen gegenüber Mensch und Natur. „Die
namika schwanger wurde, war die Freude Unternehmen haben die Gewissheit, dass
groß. „Aber Aarav braucht 24 Stunden ihnen hier nicht viel passieren kann.“ Bho-
Betreuung“, berichtet Annamika, „also pal sei dafür noch immer die Blaupause.
musste ich meinen Job aufgeben.“ Finan- Der US-Konzern Union Carbide und sei-
ziell ist das für die junge Familie eine Ka- ne indische Tochter zahlten 1989 insgesamt
Aktivistin Dhingra tastrophe. Ihr Mann wünscht sich ein zwei- rund 470 Millionen Dollar an den indi-
„Die Welt schaut einfach weg“ tes Kind, „aber das können wir uns nicht schen Staat – und kauften sich damit von
leisten. Was, wenn auch dieses Kind nicht jeder weiteren Strafverfolgung frei. Nur
gesund ist?“, fragt Annamika. Sie bete viel ein Bruchteil des Geldes kam bei den
zu Lakshmi, der hinduistischen Göttin der Betroffenen an. Ein billiger Entschluss, in
Gesundheit, erzählt die junge Mutter. „Nur jeder Hinsicht.
die Götter können uns noch helfen.“ Zum Vergleich: 2011 wurde der Milliar-
Das Leiden der Kinder ist für die Fami- denkonzern, zu dem Union Carbide mitt-
lien nicht nur eine emotionale, sondern lerweile gehört, in Amerika zur Zahlung
auch eine existenzielle Belastung. Viele von drei Millionen Dollar an ein krebs-
empfinden ein behindertes Kindes als dop- krankes Asbestopfer verurteilt. In Bhopal
pelte Strafe. „Die Eltern sind oft selbst ge- zahlte man den Familien rund 1600 Dollar
sundheitlich angeschlagen, aber sie haben für einen verstorbenen Verwandten, Ver-
keine Wahl. Sie müssen arbeiten gehen, letzte wurden mit 500 Dollar abgespeist.
um Essen und Medikamente für sich und Damit konnten sie gerade einmal für we-
ihre Kinder bezahlen zu können“, erzählt nige Monate ihre Medikamente bezahlen.
Rashida Bee. So bleiben viele der pflege- Die Witwen der Gasopfer erhalten heute
bedürftigen Kinder tagsüber auf sich allein eine Rente von 150 Rupien, etwa 1,50 Euro,
gestellt in den armseligen Hütten zurück. im Monat.
Anwohnerin Annamika, Sohn Aarav Die Warteliste für die Therapieplätze Union Carbide weist bis heute jede Ver-
„Nur die Götter können uns noch helfen“ im „Chingari Trust“ ist daher lang. Das antwortung für die Langzeitschäden an
Zentrum liegt an einer der viel befahrenen Mensch und Umwelt in Bhopal zurück. Die
Hebammenfamilie stammt. „Aber in die- Hauptstraßen Bhopals, nur wenige Geh- Firma habe etwa das Verdunstungsbecken
ser Gegend erleiden viele Eltern bei der minuten von der verrotteten Union-Car- mit einer Plastikplane „abgesichert“. Dass
Geburt einen Schock.“ bide-Ruine entfernt. Der Flur ist in bunten dennoch Schadstoffe ins Grundwasser ge-
So ging es auch der 27-jährigen Anna- Farben gestrichen, Rashida Bee spricht mit langten, sei allein die Schuld der Anwoh-
mika, als vor drei Jahren ihr Sohn Aarav den Eltern, die mit ihren Kindern auf dem ner, die das Material „beschädigt“ hätten.
zur Welt kam. Der Kopf des Jungen ist Fußboden sitzen und auf die Behandlung „Die Frage nach der Altlastensanierung
viel zu schwer für den zarten Körper, seine warten. Die Luft ist stickig, Kinder weinen, auf dem Fabrikgelände sollte man nicht
Mundwinkel sind schief, seine Augen star- weil ihre geschienten Beine schmerzen. uns, sondern den lokalen Behörden stel-
ren apathisch ins Leere. Im „Chingari Bee geht davon aus, dass „fast 3000 be- len“, erklärt ein Konzernsprecher.
Trust“ versuchen die Sprachtherapeuten, hinderte Kinder aus den umliegenden Vier- Die größte Demokratie der Welt kann
Aarav einfache Worte beizubringen, damit teln dringend Hilfe brauchen“. Doch Ein- inzwischen zwar umfangreiche Gesetze
er sagen kann, wenn er Durst oder Hunger richtungen dieser Art sind rar oder für die zum Schutz der Umwelt, zu Schadstoff-

FOTOS: ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL


hat. Die Physiotherapeuten bemühen sich, Armen unerschwinglich. Und dem Bhopal grenzen und Industriemüll vorweisen,
die verkrampften Muskeln an den dünnen Memorial Hospital and Research Centre, „aber die Konzerne wissen, dass der Staat
Beinen zu lockern. 1984 für die kostenlose Behandlung der mit der Kontrolle hinterherhinkt“, sagt
Annamika ist in der Nähe der Eisen- Gasopfer gegründet, misstrauen die Men- Vinuta Gopal von Greenpeace. Das wür-
bahnlinie aufgewachsen, unweit der ehe- schen. Denn 2011 wurde bekannt, dass an den die Firmen ausnutzen. Die Folge sind
maligen Union-Carbide-Fabrik. Ihr älterer Patienten Medikamententests von westli- illegale Minen wie in der Aravalli-Region
Bruder wurde am Abend des Gasunglücks chen Pharmafirmen wie AstraZeneca und in Rajasthan oder Singur in Westbengalen.
geboren, er starb noch als Baby. Annamika Pfizer durchgeführt wurden. Die Gasopfer In Chandrapur im Bundesstaat Maha-
ging länger zur Schule als ihre Freundin- wurden als Versuchspersonen für neue rashtra gab es aufgrund
nen, sie machte einen Abschluss und ar- Herzmittel und Antibiotika missbraucht. der hohen Schadstoffbe-
beitete zuletzt bei einer Versicherung. Ihre „Bhopal hält Indien den Spiegel vor“, lastung ein Moratorium
Eltern litten seit dem Gasunglück unter sagt Vinuta Gopal von Greenpeace India. gegen die weitere Aus-

Tödliche Wolke 2 Das Kühlsystem, das 4 Die Entlüftungsanlage, in der


Die Chemiekatastrophe von Bhopal eine solche Kettenreaktion das Gas mit Natriumhydroxid
bremsen soll, ist aus neutralisiert werden könnte, ist
am 2./3. Dezember 1984
Kostengründen bereits nicht in Betrieb. 27 Tonnen des
seit Juni 1984 abgeschaltet. hochgiftigen Gases entweichen
ungehindert durch ein Überdruck-
1 Bei Reinigungsarbeiten ventil in 30 Meter Höhe.
gelangt Wasser in einen 3 Der Fackelturm
Tank mit Methyl-Isocyanat E6
10 zum Verbrennen 5 Eine Sprühvorrichtung
(MIC) und löst eine E6
11 des Gases ist wegen reicht nur bis ca. 15 Meter
chemische Ketten- 19
Wartungsarbeiten Höhe und kann das Gas so
E6
reaktion aus. nicht angeschlossen. nicht erreichen.
84 DER SPIEGEL 49 / 2014
Wirtschaft

dehnung der Kohleförderung. Doch der zu- durch die lokale Politik legalisiert. Und Union-Carbide-Fabrik. „Zuerst waren es
ständige Umweltminister setzte dieses kurz- dann steht schon wieder eine Fabrik mitten 14, dann 18, heute sind schon 22 Siedlun-
fristig außer Kraft und erlaubte die Aus- in einem Slum. Wie in Bhopal. gen von dem verseuchten Grundwasser
weitung der Förderlizenzen. Dabei liegt Rachna Dhingra zeigt auf die Rostruinen betroffen“, erzählt sie beim Stopp auf ei-
die Region dem nationalen Verschmut- und sagt: „Die Menschen sind diesen Gif- ner Brücke mit Blick auf die Hütten, „Ten-
zungsindex des staatlichen „Central Pollu- ten schutzlos ausgeliefert, aber die Politi- denz steigend.“ Die Proteste von Rachna
tion Control Board“ zufolge auf Platz vier ker interessiert das einfach nicht. So etwas Dhingra und ihren Mitstreitern haben
der meistbelasteten Zonen. ist nur in Indien möglich.“ dazu geführt, dass in den vergangenen
„Die Zustände in den industriellen Clus- Dhingra lebte weit weg von diesem Jahren in vielen Straßen Wasserleitungen
ter-Regionen sind schockierend“, erklärt Elend. Die Tochter indischer Eltern studier- verlegt wurden, um die Menschen mit
die Greenpeace-Mitarbeiterin, „aber un- te in den USA Wirtschaftswissenschaften sauberem Trinkwasser zu versorgen. Doch
sere Regierung wird dieser Probleme nicht und arbeitete für die Unternehmensbera- nur jeden zweiten Tag fließt frisches Was-
Herr.“ tung Accenture. Ihr Kunde war der Che- ser durch die Rohre. Also nutzen die Men-
Dabei sind die Folgen von Umweltsün- mieriese Dow Chemical, der 2001 Union schen weiterhin das giftige Brunnenwasser.
den in dem überbevölkerten Land ungleich Carbide aufgekauft hatte. Dhingra hatte „Kein Verantwortlicher würde einen
gewaltiger als in anderen Regionen der schon als Studentin von dem Unglück und Schluck dieser Brühe trinken“, schimpft
Welt. Von verschmutzter Luft oder ver- den Problemen in Bhopal gehört. „Irgend- Dhingra. Die Regierung habe „komplett
seuchten Flüssen sind in Indien schnell Mil- wann wurde mir bewusst, dass ich einer versagt“. In ihren Ohren klingt es wie
lionen betroffen, wie Chandra Bhushan, Firma helfe, Profit zu machen, die Tausen- Hohn, wenn der zuständige Landesminis-
stellvertretender Direktor des unabhängi- de Menschenleben auf dem Gewissen hat.“ ter Babulal Gaur erklärt, er könne die Be-
gen Centre for Science and Environment Vor zwölf Jahren kam die heute 37-Jäh- völkerung auf dem kontaminierten Grund
in Delhi, erklärt. Die Institution veröffent- rige zurück in ihre Heimat. Seither leiht nicht einfach umsiedeln lassen. Schließlich
licht jedes Jahr eine Art Schwarzbuch mit die gebildete, selbstbewusste Rachna Dhin- dürfe in einer Demokratie jeder dort woh-
den größten Umweltskandalen im Land. gra in Bhopal den Opfern der Katastrophe nen, wo er wolle.
Bhopal, das es auch 30 Jahre nach der ihre Stimme. Zweimal marschierte sie zu- Die neue Waffe von Rachna Dhingra im
Katastrophe noch in den Bericht geschafft sammen mit Überlebenden zum Sitz des Kampf gegen die andauernde Katastrophe
hat, nennt Bhushan einen „Cold Case“, Premierministers ins 700 Kilometer ent- kostet nur eine Rupie, umgerechnet einen
für den heute keine offizielle Stelle mehr fernte Neu-Delhi. Ihr längster Hunger- Eurocent. So viel bezahlt man für einen
die Verantwortung übernehmen wolle. streik dauerte 19 Tage. Manch schlaflose Test, mit dem der Wert von chlorhaltigen
Sein Urteil fällt bitter aus: „Indien fehlt es Nacht hat Dhingra im Gefängnis verbracht. Pestiziden im Trinkwasser gemessen wer-
nicht an Regeln, sondern an den Ressour- „Es ist eine Schande, was hier passiert“, den kann. „Helfer schulen die Leute darin,
cen, deren Einhaltung zu überprüfen.“ erzählt die Aktivistin. „Aber wir werden diese Tests zu verwenden und zu verste-
So gibt es seit Jahrzehnten Richtlinien, keine Ruhe geben.“ hen.“ Sind die Stoffe, die unter anderem
die etwa vorschreiben, dass bei dem Neu- Rachna Dhingra ist mit ihrem Motorrol- das zentrale Nervensystem schädigen, im
bau von Fabriken, die mit toxischen Che- ler auf dem Weg in die Slums hinter der Wasser nachweisbar, verfärbt sich der Test-
mikalien hantieren, ein Sicherheitsabstand
von 25 Kilometern zu Wohngebieten ein-
gehalten werden muss. Doch in der Reali-
tät zieht jedes neue Unternehmen in In- Pestizidkonzentration Shiv Nagar
im Grundwasser
dien die Menschen an. Innerhalb kürzester
Zeit campieren hinter den Fabrikzäunen gegenüber indischen Grenzwerten
38,6 -fach erhöht
Tagelöhner mit ihren Familien. Zuerst wer- Quelle: Centre for Science and Environment
den die Siedlungen toleriert, später oft Pollution Monitoring Lab, 2009

Garib Nagar
4,8 -fach erhöht
Bh
op

New Arif Nagar


al

59,3 -fach erhöht


2

Gi
km

ft
ga
sw
ol

Ehemaliges
ke

Unglücksort
Fabrikgelände
von Union Carbide 561 -fach erhöht
(Oberflächenwasser)

INDIEN
Jai Prakash Nagar
6 Der Gaswolke über Bhopal sind 8,5 -fach erhöht Bhopal
bis heute bis zu 30 000 Menschen zum
Opfer gefallen. Weitere 200000 leiden unter
Erblindung, Lungenschäden, Krebs und weiteren
Auswirkungen. Spätfolgen sind Fehlbildungen 250 m
und Wachstumsstörungen bei Neugeborenen.
DER SPIEGEL 49 / 2014 85
oder der Abfallentsorgung. „Wer dort
dann für die toxische Fracht verantwortlich
ist, ob diese Arbeiter sensibilisiert sind für
die potenziellen Gefahren, ist nur schwer
zu kontrollieren“, warnt Dube.
Im Zweifel hilft den Unternehmen sogar
genau dieser Umstand, sich aus der Ver-
antwortung zu ziehen. Wie in Bhopal.
15 Jahre lang hatten Anwälte der Organi-
sation EarthRights International versucht,
Dow Chemical für die Kontaminierung
von Erde und Grundwasser rund um das
alte Fabrikgelände zur Kasse zu bitten. Im
Sommer 2014 hat das amerikanische Be-
rufungsgericht in New York jedoch erklärt,
das Unternehmen müsse nicht für die
Aufräumarbeiten zahlen. Die Begründung:
Der Projektmanager, der mit dem Bau der
Fabrik und der Abfallbeseitigung beauf-
tragt war, sei nur bei der indischen Toch-
tergesellschaft angestellt gewesen.
„Dieses Urteil war ein weiterer Schlag
ins Gesicht der Opfer“, sagt Aktivistin
Bewohnerinnen der Witwenkolonie: „Wären diese Leute nicht arm, wäre so etwas undenkbar“ Rachna Dhingra. „Wären diese Leute
nicht arm und ungebildet, wäre so etwas
streifen. „Das macht das Problem sichtbar in den westlichen Industrienationen ver- undenkbar.“ Ende September verstarb in
und verständlich.“ Denn die meisten Slum- boten. Und auch das umstrittene Breit- Florida außerdem der ehemalige Konzern-
bewohner sind Analphabeten. Sie verste- band-Insektizid Monocrotophos, das die chef Warren Anderson im Alter von 92
hen nichts von Grenzwerten für Chlor und WHO für Tausende Tote unter indischen Jahren. In Indien lief noch immer ein Haft-
Schwermetalle, sie wissen nur, dass sie Bauern verantwortlich macht und das EU- befehl auf seinen Namen.
jeden Tag um Reis und Rupien kämpfen. weit längst verboten ist, wird am Ganges Aber Dhingra will nicht aufgeben. Auf
Auch in Indien gibt es das Sprichwort, weiterhin vom Staat gefördert und tonnen- ihrem Schreibtisch stapeln sich Gerichts-
dass die Zeit alle Wunden heilt. Rachna weise auf Baumwollfeldern versprüht. urteile, Laborberichte und Krankenakten,
Dhingra sagt: „Hier in Bhopal ist das Ge- Indiens Politiker streben weiter auf dem die Langzeitschäden der Opfer von Bho-
genteil der Fall.“ Pfad der industriellen Erleuchtung. Pre- pal dokumentieren. Sie hat ein Archiv
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mierminister Narendra Modi hat als eine angelegt, in dem alle Studien, Augen-
verweist in ihrem Handbuch zum „Gesund- seiner ersten Amtshandlungen die Kam- zeugenberichte und Bücher über das Un-
heits-Management bei Chemievorfällen“ pagne „Make in India“ ins Leben gerufen glück und die aktuellen Vergiftungen ge-
darauf, dass zwischen 1998 und 2007 welt- und ausländischen Investoren den roten sammelt werden. Eine Dokumentation
weit rund 100 000 Menschen bei techni- Teppich ausgerollt. Zehn Millionen Jobs des Grauens.
schen Katastrophen starben. Vor allem pro Jahr will er schaffen und Indien fest Gerade ist Rachna Dhingra dabei, unter
Produktionsstandorte der chemischen In- „auf der weltweiten Produktionslandkarte anderem eine Nachtwache und ein Ge-
dustrie seien Gefahrenherde. verankern“. Ein hehres Ziel, für das in denkkonzert zum Jahrestag der Katastro-
Doch das Chemiegeschäft boomt seit diesem Land jedoch allzu oft Mensch und phe zu organisieren. Sie schiebt einen Pa-
Jahrzehnten. Im Jahr 2013 betrug allein Natur den Preis bezahlen. pierberg zur Seite und klappt ihren alten
der Umsatz mit Pflanzenschutzmitteln auf „Die Produktion in Indien rechnet sich Laptop auf. „Ich will Gerechtigkeit für die-
dem Weltmarkt knapp 40 Milliarden Euro, für viele Firmen vor allem aufgrund der se Leute“, sagt sie. „Mit diesem Gedanken
bis 2019 prognostizieren Marktforscher niedrigen Löhne“, sagt Hans-Hermann wache ich auf, und mit diesem Gedanken
einen Jahresumsatz von mehr als 60 Mil- Dube von der Deutschen Gesellschaft für schlafe ich ein.“
liarden Euro. Das Wachstum ist besonders Internationale Zusammenarbeit in Neu- An die indische Politik hat sie keine
den aufstrebenden Schwellenländern zu Delhi. Doch billige, schlecht ausgebildete großen Erwartungen mehr. „Es ist wie ein
verdanken. Arbeitskräfte seien ein oft unterschätztes Reflex, an jedem 2. Dezember schwingen
In Indien leben rund 70 Prozent der Be- Sicherheitsrisiko. „Die Leute sind darauf hier die Politiker große Reden und machen
völkerung von der Landwirtschaft, 18 Pro- trainiert, nur ihren Arbeitsbereich im Blick Versprechungen“, meint Dhingra. „Davon
zent des Bruttoinlandsprodukts werden zu haben. Gerade im Umgang mit hochto- ist noch nie eines wahr geworden.“
dort erwirtschaftet. Daher gelten hier xischen Stoffen kann das zum Problem Denn nach jedem Jahrestag legt sich
Pestizide noch immer als Allheilmittel im werden.“ wieder der Mantel des Vergessens über
Kampf gegen den Hunger. Mit mehr als Der Experte hat über Jahre die Ent- die Stadt. Die Opfer von Bhopal, sagt
80 000 Tonnen Jahresproduktion liegt wicklung in der chemieverarbeitenden Rachna Dhingra, würden täglich mehr.
FOTO: ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL

Indien nach China und Japan in Asien an Industrie des Landes beobachtet. „Gerade Aber sie führten ein Leben „im Schatten
dritter Stelle. europäische Firmen gehen mit hohen An- der Welt“. Und die im Dunkeln sieht man
Indien ist heute das weltweit letzte Land, sprüchen an Umwelt-, Gesundheits- und nicht. Anne Backhaus, Simone Salden
in dem noch immer Dichlordiphenyltri- Sicherheitsstandards an die Arbeit“, be-
chlorethan – besser bekannt als DDT – pro- richtet Dube. Doch sie alle müssten früher Video: Aktivistin Rachna
duziert wird. Es schädigt den Hormonhaus- oder später mit indischen Partnern Dhingra über ihren Kampf
halt von Mensch und Tier, deshalb ist das und Subunternehmern zusammenarbeiten. spiegel.de/sp492014bhopal
oder in der App DER SPIEGEL
Insektizid bereits seit den Siebzigerjahren Und sei es nur beim Transport der Stoffe
86 DER SPIEGEL 49 / 2014
Frauen schützen Frauen
Neu-Delhi gilt in Indien auch als Hauptstadt der Vergewaltigungen. Um Frauen besser
vor Übergriffen zu schützen, hat die Polizei begonnen, eine spezielle Frauenstaffel
auszubilden, die unter anderem nachts auf Patrouille gehen soll. Ein Jahr lang werden
die Polizistinnen in Kampfsportarten wie Karate oder Taekwondo ausgebildet.
Es ist eine Maßnahme von vielen, mit denen die Stadt die Straßen für Frauen sicherer
machen will. Dazu gehört auch die Anstellung von 5000 Rikschafahrerinnen.

Thailand ten wir uns vor die Bühne, wurde der Film aus dem Pro- vös zu sein. Seit meiner Frei-
um gegen den Putsch der Mi- gramm gestrichen, Kinobesu- lassung werde ich wie viele
„Drei Finger für litärs zu demonstrieren. Wir cher wurden nach der Vor- andere unserer Gruppe be-
die Freiheit“ machten diese Geste – die er- stellung festgenommen. Das schattet. Es ist beängstigend.
FOTOS: SAURABH DAS / AP / DPA (O.); KARL VANDENHOLE / DER SPIEGEL (U.)

Der thailändische Student hobene Hand mit den drei Regime scheint ziemlich ner- SPIEGEL: Was fordern Sie?
Wasan Setsit, 23, über ausgestreckten Fingern. Wasan: Ein freies und gerech-
Widerstand und Hollywood SPIEGEL: Wie Bewohner des tes Land, dessen Bürger nicht
Staates Panem in dem Block- von einer korrupten Elite dis-
SPIEGEL: Nach einer Protest- buster „The Hunger Games“, kriminiert werden. Eine Re-
aktion gegen Premier Prayuth der vom Leben in einer bru- gierung, die Menschen nicht
Chan-ocha wurden Sie und talen Diktatur erzählt. wegsperrt, nur weil sie ihre
andere Mitglieder der Aktivis- Wasan: Genau, wir haben uns Meinung kundtun. Aber
tengruppe Daodin festgenom- das abgeschaut. Die drei Fin- stattdessen wird es immer
men. Was war passiert? ger stehen bei uns für Frei- schlimmer. Die Tage haben
Wasan: Prayuth war zum ers- heit, Gleichheit, Einig- sie sogar die Website von
ten Mal als Ministerpräsident keit. Anfangs wussten die Mi- Human Rights Watch blo-
in den Nordosten gekommen. litärs nicht, was das soll, aber ckiert, auf der über die zu-
Er wollte eine Rede halten, jetzt haben sie es mitbekom- Wasan nehmende Zahl von Verhaf-
aber während er sprach, stell- men. In manchen Städten tungen berichtet wurde. rho

88 DER SPIEGEL 49 / 2014


Ausland
Großbritannien
Schrumpfende
Armee
Das Militär galt lange Zeit
als Stolz des Empires, jetzt
wird es von Nachwuchssor-
gen geplagt. Trotz millionen-
schwerer Werbekampagnen
finden sich zu wenige Solda-
ten. Die Regierung von Pre-
mier David Cameron will
zwar die Armee auf 82 500
Mann verkleinern, gleichzei-
tig soll aber die Zahl der Re-
servisten steigen, von der-
zeit 19 310 auf 30 000. Lon-
don hofft, damit langfristig
mehr als 13 Milliarden Euro
einzusparen. Um neue Reser-
visten zu rekrutieren, be-
schäftigt das Verteidigungs-
ministerium einen privaten
Dienstleister, allerdings mit
wenig Erfolg: Voriges Jahr
wuchs die Reservearmee ge- Rekrutierungskampagne der britischen Armee
rade mal um 20 Soldaten –
viel zu wenig, um die sonalpool zu schöpfen, hob auf 52 Jahre an. „Jeder, der
Schrumpfung der regulären Verteidigungsminister zwei Beine und zwei Arme
Truppe auszugleichen. Um Michael Fallon das Höchst- hat, darf mitmachen“, spotte-
aus einem größeren Per- eintrittsalter für Reservisten te ein Ex-Militär. cx

Syrien Spanien
Verhaltener Luftkrieg Lästiger Ermittler
Trotz des von US-Präsident Barack Obama vorgegebenen Die Arbeit des Richters Pablo
Ziels, den „Islamischen Staat“ zu „zerstören“, fliegen die Ruz belastet die konservative
USA und ihre Verbündeten Luftangriffe auf niedrigem Volkspartei PP: Gegen 20
Niveau. Das zeigt eine Auswertung der ersten 110 Tage des ehemalige Größen der Partei
Luftkriegs. Als Grund nennt das Militär die im Vergleich von Ministerpräsident Maria-
zu früheren Kriegen höhere Trefferquote; von fast 950 An- no Rajoy hat Ruz jetzt Ankla-
griffen sollen nur 2 „nicht erfolgreich“ gewesen sein. ge wegen Korruption erhoben.
Im Zuge der Ermittlungen
Angriffe pro Tag sah sich die Gesundheitsmi-
im Durchschnitt*
nisterin genötigt zurückzu-

64
Fußnote treten. Außerdem stehen Un-
Afghanistan 2001 tersuchungen gegen den Ex-
86 Schatzmeister Luis Bárcenas,
der Schwarzgeldkonten der
Libyen 2011
Partei verwaltet haben soll,
vor dem Abschluss. Überdies
50 wird PP-Generalsekretärin
María Dolores de Cospedal
von 196 Staaten
ab 9. August:
Angriffe im Irak
ab 22. September:
Irak und Syrien
9 verdächtigt, illegale Wahl-
führen in ihrer National- Syrien/Irak
kampfspenden erhalten zu
flagge ein religiöses 2014 haben. Deshalb will die PP
Symbol. Christliche Mo- 20 den unbequemen Richter, der
tive sind dabei deutlich * für die ersten vertretungsweise an den Na-
75 (Afghanistan) bzw.
in der Überzahl. Sie 10 179 Tage (Libyen) tionalen Gerichtshof entsandt
erscheinen auf 31 Fah- wurde, wohl schnell loswer-
nen, während 21 ein den. Das von Konservativen
islamisches Symbol wie dominierte Standesgremium
FOTO: ALAMY

Halbmond oder Stern August 2014 September Oktober November der Justiz entscheidet jetzt,
zeigen. bla Quellen: US-Armee, Center for Strategic and Budgetary Assessments, Bundesregierung ob Ruz gehen muss. hzu

DER SPIEGEL 49 / 2014 89


Ausland

„Ihr tötet unsere Kinder!“


USA Die Schüsse und der Hass von Ferguson stehen für eine Zeitenwende: Viele
Afroamerikaner haben die Hoffnung auf Gerechtigkeit zwischen Schwarzen
und Weißen aufgegeben. Sie sind vor allem von Präsident Barack Obama enttäuscht.

A
n dem Abend, nachdem die Stadt anzuklagen, der Michael Brown erschoss. fessor Cornel West von der Princeton Uni-
brannte, steht ein Mann in schwar- Und nicht erst, seit dieses Urteil Zigtau- versity, einer der führenden afroamerika-
zer Lederjacke und weißem Kollar sende Schwarze in 170 US-Städten zu Pro- nischen Intellektuellen. Es sei ein „sehr
auf den Straßen von Ferguson, Missouri. testmärschen auf die Straße trieb. trauriges Ende“, so West. „Wir haben mit
Er schüttelt den Kopf, es sieht aus, als Sie alle hatten große Hoffnungen in „ih- riesigen Hoffnungen begonnen, und wir
kämpfe er mit den Tränen. Wieder stehen ren“ Präsidenten gesetzt und waren 2008 enden nun in tiefer Enttäuschung.“ Obama
sich junge Schwarze und ältere, leicht dick- und 2012 in dem Gefühl an die Wahlurnen habe nichts getan gegen ein Justizsystem,
bäuchige weiße Polizisten vor der örtlichen gegangen, dass etwas Großes bevorstehe. das jungen Menschen mit schwarzer oder
Wache gegenüber. Sie stehen dort wie Bei keiner US-Wahl zuvor hatten mehr brauner Hautfarbe jede Form von Gerech-
Armeen. Als seien sie im Krieg. Schwarze ihre Stimme abgegeben als in tigkeit verweigere. Der Präsident trage
„Es wird nie aufhören“, sagt Alvin Her- diesen beiden Jahren. Wenn es einer von eine Mitschuld am „Rassen- und Klassen-
ring, ein schwarzer Pastor, der die Proteste uns ins Weiße Haus schafft, so lautete die krieg“, der gegen die jungen Farbigen ge-
in Ferguson seit Anfang August begleitet, Hoffnung, dann wird es auch uns endlich führt werde.
seit der unbewaffnete 18-jährige Schüler besser ergehen. Die Schüsse von Ferguson gefährden
Michael Brown von dem weißen Polizisten Als der damalige Präsidentschaftsbewer- nun den sozialen Frieden in einem Land,
Darren Wilson erschossen wurde. „Es klafft ber Obama im März 2008 seine große Rede das sich einst als Schmelztiegel der Kul-
eine tiefe, blutende Wunde am Herzen der über Rassismus hielt, schien er jener Mann turen feierte – und in dem der weiße An-
amerikanischen Kultur und Gesellschaft.“ zu sein, der das Land einen und zusam- teil an der Bevölkerung immer weiter
Der systematische Rassismus, dem diese menführen könnte. Im November des Jah- abnimmt.
jungen Leute seit ihrer Geburt täglich aus- res 2014 ist dieser Obama ein Präsident, Die Vereinigten Staaten sind noch im-
gesetzt seien, habe sie unendlich wütend der das Land – gegen seine Intention – mer eine zerrissene Gesellschaft, mit einer
gemacht, sagt Pastor Herring. „Es ist ihnen noch tiefer gespalten hat, auch Schwarze vornehmlich weißen Elite und einer afro-
unmöglich, sich geliebt oder wenigstens und Weiße. amerikanischen Bevölkerung, die über we-
beachtet zu fühlen. Sie glauben nicht mehr, Das ist die eigentliche Tragik dieses ers- niger Geld, schlechtere Bildung und we-
dass sie gebraucht werden, dass ihr Leben ten afroamerikanischen Präsidenten. niger Einfluss verfügt – und vielerorts
etwas wert ist.“ Als Obama am vergangenen Montag- schon von der wachsenden Bevölkerungs-
Genau in diesem Moment stürmen acht abend im Weißen Haus die Entscheidung gruppe der Hispanics wirtschaftlich über-
Polizisten auf einen Schwarzen zu und zer- der Grand Jury kommentierte, wirkte er holt wurde.
ren ihn aus einer Gruppe heraus. Angeb- so hilflos wie selten zuvor während seiner In Amerika gibt es schwarze Popstars,
lich soll er eine leere Plastikflasche ge- Präsidentschaft. Noch während er seine schwarze Sporthelden und seit 2009 sogar
schmissen haben. Sie werfen sich auf ihn, schwarzen Mitbürger aufrief, Ruhe zu be- einen schwarzen Präsidenten. Trotzdem
drücken seine Wange auf den Asphalt und wahren und friedlich zu bleiben, wurden sind die meisten Menschen dunkler Haut-
fesseln seine Hände auf dem Rücken mit
Kabelbindern. Dann schleifen sie ihn an „Ferguson markiert das Ende des Obama-Zeitalters“,
Händen und Füßen in die Wache.
In all den Monaten seit Beginn der Pro-
sagt Cornel West. „Es ist ein sehr trauriges Ende.“
teste hat Pastor Alvin Herring sich ge- in Ferguson die ersten Geschäfte geplün- farbe weit entfernt von echter Gleichstel-
wünscht, Barack Obama, der erste schwar- dert und in Brand gesetzt. Seine Anspra- lung in der Gesellschaft. 50 Jahre nach den
ze Präsident der Vereinigten Staaten, che wirkte rätselhaft uninspiriert und fah- großen Reformen von Präsident Lyndon
möge Ferguson einen Besuch abstatten. Er rig, da sprach auch ein Präsident, der re- B. Johnson, die den Schwarzen zumindest
hätte damit ein Zeichen setzen können, signiert zu haben schien. formal Gleichberechtigung verschaffte, ist
sagt Herring: Seht her, ich stehe an der Obama weiß, dass viele Ursachen für die soziale Kluft noch immer unüber-
Seite dieser jungen Schwarzen. die alltägliche Diskriminierung von sehbar. In vielen Stadtteilen in den USA
An diesem Abend, da die Kleinstadt im Schwarzen in den USA jenseits seiner sind die einzigen Schwarzen diejenigen,
Norden von St. Louis erneut in Gewalt Macht liegen. Wegen des ausgeprägten Fö- die den Weißen bei Starbucks die Milch
versinkt, vermisst Pastor Herring Obama deralismus in den USA hat er wenig Ein- aufschäumen.
FOTO: EVERETT COLLECTION, INC. / ACTION PRESS

besonders schmerzlich. „Der Präsident ist fluss auf das Verhalten von lokalen Poli- Hinzu kommt die Diskriminierung
viel zu vorsichtig, viel zu zögerlich“, sagt zeieinheiten oder das Justizsystem in ein- durch staatliche Organe wie die Polizei.
Herring. „Der Präsident sollte heute zelnen Staaten. In diesen Bereichen muss Wie kann es sein, dass das Risiko junger
Abend in Ferguson sein. Er sollte insge- sich Obama auf Appelle beschränken – männlicher Schwarzer, von der Polizei er-
samt mehr Engagement zeigen.“ was er aus Sicht vieler Schwarzer zu selten schossen zu werden, 21-mal höher ist als
Herring spricht aus, was viele Afroame- und zu halbherzig getan hat und was aus das junger Weißer? Der Tod des 18-jähri-
rikaner über ihren Präsidenten denken – Sicht des Weißen Hauses eher kontrapro- gen Michael Brown ist beileibe kein Ein-
nicht erst, seit eine mehrheitlich mit Wei- duktive Wirkung hätte. zelfall. Erst vor gut einer Woche wurde in
ßen besetzte Grand Jury vergangenen „Ferguson markiert das Ende des Oba- Cleveland ein zwölfjähriger schwarzer
Montag entschied, jenen Polizisten nicht ma-Zeitalters“, sagt der emeritierte Pro- Junge von einem Polizisten erschossen,
90 DER SPIEGEL 49 / 2014
Staatsoberhaupt Obama vor dem Martin-Luther-King-Denkmal in Washington

DER SPIEGEL 49 / 2014 91


Ausland

weil er mit einer Spielzeugpistole auf ei- Einer der Demonstranten hat ein Hals- bereitschaft ausgerechnet in seine Präsi-
nem Spielplatz unterwegs war. tuch bis über die Nase und seine Kapuze dentschaft fallen würde. Aber es ist kein
Die landesweiten Proteste der afroame- tief in die Stirn gezogen, er stampft auf Zufall. Schließlich hatte er selbst große
rikanischen Minderheit zeigen, wie tief das den Asphalt und schreit. „Die scheuchen Versprechen gemacht. Nun ist er bereits
Misstrauen zwischen Schwarzen und Wei- uns rum, die töten uns, als ob wir Hunde seit fast sechs Jahren im Amt, und tatsäch-
ßen auch 51 Jahre nach Martin Luther wären.“ Er ist 25 und möchte als „Mike lich hat sich für Schwarze in den USA seit-
Kings „I have a Dream“-Rede sitzt. Vor- Monster“ zitiert werden. Er will anonym her wenig verändert.
nehmlich weiße Polizisten sehen in jungen bleiben, weil er sich vorgenommen hat, an Die Rede, mit der Obama die Erwartun-
schwarzen Männern vor allem eine Gefahr genau diesem Abend auszusteigen aus gen der schwarzen Amerikaner weckte,
für die öffentliche Sicherheit, die mit allen dem System von Regeln und Gesetzen, die hielt er am 18. März 2008 als Präsident-
Mitteln gestoppt werden müsse, notfalls er nicht mehr als die seinen erachtet. Im schaftsbewerber in Philadelphia. Sie war
auch mit der Schusswaffe. In den Augen August, sagt er, habe er noch friedlich de- eine Reaktion auf Aussagen seines Chi-
vieler Schwarzer hingegen sind weiße Be- monstriert. Jetzt sei er bereit zur Gewalt. cagoer Pastors und Freunds Jeremiah
amte wie der Polizist Darren Wilson nur „Wenn wir nichts einreißen, wenn wir Wright, der in seinen Predigten der US-
eines: Rassisten und Mörder. nichts zerstören, wenn wir nichts in Brand Regierung Verbrechen gegen Schwarze
Als der 28-jährige Wilson am vorigen setzen, dann beachten sie uns nicht mal. vorgeworfen hatte. „Gott möge Amerika
Montag von einer Grand Jury entlastet Lasst Polizeiautos brennen“, ruft er. „Wir verdammen dafür, dass es unschuldige
wurde, war dies für viele Afroamerikaner brauchen eine Revolution.“   Menschen tötet“, hatte Wright von der
der letzte Beleg dafür, dass sie von diesem „You can’t stop the revolution!“, ruft die Kanzel gerufen und seinem Freund große
Staat und seinem Rechtssystem keine Ge- Menge um ihn herum. Probleme bereitet.
rechtigkeit zu erwarten haben. Der Fall In den Asphalt vor der Polizeiwache ist Der große Fehler von Pastor Wright sei
wurde von einem weißen Staatsanwalt ge- ein Motto geritzt, an das inzwischen viele nicht, dass er über Rassismus in unserer
führt, der im Ruf steht, Polizisten in der glauben: „Wenn die Ungerechtigkeit Ge- Gesellschaft gesprochen habe, sagte Oba-
Vergangenheit um jeden Preis verteidigt setz wird, wird die Rebellion zur Pflicht.“ ma. „Sein Fehler ist, dass er so tut, als
zu haben. Statt professionell verhört zu In Marley’s Bar & Grill, nur 500 Meter wäre unsere Gesellschaft statisch, als
werden, durfte der Polizist Wilson vier entfernt und doch eine andere Welt, sitzen ob es keinen Fortschritt gegeben hätte“,
Stunden lang seine Version vom Tat- 15 Bürger Fergusons an der Theke, alle fuhr er fort, „als wäre dieses Land noch
hergang schildern. Wenn es das Ziel gewe- sind weiß. Marley’s ist das einzige Restau- immer fest an seine tragische Geschichte
sen sein sollte, das Vertrauen der Schwar- rant, das trotz der Proteste geöffnet hat. gebunden.“
zen in das Justizwesen endgültig zu zer- Auf drei Fernsehern läuft Eishockey, auf Obama meinte jene Vergangenheit, als
stören, dann hat diese Grand Jury ganze einem CNN. Plötzlich blinkt „Breaking Schwarze den Weißen als Sklaven dienen
Arbeit geleistet. News“ auf dem Bildschirm: „Polizeiauto mussten, als sie nicht mal Bürger zweiter
Noch am selben Abend brannten mehr in Ferguson angegriffen“. Klasse waren, sondern nur eine Ware, die
als ein Dutzend Geschäfte in Ferguson nie- Es wird laut an der Theke. „Die sind man züchtigen und auf dem Markt ver-
der. Über tausend Schwarze lieferten sich verrückt. Die sollen endlich lernen, sich kaufen konnte. Er meinte auch die Jahr-
Kämpfe mit der Polizei. Auch an den fol- zu benehmen“, schreit eine Frau. „Wie die zehnte bis in die Sechzigerjahre des ver-
genden Abenden ziehen die jungen Tiere“, ergänzt ihr Partner. gangenen Jahrhunderts hinein, als Schwar-
Schwarzen durch die Straßen Fergusons Seit Jahrzehnten, so scheint es, waren ze nicht dieselben Parkbänke wie Weiße
oder demonstrieren vor der örtlichen Schwarze und Weiße in Amerika nicht benutzen und in Bussen nur hinten sitzen
Polizeiwache. Am Dienstagabend bildet mehr weiter voneinander entfernt. durften.
die South Florrissant Road jene Trennlinie, In der Geschichte der USA waren es oft In seiner Rede von 2008 versprach Oba-
die sich – mal mehr, mal weniger sichtbar gewaltsame Aufstände, die politische Ver- ma in Anlehnung an die Präambel der US-
– durch das ganze Land zieht. besserungen für die Schwarzen zur Folge Verfassung, „eine perfektere Gemeinschaft
Auf der einen Seite der Straße, vor und
hinter dem Zaun der Wache: fast nur wei- „Einen schwarzen Präsidenten zu haben bedeutet in
ße Polizisten, weiße Soldaten. Sie sind mit
Schutzschilden, Schlagstöcken und Feuer-
unserem alltäglichen Leben nur wenig.“
waffen aller Art ausgerüstet. Sie sehen aus hatten. Als der entflohene Sklave Sha- zu bilden“. Er wollte zu Ende führen, was
wie eine Armee, ausgestattet, als müsste drach Minkins im Jahre 1851 in Boston mit 50 Jahre vor ihm der demokratische Präsi-
sie hier in Ferguson die Taliban vernichten. Verweis auf das „Gesetz gegen flüchtige dent Lyndon B. Johnson versprochen hat-
Der Gouverneur von Missouri hat eigens Sklaven“ verhaftet wurde, stürmten Geg- te: „die letzten Überbleibsel der Ungerech-
für diesen Abend 2100 Nationalgardisten ner der Sklaverei das Gerichtsgebäude, tigkeit in Amerika auszuräumen“ und „die
nach St. Louis beordert. schlugen die Wächter in die Flucht und be- Quellen des rassistischen Gifts zu ver-
Auf der gegenüberliegenden Seite der freiten Minkins. Der Vorfall leitete einen stopfen“. 
South Florrissant Road steht die schwarze Bewusstseinswandel ein, kurz darauf wur- Viele Beobachter glauben, dass Obamas
Jugend Fergusons. Sie recken Schilder in de die Sklaverei abgeschafft. Rede entscheidend war, um ein halbes Jahr
die Luft, auf denen steht: „Wir werden kei- Die Bürgerrechtsbewegung Martin Lu- später zum ersten schwarzen Präsidenten
ne Ruhe geben“ oder „Auch unser Leben ther Kings erstritt die größte Errungen- der Vereinigten Staaten gewählt zu wer-
hat einen Wert“. Kaum jemand ist über 30. schaft für die Gleichberechtigung, den den. Noch heute gilt sie als einer seiner
In ihren Gesichtern steht Hass. Sie rufen Civil Rights Act von 1964, allerdings auf größten Momente als Politiker. 
fast alles, was sich mit dem Wort „Fuck“ friedlichem Weg, mit gewaltlosen Protes- Doch dieser finale Reformschub hat bis
kombinieren lässt: Polizei, System, Justiz, ten und zivilem Ungehorsam. Doch auch heute nicht stattgefunden. Die heutige Si-
Regierung, Macht. Im August sahen diese damals gab es mit Malcolm X einen ge- tuation vermittle den Eindruck von erfolg-
Gesichter noch anders aus, verzweifelt, waltbereiten Gegenpart. reicher Repräsentation afroamerikanischer
aber auch voller Hoffnung, dass der Tod Barack Obama hätte sich zum Beginn Interessen „ohne viel Möglichkeiten, sie
Michael Browns zu etwas gut sein könnte, seiner Amtszeit wohl kaum vorstellen kön- tatsächlich auszuüben“, sagt Kareem Cray-
dass er Veränderungen bewirken könnte. nen, dass eine neue Welle der Gewalt- ton, Rechtsprofessor an der Universität
92 DER SPIEGEL 49 / 2014
von North Carolina. Sein Kollege Eduardo
Bonilla-Silva, Soziologieprofessor an der
Duke-Universität in North Carolina, sagt:
„Einen schwarzen Präsidenten zu haben
bedeutet in unserem alltäglichen Leben
nur wenig.“
Gut sechs Jahre nach Obamas Rassen-
Rede lebt mehr als ein Viertel der schwar-
zen Bevölkerung unter der Armutsgrenze,
bei den Weißen sind es 12,8 Prozent. Das
durchschnittliche Jahreseinkommen eines
Weißen-Haushalts liegt nach Berechnun-
gen des Pew-Instituts um 27 000 Dollar
höher als das eines Schwarzen-Haushalts,
der Abstand hat sich in den vergange-
nen Jahrzehnten eher vergrößert als ver-
kleinert.
Polizeiaufmarsch in Ferguson: Als müssten sie hier die Taliban vernichten Die schwarze „Insel der Armut inmitten
eines Ozeans von materiellem Wohlstand“,
die Martin Luther King vor 50 Jahren ge-
rügt hatte, gibt es auch 2014 noch. Jedes
dritte afroamerikanische Kind, das zwi-
schen 1985 und 2000 geboren wurde,
wuchs in Nachbarschaften mit hoher Ar-
mut auf.
„Die Rassentrennung verläuft heute ent-
lang der sozialen Mobilität“, konstatiert
Richard Reeves von der Washingtoner
Denkfabrik Brookings Institution. Im ver-
gangenen Jahr legte das Bildungsminis-
terium die Ergebnisse einer Studie vor,
die die Daten von 97 000 Schulen quer
durch die USA ausgewertet hatte. Schüler
mit schwarzer Hautfarbe wurden dem-
nach dreimal häufiger der Schule verwie-
sen als Weiße. Jede vierte Highschool mit
hohem Anteil an Schwarzen und Latinos
bot keine Kurse in weiterführender
Mathematik an.
„Es ist das Zeitalter von Obama, und
trotzdem haben sich die Bürgerrechte rück-
wärts entwickelt“, konstatierte das Maga-
Mutter des getöteten Michael Brown: „You can’t stop the revolution!“ zin New Republic nach den Schüssen von
Ferguson und sprach von einem „neuen
Rassismus“. Es sind tödliche Ereignisse wie
in Ferguson oder in Cleveland, die viele
FOTOS: JON LOWENSTEIN / DER SPIEGEL (O., U.); ROBERT COHEN/POLARIS /LAIF / POLARIS / LAIF (M.)

Schwarze heute darin bestärken, dass es


nicht Obama war, der damals im Frühjahr
2008 recht hatte, sondern sein zorniger Pas-
tor Jeremiah Wright.
Am vorvergangenen Samstag betritt der
zwölfjährige Tamir Rice um 15.12 Uhr den
Cudell-Nachbarschaftspark. Der Park liegt
im Westen Clevelands, in einem ärmeren,
überwiegend schwarzen Viertel, wo die
Farbe von den Holzhäusern blättert, In-
dustriebrachen verwildern und die Läden
mit Vorhängeschlössern gesichert sind. Ta-
mir ist schwarz, und er hat eine Spielzeug-
pistole bei sich. Diese Kombination kommt
für ihn einem Todesurteil gleich. 
Tamir wohnt schräg gegenüber in einem
düsteren Klinkerbau, eine bessere Woh-
nung kann seine Mutter sich nicht leisten.
Ihre vier Kinder erzieht sie allein. Im Park
läuft Tamir einsam auf und ab, er lang-
Verbarrikadierte Geschäfte in Ferguson: „Die sollen endlich lernen, sich zu benehmen“ weilt sich, wirft mit Schnee. In seiner rech-
DER SPIEGEL 49 / 2014 93
Anteil der Afroamerikaner an der US-Bevölkerung
in Prozent
Cleveland, selbst schwarz, steht in der

12,6% Turnhalle des Nachbarschaftszentrums im


Cudell-Park, am Revers baumelt ein Funk-
gerät, am Gürtel eine Schusswaffe. Wil-
gesamt
liams ist gekommen, um Fragen zu beant-
worten, er will die aufgeheizte Stimmung
beruhigen. 300 Leute drängeln sich in der
USA Cleveland Halle.
„Unsere Beamten sind darauf trainiert,
jemanden auszuschalten, der eine Waffe
Ferguson New York trägt“, sagt Polizeichef Williams. „Jeman-
dem in den Arm oder ins Bein zu schießen,
das passiert in Filmen, nicht im wirklichen
Leben.“ In einer Gesellschaft, in der es so
viele Feuerwaffen wie Einwohner gibt, se-
hen sich die Polizisten in einem dauerhaf-
Quelle: Census 2010 ten Kriegszustand. Die Polizisten haben
es mit Bürgern zu tun, die potenziell be-
waffnet sind, und so gehen sie in jeden
Alaska Einsatz.
Im Nachbarschaftszentrum des Cudell-
Parks meldet sich jetzt Calista Cottingham,
37, zu Wort und erzählt ihre Geschichte.
Sie hat sechs Kinder, davon vier Söhne,
Hawaii
von denen sie einen zum Football-Training
bis 5 5,1 bis 9,9 10 bis 24,9 25 bis 49,9 50 und mehr gefahren hat. Sie brachte ihn zum Spielfeld
und ließ die anderen Kinder im parkenden
Auto, was in vielen US-Bundesstaaten
ten Hand hat er die Spielzeugpistole aus genen Jugendzentrums ist nicht zu sehen, nicht erlaubt ist. Zwei Polizisten stellten
Plastik, er fuchtelt damit herum, ein Pas- wie Tamir reagiert. Die Polizisten sagen, sie zur Rede, verlangten, dass sie ihre Hän-
sant sieht ihn und wählt 911, den Polizei- er habe nicht die Hände gehoben, er habe de auf das Lenkrad lege und sich nicht be-
notruf. in Richtung seines Gürtels gegriffen. wege. Als Cottingham sagte, sie habe
In der Grünanlage laufe „ein Typ mit Ein Schuss trifft Tamir in die Brust, das nichts Falsches getan, weil ihr ältester Sohn
einer Pistole, er zielt auf alle“, sagt der Kind sackt zusammen. Zwischen der An- mit im Auto gesessen habe, drohten ihr
Anrufer, „wahrscheinlich ein Jugend- kunft der Beamten und den Schüssen sind die Beamten mit einem Elektroschocker.
licher“. Vermutlich sei die Pistole „nicht keine 20 Sekunden vergangen.  Als sie ausstieg, habe sie einer der Polizis-
echt“, er wiederholt es sogar noch einmal. Die Polizisten hätten sich vorsichtig nä- ten so geschlagen, dass sie ins Kranken-
Wie die Person aussehe, will die Beam- hern können. Sie hätten einen der Sozial- haus musste.
tin in der Notrufzentrale wissen: „Ist sie arbeiter vor Ort, die Tamir kennen, bitten Auch Robin Andrews ist an diesem
schwarz oder weiß?“ Sie fragt das dreimal: können, mit dem Kind zu reden. Aber die Abend gekommen, Tamirs Tante. „Ihr seid
„Schwarz oder weiß?“ Polizei schießt einfach. Tamir Rice, der da- darauf trainiert, uns nicht zu vertrauen“,
Dann alarmiert die Zentrale Timothy von träumte, einmal Basketballprofi in der sagt sie an die Adresse des Polizeichefs.
Loehmann, 26, und Frank Garmback, 46, NBA zu werden, stirbt im Krankenhaus. „Ihr tötet unsere Kinder, euer Verhalten
die im Streifenwagen unterwegs sind. Es Das amerikanische Problem hat viele macht uns krank.“ Ihr eigener Sohn wolle
gehe um einen männlichen Schwarzen mit Facetten, aber richtig ist auch, dass im Na- später Medizin studieren, erzählt Andrews,
einer Schusswaffe. Dass die vermeintliche men des Staates meist weiße Männer afro- aber sie habe jetzt jeden Tag Angst um
Waffe wohl nur ein Spielzeug ist, erfahren amerikanische Jugendliche erschießen. sein Leben. „Der Mann, der meinen Nef-
die Beamten nicht. Garmback und Loeh- „Die Farbe des Gesetzes ist weiß“, sagt der fen ermordet hat, muss ins Gefängnis“,
mann reden während der Fahrt darüber, Schauspieler Morgan Freeman. sagt Robin Andrews. „No justice, no
dass dies ein „gun run“ werde, eine Jagd Nahezu jedes zweite Mordopfer und peace.“ Der Satz ist zur Parole des Protes-
auf einen Bewaffneten. rund 40 Prozent der Gefängnisinsassen ha- tes geworden, man hört ihn jetzt im Nach-
barschaftszentrum von Cleveland, in Fer-
Manche weiße Konservative glauben tatsächlich, sie wür- guson und auf den Straßen von Washing-
den vom Präsidenten wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert. ton und New York.
Barack Obama hat die Parole ebenfalls
Um 15.30 Uhr schießt ihr Wagen mit ho- ben schwarze Hautfarbe, obwohl der An- gehört, die Demonstranten skandierten sie
hem Tempo über den Rasen, auf den Jun- teil der Schwarzen an der Gesamtbevölke- in der vergangenen Woche auch vor dem
gen zu. Tamir geht ihnen entgegen, er rung nur bei 12,6 Prozent liegt. Wer in den Weißen Haus. Aber der Präsident ist ge-
wirkt neugierig. Die Spielzeugpistole hat USA vorbestraft ist, verwirkt in vielen fangen zwischen den Erwartungen seiner
er, so zeigt es das Video einer Überwa- Bundesstaaten etliche Bürgerrechte, den schwarzen Landsleute und dem Wissen da-
chungskamera, unter der Jacke verstaut.  Anspruch auf Sozialleistungen etwa, in rum, auf welch schmalem Grat er sich be-
Garmback hechtet um die Motorhau- zehn Staaten auch das Wahlrecht auf Le- wegt, wenn er sich zu dem Thema äußert.
be  und zieht seine Waffe, Loehmann benszeit. Seit Obama Präsident ist, gehen in der
springt aus der Beifahrertür und legt auf Calvin Williams hat seit dem tödlichen Bevölkerung die Ansichten über Ereignisse
Tamir an. „Hände hoch“, brüllen die Be- Samstag immer wieder zu erklären ver- mit rassistischem Hintergrund scharf aus-
amten nach eigenen Angaben dreimal. Auf sucht, warum die Beamten auf Tamir Rice einander. So fanden es mehr als zwei Drit-
dem Überwachungsvideo eines nahe gele- geschossen haben. Der Polizeichef von tel der Anhänger der Demokraten falsch,
94 DER SPIEGEL 49 / 2014
Ausland

Demonstranten in New York City: „Wenn die Ungerechtigkeit Gesetz wird, wird die Rebellion zur Pflicht“

dass der Hilfspolizist George Zimmerman, Die Vehemenz ist auch dadurch zu er- der Afroamerikaner präsentiert hat. Be-
der im Februar 2012 in Florida den unbe- klären, dass manche Gegner vermuteten, reits in einer frühen Phase seiner Präsi-
waffneten Teenager Trayvon Martin er- Obama wolle sie als Mittel der Umver- dentschaft lernte er, dass er sich besonders
schossen hatte, am Ende freigesprochen teilung einsetzen, nicht nur von Reich zu heftigen Anfeindungen aussetzen würde,
wurde. Doch nur 20 Prozent der Sympa- Arm, sondern auch von Weißen zu wenn er zu Konflikten mit rassistischem
thisanten der Republikaner hatten Proble- Schwarzen. Hintergrund Stellung bezöge.
me mit dem Urteil. Und während mehr als Tatsächlich hat Präsident Obama ver- Als er die Verhaftung des schwarzen
die Hälfte der Demokraten in Umfragen sucht, mit Reformen in der Wirtschafts- Harvard-Professors Henry Louis Gates als
den Oscar für den erschütternden Anti- und Sozialpolitik dem unteren Drittel der „dumme Handlung“ der Polizei bezeich-
Sklaverei-Film „12 years a slave“ befür- amerikanischen Gesellschaft zu helfen. nete, wurde er dafür von seinen weißen
worteten, fanden nur 15 Prozent der Re- „Die nackten Fakten zeigen, dass es einige Gegnern harsch kritisiert. Dabei hatte die
publikaner, der Film sei preiswürdig. Amerikaner gibt, die in unserer Gesell- Polizei dem Professor vorgeworfen, in sein
Die Republikaner sind in Obamas Amts- schaft regelmäßig schlechter abschnei- eigenes Haus einzubrechen, weil sein
zeit immer mehr zur Partei der weißen Eli- den“, sagte er, als er im Februar 200 Schlüssel im Schloss klemmte. Dennoch
ten und der ländlichen Regionen gewor- Millionen Dollar für ein Ausbildungs- sah sich Obama am Ende gezwungen, ei-
den, und für ihre radikalsten Anhänger programm für schwarze und hispanische nen versöhnlichen „Bier-Gipfel“ einzube-
waren Obamas Reden und Gesetzesvorha- Schüler ankündigte. „Und die Gruppe, die rufen, und sich sowohl mit Gates als auch
ben immer nur der Versuch eines Schwar- unter fast jedem Gesichtspunkt die größte mit dem Polizisten, der ihn verhaftete, im
zen, Rache an der weißen Mehrheit des Herausforderung im 21. Jahrhundert zu Weißen Haus zu treffen. 
Landes zu üben. Egal ob er ein staatliches bestehen hat, sind farbige Jungen und jun- In seiner Rede zur Lage der Nation im
Investitionsprogramm ankündigte, um die ge Männer.“  Januar, die von Chancengleichheit handel-
Wirtschaft zu stimulieren, oder ob er das Auch sein Kampf für einen höheren Min- te, zitierte er zwei Beispiele: Misty De-
Gesundheitswesen gerechter machen woll- destlohn zählt dazu, ein Projekt, das die Mars, eine weiße Frau aus einem Vorort
te – immer fanden sich Gegner, die Oba- Republikaner mit ebenso großem Eifer be- von Chicago, die seit Langem arbeitslos
mas Handeln, selbst wenn sie das nicht of- kämpfen wie die Gesundheitsreform. Zwar ist. Und Estiven Rodriguez, einen 17-jähri-
fen sagten, als Bedrohung für die Weißen ließ Obama in diesem Jahr per präsiden- gen Studenten aus New York, der als Neun-
sahen.  tieller Anweisung den Mindestlohn für jähriger aus der Dominikanischen Repu-
Manche dieser weißen Konservativen Vertragsarbeiter des Bundes von 7,25 Dol- blik einwanderte, ohne ein Wort Englisch
FOTO: ANDREW BURTON / GETTY IMAGES

glauben bis heute tatsächlich, sie würden lar auf 10,10 Dollar anheben. Sein Ziel, zu sprechen.
vom Präsidenten wegen ihrer Hautfarbe diese Anhebung landesweit für alle Be- DeMars stand für die Schwierigkeit von
diskriminiert, weil Schwarze von Obamas schäftigten durchzusetzen, scheitert je- Frauen, im Beruf voranzukommen. Rodri-
Reformen wie der Gesundheitsversiche- doch an den Republikanern im Kongress, guez war ein Beispiel dafür, was Einwan-
rung überdurchschnittlich profitierten. Der die sich als Anwälte der weißen Mittel- derer schaffen können, wenn man ihnen
extreme Widerstand gegen „Obamacare“ und Oberschicht verstehen. die Möglichkeit gibt.
war nicht allein von ökonomischen Beden- Wahr ist aber auch, dass sich Obama in Ein Schwarzer kam in der Rede nicht
ken motiviert. seiner Amtszeit nie wirklich als Anwalt vor. Markus Feldenkirchen, Holger Stark

96 DER SPIEGEL 49 / 2014


Ausland

„Weil wir im Recht sind“


Essay Im Ukraine-Konflikt setzt Wladimir Putin nun darauf, die europäische Anti-Russland-Front
zu spalten. Leider könnte das gelingen. Von Christian Neef

W
as derzeit in Moskau zu hören ist, klingt in den Ohren der ukrainischen Krise so, wie sich eine Großmacht verhalten
von Europäern nicht gerade schmeichelhaft. Europa sei müsse, sagt der kremlnahe Moskauer Politologe Sergej Markow.
„schwach, ängstlich und feige, es will nicht hören und Im Grunde habe Europa das auch längst anerkannt. Er meint da-
sehen, was in der realen Welt passiert“, schreiben die Zeitungen. mit nicht das offizielle Europa, sondern jene, die hinter den Ku-
Dort seien jetzt Leute an der Macht, „die jeglichen strategischen lissen Front machen gegen die Sanktionen.
Blick verloren haben“, ja, „nicht mal bis zum Horizont“ sehen Hier zeigt sich, wie der Kreml denkt und worauf er baut: Er
könnten. Die Medien, die einst von früh bis spät die USA und glaubt, es komme nur darauf an, in Europa auf die richtigen
Barack Obama attackierten, schießen sich auf Europa ein. Es Leute zu setzen.
sind keine unwichtigen Politiker, die sich da zu Wort melden. Es müsse sich doch irgendein starker politischer Führer finden,
Man mag sich darüber erregen, kann es aber auch positiv „der keine Angst hat auszusprechen, was alle in Europa denken“,
sehen: Die Angriffe belegen, dass Russland und Präsident Wla- schreibt Politikwissenschaftler Markow: dass in Kiew Kriegsver-
dimir Putin Europa als Ganzes bisher nie wirklich ernst genom- brecher regierten, dass der Staatsstreich unter Führung amerika-
men haben. Putin hatte den irrlichternden Nicolas Sarkozy, mit nischer Geheimdienste über die Bühne gegangen, dass die ma-
dem er sich gut verstand, er hatte den Sonnyboy Silvio Berlusconi, laysische Boeing von Europas Verbündeten in Kiew abgeschossen
beide waren Egomanen wie er, die sich kaum an Spielregeln hiel- worden sei und dass die ukrainischen Präsidenten- wie Parla-
ten. Mit Angela Merkel hatte Putin sich arrangiert. Ihre nüchterne mentswahlen dieses Jahr gefälscht gewesen seien. Und dass man
Art mochte er nicht, aber er hielt sie für eine Pragmatikerin, mit Russlands Interessen anerkennen müsse.
der man sich einigen könne. So war mit Europa auszukommen. Ein Großteil der russischen Elite glaubt tatsächlich, ganz
Das hat sich mit Beginn der Ukraine-Krise schlagartig geändert. Europa teile im Grunde ihre Sicht der Dinge, es könne das nur
Moskau sieht sich einer Front gegenüber, an deren Zustande- noch nicht zugeben. Und das hat mit jener Kakofonie zu tun, die
kommen es nicht geglaubt hatte: Dass Europa Sanktionen gegen derzeit zwischen Paris, Rom und Berlin zu hören ist.
Russland ergreifen würde, hatte der Kreml nicht erwartet. Seither In Moskau wird täglich durchdekliniert, wer bereits Front
gilt die Sprachregelung, die feigen Europäer hätten sich dem bru- gegen die „sinnlose Ukraine-Politik der EU“ mache: der Premier
talen Druck der Amerikaner gebeugt. der Slowakei, der frühere und der jetzige Präsident Tschechiens,
Die Frage ist nur, wie lange die Befürworter der Sanktionen der ungarische Premier, die deutschen Ex-Kanzler Kohl und
durchhalten. Und diese Frage stellt sich Putin auch. Denn schon Schröder. Das aber reiche noch nicht aus, warnt die Zeitung
jetzt herrscht in Europa eine Kakofonie wie im Dorfteich beim Iswestija. Der britische Premier sei eng mit Washington verbun-
abendlichen Froschkonzert, so manche Staats- und Regierungs- den, Frankreichs Präsident schwach, der italienische Regierungs-
chefs stellen inzwischen die eigenen Beschlüsse infrage. Und es chef jung und Spaniens Premier nur mit Katalonien beschäftigt.
wächst die Ratlosigkeit darüber, wie es weitergehen soll. Die deutsche Kanzlerin aber habe sich inzwischen „unter die
Der Nato-Generalsekretär droht, Russland noch stärker zu iso- Amerikaner“ gelegt. Man müsse deswegen wohl auf jemanden
lieren, wenn es die militärische Unterstützung der Separatisten in aus der neuen Führung der EU-Kommission bauen – auf Jean-
der Ostukraine nicht stoppe. Dagegen sagt der Ungar Viktor Orbán, Claude Juncker etwa oder Chefdiplomatin Mogherini.
die Sanktionen gegen Moskau seien „ein Schuss ins eigene Knie“.

D
Der Italiener Matteo Renzi wiederum ist von Berlusconi abhängig, as ist das Bild, das sich Moskau derzeit von Europa macht.
seit er mit diesem ein Bündnis geschlossen hat – Berlusconi aber Entsprechend ist seine Politik. Die Europäer sollten die
nennt Europas Politik gegenüber Russland „lächerlich“ und „ver- USA schnellstmöglich aus der Nato jagen, hat Russlands
antwortungslos“. Und die neue Außenbeauftragte der Europäischen Duma-Vorsitzender gerade gesagt. Das war nicht nur scherzhaft
Union, Federica Mogherini, bezweifelt sogar öffentlich, Brüssels gemeint. Moskau glaubt, Europa spalten zu können. Mithilfe von
Kurs könnte dazu führen, dass „Moskau seine Politik ändern wird“. Russia Today etwa oder jenes 40-Millionen-Euro-Kredits, den
Damit nicht genug. Die deutsche Bundeskanzlerin verurteilt eine kremlnahe Bank an Marine Le Pens rechtsextremen Front
die „völkerrechtswidrige Annexion der Krim“, Tschechiens Prä- national vergeben hat. Vor allem aber sollen die Deutschen aus
sident dagegen sagt, die Krim habe „nie zur Ukraine gehört“. der Anti-Russland-Front herausgelöst werden.
Und Frankreich? Das liefert zwar seinen Hubschrauberträger In Berlin streiten das viele ab, aber es gibt Indizien dafür. Als
nicht an Russland aus, aber François Hollande hat mit dieser Steinmeier jüngst in Moskau war, spielte sein russischer Kollege
Entscheidung furchtbar lange gezögert. Sergej Lawrow immer wieder auf den Realismus der Deutschen
All diese Dissonanzen sind auch in Moskau zu vernehmen – und ihre Nähe zu Moskau an: Berlin solle sich, bitte schön, nicht
das ist ein Grund dafür, warum es auf russischer Seite bislang von Bremsern innerhalb der EU stören lassen.
wenig Bewegung in der Ukraine-Krise gibt. Und warum der deut- Er erinnerte sogar an den fast vergessenen „Meseberg-Prozess“,
sche Außenminister Frank-Walter Steinmeier jüngst aus Moskau den Angela Merkel vor vier Jahren in Gang gesetzt hatte – die
mit leeren Händen zurückkehrte. Bundesregierung wollte damals auf eigene Faust mit Russland
Der Kreml verlangt nach wie vor allein die Erfüllung seiner einen Deal über die Lösung des Transnistrien-Konflikts in der
Bedingungen. „Weil wir stärker sind … Weil wir im Recht sind“, Republik Moldau abschließen. Lawrow gab zu verstehen, ein
wie Putin vor Kurzem in einem Interview sagte: „Wenn ein Russe Durchbruch sei nur am Boykott durch den Rest der EU gescheitert
sich im Recht fühlt, ist er unbesiegbar.“ Er meint das Recht Russ- – Berlin solle also deutlicher auf direkte Kontakte mit Moskau
lands, sich zu nehmen, was ihm gebührt, und zu bestimmen, wel- setzen. In Wahrheit war es damals umgekehrt: Die Russen hatten
chen Kurs die Ukraine künftig nimmt. Russland verhalte sich in Merkels Alleingang nicht ernst genommen und waren deswegen
98 DER SPIEGEL 49 / 2014
Merkels Haltung
kann sich in Mos-
kau niemand
erklären. Politisch
werde sie das
nicht überleben.

Präsident Putin, russische Militärs am 24. November in Sotschi

zu keinem Kompromiss bereit. Was ein weiterer Beleg dafür ist, ine-Krise internationales Recht, und nicht einfach Obama folgt,
dass Europa seine Ziele nur geschlossen durchsetzen kann. hält man in Moskau offenbar nicht für möglich. Russland glaubt,
Ein zweites Beispiel für den russischen Plan, die Deutschen Europa werde nicht lange Widerstand leisten, und ist auch des-
aus dem Bündnis herauszulösen: Lawrow hat Steinmeier bei sei- halb zu keinem Kompromiss bereit. Denn es seien im Grunde
nem Besuch in Moskau geradezu hofiert und ihn dafür gelobt, nur die deutsche Kanzlerin, die Polen und die Balten, die auf
dass „Du, lieber Frank-Walter, an unserem Kontakt festhältst“. einem harten Kurs gegen Russland beharrten.
Steinmeier ließ seinerseits keinen Misston aufkommen. Dass Man muss befürchten, dass Moskau das durchaus realistisch
Russland nach wie vor Waffenlieferungen in den Osten der Ukra- sieht.
ine zulässt, sprach er auf der Pressekonferenz nicht an. Selbst

S
als Lawrow wahrheitswidrig dem Westen den Bruch des Abkom- ehen wir uns an, was in den nächsten Monaten im Osten
mens mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vorwarf, der Ukraine geschehen könnte, in jener Region, die ukra-
das Steinmeier am 21. Februar in Kiew mit unterschrieben hatte inische Separatisten, von Russland tatkräftig unterstützt, seit
– und damit dem deutschen Außenminister eine Mitschuld am acht Monaten besetzt halten. Und was das für Europa bedeutet.
„Staatsstreich“ gab –, schwieg sein Kollege. An einer Wiederaufnahme der Kämpfe ist Moskau kaum inter-
Die deutsche Regierung mag dementieren, wie sie will: Moskau essiert, aber auch nicht an einem Einfrieren des Konflikts. Denn
versteht Steinmeiers Zurückhaltung als Distanzierung von Angela damit verlöre es seinen Einfluss auf Kiew, müsste aber gleichzeitig
Merkel. Das wird nicht nur daran deutlich, dass sogar die natio- einen horrenden Preis für den Unterhalt der „Volksrepubliken“
nalpatriotische Moskauer Boulevardpresse Steinmeier nun eifrig von Donezk und Luhansk zahlen.
zitiert und gleich daneben voller Genugtuung über „Risse“ in Russland ist vielmehr darauf aus, die Rebellengebiete mit
der deutschen Regierungskoalition schreibt. einem Sonderstatus in eine föderalisierte Ukraine einzubinden
Nein, zum Lob für Steinmeier gesellen sich zunehmend auch und das in einer neuen Verfassung zu zementieren. Dann würde
böse Bemerkungen über die Kanzlerin, deren harte Haltung sich ein ukrainisches Bosnien entstehen – aus den russisch dominierten
in Moskau offenbar niemand erklären kann. Ostregionen und dem Kiew unterstehenden Rest der Ukraine.
Merkels harsche Sydney-Rede hatten die russischen Medien Beide Gebiete sollen dann, so Moskaus Plan, selbst darüber ent-
noch ignoriert. Hätte Obama von einer „völkerrechtswidrigen scheiden, mit welchem Bündnis sie künftig verkehren. Eine Mit-
Annexion der Krim“ gesprochen, davon, dass Putin die Friedens- gliedschaft des Landes in Nato oder EU wäre damit vom Tisch
ordnung in Europa gefährde und ein Flächenbrand drohe – die und Moskau würde in Kiew praktisch mitregieren. Dieser Plan
vom Kreml gelenkten Medien hätten einen Sturm der Entrüstung habe dazu geführt, dass Putin das Minsker Friedensabkommen
entfacht. Bei Merkel jedoch schwiegen sie. Erst als die Kanzlerin nicht wirklich umsetzen will, sagen unabhängige russische Beob-
ihre Kritik an Putin Mittwoch vergangener Woche im Bundestag achter – denn mit diesem würde die Souveränität der Ukraine
wiederholte, änderte sich das. Nun schießen Verschwörungstheo- über den Osten des Landes wiederhergestellt.
rien ins Kraut. Vor allem jene, wonach Merkel Washington be- Was wird Europa dem entgegensetzen? Vermutlich nichts.
dingungslos gefällig sein müsse, weil die Amerikaner geheime Frank-Walter Steinmeier drängt erst einmal auf einen vollständi-
Dokumente im Panzerschrank hätten – über eine Stasi-Ver- gen Waffenstillstand im Osten. Und dann? Moskau wird weiter
FOTO: ALEXEI DRUZHININ / AP / DPA

strickung Merkels zu Zeiten der DDR. So etwas zu behaupten darauf bestehen, dass Kiew direkt mit den Rebellen verhandelt
hatte Moskaus Presse bislang nicht gewagt. Die russische Regie- und sie damit peu à peu anerkennt.
rungszeitung sagt sogar das Irgendwann wird Europa – wie vermutlich auch bei der Krim
Ende der Merkel-Ära voraus. Videoreportage: – einlenken und seinen Segen geben. Nur damit am Rande
Dass die Kanzlerin selbst Ein Jahr im Krieg Europas wieder Frieden einkehrt. Damit wäre Putin doch noch
zutiefst davon überzeugt ist, spiegel.de/sp492014ukraine am Ziel und würde vielleicht auch anderswo zündeln. Und all
Russland breche in der Ukra- oder in der App DER SPIEGEL die Sanktionen wären vergebens gewesen. I

DER SPIEGEL 49 / 2014 99


Der 390-Euro-Mann
Sklaverei Mehr als 16 Jahre lang arbeitete Hanif
Masih als Leibeigener in einer Ziegelbrennerei in
Pakistan – bis eine Hilfsorganisation ihn freikaufte.
Weltweit leben fast 36 Millionen Menschen unter
ähnlichen Bedingungen. Von Hasnain Kazim

Ehemaliger Sklave Masih in seinem neuen Zuhause in Fatepur

A
n dem Tag, an dem Hanif Masih, schenrechner. „Und? Hast du das Geld da- täter, danach geht er, ohne ein Wort zu sa-
28 Jahre alt, nach einem halben Le- bei?“, fragt er. gen, hinüber zur Unterkunft, wo er bisher
ben aufhört, ein Sklave zu sein, hat Kamran nickt. Er ist ein kleiner, dünner mit seiner Frau und den beiden Kindern
er seine Haare mit Olivenöl eingerieben. Mann, Ende dreißig, mit sich lichtendem lebte. Stumm weinend umarmt sie ihn. Sie
Der Scheitel soll halten, er will gut ausse- Haar. Aus seiner Aktentasche kramt er ein packen ihre Sachen und gehen hinunter
hen an seinem großen Tag. paar Papiere und ein Geldbündel hervor: zur Straße, verabschieden sich von ihren
Er steht auf einem Platz vor der Ziegel- 50 Tausend-Rupien-Scheine, umgerechnet Gefährten, die in Leibeigenschaft bleiben
brennerei, in der er in all den Jahren gear- knapp 390 Euro, ordentlich zusammenge- müssen. „Ich werde nie hierher zurück-
beitet hat. Im Hintergrund ist der gewaltige halten von einem Gummiband. kehren“, sagt Masih. Er besteigt mit seiner
Schornstein zu sehen. Es ist eine fußball- Kamran ist der Gründer einer kleinen Familie eine Rikscha. Sie sind jetzt freie
feldgroße Anlage in Kasur, einer pakista- christlichen Hilfsorganisation in Lahore. Menschen.
nischen Stadt nahe der Grenze zu Indien, „Vast Vision“ hat er sie genannt, „Großer Kamran hat die Familie einem Groß-
etwa 50 Kilometer südlich von Lahore. Weitblick“. Er hat es sich zur Aufgabe ge- grundbesitzer und einflussreichen Regio-
Hanif Masih sieht zu, wie zwei Männer macht, Sklaven mit Spendengeldern frei- nalpolitiker namens Nadeem Arun Khan
ein Geschäft abschließen, das sein Leben zukaufen, die Schulden zu begleichen, die abgekauft. Khan ist der Besitzer der Zie-
verändern wird. Sie sitzen auf Plastik- sie in Knechtschaft halten. Und er hat Ma- gelbrennerei. Ihm gehört damit auch die
stühlen an einem Tisch. Ein Stuhl ist noch sih ausgewählt, weil er glaubt, dass er zu Familie Masih. Oder besser: gehörte.
frei, aber Masih steht stumm daneben, wie denen gehört, die es in Freiheit schaffen Hanif Masih war bis zu diesem Tag einer
ein Unbeteiligter. Niemals würde er es wa- können. von schätzungsweise 35,8 Millionen Men-
gen, sich hinzusetzen. Er hat gelernt, wo Masih steht hinter den beiden und be- schen weltweit, die dem jüngsten „Global
sein Platz ist. wegt sich nicht, er ist fast unsichtbar. Ver- Slavery Index“ zufolge als Sklaven leben
Der eine Mann ist Yunus Fauji, der Ma- loren wirkt er in seiner zu großen Klei- – ohne Rechte, ohne die Freiheit, über den
nager der Fabrik, deren Eigentum Masih dung, vielleicht auch nur, weil sein Körper eigenen Aufenthaltsort zu bestimmen, mit
ist, zu der er gehört wie der Brennofen so ausgezehrt ist. Seine Zähne sind rot Gewalt zu körperlich harter Arbeit ohne
FOTO: DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

oder die Schubkarren. Der andere Mann vom Betelnusskauen. Er sieht still zu, wie angemessene Bezahlung gezwungen. Fa-
heißt Shahzad Kamran, und er ist heute Kamran noch einmal das Geld nachzählt. brikanten, Landbesitzer und Geschäftsleu-
hier, um ihn freizukaufen. Wie er den Stapel zu Fauji schiebt, der te machen Profit, indem sie über ihr Leben
Fauji, der Manager, Dreitagebart, schmut- ebenfalls nachzählt, die Scheine in der Mit- bestimmen, sie als Waldarbeiter im Ama-
zige Klamotten, eine Wollmütze auf dem te faltet, in die Hosentasche steckt und zonas schuften lassen, als Erntehelfer auf
Kopf, schnippt mit den Fingern, schon tra- murmelt: „In Ordnung“. afrikanischen Plantagen, als Bauarbeiter
gen seine Diener die Ordner herbei, in Als Fauji das Geld wegsteckt, hat Masih in Arabien, als Hilfskräfte auf thailändi-
denen Buch geführt wurde, einen Quit- Tränen in den geröteten Augen. Er lässt schen Fischerbooten oder als Zwangspros-
tungsblock, Lineal, Stift und einen Ta- sich von Kamran umarmen, seinem Wohl- tituierte überall auf der Welt.
100 DER SPIEGEL 49 / 2014
Ausland

Sklaverei, ein längst überwunden ge- in den Brennkammern; einen Tag später Dann kam das erste Kind, ein Mädchen.
glaubtes Phänomen, ist in nahezu jedem wurden die rot gebrannten Steine mit Es war eine schwere Geburt, ein Kaiser-
Land der Erde zu finden. Verändert hat Schubkarren zur Auslieferung gebracht. schnitt musste gemacht werden. In Pakistan
sich lediglich der Preis: Kostete ein Sklave „Wenn ein, zwei Kinder mitarbeiten, ver- ist kaum jemand krankenversichert, das
in vergangenen Jahrhunderten bisweilen dient man im Schnitt 3000 Rupien in der Krankenhaus verlangte 30 000 Rupien, rund
den Gegenwert von 4000 Dollar und mehr, Woche“, umgerechnet knapp 24 Euro, „je 230 Euro. Wieder musste Masih Khan um
werden Menschen heute in Ländern wie nachdem, wie viele Ziegel wir machen“, Geld bitten. Auch das zweite Kind, diesmal
Indien oder Pakistan schon für 30 oder 40 sagt Masih. „1000 Rupien werden wöchent- ein Sohn, musste per Kaiserschnitt auf die
Dollar verkauft, so die Autoren des Skla- lich für den Kredit abgezogen. Im Monat Welt geholt werden, wieder verschuldete
vereiberichts. bleiben also 8000 Rupien. Das reicht, um Masih sich. „Ich dachte, ich komme eh nie
Pakistan ist nach Indien und China das die Familie mit Fladenbrot und Linsen zu wieder frei, also kann ich auch Schulden
Land mit den meisten Menschen, die unter versorgen.“ Gemüse gebe es selten, Fleisch machen.“
sklavenähnlichen Bedingungen leben. Die nur an Feiertagen, vielleicht zweimal im Warum lief er nicht einfach davon? Ma-
meisten der über zwei Millionen arbeiten Jahr. „Wenn jemand krank wird und Me- sih lacht. „Ich musste doch meine Schulden
wie Masih in Ziegelbrennereien, andere als dikamente oder einen Arzt braucht, muss zurückzahlen!“ Er klingt wie einer, der
Landarbeiter, in Fabriken oder als Hausan- man wieder Schulden machen. Fällt je- nichts anderes hat als seine Ehre, und we-
gestellte. Der vermeintliche Deal: Schutz mand bei der Arbeit aus, gibt es keinen nigstens die will er nicht verlieren, indem
vor Hunger und Obdachlosigkeit gegen Lohn.“ er nicht Wort hält. Aber aus seinen Worten
Aufgabe der persönlichen Freiheit. Die Schulden wurden nicht geringer, hört man auch die Resignation und die
An dem Dezembertag vor einem Jahr, sondern wuchsen, durch Wucherzinsen, Angst eines Menschen, der es gewohnt ist,
an dem Masih freigekommen ist, sitzt er durch gefälschte Buchhaltung, durch neue ganz unten zu stehen in der Hierarchie.
auf einer Pritsche im Haus seiner Eltern, Kleinkredite für unerwartete Ausgaben. „Abhauen hätte eh nichts genützt“, sagt
im Dorf Fatepur, außerhalb von Lahore, Die Jahre verstrichen, Masih wurde er- Masih. „Die haben ihre Trupps, die hätten
die Fahrt mit der Rikscha hat eine halbe wachsen. Weil er versprach, alle Schulden uns gesucht, zurückgeschleppt, eingesperrt
Stunde gedauert. Bei diesem und weiteren abzuarbeiten, ließ man seine inzwischen und verprügelt.“ Viele Brennereibesitzer
Gesprächen im Verlauf des nächsten Jah- betagten Eltern frei. Sklaven brachten in handelten auch mit Sklaven, und unbelieb-
res erzählt er die Geschichte seines Lebens. der Brennerei Kinder zur Welt, Sklaven te Arbeiter verkaufe man besonders gern.
Das Haus seiner Eltern war der Grund, starben in der Brennerei. „Manchmal in weit entfernte Regionen. Da
dass er damals in Leibeigenschaft geriet. Masih stand barfuß im kalten Schlamm wäre ich dann nie mehr nach Hause ge-
Er war ein zwölfjähriger Junge, 16 Jahre und in der Hitze des Ofens, Jahr für Jahr. kommen.“
ist das her, als seine Eltern sich von Khan, Eine Schule besuchte er nie. Von der Welt In vielen Ziegelbrennereien in Pakistan
dem Fabrikbesitzer, 35 000 Rupien liehen, sah er nur die Ziegelfabrik in Kasur und erzählt man sich auch Horrorgeschichten
heute umgerechnet 275 Euro. Sie wollten das Dorf, in dem seine Eltern das Haus ge- von aufmüpfigen oder kranken Arbeitern,
damit und mit ihren kärglichen Ersparnis- baut hatten. Er war nie in der Hauptstadt die bei lebendigem Leib in die Brennkam-
sen ein Stück Land kaufen und ein Haus Islamabad, nie in der Metropole Karatschi, mern geworfen wurden. Ähnliche Ge-
mit zwei Zimmern bauen. nicht einmal im nahe gelegenen Lahore. schichten gibt es auch aus den Fabriken
Khan gab ihnen das Geld, verlangte Mit 22 lernte Masih, als die Ziegelfabrik von Unternehmer Khan. „Da bleibt keine
aber, dass die Masihs so lange in der Zie- wegen des Monsuns geschlossen hatte, ein Spur übrig“, sagt einer. Vergewaltigungen
gelbrennerei leben und arbeiten müssten, Mädchen kennen: Rebekka. Die beiden hei- seien „völlig normal“.
bis sie ihre Schulden beglichen hätten. rateten, und da die Verwandtschaft und Dabei ist Sklaverei in Pakistan verboten.
„Meine Eltern willigten ein, was sollten sie das Dorf ein Fest und gutes Essen erwarte- Die Verfassung ächtet Sklaverei und
machen?“, sagt Masih. „Sie dachten, sie te, nahm er bei Khan einen Kredit auf, Zwangsarbeit. Schuldknechtschaft, also je-
könnten das in ein, zwei Jahren zurück- 20 000 Rupien, umgerechnet gut 150 Euro. mandem Geld zu leihen und ihn anschlie-
zahlen.“
Die Familie zog in die Arbeiterunter-
kunft auf dem Fabrikgelände: eine Lehm-
hütte, in der rund 50 Menschen hausen,
darin ein einziger Raum für die gesamte
Familie, so groß wie eine Pferdebox. An
der Wand ein Bettgestell, viel zu eng für
zwei Erwachsene, Masih und seine vier
Brüder. Das Grundstück durften sie nur
mit Genehmigung des Fabrikchefs verlas-
sen. Einen Tag pro Woche bekamen sie
frei, außerdem zwei Monate im Sommer
zur Monsunzeit, wenn der Betrieb wegen
der starken Regenfälle stillgelegt wurde.
Frei zu haben bedeutete: keine Bezahlung.
FOTO: DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

Dabei arbeiteten die Masihs hart: Um


drei Uhr morgens standen sie auf, wenn
es noch nicht unerträglich heiß war; Frau-
en und Kinder, manche erst drei Jahre alt,
kneteten aus Lehm, Erde, Salz und Wasser
die graue Masse, aus denen die Ziegel in
Holzformen gepresst wurden; nach 24
Stunden Trockenzeit karrten die Männer
die Rohlinge zum Ofen und stapelten sie Arbeiter in der Ziegelbrennerei in Kasur: Um drei Uhr morgens aufstehen

DER SPIEGEL 49 / 2014 101


Ausland

vestiert werden müsste – kaum realistische


Vorhaben in einem Land, das seit Jah-
ren von Terror erschüttert wird, unter Kor-
ruption leidet und dessen Wirtschaft
schwach ist.
Darum wirken Versprechen von Politi-
kern, etwas gegen die Sklaverei zu tun,
wie Lippenbekenntnisse. In der Provinz
Punjab, wo es etwa 5000 Ziegelbrennerei-
en gibt, kündigt der Regierungschef härte-
re Gesetze gegen Kinderarbeit an, außer-
dem soll der Mindestlohn in den Brenne-
reien stärker durchgesetzt werden. Immer
wieder tauchen auch Pläne auf, alle Skla-
ven in der Provinz mit Steuergeldern frei-
zukaufen. Aber es bleibt bei den Ankün-
digungen, etwas gegen Sklaverei und Aus-
beutung zu tun, seit Jahrzehnten schon.
Drei Monate nach seiner Rettung schlägt
Masih sich in seinem Heimatdorf Fatepur
Erntehelfer Masih bei der Feldarbeit: „Wir brauchen nicht viel, um glücklich zu sein“ als Tee- und Joghurtverkäufer durch und
hilft den benachbarten Bauern bei der Kar-
ßend zu verpflichten, am Arbeitsort zu le- kaufe nur Familien frei, keine Einzelper- toffelernte. Unförmige Kartoffeln darf er
ben und die Schulden abzuarbeiten, ist ge- sonen. „Außerdem müssen sie gewillt sein, mitnehmen, seine Frau frittiert sie dann
setzlich untersagt. ihre Kinder in die Schule zu schicken, und auf der Flamme eines brennenden Kuhfla-
Zu einer Anzeige, gar zu einer Verur- eine Bleibe haben, wenn sie wieder in Frei- dens zu Chips. „Viel Geld haben wir nicht“,
teilung wegen Sklaverei ist es fast nie ge- heit sind, damit sie nicht auf der Straße sagt er.
kommen, auch nicht wegen sexuellen Miss- landen.“ Er sitzt in dem neun Quadratmeter gro-
brauchs oder Mordes an Arbeitern. Denn Er wurde auf Masih und seine Familie ßen Zimmer, in dem er mit seiner Familie
diejenigen, die Sklaven beschäftigen, sind aufmerksam, weil seine Organisation auch lebt. Seine Eltern haben es an ihr Haus an-
die Mächtigen selbst, Menschen wie Khan. Lese- und Schreibunterricht für die Kinder bauen lassen. Viel mehr Platz als in der
Und die stehen in Pakistan meist über dem von Sklaven finanziert. Er bezahlt Lehre- Ziegelbrennerei haben sie hier nicht.
Gesetz. Pakistan ist immer noch eine Feu- rinnen, die ihnen Geschichten vorlesen „Aber die Freiheit, zu tun und zu lassen,
dalgesellschaft, Reichtum basiert in vielen und mit ihnen malen. Auch Masihs Kinder was ich will, ist unbezahlbar.“ Er ist dann
Fällen auf Ausbeutung. Und die Polizei besuchten einen solchen Unterricht, und doch einmal wieder zur Ziegelfabrik zu-
kassiert Schmiergelder und schaut weg. Kamran lernte die Familie kennen. Ihr rückgefahren, weil er seine Freunde ver-
„Unsere Mitarbeiter haben ein gutes Le- Schicksal berührte ihn: ein Sklave in zwei- misste.
ben bei uns“, sagt Khan, der Fabrikbesit- ter Generation mit intelligenten Kindern, Schulden darf er keine mehr machen,
zer. „Sie haben nichts auszustehen, bekom- denen ebenfalls ein Leben als Leibeigene sich nicht wieder versklaven lassen. Das
men Essen und ein Dach über dem Kopf.“ bevorstand. musste er Shahzad Kamran, seinem Wohl-
Es spricht nur wenige Sätze am Telefon, „Die Auswahl ist nie leicht, weil natür- täter, vertraglich zusichern. Andernfalls
mit einem Journalisten will er sich nicht lich alle hoffen, dass ihnen geholfen wird“, will dieser sein Geld zurückfordern.
treffen. Ob er Sklaven halte? „Nein, sie sagt Kamran. „Aber ich kann nicht alle „Wir brauchen nicht viel, um glücklich
haben Schulden gemacht und arbeiten die freikaufen.“ zu sein“, sagt Masih. Seine Tochter, bald
jetzt ab. Jeder, der will, kann das in ein Er sagt, er sei von Nächstenliebe ge- fünf Jahre, geht in die Dorfschule, der drei-
paar Monaten zurückzahlen. Man darf trieben, vom Willen zu helfen. Als Christ jährige Sohn spielt zu Hause mit Spielzeug
eben nicht faul sein.“ Bei weiteren Anru- wolle er Gott gefallen. Aber auch die An- aus Stöcken und Blechdosen. „Nur krank
fen legt er gleich auf. Aus seiner Sicht ist erkennung von Mitmenschen tut ihm werden darf niemand. Dann müssen wir
alles gesagt. Masih hat ihn in all den Jah- sichtlich gut: In seinem Büro hat er Artikel auch keine Schulden machen.“
ren, in denen er für ihn gearbeitet hat, pakistanischer Zeitungen aufgehängt, die An einer Wand hängt ein Hochzeitsbild,
nicht zu Gesicht bekommen. über ihn berichtet haben. „Pressearbeit an einer anderen ein Poster von Kate Wins-
Khans Worte sind eine hübsche Verpa- ist wichtig“, sagt er, „nur so finde ich neue let, kürzlich hat er erstmals den Film „Ti-
ckung für einen hässlichen Umstand. Das Spender, um Menschen helfen zu kön- tanic“ gesehen. In diesen Tagen schläft Ma-
Verleihen von Geld ist ein Vorwand, um nen.“ Er selbst kommt nicht aus wohl- sih viel, genießt es, dass ihn niemand
Menschen zu versklaven. Auf den ersten habenden Verhältnissen. Die Reichen in weckt, mit ihm schimpft, zur Arbeit drängt.
Blick ist Sklaverei nicht mehr erkennbar, jetzt Pakistan, Großgrundbesitzer und Industri- Das war immer sein Traum von der Frei-
geht es um die Rückzahlung eines Kredits. elle, helfen ihm, dem Christen, kaum. Da- heit: schlafen zu können, solange er will.
Doch wenn der gar nicht wirklich rück- her versucht er, per E-Mail Kontakte zu Wenn er wach daliegt und auf die Wän-
FOTO: DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

zahlbar ist, wie kommt ein Mensch da wie- christlichen Organisationen in Amerika de starrt, überlegt er sich, dass er sie ver-
der raus? Eigentlich nur, indem jemand an- und Europa zu knüpfen. Seine Arbeit putzen will, damit er die Ziegelsteine nicht
derer einen freikauft. So wie Shahzad finanziert er durch Spenden dieser christ- mehr sehen muss, wenigstens nicht von in-
Kamran, der Mann, der Masih befreite. Er lichen Gemeinden. nen, in seinem Zimmer.
sitzt in seinem Büro in Lahore und sagt, Und Kamran weiß, dass in Pakistan ge-
er habe insgesamt schon 20 Familien mit- sellschaftliche Strukturen verändert wer- Animation: Wo Menschen
hilfe von Spendengeldern geholfen. den müssten, das System der Feudalherr- in Sklaverei leben
„Ich achte darauf, nur denen zu helfen, schaft durchbrochen, ein Gesundheits- und spiegel.de/sp492014sklaverei
die eine gute Prognose haben“, sagt er. Er Sozialsystem geschaffen, in Bildung in- oder in der App DER SPIEGEL

102 DER SPIEGEL 49 / 2014


Ausland

I E RI SSO S Die Hügellandschaft ist seit der Antike für ihren Reichtum an
Rohstoffen bekannt, vor allem Kupfer, Zink, Blei, Silber und
eben Gold. Mindestens 250 Tonnen Gold werden hier vermutet,
mit der jährlichen Fördermenge könnte Finnland vom ersten
Platz der Goldproduzenten in Europa verdrängt werden.
Für Irini und ihre Freundinnen bedeutet das aber auch ei-
nen Spitzenplatz beim Krebsrisiko für sich und ihre Kinder:
Das Dorf, das alles teilt tonnenweise Staub in der Luft, Staub in den Lungen, mit
Schwermetallen belastetes Gemüse, Gifte wie Cyanid im Grund-
Global Village Wie der Kampf gegen wasser und verseuchte Badestrände. „Wir werden nicht zu-
lassen, dass die nach Gold graben, mit unserem Blut an den
eine kanadische Goldmine das Leben in einem Fingern“, sagt sie.
Badeort auf Chalkidiki verändert Und sie haben gute Argumente: Nur 0,43 Gramm Gold pro
Tonne Erz seien hier zu gewinnen, sagen Wissenschaftler wie
Ioannis Verginis, das sei viel zu viel Schmutz für viel zu wenig

I
rini Markou, 67 Jahre alt und Oma zweier Enkel, erzählt, Ertrag. Der Diplommineraloge kam nach seinem Studium in
wie der Staat sie zur Anführerin einer kriminellen Bande Deutschland im Jahr 2000 zurück nach Ierissos. Er wollte dort
machte. Eine Terroristin sei sie, behauptet die Polizei, sogar eigentlich im Bergbau arbeiten, bis er die Pläne eingesehen
dass sie mit Waffen den Widerstand gegen die Staatsgewalt hatte. „Das Projekt ist viel zu groß für so eine kleine Insel“,
organisiere. sagt Verginis, jetzt verkauft er Handys.
Alles „Lügen und Unterstellungen“, sagt Markou, sie sitzt Zwischen 1200 und 2000 Arbeitsplätze soll die Goldmine
in Jeans und mit knallrot lackierten Fingernägeln neben dem schaffen. „Aber niemand fragt, wie viele dafür verloren gehen“,
Kamin des kleinen Hotels, das sie in Ierissos in Strandnähe sagt Irini Markou. Immerhin bis zu 15 000 Menschen seien im
betreibt. Angezeigt wurde sie vom eigenen Bürgermeister, sie Tourismus der beliebten Badeorte beschäftigt.
und 400 weitere Einwohner des Dorfes, darunter viele Frauen. Der Kampf um das Gold hat das Leben in Ierissos verändert.
„Unser ganzes Leben hat sich verändert“, sagt sie, „es ist furcht- „Wir halten nun stärker zusammen“, sagt Verginis, das gelte
für den ganzen Ort mit seinen gut 3000 Einwoh-
nern. Und das nicht nur, weil rund 95 Prozent der
Bewohner gegen den Bergbau seien. Es gibt auf
einmal so etwas wie einen Gemeinsinn, bislang in
Griechenland ein Fremdwort – dabei wäre genau
das wohl der wichtigste Grundstein für die über-
fällige Erneuerung des Landes.
Das neue Gefühl der Zusammengehörigkeit
macht sich in vielen Bereichen bemerkbar: Kinder
werden auf einmal gemeinsam betreut, Hausaufga-
benhilfen organisiert. Als der alte Kindergarten sa-
niert werden musste, das Dach erneuert, als Wasch-
räume, Toiletten und Schlafzimmer modernisiert
werden mussten, boten die Kanadier an, die Kosten
zu tragen. Die Dorfgemeinschaft verzichtete dan-
kend und griff selbst zu Schaufel und Mörteleimer.
Für Bedürftige werden Lebensmittel und Medi-
kamente gesammelt. Als krisengeschädigte Bewoh-
ner ihren Strom nicht mehr bezahlen konnten, legte
die Gemeinschaft zusammen. „Das Dorf, das ge-
Umweltaktivistin Markou: „Es geht um unser Leben“ lernt hat, alles zu teilen“, schrieb eine Zeitung über
Ierissos. Es klingt ein wenig wie im Märchen.
bar, wie wir vom Staat behandelt werden.“ Und das alles nur, Auch Anwalts- und Gerichtskosten werden gemeinsam ge-
weil sie ein Vorzeigeprojekt der Regierung bekämpfen: Sie tragen. „Wir Frauen sind dafür von Tür zu Tür gegangen und
wehren sich gegen eine geplante Goldmine, demonstrieren, haben eingesammelt, was jeder geben kann. Ohne uns hätte
blockieren am Baugelände die Einfahrtsstraßen für Lkw. es nicht funktioniert“, erzählt Markou.
Denn im bergigen Hinterland von Chalkidiki im Norden Einen ersten Erfolg konnten die Dörfler bereits verbuchen.
Griechenlands, dort, wo Aristoteles zu Hause war, will Premier Seit Anfang September haben sie nun einen neuen Bürger-
Antonis Samaras zeigen, dass er sehr wohl in der Lage ist, mil- meister, einen der Ihren. Der alte muss sich gegen Korrup-
liardenschwere ausländische Investoren in sein Krisenland zu tionsvorwürfe wehren. Gemeinsam hatten sie zuvor die etab-
holen. „An die Menschen hat dabei niemand gedacht“, sagt lierten Parteien überzeugt, besser keine eigenen Kandidaten
Markou, „denen geht es um ihr Geld, uns um unser Leben.“ ins Rennen zu schicken.
Seit 25 Jahren ist sie Vorsitzende des Vereins „Freunde für Der neue Bürgermeister bot gleich nach Amtsantritt an, die
Umweltschutz“. Solange sie sich vor allem um saubere Strände Anzeigen gegen die Bewohner zurückzuziehen. Aber sie ver-
und aufgeräumte Gehwege kümmerte, störte das niemanden. zichteten. „Wir wollen die Lügen enttarnen“, sagt Irini Markou,
FOTO: NIKOS PILOS / DER SPIEGEL

Dann aber bekam der Bergbaukonzern Eldorado Gold die „wir wollen die Wahrheit über die Risiken des Goldabbaus ans
Schürfrechte: Spätestens 2016 wollen die Kanadier mit der För- Licht bringen.“ Dann muss sie los, zum nächsten Treffen, eine
derung beginnen, schon jetzt werden massenweise Bäume ge- Sammlung von Weihnachtsgaben mitorganisieren: Auch die
fällt und Berghänge planiert. Die Anwohner laufen dagegen Adventszeit ist nun anders in dem Dorf, das alles teilt.
Sturm, „die Frauen immer in der ersten Reihe“, so Markou. Manfred Ertel

104 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wissenschaft+Technik
die Muttermilch Schmerzmit-
tel aufnimmt. Doch es gibt
schonende Methoden, die das
Kind nicht beeinträchtigen.
Man kann nach der OP ein
lokales Betäubungsmittel im
Wundbereich spritzen. Das
kostet nicht viel, ist aber sehr
effektiv. Und wenn das nicht
ausreicht: Es gibt auch be-
stimmte Schmerzmittel, die,
gering und kurzfristig dosiert,
unbedenklich sind fürs Kind.
SPIEGEL: Sicher haben auch
die Mütter Angst, sie könnten
dem Baby schaden.
Meißner: Wie gesagt: Diese
Ängste kann man ihnen neh-
men. Interessant ist: Frauen,
die nach einem Kaiserschnitt
Entbindung durch Kaiserschnitt eine Pumpe bekommen,
über die sie sich selbst kleine
Mengen an Schmerzmitteln
Medizin einem Kaiserschnitt nicht aus- geben können, verabreichen
reichend geholfen? sich genauso viel wie Frauen
„Unnötige Qual“ Meißner: Kaiserschnitte zählen nach vergleichbaren gynäko-
Professor Winfried zu den schmerzhaftesten chi- logischen Eingriffen. Werden
Meißner, 52, Leiter rurgischen Eingriffen. Kann sie durch das medizinische
des Fachbereichs eine Frau nach der OP wegen Personal versorgt, erhalten
Schmerztherapie starker Schmerzen kaum auf- sie diese Mittel kaum. Das
an der Uni-Klinik stehen, macht ihr zusätzlich ist ein ziemlich eindeutiger
Jena, koordiniert noch zu schaffen, sich nicht Hinweis auf ein Versorgungs-
das „Pain Out“- genug um ihr Baby kümmern defizit.
Projekt, das die zu können. Dennoch werden SPIEGEL: Wie lässt sich das be-
Schmerzbehand- nach Kaiserschnitten die heben?
lung nach Operationen ver- Schmerzmittel viel geringer Meißner: Man muss die Frau-
bessern soll. Vor allem in der dosiert als bei vergleichbaren en selbst entscheiden lassen,
Betreuung nach Kaiserschnit- gynäkologischen Eingriffen. was sie wollen. Natürlich erst
ten sieht Meißner großen Hand- Das ist eine unnötige Qual. nach einer sorgfältigen Auf-
lungsbedarf. SPIEGEL: Wieso sind die Ärzte klärung über Wirkungen und
so zurückhaltend? Nebenwirkungen. Es lohnt
SPIEGEL: Professor Meißner, Meißner: Ein Grund ist sicher sich, miteinander zu spre-
Fußnote

18%
inwiefern wird Frauen nach die Sorge, dass das Baby über chen. kk

FOTOS: AMELIE-BEIST / PICTURE ALLIANCE / BSIP / DPA (O.); TOM FIGIEL (M.); JONATHAN BLAIR / CORBIS (U.)
Urgeschichte
Kein Mammut für den Hund
Aus den Knochen von Wölfen und Hunden, die in der Ausgrabungsstelle einer 30 000 Jahre al- höher ist die Wahrscheinlich-
ten menschlichen Siedlung nahe dem tschechischen Brünn gefunden wurden, lassen sich Rück- keit, dass Kunden online
schlüsse auf deren Zusammenleben mit dem Menschen ziehen. So fanden Geowissenschaftler Produkte kaufen, wenn diese
der Universität Tübingen gemeinsam mit von anderen Kunden empfoh-
tschechischen Forschern heraus, dass sich Wollhaarmammut len werden. Das gilt zumin-
die Jäger und Sammler der Siedlung vor dest für die sogenannten lust-
allem von Mammutfleisch ernährten. Aus orientierten Einkäufe, die
den Knochenresten der Hunde geht aller- nachmittags, abends und am
dings hervor, dass sie lediglich das weniger Wochenende getätigt werden,
schmackhafte Rentierfleisch verzehrten. wie Wirtschaftsinformatiker
Für die Forscher ist das ein Hinweis darauf, der Gutenberg-Universität
dass die Tiere bei den Menschen gehalten Mainz in einer Studie heraus-
wurden, aber nicht deren Essensreste gefunden haben. Bei zielge-
fraßen, sondern eine eigene Kost erhielten. richteten Einkäufen hingegen
Die Forscher schließen daraus, dass die spielt es offenbar kaum eine
Hunde zahm waren und als Transporttiere Rolle, was andere Nutzer von
eingesetzt wurden. kk dem Produkt halten.

106 DER SPIEGEL 49 / 2014


Tanz über dem Meer
Gleich zwei Wasserhosen haben sich während eines
Sturms in diesem November vor der ligurischen Küste
gebildet und fegen scheinbar eng umschlungen
über das Wasser. Solche Tornados können entstehen,
wenn kühle Luft aus der Höhe auf wärmere Luft
über der Wasseroberfläche trifft. Dann bildet sich
ein schlauchförmiger Wirbel.

Verhütung

Im Sinne der Frauen


J edes Jahr verschreiben Ärzte in Deutschland rund 400 000-mal
die „Pille danach“. Bei einem Unfall in der Verhütung oder
nach einer Vergewaltigung kann das Mittel eine ungewollte
und Gomorrha. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi-
zinprodukte empfiehlt bereits seit 2003, den Wirkstoff auch in
Deutschland rezeptfrei zu vergeben. Nichts ist seither geschehen.
Schwangerschaft verhindern. Es ist keine Abtreibungspille, son- Nun plötzlich beugt sich Gröhe dem Druck aus der EU: Vor-
dern eine, die den Eisprung verhindert. Jahr für Jahr sitzen also vergangene Woche empfahl die europäische Arzneimittelbehör-
rund 400 000 Frauen in Frauenarztpraxen oder Notfallambulan- de, ein zweites Präparat mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat frei-
zen und bitten um diese Pille. Man könnte auch sagen: betteln. zugeben. Gröhe kündigte an: Wenn die Beratung künftig „nicht
So zeigt eine Umfrage von Pro Familia, dass sich jede dritte mehr zwingend durch einen Arzt vorgenommen werden muss,
Befragte vom Arzt abschätzig, respektlos oder gar herablassend ist eine intensive Beratung auch in den Apotheken der richtige
FOTO: NICOLA FERRARESE / BARCROFT MEDIA / BULLS

behandelt fühlt. In den Beratungsstellen klagen die Frauen da- Weg“. Über Nacht scheint für den Gesundheitsminister richtig
rüber, moralisch abgewertet zu werden, wenn sie sich um das Re- geworden zu sein, was gestern noch falsch war.
zept bemühen. Ein entwürdigender Zustand, der seit Jahren be- Man könnte sagen: Schwamm drüber, endlich wird im Sinne
mängelt wird. Doch seit seinem Amtsantritt 2013 wehrte sich Ge- der Frauen gehandelt. Wenn es nicht so bitter wäre, dass Frauen
sundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) dagegen – wie schon in Notlage lange Zeit der schnelle und unkomplizierte Zugang
seine Vorgänger –, das Verfahren zu ändern. Der Eindruck ist, zum Präparat mit einem Wirkstoff verwehrt wurde, mit dem der
dass die Politik damit das Signal aussenden will: Strafe muss sein. Rest Europas über viele Jahre gute Erfahrungen gemacht hat.
Frauen müssen sich schämen. Eine deutsche Besonderheit: In 28 Und das, obwohl man weiß, wie wichtig es für ihre Wirksamkeit
europäischen Ländern ist ein solches Prozedere nicht nötig. Dort ist, dass die „Pille danach“ schnell eingenommen wird. Das zeigt,
ist die „Pille danach“ mit dem Wirkstoff Levonorgestrel rezept- dass es dem Gesundheitsminister nie um das ging, was im Zen-
frei erhältlich. In keinem dieser Länder geht es zu wie in Sodom trum stehen sollte: die Gesundheit der Frauen. Kerstin Kullmann

DER SPIEGEL 49 / 2014 107


Wissenschaft

„Die Liste der Tuberkulose


9,0 Mio. Erkrankte und 1,5 Mio. Tote

Killer ist lang“


2013:
Opfer der Multiresistenten Tuberkulose:
450 000 Fälle, 170 000 Tote.
Ein Drittel der Weltbevölkerung hat eine „latente“
Tuberkulose, ist also Träger des Bakteriums, ohne
SPIEGEL-Gespräch Der britische Mediziner Jeremy Farrar, aktuell symptomatisch zu sein.

eine Schlüsselfigur im Kampf gegen Infektionskrankheiten,


erklärt, mit welchen Seuchen die Menschheit zu
rechnen hat – und wie sie besiegt werden können. Quellen: WHO, CDC, Nature

nicht glauben würde, dass der Wellcome


Trust helfen kann, die Welt zu verändern.
SPIEGEL: Derzeit stecken Sie ungefähr
15 Millionen Euro in Ebola-Projekte, rund
5 Millionen davon in die Entwicklung von
Ebola-Impfstoffen. Schon Anfang August,
als noch kaum jemand ernsthaft an diese HIV/Aids
Möglichkeit dachte, forderten Sie, dass ex- Erstmals 1981 in den
perimentelle Impfstoffe in dieser Epidemie USA nachgewiesen
zum Einsatz kommen sollten. War das
nicht gewagt?
35 Mio. Infizierte,
Farrar: Wir leben nicht mehr im 19., sondern davon 2,1 Mio.
im 21. Jahrhundert – ich finde, wir müssen Neuinfektionen im ver-
einfach alle Möglichkeiten, auch die der gangenen Jahr (Stand: 2013);
modernen Wissenschaft, nutzen, um diese bisher 39 Mio. Tote (gestorben
Farrar, 53, ist Direktor des Wellcome Epidemie zu stoppen. Ich halte es für denk- an Aids-bedingten Ursachen),
Trust und leitet damit die weltweit bar, dass die Seuche bis weit in die zweite davon 1,5 Mio. allein 2013.
zweitgrößte Stiftung zur Unterstützung Hälfte von 2015 immer wieder aufflackert.
medizinischer Forschung. Der Wissen- Wenn wir dann einen wirksamen Impfstoff
schaftler war 18 Jahre lang Leiter der zur Verfügung hätten, wäre das ein ent-
klinischen Forschungsabteilung im
Krankenhaus für Tropenkrankheiten in
scheidender Vorteil. Mal ganz abgesehen
von zukünftigen Epidemien … Winzige Feinde
Vietnam und Berater der Weltgesund- SPIEGEL: … die unweigerlich kommen wer- Die bedrohlichsten Seuchen in Zahlen
heitsorganisation (WHO). Malaria, den?
Vogelgrippe, Sars – es gibt kaum eine Farrar: Ja, ohne Frage. Das Ebola-Virus ver-
Seuche, die ihm während seiner Arbeit mehrt sich ja vor allem in einem Tier-
nicht untergekommen wäre. Gemein- reservoir, vermutlich in Primaten und SPIEGEL: Aber nicht bei jedem Erreger ge-
sam mit seiner Ehefrau Christiane Do- Flughunden, die im Urwald leben. Von lingt es offenbar, einen Impfstoff zu ent-
lecek, einer österreichischen Typhus- dort kann es jederzeit wieder Menschen wickeln. Gegen HIV, Tuberkulose oder
Forscherin, unterhält er seit 2011 auch befallen. Ich mache mir sogar Sorgen, dass Malaria gibt es bis heute kein wirksames
eine eigene kleine Stiftung, die vor durch die weite Verbreitung der Seuche Vakzin.
allem Jugendliche aus Vietnam und inzwischen auch Tiere, die in Menschen- Farrar: Und genau diese drei größten Killer
Nepal bei ihrer Ausbildung unterstützen nähe oder sogar in Großstädten leben, das der Welt sind das beste Beispiel dafür, was
soll – die Farrar Foundation. Virus unbemerkt in sich tragen könnten – passiert, wenn man gegen eine Infektions-
bestimmte Fledermausarten beispielsweise krankheit keinen guten Impfstoff zur Ver-
oder Ratten. So könnte Ebola in Monrovia fügung hat. Es hat zwar bei allen drei
SPIEGEL: Herr Farrar, die von Ihnen geführ- oder Freetown jederzeit wieder ausbre- Krankheiten riesige Fortschritte gegeben,
te Stiftung verfügt über ein Vermögen von chen. Einen Impfstoff zu haben wäre dann weil man wirksame Medikamente gegen
rund 22 Milliarden Euro und fördert jedes von entscheidender Bedeutung. sie gefunden hat. An Malaria etwa sind vor
Jahr wissenschaftliche Projekte in Höhe SPIEGEL: Damit könnte es sogar gelingen, zehn Jahren jedes Jahr noch rund 1,2 Mil-
von etwa 880 Millionen Euro. Wie fühlt es eine Infektionskrankheit auszurotten. lionen Menschen gestorben – heute sind
sich an, Herr über so viel Geld zu sein? Farrar: Das ist möglich bei einigen Infek- es ungefähr 600 000. Trotzdem haben wir
Farrar: (lacht) Na ja, das klingt machtvoller, tionskrankheiten wie zum Beispiel den all diese Seuchen noch lange nicht besiegt.
als es ist. Ich selbst bin nicht in jedes Detail Pocken, aber nicht wenn die Infektion ein SPIEGEL: Tuberkulose lässt sich mit Anti-
einer Entscheidung eingebunden. Ob ein Tierreservoir hat wie Ebola. Außerdem biotika wirksam behandeln …
Forschungsvorhaben gefördert wird oder geht Ausrotten bei einer Krankheit wahr- Farrar: … und manche halten eine HIV-In-
nicht – das erledigen die internen und ex- scheinlich wirklich nur mit einem Impf- fektion inzwischen für eine Krankheit wie
ternen Experten. Aber natürlich hätte ich stoff, mit Medikamenten alleine ist das so Diabetes, weil es hervorragend wirksame
den Job nicht angenommen, wenn ich gut wie ausgeschlossen. antivirale Medikamente gibt. Das alles
108 DER SPIEGEL 49 / 2014
Influenza (Typ A, B und C)
Jährlich 3 Mio. bis 5 Mio. schwer Erkrankte Malaria
Sars-CoV

CYNTHIA GO LDSMITH / CDC / RE X / ACTIO N P RE SS; A2-33; FRE DE RICK A . MURP HY / DPA; GL ADDE N W. W IL LI S / P I CTUR E-A LLI A N CE / O KA P I A ; Z 10 0 9 JA N - P E T E R K A S P E R / D PA ; X X P O O L / RA M O N A N D RA D E / S P L /
und 250 000 bis 500 000 Todesopfer. 2012: 207 Mio. Erstmals im Jahre 2002 in
Verheerende Epidemie 1918 Erkrankungen und China nachgewiesen; 2002 bis
bis 1920 als „Spanische Grippe“: 627000 Tote. 2003 gab es eine Pandemie
Damals erkrankten 500 Mio. mit 8098 möglichen
Menschen, es starben ca. 40 Mio. Fällen sowie 774 Toten;

AG E N T U R F O C U S ; CO R B I S / ( C ) D E N N I S KUN K E L M I C RO S CO P Y, I N C./ V I S UA L S U N L I M I T E D / CO R B I S ; D PA P I CT U R E - A L L I A N C E / U N C R E D I T E D / P I CT U RE A LLI A N CE / A P P H OTO ; FOTO LI A


seit 2004 weltweit keine
gemeldeten Fälle mehr.

Mers-CoV
Erstmals 2012 in Saudi-Arabien:
bisher 909 bestätigte Fälle,
331 Tote (Stand: 21.11.2014).

Chikungunya-Fieber
Erstmals 1952 bei einem Aus-
bruch in Tansania beschrieben; Dengue-Fieber
Ebola Beispiele: Mit Komplikationen wie
hämorrhagisches Dengue-
Erstmals 1976 in zwei simultanen 2006 in Indien: Fieber (sog. Severe Dengue):
Ausbrüchen im Sudan sowie der
Demokratischen Republik Kongo 1,5 Mio. Fälle; erstmals mit Epidemien in
den 50er Jahren in Thailand
(damals: Zaire); 2014 in Amerika (Stand: November): und auf den Philippinen;
aktuell verheerendste Epidemie 874 103 Verdachtsfälle, ca. 100 Mio.
in Westafrika (Stand: 26.11.2014): 16669 bestätigte Fälle; Erkrankungsfälle
15935 Fälle hat eine eher gute Prognose, dennoch auch weltweit pro Jahr;
(bestätigte und Verdachtsfälle), Todesfälle möglich, diese sind aber deutlich davon ca. 25 000
5689 Todesopfer. seltener als bei anderen Infektionskrankheiten. tödlich verlaufend.

sind bewundernswerte Er- Thailand, Indonesien. Und diese jungen Leute sind einfach gestorben.
folgsgeschichten. Aber immer es ist unvermeidlich, dass sich Aber ich bin nicht pessimistisch. Wenn wir
wenn Medikamente die wichtigs- die Resistenzen weiter ausbrei- gute Ideen haben und die richtigen Dinge
te Waffe sind, eine Infektionskrank- ten werden. tun, kann die Welt auch besser werden.
heit zu bekämpfen, entwickeln sich irgend- SPIEGEL: Auch multiresistente Tuberkulose SPIEGEL: Welche anderen Krankheiten müs-
wann unweigerlich Resistenzen. ist inzwischen zu einer ernsten Bedrohung sen wir im Auge behalten?
SPIEGEL: Was ist daran so schlimm? Es las- geworden. Farrar: Oh, die Liste der Killer ist lang. Im-
sen sich neue Medikamente entwickeln. Farrar: Ja, und auch ein RNA-Virus wie HIV mer wichtiger wird zum Beispiel Chikun-
Farrar: Aber oft eben auch nicht. Unter Ex- ist eben keine Krankheit wie Diabetes. Ein gunya werden, eine Viruserkrankung, die
perten gelten Infektionen mit resistenten Virus verändert sich, es mutiert. Irgend- mit hohem Fieber und schlimmen Gelenk-
Keimen inzwischen als die gefährlichste wann werden die heutigen Medikamente schmerzen einhergeht. Sie breitet sich ge-
neu aufkommende Seuche überhaupt. Je- deshalb nicht mehr wirken. Es gibt an die- rade in der Karibik und Südamerika mas-
des Jahr sterben daran Hunderttausende sem Virus nur eine begrenzte Anzahl von siv aus, es gibt bereits Hunderttausende
Menschen. Ansatzpunkten für neue Arzneimittel. Ir- Fälle. Und die Krankheit rückt immer nä-
FOTO: HORST A. FRIEDRICHS / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Zum Beispiel an multiresistenten gendwann ist Schluss. Das wird nicht in her nach Südeuropa heran. Dort ist ja auch
Krankenhauskeimen, die inzwischen sogar den nächsten Jahren passieren. Aber ir- schon das Dengue-Fieber aufgetreten. An
in Deutschland ein großes Problem sind? gendwann schon; und wenn uns bis dahin dieser von Mücken übertragenen Tropen-
Farrar: Ja, aber nicht nur. Nehmen Sie zum nicht etwas ganz Neues eingefallen ist, krankheit sterben weltweit jedes Jahr
Beispiel das großartige Malariamittel Ar- dann wird die Diagnose „HIV positiv“ wie- mehr als 25 000 Menschen, Tendenz stei-
temisinin, das fast ein Wundermittel war. der ein Todesurteil sein, so wie in den Acht- gend. Und anders als Malariamücken sind
Nach rund 20 Jahren beobachteten wir ers- ziger- und frühen Neunzigerjahren. Damals Dengue-Moskitos bestens an das Leben in
te Resistenzen in Kambodscha, inzwischen habe ich als junger Arzt in London gear- Großstädten angepasst. Der weltweite
gibt es sie auch in Myanmar, Vietnam, beitet. Es war eine schreckliche Zeit. All Trend zur Urbanisierung kommt diesen
DER SPIEGEL 49 / 2014 109
Ballettschülerinnen in Hongkong während der Sars-Epidemie 2003: „Das war eine beängstigende Zeit“

Insekten – und damit dem Dengue-Virus – Angesteckt hätte ich in England folglich chen. Eine aktuelle und wirklich besorgnis-
perfekt entgegen. Ganz ähnlich sieht es niemanden mehr. erregende Entwicklung ist für mich, dass
übrigens bei der Pest aus, die sich gerade SPIEGEL: Heute, kaum 40 Jahre später, wür- ausgerechnet diese beiden Weltregionen
in Madagaskar ausbreitet: viele Menschen den Sie eine solche Reise an einem Tag – Asien und Afrika –, in denen sich neue
auf engem Raum und gute Lebensbedin- machen … Krankheiten bilden, immer enger mit-
gungen für die Ratten, auf denen die pest- Farrar: … und jede Seuche unbemerkt ein- einander verknüpft werden.
übertragenden Flöhe leben – das alles schleppen. Ja, es ist für mich immer wieder SPIEGEL: Wie kommt das?
macht es dem Pest-Bakterium sehr einfach. unglaublich, wie sich die Welt in nur einer Farrar: Asiatische Firmen investieren mas-
SPIEGEL: Das heißt, unsere moderne Welt, Generation verändert hat! siv in Afrika, der Flugverkehr zwischen
in der wir einen Hygienestandard erreicht SPIEGEL: Bevor Sie vor einem Jahr Direktor diesen beiden Weltgegenden nimmt des-
haben wie nie zuvor in der Geschichte, des Wellcome Trust wurden, haben Sie halb exponentiell zu. Nie zuvor hat eine
fördert zugleich die Ausbreitung von In- fast 18 Jahre lang ein großes medizinisches so große Zahl von Chinesen und Indern
fektionskrankheiten? Forschungsinstitut in Ho-Chi-Minh-Stadt in Afrika gearbeitet. Das wird tiefgreifende
Farrar: Oh ja, auf vielerlei Art und Weise. in Vietnam geleitet. Südostasien ist neben Auswirkungen haben auf den Austausch
Selbst die typischen Zivilisationskrankhei- der Subsahara-Region in Afrika eine der von Infektionskrankheiten zwischen die-
ten wie Diabetes und Krebs leisten den zwei großen Weltregionen, in der immer sen beiden Kontinenten.
Keimen Vorschub, weil sie das Immunsys- wieder neue Infektionskrankheiten gebo- SPIEGEL: Haben Sie in Vietnam das Auftre-
tem schwächen. Vor allem aber werden ren werden. Warum ausgerechnet dort? ten neuer Krankheiten miterlebt?
Infektionskrankheiten durch Menschen Farrar: Neue Krankheiten entstehen typi- Farrar: Oh ja, ich war zum Beispiel vor Ort,
übertragen; und die Welt wird kleiner, wir scherweise dort, wo Menschen und Tiere als Sars nach Vietnam kam …
Menschen sind immer enger miteinander in engem Kontakt miteinander leben. SPIEGEL: … jene Lungenseuche, die 2002
verbunden – das begünstigt die weltweite Dann können Erreger, die zuvor nur Tiere und 2003 die Welt in Atem hielt, mehr als
Ausbreitung von Erregern natürlich mas- befallen haben, sich an den Menschen 700 Todesopfer forderte und heute fast ver-
siv. Ich wurde 1961 in Singapur geboren anpassen und auf ihn überspringen – so gessen ist.
und habe als Kind auf vier verschiedenen wie das Ebola-Virus von den Flughunden, Farrar: Zu Unrecht. Sars ist ein sehr gefähr-
Kontinenten gelebt. Als ich mit neun oder das HI-Virus von den Affen und das In- liches Virus. Mein Freund und Kollege Car-
zehn Jahren das erste Mal nach Großbri- fluenza-Virus von dem Geflügel. In Asien lo Urbani, der ebenfalls in Vietnam in ei-
tannien kam, fuhren wir mit dem Schiff. leben rund 60 Prozent der Weltbevölke- nem Krankenhaus arbeitete, merkte als
FOTO: VINCENT YU / AP

Das hat acht Wochen gedauert. Wenn ich rung in engem Kontakt mit einem Großteil weltweit erster Mediziner, dass etwas Be-
damals eine gefährliche Krankheit mit auf des weltweiten Bestands an Hühnern, En- drohliches vor sich ging. Es kamen plötz-
die Reise genommen hätte, wäre ich bis ten, Schweinen und allen möglichen wei- lich auffällig viele junge Leute mit schwers-
zu unserer Ankunft in Southampton ent- teren Tieren. Das ist einfach die perfekte ten Atemwegsinfektionen in seine Klinik.
weder tot gewesen oder wieder gesund. Mischung für die Entstehung neuer Seu- Da bat er die Behörden, sein Krankenhaus
110 DER SPIEGEL 49 / 2014
Wissenschaft

zu schließen und fast niemanden mehr he- unvollständiger Daten treffen müssen. Sie brauchen, bedeutet nicht, dass sie sich
rein- oder herauszulassen. Viele Menschen haben die Schweinegrippe 2009 erwähnt. nicht weiterentwickeln oder verbessern
in seinem Krankenhaus sind deshalb ge- Ich war damals in Mexiko, als es anfing. muss. Vor allem fehlt es an Geld. In den
storben – auch er selbst. Aber Vietnam SPIEGEL: Waren Sie mit dafür verantwort- vergangenen Jahren haben alle Länder,
hat er so wahrscheinlich vor Schlimmem lich, dass es einen weltweiten Alarm gab? auch Deutschland und Großbritannien,
bewahrt, Sars hat sich dort niemals so aus- Farrar: Ich war in die Entscheidungsprozes- ihre Zahlungen an die WHO reduziert.
gebreitet wie in China oder Kanada. se miteingebunden, ja. Aber Sie müssen Doch nur mit ausreichender finanzieller
SPIEGEL: Gab es auch an Ihrem Kranken- sich das bildhaft vorstellen. Da ist man in Unterstützung der Staaten hat die WHO
haus Sars-Fälle? Mexiko, und vier Krankenhäuser im Um- genug Autorität, um wirksam zu handeln
Farrar: Das war eine beängstigende Zeit. kreis von wenigen Kilometern sind plötz- und um gutes Personal zu bekommen.
Wir hatten viele Patienten mit Verdachts- lich überfüllt mit schwer kranken, jungen SPIEGEL: Glauben Sie, dass künftig auch so-
diagnose in unserem Krankenhaus, aber Menschen. Sie sehen Schwangere, die an ziale Netzwerke helfen könnten, Epide-
keinen Sars-Fall. Lungeninfektionen sterben. Was machen mien unter Kontrolle zu bekommen?
SPIEGEL: Aber warum ist das Sars-Virus von Sie dann? Sie warten natürlich nicht erst Farrar: Definitiv, aber so weit sind wir noch
der Bildfläche verschwunden? Wohin hat mal drei Monate ab, bis Sie sichere Er- lange nicht. Erinnern Sie sich noch an die
es sich zurückgezogen? kenntnisse darüber haben, wie sich die „Google Flu trends“?
Farrar: Ich habe keine Ahnung. Wir haben Epidemie weiterentwickelt. Sie handeln. SPIEGEL: Ja. Das ist ein paar Jahre her. Der
es seit 2004 nicht mehr gesehen – und es Denn Sie haben gar keine andere Wahl. Internetkonzern hatte behauptet, er könne
ist nicht klar, ob es komplett verschwun- Schon alleine die Impfstoffproduktion dau- aufkommende Grippewellen mithilfe sei-
den ist oder ob es zurückkommen könnte. ert mindestens sechs Monate. Im Rück- ner Suchmaschine und Datenanalysen
SPIEGEL: Und wo kam es her? blick wissen wir, dass das, was wir in Me- schneller als jeder andere erkennen.
Farrar: Auch das weiß niemand so genau. xiko gesehen haben, nicht typisch für die Farrar: Das, was die vorhersagen konnten,
Möglicherweise ist es von Fledermäusen Schweinegrippe war. Am Ende haben sich waren aber nur die Jahreszeiten. Trotzdem
und Zibetkatzen auf den Menschen über- zwar 16 bis 20 Prozent der Weltbevölke- zeigt das, in welche Richtung es gehen
gesprungen. Wahrscheinlich hat die Seu- rung infiziert. Aber die Krankheit verlief könnte. Mobilfunktechnik etwa wird eine
che eine ganze Weile in Südchina vor sich in den meisten Fällen harmlos. immer größere Rolle spielen. Kaum je-
hin geköchelt, Menschen haben sich an SPIEGEL: Haben die Experten auf Ebola so mand in Westafrika hat einen Festnetz-
Tieren infiziert, ohne dass sie das Virus an spät reagiert, weil sie nicht den gleichen anschluss. Doch sehr viele Menschen dort
andere Menschen weitergeben konnten. Fehler wie bei der Schweinegrippe machen haben heute Handys. So lassen sich her-
Ungefähr so, wie es derzeit im mittleren wollten? vorragend Informationen verbreiten.
Osten mit dem Mers-Virus passiert … Farrar: Das wird einer der Gründe gewesen SPIEGEL: Fehlalarme über Twitter oder Face-
SPIEGEL: … das mit dem Sars-Virus eng ver- sein. Genauso wie mögliche Überreaktio- book können aber auch viel Schaden an-
wandt ist. nen bei der Schweinegrippe von den frü- richten.
Farrar: Ja, genau. Doch irgendwann hat sich heren Erfahrungen mit der Vogelgrippe Farrar: Das stimmt, und damit müssen wir
das Sars-Virus durch Mutationen so ver- beeinflusst waren. leben. Allerdings stehen die Chancen gut,
ändert, dass es sehr leicht von Mensch zu SPIEGEL: Ist die Weltgesundheitsorganisa- dass sich im Laufe der Zeit die richtigen
Mensch übertragen werden konnte. Die tion noch eine zeitgemäße Organisation, Informationen durchsetzen. In Liberia bei-
Frage ist: Wird das Mers-Virus irgendwann um auf Krisen wie Ebola angemessen zu spielsweise wurde anfangs sehr viel Miss-
ein ähnlich gefährliches Virus werden wie reagieren? trauen über die sozialen Netzwerke ge-
das Sars-Virus? Und: Wird Sars mit Macht Farrar: Es stimmt, die WHO wurde 1948 schürt, und Gerüchte verbreiteten sich:
zurückkommen? Niemand weiß es. gegründet, als die Welt noch eine andere Ebola sei nur erfunden, hieß es, oder ab-
SPIEGEL: Kurz nach Verschwinden von Sars war. Aber heute brauchen wir eine global sichtlich eingeschleppt worden, um West-
gab es plötzlich in Vietnam wieder Fälle agierende Organisation dringender denn afrika zu schädigen. Unterm Strich aber
von schwersten Atemwegserkrankungen. je, um weltweite Seuchen zu bekämpfen. haben die Medien einen guten Job ge-
Farrar: Ja, und zunächst dachten wir, die Einzelne Staaten oder Staatengruppen macht und aufgeklärt. Am Ende wurden
Lungenseuche ist wieder da. Aber dann sind dazu nicht in der Lage. Bei der die richtigen Informationen über Twitter
stellten wir fest, dass es sich um eine an- Schweinegrippe und bei der Ehec-Epide- und Facebook verbreitet, etwa wie man
dere neue Krankheit handelte: die Vogel- mie in Deutschland hat man gesehen, was sich am besten vor einer Ansteckung
grippe. für ein Chaos entsteht, wenn 16 Landes- schützt.
SPIEGEL: Bei der Vogelgrippe zahlte sich gesundheitsminister gemeinsam für die SPIEGEL: Seuchen wie Ebola machen vielen
das entschiedene Vorgehen der Seuchen- Seuchenbekämpfung zuständig sind. Menschen Angst, üben aber auch eine Fas-
schützer aus, die immer wieder Millionen SPIEGEL: Also soll alles bleiben, wie es ist? zination aus. Warum?
Hühner und Enten töten ließen. Bei der Farrar: Das habe ich nicht gesagt. Die Tat- Farrar: Das hat viel mit dem Gruselfaktor
Schweinegrippe 2009 hingegen gab es eine sache, dass wir die WHO als Organisation zu tun. Die meisten kennen weltumspan-
riesige Panik, weil die Weltgesundheits- nende Seuchenzüge nur aus Geschichts-
organisation eine Pandemie ausgerufen büchern oder aus der Literatur. Irgend-
hatte – vollkommen übertrieben, wie sich jemand hatte da immer die Pest, die Spa-
später herausstellte. Den aktuellen Ebola- nische Grippe oder eine andere schlimme
FOTO: HORST A. FRIEDRICHS / DER SPIEGEL

Ausbruch wiederum haben lange Zeit auch Krankheit. Das regt die Fantasie an. Wer
viele Experten unterschätzt. Warum ist es hatte es in Europa heutzutage schon einmal
so schwierig, angemessen auf neue Seu- selbst mit einer echten tödlichen Seuche
chen zu reagieren? zu tun? Da ist die Wahrscheinlichkeit, an
Farrar: Das Problem besteht darin, dass wir einem Verkehrsunfall zu sterben, um ein
Entscheidungen immer auf der Grundlage Vielfaches höher. Aber wir sollten diese
Infektionskrankheiten nie unterschätzen.
* Mit den Redakteurinnen Veronika Hackenbroch und Farrar beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Herr Farrar, wir danken Ihnen für
Katrin Elger im Hauptsitz des Wellcome Trust in London. „Unglaublich, wie sich die Welt verändert hat“ dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 49 / 2014 111
Wissenschaft

Aus der Puste


auf dem kalten Wasser darunter. Eine
Durchmischung und damit Belüftung des
Tiefenwassers wird so schwieriger. Auf etwa
acht Prozent der Meeresfläche ist diese
Klima Weil die Erde wärmer Schichtung inzwischen so stabil, dass sich
die Todeszonen ausbilden (siehe Grafik).
wird, geht den Ozeanen der Besonders fatal: Mancherorts rückt das
Sauerstoff aus. Forscher sauerstoffarme Wasser inzwischen sogar
befürchten ein Meer voller der Meeresoberfläche bedrohlich nah. Die
Forschungsschiff „Meteor“ Gewässer vor Peru etwa wirken eigentlich
Tintenfische und Quallen. Unterwegs im Garten Eden wie ein mariner Garten Eden. Nährstoffe
steigen dort aus der Tiefe direkt vor der

D
em Humboldt-Kalmar tut der Kli- viele Fische und Planktonorganismen nicht Küste auf. Robben, Pinguine und Raub-
mawandel gut. Immer wärmer wird existieren können. fische laben sich an Massen von Fischen.
der Ozean, in dem er lebt. Immer Experten befürchten einschneidende Allein, das lebendige Treiben liegt nur
weniger Sauerstoff ist deshalb im Wasser Folgen für das Meer. „Die Artenzusam- wie ein dünner Firnis auf dem Meer.
gelöst. Doch dem Tier macht das nichts mensetzung könnte sich grundlegend ver- „Schon bei 10 bis 15 Meter Wassertiefe liegt
aus. Denn sein Blut ist blau. ändern“, warnt Andreas Oschlies, Ozea- der Sauerstoffgehalt fast bei null“, sagt der
Hämocyanin heißt der Farbstoff im nograf vom Geomar Helmholtz-Zentrum Ozeanograf Lothar Stramma vom Geomar,
Tintenfischblut. Das Protein transportiert für Ozeanforschung in Kiel. Er hält die der das Gebiet mehrfach mit dem deut-
den Sauerstoff durch den Körper – und Sauerstoffnot sogar für verhängnisvoller schen Forschungsschiff „Meteor“ durch-
das ausgesprochen effektiv. Der Kalmar als die Versauerung der Ozeane. „An mehr pflügt hat. Verlierer sind vor allem kleinere
fühlt sich deshalb auch dort noch wohl, Kohlensäure im Wasser können sich viele Fische und Krebschen mit hohem Sauer-
wo anderen Meerestieren die Puste aus- Arten anpassen“, sagt der Wissenschaftler, stoffbedarf. „Ihr Lebensraum wird immer
geht. Und das ist zunehmend der Fall im „an weniger Sauerstoff nicht.“ weiter komprimiert“, sagt Stramma.
Territorium des Räubers vor Amerikas Sauerstoffminimumzonen sind nicht Unten droht Atemnot – und oben lauern
Westküste. neu. Vor allem in tropischen Ozeanregio- die Netze der Fischer. „Der Fischereidruck
Um mehr als 3500 Kilometer nach Nor- nen liegt unter gut durchlüftetem Oberflä- nimmt in diesen Gegenden stark zu“, sagt
den hat sich der Lebensraum des Kalmars chenwasser häufig eine mehrere Hundert Stramma, „die Fischer haben längst ge-
in den vergangenen 20 Jahren ausgedehnt. Meter dicke Wasserschicht, in der Bakte- merkt, dass sich die Tiere in der oberen
Ursprünglich nur bis vor Mexiko heimisch, rien von oben rieselnde Nährstoffe zerset- Wasserschicht konzentrieren.“
wird das Raubtier inzwischen regelmäßig zen und dabei Sauerstoff aufzehren. Die Krisenprofiteure sind Arten, die mit we-
vor Kalifornien gesichtet. Sogar vor Alaska meisten Meerestiere würden in einer sol- nig Sauerstoff auskommen wie eben der
tauchte es schon auf. „Tintenfische haben chen Zone sofort ersticken. Sie tummeln Humboldt-Kalmar – oder aber Quallen,
Vorteile in Lebensräumen mit begrenztem sich deshalb entweder über oder unter ihr. deren Zahl vielerorts zunimmt.
Sauerstoff“, sagt der Biologe William Gilly Das Problem: Die Sauerstoffminimum- Noch einschneidendere Folgen könnte
von der Stanford University. „Wir werden zonen werden größer. Eine Mitschuld daran die Sauerstoffabnahme für einige der
künftig noch mehr von ihnen sehen.“ trägt mutmaßlich der Klimawandel. Seit kleinsten Meeresbewohner haben: Bakte-
In vielen Ozeanregionen wird der Sauer- den Siebzigerjahren steigt die Oberflächen- rien. Ganz andere Arten der Einzeller kä-
stoff knapp. Weltweit beobachten Wissen- temperatur der Meere pro Jahrzehnt um men zum Zug, wenn der Sauerstoff ver-
schaftler besorgt, wie sich die sogenannten durchschnittlich 0,1 Grad Celsius an. Wär- schwinde, berichtet Oschlies.
Sauerstoffminimumzonen ausdehnen – tie- meres Wasser jedoch kann weniger Sauer- „Sauerstoffarmut kann beispielsweise
fe Wasserschichten, in denen so wenig des stoff aufnehmen als kälteres. Zudem ist es dazu führen, dass sich Nährstoffe wie Phos-
lebenswichtigen Gases gelöst ist, dass dort leichter: Wie ein Deckel liegt es deshalb phat und Eisen anreichern“, warnt der For-
scher. Massive Algenblüten könnten die
Todeszonen im Meer Folge sein: „Wir fragen uns, ob auf lange
Sauerstoffgehalt in einer Wassertiefe von 400 Metern, in Mikromol je Kilogramm (µmol/ kg); Sicht der ganze Ozean umkippen könnte,
für viele Fische und Krebstiere ist eine Sauerstoffsättigung unter 60 µmol/kg tödlich. so wie wir es von Seen her kennen.“
Das Szenario ist nicht aus der Luft ge-
10 40 80 300
griffen. Fünfmal in der Erdgeschichte raff-
ten Aussterbewellen viele marine Arten
hinweg: „Das waren immer Zeiten mit sau-
erstoffarmen Ozeanen“, sagt Oschlies.
Gibt es schon Vorboten einer solchen
Katastrophe? Vor der Küste Oregons im
Nordwesten der USA schwappt seit 2002
jeden Sommer sauerstoffarmes Pazifikwas-
ser an die Strände. Inzwischen wissen die
Forscher: Das Wasser stammt aus der Sau-
FOTO: HOLGER VON NEUHOFF / GEOMAR

erstoffminimumzone. Bei bestimmten


Windbedingungen steigt es direkt vor der
Küste auf.
2006 war der bislang schlimmste Som-
mer. Seesterne, Krebse und Muscheln star-
ben in Scharen. Fische lagen tot am Strand.
Quelle: Geomar Helmholtz- Erst nach vier Wochen kehrte das Leben
Zentrum für Ozeanforschung Kiel zurück. Philip Bethge

112 DER SPIEGEL 49 / 2014


Wissenschaft

Die vergessene Supermacht


Geschichte Mit neuartigen Feuerwaffen schufen die Erben des Dschingis Khan in Asien das mächtige
Mogulreich. Historikern galt das Land bisher als Hort von Korruption und Feigheit – zu Unrecht.

S
eine Familie nannte ihn „Babur“, den Abhandlungen haben nun mal einen grö- Kinder „in der Lage waren zu reiten, bevor
„Tiger“. Er selbst beanspruchte schon ßeren intellektuellen Reiz als technische sie gehen konnten“ (de la Garza).
im Alter von 14 Jahren die Herrschaft Beschreibungen von Verteidigungsanlagen Als umfassend für die Schlacht gerüstete
über eine reiche Handelsmetropole. Doch oder eine Bestellung über hundert Muske- Kampfmaschinen konnten sie in schneller
mit 18 entging das Großmaul nur knapp ten“, schreibt de la Garza sarkastisch. Folge aus dem Sattel ihre Pfeile mit dem
dem Tode: Eine feindliche Meute hetzte Aus überlieferten Berichten setzte der Hornbogen abfeuern. Und im Nahkampf
hinter ihm her, vor der er sich nur durch Gelehrte nun ein fundierteres und differen- waren sie ausgebildet. Doch diese Fähig-
den Sprung in einen Fluss retten konnte. zierteres Bild der mogulischen Militärmacht keiten allein reichten nicht aus, um den
Das aber war der vorerst letzte Rück- zusammen. Demnach sei der westliche Aufstieg der Großmoguln zu erklären.
schlag im Leben des Sahired-din Moham- Blick auf die Krieger dieser Herrscher- Den Siegeszug der muslimischen Herr-
med. Für den Abkömmling des Mongolen- dynastie bislang von etlichen Missverständ- scher ermöglichte eine Vielzahl leichter
führers Dschingis Khan ging es von da an nissen getrübt gewesen. Feuerwaffen, mit denen die Untertanen
bergauf. Vom räubernden Steppenhäupt- Um etwa aus verdeckter Position Schar- der Moguln in die Schlacht zogen. Beson-
ling kämpfte sich Babur empor zum Herr- mützel anzuzetteln, gruben sich Schützen dere Bedeutung erlangte auf deren Feld-
scher über eine Weltmacht. 1526 wurde er des Großmoguls in fuchsbauartigen Erd- zügen die Muskete – jenes frühe Gewehr,
Großmogul. löchern ein. Auf den ersten Blick erscheint in dessen Vorderlauf das Schwarzpulver
Für etwa 200 Jahre blühte das Reich zwi- dieses Verhalten als Feigheit vor dem gestopft werden musste.
schen Hindukusch, Himalaja und Indi- Feind. „Es ist nicht überraschend, dass die- Auch auf den Schlachtfeldern Europas
schem Ozean. Babur legte die Grundlage se Methode der Kriegführung sehr be- war diese Mordwaffe wegen ihrer Treff-
für einen liberalen Musterstaat – der bis fremdlich auf westliche Beobachter wirk- genauigkeit gefürchtet. Nach Einschätzung
an die Zähne bewaffnet war. Doch das Im- te“, räumt de la Garza ein. de la Garzas erreichten allerdings die mo-
perium zerfiel so rasch, wie es einst ent- Unbedingte Tapferkeit war im Mogul- gulischen Waffenschmieden beim Bau der
standen war. Geblieben sind Legenden reich allerdings kein Wert an sich; in aus- Muskete eine absolute Meisterschaft.
von feisten und korrupten Moguln und ha- weglosen Situationen nahmen die Solda- Schon die Bogenschützen Baburs und
senfüßigen Turbanträgern, die vor dem ten des Großmoguls klugerweise Reißaus. seiner Nachfolger konnten bis zu hundert
Feind Reißaus nahmen. „Der geplante Rückzug war ein Marken- Meter entfernte Ziele erstaunlich genau
Der US-Militärhistoriker Andrew de la zeichen in der Kriegführung Zentral- treffen; die Musketen besaßen eine größe-
Garza von der University of Louisiana in asiens“, so de la Garza. Die ungebremste re Durchschlagskraft. Gemessen an den
Lafayette ist dem Mythos auf den Grund Aggression der europäischen Krieger bis Möglichkeiten des 16. und frühen 17. Jahr-
gegangen und hat die Ergebnisse nun im zum letzten Blutstropfen galt als sinnlose hunderts schufen die mogulischen Waffen-
Journal of Military History veröffentlicht. Verbohrtheit. manufakturen Schussgeräte von großer
Sein überraschender Befund: „Auf seinem Staatsgründer Babur hatte selbst die har- Präzision. In jede einzelne Muskete war
Höhepunkt war das Mogulreich den euro- te Schule des Draufgängertums durchlau- eine Seriennummer eingraviert, damit sich
päischen Staatsgebilden nicht nur eben- fen und dabei etliche Verletzungen erlitten. deren Herkunft nachvollziehen ließ.
bürtig, sondern sogar überlegen.“ Der spätere Feldherr erwies sich dann als In der Truppe entstand dadurch eine völ-
De la Garza rekonstruiert die Geschich- gereift und taktisch geschult. Das Rückgrat lig neue Art von Soldat: der Scharfschütze.
te einer hochgerüsteten Supermacht, die seiner Armee bildeten gleichwohl uner- Baburs Enkel Akbar formierte als Groß-
eine Armee von mehr als einer Million schrockene Krieger aus der Steppe: Die mogul ein Kommando von Heckenschüt-
Soldaten unter Waffen hielt – eine selbst Nachfahren asiatischer Nomaden, die als zen, dem er den vielsagenden Titel „die sel-
nach heutigen Maßstäben gewaltige Zahl. ten danebenzielenden Haarspalter“ verlieh.
Über die Leistungskraft dieses Heeres Europäische Armeen hingegen setzten
fällten Fachleute bisher dennoch ein ver- auf die sogenannte Lineartaktik, um die
nichtendes Urteil, das der Forscher Wil- H Feuerkraft der Musketen auszunutzen. Da-
liam Irvine bereits vor gut hundert Jahren Kabul i bei standen die Soldaten, Schulter an
geprägt hat: Bei den Truppen des Groß- m Schulter, in einer langen Reihe nebenein-
a
moguls habe es sich um „einen Haufen l ander. War eine Salve abgefeuert, machte
a
von Söldnern“ gehandelt, „der jederzeit s Delhi j a die vordere Linie Platz für eine dahinter-
u
bereit ist, zu desertieren oder sich an den nd stehende Reihe.
I

Höchstbietenden zu verkaufen“. G a n ge s
Der Vorteil dieser Taktik: Die Infante-
Kaum ein Historiker machte sich die risten konnten auf diese Weise sehr viele
FOTO: ROLAND AND SABRINA MICHAUD / AKG

Mühe, diese Behauptung zu überprüfen – Schüsse gleichzeitig abgeben. Allerdings


aus nachvollziehbarem Grund: „Es gibt ei- Herrschaftsbereich boten die aufrecht ins Feld marschierenden
nen Mangel an Quellen. Die Archive des der Moguln Soldaten ein leichtes Ziel für den Gegner.
Mogulreichs haben dessen Untergang nicht um 1525 Die Truppen des Großmoguls wählten
überlebt“, berichtet de la Garza. Eroberungen
deshalb eine andere Variante: Sie fielen in
Doch selbst das vorhandene Material sei bis 1539 kleineren, beweglicheren Verbänden von
von seinen Kollegen stiefmütterlich behan- 10 bis 50 Kämpfern über den Feind her. Auf
bis 1605
delt worden, kritisiert der Historiker: „Die 1000 km einen Offizier preußischen Zuschnitts muss-
Dichtkunst Persiens oder philosophische bis 1707 te diese Formation einen eher ungeordne-
114 DER SPIEGEL 49 / 2014
ten Eindruck machen – aber die Asiaten
waren erfolgreich mit dieser Taktik.
Mit gewöhnlicher Kriegstechnik hätte
das Heer der Turbanträger wohl auch nie
so schnell expandieren können. Durch Ein-
satz neuer Waffen, die sie auf ihre Feinde
niederprasseln ließen, eilten die Söldner
des Großmoguls von Sieg zu Sieg.
Keramikgefäße, gefüllt mit entflammba-
ren Flüssigkeiten, schleuderten die Krieger
des Moguls wie Handgranaten in die feind-
lichen Stellungen. Auch deckten die Nach-
fahren der Mongolen den Gegner mit ei-
nem Hagel von Schrapnellen ein – sie zün-
deten dazu eine frühe Form der Rakete.
Die mit Schwarzpulver gefüllten Kanister
hatten eine Reichweite von mehreren Hun-
dert Metern. Ein Elefant, so rechnet de la
Garza vor, habe etwa 500 dieser frühen
Marschflugkörper tragen können. Der Ver-
sorgungszug einer großen Armee sei da-
durch in der Lage gewesen, etwa 100 000
Raketen in das Gefechtsgebiet zu transpor-
tieren. In Kombination mit Granaten, Ka-
nonen, Musketen und den konventionellen
Bogenschützen verfügte das Heer des Mo-
gulreichs damit über ein für die damalige
Zeit beispielloses Arsenal von Vernichtungs-
waffen. „Es war ein mit Feuer gesättigtes
Schlachtfeld“, resümiert der Historiker.
Anders als dessen martialische Auftritte
auf den Schlachtfeldern vermuten lässt, be-
herbergte dieses Land aber kein Terror-
regime. Das Reich der Großmoguln war
insbesondere anfänglich bekannt für seine
Toleranz in Glaubensfragen und bot In-
dern, Persern und Arabern gleichermaßen
eine Heimat. Der Handel blühte. Wo sich
einst auch Nomaden tummelten, entstan-
den Städte, deren Bürger Wohlstand und
Bildung genossen.
Doch je mehr sie die Trauben der Zivi-
lisation genossen, desto mehr verloren die
Nachfahren Baburs ihren Kampfgeist. Krie-
ge waren kostspielig und letztlich auch für
die Moguln verlustreich. Um Konfronta-
tionen zu verhindern, entwickelten die
Herrscher Methoden, die ähnlich vielseitig
waren wie ihr Waffenarsenal. „Die Moguln
behalfen sich mit Abschreckung, Ein-
schüchterung, Diplomatie und Beste-
chung“, sagt de la Garza.
Diese Strategie verschaffte den Regenten
zwar Freiheit vom lästigen Kriegsgetüm-
mel, schadete ihrem Nachruhm aber erheb-
lich, bemerkt der Historiker: „Spätere Kri-
tiker deuteten diesen Pragmatismus als
Schwäche, Mangel an Mut und fehlende
Entschlossenheit aufseiten der Moguln.“
Die Würdenträger des asiatischen Mega-
staates bestätigten dann genau jenes Bild,
dass sich Historiker im Nachhinein von
ihnen machten. De la Garza: „Korruption,
Selbstgefälligkeit und armselige Entschei-
dungen führten erst zum Niedergang und
dann zur Auflösung des Reiches.“
Feldzug der Moguln (Miniatur aus Indien): „Ein mit Feuer gesättigtes Schlachtfeld“ Frank Thadeusz

DER SPIEGEL 49 / 2014 115


Wissenschaft

Lügenbarone
Berichte über Suizide nach Angriffen im Web
Digitale Selbstverletzung?

im Netz
wie im Fall von Hannah, ist die extreme
Ausnahme.
Vielmehr berichteten die Jugendlichen
Englander, dass sie nach der Aufmerksam-
Psychologie Cybermobbing ist keit gierten, die ein Mobbingopfer in un-
serer Gesellschaft erfährt. Mädchen sehn-
für die Betroffenen grausam. ten sich vor allem nach einem Erwachse-
Nun stellt sich heraus: Manches nen, der sie dann tröstet – oder sie wollten
unter Beweis stellen, dass sie den Hass
vermeintliche Opfer hat aushalten können. Die Jungs, die sogar
die Attacken selbst inszeniert. noch etwas häufiger Beleidigungen er-
fanden, wollten auf diese Weise einen

I
hre Hasser hatten sie aufgefordert: Streit inszenieren.
„ritz dich“, „geh sterben“. Und irgend- Englander spricht von einem „Digita-
wann folgte die 14-jährige Hannah den len Münchhausen“, benannt nach dem
Aufforderungen aus dem Netz. Im Som- deutschen Lügenbaron und angelehnt an
mer vorigen Jahres brachte sich das briti- ein Syndrom, das in der Medizin seit Lan-
sche Mädchen um. gem bekannt ist. Klassischerweise tingeln
Hannah hatte die Nachrichten auf davon betroffene Menschen mit gespiel-
Ask.fm erhalten, einem berüchtigten Fra- ten Symptomen von Arzt zu Arzt. Der
ge-und-Antwort-Portal. Die Nutzer stellen Psychiater Marc Feldman beschrieb als
dort sehr persönliche Fragen: „Wohin bist Erster, wie diese Lügenbarone auch
du schon gereist?“, „Wie heißt dein Lieb- im Internet mit erfundenen Leidens-
lingsbuch?“ Aber eben auch: „Bin ich geschichten Aufmerksamkeit erregen
schön?“ Oder: „Mögt ihr mich?“ Die Ge- wollen: Auf Blogs täuschen sie Krebs-
spräche entwickeln sich mitunter hämisch und Tuberkuloseerkrankungen vor, um
und bösartig. Hannah gehört zu mehreren das Mitleid ihrer Leser zu genießen.
Teenagern, die sich das Leben angeblich Englanders Ergebnisse findet Feld-
nahmen, nachdem sie auf der Seite ange- man faszinierend: „Ich würde gern
griffen worden waren. mehr dazu veröffentlicht sehen, damit
Ihre Eltern warfen dem lettischen Be- Ärzte darauf aufmerksam werden.“
treiber von Ask.fm vor, nicht genug getan Die Jugendlichen besser zu verstehen
zu haben, um ihre Tochter zu schützen, würde es ermöglichen, jenen zu hel-
und verlangten, die Seite abzuschalten. fen, die aus Einsamkeit handeln.
Großbritanniens Premier David Cameron Ob das Digitale-Münchhausen-Syn-
forderte, derart „unverantwortliche An- drom auch unter deutschen Jugendli-
bieter“ zu boykottieren. Firmen wie Voda- chen verbreitet ist, hat noch niemand
fone zogen ihre Werbebanner zurück. untersucht. Aber die Experten halten
Derart unter Druck geraten, sah sich das für plausibel.
Ask.fm gezwungen, selbst nachzufor- Englander hat bereits 2011 und 2012 ins- Der Kommunikationswissenschaftler
schen. Das Ergebnis klang wie Hohn: 98 gesamt 617 Schüler befragt, ob sie sich Thorsten Quandt von der Universität
Prozent der Attacken auf Hannah, be- schon einmal selbst im Internet gemobbt Münster leitet eine große Studie zu Cyber-
hauptete die Betreiberfirma der Website, hätten, etwa durch Posten von Beleidigun- mobbing an Schulen, sein Team hat mehr
seien von ihrem eigenen Internetan- gen auf ihrem eigenen Profil unter falschem als 5500 Schüler aus Süddeutschland be-
schluss ausgegangen. Das würde bedeu- Namen. Die überraschende Antwort: Zehn fragt. Vorgetäuschte Beleidigungen fanden
ten: Hannahs schlimmster Feind war sie Prozent bejahten das. Einige hatten nur ein die Forscher zwar nicht. „Wir haben aber
selbst. einziges Mal boshafte Nachrichten über auch nicht gezielt danach gefragt“, sagt
Unvorstellbar für den Vater des Mäd- sich verbreitet, andere über Monate. Quandt.
chens, der glaubte, die Behauptung sei Ähnliches hatte zuvor schon die Medien- In Großbritannien meldeten sich auch
eine Lüge. Doch inzwischen hat ein Poli- wissenschaftlerin Danah Boyd in ihrem erst nach den Berichten über Hannahs
zeibericht bestätigt, dass Ask.fm recht hat. Blog berichtet. Beim damaligen Internet- Suizid Psychiater und Hilfsorganisationen
Hannah, so stellte sich heraus, hatte sich portal Formspring, so Boyd, hätten sich El- zu Wort, die ähnliche Fälle bemerkt hat-
über Monate hinweg selbst beschimpft. tern demnach beklagt, dass ihre Kinder ten. Quandt kann sich vorstellen, „dass
Mit großem Interesse hat die US-ameri- dort gehänselt würden. Doch als die Be- sich Kinder oder Jugendliche auf diese
kanische Psychologin Elizabeth Englander treiber den Beschwerden nachgingen, Weise als Opfer inszenieren, um Aufmerk-
den Fall verfolgt. Englander leitet das Mas- machten sie eine erstaunliche Entdeckung: samkeit oder Mitleid zu erregen“. Und
sachusetts Aggression Reduction Center. Hinter manchen Attacken steckten die ver- zwar durchaus mit Erfolg: Jeder dritte
Die Forscherin untersucht, wie junge Men- meintlichen Opfer selbst. Boyd nannte das digitale Selbstmobber gab in Englanders
schen online kommunizieren, wie sie sich Phänomen „Digitale Selbstverletzung“. Studie an, der Plan sei aufgegangen.
im Netz verspotten und bloßstellen. Unter Doch geht es den Kindern vermutlich Die Psychologin geht davon aus, dass
anderem ist sie der Frage nachgegangen: nicht darum, Schmerzen zu spüren. Auch das Verhalten verbreiteter ist als bisher an-
Kann es sein, dass manche Opfer von Cy- sind die meisten Jugendlichen, die sich im genommen. Englander: „Teenager stellen
bermobbing die Attacken nur vortäuschen? Netz selbst mobben, nicht suizidal veran- im Internet viele Dinge an, von denen ihre
Und wenn ja: aus welchen Gründen? lagt; dass am Ende eine Selbsttötung steht Eltern nichts wissen.“ Laura Höflinger

116 DER SPIEGEL 49 / 2014


Sport

Passagiermaschine beim Start

Flugangst Überwindung des Problems. in meinem Leben passieren


„Pistole an der Ich habe schon sieben, acht
Therapeuten ausprobiert.
konnte.
SPIEGEL: Klingt seltsam.
Schläfe“ SPIEGEL: Hatten Sie schon im-
mer Flugangst?
Fritsch: Ich weiß. Auch meine
Erklärung für die Flugangst
Der Münchner Profigolfer Fritsch: Nein, als Amateur wirkt esoterisch. Ich glaube
Florian Fritsch, 29, nicht. Die Angst kam all- nämlich, dass sie nur ein
über seine Fernreisen mählich, es begann etwa Symptom für den Konflikt
2006. Zuerst war es nur ein zwischen Selbstbestimmung
SPIEGEL: Sie haben sich für Unwohlsein, dann wollte ich und Fremdbestimmung ist,
die European Tour qualifi- am Flughafen nicht in die dem man als Leistungsgolfer
ziert, deren Saison am 4. De- Maschine einsteigen. Zwei, ausgesetzt ist. Früher habe
zember in Südafrika startet. drei Tage vorher bekomme ich immer die Erwartungen
Sie haben Flugangst. Die ich depressive Symptome anderer erfüllt. Ich habe
nächsten Turniere finden am mit Appetitlosigkeit. Wäh- Turniere gespielt, nur um in
Persischen Golf, in Malaysia, rend des Flugs fühlt es sich der Rangliste nach oben zu
FOTOS: ERWIN WODICKA / MEDIASKILL / COVERPICTURE (O.); CITYPRESS24 / PICTURE ALLIANCE / DPA (M.); MASASHI HARA / GETTY IMAGES (U.)

Thailand und Indien statt. an, als spürte ich einen Pisto- kommen oder um Spon-
Wie soll das gehen? lenlauf an meiner Schläfe sorenwünsche zu erfüllen.
Fritsch: Ich steige erst im und hörte ein Klicken. An- SPIEGEL: Und heute?
März auf Madeira ein. Über fangs versuchte ich, das zu Fritsch: Heute weiß ich, dass
Wasser fühle ich mich in ei- unterdrücken. Seit ich offen es nur ein Spiel ist. Ich liebe
nem Flugzeug sicherer. Auch damit umgehe, fühle ich Golf, lasse aber mein Leben
das dann folgende Turnier in mich wie befreit. Ich spiele nicht davon bestimmen. Ich
Marokko möchte ich spielen. auch besser Golf. Die Flug- Fritsch spiele nur noch die Turniere,
Parallel arbeite ich an der angst war das Beste, was mir die ich spielen will. egg

Fußball erst recht nicht in Japan, wo Ältere besonders respektiert


Japans König werden. Denn Miura, der wohl älteste Fußballprofi der Welt,
ist berühmt.
Seine Statistik? Miserabel. Nur zwei Spie- Mit 15 ging er nach Brasilien, mit 18 wurde er Profi beim FC
le gemacht in der gesamten vergangenen Santos. Er kickte für den FC Genua und Dinamo Zagreb. In
Saison, insgesamt vier Minuten auf dem Japans J-League war er Meister und Torschützenkönig, 1993
Platz gestanden, kein einziges Tor ge- wurde er Asiens Fußballer des Jahres. 89-mal lief er als
Miura schossen. Es spricht eigentlich nichts da- Nationalspieler auf, letztmals zur Jahrtausendwende, und
für, dem japanischen Stürmer Kazuyoshi erzielte dabei 55 Tore. Heute noch wirbt Miura für schicke
Miura den nächsten Profivertrag zu ge- Kleidung, und wenn er einen Tokioter Nachtklub betritt, kli-
ben. Außer einer Zahl: 48. So alt wird Miura sein, wenn im cken die Kameras der Paparazzi. In seiner Heimat nennt
Frühjahr die neue Saison in Japans zweiter Fußballliga be- man ihn ehrfürchtig „King Kazu“. Zur Weltmeisterschaft in
ginnt. Dann wird er wieder im Kader seines Klubs FC Yoko- Brasilien lud ihn Japans Fußballverband als Ehrengast ein.
hama stehen, sofern ihm dieser ein weiteres Vertragsjahr Allerdings wurde er abseits des Mannschaftsquartiers unter-
gewährt. Er ist bereit. Ob er tatsächlich spielt oder nicht: gebracht. Die aktuellen Nationalspieler sollten nicht täglich
Ein Ende seiner Karriere mag sich kaum jemand vorstellen, von einer Legende eingeschüchtert werden. red

DER SPIEGEL 49 / 2014 119


Weltverbandschef Blatter, DFB-Delegation*

Zentrale in Zürich
Sport

Alle gegen Sepp


Fifa Für große Fußballnationen wie Deutschland, England und Frankreich ist
Joseph Blatter nicht mehr tragbar; sie wollen, dass er abtritt. Aber der
Patriarch hat bereits einen Plan ausgeheckt, wie er an der Macht bleiben kann.

S
eine nächste wichtige Dienstreise ruptionsermittlungen ihnen bietet. Sie sind dann würden Blatter und Konsorten schon
führt den Fifa-Präsidenten nach Mar- sich einig: Blatter ist schuld an der Glaub- sehen, wo sie blieben.
rakesch. Zwei Tage lang leitet Joseph würdigkeitskrise der Fifa. An dem Debakel Well, die Engländer. Sie überbieten sich
Blatter dort eine Sitzung des Exekutiv- mit Katar. An dem miserablen Image. An geradezu an Vorschlägen, wie Sepp Blat-
komitees, und bevor er abreist, schaut er allem. Also muss er endlich weg. ters Fifa als Hort des Bösen zu entlarven
noch ein Fußballspiel: das Finale um die Seit der Schweizer 1998 unter dubiosen sei. Damian Collins, ein Abgeordneter der
Klub-Weltmeisterschaft. Für einen 78-jäh- Umständen Chef der Fifa wurde, hat es Konservativen im Unterhaus, will zwei In-
rigen Schweizer gibt es so kurz vor Weih- dort zahlreiche Korruptionsaffären ge- formantinnen zu einer Anhörung ins Par-
nachten trübere Aussichten auf einen Ge- geben. Bei weltumspannenden Organisa- lament einladen, die im Urteil der Fifa-
schäftstermin. tionen, die sich einer transparenten Unter- Ethikkommission als unglaubwürdig be-
Doch Blatter ist ein wenig bange. Denn nehmensführung verpflichten, wäre jede zeichnet werden.
ganz oben auf seiner To-do-Liste steht eine einzelne dieser Affären ein Rücktritts- Dann, so hofft der Politiker innig, soll
Aussprache über den Untersuchungsbe- grund für einen Vorsitzenden gewesen. die Welt endlich stichhaltige Beweise zu
richt der Fifa-Ethikkommission zu den Kor- Das System Fifa funktioniert anders, der Korruptionsvorwürfen gegen die WM-Be-
ruptionsvorwürfen um die Vergabe der Machiavellist Blatter denkt anders. Für werber Katar und Australien vorgelegt be-
Fußballweltmeisterschaften 2018 in Russ- Schmiergeldzahlungen unter seiner Füh- kommen. Nur: Beide Zeuginnen haben in
land und 2022 in Katar. rung übernahm niemals Blatter die Ver- den vergangenen Wochen weltweit bereits
Für das Chaos um den Report bezieht antwortung, selbst wenn Gerichte bestä- zahlreiche Interviews gegeben. Präziser
Blatter seit zweieinhalb Wochen weltweit tigten, dass er davon wusste. Stattdessen zu erläutern wussten sie ihre Anschuldi-
Prügel. Nun muss er sich auch noch den berief Blatter sich stets darauf, dass er per- gungen nicht.
Fragen seiner Kollegen im Exekutivkomi- sönlich nicht käuflich sei – was womöglich England hatte sich um die WM 2018 be-
tee stellen. Auf sie zielen die Untersuchun- auch stimmt. worben und war bereits nach dem ersten
gen, gegen einige wird weiterhin ermittelt. Es ist eine ironische Wendung, dass der Wahlgang mit 2 von 22 Stimmen aus-
Dabei weiß der Fifa-Präsident nicht Fifa-Boss nun so heftig wie selten zuvor geschieden. Das empfand man im Ver-
mehr als sie. Er bekam den 430-Seiten-Re- angefeindet wird für einen Vorgang, der einigten Königreich als Schmach. Der Zorn
port des Chefermittlers Michael Garcia ausdrücklich nicht in seiner Macht liegt. der Briten auf den Fußballweltverband
nicht vorgelegt, um den nach dem Urteil Blatter hat auf die führenden Köpfe der wird nun auch dadurch befeuert, dass das
des deutschen Richters Hans-Joachim Fifa-Ethikkommission keinen Einfluss, Urteil der Ethikkommission ihren fragwür-
Eckert – Freispruch für Russland und Ka- Garcia ermittelt unabhängig, Eckert urteilt digen Kontakten zu Mitgliedern des Exe-
tar – ein bizarres Gezerre entstand. Trotz- unabhängig. kutivkomitees fast genauso viel Platz ein-
dem steht Joseph Blatter im Zentrum eines Dass die Kommission nicht die Mittel räumt wie der Bewerbung Katars. Und
Empörungssturms, der seither über der staatlicher Justizbehörden hat, dafür kann mehr als der Bewerbung Russlands.
Fifa tobt. Blatter nichts. Und dass die Fifa die Kosten Vor allem englische Medien heizen der
Längst hat sich die Kontroverse ver- für die Ethikkommission – angeblich rund Fifa immer wieder mächtig ein. Darunter
selbstständigt, wie mit den Ermittlungs- acht Millionen Dollar – bezahlt? Eine logi- finden sich spektakuläre Enthüllungen wie
ergebnissen umzugehen sei: Komplett frei- sche Lösung. Wer sonst sollte dafür auf- die der Sunday Times. Das Blatt beschrieb
geben? In Teilen freigeben? Weiter unter kommen? Ein Hauptsponsor wie Adidas? im Sommer, wie massiv der frühere kata-
Verschluss halten? Es geht auch gar nicht Der Schweizer Steuerzahler? rische Spitzenfunktionär Mohamed Bin
FOTOS: JENS KNAPPE / 360-BERLIN (O.); STEFFEN SCHMIDT / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

mehr so sehr um die Frage, ob Fifa-Ermitt- Trotzdem hat Fifa-Bashing Konjunktur Hammam vor allem in Asien und Afrika
ler Garcia in seinem Report belastende Be- wie selten zuvor. Es ist die große Zeit der Verbandsbosse geschmiert hat. Bin Ham-
lege nennt, die Fifa-Richter Eckert in sei- Populisten. Die Wortmeldungen können mam wollte sich beim Kampf um das Prä-
nem Urteil nicht berücksichtigt haben soll; noch so abenteuerlich klingen – man sidentenamt gegen Sepp Blatter vor der
ob Whistleblower zu Recht oder Unrecht schafft es damit derzeit in die Nachrich- Wahl im Juni 2011 auf diesem Weg offen-
als unglaubwürdig erachtet werden oder tenagenturen. bar die Stimmenmehrheit sichern. Den
ob die Berner Bundesanwaltschaft viel- Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deut- ganz großen Treffer liefert das bislang ver-
leicht doch noch strafrechtlich gegen ein- schen Fußball Liga, Reinhard Rauball, öffentlichte Material freilich nicht – den
zelne Fifa-Funktionäre vorgehen wird. schlug vor, aus Protest gegen das Blatter- Beweis, Katar habe sich mit dieser Beste-
Jetzt geht es um Blatter. Er hat einfluss- Regime die europäischen Verbände aus chungsorgie die WM gekauft.
reiche Feinde. Sie sitzen in England, der Fifa herauszulösen. Aber dürfte dann Die Fifa ist bestrebt, regelmäßig mit ih-
Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Borussia Dortmund noch Fußballprofis aus ren schärfsten Kritikern im Gespräch zu
Staaten, und sie nutzen das Momentum, Gabun und Japan beschäftigen? bleiben. Einmal im Jahr lädt der Fußball-
das die Kakofonie um die internen Kor- Vom früheren englischen Verbandschef weltverband in London die englischen
David Bernstein kam die Idee, bedeutende Journalisten zu einem Abendessen ein,
* Während eines Empfangs der deutschen Nationalmann-
Fußballnationen wie Deutschland, Spa- das letzte Dinner gab es erst vor wenigen
schaft beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue in nien, Frankreich oder England sollten die Wochen; mit in der Runde saßen auch die
Berlin am 10. November. nächste Weltmeisterschaft boykottieren – Reporter Heidi Blake und Jonathan Cal-
DER SPIEGEL 49 / 2014 121
Sport

vert von der Sunday Times, die den Scoop Am Tag vor Beginn der Fußball-WM in Gewerkschaftsbund die Arbeitsbedingun-
mit Bin Hammam veröffentlicht hatten. Brasilien kündigte er an, er werde für eine gen auf den WM-Baustellen prüft und ab-
Fifa-Mediendirektor Walter De Grego- erneute Amtsperiode kandidieren – seine schließend bewertet“, sagt der DFB-Chef,
rio warb für einen differenzierteren Blick fünfte. Seine Mission, so rief er vor den der für einen Sitz in der Fifa-Exekutive
auf den Fußballweltverband. Die Fifa sei Abgesandten der 209 Verbände in den kandidiert.
kein Geheimbund alter Männer, kein si- Saal, sei noch nicht beendet. Niersbach denkt an eine Frist, die die
nistrer Orden. Platini, einst ein treuer Weggefährte des Fifa setzt, etwa von einem Jahr bis
Das stimmt sogar, wenn man in das Zür- Fifa-Präsidenten, ist nun die Schlüsselfigur Ende 2015. Sollten Verbesserungen in die-
cher Hauptquartier der Fifa blickt. 405 Mit- der Blatter-Opposition. Dabei trägt auch sem Zeitraum nicht erreicht sein, würde
arbeiter aus über 40 Ländern leiten dort er eine gehörige Mitschuld an der Glaub- die WM anderweitig vergeben. Das wäre
das operative Geschäft, fast die Hälfte da- würdigkeitskrise der Fifa. Denn Platini hat ein Ultimatum. Ein Antrag dafür müsste
von Frauen, das Durchschnittsalter liegt für die Fußball-WM in Katar gestimmt. jetzt in der Fifa-Exekutive gestellt werden.
bei 39 Jahren. Ein modernes Multikulti- Und Katar ist das Kernproblem der Fifa. Blatter hat nichts gegen den Aufstand
Unternehmen. Die meisten Angestellten Seit das Emirat vor vier Jahren den Zu- gegen das Emirat. Auch er ist ein Gegner
haben exzellente Lebensläufe als Juristen, schlag für die WM 2022 erhielt, herrscht Katars, und er antichambriert, wo er kann.
Betriebswirtschaftler, Marketingstrategen Aufruhr in der westlichen Welt. Es gab Schwieriger ist die Situation für Michel
oder Kommunikationsexperten. Boykottaufrufe, Forderungen, der Weltver- Platini. Sein Sohn hat nach dem Votum
Doch im erregten Ton, den die Berichte band müsse dem Emirat das Turnier wie- für Katar einen hochdotierten Job bei
über die Fifa anschlagen, gehen solche Be- der entziehen. einem katarischen Staatsfonds angetreten,
trachtungen unter. Ein Mitarbeiter, der frü- Auch beim Deutschen Fußball-Bund ehe dieser den Fußballklub Paris Saint-
her für einen italienischen Weltkonzern macht man sich Gedanken, wie eine WM Germain kaufte. Sehr schräg. Platini ist
arbeitete, berichtet, dass er sich selbst un- in Katar noch zu verhindern ist. Präsident auch nicht als Erneuerer bekannt. Auf sei-
ter Freunden für seinen neuen Job ständig
rechtfertigen müsse. Blatter ist schlau. Und er weiß offenbar schon jetzt,
Und immer fällt dabei der Name Blatter.
Der Verdruss am miserablen Image der
dass er Platinis Uefa spalten wird.
Fifa und am ewigen Sepp ist allgegenwär- Wolfgang Niersbach erinnert in diesen Ta- nen Druck hin blockierten europäische
tig. Seit einer Woche suchen führende Ver- gen wieder an die Menschenrechtsverlet- Verbände vor zwei Jahren eine wichtige
bände Europas, eine englisch-deutsch-fran- zungen und unwürdigen Arbeitsbedingun- Fifa-Reform: die Einführung einer Amts-
zösische Allianz, nun die offene Konfron- gen auf den Baustellen Katars, die schon zeitbeschränkung für Exekutivkomitee-
tation mit Blatter. Sie fühlen sich von ihm Amnesty International verurteilt hat. Mitglieder, also auch für den Fifa-Präsi-
getäuscht. Niersbach wagt nun einen Vorstoß, die tat- denten. Es wäre ein Schritt gewesen, der
Blatter hatte den Uefa-Delegierten bei sächliche WM-Ausrichtung von der Ein- automatisch für deutlich mehr Transpa-
seinem letzten Wahlkampf vor dreieinhalb haltung von Mindeststandards bei den renz in der Regierung des Fußballwelt-
Jahren versprochen, dies sei seine letzte Wohn- und Arbeitsbedingungen abhängig verbands gesorgt hätte. Doch Platini ging
Amtszeit. Wenn dann im Mai 2015 sein zu machen. es um Machterhalt.
Mandat ende, mache er sich für Michel „Aus Sicht des DFB wäre es auch im In- Der Mann, den Platini jetzt gegen Blat-
Platini als seinen Nachfolger stark, den teresse Katars zielführend, einen Zeitraum ter in Stellung bringen will, ist wohl Prinz
Chef der Uefa. zu definieren, an dessen Ende eine unab- Ali bin Al-Hussein, ein Mitglied der jorda-
Davon will Blatter, ein Meister wech- hängige Institution wie beispielsweise Am- nischen Herrscherfamilie. Der 38 Jahre
selnder Koalitionen, nichts mehr wissen. nesty International oder der Internationale alte Königssohn, Präsident des jordani-
schen Fußballverbands und seit 2011 Mit-
glied der Fifa-Exekutive, soll Blatter bei
der Präsidentenwahl Ende Mai vor allem
Stimmen der Asiaten und Europäer ab-
spenstig machen.
Ein kühner Plan. Aber ist der Patriarch
so zu stürzen?
Blatter ist schlau. Und er weiß offenbar
schon jetzt, dass er Platinis Uefa spalten
wird. Vor Wochen bereits zählte er in sei-
nem Büro jene Verbände Europas auf, die
fest an seiner Seite stehen sollen.
FOTO: AFP PHOTO/HO/SUPREME COMMITTEE FOR DELIVERY AND LEGACY

Nach Informationen des SPIEGEL baut


Joseph Blatter auf Spanien. Auf Italien.
Die Türkei. Moldau. Litauen. Lettland.
Slowenien. Rumänien. Bulgarien. Russ-
land. Selbst auf Norwegen. Ein weiteres
Dutzend, davon geht er wohl aus, werde
folgen, es wäre in etwa die Hälfte aller
europäischen Stimmen.
Ein Angestellter des Fifa-Hauptquar-
tiers, der Zugang zum Präsidenten hat,
sagt: „Mein linker großer Zeh hat mehr
Chancen gegen Blatter als ein Mann von
Platinis Gnaden.“
WM-Stadion in Katar (Computergrafik): Aufruhr in der westlichen Welt Jörg Kramer, Michael Wulzinger

122 DER SPIEGEL 49 / 2014


Dortmunder Profi Reus im Spiel gegen Paderborn

Pakt unter
vom Ruhrpott an die Isar. Nun auch noch Dass sich die Chefs der beiden führen-
Reus? den deutschen Klubs womöglich über die
„Karl-Heinz Rummenigge nimmt durch berufliche Zukunft eines Nationalspielers

Männern
sein Verhalten billigend in Kauf, dass das verständigt haben, darüber wird in der
ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Branche heiß debattiert. Für einen Spieler
Borussia Dortmund und dem FC Bayern wie Reus ist der FC Bayern ein logischer
München weiter beschädigt wird“, ließ Karrieresprung. Der Klub spielt jedes Jahr
Fußball Der FC Bayern und Watzke auf der Homepage des Vereins ver- in der Champions League, in München
breiten. Mit kaum gebremster Wut empör- kann ein Fußballer Titel holen – und das
Borussia Dortmund streiten um te er sich über die Frechheit des Kollegen, ganz große Geld verdienen. Dass dieser
Nationalspieler Marco Reus. Vertragsinterna von Angestellten des BVB Wechsel aber gar nicht möglich ist, weil
es da eine Absprache gibt, von der der
Es soll auch um ein gebrochenes öffentlich auszuplaudern. Nun herrscht Eis-
zeit zwischen Rummenigge und Watzke. Spieler nichts weiß, nichts ahnt, wird
Versprechen gehen. Dabei sollen sich die Herren im Fall in Beraterkreisen als „Kuhhandel nach
Reus schon einmal so schön einig gewesen Gutsherrenart“ bezeichnet. Ein Manager

D
ie letzten drei Tore, die der Natio- sein. Vor knapp einem Jahr soll es zwi- spricht sogar von „Menschenhandel“.
nalspieler Marco Reus für seinen schen den Parteien zu einer Art Nicht- Den Beteiligten ist die Sache unange-
Verein Borussia Dortmund erzielte, angriffspakt gekommen sein. nehm. „Es gab ein Gespräch zwischen uns
feierte er jeweils mit einer ungewöhnlichen Die Verabredung sei im Rahmen der in Nyon, das ist korrekt. Aber ich werde
Geste. Einmal hielt sich der Mittelfeldspie- Auslosung des Champions-League-Achtel- es nicht weiter kommentieren“, sagt Watz-
ler den Mund zu, einmal die Ohren, bei finales Mitte Dezember 2013 im schweize- ke. Rummenigge erklärt, er habe sich in
seinem letzten Treffer, im Spiel gegen Pa- rischen Nyon erfolgt. Wenige Stunden vor der Schweiz zwar mit Watzke über Lewan-
derborn, dann die Augen. Beginn der Zeremonie ging damals Rum- dowski unterhalten, die Personalie Reus
Nichts reden, nichts hören, nichts sehen. menigge auf Watzke zu. Der Bayern-Boss, sei aber nicht thematisiert worden. Eine
Was Reus mit der Symbolik wohl andeu- der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört, Absprache habe es nie gegeben.
ten wollte: dass ihm das öffentliche Ge- bat um ein vertrauliches Gespräch in ei- Rummenigge hat Reus bislang kein An-
plapper über seine Zukunft als Fußballer nem Nebenzimmer. Rummenigge war zu gebot unterbreitet. Allerdings traf er sich
gehörig auf die Nerven geht; dass er von Ohren gekommen, dass die Dortmunder Mitte Oktober, am Rande des Länderspiels
dem ganzen Theater um einen möglichen aktiv daran arbeiten würden, ihren dama- zwischen Deutschland und Irland, mit den
Wechsel zum FC Bayern nichts wissen ligen Stürmer Robert Lewandowski bei Beratern des Spielers. Man tauschte sich
will. Real Madrid unterzubringen. Eigentlich aus. In München ist zu hören, dass man
Und in der Tat: Er wusste nichts über hatte sich der Pole, der nach seinem Ver- den Nationalspieler nehmen würde, aber
die Hintergründe der Komödie. tragsende bei Dortmund ablösefrei zu ihn keineswegs zu einem Spitzenverdiener
Reus, wegen einer Verletzung am Au- haben war, den Bayern versprochen. Rum- machen wolle. Reus sei zu verletzungs-
ßenband bis Januar nicht einsatzfähig, ist menigge wusste jedoch, dass ein Millio- anfällig, man sei nicht endgültig überzeugt
in den vergangenen Wochen zwischen die nenangebot von Real für Lewandowski auf von seiner Leistungsfähigkeit.
Fronten geraten. Anfang August plauderte dem Tisch lag. Und er wusste auch, dass In Dortmund glauben sie, dass Rumme-
Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rumme- es den Dortmundern lieber war, Lewan- nigge nur pokert, dass er seine Chancen
nigge unvermittelt Details aus Reus’ Ver- dowski wechsle nach Madrid als zum Liga- auslotet. Watzke, so hört man aus dessen
trag mit Borussia Dortmund aus. Der Spie- konkurrenten nach München. Umfeld, ärgert sich vor allem darüber, dass
ler habe da eine Ausstiegsklausel in seinem Rummenigge, so berichten es verschie- der Kollege einen Pakt unter Männern ge-
Kontrakt. Biete ein Verein 25 Millionen dene Quellen, soll Watzke beschworen ha- brochen habe. Rummenigges alter Spitz-
Euro, mutmaßte Rummenigge, könne Reus ben, den Deal mit Real zu verhindern und name, den ihm die Fans des BVB vor Jah-
FOTO: JONAS GÜTTLER / DPA

gehen. Lewandowski nicht im Winter zu verkau- ren einmal gegeben haben, kursiert wieder
Dortmunds Klubchef Hans-Joachim fen. Als Gegenleistung würde Bayern die im Ruhrgebiet: „Die Schande von Lipp-
Watzke schäumte vor Wut. Voriges Jahr Finger vom großen Dortmunder Talent stadt“.
hatten die Münchner dem Rivalen bereits Marco Reus lassen. Keine Verhandlungen, Rummenigge ist in Lippstadt geboren,
Mario Götze weggekauft, diese Saison kein Angebot. Sie verabschiedeten sich 70 Kilometer von Dortmund entfernt.
wechselte Stürmer Robert Lewandowski mit einem Handschlag. Rafael Buschmann

DER SPIEGEL 49 / 2014 123


Ausstellungen

Tierisch bunt
Was haben die Hollywood-
ikone Marilyn Monroe, das
FOTOS: D. JAMES DEE COURTESY OF RONALD FELDMAN FINE ARTS, NEW YORK © 2014 THE ANDY WARHOL FOUNDATION OF THE VISUAL ARTS, INC. / RONALD FELDMAN FINE ARTS, NEW YORK / ARTISTS RIGHTS SOCIETY (ARS), NEW YORK AND DACS, LONDON (O.); ROBERT WUNSCH / UNIVERSAL MUSIC (U.)

Dickhornschaf und das Spitz-


maulnashorn gemeinsam? Sie
alle sind von dem amerikani-
schen Pop-Art-Künstler Andy
Warhol porträtiert worden.
Die Bilder von Monroe oder
dem Sänger Elvis Presley sind
weltberühmt. Weniger be-
kannt sind die Siebdrucke der
vom Aussterben bedrohten
Tiere aus dem Jahr 1983. Sie
werden jetzt im Old Sorting
Office in London ausgestellt.
Anlass ist das Jubiläum zum
50-jährigen Bestehen der von
der Naturschutzorganisation
International Union for Con-
servation of Nature and Natu-
ral Resources angelegten Ro-
ten Liste gefährdeter Arten.
„Warhol interessierte sich für
die urbane Zivilisation“, sagt
der Kunsthistoriker und War-
hol-Experte Klaus Honnef.
„Eine Kampagne zugunsten
bedrohter Tiere gehörte für
ihn in diese Bildwelt.“ Die
New Yorker Galeristen Ro-
nald und Frayda Feldman hat-
ten Warhol mit dieser Serie
beauftragt. Einen Teil der Bil-
der spendeten sie Umweltor-
ganisationen. red Warhol-Siebdrucke bedrohter Tierarten, 1983

Rap zwei Mädchen helfen, jetzt Ob ich diese Musik so weiter- aber ich mache Kunst. Ich
„Ich kenne ihre ist sie tot. Ich kenne ihre Fa- machen kann. glorifiziere dieses Leben im
milie. Das macht mich sehr SPIEGEL: Warum? Verbrechen nicht, wie viele
Familie“ traurig. Ich musste lange Anhan: Der Vollidiot, der das andere Rapper es tun. Ich
Der Rapper Aykut Anhan alias nachdenken, ob an meiner Mädchen angegriffen hat, hat habe dieses Leben gelebt, ich
Haftbefehl, 28, über den Tod Kunst irgendwas falsch ist. ein selbst geschossenes Foto weiß, wovon ich spreche, und
der Offenbacher Lehramts- ins Internet gestellt, auf dem ich erzähle davon. Meine Mu-
studentin Tuğçe Albayrak, die ich zu sehen bin. sik ist auch nichts für Kinder,
von Rowdys niedergeschlagen SPIEGEL: Kannten Sie ihn? niemand unter 18 sollte mein
worden war Anhan: Nein. Und aus Album hören. Dafür braucht
meinem Umfeld kannte ihn man eine gewisse Reife.
SPIEGEL: Herr Anhan, Sie sind auch niemand. SPIEGEL: Es hieß zunächst, Sie
Gangsta-Rapper, in Ihrer SPIEGEL: Wie ist das Bild denn seien bei der deutschen Ver-
Musik geht es um Drogen- entstanden? sion des Band-Aid-Songs dabei.
deals, Waffen, Straßenkämpfe. Anhan: Keine Ahnung, auf Warum haben Sie abgesagt?
Oft ist Ihnen vorgeworfen der Straße wahrscheinlich. Ich Anhan: Ich war zuerst ge-
worden, Sie würden Gewalt muss in Offenbach nur schmeichelt, als ich gefragt
verherrlichen. Kann echte zum Friseur gehen, und auf wurde. Und ich habe eine
Gewalt Sie noch schocken? der Straße stehen Leute, Menge Respekt für die Leute,
Anhan: Schlimm. Vor zwei um mich zu fotografieren. die mitgemacht haben: Mar-
Wochen ist hier in Offenbach SPIEGEL: Was heißt dieser Tod teria oder Jan Delay. Aber
ein Mädchen angegriffen für Sie als Gangsta-Rapper? dann habe ich gemerkt: Für
worden, Tuğçe Albayrak, Anhan: Vielleicht kommt das mich und die Musik, die ich
eine Studentin. Sie wollte manchmal nicht so rüber, mache, passt das nicht. rap

124 DER SPIEGEL 49 / 2014


Kultur
Sprache produktion des Immerglei- Dirk Kurbjuweit Zur Lage der Welt
Sokrates, der Chiller chen. Angus Young, Gitarrist
und Ko-Songwriter, trägt
„Läuft bei dir“ ist also Jugend- auch mit 59 noch Schuluni-
Hitler umarmen
wort des Jahres, das hat eine form, die Texte seiner Band Kürzlich habe ich Hitler umarmt. Er
lässige Jury vom Langen- zeugen immer noch von kam in mein Büro, er trug eine Uni-
scheidt Verlag so entschieden. männlichem Stumpfsinn, form und einen abgerissenen Militär-
Heißt so was wie: Du hast und musikalisch setzen mantel. Bärtchen, Scheitel. „Ah,
was Krasses gemacht, du hast AC/DC wieder und wieder das Reichspropagandaministerium“,
es drauf. Wir sagen: Danke, auf Riffs – kurze und ein- rief er mit seiner Hitler-Stimme.
liebes Gremium! Du bringst prägsame Rhythmus- und Irrtum, das ist das Hauptstadtbüro
uns die Jugend nahe, ohne Melodiemotive. Die Riffs des des SPIEGEL, sagte ich. „Eben“, sagte
dich wären wir Apfelsaftge- AC/DC-Gitarristen Malcolm er, „ihr macht doch ständig Titel
sichter voll Most und lost im Young waren einmal perfek- über mich.“ Ich musste lachen. Dann
Space des hippen Anders- te Träger, bekannt aus den umarmte ich Hitler. Er roch muffig.
seins. Jetzt sind wir keine Par- Songs „T.N.T.“ oder „Hells Wir saßen für eine halbe Stunde in
tyschranken mehr, jetzt wis- Bells“. Malcolm Young, „die meinem Büro und plauderten. Als er
sen wir verschärft, was geht, beste rechte Hand des weg war, hatte ich ein schlechtes Gefühl. Darf man Hitler
wenn wir uns einen Drink an Rock ’n’ Roll“ (Rolling Stone), umarmen und damit irgendwie den Holocaust, den Zwei-
der Bar bestellen und dabei ist an Demenz erkrankt. Er ten Weltkrieg?
Selfies machen! Es geht doch hat die Band verlassen, Es war nicht wirklich Hitler, es war Oliver Masucci, ein
nichts über Reallife, das ist AC/DC haben trotzdem ein Schauspieler, den ich lange kenne. Er spielt die Haupt-
der krasseste Event ever. neues Album veröffentlicht, rolle in der Verfilmung des Romans „Er ist wieder da“, in
Aber pass auf, liebe Jury! Der „Rock or Bust“ heißt es. In dem Hitler in der Gegenwart erscheint. Masucci hatte
Babo weiß, wo dein Haus den elf Stücken beherzigen an jenem Tag am Brandenburger Tor gedreht und besuch-
wohnt, und wenn du so wei- AC/DC einen Ausspruch von te mich in einer Pause. Ich hatte nicht Hitler umarmt,
termachst mit deiner Ranwan- Malcolm Young: „Man sondern einen Freund. Kein Problem also. Aber aus Hit-
zerei, dann hast du bald total kommt ja ohnehin wieder ler kann man natürlich immer ein Problem machen.
abgelost und bist so schnell zum Ausgangspunkt zurück, Es war seltsam, ihn bei mir sitzen zu sehen, aus Fleisch
Gemüse wie wir schon lange also warum sollte man und Blut, als Mensch. Es gibt historische Figuren, die den
Gammelfleisch. Denn die Ju- überhaupt erst woandershin Schauspieler verdrängen, deren Anblick so bestürzend
gend „hat schlechte Manieren, aufbrechen?“ Das Problem und überwältigend ist, dass sie für Momente den Schau-
verachtet die Autorität und ist, dass die Riffs der neuen spieler in den Gespielten verwandeln, Masucci in Hitler.
hat keinen Respekt vor älte- Platte nicht tragen. Songs Masucci macht diese Erfahrung derzeit häufig. Wer ihn in
ren Leuten“. Sagte schon So- wie „Got Some Rock & Roll seiner Maske sieht, erschrickt. Manche laufen weg, ver-
krates, der heftige Chiller aus Thunder“ oder „Baptism by weigern ihm den Handschlag. Der Film wird die Diskus-
Griechenland. es Fire“ stürzen ein. Und will sion befeuern, was mit Hitler erlaubt ist und was nicht.
man sich von alten Männern Sie läuft ständig. Bild-Chefredakteur Kai Diekmann
wirklich etwas über Partys verpetzte Jan Böhmermann kürzlich bei der israelischen
Pop und Frauen erzählen lassen? Regierung, weil der in seiner Fernsehshow Hitler persi-
Rock’n’Rente „Rock or Bust“ klingt alters- fliert hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte dis-
schwach. Es hätte AC/DC kutierte einen Tag lang unter der Frage: „Hitler und Hu-
Das Erfolgsprinzip der aus- gutgetan, ihren Rock in die mor – geht das?“ Dabei sagte der Historiker Axel Drecoll,
tralischen Hardrock-Band hart erarbeitete Rente zu dass man Hitler weder als „absolute Null“ noch als „Dä-
AC/DC ist einfach: die Re- schicken. red mon“ erklären könne. Ich sehe das genauso. Für mich ist
Hitler nur als Mensch zu begreifen.
Einmal bin ich einer Frau begegnet, die Hitler womög-
lich umarmt hat. Das war die Regisseurin Leni Riefen-
stahl, die Propagandafilme für die Nazis gedreht hatte. FOTO: JAMES MINCHIN / SONY MUSIC; PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Sie war fast 100, als ich sie traf, und sie hat mir drei Stun-
den lang erzählt, wie liebenswürdig Hitler war. Dass er
an ihrem Bett saß, als sie krank war, voller Mitgefühl und
Bedauern. Immer sei er anständig gewesen, nie habe er
versucht, sie zu küssen. Ein feiner Kerl.
Ich glaube, dass mir erst nach diesem Gespräch das
ganze Grauen bewusst war. Ich hatte dazu geneigt, Hitler
als Monster zu sehen und ihn damit von mir selbst zu ent-
rücken. In Riefenstahls Erzählung wurde er ein Mensch
wie ich, der Empathie fähig. Umso schlimmer.
Als ich Masucci zum Abschied umarmte, umarmte ich
Hitler, einen Menschen, Wärme, ein Herzschlag, alles
ganz normal, einer von uns. Hitler war kein Sonderge-
schöpf, er war eine extreme Dimension des Menschlichen.

AC/DC An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
Claudia Voigt an der Reihe, danach Elke Schmitter.

DER SPIEGEL 49 / 2014 125


Kultur

Gespenster vor den Scheiben


Literaten Polen liegt eingeklemmt zwischen Ost und West. Wie erleben die dortigen Autoren
die zunehmende Spannung im russisch-deutschen Verhältnis?

I
n Jacek Dehnels Wohnung riecht es me, schleicht durch die Kneipengespräche. Dehnel verschränkt Arme und Beine.
nach Mandarinen und Gasheizung. Sie nistet in den Köpfen. Die Angst vor Er spricht aus, was er den Deutschen sagen
Zwei Dutzend Gehstöcke ragen aus Wladimir Putins Russland. Die Angst davor, will: „Wirft Putin eine Atombombe auf
einer Ecke hervor, die Accessoires eines dass Europa nicht ernst genug auf die Ukrai- Warschau, landet die nächste in Berlin.“
jungen Mannes, der sich weise gibt. Über- ne-Krise reagiert. Davor, dass Putin bald Das größte Wort, die stärkste Waffe:
all Bücher, bis zur Decke gestapelt. Die nicht mehr nur am Fluss Donez vorrückt, „Atombombe“. Die Wortwahl zeigt, dass
Bücher rahmen die Dreizimmerwohnung sondern auch an der Weichsel. Vor Putin die Angst riesig ist, und diese Angst ist
des Dichters ein, sie liegt mitten in War- selbst, der vor ein paar Tagen noch an die eine alte Bekannte. Sie nährt sich aus den
schau, auf der Weichselböschung, wie die „jahrhundertealte gemeinsame Geschichte“ Erzählungen der Eltern und Großeltern.
Warschauer sagen. erinnerte, die Polen und Russen verbinde – Es ist eine Angst aus Erfahrung, die Angst
Von hier aus sieht man einen Stachel, Worte, die in polnischen Medien für Beun- vor einer Wiederholung der Geschichte.
der in den Himmel ragt. Es ist der Kultur- ruhigung sorgten, weil sie der Rhetorik der 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Welt-
palast, Wahrzeichen der polnischen Haupt- kühlen Umarmung entsprachen, die Putin kriegs weckt sie auf, was tief im nationalen
stadt, Symbol des einstigen sowjetischen gegenüber der Ukraine hegt. Gedächtnis der Polen schlummert: die Er-
Imperialismus. Von den Warschauern wird Ausdruck dieser Angst ist der offene innerung an das geheime Zusatzprotokoll
er mitunter „Stalinstachel“ genannt, ihn Brief „Danzig 1939, Donezk 2014“, ein Ap- des Hitler-Stalin-Paktes, in dem Sowjets
umgeben die Prestigebauten westlicher pell an Europa, unterzeichnet von 20 pol- und Deutsche gleichsam die vierte Teilung
Architekten. Der Stachel und die Wolken- nischen Intellektuellen, veröffentlicht in Polens beschlossen, als sie osteuropäische
kratzer, geisterhafte Gäste im Dazwischen, der Gazeta Wyborcza, in The Economist, Gebiete in Einflusssphären aufteilten – eine
es ist ein bisschen wie in einem von Deh- Le Monde, La Libre Belgique, Die Welt Idee, die Putin kürzlich verteidigte. Am
nels Gedichten: „Dunkel türmen vor den und in ukrainischen Medien. „Wer heute 1. September 1939 kam die Wehrmacht, am
Scheiben sich Gespenster, die Dunkelheit Putin nicht ,No pasarán‘ entgegenruft, wil- 17. die Rote Armee, der Rest Europas sah
kommt zu Besuch ans Fenster.“ ligt ein, dass die Weltordnung umgestürzt zu. Dieser historische Verrat der Europäer
Vor dem Stachel steht die Statue des wird“, steht darin. „Wer heute weiter ,busi- an Polen, er wird in jedem der Gespräche
polnischen Nationaldichters Adam Mickie- ness as usual‘ betreibt, der riskiert einen auf dieser Reise erwähnt werden.
wicz. In der Straße vor Mickiewicz leuch- Angriff des putinschen Imperialismus auf Der Zug von Warschau nach Krakau
ten Markennamen aus dem Westen. Mickie- weitere Länder. Gestern Danzig, heute heißt Kościuszko, benannt nach einem pol-
wicz sitzt die Angst im Nacken, die Hoff- Donezk: Wir dürfen nicht zulassen, dass nischen Nationalhelden, der in einer
nung hat er vor Augen. Europa auf viele Jahre mit einer offenen, Schlacht vor mehr als 200 Jahren gegen
Warschau, das ist der Ort, an dem sich blutenden Wunde lebt.“ die Russen siegte. In den Zügen reisen be-
die Geschichte Polens zeigt wie nirgendwo Der Dichter Dehnel ist ein Unterzeich- trunkene Männer. Sie erzählen Witze oder
sonst. Da, wo der Stalinstachel auf Wol- ner des Briefes, 34 Jahre alt und schon tanzen, die Gäste lachen, die Schaffner
kenkratzer trifft. Wo im ehemaligen SS-Ge- einer der bekanntesten Schriftsteller in auch. Am Busbahnhof in Krakau, fast 300
bäude Psychologie gelehrt und vor der na- Polen. Seine Gedichte sind Anachronismen, Kilometer südlich von Warschau, sehen
tionalen Kunstgalerie für ein paar Tage der Verse, die hundert Jahre alt sein könnten. die Wartenden ihrem Atem nach. Endlich
Schutt von Goebbels’ Geburtshaus ausge- Um Dehnel herum stapeln sich seine Hel- kommt der Bus, ein altes Modell aus
stellt wird. Wo stark geschminkte Frauen den. Hier Mickiewicz, da Dostojewski, da- Deutschland. Er passiert das alte Königs-
und Hipster sich zwischen McDonald’s und vor ein Schild: „Hier war Goethe nie“. schloss Wawel, in dessen Kathedrale be-
Milchbar begegnen. Wo Rentner auf der „Die Deutschen“, sagt Dehnel, „müssen deutende Polen beigesetzt wurden, Ta-
Straße Pappbilder von Papst Johannes verstehen, dass unsere Angst vor Putin deusz Kościuszko, Mickiewicz und all die
Paul II. verschenken und der Wind die kein Zufall ist.“ Diese Angst ist vielmehr Könige. Der Bus fährt weiter, raus aus Kra-
Visitenkarten der Bordelle über die Pflas- das Ergebnis von Langzeitbeobachtungen kau, durch Kleinpolen, das bis 1918 in Tei-
tersteine tanzen lässt. der Nachbarn im Osten und im Westen. len zu Galizien gehörte, dem Königreich
Warschau, Hauptstadt eines Landes, das „Polen hat gerade sehr gute Beziehungen im Kronland Österreich-Ungarn, wo
mitten in Europa liegt und doch an seiner zu Deutschland. Mit unserem Brief wollen Schtetl an Schtetl grenzte. Der Bus hält in
Peripherie, „westliche Östlichkeit oder öst- wir erreichen, dass das so bleibt.“ Gorlice. Etwa eine halbe Stunde südlich
liche Westlichkeit“ prägt seine Kultur, wie Die Position Deutschlands in der Ukrai- beginnt die Slowakei, ungefähr zwei Stun-
die polnische Intellektuelle Maria Janion ne-Krise ist Dehnel zu schwach. Damit ist den östlich die Ukraine.
schrieb. Ein Land, das 123 Jahre lang von er nicht allein. Die Publizistin Anne Andrzej Stasiuk, 54, holt ab, er kommt
der Landkarte verschwunden war, zerstü- Applebaum, Ehefrau des ehemaligen pol- mit seinem SUV. Stasiuk fährt nicht, er
ckelt von seinen Nachbarn, für Jahrzehnte nischen Außenministers Radoslaw Sikor- rast zu seiner Hütte. Stasiuk, auch dieser
FOTOS: MARTIN MAI / DER SPIEGEL

bedeckt vom Laken eines Gespenstes, das ski, attestierte Angela Merkel diplomati- Name steht unter dem offenen Brief, es
Kommunismus heißt. Diese Reise führt zu sches Versagen in der Krise; polnische ist der Name eines der international re-
wichtigen Schriftstellern des Zwischenlan- Journalisten warfen Deutschland vor, be- nommiertesten Schriftsteller aus Polen.
des Polen, um mit ihnen über eines zu spre- fangen zu sein wegen des langen Schattens Stasiuk führt auch den Verlag Czarne, in
chen: die Angst. der Bluttaten im Zweiten Weltkrieg – Mas- dem Herta Müller und Jurij Andrucho-
Diese Angst ist überall. Sie blickt von senmorde in der Sowjetunion, Schlacht wytsch auf Polnisch erscheinen. In
den Titelblättern, kriecht auf die Bildschir- von Stalingrad. Deutschland verlegt der Suhrkamp-Verlag
126 DER SPIEGEL 49 / 2014
Autor Stasiuk

Schriftstellerin Tokarczuk Lyriker Dehnel

DER SPIEGEL 49 / 2014 127


Twardoch fährt durch die Straße des Sie-
ges. Auch er hat einen SUV, seiner riecht
nach Neuwagen. Twardochs SUV, der
durch Oberschlesien fährt, aus Grau wird
Grün, vorbei an Maisfeldern, Backstein-
bauten, Marienhäuschen, durch Twardochs
Heimat, die auch seit 300 Jahren die Hei-
mat seiner Ahnen ist, im Zweiten Welt-
krieg Schauplatz von Gefechten zwischen
Wehrmacht und Sowjetarmee.
Twardoch sieht aus wie ein Graf, der
Lifestyle-Magazine abonniert. Tattoos, ein
feiner Zwirn. Die schlesische Herkunft hat
sein Polnisch weich gemacht. „Ich weiß,
dass ich kein Deutscher bin“, sagt er. „Und
ich weiß, dass ich kein Pole bin.“
Eine einsame Identität, so hat Twardoch
Schriftsteller Twardoch: „Ich will hier keine russischen Panzer sehen“ sich in einem Essay beschrieben, dennoch
könne er für die Polen sprechen, wie er
Stasiuks Bücher. Sie erzählen von seinen West sei zu Ende. Was für ein Quatsch, sagt, auch er hat den offenen Brief unter-
Reisen, von der Vergänglichkeit, von verdammt noch mal!“ zeichnet, im Namen der Polen, in deren
Schönheit und Schwermut des Ostens. Sta- Im August titelte die Gazeta Wyborcza, Sprache er „Morphin“ verfasst hat. Der
siuk ist so, wie seine Bücher klingen. Mal „Die Deutschen werden uns nicht vertei- Roman hat in Polen für Furore gesorgt,
ein Junge, der eben erst die Ironie für sich digen“, die alte Angst gebiert neue Schlag- weil darin ein polnischer Widerstands-
entdeckt hat, mal ein alter Mann, dessen zeilen. „Das werden die Deutschen auch kämpfer im Herbst 1939 auf der Suche
Blick melancholisch die Ferne sucht. nicht, wenn Putin angreift“, sagt Stasiuk. nach Stoff und Sex durch das vom Krieg
Im SUV bröckelt trockener Schlamm „In Deutschland muss man nur ,Russland‘ vergewaltigte Warschau irrt. „Morphin“
vom Armaturenbrett, vielleicht polnischer rufen, und alle kommen ins Schwärmen.“ wurde zum Bestseller, Twardoch hat sich
Schlamm, vielleicht russischer, mongoli- Stasiuks Reisen haben ihn weit in den davon sein Haus in Pilchowice gebaut. Er
scher, chinesischer. Schlamm des Ostens, Osten geführt, oft durch Russland, im Som- tritt ein.
vereint in Stasiuks Wagen, der durch Klein- mer war er zuletzt in dem Land, das man „Meine polnischen Freunde haben wirk-
polen rast, vorbei an Resten der Volks- gesehen haben muss, wie er sagt, um zu lich Angst, dass ihr schönes Leben durch
republik Polen, an ehemaligen Kolchosen, verstehen, wie die Menschen ticken, die einen großen Krieg zerstört werden kann.“
die heute einem Millionär gehören. Am zum Großteil hinter Putin stehen. „Putin Twardoch tippt auf seinem weißen iPhone
Seitenstreifen, immer wieder: Jesus Chris- ist cleverer als der Westen“, sagt Stasiuk. herum, das in seiner weißen Küche liegt.
tus, Messias aus Stein, erlöse uns von dem „So wie Russland immer schon cleverer „Dass sie kämpfen müssen, in Gefängnisse
Bösen. war. Ich befürchte tatsächlich einen Krieg. gesperrt werden, dass die Frauen nicht
Pflaumenbäume, Nadelwälder, Kiefern. Bevor der Sicherheitsrat zusammentritt mehr so gut angezogen sind.“
Dort, wo heute Bäume um rechteckige und seine Beunruhigung ausdrückt, ist Twardoch sieht die Angst in den Gesich-
Grasflächen wachsen, standen bis Ende Putin schon in Schlesien.“ tern seiner Freunde. Er findet Bestätigung
der Vierzigerjahre Häuser. „Bis 1947 haben Der Weg von Gorlice nach Schlesien in den Büchern, die von der Zeit vor hun-
hier die Lemken gelebt, eine ukrainische führt über Krakau, dann weiter nach Wes- dert Jahren berichten. „Vor dem Ersten
Minderheit“, sagt er, seine Stimme tief und ten. Vorbei am Kohlekraftwerk von Tar- Weltkrieg gingen viele davon aus, dass es
heiser. „Sie wurden von den Polen zwangs- nów, ideale Kulisse für einen Film über die nie wieder Krieg in Europa geben wird. Wir
umgesiedelt.“ Tristesse des Ostens. Vorbei an Auschwitz. wissen ja, wie das ausgegangen ist.“
Die Polen und die Ukrainer, auch ihre Vorbei an Städten, in denen der Putz von Die Angst vor dem Krieg ist alt, aber
gemeinsame Geschichte ist belastet: Mas- den Häuserwänden abblättert. Fassaden wichtig, darin sind sich die Schriftsteller
saker der Ukrainischen Aufständischen Ar- wie Gesichter alter Menschen, die schon einig. Es gibt kein Ende der Geschichte,
mee an den Polen im Zweiten Weltkrieg, alles gesehen haben. Willkommen in Ober- das sagen sie immer wieder. Die Ukraine-
Vorurteile der Polen bis in die Gegenwart. schlesien, weniger als eine Stunde von der Krise sei erst der Anfang, dieser Satz blinkt
„Viele Polen nehmen die Ukrainer nur als tschechischen Grenze entfernt: polnischer wiederholt auf wie das Rot eines Alarm-
Arbeiter und Putzfrauen wahr“, sagt Sta- Südwesten. zeichens. Nur: Wenn das der Anfang ist,
siuk, „und darum ist es wichtig, dass ich „Ich will hier keine russischen Panzer was kommt danach?
helfe. Mein Verlag veröffentlicht die meis- sehen“, sagt Szczepan Twardoch. Twar- „Dieser Krieg wird sich ziehen, mal heiß,
ten ukrainischen Schriftsteller in Polen.“ doch, 34, ist Schlesier und das Enfant ter- mal kalt. Entweder Putin wird in die Knie
Vor Stasiuks Lenkrad klebt ein Pferd aus rible der polnischen Literatur. Er lebt im gezwungen. Oder er kriegt, was er will:
Metall, Geschenk ukrainischer Freunde, Dorf Pilchowice, nahe der Stadt Gliwice. die alten Grenzen des Imperiums.“ Twar-
ein Talisman, der die Richtung weist. Eine Hauptstraße von Gliwice heißt doch blickt lange in Richtung Terrasse, wo
Stasiuk hält vor einer Hütte am Wald- Ulica Zwycięstwa, die Straße des Sieges, die Spielsachen seiner Kinder liegen.
rand, hier schreibt er seine Bücher. „Roh eine Bresche durch verrußtes Grau. Von Raus aus den Dörfern, die so viele Na-
FOTO: MARTIN MAI / DER SPIEGEL

und einfach“, so beschreibt er die Hütte, einer Fassade lächelt eine schöne Frau. men haben, polnische, deutsche, schlesi-
so ist sie auch. Vor der Hütte hat er die Ihre Zähne sind weiß wie sonst nichts in sche, nach Nordwesten, vom Land in Rich-
Fahnen von Kirgisien, Tadschikistan und Gliwice: C&A-Reklame. Wenige Schritte tung der Städte. 180 Kilometer von Twar-
der Ukraine gehisst, Mitbringsel von sei- entfernt hat jemand „SS“ und einen Hoo- dochs Haus entfernt kommt Breslau, an
nen Reisen. Die russische hat er abgehängt. ligan-Slogan an Wände gesprüht: „Wir der Oder gelegen, Grenzfluss zwischen
„Nach der Sowjetunion haben alle ge- zerstören die, denen Schlesien nichts Polen und Deutschland. In der Peripherie
sagt, die alte Geschichte von Ost gegen bedeutet.“ von Breslau schieben junge Polen Kinder-
128 DER SPIEGEL 49 / 2014
Kultur

wagen durch die Parks neben den Blocks.


In der mit EU-Geldern restaurierten Alt-
stadt besichtigen deutsche Rentner ihre
Wurzeln. Breslau, wo Hoffmann von Fal-
lersleben wirkte, Breslau, das Adolf Hitler
zur Festung erklären ließ.
Eine Frau liegt auf einem Bett aus To-
tenschädeln. Aus ihren Brüsten spritzt
Milch, auf ihrem Bauch liegt ein Baby.
„Eine unorthodoxe Muttergottes, nicht
wahr?“, sagt Olga Tokarczuk, 52, eine der
populärsten polnischen Schriftstellerinnen.
Die unorthodoxe Muttergottes ist ein Ge-
mälde, es hängt in Tokarczuks Küche, in
ihrem Haus in Breslau, erbaut 1912, in den
vergangenen hundert Jahren bewohnt von
Deutschen, von Juden, von Polen.
Auch Tokarczuk hat den offenen Brief
unterschrieben. Ihre Texte sind oft Para-
beln, die im Grenzdreieck zwischen Polen,
Deutschland und Tschechien spielen. Wo
Grenzen sind, da sind Geschichten. Und
da entstehen Mythen. „Leider wird durch
die Ukraine-Krise ein Mythos in Polen
wiederbelebt“, sagt Tokarczuk, „ein My-
thos, der sagt, dass wir eine Mauer des
Westens sein sollen, Schutz vor dem wil-
den Osten.“
Dieser Mythos ist so alt wie Polen. Er
durchzieht die Schriften von Adam Mickie-
wicz, dem in Warschau der Stachel im Na-
cken sitzt. Zum Beispiel im Dramenzyklus
„Totenfeier“, geschrieben vor fast 200 Jah-
ren, als die Polen keinen Staat hatten:
Polen als Christus der Völker, gestorben
für die Sünden seiner Nachbarn, der russi-
sche Zar als Satan, die Deutschen als Ge-
folgsmänner des Teufels. Der Mythos von
Polen als letzte sündenfreie Bastion der
Freiheit in Europa vor dem Osten. Dieser
Mythos legitimiert die Angst.
Ein Altar steht in Tokarczuks Schreib-
zimmer. Darauf lässt ein koreanischer
Buddha Schultern und Mundwinkel hän-
gen, die Hindugöttin Durga steht aufrecht,
sie steht für das Wissen und das Handeln.
„Die europäischen Sanktionen gegen Pu-
tin beginnen zu zünden, ja. Aber ob
Europa damit ein klares Nein gegen Putin
gesetzt hat? Das ist nicht mein Eindruck.“
Wenn Europa nicht Nein gesagt hat, wer
macht es dann? „Ich denke, dass Donald
Tusk Einfluss auf die Krise nehmen wird.“
Tusk war bis September Ministerpräsident
Polens, ab Dezember ist er Ratspräsident
der Europäischen Union, einer, der Putin
vorgeworfen hat, seine Macht zu überrei-
zen. „Die Polen zählen in ihrer Angst auf
Tusk. Und auf Europa.“
Tokarczuk legt die Handflächen anein-
ander, ihre Finger zeigen nach oben, wie
zum Gebet. Jurek Skrobala

Video-Reportage:
Ein Land hat Angst
spiegel.de/sp492014polen
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 49 / 2014 129


Kultur

Filmemacher Allen bei den Drehbarbeiten zu „Magic in the Moonlight“: „Ich hasse die Realität, sie macht keinen Spaß“

Es ist nur
gemacht haben, in all den Stunden, die einem, durchs Leben zu kommen. Ein
wir mit ihm verbracht haben, all das Ge- schöner Sonnenuntergang, ein schönes Ge-
lächter, all die Tränen, ach Woody. mälde, eine schöne Frau.“

ein Trick
Alt wirkt er schon seit einer Ewigkeit, Dieses Mal ist es die Côte d’Azur, die er
und jung wirkt er immer noch, wie das so in weiches Licht taucht. Er will verzaubern,
ist bei den Weltweisen, Buddha, Gandhi weil auch der neue Film vom Zauber han-
oder eben Tiffy: Sie sind mehr Medium delt, „Magic in the Moonlight“, vom Glau-
Regisseure Ein Treffen mit für die eigenen Gedanken, Wünsche, Sehn- ben daran, dass es doch mehr geben könn-
süchte als Realität im eigentlichen Sinne. te als das, was wir sehen und was wir Le-
Woody Allen, der in seinem neuen „Realität“, sagt Woody Allen dann auch ben nennen: „Du stehst morgens auf“, so
Kinowerk in die Magie flieht mit der heiteren Verzweiflung, zu der er beschreibt es Woody Allen, „du gehst zur
sich immer aufraffen kann. „Ich hasse die Arbeit und isst zu Mittag und machst dies

W
oody Allen sieht aus wie ein Realität. Sie macht keinen Spaß. Eine trau- und das, und nach vielen, vielen Jahren
Rabe, so sitzt er da auf dem rige, eine tragische Geschichte, die Realität. stirbst du und bist weg und wirst nicht
cremefarbenen Sofa im Fünf- Aber wissen Sie was, es gibt keinen ande- mehr wiederkehren.“
sternehotel Le Bristol in Paris, wie ein ren Ort, an den man gehen kann. Die Rea- Und weil das so schrecklich ist und so
sympathischer kluger Rabe im metaphysi- lität ist alles, was wir haben.“ wenig tröstlich, deshalb denken sich die
schen Asyl. Die Woody-Allen-Pointenmaschine: Er Menschen schon seit Jahrtausenden Götter
Schmal, schwarz, wach und irgendwie liefert diese Sätze so verlässlich, wie er Fil- aus oder Geister oder eine Gegenwelt, zu
unbehaust, aber das kann auch eine Pro- me liefert. Einen pro Jahr mindestens, es der ein paar besondere Menschen Zugang
jektion sein. wäre fast beängstigend, wenn es nicht auch haben, Magier eben oder ein Medium wie
Man will ihn, das ist der erste Impuls, schön wäre. die bezaubernde Sophie, gespielt von der
sofort umarmen, so wie man einen alten Am 1. Dezember vor 79 Jahren wurde bezaubernden Emma Stone – eine Betrü-
Freund umarmt, den man lange nicht ge- er als Allan Stewart Konigsberg geboren, gerin, wie der misanthropische Zauberer
sehen hat. Oder jedenfalls so, wie man die 50 Filme hat er als Woody Allen gemacht, Stanley murmelt, zürnt, beschwört, was
vertrauten Figuren aus Kindertagen um- und er dreht und dreht und dreht, nicht ihn nicht davon abhält, auf sie hereinzu-
armen würde, Ronald McDonald oder Tiffy mehr in New York, das er miterfunden hat fallen.
aus der Sesamstraße. durch seine Filme, sondern in Europa, das „Wenn ich jünger wäre, wäre das meine
Woody Allen ist zuerst einmal Woody ihm immer ein Rätsel bleiben wird: in Lon- Rolle gewesen, die jetzt Colin Firth so
FOTO: WARNER BROS.

Allen: Das heißt, er ist auf eine fast schon don, Barcelona, Rom und Paris, an den fabelhaft spielt“, sagt Woody Allen. „Die-
lächerliche Weise er selbst, also der, für schönen Orten mit den schönen Menschen, ser Stanley ist zwar selbst Zauberer, lässt
den wir ihn halten, seine Zuschauer, seine weil „Schönheit eine emotionale Notwen- Elefanten verschwinden und zersägt Frau-
Fans und die Kritiker, weil wir ihn dazu digkeit“ sei, wie er sagt. „Schönheit hilft en, aber er macht immer klar: Es ist nur
132 DER SPIEGEL 49 / 2014
ein Trick. Er glaubt nicht daran, dass man lieren und den Film vorantreiben, wenn
mit den Toten sprechen oder die Zukunft er im eigenen Philosophieren stecken zu
vorhersagen kann, wie es Sophie tut, um bleiben droht.
ihre reichen Gönner auszunehmen.“ Und zugleich führt Woody Allen mit
Es gab solche Fälle wirklich, in den diesem Oberflächenzauber des schönen
Zwanzigerjahren, in denen auch „Magic Scheins vor, wie Kunst funktioniert, wie
in the Moonlight“ spielt, in einer Zeit also, sie gelingt und wie sie, ultimativ und im
als Sigmund Freud und Albert Einstein Angesicht der Apokalypse, scheitert.
die Welt auf den Kopf gestellt hatten und „Aber eines Tages wird die Sonne erlö-
der Erste Weltkrieg den Rest besorgte: schen und das Leben auf der Erde ver-
Menschen wie Realitäten waren zerfetzt, schwinden. Eines Tages wird das ganze
und die Überlebenden blieben zurück in Universum verschwinden. Das Leben hat
den Trümmern ihrer Wirklichkeit und kein Ziel, das Leben hat keinen Sinn. Alles
waren bereit für allen möglichen Hokus- fliegt auseinander mit unvorstellbarer Ge-
pokus. schwindigkeit. Und wenn es kein Licht und
Es ist dieser Konflikt zwischen Magie keine Luft mehr gibt, was dann? Das Le-
und Rationalität, der in „Magic in the ben erlischt in einer Mikrosekunde. Das
Moonlight“ verhandelt wird, mit einem ist die schreckliche Wahrheit. Und die gro-
großen Verständnis für beide Seiten, der ßen Pessimisten, Nietzsche, Freud oder
grummelnde Stanley gegen die bezirzen- der Dramatiker Eugene O’Neill, die wuss-
de Sophie, mit großer Freude und ge- ten das. Sie wussten, dass man trinken
wisser Selbstironie inszeniert vom Zau- oder sich belügen oder sich wenigstens
berfreund und Fatalismusrationalisten eine gute Geschichte ausdenken muss, um
Woody Allen. diese Wahrheit auszuhalten und mit dem
„Mich hat Zauberei schon immer faszi- Leben fortzufahren.“
niert“, sagt er. „Ich liebte als Kind diese Das also ist die Kunst: die Wahrheit in
Tricks, ein Seidentaschentuch und eine Bil- Gestalt der Lüge und damit der einzige
lardkugel, die man verschwinden lässt. Die Weg, die Wahrheit zu ertragen.
ganz normale Bühnenzauberei also. Aber Stanley weiß das, und er fällt eben doch
vor allem Kartentricks. Das kannst du auf den Zauber von Sophie herein, weil
überall machen, an jedem Tisch, und du er es letztlich will. Und Sophie, eine sehr
hast immer ein kleines Publikum. Ich war typische Woody-Allen-Volte, ist am Ende
auch richtig gut. Ich bin sogar aufgetreten rationaler als Stanley, weil sie weiß, was
und wäre vielleicht selbst Zauberer gewor- sie tut: Sie will erst das Geld der Gönner,
den, wenn ich nicht mit 16 Jahren gemerkt und dann will sie Stanley.
hätte, wie schnell und einfach ich Geld Es sind, wie beim jungen Woody Allen,
damit verdienen konnte, lustige Texte fürs die Billardkugeln, die er hin und her
Fernsehen zu schreiben.“ schiebt, Aktion und Reaktion, Stoß und
Die Faszination für die Magie blieb, sie Wirkung. Ein physikalisches Experiment
zieht sich durch seine Filme und wird in fast, dieser Film, wie auch die Filme davor,
„Magic in the Moonlight“ mit dem Gestus und Woody Allen bereitet es einen offen-
des Bewunderers präsentiert und nicht mit sichtlichen Spaß, seine eigene Verzweif-
der harten Hand des Zweiflers. lung wenigstens für gut 90 Minuten ein
„Es ist wie eine Sucht“, sagt er. „Es sind paar seiner Figuren aufzuhalsen.
immer und immer wieder die gleichen The- „Die Wahrheit bringt einen schließlich
men, die gleichen Fragen, die mich anzie- um“, sagt er, der Rabe auf dem Sofa in Pa-
hen. Weil es auf diese Fragen aber auch ris, „deshalb hat die Natur dem Menschen
keine Antworten gibt. Meine Filme sind die Möglichkeit zur Verleugnung gegeben.
nicht politisch oder sozial motiviert. Auf Der Mensch ist ganz groß darin zu ver-
politische oder soziale Probleme gibt es leugnen. Nur so kann er überleben. Es gibt
Antworten. Es könnte natürlich auch sein, keinen Gott, es gibt kein Jenseits. Aber
dass ich morgen die Stimme Gottes höre, der Glaube daran hilft einem immerhin im
der zu mir sagt: ,Alles wird gut werden, Diesseits.“
Woody. Mach dir keine Sorgen.‘ Dann Und die Liebe, das ewige, das große
wäre das mit dem Sinn des Lebens geklärt, Woody-Allen-Thema, ist denn die Liebe
und ich müsste keine Filme mehr darüber wenigstens real, oder ist sie auch nur ein
machen.“ Trick, den wir uns selbst vorspielen?
Aber so, wie die Dinge liegen, wird das „Nein, nein, die Liebe ist real. Aber das
nicht so schnell passieren. In „Magic in the reicht nicht. Die Liebe ist alles, was wir
Moonlight“ breitet Woody Allen dann haben. Aber das ist nicht gut genug. Die
auch genussvoll seine Geschichte aus, der Liebe ist wie Aspirin. Sie hilft. Aber nur
Film hat diese kindlich-verspielte Selbst- für eine Weile.“ Georg Diez
bezogenheit aller Woody-Allen-Filme, die
manchmal nerven kann und manchmal Video: Ausschnitte aus
auch nicht. Hier sind es vor allem die bei- „Magic in the Moonlight“
den Schauspieler, Emma Stone und Colin spiegel.de/sp492014allen
Firth, die sich mit Worten und Tricks duel- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 49 / 2014 133


Kultur

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere


Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Sebastian Fitzek 1 (2) Hape Kerkeling


Passagier 23 Droemer; 19,99 Euro Der Junge muss an die frische Luft
Piper; 19,99 Euro
2 (3) Ken Follett
Kinder der Freiheit 2 (1) Heribert Schwan / Tilman Jens
Bastei Lübbe; 29,99 Euro Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle
Heyne; 19,99 Euro
3 (2) Nele Neuhaus
Die Lebenden und die Toten 3 (3) Guido Maria Kretschmer
Ullstein; 19,99 Euro
Eine Bluse macht noch keinen
Sommer Edel Books; 17,95 Euro
4 (7) Jo Nesbø 4 (4) Peter Scholl-Latour
Der Sohn Ullstein; 22,99 Euro Der Fluch der bösen Tat
Propyläen; 24,99 Euro
5 (8) Volker Klüpfel / Michael Kobr
Grimmbart Droemer; 19,99 Euro 5 (5) Wilhelm Schmid
Gelassenheit – Was wir gewinnen,
6 (4) Lutz Seiler wenn wir älter werden Insel; 8 Euro
Kruso Suhrkamp; 22,95 Euro
6 (–) Philipp Oehmke
7 (5) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt Die Toten Hosen
Das Mädchen, das verstummte Rowohlt; 19,95 Euro
Wunderlich; 19,95 Euro

8 (6) Volker Kutscher Der SPIEGEL-Redakteur be-


schreibt den Weg der Band um
Märzgefallene Frontmann Campino aus den
Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Punkschuppen ihrer Jugend bis
in die Fußballstadien
9 (9) Paulo Coelho
Untreue Diogenes; 19,90 Euro 7 (6) Udo Ulfkotte
Gekaufte Journalisten Kopp; 22,95 Euro
10 (10) Dave Eggers
Der Circle Kiepenheuer & Witsch; 22,99 Euro 8 (7) Thomas Piketty
Das Kapital im 21. Jahrhundert
11 (–) Fredrik Backman C. H. Beck; 29,95 Euro
Ein Mann namens Ove
Fischer Krüger; 18,99 Euro 9 (8) The Bodleian Library (Hg.)
Leitfaden für britische Soldaten in
Tragikomischer Roman Deutschland 1944
über ein liebenswertes Ekel- Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro
paket, das mit seinem block-
wartmäßigen Kontrollwahn 10 (9) Giovanni di Lorenzo
die Nachbarschaft terrorisiert Vom Aufstieg und anderen Niederlagen
Kiepenheuer & Witsch; 18,99 Euro
12 (17) Robert Seethaler 11 (10) Ferdinand von Schirach
Ein ganzes Leben Hanser Berlin; 17,90 Euro Die Würde ist antastbar Piper; 16,99 Euro

13 (11) Patrick Modiano 12 (11) Charlotte Link


Gräser der Nacht Hanser; 18,90 Euro Sechs Jahre – Der Abschied von
meiner Schwester Blanvalet; 19,99 Euro
14 (–) Jennifer L. Armentrout
Onyx – Schattenschimmer 13 (15) Peter Hahne
Carlsen; 19,99 Euro Rettet das Zigeuner-Schnitzel!
Quadriga; 10 Euro
15 (–) Robert Galbraith
Der Seidenspinner Blanvalet; 19,99 Euro
14 (19) Guido Maria Kretschmer
Anziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro
16 (–) Bernhard Schlink 15 (–) Wigbert Löer / Oliver Schröm
Die Frau auf der Treppe Geld Macht Politik Droemer; 19,99 Euro
Diogenes; 21,90 Euro
16 (–) Werner Tiki Küstenmacher
17 (18) Simsion Graeme Limbi Campus; 22 Euro
Der Rosie-Effekt Fischer Krüger; 18,99 Euro
17 (12) Henry A. Kissinger
18 (16) Wolfgang Herrndorf Weltordnung C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Bilder deiner großen Liebe 18 (17) Jaron Lanier
Rowohlt Berlin; 16,95 Euro
Wem gehört die Zukunft?
19 (12) Jan Weiler Hoffmann und Campe; 24,99 Euro
Das Pubertier Kindler; 12 Euro 19 (–) Reinhold Messner
Über Leben Malik; 22,99 Euro
20 (13) P. C. Cast / Kristin Cast
Erlöst – House of Night 12 20 (14) Margot Käßmann
FJB; 16,99 Euro Das Zeitliche segnen Adeo; 17,99 Euro

DER SPIEGEL 49 / 2014 135


E
in regnerischer Tag im November,
eine kleine Villa am Hang hoch über
dem Mittelmeer bei Saint-Tropez:
Die Gastgeber, Klaus und Renate Harp-
precht, freuen sich über den Besuch aus
Deutschland. Kaffee und Kuchen kommen
auf den Tisch, man ist schnell im Gespräch,
über den feuchten Sommer an der Côte
d’Azur, über die Freunde, die zurück in
die Heimat gezogen sind – und natürlich
auch über den ehemaligen Bundeskanzler
Willy Brandt, Harpprechts Freund, der ein
halbes Jahr vor seinem Rücktritt ganz in
der Nähe ein Ferienhaus gemietet hatte.
Das Paar steht für deutsche Geschichte
wie kaum ein anderes: Er, 87, hat seit den
Fünfzigerjahren als Journalist für Fern-
sehen, Hörfunk und diverse Zeitungen ge-
arbeitet, war Chef des S. Fischer Verlags
und ist bis heute Autor der Zeit. Zwei Jah-
re lang, von 1972 bis 1974, hat er für Willy
Brandt Reden geschrieben, wichtige Reden;
auch danach war er über viele Jahre
Brandts Berater.
Sie, 90, arbeitete nach dem Krieg als
Journalistin für die BBC, später für den
WDR und das ZDF, und noch heute legt
sie öffentlich Zeugnis ab über ihre Leidens-
zeit in den Konzentrationslagern Ausch-
witz und Bergen-Belsen. Renate Lasker,
die in Breslau geborene Jüdin, hat den Ho-
locaust mit ihrer Schwester Anita überlebt,
die Eltern der beiden wurden umgebracht.
Der Anlass des Besuchs: Klaus Harp-
precht hat seine Memoiren geschrieben,
„Schräges Licht. Erinnerungen ans Über-
leben und Leben“ heißt das mehr als 500
Seiten starke und natürlich bei S. Fischer
erschienene Buch, der Lebensbericht eines
viel gereisten Journalisten, aber auch eine
Liebeserklärung an seine Frau. Mit dem
„Überleben“ im Titel der Memoiren ist ihr
Überleben gemeint, nicht seins.
Nach dem Kaffee zieht sie sich zurück,
ihr Mann will jetzt über das Buch sprechen,
sie selbst, so sagt sie freundlich, kenne das
ja alles schon.

„Da brachen SPIEGEL: Herr Harpprecht, Ihr Lebens-


bericht dreht sich immer wieder um die

alle Dämme“
Antipoden Willy Brandt und Helmut
Schmidt. Von Schmidt heißt es an einer
Stelle etwas überraschend, er habe jahre-
lang eine Geliebte in Hamburg gehabt. Ist
das verbürgt?
SPIEGEL-Gespräch Der Journalist Harpprecht: Ich habe das erwähnt, weil sich
und Politikchronist Klaus Harpprecht der Esel gegenüber Brandt immer schreck-
über die Machtkämpfe zwischen lich moralisierend aufgeführt hat. Er hat
die Freundin dann abgelegt, als er Kanzler
FOTO: BENJAMIN BECHET / DER SPIEGEL

Willy Brandt, Herbert Wehner und wurde, weil er meinte, er könne sich das
Helmut Schmidt Verhältnis nicht mehr leisten. Diese Frau
ist daran fast zerbrochen. Sie hat einen
völligen Zusammenbruch erlebt.
SPIEGEL: An anderer Stelle sagen Sie,
Schmidt sei der Kanzler mit den schlech-
testen Manieren gewesen. Worauf gründet
dieses Urteil?
136 DER SPIEGEL 49/ 2014
Kultur

Harpprecht: Das bezieht sich auf den tägli-


chen Umgang, den man bei ihm beobach-
ten konnte. Ich erinnere mich an den Be-
such von Ruth Carter, einer Schwester des
damaligen amerikanischen Präsidenten.
Brandt hätte selbstverständlich unten ge-
standen am Eingang, Schmidt hat sie von
einem Referenten abholen und in seinem
Arbeitszimmer in einer Sitzecke platzieren
lassen. Er selbst saß am Schreibtisch und
hat erst einmal in aller Seelenruhe seine
Unterschriftenmappen bearbeitet, wäh-
rend sie wartete. So etwas kann man ma-
chen, wenn man einen Ministerialrat emp-
fängt oder irgendeinen Bundestagsabge-
ordneten, aber doch nicht bei einer Dame.
SPIEGEL: Sie mochten Schmidt nicht be-
sonders?
Harpprecht: Das stimmt.
SPIEGEL: Er Sie aber auch nicht.
Harpprecht: Er mich auch nicht. Ich war ein
Brandt-Mann, das reichte, um mich abzu-
lehnen.
SPIEGEL: Schmidt hat Sie in einem seiner Kanzler Brandt, Redenschreiber Harpprecht 1972: „Gelegentlich schlechte Witze“
Bücher als „Höfling“ bezeichnet.
Harpprecht: Zusammen mit Günter Grass Menschen lieber auf Distanz, aber er konn- war, habe ich gefragt: „Wie kannst du
und Günter Gaus, den Brandt mit dem te das auch überwinden. Das musste von bloß?“ – „Wieso? Ich habe zweimal gesagt,
Titel eines Staatssekretärs vom Chefredak- ihm ausgehen. was ich zu sagen hatte“, antwortete er nur.
teursposten des SPIEGEL weggelockt hatte. SPIEGEL: Der frühere Kulturstaatsminister SPIEGEL: Wie genau waren Sie über die de-
Grass war allerdings sehr selten im Kanz- Michael Naumann hat mal gesagt, wie vie- pressiven Verschattungen im Bilde?
leramt, zu seinem großen Bedauern. le große Männer habe man Brandt besser Harpprecht: Es waren die Depressionen, die
SPIEGEL: Sie dienten Willy Brandt zwei Jah- aus der Ferne bewundert. Aus der Nähe man bei kreativen Menschen des Öfteren
re lang als Redenschreiber. Sie schreiben sei der Eindruck eher enttäuschend gewe- erlebt. Seine Handschrift war eine richtige
über die Zeit im Kanzleramt, Sie hätten sen: zu viel Alkohol, zu viele schlechte Künstlerhandschrift, und so reagierte auch
nie wieder in Ihrem Leben so hart gear- Witze. seine Seele. Nach Zeiten großer Anspan-
beitet. War es auch die schönste Zeit Ihres Harpprecht: Also gelegentlich schlechte Wit- nung gab es einen Abfall ins Dunkle. Das
Lebens? ze, über die dann die Korona lachte. Die- dauerte zwei, drei Tage, da musste man
Harpprecht: Es war sicherlich die erfüllteste ses Lachen ist mir sehr auf den Wecker ge- ihn in Ruhe lassen. Da half es auch nichts,
Zeit. Die schönste Zeit waren für mich die gangen, die Tonalität der Horde. Aber das wenn sein Vertrauter Horst Ehmke ankam
ersten Jahre in Amerika als ZDF-Korres- waren bei Brandt Auswege, wenn er die und sagte: „Willy, wir müssen regieren.“
pondent, so frei habe ich mich nie wieder Unterhaltung ablenken wollte. Ich habe SPIEGEL: Ließen sich die Absenzen vor der
gefühlt. nie einen obszönen Witz von ihm gehört. Öffentlichkeit verborgen halten?
SPIEGEL: Sie hatten zuvor den S. Fischer SPIEGEL: Wurde viel getrunken? Harpprecht: Es gab eine gewisse Diskretion,
Verlag geleitet und die Kulturzeitschrift Harpprecht: Es war zweifellos zu viel, aber auch bei der Presse, bis dann zu seinem
Der Monat herausgegeben. Was hat Sie ich habe Brandt nie besoffen gesehen. Es Rücktritt die Bestie losgelassen wurde. Da
daran gereizt, die Seiten zu wechseln? gab nie einen Auftritt, für den man sich brachen alle Dämme.
Harpprecht: Man spürte wahrscheinlich eine genieren musste. Es wurde insgesamt tüch- SPIEGEL: Sie gehörten zu den wenigen, die
gesellschaftliche Mitverantwortung. Ich tig gebechert. Ich erinnere mich noch an versucht haben, Brandt vom Rücktritt ab-
war ja nicht der einzige Journalist, den es Kollegen beim ZDF, die morgens mit halb zuhalten.
in die Politik zog. SPIEGEL-Herausgeber Kaffee, halb Cognac in den Tag gegangen Harpprecht: Er hätte die Auseinanderset-
Rudolf Augstein saß für die FDP im Bun- sind. Erst Ende der Siebzigerjahre nahm zung mit Herbert Wehner, seinem Gegen-
destag, der Zeit-Gründer Gerd Bucerius das langsam ab, das war der amerikanische spieler in der Partei, suchen müssen. Egon
engagierte sich schon früh bei der CDU. Einfluss. Alkohol im Dienst ist in den USA Bahr war der Meinung, dass Brandt die
SPIEGEL: Sie hatten als Intellektueller noch absolut tabu, da waren die sehr strikt. nicht gewinnen würde und dass Wehners
nicht den Eindruck, dass Sie sich irgendwie SPIEGEL: Man kennt Brandt als einen eher Anhang in der Fraktion zu stark sei. Ich
schmutzig machen würden? in sich gekehrten Menschen. Konnte er war vom Gegenteil überzeugt. Ich hätte
Harpprecht: Das hatten wir hinter uns, Poli- auch laut werden? Wehner sofort rausgeschmissen.
tik als schmutziges Geschäft zu sehen. So Harpprecht: Er war ein kontrollierter Mann, SPIEGEL: Der damalige Fraktionschef hatte
FOTO: THOMAS HOEPKER / AGENTUR FOCUS

zu denken war deutschnational, das war was nicht bedeutete, dass er nicht auch den Kanzler in Moskau im Kreis von Jour-
Nazi-Mitläufertum, der größte Dreck. Was mal jemanden runterputzen konnte. Aber nalisten mit bösen Bemerkungen wie „der
das angeht, erleben wir wieder einen ge- er machte es sehr, sehr selten. Wenn er Herr badet gerne lau“ desavouiert.
wissen Rückfall. wirklich mit jemandem durch war, dann Harpprecht: Es war ein unglaublicher Vor-
SPIEGEL: Sie haben Brandt in Ihrer Zeit im schwieg er. In einer Verhandlung habe ich gang. In Moskau, ausgerechnet in Moskau,
Kanzleramt oft mehrmals täglich gesehen. das mal gesehen, wo die Rede an ihm ge- der Stätte seiner tiefsten Erniedrigung, hat-
Wie nah konnte man ihm kommen? wesen wäre und er einfach nichts sagte. te Wehner sich hinreißen lassen, jede Loya-
Harpprecht: Wenn man es ihm überließ, gab Vier, fünf Minuten lang. Ich bin fast ge- lität aufzukündigen. 1940 hatte er dort im
es Augenblicke großer Nähe. Er schickte storben. Als die Sitzung endlich vorbei Hotel Lux gehockt, wie die anderen Kom-
DER SPIEGEL 49/ 2014 137
Regierungschef Brandt 1973 mit Sportlerin Heidi Schüller, Nachfolger Schmidt 1977 beim Sommerfest des Kanzleramts
„Es gab eine gewisse Diskretion, auch bei der Presse, bis dann die Bestie losgelassen wurde“

munisten auch, und jeden Tag auf seine SPIEGEL: Der Anlass für Brandts Rücktritt besuch in Israel war, schrieb, sie sei aus
Verhaftung gewartet. war vergleichsweise nichtig. Die Enthül- Deutschland geflohen. Es war unbeschreib-
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass jemand lung, dass die DDR einen Spion in der Um- lich, was da zusammengelogen wurde.
wie Brandt, der dem Nationalsozialismus gebung des Kanzlers platziert hatte, ge- SPIEGEL: Ihrer Frau wurde sogar ein Ver-
die Stirn geboten hatte, dem Konflikt mit nügte eigentlich nicht als Grund. hältnis zu Brandt angedichtet.
seinem Fraktionschef aus dem Weg ging? Harpprecht: Brandt hat seinen Rücktritt mir Harpprecht: Als ich das las, habe ich zu ihm
Harpprecht: Er war in diesem Fall nicht kon- gegenüber so begründet, er habe nicht die gesagt: „Wenn das stimmt, habt ihr beide
fliktscheu, glaube ich. Brandt hat sich wirk- Kraft, seine private Welt zu verteidigen guten Geschmack bewiesen.“ Ihm war es
lich von dem Argument beeindrucken las- und gleichzeitig seine Pflicht als Kanzler furchtbar unangenehm.
sen, dass ein offener Streit mit Wehner die so zu erfüllen, wie er das von sich selbst SPIEGEL: Wie enttäuschend war der Rück-
SPD in eine untragbare Zerreißprobe ge- erwarte. Es hieß ja, der Kanzlerspion habe tritt für Sie persönlich?
trieben hätte. Ich denke, es wäre anders ihm auch Frauen zugeführt. Genscher, der Harpprecht: Ich war natürlich tieftraurig,
gekommen. Wehner war auf verquere Wei- damals als Innenminister den Verfassungs- das waren wir alle. Meine Sekretärin hat
se populär als Redner und Zwischenrufer schutz und das BKA beaufsichtigte, machte Rotz und Wasser geheult. Aber als beruf-
im Parlament, aber eine wirkliche Basis in in der Krise keine gute Figur. Er ließ es zu, lichen Knick habe ich das nicht empfun-
der Bevölkerung hatte er nie und auch in dass den sogenannten Frauengeschichten den. Ich wollte nach dem Ende der Legis-
der Partei nur begrenzt. mehr nachgeschnüffelt wurde als den Spio- laturperiode als Fernsehkorrespondent
SPIEGEL: Auch Schmidt hatte seinen Anteil nage-Indizien. Brandt stieß dies bitter auf. ohnehin wieder nach Amerika, dazu hatte
daran, dass Brandt hinwarf. SPIEGEL: Was war dran an den Affären- ich jetzt eben früher Gelegenheit.
Harpprecht: Schmidt konnte seine Eifer- gerüchten? SPIEGEL: Neben Brandt ist Adenauer heute
sucht auf Brandt nicht bezähmen und re- Harpprecht: Brandt hatte eine feste Freundin die überragende Figur der Nachkriegszeit.
dete ihn fast triebhaft schlecht. Er sagte in Bonn, das lief sehr diskret. Ich habe mal Harpprecht: Die Bundesrepublik hat mit bei-
im Ausland und zu Hause, ob es die Leute zu ihm gesagt: Wenn die Geschichten, die den ungeheures Glück gehabt. Der Ade-
hören wollten oder nicht, dass Brandt nicht man sich über dich erzählt, auch nur halb- nauer war für die Anfänge goldrichtig,
das Geringste von Wirtschaft verstehe und wegs stimmten, ginge es dir besser. Er mein- auch mit seinem Hang zum leicht Autori-
keine Ahnung von Finanzen habe. Es kam te dazu nur lapidar: „Das könnte sein.“ tären. Die Deutschen hätten zu seiner Zeit
das generelle Ressentiment eines Mannes SPIEGEL: Sie kannten auch seine Frau Rut einen liberalen Regierungsstil, wie ihn
zum Vorschein, der im Leben nicht ganz gut. Wie hat sie seine Affären ertragen? Brandt pflegte, gar nicht ertragen. Die wa-
erreicht hatte, wovon er träumt, und der Harpprecht: Ich habe das erst mit der Zeit ren noch so im Obrigkeitsdenken gefangen,
das nicht verkraften kann. Das hängt na- begriffen, aber die Rut hatte in der Zeit dass sie gerne geführt wurden.
FOTOS: SVEN SIMON / IMAGO (L.); ANONYMOUS / ASSOCIATED PRESS (R.)

türlich auch mit seiner Statur zusammen. auch schon eine Bindung, zu einem däni- SPIEGEL: Grass hat einmal gesagt, die Spie-
Es fehlten ihm zehn Zentimeter. schen Journalisten. Deswegen wollte sie ßigkeit unter Adenauer sei noch schlimmer
SPIEGEL: Hatte Schmidt nicht begründete die Scheidung. Brandt wäre es lieber ge- gewesen als unter den Nationalsozialisten.
Zweifel an Brandts ökonomischer Weitsicht? wesen, wenn die Ehe aufrechterhalten wor- Harpprecht: Ich weiß nicht, wovon er redet.
Harpprecht: Brandt hatte den Bundeshaus- den wäre. So stand Brigitte Seebacher an. Er vermutlich auch nicht. Grass hat sowie-
halt so gut im Kopf wie sein von der Presse Er wusste, das wird auch nicht leicht. so die Hälfte der Fünfzigerjahre in Paris
so hochgeschätzter Finanzminister. Er hat- SPIEGEL: Es heißt immer, der Journalismus gelebt, ohne das französische Leben nur
te auch im Kopf, was Projekte kosten, zum sei erbarmungslos geworden. Aber wenn im Geringsten zur Kenntnis zu nehmen.
Beispiel europäische Projekte, bei denen man Ihre Lebenserinnerungen liest, muss Das ist auch eine Leistung.
Schmidt immer aufschrie. Dann sagte man zu dem Schluss kommen: Rudeljour- SPIEGEL: Ein paar Freundschaften halten
Brandt: „Heute stimmt er dagegen, in ei- nalismus gab es schon früher. fürs Leben, ein paar Abneigungen offen-
nem Vierteljahr akzeptiert er sie. Dann Harpprecht: Ich weiß nicht mehr, ob es die bar auch.
sind sie doppelt so teuer.“ Auf der anderen Quick war oder eine andere Zeitung, die Harpprecht: Wir standen einander mal ziem-
Seite hat Schmidt ihm dann persönlich in der Endphase der Kanzlerschaft über lich nahe, aber wir haben uns dann sehr
recht bewegende Briefe geschrieben. meine Frau, die gerade auf Verwandten- entfernt. Ich musste Grass immer be-
138 DER SPIEGEL 49/ 2014
Kultur

schwichtigen, wenn er im Kanzleramt mit Joachim Friedrichs war einer oder Franz legte, sobald bei privaten Zusammenkünf-
einer sehr verrückten Ideen ankam. Das Wördemann, später Fernsehchef des WDR, ten Juden zugegen waren.
war unserer Beziehung nicht förderlich. die wurden von den deutschen Immigran- Harpprecht: Furchtbar. Er war halt tief drin-
SPIEGEL: Was für Ideen? ten in England sehr kühl aufgenommen. nen eine zermanschte deutsche Klein-
Harpprecht: Die Mauer durchlässiger zu ma- Renate ist ihnen entgegengekommen und bürgerseele. So wie jeder SS-Offizier bei
chen, indem man ganz viele Sinti und Roma hat versucht, ihnen die Eingewöhnung ins Zigeunermusik weich wurde, so schmolz
nach Deutschland holt, weil die wüssten, Londoner Leben zu erleichtern. Höfer bei der „Jiddischen Mamme“ dahin.
wie man Mauern überwindet. Jeder sollte SPIEGEL: Hat Ihre Frau nie gedacht: Ist das SPIEGEL: Die Schwester Ihrer Frau, Anita,
eine Zigeunerfamilie im Garten haben. Sol- vielleicht auch einer, der mir in der Nazi- hat dem Auschwitz-Arzt Josef Mengele im
che Geschichten. Wenn ich es richtig sehe, Zeit nach dem Leben getrachtet hat? KZ auf dem Cello Schumanns „Träumerei“
hat er gerade die Zwangseinquartierung von Harpprecht: Merkwürdigerweise konnte sie vorspielen müssen.
Flüchtlingen angeregt, er bleibt sich also treu. damit sehr gut umgehen. Sonst wäre es Harpprecht: Diese sentimentalen Winkel
SPIEGEL: Sie zeichnen ein erstaunlich freund- für sie auch völlig ausgeschlossen gewesen, gab es in jeder Nazi-Seele. Ich fürchte,
liches Bild der Fünfzigerjahre. Sie waren in Deutschland zu leben. Und dann ist ihr auch Heinrich Himmler hat sie gehabt.
also nicht die Dunkelzeit, für die sie viele natürlich in meinem Freundeskreis eine SPIEGEL: Was ist eigentlich aus dem SS-
heute halten? große Aufgeschlossenheit begegnet. Offizier geworden, den Ihre Schwester in
Harpprecht: Ich würde behaupten, wir ha- SPIEGEL: Sie schreiben, dass es manche mit den letzten Kriegstagen angeschleppt hat?
ben Anfang der Fünfzigerjahre freier ge- dem Philosemitismus übertrieben hätten. Harpprecht: Den hat sie geheiratet. Meine
lebt als die 68er, die nach uns kamen. Wir Harpprecht: Da gab es mitunter einen etwas Schwester hat ihren Antinazismus nie ver-
waren so glücklich, überlebt zu haben, pathologischen Ausschlag zur anderen Sei- borgen, aber sie hatte eine Schwäche für
dass man jeden Tag wirklich genossen hat. te. Wenn wir Gäste hatten, meinten alle, schnittige Kerle. Er wurde dann Notar, ein
Unterdrückt war da keiner. sie müssten über Juden und das Juden- grummeliger, innerlich labiler Mann, der
SPIEGEL: Wie verträgt sich das mit dem An- problem sprechen. Renate hing das irgend- natürlich mit der Zeit auch seine „good
spruch der 68er, Deutschland in einer Art wann ein bisschen zum Hals heraus. Sie looks“ verloren hatte.
zweiter Staatsgründung erst wirklich de- hat ja die ungeheure Gabe, den Leuten SPIEGEL: Das heißt, bei Familienzusammen-
mokratisiert zu haben? mit nüchterner Normalität zu begegnen. künften im Hause Harpprecht saß Ihre
Harpprecht: Ich halte das für eine grandiose SPIEGEL: Auch unter den Journalisten, mit Frau in Rufweite eines ehemaligen SS-Of-
Angeberei. Es tut mir leid, aber ich kann denen Sie beide verkehrten, waren viele, fiziers, der jetzt ein Schwager war?
das nicht anders sagen. Dass man vorher die dem alten Regime treu gedient hatten: Harpprecht: Renate hatte sich wohl davon
über die Nazi-Zeit nicht geschrieben und Werner Höfer, Henri Nannen oder Peter überzeugt, dass er sich nichts Unanständi-
gesprochen hätte, ist schierer Quatsch. Ich von Zahn, der in einer Propagandakom- ges oder gar Kriminelles hatte zuschulden
glaube, es ging darum, in Sprechchören panie der Wehrmacht gewesen war. kommen lassen. Sie war da von einer
den Widerstand zu leisten, den die Väter Harpprecht: Das war jeder, der eingezogen Großzügigkeit, die manchmal an den Rand
und Mütter nicht geleistet hatten. Es war wurde und weiter schrieb. Auf der an- meines Begreifens ging.
ein Versuch, sich ein gutes Gewissen zu deren Seite hat jemand wie Höfer mit SPIEGEL: Bei Ihnen kann man nachlesen,
verschaffen. Da liegt es dann nahe, den seinem „Frühschoppen“ zur Entwicklung dass die SPD in den Fünfzigern verzwei-
Zeigefinger ganz weit auszustrecken. eines internationalen und doch freien Den- felt überlegte, wie sie aus dem 30-Prozent-
SPIEGEL: Sie haben sich nie an Adenauers kens ungeheuer viel beigetragen. Ich habe Turm herausfinden sollte. Heute steckt die
Nachsicht gegenüber den Tätern gestoßen? mal in Bezug auf die Zeitung Christ und SPD bestenfalls in einem 25-Prozent-
Harpprecht: Nehmen Sie einen Stall wie das Welt gesagt, dass mir die bekehrten Nazis Turm.
Auswärtige Amt. Da gab es ein paar verein- dort lieber waren als die unbekehrten Harpprecht: Ich glaube nicht an eine Koali-
zelte Widerstandskämpfer, einige echte Alt- Deutschnationalen, die lange die Zeit tion mit der Linken, die so viele leise vor-
nazis und ansonsten viele hochdotierte Mit- beherrschten. bereiten. Es gibt keine linke Mehrheit in
läufer, die zwölf Jahre gegen Hitler ange- SPIEGEL: Sie schildern in Ihrem Buch die Deutschland, gab es nie, wird es auch nie
frühstückt hatten. Der Adenauer hat sich gespenstische Szene, wie Höfer immer die geben. Es gibt nur eine Mehrheit in der
gesagt, ist mir doch wurscht, solange sie sich „Jiddische Mamme“ auf den Plattenspieler Mitte. Das war schon 1969 und 1972, als
meiner Autorität fügen. Die haben ihn wir mit Willy Brandt antraten, meine
bewundert und ohne einen Versuch ewige innere Wahlkampfrede.
der Sabotage seine Außenpolitik um- SPIEGEL: Sie sind noch einmal bei
gesetzt. So hat er für eine Normalisie- Brandt gewesen, als Sie wussten, dass
rung gesorgt. es zu Ende geht.
SPIEGEL: Ihre Frau Renate, die Sie Harpprecht: Das war zehn oder zwölf
1956 in London bei der BBC kennen- Tage vor seinem Tod. Mit dem Takt,
lernten, hat als Jüdin Auschwitz und der ihr sonst nicht immer zu eigen
Bergen-Belsen überlebt. Wie hat sie war, hat uns die Seebacher sogar
das mit all den halben und ganzen eine halbe Stunde allein gelassen,
Nazis ausgehalten? und wir konnten Abschied nehmen.
Harpprecht: Da sie in Deutschland auf- SPIEGEL: Wissen Sie noch, worüber
gewachsen war, wenn auch zum Sie geredet haben?
FOTO: BENJAMIN BECHET / DER SPIEGE

Schluss unter den schrecklichsten Harpprecht: Ja, aber das bleibt privat.
Umständen, konnte sie nuancieren, Worum es mir ging, war, ihm zu zei-
wer sich wie benommen hatte. Sie gen, wie sehr ich mich ihm verbunden
wusste, dass nicht alle Mörder und fühlte. Das war mir wichtig, und viel-
Totschläger waren. Bei der BBC gab leicht war es auch ihm nicht gleich-
es viele deutsche Mitarbeiter, Hanns gültig.
Ehepaar Harpprecht, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Harpprecht, wir dan-
* Martin Doerry und Jan Fleischhauer. „Die Deutschen wurden gerne geführt“ ken Ihnen für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 49/ 2014 139
Kultur

Heute Nacht
Pop Ein 4,5 Kilogramm schwerer
Bildband zeigt die Rolling Stones
als Aristokraten des Jetset.

S
ie wollten kein Leben von der Stange
und auch keine Karriere, die nach bil-
ligem Standard aussah.
Es fing schon mit den Anzügen an. Alle
trugen welche. Auch die Beatles. Also be-
sorgte der Manager, Andrew Loog Old-
ham, Anzüge mit Hahnentritt-Muster und
Samtkragen. „Na schön, machen wir“, er-
innert sich Keith Richards. „Ist den Ver-
such wert. Aber das war nichts für uns.
Charlie vergaß sein Jackett in irgendeiner
Garderobe, und meines war ewig mit Whis-
ky oder Schokoladenpudding besudelt.“
Nichts passte. Also versuchten diese
fünf jungen Männer, ihren eigenen Stil zu
finden: eine eigene Welt – die später die
Welt verändern sollte.
Das Leben in England nach dem Krieg
war kein Vergnügen. Tee war bis 1952 ratio-
niert. Zucker und Süßigkeiten bis 1953. Da-
nach blieb es freudlos und grau, nur Amerika
schien anders. Wie ein Plakat in grellen Far-
ben, eine Welt voll Action: Straßenkreuzer,
Mädchen mit schönen Zähnen und schwarze
Menschen, die den Blues spielten. Konnte
man den Blues kaufen Ende der Fünfziger-
jahre in England? Natürlich nicht. Man muss-
te die Platten mit der Post bestellen, wie
Mick Jagger. Oder man musste den Blues
selbst spielen, wie der Rest der Bande.
Die Rolling Stones waren von Anfang
an mehr als nur eine Band. Mit ihnen en-
dete die stumpfe Nachkriegszeit. Ihre Art
zu singen, zu spielen, zu sprechen, zu la-
chen und sich zu frisieren war eine Kampf-
ansage an die Norm. Sie wollten Freiheit,
Sex und Geld. Nicht übermorgen. Sondern
jetzt, sofort. Heute Nacht.
„(I Can’t Get No) Satisfaction“. Dieser
Song war 1965. 49 Jahre später gibt es sie
immer noch. Was soll man dazu sagen?
Vielleicht, dass 1965 nur der erste Akt lief,
und der letzte noch nicht geschrieben ist.
Der Taschen-Verlag hat dieser Gruppe,
die wie keine andere das Goldene Zeitalter
des Rock ’n’ Roll verkörpert, nun einen 1
Monumentalband gewidmet: 524 Seiten,
99 Euro, 4,5 Kilo schwer.
Ein Buch, das verblüfft mit seltenen Bil- Jahr an ihrer Seite. „In anderen Bands“, erte maximal 25 Minuten, aber die Stones
dern und unterhält mit fiebriger Energie. sagt Rej, „gab es einen Smarten, und der ließen sich bereits auf ihrer ersten Stufe
Großes Kino, „Brown Sugar“ zum Blät- Rest waren Idioten. Bei den Stones waren des Ruhms gut bezahlen. Rej hat die Ab-
tern. Die Jungs an ärmlichen Ecken in Lon- alle fünf smart und dazu verrückt.“ rechnungen noch. 54 000 Deutsche Mark
don. Ihr Aufstieg zu Superstars. Die Frau- Die Tournee durch Europa damals hin- Einnahmen für zwei Shows im Münchner
en. Die Drogen. Der Luxus. Die Krisen. terließ eine Spur der Zerstörung. Vor der Circus Krone, 115 000 Mark für zwei Kon-
Die tiefe Liebe zur Musik der ehemaligen Grugahalle in Essen, erinnert sich Rej, zerte in der Grugahalle.
Sklaven, zum Blues. „warfen die Fans mit Eiern, Blechdosen Im New York dieser Zeit fand sich an-
Der dänische Fotograf Bent Rej lernte und einer toten Ratte“. Die Berliner Wald- geblich kein Hotel, das die berüchtigten
die Stones 1965 kennen und verbrachte ein bühne wurde demoliert. Ein Konzert dau- Jungs aus England beherbergen wollte. Es
140 DER SPIEGEL 49 / 2014
trägt Armeeuniform und sitzt in einem
Rollstuhl. Nichts war den Stones heilig.
Auch das zeigt dieser Bildband. Vor den
Studentenunruhen, vor den 68ern, stellten
die Rolling Stones die Werte der westli-
chen Welt auf den Kopf: Alt war auf ein-
mal schlecht, jung war gut. Sie folgten kei-
nem Konzept, keinem Plan, aber ihr sou-
veräner Hohn, ihr Drang nach Erneuerung,
sorgte für eine weitere Demokratisierung
der Verhältnisse. Wenn es diese fünf De-
linquenten nach oben schaffen konnten,
2 frei und ohne sich zu verbiegen, dann hatte
jeder ein Recht darauf.
Kaum etwas dokumentierte diesen Auf-
3 stieg besser als das Logo der Band, die he-
rausgestreckte rote Zunge und der Ort, an
dem sie ihr Zeichen befestigten. Neben
der Tür des von ihnen gecharterten Flug-
zeugs. Der Jet brachte die Stones, wohin
sie wollten – New York, Los Angeles, Ja-
maika, Mustique, Paris, London. Mit wem
sie wollten – Andy Warhol, Truman
Capote, Peter Beard, Liza Minnelli. Die
Rolling Stones waren in den Siebzigerjah-
ren Aristokraten in jenem neuen System
der Berühmtheiten, die nun über die Sehn-
süchte der Massen herrschten.
Der niederländische Fotograf Anton
FOTOS: JIM MARSHALL PHOTOGRAPHY LLC (L.); POPPERFOTO / GETTY IMAGES (R.O.); ETHAN RUSSELL (R.M.); ANTON CORBIJN (R.U.)
Corbijn hatte nie besonders viel übrig für
die Stones. Er war ein Kind des Punk, eng
verbunden mit der Band Depeche Mode;
er hat einen Film gedreht über die Band
Joy Division, der endet mit dem Selbst-
mord des Sängers der Gruppe, Ian Curtis.
Trotzdem ist Corbijn der Mann, der den
Stones in den vergangenen 20 Jahren mit
seiner Kamera am nächsten gekommen ist.
Corbijn versteckt nichts. Er zeigt jede
Falte, die geschundenen Hände, er setzt
den Stones große schwarze Hüte auf, so-
dass sie aussehen wie Handwerker einer
alten Zunft – Spezialisten, die ihren Job
ein Leben lang getan haben und die sich
von niemandem mehr dreinreden lassen.
1 Jagger und Rose, Am Anfang der Zusammenarbeit wollte
Freundin des Stones-Gitarristen Corbijn die Stones hinter Masken ver-
Mick Taylor, stecken. Die Berater der Band schickten
1972 in Los Angeles entsetzte Mails, das gehe auf gar keinen
Fall. Corbijn hatte den Job schon abgesagt,
2 Stones-Konzert 1964 in London
als ihn Jagger anrief und sagte: „Bring die
3 Richards am Stones-Flugzeug Masken. Wir schauen mal.“
1972 in Los Angeles Wie die Falten in den Gesichtern sind
4 Corbijn-Foto der Stones 1995 manche Gräben in der Band tiefer gewor-
4 den mit den Jahren. Aber an einem guten
in Budapest
Abend schafft sie es immer noch, Brücken
über diese Abgründe zu schlagen. Die Rol-
wurde vorgeschlagen, die Langhaarigen men ein 21-Jähriger, der eigentlich dort ling Stones werden getragen vom Blues
sollten im Central Park zelten. nicht hingehört. Ochsenblutfarbene Jeans- und Einnahmen, die zu den höchsten im
In London mietete sich Gitarrist und jacke aus Samt, schwarze Chelsea-Boots, Showbusiness zählen.
Songwriter Keith Richards, der vor allem der Blick trotzig und selbstbewusst. Ein „I’m free to do what I want any old
in Tourbussen und Proberäumen wohnte, Halbstarker, der wie ein Schmutzfleck time“, schrieben Jagger und Richards in
für einige Zeit im vornehmen Hilton am wirkt im Epizentrum des Establishments. einem Song 1965.
Hyde Park ein. Rej hat ihn fotografiert. „Sie pissten überallhin“, sagt Rej. Ein Jahr Frei zu tun, was ich will, egal wann. Es
Weniger zu Hause geht kaum. Hinter einer später. New York, eine Seitenstraße. Ein war jugendliche Angeberei, natürlich.
großen Fensterfront der Nebel im Park. weiterer Skandal. Die Stones in konserva- Nur – sie haben jedes Wort gehalten.
Am Schreibtisch eine Gitarre. Im Türrah- tiver Frauenkleidung. Bassist Bill Wyman Thomas Hüetlin

DER SPIEGEL 49 / 2014 141


Kultur

Der Vater starb 1971, als Strauß sich gerade anschickte, zum
Schriftsteller und Dramatiker zu werden. Erst Jahre später
konnte der längst erfolgreiche Sohn die Trauer zulassen und
hineinwachsen in „diesen umfassenden Sinn für Vermissen“.
Die biografische Skizze, die den Hauptteil von „Herkunft“ aus-
macht und zunächst nicht zur Publikation gedacht war, ent-
Der Vater als Bürde stand im Umfeld des 9. April 1990, des Tages, an dem der Vater
seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.
Literaturkritik Botho Strauß erzählt in seinem Eduard Strauß war ein Mann von großer Disziplin, der auf
Formen achtete und nicht zufällig Thomas Mann verehrte. Mit
bislang privatesten Buch von einer rührender Sorgfalt rüstete er sich für den Tag, den er doch fast
Jugend in der Provinz und elterlicher Fürsorge. nur am heimischen Schreibtisch zubrachte, stets akkurat
gekleidet mitsamt Manschettenknöpfen und perlenbesetzter
Krawattennadel. Der promovierte Chemiker, der gern Arzt
geworden wäre, schrieb Gutachten für die Pharmaindustrie.
Und er hatte schriftstellerischen Ehrgeiz: als Herausgeber
eines ausschließlich von ihm verfassten zeitkritischen Periodi-
kums (nach Vorbild von Karl Kraus) und als Autor eines Buches
mit dem kuriosen Titel „Nicht so früh sterben!“, das den Weg
zu einem gesunden und erfüllten Leben weisen sollte. Wenn
er dem Sohn aus seinen Schriften vorlas, musste er erleben,
dass der sich „von seinen reaktionären Bosheiten abgestoßen
fühlte“. Überhaupt war die Erscheinung des Vaters für den
Heranwachsenden oft genug eine Bürde, er hätte ihn lieber
normaler gehabt, weniger auffällig.
„Dass ich auf seine schriftstellerische Tätigkeit nichts gab,
wird ihn besonders gekränkt haben“, vermutet Strauß im Rück-
blick. „Denn ich war schließlich durch ihn zum Leser erzogen
worden.“ Der Vater muss ein anregend-liebevoller Gesprächs-
partner für ihn gewesen sein. Und alles andere als ein strenger
oder engstirniger Erzieher: Auf Wunsch des Sohnes gab es im
Hause schon früh einen Fernseher, einen der ersten im Ort.
Zur jugendlichen Lieblingslektüre zählten – ohne elterlichen
Einspruch – Bravo und „Tarzan“-Comics. Allerdings versuchte
sich der 14-Jährige auch an einem mythenhaften Roman, der
Fragment blieb.
Unterschwellig korrespondiert „Herkunft“ mit einem zweiten
Strauß-Werk, das deutlich autobiografische Züge trägt: „Die
Autor Strauß um 1975 Fehler des Kopisten“ aus dem Jahr 1997. Es gibt übereinstim-
„Zum Lesen erzogen“ mende Motive, verwandte Formulierungen. Damals beobachtete
der Schriftsteller sich selbst in der Vaterrolle, wie er mit seinem

E in Abschied. Ein letzter Gang durch die Räume der eigenen


Jugend. Und eine Rückschau: Botho Strauß besucht noch
einmal die Stätten von einst, versichert sich seiner Herkunft,
demnächst schulpflichtigen Sohn die Uckermark durchstreift,
die inzwischen zu seiner Heimat geworden war, und sich über-
legt, was er dem Kind mit auf den Weg geben kann, „damit es
sinnt den frühen Stationen des Erwachsenwerdens nach. nicht beim ersten Stoß aus der Bahn geschmissen wird“.
Der äußere Anlass ist die Auflösung des mütterlichen Haus- Nun, in „Herkunft“, zeigt er sich als dankbarer Sohn, voller
halts. Die Wohnung in Bad Ems muss entrümpelt werden. Die Respekt, Verehrung und Liebe – und Verwunderung: „Man
alte Dame, fragil, freundlich, mit leiser Stimme, zieht in ein altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, im-
Seniorenheim. So schaut sich der Schriftsteller ein letztes Mal mer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungs-
in den Zimmern um, die die Eltern Mitte der Fünfzigerjahre los veraltet empfand.“ Sentimentale Erinnerungsprosa ist es
bezogen hatten. Der Sohn, ein Einzelkind, wurde damals dennoch nicht geworden. Denn er weiß, ganz im schillerschen
gerade elf. Geist: „Fügt sich Erinnerung, so schwindet sie
Das ist der Ort, wo Strauß aufwuchs, „zwischen Fluss, Kur- schon.“ Auch in diesem Buch beobachtet er
anlagen und Berg“. Die Familie kam aus dem Osten. Der Vater sich selbst: wie ihm beim Gang durch die Stadt
war in Naumburg Mitinhaber einer pharmazeutischen Firma, seiner Jugend, beim letzten Blick in die Woh-
wurde enteignet und flüchtete 1950 mit Frau und Kind aus der nung mit den sieben Türen Vergangenheitspar-
DDR, zunächst nach Remscheid. Eduard Strauß musste mit tikel zufliegen. Er inszeniert Erinnerung nicht,
60 Jahren noch einmal ganz neu anfangen. er erfährt sie. Mit seinem reichen Wortschatz
Das zarte Buch mit dem schlichten Titel „Herkunft“, keine und der intellektuellen Durchdringung sind
100 Seiten stark, in dem Botho Strauß davon erzählt, ist eine ihm genaue Differenzierungen möglich.
Huldigung an diesen Vater und zugleich, fast zwangsläufig, ein „Herkunft“ ist sein intimstes Buch geworden. Botho Strauß
Selbstporträt des Dichters, der im Alter teils befremdet, teils Und es ist ein Glück für den Leser, der sich Herkunft
erfreut ein väterliches Echo im eigenen Leben ausmacht: „Es eigenem Erinnern überlassen kann, dass sich Carl Hanser
scheint mir bisweilen, dass er, den ich täglich schreiben sah, Botho Strauß, der am Dienstag dieser Woche Verlag, München;
FOTO: ULLSTEIN BILD

mich nötigte, diese gebeugte Haltung zu übernehmen und nach- seinen 70. Geburtstag feiert, zur Veröffent- 96 Seiten;
ahmend ihn mir zu erhalten.“ lichung entschlossen hat. Volker Hage 14,90 Euro.

142 DER SPIEGEL 49 / 2014


Medien
Presse
Unruhe im Feuilleton
der FAZ
Am 9. Dezember tagt der
Aufsichtsrat der Frankfurter
Allgemeinen. Auf der Tages-
ordnung taucht der vermut-
lich wichtigste Punkt noch
nicht auf. Allerdings geht
man bei der FAZ davon aus,
dass die vier Herausgeber bis
dahin den Nachfolger des
verstorbenen Frank Schirr-
macher benannt haben. Der
als Interimsherausgeber fürs
Feuilleton benannte Günther
Nonnenmacher soll sich auf
Wissenschaftsredakteur Jür-
gen Kaube festgelegt haben.
Ob die anderen Herausgeber
bereits zugestimmt haben,
ist unklar. Die Herausgeber
waren zu einer Stellungnah-
me nicht bereit oder nicht er-
reichbar. Jedenfalls sorgt die Welke, Martina Hill, Christian Ehring
Personalie in der Feuilleton-

ZDF
„heute show“ täglich
Das Team der wöchentlichen ZDF-„heute show“ wird im kommenden Jahr täglich Satire
liefern – im Internet. Der Ausbau soll spätestens im März starten. Geplant ist, dass die
Show-Charaktere von Gernot Hassknecht bis Tina Hausten in Videos tagesaktuell auf
politische Ereignisse reagieren. Mit der Onlineoffensive reagiert das ZDF auch auf das
Nutzungsverhalten des Publikums. Die „heute show“ mit Moderator Oliver Welke hat
im Schnitt 3,4 Millionen TV-Zuschauer und ist zudem die im Netz erfolgreichste Sendung
Redaktionssitz in Frankfurt des ZDF. In der Mediathek wird sie pro Ausgabe bis zu 500 000-mal angesehen. bra

redaktion bereits für Unmut.


Kaube gilt als Mann des klas-
sisch-konservativen Feuille- Persönlichkeitsrechte Das Gericht sieht eine Gegen die Entscheidung
tons – das Gegenbild des Gericht verbietet „schwere Persönlichkeits- können der WDR wie
von Schirrmacher gepflegten rechtsverletzung“ des Be- auch die Produktionsfirma
Debattenfeuilletons. Auch ARD-Film troffenen, da er als Miss- NDF Berlin Widerspruch
fürchten Kulturredakteure, Der ARD-Film „Die Aus- brauchsopfer gezeigt wird. einlegen. mum
dass das FAZ-Feuilleton un- erwählten“ ist vom Landge-
ter Kaube seine Rolle als richt Hamburg in der ausge-
intellektuell-liberaler Gegen- strahlten Fassung verboten
pol zum konservativen Poli- worden. Der Spielfilm wur-
tikteil verlieren würde und de bereits am 1. Oktober ge-
die FAZ ihren Charakter als sendet und stellt fiktiv den
vielstimmiges Blatt aufgäbe. systematischen Missbrauch
FOTOS: WILLI WEBER / ZDF (O.); MARTIN LEISSL / VISUM (L.); ARD (U.)

Der Aufsichtsrat muss die von Schülern durch Lehr-


Personalie noch durchwin- kräfte an der Odenwaldschu-
ken – allerdings ist seine le dar. Bereits im Vorfeld
Einflussmöglichkeit traditio- wehrten sich zwei ehemalige
nellerweise eher beschränkt. Schüler gegen die Ausstrah-
Zudem hat der Aufsichts- lung – sie sahen ihre Persön-
ratsvorsitzende Karl Dietrich lichkeitsrechte verletzt, weil
Seikel bereits signalisiert, die Filmfiguren sehr reali-
dass er sich einer Entschei- tätsnah seien. Für einen der
dung des Herausgeber- Exschüler erwirkte nun
gremiums nicht entgegen- der Berliner Medienanwalt
stellen werde. akü, bra Christian Schertz das Verbot. Szene aus „Die Auserwählten“

DER SPIEGEL 49 / 2014 145


Medien

TV de Sade
Fernsehshows Die Entertainer Joko und Klaas quälen sich in ihrer neuen Sendung
nicht mehr gegenseitig, sondern lassen Kandidaten leiden, die nichts ahnen.
Ein Skandal wird „Mein bester Feind“ aber nicht. Das Publikum genießt den Sadismus.

J
oko und Klaas haben es bereits in jun-
gen Jahren nach ganz oben geschafft,
zumindest auf der Ekelskala des deut-
schen Privatfernsehens. In ihren Shows
tun sie einander Dinge an, die man nicht
einmal Laborratten zumuten möchte.
Joko Winterscheidt, 35, wurde vor lau-
fender Kamera der Mund zugenäht, er
setzte sich Stromstößen aus und musste ei-
nen Alligator küssen. Klaas Heufer-Um-
lauf, 31, ließ sich Salzlösung in Form eines
Bagels in die Stirn spritzen, nach der Be-
steigung eines Vulkans übergab er sich.
Zuletzt versetzte Heufer-Umlauf seinen
Kompagnon in Todesangst, indem er ihn
in einem Flugzeug zurückließ, dessen Pilot
plötzlich mit dem Fallschirm absprang.
Geht’s noch?
Am Samstag legen die beiden mit ihrer
neuen Show „Mein bester Feind“ noch
eine Schippe drauf. Nicht, dass ihnen eine
weitere Steigerung der gegenseitigen Quä-
lerei gelänge – sie lassen andere leiden.
„Kandidaten“, die sich nie beworben ha-
ben. Und sich nie in Ruhe entscheiden
konnten, ob sie es eine gute Idee finden,
bei Tempo 250, bäuchlings auf das Dach
eines Autos geschnallt, durch die Motor-
sport Arena Oschersleben geschossen zu
werden. Ja, sie ahnten Minuten zuvor
nicht einmal, dass sie wenig später Teil
einer grellen TV-Gaudi werden.
Es ist eine neue Drehung an der Schrau-
be eines schon alltäglichen TV-Sadismus,
der niemanden mehr wirklich aufregt. Wa-
rum sich empören? Das Publikum scheint
diese Art des Fernsehens der Grausamkeit
ja zu genießen. Und wer die neue Show
sieht, wird sogar zugeben müssen: Es ist
fies, es ist gemein – und es ist verdammt
gutes Fernsehen.
Aber warum?
Einerseits hat es etwas zu tun mit einem
schadenfrohen Voyeurismus. Dem Publi-
kum wird vermittelt: Das Fernsehen hat
jedes Recht, mit denen, die sich ihm aus-
liefern, zu machen, was es will.
Andererseits geht der Erfolg dieser
Shows tiefer. Fernsehen ist mehr als jedes
andere das Medium der Gefühle. Es ist
am erfolgreichsten, wenn es die Zuschauer
mitempfinden lässt. Und kein Gefühl wird
stärker mitempfunden als Schmerz.
FOTO: PROSIEBEN

Der Zuschauer kann sich dem nur


schwer entziehen. Und das hat er auch
Unterhalter Heufer-Umlauf, Winterscheidt: Fies, gemein – und verdammt gutes Fernsehen bisher nicht getan.
146 DER SPIEGEL 49 / 2014
Showkandidaten: Kein Gefühl wird stärker mitempfunden als Schmerz

Das Publikum schämte sich mit, als ein kaum mehr zum Aufreger. Niemand fragt Zuschauer, sie per Telefonabstimmung
junger Mann mit Urinflecken auf der Hose noch danach, was solche Sendungen mög- auch in der nächsten Ausgabe wieder in
vor einem feixenden Dieter Bohlen stand. licherweise mit den Kandidaten anrichten. die Hölle zu schicken.
Es ekelte sich mit, wenn im Dschungelcamp Der Zuschauer amüsiert sich, ist gebannt, Es war ein bisschen wie im berühmten
ein Expromi in einen Sarg voller Kaker- vielleicht ein bisschen abgestoßen. Er ge- Milgram-Experiment, bei dem Versuchs-
laken stieg. Nun leidet es eben mit, wenn nießt den sozialen Abwärtsvergleich – und personen falsche Antworten anderer Pro-
sich in „Mein bester Feind“ ein junger zappt weiter. banden vermeintlich mit Stromstößen be-
Mann Botox in die Lippen spritzen lässt. Das Privatfernsehen hat dem Publikum strafen konnten. Achtmal hintereinander
Und doch fühlt es sich anders an. Die in den vergangenen Jahren jede Empathie wurde Marolt zur Prüfung herangezogen.
21-jährige Selina, die auf dem Dach eines gründlich ausgetrieben. Zunächst mit den Zur Freude der Zuschauer musste sie in
Audi R8 durch die Arena brettert, war von nachmittäglichen Krawalltalks, später schwindelnder Höhe auf einem schmalen
ihrer Freundin heimlich für die Show vor- durch Gerichtsshows, zuletzt durch Pseu- Balken balancieren oder sich in einer en-
geschlagen worden. Die hatte dem Opfer do-Dokus wie „Verdachtsfälle“ oder „Fa- gen Höhle voller Krabbel- und Kleintiere
vorgeflunkert, man fahre zum Wellness- milien im Brennpunkt“. durchschlagen.
wochenende. Die Protagonisten waren erbärmlich bis Marolt war keine Fernsehamateurin
Die Freundin, die den Lockvogel gab, nervig. Dass die meisten Geschichten er- mehr, als sie im Dschungelcamp ihren
kann immerhin ein TV-Gerät und in der funden waren, schien die Zuschauer nicht Restruf ruinierte. Sie war „Austrias Next
zweiten Runde einen Porsche gewinnen. zu stören. Es genügte, dass die Sendungen Topmodel“ gewesen und hatte bei der Pro-
Die Kandidatin kann nur versuchen, nicht so taten, als erzählten sie aus einem echten Sieben-Show „Germany’s Next Topmodel“
als Spielverderberin dazustehen. Oder als Deutschland. teilgenommen, wo sie als Achtplatzierte
Memme. Grausamkeit allerorten. In RTL/Sat.1- ausschied.
Die Spannung ist clever inszeniert. Der Deutschland sperrten Schüler ihre Lehrerin Hinter dem Dschungelcamp-Auftritt von
Zuschauer wiegt sich zunächst in der Ge- im Keller ein, betrunkene Jungmütter ver- Model Marolt stand immerhin noch ihr
wissheit, dass es die Foltermeister Joko gaßen ihre Babys am Bahnhof. Deutsch- eigenes Kalkül: die schwer erarbeitete
und Klaas nicht so weit kommen lassen – land einig „Asi-Land“. Und auch wenn das Prominenz über die Zeit zu retten und
wie es am Ende doch kommt. alles ein Fake war: Wozu noch Mitleid? womöglich noch auszuweiten – mit allen
Sie verführen ihr Opfer mit Charme und In Shows wie „Ich bin ein Star – Holt Mitteln. Sie war bereit, einen Preis zu zah-
demonstrativer Harmlosigkeit – so wie sie mich hier raus!“ bekamen die Kandidaten len – aber sie wusste, wofür.
es bereits in ihrer Show „Circus Halligalli“ zudem eine ordentliche Gage, wenn sie Man kann „Mein bester Feind“ aber
tun, wo „Mein bester Feind“ bisher nur sich dem Fernsehen auslieferten. auch als zynische Variante von „Wetten,
eine Rubrik unter vielen war, bevor die Erinnert sich noch einer an Sarah Knap- dass ..?“ begreifen. Die ZDF-Show ging
Idee jetzt zur Drei-Stunden-Show ausge- pik? Die Dschungelcamp-Kandidatin wur- unter anderem zugrunde, weil sie die
dehnt wird. de vom Publikum wieder und wieder per selbst gesetzten Maßstäbe nicht mehr
erfüllen konnte. Die Kandidaten waren in
Das Privatfernsehen hat dem Publikum jede Empathie ihren Vorführungen mit den Jahren immer
gründlich ausgetrieben. Grausamkeit allerorten. schneller, höher und weiter gekommen.
Bis der Student Samuel Koch beim Ver-
Als ProSieben vorige Woche in Berlin Telefonabstimmung in die Ekelprüfungen such, mit Sprungfedern über fahrende
vor Journalisten erste Ausschnitte zeigte, geschickt. Die damals 24-Jährige sollte Autos zu hüpfen, gegen die Dachkante
kam eine eigentlich fällige Diskussion über Rattenhirn essen, in Stiefel voller Maden eines Audi prallte.
Moral und Verantwortung gar nicht erst steigen und mit bloßen Händen in einen Bei „Wetten, dass ..?“ verschwand damit
auf. Worüber sollte man sich als abgebrüh- Schiffsrumpf grabschen, wo Schlangen und abrupt die Faszination des Risikos. Zu den
ter Fernsehkritiker auch noch echauffieren, Skorpione lauerten. „Wenn Menschen es akrobatischsten Einlagen der jüngsten Zeit
fast 15 Jahre nach der ersten Folge von hinkriegen, sich für 50 000 Euro pro Nase zählte das Stapeln von Bierkisten, wäh-
„Big Brother“ und ein Jahrzehnt nach dem zu Müll zerkleinern zu lassen: Was täten rend ein Kandidat auf der jeweils obersten
ersten Dschungelcamp? sie für 100 000?“, fragte entsetzt die FAZ. einen Salto vollführte. Was sich das ZDF
Tabubrüche gibt es allerorten. Doch Doch die Frage war falsch. Wer es als Sen- aus guten Gründen nicht mehr traut, erle-
über die Sendung „Hochzeit auf den ersten der richtig anstellt, muss nicht mal mehr digt nun ProSieben.
Blick“, in der Sat.1 im November Wild- Geld herausrücken. „Wetten dass ..?“ war auch ein Hochamt
fremde verheiratete, ereiferten sich allen- In der jüngsten Dschungelcamp-Staffel der bürgerlichen Tugend, hart an sich zu
falls noch Vorzeigeprotestantin Margot nahm Knappiks Platz der Zicke, die man arbeiten und eine Sache perfekt zu kön-
Käßmann und die Deutsche Bischofskon- quälen darf, ihre österreichische Berufs- nen. Spannender ist es, wenn einer gar
FOTOS: PROSIEBEN

ferenz. kollegin Larissa Marolt ein, die sich durch nicht weiß, was kommt – und dann ins
Auch die Nackten, die sich im Sommer die Folgen keifte und kreischte. Je blöder kalte Wasser gestoßen wird. Und es ist, so
für RTL auf eine Insel begaben, um ihren sie sich bei den Prüfungen im Urwald weh es tut, inzwischen die bessere Unter-
Adam oder ihre Eva zu finden, taugten anstellte, desto mehr wuchs die Lust der haltung. Markus Brauck, Alexander Kühn

DER SPIEGEL 49 / 2014 147


Impressum Service
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de
Fax: 040 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
Hinweise für Informanten
HERAUSGEBER Rudolf Augstein S P O RT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael MOSKAU Matthias Schepp, Glasowskij Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
(1923 – 2002) Wulzinger. Redaktion: Rafael Buschmann, Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, tionen zukommen lassen wollen, finden Sie unter der Web-
Lukas Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Tel. +7 495 22849-61, Fax 22849-62 adresse www.spiegel.de/briefkasten Hinweise, wie Sie die
CHEFREDAKTEUR Wolfgang Büchner Hacke, Jörg Kramer
NEW YORK 10 E 40th Street, Suite 3400, Redaktion erreichen und sich schützen. Wollen Sie wegen
(V. i. S. d. P.) SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, New York, NY 10016, Tel. +1 212 2217583, vertraulicher Informationen direkt Kontakt zum SPIEGEL
Annette Großbongardt (stellv.). Redaktion: Fax 3026258 aufnehmen, stehen Ihnen folgende Wege zur Verfügung:
ST ELLV. CHEFREDAKTEURE Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe
Klaus Brinkbäumer, Clemens Höges Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, PA RIS Julia Amalia Heyer, 12 Rue de Post: DER SPIEGEL, c/o Briefkasten, Ericusspitze 1,
Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Castiglione, 75001 Paris, Tel. +33 1 20457 Hamburg
MITGLIED DER CHEFREDAKTION Schnurr, Autorin: Dr. Susanne Weingarten 58625120, Fax 42960822 PGP-verschlüsselte Mail: briefkasten@spiegel.de
Nikolaus Blome MULT IMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, (den entsprechenden PGP-Schlüssel finden Sie unter
(Leiter des Hauptstadtbüros) Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, www.spiegel.de/briefkasten)
Riedmann Fax 65325453 Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Briefkasten“
ART DIRECT ION Uwe C. Beyer CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa
Jensen (stellv.), Katharina Lüken (stellv.) Postal 56071, AC Urca, Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche
GESCHÄF TS FÜHRENDER REDA KT EUR Telefon: 040 3007-2687 Fax: 040 3007-2966
S C H LU S S R E DA KT I O N Christian Albrecht, 22290-970 Rio de Janeiro-RJ,
Rüdiger Ditz
Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Tel. +55 21 2275-1204, Fax 2543-9011 E-Mail: artikel@spiegel.de
Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula
Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, 00187 Nachdruckgenehmigungen für Texte, Fotos, Grafiken
Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, Rom, Tel. +39 06 6797522, Fax 6797768 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher
DEUTSCHE POLITIK · HAUPTSTA DT BÜRO
Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz, Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme
Stellvertretende Leitung: Christiane Hoff- Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels
mann, René Pfister. Redaktion Politik: P.O. Box 330119, San Francisco, CA 94133, in elektronische Datenbanken und Mailboxen sowie für
Dr. Melanie Amann, Horand Knaup, Ann- P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane Tel. +1 212 2217583 Vervielfältigungen auf CD-Rom.
Katrin Müller, Peter Müller, Ralf Neukirch, Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Deutschland, Österreich, Schweiz:
Gordon Repinski. Autor: Marc Hujer Petra Gronau, Martina Treumann TEL AVIV Nicola Abé, P.O. Box 8387,
Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel. +972 3 6810998, Telefon: 040 3007-2869 Fax: 040 3007-2966
Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus BILDREDA KT ION Michaela Herold (Ltg.), Fax 6810999 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de
Dettmer, Cornelia Schmergal, Anne Seith, Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt;
Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thors- TOKIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya übriges Ausland:
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter:
Alexander Neubacher, Christian Reier- ten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, New York Times News Service/Syndicate
mann, Marcel Rosenbach Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 E-Mail: nytsyn-paris@nytimes.com Tel.: +33 1 41439757
Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz
WA RS C H AU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
Meinung: Dr. Gerhard Spörl E-Mail: bildred@spiegel.de 26, 03-912 Warschau, Tel. +48 22 6179295, wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
D E U TS C H L A N D Leitung: Alfred Weinzierl, SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Fax 6179365
Tel. +1 212 3075948 WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versandkos-
Cordula Meyer (stellv.), Dr. Markus Ver- WAS H I N GTO N Markus Feldenkirchen,
beet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldun- GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt
tenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Holger Stark, 1202 National Press Building,
gen). Redaktion: Michael Fröhlingsdorf, (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Washington, D.C. 20045, Tel. +1 202 Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Hubert Gude, Carsten Holm, Charlotte Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena 3475222, Fax 3473194
Klein, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Lud- Pfauter, Julia Saur, André Stephan, DOKUMENTAT ION Dr. Hauke Janssen, Cor- Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
wig, Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann- Michael Walter delia Freiwald (stellv.), Axel Pult (stellv.),
Schmidt, Antje Windmann. Autoren, Re- Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens,
Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
L AYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
porter: Jürgen Dahlkamp, Gisela Friedrich- Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich
Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke,
sen, Julia Jüttner, Beate Lakotta, Bruno
Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Booms, Viola Broecker, Dr. Heiko Busch- Telefon: 069 955124
Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe ke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltz-
Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Abonnementspreise
Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara schig, Johannes Erasmus, Klaus Falken-
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. berg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich, Inland: 52 Ausgaben € 218,40
Redaktion: Sven Becker, Markus Degge- Rödiger, Doris Wilhelm
rich, Maximilian Popp, Sven Röbel, Jörg Sonderhefte: Rainer Sennewald
Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Studenten Inland: 52 Ausgaben € 153,40 inkl.
Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, sechsmal UNISPIEGEL
Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt
TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris
Wassermann, Peter Wensierski. Autoren:
Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Stefan Berg, Jan Fleischhauer, Konstantin Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 202,80
von Hammerstein REDA KT IONSVERT RE TUNGEN Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac,
D E U TS C H L A N D
(der Anteil für das E-Paper beträgt € 171,60)
Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Wiesner, Michael Lindner, Dr. Petra Lud-
Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Michael Sauga (Berlin), Susanne Amann Deutsche Politik, Wirtschaft
(stellv.), Markus Brauck (stellv.). Redak- wig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Kundenservice Persönlich erreichbar
Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111; Nadine Markwaldt-Buchhorn, Dr. Andreas
tion: Isabell Hülsen, Alexander Jung, Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moor-
Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Gesellschaft Tel. 030 886688-200, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Müller, Ann-Kathrin Nezik, Jörg Schmitt. mann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola


Fax 886688-222 Naber, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar
Hawranek, Michaela Schießl DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopou- E-Mail: aboservice@spiegel.de
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, los, Tordis Pohlmann, Ulrike Preuß, Axel
AUS L A N D Leitung: Britta Sandberg, Fax 26620-20 Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauer-
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu bier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow,
DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek,
von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bed- Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße Abonnementsbestellung
narz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schu- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. Fax 86679-11
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Ralf mann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Hoppe, Susanne Koelbl, Dr. Christian FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Staudhammer, Tuisko Steinhoff, oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Neef (Moskau), Christoph Reuter Martin Hesse, Simone Salden, An der Wel- Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer
le 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 Szimm, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Ich bestelle den SPIEGEL
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: 9712680, Fax 97126820 Wetter, Kirsten Wiedner, Holger Wilkop, ❏ für € 4,20 pro gedruckte Ausgabe
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße Malte Zeller ❏ für € 3,90 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, E-Paper beträgt € 3,30)
Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Fax 9204449 LESER-SERVICE Catherine Stockinger
Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar
❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Anna N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa,
Schmundt, Matthias Schulz, Frank Tha- Kistner, Conny Neumann, Rosental 10, beträgt € 0,48) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Eilboten-
Los Angeles Times / Washington Post,
deusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech 80331 München, Tel. 089 4545950, New York Times, Reuters, sid zustellung auf Anfrage. Jederzeit zum Monatsende kündbar
Fax 45459525 mit Rückerstattung des Geldes für bezahlte, aber noch nicht
KULT UR Leitung: Lothar Gorris, Susanne SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
Beyer (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, ST U T TGA RT Jan Friedmann, Büchsen- gelieferte Hefte. Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das An-
GMBH & CO. KG
Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp straße 8/10, 70173 Stuttgart,
Oehmke, Tobias Rapp, Katharina Stegel- Tel. 0711 664749-20, Fax 664749-22 Verantwortlich für Anzeigen: Norbert gebot gilt nur in Deutschland. Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
mann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Auto- Facklam
REDA KT IONSVERT RE TUNGEN AUSL AND
ren, Reporter: Georg Diez, Dr. Martin
BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 68 vom
Doerry, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin,
02138 Cambridge, Massachusetts, 1. Januar 2014 Name, Vorname des neuen Abonnenten
Dr. Joachim Kronsbein, Elke Schmitter,
Tel. +1 617 9452531 Mediaunterlagen und Tarife:
KULTURSPIEGEL: Marianne Wellershoff BRÜSSEL Christoph Pauly, Christoph Tel. 040 3007-2540, www.spiegel-qc.de
(verantwortlich). Tobias Becker, Anke Schult, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel,
Dürr, Maren Keller, Daniel Sander Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass Straße, Hausnummer oder Postfach
Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436
GESELLSCHAF T Leitung: Ullrich Fichtner, K A P STA DT Bartholomäus Grill, Herstellung: Silke Kassuba
Matthias Geyer, Barbara Supp (stellv.). P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, PLZ, Ort
Redaktion: Fiona Ehlers, Özlem Gezer, Tel. +27 21 4261191 Druck: Prinovis,
Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ans- Ahrensburg /
LON DON Christoph Scheuermann, Prinovis, Dresden
bert Kneip, Katrin Kuntz, Dialika Neufeld,
26 Hanbury Street, London E1 6QR, Tel. E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Bettina Stiekel, Jonathan Stock. Reporter: VERL AGSLEITUNG Matthias Schmolz,
+44 203 4180610, Fax +44 207 0929055
Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Guido Rolf-Dieter Schulz
Mingels, Alexander Osang, Cordt Schnib- MADRID Apartado Postal Número 100 64,
ben, Alexander Smoltczyk 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RUN G Ove Saffe
Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS No. 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Subscrip-
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog tion price for USA is $ 370 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP14-001, SD14-006
TWIT TER @derspiegel Englewood, NJ 07631. Periodicals postage is paid at Paramus, NJ 07652. Postmaster: Send SD14-008 (Upgrade)
FACEBOOK facebook.com/derspiegel address changes to: DER SPIEGEL, GLP, P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631.

150 DER SPIEGEL 49 / 2014


Nachrufe
P. D. JAMES, 94 MARION BARRY, 78
Die kleine, zarte Dame hat Er war ein begabter Junge
den klassischen britischen De- aus ärmlichen Verhältnissen,
tektivroman in der Nachfolge in Tennessee aufgewachsen
von Agatha Christie und Do- und im Jahr 1960 gerade da-
rothy L. Sayers im 20. Jahr- bei, seinen Doktor in Chemie
hundert noch einmal zu künst- zu beginnen, als er in den
lerischer Perfektion geführt. Kampf um die Bürgerrechte
In makellosem Englisch be- der Schwarzen hineingezogen
schrieb sie mit mitleidloser wurde. Er traf Martin Luther
Genauigkeit am Anfang eines King, der zur Ikone seiner
Krimis gern die Auffindesitua- Generation wurde und ihn
tion der Leiche. Den Tötungs- zum Mitmachen inspirierte.
akt selbst mochte die gläubige Barry war ein genialer Orga-
Anglikanerin nur in Notfällen nisator. Er gründete „Youth
schildern. Phyllis Dorothy Pride“ für Jugendliche auf
WIKTOR TICHONOW, 84 James wuchs in Cambridge
Bei seinem ersten Olympia-Turnier als Trainer des sowje- auf, arbeitete in der Londoner
tischen Eishockeyteams holte er die Silbermedaille – was Krankenhausverwaltung und
einer nationalen Katastrophe gleichkam, weil der Klassen- musste ihre zwei Töchter
feind, in Gestalt eines Teams aus entfesselten US-College- allein durchbringen. Ihr Mann
Boys, ihm die Schmach des zweiten Rangs 1980 in Lake war traumatisiert aus dem
Placid mit einem 3:4 zufügte. Es war die heiße Zeit des Kal- Zweiten Weltkrieg zurück-
ten Krieges, die Rote Armee gerade in Afghanistan einmar- gekehrt und lebte lange in der
schiert und Tichonow der Feldherr, der über das Funktio- Psychiatrie. Erst mit 40 be-
nieren eines Ensembles wachte, das die Überlegenheit des gann James mit dem Schrei-
Kommunismus dokumentieren sollte. Sport funktionierte ben. Ihre Romane sind präzise
im Ostblock in dieser Ära totalitär, und so mussten Trainer konstruiert und psychologisch
nicht telegen, nicht kommunikativ sein, sie waren ja all- ausgefeilt. Ein Mord, sagte sie,
mächtig. „Tichonow sah uns als Puppen, die nach seiner lasse niemanden unberührt. Jobsuche und andere Ein-
Pfeife zu tanzen hatten“, so der ehemalige Kapitän Wja- Deshalb sei in ihren Büchern richtungen zur Unterstützung
tscheslaw Fetisow. Unter Tichonow gewann ZSKA Moskau am Ende nichts mehr, wie es von Schwarzen. So bildete er
13-mal die Landesmeisterschaft, das Nationalteam acht vorher war. Sie wolle, sagte Oasen für Unterprivilegierte.
Weltmeistertitel und dreimal Olympia-Gold. Mit dem Fall Dass er in die Politik ging,
des Eisernen Vorhangs und der Abwanderung der Stars in war nur folgerichtig. In Wa-
FOTOS: RIA NOWOSTI / AKG (O.L.); BILDARCHIV HALLHUBER / DAVIDS (L.U.); GEORGE TAMES / NYT / REDUX / LAIF (R.O.); LINDA NYLIND / THE GUARDIAN (R.U.)

die US-Profiliga lief auch seine Zeit ab. Nach einem vierten shington arbeitete er sich in
Platz bei den Spielen in Lillehammer 1994 musste er gehen. kurzer Zeit hoch und wurde
Wiktor Tichonow starb am 24. November in Moskau. wei 1978 zum ersten Mal Bürger-
meister. Barry war erfolg-
reich, Arbeitslosigkeit und
ANNEMARIE DÜRINGER, 89 Kriminalität sanken zeitweise,
Als Frau „mit hundert Ge- die Stadt blühte auf, was
sichtern ohne wirkliches auch an seiner Amtsführung
Leben“ beschrieb sich die lag. Aber den Nimbus zer-
hochgeehrte Schauspiele- störte er mit seiner Drogen-
rin, als sie im Alter von sucht, nachdem er zum drit-
weit über 70 Jahren einer James 2009 in einem SPIEGEL- ten Mal gewählt worden war.
Autorin ihre Erinnerun- Gespräch, „glaubwürdige, Schon länger stand er in dem
gen, „Blitzlichter“, diktier- komplizierte Menschen schil- Ruf, Drogen zu konsumieren.
te. Das war mehr als nur dern“. Dazu gehört auch ihr Das FBI stellte ihm eine Falle,
ein bisschen kokett: Dü- berühmter Ermittler Adam indem es eine seiner Ge-
ringer, aufgewachsen in Dalgliesh, ein gebrochener liebten zur Mitarbeit zwang.
vornehmen Verhältnissen Charakter. Seine Frau und So kam es, dass der Bürger-
als Tochter eines Schweizer Industriellen, widmete ihr Da- sein neugeborener Sohn meister im Januar 1990 in
sein mit Verve und Intelligenz, vor allem aber mit unbe- starben noch in der Klinik. einem Hotel Crack rauchend
irrbarer Begeisterung der Darstellungskunst. Sie war eine Dalgliesh suchte Trost beim mit einer Exfreundin gefilmt
angehimmelte Schönheit des deutschsprachigen Fünfziger- Schreiben von Gedichten. Zu- wurde. Vor einer mehrheit-
jahre-Kinos, in dem sie unter anderem an der Seite von letzt, der Hobby-Lyriker hatte lich schwarzen Jury kam er
Rudolf Schock und Curd Jürgens Strahlkraft bewies – es bis zum Commander bei mit einem halben Jahr Haft
selbstbewusst und in sich ruhend. Und sie war ein Star des Scotland Yard gebracht, gönn- davon. Barry ging in den Ent-
Wiener Burgtheaters, dessen Ensemble sie mehr als sechs te James ihm noch eine Lieb- zug und wurde 1994 sogar
Jahrzehnte angehörte. Als Filmdarstellerin hatte sie zeit- schaft, natürlich nicht unpro- noch einmal zum Bürgermeis-
weilig sogar einen Hollywood-Kontrakt. 1982 war sie in blematisch. 1991 wurde die ter gewählt, was ihm den
Rainer Werner Fassbinders „Die Sehnsucht der Veronika Autorin zur Baroness James Titel „Bürgermeister Lebens-
Voss“ dabei. 1986 brillierte sie an der Burg in „Bernarda of Holland Park geadelt. P. D. länglich“ einbrachte. Marion
Albas Haus“. Annemarie Düringer starb am 26. November James starb am 27. November Barry starb am 23. November
in Baden bei Wien. höb in Oxford. kro in Washington. gs
DER SPIEGEL 49 / 2014 151
Personalien
Miss Muslima
Schönheit definiert sich bei dieser Veranstaltung
auch über innere Werte: Frömmigkeit, Tugend
und eine aus religiöser Sicht einwandfreie Le-
bensweise müssen im „World Muslimah“-Schön-
heitswettbewerb in Indonesien unter Beweis
gestellt werden. Fatma Ben Guefrache, 25, trat im
Finale gegen 17 andere Frauen an und gewann
den ersten Platz. Die Konkurrentinnen zeigten
sich in verschiedenen Outfits, stets mit Kopftuch,
Bademoden sind im Kleiderprogramm natürlich
nicht vorgesehen. Ben Guefrache stammt aus
Tunesien, ist Informatikerin und erhält als Preis
für ihren Sieg eine goldene Uhr, eine Goldmünze
und eine Pilgerreise nach Mekka. In ihrer
Dankesrede bat sie Allah um Freiheit für Palästi-
nenser und Syrer. red

Käse statt Politik Sexy Bär


Die elegante Direktorin des Internationalen Währungs- Die Mitteilung verursach-
fonds Christine Lagarde, 58, glänzte schon als Synchron- te dem britischen Kinder-
schwimmerin, Finanzministerin und als Chefin einer gro- buchautor Michael Bond,

FOTOS: ADEK BERRY / AFP (O.); FRANCESCO GUIDICINI / THE SUNDAY TIMES / NEWS SYNDICATION (M.); ERIK PENDZICH / REX / ACTION PRESS (U.L.); ROSS MCDAIRMANT / REX / ACTION PRESS (U.R.)
ßen Anwaltskanzlei. Jetzt prophezeit das Magazin Vanity 88, schlaflose Nächte.
Fair der Französin ein politisches Comeback. „Et si c’était Der Ausschuss für Film-
elle?“ („Und wenn sie es würde?“), titelt die französische klassifikation in Großbri-
Ausgabe der Zeitschrift und spielt dabei auf die mögliche tannien (BBFC) hatte
Kandidatur Lagardes bei den Präsidentschaftswahlen 2017 kurz vor der Weltpremie-
an. Dass die konservative Lagarde in ihrer Heimat popu- re erklärt, der Film
lär ist, zeigte zuletzt ihr Auftritt beim Women’s Forum in „Paddington“ erhalte ein
Deauville im Oktober. Begeisterte Anhängerinnen hatten „PG“-Zertifikat: „PG“
sie dort angesprochen: steht für „Parental Gui-
„Wir sind eine Gruppe dance“ und bewertet ein Werk als nicht völlig unbedenklich
von Frauen, die sich für Kinder unter acht Jahren. Bond, der Erfinder des sprechen-
wünschen, dass Sie die den Bären Paddington aus Peru, der bei der Familie Brown
nächste Präsidentin in London landet, hat die Kinofilmrechte bereits vor sieben
Frankreichs werden!“ Jahren an die Macher der „Harry Potter“-Filme verkauft. Sein
Das habe sie sehr be- Mitspracherecht bei der Produktion war sehr gering, von
rührt, sagte Lagarde den Dreharbeiten war er ausgeschlossen, und als der Ausschuss
der Zeitschrift Vanity sich zu Wort meldete, hatte er den Film noch nicht gesehen.
Fair. Grundsätzlich Das Pelztier im Dufflecoat, das seit 1958 Kinder und Erwach-
mische sie sich aber sene entzückt, ist für Bond wie ein Familienmitglied: „Ich hat-
nicht in die nationale te Angst, dass ich Paddington verraten habe.“ Die Jury des
Politik ein. „Immer BBFC bemängelte unter anderem „leichte sexuelle Bezüge“.
wenn ich an Frankreich Es stellte sich heraus, dass es um eine Szene geht, in der sich
denke, dann denke ich Mr. Brown als Putzfrau verkleidet; ein unschuldigeres Cross-
lieber an den guten dressing hat die Filmgeschichte wohl noch nicht gesehen.
Käse oder an die Rosen Bond durfte den Film inzwischen sehen – und ist beruhigt:
in meinem Garten.“ pe „Von mir bekommt er Bestnoten.“ ks

Tony Blair, 61, ehemaliger britischer Premier, wurde Susan Boyle, 53, schottische Sängerin und Millionärin,
von der Kinderhilfsorganisation „Save the Children“ die nach ihrem Auftritt in der Castingshow „Britain’s
mit einem „Global Legacy Award“ für seine Verdienste Got Talent“ 2009 berühmt geworden ist, fährt gern mit
um die Bekämpfung von Kinderarmut ausgezeichnet. dem Bus zum Einkaufen – wie schon früher, bevor sie
In einem Brief forderten daraufhin 200 Mitarbeiter das zu Ruhm und Reichtum gelangte. Generell habe sich ihr
Management auf, die Entscheidung zu überdenken. Verhalten wenig geändert, sagte Boyle jetzt der Sun-
Blair wird seit seiner Unterstützung des Irak-Kriegs day Times. Die schicke Villa, die sie 2010 gekauft habe,
2003 von Friedensaktivisten kritisiert. In einer Online- bewohne inzwischen ihre Nichte mit Familie: „Dort
petition mit über 100 000 Unterschriften wird die habe ich Heimweh bekommen.“ Deswegen sei sie zu-
Aberkennung des Preises gefordert: Blair sei für den rückgekehrt in das Haus in Blackburn, das 50 Jahre
Tod zahlloser Kinder verantwortlich. red lang ihr Zuhause gewesen ist. ks

152 DER SPIEGEL 49 / 2014


Ganz der Opa
Zunächst wurde Marion Maré-
chal Le Pen, 24, jüngste Ab-
geordnete Frankreichs, ein
wenig belächelt. Doch die
Lieblingsenkelin von Jean-
Marie Le Pen, dem Gründer
des rechtspopulistischen
Front national, ließ sich nicht
irritieren, ihr gelang ein ra-
scher Aufstieg. Sie vertritt

FOTOS: JACKY NAEGELEN / REUTERS (O.); SOEREN STACHE / DPA (U.L.); WOLFGANG KUMM / PICTURE-ALLIANCE / DPA
das politische Erbe des Groß-
vaters noch strikter als des-
sen Tochter, Parteichefin
Marine Le Pen. Marion und
ihre Tante Marine würden
sich deshalb perfekt ergän-
zen, kommentierte kürzlich
die Tageszeitung Le Monde.
Marine Le Pen versuche, ihre
Partei mit einem moderate-
ren Kurs für eine breitere
Wählerschaft zu öffnen. Ma-
rion Maréchal Le Pen hinge-
gen bediene den radikaleren
Flügel – und zwar mit vollem
Körpereinsatz: „Ich bin
wieder in der Politik zurück“,
sagte sie kürzlich. „In der
Zwischenzeit habe ich mich
um eine meiner patriotischen
Pflichten gekümmert: Ich
habe ein Kind bekommen, da-
mit wir später einmal unsere
Renten bezahlen können.“ pe

Özcan Mutlu, 46, bildungspolitischer Sprecher der Britta Haßelmann, 52, Parlamentarische Geschäfts-
Grünen im Bundestag, erlebte die Einweihung des neu- führerin der Grünen im Bundestag, wundert sich über
en Bundesbildungsministeriums in Berlin als „kurios“. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Der Sozialdemo-
Der Einladung von Ministerin Johanna Wanka (CDU) krat hat die Grüne am vergangenen Mittwoch in der Ge-
seien er und sein Kollege Kai Gehring, Sprecher für neraldebatte als Britta Hasselfeldt angesprochen – der
Wissenschaftspolitik, „gern gefolgt“; überrascht habe gleiche Fehler war ihm schon Ende Januar im Plenum
sie die Segnung des Hauses durch einen katholischen unterlaufen. Haßelmann duzt sich seit Jahren mit dem
Priester und eine evangelische Pfarrerin. Dass aus- SPD-Mann und schlägt vor: „Wenn’s ihm hilft. Wir kön-
gerechnet die Forschungspolitik – eigentlich ja eher nen auch nur beim Vornamen bleiben.“ Im Bundestag
der Ratio verpflichtet – sich christlichen Beistand ge- gibt es eine Politikerin mit Namen Hasselfeldt, aber die
sucht hat, ließ die beiden „sehr schmunzeln“. ks heißt Gerda und ist Landesgruppenchefin der CSU. flo

DER SPIEGEL 49 / 2014 153


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL-Titel
„Kalte Krieger“ über das diplomatische
Versagen Russlands und der Europäischen
Anzeige aus der Tiroler Tageszeitung Union im Vorfeld des Ukraine-Konflikts
(Nr. 48/2014):

Aus der TV-Zeitschrift Auf einen Blick: Politik beginnt mit dem Betrachten der
„Im Emsland leben mehr Säugetierarten Wirklichkeit, hat einst der erste SPD-
als irgendwo sonst in Deutschland. Vorsitzende der Nachkriegszeit, Kurt
Der seltene Brachvogel gehört dazu.“ Schumacher, gesagt. Eine scheinbar
banale Erkenntnis, aber eine unabding-
bare Voraussetzung, um eine realistische,
eben wirklichkeitsnahe Politik zu ent-
wickeln.
Schumachers Nachfolger Willy Brandt
hat sie gemeinsam mit Egon Bahr zum
Ausgangspunkt ihrer Ostpolitik gemacht.
Aus dem Südkurier Sie hat im Ergebnis zu besseren Lebens-
verhältnissen auf beiden Seiten des ge-
teilten Deutschland, zur Entspannung im
Aus dem Allgäuer Anzeigeblatt: vom Kalten Krieg gezeichneten Europa
„Als die Polizisten einen Fußball fesseln geführt und ist mit dem Friedensnobel-
wollten, schlug ein Randalierer preis für Willy Brandt gekrönt worden …
einem Beamten auf den Rücken und Deshalb ist auch der Rückgriff auf da-
zog ihn weg.“ mals erprobte Mittel der Politik nicht so
abwegig, wie manche denken. Erst lang-
sam wächst im Westen die Erkenntnis,
dass die Ukraine-Krise nicht allein von
Moskau ausgelöst und angeheizt worden
ist. Der SPIEGEL-Titel dieser Woche, der
Putin und Merkel als Kalte Krieger zeigt,
die eine brandgefährliche Machtprobe
Anzeige aus dem Göttinger Tageblatt austragen, ist Zeichen eines bemerkens-
werten Perspektivwechsels. In dieser
Situation sich des weitsichtigen Willy
Aus dem Wiesbadener Kurier: Brandt und seiner Methoden zu erinnern,
„Dass es nicht nur Gewinner geben kann der Europa aus einer gefährlichen Ost-
und es irgendwann wieder West-Konfrontation in eine Phase der
deutlich bergab gehen muss. Jeder weiß Entspannung geführt hat, ist nichts ande-
es, aber keiner traut sich, res als klug.
den ersten Schritt zu machen.“
Das Klinikum Bayreuth in einer Presse-
mitteilung über den Abschlussbericht der
Kommission Geburtshilfe, die nach dem
SPIEGEL-Bericht „Geldspritzen“ eingerich-
tet worden war (Nr. 32/2014):

Die im SPIEGEL-Artikel dargestellte Pro-


Aufdruck auf einem Bleistift der blematik der notwendigen Regelung der
Firma Eberhard Faber Anwesenheit eines Kinderarztes bei
Frühgeburten im Zeitraum zwischen der
24. und 34. Schwangerschaftswoche, so
Aus dem Handelsblatt: „Die Tatsache, der Kommissionsbericht, betrifft haupt-
dass der Schweizer Banker in Polen sächlich weiter zurückliegende Zeiträu-
festgenommen worden ist, erklärt sich me … Zu den im Bericht des Nachrich-
daher, dass seine Frau Polin ist.“ ten-Magazins SPIEGEL vom 4. August ge-
nannten vier Fällen, in denen ein Baby
gestorben und drei nach der Geburt
schwerbehindert waren, hat die Kommis-
sion von Anfang an klargestellt, dass
eine interne Fallrecherche nicht durch-
geführt werden kann. „Aufgrund der
staatsanwaltlichen Ermittlungen können
Gutschein der Stadtbücherei wir hier nicht tätig werden“, so Vorsit-
Bad Oeynhausen zender Dr. Megerle.
154 DER SPIEGEL 49 / 2014

Das könnte Ihnen auch gefallen