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Hausmitteilung
31. Oktober 2005 Betr.: Rumsfeld-Gespräch, THW, KulturSPIEGEL
W enn die Bundesregierung deutsche Hilfsbereitschaft zeigen will, kommt auf die
Männer in den blauen Uniformen schwere Arbeit zu. Ob beim Bau von Polizei-
stationen in Afghanistan oder bei der Instandsetzung der Wasserversorgung in Bag-
dad: Das Technische Hilfswerk (THW) ist zu einer schnellen Eingreiftruppe für alle
Katastrophenfälle geworden. Die SPIEGEL-Redakteure Dominik Cziesche, 27, und
Markus Verbeet, 30, beobachteten Teams bei
ihren Großeinsätzen im pakistanischen Erd-
bebengebiet und in New Orleans. Cziesche
erlebte spät am Abend im pakistanischen
Kaschmirgebirge, wie sich Helfer in der Not
selbst helfen: Als die THW-Männer noch kein
eigenes Zelt für die Nacht hatten, fand er mit
ihnen in einem Operationszelt chinesischer
Ärzte Unterschlupf. Verbeet machte sich in
New Orleans für Pumpenspezialisten des
DER SPIEGEL
E ine Besonderheit ziert den Titel des aktuellen KulturSPIEGEL: Exklusiv hat der
Künstler Jörg Immendorff, 60, eine Grafik geschaffen, die einem Appell gleich-
kommt: „Optimismus für Deutschland“ soll sie vermitteln – und daran erinnern, dass
positives Denken ein Faktor sein kann, der in den Zeiten von
Massenarbeitslosigkeit und Stagnation zu einer Wende
beiträgt. Der KulturSPIEGEL wird den SPIEGEL-Abonnen-
ten monatlich zugestellt, doch auch alle anderen Leser können
die Grafik zum Preis von 800 Euro als Druck in limitierter
Auflage erwerben. Immendorff, von dem die Neue National-
galerie in Berlin derzeit eine große Werkschau zeigt, hat 100
Exemplare signiert. Der Erlös kommt seiner Stiftung für Pa-
tienten mit Amyotropher Lateralsklerose zugute, einer Krank-
heit, an der er selbst leidet. Bestellungen werden vom 7. No-
vember an unter www. spiegel.de//shop entgegengenommen.
Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 5
InIndiesem
diesemHeft
Heft
Titel
Das Mittelalter – Forscher ergründen die
Wahrheit über das dunkle Jahrtausend ................ 168 Schwarz-Rot plant höhere Steuern Seite 24
Deutschland Um die dramatische Haushaltslage
Panorama: Legt Schröder sein Bundestagsmandat in den Griff zu bekommen, wollen
nieder? / Kurswechsel in der Außenpolitik / Keine die Spitzen der schwarz-roten
Festlegung auf Bundeswehreinsatz im Inneren ...... 19 Koalition um CDU-Chefin Angela
Haushalt: Die Berliner Steuerpläne Merkel und ihren SPD-Kollegen
schaffen neue parteiübergreifende Frontverläufe ... 24 Franz Müntefering die Bundes-
Weshalb deutsche Firmenvorstände von bürger mit höheren Steuern zur
Rentenabgaben befreit sind ................................... 26 Kasse bitten. Doch das droht,
die Besinnung auf bürgerliche Werte .................... 58 Buch „Die Kultur der Freiheit“ solle
Strafjustiz: In Leipzig wird ein helfen, sagt er im SPIEGEL-Gespräch,
Geschwisterpaar, das vier gemeinsame Kinder „die traditionellen Wege zum Glück“,
hat, erneut vor Gericht gestellt ............................. 64 etwa die Ehe mit Kindern, zu stärken.
Ausland
Panorama: Diplomaten diskutieren
Sanktionen gegen Syrien / Reformer
Petrakow kritisiert staatlichen Einfluss auf
die russische Wirtschaft ....................................... 113
VAHID SALEMI / AP
Iran: Neue Kampagne gegen Israel ..................... 116
Affären: Bush-Berater unter Verdacht ................ 120
Polen: Zwillinge an der Macht ............................ 124
USA: SPIEGEL-Gespräch mit Verteidigungs-
Antiisraelische Demonstration in Teheran minister Donald Rumsfeld über
die Rivalität mit China, das Fiasko im Irak
und den Umgang mit Diktaturen ......................... 126
Bush – wieder scheint die zweite Amtszeit eines Szene: Besucherrekorde im New Yorker
US-Präsidenten unrühmlich zu verlaufen. Museum of Modern Art /
Der Kabarettist Herbert Feuerstein
Bush, Vertrauter Rove über sein Verhältnis zu Frauen ............................ 143
Theater: „Schändung“ von Botho Strauß
und Luc Bondy in Paris –
zu viel Gewalt auf der Bühne? ............................. 146
Debatte: Flucht vor der Gegenwart –
steht und fällt mit der Akzeptanz in der Be- Musik: Pop-Exzentrikerin Kate Bush meldet
völkerung. Verehrung und Hass gleicher- sich mit einem neuen Album zurück ................... 160
maßen schlagen dem größten europäischen Komiker: Erinnerung an den
Raubtier entgegen. „Beichtvater der Nation“, den genialen
Witzemacher Heino Jaeger .................................. 162
Europäischer Braunbär
Wissenschaft · Technik
Prisma: Abgespeckter Shuttle-Fahrplan /
Fühlen Frauen Schmerzen stärker? ...................... 165
Computer: Karlsruher Forscher entwickeln
Die Jet-Set-Ikone Seite 154 einen Simultanübersetzer für jedermann ............. 184
Küstenschutz: Experten fordern
Playboy-Legende Gunter Sachs hat seine gepanzerte Deiche ............................................... 188
Lebensbeichte geschrieben und erzählt dar- Tiere: Der Braunbär kehrt
in von wilden Orgien, seinen Ehejahren mit in die Alpen zurück ............................................. 190
Brigitte Bardot, dem Treiben des Jet-Sets
in St. Tropez und St. Moritz. Im SPIEGEL- Briefe..................................................................... 10
O.MEDIAS / FACE TO FACE
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 9
Briefe
nen. Dank auch an die Autoren für das werbslose Gast- oder Schwarzarbeiter und
schonungslose Aufdecken der tatsächlichen deren Familien jahrelang ALG II kassie-
desaströsen Lage im Lande der vermeint- ren, oder glaubt irgendwer, ein in der Tür-
lichen Selbstbediener und Ausnutzer, die in kei arbeitender Deutscher bekäme dort
Wahrheit doch nur meist wirklich Arme Stütze? Wenn der deutsche Staat eine der-
sind, welche nun kriminalisiert und zu den artige „Wohlfahrtsimmigration“ duldet,
Sündenböcken der misslungenen Reform Hartz-IV-Gegner (in Leipzig, 2004) schürt er das Erstarken rechtsradikaler Par-
gemacht werden sollen. Herr Clement ist Was würde ein Politiker fühlen? teien, die mittels des „Sündenbockprin-
wirklich tief gesunken.
Duisburg Kristof Kohlsch
DOMINIK BUTZMANN
Grund dafür, diese Missstände auch aus-
zunutzen. Es ist bezeichnend für die Lage
der Nation, dass die dadurch entstehen-
den Kosten den Bildungsetat übertreffen.
St. Augustin (Nrdrh.-Westf.) Sebastian Uhl Überfülltes Audimax (in Berlin)
Gedrängel und Gezerre
Und wieder fehlt mir die Antwort auf die
wichtigste Frage: Wie entstehen durch Leis- men. Letztendlich sollte im Studium eben
tungskürzungen (wie Hartz IV) neue Ar- auch der Wissens- und Verständniserwerb
beitsplätze? Ich begreife den wirtschaftli- im Vordergrund stehen – und nicht nur das
chen Zusammenhang nicht, wenn es ihn Rennen um die beste Einzelbestzeit.
denn gibt. Was nützt der wachsende Druck Würzburg Wolfgang Sobtzick
auf Arbeitslose, wenn es nicht genügend
Arbeitsplätze gibt? Selbst wenn alle 400000 Ich bin 23 Jahre alt, habe mein BWL-Stu-
freien Stellen sofort besetzt würden, dann dium an der FH Ludwigshafen in fünf Jah-
fehlen immer noch fast 4 Millionen Ar- ren inklusive eines 18-monatigem Auslands-
beitsplätze, mindestens. Sie könnten also aufenthalts in Japan mit Einser-Schnitt ab-
auch herkommen und mir mit einem solviert und auch schon Erfahrungen in
Knüppel auf den Kopf schlagen: Ein neu- mehreren Praktika gesammelt. Trotzdem
er Arbeitsplatz entsteht so nicht. bekomme ich keinen Job, die häufigste Be-
Berlin Dirk Zahn gründung: ich wäre noch zu jung. Wo
bleibt da bitte der Anreiz, sein Studium in
Hartz IV, beschlossen dereinst von SPD kürzester Zeit zu absolvieren, wenn man
und CDU im Vermittlungsausschuss, ist ein dann mit dieser Begründung abgewiesen
Paradebeispiel für Reformpolitik in Wohl- wird?! Irgendetwas läuft in Deutschland
fahrtsstaaten nach dem Motto: „Es muss et- im Vergleich zu anderen europäischen
was geschehen, aber es darf nichts passie- Staaten anscheinend schief. Artikel, welche
ren.“ Keine Ermunterung für die Reform- die lange Studiendauer beklagen, finde ich
politik der geplanten Großen Koalition! persönlich ärgerlich, da es viele Studenten
Diejenigen Politiker, die ein Gleichgewicht gibt, die ihr Studium zügig absolvieren,
von Ökonomie und Sozialem fordern, aber genau aus diesem Grund auf dem Ar-
übersehen, dass der Sozialstaat überdi- beitsmarkt häufig auf der Strecke bleiben.
mensioniert ist und die wachsenden Aus- Wäre es nicht sinnvoller, einen Teil des
gaben für das Soziale die Staatshaushalte Problems in deutschen Unternehmen und
in die Illiquidität getrieben haben. deren Personalpolitik zu suchen?
Bad Krozingen (Bad.-Württ.) Dr. Georg Bleile Ludwigshafen Annett Schwarze
Autoverkehr im Winter
Lieber schweigen
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 15
Briefe
PLUSPHOTO / IMAGO
meine Testnote als Premiere hin, verwun- Frau von heute ein Kunstprodukt bunter
dert allerdings über die Aggressivität, mit Frauenzeitschriften ist. Bei näherem Hin-
der hier gleich rundum Autoren, Verlage, sehen entpuppt sie sich leider immer öfter
Kritiker ihren Eintrag ins Klassenbuch er- als eine teure Mogelpackung!
halten. Der Literatur, die ich schreibe, Aachen Michael Schumacher Unterwäschewerbung (in München)
wünsche ich freilich auch weiterhin das Design statt Sein
Anti-Schulische. Mit Ihrem Rotstift wür- Danke für den Beitrag. Es fasziniert mich,
den Sie im Übrigen bei Ihren Favoriten dass eine junge Autorin von 27 Jahren nicht persönlichen Karriere-Erfolg jegliche Se-
Thomas Mann und Alfred Döblin ebenso in der Resignation landet. Sondern bei der xiness eines Freitagabends zugrunde rich-
fündig werden. Jede der von Ihnen kriti- Feststellung, dass der Ausweg eben nicht teten. Da lobe ich mir doch ein ehrliches
sierten Stellen ließe außerdem die Diskus- der Cybersex ist, sondern die Liebe – dass Motorrad-Rocker-Fest auf der Schwäbi-
sion zu, ob es sich hier um einen „Fehler“ die Liebe „die wahre Revolte“ wäre. Was schen Alb – hier wird doch wesentlich eher
handelt oder nicht. Jagd auf Sätze statt für ein Wagnis! Und wie recht sie hat! fortgepflanzt! Also nix wie ab in die Pro-
Sichtung von Gedanken. Und um es mit Ih- Belzig (Brandenb.) Christiane Mrozek vinz, die Liebe wagen!
rer Empfehlung zu halten, Karl Kraus wie- Feldstetten (Bad.-Württ.) Bernhard Seidt
der zu lesen: „Wer Meinungen von sich War die Enttabuisierung der Sexualität Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht er- in den Sechzigern und frühen Siebzigern schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
tappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt ein wichtiger Schritt hin zu einer offeneren Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
auch zwischen den Widersprüchen.“ Gesellschaft, stellt die Pornografisierung
Berlin Gernot Wolfram durch die Medien eine massive Zäsur dar. In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in
einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma Lex-
Sexualität und Intimität sind zu einem Kon- ware, Freiburg. Die Gesamtauflage enthält einen Post-
Es besser zu wissen reicht nicht. Darauf zu sumprodukt ohne Sinn und Inhalt gewor- kartenbeikleber der Firma PFM Pioneer Fonds Market,
bestehen – dazu gehört längst auch schon den. Design statt Sein. Sex ist kein Zeichen München. In einer Teilauflage befinden sich Beilagen der
Courage. Es ist so verdammt leicht, den von Liebe mehr, sondern reine Triebabfuhr. Firmen Financial Times Deutschland, Hamburg, Pro.Idee,
Aachen, SPIEGEL-Verlag/Kunst des SPIEGEL, Hamburg,
Sprachkompetenteren als Beckmesser, Aber kein Angebot ohne Nachfrage. Mich sowie die Verlegerbeilage des SPIEGEL-Verlags/Kultur-
Oberlehrer und so weiter zu diffamieren lassen all die heißen Bilder et cetera schon SPIEGEL, Hamburg.
16 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Panorama Deutschland
BUNDESKANZLER
Schröders Pläne
B undeskanzler Gerhard Schröder
(SPD) erwägt, sein Bundestags-
mandat noch vor Ablauf der Legislatur-
periode niederzulegen und sich damit
vollständig aus der aktiven Politik zu-
rückzuziehen. Vor Parteifreunden sagte
Schröder, er wolle nicht wie sein Vorgän-
müsse wieder stimmen, heißt es in der nach orientiere sich die Außenpolitik
CDU. In Europa will die Union die als zu schlichtweg an den „Interessen Deutsch-
eng empfundene Anbindung an Frank- lands“. Fraktionsvize Gernot Erler be-
reich lockern und dafür die osteuropäi- harrt, der „Hauptstrang der Außenpoli-
schen EU-Partner stärker einbeziehen. tik läuft durch das Auswärtige Amt“.
Merkels Deutschland solle in der EU Kanzlerin Merkel könne allenfalls „Ak-
eher moderierend wirken. Der An- zente setzen“.
Schröder im Bundestag
KOA L I T ION warnte er, im Koalitionspapier allzu marschieren zu lassen. Nun wollen die
konkrete Festlegungen zu treffen oder angehenden Koalitionäre zunächst zwei
Rücksicht auf FDP schon eine Änderung des Grundgeset-
zes anzukündigen. Seine Begründung:
Verfahren vor dem Bundesverfassungs-
gericht abwarten. Der ehemalige FDP-
BUNDESWEHR
Jubel sucht
Sponsor
G escheitert ist der Versuch des Verteidi-
gungsressorts, einen Großteil der auf zwei
Millionen Euro veranschlagten Kosten für die Fei-
ern zum 50. Bundeswehr-Jubiläum von privaten
Geldgebern finanzieren zu lassen. Für Festakte
wie den Großen Zapfenstreich, der vorige Woche
vor dem Berliner Reichstag abgehalten wurde,
hoffte das Ministerium auf rund 750 000 Euro
Sponsorengelder. Es beauftragte eigens eine PR-
Agentur, bei Unternehmen und Verbänden Mit-
tel einzuwerben – und versprach bis zu 20 Prozent
Provision. Doch der Geldsegen blieb aus. Bisher
gingen erst 80 000 Euro ein – spendiert von sechs
Firmen. Dass sich der Betrag bis zum Schlussakt,
einem Rekrutengelöbnis am 12. November, noch
nennenswert erhöht, ist ziemlich unwahrschein-
lich. Deutsche Rüstungskonzerne, die durchaus
spendierfreudig gewesen wären, durften nichts
geben. Das Anti-Korruptions-Referat des Minis-
JENS MEYER / AP
teriums hatte verboten, bei großen Hoflieferanten
der Armee betteln zu gehen. Zapfenstreich vor dem Reichstag in Berlin
PRESSEFREIHEIT
H AU S H A LT
Geld her!
Steuererhöhungen statt Spardiktat? Die Große Koalition will die Bundesbürger offenbar kräftig
zur Kasse bitten, denn zur Enthaltsamkeit in den eigenen Ministerien fehlt nicht zuletzt
der politische Wille. Kippt nun die Konjunktur? Prompt bilden sich neue, überparteiliche Allianzen.
I
m Festzelt am Kanzleramt, von den Tatsächlich war eine Woche lang vom Vorbei sind die sonnigen Zeiten, als SPD
Berlinern „Tipi“ genannt, waren die Ti- Spitzenpersonal der Republik eine ganz und Union die Bürger mit der Aussicht auf
sche am vergangenen Donnerstag lie- andere Melodie angestimmt worden. Hes- sinkende Abgaben und neue staatliche
bevoll gedeckt. Die Herren trugen feinen sens Regierungschef Roland Koch kündig- Wohltaten zu ködern versuchten. Renten-
Zwirn, und vom Podium herab erklärte ein te ein landesweites „Heulen und Zähne- bonus und Familienförderung versprach
Redner nach dem anderen die Bedeutung klappern“ an. einst die Union. „Merkel-Steuer, das wird
von Zuversicht und positivem Denken für Der designierte Bundesfinanzminister teuer“, polemisierte die SPD gegen eine
das deutsche Gemeinwesen. Das Lieb- Peer Steinbrück präsentierte der Koali- Steuererhöhung, obwohl diese nahezu
lingswort des Abends lautete: Optimismus. tionsrunde die neuesten Fehlbeträge – und komplett in die Senkung der Sozialbeiträ-
Davon brauche man mehr, hieß es allent- alle Anwesenden erschraken, als wäre ih- ge fließen sollte. Aber die Botschaft war
halben. Viel mehr. nen gerade der Leibhaftige begegnet. klar: Mit uns werden die Bürger vor fiska-
Was auf den ersten Blick wie eine Jah- Selbst dem niedersächsischen Mutmacher lischen Massakern bewahrt.
resversammlung von Drückerkolonnen oder Wulff entfuhren Wörter wie „erschre- Die Wahlprogramme von gestern sind
Motivationstrainern anmutete, entpuppte ckend“ und „grauenhaft“. heute schon das Papier nicht mehr wert,
sich bei näherem Hinsehen als die Verlei- Sechs Wochen nach der Bundestagswahl auf dem sie stehen. Seit die Politiker den
hung des Mittelstandspreises „Mutmacher haben es die Optimisten in Deutschland Finanzstatus von Bund, Ländern und Ge-
der Nation“. Der ehemalige Jenoptik-Chef schwerer denn je. Selbst die SPD-Führung, meinden zur Kenntnis nahmen, sprechen
Lothar Späth lobte alle Wagemutigen und die im Wahlkampf den Eindruck blühender sie von „riesigen Herausforderungen“
bat die Politik, sie zu unterstützen. Der Landschaften zu erwecken suchte, spricht (CDU-Chefin Angela Merkel) oder „ge-
niedersächsische CDU-Ministerpräsident in Gestalt ihres großen Vorsitzenden Franz meinsamer Verantwortung“ (SPD-Exper-
Christian Wulff warb für „mehr Optimis- Müntefering nun davon, dass auf absehba- te Steinbrück). Einziger Ausweg scheint
mus“ und warnte vor „einer Jammergesell- re Zeit „nicht mehr Milch und Honig derzeit eine Politik geballter Steuererhö-
schaft, die alles nur schlecht sieht“. fließen“. Aber was dann? Tränen? hungen zu sein.
24 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
Nicht mehr von Senkung, sondern von Milliarden Euro ließen sich auf diese Wei- Fiskal- und Wirtschaftspolitik miteinander
einer Erhöhung der Beiträge zur Ren- se aktivieren. Doch von den Experten der zu verzahnen. Er strebte stets nach einem
tenversicherung ist die Rede. Koalition besitzt keiner die Größe eines Mix aus Sparsamkeit und Investitionsan-
An die Stelle einer Steuersenkung droht Karl Schiller. reizen, sprach von einem „Auf-
womöglich ein neuer Solidaritätszuschlag Der legendäre Profes- Ausgaben 257 schwung nach Maß“, was ihm
zu treten. Und bei der Mehrwertsteuer sor und Wirtschafts- nach der Rezession Ende der sech-
geht es nur noch darum, wie saftig die minister im Kabinett 252 ziger Jahre auch gelang. Ziel der
Erhöhung ausfällt. von Kurt Georg Kie- Politik müsse sein, „die Pferde
Verbraucher, Unternehmer und Öko- singer verstand es, 247 zum Saufen zu bringen“.
nomen sind alarmiert. Würden die Steu- 243 Die Finanzpolitiker aller Par-
erpläne der Koalitions-Finanzer eins zu 241 teien im Berlin des Jahres 2005
eins umgesetzt, warnen führende Wirt- haben dagegen im neuentflamm-
schaftswissenschaftler wie Hans-Wer- ten Steuerrausch derart aufge-
ner Sinn, Präsident des Münchner dreht, dass sich überraschend
Ifo-Instituts, könnte dies „den Auf- neue, parteiübergreifende Front-
schwung gefährden“. verläufe zeigen und sich Wider-
Die deutsche Sparquote, also der 226 spruch sogar in den eigenen
ohnehin schon rekordverdächtige Reihen regt. Die Kollegen vom
Anteil des Einkommens, der hier- 221 220 Wirtschaftsressort machen Front
zulande auf der hohen Kante lan- 218 218 gegen das Treiben der Steuer-
det, würde weiter steigen. Die 215 erhöher.
Kaufkraft der Bevölkerung würde Einnahmen 212 Man dürfe jetzt nicht die Kon-
doppelt leiden: erst durch den junktur abwürgen, warnt CSU-
Staat mit seiner Steuerpolitik und Chef Edmund Stoiber, der sich
anschließend durch die ebenso neuerdings dem Wirtschafts-
ängstliche wie verständliche Re- wachstum und nicht mehr allein Wachsende Lücke
aktion der Bevölkerung darauf. Haushaltsentwicklung der scharfen Haushaltskonsolidie-
198
Wie bereits bei den Koalitions- des Bundes rung verpflichtet fühlt wie noch
verhandlungen im Herbst 2002 194 in Milliarden Euro vor der Wahl. Auch SPD-Wirt-
tun die Politiker alles, den Deut- schaftsexperte Rainer Wend be-
schen die Konsumlust auszutrei- tont: „Sparen, streichen und
ben. Würde die Sparquote auf 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 2004 Steuern erhöhen allein ist keine
Werte wie etwa in Großbritannien Strategie.“ So reicht die neue Al-
sinken, also von derzeit 10,6 auf Nettokreditaufnahme lianz vom CSU-Chef bis tief hin-
Quelle: BMF 40,0
dann 5 Prozent, käme dies einem 38,6 39,5 ein in die Sozialdemokratie.
33,8 32,6 28,9 31,9
gigantischen, privat finanzierten 19,7 25,6 25,6 26,1 23,8 22,8 Die CSU-Wirtschaftspolitikerin
Konjunkturprogramm gleich: 75 Dagmar Wöhrl pflichtet Wend
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 25
Deutschland
Bizarres Privileg
Alle sollen sparen – aber deutsche Top-Manager sind sogar von den Rentenbeiträgen befreit.
A
ls Leonhard Fischer, 42, als neu- Ein Grund dafür ist das Solidarprin-
er Chef der Schweizer Winter- zip, das hohe Rentenbeiträge zumin-
thur-Versicherung zum ersten dest teilweise auf kleinere Renten um-
Mal auf seinen Gehaltszettel sah, ent- verteilt. Der andere Grund ist die
deckte er dort einen Abzug, den er sich demografische Entwicklung. Weil seit
nicht erklären konnte: 8,4 Prozent sei- Jahrzehnten die Geburtenrate sinkt,
ner Bezüge waren an die staatliche müssen in der Rentenversicherung im-
schweizerische Rentenversicherung ab- mer weniger Arbeitnehmer für immer
geführt worden. Einfach so. Bei Fischers mehr Rentner aufkommen.
JOSÉ GIRIBAS
Salär ein durchaus erklecklicher Betrag. Erst kürzlich hatte der Bonner Wis-
Der junge Banker war erst seit kur- senschaftler Meinhard Miegel im Auf-
zem in der Schweiz. Bis zu seinem Job- trag des Deutschen Instituts für Alters-
wechsel hatte der gebürtige Emsländer Ministerin Schmidt vorsorge ausgerechnet, welch schlech-
jahrelang als Investmentexperte im Absonderlichkeit im Gesetzbuch tes Geschäft die Rente eigentlich ist.
Vorstand der Dresdner Bank gesessen. Ein 1940 geborener Mann kann dem-
Die monatliche Zahlung von Beiträgen von bis zu 1000 Euro im Monat könne nach mit einer Verzinsung von 1,4 Pro-
an die Rentenkasse kannte Fischer des- ihnen mithin erspart bleiben. zent rechnen.
halb gar nicht mehr. Jahrzehntelang wurde die Vorzugs- Die Männer des Jahrgangs 1990 wür-
Wie alle seine ehemaligen Vorstands- behandlung stillschweigend genutzt. den bei plus/minus null landen. Für
kollegen hatte der Banker von einer Dabei hätte die Ausnahme bisweilen alle Jüngeren sieht es nach Miegels Be-
Spezialregel profitiert, die Vorstands- auffallen können, etwa im vergange- rechnung ganz finster aus. Sie werden
mitglieder einer Aktiengesellschaft in nen Jahr: Damals geriet die Commerz- auf jeden Fall weniger ausbezahlt
Deutschland von jeder Beitragspflicht bank unter ihrem Chef Klaus-Peter bekommen, als sie eingezahlt haben.
freistellt. Das bizarre Privileg findet sich Müller in die Schlagzeilen, weil sie den Miegel spricht von einer „Negativ-
in Paragraf 1 des Sechsten Sozialgesetz- Mitarbeitern die Betriebsrenten kün- rendite“.
buches. Und es zählt mit Sicherheit zu digte, die Pension des Spitzen-Manage- Doch wer es nicht bis in den Vor-
den größten Absonderlichkeiten des ments aber schonte. Damals wurde stand einer Aktiengesellschaft schafft,
deutschen Sozialsystems, um dessen noch lamentiert, die Top-Kräfte seien hat kaum eine Chance, der Versiche-
Zukunft die Unterhändler in den Koa- schließlich durch den Staat nicht ab- rungspflicht zu entrinnen. Leitende An-
litionsgesprächen derzeit ringen. Wäh- gesichert. gestellte einer GmbH oder des Öffent-
rend Union und SPD-Politiker wie Nun gibt es auch außerhalb der Ak- lichen Dienstes müssen zähneknir-
Sozialministerin Ulla Schmidt darüber tiengesellschaften viele gutverdienende schend Zwangsbeiträge abführen.
nachdenken, die Riester-Rente zur Angestellte, die ebenfalls gern in Ei- Ein letztes Schlupfloch hat die rot-
Pflicht zu erklären oder die Rente erst genregie für ihr Alter vorsorgen wür- grüne Bundesregierung vor zwei Jahren
ab 67 auszuzahlen, ist es ausgerechnet den. Selbst bei konservativer Geldan- geschlossen. Findige Vermögensberater
den Arbeitnehmern mit den höchsten lage dürfte eine monatliche Sparrate hatten bis dahin auf die Möglichkeit
Einkommen gestattet, sich aus der von 1000 Euro eine höhere Rendite ab- hingewiesen, sich dem Zugriff der
Solidargemeinschaft weitgehend zu ver- werfen als die marode staatliche Ren- Rentenanstalt durch Gründung einer
abschieden. tenversicherung. Schein-AG zu entziehen. Das Privileg
Die Begründung für die der Vorstände von Aktien-
Ausnahmeregel ist so ei- gesellschaften hat die Politik
genartig wie das mehr als bei der Gelegenheit indes
35 Jahre alte Privileg selbst. nicht angetastet – ein echter
Weil Vorstände von Groß- Standortvorteil. Weltläufige
konzernen aller Erfahrung Top-Manager wissen nur zu
nach nicht von Altersarmut gut, dass sie anderswo nicht
bedroht seien und damit so gut davonkämen.
auch keine Gefahr bestehe, Trotz üppiger Beiträge
dass sie später der staatli- kann der Winterthur-Mana-
MICHAEL WALLRATH / ACTION PRESS
26 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
bei: „Keine Steuererhöhungen zum Stop- gierung mit einem Loch von rund 54 Mil- Weder durften die Renten, die der Bund
fen von Haushaltslöchern – das ist Gift für liarden Euro kalkuliert. mit 80 Milliarden Euro bezuschusst, ange-
die Konjunktur.“ Und der CDU-Haushäl- Doch die Konjunktur läuft schlechter als tastet werden, noch wurde die Steinkohle-
ter Steffen Kampeter ergänzt, dass eine erwartet, so dass die Ausgaben für Ar- förderung reduziert oder gar das Bundes-
„massive Steuererhöhungswelle das Ver- beitslose steigen und die Steuern spärlicher personal in Frage gestellt. Geht nicht. Fin-
trauen von Investoren und Konsumenten fließen. „Mit einer so dramatischen Lage ger weg! „Sie können den Haushalt nicht
zerstört“. habe ich nicht gerechnet“, gesteht Sach- plündern bis auf null und sagen, wir krie-
Es geht um eine ökonomische Grund- sens Ministerpräsident Georg Milbradt gen das alles auf der Ausgabenseite“, ver-
satzfrage von entscheidender Bedeutung: (CDU), früher selbst Finanzminister. teidigt Steinbrück seine Strategie.
Will die Große Koalition für mehr Wachs-
tum und Arbeitsplätze sorgen? Oder soll
um jeden Preis der Bundesetat saniert
werden, auch wenn das Land dabei in toto
auf Schrumpfkur geschickt wird? Lassen
sich Sparsamkeit und Aufbruchstimmung
nicht womöglich doch miteinander ver-
söhnen?
Der künftige Wirtschaftsminister Stoiber
HECHTENBERG / CARO
will am Montag dieser Woche den Versuch
SPECHT / LAIF
einer Gegenoffensive starten. Wenn sich
am Nachmittag die Koalitionsspitzen, dar-
unter Noch-Kanzler Gerhard Schröder,
Demnächst-Kanzlerin Merkel und SPD- Sparziele Pendlerpauschale, Eigenheimzulage: Zu wenig für die Rettung des Haushalts
Chef Franz Müntefering, treffen, wird der
in der Öffentlichkeit zuletzt arg gezauste
Stoiber der Runde seine neue Philosophie
vermitteln. Er werbe „für einen Dreiklang
aus Sparen, Reformieren und Investieren“.
Der CSU-Chef will eine eher karge For-
derungsliste präsentieren, die seine Staats-
kanzlei zusammengestellt hat:
• Ein Gründerprogramm soll Jungunter-
nehmer zur Selbständigkeit ermuntern.
• Ein Bürokratie-TÜV soll das Geneh-
migungs- und Meldegestrüpp zurecht-
stutzen und neue Gesetze auf ihre
Wirtschaftstauglichkeit untersuchen.
• Die Abschreibungsregeln für die Indu-
strie sollen verbessert werden, in der
FRANK OSSENBRINK
zu schmälern. Späth) bis zu „grundfalsch“ (der Mainzer
Das gilt auch für ein Feld, auf dem das Finanzwissenschaftler Rolf Peffekoven).
Sparpotential besonders groß ist: dem Würde die Regierung die Mehrwert-
Arbeitsmarkt. steuer tatsächlich so drastisch erhöhen wie
Rund 20 Milliarden Euro gibt die Nürn- CSU-Chef Stoiber, Ehefrau Karin derzeit geplant, könnte das die Wachs-
berger Bundesagentur für Arbeit Jahr für „Sparen, reformieren und investieren“ tumsrate um fast die Hälfte senken und bis
Jahr für sogenannte Eingliederungsmaß- zu 500 000 Arbeitsplätze kosten, schätzt
nahmen wie Fortbildung oder Arbeitsbe- sieben Prozent für Lebensmittel, Zeitungen Viktor Steiner vom Deutschen Institut für
schaffung aus. Ein gut Teil der Programme oder Bücher soll dagegen erhalten bleiben. Wirtschaftsforschung.
gilt als weitgehend ineffizient. Noch steht zwar nicht fest, ob der Fiskus Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn hat eine
Doch als die zuständigen schwarz-roten künftig 18 oder 19 Prozent abgreift. Doch eigene Liste zur seriösen Haushaltskonso-
Unterhändler die Positionen in der ver- dass die Mehrwertsteuer steigt, ist für lidierung ausgearbeitet. Danach könnte der
gangenen Woche durchkämmten, moch- die Experten ausgemachte Sache. „Daran Fiskus in relativ kurzer Zeit knapp 45 Mil-
ten sie kaum Überflüssiges entdecken. Die führt kein Weg vorbei, die riesigen Haus- liarden Euro sparen.
Ich-AG etwa, die Experten für besonders haltslöcher bekommen wir anders nicht in Dafür müssten nicht nur Steuervergüns-
missbrauchsanfällig halten, gilt den Ar- den Griff“, gesteht ein SPD-Unterhändler. tigungen wie die Eigenheimzulage, Pend-
beitsmarktpolitikern dabei als genauso lerpauschale und Agrardiesel komplett ab-
„unverzichtbar“ wie der Vermittlungsgut-
schein, die Entgeltsicherung für ältere Ar- Der soziale Geist geschafft, sondern auch Darlehen für den
sozialen Wohnungsbau und die Zuschüsse
beitnehmer oder die sogenannte 58er-Re- Struktur des Bundeshaushalts zur landwirtschaftlichen Unfallversiche-
gelung, mit der ältere Arbeitslose die Zeit 1984 und 2004 rung gestrichen werden. Obendrein schlägt
bis zur Rente überbrücken können. Kür- Rente, Arbeit Sinn die Einführung einer Pkw-Vignette
zungspotential? Nahe null. und Soziales von 100 Euro jährlich vor.
Renten
Das gilt angeblich auch für das neue Ar-
beitslosengeld II – obwohl die flächen-
deckende Verschwendung öffentlicher
1984 14,0% 32,5 % Der designierte Wirtschaftsminister Stoi-
ber ist derweil noch damit beschäftigt, sich
selbst zu sortieren. Seine Spitzenbeamten
Arbeitsmarkt
Gelder nirgends augenfälliger ist als bei 3,8 % können die neue Formel „Sparen, refor-
der Hartz-IV-Reform. Allein in diesem Sonstiges mieren und investieren“ derzeit noch nicht
Jahr, so hat die Regierung selbst einge- sonstige mit echter Substanz füllen.
36,8% Sozialausgaben
räumt, verursacht das Projekt ungeplante 14,7% So spicken sie ihren Chef auch mit Pro-
Mehrausgaben von zehn Milliarden Euro. pagandaraketen, die vor allem in Richtung
Würde das Gesetz entsprechend korrigiert, Zins- Brüssel zielen. Geld aus den europäischen
müsste sich allein dadurch ein beacht- ausgaben Töpfen, so steht es in einem internen Pa-
licher Teil der Zusatzkosten wieder her- 11,0% pier für Stoibers Verhandlungsteam, sol-
Verteidigung
einholen lassen. len nur jene EU-Länder erhalten, die ein
19,7%
Doch wer das Arbeitsgruppenpapier zur bestimmtes Mindestaufkommen bei den
„Verbesserung der Umsetzung des SGB II“ Unternehmensteuern erzielen. Das solle
studiert, wird rasch eines Besseren belehrt. den verhängnisvollen Standortwettlauf un-
Rund 30 Maßnahmen listet das Papier Rente, Arbeit terbinden, den sich die Mitgliedstaaten
auf. Nur: Die Projekte gelten entweder
als „kostenneutral“, oder sie bringen nur 2004 und Soziales
47,8 %
derzeit liefern.
Länder wie Tschechien, Polen oder die
„geringe“ oder „nicht bezifferbare Einspa- Renten Slowakei haben in den vergangenen Jah-
rungen“. Der Finanzeffekt des Hartz-IV- Sonstiges 30,7% ren die Abgaben für Unternehmen deut-
Pakets summiert sich deshalb bislang auf 26,8 % lich gesenkt – und damit Firmen und Ar-
ganze 600 Millionen Euro, nicht einmal Arbeitsmarkt beitsplätze aus anderen EU-Staaten wie
zwei Prozent des erforderlichen Konsoli- 9,9 % Deutschland angelockt. Es dürfe nicht sein,
dierungsbetrags. Verteidigung dass „mit deutschen Steuergeldern die Ver-
So lag es nahe, sich der Einnahmeseite 11,0% lagerung deutscher Arbeitsplätze in die
des Haushalts zuzuwenden. Zur Diskus- sonstige Beitrittsstaaten finanziert wird“.
sion stehen ein neuer Solidaritätszuschlag Zins- Sozial- Wenn gar nichts geht, das weiß der
namens „Kon-Soli“ sowie eine Erhöhung ausgaben ausgaben Bayer – Brüssel ist immer schuld.
der Mehrwertsteuer in mehreren Stufen 14,4 % 7,2 % Sven Afhüppe, Wolfgang Reuter,
und Jahren. Der niedrige Steuersatz von Quelle: BMF Michael Sauga
30 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
CARO / RIEDMILLER
Ministerium zu verkaufen
schneiden als der Bund, um der Schulden-
falle zu entgehen.
Selbst bei reichen Ländern wie Baden-
Württemberg und Bayern erkennt die Stu-
Harte Einschnitte drohen den Bürgern nicht nur aus Berlin: In die einen dringenden Kürzungsbedarf von
5,6 und 7,3 Prozent. Klamme Länder wie
den Ländern ist die Haushaltslage noch dramatischer. Schulen müssen Bremen müssten sogar ein Viertel ihrer
geschlossen, Kliniken verscherbelt, Stellen gestrichen werden. Ausgaben streichen, meinen die Forscher.
Was passiert, wenn nichts passiert, hat
D
as Treffen am Dienstag vergangener „Die Länder gehen mit ihrem Geld noch die Hartmann-Kommission in Düsseldorf
Woche wirkte harmonisch, dabei verantwortungsloser um als der Bund“, geschildert: Krankenhäuser, Universitäten
ging es um nichts weniger als um sagt Ole Wintermann von der Bertels- und Schulen würden verfallen, es wäre
eine Bankrotterklärung der Politik: NRW- mann-Stiftung. Das Institut hat zusammen bald kaum noch Geld da, um Schlagloch-
Regierungschef Jürgen Rüttgers hatte eine mit dem Europäischen Zentrum für Wirt- pisten zu flicken, Busse und Bahnen zu re-
Kommission aus Wirtschaftsführern ein- schaftsforschung eine Studie verfasst, die novieren. Die Steuereinnahmen würden
gesetzt – und die Bosse sollten ihm nun den Schuldenstand der Länder ins Ver- von Zinszahlungen aufgefressen.
sagen, wie er seine maroden Finanzen hältnis zu ihrer Wirtschaftskraft setzt. Er- In Bremen kommen auf jeden Bürger
wieder in den Griff bekommen könnte. schon mehr als 17 000 Euro Landesschul-
Mit zustimmendem Kopfnicken quit-
tierten der CDU-Mann und sein Finanz-
Schulden je Einwohner den, dazu fast 10 500 Euro aus Bundes-
schulden (siehe Grafik). Die Große Koali-
minister am Kabinettstisch in der Düssel- aus Länder- und Gemeindehaushalten 2004 tion im Stadtstaat hat dieses
dorfer Staatskanzlei, was sich die Unter- in Euro Bremen 17 013 Jahr Ausgaben von vier Mil-
nehmer und Experten an Grausamkeiten liarden Euro vorgesehen.
Berlin 15 907
ausgedacht haben. Die Politiker lobten Eine Milliarde muss sie sich
„intelligente Vorschläge“ und „kreative Hamburg 11 721 dafür auf den Kreditmärk-
Ideen“ – obwohl es in dem Sparkonzept Sachsen-Anhalt 8522 ten leihen – und gleich die
um massenhaften Stellenabbau geht, um Hälfte davon als jährliche Zinsen wieder an
Zuschüsse, die wegfallen sollen, um Sub- Saarland 7804 die Gläubiger zurücküberweisen.
ventionen, die zu streichen seien. Schleswig-Holstein 7792 In Berlin mit seinen fast 60 Milliarden
Acht Milliarden Euro müsse das hoch- Nordrhein-Westfalen 7244 Euro Schulden gehen jährlich sogar 2,4 Mil-
verschuldete Land bis 2010 einsparen und liarden für Zinsen drauf. Finanzsenator
34 000 Verwaltungsstellen streichen, so die Thüringen 7190 Thilo Sarrazin (SPD) hält die Entwicklung
Kommission unter Leitung des E.on-Auf- Meckl.-Vorpommern 7149 für so bedrohlich, dass er schon über die
sichtsratschefs Ulrich Hartmann. Sonst Brandenburg 7091 Einsetzung von Staatskommissaren nach-
gehe in Deutschlands bevölkerungsreichs- denkt. Die Aufseher sollen in besonders
tem Bundesland bald „gar nichts mehr“. Rheinland-Pfalz 6894 hoch verschuldeten Ländern vom Finanz-
Solche Warnungen erreichen derzeit fast Niedersachsen 6832 planungsrat des Bundes und der Länder
alle Landeshauptstädte der Republik. Hessen 6093 eingesetzt werden können, um Haushalts-
Knapp 443 Milliarden Euro haben die Län- sperren durchzusetzen, schlug Sarrazin
der bis Ende 2004 an Schulden angehäuft, Baden-Württemberg 4158 vorvergangene Woche bei einer Tagung in
die Hälfte der 16 Regierungen wird es nach Sachsen 4043 Berlin vor. Gewählte Landesregierungen
Einschätzung des Bundesfinanzministe- Bayern 3012 würden dadurch de facto entmachtet.
riums in diesem Jahr nicht schaffen, ver- Der Vorschlag war ein Tabubruch und
fassungsgemäße Haushalte vorzulegen – Hinzu kamen auf jeden Bürger 10427 ¤ stieß denn auch bei anderen Schuldenma-
also sich höchstens so viel Geld zu pumpen, Schulden des Bundes (inkl. Sondervermögen) chern auf wenig Gegenliebe: „Ich will nicht
wie für neue Investitionen gebraucht wird. die Verantwortung in Bremen überneh-
32 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
für 2006 vorgelegt. Es ist der fünfte in Fol-
ge, der die Verfassungshürde reißt.
Dabei wird in Hessen schon kräftig ge-
trickst, um die Haushaltszahlen zu schö-
nen: Weimar will für mehr als eine Milliar-
de Euro Regierungs- und Polizeipräsidien
verkaufen und gleich wieder über Verträge
mit bis zu 30 Jahren Laufzeit zurückmieten.
Sogar Weimars eigenes Ministerium steht
auf der Angebotsliste. Statt Kreditzinsen
muss das Land dann für Jahrzehnte Miet-
zinsen zahlen – und steht am Ende ohne
eigene Behördengebäude da.
„Wir haben kein Ausgabenproblem,
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 33
Umfrage
Horst
Köhler
N
ach wochenlangem Gerangel um
die Bildung der künftigen Bun-
desregierung ist das politische Per-
sonal nun weitgehend bestellt – in der
SPIEGEL-Politikerrangliste wird der
Wechsel deutlich. Noch-Bundeskanzler 72
Gerhard Schröder und sein grüner Kom-
pagnon Joschka Fischer rutschen ab,
während die Protagonisten der geplanten 63 63
Großen Koalition, wie CDU-Chefin An- 58 57 57 57
gela Merkel und der SPD-Vorsitzende 55
Franz Müntefering, nach oben rücken.
Manche Politiker, die bald verantwort-
liche Posten übernehmen dürften, sind vie-
len Menschen indes noch unbekannt. Das
zeigt die aktuelle Quartalsumfrage von
TNS Infratest im Auftrag des SPIEGEL.
Den Sozialdemokraten und designierten „Wichtige Rolle“ seltener „Wichtige Rolle“ häufiger
Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewünscht als in der gewünscht als in der
September-Umfrage September-Umfrage
kennen sogar 70 Prozent der SPD-An-
hänger nicht.
Da wundert es kaum, dass die Wähler –4 +4 +9 + 14 –8 +6 +6
ihrer künftigen Bundesregierung noch
skeptisch gegenüberstehen. Auf „Heulen
und Zähneklappern“, wie es der hessi- „Dieser Politiker
sche Ministerpräsident Roland Koch an- 6 9 ist mir unbekannt“ 8 6
gesichts der Finanzlage des Bundes jüngst
verhieß, haben sich die Deutschen bereits Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
eingestellt: Lediglich 15 Prozent der Be-
fragten erwarten, dass sich ihre persönli-
chen Lebensumstände unter einer Kanz- Sonntagsfrage Merkels Manko
lerin Merkel eher verbessern werden. „Glauben Sie, dass die
Steuern, soziale Sicherung, Gesund- „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ designierte Bundeskanz-
heitsvorsorge oder Rentenpolitik – eine lerin Angela Merkel und
deutliche Mehrheit ist pessimistisch, was 50 SPD-Parteichef Franz
die Möglichkeiten der geplanten Großen Müntefering die volle
Koalition angeht. Immerhin: Die Wirt- Unterstützung ihrer je-
schaft anzukurbeln, trauen 63 Prozent der 45
weiligen Partei haben?“
neuen Bundesregierung aus Union und
Umfrage
SPD zu. Diese Hoffnung teilen sogar 45 Oktober CDU/
Prozent der Linkspartei-Sympathisanten. 40 Bundestags- 2005 Angela Merkel CSU
Beim Gezerre um die Kompetenzver- wahl 2005
teilung zwischen den Ministerien hat sich JA 28 44
inzwischen ein Politiker klar unbeliebt ge- 35
35,2 36
34,2 70
macht: CSU-Chef Edmund Stoiber. Dass 34 NEIN 54
der designierte Bundeswirtschaftsminister
mehr Verantwortungsbereiche für sein 30
Ressort verlangt, halten 66 Prozent der Franz Müntefering SPD
Befragten insgesamt und selbst 53 Pro- 61 69
zent der Unionsanhänger für falsch.
Kaum Zweifel haben die Wähler daran, Quellen: TNS Infratest und Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend 35 29
dass sich Union und SPD in den Verhand-
lungen einigen: 85 Prozent glauben, dass 9
10 9,8
die Große Koalition am Ende zustande 8,7 9 An 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
kommt. Und wählen würden die Deut- 8,1 keine Angabe
schen auch heute noch so wie am 18. Sep- 9
tember – die aktuelle Sonntagsfrage zeigt
nur geringe Abweichungen vom Ergebnis
2004 2005
der Bundestagswahl. Merlind Theile
34 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
Münteferings Aufstieg
TNS Infratest nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern.
Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige
Peer Christian Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die
Steinbrück Wulff
Veränderungen zur letzten Umfrage im September
Gerhard
Schröder Ulla Alle Angaben in Prozent
Schmidt Guido
Westerwelle Annette Sigmar Edmund
Schavan Gabriel Stoiber
Ursula von Gregor
der Leyen Gysi
Oskar
Lafontaine
Frank-Walter
Steinmeier
54 53
45
41
38 37 36 36
33
30
TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 25. und 26. Oktober 2005; rund 1000 Befragte
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 35
Deutschland
FABRIZIO BENSCH / AP
Verhandlungsführer Merkel, Müntefering, Schröder: Ende von Hass und Spott
Die Knuddel-Koalition
der Wahlurne entsorgt zu sein. Es geht
nicht anders. Schließlich muss zusammen-
gearbeitet werden.
Die Koalitionsrunden werden dabei zur
Es wird gescherzt, geflirtet und geklatscht: Bei den Koalitions- riesigen Kontaktbörse. Denn nicht nur
die Spitzenleute lernen sich jetzt intensiv
verhandlungen bemühen sich die einst verfeindeten kennen. Knapp 200 Unterhändler aus bei-
Lager von SPD und Union um einen ganz neuen, kollegialen Ton. den Volksparteien sitzen seit zwei Wochen
in insgesamt 16 Arbeits-
A
ngela Merkel schlendert so ent- ginn der Gespräche nicht gruppen zusammen. Und
spannt über den Bürgersteig, als um die demografische Ent- aus nahezu allen Gremien
wäre sie zum Kuchenessen bei wicklung des Landes, son- werden freudig Signale
Tante Waltraud eingeladen. Sie geht am dern um die der Familie der zwischenmenschlichen
Machtzentrum der deutschen Sozialdemo- Stoiber. „Wir gratulieren Verständigung gemeldet.
kratie entlang, sie sieht ein großes schönes Ihnen zu Ihrem dritten En- Man wundert sich, dass da
Foto im Schaufenster des Buchladens, es kelkind“, sagt Müntefe- auf der anderen Seite wi-
zeigt den späten Willy Brandt im Sieben- ring, und alle klatschen. der Erwarten vernünftige
MARC DARCHINGER
gebirge. Sie sieht Herbert-Wehner-Postkar- Es ist wie so oft, wenn Menschen sitzen und nicht
ten und Bücher über den „historischen Auf- Sozialdemokraten und Kon- jene Bösewichte, die man
trag des Reformismus“ der SPD. Aber die servative in diesen Tagen in jeder Wahlkampfrede
ganze sozialdemokratische Traditionspflege zusammensitzen. Sie be- attackiert hat.
löst bei ihr keine Gesichtsverzerrung aus. nehmen sich, als wären sie Damals, also vor weni-
Sie lächelt so gelöst wie Willy Brandt auf Komparsen in einem Lehr- „Frau Merkel gen Wochen, hatte CDU-
dem Poster. Dann geht sie schwungvoll film über Nächstenliebe war gegen alles, Generalsekretär Volker
durch die Drehtür in die SPD-Zentrale. und Höflichkeit. was die SPD Kauder dem Kanzler noch
Es ist Donnerstagnachmittag, und nicht Es wird gescherzt, ge- vorgeworfen, er lüge „frech
Tante Waltraud hat eingeladen, sondern lobt und geklatscht, dass seit 1863 erkämpft und dreist“, und sein CSU-
Franz Müntefering. Es gibt kein Kuchen- es allen Beteiligten eine hat.“ Kollege Markus Söder be-
essen, sondern Koalitionsverhandlungen, Freude ist. Jene Parteien, fand, Gerhard Schröder
aber das kann auch ganz nett werden. die sich noch im Wahl- Ludwig Stiegler am 4. Oktober habe „Deutschland rui-
Kurz darauf rattert es auf dem Asphalt, kampf gegenseitig vorwar- niert“. Damals hatte Schrö-
es naht Maria Böhmer von der CDU, die fen, Deutschland in den der selbst seiner Kontra-
ihren Rollkoffer zu den Sozialdemokraten Abgrund zu führen, basteln nun gemein- hentin jeden Anspruch auf die Kanzler-
zieht, als wollte sie über Nacht bei den sam an der Zukunft der Republik. schaft versagt: „Die kann es nicht.“ Doch
neuen Freunden bleiben. Wenig später Es ist nicht nur das friedliche Ende eines mit solchen Erinnerungen an ihre jüngste
schlendert ein entspannter Edmund Stoi- heißen Wahlkampfs, es ist zugleich das Vergangenheit möchten die neuen Freun-
ber heran. Er ahnt, dass dieser Termin ein Ende einer erbitterten Gegnerschaft, die de nicht mehr belästigt werden.
angenehmer sein wird. insgesamt 36 Jahre gewährt hat, seit sich Seit zwei Wochen haben sich Union und
Zu Recht, denn oben, im fünften Stock SPD und Union 1969 aus der ersten Großen SPD einem Experiment unterworfen, das
des Willy-Brandt-Hauses, geht es zu Be- Koalition lösten. All der Hass und Spott, viel verrät über die Ehrlichkeit von Wahl-
38 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
kämpfen und darüber, wie Schon bei ihrem ersten lachten erleichtert, selbst Koch. Trotz der
die Aussicht auf Macht Besuch in der SPD-Zen- neuen Herzlichkeit sind sich die meisten
das Verhalten über Nacht trale hatte sich Müntefe- Unterhändler bewusst, dass die schöne
verändern kann. Es zeigt, ring wie ein Verehrer ver- Harmonie rasch wieder in den alten Par-
dass die scharfe Rhetorik halten, der erst mal seine teienstreit umschlagen kann. Dann näm-
aus der Wahlkampfzeit Wohnung sauber macht, lich, wenn in dieser oder der nächsten
nicht viel mehr ist als eine bevor die neue Freundin Woche eine Entscheidung über die ganz
große Inszenierung. Und das erste Mal klingelt. großen Fragen fallen soll. Aber mit dieser
STEPHAN GOERLICH
dass ideologische Gräben Als Merkel schließlich Vorahnung will sich bislang keiner der
ganz schnell wieder zu- eingetroffen war, zeigte er künftigen Koalitionäre die Laune verder-
geschüttet werden können, ihr nicht ohne Stolz seine ben lassen. Sie setzen weiter auf das Prin-
wenn es um lukrative politischen vier Wände zip Pointe.
Posten geht. und seine liebsten Einrich- So bat CDU-Mann Steffen Kampeter
Wir müssen das jetzt „Gerhard Schröder tungsgegenstände. Ziem- beim Treffen der Arbeitsgruppe Finanzen,
auch wollen, mahnte SPD- hat nicht nur lich lange verharrten die der künftige Finanzminister solle die Run-
Chef Müntefering seine Deutschland beiden vor der großen de mit einem Witz auflockern. „Sie kennen
Genossen vor Beginn der Willy-Brandt-Statue und doch so viele.“ Geschmeichelt legte Peer
Verhandlungen. Und die ruiniert; er lügt steckten die Köpfe eng zu- Steinbrück los.
künftige Kanzlerin warb sich im Moment sammen. Fast schien es, Die Runde konnte sich kaum halten, und
in ihrer Fraktion dafür, als würden sie gleich so beugte sich die Große Koalition der Fi-
doch mal öfter mit den
durchs Land knuddeln. nanzexperten beschwingt über ihre Zah-
Schmuddelkindern von und durch die Sieben Tage später führ- lenberge. Es scheint, als führte der Weg
einst zu spielen. Oder bes- Fernsehstationen.“ te Merkel den Kanzler und zur Koalition besonders oft über Kalau.
ser zu trinken. „Wir dürfen den SPD-Chef zum ersten Die größte Zuneigung unter den künfti-
jetzt nicht mehr nur mit Markus Söder am 10. August Mal durch das Konrad- gen Partnern scheint sich zwischen Sozial-
FDP-Abgeordneten an der Adenauer-Haus. Es war demokraten und den Christsozialen zu ent-
Bar stehen und über die der Moment, in dem wickeln. Als der bayerische Minister Otto
Sozis lästern“, schärfte sie ihren Abgeord- Schröder kurz vergaß, dass er nun unter Wiesheu beim Treffen des Arbeitskreises
neten ein und plädierte für schwarz-roten Freunden war. Wirtschaft jüngst darüber referierte, wie
Alkoholkonsum. „Jetzt müssen wir mit Als Merkel mit ihm zur verglasten Front- man Unternehmen wieder zum Investieren
den Sozialdemokraten mal ein Bier trin- seite der Parteizentrale schlenderte, an der bringen könne, unterbrach ihn der SPD-
ken gehen.“ die Buchstaben CDU rot leuchten, blieb Experte Rainer Wend. „Moment mal, steht
Der deutsche Wähler hat die beiden er erschrocken stehen. Ein Foto vor dem da in Ihrem Wahlprogramm nicht genau
Volksparteien zur Gemeinsamkeit ge- Parteikürzel des Gegners? So weit schien das Gegenteil?“
zwungen, und diese scheinen tatsäch- er innerlich noch nicht. Münteferings emo- Wiesheu legte seinen Zettel zur Seite
lich zu gehorchen. Selbst der bayerische tionaler Lernprozess war schneller abge- und blickte dem Sozialdemokraten in die
SPD-Chef Ludwig Stiegler pariert, jener schlossen. „Komm, Gerd“, sagte er und Augen. „Wissen Sie“, sagte er, „dieses
Mann also, der vor kurzem noch ver- folgte brav der Gastgeberin. Wahlprogramm hat uns in Bayern noch nie
sprach, er werde „bis zur letzten Faser“ Ein paar wenigen ist die neue Höflichkeit so richtig gefallen. Das können Sie jetzt
dagegen kämpfen, dass Merkel die Re- allerdings noch etwas fremd. So erlitt der getrost ad acta legen.“
gierung führe. Schließlich sei sie „gegen hessische Ministerpräsident in der vergan- Beinahe zur gleichen Zeit gerieten in
alles“ gewesen, „was die SPD seit 1863 genen Woche einen schweren Rückfall in der Arbeitsgruppe Außenpolitik die SPD-
erkämpft hat“. alte Zeiten. Kühl wie das Linke Heidemarie Wieczo-
Nun preist derselbe Stiegler die „wohl- Licht an der Decke erklär- rek-Zeul und CSU-Polter-
temperierten Gespräche“ mit Merkel und te Roland Koch, warum geist Michael Glos fast in
Co. Ein wenig Schizophrenie ist in diesen Rot-Grün für die katastro- Flirtstimmung. „Ich neh-
Tagen durchaus hilfreich. phale Haushaltslage ver- me sie gern mal auf eine
„Die Stimmung ist mehr als höflich, sie antwortlich sei: „Das ist meiner nächsten Reisen
M. URBAN / SÜDDEUTSCHER VERLAG
ist herzlich“, sagt auch Unionsmann Peter Ihre Erbschaft!“ mit“, lockte die Entwick-
Hintze, der gegen die Sozialdemokraten Die Runde erstarrte. Für lungsministerin. „Dann
einst mit seiner Rote-Socken-Kampagne einen kurzen Moment fahren wir nach Pakistan
zu Felde zog. Aber das war früher, als SPD schien es, als würde die oder in den Sudan.“ Als
und Union noch so taten, als kämen die neue Kuschelstimmung Glos freudig zustimmte,
einen vom Mars und die anderen von der von der Realität zerstört. schob die Ministerin be-
Venus. „Ich habe noch drei sorgt nach: „Ich hoffe nur,
Die künftige Kanzlerin gibt sich er- Wortmeldungen, dann kön- Sie haben auch genug
kennbar Mühe, die ihr fremde Spezies der nen wir mal etwas zu „Die SPD kommt Kräfte.“
Sozialdemokraten vorsichtig zu erkunden. Abend essen“, versuchte damit nicht „Es ist ein bisschen so
Dabei schreckt sie vor kaum etwas zurück. Merkel die Beklemmung zurecht. Sie ist wie Fremdgehen“, sagt ein
Zuerst plauderte sie mit der SPD-Linken zu lockern. „Nach ge- Verhandlungsführer über
Andrea Nahles an einem Stehtisch, dann meinsamem Abendessen kopf- und das Miteinander der bei-
bat sie gar, die Parlamentarische Linke der ist mir jetzt nicht zumute“, führungslos. den Volksparteien. „Man
Fraktion besuchen zu dürfen. Parteichef zischte Entwicklungsminis- hat zwar tief in sich drin
Müntefering übt sich währenddessen in der terin Heidemarie Wieczo-
Parteichef das Gefühl, etwas Unan-
Rolle des Charmeurs. Im Wahlkampf hat- rek-Zeul. Müntefering ist ständiges zu machen. Aber
te er Merkel noch als „radikal unsozial“ be- Es war der Kanzler, der am Ende.“ irgendwie ist es doch ganz
schimpft, als „Zweite Liga“. Jetzt geht er die Situation rettete. „Na, spannend.“
mit ihr so zuckersüß um, wie es nur Sauer- etwas Essen müssen wir Volker Kauder am 3. Juli Markus Feldenkirchen,
Ralf Neukirch
länder können. doch alle“, sagte er. Alle
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 39
Deutschland
FOTOS: MARCO-URBAN.DE
sekretär ein Kraftfeld, das die
Energie der Volkspartei bün-
delt, auch für die Zeit nach der
Elefantenhochzeit?
Der Streit entzündete sich an
Parteimanager Wasserhövel, Förderer Müntefering: Erste Schramme am glänzenden Image einer Notlösung. Der SPD-
Chef schlug seinen loyalen Mitstreiter Was-
serhövel, 43, in der vergangenen Woche in
SPD
einem SPIEGEL-Gespräch vor („Er kann
E
r kann nicht sagen, er hätte es nicht sekretärs, der den gesamten Parteiapparat dern. Sie hätten die SPD bei öffentlichen
gesehen. Franz Müntefering war im- führt, der Wahlkämpfe organisiert, der die Terminen und in Talkshows nach außen
mer dabei, wenn die Genossen Karl- Interessen der Partei gegenüber den Minis- vertreten. Der Job des Generalsekretärs,
Josef („Kajo“) Wasserhövel, Bocholt, und tern der Regierung vertreten kann – der der erst vor sechs Jahren eingeführt wur-
Andrea Nahles, Weiler/Eifel, aufeinander Macht hat und der sie auch nutzen kann. de, wäre wieder abgeschafft worden, und
trafen. Wenn es kühl und frostig wurde wie In Wahrheit geht es um die Angst einer Wasserhövel hätte als Bundesgeschäfts-
am vergangenen Donnerstag bei den Ko- immer noch tief verunsicherten Partei, führer weiter das gemacht, was er nach-
alitionsverhandlungen im Berliner Willy- die in diesen Tagen von ihrem Vorsitzen- weislich am besten kann – die Partei orga-
Brandt-Haus, als sich Wasserhövel und den auf einen Regierungskurs gezwun- nisieren.
Nahles keines Blickes würdigten. gen wird, bei dem die eigene Identität auf Doch Münteferings Plan gelangte zu
Er hat gesehen, wie sich die beiden am der Strecke bleiben könnte. Und es geht früh an die Öffentlichkeit. Unbeirrt wollte
Buffet aus dem Weg gingen, wie Wasser- auch um die Sorge vieler Sozialdemokra- er dennoch seinen Vertrauten nun auf ei-
hövel zielstrebig einen Sitz auf der äußers- ten, Müntefering könne seinem Vorgän- nem Posten sehen, auf dem ein loyaler Mit-
ten rechten Seite des langen Konferenz- ger stärker ähneln, als es ihnen und ihm streiter in der Tat unverzichtbar ist. Und
tisches ansteuerte und Nahles sich ganz selbst gut tut. Wasserhövel ist loyal. Gegenüber Münte-
nach links setzte. In maximaler Entfernung fering und gegenüber der Par-
zu ihrem Kontrahenten. tei. Auf seinem Schreibtisch im
Müntefering wird geahnt haben, dass er 5. Stock des Willy-Brandt-Hau-
einen Fehler gemacht hat. Einen schweren ses, wo er noch als Bundesge-
Fehler sogar, gemessen daran, dass er sei- schäftsführer residiert, steht ein
ne Karriere bisher fast ohne Stolpersteine roter Wimpel mit der Auf-
absolvierte. Die Partei achtete ihn als In- schrift: „Wir sind nicht irgend-
tegrationsfigur, hielt ihn für das Gegen- wer. Wir sind die SPD“. An der
stück zu dem gleichermaßen energischen Wand hat Wasserhövel seine
wie egozentrischen Basta-Kanzler. Nun hat Lieblingswahlplakate in Silber
auch Müntefering die Partei vor vollende- gerahmt: „Merkel-Steuer, das
te Tatsachen gestellt, er hat sie nicht ein- wird teuer“.
bezogen, er wollte ohne Absprache durch- Seit Jahren folgt der studier-
regieren. te Historiker Wasserhövel Mün-
Nur vordergründig geht es dabei um den tefering auf Schritt und Tritt.
zweitwichtigsten Posten, den die Partei zu Er war sein Referent, Reden-
vergeben hat. Um das Amt des General- Parteilinke Nahles: In der Partei umfassend vernetzt schreiber und Büroleiter, in der
40 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
Kampa, im Verkehrsministerium und später disziplin unterworfen ist und von außen Maas (Saarland). Den Bezirk Hessen-Süd
im Willy-Brandt-Haus. Immer hielt er sich die eigene Regierung attackiert. und natürlich die Jusos, deren Vorsitzende
im Hintergrund, sorgte geräuschlos dafür, Nahles allerdings glaubt zu wissen, was sie früher war. Kaum jemand ist in der Par-
dass Münteferings Wille exekutiert wurde. für die Partei gut ist. Sie will die Genossen tei so umfassend vernetzt wie sie.
Doch genau diese Eigenschaft ist es, an stärker beteiligen, als das in den sieben Doch auch Münteferings Helfer waren
der sich das Unbehagen vieler Genossen Schröder-Jahren der Fall war. „Die Leute nicht untätig und fahndeten eifrig nach
entzündet. Sie halten Wasserhövel für ei- haben das Top-down-Verfahren gründlich prominenten Unterstützern. Diskret streu-
nen guten Organisator. Mehr aber auch satt“, sagt sie und meint damit Schröders ten sie Hinweise, dass Nahles bislang „nur
nicht. Die Partei will einen politischen Ge- Angewohnheit, der Partei auch ungeliebte studiert“ und „keinerlei administrative Er-
neralsekretär, einen, der souverän nach Themen von oben aufzuzwingen. fahrung“ habe, dass sie über „keine Bio-
außen auftritt, der selbstbewusst die Inter- Nahles ist von ungebremstem Ehrgeiz grafie“ verfüge und schließlich mit ihrer
essen der Partei gegenüber der Regierung beseelt. Bereits mit 29 übernahm die Toch- Kandidatur „den Franz“ beschädige. Ge-
vertritt – notfalls auch gegen einen Vize- ter eines Maurermeisters die Führung der arbeitet wurde mit allen Mitteln. Während
kanzler Müntefering. Parteilinken, sie widersprach dem Kanz- Müntefering und Nahles am vergangenen
Wasserhövel aber ist allenfalls Insidern ler im Parteivorstand, wenn sie es für an- Dienstag noch unter vier Augen redeten,
bekannt. Wenn er sich in den vergange- gemessen hielt („Der Partei sind die Füße meldete die Deutsche Presse-Agentur be-
nen Jahren zu Wort gemeldet hat, dann eingeschlafen, weil der Kopf nicht weiß, reits: „Wasserhövels Chancen als SPD-Ge-
mit farblosem Partei-Sprech („Wir müssen wohin er will“), und sie ließ sich bisweilen neralsekretär steigen.“
mit den Menschen in den Dialog kom- dafür beschimpfen. Müntefering hat sie Müntefering war sich lange sicher, dass
men“). Oder mit Sätzen, aus denen seine stets gefördert – wenn es sein musste auch seine Autorität schon reichen würde, die
Bewunderung für Franz Müntefering gegen Schröders Willen. Doch inzwischen Gegenspielerin auszuschalten. Während er
spricht. „Ich habe großen Respekt vor ist Nahles misstrauisch geworden. Warum noch engen Kontakt zum NRW-Landes-
Münteferings Ausdauer und seiner Kraft“, etwa wollten ihr vor kurzem mehrere Spit- vorsitzenden Jochen Dieckmann hielt und
sagt Wasserhövel gern, und: „Müntefering zengenossen das Amt einer Arbeitsgrup- auf die Unterstützung seines mächtigen
lebt die SPD.“ pensprecherin der Bundestagsfraktion an- Landesverbands setzte, gründete sich in
Eilig hat der Parteichef seinen Helfer dienen? War das ein ernsthaftes Angebot? Nordrhein-Westfalen eine spontane Initia-
dem Spitzengremium der Partei zur Wahl Oder eine Finte? Sollte sie nur billig abge- tive von Bundes- und Landespolitikern,
vorgeschlagen, obwohl er wusste, dass funden werden? die sich in einem Aufruf für Nahles aus-
Nahles, 35, alles tun würde, den Job zu be- Sie lehnte ab. Sie lehnte auch das Amt sprach – Dieckmann hatte darauf keinen
kommen. Sie fühlte sich übergangen. Und einer Parlamentarischen Staatssekretärin Einfluss. In der SPD-Bundestagsfraktion
mit ihr die Linke der Partei, die von 222 im Arbeitsministerium ab. Sie wollte nicht startete der Bochumer Abgeordnete Axel
SPD-Bundestagabgeordneten knapp die mit einem attraktiven Gehalt und einem Schäfer eine Umfrage unter den Mitglie-
Hälfte stellt. Dienstwagen ruhig gestellt werden. Schließ- dern der nordrhein-westfälischen Landes-
Bei einer Telefonkonferenz des Präsi- lich brachte Müntefering auch noch das gruppe. Das Ergebnis war für Müntefering
diums am vergangenen Montag kam es zum Amt des stellvertretenden Parteivorsitzes alarmierend. Von 21 befragten Abgeord-
Schlagabtausch zwischen den beiden La- ins Gespräch, doch dafür hätte sie gegen neten, so berichtete Schäfer, hätten sich 17
gern. Die Ministerin und Müntefering-Stell- ihre Flügel-Freundin Heidemarie Wieczo- für Andrea Nahles ausgesprochen – und
vertreterin Heidemarie Wieczorek-Zeul kri- rek-Zeul antreten müssen. Nahles lehnte damit gegen „den Münte“, wie sie ihren
tisierte das einsame Vorgehen des Partei- erneut ab: „Das ist kein Angebot.“ Wieczo- Parteichef nennen.
chefs. Für Wasserhövel sprach sich nur der rek-Zeul lästerte nach einem Gespräch mit Müntefering, der alte Fahrensmann der
NRW-Mann Harald Schartau aus. Münte- Müntefering im kleinen Kreis: „Ich lass SPD, hat sich auf offener Bühne verspe-
fering reagierte trotzig: „Heidi hat Andrea mir doch von einem 65-Jährigen nicht er- kuliert. Eine erste Schramme am bislang so
vorgeschlagen, da kann ich auch Kajo vor- zählen, ich soll den Weg für einen Gene- glänzenden Image des derzeit mächtigsten
schlagen.“ Nahles müsse wissen, dass sie rationenwechsel frei machen.“ Sozialdemokraten.
„da ein ziemlich großes Rad“ drehe. Nahles hat viele Unterstützer in der Par- Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fort-
Nichts kann Müntefering im Moment tei. Männer wie die linken Landeschefs schritt, sagt Müntefering gern. Diesmal hat
weniger gebrauchen als eine lautstarke Ge- Wolfgang Jüttner (Niedersachsen), Claus das Naturgesetz nicht gewirkt.
neralsekretärin, die nicht der Kabinetts- Möller (Schleswig-Holstein) oder Heiko Horand Knaup, Roland Nelles
42 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
E U R O PA
Abschied mit
Ausblick
Bei seinem letzten internationalen
Auftritt empfahl sich Gerhard
Schröder als kühner Kämpfer für ein
E
s war, nach diesen quälenden Koali-
tionstreffen im Kreise seiner Nach- Kanzler Schröder (bei London)
folgerin, endlich wieder einmal ein Scheiden ohne Wehmut
Auftritt ganz nach dem Geschmack des
deutschen Kanzlers. tet, ihre Ausgaben für For-
Noch einmal drehte er voll auf, noch schung und Entwicklung bis
einmal zeigte er, halb krawallig, halb selbst- zum Jahr 2010 auf annä-
ironisch, was er kann und wie unterhaltsam hernd drei Prozent des Brut-
er sein kann. Noch einmal pumpte er sich toinlandsproduktes zu stei-
als eherner Sozialdemokrat auf und ver- gern. Würden sich alle daran
masselte Tony Blair die Show. halten, so Schröder weiter,
Mit dem britischen Premier, lobte Schrö- flössen in der EU schon jetzt
der hinterher mit zufriedenem Grinsen, dreistellige Milliardensum-
könne man wirklich „gut streiten“. Blair men in den Zukunftsbereich.
44 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
vermeintlichen Protestanten wegen „Er-
schleichung einer Berufung“ vorzugehen.
Die Evangelische Landeskirche in Baden
müsse dessen Kirchensteuer zurücküber-
weisen, wenn sie noch „irgendeinen Fun-
ken an Selbstachtung verspürt“.
Dumm nur, dass sich jetzt eine „Be-
scheinigung des Übertritts in die evange-
lisch-lutherische Kirche“ wiederfand, da-
tiert auf den 6. November 1968, versehen
mit dem Kirchensiegel und der Unterschrift
Schelle für Die Initialzündung zum Glaubenskrieg chen hat“. Wenn es nur um die Formalien
lieferte der Berliner Bischof und Ratsvor- ginge, wäre das Problem damit vom Tisch.
sitzende der Evangelischen Kirche in Doch Berger fürchtet: „Was wirklich
die Katze Deutschland (EKD), Wolfgang Huber. Die stört, ist mein Denken. Es geht in Wahrheit
Kritik an Berger ist so etwas wie eine Er- um einen Kampf innerhalb der evangeli-
satzhandlung für die als abwertend emp- schen Kirche, welche Ökumene, welche
fundene Behandlung der evangelischen Kirchengemeinschaft man in Zukunft will.“
Ein bizarrer Streit offenbart die
Kirchenführer durch die katholischen. Und Der „protestantische Multifunktionär“
schwierigen Beziehungen zwischen sie ist Ausdruck eines gewissen Frustes in Leicht bilde, so vermutet Berger, mit Huber
den beiden großen Kirchen: der EKD angesichts der vielen Jubelarien „eine Wutgemeinschaft“. Der Bischof habe
Wie katholisch darf ein evangeli- rund um die Wahl von Papst Benedikt XVI. auf seine Artikel zuletzt „wie eine gereizte
scher Theologieprofessor sein? und den Weltjugendtag in Köln. Hummel reagiert“. Tatsächlich hatte sich
Bestsellerautor Berger („Jesus“) eignet der EKD-Vorsitzende in einem Leserbrief
U
ngewöhnlich eng wurde es in der sich glänzend als Blitzableiter. Er steht mit an die „Frankfurter Allgemeine“ zornig ge-
altehrwürdigen Theologischen Fa- seinen theologischen Auffassungen inner- zeigt. „Irgendwann muss einer der Katze
kultät der Universität Heidelberg. halb der evangelischen Kirche als Solitär die Schelle umhängen“, schrieb Huber nach
Die Vorlesungen des Professors Klaus Ber- da. Der „Exil-Katholik“, der konvertierte, einem Artikel Bergers, in dem der für eine
ger, 64, interessieren gemeinhin 100 Zuhö- weil er wegen seiner Ansichten nicht ka- „Ökumene der gegenseitigen Unterwer-
rer. Doch vergangene Woche wollten plötz- tholischer Priester werden durfte, glaubt fung“ plädiert hatte, sonst komme es nie zu
lich 250 Studenten rein, eilig musste ein an Wunder, Engel und die Jungfrauenge- einer Einheit der Christen. Huber zürnte:
größerer Hörsaal gesucht werden. burt. Huber, der zehn Jahre mit ihm in „Was ein Akademiker nicht tun sollte: Er
Auch nach dem Umzug ging es unge- Heidelberg lehrte, hatte Bergers „katho- sollte nicht über die Themen publizieren,
wöhnlich weiter: Der Neutestamentler be- lisch gefärbte Ansichten“ lange toleriert. von denen er nicht genug versteht.“
kam minutenlangen Applaus. Seine Hörer Weil ihm damit die Hände gebunden wa- Die Wortwahl zeigt, dass der durchaus
taten alles, um ihre Solidarität mit dem ren, probte der Huber-Vertraute Leicht, an von einer lässlichen Eitelkeit geplagte Hu-
Mann zu demonstrieren, der von Spitzen- sich eher ein Mann der Nächstenliebe und ber sich zunehmend in die Defensive ge-
funktionären der evangelischen Kirche der- des leisen Wortes, den verbalen Großan- drängt sieht. Nun will er „mehr Profil“ zei-
zeit abwechselnd als „Konfessionsbetrü- griff. Gestützt auf drei ihm zugespielte gen. Er ist es leid, bei jeder offiziellen Be-
ger“, „Lügner“ und „katholisches U-Boot“ Briefe, aber ohne überhaupt mit Berger zu gegnung mit der katholischen Kirche vom
bezeichnet wird. sprechen, forderte er das Wissenschafts- Papst lediglich als Vertreter einer „christ-
Der Publizist und bekennende Protes- ministerium in Stuttgart auf, gegen den nur lichen Religionsgemeinschaft“ und nicht
tant Robert Leicht hatte Berger in der einer Kirche anerkannt zu wer-
„Zeit“ schlicht Betrug und eine große „Le- den. Dazu hatte der Vatikan
benslüge“ vorgeworfen. Berger unterrich- auch noch darauf bestanden,
te zwar an einer evangelischen Fakultät dass bei einem Treffen zum
und zahle evangelische Kirchensteuer. For- Weltjugendtag die Bischöfin
mal aber sei er nie wirklich aus der katho- Margot Käßmann nicht mit-
lischen Kirche ausgetreten, bekenne sogar, kommt. Berger, der mit seinen
in seinem Herzen ein Katholik geblieben 45 durchweg kritischen Büchern
zu sein. so etwas wie der Drewermann
Damit eskalierte „der Fall Berger“, wie der evangelischen Kirche gewor-
FRIEDRICH STARK / EPD
er bald hieß, zu einem bizarren Streit: den ist, kontert mit „zehn Ku-
Wie katholisch darf ein evangelischer Theo- bikmetern Bücher und Vorle-
loge sein? Inzwischen geht es um noch sungsmanuskripten“ in seiner
Wohnung: „Die kann jeder ruhig
* Beim ökumenischen Gottesdienst am 28. Mai 2003 in lesen, da gibt es nichts Unevan-
Berlin mit Kardinal Georg Sterzinsky. Bischof Huber*: „Wie eine gereizte Hummel“ gelisches.“ Peter Wensierski
46 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
SPIEGEL TV
Wie in solchen Fällen üblich, fanden die
Interviews zeitgleich statt, um Absprachen
zu verhindern. Während Mitarbeiter
der Ausländerbehörde die Ehefrau
Jährlich rund befragten, nahmen sich An-
60 000 gehörige der deutschen Bot-
binationale Ehen schaft in Tunis den Gatten
vor. Das Resultat der Inves-
mit deutschen Partnern tigation: Harold und Maude
davon gibt es wohl doch nur im
3000 Film, das Verwaltungsge-
Partner Gross, Kenzizi: „Meine große Liebe“ Scheinehen 5 % richt jedenfalls sah zu vie-
strafrechtlich erfasst le Ungereimtheiten. Die Dar-
D
ie Romanze gemahnt ein wenig an Es ist eine bizarre Geschich- stellung, es „handele sich um
den Filmklassiker „Harold and te, aber keine seltene Ausnahme, eine Liebesheirat“, heißt es in dem
Maude“: Eugenie Gross, Oma aus über die das Berliner Verwaltungs- Urteil, könne nicht überzeugen.
Backnang im Schwabenland, verliebte sich gericht jetzt im Oktober zu entscheiden Jetzt sitzt Eugenie Gross doch allein in
vor drei Jahren in Khomais Kenzizi, einen hatte. Um 20 Prozent, so haben die Rich- ihrer Wohnung in Backnang – leicht ge-
Kellner aus Tunis. Sie war da schon stolze ter anhand einer Fallstatistik errechnet, bräunt, da sie gerade zurück ist von einem
83 Jahre alt, er erst 25. seien allein im vergangenen Jahr die Fälle Besuch bei ihrem Ehemann, mit dem sie
Zweimal traf sich das Paar in Tunesien. von Scheinehen in die Höhe geschnellt. nur nach tunesischem Recht verbunden
Dann wurde dort, am 18. März 2004, ge- Das Bundesinnenministerium hat ermit- sein darf. Natürlich, erzählt sie, habe auch
heiratet, ganz intim. Nur die Braut, der telt, dass in ganz Deutschland pro Jahr sie anfangs Bedenken gehabt, als der Kell-
Bräutigam und zwei Freunde waren dabei rund 3000 Eheschließungen strafrechtlich ner ihr den Antrag machte. Doch er habe
sowie ein Mitarbeiter vom Amt – ein Mär- als Scheinehen erfasst werden. Und das nicht aufgegeben. Sie sei doch „eine so
chen aus 1001 Nacht. 1500 Millimes, gut sind nur die registrierten Fälle. schöne Frau“, er liebe sie, habe ihr der
einen Euro, kostete die Zeremonie. Hinter dem Betrug stehen oft Schleuser- Muslim immer wieder versichert, den sie
Die Ernüchterung kam knapp zwei Mo- banden, die etwa gezielt in Discos nach in einem Bierrestaurant im Touristenort
nate später, da war die verblüffend rüstige deutschen Männern und Frauen Ausschau Hammamet kennen gelernt hatte.
Seniorin längst wieder in ihre Heimat halten, um sie mit Geld zur Heirat mit bil- Hätten Eugenie und Khomais in
zurückgekehrt. Als der Angetraute nach- ligen Arbeitskräften in der Gastronomie Deutschland ihren Ehebund geschlossen,
kommen wollte, verweigerten die deut- oder mit Prostituierten zu animieren. Wer hätten es die Behörden wohl schwerer ge-
schen Behörden dem Tunesier das Visum. sich als Ehepartner zur Verfügung stellt, habt, ihnen eine Scheinehe zu unterstellen.
57 Jahre Altersunterschied – da bestün- kann zwischen 6000 und 10 000 Euro kas- Im vergangenen Jahr verweigerte etwa ein
den „Zweifel an einer ernstlichen Ehe- sieren. Das Abenteuer wagen aber auch Standesbeamter in Salzgitter die Ehe-
führungsabsicht“, hieß es im Bescheid. Die Deutsche, die im Auslandsurlaub Einhei- schließung einer 32-jährigen Deutschen mit
Beamten witterten eine Scheinehe, mit der mische kennen lernen und diese aus Mit- einem 22-jährigen Libanesen, der abge-
sich der Afrikaner ein Aufenthaltsrecht in leid über die ärmlichen Verhältnisse ins schoben werden sollte. Das Paar hatte zum
der Bundesrepublik erschleichen wolle. reiche Europa holen möchten. Und es gibt Beispiel unterschiedliche Angaben über
48 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
E
standsgesetze auf Bundesebene sollen her, r selbst hätte sich nie zum Enkel Wil- war Protagonist der Grünen im Osten und
um die Zahl der Scheinehen zu senken. ly Brandts ausgerufen. Aber nun ist zählt inzwischen zu den einflussreichsten
Sicherheitspolitiker wissen, dass Ermitt- er doch einer geworden. Matthias SPD-Mitgliedern.
lungen im Privaten schwierig sind – auch Platzeck, 51, steht im Lichthof des Willy- Wohl deshalb wirkt es nicht wider-
deshalb, weil es ihnen gutorganisierte Un- Brandt-Hauses in Berlin-Kreuzberg. Neben sprüchlich, wenn er „der Regine“ nach-
terstützer von Scheinehen schwer machen. ihm ragt die überlebensgroße Bronzeplastik trauert und gleichzeitig vor „Verklärung“
Im Internet sind etwa unter der Adresse des großen Vorsitzenden ins Atrium, in warnt, vom „sozialdemokratischen Glau-
„schutzehe.de“ genaue Handlungsanwei- dem der Ministerpräsident Brandenburgs bensbekenntnis“ spricht und im selben
sungen zu lesen, wie Trauwillige ermit- die Gäste begrüßt. Atemzug für die „Reform der sozialen
telnde Beamte austricksen können. Aus- Eine seltsame Übergangsgesellschaft hat Sicherungssysteme“ plädiert. Und es er-
gerechnet der Staat hat geholfen, diesen sich an diesem nasskalten Oktobertag klärt, warum sein Name plötzlich mit so
Leitfaden zu erstellen. Er entstand bei ei- zusammengefunden, um die verstorbene vielen Erwartungen verbunden wird –
nem Projekt von 16 Bremer Kulturorgani- SPD-Ikone Regine Hildebrandt zu ehren. schließlich ist die SPD zu einer einzigen
sationen im Rahmen der Ausstellung „Nie- In der ersten Reihe sitzen der Ossi und Übergangsgesellschaft geworden. Noch-
mand ist eine Insel“ – die mit Steuergel- Noch-Minister Manfred Stolpe und der Kanzler Gerhard Schröder wollte ihn
dern des Senats und der Kulturstiftung des Wessi und Noch-SPD-Generalsekretär zum Außenminister machen, mit der Op-
Bundes finanziert wurde. Klaus Uwe Benneter. Auf dem Podium tion auf die nächste Kanzlerkandidatur.
Auch Oma Gross mag nicht lassen von wartet der Hildebrandt-Biograf Hans-Die- Nun soll er stellvertretender SPD-Vorsit-
dem Mann aus Tunesien, der „mir meine ter Schütt, der bis 1989 im FDJ-Blatt „Jun- zender werden, selbstverständlich mit der-
Jugend wiedergegeben hat“. Da sie wegen ge Welt“ gegen die Klassenfeinde hetzte. selben Aussicht.
ihres schwachen Herzens nicht nach Afrika Dem Gastgeber sind Übergänge ver- 15 Jahre gehört Platzeck schon zum poli-
ziehen kann, schreibt der Ehegatte nun er- traut, nicht zufällig hängt in seinem Pots- tischen Betrieb, der nach westdeutschen
greifende Briefe auf Herzchenpapier. Dar- damer Amtszimmer ein Foto der Glie- Regeln funktioniert. Dass er, der nach ei-
in spricht er sie an als „mein Schatz“ oder nicker Brücke, über die er in der Nacht genem Bekunden „kein Parteimensch“ war
„meine große Liebe“. Schließlich will das der Maueröffnung gen Westen lief. Plat- und sich einst als „Rot-Grüner mit kon-
Liebespaar die deutschen Beamten mit die- zeck war Naturwissenschaftler und ist nun servativen Zügen“ beschrieb, es so weit
sen Dokumenten doch noch vom gemein- Politiker, er war DDR-Bürger und ist nun gebracht hat, ist durchaus auch Ergebnis
samen Glück überzeugen. Udo Ludwig in der Bundesrepublik angekommen, er seines geschickt verborgenen Ehrgeizes.
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Platzeck hat einfach konsequent den Rat Als ihn, kaum war er Minister in der Instinktsicher ließ Platzeck sich jedoch
seines Vaters befolgt: „Wenn du schon in Ampelkoalition von Manfred Stolpe, die nie komplett in die Rolle des Kronprinzen
eine Partei eintrittst, dann versuche, ihr Kollegen Umweltminister aus dem Westen drängen, erfüllte keineswegs alle Wünsche
Vorsitzender zu werden.“ Er wurde Minis- in die Polit-Rituale einführen wollten, hör- des Kanzlers nach gemeinsamen Auftritten.
ter, Oberbürgermeister in Potsdam, dann te er zu – und folgte den Ratschlägen nur Fünf Tage vor der Wahl aber stand er dann
Landeschef der SPD in Brandenburg und selten. Bis zehn Uhr morgens, so lautete ei- wieder mit Schröder gemeinsam auf der
schließlich Ministerpräsident. ner der Ratschläge, müssten die Agenturen Bühne, im gutbesuchten Lustgarten seiner
Doch er hat sich angepasst, ohne einge- neue Nachrichten aus seinem Bereich mel- Heimatstadt Potsdam. Mit knirschendem
passt zu wirken. Auch auf der nächsten den, dann werde er schon ernst genom- Kiefer verfolgte ein abgekämpfter Schröder
Karriereebene will er verhindern, dass die men. Er könne, freut sich Platzeck, „noch die ungewöhnlich kraftvolle Rede Platzecks,
Politik komplett von ihm Besitz ergreift. immer an einem Mikro vorbeigehen, ohne der gegen Union und Linkspartei gleicher-
Ihm sei „bis zum 35. Lebensjahr etwas reinzusprechen“. Eine Laune der Natur, maßen polemisierte. Dann ging Schröder
Sinnvolles für mein Leben eingefallen“, er- das Oder-Hochwasser 1997, machte ihn auf ihn zu, und für einen Moment schien es,
klärt er, da wolle er auch künftig „kein Ab- dann als „Deichgraf“ bundesweit bekannt. als wollte er ihn nie wieder loslassen, so
hängiger sein, der sich nichts anderes als Der leise Weg durch die Institutionen sehr klammerte er sich an Platzeck.
Politik mehr vorstellen kann“. Auch des- brachte ihm immer wieder den Vorwurf der Der aber hatte schon zu diesem Zeit-
halb hat er „der Versuchung“ widerstan- Profillosigkeit ein. Nur symphatisch zu sein, punkt beschlossen, nach der Wahl in kei-
den, Außenminister zu werden. ärgerten sich Weggefährten, reiche nicht nem Fall nach Berlin zu wechseln. Er wol-
Dass er sich seinen „Wählern und Bran- aus, Platzeck stehe für kein einziges politi- le, machte er den Genossen im Willy-
denburg“ verpflichtet fühlte, hat ihn da- sches Thema und lasse der Konkurrenz viel Brandt-Haus klar, „erst in Brandenburg et-
vor bewahrt, noch mehr von seinem In- zu viel Raum. In der Großen Koalition, die was bewegen“, nicht vor 2007 gehen. Die
nenleben preisgeben zu müssen. Das „Pro- Platzeck seit Juni 2002 in Potsdam führt, Frage, ob er nachträglich in ein Bundeska-
vinz-Ei“, wie sich Platzeck wenige Tage träumte sein Stellvertreter, Innenminister binett wechseln würde, beantwortete Plat-
vor der Bundestagswahl halb scherzhaft Jörg Schönbohm (CDU), bereits vom Ein- zeck auf seine Weise zweideutig: „Ich bin
bezeichnete, ist Märker durch und durch. zug in die Staatskanzlei. nicht Jesus.“ Eigentlich wollte er nur sagen,
Seine Lebensgefährtin, ein paar Freunde, Erst im Landtagswahlkampf im vergan- dass er kein Prophet sei. Unfreiwillig gab er
seine drei Töchter, sein Kiez in Potsdam- genen Jahr gewann Platzeck politisches damit aber auch zu, welchen Druck er spürt.
Ob er sich tatsächlich zutraut, ganz in die
Bundespolitik zu wechseln? „Ich habe im-
mer so viel Freude an dem, was ich gera-
de tue“, wehrt er ab, „dass ich nicht über
die nächsten Schritte nachdenken muss.“
Zurzeit pendelt er ständig zwischen Pots-
dam und Berlin, Koalitionsausschuss, SPD-
Präsidium und, klar, auch Kungelrunden.
Regiert, sagt ein Vertrauter, wird Branden-
burg derzeit aus dem Auto. Platzeck ist
mittendrin im Getümmel. Doch ein Stück
Distanz bleibt immer, ein Abstand, den
wohl nur einer bewahren kann, der schon
KLAUS MEHNER / BERLIN PRESS SERVICES.DE
Besonderer Kick
„Wir vermitteln: Deutschland hilft.“
In den vergangenen Jahren hat die Zahl
der Auslandseinsätze denn auch stark
zugenommen. Auf fast allen Kontinenten
Sie halfen nach dem Tsunami und dem Hurrikan „Katrina“, nun retteten die Deutschen, was nach Sturm-
fluten, Erdbeben oder Kriegen noch zu
arbeiten sie im Erdbebengebiet in Pakistan: Das Technische retten war. Demnächst sollen neue Ein-
Hilfswerk ist zur schnellen Eingreiftruppe der Republik geworden. heiten zur Wasseraufbereitung aufgebaut
werden, um den vielen Notrufen gerecht
E
ndlich rattern die Rotoren, der Heli- gebiet ist es der zweite oder dritte Kata- zu werden.
kopter hebt ab. Hier oben, zwischen strophen-Einsatz im Ausland binnen zwölf Die sogenannten Search-and-Rescue-
den bewaldeten Hügeln Kaschmirs, Monaten. Vor allem nach dem Tsunami in Teams des THW, die bei Katastrophen
weht die Luft frisch und kühl durch die of- Südostasien haben sie geholfen, dann nach schnell Verletzte retten müssen, sind bin-
fenen Luken. Der Geruch des Todes dringt dem Hurrikan „Katrina“ in New Orleans. nen sechs Stunden abflugbereit. Der Not-
nicht herauf. Und vor drei Wochen schließlich bebte die
Ein Fluss sucht sich seinen Weg zwi- Erde in Pakistan, vermutlich starben dort
schen steilen Hängen, erster Schnee be- mehr als 54 000 Menschen. Technisches Hilfswerk
deckt die Gipfel. Und dazwischen liegen Es ist ein hartes Jahr für die Helfer vom
Dörfer, von denen kaum noch mehr steht Technischen Hilfswerk (THW). Denn die MITARBEITER
als die Grundmauern. Deutschen mit ihren besonderen Fähigkei- 77 000 Ehrenamtliche
Die sechs Männer an Bord des Bundes- ten und ihren immer einsatzklaren Gerä- 980 Hauptamtliche
wehr-Hubschraubers sind jetzt seit fast ten sind inzwischen weltweit begehrt. So EINSÄTZE
zwei Tagen wach und tragen ebenso lange hat sich das THW mit seinen 77 000 Mit-
ihre blaue Uniform mit der Aufschrift gliedern zu einer Art Freiwilligen Welt- 16 425 im Inland 2004
„Technisches Hilfswerk“. Nur kurz haben feuerwehr entwickelt, stets abrufbar, stets 48 im Ausland 2004/2005
einige am Militärflughafen bei Islamabad, reisebereit. Allein seit Anfang 2004 halfen
Pakistan, einnicken können, an ihre Ruck- die blauen Engel, die auch für den Kata- Schweden
säcke gelehnt. In den Bergen warten die Bosnien-
Herzegowina
Erdbebenopfer, was dort neben Decken Kosovo
und Zelten vor allem fehlt, ist sauberes Rumänien
Wasser. Die Deutschen haben Material für Afghanistan
riesige Becken dabei, in denen sie ver- Pakistan
seuchte Brühe reinigen können. Iran
Dass vieles bisher schief gegangen ist, Irak
dass sie etwa erst einen Tag später als ge- Thailand
plant abfliegen konnten, hat sie verärgert. Indonesien
Sie haben keine Zeit. In Pakistan seien Sri Lanka
Malediven
über drei Millionen Menschen bedroht,
Somalia
sollte nicht vor Einbruch des Winters Kenia
schnelle Hilfe kommen, warnte Uno- Sudan
Generalsekretär Kofi Annan am Mittwoch Dem. Rep. Kongo
in Genf. Tschad
Für die meisten der zurzeit etwa ein Tunesien
Dutzend deutschen Helfer im Erdbeben- Marokko
Liberia
52 Sierra Leone
USA
Katastrophenhilfe (in New Orleans)
Weltweit begehrt
54 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
SPI EGEL-GESPRÄCH
Individualisierung der Gesellschaft gefähr- und unterstützt werden. Wir brauchen ein
de, schreiben Sie, die „Architektur einer neues bürgerliches Zeitalter, ohne die Enge
politischen Gemeinschaft“, die nun mal ein des alten, jedenfalls mehr Respekt für die
elementares „Einheits“-Gefühl brauche. Familie, für Aufrichtigkeit, Höflichkeit,
Das aber schaffe weder der linke Ruf nach Fleiß und Erfolg, auch für religiös veran-
mehr Staat noch die neoliberale Abwehr kerte Demut. Die traditionellen Wege zum
öffentlicher Herrschaft. Auch nicht – und Glück sollten nicht länger verächtlich ge-
damit kritisieren Sie ja schon vorweg die macht werden.
Große Koalition – die „Kombination“ bei- SPIEGEL: Fragt sich, ob sie tatsächlich noch
der Politik-Wege. begehbar sind. Eine Folge des modernen
Di Fabio: Meine Vorstellung ist die, dass wir Individualismus zum Beispiel ist die Lö-
vor allem eine kulturelle Debatte brauchen. sung kirchlicher Bindungen. Gotteshäuser
Weder der linke Interventionismus noch bleiben leer, werden verkauft oder abge-
der neoliberale Weg, auch nicht deren rissen. Soll der Staat diesen traditionellen
Kombination, stellen sich dieser Debatte Weg zum Glück offen halten?
darüber, was die Grundbedürfnisse einer Di Fabio: Als Notmaßnahme kann das ge-
stabilen freiheitlichen Gesellschaft sind. boten sein. Aber ich meine etwas anderes:
Sozialtechnik, egal ob staatliche Grund- Wir müssen konkret mit denjenigen reden,
versorgung, höhere Mindestlöhne oder die die aus der Kirche austreten, sie fragen, ob
Liberalisierung des Arbeitsmarkts, wird sie glauben, dass ein solcher Weg zur
nicht reichen, wenn wir wollen, dass die Steuerersparnis auch vernünftig sei. Ich
Menschen gern arbeiten und dass neue Ar- plädiere insgesamt für die Neubelebung
beitsplätze entstehen – dafür müssen sich einer Debatte über den Sinn von Gemein-
die kulturellen Voraussetzungen unserer schaften, auch von religiösen Gemein-
Gesellschaft ändern. schaften, die ja in einer aufgeklärten Ge-
Zum Beispiel: Wer seine Freiheit in einer sellschaft ihren Wert nicht etwa verlieren.
die Gemeinschaft fördernden Weise ge- Gemeinschaften müssen Menschen über-
braucht, also etwa reell arbeitet oder Ar- zeugen, sie ermuntern, sich in Kirchen,
beitsplätze schafft oder Kinder zur Welt Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen
bringt und diese gut erzieht, der sollte nicht zu engagieren oder ihnen doch die Treue
bürokratisch behindert oder herabwürdi- zu halten und sich nicht beim ersten An-
gend behandelt, der sollte mehr geachtet lass abzuwenden und dann an den Staat zu
appellieren.
SPIEGEL: Enthält Ihr Plädoyer für eine stär-
Abgeordnete im Bundestag* kere Prämierung der Familie mit Kindern
Kritik an der rechtlichen Aufwertung der
Homosexuellenehe?
Di Fabio: Mein Tenor ist: Die Freiheit, die
sich bindet, verdient mehr Respekt und
Unterstützung. Und wenn sich zwei gleich-
geschlechtliche Partner binden, gilt diese
Grundaussage auch für sie. Aber ich wer-
be für eine bestimmte Lebensform, die tra-
ditionellen Ursprung hat, und das ist die
Ehe von Mann und Frau. Wer für einen be-
stimmten Lebensstil und eine Institution
wirbt, diskriminiert damit nicht andere
Entwürfe.
SPIEGEL: Schadet denn die Schwulenehe
überhaupt der traditionellen Ehe? Ist sie
nicht eine Marginalie?
Di Fabio: Wenn Sie andere Lebensgemein-
schaften der traditionellen Ehe vollständig
gleichstellen, kann dies ihrem ideellen
Kern schaden. Das ist doch ganz einfach.
Wir schützen ja auch den Begriff der
politischen Partei oder den der Gewerk-
schaft. Würde man jede beliebige Grup-
pierung, auch wenn sie für sich genommen
viel Sympathie verdient, als politische
Partei oder als Gewerkschaft zulassen,
wäre die Möglichkeit klarer Distinktion
und die Rolle dieser Einrichtungen in der
Gesellschaft gefährdet. Wir müssen ge-
STEPHANIE PILICK / DPA
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 59
flikte auf. Das kulturell immer noch vor-
herrschende Normbild vermittelt die Bot-
schaft: Der freie Mensch kämpft nicht um
die Erhaltung der Gemeinschaft, sondern
er geht stolz und einsam davon – wie der
klassische Westernheld. Ich werbe dafür,
dass in Filmen, im Fernsehen oder in der
Literatur diejenigen, die bei Konflikten aus-
harren statt fortzulaufen, besser benotet
werden.
SPIEGEL: Filme und Fernsehspiele spiegeln
doch bloß, was tatsächlich in der Gesell-
schaft geschieht. Der einsame Kämpfer ist
doch ein Produkt objektiver Not …
SPIEGEL: Dabei kommt es auch auf das gu- nalismus unterscheiden. Der
te Beispiel an. Geht unsere – nicht sel- Nationalismus ist, nicht nur
ten mehrfach geschiedene oder kinder- für unser Volk, ein furcht-
lose – Politiker-Elite mit gutem Beispiel bares Unglück gewesen.
voran? Selbst wenn Fußballfans mit
Di Fabio: Wir sollten nicht auf ein vormo- der – von mir hochgehalte-
dernes Niveau zurückfallen und sagen, je- nen – schwarzrotgoldenen
mand kann nur das glaubhaft verkünden, Fahne laut schreiend durch
was er selbst lebt. Selbstverständlich kann die Innenstadt ziehen, ma-
zum Beispiel jemand, der keine Kinder hat, che ich mir Sorgen. Das ist
eine wunderbare Familienpolitik machen. mir zu laut. Patriotismus
Kinderlosigkeit ist ja auch keineswegs im- ist etwas anderes, er hat,
mer eine Lebensstil-Entscheidung, sie kann schon im 19. Jahrhundert,
biologische Gründe haben und ein schwe- etwa bei Heinrich Heine,
res Schicksal sein. Wenn im Wahlkampf Freiheit und Demokratie
polemisch die Kinderlosigkeit von Spit- immer mitgedacht, bevor
ACTION PRESS
zenkandidatinnen thematisiert wird, macht die Feinde der Freiheit sich
mich das etwas traurig. dieses Begriffs bemächtigt
SPIEGEL: Wenn Sie traditionelle Werte, etwa haben, um mit seiner Stärke
die eheliche Treue, stärker zur Geltung Homosexuellenhochzeit in Hamburg (1999): „Klare Distinktion“ eine aggressive Politik zu
bringen wollen, müssen Sie doch beden- füttern.
ken: Diese Werte haben oft einen meta- SPIEGEL: Neben der Kirche ist ein weite- SPIEGEL: Woher denn sollen wir heute die
physischen Hintergrund, der uns heute in rer großer Zusammenhang, in dem die Inhalte eines reflektierten Patriotismus,
der Regel fehlt – traditionell wird die ehe- Freiheit des Einzelnen gesichert werden den Sie fordern, nehmen? Deutschland ist
liche Treue ja am Altar versprochen. kann, die Nation. Die Nation braucht einen doch schon halb aufgelöst in Europa.
Di Fabio: Das ist schon richtig, aber man ideellen Rahmen, in dem Patriotismus ge- Di Fabio: Wir sind nicht aufgelöst in Europa.
sollte das Metaphysische auch nicht über- deihen kann. Globalisierung und multi- Für Frankreich gilt das nicht, also kann
schätzen. Zweckmäßigkeit, Idee und Lei- kulturelle Gesellschaft sind im Begriff, auch es auch für uns nicht gelten. Wir wollen
denschaft gehören zusammen. Im zurück- diesen Rahmen zu zerkrümeln. Helfen da- vielleicht aufgelöst sein. Europa funktio-
liegenden Industriezeitalter war die Ge- gegen Appelle, das Eigene wieder mehr zu niert aber nur, wenn die Mitgliedstaaten
sellschaft deutlich härter, trotzdem haben schätzen? ihre eigene nationale Kultur pflegen, in-
Werte wie Treue, Anstand, Aufrichtigkeit Di Fabio: Wenn man von Patriotismus re- dem sie zugleich für fremde Kulturen offen
funktioniert. det, muss man ihn zuallererst von Natio- bleiben.
Deutschland
SPIEGEL: Dass wir keinen Patriotismus mehr im Blick auf 1933, „sind in weiten Teilen gessen. Wer über die deutsche Geschichte
zustande bringen wie die Engländer oder mit allen Mitteln moderner Propaganda zwischen 1933 und 1945 auch nur gering-
Franzosen, hat doch historische Gründe, verführt und belogen worden.“ Sind die fügig anders reden will, als wir es uns an-
vor allem den, dass der nationale Gedan- Deutschen also überwiegend das Opfer gewöhnt haben, der macht etwas Gefähr-
ke von den Nazis ruiniert wurde. ihrer Geschichte? liches. Und trotzdem muss es möglich sein,
Di Fabio: Diese besondere Vergangenheit Di Fabio: Mein Gesamttext ist nicht apolo- obwohl es wie eine Operation am offe-
ist gerade ein Grund dafür, Patriotismus getisch. Im Gegenteil. Ich sage ja selbst, nen Herzen scheint. Hier hat unsere Iden-
zu leben. Wer, wenn nicht wir, sollte denn dass man den Deutschen vorwerfen muss, tität eine schicksalhafte Prägung bekom-
historisches Haftungs- und Verantwor- dass sie sich haben belügen und betrügen men, der wir nicht entkommen können.
tungssubjekt für die Verbrechen der Na- lassen. Sie haben sich mit der Ausgrenzung Doch nur wenn wir dieses Deutschland,
zis sein? Wenn wir deshalb in Europa ihrer jüdischen Mitbürger wehr- und ehr- auch mit dieser Prägung, aktiv wollen, mit
aufgehen wollen, um dem zu entkom- los gemacht. Da beginnt ihre Schuld. positiven Energien, haben wir noch eine
Zukunft. Wenn wir es nicht
mehr wollen, wenn wir die Be-
jahung der Nation wegen der
NS-Verbrechen ganz ablehnen,
dann behält doch am Ende je-
ner vulgäre Dämon – Hitler –
Recht, der 1945 meinte, die-
ses Volk habe es verdient un-
terzugehen. Wer Patriotismus
abschaffen will, folgt unwillent-
lich der Logik dieser zerstöreri-
schen Wut.
SPIEGEL: Wir haben den Ein-
druck, dass „Die Kultur der
Freiheit“ – Ihr Buchtitel – die
Freiheit der Kultur eher ein-
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Deutschland
E
s ist verboten. Warum? Es ist eben Patrick und Susan aber sind ein deutsches haben die gesagt, wir nehmen den und
so, überall. Fast überall. Bei den Pto- Geschwisterpaar und dürfen daher nicht adoptieren ihn“, erzählte Patrick dem
lemäern – Kleopatra soll die Schwes- ungestraft miteinander schlafen. Der „Bei- Erfurter Journalisten Henry Bernhard, der
ter ihres Ehemanns gewesen sein – und schlaf zwischen Verwandten“ (Paragraf 173 ein Radiofeature über den Fall produzierte.
den alten Persern und den Griechen der Strafgesetzbuch) wird hierzulande mit Frei- Patrick hat daher einen anderen Nach-
Antike vor Solon sah man die Sache an- heitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld- namen als Susan, heute 21, und als Jan,
ders, verboten jedenfalls war die Geschwis- strafe belegt. Leibliche Geschwister müssen der der Jüngste und ein Halbbruder ist.
terliebe nicht. Bei den Römern, die in den mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Dazwischen gab es noch den schwerbe-
ersten zwei Jahrhunderten ihrer Herrschaft Geldstrafe rechnen. Straflos bleiben sie nur, hinderten André, der an Heiligabend 1998
in Ägypten die Geschwisterehe noch er- solange sie nicht 18 sind (oder wenn es etwa „an Schläuchen erstickt“ sein soll.
laubten, ging später nichts mehr. Priester Brüder miteinander tun, denn das ist nicht Patrick wuchs als Einziger in geordneten
allerdings gerieten zunehmend in Verruf. Beischlaf, sondern strafloser Analverkehr). Verhältnissen bei seinen kinderlosen Ad-
Papst Johannes XII., der 963 abgesetzt Wer das zu verstehen versucht, scheitert. optiveltern in Potsdam auf. Mit 18 wollte
wurde, soll es mit seiner Mutter und seinen der Junge zum Missfallen der Adoptiv-
Schwestern getrieben haben. Aber das war mutter wissen, wer seine leiblichen Eltern
Sünde und Sittenverfall und Ausschwei- sind. Das Jugendamt teilte ihm mit, dass
fung und hat nichts mit Patrick und Susan zumindest die Mutter noch lebt. Im Mai
aus Zwenkau bei Leipzig zu tun. 2000 rief sie ihn an, er fuhr gleich zu ihr:
Bei den meisten Völkern gilt Inzest seit je „Da haben wir uns halt kennen gelernt,
als abscheulich und oft auch als strafwürdig. wieder, nach 20 Jahren.“
CHRISTOPH BUSSE / TRANSIT
In den Ländern allerdings, die dem aufklä- Susan machte große Augen. Die Mutter
rerischen französischen Code Pénal folgten, hatte nie erzählt, dass es da noch einen
ist Inzest heute straflos, so in Belgien, den großen Bruder gibt.
Niederlanden, Luxemburg, Portugal, der Für Susan war er ein Fremder, ein net-
Türkei, Japan, Argentinien, Brasilien und ter allerdings. Auch Patrick staunte: „Na,
anderen lateinamerikanischen Staaten. Der ich wusste am Anfang gar nicht, wer das ist.
italienische Codice Penale bestraft Inzest Verteidiger Kuhne, Frömling Dass du noch soundsoviele Geschwister
nur, wenn öffentliches Ärgernis entsteht. Welches Rechtsgut soll geschützt werden? hast, dass du ’ne Schwester hast, dass das
64 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Deutschland
dein Halbbruder ist.“ Er zieht dorthin, wo auf die Verhütung mittels Kondomen. Als Verfolgt man die Kommentierung des Pa-
er meint, seine Wurzeln zu haben, „zu un- die Kondome ,ausgegangen‘ waren, vollzog ragrafen 173, stößt man auf allerlei Merk-
serer richtigen Mutter“. er mit seiner Schwester stets den unge- würdigkeiten. Im Leipziger Kommentar
Wenig später der Schock: Die Mutter schützten Geschlechtsverkehr.“ (Dabei bezweifelt Karlhans Dippel, „was eigentlich
stirbt, noch nicht mal 50 Jahre alt. „Ein kommt es dem Gesetzgeber darauf gar die Strafvorschrift rechtfertigt“, und plä-
halbes Jahr bloß hab ich Kontakt zu ihr nicht an, der ungeschützte Verkehr ist nicht diert dafür, sie zu streichen. Bei Trönd-
gehabt“, sagt Patrick. Was nun? Wie soll es verbotener als der mit Kondomen.) Dies- le/Fischer heißt es: „Eine Legitimation der
weitergehen? mal wurde die Strafe für Patrick – zehn Strafdrohung fällt schwer.“ Vor allem die
Patrick ist plötzlich eine Art Familien- Monate – nicht mehr zur Bewährung aus- Frage, welches Rechtsgut durch die Vor-
oberhaupt. Kein Geld, kein Beruf, Arbeit gesetzt, weil er sich das erste Urteil ja nicht schrift eigentlich geschützt werden soll,
sowieso nicht, dazu die jüngeren Geschwis- zur Warnung hatte dienen lassen. plagt fast alle Kommentatoren.
ter. Susan, damals 16, ein zar- Sex zwischen Bruder und
tes, einfältiges Blümchen, Schwester mag der eine für
macht keinen Schritt ohne unmoralisch, degoutant oder
ihn, den sieben Jahre älteren unappetitlich halten. Der an-
Bruder, auch wenn sie ihn dere stößt sich an Partner-
kaum kennt. Er ist für sie der tausch oder Sodomie oder
einzige Halt. Und sie wohl einer anderen Geschmacks-
auch für ihn. verirrung. Homosexualität,
Mit dem Lesen und Schrei- auch mal ein Tabu und bis
ben hat sie es nicht, mit dem 1969 noch mit Strafe belegt,
Verstehen noch viel weniger. ist längst gesellschaftsfähig.
An einer Fördermaßnahme Selbst die im Volksglauben
der Agentur für Arbeit wurzelnde Furcht vor gene-
(„Jump plus“) nahm sie nur tisch-biologischer Schädigung
sporadisch teil, gut gemeint, der Nachkommenschaft hat
aber vergebens. die naturwissenschaftliche
Susan und Patrick haben Forschung schon zu Beginn
vier Kinder miteinander. 2001 des 20. Jahrhunderts relati-
kam Erik, dann 2003 Sahra, viert. Einen Beweis dafür,
Zhan
„Begegnungen. Bildband 60. Jahrestag der jetzt eine 69-Jährige vor, die sich in die
Befreiung vom deutschen Faschismus.“ Top-Level von „God of War“ empor-
Herausgegeben von der Arbeitsstelle
Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG), gemetzelt hat und seither den Ehrentitel
Braunschweig; 116 Seiten; 12 Euro. Ehemalige Häftlinge in KZ-Gedenkstätte Nordhausen „Old Grandma Hardcore“ trägt.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 69
Szene Gesellschaft
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Mit Roger Coenen traf sie sich
wöchentlich zur Fahrstunde und ab und
D
as Dokument, mit dem sich Ve- lernte: einiges über Autos, viel über sich begann, sich auf ihre regelmäßigen Aus-
nida Crabtree den Traum ihres selbst. Schuld, sagt sie, sind nie die an- flüge mit Coenen zu freuen. Die Fahr-
Lebens erfüllt hat, ist ungefähr deren. Schuld ist man immer selbst. schule wurde Teil ihres Lebens.
so groß wie ein deutscher Personalaus- Und: Wenn man etwas wirklich will, „Ich bin eine gute Autofahrerin, je-
weis und steckt in einer Klarsichthülle: kann man es auch schaffen. denfalls sagen das mein Fahrlehrer und
Führerschein Nummer D 0929170, aus- Je länger es dauerte, desto entschlos- meine Prüfer“, sagt Crabtree. „Sie ist
gestellt auf den Namen Venida Agatha sener wurde sie. „Ich wollte den Füh- eine ganz ordentliche Fahrerin“, sagt
Crabtree, erworben an einem makello- rerschein. Ich wollte nicht, dass die Leu- Coenen, inzwischen kurz vor der Ren-
sen Mittwoch im Sommer dieses Jahres. te mich bemitleiden, weil ich aufgebe.“ te, es klingt vorsichtiger, diplomatischer.
Rund 2000 Fahrstunden stecken in Irgendwann hörte sie von Roger Coe- „Gut“ oder „ganz ordentlich“ – vielleicht
diesem Führerschein und 33 Lebens- nen. Er ist ein freundlicher, höflicher macht das den ganzen Unterschied.
jahre, gekostet hat er am Ende 27 000 Mann, der unter Fahrschülern als zu- Dann kam der 6. Juli 2005. Am Mor-
Pfund, vielleicht auch mehr, so leicht rückhaltend galt und als äußerst geduldig. gen hatte Venida meditiert. „Beruhige
lässt sich das nicht mehr feststellen; Er wurde ihr Fahrlehrer Nummer sieben. dich“, wiederholte sie immer wieder,
umgerechnet sind das etwa „konzentriere dich.“ Sie ver-
40 000 Euro. suchte, sich das Auto vorzustel-
Es ist, vermutlich, die teuerste len, das Lenkrad, all die ver-
Fahrerlaubnis der Welt. dammten Knöpfe.
Venida Crabtree, 1955 auf St. Dann betete sie. „Mach, dass
Vincent in Westindien geboren, der Prüfer mein Freund ist, nicht
sitzt auf der Terrasse ihres klei- mein Feind.“
nen Reihenhauses im Oxforder Es war ein herrlicher Tag. Sie
Stadtteil Cowley und hält ihren kannte den Prüfer schon, weil
Führerschein in der Hand. Sie sie bei ihm schon einmal durch-
arbeitet als Masseurin, ihr Mann gefallen war, die beiden plau-
Ralph fährt für UPS Pakete aus, derten, er versuchte, ihr Mut zu
MIRRORPIX / BULLS PRESS
27 000 Pfund sind für die beiden machen. Die Sonne schien. Zum
ein Vermögen. Es sei nie eine ersten Mal seit langer Zeit fühl-
Frage des Geldes gewesen, sagt te sie sich gut.
Venida. Es gehe darum, nicht „Sei ganz du selbst“, hatte ihr
aufzugeben. Niemals. Mann am Morgen gesagt. „Ent-
Venida war 17, als sie ihre Crabtree spann dich. Genieß es.“
allererste Fahrstunde nahm. Als die 45 Minuten endlich
Pünktlich zum 18. Geburtstag, um waren, hatte der Prüfer 15
hoffte sie, würde sie den Füh- Schnitzer notiert, nur einen we-
rerschein in Händen halten. niger als erlaubt, aber keinen
Das war 1972. Richard Nixon groben Verstoß. Venida hatte
wurde zum Präsidenten Ameri- bestanden.
kas wiedergewählt, in München „Ich wusste, dass du es schaf-
trafen sich die Sportler zu den fen würdest“, rief Coenen, als
Olympischen Sommerspielen, sie sich ihm in die Arme warf.
Atari präsentierte das erste Vi- Aus der „Süddeutschen Zeitung“ „Entschuldige, dass ich dich so
deospiel der Welt. Bei der ersten oft enttäuscht habe“, stammelte
Prüfung fiel Venida glatt durch. Sie ist In Großbritannien regierte inzwi- Crabtree, lachend, Tränen in den Au-
ein nervöser Typ, und wenn sie einen schen Margaret Thatcher, der amerika- gen. Dann umarmte sie den Prüfer.
Fehler macht, wird sie noch nervöser. nische Präsident hieß Ronald Reagan, „Gott schütze dich, Simon.“
Außerdem hasst sie Prüfungen. die Welt hatte sich verändert. Venida „Es war eine Riesenerleichterung“,
Natürlich machte sie weiter. Venida war, im Großen und Ganzen, dieselbe sagt sie und schiebt den Führerschein
fährt gern, aber ihr fehlte, so scheint es, geblieben. Sicher: Sie hatte geheiratet vorsichtig in die Hülle zurück, „wie ein
mitunter das Gefühl fürs Auto, für den und war wieder geschieden worden, Gewicht, das endlich von meinen Schul-
Verkehr. Mal jagte sie den Wagen der- sie hatte anfangs in einem Krankenhaus tern genommen wurde – und von denen
art schnell über ein paar Bodenschwel- gearbeitet und später eine Ausbildung meines Fahrlehrers. Und von denen
len, dass es schepperte; mal nahm sie zur Masseurin absolviert. Aber sie war meines Mannes.“
eine Kurve so rasant, dass selbst der noch immer aufgeregt, wenn sie zu Sie hat sich inzwischen einen Dae-
Fahrlehrer erschrak. dem Prüfer in den Wagen stieg – und woo gekauft, fünf Jahre alt, kirschrot.
Jahre vergingen. Venida wechselte sie hatte noch immer keinen Führer- Die Fahrstunden vermisst sie jetzt
ein paar Mal die Fahrschule, aber sie schein. schon. Hauke Goos
70 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Gesellschaft
GENUSS
N
achts ist es kalt hier oben, tagsüber Mancher in der Branche kriegt einen durch Bentonit. Löwenstein ist gegen den
sonnig, das ist gut, die Trauben sol- starren Blick, spricht man vom Winninger Zusatz von Enzymen und lässt den Wein
len noch hängen, bis November Weingut Heymann-Löwenstein: Dort wirkt ausschließlich mit seinen eigenen wilden
wäre am besten. Milder Herbst hier oben dieser Quertreiber, der Querulant. Hefen gären, die auf den Trauben sitzen
in den Schieferterrassen, wo der Winninger Löwenstein ist dagegen, dass man den und im Keller nisten. Er lehnt die üblichen,
Röttgen wächst, Reinhard Löwenstein Most konzentriert, dass man ihm Wasser im Versand erhältlichen Reinzuchthefen ab
stapft durch seine Steillage, bröselt braun- entzieht. Löwenstein ist gegen Mostklärung und schwitzt dafür Sommernächte durch:
gelben Schiefer in den Fingern, hundert
Meter hoch über dem Dorf an der Mosel,
in dem er zu Hause ist und das er mit 17
fluchtartig verließ.
Unten in Winningen ist noch Saison, im
„Moselstübchen“ trinken gutgelaunte Tou-
risten, Herbstsaison, bald kommt der Wein
in die Tanks. Vom Landwirtschaftsministe-
rium Rheinland-Pfalz ist per Aushang zu
erfahren, dass die Winzer ihre „önologi-
schen Verfahren“ zu melden haben, den
„Besitz an Anreicherungsmitteln“, die „Er-
höhung des Alkoholgehalts“, die „Entsäue-
rung“, die „Entsüßung“ ihres Weins.
Reinhard Löwenstein zupft am Riesling,
kostet, von wegen Entsäuerung, von wegen
Entsüßung, bis zu zwölf Meter tief wur-
zeln die Reben und zapfen sich ihren
Geschmack. Pfirsich, Quitte, Honigmelone,
später Nougat, Schokolade, er will mit
der Lese warten, will, dass der Wein sich
holt, was er kriegen kann, vom Boden,
vom Terroir. Ist ja ständig seine Rede:
Terroir.
Er hat ein Manifest verfasst, das für Auf-
regung sorgte in der Branche, ein „Mani-
fest der Terroiristen“. Hat die „Infantili-
sierung“ des Geschmacks beklagt, der den
Wein heute fruchtig wolle wie „Erdbeer-
marmelade oder Schokoladensirup“, hat
die Sucht nach Massenwein verflucht und
das deutsche Gesetz, das die Weinqualität
nach „Öchslegraden“, also nach dem
Zuckergehalt, bemisst. Und spricht von
Terroir, immer wieder Terroir.
Meint seinen Schiefer, den er vom Bo-
den klaubt und in den Händen bröselt,
graublau, dunkelbraun, sogar schwarz ist
der manchmal, mit blauen Reflexen, glän-
zend, „als habe die Sonne das Öl heraus-
gekocht“, sagt Löwenstein.
Der Boden, das Klima, die Witterung:
Sie sollen bestimmen, wie der Wein später
schmecken wird. Und nicht Technik, die
alles bestimmt.
Winzerpaar Heymann-Löwenstein
„Infantilisierung des Geschmacks“
72
Arbeiten sie jetzt endlich, die Hefen? Oder
tun sie es nicht?
Es gibt wahre Weine, findet er, und Fran-
kenstein-Weine, und es sieht so aus, als ob
die Fraktion der Frankensteins zurzeit auf
dem Vormarsch sei.
Löwenstein hat alte Ideen, er will zu-
rück. Und er fürchtet nicht den Streit.
Den Streit um das, was man unter Fort-
schritt versteht in der Neuen Welt: dass
man den Wein mit Holzspänen, mit Tan-
nin, mit Wasser versetzen darf, dass man
ihn mit einer Maschine namens „Spin-
ning Cone Column“ in seine Bestandteile
zerlegt und wieder zusammenbaut, nach
Bedarf.
Es geht darum, dass die Globalisierung
TERRY O'ROURKE
den Wein erreicht hat wie Kleinwagen,
Zahnbürsten und Bluejeans. Und wie ist
zu reagieren auf diese Globalisierung? Was
soll man mit dem Wein anstellen dürfen, Traubenverarbeitung in Kalifornien: Globalisiert wie Zahnbürsten und Bluejeans
damit er gefällig dem Geschmack der Welt von dort. Sie hat dort „wunderbare Weine
genügt? Und wird das, was dabei heraus- getrunken“ und zwei Jahre im Sonoma
kommt, noch den Namen Wein verdienen? County gearbeitet, als Labordirektorin bei
Auslöser für den Streit ist ein neues Han- einem der Großproduzenten. Sie war vor
delsabkommen zwischen der EU und den kurzem erst wieder mit ihren Weinbau-
USA. Es hat Verbände und Weintrinker, studenten in Kalifornien, um die wuchti-
Winzerstammtische und Forscher entzweit, gen, fruchtigen Tropfen zu kosten und um
und an ihrem Schreibtisch im hessischen Techniken zu besichtigen, die man hier
Geisenheim sitzt Monika Christmann, Do- nicht anwenden darf. Noch nicht jedenfalls.
zentin für Kellerwirtschaft, Sachverstän- Aber sie probieren es schon mal aus. Ei-
dige in der OIV, der „Organisation inter- chenchips beispielsweise, die Versuche da-
nationale de la vigne et du vin“, und lächelt mit laufen seit Jahren. Aber auch die Spin-
wissend. ning Cone Column hatten sie schon hier,
Es ist die OIV, die normalerweise die um sie zu testen, jene Maschine, mit der
Regeln bestimmt und die Grenzen dafür man Wein in seine Bestandteile zerlegen
setzt, wie der Wein zu behandeln sei. Doch kann – Alkohol, Wasser und Aromen – und
die USA haben die OIV verlassen und wieder neu zusammensetzen. In den USA
halten sich nicht mehr an deren Regeln, ist das erlaubt.
seitdem müssen einzelne Abkommen ge- Ist das die Zukunft? Muss es so kom-
troffen werden. men?
Provisorisch hatte man sich zwischen der
EU und den USA geeinigt, hatte den Ame-
rikanern manches erlaubt, wie die Eichen- Man kann den Wein zerlegen
chips, anderes, wie die Spinning Cone Co- und nach Belieben wieder
lumn, zu Deutsch Schleuderkegel-Kolonne, zusammenbauen. Soll man es tun?
verboten. Doch nun verlangt Washington
ein Abkommen, das von Dauer sein soll.
Das liegt jetzt vor, paraphiert von der EU- Sie lächelt. „Ich weiß, die Europäer ha-
Kommission im September. Ende Novem- ben Angst“, sagt sie.
ber soll der EU-Ministerrat entscheiden. Die Europäer denken an alte Zeiten, als
Es sieht aus wie Spielzeug, was Monika man den Rhein-Riesling schiffsweise in
Christmann in den Händen knetet, oder Großpartien nach England schickte, Chris-
wie diese Weizenkissen, die man zum tie’s hatte ihn schon 1767 im Versteige-
Frühstück isst. Eichenchips. Man gibt sie rungsprogramm, und Königin Victoria, im
dem Wein zu, damit er nach Vanille, nach 19. Jahrhundert, trank am liebsten deut-
Schokolade schmeckt, so, als hätte er lan- schen Wein. Früher war der teurer als ein
ge im Barrique-Fass aus Eiche gelegen, in Bordeaux. Sehr lange ist das her.
Übersee machen sie das seit Jahren schon. Jetzt sind wieder die Erntehelfer
Im hessischen Geisenheim, Fachbereich draußen in den Weinbergen der Versuchs-
Kellerwirtschaft, sitzt Monika Christmann anstalt, den Wein wird man pressen und
und träumt von Kalifornien, das jedenfalls vergären und zerlegen und beforschen und
sagt das Plakat über ihrem Schreibtisch, zu Versuchszwecken behandeln, wie ver-
Weinstöcke zeigt es in warmem Gegen- trägt er welche Zuchthefe? Welches En-
MATTHIAS JUNG / LAIF
SCHULZ / IMAGO
„Château Misère“, schreiben die Zei-
tungen; für die Spitzengewächse, früher
flaschenweise Geldanlage, gibt es diesen
Weinverkauf in deutschem Supermarkt: Große Nachfrage bei Ein-Euro-Weinen Markt nicht mehr, und auch der schlichte
AOC aus Bordeaux, der teurer ist als der
schlossen, ihre Dissertation schrieb sie über mit leichtem Rudi-Carrell-Akzent, freut Rote aus Chile, Australien, Argentinien
„Veränderungen von Inhaltsstoffen unter sich, kostet, freut sich, schluckt, lächelt, und oft nicht gut genug für das Geld, auch
besonderer Berücksichtigung der Weinaro- „die Richtung stimmt.“ der hat seinen Ruf verloren. Die sechs Pro-
men bei der Entalkoholisierung von Wei- Er sagt, dass im Dorf keiner gewusst zent Rendite, die Sie versprechen, ist das
nen mit kombinierter Dialyse-Vakuumdes- habe, dass Château Richelieu zu verkaufen nicht kühn?
tillation“, also über das Thema: Schmeckt war, dieses Weingut mit wuchtigem Land- Arjen Pen führt durch Reben und ein
alkoholfreier Wein wie Wein? Eher nicht. haus aus dem 16. Jahrhundert, das sich Gemäuer mit hohen Fenstern und Simsen
Einmal spricht sie von ihrem „bluten- Kardinal Richelieu, Herzog von Fronsac, und Stuck, das er jetzt renovieren lässt,
den Herzen“, angesichts dieser Eichen- im 17. Jahrhundert umbauen ließ für sich und erzählt von dem Leben, das er als Mar-
chips, „ich mag ja Barrique“, sagt sie, aber und seine Geliebte, seine Favoritin, wie es ketingchef bei der Lufthansa, bei Crossair
man muss forschen, Forschung heißt: Wei- der Legende nach heißt. hinter sich ließ. Als er mit Wein eher dann
termachen, Forschung kann nicht sagen:
So, wie es ist, ist es gut.
Geisenheim ist die wichtigste Wein-For- Ist es ein Kompliment, wenn
schungsanstalt der Republik. Man erwartet, ein Wein nach „scharf gerittenem
dass sie den Wein voranbringt, der Globa- Damensattel“ schmeckt?
lisierung zu begegnen. Man muss eben,
sagt sie, „die Dinge verändern. Und Win-
zer haben ja ein Beharrungsvermögen be- zu tun hatte, wenn es in der ersten Klasse
sonderer Art“. Klagen gab.
Die Marke Swiss hat er mitaufgebaut,
naten jetzt im Barrique, fruchtig, dicht, er- laut Kritikermeinung nach „scharf geritte-
staunlich trinkbar schon. Das ist kein Bor- nem Damensattel“ schmecke.
deaux, wie man ihn von früher kennt. Wein-Forscherin Christmann Solche brauchte er, und solche hat er
„Sehr sssön“, sagt Arjen Pen auf Deutsch, „Die Europäer haben Angst“ gefunden, sie sind Anwälte, Notare, Che-
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ben, dass dieser Wein in sich eine Span-
nung berge wie die zwischen den Muske-
tieren und dem Kardinal.
Pen prüft, und im Nebenzimmer stri-
chelt eine Grafikerin ein Château-Etikett,
fein, sehr fein, und dann grellbunt einen
Papagei. So sind die Aufträge heute. So
müssen Aufkleber aussehen, die Leute
wollen Marken, die sie sich merken kön-
nen. Und im Hintergrund steht der Ge-
schäftsführer der Firma und seufzt und
schaut auf die modernen Etiketten, les
jeunes, seufzt er, die Jungen, die verstehen
komplizierte Wörter wie „Premier Grand
Cru Classé“ nicht mehr. Und „sucré,
sucré“ wollen sie die Weine, er schüttelt
sich, aber was soll man machen? Globali-
sierung.
Verstohlen streicht er über eine altmo-
dische Flasche Bordeaux.
Markt will Marken, die man sich merken ter’s aus Australien, Constellation Brands
kann, will Mythen, gute Geschichten, aus aus den USA.
denen sich der Mythos speist. Er zahlt im Schnitt 2,60 Euro für den
Arjen Pen hat gute Geschichten, er hat Liter Wein und will den Geschmack von
den Kardinal Richelieu. Den kennt man Bordeaux-Winzer Pen Barrique. Er kauft mit Vorliebe im Dis-
aus dem Kino, das ist der, der sich mit den „Die Richtung stimmt“ counter, und für jeden vierten Wein zieht
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Gesellschaft
H
err Habimana sagt, dass er sich worden. 800 000 Menschen wurden in Eine Frau möchte wissen, wie man die
kurz halten will. Das wird nicht ein- Ruanda im Frühjahr 1994 ermordet, von Qualität der Gacaca-Verfahren sicherstellen
fach, Jean-Damascène Habimana Nachbarn, von Banden, von Soldaten. Die will.
ist Jurist, ein Generalstaatsanwalt aus Ermordeten waren meist Tutsi, aber auch „Es gibt Schulungen für die Laienrich-
Ruanda. Hutu. 800 000 Menschen in hundert Tagen. ter“, sagt Herr Habimana.
Er sei nach Deutschland gekommen, um Es ist nicht auszuschließen, dass es auch Ein Mann sagt, er habe ein großes Pro-
zu lernen, erklärt Habimana. Auf einen über eine Million gewesen sein könnten. blem: die Todesstrafe in Ruanda.
kleinen weißen Tisch hat er ein paar Blät- Niemand weiß das so genau. Das ist ein „Wir denken darüber nach, sie abzu-
ter holziges Papier gelegt, eng beschrieben Teil des Problems. Man kann nur schät- schaffen“, sagt Herr Habimana.
mit sauberer Handschrift. Vor dem Tisch zen. Es gibt Hunderttausende Täter, sagt „Was ist mit den Opfern – gibt es eine
sitzen Juristen aus Hamburg. Über dem Habimana. Wahrscheinlich 500 000. Entschädigung?“, fragt eine Frau.
Tisch liegen die Stockwerke des Land- Vielleicht auch 600 000. „Wir haben uns „Ruanda ist ein sehr armes Land“, sagt
gerichts mit seinen hohen, langen Fluren, in Ruanda gegen ihre Straflosigkeit ausge- Herr Habimana.
unzähligen Zimmern, den kühlen Wänden. sprochen.“ Das Problem wuchs. Ruanda ist „Haben Sie ein Zeugenschutzpro-
Ein Gericht wie eine Festung. Stark und ein kleines Land. Ungefähr so groß wie gramm?“, fragt eine Frau.
dick wie das deutsche Rechtssystem. Mecklenburg-Vorpommern. Man hatte Ge- „Wir versuchen, etwas aufzubauen“,
Eine blonde Frau mit rosa Schal sagt zur fängnisse für 18 000 Menschen. Bald saßen sagt Herr Habimana.
Begrüßung: „Also, ich finde es toll, dass Sie dort über 100 000 Menschen. Man richtete „Was ist mit der richterlichen Unab-
sich auf den weiten Weg hierher gemacht schnell zwölf Sonderstrafkammern ein, be- hängigkeit?“, fragt ein Mann.
haben und bereit sind, die Hil- „Wer unfähig ist, wird ausge-
fe der Ersten Welt anzunehmen. tauscht“, sagt Herr Habimana.
Das kann ja auch ein Konflikt- Prozessordnung, Zeugen-
potential sein.“ schutz, Qualität, Entschädigung.
Herr Habimana nickt. Er will Habimana kann eigentlich im-
lernen in Deutschland und muss mer nur mit Nein antworten. Es
jetzt erst mal über den Völker- sind Fragen, die viel erwarten
mord reden. Und über Gacaca. und aus einer anderen, einer ge-
Das macht es noch schwerer. ordneten Welt kommen.
FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Verdachts auf Vorteilsnahme gerät dieser neben Jung noch ein Arbeitnehmervertreter und ein weiterer
nun auch durch ehemalige Aufsichtsratsmit- Siemens-Manager angehörten. Über die Beschlüsse im kleinen
glieder unter Druck. Anlass sind vergangene Kreis seien die übrigen Kontrolleure auch später nicht unter-
Woche bekannt gewordene Vorwürfe, wo- richtet worden. Wie ein Aufsichtsrat berichtet, habe insbeson-
Schumacher nach sich Schumacher beim Infineon-Bör- dere Jung darauf gedrängt, die Zuteilung für die Infineon-
sengang im März 2000 über Treuhänder deut- Topmanager zu begrenzen, um zu verhindern, „dass sie sich
lich mehr als die jedem Vorstand zustehenden 30 000 Aktien die Taschen voll schaufeln“. Der Ex-Siemens-Vorstand und
gesichert haben soll. Zur Rechtfertigung hatte Schumacher an- Schumacher waren für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
US-NOTENBANK
D
as Auffallendste an Alan Green- Regierungsapparat nach oben. „Nur we- Händler und Ökonomen weltweit haben
span ist seine Schildkrötenhaltung. nige sind gut“, sagt Greenspan. Die meis- sie längst nervös erwartet – aber erst in ei-
Es ist die Art, wie er seinen Hals ten verursachten vor allem hohe Kosten nigen Wochen damit gerechnet.
nach vorn streckt und mit großen, weisen und wenig Nutzen. Der britische „Economist“ spottete be-
Augen durch die Glasbausteine seiner Dann verlässt er, schon leicht gebeugt, reits, der angeschlagene US-Präsident wer-
Hornbrille vom Rednerpult herab ins die Bühne. Gut 800 Gäste erheben sich de wohl seinen privaten Bankberater auf
Publikum blickt. zum Applaus. Sie sind gekommen, weil der den Top-Posten hieven, nachdem Bush
Greenspan, 79, steht im Colonial Ball- Präsident der Fed an diesem Tag für seine zuvor schon seine Rechtsanwältin und Ver-
room des Marriott Hotels von Kansas City. Verdienste die Truman Medal for Econo- traute, Harriet Miers, in den Supreme
Es ist Mittwochmittag vergangener Woche. mic Policy erhält. Und weil sie das Ende ei- Court befördern wollte – auch wenn die
Zwei Tage vorher nominierte George W. ner Ära erleben wollen. Ende vergangener Woche nach heftiger
Bush einen neuen Chef für die US-Zen- Am 31. Januar läuft Greenspans letzte Kritik auf das Amt verzichtete.
tralbank, die Federal Reserve (Fed). Doch Amtszeit aus. Über 18 Jahre nachdem der Auf Bernanke, 51, lastet darum ein enor-
über seinen Nachfolger, Ben Shalom Ber- damalige republikanische Präsident Ronald mer Erwartungsdruck. Der vor kurzem
nanke, verliert Gastredner Greenspan kein Reagan ihn an die Spitze der US-Zentral- noch weitgehend unbekannte Wirtschafts-
Wort. Die Flattrigkeit des Tagesgeschäfts bank berufen hat. professor aus Princeton muss gleichzeitig
scheint für einen wie ihn ohnehin immer Der Zeitpunkt für den Machtwechsel seine Unabhängigkeit vom Weißen Haus
sehr weit weg. könnte ungünstiger kaum sein, denn er beweisen und eine harte Landung der in
Der mächtigste Mann der Weltfinanz- verursacht Unruhe in ohnehin unruhigen den vergangenen drei Jahren robust ge-
politik schwelgt stattdessen in Erinne- Zeiten: Die weltweiten Energiepreise ex- wachsenen US-Wirtschaft verhindern. Min-
rungen wie ein mittelständischer Firmen- plodieren, die Inflation erreicht in den USA destens ebenso schwer: den Job des obers-
patriarch auf dem Weg in den Ruhestand. den höchsten Stand seit 14 Jahren. Das ten Zentralbankers neu zu erfinden. Die
Er denkt an die siebziger Jahre zurück Haushalts- wie das Leistungsbilanzdefizit von Amtsinhaber Greenspan ausgefüllte
und an Mitarbeiter wie „Kitty“, die da- erklimmen Höchststände. Und der ameri- Stellenbeschreibung passt ihm nämlich
mals als „fact-checker“ seine Texte als kanische Immobilienmarkt ist unter Druck. nicht sonderlich.
Wirtschaftsberater des Weißen Hauses Platzt da bald die nächste große Blase? In den vergangenen 18 Jahren war die
kontrollierte. Er lobt die Präsidenten Tru- Unsicherheiten über den künftigen Fed- Fed zur Kurie des globalen Kapitalismus
man und Ford. Und er fasst zusammen, Kurs können über Wohl und Wehe der US- geworden, und Greenspan war ihr Papst.
wie aus seiner Sicht die Politik in Wa- und Weltwirtschaft im nächsten Jahr ent- Seine oft höchst verklausulierten Verdikte
shington funktioniert. scheiden. Die Greenspan-Nachfolge ist des- kamen Händlern und Regenten in Ameri-
Abenteuerliche Ideen steigen demnach halb die wichtigste Personalentscheidung in ka und weltweit vor wie eine Enzyklika
wie Blasen unvermeidlich durch jeden der zweiten Amtszeit von Präsident Bush. aus Rom. Sie konnten ein Bannstrahl sein
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LARRY W. SMITH / DPA
Unruhe in unruhigen Zeiten Überflutetes New Orleans: Milliardenschäden durch Hurrikan „Katrina“
oder eine Botschaft von Milde und Güte – eher vielleicht …“ verfolgte ihn bis ins Pri- an und verschulden sich. Was, wenn die
je nachdem, ob die Leitzinsen stiegen oder vatleben: Seinen Heiratsantrag musste er Immobilienpreise fallen?
fielen. Entsprechend wurde jeder hinge- 1997 dreimal formulieren, bevor ihn seine Auf Greenspans Habenseite steht sein
nuschelte Halbsatz ehrfürchtig empfangen damalige Freundin überhaupt verstand. Krisenmanagement, das die US-Wirtschaft
und interpretiert, gewogen und gedeutet. Wirtschaftspolitik, erklärte er vorige Wo- nach dem Schwarzen Montag vom Oktober
Greenspan wurde darüber zur fast my- che seinem verdutzten Publikum in Kansas 1987 genauso geschickt vor einer andau-
thischen Figur. Der Journalist Bob Wood- City, habe „genau so viel mit Wissenschaft ernden und schweren Rezession bewahrte
ward, als Watergate-Enthüller selbst ein wie mit Kunst“ zu tun. Fragt sich nur: Ist wie nach den Anschlägen vom 11. Sep-
Star, hat seine Biografie über den Banker ihm diese Mischung auch gelungen? tember 2001. Trotz solcher Schocks hat er
schlicht „Maestro“ genannt. Schon mor- Kritiker machen Greenspans Geldpolitik es geschafft, Inflation und Arbeitslosigkeit
gens in der Badewanne hat sich Greenspan für das Entstehen zweier großer Spekula- in seiner Amtszeit auf relativ niedrigem
mit aktuellen Statistiken beschäftigt. Doch tionsblasen mitverantwortlich. Die erste Niveau zu halten. Die Wirtschaft wuchs im
die Schlüsse, die er daraus zog, blieben platzte im Frühjahr 2000 und bescherte der Schnitt pro Jahr um drei Prozent.
den meisten unverständlich. zuvor gefeierten New Economy ein don- Greenspan übergibt also ein geordnetes
Was genau will der Meister eigentlich nerndes Ende. Die zweite, im amerikani- Haus, zumindest auf den ersten Blick.
sagen, wenn er im selben Satz von „güns- schen Immobilienmarkt, schwillt inzwi- Denn in den vergangenen Monaten schwoll
tigen Aussichten“ und einer „unsicheren schen derart bedrohlich an, dass Green- die Inflationsrate bedenklich an. Was wird
Zukunft“ für die US-Wirtschaft spricht? span selbst schon vor einem gefährlichen sein Nachfolger also umräumen?
Oder wenn er die Erwartung eines Auf- „ökonomischen Ungleichgewicht“ warnt. Ökonomen haben Ben Bernankes No-
schwungs gleichzeitig für „nicht unver- Grund: Niedrige Zinsen haben einen minierung fast einhellig bejubelt. Die Bör-
nünftig“, Zeitpunkt und Umfang aber für Bauboom ausgelöst, die Preise für Woh- se antwortete mit einer Kursrallye. Die
„weiterhin unsicher“ hält? nungen und Häuser sind geradezu explo- Händler waren allein schon deshalb begeis-
Den Kult des Orakels hat Greenspan von diert. Eine normale Drei-Zimmer-Wohnung tert, weil der Präsident nicht wiederum
Beginn an selbst gepflegt. „Wenn meine in Manhattan kostet derzeit im Durch- einen loyalen Erfüllungsgehilfen auf eine
Aussagen Ihnen ungewöhnlich klar und schnitt 1,5 Millionen Dollar – die Preise sind Top-Position berufen hat.
verständlich erscheinen, dann haben Sie in nur 12 Monaten um 21 Prozent gestiegen. Bis 2002 führte Bernanke ein beschauli-
mich zweifellos missverstanden“, warnte Durch den Wertzuwachs ihrer Immobilien ches Akademikerleben fernab der Politik.
er schon 1987 im US-Senat. Die Begeiste- fühlen sich viele Amerikaner reicher, als Der Apothekersohn aus South Carolina
rung für ein klares „Jein, aber wenn, dann sie sind. Sie kurbeln auf Pump den Konsum war ein Überflieger in der Schule. Dass er
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Wirtschaft
bei den in den USA beliebten Schüler- Allein die durch die Hurrikans „Katri-
Buchstabier-Wettbewerben beim nationa- na“ und „Wilma“ verursachten Milliar-
len Finale das deutsche Wort „Edelweiss“ denschäden in Louisiana, Mississippi und
nicht auf die Reihe bekam, ist das einzige Florida dürften das zuletzt sehr robuste
bekannte Manko seiner Karriere, die ihn US-Wachstum im letzten Quartal ver-
über die renommierten Universitäts-Adres- langsamen. Dramatisch sind auch die Fol-
sen Harvard, das Massachusetts Institute of gen des Wirbelsturms „Rita“, der Ende
Technology sowie Stanford zuletzt nach September zahlreiche Bohrinseln im Golf
Princeton führte. von Mexiko beschädigte. Noch zwei Wo-
In Fachkreisen wurde er durch seine Ar- chen später waren etwa zwei Drittel der Öl-
beiten über die Ursachen der Großen De- und Gasanlagen am Golf von Mexiko
pression in den dreißiger Jahren bekannt. außer Betrieb.
Bernanke, inzwischen einer der weltweit Die amerikanischen Benzinpreise er-
führenden Geldtheoretiker, setzt sich seit reichten zwischenzeitlich Rekordwerte. Die
langem dafür ein, dass Zentralbanken in ih- Kosten eines durchschnittlichen Privat-
rer Zinspolitik ein verbindliches Inflations- haushalts für Erdgas (plus 70 Prozent) und
ziel verfolgen sollen. Als ver-
nünftige Zielmarke für die
Kerninflation nennt er zwei
Prozent.
2002 zog der Professor in
den Gouverneursrat der Fed
ein. Selbst langjährige Uni-
Kollegen hatten bis zu dieser
Zeit nicht die leiseste Ah-
nung, dass sie mit einem Re-
publikaner befreundet sind.
In seinen drei Jahren als
Zentralbanker hat er sich für
die Greenspan-Nachfolge pro-
filiert. Um Bernanke besser
kennen zu lernen, hat Bush
ihn dann im Juni zu seinem
RICHARD DREW / AP
Wirtschaftsberater ernannt.
„Das Schlimmste an meinem
Job ist, dass ich jetzt Anzug
und Krawatte tragen muss“,
sagte der Ökonom über sei- New Yorker Börsianer: Kursrallye nach der Nominierung
nen neuen Arbeitsplatz.
Die Marmorhalle im Washingtoner Ge- Heizöl (plus 30 Prozent) sollen in diesem
bäude der Federal Reserve gleicht norma- Winter dramatisch steigen. „Wenn wir ei-
lerweise, wie das „Wall Street Journal“ nen kalten Winter bekommen, bedeutet
einst bemerkte, einem Mausoleum. Nur das einen weiteren harten Schlag für das
alle sechs Wochen treffen sich der Präsi- Portemonnaie der Verbraucher“, sagt Mor-
dent und seine Gouverneure dort offiziell, gan-Stanley-Analyst Richard Berner. Vor
um über die Leitzinsen zu beraten. Seit allem deshalb ist die Inflation in den USA
Juni 2004 haben sie elfmal für eine Er- mit derzeit 4,7 Prozent auf den höchsten
höhung gestimmt. Die Sätze sind in dieser Wert seit gut 14 Jahren geklettert.
Zeit von 1 auf 3,75 Prozent gestiegen; bei Bernanke „muss die Inflation bekämp-
Greenspans Abschied dürften sie die Mar- fen, auch wenn sich der US-Kongress über
ke von 4,5 Prozent erreichen. eine Abkühlung beim Wachstum und auf
Bernanke, wenn er wie erwartet vom Se- dem Arbeitsmarkt beschwert“, glaubt Nou-
nat bestätigt wird, steht damit voraussicht- riel Roubini von der New York University:
lich schon bei seiner ersten Zentralbank- „Die Märkte werden ihm nicht vergeben,
sitzung im März vor einer vertrackten Si- wenn er falsch reagiert.“
tuation. Entweder legt er die vom Markt Der künftige Fed-Chef hat bereits er-
lange erwartete Pause bei den Zinserhö- klärt, dass er den Personenkult nach Art
hungen ein. Das würde ein weiteres Wirt- seines Vorgängers abschaffen will. Die Ent-
schaftswachstum wahrscheinlicher machen. scheidungen der Fed sollen transparenter
Doch der Neue in der Fed gälte dann wo- werden und leichter vorhersehbar sein.
möglich auch als Marionette Bushs. Oder er Greenspans Stil, sein Instinkt, sein Sich-
macht Ernst mit seinem Ziel, die wachsen- leiten-Lassen von Wissenschaft und Kunst
de Inflation zu bekämpfen – und zieht die werden wohl bald Vergangenheit sein.
Zinsen weiter nach oben: Das würde seine Viele Händler und Ökonomen werden
Unabhängigkeit vom Weißen Haus bewei- erstaunlicherweise genau das vermissen.
sen. Aber es könnte Gift für die amerika- Bernanke sei „kein Maestro“, sagt der
nische Konjunktur bedeuten. Denn die hat Chef-Ökonom von Argus Research, Ri-
derzeit ohnehin mit den seit Jahren größ- chard Yamarone. „Er ist ein Musiklehrer.“
ten Herausforderungen zu kämpfen. Frank Hornig
84 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft
SPI EGEL-GESPRÄCH
Terra incognita
ten, jedenfalls nicht auf der Arbeitsebene.
Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre,
dass die Menschen, die heute im VW-Kon-
zern die Verantwortung tragen, und die
Menschen, die heute bei Porsche in den Seit Jahren kämpfen die Nachfahren der jüdischen Kaufmanns-
Projekten mitarbeiten, nicht ordentlich
miteinander umgehen, dann hätte ich das familie Wertheim um ihr Erbe. Nun sorgen zwei neue Urteile
nicht tun dürfen. Wenn es kontroverse Dis- für Klarheit. Doch Legionen von Juristen wollen weiterstreiten.
F
ür KarstadtQuelle-Chef Thomas Mid- Karstadt zunehmend belastet, auch und
delhoff fing die vergangene Woche gerade bei der heimischen Kundschaft. Es
gut an: Seine Verkaufsmanager be- geht um große Emotionen. Es geht um
richteten von Sanierungserfolgen im Waren- Nazi-Unrecht und Vertreibung, um Enteig-
hausgeschäft. Aber auch ein in den USA nung und Wiedergutmachung – und es geht
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL
Nach Kriegsende stand der Konzern hatte Hertie Wertheim einst ganz legal Immerhin: Auch die Bundesrichter stütz-
quasi vor dem Nichts: Fast alle Warenhäu- übernommen. ten ihre Berliner Kollegen in der Auffas-
ser befanden sich in den von den Sowjets Doch dann wurde das Gesetz auf Initia- sung, dass es nicht darauf ankomme, „wer
eroberten Gebieten. Dort hieß Enteignung tive der JCC in entscheidenden Punkten im Laufe der Jahre die Geschäftsanteile er-
nur anders: Die Werte wurden in Volks- ergänzt: So konnten fortan nicht nur Fir- worben habe“. Stattdessen wolle das Ge-
eigentum überführt. Im Westen versuchte men, sondern auch einzelne Gesellschafter setz „am Schicksal des in der Nazi-Zeit ge-
Lindgens mit fünf Mini-Filialen den Neu- und deren Nachkommen enteignetes Ost- schädigten jüdischen Gesellschafters an-
anfang, sah aber bald keine Chancen mehr vermögen zurückverlangen. Zudem wurde knüpfen und diesem ergänzende Wieder-
und bot dem Hertie-Ariseur Georg Karg später festgelegt, dass die Gesellschafter gutmachung gewähren“.
die kriselnde Firma zum Kauf an. auch einzelne Grundstücke als Entschädi- Das Geschacher ist damit nicht zu Ende.
Um das Geschäft zu stemmen, musste gung beanspruchen können. Denn nun richten die Juristen des ange-
Lindgens aber zunächst die nach Amerika Damit war die Position von Hertie ent- schlagenen Handelsriesen ihre letzte Hoff-
geflüchteten Wertheim-Neffen Günther scheidend geschwächt. Da sich Barbara nung auf ein ehemaliges Wertheim-Areal,
und Fritz dazu bringen, auf die ihnen ge- Principe damals noch nicht als Erbe ge- das Hertie bereits 1991 vom Land Berlin be-
setzlich zustehende Rückgabe der Aktien meldet hatte, konnte nun die JCC, die in kam und später für 247 Millionen Mark an
endgültig zu verzichten, die sie 1938 unter solchen Fällen laut Gesetz automatisch als den Metro-Gründer Otto Beisheim weiter-
politischem Druck verkauft hatten. Rechtsnachfolger auftritt, Ansprüche auf verkauft hatte: das sogenannte Lenné-Drei-
In einem am 7. November 1951 vor dem die Grundstücke erheben. Acht Jahre eck am Potsdamer Platz.
Wiedergutmachungsamt 63 in Berlin ge- ließen sich die Larov-Beamten Zeit, um zu Ausgerechnet Beisheim, ehemaliger SS-
schlossenen Vergleich verzichteten die bei- entscheiden, wer von beiden Antragstel- Mann der „Leibstandarte Adolf Hitler“,
den gegen Zahlung von mageren 40 000 lern den Zuschlag bekommt. Schließlich errichtete dort einen Prachtbau, der unter
Mark auf alle Rückerstattungsforderungen. entschied das Amt im Jahr 2001 in zunächst anderem die Luxushotels Marriott und
Das sei Betrug gewesen, wird 50 Jahre vier Fällen zugunsten der JCC. Ritz-Carlton beherbergt. „Das ist Terra in-
später Barbara Principe, Tochter von Gün- Seither drängelt es sich vor den Gerich- cognita“, für die weder der Gesetzgeber
ther Wertheim, klagen. Denn wenige Wo- ten, denn an dieser Stelle kamen auch noch noch das Bundesverwaltungsgericht ein-
chen nach dem Termin beim Wieder- die Karstadt-Juristen ins Spiel. Der Bran- deutige Regelungen geschaffen habe, heißt
gutmachungsamt verkaufte Lindgens 51 chenprimus hatte 1994 die angeschlagene es unter Anwälten.
Prozent der Wertheim-Anteile für 1,8 Mil- Hertie-Kette übernommen – und damit Anders als die übrigen Grundstücke war
lionen Mark an Hertie – und machte zu- auch die Hoffnungswerte in den Bilanzen. das Lenné-Areal schon vor dem Fall der
sammen mit den in Deutschland verblie- Erwartungsgemäß reichte Karstadt Kla- Mauer im Zuge eines Gebietstausches an
benen Wertheim-Erben ein Bombenge- ge ein gegen die Entscheidung der Larov. West-Berlin gegangen und später Hertie
schäft. Berechnungen der Betriebsprüfer Auf die erwarteten Verkaufserlöse von ins- zugesprochen worden. „Die Rückübertra-
zufolge war das Paket nur gut eine halbe gesamt rund 200 Millionen Euro kann kein gung erfolgt unentgeltlich“, hieß es im Ver-
Million Mark wert. Vorstand einer Aktiengesellschaft ohne trag, in dem ein spezieller Passus das Land
Wertheim-Erbin Principe mit Anwälten, -Kaufhaus (an der Leipziger Straße in Berlin, um 1920): Revolution eingeleitet ECOPIX / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.)
Später wurde Wertheim komplett von weiteres verzichten, da er sonst Gefahr Berlin allerdings von möglichen Ansprü-
Hertie übernommen. Die zahlreichen Ost- läuft, von seinen Aktionären auf Schadens- chen früherer Besitzer freistellte.
immobilien standen nur noch als Erinne- ersatz verklagt zu werden. Wenn das Amt zur Regelung offener
rungswert in den Büchern. Erst mit dem Als das Verwaltungsgericht Berlin im Vermögensfragen nun, wie von vielen Ju-
Mauerfall bekamen die Symbolwerte in März dieses Jahres zugunsten der JCC ent- risten erwartet, auch das Lenné-Dreieck
den Hertie-Bilanzen neue Sprengkraft. schied, war der Kampf im Grunde beendet. dem JCC zuspricht, könnte sich die Orga-
Denn nach dem seit 1990 geltenden Ge- Nur „rein formal“, wie es nun unter Kar- nisation zunächst an das Land Berlin wen-
setz zur Regelung offener Vermögensfra- stadt-Juristen heißt, legten sie noch Be- den. Der Senat würde auf die Freistel-
gen sollten alle von der DDR verfügten schwerde beim Bundesverwaltungsgericht lungserklärung verweisen und versuchen,
Enteignungen rückgängig gemacht und an ein. Sie können nicht anders. Die Sach- alle Forderungen auf KarstadtQuelle ab-
die ehemaligen Besitzer oder deren Erben zwänge. Sie wollen es hinter sich bringen zuwälzen.
zurückgegeben werden. Sofort reichten die wie inzwischen alle Beteiligten, die nur Läuft alles nach den Vorstellungen der
Hertie-Juristen Ansprüche auf etwa 40 noch müde durchs Paragrafendickicht zu JCC, müsste Karstadt den von Beisheim
ehemalige Wertheim-Grundstücke in Ber- stolpern scheinen. Was einst als symboli- gezahlten Preis für das Lenné-Dreieck samt
lin, Stralsund und Rostock bei den zustän- sche Aktion gegen das Unrecht unter- Zinsen wieder herausrücken. Es geht noch
digen Landesämtern zur Regelung offener schiedlichster Regime begann, ist zu einem einmal ums große Geld – um etwa 140 Mil-
Vermögensfragen (Larov) ein. Schließlich Schaukampf kühler Juristen geworden. lionen Euro. Klaus-Peter Kerbusk
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Wirtschaft
Ofen aus
Das HAW verbraucht im Jahr zwei Mil-
liarden Kilowattstunden und überweist
dem Stromlieferanten Hamburger Electri-
citäts-Werke (HEW) dafür jährlich 70 Mil-
Das Hamburger Aluminium-Werk schrieb immer schwarze Zahlen. lionen Euro. Fast 40 Prozent der Kosten in
der Aluminiumproduktion entfallen bisher
Jetzt wird die Firma einfach dichtgemacht. Ein Lehrstück auf Energie.
in Sachen Renditehunger und globalem Reißbrett-Management. Der Liefervertrag zwischen HAW und
HEW stammt aus dem Jahr 2000 und en-
A
ls Eivind Reiten am Dienstag ver- duziert auch das Hamburger Aluminium- det am 31. Dezember. Dann, so plante die
gangener Woche in Oslo „das beste Werk statt Leichtmetall nur noch ein Heer zum schwedischen Staatskonzern Vattenfall
Quartalsergebnis aller Zeiten“ für von Arbeitslosen, weil den Gesellschaftern gehörende HEW, sollte nicht mehr der
seinen norwegischen Konzern Norsk Hydro der Profit nicht hoch genug erschien. einst ausgehandelte Preis von rund 34 Euro
verkündete, stellten die Arbeiter des Ham- Täglich unterschreibt Geschäftsführer pro Megawattstunde gelten, sondern der
burger Aluminium-Werks (HAW) gerade Amadeus Hajek nun neue Kündigungen, an der Leipziger Energiebörse gehandelte,
ein paar neue Metallkreuze ans Werktor. damit bis Ende des Jahres alle 450 Mitar- der gegenwärtig bei rund 45 Euro liegt. Für
„Jobfriedhof“ steht dort. beiter entlassen sind. Es ist eine besonders die drei HAW-Gesellschafter wäre ein
Um 69 Prozent hat Reiten den Gewinn absurde Geschichte aus dem großen Buch Preissprung von 20 Millionen Euro pro
seines Konzerns im Vergleich zum Vorjahr der Globalisierung mit seinen Unterkapi- Jahr fällig geworden, sie selbst sprechen
nach oben gepeitscht. Die Arbeiter in sei- teln Profitgier und Standort-Poker. Und sie sogar von 50 Millionen Euro.
ner fernen Hamburger Tochterfirma fin- begann im Frühsommer dieses Jahres. „Unter diesen Bedingungen ist ein ren-
den, dass das irgendwie auf ihre Kosten Da verkündeten die drei Gesellschafter tabler Betrieb der Hütte nicht zu realisie-
ging: „Eure Profitgier ist unser Todeseli- der Hamburger Aluhütte Norsk Hydro ren“, sagt Dieter Braun, Deutschland-Chef
xier“ prangt auf den Protestplakaten in (Norwegen), Amag (Österreich) und Alcoa von Norsk Hydro. Was Braun verschweigt:
Hamburg-Finkenwerder. (USA), man werde das Werk schließen, weil Auch der Preis für Aluminium ist in den
Und während der norwegische Top-Ma- vergangenen Jahren drastisch
nager noch mit seinem Erfolg prahlte, war gestiegen, so dass die hohen
der HAW-Betriebsleiter Elmar Sturm ge- Stromkosten durch höhere Ver-
rade damit beschäftigt, die ersten 8 der 270 kaufspreise des Aluminiums
Elektrolysezellen herunterzufahren. Ne- beinahe wieder ausgeglichen
benbei werkelt er an einem Konzept für werden.
FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
sich und die Schichtleiter, wie bis zum 31. Das ist auch der Grund, wes-
Dezember die restlichen 262 Aggregate sys- halb der Aluhütten-Konkurrent
tematisch abgeschaltet werden können. Die Corus in Voerde erst vergange-
Selbstauflösung ist in vollem Gang. ne Woche einen langfristigen
Dann ist endgültig der Ofen aus. Dann Stromliefervertrag mit dem
wird eines der profitabelsten und moderns- Energieriesen E.on abschloss,
ten Aluminiumwerke Europas stillgelegt. der sich am Leipziger Börsen-
Ein Werk, das in seiner über 30-jährigen preis orientiert. Selbst bei ei-
Geschichte mehr als eine Milliarde Euro nem Strompreis von mehr als
Gewinn erwirtschaftet hat und bis heute Geschäftsführer Hajek (beim Kündigungen-Unterzeichnen) 50 Euro pro Megawattstunde,
nie in die roten Zahlen geriet. Dann pro- Die Selbstauflösung ist in vollem Gang berechneten die HAW-Con-
96 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Oslo einen Handstand gemacht und die
HEW ihren Strom verschenkt hätte – das
Todesurteil für das Unternehmen war längst
besiegelt.
Denn schon im Dezember 2004 hatten
seine Hoheit Abdullah Bin Hamad al-Attija,
Energieminister von Qatar, und Norsk-Hy-
schaftern, da Norsk Hydro immer unver- die kerngesunde Firma einfach dicht-
hohlener zu verstehen gab, dass das Werk im zumachen. Die offizielle Begründung
Portfolio stört. Ende Juli erklärte sich Norsk für das Aus der Öfen fällt sogar noch
Hydro immerhin bereit, Gespräche mit abenteuerlicher aus.
Kaufinteressenten zu führen. Die gab es „Wir hatten Angst, der neue Be-
zuhauf. Insgesamt sieben Investoren prä- sitzer geht wegen seiner mangelnden
sentierte Uldall in Norwegen, darunter die Erfahrung schon nach kurzer Zeit
Essener Aluhütte Trimet und den Stahl- insolvent“, sagt Deutschland-Chef
produzenten Georgsmarienhütte, hinter Braun. Der hätte dann die 36 Millio-
dem der Kanzlerfreund Jürgen Großmann Norsk-Hydro-Deutschland-Chef Braun nen Euro, die von Norsk Hydro be-
steckt. Bis zum 16. September sollten die „Rentabler Betrieb nicht zu realisieren“ reits für Abfindungen vorgesehen
Angebote auf dem Tisch in Oslo liegen. waren, „möglicherweise schon ver-
Derweil unternahmen HAW und HEW Schließlich verlangten die Norweger und braten“. Auch die 20 Millionen Euro für
einen letzten Versuch, die alte Konstellation die beiden anderen Gesellschafter, von den Abriss des Werkes, der bei Norsk Hy-
beizubehalten. Am 27. September bean- sämtlichen Verpflichtungen und späteren dro „Rekultivierung“ heißt, wären nach
tragten die beiden Unternehmen ohne Risiken freigestellt zu werden. „Je mehr der norwegischen Logik futsch gewesen,
Kenntnis der Norsk-Hydro-Zentrale bei Bedingungen die Investoren erfüllten, des- und der alte Konzern hätte wegen der
der Bundesnetzagentur, die Netzdurchlei- to höher legte Norsk Hydro die juristische Altrisiken, die Großmann nicht überneh-
tungsgebühr für Strom um 50 Prozent zu Latte“, sagt Betriebsrat Dieck. men wollte, erneut bluten müssen.
senken, was dem Alu-Werk eine Ersparnis Längst hatte sich gezeigt, dass nicht die Insofern habe man Großmann vor einer
von 7,5 Millionen Euro gebracht hätte. Die Strompreise der wahre Grund für die ge- „Pleite gerettet“ und den Hüttenwerkern
Kontrollbehörde signalisierte „wohlwollen- plante Schließung sind. Die Hinhaltetaktik „einen sehr guten Sozialplan“ erkämpft.
de Prüfung“. Zuvor reichte HEW bereits ei- hatte System. Selbst wenn Großmann, der Das sei doch „für alle die beste Lösung“.
nen Vier-Punkte-Rettungsplan in Oslo ein. zum Schluss als Interessent übrig blieb, in Janko Tietz
98 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wirtschaft
I
m „Spandauer Bock“ ist die Republik die Mark zeitweise Parallelwährung war. tern nach der Euro-Einführung großzügig
noch im Lot. Zigarettenqualm wabert Der große Rest liegt in Skianzügen und bestückt hatten. Oder im Bettkasten der
über den Tresen. Auf den Tischen des Schubladen, auf Dachböden und in Spar- Großeltern, die meinten, die neue Währung
Berliner Lokals stehen Blumen aus Plastik. schweinen oder, wie es Bundesbank-Spre- halte sich eh nur ein halbes Jahr.
Es gibt Asbach Uralt. Dazu ein großes Pils. cher Johannes-Rudi Korz ausdrückt: „Die Die restlichen Münzen und Scheine
Macht zusammen 3,55 Euro – oder 7 Mark. Vergesslichkeit spielt hier sicherlich eine liegen in allen möglichen Verstecken, hat
„Bei uns hat sich eben nichts geändert“, wichtige Rolle.“ Vergessene Milliarden? das Umfrage-Institut Ipsos im Auftrag
sagt Gastwirt Günter Vogt, 60, „weder die von C&A ermittelt. 46 Prozent entdeck-
Preise noch die Währung.“ 149,8 ten Mark-Bestände in alten Geldbörsen,
Das Angebot kommt an. Immer wieder, Nostalgische 45 Prozent wurden in Kleidern fündig. Der
so Vogt, betrete jemand verzückt die Knei- Rest stieß in Schränken und Kommoden,
pe, nachdem er das kleine Schild vor dem Schätze im Auto und in Glückwunschkarten auf
Eingang entdeckt habe: „Bei uns können In Umlauf befindliche DM den späten Geldsegen. 34 Millionen D-
Sie noch mit DM bezahlen“. Mark hat die Bekleidungskette bislang ein-
Er sollte es noch eine Weile stehen las- Angaben in Milliarden Mark genommen.
sen: Knapp vier Jahre nach Einführung des Banknoten Längst will die Mehrheit der Deutschen
Euro-Bargelds kommen auf jeden Deut- Münzen wieder dahin zurück, wo vermeintlich al-
schen im Schnitt noch D-Mark-Reserven les besser war: in die selige D-Mark-Repu-
im Wert von 92 Euro. Insgesamt 7,2 Mil- 1. Januar 2002: blik. Zurück in eine Zeit ohne „Teuro“ und
liarden Mark in Münzen sowie weitere 7,6 Der Euro wird Ein-Euro-Jobs, in der man im Supermarkt
Milliarden Mark in Scheinen waren nach alleiniges mit der guten alten Mark zahlen konnte –
Angaben der Bundesbank Ende September gesetzliches weitaus billiger, versteht sich.
im Umlauf. Eine Summe, die der Wirt- Zahlungsmittel Zumindest bei der Deutschen Telekom
schaftsleistung mancher Kleinstaaten ent- Quelle: Deutsche Bundesbank
wird die Retro-Vision gerade Wirklichkeit.
spricht – und ein Milliardenberg, der kaum Seit Juni akzeptieren rund 55 000 Telefon-
kleiner wird. 12,5 9,4 zellen wieder das Kleingeld mit dem
7,5 7,6 7,2
Zwar strömen Tag für Tag etwa 2100 Alt- Bundesadler. Die Gespräche sind auch
geld-Besitzer in die Filialen der Bundes- noch billiger. Mit einer Mark kann man
bank, um pro Kopf rund 570 Mark in 291 Jahresende Jahresende September genauso lange telefonieren wie mit einem
2001 2002 2005
Euro zu wechseln. Doch wenn es in dem Euro. Henryk Hielscher
100 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Medien Trends
Holprige Landung
der Heuschrecken
D avid Montgomery, neuer Miteigentümer
neuen, hochauflösen- ohne Zusatzkosten zu empfangen ist. det worden, und Produzentin Katharina
den Fernsehens HDTV SPIEGEL: Wie lange wollen Sie noch mit Trebitsch hatte als neue Leiterin des
und den Einstieg seines den Kabelnetzbetreibern über die Kos- von Bohm gegründeten Studiengangs
Konzerns ins Pay-TV ten der digitalen Verbreitung streiten? ihr eigenes Team vorgestellt. Ruhig stel-
De Posch: Wir wollen nur ein Geschäfts- len lässt sich der 66-Jährige dadurch
SPIEGEL: Am Mittwoch vergangener Wo- modell, mit dem beide leben können. jedoch keineswegs: Bohm will mitsamt
che starteten Sat.1 und ProSieben mit Der Marktführer Kabel Deutschland hat seinem Team weitermachen – in Pots-
großem Bohei auf den Münchner zwar behauptet, er würde die digitalen dam, bei der ehemaligen Konkurrenz.
Medientagen das neue hochauflösende Programme kostenlos einspeisen. Die Hochschule für Film und Fernsehen
Fernsehen HDTV. Das kann allerdings Gleichzeitig aber will er die analogen Konrad Wolf (HFF) nimmt Bohm und
noch niemand empfangen. Waren Sie Gebühren für unsere fünf Sender um seine Mitstreiter, darunter auch den von
mit der Premiere etwas übereifrig? 34 Prozent erhöhen. Die glauben wahr- Bohm für seine Hamburger Nachfolge
De Posch: Nein, wir wollen Trendsetter scheinlich, wir könnten nicht rechnen. favorisierten Produzenten Ralph Schwin-
sein. HDTV ist die Technologie der SPIEGEL: Wann werden Sie sich einigen? gel, als Gastprofessoren auf. Sie sollen
nächsten 20 Jahre. Bald kommen ja die De Posch: Ich hoffe nächstes Jahr. an der HFF zum Start im Oktober 2006
entsprechenden Receiver in die Läden. SPIEGEL: Wenn Sie dann auch mit ersten einen neuen Studiengang für die Film-
SPIEGEL: In seiner ProSieben-Show „TV Pay-TV-Angeboten kommen wollen? Weiterbildung entwickeln. Die Leitung
total“ wies Stefan Raab in fröhlicher De Posch: So ist es geplant. will dann Bohm übernehmen, „bis ein
Verzweiflung auf das HDTV-Logo am geeigneter Nachfolger gefunden wird“.
oberen Bildrand hin. HFF-Präsident Dieter Wiedemann will
De Posch: Ich fand das witzig. Stefan hat mit Bohm einen „Leuchtturm“ an sei-
da doch auch ein wenig Werbung für ner Hochschule schaffen. Er weist aller-
uns gemacht. Richtig tief im Thema ist dings darauf hin, dass nach der gesetz-
er ja nicht. lichen Regelung auch in Brandenburg
Professoren mit Beginn des 68. Lebens-
Raab jahres eigentlich ausscheiden müssten.
102
Fernsehen Medien
ren: Henning Burk, Bettina Oberhau- Deutschen helfen keine Millionen zum
Grab von „Lotto-Lothar“ Glück, nur Musik, Musik, Musik.
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Reporter Lehmann (1987), NDR-Politmagazin „Panorama“*: „Streben nach politisch-medialer Sensation“?
JOURNALISTEN
„Feindobjekt NDR“
Eine Studie in eigener Sache sorgt für Ärger beim Norddeutschen Rundfunk. Einstige Starreporter
fühlen sich als Stasi-Helfer verunglimpft und prozessieren gegen ihren alten Arbeitgeber.
Intendant Jobst Plog scheint das Ergebnis der historischen Aufarbeitung inzwischen peinlich zu sein.
B
ei der Hauptabteilung II der Staats- Mauerbau dreimal mit dem Jakob-Kaiser- dem Ende seiner Korrespondententätig-
sicherheit der DDR stand der West- Preis des westdeutschen Ministeriums für keit in der DDR sieht sich das einstige Sta-
Journalist Lutz Lehmann im Ruf, ein innerdeutsche Beziehungen geehrt wurde, si-Opfer öffentlich dem Vorwurf ausge-
besonders unangenehmer Vertreter des stieß den Machthabern im Osten vor al- setzt, ein Komplize des Ostens gewesen zu
Klassenfeindes zu sein. Trotz penibler Kon- lem wegen seiner Unverfrorenheit auf. Vor sein. Erhoben wird dieser Vorwurf ausge-
trollen gelang es dem zwischen 1977 und einem Intershop, in dem die DDR beson- rechnet von Lehmanns früherem Arbeit-
1982 vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) ders begehrte Produkte nur gegen harte geber, dem NDR.
entsandten Korrespondenten immer wie- Westdevisen verkaufte, machte er eine Anfang Oktober hatte der inzwischen
der, aus seinem Büro in der Ost-Berliner Straßenumfrage unter säuerlichen Ossis – 78 Jahre alte Journalist nach Rückkehr von
Schadowstraße ungesehen zu entwischen. mit der Folge, dass ihm die Stasi noch einer Auslandsreise eine von der ARD-
Seine Reportagen über Missstände bei näher auf den Leib rückte. Anstalt veröffentlichte Studie in die Hän-
der Nationalen Volksarmee, leere Obst- IM „Gerhard Jäger“, „Ebert“, „Feld- de bekommen. Ende Juni hatte der NDR-
regale oder die sich ausbreitende Dissi- mann“, „Sascha“, „Michael Weymar“, Intendant Jobst Plog die 492 Seiten starke
dentenbewegung trieben Stasi-Chef Erich „Lotte“, „Rolf Herfurth“ – die mit Tarn- Arbeit vorgestellt.
Mielke regelmäßig Zornesröte ins Gesicht, namen versehene Liste der auf Lehmann Unter der Überschrift „Giftspinne im
zumal das Westfernsehen von vielen DDR- angesetzten „Inoffiziellen Mitarbeiter“ Äther“ waren zwei Historikerinnen den
Bürgern aufmerksam verfolgt wurde. wurde immer länger. Stasi-Machenschaften gegen den NDR
Entsprechend übellaunig klangen die Sogar dem Verdacht auf nachrichten- nachgegangen. Für Rahel Frank und San-
Berichte, die Mielkes Ministerium über den dienstliche Tätigkeit sowie öffentliche Ver- dra Pingel-Schliemann, beide Anfang drei-
„Operativen Vorgang Leopard“ verfasste. leumdung der DDR spürte die Stasi nach. ßig, beide Ex-Mitarbeiterinnen beim Lan-
Zielperson Lehmann, notierten die Spit- Ziel war offenbar, den nervtötenden Be- desbeauftragten für Stasi-Unterlagen in
zel, sei ein „Verfechter der imperialisti- richterstatter möglichst rasch auszuweisen Mecklenburg-Vorpommern, war es eine
schen Ideologie und Gegner der gesell- – oder gar ins Gefängnis zu werfen. große Herausforderung. Monatelang be-
schaftlichen Verhältnisse in der DDR, der Umso bizarrer ist die Lage, in die der fragten sie Zeitzeugen und stöberten in
unter Ausnutzung der ihm gewährten Ar- einstige TV-Journalist nun geraten ist – in den Akten der Birthler-Behörde.
beitsmöglichkeiten unserem Staat zielge- gleich doppelter Hinsicht. 23 Jahre nach Am Ende war ihnen ein Werk gelungen,
richtet Schaden zuzufügen versucht“. auf das Plog sehr stolz war. Als ARD-
Lehmann, der wegen DDR-kritischer * Mit Moderator Peter Merseburger (M.) und den Redak- Anstalt, die über die ehemalige deutsch-
Beiträge etwa über Volksaufstand und teuren Gerhard Bott und Horst Hano am 10. Januar 1972. deutsche Grenze zusammengewachsen sei,
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Medien
nachzugehen: „Wie gehen wir mit Kollegen beteiligt – und sich nach allgemeiner Auf-
um?“ fassung dabei viel Ruhm erworben. So war
Zum Beispiel mit Lutz Lehmann. Zwar es unter anderem ihrer Berichterstattung
attestiert ihm die Studie Widerstandsgeist zu verdanken, dass die Nachkriegskarrie-
für die Zeit seines Korrespondentenjobs in re des Hitler-Bewunderers und späteren
der DDR. Zuvor jedoch habe er sich als Bundesvertriebenenministers Theodor
Redakteur des NDR-Fernsehmagazins Oberländer (CDU) ein Ende fand. Auch
„Panorama“ jahrelang vor den Karren der im Fall Hans Globke, auf wundersame Wei-
DDR-Propaganda spannen lassen – als eine se vom Kommentator der Nürnberger Ras-
Art Bruder im Geiste. sengesetze zum Chef des Bundeskanzler-
Ähnlich schonungslos rechnet die Studie amtes gewendet, ließen sie nicht locker.
mit Lehmanns damaligen Vorgesetzten und Zwangsläufig bestand dabei die Gefahr,
Kollegen ab. Glaubt man den Autorinnen „für eine spannende Geschichte mit dem
der NDR-Studie, haben sich auch die Teufel zu paktieren und Material aus der
früheren „Panorama“-Stars Peter Merse- Hölle zu holen“, wie der frühere „Panora-
burger (später Korrespondent in Ost-Ber- ma“-Mann Börner sagt.
lin und London) und Gert von Paczensky Auch SPIEGEL oder „Stern“ mussten
(später Vize-Chef des „Stern“ und Chef- sich bei investigativen Recherchen gele-
redakteur bei Radio Bremen) vom „Stre- gentlich nach Potsdam bemühen. In dem
CINETEXT (L.); NDR (R.)
ben nach politisch-medialer Sensation“ lei- von der DDR verwalteten Archiv lagerten
ten lassen. meterweise Akten der Nationalsozialisten
„Ordnerweise“ sei Material von Ost nach etwa über Angehörige von Hitlers Reichs-
West geschleppt worden. Die „Panorama“- sicherheitshauptamt.
110 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Medien
Einige davon sind über alle Zweifel erha- Viele Stifter pflegen so freilich nicht nur
EHRUNGEN
ben wie der Henri-Nannen-Preis oder der ihr Image, sondern auch Kontakte zu Jour-
Geschmäckle schwimmen.
Vor allem die Marketing-Strategen der
Gesundheitsbranche haben es geschafft,
Pressepreise und Profitinteressen kreativ
Markt Fuß fassen wollte, lobte die PR-Ab-
teilung satte 25 000 Euro für Artikel über
Investmentfonds aus.
„Wenn Sie unter den vielen Auszeich-
Mit ebenso skurrilen wie
zu koppeln. 5000 Euro insgesamt gab es nungen auffallen wollen, dann müssen Sie
gutdotierten Medienpreisen werden beispielsweise schon vom Stützstrümpfe- ein relativ hohes Preisgeld aussetzen“, sagt
Journalisten motiviert, über Hersteller Medi aus Bayreuth für den Jour- Carola Haacke von der deutschen Gene-
Themen zu berichten, die der Wirt- nalistenpreis „Schöne Beine sind kein Zu- rali-Dependance in Köln. Die Summe soll-
schaft am Herzen liegen. fall. Venenleiden – eine Volkskrankheit“. te selbst Hochkaräter unter den Journalis-
Solcherlei Erfindungsreichtum ist selbst ten motivieren. Ein Vorteil für Generali
B
urkhardt Röper hat offenbar ein PR-Profis nicht immer geheuer. „Wenn das Invest: Die PR-Abteilung bekam neben-
Gespür für Timing. Am 15. August Themenfeld eng abgesteckt ist und Geld bei einen Überblick über die Schar der
druckte die „Apotheken Umschau“ fließt, dann hat das schon ein Geschmäck- Fachjournalisten bei Top-Blättern sowie
einen Text des Journalisten zum The- Einblick in deren Schaffen.
le“, urteilt Ulrich Nies, Präsident der Deut-
ma Hörgeräte – gerade noch rechtzei- schen Public Relations Gesellschaft. Prominent war auch die Jury besetzt,
tig, um jene Deadline einhalten zu kön- Doch auch dort, wo der Themenbereich unter anderem mit Frank Lehmann vom
nen, die das „Forum besser hören“ für Hessischen Rundfunk. Der berichtet re-
weiter gefasst ist, lohnt ein genauerer Blick.
seinen Publizistik-Preis gesetzt gelmäßig für die ARD von der
hatte. Börse – was Generali nicht ge-
Mitte Oktober war Preis- stört hat. Geld habe er für sei-
verleihung. Die PR-Organi- ne Jurorentätigkeit nicht be-
sation der Vereinigung der kommen, sagt Lehmann. Nur
Hörgeräte-Industrie (VHI) prä- für die Teilnahme an einer
mierte Print- und Rundfunk- Podiumsdiskussion im Rahmen
beiträge, die sich mit „einfühl- der Preisverleihung sei ein Ho-
samen Fallstudien“ zum Thema norar gezahlt worden. Wie viel
„besser leben mit Hörsyste- genau, weiß er nicht mehr.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 111
Panorama Ausland
politische Erbe seines Va-
ters, sie nach einem Tref-
fen mit Frankreichs Präsi-
dent Jacques Chirac äußer-
te. Der galt als einer der
engsten Freunde des Er-
mordeten und zählt zu-
gleich zu den schärfsten
Kritikern Syriens.
Damaskus hat nach dem
Bericht des Uno-Sonder-
ermittlers Detlev Mehlis
entscheidenden Anteil an
der Ermordung Rafik al-
Hariris. Vor allem Frank-
reich und die USA wollten
deshalb in einer scharfen
Resolution mit einem Wirt-
schaftsembargo, Ausreise-
beschränkungen und dem
W ährend der Uno-Sicherheitsrat im Mordfall Hariri noch verpflichten, beim Kampf gegen islamistische
REUTERS
um eine gemeinsame Resolution ringt, rät ausgerechnet Terroristen zu helfen, die über die syrische Gren-
Saad al-Hariri, der Sohn des im Februar ermordeten libanesi- ze in den Irak einsickern. Auf der Forderungs-
schen Ex-Premiers, von weitreichenden Sanktionen ab. „Wir liste Washingtons stehen auch die Verbesserung
sind Freunde Syriens und des syrischen Volkes“, sagte er vori- der syrischen Beziehungen zur neuen Regierung in Bagdad
ge Woche. „Diese Freundschaft ist historisch gewachsen, und und ein Ende der Unterstützung radikaler Palästinenser. „Aus
wir möchten sie erhalten.“ Den überraschend milden Tönen der Tragödie Hariri erwächst eine außerordentliche strategische
aus Beirut kommt zusätzliche Bedeutung zu, weil Hariri, der Gelegenheit“, sagt ein hochrangiger US-Beamter.
tingent im Irak gehörte. Gemeinsam mit knapp 500 Dänen statio- bieten sollen, hatte sich
vier dänischen Militärpolizisten soll die niert. Filmbeweise über die die einflussreiche Tages-
Reserveoffizierin inhaftierte Iraker bei Drangsal der Gefangenen zeitung „Berlingske
Vernehmungen mit Schimpfworten wie wie in Abu Ghureib gibt es Tidende“ erst noch vor
„Hundescheiße“, „Männer ohne allerdings nicht. Das sei kurzem mokiert. Jetzt fin-
Schwanz“ oder „Schwanzköpfe“ ge- „ein wirklicher Krieg, da det das bürgerlich-konser-
demütigt haben. Delinquenten hätten kann man nicht mit Was- vative Blatt den „Folter-
während des Verhörs in „stresserregen- serpistolen auftreten“, hat- prozess“ eine „jämmer-
den Situationen“ ausharren müssen: auf te sich Hommel zunächst liche Sache“.
den Knien zum Beispiel oder mit bis zu gewehrt. Jetzt weist sie die
den Knöcheln heruntergelassener Hose. Vorwürfe als „völlig aus der Angeklagte Hommel
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 113
Panorama
RUSSLAND
„Wirtschaft im
Würgegriff“
ULLSTEIN BILDERDIENST / AP
Nikolai Petrakow, 68, Ökonomie-
professor an der Moskauer Akade-
mie der Wissenschaften und Berater
PAWEL KASSIN
SPIEGEL: Im jüngsten Bericht von Transparency International Petrakow: Der Staat hat die Nutznießer zumindest nicht ver-
über Korruption schneidet Russland miserabel ab, gleichauf mit pflichtet, in den Gebieten wirklich zu produzieren. Dubiose Ge-
Niger, Albanien und Sierra Leone auf Platz 126. Warum be- schäftsleute ergaunerten sich durch nur scheinbar dort getätigte
kommt die Regierung das nicht in den Griff? Deals unberechtigt staatliche Förderung. Es gab Wirtschafts-
Petrakow: Das ganze System ist falsch angelegt. Bei uns konn- zonen wie Kalmykien, die weder qualifizierte Arbeitskräfte
ten Leute in wenigen Jahren Milliardäre werden, ohne Genies noch Infrastruktur für Investitionen boten – wie bei Potemkin.
vom Format eines Bill Gates oder zumindest Wirtschaftskapa- SPIEGEL: Präsident Wladimir Putin will das Bruttoinlandspro-
zitäten zu sein. Niemand musste sich im freien Wettbewerb be- dukt bis 2010 verdoppeln und Wachstum durch innovative
haupten. Unsere Kapitalisten wurden im Zuge der Privatisie- Hochtechnologien schaffen. Ein realistisches Konzept?
rung der Staatswirtschaft von Beamten ernannt und danach in Petrakow: Verdoppeln kann man Wachstum sehr schnell, indem
staatlicher Abhängigkeit gehalten. Minibanken mutierten in zum Beispiel die Investitionen in die Öl- und Gasbranche er-
Rekordzeit zu Großinstituten, die mit Hilfe der Politiker öf- höht werden. Doch die Exportgewinne kommen nicht den
fentliche Haushaltsgelder verwalten. Menschen und dem Konsum zugute, sondern vor allem einem
SPIEGEL: Welche Fehler haben die Reformer gemacht? Stabilitätsfonds, der bei Banken festliegt. Der Lebensstandard
Petrakow: Sie haben das Privateigentum überschätzt. Privat- der Bevölkerung steigt dadurch also nicht.
wirtschaft gibt es außer in Nordkorea überall auf der Welt, SPIEGEL: Und neue Märkte?
auch in Afrika. Sie führt aber nicht automatisch zu ökono- Petrakow: Fehlanzeige. Die Staatsbeamten halten die Wirt-
mischem Erfolg und zu Wohlstand. Entscheidend dafür ist un- schaft im Würgegriff. Sie sind gar nicht daran interessiert, zu-
ter anderem die Qualität des Managements. Daran mangelt es kunftsfähige Computer und Techniken zu entwickeln und zu
bei uns. produzieren. Sie verkaufen lieber Holz nach Finnland und be-
SPIEGEL: Anders als in den boomenden Sonderwirtschaftszonen stellen dafür dort Papier. Wenn bei denen von Privatisierung
Chinas wurde in den sogenannten freien Wirtschaftszonen der Forschung die Rede ist, geht es vor allem darum, Akade-
Russlands vor allem Geld gewaschen – unter staatlicher Mit- mie- und Institutsgebäude abzuwickeln und sie in Hotels oder
hilfe? Kasinos umzuwandeln.
NIEDERLANDE Einwanderern und mutmaßlichen Dro- anhören. Das Wachpersonal habe Hilfe-
gendealern, zum Verhängnis. Beim rufe ignoriert und die Zellentüren nicht
In der Falle Brand in einem Trakt des Abschiebege-
fängnisses mit etwa 350 Häftlingen ka-
schnell genug geöffnet, behaupten In-
sassen. „Die Häftlinge saßen wie Ratten
den, die technisch veraltet gewe- stitut für Feuer- und Katastro-
sen seien. Anders als in anderen phenschutz moniert, dass die
Haftanstalten, in denen sich Zellenwände nicht feuerfest
sämtliche Zellen durch einen ausgelegt waren. Noch vor In-
Knopfdruck öffnen lassen, muss betriebnahme hatte es dort
in Schiphol jede Tür von Hand zweimal gebrannt. Es gehöre je-
aufgeschlossen werden. doch nicht zu den Aufgaben des
Die alte Technik wurde offenbar Instituts, eine Beseitigung der
am vergangenen Donnerstag Mängel zu überwachen, er-
den Insassen, vor allem illegalen Brennendes Gefängnis in Schiphol klären die Brandschützer nun.
114 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland
IRAN
E
s war ein Versprechen für seine reli- Nein, er wolle die Börse nicht abschaffen, dent der vielleicht wichtigsten Regional-
giös-konservativen Anhänger, eine weil sie „unislamisch“ sei, wie im Wahl- macht im Nahen Osten, forderte er die
Mahnung an seine pragmatisch-libe- kampf angedeutet; außenpolitisch sei Iran Ausrottung eines ganzen Staates: „Israel
ralen Gegner – und eine Drohung gegen ein verantwortungsvolles Mitglied der Völ- muss von der Landkarte getilgt werden!“
den Rest der Welt. kergemeinschaft, suche keinen Krieg, stre- Die 4000 Zuhörer seiner Rede bei der
„Wenn Allah es will, ist dies der Beginn be nicht nach der Atombombe. Schon im Teheraner Tagung „Eine Welt ohne Zio-
einer neuen Ära im Leben unserer Na- September hatte Ahmadinedschad, der ei- nismus“ brachen in den rhythmischen
tion“, sagte Mahmud Ahmadinedschad am gentlich nur sein Land kennt und über kei- Schlachtruf aus: „Marg bar Israel!“ (Tod
24. Juni bei der Stimmabgabe zur Präsi- ne internationale politische Erfahrung ver- für Israel). Am Freitag legte das Regime
dentschaftswahl. Wenig später fühlte sich fügt, einen martialischen Auftritt: Vor der nach und mobilisierte zum „Jerusalem-
der Sohn armer Leute, selbsternannte Uno-Generalversammlung wetterte er un- Tag“ in Teheran Zehntausende zum „Auf-
Straßenkehrer und Teheraner Bürgermeis- diplomatisch gegen den bösen Westen. ruhr gegen Zionisten und Ungläubige“.
ter göttlich bestätigt: Er hatte als Außen- Jetzt hat sich der Hardliner mit seinen Während die islamische Welt wieder ein-
seiter einen glanzvollen Wahlsieg errun- Hasstiraden übertroffen. Hemdsärmelig und mal schwieg, war die Reaktion des Westens
gen – mit gut 60 Prozent der Stimmen. jovial stand er vergangenen Mittwoch in auf Ahmadinedschads Hasstirade einhel-
Ahmadinedschad, 49, zeigte sich zu- Teheran am Rednerpult. Doch was er sag- lig und scharf. „Ungeheuerlich und em-
nächst demütig. Er küsste bei seiner Amts- te, jagte der Welt einen Schauer über den pörend“, hieß es von der US-Regierung. In
einführung ehrfürchtig seinem Mentor Rücken. Als wäre Ahmadinedschad Terro- Berlin wurde Irans Botschafter einbestellt.
Ajatollah Ali Chamenei, 66, die Hände. ristenführer und nicht der gewählte Präsi- Selbst die Russen, mit Teheran wirtschaft-
Bei seiner ersten Pressekonferenz gab sich lich wie politisch eng liiert, drückten ihr
der neue Präsident noch beschwichtigend: * Am vergangenen Mittwoch in Teheran. Entsetzen aus. Am schärfsten reagierte
116 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Tony Blair, der offen drohte. „Die für sein Regime amerikanischem
Haltung der Iraner gegenüber Israel Druck nachgibt und seine Unter-
sowie zu Terrorismus und Nuklear- stützung palästinensischer Radika-
waffen ist nicht hinnehmbar. Wenn ler beendet; ferner die Grenze zum
sie so weitermachen, werden die Irak besser überwacht und damit
Leute fragen: Wann macht ihr end- viele der nach Bagdad infiltrieren-
lich etwas? Kann man sich denn den Qaida-Kämpfer abfängt.
vorstellen, dass ein Staat mit einer Zöge Assad seine letzten Ge-
solchen Haltung Atomwaffen be- heimdienstler aus dem so lange von
sitzt?“ Syrien beherrschten Libanon zu-
In Israel schlug die Welle der rück, könnte sich die von Teheran
Empörung gegen dieses „verrückte und Damaskus unterstützte His-
Regime“, so Vizepremier Schimon bollah-Miliz womöglich nicht mehr
Peres, verständlicherweise beson- lange vor der von der Uno gefor-
ders hoch. Die Tel Aviver Tageszei- derten Entwaffnung drücken. Im
tung „Haaretz“ verglich Irans Prä- Libanon hätte die ins Stocken gera-
sidenten gar mit Adolf Hitler, „die- tene Zedernrevolution alle Mög-
sem anderen gewählten Führer, der lichkeiten zu reüssieren und den
Juden zu vernichten versprach“. Levante-Staat zur ersten Demokra-
Mehrere hochrangige Politiker ver- tie im arabischen Raum zu machen
langten den Ausschluss Irans aus – mit möglicherweise entscheiden-
den Vereinten Nationen, weil Tehe- den Auswirkungen auf erst im An-
ran die Charta der Völkergemein- satz zur Reform bereite Staaten wie
schaft verletzt habe – eine eher sym- Ägypten.
bolische, weil nicht durchsetzbare Auch Israel, die einzige – wenn-
Forderung. gleich offiziell noch immer nicht
Aber in Militär- und Geheim- eingestandene – Atommacht in der
dienstkreisen sowie in der akade- Region, stünde dann bald vor dem
VAHID SALEMI / AP
mischen Welt wurde auch über ei- Zwang, seine Besatzungspolitik im
nen israelischen Präventivangriff Westjordanland zu überdenken und
spekuliert. Seit Monaten sollen ge- den Palästinensern einen lebens-
heime Planungen zur Bombardie- fähigen Staat einzuräumen.
rung von etwa einem Dutzend ira- Proteste gegen Israel in Teheran*: „Teuflischer Westen“ Plötzlich spielt in Jerusalem die
nischer Nuklearanlagen laufen. Die lange Zeit verachtete Uno wieder
USA haben Israel 500 bunkerbrechende gung wie in den vergangenen Wochen, eine positive Rolle – um deren Resolutio-
Bomben geliefert, die im Kampf gegen die wechselten Hoffnungsstrahlen so mit düs- nen hatte sich in Israel selten jemand
Palästinenser keinen Sinn machen – aber ter heraufziehenden Gewitterwolken – was gekümmert, wenn sie Aufforderungen an
für eine koordinierte israelisch-amerikani- die Brandrede von Teheran nur noch die eigene Adresse betrafen. Mancher
sche Attacke gegen die gutgesicherten, oft brisanter macht. Hardliner mag heimlich froh gewesen sein,
unterirdischen Atomdepots in den Außen- Durch den Uno-Bericht des deutschen dass Teheran mit seinen Ausfällen Druck
bezirken von Teheran, Isfahan, Natans. Staatsanwalts Detlev Mehlis zur syrischen von Israel nimmt – Ahmadinedschad
Efraim Kam, Vizechef des Jaffe-Zen- Verwicklung an der Ermordung des liba- zwingt selbst die Franzosen, die vielleicht
trums für Strategische Studien an der Uni- nesischen Ex-Premiers Rafik al-Hariri ist größten europäischen Israel-Skeptiker, zur
versität Tel Aviv, ist der Meinung, dass ein Damaskus schwer unter Druck geraten. Es bedingungslosen Solidarität.
Angriff „die letzte Option sein muss“. Vor- könnte sein, dass Staatschef Baschar al-As- Was mag Irans Präsidenten treiben? Ver-
her müsse man versuchen, Iran weiter in- sad im Gegenzug für Überlebensgarantien sucht er so die dumpfen Vorurteile bei sei-
ternational zu isolieren und die nen Landsleuten zu bestätigen und
Geldströme aus dem Land zu kon- sie darüber hinwegzutäuschen, dass
trollieren. „In den vergangenen Jah- er bisher kaum eine seiner sozialen
ren haben die Finanzhilfen für die Versprechungen einhalten konnte?
palästinensische Terrorgruppe Isla- Kümmert ihn nicht, wie viel Porzel-
mischer Dschihad dramatisch zuge- lan er zerschlägt – in Europa, aber
nommen“, sagt Kam. auch bei den von ihm in einem
Am vergangenen Mittwoch, fast Atemzug mit Israel brüskierten Nah-
zeitgleich mit der Scharfmacher- ost-Staaten Ägypten und Jordanien?
rede Ahmadinedschads, explodier- Ahmadinedschad fühlt sich heu-
te in der israelischen Stadt Hadera te offensichtlich so stark, dass er
die Bombe eines Selbstmordat- glaubt, in der internationalen Poli-
tentäters. Sie riss fünf Israelis mit in tik auf nichts und niemanden Rück-
den Tod, verantwortlich bekannte sicht nehmen zu müssen.
sich der Islamische Dschihad. Israel Dafür verantwortlich ist vor al-
schlug mit Luftangriffen im Gaza- lem die Fehlentwicklung im Irak,
Streifen zurück – wieder einmal für die neben US-Präsident George
DIGITAL GLOBE / REUTERS
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 117
spüren. Er baut Parkanlagen und billigere
Wohnungen für die Armen.
Als er sich vor gut vier Monaten zur
Wahl für die Präsidentschaft stellt, greift er
PR-wirksam selbst zum Besen und kehrt
die Straßen – das perfekte und offensicht-
lich die Wähler überzeugende Gegenbei-
spiel zu dem als gerissen geltenden Multi-
millionär Haschemi Rafsandschani, den er
in der Stichwahl deutlich bezwingt.
Seine ersten knapp 100 Tage im Amt
verlaufen innenpolitisch unspektakulär. Er
pflegt sein Image des Volksnahen, indem er
teure Teppiche aus seinem Büro verbannt
und seine Porträts aus Amtszimmern ent-
MEHDI GHASEMI / AP
fernt. Um mittellosen Paaren die Heirat zu
ermöglichen, richtet er einen „Liebes-
fonds“ ein, mit einer Milliarde Euro aus
Staatsmitteln. Die unter seinem Vorgänger
Parade einer Frauen-Miliz in Teheran: „Aufruhr gegen Ungläubige“ Mohammed Chatami schon herrschende
Pressezensur lässt er weiter verschärfen,
macht dort „die Dinge richten wird“, wie Als Schüler schon kämpft er gegen Bar- verbietet ausländische Filme. Doch die ver-
Rumsfeld im SPIEGEL-Gespräch sagt (sie- rikaden, fordert den Sturz des „US-Lakai- sprochene Umschichtung der Ölgelder in
he Seite 126), glaubt in den USA nach den en“ Schah Resa Pahlewi. Dass er nach Aja- die Taschen der Ärmsten lässt auf sich
letzten Meinungsumfragen nur noch rund tollah Chomeinis Machtübernahme bei der warten. Und die Korruption im Land blüht
ein Drittel der Bevölkerung. Die Wahrheit Erstürmung der US-Botschaft dabei war, ist wie eh und je.
lautet eher so: Die Amerikaner führen im umstritten; seine ideologische Nähe zu den Es ist wohl auch die Unfähigkeit, Ent-
Irak einen Krieg, die Iraner lehnen sich Besetzern nicht. Während seines Bauinge- scheidendes an den sozialen Verhältnissen
zurück – und gewinnen ihn. nieur-Studiums gehört er zu den Grün- zu verändern, die den außenpolitischen Di-
Sollte der Irak tatsächlich eine föderale dungsmitgliedern der damals verantwort- lettanten jetzt in die Weltarena treibt. Sei-
Verfassung erhalten, wird in diesem Ge- lichen Studentengruppe. ne Thesen sind nicht neu. Dass die Staats-
samtgebilde die schiitische Zweidrittel- Der Eiferer aus dem Provinzstädtchen gründung Israels Teil einer jahrhunderte-
mehrheit das Sagen haben – vermutlich Aradan macht später Karriere bei den Re- alten Aggression des Westens gegenüber
spielt dann ein im iranischen Ghom ge- volutionsgarden und den Bassidsch, den dem Islam sei, dass dieses „Zionistenge-
schulter Geistlicher wie Abd al-Asis al-Ha- oft als Spitzel eingesetzten Milizionären. bilde“ nicht anerkannt werden dürfe – das
kim mit seiner von der Teheraner Regie- Dass Ahmadinedschad seinen Worten kei- gilt seit Chomeini als Staatsdoktrin. Auch
rung jahrzehntelang geförderten Bewegung ne Taten folgen lasse, kann man ihm nicht Chatami hat nie an offizielle Kontakte mit
die entscheidende Rolle. Sollte der Irak nachsagen: Kaum hat der irakische Dikta- Israel gedacht und dessen Besatzungspoli-
dagegen auseinander brechen, fiele der tor Saddam Hussein 1980 Iran überfallen, tik verurteilt. Allerdings griff er nie zu
Süden mit seinen reichen Ölfeldern fast meldet er sich zur Front. Als Mitglied der den „Vernichtungs“-Vokabeln Ahmadi-
automatisch an Iran; schon heute wird Bas- „Sondereinheit der Revolutionsgarden“ er- nedschads. Drohgesten und Hassrhetorik
ra eher von Abgesandten Teherans als von hält er sogar eine Ausbildung für geheime dieser Art wurden von einem Staatschef
den britischen Besatzern beherrscht. Kommandoaktionen hinter den feindlichen aus Teheran lange nicht mehr vernommen.
Die Mullahs wissen, ewig werden die Linien. Nach dem Ende des Krieges avan- Will der Scharfmacher tatsächlich die
westlichen Truppen im Zweistromland ciert er zum Gouverneur der Provinz Ar- Atombombe? Die Wiener Uno-Kontrol-
nicht bleiben können. Die Zeit spielt für sie debil, profiliert sich als fähiger Verwalter leure um den Friedensnobelpreisträger Mo-
– wohl auch in der Atomfrage. der von Erdbeben und Überschwemmun- hammed al-Baradei haben noch „keinen
Vor einem Wirtschaftsboykott oder an- gen heimgesuchten Provinz. rauchenden Colt“ gefunden und halten
deren Sanktionen fürchtet sich in Teheran Zurück in Teheran, lehrt er an der Uni- trotz eines nun schon Jahre währenden
anscheinend kaum jemand: So einig sich die versität, engagiert sich besonders bei einer Katz-und-Maus-Spiels mit nachweisbaren
Welt jetzt gibt, so wenig wird sie es bleiben, Hardliner-Organisation der „Opferbereiten Lügen und Täuschungen Teherans die Ge-
wenn es um konkrete Beschlüsse geht. Der für die Revolution“. Vor den Kommunal- sprächskanäle offen.
Westen und das energiehungrige China wahlen stellt ihn das obskure Sammel- Doch womöglich hat das Atompro-
können auf iranisches Erdöl und Erdgas becken der Unzufriedenen mit gleichge- gramm in den letzten Wochen die ent-
schwer verzichten. Iran verfügt nach Saudi- sinnten Gruppen als Spitzenkandidaten auf. scheidenden Schritte Richtung Nuklear-
Arabien (und knapp vor dem Irak) über die Die reformorientierten Hauptstädter boy- waffe getan. Nach Informationen des SPIE-
größten Ölvorkommen auf der Erde und ist kottieren 2003 die Wahl, weil sie von den GEL hat sich der Präsident an die Spitze
der viertgrößte Exporteur. Rückschlägen ihres eher liberalen Kandi- eines neuen „Kontrollzentrums für Atom-
Ahmadinedschad hat schon im Wahl- daten enttäuscht sind. Der Unbekannte ist fragen“ gestellt, das von seinen Freunden,
kampf eine harte Linie zur Atompolitik plötzlich Bürgermeister von Teheran. den Revolutionsgarden, gemanagt wird.
eingeschlagen. Von den Vermittlungs- Er gibt im Amt eine Mischung aus Aja- Der Staatschef wird so alle nuklearen Ent-
bemühungen der EU hält er nicht viel, die tollah Chomeini, Harun al-Raschid und wicklungen selbst steuern können. Das
eigenen Verhandlungsführer bezeichnet er Robin Hood. Er lässt „dekadente“ Schnell- Gremium verfügt über unbeschränkte fi-
als „sträflich nachgiebig“. Iran über alles – restaurants schließen, verbietet ein Plakat nanzielle Mittel, als Vizechef wurde der
das ist sein Weltbild seit frühester Jugend. des britischen Fußballstars David Beckham Geheimdienstmann Farhad Rahbar ver-
Überall sieht er eine Verschwörung gegen wegen „zu kurzer Hosen“ und verlangt pflichtet, der das Staatsbudget verwaltet.
seine geliebte Heimat und den Zwang Geschlechtertrennung in Fahrstühlen der Das Ziel, laut einem Geheimdienstpa-
zurückzuschlagen: ein Überzeugungstäter. Stadtverwaltung. Er streift unerkannt pier: „die Dinge endgültig vorantreiben“.
Und ein Kind der Revolution. durch die Straßen, um Missstände aufzu- Dieter Bednarz, Erich Follath
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Ausland
D
er Mann ist Mathematiker mit ei- bensfähige Koalition aus Schiiten, Kurden sich womöglich zu einem späteren Zeit-
nem Abschluss am Massachusetts und Sunniten zu schmieden, welche die punkt vor Gericht verantworten. Zuerst
Institute of Technology. Freunde im Voraussetzung für einen allmählichen Ab- wird I. Lewis Libby, 55, genannt „Scoo-
Pentagon hatten ihn bereits zum ersten zug der Amerikaner wäre. ter“, dem Bürochef des Vizepräsidenten,
Staatschef in einem demokratischen Irak Dass sich die Hoffnungen der Washing- der Prozess gemacht.
auserkoren. Seine Überzeugungskraft toner Regierung derzeit wieder auf diesen Dabei sind die Delikte eher nachrangig:
brachte selbst eine abgebrühte „New York Scharlatan richten, lässt ahnen, wie tief die Die beiden Topmanager des Weißen Hau-
Times“-Reporterin wie Judith Miller dazu, Verzweiflung über die verfahrene Lage im ses sind womöglich verantwortlich dafür,
an die Existenz irakischer Massenvernich- Irak sein muss. Mitte vergangener Woche, die Tarnung einer CIA-Agentin zerstört zu
tungswaffen zu glauben. Von ihm ließ sich die zur schwärzesten der bisher 250 Wo- haben. Bei der anschließenden juristischen
auch ein hartgesottener Griesgram wie chen im Weißen Haus des Präsidenten Untersuchung des Vorfalls hat zumindest
Vizepräsident Richard Cheney überreden, Libby laut Anklage gelogen
dass die Iraker ihre amerikanischen Be- und Meineide geschworen.
freier mit Jubelchören und Rosenblüten Ein Umstand macht die al-
empfangen würden. lenfalls drittklassigen Vorgehen
Dabei war der Mann ein verurteilter jedoch brisant: Die mutwillige
Bankbetrüger. Er brachte es nicht gleich Enttarnung der Agentin Valerie
zum Staatschef in Bagdad, aber immerhin Plame war nur ein winziger
zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Ausschnitt jenes Propaganda-
Er fiel im Weißen Haus in Ungnade, weil es feldzugs, mit dem der Irak-
keine Rosen in Bagdad regnete. Krieg vorbereitet worden war.
Und jetzt der Clou in diesem wenderei- Und darin sind keineswegs nur
MANUEL BALCE CENETA / AP
chen Leben: Kommende Woche wird Ah- die Handlanger der eigentli-
med Tschalabi, 60, der nur vorübergehend chen Protagonisten verwickelt.
Verfemte, als Staatsgast wieder freundlich Es war beispielsweise Che-
in Washington aufgenommen werden. ney selbst, der im Frühjahr
Dem ebenso berüchtigten wie durchset- 2002, fast ein Jahr vor der Er-
zungsstarken Intriganten traut die Mann- oberung Bagdads, mit der
schaft im Weißen Haus noch am ehesten Sonderermittler Fitzgerald durch keine Tatsache gedeck-
zu, in Bagdad eine einigermaßen überle- Schmutzige Wäsche im Aktenschrank ten Erkenntnis vorgeprescht
120 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Ausland
war, der irakische Diktator habe sein Nu- dienstberichte; eine Abwägung, ob die
klearprogramm „wieder in Kraft gesetzt“. Quellen glaubwürdig waren, fand nicht
Es war Condoleezza Rice, damals Bushs statt. Nur so konnte es geschehen, dass
Sicherheitsberaterin, die die griffige For- Tschalabis vorwiegend eigennützige Mär-
mel erfand, man könne nicht abwarten, chen aus dem Morgenland direkten Ein-
bis der unschlagbare Beweis für Saddams fluss auf die US-Politik erlangten.
Nuklearwaffenkapazität „in Form eines Wie Libby war auch Rove Mitglied in
Atompilzes“ am Horizont erscheine. Das der bis heute geheimnisumwitterten „White
Gerichtsverfahren wird sich mit der House Iraq Group“, die sieben Monate vor
Nachrichtenfabrikation beschäftigen müs- der Invasion von Stabschef Andrew Card
sen, die solche Tatarenmeldungen ermög- gegründet wurde, um die Amerikaner
lichte. „über die Gefahren durch das irakische
Die Geschichte einer Vendetta, mit der Massenvernichtungswaffenprogramm auf-
die Administration einen unbequemen zuklären“. In dem Zirkel, dem auch die
Kritiker desavouieren wollte, lässt keinen heutige Außenministerin Rice und Bushs
Beteiligten gut aussehen. In seiner Rede jetziger Sicherheitsberater Stephen Had-
zur Lage der Nation im Januar 2003 hatte ley angehörten, wurden die dürren Er-
Präsident Bush als Beleg für Saddams kenntnisse mächtig aufgebauscht. Staats-
Griff nach der Atomwaffe behauptet, der anwalt Fitzgerald hat sich auffällig gründ-
Diktator habe versucht, im westafrikani- lich für die Arbeit dieses Propagandatrupps
schen Niger Uran zu kaufen – ein Gerücht, interessiert.
das zu diesem Zeitpunkt längst widerlegt Mit einem ganzen Heer von Topanwäl-
war. Ein halbes Jahr später berichtete der ten hatte Rove zuletzt wochenlang ver-
Nation auf Kriegskurs gebracht hatte. Sein Und es ist nicht allein das
alter Freund Brent Scowcroft – während Weiße Haus, dessen Mitarbei-
des Golfkriegs von 1991 Sicherheitsbera- ter ins Visier der Justiz gera-
ter von George Bush senior, Cheney selbst ten sind. Auch die Führung
amtierte als Verteidigungsminister – hält „New York Times“-Reporterin Miller der Republikaner im Kongress
ihn heute für die „wirkliche Anomalie in „In die Irre geführt“ wehrt sich gegen Anschuldi-
122 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
gungen. Tom DeLay, bis vergangenen
Monat Mehrheitsführer im Repräsentan-
tenhaus, lieferte soeben vor einem texa-
nischen Sheriff seine Fingerabdrücke ab –
er steht wegen Geldwäsche unter Anklage.
Bill Frist, sein Pendant im Senat, wird von
der Börsenaufsicht verdächtigt, an einem
Insidergeschäft bei Aktienverkäufen einer
familiennahen Krankenhausgesellschaft
verdient zu haben.
Nicht einmal Staatsanwalt Fitzgerald
geht als strahlender Held aus der Affäre
hervor. Dabei schien der Jesuitenschüler
und Sohn eines irischen Einwanderers
zunächst alles richtig zu machen. Er prä-
sentierte sich als nimmermüder Work-
aholic, der Mails mit Weisungen für
seine Ermittler gern um zwei Uhr mor-
gens verschickt. In den Aktenschränken
seines Büros türmte sich schmutzige Wä-
TOMASZ GZELL / DPA
W
denen die Topmanager des Weißen Hauses arschau ist keine besonders schö- nents. Sicher scheint auch: Die Nowo-
den Namen der Wilson-Ehefrau zugesteckt ne Stadt, und am Ende der Nowo- grodzka dürfte künftig das eigentliche
hatten. Die skrupellose Methode zahlte grodzka-Straße schon gar nicht. Machtzentrum Polens sein. Von hier aus
sich aus. Die Fassaden sind so grau wie vor der wird Jaroslaw nicht nur die Regierung kon-
85 Tage saß die „New York Times“-Re- Wende, alte Leute schleppen ein paar trollieren, sondern auch Kontakt mit Lech
porterin Miller im Gefängnis, bevor sie – Lebensmittel nach Hause. Hier, inmitten im Präsidentenpalais halten, der sich schon
nach Absprache mit den Anwälten von ihrer Wählerschaft, weit weg vom boo- seit Kindertagen in allen Lebensdingen mit
Libby – bereit war, über ihre Unterredun- menden Zentrum mit den Glasfassaden dem 45 Minuten älteren Bruder berät.
gen mit Cheneys Vertrautem auszupacken. und den Latte-Macchiato-Cafés, befindet Lange hatten die Warschauer Medien
Doch als dann bekannt wurde, was sie aus- sich die Zentrale von „Recht und Gerech- den Liberalen von der Bürgerplattform den
gesagt hatte, war auch die „New York tigkeit“ (PiS). Die Partei sicherte sich nach sicheren Sieg zugeschrieben. Währenddes-
Times“ blamiert, die sie zur Märtyrerin dem Parlamentssieg Ende September jetzt sen gelang es den Kaczyńskis, sich eine für
der Pressefreiheit hochstilisiert hatte. auch noch das Präsidentenamt. osteuropäische Staaten typische Mittel-
Denn Miller entpuppte sich als Journa- Im zweiten Stock des Plattenbaus resi- schicht als Wählerklientel zu erschließen.
listin, die sich durchaus zum Vorteil der diert der Architekt des Erfolgs: Parteichef In Polen trage nur die „PiS Züge einer
Regierung einspannen ließ. In einer Mail Jaroslaw Kaczyński, 56. Damit sein Zwil- Volkspartei“, sagt Kai-Olaf Lang von der
an seine Mitarbeiter musste Chefredakteur lingsbruder Lech die Präsidentenwahl ge- Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.
Bill Keller zugeben, möglicherweise habe winnen konnte, verzichtete er auf das Amt Sozial zwischen den Wendegewinnern
die Reporterin ihre Vorgesetzten über die des Premiers. Beide Kaczyńskis an der der Großstädte und den entwurzelten Ver-
Beteiligung an der Flüsterkampagne gegen Spitze des Staates – das wäre wohl zu viel lierern auf dem Lande angesiedelt, sehnt
Wilson „in die Irre geführt“. gewesen für die Polen. sich die Kaczyński-Klientel nach Ruhe und
Die wichtigste Zeitung der USA lebt seit- In Europa aber hat der Erfolg der Zwil- Ordnung. PiS-Wähler bangen als Ange-
her im Verdacht, dass es nicht nur ihre linge auch so Irritationen ausgelöst. „Rechts- stellte um ihren Arbeitsplatz, fürchten als
Journalisten sind, die über hochkarätige ruck in Polen“, titelten die Zeitungen und kleine Ladenbesitzer die Konkurrenz in-
Quellen verfügen. Die ungebührlich ver- unterstellten einen Epochenbruch. Kata- ternationaler Ketten – und flüchten sich in
trauensvolle Zusammenarbeit von Miller pultiert sich Warschau kaum anderthalb die scheinbar heile Welt der Traditionen
und Libby legt nahe, dass auch die Regie- Jahre nach dem EU-Beitritt wieder aus der und der nationalen Solidarität.
rung über verlässliche Agenten in der Union?, fragt sich der Westen. Suchen die Für sie schufen Lech und Jaroslaw das
„New York Times“ verfügt – und zwar ge- Brüder Streit mit Berlin, riskieren sie einen Bild von der „IV. Republik“. Die erste geht
rade dann, als Amerika zu einem Krieg neuen Kalten Krieg mit Russland? auf das Jahr 1791 zurück – als sich der pol-
aufbrach, der sich als fatal erweist. Klar zumindest ist: Die Zwillinge bilden nische Adel eine für damalige Verhältnis-
Hans Hoyng, Georg Mascolo das eigentümlichste Polit-Duo des Konti- se überaus fortschrittliche Verfassung gab.
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Ausland
Die zweite bezeichnet die Zwischen- tatsächlich auf Rückgabe von Vertriebe- „jeglicher Verkehr miteinander“ sei derzeit
kriegszeit, die dritte begann, als Solidar- nengrundstücken drängt. eingestellt. Schlechter könne es kaum kom-
no£ƒ den Kommunismus abschüttelte. Kanzler Gerhard Schröder gelang es men, auch nicht unter Kaczyński. Der ver-
Die vierte Republik ist in der Lesart der nicht, solche Befürchtungen zu zerstreuen kündete schon auf der ersten Pressekonfe-
Kaczyńskis gleichbedeutend mit einem – obwohl er vergangenes Jahr in Polen er- renz schroff, es sei nicht daran zu denken,
schützenden, fürsorglichen Staat. An der klärte, die Bundesregierung werde indivi- dass „ich als Erstes Moskau besuche“.
Spitze steht ein mit üppigen Vollmachten duelle Forderungen in keiner Weise unter- Dass knapp anderthalb Jahrzehnte nach
ausgerüsteter Präsident, der aufräumt mit stützen. Nachfolgerin Angela Merkel will Ende des Warschauer Pakts zwischen bei-
den Kriminellen und den zähen kommu- an dieser Linie festhalten. den Ländern Sprachlosigkeit herrscht,
nistischen Seilschaften. Sie wird mit weiterem Gegenwind aus muss die Europäer beunruhigen – schon
Kaczyńskis Wähler wollen klare Verhält- Warschau rechnen müssen. Denn die weil Polen nach 1989 ein wichtiger Mode-
nisse – aber keinen Krawall wie die Ultra- Kaczyńskis sind Gegner eines „Zentrums rator zwischen Ost und West gewesen ist.
nationalisten oder der unberechenbare gegen Vertreibungen“, wie es die CDU- Stein des Anstoßes ist die unterschiedli-
Bauernführer Andrzej Lepper. Deshalb Bundestagsabgeordnete und Vertriebe- che Bewertung der Vergangenheit. Die Po-
halten die Brüder geschickt ein gewisses nenchefin Erika Steinbach fordert. len bemängeln, dass noch immer eine offi-
Maß: Sie sind für die Todesstrafe, sagen Während Schröders Amtszeit hat sich das zielle Entschuldigung Moskaus für das
aber, dass sie „im modernen Europa“ nicht bilaterale Verhältnis verschlechtert. Zwar Massaker von Katyń fehlt – dort hatte 1940
durchsetzbar sei. Sie verbieten Lesben- goutierte man an der Weichsel, dass er den der sowjetische Geheimdienst über 21 000
und Schwulendemos, stellen sich aber nicht Polen zu relativ hohen EU-Agrarbeihilfen polnische Offiziere und Intellektuelle er-
an die Spitze der Gegendemonstranten. verhalf. Aber die siebenjährige Niederlas- schossen, darunter Verwandte Kaczyńskis.
Das Jonglieren mit solch heiklen The- sungssperre für östliche Arbeitnehmer in Auch dass Moskau dieses Jahr erstmals
men zahlte sich aus: Der ultrakonservative Deutschland, die er durchsetzte, nahm man den 4. November als Nationalfeiertag be-
Sender Radio Maryja und Lepper riefen ihm übel. geht, irritiert. Er gilt als der Jahrestag des
ihre Anhänger bei der Stichwahl auf, das Im Irak-Krieg stellte Polen sich an die Sieges über polnische Interventen im No-
Kreuzchen für Lech Kaczyński zu machen Seite Washingtons, während Schröder aus vember 1612 – neuerdings „ein Schlüssel-
– Lepper wurde dafür vorige Woche mit Warschauer Sicht die transatlantische Bin- ereignis“ der russischen Geschichte.
dem Posten des Parlamentsvize belohnt. dung aufweichte. Die aber ist vor allem Polen wiederum konzentrierte sich in
In der Regierung wollte PiS eigentlich wegen der Angst vor Russland eine Kon- den vergangenen Jahren darauf, im Osten
mit den Liberalen der Bürgerplattform zu- stante polnischer Außenpolitik. Europas einen Block demokratischer Staa-
sammenarbeiten. Aber nach ersten rück- Schröders enges Verhältnis zu Moskau ten zu zimmern – als Gegengewicht zum
sichtslosen Personalentscheidungen der irritiert Warschau daher besonders. Noch in vermeintlich neoimperialen Moskowiter-
Sieger brachen die Liberalen vergangene seinen letzten Amtstagen brüskierte der Reich. Vor allem die Unterstützung der
Woche die Koalitionsverhandlungen erst Kanzler die Polen – mit dem Vertrag über Revolution in Kiew verbitterte den Kreml.
einmal ab. Schon dienen sich Lepper und die deutsch-russische Gaspipeline durch die Auch zu Weißrussland sind Warschaus
die ultrarechte Liga der Polnischen Fami- Ostsee. Dass Schröder Warschau nicht kon- Beziehungen wegen der Parteinahme für
lien als alternative Mehrheitsbeschaffer an. sultierte, fand man dort fatal. Die Pipeline die Opposition auf ein Minimum reduziert.
Auch außenpolitisch stifteten die gebe Russland „zumindest theoretisch die In einem immerhin fanden die Russen vo-
Kaczyńskis in den vergangenen Wochen Möglichkeit, die Gaslieferungen an Polen rige Woche Trost: Kaczyńskis Wählerschaft
Verwirrung. Dass Lech Kaczyński als War- einzustellen, ohne dass die Versorgung des sitze vor allem in jenen Landesteilen, die
schauer Oberbürgermeister ausrechnen übrigen Europa beeinträchtigt würde“, klag- einst zum Russischen Reich oder zu Galizien
ließ, wie viel die Deutschen den Polen für te Lech Kaczyński. gehörten – es seien Menschen, die enge Bin-
die Kriegszerstörungen in der Hauptstadt Noch mehr steht im Verhältnis zu Russ- dungen nach Osten hätten. Eine weitere
schuldeten, gilt eher als publikumswirksa- land auf dem Spiel. Eine „stabile gegen- Verschlechterung der Beziehungen mit
me Geste. Er will die Forderung präsen- seitige Abneigung“ diagnostizierte Kreml- Minsk und Moskau könne sich Polen daher
tieren, wenn die „Preußische Treuhand“ Berater Gleb Pawlowski vorige Woche, gar nicht leisten. Christian Neef, Jan Puhl
EK PICTURES (L.); INTERFOTO (R.)
Zeitungscollage nach dem deutsch-russischen Pipeline-Vertrag, zerstörtes Warschau (1945): „Stabile Abneigung“
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DAVID HUME KENNERLY / GETTY IMAGES
Minister Rumsfeld an Bord seiner Luftwaffenmaschine: „Das wirkliche Schlachtfeld ist die Öffentlichkeit in unserem Land“
SPI EGEL-GESPRÄCH
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n seinem Archiv für akustische Effekte Schanab gehörte zur Führungsriege der Zweifel, dass sich die Terrororganisation
bewahrt Hassan Abu Schanab alles, wo- Hamas. Eine israelische Rakete tötete den wirklich zur politischen Partei wandeln kann.
mit er einen Krieg simulieren kann: das Ingenieur im August 2003 in seinem Auto. Im Gaza-Streifen bildet die Hamas eine Art
Dröhnen von Panzern, ratterndes Maschi- Hassan Abu Schanab, der amerikanischer Staat im Staate. Sie gilt als besser bewaffnet
nengewehrfeuer, sogar die Todesschreie ver- Staatsbürger ist, weil er in den USA gebo- als die Autonomiebehörde. Und die Funda-
wundeter Krieger. Solchen Schlachtenlärm ren wurde, als sein Vater dort studierte, gibt mentalisten treten an, ohne sich von ihrem
mischt der Verwaltungsstudent aus Gaza- gern zu, dass er weder für den Kampf noch militärischen Flügel zu trennen oder dem
Stadt an seinem Computer mit traditionell für die Politik Talent habe. Er feuere lieber Kampf gegen Israel abzuschwören.
islamischer Musik zu Helden-Raps, die vom andere mit seinen Liedern an. „Der Kampf Beteiligen sich die Gotteskrieger, denen
heiligen Krieg gegen Israel erzählen. gegen Israel muss weitergehen“, sagt er, „bis ein Stimmenanteil von 25 bis 30 Prozent
Die Songs stellt Abu Schanab für sei- unser ganzes Land befreit ist.“ vorausgesagt wird, womöglich an der Re-
ne siebenköpfige Palästinenser-Boygroup In fünf Jahren Intifada hat die Hamas gierung, könnte jegliche Friedenschance
„Jassin Band“ zusammen. Mit ihr tritt er mit ihrem Krieg gegen die israelischen Be- auf längere Sicht verspielt sein. Israel droh-
bei Volksfesten der radikalen Hamas-Be- satzer große Popularität erlangt; die will te bereits, in diesem Fall den Dialog mit
wegung und islamischen Hochzeiten auf. den Palästinensern vollends abzubrechen.
Momentan bastelt die Band, die sich Aus israelischer Sicht lieferte der An-
nach dem von Israel ermordeten Hamas- schlag der Terrorgruppe Islamischer Dschi-
Gründer Scheich Ahmed Jassin benannt had in Hadera am vorigen Mittwoch, bei
hat, an neuen Titeln. Denn die „Islamische dem fünf Israelis umkamen – tags darauf
Widerstandsbewegung“ Hamas will im Ja- flog die israelische Luftwaffe einen Vergel-
nuar erstmals als politische Partei zur Par- tungsangriff im Gaza-Streifen –, den Be-
lamentswahl antreten, und die sieben wol- weis dafür, dass allein die Zerschlagung der
len sie dabei unterstützen. „Mit Hilfe der Terrorgruppen die Gewalt brechen kann.
vielen Kämpfer, die als Märtyrer für Paläs- Auch die amerikanische Außenministe-
JAMAL ARURI / AFP
tina gestorben sind, haben wir Gaza be- rin Condoleezza Rice hält es für „undenk-
freit“, sagt Abu Schanab im altbekannten bar, dass eine bewaffnete Widerstands-
Propaganda-Singsang. „Von diesem Sieg organisation im politischen Raum gedul-
wollen wir singen.“ det wird“.
Hassan, 23, ist selbst der Sohn eines ge- Palästinenserführer Abbas Für die Palästinenser wäre eine Parla-
feierten Märtyrers. Sein Vater Ismail Abu Kompromisse mit der Terrorgruppe mentswahl ohne die Hamas „vollkommen
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Banner der islamischen Herrschaft soll
„über jedem Zentimeter Palästinas we-
hen“. Kompromisse, die eine Koexistenz
mit Israel vorsehen, sind für die Hamas
tabu: „Für das palästinensische Problem
gibt es keine Lösung außer dem Dschi-
had.“ Israel ist für sie ein „Fremdkörper im
arabischen Ozean, der nicht auf ewig Be-
stand haben wird“.
Alles oder nichts – damit liegt die Ha-
mas, die sich als korruptionsfreie Alterna-
tive zur Autonomieregierung präsentiert,
im Konflikt mit den eher etablierten Riva-
len von der Fatah.
„Sind sie nun bereit zu einem Staat in
den Grenzen von 1967 oder nicht?“, fragt
das Fatah-Führungsmitglied Abdallah Fran-
gi. „Akzeptieren sie die internationale
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Ausland
E
s sind bloß fünf Minuten mit dem Die Geschichte pumpte sich auf wie ein waltigung“, sagt Hussein. „Das Ganze war
Auto vom boomenden Stadtzentrum Schlauchboot, und als Warren G., der DJ ein Geschäftskrieg. Man hat mich ange-
Birminghams dorthin, wo die Dritte einer illegalen Radiostation, sie in einem schwärzt, um meine Läden zu zerstören.“
Welt beginnt: Saris in allen Farben des Re- Friseursalon hörte, spürte er, wie er später sa- Seine Stimme klingt öde, er zupft sich im
genbogens gibt es hier zu kaufen, billigen gen würde, dass sein Blut zu kochen begann. Schritt an seiner Trainingshose.
Schmuck, Granatäpfel, Schafe im Stück, Er rannte zurück in das Schlafzimmer, von Hussein kam mit 14 Jahren aus einem
das Pfund zu 65 Pence. Dass sie nicht wo aus er schwarzsendet, und rief ins Mi- kleinen pakistanischen Dorf nach England.
in Pakistan oder Jamaika sind, würden krofon: „Brüder und Schwestern, kommt auf Ihm gefiel, was er sah, die Fernseher, die
Außerirdische wahrscheinlich erst bemer- die Straße und protestiert. Wir wollen Ge- Walkmen, die Videorecorder, und weil er
ken, wenn sie den gelbgestrichenen Fish- rechtigkeit für unsere 14-jährige Schwester.“ das alles besitzen wollte, fing er an zu ar-
and-Chips-Shop sehen und jenen Himmel, Die Geschichte hatte nur einen kleinen beiten, erst als Metzger, dann als Taxi-
den es mit seinen vermutlich 70 Grautönen Fehler. Die Polizei konnte bei ihren Nach- fahrer. Schließlich bot ihm der Freund
nur in England gibt. forschungen im „Beauty Queen“ keine eines Verwandten an, sich an „Beauty
Die Einwanderer aus der Karibik und Spuren einer Vergewaltigung feststellen. Queen“ zu beteiligen. Pro Laden muss
Asien kamen in den fünfziger, sechziger Außerdem gab es keine 14-Jährige, die sag- Hussein 200 Pfund im Monat an eine Ket-
und siebziger Jahren des letzten Jahrhun- te, sie sei dort vergewaltigt worden. te bezahlen, dafür bekommt er die Wa-
derts, weil sie gehört hatten, ren im Großeinkauf billiger.
dass auf der britischen Insel „Beauty Queen“ ist ein großer
„die Straßen mit Gold gepflas- Erfolg.
tert sind“. Aber der Asphalt Er hat Hussein zu einem der
hier in ihrem Viertel namens Fürsten des Ghettos werden
Lozells glänzt nur matt vom lassen. Sein finanzieller Segen
Regen, und weil die Sache mit ist, dass seine Kundinnen fast
dem Gold nicht ganz so ein- ausschließlich schwarz sind
fach ist, gibt es manchmal Är- und jung und gut aussehen.
ger. Die Bilanz des vorletzten Sie wählen im „Beauty
Wochenendes lautet: 2 Tote, Queen“ unter Hunderten von
20 Verletzte und derart viele Haarteilen, Sprays, Wachsen,
eingeschlagene Fensterschei- Gels, Shampoos, Entkräu-
ben und ausgebrannte Autos, selungscremes und anderen
dass die West Midlands Police Mittelchen, um abends das
behauptet, sie brauche zwei Gefühl zu haben, sie würden
Wochen, um alle Schäden auf- nicht auf den trostlosen Stra-
zunehmen. ßen von Lozells herumstehen,
Die Ursache der Straßen- sondern in einem Rap-Musik-
schlacht versteckt sich seit video Marke „Bling Bling“,
einer Woche in seinem Wohn- wo der Beat nach einer frivo-
zimmer und trägt einen len Mischung aus Geld, Cham-
ANDREW FOX
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Sport
T R I AT H L O N
Allahs Ausnahmeathlet
Als erster Muslim hat Faris al-Sultan, Sohn eines Irakers und einer Münchnerin, den Ironman
auf Hawaii gewonnen. Dabei pflegt der Bayer im Vergleich zu vielen Konkurrenten,
die sich sklavisch ihren Trainings- und Ernährungsplänen unterwerfen, eine Distanz zu seinem Sport.
E
s ist schon nach halb elf, es ist sein
zweiter Fernsehauftritt an diesem
Abend, und Faris al-Sultan, 27, ist so
müde, dass er im Warteraum für die Gäste
der Sendung „Blickpunkt Sport“ einnickt.
Erst vor fünf Tagen war er in seiner Hei-
matstadt München gelandet, nachdem er
am anderen Ende der Welt, beim Ironman
auf Hawaii, 3,86 Kilometer geschwommen,
180 Kilometer Rennrad gefahren und gut 42
Kilometer gelaufen war und den berühm-
testen Triathlon gewonnen hatte.
Seit seiner Rückkehr hat Sultan einen In-
terview-Termin nach dem anderen absol-
viert, flog nach Bremen, weiter nach Mainz
und zurück. Jetzt soll der Sohn eines Ira-
kers und einer Münchnerin im Bayerischen
Fernsehen den zünftigen Muslim geben.
Als er, wieder leidlich wach, dem Publi-
kum präsentiert wird, interessiert Mode-
rator Gerd Rubenbauer, 57, vor allem, ob
der junge Kerl mit dem exotischen Namen
auch sicher kein verkappter Mullah ist: Er
habe gehört, trompetet Rubenbauer drauf-
los, dass Sultan vor dem Rennen „an einem
bayerischen Abend den bayerischen Ge-
nüssen zugesprochen“ habe. Und er möch-
te bestätigt wissen, dass nach dem Triumph
„der Bayer Faris al-Sultan richtig zuge-
schlagen und allen gezeigt hat, wie gefeiert
wird“. Als wäre der Ironman das Okto-
berfest der Triathleten.
Sultan reagiert geschickt: Er zerstört das
Klischee nicht, das Rubenbauer den Zu-
schauern servieren möchte, aber er relati-
ELAINE THOMPSON / AP
Hawaii-Sieger Sultan, Triathlon-Feld beim Schwimmstart im Meer, Rennradfahrer Sultan in der Lava-Wüste: „Ich bedanke mich bei Gott, und
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viert es. Er esse gern deftig, aber setzt. Ich glaube, er hat sie sich des-
nicht übermäßig. Er gibt den ent- halb im Sport gesucht.“
spannten Spitzensportler und auch Talib al-Sultan hat als junger
den Muslim, der an Allah glaubt Mann den Irak verlassen, um in
und den Koran kennt, allerdings Deutschland Chemie zu studieren.
die Regeln des Ramadan nicht ein- Dank seines freundlichen Wesens
hält, „weil ich sonst keine Leistung fand er sich schnell zurecht. Wäh-
bringen könnte“. Das versteht je- rend der Studienzeit lernte er sei-
der, sogar Rubenbauer, der er- ne Frau Lydia kennen, eine impul-
leichtert für „den hochsympathi- sive, energische Münchnerin. Sie
schen Besuch“ dankt. half ihm dabei, Urkunden- und
Nach Hawaii war Sultan als ein Vertragstexte vom Arabischen ins
Weltklasse-Triathlet gereist, zu- Deutsche und umgekehrt zu über-
STEFAN PIELOW
rückgekommen ist er als Phäno- setzen. Die Arbeit brachte so viel
men. Die Szene, wie er gleich nach ein, dass sie ein Büro eröffneten,
seinem Sieg vor zwei Wochen in ihr Gelderwerb bis heute.
einem Fast-Food-Restaurant Bur- Familie Sultan: „Nie Grenzen gesetzt“ 1978 wird Faris geboren, das ein-
ritos verputzte, verblüfft ebenso zige Kind. Talib, selbst eins von
wie die Tatsache, dass er als erster Muslim vor Erschöpfung „ein Haufen Leute er- neun Geschwistern, erzieht seinen Sohn mit
in Amerika den Ironman gewann. In einer saufen würden“ – großes Gelächter. Toleranz und viel Geduld wie einen Prin-
Zeit, die vom Kampf zwischen westlichem Die Sendung habe ihm von allen am zen. „Die Gelassenheit hat er von mir“, sagt
Lebensstil und radikalisiertem Islam ge- besten gefallen, sagt Sultan, als er wieder Talib, „die Ausdauer von seiner Mutter.“
prägt wird, wirkt Sultan wie der personifi- zu Hause ist. Er fläzt sich barfuß auf der Faris wächst zwischen Islam und Katho-
zierte Gegenbeweis, „ein Wanderer zwi- weichgepolsterten Couch seiner Eltern, in lizismus auf, ohne Drangsal für eine Rich-
schen den Welten“ („Abendzeitung“). jenem Reihenhaus in München-Moosach, tung, „ohne Stress“, wie er sagt. Sein Va-
Anders als das Turnküken Fabian Ham- in dem er aufwuchs und immer noch ter, ein Sunnit, weiß, wie unrealistisch es
büchen, das rotwangig und mit festge- wohnt, weil er 150 Tage im Jahr unterwegs wäre, inmitten von Christen auf funda-
zurrter Brille bei Olympia zur deutschen ist und es sich nicht lohnt, etwas Eigenes mentalistischen Dogmen zu beharren, an
Heldenhoffnung avancierte, weckt Sultan anzumieten. Der 1,81 Meter große und mit deren Sinn er selbst zweifelt. Statt ihm den
Neugier beim Publikum – weil er eine un- 71 Kilogramm überraschend schmächtige Koran vorzuhalten, erzählt er dem Jungen
gewöhnliche Vita zu bieten hat und von Athlet steckt in einem weißen T-Shirt und Geschichten vom Propheten. Erst später
sich sagt: „Ich bin nicht süß und putzig.“ in blauer Schlabberhose, Bartstoppeln liest Faris im Koran – zum besseren Ver-
Am vorvergangenen Freitag saß er in der sprießen, ein Band hält seine langen Haa- ständnis auf Deutsch. „Ich bin“, sagt Faris,
Fernseh-Talkshow „3 nach 9“ inmitten von re zum Zopf zusammen. An der Wand hän- „wahrscheinlich so sehr Muslim, wie die
Sängern, Schauspielern und Buchautoren, gen ein Dolch und ein kostbarer seidener meisten Christen hier Christen sind. Ich
und in der Viertelstunde, als er über sein Le- Gebetsteppich, wie ihn früher nur Sultane bedanke mich bei Gott, und manchmal be-
ben sprach, stieg die Einschaltquote von 9,4 besaßen, daneben Fotos von Faris al-Sul- schwere ich mich bei ihm.“
auf 13,9 Prozent. 320 000 Leute waren beim tan: Eins zeigt ihn als kleines Kind mit Zwar studiert er an der Münchner Uni-
Zappen durch die Kanäle im Dritten Pro- blondem Schopf, ein anderes als jungen versität Geschichte und Kultur des Nahen
gramm des NDR hängen geblieben. Nur Araber mit Kopftuch und Gewand. Orients, im Irak ist er allerdings noch nie
selten lädt die Redaktion Sportler ein – die In München-Moosach scheint Sultan un- gewesen. Und weil sich die Sportkarriere
meisten sind mit ihrer routiniert gestanzten endlich fern von jener besessenen Ego-Ge- zum Vollzeitberuf entwickelt hat, wird er
Art zu reden als Quotenkiller gefürchtet. sellschaft, zu deren Held er nun geworden das Examen wohl sausen lassen. „Ich
Sultan dagegen plauderte über Badeho- ist. „Als alleiniger Lebensinhalt“, sagt er, bräuchte acht Monate Zeit“, kalkuliert er,
sen, die im Schritt nicht reiben, und papp- „wäre mir Triathlon auch zu wenig.“ „die habe ich nicht.“ Aber den Wunsch, in
süße Energieriegel. Als ihn die Moderato- Seinem Vater fällt es bis heute schwer, die Heimat des Vaters zu reisen? „Ja klar.
rin fragte, warum beim Triathlon denn wirklich zu verstehen, was sein Sohn genau Aber ich habe keine Lust, entführt zu wer-
nicht zum Schluss geschwommen werde macht. Talib al-Sultan, 66, sagt mit sanfter den. Ich schaue aus wie ein Europäer, ich
statt zu Beginn, antwortete er: weil dann Stimme: „Ich habe ihm nie Grenzen ge- spreche Arabisch mit üblem Akzent – also
bin ich ein Geldbeutel auf zwei Beinen.“
Andererseits braucht er eine Parallel-
welt zum Triathlon. Es bewahrt ihn davor,
sich manisch zu fixieren auf Trainingsplä-
ne und Nährwerttabellen. Es bewahrt ihn
davor, so zu werden wie Thomas Hellrie-
gel, der erste deutsche Hawaii-Sieger.
Hellriegel ist für Sultan Vorbild und ab-
schreckendes Beispiel zugleich. Der Athlet
aus dem Badischen startete 1995 zum ers-
ten Mal beim Ironman – und verlor das
Rennen beim Laufen, drei Kilometer vor
dem Ziel. Ein Jahr darauf erging es ihm
ähnlich. Hellriegel beschloss nach diesen
ELAINE THOMPSON / AP
140 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
wurden – eine viel bessere Quote als unter dem Torwart durch die Hände rutscht. Und SPIEGEL: Erkennen Sie aus den Spiel- und
Rudi Völlers Ägide. dann kommt hinzu, dass unter Topteams Bewegungsmustern einer Mannschaft die
Loy: Das stimmt. Dafür treffen die Mittel- oft nur eine Zehenspitze über Sieg oder Handschrift eines Trainers?
feldspieler jetzt aber seltener. Sogar ein Niederlage entscheidet. Frank Rijkaard, Loy: Wenn er denn eine hat, ganz sicher.
Michael Ballack hat für die Nationalelf der Trainer des FC Barcelona, hat die Beim FC Bayern unter Ottmar Hitzfeld
dieses Jahr noch kein Tor aus dem Spiel Champions League mal eine Lotterie kehrten gewisse gruppen- und mann-
heraus erzielt, er traf ausschließlich in Fol- genannt. schaftstaktische Spielhandlungen immer
ge einer Standardsituation wie Elfmeter, SPIEGEL: Andere glauben im Besitz von so wieder, der lange Pass auf den bulligen
Eck- oder Freistoß. Bernd Schneider hat etwas wie der Weltformel für den Erfolg Carsten Jancker etwa, der dann den Ball
58 Länderspiele absolviert und noch nie auf dem Rasen zu sein. Trainerstar José zum nachrückenden Spieler prallen lässt.
ein Tor aus dem Spiel er- Hitzfelds Arbeit ähnelt da
zielt. Da stellt sich die Fra- am ehesten der in italieni-
ge: Kann man sich so einen schen Clubs. In der Serie A
Mittelfeldspieler leisten? wird viel mehr einstudiert
SPIEGEL: Der Job der Mit- und entsprechend mehr
telfeldspieler ist laut Klins- nach Plan zusammenge-
mann nun einmal, den spielt als in Deutschland,
Stürmern möglichst schnell wo vieles so aussieht, als ob
und direkt den Ball zum der Zufall Regie führt. Da-
Torschuss vorzulegen. bei kann man messen, was
Loy: Der These, dass die- zum Ziel führt.
ser Tempofußball die beste SPIEGEL: Als da wäre?
Strategie sei, stehe ich skep- Loy: 50 Prozent der Tore
tisch gegenüber. Er ist ohne entstehen aus Spielkombi-
Frage gerade „in“, und je- nationen, 20 Prozent nach
der läuft dem Trend nach. Flanken und 30 Prozent aus
Aber ob er mehr Erfolg Standardsituationen – dort
zeitigt, das weiß keiner. Es lässt sich am ehesten anset-
kann sein, dass es sich da zen; etwa indem ich beach-
um eine der vermeintlichen te, dass aus Eckstößen, die
PETER SCHATZ
Fußball-Weisheiten han- auf den kurzen Pfosten
delt, die ich auf der Basis gespielt werden, deutlich
von 3000 Spielanalysen un- mehr Tore fallen als aus
tersucht habe – viele davon Meistertrainer Rehhagel, griechische Spieler*: Keiner wusste warum allen anderen Varianten.
konnten widerlegt werden. Doch schauen Sie sich mal
SPIEGEL: Zum Beispiel? Mourinho hat seinen Erfolg beim FC Por- an, wo überall die Eckbälle landen, da kann
Loy: Die Lehrmeinung, wonach Angriffe to damit begründet, dass seine Mannschaft ich nur die Hände über den Kopf schlagen.
über die Flügel mehr Erfolg versprechen fünf Jahre lang in jedem Match länger in Oder wenn ich höre, dass Trainer Weit-
als Angriffe durch die Mitte, ist falsch. In Ballbesitz gewesen ist als der Gegner ... schüsse einfordern. Die Sinnhaftigkeit von
Wahrheit sind die Aussichten auf Tore ab- Loy: ... ich weiß nicht, warum Mourinho Weitschüssen ist durch nichts zu belegen.
solut gleich. Viele Trainer behaupten auch, 2004 die Champions League gewonnen hat, SPIEGEL: Jetzt wollen Sie uns auch noch
wer die meisten Zweikämpfe gewinnt, der aber am Ballbesitz wird es nicht gelegen den Weitschuss aus 25 Metern in den Win-
gewinnt das Match. Das ist aber auch un- haben. Ich habe 1000 Spiele daraufhin un- kel und die Parade des Torwarts nehmen –
zutreffend. Nur in gut 40 Prozent der Spie- tersucht: Die Mannschaft, die öfter in Ball- das ist doch das hohe C der Fußballoper.
le gewinnt das Team, das mehr Zwei- besitz war, gewann nur ein Drittel der Par- Für so was gehen die Leute ins Stadion.
kämpfe für sich entschieden hat. Und dass tien. Wer Ballbesitz als Erfolgsgarant pre- Loy: Aus der Sicht des Fußball-Gourmets
der gefoulte Spieler nicht zum Elfmeter an- digt, verkauft Vermutung als Wissen. gibt es kaum etwas Schöneres, klar. Aber
treten sollte, ist auch nicht zu belegen. Ich SPIEGEL: Wie entstehen solche Legenden? aus der Sicht des Trainers, der gegenüber
habe es selbst kaum glauben können, aber Loy: Der amerikanische Psychologe und dem Verein zu Erfolg verpflichtet ist, stellt
die Erfolgsquote beim Strafstoß liegt bei Nobelpreisträger Daniel Kahneman vertritt sich das ganz anders dar.
77 Prozent – gleichgültig, ob der Gefoulte den Standpunkt, wir Menschen seien dafür SPIEGEL: Sie sind wie der Arzt, der Patien-
antritt oder ein Unbeteiligter. geschaffen, Muster zu sehen, weshalb der ten alles verbietet, was Spaß macht. Haben
SPIEGEL: Wenn Sie Fußballspiele mit Hilfe Zufall für uns nach Ordnung aussieht. Die Sie auch praktische Lebenshilfe für Profis?
Ihres Videorecorders sezieren, dann müs- Leute könnten nicht zugeben, dass gewis- Loy: Grundsätzlich ist es schwierig, von Be-
sen Sie doch auch wissen, wie man für den se Dinge nicht durchschaubar sind. obachtungsergebnissen auf konkrete Hand-
Erfolg zu spielen hat? SPIEGEL: Wenn alles so unerklärbar ist, was lungsanweisungen zu schließen. Aber so
Loy: Das wäre Hochstapelei. Nehmen Sie nur können Trainer, für die Sie gearbeitet eine Gelegenheit wie einen Elfmeter muss
einmal die Europameisterschaft 2004: Grie- haben, wie Christoph Daum oder Franz man wirklich nicht vergeben.
chenland hat in jedem seiner sechs Spiele Beckenbauer, aus Ihren Analysen lernen? SPIEGEL: Es gibt die ideale Ecke für den
seltener aufs Tor geschossen als der Gegner Loy: Ich zähle ja nicht nur Torschüsse und todsicheren Elfmeterschuss?
– und wurde trotzdem Europameister. Kei- Eckbälle, sondern lege nach klaren Kate- Loy: Es gibt nicht die ideale Ecke. Die obe-
ner wusste warum, nicht mal Otto Rehhagel. gorien ein Profil vom Spiel jeder Mann- re Hälfte des Tores muss der Schütze tref-
SPIEGEL: Weil die Faktoren Zufall und schaft an: Das sind Doppelpässe, Pässe in fen, da darf es auch die Mitte sein.
Glück eine übermächtige Rolle spielen? die Gasse, Spielverlagerungen, Zuspiel zu SPIEGEL: Und wenn der Torwart stehen
Loy: Fast die Hälfte aller Tore ist durch den den Grundlinien und so weiter. Da kom- bleibt?
Faktor Zufall beeinflusst: ein Ball, der von men Dossiers von 20 bis 100 Seiten heraus. Loy: Vergessen Sie’s. Er kann auch hoch in
der Latte zurückprallt und dem Stürmer die Mitte schießen, 99 von 100 Torhütern
vor den Fuß fällt; ein Weitschuss, der ab- * Nach dem 1:0-Sieg über Portugal im EM-Finale am 4. Juli schmeißen sich hin.
gefälscht wird; ein harmloser Roller, der 2004 in Lissabon. Interview: Alfred Weinzierl
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Szene Kultur
L I T E R AT U R
– und kann dann einen
Der Unberührbare Besucherrekord verkün-
den. In den ersten elf Mo-
Roman beginnt 1895 mit dem größten wonnen. Denn auch der
öffentlichen Debakel, das James je wider- Kreis der Förderer ist von
fuhr, dem Totalflop seines Bühnendramas 35 000 auf nun 110 000 so-
„Guy Domville“ in London; und er endet genannte MoMA-Mitglie-
1899 mit dem Besuch seines Bruders in der gewachsen. Nach wie
dem gutbürgerlichen Domizil, das sich vor ist der Bestand an
der Autor in einer englischen Küstenstadt Klassikern der Moderne –
eingerichtet hat. Doch diese fünf Jahre darunter diverse Picassos
bilden nur den äußeren Zeitrahmen des MoMA-Besucher (New York) – sehr populär, längst
leisen, leicht verhangenen Romans. Der gelten aber auch die ande-
Ablauf wird unentwegt gesprengt von ren Abteilungen als Publi-
James’ Grübeleien über seine Vergangen- MUSEEN kumsmagneten, etwa die
heit, seine Träume und Beziehungen. Säle für aktuellere Gegenwartskunst und
Auf der Grundlage genau ausgewählter
biografischer Fakten entsteht das Psycho-
gramm eines Unberührbaren: Der per-
Millionen ins die Design-Etage. Dort vermittelt man
übrigens derzeit anschauliche Lebens-
hilfe. In der Sonderausstellung „Safe“
fekte Gentleman James erscheint als ein-
samer Mann, der sein Inneres nicht mit
anderen Menschen teilen kann und will,
MoMA wird präsentiert, was den Alltag sicherer
macht und auch noch stilvoll aussieht:
etwa schusssichere Bettdecken, ein „erd-
als ewiger Schweiger – und als Mann, der
durch seine Unnahbarkeit schuldig wird,
weil er alle zurück-
K napp 860 Millionen Dollar hatte der bebensicheres Schweizer-Fondue-Set“,
Ausbau des ehrwürdigen New Yor- eine Lebensretterstation in Leuchtturm-
ker Museum of Modern Art (MoMA) farben und nach dem Ikea-Schnellauf-
stößt, die ihn lieben gekostet, im vergangenen Herbst wurde bau-Prinzip fix zu installieren – sowie
und brauchen. Er das Haus als schicker Kunsttempel wie- viele andere kuriose Dinge, die man hof-
beobachtet, statt zu dereröffnet. Am 20. November feiert das fentlich nie braucht. Zumindest nicht für
handeln, und schreibt neue MoMA nun den ersten Geburtstag den Besuch des MoMA.
dann darüber. Die
psychologische Tiefe
seiner Literatur saugt
er gerade aus dem
Wissen darüber, was KÜNSTLER Spitzenplätzen bestätigt die Strahlkraft
die Menschen – so der hiesigen Kunstszene. Trockel konnte
wie er – vor der Welt
verbergen. Für Tóibín, der klug genug ist,
Spitze mit Stricknadeln sich vergangene Woche also feiern lassen
– und zwar doppelt. Das Kölner Mu-
James zu zitieren, ohne ihn je zu imitie-
ren, liegt die Wurzel dieser tragischen
Unnahbarkeit in unterdrücktem homo-
S ie macht es ihrem Publikum nicht im-
mer leicht, dennoch oder gerade des-
halb ist Rosemarie Trockel,
seum Ludwig eröffnete eine ihr gewid-
mete Schau. Berühmt wurde die viel-
seitige Ikone mit Bildern,
sexuellem Begehren. Auch wenn diese 52, die wichtigste Frau im Filmen, (gestrickten) Ob-
Deutung wohl mehr über Tóibín aussagt, weltweiten Kunstbetrieb: jekten, Installationen –
der 2001 einen Essayband über schwule Im jüngsten „Kunstkom- und dafür, dass sie gern
Künstler verfasst hat, als über den echten pass“ des Magazins „Capi- mit listigen Provokationen
VG BILD-KUNST, BONN 2005
Henry James: Sein Roman ist elegant tal“ nimmt sie hinter den irritiert. Der Titel der Köl-
und ergreifend genug, um James als Malern Gerhard Richter ner Schau dürfte gerade
schreibenden Vampir des Lebens glaub- und Sigmar Polke sowie manch männlichem Besu-
haft werden zu lassen. dem US-Installationskünst- cher schwer über die Lip-
ler Bruce Nauman den vier- pen gehen. Er lautet: „Me-
Colm Tóibín: „Porträt des Meisters in mittleren Jah- ten Platz ein. Diese Hitliste nopause“.
ren“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte
Bandini. Hanser Verlag, München; 432 Seiten; 24,90 der renommiertesten Künst-
Euro. ler mit drei Deutschen auf Trockel-Werk (2004)
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 143
Szene
U N T E R H A LT U N G
„Gelber Sack in
Buchform“
Der Entertainer, Essayist und Kaba-
rettist Herbert Feuerstein, 68, über
sein Verhältnis zu Frauen, zur Litera-
turkritik und über seinen Best-of-Sam-
melband „Frauen fragen Feuerstein“
Kortners Vermächtnis
W enn er Regie führte, ermahnte er
seine Schauspielerkollegen mit
grimmiger Lust, „noch abonnenten-
immer wieder auch als virtuosen Su-
cher: „Das Erprobte ist nicht Ziel dieser
Proben. Sondern das Unerprobte.“
feindlicher“ als gewohnt zu agieren:
Alle Bühnenroutine war Fritz Kortner
(1892 bis 1970) verhasst; jedes Wort,
jede Geste, jedes Zucken im Gesicht
musste für ihn seelische Wahrheit zei-
gen. Welch ungeheure Präsenz dieser
Vollblut-Theatermann ausstrahlte, wel-
che mimischen und sprachlichen Re-
gister vom tonlosen Winseln bis zum
gellenden Hass er beherrschte, hat der
Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg
Mitte der sechziger Jahre in zwei legen-
dären Schwarzweiß-Dokumentationen
festgehalten, die der Alexander Verlag
Berlin jetzt auf einer Doppel-DVD neu
herausbringt: Nach langer, selbstaufer-
legter Abstinenz gibt Kortner hier noch
einmal Shakespeares tragischen Juden
Shylock, und er probt – mit Christiane
Hörbiger und Helmut Lohner – eine
KEYSTONE
einzige Szene aus Schillers „Kabale und
Liebe“. Die überwältigend präzise psy-
chologische Tour de Force zeigt Kortner Kortner als Shylock (1968)
Kino in Kürze
„Corpse Bride – Hochzeit mit einer Leiche“ „Elizabethtown“, ein Kaff in Kentucky,
erzählt von einer hoffnungslosen Mes- ist der Ort, in dem der Drehbuchautor
alliance: Der verträumte Victor gerät und Regisseur Cameron Crowe („Jerry
eines Nachts durch einen Zufall ins Reich Maguire“, „Vanilla Sky“) 1989 seinen
der Toten und muss sich fortan der Zu- Vater beerdigte. In der Spielfilmversion
wendungen einer vor Jahren verstorbe- schickt Crowe jetzt einen wehleidigen
nen Braut erwehren, die ihn für ihren Turnschuhdesigner (Orlando Bloom) zur
Traummann hält. Diese tragikomisch- Trauerfeier in die Provinz, wo ihn eine
morbide Liebe setzt Hollywoods begna- Schar grundguter Verwandter erwartet –
deter Fantasy-Zauberer Tim Burton zu- und er dem Charme einer aufdringlichen
sammen mit Mike Johnson in einem fu- Stewardess (Kirsten Dunst) erliegt. Bis
riosen Animationsfilm überaus gefühlvoll sich die beiden endlich in die Arme fal-
und amüsant in Szene. Die Grenzgänge len, vergehen zwei sehr lange Stunden,
zwischen Diesseits und Jenseits sind mit die Crowe mit esoterischem Geschwafel
so vielen brillanten visuellen Einfällen über den Sinn des Lebens füllt.
gepflastert, dass der Zuschauer dem
schwermütigen Helden so leicht wie auf „Es ist ein Elch entsprungen“ zeigt, was
Freiersfüßen noch bis in die düsterste passiert, wenn es den Weihnachtsmann
Gruft folgt. vor Heiligabend mit seinem Schlitten aus
der Kurve trägt: Mario Adorf irrt grau-
meliert und mit echtem Bart durch die
Gegend und sucht sein Zugtier, das aus
freiem Flug in ein Haus gestürzt ist.
In der Verfilmung des Kinderbuch-Best-
sellers von Andreas Steinhöfel erzählt
Regisseur Ben Verbong („Das Sams“)
schwungvoll von einer schönen Besche-
WARNER BROS.
T H E AT E R
D
er Sieg trägt Schwarz. In jedem Stück in Deutschland gege-
Triumph steckt die Ankündigung ben wird, muten sie den
der nächsten Niederlage. Es gibt Franzosen ein Theater der
keine Helden mehr in diesem Blutstück von Grausamkeit zu, das mitun-
Botho Strauß nach dem „Titus Androni- ter die Türen schlagen lässt.
cus“ von Shakespeare, nicht einmal tragi- Was darf Theater? Bis wo-
sche. Der heimkehrende Feldherr, der den hin darf man auf der Bühne
Schreckensfeind schlug, gleich fünfmal in (nicht) gehen? Seit den
zehn schweren Jahren, bekommt keine frühesten Anfängen trieft das
Ruhmestrophäen. Er ist ein ausgebrannter Theater vor Blut. Seit Ais-
Troupier, ein Ordnungsfanatiker, ein for- chylos, Sophokles und Euri-
malistischer Pedant, der sich mit der Beru- pides ist die Bühne eine Stät-
fung auf Rechte, Riten, Regeln gegen den te furchtbaren Gemetzels,
unaufhaltsamen Verfall zu wehren versucht. und mit aristotelischer Ka-
Wo beginnt die Gewalt? Sind Recht, tharsis kann sich längst nie-
Gerechtigkeit und Rache Wörter eines mand mehr aus der Gefühls-
Stamms? Hat sich das Unterste ins Oberste wildnis von Angst und Mit-
verkehrt? Ist das Böse nur schal und flach, leid herausschleichen. Väter,
sind Blutspäße ein Naschwerk für müde Mütter, Kinder werden getö-
Zuschauer, die im Fernsehen jeden Abend tet, Köpfe abgetrennt und
Krieg begaffen und so zu lüstern-verstörten aufgespießt, Augen ausge-
Hampelmännern vor der Weltgeschichte stochen – die Welt als Fol-
werden? terkeller, die Gesellschaft als
Botho Strauß, der berühmteste und im- Intrigenfalle, die Familie als
mer wieder umstrittene deutsche Theater- düsterer Abgrund.
autor, der solche Fragen derzeit vor fran- Theater ist subversiv, das
zösischem Publikum aufwirft, hätte die zeigt auch Strauß, und mit-
Reaktion ahnen können. Er war gewarnt, hin eine Macht, die staatliche
und trotzdem traf es ihn überraschend – ge- und religiöse Autorität her-
nauso wie seinen alten Komplizen, den ausfordert. Fromme Moralis-
sanften Regisseur Luc Bondy. ten wie der Heilige Augus-
FOTOS: COLOURPRESS.COM
Nun ist der Skandal da. Paris streitet tinus, Pascal und Rousseau
über die Aufführung des Strauß-Stücks haben ihr misstraut und woll-
„Schändung“ am Odéon-Theater, dessen ten die Zurschaustellung ent-
Darstellung von Gewalt und Grauen an- fesselter Gewalt am liebsten
geblich alles Zulässige sprenge. Zwei deut- verbieten. Verbrechen aus
sche Künstler wirbeln die ehrwürdige Pa- einer anderen Zeit, einer an- Verstümmelte Lavinia, Vater Titus*: „Ich möchte leben“
riser Theaterkultur auf. Beide sind bisher deren Welt, heidnisches Ber-
nicht verdächtig, auf billige Schockeffekte serkertum, ungebremste Grenzüberschrei- Mit seiner Nachmalung der frühen
aus zu sein. Doch hier, noch bevor das tungen, Eruptionen aus dem Herzen der Shakespeare-Tragödie „Titus Andronicus“
Finsternis: Kann derlei im Theater, einem unter dem Titel „Schändung“ (französisch:
öffentlichen Versammlungsort für spirituel- „Viol“, was gänzlich unpoetisch Verge-
le, gewissermaßen platonische Ergötzung waltigung bedeutet) habe Botho Strauß
und Erbauung, undistanziert, ohne Schirm neue Höhen des Horrors erreicht, empört
und Leinwand, gezeigt werden? sich dagegen der „Figaro“, Sprachrohr
Das Maß ist voll, findet seit einigen Wo- einer gutbürgerlichen Political Correct-
chen ein superbourgeoises Pariser Publi- ness, der auch vermeintlich linke Aufklärer
kum, das trotzdem neugierig in das Stück erliegen.
des aus seiner Sicht faszinierend düsteren Natürlich sind Shakespeares Dramen
Deutschen strömt. Es hätte wohl nichts ge- unerhört gewalttätig, sein „Titus Androni-
gen Grausamkeiten, solange sie geschmack- cus“ gab den Ton vor für eine ganze Rei-
RUTH WALZ
voll gezeigt werden, spottet der Filme- he Folgewerke von „Hamlet“ über „König
macher Michael Haneke, selbst Experte Lear“ bis „Macbeth“. Geschändete Jung-
Autor Strauß, Regisseur Bondy für Gewalt und für Spießer. Sein Urteil:
Subversive Macht „Ein grandioses Stück.“ * Dörte Lyssewski, Gérard Desarthe.
146 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
frauen, ausgerissene Zungen, abgehackte hatten. Der große Aufklärer und Zyniker Ist das Stück dadurch auf die falsche
Hände, kannibalische Festmahle – nichts Voltaire, selbst nur ein mittelmäßiger Stü- Bahn geraten? In Deutschland wären Pro-
bleibt diesmal ausgespart, im erlesenen Pa- ckeschreiber, verurteilte das Drama als „ein teste wie jetzt in Paris kaum denkbar ge-
riser Premierenpublikum fielen Zuschauer grobes, barbarisches Stück, das in Frank- wesen, glaubt Strauß, denn am deutschen
angeblich in Ohnmacht, andere sollen sich reich und Italien nicht von dem nied- Stadttheater sei jeder Trash möglich, in-
erbrochen haben. rigsten Pöbel geduldet würde“. Bertolt klusive Kloszenen oder Geschlechtsver-
Gérard Desarthe, der wuchtige und Brecht dagegen mit seinem pädagogischen kehr auf der Bühne. „Da gibt es kein Tabu
kahlköpfige, in seiner schwarzen Lands- Drang hat in Frankreich einen festen Un- mehr“, im Gegenteil, man sucht verzwei-
knecht-Kluft unheimlich wirkende Gene- terbau, der sich durchaus mit eigenen Klas- felt nach neuen Tabus, die man noch bre-
ral Titus bei Botho Strauß, hatte Ärger sikern wie Racine und Corneille vereinba- chen könnte.
vorausgesagt. Denn Frankreich ist keine ren lässt. Man muss wohl Strauß und Bondy vor
Shakespeare-Nation, wie Strauß und Bon- „Titus Andronicus“ ist Shakespeares einem Missverständnis in Schutz nehmen.
dy feststellen müssen. „Ich weiß gar nicht, wohl blutrünstigstes Stück, Botho Strauß Denn dem permanent unter Ideologiever-
was mir widerfährt“, staunt Bondy über hat einige Scheußlichkeiten weggelassen, dacht stehenden Autor und dem sonst eher
die Aufregung. ohne es im Kern zu entschärfen. Dass pastellfarbenen Regisseur geht es nicht um
Die getreuen Untertanen Elizabeths I. „Schändung“ in Paris uraufgeführt wur- Effekthascherei, um krankhaftes Gefallen
gingen ins Theater, um sich am Schrecken de, für die zurückhaltende Zeitung „Le am Ekelhaften, wie „Le Figaro“ zetert,
zu amüsieren, wie die Römer ins Kolos- Monde“ ein bizarres Novum, hat einen schon gar nicht um degoutanten Voyeuris-
seum – nicht der Moralität wegen. In den banalen Zufallsgrund: Claus Peymann hät- mus. Beide würden nichts zeigen, was nicht
Pausen gab es Kämpfe zwischen Hunden te das Drama am Berliner Schiffbauer- im Innersten des Dramas begründet ist. In
und Bären. Doch krudes Leid ohne raffi- damm inszenieren sollen, mit Bruno Ganz Frankreich aber, sagt Bondy, „herrscht Ab-
nierte Poesie, nackte Gewalt ohne rheto- in der Hauptrolle des Titus, doch Regis- scheu vor physischer Aktion im Theater,
rische Überhöhung, das ist in der franzö- seur und Schauspieler wurden sich nicht der Körper des Schauspielers soll nicht Teil
sischen Theatertradition anscheinend un- einig, so dass Luc Bondy, mit der franzö- des Geschehens werden, im Mittelpunkt
erträglich. sischen Version als Zweiter dran, automa- steht das prägende Wort“ – Rhetorik und
Es dauerte lange, bis die Franzosen die tisch zur Ehre der Weltpremiere kam. Deklamation.
vielen Leichen in „Hamlet“ hingenommen Nächstes Jahr sind drei Gastspiele in Reck- Strauß und Bondy dagegen haben dem
linghausen bei den Ruhrfestspielen, in Pariser „Odéon – Théâtre de l’Europe“
* Mit Christine Boisson als Goten-Königin Tamora, Mari- Wien bei den Festwochen und in Zürich womöglich das erste unrhetorische Stück in
na Foïs als „Regisseurin“ und Gérard Desarthe als Titus. geplant. dessen Geschichte anvertraut, auch wenn
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 147
Kultur
die feinfühlige Übersetzung des Drama- Gang. Durch Machtverzicht will er zur
turgen Michel Vinaver mit Barbara Grin- Ruhe gelangen – und das Unglück holt ihn
berg die Dialoge ästhetisch abzukühlen in seinen eigenen vier Wänden ein. Die
versucht. Kultur gilt in Frankreich als Bas- Rache endet nirgendwo, sie wird sinnlos,
tion gegen die Rohheit der Realität, nicht macht alle zu Opfern und Tätern zugleich.
als deren Spiegel. Kultur soll Ordnung stif- „Wir handeln ohne Not, wie wir in Not
ten, nicht Chaos zeigen. Wenn tragisches nur schlimmstenfalls gehandelt hätten.“
Unglück inszeniert wird, dann angedeutet, Und so, ganz unversehens, geschieht das
in sprachlich schöner Form. Man will auf Schlimmste. Strauß’ Thema ist die „Plötz-
der Bühne nicht die Wirklichkeit sehen, lichkeit“, die alle Formen zerstört, der Ein-
die überall lauert. Denn in den Vorstädten bruch von Unheil, Hass und Bosheit in das
der französischen Metropolen ist ja längst geregelte Gemeinwesen. „Woher trifft uns
Realität geworden, was Strauß über das fik-
tive Rom des 4. Jahrhunderts nach Christus
sagt: „Jetzt herrscht die Angst in Rom, und
jeder fürchtet sich vor seinem eigenen
Schatten. Rachegeister schwirren durch die
Nacht, Vergeltung lauert hinter jeder Säu-
le … Zu viele tückische Tiger schleichen
jetzt in dieser Wüstenei: Rom!“
Die Barbaren vor den Toren greifen die
staatliche Ordnungsmacht an – die Goten
bei „Titus Andronicus“ könnten die Ju-
gendbanden der Gegenwart sein, die in
Frankreich Nacht für Nacht 20 bis 40 Au-
tos in Brand setzen und Polizeifahrzeuge
mit Steinen bewerfen. Wenn das Herge-
brachte ins Wanken gerät, ganz gleich ob
durch Invasion oder verweigerte Integra-
AGENCE BERNAND
tion, gerät die Spirale von Chaos und Ge-
walt in Gang. Titus ist ein Feldherr, der
klare Schlachtordnungen liebt. Wenn die
verschwinden, die Verhältnisse im Unfass- Klassische Shakespeare-Inszenierung*
baren verschwimmen, dreht er durch: Rhetorik und Deklamation
„Ordnung! Regeln! Formationen! Gefech-
te, keine Finten, keine Coups und keine so viel Plötzlichkeit? Kommt sie vom Him-
Hinterhalte. Keine Anschläge. Ich ertrage mel oder aus der Hölle?“
nicht das Unplanmäßige. In mir, Titus, fal- Verstehen lässt sie sich nicht, rationale
len alle Messgeräte aus, wenn niemand sich Deutungsversuche bleiben vergeblich, ja,
an feste Regeln hält. Es macht mich wild.“ sie schläfern das Bewusstsein für das Übel-
So könnte der Feldherr des neuen Roms tun in seiner potentiellen Allgegenwart ein:
im Krieg gegen den Terrorismus sprechen, „Verstehen und Verständnis entdecken im
George W. Bush. Ist Strauß deswegen ein gemeinsten Schurken die erbarmungswür-
Neokonservativer, gar ein Reaktionär, hat dige Seele. Verstehen und Verständnis
er seinen „anschwellenden Bocksgesang“ schleifen sogar des Teufels Hörner stumpf.
in „Schändung“ dramatisiert, wie hie und Die Hölle leuchtet rosenfarben.“
da gemutmaßt wird? Die elementare nihilistische Gewalt, die
Irrtum, dieses Stück trägt keine geheime im Menschlichen steckt, hat schon der Phi-
Überschrift, es ist, was es zu sein vorgibt, losoph André Glucksmann theoretisch zu
die Passionsgeschichte einer jungen ge- erfassen versucht. Botho Strauß und Luc
marterten Frau, der Titus-Tochter Lavinia, Bondy haben die Gräuelgespenster, die
phantastisch gespielt und praktisch akzent- sich auf der Nachtseite verbergen, meis-
frei gesprochen von der Deutschen Dörte terhaft und spannend ans Licht gezerrt.
Lyssewski. Lavinia will trotz ihrer entsetz- Vielleicht wollten sie nur „rausfinden“, wie
lichen Schändung und Verstümmelung Strauß eine fiktive Regisseurin in einem
nicht nur Opfer sein, sie verlangt nach Lie- eingeblendeten Making-of, einer Art Refle-
be und Leben: „Lavinia quält die Lust. La- xionstalk im Theater über das Theater, sa-
vinia möchte leben“, schreibt die Zungen- gen lässt, „was an diesen extremen Figuren
und Handlose mit dem Mund in den Sand, letztlich doch menschlich ist“.
aber der Vater reagiert ohne Herz und Ver- Und fatalistisch-weise mit der Erkennt-
ständnis: „Das soll sie nicht. Zu viel Gram nis der Goten-Königin Tamora, der geilen
und Schmerz hat sie verdorben.“ und rachsüchtigen Gegenspielerin des Ti-
Titus, der Ordnungssüchtige, stiftet mit tus, schließen: „Das ist die Bosheit der Na-
jeder seiner Handlungen Unordnung. Mit tur. Wir sind nur ihre Spießgesellen.“
einem Menschenopfer will er die Manen Wäre das zu viel für eine in so dicke
besänftigen – und setzt die Rachespirale in Zivilisationspatina eingehüllte Nation wie
Frankreich, die sich täglich mehr vor dem
* „Titus Andronicus“ 1957 in Paris in der Fassung von Ausbruch der Wildheit fürchtet?
Peter Brook mit Vivien Leigh und Laurence Olivier. Romain Leick
148 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur
D E B AT T E
B
eide wohnen in Berlin. Beide im der postmodernen Barbarei.
Osten der Hauptstadt. Sie könnten Der „Proll“ erschreckt und fasziniert
sich beim Bäcker treffen. Oder in Seibt zugleich: Er ist Antithese zum Intel-
der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- lektuellen, zum „Ich“ des Autors. Das Bio-
Platz, dort, wo Herz und Verstand der Sze- top des Prolls ist die Eckkneipe, „ein düs-
ne sitzen und den Kreislauf der Republik terer, mit Holzmöbeln eingerichteter, trü-
auf Trab halten: ständig neue Bands, neue be beleuchteter, rauh gemütlicher Ort von
Autoren, neue Diskurse.
Ständig Gegenwart.
Beide sind unter 50. In
einem Land der Greise
* Diedrich Diederichsen: „Musikzimmer“. Verlag Kie- 20 (17) Nicholas Sparks Die Nähe
penheuer & Witsch; 240 Seiten; 9,90 Euro. des Himmels Heyne; 19,90 Euro
152 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur
Mia fehlt, und man fragt sich, ob Diede- erst aufstehen. Da rattert er über den „ni-
richsen überhaupt noch in der Wirklichkeit vellierten Alltag der Warenwelt“, die
lebt oder nur noch im Seminarraum. „Hässlichkeit des Preisschildes“. Und na-
Besonders verstörend aber ist die politi- türlich über den „Jungunternehmer-Ekel-
sche Oberlehrerei. Dieser linke Stamm- faktor“ und die „Immobilienmakler“.
tisch, von dem Heiner Geißler, Andrea Das passiert einem Intellektuellen, wenn
Nahles oder Oskar Lafontaine gar nicht er nur das Feuilleton und nie den Wirt-
schaftsteil liest. Man verliert aus den Augen,
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- wer für den Wohlstand sorgt und wie
magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Globalisierung funktioniert. Und man über-
schätzt die Möglichkeiten der von der sub-
Sachbücher ventionierten Linken sogenannten Staats-
1 (1) Corinne Hofmann
knete. Wenn Seibt weizsäckert, dann see-
hofert Diederichsen. Er will die Rundum-
Wiedersehen in Barsaloi A 1; 19,80 Euro
versorgung durch den Staat, besonders für
2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig das Kulturinstitut Podewil in Berlin.
Johannis; 9,95 Euro Wenn Diederichsen schreibt, dass Links-
sein vor allem eine Möglichkeit sei, ein
3 (–) Stephen Hawking / Leonard „anständiges Leben zu führen“, dann ist
Mlodinow Die kürzeste Geschichte jenes Adjektiv „anständig“ von doch ver-
der Zeit Rowohlt; 19,90 Euro störender Selbstgerechtigkeit und stammt,
4 (3) Ben Schott Schotts Sammelsurium genau betrachtet, aus der geradezu bür-
Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro gerlich-muffigen Fünfziger-Jahre-Nach-
kriegs-Bigotterie. Anständig bleiben in den
5 (4) Markus Breitscheidel Abgezockt Stürmen der Globalisierung! Fromm blei-
und totgepflegt Econ; 16,95 Euro ben und sittsam im linken Herrgottswinkel.
Und nebenher noch ein paar Bücher dar-
6 (20) Nena / Claudia Thesenfitz
über verkaufen! Geil.
Willst Du mit mir gehn Lübbe; 16,90 Euro Diederichsen gräbt die Hacken ein im 19.
7 (10) Eva-Maria Zurhorst Jahrhundert, dem Jahrhundert der entrech-
Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro teten Arbeiter, hat aber beim Selbstmarke-
ting als „hipper Poptheoretiker“ auf für ihn
8 (17) Jared Diamond Kollaps – Warum glückhafte Weise seinen Frieden mit der Pro-
Gesellschaften überleben oder duktwelt des 21. Jahrhunderts gemacht.
untergehen S. Fischer; 22,90 Euro DD, wie ihn Fans nennen, ist eines der
9 (5) Jung Chang / Jon Halliday Mao bekanntesten Labels der Kulturindustrie
Blessing; 34,00 Euro
in Sachen Theorie. Eben ganz Pop: Seine
Performance ist besser als seine Texte.
10 (8) Ben Schott Schotts Sammelsurium Seibt und Diederichsen gehören einer
Bloomsbury Berlin; 16 Euro Generation an, welche die Geschichte der
Bundesrepublik als eine Abfolge von im-
11 (14) Inge Jens / Walter Jens
mer neuen Wohlstandsrekorden erlebt hat.
Katias Mutter Rowohlt; 19,90 Euro Vielleicht ist die Nostalgie beider Theore-
12 (–) Jürgen Udolph / Sebastian Fitzek tiker auch ein Bekenntnis zur Geborgen-
Professor Udolphs Buch der Namen heit jener verblichenen Tage. Doch die sind
C. Bertelsmann; 18 Euro vorbei. Unwiderbringlich. Oder für alle
leidenschaftlichen Zeitgenossen: endlich.
13 (6) Sabine Kuegler Dschungelkind Kulturtheorie, die gesellschaftlich Ver-
Droemer; 19,90 Euro antwortung übernehmen will, muss das
14 (9) Uwe Timm Der Freund und Gestern hinter sich lassen können. Sie muss
sich auf die Gegenwart einlassen kön-
der Fremde Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro
nen, um zukunftsfähig zu werden. Es geht
15 (–) Hans-Werner Sinn um eine neue Offenheit für
Die Basar-Ökonomie Econ; 14,95 Euro das, was kommt. Und diese
Offenheit sollte unsere Den-
16 (7) Reinhard Mey / Bernd Schroeder ker, ob linke oder liberale,
Was ich noch zu sagen hätte einen.
Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro Es kann ja in der gegen-
17 (11) Meinhard Miegel Epochenwende wärtigen prekären Lage
Propyläen; 22 Euro
längst nicht mehr darum ge-
hen, kleine Meinungsführer-
18 (–) Christian Zaschke / Eduard schaften im eigenen Milieu
Augustin / Philipp von Keisenberg zu erkämpfen. Nicht darum,
Zu Fuß, per An-
Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro halter, per Bus: Recht gehabt zu haben. Es
eine Wanderung geht darum, in diesen neuen
19 (18) Helmut Schmidt Auf dem Weg zur an den Grenzen Zeiten, die nun anbrechen,
deutschen Einheit Rowohlt; 19,90 Euro der Heimat Neues zu riskieren – und
bis ins Herz
20 (–) Wolfgang Büscher Deutschland, der deutschen meinetwegen auch dann und
eine Reise Rowohlt Berlin; 17,90 Euro Mentalität wann einen Irrtum. ™
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 153
BABIRAD (L.); GUNTER SACHS (R.)
Playboy Sachs mit Bunnys (in München 2000), Sachs-Fotografie (1987): „Ich habe den einfachen Bürger niemals verlacht“
SPI EGEL-GESPRÄCH
CORBIS / SYGMA
Frauenschwarm Sachs mit Ehefrau Brigitte Bardot (in St. Tropez 1968): „Der Stoff Verliebtsein ist unberechenbar“
SPIEGEL: Warum berichten Sie nur sehr we- Sachs: Warum soll ich etwas breittreten, ziger Jahren vor allem in St. Tropez einen
nig über Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater, der was sehr schmerzlich war, aber schnell vor- lässigen Lebensstil vorgeführt, den Sie im
während der Nazi-Zeit mit braunen Politi- überging? Seit seiner Gefangenschaft im Buch einmal „neues Denken“ nennen. Ha-
kern wie Hermann Göring auf die Jagd amerikanischen Lager litt mein Vater jeden ben Sie sich im Ernst als geistigen Befreier
ging und mit der Firma Fichtel & Sachs Herbst an Depressionen. An einem No- gesehen?
von der Kriegsrüstung profitierte? vembertag erschoss er sich in seinem Jagd- Sachs: Nein, wir hatten vor allem die Befrei-
Sachs: Mit Göring hatte mein Vater schon haus. ung von Jacken, Krawatten und Socken in
lange vor dem Krieg eine Jagdfreundschaft. SPIEGEL: Inwiefern hat sich Ihr Leben durch sommerlichen Halbschuhen im Sinn. Wenn
Ich habe meinen Vater erst mit 19 oder 20 den Tod Ihres Vaters mit einem Schlag ver- ich zurückdenke, dann fühlte sich keiner
näher kennen gelernt. Deshalb eignet sich ändert? der Tropezianer der ersten Stunde als Re-
die Beziehung zu ihm kaum für große Aus- Sachs: Ich gab damals, mit 26, mein Studi- bell. Sie waren Befreier von bürgerlichen
führungen. Auch später haben wir uns zu um der Betriebswirtschaft auf und trat in Konventionen. Der Film „… und immer
selten gesehen. Ein Treffen mit ihm und den Aufsichtsrat von Fichtel & Sachs ein. lockt das Weib“ von Roger Vadim und
Max Schmeling im Vier SPIEGEL: Und Sie schlossen Brigitte Bardot hat da etwas aufgebrochen.
Jahreszeiten in München bald Freundschaft mit dem SPIEGEL: Sie erzählen begeistert von Ihren
war sicher die einpräg- berühmten Frauenhelden Künstlerfreunden wie Salvador Dalí oder
samste Erinnerung. Ich Porfirio Rubirosa. War er Andy Warhol und berichten von einer
lebte in der Schweiz und wirklich so unwidersteh- inszenierten Orgie in Dalís Suite im
mein Vater in Bayern. Es lich? berühmten Pariser Hotel Meurice.
gab keine engeren Bande. Sachs: Rubi war viel prü- Sachs: Ich habe aber den einfachen Bürger
Aber wir hatten auch kei- der, als man sich das vor- niemals verlacht oder mich in Interviews
ne Sorgen miteinander. Er stellt. Er sprach nie über über seinen Lebensstil lustig gemacht. Ich
war für mich wie ein ent- Frauen und machte keine lebte eben anders, nach meiner Façon –
fernter lieber Verwandter, Herrenwitze. Anspielun- aber wohlerzogen.
für den ich Respekt und gen auf seine Männlich- SPIEGEL: Gehörte es zum Leben eines Play-
Zuneigung empfand. keit, etwa die in französi- boys, sich nicht mit Arbeit zu belasten oder
SPIEGEL: Nur sehr knapp schen Restaurants damals zumindest diesen Eindruck zu erwecken?
erwähnen Sie, dass Ihr Va- übliche Bitte um eine Pfef- Sachs: Dank meiner Schlaflosigkeit konn-
ter sich 1958 das Leben ge- fermühle mit den Worten te ich mindestens zwei Leben leben und
GUNTER SACHS
nommen hat. „Passe-moi le Rubi“, wa- beim Wechsel vom einen ins andere noch
ren ihm peinlich. eine Cocktailparty besuchen. Zu einer
SPIEGEL: Gemeinsam mit Zeit, in der man nach acht Uhr in der Früh
* Ernst Wilhelm und Gunter auf
dem Jagdsitz Rechenau in Ober- Willy Sachs, Söhne (1934)* Ihren Freunden haben Sie nicht mehr aus St. Tropez raustelefonieren
audorf. „Es gab keine engen Bande“ in den fünfziger und sech- konnte, war ich jeden Morgen um fünf Uhr
156 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur
auf und habe alle Geschäfte am Telefon Bis mir eines Tages wieder ein Satz mei-
besprochen. Außerdem war ich ja nur vier nes Mathematiklehrers einfiel, der in seiner
bis fünf Wochen im Sommer in St. Tropez, Jugend ebenfalls vom Roulette besessen
nicht das halbe Jahr, wie die Presse stets war. Er sagte: „Die Kugel hat kein Ge-
glauben machte. dächtnis.“ Als ich das kapiert hatte, war ich
SPIEGEL: So wie Sie scheinbar die ganze geheilt. Ich rate jedem, der eine Spielbank
Wintersaison über in St. Moritz für Aufruhr sprengen will, über diesen Satz nachzu-
sorgten. denken.
Sachs: In St. Tropez war alles neu, und SPIEGEL: Sie haben erwachsene Söhne, die
nichts war arriviert, es gab keine einge- wie fast alle Familienangelegenheiten in
stanzten Regeln und Sitten. St. Moritz da- Ihren Lebenserinnerungen nur sparsam
gegen war seit den dreißiger Jahren ein vorkommen. Kritisieren die manchmal Ih-
eingefahrener und festgefahrener Damp- ren Lebensstil?
fer. Deshalb haben wir unseren Dracula- Sachs: Nein. Was sollen sie auch kritisie-
Club gegründet und etwas bewegt, wenigs- ren? Ich habe unser Vermögen gesichert
tens nachts. Plötzlich hatte man Spaß mit und vervielfacht.
nächtlichen Bob- oder Cresta-Fahrten und SPIEGEL: Von Ihrem Liebeskummer in Kin-
einen Club voller junger Leute. dertagen abgesehen, haben Sie in Ihrem
SPIEGEL: Wie war Ihr Verhältnis zur Protest- Leben auch alle Frauen bekommen, die
generation der 68er? Sie wollten?
Sachs: Wir kamen, glaube ich, gut mitein- Sachs: So würde ich das nicht formulie-
ander aus. Die sahen in mir eher einen ren. Wenn Sie eine besondere Frau erobern
bunten Hund. Einmal habe ich sogar ge- wollen, müssen Sie einfallsreich und
sagt, ich wäre gern der Berliner Kommu- schnell sein. Dabei habe ich stets auf ethi-
ne 1 beigetreten, wenn ich ein Zimmer mit sche Grundsätze geachtet. Ein schlechtes
Uschi Obermaier bekommen hätte. Aber Gewissen ist belastend.
die hatten ja keine Doppelzimmer. SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie
SPIEGEL: Haben Sie sich je von linken Ter- einmal den lebensgefährlichen Liebesakt
roristen bedroht gefühlt? mit Brigitte Bardot auf einem im nächt-
Sachs: Nein, ich hatte weder Angst noch lichen Meer kreisenden Motorboot. Ist das
Bodyguards. Für Mädchenbesuche ist das Ihre Vorstellung vom glücklichen Tod?
nicht das Richtige. Im Übrigen passte ich Sachs: Ja, „mourir d’amour“. Wir wussten,
auch nicht in deren Schema vom vermeint- dass wir jederzeit an einer Klippe zer-
lichen Bonzen. Auch besitze ich kein so schellen konnten. Aber die Bedenken flo-
kolossales Vermögen, wie die Medien glau- gen in die Sommernacht. Und vielleicht
ben machen. Es ist nicht zu vergleichen etwa ersehnten wir das sogar. Der Stoff „Ver-
mit dem der Familien Flick oder Quandt. liebtsein“ ist eben unberechenbar. Auch
SPIEGEL: Gab es je einen Moment, in dem nach 40 Jahren rieseln mir noch heiße und
Sie nicht wussten, ob das Geld für den kalte Schauer über den Rücken, wenn ich
nächsten Tag reichen würde? an diese Fahrt denke.
Sachs: Als Student hatte ich eine Roulette- SPIEGEL: Herr Sachs, wir danken Ihnen für
Phase. Den Moment gab es also durchaus. dieses Gespräch.
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 159
Kultur
N
eue Platten lieferte sie wirkte Bushs Lied, in dem ein
nur noch alle Jubel- Mädchen mit hoher Stimme
jahre ab – die letzte er- eine exaltierte, den Roman
schien 1993; Konzerttourneen von Emily Brontë feiernde
verweigert sie schon lange; Klavierballade sang, wie ein
CLAUDE VANHEYE / LFI / PHOTO SELECTION (O.); TREVOR LEIGHTON / EMI (U.)
auch sagte man ihr nach, sie Ufo, das sich in der Galaxie
sei kugelrund geworden und geirrt hat.
verschanze sich, von Nerven- Aber die Nummer wurde ein
zusammenbrüchen geplagt, in gewaltiger Erfolg und Bush ein
einem ihrer Anwesen. Star. „Ich war ein kleines Mäd-
Mittlerweile gibt es einen chen mit einer enorm ausge-
Roman über die Verschollene: prägten Meinung. Und das ist
„Warten auf Kate“ beginnt mit den Jahren noch sehr viel
damit, dass ein Mann auf ein schlimmer geworden“, sagt sie.
Hausdach steigt und in die Tie- Auf die künstlerischen Freiräu-
fe zu springen droht, wenn die me, die sie sich geschaffen hat,
Sängerin nicht binnen sechs sei sie sehr stolz.
Monaten endlich eine neue Auch „Aerial“ hat sie allein
Platte abliefere. geschrieben, produziert, die
„Berühmt zu sein kann Hülle gestaltet und den ersten
nicht jeder Mensch aushalten“, Videoclip mitgedreht. Aber all
sagt Bush, 47. „Nehmen Sie Popstar Bush um 1980*, 2005: Als Exzentrikerin verehrt das kann man sich eben auch
Elvis.“ Sie sitzt unter einer Ga- nur erlauben, wenn man Mil-
lerie von gerahmten goldenen CDs auf ei- lionen von Tonträgern abgesetzt hat. Alben
nem abgewetzten braunen Cordsofa zwi- wie „Hounds of Love“ gelten längst als
schen einer Kaffeemaschine und einem Klassiker und laufen bis heute prächtig.
gewaltigen Mischpult und gewährt eine Doch die Intervalle zwischen den ein-
seltene Audienz: in den Abbey Road Stu- zelnen Alben wurden immer länger. Über-
dios, in dessen muffigen Räumen einst die raschend ist deshalb, wie schnell das neue
Beatles, Pink Floyd und Queen lärmten. Album entstand: „Ich habe an keinem Lied
Sie umarmt den Interviewer. Sie wirkt er- mehr als zwei oder drei Stunden geschrie-
leichtert wie eine, die eine abenteuerliche ben, nur die Produktion war etwas lang-
Rettung hinter sich hat. Erleichtert, dass wierig.“
Ende dieser Woche endlich ihr neues Dop- Die Lösung des Rätsels, was sie denn
pelalbum „Aerial“ in die Läden kommt. nun so Irres in den vergangenen zwölf Jah-
„Als ich bei der Plattenfirma anrief, um mit- ren getrieben habe, hat ihr guter Bekann-
zuteilen, dass ich nun fertig sei, war der ar- ter Peter Gabriel schon vor einiger Zeit
me Mann am anderen Ende der Leitung vor ganz indiskret im Fernsehen ausgeplau-
Überraschung sprachlos“, berichtet Bush. dert: Sie hat einen Sohn namens Albert, ge-
Das Werk, auf das ihre Fans zwölf Jah- nannt Bertie, bekommen. Der ist sieben
re warten mussten, ist herrlich gelungen. Jahre alt und ihr neuer Lebensmittelpunkt.
Ein Reigen aus kunstvoll versponnenen „Er hat die Musik bei mir abgelöst.“
Liedern über Sonnenuntergänge, Unter- Nun illustriert sie mit den lustigen Kra-
wasserstädte und Waschmaschinen; ge- paraden erfolgreich. Mit ihrer Mischung keleien des Kindes die Hülle ihrer neuen
wohnt virtuos in Szene gesetzt zu sanften aus schrillem Gesang und introvertierter Single, widmet ihm gar ein Liebeslied –
Electrobeats, Streichern und Folkloreklän- Poesie hat Bush Kolleginnen wie Björk, „Bertie“ – und besingt auch mal – schon
gen. Die erste Single, „King of the Moun- Tori Amos oder Fiona Apple beeinflusst. irre – die Freuden des Wäschewaschens.
tain“, ist eine Hommage an Elvis Presley, Die britische Zeitung „The Observer“ kür- „Wer kleine Jungs hat, versteht mich“, sagt
und sie landete in Großbritannien stan- te sie gerade zu „einer der einflussreichsten sie, schaut auf die Uhr und erschrickt. Sie
desgemäß weit oben in den Charts. Künstlerinnen aller Zeiten“. muss los, Bertie abholen.
Was vor allem deshalb bemerkenswert Sie wuchs in der Nähe von London auf, Wenige Augenblicke später ist sie in den
ist, weil die Nummer europaweit von Ra- mit 8 Jahren, so sagt sie, habe sie bereits Fluren des Studios verschwunden – ver-
diosendern und vom Musikfernsehen über- mutlich für die nächsten zwölf Jahre.
wiegend ignoriert wird: Sie gilt offenbar * Fotomontage. Christoph Dallach
160 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Kultur
O
lli Dittrich erzählt es, als ohne die Kehrseite einer psychi-
wäre es ihm erst gestern schen Krankheit nicht zu haben
passiert: Mit seinem Ein- war: „Wer ein so zerbrechliches
kaufswagen schnürt er abends Gemüt hat wie ich“, schreibt
schnell noch durch die Lebens- Jaeger in Studentenzeiten einer
mitteletage des Hamburger Als- Freundin, „braucht außer dem
terhauses, da hört er ein selt- sexuellen Ausgleich noch eine
sames, von Gelächter unterbro- positiv auf die Psyche wirkende
chenes Gemurmel – es geht um Umgebung.“
Kohlehydrate, Fettsäuren, Bal- Die kann er zu Hause in Ham-
laststoffe. Dittrich erkennt den burg nicht finden. Mehrmals reist
seltsamen Kunden sofort am er quer durch Europa, zeichnet
schulterlangen Haar und der und malt vom Abriss bedrohte
Wollmütze: Der Mann, der sich Architektur. Die Niedergeschla-
selbst in ständig wechselndem genheit, die ihn nach jeder Rück-
Tonfall die Ingredienzen einer kehr überfällt, bekämpft er durch
Dose Bohnen vorliest, ist der Dauerschlafen und Radiohören.
Maler, Zeichner und Kabarettist Jaegers Laufbahn als Kabaret-
Heino Jaeger. tist beginnt Ende der sechziger
Die Begegnung fand 1980 statt, Jahre: Ein Bekannter bringt Auf-
da war Olli Dittrich 24 Jahre alt zeichnungen seiner Stegreifreden
und sein Idol Heino Jaeger mit 42 zum Saarländischen Rundfunk –
schon fast vergessen. Und bereits die Redakteure sind hingerissen.
auf jenem Weg, der ihn Ende der Seine „Lebensberatung“ wird
Achtziger in ein Pflegeheim für Plattencover (1976): Nah dran an der Wirklichkeit auf allen Wellen gesendet. Er
endgültige Fälle bringen sollte. selbst nimmt den Boom gelassen,
Die bessere Zeit Jaegers lag wundert sich im Interview mit
schon etwa zehn Jahre zurück. der „Hörzu“, dass „so ’n Stuss“
Damals widmete er sich im überhaupt ankommt. Sein plötz-
Rundfunk als „Lebensberater licher Ruhm dämpft weder seine
Doktor Jaeger“ den Problemen depressiven Stimmungen noch
des deutschen Mittelstands. Nah seine Lust an der Provokation.
dran an der Wirklichkeit, nah In Nobel-Restaurants belehrt er
dran an den berühmten Hörfunk- sprachlose Ober über die hy-
ratgebern Walther von Hollander gienischen Gefahren in Restau-
CHRISTIAN MEURER
oder Erwin Marcus, nur eben rantküchen; auf die Frage nach
etwas anders, so als wären die seinen Hobbys antwortet er, es
Ärzte an ihrem Beruf inzwischen mache ihm Spaß, „in Autos hin-
irre geworden. einzulaufen“.
Alles ausgedacht, aufgeschrie- Heimbewohner Jaeger (1995): Leiden aus dem schizoiden Bereich Nach gut zwei Jahren Lebens-
ben und gesprochen von Jaeger: beratung bekommt er 1977 eine
Eine Rentnerin fragt, ob sie nicht mit ih- korrekt, ihr Mann, sagt Jaeger der geplag- neue Sendereihe, in der er die treuen Be-
ren vielen Einwegflaschen anderen Men- ten Frau, nach dem Passgesetz sei ihr Mann gleiter seiner depressiven Phasen parodie-
schen helfen könne. Ein Herr berichtet, sogar verpflichtet, sich die Pässe zeigen zu ren darf: die Kulturberichterstatter und die
sein Haus sei während seines Mallorca- lassen. Der Wahnsinn ist bei Jaeger meis- Lokalreporter in Funk und Fernsehen. Eine
Urlaubs einer Schnellstraße gewichen. Nun tens staatlich sanktioniert. Nummernrevue bekannter Typen, allesamt
wolle er mal fragen, ob er das den Be- Das Besondere des Jaegerschen Witzes im Habitus leicht verrutscht: der intellek-
hörden melden müsse. „Müssen Sie“, sagt hat vor allem Berufsgenossen fasziniert. tuelle Filmkritiker, der nur noch von we-
Experte Jaeger, „andernfalls machen Sie Jaegers Mitentdecker Hanns Dieter Hüsch nigen verstanden werden will, der rasende
sich strafbar.“ sah bei dem „Ohrenzeugen unserer Wirk- Reporter in einer Schuhfabrik, dem die
Ähnlich ratlos eine Anruferin, deren vom lichkeit“ eine „Ironie dritten Grades“. Ein knallharte Frage einfällt: Wer trägt nun
Bundesgrenzschutz in Pension geschickter „absolutes Gehör für gesprochene Spra- Schuhe? Und – eine der perfektesten
Ehemann in der eigenen Wohnung aus che“ entdeckte der Hamburger Autor Nummern: ein die beiden Domkirchen von
Sperrholz einen Abfertigungsschalter in- Frank Schulz. Zwischen Kafka und Ger-
stalliert hat und mehrmals täglich die hard Polt siedelt Eckhard Henscheid seinen * Joska Pintschovius: „Heino Jaeger – Man glaubt es
Pässe zu sehen verlangt. Er handle völlig Kollegen Jaeger an. nicht“. Kein & Aber Verlag, Zürich; 480 Seiten; 29,80 Euro.
162 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Speyer und Worms zum „Speyer zu
Worms“ verschmelzender Korrespondent,
der angesichts dieses monumentalen Bau-
werks in wahnwitzige Wortkaskaden aus-
bricht.
87 unterschiedliche Männer- und Frauen-
typen hat Eckhard Henscheid im gesamten
Jaeger-Repertoire gezählt. Für Jaeger selbst
scheint es Ende der Siebziger langsam
genug zu sein. Es kommt vor, dass er zu
Produktionsterminen in Saarbrücken nicht
erscheint. Ein Werbeplakat habe ihn dazu
verführt, nach Paris weiterzureisen, ent-
schuldigt er sich. Sein Redakteur bringt ihn
zum Zug nach Hamburg, erhält aber später
einen Anruf der Bahnpolizei in Lauda bei
Würzburg, man habe einen Mann ohne
Fahrausweis und Papiere in Gewahrsam ge-
nommen. Der Mann behaupte, Doktor Jae-
ger zu sein, und berufe sich auf den Saar-
ländischen Rundfunk. Man löst ihn aus.
Dann ist er wieder verschollen und sen-
det einen schriftlichen Hilferuf aus einer
geschlossenen Anstalt in Hamburg. Es ge-
lingt, den verantwortlichen Arzt zu über-
zeugen, Jaeger sei zu Unrecht interniert.
Amüsiert erzählt Jaeger, die Ärzte hätten
ihn nach der Entlassung als Entertainer für
ihre Privatpartys engagieren wollen.
1983 legt Jaeger aus Protest gegen den
Fernsehlärm seiner Nachbarin in seiner
Wohnung Feuer. Ein Großteil seiner Bilder
und Zeichnungen verbrennt. Feuerwehr-
leute bergen ihn und übergeben ihn den
Behörden. Die stellen bei Jaeger eine „fort-
schreitende Verwahrlosung und Alkohol-
sucht“ fest. Seine astronomisch hohe Tele-
fonrechnung kann er plausibel erklären:
Jaeger hatte zuletzt häufig bei der Nasa
in Houston angerufen, um sich nach de-
ren Fortschritten bei der Gottsuche zu er-
kundigen.
Nach seiner Brandstiftung gibt es kei-
nen Weg zurück in die Selbständigkeit. Mit
einer Ausstellung versucht der Galerist
Michael Hauptmann 1984, Jaeger wieder
unter die Leute zu bringen. Der lässt die-
se Ehrung freundlich über sich ergehen,
einer Besucherin antwortet er: „Das hätte
ich gern zu meinen Lebzeiten erlebt.“
Die Gesundheitsbehörde der Stadt Ham-
burg weist Jaeger schließlich mit sparsam
gesicherter Grundversorgung ins Bad Ol-
desloer „Haus Ingrid“ ein. Da ihn Stimmen
quälen, fällt die Diagnose eines Leidens
„aus dem schizoiden Bereich“ den Ärzten
nicht schwer.
Nach fast zehn Jahren Pflegeheim, 1997,
stirbt Heino Jaeger an einem Schlaganfall.
Seitdem arbeitet die eingeschworene Ge-
meinde seiner Verehrer an der Anerken-
nung ihres „bis heute unerreichten Meis-
ters“ (Dittrich) als „Jahrhundertkomiker“
(Henscheid). Peter Haag will im Frühjahr
2006 eine CD mit unveröffentlichten Hör-
stücken herausbringen. Spätestens dann soll
Loriots Vermutung, Heino Jaeger bleibe
ein Geheimtipp, weil „wir ihn nicht verdient
haben“, widerlegt sein. Doja Hacker
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 163
Prisma Wissenschaft · Technik
TIERE
Spechtsuche im Sumpf
N ächste Woche bricht eine 19-köpfige Expedition von Vogelkundlern der Cor-
nell University auf zu einer historischen und 800000 Dollar teuren Mission. Mo-
natelang werden sich die Forscher durch die von Giftschlangen wimmelnden Sümp-
fe des US-Bundesstaates Arkansas schlagen. Ihr Ehrgeiz: Sie wollen die Existenz
des von Mythen umrankten Elfenbeinspechts beweisen. Seit 1944 gilt der mit bis
zu 51 Zentimeter Körperlänge größte Specht der USA als ausgestorben. Aber wie
beim Yeti, wie beim toten Elvis oder dem Seemonster Nessie behaupten gewisse
Leute immer wieder, ihn gesichtet zu haben. Im April verkündeten die Cornell-For-
scher um John Fitzpatrick auf der Web-Seite des Wissenschaftsmagazin „Science“,
dass der Elfenbeinspecht sehr wohl am Leben sei. Ihr Beweis: ein unscharfes Vi-
deo eines Flattertiers von vier Sekunden Dauer. Zudem hatten sie 18 000 Stunden
Audio-Material ausgewertet und dabei mehrfach ein angeblich verräterisches Ge-
krächze wie von einer Spielzeug-Tröte gehört. In der
Fachwelt regte sich Interesse, aber auch Zweifel, sogar
Widerspruch. Manche Experten machten selbst vor
dem Vorwurf nicht Halt, die Cornell-Ornithologen
JOHN CANCALOSI / PETER ARNOLD
MIKE WINTROATH / AP
Wildnis. „Wir brauchen ein Foto“, sagt Expeditions-
teilnehmer Russell Charif. Der Erfolgsdruck sei enorm:
„Falls wir nächstes Jahr mit leeren Händen zurück-
kommen, wird das ungemütlich.“
MEDIZIN CHINA
GAMMA / STUDIO X
Morris („Marlboro“) jetzt für Produkte chungen vorsehen. Europa, Russland, Ja-
nutzen, die der menschlichen Gesund- pan und Kanada haben milliardenteure
heit sogar dienlich sein sollen. Über Beiträge zur ISS längst fertig gestellt,
Jahre hinweg hat der Konzern seine aber mangels Shuttle-Flügen drohen die
Forscher an Alternativen zur Zigarette Raumstation ISS Bauteile jetzt im Museum zu enden. Bis-
arbeiten lassen. Vor allem interessierten her wird am Kennedy Space Center in
sich die Manager für ein Produkt zum R AU M FA H R T Florida an allen drei Fliegern gleichzeitig
Inhalieren, mit dem sich das süchtig ma- gearbeitet. Künftig, so die jüngsten Plä-
chende Nikotin auch ohne Tabakrauch
in die Lunge befördern ließe. Jetzt plant
Sparplan fürs Shuttle ne, solle nur noch einer der drei Hangars
in Betrieb sein. Die Nasa kann dann im
Der Inhalator
B edrängt von Geldproblemen erwägt
die US-Weltraumbehörde Nasa dras-
tische Sparmaßnahmen an ihrem Space-
Jahr höchstens zwei Shuttle-Flüge absol-
vieren. Der nächste Start ist geplant für
Mai 2006. Im Jahr 2010, das hat US-Prä-
1 Der Patient atmet ein. Shuttle-Programm. Anstelle der geplan- sident George W. Bush verfügt, muss die
Die flüssige Medizin wird ten 19 Missionen, so die internen Überle- Shuttle-Flotte stillgelegt werden.
angesaugt.
3
2 2 Die
Flüssigkeit wird
erhitzt und verdampft. R A D I OA K T I V I TÄT
1 3 Der Dampf kühlt auf
Raumtemperatur ab.
Ernte vom Strahlenacker
4 Der Wirkstoff gelangt
in Form feiner Tröpfchen
über die Atemwege 4
W eißrussland betreibt zunehmend Ackerbau auf einigen der radioaktiv ver-
seuchten Böden, die seit der Tschernobyl-Katastrophe vor nahezu 20 Jahren
brachliegen. Kaum 200 Kilometer vom zerstörten Reaktor entfernt bauen staatli-
in die Lunge. che Betriebe Raps, Roggen und Gerste an. Auch Rinder werden gehalten, obwohl
5 Über die Lunge der Verzehr ihrer Milch immer noch lebensgefährlich wäre. Ihr Fleisch jedoch, so
wird der Wirkstoff beteuert die Regierung des Autokraten Alexander Lukaschenko, sei ebenso ge-
an den Körper nießbar wie die Ernte aus den verstrahlten Gebieten. Die reaktivierten Acker-
abgegeben. flächen, jetzt schon etwa 140 Quadratkilometer, liegen vor allem im Süden des Lan-
Quelle: Wall Street Journal 5 des nahe der ukrainischen Grenze. Sie zählen zu den Regionen, die der radioakti-
ve Fallout nach dem Desaster vom 26. April 1986 am meisten verheert hat. Beeren,
Pilze, Wild, Fisch und Honig aus dieser Gegend gelten immer noch als hochgradig
die Firma offenbar, die gewonnenen Er- belastet. Ackerbau aber, so die Regierung, sei unter bestimmten Vorsichtsmaß-
kenntnisse umzumünzen in Medizin- nahmen möglich. Ein gemeinsamer Bericht von Uno und Weltbank hat diese
technik. Ihre Entwickler haben einen Ansicht kürzlich bestätigt, was sogar manche Offizielle überrascht: Walerij
Inhalator hergestellt, der bis zu neun- Guratschewski, wissenschaftlicher Direktor des staatlichen Tschernobyl-Komitees,
mal effektiver ist als bisherige Produkte. kritisiert den Report als teils „zu optimistisch“.
Mit ihm dringen Wirkstoffe in Form ei-
nes feinen Aerosols tiefer ein in die
Lunge und werden schneller vom Blut
aufgenommen. Ob Insulin, Schmerz-
oder Asthmamittel – Philip-Morris-Ma-
nager hoffen, dass sie mit dem „Aria“
genannten Gerät künftig Teile des Rie-
senmarkts der Arzneimittel-Applikation
erobern können. Selbst manche Rau-
LASKI DIFFUSION / GAMMA / STUDIO X
Mythos Mittelalter
Archäologen erkunden das Reich der Ritter. Während Bücher
und Filme die Zeit zur Heldenwelt verklären, legen
Forscher düstere Funde vor: Kreuzfahrer trieben Schweine in den
Orient, Priester verboten an 140 Tagen im Jahr den
Sex. Was brachte die Erfindung der christlichen Sündenmoral?
A
n einem Herbsttag im Oktober 1080 Kunde mag solche Deftigkeiten. Neugie-
ritt Rudolf von Schwaben, König rige strömen über bemoostes Pflaster aufs
der Deutschen, bei Hohenmölsen Domgelände. Eine ottonische Prachtbibel
nahe Leipzig in die Schlacht. Kühn, im ei- liegt dort und die berühmten Merseburger
sernen Kettenhemd, stürzte der Monarch Zaubersprüche. Das Pergament aus dem
los. Gepanzerte folgten ihm. 10. Jahrhundert ist in Schweinsleder gehüllt
Doch es war nicht Rudolfs Tag. Eine und enthält medizinische Beschwörungs-
feindliche Übermacht umringte ihn und formeln.
stach ihm in den Unterleib. Kurz passte er Fremd, fast magisch ragen solche Ob-
nicht auf, schon fehlte ihm auch die rech- jekte in die Gegenwart. Ganz Deutschland
te Hand. ist gefüllt mit den Spuren einer ge-
„Schauen Sie, abgehackt!“ Vorsichtig heimnisvollen Epoche. Im tiefsten Ver-
hebt Holger Kunde, Historiker beim Dom- fall, mit der Völkerwanderung um 500
stift Merseburg, eine Gliedmaße aus einer nach Christus, brach das Mittelalter an.
alten Lederbox. Die Finger sind bräunlich Um 1500, mit Martin Luther, hörte es
mumifiziert. „In DDR-Zeiten galt die Hand angeblich auf.
als verschollen“, erklärt der Forscher. „Wir Muffige Urkunden, Mumien und Reli-
haben eine Untersuchung beim Institut für quien haben die Zeit überdauert. In Mün-
Anthropologie in Mainz in Auftrag gege- chen liegt das Schlüsselbein Heinrichs des
ben.“ Überraschendes Resultat: Das Kör- Löwen, in Bamberg der Schädel Kaiser
perteil ist wahrscheinlich wirklich 900 Jah- Heinrichs II. (den der Papst heilig sprach,
re alt und echt. Es wurde mit einem Hieb
vom Unterarm getrennt. * Kalenderblatt um 1415.
168 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
weil er seine Frau nie berührte). Und über- Was fasziniert daran? Sehnt sich der
all drängen sich die Besucher. Jetztmensch nach einfachen Weltbildern,
440 000 Gäste zogen vergangenes Jahr nach Urlaub vom Humanen? Flieht er die
auf die Wartburg, wo einst Walther von verkuschelte und überverwaltete Gegen-
der Vogelweide sang. Etwa 7000 ver- wart?
witterte Ruinen und zinnengekrönte Roh und grausam, mit knarrenden
Felsennester stehen auf deutschen Berg- Windmühlen und quietschenden Ochsen-
rücken. Errichtet wurden sie von Bau- karren kommt die Epoche daher, sie
ern, die – zu „Spanndiensten“ ver- kannte weder Strom noch Müllabfuhr.
pflichtet – einst Steine und Mörtel in Ein Würzburger Rezept aus dem 14. Jahr-
Lederschläuchen die Hänge empor- hundert empfiehlt Liebstöckel und Minze
schleppten. als „gute Würze für die großen Fürze“.
Heute findet dort Folklore statt. Auch die Museen hängen sich an den
Als „Burgfrolleins“ verkleidete Trend. Die größte Schau wird derzeit
Mädchen laden zum „Tandera- in Berlin vorbereitet. Für die geplan-
dei“. Auf der Runneburg in Thü- te „nationale Geschichtsausstellung“ im
ringen verschießt eine Stein- Zeughaus sammeln die Macher bereits
schleuder Kugeln. Zum größten Hellebarden, Morgensterne und „Mord-
Ritterturnier der Republik in äxte“. In den nächsten Wochen trifft
Karl der Große, Folterstuhl*: Sehnsucht nach Kaisern, Kerkern und Narren
Kaltenberg bei Augsburg ka- ein gotisches Stadttor mit dem Tiefla-
men im Juli 120 000 Gäste. der in der Hauptstadt ein. Es stammt aus
Keine Frage: Mittelalter ist Bayern.
in. Eine merkwürdige Sehn- Doch was sollen all die Dungeons, Gum-
sucht nach der Zeit der Kaiser, mischwerter und Kochkurse aus der Klos-
Kerker und Narren hat die Ge- terküche?
genwart erfasst. Schon einmal, im 19. Jahrhundert, ver-
200 000 Menschen zog es im sank Deutschland in einer Rückschau auf
vergangenen Jahr ins Krimi- die Zeit der Ritter und Minnesänger. Ro-
nalmuseum in Rothenburg ob mantiker wie Novalis und die Brüder
der Tauber. Gezeigt werden Grimm (die derzeit im Kino laufen) er-
Daumenschrauben, Streckbet- träumten sich ein strahlendes Vorgestern
ten und ein „Folteraufzug“. aus Prinzen, blauen Blumen und klap-
„Die Delinquenten wurden an pernden Mühlrädern.
den hinterrücks gefesselten Ar- Bayernkönig Ludwig II. trieb es auf die
men aufgehängt und mit aus- Spitze. In seinem vermutlich von Syphilis
kugelten Gelenken verhört“, erweichten Gehirn entstanden Operetten-
erklärt der Strafrechtler Wolf- festungen mit Schnörkeltürmen und Spitz-
gang Schild. giebeln. Und er baute sie auch.
ERICH LESSING / AKG
helden wie Artus und Lancelot dahin. te Zaubermax momentan in der SPIE- Vorfahren am besten über ihre Hauptfigu-
Dass die echte Ritterschaft sich mit Sack- GEL-Bestsellerliste vertreten. Am 17. ren. Glanzvolle Tatmenschen traten dort
hüpfen ertüchtigte und auf Pferden saß, November kommt Teil vier, der „Feuer- auf, Prahlhänse und traurige Tyrannen.
die nicht größer als Ponys waren, will kelch“, in die Kinos, wieder mit der Beispiel: Friedrich Barbarossa (1122 bis
keiner wissen. bewährten Mischung aus Besenreiten 1190). Mindestens acht Söhne zeugte der
Ohne Unterwäsche, dafür mit Mund- und Abrakadabra-Kursen auf der Burg Kaiser, der Mailand in Asche legte und
geruch (Zahnbürsten gab es nicht): So muss Hogwarts. im reifen Alter eine schöne Lolita heira-
man sich den Adel des 11. Jahrhun- Derlei Kitsch jedoch versperrt den tete, sie war 13. Während des dritten
derts vorstellen. Er lebte im Schein von Blick auf die wahren Ereignisse. Der Ar- Kreuzzugs ertrank der Regent beim An-
Kerzen aus Rindernierenfett in hölzernen chitekt und Burgenforscher Joachim Zeu- marsch auf Jerusalem im Fluss Saleph in
Wohntürmen mit Tierfellen vorm Fens- ne nennt die Deutschen „geschichtsver- der Türkei.
ter. König Artus – die Forscher verorten gessen“: „Immer mehr Leute gleiten ab Ganz Europa wurde damals von dem
die Gestalt vage ins 6. Jahrhundert – be- ins Land Fantasy.“ Badeunfall erschüttert. Hastig legte man
saß keine Gabeln. Das war seine Tafel- Die Erinnerung an die wahren Bewoh- den Leichnam in Essig wie eine Gurke.
runde. ner der alten Steinforts verblasst. Ob Salier, Rotbart verdarb dennoch. Seine Knochen
Doch schöner ist es, ins Märchen- Ottonen oder Staufer-Kaiser – in den sind verschollen.
hafte abzuschweifen. Ob „Herr Schulbüchern werden sie kaum Oder Karl IV. (1316 bis 1378), der Prag
der Ringe“ oder die Gralssu- mehr richtig erwähnt. Eine auf zu einer glanzvollen Stadt machte und
cherei bei Dan Brown: Ava- Langeweile geeichte Lern- Gründer der ersten Universität in Mit-
lon nebelt heute überall. pädagogik hat sie ver- teleuropa war. Allen Ernstes erzählt der
Und dann Harry Pot- drängt. Kaiser in seinen Memoiren, er sei von
ter! Mit allen sechs Dabei erschließt sich Engeln durch die Luft getragen worden.
Büchern ist der bebrill- die blutvolle Bühne der Als Kind lag Karl zwei Monate lang in
170 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Titel
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 171
KUTTIG / ULLSTEIN BILDERDIENST
Burg Hohenzollern: Etwa 7000 verwitterte Ruinen und zinnengekrönte Felsennester stehen auf deutschen Bergrücken
normal fand man es, kleinen Jungen die einst am Tag des Jüngsten Gerichts aus „Unser Leben ist ein Geschäft, das dama-
Hoden abzuschneiden, um sie als fistelnde den Gräbern auferstehen zum ewigen lige war ein Dasein“, klagte bereits vor
Kastraten im Kirchenchor einzusetzen. Heil. Der Rest müsse in der Verdammnis hundert Jahren der Historiker Jacob
Elastisch wie Beton präsentiert sich die schmoren. Burckhardt. Der Philosoph Georg Lukács
Ära, von Fortschritt kaum eine Spur. Wie Voller Aberglaube und Angstgespinste erklärte die Bewohner der Neuzeit zu Bett-
war es möglich, dass der Naturforscher und steckten die Seelen der Vorfahren. Ihr In- lern, sie seien geistig „obdachlos“.
Arzt Paracelsus (1493 bis 1541) die betäu- nenleben glich den Bildern von Hierony- Frischgestrickte Neokonservative lassen
bende Wirkung des Äthers zwar erkannte, mus Bosch, gefüllt mit Fratzen, Dämonen sich von der Sittenstrenge des Mittelalters
sie aber nie am Menschen anwendete? und dem „Höllenfürsten“ Satan. gern begeistern. Könnte die CDU, so ihre
Roh tritt uns der Homo sapiens jener Gleichwohl erschufen die Menschen Forderung, nicht wieder ein bisschen mehr
Zeit entgegen. Fühlte er sich überhaupt ihrem so ungnädigen Herrn geradezu toll- auf Werte achten? Etwas mehr Hosianna,
schon als Individuum im heutigen Sinne? kühne Gotteshäuser. Bauten mit Stre- Zukunftsglaube und Kindersegen statt der
Spiegel besaß damals kaum jemand. Kein ben, Rosetten und schlanken Steinpfeilern verlotterten Spaßkultur? Auch der Schrift-
Maler war in der Lage, ein wirklichkeits- wuchsen in der Gotik wie gegen das Na- steller Botho Strauß verriet sich als An-
getreues Porträt zu entwerfen. Und wo turgesetz in den Himmel. Köln, Straßburg, hänger des frommen Vorgestern. „Ohne
heute alle „ich“ schreien, ertönte das Lob Ulm – vieles war so herrlich angelegt, dass Transzendenz“, sorgt er sich, „gibt es kei-
auf den Christengott. Es ist der Herr und es nie richtig fertig wurde. ne Moral.“
barmherzige himmlische Vater, der aus je- Heute indes sind die alten Fetische des Doch im Ernst: Die Posaune Gottes, sie
der Pore des auf Totalität gerichteten mit- Glaubens längst verstaubt. Der Mantel schallt nicht mehr. Der Schöpfer ist tot und
telalterlichen Glaubens atmete. Buße und Christi hängt in Trier, seine Dornenkrone eine Verklärung der Epoche nicht ange-
Sühne bestimmten den Alltag. Ständig in Paris – es sind Touristenattraktionen. bracht. Unter Androhung der Hölle be-
wurde gekniet, gebeichtet, gesühnt. Und die Kirchen sind leer. trieb die Kirche die Disziplinierung der
Nur wer ohne Todsünde sei, so lehr- Zurück bleibt die Suche nach Substanz, Massen. Wer widersprach, bekam schnell
ten die Dogmen der Kirche, werde der- nach Lebenssinn und wahrer Existenz. heiße Füße.
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Titel
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Titel
GRÄFLICHE SAMMLUNGEN IM SCHLOSS ERBACH (L.); AKG (O.R.); BEN BEHNKE (U.R.)
ern, Kappen und Tücher auf dem Kopf,
fühlten sich als „Genossen“, sie lebten wie
in kommunistischer Selbstvergessenheit,
stets der Natur nahe. Weinlese, Heuernte,
Obstpflücken, Brotbacken – die meisten
Arbeiten verrichtete das Dorf gemeinsam.
Eingelullt wurde das Volk dabei von Kir-
chenglocken. Überall erscholl das Hosian-
na, Mönche liefen umher.
Es sind die unbeweibten Diener des
Stuhls Petri, die etwa um das Jahr 1000 zu
Hochform aufliefen. In Deutschland er-
folgte eine erste Welle von Klostergrün-
dungen.
Rossharnisch aus dem Spätmittelalter Hand König Rudolfs von Schwaben Harte Arbeit scheuten aber auch die
Mönche nicht. Mit Hacken und Beilen zo-
gen die Männer, die seit der Reform von
Cluny im Jahr 910 Kapuzen und schlichte
dreas Schlunk, „ist nur schemenhaft er- fassten Artus-Roman) die Burgherrin im Kutten trugen, in die Wildnis und machten
kennbar.“ Waschzuber. das Land urbar. Auf dem Gebiet des heu-
Wagemut forderte das zentrale Ereignis Doch in Wahrheit müffelte es bei den tigen Deutschland lebten unter vier Mil-
der höfischen Welt, das Turnier. Während Granden. Hoch gelegen auf Bergkuppen, lionen Einwohner.
aufgeputzte Damen von der Balustrade ki- besaßen ihre Wehrburgen oft nur Zister- „Müßiggang ist der Feind der Seele“ lau-
cherten, versuchten sich die Recken mit nen. Waren die leer, mussten die Diener tet eine Ordensregel der Benediktiner.
dem „Stechzeug“ gegenseitig aus dem Sat- das Wasser aus dem Tal heranschaffen. Steineschleppen und Waldroden galt ih-
tel zu heben. Nur der Hochadel, vom Grafen auf- nen als Akt der Nächstenliebe. Um 4.15
Tests auf den Crash-Schlitten der Adam wärts, konnte sich aufwendig in den Fels Uhr hielten sie das erste Morgengebet
Opel AG bewiesen: Wer vom Pferd fiel, geschlagene Brunnen leisten. Der tiefste („Matutin“). Dann begann das Tagwerk.
konnte sich leicht an der Helmkante Der Begriff „mühselig“ – der Klerus hat
das Genick brechen. Zuweilen drangen ihn erfunden.
auch Lanzensplitter durch die Rüstung „Das Weinen und Besonders geschickt waren die Zisterzi-
ins Hirn. Seufzen der Knechte hat enser. Sie verstanden sich auf Wasserkraft,
Doch ansonsten lebte der Adel kommod. nie ein Ende.“ betrieben Getreidemühlen und Erzminen.
„Hofieren, tanzen, stechen und durnieren“ Im Kloster Altzella, einer Ruine in Sach-
lautete sein Wahlspruch. Dazu speiste man wurde auf Burg Kyffhausen entdeckt, der sen, leiteten die Brüder einen Fluss um
viel fettes Fleisch. An langen Winteraben- berüchtigten Festung Kaiser Barbarossas und betrieben so die schweren Holzkeulen
den spielten Kunibert und Co. Blindekuh. in Thüringen. Im Förderkorb hatten sich ihrer Walkmaschinen, wie eine neue Gra-
Die Damen trugen lange Kleiderschleppen Sanierungsarbeiter in das Schöpfloch ab- bung beweist.
(„swanz“) und Schnürkorsetts – „oberhalb geseilt. Erst nach 176 Metern erreichten sie Freitags aßen die frommen Griesgrame
des Gürtels fast nackend und ganz ent- Grund – Weltrekord. Fisch, ansonsten zogen sie Bohnen und
blößt“, erhitzte sich der Minnesänger Kon- Ihren Luxus konnten sich die hohen Kräuter. Und sie betrieben Seelsorge und
rad von Würzburg. Herren nur leisten, weil die Untertanen für Krankenpflege.
Nur mit dem Frischnass haperte es. Zwar sie schufteten. Zwischen 700 und 1000 nach An sozialen Veränderungen war aber
nimmt der vom langen Ritt verdreckte Par- Christus waren die freien germanischen auch der Klerus nicht interessiert. „Ord-
zival wie selbstverständlich ein Bad. Und Bauern von der Bildfläche verschwunden. nung ist die Verteilung gleicher und un-
Held Meleranz überrascht (im 1180 ver- Die Ritter hatten sie unterjocht. Eben noch gleicher Dinge“, heißt es bei Franz von
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Assisi. Selbst dem Bettler war Schächten Feuer. Sickerwasser
„im Hause Gottes“ sein natür- wurde ein Problem. Die Mi-
licher Platz zugewiesen. Die nenbetreiber pumpten es mit
Neidkultur war noch nicht er- Schöpfrädern ab, die von Was-
funden. serkraft getrieben wurden.
Eindrucksvoll zeigt der His- Beim Verhütten verschwan-
toriker Peter Blickle in einem den Tonnen an Holzscheiten in
neuen Buch** das ganze Aus- den Schmelzöfen, Blasebälge
maß der Unmündigkeit. Dem fauchten dazu. Die Männer
Chorherrenstift Rottenbuch zum standen im Rauch blei- und cad-
Beispiel unterstanden etwa 250 miumhaltiger Dämpfe. Eine Un-
Höfe. Die Bauern leisteten aber tersuchung der Arbeitsstelle
nicht nur Abgaben, auch ihr Pri- Montanarchäologie in Goslar
vatleben lag an der Kette des hat ergeben, dass die Giftwol-
Propstes. ken bereits damals bis nach
„Junge Männer verheiratete Schweden wehten und sich im
er im Schnitt mit 18 Jahren, die Boden ablagerten.
Mädchen mit 14 innerhalb der Um die Hygiene stand es
Genossenschaft“, berichtet Blick- schlecht zu dieser Zeit. Europa
le. Die Partner suchte er aus. war zu schnell gewachsen. Über-
Wegziehen war verboten. all faulte, gärte und schimmelte
So war es überall: Vögte und es. In die Brunnen floss teils Ab-
Grafen zogen nach dem Tod ih- wasser. Das konnte nicht gut ge-
rer Untertanen deren Erbe ein. hen. Die Folge: Pest.
Sogar die Bekleidung war vor- Zwischen 1347 und 1351 fegte
geschrieben. Bauern in Mittel- der Schwarze Tod über Europa.
europa durften nur gedeckte Far- Ausgelöst durch das Stäbchen-
ben tragen: schwarz, braun, blau. bakterium „Yersinia“, das die
Aufgeknackt wurde die star- Kapillaren verstopft und Haut-
re Ständeordnung erst durch die unterblutungen erzeugt, starb
Städte. Etwa ums Jahr 1000 be- ein Drittel der Bevölkerung Eu-
gannen Handwerker und Händ- ropas, über 20 Millionen Tote.
ler damit, sich in Siedlungen „Kirchhöfe sind mit Erdreich
zusammenzutun, meist mit Er- und Schutt von Gebäuden zu er-
laubnis der Obrigkeit am Fuß höhen, damit der Gestank kei-
der Burgen als „Bürger“. An nen Schaden bringe“, heißt es
deren bescheidene Hütten in einem Erlass.
knüpften sich bald große Hoff- AKG
„Deprimierend gering“ nennt
nungen. „Stadtluft macht frei“ der Mediziner Klaus Bergdolt
wurde zum geflügelten Wort Badende Adlige beim Schlemmen*: Reiche tanzten aus der Reihe das Heilwissen der Zeit. Para-
der Epoche. celsus maulte, seine Kollegen
Unentwegt flüchteten Knechte und ent- Schon um 1300 begann dann die Suche rührten Medikamente aus „Ohrenschmalz,
nervte Bauern in die Siedlungen. Die Fol- nach Steinkohle. Bergleute im Ruhrpott Leibschweiß, Monatsblut“ an, ja selbst vor
ge war eine „Urbanisierung dramatischen öffneten die ersten oberirdisch verlaufen- „Speichel, Pisse und der Asche von Eu-
Ausmaßes“, wie der britische Gelehrte den Adern mit „brennbarer schwarzer lenköpfen“ schreckten sie nicht zurück.
Robert Bartlett erklärt. Im Jahr 1100 gab es Erde“. Zur selben Zeit wurde London be- Was er verschwieg: Seine Pillen waren
im Reich rund 50 Städte, Mitte des 15. Jahr- reits von Kohlefrachtern versorgt. kaum besser.
hunderts waren es bald 4000. Erst der junge Zweig der „Montanar- Neben den Seuchen nervten die Hun-
In engen Barackenvierteln lebten die Fa- chäologie“ bringt nun langsam etwas Licht gersnöte. Zwischen 1315 und 1317, nach
milien. Der Geruch von Seifensiedern und in die frühen Ökosünden. Verklärt zu einer Phase kalt-feuchter Witterung, kam es
Gerbern lag in der Luft. In den Gärten be- Schneewittchens sieben Zwergen, die lustig zu schlimmen Missernten. In Lübeck wur-
fanden sich die Abtritte. Überall liefen in den Schacht ziehen, so wird die Erzsu- den 89 Skelette entdeckt. Die Leute waren
Schweine herum. Man stapfte durch eine während der Notzeit im Rheinland losge-
Brühe aus Essensresten, Tierkadavern, Kot laufen, um in der Hansestadt um Essen zu
und Urin. Die Giftwolken der Eisen- betteln. Die aber verrammelte ihre Tore.
Schon damals begannen die großen Um- verhüttung im Harz wehten Mit dem Bevölkerungsschwund er-
weltsünden: Nahezu alle Gerätschaften, ob bis nach Schweden. lahmte die Wirtschaft. Bergwerke, die mit
Löffel, Gurkenfass oder Dachschindel, wa- hohen Investitionskosten die Stollen
ren aus Holz gefertigt. Die Häuser, aus che im Märchen beschrieben. Die Wahrheit trockenpumpten, mussten dichtmachen.
Fachwerk, standen geduckt an schmalen sah anders aus. „Es reichte fortan, den Metallbedarf
Gassen. All das ist abgebrannt. Nur die Schon im 13. Jahrhundert drangen die mit Schrott und Recycling zu decken“, er-
steinernen Kirchen und Dome blieben er- Hauer im Harz bis 200 Meter unter Tage klärt der Goslaer Bergbauexperte Lothar
halten. vor, um an kupfer-, silber- und eisen- Klappauf.
Bäume, Bäume, Bäume verschlang die- führende Adern zu gelangen. Zum Ab- Und dennoch: Am Ende trotzten die
ser Zivilisationsmoloch. Ganze Wälder san- sprengen der Brocken legten sie in den Menschen allen Kriegen und Krankheiten.
ken hin. Tischler und Schreiner bedienten Die Kulturen des Altertums, das Pharao-
sich, aber auch die rauchgeschwärzten ***Miniatur, um 1470.
Peter Blickle: „Von der Leibeigenschaft zu den Men-
nenreich, das klassische Griechenland –
Köhler holzten die Forste ab, um in ihren schenrechten“. C. H. Beck, München; 428 Seiten; 36,90 am Ende gingen sie alle unter. Nicht so das
Meilern Brennstoff herzustellen. Euro. mittelalterliche Europa. Woher diese Kraft?
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Titel
Halsgeige
Mönche aßen Gras, sie tobten, standen deten sich neue Konvente. Ihre Chefs gin- Der Preis allerdings für die Verbiegung
Kopf, quälten sich mit Schlafentzug oder gen mit gutem Askesebeispiel voran: der menschlichen Triebnatur war hoch. Die
hungerten bis zum Delirium. Manche Ere- • Franz von Assisi, Gründer des Franzis- Frau etwa kam bei dem Unternehmen
miten redeten nur sonntags, manche gar kaner-Ordens, ließ seinen Körper ver- schlecht weg. Im System der Popen hieß sie
nicht. „Der Geist des Herrn jedoch will, kommen; „Hure“, „Schlamm“, sie war die „Bitter-
dass das Fleisch abgetötet und verachtet, • Dominikus, Stifter der Dominikaner, keit des Apfels“ und allzeit „offene Höl-
gering geschätzt und schimpflich behan- peitschte sich bis zur Bewusstlosigkeit; lenpforte“.
delt werde“, so Franz von Assisi. • Bernhard von Clairvaux, Führer der Zis- Das Weib im Mittelalter war nicht rechts-
„Mitunter kam es zu förmlichen Kastei- terzienser, stank vor lauter Fasten „der fähig. Mädchen hätten einen erhöhten
ungswettkämpfen“, lästert Deschner. „Jede Odem so übel, dass niemand um ihn Wassergehalt im Körper, hieß es, weil bei
Seite suchte Rekorde aufzustellen und zu bleiben mochte“, wie Luther berichtet. ihrer Zeugung „feuchte Südwinde“ stri-
brechen, wollte die längsten Faster, die bes- Kein Zweifel, all dies mutet heute lächer- chen.
ten Beter und Kniebeuger haben, die be- lich an. Doch weltgeschichtlich dienten die Womöglich wurde ihnen noch weit übler
ständigsten Schweiger und Tränenver- Bußübungen einem hohen Zweck: Homo mitgespielt. Die Grabungen auf mittelal-
gießer.“ sapiens lernte, sich zu läutern, zu reinigen, terlichen Friedhöfen zeigen, dass die männ-
Den Weltrekord im Stehen errang der zu überwinden. lichen Skelette deutlich überwiegen. Ihr
Mönch Symeon aus Syrien. Der „Säulen- Eine bis dahin unbekannte Wunderwelt Anteil liegt bei etwa 60 Prozent. Wurden
heilige“ stand über 30 Jahre bei Wind und aus zarten und empfindsamen Gefühlen die weiblichen Babys getötet und ver-
Wetter auf einer Kolumne, machte Knie- wurde aufgestoßen. Ohne Hemmung gebe scharrt, um die Mitgift zu sparen? Niemand
beugen und schlief dort auch. es keine Erotik, „liep âne leit mac niht sîn“ weiß die Antwort.
Solche Qual-Demos taten dem Zulauf (Liebe ohne Leid gibt es nicht), heißt es in Und doch schlossen sich auch Frauen als
der Klöster keinen Abbruch. Mit der Go- einem 800 Jahre alten Minnelied. Auch das Nonnen der „Bodyguard Christi“ (Desch-
tik setzte um 1200 die große Zeit der gehört zum wunder- und wundenvollen ner) an. Angela von Foligno, gestorben
Mönchsorden ein. In schneller Folge grün- Erbe des Mittelalters. 1309, trank nach eigenem Bekenntnis mit
Titel
„Wonne“ das Waschwasser eines Aussätzi- zen vor. Allein im 14. Jahrhundert erfolg- Doch nun kamen die echten Kämpfer.
gen, obwohl ihr dabei „ein Stück der schor- ten rund 300 raumgreifende Angriffe nach Anschaulich beschreibt die byzantinische
figen Haut“ in der Kehle stecken blieb. Die Osten. Eingefangene Litauer gingen zum Prinzessin Anna Komnena, wie die Trup-
Französin Maria Alacoque aß verschim- Preis von einem Ochsen als Sklaven ins pen 1099 in Konstantinopel eintrafen.
meltes Brot und füllte den Mund mit Fä- Reich. Baumlange Kerle seien dabei gewesen und
kalien eines Mannes, der an Durchfall litt. Auch der edle Plan, die heiligen Stätten Männer, „deren Lachen wie Brüllen
Der Papst sprach sie heilig. Jerusalems vor den Muselmanen zu schüt- klang“.
Nicht alle überstanden solche Bußri- zen, geriet schnell aus den Fugen. Peter Zwar trugen die Kreuzritter weiße Gür-
tuale bei voller Gesundheit. Die Berichte von Amiens, ein Wanderprediger, brach tel, die Farbe der Keuschheit. Doch die
über hysterische Nonnen sind Legion. als Erster auf und brachte mit seinem auf- moralischen Standards fielen rapide. Über
Schon Roswitha von Gandersheim (um „verstümmelte Körper hinweg, als seien
935 geboren), die „wohltönende Gottes- sie ein Teppich“, seien die Soldaten zur
magd“ und erste deutsche Dichterin, stellt Die Kreuzfahrer schritten Eroberung Jerusalems geschritten, schreibt
in ihren Dramen zwanghaft gern geile über verstümmelte Körper, als der Historiker Robert Payne.
Mönche und Schwule vor, das Auspeit- wären sie ein Teppich. An den Rändern des gewaltigen Kreuz-
schen nackter Mädchen, Notzucht und gar fahrerheeres liefen Lumpen und Entwur-
Leichenschande – natürlich nur als Kon- peitschenden Erweckungs- und Gnaden- zelte mit, der Plebs pauperum, die Arme-
trast zur „löblichen Reinheit heiliger Jung- gefasel an die 100 000 Leute hinter sich, leute Christi, die die übrig gebliebenen
frauen“. Bauern, ungelernte Arbeiter und Raubrit- Brocken auflasen. Payne nennt sie die
Ersatz für entgangene Fleischesfreuden ter. In Köln zog die Meute los. Schon in „Aasgeier der Schlachtfelder“.
lieferten unterdessen die Brauereien. For- Worms brachte sie 500 Juden um. Nur mit Knüppeln, Messern, Äxten und
scher nannten das 14. Jahrhundert das „Sä- Bis nach Anatolien schaffte es dieser Sicheln bewaffnet, kampierte der Pöbel ab-
kulum des Biers“. Schenken und Kneipen Trupp von Desperados, „Kreuzzug der Ar- seits des Hauptheeres. Mit Wunden und
hatten Hochkonjunktur. „Mittelalter“, men“ genannt. Dort rieb ein türkisches Dreck bedeckt, zu arm, um sich Schwerter
meinte schon Nietzsche, „das heißt die Al- Heer die Bande auf. zu leisten, schleppten diese Elenden die
koholvergiftung Europas.“ Belagerungsmaschinen und Wurf-
Wo auch diese Form, sexuelle Begierde geschütze durch die Wüste.
zu betäuben, nicht fruchtete, bot der Papst Und sie verübten offenbar auch
ein anderes Ventil, über das sich die ange- Gräuel. Der Pilger Richard er-
stauten Emotionen austoben konnten – in wähnt, dass man fliehenden Tür-
Form von Gewalt. ken „die Haut abzog“: „Durch
Im Namen des Kreuzes schob der Kon- Sieden und Braten kochten sie das
tinent mit militärischer Kraft seine Gren- Fleisch.“
Dass hinter all diesen von
Schandtaten unterfütterten Heils-
zügen wirtschaftliche Interessen
Europa am Abgrund standen, versteht sich von selbst.
Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter Beim vierten Kreuzzug 1204 stell-
ten der Doge von Venedig und die
Kaufleute aus Genua und Pisa die
Während der Völkerwanderungszeit erreich- Schiffe.
te die Einwohnerzahl auf dem Kontinent Mit Gewalt wollten die Krämer
einen Tiefpunkt. den Zugang zum Schwarzmeer
Der Pest fiel ab 1347 in kürzester Zeit ein 73,5 und den Handelswegen nach Chi-
Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Nach der
na erzwingen.
Epidemie stieg die Einwohnerzahl nur sehr
langsam wieder an. Hauptursache könnte Aber auch der Klerus war zu-
eine Klimaverschlechterung („Kleine frieden. Mit den aus dem Orient
Eiszeit“) gewesen sein, die zu Missernten entwendeten Reliquien ließ sich ein
und Hungersnöten führte. Sakralzauber entfachen. Monstran-
zen, Schreine und Schaugefäße
wurden beim neueingerichteten
GRANGER COLLECTION/ULLSTEIN BILDERDIENST
51,0
unter 50 Fronleichnamsfest durch die Stra-
Schätzungen: J. C. Russell, „Population in
Europe“, N. J. G. Pounds, „An Historical Geo- ßen getragen. Die Raserei um den
graphy of Europe“, P. Ziegler, „Black Death“ Leib Christi und die Kirchenheili-
gen erreichte ihren Höhepunkt.
38,5
Einwohner in Nie war der Papst so mächtig
EUROPA wie zu Beginn der Gotik. 150 Me-
ter hohe Dome reckten sich in den
27,5 Millionen Christenhimmel, Tausende Klöster
26,5
bedeckten das Land. Die Kurie be-
saß Bischofssitze von Palästina bis
Spätmittelalterliche Allegorie des Todes nach Grönland.
18,0
11,5 Nun – endlich – fühlte sich der Stuhl Pe-
in tri stark genug, auch sein letztes großes
DEUTSCHLAND und Skandinavien Programm zur Volkserziehung zu starten:
3,5 4,0 4,0 den breitangelegten Angriff auf den Ge-
2,0 7,5 7,5 schlechtsakt.
Bis dahin hatte das Volk eher locker ge-
500 650 800 1000 1340 1450 lebt. Karl der Große zeugte 18 Kinder mit
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ERICH LESSING / AKG
Werk von Hieronymus Bosch*: Wer am Jüngsten Tag mit einer Todsünde befleckt ist, muss in ewiger Verdammnis schmoren
acht verschiedenen Frauen und dachte sich Ehebrechern kappte man die Nase. „Pö- leon verbot 1809 in Preußen endgültig die
nichts dabei. Germanische Männer konn- nitenzbücher“, Sündenregister nebst Auf- Leibeigenschaft.
ten ihre Frauen bei Unfruchtbarkeit und listung der angemessenen Strafe, gehör- Angesichts dieses Alptraums lehnen vie-
Treulosigkeit verstoßen. Die wiederum ten zu den meistgelesenen Schriften der le Historiker Martin Luther als vermeintli-
durften den Bund lösen, wenn der Gatte Epoche. chen „Befreier vom Mittelalter“ ab. Der
impotent war. Erst in jüngster Zeit haben die Histori- Reformator, der den Begriff „Teufelshure“
Das gefiel dem Papst nicht. Nachdem ker diese Werke entdeckt, die viel über prägte, habe den Hexenwahn in Wahrheit
zunächst nur die Mönche allem Ge- verdrängte Phantasien verraten. Süffig be- noch geschürt. Manch ein Gelehrter lässt
schlechtlichen abgeschworen hatten, brach- richtet etwa Burchard von Worms, dass die dunkle Epoche lieber erst mit der Auf-
te er nun Ordnung auch in die Reihen Analverkehr mit sieben Jahren Buße ge- klärung enden.
der Laienpriester. Im Jahre 1074 verbot ahndet werde. „Weiber, die einen lebendi- Weichgespülte Kemenaten-Schönheiten
er ihnen die „verfluchte Gemeinschaft“. gen Fisch in die Scheide stecken, bis er tot made in Hollywood lächeln über solche
Zölibat. Abgründe hinweg. Artig kreuzen die Hel-
Dann kam das gemeine Volk dran. Im 11. Aus Höllenangst und Askese den aus dem Lande Fantasy die Klingen.
Jahrhundert erklärte der Klerus die Ehe Die moderne Welt braucht keinen Gott
zum Erweis göttlicher Gnade. Dann erhob gelangte die Menschheit nur in mehr, sie hat Gene und Atome, um das
er sie zum Sakrament und setzte ihre „Un- Trippelschritten heraus. Rätsel des Daseins zu erklären.
auflöslichkeit“ durch. Der Partnerpakt war Die Neuzeit hat die politische Vernunft er-
zum Gefängnis geworden, aus dem es kein ist“, und ihn dem Gatten als Liebeszauber funden, dabei aber auch die alten morali-
Entrinnen mehr gab. zum Verzehr reichen, müssen bei ihm schen Sinnbezüge verloren. Das sind die un-
Sodann schränkten die Popen den Ge- „zwei Jahre“ fasten. ruhigen Wellen, auf denen der Spaßdampfer
schlechtsverkehr auch innerhalb der Ehe Zugleich gingen die Städte zur Kaser- Gegenwart in die Zukunft schaukelt.
ein. Während der Menstruation, zur nierung der Lust über. Toulouse gründete Wer aber das Heute verstehen will, muss
Adventszeit, in der Fastenzeit, in der 1286 das erste Puffviertel Europas. Die Hu- in die Vergangenheit blicken und nicht in
Pfingstwoche, an Sonn- und Freitagen, ren in Wismar („sconefrouwen“) mussten Bücher von Dan Brown. Auf 8000 Qua-
an Mittwochen sowie vor und nach der rote Schuhe tragen. dratmetern wird im kommenden Jahr das
Kommunion war die Liebe verboten. Am Auch der sinnenfrohe Hochadel hielt da- Deutsche Historische Museum Berlin alte
Ende herrschte an 140 Tagen im Jahr tote gegen. Zwar verschwand um 1300 die Frie- Stadttore, Urkunden und Kanonen aufbie-
Hose. delehe – Begriff für die rechtlich aner- ten, um Deutschlands düsteres Vorgestern
Jeder Verstoß, drohten die Priester, wer- kannte Nebenfrau. Doch dafür hielt sich lebendig zu machen.
de von Gott bestraft durch die Geburt epi- der erste Stand nun Kurtisanen und ver- Ein Besuch sei empfohlen. Nur das Ver-
leptischer, missgebildeter oder vom Teufel gnügte sich in Badehäusern. senken in die echte Welt der Schlagetots
besessener Kinder. Aus all diesen Verwirrungen, den Wol- und Gralssucher macht klar, wie schwer
Eine ungeheure Rigorosität brach sich ken aus Höllenangst und Askese, gelangte sich das Abendland jenen zentralen Wert
so Bahn. Auf Sodomie stand der Feuertod. die Menschheit nur in Trippelschritten her- erstritt, auf den sich die moderne Spaß-
aus. Nach 1600 loderten die Hexen-Schei- kultur so gern beruft.
* „Das Weltgericht“ (Ausschnitt), um 1505. terhaufen am höchsten. Und erst Napo- Die Freiheit. Matthias Schulz
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Technik
D
er Mann will etwas sagen, er be- wo immer er aufkreuzt, parliert dann un- Wenn man ihr den Ausgangstext laut vor-
wegt die Lippen, aber kein Laut ist beschwert auf Abchasisch, Hindi oder sagt, bewältigt sie sogar schon Aufgaben,
zu hören. Dafür gurgelt es nun aus Inuktikut über Wetter und Weltpolitik. bei denen Computer sich bislang zuverläs-
einem Lautsprecher: „Ich bedanke mich Solche Dinge werden an einem Institut sig blamierten: In Karlsruhe ist zu sehen,
für Ihr Kommen.“ Wer spricht? Ein Com- namens Interact ausgeheckt; die Univer- wie das Programm eine chinesische Nach-
puter ist es mit Kunststimme. Er errät, wel- sität Karlsruhe betreibt es gemeinsam mit richtensendung im Fernsehen simultan mit
che Wörter der Mann gerade bildet, und er der amerikanischen Carnegie Mellon Uni- englischen Untertiteln versieht – und das
übersetzt sie auch gleich noch aus dem versity in Pittsburgh. Die Forscher haben Resultat ist durchaus verständlich. Auch
Englischen ins Deutsche. sich ein verwegenes Ziel gesetzt: „Wir Parlamentsreden oder Vorträge werden ge-
Das ist nicht nur ein Kunststück in höhe- wollen die Sprachunterschiede zum Ver- dolmetscht. Die Zielsprache Deutsch hört
rer Bauchrednerei. In der Technik steckt schwinden bringen“, sagt Alex Waibel, der sich noch etwas gebrechlich an; besser geht
die Verheißung, dass eines Tages jeder- Leiter des Instituts. es vom Englischen ins Spanische.
mann auf Knopfdruck in fremden Zungen Bis der automatische Bauchredner dafür Noch vor kurzem hätte kaum jemand
sprechen kann. Der Tourist zum Beispiel, taugt, ist allerdings noch viel zu tun. Die einem Computer das Übersetzen freier
ein neues Verfahren die Sache unverhofft tigkeiten mühsam von Hand beibringen. multandolmetscher hat es mit gesproche-
vorangebracht hat: Mehr und mehr For- Das führte zu keinem Ende, und bei jeder ner Sprache in all ihrer Schludrigkeit zu
scher verzichten darauf, dem Computer neuen Sprache begann das Eintrichtern tun. Er muss sich mit stotternden Spre-
etwas über Sprache beizubringen; sie zap- wieder von vorn. chern herumschlagen, mit Füllwörtern,
fen lieber das Internet an. Das Netz weiß Die Statistik dagegen braucht sich um abgebrochenen Sätzen und endlosen
gewissermaßen am besten, wie man treff- Regeln und Weltwissen nicht zu kümmern. Wiederholungen: „Wir wollten uns doch,
sicher übersetzt; es ist schließlich voll von Hier zählt vor allem die Rechenleistung hören Sie mal, hatten wir nicht, äh, zehn
Texten, die bereits in mehreren Sprachen und die Masse des vorübersetzten Materi- vereinbart?“ Dazu womöglich Husten und
zugleich vorliegen. als. Je mehr der Computer sich einverleibt, Türenschlagen im Hintergrund.
Abertausende Dokumente der EU und desto trefflicher werden, jedenfalls theo- Das ist nicht eben die gepflegte Diktion,
der Vereinten Nationen lagern auf frei zu- retisch, seine Sätze. mit der die Computer heute schon er-
gänglichen Rechnern; es gibt mehrsprachi- Noch hat die Karlsruher Software – we- staunlich gut zurechtkommen. Bei vielen
ge Meldungen von Nachrichtenagenturen gen der vielen EU-Dokumente – eine ge- Ärzten und Anwälten sind Diktiersysteme
und nicht zuletzt internationale Klassiker wisse Vorliebe für bürokratische Wendun- mit automatischer Spracherkennung im
wie etwa die Bibel. Mit anderen Worten: gen. Wörter wie „Subventionen“ oder gar Einsatz. Das Programm Dragon Naturally
Fast jeder Satz ist – so oder ähnlich – schon „Verkehrswegebeschleunigungsgesetz“ sind Speaking vom Marktführer Nuance zum
Beispiel verspricht, bis zu 99 von 100 Wör-
tern fehlerfrei zu erkennen. Das gilt aber
nur in ruhiger Umgebung; auch sollte der
Sprecher stets gleichen Abstand zum Mi-
krofon halten.
In der akustischen Wildnis eines Parla-
ments dagegen muss der Computer sehen,
wie er zurechtkommt. Dort ist das Er-
kennen, geschweige denn das Übersetzen
„entsetzlich schwer“, gesteht Waibel. Die
Software muss erst lernen, Unwichtiges
auszufiltern und Satzbrüche zu erkennen.
Übersetzt wird dann möglichst nur der
Kern der bezweckten Aussage.
Auf anderen Feldern geht es schneller
voran. In Erprobung sind bereits tragbare
Geräte für Mediziner in Notstandsgebie-
ten, die den beschränkten Wortschatz des
Leidens und Verarztens („Wo tut es weh?“
– „Wir müssen das röntgen“) beherrschen.
Die Forscher in Karlsruhe und Pittsburgh
haben aber auch allerhand Apparate im
MARTIN EGBERT
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Hallig Hooge bei Sturmflut (2003)
Gefahr durch stärkeren Wellenschlag
H
och zu Ross an der Waterkant sah Ursache seien die Treibhausgase, die der Schwerer dürfte es sein, die nordfriesi-
der Held „nur Berge von Wasser“ Mensch durch die Verbrennung von Öl, schen Inseln und Halligen gegen die höhe-
vor sich, „die dräuend gegen den Gas und Kohle in die Atmosphäre entlässt. ren Sturmflutpegel zu verteidigen. Schon
nächtlichen Himmel stiegen“. Dann bricht Für die Zeit von 2070 bis 2100 rechnen die heute müssen sie mit ständigen Sandauf-
der Deich, und die Sache endet schlimm. GKSS-Experten mit Sturmflutpegeln, die schüttungen gegen das nagende Meer ge-
Deichgraf, Pferd und Familie ertrinken im um bis zu 80 Zentimeter höher liegen kön- schützt werden. Denn erdgeschichtlich sind
überfluteten Koog. Zurück bleibt das Ge- nen als heute. Sylt und Co. auf dem absteigenden Ast.
spenst vom „Schimmelreiter“ Hauke Hai- Der Klimaeffekt äußere sich in zwei Einst vom Festland isoliert, setzt ihnen be-
en, das nächtens an der Küste spukt. Phänomenen: Zunächst werde die globale ständig die Erosion zu.
In seiner nordfriesischen Schicksals- Erwärmung zu einem weiteren Anstieg des Umgekehrt verhält es sich mit den Ei-
novelle datiert Theodor Storm das mari- mittleren Meeresspiegels um 30 bis 40 Zen- landen vor der ostfriesischen Küste. Sie
time Malheur auf das Jahr 1756. Seither timeter führen. Diese Einschätzung deckt sind Geschenke des Meeres, entstanden
wurde die Nordsee nicht weniger bedroh- sich mit Prognosen anderer Experten, etwa aus angespültem Sand.
lich. Ihr mittlerer Pegel stieg im vergange- der Max-Planck-Gesellschaft. Dieser Nachschub hält bis heute an und
nen Jahrhundert um 30 Zentimeter. Obendrauf sattelt sich jedoch ein wei- kompensiert derzeit die natürliche Erosion.
Die Schutzwälle allerdings wuchsen terer Effekt: Der Klimawandel werde zu Die Dünen ragen höher empor als die Dei-
noch rascher. Ihre Kronen ragen heute gut stärkeren Stürmen über der Nordsee che auf dem Festland.
vier Meter höher empor als zur Zeit des führen, die die Wassermassen gegen die Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten
sagenhaften Reitersmanns (siehe Grafik). Küste treiben. So komme eine „Erhöhung Küstenschützer versucht, den Strand der
Eine Festung aus Klei, dem aus Sediment der Sturmwasserstände“ (Storch) um bis Insel Juist mit Schutzwänden gegen die
gebildeten matschigen Marschboden, steht zu 40 Zentimeter hinzu. Brandung abzuschirmen. Bald jedoch er-
für die überlieferte Gewissheit: „Deus Akute Katastrophengefahr würde ein kannten sie die Sinnlosigkeit ihres Projekts:
mare, Friso litora fecit“ – „Gott schuf das solches Szenario nicht bedeuten. Nord- Die Baustelle war ihrerseits kaum gegen
Meer, der Friese die Küste“. deutschlands Küstenschutz verfügt inzwi- den nachrückenden Sand zu schützen. Das
Jährlich dreistellige Millionenbeträge schen über enorme Sicherheitsreserven. unvollendete Deckwerk ruht längst unter
kosten Pflege und Ausbau der Deiche an Seit der Flutkatastrophe von 1962 wurden einer Düne. Christian Wüst
nach 1720 5
nach 1362 3
1000 – 1250 1
188 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft
Bären-Wiederansiedlung im italienischen Naturpark Adamello Brenta: Was, wenn der erste Wanderer dem Petz zum Opfer fällt?
TIERE
U
nruhe ergriff zunächst Colliehün- Schweiz. Als erster Bär seit 100 Jahren be-
1000
din „Ulysse“. Dann erblickte auch trat der Wanderer Ende Juli im Münster- 900 36 000
Christine Kröll das massige Tier. tal Schweizer Boden. Dutzende von
Keine 30 Meter entfernt habe der Bär Schaulustigen fanden sich zum „Bär-Wat-
auf dem Waldweg gestanden, erinnert sich ching“ ein. Leichtsinnig näherten sich
die Metzgersfrau aus Nauders in Tirol. Ge- die Touristen dem Großraubtier bis auf Ausschnitt
gen 19.30 Uhr spazierte Kröll mit ihrer wenige Meter. „Jaaa. Wir sind wieder Kantabrien 7800
Hündin im Wald, als das Raubtier plötzlich 10
auftauchte. Eine Viertelstunde lang ver- 100
folgte der Bär die 53-Jährige. Dann war sie
Braunbären in Zentraleuropa Pyrenäen 50 2300 700
endlich beim rettenden Fahrzeug. „Ich hat- Kerngebiet vereinzelte Sichtungen Abruzzen
te Angst – panische Angst“, sagt Kröll:
„Zwischen mir und dem Bären war nur Nördliche Kalkalpen
DEUTSCHLAND
noch die Glasscheibe meines Autos.“ 10
Kröll hat den „Mutz“ gesehen, wie der Zürich
Braunbär im Alpenraum heißt. In Nau- ÖSTERREICH
ders am Reschenpass versetzte ein Exem- SCHWEIZ Nauders 50 km
plar Ende August die Österreicherin und
Münstertal 5 Kärnten
mit ihr die ganze Ortschaft in Aufruhr. Bozen
Und Nauders ist nur eine Etappe des zot-
tigen Unruhestifters: Seit mittlerweile drei 20 SLOWENIEN
Monaten zieht der inzwischen auf den Na- Adamello- Trento
men „Lumpaz“ getaufte Jungbär unter re- Brenta-Park 400
ger Anteilnahme der Bevölkerung durch ITALIEN KROATIEN
das Dreiländereck Österreich-Italien-
190 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft
J. MALLWITZ / WILDLIFE
sind mindestens zwölf Jungtiere geboren.“
Was für ein Gefühl, im Bärenland zu
wandern! Fünf Stunden dauert der Gang
vom Grosté-Pass hinab zum schimmern-
den Lago di Tovel. Und je dichter der Wald
Europäischer Braunbär: „Schneller und stärker als wir“ wird beim Abstieg, desto höher schlägt der
Puls. Er könnte ja jeden Moment aus dem
Bär“, titelte die Züricher Boulevard-Zei- dere dagegen sind sie bösartige, blut- Unterholz brechen, der Bär. Was dann?
tung „Blick“ – nur um kurz darauf zu fra- rünstige Raubtiere.“ Baths zentrale Frage: „Nicht weglaufen“, wie es die Experten
gen: „Wie gefährlich ist der Mutz?“ „Wie viel Wildnis sind die Leute bereit zu raten? Bei Angriff „mit dem Bauch auf den
Braunbär Lumpaz steht für das Dilemma akzeptieren?“ Boden legen“ und „tot stellen“?
des größten Raubtiers Zentraleuropas. Eu- Tatsächlich macht schon das bloße „Ich glaube, die Angst ist ganz normal“,
phorie und Schrecken gleichermaßen löst Wissen um die Präsenz des mächtigen sagt Groff, „der Bär ist größer, schneller
der bis zu 300 Kilogramm schwere Soh- Tieres eine Bergwanderung zur ganz neu- und stärker als wir.“ Und doch passe der
lengänger aus, sobald er sich in Gebieten en Naturerfahrung. Kaum 50 Kilometer Mensch nicht ins Beuteschema des Raub-
blicken lässt, die der Mensch ihm längst nördlich des Gardasees liegt der italieni- tiers: „In den letzten 100 Jahren ist in Ita-
abgerungen hatte. sche Naturpark Adamello Brenta. Vom lien, Spanien und Österreich kein einziger
Etwa 14 000 Bären leben außerhalb von Dolomiten-Örtchen Madonna di Campi- Todesfall bekannt geworden.“ Ohnehin
Russland noch in Europa, die meisten von glio aus geht es mit der Seilbahn hinauf ernähre sich das Tier zu 75 Prozent vege-
ihnen in Rumänien und auf dem Balkan. zum Grosté-Pass auf 2450 Meter, dann zu tarisch. Doch kann das allein beruhigen?
Doch der Trend ist unverkennbar: Der Fuß hinab in das Tovel-Tal. Ringsumher Altes Bärenland ist das „Trentino Alto
Braunbär kehrt zurück nach Mitteleuropa. ragen die schartigen Wände des Brenta- Adige“. Gleich 49-mal taucht der „Orso
Wiederansiedlungsprojekte in Österreich, Massivs in den Himmel. „Dort unten bruno“, der Braunbär, in Ortsnamen auf.
Italien und Frankreich ebnen ihm den Weg. haben wir die Tiere ausgesetzt“, sagt Clau- Doch einst war die Namengebung Aus-
Ausgerechnet in einigen Hochburgen des dio Groff und zeigt hinunter ins Tal. „Und druck erbitterter Feindschaft. Historisch
Bergtourismus, in den Nördlichen Kalk- jetzt laufen sie des Nachts hier über diesen verbriefte Abschussprämien und die ver-
alpen Österreichs, den Dolomiten und den Pass.“ gilbten Fotos gefeierter Jagdmannschaften,
Pyrenäen, drückt „Ursus arctos arctos“, der Groff ist Bärenexperte der Provinzregie- zu Füßen der tote Petz, künden vom stol-
Europäische Braunbär, wieder seine Fährte rung von Trento. Seit 1999 schon führt der zen Sieg der Südtiroler über das kraft-
in den Waldboden (siehe Grafik Seite 190). hochgewachsene Italiener ein Biologen- strotzende Tier. Und die pelzigen Rück-
Als Erfolgsgeschichte feiern Biologen die Team an, das nur ein Ziel kennt: die Wie- kehrer unternehmen alles, um den alten
Rückkehr des Raubtiers. Gleichzeitig je- deransiedlung des Braunbären in den ita- Groll neu zu schüren.
doch bricht sich der uralte Konflikt zwi- lienischen Alpen. Noch 1950 lebten im Über 250 Vorfälle zählte die Provinz-
schen Mensch und Biest neue Bahn. Was, Trentino um die 70 Petze. Ende der neun- regierung von Trento seit 1999, bei denen
wenn der erste Wanderer dem Petz zum ziger Jahre waren es nur noch drei bejahr- die Bären Vieh angegriffen, Bienenstöcke
Opfer fällt? Wie werden Hirten, Imker und te Männchen. „Damit war auf Nachwuchs geplündert oder Menschen verschreckt ha-
Jäger den Bären begrüßen? Warum sollte nicht mehr zu hoffen“, sagt Groff. Die For- ben. „In diesem Jahr hatten wir besonde-
die Bevölkerung einem Raubtier Platz ein- scher entschlossen sich zur Neuansiedlung. re Probleme, weil einige der Bären in die
räumen, das noch vor hundert Jahren mit 1999 kamen „Masun“ und „Kirka“, ein Ortschaften hineingingen“, sagt Groff. Vor
Tellereisen zu Tode gequält wurde? Jahr später „Daniza“, „Jose“ und „Irma“, allem Weibchen „Jurka“ macht den For-
Auf der 16. Internationalen Bärenkonfe- schließlich „Gasper“, „Brenta“, „Maya“, schern Sorgen. Die Bärin hat Gefallen an
renz am italienischen Gardasee trafen sich „Jurka“ und „Vida“. Hühnern und schmackhaftem Müll gefun-
kürzlich Bärenexperten aus aller den – beides vor allem in Orts-
Welt, um derlei Fragen zu erörtern. nähe zu erbeuten: „Viele Leute
Standesgemäß in Multifunktionsho- wollen, dass wir dieses Tier ab-
sen und Outdoor-Hemden gewan- schieben.“ Doch Jurka ist eine
det, diskutierten die Delegierten bei der wenigen Bärinnen, die regel-
Bardolino und Pizza Romana The- mäßig Junge werfen. Erst in die-
men wie den unter Bärenmännchen sem Jahr ist sie mit zwei tapsigen
verbreiteten Infantizid oder den Ein- Bärchen gesichtet worden.
satz von Stacheldraht zur Haarpro- Um den Konflikt nicht eskalie-
bennahme. Im Mittelpunkt des In- ren zu lassen, steht eigens eine
teresses jedoch: die „menschliche 21-köpfige Bären-Einsatztrup-
Dimension“. „Manche Leute halten pe bereit. Aufdringlichen Pet-
Bären für sexy und charismatisch“, zen brennen die Mitarbeiter des
WWF
sagt Alistair Bath von der Large Car- Corpo Forestal Gummigeschosse
nivore Initiative of Europe, „für an- Bärenanwalt Rauer: Gummigeschosse zum Vergrämen auf den Pelz, um sie zu „vergrä-
192 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Wissenschaft
men“. Mobile Elektrozäune finanziert die tige Biologe ist „Bärenanwalt“, eine Art rungsprogramm. Erst im November letzten
Provinzregierung, um die Schafherden auf Schlichter zwischen Tier und Mensch. Jahres erregte der Tod von Pyrenäenbärin
den Hochweiden nachts zu schützen. Fi- Macht der Mutz Ärger, ist Rauer zur „Cannelle“ (Zimt) das Gemüt der Franzo-
nanzausgleich für Hirten oder Imker gibt es Stelle und schätzt die Schäden ab: „Bei sen. Nebst Nachwuchs lief das Tier beim
ohnehin. Fast 160 000 Euro haben die Ita- uns haben es die Tiere vor allem auf Rapsöl Örtchen Urdos einem Jäger vor die Flinte.
liener seit 1999 an Entschädigungen gezahlt. abgesehen, das in Kettensägen oder in In Sorge um ihr Junges griff Cannelle den
„Bären wieder anzusiedeln ist sehr teu- großen Maschinen benutzt wird.“ So hat Jagdhund an. Der Waidmann drückte ab.
er und macht jahrzehntelang Ärger“, sagt Rauer einst eine Straßenwalze begutachtet, Hunderte von Bärenfreunden protestierten
Piero Genovesi vom italienischen Istituto die ein Bär in ihre Einzelteile zerlegt hat- anschließend nicht nur in den Pyrenäen,
Nazionale per la Fauna Selvatica. Erst ab te, um an das Öl im Hydrauliksystem zu sondern auch am Pariser Panthéon. Selbst
etwa 50 Tieren lasse sich von einer stabilen kommen – der teuerste Schaden, der ihm Präsident Jacques Chirac beklagte „einen
Population sprechen. Bis zu 80 Jahre lang, je untergekommen sei, wie der Biologe großen Verlust für die biologische Vielfalt“.
fürchtet Genovesi, müssten die Trentino- versichert. „Man kann eine Menge toller Forschung
machen und am Ende trotzdem vor einem
Haufen toter Bären stehen“, stellt Forscher
Bath nüchtern fest. Dennoch steht für ihn
fest, dass dem Braunbären ein fester Platz
im mitteleuropäischen Gebirge gebührt.
Umfragen belegten eine stabile Dreiviertel-
mehrheit für die Rückkehr des Tieres: „Ge-
rade die Menschen vor Ort erfüllt es oft mit
Stolz, dass in ihrer Region noch Exempla-
re dieses großen Fleischfressers leben.“
Im Fall des Unruhestifters vom Re-
schenpass können die Biologen nur hof-
fen, dass die Alpenländler die Eskapaden
des Tieres weiterhin mit Langmut ertra-
gen. Jungbär Lumpaz, inzwischen als Ab-
kömmling von Dolomiten-Weibchen Jurka
identifiziert, macht genau das, was sich die
Forscher wünschen: Er geht auf Wander-
schaft und bringt die Biologen damit ihrem
Ziel näher, den Braunbären wieder im ge-
DANIEL VELEZ / AFP samten Alpenraum heimisch zu machen.
Gleichzeitig jedoch macht die jugendli-
che Neugier das Tier auch zum „Problem-
bären“, wie es Rauer nennt. Zwar lassen
Pro-Bären-Demonstration*: Stabile Dreiviertelmehrheit für die Rückkehr des Tieres sich im schweizerischen Münstertal die ers-
ten Urlauber „Bärenpizza“ und „Bären-
Bären daher noch intensiv betreut werden. Unter 7000 Euro Schäden verursache bier“ schmecken. Die Tourismus-Branche
Und der Erfolg sei dennoch nicht garan- der Bär jährlich in Österreich, sagt Rauer. feierte Lumpaz als „Gratiswerbung“. Die
tiert. Denn jederzeit kann das filigrane Von direkten Konflikten mit Menschen Verantwortlichen jedoch sorgen sich längst
Gleichgewicht zwischen Bär und Mensch weiß er überhaupt nicht zu berichten. Und um die Sicherheit der Besucher.
wieder kippen. Beispiel Österreich: Seit 15 doch spricht ein merkwürdiger Schwund Den genauen Aufenthaltsort des Tieres
Jahren schon versuchen Biologen dort, den unter den Ösi-Bären dafür, dass sich die etwa halten die Experten inzwischen lieber
Braunbären zurückzuholen. Von einer Stimmung inzwischen wieder gegen den geheim, um Bärentouristen nicht auch
„stabilen Situation“ jedoch sei man noch drolligen Heimlichtuer wendet. noch auf die Spur zu bringen. Zu zutrau-
„meilenweit“ entfernt, berichtet Georg „Seit 1991 wurden bei uns 27 Tiere ge- lich erscheint ihnen Jungbär Lumpaz, der
Rauer vom österreichischen World Wide boren“, sagt Rauer. Aktuelle genetische nicht nur Metzgersfrau Kröll den Schreck
Fund for Nature (WWF). Analysen von Haarproben jedoch zeigten, in die Glieder jagte. Ebenfalls bei Nauders
Rauer war dabei, als vor 16 Jahren mit dass derzeit nur noch maximal zehn Tiere näherte sich das Tier einer Touristin auf
Import-Bärin „Mira“ durchaus hoffnungs- in Niederösterreich und fünf bis sechs Tie- nur fünf Meter. Bei Ramosch erlitt ein Jä-
voll die österreichische Bären-Saga begann. re in Kärnten lebten. Für den WWF-Mann ger einen „halben Schock“, als der Petz
Zwei Jahre später gebar das Weibchen drei spricht die Sachlage für sich: „Es ist wahr- plötzlich vor ihm stand.
Junge, gezeugt vom legendären Ötscher- scheinlich, dass die übrigen Bären illegal „Der Bär ist ein großes, wehrhaftes Tier
bären, der schon im Sommer 1972 auf ei- abgeschossen worden sind.“ – wenn er sich bedroht fühlt, kann das auch
gene Faust aus Slowenien eingewandert So scheitert der Traum der Biologen von schlimm ausgehen“, warnt Rauer. Lumpaz
war. Zwei weitere Bären wurden bald nach der friedlichen Koexistenz Raubtier- sei bislang zwar nicht aggressiv gewesen. Er
Österreich umgesiedelt, offenbar mit Er- Mensch immer wieder an der Urangst vor halte sich jedoch zu oft in Dorfnähe auf.
folg: Über 25 bis 30 Tiere konnten sich die der Bestie und am faden Stolz neuzeitlicher „Seine Zutraulichkeit sollte man ihm ganz
Österreicher noch vor fünf Jahren freuen. Bärentöter. Viel Raum hat der Braunbär schnell wieder abgewöhnen.“
Doch inzwischen ist Ernüchterung nicht mehr in Westeuropa. Von den letzten In diesem Jahr allerdings wird es wohl
eingekehrt. „Wir haben seit zwei Jahren 100 kantabrischen Bären berichteten am nichts mehr werden mit der Erziehung des
keine Hinweise auf neue Jungtiere mehr“, Gardasee die Spanier Carlos Nores und Gernegroß. Lumpaz ist zurück nach Süd-
berichtet Rauer, der sich seit 1995 haupt- Juan Herrero. Kaum 50 Braunbären strei- tirol gewandert. Bald wird er sich dort in ei-
amtlich den Bären widmet. Der bär- fen im bärentypischen Passgang durch die ner Höhle zusammenrollen. Dann kehrt
italienischen Abruzzen. vorerst Ruhe ein für den Bären und seine
* Im Pyrenäen-Ort Oloron Sainte Marie am 28. Novem- Und auch die Population in den Py- Anwälte: Bis kommenden März hält Lum-
ber 2004. renäen kränkelt trotz Wiedereinbürge- paz Winterschlaf. Philip Bethge
194 d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5
Chronik 22. bis 28. Oktober
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 199
Register
gestorben die „Poubelles“: Plexiglasbehälter, in de-
nen er Hausmüll für die Ewigkeit versie-
Rosa Parks, 92. Am 1. Dezember 1955 rief gelte. Große Museen sollten sich schließlich
in Montgomery, Alabama, ein Busfahrer die um seine Anschau-
Polizei, weil eine schwarze Frau sich weiger- ungsobjekte aus dem
Melua
war, fragte ein Siebenjähriger unter freund- „Eurofighter-Fan“. Wie zum Beweis für
lichem Gelächter der anwesenden Er- seine Begeisterung, bekannte der Präsi-
wachsenen, ob „Mr Straw und Mrs Rice ge- dent des Deutschen Bundestages, auch in
meinsam aufgewachsen“ seien. Am Ende seinem Berliner Büro stünde ein, wenn-
besiegelte ein herzhafter Kuss des Briten gleich kleineres Modell dieses Kampfjets.
auf „Condis“ Wange die neue Dimension
der bestehenden „special relationship“ Peter Struck, 62, scheidender Verteidi-
zwischen den USA und Großbritannien. gungsminister, wird vor dem Wechsel an
die Spitze der SPD-Bundestagsfraktion
Norbert Lammert, 56, neuer Bundes- auf Tauchstation gehen – im wahrsten Sin-
tagspräsident (CDU), erfreut sich an High- ne des Wortes. Zum Abschied vom bis-
BERNARD TRONCALE / AP
Müller
d e r s p i e g e l 4 4 / 2 0 0 5 203
Hohlspiegel Rückspiegel
Aus dem Ahlener „Blickpunkt“: „In der Am Samstag hatten – aus Protest dagegen,
Nacht von Freitag auf Samstag brachen un- dass Müntefering seinen Personalvorschlag
bekannte Täter an der Hoetmarer Straße in in der Zeitschrift SPIEGEL gemacht hatte
Sendenhorst einen VW Golf älterer Bauart – mehrere Landesvorsitzende Frau Nahles
auf und begannen, den Airbag auszubau- zur Kandidatur aufgefordert.
en. Ihr Pech: Der Wagen hatte gar keinen
Airbag.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ zum
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