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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
31. Oktober 2005 Betr.: Rumsfeld-Gespräch, THW, KulturSPIEGEL

M eetings im Morgengrauen zählen zum üblichen Tagesablauf des amerikanischen


Verteidigungsministers, und so war es für die SPIEGEL-Redakteure Stefan Aust,
59, Ralf Beste, 39, und Georg Mascolo, 41, keine Überraschung, als sich Donald Rums-
feld, 73, ihren Fragen in der litauischen

DAVID HUME KENNERLY / GETTY IMAGES


Hauptstadt Vilnius bereits um 7.45 Uhr
stellte. Der Chef des Pentagon machte
dort auf dem Rückweg von einer Asien-
Reise Station und sprach, unter ande-
rem, über die „Sorgen“, die ihm die
Lage im Irak bereite. Die deutliche Kri-
tik am Irak-Kurs der USA, die Außen-
Rumsfeld, Aust, Mascolo, Beste (in Vilnius) minister Joschka Fischer im Februar
2003 bei der Münchner Sicherheits-
konferenz geäußert hatte, habe ihn damals „amüsiert“, behauptete Rumsfeld betont
gelassen im SPIEGEL-Gespräch. Als die Mikrofone ausgeschaltet waren, wollte er das
Thema jedoch nicht ruhen lassen. Fischer habe, so der US-Politiker, innenpolitisch of-
fenbar stark unter Druck gestanden. „Diese Geschichte beschäftigt Rumsfeld immer
noch sehr“, sagt SPIEGEL-Redakteur Beste (Seite 126).

W enn die Bundesregierung deutsche Hilfsbereitschaft zeigen will, kommt auf die
Männer in den blauen Uniformen schwere Arbeit zu. Ob beim Bau von Polizei-
stationen in Afghanistan oder bei der Instandsetzung der Wasserversorgung in Bag-
dad: Das Technische Hilfswerk (THW) ist zu einer schnellen Eingreiftruppe für alle
Katastrophenfälle geworden. Die SPIEGEL-Redakteure Dominik Cziesche, 27, und
Markus Verbeet, 30, beobachteten Teams bei
ihren Großeinsätzen im pakistanischen Erd-
bebengebiet und in New Orleans. Cziesche
erlebte spät am Abend im pakistanischen
Kaschmirgebirge, wie sich Helfer in der Not
selbst helfen: Als die THW-Männer noch kein
eigenes Zelt für die Nacht hatten, fand er mit
ihnen in einem Operationszelt chinesischer
Ärzte Unterschlupf. Verbeet machte sich in
New Orleans für Pumpenspezialisten des
DER SPIEGEL

THW nützlich: Er dolmetschte für die Deut-


schen, als in der Nacht Probleme in einem
Wasserwerk gelöst werden mussten (Seite 52). THW-Helfer, Cziesche (in Pakistan)

E ine Besonderheit ziert den Titel des aktuellen KulturSPIEGEL: Exklusiv hat der
Künstler Jörg Immendorff, 60, eine Grafik geschaffen, die einem Appell gleich-
kommt: „Optimismus für Deutschland“ soll sie vermitteln – und daran erinnern, dass
positives Denken ein Faktor sein kann, der in den Zeiten von
Massenarbeitslosigkeit und Stagnation zu einer Wende
beiträgt. Der KulturSPIEGEL wird den SPIEGEL-Abonnen-
ten monatlich zugestellt, doch auch alle anderen Leser können
die Grafik zum Preis von 800 Euro als Druck in limitierter
Auflage erwerben. Immendorff, von dem die Neue National-
galerie in Berlin derzeit eine große Werkschau zeigt, hat 100
Exemplare signiert. Der Erlös kommt seiner Stiftung für Pa-
tienten mit Amyotropher Lateralsklerose zugute, einer Krank-
heit, an der er selbst leidet. Bestellungen werden vom 7. No-
vember an unter www. spiegel.de//shop entgegengenommen.

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 5
InIndiesem
diesemHeft
Heft
Titel
Das Mittelalter – Forscher ergründen die
Wahrheit über das dunkle Jahrtausend ................ 168 Schwarz-Rot plant höhere Steuern Seite 24
Deutschland Um die dramatische Haushaltslage
Panorama: Legt Schröder sein Bundestagsmandat in den Griff zu bekommen, wollen
nieder? / Kurswechsel in der Außenpolitik / Keine die Spitzen der schwarz-roten
Festlegung auf Bundeswehreinsatz im Inneren ...... 19 Koalition um CDU-Chefin Angela
Haushalt: Die Berliner Steuerpläne Merkel und ihren SPD-Kollegen
schaffen neue parteiübergreifende Frontverläufe ... 24 Franz Müntefering die Bundes-
Weshalb deutsche Firmenvorstände von bürger mit höheren Steuern zur
Rentenabgaben befreit sind ................................... 26 Kasse bitten. Doch das droht,

HENNING SCHACHT / ACTION PRESS


Bundesländer: Schuldenlawine zwingt Konsum und Konjunktur gleicher-
zu harten Einschnitten ........................................... 32 maßen abzuwürgen. Schon bilden
Umfrage: Skeptische Erwartungen an sich neue parteiübergreifende Al-
die Große Koalition ............................................... 34 lianzen, die von CSU-Chef Stoiber
Schwarz-Rot: Nach hitzigem Wahlkampf geben bis zur SPD reichen.
sich Union und SPD im Umgang versöhnlich ........ 38
SPD: Entscheidung über neuen Generalsekretär Merkel, Müntefering
entzweit die Sozialdemokraten ............................. 40
EU: Gerhard Schröders krawalliger Abschied ....... 44
Ökumene: Wie katholisch darf ein
evangelischer Theologieprofessor sein? ................. 46
Immigranten: Innenpolitiker wollen
Scheinehen erschweren ......................................... 48
Karrieren: Der behutsame Aufstieg des
„Traditionelle Wege zum Glück“ Seite 58
künftigen SPD-Vizechefs Matthias Platzeck .......... 50 Er möchte das kulturelle Klima in
Katastrophen: Das Technische Hilfswerk Deutschland wenden: Verfassungs-
im weltweiten Katastropheneinsatz ....................... 52 richter Udo Di Fabio, der das höchst-
Kulturpolitik: SPIEGEL-Gespräch richterliche Ja zur jüngsten Parla-
mit Verfassungsrichter Udo Di Fabio über mentsauflösung mitverantwortet. Sein
MANGOPRESS / ACTION PRESS

die Besinnung auf bürgerliche Werte .................... 58 Buch „Die Kultur der Freiheit“ solle
Strafjustiz: In Leipzig wird ein helfen, sagt er im SPIEGEL-Gespräch,
Geschwisterpaar, das vier gemeinsame Kinder „die traditionellen Wege zum Glück“,
hat, erneut vor Gericht gestellt ............................. 64 etwa die Ehe mit Kindern, zu stärken.

Gesellschaft Di Fabio (l.), Kollegen


Szene: Immer mehr Senioren spielen am
Computer / Bildband über den 60. Jahrestag
der Befreiung vom Faschismus .............................. 69
Eine Meldung und ihre Geschichte ....................... 70
Sieg der Profitgier

MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE / DPA


Genuss: Die Globalisierung des Weins .................72
Ortstermin: Ein Staatsanwalt aus Seite 96
Ruanda zu Besuch bei Hamburger Kollegen ......... 79 Die Hamburger Aluminium-Werke (HAW)
gehören zu den modernsten der Branche, wa-
Wirtschaft ren immer gesund und brachten einen Mil-
Trends: Wirtschaftsweise schlagen neues liarden-Gewinn. Dennoch wird die Firma nun
Steuermodell vor / Prostituierte dichtgemacht. Ein Lehrstück aus dem neuen
belasten VW-Manager / Deutsche Bank Zeitalter von Globalisierung und Profitgier.
will in Nordamerika zulegen ................................. 80
US-Notenbank: Der neue Fed-Chef möchte HAW-Proteste
als Team-Player führen ......................................... 82
Autoindustrie: SPIEGEL-Gespräch mit
Porsche-Chef Wendelin Wiedeking über den
Einstieg des Sportwagenbauers bei VW und
den Machtkampf im Wolfsburger Aufsichtsrat ........ 86
Immobilien: Muss Karstadt noch höhere
Entschädigungen an die Wertheim-Erben zahlen? ... 92
Globaler Kampf um den Wein Seite 72
Unternehmen: Trotz guter Bilanzen wird US-Winzer dürfen ihre Weine mit Eichenchips
das Hamburger Aluminium-Werk dichtgemacht .... 96 und anderen Zusätzen veredeln, sie dürfen
Währung: Noch immer sitzen die Deutschen ihn auch maschinell zerlegen und neu zu-
auf gewaltigen D-Mark-Schätzen ......................... 100 sammenbauen. Die gefälligen, fruchtigen
Designer-Weine drängen auf den europäi-
Medien schen Markt, wo diese Methoden bis heute
IPNSTOCK.COM / LAIF

verboten sind. EU-Winzer streiten: Anpassen


Trends: Holpriger Start der neuen Besitzer
des Berliner Verlags / Interview mit ProSieben-
oder festhalten an der Tradition?
Sat.1-Chef Guillaume de Posch
über den Premieren-Flop von HDTV .................. 102 Weinanbau in Kalifornien
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ....................... 107
8 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Journalisten: Einstige NDR-Reporter
fühlen sich von einer Stasi-Studie des eigenen
Senders verunglimpft ........................................... 108
Ehrungen: PR-Strategen ködern Journalisten
mit teils skurrilen Preisen ..................................... 111

Ausland
Panorama: Diplomaten diskutieren
Sanktionen gegen Syrien / Reformer
Petrakow kritisiert staatlichen Einfluss auf
die russische Wirtschaft ....................................... 113

VAHID SALEMI / AP
Iran: Neue Kampagne gegen Israel ..................... 116
Affären: Bush-Berater unter Verdacht ................ 120
Polen: Zwillinge an der Macht ............................ 124
USA: SPIEGEL-Gespräch mit Verteidigungs-
Antiisraelische Demonstration in Teheran minister Donald Rumsfeld über
die Rivalität mit China, das Fiasko im Irak
und den Umgang mit Diktaturen ......................... 126

Iran: Wüste Drohungen gegen Israel Seite 116


Nahost: Das Doppelspiel der Hamas .................. 131
Global Village: Rassenkrieg
im Ghetto Birminghams ...................................... 136
Mit der Drohung, Israel „von der Landkarte zu tilgen“, nährt Irans neuer Staats-
präsident Mahmud Ahmadinedschad das Misstrauen gegen den Gottesstaat und des-
sen Atom-Ambitionen. Trotz weltweiter Proteste schickte das Regime in Teheran Sport
Zehntausende zum „Aufruhr gegen Zionisten und Ungläubige“ auf die Straße. Triathlon: Der entspannte Umgang des
Münchner Ironman-Siegers
Faris al-Sultan mit der Popularität ....................... 138
Fußball: Interview mit Sportwissenschaftler
Roland Loy über falsche Taktikweisheiten,

Bush im Zwielicht Seite 120


die Macht des Zufalls und
den perfekten Elfmeterschuss .............................. 140
Anklage gegen den Stabschef des Vizepräsidenten,
Ermittlungen gegen den Intimus von George W. Kultur
RON EDMONDS / AP

Bush – wieder scheint die zweite Amtszeit eines Szene: Besucherrekorde im New Yorker
US-Präsidenten unrühmlich zu verlaufen. Museum of Modern Art /
Der Kabarettist Herbert Feuerstein
Bush, Vertrauter Rove über sein Verhältnis zu Frauen ............................ 143
Theater: „Schändung“ von Botho Strauß
und Luc Bondy in Paris –
zu viel Gewalt auf der Bühne? ............................. 146
Debatte: Flucht vor der Gegenwart –

Rückkehr der Bären S. 190


nostalgische Kulturkritik von Gustav Seibt
und Diedrich Diederichsen .................................. 150
Bestseller .......................................................... 152
Biologen holen den Braunbären in die Alpen Jet-Set: SPIEGEL-Gespräch mit Ex-Playboy
und Pyrenäen zurück. Der Erfolg der Mission Gunter Sachs über sein Leben ............................. 154
LOTHAAR MARTINEZ / OKAPIA

steht und fällt mit der Akzeptanz in der Be- Musik: Pop-Exzentrikerin Kate Bush meldet
völkerung. Verehrung und Hass gleicher- sich mit einem neuen Album zurück ................... 160
maßen schlagen dem größten europäischen Komiker: Erinnerung an den
Raubtier entgegen. „Beichtvater der Nation“, den genialen
Witzemacher Heino Jaeger .................................. 162
Europäischer Braunbär
Wissenschaft · Technik
Prisma: Abgespeckter Shuttle-Fahrplan /
Fühlen Frauen Schmerzen stärker? ...................... 165
Computer: Karlsruher Forscher entwickeln
Die Jet-Set-Ikone Seite 154 einen Simultanübersetzer für jedermann ............. 184
Küstenschutz: Experten fordern
Playboy-Legende Gunter Sachs hat seine gepanzerte Deiche ............................................... 188
Lebensbeichte geschrieben und erzählt dar- Tiere: Der Braunbär kehrt
in von wilden Orgien, seinen Ehejahren mit in die Alpen zurück ............................................. 190
Brigitte Bardot, dem Treiben des Jet-Sets
in St. Tropez und St. Moritz. Im SPIEGEL- Briefe..................................................................... 10
O.MEDIAS / FACE TO FACE

Gespräch erklärt der Millionenerbe seinen Impressum .......................................................... 198


Erfolg bei Frauen – aber auch die Nazi- Leserservice ....................................................... 198
Beziehungen seines Vaters. Chronik ................................................................ 199
Register .............................................................. 200
Bardot, Sachs (1966) Personalien..........................................................202
Hohlspiegel / Rückspiegel ................................ 204
TITELBILD: AKG

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 9
Briefe

Wir brauchen die Reform der Reform –


„Clement versucht durch die Schaffung von eine, die Rumtrickser stoppt. Sonst sagen
sich bald mehr und mehr Nichtbedürftige:
neuen Feindbildern (im Clementschen „Juhu, ich arbeite nur zum Spaß. Bin ich
Sprachgebrauch Abzocker oder Parasiten) arbeitslos, bediene ich mich am reichhalti-
gen Büfett deutscher Sozialleistungen.“
von seinen eigenen Versäumnissen bei Frankfurt am Main Kerstin Haaße
Hartz IV abzulenken. Er möchte seine Per-
Aus Ihrer Tabelle geht immerhin hervor,
son, frei nach dem Motto: ‚Alle sind dass es durch die Reform bei allen ab 30 bis
schuld, nur ich nicht‘, aus der öffentlichen 34 Jahre (also bei der Mehrheit der Be-
troffenen insgesamt) „mehr Verlierer als
Diskussion raushalten.“ Gewinner“ gibt. Allein schon das hätte Sie
Jochen Scheffl aus Olching in Bayern zum Titel „Das Spiel mit den davon abhalten sollen, auf Ihrem Titelbild
SPIEGEL-Titel 43/2005 Armen – Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“ die Hartz-IV-Praxis als Gewinn- oder Dad-
delmaschine für Abzocker zu allegorisie-
ren. Ihr Artikel sagt nirgendwo, wie hoch
Man wird hingehalten, nach Hause ge- prozentual der Anteil der Missbrauchsfäl-
Zeitalter schlampigster Gesetzgebung schickt mit dem Kommentar: „Man muss
eben warten, es gibt Wichtigeres zu tun.“
le an den beklagten 75 Prozent Mehraus-
gaben tatsächlich ist.
Nr. 43/2005, Titel: Das Spiel mit den Armen –
Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt Ich finde es traurig, dass mit den Menschen Berlin Dr. Wolfgang Schlüter
umgegangen wird, als wären sie aussätzig
Schlecht gemachte Gesetze hat es schon oder gar nicht existent. Was würde wohl Wir leben in einem Zeitalter schlampigster
immer mal gegeben. Neu daran ist nur, ein Politiker fühlen, denken und sagen, Gesetzgebung. Die bereits seit einigen Jah-
dass jetzt durch die Hartz-IV-Gesetze zum wenn er in solch einer beschissenen Le- ren als sogenannte Steuerschlupflöcher ge-
ersten Mal auch die kleinen Leute Vater benssituation wäre. brandmarkten Gesetze dienten einmal der
Staat ausbeuten und betrügen können. Die Potsdam Dorothea Neuwirth Stimulierung irgendwelcher wirtschaftli-
Besserverdiener haben das schon immer chen Prozesse oder der Bedienung eines
gekonnt. Die einen mit Hilfe diverser Stan- politischen Klientels. Sie sind rechtens –
dardwerke für Arbeitslose – die anderen wenn inzwischen vielleicht auch uner-
mit Hilfe ihrer Steuerberater! Fragt sich wünscht –, solange die entsprechenden Ge-
nur, wer den Staat mehr schädigt. setze in Kraft sind. Das Gleiche gilt für die
Blankenheim (Nrdrh.-Westf.) Werner Dombret Regelungen von Hartz IV. Die Verantwor-
tung für die jetzt auflaufende Kostenent-
Der Mensch ist ein Opportunist. Egal, ob es wicklung der sogenannten Arbeitsmarkt-
sich um die Ackermänner, Essers, Partei- reformen fernab jeglicher Prognose kann
spendennehmer oder Hartz-IV-Empfänger man nicht den Leistungsempfängern an-
handelt. Die vermeintlich Großen leben lasten, sie liegt einzig und allein bei den
dem Volk vor, dass es keine Konsequenzen Politikern, die handwerklich schlecht ge-
haben muss, wenn man in die Kasse greift. arbeitete Gesetze ihrer Ministerien haben
So war es zu erwarten, dass Hartz-IV-Emp- durchgehen lassen.
fänger die aktuelle Situation ausnutzen, Flensburg Frank Lubowitz
um ihr Einkommen zu optimieren.
Berlin Rainer Geyer Als linksliberaler Mensch liegt mir die In-
tegration ausländischer Mitbürger sowie
Ein großes Lob an die Illustratoren für das der damit verbundene multikulturelle Denk-
Titelbild. Treffender hätte man es nicht ansatz in unserem Land sehr am Herzen.
symbolisieren und charakterisieren kön- „Integration“ bedeutet aber nicht, dass er-
WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA

nen. Dank auch an die Autoren für das werbslose Gast- oder Schwarzarbeiter und
schonungslose Aufdecken der tatsächlichen deren Familien jahrelang ALG II kassie-
desaströsen Lage im Lande der vermeint- ren, oder glaubt irgendwer, ein in der Tür-
lichen Selbstbediener und Ausnutzer, die in kei arbeitender Deutscher bekäme dort
Wahrheit doch nur meist wirklich Arme Stütze? Wenn der deutsche Staat eine der-
sind, welche nun kriminalisiert und zu den artige „Wohlfahrtsimmigration“ duldet,
Sündenböcken der misslungenen Reform Hartz-IV-Gegner (in Leipzig, 2004) schürt er das Erstarken rechtsradikaler Par-
gemacht werden sollen. Herr Clement ist Was würde ein Politiker fühlen? teien, die mittels des „Sündenbockprin-
wirklich tief gesunken.
Duisburg Kristof Kohlsch

Ich habe vor drei Monaten einen Antrag


Vor 50 Jahren der spiegel vom 2. November 1955
Krankenbesuch bei Kanzler Adenauer Übliche Schwächeerscheinun-
bei der Agentur für Arbeit Potsdam ge- gen eines Patienten im Greisenalter. Nach der Ablehnung des Saar-
stellt und musste erleben, dass dieser mit statuts Euphorische Europastimmung mit Gin, Whiskey und Cham-
Gleichgültigkeit und Desinteresse behan- pagner. Fahrerflucht von Polizisten Rätselhafte Vorgänge um Türgriffe.
delt wurde. Viele Briefe habe ich dem Amt Außenministerkonferenz der Alliierten in Genf Bitterer Test. Skandal
um französisches Gefängnis Haft als Alibi. Neuigkeiten zur „Affäre
geschickt mit der dringenden Bitte um ei- Mayerling“ Berliner Regisseur entdeckt Geheimakte.
nen Gesprächstermin. Nach nunmehr drei Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
Monaten habe ich endlich einen Termin oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
bekommen. Mein Hauptproblem ist, dass Titel: Major Friedrich von Stülpnagel, Chef der Grenzschutz-Gewerkschaft
ich ohne Krankenversicherung dastehe.
10 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
zips“ jeden hierzulande lebenden Auslän-
der zum Sozialschmarotzer degradieren.
Eine Große Koalition muss sich diesem
Problem stellen, damit nicht die Majorität
der friedlich in Deutschland lebenden und
arbeitenden Einwanderer unter einer kri-
minellen Minorität zu leiden hat.
Bochum Lutz Röder

Außer Frage steht wohl, dass bei der Ar-


beitslosengeldreform viele Fehler gemacht
wurden, die enorme Kosten verursachen.
Aber das größte Problem ist nicht das Ar-
beitslosengeld II, sondern die Menschen,
die nicht verstehen, wie ein Sozialstaat
funktioniert. Selbst wenn dieser zur Selbst-
bedienung einlädt, ist das noch lange kein

DOMINIK BUTZMANN
Grund dafür, diese Missstände auch aus-
zunutzen. Es ist bezeichnend für die Lage
der Nation, dass die dadurch entstehen-
den Kosten den Bildungsetat übertreffen.
St. Augustin (Nrdrh.-Westf.) Sebastian Uhl Überfülltes Audimax (in Berlin)
Gedrängel und Gezerre
Und wieder fehlt mir die Antwort auf die
wichtigste Frage: Wie entstehen durch Leis- men. Letztendlich sollte im Studium eben
tungskürzungen (wie Hartz IV) neue Ar- auch der Wissens- und Verständniserwerb
beitsplätze? Ich begreife den wirtschaftli- im Vordergrund stehen – und nicht nur das
chen Zusammenhang nicht, wenn es ihn Rennen um die beste Einzelbestzeit.
denn gibt. Was nützt der wachsende Druck Würzburg Wolfgang Sobtzick
auf Arbeitslose, wenn es nicht genügend
Arbeitsplätze gibt? Selbst wenn alle 400000 Ich bin 23 Jahre alt, habe mein BWL-Stu-
freien Stellen sofort besetzt würden, dann dium an der FH Ludwigshafen in fünf Jah-
fehlen immer noch fast 4 Millionen Ar- ren inklusive eines 18-monatigem Auslands-
beitsplätze, mindestens. Sie könnten also aufenthalts in Japan mit Einser-Schnitt ab-
auch herkommen und mir mit einem solviert und auch schon Erfahrungen in
Knüppel auf den Kopf schlagen: Ein neu- mehreren Praktika gesammelt. Trotzdem
er Arbeitsplatz entsteht so nicht. bekomme ich keinen Job, die häufigste Be-
Berlin Dirk Zahn gründung: ich wäre noch zu jung. Wo
bleibt da bitte der Anreiz, sein Studium in
Hartz IV, beschlossen dereinst von SPD kürzester Zeit zu absolvieren, wenn man
und CDU im Vermittlungsausschuss, ist ein dann mit dieser Begründung abgewiesen
Paradebeispiel für Reformpolitik in Wohl- wird?! Irgendetwas läuft in Deutschland
fahrtsstaaten nach dem Motto: „Es muss et- im Vergleich zu anderen europäischen
was geschehen, aber es darf nichts passie- Staaten anscheinend schief. Artikel, welche
ren.“ Keine Ermunterung für die Reform- die lange Studiendauer beklagen, finde ich
politik der geplanten Großen Koalition! persönlich ärgerlich, da es viele Studenten
Diejenigen Politiker, die ein Gleichgewicht gibt, die ihr Studium zügig absolvieren,
von Ökonomie und Sozialem fordern, aber genau aus diesem Grund auf dem Ar-
übersehen, dass der Sozialstaat überdi- beitsmarkt häufig auf der Strecke bleiben.
mensioniert ist und die wachsenden Aus- Wäre es nicht sinnvoller, einen Teil des
gaben für das Soziale die Staatshaushalte Problems in deutschen Unternehmen und
in die Illiquidität getrieben haben. deren Personalpolitik zu suchen?
Bad Krozingen (Bad.-Württ.) Dr. Georg Bleile Ludwigshafen Annett Schwarze

Über den Ausspruch einer Bonner Stu-


Rennen um die Einzelbestzeit dentin, welche sich gewundert hatte, dass
Nr. 42/2005, Hochschulen: Im Schneckentempo zum ihr Studium viel schneller ging, als sie ge-
Abschluss – Uni-Ranking zur Studiendauer dacht hatte, kann ich mich nur wundern.
Ich selbst studiere im fünften Semester
Betrachtet man die Studiendauer differen- Neuere Geschichte an der Universität
ziert, dann studieren deutsche Studenten Bonn. Heute Morgen, 17. Oktober, war An-
laut dem Eurostudent Report 2005 nicht meldetermin für zwei Übungen und ein
selten sogar zügiger als ihre europäischen Proseminar im Grundstudium. Um sechs
Kollegen. So nimmt es beispielsweise Pisa- Uhr früh stand ich vor dem Historischen
Wunderknabe Finnland auch in den Geis- Seminar, was für jemanden, der in Köln
teswissenschaften ganz genau und lässt sei- wohnt, bedeutet: halb fünf aufstehen. Ich
ne angehenden Akademiker ganze sieben musste jedoch, wie in jedem Semester, fest-
Jahre philosophieren – wogegen hiesige stellen, dass bereits 30! Personen mit
Studenten sich „nur“ 6,4 Jahre Zeit neh- Schlafsäcken und Isomatten vor dem Se-
14 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Briefe

minar campiert hatten. Als dann gegen


neun Uhr das Seminar öffnete, gab es ein
unglaubliches Gedrängel und Gezerre von
schätzungsweise 70 bis 80 Studenten um je-
weils 15 Plätze. Ich habe jetzt auch vor Au-
gen, wohin das alles führen soll! In eine El-
lenbogengesellschaft, in der offenbar nur
der Schlaf- und Rücksichtslose überlebt.
Köln Alexander Königsmann

Sicher, besser, billiger


Nr. 42/2005, Automobile: Der Winterreifen-Schwindel

Die Kritik an der angeblich schwindelrei-


chen Sieben-Grad-Theorie, die als listige
Verkaufsmasche Umrüstmuffel zu Tausen-
den in den Reifenhandel lockt, führt den
Sicherheitsaspekt ad absurdum, weil sie
die Relevanz der Winterbereifung auf eine
einzige technische Eigenart reduziert: auf
trockener Straße bremst jeder Sommerrei-
fen auch bei Eiseskälte besser. Wie brem-
sen diese Reifen denn auf Eis und Schnee?
Auch darüber gibt es Testwerte, aber merk-
würdigerweise bleiben sie in der Bericht-
erstattung unberücksichtigt.
Ottersweier (Bad.-Württ.) Thorsten Link

Dem SPIEGEL sei Dank dafür, nicht wie


alle anderen Medien die Werbebotschaften
der Reifenhersteller zum Thema Winter-
reifen als Tatsache zu verbreiten. Auf der
FRANK MÄCHLER

Autoverkehr im Winter
Lieber schweigen

Basis der physikalischen Grundgesetze hat-


te ich schon seit Jahren den dringenden
Verdacht, dass Winterreifen auf Fahrbah-
nen ohne Schnee nicht so gut bremsen wie
Sommerreifen. Auf Nachfrage bei mehre-
ren namhaften Herstellern erhielt ich
zunächst immer die Super-Bremswerte auf
Schnee. Nach Rückfrage bezüglich des
Bremsverhaltens auf trockenen Straßen
brach die Auskunftsfreude jeweils schlag-
artig ab. Daraus kann man nur einen
Schluss ziehen – lieber schweigen als
schlechte Produkteigenschaften verbreiten.
Wer bei Schnee und Eis aufs Auto nicht
verzichten kann, fährt mit Schneeketten
mit Sicherheit besser und billiger.
Erlangen Helmut Ebersmann

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 15
Briefe

lange kalt. Kein Wunder, dass Menschen


mit T-Shirts, die „Oversexed but Under-
fucked“ verkünden, herumlaufen.
Düsseldorf Marc Iseli

Mädels, was wollt ihr denn eigentlich? Der


Macho ist euch zu egoistisch, der Softie zu
devot und der Metrosexuelle zu selbstver-
liebt. Sagt Bescheid, wenn ihr euch ent-
schieden habt. Solange onanieren wir noch

BORIS ROESSLER / DPA


ein bisschen.
Berlin Sven Seelenmeyer

Ein sehr Berlin-lastiger Artikel; es scheint,


dass nur die Hauptstadt als Maßstab des
Buchmesse in Frankfurt am Main: Courage gehört dazu Zeitgeists gelten kann. Es gibt aber noch
mehr im Lande beziehungsweise auf dem
und dafür frenetischen Beifalls von falschen Land: Entdeckt die Provinz! Mein neuer-
Fluten falscher Konjunktive Seiten sicher sein zu können. In den Ruf
nach dem Lektor kann man übrigens sogar
licher Besuch bei einer Freundin in Ber-
lin bestätigte Schirachs Ansicht im Vorhin-
Nr. 42/2005, Literatur: Deutsche Schriftsteller gehen
immer schlampiger mit der Sprache um angesichts zum Beispiel der Fluten falscher ein, als gutaussehende mutmaßliche Jung-
Konjunktive bei Sprachkünstlern allerers- FDPler beim Politikberater-Empfang in der
Herr Hage spricht mir aus der Seele. Sel- ten Ranges wie Kafka oder Döblin aus- trendigen Mitte-Galerie mit tödlich lang-
ten habe ich so gelacht bei einem Artikel brechen. Mängel sprachlicher Kompetenz weiligen Gesprächsthemen rund um ihren
über Literatur. Herrlich, wie hier die Schlud- bei Böll, selbst Fontane, sind freilich alles
rigkeit seziert wird. Ich hoffe, dass der Pro- andere als Entschuldigungen für die von
testruf von vielen sorgfältig gelesen und Hage beanstandeten Unbeholfenheiten,
eifrig umgesetzt wird. Möge vielen dieser Schlampereien, Ausdrucksschwächen je-
Artikel den Blick schärfen. Unser schnelles ner, zu deren Metier eine gewisse Vorbild-
Zeitalter trübt den Blick nur allzu oft. Viel- lichkeit der Sprachbeherrschung so grund-
leicht sollten weniger Bücher gemacht wer- legend wie selbstverständlich zu gehören
den, aber dafür sorgfältiger. Einige Verla- hätte.
ge leben diese Philosophie bereits. Ich hof- Osnabrück Peter Niebaum
fe, es werden bald mehr.
Herten (Nrdrh.-Westf.) Iris Harlammert

Nun bin ich dank Ihnen doch noch mal in


Liebe als wahre Revolte
Nr. 42/2005, Zeitgeist: Tötet Pornografie
den Genuss gekommen, mich als Schüler unser Begehren?
fühlen zu dürfen. „Mangelhaft“ hatte ich
zwar noch nie im Fach Deutsch, aber da Sie Vielleicht haben immer mehr Männer im-
ja von meinen Kollegen und mir bezie- mer weniger Lust auf Frauen, weil sie mitt-
hungsweise von den neuen Büchern of- lerweile gemerkt haben, dass die soge-
fenbar so verärgert wurden, nehme ich nannte moderne, starke und erfolgreiche

PLUSPHOTO / IMAGO
meine Testnote als Premiere hin, verwun- Frau von heute ein Kunstprodukt bunter
dert allerdings über die Aggressivität, mit Frauenzeitschriften ist. Bei näherem Hin-
der hier gleich rundum Autoren, Verlage, sehen entpuppt sie sich leider immer öfter
Kritiker ihren Eintrag ins Klassenbuch er- als eine teure Mogelpackung!
halten. Der Literatur, die ich schreibe, Aachen Michael Schumacher Unterwäschewerbung (in München)
wünsche ich freilich auch weiterhin das Design statt Sein
Anti-Schulische. Mit Ihrem Rotstift wür- Danke für den Beitrag. Es fasziniert mich,
den Sie im Übrigen bei Ihren Favoriten dass eine junge Autorin von 27 Jahren nicht persönlichen Karriere-Erfolg jegliche Se-
Thomas Mann und Alfred Döblin ebenso in der Resignation landet. Sondern bei der xiness eines Freitagabends zugrunde rich-
fündig werden. Jede der von Ihnen kriti- Feststellung, dass der Ausweg eben nicht teten. Da lobe ich mir doch ein ehrliches
sierten Stellen ließe außerdem die Diskus- der Cybersex ist, sondern die Liebe – dass Motorrad-Rocker-Fest auf der Schwäbi-
sion zu, ob es sich hier um einen „Fehler“ die Liebe „die wahre Revolte“ wäre. Was schen Alb – hier wird doch wesentlich eher
handelt oder nicht. Jagd auf Sätze statt für ein Wagnis! Und wie recht sie hat! fortgepflanzt! Also nix wie ab in die Pro-
Sichtung von Gedanken. Und um es mit Ih- Belzig (Brandenb.) Christiane Mrozek vinz, die Liebe wagen!
rer Empfehlung zu halten, Karl Kraus wie- Feldstetten (Bad.-Württ.) Bernhard Seidt
der zu lesen: „Wer Meinungen von sich War die Enttabuisierung der Sexualität Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht er- in den Sechzigern und frühen Siebzigern schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
tappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt ein wichtiger Schritt hin zu einer offeneren Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
auch zwischen den Widersprüchen.“ Gesellschaft, stellt die Pornografisierung
Berlin Gernot Wolfram durch die Medien eine massive Zäsur dar. In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in
einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma Lex-
Sexualität und Intimität sind zu einem Kon- ware, Freiburg. Die Gesamtauflage enthält einen Post-
Es besser zu wissen reicht nicht. Darauf zu sumprodukt ohne Sinn und Inhalt gewor- kartenbeikleber der Firma PFM Pioneer Fonds Market,
bestehen – dazu gehört längst auch schon den. Design statt Sein. Sex ist kein Zeichen München. In einer Teilauflage befinden sich Beilagen der
Courage. Es ist so verdammt leicht, den von Liebe mehr, sondern reine Triebabfuhr. Firmen Financial Times Deutschland, Hamburg, Pro.Idee,
Aachen, SPIEGEL-Verlag/Kunst des SPIEGEL, Hamburg,
Sprachkompetenteren als Beckmesser, Aber kein Angebot ohne Nachfrage. Mich sowie die Verlegerbeilage des SPIEGEL-Verlags/Kultur-
Oberlehrer und so weiter zu diffamieren lassen all die heißen Bilder et cetera schon SPIEGEL, Hamburg.

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Panorama Deutschland
BUNDESKANZLER

Schröders Pläne
B undeskanzler Gerhard Schröder
(SPD) erwägt, sein Bundestags-
mandat noch vor Ablauf der Legislatur-
periode niederzulegen und sich damit
vollständig aus der aktiven Politik zu-
rückzuziehen. Vor Parteifreunden sagte
Schröder, er wolle nicht wie sein Vorgän-

JULIA FASSBENDER / AP (L.); SERGEI ZHUKOV / AFP (R.)


ger Helmut Kohl (CDU) enden, der nach
seinem Ausscheiden aus dem Kanzler-
amt noch eine volle Legislaturperiode als
Abgeordneter auf den hinteren Bänken
des Bundestags zubrachte. Dies habe er
als unwürdig empfunden. Altkanzler
sollten ihren Platz im Parlament für jün-
gere, aufstrebende Politiker räumen, so
Schröder. Den Zeitpunkt für die offiziel-
le Bekanntgabe seines Ausscheidens will
sich Schröder offen halten. In SPD-Krei-
US-Präsident Bush, Merkel (am 23. Februar in Mainz), Putin sen wird jedoch davon ausgegangen,
dass er sein Mandat spätestens bis Ende
AU S S E N P OL I T I K 2006 niederlegt. Fest steht für Schröder,
dass er in Berlin ein sogenanntes Alt-

Kurswechsel auf Samtpfoten kanzlerbüro beziehen wird. Früheren


Kanzlern stehen neben den entsprechen-
den Räumlichkeiten Sekretärinnen und

D ie CDU-Führung will eine Abkehr


von der Schröderschen Außenpoli-
tik – aber sie soll nicht im Koalitions-
spruch, Deutschland als ständiges Mit-
glied im Uno-Sicherheitsrat zu platzie-
ren, wird aufgegeben. In den außen- und
persönliche Referenten zu. Eine konkre-
te Aufgabe in der Wirtschaft hat Schrö-
der kurzfristig nicht im Blick. Vielmehr
vertrag stehen. „Wir wollen jetzt keinen sicherheitspolitischen Fachverhandlun- denkt er darüber nach, seine Memoiren
Kotau verlangen“, sagt ein Spitzenmann gen wurden Streitigkeiten bisher um- zu verfassen. Mindestens ein Angebot
der Union, „das würde nur die Atmo- schifft – so ist statt von Neustart nur vage aus einem großen deutschen Verlag liegt
sphäre belasten.“ Die Wende soll daher von „Erhalt und Stärkung transatlanti- ihm dazu bereits vor.
subtil, aber mit Kanzlerautorität vollzo- scher Freundschaft“ die Rede. Die SPD-
gen werden. Ganz oben auf dem außen- Seite sieht die Unionsankündigungen be-
politischen Aufgabenzettel der künfti- tont gelassen. Aus dem Umfeld des künf-
gen Bundeskanzlerin Angela Merkel tigen SPD-Außenministers Frank-Walter
steht ein Neustart der Beziehungen zu Steinmeier kommt die Empfehlung an
den USA, gleichzeitig soll es mehr Di- die Union, erst mal mit „Ruhe und Kon-
stanz zu Russland geben. Die Balance zentration“ die Koalition zu bilden. Da-
HANS GÜNTHER OED / VARIO-PRESS

müsse wieder stimmen, heißt es in der nach orientiere sich die Außenpolitik
CDU. In Europa will die Union die als zu schlichtweg an den „Interessen Deutsch-
eng empfundene Anbindung an Frank- lands“. Fraktionsvize Gernot Erler be-
reich lockern und dafür die osteuropäi- harrt, der „Hauptstrang der Außenpoli-
schen EU-Partner stärker einbeziehen. tik läuft durch das Auswärtige Amt“.
Merkels Deutschland solle in der EU Kanzlerin Merkel könne allenfalls „Ak-
eher moderierend wirken. Der An- zente setzen“.
Schröder im Bundestag

KOA L I T ION warnte er, im Koalitionspapier allzu marschieren zu lassen. Nun wollen die
konkrete Festlegungen zu treffen oder angehenden Koalitionäre zunächst zwei
Rücksicht auf FDP schon eine Änderung des Grundgeset-
zes anzukündigen. Seine Begründung:
Verfahren vor dem Bundesverfassungs-
gericht abwarten. Der ehemalige FDP-

C DU/CSU und SPD wollen die Ver-


einbarungen über Bundeswehr-
einsätze im Inneren mit Rücksicht auf
Im Bundesrat brauche man dafür auch
die FDP. Die Länderkammer müsste –
neben dem Bundestag – einer Verfas-
Innenexperte Burkhard Hirsch hat ge-
gen das Luftsicherheitsgesetz geklagt,
das dem Wehrminister erlaubt, von Ter-
liberale Empfindlichkeiten bewusst vage sungsänderung zustimmen. Die Libera- roristen gekaperte Passagierjets notfalls
halten. Ausgerechnet CDU/CSU-Frak- len regieren in fünf Ländern mit und abschießen zu lassen. Anhängig ist auch
tionsvize Wolfgang Schäuble, bisher lehnen es – wie der designierte CDU- noch eine FDP-Klage gegen die deut-
treibende Kraft beim Streben der Uni- Verteidigungsminister Franz Josef Jung sche Beteiligung an Awacs-Überwa-
on, das Militär im Inland für neue Auf- – ab, Soldaten als „Hilfspolizisten“ zum chungsflügen während des Irak-Kriegs
gaben heranzuziehen, bremste. Intern Objektschutz etwa an Bahnhöfen auf- ohne einen Bundestagsbeschluss.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 19
Panorama

BUNDESWEHR

Jubel sucht
Sponsor
G escheitert ist der Versuch des Verteidi-
gungsressorts, einen Großteil der auf zwei
Millionen Euro veranschlagten Kosten für die Fei-
ern zum 50. Bundeswehr-Jubiläum von privaten
Geldgebern finanzieren zu lassen. Für Festakte
wie den Großen Zapfenstreich, der vorige Woche
vor dem Berliner Reichstag abgehalten wurde,
hoffte das Ministerium auf rund 750 000 Euro
Sponsorengelder. Es beauftragte eigens eine PR-
Agentur, bei Unternehmen und Verbänden Mit-
tel einzuwerben – und versprach bis zu 20 Prozent
Provision. Doch der Geldsegen blieb aus. Bisher
gingen erst 80 000 Euro ein – spendiert von sechs
Firmen. Dass sich der Betrag bis zum Schlussakt,
einem Rekrutengelöbnis am 12. November, noch
nennenswert erhöht, ist ziemlich unwahrschein-
lich. Deutsche Rüstungskonzerne, die durchaus
spendierfreudig gewesen wären, durften nichts
geben. Das Anti-Korruptions-Referat des Minis-

JENS MEYER / AP
teriums hatte verboten, bei großen Hoflieferanten
der Armee betteln zu gehen. Zapfenstreich vor dem Reichstag in Berlin

PRESSEFREIHEIT

Weitere Ermittlungen gegen Journalisten?

PAUL RAFTERY / VIEW / ARTUR


D ie Bündnisgrünen verlangen von
dem scheidenden Bundesinnen-
minister Otto Schily (SPD) Auskunft dar-
durchsucht. Aufklären wollen die Innen-
experten Volker Beck und Hans-Christi-
an Ströbele auch die Beziehung zwi-
über, ob neben den Ermittlungen gegen schen dem BKA und Schirra. So soll das
den „Cicero“-Journalisten Bruno Schirra BKA offen legen, ob es in der Vergan- Umweltbundesamt
bundesweit noch weitere Anzeigen von genheit von Informationen Schirras, der
Bundesbehörden wegen des Verdachts unter anderem im Nordirak gearbeitet B Ü R O K R AT I E
der Beihilfe zum Geheimnisverrat lau- hat, profitierte – und ob der Reporter
fen. In einer Kleinen Anfrage im Bun-
destag wollen sie zudem wissen, ob Schi-
„für diese Informationsbeschaffung Ge-
genleistungen“ erhielt. Hintergrund sind
CSU gegen
ly persönlich über die Maßnahmen ge-
gen das Magazin „Cicero“ unterrichtet
die Ausführungen von BKA-Präsident
Jörg Ziercke in einer vertraulichen Sit-
Umweltbundesamt
war. Mitte September hatte die Staatsan-
waltschaft Potsdam die Redaktionsräume
sowie die Privatwohnung von Schirra
zung des Innenausschusses, bei der
Ziercke nach Angaben von Sitzungsteil-
nehmern von einer langjährigen Koope-
B ei den Koalitionsverhandlungen mit
der SPD will die CSU eine Abschaf-
fung des Umweltbundesamts durchset-
auf der Suche nach einem vertraulichen ration zwischen dem Reporter und der zen. „Das wäre ein deutliches Signal
Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) Behörde gesprochen hatte. dafür, dass man die Forderung nach Bü-
rokratieabbau ernst meint“, sagt der Par-
lamentarische Geschäftsführer der CSU-
Landesgruppe, Peter Ramsauer. Mit der
Auflösung der Behörde würde ein wich-
SABINE SAUER / DER SPIEGEL (R.)

tiges Investitionshindernis beseitigt. Dies


könne „ohne erkennbaren Schaden für
die Umwelt“ geschehen. Der CSU-Politi-
ker verwies darauf, dass der frühere Ge-
sundheitsminister Horst Seehofer im
Jahr 1994 das Bundesgesundheitsamt ab-
geschafft habe. „Das“, so Ramsauer,
Schirra Durchsuchtes Privatbüro „vermisst heute auch keiner mehr.“
20 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Panorama
JUSTIZ

BARBARA BEYER / KNA


„Praktisch nutzlos“
Der emeritierte Münchner Professor Strafmilderung zugesteht, wenn sie
Claus Roxin, 74, über die geplante durch ihre Kooperation dazu beitragen, Woelki, Meisner
Wiedereinführung der Kronzeugen- dass ihre Komplizen gefasst werden,
regelung. Er gilt als einer der profilier- kann man durchaus diskutieren. Aber KIRCHE
testen Strafrechtler Deutschlands. wo will man Kronzeugen einsetzen?

SPIEGEL: Hilft eine Kronzeugenregelung


SPIEGEL: Überall da, wo sich die Ermitt-
ler schwer tun.
Abgeblitzt
bei der Rechtspflege?
Roxin: Kaum, sie hat überwiegend sym-
bolische Wirkung. Der Gesetzgeber
Roxin: Im Bereich der internationalen
Rauschgiftkriminalität haben wir bereits
eine solche Regelung. Die Vorstellung,
D er Kölner Kardinal Joachim Meis-
ner, der sich gern seiner Nähe
zum Papst rühmt, ist in eigener Sache
kann damit den Eindruck erwecken, er Terroristen als Kronzeugen zu gewinnen, bei Papst Benedikt XVI. auf Wider-
täte etwas Wirkungsvolles gegen die halte ich für ziemlich illusorisch. Ein stand gestoßen. Der Erzbischof von
Kriminalität. Praktisch ist sie aber weit- solcher Versuch hat schon bei der „Ro- Köln wollte schon jetzt einem ihm ge-
gehend nutzlos und rechtsstaatlich be- ten Armee Fraktion“ kaum etwas ge- nehmen Nachfolger den Weg ebnen.
denklich. bracht und scheint mir für den islamis- Bei einem Aufenthalt im Vatikan soll
SPIEGEL: Warum? tischen Terror noch weniger aussichts- Meisner, der in drei Jahren seinen
Rücktritt einreichen muss, versucht
haben, den Papst zu bewegen, den
von ihm favorisierten Weihbischof Rai-
ner Woelki, 49, als „Koadjutor“ einzu-
setzen.
Diese Funktion an der Seite eines am-
tierenden Bischofs beinhaltet das Recht
der automatischen Nachfolge. Im Um-
feld von Benedikt XVI. wird im Vatikan
erzählt, der Papst habe Meisner klar zu
verstehen gegeben, dass ein solcher
Weg bei der Neubesetzung in Köln
nicht in Frage komme.
Da der von Meisner favorisierte Woelki
in Köln als „unselbständiger Befehls-
WOLFGANG M. WEBER

empfänger des Erzbischofs“ gilt, ist das


Vorpreschen des Kardinals in Kölner
Katholikenkreisen auf Unmut gestoßen.
Von Priestern des Kölner Priesterrats
Roxin (in München) deswegen zur Rede gestellt, leugnete
Meisner allerdings, derartige Pläne zu
Roxin: Wenn Schwerverbrecher, und um reich. Warum sollte ein Mensch, der verfolgen. „Mir ist von einem solchen
die geht es bei der Kronzeugenregelung bereit ist, als Selbstmordattentäter sein Vorgang nichts bekannt.“
ja immer, ohne Strafe davonkommen, Leben zu opfern, plötzlich mit der Poli-
nur weil sie andere denunziert haben, ist zei kooperieren? Der Fall des Überläu-
das rechtsstaatlich problematisch und er- fers Shadi Abdallah, der in der vergan-
schüttert das allgemeine Rechtsbewusst- genen Woche in Düsseldorf zu Verurtei-
Nachgefragt
sein schwer. Wenn jeder weiß, dass er lungen geführt hat, ist nicht die Regel.
sich notfalls wieder freikaufen kann, SPIEGEL: Gibt es keine Situation, in der
kann das sogar geradezu verbrechens-
fördernd wirken. Außerdem ist der Be-
eine Kronzeugenregelung sinnvoll ist?
Roxin: Doch, in ganz seltenen Ausnah-
Pkw-Maut
weiswert solcher auf dem Verhandlungs- mefällen halte ich sie für vertretbar. Halten Sie es für wahrschein-
weg erkaufter Aussagen äußerst frag- Etwa, wenn durch eine Information des lich, dass demnächst in
würdig. Die Versuchung, den Kopf durch Delinquenten ein konkret in der Pla- Deutschland eine Pkw-Maut
Lügen aus der Schlinge zu ziehen oder nung befindliches, sehr schweres Delikt für die Benutzung von Auto-
den Fahndungsapparat auf eine falsche tatsächlich verhindert wird, zum Bei-
Fährte zu locken, ist doch sehr groß. spiel ein schwerer Terroranschlag. Hier- bahnen eingeführt wird?
SPIEGEL: Geständnisfreude und Bereit- für gibt es im geltenden Recht nur eine
schaft zur Zusammenarbeit werden in Strafbefreiungsmöglichkeit für den, der
der Praxis doch jetzt schon strafmil- selbst an der Tat beteiligt ist. Man kann
JA 62 %
dernd berücksichtigt. Was spricht dage- aber heute noch keinem Verbrecher sei-
gen, dies durch eine Kronzeugenrege- ne Gefängnisstrafe erlassen, der einen NEIN 35 %
lung festzuschreiben? Anschlag anderer verrät, bevor schwere
Roxin: Ich bin nur gegen eine völlige Schäden oder gar Tote zu beklagen TNS Infratest für den SPIEGEL vom 18. bis 20. Oktober;
Straffreistellung. Über eine explizite sind. Wenn überhaupt eine Gesetzesän- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“
Klausel im Gesetz, die Tätern eine derung Sinn macht, dann diese.
22 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

SPD-Politiker Steinbrück, Müntefering, Koalitionsrunde: „Gemeinsame Verantwortung“

H AU S H A LT

Geld her!
Steuererhöhungen statt Spardiktat? Die Große Koalition will die Bundesbürger offenbar kräftig
zur Kasse bitten, denn zur Enthaltsamkeit in den eigenen Ministerien fehlt nicht zuletzt
der politische Wille. Kippt nun die Konjunktur? Prompt bilden sich neue, überparteiliche Allianzen.

I
m Festzelt am Kanzleramt, von den Tatsächlich war eine Woche lang vom Vorbei sind die sonnigen Zeiten, als SPD
Berlinern „Tipi“ genannt, waren die Ti- Spitzenpersonal der Republik eine ganz und Union die Bürger mit der Aussicht auf
sche am vergangenen Donnerstag lie- andere Melodie angestimmt worden. Hes- sinkende Abgaben und neue staatliche
bevoll gedeckt. Die Herren trugen feinen sens Regierungschef Roland Koch kündig- Wohltaten zu ködern versuchten. Renten-
Zwirn, und vom Podium herab erklärte ein te ein landesweites „Heulen und Zähne- bonus und Familienförderung versprach
Redner nach dem anderen die Bedeutung klappern“ an. einst die Union. „Merkel-Steuer, das wird
von Zuversicht und positivem Denken für Der designierte Bundesfinanzminister teuer“, polemisierte die SPD gegen eine
das deutsche Gemeinwesen. Das Lieb- Peer Steinbrück präsentierte der Koali- Steuererhöhung, obwohl diese nahezu
lingswort des Abends lautete: Optimismus. tionsrunde die neuesten Fehlbeträge – und komplett in die Senkung der Sozialbeiträ-
Davon brauche man mehr, hieß es allent- alle Anwesenden erschraken, als wäre ih- ge fließen sollte. Aber die Botschaft war
halben. Viel mehr. nen gerade der Leibhaftige begegnet. klar: Mit uns werden die Bürger vor fiska-
Was auf den ersten Blick wie eine Jah- Selbst dem niedersächsischen Mutmacher lischen Massakern bewahrt.
resversammlung von Drückerkolonnen oder Wulff entfuhren Wörter wie „erschre- Die Wahlprogramme von gestern sind
Motivationstrainern anmutete, entpuppte ckend“ und „grauenhaft“. heute schon das Papier nicht mehr wert,
sich bei näherem Hinsehen als die Verlei- Sechs Wochen nach der Bundestagswahl auf dem sie stehen. Seit die Politiker den
hung des Mittelstandspreises „Mutmacher haben es die Optimisten in Deutschland Finanzstatus von Bund, Ländern und Ge-
der Nation“. Der ehemalige Jenoptik-Chef schwerer denn je. Selbst die SPD-Führung, meinden zur Kenntnis nahmen, sprechen
Lothar Späth lobte alle Wagemutigen und die im Wahlkampf den Eindruck blühender sie von „riesigen Herausforderungen“
bat die Politik, sie zu unterstützen. Der Landschaften zu erwecken suchte, spricht (CDU-Chefin Angela Merkel) oder „ge-
niedersächsische CDU-Ministerpräsident in Gestalt ihres großen Vorsitzenden Franz meinsamer Verantwortung“ (SPD-Exper-
Christian Wulff warb für „mehr Optimis- Müntefering nun davon, dass auf absehba- te Steinbrück). Einziger Ausweg scheint
mus“ und warnte vor „einer Jammergesell- re Zeit „nicht mehr Milch und Honig derzeit eine Politik geballter Steuererhö-
schaft, die alles nur schlecht sieht“. fließen“. Aber was dann? Tränen? hungen zu sein.
24 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS (L.); MICHAEL KAPPELER / DDP (R.)

CDU-Politiker Merkel, Koch: „Riesige Herausforderungen“

Nicht mehr von Senkung, sondern von Milliarden Euro ließen sich auf diese Wei- Fiskal- und Wirtschaftspolitik miteinander
einer Erhöhung der Beiträge zur Ren- se aktivieren. Doch von den Experten der zu verzahnen. Er strebte stets nach einem
tenversicherung ist die Rede. Koalition besitzt keiner die Größe eines Mix aus Sparsamkeit und Investitionsan-
An die Stelle einer Steuersenkung droht Karl Schiller. reizen, sprach von einem „Auf-
womöglich ein neuer Solidaritätszuschlag Der legendäre Profes- Ausgaben 257 schwung nach Maß“, was ihm
zu treten. Und bei der Mehrwertsteuer sor und Wirtschafts- nach der Rezession Ende der sech-
geht es nur noch darum, wie saftig die minister im Kabinett 252 ziger Jahre auch gelang. Ziel der
Erhöhung ausfällt. von Kurt Georg Kie- Politik müsse sein, „die Pferde
Verbraucher, Unternehmer und Öko- singer verstand es, 247 zum Saufen zu bringen“.
nomen sind alarmiert. Würden die Steu- 243 Die Finanzpolitiker aller Par-
erpläne der Koalitions-Finanzer eins zu 241 teien im Berlin des Jahres 2005
eins umgesetzt, warnen führende Wirt- haben dagegen im neuentflamm-
schaftswissenschaftler wie Hans-Wer- ten Steuerrausch derart aufge-
ner Sinn, Präsident des Münchner dreht, dass sich überraschend
Ifo-Instituts, könnte dies „den Auf- neue, parteiübergreifende Front-
schwung gefährden“. verläufe zeigen und sich Wider-
Die deutsche Sparquote, also der 226 spruch sogar in den eigenen
ohnehin schon rekordverdächtige Reihen regt. Die Kollegen vom
Anteil des Einkommens, der hier- 221 220 Wirtschaftsressort machen Front
zulande auf der hohen Kante lan- 218 218 gegen das Treiben der Steuer-
det, würde weiter steigen. Die 215 erhöher.
Kaufkraft der Bevölkerung würde Einnahmen 212 Man dürfe jetzt nicht die Kon-
doppelt leiden: erst durch den junktur abwürgen, warnt CSU-
Staat mit seiner Steuerpolitik und Chef Edmund Stoiber, der sich
anschließend durch die ebenso neuerdings dem Wirtschafts-
ängstliche wie verständliche Re- wachstum und nicht mehr allein Wachsende Lücke
aktion der Bevölkerung darauf. Haushaltsentwicklung der scharfen Haushaltskonsolidie-
198
Wie bereits bei den Koalitions- des Bundes rung verpflichtet fühlt wie noch
verhandlungen im Herbst 2002 194 in Milliarden Euro vor der Wahl. Auch SPD-Wirt-
tun die Politiker alles, den Deut- schaftsexperte Rainer Wend be-
schen die Konsumlust auszutrei- tont: „Sparen, streichen und
ben. Würde die Sparquote auf 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 2004 Steuern erhöhen allein ist keine
Werte wie etwa in Großbritannien Strategie.“ So reicht die neue Al-
sinken, also von derzeit 10,6 auf Nettokreditaufnahme lianz vom CSU-Chef bis tief hin-
Quelle: BMF 40,0
dann 5 Prozent, käme dies einem 38,6 39,5 ein in die Sozialdemokratie.
33,8 32,6 28,9 31,9
gigantischen, privat finanzierten 19,7 25,6 25,6 26,1 23,8 22,8 Die CSU-Wirtschaftspolitikerin
Konjunkturprogramm gleich: 75 Dagmar Wöhrl pflichtet Wend
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 25
Deutschland

Bizarres Privileg
Alle sollen sparen – aber deutsche Top-Manager sind sogar von den Rentenbeiträgen befreit.

A
ls Leonhard Fischer, 42, als neu- Ein Grund dafür ist das Solidarprin-
er Chef der Schweizer Winter- zip, das hohe Rentenbeiträge zumin-
thur-Versicherung zum ersten dest teilweise auf kleinere Renten um-
Mal auf seinen Gehaltszettel sah, ent- verteilt. Der andere Grund ist die
deckte er dort einen Abzug, den er sich demografische Entwicklung. Weil seit
nicht erklären konnte: 8,4 Prozent sei- Jahrzehnten die Geburtenrate sinkt,
ner Bezüge waren an die staatliche müssen in der Rentenversicherung im-
schweizerische Rentenversicherung ab- mer weniger Arbeitnehmer für immer
geführt worden. Einfach so. Bei Fischers mehr Rentner aufkommen.

JOSÉ GIRIBAS
Salär ein durchaus erklecklicher Betrag. Erst kürzlich hatte der Bonner Wis-
Der junge Banker war erst seit kur- senschaftler Meinhard Miegel im Auf-
zem in der Schweiz. Bis zu seinem Job- trag des Deutschen Instituts für Alters-
wechsel hatte der gebürtige Emsländer Ministerin Schmidt vorsorge ausgerechnet, welch schlech-
jahrelang als Investmentexperte im Absonderlichkeit im Gesetzbuch tes Geschäft die Rente eigentlich ist.
Vorstand der Dresdner Bank gesessen. Ein 1940 geborener Mann kann dem-
Die monatliche Zahlung von Beiträgen von bis zu 1000 Euro im Monat könne nach mit einer Verzinsung von 1,4 Pro-
an die Rentenkasse kannte Fischer des- ihnen mithin erspart bleiben. zent rechnen.
halb gar nicht mehr. Jahrzehntelang wurde die Vorzugs- Die Männer des Jahrgangs 1990 wür-
Wie alle seine ehemaligen Vorstands- behandlung stillschweigend genutzt. den bei plus/minus null landen. Für
kollegen hatte der Banker von einer Dabei hätte die Ausnahme bisweilen alle Jüngeren sieht es nach Miegels Be-
Spezialregel profitiert, die Vorstands- auffallen können, etwa im vergange- rechnung ganz finster aus. Sie werden
mitglieder einer Aktiengesellschaft in nen Jahr: Damals geriet die Commerz- auf jeden Fall weniger ausbezahlt
Deutschland von jeder Beitragspflicht bank unter ihrem Chef Klaus-Peter bekommen, als sie eingezahlt haben.
freistellt. Das bizarre Privileg findet sich Müller in die Schlagzeilen, weil sie den Miegel spricht von einer „Negativ-
in Paragraf 1 des Sechsten Sozialgesetz- Mitarbeitern die Betriebsrenten kün- rendite“.
buches. Und es zählt mit Sicherheit zu digte, die Pension des Spitzen-Manage- Doch wer es nicht bis in den Vor-
den größten Absonderlichkeiten des ments aber schonte. Damals wurde stand einer Aktiengesellschaft schafft,
deutschen Sozialsystems, um dessen noch lamentiert, die Top-Kräfte seien hat kaum eine Chance, der Versiche-
Zukunft die Unterhändler in den Koa- schließlich durch den Staat nicht ab- rungspflicht zu entrinnen. Leitende An-
litionsgesprächen derzeit ringen. Wäh- gesichert. gestellte einer GmbH oder des Öffent-
rend Union und SPD-Politiker wie Nun gibt es auch außerhalb der Ak- lichen Dienstes müssen zähneknir-
Sozialministerin Ulla Schmidt darüber tiengesellschaften viele gutverdienende schend Zwangsbeiträge abführen.
nachdenken, die Riester-Rente zur Angestellte, die ebenfalls gern in Ei- Ein letztes Schlupfloch hat die rot-
Pflicht zu erklären oder die Rente erst genregie für ihr Alter vorsorgen wür- grüne Bundesregierung vor zwei Jahren
ab 67 auszuzahlen, ist es ausgerechnet den. Selbst bei konservativer Geldan- geschlossen. Findige Vermögensberater
den Arbeitnehmern mit den höchsten lage dürfte eine monatliche Sparrate hatten bis dahin auf die Möglichkeit
Einkommen gestattet, sich aus der von 1000 Euro eine höhere Rendite ab- hingewiesen, sich dem Zugriff der
Solidargemeinschaft weitgehend zu ver- werfen als die marode staatliche Ren- Rentenanstalt durch Gründung einer
abschieden. tenversicherung. Schein-AG zu entziehen. Das Privileg
Die Begründung für die der Vorstände von Aktien-
Ausnahmeregel ist so ei- gesellschaften hat die Politik
genartig wie das mehr als bei der Gelegenheit indes
35 Jahre alte Privileg selbst. nicht angetastet – ein echter
Weil Vorstände von Groß- Standortvorteil. Weltläufige
konzernen aller Erfahrung Top-Manager wissen nur zu
nach nicht von Altersarmut gut, dass sie anderswo nicht
bedroht seien und damit so gut davonkämen.
auch keine Gefahr bestehe, Trotz üppiger Beiträge
dass sie später der staatli- kann der Winterthur-Mana-
MICHAEL WALLRATH / ACTION PRESS

chen Fürsorge anheim fal- ger Fischer in seiner neuen


len, bedürfe es keiner Ver- Heimat Schweiz später nur
sicherungspflicht, entschied mit bescheidener Unterstüt-
das Bundessozialgericht. zung rechnen. Die staatliche
Der von abhängig Be- Höchstrente liegt dort bei
schäftigten und deren Ar- monatlich 1390 Euro.
beitgebern normalerweise Alexander Neubacher,
abverlangte Zwangsbeitrag Bankchef Müller: Aus der Solidargemeinschaft verabschiedet Wolfgang Reuter

26 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
bei: „Keine Steuererhöhungen zum Stop- gierung mit einem Loch von rund 54 Mil- Weder durften die Renten, die der Bund
fen von Haushaltslöchern – das ist Gift für liarden Euro kalkuliert. mit 80 Milliarden Euro bezuschusst, ange-
die Konjunktur.“ Und der CDU-Haushäl- Doch die Konjunktur läuft schlechter als tastet werden, noch wurde die Steinkohle-
ter Steffen Kampeter ergänzt, dass eine erwartet, so dass die Ausgaben für Ar- förderung reduziert oder gar das Bundes-
„massive Steuererhöhungswelle das Ver- beitslose steigen und die Steuern spärlicher personal in Frage gestellt. Geht nicht. Fin-
trauen von Investoren und Konsumenten fließen. „Mit einer so dramatischen Lage ger weg! „Sie können den Haushalt nicht
zerstört“. habe ich nicht gerechnet“, gesteht Sach- plündern bis auf null und sagen, wir krie-
Es geht um eine ökonomische Grund- sens Ministerpräsident Georg Milbradt gen das alles auf der Ausgabenseite“, ver-
satzfrage von entscheidender Bedeutung: (CDU), früher selbst Finanzminister. teidigt Steinbrück seine Strategie.
Will die Große Koalition für mehr Wachs-
tum und Arbeitsplätze sorgen? Oder soll
um jeden Preis der Bundesetat saniert
werden, auch wenn das Land dabei in toto
auf Schrumpfkur geschickt wird? Lassen
sich Sparsamkeit und Aufbruchstimmung
nicht womöglich doch miteinander ver-
söhnen?
Der künftige Wirtschaftsminister Stoiber

HECHTENBERG / CARO
will am Montag dieser Woche den Versuch

SPECHT / LAIF
einer Gegenoffensive starten. Wenn sich
am Nachmittag die Koalitionsspitzen, dar-
unter Noch-Kanzler Gerhard Schröder,
Demnächst-Kanzlerin Merkel und SPD- Sparziele Pendlerpauschale, Eigenheimzulage: Zu wenig für die Rettung des Haushalts
Chef Franz Müntefering, treffen, wird der
in der Öffentlichkeit zuletzt arg gezauste
Stoiber der Runde seine neue Philosophie
vermitteln. Er werbe „für einen Dreiklang
aus Sparen, Reformieren und Investieren“.
Der CSU-Chef will eine eher karge For-
derungsliste präsentieren, die seine Staats-
kanzlei zusammengestellt hat:
• Ein Gründerprogramm soll Jungunter-
nehmer zur Selbständigkeit ermuntern.
• Ein Bürokratie-TÜV soll das Geneh-
migungs- und Meldegestrüpp zurecht-
stutzen und neue Gesetze auf ihre
Wirtschaftstauglichkeit untersuchen.
• Die Abschreibungsregeln für die Indu-
strie sollen verbessert werden, in der

STEPHAN ELLERINGMANN / LAIF


Hoffnung, damit Milliarden-Investitio-
nen anzukurbeln.
• Eine „Unternehmensteuerreform aus ei-
nem Guss“ soll spätestens 2008 in Kraft
treten.
Stoibers Programm wird eher Geld kos-
ten als Geld eintreiben. Er und seine Mit- Bergleute im Ruhrgebiet: Geht nicht – Finger weg!
streiter in CSU, CDU und SPD erinnern
sich noch genau an die verheerenden Er- Trotzdem will die neue Regierung be- So wird zwar das Rentenalter bis zum
fahrungen bei der letzten Regierungsbil- reits im Jahr 2007 die Maastricht-Kriterien Jahr 2035 auf 67 Jahre erhöht, die Eigen-
dung im Jahr 2002. Rot-Grün fehlte ein erfüllen, nach denen der Staat höchstens heimzulage steht zur Disposition, und die
Wirtschaftskonzept – und so drückte Fi- drei Prozent der Wirtschaftsleistung an Pendlerpauschale soll um etwa fünf Cent
nanzminister Hans Eichel einen schwer neuen Schulden aufnehmen darf. Der Rest gekürzt werden. Doch das alles zusammen
verdaulichen Cocktail aus Steuer- und Ab- ist eine Rechenübung: In den nächsten bei- bringt zu wenig, um den Haushalt der
gabenerhöhungen durch, der die Stim- den Jahren fehlen im Bundesetat jeweils nächsten beiden Jahre zu retten.
mung im Kabinett genauso verdarb wie bei 35 Milliarden Euro, wenn nicht nur die Weitergehende Forderungen, die Staats-
Unternehmern und Verbrauchern. Die europäischen Sparanforderungen, sondern ausgaben kräftig zu kürzen, landeten im
Konjunktur schwächelte weiter – der Bun- auch auch die Verfassungsvorgaben wie- Papierkorb. So hatten Finanzpolitiker vor-
desetat rutschte noch tiefer ins Minus als der eingehalten werden sollen. geschlagen, Rentnern einen höheren Kran-
zuvor. „Wir brauchen endlich einen Ma- Seitdem suchen die Haushaltspolitiker kenkassenbeitrag abzufordern – und so
kroökonomen“, stöhnte der damalige Vize- nach Wegen, die Lücke zu schließen. Doch den Bundeshaushalt um bis zu acht Mil-
Kanzler Joschka Fischer. anstatt den weit über 2000 Seiten starken liarden Euro jährlich zu entlasten. Doch
Dabei ist die Dramatik der Staatsfinan- Etatplan des Bundes mutig auf Kürzungs- das lehnten die Sozialpolitiker genauso ab
zen kaum noch zu überbieten. Nach Stein- möglichkeiten zu durchforsten, haben sich wie Vorschläge, die Renten direkt zu kür-
brücks Berechnungen klafft allein im Haus- die Koalitionäre längst für den leichteren zen. Nun kalkulieren die Experten, dass
halt 2006 eine Lücke zwischen Einnahmen Weg entschieden: Die Bürger sollen mehr der Beitragssatz im Jahr 2007 von heute
und Ausgaben von 64 Milliarden Euro, Geld an den Staat abführen. 19,5 auf rund 19,8 Prozent angehoben wer-
mehr als die Einzeletats der Ministerien Mit Erfolg haben die Verhandler aus den muss.
Wirtschaft und Arbeit sowie Verteidigung Union und SPD bislang unpopuläre Ganz ähnlich ist die Entwicklung in der
zusammen ausmachen. Bisher hatte die Re- Streichaktionen jeglicher Art verhindert. Krankenversicherung. Lustvoll stritten die
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 27
Gesundheitspolitiker während ihrer ersten Dass der Großen Koalition nichts ande-
Arbeitsgruppensitzungen um ideologische res einfällt als eine erneute Steuererhö-
Grundsatzpositionen. Wie die explodie- hungsrunde, stößt nicht nur bei Verbrau-
renden Medikamentenkosten eingefangen chern und Unternehmern auf Unwillen,
werden können, wurde nur am Rande be- sondern auch in der Wissenschaft. Gerade
handelt. Ändert sich nichts, so warnen die beginnen die heimischen Konsumenten,
Chefs von AOK, Barmer und Co., müssen wieder etwas mehr Geld auszugeben. Ge-
auch bei ihnen bereits im nächsten Jahr rade melden die Konjunkturforscher, dass
die Beiträge erneut steigen. sich das Geschäftsklima erstmals seit lan-
Warum bei den Sparbemühungen bis- gem vorsichtig aufhellt. Da würde eine
lang so wenig herausgekommen ist, hat drastische Steuererhöhung wirken wie ein
einen simplen Grund. In den Arbeits- plötzlicher Frosteinbruch.
gruppen haben nicht die Finanz-, sondern Ökonomen und Wirtschaftsexperten quit-
die Fachpolitiker das Sagen. Und die ha- tieren die Koalitionspläne mit eindeutigen
ben nur mäßiges Interesse, die eigenen Vokabeln: Die Urteile reichen von „fatal“
Budgets und damit die eigene Bedeutung (CDU-Veteran und Unternehmer Lothar

FRANK OSSENBRINK
zu schmälern. Späth) bis zu „grundfalsch“ (der Mainzer
Das gilt auch für ein Feld, auf dem das Finanzwissenschaftler Rolf Peffekoven).
Sparpotential besonders groß ist: dem Würde die Regierung die Mehrwert-
Arbeitsmarkt. steuer tatsächlich so drastisch erhöhen wie
Rund 20 Milliarden Euro gibt die Nürn- CSU-Chef Stoiber, Ehefrau Karin derzeit geplant, könnte das die Wachs-
berger Bundesagentur für Arbeit Jahr für „Sparen, reformieren und investieren“ tumsrate um fast die Hälfte senken und bis
Jahr für sogenannte Eingliederungsmaß- zu 500 000 Arbeitsplätze kosten, schätzt
nahmen wie Fortbildung oder Arbeitsbe- sieben Prozent für Lebensmittel, Zeitungen Viktor Steiner vom Deutschen Institut für
schaffung aus. Ein gut Teil der Programme oder Bücher soll dagegen erhalten bleiben. Wirtschaftsforschung.
gilt als weitgehend ineffizient. Noch steht zwar nicht fest, ob der Fiskus Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn hat eine
Doch als die zuständigen schwarz-roten künftig 18 oder 19 Prozent abgreift. Doch eigene Liste zur seriösen Haushaltskonso-
Unterhändler die Positionen in der ver- dass die Mehrwertsteuer steigt, ist für lidierung ausgearbeitet. Danach könnte der
gangenen Woche durchkämmten, moch- die Experten ausgemachte Sache. „Daran Fiskus in relativ kurzer Zeit knapp 45 Mil-
ten sie kaum Überflüssiges entdecken. Die führt kein Weg vorbei, die riesigen Haus- liarden Euro sparen.
Ich-AG etwa, die Experten für besonders haltslöcher bekommen wir anders nicht in Dafür müssten nicht nur Steuervergüns-
missbrauchsanfällig halten, gilt den Ar- den Griff“, gesteht ein SPD-Unterhändler. tigungen wie die Eigenheimzulage, Pend-
beitsmarktpolitikern dabei als genauso lerpauschale und Agrardiesel komplett ab-
„unverzichtbar“ wie der Vermittlungsgut-
schein, die Entgeltsicherung für ältere Ar- Der soziale Geist geschafft, sondern auch Darlehen für den
sozialen Wohnungsbau und die Zuschüsse
beitnehmer oder die sogenannte 58er-Re- Struktur des Bundeshaushalts zur landwirtschaftlichen Unfallversiche-
gelung, mit der ältere Arbeitslose die Zeit 1984 und 2004 rung gestrichen werden. Obendrein schlägt
bis zur Rente überbrücken können. Kür- Rente, Arbeit Sinn die Einführung einer Pkw-Vignette
zungspotential? Nahe null. und Soziales von 100 Euro jährlich vor.
Renten
Das gilt angeblich auch für das neue Ar-
beitslosengeld II – obwohl die flächen-
deckende Verschwendung öffentlicher
1984 14,0% 32,5 % Der designierte Wirtschaftsminister Stoi-
ber ist derweil noch damit beschäftigt, sich
selbst zu sortieren. Seine Spitzenbeamten
Arbeitsmarkt
Gelder nirgends augenfälliger ist als bei 3,8 % können die neue Formel „Sparen, refor-
der Hartz-IV-Reform. Allein in diesem Sonstiges mieren und investieren“ derzeit noch nicht
Jahr, so hat die Regierung selbst einge- sonstige mit echter Substanz füllen.
36,8% Sozialausgaben
räumt, verursacht das Projekt ungeplante 14,7% So spicken sie ihren Chef auch mit Pro-
Mehrausgaben von zehn Milliarden Euro. pagandaraketen, die vor allem in Richtung
Würde das Gesetz entsprechend korrigiert, Zins- Brüssel zielen. Geld aus den europäischen
müsste sich allein dadurch ein beacht- ausgaben Töpfen, so steht es in einem internen Pa-
licher Teil der Zusatzkosten wieder her- 11,0% pier für Stoibers Verhandlungsteam, sol-
Verteidigung
einholen lassen. len nur jene EU-Länder erhalten, die ein
19,7%
Doch wer das Arbeitsgruppenpapier zur bestimmtes Mindestaufkommen bei den
„Verbesserung der Umsetzung des SGB II“ Unternehmensteuern erzielen. Das solle
studiert, wird rasch eines Besseren belehrt. den verhängnisvollen Standortwettlauf un-
Rund 30 Maßnahmen listet das Papier Rente, Arbeit terbinden, den sich die Mitgliedstaaten
auf. Nur: Die Projekte gelten entweder
als „kostenneutral“, oder sie bringen nur 2004 und Soziales
47,8 %
derzeit liefern.
Länder wie Tschechien, Polen oder die
„geringe“ oder „nicht bezifferbare Einspa- Renten Slowakei haben in den vergangenen Jah-
rungen“. Der Finanzeffekt des Hartz-IV- Sonstiges 30,7% ren die Abgaben für Unternehmen deut-
Pakets summiert sich deshalb bislang auf 26,8 % lich gesenkt – und damit Firmen und Ar-
ganze 600 Millionen Euro, nicht einmal Arbeitsmarkt beitsplätze aus anderen EU-Staaten wie
zwei Prozent des erforderlichen Konsoli- 9,9 % Deutschland angelockt. Es dürfe nicht sein,
dierungsbetrags. Verteidigung dass „mit deutschen Steuergeldern die Ver-
So lag es nahe, sich der Einnahmeseite 11,0% lagerung deutscher Arbeitsplätze in die
des Haushalts zuzuwenden. Zur Diskus- sonstige Beitrittsstaaten finanziert wird“.
sion stehen ein neuer Solidaritätszuschlag Zins- Sozial- Wenn gar nichts geht, das weiß der
namens „Kon-Soli“ sowie eine Erhöhung ausgaben ausgaben Bayer – Brüssel ist immer schuld.
der Mehrwertsteuer in mehreren Stufen 14,4 % 7,2 % Sven Afhüppe, Wolfgang Reuter,
und Jahren. Der niedrige Steuersatz von Quelle: BMF Michael Sauga

30 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

CARO / RIEDMILLER

BECKER & BREDEL


Sparobjekte Sportverein (in Bayern), Schule, Universitätsklinik (in Marburg): „Die Länder gehen mit ihrem Geld noch verantwortungsloser

gebnis: Die Landesregierungen müssten


BUNDESLÄNDER
ihre Ausgaben noch deutlich stärker be-

Ministerium zu verkaufen
schneiden als der Bund, um der Schulden-
falle zu entgehen.
Selbst bei reichen Ländern wie Baden-
Württemberg und Bayern erkennt die Stu-
Harte Einschnitte drohen den Bürgern nicht nur aus Berlin: In die einen dringenden Kürzungsbedarf von
5,6 und 7,3 Prozent. Klamme Länder wie
den Ländern ist die Haushaltslage noch dramatischer. Schulen müssen Bremen müssten sogar ein Viertel ihrer
geschlossen, Kliniken verscherbelt, Stellen gestrichen werden. Ausgaben streichen, meinen die Forscher.
Was passiert, wenn nichts passiert, hat

D
as Treffen am Dienstag vergangener „Die Länder gehen mit ihrem Geld noch die Hartmann-Kommission in Düsseldorf
Woche wirkte harmonisch, dabei verantwortungsloser um als der Bund“, geschildert: Krankenhäuser, Universitäten
ging es um nichts weniger als um sagt Ole Wintermann von der Bertels- und Schulen würden verfallen, es wäre
eine Bankrotterklärung der Politik: NRW- mann-Stiftung. Das Institut hat zusammen bald kaum noch Geld da, um Schlagloch-
Regierungschef Jürgen Rüttgers hatte eine mit dem Europäischen Zentrum für Wirt- pisten zu flicken, Busse und Bahnen zu re-
Kommission aus Wirtschaftsführern ein- schaftsforschung eine Studie verfasst, die novieren. Die Steuereinnahmen würden
gesetzt – und die Bosse sollten ihm nun den Schuldenstand der Länder ins Ver- von Zinszahlungen aufgefressen.
sagen, wie er seine maroden Finanzen hältnis zu ihrer Wirtschaftskraft setzt. Er- In Bremen kommen auf jeden Bürger
wieder in den Griff bekommen könnte. schon mehr als 17 000 Euro Landesschul-
Mit zustimmendem Kopfnicken quit-
tierten der CDU-Mann und sein Finanz-
Schulden je Einwohner den, dazu fast 10 500 Euro aus Bundes-
schulden (siehe Grafik). Die Große Koali-
minister am Kabinettstisch in der Düssel- aus Länder- und Gemeindehaushalten 2004 tion im Stadtstaat hat dieses
dorfer Staatskanzlei, was sich die Unter- in Euro Bremen 17 013 Jahr Ausgaben von vier Mil-
nehmer und Experten an Grausamkeiten liarden Euro vorgesehen.
Berlin 15 907
ausgedacht haben. Die Politiker lobten Eine Milliarde muss sie sich
„intelligente Vorschläge“ und „kreative Hamburg 11 721 dafür auf den Kreditmärk-
Ideen“ – obwohl es in dem Sparkonzept Sachsen-Anhalt 8522 ten leihen – und gleich die
um massenhaften Stellenabbau geht, um Hälfte davon als jährliche Zinsen wieder an
Zuschüsse, die wegfallen sollen, um Sub- Saarland 7804 die Gläubiger zurücküberweisen.
ventionen, die zu streichen seien. Schleswig-Holstein 7792 In Berlin mit seinen fast 60 Milliarden
Acht Milliarden Euro müsse das hoch- Nordrhein-Westfalen 7244 Euro Schulden gehen jährlich sogar 2,4 Mil-
verschuldete Land bis 2010 einsparen und liarden für Zinsen drauf. Finanzsenator
34 000 Verwaltungsstellen streichen, so die Thüringen 7190 Thilo Sarrazin (SPD) hält die Entwicklung
Kommission unter Leitung des E.on-Auf- Meckl.-Vorpommern 7149 für so bedrohlich, dass er schon über die
sichtsratschefs Ulrich Hartmann. Sonst Brandenburg 7091 Einsetzung von Staatskommissaren nach-
gehe in Deutschlands bevölkerungsreichs- denkt. Die Aufseher sollen in besonders
tem Bundesland bald „gar nichts mehr“. Rheinland-Pfalz 6894 hoch verschuldeten Ländern vom Finanz-
Solche Warnungen erreichen derzeit fast Niedersachsen 6832 planungsrat des Bundes und der Länder
alle Landeshauptstädte der Republik. Hessen 6093 eingesetzt werden können, um Haushalts-
Knapp 443 Milliarden Euro haben die Län- sperren durchzusetzen, schlug Sarrazin
der bis Ende 2004 an Schulden angehäuft, Baden-Württemberg 4158 vorvergangene Woche bei einer Tagung in
die Hälfte der 16 Regierungen wird es nach Sachsen 4043 Berlin vor. Gewählte Landesregierungen
Einschätzung des Bundesfinanzministe- Bayern 3012 würden dadurch de facto entmachtet.
riums in diesem Jahr nicht schaffen, ver- Der Vorschlag war ein Tabubruch und
fassungsgemäße Haushalte vorzulegen – Hinzu kamen auf jeden Bürger 10427 ¤ stieß denn auch bei anderen Schuldenma-
also sich höchstens so viel Geld zu pumpen, Schulden des Bundes (inkl. Sondervermögen) chern auf wenig Gegenliebe: „Ich will nicht
wie für neue Investitionen gebraucht wird. die Verantwortung in Bremen überneh-
32 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
für 2006 vorgelegt. Es ist der fünfte in Fol-
ge, der die Verfassungshürde reißt.
Dabei wird in Hessen schon kräftig ge-
trickst, um die Haushaltszahlen zu schö-
nen: Weimar will für mehr als eine Milliar-
de Euro Regierungs- und Polizeipräsidien
verkaufen und gleich wieder über Verträge
mit bis zu 30 Jahren Laufzeit zurückmieten.
Sogar Weimars eigenes Ministerium steht
auf der Angebotsliste. Statt Kreditzinsen
muss das Land dann für Jahrzehnte Miet-
zinsen zahlen – und steht am Ende ohne
eigene Behördengebäude da.
„Wir haben kein Ausgabenproblem,

RAINER WALDINGER / DDP


sondern nur ein Einnahmeproblem“, be-
hauptet Weimar trotzig. Zweifel sind an-
gebracht. Denn trotz Rekordverschuldung
kaufte die Koch-Regierung nicht nur ei-
nem finanziell schwächelnden Erbgrafen
um als der Bund sein altes Schloss im Odenwald samt einer
Sammlung „abnormer Hirschgeweihe“ für
men, um sie gleich wieder abzugeben“, mehr als 13 Millionen Euro ab – die Hes-
kontert Bremens designierter Bürgermeis- sen erstanden auch noch für 8,5 Millionen
ter Jens Böhrnsen (SPD). Euro ein Brachgelände bei ihrer Landes-
Einige Länder versuchen immerhin, mit vertretung in Berlin, ohne einen konkreten
Sparlisten gegenzusteuern. Saarlands Re- Verwendungszweck dafür zu haben: Das
gierungschef Peter Müller (CDU) will min- sei „Deutschlands teuerster Parkplatz“,
destens 80 Grundschulen schließen. In spottete der Bund der Steuerzahler.
Brandenburg streicht Matthias Platzeck Aber auch andere Länder sehen in den
(SPD) Stellen von Polizisten und Gefängnis- Verschuldungsgrenzen des Grundgesetzes
wärtern. Hessens Roland Koch (CDU) offenbar eher eine unverbindliche Emp-
plant den Verkauf der Universitätskliniken fehlung: „Wir haben schließlich eine haus-
Gießen und Marburg an private Betreiber, haltspolitische Notlage“, so ein Sprecher
und in Schleswig-Holstein will Peter Harry des saarländischen Finanzministeriums.
Carstensen (CDU) mehr als ein Viertel der Dennoch leistet sich etwa das Kultur- und
27 Amtsgerichte des Landes schließen. Bildungsministerium des Saarlandes 51 Re-
Es trifft sogar das reiche Bayern, dessen feratsleiter, obwohl selbst Gutachter der
Landesregierung als einzige noch das Ziel Landesregierung gar an der Notwendigkeit
verfolgt, im nächsten Jahr nicht mehr Geld eines eigenen Ministeriums im kleinsten
auszugeben, als sie einnimmt. Noch-Lan- Flächenland zweifeln.
deschef Edmund Stoiber (CSU) lässt Leh- Statt mehr zu sparen verlegte sich das
rer und Polizeibeamte für weniger Geld Saarland – wie Bremen und Berlin – aufs
länger arbeiten, er strich bei der Förde- Klagen: Das Bundesverfassungsgericht soll
rung von Sportvereinen und Sportanlagen, nun darüber befinden, ob die „Haushalts-
bei Volkshochschulen, beim Wohnungs- notlagenländer“ vom Bund entschuldet
bau, Blindengeld, dem Bau von Pflege- und werden müssen.
Behindertenheimen. Bremen und das Saarland hatten sich
Damit nicht genug: Voraussichtlich 2007 über eine ähnliche Klage schon einmal 15
werden an Bayerns Hochschulen Studien- Milliarden Euro erstritten. Das Geld ver-
gebühren fällig. Und seit Oktober müssen sickerte in den Haushalten.
Eltern „Büchergeld“ zahlen, 20 Euro für Beim zweiten Anlauf soll es nun aller-
Kinder in Grundschulen, 40 Euro an wei- dings um deutlich höhere Summen gehen:
terführenden Schulen. Allein das Land Berlin will in Karlsruhe
Dem konsequenten Sparkurs des CSU- 35 Milliarden Euro Bundesmittel zum Aus-
Landesfürsten steht eine auffällige Lethar- gleich seiner Schulden erstreiten – exakt
gie einiger Amtskollegen gegenüber. Der die Summe, die Koch und sein SPD-Ver-
Hesse Koch beschwört zwar als CDU-Un- handlungspartner Peer Steinbrück gerade
terhändler in Berlin eine schneidige Spar- mühsam aus dem Bundeshaushalt heraus-
politik mit „Heulen und Zähneklappern“ zuschneiden suchen.
herauf und beklagt sich, der Bundeshaus- Andere wollen es aus eigener Kraft
halt 2006 sei „um Lichtjahre von dem ent- versuchen. Brandenburgs Kassenwächter
fernt, was unser Grundgesetz von einem Rainer Speer (SPD) zum Beispiel hat ver-
verfassungsgemäßen Etat verlangt“. Zu sprochen, im Jahr 2010 damit zu beginnen,
Hause in Wiesbaden aber kümmert ihn die die Altschulden abzustottern. Wenn alles
Verfassung wenig. Gespart habe man in klappe wie geplant, so der Minister, könne
Hessen schon reichlich, behauptet er – aber das Land gänzlich schuldenfrei werden –
offensichtlich ohne großen Erfolg: Vor zwei allerdings erst in 200 Jahren.
Wochen hat Hessens Finanzminister Karl- Matthias Bartsch, Wolfgang Bayer,
heinz Weimar (CDU) seinen Haushaltsplan Andrea Brandt, Michael Fröhlingsdorf

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 33
Umfrage
Horst
Köhler

Zeichen auf Angela


Merkel
Friedrich
Merz
Franz
Müntefering Joschka Wolfgang Horst

Schwarz-Rot Fischer Schäuble Seehofer Renate


Künast

N
ach wochenlangem Gerangel um
die Bildung der künftigen Bun-
desregierung ist das politische Per-
sonal nun weitgehend bestellt – in der
SPIEGEL-Politikerrangliste wird der
Wechsel deutlich. Noch-Bundeskanzler 72
Gerhard Schröder und sein grüner Kom-
pagnon Joschka Fischer rutschen ab,
während die Protagonisten der geplanten 63 63
Großen Koalition, wie CDU-Chefin An- 58 57 57 57
gela Merkel und der SPD-Vorsitzende 55
Franz Müntefering, nach oben rücken.
Manche Politiker, die bald verantwort-
liche Posten übernehmen dürften, sind vie-
len Menschen indes noch unbekannt. Das
zeigt die aktuelle Quartalsumfrage von
TNS Infratest im Auftrag des SPIEGEL.
Den Sozialdemokraten und designierten „Wichtige Rolle“ seltener „Wichtige Rolle“ häufiger
Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewünscht als in der gewünscht als in der
September-Umfrage September-Umfrage
kennen sogar 70 Prozent der SPD-An-
hänger nicht.
Da wundert es kaum, dass die Wähler –4 +4 +9 + 14 –8 +6 +6
ihrer künftigen Bundesregierung noch
skeptisch gegenüberstehen. Auf „Heulen
und Zähneklappern“, wie es der hessi- „Dieser Politiker
sche Ministerpräsident Roland Koch an- 6 9 ist mir unbekannt“ 8 6
gesichts der Finanzlage des Bundes jüngst
verhieß, haben sich die Deutschen bereits Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
eingestellt: Lediglich 15 Prozent der Be-
fragten erwarten, dass sich ihre persönli-
chen Lebensumstände unter einer Kanz- Sonntagsfrage Merkels Manko
lerin Merkel eher verbessern werden. „Glauben Sie, dass die
Steuern, soziale Sicherung, Gesund- „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ designierte Bundeskanz-
heitsvorsorge oder Rentenpolitik – eine lerin Angela Merkel und
deutliche Mehrheit ist pessimistisch, was 50 SPD-Parteichef Franz
die Möglichkeiten der geplanten Großen Müntefering die volle
Koalition angeht. Immerhin: Die Wirt- Unterstützung ihrer je-
schaft anzukurbeln, trauen 63 Prozent der 45
weiligen Partei haben?“
neuen Bundesregierung aus Union und
Umfrage
SPD zu. Diese Hoffnung teilen sogar 45 Oktober CDU/
Prozent der Linkspartei-Sympathisanten. 40 Bundestags- 2005 Angela Merkel CSU
Beim Gezerre um die Kompetenzver- wahl 2005
teilung zwischen den Ministerien hat sich JA 28 44
inzwischen ein Politiker klar unbeliebt ge- 35
35,2 36
34,2 70
macht: CSU-Chef Edmund Stoiber. Dass 34 NEIN 54
der designierte Bundeswirtschaftsminister
mehr Verantwortungsbereiche für sein 30
Ressort verlangt, halten 66 Prozent der Franz Müntefering SPD
Befragten insgesamt und selbst 53 Pro- 61 69
zent der Unionsanhänger für falsch.
Kaum Zweifel haben die Wähler daran, Quellen: TNS Infratest und Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend 35 29
dass sich Union und SPD in den Verhand-
lungen einigen: 85 Prozent glauben, dass 9
10 9,8
die Große Koalition am Ende zustande 8,7 9 An 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
kommt. Und wählen würden die Deut- 8,1 keine Angabe
schen auch heute noch so wie am 18. Sep- 9
tember – die aktuelle Sonntagsfrage zeigt
nur geringe Abweichungen vom Ergebnis
2004 2005
der Bundestagswahl. Merlind Theile

34 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

Münteferings Aufstieg
TNS Infratest nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern.
Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige
Peer Christian Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die
Steinbrück Wulff
Veränderungen zur letzten Umfrage im September
Gerhard
Schröder Ulla Alle Angaben in Prozent
Schmidt Guido
Westerwelle Annette Sigmar Edmund
Schavan Gabriel Stoiber
Ursula von Gregor
der Leyen Gysi

Oskar
Lafontaine
Frank-Walter
Steinmeier
54 53

45
41
38 37 36 36
33
30

Im Septem- Im Septem- Im Septem- Im Septem- Im Septem- 22


ber nicht –15 ber nicht ber nicht ber nicht ber nicht
auf der Liste auf der Liste auf der Liste auf der Liste auf der Liste 16
Im Sept. nicht
auf der Liste
26 23 11 37 30 45 4 72

TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 25. und 26. Oktober 2005; rund 1000 Befragte

Annäherung an Washington Mehr Skepsis als Optimismus


„Glauben Sie, dass sich das deutsch-amerikanische Verhältnis „Erwarten Sie in folgenden Bereichen von einer
unter einer von Angela Merkel geführten Bundesregierung aus neuen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD
CDU/CSU und SPD verbessern wird?“ eher Verbesserungen oder Verschlechterungen?“
Schutz der Bürger vor Verbrechen
JA 55 17 53

38 Ankurbeln der Wirtschaft


NEIN
23 63
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Verschlech- 32 50
SPD-Chef vorn terung
„Wie zufrieden Schutz der Umwelt Verbesserung
sind Sie mit der 45 33
Arbeit von ...?“
Einsatz für soziale Sicherheit
56 29
Sicherstellung der Gesundheitsvorsorge
Angela Franz Edmund 56 26
Merkel Müntefering Stoiber
Sicherung der Renten
sehr zufrieden/ 34 42 26
zufrieden 71 18

weniger zufrieden/ Senkung der Steuern


51 49 68 72 16
gar nicht zufrieden

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 35
Deutschland

FABRIZIO BENSCH / AP
Verhandlungsführer Merkel, Müntefering, Schröder: Ende von Hass und Spott

den die Akteure jahrzehntelang überein-


S C H WA R Z - R O T
ander ausschütteten, scheint plötzlich an

Die Knuddel-Koalition
der Wahlurne entsorgt zu sein. Es geht
nicht anders. Schließlich muss zusammen-
gearbeitet werden.
Die Koalitionsrunden werden dabei zur
Es wird gescherzt, geflirtet und geklatscht: Bei den Koalitions- riesigen Kontaktbörse. Denn nicht nur
die Spitzenleute lernen sich jetzt intensiv
verhandlungen bemühen sich die einst verfeindeten kennen. Knapp 200 Unterhändler aus bei-
Lager von SPD und Union um einen ganz neuen, kollegialen Ton. den Volksparteien sitzen seit zwei Wochen
in insgesamt 16 Arbeits-

A
ngela Merkel schlendert so ent- ginn der Gespräche nicht gruppen zusammen. Und
spannt über den Bürgersteig, als um die demografische Ent- aus nahezu allen Gremien
wäre sie zum Kuchenessen bei wicklung des Landes, son- werden freudig Signale
Tante Waltraud eingeladen. Sie geht am dern um die der Familie der zwischenmenschlichen
Machtzentrum der deutschen Sozialdemo- Stoiber. „Wir gratulieren Verständigung gemeldet.
kratie entlang, sie sieht ein großes schönes Ihnen zu Ihrem dritten En- Man wundert sich, dass da
Foto im Schaufenster des Buchladens, es kelkind“, sagt Müntefe- auf der anderen Seite wi-
zeigt den späten Willy Brandt im Sieben- ring, und alle klatschen. der Erwarten vernünftige
MARC DARCHINGER

gebirge. Sie sieht Herbert-Wehner-Postkar- Es ist wie so oft, wenn Menschen sitzen und nicht
ten und Bücher über den „historischen Auf- Sozialdemokraten und Kon- jene Bösewichte, die man
trag des Reformismus“ der SPD. Aber die servative in diesen Tagen in jeder Wahlkampfrede
ganze sozialdemokratische Traditionspflege zusammensitzen. Sie be- attackiert hat.
löst bei ihr keine Gesichtsverzerrung aus. nehmen sich, als wären sie Damals, also vor weni-
Sie lächelt so gelöst wie Willy Brandt auf Komparsen in einem Lehr- „Frau Merkel gen Wochen, hatte CDU-
dem Poster. Dann geht sie schwungvoll film über Nächstenliebe war gegen alles, Generalsekretär Volker
durch die Drehtür in die SPD-Zentrale. und Höflichkeit. was die SPD Kauder dem Kanzler noch
Es ist Donnerstagnachmittag, und nicht Es wird gescherzt, ge- vorgeworfen, er lüge „frech
Tante Waltraud hat eingeladen, sondern lobt und geklatscht, dass seit 1863 erkämpft und dreist“, und sein CSU-
Franz Müntefering. Es gibt kein Kuchen- es allen Beteiligten eine hat.“ Kollege Markus Söder be-
essen, sondern Koalitionsverhandlungen, Freude ist. Jene Parteien, fand, Gerhard Schröder
aber das kann auch ganz nett werden. die sich noch im Wahl- Ludwig Stiegler am 4. Oktober habe „Deutschland rui-
Kurz darauf rattert es auf dem Asphalt, kampf gegenseitig vorwar- niert“. Damals hatte Schrö-
es naht Maria Böhmer von der CDU, die fen, Deutschland in den der selbst seiner Kontra-
ihren Rollkoffer zu den Sozialdemokraten Abgrund zu führen, basteln nun gemein- hentin jeden Anspruch auf die Kanzler-
zieht, als wollte sie über Nacht bei den sam an der Zukunft der Republik. schaft versagt: „Die kann es nicht.“ Doch
neuen Freunden bleiben. Wenig später Es ist nicht nur das friedliche Ende eines mit solchen Erinnerungen an ihre jüngste
schlendert ein entspannter Edmund Stoi- heißen Wahlkampfs, es ist zugleich das Vergangenheit möchten die neuen Freun-
ber heran. Er ahnt, dass dieser Termin ein Ende einer erbitterten Gegnerschaft, die de nicht mehr belästigt werden.
angenehmer sein wird. insgesamt 36 Jahre gewährt hat, seit sich Seit zwei Wochen haben sich Union und
Zu Recht, denn oben, im fünften Stock SPD und Union 1969 aus der ersten Großen SPD einem Experiment unterworfen, das
des Willy-Brandt-Hauses, geht es zu Be- Koalition lösten. All der Hass und Spott, viel verrät über die Ehrlichkeit von Wahl-
38 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
kämpfen und darüber, wie Schon bei ihrem ersten lachten erleichtert, selbst Koch. Trotz der
die Aussicht auf Macht Besuch in der SPD-Zen- neuen Herzlichkeit sind sich die meisten
das Verhalten über Nacht trale hatte sich Müntefe- Unterhändler bewusst, dass die schöne
verändern kann. Es zeigt, ring wie ein Verehrer ver- Harmonie rasch wieder in den alten Par-
dass die scharfe Rhetorik halten, der erst mal seine teienstreit umschlagen kann. Dann näm-
aus der Wahlkampfzeit Wohnung sauber macht, lich, wenn in dieser oder der nächsten
nicht viel mehr ist als eine bevor die neue Freundin Woche eine Entscheidung über die ganz
große Inszenierung. Und das erste Mal klingelt. großen Fragen fallen soll. Aber mit dieser

STEPHAN GOERLICH
dass ideologische Gräben Als Merkel schließlich Vorahnung will sich bislang keiner der
ganz schnell wieder zu- eingetroffen war, zeigte er künftigen Koalitionäre die Laune verder-
geschüttet werden können, ihr nicht ohne Stolz seine ben lassen. Sie setzen weiter auf das Prin-
wenn es um lukrative politischen vier Wände zip Pointe.
Posten geht. und seine liebsten Einrich- So bat CDU-Mann Steffen Kampeter
Wir müssen das jetzt „Gerhard Schröder tungsgegenstände. Ziem- beim Treffen der Arbeitsgruppe Finanzen,
auch wollen, mahnte SPD- hat nicht nur lich lange verharrten die der künftige Finanzminister solle die Run-
Chef Müntefering seine Deutschland beiden vor der großen de mit einem Witz auflockern. „Sie kennen
Genossen vor Beginn der Willy-Brandt-Statue und doch so viele.“ Geschmeichelt legte Peer
Verhandlungen. Und die ruiniert; er lügt steckten die Köpfe eng zu- Steinbrück los.
künftige Kanzlerin warb sich im Moment sammen. Fast schien es, Die Runde konnte sich kaum halten, und
in ihrer Fraktion dafür, als würden sie gleich so beugte sich die Große Koalition der Fi-
doch mal öfter mit den
durchs Land knuddeln. nanzexperten beschwingt über ihre Zah-
Schmuddelkindern von und durch die Sieben Tage später führ- lenberge. Es scheint, als führte der Weg
einst zu spielen. Oder bes- Fernsehstationen.“ te Merkel den Kanzler und zur Koalition besonders oft über Kalau.
ser zu trinken. „Wir dürfen den SPD-Chef zum ersten Die größte Zuneigung unter den künfti-
jetzt nicht mehr nur mit Markus Söder am 10. August Mal durch das Konrad- gen Partnern scheint sich zwischen Sozial-
FDP-Abgeordneten an der Adenauer-Haus. Es war demokraten und den Christsozialen zu ent-
Bar stehen und über die der Moment, in dem wickeln. Als der bayerische Minister Otto
Sozis lästern“, schärfte sie ihren Abgeord- Schröder kurz vergaß, dass er nun unter Wiesheu beim Treffen des Arbeitskreises
neten ein und plädierte für schwarz-roten Freunden war. Wirtschaft jüngst darüber referierte, wie
Alkoholkonsum. „Jetzt müssen wir mit Als Merkel mit ihm zur verglasten Front- man Unternehmen wieder zum Investieren
den Sozialdemokraten mal ein Bier trin- seite der Parteizentrale schlenderte, an der bringen könne, unterbrach ihn der SPD-
ken gehen.“ die Buchstaben CDU rot leuchten, blieb Experte Rainer Wend. „Moment mal, steht
Der deutsche Wähler hat die beiden er erschrocken stehen. Ein Foto vor dem da in Ihrem Wahlprogramm nicht genau
Volksparteien zur Gemeinsamkeit ge- Parteikürzel des Gegners? So weit schien das Gegenteil?“
zwungen, und diese scheinen tatsäch- er innerlich noch nicht. Münteferings emo- Wiesheu legte seinen Zettel zur Seite
lich zu gehorchen. Selbst der bayerische tionaler Lernprozess war schneller abge- und blickte dem Sozialdemokraten in die
SPD-Chef Ludwig Stiegler pariert, jener schlossen. „Komm, Gerd“, sagte er und Augen. „Wissen Sie“, sagte er, „dieses
Mann also, der vor kurzem noch ver- folgte brav der Gastgeberin. Wahlprogramm hat uns in Bayern noch nie
sprach, er werde „bis zur letzten Faser“ Ein paar wenigen ist die neue Höflichkeit so richtig gefallen. Das können Sie jetzt
dagegen kämpfen, dass Merkel die Re- allerdings noch etwas fremd. So erlitt der getrost ad acta legen.“
gierung führe. Schließlich sei sie „gegen hessische Ministerpräsident in der vergan- Beinahe zur gleichen Zeit gerieten in
alles“ gewesen, „was die SPD seit 1863 genen Woche einen schweren Rückfall in der Arbeitsgruppe Außenpolitik die SPD-
erkämpft hat“. alte Zeiten. Kühl wie das Linke Heidemarie Wieczo-
Nun preist derselbe Stiegler die „wohl- Licht an der Decke erklär- rek-Zeul und CSU-Polter-
temperierten Gespräche“ mit Merkel und te Roland Koch, warum geist Michael Glos fast in
Co. Ein wenig Schizophrenie ist in diesen Rot-Grün für die katastro- Flirtstimmung. „Ich neh-
Tagen durchaus hilfreich. phale Haushaltslage ver- me sie gern mal auf eine
„Die Stimmung ist mehr als höflich, sie antwortlich sei: „Das ist meiner nächsten Reisen
M. URBAN / SÜDDEUTSCHER VERLAG

ist herzlich“, sagt auch Unionsmann Peter Ihre Erbschaft!“ mit“, lockte die Entwick-
Hintze, der gegen die Sozialdemokraten Die Runde erstarrte. Für lungsministerin. „Dann
einst mit seiner Rote-Socken-Kampagne einen kurzen Moment fahren wir nach Pakistan
zu Felde zog. Aber das war früher, als SPD schien es, als würde die oder in den Sudan.“ Als
und Union noch so taten, als kämen die neue Kuschelstimmung Glos freudig zustimmte,
einen vom Mars und die anderen von der von der Realität zerstört. schob die Ministerin be-
Venus. „Ich habe noch drei sorgt nach: „Ich hoffe nur,
Die künftige Kanzlerin gibt sich er- Wortmeldungen, dann kön- Sie haben auch genug
kennbar Mühe, die ihr fremde Spezies der nen wir mal etwas zu „Die SPD kommt Kräfte.“
Sozialdemokraten vorsichtig zu erkunden. Abend essen“, versuchte damit nicht „Es ist ein bisschen so
Dabei schreckt sie vor kaum etwas zurück. Merkel die Beklemmung zurecht. Sie ist wie Fremdgehen“, sagt ein
Zuerst plauderte sie mit der SPD-Linken zu lockern. „Nach ge- Verhandlungsführer über
Andrea Nahles an einem Stehtisch, dann meinsamem Abendessen kopf- und das Miteinander der bei-
bat sie gar, die Parlamentarische Linke der ist mir jetzt nicht zumute“, führungslos. den Volksparteien. „Man
Fraktion besuchen zu dürfen. Parteichef zischte Entwicklungsminis- hat zwar tief in sich drin
Müntefering übt sich währenddessen in der terin Heidemarie Wieczo-
Parteichef das Gefühl, etwas Unan-
Rolle des Charmeurs. Im Wahlkampf hat- rek-Zeul. Müntefering ist ständiges zu machen. Aber
te er Merkel noch als „radikal unsozial“ be- Es war der Kanzler, der am Ende.“ irgendwie ist es doch ganz
schimpft, als „Zweite Liga“. Jetzt geht er die Situation rettete. „Na, spannend.“
mit ihr so zuckersüß um, wie es nur Sauer- etwas Essen müssen wir Volker Kauder am 3. Juli Markus Feldenkirchen,
Ralf Neukirch
länder können. doch alle“, sagte er. Alle
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 39
Deutschland

Fest steht, dass der Partei-


vorsitzende beschädigt aus
dem Konflikt um die Nachfol-
ge für den glücklosen Noch-
Generalsekretär Klaus Uwe
Benneter herausgeht. Die In-
tegrationsfigur ist zum Polari-
sierer geworden.
Denn für die Genossen ist
die Besetzung des Postens weit
mehr als eine der vielen Perso-
nalentscheidungen. Ihnen geht
es um nichts weniger als die
Frage: Wohin steuert die SPD?
Werden Vizekanzler Münte-
fering und sein Generalsekre-
tär ein gemeinsames Macht-
zentrum bilden? Oder entsteht
um den künftigen General-

FOTOS: MARCO-URBAN.DE
sekretär ein Kraftfeld, das die
Energie der Volkspartei bün-
delt, auch für die Zeit nach der
Elefantenhochzeit?
Der Streit entzündete sich an
Parteimanager Wasserhövel, Förderer Müntefering: Erste Schramme am glänzenden Image einer Notlösung. Der SPD-
Chef schlug seinen loyalen Mitstreiter Was-
serhövel, 43, in der vergangenen Woche in
SPD
einem SPIEGEL-Gespräch vor („Er kann

Kühl und frostig


auch Generalsekretär“). Ursprünglich hat-
te Müntefering andere Pläne, um sich in
seiner neuen Dreifachfunktion als Vize-
kanzler, SPD-Chef und Arbeitsminister
Der Machtkampf um den Posten des Generalsekretärs hat Entlastung zu verschaffen.
Er wollte den rheinland-pfälzischen Mi-
Parteichef Franz Müntefering beschädigt. Die einstige nisterpräsidenten Kurt Beck oder dessen
Integrationsfigur der Genossen steht plötzlich als Polarisierer da. brandenburgischen Amtskollegen Matthias
Platzeck zum ersten Stellvertreter beför-

E
r kann nicht sagen, er hätte es nicht sekretärs, der den gesamten Parteiapparat dern. Sie hätten die SPD bei öffentlichen
gesehen. Franz Müntefering war im- führt, der Wahlkämpfe organisiert, der die Terminen und in Talkshows nach außen
mer dabei, wenn die Genossen Karl- Interessen der Partei gegenüber den Minis- vertreten. Der Job des Generalsekretärs,
Josef („Kajo“) Wasserhövel, Bocholt, und tern der Regierung vertreten kann – der der erst vor sechs Jahren eingeführt wur-
Andrea Nahles, Weiler/Eifel, aufeinander Macht hat und der sie auch nutzen kann. de, wäre wieder abgeschafft worden, und
trafen. Wenn es kühl und frostig wurde wie In Wahrheit geht es um die Angst einer Wasserhövel hätte als Bundesgeschäfts-
am vergangenen Donnerstag bei den Ko- immer noch tief verunsicherten Partei, führer weiter das gemacht, was er nach-
alitionsverhandlungen im Berliner Willy- die in diesen Tagen von ihrem Vorsitzen- weislich am besten kann – die Partei orga-
Brandt-Haus, als sich Wasserhövel und den auf einen Regierungskurs gezwun- nisieren.
Nahles keines Blickes würdigten. gen wird, bei dem die eigene Identität auf Doch Münteferings Plan gelangte zu
Er hat gesehen, wie sich die beiden am der Strecke bleiben könnte. Und es geht früh an die Öffentlichkeit. Unbeirrt wollte
Buffet aus dem Weg gingen, wie Wasser- auch um die Sorge vieler Sozialdemokra- er dennoch seinen Vertrauten nun auf ei-
hövel zielstrebig einen Sitz auf der äußers- ten, Müntefering könne seinem Vorgän- nem Posten sehen, auf dem ein loyaler Mit-
ten rechten Seite des langen Konferenz- ger stärker ähneln, als es ihnen und ihm streiter in der Tat unverzichtbar ist. Und
tisches ansteuerte und Nahles sich ganz selbst gut tut. Wasserhövel ist loyal. Gegenüber Münte-
nach links setzte. In maximaler Entfernung fering und gegenüber der Par-
zu ihrem Kontrahenten. tei. Auf seinem Schreibtisch im
Müntefering wird geahnt haben, dass er 5. Stock des Willy-Brandt-Hau-
einen Fehler gemacht hat. Einen schweren ses, wo er noch als Bundesge-
Fehler sogar, gemessen daran, dass er sei- schäftsführer residiert, steht ein
ne Karriere bisher fast ohne Stolpersteine roter Wimpel mit der Auf-
absolvierte. Die Partei achtete ihn als In- schrift: „Wir sind nicht irgend-
tegrationsfigur, hielt ihn für das Gegen- wer. Wir sind die SPD“. An der
stück zu dem gleichermaßen energischen Wand hat Wasserhövel seine
wie egozentrischen Basta-Kanzler. Nun hat Lieblingswahlplakate in Silber
auch Müntefering die Partei vor vollende- gerahmt: „Merkel-Steuer, das
te Tatsachen gestellt, er hat sie nicht ein- wird teuer“.
bezogen, er wollte ohne Absprache durch- Seit Jahren folgt der studier-
regieren. te Historiker Wasserhövel Mün-
Nur vordergründig geht es dabei um den tefering auf Schritt und Tritt.
zweitwichtigsten Posten, den die Partei zu Er war sein Referent, Reden-
vergeben hat. Um das Amt des General- Parteilinke Nahles: In der Partei umfassend vernetzt schreiber und Büroleiter, in der
40 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

Kampa, im Verkehrsministerium und später disziplin unterworfen ist und von außen Maas (Saarland). Den Bezirk Hessen-Süd
im Willy-Brandt-Haus. Immer hielt er sich die eigene Regierung attackiert. und natürlich die Jusos, deren Vorsitzende
im Hintergrund, sorgte geräuschlos dafür, Nahles allerdings glaubt zu wissen, was sie früher war. Kaum jemand ist in der Par-
dass Münteferings Wille exekutiert wurde. für die Partei gut ist. Sie will die Genossen tei so umfassend vernetzt wie sie.
Doch genau diese Eigenschaft ist es, an stärker beteiligen, als das in den sieben Doch auch Münteferings Helfer waren
der sich das Unbehagen vieler Genossen Schröder-Jahren der Fall war. „Die Leute nicht untätig und fahndeten eifrig nach
entzündet. Sie halten Wasserhövel für ei- haben das Top-down-Verfahren gründlich prominenten Unterstützern. Diskret streu-
nen guten Organisator. Mehr aber auch satt“, sagt sie und meint damit Schröders ten sie Hinweise, dass Nahles bislang „nur
nicht. Die Partei will einen politischen Ge- Angewohnheit, der Partei auch ungeliebte studiert“ und „keinerlei administrative Er-
neralsekretär, einen, der souverän nach Themen von oben aufzuzwingen. fahrung“ habe, dass sie über „keine Bio-
außen auftritt, der selbstbewusst die Inter- Nahles ist von ungebremstem Ehrgeiz grafie“ verfüge und schließlich mit ihrer
essen der Partei gegenüber der Regierung beseelt. Bereits mit 29 übernahm die Toch- Kandidatur „den Franz“ beschädige. Ge-
vertritt – notfalls auch gegen einen Vize- ter eines Maurermeisters die Führung der arbeitet wurde mit allen Mitteln. Während
kanzler Müntefering. Parteilinken, sie widersprach dem Kanz- Müntefering und Nahles am vergangenen
Wasserhövel aber ist allenfalls Insidern ler im Parteivorstand, wenn sie es für an- Dienstag noch unter vier Augen redeten,
bekannt. Wenn er sich in den vergange- gemessen hielt („Der Partei sind die Füße meldete die Deutsche Presse-Agentur be-
nen Jahren zu Wort gemeldet hat, dann eingeschlafen, weil der Kopf nicht weiß, reits: „Wasserhövels Chancen als SPD-Ge-
mit farblosem Partei-Sprech („Wir müssen wohin er will“), und sie ließ sich bisweilen neralsekretär steigen.“

AXEL KULL / VISION PHOTOS (L.); RAINER UNKEL / VARIO-PRESS (R.)


SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul, Müntefering-Getreuer Dieckmann: Die Angst geht um in einer noch tief verunsicherten Partei

mit den Menschen in den Dialog kom- dafür beschimpfen. Müntefering hat sie Müntefering war sich lange sicher, dass
men“). Oder mit Sätzen, aus denen seine stets gefördert – wenn es sein musste auch seine Autorität schon reichen würde, die
Bewunderung für Franz Müntefering gegen Schröders Willen. Doch inzwischen Gegenspielerin auszuschalten. Während er
spricht. „Ich habe großen Respekt vor ist Nahles misstrauisch geworden. Warum noch engen Kontakt zum NRW-Landes-
Münteferings Ausdauer und seiner Kraft“, etwa wollten ihr vor kurzem mehrere Spit- vorsitzenden Jochen Dieckmann hielt und
sagt Wasserhövel gern, und: „Müntefering zengenossen das Amt einer Arbeitsgrup- auf die Unterstützung seines mächtigen
lebt die SPD.“ pensprecherin der Bundestagsfraktion an- Landesverbands setzte, gründete sich in
Eilig hat der Parteichef seinen Helfer dienen? War das ein ernsthaftes Angebot? Nordrhein-Westfalen eine spontane Initia-
dem Spitzengremium der Partei zur Wahl Oder eine Finte? Sollte sie nur billig abge- tive von Bundes- und Landespolitikern,
vorgeschlagen, obwohl er wusste, dass funden werden? die sich in einem Aufruf für Nahles aus-
Nahles, 35, alles tun würde, den Job zu be- Sie lehnte ab. Sie lehnte auch das Amt sprach – Dieckmann hatte darauf keinen
kommen. Sie fühlte sich übergangen. Und einer Parlamentarischen Staatssekretärin Einfluss. In der SPD-Bundestagsfraktion
mit ihr die Linke der Partei, die von 222 im Arbeitsministerium ab. Sie wollte nicht startete der Bochumer Abgeordnete Axel
SPD-Bundestagabgeordneten knapp die mit einem attraktiven Gehalt und einem Schäfer eine Umfrage unter den Mitglie-
Hälfte stellt. Dienstwagen ruhig gestellt werden. Schließ- dern der nordrhein-westfälischen Landes-
Bei einer Telefonkonferenz des Präsi- lich brachte Müntefering auch noch das gruppe. Das Ergebnis war für Müntefering
diums am vergangenen Montag kam es zum Amt des stellvertretenden Parteivorsitzes alarmierend. Von 21 befragten Abgeord-
Schlagabtausch zwischen den beiden La- ins Gespräch, doch dafür hätte sie gegen neten, so berichtete Schäfer, hätten sich 17
gern. Die Ministerin und Müntefering-Stell- ihre Flügel-Freundin Heidemarie Wieczo- für Andrea Nahles ausgesprochen – und
vertreterin Heidemarie Wieczorek-Zeul kri- rek-Zeul antreten müssen. Nahles lehnte damit gegen „den Münte“, wie sie ihren
tisierte das einsame Vorgehen des Partei- erneut ab: „Das ist kein Angebot.“ Wieczo- Parteichef nennen.
chefs. Für Wasserhövel sprach sich nur der rek-Zeul lästerte nach einem Gespräch mit Müntefering, der alte Fahrensmann der
NRW-Mann Harald Schartau aus. Münte- Müntefering im kleinen Kreis: „Ich lass SPD, hat sich auf offener Bühne verspe-
fering reagierte trotzig: „Heidi hat Andrea mir doch von einem 65-Jährigen nicht er- kuliert. Eine erste Schramme am bislang so
vorgeschlagen, da kann ich auch Kajo vor- zählen, ich soll den Weg für einen Gene- glänzenden Image des derzeit mächtigsten
schlagen.“ Nahles müsse wissen, dass sie rationenwechsel frei machen.“ Sozialdemokraten.
„da ein ziemlich großes Rad“ drehe. Nahles hat viele Unterstützer in der Par- Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fort-
Nichts kann Müntefering im Moment tei. Männer wie die linken Landeschefs schritt, sagt Müntefering gern. Diesmal hat
weniger gebrauchen als eine lautstarke Ge- Wolfgang Jüttner (Niedersachsen), Claus das Naturgesetz nicht gewirkt.
neralsekretärin, die nicht der Kabinetts- Möller (Schleswig-Holstein) oder Heiko Horand Knaup, Roland Nelles

42 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
E U R O PA

Abschied mit
Ausblick
Bei seinem letzten internationalen
Auftritt empfahl sich Gerhard
Schröder als kühner Kämpfer für ein

MATT DUNHAM / AFP


soziales Europa – fürs Geschichts-
buch und für neue Aufgaben.

E
s war, nach diesen quälenden Koali-
tionstreffen im Kreise seiner Nach- Kanzler Schröder (bei London)
folgerin, endlich wieder einmal ein Scheiden ohne Wehmut
Auftritt ganz nach dem Geschmack des
deutschen Kanzlers. tet, ihre Ausgaben für For-
Noch einmal drehte er voll auf, noch schung und Entwicklung bis
einmal zeigte er, halb krawallig, halb selbst- zum Jahr 2010 auf annä-
ironisch, was er kann und wie unterhaltsam hernd drei Prozent des Brut-
er sein kann. Noch einmal pumpte er sich toinlandsproduktes zu stei-
als eherner Sozialdemokrat auf und ver- gern. Würden sich alle daran
masselte Tony Blair die Show. halten, so Schröder weiter,
Mit dem britischen Premier, lobte Schrö- flössen in der EU schon jetzt
der hinterher mit zufriedenem Grinsen, dreistellige Milliardensum-
könne man wirklich „gut streiten“. Blair men in den Zukunftsbereich.

NIGEL ISKANDER / AFP


griente zurück, wie er es immer tut, aber Alle am Tisch blickten
diesmal noch verbissener als sonst. amüsiert auf Blair: Entgegen
Eine Demonstration europäischer Har- aller öffentlichen Aufrufe
monie hätte der Gipfel auf Hampton Court, und Bekenntnisse hinkt
einem weitläufigen Schloss aus dem 16. EU-Regierungschefs in Hampton Court: Spiel der Egomanen nämlich ausgerechnet Groß-
Jahrhundert, werden sollen. Blair lud die britannien bei seinen For-
Runde der 25 Staats- und Regierungschefs In den Sitzungspausen schlenderte ein schungsausgaben hinter vielen EU-Län-
in sein Heimatland ein, um sich als Führer EU-Regent nach dem anderen hinüber zu dern her, auch hinter Deutschland.
Europas auf dem Weg zu einer modernen Schröder und schüttelte ihm die Hand: Auch Blairs Vorschlag, eine Art Feuer-
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu „Thanks“, sagten sie. Es gibt „nur wenige wehrfonds einzurichten, um Menschen zu
profilieren. Alles war bis ins Detail vorbe- unter uns“, trauerte Juncker im kleinen helfen, die in Zeiten der Globalisierung
reitet, mit einem fein ausbalancierten Ar- Kreis, „die ihn gern ziehen sehen“. ihre Arbeitsplätze verlieren, lehnte Schrö-
beitspapier und einer flammenden Rede Das fintenreiche Spiel der Egomanen der brüsk ab. Um ernsthaft über einen
vor dem Europaparlament am Tag zuvor. Blair und Schröder geht übers Persönliche solchen Fonds nachzudenken, so Schrö-
Auch das Timing schien eigentlich güns- weit hinaus. Darin spiegelt sich eine über- der, müsste zunächst einmal Einigkeit über
tig zu sein. Am 26. Oktober, hatten ihm sei- fällige Richtungsentscheidung: Wie viel den EU-Haushalt erzielt werden. Und
ne Berater versichert, heiße Deutschlands Markt, wie viel soziale Sicherheit braucht auch da ist es Blair, der sämtliche Kom-
Kanzler ganz gewiss Angela Merkel, und das Europa des 21. Jahrhunderts? Weil die promisse mit seinem Beharren auf dem
von ihr erhofft er sich Unterstützung für EU auf diese Kernfrage keine Antwort fin- milliardenschweren Rabatt seit Monaten
seinen Kurs, den Schröder mittlerweile für den kann oder will, bekommt jedes Sach- verhindert.
einen Ausbund an Neoliberalismus hält. thema hohen Symbolgehalt. Es tat ihm gut, er bleckte die Zähne wie
Doch die deutschen Verhältnisse, sie ent- Der scheidende Kanzler erlaubte sich eh und je, ein Kanzler scheinbar ohne
wickelten sich nicht so. Aus dem „Hello keinerlei Sentimentalität, sondern zele- Wehmut. Ein Egotrip? Nein, sagte er, was
Angie“-Gipfel wurde nichts. Stattdessen brierte seine letzte Vorstellung, als ginge es er vortrage, sei mit seiner Nachfolge-
fuhr der geschäftsführende Kanzler Schrö- um sein Vermächtnis. Darauf war niemand Regierung abgestimmt. Basta.
der seinem Lieblingsgegner Blair ein wei- so recht gefasst, am wenigsten wohl der Vielen Europäern gefiel diese letzte Auf-
teres Mal in die Parade. „Wenn das hier so Gastgeber. Blair stand ihm einmal nahe, wallung in Amt und Würden. Deshalb kann
gemeint gewesen war, einen Durchbruch gemeinsam suchten sie nach einem dritten sich so mancher kaum vorstellen, dass der
Richtung angloamerikanischer Gesell- Weg zwischen alter und neuer Sozialde- Gipfel in London der allerletzte Auftritt
schaftsordnung hinzubekommen“, feixte mokratie. Seit dem Irak-Krieg, spätestens, Gerhard Schröders auf europäischem Par-
er am Ende des Tages, „so ist das nicht ge- trennt die beiden allerdings Welten. kett gewesen sein soll. Munter spekulierten
lungen.“ Mit subtilem Spott führte Schröder den sie in den alten Schlossgemäuern, was der
Im Gegenteil. „Einer zunehmenden Briten mit dessen Dauerforderung vor, an- Altkanzler in spe nun wohl vorhaben
Schar von Verantwortlichen“, freute sich statt Milliarden für die Landwirtschaft aus- könnte.
Luxemburgs christdemokratischer Premier zugeben, sollte die EU das Geld in For- Anwalt oder Frühstücksdirektor bei
Jean-Claude Juncker nach Schröders be- schung und Entwicklung stecken. Ihm einer internationalen Bank – sicher, das
merkenswertem Auftritt, falle es „zuneh- genügte ein knapper Verweis auf den EU- liegt nahe. Aber warum nicht in ein paar
mend schwer, sich für das britische Modell Gipfel in Barcelona im Jahr 2002: Damals, Jahren ein Führungsjob auf europäischer
zu begeistern“. Wenn man dem „unter den erinnerte der Noch-Kanzler die Kollegen, Bühne? Frank Dohmen,
Rock schaue“, sehe es ja auch finster aus. hätten sich alle Mitgliedsländer verpflich- Hans-Jürgen Schlamp

44 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
vermeintlichen Protestanten wegen „Er-
schleichung einer Berufung“ vorzugehen.
Die Evangelische Landeskirche in Baden
müsse dessen Kirchensteuer zurücküber-
weisen, wenn sie noch „irgendeinen Fun-
ken an Selbstachtung verspürt“.
Dumm nur, dass sich jetzt eine „Be-
scheinigung des Übertritts in die evange-
lisch-lutherische Kirche“ wiederfand, da-
tiert auf den 6. November 1968, versehen
mit dem Kirchensiegel und der Unterschrift

J. BAUER / SÜDDEUTSCHER VERLAG


eines Oberkirchenrats. Unter „bisherige
Konfession“ ist „röm.-kath.“ eingetragen.
Dann heißt es: „Dr. Klaus Berger hat am
20. Oktober 1968 in der Martin-Luther-Kir-
che der Kirchengemeinde Alsterdorf bei
Pastor Ahme an der Feier des Heiligen
Abendmahles teilgenommen und ist da-
Theologe Berger, Übertrittsbescheinigung: „Erschleichung einer Berufung“ durch Glied der evangelisch-lutherischen
Kirche geworden.“ Für den 1940 katho-
Grundsätzlicheres: Wie ist es um die Öku- lisch getauften Berger der Beweis, dass er
ÖKUMENE
mene wirklich bestellt? „keine Doppelmitgliedschaft in beiden Kir-

Schelle für Die Initialzündung zum Glaubenskrieg chen hat“. Wenn es nur um die Formalien
lieferte der Berliner Bischof und Ratsvor- ginge, wäre das Problem damit vom Tisch.
sitzende der Evangelischen Kirche in Doch Berger fürchtet: „Was wirklich

die Katze Deutschland (EKD), Wolfgang Huber. Die stört, ist mein Denken. Es geht in Wahrheit
Kritik an Berger ist so etwas wie eine Er- um einen Kampf innerhalb der evangeli-
satzhandlung für die als abwertend emp- schen Kirche, welche Ökumene, welche
fundene Behandlung der evangelischen Kirchengemeinschaft man in Zukunft will.“
Ein bizarrer Streit offenbart die
Kirchenführer durch die katholischen. Und Der „protestantische Multifunktionär“
schwierigen Beziehungen zwischen sie ist Ausdruck eines gewissen Frustes in Leicht bilde, so vermutet Berger, mit Huber
den beiden großen Kirchen: der EKD angesichts der vielen Jubelarien „eine Wutgemeinschaft“. Der Bischof habe
Wie katholisch darf ein evangeli- rund um die Wahl von Papst Benedikt XVI. auf seine Artikel zuletzt „wie eine gereizte
scher Theologieprofessor sein? und den Weltjugendtag in Köln. Hummel reagiert“. Tatsächlich hatte sich
Bestsellerautor Berger („Jesus“) eignet der EKD-Vorsitzende in einem Leserbrief

U
ngewöhnlich eng wurde es in der sich glänzend als Blitzableiter. Er steht mit an die „Frankfurter Allgemeine“ zornig ge-
altehrwürdigen Theologischen Fa- seinen theologischen Auffassungen inner- zeigt. „Irgendwann muss einer der Katze
kultät der Universität Heidelberg. halb der evangelischen Kirche als Solitär die Schelle umhängen“, schrieb Huber nach
Die Vorlesungen des Professors Klaus Ber- da. Der „Exil-Katholik“, der konvertierte, einem Artikel Bergers, in dem der für eine
ger, 64, interessieren gemeinhin 100 Zuhö- weil er wegen seiner Ansichten nicht ka- „Ökumene der gegenseitigen Unterwer-
rer. Doch vergangene Woche wollten plötz- tholischer Priester werden durfte, glaubt fung“ plädiert hatte, sonst komme es nie zu
lich 250 Studenten rein, eilig musste ein an Wunder, Engel und die Jungfrauenge- einer Einheit der Christen. Huber zürnte:
größerer Hörsaal gesucht werden. burt. Huber, der zehn Jahre mit ihm in „Was ein Akademiker nicht tun sollte: Er
Auch nach dem Umzug ging es unge- Heidelberg lehrte, hatte Bergers „katho- sollte nicht über die Themen publizieren,
wöhnlich weiter: Der Neutestamentler be- lisch gefärbte Ansichten“ lange toleriert. von denen er nicht genug versteht.“
kam minutenlangen Applaus. Seine Hörer Weil ihm damit die Hände gebunden wa- Die Wortwahl zeigt, dass der durchaus
taten alles, um ihre Solidarität mit dem ren, probte der Huber-Vertraute Leicht, an von einer lässlichen Eitelkeit geplagte Hu-
Mann zu demonstrieren, der von Spitzen- sich eher ein Mann der Nächstenliebe und ber sich zunehmend in die Defensive ge-
funktionären der evangelischen Kirche der- des leisen Wortes, den verbalen Großan- drängt sieht. Nun will er „mehr Profil“ zei-
zeit abwechselnd als „Konfessionsbetrü- griff. Gestützt auf drei ihm zugespielte gen. Er ist es leid, bei jeder offiziellen Be-
ger“, „Lügner“ und „katholisches U-Boot“ Briefe, aber ohne überhaupt mit Berger zu gegnung mit der katholischen Kirche vom
bezeichnet wird. sprechen, forderte er das Wissenschafts- Papst lediglich als Vertreter einer „christ-
Der Publizist und bekennende Protes- ministerium in Stuttgart auf, gegen den nur lichen Religionsgemeinschaft“ und nicht
tant Robert Leicht hatte Berger in der einer Kirche anerkannt zu wer-
„Zeit“ schlicht Betrug und eine große „Le- den. Dazu hatte der Vatikan
benslüge“ vorgeworfen. Berger unterrich- auch noch darauf bestanden,
te zwar an einer evangelischen Fakultät dass bei einem Treffen zum
und zahle evangelische Kirchensteuer. For- Weltjugendtag die Bischöfin
mal aber sei er nie wirklich aus der katho- Margot Käßmann nicht mit-
lischen Kirche ausgetreten, bekenne sogar, kommt. Berger, der mit seinen
in seinem Herzen ein Katholik geblieben 45 durchweg kritischen Büchern
zu sein. so etwas wie der Drewermann
Damit eskalierte „der Fall Berger“, wie der evangelischen Kirche gewor-
FRIEDRICH STARK / EPD

er bald hieß, zu einem bizarren Streit: den ist, kontert mit „zehn Ku-
Wie katholisch darf ein evangelischer Theo- bikmetern Bücher und Vorle-
loge sein? Inzwischen geht es um noch sungsmanuskripten“ in seiner
Wohnung: „Die kann jeder ruhig
* Beim ökumenischen Gottesdienst am 28. Mai 2003 in lesen, da gibt es nichts Unevan-
Berlin mit Kardinal Georg Sterzinsky. Bischof Huber*: „Wie eine gereizte Hummel“ gelisches.“ Peter Wensierski

46 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

Multikulti-Organisationen, die mit der Ver-


mittlung von Zweckehen das restriktive
IMMIGRANTEN
deutsche Asylrecht umgehen möchten.

Oma und Kellner


Einige CDU-Landesinnenminister wol-
len diesen Schmu jetzt nicht mehr mitma-
chen. Sie erlassen strengere Verwaltungs-
auflagen, verlangen striktere Gesetze und
Warum will ein 25-jähriger Tunesier eine 83-jährige Deutsche stärkere Kontrollen.
Wenn ein Deutscher außerhalb der EU
heiraten? Weil die Zahl der Scheinehen heiratet, muss er die deutschen Behörden
steigt, misstrauen Beamte den Motiven solcher Paare. vor Anerkennung der Ehe von seinem Wil-
len zum lebenslangen Bund überzeugen.
Und dabei hat sich die Oma aus Backnang
verdribbelt. Mal behauptete die Frischver-
mählte, als sie von der Ausländerbehörde
befragt wurde, sie sei von ihrem Mann zur
Ehe gedrängt worden. Mal gab sie vor, ihr
Lover habe sich umbringen wollen, wenn
sie ihn nicht heirate. Und dann wiederum
sagte sie, ihre Beziehung zu dem Twen aus
Tunis sei nichts als reine Liebe.
Weil ihr die Beamten wegen des großen
Altersunterschieds Vorwürfe gemacht hät-
ten, sei sie in den Befragungen mit den
„Nerven völlig fertig“ gewesen, erklärt
sie ihre unterschiedlichen Einlassungen
jetzt. Außerdem habe sie befürchtet, ihre
Witwenrente zu verlieren. Deshalb habe
sie zwischenzeitlich die Ehe annullieren
wollen.

SPIEGEL TV
Wie in solchen Fällen üblich, fanden die
Interviews zeitgleich statt, um Absprachen
zu verhindern. Während Mitarbeiter
der Ausländerbehörde die Ehefrau
Jährlich rund befragten, nahmen sich An-
60 000 gehörige der deutschen Bot-
binationale Ehen schaft in Tunis den Gatten
vor. Das Resultat der Inves-
mit deutschen Partnern tigation: Harold und Maude
davon gibt es wohl doch nur im
3000 Film, das Verwaltungsge-
Partner Gross, Kenzizi: „Meine große Liebe“ Scheinehen 5 % richt jedenfalls sah zu vie-
strafrechtlich erfasst le Ungereimtheiten. Die Dar-

D
ie Romanze gemahnt ein wenig an Es ist eine bizarre Geschich- stellung, es „handele sich um
den Filmklassiker „Harold and te, aber keine seltene Ausnahme, eine Liebesheirat“, heißt es in dem
Maude“: Eugenie Gross, Oma aus über die das Berliner Verwaltungs- Urteil, könne nicht überzeugen.
Backnang im Schwabenland, verliebte sich gericht jetzt im Oktober zu entscheiden Jetzt sitzt Eugenie Gross doch allein in
vor drei Jahren in Khomais Kenzizi, einen hatte. Um 20 Prozent, so haben die Rich- ihrer Wohnung in Backnang – leicht ge-
Kellner aus Tunis. Sie war da schon stolze ter anhand einer Fallstatistik errechnet, bräunt, da sie gerade zurück ist von einem
83 Jahre alt, er erst 25. seien allein im vergangenen Jahr die Fälle Besuch bei ihrem Ehemann, mit dem sie
Zweimal traf sich das Paar in Tunesien. von Scheinehen in die Höhe geschnellt. nur nach tunesischem Recht verbunden
Dann wurde dort, am 18. März 2004, ge- Das Bundesinnenministerium hat ermit- sein darf. Natürlich, erzählt sie, habe auch
heiratet, ganz intim. Nur die Braut, der telt, dass in ganz Deutschland pro Jahr sie anfangs Bedenken gehabt, als der Kell-
Bräutigam und zwei Freunde waren dabei rund 3000 Eheschließungen strafrechtlich ner ihr den Antrag machte. Doch er habe
sowie ein Mitarbeiter vom Amt – ein Mär- als Scheinehen erfasst werden. Und das nicht aufgegeben. Sie sei doch „eine so
chen aus 1001 Nacht. 1500 Millimes, gut sind nur die registrierten Fälle. schöne Frau“, er liebe sie, habe ihr der
einen Euro, kostete die Zeremonie. Hinter dem Betrug stehen oft Schleuser- Muslim immer wieder versichert, den sie
Die Ernüchterung kam knapp zwei Mo- banden, die etwa gezielt in Discos nach in einem Bierrestaurant im Touristenort
nate später, da war die verblüffend rüstige deutschen Männern und Frauen Ausschau Hammamet kennen gelernt hatte.
Seniorin längst wieder in ihre Heimat halten, um sie mit Geld zur Heirat mit bil- Hätten Eugenie und Khomais in
zurückgekehrt. Als der Angetraute nach- ligen Arbeitskräften in der Gastronomie Deutschland ihren Ehebund geschlossen,
kommen wollte, verweigerten die deut- oder mit Prostituierten zu animieren. Wer hätten es die Behörden wohl schwerer ge-
schen Behörden dem Tunesier das Visum. sich als Ehepartner zur Verfügung stellt, habt, ihnen eine Scheinehe zu unterstellen.
57 Jahre Altersunterschied – da bestün- kann zwischen 6000 und 10 000 Euro kas- Im vergangenen Jahr verweigerte etwa ein
den „Zweifel an einer ernstlichen Ehe- sieren. Das Abenteuer wagen aber auch Standesbeamter in Salzgitter die Ehe-
führungsabsicht“, hieß es im Bescheid. Die Deutsche, die im Auslandsurlaub Einhei- schließung einer 32-jährigen Deutschen mit
Beamten witterten eine Scheinehe, mit der mische kennen lernen und diese aus Mit- einem 22-jährigen Libanesen, der abge-
sich der Afrikaner ein Aufenthaltsrecht in leid über die ärmlichen Verhältnisse ins schoben werden sollte. Das Paar hatte zum
der Bundesrepublik erschleichen wolle. reiche Europa holen möchten. Und es gibt Beispiel unterschiedliche Angaben über
48 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

den Ort der Verlobung gemacht. Auch


wenn Aussagen „unglaubhaft“ seien, ur-
teilte später das Landgericht Braunschweig,
müssten die Behörden schon eindeutig be-
weisen können, dass es die Ehewilligen mit
der Zweisamkeit nicht ernst meinen.
Selbst wenn Heiratswillige zugeben, dass
sie ihren Partner ehelichen wollen, um ihm
ein Bleiberecht zu verschaffen, dürfen
Standesbeamte die Trauung nicht ableh-
nen. Entscheidend ist, dass die beiden
künftig zusammenleben möchten. Im Saar-
land hatte sich eine Frau aus Usbekistan in
fünf Monaten vier Deutsche ausgeguckt,
die sie heiraten wollte, um hier bleiben zu
können. Im letzten Moment bekamen alle
Männer kalte Füße, erst der fünfte Auser-
wählte erwies sich als richtiger Kerl und
heiratete sie. Zwar sei der Zweck der Hei-
ANDREAS ALTWEIN / PICTURE-ALLIANCE / DPA

rat ursprünglich „ehefremd“, urteilte das


Gericht. Trotzdem dürften sie heiraten,
weil Mann und Frau „ihren Willen zur ehe-
lichen Lebensgemeinschaft versichern“.
Dieses Einfallstor für Ausländer will
Hamburgs Innensenator Udo Nagel nun
schließen. Standesbeamte hatten den obers-
ten Polizeichef der Hansestadt darauf auf-
merksam gemacht, wie hilflos sie seien,
wenn sie Scheinehen wittern. In Zweifels- Ministerpräsident Platzeck, Töchter (2002): „Sinnvolles für mein Leben eingefallen“
fällen ermittelt seit Januar das Landeskri-
minalamt, ob die Frischgetrauten tatsäch-
SPD
lich Tisch und Bett teilen. Das Bleiberecht

Meister des Übergangs


soll zudem nur vorläufig erteilt werden.
Im Sommer informierte Nagel seine Kol-
legen in den CDU-regierten Bundeslän-
dern über seine Maßnahmen. Um „Miss-
brauchsfälle“ einzudämmen, hat Hessens Er hätte Außenminister werden können, aber er
Landesregierung nun dafür gesorgt, dass
das Thema in den Berliner Koalitionsver- wollte in Brandenburg bleiben. Nun wird Matthias Platzeck SPD-
handlungen auf den Tisch kommt. Das Vize – und darf sogar auf eine Kanzlerkandidatur hoffen.
Ziel: Schärfere Ausländer- und Personen-

E
standsgesetze auf Bundesebene sollen her, r selbst hätte sich nie zum Enkel Wil- war Protagonist der Grünen im Osten und
um die Zahl der Scheinehen zu senken. ly Brandts ausgerufen. Aber nun ist zählt inzwischen zu den einflussreichsten
Sicherheitspolitiker wissen, dass Ermitt- er doch einer geworden. Matthias SPD-Mitgliedern.
lungen im Privaten schwierig sind – auch Platzeck, 51, steht im Lichthof des Willy- Wohl deshalb wirkt es nicht wider-
deshalb, weil es ihnen gutorganisierte Un- Brandt-Hauses in Berlin-Kreuzberg. Neben sprüchlich, wenn er „der Regine“ nach-
terstützer von Scheinehen schwer machen. ihm ragt die überlebensgroße Bronzeplastik trauert und gleichzeitig vor „Verklärung“
Im Internet sind etwa unter der Adresse des großen Vorsitzenden ins Atrium, in warnt, vom „sozialdemokratischen Glau-
„schutzehe.de“ genaue Handlungsanwei- dem der Ministerpräsident Brandenburgs bensbekenntnis“ spricht und im selben
sungen zu lesen, wie Trauwillige ermit- die Gäste begrüßt. Atemzug für die „Reform der sozialen
telnde Beamte austricksen können. Aus- Eine seltsame Übergangsgesellschaft hat Sicherungssysteme“ plädiert. Und es er-
gerechnet der Staat hat geholfen, diesen sich an diesem nasskalten Oktobertag klärt, warum sein Name plötzlich mit so
Leitfaden zu erstellen. Er entstand bei ei- zusammengefunden, um die verstorbene vielen Erwartungen verbunden wird –
nem Projekt von 16 Bremer Kulturorgani- SPD-Ikone Regine Hildebrandt zu ehren. schließlich ist die SPD zu einer einzigen
sationen im Rahmen der Ausstellung „Nie- In der ersten Reihe sitzen der Ossi und Übergangsgesellschaft geworden. Noch-
mand ist eine Insel“ – die mit Steuergel- Noch-Minister Manfred Stolpe und der Kanzler Gerhard Schröder wollte ihn
dern des Senats und der Kulturstiftung des Wessi und Noch-SPD-Generalsekretär zum Außenminister machen, mit der Op-
Bundes finanziert wurde. Klaus Uwe Benneter. Auf dem Podium tion auf die nächste Kanzlerkandidatur.
Auch Oma Gross mag nicht lassen von wartet der Hildebrandt-Biograf Hans-Die- Nun soll er stellvertretender SPD-Vorsit-
dem Mann aus Tunesien, der „mir meine ter Schütt, der bis 1989 im FDJ-Blatt „Jun- zender werden, selbstverständlich mit der-
Jugend wiedergegeben hat“. Da sie wegen ge Welt“ gegen die Klassenfeinde hetzte. selben Aussicht.
ihres schwachen Herzens nicht nach Afrika Dem Gastgeber sind Übergänge ver- 15 Jahre gehört Platzeck schon zum poli-
ziehen kann, schreibt der Ehegatte nun er- traut, nicht zufällig hängt in seinem Pots- tischen Betrieb, der nach westdeutschen
greifende Briefe auf Herzchenpapier. Dar- damer Amtszimmer ein Foto der Glie- Regeln funktioniert. Dass er, der nach ei-
in spricht er sie an als „mein Schatz“ oder nicker Brücke, über die er in der Nacht genem Bekunden „kein Parteimensch“ war
„meine große Liebe“. Schließlich will das der Maueröffnung gen Westen lief. Plat- und sich einst als „Rot-Grüner mit kon-
Liebespaar die deutschen Beamten mit die- zeck war Naturwissenschaftler und ist nun servativen Zügen“ beschrieb, es so weit
sen Dokumenten doch noch vom gemein- Politiker, er war DDR-Bürger und ist nun gebracht hat, ist durchaus auch Ergebnis
samen Glück überzeugen. Udo Ludwig in der Bundesrepublik angekommen, er seines geschickt verborgenen Ehrgeizes.
50 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Platzeck hat einfach konsequent den Rat Als ihn, kaum war er Minister in der Instinktsicher ließ Platzeck sich jedoch
seines Vaters befolgt: „Wenn du schon in Ampelkoalition von Manfred Stolpe, die nie komplett in die Rolle des Kronprinzen
eine Partei eintrittst, dann versuche, ihr Kollegen Umweltminister aus dem Westen drängen, erfüllte keineswegs alle Wünsche
Vorsitzender zu werden.“ Er wurde Minis- in die Polit-Rituale einführen wollten, hör- des Kanzlers nach gemeinsamen Auftritten.
ter, Oberbürgermeister in Potsdam, dann te er zu – und folgte den Ratschlägen nur Fünf Tage vor der Wahl aber stand er dann
Landeschef der SPD in Brandenburg und selten. Bis zehn Uhr morgens, so lautete ei- wieder mit Schröder gemeinsam auf der
schließlich Ministerpräsident. ner der Ratschläge, müssten die Agenturen Bühne, im gutbesuchten Lustgarten seiner
Doch er hat sich angepasst, ohne einge- neue Nachrichten aus seinem Bereich mel- Heimatstadt Potsdam. Mit knirschendem
passt zu wirken. Auch auf der nächsten den, dann werde er schon ernst genom- Kiefer verfolgte ein abgekämpfter Schröder
Karriereebene will er verhindern, dass die men. Er könne, freut sich Platzeck, „noch die ungewöhnlich kraftvolle Rede Platzecks,
Politik komplett von ihm Besitz ergreift. immer an einem Mikro vorbeigehen, ohne der gegen Union und Linkspartei gleicher-
Ihm sei „bis zum 35. Lebensjahr etwas reinzusprechen“. Eine Laune der Natur, maßen polemisierte. Dann ging Schröder
Sinnvolles für mein Leben eingefallen“, er- das Oder-Hochwasser 1997, machte ihn auf ihn zu, und für einen Moment schien es,
klärt er, da wolle er auch künftig „kein Ab- dann als „Deichgraf“ bundesweit bekannt. als wollte er ihn nie wieder loslassen, so
hängiger sein, der sich nichts anderes als Der leise Weg durch die Institutionen sehr klammerte er sich an Platzeck.
Politik mehr vorstellen kann“. Auch des- brachte ihm immer wieder den Vorwurf der Der aber hatte schon zu diesem Zeit-
halb hat er „der Versuchung“ widerstan- Profillosigkeit ein. Nur symphatisch zu sein, punkt beschlossen, nach der Wahl in kei-
den, Außenminister zu werden. ärgerten sich Weggefährten, reiche nicht nem Fall nach Berlin zu wechseln. Er wol-
Dass er sich seinen „Wählern und Bran- aus, Platzeck stehe für kein einziges politi- le, machte er den Genossen im Willy-
denburg“ verpflichtet fühlte, hat ihn da- sches Thema und lasse der Konkurrenz viel Brandt-Haus klar, „erst in Brandenburg et-
vor bewahrt, noch mehr von seinem In- zu viel Raum. In der Großen Koalition, die was bewegen“, nicht vor 2007 gehen. Die
nenleben preisgeben zu müssen. Das „Pro- Platzeck seit Juni 2002 in Potsdam führt, Frage, ob er nachträglich in ein Bundeska-
vinz-Ei“, wie sich Platzeck wenige Tage träumte sein Stellvertreter, Innenminister binett wechseln würde, beantwortete Plat-
vor der Bundestagswahl halb scherzhaft Jörg Schönbohm (CDU), bereits vom Ein- zeck auf seine Weise zweideutig: „Ich bin
bezeichnete, ist Märker durch und durch. zug in die Staatskanzlei. nicht Jesus.“ Eigentlich wollte er nur sagen,
Seine Lebensgefährtin, ein paar Freunde, Erst im Landtagswahlkampf im vergan- dass er kein Prophet sei. Unfreiwillig gab er
seine drei Töchter, sein Kiez in Potsdam- genen Jahr gewann Platzeck politisches damit aber auch zu, welchen Druck er spürt.
Ob er sich tatsächlich zutraut, ganz in die
Bundespolitik zu wechseln? „Ich habe im-
mer so viel Freude an dem, was ich gera-
de tue“, wehrt er ab, „dass ich nicht über
die nächsten Schritte nachdenken muss.“
Zurzeit pendelt er ständig zwischen Pots-
dam und Berlin, Koalitionsausschuss, SPD-
Präsidium und, klar, auch Kungelrunden.
Regiert, sagt ein Vertrauter, wird Branden-
burg derzeit aus dem Auto. Platzeck ist
mittendrin im Getümmel. Doch ein Stück
Distanz bleibt immer, ein Abstand, den
wohl nur einer bewahren kann, der schon
KLAUS MEHNER / BERLIN PRESS SERVICES.DE

einmal ein ganz anderes Leben mit einem


ganz anderen Tempo geführt hat.
„Echten Raubbau“ habe er die Jahre
seit der Wiedervereinigung mit seinen
Kräften betrieben, sagt Platzeck, geschei-
terte Beziehungen inbegriffen. Und mit-
unter plage ihn schon die Sorge, dass „der
Brunnen, aus dem man schöpft, plötzlich
versiegt“.
Krisenmanager Platzeck (beim Oder-Hochwasser 1997): „Ich bin nicht Jesus“ Es gibt Tage, da wird ihm klar, wie sehr
sich sein Leben verändert hat. Vergange-
Babelsberg – das ist die kleine Welt, aus der Profil. Seine Genossen im Bund hatten die nen Mittwoch gab es so einen Moment. Da
er nicht entwurzelt werden mag. Arbeitsmarktreform auf den Weg gebracht, stand er bei der Jubiläumsfeier der Bun-
Das hat den derart geerdeten Branden- und er stand auf den Marktplätzen seines deswehr vor dem Reichstag. Er, der als Pa-
burger aber nie gehindert, zielstrebig Kar- Landes und musste sich dafür beschimpfen zifist Bundesbürger wurde und den hellen
riere zu machen, mitunter ziemlich ruck- lassen. Als die ersten Eier flogen, rieten Mantel wie eine Schutzkleidung trug, um-
artig. Die Aufgaben, sagt er, seien immer ihm Vertraute, nicht mehr auf frei zugäng- zingelt von Leuten in dunklen Uniformen,
auf ihn zugekommen, seit Herbst 1989. lichen Plätzen zu reden. Da schaltete der angestrahlt von Fackeln. In diesem Au-
Der grüne und bürgerbewegte Platzeck Mann der leisen Töne um: Er bekannte genblick habe er daran denken müssen,
war in den Wendetagen vom Runden Tisch sich offen und energisch zu den Reformen, welch gemischte Gefühle ihn am 3. Okto-
als Minister ohne Geschäftsbereich in das trat mit dem Kanzler auf, als viele zu dem ber 1990 bewegt hatten, als die National-
Kabinett von DDR-Premier Hans Modrow auf Distanz gingen. So wurde seine märki- hymne erklang und am Reichstag die
entsandt worden. Im Februar 1990 wider- sche SPD doch noch stärkste Partei Bran- schwarz-rot-goldene Fahne gehisst wurde.
sprach er dem reichen Bruder aus dem denburgs und ihr Frontmann einer der Damals sei das weder seine Hymne gewe-
Westen, da fuhr Helmut Kohl seinen Gast engsten Vertrauten des Kanzlers. Lange sen, sagt er, noch sein Land. Nun, beim
Modrow an, wer denn der Referent an vor anderen weihte Schröder seinen Pots- Großen Zapfenstreich, sei ihm bewusst
seiner Seite sei. Blauäugig, sagt er heute, damer Lieblings-Eleven („Matthias, ich geworden, dass diese Bundesrepublik
sei er damals gewesen. Aber er hat dar- danke dir für deine Freundschaft“) in sei- „komplett mein Land ist – und trotz aller
aus gelernt. ne Neuwahlpläne ein. Schwächen ein tolles Land“. Stefan Berg
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 51
THW-Helfer (im pakistanischen Balakot)
Werkzeug der Diplomatie

strophenschutz in Deutschland zuständig


sind, in 22 Ländern. In Afghanistan bei-
spielsweise bauten sie Polizeistationen auf,
im Irak halfen sie, die Wasserversorgung
um Bagdad zu sichern, in Somalia erneu-
erten sie Straßen.
Die THW-Leute sind nicht nur Deutsch-
lands schnelle Eingreiftruppe, sie sind auch
ein Werkzeug der Diplomatie geworden:
Wenn die Republik Hilfsbereitschaft de-
monstrieren will, schickt das Bundes-
innenministerium eben sein THW. Bezahlt

DOMINIK CZIESCHE / DER SPIEGEL


werden Aktionen wie jene in Pakistan je-
doch vom Auswärtigen Amt, und allein das
zeigt, wie sehr es auch um Gesten geht und
um internationale Politik.
Die Karriere der lange als etwas ver-
schlafen geltenden Truppe habe nicht zu-
letzt „mit der neuen Rolle Deutschlands in
der Welt zu tun“, sagt THW-Präsident Ge-
org Thiel. Er glaubt, dass seine Organisa-
K ATA S T R O P H E N
tion wichtig sei für den Ruf der Republik:

Besonderer Kick
„Wir vermitteln: Deutschland hilft.“
In den vergangenen Jahren hat die Zahl
der Auslandseinsätze denn auch stark
zugenommen. Auf fast allen Kontinenten
Sie halfen nach dem Tsunami und dem Hurrikan „Katrina“, nun retteten die Deutschen, was nach Sturm-
fluten, Erdbeben oder Kriegen noch zu
arbeiten sie im Erdbebengebiet in Pakistan: Das Technische retten war. Demnächst sollen neue Ein-
Hilfswerk ist zur schnellen Eingreiftruppe der Republik geworden. heiten zur Wasseraufbereitung aufgebaut
werden, um den vielen Notrufen gerecht

E
ndlich rattern die Rotoren, der Heli- gebiet ist es der zweite oder dritte Kata- zu werden.
kopter hebt ab. Hier oben, zwischen strophen-Einsatz im Ausland binnen zwölf Die sogenannten Search-and-Rescue-
den bewaldeten Hügeln Kaschmirs, Monaten. Vor allem nach dem Tsunami in Teams des THW, die bei Katastrophen
weht die Luft frisch und kühl durch die of- Südostasien haben sie geholfen, dann nach schnell Verletzte retten müssen, sind bin-
fenen Luken. Der Geruch des Todes dringt dem Hurrikan „Katrina“ in New Orleans. nen sechs Stunden abflugbereit. Der Not-
nicht herauf. Und vor drei Wochen schließlich bebte die
Ein Fluss sucht sich seinen Weg zwi- Erde in Pakistan, vermutlich starben dort
schen steilen Hängen, erster Schnee be- mehr als 54 000 Menschen. Technisches Hilfswerk
deckt die Gipfel. Und dazwischen liegen Es ist ein hartes Jahr für die Helfer vom
Dörfer, von denen kaum noch mehr steht Technischen Hilfswerk (THW). Denn die MITARBEITER
als die Grundmauern. Deutschen mit ihren besonderen Fähigkei- 77 000 Ehrenamtliche
Die sechs Männer an Bord des Bundes- ten und ihren immer einsatzklaren Gerä- 980 Hauptamtliche
wehr-Hubschraubers sind jetzt seit fast ten sind inzwischen weltweit begehrt. So EINSÄTZE
zwei Tagen wach und tragen ebenso lange hat sich das THW mit seinen 77 000 Mit-
ihre blaue Uniform mit der Aufschrift gliedern zu einer Art Freiwilligen Welt- 16 425 im Inland 2004
„Technisches Hilfswerk“. Nur kurz haben feuerwehr entwickelt, stets abrufbar, stets 48 im Ausland 2004/2005
einige am Militärflughafen bei Islamabad, reisebereit. Allein seit Anfang 2004 halfen
Pakistan, einnicken können, an ihre Ruck- die blauen Engel, die auch für den Kata- Schweden
säcke gelehnt. In den Bergen warten die Bosnien-
Herzegowina
Erdbebenopfer, was dort neben Decken Kosovo
und Zelten vor allem fehlt, ist sauberes Rumänien
Wasser. Die Deutschen haben Material für Afghanistan
riesige Becken dabei, in denen sie ver- Pakistan
seuchte Brühe reinigen können. Iran
Dass vieles bisher schief gegangen ist, Irak
dass sie etwa erst einen Tag später als ge- Thailand
plant abfliegen konnten, hat sie verärgert. Indonesien
Sie haben keine Zeit. In Pakistan seien Sri Lanka
Malediven
über drei Millionen Menschen bedroht,
Somalia
sollte nicht vor Einbruch des Winters Kenia
schnelle Hilfe kommen, warnte Uno- Sudan
Generalsekretär Kofi Annan am Mittwoch Dem. Rep. Kongo
in Genf. Tschad
Für die meisten der zurzeit etwa ein Tunesien
Dutzend deutschen Helfer im Erdbeben- Marokko
Liberia
52 Sierra Leone
USA
Katastrophenhilfe (in New Orleans)
Weltweit begehrt

dennoch überzeugen müsse. „Wenn es bei


Ihnen brennt, wollen Sie doch auch nicht,
dass jeder Helfer erst eine Genehmigung
einholen muss“, belehrte er jüngst den un-
willigen Chef eines THW-Kollegen.
Zu Verzögerungen kann es bei Einsätzen
schließlich immer noch kommen, wie jetzt
in Pakistan. Schon die Anreise verhieß
nichts Gutes. Der Flug nach Islamabad mit
einer lokalen Airline führte durch ein Ge-
witter, ein Blitz schlug in die Tragfläche
ein, die Maschine musste in Lahore zwi-

FLORIAN WEBER / THW


schenlanden und kam erst Stunden später
am Militärflughafen an.
Auch die gecharterte Iljuschin mit den
Gerätschaften traf viel zu spät ein und durf-
te dann nur im zivilen Teil des Flughafens
ruf aus Berlin erreicht die freiwilligen Hel- landen, was einen aufwendigen Transport
fer im ganzen Bundesgebiet meist per SMS, nötig machte. Die Männer warteten eine
Rucksäcke stehen stets gepackt daheim, halbe Nacht darauf, das Flugzeug überhaupt

DOMINIK CZIESCHE / DER SPIEGEL


und Tonnen von Hilfsgerät – Schaufeln, entladen zu dürfen. Und anschließend hielt
Betonsägen, Zelte – lagern jederzeit trans- sie auch noch ein Soldat mit einer nutz-
portklar in Metallkisten an mehreren deut- losen Kontrolle auf.
schen Flughäfen. So konnte das THW in „Es ist wie bei François“, scherzten die
Pakistan noch vier Tage nach dem Beben Männer, als sie sich etwas beruhigt hatten.
in Muzaffarabad eine Frau lebend aus den Der THW-Ausbilder François Käufer or-
Trümmern bergen – ein imageträchtiger ganisiert Lehrgänge, in denen er seine Leu-
Erfolg der Deutschen, der weltweit Schlag- Einsatzleiter Rettlinger te auf den Umgang mit korrupten Provinz-
zeilen machte. Stets reisebereit gewaltigen, schießwütigen Paramilitärs
Auch in Balakot werden die Helfer oder bewaffneten Plünderern vorbereitet.
durch ihre Arbeit wohl Leben retten. Ihre schon mal mit den Worten: „German Go- Denn die Helfer müssen im Zweifel auch in
Wasseraufbereitungsanlage soll den zer- vernment“ – Bundesregierung. Gebiete, in denen nur noch die Kalaschni-
störten Ort versorgen. Dort steht kaum Heinz Rettlinger kennt das Gefühl, auch kow regiert. Sie lernen Sprengfallen und
noch ein Haus. Bei den wenigen Gebäu- im Dienst der Politik auf Reisen zu sein. So Minen zu identifizieren, und sie trainieren,
den, die zunächst unversehrt erscheinen, half er in den vergangenen Jahren etwa wie man Geiselnahmen überlebt.
offenbart ein zweiter Blick, dass sie einfach nach einem Vulkanausbruch in Afrika oder Nebenbei ist Ausbilder Käufer der Logis-
zusammengesackt sind und das Erdge- nach einem Beben in Indien. Dann er- tiker der Balakot-Gruppe. Er muss wäh-
schoss unter sich begraben haben. Ver- krankte er schwer, letztes Jahr besiegte er rend des Einsatzes zum Beispiel für Nach-
mutlich haben die Trümmer Hunderte, seinen Darmkrebs – und kaum dass er halb- schub sorgen, aber auch Quittungen aufhe-
wenn nicht Tausende verschüttet, und noch wegs genesen war, ließ er sich wieder Tro- ben, schließlich gibt das THW Steuergelder
mehr wurden durch das Beben obdachlos. penfähigkeit für künftige Einsätze beschei- aus. „Da liegen ein paar tausend Tote, und
Nun drohen Seuchen. nigen. Rettlinger ist buchstäblich beim ich muss Belege sammeln“, ärgert er sich.
Kein leichter Job für Einsatzleiter Heinz THW groß geworden. Sein Elternhaus steht Der Verband ist eben sehr deutsch or-
Rettlinger. Dabei sind seine Männer alle- neben dem THW-Quartier seines fränki- ganisiert. Der THW-Stromgenerator in Ba-
samt Freiwillige, im Zivilberuf Zollbeamte, schen Heimatortes. Sein Vater gehört seit lakot ist beispielsweise nicht nur stark ge-
Postler, Lageristen oder Biochemiker. Doch 50 Jahren dazu. Sieben seiner neun Brüder nug, um auch gleich diverse Militärs mit-
der besondere Kick solcher Operationen engagieren sich dort. Seine Kinder sind im zuversorgen – er arbeitet auch noch
sorgt für zusätzliche Motivation. „Das ist THW. Seine Nichten und Neffen auch. schadstoffarm. Das Gerät verschafft Rett-
natürlich was anderes, als zu Hause die Alle sind Freiwillige, denn das THW ist linger Freunde unter den pakistanischen
Keller leer zu pumpen“, sagt Florian We- zwar eine Behörde, die meisten Helfer aber Offizieren, die ihm dafür mit ihren Trans-
ber von der THW-Zentrale in Bonn. „Da sind Ehrenamtliche. Viele haben sich für portern und Soldaten zu Diensten stehen.
ist die Aufmerksamkeit einfach größer.“ sechs, früher für zehn Jahre verpflichtet, Ansonsten braucht das THW vor Ort kei-
Katastrophen steigern jedes Mal das In- um dem Wehrdienst zu entgehen, und ne Hilfe, es bringt alles mit, was Voraus-
teresse an der Mitarbeit. Nach Erdbeben blieben dann dabei. Sie trainieren in ihrer kommandos für nötig erachtet haben.
etwa melden sich regelmäßig Architekten, Freizeit und treffen sich einmal die Wo- Nichts wollen die THW-Chefs dem Zu-
die beim Wiederaufbau zerstörter Städte che. Sie sind ein bisschen Rotes Kreuz, ein fall überlassen. „Beim THW hab ich sogar
mithelfen wollen. „Seit Jahresbeginn ist bisschen Pfadfinder-Trupp. Sie lieben das das Bestechen gelernt“, sagt Herzberger,
die Zahl der Mitglieder um 1500 gestie- Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, aber auch „und ich bin immerhin Beamter.“ Im Lehr-
gen“, so THW-Chef Thiel. die Gemeinschaft, den Verein. gang von Käufer erfuhr der Raucher, was
Auch das Gefühl, als Botschafter der Die meisten haben einen Job, und das er mit Zigarettenpackungen noch so an-
Bundesrepublik unterwegs zu sein, scheint THW-Helferrechts-Gesetz verpflichtet ihre stellen kann: Sollte ein Offizieller irgendwo
den Männern zu gefallen. Beim Einsatz im Arbeitgeber, sie sofort für Einsätze freizu- auf der Welt die Techniker-Trupps behin-
überfluteten New Orleans – bei dem ge- stellen, der Bund erstattet die Kosten. Kars- dern wollen, rollt man einen Geldschein,
waltige THW-Pumpen auf Bitten der US- ten Herzberger, der nun in Pakistan war steckt ihn zwischen die Zigaretten und bie-
Regierung halfen, die Stadt trockenzule- und sonst im Bundespresseamt arbeitet, tet dem Mann unauffällig eine an.
gen – meldete sich ein Team am Telefon berichtet, dass man manchen Arbeitgeber Dominik Cziesche, Markus Verbeet

54 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
SPI EGEL-GESPRÄCH

„Wir brauchen ein neues


bürgerliches Zeitalter“
Verfassungsrichter Udo Di Fabio über die Neuwahlen,
die Rückbesinnung auf tradierte Werte
und sein neues Buch „Die Kultur der Freiheit“
Di Fabio, 51, lehrt Öffentliches Recht an Meinung sein? Wie lange würden Abge-

ULI DECK / DPA


der Universität Bonn und ist seit 1999 ordnete widerstehen, wenn die medialen
Richter am Bundesverfassungsgericht in Meinungsführer nach Neuwahlen rufen
Karlsruhe. Er veröffentlichte soeben das und die Abgeordneten verdächtigt werden,
streitbare Buch „Die Kultur der Freiheit“ sie klebten an ihren Sesseln? Richter Di Fabio
(Verlag C. H. Beck). SPIEGEL: Ein prominenter Kollege von Ih- „Treue, Anstand, Aufrichtigkeit“
nen, Paul Kirchhof, hat sich bei dieser Wahl
SPIEGEL: Herr Professor Di Fabio, unter Ih- für die CDU engagiert und eine blutige verschiedene Systeme sind. Jemand, der
rer Federführung hat das Verfassungsge- Nase geholt. Der gebotene Respekt ge- von einem System ins andere wechselt,
richt im Sommer die Auflösung des Bun- genüber einem – wenn auch ehemaligen – steht in einer anderen Welt und wird ganz
destages und Neuwahlen gebilligt. Wenn Mitglied des Hohen Gerichts war den Leu- anders behandelt als vorher. Zur politi-
Sie die Folgen bedenken – kompliziertes ten plötzlich schnurz. Wie wirkt so etwas schen Analyse eines Wahlausgangs fühle
Wahlergebnis, wohl bald eine Koalitions- auf Sie? Empörung? Mitgefühl? ich mich im Übrigen nicht berufen.
regierung, die mit Stagnation droht –, be- Di Fabio: Jemand, der der Systemtheorie SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch „Die Kultur
reuen Sie dann Ihre Entscheidung? nahe steht, sieht sich daran erinnert, dass der Freiheit“ argumentieren Sie aber
Di Fabio: Zu bereuen ist da nichts. Der Se- Politik, Wissenschaft und Recht nun mal durchaus politisch. Die fortschreitende
nat hat nicht nach politischen, sondern
nach juristischen Maßstäben entschieden.
Dem verbreiteten Bedürfnis nach Läute-
rung eines in die Krise geratenen politi-
schen Stils kann im Übrigen nicht immer
mit den Mitteln des Verfassungsrechts ent-
sprochen werden.
SPIEGEL: Leben wir in einer Kanzlerdemo-
kratie? Das war ja der Vorwurf der Abge-
ordneten, die mit ihrer Klage gegen die
Parlamentsauflösung gescheitert sind.
Di Fabio: Ich glaube, das Grundgesetz hat
eine Kanzler- und eine Parlamentsdemo-
kratie verfasst. Das Grundgesetz will den
starken Kanzler und eine handlungsfähige
Regierung. Die starke Regierung ist aber
keine autokratische, sondern eine, die sich
jederzeit parlamentarisch verantworten
muss – das haben wir in der Spätphase
Weimars ja so schmerzlich vermisst.
SPIEGEL: Es wurde in der Debatte über die-
se Entscheidung des Kanzlers gefordert,
die Auflösung des Parlaments müsse ge-
setzlich erleichtert werden – sind Sie dafür?
Di Fabio: Das liegt in der Hand des verfas-
sungsändernden Gesetzgebers. Ich sehe
hier allerdings keinen dringenden Hand-
lungsbedarf. Wenn der Deutsche Bundestag
ein Selbstauflösungsrecht ohne die not-
wendige Zustimmung des Bundespräsiden-
ten und womöglich ohne Initiative der Bun-
desregierung erhält, dann entscheidet nur
noch ein Verfassungsorgan, wenngleich mit
einer großen parlamentarischen Mehrheit.
Aber wie groß darf das Vertrauen in das
Erfordernis der großen Mehrheit angesichts
des wachsenden Einflusses der öffentlichen
58
Deutschland

Individualisierung der Gesellschaft gefähr- und unterstützt werden. Wir brauchen ein
de, schreiben Sie, die „Architektur einer neues bürgerliches Zeitalter, ohne die Enge
politischen Gemeinschaft“, die nun mal ein des alten, jedenfalls mehr Respekt für die
elementares „Einheits“-Gefühl brauche. Familie, für Aufrichtigkeit, Höflichkeit,
Das aber schaffe weder der linke Ruf nach Fleiß und Erfolg, auch für religiös veran-
mehr Staat noch die neoliberale Abwehr kerte Demut. Die traditionellen Wege zum
öffentlicher Herrschaft. Auch nicht – und Glück sollten nicht länger verächtlich ge-
damit kritisieren Sie ja schon vorweg die macht werden.
Große Koalition – die „Kombination“ bei- SPIEGEL: Fragt sich, ob sie tatsächlich noch
der Politik-Wege. begehbar sind. Eine Folge des modernen
Di Fabio: Meine Vorstellung ist die, dass wir Individualismus zum Beispiel ist die Lö-
vor allem eine kulturelle Debatte brauchen. sung kirchlicher Bindungen. Gotteshäuser
Weder der linke Interventionismus noch bleiben leer, werden verkauft oder abge-
der neoliberale Weg, auch nicht deren rissen. Soll der Staat diesen traditionellen
Kombination, stellen sich dieser Debatte Weg zum Glück offen halten?
darüber, was die Grundbedürfnisse einer Di Fabio: Als Notmaßnahme kann das ge-
stabilen freiheitlichen Gesellschaft sind. boten sein. Aber ich meine etwas anderes:
Sozialtechnik, egal ob staatliche Grund- Wir müssen konkret mit denjenigen reden,
versorgung, höhere Mindestlöhne oder die die aus der Kirche austreten, sie fragen, ob
Liberalisierung des Arbeitsmarkts, wird sie glauben, dass ein solcher Weg zur
nicht reichen, wenn wir wollen, dass die Steuerersparnis auch vernünftig sei. Ich
Menschen gern arbeiten und dass neue Ar- plädiere insgesamt für die Neubelebung
beitsplätze entstehen – dafür müssen sich einer Debatte über den Sinn von Gemein-
die kulturellen Voraussetzungen unserer schaften, auch von religiösen Gemein-
Gesellschaft ändern. schaften, die ja in einer aufgeklärten Ge-
Zum Beispiel: Wer seine Freiheit in einer sellschaft ihren Wert nicht etwa verlieren.
die Gemeinschaft fördernden Weise ge- Gemeinschaften müssen Menschen über-
braucht, also etwa reell arbeitet oder Ar- zeugen, sie ermuntern, sich in Kirchen,
beitsplätze schafft oder Kinder zur Welt Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen
bringt und diese gut erzieht, der sollte nicht zu engagieren oder ihnen doch die Treue
bürokratisch behindert oder herabwürdi- zu halten und sich nicht beim ersten An-
gend behandelt, der sollte mehr geachtet lass abzuwenden und dann an den Staat zu
appellieren.
SPIEGEL: Enthält Ihr Plädoyer für eine stär-
Abgeordnete im Bundestag* kere Prämierung der Familie mit Kindern
Kritik an der rechtlichen Aufwertung der
Homosexuellenehe?
Di Fabio: Mein Tenor ist: Die Freiheit, die
sich bindet, verdient mehr Respekt und
Unterstützung. Und wenn sich zwei gleich-
geschlechtliche Partner binden, gilt diese
Grundaussage auch für sie. Aber ich wer-
be für eine bestimmte Lebensform, die tra-
ditionellen Ursprung hat, und das ist die
Ehe von Mann und Frau. Wer für einen be-
stimmten Lebensstil und eine Institution
wirbt, diskriminiert damit nicht andere
Entwürfe.
SPIEGEL: Schadet denn die Schwulenehe
überhaupt der traditionellen Ehe? Ist sie
nicht eine Marginalie?
Di Fabio: Wenn Sie andere Lebensgemein-
schaften der traditionellen Ehe vollständig
gleichstellen, kann dies ihrem ideellen
Kern schaden. Das ist doch ganz einfach.
Wir schützen ja auch den Begriff der
politischen Partei oder den der Gewerk-
schaft. Würde man jede beliebige Grup-
pierung, auch wenn sie für sich genommen
viel Sympathie verdient, als politische
Partei oder als Gewerkschaft zulassen,
wäre die Möglichkeit klarer Distinktion
und die Rolle dieser Einrichtungen in der
Gesellschaft gefährdet. Wir müssen ge-
STEPHANIE PILICK / DPA

nau unterscheiden zwischen einer Diskri-


minierung, die verächtlich macht und

* Bei der Abstimmung über die vom Bundeskanzler ge-


stellte Vertrauensfrage am 1. Juli.

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 59
flikte auf. Das kulturell immer noch vor-
herrschende Normbild vermittelt die Bot-
schaft: Der freie Mensch kämpft nicht um
die Erhaltung der Gemeinschaft, sondern
er geht stolz und einsam davon – wie der
klassische Westernheld. Ich werbe dafür,
dass in Filmen, im Fernsehen oder in der
Literatur diejenigen, die bei Konflikten aus-
harren statt fortzulaufen, besser benotet
werden.
SPIEGEL: Filme und Fernsehspiele spiegeln
doch bloß, was tatsächlich in der Gesell-
schaft geschieht. Der einsame Kämpfer ist
doch ein Produkt objektiver Not …

THOMAS COJANIZ / VISUM


Di Fabio: … aber der übertriebene Applaus
für ihn wirkt zurück in die Gesellschaft und
beeinflusst Jugendliche, Lehrer und ande-
re tonangebende Gruppen. Auf diesen Pro-
zess der gesellschaftlichen Typisierung anti-
Fronleichnamsprozession in Bayern: „Respekt für die traditionellen Wege zum Glück“ institutioneller Verhaltensweisen versuche
ich mit meinem Buch einzuwirken. Es stört
ausgrenzt, und dem Recht auf eigene Zukunft. Aber der Weg zu diesem Ziel ist mich, dass der kulturelle Standard immer
Identität durch Abgrenzung von anderen eben nicht bloß eine Sache zweckrationa- noch auf den Single in der Großstadt zielt,
Lebensstilen. len Denkens. Es geht um Werte und deren wie ihn der US-Soziologe Richard Sennett
SPIEGEL: Es geht Ihnen also um die Reinheit Akzeptanz. Institutionen muss man wollen, vor Jahrzehnten idealisiert hat.
der Begriffe als ideelle Voraussetzung in- innerlich, nicht nur rational akzeptieren – SPIEGEL: Das betrifft doch nur eine sehr
takter Institutionen. Das klingt platonisch da ist die Kultur gefragt. Wenn im Zweifel kleine Schicht der Gesellschaft.
und ehrenwert. Aber verfolgen Sie nicht in die Freiheit von der Bindung wichtiger ist Di Fabio: In manchen Großstädten woh-
Wahrheit bloß zweckrational ein banales als die Freiheit zur Bindung, dann verlie- nen 50 Prozent der Menschen in sogenann-
Ziel: die Steigerung der Geburtenrate? ren die Ehe, Kirchen, Gewerkschaften oder ten Einpersonenhaushalten. Aber wichti-
Di Fabio: Natürlich wünsche ich mir mehr andere Gemeinschaftsformen ihren Zu- ger als Zahlenverhältnisse sind die prägen-
Kinder und mehr Kinderfreundlichkeit in sammenhalt. Darin sehe ich eine Gefahr. In den Bilder, die gesellschaftlich honoriert
unserer Gesellschaft. Ohne Kinder keine jeder Ehe, in jeder Institution treten Kon- werden.
Deutschland

SPIEGEL: Dabei kommt es auch auf das gu- nalismus unterscheiden. Der
te Beispiel an. Geht unsere – nicht sel- Nationalismus ist, nicht nur
ten mehrfach geschiedene oder kinder- für unser Volk, ein furcht-
lose – Politiker-Elite mit gutem Beispiel bares Unglück gewesen.
voran? Selbst wenn Fußballfans mit
Di Fabio: Wir sollten nicht auf ein vormo- der – von mir hochgehalte-
dernes Niveau zurückfallen und sagen, je- nen – schwarzrotgoldenen
mand kann nur das glaubhaft verkünden, Fahne laut schreiend durch
was er selbst lebt. Selbstverständlich kann die Innenstadt ziehen, ma-
zum Beispiel jemand, der keine Kinder hat, che ich mir Sorgen. Das ist
eine wunderbare Familienpolitik machen. mir zu laut. Patriotismus
Kinderlosigkeit ist ja auch keineswegs im- ist etwas anderes, er hat,
mer eine Lebensstil-Entscheidung, sie kann schon im 19. Jahrhundert,
biologische Gründe haben und ein schwe- etwa bei Heinrich Heine,
res Schicksal sein. Wenn im Wahlkampf Freiheit und Demokratie
polemisch die Kinderlosigkeit von Spit- immer mitgedacht, bevor

ACTION PRESS
zenkandidatinnen thematisiert wird, macht die Feinde der Freiheit sich
mich das etwas traurig. dieses Begriffs bemächtigt
SPIEGEL: Wenn Sie traditionelle Werte, etwa haben, um mit seiner Stärke
die eheliche Treue, stärker zur Geltung Homosexuellenhochzeit in Hamburg (1999): „Klare Distinktion“ eine aggressive Politik zu
bringen wollen, müssen Sie doch beden- füttern.
ken: Diese Werte haben oft einen meta- SPIEGEL: Neben der Kirche ist ein weite- SPIEGEL: Woher denn sollen wir heute die
physischen Hintergrund, der uns heute in rer großer Zusammenhang, in dem die Inhalte eines reflektierten Patriotismus,
der Regel fehlt – traditionell wird die ehe- Freiheit des Einzelnen gesichert werden den Sie fordern, nehmen? Deutschland ist
liche Treue ja am Altar versprochen. kann, die Nation. Die Nation braucht einen doch schon halb aufgelöst in Europa.
Di Fabio: Das ist schon richtig, aber man ideellen Rahmen, in dem Patriotismus ge- Di Fabio: Wir sind nicht aufgelöst in Europa.
sollte das Metaphysische auch nicht über- deihen kann. Globalisierung und multi- Für Frankreich gilt das nicht, also kann
schätzen. Zweckmäßigkeit, Idee und Lei- kulturelle Gesellschaft sind im Begriff, auch es auch für uns nicht gelten. Wir wollen
denschaft gehören zusammen. Im zurück- diesen Rahmen zu zerkrümeln. Helfen da- vielleicht aufgelöst sein. Europa funktio-
liegenden Industriezeitalter war die Ge- gegen Appelle, das Eigene wieder mehr zu niert aber nur, wenn die Mitgliedstaaten
sellschaft deutlich härter, trotzdem haben schätzen? ihre eigene nationale Kultur pflegen, in-
Werte wie Treue, Anstand, Aufrichtigkeit Di Fabio: Wenn man von Patriotismus re- dem sie zugleich für fremde Kulturen offen
funktioniert. det, muss man ihn zuallererst von Natio- bleiben.
Deutschland

SPIEGEL: Dass wir keinen Patriotismus mehr im Blick auf 1933, „sind in weiten Teilen gessen. Wer über die deutsche Geschichte
zustande bringen wie die Engländer oder mit allen Mitteln moderner Propaganda zwischen 1933 und 1945 auch nur gering-
Franzosen, hat doch historische Gründe, verführt und belogen worden.“ Sind die fügig anders reden will, als wir es uns an-
vor allem den, dass der nationale Gedan- Deutschen also überwiegend das Opfer gewöhnt haben, der macht etwas Gefähr-
ke von den Nazis ruiniert wurde. ihrer Geschichte? liches. Und trotzdem muss es möglich sein,
Di Fabio: Diese besondere Vergangenheit Di Fabio: Mein Gesamttext ist nicht apolo- obwohl es wie eine Operation am offe-
ist gerade ein Grund dafür, Patriotismus getisch. Im Gegenteil. Ich sage ja selbst, nen Herzen scheint. Hier hat unsere Iden-
zu leben. Wer, wenn nicht wir, sollte denn dass man den Deutschen vorwerfen muss, tität eine schicksalhafte Prägung bekom-
historisches Haftungs- und Verantwor- dass sie sich haben belügen und betrügen men, der wir nicht entkommen können.
tungssubjekt für die Verbrechen der Na- lassen. Sie haben sich mit der Ausgrenzung Doch nur wenn wir dieses Deutschland,
zis sein? Wenn wir deshalb in Europa ihrer jüdischen Mitbürger wehr- und ehr- auch mit dieser Prägung, aktiv wollen, mit
aufgehen wollen, um dem zu entkom- los gemacht. Da beginnt ihre Schuld. positiven Energien, haben wir noch eine
Zukunft. Wenn wir es nicht
mehr wollen, wenn wir die Be-
jahung der Nation wegen der
NS-Verbrechen ganz ablehnen,
dann behält doch am Ende je-
ner vulgäre Dämon – Hitler –
Recht, der 1945 meinte, die-
ses Volk habe es verdient un-
terzugehen. Wer Patriotismus
abschaffen will, folgt unwillent-
lich der Logik dieser zerstöreri-
schen Wut.
SPIEGEL: Wir haben den Ein-
druck, dass „Die Kultur der
Freiheit“ – Ihr Buchtitel – die
Freiheit der Kultur eher ein-

HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES


schränkt, nämlich mit der
Verpflichtung auf bürgerliche
Werte und patriotische Vor-
sätze. Braucht Freiheit nicht
vielmehr den Mut zu mehr
Freiheit?
Di Fabio: Das freie Individuum,
das unser Grundgesetz mit dem
Begriff der Menschenwürde
meint und ehrt, hat nicht das
Recht, die Grundlagen der ei-
NSDAP-Reichsparteitag in Nürnberg (1938): „Schicksalhafte Prägung unserer Identität“ genen Freiheit – und damit die-
se selbst – zu zerstören. Freiheit
men, werden die übrigen Europäer sich SPIEGEL: Aber es klingt, als wäre auf der braucht die Erinnerung an die humanisti-
bedanken. Aber wir müssen uns auch einen Seite eine Verbrecherclique gewesen sche und freiheitliche Tradition, von der sie
daran erinnern, was die deutsche Ge- und auf der anderen Seite das von ihr miss- herkommt, sonst kennt sie sich selbst nicht.
schichte an großen Ideen und Erzäh- brauchte Volk. In Wahrheit war doch die Ich will ja nur, dass die Kultur wieder mehr
lungen bereithält, um mit ihnen die Zu- NS-Partei ein riesiger Apparat mit Hel- Richtung bekommt, und zwar vom Ge-
kunft zu meistern. Zukunftsbewältigung fershelfern in allen möglichen Institutio- danken der Freiheit her, der Menschen-
durch wiederaneignende Rückbesinnung – nen und gesellschaftlichen Bereichen. Da würde. Wer will, dass der Mensch frei ist,
das war doch schon das europäische greift der Gegensatz von Verführern und der muss auch dafür streiten, dass die kul-
Kulturmodell in der Renaissance, die die Verführten zu kurz. turellen Bedingungen dauerhaft so sind,
Antike wiederentdeckte. Wir Deutsche Di Fabio: Einverstanden. Ich meine nur, dass der Mensch frei leben kann – ohne die
müssen uns fragen: Wo kamen die Kraft- wir müssen für die Bewertung der Natio- Werte, über die wir diskutiert haben, kann
quellen her, etwa für die unglaubliche nalkultur unterscheiden zwischen Tragik er es nicht.
Blüte der deutschen Kultur im 18. und 19. und Schuld. Wie viele schuldig geworden SPIEGEL: Herr Professor Di Fabio, wir dan-
Jahrhundert? Selbst im wirtschaftlichen sind und wie viele selbst Opfer wurden, ken Ihnen für dieses Gespräch.
Kernbereich, wo man heute Patriotismus will ich nicht ausrechnen.
gar nicht mehr vermutet, spielt die Frage Wichtig ist: Nicht alle wur-
eine Rolle, ob auch ein Weltunternehmen den schuldig, nicht das Land
nicht eine starke Nationalkultur braucht, als solches wurde zum Ver-
um ein stabiles Standbein in der Welt brecher. Es wurde auch be-
zu haben, als Basis für seine globalen logen und verführt, es hat
Aktivitäten. auch eine Tragik. Ich mei-
SPIEGEL: Um die Identifikation mit den ne gewiss, wie viele andere
Vätern und Großvätern – Patriotismus auch, wir dürfen diese
kommt ja von „pater“, das heißt Vater – zu schreckliche Zeit nicht ver-
RAINER UNKEL

erleichtern, neigen Sie, scheint uns, in


Ihrem Buch dazu, die nationalsozialisti- * Mit den Redakteuren Mathias
sche Vergangenheit relativ milde zu beur- Schreiber, Martin Doerry, Dietmar
teilen. „Die Deutschen“, schreiben Sie Hipp. Di Fabio (2. v. l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ganz einfach“

62 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

„Blutschande“ – allein das Wort ist so


fürchterlich wie „Rassenschande“ – ist ein
STRAFJUSTIZ
Tabu, eines der allerletzten wahrscheinlich.

„Da hat es halt ausgehakt“


Wie ist es entstanden? Keine Wissenschaft
gibt überzeugende Antworten. Man weiß
mittlerweile, dass Abscheu vor sexuellen
Beziehungen Blutsverwandter nicht In-
Sex zwischen Bruder und Schwester wird in Deutschland bestraft. stinkt ist, sondern als kulturelle Norm er-
lernt wird. Und man weiß seit Ödipus, der
Nun steht ein Geschwisterpaar mit vier unwissentlich seinen Vater erschlug und die
gemeinsamen Kindern erneut vor Gericht. Von Gisela Friedrichsen Mutter heiratete, dass die Weltliteratur über
mehr als 2000 Jahre von dem
düsteren Thema fasziniert ist, zu
dem als heitere Variante die
Verwirrspiele verliebter Paare
gehören, die nicht wissen, dass
sie Geschwister sind.
Patrick und Susan entstam-
men derselben Familie. Doch
was heißt hier Familie? Der Va-
ter soll die Mutter misshandelt
und Patrick ein Messer an den
Hals gehalten haben. Längst hat
er sich verdrückt, ist nicht sess-
haft. Keiner weiß, wo er ist.
Die Mutter gebar ein Kind
nach dem anderen. Wie viele?
„Achte waren es wohl“, sagt
Susans Tante, „keine Ahnung.“
Sven, der Älteste, ist tot, ebenso
Johann. Nicole und Katja, ge-
storben offenbar an einem

ANJA JUNGNICKEL / BILD ZEITUNG


Herzfehler oder gleich nach der
Geburt. Patrick, der jetzt 28 ist,
kam zusammen mit Sven einst
ins Kinderheim, weil die Mutter
es nicht mehr schaffte mit den
vielen Geburten. Nach drei oder
vier Jahren kamen fremde Leute
Geschwister Susan, Patrick: „Na, ich wusste am Anfang gar nicht, wer das ist“ und holten Patrick. „Weil ich als
kleiner Bengel ganz süß aussah,

E
s ist verboten. Warum? Es ist eben Patrick und Susan aber sind ein deutsches haben die gesagt, wir nehmen den und
so, überall. Fast überall. Bei den Pto- Geschwisterpaar und dürfen daher nicht adoptieren ihn“, erzählte Patrick dem
lemäern – Kleopatra soll die Schwes- ungestraft miteinander schlafen. Der „Bei- Erfurter Journalisten Henry Bernhard, der
ter ihres Ehemanns gewesen sein – und schlaf zwischen Verwandten“ (Paragraf 173 ein Radiofeature über den Fall produzierte.
den alten Persern und den Griechen der Strafgesetzbuch) wird hierzulande mit Frei- Patrick hat daher einen anderen Nach-
Antike vor Solon sah man die Sache an- heitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld- namen als Susan, heute 21, und als Jan,
ders, verboten jedenfalls war die Geschwis- strafe belegt. Leibliche Geschwister müssen der der Jüngste und ein Halbbruder ist.
terliebe nicht. Bei den Römern, die in den mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Dazwischen gab es noch den schwerbe-
ersten zwei Jahrhunderten ihrer Herrschaft Geldstrafe rechnen. Straflos bleiben sie nur, hinderten André, der an Heiligabend 1998
in Ägypten die Geschwisterehe noch er- solange sie nicht 18 sind (oder wenn es etwa „an Schläuchen erstickt“ sein soll.
laubten, ging später nichts mehr. Priester Brüder miteinander tun, denn das ist nicht Patrick wuchs als Einziger in geordneten
allerdings gerieten zunehmend in Verruf. Beischlaf, sondern strafloser Analverkehr). Verhältnissen bei seinen kinderlosen Ad-
Papst Johannes XII., der 963 abgesetzt Wer das zu verstehen versucht, scheitert. optiveltern in Potsdam auf. Mit 18 wollte
wurde, soll es mit seiner Mutter und seinen der Junge zum Missfallen der Adoptiv-
Schwestern getrieben haben. Aber das war mutter wissen, wer seine leiblichen Eltern
Sünde und Sittenverfall und Ausschwei- sind. Das Jugendamt teilte ihm mit, dass
fung und hat nichts mit Patrick und Susan zumindest die Mutter noch lebt. Im Mai
aus Zwenkau bei Leipzig zu tun. 2000 rief sie ihn an, er fuhr gleich zu ihr:
Bei den meisten Völkern gilt Inzest seit je „Da haben wir uns halt kennen gelernt,
als abscheulich und oft auch als strafwürdig. wieder, nach 20 Jahren.“
CHRISTOPH BUSSE / TRANSIT

In den Ländern allerdings, die dem aufklä- Susan machte große Augen. Die Mutter
rerischen französischen Code Pénal folgten, hatte nie erzählt, dass es da noch einen
ist Inzest heute straflos, so in Belgien, den großen Bruder gibt.
Niederlanden, Luxemburg, Portugal, der Für Susan war er ein Fremder, ein net-
Türkei, Japan, Argentinien, Brasilien und ter allerdings. Auch Patrick staunte: „Na,
anderen lateinamerikanischen Staaten. Der ich wusste am Anfang gar nicht, wer das ist.
italienische Codice Penale bestraft Inzest Verteidiger Kuhne, Frömling Dass du noch soundsoviele Geschwister
nur, wenn öffentliches Ärgernis entsteht. Welches Rechtsgut soll geschützt werden? hast, dass du ’ne Schwester hast, dass das
64 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland

dein Halbbruder ist.“ Er zieht dorthin, wo auf die Verhütung mittels Kondomen. Als Verfolgt man die Kommentierung des Pa-
er meint, seine Wurzeln zu haben, „zu un- die Kondome ,ausgegangen‘ waren, vollzog ragrafen 173, stößt man auf allerlei Merk-
serer richtigen Mutter“. er mit seiner Schwester stets den unge- würdigkeiten. Im Leipziger Kommentar
Wenig später der Schock: Die Mutter schützten Geschlechtsverkehr.“ (Dabei bezweifelt Karlhans Dippel, „was eigentlich
stirbt, noch nicht mal 50 Jahre alt. „Ein kommt es dem Gesetzgeber darauf gar die Strafvorschrift rechtfertigt“, und plä-
halbes Jahr bloß hab ich Kontakt zu ihr nicht an, der ungeschützte Verkehr ist nicht diert dafür, sie zu streichen. Bei Trönd-
gehabt“, sagt Patrick. Was nun? Wie soll es verbotener als der mit Kondomen.) Dies- le/Fischer heißt es: „Eine Legitimation der
weitergehen? mal wurde die Strafe für Patrick – zehn Strafdrohung fällt schwer.“ Vor allem die
Patrick ist plötzlich eine Art Familien- Monate – nicht mehr zur Bewährung aus- Frage, welches Rechtsgut durch die Vor-
oberhaupt. Kein Geld, kein Beruf, Arbeit gesetzt, weil er sich das erste Urteil ja nicht schrift eigentlich geschützt werden soll,
sowieso nicht, dazu die jüngeren Geschwis- zur Warnung hatte dienen lassen. plagt fast alle Kommentatoren.
ter. Susan, damals 16, ein zar- Sex zwischen Bruder und
tes, einfältiges Blümchen, Schwester mag der eine für
macht keinen Schritt ohne unmoralisch, degoutant oder
ihn, den sieben Jahre älteren unappetitlich halten. Der an-
Bruder, auch wenn sie ihn dere stößt sich an Partner-
kaum kennt. Er ist für sie der tausch oder Sodomie oder
einzige Halt. Und sie wohl einer anderen Geschmacks-
auch für ihn. verirrung. Homosexualität,
Mit dem Lesen und Schrei- auch mal ein Tabu und bis
ben hat sie es nicht, mit dem 1969 noch mit Strafe belegt,
Verstehen noch viel weniger. ist längst gesellschaftsfähig.
An einer Fördermaßnahme Selbst die im Volksglauben
der Agentur für Arbeit wurzelnde Furcht vor gene-
(„Jump plus“) nahm sie nur tisch-biologischer Schädigung
sporadisch teil, gut gemeint, der Nachkommenschaft hat
aber vergebens. die naturwissenschaftliche
Susan und Patrick haben Forschung schon zu Beginn
vier Kinder miteinander. 2001 des 20. Jahrhunderts relati-
kam Erik, dann 2003 Sahra, viert. Einen Beweis dafür,

THOMAS PURWIN / BILD ZEITUNG


2004 Nancy und 2005 Sofia. dass Inzest-Kinder von Eltern,
Er liebe Susan halt, sagte Pa- deren Erbanlagen gesund
trick unbeholfen, als er erst- sind, kränker seien oder eher
mals vor Gericht stand. Der geistig behindert als Kinder
Rundfunkreporter Bernhard Nicht-Verwandter, gibt es
lockte mehr aus ihm heraus: nicht. Zwei der Kinder von
„Anscheinend bin ich selber Patrick und Susan sind völlig
nervlich nicht klargekommen, Angeklagte Susan, Baby Sofia: „Sie wollte nur eines – Mutter sein“ gesund, eines ist in der Ent-
und dann hat es irgendwo aus- wicklung noch etwas hinten-
gehakt bei mir, dass es dann halt dazu ge- Bei Susan wandte das Gericht Jugend- dran. Der Erstgeborene soll an Epilepsie
kommen ist. Weil ich halt selber nicht so di- strafrecht an, „weil bei der Angeklagten leiden. Doch ob das daran liegt, dass seine
rekt wusste, was ich da mache. Es ist ja, wie zum Tatzeitpunkt erhebliche Retardierun- Eltern Geschwister sind, oder ob das Kind
wenn jemand betrunken ist und am nächs- gen im sittlichen und geistigen Bereich vor- dessen ungeachtet an Epilepsie leidet, steht
ten Morgen nicht mehr weiß, was Phase lagen“, und stellte sie für sechs Monate un- dahin.
war. Ich wusste nicht, dass es strafbar ist. ter die Aufsicht eines Betreuungshelfers, Am deutlichsten wird der große Rechts-
Ich wusste zwar, dass es verboten ist, dass „mit dem Ziel, die Angeklagte in ihrer Per- lehrer Claus Roxin: „Der ,Verwandtenbei-
man aber dafür ins Gefängnis muss, habe sönlichkeit zu stärken und gegenüber schlaf‘ verstößt zwar gegen ein in unserem
ich nicht gewusst.“ Er wollte, nachdem er ihrem Bruder zu einer autarken Lebens- Kulturkreis seit unvordenklichen Zeiten
seine Wurzeln gefunden hatte, auch Wur- weise anzuhalten“. Schön gesagt, bravo. überliefertes Tabu, aber wer oder was da-
zeln schlagen. Kurz bevor Patrick die Haft antrat (und durch geschädigt wird, ist unklar.“ Ehe-
2002 wurde er in Borna wegen 16 Fäl- sich sterilisieren ließ), zeugte er Sofia. brecherisches Verhalten, so Roxin, könne
len des Beischlafs mit seiner Schwester zu Dieses letzte Kind durfte Susan auf Be- ebenso familienzerstörende Wirkung ha-
einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf treiben der Anwälte Joachim Frömling und ben wie Inzest und sei doch nicht strafbar.
Bewährung verurteilt. Da ihm kein An- Sven Kuhne behalten. Frömling: „Sie will Auch der Hinweis auf mögliche Erbschä-
walt beigeordnet war, hatte er viel zu viel nur eines – Mutter sein. Deshalb war es digungen liefere kein tragfähiges Argu-
dahingeredet. Susan, noch nicht volljäh- grundfalsch, ihr die Babys nach der Ge- ment, da „ein solches Kind im Regelfall
rig, blieb straffrei. Das Baby Erik kam in burt gleich wegzunehmen. Dadurch wurde genetisch nicht geschädigt ist und weil die
eine Pflegefamilie. Patrick: „Da wird dir der Kinderwunsch ja nicht beseitigt, son- Verhinderung erbkranken Nachwuchses
irgendetwas aus dem Leben gerissen, dern sie wurde sofort wieder schwanger.“ auch im Übrigen von unserer Rechtsord-
was man halt irgendwo lieben tut. Das Zurzeit sitzt Patrick im Gefängnis. Am nung nicht mit strafrechtlichen Mitteln er-
ist so, als wenn man einem ein Bein ab- 10. November steht der dritte Prozess an, strebt wird“.
hackt. So ist das.“ diesmal vor dem Amtsgericht Leipzig. We- Wie ist das Problem Patricks und Susans
Zwei Jahre und zwei weitere Kinder spä- gen Sofia. Die Verteidiger machen sich und also zu lösen? Gewiss nicht durch eine star-
ter standen Patrick und Susan 2004 erneut ihren Mandanten nichts vor. re Haltung von Amtsrichtern, denen der
vor dem Bornaer Amtsgericht. Das Urteil Es ist ein Extremfall, der nicht besorgen Mut fehlt, den Fall dem Bundesverfas-
brandmarkte ihn nun als besonders gewis- lässt, dass in jeder zweiten Familie Ähnli- sungsgericht vorzulegen. „Die große Lie-
senlos: „Nur am Anfang der sexuellen Be- ches geschieht. Denn Geschwister, die zu- be“, sagt Verteidiger Frömling, „ist es wohl
ziehung zwischen dem Angeklagten und sammen aufwachsen, haben in der Regel nicht. Mit Hilfe lässt sich vermutlich was er-
seiner Schwester achtete der Angeklagte keinerlei sexuelles Interesse aneinander. reichen, aber gewiss nicht mit Strafe.“ ™
66 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Szene Gesellschaft
Was war da los,
Herr Zhan?
Der chinesische Künstler Zhan Wang,
42, über Kunst mit Kücheninventar

„Eine Woche habe ich gebraucht, um


die Londoner Skyline aus über tausend
Töpfen und Pfannen nachzubauen.
Das Zentrum meines 30 Quadratmeter
großen Werks bildet das Riesenrad
London Eye, bei mir eine große Salat-
schleuder. Etwas links davon steht eine
Suppenterrine, die St. Paul’s Cathedral,
im Vordergrund der Millennium Dome
als Sieb. Meine Arbeit ist Teil der Wan-
derausstellung ,Urban Landscape‘, die
gerade in London zu sehen ist. Als Ers-
tes hatte ich meine Heimatstadt Peking
gebaut. Ich wollte etwas machen, das
sich mit dem rasanten Bauboom in
China befasst. Man baut und kauft dort
ALASTAIR GRANT / AP

Häuser wie andere Leute Schüsseln


oder Töpfe. Zum Glück gibt es Interes-
senten, ich wüsste sonst gar nicht wo-
hin mit den Schüsseln.“

Zhan

ZEITGESCHICHTE müden Gesichtern plötzlich das Erlebte COMPUTER


sichtbar wird, das Leid, die Trauer, die
Stumme Trauer Freude. „Die Gesichter verändern sich
mit den Orten“, sagt Mühlhaus. „Das
Oma zockt noch
S ie stehen am Meer oder blicken auf
Gräber, sie sind in ihrer alten Uni-
form gekommen oder in Häftlingsklei-
Augenmerk liegt auf den Häftlingen –
nicht auf den Veranstaltungen, nicht auf
den Politikern.“ Für seine Schwarz-
D er typische Computerspieler ist
männlich und geht noch zur Schule
– so jedenfalls lautet das gängige
dung, manche freuen sich, Bekannte zu weißporträts hat er ehemalige Soldaten Vorurteil. Offenbar aber ist die wahre
treffen, einige salutieren stumm: Für die und ehemalige KZ-Häftlinge oft tage- Kundschaft der Spielehersteller deutlich
Überlebenden des Zweiten Weltkriegs lang begleitet. Er habe viel über den älter: Nach Zahlen der amerikanischen
waren die Veranstaltungen zum 60. Jah- Zusammenhalt der inzwischen 80- bis Entertainment Software Association hat
restag der Befreiung im Mai die wahr- 90-Jährigen begriffen, sagt Mühlhaus, der typische Computerspieler bereits
scheinlich letzte Gelegenheit, unter den 31, und über die Bedeutung, die die 9,5 Jahre Daddelerfahrung, sein Durch-
Augen einer großen Öffentlichkeit über Opferorganisationen für die Über- schnittsalter liegt bei 30 Jahren. 19 Pro-
ihre Erlebnisse zu sprechen. Beinahe lebenden haben – und er habe „viel zent aller Amerikaner über 50 Jahre
ein Jahr lang hat der Fotograf Mark geheult“ in diesem Jahr: „Das Thema spielen regelmäßig am PC, der Frau-
Mühlhaus, Mitglied des hannoverschen hört nie auf, emotional zu sein.“ enanteil liegt bei mehr als 40 Prozent.
Fotografenkollektivs „atten- Besonders beliebt bei Frauen sind Spie-
zione photographers“, ehe- le, die nicht erst aufwendig auf dem PC
malige KZ-Insassen und Vete- installiert werden müssen, sondern die
ranen der alliierten Armeen sich schnell und unkompliziert online
begleitet, sie in Auschwitz und daddeln lassen. „Mah Jong Quest“ oder
Buchenwald, Ravensbrück „Wheel of Fortune“ aus dem Online-
und Wöbbelin, Berlin und am Angebot von Microsoft werden zu fast
Strand der Normandie beob- 70 Prozent von Frauen gespielt, die
achtet, um jenen Moment zu Hälfte davon ist älter als 35 Jahre. Manch
erhaschen, wo in den alten, eine Oma zockt auch weniger harmlose
Spiele: Die „Business Week“ stellte
MARK MÜHLHAUS

„Begegnungen. Bildband 60. Jahrestag der jetzt eine 69-Jährige vor, die sich in die
Befreiung vom deutschen Faschismus.“ Top-Level von „God of War“ empor-
Herausgegeben von der Arbeitsstelle
Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG), gemetzelt hat und seither den Ehrentitel
Braunschweig; 116 Seiten; 12 Euro. Ehemalige Häftlinge in KZ-Gedenkstätte Nordhausen „Old Grandma Hardcore“ trägt.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 69
Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Mit Roger Coenen traf sie sich
wöchentlich zur Fahrstunde und ab und

Die Frau am Steuer


an zu einer Prüfung. Mal übersah sie
eine Ampel, mal vergaß sie den Schul-
terblick, manchmal fuhr sie zu schnell,
häufig war sie zu langsam. Coenen
Warum eine Britin 33 Jahre für ihren Führerschein brauchte schimpfte nie. 19 Jahre verbrachten sie
zusammen, sie wurden Freunde, Venida

D
as Dokument, mit dem sich Ve- lernte: einiges über Autos, viel über sich begann, sich auf ihre regelmäßigen Aus-
nida Crabtree den Traum ihres selbst. Schuld, sagt sie, sind nie die an- flüge mit Coenen zu freuen. Die Fahr-
Lebens erfüllt hat, ist ungefähr deren. Schuld ist man immer selbst. schule wurde Teil ihres Lebens.
so groß wie ein deutscher Personalaus- Und: Wenn man etwas wirklich will, „Ich bin eine gute Autofahrerin, je-
weis und steckt in einer Klarsichthülle: kann man es auch schaffen. denfalls sagen das mein Fahrlehrer und
Führerschein Nummer D 0929170, aus- Je länger es dauerte, desto entschlos- meine Prüfer“, sagt Crabtree. „Sie ist
gestellt auf den Namen Venida Agatha sener wurde sie. „Ich wollte den Füh- eine ganz ordentliche Fahrerin“, sagt
Crabtree, erworben an einem makello- rerschein. Ich wollte nicht, dass die Leu- Coenen, inzwischen kurz vor der Ren-
sen Mittwoch im Sommer dieses Jahres. te mich bemitleiden, weil ich aufgebe.“ te, es klingt vorsichtiger, diplomatischer.
Rund 2000 Fahrstunden stecken in Irgendwann hörte sie von Roger Coe- „Gut“ oder „ganz ordentlich“ – vielleicht
diesem Führerschein und 33 Lebens- nen. Er ist ein freundlicher, höflicher macht das den ganzen Unterschied.
jahre, gekostet hat er am Ende 27 000 Mann, der unter Fahrschülern als zu- Dann kam der 6. Juli 2005. Am Mor-
Pfund, vielleicht auch mehr, so leicht rückhaltend galt und als äußerst geduldig. gen hatte Venida meditiert. „Beruhige
lässt sich das nicht mehr feststellen; Er wurde ihr Fahrlehrer Nummer sieben. dich“, wiederholte sie immer wieder,
umgerechnet sind das etwa „konzentriere dich.“ Sie ver-
40 000 Euro. suchte, sich das Auto vorzustel-
Es ist, vermutlich, die teuerste len, das Lenkrad, all die ver-
Fahrerlaubnis der Welt. dammten Knöpfe.
Venida Crabtree, 1955 auf St. Dann betete sie. „Mach, dass
Vincent in Westindien geboren, der Prüfer mein Freund ist, nicht
sitzt auf der Terrasse ihres klei- mein Feind.“
nen Reihenhauses im Oxforder Es war ein herrlicher Tag. Sie
Stadtteil Cowley und hält ihren kannte den Prüfer schon, weil
Führerschein in der Hand. Sie sie bei ihm schon einmal durch-
arbeitet als Masseurin, ihr Mann gefallen war, die beiden plau-
Ralph fährt für UPS Pakete aus, derten, er versuchte, ihr Mut zu
MIRRORPIX / BULLS PRESS
27 000 Pfund sind für die beiden machen. Die Sonne schien. Zum
ein Vermögen. Es sei nie eine ersten Mal seit langer Zeit fühl-
Frage des Geldes gewesen, sagt te sie sich gut.
Venida. Es gehe darum, nicht „Sei ganz du selbst“, hatte ihr
aufzugeben. Niemals. Mann am Morgen gesagt. „Ent-
Venida war 17, als sie ihre Crabtree spann dich. Genieß es.“
allererste Fahrstunde nahm. Als die 45 Minuten endlich
Pünktlich zum 18. Geburtstag, um waren, hatte der Prüfer 15
hoffte sie, würde sie den Füh- Schnitzer notiert, nur einen we-
rerschein in Händen halten. niger als erlaubt, aber keinen
Das war 1972. Richard Nixon groben Verstoß. Venida hatte
wurde zum Präsidenten Ameri- bestanden.
kas wiedergewählt, in München „Ich wusste, dass du es schaf-
trafen sich die Sportler zu den fen würdest“, rief Coenen, als
Olympischen Sommerspielen, sie sich ihm in die Arme warf.
Atari präsentierte das erste Vi- Aus der „Süddeutschen Zeitung“ „Entschuldige, dass ich dich so
deospiel der Welt. Bei der ersten oft enttäuscht habe“, stammelte
Prüfung fiel Venida glatt durch. Sie ist In Großbritannien regierte inzwi- Crabtree, lachend, Tränen in den Au-
ein nervöser Typ, und wenn sie einen schen Margaret Thatcher, der amerika- gen. Dann umarmte sie den Prüfer.
Fehler macht, wird sie noch nervöser. nische Präsident hieß Ronald Reagan, „Gott schütze dich, Simon.“
Außerdem hasst sie Prüfungen. die Welt hatte sich verändert. Venida „Es war eine Riesenerleichterung“,
Natürlich machte sie weiter. Venida war, im Großen und Ganzen, dieselbe sagt sie und schiebt den Führerschein
fährt gern, aber ihr fehlte, so scheint es, geblieben. Sicher: Sie hatte geheiratet vorsichtig in die Hülle zurück, „wie ein
mitunter das Gefühl fürs Auto, für den und war wieder geschieden worden, Gewicht, das endlich von meinen Schul-
Verkehr. Mal jagte sie den Wagen der- sie hatte anfangs in einem Krankenhaus tern genommen wurde – und von denen
art schnell über ein paar Bodenschwel- gearbeitet und später eine Ausbildung meines Fahrlehrers. Und von denen
len, dass es schepperte; mal nahm sie zur Masseurin absolviert. Aber sie war meines Mannes.“
eine Kurve so rasant, dass selbst der noch immer aufgeregt, wenn sie zu Sie hat sich inzwischen einen Dae-
Fahrlehrer erschrak. dem Prüfer in den Wagen stieg – und woo gekauft, fünf Jahre alt, kirschrot.
Jahre vergingen. Venida wechselte sie hatte noch immer keinen Führer- Die Fahrstunden vermisst sie jetzt
ein paar Mal die Fahrschule, aber sie schein. schon. Hauke Goos

70 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Gesellschaft

GENUSS

Im Rausch der Enzyme


Sie sind fruchtig, weich, gefällig – und dürfen mit Methoden produziert werden, die in Europa
verboten sind. Weine aus Übersee drängen auf den hiesigen Markt, Winzer streiten um die
Globalisierung des Geschmacks: Soll man auf Anpassung setzen? Oder auf Tradition? Von Barbara Supp

N
achts ist es kalt hier oben, tagsüber Mancher in der Branche kriegt einen durch Bentonit. Löwenstein ist gegen den
sonnig, das ist gut, die Trauben sol- starren Blick, spricht man vom Winninger Zusatz von Enzymen und lässt den Wein
len noch hängen, bis November Weingut Heymann-Löwenstein: Dort wirkt ausschließlich mit seinen eigenen wilden
wäre am besten. Milder Herbst hier oben dieser Quertreiber, der Querulant. Hefen gären, die auf den Trauben sitzen
in den Schieferterrassen, wo der Winninger Löwenstein ist dagegen, dass man den und im Keller nisten. Er lehnt die üblichen,
Röttgen wächst, Reinhard Löwenstein Most konzentriert, dass man ihm Wasser im Versand erhältlichen Reinzuchthefen ab
stapft durch seine Steillage, bröselt braun- entzieht. Löwenstein ist gegen Mostklärung und schwitzt dafür Sommernächte durch:
gelben Schiefer in den Fingern, hundert
Meter hoch über dem Dorf an der Mosel,
in dem er zu Hause ist und das er mit 17
fluchtartig verließ.
Unten in Winningen ist noch Saison, im
„Moselstübchen“ trinken gutgelaunte Tou-
risten, Herbstsaison, bald kommt der Wein
in die Tanks. Vom Landwirtschaftsministe-
rium Rheinland-Pfalz ist per Aushang zu
erfahren, dass die Winzer ihre „önologi-
schen Verfahren“ zu melden haben, den
„Besitz an Anreicherungsmitteln“, die „Er-
höhung des Alkoholgehalts“, die „Entsäue-
rung“, die „Entsüßung“ ihres Weins.
Reinhard Löwenstein zupft am Riesling,
kostet, von wegen Entsäuerung, von wegen
Entsüßung, bis zu zwölf Meter tief wur-
zeln die Reben und zapfen sich ihren
Geschmack. Pfirsich, Quitte, Honigmelone,
später Nougat, Schokolade, er will mit
der Lese warten, will, dass der Wein sich
holt, was er kriegen kann, vom Boden,
vom Terroir. Ist ja ständig seine Rede:
Terroir.
Er hat ein Manifest verfasst, das für Auf-
regung sorgte in der Branche, ein „Mani-
fest der Terroiristen“. Hat die „Infantili-
sierung“ des Geschmacks beklagt, der den
Wein heute fruchtig wolle wie „Erdbeer-
marmelade oder Schokoladensirup“, hat
die Sucht nach Massenwein verflucht und
das deutsche Gesetz, das die Weinqualität
nach „Öchslegraden“, also nach dem
Zuckergehalt, bemisst. Und spricht von
Terroir, immer wieder Terroir.
Meint seinen Schiefer, den er vom Bo-
den klaubt und in den Händen bröselt,
graublau, dunkelbraun, sogar schwarz ist
der manchmal, mit blauen Reflexen, glän-
zend, „als habe die Sonne das Öl heraus-
gekocht“, sagt Löwenstein.
Der Boden, das Klima, die Witterung:
Sie sollen bestimmen, wie der Wein später
schmecken wird. Und nicht Technik, die
alles bestimmt.

Winzerpaar Heymann-Löwenstein
„Infantilisierung des Geschmacks“
72
Arbeiten sie jetzt endlich, die Hefen? Oder
tun sie es nicht?
Es gibt wahre Weine, findet er, und Fran-
kenstein-Weine, und es sieht so aus, als ob
die Fraktion der Frankensteins zurzeit auf
dem Vormarsch sei.
Löwenstein hat alte Ideen, er will zu-
rück. Und er fürchtet nicht den Streit.
Den Streit um das, was man unter Fort-
schritt versteht in der Neuen Welt: dass
man den Wein mit Holzspänen, mit Tan-
nin, mit Wasser versetzen darf, dass man
ihn mit einer Maschine namens „Spin-
ning Cone Column“ in seine Bestandteile
zerlegt und wieder zusammenbaut, nach
Bedarf.
Es geht darum, dass die Globalisierung

TERRY O'ROURKE
den Wein erreicht hat wie Kleinwagen,
Zahnbürsten und Bluejeans. Und wie ist
zu reagieren auf diese Globalisierung? Was
soll man mit dem Wein anstellen dürfen, Traubenverarbeitung in Kalifornien: Globalisiert wie Zahnbürsten und Bluejeans

damit er gefällig dem Geschmack der Welt von dort. Sie hat dort „wunderbare Weine
genügt? Und wird das, was dabei heraus- getrunken“ und zwei Jahre im Sonoma
kommt, noch den Namen Wein verdienen? County gearbeitet, als Labordirektorin bei
Auslöser für den Streit ist ein neues Han- einem der Großproduzenten. Sie war vor
delsabkommen zwischen der EU und den kurzem erst wieder mit ihren Weinbau-
USA. Es hat Verbände und Weintrinker, studenten in Kalifornien, um die wuchti-
Winzerstammtische und Forscher entzweit, gen, fruchtigen Tropfen zu kosten und um
und an ihrem Schreibtisch im hessischen Techniken zu besichtigen, die man hier
Geisenheim sitzt Monika Christmann, Do- nicht anwenden darf. Noch nicht jedenfalls.
zentin für Kellerwirtschaft, Sachverstän- Aber sie probieren es schon mal aus. Ei-
dige in der OIV, der „Organisation inter- chenchips beispielsweise, die Versuche da-
nationale de la vigne et du vin“, und lächelt mit laufen seit Jahren. Aber auch die Spin-
wissend. ning Cone Column hatten sie schon hier,
Es ist die OIV, die normalerweise die um sie zu testen, jene Maschine, mit der
Regeln bestimmt und die Grenzen dafür man Wein in seine Bestandteile zerlegen
setzt, wie der Wein zu behandeln sei. Doch kann – Alkohol, Wasser und Aromen – und
die USA haben die OIV verlassen und wieder neu zusammensetzen. In den USA
halten sich nicht mehr an deren Regeln, ist das erlaubt.
seitdem müssen einzelne Abkommen ge- Ist das die Zukunft? Muss es so kom-
troffen werden. men?
Provisorisch hatte man sich zwischen der
EU und den USA geeinigt, hatte den Ame-
rikanern manches erlaubt, wie die Eichen- Man kann den Wein zerlegen
chips, anderes, wie die Spinning Cone Co- und nach Belieben wieder
lumn, zu Deutsch Schleuderkegel-Kolonne, zusammenbauen. Soll man es tun?
verboten. Doch nun verlangt Washington
ein Abkommen, das von Dauer sein soll.
Das liegt jetzt vor, paraphiert von der EU- Sie lächelt. „Ich weiß, die Europäer ha-
Kommission im September. Ende Novem- ben Angst“, sagt sie.
ber soll der EU-Ministerrat entscheiden. Die Europäer denken an alte Zeiten, als
Es sieht aus wie Spielzeug, was Monika man den Rhein-Riesling schiffsweise in
Christmann in den Händen knetet, oder Großpartien nach England schickte, Chris-
wie diese Weizenkissen, die man zum tie’s hatte ihn schon 1767 im Versteige-
Frühstück isst. Eichenchips. Man gibt sie rungsprogramm, und Königin Victoria, im
dem Wein zu, damit er nach Vanille, nach 19. Jahrhundert, trank am liebsten deut-
Schokolade schmeckt, so, als hätte er lan- schen Wein. Früher war der teurer als ein
ge im Barrique-Fass aus Eiche gelegen, in Bordeaux. Sehr lange ist das her.
Übersee machen sie das seit Jahren schon. Jetzt sind wieder die Erntehelfer
Im hessischen Geisenheim, Fachbereich draußen in den Weinbergen der Versuchs-
Kellerwirtschaft, sitzt Monika Christmann anstalt, den Wein wird man pressen und
und träumt von Kalifornien, das jedenfalls vergären und zerlegen und beforschen und
sagt das Plakat über ihrem Schreibtisch, zu Versuchszwecken behandeln, wie ver-
Weinstöcke zeigt es in warmem Gegen- trägt er welche Zuchthefe? Welches En-
MATTHIAS JUNG / LAIF

licht, sagt „California. Dream on“. zym?


Sie spricht nicht schlecht über Kalifor- Monika Christmann ist kein träumeri-
nien, auch wenn sich manche in ihrer Bran- scher Mensch, eher energisch, sie ist Mitte
che zurzeit so anstellen, als käme alles Böse vierzig und Neuem gegenüber aufge-
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 73
Gesellschaft

Arjen Pen sagt, er habe davon durch ei-


nen Berater erfahren, einen der Großen in
der „Flying Winemaker“-Branche, dass das
Château zu haben sei, die Besitzer konn-
ten es nicht halten, gescheitert an der Kri-
se im Bordeaux.
Zehn Hektar, hauptsächlich Cabernet
Franc und Merlot, keines der ganz großen
Güter, aber mit Potential. Es gehört zu
Fronsac, das ist eine Appellation am rech-
ten Ufer der Dordogne, eine kleine Schwes-
ter des berühmten St. Emilion.
Guter Name, Château Richelieu. Gute
Marke auch.
Arjen Pen, Geschäftsführer der von ihm
gegründeten Firma WECM, „Wine Estate
Capital Management“, hatte drei Monate
Zeit, Investoren zu finden, und hat es ge-
schafft. Jetzt ist er Teilbesitzer von Château
Richelieu, einer von 20 Aktionären. Früher
war er Marketingchef bei der Lufthansa.
Jetzt geht er davon aus, dass er sein Geld
mit Wein verdient.
Geld verdienen, Mijnheer Pen? Jetzt, in
der Krise, mit Bordeaux-Wein Geld ver-
dienen?

SCHULZ / IMAGO
„Château Misère“, schreiben die Zei-
tungen; für die Spitzengewächse, früher
flaschenweise Geldanlage, gibt es diesen
Weinverkauf in deutschem Supermarkt: Große Nachfrage bei Ein-Euro-Weinen Markt nicht mehr, und auch der schlichte
AOC aus Bordeaux, der teurer ist als der
schlossen, ihre Dissertation schrieb sie über mit leichtem Rudi-Carrell-Akzent, freut Rote aus Chile, Australien, Argentinien
„Veränderungen von Inhaltsstoffen unter sich, kostet, freut sich, schluckt, lächelt, und oft nicht gut genug für das Geld, auch
besonderer Berücksichtigung der Weinaro- „die Richtung stimmt.“ der hat seinen Ruf verloren. Die sechs Pro-
men bei der Entalkoholisierung von Wei- Er sagt, dass im Dorf keiner gewusst zent Rendite, die Sie versprechen, ist das
nen mit kombinierter Dialyse-Vakuumdes- habe, dass Château Richelieu zu verkaufen nicht kühn?
tillation“, also über das Thema: Schmeckt war, dieses Weingut mit wuchtigem Land- Arjen Pen führt durch Reben und ein
alkoholfreier Wein wie Wein? Eher nicht. haus aus dem 16. Jahrhundert, das sich Gemäuer mit hohen Fenstern und Simsen
Einmal spricht sie von ihrem „bluten- Kardinal Richelieu, Herzog von Fronsac, und Stuck, das er jetzt renovieren lässt,
den Herzen“, angesichts dieser Eichen- im 17. Jahrhundert umbauen ließ für sich und erzählt von dem Leben, das er als Mar-
chips, „ich mag ja Barrique“, sagt sie, aber und seine Geliebte, seine Favoritin, wie es ketingchef bei der Lufthansa, bei Crossair
man muss forschen, Forschung heißt: Wei- der Legende nach heißt. hinter sich ließ. Als er mit Wein eher dann
termachen, Forschung kann nicht sagen:
So, wie es ist, ist es gut.
Geisenheim ist die wichtigste Wein-For- Ist es ein Kompliment, wenn
schungsanstalt der Republik. Man erwartet, ein Wein nach „scharf gerittenem
dass sie den Wein voranbringt, der Globa- Damensattel“ schmeckt?
lisierung zu begegnen. Man muss eben,
sagt sie, „die Dinge verändern. Und Win-
zer haben ja ein Beharrungsvermögen be- zu tun hatte, wenn es in der ersten Klasse
sonderer Art“. Klagen gab.
Die Marke Swiss hat er mitaufgebaut,

M anche allerdings ändern schon alles –


sich, ihr Weingut und ihren Wein.
Der Winzer Arjen Pen tut das im Bordelais,
als Crossair Reste der Swissair übernahm,
und stieg aus, als ein neuer Chef neue
Ideen ersann, er ging, suchte sich ein neu-
im Château Richelieu, er hat neue Ideen, es Leben und die Finanzierung dafür.
er will nach vorn. Pen erfand die Firma WECM und setz-
„Das ist doch erstaunlich dunkel“, sagt te darauf, dass Wein eine Ware besonderer
Pen, auf einem Eichenfass stehend und ein Art sei, für die sich nicht nur schnöde Trin-
Glasrohr aus einem Spundloch ziehend, ker und kühle Geldanleger interessieren.
den Inhalt musternd, mehr zu sich selbst. Sondern auch eine spezielle Art Mensch,
Ein blonder junger Mann aus den Nie- der Abende und Nächte damit verbringen
derlanden, 35-jährig, steigt von seinem Fass kann, über das grasige Bukett des Sauvi-
und füllt Gläser, die Cuvée La Favorite gnon zu diskutieren oder über die Frage,
2004 von Château Richelieu, seit elf Mo- ob es ein Kompliment sei, wenn ein Wein
B. ROSELIEB

naten jetzt im Barrique, fruchtig, dicht, er- laut Kritikermeinung nach „scharf geritte-
staunlich trinkbar schon. Das ist kein Bor- nem Damensattel“ schmecke.
deaux, wie man ihn von früher kennt. Wein-Forscherin Christmann Solche brauchte er, und solche hat er
„Sehr sssön“, sagt Arjen Pen auf Deutsch, „Die Europäer haben Angst“ gefunden, sie sind Anwälte, Notare, Che-
74 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
ben, dass dieser Wein in sich eine Span-
nung berge wie die zwischen den Muske-
tieren und dem Kardinal.
Pen prüft, und im Nebenzimmer stri-
chelt eine Grafikerin ein Château-Etikett,
fein, sehr fein, und dann grellbunt einen
Papagei. So sind die Aufträge heute. So
müssen Aufkleber aussehen, die Leute
wollen Marken, die sie sich merken kön-
nen. Und im Hintergrund steht der Ge-
schäftsführer der Firma und seufzt und
schaut auf die modernen Etiketten, les
jeunes, seufzt er, die Jungen, die verstehen
komplizierte Wörter wie „Premier Grand
Cru Classé“ nicht mehr. Und „sucré,
sucré“ wollen sie die Weine, er schüttelt
sich, aber was soll man machen? Globali-
sierung.
Verstohlen streicht er über eine altmo-
dische Flasche Bordeaux.

D ie Franzosen“, sagt düster Rudolf Ni-


ckenig und nimmt einen Schluck
2003er Silvaner aus der Bocksbeutelfla-
sche, „die sind weichgekocht. Und die Ka-

SHENG HUA / DPA


lifornier jubilieren.“
Man sitzt im Würzburger „Haus des
Frankenweins“, Rudolf Nickenig, Chef des
Deutschen Weinbauverbands, referiert vor
Weinlese in der chinesischen Provinz Shanxi: Hilfe aus Australien fränkischen Funktionären über das Han-
delsabkommen zwischen Europa und
miker, sind Aktionäre, die nicht dringend drei Musketieren stritt, und so trifft man Amerika.
auf Geld angewiesen sind. Die sechs Pro- Pen am nächsten Tag, über eine Grafik ge- Frankreich war sich nicht einig in der
zent Rendite – das sind zwölf mal zwölf beugt, die drei Degen zeigt, bei einer Fir- Ablehnung, Frankreich mit seinen Export-
Flaschen „La Favorite“ für jeden und das ma in Libourne. Die entwirft ihm seine Eti- problemen, also kam von dort die Forde-
Recht auf drei Wochen Urlaub im Château. ketten: für seine Spitzencuvée „La Favo- rung: Besser irgendein Abkommen als kei-
Trotzdem. Er muss Geld verdienen und rite“, für den „Château Richelieu“ und für nes. Die Deutschen mochten den Ver-
versteht mehr vom Marketing als vom seinen Drittwein, er heißt „Trois Muske- tragsentwurf nicht recht. Aber das wird
Wein. teers“. Er hat diesen Sprachmix für die nichts nützen.
Wissen gibt es zu kaufen, seines kommt US-Kundschaft erfunden – das klingt ein Tannin, Wasser, die Fraktioniermaschi-
von seinem Berater Stéphane Derenon- bisschen französisch und doch wieder nicht ne, die Spinning Cone, was immer das US-
court. Der hilft Pens jungem Kellermeister so fremd. Auf die Rückseite wird er schrei- Gesetz den Winzern erlaubt: Alles werden
sie dürfen und das Ergebnis exportieren.
Die EU-Minister werden zustimmen Ende
Die Leute wollen Marken, die sie November, Rudolf Nickenig, geübter Lob-
sich merken können. Nicht große byist und EU-erfahren, befürchtet es sehr.
Wörter, die sie nicht verstehen. Und wenn der Vertrag geschlossen ist,
dann kommt die WTO. Denn die Welt-
handelsorganisation sagt: Was ihr einem
durch das Jahr, kennt die Technik, kennt unserer Mitglieder zugesteht, das müsst ihr
den Geschmack, der gefragt ist. Kennt auch allen zugestehen. Also auch Chile, Süd-
Robert Parker, jenen Weinkritiker, auf den afrika, Argentinien, wer immer diesen An-
Amerika hört und die halbe Welt. spruch stellt.
Parker liebt es fruchtig, süffig, schwer. Und dann? „Der Druck wird zuneh-
Derenoncourt weiß das und weiß auch, men“, sagt Nickenig mit Sorgenfalten, und
wann Parker in Bordeaux zu finden ist. Er gedankenvoll nicken die fränkischen Funk-
brachte ihm Kostproben seiner Klienten, tionäre. „Sie werden sagen: Und wir? War-
„La Favorite“ von 2003 bekam 88 bis 90 um wir nicht?“
Punkte und die Vokabeln „fleischig, süß, Sie treiben ihre Marktforschung und
verführerisch“, das ist nicht schlecht. kennen die Zahlen, kennen den Verbrau-
„Dass er ihn überhaupt getestet hat“, cher. Er kauft gern das, was die Großpro-
sagt Pen, „schon das ist ein Erfolg.“ duzenten ihm als Markenwein in die Regale
Der Markt will fruchtige Weine. Der schicken, die deutsche Firma Racke, Fos-
FRANCK PERROGON

Markt will Marken, die man sich merken ter’s aus Australien, Constellation Brands
kann, will Mythen, gute Geschichten, aus aus den USA.
denen sich der Mythos speist. Er zahlt im Schnitt 2,60 Euro für den
Arjen Pen hat gute Geschichten, er hat Liter Wein und will den Geschmack von
den Kardinal Richelieu. Den kennt man Bordeaux-Winzer Pen Barrique. Er kauft mit Vorliebe im Dis-
aus dem Kino, das ist der, der sich mit den „Die Richtung stimmt“ counter, und für jeden vierten Wein zieht
76 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Gesellschaft

kam, um mit seiner Frau Cornelia zusam-


men das Weingut Heymann-Löwenstein
aufzubauen. Löwenstein: Das war der Jun-
ge, der die Flucht ergriff, weil der Vater
ihn, den Ältesten, von der Schule holen
wollte – Junge, du lernst jetzt Wein.
Links war er, landete in Paris, arbeitete
in der Flüchtlingshilfe für Folteropfer aus
Chile, wurde Mitglied der französischen
KP. Hat schließlich Landwirtschaft studiert,
vielleicht für Kuba, vielleicht für Afghani-
stan, kam dann doch zum Weinbau und
ins Dorf zurück, Anfang der achtziger Jah-
re, mit seiner Frau.
Als sie anfingen, wurden zur Erntezeit
die Hausfrauen verwarnt: Bei dem Kom-
munisten arbeitet ihr nicht.
Kluge Worte hat er aus jener Zeit mit-
gebracht und Gedanken, die über Mosel-
terrassen hinausreichen. Blumige Reden
schrieb er an seine Kundschaft, anfangs
eher politisch, wenn auch nicht mehr

JOERG LEHMANN / STOCKFOOD


parteigebunden, Zitate von Marx und
Pablo Neruda, später mit Esoterischem
untermischt.
Und nicht nur große Worte hat er ge-
lernt, sondern auch Erfahrung mit Gre-
mienpolitik. Hat den VDP unterwandert,
Weinkeller im französischen Saumur: Das Einzigartige als Chance den exklusiven „Verband deutscher Prädi-
katsweingüter“, hat dafür gekämpft, dass
er nicht einmal einen Euro aus dem Porte- schen Weinen. Und wer weiß, was man es dort klar definierte Spitzenweine gibt,
monnaie. noch alles dürfen wollen wird. bei denen die Mostkonzentration verbo-
Und dieses Jahr 2005, so sehen die Draußen hält sich der späte Sommer, die ten ist. Und alle reden von Terroir.
Schätzungen aus, könnte das erste sein, in Lese läuft, die fränkischen Funktionäre Manche in der Branche sehen nicht
dem Europa mehr Wein aus Übersee ein- preisen den 2005er, der jetzt von den Re- glücklich aus, nennt man seinen Namen, er
führt, als es exportiert. ben geholt wird, die Sonne, der Regen, es ist der Späteinsteiger, der alles besser weiß,
Was tun also: Anpassen? Widerstehen? war gerade richtig so, sagen sie. und er hat auch noch Erfolg. Gewinnt Lob
Es gibt viele Möglichkeiten, den Wein Vielleicht wird das bald alles nicht mehr und Preise, den wichtigsten erhielt er in
aufzurüsten, die deutschen Forschungs- so wichtig sein. Wenn die Technik und die diesem Jahr: Sein 2002er „Winninger
anstalten arbeiten daran. An gentechnisch Gesetze so weit sind, vielleicht wird dann Uhlen Laubach Riesling Erste Lage“ wur-
veränderten Milchsäurebakterien für den der 2006er wie der 2007er wie der 2008er de in Frankreich als „Ausländischer Wein
biologischen Säureabbau wird geforscht schmecken, ohne dass man sich sorgen des Jahres“ gekürt.
und an gentechnisch veränderten Hefen, Das gibt ihm Auftrieb, und nun predigt
die bisher noch nicht eingesetzt werden, er erst recht: Deutschland, sagt er, wird im
weil man nicht sicher ist, ob der Verbrau- Wird die Technik kommen, durch Wettbewerb der Massenweine nicht mit-
cher es akzeptieren würde, wenn er wüss- die der 2006er Jahrgang wie der halten können. Es wird verlieren gegen-
te, dass man sie benutzt. 2007er wie der 2008er schmeckt? über den Großbetrieben in Australien oder
Es gibt erlaubte Enzyme und solche, die Kalifornien, den Billiglohnländern wie Chi-
bisher nicht zugelassen sind, jene, mit de- le und Südafrika. Rumänien wird kommen,
nen man das Aroma im Wein verstärken muss, ob es zu wenig geregnet hat oder Bulgarien. China auch, China vergrößert
kann: Cassis beispielsweise beim Sauvi- zu viel. ständig seine Weinbauflächen, kauft Kel-
gnon blanc und beim Cabernet Sauvignon. lertechnik in Europa und Weinwissen in
Andere Enzyme können den Gerbstoff re-
duzieren. Man darf das nicht. Man könnte
es aber dürfen wollen. Soll man? Soll man
W ahrscheinlich muss der Riesling vom
Röttgen doch noch vor November
runter, der September war so warm, die
Australien, und wie man weiß, lernen Chi-
nesen schnell.
So steht er nun im Weinkeller seiner
Wein nach Maß produzieren? physiologische Reife der Trauben kam Winzervilla, ein 51-Jähriger mit Jeans und
Soll er berechenbar sein, der Wein? So früh. Ob er wohl ordentlich gärt? Schnauzbart und Pädagogenbrille, horcht
wie der Chardonnay aus Neuseeland fast Natürlich kann man es sich einfach ma- auf das Blubbern der Hefen; die einzige
genauso schmeckt wie der aus Kalifornien chen, sagt Reinhard Löwenstein in Winnin- Chance sei, Einzigartiges zu produzieren:
wie der aus Australien wie der vom Kap? gen an der Mosel, man könnte Reinzucht- Einen Porsche kann man auch in China
Man könnte den anderen Weg gehen, hefen kaufen, die gibt es für jeden Wein- fertigen. Einen Terrassen-Mosel nicht.
könnte kennzeichnen: Dies ist ein Wein typ, für jede Geschmacksrichtung, aber er Aber jetzt pflanzen sie schon Ries-
ohne Eichenchips, dies ist ein Wein, dem schwört auf seine wilden, launischen Hefen. ling in Südafrika an, der Riesling fängt an,
man keinen Zucker zugesetzt hat, kein Spontangärung heißt das auch, manchmal Mode zu werden, und Ihrer, Herr Löwen-
Wasser und dem man auch keines entzog. ist es ein bisschen sehr spontan. stein?
Rudolf Nickenig, nachdenkend, kopf- Es sind alte Ideen, neue alte Ideen, mit Lässt sich nicht kontrollieren, Ihr Uhle-
schüttelnd, findet: nein. denen er sich der Globalisierung stellt. ner Blaufußer Lay. Nicht domestizieren.
Eichenchips werden bald zugelassen. Sie waren misstrauisch gegenüber ihm Anarchistisch bis zuletzt. Liegt im Sep-
Zuckern ist erlaubt, bei einfachen deut- und seinen Ideen, als er zurück ins Dorf tember noch in seinem Tank und gärt. ™
78 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Gesellschaft

Tanz auf dem Rasen


Ortstermin: Was ein Staatsanwalt aus Ruanda von seinen
Kollegen in Hamburg lernen will

H
err Habimana sagt, dass er sich worden. 800 000 Menschen wurden in Eine Frau möchte wissen, wie man die
kurz halten will. Das wird nicht ein- Ruanda im Frühjahr 1994 ermordet, von Qualität der Gacaca-Verfahren sicherstellen
fach, Jean-Damascène Habimana Nachbarn, von Banden, von Soldaten. Die will.
ist Jurist, ein Generalstaatsanwalt aus Ermordeten waren meist Tutsi, aber auch „Es gibt Schulungen für die Laienrich-
Ruanda. Hutu. 800 000 Menschen in hundert Tagen. ter“, sagt Herr Habimana.
Er sei nach Deutschland gekommen, um Es ist nicht auszuschließen, dass es auch Ein Mann sagt, er habe ein großes Pro-
zu lernen, erklärt Habimana. Auf einen über eine Million gewesen sein könnten. blem: die Todesstrafe in Ruanda.
kleinen weißen Tisch hat er ein paar Blät- Niemand weiß das so genau. Das ist ein „Wir denken darüber nach, sie abzu-
ter holziges Papier gelegt, eng beschrieben Teil des Problems. Man kann nur schät- schaffen“, sagt Herr Habimana.
mit sauberer Handschrift. Vor dem Tisch zen. Es gibt Hunderttausende Täter, sagt „Was ist mit den Opfern – gibt es eine
sitzen Juristen aus Hamburg. Über dem Habimana. Wahrscheinlich 500 000. Entschädigung?“, fragt eine Frau.
Tisch liegen die Stockwerke des Land- Vielleicht auch 600 000. „Wir haben uns „Ruanda ist ein sehr armes Land“, sagt
gerichts mit seinen hohen, langen Fluren, in Ruanda gegen ihre Straflosigkeit ausge- Herr Habimana.
unzähligen Zimmern, den kühlen Wänden. sprochen.“ Das Problem wuchs. Ruanda ist „Haben Sie ein Zeugenschutzpro-
Ein Gericht wie eine Festung. Stark und ein kleines Land. Ungefähr so groß wie gramm?“, fragt eine Frau.
dick wie das deutsche Rechtssystem. Mecklenburg-Vorpommern. Man hatte Ge- „Wir versuchen, etwas aufzubauen“,
Eine blonde Frau mit rosa Schal sagt zur fängnisse für 18 000 Menschen. Bald saßen sagt Herr Habimana.
Begrüßung: „Also, ich finde es toll, dass Sie dort über 100 000 Menschen. Man richtete „Was ist mit der richterlichen Unab-
sich auf den weiten Weg hierher gemacht schnell zwölf Sonderstrafkammern ein, be- hängigkeit?“, fragt ein Mann.
haben und bereit sind, die Hil- „Wer unfähig ist, wird ausge-
fe der Ersten Welt anzunehmen. tauscht“, sagt Herr Habimana.
Das kann ja auch ein Konflikt- Prozessordnung, Zeugen-
potential sein.“ schutz, Qualität, Entschädigung.
Herr Habimana nickt. Er will Habimana kann eigentlich im-
lernen in Deutschland und muss mer nur mit Nein antworten. Es
jetzt erst mal über den Völker- sind Fragen, die viel erwarten
mord reden. Und über Gacaca. und aus einer anderen, einer ge-
Das macht es noch schwerer. ordneten Welt kommen.
FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS

Es ist eine Veranstaltung der Der Gast aus Ruanda packt


„Hanseatischen Rechtsanwalts- seine Zettel zusammen. Er könn-
kammer“, des „Kommunika- te jetzt sagen, dass sie wäh-
tionsvereins Hamburger Juris- rend ihrer Reise manchmal
ten“ und des „Republikanischen müde waren vom Berichten.
Anwältinnen- und Anwältever- Der Genozid erdrückt alles. Al-
eins“. Lange deutsche Worte. les, was davor war, und alles,
Viel länger als Gacaca. was jetzt kommen soll. Sie ha-
Seit ein paar Tagen ist Habi- ben Seen in Ruanda. Sie haben
mana auf Dienstreise, zusam- Staatsanwalt Habimana: Dienstreise in die deutsche Justiz tausend Hügel. Sie haben eine
men mit zwei Kollegen aus neue Verfassung. Sie haben die
Ruanda. Sie waren in Kiel, Flensburg, auftragt, nur den Genozid zu verhandeln. „Vision 2020“ erarbeitet, einen Zukunfts-
Schleswig, sie wollten sehen, wie die Din- Zwölf für Zehntausende. „Mit den ordent- plan, so wie Deutschland die „Agenda
ge hier funktionieren, juristisch gesehen lichen Gerichten hätten wir ein Jahrhun- 2010“ hat.
und technisch. Die Justiz. Sie sagten, dass dert gebraucht“, glaubt Habimana. Dann Habimana hätte sagen können, dass Ga-
sie nach Inspiration suchen, nach Know- entschied man sich zusätzlich für die Rasen- caca ein verwegenes Projekt ist. So verwe-
how, hier bei den Professionals. Sie führten gerichte. Gacaca. Es klingt wie ein Tanz. gen wie die Idee, einen Völkermord abzu-
Gespräche, saßen vor deutschen Staats- Das Volk soll richten, 11 000 kleine Tri- urteilen. Die Zahlen sind zu groß für Ge-
anwälten, Richtern und Ermittlern, liefen bunale. Besetzt mit Laienrichtern, gewählt richte. Kein Land würde sie bewältigen.
durch Behörden, fuhren im silberfarbe- von den Bewohnern. Sie verhängen Stra- Kaum ein Land würde es überhaupt ver-
nen BMW des Generalstaatsanwalts von fen bis zu lebenslänglich. suchen. Deutschland hat es eigentlich auch
Schleswig-Holstein durch den deutschen Ein Herr im Publikum steht auf, „ich nie konsequent versucht. Die Erste Welt.
Herbst, und oft begannen sie einen ihrer habe eine Frage“, sagt er: „Gibt es bei Die Professionals.
Vorträge über die Lage der Justiz in Ruan- Gacaca Staatsanwälte?“ Vielleicht könnte man das von Herrn
da mit einer Erklärung, weil sie nicht sicher „Nein“, sagt Herr Habimana. „Die lo- Habimana lernen: dass man es trotz-
waren, was man weiß über ihr Land. kale Bevölkerung ist, wenn Sie so wollen, dem versuchen sollte, auf dem Rasen,
„First of all: What is Ruanda?“ die Staatsanwaltschaft und die Verteidi- ohne Staatsanwalt, ohne Zeugenschutz-
Habimana fängt an. Die Zahlen, die auf gung. Alle, die älter als 18 sind, müssen programm.
seinen Blättern stehen, sind in den ver- anwesend sein. Dann wird versucht, ge- Ruanda ist jetzt weit. Draußen fällt ruhi-
gangenen elf Jahren nicht viel besser ge- meinsam zu rekonstruieren.“ ger deutscher Regen. Jochen-Martin Gutsch
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 79
Trends

352 – eine Steigerung um 32 Pro-


zent. Bislang hatte Bahnchef Hart- V W- A F FÄ R E

PAUL LANGROCK / ZENIT


mut Mehdorn behauptet, es gäbe
bundesweit im Schnitt lediglich
250 Langsamfahrstellen. In einem
Brief an Bundesverkehrsminister
Prostituierte
DEUTSCH E BAH N
Manfred Stolpe vom vergangenen
Freitag machte der Geschäftsfüh-
rer vom Netzwerk Privatbahnen,
belasten Hartz
Zustand verschlechtert
Arthur-Iren Martini, eine „nicht plan-
mäßige“ und „nicht ordnungsgemäße“
Instandhaltung seitens der Bahn für
Z wei Huren aus Hannover haben in der
vergangenen Woche gegenüber der
Staatsanwaltschaft Braunschweig Angaben

D er Zustand des Schienennetzes hat


sich im Vergleich zum Vorjahr ra-
pide verschlechtert. Das zumindest be-
den verschlechterten Zustand der
Gleise verantwortlich. Grund ist nach
Ansicht Martinis der Sparkurs des
des Ex-VW-Managers Klaus-Joachim Ge-
bauer bestätigt. Der 61-Jährige hatte aus-
gesagt, er habe eine der Frauen für Treffen
hauptet das Netzwerk Privatbahnen, Konzerns im Zuge des geplanten Bör- mit dem früheren VW-Personalvorstand
ein Zusammenschluss von privaten sengangs. Der Vorwurf: Wenn die Peter Hartz in einer Braunschweiger Woh-
Bahngüter-Verkehrsunternehmen. Nach Bahn die Gleise verfallen lässt, muss nung engagiert, die er auf VW-Kosten als
deren Untersuchungen hat sich die der Bund für diese „Ersatzinvestition“ Liebesnest umgebaut habe. Die andere
Zahl der Langsamfahrstellen deutlich aufkommen. Die Bahn wehrt sich Prostituierte habe an einem Urlaub mit
erhöht. Wurden in Bayern und Baden- vehement gegen Vorwürfe, sie spare dem Ex-Betriebsratsvorsitzenden Klaus
Württemberg in der 30. Kalenderwoche zu Lasten der Substanz. Man gebe in Volkert nach Fehmarn teilgenommen. Der
2004 noch 266 Teilstücke mit Geschwin- jedem Jahr die gleiche Summe, rund Anwalt einer der Frauen bestätigt: „Meine
digkeitsabsenkungen gezählt, waren 1,2 Milliarden Euro, für die Instand- Mandantin hat Hartz belastet.“ Hartz und
es im gleichen Zeitraum dieses Jahres haltung aus.

INFINEON geführt, sein Vorgehen sei mit dem damaligen Aufsichtsrats-


chef und Siemens-Vorstand Volker Jung sowie dem gesamten
Ex-Chef erneut unter Druck Kontrollgremium abgestimmt gewesen. Frühere Mitglieder des
Überwachungsorgans haben das anders in Erinnerung. Danach

N ach den jüngsten Ermittlungen der


Staatsanwaltschaft gegen den früheren
Infineon-Chef Ulrich Schumacher wegen des
entschied nicht der komplette 16-köpfige Aufsichtsrat, wie vie-
le der Papiere die Vorstände über das „friends & family“-Pro-
gramm zeichnen durften, sondern ein Unterausschuss, dem
FALK HELLER / ARGUM

Verdachts auf Vorteilsnahme gerät dieser neben Jung noch ein Arbeitnehmervertreter und ein weiterer
nun auch durch ehemalige Aufsichtsratsmit- Siemens-Manager angehörten. Über die Beschlüsse im kleinen
glieder unter Druck. Anlass sind vergangene Kreis seien die übrigen Kontrolleure auch später nicht unter-
Woche bekannt gewordene Vorwürfe, wo- richtet worden. Wie ein Aufsichtsrat berichtet, habe insbeson-
Schumacher nach sich Schumacher beim Infineon-Bör- dere Jung darauf gedrängt, die Zuteilung für die Infineon-
sengang im März 2000 über Treuhänder deut- Topmanager zu begrenzen, um zu verhindern, „dass sie sich
lich mehr als die jedem Vorstand zustehenden 30 000 Aktien die Taschen voll schaufeln“. Der Ex-Siemens-Vorstand und
gesichert haben soll. Zur Rechtfertigung hatte Schumacher an- Schumacher waren für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

STEUERN lich benachteiligt. Mit dem Vor-


schlag herrsche „größtmögliche
Wirtschaftsweise mit Finanzierungsneutralität“, so der
Wirtschaftsweise Wolfgang Wie-
neuem Modell gard im kleinen Kreis. Die zwei-
WOLF P. PRANGE / ECOPIX

stufige Gewinnbesteuerung sei

D ie fünf Wirtschaftsweisen wollen


der Bundesregierung eine Steuer-
reform mit einem Zwei-Stufen-Tarif für
notwendig, damit Firmenbesitzer,
die selbst im Unternehmen ar-
beiten, ihre Steuerbelastung nicht
Unternehmen vorschlagen: Danach soll künstlich auf 25 Prozent begren-
der Gewinnanteil einer Aktiengesell- Wirtschaftsweiser Wiegard (2. v. l.), Kollegen zen, in dem sie sich niedrige Ge-
schaft, der unter fünf Prozent des Ei- hälter und hohe Gewinne aus-
genkapitals liegt, künftig mit 25 Prozent greifen sollen, werden noch diskutiert. zahlen. Kritikern ist das Modell jedoch
besteuert werden; von jedem Euro Zugleich schlagen die Sachverständigen zu kompliziert. Zudem können Unter-
oberhalb dieser Grenze müsste die Fir- vor, Kapitalerträge wie Zinsen, Divi- nehmer, die ihren Wohnsitz ins Ausland
ma 40 Prozent an den Fiskus abführen. denden und eben auch ausgeschüttete verlegen, die deutsche Kapitalertrag-
Das Modell soll auch für Personenge- Gewinne von Personengesellschaften steuer trickreich umgehen. Problema-
sellschaften gelten, deren Gewinne mit 25 Prozent zu besteuern. Die Vor- tisch wäre auch die Wirkung dieser
bisher der Einkommensteuer ihrer Be- teile dieses dualen Systems: Eigenkapi- Reform: Wenig profitable Firmen
sitzer unterliegen. Die genauen Steuer- tal wird entlastet und gegenüber Bank- würden bevorzugt, hohe Gewinne mit
sätze und die Grenzen, ab denen sie krediten nicht mehr, wie bisher, steuer- einer Art Strafsteuer belegt.
80 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft
Gebauers Aussage möglicherwei-
se unzutreffend. Er hatte von ei-
ner Sex-Party in Hannover im
Rahmen eines Betriebsrätetreffens
berichtet, an der unter anderem
Volkert und die Betriebsräte und
heutigen SPD-Politiker Hans-Jür-
gen Uhl und Günter Lenz teilge-
nommen hätten, was beide be-
streiten. Die Feier mit mehreren
Prostituierten habe 30 000 Mark

WALTER SCHMIDT / NOVUM


gekostet und sei von VW bezahlt
worden. Anhand seiner Konten-
belege rekonstruierte Gebauer,
dass die Feier am 18. Oktober
2000 stattgefunden habe. Das Da-
Gebauer (3 .v. r.) vor Gerichtsgebäude in Braunschweig tum kann aber offensichtlich nicht
stimmen, weil es zu diesem Zeit-
Volkert äußerten sich nicht zu den Vor- punkt kein solches Betriebsrätetreffen in
würfen. Die Aussagen waren zustande ge- Hannover gab. Die Ermittler prüfen nun
kommen, nachdem die Steuerfahndung andere Daten. In Frage käme ein Treffen
auf Strafverfahren gegen die Frauen ver- im November 1999 – dann allerdings wären
zichtet hatte. In einem anderen Punkt ist die Untreuevorwürfe bereits verjährt.

DEUTSCHE BANK vergangener Woche in einer Video-


Konferenz mit den 200 wichtigsten Ma-
„Keine Dogmen“ nagern des Instituts. Er hat damit eine
Antwort auf die Frage gegeben, wohin

I m Jahr 2006 will die Deutsche Bank


in Amerika unter die fünf größten
Investmentbanken aufrücken. Dieses
er die Bank steuern will. Bisher be-
schränkten sich seine Ziele auf eine
Rendite von 25 Prozent. In dem seit
Ziel verkündete Josef Ackermann, Vor- Jahren schwelenden Richtungsstreit
standssprecher des Instituts, am Freitag zwischen den auf das Deutschlandge-
schäft orientierten Tradi-
tionalisten und den anglo-
amerikanischen Invest-
mentbankern versuchte
Ackermann zu vermitteln:
„Die Deutsche Bank wird
immer dorthin gehen,
wo das Geschäft ist –
und dabei gibt es keine
Dogmen.“ Derzeit versu-
che die Bank vor allem in
China, Indien, Australien
und Nordamerika zu
wachsen – und zwar in
Geschäftsfeldern, die in
den entsprechenden Län-
dern gebraucht werden.
Das Institut wolle auch
nicht um jeden Preis ex-
pandieren. Der geschei-
terte Kauf einer Bank in
Rumänien sei deshalb
nicht als Rückschlag zu
werten. Die Deutsche
Bank hatte vor der Rede
HANS-GÜNTHER OED

ihres Chefs ein Rekord-


ergebnis veröffentlicht:
Im dritten Quartal betrug
der Gewinn vor Steuern
Deutsche-Bank-Zentrale in Frankfurt am Main 1,9 Milliarden Euro.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 81
Wirtschaft

MICHAEL A. MARIANT / SIPA PRESS (L.); LARRY DOWNING / REUTERS (R.)


Ölraffinerie im kalifornischen Benicia: Benzinpreise auf Rekordniveau Präsident Bush, designierter Fed-Chef Bernanke:

US-NOTENBANK

Vom Maestro zum Musiklehrer


Nach 18 Jahren als oberster Zentralbanker der USA wird Alan Greenspan durch einen
Wirtschaftsprofessor aus Princeton ersetzt. Der Machtwechsel birgt zusätzliche Risiken für die
durch hohe Energiepreise, Inflation und Haushaltsdefizite gefährdete US-Konjunktur.

D
as Auffallendste an Alan Green- Regierungsapparat nach oben. „Nur we- Händler und Ökonomen weltweit haben
span ist seine Schildkrötenhaltung. nige sind gut“, sagt Greenspan. Die meis- sie längst nervös erwartet – aber erst in ei-
Es ist die Art, wie er seinen Hals ten verursachten vor allem hohe Kosten nigen Wochen damit gerechnet.
nach vorn streckt und mit großen, weisen und wenig Nutzen. Der britische „Economist“ spottete be-
Augen durch die Glasbausteine seiner Dann verlässt er, schon leicht gebeugt, reits, der angeschlagene US-Präsident wer-
Hornbrille vom Rednerpult herab ins die Bühne. Gut 800 Gäste erheben sich de wohl seinen privaten Bankberater auf
Publikum blickt. zum Applaus. Sie sind gekommen, weil der den Top-Posten hieven, nachdem Bush
Greenspan, 79, steht im Colonial Ball- Präsident der Fed an diesem Tag für seine zuvor schon seine Rechtsanwältin und Ver-
room des Marriott Hotels von Kansas City. Verdienste die Truman Medal for Econo- traute, Harriet Miers, in den Supreme
Es ist Mittwochmittag vergangener Woche. mic Policy erhält. Und weil sie das Ende ei- Court befördern wollte – auch wenn die
Zwei Tage vorher nominierte George W. ner Ära erleben wollen. Ende vergangener Woche nach heftiger
Bush einen neuen Chef für die US-Zen- Am 31. Januar läuft Greenspans letzte Kritik auf das Amt verzichtete.
tralbank, die Federal Reserve (Fed). Doch Amtszeit aus. Über 18 Jahre nachdem der Auf Bernanke, 51, lastet darum ein enor-
über seinen Nachfolger, Ben Shalom Ber- damalige republikanische Präsident Ronald mer Erwartungsdruck. Der vor kurzem
nanke, verliert Gastredner Greenspan kein Reagan ihn an die Spitze der US-Zentral- noch weitgehend unbekannte Wirtschafts-
Wort. Die Flattrigkeit des Tagesgeschäfts bank berufen hat. professor aus Princeton muss gleichzeitig
scheint für einen wie ihn ohnehin immer Der Zeitpunkt für den Machtwechsel seine Unabhängigkeit vom Weißen Haus
sehr weit weg. könnte ungünstiger kaum sein, denn er beweisen und eine harte Landung der in
Der mächtigste Mann der Weltfinanz- verursacht Unruhe in ohnehin unruhigen den vergangenen drei Jahren robust ge-
politik schwelgt stattdessen in Erinne- Zeiten: Die weltweiten Energiepreise ex- wachsenen US-Wirtschaft verhindern. Min-
rungen wie ein mittelständischer Firmen- plodieren, die Inflation erreicht in den USA destens ebenso schwer: den Job des obers-
patriarch auf dem Weg in den Ruhestand. den höchsten Stand seit 14 Jahren. Das ten Zentralbankers neu zu erfinden. Die
Er denkt an die siebziger Jahre zurück Haushalts- wie das Leistungsbilanzdefizit von Amtsinhaber Greenspan ausgefüllte
und an Mitarbeiter wie „Kitty“, die da- erklimmen Höchststände. Und der ameri- Stellenbeschreibung passt ihm nämlich
mals als „fact-checker“ seine Texte als kanische Immobilienmarkt ist unter Druck. nicht sonderlich.
Wirtschaftsberater des Weißen Hauses Platzt da bald die nächste große Blase? In den vergangenen 18 Jahren war die
kontrollierte. Er lobt die Präsidenten Tru- Unsicherheiten über den künftigen Fed- Fed zur Kurie des globalen Kapitalismus
man und Ford. Und er fasst zusammen, Kurs können über Wohl und Wehe der US- geworden, und Greenspan war ihr Papst.
wie aus seiner Sicht die Politik in Wa- und Weltwirtschaft im nächsten Jahr ent- Seine oft höchst verklausulierten Verdikte
shington funktioniert. scheiden. Die Greenspan-Nachfolge ist des- kamen Händlern und Regenten in Ameri-
Abenteuerliche Ideen steigen demnach halb die wichtigste Personalentscheidung in ka und weltweit vor wie eine Enzyklika
wie Blasen unvermeidlich durch jeden der zweiten Amtszeit von Präsident Bush. aus Rom. Sie konnten ein Bannstrahl sein
82 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
LARRY W. SMITH / DPA

Unruhe in unruhigen Zeiten Überflutetes New Orleans: Milliardenschäden durch Hurrikan „Katrina“

oder eine Botschaft von Milde und Güte – eher vielleicht …“ verfolgte ihn bis ins Pri- an und verschulden sich. Was, wenn die
je nachdem, ob die Leitzinsen stiegen oder vatleben: Seinen Heiratsantrag musste er Immobilienpreise fallen?
fielen. Entsprechend wurde jeder hinge- 1997 dreimal formulieren, bevor ihn seine Auf Greenspans Habenseite steht sein
nuschelte Halbsatz ehrfürchtig empfangen damalige Freundin überhaupt verstand. Krisenmanagement, das die US-Wirtschaft
und interpretiert, gewogen und gedeutet. Wirtschaftspolitik, erklärte er vorige Wo- nach dem Schwarzen Montag vom Oktober
Greenspan wurde darüber zur fast my- che seinem verdutzten Publikum in Kansas 1987 genauso geschickt vor einer andau-
thischen Figur. Der Journalist Bob Wood- City, habe „genau so viel mit Wissenschaft ernden und schweren Rezession bewahrte
ward, als Watergate-Enthüller selbst ein wie mit Kunst“ zu tun. Fragt sich nur: Ist wie nach den Anschlägen vom 11. Sep-
Star, hat seine Biografie über den Banker ihm diese Mischung auch gelungen? tember 2001. Trotz solcher Schocks hat er
schlicht „Maestro“ genannt. Schon mor- Kritiker machen Greenspans Geldpolitik es geschafft, Inflation und Arbeitslosigkeit
gens in der Badewanne hat sich Greenspan für das Entstehen zweier großer Spekula- in seiner Amtszeit auf relativ niedrigem
mit aktuellen Statistiken beschäftigt. Doch tionsblasen mitverantwortlich. Die erste Niveau zu halten. Die Wirtschaft wuchs im
die Schlüsse, die er daraus zog, blieben platzte im Frühjahr 2000 und bescherte der Schnitt pro Jahr um drei Prozent.
den meisten unverständlich. zuvor gefeierten New Economy ein don- Greenspan übergibt also ein geordnetes
Was genau will der Meister eigentlich nerndes Ende. Die zweite, im amerikani- Haus, zumindest auf den ersten Blick.
sagen, wenn er im selben Satz von „güns- schen Immobilienmarkt, schwillt inzwi- Denn in den vergangenen Monaten schwoll
tigen Aussichten“ und einer „unsicheren schen derart bedrohlich an, dass Green- die Inflationsrate bedenklich an. Was wird
Zukunft“ für die US-Wirtschaft spricht? span selbst schon vor einem gefährlichen sein Nachfolger also umräumen?
Oder wenn er die Erwartung eines Auf- „ökonomischen Ungleichgewicht“ warnt. Ökonomen haben Ben Bernankes No-
schwungs gleichzeitig für „nicht unver- Grund: Niedrige Zinsen haben einen minierung fast einhellig bejubelt. Die Bör-
nünftig“, Zeitpunkt und Umfang aber für Bauboom ausgelöst, die Preise für Woh- se antwortete mit einer Kursrallye. Die
„weiterhin unsicher“ hält? nungen und Häuser sind geradezu explo- Händler waren allein schon deshalb begeis-
Den Kult des Orakels hat Greenspan von diert. Eine normale Drei-Zimmer-Wohnung tert, weil der Präsident nicht wiederum
Beginn an selbst gepflegt. „Wenn meine in Manhattan kostet derzeit im Durch- einen loyalen Erfüllungsgehilfen auf eine
Aussagen Ihnen ungewöhnlich klar und schnitt 1,5 Millionen Dollar – die Preise sind Top-Position berufen hat.
verständlich erscheinen, dann haben Sie in nur 12 Monaten um 21 Prozent gestiegen. Bis 2002 führte Bernanke ein beschauli-
mich zweifellos missverstanden“, warnte Durch den Wertzuwachs ihrer Immobilien ches Akademikerleben fernab der Politik.
er schon 1987 im US-Senat. Die Begeiste- fühlen sich viele Amerikaner reicher, als Der Apothekersohn aus South Carolina
rung für ein klares „Jein, aber wenn, dann sie sind. Sie kurbeln auf Pump den Konsum war ein Überflieger in der Schule. Dass er

Wechselhafte Jahre Die US-Wirtschaft in der Amtszeit Greenspans

LEITZINSEN AKTIENMARKT US-HAUSHALT LEISTUNGSBILANZ


Federal Funds Rate Dow Jones Index Saldo aus Importen
Höchst-, Tiefststand Defizit 1987 und Exporten*
August 1987
Mai 1989
2610 –150 Mrd. $ 1987
9,81 % Überschuss 2000 – 161 Mrd. $
Juni 2003
27. Oktober 2005
+ 236 Mrd. $ 2004
10 300
Notenbankchef 1,00 % Defizit 2004 – 668 Mrd. $
Greenspan
aktuell: 3,75% Steigerung: 295% – 412 Mrd. $ * Güter, Dienstleistungen
und Faktoreinkommen
MATTHEW CAVANAUGH / GETTY IMAGES

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 83
Wirtschaft

bei den in den USA beliebten Schüler- Allein die durch die Hurrikans „Katri-
Buchstabier-Wettbewerben beim nationa- na“ und „Wilma“ verursachten Milliar-
len Finale das deutsche Wort „Edelweiss“ denschäden in Louisiana, Mississippi und
nicht auf die Reihe bekam, ist das einzige Florida dürften das zuletzt sehr robuste
bekannte Manko seiner Karriere, die ihn US-Wachstum im letzten Quartal ver-
über die renommierten Universitäts-Adres- langsamen. Dramatisch sind auch die Fol-
sen Harvard, das Massachusetts Institute of gen des Wirbelsturms „Rita“, der Ende
Technology sowie Stanford zuletzt nach September zahlreiche Bohrinseln im Golf
Princeton führte. von Mexiko beschädigte. Noch zwei Wo-
In Fachkreisen wurde er durch seine Ar- chen später waren etwa zwei Drittel der Öl-
beiten über die Ursachen der Großen De- und Gasanlagen am Golf von Mexiko
pression in den dreißiger Jahren bekannt. außer Betrieb.
Bernanke, inzwischen einer der weltweit Die amerikanischen Benzinpreise er-
führenden Geldtheoretiker, setzt sich seit reichten zwischenzeitlich Rekordwerte. Die
langem dafür ein, dass Zentralbanken in ih- Kosten eines durchschnittlichen Privat-
rer Zinspolitik ein verbindliches Inflations- haushalts für Erdgas (plus 70 Prozent) und
ziel verfolgen sollen. Als ver-
nünftige Zielmarke für die
Kerninflation nennt er zwei
Prozent.
2002 zog der Professor in
den Gouverneursrat der Fed
ein. Selbst langjährige Uni-
Kollegen hatten bis zu dieser
Zeit nicht die leiseste Ah-
nung, dass sie mit einem Re-
publikaner befreundet sind.
In seinen drei Jahren als
Zentralbanker hat er sich für
die Greenspan-Nachfolge pro-
filiert. Um Bernanke besser
kennen zu lernen, hat Bush
ihn dann im Juni zu seinem

RICHARD DREW / AP
Wirtschaftsberater ernannt.
„Das Schlimmste an meinem
Job ist, dass ich jetzt Anzug
und Krawatte tragen muss“,
sagte der Ökonom über sei- New Yorker Börsianer: Kursrallye nach der Nominierung
nen neuen Arbeitsplatz.
Die Marmorhalle im Washingtoner Ge- Heizöl (plus 30 Prozent) sollen in diesem
bäude der Federal Reserve gleicht norma- Winter dramatisch steigen. „Wenn wir ei-
lerweise, wie das „Wall Street Journal“ nen kalten Winter bekommen, bedeutet
einst bemerkte, einem Mausoleum. Nur das einen weiteren harten Schlag für das
alle sechs Wochen treffen sich der Präsi- Portemonnaie der Verbraucher“, sagt Mor-
dent und seine Gouverneure dort offiziell, gan-Stanley-Analyst Richard Berner. Vor
um über die Leitzinsen zu beraten. Seit allem deshalb ist die Inflation in den USA
Juni 2004 haben sie elfmal für eine Er- mit derzeit 4,7 Prozent auf den höchsten
höhung gestimmt. Die Sätze sind in dieser Wert seit gut 14 Jahren geklettert.
Zeit von 1 auf 3,75 Prozent gestiegen; bei Bernanke „muss die Inflation bekämp-
Greenspans Abschied dürften sie die Mar- fen, auch wenn sich der US-Kongress über
ke von 4,5 Prozent erreichen. eine Abkühlung beim Wachstum und auf
Bernanke, wenn er wie erwartet vom Se- dem Arbeitsmarkt beschwert“, glaubt Nou-
nat bestätigt wird, steht damit voraussicht- riel Roubini von der New York University:
lich schon bei seiner ersten Zentralbank- „Die Märkte werden ihm nicht vergeben,
sitzung im März vor einer vertrackten Si- wenn er falsch reagiert.“
tuation. Entweder legt er die vom Markt Der künftige Fed-Chef hat bereits er-
lange erwartete Pause bei den Zinserhö- klärt, dass er den Personenkult nach Art
hungen ein. Das würde ein weiteres Wirt- seines Vorgängers abschaffen will. Die Ent-
schaftswachstum wahrscheinlicher machen. scheidungen der Fed sollen transparenter
Doch der Neue in der Fed gälte dann wo- werden und leichter vorhersehbar sein.
möglich auch als Marionette Bushs. Oder er Greenspans Stil, sein Instinkt, sein Sich-
macht Ernst mit seinem Ziel, die wachsen- leiten-Lassen von Wissenschaft und Kunst
de Inflation zu bekämpfen – und zieht die werden wohl bald Vergangenheit sein.
Zinsen weiter nach oben: Das würde seine Viele Händler und Ökonomen werden
Unabhängigkeit vom Weißen Haus bewei- erstaunlicherweise genau das vermissen.
sen. Aber es könnte Gift für die amerika- Bernanke sei „kein Maestro“, sagt der
nische Konjunktur bedeuten. Denn die hat Chef-Ökonom von Argus Research, Ri-
derzeit ohnehin mit den seit Jahren größ- chard Yamarone. „Er ist ein Musiklehrer.“
ten Herausforderungen zu kämpfen. Frank Hornig

84 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Da haben wir eben zugeschlagen“


Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, 53, über den Einstieg des Sportwagenbauers beim
Autokonzern Volkswagen, den Vorwurf der Interessenkollision und den Machtkampf zwischen
VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff
Wiedeking: Die Reaktionen waren durch-
aus unterschiedlich. Wir werden vom Volks-
wagen-Management und von der Arbeit-
nehmerseite begrüßt, denn wir stehen für
den Standort Deutschland. Jeder weiß, dass
wir uns in den letzten Jahren immer für
Beschäftigung in Deutschland stark ge-
macht haben. Es gab auch positive Stimmen
von politischer Seite, angefangen beim
Bundeskanzler bis zum baden-württem-
bergischen Ministerpräsidenten Günther
Oettinger. Die finden es gut, dass es eine
deutsch-deutsche industrielle Lösung gibt.
SPIEGEL: Im Ausland hieß es deshalb, die
alte Deutschland AG käme zurück.
Wiedeking: Ich war eben in Asien, und da
habe ich solche Töne nicht gehört. Es sind
doch eher Kritiker aus dem eigenen Land,
die dieses Thema hochziehen. Nachvoll-

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL


ziehen kann ich das nicht. Ich stehe zu
Deutschland, und wenn uns eine deutsche
Lösung einfällt, ist das doch eine gute Sa-
che. Warum sollte eine Lösung besser sein,
nur weil sie international ist? Wenn das
Land aus sich heraus stark sein und er-
Porsche-Vorstandsvorsitzender Wiedeking: „Chancen muss man beim Schopf packen“ folgreich arbeiten kann, dann sollte das
doch allen nur recht sein.
SPIEGEL: Herr Wiedeking, hat sich der re- Wiedeking: Es ist etwas passiert, was man SPIEGEL: Sie reden wie ein Politiker, der
lativ kleine Sportwagenbauer Porsche mit normalerweise nicht erwartet – David den Standort stärken will. Aber wo ist die
dem Einstieg beim viertgrößten Autoher- steigt bei Goliath ein und nicht umgekehrt. betriebswirtschaftliche Logik für Porsche?
steller der Welt übernommen? Aber uns geht es zurzeit gut. Die anderen Wiedeking: Erstens glauben wir fest daran,
Wiedeking: Wie kommen Sie denn darauf? haben eine Schwächephase. Das Zeitfens- dass die interne Ertragskraft des Volkswa-
Wir sind ein gutverdienendes Unterneh- ter am Kapitalmarkt war ideal. Da haben gen-Konzerns schon heute deutlich stär-
men und haben mit unserem Geld eine wir eben zugeschlagen. Wir waren bei vie- ker ist als der Börsenkurs. Das Manage-
größere Investition getätigt. Inzwischen len doch gar nicht auf dem Radarschirm. ment ist dabei, die Kosten zu senken und
dürfen wir 18,5 Prozent der VW-Aktien un- Garantiert haben wir auch einigen Invest- attraktive Produkte zu entwickeln. Darum
ser Eigentum nennen und haben eine Op- mentbankern einen möglichen Deal zer- wird sich unsere Investition – daran glau-
tion auf weitere rund 3 Prozent, so dass schlagen. Als wir kauften, haben viele an- be ich fest – auszahlen, und zwar für alle
wir auf etwa 22 Prozent kommen können. dere auch gekauft, und zwar in großem Porsche-Aktionäre.
SPIEGEL: Aber außer den Aktien, für die Umfang und zu Preisen, die wir nie hätten SPIEGEL: Und zweitens?
Sie rund drei Milliarden Euro bezahlten, zahlen wollen. Wiedeking: Die industrielle Logik für Por-
haben Sie im Moment nichts in der Hand. SPIEGEL: Sie meinen, dass andere gerade da- sche liegt natürlich darin, dass wir in der
Sie haben keinen Sitz im Aufsichtsrat, und bei waren, bei VW feindlich einzusteigen? Lage sein werden, auf Projektbasis mit
wenn es nach dem Willen des anderen Wiedeking: Ganz sicher war das so. Das dem Haus Volkswagen weiterhin zu ko-
Großaktionärs, des Landes Niedersachsen haben wir verhindert. Herr Wulff und der operieren. Wir haben das in den vergan-
und dessen Ministerpräsidenten Christian gesamte Aufsichtsrat sowie der Vorstands- genen Jahrzehnten bewiesen, und wir
Wulff geht, werden Sie auch keinen be- vorsitzende Bernd Pischetsrieder waren seit werden das auch künftig beweisen. Wenn
kommen. Jahren damit beschäftigt, große Investoren wir beispielsweise eine Elektronikplattform
Wiedeking: Warten Sie einmal ab, bis sich zu finden, um sich vor einer feindlichen gemeinsam nutzen, hilft es uns und
die Rauchschwaden verzogen haben. Dann Übernahme zu schützen. Und seit Jahren Volkswagen gleichermaßen. Ähnliches
wird sich jeder die industrielle Logik, die haben wir uns auch die Frage gestellt: Was trifft unter anderem auch auf den Hybrid-
wir hinter unserer Beteiligung an VW se- passiert, wenn die für uns wichtige Ge- antrieb zu. Porsche hat viele Entwick-
hen, noch einmal genau anschauen. schäftsbeziehung in Frage gestellt wird? lungsleistungen für das Haus Volkswagen
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die ganze SPIEGEL: Umso erstaunlicher, dass Sie in erbracht …
Aufregung, wenn der Schritt für Sie doch Wolfsburg selbst wie eine Art Heuschrecke SPIEGEL: … was beweist, dass es dazu kei-
so logisch scheint? empfangen werden. ner Kapitalbeteiligung bedarf.
86 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
tion mit uns wurden die Kosten des Toua-
reg um ein Drittel gesenkt. Das beweist
doch, dass eine Zusammenarbeit beiden
nutzt.
SPIEGEL: Dennoch fordert Wulff, dass Piëch
seinen Aufsichtsratsvorsitz abgibt, und
beruft sich auf zwei Gutachten, die ein-
deutig Interessenkollisionen sehen. Wäre
ein Rücktritt Piëchs nicht ein sauberer
Schnitt?
Wiedeking: Noch einmal: Wenn es Interes-
senkollisionen gibt, waren sie schon da, als
Herr Piëch Vorstandschef von VW war.
Damals hatte keiner dieser Aktionärs-
Gralshüter daran etwas auszusetzen. Herr
Piëch hat als Vorstandsvorsitzender gute
Arbeit geleistet. Deswegen ist er in den
Aufsichtsrat berufen und dort als Chef
gewählt worden. Wenn es um Themen
beider Häuser ging, hat er sich immer der
Diskussion entzogen und auch nicht mit-
gestimmt.
SPIEGEL: Die Gutachten …
Wiedeking: … berücksichtigen die Ge-
schäftsordnung des Vorstandes nicht. Es
obliegt dem Vorstand, das Produktpro-
gramm zu definieren, nicht dem Auf-
sichtsrat. Interessenkollisionen im Auf-
sichtsrat können also gar nicht stattfinden,
wenn man sich nach der Geschäftsordnung
verhält. Außerdem ignorieren die Gutach-
ter, dass nur 2,8 Prozent des Absatzes im
Volkswagen-Konzern Überschneidungen
mit Porsche haben.
ITSUO INOUYE / AP

SPIEGEL: Interessenkollisionen kann es bei


jedem gemeinsamen Projekt geben.
Wiedeking: Ich bin sicher, dass es uns ge-
lingt, weitere gemeinsame Projekte nach
Modellpräsentation (auf der Auto-Messe Tokio): „Was macht ihr mit dem vielen Geld?“ dem Vorbild Cayenne/Touareg zu lancie-

Wiedeking: Bisher basiert die Zusammen-


arbeit auf Verabredungen. Aber Porsche
ist heute ein anderes Unternehmen als
Träger Riese, munterer Zwerg Volkswagen und Porsche im Vergleich
noch vor einigen Jahren. Wir haben Börsenwert Umsatz Gewinn Mitarbeiter
ein attraktives Produktprogramm in Mrd. Euro, in Milliarden nach Steuern in in tausend,
Stand Euro, 2004 Mio. Euro, 2004 2004
und sind der profitabelste Auto- 25. Oktober
mobilhersteller. Es nützt dem ge- 2005
samten Geschäftssystem Porsche, 18,27 VOLKSWAGEN 89,0 716 343
wenn wir die Beziehung zu Volks-
wagen jetzt auf eine sichere Basis
stellen. PORSCHE 6,4 612 12
SPIEGEL: Das scheint Niedersachsens Minis-
terpräsidenten Wulff aber eher zu schre- 10,43
cken. Er fürchtet, dass es zu Interessen- und Lamborghini – al- ren, die Volkswagen und Porsche Vorteile
kollisionen zwischen VW und Porsche les Marken, die Ferdi- bringen. Im Übrigen: Wir sind jetzt der
kommt. nand Piëch als VW-Vorstandsvorsitzender größte Einzelaktionär von Volkswagen. Die
Wiedeking: Ich habe ein persönliches Ge- kaufte … Grundsätze guter Unternehmensführung,
spräch mit Herrn Wulff gehabt. Er hat SPIEGEL: … bevor er in den Aufsichtsrat die Corporate Governance, die unsere Kri-
unseren Schritt spontan begrüßt. Einige wechselte. Piëch gehören, zusammen mit tiker stets bemühen, sehen auch vor, dass
selbsternannte Gralshüter der Aktienkultur seiner Familie, große Teile von Porsche. der Aktionär entsprechend im Aufsichtsrat
dagegen sahen sich veranlasst, uns zu kri- Wie soll er künftig neutral beurteilen, ob vertreten sein sollte. Darüber redet aber of-
tisieren. Das darf ich einmal beleuchten. ein von Porsche vorgeschlagenes Geschäft fensichtlich keiner. Hier wird mit zweierlei
SPIEGEL: Nur zu! auch zum Vorteil von VW ist? Maß gemessen, weshalb auch immer.
Wiedeking: Volkswagen verkauft lediglich Wiedeking: In der Praxis gibt es diesen Ge- SPIEGEL: Dennoch könnten Sie sich doch,
2,8 Prozent seiner Produkte im gleichen gensatz gar nicht. Ein gutes Beispiel ist die um Ihren guten Willen zu demonstrieren,
Segment wie Porsche. Kartellrechtlich re- Kooperation beim Cayenne und beim auf einen unabhängigen Aufsichtsratsvor-
levant ist eine solche Überlappung erst bei Touareg. Der Touareg wäre nach Aussage sitzenden einigen. Was spricht dagegen?
25 bis 33 Prozent. Bei den 2,8 Prozent han- von Herrn Pischetsrieder ohne Porsche Wiedeking: Ich möchte das Thema Auf-
delt es sich übrigens um Bentley, Bugatti nicht wirtschaftlich. Durch die Koopera- sichtsratsbesetzung in der aktuellen Situa-
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 87
Wirtschaft

tion nicht öffentlich diskutie- einen Konkurrenten elimi-


ren; dazu sind vorher Gesprä- nieren.
che notwendig. Der Aufsichts- Wiedeking: Es wäre für Porsche
rat muss kompetent besetzt das Schlimmste, wenn sich
sein, und er muss die An- alle, also auch VW, aus dem
teilseignerstrukturen wider- Sportwagensegment verab-
spiegeln. Die Welt muss nun schieden würden. Wir brau-
einmal zur Kenntnis nehmen, chen Vielfalt und Wettbewerb.
dass wir, der kleine Porsche, Das ist meine feste Überzeu-
heute der größte Einzelaktio- gung. Wir erheben allerdings
när von Volkswagen sind. Das für alle unsere Geschäfte den

WALTER SCHMIDT / NOVUM


ist nicht mehr von der Hand zu Anspruch: Man muss mit den
weisen, auch wenn es einigen Geschäften Geld verdienen.
nicht gefallen mag. Man sollte sich in der heutigen
SPIEGEL: Piëch ist der Enkel Zeit hüten, einem Hobby zu
von Ferdinand Porsche, der frönen.
einst den Käfer entwickelte VW-Chef Pischetsrieder, Aufsichtsräte Wulff, Piëch: „Zweierlei Maß“ SPIEGEL: Lamborghini hat in
und damit den Grundstein für den vergangenen Jahren hohe
das Volkswagen-Werk legte. Es wird spe- Freude daran haben, wenn die Programme, Verluste erwirtschaftet. Dann müssten Sie
kuliert, dass es Piëchs Idee war, Volks- die dort bereits beschlossen sind oder noch diese Marke im VW-Konzern in Frage stellen.
wagen wieder in den Einflussbereich der entwickelt werden, Früchte tragen. Wiedeking: Ich glaube einfach, dass man in
Familien Porsche und Piëch zu bringen. Ist SPIEGEL: Der Börsenwert ist deshalb so nied- dem Segment Geld verdienen kann. Das ist
diese Vermutung so abwegig? rig, weil VW nicht in bester Verfassung ist. für mich keine Frage.
Wiedeking: Sie ist so abwegig, weil ich ge- Was werden Sie unternehmen, um den Kon- SPIEGEL: Glauben Sie denn auch, über den
nau weiß, wie der Deal zustande gekom- zern wieder auf Vordermann zu bringen? Aufsichtsrat so ins Unternehmen eingreifen
men ist. Er basiert auf einer Idee von mir. Wiedeking: Wir werden über unsere Funk- zu können, dass Sie es schaffen, das Ruder
Ausgangspunkt war, dass seit Jahren auf tion im Aufsichtsrat die großen strategi- herumzudrehen?
unseren Hauptversammlungen und Ana- schen Themen mitdiskutieren. Wir haben Wiedeking: Die operative Verantwortung
lystenkonferenzen die Frage gestellt wurde: ja einige Erfahrung im Fahrzeuggeschäft. liegt beim Management.
Was macht ihr mit dem vielen Geld? Vie- Bentley zum Beispiel hat bis heute noch SPIEGEL: Eben.
le haben auf eine Sonderausschüttung nicht viel Geld verdient. Aber wir verdie- Wiedeking: Bei VW agiert ein gutes Team,
spekuliert. Ich bin allerdings der Meinung, nen in diesem Segment Geld. Deshalb das auch den Willen hat, Veränderungen
dass mit einem Team, das in den letzten glaube ich fest daran, dass wir durchaus herbeizuführen. Diesen Kurs werden wir
Jahren nachweislich ordentlich gearbeitet etwas Positives einbringen können. unterstützen. Wir sind ein Unternehmen, das
und das Unternehmen von einem Über- SPIEGEL: Oder Sie müssten zu dem Ergeb- auf Langfristigkeit setzt, nicht auf kurzfristi-
nahmekandidaten zum profitabelsten Au- nis kommen: Wenn mit Bentley kein Geld ge Erfolge. Für uns ist diese Investition eine
tomobilhersteller entwickelt hat, noch verdient wird, muss VW die Marke ab- Vision für die Zukunft. Es geht nicht darum,
mehr zu bewegen ist. Deshalb habe ich stoßen. Da wäre der Interessenkonflikt morgen die höheren Dividenden abzugreifen
dafür gekämpft, das Geld anders zu ver- gegeben, denn dann hieße es, Sie würden oder hohe Kursgewinne zu machen.
wenden. Dass dies bei der Familie Piëch, SPIEGEL: Die VW-Führung hatte schon seit
aber auch bei den Porsches auf fruchtbaren längerem mit DaimlerChrysler über eine
Boden fiel, ist ja nicht verwerflich. Machtverteilung wechselseitige Kapitalbeteiligung beider
SPIEGEL: Hatten Sie überlegt, Anteile an Stimmrechtsanteile bei Porsche und VW Unternehmen gesprochen, die auch vor
einem anderen Unternehmen zu überneh- einer feindlichen Übernahme schützen
men, falls der Einstieg bei Volkswagen PORSCHE-Stammaktien sollte. Wussten Sie davon? Und haben Sie
nicht klappt? Gerhard Porsche Ferdinand Ihren Schritt beschleunigt, um in das
Wiedeking: Wir haben historisch eine gute 5,8 % 13,2 % Piëch Machtvakuum des Führungswechsels bei
Hans-Peter
Beziehung zum Haus Volkswagen. Ich ken- Porsche 12,2 % Hans DaimlerChrysler zu stoßen?
ne das gesamte Management dort, wir ha- Michel Wiedeking: Ich wusste das nicht und habe
13,2 % Piëch
ben Vertrauen zueinander. Deswegen lag es Wolfgang 12,2 % es erst später aus der Presse erfahren. Die
Porsche
eigentlich nahe, dass wir zunächst einmal 7,6 % Louise Idee war, auf verschiedenen Gebieten zu
versuchen, in diese Richtung zu denken. 12,3 % Daxer- kooperieren. Ich halte das für positiv. Ich
Piëch
Nebenbei hat uns der Kapitalmarkt gehol- Ferdinand 23,5 % würde es begrüßen, wenn hier eine weite-
fen. Die VW-Aktie lag ja deutlich am Bo- Alexander Porsche re Kooperation zustande kommt, um das
den, als die Idee bei uns geboren wurde. Porsche GmbH Stuttgart Unternehmen zu festigen und zusätzliches
Im Besitz der Familien
Das ist fast ein Jahr her; da lag der Kurs zwi- Piëch und Porsche Geld zu verdienen.
schen 35 und 32 Euro. Heute liegt er bei 46, SPIEGEL: Die Situation bei Volkswagen
47 und ging hoch bis 50. Es war also auch
VW-Stammaktien scheint inzwischen ziemlich verfahren. Wie
eine historische Chance. Und Chancen Capital Porsche Option soll es jetzt weitergehen?
muss man beim Schopf packen. Group auf Wiedeking: Jetzt muss erst einmal Ruhe ein-
SPIEGEL: Wie soll sich der Kauf rechnen? Ein
18,53 % weitere kehren. Dass der Kleine es wagt, nach ei-
Brandes
Hedgefonds würde Audi abspalten und an Investment 5,1 % 3,4 % nem Großen zu greifen, muss sich bei vie-
die Börse bringen, damit hätte er zwei Drit- Partners len Leuten erst einmal setzen.
10,7 %
tel des Kaufpreises schon wieder reingeholt. Streubesitz SPIEGEL: Auch bei Ministerpräsident Wulff?
Wiedeking: Daran sehen Sie, dass der in-
Volks- Wiedeking: Ich bin mit Herrn Wulff in ge-
wagen 31,07 %
nere Wert des Unternehmens deutlich hö- 13,0 % ordneten Gesprächen. Ich glaube fest daran:
AG
her ist als der Börsenwert. So eine Chance 18,2 % Wenn alles klar auf dem Tisch liegt, wenn
muss man doch wahrnehmen. Jeder Land jeder den gleichen Sachstand hat, wenn man
Niedersachsen
Aktionär des Volkswagen-Konzerns wird sich ausgetauscht hat, wenn man mal mit-
90 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
einander gearbeitet hat, dann wird sich vie-
les von dem, was heute als Problem darge-
stellt wird, in Schall und Rauch auflösen.
SPIEGEL: Die vier Kapitalvertreter im Auf-
sichtsrat, deren Mandat im Mai nächsten
Jahres zur Hauptversammlung abläuft, ste-
hen zur Neubesetzung an. Mindestens zwei
der Sitze können dabei für Porsche-Ver-
treter frei werden. Werden Sie bis zur
Hauptversammlung am 3. Mai 2006 war-
ten, um Ihren Anspruch auf Vertretung im
Aufsichtsrat geltend zu machen?
Wiedeking: Ich will über diese Themen kei-
ne öffentliche Diskussion lostreten. Der
gute Corporate-Governance-Codex sagt
eindeutig: Die Aktionäre sollen im Auf-
sichtsrat ordentlich vertreten sein. Ich habe PAUL LANGROCK / ZENIT
da aber auch keine Eile.
SPIEGEL: Also wird es keine außerordentli-
che Hauptversammlung geben?
Wiedeking: Darüber haben wir intern noch
nicht abschließend befunden. Ich bin dafür,
das Ding in Ruhe anzugehen. Beisheim-Center in Berlin: Prachtbau eines ehemaligen SS-Mannes
SPIEGEL: Haben Sie eigentlich erwartet, dass
es so viele Schwierigkeiten geben würde?
IMMOBILIEN
Wiedeking: Wir haben keine Schwierigkei-

Terra incognita
ten, jedenfalls nicht auf der Arbeitsebene.
Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre,
dass die Menschen, die heute im VW-Kon-
zern die Verantwortung tragen, und die
Menschen, die heute bei Porsche in den Seit Jahren kämpfen die Nachfahren der jüdischen Kaufmanns-
Projekten mitarbeiten, nicht ordentlich
miteinander umgehen, dann hätte ich das familie Wertheim um ihr Erbe. Nun sorgen zwei neue Urteile
nicht tun dürfen. Wenn es kontroverse Dis- für Klarheit. Doch Legionen von Juristen wollen weiterstreiten.

F
ür KarstadtQuelle-Chef Thomas Mid- Karstadt zunehmend belastet, auch und
delhoff fing die vergangene Woche gerade bei der heimischen Kundschaft. Es
gut an: Seine Verkaufsmanager be- geht um große Emotionen. Es geht um
richteten von Sanierungserfolgen im Waren- Nazi-Unrecht und Vertreibung, um Enteig-
hausgeschäft. Aber auch ein in den USA nung und Wiedergutmachung – und es geht
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL

schwelender Prozess gegen den Handels- um Geld.


konzern stimmte ihn hoffnungsfroh. Geld, das einerseits dem schwer ange-
Barbara Principe und weitere Erben der schlagenen Handelskonzern etwas Luft im
Kaufmannsfamilie Wertheim hatten Mid- aktuellen Sanierungskampf verschafft hät-
delhoffs Konzern dort wegen Betrugs ver- te. Geld, das andererseits eine um ihr Erbe
klagt. Ihre Vorfahren seien beim einstigen gebrachte jüdische Familie betrifft.
Wiedeking, SPIEGEL-Redakteure* Verkauf ihrer Wertheim-Aktien an Hertie Alle paar Monate taucht das Thema in
„Ich bin ja auch nicht einfach“ über den Tisch gezogen worden, behaup- der Presse auf. Worum es genau geht, weiß
teten sie. Dafür müsse KarstadtQuelle, das kaum noch einer der Außenstehenden. Da-
kussionen gibt, dann mit der Finanzszene später Hertie schluckte, einstehen. bei ist die Geschichte nicht nur komplex,
und zum Teil mit der Politik. Beide haben Zum zweiten Mal wiesen nun US-Rich- sondern auch voller Dramen und juristi-
mit VW nichts zu tun. ter die Klage ab. Damit scheint sicher, dass scher Winkelzüge vor der Kulisse der
SPIEGEL: Ihre Kollegen in anderen Auto- Middelhoff keine Gefahr mehr aus der His- wechselvollen deutschen Geschichte.
konzernen werden schadenfroh beobachten, torie des Konzerns droht, zumindest in den Wie die ebenfalls jüdischen Geschäfts-
welchen Ärger Sie sich eingehandelt haben. USA. Nur einen Tag später aber bekam leute Hermann Tietz (Hertie) und Leon-
Wiedeking: Ich weiß nicht, wer schadenfroh seine Laune wieder einen Dämpfer. hard Tietz (Kaufhof) hatten die Wertheims
ist. Wahrscheinlich gibt es genügend Geg- Da beendete das Bundesverwaltungsge- zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren
ner, die mit der Kalaschnikow im Straßen- richt den seit mehr als zehn Jahre schwe- Warenhäusern eine Revolution im Handel
graben liegen. Ich bin ja auch nicht ein- lenden Streit um wertvolle Grundstücke eingeleitet und gigantische Konsumtempel
fach: Porsche verdient viel Geld, und ich är- des früheren Wertheim-Imperiums. Nun geschaffen. Doch schon bald nach der
gere die anderen mit Sprüchen, dass sie ist klar, dass der Erlös aus dem Verkauf Machtergreifung der Nazis begann die als
keine Subventionen nehmen sollen. Jetzt der Areale nicht an Karstadt fließt, son- „Arisierung“ verkappte Enteignung der
sind wir auch noch bei VW eingestiegen. dern an die jüdische Organisation Confe- jüdischen Kaufhauskonzerne.
Aber es heißt ja: Viel Feind, viel Ehr. rence on Jewish Material Claims against Um sein Lebenswerk zu retten, übertrug
SPIEGEL: Herr Wiedeking, wir danken Ih- Germany, kurz JCC genannt. Die wieder- Hauptaktionär Georg Wertheim die An-
nen für dieses Gespräch. um wird einen Teil der Millionensumme an teile seiner nichtjüdischen Ehefrau, ehe er
Barbara Principe weiterreichen. 1939 in Berlin verbittert starb. Kurz darauf
* Dietmar Hawranek, Armin Mahler in der Stuttgarter Das endlose Geschacher ist politisch heiratete sie den Firmenjustitiar Arthur
Porsche-Zentrale. hochsensibel und hat das Ansehen von Lindgens.
92 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft

Nach Kriegsende stand der Konzern hatte Hertie Wertheim einst ganz legal Immerhin: Auch die Bundesrichter stütz-
quasi vor dem Nichts: Fast alle Warenhäu- übernommen. ten ihre Berliner Kollegen in der Auffas-
ser befanden sich in den von den Sowjets Doch dann wurde das Gesetz auf Initia- sung, dass es nicht darauf ankomme, „wer
eroberten Gebieten. Dort hieß Enteignung tive der JCC in entscheidenden Punkten im Laufe der Jahre die Geschäftsanteile er-
nur anders: Die Werte wurden in Volks- ergänzt: So konnten fortan nicht nur Fir- worben habe“. Stattdessen wolle das Ge-
eigentum überführt. Im Westen versuchte men, sondern auch einzelne Gesellschafter setz „am Schicksal des in der Nazi-Zeit ge-
Lindgens mit fünf Mini-Filialen den Neu- und deren Nachkommen enteignetes Ost- schädigten jüdischen Gesellschafters an-
anfang, sah aber bald keine Chancen mehr vermögen zurückverlangen. Zudem wurde knüpfen und diesem ergänzende Wieder-
und bot dem Hertie-Ariseur Georg Karg später festgelegt, dass die Gesellschafter gutmachung gewähren“.
die kriselnde Firma zum Kauf an. auch einzelne Grundstücke als Entschädi- Das Geschacher ist damit nicht zu Ende.
Um das Geschäft zu stemmen, musste gung beanspruchen können. Denn nun richten die Juristen des ange-
Lindgens aber zunächst die nach Amerika Damit war die Position von Hertie ent- schlagenen Handelsriesen ihre letzte Hoff-
geflüchteten Wertheim-Neffen Günther scheidend geschwächt. Da sich Barbara nung auf ein ehemaliges Wertheim-Areal,
und Fritz dazu bringen, auf die ihnen ge- Principe damals noch nicht als Erbe ge- das Hertie bereits 1991 vom Land Berlin be-
setzlich zustehende Rückgabe der Aktien meldet hatte, konnte nun die JCC, die in kam und später für 247 Millionen Mark an
endgültig zu verzichten, die sie 1938 unter solchen Fällen laut Gesetz automatisch als den Metro-Gründer Otto Beisheim weiter-
politischem Druck verkauft hatten. Rechtsnachfolger auftritt, Ansprüche auf verkauft hatte: das sogenannte Lenné-Drei-
In einem am 7. November 1951 vor dem die Grundstücke erheben. Acht Jahre eck am Potsdamer Platz.
Wiedergutmachungsamt 63 in Berlin ge- ließen sich die Larov-Beamten Zeit, um zu Ausgerechnet Beisheim, ehemaliger SS-
schlossenen Vergleich verzichteten die bei- entscheiden, wer von beiden Antragstel- Mann der „Leibstandarte Adolf Hitler“,
den gegen Zahlung von mageren 40 000 lern den Zuschlag bekommt. Schließlich errichtete dort einen Prachtbau, der unter
Mark auf alle Rückerstattungsforderungen. entschied das Amt im Jahr 2001 in zunächst anderem die Luxushotels Marriott und
Das sei Betrug gewesen, wird 50 Jahre vier Fällen zugunsten der JCC. Ritz-Carlton beherbergt. „Das ist Terra in-
später Barbara Principe, Tochter von Gün- Seither drängelt es sich vor den Gerich- cognita“, für die weder der Gesetzgeber
ther Wertheim, klagen. Denn wenige Wo- ten, denn an dieser Stelle kamen auch noch noch das Bundesverwaltungsgericht ein-
chen nach dem Termin beim Wieder- die Karstadt-Juristen ins Spiel. Der Bran- deutige Regelungen geschaffen habe, heißt
gutmachungsamt verkaufte Lindgens 51 chenprimus hatte 1994 die angeschlagene es unter Anwälten.
Prozent der Wertheim-Anteile für 1,8 Mil- Hertie-Kette übernommen – und damit Anders als die übrigen Grundstücke war
lionen Mark an Hertie – und machte zu- auch die Hoffnungswerte in den Bilanzen. das Lenné-Areal schon vor dem Fall der
sammen mit den in Deutschland verblie- Erwartungsgemäß reichte Karstadt Kla- Mauer im Zuge eines Gebietstausches an
benen Wertheim-Erben ein Bombenge- ge ein gegen die Entscheidung der Larov. West-Berlin gegangen und später Hertie
schäft. Berechnungen der Betriebsprüfer Auf die erwarteten Verkaufserlöse von ins- zugesprochen worden. „Die Rückübertra-
zufolge war das Paket nur gut eine halbe gesamt rund 200 Millionen Euro kann kein gung erfolgt unentgeltlich“, hieß es im Ver-
Million Mark wert. Vorstand einer Aktiengesellschaft ohne trag, in dem ein spezieller Passus das Land

Wertheim-Erbin Principe mit Anwälten, -Kaufhaus (an der Leipziger Straße in Berlin, um 1920): Revolution eingeleitet ECOPIX / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.)

Später wurde Wertheim komplett von weiteres verzichten, da er sonst Gefahr Berlin allerdings von möglichen Ansprü-
Hertie übernommen. Die zahlreichen Ost- läuft, von seinen Aktionären auf Schadens- chen früherer Besitzer freistellte.
immobilien standen nur noch als Erinne- ersatz verklagt zu werden. Wenn das Amt zur Regelung offener
rungswert in den Büchern. Erst mit dem Als das Verwaltungsgericht Berlin im Vermögensfragen nun, wie von vielen Ju-
Mauerfall bekamen die Symbolwerte in März dieses Jahres zugunsten der JCC ent- risten erwartet, auch das Lenné-Dreieck
den Hertie-Bilanzen neue Sprengkraft. schied, war der Kampf im Grunde beendet. dem JCC zuspricht, könnte sich die Orga-
Denn nach dem seit 1990 geltenden Ge- Nur „rein formal“, wie es nun unter Kar- nisation zunächst an das Land Berlin wen-
setz zur Regelung offener Vermögensfra- stadt-Juristen heißt, legten sie noch Be- den. Der Senat würde auf die Freistel-
gen sollten alle von der DDR verfügten schwerde beim Bundesverwaltungsgericht lungserklärung verweisen und versuchen,
Enteignungen rückgängig gemacht und an ein. Sie können nicht anders. Die Sach- alle Forderungen auf KarstadtQuelle ab-
die ehemaligen Besitzer oder deren Erben zwänge. Sie wollen es hinter sich bringen zuwälzen.
zurückgegeben werden. Sofort reichten die wie inzwischen alle Beteiligten, die nur Läuft alles nach den Vorstellungen der
Hertie-Juristen Ansprüche auf etwa 40 noch müde durchs Paragrafendickicht zu JCC, müsste Karstadt den von Beisheim
ehemalige Wertheim-Grundstücke in Ber- stolpern scheinen. Was einst als symboli- gezahlten Preis für das Lenné-Dreieck samt
lin, Stralsund und Rostock bei den zustän- sche Aktion gegen das Unrecht unter- Zinsen wieder herausrücken. Es geht noch
digen Landesämtern zur Regelung offener schiedlichster Regime begann, ist zu einem einmal ums große Geld – um etwa 140 Mil-
Vermögensfragen (Larov) ein. Schließlich Schaukampf kühler Juristen geworden. lionen Euro. Klaus-Peter Kerbusk

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 93
Wirtschaft

Produktionshalle im Hamburger Aluminium-Werk: Das Todesurteil war längst besiegelt

die exorbitant hohen Strompreise die Fa-


UNTERNEHMEN
brik sonst in den Ruin treiben würden.

Ofen aus
Das HAW verbraucht im Jahr zwei Mil-
liarden Kilowattstunden und überweist
dem Stromlieferanten Hamburger Electri-
citäts-Werke (HEW) dafür jährlich 70 Mil-
Das Hamburger Aluminium-Werk schrieb immer schwarze Zahlen. lionen Euro. Fast 40 Prozent der Kosten in
der Aluminiumproduktion entfallen bisher
Jetzt wird die Firma einfach dichtgemacht. Ein Lehrstück auf Energie.
in Sachen Renditehunger und globalem Reißbrett-Management. Der Liefervertrag zwischen HAW und
HEW stammt aus dem Jahr 2000 und en-

A
ls Eivind Reiten am Dienstag ver- duziert auch das Hamburger Aluminium- det am 31. Dezember. Dann, so plante die
gangener Woche in Oslo „das beste Werk statt Leichtmetall nur noch ein Heer zum schwedischen Staatskonzern Vattenfall
Quartalsergebnis aller Zeiten“ für von Arbeitslosen, weil den Gesellschaftern gehörende HEW, sollte nicht mehr der
seinen norwegischen Konzern Norsk Hydro der Profit nicht hoch genug erschien. einst ausgehandelte Preis von rund 34 Euro
verkündete, stellten die Arbeiter des Ham- Täglich unterschreibt Geschäftsführer pro Megawattstunde gelten, sondern der
burger Aluminium-Werks (HAW) gerade Amadeus Hajek nun neue Kündigungen, an der Leipziger Energiebörse gehandelte,
ein paar neue Metallkreuze ans Werktor. damit bis Ende des Jahres alle 450 Mitar- der gegenwärtig bei rund 45 Euro liegt. Für
„Jobfriedhof“ steht dort. beiter entlassen sind. Es ist eine besonders die drei HAW-Gesellschafter wäre ein
Um 69 Prozent hat Reiten den Gewinn absurde Geschichte aus dem großen Buch Preissprung von 20 Millionen Euro pro
seines Konzerns im Vergleich zum Vorjahr der Globalisierung mit seinen Unterkapi- Jahr fällig geworden, sie selbst sprechen
nach oben gepeitscht. Die Arbeiter in sei- teln Profitgier und Standort-Poker. Und sie sogar von 50 Millionen Euro.
ner fernen Hamburger Tochterfirma fin- begann im Frühsommer dieses Jahres. „Unter diesen Bedingungen ist ein ren-
den, dass das irgendwie auf ihre Kosten Da verkündeten die drei Gesellschafter tabler Betrieb der Hütte nicht zu realisie-
ging: „Eure Profitgier ist unser Todeseli- der Hamburger Aluhütte Norsk Hydro ren“, sagt Dieter Braun, Deutschland-Chef
xier“ prangt auf den Protestplakaten in (Norwegen), Amag (Österreich) und Alcoa von Norsk Hydro. Was Braun verschweigt:
Hamburg-Finkenwerder. (USA), man werde das Werk schließen, weil Auch der Preis für Aluminium ist in den
Und während der norwegische Top-Ma- vergangenen Jahren drastisch
nager noch mit seinem Erfolg prahlte, war gestiegen, so dass die hohen
der HAW-Betriebsleiter Elmar Sturm ge- Stromkosten durch höhere Ver-
rade damit beschäftigt, die ersten 8 der 270 kaufspreise des Aluminiums
Elektrolysezellen herunterzufahren. Ne- beinahe wieder ausgeglichen
benbei werkelt er an einem Konzept für werden.
FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS

sich und die Schichtleiter, wie bis zum 31. Das ist auch der Grund, wes-
Dezember die restlichen 262 Aggregate sys- halb der Aluhütten-Konkurrent
tematisch abgeschaltet werden können. Die Corus in Voerde erst vergange-
Selbstauflösung ist in vollem Gang. ne Woche einen langfristigen
Dann ist endgültig der Ofen aus. Dann Stromliefervertrag mit dem
wird eines der profitabelsten und moderns- Energieriesen E.on abschloss,
ten Aluminiumwerke Europas stillgelegt. der sich am Leipziger Börsen-
Ein Werk, das in seiner über 30-jährigen preis orientiert. Selbst bei ei-
Geschichte mehr als eine Milliarde Euro nem Strompreis von mehr als
Gewinn erwirtschaftet hat und bis heute Geschäftsführer Hajek (beim Kündigungen-Unterzeichnen) 50 Euro pro Megawattstunde,
nie in die roten Zahlen geriet. Dann pro- Die Selbstauflösung ist in vollem Gang berechneten die HAW-Con-
96 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Oslo einen Handstand gemacht und die
HEW ihren Strom verschenkt hätte – das
Todesurteil für das Unternehmen war längst
besiegelt.
Denn schon im Dezember 2004 hatten
seine Hoheit Abdullah Bin Hamad al-Attija,
Energieminister von Qatar, und Norsk-Hy-

MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE-ALLIANCE / DPA


dro-Boss Reiten in Doha eine Vereinbarung
über den Bau einer der weltweit größten
Aluminiumhütten unterzeichnet. Das not-
wendige Kraftwerk stellten die Scheichs
gleich mit in die Wüste. Der Aluminium-Gi-
gant hat eine Kapazität von 570000 Tonnen.
Fast so viel, wie alle fünf Aluhütten in
Deutschland zusammen. Nur eben billiger.
Am Ende wies Norsk Hydro Großmanns
Kaufangebot als „nicht tragfähig“ zurück,
Mitarbeiter-Proteste (in Hamburg-Finkenwerder): Metallkreuze für jeden Arbeitsplatz was der mit dem Wort „Rufmord“ kom-
mentierte: „Das klingt so, als wäre ich nicht
troller, hätte die Hamburger Aluhütte noch „Auf viele meiner Angebote habe ich in der Lage, ein vernünftiges Angebot abzu-
ein Betriebsergebnis von 5,4 Millionen Euro nicht mal eine Reaktion bekommen“, sagt geben“, schimpft der Unternehmer. Trimet
erwirtschaftet. Doch das ist den Norwegern Hans-Jürgen Cramer, HEW-Vorstandschef. erwägt, Norsk Hydro wegen des Verkaufs-
schlicht zu wenig. Stattdessen machte Norsk Hydro den po- theaters auf Schadensersatz zu verklagen.
Alarmiert fuhr Hamburgs Wirtschaftsse- tentiellen Käufern mit immer neuen Bedin- Dass das norwegische Unternehmen die
nator Gunnar Uldall am 3. Juni nach Oslo, gungen das Leben schwer. Mal musste der potentiellen Käufer so systematisch düpier-
um den Entschluss noch abzuwenden. Dort Investor nachweisen, genügend Finanzkraft te, hatte Kalkül. Einerseits will der Konzern
schlug er vor, die Schließung um mindes- und Know-how zu besitzen. Dann sollte er damit den Druck auf die Berliner Regierung
tens ein halbes Jahr zu verschieben, um ab- kurioserweise einen neuen Energieanbieter erhöhen. „Dafür nimmt man mal eben den
zuwarten, ob eine neue Berliner Regierung auftreiben, der sicherstellt, dass das Aluwerk Verlust von 450 Arbeitsplätzen in Kauf, da-
einen anderen Kurs in Sachen Energiepo- mit Strom beliefert wird. Später hieß es, mit man 5000 andere rentabler machen
litik einschlagen würde. Die Strompreise ohne Garantien für die Rohstoffbeschaffung kann“, sagt Dieck. Sein Ärger richtet sich ge-
sind nicht zuletzt deshalb so rasant gestie- könne man einen Kauf gleich vergessen. gen Neuss, wo Norsk Hydro eine weitere
gen, weil mit ihnen erneuerbare Energie- Auch wollten die Altgesellschafter si- Aluminiumhütte mit angrenzender Gießerei
formen quersubventioniert werden und Ab- cherstellen, dass die angrenzende Gießerei und Walzwerk betreibt. Die Drohkulisse
gaben wie Ökosteuer anfallen. Auch der und das Walzwerk weiterhin mit kosten- wäre eingestürzt, hätte Großmann bewie-
Handel mit Emissionszertifikaten trieb die günstigem Aluminium vom Neubesitzer sen, dass man auch bei hohen Strompreisen
Preise spürbar nach oben. beliefert werden. Denn beide Unterneh- profitabel Aluminium herstellen kann.
Doch Uldall stieß auf taube Ohren. „Ich mensteile sollen im Besitz von Norsk Hy- Andererseits wollte Reiten nicht an ihn
habe als Senator viele hundert Gespräche dro bleiben. verkaufen, weil das neue Konkurrenz be-
mit Unternehmen geführt“, sagt er heute. deutet hätte. Das Metall ist gefragt
„Aber so schnell wie in Oslo sind noch nie wie nie zuvor: In den nächsten zehn
Vorschläge von mir abgebügelt worden.“ Jahren wird der Aluminiummarkt
Gemeinsam mit dem HAW-Betriebsrats- von derzeit 30 Millionen Tonnen jähr-
vorsitzenden Karl-Heinz Dieck machte sich lich auf etwa 42 Millionen wachsen.
Uldall auf die Suche nach neuen Gesell- Da schien es Norsk Hydro plausibler,
ULRICH PERREY / PICTURE-ALLIANCE / DPA

schaftern, da Norsk Hydro immer unver- die kerngesunde Firma einfach dicht-
hohlener zu verstehen gab, dass das Werk im zumachen. Die offizielle Begründung
Portfolio stört. Ende Juli erklärte sich Norsk für das Aus der Öfen fällt sogar noch
Hydro immerhin bereit, Gespräche mit abenteuerlicher aus.
Kaufinteressenten zu führen. Die gab es „Wir hatten Angst, der neue Be-
zuhauf. Insgesamt sieben Investoren prä- sitzer geht wegen seiner mangelnden
sentierte Uldall in Norwegen, darunter die Erfahrung schon nach kurzer Zeit
Essener Aluhütte Trimet und den Stahl- insolvent“, sagt Deutschland-Chef
produzenten Georgsmarienhütte, hinter Braun. Der hätte dann die 36 Millio-
dem der Kanzlerfreund Jürgen Großmann Norsk-Hydro-Deutschland-Chef Braun nen Euro, die von Norsk Hydro be-
steckt. Bis zum 16. September sollten die „Rentabler Betrieb nicht zu realisieren“ reits für Abfindungen vorgesehen
Angebote auf dem Tisch in Oslo liegen. waren, „möglicherweise schon ver-
Derweil unternahmen HAW und HEW Schließlich verlangten die Norweger und braten“. Auch die 20 Millionen Euro für
einen letzten Versuch, die alte Konstellation die beiden anderen Gesellschafter, von den Abriss des Werkes, der bei Norsk Hy-
beizubehalten. Am 27. September bean- sämtlichen Verpflichtungen und späteren dro „Rekultivierung“ heißt, wären nach
tragten die beiden Unternehmen ohne Risiken freigestellt zu werden. „Je mehr der norwegischen Logik futsch gewesen,
Kenntnis der Norsk-Hydro-Zentrale bei Bedingungen die Investoren erfüllten, des- und der alte Konzern hätte wegen der
der Bundesnetzagentur, die Netzdurchlei- to höher legte Norsk Hydro die juristische Altrisiken, die Großmann nicht überneh-
tungsgebühr für Strom um 50 Prozent zu Latte“, sagt Betriebsrat Dieck. men wollte, erneut bluten müssen.
senken, was dem Alu-Werk eine Ersparnis Längst hatte sich gezeigt, dass nicht die Insofern habe man Großmann vor einer
von 7,5 Millionen Euro gebracht hätte. Die Strompreise der wahre Grund für die ge- „Pleite gerettet“ und den Hüttenwerkern
Kontrollbehörde signalisierte „wohlwollen- plante Schließung sind. Die Hinhaltetaktik „einen sehr guten Sozialplan“ erkämpft.
de Prüfung“. Zuvor reichte HEW bereits ei- hatte System. Selbst wenn Großmann, der Das sei doch „für alle die beste Lösung“.
nen Vier-Punkte-Rettungsplan in Oslo ein. zum Schluss als Interessent übrig blieb, in Janko Tietz

98 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft

Auf der A 7, rund eine Autostunde nörd-


lich von Hamburg, ist die Erinnerung noch
frisch. Die Raststätte Hüttener Berge
mahnt: „Achtung!!! Wir nehmen weiter-
hin gern Ihre DM!!“ Bis zu 1500 Mark
kommen jede Woche zusammen, sagt
Pächterin Andrea Fischer-Hansen. Für die
meisten ihrer Kunden lohne es sich ein-
fach nicht, „wegen einer Hand voll Rest-
geld extra zur Bundesbank-Filiale zu ren-
nen“. Ein Service, den Fischer-Hansen
gern übernimmt, schließlich „bringt das
Angebot Kunden ins Haus“.
Wie viele Einzelhändler, Gastronomen
und Dienstleister wieder die alte Währung
akzeptieren, weiß niemand genau. Im
Internet kursieren Listen mit Dutzenden
Stellen – vom Hamburger Zahnarzt, der

JÖRG MÜLLER / VISUM


für Mark und Pfennig bohrt, über einen
Wasserbetten-Shop in Wuppertal bis zum
Ostprodukte-Laden in Ettlingen. Aber auch
Großunternehmen versuchen immer mal
Raststätten-Pächterin Fischer-Hansen: „Das Angebot bringt Kunden ins Haus“ wieder, den nostalgischen D-Mark-Schatz
zu heben.
Tempo weitergeht, dürften die Schalter- Schon seit einem Jahr können Kunden
WÄ H R U N G
kräfte noch Jahrzehnte zu tun haben, der Bekleidungskette C&A ihr Restgeld in

Vergessene schließlich versichert die Bundesbank


standhaft, die alte Währung unbefristet und
kostenfrei in Euro zu tauschen.
Socken, Shorts und Unterwäsche investie-
ren. Anfangs sollte die Aktion nur das
Weihnachtsgeschäft in Schwung bringen,

Milliarden Vor allem der Hartgeldschwund macht


den Bankern zu schaffen. Von den Mark-
und Pfennigstücken, die im Umlauf waren,
ist bisher kaum mehr als die Hälfte zurück-
doch die Kampagne kam so gut an, dass die
Unternehmensführung entschied, sie auf
unbestimmte Zeit zu verlängern.
An den Kassen des Textilhändlers hält
Noch immer bunkern die Deutschen
gegeben worden. Wo die andere Hälfte ist, sich die Freude jedoch in Grenzen, wenn
gewaltige D-Mark-Reserven – darüber lässt sich nur spekulieren. Kunden eine mit Pfennigen gefüllte Pra-
einen Schatz, von dem inzwischen Ein Teil ruht wohl für immer auf dem linenschachtel zücken. Beim Nachzählen
auch Konzerne wie die Deutsche Grund von Brunnen, steckt in Sammel- hören die Verkäuferinnen dann allerhand
Telekom profitieren wollen. alben oder ist in Ländern wie Kroatien Geschichten über den Fundort. Im Kauf-
oder Bosnien-Herzegowina gestrandet, wo mannsladen der Kinder etwa, den die El-

I
m „Spandauer Bock“ ist die Republik die Mark zeitweise Parallelwährung war. tern nach der Euro-Einführung großzügig
noch im Lot. Zigarettenqualm wabert Der große Rest liegt in Skianzügen und bestückt hatten. Oder im Bettkasten der
über den Tresen. Auf den Tischen des Schubladen, auf Dachböden und in Spar- Großeltern, die meinten, die neue Währung
Berliner Lokals stehen Blumen aus Plastik. schweinen oder, wie es Bundesbank-Spre- halte sich eh nur ein halbes Jahr.
Es gibt Asbach Uralt. Dazu ein großes Pils. cher Johannes-Rudi Korz ausdrückt: „Die Die restlichen Münzen und Scheine
Macht zusammen 3,55 Euro – oder 7 Mark. Vergesslichkeit spielt hier sicherlich eine liegen in allen möglichen Verstecken, hat
„Bei uns hat sich eben nichts geändert“, wichtige Rolle.“ Vergessene Milliarden? das Umfrage-Institut Ipsos im Auftrag
sagt Gastwirt Günter Vogt, 60, „weder die von C&A ermittelt. 46 Prozent entdeck-
Preise noch die Währung.“ 149,8 ten Mark-Bestände in alten Geldbörsen,
Das Angebot kommt an. Immer wieder, Nostalgische 45 Prozent wurden in Kleidern fündig. Der
so Vogt, betrete jemand verzückt die Knei- Rest stieß in Schränken und Kommoden,
pe, nachdem er das kleine Schild vor dem Schätze im Auto und in Glückwunschkarten auf
Eingang entdeckt habe: „Bei uns können In Umlauf befindliche DM den späten Geldsegen. 34 Millionen D-
Sie noch mit DM bezahlen“. Mark hat die Bekleidungskette bislang ein-
Er sollte es noch eine Weile stehen las- Angaben in Milliarden Mark genommen.
sen: Knapp vier Jahre nach Einführung des Banknoten Längst will die Mehrheit der Deutschen
Euro-Bargelds kommen auf jeden Deut- Münzen wieder dahin zurück, wo vermeintlich al-
schen im Schnitt noch D-Mark-Reserven les besser war: in die selige D-Mark-Repu-
im Wert von 92 Euro. Insgesamt 7,2 Mil- 1. Januar 2002: blik. Zurück in eine Zeit ohne „Teuro“ und
liarden Mark in Münzen sowie weitere 7,6 Der Euro wird Ein-Euro-Jobs, in der man im Supermarkt
Milliarden Mark in Scheinen waren nach alleiniges mit der guten alten Mark zahlen konnte –
Angaben der Bundesbank Ende September gesetzliches weitaus billiger, versteht sich.
im Umlauf. Eine Summe, die der Wirt- Zahlungsmittel Zumindest bei der Deutschen Telekom
schaftsleistung mancher Kleinstaaten ent- Quelle: Deutsche Bundesbank
wird die Retro-Vision gerade Wirklichkeit.
spricht – und ein Milliardenberg, der kaum Seit Juni akzeptieren rund 55 000 Telefon-
kleiner wird. 12,5 9,4 zellen wieder das Kleingeld mit dem
7,5 7,6 7,2
Zwar strömen Tag für Tag etwa 2100 Alt- Bundesadler. Die Gespräche sind auch
geld-Besitzer in die Filialen der Bundes- noch billiger. Mit einer Mark kann man
bank, um pro Kopf rund 570 Mark in 291 Jahresende Jahresende September genauso lange telefonieren wie mit einem
2001 2002 2005
Euro zu wechseln. Doch wenn es in dem Euro. Henryk Hielscher

100 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Medien Trends

BERLI NER VERLAG

Holprige Landung
der Heuschrecken
D avid Montgomery, neuer Miteigentümer

MICHAEL KAPPELER / DDP


des Berliner Verlags, wird seinen Über-
nahmeplan in einigen Punkten modifizieren
müssen. Offenbar wollen sich weder der
Chefredakteur der „Berliner Zeitung“, Uwe
Vorkötter, noch sein Kollege vom „Berliner
Kurier“, Hans-Peter Buschheuer, zum Vorzugs- Montgomery
tarif an der Übernahme beteiligen, wie Mont-
gomery es geplant hatte. Er habe „gar nicht genau gewusst, wie Ulf Böge, der vor allem prüfen muss, ob sich womöglich andere
so ein Management-Buy-Out überhaupt funktioniert“, so Vor- Verlage unter den Geldgebern der Finanzinvestoren befinden.
kötter, dessen Verbleib im Verlag nach dem erbitterten Kampf Zudem gibt es Probleme, den neugeschaffenen Aufsichtsrat zu
der Redaktion gegen die Neueigentümer ohnehin fraglich ist. füllen, in den neben Vertretern der neuen Verlagsbesitzer und
Auch die kartellrechtliche Überprüfung des Deals könnte Ex-Gruner+Jahr-Chef Gerd Schulte-Hillen weitere Medien-
schwieriger werden, als es sich die britisch-amerikanischen In- spezialisten rücken sollen: Der aus dem Investorenkreis ange-
vestoren von Montgomerys Mecom und Veronis Suhler Ste- fragte ehemalige Springer-Vorstand und Ex-„Bild“-Chef Claus
venson (VSS) vorgestellt haben. „Allgemeine Angaben über die Larass sagte gerade ab: „Wenn die so gekämpft haben, dann
Investoren von VSS und Mecom, die diese Firmen sowieso kann ich als Kollege da doch nicht reingehen“, so Larass, dem
veröffentlichen, reichen uns da nicht aus“, so Kartellamtschef ohnehin das „Geschäftsmodell nicht klar war“.

FERNSEHEN SPIEGEL: Der Zuschauer braucht für die FILMSTUDIUM


vermeintliche Technik-Revolution nicht
„Wir wollen nur den Receiver, sondern auch ein
neues Fernsehgerät. Auf die deutsche
Asyl in Potsdam
Trendsetter sein“ TV-Gemeinde werden also einige Kos-
ten zukommen. G erade erst schien Ruhe eingekehrt
im Streit um das Filmstudium an
ProSiebenSat.1-Vor- De Posch: Da werden sich die Preise der halbstaatlichen Hamburg Media
standschef Guillaume schnell einpendeln. Und der Zuschauer School. Altmeister Hark Bohm war
de Posch, 47, über den bekommt dann ein Bild, das dem Kino nach einer Schlammschlacht um seine
gefloppten Start des ähnelt – und das, zumindest bei uns, Nachfolge in den Ruhestand verabschie-
SVEN SIMON / IMAGO

neuen, hochauflösen- ohne Zusatzkosten zu empfangen ist. det worden, und Produzentin Katharina
den Fernsehens HDTV SPIEGEL: Wie lange wollen Sie noch mit Trebitsch hatte als neue Leiterin des
und den Einstieg seines den Kabelnetzbetreibern über die Kos- von Bohm gegründeten Studiengangs
Konzerns ins Pay-TV ten der digitalen Verbreitung streiten? ihr eigenes Team vorgestellt. Ruhig stel-
De Posch: Wir wollen nur ein Geschäfts- len lässt sich der 66-Jährige dadurch
SPIEGEL: Am Mittwoch vergangener Wo- modell, mit dem beide leben können. jedoch keineswegs: Bohm will mitsamt
che starteten Sat.1 und ProSieben mit Der Marktführer Kabel Deutschland hat seinem Team weitermachen – in Pots-
großem Bohei auf den Münchner zwar behauptet, er würde die digitalen dam, bei der ehemaligen Konkurrenz.
Medientagen das neue hochauflösende Programme kostenlos einspeisen. Die Hochschule für Film und Fernsehen
Fernsehen HDTV. Das kann allerdings Gleichzeitig aber will er die analogen Konrad Wolf (HFF) nimmt Bohm und
noch niemand empfangen. Waren Sie Gebühren für unsere fünf Sender um seine Mitstreiter, darunter auch den von
mit der Premiere etwas übereifrig? 34 Prozent erhöhen. Die glauben wahr- Bohm für seine Hamburger Nachfolge
De Posch: Nein, wir wollen Trendsetter scheinlich, wir könnten nicht rechnen. favorisierten Produzenten Ralph Schwin-
sein. HDTV ist die Technologie der SPIEGEL: Wann werden Sie sich einigen? gel, als Gastprofessoren auf. Sie sollen
nächsten 20 Jahre. Bald kommen ja die De Posch: Ich hoffe nächstes Jahr. an der HFF zum Start im Oktober 2006
entsprechenden Receiver in die Läden. SPIEGEL: Wenn Sie dann auch mit ersten einen neuen Studiengang für die Film-
SPIEGEL: In seiner ProSieben-Show „TV Pay-TV-Angeboten kommen wollen? Weiterbildung entwickeln. Die Leitung
total“ wies Stefan Raab in fröhlicher De Posch: So ist es geplant. will dann Bohm übernehmen, „bis ein
Verzweiflung auf das HDTV-Logo am geeigneter Nachfolger gefunden wird“.
oberen Bildrand hin. HFF-Präsident Dieter Wiedemann will
De Posch: Ich fand das witzig. Stefan hat mit Bohm einen „Leuchtturm“ an sei-
da doch auch ein wenig Werbung für ner Hochschule schaffen. Er weist aller-
uns gemacht. Richtig tief im Thema ist dings darauf hin, dass nach der gesetz-
er ja nicht. lichen Regelung auch in Brandenburg
Professoren mit Beginn des 68. Lebens-
Raab jahres eigentlich ausscheiden müssten.
102
Fernsehen Medien

TV-Vorschau ser, Boris von Brauchitsch)


Tatort: Tod auf der Walz
zur 3sat-Reihe über den
großen italienischen Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Schriftsteller und Filmema- Der junge Zimmermann Mario (Tris-
cher Pasolini (1922 bis tano Casanova) wird ermordet.
1975), „mit der Kirche, dem Dessen Jugendliebe Franzi, die im
Staat, der Bourgeoisie und Heimatdorf von Mario und dessen
den multinationalen Kon- Begleiter Gerry (Maximilian Brück-
zernen.“ In einem kleinen ner) als männermordende Hexe gilt,
Ort im Friaul fliegt Pasolini ist als „Tippelschickse“ ebenfalls

OLGA FILM / WDR


wegen seiner Homosexua- auf der Walz – und verliebt in Gerry.
lität aus dem Schuldienst Die Münchner Kommissare Ivo
und aus der kommunisti- Batic (Miroslav Nemec) und Franz
Szene aus „Liebe Amelie“ mit Kwiatkowsky schen Partei. In Roms Vor- Leitmayr (Udo Wachtveitl) haben es
städten findet er eine neue nicht nur mit den verschwiegenen
Heimat, ihn fasziniert die rohe Sinnlich- reisenden Gesellen zu tun, sondern
Liebe Amelie keit des Subproletariats. „Accatone“, sein auch noch mit einem finsteren Bau-
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD erster großer Spielfilm, handelt von unternehmer (Anton Rattinger) und
Ein Film über ein manisch-depressi- diesen Menschen, sein erster Roman, dem allseits beliebten Herbergsvater
ves Mädchen, zur Hauptsendezeit? „Ragazzi di vita“, vom Sex mit Jungen Kolo (Elmar Wepper). Traumschöne
Klingt nach peinvollem Seelenstrip- um den Bahnhof. Ausgerechnet dort will Kameragemälde (Philipp Timme) und
tease. Aber dieser Film hat das nicht der schwule Intellektuelle die Erfahrung eine geheimnisumwitterte Lisa Maria
nötig. Dezent, trotz großer Nähe zu der Reinheit, der hemmungslosen sexuel- Potthoff als Franzi machen diesen
den Figuren, wird die Geschichte der len Hingabe gemacht haben. Er rechnet Film sehenswert.
17-jährigen Amelie und ihrer Familie mit der Kirche ab, fühlt sich Christus nah
erzählt: Nach einem Selbstmordver- und besetzt in „Das erste Evangelium
such rutscht das Mädchen immer Matthäus“ die Mutter Gottes mit seiner

ROLF VON D. HEYDT / BR / AVISTA FILM


tiefer in eine psychische Krise. Seine eigenen Mutter – ein zutiefst frommer
Eltern wollen lange Zeit nur an nor- Ketzer. Später wendet er sich vom kon-
male Pubertätsprobleme glauben, sumzerstörten Subproletariat ab, auch
bevor sie endlich die Diagnose der von der 68er-Revolte. Seine mysteriöse
Ärzte akzeptieren und ihre Tochter in Ermordung 1975 im Strichermilieu von
die Psychiatrie einliefern. Regisseurin Ostia bewahrte den Rebellen vor der heu-
Maris Pfeiffer kann sich ganz auf tigen „Vulgarität des italienischen Neo-
ihre großartigen Darsteller verlassen: kapitalismus“, die er – so der Philosoph
Oliver Stokowski, Gabriela Maria Antonio Negri – nicht ausgehalten hätte. „Tatort“-Darsteller Brückner, Casanova
Schmeide und vor allem Maria Kwiat-
kowsky als fabelhafte Amelie.

Der Fall Dominik –


TV-Rückblick die betuchten Ironiker müssen es ja
Vom Geschäft mit der Krebsangst wissen. Doch niemand konnte mit der
Lieblingslaune der Deutschen rechnen:
Mittwoch, 21.45 Uhr, ARD Macht Geld glücklich? der depressiven Verstimmtheit. Lotto-
Das Plakat „Krebs ist heilbar! Natür- 26. Oktober, ARD Gewinn ist Schrecken, vermittelte der
lich!“ zeigt das Gesicht des achtjähri- Harald Schmidt und sein Gast Hape Film. Die Parade der Glückspilze glich
gen Dominik. Die Werbekampagne Kerkeling – sie leiteten vergangenen einem Aufmarsch der Trauerklöße.
von 2003 propagierte die Einnahme Mittwoch zu dieser nächtlich gesende- „Lotto-Lothar“ – er hatte sich in „Bild“
von Vitaminpräparaten bei Knochen- ten Reportage von Tilo Knops und als Millionär geoutet und 1999 zu
krebs. Die Eltern hatten ihren Sohn Kirsten Waschkau zum Thema Lotto- Tode gesoffen – würdigten die Autoren
dem geschäftstüchtigen Alternativ- Millionäre über – hatten die Frage in Form eines Requiems und rückten
mediziner Matthias Rath anvertraut vom Glück durch Geld noch uneinge- ziemlich humorfrei seinen Grabstein
und die Chemotherapie abgebrochen schränkt bejaht. Der Zuschauer dachte, mit der Aufschrift „Gekämpft, gehofft
– mit fatalen Folgen. Von der Position und doch verloren“ ins Bild. Die weni-
der Schulmedizin aus analysiert ger bekannte Fußpflegerin Edith, die
Beate Kleins Reportage das traurige sich mit ihrem inzwischen verstorbenen
Geschäft mit der Hoffnung. Mann und ein paar Milliönchen ein
Haus zulegte, präsentierte sich keines-
Der sanfte Radikale – wegs als lustige Witwe, weil schlechte
Pier Paolo Pasolini Vermögensanleger das gewonnene Geld
so stark haben schmelzen lassen. Über
Samstag, 19.20 Uhr, 3sat andere Ehen und Familien brachte
„Er legte sich mit allen an“, heißt es die Lotto-Fee nichts als Zwietracht.
im gelungenen Eröffnungsfilm (Auto- Als Fazit möchte man singen: Den
ARD

ren: Henning Burk, Bettina Oberhau- Deutschen helfen keine Millionen zum
Grab von „Lotto-Lothar“ Glück, nur Musik, Musik, Musik.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 107
Reporter Lehmann (1987), NDR-Politmagazin „Panorama“*: „Streben nach politisch-medialer Sensation“?

JOURNALISTEN

„Feindobjekt NDR“
Eine Studie in eigener Sache sorgt für Ärger beim Norddeutschen Rundfunk. Einstige Starreporter
fühlen sich als Stasi-Helfer verunglimpft und prozessieren gegen ihren alten Arbeitgeber.
Intendant Jobst Plog scheint das Ergebnis der historischen Aufarbeitung inzwischen peinlich zu sein.

B
ei der Hauptabteilung II der Staats- Mauerbau dreimal mit dem Jakob-Kaiser- dem Ende seiner Korrespondententätig-
sicherheit der DDR stand der West- Preis des westdeutschen Ministeriums für keit in der DDR sieht sich das einstige Sta-
Journalist Lutz Lehmann im Ruf, ein innerdeutsche Beziehungen geehrt wurde, si-Opfer öffentlich dem Vorwurf ausge-
besonders unangenehmer Vertreter des stieß den Machthabern im Osten vor al- setzt, ein Komplize des Ostens gewesen zu
Klassenfeindes zu sein. Trotz penibler Kon- lem wegen seiner Unverfrorenheit auf. Vor sein. Erhoben wird dieser Vorwurf ausge-
trollen gelang es dem zwischen 1977 und einem Intershop, in dem die DDR beson- rechnet von Lehmanns früherem Arbeit-
1982 vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) ders begehrte Produkte nur gegen harte geber, dem NDR.
entsandten Korrespondenten immer wie- Westdevisen verkaufte, machte er eine Anfang Oktober hatte der inzwischen
der, aus seinem Büro in der Ost-Berliner Straßenumfrage unter säuerlichen Ossis – 78 Jahre alte Journalist nach Rückkehr von
Schadowstraße ungesehen zu entwischen. mit der Folge, dass ihm die Stasi noch einer Auslandsreise eine von der ARD-
Seine Reportagen über Missstände bei näher auf den Leib rückte. Anstalt veröffentlichte Studie in die Hän-
der Nationalen Volksarmee, leere Obst- IM „Gerhard Jäger“, „Ebert“, „Feld- de bekommen. Ende Juni hatte der NDR-
regale oder die sich ausbreitende Dissi- mann“, „Sascha“, „Michael Weymar“, Intendant Jobst Plog die 492 Seiten starke
dentenbewegung trieben Stasi-Chef Erich „Lotte“, „Rolf Herfurth“ – die mit Tarn- Arbeit vorgestellt.
Mielke regelmäßig Zornesröte ins Gesicht, namen versehene Liste der auf Lehmann Unter der Überschrift „Giftspinne im
zumal das Westfernsehen von vielen DDR- angesetzten „Inoffiziellen Mitarbeiter“ Äther“ waren zwei Historikerinnen den
Bürgern aufmerksam verfolgt wurde. wurde immer länger. Stasi-Machenschaften gegen den NDR
Entsprechend übellaunig klangen die Sogar dem Verdacht auf nachrichten- nachgegangen. Für Rahel Frank und San-
Berichte, die Mielkes Ministerium über den dienstliche Tätigkeit sowie öffentliche Ver- dra Pingel-Schliemann, beide Anfang drei-
„Operativen Vorgang Leopard“ verfasste. leumdung der DDR spürte die Stasi nach. ßig, beide Ex-Mitarbeiterinnen beim Lan-
Zielperson Lehmann, notierten die Spit- Ziel war offenbar, den nervtötenden Be- desbeauftragten für Stasi-Unterlagen in
zel, sei ein „Verfechter der imperialisti- richterstatter möglichst rasch auszuweisen Mecklenburg-Vorpommern, war es eine
schen Ideologie und Gegner der gesell- – oder gar ins Gefängnis zu werfen. große Herausforderung. Monatelang be-
schaftlichen Verhältnisse in der DDR, der Umso bizarrer ist die Lage, in die der fragten sie Zeitzeugen und stöberten in
unter Ausnutzung der ihm gewährten Ar- einstige TV-Journalist nun geraten ist – in den Akten der Birthler-Behörde.
beitsmöglichkeiten unserem Staat zielge- gleich doppelter Hinsicht. 23 Jahre nach Am Ende war ihnen ein Werk gelungen,
richtet Schaden zuzufügen versucht“. auf das Plog sehr stolz war. Als ARD-
Lehmann, der wegen DDR-kritischer * Mit Moderator Peter Merseburger (M.) und den Redak- Anstalt, die über die ehemalige deutsch-
Beiträge etwa über Volksaufstand und teuren Gerhard Bott und Horst Hano am 10. Januar 1972. deutsche Grenze zusammengewachsen sei,
108 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Medien

nachzugehen: „Wie gehen wir mit Kollegen beteiligt – und sich nach allgemeiner Auf-
um?“ fassung dabei viel Ruhm erworben. So war
Zum Beispiel mit Lutz Lehmann. Zwar es unter anderem ihrer Berichterstattung
attestiert ihm die Studie Widerstandsgeist zu verdanken, dass die Nachkriegskarrie-
für die Zeit seines Korrespondentenjobs in re des Hitler-Bewunderers und späteren
der DDR. Zuvor jedoch habe er sich als Bundesvertriebenenministers Theodor
Redakteur des NDR-Fernsehmagazins Oberländer (CDU) ein Ende fand. Auch
„Panorama“ jahrelang vor den Karren der im Fall Hans Globke, auf wundersame Wei-
DDR-Propaganda spannen lassen – als eine se vom Kommentator der Nürnberger Ras-
Art Bruder im Geiste. sengesetze zum Chef des Bundeskanzler-
Ähnlich schonungslos rechnet die Studie amtes gewendet, ließen sie nicht locker.
mit Lehmanns damaligen Vorgesetzten und Zwangsläufig bestand dabei die Gefahr,
Kollegen ab. Glaubt man den Autorinnen „für eine spannende Geschichte mit dem
der NDR-Studie, haben sich auch die Teufel zu paktieren und Material aus der
früheren „Panorama“-Stars Peter Merse- Hölle zu holen“, wie der frühere „Panora-
burger (später Korrespondent in Ost-Ber- ma“-Mann Börner sagt.
lin und London) und Gert von Paczensky Auch SPIEGEL oder „Stern“ mussten
(später Vize-Chef des „Stern“ und Chef- sich bei investigativen Recherchen gele-
redakteur bei Radio Bremen) vom „Stre- gentlich nach Potsdam bemühen. In dem
CINETEXT (L.); NDR (R.)

ben nach politisch-medialer Sensation“ lei- von der DDR verwalteten Archiv lagerten
ten lassen. meterweise Akten der Nationalsozialisten
„Ordnerweise“ sei Material von Ost nach etwa über Angehörige von Hitlers Reichs-
West geschleppt worden. Die „Panorama“- sicherheitshauptamt.

habe der NDR „ein besonderes Interesse


an der Aufarbeitung dieses Teils seiner Ge-
schichte“, sagte Plog, auch wenn dies mit
einem „schmerzhaften Prozess“ verbun-
den sein könnte.
Tatsächlich ist dem NDR-Intendanten
mit seiner Geschichtsaufarbeitung ein eher
fragwürdiger Wurf gelungen: Seine Studie
prangert – neben einigen bereits bekannten
Fällen von Infiltrierung durch die DDR-
Stasi – selbst solche Machenschaften an,
die die eigenen Mitarbeiter nie begangen
haben.
NDR-Reporter, die in den sechziger Jah-
ren die Nazi-Vergangenheit westdeutscher
Politiker aufdeckten, werden wie nützliche
Idioten der DDR-Propaganda dargestellt.

SILKE REENTS / VISUM


Wer in den siebziger Jahren wohlwollend
über die Entspannungspolitik der Brandt-
Ära berichtete, sieht sich nun dem Vorwurf
ausgesetzt, man habe sich von den Ost-
Machthabern im Sinne Lenins als medialer
Transmissionsriemen einspannen lassen. Ehemaliges Berliner Stasi-Archiv: „Material aus der Hölle“
Auf den Fluren des NDR ist deshalb
auch unter den aktiven Kollegen eine De- Redaktion habe die Unterlagen anschlie- Dass den Informationen aus dem Osten
batte über die von Plog betriebene Ver- ßend für das Westpublikum aufbereitet, zu misstrauen war, wussten dabei auch die
gangenheitsbewältigung des Senders in um konservative westdeutsche Politiker zu „Panorama“-Redakteure. So nahm Leh-
Gang gekommen. Für Dienstag dieser Wo- stürzen. Eine Diskussion darüber, ob man mann 1966 an einer von DDR-Behörden
che hat der Redakteursausschuss zu einer mit dem Material aus dem Osten überhaupt organisierten Reise zu den früheren Kon-
Wiederholung in eigener, interner Sache arbeiten dürfe, habe es in der Redaktion zentrationslagern Leau und Neu-Staßfurt
geladen. nicht gegeben. „Panorama“ sei „die wich- teil, an deren Bau angeblich der damals
Wer will, darf sich dann noch einmal tigste Kontaktadresse der Desinforma- amtierende Bundespräsident Heinrich
den Dokumentarfilm („Feindobjekt NDR“) tionsabteilung“ der Stasi gewesen, schrei- Lübke beteiligt war. Die DDR hoffte auf ei-
über die Machenschaften der Stasi anse- ben die Autorinnen. Den Ostspionen sei es nen entsprechenden „Panorama“-Bericht.
hen, den der Sender parallel zur Veröf- gelungen, „Informationen, die den Inter- Doch Lehmann winkte ab. Die von der
fentlichung seiner Studie im Spätprogramm essen der DDR dienten, in einem der ein- Stasi mundgerecht aufbereiteten Informa-
ausgestrahlt hatte. flussreichsten politischen Magazine des tionen hatten Zweifel an Lübkes Täter-
Im Gegensatz zur Arbeit der beiden His- Westens unterzubringen“. Für die Journa- schaft bestehen lassen. Missmutig notierte
torikerinnen zeichnet sich der vom frühe- listen dort habe die Maxime „Hauptsache die Stasi in ihrer „Leopard“-Akte, es gebe
ren DDR-Korrespondenten Hans-Jürgen regierungskritisch“ gegolten. „keinerlei Anzeichen dafür, dass die ge-
Börner mitverantwortete Film bei aller Tatsächlich hatten sich die politisch eher plante Zielstellung in der Zusammenarbeit
Selbstkritik durch einen unpolemischen linken NDR-Redakteure von „Panorama“ erreicht worden ist“.
Ton aus. Gleichwohl hält es der Redak- in den sechziger und siebziger Jahren an Entsprechend dürftig sind die Belege, die
teursausschuss für geboten, der Frage der Aufklärung von NS-Kriegsverbrechen die NDR-Historikerinnen für ihre steile
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 109
These vorbringen, „Panora-
ma“ sei ein Einfallstor für
Desinformationen aus dem
Osten gewesen. Lediglich in
einem Fall gelingt es den
Autorinnen der NDR-Stu-
die, dem damaligen „Pan-
orama“-Redakteur Leh-
mann einen Patzer nachzu-
weisen. So hatte dieser am
23. September 1963 noch
einmal über den – als Ver-
triebenenminister bereits
zurückgetretenen – Ober-
länder berichtet. Für weni-

JOCHEN LUEBKE / DDP


ge Sekunden wird in dem
Beitrag ein Foto von meh-
reren SS-Offizieren um die
Nazi-Größe Reinhard Heyd-
rich gezeigt, betextet mit NDR-Intendant Plog: „Schmerzhafter Prozess“
dem Satz, dass Oberländer
gegen Ende des Krieges „in Prag aufge- schleunigst aus dem Verkehr ziehen. An-
taucht“ sei. dere NDR-Pensionäre gehen noch weiter.
Dass Oberländer auf dem Foto zu sehen „Panorama“-Mitbegründer Paczensky,
sei, sagt der Sprecher – korrekterweise – dessen frühere Rolle die Studie ohne je-
nicht. Gleichwohl sah sich „Panorama“ den konkreten Vorwurf als „undurchsich-
nach Ausstrahlung des Beitrags zu einer tig“ beschreibt, hat Klage eingereicht. Auch
Klarstellung verpflichtet, dass Oberlän- Lehmann schaltete einen Anwalt ein, weil
der zwar ein Nazi, aber auf dem ein- er sich auf insgesamt mehr als 50 Seiten
geblendeten Foto ausdrücklich nicht zu als sensationshungriger und tendenziöser
sehen war. Helfershelfer der Ost-Propaganda beschrie-
Ein zweiter Fall, den die NDR-Autorin- ben sieht.
nen aus dem Senderarchiv gekramt haben, Der NDR zeigte am Freitag vergange-
um Stasi-Mauscheleien zu belegen, muss ner Woche erstmals Zeichen der Reue. Per
eher als Lehrbuchbeispiel für schlechte Re- dreiseitigem Schreiben gaben der Sender
cherche der TV-Redakteure gewertet wer- und die beiden Autorinnen gegenüber
den. Mitte Oktober 1988 berichtete „Pan- Lehmanns Anwalt eine Unterlassungser-
orama“ über einen belastenden Brief des klärung ab. „Entgegenkommenderweise“
früheren schleswig-holsteinischen Minister- werde man einige über den Ex-Reporter
präsidenten Uwe Barschel an den damali- gemachte Aussagen nicht weiter verbrei-
gen CDU-Landeschef Gerhard Stoltenberg ten. Es folgen insgesamt zehn Textstellen,
– in der damaligen „Waterkant“-Affäre ein zuletzt die in der Studie aufgestellte Be-
echter Scoop. hauptung, der Staatssicherheitsdienst der
Tatsächlich handelte es sich bei dem DDR habe „zeitweilig den Journalisten
Brief, der auch dem SPIEGEL und mehre- Lutz Lehmann für sich gewinnen“ können.
ren anderen Adressaten zugegangen und Auch Plog scheint die ganze Angele-
dort verworfen worden war, um eine Fäl- genheit inzwischen peinlich zu sein – und
schung. Nur „Panorama“ biss an: ein Fall zwar nicht nur, weil die von ihm beauf-
von Schlampigkeit. tragten Historikerinnen den ostdeutschen
Völlig unerklärlich ist den NDR-Vetera- Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul konse-
nen, weshalb sie in dem von ihrem frühe- quent zum „Generalstaatsanwalt“ der
ren Arbeitgeber bezahlten Werk als Hel- DDR beförderten. Seinem früheren Kolle-
fershelfer der Stasi dargestellt werden. Der gen Merseburger – man duzt sich – be-
frühere „Panorama“-Chef Merseburger, deutete er, dass mit einer Veröffentlichung
laut Studie mitverantwortlich dafür, dass der Studie in Buchform nicht so bald zu
sich die Redaktion „zum Spielball der In- rechnen sei.
teressen des Ostens machte“, schrieb in- Für Externe ist die Studie ohnehin be-
zwischen einen bitterbösen Brief an NDR- reits seit Wochen unter Verschluss. Selbst
Intendant Plog. Lehmann musste drängeln, um an ein Ex-
Die pauschale Verdammung seiner frü- emplar der bei einer Pressekonferenz im
heren Arbeit entbehre jeder Grundlage. Juni noch freigebig verteilten „Schmäh-
Die Vorstellung, man hätte zum Beispiel schrift“ (Merseburger) heranzukommen.
auf kritische Beiträge über Globke ver- Das ihm schließlich zugesandte Werk
zichten müssen, nur weil auch die Stasi ein hatte der NDR allerdings bereits selbst
Interesse an dessen Demission hatte, sei gekürzt: Die Seiten 401 bis 419 waren
für einen Journalisten abwegig. kurzerhand herausgerissen. Das betroffe-
Zornig fordert Merseburger den Inten- ne Kapitel, erfuhr Lehmann seinerzeit,
danten auf, sich von der Studie zu distan- werde gerade „überarbeitet“.
zieren. Als Auftraggeber müsse er diese Alexander Neubacher

110 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Medien

Einige davon sind über alle Zweifel erha- Viele Stifter pflegen so freilich nicht nur
EHRUNGEN
ben wie der Henri-Nannen-Preis oder der ihr Image, sondern auch Kontakte zu Jour-

Geld mit Wächterpreis. Aber viele werden in einer


Grauzone verliehen, in der die Grenzen
zwischen PR und Journalismus ver-
nalisten, die fürs Geschäft interessant sind.
Als der Finanzdienstleister AM Generali
Invest vor zwei Jahren auf dem deutschen

Geschmäckle schwimmen.
Vor allem die Marketing-Strategen der
Gesundheitsbranche haben es geschafft,
Pressepreise und Profitinteressen kreativ
Markt Fuß fassen wollte, lobte die PR-Ab-
teilung satte 25 000 Euro für Artikel über
Investmentfonds aus.
„Wenn Sie unter den vielen Auszeich-
Mit ebenso skurrilen wie
zu koppeln. 5000 Euro insgesamt gab es nungen auffallen wollen, dann müssen Sie
gutdotierten Medienpreisen werden beispielsweise schon vom Stützstrümpfe- ein relativ hohes Preisgeld aussetzen“, sagt
Journalisten motiviert, über Hersteller Medi aus Bayreuth für den Jour- Carola Haacke von der deutschen Gene-
Themen zu berichten, die der Wirt- nalistenpreis „Schöne Beine sind kein Zu- rali-Dependance in Köln. Die Summe soll-
schaft am Herzen liegen. fall. Venenleiden – eine Volkskrankheit“. te selbst Hochkaräter unter den Journalis-
Solcherlei Erfindungsreichtum ist selbst ten motivieren. Ein Vorteil für Generali

B
urkhardt Röper hat offenbar ein PR-Profis nicht immer geheuer. „Wenn das Invest: Die PR-Abteilung bekam neben-
Gespür für Timing. Am 15. August Themenfeld eng abgesteckt ist und Geld bei einen Überblick über die Schar der
druckte die „Apotheken Umschau“ fließt, dann hat das schon ein Geschmäck- Fachjournalisten bei Top-Blättern sowie
einen Text des Journalisten zum The- Einblick in deren Schaffen.
le“, urteilt Ulrich Nies, Präsident der Deut-
ma Hörgeräte – gerade noch rechtzei- schen Public Relations Gesellschaft. Prominent war auch die Jury besetzt,
tig, um jene Deadline einhalten zu kön- Doch auch dort, wo der Themenbereich unter anderem mit Frank Lehmann vom
nen, die das „Forum besser hören“ für Hessischen Rundfunk. Der berichtet re-
weiter gefasst ist, lohnt ein genauerer Blick.
seinen Publizistik-Preis gesetzt gelmäßig für die ARD von der
hatte. Börse – was Generali nicht ge-
Mitte Oktober war Preis- stört hat. Geld habe er für sei-
verleihung. Die PR-Organi- ne Jurorentätigkeit nicht be-
sation der Vereinigung der kommen, sagt Lehmann. Nur
Hörgeräte-Industrie (VHI) prä- für die Teilnahme an einer
mierte Print- und Rundfunk- Podiumsdiskussion im Rahmen
beiträge, die sich mit „einfühl- der Preisverleihung sei ein Ho-
samen Fallstudien“ zum Thema norar gezahlt worden. Wie viel
„besser leben mit Hörsyste- genau, weiß er nicht mehr.

FÖRDERGEMEINSCHAFT GUTES HÖREN


men“ befassten. Schwarz auf weiß nachzule-
Röpers Text mit der Über- sen ist die Summe, die die Be-
schrift „Wieder mitten im Le- teiligungsfirma Adveq ausgibt,
ben – Dank moderner System- um dem Heuschrecken-Image
technik hört Oliver Brodbeck der Branche entgegenzuwir-
wieder richtig“ passte da wie ken. Mit 16 000 Euro ist der
der Knopf ins Ohr, zumal die „Europäische Private Equity-
Schlagzeile dem Titel des Prei- Award“ dotiert, der die Er-
ses („Mit Hightech mittendrin“) Preisträger Röper, VHI-Funktionärin Steinl: 3000 Euro Prämie kenntnis fördern soll, dass Risi-
dann doch recht nahe kam. kokapital „der Motor unserer
VHI-Geschäftsführerin Inge Steinl über- Etwa beim „Medienpreis der Deutschen Volkswirtschaft“ sei. Das zumindest meint
reichte Röper den 2. Preis und 3000 Euro Allergologenverbände“, der für Werke ver- Adveq-Chef André Jaeggi, der „Journalis-
Prämie. Die Plätze eins und drei eroberte liehen wird, die dazu beitragen, „das Wis- ten einen Anreiz“ geben will, „sich vertieft
der WDR. sen der breiten Öffentlichkeit über die Be- mit dem Thema Private Equity zu be-
Nicht nur die Hörgeräteindustrie nutzt deutung, Vorbeugung und Diagnostik der schäftigen“.
Geldprämien für journalistische Arbeiten Volkskrankheit Allergie auszubauen“. Dass stolze Preisgelder von Unterneh-
als Mittel, um ihr genehme Themen zu Das ist zweifellos ein löbliches Unter- men angesichts leerer Verlagskassen vor
fördern und die Presselandschaft in ihrem fangen. Tatsächlich aber werden die 5000 allem freie Journalisten reizen können, ist
Sinne zu pflegen. Es gebe schon mehrere Euro Preisgeld nicht von den Ärztever- nachvollziehbar. Viele verdienen nach
hundert deutsche Medienpreise, schätzt bänden selbst aufgebracht, sondern von DJV-Angaben gerade mal zwischen 10 000
der Deutsche Journalisten-Verband (DJV). der Alk-Scherax Arzneimittel GmbH. Die und 15 000 Euro pro Jahr. „Da kann man
ist nach eigenen Angaben mit 30 die wirtschaftliche Motivation freier Jour-
bis 35 Prozent Marktanteil in nalisten, gezielt Preis-Themen zu bear-
RALF SONDERMANN (L.); ALEX KRAUS / VARIO-PRESS (R.)

Deutschland führend bei entspre- beiten, verstehen. Aber journalistisch


chenden Therapieprodukten. „Wir betrachtet, ist die Entwicklung besorgnis-
geben das Geld“, so Peter Fischer erregend“, sagt DJV-Sprecher Hendrik
von Alk-Scherax, „weil die Versor- Zörner.
gung von Allergikern verbesse- Doch es gibt auch Hoffnung. Der Jour-
rungswürdig ist und es gilt, eine Öf- nalistenpreis „Hormontief des alternden
fentlichkeit für dieses Problem zu Mannes“ konnte einst offenbar selbst die
schaffen.“ klammsten Kollegen nicht in Wallung brin-
Dass mit dem Preis auch der Fir- gen. Das Echo war trotz des Preisgeldes
menname werbewirksam ins Be- von 5000 Mark derart mau, dass das Un-
wusstsein der Öffentlichkeit gerückt ternehmen Jenapharm, eine Tochter des
wird – etwa durch Berichterstattung Schering-Konzerns, den Preis wieder ab-
Generali-Dependance (in Köln), Juror Lehmann über die Preisverleihung –, gehört zu geschafft hat. Gunther Latsch,
Grauzone zwischen PR und Journalismus den erwünschten Nebenwirkungen. Roman Pletter

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 111
Panorama Ausland
politische Erbe seines Va-
ters, sie nach einem Tref-
fen mit Frankreichs Präsi-
dent Jacques Chirac äußer-
te. Der galt als einer der
engsten Freunde des Er-
mordeten und zählt zu-
gleich zu den schärfsten
Kritikern Syriens.
Damaskus hat nach dem
Bericht des Uno-Sonder-
ermittlers Detlev Mehlis
entscheidenden Anteil an
der Ermordung Rafik al-
Hariris. Vor allem Frank-
reich und die USA wollten
deshalb in einer scharfen
Resolution mit einem Wirt-
schaftsembargo, Ausreise-
beschränkungen und dem

RAMZI HAIDAR / AFP


Einfrieren von Auslands-
guthaben drohen. Unter
dem Druck der Veto-Mäch-
te China und Russland deu-
Demonstranten in der libanesischen Hauptstadt Beirut, Saad al-Hariri tet sich inzwischen aber
eine Abschwächung an. Die
SYRIEN amerikanische Regierung setze jetzt auf politi-
schen Druck, heißt es in Washington: Anstatt das

Milde Töne aus Beirut Regime in Damaskus offen zu bekämpfen, soll


es politisch gefügig gemacht werden.
Vor allem soll sich Staatschef Baschar al-Assad

W ährend der Uno-Sicherheitsrat im Mordfall Hariri noch verpflichten, beim Kampf gegen islamistische
REUTERS

um eine gemeinsame Resolution ringt, rät ausgerechnet Terroristen zu helfen, die über die syrische Gren-
Saad al-Hariri, der Sohn des im Februar ermordeten libanesi- ze in den Irak einsickern. Auf der Forderungs-
schen Ex-Premiers, von weitreichenden Sanktionen ab. „Wir liste Washingtons stehen auch die Verbesserung
sind Freunde Syriens und des syrischen Volkes“, sagte er vori- der syrischen Beziehungen zur neuen Regierung in Bagdad
ge Woche. „Diese Freundschaft ist historisch gewachsen, und und ein Ende der Unterstützung radikaler Palästinenser. „Aus
wir möchten sie erhalten.“ Den überraschend milden Tönen der Tragödie Hariri erwächst eine außerordentliche strategische
aus Beirut kommt zusätzliche Bedeutung zu, weil Hariri, der Gelegenheit“, sagt ein hochrangiger US-Beamter.

DÄ N E M A R K Wasser wurde ihnen ver- Luft gegriffen“ zurück.


wehrt, Toilettenbesuche Durch den Kopenhagener
Kleines Abu Ghureib auch – nach Auffassung der
Staatsanwaltschaft klare
Prozess wird der Wider-
stand gegen das Irak-

D as Kopenhagener Stadtgericht hat


einen Fall zu klären, der Erinne-
rungen an die Folterpraktiken in Abu
Verstöße gegen die Genfer
Konvention.
Arabische Übersetzer hat-
Engagement in der däni-
schen Öffentlichkeit bis
weit in bürgerliche Kreise
Ghureib um die amerikanische Soldatin ten die Behandlung der Zi- hinein mobilisiert. Ob
Lynndie England weckt. Angeklagt we- vilgefangenen im dänischen man den Gefangenen „lie-
gen unmenschlicher Verhörmethoden „Camp Eden“ nahe Basra ber Perrier-Wasser und
ist die Nachrichtenoffizierin Annemette im Süden des Irak bekannt einen bequemen Arne-
Hommel, 38, die zum dänischen Kon- gemacht. Dort sind derzeit Jacobsen-Stuhl“ hätte an-
LISELOTTE SABROE / PICTURE-ALLIANCE / DPA

tingent im Irak gehörte. Gemeinsam mit knapp 500 Dänen statio- bieten sollen, hatte sich
vier dänischen Militärpolizisten soll die niert. Filmbeweise über die die einflussreiche Tages-
Reserveoffizierin inhaftierte Iraker bei Drangsal der Gefangenen zeitung „Berlingske
Vernehmungen mit Schimpfworten wie wie in Abu Ghureib gibt es Tidende“ erst noch vor
„Hundescheiße“, „Männer ohne allerdings nicht. Das sei kurzem mokiert. Jetzt fin-
Schwanz“ oder „Schwanzköpfe“ ge- „ein wirklicher Krieg, da det das bürgerlich-konser-
demütigt haben. Delinquenten hätten kann man nicht mit Was- vative Blatt den „Folter-
während des Verhörs in „stresserregen- serpistolen auftreten“, hat- prozess“ eine „jämmer-
den Situationen“ ausharren müssen: auf te sich Hommel zunächst liche Sache“.
den Knien zum Beispiel oder mit bis zu gewehrt. Jetzt weist sie die
den Knöcheln heruntergelassener Hose. Vorwürfe als „völlig aus der Angeklagte Hommel
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 113
Panorama

RUSSLAND

„Wirtschaft im
Würgegriff“

ULLSTEIN BILDERDIENST / AP
Nikolai Petrakow, 68, Ökonomie-
professor an der Moskauer Akade-
mie der Wissenschaften und Berater
PAWEL KASSIN

des ehemaligen Präsidenten Michail


Gorbatschow, über Korruption und
Fehler der Reformer Armenspeisung in Moskau

SPIEGEL: Im jüngsten Bericht von Transparency International Petrakow: Der Staat hat die Nutznießer zumindest nicht ver-
über Korruption schneidet Russland miserabel ab, gleichauf mit pflichtet, in den Gebieten wirklich zu produzieren. Dubiose Ge-
Niger, Albanien und Sierra Leone auf Platz 126. Warum be- schäftsleute ergaunerten sich durch nur scheinbar dort getätigte
kommt die Regierung das nicht in den Griff? Deals unberechtigt staatliche Förderung. Es gab Wirtschafts-
Petrakow: Das ganze System ist falsch angelegt. Bei uns konn- zonen wie Kalmykien, die weder qualifizierte Arbeitskräfte
ten Leute in wenigen Jahren Milliardäre werden, ohne Genies noch Infrastruktur für Investitionen boten – wie bei Potemkin.
vom Format eines Bill Gates oder zumindest Wirtschaftskapa- SPIEGEL: Präsident Wladimir Putin will das Bruttoinlandspro-
zitäten zu sein. Niemand musste sich im freien Wettbewerb be- dukt bis 2010 verdoppeln und Wachstum durch innovative
haupten. Unsere Kapitalisten wurden im Zuge der Privatisie- Hochtechnologien schaffen. Ein realistisches Konzept?
rung der Staatswirtschaft von Beamten ernannt und danach in Petrakow: Verdoppeln kann man Wachstum sehr schnell, indem
staatlicher Abhängigkeit gehalten. Minibanken mutierten in zum Beispiel die Investitionen in die Öl- und Gasbranche er-
Rekordzeit zu Großinstituten, die mit Hilfe der Politiker öf- höht werden. Doch die Exportgewinne kommen nicht den
fentliche Haushaltsgelder verwalten. Menschen und dem Konsum zugute, sondern vor allem einem
SPIEGEL: Welche Fehler haben die Reformer gemacht? Stabilitätsfonds, der bei Banken festliegt. Der Lebensstandard
Petrakow: Sie haben das Privateigentum überschätzt. Privat- der Bevölkerung steigt dadurch also nicht.
wirtschaft gibt es außer in Nordkorea überall auf der Welt, SPIEGEL: Und neue Märkte?
auch in Afrika. Sie führt aber nicht automatisch zu ökono- Petrakow: Fehlanzeige. Die Staatsbeamten halten die Wirt-
mischem Erfolg und zu Wohlstand. Entscheidend dafür ist un- schaft im Würgegriff. Sie sind gar nicht daran interessiert, zu-
ter anderem die Qualität des Managements. Daran mangelt es kunftsfähige Computer und Techniken zu entwickeln und zu
bei uns. produzieren. Sie verkaufen lieber Holz nach Finnland und be-
SPIEGEL: Anders als in den boomenden Sonderwirtschaftszonen stellen dafür dort Papier. Wenn bei denen von Privatisierung
Chinas wurde in den sogenannten freien Wirtschaftszonen der Forschung die Rede ist, geht es vor allem darum, Akade-
Russlands vor allem Geld gewaschen – unter staatlicher Mit- mie- und Institutsgebäude abzuwickeln und sie in Hotels oder
hilfe? Kasinos umzuwandeln.

NIEDERLANDE Einwanderern und mutmaßlichen Dro- anhören. Das Wachpersonal habe Hilfe-
gendealern, zum Verhängnis. Beim rufe ignoriert und die Zellentüren nicht
In der Falle Brand in einem Trakt des Abschiebege-
fängnisses mit etwa 350 Häftlingen ka-
schnell genug geöffnet, behaupten In-
sassen. „Die Häftlinge saßen wie Ratten

E s waren gerade Sicherheitsfragen,


die den Behörden beim Ausbau des
Gefängnisses auf dem Amsterdamer
men 11 von ihnen ums Leben, mindes-
tens 15 Menschen wurden verletzt. Nun
müssen sich die Behörden heftige Kritik
in der Falle“, erklärt die Europäische
Organisation zum Schutz der Rechte
von Häftlingen. Außerdem wurde be-
Flughafen Schiphol vor drei Jah- kannt, dass zum Zeitpunkt des
ren am Herzen lagen. Um im Ge- Feuers am frühen Morgen nur
fahrenfall Fluchtmöglichkeiten drei Bewacher Dienst taten, da-
zu begrenzen, so heißt es nun, von zwei Teilzeitkräfte.
seien in dem nagelneuen Knast Schon während des Baus hatte
Schließanlagen installiert wor- zudem das Niederländische In-
RICHARD MOUW / DE TELEGRAAF / REUTERS

den, die technisch veraltet gewe- stitut für Feuer- und Katastro-
sen seien. Anders als in anderen phenschutz moniert, dass die
Haftanstalten, in denen sich Zellenwände nicht feuerfest
sämtliche Zellen durch einen ausgelegt waren. Noch vor In-
Knopfdruck öffnen lassen, muss betriebnahme hatte es dort
in Schiphol jede Tür von Hand zweimal gebrannt. Es gehöre je-
aufgeschlossen werden. doch nicht zu den Aufgaben des
Die alte Technik wurde offenbar Instituts, eine Beseitigung der
am vergangenen Donnerstag Mängel zu überwachen, er-
den Insassen, vor allem illegalen Brennendes Gefängnis in Schiphol klären die Brandschützer nun.
114 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

UPI / GAMMA / STUDIO X


Präsident Ahmadinedschad auf der Anti-Zionismus-Konferenz*: „Israel von der Landkarte tilgen“

IRAN

Der Besen und die Bombe


Staatspräsident Ahmadinedschad entfacht mit seinem Aufruf zur Zerstörung Israels einen weltweiten
Sturm der Entrüstung. Teheran hält auch an seinen ehrgeizigen Nuklearplänen fest
und fördert palästinensische Terrororganisationen. Wie gefährlich ist das Mullah-Regime?

E
s war ein Versprechen für seine reli- Nein, er wolle die Börse nicht abschaffen, dent der vielleicht wichtigsten Regional-
giös-konservativen Anhänger, eine weil sie „unislamisch“ sei, wie im Wahl- macht im Nahen Osten, forderte er die
Mahnung an seine pragmatisch-libe- kampf angedeutet; außenpolitisch sei Iran Ausrottung eines ganzen Staates: „Israel
ralen Gegner – und eine Drohung gegen ein verantwortungsvolles Mitglied der Völ- muss von der Landkarte getilgt werden!“
den Rest der Welt. kergemeinschaft, suche keinen Krieg, stre- Die 4000 Zuhörer seiner Rede bei der
„Wenn Allah es will, ist dies der Beginn be nicht nach der Atombombe. Schon im Teheraner Tagung „Eine Welt ohne Zio-
einer neuen Ära im Leben unserer Na- September hatte Ahmadinedschad, der ei- nismus“ brachen in den rhythmischen
tion“, sagte Mahmud Ahmadinedschad am gentlich nur sein Land kennt und über kei- Schlachtruf aus: „Marg bar Israel!“ (Tod
24. Juni bei der Stimmabgabe zur Präsi- ne internationale politische Erfahrung ver- für Israel). Am Freitag legte das Regime
dentschaftswahl. Wenig später fühlte sich fügt, einen martialischen Auftritt: Vor der nach und mobilisierte zum „Jerusalem-
der Sohn armer Leute, selbsternannte Uno-Generalversammlung wetterte er un- Tag“ in Teheran Zehntausende zum „Auf-
Straßenkehrer und Teheraner Bürgermeis- diplomatisch gegen den bösen Westen. ruhr gegen Zionisten und Ungläubige“.
ter göttlich bestätigt: Er hatte als Außen- Jetzt hat sich der Hardliner mit seinen Während die islamische Welt wieder ein-
seiter einen glanzvollen Wahlsieg errun- Hasstiraden übertroffen. Hemdsärmelig und mal schwieg, war die Reaktion des Westens
gen – mit gut 60 Prozent der Stimmen. jovial stand er vergangenen Mittwoch in auf Ahmadinedschads Hasstirade einhel-
Ahmadinedschad, 49, zeigte sich zu- Teheran am Rednerpult. Doch was er sag- lig und scharf. „Ungeheuerlich und em-
nächst demütig. Er küsste bei seiner Amts- te, jagte der Welt einen Schauer über den pörend“, hieß es von der US-Regierung. In
einführung ehrfürchtig seinem Mentor Rücken. Als wäre Ahmadinedschad Terro- Berlin wurde Irans Botschafter einbestellt.
Ajatollah Ali Chamenei, 66, die Hände. ristenführer und nicht der gewählte Präsi- Selbst die Russen, mit Teheran wirtschaft-
Bei seiner ersten Pressekonferenz gab sich lich wie politisch eng liiert, drückten ihr
der neue Präsident noch beschwichtigend: * Am vergangenen Mittwoch in Teheran. Entsetzen aus. Am schärfsten reagierte
116 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Tony Blair, der offen drohte. „Die für sein Regime amerikanischem
Haltung der Iraner gegenüber Israel Druck nachgibt und seine Unter-
sowie zu Terrorismus und Nuklear- stützung palästinensischer Radika-
waffen ist nicht hinnehmbar. Wenn ler beendet; ferner die Grenze zum
sie so weitermachen, werden die Irak besser überwacht und damit
Leute fragen: Wann macht ihr end- viele der nach Bagdad infiltrieren-
lich etwas? Kann man sich denn den Qaida-Kämpfer abfängt.
vorstellen, dass ein Staat mit einer Zöge Assad seine letzten Ge-
solchen Haltung Atomwaffen be- heimdienstler aus dem so lange von
sitzt?“ Syrien beherrschten Libanon zu-
In Israel schlug die Welle der rück, könnte sich die von Teheran
Empörung gegen dieses „verrückte und Damaskus unterstützte His-
Regime“, so Vizepremier Schimon bollah-Miliz womöglich nicht mehr
Peres, verständlicherweise beson- lange vor der von der Uno gefor-
ders hoch. Die Tel Aviver Tageszei- derten Entwaffnung drücken. Im
tung „Haaretz“ verglich Irans Prä- Libanon hätte die ins Stocken gera-
sidenten gar mit Adolf Hitler, „die- tene Zedernrevolution alle Mög-
sem anderen gewählten Führer, der lichkeiten zu reüssieren und den
Juden zu vernichten versprach“. Levante-Staat zur ersten Demokra-
Mehrere hochrangige Politiker ver- tie im arabischen Raum zu machen
langten den Ausschluss Irans aus – mit möglicherweise entscheiden-
den Vereinten Nationen, weil Tehe- den Auswirkungen auf erst im An-
ran die Charta der Völkergemein- satz zur Reform bereite Staaten wie
schaft verletzt habe – eine eher sym- Ägypten.
bolische, weil nicht durchsetzbare Auch Israel, die einzige – wenn-
Forderung. gleich offiziell noch immer nicht
Aber in Militär- und Geheim- eingestandene – Atommacht in der
dienstkreisen sowie in der akade- Region, stünde dann bald vor dem

VAHID SALEMI / AP
mischen Welt wurde auch über ei- Zwang, seine Besatzungspolitik im
nen israelischen Präventivangriff Westjordanland zu überdenken und
spekuliert. Seit Monaten sollen ge- den Palästinensern einen lebens-
heime Planungen zur Bombardie- fähigen Staat einzuräumen.
rung von etwa einem Dutzend ira- Proteste gegen Israel in Teheran*: „Teuflischer Westen“ Plötzlich spielt in Jerusalem die
nischer Nuklearanlagen laufen. Die lange Zeit verachtete Uno wieder
USA haben Israel 500 bunkerbrechende gung wie in den vergangenen Wochen, eine positive Rolle – um deren Resolutio-
Bomben geliefert, die im Kampf gegen die wechselten Hoffnungsstrahlen so mit düs- nen hatte sich in Israel selten jemand
Palästinenser keinen Sinn machen – aber ter heraufziehenden Gewitterwolken – was gekümmert, wenn sie Aufforderungen an
für eine koordinierte israelisch-amerikani- die Brandrede von Teheran nur noch die eigene Adresse betrafen. Mancher
sche Attacke gegen die gutgesicherten, oft brisanter macht. Hardliner mag heimlich froh gewesen sein,
unterirdischen Atomdepots in den Außen- Durch den Uno-Bericht des deutschen dass Teheran mit seinen Ausfällen Druck
bezirken von Teheran, Isfahan, Natans. Staatsanwalts Detlev Mehlis zur syrischen von Israel nimmt – Ahmadinedschad
Efraim Kam, Vizechef des Jaffe-Zen- Verwicklung an der Ermordung des liba- zwingt selbst die Franzosen, die vielleicht
trums für Strategische Studien an der Uni- nesischen Ex-Premiers Rafik al-Hariri ist größten europäischen Israel-Skeptiker, zur
versität Tel Aviv, ist der Meinung, dass ein Damaskus schwer unter Druck geraten. Es bedingungslosen Solidarität.
Angriff „die letzte Option sein muss“. Vor- könnte sein, dass Staatschef Baschar al-As- Was mag Irans Präsidenten treiben? Ver-
her müsse man versuchen, Iran weiter in- sad im Gegenzug für Überlebensgarantien sucht er so die dumpfen Vorurteile bei sei-
ternational zu isolieren und die nen Landsleuten zu bestätigen und
Geldströme aus dem Land zu kon- sie darüber hinwegzutäuschen, dass
trollieren. „In den vergangenen Jah- er bisher kaum eine seiner sozialen
ren haben die Finanzhilfen für die Versprechungen einhalten konnte?
palästinensische Terrorgruppe Isla- Kümmert ihn nicht, wie viel Porzel-
mischer Dschihad dramatisch zuge- lan er zerschlägt – in Europa, aber
nommen“, sagt Kam. auch bei den von ihm in einem
Am vergangenen Mittwoch, fast Atemzug mit Israel brüskierten Nah-
zeitgleich mit der Scharfmacher- ost-Staaten Ägypten und Jordanien?
rede Ahmadinedschads, explodier- Ahmadinedschad fühlt sich heu-
te in der israelischen Stadt Hadera te offensichtlich so stark, dass er
die Bombe eines Selbstmordat- glaubt, in der internationalen Poli-
tentäters. Sie riss fünf Israelis mit in tik auf nichts und niemanden Rück-
den Tod, verantwortlich bekannte sicht nehmen zu müssen.
sich der Islamische Dschihad. Israel Dafür verantwortlich ist vor al-
schlug mit Luftangriffen im Gaza- lem die Fehlentwicklung im Irak,
Streifen zurück – wieder einmal für die neben US-Präsident George
DIGITAL GLOBE / REUTERS

wurde die gerade so chancenreich W. Bush vor allem Verteidigungs-


gestartete Zusammenarbeit zwi- minister Donald Rumsfeld die Ver-
schen palästinensischer und israeli- antwortung trägt. Dass die Welt-
scher Führung auf Eis gelegt.
Selten war die politische Situa- * Oben: auf dem Jerusalem-Tag am vergangenen
tion im Nahen Osten so in Bewe- Atomanlage von Buschir*: „Die Dinge vorantreiben“ Freitag; unten: Satellitenbild.

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 117
spüren. Er baut Parkanlagen und billigere
Wohnungen für die Armen.
Als er sich vor gut vier Monaten zur
Wahl für die Präsidentschaft stellt, greift er
PR-wirksam selbst zum Besen und kehrt
die Straßen – das perfekte und offensicht-
lich die Wähler überzeugende Gegenbei-
spiel zu dem als gerissen geltenden Multi-
millionär Haschemi Rafsandschani, den er
in der Stichwahl deutlich bezwingt.
Seine ersten knapp 100 Tage im Amt
verlaufen innenpolitisch unspektakulär. Er
pflegt sein Image des Volksnahen, indem er
teure Teppiche aus seinem Büro verbannt
und seine Porträts aus Amtszimmern ent-

MEHDI GHASEMI / AP
fernt. Um mittellosen Paaren die Heirat zu
ermöglichen, richtet er einen „Liebes-
fonds“ ein, mit einer Milliarde Euro aus
Staatsmitteln. Die unter seinem Vorgänger
Parade einer Frauen-Miliz in Teheran: „Aufruhr gegen Ungläubige“ Mohammed Chatami schon herrschende
Pressezensur lässt er weiter verschärfen,
macht dort „die Dinge richten wird“, wie Als Schüler schon kämpft er gegen Bar- verbietet ausländische Filme. Doch die ver-
Rumsfeld im SPIEGEL-Gespräch sagt (sie- rikaden, fordert den Sturz des „US-Lakai- sprochene Umschichtung der Ölgelder in
he Seite 126), glaubt in den USA nach den en“ Schah Resa Pahlewi. Dass er nach Aja- die Taschen der Ärmsten lässt auf sich
letzten Meinungsumfragen nur noch rund tollah Chomeinis Machtübernahme bei der warten. Und die Korruption im Land blüht
ein Drittel der Bevölkerung. Die Wahrheit Erstürmung der US-Botschaft dabei war, ist wie eh und je.
lautet eher so: Die Amerikaner führen im umstritten; seine ideologische Nähe zu den Es ist wohl auch die Unfähigkeit, Ent-
Irak einen Krieg, die Iraner lehnen sich Besetzern nicht. Während seines Bauinge- scheidendes an den sozialen Verhältnissen
zurück – und gewinnen ihn. nieur-Studiums gehört er zu den Grün- zu verändern, die den außenpolitischen Di-
Sollte der Irak tatsächlich eine föderale dungsmitgliedern der damals verantwort- lettanten jetzt in die Weltarena treibt. Sei-
Verfassung erhalten, wird in diesem Ge- lichen Studentengruppe. ne Thesen sind nicht neu. Dass die Staats-
samtgebilde die schiitische Zweidrittel- Der Eiferer aus dem Provinzstädtchen gründung Israels Teil einer jahrhunderte-
mehrheit das Sagen haben – vermutlich Aradan macht später Karriere bei den Re- alten Aggression des Westens gegenüber
spielt dann ein im iranischen Ghom ge- volutionsgarden und den Bassidsch, den dem Islam sei, dass dieses „Zionistenge-
schulter Geistlicher wie Abd al-Asis al-Ha- oft als Spitzel eingesetzten Milizionären. bilde“ nicht anerkannt werden dürfe – das
kim mit seiner von der Teheraner Regie- Dass Ahmadinedschad seinen Worten kei- gilt seit Chomeini als Staatsdoktrin. Auch
rung jahrzehntelang geförderten Bewegung ne Taten folgen lasse, kann man ihm nicht Chatami hat nie an offizielle Kontakte mit
die entscheidende Rolle. Sollte der Irak nachsagen: Kaum hat der irakische Dikta- Israel gedacht und dessen Besatzungspoli-
dagegen auseinander brechen, fiele der tor Saddam Hussein 1980 Iran überfallen, tik verurteilt. Allerdings griff er nie zu
Süden mit seinen reichen Ölfeldern fast meldet er sich zur Front. Als Mitglied der den „Vernichtungs“-Vokabeln Ahmadi-
automatisch an Iran; schon heute wird Bas- „Sondereinheit der Revolutionsgarden“ er- nedschads. Drohgesten und Hassrhetorik
ra eher von Abgesandten Teherans als von hält er sogar eine Ausbildung für geheime dieser Art wurden von einem Staatschef
den britischen Besatzern beherrscht. Kommandoaktionen hinter den feindlichen aus Teheran lange nicht mehr vernommen.
Die Mullahs wissen, ewig werden die Linien. Nach dem Ende des Krieges avan- Will der Scharfmacher tatsächlich die
westlichen Truppen im Zweistromland ciert er zum Gouverneur der Provinz Ar- Atombombe? Die Wiener Uno-Kontrol-
nicht bleiben können. Die Zeit spielt für sie debil, profiliert sich als fähiger Verwalter leure um den Friedensnobelpreisträger Mo-
– wohl auch in der Atomfrage. der von Erdbeben und Überschwemmun- hammed al-Baradei haben noch „keinen
Vor einem Wirtschaftsboykott oder an- gen heimgesuchten Provinz. rauchenden Colt“ gefunden und halten
deren Sanktionen fürchtet sich in Teheran Zurück in Teheran, lehrt er an der Uni- trotz eines nun schon Jahre währenden
anscheinend kaum jemand: So einig sich die versität, engagiert sich besonders bei einer Katz-und-Maus-Spiels mit nachweisbaren
Welt jetzt gibt, so wenig wird sie es bleiben, Hardliner-Organisation der „Opferbereiten Lügen und Täuschungen Teherans die Ge-
wenn es um konkrete Beschlüsse geht. Der für die Revolution“. Vor den Kommunal- sprächskanäle offen.
Westen und das energiehungrige China wahlen stellt ihn das obskure Sammel- Doch womöglich hat das Atompro-
können auf iranisches Erdöl und Erdgas becken der Unzufriedenen mit gleichge- gramm in den letzten Wochen die ent-
schwer verzichten. Iran verfügt nach Saudi- sinnten Gruppen als Spitzenkandidaten auf. scheidenden Schritte Richtung Nuklear-
Arabien (und knapp vor dem Irak) über die Die reformorientierten Hauptstädter boy- waffe getan. Nach Informationen des SPIE-
größten Ölvorkommen auf der Erde und ist kottieren 2003 die Wahl, weil sie von den GEL hat sich der Präsident an die Spitze
der viertgrößte Exporteur. Rückschlägen ihres eher liberalen Kandi- eines neuen „Kontrollzentrums für Atom-
Ahmadinedschad hat schon im Wahl- daten enttäuscht sind. Der Unbekannte ist fragen“ gestellt, das von seinen Freunden,
kampf eine harte Linie zur Atompolitik plötzlich Bürgermeister von Teheran. den Revolutionsgarden, gemanagt wird.
eingeschlagen. Von den Vermittlungs- Er gibt im Amt eine Mischung aus Aja- Der Staatschef wird so alle nuklearen Ent-
bemühungen der EU hält er nicht viel, die tollah Chomeini, Harun al-Raschid und wicklungen selbst steuern können. Das
eigenen Verhandlungsführer bezeichnet er Robin Hood. Er lässt „dekadente“ Schnell- Gremium verfügt über unbeschränkte fi-
als „sträflich nachgiebig“. Iran über alles – restaurants schließen, verbietet ein Plakat nanzielle Mittel, als Vizechef wurde der
das ist sein Weltbild seit frühester Jugend. des britischen Fußballstars David Beckham Geheimdienstmann Farhad Rahbar ver-
Überall sieht er eine Verschwörung gegen wegen „zu kurzer Hosen“ und verlangt pflichtet, der das Staatsbudget verwaltet.
seine geliebte Heimat und den Zwang Geschlechtertrennung in Fahrstühlen der Das Ziel, laut einem Geheimdienstpa-
zurückzuschlagen: ein Überzeugungstäter. Stadtverwaltung. Er streift unerkannt pier: „die Dinge endgültig vorantreiben“.
Und ein Kind der Revolution. durch die Straßen, um Missstände aufzu- Dieter Bednarz, Erich Follath

118 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

George W. Bush werden sollte, überstieg


die Zahl der im Irak getöteten US-Soldaten
A F FÄ R E N
die gefürchtete Schwelle von 2000 Opfern.

Dunkle Tage im Weißen Haus


Und spätestens zum Ende der Woche
musste der Präsident die Hoffnung aufge-
ben, er könnte sich gewissermaßen mit zwei
blauen Augen aus der Verantwortung für ei-
Wieder einmal holt die Geschichte einen Präsidenten nen Krieg stehlen, für den sich alle seine Be-
gründungen als Schimären entpuppt haben.
ein: Die Justiz soll über Propagandamanöver der Bush-Regierung Seit Freitag ist klar, dass die Vorge-
vor dem Irak-Krieg richten. schichte des Irak-Kriegs vor Gericht auf-

JONAS KARLSSON / VANITY FAIR


Ehepaar Plame, Wilson
Zum Märtyrer ungeeignet

bereitet werden wird: Sonderstaatsanwalt


CHIP SOMODEVILLA / GETTY IMAGES

Patrick Fitzgerald erhob Anklage gegen ei-


nen Vertrauten des Vizepräsidenten und
ließ durchblicken, weiterhin gegen den
wohl engsten Mitarbeiter des Präsidenten
zu ermitteln.
Karl Rove, 54, offiziell stellvertretender
Stabschef im Weißen Haus, in Wahrheit
Partner Bush, Rove: Bröckelnde Wählerkoalition der Mann, dem Freund und Feind nachsa-
gen, das „Gehirn“ von Bush zu sein, muss

D
er Mann ist Mathematiker mit ei- bensfähige Koalition aus Schiiten, Kurden sich womöglich zu einem späteren Zeit-
nem Abschluss am Massachusetts und Sunniten zu schmieden, welche die punkt vor Gericht verantworten. Zuerst
Institute of Technology. Freunde im Voraussetzung für einen allmählichen Ab- wird I. Lewis Libby, 55, genannt „Scoo-
Pentagon hatten ihn bereits zum ersten zug der Amerikaner wäre. ter“, dem Bürochef des Vizepräsidenten,
Staatschef in einem demokratischen Irak Dass sich die Hoffnungen der Washing- der Prozess gemacht.
auserkoren. Seine Überzeugungskraft toner Regierung derzeit wieder auf diesen Dabei sind die Delikte eher nachrangig:
brachte selbst eine abgebrühte „New York Scharlatan richten, lässt ahnen, wie tief die Die beiden Topmanager des Weißen Hau-
Times“-Reporterin wie Judith Miller dazu, Verzweiflung über die verfahrene Lage im ses sind womöglich verantwortlich dafür,
an die Existenz irakischer Massenvernich- Irak sein muss. Mitte vergangener Woche, die Tarnung einer CIA-Agentin zerstört zu
tungswaffen zu glauben. Von ihm ließ sich die zur schwärzesten der bisher 250 Wo- haben. Bei der anschließenden juristischen
auch ein hartgesottener Griesgram wie chen im Weißen Haus des Präsidenten Untersuchung des Vorfalls hat zumindest
Vizepräsident Richard Cheney überreden, Libby laut Anklage gelogen
dass die Iraker ihre amerikanischen Be- und Meineide geschworen.
freier mit Jubelchören und Rosenblüten Ein Umstand macht die al-
empfangen würden. lenfalls drittklassigen Vorgehen
Dabei war der Mann ein verurteilter jedoch brisant: Die mutwillige
Bankbetrüger. Er brachte es nicht gleich Enttarnung der Agentin Valerie
zum Staatschef in Bagdad, aber immerhin Plame war nur ein winziger
zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Ausschnitt jenes Propaganda-
Er fiel im Weißen Haus in Ungnade, weil es feldzugs, mit dem der Irak-
keine Rosen in Bagdad regnete. Krieg vorbereitet worden war.
Und jetzt der Clou in diesem wenderei- Und darin sind keineswegs nur
MANUEL BALCE CENETA / AP

chen Leben: Kommende Woche wird Ah- die Handlanger der eigentli-
med Tschalabi, 60, der nur vorübergehend chen Protagonisten verwickelt.
Verfemte, als Staatsgast wieder freundlich Es war beispielsweise Che-
in Washington aufgenommen werden. ney selbst, der im Frühjahr
Dem ebenso berüchtigten wie durchset- 2002, fast ein Jahr vor der Er-
zungsstarken Intriganten traut die Mann- oberung Bagdads, mit der
schaft im Weißen Haus noch am ehesten Sonderermittler Fitzgerald durch keine Tatsache gedeck-
zu, in Bagdad eine einigermaßen überle- Schmutzige Wäsche im Aktenschrank ten Erkenntnis vorgeprescht
120 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

war, der irakische Diktator habe sein Nu- dienstberichte; eine Abwägung, ob die
klearprogramm „wieder in Kraft gesetzt“. Quellen glaubwürdig waren, fand nicht
Es war Condoleezza Rice, damals Bushs statt. Nur so konnte es geschehen, dass
Sicherheitsberaterin, die die griffige For- Tschalabis vorwiegend eigennützige Mär-
mel erfand, man könne nicht abwarten, chen aus dem Morgenland direkten Ein-
bis der unschlagbare Beweis für Saddams fluss auf die US-Politik erlangten.
Nuklearwaffenkapazität „in Form eines Wie Libby war auch Rove Mitglied in
Atompilzes“ am Horizont erscheine. Das der bis heute geheimnisumwitterten „White
Gerichtsverfahren wird sich mit der House Iraq Group“, die sieben Monate vor
Nachrichtenfabrikation beschäftigen müs- der Invasion von Stabschef Andrew Card
sen, die solche Tatarenmeldungen ermög- gegründet wurde, um die Amerikaner
lichte. „über die Gefahren durch das irakische
Die Geschichte einer Vendetta, mit der Massenvernichtungswaffenprogramm auf-
die Administration einen unbequemen zuklären“. In dem Zirkel, dem auch die
Kritiker desavouieren wollte, lässt keinen heutige Außenministerin Rice und Bushs
Beteiligten gut aussehen. In seiner Rede jetziger Sicherheitsberater Stephen Had-
zur Lage der Nation im Januar 2003 hatte ley angehörten, wurden die dürren Er-
Präsident Bush als Beleg für Saddams kenntnisse mächtig aufgebauscht. Staats-
Griff nach der Atomwaffe behauptet, der anwalt Fitzgerald hat sich auffällig gründ-
Diktator habe versucht, im westafrikani- lich für die Arbeit dieses Propagandatrupps
schen Niger Uran zu kaufen – ein Gerücht, interessiert.
das zu diesem Zeitpunkt längst widerlegt Mit einem ganzen Heer von Topanwäl-
war. Ein halbes Jahr später berichtete der ten hatte Rove zuletzt wochenlang ver-

BRENDAN SMIALOWSKI / GETTY IMAGES


Ex-Diplomat Joseph Wilson in einem Bei- sucht, einer Anklage zu entgehen. Und die
trag für die „New York Times“ vom 6. Juli Panik, die das Weiße Haus während dieser
2003, er selbst habe entsprechende Be- Zeit gepackt hatte, wurde durch die Er-
richte vor Ort geprüft und sie als Fälschung kenntnis ausgelöst, dass die zweite Amts-
enttarnt. zeit des Präsidenten in Paralyse versinken
Die Replik auf diesen Vorwurf kam acht könnte, sollte Bush seinen wichtigsten Mit-
Tage später. Der konservative Journalist arbeiter endgültig verlieren. „Dies werden
Robert Novak, ein treuer Anhänger der sehr, sehr dunkle Tage für das Weiße
Regierung, warnte davor, Wilson ernst zu Chef Cheney, Mitarbeiter Libby Haus“ zitiert die „Washington Post“ Bushs
nehmen: Seine Niger-Recherche im Regie- „Geheimnistuerische Kabale“ Stabschef.
rungsauftrag sei nur eine Lustreise gewe- Die zweite Amtszeit des Präsidenten,
sen, die ihm Ehefrau Valerie Plame, eine der Regierung“ und erkennt seinen alten ohnehin schon ein ziemliches Desaster,
Agentin der CIA, verschafft habe. Mitstreiter nicht wieder. droht nun in einem Affärenstrudel zu ver-
Nun ist die Enttarnung eines verdeckt Der Stabschef des ehemaligen Außen- sinken. Ähnlich erging es zuvor Ronald
arbeitenden CIA-Mitglieds nach amerika- ministers Colin Powell, Oberst Lawrence Reagan und Bill Clinton.
nischem Recht ein Verbrechen, das mit ei- Wilkerson, sieht die amerikanische Außen- Clinton konnte sich auch in höchster
ner Haftstrafe von bis zu zehn Jahren ge- politik während des Aufgalopps zum Irak- Bedrängnis stets auf die Unterstützung
ahndet werden kann. Sofort erhob sich der Krieg gar als Geisel einer „geheimnistue- seiner Anhänger verlassen. Bush dagegen
Vorwurf, die Administration habe geneig- rischen, wenig bekannten Kabale“ an, die muss jetzt weitgehend ohne die Hilfe sei-
ten Journalisten den Namen der Agentin Cheney und Verteidigungsminister Donald nes erfahrensten Strategen auskommen –
gesteckt, um ihren Ehemann zu treffen. Rumsfeld ersonnen hätten. So seien die und das zu einem Zeitpunkt, an dem sei-
Wilson, auch kein Held, genoss seinen Irak-Entscheidungen an den regulären Re- ne Wählerkoalition auseinander zu laufen
plötzlichen Ruhm als Bush-Opfer und gierungsinstanzen vorbeibugsiert worden. droht.
schlachtete die Affäre weidlich aus. Mit besonderem Misstrauen hat der Vi- Ein Teil der eigenen Parteifreunde greift
Niemand verfolgte den zum Märtyrer zepräsident stets die Geheimdienste be- ihn wegen des riesigen Haushaltsdefizits
eher untauglichen Diplomaten mit glü- trachtet. Eifrig konsumierte Cheneys Alter an, während neokonservative Anhänger
henderem Hass als Cheneys Stabschef Ego Libby deshalb unbearbeitete Geheim- sich über die derzeit wenig zupackende
Libby. Noch bevor Wilsons Artikel er- Irak-Politik empören. Religiöse
schien, steckte er den Hintergrund der Fundis nehmen ihm die Nomi-
sich anbahnenden Affäre bereits der „New nierung seiner Rechtsberaterin
York Times“-Reporterin Judith Miller, Harriet Miers zur Richterin am
die dank Tschalabis Einflüsterungen eifrig Obersten Gericht übel. In den
an der Legende der Massenvernichtungs- Augen frommer Christen hatte
waffen mitgestrickt hatte – wofür sich sich die fromme Christin nicht
die „New York Times“ nach dem Krieg entschieden genug für eine
entschuldigte. Stärkung des religiösen Lebens
Libby erwies sich als verlässlicher Blut- der USA eingesetzt. Am ver-
hund für seinen Chef. Denn es war Che- gangenen Donnerstag musste
ney, der machtvoller und beharrlicher als Miers ihre Kandidatur zurück-
seine Kollegen in der Bush-Regierung die ziehen.
ETHAN MILLER / AFP

Nation auf Kriegskurs gebracht hatte. Sein Und es ist nicht allein das
alter Freund Brent Scowcroft – während Weiße Haus, dessen Mitarbei-
des Golfkriegs von 1991 Sicherheitsbera- ter ins Visier der Justiz gera-
ter von George Bush senior, Cheney selbst ten sind. Auch die Führung
amtierte als Verteidigungsminister – hält „New York Times“-Reporterin Miller der Republikaner im Kongress
ihn heute für die „wirkliche Anomalie in „In die Irre geführt“ wehrt sich gegen Anschuldi-
122 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
gungen. Tom DeLay, bis vergangenen
Monat Mehrheitsführer im Repräsentan-
tenhaus, lieferte soeben vor einem texa-
nischen Sheriff seine Fingerabdrücke ab –
er steht wegen Geldwäsche unter Anklage.
Bill Frist, sein Pendant im Senat, wird von
der Börsenaufsicht verdächtigt, an einem
Insidergeschäft bei Aktienverkäufen einer
familiennahen Krankenhausgesellschaft
verdient zu haben.
Nicht einmal Staatsanwalt Fitzgerald
geht als strahlender Held aus der Affäre
hervor. Dabei schien der Jesuitenschüler
und Sohn eines irischen Einwanderers
zunächst alles richtig zu machen. Er prä-
sentierte sich als nimmermüder Work-
aholic, der Mails mit Weisungen für
seine Ermittler gern um zwei Uhr mor-
gens verschickt. In den Aktenschränken
seines Büros türmte sich schmutzige Wä-
TOMASZ GZELL / DPA

sche, auf dem Schreibtisch stapelten sich


tagelang die Reste seiner Fast-Food-Mahl-
zeiten.
In Chicago, wo Fitzgerald seit 2001 Lei-
tender Staatsanwalt ist, wird er als Wie- Wahlsieger Jaroslaw und Lech Kaczyński: Heile Welt der Traditionen
dergänger von Eliot Ness gefeiert, dem le-
gendären Bezwinger von Al Capone. Und
POLEN
seinem Ruf als unerbittlicher Fahnder ist

Die vierte Republik


Fitzgerald auch in Washington gerecht ge-
worden: Er beschlagnahmte E-Mails des
Weißen Hauses, Terminkalender und sogar
die Telefonlisten der Präsidentenmaschine
Air Force One. Die beiden Kaczyńskis stellen das eigentümlichste Polit-Duo
Dennoch, als ein Ermittlungserfolg mo-
natelang ausblieb, zögerte Fitzgerald nicht, in Europa dar. Russland und Deutschland richten
der Pressefreiheit zu Leibe zu rücken. Er sich vorsorglich schon auf Konflikte mit dem Nachbarn ein.
erwirkte Beugehaft für jene Journalisten,

W
denen die Topmanager des Weißen Hauses arschau ist keine besonders schö- nents. Sicher scheint auch: Die Nowo-
den Namen der Wilson-Ehefrau zugesteckt ne Stadt, und am Ende der Nowo- grodzka dürfte künftig das eigentliche
hatten. Die skrupellose Methode zahlte grodzka-Straße schon gar nicht. Machtzentrum Polens sein. Von hier aus
sich aus. Die Fassaden sind so grau wie vor der wird Jaroslaw nicht nur die Regierung kon-
85 Tage saß die „New York Times“-Re- Wende, alte Leute schleppen ein paar trollieren, sondern auch Kontakt mit Lech
porterin Miller im Gefängnis, bevor sie – Lebensmittel nach Hause. Hier, inmitten im Präsidentenpalais halten, der sich schon
nach Absprache mit den Anwälten von ihrer Wählerschaft, weit weg vom boo- seit Kindertagen in allen Lebensdingen mit
Libby – bereit war, über ihre Unterredun- menden Zentrum mit den Glasfassaden dem 45 Minuten älteren Bruder berät.
gen mit Cheneys Vertrautem auszupacken. und den Latte-Macchiato-Cafés, befindet Lange hatten die Warschauer Medien
Doch als dann bekannt wurde, was sie aus- sich die Zentrale von „Recht und Gerech- den Liberalen von der Bürgerplattform den
gesagt hatte, war auch die „New York tigkeit“ (PiS). Die Partei sicherte sich nach sicheren Sieg zugeschrieben. Währenddes-
Times“ blamiert, die sie zur Märtyrerin dem Parlamentssieg Ende September jetzt sen gelang es den Kaczyńskis, sich eine für
der Pressefreiheit hochstilisiert hatte. auch noch das Präsidentenamt. osteuropäische Staaten typische Mittel-
Denn Miller entpuppte sich als Journa- Im zweiten Stock des Plattenbaus resi- schicht als Wählerklientel zu erschließen.
listin, die sich durchaus zum Vorteil der diert der Architekt des Erfolgs: Parteichef In Polen trage nur die „PiS Züge einer
Regierung einspannen ließ. In einer Mail Jaroslaw Kaczyński, 56. Damit sein Zwil- Volkspartei“, sagt Kai-Olaf Lang von der
an seine Mitarbeiter musste Chefredakteur lingsbruder Lech die Präsidentenwahl ge- Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.
Bill Keller zugeben, möglicherweise habe winnen konnte, verzichtete er auf das Amt Sozial zwischen den Wendegewinnern
die Reporterin ihre Vorgesetzten über die des Premiers. Beide Kaczyńskis an der der Großstädte und den entwurzelten Ver-
Beteiligung an der Flüsterkampagne gegen Spitze des Staates – das wäre wohl zu viel lierern auf dem Lande angesiedelt, sehnt
Wilson „in die Irre geführt“. gewesen für die Polen. sich die Kaczyński-Klientel nach Ruhe und
Die wichtigste Zeitung der USA lebt seit- In Europa aber hat der Erfolg der Zwil- Ordnung. PiS-Wähler bangen als Ange-
her im Verdacht, dass es nicht nur ihre linge auch so Irritationen ausgelöst. „Rechts- stellte um ihren Arbeitsplatz, fürchten als
Journalisten sind, die über hochkarätige ruck in Polen“, titelten die Zeitungen und kleine Ladenbesitzer die Konkurrenz in-
Quellen verfügen. Die ungebührlich ver- unterstellten einen Epochenbruch. Kata- ternationaler Ketten – und flüchten sich in
trauensvolle Zusammenarbeit von Miller pultiert sich Warschau kaum anderthalb die scheinbar heile Welt der Traditionen
und Libby legt nahe, dass auch die Regie- Jahre nach dem EU-Beitritt wieder aus der und der nationalen Solidarität.
rung über verlässliche Agenten in der Union?, fragt sich der Westen. Suchen die Für sie schufen Lech und Jaroslaw das
„New York Times“ verfügt – und zwar ge- Brüder Streit mit Berlin, riskieren sie einen Bild von der „IV. Republik“. Die erste geht
rade dann, als Amerika zu einem Krieg neuen Kalten Krieg mit Russland? auf das Jahr 1791 zurück – als sich der pol-
aufbrach, der sich als fatal erweist. Klar zumindest ist: Die Zwillinge bilden nische Adel eine für damalige Verhältnis-
Hans Hoyng, Georg Mascolo das eigentümlichste Polit-Duo des Konti- se überaus fortschrittliche Verfassung gab.
124 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

Die zweite bezeichnet die Zwischen- tatsächlich auf Rückgabe von Vertriebe- „jeglicher Verkehr miteinander“ sei derzeit
kriegszeit, die dritte begann, als Solidar- nengrundstücken drängt. eingestellt. Schlechter könne es kaum kom-
no£ƒ den Kommunismus abschüttelte. Kanzler Gerhard Schröder gelang es men, auch nicht unter Kaczyński. Der ver-
Die vierte Republik ist in der Lesart der nicht, solche Befürchtungen zu zerstreuen kündete schon auf der ersten Pressekonfe-
Kaczyńskis gleichbedeutend mit einem – obwohl er vergangenes Jahr in Polen er- renz schroff, es sei nicht daran zu denken,
schützenden, fürsorglichen Staat. An der klärte, die Bundesregierung werde indivi- dass „ich als Erstes Moskau besuche“.
Spitze steht ein mit üppigen Vollmachten duelle Forderungen in keiner Weise unter- Dass knapp anderthalb Jahrzehnte nach
ausgerüsteter Präsident, der aufräumt mit stützen. Nachfolgerin Angela Merkel will Ende des Warschauer Pakts zwischen bei-
den Kriminellen und den zähen kommu- an dieser Linie festhalten. den Ländern Sprachlosigkeit herrscht,
nistischen Seilschaften. Sie wird mit weiterem Gegenwind aus muss die Europäer beunruhigen – schon
Kaczyńskis Wähler wollen klare Verhält- Warschau rechnen müssen. Denn die weil Polen nach 1989 ein wichtiger Mode-
nisse – aber keinen Krawall wie die Ultra- Kaczyńskis sind Gegner eines „Zentrums rator zwischen Ost und West gewesen ist.
nationalisten oder der unberechenbare gegen Vertreibungen“, wie es die CDU- Stein des Anstoßes ist die unterschiedli-
Bauernführer Andrzej Lepper. Deshalb Bundestagsabgeordnete und Vertriebe- che Bewertung der Vergangenheit. Die Po-
halten die Brüder geschickt ein gewisses nenchefin Erika Steinbach fordert. len bemängeln, dass noch immer eine offi-
Maß: Sie sind für die Todesstrafe, sagen Während Schröders Amtszeit hat sich das zielle Entschuldigung Moskaus für das
aber, dass sie „im modernen Europa“ nicht bilaterale Verhältnis verschlechtert. Zwar Massaker von Katyń fehlt – dort hatte 1940
durchsetzbar sei. Sie verbieten Lesben- goutierte man an der Weichsel, dass er den der sowjetische Geheimdienst über 21 000
und Schwulendemos, stellen sich aber nicht Polen zu relativ hohen EU-Agrarbeihilfen polnische Offiziere und Intellektuelle er-
an die Spitze der Gegendemonstranten. verhalf. Aber die siebenjährige Niederlas- schossen, darunter Verwandte Kaczyńskis.
Das Jonglieren mit solch heiklen The- sungssperre für östliche Arbeitnehmer in Auch dass Moskau dieses Jahr erstmals
men zahlte sich aus: Der ultrakonservative Deutschland, die er durchsetzte, nahm man den 4. November als Nationalfeiertag be-
Sender Radio Maryja und Lepper riefen ihm übel. geht, irritiert. Er gilt als der Jahrestag des
ihre Anhänger bei der Stichwahl auf, das Im Irak-Krieg stellte Polen sich an die Sieges über polnische Interventen im No-
Kreuzchen für Lech Kaczyński zu machen Seite Washingtons, während Schröder aus vember 1612 – neuerdings „ein Schlüssel-
– Lepper wurde dafür vorige Woche mit Warschauer Sicht die transatlantische Bin- ereignis“ der russischen Geschichte.
dem Posten des Parlamentsvize belohnt. dung aufweichte. Die aber ist vor allem Polen wiederum konzentrierte sich in
In der Regierung wollte PiS eigentlich wegen der Angst vor Russland eine Kon- den vergangenen Jahren darauf, im Osten
mit den Liberalen der Bürgerplattform zu- stante polnischer Außenpolitik. Europas einen Block demokratischer Staa-
sammenarbeiten. Aber nach ersten rück- Schröders enges Verhältnis zu Moskau ten zu zimmern – als Gegengewicht zum
sichtslosen Personalentscheidungen der irritiert Warschau daher besonders. Noch in vermeintlich neoimperialen Moskowiter-
Sieger brachen die Liberalen vergangene seinen letzten Amtstagen brüskierte der Reich. Vor allem die Unterstützung der
Woche die Koalitionsverhandlungen erst Kanzler die Polen – mit dem Vertrag über Revolution in Kiew verbitterte den Kreml.
einmal ab. Schon dienen sich Lepper und die deutsch-russische Gaspipeline durch die Auch zu Weißrussland sind Warschaus
die ultrarechte Liga der Polnischen Fami- Ostsee. Dass Schröder Warschau nicht kon- Beziehungen wegen der Parteinahme für
lien als alternative Mehrheitsbeschaffer an. sultierte, fand man dort fatal. Die Pipeline die Opposition auf ein Minimum reduziert.
Auch außenpolitisch stifteten die gebe Russland „zumindest theoretisch die In einem immerhin fanden die Russen vo-
Kaczyńskis in den vergangenen Wochen Möglichkeit, die Gaslieferungen an Polen rige Woche Trost: Kaczyńskis Wählerschaft
Verwirrung. Dass Lech Kaczyński als War- einzustellen, ohne dass die Versorgung des sitze vor allem in jenen Landesteilen, die
schauer Oberbürgermeister ausrechnen übrigen Europa beeinträchtigt würde“, klag- einst zum Russischen Reich oder zu Galizien
ließ, wie viel die Deutschen den Polen für te Lech Kaczyński. gehörten – es seien Menschen, die enge Bin-
die Kriegszerstörungen in der Hauptstadt Noch mehr steht im Verhältnis zu Russ- dungen nach Osten hätten. Eine weitere
schuldeten, gilt eher als publikumswirksa- land auf dem Spiel. Eine „stabile gegen- Verschlechterung der Beziehungen mit
me Geste. Er will die Forderung präsen- seitige Abneigung“ diagnostizierte Kreml- Minsk und Moskau könne sich Polen daher
tieren, wenn die „Preußische Treuhand“ Berater Gleb Pawlowski vorige Woche, gar nicht leisten. Christian Neef, Jan Puhl
EK PICTURES (L.); INTERFOTO (R.)

Zeitungscollage nach dem deutsch-russischen Pipeline-Vertrag, zerstörtes Warschau (1945): „Stabile Abneigung“

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DAVID HUME KENNERLY / GETTY IMAGES
Minister Rumsfeld an Bord seiner Luftwaffenmaschine: „Das wirkliche Schlachtfeld ist die Öffentlichkeit in unserem Land“

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Wir werden die Dinge richten“


Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, 73,
über die Rivalität zwischen China und den USA, das Fiasko im Irak, den Umgang
mit Diktatoren und sein Verhältnis zu den Deutschen
SPIEGEL: Mr Secretary, Sie kommen gera- Rumsfeld: Ich glaube, es wäre falsch, da- SPIEGEL: Wer eine Marktwirtschaft hat, be-
de aus Peking, wo Sie Ihre Sorge über die von auszugehen. Keine Ahnung, ich glau- kommt auch Demokratie, glauben Sie also.
Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte be, das weiß niemand, vermutlich wissen es Rumsfeld: Nicht unbedingt. Natürlich gibt
geäußert haben. Ist China eine Bedrohung nicht einmal die Chinesen. Seit den Tagen es auch Länder mit ziemlich restriktiven
für die USA? Deng Xiaopings hat China die bewusste politischen Systemen, die wirtschaftlich
Rumsfeld: Ich habe meine Bedenken nicht Entscheidung getroffen, das Wirtschafts- einigermaßen erfolgreich sind.
ganz so vorgetragen, wie Sie es darstellen. system so weit zu öffnen, dass die Men- SPIEGEL: Das Pinochet-Chile verband poli-
Ich habe gesagt, dass es ziemlich viele Ex- schen Wachstum und Lebenschancen be- tische Repression mit ökonomischem Libe-
perten gibt, die sich über die offiziellen Rüs- kommen. Das ist gut so. Damit daraus ein ralismus.
tungsangaben beugen und zu dem Ergebnis Erfolg wird, müssen die Chinesen jede Rumsfeld: Richtig, am Ende aber traf Chile
kommen, dass die wirklichen Zahlen zwei- Menge Menschen ins Land lassen. Sie wer- die Entscheidung, seine Militärherrschaft
oder dreimal höher liegen. Jedem Land der den Bedarf an vielen Computern haben; In- durch die Demokratie zu ersetzen.
Welt steht es frei, so viel Geld für Rüstung formationen en masse werden ins Land SPIEGEL: Wird China zur zweiten Super-
auszugeben, wie es will, und es darf auch fließen und wieder herausströmen. Mehr macht aufsteigen?
anschaffen, was es will. Was aber Fragen und mehr Chinesen werden so erkennen, Rumsfeld: Darauf deutet einiges hin, und
aufwirft, ist das Missverhältnis zwischen dass die erfolgreichen Länder der Erde freie ich wünsche den Chinesen alles Gute. Da-
den Angaben der Chinesen und ihrem politische und wirtschaftliche Systeme be- bei hoffe ich aber, dass der Rest der Welt
tatsächlichen Tun. Darum geht es mir. sitzen. Daraus dürften Spannungen in ei- sie ermuntern kann, zum verantwortungs-
SPIEGEL: Wird China in diesem oder im nem System entstehen, das weniger frei ist. bewussten, konstruktiven Partner zu wer-
nächsten Jahrhundert der wichtigste Riva- Falls sich der Wunsch nach einem eher ab- den, der sich mehr und mehr engagiert.
le der USA sein? geschotteten politischen System durchsetzt, Stabilität ist ein Vorteil für die Wirtschaft.
wird die Wirtschaft leiden. Falls das öko- Niemand gewinnt, wenn es Krieg oder
Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Aust, Ralf nomische System zur Blüte kommt, wird Konflikte gibt, Unsicherheit oder Angst.
Beste und Georg Mascolo. sich auch die Politik mäßigen und öffnen. Geld flieht davor. Also möchte man hoffen,
126 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

dass die Chinesen allmählich Mitsprache in


den internationalen Angelegenheiten über-
nehmen. Zum Beispiel sollte es in ihrem In-
teresse liegen, sich so zu verhalten, dass die
Welt ihre Olympischen Spiele gern dort
abhält. Wenn all dies eintritt, wird die Welt
besser und erfolgreicher aussehen.
SPIEGEL: Einer der Unruheherde, der die
Welt beschäftigt, ist der Irak. Im Februar
2003 sagte Ihnen der deutsche Außenminis-
ter Joschka Fischer auf der Sicherheitskon-
ferenz in München: „I am not convinced“
– er sei nicht von Ihrer Begründung für
den Irak-Krieg überzeugt. Konnten Sie
seither die Welt davon überzeugen, dass
Sie Recht hatten?
Rumsfeld: Oh, das glaube ich nicht. Es ist
schwer für Leute, sich von etwas überzeu-
gen zu lassen, von dem sie nicht überzeugt
sein wollen. Schauen Sie doch Afghanistan
an und erinnern Sie sich daran, wie es vor
vier Jahren dort aussah: Al-Qaida war da,
die Taliban beherrschten das Land, Frauen
DAVID HUME KENNERLY / GETTY IMAGES

durften nicht aus dem Haus gehen, Kinder


keine Drachen steigen lassen. Im Fußball-
stadion haben sie Menschen ermordet, an-
statt dort Fußball zu spielen. Und heute:
Natürlich gibt es Probleme mit Drogen und
Korruption, aber es gibt einen gewählten
Präsidenten, die Verfassung ist durch und
durch afghanisch, sie haben ein Parlament
und Regionalwahlen. Viele Flüchtlinge und Besucher Rumsfeld mit US-Soldaten in Bagdad: „Niemand gewinnt, wenn es Krieg gibt“
Vertriebene sind heimgekehrt, die Wirt-
schaft wächst in einem ansehnlichen Tem- te hat der Irak eine Verfassung, es ist eine cherheitskräfte werden von den Aufstän-
po. Eine ziemliche Erfolgsgeschichte, aber irakische Verfassung, es ist die der Iraker. dischen ermordet. Ab einem gewissen Mo-
sie bleibt weitgehend unbemerkt. Am 15. Dezember findet eine Wahl statt. ment mögen die Iraker das nicht mehr. Es
Nun zum Irak. Ich glaube, dass die Leute Offensichtlich lassen sich die Iraker auf den ist ihr Land.
sich auch in diesem Fall nicht überzeugen politischen Prozess ein: Dazu gehört zu SPIEGEL: Gegen wen kämpfen die Aufstän-
lassen. Ich bezweifle auch, dass es in zwei, streiten, zu zerren und zu ziehen. dischen – gegen die USA oder die irakische
drei oder vier Jahren anders sein wird. Fi- Selbst die Sunniten geben zu, dass sie einen Regierung?
scher war damals unnachgiebig. Anderer- schlimmen Fehler begingen, als sie sich Rumsfeld: Die Aufständischen kämpfen
seits gibt es einen angesehenen Orienta- heraushielten; jetzt lassen sie sich darauf nicht gegen unsere Koalitionsstreitkräfte,
listen, der meint, dass die Dinge im Irak ein. Zum Referendum über die Verfassung sondern gegen die irakischen Sicherheits-
nicht gut stehen, aber dass sie dort niemals ließen sich schon mehr von ihnen in die kräfte – gegen die Regierung, die vom ira-
besser gestanden hätten als heute. Wahllisten eintragen. Sunniten, Schiiten kischen Volk gewählt wurde. Es mag man-
SPIEGEL: Heute ist sogar eine Mehrheit der und Kurden werden sich bis zum 15. De- che Leute enttäuschen, aber ich vermute,
US-Bürger gegen den Krieg eingestellt. zember am Wahlprozess beteiligen. Ich wir werden in den kommenden Monaten
Was ist schief gegangen? glaube, das wird eine erfolgreiche Wahl. feststellen, dass der Prozess vorangeht. Der
Rumsfeld: Vor ein paar Jahren gab es Mas- SPIEGEL: Es gibt tagtäglich Anschläge, über Irak wird zum wichtigen Land mit genü-
sengräber im Irak; das kommt im Prozess 2000 US-Soldaten sind getötet worden. gend Wasser, mit intelligenten Menschen,
gegen Saddam Hussein zur Sprache. Heu- Rumsfeld: Wir dachten, vor dem Referen- mit Öl in einer kritischen Region der Erde,
dum am 15. Oktober würde die Gewalt ei- und es wird mehr Demokratie dort herr-
nen Zenit erleben, aber das trat nicht ein. schen als in den Nachbarländern, zum Nut-
Es könnte natürlich einen Anstieg der An- zen der Region und der Welt.
schläge vor der Dezemberwahl geben. SPIEGEL: Warum bitte, verlieren Sie dann zu
Aber der Druck, der auf die Terroristen Hause an Rückhalt?
und Aufständischen ausgeübt wird, zeigt Rumsfeld: Das war immer so im Krieg.
Wirkung. Wir fangen und töten eine große Blicken Sie zurück in die Geschichte:
Zahl hochrangiger Leute vom Schlage der Harry Truman, ein wunderbarer Präsident,
Qaida oder Sarkawis. Unlängst haben wir wie selbst Sie einräumen dürften, trug zur
eine Telefonnummer eingerichtet, unter Nachkriegsordnung nach 1945 bei. Den-
der Iraker anonym anrufen können. Sie noch hielten ihn während des Korea-Kriegs
erhalten kein Geld für ihre Tipps, aber sie nur 23 Prozent der Amerikaner für einen
können sagen: „Schaut mal, zwei Häuser guten Präsidenten, als er 1953 aus dem Amt
weiter basteln ein paar Jungs an Bomben.“ schied.
Es gehen immer mehr Tipps der Bürger SPIEGEL: Sie meinen, Popularität ist kein
ein. Was sagt uns das? Viele irakische Si- verlässlicher Indikator?
Außenminister Fischer in München (2003)* Rumsfeld: Mein Gott, wenn Sie in einer
„I am not convinced“ * Bei der Konferenz für Sicherheitspolitik. Führungsposition morgens aufstehen und
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gen, durch die Koranschulen geschleust
wurden, in Trainingscamps ausgebildet
wurden, Geld gaben oder lernten, wie man
zum Selbstmordattentäter wird. Das sind
entschlossene Leute. Sie wollen das Kalifat
auf der Welt wieder aufrichten. Sie wollen
moderate islamische Regime hinwegfegen.
Also, an welchem Punkt stehen wir heute?
Es ist sehr schwer, darauf eine Antwort zu
finden, aber es gibt viele sehr gute An-
zeichen, und eines davon ist die enorme
Zahl hochrangiger Terroristen, deren Spur
wir verfolgen. Osama Bin Laden zeigte
sich höllisch lange nicht mehr in einem

DAVID HUME KENNERLY / GETTY IMAGES


Video. Das kann daran liegen, dass er
schüchtern geworden ist – aber das war er
vorher nie.
SPIEGEL: Syrien steht unter internationa-
lem Druck wegen seiner angeblichen Rol-
le beim Attentat auf den ehemaligen liba-
nesischen Premierminister Rafik al-Hariri.
Könnte Syrien Libyen folgen – mit seiner
Gast Rumsfeld (in Seoul): „Ich wünsche den Chinesen alles Gute“ Vergangenheit ins Reine kommen und sich
auf den Westen einlassen?
damit anfangen, Beliebtheitsumfragen SPIEGEL: Geht’s genauer? Rumsfeld: Das ist möglich und gewiss wün-
nachzujagen! Das Kraftzentrum des Irak- Rumsfeld: Nein, nein. Jetzt sehen sie, dass schenswert. Wissen Sie, ich versuche mich
Kriegs liegt nicht im Irak. Wir verlie- sie die Sunniten im Spiel halten müssen; in Gaddafi hineinzuversetzen und heraus-
ren nicht dort Schlachten und Scharmüt- das wird schon werden. Das ist das Land zufinden: Was hat ihn dazu gebracht ein-
zel. Schauen Sie, die wirklichen Schlacht- der Iraker, nicht unseres. Sie müssen ihren zulenken? Da hatte sich Bedeutsames er-
felder sind die Öffentlichkeit in Ihrem Weg finden, und der ist ziemlich holprig. eignet: die Enttarnung des Netzwerks, mit
Land und unserem Land. Und Sie, also die Demokratie ist ein zähes Geschäft. Die dem der pakistanische Wissenschaftler Ab-
Medien, gehören zu jenen Leuten, die Ein- Vorstellung, es müsste doch einige Genies dul Qadir Khan atomares Wissen und ato-
fluss auf diese Öffentlichkeit ausüben. geben, die sagen: „Lass es uns so machen!“ mare Bauteile schmuggelte; dann die Nach-
Aber mit der Zeit werden wir die Dinge und einen sanften, ruhigen Weg weisen, teile, die einem Land erwachsen, das als
richten. ist absurd. So vollzieht sich Geschichte terroristischer Staat gebrandmarkt ist; das
SPIEGEL: Hätte die amerikanische Regie- nicht. Denken Sie nur daran, wie lange andauernde Problem wegen der PanAm-
rung nicht anders vorgehen müssen, um Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Maschine, die 1988 über Lockerbie explo-
die Sunniten in den Friedens- und Auf- gebraucht hat, um seinen Weg zu finden. diert war. Oder schauen Sie sich Kim Jong
bauprozess einzubeziehen? SPIEGEL: Haben Sie Angst vor einem fun- Il an: Was mag den bewegen, einen ande-
Rumsfeld: Entscheidend ist es, allen das Ge- damentalistischen Irak? ren Weg einzuschlagen?
fühl zu geben, sie nähmen daran teil. Un- Rumsfeld: Alles ist möglich. Es Aber zu Syrien. Ich habe Assads
ter Saddam funktionierte das Land so: Wer ist ihr Land, und sie werden tun, Vater oft getroffen und konnte
sich nicht genehm aufführte, wurde er- was sie tun wollen. Ich glaube „Osama Bin mich einigermaßen gut in seine
mordet, ins Gefängnis gesteckt, die Fami- es nicht, aber es wäre ein Fehler, Laden Lage versetzen und so nachvoll-
lie wurde getötet. Das hielt das System zu- wenn der Irak fundamentalis- zeigte sich ziehen, wie die Welt aus seiner
sammen. Repression funktioniert so. Jetzt tisch werden würde. Ich mache höllisch Sicht aussah. Heute ist das et-
versuchen die Iraker, die Repression durch mir natürlich um viele Dinge lange nicht was anders: Jetzt regiert der
eine geschriebene Verfassung zu ersetzen, Sorgen. Ich setze mich hin und Sohn, er hat eine Gruppe Bera-
durch eine Verfassung, auf die man sich fertige Listen an, was so alles
mehr in ter aus einer Minderheiten-Kon-
jederzeit berufen kann und von der die passieren könnte. einem Video.“ fession. Da ist es schwerer zu er-
Menschen sagen: „Sie wird mich beschüt- SPIEGEL: Das tun Sie wirklich? raten, was ihn und die Clique,
zen.“ Das erfordert einen großen Vor- Rumsfeld: Darauf können Sie getrost Ihr die von seinem Regime profitiert, zu der
schuss an Vertrauen. Leben verwetten. Ich habe das immer Entscheidung bringen könnte, einen an-
Die Sunniten waren stets die Minderheit, schon gemacht. Was können wir tun, um deren Kurs einzuschlagen. Dabei handelt
die vom Regime Saddam Husseins profi- das Schlimmste zu verhindern? Oder, falls es sich nicht um einfaches Poolbillard,
tierte. Sie haben offenbar die Schlussfol- es eintritt und außer Kontrolle gerät, wie sondern um Karambolage: Kugeln rollen
gerung gezogen, dass sie jetzt schlecht können wir es mildern? umher, und niemand weiß, wo sie am Ende
wegkommen werden. Sie müssen lernen, SPIEGEL: Sie haben einmal die Frage ge- liegen.
darauf zu vertrauen, dass sie auch als stellt: Verlieren wir oder gewinnen wir den SPIEGEL: Gaddafi hat sich am Ende arran-
Minderheit fair behandelt und beteiligt Kampf gegen den Terrorismus? Sind Sie giert und konnte als Diktator überleben.
werden; das braucht Zeit. einer Antwort näher gekommen? Vielleicht kann Baschar al-Assad auch so
Ganz offen gesagt, glaube ich nicht, dass Rumsfeld: Ich weiß, was Sie meinen. Ich überleben?
die sunnitischen Nachbarn auch nur an- habe im Oktober 2003 ein Memorandum Rumsfeld: In der Geschichte gibt es dafür
nähernd hilfreich waren. Sie waren wohl geschrieben und an General Richard viele Beispiele. Eines wissen wir über die-
weniger angetan von der repräsentativen Myers, den Vorsitzenden der Vereinigten se Regime: Sie sind hochgradig „zentra-
Demokratie als wir. Stabschefs, geschickt. Ich wusste damals, lisiert“ – wir wollen diesen Euphemismus
SPIEGEL: Welche Länder meinen Sie? wie viele Menschen wir gefangen nahmen verwenden anstatt anderer Wörter, die uns
Rumsfeld: Ach, nur ein paar der sunniti- oder töteten. Ich kannte jedoch nicht die auch einfallen könnten. Diktatoren müssen
schen Nachbarn. Zahl derer, die in dieses Geschäft einstie- wissen, dass sie auf eine prekäre Situation
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Rumsfeld: Ich denke, das überlasse ich den
Deutschen und der Nato. Einige Länder in
Europa haben damals diese Entscheidung
gefällt. Das lag in ihrem Interesse, und auch
heute gilt die Entscheidung noch. Also soll-
te man annehmen, dass es weiterhin in
ihrem Interesse liegt.
SPIEGEL: Das war keine Antwort.
Rumsfeld: Das war eine sehr gute Antwort.
SPIEGEL: Vielen Deutschen gelten Sie als
Inkarnation des amerikanischen Unilate-
ralismus. Andere bewundern die Klar-
heit Ihrer Sprache. Einige Ihrer Zitate wur-
den in Zeitungen als Dichtkunst abge-
druckt …
Rumsfeld: … ein Poet zu werden war nicht
mein Ziel.
SPIEGEL: Wer ist der wahre Rumsfeld: ein
Dichter, ein Krieger?

PAUL BUCK / DPA


Rumsfeld: Meine Güte. Was wir mit Si-
cherheit wissen: Er ist nicht die Karikatur,
die oft von ihm gezeichnet wird. Aber dar-
US-Führungsriege in Crawford, Texas*: „Demokratie ist ein zähes Geschäft“ über müssen Sie urteilen.
SPIEGEL: Geben Sie uns einen Tipp.
zusteuern. Ihr Denken dreht sich darum, SPIEGEL: Sie meinen die Europäer. Rumsfeld: Wer eine Antwort sucht und ein
wie sie das Regime am Laufen halten kön- Rumsfeld: Natürlich. Meine Güte, Iran ist bescheidenes Maß an Recherche aufwen-
nen. Das ist keine Obsession, aber eine euer Nachbar. Wir müssen doch nicht alles det, wird erfahren, dass ich in Latein- und
hohe Priorität. Also müssen sie an einem machen. Mittelamerika hart daran gearbeitet habe,
Punkt zur Überzeugung gelangen, es sei SPIEGEL: In unserem Land vollzieht sich ge- diese Länder zu mehr Kooperation zu be-
am besten, den Kurs zu ändern. rade ein „regime change“ … wegen. Ich denke, dafür könnte man das
SPIEGEL: Wie besorgt sind Sie wegen Iran? Rumsfeld: … dies ist kein Begriff, den ich Wort „multilateral“ verwenden. Ich möch-
Rumsfeld: Alle müssen besorgt sein, wenn benutzt hätte. te aber nicht als jemand gesehen werden,
ein so wichtiges, großes und reiches Land SPIEGEL: Der Wechsel ist nicht so weit ge- der sich in Selbstbeschreibungen ergeht.
keinen normalen Umgang mit dem Rest gangen, wie viele erwartet haben. Joschka Also lasse ich es.
der Welt pflegt. Die Iraner haben offen- Fischer, den Sie nicht zu überzeugen ver- Reden wir über die Vereinigten Staaten:
sichtlich einen gewissen Ehrgeiz, sie haben mochten, zieht sich zurück. Die Nato ist ein Militärbündnis, und ich
Macht und militärische Fähigkeiten … Rumsfeld: War einer von Ihnen auf der bin der Minister aus den USA, der damit zu
SPIEGEL: … und nukleare Ambitionen … Sicherheitskonferenz, bei der Fischer aus- tun hat. An den Initiativen der Nato der
Rumsfeld: Zu diesem Ergebnis sind Frank- gerufen hat: „I am not convinced“? vergangenen fünf Jahre war ich intensiv
reich, Deutschland, Großbritannien und SPIEGEL: Ja. beteiligt: Erweiterung, Schnelle Eingreif-
die Internationale Atomener- Rumsfeld: Das war lustig. Ich hat- truppe. Die Nato ist so wenig unilateral,
giebehörde in Wien gelangt. Je- te meinen Spaß. Wissen Sie, ich wie man nur sein kann. Die Charakterisie-
dermann möchte die Iraner als „Meine Güte, fand das interessant. rung als Unilateralist rührt daher, dass ich
Teil der Weltgemeinschaft ha- Iran ist euer SPIEGEL: Na ja, in diesem Mo- vor einiger Zeit gesagt habe, die jeweilige
ben, aber sie sind es noch nicht. Nachbar. ment sah man Ihnen den Spaß Aufgabe bestimme die jeweilige Koalition;
Darum gibt es dort weniger Wir müssen nicht an. das halte ich für offensichtlich. Die USA
Berechenbarkeit und größere doch nicht Rumsfeld: Meine Güte, ich habe 5 helfen zum Beispiel gerade in Pakistan. Die
Gefahr. Minuten geredet und 45 oder 50 Aufgabe erforderte es nicht, 50 Staaten
SPIEGEL: Die USA versuchen,
alles Minuten lang Fragen beantwortet. zu organisieren, die mitmachen. Sie erfor-
den Fall im Uno-Sicherheitsrat machen.“ Ich sah bestimmt aus wie jemand, dert Schnelligkeit, und wir sind imstande,
verhandeln zu lassen. der sich amüsiert, weil es so war. die Dinge zu beschleunigen. Wir haben
Rumsfeld: Das würde ich so nicht sagen. SPIEGEL: Was erwarten Sie von der neuen dort Dutzende von Helikoptern, und sie
Soviel ich weiß, bearbeiten Frankreich, Regierung? retten Leben. Das ist diese Aufgabe. So
Deutschland und Großbritannien dieses Rumsfeld: Wissen Sie, Präsident Bush wollte war es auch beim Tsunami und offen gesagt
Problem. mir nicht einmal gestatten, bei der Kampagne auch in Afghanistan. Da helfen rund 40
SPIEGEL: Okay, alle arbeiten daran. zu seiner Wiederwahl mitzumachen. Er fin- Staaten.
Rumsfeld: Ihr! Ihr! det, Außen- und Verteidigungsminister soll- SPIEGEL: Wir haben daran großen Anteil.
SPIEGEL: Über welche Art Sanktionen re- ten sich aus der Innenpolitik heraushalten. Rumsfeld: Und ob. Wir verbringen viel Zeit
den wir? Wenn ich mich also aus der amerikanischen damit, um noch mehr Länder zum Mitma-
Rumsfeld: Ich rede gar nicht über Sanktio- Innenpolitik heraushalte, können Sie sicher chen zu animieren. Und wir geben reich-
nen. Ich dachte, ihr und Großbritannien sein, dass ich mich auch aus der deutschen lich Geld dafür aus, ihnen Informationen
und Frankreich tut das. heraushalte. Ich glaube, es ist gut, wenn sich zu beschaffen und Unterstützung zu ge-
SPIEGEL: Sie nicht? freie Länder weltweit engagieren. Die Deut- ben. Und warum das Ganze? Weil wir fin-
Rumsfeld: Ich rede nicht über Sanktionen. schen und ihre Führung müssen entschei- den, dass mehr Länder einen Anteil am
Ihr habt die Führung inne. Also, führt auch! den, wie weit sie sich in der Welt engagieren Erfolg in Afghanistan haben sollten. Und es
wollen. Das ist ihre Sache, nicht meine. ist ein – ich will jetzt kein kontroverses Ad-
SPIEGEL: Seit den Zeiten des Kalten Krieges jektiv benutzen – Erfolg.
* Im Feriendomizil von Präsident George W. Bush (r.):
Vizepräsident Richard Cheney, Donald Rumsfeld, Außen- werden US-Atomwaffen auf deutschem SPIEGEL: Mr Secretary, wir danken Ihnen
ministerin Condoleezza Rice. Boden gelagert. Warum noch heute? für dieses Gespräch.
130 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
JAMAL ARURI / AFP
Hamas-Aktivisten mit Explosionsgürtel-Modellen (in Ramallah): „Von diesem Sieg wollen wir singen“

ihre Führung nun in politisches Kapital


NAHOST
ummünzen. Bei einem Wahlerfolg könnten

Pakt mit dem Teufel


Extremisten dann im Parlament darüber
mitbestimmen, welchen Kurs ein künftiger
Palästinenserstaat einschlägt.
Damit stürzen die Erben von Scheich Jas-
Die radikale Hamas bereitet sich darauf vor, an den Wahlen zum sin die internationale Gemeinschaft in ein
Dilemma: Einerseits wollen die USA und die
palästinensischen Parlament teilzunehmen. Dafür will sie Europäische Union den Aufbau eines de-
aber keineswegs den bewaffneten Kampf gegen Israel aufgeben. mokratischen Palästinenserstaats fördern.
Andererseits plagen den Westen erhebliche

I
n seinem Archiv für akustische Effekte Schanab gehörte zur Führungsriege der Zweifel, dass sich die Terrororganisation
bewahrt Hassan Abu Schanab alles, wo- Hamas. Eine israelische Rakete tötete den wirklich zur politischen Partei wandeln kann.
mit er einen Krieg simulieren kann: das Ingenieur im August 2003 in seinem Auto. Im Gaza-Streifen bildet die Hamas eine Art
Dröhnen von Panzern, ratterndes Maschi- Hassan Abu Schanab, der amerikanischer Staat im Staate. Sie gilt als besser bewaffnet
nengewehrfeuer, sogar die Todesschreie ver- Staatsbürger ist, weil er in den USA gebo- als die Autonomiebehörde. Und die Funda-
wundeter Krieger. Solchen Schlachtenlärm ren wurde, als sein Vater dort studierte, gibt mentalisten treten an, ohne sich von ihrem
mischt der Verwaltungsstudent aus Gaza- gern zu, dass er weder für den Kampf noch militärischen Flügel zu trennen oder dem
Stadt an seinem Computer mit traditionell für die Politik Talent habe. Er feuere lieber Kampf gegen Israel abzuschwören.
islamischer Musik zu Helden-Raps, die vom andere mit seinen Liedern an. „Der Kampf Beteiligen sich die Gotteskrieger, denen
heiligen Krieg gegen Israel erzählen. gegen Israel muss weitergehen“, sagt er, „bis ein Stimmenanteil von 25 bis 30 Prozent
Die Songs stellt Abu Schanab für sei- unser ganzes Land befreit ist.“ vorausgesagt wird, womöglich an der Re-
ne siebenköpfige Palästinenser-Boygroup In fünf Jahren Intifada hat die Hamas gierung, könnte jegliche Friedenschance
„Jassin Band“ zusammen. Mit ihr tritt er mit ihrem Krieg gegen die israelischen Be- auf längere Sicht verspielt sein. Israel droh-
bei Volksfesten der radikalen Hamas-Be- satzer große Popularität erlangt; die will te bereits, in diesem Fall den Dialog mit
wegung und islamischen Hochzeiten auf. den Palästinensern vollends abzubrechen.
Momentan bastelt die Band, die sich Aus israelischer Sicht lieferte der An-
nach dem von Israel ermordeten Hamas- schlag der Terrorgruppe Islamischer Dschi-
Gründer Scheich Ahmed Jassin benannt had in Hadera am vorigen Mittwoch, bei
hat, an neuen Titeln. Denn die „Islamische dem fünf Israelis umkamen – tags darauf
Widerstandsbewegung“ Hamas will im Ja- flog die israelische Luftwaffe einen Vergel-
nuar erstmals als politische Partei zur Par- tungsangriff im Gaza-Streifen –, den Be-
lamentswahl antreten, und die sieben wol- weis dafür, dass allein die Zerschlagung der
len sie dabei unterstützen. „Mit Hilfe der Terrorgruppen die Gewalt brechen kann.
vielen Kämpfer, die als Märtyrer für Paläs- Auch die amerikanische Außenministe-
JAMAL ARURI / AFP

tina gestorben sind, haben wir Gaza be- rin Condoleezza Rice hält es für „undenk-
freit“, sagt Abu Schanab im altbekannten bar, dass eine bewaffnete Widerstands-
Propaganda-Singsang. „Von diesem Sieg organisation im politischen Raum gedul-
wollen wir singen.“ det wird“.
Hassan, 23, ist selbst der Sohn eines ge- Palästinenserführer Abbas Für die Palästinenser wäre eine Parla-
feierten Märtyrers. Sein Vater Ismail Abu Kompromisse mit der Terrorgruppe mentswahl ohne die Hamas „vollkommen
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 131
Banner der islamischen Herrschaft soll
„über jedem Zentimeter Palästinas we-
hen“. Kompromisse, die eine Koexistenz
mit Israel vorsehen, sind für die Hamas
tabu: „Für das palästinensische Problem
gibt es keine Lösung außer dem Dschi-
had.“ Israel ist für sie ein „Fremdkörper im
arabischen Ozean, der nicht auf ewig Be-
stand haben wird“.
Alles oder nichts – damit liegt die Ha-
mas, die sich als korruptionsfreie Alterna-
tive zur Autonomieregierung präsentiert,
im Konflikt mit den eher etablierten Riva-
len von der Fatah.
„Sind sie nun bereit zu einem Staat in
den Grenzen von 1967 oder nicht?“, fragt
das Fatah-Führungsmitglied Abdallah Fran-
gi. „Akzeptieren sie die internationale

ABID KATIB / GETTY IMAGES


Roadmap zum Frieden oder nicht? Auf die-
se Fragen sind sie der palästinensischen Öf-
fentlichkeit eine Antwort schuldig.“ Fran-
gi, ein Vertrauter von Palästinenserchef
Abbas, befürchtet eine „internationale Iso-
lation“ der Palästinenser, sollte die Hamas
Begräbnis des Hamas-Führers Rantissi*: „Unsere Waffe zielt auf Scharons Kopf“ ohne Verpflichtung zu Gewaltlosigkeit und
Demokratie zur Wahl antre-
undenkbar“, sagt der unabhängige, säku- ten und womöglich sogar in
lare Abgeordnete Siad Abu Amr. „Keiner die Regierung einrücken.
würde solche Wahlen ernst nehmen“, Für Palästinenser wie
glaubt auch der Leiter der Wahlkommis- Frangi geht es auch darum,
sion, Hana Nassir, ein Christ, der die wach- wie viel Freiheit das künftige
sende Kraft des politischen Islam in der Palästina bieten kann. Der
arabischen Welt durchaus mit Sorge ver- Diplomat vertrat die Palästi-
folgt. Dabei hofft er auf den heilsamen nenser lange in Deutschland
Zwang öffentlicher Verantwortung. „Wenn und ist europäische Maßstä-
sie ein Teil der Regierung werden, müssen be gewohnt. Seit er auf
sie sich auch wie eine Regierung beneh- Wunsch von Abbas nach
men“, meint Nassir. Gaza zurückkehrte, wird er
OSAMA HATEM
Nur um den Preis, dass die Hamas ihre von der Hamas attackiert,
Waffen behalten darf, war es Palästinenser- die ihn als Mossad-Agenten
präsident Mahmud Abbas gelungen, die Ex- beschimpft und bewaffnete
tremisten zu einer Waffenruhe gegenüber Rantissi-Witwe Rascha: „Sie werden wieder verschwinden“ Milizen vor seinem Haus
Israel zu bewegen. Seit kurzem ist es zudem aufmarschieren ließ.
allen Milizen untersagt, ihre Kalaschnikows Hamas-Führers Abd al-Asis al-Rantissi, will Die Gegner der Militanten wollen kein
auf der Straße zu tragen. Mehr ließ sich die auf den gewaltsamen Kampf nicht verzich- religiöses Regime, wie es die Hamas in
Hamas nicht abringen. „Abbas wird noch ten: „Die Witwen und Schwestern der Mär- Palästina durchsetzen möchte. Sie verwei-
schmerzhaft lernen, dass kein Pakt mit dem tyrer müssen deren Weg weitergehen, bis sen auf Kalkilja, wo der neue Hamas-
Teufel hält“, prophezeit ein Berater des is- ganz Palästina befreit ist.“ Der Koran gebe Bürgermeister eine Tanzaufführung ver-
raelischen Premiers Ariel Scharon. auch Frauen einen Platz im Dschihad. bot, weil dort Männer und Frauen ge-
Die EU scheut vor Druck auf die Hamas Rantissi, die voraussichtlich sogar zur meinsam aufgetreten wären.
zurück. „Die Entscheidung, wer an den Wahl antritt, ist streng religiös. Sie zeigt Es gibt sogar Hamas-Kandidaten wie
Wahlen teilnehmen darf, ist eine Sache der sich nur komplett verschleiert, was bei Ghasi Hamad, die behaupten, die Terror-
Palästinenser“, sagt Brüssels Sonderbe- palästinensischen Frauen eher selten ist. gruppe sei insgesamt pragmatischer ge-
auftragter für den Nahen Osten, Marc Otte, Das dichte beige Kopftuch lässt ledig- worden. „Wir glauben an einen moderaten
„wir sollten uns da nicht einmischen.“ Al- lich schmale Augenschlitze frei, die Hän- Islam, wir sind nicht al-Qaida“, sagt Ha-
lerdings warnt er die Militanten auch: „Die de stecken in dicken schwarzen Hand- mad. Er spricht von der möglichen Ak-
Hamas ist kein Gesprächspartner für uns, schuhen. zeptanz eines „Interim-Staates Palästina“
solange sie sich weigert, dem Terror abzu- Ja, sie hasse die Israelis, sagt sie – aber in den Grenzen von 1967.
schwören und das Existenzrecht Israels an- nicht, weil die ihren Mann ermordet hät- Geheimdiensten zufolge steht die Ha-
zuerkennen. Diesen Preis wird sie bezah- ten, sondern „weil sie mein Land gestohlen mas vor einem Richtungskampf zwischen
len müssen, wenn sie sich am politischen haben“. Für die glühende Islamistin be- pragmatischen und extremistischen Wort-
Prozess beteiligen will.“ steht kein Zweifel daran, „dass sie am Ende führern.
Das sieht die Hamas offenbar anders. eines langen Kampfes wieder verschwin- Der radikale Hamas-Chef Mahmud al-
Sie glaubt, sie könne beides haben – Par- den werden“. Sahar allerdings hält seine Truppe auf Kon-
lamentarismus und Guerillakampf. Die Vernichtung Israels steht schon im frontationskurs. Er sagt ungeschminkt,
Auch Rascha al-Rantissi, 50, die promi- Gründungs-Kommuniqué der „Islamischen worauf es ihm ankommt: „Wir werden ei-
nente Witwe des von Israel ermordeten Widerstandsbewegung“, die sich im De- nen Staat namens Israel nie anerkennen.
zember 1987 aus einer Abspaltung der Unsere Waffe zielt weiterhin auf Scharons
* Am 18. April 2004. ägyptischen Muslimbrüder formierte. Das Kopf.“ Annette Großbongardt

132 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland

B IR MINGHAM Das perfekte Gerücht


Global Village: Rassenkrieg im Ghetto einer britischen Großstadt

E
s sind bloß fünf Minuten mit dem Die Geschichte pumpte sich auf wie ein waltigung“, sagt Hussein. „Das Ganze war
Auto vom boomenden Stadtzentrum Schlauchboot, und als Warren G., der DJ ein Geschäftskrieg. Man hat mich ange-
Birminghams dorthin, wo die Dritte einer illegalen Radiostation, sie in einem schwärzt, um meine Läden zu zerstören.“
Welt beginnt: Saris in allen Farben des Re- Friseursalon hörte, spürte er, wie er später sa- Seine Stimme klingt öde, er zupft sich im
genbogens gibt es hier zu kaufen, billigen gen würde, dass sein Blut zu kochen begann. Schritt an seiner Trainingshose.
Schmuck, Granatäpfel, Schafe im Stück, Er rannte zurück in das Schlafzimmer, von Hussein kam mit 14 Jahren aus einem
das Pfund zu 65 Pence. Dass sie nicht wo aus er schwarzsendet, und rief ins Mi- kleinen pakistanischen Dorf nach England.
in Pakistan oder Jamaika sind, würden krofon: „Brüder und Schwestern, kommt auf Ihm gefiel, was er sah, die Fernseher, die
Außerirdische wahrscheinlich erst bemer- die Straße und protestiert. Wir wollen Ge- Walkmen, die Videorecorder, und weil er
ken, wenn sie den gelbgestrichenen Fish- rechtigkeit für unsere 14-jährige Schwester.“ das alles besitzen wollte, fing er an zu ar-
and-Chips-Shop sehen und jenen Himmel, Die Geschichte hatte nur einen kleinen beiten, erst als Metzger, dann als Taxi-
den es mit seinen vermutlich 70 Grautönen Fehler. Die Polizei konnte bei ihren Nach- fahrer. Schließlich bot ihm der Freund
nur in England gibt. forschungen im „Beauty Queen“ keine eines Verwandten an, sich an „Beauty
Die Einwanderer aus der Karibik und Spuren einer Vergewaltigung feststellen. Queen“ zu beteiligen. Pro Laden muss
Asien kamen in den fünfziger, sechziger Außerdem gab es keine 14-Jährige, die sag- Hussein 200 Pfund im Monat an eine Ket-
und siebziger Jahren des letzten Jahrhun- te, sie sei dort vergewaltigt worden. te bezahlen, dafür bekommt er die Wa-
derts, weil sie gehört hatten, ren im Großeinkauf billiger.
dass auf der britischen Insel „Beauty Queen“ ist ein großer
„die Straßen mit Gold gepflas- Erfolg.
tert sind“. Aber der Asphalt Er hat Hussein zu einem der
hier in ihrem Viertel namens Fürsten des Ghettos werden
Lozells glänzt nur matt vom lassen. Sein finanzieller Segen
Regen, und weil die Sache mit ist, dass seine Kundinnen fast
dem Gold nicht ganz so ein- ausschließlich schwarz sind
fach ist, gibt es manchmal Är- und jung und gut aussehen.
ger. Die Bilanz des vorletzten Sie wählen im „Beauty
Wochenendes lautet: 2 Tote, Queen“ unter Hunderten von
20 Verletzte und derart viele Haarteilen, Sprays, Wachsen,
eingeschlagene Fensterschei- Gels, Shampoos, Entkräu-
ben und ausgebrannte Autos, selungscremes und anderen
dass die West Midlands Police Mittelchen, um abends das
behauptet, sie brauche zwei Gefühl zu haben, sie würden
Wochen, um alle Schäden auf- nicht auf den trostlosen Stra-
zunehmen. ßen von Lozells herumstehen,
Die Ursache der Straßen- sondern in einem Rap-Musik-
schlacht versteckt sich seit video Marke „Bling Bling“,
einer Woche in seinem Wohn- wo der Beat nach einer frivo-
zimmer und trägt einen len Mischung aus Geld, Cham-
ANDREW FOX

schwarzen Trainingsanzug mit pagner, Schusswaffen und


gelben Streifen von Adidas. Sex klingt.
Der Mann heißt Ajaib Hus- Ladenbesitzer Hussein: „Es gab kein Mädchen, keine Vergewaltigung“ „Preise wie in London“ hat-
sein, hat, wie viele Söhne pa- te Hussein seine Waren in
kistanischer Einwanderer, einen schwarzen Am vorvergangenen Wochenende setz- Zeitschriften wie „Black Beauty“ annon-
Oberlippenbart, ist 35 Jahre alt und besitzt ten sich Rächer, die in Städten wie London ciert. Er hält jetzt zwei Haarteile in der
außer seinem Haus, wo die Sofas ebenso oder Manchester leben, ins Auto, behaup- Hand. Sie sind braun, lang und billig.
moosgrün sind wie der Teppichboden, drei ten die Leute jetzt. Im Gepäck hatten sie „Zwei Stück 4,99“, sagt er. „Bei meinen
Kosmetikgeschäfte, über denen groß in lila Ziegelsteine, Molotow-Cocktails, Messer Konkurrenten kostet eines fünf Pfund.“ Ei-
Buchstaben „Beauty Queen“ steht. und Handfeuerwaffen. Briten pakista- nes seiner Probleme am vorvergangenen
Hussein ist so etwas wie der Staatsfeind nischer Abstammung, die auf schwarzhäu- Wochenende war, dass die Konkurrenten
Nummer eins in Lozells. Vor zwei Wochen tige Menschengruppen trafen, wurden mit den teureren Läden aus der Karibik
begannen ein paar Leute zu erzählen, er nicht mehr als „Pakis“ beschimpft, son- stammen, aber die Mädchen von den son-
habe ein 14-jähriges Mädchen karibischer dern als „Rapist“ – als Vergewaltiger. nigen Inseln nur noch in seinem Laden ein-
Abstammung in einem seiner Läden beim Hussein sitzt auf seinem grünen Sofa. Es kaufen: Kapital und Frauen geraubt – das
Stehlen erwischt und sie daraufhin mit drei ist vormittags um halb elf, zwei Tage nach perfekte Gerücht.
seiner Angestellten vergewaltigt. Die Ge- der Straßenschlacht, und er schaut im Fern- Das andere Problem hält sich versteckt
schichte kam gut an im Ghetto, und so war sehen eine dieser Sendungen an, die in bis heute. Es trägt den Namen Warren G.
es nicht wirklich erstaunlich, dass bald nicht England immer sehr hohe Quoten garan- und war dem Irrtum aufgesessen, dass
bloß die Zahl der Zuhörer wuchs, sondern tieren. Es geht um Häuser, um Schnäpp- man eine Geschichte so leichtsinnig und
auch die der Vergewaltiger – aus 4 pakis- chen, um günstiges Renovieren. „Es gab befeuert spielen könnte, als wäre sie ein
tanischen Mädchenschändern wurden 25. kein Mädchen, und es gab keine Verge- Top-Hit. Thomas Hüetlin

136 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Sport

T R I AT H L O N

Allahs Ausnahmeathlet
Als erster Muslim hat Faris al-Sultan, Sohn eines Irakers und einer Münchnerin, den Ironman
auf Hawaii gewonnen. Dabei pflegt der Bayer im Vergleich zu vielen Konkurrenten,
die sich sklavisch ihren Trainings- und Ernährungsplänen unterwerfen, eine Distanz zu seinem Sport.

E
s ist schon nach halb elf, es ist sein
zweiter Fernsehauftritt an diesem
Abend, und Faris al-Sultan, 27, ist so
müde, dass er im Warteraum für die Gäste
der Sendung „Blickpunkt Sport“ einnickt.
Erst vor fünf Tagen war er in seiner Hei-
matstadt München gelandet, nachdem er
am anderen Ende der Welt, beim Ironman
auf Hawaii, 3,86 Kilometer geschwommen,
180 Kilometer Rennrad gefahren und gut 42
Kilometer gelaufen war und den berühm-
testen Triathlon gewonnen hatte.
Seit seiner Rückkehr hat Sultan einen In-
terview-Termin nach dem anderen absol-
viert, flog nach Bremen, weiter nach Mainz
und zurück. Jetzt soll der Sohn eines Ira-
kers und einer Münchnerin im Bayerischen
Fernsehen den zünftigen Muslim geben.
Als er, wieder leidlich wach, dem Publi-
kum präsentiert wird, interessiert Mode-
rator Gerd Rubenbauer, 57, vor allem, ob
der junge Kerl mit dem exotischen Namen
auch sicher kein verkappter Mullah ist: Er
habe gehört, trompetet Rubenbauer drauf-
los, dass Sultan vor dem Rennen „an einem
bayerischen Abend den bayerischen Ge-
nüssen zugesprochen“ habe. Und er möch-
te bestätigt wissen, dass nach dem Triumph
„der Bayer Faris al-Sultan richtig zuge-
schlagen und allen gezeigt hat, wie gefeiert
wird“. Als wäre der Ironman das Okto-
berfest der Triathleten.
Sultan reagiert geschickt: Er zerstört das
Klischee nicht, das Rubenbauer den Zu-
schauern servieren möchte, aber er relati-
ELAINE THOMPSON / AP

Hawaii-Sieger Sultan, Triathlon-Feld beim Schwimmstart im Meer, Rennradfahrer Sultan in der Lava-Wüste: „Ich bedanke mich bei Gott, und

138 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
viert es. Er esse gern deftig, aber setzt. Ich glaube, er hat sie sich des-
nicht übermäßig. Er gibt den ent- halb im Sport gesucht.“
spannten Spitzensportler und auch Talib al-Sultan hat als junger
den Muslim, der an Allah glaubt Mann den Irak verlassen, um in
und den Koran kennt, allerdings Deutschland Chemie zu studieren.
die Regeln des Ramadan nicht ein- Dank seines freundlichen Wesens
hält, „weil ich sonst keine Leistung fand er sich schnell zurecht. Wäh-
bringen könnte“. Das versteht je- rend der Studienzeit lernte er sei-
der, sogar Rubenbauer, der er- ne Frau Lydia kennen, eine impul-
leichtert für „den hochsympathi- sive, energische Münchnerin. Sie
schen Besuch“ dankt. half ihm dabei, Urkunden- und
Nach Hawaii war Sultan als ein Vertragstexte vom Arabischen ins
Weltklasse-Triathlet gereist, zu- Deutsche und umgekehrt zu über-

STEFAN PIELOW
rückgekommen ist er als Phäno- setzen. Die Arbeit brachte so viel
men. Die Szene, wie er gleich nach ein, dass sie ein Büro eröffneten,
seinem Sieg vor zwei Wochen in ihr Gelderwerb bis heute.
einem Fast-Food-Restaurant Bur- Familie Sultan: „Nie Grenzen gesetzt“ 1978 wird Faris geboren, das ein-
ritos verputzte, verblüfft ebenso zige Kind. Talib, selbst eins von
wie die Tatsache, dass er als erster Muslim vor Erschöpfung „ein Haufen Leute er- neun Geschwistern, erzieht seinen Sohn mit
in Amerika den Ironman gewann. In einer saufen würden“ – großes Gelächter. Toleranz und viel Geduld wie einen Prin-
Zeit, die vom Kampf zwischen westlichem Die Sendung habe ihm von allen am zen. „Die Gelassenheit hat er von mir“, sagt
Lebensstil und radikalisiertem Islam ge- besten gefallen, sagt Sultan, als er wieder Talib, „die Ausdauer von seiner Mutter.“
prägt wird, wirkt Sultan wie der personifi- zu Hause ist. Er fläzt sich barfuß auf der Faris wächst zwischen Islam und Katho-
zierte Gegenbeweis, „ein Wanderer zwi- weichgepolsterten Couch seiner Eltern, in lizismus auf, ohne Drangsal für eine Rich-
schen den Welten“ („Abendzeitung“). jenem Reihenhaus in München-Moosach, tung, „ohne Stress“, wie er sagt. Sein Va-
Anders als das Turnküken Fabian Ham- in dem er aufwuchs und immer noch ter, ein Sunnit, weiß, wie unrealistisch es
büchen, das rotwangig und mit festge- wohnt, weil er 150 Tage im Jahr unterwegs wäre, inmitten von Christen auf funda-
zurrter Brille bei Olympia zur deutschen ist und es sich nicht lohnt, etwas Eigenes mentalistischen Dogmen zu beharren, an
Heldenhoffnung avancierte, weckt Sultan anzumieten. Der 1,81 Meter große und mit deren Sinn er selbst zweifelt. Statt ihm den
Neugier beim Publikum – weil er eine un- 71 Kilogramm überraschend schmächtige Koran vorzuhalten, erzählt er dem Jungen
gewöhnliche Vita zu bieten hat und von Athlet steckt in einem weißen T-Shirt und Geschichten vom Propheten. Erst später
sich sagt: „Ich bin nicht süß und putzig.“ in blauer Schlabberhose, Bartstoppeln liest Faris im Koran – zum besseren Ver-
Am vorvergangenen Freitag saß er in der sprießen, ein Band hält seine langen Haa- ständnis auf Deutsch. „Ich bin“, sagt Faris,
Fernseh-Talkshow „3 nach 9“ inmitten von re zum Zopf zusammen. An der Wand hän- „wahrscheinlich so sehr Muslim, wie die
Sängern, Schauspielern und Buchautoren, gen ein Dolch und ein kostbarer seidener meisten Christen hier Christen sind. Ich
und in der Viertelstunde, als er über sein Le- Gebetsteppich, wie ihn früher nur Sultane bedanke mich bei Gott, und manchmal be-
ben sprach, stieg die Einschaltquote von 9,4 besaßen, daneben Fotos von Faris al-Sul- schwere ich mich bei ihm.“
auf 13,9 Prozent. 320 000 Leute waren beim tan: Eins zeigt ihn als kleines Kind mit Zwar studiert er an der Münchner Uni-
Zappen durch die Kanäle im Dritten Pro- blondem Schopf, ein anderes als jungen versität Geschichte und Kultur des Nahen
gramm des NDR hängen geblieben. Nur Araber mit Kopftuch und Gewand. Orients, im Irak ist er allerdings noch nie
selten lädt die Redaktion Sportler ein – die In München-Moosach scheint Sultan un- gewesen. Und weil sich die Sportkarriere
meisten sind mit ihrer routiniert gestanzten endlich fern von jener besessenen Ego-Ge- zum Vollzeitberuf entwickelt hat, wird er
Art zu reden als Quotenkiller gefürchtet. sellschaft, zu deren Held er nun geworden das Examen wohl sausen lassen. „Ich
Sultan dagegen plauderte über Badeho- ist. „Als alleiniger Lebensinhalt“, sagt er, bräuchte acht Monate Zeit“, kalkuliert er,
sen, die im Schritt nicht reiben, und papp- „wäre mir Triathlon auch zu wenig.“ „die habe ich nicht.“ Aber den Wunsch, in
süße Energieriegel. Als ihn die Moderato- Seinem Vater fällt es bis heute schwer, die Heimat des Vaters zu reisen? „Ja klar.
rin fragte, warum beim Triathlon denn wirklich zu verstehen, was sein Sohn genau Aber ich habe keine Lust, entführt zu wer-
nicht zum Schluss geschwommen werde macht. Talib al-Sultan, 66, sagt mit sanfter den. Ich schaue aus wie ein Europäer, ich
statt zu Beginn, antwortete er: weil dann Stimme: „Ich habe ihm nie Grenzen ge- spreche Arabisch mit üblem Akzent – also
bin ich ein Geldbeutel auf zwei Beinen.“
Andererseits braucht er eine Parallel-
welt zum Triathlon. Es bewahrt ihn davor,
sich manisch zu fixieren auf Trainingsplä-
ne und Nährwerttabellen. Es bewahrt ihn
davor, so zu werden wie Thomas Hellrie-
gel, der erste deutsche Hawaii-Sieger.
Hellriegel ist für Sultan Vorbild und ab-
schreckendes Beispiel zugleich. Der Athlet
aus dem Badischen startete 1995 zum ers-
ten Mal beim Ironman – und verlor das
Rennen beim Laufen, drei Kilometer vor
dem Ziel. Ein Jahr darauf erging es ihm
ähnlich. Hellriegel beschloss nach diesen
ELAINE THOMPSON / AP

Niederlagen, sein ganzes Leben einem drit-


THOMAS FREY / DPA

ten Anlauf unterzuordnen. Es bestand nur


noch aus Training, Essen und Schlafen, und
wenn er in einen Supermarkt ging, trug
er eine Wollmütze, aus Angst vor Erkäl-
manchmal beschwere ich mich bei ihm“ tung. 1997 gewann er endlich. Faris al-Sul-
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 139
Sport

tan sieht Hellriegel damals im Fernsehen,


ein Schlüsselerlebnis für ihn, er ist erst
FUSSBALL
19 und sagt sich: „Das ist cool, so will ich

„Jeder läuft dem Trend nach“


auch sein.“
Er bestreitet seinen ersten Triathlon über
die Langdistanz auf Lanzarote, weil man
damals in Deutschland frühestens mit 21
starten durfte. Schon zwei Jahre später ist Sportwissenschaftler Roland Loy über falsche Taktikweisheiten, die
Sultan auf Hawaii dabei. Je mehr Rennen
er bestreitet, desto klarer wird ihm, dass Macht des Faktors Zufall und den perfekten Elfmeterschuss
Hellriegels selbstbekundeter „Hang zum
Mönchischen“ nur bedingt als Maßgabe Loy, 43, hat statistische Be- SPIEGEL: … wenn die technischen
taugt. Im Trainingslager auf Mallorca dis- trachtungen in den deutschen Fähigkeiten wie bei den deut-
kutieren die beiden lebhaft: Hellriegel Fußball eingeführt. Schon bei schen Spielern nicht ausreichen?
mahnt, dass man nur mit konsequenter der WM 1990 belieferte er Loy: Das mag so sein. Unter ho-
Ernährung die beste Leistung bringen kön- Teamchef Franz Beckenbauer hem Tempo fehlt es manchmal
ne und glücklich werde. Der sieben Jahre mit Datenmaterial, später ar- an Ballsicherheit.

PETER VON FELBERT


jüngere Sultan entgegnet: „Wenn du auch beitete er für Olympique Mar- SPIEGEL: Waren beim allseits ge-
mal isst, was dir schmeckt, bist du glücklich seille und Bayern München, lobten Confederations Cup diese
– und dann bringst du Leistung.“ baute für Sat.1 die „ran“-Da- Schwächen nicht zu beobachten?
Weil solche Ansichten nicht mehrheits- tenbank auf. Heute unterstützt Loy: Da gab es diese Schwächen
fähig sind unter den Triathlonprofis, hält der Münchner Diplomsportleh- auch. Spiele mit vielen Ball-
Sultan Distanz. Wenn sich die besten hun- rer, der dieses Jahr „Zur Diagnostik tak- verlusten im Mittelfeld und entsprechend
dert der Welt einen Monat vor Hawaii nahe tischer Leistungen im Sportspiel“ pro- viele Gegentore.
San Diego treffen, um ihrer Form den movierte, als Fachberater die ZDF- SPIEGEL: Können Sie dem rumpelnden
Feinschliff zu verpassen, bleibt er den Kol- Sportredaktion. deutschen Fußball Empfehlungen geben?
legen fern, die sich morgens am Hafen zum Loy: Ich kann auf Auffälligkeiten hinweisen.
Schwimmtraining versammeln und wie die SPIEGEL: Herr Loy, sieben Monate vor der Nehmen wir Miroslav Klose, einen auch
Stenze ihre fettarmen Modellkörper als Er- Weltmeisterschaft diskutiert Deutschland im internationalen Vergleich exzellenten
gebnis des „Selbstkasteiungskults“ (Sul- über den Kurs des Bundestrainers. Kön- Kopfballspieler. Es gab mal eine Phase, da
tan) zur Schau stellen. Und er geht auch nen Ihre Analysen die zuletzt ernüchtern- erzielte er für die Nationalelf acht Tore in
den „Saturday Ride“ entspannt an, jenen den Auftritte der Nationalelf erklären? Folge mit dem Kopf. Seit zweieinhalb Jah-
Radtreff eine Woche vor dem Ironman, der Loy: Am auffälligsten ist die hohe Zahl an ren ist ihm per Kopf kein einziges mehr ge-
„immer in ein kleines Rennen ausartet“, Fehlpässen, zuweilen kommen die Bälle glückt. Gleichzeitig gibt es das Phänomen,
wie Sultan spottet, weil einige sich schon aus drei, vier Metern nicht an. Daraus sind dass unter Klinsmann extrem wenige Tore
hier vor der Niederlage ängstigen. viele Kontergegentore entstanden. Womit nach Flanken fallen. Das ist nur eine statis-
Er hat so seine Erfahrungen gemacht mit wir schon bei einem Hauptpunkt von tische Beobachtung. Klar scheint aber, dass
den ewig Getriebenen. Zusammen mit Klinsmanns Philosophie angelangt sind, Kloses herausragende Fähigkeit, sein Kopf-
Normann Stadler, 32, dem deutschen Vor- der immer sagt: Wir wollen schnell und ballspiel, nicht entsprechend zur Geltung
jahressieger beim Ironman, hatte er vor direkt nach vorn spielen. Schnelles Spiel kommt.
dessen Triumph in Kalifornien auf dem kann aber mit einer hohen Fehlerquote SPIEGEL: Klinsmann wird entgegnen, dass
Rad trainiert: „Das war eine Schlacht. Ich behaftet sein … 31 von 50 Treffern von Stürmern erzielt
kann so nicht arbeiten. Ich bin leiden-
schaftlicher Triathlet – Normann ist beses-
sen.“ Seitdem Sultan das so gesagt hat, ge-
hen sich die beiden aus dem Weg.
Dass Sultan überhaupt einmal mit Stad-
ler gemeinsame Sache gemacht hat, mögen
inzwischen wohl beide kaum noch verste-
hen. Konträrer könnten die zwei nicht sein:
Stadler klagte darüber, dass 2004 bei der
Wahl zum Sportler des Jahres ein Behin-
derter mehr Stimmen bekommen habe als
er; Sultan bemängelt hingegen, dass Tri-
athleten zu selten auf Doping kontrolliert
werden: „Schwimmer dopen, Radrennfah-
rer dopen, Läufer auch – dann dopen jene,
die alles drei machen, auch.“
Erst auf seine Aufforderung hin reisten
Inspekteure nach San Diego, um ihn zwei-
mal binnen einer Woche zu testen.
Eine Aktion, die typisch ist für den Ei-
gensinn des Münchners. Selbst nach dem
Triumph auf Hawaii wird Sultan keinen
Manager engagieren. Auch wenn er künf-
tig bei Sponsoren und Veranstaltern finan-
ziell nicht das Maximum herausholen wer-
de, „will ich die Entscheidungen so treffen,
wie es mir passt“. Detlef Hacke Ballack-Kopfball nach Eckstoß (im Juni gegen Tunesien): 3000 Spiele seziert

140 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
wurden – eine viel bessere Quote als unter dem Torwart durch die Hände rutscht. Und SPIEGEL: Erkennen Sie aus den Spiel- und
Rudi Völlers Ägide. dann kommt hinzu, dass unter Topteams Bewegungsmustern einer Mannschaft die
Loy: Das stimmt. Dafür treffen die Mittel- oft nur eine Zehenspitze über Sieg oder Handschrift eines Trainers?
feldspieler jetzt aber seltener. Sogar ein Niederlage entscheidet. Frank Rijkaard, Loy: Wenn er denn eine hat, ganz sicher.
Michael Ballack hat für die Nationalelf der Trainer des FC Barcelona, hat die Beim FC Bayern unter Ottmar Hitzfeld
dieses Jahr noch kein Tor aus dem Spiel Champions League mal eine Lotterie kehrten gewisse gruppen- und mann-
heraus erzielt, er traf ausschließlich in Fol- genannt. schaftstaktische Spielhandlungen immer
ge einer Standardsituation wie Elfmeter, SPIEGEL: Andere glauben im Besitz von so wieder, der lange Pass auf den bulligen
Eck- oder Freistoß. Bernd Schneider hat etwas wie der Weltformel für den Erfolg Carsten Jancker etwa, der dann den Ball
58 Länderspiele absolviert und noch nie auf dem Rasen zu sein. Trainerstar José zum nachrückenden Spieler prallen lässt.
ein Tor aus dem Spiel er- Hitzfelds Arbeit ähnelt da
zielt. Da stellt sich die Fra- am ehesten der in italieni-
ge: Kann man sich so einen schen Clubs. In der Serie A
Mittelfeldspieler leisten? wird viel mehr einstudiert
SPIEGEL: Der Job der Mit- und entsprechend mehr
telfeldspieler ist laut Klins- nach Plan zusammenge-
mann nun einmal, den spielt als in Deutschland,
Stürmern möglichst schnell wo vieles so aussieht, als ob
und direkt den Ball zum der Zufall Regie führt. Da-
Torschuss vorzulegen. bei kann man messen, was
Loy: Der These, dass die- zum Ziel führt.
ser Tempofußball die beste SPIEGEL: Als da wäre?
Strategie sei, stehe ich skep- Loy: 50 Prozent der Tore
tisch gegenüber. Er ist ohne entstehen aus Spielkombi-
Frage gerade „in“, und je- nationen, 20 Prozent nach
der läuft dem Trend nach. Flanken und 30 Prozent aus
Aber ob er mehr Erfolg Standardsituationen – dort
zeitigt, das weiß keiner. Es lässt sich am ehesten anset-
kann sein, dass es sich da zen; etwa indem ich beach-
um eine der vermeintlichen te, dass aus Eckstößen, die

PETER SCHATZ
Fußball-Weisheiten han- auf den kurzen Pfosten
delt, die ich auf der Basis gespielt werden, deutlich
von 3000 Spielanalysen un- mehr Tore fallen als aus
tersucht habe – viele davon Meistertrainer Rehhagel, griechische Spieler*: Keiner wusste warum allen anderen Varianten.
konnten widerlegt werden. Doch schauen Sie sich mal
SPIEGEL: Zum Beispiel? Mourinho hat seinen Erfolg beim FC Por- an, wo überall die Eckbälle landen, da kann
Loy: Die Lehrmeinung, wonach Angriffe to damit begründet, dass seine Mannschaft ich nur die Hände über den Kopf schlagen.
über die Flügel mehr Erfolg versprechen fünf Jahre lang in jedem Match länger in Oder wenn ich höre, dass Trainer Weit-
als Angriffe durch die Mitte, ist falsch. In Ballbesitz gewesen ist als der Gegner ... schüsse einfordern. Die Sinnhaftigkeit von
Wahrheit sind die Aussichten auf Tore ab- Loy: ... ich weiß nicht, warum Mourinho Weitschüssen ist durch nichts zu belegen.
solut gleich. Viele Trainer behaupten auch, 2004 die Champions League gewonnen hat, SPIEGEL: Jetzt wollen Sie uns auch noch
wer die meisten Zweikämpfe gewinnt, der aber am Ballbesitz wird es nicht gelegen den Weitschuss aus 25 Metern in den Win-
gewinnt das Match. Das ist aber auch un- haben. Ich habe 1000 Spiele daraufhin un- kel und die Parade des Torwarts nehmen –
zutreffend. Nur in gut 40 Prozent der Spie- tersucht: Die Mannschaft, die öfter in Ball- das ist doch das hohe C der Fußballoper.
le gewinnt das Team, das mehr Zwei- besitz war, gewann nur ein Drittel der Par- Für so was gehen die Leute ins Stadion.
kämpfe für sich entschieden hat. Und dass tien. Wer Ballbesitz als Erfolgsgarant pre- Loy: Aus der Sicht des Fußball-Gourmets
der gefoulte Spieler nicht zum Elfmeter an- digt, verkauft Vermutung als Wissen. gibt es kaum etwas Schöneres, klar. Aber
treten sollte, ist auch nicht zu belegen. Ich SPIEGEL: Wie entstehen solche Legenden? aus der Sicht des Trainers, der gegenüber
habe es selbst kaum glauben können, aber Loy: Der amerikanische Psychologe und dem Verein zu Erfolg verpflichtet ist, stellt
die Erfolgsquote beim Strafstoß liegt bei Nobelpreisträger Daniel Kahneman vertritt sich das ganz anders dar.
77 Prozent – gleichgültig, ob der Gefoulte den Standpunkt, wir Menschen seien dafür SPIEGEL: Sie sind wie der Arzt, der Patien-
antritt oder ein Unbeteiligter. geschaffen, Muster zu sehen, weshalb der ten alles verbietet, was Spaß macht. Haben
SPIEGEL: Wenn Sie Fußballspiele mit Hilfe Zufall für uns nach Ordnung aussieht. Die Sie auch praktische Lebenshilfe für Profis?
Ihres Videorecorders sezieren, dann müs- Leute könnten nicht zugeben, dass gewis- Loy: Grundsätzlich ist es schwierig, von Be-
sen Sie doch auch wissen, wie man für den se Dinge nicht durchschaubar sind. obachtungsergebnissen auf konkrete Hand-
Erfolg zu spielen hat? SPIEGEL: Wenn alles so unerklärbar ist, was lungsanweisungen zu schließen. Aber so
Loy: Das wäre Hochstapelei. Nehmen Sie nur können Trainer, für die Sie gearbeitet eine Gelegenheit wie einen Elfmeter muss
einmal die Europameisterschaft 2004: Grie- haben, wie Christoph Daum oder Franz man wirklich nicht vergeben.
chenland hat in jedem seiner sechs Spiele Beckenbauer, aus Ihren Analysen lernen? SPIEGEL: Es gibt die ideale Ecke für den
seltener aufs Tor geschossen als der Gegner Loy: Ich zähle ja nicht nur Torschüsse und todsicheren Elfmeterschuss?
– und wurde trotzdem Europameister. Kei- Eckbälle, sondern lege nach klaren Kate- Loy: Es gibt nicht die ideale Ecke. Die obe-
ner wusste warum, nicht mal Otto Rehhagel. gorien ein Profil vom Spiel jeder Mann- re Hälfte des Tores muss der Schütze tref-
SPIEGEL: Weil die Faktoren Zufall und schaft an: Das sind Doppelpässe, Pässe in fen, da darf es auch die Mitte sein.
Glück eine übermächtige Rolle spielen? die Gasse, Spielverlagerungen, Zuspiel zu SPIEGEL: Und wenn der Torwart stehen
Loy: Fast die Hälfte aller Tore ist durch den den Grundlinien und so weiter. Da kom- bleibt?
Faktor Zufall beeinflusst: ein Ball, der von men Dossiers von 20 bis 100 Seiten heraus. Loy: Vergessen Sie’s. Er kann auch hoch in
der Latte zurückprallt und dem Stürmer die Mitte schießen, 99 von 100 Torhütern
vor den Fuß fällt; ein Weitschuss, der ab- * Nach dem 1:0-Sieg über Portugal im EM-Finale am 4. Juli schmeißen sich hin.
gefälscht wird; ein harmloser Roller, der 2004 in Lissabon. Interview: Alfred Weinzierl

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 141
Szene Kultur
L I T E R AT U R
– und kann dann einen
Der Unberührbare Besucherrekord verkün-
den. In den ersten elf Mo-

W enn ein Schriftsteller sich anmaßt,


einen Roman über einen anderen,
größeren Schriftsteller zu verfassen, kann
naten strömten bereits 2,3
Millionen Kunstfreunde
durchs Haus, bis zum Jah-
er fast nur kläglich scheitern. Der irische restag dürfte diese Quote
Autor Colm Tóibín hat sich nun ausge- auf 2,5 Millionen Gäste
rechnet an den Klassiker Henry James gestiegen sein. Früher lag
(1843 bis 1916) gewagt, einen der bedeu- der Jahresdurchschnitt bei
tendsten angelsächsischen Erzähler sei- auch schon ziemlich be-
ner Zeit. Dass Tóibín, 50, nicht scheitert, achtlichen 1,5 Millionen
belegt die Größe seines eigenen Talents: Besuchern. Die Investitio-
In „Porträt des Meisters in mittleren Jah- nen hat man natürlich
ren“ entwirft er das faszinierend dunkle noch lange nicht wieder
Bild eines Mannes, der nur schreiben hereingeholt – dafür aber
kann, weil er nicht zu leben versteht. Der viele neue Freunde ge-
JEFFERSON SIEGEL/VG BILD-KUNST, BONN 2005

Roman beginnt 1895 mit dem größten wonnen. Denn auch der
öffentlichen Debakel, das James je wider- Kreis der Förderer ist von
fuhr, dem Totalflop seines Bühnendramas 35 000 auf nun 110 000 so-
„Guy Domville“ in London; und er endet genannte MoMA-Mitglie-
1899 mit dem Besuch seines Bruders in der gewachsen. Nach wie
dem gutbürgerlichen Domizil, das sich vor ist der Bestand an
der Autor in einer englischen Küstenstadt Klassikern der Moderne –
eingerichtet hat. Doch diese fünf Jahre darunter diverse Picassos
bilden nur den äußeren Zeitrahmen des MoMA-Besucher (New York) – sehr populär, längst
leisen, leicht verhangenen Romans. Der gelten aber auch die ande-
Ablauf wird unentwegt gesprengt von ren Abteilungen als Publi-
James’ Grübeleien über seine Vergangen- MUSEEN kumsmagneten, etwa die
heit, seine Träume und Beziehungen. Säle für aktuellere Gegenwartskunst und
Auf der Grundlage genau ausgewählter
biografischer Fakten entsteht das Psycho-
gramm eines Unberührbaren: Der per-
Millionen ins die Design-Etage. Dort vermittelt man
übrigens derzeit anschauliche Lebens-
hilfe. In der Sonderausstellung „Safe“
fekte Gentleman James erscheint als ein-
samer Mann, der sein Inneres nicht mit
anderen Menschen teilen kann und will,
MoMA wird präsentiert, was den Alltag sicherer
macht und auch noch stilvoll aussieht:
etwa schusssichere Bettdecken, ein „erd-
als ewiger Schweiger – und als Mann, der
durch seine Unnahbarkeit schuldig wird,
weil er alle zurück-
K napp 860 Millionen Dollar hatte der bebensicheres Schweizer-Fondue-Set“,
Ausbau des ehrwürdigen New Yor- eine Lebensretterstation in Leuchtturm-
ker Museum of Modern Art (MoMA) farben und nach dem Ikea-Schnellauf-
stößt, die ihn lieben gekostet, im vergangenen Herbst wurde bau-Prinzip fix zu installieren – sowie
und brauchen. Er das Haus als schicker Kunsttempel wie- viele andere kuriose Dinge, die man hof-
beobachtet, statt zu dereröffnet. Am 20. November feiert das fentlich nie braucht. Zumindest nicht für
handeln, und schreibt neue MoMA nun den ersten Geburtstag den Besuch des MoMA.
dann darüber. Die
psychologische Tiefe
seiner Literatur saugt
er gerade aus dem
Wissen darüber, was KÜNSTLER Spitzenplätzen bestätigt die Strahlkraft
die Menschen – so der hiesigen Kunstszene. Trockel konnte
wie er – vor der Welt
verbergen. Für Tóibín, der klug genug ist,
Spitze mit Stricknadeln sich vergangene Woche also feiern lassen
– und zwar doppelt. Das Kölner Mu-
James zu zitieren, ohne ihn je zu imitie-
ren, liegt die Wurzel dieser tragischen
Unnahbarkeit in unterdrücktem homo-
S ie macht es ihrem Publikum nicht im-
mer leicht, dennoch oder gerade des-
halb ist Rosemarie Trockel,
seum Ludwig eröffnete eine ihr gewid-
mete Schau. Berühmt wurde die viel-
seitige Ikone mit Bildern,
sexuellem Begehren. Auch wenn diese 52, die wichtigste Frau im Filmen, (gestrickten) Ob-
Deutung wohl mehr über Tóibín aussagt, weltweiten Kunstbetrieb: jekten, Installationen –
der 2001 einen Essayband über schwule Im jüngsten „Kunstkom- und dafür, dass sie gern
Künstler verfasst hat, als über den echten pass“ des Magazins „Capi- mit listigen Provokationen
VG BILD-KUNST, BONN 2005

Henry James: Sein Roman ist elegant tal“ nimmt sie hinter den irritiert. Der Titel der Köl-
und ergreifend genug, um James als Malern Gerhard Richter ner Schau dürfte gerade
schreibenden Vampir des Lebens glaub- und Sigmar Polke sowie manch männlichem Besu-
haft werden zu lassen. dem US-Installationskünst- cher schwer über die Lip-
ler Bruce Nauman den vier- pen gehen. Er lautet: „Me-
Colm Tóibín: „Porträt des Meisters in mittleren Jah- ten Platz ein. Diese Hitliste nopause“.
ren“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte
Bandini. Hanser Verlag, München; 432 Seiten; 24,90 der renommiertesten Künst-
Euro. ler mit drei Deutschen auf Trockel-Werk (2004)
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 143
Szene
U N T E R H A LT U N G

„Gelber Sack in
Buchform“
Der Entertainer, Essayist und Kaba-
rettist Herbert Feuerstein, 68, über
sein Verhältnis zu Frauen, zur Litera-
turkritik und über seinen Best-of-Sam-
melband „Frauen fragen Feuerstein“

SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass Sie ein


Frauenheld sind?
Feuerstein: Absolut. Leider sind die
Frauen anderer Ansicht.
SPIEGEL: Nur nicht so bescheiden. Immer-
hin ist Ihre dritte Gattin blond, hübsch
und 35 Jahre jünger als Sie. Wie erklären
Sie sich Ihre Wirkung auf Frauen?
Feuerstein: Es gibt zum Glück Ausnah-
men. Wahrscheinlich ist sie wahrneh-
mungsgestört. Und meine Wirkung will
ich auch gar nicht zu erklären versu-
chen. Reicht ja, wenn sie vorhanden ist.
SPIEGEL: Sie nennen sich selbst einen
Loser, meckersüchtig und verhaltensge-
stört – ist es das, was Frauen suchen?
Feuerstein: Erstaunlicherweise ja, da die
FOTOS: ANDRE RIVAL

meisten Frauen ein unglaubliches Mit-


leidspotential aufweisen, so dass man so-
gar noch ein Dutzend weiterer schlechter
Eigenschaften haben kann, bevor sie ei-
nen rauswerfen. Was Frauen nämlich am Rival-Fotos von Mari-Otberg-Mode
meisten hassen, ist die Langeweile, die
unweigerlich einsetzt, wenn die MODE
Leidenschaft abklingt. Also
nach sieben Tagen. Danach
wollen sie für den Rest des Le-
bens amüsiert werden, und das
Unkorrekte
HORST GALUSCHKA / ACTION PRESS

schafft man mit schlechten Ei-


genschaften leichter.
SPIEGEL: Was raten Sie weniger
Blümchen
erfolgreichen Männern?
Feuerstein: Nichts. Soll ich mir
Konkurrenten heranzüchten?
A m liebsten sieht die Designerin Mari
Otberg, 36, die Frauen „gut ange-
zogen und hochgeschlossen“. Das Diktat,
SPIEGEL: Kürzlich sagten Sie, Mode müsse sexy sein, gehe ihr „gehörig
Feuerstein Sie würden als Kritiker „sogar auf die Nerven“. Kaum zu glauben.
Goethe zur Sau“ machen, Hochgeschlitzt, verrutscht und mit blo-
wenn Sie die „Wahlverwandtschaften“ ßem Busen in x-beinigen Tussi-Posen
zu rezensieren hätten – ein Buch über zeigen marilynblonde Models im Früh-
die Liebe. Was werfen Sie ihm vor? jahr-/Sommerkatalog der Berliner Mo-
Feuerstein: Relativ wenig. Höchstens deschöpferin für 2006 blumenbunte
seine blumige Weitschweifigkeit. Ein er- Röckchen, Pünktchenblusen und T-Shirts
folgreicher Kritiker interessiert sich mit neckischen Vogelmotiven. Mal lässt
nicht für das Werk, sondern will seine Fotograf André Rival die clownesk ge-
Sicht der Dinge in möglichst geistrei- schminkten Lolitas mit der Perlenkette tes, ihre damenhafte Kundschaft könnte
chen Formulierungen loswerden. Seil hüpfen, mal mit der Gießkanne ex- den Spaß mit Pailletten und nackter Haut
SPIEGEL: Und wie kommt Ihr jüngstes perimentieren oder auf Schamhöhe in wie auch das Spiel mit Humor und Iro-
Werk beim Kritiker Feuerstein weg? Orchideenblüten explodieren. Otbergs nie als Aufforderung zur Selbstentblö-
Feuerstein: Persönlich würde ich mich in politisch und feministisch herrlich unkor- ßung missverstehen. „In Deutschland“,
Grund und Boden verreißen, weil ich rekte, ansonsten aber harmlose Frauen- sagt die gelernte Illustratorin, die jahre-
mich nicht mag. Als neutraler Kritiker bilder ecken bei Händlern und Einkäu- lang in London lebte und arbeitete, „wird
hingegen würde ich urteilen: „Feuersteins fern von St. Peter-Ording bis St. Moritz selbst die Mode noch todernst genom-
Werkschau mit Texten seiner letzten kräftig an. Im Zeitalter von Net-Sex und men.“ Wer sich darüber lustig macht,
fünfzehn Jahre ist eine Art gelber Sack in Puschenporno befürchten die Inhaber muss – Spaß beiseite – damit rechnen,
Buchform. Von einem alten Sack.“ renommierter Edelboutiquen allen Erns- Protest und Empörung zu provozieren.
144 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur
D O K U M E N TA R F I L M

Kortners Vermächtnis
W enn er Regie führte, ermahnte er
seine Schauspielerkollegen mit
grimmiger Lust, „noch abonnenten-
immer wieder auch als virtuosen Su-
cher: „Das Erprobte ist nicht Ziel dieser
Proben. Sondern das Unerprobte.“
feindlicher“ als gewohnt zu agieren:
Alle Bühnenroutine war Fritz Kortner
(1892 bis 1970) verhasst; jedes Wort,
jede Geste, jedes Zucken im Gesicht
musste für ihn seelische Wahrheit zei-
gen. Welch ungeheure Präsenz dieser
Vollblut-Theatermann ausstrahlte, wel-
che mimischen und sprachlichen Re-
gister vom tonlosen Winseln bis zum
gellenden Hass er beherrschte, hat der
Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg
Mitte der sechziger Jahre in zwei legen-
dären Schwarzweiß-Dokumentationen
festgehalten, die der Alexander Verlag
Berlin jetzt auf einer Doppel-DVD neu
herausbringt: Nach langer, selbstaufer-
legter Abstinenz gibt Kortner hier noch
einmal Shakespeares tragischen Juden
Shylock, und er probt – mit Christiane
Hörbiger und Helmut Lohner – eine

KEYSTONE
einzige Szene aus Schillers „Kabale und
Liebe“. Die überwältigend präzise psy-
chologische Tour de Force zeigt Kortner Kortner als Shylock (1968)

Kino in Kürze

„Corpse Bride – Hochzeit mit einer Leiche“ „Elizabethtown“, ein Kaff in Kentucky,
erzählt von einer hoffnungslosen Mes- ist der Ort, in dem der Drehbuchautor
alliance: Der verträumte Victor gerät und Regisseur Cameron Crowe („Jerry
eines Nachts durch einen Zufall ins Reich Maguire“, „Vanilla Sky“) 1989 seinen
der Toten und muss sich fortan der Zu- Vater beerdigte. In der Spielfilmversion
wendungen einer vor Jahren verstorbe- schickt Crowe jetzt einen wehleidigen
nen Braut erwehren, die ihn für ihren Turnschuhdesigner (Orlando Bloom) zur
Traummann hält. Diese tragikomisch- Trauerfeier in die Provinz, wo ihn eine
morbide Liebe setzt Hollywoods begna- Schar grundguter Verwandter erwartet –
deter Fantasy-Zauberer Tim Burton zu- und er dem Charme einer aufdringlichen
sammen mit Mike Johnson in einem fu- Stewardess (Kirsten Dunst) erliegt. Bis
riosen Animationsfilm überaus gefühlvoll sich die beiden endlich in die Arme fal-
und amüsant in Szene. Die Grenzgänge len, vergehen zwei sehr lange Stunden,
zwischen Diesseits und Jenseits sind mit die Crowe mit esoterischem Geschwafel
so vielen brillanten visuellen Einfällen über den Sinn des Lebens füllt.
gepflastert, dass der Zuschauer dem
schwermütigen Helden so leicht wie auf „Es ist ein Elch entsprungen“ zeigt, was
Freiersfüßen noch bis in die düsterste passiert, wenn es den Weihnachtsmann
Gruft folgt. vor Heiligabend mit seinem Schlitten aus
der Kurve trägt: Mario Adorf irrt grau-
meliert und mit echtem Bart durch die
Gegend und sucht sein Zugtier, das aus
freiem Flug in ein Haus gestürzt ist.
In der Verfilmung des Kinderbuch-Best-
sellers von Andreas Steinhöfel erzählt
Regisseur Ben Verbong („Das Sams“)
schwungvoll von einer schönen Besche-
WARNER BROS.

rung: Ein sprechender Elch lässt Kinder-


herzen höher schlagen, sein bärtiger Chef
betört die Frauen, und am Ende bekom-
Szene aus „Corpse Bride …“ men alle ihre Geschenke noch rechtzeitig.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 145
Kultur

T H E AT E R

Die Hölle leuchtet rosenfarben


Was darf man auf der Bühne zeigen? Botho Strauß und Luc Bondy verstören
das Pariser Publikum mit der Uraufführung ihrer Shakespeare-Bearbeitung „Schändung“,
einer Parabel über die zerstörerische Sinnlosigkeit von Rache.

D
er Sieg trägt Schwarz. In jedem Stück in Deutschland gege-
Triumph steckt die Ankündigung ben wird, muten sie den
der nächsten Niederlage. Es gibt Franzosen ein Theater der
keine Helden mehr in diesem Blutstück von Grausamkeit zu, das mitun-
Botho Strauß nach dem „Titus Androni- ter die Türen schlagen lässt.
cus“ von Shakespeare, nicht einmal tragi- Was darf Theater? Bis wo-
sche. Der heimkehrende Feldherr, der den hin darf man auf der Bühne
Schreckensfeind schlug, gleich fünfmal in (nicht) gehen? Seit den
zehn schweren Jahren, bekommt keine frühesten Anfängen trieft das
Ruhmestrophäen. Er ist ein ausgebrannter Theater vor Blut. Seit Ais-
Troupier, ein Ordnungsfanatiker, ein for- chylos, Sophokles und Euri-
malistischer Pedant, der sich mit der Beru- pides ist die Bühne eine Stät-
fung auf Rechte, Riten, Regeln gegen den te furchtbaren Gemetzels,
unaufhaltsamen Verfall zu wehren versucht. und mit aristotelischer Ka-
Wo beginnt die Gewalt? Sind Recht, tharsis kann sich längst nie-
Gerechtigkeit und Rache Wörter eines mand mehr aus der Gefühls-
Stamms? Hat sich das Unterste ins Oberste wildnis von Angst und Mit-
verkehrt? Ist das Böse nur schal und flach, leid herausschleichen. Väter,
sind Blutspäße ein Naschwerk für müde Mütter, Kinder werden getö-
Zuschauer, die im Fernsehen jeden Abend tet, Köpfe abgetrennt und
Krieg begaffen und so zu lüstern-verstörten aufgespießt, Augen ausge-
Hampelmännern vor der Weltgeschichte stochen – die Welt als Fol-
werden? terkeller, die Gesellschaft als
Botho Strauß, der berühmteste und im- Intrigenfalle, die Familie als
mer wieder umstrittene deutsche Theater- düsterer Abgrund.
autor, der solche Fragen derzeit vor fran- Theater ist subversiv, das
zösischem Publikum aufwirft, hätte die zeigt auch Strauß, und mit-
Reaktion ahnen können. Er war gewarnt, hin eine Macht, die staatliche
und trotzdem traf es ihn überraschend – ge- und religiöse Autorität her-
nauso wie seinen alten Komplizen, den ausfordert. Fromme Moralis-
sanften Regisseur Luc Bondy. ten wie der Heilige Augus-
FOTOS: COLOURPRESS.COM

Nun ist der Skandal da. Paris streitet tinus, Pascal und Rousseau
über die Aufführung des Strauß-Stücks haben ihr misstraut und woll-
„Schändung“ am Odéon-Theater, dessen ten die Zurschaustellung ent-
Darstellung von Gewalt und Grauen an- fesselter Gewalt am liebsten
geblich alles Zulässige sprenge. Zwei deut- verbieten. Verbrechen aus
sche Künstler wirbeln die ehrwürdige Pa- einer anderen Zeit, einer an- Verstümmelte Lavinia, Vater Titus*: „Ich möchte leben“
riser Theaterkultur auf. Beide sind bisher deren Welt, heidnisches Ber-
nicht verdächtig, auf billige Schockeffekte serkertum, ungebremste Grenzüberschrei- Mit seiner Nachmalung der frühen
aus zu sein. Doch hier, noch bevor das tungen, Eruptionen aus dem Herzen der Shakespeare-Tragödie „Titus Andronicus“
Finsternis: Kann derlei im Theater, einem unter dem Titel „Schändung“ (französisch:
öffentlichen Versammlungsort für spirituel- „Viol“, was gänzlich unpoetisch Verge-
le, gewissermaßen platonische Ergötzung waltigung bedeutet) habe Botho Strauß
und Erbauung, undistanziert, ohne Schirm neue Höhen des Horrors erreicht, empört
und Leinwand, gezeigt werden? sich dagegen der „Figaro“, Sprachrohr
Das Maß ist voll, findet seit einigen Wo- einer gutbürgerlichen Political Correct-
chen ein superbourgeoises Pariser Publi- ness, der auch vermeintlich linke Aufklärer
kum, das trotzdem neugierig in das Stück erliegen.
des aus seiner Sicht faszinierend düsteren Natürlich sind Shakespeares Dramen
Deutschen strömt. Es hätte wohl nichts ge- unerhört gewalttätig, sein „Titus Androni-
gen Grausamkeiten, solange sie geschmack- cus“ gab den Ton vor für eine ganze Rei-
RUTH WALZ

voll gezeigt werden, spottet der Filme- he Folgewerke von „Hamlet“ über „König
macher Michael Haneke, selbst Experte Lear“ bis „Macbeth“. Geschändete Jung-
Autor Strauß, Regisseur Bondy für Gewalt und für Spießer. Sein Urteil:
Subversive Macht „Ein grandioses Stück.“ * Dörte Lyssewski, Gérard Desarthe.

146 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
frauen, ausgerissene Zungen, abgehackte hatten. Der große Aufklärer und Zyniker Ist das Stück dadurch auf die falsche
Hände, kannibalische Festmahle – nichts Voltaire, selbst nur ein mittelmäßiger Stü- Bahn geraten? In Deutschland wären Pro-
bleibt diesmal ausgespart, im erlesenen Pa- ckeschreiber, verurteilte das Drama als „ein teste wie jetzt in Paris kaum denkbar ge-
riser Premierenpublikum fielen Zuschauer grobes, barbarisches Stück, das in Frank- wesen, glaubt Strauß, denn am deutschen
angeblich in Ohnmacht, andere sollen sich reich und Italien nicht von dem nied- Stadttheater sei jeder Trash möglich, in-
erbrochen haben. rigsten Pöbel geduldet würde“. Bertolt klusive Kloszenen oder Geschlechtsver-
Gérard Desarthe, der wuchtige und Brecht dagegen mit seinem pädagogischen kehr auf der Bühne. „Da gibt es kein Tabu
kahlköpfige, in seiner schwarzen Lands- Drang hat in Frankreich einen festen Un- mehr“, im Gegenteil, man sucht verzwei-
knecht-Kluft unheimlich wirkende Gene- terbau, der sich durchaus mit eigenen Klas- felt nach neuen Tabus, die man noch bre-
ral Titus bei Botho Strauß, hatte Ärger sikern wie Racine und Corneille vereinba- chen könnte.
vorausgesagt. Denn Frankreich ist keine ren lässt. Man muss wohl Strauß und Bondy vor
Shakespeare-Nation, wie Strauß und Bon- „Titus Andronicus“ ist Shakespeares einem Missverständnis in Schutz nehmen.
dy feststellen müssen. „Ich weiß gar nicht, wohl blutrünstigstes Stück, Botho Strauß Denn dem permanent unter Ideologiever-

Szene aus „Schändung“*: „Woher trifft uns so viel Plötzlichkeit?“

was mir widerfährt“, staunt Bondy über hat einige Scheußlichkeiten weggelassen, dacht stehenden Autor und dem sonst eher
die Aufregung. ohne es im Kern zu entschärfen. Dass pastellfarbenen Regisseur geht es nicht um
Die getreuen Untertanen Elizabeths I. „Schändung“ in Paris uraufgeführt wur- Effekthascherei, um krankhaftes Gefallen
gingen ins Theater, um sich am Schrecken de, für die zurückhaltende Zeitung „Le am Ekelhaften, wie „Le Figaro“ zetert,
zu amüsieren, wie die Römer ins Kolos- Monde“ ein bizarres Novum, hat einen schon gar nicht um degoutanten Voyeuris-
seum – nicht der Moralität wegen. In den banalen Zufallsgrund: Claus Peymann hät- mus. Beide würden nichts zeigen, was nicht
Pausen gab es Kämpfe zwischen Hunden te das Drama am Berliner Schiffbauer- im Innersten des Dramas begründet ist. In
und Bären. Doch krudes Leid ohne raffi- damm inszenieren sollen, mit Bruno Ganz Frankreich aber, sagt Bondy, „herrscht Ab-
nierte Poesie, nackte Gewalt ohne rheto- in der Hauptrolle des Titus, doch Regis- scheu vor physischer Aktion im Theater,
rische Überhöhung, das ist in der franzö- seur und Schauspieler wurden sich nicht der Körper des Schauspielers soll nicht Teil
sischen Theatertradition anscheinend un- einig, so dass Luc Bondy, mit der franzö- des Geschehens werden, im Mittelpunkt
erträglich. sischen Version als Zweiter dran, automa- steht das prägende Wort“ – Rhetorik und
Es dauerte lange, bis die Franzosen die tisch zur Ehre der Weltpremiere kam. Deklamation.
vielen Leichen in „Hamlet“ hingenommen Nächstes Jahr sind drei Gastspiele in Reck- Strauß und Bondy dagegen haben dem
linghausen bei den Ruhrfestspielen, in Pariser „Odéon – Théâtre de l’Europe“
* Mit Christine Boisson als Goten-Königin Tamora, Mari- Wien bei den Festwochen und in Zürich womöglich das erste unrhetorische Stück in
na Foïs als „Regisseurin“ und Gérard Desarthe als Titus. geplant. dessen Geschichte anvertraut, auch wenn
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 147
Kultur

die feinfühlige Übersetzung des Drama- Gang. Durch Machtverzicht will er zur
turgen Michel Vinaver mit Barbara Grin- Ruhe gelangen – und das Unglück holt ihn
berg die Dialoge ästhetisch abzukühlen in seinen eigenen vier Wänden ein. Die
versucht. Kultur gilt in Frankreich als Bas- Rache endet nirgendwo, sie wird sinnlos,
tion gegen die Rohheit der Realität, nicht macht alle zu Opfern und Tätern zugleich.
als deren Spiegel. Kultur soll Ordnung stif- „Wir handeln ohne Not, wie wir in Not
ten, nicht Chaos zeigen. Wenn tragisches nur schlimmstenfalls gehandelt hätten.“
Unglück inszeniert wird, dann angedeutet, Und so, ganz unversehens, geschieht das
in sprachlich schöner Form. Man will auf Schlimmste. Strauß’ Thema ist die „Plötz-
der Bühne nicht die Wirklichkeit sehen, lichkeit“, die alle Formen zerstört, der Ein-
die überall lauert. Denn in den Vorstädten bruch von Unheil, Hass und Bosheit in das
der französischen Metropolen ist ja längst geregelte Gemeinwesen. „Woher trifft uns
Realität geworden, was Strauß über das fik-
tive Rom des 4. Jahrhunderts nach Christus
sagt: „Jetzt herrscht die Angst in Rom, und
jeder fürchtet sich vor seinem eigenen
Schatten. Rachegeister schwirren durch die
Nacht, Vergeltung lauert hinter jeder Säu-
le … Zu viele tückische Tiger schleichen
jetzt in dieser Wüstenei: Rom!“
Die Barbaren vor den Toren greifen die
staatliche Ordnungsmacht an – die Goten
bei „Titus Andronicus“ könnten die Ju-
gendbanden der Gegenwart sein, die in
Frankreich Nacht für Nacht 20 bis 40 Au-
tos in Brand setzen und Polizeifahrzeuge
mit Steinen bewerfen. Wenn das Herge-
brachte ins Wanken gerät, ganz gleich ob
durch Invasion oder verweigerte Integra-

AGENCE BERNAND
tion, gerät die Spirale von Chaos und Ge-
walt in Gang. Titus ist ein Feldherr, der
klare Schlachtordnungen liebt. Wenn die
verschwinden, die Verhältnisse im Unfass- Klassische Shakespeare-Inszenierung*
baren verschwimmen, dreht er durch: Rhetorik und Deklamation
„Ordnung! Regeln! Formationen! Gefech-
te, keine Finten, keine Coups und keine so viel Plötzlichkeit? Kommt sie vom Him-
Hinterhalte. Keine Anschläge. Ich ertrage mel oder aus der Hölle?“
nicht das Unplanmäßige. In mir, Titus, fal- Verstehen lässt sie sich nicht, rationale
len alle Messgeräte aus, wenn niemand sich Deutungsversuche bleiben vergeblich, ja,
an feste Regeln hält. Es macht mich wild.“ sie schläfern das Bewusstsein für das Übel-
So könnte der Feldherr des neuen Roms tun in seiner potentiellen Allgegenwart ein:
im Krieg gegen den Terrorismus sprechen, „Verstehen und Verständnis entdecken im
George W. Bush. Ist Strauß deswegen ein gemeinsten Schurken die erbarmungswür-
Neokonservativer, gar ein Reaktionär, hat dige Seele. Verstehen und Verständnis
er seinen „anschwellenden Bocksgesang“ schleifen sogar des Teufels Hörner stumpf.
in „Schändung“ dramatisiert, wie hie und Die Hölle leuchtet rosenfarben.“
da gemutmaßt wird? Die elementare nihilistische Gewalt, die
Irrtum, dieses Stück trägt keine geheime im Menschlichen steckt, hat schon der Phi-
Überschrift, es ist, was es zu sein vorgibt, losoph André Glucksmann theoretisch zu
die Passionsgeschichte einer jungen ge- erfassen versucht. Botho Strauß und Luc
marterten Frau, der Titus-Tochter Lavinia, Bondy haben die Gräuelgespenster, die
phantastisch gespielt und praktisch akzent- sich auf der Nachtseite verbergen, meis-
frei gesprochen von der Deutschen Dörte terhaft und spannend ans Licht gezerrt.
Lyssewski. Lavinia will trotz ihrer entsetz- Vielleicht wollten sie nur „rausfinden“, wie
lichen Schändung und Verstümmelung Strauß eine fiktive Regisseurin in einem
nicht nur Opfer sein, sie verlangt nach Lie- eingeblendeten Making-of, einer Art Refle-
be und Leben: „Lavinia quält die Lust. La- xionstalk im Theater über das Theater, sa-
vinia möchte leben“, schreibt die Zungen- gen lässt, „was an diesen extremen Figuren
und Handlose mit dem Mund in den Sand, letztlich doch menschlich ist“.
aber der Vater reagiert ohne Herz und Ver- Und fatalistisch-weise mit der Erkennt-
ständnis: „Das soll sie nicht. Zu viel Gram nis der Goten-Königin Tamora, der geilen
und Schmerz hat sie verdorben.“ und rachsüchtigen Gegenspielerin des Ti-
Titus, der Ordnungssüchtige, stiftet mit tus, schließen: „Das ist die Bosheit der Na-
jeder seiner Handlungen Unordnung. Mit tur. Wir sind nur ihre Spießgesellen.“
einem Menschenopfer will er die Manen Wäre das zu viel für eine in so dicke
besänftigen – und setzt die Rachespirale in Zivilisationspatina eingehüllte Nation wie
Frankreich, die sich täglich mehr vor dem
* „Titus Andronicus“ 1957 in Paris in der Fassung von Ausbruch der Wildheit fürchtet?
Peter Brook mit Vivien Leigh und Laurence Olivier. Romain Leick

148 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur

D E B AT T E

Pop mit Seehofer


Die Kulturkritiker Gustav Seibt und Diedrich Diederichsen
beweisen, wie schwierig es für Bürgerliche und Linke
sein kann, in der Gegenwart anzukommen. Von Ulf Poschardt
Poschardt, 38, war Chefredakteur des bürgerlicher Kulturkritik, von Kerr bis
„SZ-Magazins“ und Mitglied der Chef- Adorno. Dort, wo er den Schreibtisch ver-
redaktion der „Welt am Sonntag“. In Ber- lässt, tut er es mit leicht angeekelter Lust.
lin entwickelt er für den Condé Nast Er sieht das „gleichmütige, maulende, fau-
Verlag („Vogue“, „New Yorker“, „Vanity le Berliner Volk“, und man spürt das kul-
Fair“) ein neues Magazin. tivierte Schaudern des Konservativen über
den Verlust der Sitten und den Triumph

B
eide wohnen in Berlin. Beide im der postmodernen Barbarei.
Osten der Hauptstadt. Sie könnten Der „Proll“ erschreckt und fasziniert
sich beim Bäcker treffen. Oder in Seibt zugleich: Er ist Antithese zum Intel-
der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- lektuellen, zum „Ich“ des Autors. Das Bio-
Platz, dort, wo Herz und Verstand der Sze- top des Prolls ist die Eckkneipe, „ein düs-
ne sitzen und den Kreislauf der Republik terer, mit Holzmöbeln eingerichteter, trü-
auf Trab halten: ständig neue Bands, neue be beleuchteter, rauh gemütlicher Ort von
Autoren, neue Diskurse.
Ständig Gegenwart.
Beide sind unter 50. In
einem Land der Greise

PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); JIRKA JANSCH (R.)


macht sie das zu jungen
Kulturkritikern. Sowohl
Diedrich Diederichsen, 48,
als auch Gustav Seibt, 46,
legen diesen Herbst eine
neue Zusammenschau ih-
rer veröffentlichten Essays
und Kritiken vor.
Die Überraschung, die
sich wohl erst im zusam-
menhängenden Lesen die- Kritiker Seibt, Diederichsen: Gutgelaunte Spitzfindigkeiten
ser Versuche erschließt:
Beide können mit der Gegenwart wenig L-förmigem Grundriß, der mit seiner kur-
anfangen. Nicht nur das. Obwohl der ei- zen und seiner langen Seite die Gestalt ei-
ne von links, der andere aus der Mitte nes Tresens räumlich nachbildet“.
schreibt, sind beide regelrecht Nostalgiker. Er zappt sich durch Milieus und Sub-
Im Einst fühlen sie sich wohler. kulturen. Er lauscht jungen Dichtern, mus-
Seibt, der Liberale, beschreibt diesen tert zeitgenössische Kunst oder liest linke
Sachverhalt als „eine auf die Zeit bezoge- Esoterik und ist mit all dem ziemlich
ne Platzangst“. Sie will er überwinden. schnell fertig. Dann rettet er sich, in durch-
„Es hätte mich“, so verrät er in „Cana- weg klugen Essays, zu Rudolf Borchardt
letto im Bahnhofsviertel“*, „ebenso be- oder Petrarca, also dahin, wo es mitunter
drückt, nur in der Gegenwart zu Hause langweilig wird, weil es über jeden Zweifel
zu sein, wie wenn ich ewig in einem erhaben ist.
einzigen Zimmer eingesperrt gewesen Nicht, dass das Gesamtkunstwerk Seibt
wäre.“ Die Flucht vor der Gegenwart wird nicht anregend wäre: Als er jüngst sein
von ihm durchaus planvoll in Szene ge- Buch vorstellte – in der Akademie der
setzt, mit all dem Proviant des universell Künste am Brandenburger Tor –, las er
gebildeten Historikers. seinen zentralen Text über „Das Neue in
Egal, ob er sich über Techno oder Tho- der Kunst“: Was wirklich neu ist, kann
mas Mann äußert, er hält sich alles auf Dis- nicht ohne das Alte verstanden werden
tanz. Jede Beobachtung, so frisch sie auch und ist somit nicht wirklich neu. Ein Abend
sein mag, setzt in seiner historisierenden voller gutgelaunter Spitzfindigkeiten.
Sprache unmittelbar Patina an. Der Autor, mit grauem Anzug und bun-
Es weizsäckert salbungsvoll, doch im ter Krawatte, kurzem Haar und Manschet-
Grunde beherrscht er jede Tonlage groß- tenknöpfen, wetterte durchaus sichtbar
als Bürger gegen den „deplorablen Zu-
* Gustav Seibt: „Canaletto im Bahnhofsviertel“. Zu Klam- stand“ der Kultur: ihre Bedeutungslosigkeit
pen Verlag, Springe; 208 Seiten; 18 Euro. und das Epigonentum. Die Avantgarden
150 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten, so seine politischen Essays leider an Beiträge
Seibt, riesige Verwüstungen hinterlassen: zur Grundwertediskussion der SPD der
Schocks als Konvention, Austauschbarkeit achtziger Jahre erinnern.
als Qualität, Radikalität als Posse. Es gibt hübsche Ausflüge nach Absur-
„Formal war die ästhetische Revolutio- distan, zu Baudrillard als Rockstar oder den
nierung der Formen, Genres und Kunst- Soundtüftlern auf Pariser Friedhöfen, aber
sprachen bereits um 1920 abgeschlossen.“ zeitgenössisches Deutsches von Kante oder
Danach sei keine Grenze mehr überschrit-
ten worden, weil die Kunst vor der Wand
stand.
Das ist richtig. Einerseits. Andererseits
Bestseller
ist es völlig falsch, weil die Gegenwarts- Belletristik
kunst so lebendig ist wie lange nicht und 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter
all das Räsonieren mehr über den Autor
und der Halbblutprinz Carlsen; 22,50 Euro
verrät als über den Zustand zeitgenössi-
scher Kultur. Seibts Moderne-Kritik ist lis- 2 (3) Daniel Kehlmann Die Vermessung
tiger als die der Antimodernisten wie Wolf der Welt Rowohlt; 19,90 Euro
Jobst Siedler und Günter Grass, aber am
Ende führt er in den Dunstkreis kleinbür- 3 (2) Dan Brown Sakrileg
gerlicher Ressentiments. Lübbe; 19,90 Euro
Diedrich Diederichsen ist hipper. Er 4 (4) Diana Gabaldon Ein Hauch von
wurde 1985 dadurch berühmt, dass er über
Schnee und Asche Blanvalet; 24,90 Euro
Pop schreiben konnte, wie Pop selbst war:
sexy, schnell, laut, kraftvoll. Er etablierte 5 (5) Ken Follett Eisfieber
einen zeitgenössischen Ton, wie es ihn bis- Lübbe; 22,90 Euro
her nur in England und den USA gab, im
Feuilleton wie in der Kulturkritik. 6 (6) Dan Brown Diabolus
Doch aus dem Wildfang Diederichsen Lübbe; 19,90 Euro
wurde ein Kunsttheorie-Professor. Etwas, 7 (7) François Lelord Hectors Reise
das in Deutschland mit dem Verlust von Piper; 16,90 Euro
Lebensenergie und guter Laune verbun-
den bleibt. Der Ex-Linksradikale wurde 8 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter
ernster, schrieb immer lieber über zeit- und der Orden des Phönix
genössische Kunst – gern auf Kosten der Carlsen; 28,50 Euro
Allgemeinverständlichkeit.
Das neue Buch mit dem Titel „Musik- 9 (12) Joanne K. Rowling Harry Potter
zimmer“ ist allgemein verständlich*. Dies und die Kammer des Schreckens
schmeichelt dem Autor nicht immer: Viel Carlsen; 14,50 Euro
von dem, was sonst im semantischen Nebel 10 (8) Jan Weiler Antonio im Wunderland
interpretationsfähig bleibt, erscheint nun
Kindler; 16,90 Euro
mit fahler Klarheit. Aus dem Popmarxisten
schält sich der plaudrige Connaisseur. 11 (13) Jilliane Hoffman Morpheus
Insbesondere wenn er Wunderlich; 19,90 Euro
über Neue Musik, Free Jazz
oder Siebziger-Jahre-Art- 12 (16) Joanne K. Rowling Harry Potter
Rock doziert, holpert die und der Gefangene von Askaban
Thesenmaschine und produ- Carlsen; 15,50 Euro
ziert Unterkomplexes. Neue
13 (9) Susanne Fröhlich Familienpackung
Bands wie Daft Punk oder
W. Krüger; 16,90 Euro
Air tauchen nur als Schatten
des Alten auf, als Stichwort- 14 (–) Arno Geiger Es geht uns gut
geber für Madonna oder Hanser; 21,50 Euro
Pink Floyd.
Wiener Familien- 15 (14) Joanne K. Rowling Harry Potter
Das Verblüffende ist wohl, chronik: kleine
dass Diederichsen die Retro- Tragödien, in und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro
spektive noch mehr liebt als denen sich große
16 (11) Frank Schätzing Der Schwarm
Seibt. Seine Sehnsucht, wie Geschichte
widerspiegelt Kiepenheuer & Witsch; 24,90 Euro
die wohl aller gealterten Lin-
ken, schweift in die Zeiten 17 (18) Joanne K. Rowling Harry Potter
zurück, als die sozialistische Utopie noch und der Stein der Weisen
Sex-Appeal hatte. In seiner Discografie am Carlsen; 14,50 Euro
Ende des Buches drängeln sie sich gerade-
zu, die Jazz-Legenden und Neue-Musik- 18 (19) Leonie Swann Glennkill
Nervensägen. Es ist die Discografie eines Goldmann; 17,90 Euro
älteren Herrn, dessen Bücher weiterhin 19 (15) Rebecca Gablé Der Hüter der Rose
über die Popschiene verkauft werden, weil
Ehrenwirth; 24,90 Euro

* Diedrich Diederichsen: „Musikzimmer“. Verlag Kie- 20 (17) Nicholas Sparks Die Nähe
penheuer & Witsch; 240 Seiten; 9,90 Euro. des Himmels Heyne; 19,90 Euro
152 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur

Mia fehlt, und man fragt sich, ob Diede- erst aufstehen. Da rattert er über den „ni-
richsen überhaupt noch in der Wirklichkeit vellierten Alltag der Warenwelt“, die
lebt oder nur noch im Seminarraum. „Hässlichkeit des Preisschildes“. Und na-
Besonders verstörend aber ist die politi- türlich über den „Jungunternehmer-Ekel-
sche Oberlehrerei. Dieser linke Stamm- faktor“ und die „Immobilienmakler“.
tisch, von dem Heiner Geißler, Andrea Das passiert einem Intellektuellen, wenn
Nahles oder Oskar Lafontaine gar nicht er nur das Feuilleton und nie den Wirt-
schaftsteil liest. Man verliert aus den Augen,
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- wer für den Wohlstand sorgt und wie
magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Globalisierung funktioniert. Und man über-
schätzt die Möglichkeiten der von der sub-
Sachbücher ventionierten Linken sogenannten Staats-
1 (1) Corinne Hofmann
knete. Wenn Seibt weizsäckert, dann see-
hofert Diederichsen. Er will die Rundum-
Wiedersehen in Barsaloi A 1; 19,80 Euro
versorgung durch den Staat, besonders für
2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig das Kulturinstitut Podewil in Berlin.
Johannis; 9,95 Euro Wenn Diederichsen schreibt, dass Links-
sein vor allem eine Möglichkeit sei, ein
3 (–) Stephen Hawking / Leonard „anständiges Leben zu führen“, dann ist
Mlodinow Die kürzeste Geschichte jenes Adjektiv „anständig“ von doch ver-
der Zeit Rowohlt; 19,90 Euro störender Selbstgerechtigkeit und stammt,
4 (3) Ben Schott Schotts Sammelsurium genau betrachtet, aus der geradezu bür-
Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro gerlich-muffigen Fünfziger-Jahre-Nach-
kriegs-Bigotterie. Anständig bleiben in den
5 (4) Markus Breitscheidel Abgezockt Stürmen der Globalisierung! Fromm blei-
und totgepflegt Econ; 16,95 Euro ben und sittsam im linken Herrgottswinkel.
Und nebenher noch ein paar Bücher dar-
6 (20) Nena / Claudia Thesenfitz
über verkaufen! Geil.
Willst Du mit mir gehn Lübbe; 16,90 Euro Diederichsen gräbt die Hacken ein im 19.
7 (10) Eva-Maria Zurhorst Jahrhundert, dem Jahrhundert der entrech-
Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro teten Arbeiter, hat aber beim Selbstmarke-
ting als „hipper Poptheoretiker“ auf für ihn
8 (17) Jared Diamond Kollaps – Warum glückhafte Weise seinen Frieden mit der Pro-
Gesellschaften überleben oder duktwelt des 21. Jahrhunderts gemacht.
untergehen S. Fischer; 22,90 Euro DD, wie ihn Fans nennen, ist eines der
9 (5) Jung Chang / Jon Halliday Mao bekanntesten Labels der Kulturindustrie
Blessing; 34,00 Euro
in Sachen Theorie. Eben ganz Pop: Seine
Performance ist besser als seine Texte.
10 (8) Ben Schott Schotts Sammelsurium Seibt und Diederichsen gehören einer
Bloomsbury Berlin; 16 Euro Generation an, welche die Geschichte der
Bundesrepublik als eine Abfolge von im-
11 (14) Inge Jens / Walter Jens
mer neuen Wohlstandsrekorden erlebt hat.
Katias Mutter Rowohlt; 19,90 Euro Vielleicht ist die Nostalgie beider Theore-
12 (–) Jürgen Udolph / Sebastian Fitzek tiker auch ein Bekenntnis zur Geborgen-
Professor Udolphs Buch der Namen heit jener verblichenen Tage. Doch die sind
C. Bertelsmann; 18 Euro vorbei. Unwiderbringlich. Oder für alle
leidenschaftlichen Zeitgenossen: endlich.
13 (6) Sabine Kuegler Dschungelkind Kulturtheorie, die gesellschaftlich Ver-
Droemer; 19,90 Euro antwortung übernehmen will, muss das
14 (9) Uwe Timm Der Freund und Gestern hinter sich lassen können. Sie muss
sich auf die Gegenwart einlassen kön-
der Fremde Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro
nen, um zukunftsfähig zu werden. Es geht
15 (–) Hans-Werner Sinn um eine neue Offenheit für
Die Basar-Ökonomie Econ; 14,95 Euro das, was kommt. Und diese
Offenheit sollte unsere Den-
16 (7) Reinhard Mey / Bernd Schroeder ker, ob linke oder liberale,
Was ich noch zu sagen hätte einen.
Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro Es kann ja in der gegen-
17 (11) Meinhard Miegel Epochenwende wärtigen prekären Lage
Propyläen; 22 Euro
längst nicht mehr darum ge-
hen, kleine Meinungsführer-
18 (–) Christian Zaschke / Eduard schaften im eigenen Milieu
Augustin / Philipp von Keisenberg zu erkämpfen. Nicht darum,
Zu Fuß, per An-
Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro halter, per Bus: Recht gehabt zu haben. Es
eine Wanderung geht darum, in diesen neuen
19 (18) Helmut Schmidt Auf dem Weg zur an den Grenzen Zeiten, die nun anbrechen,
deutschen Einheit Rowohlt; 19,90 Euro der Heimat Neues zu riskieren – und
bis ins Herz
20 (–) Wolfgang Büscher Deutschland, der deutschen meinetwegen auch dann und
eine Reise Rowohlt Berlin; 17,90 Euro Mentalität wann einen Irrtum. ™
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 153
BABIRAD (L.); GUNTER SACHS (R.)
Playboy Sachs mit Bunnys (in München 2000), Sachs-Fotografie (1987): „Ich habe den einfachen Bürger niemals verlacht“

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Anders, aber wohlerzogen“


Gunter Sachs über seine Eltern, seine Liebe zu den Frauen, die großen Jahre von St. Tropez
und sein jetzt erscheinendes Erinnerungsbuch „Mein Leben“
SPIEGEL: Herr Sachs, sind Sie ein Egoist? SPIEGEL: Wollen Sie mit solchen Weisheiten wollen. Das Buch wurde von Dominique
Sachs: Aber keinesfalls. Wie kommen Sie Feministinnen provozieren? Aury, animiert durch ihren Liebhaber, den
darauf? Sachs: Überhaupt nicht. Ich schätze das Philosophen Jean Paulhan, und unter dem
SPIEGEL: Weil Sie in Ihrer nun erscheinen- frauliche Prinzip „Intuition vor Logik“ Pseudonym Pauline Réage geschrieben. Es
den Autobiografie eine Welt schildern, die höher ein als das männliche, das die Logik war in Frankreich das meistdiskutierte
sich vornehmlich um Sie dreht, samt schö- über die Intuition stellt. Ein weiterer Un- Buch der fünfziger Jahre über das weib-
ner Frauen*. terschied: Die Männer gefallen sich mehr liche erotische Wunschdenken.
Sachs: Wenn Sie das Buch genau lesen, in der Welt von James Bond, Frauen mehr SPIEGEL: Weshalb zeigen Ihre Fotografien
werden Sie das Gegenteil feststellen. Ich in einer Welt der „Geschichte der O.“. Frauen stets in erotischen Posen?
habe in meinem Leben oft und aus freien SPIEGEL: Wie bitte? Frauen träumen davon, Sachs: Da täuschen Sie sich. Ich habe nie
Stücken anderen Menschen in schwierigen sich zu unterwerfen und an Hundeleinen erotisch fotografiert, sondern den Augen-
Lagen geholfen, und zwar mit Rat und Tat. spazieren führen zu lassen? blick der Ästhetik gesucht. Erotik erzählt
SPIEGEL: Haben Sie anderen Menschen Sachs: Das sind die Pole, zwischen denen und erweckt den Wunsch, weiterzuden-
nicht vielleicht doch mal Schmerzen zu- Mann und Frau sich in der Erotik bewegen. ken. Ästhetik ist statisch. Weil das oft ver-
gefügt? Besitzen wollen und besessen werden wechselt wird, habe ich mir jetzt vorge-
Sachs: Wozu? Ich habe lieber gelebt, statt nommen, einmal eine größere Strecke Ero-
zu piesacken. Im Übrigen hatte ich keine tik zu fotografieren.
Liebschaften wie Sand am Meer. Ich gehö- Gunter Sachs SPIEGEL: Zu den erstaunlichen Seiten Ihres
re wie die meisten Romantiker zu den One- wurde in den sechziger Jahren durch Buchs gehört, wie heiter Sie auch über ver-
Girl-Guys. seinen mondänen Lebensstil zur Ikone meintlich schwierige Momente schreiben,
SPIEGEL: Warum sind die Frauen Ihres Le- der internationalen Jet-Set-Gesellschaft. zum Beispiel über die Zeit, als Ihre Mutter
bens blond? Für weltweite Schlagzeilen sorgte der sich von Ihrem Vater trennte und Sie als
Sachs: Es ist nicht so, dass ich nur blonde Millionenerbe der Fichtel & Sachs Dreijähriger für einige Zeit in einem
Frauen schön finde. Ich kenne und sehe im Motorenwerke vor allem durch die Hei- Schweizer Waisenhaus leben mussten.
Leben und in den Medien viele wunder- rat mit dem französischen Sexsymbol Sachs: Das Waisenhaus fanden wir als Kin-
schöne dunkelhaarige Frauen. Sie schei- Brigitte Bardot. Sachs, 72, studierte in der eben spannend, und die Scheidung
nen sinnlicher und rassiger, die Blonden der Schweiz Mathematik und Wirt- meiner Eltern habe ich nicht mitbekom-
dagegen kühler und zurückhaltender. Des- schaftswissenschaften, bevor er sich der men, dafür war ich noch zu klein. Der
wegen tendiert mein Geschmack eher zu ästhetischen Fotografie widmete. In- größte Schmerz meiner Kindheit war ein
blond – also nicht wegen der Schönheit zwischen wurden seine Bilder in mehr Liebeskummer mit elf Jahren. Weniger hei-
allein. als 30 internationalen Ausstellungen ter schreibe ich über die Tatsache, dass
gezeigt. Mit Ehefrau Mirja lebt die Play- meine Mutter wegen despektierlicher Äu-
* Gunter Sachs: „Mein Leben“. Piper Verlag, München; boy-Legende Sachs heute in Gstaad, ßerungen das Reich verlassen und 90 Pro-
320 Seiten; 24,90 Euro.
Das Gespräch führten die Redakteure Verena Araghi und London, Palm Springs und New York. zent ihres Vermögens als Reichsfluchtsteu-
Wolfgang Höbel. er zurücklassen musste.
154 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur

CORBIS / SYGMA
Frauenschwarm Sachs mit Ehefrau Brigitte Bardot (in St. Tropez 1968): „Der Stoff Verliebtsein ist unberechenbar“

SPIEGEL: Warum berichten Sie nur sehr we- Sachs: Warum soll ich etwas breittreten, ziger Jahren vor allem in St. Tropez einen
nig über Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater, der was sehr schmerzlich war, aber schnell vor- lässigen Lebensstil vorgeführt, den Sie im
während der Nazi-Zeit mit braunen Politi- überging? Seit seiner Gefangenschaft im Buch einmal „neues Denken“ nennen. Ha-
kern wie Hermann Göring auf die Jagd amerikanischen Lager litt mein Vater jeden ben Sie sich im Ernst als geistigen Befreier
ging und mit der Firma Fichtel & Sachs Herbst an Depressionen. An einem No- gesehen?
von der Kriegsrüstung profitierte? vembertag erschoss er sich in seinem Jagd- Sachs: Nein, wir hatten vor allem die Befrei-
Sachs: Mit Göring hatte mein Vater schon haus. ung von Jacken, Krawatten und Socken in
lange vor dem Krieg eine Jagdfreundschaft. SPIEGEL: Inwiefern hat sich Ihr Leben durch sommerlichen Halbschuhen im Sinn. Wenn
Ich habe meinen Vater erst mit 19 oder 20 den Tod Ihres Vaters mit einem Schlag ver- ich zurückdenke, dann fühlte sich keiner
näher kennen gelernt. Deshalb eignet sich ändert? der Tropezianer der ersten Stunde als Re-
die Beziehung zu ihm kaum für große Aus- Sachs: Ich gab damals, mit 26, mein Studi- bell. Sie waren Befreier von bürgerlichen
führungen. Auch später haben wir uns zu um der Betriebswirtschaft auf und trat in Konventionen. Der Film „… und immer
selten gesehen. Ein Treffen mit ihm und den Aufsichtsrat von Fichtel & Sachs ein. lockt das Weib“ von Roger Vadim und
Max Schmeling im Vier SPIEGEL: Und Sie schlossen Brigitte Bardot hat da etwas aufgebrochen.
Jahreszeiten in München bald Freundschaft mit dem SPIEGEL: Sie erzählen begeistert von Ihren
war sicher die einpräg- berühmten Frauenhelden Künstlerfreunden wie Salvador Dalí oder
samste Erinnerung. Ich Porfirio Rubirosa. War er Andy Warhol und berichten von einer
lebte in der Schweiz und wirklich so unwidersteh- inszenierten Orgie in Dalís Suite im
mein Vater in Bayern. Es lich? berühmten Pariser Hotel Meurice.
gab keine engeren Bande. Sachs: Rubi war viel prü- Sachs: Ich habe aber den einfachen Bürger
Aber wir hatten auch kei- der, als man sich das vor- niemals verlacht oder mich in Interviews
ne Sorgen miteinander. Er stellt. Er sprach nie über über seinen Lebensstil lustig gemacht. Ich
war für mich wie ein ent- Frauen und machte keine lebte eben anders, nach meiner Façon –
fernter lieber Verwandter, Herrenwitze. Anspielun- aber wohlerzogen.
für den ich Respekt und gen auf seine Männlich- SPIEGEL: Gehörte es zum Leben eines Play-
Zuneigung empfand. keit, etwa die in französi- boys, sich nicht mit Arbeit zu belasten oder
SPIEGEL: Nur sehr knapp schen Restaurants damals zumindest diesen Eindruck zu erwecken?
erwähnen Sie, dass Ihr Va- übliche Bitte um eine Pfef- Sachs: Dank meiner Schlaflosigkeit konn-
ter sich 1958 das Leben ge- fermühle mit den Worten te ich mindestens zwei Leben leben und
GUNTER SACHS

nommen hat. „Passe-moi le Rubi“, wa- beim Wechsel vom einen ins andere noch
ren ihm peinlich. eine Cocktailparty besuchen. Zu einer
SPIEGEL: Gemeinsam mit Zeit, in der man nach acht Uhr in der Früh
* Ernst Wilhelm und Gunter auf
dem Jagdsitz Rechenau in Ober- Willy Sachs, Söhne (1934)* Ihren Freunden haben Sie nicht mehr aus St. Tropez raustelefonieren
audorf. „Es gab keine engen Bande“ in den fünfziger und sech- konnte, war ich jeden Morgen um fünf Uhr
156 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur

ULLSTEIN BILDERDIENST / DPA


Galerist Sachs, Freund Warhol (in Hamburg 1972): Befreier von bürgerlichen Konventionen

auf und habe alle Geschäfte am Telefon Bis mir eines Tages wieder ein Satz mei-
besprochen. Außerdem war ich ja nur vier nes Mathematiklehrers einfiel, der in seiner
bis fünf Wochen im Sommer in St. Tropez, Jugend ebenfalls vom Roulette besessen
nicht das halbe Jahr, wie die Presse stets war. Er sagte: „Die Kugel hat kein Ge-
glauben machte. dächtnis.“ Als ich das kapiert hatte, war ich
SPIEGEL: So wie Sie scheinbar die ganze geheilt. Ich rate jedem, der eine Spielbank
Wintersaison über in St. Moritz für Aufruhr sprengen will, über diesen Satz nachzu-
sorgten. denken.
Sachs: In St. Tropez war alles neu, und SPIEGEL: Sie haben erwachsene Söhne, die
nichts war arriviert, es gab keine einge- wie fast alle Familienangelegenheiten in
stanzten Regeln und Sitten. St. Moritz da- Ihren Lebenserinnerungen nur sparsam
gegen war seit den dreißiger Jahren ein vorkommen. Kritisieren die manchmal Ih-
eingefahrener und festgefahrener Damp- ren Lebensstil?
fer. Deshalb haben wir unseren Dracula- Sachs: Nein. Was sollen sie auch kritisie-
Club gegründet und etwas bewegt, wenigs- ren? Ich habe unser Vermögen gesichert
tens nachts. Plötzlich hatte man Spaß mit und vervielfacht.
nächtlichen Bob- oder Cresta-Fahrten und SPIEGEL: Von Ihrem Liebeskummer in Kin-
einen Club voller junger Leute. dertagen abgesehen, haben Sie in Ihrem
SPIEGEL: Wie war Ihr Verhältnis zur Protest- Leben auch alle Frauen bekommen, die
generation der 68er? Sie wollten?
Sachs: Wir kamen, glaube ich, gut mitein- Sachs: So würde ich das nicht formulie-
ander aus. Die sahen in mir eher einen ren. Wenn Sie eine besondere Frau erobern
bunten Hund. Einmal habe ich sogar ge- wollen, müssen Sie einfallsreich und
sagt, ich wäre gern der Berliner Kommu- schnell sein. Dabei habe ich stets auf ethi-
ne 1 beigetreten, wenn ich ein Zimmer mit sche Grundsätze geachtet. Ein schlechtes
Uschi Obermaier bekommen hätte. Aber Gewissen ist belastend.
die hatten ja keine Doppelzimmer. SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie
SPIEGEL: Haben Sie sich je von linken Ter- einmal den lebensgefährlichen Liebesakt
roristen bedroht gefühlt? mit Brigitte Bardot auf einem im nächt-
Sachs: Nein, ich hatte weder Angst noch lichen Meer kreisenden Motorboot. Ist das
Bodyguards. Für Mädchenbesuche ist das Ihre Vorstellung vom glücklichen Tod?
nicht das Richtige. Im Übrigen passte ich Sachs: Ja, „mourir d’amour“. Wir wussten,
auch nicht in deren Schema vom vermeint- dass wir jederzeit an einer Klippe zer-
lichen Bonzen. Auch besitze ich kein so schellen konnten. Aber die Bedenken flo-
kolossales Vermögen, wie die Medien glau- gen in die Sommernacht. Und vielleicht
ben machen. Es ist nicht zu vergleichen etwa ersehnten wir das sogar. Der Stoff „Ver-
mit dem der Familien Flick oder Quandt. liebtsein“ ist eben unberechenbar. Auch
SPIEGEL: Gab es je einen Moment, in dem nach 40 Jahren rieseln mir noch heiße und
Sie nicht wussten, ob das Geld für den kalte Schauer über den Rücken, wenn ich
nächsten Tag reichen würde? an diese Fahrt denke.
Sachs: Als Student hatte ich eine Roulette- SPIEGEL: Herr Sachs, wir danken Ihnen für
Phase. Den Moment gab es also durchaus. dieses Gespräch.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 159
Kultur

als zu schrill und zu verschroben. „Irgend-


erste Lieder verfasst und mit 15 mehr als
MUSIK
wann wurde mir klar, dass meine Lieder hundert Lieder im Repertoire gehabt, „die

Rückkehr des ihre Hörer eigentlich immer in einer Paral-


lelwelt zum sonstigen aktuellen Musikge-
schehen finden“, erklärt Bush.
wirklich gut anhörbar waren“. Erhört hat
sie damals David Gilmour, Gitarrist bei
Pink Floyd, der durch einen Freund der

Rätselhaften Entsprechend wird sie in der Popwelt


als Exzentrikerin respektiert und verehrt
wie kaum eine andere Musikerin; zu ihren
Fans zählen Rock’n’Roll-Rentner wie Peter
Familie auf das Wunderkind aufmerksam
gemacht worden war.
Gilmour kam vorbei, ließ sie am Klavier
vorspielen – „Ich hatte höllische Angst,
Nach zwölf Jahren Pause
Gabriel und Eric Clapton und jüngere Hel- war aber sehr tapfer“ – und verschaffte ihr
präsentiert die britische Sängerin den wie Coldplay-Sänger Chris Martin. Die einen Plattenvertrag beim EMI-Konzern.
Kate Bush ein neues junge Britpop-Band The Futureheads war Da war sie 16. Ihre erste Single, „Wuthering
Album mit Liedern voller groß- jüngst mit einer zackigen Cover-Version Heights“, erschien 1977. In London dröhn-
artig überspannter Poesie. von Bushs „Hounds of Love“ in den Hit- ten die Punkrocker, „Anarchy in the U.K.“
hieß die Losung – dagegen

N
eue Platten lieferte sie wirkte Bushs Lied, in dem ein
nur noch alle Jubel- Mädchen mit hoher Stimme
jahre ab – die letzte er- eine exaltierte, den Roman
schien 1993; Konzerttourneen von Emily Brontë feiernde
verweigert sie schon lange; Klavierballade sang, wie ein

CLAUDE VANHEYE / LFI / PHOTO SELECTION (O.); TREVOR LEIGHTON / EMI (U.)
auch sagte man ihr nach, sie Ufo, das sich in der Galaxie
sei kugelrund geworden und geirrt hat.
verschanze sich, von Nerven- Aber die Nummer wurde ein
zusammenbrüchen geplagt, in gewaltiger Erfolg und Bush ein
einem ihrer Anwesen. Star. „Ich war ein kleines Mäd-
Mittlerweile gibt es einen chen mit einer enorm ausge-
Roman über die Verschollene: prägten Meinung. Und das ist
„Warten auf Kate“ beginnt mit den Jahren noch sehr viel
damit, dass ein Mann auf ein schlimmer geworden“, sagt sie.
Hausdach steigt und in die Tie- Auf die künstlerischen Freiräu-
fe zu springen droht, wenn die me, die sie sich geschaffen hat,
Sängerin nicht binnen sechs sei sie sehr stolz.
Monaten endlich eine neue Auch „Aerial“ hat sie allein
Platte abliefere. geschrieben, produziert, die
„Berühmt zu sein kann Hülle gestaltet und den ersten
nicht jeder Mensch aushalten“, Videoclip mitgedreht. Aber all
sagt Bush, 47. „Nehmen Sie Popstar Bush um 1980*, 2005: Als Exzentrikerin verehrt das kann man sich eben auch
Elvis.“ Sie sitzt unter einer Ga- nur erlauben, wenn man Mil-
lerie von gerahmten goldenen CDs auf ei- lionen von Tonträgern abgesetzt hat. Alben
nem abgewetzten braunen Cordsofa zwi- wie „Hounds of Love“ gelten längst als
schen einer Kaffeemaschine und einem Klassiker und laufen bis heute prächtig.
gewaltigen Mischpult und gewährt eine Doch die Intervalle zwischen den ein-
seltene Audienz: in den Abbey Road Stu- zelnen Alben wurden immer länger. Über-
dios, in dessen muffigen Räumen einst die raschend ist deshalb, wie schnell das neue
Beatles, Pink Floyd und Queen lärmten. Album entstand: „Ich habe an keinem Lied
Sie umarmt den Interviewer. Sie wirkt er- mehr als zwei oder drei Stunden geschrie-
leichtert wie eine, die eine abenteuerliche ben, nur die Produktion war etwas lang-
Rettung hinter sich hat. Erleichtert, dass wierig.“
Ende dieser Woche endlich ihr neues Dop- Die Lösung des Rätsels, was sie denn
pelalbum „Aerial“ in die Läden kommt. nun so Irres in den vergangenen zwölf Jah-
„Als ich bei der Plattenfirma anrief, um mit- ren getrieben habe, hat ihr guter Bekann-
zuteilen, dass ich nun fertig sei, war der ar- ter Peter Gabriel schon vor einiger Zeit
me Mann am anderen Ende der Leitung vor ganz indiskret im Fernsehen ausgeplau-
Überraschung sprachlos“, berichtet Bush. dert: Sie hat einen Sohn namens Albert, ge-
Das Werk, auf das ihre Fans zwölf Jah- nannt Bertie, bekommen. Der ist sieben
re warten mussten, ist herrlich gelungen. Jahre alt und ihr neuer Lebensmittelpunkt.
Ein Reigen aus kunstvoll versponnenen „Er hat die Musik bei mir abgelöst.“
Liedern über Sonnenuntergänge, Unter- Nun illustriert sie mit den lustigen Kra-
wasserstädte und Waschmaschinen; ge- paraden erfolgreich. Mit ihrer Mischung keleien des Kindes die Hülle ihrer neuen
wohnt virtuos in Szene gesetzt zu sanften aus schrillem Gesang und introvertierter Single, widmet ihm gar ein Liebeslied –
Electrobeats, Streichern und Folkloreklän- Poesie hat Bush Kolleginnen wie Björk, „Bertie“ – und besingt auch mal – schon
gen. Die erste Single, „King of the Moun- Tori Amos oder Fiona Apple beeinflusst. irre – die Freuden des Wäschewaschens.
tain“, ist eine Hommage an Elvis Presley, Die britische Zeitung „The Observer“ kür- „Wer kleine Jungs hat, versteht mich“, sagt
und sie landete in Großbritannien stan- te sie gerade zu „einer der einflussreichsten sie, schaut auf die Uhr und erschrickt. Sie
desgemäß weit oben in den Charts. Künstlerinnen aller Zeiten“. muss los, Bertie abholen.
Was vor allem deshalb bemerkenswert Sie wuchs in der Nähe von London auf, Wenige Augenblicke später ist sie in den
ist, weil die Nummer europaweit von Ra- mit 8 Jahren, so sagt sie, habe sie bereits Fluren des Studios verschwunden – ver-
diosendern und vom Musikfernsehen über- mutlich für die nächsten zwölf Jahre.
wiegend ignoriert wird: Sie gilt offenbar * Fotomontage. Christoph Dallach

160 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur

Dass seit 1998 immerhin drei CDs mit


Jaeger-Hörstücken erschienen sind, ist auch
KOM I K E R Harry Rowohlt zu verdanken. Der hinter-
ließ einst morgens um sechs auf dem An-

Ironie dritten Grades rufbeantworter des Zürcher Verlegers Pe-


ter Haag einen Befehl: Heino Jaeger! Heino
Jaeger! Heino Jaeger! Haag gehorchte.
Jetzt ist – gleichzeitig mit zwei Ausstel-
Eine Biografie, zwei Ausstellungen und wiederaufgelegte lungseröffnungen in Hamburg und Berlin
Hörstücke erinnern an einen vergessenen – eine erste Jaeger-Biografie erschienen,
erzählt von seinem Freund und späteren
Kult-Komiker der siebziger Jahre – den genialen Heino Jaeger. Vormund Joska Pintschovius*. Es ist die
Geschichte einer Begabung, die

O
lli Dittrich erzählt es, als ohne die Kehrseite einer psychi-
wäre es ihm erst gestern schen Krankheit nicht zu haben
passiert: Mit seinem Ein- war: „Wer ein so zerbrechliches
kaufswagen schnürt er abends Gemüt hat wie ich“, schreibt
schnell noch durch die Lebens- Jaeger in Studentenzeiten einer
mitteletage des Hamburger Als- Freundin, „braucht außer dem
terhauses, da hört er ein selt- sexuellen Ausgleich noch eine
sames, von Gelächter unterbro- positiv auf die Psyche wirkende
chenes Gemurmel – es geht um Umgebung.“
Kohlehydrate, Fettsäuren, Bal- Die kann er zu Hause in Ham-
laststoffe. Dittrich erkennt den burg nicht finden. Mehrmals reist
seltsamen Kunden sofort am er quer durch Europa, zeichnet
schulterlangen Haar und der und malt vom Abriss bedrohte
Wollmütze: Der Mann, der sich Architektur. Die Niedergeschla-
selbst in ständig wechselndem genheit, die ihn nach jeder Rück-
Tonfall die Ingredienzen einer kehr überfällt, bekämpft er durch
Dose Bohnen vorliest, ist der Dauerschlafen und Radiohören.
Maler, Zeichner und Kabarettist Jaegers Laufbahn als Kabaret-
Heino Jaeger. tist beginnt Ende der sechziger
Die Begegnung fand 1980 statt, Jahre: Ein Bekannter bringt Auf-
da war Olli Dittrich 24 Jahre alt zeichnungen seiner Stegreifreden
und sein Idol Heino Jaeger mit 42 zum Saarländischen Rundfunk –
schon fast vergessen. Und bereits die Redakteure sind hingerissen.
auf jenem Weg, der ihn Ende der Seine „Lebensberatung“ wird
Achtziger in ein Pflegeheim für Plattencover (1976): Nah dran an der Wirklichkeit auf allen Wellen gesendet. Er
endgültige Fälle bringen sollte. selbst nimmt den Boom gelassen,
Die bessere Zeit Jaegers lag wundert sich im Interview mit
schon etwa zehn Jahre zurück. der „Hörzu“, dass „so ’n Stuss“
Damals widmete er sich im überhaupt ankommt. Sein plötz-
Rundfunk als „Lebensberater licher Ruhm dämpft weder seine
Doktor Jaeger“ den Problemen depressiven Stimmungen noch
des deutschen Mittelstands. Nah seine Lust an der Provokation.
dran an der Wirklichkeit, nah In Nobel-Restaurants belehrt er
dran an den berühmten Hörfunk- sprachlose Ober über die hy-
ratgebern Walther von Hollander gienischen Gefahren in Restau-
CHRISTIAN MEURER

oder Erwin Marcus, nur eben rantküchen; auf die Frage nach
etwas anders, so als wären die seinen Hobbys antwortet er, es
Ärzte an ihrem Beruf inzwischen mache ihm Spaß, „in Autos hin-
irre geworden. einzulaufen“.
Alles ausgedacht, aufgeschrie- Heimbewohner Jaeger (1995): Leiden aus dem schizoiden Bereich Nach gut zwei Jahren Lebens-
ben und gesprochen von Jaeger: beratung bekommt er 1977 eine
Eine Rentnerin fragt, ob sie nicht mit ih- korrekt, ihr Mann, sagt Jaeger der geplag- neue Sendereihe, in der er die treuen Be-
ren vielen Einwegflaschen anderen Men- ten Frau, nach dem Passgesetz sei ihr Mann gleiter seiner depressiven Phasen parodie-
schen helfen könne. Ein Herr berichtet, sogar verpflichtet, sich die Pässe zeigen zu ren darf: die Kulturberichterstatter und die
sein Haus sei während seines Mallorca- lassen. Der Wahnsinn ist bei Jaeger meis- Lokalreporter in Funk und Fernsehen. Eine
Urlaubs einer Schnellstraße gewichen. Nun tens staatlich sanktioniert. Nummernrevue bekannter Typen, allesamt
wolle er mal fragen, ob er das den Be- Das Besondere des Jaegerschen Witzes im Habitus leicht verrutscht: der intellek-
hörden melden müsse. „Müssen Sie“, sagt hat vor allem Berufsgenossen fasziniert. tuelle Filmkritiker, der nur noch von we-
Experte Jaeger, „andernfalls machen Sie Jaegers Mitentdecker Hanns Dieter Hüsch nigen verstanden werden will, der rasende
sich strafbar.“ sah bei dem „Ohrenzeugen unserer Wirk- Reporter in einer Schuhfabrik, dem die
Ähnlich ratlos eine Anruferin, deren vom lichkeit“ eine „Ironie dritten Grades“. Ein knallharte Frage einfällt: Wer trägt nun
Bundesgrenzschutz in Pension geschickter „absolutes Gehör für gesprochene Spra- Schuhe? Und – eine der perfektesten
Ehemann in der eigenen Wohnung aus che“ entdeckte der Hamburger Autor Nummern: ein die beiden Domkirchen von
Sperrholz einen Abfertigungsschalter in- Frank Schulz. Zwischen Kafka und Ger-
stalliert hat und mehrmals täglich die hard Polt siedelt Eckhard Henscheid seinen * Joska Pintschovius: „Heino Jaeger – Man glaubt es
Pässe zu sehen verlangt. Er handle völlig Kollegen Jaeger an. nicht“. Kein & Aber Verlag, Zürich; 480 Seiten; 29,80 Euro.

162 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Speyer und Worms zum „Speyer zu
Worms“ verschmelzender Korrespondent,
der angesichts dieses monumentalen Bau-
werks in wahnwitzige Wortkaskaden aus-
bricht.
87 unterschiedliche Männer- und Frauen-
typen hat Eckhard Henscheid im gesamten
Jaeger-Repertoire gezählt. Für Jaeger selbst
scheint es Ende der Siebziger langsam
genug zu sein. Es kommt vor, dass er zu
Produktionsterminen in Saarbrücken nicht
erscheint. Ein Werbeplakat habe ihn dazu
verführt, nach Paris weiterzureisen, ent-
schuldigt er sich. Sein Redakteur bringt ihn
zum Zug nach Hamburg, erhält aber später
einen Anruf der Bahnpolizei in Lauda bei
Würzburg, man habe einen Mann ohne
Fahrausweis und Papiere in Gewahrsam ge-
nommen. Der Mann behaupte, Doktor Jae-
ger zu sein, und berufe sich auf den Saar-
ländischen Rundfunk. Man löst ihn aus.
Dann ist er wieder verschollen und sen-
det einen schriftlichen Hilferuf aus einer
geschlossenen Anstalt in Hamburg. Es ge-
lingt, den verantwortlichen Arzt zu über-
zeugen, Jaeger sei zu Unrecht interniert.
Amüsiert erzählt Jaeger, die Ärzte hätten
ihn nach der Entlassung als Entertainer für
ihre Privatpartys engagieren wollen.
1983 legt Jaeger aus Protest gegen den
Fernsehlärm seiner Nachbarin in seiner
Wohnung Feuer. Ein Großteil seiner Bilder
und Zeichnungen verbrennt. Feuerwehr-
leute bergen ihn und übergeben ihn den
Behörden. Die stellen bei Jaeger eine „fort-
schreitende Verwahrlosung und Alkohol-
sucht“ fest. Seine astronomisch hohe Tele-
fonrechnung kann er plausibel erklären:
Jaeger hatte zuletzt häufig bei der Nasa
in Houston angerufen, um sich nach de-
ren Fortschritten bei der Gottsuche zu er-
kundigen.
Nach seiner Brandstiftung gibt es kei-
nen Weg zurück in die Selbständigkeit. Mit
einer Ausstellung versucht der Galerist
Michael Hauptmann 1984, Jaeger wieder
unter die Leute zu bringen. Der lässt die-
se Ehrung freundlich über sich ergehen,
einer Besucherin antwortet er: „Das hätte
ich gern zu meinen Lebzeiten erlebt.“
Die Gesundheitsbehörde der Stadt Ham-
burg weist Jaeger schließlich mit sparsam
gesicherter Grundversorgung ins Bad Ol-
desloer „Haus Ingrid“ ein. Da ihn Stimmen
quälen, fällt die Diagnose eines Leidens
„aus dem schizoiden Bereich“ den Ärzten
nicht schwer.
Nach fast zehn Jahren Pflegeheim, 1997,
stirbt Heino Jaeger an einem Schlaganfall.
Seitdem arbeitet die eingeschworene Ge-
meinde seiner Verehrer an der Anerken-
nung ihres „bis heute unerreichten Meis-
ters“ (Dittrich) als „Jahrhundertkomiker“
(Henscheid). Peter Haag will im Frühjahr
2006 eine CD mit unveröffentlichten Hör-
stücken herausbringen. Spätestens dann soll
Loriots Vermutung, Heino Jaeger bleibe
ein Geheimtipp, weil „wir ihn nicht verdient
haben“, widerlegt sein. Doja Hacker

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 163
Prisma Wissenschaft · Technik
TIERE

Spechtsuche im Sumpf
N ächste Woche bricht eine 19-köpfige Expedition von Vogelkundlern der Cor-
nell University auf zu einer historischen und 800000 Dollar teuren Mission. Mo-
natelang werden sich die Forscher durch die von Giftschlangen wimmelnden Sümp-
fe des US-Bundesstaates Arkansas schlagen. Ihr Ehrgeiz: Sie wollen die Existenz
des von Mythen umrankten Elfenbeinspechts beweisen. Seit 1944 gilt der mit bis
zu 51 Zentimeter Körperlänge größte Specht der USA als ausgestorben. Aber wie
beim Yeti, wie beim toten Elvis oder dem Seemonster Nessie behaupten gewisse
Leute immer wieder, ihn gesichtet zu haben. Im April verkündeten die Cornell-For-
scher um John Fitzpatrick auf der Web-Seite des Wissenschaftsmagazin „Science“,
dass der Elfenbeinspecht sehr wohl am Leben sei. Ihr Beweis: ein unscharfes Vi-
deo eines Flattertiers von vier Sekunden Dauer. Zudem hatten sie 18 000 Stunden
Audio-Material ausgewertet und dabei mehrfach ein angeblich verräterisches Ge-
krächze wie von einer Spielzeug-Tröte gehört. In der
Fachwelt regte sich Interesse, aber auch Zweifel, sogar
Widerspruch. Manche Experten machten selbst vor
dem Vorwurf nicht Halt, die Cornell-Ornithologen
JOHN CANCALOSI / PETER ARNOLD

hätten wie die Grünschnäbel den Elfenbeinspecht mit


dem Helmspecht verwechselt. Darum wagen sich die
Forscher jetzt zum akademischen Showdown in die

MIKE WINTROATH / AP
Wildnis. „Wir brauchen ein Foto“, sagt Expeditions-
teilnehmer Russell Charif. Der Erfolgsdruck sei enorm:
„Falls wir nächstes Jahr mit leeren Händen zurück-
kommen, wird das ungemütlich.“

Ausgestopfter Elfenbeinspecht, Sumpf in Arkansas

MEDIZIN CHINA

Das leidende Geschlecht Kehrseite des Booms


F rauen sind tatsächlich sensibler als
Männer: Womöglich empfinden sie
körperlichen Schmerz intensiver, weil
R asant wächst Chinas Wirtschaft – doch das Land zahlt dafür einen hohen Preis.
Die Umweltzerstörung hat bereits jetzt bedenkliche Ausmaße angenommen.
Ohne tiefgreifende Gegenmaßnahmen, so Zhang Lijun, Vizeminister der Umwelt-
ihre Körper weitaus mehr Schmerzre- schutzbehörde Sepa, werde sich die Umweltverschmutzung in den nächsten 15 Jah-
zeptoren haben. Das ist das Ergebnis ei- ren verfünffachen. „China kann einer solchen Belastung nicht standhalten“, sagte
ner Studie des US-Mediziners Bradon Zhang auf einer Umwelt-Konferenz in Peking. Das Boomland ist nach den USA be-
Wilhelmi von der Southern Illinois Uni- reits der weltweit zweitgrößte Verbraucher von Erdöl und Elektrizität. Chinesischer
versity. Pro Quadratzentimeter Ge- Smog driftet bis über Japan hinaus. Vor strikten Umweltauflagen scheut das Land bis-
sichtshaut entdeckte er bei Frauen im her zurück aus Sorge, dass sie das spektakuläre Wirtschaftswachstum bremsen könn-
Schnitt 34 Nervenendigungen. Bei Män- ten. Überdies werden bestehende Gesetze oft missachtet. „Die Hälfte der Kohlekraft-
nern hingegen konnte er nur halb so werke“, so Sepa-Mann Li Xinmin, „verstößt gegen unsere Richtlinien.“
viele finden. Die Studie, jetzt veröffent-
licht im Fachblatt „Plastic and Recon-
structive Surgery“, legt den Schluss
nahe: Der Grund für die unterschiedli-
che Schmerztoleranz der Geschlechter
ist kein psychologischer, sondern ein
anatomischer. Mediziner, so fordert
Wilhelmi, müssten jetzt neu nachden-
ken über die Schmerzbehandlung ihrer
Patientinnen. Das leidende Geschlecht,
mutmaßt er, brauche „andere chirurgi-
sche Techniken und andere Dosierun-
MARK HENLEY / ROPI

gen schmerzstillender Mittel“. Den


Nachweis, dass mehr Schmerzrezepto-
ren auch zu mehr Schmerzempfindung
führen, ist er allerdings noch schuldig
geblieben. Eisen- und Stahlwerke in der Stadt Baotou (Innere Mongolei)
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 165
Prisma Wissenschaft · Technik
MEDIZINTECHNIK gungen, soll es möglicherweise nur noch
8 geben. Damit wäre das Schicksal der
Philip Morris Internationalen Raumstation ISS endgül-
tig besiegelt. Selbst ohne die jetzt ins
hilft den Lungen Auge gefassten Kürzungen hätte die
Transportkapazität der Raumfähren

S eine genauen Kenntnisse der Lunge


will der Zigarettenkonzern Philip
kaum ausgereicht, die ISS so auszubau-
en, wie es die internationalen Abma-

GAMMA / STUDIO X
Morris („Marlboro“) jetzt für Produkte chungen vorsehen. Europa, Russland, Ja-
nutzen, die der menschlichen Gesund- pan und Kanada haben milliardenteure
heit sogar dienlich sein sollen. Über Beiträge zur ISS längst fertig gestellt,
Jahre hinweg hat der Konzern seine aber mangels Shuttle-Flügen drohen die
Forscher an Alternativen zur Zigarette Raumstation ISS Bauteile jetzt im Museum zu enden. Bis-
arbeiten lassen. Vor allem interessierten her wird am Kennedy Space Center in
sich die Manager für ein Produkt zum R AU M FA H R T Florida an allen drei Fliegern gleichzeitig
Inhalieren, mit dem sich das süchtig ma- gearbeitet. Künftig, so die jüngsten Plä-
chende Nikotin auch ohne Tabakrauch
in die Lunge befördern ließe. Jetzt plant
Sparplan fürs Shuttle ne, solle nur noch einer der drei Hangars
in Betrieb sein. Die Nasa kann dann im

Der Inhalator
B edrängt von Geldproblemen erwägt
die US-Weltraumbehörde Nasa dras-
tische Sparmaßnahmen an ihrem Space-
Jahr höchstens zwei Shuttle-Flüge absol-
vieren. Der nächste Start ist geplant für
Mai 2006. Im Jahr 2010, das hat US-Prä-
1 Der Patient atmet ein. Shuttle-Programm. Anstelle der geplan- sident George W. Bush verfügt, muss die
Die flüssige Medizin wird ten 19 Missionen, so die internen Überle- Shuttle-Flotte stillgelegt werden.
angesaugt.
3
2 2 Die
Flüssigkeit wird
erhitzt und verdampft. R A D I OA K T I V I TÄT
1 3 Der Dampf kühlt auf
Raumtemperatur ab.
Ernte vom Strahlenacker
4 Der Wirkstoff gelangt
in Form feiner Tröpfchen
über die Atemwege 4
W eißrussland betreibt zunehmend Ackerbau auf einigen der radioaktiv ver-
seuchten Böden, die seit der Tschernobyl-Katastrophe vor nahezu 20 Jahren
brachliegen. Kaum 200 Kilometer vom zerstörten Reaktor entfernt bauen staatli-
in die Lunge. che Betriebe Raps, Roggen und Gerste an. Auch Rinder werden gehalten, obwohl
5 Über die Lunge der Verzehr ihrer Milch immer noch lebensgefährlich wäre. Ihr Fleisch jedoch, so
wird der Wirkstoff beteuert die Regierung des Autokraten Alexander Lukaschenko, sei ebenso ge-
an den Körper nießbar wie die Ernte aus den verstrahlten Gebieten. Die reaktivierten Acker-
abgegeben. flächen, jetzt schon etwa 140 Quadratkilometer, liegen vor allem im Süden des Lan-
Quelle: Wall Street Journal 5 des nahe der ukrainischen Grenze. Sie zählen zu den Regionen, die der radioakti-
ve Fallout nach dem Desaster vom 26. April 1986 am meisten verheert hat. Beeren,
Pilze, Wild, Fisch und Honig aus dieser Gegend gelten immer noch als hochgradig
die Firma offenbar, die gewonnenen Er- belastet. Ackerbau aber, so die Regierung, sei unter bestimmten Vorsichtsmaß-
kenntnisse umzumünzen in Medizin- nahmen möglich. Ein gemeinsamer Bericht von Uno und Weltbank hat diese
technik. Ihre Entwickler haben einen Ansicht kürzlich bestätigt, was sogar manche Offizielle überrascht: Walerij
Inhalator hergestellt, der bis zu neun- Guratschewski, wissenschaftlicher Direktor des staatlichen Tschernobyl-Komitees,
mal effektiver ist als bisherige Produkte. kritisiert den Report als teils „zu optimistisch“.
Mit ihm dringen Wirkstoffe in Form ei-
nes feinen Aerosols tiefer ein in die
Lunge und werden schneller vom Blut
aufgenommen. Ob Insulin, Schmerz-
oder Asthmamittel – Philip-Morris-Ma-
nager hoffen, dass sie mit dem „Aria“
genannten Gerät künftig Teile des Rie-
senmarkts der Arzneimittel-Applikation
erobern können. Selbst manche Rau-
LASKI DIFFUSION / GAMMA / STUDIO X

cherlungen könnten von Aria profitie-


ren. Viele Mediziner allerdings tun sich
JAMES HILL / NEW YORK TIMES

schwer, den bisherigen Erzfeind Philip


Morris als Verbündeten zu akzeptieren:
Auf Ärztekongressen sind Aria-Pro-
duktmanager wegen ihrer Nähe zum Zi-
garettenfabrikanten schon ausgeladen
worden. Auch einige Fachzeitschriften
lehnen kategorisch alle von der Tabak- Vieh auf radioaktiv belasteter Weide, zerstörter Tschernobyl-Reaktor
industrie finanzierten Beiträge ab.
166 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Titel

Mythos Mittelalter
Archäologen erkunden das Reich der Ritter. Während Bücher
und Filme die Zeit zur Heldenwelt verklären, legen
Forscher düstere Funde vor: Kreuzfahrer trieben Schweine in den
Orient, Priester verboten an 140 Tagen im Jahr den
Sex. Was brachte die Erfindung der christlichen Sündenmoral?

THOMAS STREUBEL / LOOK

Ritterfestspiele in Kaltenberg, mittelalterliche Ernteszene*: Urlaub vom Humanen?

A
n einem Herbsttag im Oktober 1080 Kunde mag solche Deftigkeiten. Neugie-
ritt Rudolf von Schwaben, König rige strömen über bemoostes Pflaster aufs
der Deutschen, bei Hohenmölsen Domgelände. Eine ottonische Prachtbibel
nahe Leipzig in die Schlacht. Kühn, im ei- liegt dort und die berühmten Merseburger
sernen Kettenhemd, stürzte der Monarch Zaubersprüche. Das Pergament aus dem
los. Gepanzerte folgten ihm. 10. Jahrhundert ist in Schweinsleder gehüllt
Doch es war nicht Rudolfs Tag. Eine und enthält medizinische Beschwörungs-
feindliche Übermacht umringte ihn und formeln.
stach ihm in den Unterleib. Kurz passte er Fremd, fast magisch ragen solche Ob-
nicht auf, schon fehlte ihm auch die rech- jekte in die Gegenwart. Ganz Deutschland
te Hand. ist gefüllt mit den Spuren einer ge-
„Schauen Sie, abgehackt!“ Vorsichtig heimnisvollen Epoche. Im tiefsten Ver-
hebt Holger Kunde, Historiker beim Dom- fall, mit der Völkerwanderung um 500
stift Merseburg, eine Gliedmaße aus einer nach Christus, brach das Mittelalter an.
alten Lederbox. Die Finger sind bräunlich Um 1500, mit Martin Luther, hörte es
mumifiziert. „In DDR-Zeiten galt die Hand angeblich auf.
als verschollen“, erklärt der Forscher. „Wir Muffige Urkunden, Mumien und Reli-
haben eine Untersuchung beim Institut für quien haben die Zeit überdauert. In Mün-
Anthropologie in Mainz in Auftrag gege- chen liegt das Schlüsselbein Heinrichs des
ben.“ Überraschendes Resultat: Das Kör- Löwen, in Bamberg der Schädel Kaiser
perteil ist wahrscheinlich wirklich 900 Jah- Heinrichs II. (den der Papst heilig sprach,
re alt und echt. Es wurde mit einem Hieb
vom Unterarm getrennt. * Kalenderblatt um 1415.

168 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
weil er seine Frau nie berührte). Und über- Was fasziniert daran? Sehnt sich der
all drängen sich die Besucher. Jetztmensch nach einfachen Weltbildern,
440 000 Gäste zogen vergangenes Jahr nach Urlaub vom Humanen? Flieht er die
auf die Wartburg, wo einst Walther von verkuschelte und überverwaltete Gegen-
der Vogelweide sang. Etwa 7000 ver- wart?
witterte Ruinen und zinnengekrönte Roh und grausam, mit knarrenden
Felsennester stehen auf deutschen Berg- Windmühlen und quietschenden Ochsen-
rücken. Errichtet wurden sie von Bau- karren kommt die Epoche daher, sie
ern, die – zu „Spanndiensten“ ver- kannte weder Strom noch Müllabfuhr.
pflichtet – einst Steine und Mörtel in Ein Würzburger Rezept aus dem 14. Jahr-
Lederschläuchen die Hänge empor- hundert empfiehlt Liebstöckel und Minze
schleppten. als „gute Würze für die großen Fürze“.
Heute findet dort Folklore statt. Auch die Museen hängen sich an den
Als „Burgfrolleins“ verkleidete Trend. Die größte Schau wird derzeit
Mädchen laden zum „Tandera- in Berlin vorbereitet. Für die geplan-
dei“. Auf der Runneburg in Thü- te „nationale Geschichtsausstellung“ im
ringen verschießt eine Stein- Zeughaus sammeln die Macher bereits
schleuder Kugeln. Zum größten Hellebarden, Morgensterne und „Mord-
Ritterturnier der Republik in äxte“. In den nächsten Wochen trifft

JOCHEN REMMER / BPK (L.); WOLFGANG GRÖTSCH (R.)

Karl der Große, Folterstuhl*: Sehnsucht nach Kaisern, Kerkern und Narren

Kaltenberg bei Augsburg ka- ein gotisches Stadttor mit dem Tiefla-
men im Juli 120 000 Gäste. der in der Hauptstadt ein. Es stammt aus
Keine Frage: Mittelalter ist Bayern.
in. Eine merkwürdige Sehn- Doch was sollen all die Dungeons, Gum-
sucht nach der Zeit der Kaiser, mischwerter und Kochkurse aus der Klos-
Kerker und Narren hat die Ge- terküche?
genwart erfasst. Schon einmal, im 19. Jahrhundert, ver-
200 000 Menschen zog es im sank Deutschland in einer Rückschau auf
vergangenen Jahr ins Krimi- die Zeit der Ritter und Minnesänger. Ro-
nalmuseum in Rothenburg ob mantiker wie Novalis und die Brüder
der Tauber. Gezeigt werden Grimm (die derzeit im Kino laufen) er-
Daumenschrauben, Streckbet- träumten sich ein strahlendes Vorgestern
ten und ein „Folteraufzug“. aus Prinzen, blauen Blumen und klap-
„Die Delinquenten wurden an pernden Mühlrädern.
den hinterrücks gefesselten Ar- Bayernkönig Ludwig II. trieb es auf die
men aufgehängt und mit aus- Spitze. In seinem vermutlich von Syphilis
kugelten Gelenken verhört“, erweichten Gehirn entstanden Operetten-
erklärt der Strafrechtler Wolf- festungen mit Schnörkeltürmen und Spitz-
gang Schild. giebeln. Und er baute sie auch.
ERICH LESSING / AKG

Mit der historischer Wahrheit hatte


* Links: vergoldete Büste aus dem 14.
das ebenso wenig zu tun wie die neu-
Jahrhundert; rechts: Exponat des Krimi- en Schwertkämpfe aus Hollywood. Auf
nalmuseums in Rothenburg ob der Tauber. schnaubenden Schlachtrössern reiten Film-
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 169
Zauberszene in „Harry Potter und der Feuerkelch“: „Immer mehr Leute gleiten ab ins Land Fantasy“

helden wie Artus und Lancelot dahin. te Zaubermax momentan in der SPIE- Vorfahren am besten über ihre Hauptfigu-
Dass die echte Ritterschaft sich mit Sack- GEL-Bestsellerliste vertreten. Am 17. ren. Glanzvolle Tatmenschen traten dort
hüpfen ertüchtigte und auf Pferden saß, November kommt Teil vier, der „Feuer- auf, Prahlhänse und traurige Tyrannen.
die nicht größer als Ponys waren, will kelch“, in die Kinos, wieder mit der Beispiel: Friedrich Barbarossa (1122 bis
keiner wissen. bewährten Mischung aus Besenreiten 1190). Mindestens acht Söhne zeugte der
Ohne Unterwäsche, dafür mit Mund- und Abrakadabra-Kursen auf der Burg Kaiser, der Mailand in Asche legte und
geruch (Zahnbürsten gab es nicht): So muss Hogwarts. im reifen Alter eine schöne Lolita heira-
man sich den Adel des 11. Jahrhun- Derlei Kitsch jedoch versperrt den tete, sie war 13. Während des dritten
derts vorstellen. Er lebte im Schein von Blick auf die wahren Ereignisse. Der Ar- Kreuzzugs ertrank der Regent beim An-
Kerzen aus Rindernierenfett in hölzernen chitekt und Burgenforscher Joachim Zeu- marsch auf Jerusalem im Fluss Saleph in
Wohntürmen mit Tierfellen vorm Fens- ne nennt die Deutschen „geschichtsver- der Türkei.
ter. König Artus – die Forscher verorten gessen“: „Immer mehr Leute gleiten ab Ganz Europa wurde damals von dem
die Gestalt vage ins 6. Jahrhundert – be- ins Land Fantasy.“ Badeunfall erschüttert. Hastig legte man
saß keine Gabeln. Das war seine Tafel- Die Erinnerung an die wahren Bewoh- den Leichnam in Essig wie eine Gurke.
runde. ner der alten Steinforts verblasst. Ob Salier, Rotbart verdarb dennoch. Seine Knochen
Doch schöner ist es, ins Märchen- Ottonen oder Staufer-Kaiser – in den sind verschollen.
hafte abzuschweifen. Ob „Herr Schulbüchern werden sie kaum Oder Karl IV. (1316 bis 1378), der Prag
der Ringe“ oder die Gralssu- mehr richtig erwähnt. Eine auf zu einer glanzvollen Stadt machte und
cherei bei Dan Brown: Ava- Langeweile geeichte Lern- Gründer der ersten Universität in Mit-
lon nebelt heute überall. pädagogik hat sie ver- teleuropa war. Allen Ernstes erzählt der
Und dann Harry Pot- drängt. Kaiser in seinen Memoiren, er sei von
ter! Mit allen sechs Dabei erschließt sich Engeln durch die Luft getragen worden.
Büchern ist der bebrill- die blutvolle Bühne der Als Kind lag Karl zwei Monate lang in

Das dunkle Die germanischen


Bauern verlieren schrittweise ihre
Jahrtausend In den Wirren der Völkerwanderung:
Verfall der Staatlichkeit und Bevöl-
Freiheit, Beginn des Lehnswesens.
ALINARI/INTERFOTO

Chronik des mittel- kerungsschwund in Europa. Der „rasende Roland“ stirbt


alterlichen Europa in der Schlacht von Roncesvalles
In England führen (Spanien).
Ende des West- keltisch-christliche Feldherrn ei-
römischen Reichs. nen Abwehrkampf gegen die An- Kaiserkrönung Karls des Großen.
Geburt von Benedikt, Benedikt überreicht die Ordensregeln gelsachsen. Es entsteht die Sage
dem Begründer des abend- (Malerei des 14. Jhdts.) von König Artus und den Rittern Heeresreform unter Karl: Nur
ländischen Mönchtums. Die zentrale Regel der Tafelrunde. Männer mit stattlichem Grundbesitz
„Ora et labora“ (bete und arbeite) führt später dürfen in den Krieg ziehen. Beginn
zum wirtschaftlichen Erfolg des Klosterwesens. Verbreitung von Steigbügel und Hufeisen. des Rittertums.

170 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Titel

• die freigelegte Wehrmauer von Dresden


aus dem 14. Jahrhundert. Im Stadtgra-
ben, in dem nur bei Gefahr Wasser
stand, lebten Bären;
• ein „Vampir-Grab“ in Greifswald. Der
Tote war mit einem langen Nagel durchs
Becken am Sargboden festgeschlagen
worden;
• zwei Skelettgruben in Lübeck, gefüllt
mit 696 Toten. Es sind Opfer der Pest-
zeit.
Aber auch zu den Kreuzzügen, einem
der besonders schwer deutbaren Phä-
nomene des Mittelalters, liegen Neuigkei-

THÜRINGISCHES LANDESAMT FÜR ARCHÄOLOGISCHE DENKMALPFLEGE


ten vor. Zu insgesamt sieben großen Heer-
zügen brachen die „Soldaten Gottes“ in
den Orient auf. Zu Fuß, auf Eseln, Karren
oder in Rüstungen auf prächtig ge-
schmückten Pferden schlossen sich Köni-
ge, Priester und Wegelagerer der messia-
nischen Bewegung an.
Sonnenhunger, Gnadenverheißung und
Gier auf die Schatzkammern der Kalifen
trieb die Männer voran. Dahinter stand ein
knallhartes Siedlungsprogramm. Im 12. und
WARNER BROS.

13. Jahrhundert wurden Bauern aus Schwa-


ben und Bayern in die neugegründeten
Kreuzfahrerstaaten in der Levante gelockt.
Angesichts islamistischen Terrors ist das Massengrab in Erfurt*
einem Keller, eingesperrt wie ein wildes Interesse an diesem ersten politischen Kon- Fast jeder Zweite starb unter 18 Jahren
Tier. Der Vater wollte den Willen des Kin- flikt zwischen Morgen- und Abendland
des brechen. Später, als Herrscher, ver- groß. Vorvergangene Woche begann in Begleitet von Ferkeln und Sauhirten,
kroch er sich immer wieder tagelang in Halle (Saale) die Schau „Saladin und die dazu Huren im Tross, den „Hübschlerin-
einem düsteren Prunkraum, gefüllt mit Kreuzfahrer“. Gezeigt werden über 130 nen“ (die Meyer durch das Auffinden von
Reliquien. kostbare Fundkomplexe. Armreifen aus Glas indirekt nachweisen
Mysteriös muten den Heutigen solche Spannender noch sind die Grabungen konnte) – so sieht das neue Bild der edlen
Biografien an. Eine Nebelbank aus Halb- vor Ort. Bis Ende November arbeitet der Streiter aus, die sich anschickten, das Grab
wissen liegt auf dem Mittelalter. Seine Basler Bauforscher Werner Meyer in der des Erlösers zu befreien.
Wucht und Erlösungssucht sind uns fremd Kreuzfahrerburg „Krak des Chevaliers“, Gleichwohl: Trotz der Fülle an neuen Ein-
geworden. einer der Schaltzentralen beim Angriff auf sichten mahnen die Mediävisten zur Vor-
Immerhin liefert die Spatenzunft nun die Muslime. 2000 Ritter konnte die in Sy- sicht. Immer wieder hat der Mittelalterken-
neue Details aus dem finsteren Jahrtau- rien gelegene Garnisonsfestung aufneh- ner Horst Fuhrmann auf das „Anderssein“
send. Bauforscher untersuchen Verliese men. Fünf Meter dick waren die Wände, der Epoche verwiesen. Sie sei „uns fern, in
und alte Latrinen. Im Harz erkunden Mon- die Pferdeställe riesig. „Im Norden lag ein ihrem Alltag ebenso wie in ihren Zielen,
tanarchäologen derzeit ein Erzbergwerk. Latrinenturm mit Toiletten auf mehreren Gedanken und Gegebenheiten“.
Ein Blasebalg kam zutage und der Schuh Etagen“, erklärt Meyer. Ob Sitte oder Sozialpolitik – die Welt
eines Bergmanns, datiert auf das Jahr 1024 In einem Zwischenbericht bestätigte der der Urururgroßeltern scheint Lichtjahre
nach Christus. Forscher vergangene Woche den Fund von entrückt. Der Mann sei „des wîbes vogt
Ob beim Autobahnbau, in Klosterge- „Bernstein, Schussbolzen von Armbrüsten, und ihr maîster“, heißt es im Schwaben-
wölben oder unter Teerstraßen – überall Hufeisen sowie Schachfiguren“. Auch sei spiegel aus dem 13. Jahrhundert. Ebenso
tun sich Spuren auf. Unter dem Pflaster er auf viele Schweineknochen gestoßen.
liegt der Tand der Altvordern. Zu den Sein Verdacht: „Die Kreuzfahrer führten * Skelette von zwei Erwachsenen und sieben Kindern,
Höhepunkten gehören: Borstenvieh ins Heilige Land mit.“ bestattet im 15. Jahrhundert.

Kaum Steinhäuser Der Kirchenbau aus In Würzburg findet das erste


im Reich. Der Adel lebt in Holztürmen Stein setzt ein. Ritterturnier auf deutschem Boden
(„Motten“). statt. In Passau und Solingen
schmiedet man die härtesten
Das Papsttum in der Krise: Schwerter und Rüstungen.
Verbrecher besteigen den Stuhl Petri. Der Adel beginnt seine Herr-
Bonifaz VII. lässt seinen Vorgänger er- schaftssitze vom Tal auf die Höhen- Hildegard von Bingen
drosseln und wird 985 selbst ermordet. rücken zu verlegen. Baumaterial wird entwickelt eine Naturheilmedizin.
mit Seilwinden emporgezogen.
Aufschwung des Reichs Gründung der Vereinigung
unter den Ottonen. Otto II. zieht mit Einweihung des Doms zu Speyer. der Gotlandfahrer, der Keimzelle
einer Armee aus 2100 Gepanzerten, der Hanse.
die insgesamt etwa 50 Tonnen Metall Kreuzfahrer erobern Turnierkampf
AKG

an den Leibern tragen, nach Italien. Jerusalem. (Mittelalterliche Buchmalerei)

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 171
KUTTIG / ULLSTEIN BILDERDIENST
Burg Hohenzollern: Etwa 7000 verwitterte Ruinen und zinnengekrönte Felsennester stehen auf deutschen Bergrücken

normal fand man es, kleinen Jungen die einst am Tag des Jüngsten Gerichts aus „Unser Leben ist ein Geschäft, das dama-
Hoden abzuschneiden, um sie als fistelnde den Gräbern auferstehen zum ewigen lige war ein Dasein“, klagte bereits vor
Kastraten im Kirchenchor einzusetzen. Heil. Der Rest müsse in der Verdammnis hundert Jahren der Historiker Jacob
Elastisch wie Beton präsentiert sich die schmoren. Burckhardt. Der Philosoph Georg Lukács
Ära, von Fortschritt kaum eine Spur. Wie Voller Aberglaube und Angstgespinste erklärte die Bewohner der Neuzeit zu Bett-
war es möglich, dass der Naturforscher und steckten die Seelen der Vorfahren. Ihr In- lern, sie seien geistig „obdachlos“.
Arzt Paracelsus (1493 bis 1541) die betäu- nenleben glich den Bildern von Hierony- Frischgestrickte Neokonservative lassen
bende Wirkung des Äthers zwar erkannte, mus Bosch, gefüllt mit Fratzen, Dämonen sich von der Sittenstrenge des Mittelalters
sie aber nie am Menschen anwendete? und dem „Höllenfürsten“ Satan. gern begeistern. Könnte die CDU, so ihre
Roh tritt uns der Homo sapiens jener Gleichwohl erschufen die Menschen Forderung, nicht wieder ein bisschen mehr
Zeit entgegen. Fühlte er sich überhaupt ihrem so ungnädigen Herrn geradezu toll- auf Werte achten? Etwas mehr Hosianna,
schon als Individuum im heutigen Sinne? kühne Gotteshäuser. Bauten mit Stre- Zukunftsglaube und Kindersegen statt der
Spiegel besaß damals kaum jemand. Kein ben, Rosetten und schlanken Steinpfeilern verlotterten Spaßkultur? Auch der Schrift-
Maler war in der Lage, ein wirklichkeits- wuchsen in der Gotik wie gegen das Na- steller Botho Strauß verriet sich als An-
getreues Porträt zu entwerfen. Und wo turgesetz in den Himmel. Köln, Straßburg, hänger des frommen Vorgestern. „Ohne
heute alle „ich“ schreien, ertönte das Lob Ulm – vieles war so herrlich angelegt, dass Transzendenz“, sorgt er sich, „gibt es kei-
auf den Christengott. Es ist der Herr und es nie richtig fertig wurde. ne Moral.“
barmherzige himmlische Vater, der aus je- Heute indes sind die alten Fetische des Doch im Ernst: Die Posaune Gottes, sie
der Pore des auf Totalität gerichteten mit- Glaubens längst verstaubt. Der Mantel schallt nicht mehr. Der Schöpfer ist tot und
telalterlichen Glaubens atmete. Buße und Christi hängt in Trier, seine Dornenkrone eine Verklärung der Epoche nicht ange-
Sühne bestimmten den Alltag. Ständig in Paris – es sind Touristenattraktionen. bracht. Unter Androhung der Hölle be-
wurde gekniet, gebeichtet, gesühnt. Und die Kirchen sind leer. trieb die Kirche die Disziplinierung der
Nur wer ohne Todsünde sei, so lehr- Zurück bleibt die Suche nach Substanz, Massen. Wer widersprach, bekam schnell
ten die Dogmen der Kirche, werde der- nach Lebenssinn und wahrer Existenz. heiße Füße.

Überführung der Gebeine der Ein Attentäter erschlägt Erste Hexen-


Heiligen Drei Könige nach Köln. den letzten auf deutschem Bo- verbrennung in
den geborenen Stauferherr- Ausdehnung der Geldwirtschaft, bessere Toulouse.
Der englische König Richard I. („Löwenherz“) scher Philipp von Schwaben Arbeitstechniken im Landbau und in den
stirbt durch den Schuss aus einer Armbrust. hinterrücks auf einem Bankett. Bergwerken ermöglichen eine dichtere
Besiedlung und intensivere Kulturfor- Erfindung
Die Eroberung von Byzanz durch die Kreuzfahrer men. Es kommt zu einem Städteboom. der mechanischen
löst in Europa eine Reliquien- Beginn der Gotik
schwemme aus. in Deutschland. Uhr.
Venedig ist die Dreh-
scheibe im Orienthandel.
Akkon, der
Kreuzritterburg letzte Stützpunkt
Die Kirche erlaubt die Folter. der Kreuzfahrer
„Krak des
Chevaliers“ im Orient, geht
in Syrien Marco Polo bereist China. verloren.

172 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Titel

Untersuchungen zeigen, dass die He-


xenverfolgung im 14. Jahrhundert selten
mit Todesurteilen endete und sich dann
schnell zu einem Flächenbrand ausdehnte.
In Schweden und Finnland begannen die
Pogrome erst nach 1670. Vornehmlich alte
Frauen und Männer verbrannten.
Angesichts dieses blutigen Finales zieht
Hans-Werner Goetz, Professor für Mittle-
re Geschichte an der Universität Hamburg,
eine nüchterne Bilanz: „Es gibt wenig
Grund, das Leben im Mittelalter zu ideali-
sieren.“
Gleichwohl bitten die Forscher um Nach-
sicht für die Ahnen: Wer ihre Welt verste-
hen will, muss wissen, aus welchem Elend
sie hervorging. Die Geburt der neuen Epo-
che vollzog sich im Tod der Vorgängerzeit,
der römischen Antike.
500 nach Christus stand der ganze Kon-
tinent am Abgrund. Die römische Verwal-
tung, all die herrlichen Straßen, Aquäduk-
H.P.SZYSZKA / NBL-BOLDT

te und Städte lagen in Trümmern. Gestrüpp


überwucherte die mühsam gerodeten Fel-
der. Der Historiker Georg Scheibelreiter
nannte die Zeit vom 5. bis zum 8. Jahrhun-
dert schlicht „die barbarische Gesellschaft“.
Erst Karl der Große brachte wieder et- Barbarossa-Denkmal auf dem Kyffhäuser: Ein Badeunfall, der ganz Europa erschütterte
was wie Staatlichkeit zu Wege. Dafür führ-
te er rund 40 Kriege, saß ständig im Sattel, Scharnier – so laufen die Gefechte im Spiel- wurden die Schwertträger immer wieder
schlief in feuchten Zelten und bekam am film. Die Yedi-Ritter fuchteln sogar im beschrieben. Es seien Gentlemen im Sattel
Ende Rheuma. Raumschiff mit Schwertern herum. gewesen, die sich in „mâze“, Mäßigung,
Überall regierte die Stagnation. Nur auf Neu ist derlei Waffenkult nicht. Schon übten. Josef Fleckenstein, ehemals Direk-
dem Gebiet der Rüstung tat sich etwas. Im vor knapp tausend Jahren wurden Exca- tor am Max-Planck-Institut für Geschichte
8. Jahrhundert breitete sich der Steigbügel libur und Durendal, die Schwerter von in Göttingen, hält das Rittertum für eine
aus, Vorbedingung für den Angriff im Ga- König Artus und dem „rasenden“ Roland der „wenigen großen Erscheinungen der
lopp. Schwertfeger schliffen immer härte- in Liedern verklärt. Der Oberbefehlshaber Weltgeschichte“. Es sei in der höfischen
re Klingen, Schmiede setzten Kettenhem- des ersten Kreuzzugs, Gottfried von Bouil- Welt „über sich selbst hinausgewachsen“.
den zusammen. Um 1100 kam die Lanze lon, konnte angeblich einem Kamel mit Doch die junge Forschung widerspricht.
dazu, dann der Kübelhelm mit Sehschlitz, einem Hieb den Kopf abhacken. Von einer „aggressiven Kaste“ und „Be-
schließlich der Harnisch aus Eisenplatten. Zugleich war der Fürst aus Lothringen rufskämpfern“ ist bei ihnen die Rede und
Schrittweise wurde der Ritter zur Pan- so fromm, dass er vorm Essen betete, bis von einem „Kriegeradel mit germanischen
zerechse. Bis zu 80 Kilogramm trugen die die Suppe kalt war. Elementen“, dessen einziger Lebensinhalt
Blechfürsten am Leib. Mit Leitern stiegen Das passt vielen Gelehrten ins Bild. Edel die Ausübung von Gewalt gewesen sei.
sie in den Sattel. gesinnt und dennoch mutig und stark, so Bereits mit sieben Jahren begann der
Schon Cervantes verhöhnte in seinem „Page“ mit den militärischen Trocken-
BPK

Don Quijote diese lächerlichen Gestalten. übungen. Er lernte Reiten, Schwimmen,


In den Herzen der Nachgeborenen aber Faustkampf und hielt seinem Herrn die
blieb der Mythos von der goldenen Ritter- Steigbügel. Mit 14, als Knappe, durfte er
zeit bestehen. Hoch zu Ross, mit Schild selbst aufs Pferd und balgte sich beim
und Helmbusch, entzücken sie bis heute. „Buhurt“, einer Massenkeilerei. „Eine
Mann gegen Mann, Hieb, Stoß, Ausfall- Ausbildung intellektueller Fähigkeiten hin-
schritt und dann der finale Stich durchs gegen“, so der bayerische Forscher An-

Erstmalige Ver- Kaiser Karl IV.


wendung von Schießpul- kauft für 500 000 Hinrichtung des Jan Hus
vergeschützen in Europa. Gulden Brandenburg. (zeitgenössischer Holz-
Seine „Goldene Bulle“ stich)
Der Pest-Erreger von 1356 regelt als
überwindet die Alpen und Reichsgesetz die deut-
dringt nach Norden vor. sche Königswahl. Der tschechische Kirchenkritiker Jan Hus Christoph Columbus
erscheint nach der Zusicherung freien Geleits segelt über den Atlantik
In Europa gibt auf dem Konzil in Konstanz, wird angeklagt und und entdeckt Amerika.
es über 4000 Köster: als Ketzer verbrannt.
Beim
Benediktiner 1500 Hochadel kommen Martin Luther schlägt in
Franziskaner 1450 der Paartanz und Breiter Einsatz von Kanonen bei der Bela- Wittenberg 95 von ihm verfass-
Zisterzienser 740 die Fußboden- gerung von Burgen. Es entstehen Festungen mit te Kirchenthesen an und löst
Prämonstratenser 450 heizung in Mode. Schießscharten und vorgelagerten Mauerringen. damit die Reformation aus.

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 173
Titel

selbständig, fand sich das Gros der Bevöl-


Glanz der Ritter Mittelalterliche Schaustücke kerung als Hörige wieder, die ihr Acker-
land pachten mussten.
Bauern zahlten den Zehnt, sie leisteten
Fronarbeit und schoben den Lehnsherren
gemästetes Vieh und Getreide rüber.
Schlimmer noch erging es den Landlosen.
Sie rackerten ganztags auf den Gütern des
Adels.
Grabungen im Braunkohlegebiet Breuns-
dorf in Sachsen zeugen von der Trostlo-
sigkeit frühmittelalterlicher Dörfer. In
Strohkaten mit Lehmböden und Luken
lebten die Bauern, sie aßen Hirsebrei. „Wer
könnte mit dem Abakus errechnen oder
mit Worten aufzählen die Mühe, Anstren-
gungen, die schweren Plagen der Unfrei-
en?“, heißt es in einem Bericht. „Das Wei-
nen und Seufzen der Knechte hat nie ein
Deutsche Kaiserkrone Ende.“ Frauen gebaren im Schnitt 4,2 Kin-
der. Fast die Hälfte starb vor dem 18. Le-
bensjahr.
Doch es gab auch gute Seiten. Die Bau-

GRÄFLICHE SAMMLUNGEN IM SCHLOSS ERBACH (L.); AKG (O.R.); BEN BEHNKE (U.R.)
ern, Kappen und Tücher auf dem Kopf,
fühlten sich als „Genossen“, sie lebten wie
in kommunistischer Selbstvergessenheit,
stets der Natur nahe. Weinlese, Heuernte,
Obstpflücken, Brotbacken – die meisten
Arbeiten verrichtete das Dorf gemeinsam.
Eingelullt wurde das Volk dabei von Kir-
chenglocken. Überall erscholl das Hosian-
na, Mönche liefen umher.
Es sind die unbeweibten Diener des
Stuhls Petri, die etwa um das Jahr 1000 zu
Hochform aufliefen. In Deutschland er-
folgte eine erste Welle von Klostergrün-
dungen.
Rossharnisch aus dem Spätmittelalter Hand König Rudolfs von Schwaben Harte Arbeit scheuten aber auch die
Mönche nicht. Mit Hacken und Beilen zo-
gen die Männer, die seit der Reform von
Cluny im Jahr 910 Kapuzen und schlichte
dreas Schlunk, „ist nur schemenhaft er- fassten Artus-Roman) die Burgherrin im Kutten trugen, in die Wildnis und machten
kennbar.“ Waschzuber. das Land urbar. Auf dem Gebiet des heu-
Wagemut forderte das zentrale Ereignis Doch in Wahrheit müffelte es bei den tigen Deutschland lebten unter vier Mil-
der höfischen Welt, das Turnier. Während Granden. Hoch gelegen auf Bergkuppen, lionen Einwohner.
aufgeputzte Damen von der Balustrade ki- besaßen ihre Wehrburgen oft nur Zister- „Müßiggang ist der Feind der Seele“ lau-
cherten, versuchten sich die Recken mit nen. Waren die leer, mussten die Diener tet eine Ordensregel der Benediktiner.
dem „Stechzeug“ gegenseitig aus dem Sat- das Wasser aus dem Tal heranschaffen. Steineschleppen und Waldroden galt ih-
tel zu heben. Nur der Hochadel, vom Grafen auf- nen als Akt der Nächstenliebe. Um 4.15
Tests auf den Crash-Schlitten der Adam wärts, konnte sich aufwendig in den Fels Uhr hielten sie das erste Morgengebet
Opel AG bewiesen: Wer vom Pferd fiel, geschlagene Brunnen leisten. Der tiefste („Matutin“). Dann begann das Tagwerk.
konnte sich leicht an der Helmkante Der Begriff „mühselig“ – der Klerus hat
das Genick brechen. Zuweilen drangen ihn erfunden.
auch Lanzensplitter durch die Rüstung „Das Weinen und Besonders geschickt waren die Zisterzi-
ins Hirn. Seufzen der Knechte hat enser. Sie verstanden sich auf Wasserkraft,
Doch ansonsten lebte der Adel kommod. nie ein Ende.“ betrieben Getreidemühlen und Erzminen.
„Hofieren, tanzen, stechen und durnieren“ Im Kloster Altzella, einer Ruine in Sach-
lautete sein Wahlspruch. Dazu speiste man wurde auf Burg Kyffhausen entdeckt, der sen, leiteten die Brüder einen Fluss um
viel fettes Fleisch. An langen Winteraben- berüchtigten Festung Kaiser Barbarossas und betrieben so die schweren Holzkeulen
den spielten Kunibert und Co. Blindekuh. in Thüringen. Im Förderkorb hatten sich ihrer Walkmaschinen, wie eine neue Gra-
Die Damen trugen lange Kleiderschleppen Sanierungsarbeiter in das Schöpfloch ab- bung beweist.
(„swanz“) und Schnürkorsetts – „oberhalb geseilt. Erst nach 176 Metern erreichten sie Freitags aßen die frommen Griesgrame
des Gürtels fast nackend und ganz ent- Grund – Weltrekord. Fisch, ansonsten zogen sie Bohnen und
blößt“, erhitzte sich der Minnesänger Kon- Ihren Luxus konnten sich die hohen Kräuter. Und sie betrieben Seelsorge und
rad von Würzburg. Herren nur leisten, weil die Untertanen für Krankenpflege.
Nur mit dem Frischnass haperte es. Zwar sie schufteten. Zwischen 700 und 1000 nach An sozialen Veränderungen war aber
nimmt der vom langen Ritt verdreckte Par- Christus waren die freien germanischen auch der Klerus nicht interessiert. „Ord-
zival wie selbstverständlich ein Bad. Und Bauern von der Bildfläche verschwunden. nung ist die Verteilung gleicher und un-
Held Meleranz überrascht (im 1180 ver- Die Ritter hatten sie unterjocht. Eben noch gleicher Dinge“, heißt es bei Franz von
174 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Assisi. Selbst dem Bettler war Schächten Feuer. Sickerwasser
„im Hause Gottes“ sein natür- wurde ein Problem. Die Mi-
licher Platz zugewiesen. Die nenbetreiber pumpten es mit
Neidkultur war noch nicht er- Schöpfrädern ab, die von Was-
funden. serkraft getrieben wurden.
Eindrucksvoll zeigt der His- Beim Verhütten verschwan-
toriker Peter Blickle in einem den Tonnen an Holzscheiten in
neuen Buch** das ganze Aus- den Schmelzöfen, Blasebälge
maß der Unmündigkeit. Dem fauchten dazu. Die Männer
Chorherrenstift Rottenbuch zum standen im Rauch blei- und cad-
Beispiel unterstanden etwa 250 miumhaltiger Dämpfe. Eine Un-
Höfe. Die Bauern leisteten aber tersuchung der Arbeitsstelle
nicht nur Abgaben, auch ihr Pri- Montanarchäologie in Goslar
vatleben lag an der Kette des hat ergeben, dass die Giftwol-
Propstes. ken bereits damals bis nach
„Junge Männer verheiratete Schweden wehten und sich im
er im Schnitt mit 18 Jahren, die Boden ablagerten.
Mädchen mit 14 innerhalb der Um die Hygiene stand es
Genossenschaft“, berichtet Blick- schlecht zu dieser Zeit. Europa
le. Die Partner suchte er aus. war zu schnell gewachsen. Über-
Wegziehen war verboten. all faulte, gärte und schimmelte
So war es überall: Vögte und es. In die Brunnen floss teils Ab-
Grafen zogen nach dem Tod ih- wasser. Das konnte nicht gut ge-
rer Untertanen deren Erbe ein. hen. Die Folge: Pest.
Sogar die Bekleidung war vor- Zwischen 1347 und 1351 fegte
geschrieben. Bauern in Mittel- der Schwarze Tod über Europa.
europa durften nur gedeckte Far- Ausgelöst durch das Stäbchen-
ben tragen: schwarz, braun, blau. bakterium „Yersinia“, das die
Aufgeknackt wurde die star- Kapillaren verstopft und Haut-
re Ständeordnung erst durch die unterblutungen erzeugt, starb
Städte. Etwa ums Jahr 1000 be- ein Drittel der Bevölkerung Eu-
gannen Handwerker und Händ- ropas, über 20 Millionen Tote.
ler damit, sich in Siedlungen „Kirchhöfe sind mit Erdreich
zusammenzutun, meist mit Er- und Schutt von Gebäuden zu er-
laubnis der Obrigkeit am Fuß höhen, damit der Gestank kei-
der Burgen als „Bürger“. An nen Schaden bringe“, heißt es
deren bescheidene Hütten in einem Erlass.
knüpften sich bald große Hoff- AKG
„Deprimierend gering“ nennt
nungen. „Stadtluft macht frei“ der Mediziner Klaus Bergdolt
wurde zum geflügelten Wort Badende Adlige beim Schlemmen*: Reiche tanzten aus der Reihe das Heilwissen der Zeit. Para-
der Epoche. celsus maulte, seine Kollegen
Unentwegt flüchteten Knechte und ent- Schon um 1300 begann dann die Suche rührten Medikamente aus „Ohrenschmalz,
nervte Bauern in die Siedlungen. Die Fol- nach Steinkohle. Bergleute im Ruhrpott Leibschweiß, Monatsblut“ an, ja selbst vor
ge war eine „Urbanisierung dramatischen öffneten die ersten oberirdisch verlaufen- „Speichel, Pisse und der Asche von Eu-
Ausmaßes“, wie der britische Gelehrte den Adern mit „brennbarer schwarzer lenköpfen“ schreckten sie nicht zurück.
Robert Bartlett erklärt. Im Jahr 1100 gab es Erde“. Zur selben Zeit wurde London be- Was er verschwieg: Seine Pillen waren
im Reich rund 50 Städte, Mitte des 15. Jahr- reits von Kohlefrachtern versorgt. kaum besser.
hunderts waren es bald 4000. Erst der junge Zweig der „Montanar- Neben den Seuchen nervten die Hun-
In engen Barackenvierteln lebten die Fa- chäologie“ bringt nun langsam etwas Licht gersnöte. Zwischen 1315 und 1317, nach
milien. Der Geruch von Seifensiedern und in die frühen Ökosünden. Verklärt zu einer Phase kalt-feuchter Witterung, kam es
Gerbern lag in der Luft. In den Gärten be- Schneewittchens sieben Zwergen, die lustig zu schlimmen Missernten. In Lübeck wur-
fanden sich die Abtritte. Überall liefen in den Schacht ziehen, so wird die Erzsu- den 89 Skelette entdeckt. Die Leute waren
Schweine herum. Man stapfte durch eine während der Notzeit im Rheinland losge-
Brühe aus Essensresten, Tierkadavern, Kot laufen, um in der Hansestadt um Essen zu
und Urin. Die Giftwolken der Eisen- betteln. Die aber verrammelte ihre Tore.
Schon damals begannen die großen Um- verhüttung im Harz wehten Mit dem Bevölkerungsschwund er-
weltsünden: Nahezu alle Gerätschaften, ob bis nach Schweden. lahmte die Wirtschaft. Bergwerke, die mit
Löffel, Gurkenfass oder Dachschindel, wa- hohen Investitionskosten die Stollen
ren aus Holz gefertigt. Die Häuser, aus che im Märchen beschrieben. Die Wahrheit trockenpumpten, mussten dichtmachen.
Fachwerk, standen geduckt an schmalen sah anders aus. „Es reichte fortan, den Metallbedarf
Gassen. All das ist abgebrannt. Nur die Schon im 13. Jahrhundert drangen die mit Schrott und Recycling zu decken“, er-
steinernen Kirchen und Dome blieben er- Hauer im Harz bis 200 Meter unter Tage klärt der Goslaer Bergbauexperte Lothar
halten. vor, um an kupfer-, silber- und eisen- Klappauf.
Bäume, Bäume, Bäume verschlang die- führende Adern zu gelangen. Zum Ab- Und dennoch: Am Ende trotzten die
ser Zivilisationsmoloch. Ganze Wälder san- sprengen der Brocken legten sie in den Menschen allen Kriegen und Krankheiten.
ken hin. Tischler und Schreiner bedienten Die Kulturen des Altertums, das Pharao-
sich, aber auch die rauchgeschwärzten ***Miniatur, um 1470.
Peter Blickle: „Von der Leibeigenschaft zu den Men-
nenreich, das klassische Griechenland –
Köhler holzten die Forste ab, um in ihren schenrechten“. C. H. Beck, München; 428 Seiten; 36,90 am Ende gingen sie alle unter. Nicht so das
Meilern Brennstoff herzustellen. Euro. mittelalterliche Europa. Woher diese Kraft?
176 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Titel

Blutiges Gericht Strafkatalog, Foltergerät aus Rothenburg

Halsgeige

Lüste, gefüllt mit deftigem Sex und schwei-


nischen Mönchen.
Genussvoll beschreibt Iny Lorentz in
ihrem Bestseller „Die Wanderhure“ (über
500 000-mal verkauft), wie Dirnen rohen
Landsknechten am Gemächt fingern. Und
Ken Follett lässt in den „Säulen der Erde“
die Jungfernhäutchen reißen.
Doch in Wahrheit stöhnte das Mittelalter
BILDARCHIV HANSMANN / INTERFOTO (L.); WOLFGANG GÖTSCH (O.R. 1-3)

im Würgegriff schwarzberockter Spaß-


bremsen, die dem großen Mitraträger im
Vatikan gehorchten. Und der konnte Sex
nicht leiden.
Auch der Ort, an dem die große Anti-
Lust-Kampagne ersonnen wurde, lässt sich
benennen. Es war der Monte Cassino, eine
windige Anhöhe zwischen Rom und Nea-
pel, auf der im 6. Jahrhundert ein hagerer
Abt lebte, geboren in Umbrien, umgeben
von Schülern. Gemeint ist Benedikt (480
bis 547), der Begründer des abendländi-
schen Mönchtums.
Hochmut, Völlerei, Lachen – all das ver-
abscheute der Gottesmann, mehr noch die
Darstellung von Strafen*: Roh und grausam kommt die Epoche daher „böse Begierde“. Benedikt war überzeugt:
„Der Tod steht an der Schwelle der Lust.“
Weder klimatisch noch in den Lebensbe- zielendes Menschenbild. Die Kirche un- Am liebsten nahm er die Bibel zur Hand
dingungen unterschied sich das Mittelalter tersagte nicht nur schrittweise das Schmat- und blätterte beim Apostel Paulus. Bereits
von der Antike. In Sachen Technik hatte zen und Furzen, sondern zwang auch zur dieses „Genie im Hass“, wie Friedrich
sich im Prinzip nichts getan. Auch die Rö- Einübung von Fleiß, Ordnung, Sauberkeit Nietzsche ihn nannte, hatte den Leib zum
mer nutzten schon die Windkraft und das – alles zivilisationserhaltende Eigenschaf- Sitz der Sünde erklärt. Im Körper sei über-
Wasserrad. Ihre Kanalisation war kaum zu ten, die womöglich den Totalkollaps ver- haupt nichts Gutes, der Christ müsse ihn
toppen. hinderten. „martern und knechten“.
Nur eines war gänzlich anders. Es ist der Vor allem ging es den Popen dabei um Diese Idee trieb bald böse Blüten. Mön-
vielgescholtene Klerus, der mit seinem die Fesselung des Eros. „Geschaffen ist der che quetschten sich zur Bewahrung der
Begriff der menschlichen „Würde“ und der Mensch aus ekelerregendem Samen“, häm- Keuschheit Ringe um den Penis. Andere
Einzigartigkeit des Individuums vor Gott merte Papst Innozenz III. um 1200 seinen banden sich Gewichte ans Glied. Kirchen-
die Rohheiten des Heidentums zumindest Mitmenschen ein, „empfangen ist er in vater Origenes soll sich selbst entmannt
gedanklich aufsprengte. der Geilheit des Fleisches, in der Glut der haben, ob mit Schwert oder glühendem Ei-
Unterm Kreuz Christi entstand ein völ- Wollust.“ sen, ist nicht überliefert.
lig neues, auf Affektstau und Veredelung Moderne Romanautoren blenden solche Genüsslich hat der Kirchenkritiker Karl-
Texte aus. Sie verwandeln das finstere Jahr- heinz Deschner mehrere Bücher mit der
* Holzschnitt von 1508. tausend gern in ein Boudoir ungezügelter Schilderung klerikalen Selbsthasses gefüllt.
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Streckbank Schandmaske

Mönche aßen Gras, sie tobten, standen deten sich neue Konvente. Ihre Chefs gin- Der Preis allerdings für die Verbiegung
Kopf, quälten sich mit Schlafentzug oder gen mit gutem Askesebeispiel voran: der menschlichen Triebnatur war hoch. Die
hungerten bis zum Delirium. Manche Ere- • Franz von Assisi, Gründer des Franzis- Frau etwa kam bei dem Unternehmen
miten redeten nur sonntags, manche gar kaner-Ordens, ließ seinen Körper ver- schlecht weg. Im System der Popen hieß sie
nicht. „Der Geist des Herrn jedoch will, kommen; „Hure“, „Schlamm“, sie war die „Bitter-
dass das Fleisch abgetötet und verachtet, • Dominikus, Stifter der Dominikaner, keit des Apfels“ und allzeit „offene Höl-
gering geschätzt und schimpflich behan- peitschte sich bis zur Bewusstlosigkeit; lenpforte“.
delt werde“, so Franz von Assisi. • Bernhard von Clairvaux, Führer der Zis- Das Weib im Mittelalter war nicht rechts-
„Mitunter kam es zu förmlichen Kastei- terzienser, stank vor lauter Fasten „der fähig. Mädchen hätten einen erhöhten
ungswettkämpfen“, lästert Deschner. „Jede Odem so übel, dass niemand um ihn Wassergehalt im Körper, hieß es, weil bei
Seite suchte Rekorde aufzustellen und zu bleiben mochte“, wie Luther berichtet. ihrer Zeugung „feuchte Südwinde“ stri-
brechen, wollte die längsten Faster, die bes- Kein Zweifel, all dies mutet heute lächer- chen.
ten Beter und Kniebeuger haben, die be- lich an. Doch weltgeschichtlich dienten die Womöglich wurde ihnen noch weit übler
ständigsten Schweiger und Tränenver- Bußübungen einem hohen Zweck: Homo mitgespielt. Die Grabungen auf mittelal-
gießer.“ sapiens lernte, sich zu läutern, zu reinigen, terlichen Friedhöfen zeigen, dass die männ-
Den Weltrekord im Stehen errang der zu überwinden. lichen Skelette deutlich überwiegen. Ihr
Mönch Symeon aus Syrien. Der „Säulen- Eine bis dahin unbekannte Wunderwelt Anteil liegt bei etwa 60 Prozent. Wurden
heilige“ stand über 30 Jahre bei Wind und aus zarten und empfindsamen Gefühlen die weiblichen Babys getötet und ver-
Wetter auf einer Kolumne, machte Knie- wurde aufgestoßen. Ohne Hemmung gebe scharrt, um die Mitgift zu sparen? Niemand
beugen und schlief dort auch. es keine Erotik, „liep âne leit mac niht sîn“ weiß die Antwort.
Solche Qual-Demos taten dem Zulauf (Liebe ohne Leid gibt es nicht), heißt es in Und doch schlossen sich auch Frauen als
der Klöster keinen Abbruch. Mit der Go- einem 800 Jahre alten Minnelied. Auch das Nonnen der „Bodyguard Christi“ (Desch-
tik setzte um 1200 die große Zeit der gehört zum wunder- und wundenvollen ner) an. Angela von Foligno, gestorben
Mönchsorden ein. In schneller Folge grün- Erbe des Mittelalters. 1309, trank nach eigenem Bekenntnis mit
Titel

„Wonne“ das Waschwasser eines Aussätzi- zen vor. Allein im 14. Jahrhundert erfolg- Doch nun kamen die echten Kämpfer.
gen, obwohl ihr dabei „ein Stück der schor- ten rund 300 raumgreifende Angriffe nach Anschaulich beschreibt die byzantinische
figen Haut“ in der Kehle stecken blieb. Die Osten. Eingefangene Litauer gingen zum Prinzessin Anna Komnena, wie die Trup-
Französin Maria Alacoque aß verschim- Preis von einem Ochsen als Sklaven ins pen 1099 in Konstantinopel eintrafen.
meltes Brot und füllte den Mund mit Fä- Reich. Baumlange Kerle seien dabei gewesen und
kalien eines Mannes, der an Durchfall litt. Auch der edle Plan, die heiligen Stätten Männer, „deren Lachen wie Brüllen
Der Papst sprach sie heilig. Jerusalems vor den Muselmanen zu schüt- klang“.
Nicht alle überstanden solche Bußri- zen, geriet schnell aus den Fugen. Peter Zwar trugen die Kreuzritter weiße Gür-
tuale bei voller Gesundheit. Die Berichte von Amiens, ein Wanderprediger, brach tel, die Farbe der Keuschheit. Doch die
über hysterische Nonnen sind Legion. als Erster auf und brachte mit seinem auf- moralischen Standards fielen rapide. Über
Schon Roswitha von Gandersheim (um „verstümmelte Körper hinweg, als seien
935 geboren), die „wohltönende Gottes- sie ein Teppich“, seien die Soldaten zur
magd“ und erste deutsche Dichterin, stellt Die Kreuzfahrer schritten Eroberung Jerusalems geschritten, schreibt
in ihren Dramen zwanghaft gern geile über verstümmelte Körper, als der Historiker Robert Payne.
Mönche und Schwule vor, das Auspeit- wären sie ein Teppich. An den Rändern des gewaltigen Kreuz-
schen nackter Mädchen, Notzucht und gar fahrerheeres liefen Lumpen und Entwur-
Leichenschande – natürlich nur als Kon- peitschenden Erweckungs- und Gnaden- zelte mit, der Plebs pauperum, die Arme-
trast zur „löblichen Reinheit heiliger Jung- gefasel an die 100 000 Leute hinter sich, leute Christi, die die übrig gebliebenen
frauen“. Bauern, ungelernte Arbeiter und Raubrit- Brocken auflasen. Payne nennt sie die
Ersatz für entgangene Fleischesfreuden ter. In Köln zog die Meute los. Schon in „Aasgeier der Schlachtfelder“.
lieferten unterdessen die Brauereien. For- Worms brachte sie 500 Juden um. Nur mit Knüppeln, Messern, Äxten und
scher nannten das 14. Jahrhundert das „Sä- Bis nach Anatolien schaffte es dieser Sicheln bewaffnet, kampierte der Pöbel ab-
kulum des Biers“. Schenken und Kneipen Trupp von Desperados, „Kreuzzug der Ar- seits des Hauptheeres. Mit Wunden und
hatten Hochkonjunktur. „Mittelalter“, men“ genannt. Dort rieb ein türkisches Dreck bedeckt, zu arm, um sich Schwerter
meinte schon Nietzsche, „das heißt die Al- Heer die Bande auf. zu leisten, schleppten diese Elenden die
koholvergiftung Europas.“ Belagerungsmaschinen und Wurf-
Wo auch diese Form, sexuelle Begierde geschütze durch die Wüste.
zu betäuben, nicht fruchtete, bot der Papst Und sie verübten offenbar auch
ein anderes Ventil, über das sich die ange- Gräuel. Der Pilger Richard er-
stauten Emotionen austoben konnten – in wähnt, dass man fliehenden Tür-
Form von Gewalt. ken „die Haut abzog“: „Durch
Im Namen des Kreuzes schob der Kon- Sieden und Braten kochten sie das
tinent mit militärischer Kraft seine Gren- Fleisch.“
Dass hinter all diesen von
Schandtaten unterfütterten Heils-
zügen wirtschaftliche Interessen
Europa am Abgrund standen, versteht sich von selbst.
Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter Beim vierten Kreuzzug 1204 stell-
ten der Doge von Venedig und die
Kaufleute aus Genua und Pisa die
Während der Völkerwanderungszeit erreich- Schiffe.
te die Einwohnerzahl auf dem Kontinent Mit Gewalt wollten die Krämer
einen Tiefpunkt. den Zugang zum Schwarzmeer
Der Pest fiel ab 1347 in kürzester Zeit ein 73,5 und den Handelswegen nach Chi-
Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Nach der
na erzwingen.
Epidemie stieg die Einwohnerzahl nur sehr
langsam wieder an. Hauptursache könnte Aber auch der Klerus war zu-
eine Klimaverschlechterung („Kleine frieden. Mit den aus dem Orient
Eiszeit“) gewesen sein, die zu Missernten entwendeten Reliquien ließ sich ein
und Hungersnöten führte. Sakralzauber entfachen. Monstran-
zen, Schreine und Schaugefäße
wurden beim neueingerichteten
GRANGER COLLECTION/ULLSTEIN BILDERDIENST

51,0
unter 50 Fronleichnamsfest durch die Stra-
Schätzungen: J. C. Russell, „Population in
Europe“, N. J. G. Pounds, „An Historical Geo- ßen getragen. Die Raserei um den
graphy of Europe“, P. Ziegler, „Black Death“ Leib Christi und die Kirchenheili-
gen erreichte ihren Höhepunkt.
38,5
Einwohner in Nie war der Papst so mächtig
EUROPA wie zu Beginn der Gotik. 150 Me-
ter hohe Dome reckten sich in den
27,5 Millionen Christenhimmel, Tausende Klöster
26,5
bedeckten das Land. Die Kurie be-
saß Bischofssitze von Palästina bis
Spätmittelalterliche Allegorie des Todes nach Grönland.
18,0
11,5 Nun – endlich – fühlte sich der Stuhl Pe-
in tri stark genug, auch sein letztes großes
DEUTSCHLAND und Skandinavien Programm zur Volkserziehung zu starten:
3,5 4,0 4,0 den breitangelegten Angriff auf den Ge-
2,0 7,5 7,5 schlechtsakt.
Bis dahin hatte das Volk eher locker ge-
500 650 800 1000 1340 1450 lebt. Karl der Große zeugte 18 Kinder mit
180 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
ERICH LESSING / AKG
Werk von Hieronymus Bosch*: Wer am Jüngsten Tag mit einer Todsünde befleckt ist, muss in ewiger Verdammnis schmoren

acht verschiedenen Frauen und dachte sich Ehebrechern kappte man die Nase. „Pö- leon verbot 1809 in Preußen endgültig die
nichts dabei. Germanische Männer konn- nitenzbücher“, Sündenregister nebst Auf- Leibeigenschaft.
ten ihre Frauen bei Unfruchtbarkeit und listung der angemessenen Strafe, gehör- Angesichts dieses Alptraums lehnen vie-
Treulosigkeit verstoßen. Die wiederum ten zu den meistgelesenen Schriften der le Historiker Martin Luther als vermeintli-
durften den Bund lösen, wenn der Gatte Epoche. chen „Befreier vom Mittelalter“ ab. Der
impotent war. Erst in jüngster Zeit haben die Histori- Reformator, der den Begriff „Teufelshure“
Das gefiel dem Papst nicht. Nachdem ker diese Werke entdeckt, die viel über prägte, habe den Hexenwahn in Wahrheit
zunächst nur die Mönche allem Ge- verdrängte Phantasien verraten. Süffig be- noch geschürt. Manch ein Gelehrter lässt
schlechtlichen abgeschworen hatten, brach- richtet etwa Burchard von Worms, dass die dunkle Epoche lieber erst mit der Auf-
te er nun Ordnung auch in die Reihen Analverkehr mit sieben Jahren Buße ge- klärung enden.
der Laienpriester. Im Jahre 1074 verbot ahndet werde. „Weiber, die einen lebendi- Weichgespülte Kemenaten-Schönheiten
er ihnen die „verfluchte Gemeinschaft“. gen Fisch in die Scheide stecken, bis er tot made in Hollywood lächeln über solche
Zölibat. Abgründe hinweg. Artig kreuzen die Hel-
Dann kam das gemeine Volk dran. Im 11. Aus Höllenangst und Askese den aus dem Lande Fantasy die Klingen.
Jahrhundert erklärte der Klerus die Ehe Die moderne Welt braucht keinen Gott
zum Erweis göttlicher Gnade. Dann erhob gelangte die Menschheit nur in mehr, sie hat Gene und Atome, um das
er sie zum Sakrament und setzte ihre „Un- Trippelschritten heraus. Rätsel des Daseins zu erklären.
auflöslichkeit“ durch. Der Partnerpakt war Die Neuzeit hat die politische Vernunft er-
zum Gefängnis geworden, aus dem es kein ist“, und ihn dem Gatten als Liebeszauber funden, dabei aber auch die alten morali-
Entrinnen mehr gab. zum Verzehr reichen, müssen bei ihm schen Sinnbezüge verloren. Das sind die un-
Sodann schränkten die Popen den Ge- „zwei Jahre“ fasten. ruhigen Wellen, auf denen der Spaßdampfer
schlechtsverkehr auch innerhalb der Ehe Zugleich gingen die Städte zur Kaser- Gegenwart in die Zukunft schaukelt.
ein. Während der Menstruation, zur nierung der Lust über. Toulouse gründete Wer aber das Heute verstehen will, muss
Adventszeit, in der Fastenzeit, in der 1286 das erste Puffviertel Europas. Die Hu- in die Vergangenheit blicken und nicht in
Pfingstwoche, an Sonn- und Freitagen, ren in Wismar („sconefrouwen“) mussten Bücher von Dan Brown. Auf 8000 Qua-
an Mittwochen sowie vor und nach der rote Schuhe tragen. dratmetern wird im kommenden Jahr das
Kommunion war die Liebe verboten. Am Auch der sinnenfrohe Hochadel hielt da- Deutsche Historische Museum Berlin alte
Ende herrschte an 140 Tagen im Jahr tote gegen. Zwar verschwand um 1300 die Frie- Stadttore, Urkunden und Kanonen aufbie-
Hose. delehe – Begriff für die rechtlich aner- ten, um Deutschlands düsteres Vorgestern
Jeder Verstoß, drohten die Priester, wer- kannte Nebenfrau. Doch dafür hielt sich lebendig zu machen.
de von Gott bestraft durch die Geburt epi- der erste Stand nun Kurtisanen und ver- Ein Besuch sei empfohlen. Nur das Ver-
leptischer, missgebildeter oder vom Teufel gnügte sich in Badehäusern. senken in die echte Welt der Schlagetots
besessener Kinder. Aus all diesen Verwirrungen, den Wol- und Gralssucher macht klar, wie schwer
Eine ungeheure Rigorosität brach sich ken aus Höllenangst und Askese, gelangte sich das Abendland jenen zentralen Wert
so Bahn. Auf Sodomie stand der Feuertod. die Menschheit nur in Trippelschritten her- erstritt, auf den sich die moderne Spaß-
aus. Nach 1600 loderten die Hexen-Schei- kultur so gern beruft.
* „Das Weltgericht“ (Ausschnitt), um 1505. terhaufen am höchsten. Und erst Napo- Die Freiheit. Matthias Schulz

182 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Technik

Technik der ersten Generation ist unprak-


tisch für den Hausgebrauch: Elektroden an
COMPUTER
Hals und Wangen zeichnen die elektri-

Parlieren auf Inuktikut


schen Signale auf, die entstehen, wenn die
Muskeln des Stimmapparats Laute bilden.
Auf diese Weise kann der Computer mit
Mühe 30 Wörter auseinander halten – und
Eine Karlsruher Forschergruppe entwickelt Computer, die als auch das nur, wenn der stumme Sprecher
sich jedes störende Lächeln verkneift.
Simultandolmetscher für Vorträge und TV-Nachrichten Viel weiter ist die Übersetzungssoftware
dienen. Das Fernziel: ein tragbares Sprachgenie für jedermann. gediehen, die das lautlos Gemalmte dann
in die gewünschte Fremdsprache überträgt.

D
er Mann will etwas sagen, er be- wo immer er aufkreuzt, parliert dann un- Wenn man ihr den Ausgangstext laut vor-
wegt die Lippen, aber kein Laut ist beschwert auf Abchasisch, Hindi oder sagt, bewältigt sie sogar schon Aufgaben,
zu hören. Dafür gurgelt es nun aus Inuktikut über Wetter und Weltpolitik. bei denen Computer sich bislang zuverläs-
einem Lautsprecher: „Ich bedanke mich Solche Dinge werden an einem Institut sig blamierten: In Karlsruhe ist zu sehen,
für Ihr Kommen.“ Wer spricht? Ein Com- namens Interact ausgeheckt; die Univer- wie das Programm eine chinesische Nach-
puter ist es mit Kunststimme. Er errät, wel- sität Karlsruhe betreibt es gemeinsam mit richtensendung im Fernsehen simultan mit
che Wörter der Mann gerade bildet, und er der amerikanischen Carnegie Mellon Uni- englischen Untertiteln versieht – und das
übersetzt sie auch gleich noch aus dem versity in Pittsburgh. Die Forscher haben Resultat ist durchaus verständlich. Auch
Englischen ins Deutsche. sich ein verwegenes Ziel gesetzt: „Wir Parlamentsreden oder Vorträge werden ge-
Das ist nicht nur ein Kunststück in höhe- wollen die Sprachunterschiede zum Ver- dolmetscht. Die Zielsprache Deutsch hört
rer Bauchrednerei. In der Technik steckt schwinden bringen“, sagt Alex Waibel, der sich noch etwas gebrechlich an; besser geht
die Verheißung, dass eines Tages jeder- Leiter des Instituts. es vom Englischen ins Spanische.
mann auf Knopfdruck in fremden Zungen Bis der automatische Bauchredner dafür Noch vor kurzem hätte kaum jemand
sprechen kann. Der Tourist zum Beispiel, taugt, ist allerdings noch viel zu tun. Die einem Computer das Übersetzen freier

Elektronischer Dolmetscher Funktionsweise des Übersetzungs-Computers „...er


preise sich 3
„ ...wenn die Preise glücklich...“ Bei mehrdeutigen Wörtern
weiter steigen...“
wird die Variante gewählt,
„...weitere die in einem Kontext er-
Preise scheint, der dem Ausgangs-
gingen an...“ satz am ähnlichsten ist.
1 2
Der Computer holt sich aus dem Inter- Die gesprochene Rede wird
net Texte, die bereits mehrsprachig erfasst und sofort übersetzt. „...sinkende „. . .falling
vorhanden sind. Er gleicht sie Satz für Für jedes Wort sieht der Com- Preise für prices of
Satz miteinander ab und speichert puter in der Datenbank nach, Kakao...“ cocoa. . .“
das Resultat in einer Datenbank. welche Übersetzung die wahrscheinlichste ist.
VORBEREITUNG SPRACHERKENNUNG ÜBERSE T ZUNG

Rede zugetraut. Selbst bei schriftlichen,


tadellos formulierten Vorlagen gerät er oft
in heiteres Delirieren. Die Sprache ver-
wirrt den Rechner mit immer neuen Viel-
deutigkeiten. Woher sollte er auch wissen,
dass etwa in dem Satz „Sie kehrte ihm den
Rücken“ nicht von Körperreinigung die
Rede ist?
Gut war der künstliche Dolmetsch nur
auf beschränkten Fachgebieten. Die Firma
Microsoft zum Beispiel betreibt im Internet
eine stetig wachsende Wissensbank, in der
Ratschläge für bekannte Software-Proble-
me gespeichert sind. Der Wortschatz ist
überschaubar, die Ausdrucksweise formel-
haft – damit kommen auch Maschinen zu-
recht. Das Übersetzen der rund 200 000
ANTONIO BELLO + WOLFGANG KNAPP

Dokumente in derzeit fünf Sprachen, eine


wahrhaft herkulische Arbeit, wird schon
zu neun Zehnteln vollautomatisch erledigt.
Die Forscher in Karlsruhe und Pittsburgh
aber wollen höher hinaus. „Wir sind die
Ersten“, sagt Waibel, „die das maschinelle
Übersetzen ausdehnen auf nahezu belie-
Sprachforscherin Schultz, Testperson: Sprachunterschiede zum Verschwinden bringen bige Einsatzgebiete.“ Möglich ist das, weil
184 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Technik

ein neues Verfahren die Sache unverhofft tigkeiten mühsam von Hand beibringen. multandolmetscher hat es mit gesproche-
vorangebracht hat: Mehr und mehr For- Das führte zu keinem Ende, und bei jeder ner Sprache in all ihrer Schludrigkeit zu
scher verzichten darauf, dem Computer neuen Sprache begann das Eintrichtern tun. Er muss sich mit stotternden Spre-
etwas über Sprache beizubringen; sie zap- wieder von vorn. chern herumschlagen, mit Füllwörtern,
fen lieber das Internet an. Das Netz weiß Die Statistik dagegen braucht sich um abgebrochenen Sätzen und endlosen
gewissermaßen am besten, wie man treff- Regeln und Weltwissen nicht zu kümmern. Wiederholungen: „Wir wollten uns doch,
sicher übersetzt; es ist schließlich voll von Hier zählt vor allem die Rechenleistung hören Sie mal, hatten wir nicht, äh, zehn
Texten, die bereits in mehreren Sprachen und die Masse des vorübersetzten Materi- vereinbart?“ Dazu womöglich Husten und
zugleich vorliegen. als. Je mehr der Computer sich einverleibt, Türenschlagen im Hintergrund.
Abertausende Dokumente der EU und desto trefflicher werden, jedenfalls theo- Das ist nicht eben die gepflegte Diktion,
der Vereinten Nationen lagern auf frei zu- retisch, seine Sätze. mit der die Computer heute schon er-
gänglichen Rechnern; es gibt mehrsprachi- Noch hat die Karlsruher Software – we- staunlich gut zurechtkommen. Bei vielen
ge Meldungen von Nachrichtenagenturen gen der vielen EU-Dokumente – eine ge- Ärzten und Anwälten sind Diktiersysteme
und nicht zuletzt internationale Klassiker wisse Vorliebe für bürokratische Wendun- mit automatischer Spracherkennung im
wie etwa die Bibel. Mit anderen Worten: gen. Wörter wie „Subventionen“ oder gar Einsatz. Das Programm Dragon Naturally
Fast jeder Satz ist – so oder ähnlich – schon „Verkehrswegebeschleunigungsgesetz“ sind Speaking vom Marktführer Nuance zum
Beispiel verspricht, bis zu 99 von 100 Wör-
tern fehlerfrei zu erkennen. Das gilt aber
nur in ruhiger Umgebung; auch sollte der
Sprecher stets gleichen Abstand zum Mi-
krofon halten.
In der akustischen Wildnis eines Parla-
ments dagegen muss der Computer sehen,
wie er zurechtkommt. Dort ist das Er-
kennen, geschweige denn das Übersetzen
„entsetzlich schwer“, gesteht Waibel. Die
Software muss erst lernen, Unwichtiges
auszufiltern und Satzbrüche zu erkennen.
Übersetzt wird dann möglichst nur der
Kern der bezweckten Aussage.
Auf anderen Feldern geht es schneller
voran. In Erprobung sind bereits tragbare
Geräte für Mediziner in Notstandsgebie-
ten, die den beschränkten Wortschatz des
Leidens und Verarztens („Wo tut es weh?“
– „Wir müssen das röntgen“) beherrschen.
Die Forscher in Karlsruhe und Pittsburgh
haben aber auch allerhand Apparate im
MARTIN EGBERT

Sortiment, die eher für Geheimagenten


gedacht scheinen. Darunter ist eine Spe-
zialbrille, in die die Übersetzung als Lauf-
Simultandolmetscher im Europäischen Parlament: Akustische Wildnis schrift eingeblendet wird. Ein anderes
Gerät kann Stimmen mitten im Raum wie
einmal übersetzt worden. Der Computer in ihrem Lexikon eindeutig überrepräsen- aus dem Nichts erzeugen. Es handelt sich
muss sich den Erfahrungsschatz nur noch tiert. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. um eine Platte, bestückt mit Dutzenden
aneignen. „Wir haben die steigende Rechenkraft winziger Lautsprecher, die Ultraschall aus-
Sprachverstand ist dafür nicht nötig (sie- und wachsenden Datenmassen im Web auf senden.
he Grafik Seite 184). Der Computer ver- unserer Seite“, sagt Institutsleiter Waibel. Die Wellen sind so gegeneinander ver-
gleicht einfach ein Textpaar nach dem an- „Ich glaube, in zehn Jahren werden es alle setzt, dass sie erst an einer vorausberech-
deren, Satz für Satz. Am Ende weiß er, so machen.“ neten Stelle spukhaft hörbar werden. So
wie oft das englische „bank“ mit „Bank“ Der Informatiker Franz Josef Och zum ließe sich beispielsweise eine Übersetzung
übersetzt wurde und wie oft mit „Ufer“; er Beispiel, ein Pionier der statistischen Über- punktgenau auf den Hörer richten, ohne
hat sich aber auch gemerkt, um wie viel die setzung, arbeitet inzwischen bei der Such- dass der Nachbar etwas mitbekommt – eine
Chancen für „Ufer“ steigen, wenn im Um- maschinenfirma Google. Vor zwei Jahren technische Meisterleistung, die nebenher
feld von Gewässern die Rede war; und er war Och, gebürtiger Franke, bei einem die Frage aufwirft, ob es wirklich so
weiß, dass dem „Ufer“ oft ein „das“ vor- Wettbewerb des US-Militärs aufgefallen. schlimm ist, einen Kopfhörer zu tragen.
ausgeht, fast nie ein „der“. Seine Software bewältigte schon nach kur- Auch eine erste Anwendung für den
So entsteht mit der Zeit aus dem sprach- zem Training Texte aus der Hindu-Sprache elektronischen Bauchredner ist angepeilt.
blinden Wörterzählen etwas, das aussieht besser als alle Konkurrenten. Bei Google Eines Tages, meint Forscherin Schultz, wer-
wie ein Wissen um Zusammenhang und tut sich dem Statistiker nun ein Himmel- de man sich die Sensoren ja vielleicht im-
angemessene Rede. Der Computer hat reich von Daten auf: 16 Milliarden engli- plantieren lassen, statt sie umständlich auf-
quasi eine neue Sprache gelernt. sche Wörter in den Speichern der Such- zukleben. Wer das wagt, verfügt nicht nur
„Der Witz daran ist, dass alles automa- maschine stehen ihm zur Verfügung. Och über eingebaute Vielsprachigkeit. Er ist
tisch ablaufen kann, ohne viel menschli- kann seine Software damit in unzähligen auch imstande, überall ungeniert zu tele-
ches Zutun“, sagt Tanja Schultz, eine Mit- Wendungen und Feinheiten des Gebrauchs fonieren. Meldet sich zum Beispiel im
arbeiterin von Waibel in Pittsburgh. Kein trainieren. Das Ziel ist eine möglichst ge- Theater plötzlich das Handy, kann der sen-
Vergleich mit den bisher üblichen Verfah- schmeidige Übersetzung ins Englische. sorbestückte Mensch das Gespräch einfach
ren. Linguisten mussten dem Rechner mög- Darauf darf Waibel in Karlsruhe noch annehmen, und niemand ringsum hört
lichst viele Regeln, Ausnahmen, Mehrdeu- nicht so bald hoffen. Sein künstlicher Si- einen Laut. Manfred Dworschak

186 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Hallig Hooge bei Sturmflut (2003)
Gefahr durch stärkeren Wellenschlag

die Deiche im Durchschnitt um zwei bis


drei Meter erhöht. Vor Husum steht die
Krone des Schutzwalls auf knapp acht Me-
tern über dem mittleren Meeresspiegel, fast

HANS W. SILVESTER / AGENTUR FOCUS


zweieinhalb Meter höher als der höchste
dort je gemessene Wasserstand. Ähnlich
hoch liegt das Deichniveau in Hamburg,
Niedersachsen und den Niederlanden.
Mehr als die absolute Höhe der prog-
nostizierten Fluten beunruhigt die Küs-
tenschützer die Ankündigung des sturm-
bedingten Pegelanstiegs. Der wird nicht
unbedingt höhere, wohl aber robustere
Elbe, Weser und Nordseeküste. Und die Deiche erforderlich machen.
KÜSTENSCHUTZ
Flutpegel werden weiter steigen. Das je- Mit dem Ansteigen des mittleren Mee-

Festung aus denfalls prognostiziert das Institut für


Küstenforschung des GKSS Forschungs-
zentrums in Geesthacht bei Hamburg. In
resspiegels wuchs das Watt bisher eben-
falls in die Höhe und wirkte als Wellen-
bremse. Bei windbedingten Anstiegen

Matsch ihrer am heutigen Montag erscheinenden


Studie über künftige Sturmflutrisiken im
Nordseeraum kommen die Wissenschaftler
zu dem Schluss: Noch ist alles sicher, aber
bleibt dieser Effekt aus. „Wir müssen des-
halb mit stärkerem Wellenschlag gegen die
Deiche rechnen“, sagt Hanz Niemeyer,
Leiter der niedersächsischen Forschungs-
Die Klimaveränderung erfordert
nicht mehr allzu lange. stelle Küste auf Norderney. Panzerungen
die Panzerung der Deiche. Experten „Bis 2030“, erklärt Institutsleiter Hans der meerseitigen Deichflanken mit Asphalt,
rechnen bis zum Jahr 2100 an von Storch, „wird der derzeitige und jetzt Beton oder Steinen, wie in den Niederlan-
der Nordsee mit einem Anstieg der geplante Küstenschutz ausreichend sein.“ den bereits aus Kleimangel weit verbreitet,
Flutpegel um 80 Zentimeter. Zum Ende des Jahrhunderts jedoch wür- könnten deshalb auch an der deutschen
den „neue Anpassungsmaßnahmen“ nötig. Küste nötig werden.

H
och zu Ross an der Waterkant sah Ursache seien die Treibhausgase, die der Schwerer dürfte es sein, die nordfriesi-
der Held „nur Berge von Wasser“ Mensch durch die Verbrennung von Öl, schen Inseln und Halligen gegen die höhe-
vor sich, „die dräuend gegen den Gas und Kohle in die Atmosphäre entlässt. ren Sturmflutpegel zu verteidigen. Schon
nächtlichen Himmel stiegen“. Dann bricht Für die Zeit von 2070 bis 2100 rechnen die heute müssen sie mit ständigen Sandauf-
der Deich, und die Sache endet schlimm. GKSS-Experten mit Sturmflutpegeln, die schüttungen gegen das nagende Meer ge-
Deichgraf, Pferd und Familie ertrinken im um bis zu 80 Zentimeter höher liegen kön- schützt werden. Denn erdgeschichtlich sind
überfluteten Koog. Zurück bleibt das Ge- nen als heute. Sylt und Co. auf dem absteigenden Ast.
spenst vom „Schimmelreiter“ Hauke Hai- Der Klimaeffekt äußere sich in zwei Einst vom Festland isoliert, setzt ihnen be-
en, das nächtens an der Küste spukt. Phänomenen: Zunächst werde die globale ständig die Erosion zu.
In seiner nordfriesischen Schicksals- Erwärmung zu einem weiteren Anstieg des Umgekehrt verhält es sich mit den Ei-
novelle datiert Theodor Storm das mari- mittleren Meeresspiegels um 30 bis 40 Zen- landen vor der ostfriesischen Küste. Sie
time Malheur auf das Jahr 1756. Seither timeter führen. Diese Einschätzung deckt sind Geschenke des Meeres, entstanden
wurde die Nordsee nicht weniger bedroh- sich mit Prognosen anderer Experten, etwa aus angespültem Sand.
lich. Ihr mittlerer Pegel stieg im vergange- der Max-Planck-Gesellschaft. Dieser Nachschub hält bis heute an und
nen Jahrhundert um 30 Zentimeter. Obendrauf sattelt sich jedoch ein wei- kompensiert derzeit die natürliche Erosion.
Die Schutzwälle allerdings wuchsen terer Effekt: Der Klimawandel werde zu Die Dünen ragen höher empor als die Dei-
noch rascher. Ihre Kronen ragen heute gut stärkeren Stürmen über der Nordsee che auf dem Festland.
vier Meter höher empor als zur Zeit des führen, die die Wassermassen gegen die Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten
sagenhaften Reitersmanns (siehe Grafik). Küste treiben. So komme eine „Erhöhung Küstenschützer versucht, den Strand der
Eine Festung aus Klei, dem aus Sediment der Sturmwasserstände“ (Storch) um bis Insel Juist mit Schutzwänden gegen die
gebildeten matschigen Marschboden, steht zu 40 Zentimeter hinzu. Brandung abzuschirmen. Bald jedoch er-
für die überlieferte Gewissheit: „Deus Akute Katastrophengefahr würde ein kannten sie die Sinnlosigkeit ihres Projekts:
mare, Friso litora fecit“ – „Gott schuf das solches Szenario nicht bedeuten. Nord- Die Baustelle war ihrerseits kaum gegen
Meer, der Friese die Küste“. deutschlands Küstenschutz verfügt inzwi- den nachrückenden Sand zu schützen. Das
Jährlich dreistellige Millionenbeträge schen über enorme Sicherheitsreserven. unvollendete Deckwerk ruht längst unter
kosten Pflege und Ausbau der Deiche an Seit der Flutkatastrophe von 1962 wurden einer Düne. Christian Wüst

Wachsende Wälle Meter


Deichhöhen an der Nordsee 9
seit 1970
seit 1860 7

nach 1720 5
nach 1362 3
1000 – 1250 1

188 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft

Bären-Wiederansiedlung im italienischen Naturpark Adamello Brenta: Was, wenn der erste Wanderer dem Petz zum Opfer fällt?

TIERE

„Lumpaz“ auf Wanderschaft


Der Braunbär kehrt zurück in die mitteleuropäischen Gebirge. Wiederansiedlungsprojekte in Italien,
Österreich und Frankreich ebnen ihm den Weg. Biologen feiern die Rückkehr
als Erfolg des Artenschutzes. Die Bevölkerung begrüßt das Raubtier mit gemischten Gefühlen.

U
nruhe ergriff zunächst Colliehün- Schweiz. Als erster Bär seit 100 Jahren be-
1000
din „Ulysse“. Dann erblickte auch trat der Wanderer Ende Juli im Münster- 900 36 000
Christine Kröll das massige Tier. tal Schweizer Boden. Dutzende von
Keine 30 Meter entfernt habe der Bär Schaulustigen fanden sich zum „Bär-Wat-
auf dem Waldweg gestanden, erinnert sich ching“ ein. Leichtsinnig näherten sich
die Metzgersfrau aus Nauders in Tirol. Ge- die Touristen dem Großraubtier bis auf Ausschnitt
gen 19.30 Uhr spazierte Kröll mit ihrer wenige Meter. „Jaaa. Wir sind wieder Kantabrien 7800
Hündin im Wald, als das Raubtier plötzlich 10
auftauchte. Eine Viertelstunde lang ver- 100
folgte der Bär die 53-Jährige. Dann war sie
Braunbären in Zentraleuropa Pyrenäen 50 2300 700
endlich beim rettenden Fahrzeug. „Ich hat- Kerngebiet vereinzelte Sichtungen Abruzzen
te Angst – panische Angst“, sagt Kröll:
„Zwischen mir und dem Bären war nur Nördliche Kalkalpen
DEUTSCHLAND
noch die Glasscheibe meines Autos.“ 10
Kröll hat den „Mutz“ gesehen, wie der Zürich
Braunbär im Alpenraum heißt. In Nau- ÖSTERREICH
ders am Reschenpass versetzte ein Exem- SCHWEIZ Nauders 50 km
plar Ende August die Österreicherin und
Münstertal 5 Kärnten
mit ihr die ganze Ortschaft in Aufruhr. Bozen
Und Nauders ist nur eine Etappe des zot-
tigen Unruhestifters: Seit mittlerweile drei 20 SLOWENIEN
Monaten zieht der inzwischen auf den Na- Adamello- Trento
men „Lumpaz“ getaufte Jungbär unter re- Brenta-Park 400
ger Anteilnahme der Bevölkerung durch ITALIEN KROATIEN
das Dreiländereck Österreich-Italien-
190 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft

Mit Ködern angelockt, tappten die zehn


Tiere im bärenreichen Slowenien in die
Falle und wurden per Lkw in den Ada-
mello-Brenta-Park verfrachtet. Im Bären-
museum im nahen Spormaggiore ist ihre
Ankunft auf Videos dokumentiert. Wie
trunkene Leichtmatrosen auf Landgang
taumeln die Braunbären aus der Trans-
portkiste in die neue Heimat. Kurz nehmen
sie Witterung auf. Dann schlagen sie sich in
die Büsche. „Die Wiederansiedlung ist ein
großer Erfolg“, sagt Groff. „Mittlerweile

J. MALLWITZ / WILDLIFE
sind mindestens zwölf Jungtiere geboren.“
Was für ein Gefühl, im Bärenland zu
wandern! Fünf Stunden dauert der Gang
vom Grosté-Pass hinab zum schimmern-
den Lago di Tovel. Und je dichter der Wald
Europäischer Braunbär: „Schneller und stärker als wir“ wird beim Abstieg, desto höher schlägt der
Puls. Er könnte ja jeden Moment aus dem
Bär“, titelte die Züricher Boulevard-Zei- dere dagegen sind sie bösartige, blut- Unterholz brechen, der Bär. Was dann?
tung „Blick“ – nur um kurz darauf zu fra- rünstige Raubtiere.“ Baths zentrale Frage: „Nicht weglaufen“, wie es die Experten
gen: „Wie gefährlich ist der Mutz?“ „Wie viel Wildnis sind die Leute bereit zu raten? Bei Angriff „mit dem Bauch auf den
Braunbär Lumpaz steht für das Dilemma akzeptieren?“ Boden legen“ und „tot stellen“?
des größten Raubtiers Zentraleuropas. Eu- Tatsächlich macht schon das bloße „Ich glaube, die Angst ist ganz normal“,
phorie und Schrecken gleichermaßen löst Wissen um die Präsenz des mächtigen sagt Groff, „der Bär ist größer, schneller
der bis zu 300 Kilogramm schwere Soh- Tieres eine Bergwanderung zur ganz neu- und stärker als wir.“ Und doch passe der
lengänger aus, sobald er sich in Gebieten en Naturerfahrung. Kaum 50 Kilometer Mensch nicht ins Beuteschema des Raub-
blicken lässt, die der Mensch ihm längst nördlich des Gardasees liegt der italieni- tiers: „In den letzten 100 Jahren ist in Ita-
abgerungen hatte. sche Naturpark Adamello Brenta. Vom lien, Spanien und Österreich kein einziger
Etwa 14 000 Bären leben außerhalb von Dolomiten-Örtchen Madonna di Campi- Todesfall bekannt geworden.“ Ohnehin
Russland noch in Europa, die meisten von glio aus geht es mit der Seilbahn hinauf ernähre sich das Tier zu 75 Prozent vege-
ihnen in Rumänien und auf dem Balkan. zum Grosté-Pass auf 2450 Meter, dann zu tarisch. Doch kann das allein beruhigen?
Doch der Trend ist unverkennbar: Der Fuß hinab in das Tovel-Tal. Ringsumher Altes Bärenland ist das „Trentino Alto
Braunbär kehrt zurück nach Mitteleuropa. ragen die schartigen Wände des Brenta- Adige“. Gleich 49-mal taucht der „Orso
Wiederansiedlungsprojekte in Österreich, Massivs in den Himmel. „Dort unten bruno“, der Braunbär, in Ortsnamen auf.
Italien und Frankreich ebnen ihm den Weg. haben wir die Tiere ausgesetzt“, sagt Clau- Doch einst war die Namengebung Aus-
Ausgerechnet in einigen Hochburgen des dio Groff und zeigt hinunter ins Tal. „Und druck erbitterter Feindschaft. Historisch
Bergtourismus, in den Nördlichen Kalk- jetzt laufen sie des Nachts hier über diesen verbriefte Abschussprämien und die ver-
alpen Österreichs, den Dolomiten und den Pass.“ gilbten Fotos gefeierter Jagdmannschaften,
Pyrenäen, drückt „Ursus arctos arctos“, der Groff ist Bärenexperte der Provinzregie- zu Füßen der tote Petz, künden vom stol-
Europäische Braunbär, wieder seine Fährte rung von Trento. Seit 1999 schon führt der zen Sieg der Südtiroler über das kraft-
in den Waldboden (siehe Grafik Seite 190). hochgewachsene Italiener ein Biologen- strotzende Tier. Und die pelzigen Rück-
Als Erfolgsgeschichte feiern Biologen die Team an, das nur ein Ziel kennt: die Wie- kehrer unternehmen alles, um den alten
Rückkehr des Raubtiers. Gleichzeitig je- deransiedlung des Braunbären in den ita- Groll neu zu schüren.
doch bricht sich der uralte Konflikt zwi- lienischen Alpen. Noch 1950 lebten im Über 250 Vorfälle zählte die Provinz-
schen Mensch und Biest neue Bahn. Was, Trentino um die 70 Petze. Ende der neun- regierung von Trento seit 1999, bei denen
wenn der erste Wanderer dem Petz zum ziger Jahre waren es nur noch drei bejahr- die Bären Vieh angegriffen, Bienenstöcke
Opfer fällt? Wie werden Hirten, Imker und te Männchen. „Damit war auf Nachwuchs geplündert oder Menschen verschreckt ha-
Jäger den Bären begrüßen? Warum sollte nicht mehr zu hoffen“, sagt Groff. Die For- ben. „In diesem Jahr hatten wir besonde-
die Bevölkerung einem Raubtier Platz ein- scher entschlossen sich zur Neuansiedlung. re Probleme, weil einige der Bären in die
räumen, das noch vor hundert Jahren mit 1999 kamen „Masun“ und „Kirka“, ein Ortschaften hineingingen“, sagt Groff. Vor
Tellereisen zu Tode gequält wurde? Jahr später „Daniza“, „Jose“ und „Irma“, allem Weibchen „Jurka“ macht den For-
Auf der 16. Internationalen Bärenkonfe- schließlich „Gasper“, „Brenta“, „Maya“, schern Sorgen. Die Bärin hat Gefallen an
renz am italienischen Gardasee trafen sich „Jurka“ und „Vida“. Hühnern und schmackhaftem Müll gefun-
kürzlich Bärenexperten aus aller den – beides vor allem in Orts-
Welt, um derlei Fragen zu erörtern. nähe zu erbeuten: „Viele Leute
Standesgemäß in Multifunktionsho- wollen, dass wir dieses Tier ab-
sen und Outdoor-Hemden gewan- schieben.“ Doch Jurka ist eine
det, diskutierten die Delegierten bei der wenigen Bärinnen, die regel-
Bardolino und Pizza Romana The- mäßig Junge werfen. Erst in die-
men wie den unter Bärenmännchen sem Jahr ist sie mit zwei tapsigen
verbreiteten Infantizid oder den Ein- Bärchen gesichtet worden.
satz von Stacheldraht zur Haarpro- Um den Konflikt nicht eskalie-
bennahme. Im Mittelpunkt des In- ren zu lassen, steht eigens eine
teresses jedoch: die „menschliche 21-köpfige Bären-Einsatztrup-
Dimension“. „Manche Leute halten pe bereit. Aufdringlichen Pet-
Bären für sexy und charismatisch“, zen brennen die Mitarbeiter des
WWF

sagt Alistair Bath von der Large Car- Corpo Forestal Gummigeschosse
nivore Initiative of Europe, „für an- Bärenanwalt Rauer: Gummigeschosse zum Vergrämen auf den Pelz, um sie zu „vergrä-
192 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft

men“. Mobile Elektrozäune finanziert die tige Biologe ist „Bärenanwalt“, eine Art rungsprogramm. Erst im November letzten
Provinzregierung, um die Schafherden auf Schlichter zwischen Tier und Mensch. Jahres erregte der Tod von Pyrenäenbärin
den Hochweiden nachts zu schützen. Fi- Macht der Mutz Ärger, ist Rauer zur „Cannelle“ (Zimt) das Gemüt der Franzo-
nanzausgleich für Hirten oder Imker gibt es Stelle und schätzt die Schäden ab: „Bei sen. Nebst Nachwuchs lief das Tier beim
ohnehin. Fast 160 000 Euro haben die Ita- uns haben es die Tiere vor allem auf Rapsöl Örtchen Urdos einem Jäger vor die Flinte.
liener seit 1999 an Entschädigungen gezahlt. abgesehen, das in Kettensägen oder in In Sorge um ihr Junges griff Cannelle den
„Bären wieder anzusiedeln ist sehr teu- großen Maschinen benutzt wird.“ So hat Jagdhund an. Der Waidmann drückte ab.
er und macht jahrzehntelang Ärger“, sagt Rauer einst eine Straßenwalze begutachtet, Hunderte von Bärenfreunden protestierten
Piero Genovesi vom italienischen Istituto die ein Bär in ihre Einzelteile zerlegt hat- anschließend nicht nur in den Pyrenäen,
Nazionale per la Fauna Selvatica. Erst ab te, um an das Öl im Hydrauliksystem zu sondern auch am Pariser Panthéon. Selbst
etwa 50 Tieren lasse sich von einer stabilen kommen – der teuerste Schaden, der ihm Präsident Jacques Chirac beklagte „einen
Population sprechen. Bis zu 80 Jahre lang, je untergekommen sei, wie der Biologe großen Verlust für die biologische Vielfalt“.
fürchtet Genovesi, müssten die Trentino- versichert. „Man kann eine Menge toller Forschung
machen und am Ende trotzdem vor einem
Haufen toter Bären stehen“, stellt Forscher
Bath nüchtern fest. Dennoch steht für ihn
fest, dass dem Braunbären ein fester Platz
im mitteleuropäischen Gebirge gebührt.
Umfragen belegten eine stabile Dreiviertel-
mehrheit für die Rückkehr des Tieres: „Ge-
rade die Menschen vor Ort erfüllt es oft mit
Stolz, dass in ihrer Region noch Exempla-
re dieses großen Fleischfressers leben.“
Im Fall des Unruhestifters vom Re-
schenpass können die Biologen nur hof-
fen, dass die Alpenländler die Eskapaden
des Tieres weiterhin mit Langmut ertra-
gen. Jungbär Lumpaz, inzwischen als Ab-
kömmling von Dolomiten-Weibchen Jurka
identifiziert, macht genau das, was sich die
Forscher wünschen: Er geht auf Wander-
schaft und bringt die Biologen damit ihrem
Ziel näher, den Braunbären wieder im ge-
DANIEL VELEZ / AFP samten Alpenraum heimisch zu machen.
Gleichzeitig jedoch macht die jugendli-
che Neugier das Tier auch zum „Problem-
bären“, wie es Rauer nennt. Zwar lassen
Pro-Bären-Demonstration*: Stabile Dreiviertelmehrheit für die Rückkehr des Tieres sich im schweizerischen Münstertal die ers-
ten Urlauber „Bärenpizza“ und „Bären-
Bären daher noch intensiv betreut werden. Unter 7000 Euro Schäden verursache bier“ schmecken. Die Tourismus-Branche
Und der Erfolg sei dennoch nicht garan- der Bär jährlich in Österreich, sagt Rauer. feierte Lumpaz als „Gratiswerbung“. Die
tiert. Denn jederzeit kann das filigrane Von direkten Konflikten mit Menschen Verantwortlichen jedoch sorgen sich längst
Gleichgewicht zwischen Bär und Mensch weiß er überhaupt nicht zu berichten. Und um die Sicherheit der Besucher.
wieder kippen. Beispiel Österreich: Seit 15 doch spricht ein merkwürdiger Schwund Den genauen Aufenthaltsort des Tieres
Jahren schon versuchen Biologen dort, den unter den Ösi-Bären dafür, dass sich die etwa halten die Experten inzwischen lieber
Braunbären zurückzuholen. Von einer Stimmung inzwischen wieder gegen den geheim, um Bärentouristen nicht auch
„stabilen Situation“ jedoch sei man noch drolligen Heimlichtuer wendet. noch auf die Spur zu bringen. Zu zutrau-
„meilenweit“ entfernt, berichtet Georg „Seit 1991 wurden bei uns 27 Tiere ge- lich erscheint ihnen Jungbär Lumpaz, der
Rauer vom österreichischen World Wide boren“, sagt Rauer. Aktuelle genetische nicht nur Metzgersfrau Kröll den Schreck
Fund for Nature (WWF). Analysen von Haarproben jedoch zeigten, in die Glieder jagte. Ebenfalls bei Nauders
Rauer war dabei, als vor 16 Jahren mit dass derzeit nur noch maximal zehn Tiere näherte sich das Tier einer Touristin auf
Import-Bärin „Mira“ durchaus hoffnungs- in Niederösterreich und fünf bis sechs Tie- nur fünf Meter. Bei Ramosch erlitt ein Jä-
voll die österreichische Bären-Saga begann. re in Kärnten lebten. Für den WWF-Mann ger einen „halben Schock“, als der Petz
Zwei Jahre später gebar das Weibchen drei spricht die Sachlage für sich: „Es ist wahr- plötzlich vor ihm stand.
Junge, gezeugt vom legendären Ötscher- scheinlich, dass die übrigen Bären illegal „Der Bär ist ein großes, wehrhaftes Tier
bären, der schon im Sommer 1972 auf ei- abgeschossen worden sind.“ – wenn er sich bedroht fühlt, kann das auch
gene Faust aus Slowenien eingewandert So scheitert der Traum der Biologen von schlimm ausgehen“, warnt Rauer. Lumpaz
war. Zwei weitere Bären wurden bald nach der friedlichen Koexistenz Raubtier- sei bislang zwar nicht aggressiv gewesen. Er
Österreich umgesiedelt, offenbar mit Er- Mensch immer wieder an der Urangst vor halte sich jedoch zu oft in Dorfnähe auf.
folg: Über 25 bis 30 Tiere konnten sich die der Bestie und am faden Stolz neuzeitlicher „Seine Zutraulichkeit sollte man ihm ganz
Österreicher noch vor fünf Jahren freuen. Bärentöter. Viel Raum hat der Braunbär schnell wieder abgewöhnen.“
Doch inzwischen ist Ernüchterung nicht mehr in Westeuropa. Von den letzten In diesem Jahr allerdings wird es wohl
eingekehrt. „Wir haben seit zwei Jahren 100 kantabrischen Bären berichteten am nichts mehr werden mit der Erziehung des
keine Hinweise auf neue Jungtiere mehr“, Gardasee die Spanier Carlos Nores und Gernegroß. Lumpaz ist zurück nach Süd-
berichtet Rauer, der sich seit 1995 haupt- Juan Herrero. Kaum 50 Braunbären strei- tirol gewandert. Bald wird er sich dort in ei-
amtlich den Bären widmet. Der bär- fen im bärentypischen Passgang durch die ner Höhle zusammenrollen. Dann kehrt
italienischen Abruzzen. vorerst Ruhe ein für den Bären und seine
* Im Pyrenäen-Ort Oloron Sainte Marie am 28. Novem- Und auch die Population in den Py- Anwälte: Bis kommenden März hält Lum-
ber 2004. renäen kränkelt trotz Wiedereinbürge- paz Winterschlaf. Philip Bethge

194 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Chronik 22. bis 28. Oktober

S A M S TA G , 2 2 . 1 0 . Cheney in die Enttarnung der CIA-


Agentin Valerie Plame verwickelt.
VOGELGRIPPE Die Seuche dringt in Europa
weiter vor. Zur Abwehr der Vogelgrippe MITTWOCH, 26. 10.
muss ab sofort sämtliches Federvieh in
Deutschland in den Stall. BUNDESWEHR 1500 Menschen demonstrie-
ren in Berlin gegen den Großen Zapfen-
UNGLÜCK Beim Absturz einer Boeing 737 streich zum 50. Geburtstag der Bundes-
in Nigeria, 35 Kilometer außerhalb von wehr vor dem Reichstag.
Lagos, kommen 117 Menschen ums Leben.
EKLAT Irans Präsident Mahmud Ahmadi-
S O N N TA G , 2 3 . 1 0 .
nedschad verlangt auf einer Tagung in
POLEN Der nationalkonservative Lech Teheran die Zerstörung Israels.
Kaczynski ist Sieger der polnischen Prä- TERROR Ein palästinensisches Selbstmord-
sidentschaftswahl. Der Warschauer Bür- attentat in der israelischen Küstenstadt
germeister erhielt 54 Prozent der Stim- Hadera fordert 5 Tote und 26 Verletzte.
men und damit 9 Prozentpunkte mehr als
sein Gegenkandidat Donald Tusk. D O N N E R S T A G , 2 7. 1 0 .
ÖSTERREICH Die österreichischen Sozial-
KORRUPTION Nach einem Uno-Bericht hat
demokraten bauen bei der Landtagswahl das Regime des früheren irakischen
in Wien mit 49,1 Prozent ihre absolute Diktators Saddam Hussein im Rahmen
Mehrheit der Mandate aus. des Programms „Öl für Lebensmittel“
M O N TA G , 2 4 . 1 0 . 1,8 Milliarden Dollar an Schmiergeld
kassiert, darunter möglicherweise auch
BERLIN In der zweiten Runde der Koali- von Siemens und DaimlerChrysler.
tionsverhandlungen erörtern Union und
SPD die Finanzlage des Bundes. 2007 sol- EU-GIPFEL Bundeskanzler Gerhard
len 35 Milliarden Euro gespart werden. Schröder lehnt auf seinem letzten
EU-Gipfel im britischen Hampton Court
US-NOTENBANK US-Präsident George W. einen geplanten Milliardenfonds gegen
Bush nominiert seinen Wirtschaftsberater „Schocks der Globalisierung“ ab.
Ben Bernanke zum Nachfolger
von Notenbankchef Alan Greenspan F R E I TA G , 2 8 . 1 0 .
D I E N S TA G , 2 5 . 1 0 . USA II Der Stabschef von Vizepräsident
IRAK Knapp 79 Prozent der Iraker haben
Dick Cheney, Lewis Libby, tritt nach An-
einer neuen Verfassung zugestimmt. klage wegen Meineids und Falschaussage
Nur in zwei sunnitischen der insgesamt zurück. Libby ist in die Affäre um die
18 Provinzen wurde die Verfassung mit CIA-Agentin Valerie Plame verwickelt.
Zweidrittelmehrheit abgelehnt. NAHOST Palästinenser und Israelis weiten
MEDIEN Ein Konsortium um den Investor ihre Raketenangriffe gegeneinander aus.
David Montgomery übernimmt den Ber-
ATOMSTREIT Chinas Präsident Hu besucht
liner Verlag von der Holtzbrinck-Gruppe.
Nordkorea, um seinen Einfluss beim
USA I Nach einem Bericht der „New geforderten Stopp des Atomprogramms
York Times“ ist US-Vizepräsident Dick geltend zu machen.

Die brasilianische Region


entlang des Amazonas ist
von einer schlimmen Dürre
betroffen. Schiffe laufen
auf Grund, Millionen Fische
sterben, der Regenwald
wird geschädigt.
REUTERS

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 199
Register
gestorben die „Poubelles“: Plexiglasbehälter, in de-
nen er Hausmüll für die Ewigkeit versie-
Rosa Parks, 92. Am 1. Dezember 1955 rief gelte. Große Museen sollten sich schließlich
in Montgomery, Alabama, ein Busfahrer die um seine Anschau-
Polizei, weil eine schwarze Frau sich weiger- ungsobjekte aus dem

MICHELINE PELLETIER / CORBIS SYGMA


te, ihren Sitzplatz zu räumen, damit ein Alltag reißen. Arman
Weißer es sich bequem machen konnte. So schaffte es immer wie-
entsprach es den Regeln im Nachkriegsame- der, Aufmerksamkeit
rika, ob im Bus, in Schulen, Kinos oder Re- zu erregen. Etwa 1963,
staurants: Schwarze hatten Weißen den Vor- als er in einem Stein-
tritt zu lassen. Die Näherin, die sich für die bruch nahe Düsseldorf
Rechte der Schwarzen engagierte, hatte da- den schicken Sportwa-
von die Nase voll. Sie gen des Werbefotogra-
blieb sitzen, und die fen Charles Wilp, ein
unterdrückten Afro- Klavier, einen Kühlschrank und einen
Amerikaner standen Fernseher in die Luft sprengte. Seinen
auf: Parks’ Verhaftung spektakulären Dekonstruktivismus nannte
löste einen 381 Tage er gern „Colères“, Wutausbrüche, und das

WILLIAM PHILPOTT / REUTERS


währenden Busboy- passte gut in die zornige Zeit der Sechziger
kott aus, Martin Lu- und Siebziger. Er selbst firmierte als „Neu-
ther King stellte sich er Realist“. Dreimal nahm er an der Do-
an die Spitze der Be- cumenta teil. Seit 1974 lebte er in Amerika,
wegung, die die USA wo es ja insgesamt ein wenig megalomaner
verändern sollte, und zugeht; der Künstler häufte auch schon mal
ein gutes Jahr nach 60 Autos zu einem Turm an, stabilisiert mit
Parks’ mutiger Geste verbot der Oberste Ge- Beton. Arman starb am 22. Oktober in
richtshof die Rassendiskriminierung in öf- New York an Krebs.
fentlichen Verkehrsmitteln. Parks verlor ihre
Arbeit, bekam Morddrohungen, ihr Mann Rong Yiren, 89. Er galt als der erste „Rote
erlitt einen Nervenzusammenbruch, und das Kapitalist“ Chinas und ebnete dem Land
Paar zog ins liberalere Detroit, wo die from- den Weg in den Kapitalismus. Der Spross ei-
me, zierliche Frau eine Anstellung im Büro ner steinreichen ostchinesischen Industriel-
eines demokratischen Abgeordneten fand. lenfamilie war nach der kommunistischen
Die „Mutter der Bürgerrechtsbewegung“ er- Machtübernahme 1949 in China geblieben.
hielt 1999 die Goldmedaille des Kongresses, Zunächst durfte er seine Getreidemühlen
die höchste zivile Auszeichnung der USA. und Textilfabriken behalten, 1956 allerdings
Rosa Parks starb am 24. Oktober in Detroit. musste er sie dem Staat „auf freiwilliger Ba-
sis“ übereignen. Als Ausgleich erhielt er ein-
Shirley Horn, 71. Der Star Miles Davis flussreiche Posten: Rong wurde stellvertre-
wollte Anfang der Sechziger nur unter ei- tender Bürgermeister Shanghais, später
ner Bedingung im New Yorker Village Van- Vize-Textilminister. Während der Kultur-
guard auftreten: Für das Vorprogramm revolution (1966 bis 1976) fiel er in Ungnade,
müsse die singende doch Premierminister Zhou Enlai hielt sei-
Pianistin Shirley Horn ne Hand über ihn. Mit der Reform- und Öff-
engagiert werden, de- nungspolitik Deng Xiaopings begann sein
ren kaum beachtete Aufstieg. Rong gründete in Dengs Auftrag
SAM MIRCOVICH / REUTERS

Debutplatte er zufällig 1979 das staatliche Investmentunternehmen


gehört hatte. Aber erst Citic, das Wirtschaftskontakte zum Ausland
zwei Jahrzehnte später knüpfte. Er wurde Teilhaber, sein Vermögen
entwickelte sich Horns soll zeitweise über eine Milliarde Dollar be-
Karriere ihrem Talent tragen haben. Obwohl er nie Parteimitglied
entsprechend. Nach ei- war, beförderte die KP den Magnaten 1993
nem Auftritt beim zum Vize-Staatspräsidenten. Rong Yiren
North Sea Jazz Festival in Den Haag starb am 26. Oktober in Peking.
bemühten sich Veranstalter in aller Welt
um die Künstlerin. „Während die meisten urteil
ihre Finger sausen lassen“, beschrieb der
deutsche Pianist Michael Naura ihre Spiel- Marcel K., 29, arbeitsloser Trockenbauer,
weise, „übt sich Horn im Stoizismus der wurde vom Landgericht Magdeburg wegen
Tasten.“ Shirley Horn starb am 20. Okto- bandenmäßigen Verbreitens von Kinder-
ber in der Nähe von Washington D. C. pornografie im Internet zu einer Freiheits-
strafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. K.
Arman, 76. Berühmt wurde der Franzose, hatte zahlreiche Plattformen gegründet. Es
dessen Vater mit teuren Antiquitäten han- ist das erste Mal, dass ein deutsches Gericht
delte, mit Expeditionen durch diverse Ab- eine Internet-Community als kriminelle
falleimer. Der Künstler, als Armand Pierre Bande eingestuft hat. Die Verteidiger von
Fernandez aufgewachsen, erfand um 1960 Marcel K. wollen in Revision gehen.
200 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Personalien

Katie Melua, 21, britische Kuschel-Popsängerin („Call Off


The Search“), liegt mit ihrer neuesten Single um Lichtjahre
daneben. In „Nine Million Bicycles“ hat die Interpretin von
„schönen Melodien und sehr, sehr viel Gefühl“ das Alter des
Universums auf 12 Milliarden Lichtjahre „geschätzt“ und
weiter gereimt: „Niemand kann je sagen, ob das wahr ist,
aber ich weiß, dass ich immer bei dir bin.“ Die kosmische
Altersangabe von 12 Milliarden ließ Simon Singh, Bestseller-
autor („Fermats letzter Satz“) und Verfasser einer kürzlich
veröffentlichten Geschichte der Kosmologie (Titel: „Big
Bang“), nicht ruhen. Es gebe „kein Recht auf Schätzung“,
ließ er die Sängerin wissen. Das Alter des Universums sei
ziemlich genau mit 13,7 Milliarden Lichtjahren zu beziffern.
Grund für seine Intervention: Heutzutage werde die Rolle des
Wissenschaftlers ständig entwertet durch den zunehmenden

JUDE EDGINGTON / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS


Glauben, wissenschaftliche Ergebnisse seien nur subjektive
Vermutungen. Singh: „Ich schlage vor, dass Miss Melua den
Vers neu schreibt.“ Die amüsierte Sängerin tat wie verlangt.
In der für die BBC-Radiosendung „Today“ neuaufgenom-
menen Versversion liegt der „Anfang des beobachtbaren
Universums 13,7 Milliarden Lichtjahre zurück, das ist ein
gutes Urteil, mit wohldefinierten Fehlergrenzen, und mit die-
ser verfügbaren Information sage ich dir, dass ich immer bei
dir bin.“ Die Schmusesängerin gibt indes auch künftig dem
alten Reim den Vorzug vor der Neufassung: „Es war einfach
zu schwierig, alle Silben unterzubringen.“

Melua

war, fragte ein Siebenjähriger unter freund- „Eurofighter-Fan“. Wie zum Beweis für
lichem Gelächter der anwesenden Er- seine Begeisterung, bekannte der Präsi-
wachsenen, ob „Mr Straw und Mrs Rice ge- dent des Deutschen Bundestages, auch in
meinsam aufgewachsen“ seien. Am Ende seinem Berliner Büro stünde ein, wenn-
besiegelte ein herzhafter Kuss des Briten gleich kleineres Modell dieses Kampfjets.
auf „Condis“ Wange die neue Dimension
der bestehenden „special relationship“ Peter Struck, 62, scheidender Verteidi-
zwischen den USA und Großbritannien. gungsminister, wird vor dem Wechsel an
die Spitze der SPD-Bundestagsfraktion
Norbert Lammert, 56, neuer Bundes- auf Tauchstation gehen – im wahrsten Sin-
tagspräsident (CDU), erfreut sich an High- ne des Wortes. Zum Abschied vom bis-
BERNARD TRONCALE / AP

tech-Kriegsgeräten. Beim Deutschlandtag herigen Posten erfüllt die Marine dem


der Jungen Union in Augsburg am vorver- populären Ressortchef einen langgeheg-
gangenen Wochenende hatte sich außer ten Wunsch. Er darf am 9. November mit
CDU-Prominenz auch der europäische einem der neuen superleisen U-Boote der
Luftfahrt- und Verteidigungskonzern EADS Klasse 212A eine Tauchfahrt in der Ost-
Straw, Rice mit Werbestand nebst einem Modell des see unternehmen. Allzu tief wird Struck
Eurofighters eingefunden. Lammert zö- mit U-31 allerdings nicht sinken: Auf
Condoleezza Rice, 50, US-Außenminis- gerte nicht, für ein Foto neben dem Modell der vorgesehenen Route von Eckernförde
terin, die schon den Irak-Krieg-Gegner des Vorzeigeprojekts im Maßstab 1:8 nach Kiel ist die Ostsee nur maximal
Gerhard Schröder beim Deutschland- Aufstellung zu nehmen: Er sei schließlich 25 Meter tief. Noch weniger Nervenkitzel
besuch 2005 mit ihrem Charme zu ganz verheißen die Visiten bei den Luft-
unprotokollarischer Begeisterung hinriss und Landstreitkräften: Um die Weh-
(Schröder umarmte Rice), verfehlte jüngst mut Strucks („Ein bisschen traurig
auch nicht ihre Wirkung auf Jack Straw, bin ich schon“) zu lindern, will die
59, den britischen Außenminister. Auf ei- Luftwaffe in Laage bei Rostock dem
ner Reise der beiden durch den amerika- seit Juli 2002 amtierenden Minister
nischen Süden wurde viel gelacht, Späß- noch einmal ihre „Fähigkeiten dar-
chen hier, Späßchen da, und herzlich stellen“ – also kerosinfressende
gegenseitig in die Augen geblickt. Dass Maschinen vorbeifliegen lassen. Das
die Chemie zwischen beiden stimmt, war Heer hat den Minister dagegen
selbst Schulkindern nicht entgangen. Als auf den Truppenübungsplatz Muns-
SEYBOLDT-PRESS

die Politiker die Brunetta Hill Elementary ter eingeladen – zu Ausfahrten


School in Birmingham, Alabama, für zwan- mit geländegängigem Gerät und
zig Minuten besuchten, in die einst die Umtrunk auf einem ehemaligen
kleine Condoleezza eingeschult worden Lammert Bauernhof.
202 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kate Moss, 31, britisches Supermodel, hat „Sie hier in China eine ‚Riester-Rente light‘
mit ihrer im September offenkundig ge- machen würden, was da für eine Rendite
wordenen Kokainsucht nicht nur ihre Wer- rauskommen könnte für das Unterneh-
bekunden verärgert, denen Gesicht und men“. Der so Belehrte habe „das Fun-
Körper der Engländerin plötzlich nicht keln in den Augen bekommen und sich
mehr zu ihren Produkten hastig Notizen gemacht“.
zu passen scheinen. Nun „Und“, wollte ein Frak-
meldete sich auch die Po- tionsmitglied wissen, „hat
litik mit hocherhobenem er dir keine Beteiligung
Zeigefinger. So lud der ko- angeboten?“ „Ach was“,
lumbianische Vizepräsident antwortete der von solchen
Francisco Santos die reuige Erfolgen Geschmeichelte,
Koks-Sünderin ein, seine „mir hat das Funkeln in den
Heimat zu besuchen, weil Augen gereicht.“
er ihr einmal zeigen möch-
te, „was der Drogenhandel Christian Poncelet, 77,
in unserem Land so alles ehrwürdiger Präsident des
anrichtet“. Jeder, der Ko- französischen Senats, droh-
kain konsumiert, sollte laut te seinen Kritikern hand-
Santos wissen, „dass er mit ZAK BRIAN / GAMMA / STUDIO X
feste Prügel an. Der laut
seinem Geld den Terroris- Protokoll zweite Mann im
mus, den Einsatz von Land- Staat musste sich in letzter
minen gegen die Bevölke- Zeit abfällige Bemerkungen
rung und die Umweltzer- über sein Alter anhören.
störung unterstützt“. Die Es hieß, Poncelet sei „nicht
Kokser, so der erzürnte Po- Moss mehr sehr frisch“ und
litiker, „schnupfen mit je- schon ein wenig zerstreut.
der Linie kolumbianisches Blut, zerstören Nach der Verfassung kommt dem Senats-
den Regenwald und finanzieren die Kor- präsidenten im Falle eines plötzlichen
ruption in unserem Land“. Rücktritts oder Ablebens des Staatspräsi-
denten die Rolle des Interimspräsidenten
Walter Riester, 62, Ex-Bundesarbeitsmi- zu. Jacques Chiracs kürzlicher Kranken-
nister und Erfinder der gleichnamigen Ren- hausaufenthalt heizte die Debatte noch an.
te, gibt der Versicherungsindustrie unent- „Strolche!“, schimpfte Poncelet außer sich
geltlich wertvolle Tipps. Bei der jüngsten vor Zorn während seiner Mitte Oktober
SPD-Fraktionssitzung in Berlin erzählte gehaltenen Eröffnungsrede im Senat. Er
Riester seinen Kollegen von einem zufälli- würde es ihnen schon zeigen, auch den
gen Treffen mit einem Versicherungsver- Frauen, ob er altersschwach sei, und droh-
treter. „Bei einer Reise nach China saß te mit den Fäusten. Bisher habe es noch
abends beim Botschafter einer von der Al- niemand gewagt, ihm derlei ins Gesicht zu
lianz neben mir.“ Der sei voll des Lobes sagen, das sei im Übrigen auch besser so:
über die Riester-Rente gewesen und „wie „Mit 22 Jahren war ich Boxchampion, und
gut die jetzt bei denen läuft“. Da habe er ich bin immer noch in der Lage, denen in
dem Allianz-Mann vorgerechnet, wenn die Fresse zu schlagen.“

Peter Müller, 50, saarländischer Regierungschef (CDU),


musste sich bei seinem Besuch in Nordrhein-Westfalen
in der vorvergangenen Woche nicht nur mit seinen
Amtskollegen aus den anderen Ländern und dem sper-
rigen Thema einer Föderalismusreform auseinander set-
zen, sondern auch noch mit mehreren Drag Queens
und einem Paparazzo. Als der Christdemokrat nach
der Konferenz der Ministerpräsidenten in Aachen mit
Ehefrau Astrid und einigen Freunden einen nächtlichen
Abstecher in eine Kölner Transvestitenkneipe machte,
lockte er einen Fotografen an, der heimlich Bilder
schoss. Ein Begleiter Müllers entdeckte den ungebete-
nen Gast und nahm ihn in den Schwitzkasten: Er woll-
te verhindern, dass Fotos, die Müller unter anderem
beim Tanzen mit einem auf Marilyn Monroe getrimm-
ten Transvestiten zeigen, an die Öffentlichkeit gelangen.
ZIK-EXPRESS

Der Fotograf rief die Polizei und erstattete trotz Müllers


Schlichtungsversuchen Anzeige.

Müller

d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 203
Hohlspiegel Rückspiegel

Bildunterschrift aus dem „Wiesbadener Zitate


Kurier“: „Viele Geflügelhalter – hier Gän-
se aus dem brandenburgischen Löhme – Die „Frankfurter Allgemeine“ zum
fürchten die nahende Vogelgrippe.“ SPIEGEL-Gespräch mit Franz
Müntefering über die Chancen einer
Großen Koalition „Deutschland –
‚Das wird noch knallhart‘“, in dem
der SPD-Vorsitzende Kajo
Wasserhövel als seinen Vorschlag
Aus dem „Gießener Anzeiger“ für das Amt des General-
sekretärs nannte (Nr. 43/2005):

Aus dem Ahlener „Blickpunkt“: „In der Am Samstag hatten – aus Protest dagegen,
Nacht von Freitag auf Samstag brachen un- dass Müntefering seinen Personalvorschlag
bekannte Täter an der Hoetmarer Straße in in der Zeitschrift SPIEGEL gemacht hatte
Sendenhorst einen VW Golf älterer Bauart – mehrere Landesvorsitzende Frau Nahles
auf und begannen, den Airbag auszubau- zur Kandidatur aufgefordert.
en. Ihr Pech: Der Wagen hatte gar keinen
Airbag.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ zum
selben Thema:

Franz Müntefering, dem um Geschlossen-


heit bemühten SPD-Chef, ist es in bemer-
kenswerter Weise gelungen, seine Partei
gegen sich aufzubringen. Er mache keine
Solo-Nummern, hat er in einem Interview
versichert; er werde die Auswahl des neu-
en Generalsekretärs mit allen Verantwort-
lichen besprechen – und zwar intern. Zwei
Aus dem „Trierischen Volksfreund“ Antworten später legt Müntefering jedoch
genau jenes Solo hin, das er zuvor aus-
geschlossen hat, und schlägt seinen Ver-
Aus der „Recklinghäuser Zeitung“: „Die trauten Kajo Wasserhövel vor – und zwar
Bauarbeiter liegen in den letzten Zügen, in öffentlich.
den kommenden Tagen soll auch der letz-
te Pflasterstein auf dem Hof wieder an sei- Das „Hamburger Abendblatt“ zu
nem angestammten Platz sein.“ den beiden Büchern von
SPIEGEL-ONLINE-Redakteur
Bastian Sick „Der Dativ ist
dem Genitiv sein Tod“, Folge 1 und 2:

Deutsche Sprache, schwere Sprache. Wir


Aus der „Wiener Zeitung“ wollen hier nun nicht den Schwarzen
Peter an die Wand malen, aber jeder
gerät doch hin und wieder mal auf
Aus dem Aachener „Super Sonntag“: „In den falschen Holzdampfer und findet im
einem besonderen Brautkleid des Edel- Dickicht deutscher Grammatik den Baum
Designers Giorgio Armani wird Schau- vor lauter Bergen nicht. Zum Glück gibt’s
spieler Tom Cruise demnächst wohl Katie einen, der regelmäßig mit der Fackel
Holmes vor den Traualtar führen.“ der Erleuchtung Licht ins trübe Wörter-
fischen wirft: Bastian Sick. In seiner
SPIEGEL-ONLINE-Kolumne „Zwiebel-
Aus der „Ärzte Zeitung“: „Die Angestell- fisch“ spürt er die Fallstricke der deut-
ten können dann auch halbiert werden. Das schen Sprache auf und verhindert, dass
komme vor allem Ärztinnen entgegen.“ einem beim Plaudern die Fälle davon-
schwimmen. „Der Dativ ist dem Genitiv
sein Tod“ heißt dem Sick seine erste Ko-
Aus der Göppinger „NWZ“: „Was natür- lumnen-Sammlung – nun hat der Sprach-
lich Honig auf Felix Magaths Mühlen war.“ pfleger aus Lübeck nachgelegt: In „Der
Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Folge 2“
erklärt Sick den „Kasus Verschwindibus“,
warum ein Bordell auch „Puff“ genannt
wird und weshalb Orthografie mindes-
tens so wenig Liebhaber hat wie Zeichen-
setzung. Das ist komisch, lehrreich und
in dieser Kombination ziemlich einmalig.
Sick jedenfalls trifft auch im zweiten An-
lauf den Hammer voll auf den schwarzen
Aus einer Anzeige im „Tagesspiegel“ Nagel.
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