Sie sind auf Seite 1von 184

Die schöne Seherin

Katherine Kingsley

Historical Gold 107 - 06/01

Gescannt von almutK


PROLOG

Waisenheim zu Ipswich
Ipswich, Suffolk August 1816
„Meggie Bloom, du machst dir selbst und deiner Umgebung allergrößte Schande", erklärte
die Mut ter Oberin eiskalt.
Meggie stand steif und aufrecht vor ihr. Das war sie ihrem Stolz schuldig, obgleich es ihr
nicht leicht fiel, zumal sie gerade erst mit dem Rohrstock gezüchtigt worden war. Die
Striemen auf ihrem Rücken brannten fürchterlich, doch Meggie meinte, jeder der von
Schwester Lukas Gnadenreich ihr versetzten Stockschläge sei den Schmerz auch wert.
Endlich hatte sich ihr die Gelegenheit geboten, der dummen Nonne, von der sie schon seit
Jahren gepeinigt wurde, einmal eins auszuwischen, und dieser Versuchung hatte sie nicht
widerstehen können.
Sosehr Schwester Lukas Gnadenreich es auch leugnen mochte, es war dennoch die reine
Wahrheit, dass die Schwester in ihrem Herzen Wollust für Pater Kent hegte. Meggie hatte
nichts weiter getan, als die gena uen Worte zu wiederho len, die sie glockenklar in den
Gedanken der Nonne gelesen hatte, als der Priester gekommen war, um die Morgenmesse zu
lesen.
Dass diese Worte recht deutlich ausfielen, war schließlich nicht Meggies Schuld - im
Gegensatz zu der Tatsache, dass Meggie auch noch gefragt hatte, was „ich wünschte, ich
würde den Körper des Paters in mir fühlen" bedeute und ob das etwas mit der heiligen
Kommunion zu tun habe.
Das war natürlich schlimm gewesen, doch was für eine Genugtuung!
„Mir ist bewusst, dass ich das nicht zu Schwester Lukas Gnadenreich hätte sagen dürfen,
Mutter. Für meine Impertinenz bitte ich um Ihre Vergebung", wiederholte Meggie die
Litanei, die sie schon seit langen Jahren hergebetet hatte. Sie war zwar keine Katholikin,
doch die Rituale kannte sie in- und auswendig.
„Für deine Impertinenz? Mädchen, deine Sünden gehen weit über etwas so Einfaches
hinaus. Dieser letzte Zwischenfall hat mich zu der Entscheidung geführt, dass du nicht
geeignet bist, in unserer Gesellschaft zu leben." Die Mutter Oberin faltete die Hände so
glückselig, als sollte sie heilig gesprochen werden, und blickte Meggie dabei grimmig an.
„Deshalb habe ich beschlossen, dass du ausschließlich für die Pflegeanstalt Woodbridge
geeignet bist."
„Die ... die Pflegeanstalt, Mutter? Sie meinen das Heim für Geisteskranke?" fragte Meggie
ganz leise und hoffte, ihr Auffassungsvermögen hätte gelitten.
„Jawohl, das Heim für Geisteskranke", bekräftigte die Mutter Oberin mit schmalen Lippen.
„Du brauchst gar nicht so erschrocken auszusehen, Meggie. Betrachte lieber dein Schicksal
als einen Segen. Ich könnte dich auch zum Arbeiten ins Irrenhaus Bedlam schicken, weil du
nur für Irre geeignet bist. Das Pflegeheim von Woodbridge ist wenigstens eine nicht
öffentliche Anstalt, in der die Familien der Kranken für deren Unterhalt gut zahlen." Ihre
Lippen wurden noch schmaler, so dass sie beinahe gespenstisch wirkte. „Vielleicht stehen die
Insassen dort schon so sehr unter Luzifers Fluch, dass ihnen seine Gehilfin in ihrer Mitte gar
nicht auffällt."
„Sie . . . Sie wollen sich also nicht mehr an die Vereinbarung halten?" Meggies Hals war
wie zugeschnürt. Sie vermochte kaum noch zu atmen, geschweige zu sprechen.
„Vereinbarung?" Die Nonne starrte Meggie verächtlich an. „Es gibt nur die Vereinbarung,
dass dich dieses Waisenhaus bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr zu ernähren hat. Zwar bist
du jetzt erst siebzehn, doch hier bist du nicht länger willkommen. Wir sind eine christliche
Einrichtung und haben deine Verderbtheit lange genug ertragen."
Als ihr die Worte der Nonne richtig bewusst wurden, gefror Meggie vor Entsetze n das Blut
in den Adern. Schon immer hatte sie Unterricht erteilen wollen, und das wusste die Mut ter
Oberin doch auch! Geisteswissenschaften, das war das einzige Fach, in dem Meggie wirklich
gut gewesen war.
Bei ihren Vorträgen hatte sie sich stets die allergrößte Mühe gegeben und sogar ihre
Aussprache von Schwester Prudence übernommen, welche die Tochter eines Earls war. Trotz
der unglücklichen Umstände ihrer Geburt war es Meggies Hoffnung gewesen, von einer
vornehmen Familie als Gouvernante beschäftigt zu werden, wenn sie nur richtig spräche. Und
falls sie dieses hoch gesteckte Ziel nicht erreichen sollte, hätte sie doch zumindest Lehrerin in
einer vornehmen Schule werden können. Sie hatte jeden Grund gehabt, bei ihrer Entlassung
aus dem Waisenhaus von der Mutter Oberin ein gutes Empfehlungsschreiben zu erwarten.
Dass die Mutter Oberin so grausam sein würde, sie derart ungerecht zu bestrafen, wäre ihr
niemals in den Sinn ge kommen. Dass man sie fünf Tage lang in einem der Außengebäude
eingesperrt und dann gezüchtigt hatte, war die eine Sache gewesen, doch sie gleich zu einem
Leben in einer Irrenanstalt zu verurteilen? Und eine Verurteilung war es tatsächlich, denn die
Mutter Oberin wusste, dass Meggie keine andere Wahl blieb, als das zu tun, was ihr befohlen
wurde. Wohin sollte sie sonst auch gehen? Sie besaß weder Geld, noch hatte sie Verwandte,
an die sie sich hätte wenden können.
„Ich habe Schwester Agnes, eine Nonne aus meinem Orden und Leiterin der Anstalt,
bereits gebeten, dich aufzunehmen", fuhr die Mutter Oberin fort. „Sie war einverstanden,
doch nur weil die Anstalt so wenig Agnestellte hat. Über deine sündhafte Art ist sie
unterrichtet, und ich kann nur dafür beten, dass du die ihr unterstellten Nonnen nicht derart
quälst, wie du es hier getan hast."
Jetzt wurde Meggie endgültig leichenblass. Sie war also nicht nur zu einem Leben in einer
Anstalt verurteilt, sondern - was noch schlimmer war - zu einem lebenslangen Aufent halt
unter Nonnen. Diese Vorstellung war beinahe mehr, als sie zu ertragen vermochte.
Sie wollte weinen, wollte die Mutter Oberin anflehen, ihr doch die Möglichkeit zu geben,
Lehrerin zu werden, aber das ließ ihr Stolz nicht zu. Außerdem hätte es auch nichts genützt.
Solange Meggie sie kannte, hatte die Mutter Oberin noch niemals eine einmal getroffene
Entscheidung zurückgenommen.
Meggie neigte den Kopf zum Zeichen ihrer Bestätigung, doch auch, weil sie der Frau nicht
die Genugtuung gönnen wollte zu sehen, wie verzweifelt sie war.
Sie packte ihre wenigen Besitztümer in dieselbe Reisetasche, mit der sie vor acht Jahren
hergekommen war, und ging hoch aufgerichtet zur Tür des Waisenhauses hinaus, ohne
sich noch einmal umzudrehen. Was immer das Leben auch als Nächstes bringen mochte,
Meggie weigerte sich, daran zu zerbrechen.
Während sie die Landstraße von Ipswich hinunterging, welche sie nach dem zwanzig
Meilen entfernten Woodbridge führen würde, nahm sie sich vor, das Tuscheln zu ignorieren,
das sicherlich weitergehen würde. Sie wollte die unvermeidlichen Strafen stumm auf sich
nehmen und jede Arbeit, die man ihr gab, klaglos ausführen.
Und niemand sollte jemals erfahren, welche Bitterkeit sie in ihrem Herzen trug.
1. KAPITEL

Woodbridge, Suffolk März 1822


Hugo betrachtete die graue Fassade des Landhauses und seufzte ärgerlich. Nachdem er
noch einen Schritt näher gekommen war, entdeckte er das unauffällige Messingschild neben
der schweren Tür. „Sanatorium Woodbridge" stand darauf, als handelte es sich hier um ein
Pflegeheim für Kranke und nicht um eine Wohnstatt für Irre.
Er wusste noch immer nicht so genau, wie er sich von seiner Mutter zu dieser undankbaren
Mission hatte bewegen lassen. Der Anblick ihrer tropfenden Nase und der rot geränderten
Augen sowie ihr Husten und ihre Heiserkeit hatten natürlich geholfen, ihn zu überreden.
Ihre schwere Erkältung mochte sie vielleicht davon abgehalten haben, diese Angelegenheit
selbst zu erledigen, dennoch war es verrückt von ihm gewesen, statt ihrer herzukommen.
Krankheiten jeder Art waren ihm zuwider, und der Pflichtbesuch einer solchen Einrichtung
war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Im Stillen verfluchte er sich dafür, dass er
sich in eine solche Lage hatte bringen lassen.
Natürlich war es seine eigene Schuld, dass er erwähnt hatte, ein zum Verkauf stehendes
Landgut an der Küste von Suffolk in der Nähe von Woodbridge besichtigen zu wollen, doch
wie hatte er auch ahnen sollen, dass sich die Lieblings-Wohlfahrtseinrichtung seiner Mutter
dort befand?
Nun, jetzt ließ sich nichts mehr ändern. Er war nun einmal hier und musste seine Pflicht
erfüllen. Er hob den Türklopfer und ließ ihn laut gegen das Holz schlagen.
Einen Augenblick später wurde Tür geöffnet, und eine freundliche Frau in mittleren Jahren
schaute heraus. Sie trug ein ordentliches graues Kleid, ein weißes Häubchen sowie eine
gestärkte weiße Schürze und blickte ihn einfach nur neugierig an. „Kann ich Ihnen helfen,
Sir?" fragte sie. Irre scheint sie nicht zu sein, dachte Hugo verwundert und erleichtert.
„Das können Sie", antwortete er so herrisch wie möglich. „Teilen Sie bitte der Vorsteherin
mit, Lord Hugo Montagu wünsche sie einen Moment zu sprechen." Er bemühte sich, ganz
gelassen aufzutreten. „Sie können hinzufügen, ich sei der Sohn Ihrer Gönnerin, der
Herzoginwitwe of Southwell."
„Gewiss, Euer Lordschaft", erwiderte die Frau ebenso ge lassen und schien sein Unbehagen
gar nicht zu bemerken. „Wollen Sie nicht eintreten, während ich Sie anmelde?"
Hugo räusperte sich. „Danke", sagte er wider besseres Wissen. Er hatte keine Ahnung, was
er hinter dieser Tür vorfinden würde. Vielleicht wildes Geschrei hinter schwer verriegelten
Türen? Den sauren, ekelhaften Geruch von Schmutz und verkochtem Kohl?
Doch auch in diesem Vorurteil täuschte er sich. Er nahm seinen Hut ab, trat in die
Eingangshalle und stellte fest, dass es hier nicht viel anders aussah als in allen anderen ihm
bekannten Landhäusern. Er sah zu heimeligen Gruppen ange ordnete Sessel und nahm den
süßen Duft der an strategischen Stellen stehenden Blumen wahr. Kurz, auf den ersten Blick
hätte er sich hier im Haus eines Familienfreunds befinden können.
Er fragte sich, inwieweit seine Mutter etwas mit diesem hübschen Täuschungsmanöver zu
tun hatte, zumal sie ja schon seit Jahren eine Schirmherrin dieser Anstalt hier war, wie er
gerade erst erfahren hatte. Weshalb sie ausgerechnet dieses bestimmte Etablissement mit ihrer
Stellung und ihrem Geld unterstützte, begriff er nicht. Warum, um alles in der Welt, hatte sie
sich nur mit Irren anfreunden müssen, da es doch so viele andere Möglichkeiten gab,
Wohltätigkeit zu üben?
Nun, das ging ihn nichts an, und so beschäftigte er sich in Gedanken mit dem eigentlichen
Grund seiner Reise nach Suffolk. Für diese Gegend hier sprach das verhältnismäßig milde
Klima sowie die Tatsache, dass sie weit genug entfernt war von dem herzoglichen Sitz seines
Bruders in Leicestershire, so dass die Familie nicht jeden seiner Schritte beobachten konnte.
Auf jeden Fall wurde es Zeit, dass er in sein eigenes Anwesen investierte, nachdem er es
sich jetzt leisten konnte.
Er brauchte ein nettes Herrenhaus, wo er angemessen Gäste empfangen und mit dem er den
richtigen Eindruck machen konnte. Er brauchte etwas, das ihn fern von den Versuchungen
Londons beschäftigte, und er hatte es satt, in Southwell direkt unter der Nase seiner Mutter zu
leben. Die Adresse des Landmaklers steckte in seiner Tasche, und heute Nachmittag erwartete
man ihn dort.
Er fuhr zusammen, als irgendwo über ihm eine Tür zuknallte und er leise Stimmen hörte,
die sich dann durch einen Korridor entfernten. Hugo sank wieder in seinen Sessel und atmete
tief durch.
Seine Nerven benahmen sich aber auch zu lächerlich! Wovor hatte er denn Angst?
Vielleicht davor, dass irgendein Irrer ihn aus heiterem Himmel ansprang? Die Insassen
wurden hier doch gewiss gut bewacht und kontrolliert. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht
los, dass sich gleich jemand auf ihn stürzen würde.
Als er die sich nähernden Schritte auf dem Marmorfußboden hörte, fuhr er herum.
Erleichtert sah er, dass es sich nur um die Frau handelte, die ihn hereingelassen hatte.
„Euer Lordschaft, die Vorsteherin steht Ihnen jetzt zur Verfügung. Wenn Sie mir bitte
folgen wollen?" sagte sie mit dieser kühl beherrschten Stimme und deutete mit dem Kopf zum
anderen End e der Eingangshalle hinüber.
Hugo wurde über einen durchaus angenehmen Korridor geführt, durch dessen hohe Fenster
das helle Sonnenlicht fiel. Nein, bis jetzt hatte er hier nichts gesehen, das er auch nur
andeutungsweise als düster hätte beschreiben können.
Möglicherweise waren ja die Irren irgendwo außer Sicht- und Hörweite der Besucher
eingeschlossen, damit alles so normal wie möglich erschien. Schließlich bezahlten die Fa-
milien auch sehr gut dafür, damit der Anschein gewahrt wurde.
Vor einer getäfelten Mahagonitür ließ die grau gekleidete Frau ihn stehen und verschwand
dann den Flur entlang. Er schaute ihr hinterher und sagte sich, dass er immerhin schon eine
Hand voll Duelle überlebt habe. Weshalb also fürchtete er sich vor einer gestärkten
Anstaltsleiterin, die nichts Besseres zu tun hatte, als sich um ein Haus voller Geisteskranker
zu kümmern?
Er klopfte energisch an.
„Herein!" hörte er eine forsche Stimme drinnen rufen.
13
Hugo stieß die Tür auf - und war verblüfft.
Eine ältere Frau in schwarzer und weißer Tracht saß hinter einem riesigen Schreibtisch in
einem ebenso riesigen Arbeitszimmer und blickte ihm ganz sachlich entgegen. Eine Nonne?
Das hätte er als Letztes erwartet.
„Lord Hugo", grüßte sie und deutete auf den Sessel vor dem Schreibtisch. „Das ist aber
eine angenehme Überraschung! Ich bin Schwester Agnes. Ich erwartete Ihre Mutter, doch
offenbar hat sie Sie als ihren Vertreter geschickt."
„So ist es", erwiderte Hugo nach kurzem Zögern. „Sie sagte mir allerdings nicht, dass es
sich hier um ein Kloster handelt", fügte er hinzu. In seiner Vorstellung passten Nonnen und
Irre nicht zusammen. Nonnen sollten doch eigentlich etwas Heiliges sein und die Gesetze des
Herrn aufrechthalten. Irre trotzten dem.
„Dies ist kein Kloster, Lord Hugo." Die Vorsteherin lächelte ein wenig gequält. „Mein
Orden hat mich nur als Vorstehe rin hierher berufen. Einige weitere Schwestern ergänzen die
Belegschaft. Wir alle bemühen uns, das Leiden der Hilfsbedürftigen zu lindern, und die
Menschen hier brauchen wirklich dringend Hilfe. Mitgefühl für die geistig Kranken ist sehr
selten auf der Welt."
Hugo betrachtete sie schweigend. Er brauchte keine Predigt, und schon gar nicht von einer
Nonne, fragte sich indes unwillkürlich, ob die Frau vielleicht seine Gedanken gelesen hatte.
„Bezweifeln Sie das, Lord Hugo? Möglicherweise glauben Sie wie so viele andere auch.
Geisteskranke sollten ausgestoßen werden und ihr Leiden sei selbst verschuldet?"
„Ich glaube nichts dergleichen, äh, Schwester." Hugo bewegte sich unbehaglich in seinem
Sessel hin und her. „Genau genommen habe ich dazu überhaupt keine Meinung. Ich bin
lediglich im Auftrag meiner Mutter hier. Sie ist nämlich schwer erkältet."
Die Vorsteherin lächelte weise. „Ich verstehe schon", sagte sie leise. „Sie fühlen sich hier
nicht wohl, und da geht es Ihnen nicht anders als den meisten Leuten. Ihre Mutter ist eine
Ausnahme von der Regel. Sie ist eine überaus mitfühlende Frau, der wir immer dankbar sein
werden. Ohne ihre Schirmherrschaft hätten wir unsere Türen schon vor Jahren schließen
müssen, doch sie hat uns zu unseren schlimmsten Zeiten stets unterstützt."
Hugo nickte. „Meine Mutter setzt sich für alles ein, woran sie glaubt. Obgleich ich davon
ebenfalls profitiere, bin ich nicht wie sie, Schwester. Was Tugenden betrifft, bin ich nicht
gerade ein Vorbild."
„Sie sitzen hier nicht im Beichtstuhl, Lord Hugo." Die Nonne lachte leise. „Unsere Sünden
gehen nur uns und den Vater im Himmel etwas an. Also gut - mit welchem Auftrag hat Ihre
Mutter Sie hergeschickt?"
Weshalb habe ich dieses Thema überhaupt aufgebracht? fragte sich Hugo ärgerlich, zog
den Brief seiner Mutter aus der Brusttasche und reichte ihn der Nonne hinüber. „Meine
Mutter schickte mich mit dieser Spende her, Schwester, und ferner mit dem Auftrag, mich
nach dem Gesundheitszustand von Lady Eunice Kincaid zu erkundigen."
Hugo kannte Eunice Kincaid nur wenig und mochte sie noch weniger. Als sie vor einem
halben Jahr in Irland endgültig dem Wahnsinn anheim fiel, hatte er sich dort aufgehalten.
Dass das ausgerechnet an demselben Tag passierte, an dem sein Bruder Raphael mit Eunice'
Stieftochter getraut wurde, war äußerst unglücklich. Hugo hatte seinem Glücksstern dafür
gedankt, dass er wegen einer Verletzung im Bett bleiben musste und deshalb nicht Zeuge des
Zusammenbruchs zu sein brauchte. Hinterher hatte man ihm erzählt, es sei eine durchaus
nicht schöne Szene gewesen.
Seine Mutter wusste natürlich genau, was zu tun war, und so hatte man die Unglückliche
kurz darauf in diese Pflegeanstalt gebracht. Mehr wollte Hugo gar nicht über den Fall wissen.
„Es ist sehr freundlich von der Duchess, sich nach Lady Eunice zu erkundigen." Die Nonne
legte den Brief seiner Mutter ungelesen auf den Schreibtisch und faltete die Hände vor sich.
„Sie können ihr sagen, dass es der Lady sehr gut geht. Oh, sie lebt die meiste Zeit in ihrer
eigenen Kindheit, doch das halte ich für einen Segen, weil es sie glücklich macht. Mit
Sicherheit hat sich ihr Zustand seit ihrer Ankunft hier schon erheblich gebessert."
Das erleichterte Hugo ungemein. Er brauchte also die Irre nicht noch zu besuchen. „Ich
freue mich, das zu hören. Soweit ich weiß, hat sie ihrer Umgebung früher wenig Freude
bereitet. Gut zu erfahren, dass sie hier nicht auch noch Schwierigkeiten macht."
Er stand auf, trat an das lange Fenster hinter Schwester Agnes' Schreibtisch und schaute
auf den gepflegten Rasen hinaus. Alles wirkte vollkommen normal. Als sein Blick noch
weiter wanderte, runzelte er die Stirn. Über den nackten Baumwipfeln erhoben sich Mauern,
die einst das Anwesen umgaben und dazu dienten, die Öffentlichkeit daraus fern zu halten.
Heute jedoch hielten sie die Anstaltsinsassen von der Außenwelt fern.
„Lady Eunice verursacht keine Schwierigkeiten", bestätigte die Nonne. „Ihr früheres Leben
ist jetzt vergessen. Wir beurteilen unsere Patienten hier nicht nach ihrem früheren Verhalten,
Lord Hugo. Wir wollen sie nur unterstützen und sie heilen, falls Gott uns zeigt, dass eine
Heilung möglich ist."
Hugo hörte nur mit halbem Ohr zu. Eine junge Frau war wie aus dem Nichts erschie nen
und ging direkt vor dem Fens ter vorbei, in dem er stand. Sie war ganz in Weiß gekleidet, und
das unbedeckte, seidige hellblonde Haar fiel ihr zu einem losen Zopf geflochten über den
Rücken. Die Sonne, die sich bereits langsam westwärts neigte, stand hinter ihr, beleuchtete ihr
Profil und bildete einen Strahlenkranz um ihren Kopf.
Hugo atmete scharf ein. Das Mädchen sah aus wie ein Engel aus einem Kirchengemälde -
mit Heiligenschein! Er streckte die Hand nach ihr aus, um festzustellen, ob sie aus Fleisch und
Blut bestand oder nur ein Produkt seiner Fantasie war. Seine Fingerspitzen berührten nur
kaltes Glas.
Bei der Enttäuschung, die ihn durchströmte, kam er sich wie ein Narr vor. Was hatte er
denn erwartet? Dass seine Hand wunderbarerweise die Fensterscheibe durchdringen würde?
Trotzdem ließ er die Hand nicht sinken, sondern drückte die Innenfläche gegen das Glas.
Genau in diesem Moment stockte der Schritt der jungen Frau. Sie schaute nach links, als
spürte sie nicht nur seine Anwesenheit, sondern auch seine Enttäuschung. Ihre und seine
Blicke begegneten sich.
Hugo war nicht vorbereitet auf den Schlag, den er spürte, ihm war, als hätte Gott einen
Blitz direkt auf ihn gelenkt, weil er sich angemaßt hatte, eine der Seinen anzustarren.
Sie hatte hellgraue Augen, die so durchscheinend wie Sternenlicht waren, und er meinte,
sie blickten durch ihn hindurch, als wäre er so körperlos wie ein Nebel. Noch einen kurzen
Moment hielt sie seinen Blick gefangen, dann wandte sie sich ruhig ab und setzte ihren Weg
fort. Wenig später war sie verschwunden.
Hugo konnte nur fassungslos dreinblicken. Sein Herz hämmerte heftig. Er wollte ihr
hinterherrufen, sie auffordern zurückzukehren, sich ihm zu erklären. Er besaß schließlich
keine Erfahrungen mit Engeln. Ja, er glaubte nicht einmal an ihre Existenz. Doch wenn sie
kein Engel war, was war sie dann?
Jedenfalls keine gewöhnliche Frau, dessen war er sich sicher. Noch niemals hatte eine Frau
ihn so angerührt, und noch nie hatte er ein solches Gesicht gesehen. Es war so klar und ruhig,
als hätten weltliche Sorgen es noch nie berührt, als existierte sie selbst gar nicht in dieser
Welt.
Als existierte sie in dieser Welt gar nicht!
Jetzt meinte Hugo zu verstehen, und das Entsetzen packte ihn. Wie hatte er nur so dumm
sein können? Sie war eine von „denen"! Sie existierte tatsächlich nicht in dieser, sondern in
einer anderen Welt, in der Welt, in der die Geistesgestörten wohnten!
Ein Engel - also wirklich! dachte er zynisch. Ich habe mich in der Luft dieses Heims wohl
Agnesteckt und muss selbst geisteskrank sein, wenn ich so etwas denke. Auch wenn sie so
aussieht wie einem byzantinischen Fresko entstiegen.
Dass Mutter Natur eine Irre mit solcher Schönheit beschenkt hatte, war zwar die reine
Verschwendung, doch das ließ sich wohl nicht ändern. Andererseits sagte ihm das Gefühl in
seinen Lenden, dass sich daran durchaus etwas ändern ließe. Die höchst unerwünschte
körperliche Reaktion machte ihn wütend und war unter den gegebenen Umständen einfach
lächerlich.
„Lord Hugo? Hören Sie mir noch zu?"
Hugo räusperte sich. „Schwester", sagte er über die Schulter hinweg, um sich den Beweis
seiner eher primitiven Natur nicht ansehen zu lassen, „ich überlegte gerade, ob irgendwelchen
Insassen hier gestattet wird, sich auf diesem Anwesen frei zu bewegen."
„Das kommt ganz darauf an, um wen es sich handelt", antwortete Schwester Agnes
unbekümmert. „Weshalb fragen Sie?"
„Oh, ich sah eben jemanden vorbeikommen", sagte Hugo so gelassen wie möglich. „Und
da ich die Bestimmungen hier nicht kenne ..."
„Entgegen Ihrer Annahme befinden wir uns hier nicht im Gefängnis von Newgate, Lord
Hugo." Die Nonne erhob sich, setzte sich eine Brille auf die Nase, trat zu ihm ans Fenster und
schaute ebenfalls hinaus. „Ich sehe niemanden."
„Jetzt ist sie auch nicht mehr da. Sie war jung, ganz in Weiß, kein Häubchen, kein Schleier,
blond, schlank und ziemlich groß für eine Frau. Beinahe ..." Er hätte fast „überirdisch" gesagt,
doch das wäre wohl unangebracht gewesen. „Beinahe so groß wie meine Mutter", beendete er
seinen Satz.
„Ah", sagte Schwester Agnes. „Das wird bestimmt Meggie Bloom gewesen sein. Vor
sechs Jahren kam sie vom Waisenhaus in Ipswich zu uns."
„Vom Waisenhaus?"
„Ja. Die arme Kleine hatte es schwer. Nur wenige Minuten nach ihrer Geburt starb ihre
Mutter und hinterließ sie als Waise. Und die Frau, die sie danach freundlicherweise aufnahm,
starb neun Jahre später. Da nun auch ihre Ziehmutter tot war, gab es niemanden mehr, der
sich um Meggie kümmern wollte, also kam sie ins Waisenhaus."
Hugo fragte sich, wann Meggie Bloom wohl ihren Verstand verloren hatte. Gewiss hatte
die Welt sie unfreundlich empfangen, und ihr späterer Lebensweg war anscheinend auch nicht
besser gewesen. Kein Wunder, wenn das Mädchen geistig gelitten hatte.
„Und das Waisenhaus schickte sie dann hierher, weil man sie dort nicht mehr halten
konnte?"
„Ja, das schien die einzige Lösung zu sein. Wir nahmen sie mit Freuden auf."
Gewiss doch, dachte Hugo, ihr lebt hier ja von verlorenen Seelen. Je mehr, desto
fröhlicher.
Die Nonne blickte ihn fragend an. „Sie scheinen überrascht zu sein, Lord Hugo.
Vermutlich denken Sie, Meggie sei sehr jung für unser Heim. Doch sie ist älter, als sie wirkt -
dreiundzwanzig, genau gesagt. Es ist schade, dass die Außenwelt keinen Platz für sie hatte.
Wir indes wissen ihre einmaligen Qualitäten sehr zu schätzen."
Hugo runzelte die Stirn. Zwar war ihm klar, dass die Nonne sich durch ihren Eid auch zu
Mitgefühl verpflichtet hatte, doch dass Schwester Agnes Schwachsinn als „einmalige
Qualität" bezeichnete, war für seine n Geschmack denn doch etwas übertrieben.
„Davon verstehe ich nichts", sagte er und beendete damit das Gespräch. „Und jetzt muss
ich leider gehen. Ich habe noch eine Verabredung in der Stadt."
„Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns etwas von Ihrer wertvollen Zeit gewidmet
haben, Lord Hugo", bemerkte die Nonne mit einem Unterton, der sich verdächtig nach Ironie
anhörte. „Ich erwarte nicht, dass wir Sie hier noch einmal sehen."
„Da meine Mutter nur selten krank wird, glaube ich das auch nicht. Guten Tag, Schwester
Agnes."
„Guten Tag, Lord Hugo. Gott mit Ihnen."
Das Letzte hörte Hugo nicht mehr. Er war schon auf dem Flur, bevor sie ausgesprochen
hatte.
2. KAPITEL

Meggie setzte einen sorgsamen Stich in den Wandteppich, an dem sie schon seit sechs
Jahren arbeitete und den sie vermutlich zu ihren Lebzeiten nicht mehr fertig stellen würde.
Die Stickerei gab ihr wenigstens etwas zu tun, wenn sie nicht mit der Pflege der Patienten
beschäftigt war.
Sie rieb sich die Augen und prüfte die letzte Stelle, an der sie gestickt hatte. Die linke
Körperseite der Eva war recht ordentlich geworden, doch an dem Gesicht musste sie noch
etwas tun. Wenn das Ganze einmal fertig war, würde es Meggies ganz persönliche
Vorstellung vom Garten Eden wiedergeben - natürlich ehe die Schlange ins Spiel kam, als
Adam und Eva noch im Einklang mit Gott und sich selbst standen.
Sie wusste noch nicht, was sie machen sollte, wenn sie die Figur des Adam in Angriff
nehmen musste. Sie hatte so gut wie keine Ahnung, wie ein unbekleideter Mann aussah. Nur
schwach erinnerte sie sich an ein paar Illustrationen, die sie in einem Buch ihrer Ziehmutter
gesehen hatte. Dort trugen alle Männer immer Feigenblätter oder hübsch drapierte Stoffteile.
Meggie nahm sich vor, ihren Adam mit einem Feigenblatt zu versehen, auch wenn das
historisch nicht akkurat war. Zunächst musste sie sich auf die Linien des Oberkörpers, auf die
mächtigen Muskeln der Arme und Beine konzentrieren . . .
Für einen Moment schloss sie die Augen und sah jede vollkommene, großartige Einzelheit
des dunkelhaarigen Fremden vor sich, der sie heute Nachmittag durch das Fenster von
Schwester Agnes' Arbeitszimmer Agnesehen und sie ganz durcheinander gebracht hatte. Ja, er
wäre das perfekte Modell für ihren Adam, falls sie ihm nur die Kleidung . . .
Energisch schüttelte Meggie den Kopf und erlaubte ihren Gedanken nicht, in diese
Richtung abzuwandern. Allerdings hatte sein Bild sie seit vorhin fortwährend verfolgt, doch
ihn sich nur mit einem Feigenblatt bekleidet vorzustellen, also das war nun wirklich gottlos.
Man zog keine Männer aus, nicht einmal in Gedanken.
Sie schaute hoch, als Schwester Agnes gähnte, die knotigen Finger über das warme Feuer
hielt und in die Flammen blickte. Aus Erfahrung wusste Meggie, dass die Nonne jetzt tief in
Gedanken versinken würde. Liebevoll lächelte sie zu der ältlichen Frau hinüber.
Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem sie vor so vielen Jahren schmutzig, staubig
und erschöpft in diesem Pflegeheim eingetroffen war. Sie hatte geglaubt, ihr Leben würde
fortan unerträglich werden, denn die Mutter Oberin hatte ihre Ordensschwester über ihren,
Meggies, verderbten Charakter informiert. Doch dann war sie hier so herzlich empfangen, ja
sogar umarmt worden, dass sie vor Schreck beinahe umgefallen wäre. Seit mehr als acht
Jahren war sie schon nicht mehr umarmt worden, und berührt worden war sie nur mit dem
strafenden Rohrstock. Im Waisenhaus von Ipswich war das Berühren streng verboten.
Seit damals hatte Meggie von Schwester Agnes niemals ein unfreundliches Wort gehört.
Die Nonne hatte sie unter die Fittiche genommen, ihr Mitgefühl und Verständnis entge-
gengebracht, und das war Balsam für Meggies wunde Seele gewesen.
Von Anfang an hatte Schwester Agnes klargestellt, dass sie kein Wort glaubte von dem,
was die Mutter Oberin ge schrieben hatte über das Böse, das in Meggies Herzen lauerte.
Vielmehr hatte sie Meggie akzeptiert, und nachdem diese der Schwester nach und nach
vertraute, hatte sie ihr eines Tages von dem merkwürdigen Talent erzählt, mit dem sie
geboren war. Das hatte sie zuvor noch niemandem eingestanden, weil sie die Folgen
fürchtete. Wenn die Leute sie nur verdächtigten, war es schon schlimm genug.
Hexe. Teufelin. Lügnerin . . .
Schwester Agnes hatte ihr stattdessen gesagt, ihr Talent sei kein Fluch Gottes, sondern ein
Segen, ein wahres Geschenk, mit dem sie anderen Gutes tun konnte, wenn sie es klug und
behutsam einsetzte.
Von der Sache mit dem Segen war Meggie noch immer nicht so ganz überzeugt, obgleich
sie erkannte, dass ihr Talent in der Pflegeanstalt eine bestimmte Funktion erfüllte.
Sie wünschte, sie wusste, weshalb sie in der Lage war, die Gedanken der zutiefst
Verstörten und geistig Derangierten klar und deutlich zu hören. Tiere verstand sie ebenso
deutlich, wenngleich sie auch weniger deren Gedanken als deren Eindrücke wahrnahm. Wenn
sie es allerdings mit geis tig Gesunden zu tun hatte, verhielt sich ihr Talent absolut
unberechenbar.
Manchmal vermochte sie die Gedanken in den Köpfen klar und deutlich zu hören,
manchmal konnte sie nur eine vage Empfindung aufnehmen, und ein andermal konnte sie
überhaupt nichts erkennen, obwohl sie stets die Präsenz einer Person spürte.
Gern hätte sie die Fähigkeit besessen, sich selbst auszusuchen, ob sie die Gedanken der sie
Umgebenden las oder nicht. Wie es jedoch war, wüsste sie nie, wann die geheimsten
Gedanken einer anderen Person in ihren eigenen Geist trafen. Meistens empfing sie
irgendeine Vorwarnung, ein vages Murmeln wie ein. entferntes Gespräch, und dann konnte
sie einfach ausschalten. Wenn sie jedoch nicht aufpasste, kristallisierten sich klar
verständliche Worte und Bilder heraus, was recht peinlich sein konnte, wie heute Morgen zum
Beispiel.
Jasper Oddbin hatte ihr die täglichen Anweisungen für die Gartenarbeit erteilt, als wüsste
sie nicht selbst, was zu tun war. Zu ihrem Bedauern ließ sie ihre Gedanken abwandern, und
im nächsten Moment schwirrte ihr Jasper Oddbins Zusammenfassung seiner letzten Nacht
durch den Kopf.
,Die gute Sally Potter war schwer in Ordnung, jawoll. Und ich hab's auch gebracht. War
mir schon recht, wenn's heute Nacht noch einmal hinhauen würde, auch wenn's mich meinen
ganzen Wochenlohn kostet. . . Also die kleine Miss Meggie hier, die ist auch schwer in
Ordnung, aber mir würd's übel ergehen, falls diese Nonne Wind davon bekäme, dass ich das
Mädchen gern habe . . . Hübscher Busen, jawoll, auch wenn sie ihn immer in diesem Sack
versteckt. . .'
Meggie war tief rot geworden und hatte ihren geistigen Schutzschild - leider verspätet -
heruntergeklappt. Danach hatte sie Jasper nicht mehr in die Augen blicken können.
„Du liebe Güte, war das ein Tag", sagte Schwester Agnes und kehrte aus ihrer
Tagträumerei ebenso plötzlich zurück, wie sie hineingeglitten war.
„Wirklich, Schwester?" Meggie war froh über die Ablenkung. „Was für Prüfungen haben
denn heute Ihren Weg gekreuzt?"
„Nun, zunächst dieser Zwischenfall mit dem armen Mr. Blecksott. Dabei habe ich Peterson
doch gesagt, dass er das Rasiermesser nicht aus den Augen lassen darf, wenn er den Mann
rasiert. Nur gut, dass Mr. Blecksott Peterson nicht verletzte, als er das Messer zu fassen
bekam und den armen Peterson durch das ganze Zimmer scheuchte."
„Ich weiß, dass ich nicht unfreundlich reden darf, Schwester, doch dem Mr. Blecksott
müsste man den Hintern versohlen. Wenn seine Mutter das einmal getan hätte, als er noch
klein war, würde er wahrscheinlich ein wesentlich geordneteres Leben geführt haben."
Schwester Agnes' tolerantes Lächeln strafte ihren strengen Ton Lügen. „Meggie, Mr.
Blecksott kann nichts für seine Neigung zu Gewalttätigkeit. Du musst dich um eine etwas
freundlichere Einstellung ihm gegenüber bemühen."
„Das würde mir auch gelingen, wenn ich nicht glaubte, dass Mr. Blecksott bei uns ist, um
seinen Schuldnern zu ent kommen. Die Geistesschwäche, die er vorgibt, gestattet ihm, bei uns
zu bleiben, solange er will, und das gefällt ihm ohne jeden Zweifel wesentlich besser, als im
Kerker zu sitzen. Er hat doch noch niemals sich selbst oder sonst jemandem ernsthaften
Schaden zugefügt, oder?"
„Was nicht daran liegt, dass er es nicht versucht hätte", erwiderte Schwester Agnes leise.
„Nachdem du mir sagtest, du könntest in diesem Fall nicht klar sehen, solltest du auch keine
Vermutungen anstellen. Gerade du müsstest dafür Verständnis aufbringen."
Meggie zuckte nur schweigend die Schultern. Vielleicht bin ich zu abgehärtet für das
Mitgefühl, das Schwester Agnes von mir verlangt, dachte sie, doch Schwester Agnes hat auch
ein gottgefälligeres Leben geführt als ich.
Meggie glaubte nicht daran, dass Gott etwas mit ihr vorhatte. Nicht, dass sie etwas gegen
Gott hätte - sie glaubte nur, er interessierte sich nicht für die täglichen Probleme jedes
Einzelnen Seiner Diener. Bis heute hatte Er ganz gewiss kein Interesse an ihr gezeigt, und das
würde sich wohl auch nicht mehr ändern.
Wahrscheinlich sollte sie dankbar dafür sein, dass man sie hier wenigstens nicht für eine
Monstrosität hielt. Die Patienten schienen ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, gar nicht zu
bemerken, und ihre eigene Aufgabe bestand darin, sich um die Nöte der Gestörten zu
kümmern, wenn sie sie wahrnahm, womit sie schon sehr viel zum Seelenheil der Kranken
beizutragen vermochte. Schwester Agnes verstand und schätzte ihr Talent und sagte Meggie
immer wieder, wie dankbar sie für ihre Hilfe sei. Hier brauchte man Meggie jedenfalls.
Meggie senkte den Kopf wieder über ihre Stickerei und verbannte ihre sorgenvollen
Gedanken in jene Ecke ihres Geistes, die sie nur für sich behielt.
In dieselbe Ecke wollte sie auch die Gedanken an den ge heimnisvollen Mann verbannen,
den sie vorhin gesehen hatte. Weshalb war er in Schwester Agnes' Arbeitszimmer gewesen?
Durch die Fensterscheibe hatte er sie mit seinen kobaltblauen Augen so durchdringend
Agnestarrt, dass sie einen kurzen Moment lang sogar gedacht hatte, er würde die Hand nach
ihr ausstrecken . . .
„Wo bist du gerade, Kind?" erkundigte sich Schwester Agnes, der Meggies lAgnes
Schweigen aufgefallen war. „Heute Abend bist du so ungewöhnlich still."
„Ich dachte gerade an den Mann, der Sie heute besucht hat." Das hatte Meggie eigentlich
nicht sagen wollen, doch ihre Neugier war stärker gewesen.
Vielleicht faszinierte es sie am meisten, dass ihr der Mann so vollkommen unergründlich
erschienen war. Gewöhnlich spürte sie wenigstens irgendetwas von einem Menschen, auch
wenn sie seine Gedanken nicht lesen konnte. Doch von diesem Fremden hatte sie überhaupt
nichts empfangen, keinen Hinweis auf seinen Charakter, seine Absichten. Sie hatte nur eine
große, ungewöhnliche Stille wahrgenommen.
Doch etwas anderes hatte sich tief in ihrem Inneren geregt, etwas, das ebenso
ungewöhnlich und ebenso beängstigend war. Es hatte einen Teil ihres Wesens aufgeweckt
und ihr gezeigt, dass sie eine Frau und er zweifellos ein Mann war.
Jetzt verstand sie auch, was die arme Martha Lindsay meinte, wenn sie über die
unbeherrschbaren Bedürfnisse ihres Körpers lamentierte, die zu ihrem Untergang und in das
Pflegeheim von Woodbridge geführt hatten. Meggie hatte sich nie so recht vorstellen können,
wie sich die körperliche Sehnsucht nach einem Mann anfühlte. Nun wusste sie es jedoch und
wünschte, sie hätte es nie erfahren.
„Ich . . . ich sah ihn in Ihrem Fenster", fügte sie leise hinzu und tat so gleichgültig wie
möglich. „Wollte er sich nach einem unserer Patienten erkundigen?"
„So ungefähr." Schwester Agnes zupfte ein loses Fädchen von ihrer eigenen Stickerei. „Er
kam im Auftrag seiner Mutter, doch ich glaube, ihm war nicht wohl dabei, einen Fuß in ein
Pflegeheim zu setzen."
„Wer war er denn?"
„Er heißt Lord Hugo Montagu. Seine Mutter ist die Dowager Duchess of Southwell. Die
Herzoginwitwe ist eine unserer Gönnerinnen. Lady Eunice Kincaid ist mit der Familie
verwandt. Die Herzoginwitwe brachte sie vor geraumer Zeit zu uns."
„Oh . . ." Diese unerwartete Information verblüffte Meggie. Niemals wäre sie auf die Idee
gekommen, zwischen Eunice Kincaid, in deren Seele das reine Chaos herrschte, und diesem
rätselhaften Fremden eine Verbindung herzustellen, dessen Seele zwar stumm war, dessen
körperliche Erscheinung indes ihr Gleichgewicht ins Schwanken gebracht hatte.
Er ist also der Sohn eines Dukes, dachte sie. Möglicherweise sind ja seine Gedanken und
Gefühle für meinesgleichen viel zu vornehm. „Dann wollte er also Lady Eunice besuchen?"
fragte sie. „Ich war vorhin bei ihr, doch von einem Besucher sagte sie mir nichts. In ihrem
gegenwärtigen Zustand hätte sie auch niemanden empfangen können."
„Nein, er kam nur, um mir die guten Wünsche sowie einen weiteren Bankwechsel von der
Dowager Duchess - gesegnet sei ihre Güte - zu übermitteln. Ich weiß nicht, wie wir ohne ihr
Wohlwollen zurechtkommen sollten. Aber weshalb fragst du, Kind? Gewöhnlich interessiert
dich doch das Kommen und Gehen Außenstehender nicht, und den Besuchern gehst du
bewusst aus dem Weg."
„Ja, ich weiß auch nicht. . . Irgendetwas hatte der Mann an sich", antwortete Meggie
aufrichtig. „Ich denke, das ha ben Sie bereits erklärt, als Sie sagten, er habe sich hier nicht
wohl gefühlt."
Schwester Agnes wurde plötzlich sehr aufmerksam. „Hast du etwas gespürt, Meggie,
etwas, von dem ich wissen sollte? Eine Krankheit, eine geistige Una usgewogenheit
vielleicht?"
„Nein, Schwester, nichts dergleichen. Ich habe ihn ja auch nur einen kurzen Moment
gesehen." Sie trennte die letzten Stiche wieder auf, die ebenso ungeordnet waren wie ihre
Gemütsverfassung. Sie mochte das Thema nicht weiter vertiefen. Hätte sie vielleicht erklären
sollen: ,Schwester, ich glaube, er hat in mir fleischliche Bedürfnisse erregt'? O nein, das hätte
die Schwester ganz gewiss erschüttert!
„Ich verstehe", sagte Schwester Agnes. „Nun, das beruhigt mich. So etwas liegt nä mlich
manchmal in der Familie. Ich an deiner Stelle würde mich nicht mehr mit dem Gedanken an
Lord Hugo befassen, zumal ich bezweifle, dass er jemals wiederkehren wird. Seine Welt hat
mit unserer nichts gemein."
Meggie nickte. Schwester Agnes hatte Recht. Lord Hugo gehörte in eine andere Welt, und
mit ihr, Meggie, würde er niemals etwas zu tun haben.
Leider hörte sie eine kleine trügerische Stimme, die ihr einflüsterte, sie wünschte, es wäre
anders. Und dieser Wunsch machte Meggie die meisten Sorgen, denn sie wusste, wie ge-
fährlich es war, sich etwas Unmögliches zu wünschen - besonders wenn es sich um einen
großen dunkelhaarigen Mann handelte, der Augen hatte wie blaue Eisdolche, die direkt in
ihren Körper stießen und darin die primitivsten Bedürfnisse aufstörten.
Sie benahm sich wirklich schändlich. Dass ihr überhaupt solche Gedanken kamen! So
etwas hatte schon ihre Mutter ins Verderben gestürzt.
„Und Meggie, meine Liebe, ich wollte tatsächlich, du wür dest dein Haar unter einer Haube
aufstecken, wenn du dich außerhalb deines Quartiers bewegst." Schwester Agnes' Augen
funkelten erheitert. „Das könnte dich vor unerwünschter Aufmerksamkeit bewahren."
„Ich werde daran denken", sagte Meggie pflichtschuldigst. Obwohl Schwester Agnes keine
fremden Gedanken zu lesen vermochte, erkannte sie doch viel zu viel.
3. KAPITEL

Hugo stand auf der Landzunge am Fluss Butley und sog die von der nahen Nordsee
heranwehende Salzluft ein. Die rauen Schreie der Seemöwen klangen in seinen Ohren wie
eine wilde Kakophonie, in welcher der Sturm widerhallte und die seine Seele glauben machte,
sie könnte ebenso frei fliegen wie die Vögel.
Er drehte sich um und schaute zurück zu dem als Lyden Hall bekannten prächtigen
Gebäude. Es sei 1734 erbaut worden, hatte ihn der Makler informiert und, ohne Luft zu holen,
weitergeredet: „Wie Sie sehen, besteht die ,Halle' aus dem quadratischen Mittelblock sowie
zwei Flügeln und wurde aus Ziegelsteinen errichtet, welche auf dem Gut hergestellt worden
waren."
Der Mann hatte so stolz gestrahlt, als würde das den Wert des Hauses erhöhen. Als ob der
Preis von sechzigtausend Pfund nicht schon überhöht genug wäre, dachte Hugo und schob die
Hände in die Hosentaschen. Und dann noch die ärgerliche Sache mit den zwei alten Jungfern,
den beiden Misses Mabey! Was, zum Teufel, sollte er mit denen anfangen?
„Der alte Earl hielt es nämlich für das Beste, wenn Lyden nach seinem Tod verkauft
wurde", fuhr der Makler fort und kam damit zu dem Thema Mabey-Schwestern. „Die beiden
Kusinen seiner Gattin wohnen hier scho n seit seiner Hochzeit, und er konnte sie schlecht
hinauswerfen, nur weil er einmal so unvorsichtig sein würde zu sterben. Also machte er es zur
Verkaufsbedingung, dass seine indirekten Verwandten bis zu deren eigenem Tod auf Lyden
Hall wohnen bleiben durften."
Üblicherweise gehört zu einem Haus ja Mobiliar und keine Verwandtschaft, dachte Hugo.
Alles in allem war Lyden Hall jedenfalls nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte
gedacht, ihm würde ein stilvolles, beeindruckendes, doch nicht zu kostspieliges Haus gezeigt
werden. Langsam fragte er sich, was der Makler wohl unter „kostspielig" verstand.
Jedenfalls sollte Lyden wesentlich mehr kosten, als Hugo ausgeben wollte, und es war für
seine Bedürfnisse viel zu groß. Allerdings konnte er es sich gerade noch leisten. Das Gebäude
war von einem riesigen Park umgeben, und dazu gehörte noch weitläufiges Ackerland sowie
ein gutes Jagdge biet. Das alles sollte doch einen recht guten Gewinn abwerfen, oder? Ich
werde wie ein König leben, ohne mein Kapital angreifen zu müssen, sagte er sich.
Sein Bruder Raphael hatte es ihm schließlich vorgemacht. Southwell allein brachte ihm so
viel ein, dass er damit bis in alle Ewigkeit ein riesengroßes Haus unterhalten konnte.
Doch sein glücklicher Bruder hatte auch schließlich alles bei seiner Geburt geerbt, dazu
noch jede Menge weiterer Ländereien zuzüglich eines gewaltigen Vermögens, mit dem er alle
Besitzungen leicht unterhalten konnte. Hugo, dem Zweitgeborenen, waren nur drei wenig
beeindruckende Grundstücke hinterblieben, die er umgehend verkauft hatte, weil er ständig
Geld brauchte.
Himmel, wie bedauerte er seine Jugendsünden! Wie ein hitzköpfiger Narr hatte er sich
benommen, ohne sich darum zu kümmern, was die Leute von ihm und seinen fortwährenden
Skandalen dachten. Mit Geld hatte er nur so um sich geworfen, ganz besonders an den
Spieltischen. An die Konsequenzen hatte er niemals gedacht.
An die drei Jahre seines elenden Exils in Paris wollte er sich lieber gar nicht mehr erinnern.
Dort hatte er den letzten Rest seines Geldes verspielt. Nur Gottes Gnade verdankte er es, dass
er in der Nacht seiner größten Verzweiflung beim Würfeln mit einem einzelnen Wurf ein
enormes Vermögen ge wann - zweihundertfünfzigtausend Pfund, genug, um seine Schulden zu
bezahlen und sich selbst die Chance zu bieten, sein eigenes Leben umzugestalten.
Er hatte sich geschworen, niemals wieder zu spielen, und daran hatte er sich trotz aller
Versuchungen auch gehalten. Außerdem hatte er sich geschworen, seinen geläuterten Cha-
rakter vor seiner Familie zu beweisen, und genau das würde er auch tun. Doch war dies jetzt
der richtige Weg? Oder war er vielleicht verrückt, wenn er in Betracht zog, Lyden Hall zu
erwerben?
Irgendetwas hatte das Anwesen an sich, das ihn davon abhielt, die Idee aufzugeben.
Irgendwie brachte Lyden Hall ihn auf den Gedanken, dass er hier tatsächlich Frieden und
Erfüllung finden könnte.
Allerdings hatte ihm der Sinn noch nie nach Ruhe und friedlicher Erfüllung gestanden.
Weshalb also schien etwas in ihm jetzt zu erwachen und ihm zuzurufen, dass dies das Leben
sei, das ihm seit sechsundzwanzig Jahren gefehlt hatte, ohne dass ihm das bewusst gewesen
wäre? Dass er hier das echte, das wirkliche Glück finden könnte?
Er riss sich zusammen, als er merkte, dass er sich lächerlich machte und sogar richtig
sentimental wurde - eine Empfindung, die er eigentlich hasste, weil er sie für eine Zuflucht
der Schwachen hielt. Seine Aufgabe bestand darin, ein vernünftiges Haus für sich selbst zu
finden, und das dürfte ja wohl nicht so schwer sein. Weshalb sollten ihm dabei zwei alte, mit
übernommene Jungfern im Weg sein?
Er ballte die Faust. Jawohl, er würde das Anwesen kaufen. Er wollte selbst etwas auf die
Beine stellen, und das würde der richtige Anfang dazu sein. Er wollte sich niederlassen und
ein würdiger Landedelmann werden. Lyden Hall sollte seine Rettung sein und ihn auf dem
geraden Weg halten. Er konnte es kaum erwarten, es seiner Mutter zu erzählen. Ab jetzt
wollte er nicht mehr im herzoglichen Schatten seines Bruders wandeln, sondern seinen
eigenen Weg gehen!
Die Dowager Duchess of Southwell blickte ihren Sohn teilnahmslos über den Rand ihrer
Teetasse hinweg an. Am liebsten hätte Hugo ihr das wertvolle Porzellan aus der Hand
geschlagen. Da hatte er nun ein einziges Mal in seinem Le ben etwas Richtiges gemacht; und
jetzt schien seine Mutter nicht im Geringsten davon beeindruckt zu sein!
„Mama? Haben Sie denn gar nichts zu sagen?" fragte er ungeduldig. „Ich teilte Ihnen
soeben mit, dass ich eine große Summe für ein Landgut an der Küste Suffolks angelegt habe,
und Sie sehen mich an, als wäre das völlig unbedeutend."
„Was soll ich schon dazu sagen?" Die Miene seiner Mutter blieb neutral. „Du erzähltest
mir, du habest dir den Grund besitz kurz Agneschaut, ihn für deine Bedürfnisse ideal ge-
funden, und seist dann zum Ankauf geschritten. Hast du dich auch nach dem genauen Ertrag
erkundigt, den dir das Gut einbringen wird? Hast du dich über die Pächter, Ernten und
Missernten informiert? Hast du den Zustand des Herrenhauses inspizieren lassen? Vo n alldem
hast du nichts gesagt, was mir zeigt, dass du ohne ernsthaftes Nachdenken gehandelt hast."
„Selbstverständlich habe ich alles genau untersucht! Zufolge der Bücher gibt es hier keine
Probleme. Lyden trägt sich selbst, mit Hilfe eines Verwalters na türlich. Es verfügt über
ausgedehnte Ackerflächen, gutes Weideland, und die Flussschifffahrt bringt noch eine weitere
Einnahmequelle. Ich kontrolliere jetzt einen der Häfen, weil der auf meinem Land liegt.
Vielleicht investiere ich sogar in den Überseeha ndel."
Plötzlich lächelte die Dowager Duchess. „Anscheinend muss ich mich bei dir
entschuldigen, mein Lieber. Du hast dir die Sache offenbar gut überlegt. Ich war besorgt, weil
ich auf Grund deines früheren Verhaltens kein großes Vertrauen in deine Urteilskraft setzte,
doch offenbar täuschte ich mich."
Sie beugte sich über das Sofa und nahm Hugos Hand herzlich in ihre. „Ich will doch nur
stolz auf dich sein können. Ich weiß, dass du deinem Bruder und mir versichert hast, mit dei-
ner Rückkehr aus Paris im vergangenen Jahr würdest du ein neues Lebenskapitel aufschlagen,
was ich dir so gern glauben wollte. Nur... du wirst verstehen, dass ich Agnesichts deines
früheren Verhaltens - die Duelle, die Spielschulden, die widerwärtigen Frauen..."
„Mama, das ist doch alles Vergangenheit! Ich kam nach England zurück, weil ich meine
Verirrungen erkannt hatte. Was soll ich denn sonst noch tun, um es Ihnen und Rate zu
beweisen?" Frustriert ließ Hugo den Kopf sinken. Weshalb musste er sich nur ständig
beweisen?
„Nur Verantwortlichkeit zeigen, Liebling. Zeige uns beiden, dass du dich an deine guten
Absichten hältst. Mehr verlange ich gar nicht. Mir ist klar, wie schwierig es für dich war,
ohne die leitende Hand eines Vaters aufzuwachsen. Als er starb, warst du ja noch so klein.
Nun, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Raphael hat sein Bestes getan."
„Ich auch!" rief Hugo, der genug hatte von den ewigen Lobreden auf seinen Bruder.
Raphael hatte sich fortwährend über seinen jüngeren Bruder erhoben, als gäben ihm die vier
Jahre Altersunterschied das Recht, jeden einzelnen von Hugos Schritten zu kritisieren.
„Ich habe mein Bestes getan", wiederholte Hugo etwas leiser. „Falls ich euren
Erwartungen nicht entsprochen habe, bitte ich um Vergebung. Ich bemühe mich. Der Ankauf
des Gutes soll euch beweisen, dass ich es ernst meine. Ich kann nur hoffen, dass ihr das
anerkennt."
Seine Mutter nickte und drückte seine Hand. „Ich werde dich beim Wort nehmen, Hugo.
Du ahnst ja gar nicht, wie glücklich du mich - und deinen Bruder - machst, wenn du dein
wildes Treiben wirklich endgültig aufgibst und fortan ein gemäßigteres Leben führst."
„Und dazu ist Lyden Hall doch ein guter Anfang, nicht wahr? Es tut mir Leid, dass ich
wegen meiner Dummheiten die anderen Anwesen verloren habe, die Papa mir hinterließ, doch
das kann ich nun nicht mehr ändern. Ich schwöre, dass mein Spielerleben jetzt hinter mir liegt
und dass ich vorhabe, Sie stolz zu machen."
„Dann suche dir eine Ehefrau, und lasse dich und deine Familie in der Wohnstatt nieder,
die du dir selbst erwählt hast", sagte die Dowager Duchess und ließ seine Hand los.
„Eine Ehefrau?" fragte er bestürzt.
„Warum nicht? Das wäre doch der nächste logische Schritt, nicht wahr? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass du in deinem neuen Heim ganz allein sein willst."
„Nun ja, da gibt es noch zwei ältere Verwandte des Vorbesitzers Lord Eliot, die ebenfalls
in dem Haus wohnen werden. Ich erklärte mich damit einverstanden, ihnen das zu gestatten,
damit sie nicht in eine Notlage gerieten."
„Das ist aber außerordentlich freundlich von dir, Hugo!" rief seine Mutter offenkundig
erfreut. „Wie wunderbar! Wer sind diese Verwandten? Ich kannte Lord Eliot und seine Gattin
ein wenig. Sehr tragisch, dass die Lady schon zwei Jahre nach der Hochzeit verstarb."
„Es handelt sich um Kusinen von Lady Eliot, sie heißen Mabey. Ich glaube, sie sind
gebrechlich und können nicht viel nach draußen gehen. Als ich dort war, befanden sie sich in
ihren Zimmern, so dass ich sie nicht zu sehen bekam."
Die Dowager Duchess schien verwundert. „Die Mabey-Schwestern? Die habe ich in der
Tat vor vielen Jahren in London kennen gelernt. Das ist ja interessant. Die beiden müssen
inzwischen schon in den achtzigern sein." Sie lächelte. „Es ist zwar nett, dass du dann dort
Gesellschaft hast, doch ich dachte eigentlich an jemanden deines Alters."
„Ich werde es in Betracht ziehen, Mama, doch versprechen kann ich es nicht. Bei Rate hat
es schließlich auch lange ge dauert, bis er sich eine Gattin nahm." Hugo hielt das für eine
geschickte Verteidigung.
„Raphaels A l gnes Warten war es auch wert, denn Lucy macht ihn sehr glücklich. Und
dann denke an deinen Vetter Aiden und dessen Gattin Serafina. Die beiden sind einfach selig
zusammen. Du sollst ausschließlich aus Liebe heiraten, Schatz. Ich empfehle nur, dass du
damit anfängst, nach der Richtigen zu suchen, die dich dann ebenso glücklich macht." Sie
lächelte noch strahlender. „Du weißt, dass ich nichts von dynastischen Verbindungen halte.
Ein nettes Mädchen, das zu deinem Naturell passt, wäre mir durchaus recht."
„Jawohl, Mama", sagte Hugo pflichtschuldigst und hoffte, sie würde jetzt das Thema
wechseln.
„Nun gut." Sie erhob sich. „Also vorwärts, Hugo, und erweise dich als ein Mann von
Stärke und Charakter. Das hätte sich dein Vater auch gewünscht, und mic h würde ebenfalls
nichts glücklicher machen."
Hugo drehte sich zum Fenster um. „Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen." Er
zwang sich zu einem neutralen Ton. Lieber wäre er gestorben, als sich anmerken zu lassen,
wie tief ihn ihre Worte kränkten.
„Mir wäre es lieber, wenn du dich selbst nicht enttäuschtest", bemerkte sie sanft. „Ich sehe
dich dann beim Dinner wieder."
Hugo nahm kaum das Rascheln ihrer Röcke wahr, als sie hinausrauschte. Er trat an das
Tablett mit den Getränken, schenkte sich ein großes Glas Whisky ein und stürzte es mit einem
Zug hinunter. Da hatte er nun den Beifall seiner Mutter erwartet, jedoch nur einen
eingeschränkten Segen und einen ganzen Sack voll Skeptik erhalten. Anscheinend reichte es
nicht, dass er Lyden gekauft hatte. Nun wollte sie auch noch, dass er das Haus mit einer
Ehefrau versah! Konnte er seine Mutter denn überhaupt nicht zufrieden stellen?
Mit düsterer Miene schenkte er sich ein weiteres Glas voll und ließ sich dann in einen
Ohrensessel sinken.
Wenn sie so großen Wert auf eine Ehe legte, sollte er möglicherweise ihrer Empfehlung
folgen und sich eine zu seinem feinen Grundbesitz passende Gattin suchen als perfekte
Schaufensterauslage, die er dann seiner Familie präsentieren konnte.
Die Londoner Saison würde ja bald beginnen, und da ließen sich jede Menge junge Misses
finden, die mehr als bereit waren, sich ihm an den Hals zu werfen. Das kannte er ja alles
schon. Er war jung, charmant und sah gut aus, seine Familienverhältnisse waren untadelig, er
selbst war vermögend und besaß Land. Kurz gesagt, er war höchst begehrenswert - trotz
seiner fragwürdigen Vergangenheit.
Die Aussicht auf die gesellschaftliche Saison erschien ihm furchtbar öde, doch da er
unbedingt den Siegel der Zustimmung seiner Familie haben wollte, musste er wohl in den
sauren Apfel beißen.
Also auf nach London.
Meggie lag auf ihrem schmalen Bett, schaute an die Decke und träumte von der Welt
außerhalb der Pflegeanstalt von Woodbridge. Heute Nachmittag war sie in die lebhafte Klein-
stadt gegangen, um sich neues Stickgarn zu kaufen. Außerhalb des Marktes hatte sie sich auf
eine Bank gesetzt und die Leute beobachtet, die an ihr vorbeiströmten.
Lächelnd hatte sie ein junges Pärchen vorüberkommen sehen. Die beiden waren tief in
ihrer Unterhaltung versunken gewesen. Gelegentlich berührten sich ihre Fingerspitzen
verstohlen, und ihre Gesichter spiegelten größtes heimliches Glück wider. Zweifellos waren
die zwei bis über beide Ohren ineinander verliebt. Eine wunderbare Wärme ging von ihnen
aus und umschwebte Meggie wie eine Wolke, die, nachdem das Pärchen wieder
verschwunden war, vor die Sonne zog und ein Frösteln in Meggies einsames Herz brachte . . .
Sie legte sich auf die Seite und hielt die Hand über die Bettkante, um ihre Finger in
Hadrians dichtes dunkles Fell zu schieben. Während sie ihn hinter den Ohren kraulte, seufzte
er zufrieden, was sie irgendwie tröstlich fand.
„Was soll's", flüsterte sie. „Es bringt ja nichts, wenn wir nach etwas schmachten, das wir
nicht bekommen können, nicht wahr? Du und ich, wir haben eben nur uns beide und müssen
uns mit dem kleinen Glück zufrieden geben, das wir innerhalb dieser Mauern finden."
Der Wolf brummte leise, und Meggie wusste, dass er ihr zustimmte. Hadrian war fast
immer mit ihr einer Meinung, nur nicht, was die Häufigkeit ihrer gemeinsamen Ausgänge
betraf. Er litt unter seinem Eingesperrtsein ebenso wie sie, und dagegen konnte sie nichts
machen. Er war schon so lange domestiziert, dass es seinen Tod bedeuten würde, wenn sie ihn
jetzt in die Wildnis zurückbrächte, und diesen Gedanken vermochte sie nicht zu ertragen.
Seit fünf Jahren war Hadrian schon ihr lieber Gefährte. Sie hatte ihn im Wald aus einer
Falle befreit. Die grausamen Stahlzähne hatten ihm das arme Pfötchen gebrochen und
zerfetzt. Widerstrebend hatte Schwester Agnes ihr gestattet, ihn bei sich zu behalten, und so
hatte Meggie ihn wieder gesund pflegen können.
Selbstverständlich erkannte Schwester Agnes damals noch nicht, dass Hadrian ein
Wolfsjunges war, und als seine Augen gelb wurden und ihn verrieten, konnte Schwester
Agnes gegen seine Anwesenheit nichts mehr einwenden.
Hadrian benahm sich aber auch mustergültig. Niemals bedrohte er jemanden. Von den
Besuchern hielt Meggie ihn vorsichtshalber fern, es hätte ja sein können, dass jemand bei
seine m Anblick in Panik ausbrach. Um die Patienten sorgte sie sich nicht. Die schienen seine
Gegenwart sogar als tröstlich zu empfinden, denn Hadrian fühlte sich - genau wie Meggie - zu
Kranken und Gestörten hingezogen.
Hadrian und Meggie waren einander absolut ergeben, und der Wolf füllte in ihrem Leben
eine Lücke aus, die sonst leer geblieben wäre. Wenn sie schon dazu verurteilt war, zu leben,
ohne dass sie jemals die erfüllende menschliche Liebe kennen lernen würde, so gehörte ihr
doch wenigstens die unerschütterliche Liebe dieses herrlichen Tiers. Beide waren sie von
derselben Art - beide getrennt von ihrem Rudel, beide beargwöhnt in einer Welt, die sie nicht
verstand. Und beide würden alles für ihre Freiheit geben.
Eine Träne rollte ungewollt über Meggies Wange. Dabei war es überhaupt nicht ihre Art,
sich selbst Leid zu tun, doch jetzt fragte sie sich zum tausendsten Mal, welche Geschichte sich
wohl wirklich hinter ihrer Geburt verbarg. Die gute Tante Emily hatte ihr auf ihre
entsprechenden Fragen immer nur geantwortet, ihr Vater sei Monate vor Meggies Geburt
verstorben, und ihre Mutter sei ihm gefolgt, nachdem sie ihr einziges Kind zur Welt gebracht
hatte.
Meggie ahnte, dass mehr hinter dieser Geschichte steckte. Sie hatte sogar ihre Gabe
benutzt, um die Wahrheit heraus zufinden. Sie hatte in Tante Emilys Kopf hineingelauscht -
wie auch in die Köpfe aller anderen -, hatte indes nur unverständliches Durcheinander gehört.
Es war beinahe, als sollte sie nichts erfahren.
Was sie dagegen genau hörte, war das Geflüster im Dorf, und später belauschte sie auch
die Nonnen im Waisenhaus, wenn diese voller Empörung über ihre schmutzige Herkunft
redeten. Bedauerlicherweise erfuhr Meggie nie die Details. Sie hörte nur das verdammende
Wort heraus: Bankert. . .
Hatte sie in den ersten neun Jahren bei der guten Tante Emily eine glückliche Zeit erlebt,
so waren die darauf folgenden acht Jahre im Waisenhaus furchtbar gewesen. Meggie wurde
die Erinnerung nicht los an dunkle, muffige Räume und ewige Kälte, an einen ständig leeren
Magen, an das Weinen in der Nacht und an die fortgesetzten Bestrafungen wegen
tatsächlicher oder eingebildeter Vergehen. Schließlich war auch alles, was Meggie tat, ein
Vergehen gewesen - mit Ausnahme des Betens, und das machte sie angeblich ebenfalls nicht
richtig.
Also sollte sie sich wirklich nicht beklagen über ihr gegenwärtiges Schicksal. Das
Pflegeheim war doch vergleichsweise ein Sanatorium für sie.
Sie wünschte nur, sie könnte die Gedanken an Lord Hugo Montagu vertreiben, die sie
ständig verfolgten und ihr den Schlaf raubten. Immer hatte sie dasselbe Bild vor sich: Sie sah
seine große Gestalt am Fenster stehen, eine Hand an die Glasscheibe gepresst, und der Blick
seiner saphirblauen Augen schien sie zu durchbohren.
Es war ihr nur gelungen, die Wirklichkeit hübsch aus zuschmücken, und jetzt konnte sie
auch deutlich hören, was seine tiefe Stimme ihr eindringlich zurief: ,Meggie . . . Meggie,
meine Liebste, ich brauche dich! Meggie, bitte komme zu mir!'
,Ja', antwortete sie ihm dann in ihrem Kopf. ,Ja, ich komme. Warte nur, Hugo. Du musst
nur auf mich warten . . .'
Und dann bebte ihr Körper immer vor einer Sehnsucht, die sie nicht zu beherrschen
vermochte.
Stöhnend barg sie das Gesicht im Kopfkissen. So ging es wirklich nicht weiter. Sie durfte
sich nicht dem absurden Verlangen nach einem Mann hingeben, der nichts war als ein
Bruchstück ihrer Erinnerung.
Jemand klopfte leise an die Tür. Meggie setzte sich sofort auf. „Ja? Wer ist da?" rief sie,
obwohl sie es bereits wusste. Sie vermochte Roses Gegenwart durch die schwere Tür
hindurch zu erspüren.
„Meggie? Hier ist Rose. Kommen Sie rasch! Lady Kincaid geht es schlecht! Tut mir Leid,
dass ich Sie aufgeweckt habe, aber Sie sind ja die Einzige, die sie beruhigen kann. Sie nimmt
ihr ganzes Zimmer auseinander und regt damit alle anderen Patienten mächtig auf."
„Ich komme sofort!" Meggie war schon aus dem Bett gesprungen und zog sich die
Nachtbekleidung aus und das Arbeitskleid an, welches sie über einen Stuhl gelegt hatte. Um
ganz wach zu werden, spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Eilig schlüpfte sie in ihre
Schuhe, schlang sich einen Schal um die Schultern und lief durch den Korridor zum
Frauenflügel.
Rose, ein ziemlich stumpfsinniges junges Mädchen aus dieser Gegend, kam ihr auf halbem
Wege wieder entgegen. Die weiße Haube saß ihr schief auf dem Kopf. „Ich weiß auch nicht,
was mit ihr los ist, Meggie. Ehrlich nicht. Ich saß draußen, alles war still, und jeder schlief
schon fest. Da fing die Lady plötzlich ganz entsetzlich zu schreien an und hörte nicht mehr
auf. Sie warf Gegenstände quer durchs Zimmer, und ich konnte nicht mehr hineinkommen."
Während Roses atemlosen Berichts rannten die beiden mit bis zu den Knien hochgerafften
Röcken durch den Flur. Meggie hörte Lady Kincaid schon, deren Kreischen durch das ganze
stille Haus gellte.
„Irgendetwas muss geschehen sein. Fällt dir gar nichts ein? Sie war doch ganz ruhig, als
ich sie heute Abend verließ", keuchte Meggie.
„Nein, nicht dass ich wüsste. Nun, wenn ich's mir recht überlege . . . die Lady fragte nach
ihrer Mama, und ich sagte ihr, dass ihre Mutter schon lange im Himmel wohne, und sie solle
nun wieder ins Bett gehen. Das war vor zwei Stunden."
Unvermittelt blieb Meggie stehen. „Rose, wie oft muss ich dir noch sagen, dass die
Wahrheit bei solchen Patienten nicht immer das Beste ist?"
„Ich darf doch nicht lügen, Meggie", sagte Rose ängstlich. „Es stimmt doch auch, dass ihre
Mutter schon vor vielen Jahren verstorben ist."
„Nur weiß das Lady Kincaid nicht. Vergiss nicht, dass sie weit in der Vergangenheit lebt,
und damals war ihre Mutter eben noch nicht tot."
„Sie wollen also, dass ich der Lady sage, ihre Mama käme jeden Moment herein? Sie hätte
doch gleich gemerkt, dass ich lüge, Meggie! Und Gott würde mich für diese Unwahrheit
strafen." Tränen standen in Roses Augen.
Auf der Stelle bereute Meggie, dass sie das arme Mädchen so angefahren hatte. Rose
konnte ja nichts für ihre schlichte Denkungsart. „Schon gut. Hast du Schwester Agnes eben-
falls benachrichtigt?" erkundigte sie sich, während sie sich innerlich auf die heftigen Anfälle
von Gewalt vorbereitete, an denen Lady Kincaid litt.
„Ich hielt es für das Beste, Sie zu holen, Meggie. Sie wissen, wie die Lady in diesem
Zustand ist. Niemand wird mit ihren Anfällen so gut fertig wie Sie. Habe ich es richtig
gemacht, sie Ihnen zu überlassen?"
„Sicherlich. Die gute Schwester braucht ihre Ruhe."
Meggie seufzte schwer und dachte an die ihr bevorstehende Aufgabe. Es würde eine lange,
anstrengende Nacht werden, in der sie versuchen musste, Eunice Kincaids gestörten Geist zu
entwirren.
4. KAPITEL

Hugo lauerte hinter einer der Topfpalmen, die Lady Cumberlands Ballsaal dekorierten.
Heimlich betrachtete er die versammelte Gesellschaft und fragte sich, wieso er es für eine
gute Idee gehalten hatte, sich eine Gattin zu suchen. Jede dazu in Frage kommende Miss hatte
bei ihm nur einen schalen Geschmack im Mund hinterlassen. Eine besonders Fürchterliche
machte ihm das Leben zur Hölle, indem sie ihn verfolgte, als wäre er ein leckeres Stück
Rindfleisch, das sie mit großer Freude verzehren wollte. Und deshalb versuchte er jetzt auch,
sich zwischen dem Grünzeug zu verbergen.
Er hätte Kopfschmerzen vorgeben und Lady Cumberland seine Entschuldigung übermitteln
sollen. Oder noch besser - er hätte sich für immer von diesem Elend verabschieden sollen.
Er schob sich einen Palmwedel aus dem Gesicht und überlegte, ob er die ganze Heiratsidee
nicht aufgeben sollte. Nichts war diesen Jammer wert.
„Ah, Montagu", hörte er eine Stimme hinter sich. „Hier versteckst du dich also und tust so,
als wärst du eine Tropenpflanze!"
Hugo drehte sich um und sah seinen alten Freund Michael Foxiane, der ihn träge erheitert
betrachtete. „Oh, hallo, Foxiane", sagte er unbehaglich. Seit Monaten war er dem Mann
absichtlich aus dem Weg gegangen. Michael Foxiane liebte Spieltische, und Hugo hatte schon
zu oft sein letztes Hemd an ihn verloren. „Was machst du denn hier?" fragte er und zwang
sich zu einem Lächeln. „Du verabscheust doch diese Art von Amüsement, falls man es
überhaupt so nennen kann."
„Ich tue nur meiner Tante Hermione einen Gefallen", antwortete Foxiane unbekümmert.
„Sie ist die Anstandsdame für eine Kusine, die sich während der Saison in London aufhält,
und ich habe mich einverstanden erklärt, mitzukommen und mit dem Mädchen zu tanzen.
Miss Amelia Langford lautet ihr Name." Er warf Hugo einen listigen Blick zu.
„Große Güte!" Entsetzt starrte Hugo seinen Freund an, der soeben den Namen genau der
Frau genannt hatte, der er selbst zu entkommen versuchte. „Willst du etwa damit sagen, sie
sei irgendwie mit dir verwandt?"
Das Weibsbild hatte Raffzähne, eine schlechte Haut und keinerlei Verstand, dafür jedoch
einen Stammbaum und ein großes Vermögen, und diese Dinge hatten ihr Zutritt zu der
vornehmen Gesellschaft verschafft. Deshalb befand sich auch Miss Amelia Langford immer
genau dort, wo auch Hugo ge rade war. Verstohlen schaute er zu ihr, um festzustellen, ob sie
ihn bereits entdeckt hatte.
Foxiane grinste. „Sie ist ganz verrückt nach dir, mein Freund. Auf dem Weg hierher hat sie
mir fortwährend von deinem unglaublichen Charme vorgeschwärmt. Sie hat es fest auf dich
abgesehen."
„Über Miss Langfords Ambitionen brauchst du mir nichts zu erzählen. Ihre Absichten hat
sie mir mehr als deutlich klargemacht." So ein Pech aber auch, dass Foxiane mit dieser Kuh
verwandt ist, dachte Hugo, jetzt muss ich mich ihr gegenüber auch noch höflich verhalten!
„Nun, wenn du verbreitest, dass du eine Gattin suchst, musst du schließlich damit rechnen,
dass man dich verfolgt", erklärte Foxiane. „Das ist doch in der ganzen Stadt herum. Im
White's werden sogar Wetten darauf angenommen, dass Amelia - oder eher ihr Vermögen -
noch vor Ende dieser Saison eingefangen wird." Er strich sich die Wange. „Wir fragen uns
alle, was mit dir los ist. Du vernachlässigst deine Freunde, Montagu. Hängt das damit
zusammen, dass du ein Anwesen auf dem Land gekauft hast? Falls dem so ist, dann werde ich
wohl das Geld in meiner Tasche gut festhalten müssen."
„Ach, davon hast du auch schon gehört?" Sosehr Hugo auch die Gesellschaft seiner
Freunde genoss, so erinnerte diese ihn doch stets an seine vergangenen Vergnügungen und
den nachfolgenden Niedergang. „Ich gebe zu, dass ich damit sehr beschäftigt bin", sagte er,
obwohl er seit dem Ankauf von Lyden Hall noch kein einziges Mal in Suffolk gewesen war.
„Beschäftigter als damit, dir eine Gattin zu beschaffen?" Foxiane hob zweifelnd die
Augenbraue. „Nach dem, was ich hörte, bist du seit zwei Monaten in London, und du
ignorierst uns noch immer. Sind deine Taschen so leer, dass eine reiche Erbin zu heiraten
deine letzte Hoffnung ist?"
„Ganz im Gegenteil." Foxianes Vermutung verärgerte Hugo. „Meine Taschen sind gut
gefüllt. Für mich wird es nur Zeit, mich niederzulassen und für Nachwuchs zu sorgen."
„Du? Für Nachwuchs sorgen?" Foxiane bekam fast einen Erstickungsanfall.
Hugo ebenfalls, als er merkte, was er da gesagt hatte. Nachwuchs war wirklich das Letzte,
das er sich wünschte. Was sollte er auch mit einer Horde plärrender Gören? An diese Folgen
einer Ehe hatte er überhaupt noch nicht gedacht, und jetzt erschauderte er dabei. „Ich meinte
damit nur, ich will mir den Anschein geben, als beabsichtige ich, für Nachwuchs zu sorgen,
damit meine Mutter aufhört, mich damit ständig zu belästigen. Das wirst du doch verstehen.
Wenn ich mich recht entsinne, war deine eigene Mutter in der gleichen noblen Sache auch
jahrelang hinter dir her."
„Ah, ich glaube, jetzt verstehe ich. Diese Suche nach einer Gattin ist nur eine List, mit der
du deine liebe Mama täuschen willst. Warum auch nicht?" Er schlug Hugo auf den Rücken.
„Wenn du keine Braut vorweist, dann nicht, weil du dich nicht bemüht hättest."
„Genau."
„Und Kusine Amelia ist für ein solches Spiel bestens geeignet", fuhr Foxiane nachdenklich
fort. „Alle würden glauben, du wolltest sie nur wegen des Geldes heiraten, doch da du ja
sagst, du brauchtest es nicht. . . Nun, du hast es aus den richtigen Gründen versucht, doch am
Ende bringst du es nicht fertig, sie aus einem dieser Gründe zu ehelichen. Und eine andere
ebenfalls nicht." Er lachte leise. „Ein tatsächlich schlauer Plan!"
„Eben", sagte Hugo, der dasselbe dachte. Wieso war er nicht schon eher selbst darauf
gekommen, statt sich acht lange Wochen herumzuquälen?
„Ach, da sind Sie ja, Lord Hugo! Ich habe Sie schon überall gesucht. Sie hatten mir doch
versprochen, heute Abend mit mir Walzer zu tanzen!"
Bei dieser schrillen Stimme fuhr Hugo zusammen. Hinter ihm stand Miss Amelia Langford
und beäugte ihn wie eine Menschenfresserin.
Hugo hatte es ihr tatsächlich versprochen, wie er sich zu seinem Kummer erinnerte. Das
war vor einer Woche in Almacks Ballhaus gewesen. Er hatte ihr dringend entkommen wollen,
und mit dem Versprechen auf den Walzertanz hatte er gemeint, sie abschütteln zu können.
Wie töricht von ihm zu glauben, er könnte sich ihr entziehen!
„Guten Abend, Miss Langford." Er verneigte sich kurz.
Sie fasste sich an ihre wie üblich übertrieben gekräuselten Locken. Alles an Miss Amelia
Langford war übertrieben, einschließlich ihrer Zuversicht, dass sie trotz ihres Aussehens mit
ihrem Geld alles für sich beanspruchen konnte, was sie begehrte. „Während der ganzen
letzten Woche habe ich mich so sehr darauf gefreut", sagte sie und klimperte mit ihren
Wimpern.
„Ich auch." Hugo versuchte, Foxianes wissendes Lächeln zu übersehen. „Wollen wir?" Als
die ersten Walzertakte erklangen, bot er ihr seinen Arm. Amelia Langford hatte die Situation
exakt so eingerichtet, dass er sich ihr nicht gut verweigern konnte, was er ihr sehr übel nahm.
Er ertrug den Walzer sowie ihr leeres Geschwätz und wünschte sich, er wäre sonstwo, nur
nicht hier.
Schließlich rettete ihn Foxiane. „Komm mit ins White's", flüsterte er, als Hugo endlich
Amelias Arm abschütteln konnte. „Wir brauchen eine freundlichere Umgebung. Ich kann
diesen langweiligen Unsinn nämlich auch nicht mehr ertragen. Meine Pflicht habe ich getan,
und du deine auch."
Ohne nachzudenken, stieg Hugo in dieses Rettungsboot, ließ sich Hut und Mantel
aushändigen und folgte Foxiane bereitwilligst zur Tür hinaus.
„Gib noch einmal", forderte Hugo und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er
wusste nicht, wie es zu dieser Katastrophe gekommen war. Was als amüsanter Abend unter
Freunden mit ein paar Kartenspielen und gutem Brandy begonnen hatte, war zu
ausgewachsenem Glücksspiel geworden.
Jetzt brach schon die Morgendämmerung an, und Hugo drohte die Gefahr, alles zu
verlieren, was er in Paris gewonnen hatte, und noch mehr. Seine eigene Dummheit hatte ihn
an diesen Tisch gebracht. Seine Arroganz hatte ihn glauben lassen, er könnte es mit den
besten Spielern aufnehmen und dann mit volleren Taschen als je zuvor davongehen.
„Bist du dir ganz sicher?" Arthur Waldock blickte ihn besorgt an. „Ich habe dir heute
schon genug abgenommen, Hugo. Lass gut sein."
„Es gut sein lassen?" mischte sich Foxiane ein. „Hast du schon einmal erlebt, dass Hugo
Montagu einen Rückzieher macht, wenn er in der Klemme sitzt? Mann, ich habe ihn schon
einmal in der gleichen Situation mit einem einzigen Spiel Siebzehnundvier fünfzigtausend
Pfund gewinnen sehen! Wenn er eine missliche Lage herumdrehen muss, kann er sich immer
auf das Glück des Teufels verlassen. Verweigere ihm nicht die Chance, dir alles wieder
abzunehmen!"
Er rieb sich das Kinn und blickte Hugo aufmunternd an. Seine Augen leuchteten so
aufgeregt, als hätte er schon Blut geleckt. Michael Foxiane lebte immer an der Kante des Ab-
hangs, und es kümmerte ihn wenig, wer dabei hinunterfiel, solange er es nicht selbst war.
Daran hätte sich Hugo erinnern sollen, bevor er sich hatte her locken lassen. Nun war es zu
spät. Also grinste er frech. „Hast du etwa Angst, du könntest deinen Gewinn wieder verlieren,
Waldock?" fragte er scheinbar unbesorgt.
„Was hast du denn noch übrig, das du einsetzen könntest?" wollte Waldock wissen. „Ich
habe hier so viele Schuldscheine von dir, dass ich damit ein ganzes Schlachtschiff versenken
könnte, und dich mit ihm, Hugo. Geh doch nach Hause, und schlafe dich aus. Morgen kannst
du's noch einmal versuchen."
Für Hugo würde es aber kein Morgen geben, falls er seinen katastrophalen Verlust nicht
wieder hereinholte. Er wollte sich nicht noch einmal der Verachtung seiner Verwandten
stellen, wenn er ihnen bewies, dass sie seine Charakterschwäche richtig eingeschätzt hatten.
Er holte tief Luft. „Lyden Hall", antwortete er, und sein Herz hämmerte. „Ich setze Lyden
Hall ein. Das ist sechzigtausend Pfund wert. Das Spiel heißt Siebzehnundvier. Der Gewinner
bekommt alles. Dieses Spiel hat mir schon einmal Glück gebracht, vielleicht funktioniert es
noch ein zweites Mal."
Waldock schüttelte den Kopf und zuckte dann die Schultern. „Na schön, wie du willst. Ich
habe ja nichts zu verlieren."
Foxiane nickte und fletschte beinahe wie ein Raubtier die Zähne. Seine Stirn war ebenfalls
schweißbedeckt. „Du hast immer ein goldenes Händchen, wenn du's darauf anlegst, Montagu.
Dann wollen wir doch einmal sehen. Mit Glück kannst du dich danach auch ein für alle Mal
von meiner Kusine verabschieden."
„Um die ging es nie." Hugo strich sich über die Augen. Falls er nicht die richtigen Karten
bekäme, würde es sehr wohl um Amelia Langford gehen, und zwar in einer Form, die er sich
nie vorgestellt hatte.
„Wir werden ein frisches Spiel Karten nehmen. Das bringt Glück." Foxiane schnippte mit
den Fingern, als ein Diener vorbeikam. Er mischte die neuen Karten und gab.
Hugo bekam eine verdeckte Pikzehn und eine offene Kreuzfünf. Sein Mut schwand.
Waldocks offene Karte war ein Karoass. Die Chancen standen äußerst schlecht für Hugo,
doch ihm blieb keine Wahl. Er nickte, und Foxiane teilte ihm eine weitere Karte aus, die Herz
vier, mit der Hugo auf insgesamt neunzehn Punkte kam.
Er nahm einen großen Schluck Brandy, knirschte mit den Zähnen und unterdrückte einen
Übelkeitsanfall, während Waldock Foxiane zunickte.
Dieser gab. Eine Piksechs. Damit kam Waldock auf sieben oder achtzehn, je nachdem, wie
er das Ass zählte.
Jetzt hing alles von Waldocks verdeckter Karte ab. Er begegnete kurz Hugos Blick und
drehte sie dann um. Es war die Kreuzvier.
„Einundzwanzig!" stellte Foxiane fest. „Montagu?"
Hugo schüttelte den Kopf und drehte seine verdeckte Pikzehn um.
„Neunzehn. Pech, Montagu. Gratuliere, Waldock."
Hugo stieß den Atem zwischen den Zähnen aus. Die Übelkeit stieg in ihm hoch, und seine
Welt drehte sich in einer langen Abwärtsspirale in die Schwärze.
Ich bin ruiniert, dachte er noch, bevor er ohnmächtig wurde.
Wieder ruiniert.
Hugo schlug die Augen auf und spürte sofort den Schmerz durch seine Stirn schießen. Sein
Mund schmeckte wie der Bodenschlamm der Themse und fühlte sich an wie mit Katzenfell
überzogen. Stöhnend rollte er sich auf die Seite und barg das Gesicht im Kopfkissen. Er
konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wie er in diesen scheußlichen Zustand geraten
war, doch was immer er auch getan hatte - es war ein Fehler gewesen.
Er wusste nicht einmal mehr, wie er nach Haus gekommen war, geschweige denn, wo er
vorher gewesen war. Das Letzte, was er entsann, war, dass er Lady Cumberlands Ball guter
Dinge mit Foxiane verlassen hatte.
Foxiane. Hugo setzte sich mühsam hoch, drückte sich die Hand gegen die schmerzende
Stirn und strengte sein Gedächtnis an. Das White's. Jawohl, sie waren zum White's gegangen
und danach ... ja, ins Boodle's, wo sie zu seiner großen Freude eine Gruppe Freunde getroffen
hatten. Doch danach verschwamm alles, und da war nur noch ein schwarzes Loch und das
Gefühl einer entsetzlichen Bedrohung . . . doch weshalb?
Als er jemanden diskret an die Tür klopfen hörte, murmelte er ein Herein.
„Guten Tag, Milord", grüßte Mallard leise und drückte die Tür auf. In einer Hand
balancierte er ein Tablett. „Es ist bereits nach zwei Uhr nachmittags, und ich dachte, Sie
möchten vielleicht aufstehen."
„Was - zwei Uhr?" Hugo erstarrte. „Wann bin ich denn heimgekommen?"
„Heute Morgen um sieben, Milord. Lord Waldock hat Sie hergebracht und es uns dann
überlassen, Sie ins Bett zu le gen. Ich sollte Ihnen diesen Brief geben, wenn Sie aufwachen. "
Der Diener stellte das Tablett auf Hugos Schoß, reichte ihm einen zusammengefalteten Bogen
Papier und öffnete die Vorhänge, doch nur einen Spaltbreit.
Hugo war Mallard für dessen Takt dankbar, obwohl an diesem verregneten Nachmittag
keine Sonne zu sehen war, doch schon das geringste Licht fühlte sich an wie ein Messer, das
in seinen Kopf stieß.
Hugo entließ den Mann mit einem kurzen Nicken, und sobald Mallard die Tür hinter sich
geschlossen hatte, nahm er das Buttermesser zur Hand, erbrach damit das Briefsiegel und las
die zierliche Schrift.

Mein lieber Montagu,


wir sind schon sehr lange befreundet, und ich bin zutiefst bekümmert über die missliche Lage,
in der Du Dich auf Grund unseres gestrigen Glücksspiels befindest. Obgleich ich sowohl
Deine Schuldscheine über insgesamt hundertvierzigtausend Pfund als auch die zugesagte
Übereignung von Lyden Hall, welche weitere sechzigtausend Pfund wert ist, in Händen halte,
will ich Dir jede Gelegenheit bieten, genügend Mittel aufzutreiben, damit du Lyden nicht
verlieren musst.
Deshalb biete ich Dir ein Ziel von neunzig Tagen an, um mir die Gesamtsumme von
zweihunderttausend Pfund auszuzahlen. Ich hoffe sehr, es gelingt Dir, Deinen Spielverlust
irgendwie wieder hereinzuholen, und ich erwarte Deine Antwort.
Hochachtungsvoll
Waldock

Hugo starrte auf das Papier. Siebzehnundvier! Jetzt fiel es ihm wieder ein - das endlose
Kartenspiel, seine fortwährenden Verluste, seine törichte Zuversicht, dass sich das Blatt doch
noch wenden würde, und dann seine in einer Brandyflasche untergegangene Übersicht, als er
Lyden aufs Spiel gesetzt - und es verloren hatte.
Stöhnend schloss er die Augen und betete voller Inbrunst, es möge sich nur um einen
bösen Traum handeln. Doch als er sie wieder aufschlug, schmerzte noch immer dasselbe
graue Tageslicht, und derselbe verdammte Brief knisterte noch immer in seinen Fingern.
Zur Rettung aus seinem Dilemma fiel Hugo nur eine einzige Lösung ein, und die war
widerwärtiger als der augenblickliche Geschmack in seinem Mund.
„Lord Hugo, welch ein Vergnügen, Sie so bald nach unserem letzten Treffen wegen des
Kaufs von Lyden Hall wieder zu sehen!" Mr. James Gostrain von der Agnesehenen Kanzlei
Gostrain, Jenkins and Waterville erhob sich hinter seinem Schreibtisch, um Hugo die Hand zu
schütteln. Hugo hätte jetzt lieber Foxiane geschüttelt, weil dieser ihn schließlich ins Unglück
getrieben hatte. Er zwang sich indes zu einem Lächeln.
„Mr. Gostrain. Ergebener Diener. Danke, dass Sie so schnell für mich Zeit hatten."
„Keine Ursache. Was darf ich für Sie tun, Milord?" Freund lich deutete Gostrain auf den
Sessel vor seinem Schreibtisch.
Hugo setzte sich. „Ich denke an eine Heirat, möchte mich über die zu erfüllenden
Formalitäten im Zusammenhang mit einem Ehevertrag info rmieren und erfahren, wie schnell
ein solcher Vertrag Gültigkeit erhält. Es handelt sich hier nämlieh um eine beträchtliche
Mitgift, und ich möchte nicht, dass Bürokratie die Angelegenheit unnötig hinauszögert."
Mr. Gostrain, ein Mann von Anfang sechzig mit schütterem grauem Haar, sah Hugo lange
an. „Ich vermute, Sie haben einen Grund, in aller Eile zu heiraten?"
„Richtig, und deshalb will ich über alle Bestimmungen eines derartig bindenden Vertrags
Bescheid wissen."
Mr. Gostrain legte die Fingerspitzen zusammen. „Darf ich fragen, ob Sie der betreffenden
Dame bereits einen Heiratsantrag gemacht haben?"
„Nein . . . ich fand es besser, mich zunächst über die Vertragseinzelheiten zu informieren."
Die einzige Einzelheit, die Hugo interessierte, bestand darin, so schnell wie möglich wieder
Geld in die Tasche zu bekommen, doch das konnte er Gostrain natürlich nicht sagen.
„Ah, verstehe. Nun, ein Ehevertrag ist nichts so Kompliziertes, wie Sie möglicherweise
denken, Milord. Grundsätzlich wird diese Angelegenheit zuerst zwischen den beiden Familien
und danach von deren Advokaten geregelt. Sie selbst sind verpflichtet, den Eltern der jungen
Dame exakt Ihre Umstände darzulegen, und im Gegenzug sind die Eltern verpflichtet, Sie
über den Umfang des Vermögens der Dame zu informieren, der Ihnen dann nach
Eheschließung zufällt."
„Das ganze Vermögen?" Hugo wollte, dass keinerlei Missverständnis aufkam.
„Das ganze, mit Ausnahme eines etwaigen separaten Vermögens, welches ihre Eltern
vielleicht einem Treuhänder zwecks Verwaltung anvertrauen wollen, was jedoch nicht
allgemein üblich ist." Gostrain räusperte sich. „Da Sie ein Nachgeborener sind, ist hier die
Erblinie nicht betroffen. Ihre Gattin wird selbstverständlich Ihren Ehrentitel teilen, doch ihre
Eltern werden wissen wollen, ob Sie in der Lage sind, ihrer Tochter ein angemessenes Leben
zu bieten. Falls Sie vor Ihrer künftigen Gattin abieben, hat diese das Recht auf ein eigenes
Vermögen, was ungefähr einem Drittel Ihres Einkommens entspricht."
„Oh", sagte Hugo restlos gelangweilt. An der weit entfernten Zukunft war er nicht
interessiert. Er wusste nur, dass er also Amelia Langfords Eltern ins Gesicht lügen und sagen
musste, dass Lyden Hall ihm noch gehöre und dass er außerdem noch beträchtliche Mittel
besitze.
Gostrain hatte unterdessen weitergeredet. „. . . und nun zu Kindern. Der Ehevertrag wird
Anteile festlegen ..."
Kinder? Nur über seine Leiche! Dennoch würde man von ihm erwarten, dass er mit Amelia
das Bett teilte und seine ehelichen Pflichten erfüllte. O Himmel! Bei dieser Vorstellung wurde
ihm übel. Je mehr Gostrain ihm etwas von den gesetzlichen Einzelheiten erzählte, desto mehr
geriet Hugo in Panik bei dem Gedanken, lebenslang an eine Person gebunden zu sein, die er
körperlich abstoßend fand.
Sicherlich war er leichenblass geworden, denn Gostrain unterbrach sich plötzlich mitten in
seiner Rede. „Wenn Sie mich bitte für einen Augenblick entschuldigen wollten, Lord Hugo",
bat er nur noch. „Ich sehe gerade, dass Mr. Jenkins mich heranwinkt. Es dauert nur einen
Moment." Er stand auf und ging ins Nebenzimmer, um mit seinem Partner zu reden.
Während die beiden Männer miteinander sprachen, hörte 1 Hugo die leisen Stimmen durch
die offene Tür hindurch, I beachtete sie jedoch nicht weiter, bis ein bestimmter Name fiel.
„Eine Margaret Bloom aus Ramsholt, Suffolk, sagen Sie?" |' wiederholte Mr. Gostrain.
„Die werden wir doch aufspüren können, obwohl inzwischen so viele Jahre vergangen sind. |'
Was haben wir denn für Anhaltspunkte?"
Hugo stand auf und bewegte sich leise nähe r zur Tür heran.
„Hier steht, David Russell habe gewusst, dass Margaret Bloom bei seiner Abreise nach
Indien vor dreiundzwanzig Jahren schwanger war", antwortete Mr. Jenkins. „In seinem
Testament gibt er sehr deutlich an, er wolle das Vermögen, t, welches er erworben hat,
Margaret Bloom und dem etwaigen direkten Nachkommen, der im Jahr 1799 geboren ist,
hinterlassen, und wir werden nun beauftragt, Nachforschungen in dieser Sache anzustellen.
Vierhunderttausend Pfund sind ja nicht eben wenig. Wirklich erstaunlich, was er alles in
Indien durch sein Geschäft im Seehandel angehäuft hat."
Hugo fiel vor Schreck fast um. Vierhunderttausend Pfund - und die schwammen einfach so
herum, während man nach dem Nachkommen einer gewissen Margaret Bloom suchte?
„Und falls wir den Erben nicht finden?" erkundigte sich Mr. Gostrain.
„Dann fällt das Geld an die Wohlfahrt", antwortete sein Partner. „Auch das hat Mr. Russell
sehr genau festgelegt. Offenkundig jedoch war er sich ganz sicher, dass diese Marga ret Bloom
tatsächlich im Sommer 1799 niedergekommen ist, so dass das Kind jetzt dreiundzwanzig
Jahre alt sein müsste. Mr. Russell versuchte bereits vor vielen Jahren mit Hilfe von
Detektiven, Mutter und Kind aufzuspüren, allerdings ohne Erfolg. Falls das Kind noch lebt -
beziehungsweise falls es überhaupt jemals existierte -, dann ist es Mr. Russells direkter
Nachkomme und zum Empfang der ganzen Summe berechtigt. Das Geld liegt jetzt in einer
Londoner Bank und wartet auf Auszahlung."
Hugos Gedanken überschlugen sich und landeten direkt im Pflegeheim von Woodbridge
bei dem Bild eines geisteskranken Mädchens mit dem Gesicht eines Engels. War dieses das
Mädchen? Woodbridge befand sich nur einen Steinwurf von Ramsholt entfernt, Meggie
Blooms Alter passte genau in die Geschichte, und ihr Name war fast identisch mit dem der
Mutter.
Er wusste, dass Meggie Blooms Mutter im Wochenbett ge storben war, und wenn er sich
nicht irrte, dann war das Mädchen jetzt vierhunderttausend Pfund wert. Vierhunderttausend
Pfund! Hugo fasste es nicht. Das war der unglaub lichste Zufall, der ihm jemals begegnet war.
Vierhunderttausend Pfund waren mehr als genug, um ihn aus allen seinen Schwierigkeiten
zu befreien. Er brauchte das Mädchen nur zu heiraten, bevor Gostrain, Jenkins and Waterville
es fanden. Und da er bereits wusste, wo sich die gesuchte Meggie Bloom befand, hatte er
einen großen Vorsprung vor ihnen. Die Kanzlei benötigte mindestens zwei Wochen, ehe sie
die Suche aufnehmen konnte.
Am liebsten hätte Hugo vor Begeisterung laut gejubelt. Es war perfekt - einfach perfekt!
Ein solches Vermögen würde doch für jemanden wie Meggie Bloom nichts bedeuten. Was
sollte eine Schwachsinnige schon mit Geld anfangen?
Für einen Moment wurde er wieder nüchtern, als er erkannte, dass er eine Geisteskranke
heiraten würde. Dennoch - würde das nicht alle seine Probleme lösen?
Über die Sache mit der Geistesschwäche würde er schon hinwegkommen. Das dürfte doch
nicht so schwierig sein. Die Nonne hatte ja selbst gesagt, Meggie sei ganz harmlos. Er musste
also nur dafür sorgen, dass sie auf Lyden Hall dis kret untergebracht wurde, und er musste für
sie eine Wärterin einstellen, die sich um sie zu kümmern hatte. Und falls er gefragt wurde,
konnte er ja vorgeben, er hätte sie gesehen und dann sofort aus dem Impuls heraus geheiratet.
Das würde ihm auch niemand verübeln können, denn sie war ja wirklich eine überwältigende
Erscheinung. Und wenn er dann erst einmal verheiratet wäre, konnte niemand von ihm
erwarten, eine andere Frau zu ehelichen. Er würde aussehen wie ein Märtyrer.
Kinder waren vermutlich unausweichlich, zumal er nicht vorhatte, die Hände von ihr zu
lassen. Er konnte nur darum beten, dass die Sprösslinge nicht mit derselben Behinderung
geboren wurden. Und falls doch, dann würde er umso mehr wie ein Märtyrer aussehe n. Noch
geachteter konnte er kaum werden!
Wie er allerdings die verwirrte Miss Meggie Bloom dazu bringen sollte, ihn zu heiraten,
war eine andere Frage, aber für die würde er auch noch eine Lösung finden. Außerdem hatte
sie ja nicht viel Auswahl. Und viel Verstand ebenfalls nicht.
Hugo setzte sich rasch wieder und gab sich die größte Mühe, auszusehen, als wäre er
gedankenverloren. Sobald Gostrain zurückkehrte, schaute er auf und seufzte schwer.
„Ich muss mich bei Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Rat bedanken. Nachdem ich alles
durchdacht habe, was Sie mir sagten, bin ich zu der Ansicht gelangt, dass ich diese bestimmte
Dame nicht heiraten kann. Die Wahrheit ist, ich liebe sie nicht, und ohne Liebe vermag ich
nicht zu heiraten."
Gostrain kratzte sich den Kopf mit einem Finger. „Ent schuldigung, Lord Hugo, doch wenn
das so ist, weshalb hatten Sie dann überhaupt in Betracht gezogen, sie zu ehelichen?"
„Wahrscheinlich weil ich dachte, so etwas erwarte man von einem Mann in meiner
Stellung." Hugo wusste, dass es wichtig war, seine Geschichte so darzulegen, dass man sie
ihm später auch abnahm. „Die Herkunft der Dame sowie ihre verwandtschaftlichen
Verbindungen sind makellos, und ihre Mitgift ist überaus groß. Dennoch stößt mich die
Aussicht ab, mein ganzes Leben mit einer Person zu verbringen, die ich nicht mag."
Er legte eine lange Pause ein, als zögerte er fortzufahren, und dann senkte er die Stimme.
„In Wirklichkeit liebe ich nämlich eine andere Frau, obwohl ich ihr bisher ebenfalls noch
keinen Heiratsantrag gemacht habe."
„Ah. Verfügt diese andere junge Dame vielleicht nicht über so gute verwandtschaftliche
Verbindungen wie die erste?" erkundigte sich Mr. Gostrain sehr taktvoll.
„Mein lieber Mr. Gostrain, soweit ich weiß, hat sie überhaupt keine Verwandtschaft. Sie ist
eine Waise, vollkommen mittellos und schutzlos in dieser Welt. Dennoch ist sie das
liebreizendste aller Geschöpfe, sanft und gut. Meine Mutter hat mich erst kürzlich ermuntert,
aus Liebe zu heiraten- nein, sie bestand sogar praktisch darauf. Und das werde ich auch tun.
Jawohl! Mein Bester, ich kann Ihnen gar nicht genug danken dafür, dass Sie mich davor
bewahrten, den größten Fehler meines Lebens zu machen."
„Ich habe doch ..."
„Guten Tag, Sir. Ich werde in Kürze mit ihr reden und kann nur beten, dass sie mich erhört.
Selbstverständlich werde ich Sie benachrichtigen, wenn sie meinen Antrag angenommen hat.
Es wird natürlich nur eine stille Hochzeit werden. Das halte ich unter den gegebenen
Umständen für das Beste."
Hugo verbeugte sich, nahm Hut sowie Spazierstock und ging. Den verblüfften Ausdruck
auf Mr. Gostrains gewöhnlich gelassenem Gesicht genoss er sehr.
5. KAPITEL

O Gott, o Gott, o Gott! Hugo wusste nicht genau, worum er eigentlich betete, wenn nicht
um göttlichen Beistand. Er fasste es nicht, dass er sich wieder im Pflegeheim befand, an
jenem Ort, an den er niemals hatte zurückkehren wollen.
Er hielt seinen Hut in den Händen, wartete darauf, in Schwester Agnes' Arbeitszimmer
gerufen zu werden, und probte im Stillen, was er sagen wollte - es waren alles Unwahrheiten.
Allerdings war er ein Experte darin, aufrichtig zu wirken. Das hatte er schon getan, solange
er denken konnte, und gewöhnlich auch erfolgreich. Jedenfalls bezweifelte er, dass die
Nonne, wenn es um Herzensdinge ging, den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit
erkannte.
Wie beim letzten Mal wurde er durch den langen Korridor zu Schwester Agnes'
Arbeitszimmer geführt. Er holte noch einmal tief Luft, klopfte leise und öffnete die Tür.
„Lord Hugo." Die Nonne blickte ihn über ihre Brille hinweg an. „Das ist ja eine
Überraschung. Was führt Sie so bald wieder hierher? Ich stand unter dem Eindruck, dass Sie
an den Aktivitäten unseres Pflegeheims nicht interessiert seien." Sie ordnete die Papiere vor
sich und betrachtete ihn fragend.
Hugo bedachte sie mit seinem charmantesten Lächeln. „Ich verstehe Ihre Verwirrung,
Schwester. Ich war selbst sehr verwirrt, als ich merkte, dass meine Gedanken immer wieder
hierher zurückkehrten - genauer gesagt, nicht so sehr zu diesem Heim, als zu einer ganz
bestimmten Person."
„Zu welcher Person, Lord Hugo? Ich erinnere, dass Ihnen recht wenig daran lag, Lady
Kincaid zu besuchen."
„Ich denke auch nicht an Lady Kincaid. Es mag vielleicht merkwürdig klingen, doch es ist
Meggie Bloom, die mir ständig durch den Kopf geht."
Jetzt setzte sich Schwester Agnes sehr gerade hin und musterte Hugo so scharf, dass es ihm
unbehaglich wurde. „Meggie Bloom? Entschuldigen Sie, Mylord, doch Sie kennen das
Mädchen ja nicht einmal."
„Richtig, Schwester, und dennoch hat sie einen tiefen Eindruck auf mich gemacht."
„Welche Art von tiefem Eindruck, wenn ich fragen darf?"
Hugo setzte die Miene eines Mannes auf, der seine Ab sichten ernst meinte, beugte sich
leicht vor und senkte die Stimme. „Was Sie mir über ihre tragische Vergangenhe it erzählten,
hat mich tief berührt. Seither geht sie mir nicht mehr aus dem Sinn, nicht einmal im Schlaf."
Er seufzte, womit er Sehnsucht ausdrücken wollte. „Ich würde meine Seele dafür hergeben,
um Meggies Leben zu ändern."
„Und wie wollen Sie das mache n, Lord Hugo?" fragte die Nonne genauso skeptisch, wie es
seine Mutter getan hätte. „Beabsichtigen Sie vielleicht, ihr Gönner zu werden?"
„Schwester, ich glaube, Sie missverstehen mich", sagte Hugo scheinbar gekränkt. „Falls
Sie denken, ich wollte ihr ein unmoralisches Angebot machen ..."
„Ich habe keine Ahnung, welche Art von Angebot Sie ma chen wollten", versetzte die
Nonne lakonisch. „Ich würde es ziemlich seltsam finden, wenn Sie mit irgendeinem unschick-
lichen Vorschlag zu mir kämen. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie nur das Beste für
Meggie wollen."
„Ja, natürlich", log er. „Meine Absichten sind absolut ehrenhaft."
„Sehr gut, Lord Hugo. Was wollen Sie also für Meggie tun, das ihr Leben verändern
würde? Hier hat sie alles, was sie braucht. Ihr Geld anzubieten würde an ihren Umständen
nichts ändern, weil sie nichts hat, wofür sie es ausgeben könnte. Ihre Bedürfnisse sind sehr
einfach."
„Mit Geld hat das nichts zu tun." Hugo ärgerte sich, dass ihm die Nonne nicht die erwartete
Dankbarkeit zeigte, schließlich wollte er ihr doch eine ihrer Schutzbefohlenen abnehmen. Um
sich seine Frustration nicht ansehen zu lassen, senkte der den Kopf.
„Ah. Dann wollen Sie Meggie vielleicht in Ihrem Haushalt anstellen? Ich hörte, dass Sie
kürzlich Lyden Hall gekauft haben. Dort werden Sie Personal benötigen."
„Das stimmt, doch darum handelt es sich auch nicht. Die Sache ist nämlich die - ich will
Miss Bloom ehelichen." Er wartete auf einen Ausbruch der Empörung, auf einen
Proteststurm, für den er bereits alle möglichen Argumente bereithatte.
„Sie wollen Meggie Bloom ehelichen", wiederholte die Nonne unbeeindruckt. „Wie
kommen Sie auf die Idee, dass Meggie Sie zu ehelichen wünscht?"
Hugo war sprachlos. Die Unterredung verlief ganz und gar nicht so wie erwartet. „Nun, ich
kann ihr meinen Stand anbieten", antwortete er indigniert. „Sie würde meinen Namen tragen
und Herrin von Lyden Hall werden. Mir ist klar, dass sie anders als andere Frauen ist, doch
das stört mich nicht. Ich will nur, dass sie das Glück hat, das ihr so lange vorenthalten wurde.
Ich bin in der Lage, mich sehr gut um sie zu kümmern, Schwester. Ich würde es mir zur
Lebensaufgabe machen, für ihre Zufriedenheit und ihren Seelenfrieden zu sorgen."
Schwester Agnes blickte ihm direkt in die Augen. „Sie sagen, Ihne n sei klar, das Meggie
nicht ist wie andere Frauen. Was meinen Sie damit?"
Wie kann die Frau nur so begriffsstutzig sein? fragte sich Hugo. „Liegt das nicht auf der
Hand, Schwester? Sie ist einmalig", sagte er und benutzte damit die Umschreibung der Nonne
für Geistesgestörte. „Etwas Besonderes. Ich fühle das Bedürfnis, sie vor den Härten des
Lebens zu bewahren. Mit meiner Geburt und meinen privilegierten Umständen hatte ich
Glück, und das möchte ich gern mit ihr teilen. Ganz aufrichtig, Schwester - niemand hat
jemals ein solches Licht in mir entzündet wie Meggie, als ich sie zum ersten Mal sah." Das
stimmte sogar, nur hatte dieses Licht nichts mit Meggies „Einmaligkeit" zu tun.
„Aha. Dennoch wissen Sie so gut wie gar nichts über sie."
„Aber doch! Selbstverständlich habe ich Nachforschungen Agnestellt, bevor ich mich zu
dieser Sache entschloss. Beispielsweise habe ich erfahren, dass Meggies Mutter Margaret
Bloom hieß und aus Ramsholt stammte." Mit angehaltenem Atem wartete Hugo auf die
Bestätigung.
Die Nonne nickte langsam. „Ja, das stimmt."
Vor Entzücken wäre Hugo fast in die Luft gehüpft, obgleich er sich seiner Sache schon
ganz sicher war. „Es war eine tragische Geschichte", sagte er auf gut Glück.
„In der Tat. Sehr tragisch. Und obwohl Sie über sie Bescheid wissen, wollen Sie sie
ehelichen?"
Hugo nickte. „Ihr Hintergrund mag trübe sein, doch das ist nichts, was sich nicht
überwinden ließe."
„Es ist sehr tolerant von Ihnen, das zu sagen, doch ich frage mich, ob es sich ein Mann von
Ihrer Stellung leisten kann, eine Frau zu ehelichen, deren Hintergrund ,trübe' ist, wie Sie es
nannten. Haben Sie auch an die Rückwirkungen gedacht?"
Auf diese Frage war Hugo vorbereitet. „Meggie sollte nicht verantwortlich gehalten
werden für etwas, wofür sie nichts kann", erklärte er scheinbar zuversichtlich. Unter anderen
Umständen hätte er niemals eine Geisteskranke geheiratet. „Ich bin sicher, ich vermag sie zu
beschützen und durch alle Schwierigkeiten zu leiten, die ihr begegnen mögen."
„Schon möglich. Nichtsdestoweniger wo llen Sie sie in eine Stellung setzen, in der man von
ihr erwartet, dass sie Pflichten übernimmt, auf die sie nicht vorbereitet ist. Sie sagten, sie
würde die Herrin von Lyden Hall sein. Wie können Sie erwarten, dass sie diese Rolle ausfüllt,
wenn sie keine Ahnung hat, was alles damit zusammenhängt?"
„Diesbezüglich wird sie keinerlei Pflichten haben. Ich werde eine tüchtige Haushälterin
einstellen, und auf Lyden Hall gibt es zwei ältere Damen, die schon fast ihr ganzes Le ben
lang dort wohnen und die ihr assistieren können. Und jede andere Hilfe könnte ich ihr
ebenfalls beschaffen. Wäre es Ihnen lieber ...", nun spielte Hugo seine Trumpf karte aus,
„...wenn sie dazu verdammt wäre, den Rest ihres Lebens hier zu verbringen? Ich wiederhole,
mir liegt nur an Meggies Glück, und ich bin sicher, ihr das verschaffen zu können."
„Mir liegt ebenfalls nur an Meggies Glück. Ich habe das Kind sehr gern. Das Angebot
kommt nur so überraschend. Ich erwartete nie, dass Meggie uns jemals verlassen könnte." Sie
bedachte Hugo wieder mit ihrem durchdringenden Blick. „Sie sagten, es ginge Ihnen nur um
ihr Glück. Warum ist Meggies Glück für sie wirklich so wichtig, dass Sie ein derartig großes
Opfer auf sich nehmen wollen?"
„Darüber möchte ich mit Ihnen eigentlich nicht sprechen, Schwester, weil ich fürchte, Sie
könnten mich für töricht halten." Er zögerte einen genau berechneten Moment und räusperte
sich dann. „Sie sind eine fromme Frau und neigen nicht zu solchen Gefühlen, indes . . .
glauben Sie an das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick?" Er schaute auf seine Hände,
als wäre ihm dieses Geständnis peinlich. „Ich hielt es nie für möglich, dennoch bin ich selbst
der Beweis dafür, dass es so etwas gibt. Als ich Meggie sah, traf es mich wie ein Blitzschlag,
ein ,coup de foudre', wie die Franzosen sagen."
„Ja, Lord Hugo, ich weiß, was die Franzosen sagen. Sie wollen mich also glauben machen,
sie hätten sich ernsthaft in Meggie verliebt, als Sie sie durch ein Fenster anschauten?"
„Ich weiß ja, dass das widersinnig ist, dennoch kann ich es nicht anders ausdrücken: Mir
war es, als sähe ich einen Engel, ein Wesen, das nicht von dieser Welt war, und trotzdem hatte
die Welt für mich mehr Sinn als je zuvor. Seitdem bin ich nicht mehr derselbe."
Schwester Agnes schwieg lange, was Hugo nervös machte. Als sie wieder sprach, klang
ihre Stimme plötzlich weicher. „Ich gestehe, Sie haben mich sehr überrascht, Lord Hugo. Ich
hatte nicht erwartet, eine derartige Einsicht bei Ihnen zu finden, doch ich habe schon vor
langem gelernt, dass die Wege Gottes wundersam sind und dass es nicht an uns ist, Seine
Methoden infrage zu stellen."
„Dann glauben Sie mir also?" fragte Hugo ernsthaft. „Sie halten mich nicht für irre?" Er
errötete, als er merkte, was er eben gesagt hatte. „Ich meinte . . . Sie halten mich nicht für
närrisch, weil ich so empfinde?"
Schwester Agnes lächelte. „Wie könnte ich denn? Sie ha ben nicht nur Meggies wahre
Natur erkannt, sondern Sie akzeptieren sie auch so, wie sie ist. Wer wäre ich, Ihnen im Weg
zu stehen? Ich bin Ihnen für Ihre Scharfsichtigkeit dankbar."
„Was meine Scharfsichtigkeit angeht, so bin ich mir nicht so sicher, Schwester. Für Ihren
Segen wäre ich Ihnen indes dankbar, denn es scheint ja sonst niemand da zu sein, der mir
Meggies Hand zum Ehebund geben könnte."
Die Nonne faltete die Hände. „Wenn Sie um meinen Segen bitten, so sollen Sie ihn haben -
Meggie zuliebe."
„Ich danke Ihnen, Schwester", sagte er mit größter Aufrichtigkeit.
Sie erhob sich, trat ans Fenster, wandte ihm den Rücken zu und schaute hinaus. „Danken
Sie mir noch nicht", erwiderte sie. „Es steht mir nicht zu, für Meggie eine solche Entschei-
dung zu treffen. Ich bin nicht ihre Wärterin, und diese Mauern hier wurden nicht zum
Einsperren, sondern zum Schutz errrichtet. Meggie steht es frei, das zu tun, was sie will. Sie
werden sie zu fragen haben. Sie wird ihr eigenes Urteil fällen müssen."
„Ja, natürlich", sagte Hugo schnell, bevor es sich die Nonne noch anders überlegte. „Wenn
Sie mir nur noch erklären wollten, wo ich Meggie finde, dann mache ich ihr selbst meinen
Heiratsantrag."
„Ich glaube, ich sollte vorher mit Meggie reden, um sie darauf vorzubereiten", meinte
Schwester Agnes.
„Wenn Sie gestatten, Schwester, würde ich lieber selbst mit ihr sprechen." Hugo dachte,
die Nonne würde Meggies ohne hin verwirrten Kopf nur mit noch verwirrenderen Informa-
tionen über die Bedeutung einer Ehe vollstopfen. „Natürlich ist das nicht ganz schicklich,
doch ich glaube, es gibt Dinge, die nur ich ihr sagen kann, um sie von der Aufrichtigkeit
meines Anliegens zu überzeugen. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Meggie nicht
verängstigen werde."
„Darüber mache ich mir auch keine Sorgen. Sie müssen jedoch bedenken, dass Meggie
eine absolute Unschuld ist. Außerdem ist sie die Gesellschaft von Leuten aus der Außenwelt
nicht gewohnt. Falls ich Ihnen erlaube, sie zu sehen, müssen Sie mir schwören, in Ihrem
Verhalten mehr als rücksichtsvoll zu sein."
„Selbstverständlich." Hugo versuchte seine Ungeduld zu verbergen. „Ich werde nichts
Ungehöriges sagen oder tun. Ich will ihr nur mein Angebot unterbreiten. Falls sie mich
abweist, werde ich sie nicht bedrängen." In Wahrheit wollte er alles ihm Mögliche tun, um
sich Meggie Bloom samt ihren vierhunderttausend Pfund unter den Nagel zu reißen. „Ich
schwöre, behutsam mit ihr umzugehen", schlo ss er. „Mir liegt viel zu viel an ihr, um etwas zu
tun oder zu sagen, das sie beunruhigen könnte."
„Also gut. Ich verlasse mich nur deshalb auf Ihr Wort, weil ich Ihre Mutter kenne und
achte und darauf vertraue, dass sie einen Gentleman erzogen hat. Haben Sie eigentlich Ihre
Mutter in dieser Angelegenheit konsultiert?"
„Nein, dazu sah ich keinen Anlass." Hugo mochte gar nicht daran denken, wie seine
Mutter reagieren würde, wenn sie es erführe. Er zuckte nur die Schultern. „Sie werden wissen,
dass meine Mutter ungemein fortschrittlich in ihrem Denken ist, und mich hat sie stets
ermutigt, es ebenso zu halten. Ich glaube, sie wird die Wahl meiner Gattin akzeptieren und
Meggie ebenso lieben wie ich."
Das klang glaubwürdig. Mit seiner Mutter würde er sich befassen, wenn es soweit war.
Augenblicklich befand sie sich auf Raphaels Landsitz, um bei der Geburt ihres ersten Enkel-
kinds dabei zu sein. Wenn sie später aus Irland zurückkehrte, würde er bereits seine
Finanzprobleme gelöst haben, ohne dass sie jemals die Hintergründe erfuhr. Eine irre Ehefrau
war dafür ein geringer Preis.
„Das kann ich nur hoffen." Schwester Agnes holte tief Luft. Sie schien sich noch immer
nicht ganz sicher zu sein. „Zu dieser Tageszeit arbeitet Meggie gewöhnlich im Gemüsegarten.
Wenn Sie zur Vordertür hinausgehen und sich dann rechts halten, treffen Sie auf einen Pfad,
der um das Gebäude herum zu dessen Rückseite führt. Folgen Sie ihm bis zum Ende, dann
werden Sie den Garten direkt vor sich sehen."
Hugo sprang auf. „Danke, Schwester. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen."
„Und enttäuschen Sie mich nicht!"
Hugo hoffte, dass das nicht Fall sein würde. Seine einzige Absicht bestand darin, Meggie
dahin zu bringen, so schnell wie möglich Ja zu sagen.
Meggie stieß ihre Hacke neben die Salatreihe, lockerte den Boden und befreite ihn von
Unkraut. Auf die Gartenarbeit freute sie sich immer, weil sie dann ihre eigenen Überle gungen
verfolgen konnte und sich nicht fortwährend bemühen musste, die zufälligen Gedanken
anderer Menschen zu untersuchen.
Sie band sich die Schürze ab und legte sie auf den Bo den. Leider bestand Schwester Agnes
darauf, dass sie Weiß trug. Das war zwar die unpraktischste Farbe der Welt, doch damit
unterschied sie sich wenigstens von den Nonnen und Novizinnen, die schwarz
beziehungsweise grau gekleidet waren.
Meggie kniete sich hin und klopfte die Erde um jedes der jungen Pflänzchen mit einem
aufmunternden Wort fest. Sie legte großen Wert darauf, jedem einzelnen zu zeigen, dass es
wichtig und wertvoll war. Das Ergebnis solcher Beha ndlung hatte sie gesehen: Der Teil des
Gartens, den sie betreute, strotzte vor Gesundheit und brachte den doppelten Ertrag.
Der Frühling war ihre liebste Jahreszeit, weil sie dann die Erde lebendig werden sah. Der
Sommer mit seinen Schätzen brachte ihr natürlich große Befriedigung, doch er hatte es auch
leicht, weil er ja nur zu ernten brauchte, was der Frühling gesät hatte. Der Frühling musste
jedoch den kleinen, eiskalten Wintertod besiegen, und dazu brauchte es wahrhafte Kraft.
Den Herbst liebte sie beinahe ebenso. Dann zeigten Bäume und Büsche die strahlendsten
Farben, ehe der Winter wieder die Herrschaft antrat und alles absterben ließ. Ja, es bedurfte
noch größerer Tapferkeit, den Kreislauf des Lebens wieder aufs Neue zu beginnen.
Oft dachte sie, dass die Patienten in ihrer Obhut demselben Prozess unterlagen. Wenn sie
hier eintrafen, lebten die meisten von ihnen in dem langen, dunklen Winter der Seele. Nur die
Glücklichsten, Entschlossensten fanden die Kraft, die Reise zurück in die Welt zu machen
und die Freude des Lebens genauso wieder zu entdecken, wie es die Pflanzen auf Gottes Erde
Jahr für Jahr taten.
„Ihr seid wirklich hübsche Salatpflänzchen", murmelte sie, trat zurück, legte die Hände auf
die Hüften und betrachtete ihren Salat mit Vergnügen.
Erstaunt blickte sie hoch, weil Hadrian, der in der Sonne gelegen und gedöst hatte, ein
leises Knurren ausstieß. So knurrte der Wolf nur, wenn sich ein Fremder näherte, doch sie
hatte niemanden kommen gespürt und war sich absolut sicher, allein zu sein.
Hadrian war anderer Meinung. Er erhob sich und knurrte lauter. Sein Körper spannte sich
an, und die Ohren legten sich flach an seinen Kopf. Jetzt wurde auch Meggie unruhig. Sie
hielt sich die Hand über die Augen zum Schutz gegen die Strahlen der schräg stehenden
Sonne und stellte verblüfft fest, dass sich Hadrian doch nicht geirrt hatte. Ein Mann kam den
Pfad entlang auf sie zu. Um wen es sich handelte, vermochte sie nicht zu erkennen, sie sah
nur, dass er von beeindruckend großer Gestalt war. Seine Gesichtszüge lagen im Schatten
seiner Hutkrempe.
Mit ihrem Geist versuchte sie, den Fremden zu erreichen, doch sie empfing nichts, gar
nichts - bis auf etwas Gefährliches, Undefinierbares, das jedoch nicht ihren Geist, sondern
ihren Körper traf. Diese schreckliche Empfindung hatte sie vor mehr als zwei Monaten bei
einer einzigen Person schon einmal gespürt, und die Erinnerung daran hatte sich für alle
Zeiten in ihr Gedächtnis gebrannt.
Sie presste sich die Hand auf den Mund. Das durfte doch nicht wahr sein! O Himmel,
Hugo Montagu? Ausgeschlossen!
Dennoch wusste sie, dass er es war, denn sie empfand die selbe absolute Stille in ihm wie
beim ersten Mal, eine große Leere ohne jeden Bezugspunkt.
Als sich der Ankömmling der Gartenpforte näherte, knurrte Hadrian wieder. „Leg dich.
Braver Junge", murmelte sie und wusste, dass der Wolf ihre Bestürzung spürte. Das war auch
kein Wunder, ihr gaben ja beinahe die Knie nach. „Ist ja alles gut", log sie und kam sich dabei
wie ein Schwindler vor, was Hadrian natürlich auch wusste. Trotzdem stellte er sein
Misstrauen ein und beschränkte sich darauf, ab jetzt nur noch sehr wachsam zu sein.
Meggie schloss die Augen und wollte sich sammeln, was jedoch unmöglich war, weil sich
die Gartenpforte laut quietschend öffnete. Meggie riskierte endlich einen ganz winzigen
Blick.
O Gott im Himmel! Er war es tatsächlich, lebensgroß und in Fleisch und Blut.
„Miss Bloom?"
Seine Stimme klang tief und melodisch. Immer hatte Meggie sich überlegt, wie er sich
wohl anhören würde, und dass seine Stimme jetzt tatsächlich so klang, wie sie es sich vor-
gestellt hatte, erschreckte sie mehr als alles andere. Sie hätte die Situation wesentlich leichter
überstanden, wenn er eine Fistelstimme gehabt hätte.
„Ja?" brachte sie heraus.
„Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Hugo Montagu. Würden Sie sich
freundlicherweise einen Moment mit mir hinsetzen? Ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen
besprechen. "
Meggie schluckte. Ihr war klar, dass sie völlig aufgelöst und schmutzig aussah. Sie wandte
den Kopf seitwärts und öffnete die Augen ein bisschen weiter. Wenn sie ihn nur ganz peripher
wahrnahm, würde sie vielleicht nicht von der ganzen Kraft seiner Präsenz getroffen werden.
Von Nahem war er sogar noch schöner. Er übertraf ihre wildesten Vorstellungen. Seine
Augen strahlten wie alleredelste Saphire und schienen die Sonne selbst zu spiegeln. Sein
sinnlicher, schön geschnittener Mund zeigte ein ganz leichtes Lächeln.
Meggie drückte die Augen wieder fest zu und fragte sich, ob sie sich möglicherweise bei
den Patienten Agnesteckt hatte und jetzt ebenso fantasierte. Als sie die Augen erneut öffnete,
war er noch immer da. Jetzt starrte sie ihn an, so sehr sie konnte. „Oh", stieß sie hervor.
„Liebe Güte ..."
„Bitte verzeihen Sie", sagte er leise und so beruhigend, als spräche er mit einem
ängstlichen Tier. „Ich wollte Sie nicht erschrecken."
„Das haben Sie auch nicht." Sie versuchte, ihre Sinne wie der zusammenzubekommen. „Ich
hatte nur niemanden erwartet. Ich sprach gerade mit . . . ich meine, ich dachte gerade an den
Salat."
„Ja. Salat. Warum auch nicht? Salat braucht sicherlich sehr viel Aufmerksamkeit."
Er lächelte, und Meggie hatte den Eindruck, als wäre die Sonne an einem düsteren Himmel
aufgegangen. Er hätte ein Gott sein können, der vom Olymp herabgestiegen war, um die
Sterblichen mit einem Moment seiner göttlichen Gegenwart zu beschenken.
„Es hilft", sagte sie und wusste vor Nervosität nicht mehr, wovon eigentlich die Rede war.
„Sie ... Sie mögen Salat?"
Meggie nickte. Sie fasste es nicht, dass sie beide hier standen und über so prosaische Dinge
redeten. Sie konnte es nicht glauben, dass sie überhaupt redeten.
Da sie unbedingt etwas tun musste, bückte sie sich und zog eine der reiferen Pflanzen aus
dem Boden. „Mögen Sie Salat auch? Wenn ja, gefällt Ihnen dieser hier vielleicht. Sie
brauchen für ihn nur ganz leichtes Dressing. Salat mag in diesem Alter nichts Aufwendiges."
Wieso Dressing? fragte er sich. Warum soll ich den verdammten Salat anziehen? Er blickte
auf das junge Pfänzchen, welches sie ihm übergab. „Recht vielen Dank. Es ist in der Tat ganz
entzückend. Ich werde es sehr behutsam an... - äh - anziehen, so behutsam wie eine
jugendliche Naive zu ihrer ersten Saison - nur die hellsten Farben." Er verstaute die
Salatpflanze in seiner Jackentasche.
Meggie strich sich über die Stirn. Sicherlich träume ich, dachte sie. „Zitrone. Nehmen Sie
Zitrone. Das erschlägt sie nicht."
„Gewiss nicht. Ich werde genau den richtigen Farbton aus wählen. Und was soll ich auf
diese großartige Salatpflanze tun? Sie benötigt doch bestimmt ein hübsches Häubchen, nicht
wahr?"
Meggie erinnerte sich an den herrlichen Salat, den Tante
Emily einmal gemacht hatte. „Einen Pilz vielleicht? Abgezo gen und den Stiel entfernt. Das
ist ungemein dekorativ." Im ganzen Leben war Meggie noch niemals so verlegen gewesen.
Am liebsten wäre sie im Salatbeet verschwunden.
„Ein kleines Pilzhäubchen. Natürlich. Daran werde ich denken." Seine Lippen zuckten.
„Das dürfte ganz gewiss sehr dekorativ wirken."
Meggie blickte zu Boden und fühlte sich wie eine komplette Närrin. „Wenn Sie meinen. . .
Ich habe davon leider nicht sehr viel Ahnung."
„Miss Bloom."
Die Berührung seiner Hand an ihrem Arm brannte sich durch ihren Ärmel. Ihr schwindelte.
„Mmm?"
„Erinnern Sie sich noch an jenen Tag vor etwa zwei Monaten, als wir beide uns zum ersten
Mal sahen? Sie kamen den Pfad entlang, und ich stand an Schwester Agnes' Fens ter. Unsere
Blicke begegneten sich, und Sie wandten sich übergangslos ab. Seitdem frage ich mich,
warum."
Meggie errötete, als wäre sie bei etwas Unanständ igem ertappt worden. „Ich. . . nein, ich
erinnere mich nicht", log sie. „Aber mein Gedächtnis ist auch sehr kurz. Nicht zuverlässig."
„Oh, das macht nichts, meine Liebe. Wichtig ist nur, dass ich diesen Moment nicht
vergessen habe. Und deshalb bin ich auch heute hier, um mit Ihnen zu sprechen."
Erschrocken riss Meggie die Augen auf. Sie hatte angenommen, er wäre wieder wegen
Eunice Kincaids Gesundheitszustandes hier, und man hätte ihm gesagt, er solle sich wegen
der Einzelheiten an sie, Meggie, wenden. „S ie wollen mit mir sprechen? Weshalb denn? Ich
habe doch nichts zu sagen."
„Gewiss haben Sie das. Sie können ,Ja, ich will' sagen."
„Was will ich denn?" fragte Meggie verwirrt.
Seine Stimme klang jetzt sehr leise, sehr tief und samtweich. „Sagen Sie, Sie wollen mich
heiraten, Meggie Bloom."
6. KAPITEL

Ich habe wohl nicht richtig gehört, dachte Meggie. Leute kamen doch nicht einfach einen
Gartenpfad entlangspaziert und wollten eine Person heiraten, die sie zuvor noch nicht einmal
kennen gelernt hatten - besonders keine Herzogssöhne, die sicherlich etwas Besseres zu tun
hatten, als mittellosen Waisenmädchen Heiratsanträge zu machen!
Und plötzlich erkannte sie, weshalb Lord Hugo Montagu tatsächlich gekommen war.
Heiraten - so sah er aus!
„Haben Sie noch immer nichts zu sagen?" fragte er und schaute sie so breit lächelnd an,
dass sich in seinen schmalen Wangen zwei lange, aufreizende Falten zeigten.
Meggie wurde zornig. Er hatte also gedacht, er könnte sie mit blumigen Versprechungen
verlocken, sich dann nehmen, was er wollte, und sie danach wieder verlassen, was? Nun, sie
würde es ihm schon geben, über solche Spitzbuben wusste sie Bescheid. Sie hatte zwar zuvor
noch keinen getroffen, doch sie wusste genau, was sie für Absichten hegten. Schließlich war
sie selbst das Ergebnis solcher Aktivitäten.
„Sie müssen irre sein!" Am liebsten hätte sie ihm noch für seine Unverschämtheit einen
Tritt vors Schienbein versetzt. Wie kamen Männer nur auf die Idee, sie brauchten sie sich nur
zu nehmen? Die hatten doch nur eines im Kopf, und sie hatte genug in solchen Köpfen
gelesen, um das genau zu wissen. „Oder Sie sind vollkommen gesund, was eine noch größere
Schande wäre."
„Was zum . . . verehrte junge Dame, haben Sie mich nicht gehört?" Er blickte sie an, als
wäre sie selbst die Irre. „Sie erhalten doch sicherlich nicht jeden Tag einen Heiratsantrag.
Haben Sie mich nicht richtig verstanden?"
„Ich verstehe Sie vollkommen, und Sie sollten verschwinden, bevor ich Ihnen eins auf die
Nase gebe. Ich wollte sagen: Wenn Sie jetzt bitte verschwinden würden, Euer Lordschaft",
berichtigte sie höflich.
„Ah, Sie wissen also, wer ich bin. Ich denke, Sie erinnern sich nicht an mich." Er legte den
Kopf schief.
„Gerade ist es mir wieder eingefallen", behauptete sie. „Schwester Agnes sagte mir, dass
Sie Lady Kincaid besuchen wollten."
„Richtig, und bei dieser Gelegenheit bat ich Schwester Agnes, mir von Ihnen zu erzählen."
„So? Warum?" Wieso hatte Schwester Agnes ihr davon nichts gesagt?
„Meggie, weil. . . Ich darf Sie doch Meggie nennen?"
Sie zuckte die Schultern. „So nennt mich jeder. Weshalb sollten Sie auf Förmlichkeiten
bestehen?"
„Um auf Ihre Frage zurückzukommen - ich erkundigte mich nach Ihnen, weil ich von
Ihnen bezaubert war, sobald ich Sie sah. Verstehen Sie, was das bedeutet?"
Das wusste Meggie ganz genau, viel zu genau für ihren Geschmack. „Ich finde, dass es
höchst unschicklich ist, wenn Sie von derartigen Dingen reden."
Zu ihrer Verblüffung brach er in Lachen aus. „Es mag vielleicht nicht schicklich sein, doch
ich sehe es nicht so. Möglicherweise haben Sie meinen Antrag tatsächlich nicht richtig
verstanden. Soll ich es Ihnen noch einmal erläutern?"
Meggies Blut geriet in Wallung. Der Mensch hielt sie offensichtlich nicht nur für eine
leichte Beute, sondern auch noch für restlos dumm! Na warte! Sie wollte ihm seine eigene
Medizin zu kosten geben und sehen, wie es ihm gefiel, wie ein Schwachsinniger behandelt zu
werden.
„Ich glaube, Sie wollten mir sagen, Sie möchten mich von hier, von meinem Daheim
fortbringen, und ich soll dann bei Ihnen schlafen. In Ihrem Bett. Stimmt das? Oder meinten
Sie vielleicht etwas ganz anderes?"
Jetzt war er erkennbar betroffen. Er räusperte sich. „Ich . . . also ... Ja, teilweise. Doch in
meinem Bett zu schlafen ist nicht das Einzige."
„Ach, Sie meinen die Sache mit dem Baby, das gewöhnlich hinterher kommt." Meggie
machte es langsam Spaß. „Davon verstehen Sie etwas?"
„Ja." Er räusperte sich aufs Neue. „Ja, davon verstehe ich etwas. Die Vorstellung, dass Sie
ein Baby bekommen, würde mich nicht stören. Sie?"
„Aber wieso denn?" Meggie fand den Kerl einfach schamlos. Wie viele Bankerte hatte er
wohl schon gezeugt? Möglicherweise zählte er schon gar nicht mehr mit. „Allerdings bin ich
nicht daran interessiert, in Ihrem Bett zu schlafen. Ich bin ganz glücklich in meinem eigenen."
Er hob eine ihrer Hände an und schaute mit unergründ licher Miene darauf hinunter.
Wahrscheinlich will er es sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn meine schmutzigen Hände
und die Ränder unter meinen Fingernägeln abstoßen, dachte sie. Er muss ja sehr beharrlich
sein, wenn er sich selbst schmutzig machen will! Natürlich hätte sie ihre Hand fortzie hen
können, doch dazu genoss sie die Berührung mit seinen Fingern viel zu sehr, und sehr
wahrscheinlich würde sie seine Hand auch nie wieder fühlen. Unbeabsichtigt entschlüpfte ein
Seufzer ihren Lippen.
„Vergeben Sie mir", bat Hugo leise. „Jetzt habe ich Sie verängstigt, und das war durchaus
nicht meine Absicht. Möglicherweise hätte ich mich diesem Thema nicht so unvermittelt
nähern sollen."
„Oh? Wie hätten Sie sich ihm denn sonst nähern sollen?"
„Ich hätte Ihnen zuerst sagen sollen, dass ich Sie liebe und dass ich bereits seit Wochen so
empfinde. Ich musste einfach herkommen, Meggie, wirklich."
Meggie betrachtete ihn ausdruckslos. Mylord waren sehr schlau! Um sein Ziel zu
erreichen, würde er es mit allem versuchen, ob mit einem Heiratsantrag oder mit einem
Liebesgeständnis. Er hatte überhaupt kein Gewissen! „Sie lieben mich?" Sie runzelte die
Stirn. „Sehr?"
„So sehr, dass es schon wehtut", versicherte er und blickte ihr dabei tief in die Augen.
Sie schaute ihn ebenso an, was jedoch nicht so einfach war. Seine Augen waren wirklich
von ungewöhnlicher Farbe, von einem Azurblau, welches an einen wolkenlosen Som-
merhimmel erinnerte. „Tut es sehr weh?" Sie zwang sich zur Fortsetzung dieser lachhaften
Unterhaltung.
„Mehr als ich sagen kann." Er drückte ihre Finger ein wenig. „Ich verlor mein Herz an Sie
in jener Sekunde, da ich Sie durchs Fenster sah, und seit diesem Zeitpunkt tut es ganz
entsetzlich weh."
Sie lächelte ihn strahlend an, obgleich sie ihm am liebsten einen Tritt verpasst hätte.
„Vielleicht brauchen Sie einen Verband. Ich kann Ihnen sofort einen holen."
Er presste die Lippen zusammen. „Was ich brauche, ist,
64
dass Sie sagen, Sie wollen die Meine werden. Bitte! Ich werde gut zu Ihnen sein, Meggie.
Sehr gut."
„Gut zu mir?" Sie legte sich den Zeigefinger ihrer freien Hand auf die Unterlippe und
hoffte, wie ein komplettes Dummchen auszusehen. „Verzeihen Sie, mein Verstand ist nur
begrenzt. Was bedeutet ,gut zu mir'?"
„Das bedeutet, Sie werden alles haben, was Ihr Herz begehrt. Sie brauchen sich nur
einverstanden zu erklären. Schwester Agnes würde sich darüber sehr freuen."
Wütend stellte Meggie ihr Spiel ein. „Schwester Agnes würde Ihnen das Fell über die
Ohren ziehen, wenn sie wüsste, was Sie vorschlagen!"
„Schwester Agnes weiß es doch." Er strich mit seinem Daumen über ihren Handrücken,
und sie erschauerte. „Be vor ich hier herauskam, sprach ich mit ihr, und sie gab mir ihren
Segen. Wer, glauben Sie, hat mich denn zu Ihnen geschickt?"
Meggie entriss ihm ihre Hand. „Sie sind ein Scheusal!" rief sie zutiefst erzürnt. „Schwester
Agnes wäre niemals mit etwas so Sündigem einverstanden! Schrecken Sie denn vor nichts
zurück? Halten Sie mich für so vollkommen hohlköpfig, Ihnen auch nur ein Wort zu
glauben?"
Lord Hugo wurde tatsächlich rot, wie sie zu ihrer Genugtuung bemerkte. Sie hatte also
irgendwie ins Schwarze ge troffen, wusste indes nicht genau, womit. Was würde sie nicht
dafür gegeben haben, wenn sie seine Gedanken hätte lesen können!
„Meggie, ich weiß nicht, was die Nonnen Ihnen erzählt haben, doch ich schwöre Ihnen, an
der körperlichen Vereinigung von Mann und Frau ist nichts Sündiges. Gott selbst hat das ja so
vorgesehen."
Über diese weitere Frechheit war Meggie verblüfft. Erst berief sich der Kerl auf den Segen
einer Nonne, und nun noch auf Gott selbst! „Ach, hat er das? Wie ungemein großherzig von
ihm. Hat Ihnen Schwester Agnes das auch erzählt?"
Lord Hugo stöhnte frustriert und ärgerlich, und Meggie freute sich darüber, dass sie ihn für
einen Moment von seinem selbstzufriedenen Podest gekippt hatte.
Er schaute auf das Salatbeet, und als er den Blick wie der hob, lächelte er Meggie
freundlich an. „Wenn Sie mich heiraten", sagte er honigs üß, „dann werden Sie viele, viele
hübsche Kleider und ein schönes weiches Bett ganz für sich allein haben. Sie dürfen schlafen
gehen und aufstehen, wann immer Sie wollen, und Sie dürfen so viele Pralinen essen, wie Sie
mögen. Jeden Tag. Ganz lange Pralinen. Würde Ihnen das gefallen?" Er nickte sehr schnell,
wie es einige der Patienten auch immer taten.
Meggie dämmerte etwas: Könnte es sein, dass Lord Hugo ebenfalls nicht ganz gesund
war?
„Lange Pralinen?" wiederholte sie und schlug sofort eine andere Gesprächsrichtung ein,
um zu sehen, wie diese in das neue Bild passte. Sie passte - viel zu gut. Zwar vermochte
Meggie seine Gedanken nicht zu lesen, doch die Anzeichen der geistigen Behinderung kannte
sie genau. Wieso war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Vor zwei Monaten hatte
Schwester Agnes sie doch sogar gefragt, ob ihr, Meggie, ir gendetwas Ungewöhnliches an
Lord Hugo aufgefallen sei. Und sie hatte ebenfalls erwähnt, dass er mit Eunice Kincaid
verwandt sei und dass Geisteskrankheit oft in der Familie liege.
„Große Güte!" murmelte sie, und ihr war zum Heulen zu Mute. Hugo Montagu, der
herrliche Mann, nach dem sie ganze zwei Monate geschmachtet hatte, war genauso irre wie
seine Verwandte! Und nur deshalb war er hier!
„Ja, kistenweise Pralinen." Er nickte noch schneller. „Ganze Wagenladungen voll. Und
einen eigenen Garten nur für Sie ebenfalls, damit Sie immer Salat haben, den Sie anziehen
können, wie Sie mögen."
„Vielen Dank", sagte sie höflich. Jetzt wusste sie endlich, wie sie ihn handhaben musste.
„Sie sind sehr großzügig."
Er wirkte so erleichtert, als sprächen sie endlich dieselbe Sprache. „Und Seidenbänder
auch. Entzückende zitronengelbe Bänder für Ihr Haar, so viele sie mögen. Nun, wie finden
Sie das?"
Meggie schenkte ihm ein Lächeln. Der Arme! Er brauchte tatsächlich Hilfe. „Ja,
zitronengelbe Seidenbänder wären sehr hübsch", sagte sie und überlegte dabei, wie sie ihn
wieder in das Haus locken konnte, ohne ihn zu beunruhigen.
„Auch davon kistenweise. Sagen Sie nur, dass Sie mich heiraten, und Sie bekommen alles,
was Sie wollen."
Meggie legte den Kopf schief. „Alles?"
„Gewiss. Alles, was Ihr Herz begehrt."
„Mein Herz begehrt, dass Sie mit mir ins Haus zurückkommen und mit Schwester Agnes
sprechen."
„Das habe ich doch schon getan!" Er wirkte wieder entnervt. „Ich sagte Ihnen doch, sie hat
mir sogar ihren Segen gegeben. Bereits heute Nachmittag dürfen Sie dieses Heim verlassen.
Ich verfüge über eine Sonderlizenz, also wird nichts Unschickliches geschehen."
Eine Sonderlizenz zum Entführen junger Damen? Das war zumindest einmal etwas Neues.
„Trotzdem glaube ich, wir sollten hineingehen und mit Schwester Agnes sprechen."
„Um Himmels willen, Meggie, heiraten Sie mich einfach, und Sie brauchen nie wieder an
dieses Heim und an Schwester Agnes zu denken. Falls Sie nicht wollen, dass ich in die Nähe
Ihres Betts komme, ehe Sie sich an die Vorstellung gewöhnt haben, soll es mir auch recht
sein. Was immer Sie wollen - nur seien Sie vernünftig, und sagen Sie, Sie wollen meine
Ehefrau werden, ja?"
„Sehr wohl." Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. „Ich werde vernünftig sein."
„Wirklich?"
„Gewiss, doch Sie müssen ebenfalls vernünftig sein und tun, was ich Ihnen sage." Das war
nicht einmal eine Lüge, schließlich war sie sehr vernünftig, wenn sie ihn dorthin brachte,
wohin er gehörte.
Sein schönes Gesicht strahlte, als hätte sie ihm erzählt, heute sei Weihnachten. Er streckte
beide Hände zum Himmel empor und stieß einen Jubelschrei aus. „Ich danke dir, Gott!
Vielen, vielen Dank, und ich werde nie wieder an dir zweifeln!"
„Lord Hugo, Sie sollten sich nicht so aufregen. Das ist wirklich nicht gut für Sie."
Er lächelte sie breit an. „Es ist sogar außerordentlich gut für mich - nein. Sie sind gut für
mich, Meggie Bloom, der größte Schatz auf der Welt. Sie haben ja keine Ahnung, wie
glücklich Sie mich gemacht haben!" Im nächsten Moment hob er sie hoch und schwenkte sie
im Kreis herum.
Sie hielt sich an seinen Schultern fest und glaubte zu fliegen. Das war durchaus kein
unangenehmes Gefühl, zumal er sie so fest hielt.
Ein leises, drohendes Knurren wurde hörbar, und plötzlich fiel ihr Hadrian wieder ein. Er
hatte sich bisher so ruhig verhalten, dass sie ihn ganz vergessen hatte, doch dass ein völlig
Fremder sie so merkwürdig behandelte, ging ihm offenbar gegen seinen Beschütze rinstinkt.
Mit Meggie hoch in den Armen, erstarrte Hugo. „Großer Gott", flüsterte er. „Keine
Bewegung! Nur nicht bewegen!"
„Ich glaube, Sie sollten mich lieber absetzen." Meggie war es, als wäre sie beschwipst.
Ausgerechnet sie fühlte sich zu einem Irren hingezogen, dessen Gedanken sie nicht zu lesen
vermochte!
„Sie scheinen nicht zu verstehen." Seine Stimme war kaum noch hörbar. „Ich will nicht,
dass Sie in Panik ausbrechen oder schreien, aber dort ist ein . . . ach, egal. Bleiben Sie nur
ganz ruhig, und ich werde versuchen, uns beide hier heil hinauszubringen."
Meggie, deren Hände noch immer auf seinen Schultern lagen, blickte zu ihm hinunter. Er
ist der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist, dachte sie. Nur schade, dass sein Inneres
nicht so gut aussieht wie sein Äußeres. „Keine Angst", sagte sie beruhigend. „Das ist nur
mein Hund. Wenn Sie mich jetzt hinunterlassen, hört er auch auf zu knurren."
In seiner Hast, sie abzusetzen, hätte Hugo sie beinahe fallen gelassen. „Ihr Hund? Mein
liebes Kind, ich will Ihnen ja nicht die Illusionen rauben - das ist kein Hund! Das ist ein
gottverdammter Wolf! Der kann uns jeden Moment anfallen."
„ Seien Sie nicht albern. Hadrian ist vollkommen harmlos."
„Komisch, er sieht überhaupt nicht harmlos aus." Ohne den Blick von dem Wolf zu
wenden, wich Hugo vorsichtig zurück. „Benimmt sich Ihr Hund immer so?"
„Ich glaube, er mag es nicht, wenn Sie mich anfassen." Sie ging zu Hadrian, beugte sich zu
ihm hinunter und streichelte seinen Kopf. „Schon gut, Liebling. Lord Hugo tut mir ja nichts.
Er ist nur ein bisschen . . . tatkräftig."
Hadrian legte die Ohren nach vorn und leckte ihr freund lich die Hand, wirkte indes immer
noch recht zweifelnd. „Ja, braver Junge." Sie warf einen Blick zu Lord Hugo hoch. „Sehen
Sie? Harmlos."
„Meggie . . . bitte!" Sein Gesicht war weiß wie die Wand. „Gehen Sie weg von ihm. Das
ist schließlich ein wildes Tier. Es kann Sie jeden Moment anspringen."
„Unsinn. Ich bin seine engste Freundin. Hadrian würde mir niemals ein Haar krümmen."
Zum Beweis barg sie ihr Gesicht in dem weichen Nackenfell des Wolfs.
„O Himmel. Ich glaube, mir wird übel." Hugo legte sich eine Hand über die Augen.
„Sie sind sehr töricht", sagte Meggie streng, doch dann kam ihr ein interessanter Gedanke.
„Haben Sie nur vor Hadrian Angst, Mylord, oder fürchten Sie sich vor allen Tieren?"
„Nein, ich fürchte mich nicht vor allen Tieren!" Er starrte sie wütend an. „Nur vor den
wilden mit scharfen Fangzähnen, die mich anzufallen drohen."
„Hadrian hat keinerlei Absicht, irgendjemanden anzufallen", stellte sie beleidigt fest. „Er
ist ein sehr empfindsames, verständiges Geschöpf. Sie werden sich schon bald mit ihm
anfreunden."
„Nein!" Er streckte beide Hände vor sich aus. „Nein, nein und nochmals nein! Wenn Sie
glauben, Sie könnten ein wildes Tier mit sich schleppen, dann sind Sie . . . dann werden Sie es
sich anders überlegen müssen. Ihr Hadrian kann sich in den Wald zurückschleichen!"
Über die Schulter hinweg warf Meggie Hugo einen bösen Blick zu. „Das wird er ganz
gewiss nicht tun. Im Übrigen schleicht er nicht. Er ist mein treuer Gefährte, und Sie werden
sich an ihn gewöhnen, wie es alle anderen auch getan haben."
„Wollen Sie mir erzählen, das Viech liefe hier frei herum?" fragte Hugo entsetzt. „Ist das
Schwester Agnes bekannt?"
„Schwester Agnes ist alles bekannt, was hier vor sich geht. Ich begreife wirklich nicht,
weshalb Sie sich so aufregen. Er hat Sie doch nur verwarnen wollen, und dazu hatte er auch
jedes Recht." Meggie dachte nach. Falls Hugo sich zu sehr aufspielte, würde Hadrian
möglicherweise von hier verbannt werden. „Sie haben doch nicht wirklich Angst vor ihm,
oder?"
„Wollen Sie, dass ich meine Hand in seinen Rachen lege, um Ihnen zu zeigen, wie tapfer
ich bin? Ich möchte meine Glieder gern behalten - alle, meine ich."
Meggie musste lächeln. Hugo mochte geistesgestört sein, doch sie mochte ihn trotzdem.
Auch wenn er sich vor Tieren fürchtete. Sie ging zu ihm und hakte sich bei ihm ein. „Kom-
men Sie. Wir haben uns lange genug hier aufgehalten. Ihnen zuliebe werde ich Hadrian im
Garten lassen."
„Wie ungemein freundlich", bemerkte er trocken.
„Ja, nicht wahr?" Sie genoss es, seinen muskulösen Arm durch den Jackenärmel hindurch
zu fühlen. Vielleicht ist es gar nicht so übel, Hugo Montagu hier im Heim zu haben, dachte
sie und war plötzlich so fröhlich wie schon lange nicht mehr.
Hugo ließ sich von Meggie mitziehen, er hatte es ja selbst ziemlich eilig. Je früher er
Meggie Bloom aus Woodbridge heraus und unter seinem eigenen Dach untergebracht hatte,
desto besser. Dann brauchte er ihr nur noch einen Ring an den Finger zu stecken. Schon
morgen könnten sie verheiratet sein, und wenn es nach ihm ginge, wären sie das auch.
Er war froh, dass diese Idee sie jetzt ebenfalls zu begeistern schien. Er hatte schon
befürchtet, mit leeren Händen wieder gehen zu müssen, doch sie mit Seidenbändern und
Süßigkeiten zu locken wie eine Fünfjährige, hatte Wunder gewirkt.
Eigentlich war sie gar nicht wirklich irre, nur ein wenig . . . verwirrt. Völlig harmlos. Wenn
er immer daran dachte, dass sie in einer anderen Welt lebte, würden sie vermutlich bestens
miteinander zurechtkommen.
Sie schaute zu ihm hoch und lächelte lieb. Ihre grauen Augen wirkten ruhig, klar und
vollkommen vertrauensvoll. Hugo kam sich vor wie jemand, der einem Baby das Spielzeug
fortnahm. Eigentlich sollte er sich schämen. Andererseits bot er ihr ein wesentlich besseres
Leben als ihr bisheriges. Sie sollte ihm also dankbar sein.
„Wir sind da, Mylord", sagte sie, als sie zum Haus kamen.
Er nickte, fühlte sich jedoch plötzlich deprimiert beim Betreten des Pflegeheims. „Ich
möchte lieber hier draußen auf Sie warten", meinte er. „Sie können Schwester Agnes Ihre
Entscheidung mitteilen und Ihre Sachen packen."
„Nein, das geht leider nicht. Sie müssen schon mit hineinkommen."
„Wieso, Meggie? Ich wäre doch nur im Weg." Er hasste das Haus nun einmal. Außerdem
wäre es eine Schande, einen so schönen Nachmittag tatenlos drinnen zu verbringen.
Sie zerrte ihn praktisch zur Tür und schob ihn hindurch. „Sie brauchen sich wirklich nicht
zu fürchten."
„Wer hat denn gesagt, dass ich mich fürchte? Ich ziehe es nur vor, im Sonnenschein zu
sitzen."
„Dann ist der Raum, an den ich denke, für Sie genau das Richtige. Sie können im
Erkerzimmer sitzen, während ich alles regele. Dort gibt es Bücher zum Lesen und Spiele, mit
denen Sie sich beschäftigen können."
Hugo verdrehte die Augen. Es hatte ja keinen Zweck, mit ihr zu debattieren. „Also schön.
Bringen Sie mich ins Erkerzimmer, aber lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit."
„Bestimmt nicht", versprach sie und führte ihn durch einen ihm unbekannten Korridor. Sie
öffnete eine Tür, und er kam in einen großen und durchaus annehmbaren Raum mit Sofas,
Sesseln und Bücherregalen. Durch lange Fenster fiel tatsächlich Sonnenlicht herein. Nur eines
missfiel ihm an dem Bild: Vor jedem einzelnen Fenster befanden sich Eisengitter.
Unwillkürlich schauderte es Hugo, und er wandte den Fenstern den Rücken zu. Meggie
bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte, nahm dann seine Hand und
drückte sie ein bisschen. „Es wird alles gut", sagte sie ernst. „Sie werden schon sehen. Sie
werden sich bald an die neue Situation gewöhnen. Ich werde gleich wieder bei Ihnen sein."
Damit schloss sie leise die Tür hinter sich.
Das Nächste, was Hugo hörte, war das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels.
Das Herz blieb ihm stehen. Mit zwei Schritten war er an der Tür, drehte und zog an dem
Knauf. Die dicke Mahagonitür rührte sich nicht. Er drehte den Knauf in die andere Richtung.
Dasselbe Ergebnis.
Er fasste es nicht. Meggie hatte ihn eingeschlossen!
„Meggie? Verdammt, Meggie, lassen Sie mich sofort hinaus!" Mit den Fäusten hämmerte
er an die Tür. Nichts ge schah. Er presste sein Ohr an das Holz, hörte indes nichts. Und das
bedeutete, dass ihn ebenfalls niemand hörte.
Hugo fluchte ganz schauerlich. Er würde sie umbringen! Sobald er aus diesem Gefängnis
herauskam, würde er sie umbringen!
Dummerweise würde er sie zuerst heiraten müssen.
7. KAPITEL

Meggie sammelte sich erst, bevor sie leise an Schwester Agnes' Tür klopfte. Sie hoffte nur,
es war richtig gewesen, Hugo ganz allein im Erkerzimmer zu lassen. Es war nie mand in der
Nähe gewesen, um ihn zu bewachen, und sie hatte es erforderlich gefunden, ihn so schnell
wie möglich in seine Unterkunft bringen zu lassen.
„Meggie!" Bei ihrem Eintritt blickte Schwester Agnes hoch. „Da bist du ja endlich. Setze
dich, Kind. Ich habe schon auf dich gewartet."
„Ja, das habe ich mir gedacht." Meggie hockte sich auf die Stuhlkante. „Sie wollten etwas
über Lord Hugo hören, nicht wahr?" Das wusste sie, denn sein Name, gepaart mit Besorgnis,
ging in Schwester Agnes' Kopf herum.
„Hat er dich gefunden?"
„Ja, im Garten, und er hat mich ziemlich geschockt, kann ich Ihnen sagen."
Schwester Agnes nickte mitfühlend. „Das kann ich mir vorstellen. Ich hoffe, es war kein
Fehler gewesen, ihn zu dir zu schicken."
Meggie erschrak. Hugo Montagu hatte ihr zwar gesagt, Schwester Agnes habe ihn
herausgeschickt, doch da sie bei ihm auf ihr Talent verzichten musste, hatte sie ihm nicht
geglaubt. „Sollte ich ihm etwas Bestimmtes sagen?"
„Du solltest ihm nur sagen, was du für richtig hieltest. Vielleicht hätte ich dich darauf
vorbereiten sollen, doch ich dachte, dass du mit deiner Fähigkeit die Sache viel besser
einschätzen kannst als ich."
Nervös rutschte Meggie auf ihrem Stuhl hin und her. Wie sollte sie der Nonne nur das
unerwartete Versagen dieser Fähigkeit erklären? „Ach Schwester, es tut mir ja so Leid, doch
ich will ganz aufrichtig zu Ihnen sein."
„Das warst du bisher ja immer, Meggie. Du kannst mir sagen, was du beschlossen hast.
Mir brauchst du doch nichts zu verschweigen."
Meggie errötete. Eines musste sie tatsächlich verschweigen, nämlich die katastrophale
Wirkung, die Hugo auf ihren Körper gehabt hatte. Das dürfte die Schwester so bestürzen, dass
sie wahrscheinlich dafür sorgen würde, dass er so weit wie möglich von Meggie entfernt
untergebracht wurde.
„Weshalb zögerst du, Kind? Du verlässt dich doch sonst immer auf deine Intuition."
Meggie schüttelte den Kopf. „Das ist es ja gerade. Lord Hugo war mir ein absolutes Rätsel.
Ich kann Ihnen über ihn nichts berichten, das Sie nicht bereits selbst wissen."
Erstaunt sah Schwester Agnes Meggie an. „Soll das heißen, du warst nicht in der Lage,
etwas in seinem Charakter, in seinen Gedanken zu lesen?"
„Überhaupt nichts." Meggie senkte den Kopf. „Es tut mir sehr Leid, dass ich Sie enttäuscht
habe. Ich begreife auch nicht, was mit mir los ist. Ich war noch nie so ratlos."
Zu Meggies Verblüffung kicherte Schwester Agnes. „Wunder gibt es immer wieder, und
außerdem hast du mich nicht im Mindesten enttäuscht."
„Nein? Aber Sie sagten doch. Sie verließen sich auf meine Fähigkeit, weil sie Ihnen sehr
bei unserer Arbeit hier hilft. Weshalb denken Sie jetzt anders darüber?"
„Das tue ich keineswegs, Kind, doch in diesem Fall finde ich es einfach besser, dass du
Lord Hugos Gedanken nicht zu lesen vermagst."
„Schickten Sie ihn denn nicht zu mir, weil Sie wollten, dass ich seinen Geist so genau wie
möglich erforsche?"
„Ich schickte ihn zu dir, weil ich wollte, dass du deinen eige nen Geist erforschtest - und
dein Herz. Ich nahm an, du wärst in der Lage, auch in seines zu sehen, doch da dieses offen-
kundig nicht der Fall ist, bin ich trotz meiner Überraschung hoch erfreut."
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und steckte die Hände in die Falten ihrer Tracht.
„Ich glaube, es ist besser, wenn zwei unter demselben Dach wohnende Menschen ein wenig
Abstand zueinander haben. Findest du nicht auch?"
Das brachte Meggie in Verlegenheit. Schwester Agnes hatte natürlich messerscharf
erkannt, was Meggie vor ihr hatte verbergen wollen. „Ja", murmelte sie. „Ein wenig Abstand.
Unter den gegebenen Umständen ist das wohl das Beste."
„Dann hast du also eine Entscheidung getroffen? Wirst du Lord Hugo Montagu
akzeptieren? Das bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung, doch ich denke, du wirst es
meistern."
Jetzt war Meggie restlos verwirrt. „Weshalb wollen Sie, dass ich für Lord Hugo
Verantwortung übernehme, wenn ich doch keinen Zugang zu seinen Gedanken habe?"
„Du für ihn? Lord Hugo Montagu wird doch für dich verantwortlich sein. Das ist nämlich
bei einer Ehe allgemein so üblich."
Vor Schreck wäre Meggie beinahe von ihrem Stuhl gefallen. „In einer . . . Ehe?"
„Ja, gewiss. Wovon sollte ich denn sonst reden?"
„Er ist doch geistesgestört! Er soll doch hier aufgenommen werden, nicht wahr? Bitte,
Schwester Agnes, sagen Sie mir, dass ich mich nicht täusche!"
„Meggie, was, in aller Welt ... Hat er dir denn nicht erklärt, weshalb er gekommen ist?"
„Schon, doch ich glaubte ihm nicht. Nur ein absolut Irrer würde mich heiraten wollen. Ich
kenne ihn nicht, und er kennt mich nicht. Weshalb sollte er ausgerechnet mich heiraten
wollen? Er muss einfach irre sein!"
„Mein liebes Kind, das ist er ganz gewiss nicht." Die Nonne wirkte ausgesprochen
fröhlich. „Meine Güte, deine Gabe ha t dich aber wirklich im Stich gelassen!"
„Dann glauben Sie also, dass er es wirklich so meinte?"
Schwester Agnes wurde wieder ernst. „Ja. Ich habe ihm tatsächlich geglaubt. Er trug mir
sein Anliegen sehr beredt vor. Dir etwa nicht?"
Die Worte klangen Meggie noch in den Ohren: ,Ich liebe Sie - schon seit Wochen . . . Ich
musste einfach kommen, Meggie . . .'
Ihr eigenes Verhalten war ihr jetzt sehr peinlich. Sie barg das Gesicht in den Händen. „Ach
Schwester, ich habe alles falsch verstanden. Am Anfang dachte ich, er spräche nur von einer
Heirat, weil er . . ." Sie unterbrach sich. „Sie wis sen schon", murmelte sie dann. „Wie es auch
meiner Mutter geschehen ist", schloss sie leise.
Schwester Agnes legte die Stirn in Falten. „Ich hatte ja gar keine Ahnung, dass du etwas
von der misslichen Lage deiner Mutter weißt! Es tut mir sehr Leid, Kind. Ich hoffte, dir die
schmerzliche Wahrheit ersparen zu können."
„Schon gut, Schwester. Wirklich. Dass ich unehelich geboren bin, habe ich längst
akzeptiert. Ich frage mich nur, weshalb Lord Hugo Montagu jemanden von so niedriger Ge-
burt heiraten will. Kennt er vielleicht die näheren Umstände nicht?"
„Er hat es sich angelegen sein lassen, eine Menge über dich herauszubekommen, Meggie,
und er hat klargestellt, dass er zwar die Umstände deiner Geburt kennt, dass ihn das jedoch
nicht im Geringsten kümmert. Außerdem ..." Sie schwieg einen Moment. „Außerdem scheint
ihm klar zu sein - und ich habe keine Ahnung, woraus er das schließt -, dass du anders bist."
Meggie bekam fast keine Luft mehr. „Anders? Was soll denn das heißen? Dass ich keinen
benannten Vater vorweisen kann, oder dass mir zwei Teufelshörner aus dem Kopf wachsen?"
„Er sagte, er halte dich vielmehr für einen Engel, und du seist nicht ganz von dieser Welt",
erwiderte Schwester Agnes.
„Das hat er tatsächlich gesagt?" Meggie konnte es kaum glauben. Ein Engel? Der Mann
war wirklich mehr als nur ein wenig verwirrt!
„Ja, und er sagte noch mehr, doch das soll er dir selbst erzählen, wenn du bereit bist, ihn
anzuhören. Ich jedenfa lls glaube, dass er die Wahrheit spricht."
Meggie spürte, dass die Nonne es völlig aufrichtig meinte. Wenn sie sagte, Hugo Montagu
sei durchaus bei Verstand, dann musste es ja wohl so sein, und wenn sie sagte, Hugo Montagu
wolle sie heiraten, dann würde das wohl ebenfalls so sein. Nur weshalb? Es sei denn . . .
Meggie setzte sich ganz gerade auf, als ihr ein überraschender Gedanke durch den Kopf
schoss: Es sei denn, der Mann fühlte sich körperlich zu ihr ebenso stark hingezogen wie sie zu
ihm. Und, ach, wie sehr fühlte sie sich doch zu ihm hingezogen!
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie nicht leugnen, dass die Vorstellung, ihn zu
heiraten, durchaus etwas für sich hatte. Sehr viel sogar. Jede Nacht in seinem Bett zu schlafen,
in seinen starken Armen zu liegen und . . .
Bei den wollüstigen Bildern, die in ihrem Geist entstanden, errötete Meggie tief. Sie
schämte sich, weil sie so etwas vor Schwester Agnes dachte. Wie dem auch sei, falls sie eine
Heirat auch nur in Betracht zöge, dann aus den richt igen Gründen - nur was waren das für
Gründe?
Eine Ehe würde ihr Freiheit schenken. Hugo hatte ihr ge sagt, sie erhielte alles, was ihr
Herz begehrte. Was sie wirklich begehrte, das war ein schlichtes Leben mit etwas eigener Zeit
und eigenem Raum zum Atmen. Keine Glocken, die sie morgens aus dem Bett holten und ihr
abends sagten, wann sie das Licht zu löschen hatte. Keine Glocke, die sie zu einer Mahlzeit,
zum Morgengebet oder zur Abendvesper rief. Wirkliche Freiheit.
Und sie mochte Hugo Montagu aufrichtig, auch wenn sie nichts jenseits seines schönen
Gesichts zu erkennen vermochte.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Schwester, ich weiß, Sie stehen dieser Ehe nicht
ablehnend gegenüber. Dennoch scheint es mir nicht richtig, Lord Hugos Antrag anzunehmen,
so attraktiv er auch sein mag."
„Nein? Weshalb nicht?"
„Sehen Sie, ich würde Hugo Montagu ausnutzen, um die Freiheit zu erlangen, die ich mir
so sehr wünsche." Sie rang die Hände. „Ach Schwester, vergeben Sie mir, doch ich wünsche
sie mir so sehr, dass ich sie beinahe kosten kann, trotzdem wäre es nicht recht, wenn ich ihn
akzeptierte, nur weil er mir diese Freiheit gewähren kann." Sie schüttelte den Kopf. „Und Gott
will, dass wir nach seinen Geboten handeln. Darf ich dann Lord Hugo ehelichen, wenn ich ihn
doch nicht liebe?" Außer in meinen Fantasien, fügte sie im Stillen hinzu.
„Die Liebe wird mit der Zeit wachsen. Wo steht denn ge schrieben, dass du deinen
Ehemann schon lieben musst, wenn du ihn heiratest?"
„Ja, nur beharrt er darauf, mich zu lieben, Schwester, obgleich ich nicht begreife, warum."
„Möglicherweise ist Lord Hugos Vorstellung von Liebe nicht im Geistigen begründet."
Schwester Agnes' Augen funkelten auf eine Weise, die Meggie nur als überaus weltlich
bezeichnen konnte. „Bei diesem Thema bringen Männer nämlich oft etwas durcheinander."
Jetzt musste Meggie lächeln. Schwester Agnes' Offenheit hatte sie nicht erwartet. „Ja, das
habe ich auch schon bemerkt, und ich denke, das könnte seine Motivation erklären."
„Wäre es denn ein Grund, sein Angebot abzulehnen, das er durchaus ernst zu meinen
scheint?"
„Ich bin ja auch sehr versucht, es anzunehmen, Schwester, und falls ich ihn akzeptiere,
würde ich tatsächlich alles mir Mögliche tun, um ihm eine gute Ehefrau zu sein, doch den
Sohn eines Dukes zu heiraten . . . Ich gehöre nicht in seine Welt. Er ist so hoch geboren, und
ich bin ein Niemand. Ein absoluter Niemand."
„Du bist du, Meggie! Und er ist ein Mann wie alle anderen mit denselben Hoffnungen,
Ängsten und Bedürfnissen. Daran solltest du denken, und nicht an den weltlichen Rang-
unterschied. Die Frage ist einzig die, ob du meinst, mit ihm glücklich werden zu können."
„Ich will das Glück ja", sagte sie. „Doch was ist mit seiner Familie, seinen Freunden? Was
werden sie denken, wenn sie mich kennen lernen? Ich bin nicht nur außerehelich ge boren, ich
kenne meinen Vater nicht einmal! Ich kann mir nicht vorstellten, dass eine Familie - schon
gar nicht eine aristokratische - darüber erfreut ist."
„Du bist nicht verantwortlich für die Fehler deiner Eltern", erklärte Schwester Agnes mit
Nachdruck. „In dieser Welt machen wir aus uns, was wir können mit den Gaben, mit denen
wir geboren wurden und mit den Chancen, die uns Gott gibt. Fragst du wirklich, weshalb Gott
dir diese Tür geöffnet hat?"
Meggie errötete tief. „Nein", flüsterte sie.
Die Züge der Nonne entspannten sich. „Ich glaube, dass Gott mit dir immer etwas
Besonderes vorhatte, Meggie Bloom. Kehre der Gelegenheit nicht den Rücken, nur weil du
nicht verstehst, weshalb sie dir geboten wurde."
„Ach Schwester, das will ich doch gar nicht! Ich will sie sogar mit offenen Armen
annehmen."
„Dann solltest du jetzt zu Lord Hugo gehen und ihm genau das sagen", meinte die Nonne
sehr vernünftig.
„Ja", sagte Meggie leise. „Ja, das will ich."
„Hervorragend." Die Nonne klatschte erfreut in die Hände. „Wo hast du ihn warten
lassen?"
Meggie erblasste, weil ihr wieder einfiel, wo und unter welchen Umständen sie ihn
zurückgelassen hatte. „Im - äh - im Erkerzimmer, Schwester."
„Aber das ist doch kein Raum für Besucher! Du weißt doch genau, dass er nur für jene
bestimmt ist, die bei uns aufge nommen werden sollen!" Vor Schreck machte die Schwester
ganz große Augen. „O Meggie, Meggie Bloom! Du hast doch nicht etwa . . . das kannst du
doch nicht..."
„Ich fürchte, doch", sagte Meggie unglücklich, griff in ihre Schürzentasche und hielt den
Schlüssel in die Höhe.

„Fünftausendeinhundertsechs, fünftausendeinhundertsieben", murmelte Hugo,


konzentrierte sich auf seine Schritte und nahm den kalten Schweiß nicht zur Kenntnis, der
ihm in den Kragen lief.
„Fünftausendeinhundertacht, fünftausendeinhundertneun ..." Bald würde er jeden Penny
verdient haben, den ihm die Heirat mit Meggie Bloom einbrachte, doch falls er nicht zuvor
freigelassen wurde, würde jemand dafür sehr schwer büßen müssen!
Er hielt inne und schloss die Augen. „Meggie Bloom, du wirst mich heiraten, und wenn ich
dich auch schreiend bei den Haaren heranziehen müsste!" zischte er. „Und dann werde ich
dich genauso einschließen und sehen, wie dir das gefällt. Du bekommst weder Pralinen noch
Schmuckbänder und auch keinen verdammten Salatkopf! Und falls ich hinterher sehr
großmütig bin, lasse ich dich nach ein paar Mona ten aus der Folterkammer heraus, und du
darfst im Zwinger bei den Hunden schlafen, denn du bist ja so schwachsinnig, dass du nicht
einmal einen Hund von einem gottverdammten Wolf unterscheiden kannst!"
Er atmete tief durch. „O Gott, bitte sei gnädig mit mir! Ich schwöre, ich werde alles tun,
nur lasse mich hier hinaus!"
Als er das unmissverständliche Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels hörte,
richtete er sich gerade auf. Gott konnte ihn doch nicht so schnell erhört haben?
Im ersten Impuls wollte Hugo sich auf seinen Retter stürzen, doch der letzte Rest von Stolz
gewann. Er tupfte sich Gesicht und Nacken ab und zog sich so geschwind wie noch nie in
seinem Leben das Jackett an. Würde! mahnte er sich und stopfte sich das Halstuch in die
Tasche, weil er in der Kürze der Zeit, nichts anderes damit machen konnte. Würde und
Beherrschung der Situation! Die Rache konnte warten.
Als sich die schwere Tür öffnete, stand er absolut still. Zuerst sah er einen gebeugten
blonden Kopf. „Miss Bloom?" Er sprach so gelassen wie möglich. „Sie haben sich also zur
Rückkehr entschlossen. Wie entgegenkommend von Ihnen."
„Lord Hugo." Sie trat ein und ließ die Tür weit offen, wo für er unendlich dankbar war.
„Ich muss mich bei Ihnen sehr entschuldigen." Sie hob den Blick ihrer grauen Augen zu ihm
auf, was ihn allerdings nur noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte.
„Entschuldigen?" Er zwang sich dazu, die rechtschaffene Entrüstung beizubehalten, die
sich bei ihrem durchdringenden Blick aufzulösen schien. „Etwa dafür, dass Sie mich für
mindestens eine Dreiviertelstunde ohne jede Erklärung in diesem gottverlassenen Raum
eingeschlossen haben?"
„Ja. Das war ein furchtbarer Fehler. Ich dachte nämlich. Sie wären gekommen, um hier zu
wohnen."
„Sie dachten ..." Entsetzt starrte Hugo sie an. Du lieber Gott, worauf ließ er sich hier ein?
„Sie meinen. Sie dachten, hier würden wir wohnen, wenn wir verheiratet sind? Wissen Sie,
ich besitze selbst ein Haus." Während des Sprechens bewegte er sich langsam zu der offenen
Tür.
„Ich weiß, oder ich nahm es zumindest an. Ich glaubte, Sie wären entwischt, und da wollte
ich Sie zurückbringen. Als Schwester Agnes mir versicherte, dass dies gar nicht der Fall sei,
tat es mir natürlich Leid. Sehr sogar."
Hugo nickte. Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
„Falls Sie mich also immer noch heiraten möchten, wäre mir das sehr recht, auch wenn ich
es erst verstand, nachdem Schwester Agnes mir alles erklärte. Oder doch zumindest das, was
sie erklären konnte."
„Verstehe. Ich bin ihr sehr verbunden." Er trat in den Flur hinaus und atmete tief durch.
Nur noch ungefähr hundert Schritte, und er wäre an der Vordertür.
Meggie folgte ihm. „Lord Hugo, meinen Sie nicht, wir sollten dieses ordentlich
besprechen? Schwester Agnes wies mich darauf hin, dass Sie eine große Verantwortung
übernehmen, und ich auch. Also das heißt. . . ich werde doch gewisse Pflichten haben, nicht
wahr?"
„Darüber wünsche ich jetzt nicht zu diskutieren", sagte Hugo mit einem schnellen Blick
über die Schulter.
„Oh . . . Ich verstehe. Habe ich Sie so böse gemacht, dass Sie mich nun doch nicht mehr
heiraten wollen?"
Das hörte sich so enttäuscht an, dass Hugo beinahe gelacht hätte. Er blieb stehen und
drehte sich zu ihr um. „Meggie, hören Sie mir gut zu. Ich will Sie noch heiraten. Ich habe
jedoch nicht die Absicht, hier in diesem . . . diesem Höllenloch zu stehen und mit Ihnen über
dieses Thema ernsthaft zu diskutie ren."
Sie runzelte die Stirn. „Beabsichtigen Sie, diese Diskussion überhaupt einmal zu führen,
oder wollen Sie mich mit Pralinen so vollstopfen, dass eine Unterhaltung unmöglich wird?"
Hugo betete um Geduld und packte Meggie bei der Hand. Wenn er sie aus dem Pflegeheim
heraus hatte, wollte er sie als Erstes in einen Badezuber werfen. Er zog sie den Flur entlang,
durch die Eingangshalle und direkt zur Vordertür.
„Gehen Sie, und holen Sie Ihre Sachen. Und beeilen Sie sich!" Er nahm sie bei den
Schultern. „Ich warte draußen. Wenn Sie fertig gepackt und sich verabschiedet haben, treffen
Sie mich vorn wieder."
„Wollen Sie mich tatsächlich gleich heute Nachmittag mit nehmen?" Sie blickte ihn so
zweifelnd an, dass er schon fürchtete, sie könnte es sich noch anders überlegen.
„Genau das will ich. Ich habe draußen eine feine Kutsche mit zwei hübschen weißen
Pferden stehen."
„Eine feine Kutsche mit zwei hübschen weißen Pferden?"
„Ja, und es ist nur eine halbe Stunde bis zu meinem schö nen, großen Haus. Das befindet
sich am Meer, oder jedenfalls sehr nahe davon. Mögen Sie das Meer, Meggie?"
„Ich glaube ja. Allerdings habe ich es noch nie gesehen. Ist es auch sehr groß?"
„Nicht so groß, als dass es Sie beunruhigen könnte. Jetzt seien Sie schön brav, und beeilen
Sie sich, oder wir kommen zu spät zum Abendessen."
„Abendessen." Sie lächelte verträumt. „Ein himmlischer Gedanke! Freitags bekommen wir
hier zu beiden Mahlzeiten nur Hirsebrei und Brot. Das hat etwas mit Buße zu tun, doch so
genau weiß ich das nicht. Ich weiß so vieles nicht so genau. Können Sie es mir erklären?"
„Über Erklärungen würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Ich bin mir sicher, bei uns
gibt es etwas Besseres als Brot und Hirsebrei. Mit etwas Glück wird es sogar ein Festmahl
geben. Ein zauberhaftes Festmahl, doch Sie müssen sich beeilen", sagte er verzweifelt, weil er
fürchtete, dass Meggie sonst in zwei Stunden noch hier stand und nachdachte.
„Ein zauberhaftes Festmahl? In diesem Fall muss mich mein Fliegender Teppich nach
oben bringen."
Hugo schaute ihr nach, wie sie die Treppe hinaufhüpfte, und verzog das Gesicht, als sie auf
halber Höhe in Gekichere ausbrach, das erst dann aufhörte, als sie nicht mehr in Hörweite
war.
Er drückte sich die Hände an die Stirn und ging dann hinaus an die frische Luft. Zum
Glück war Meggie Bloom ein sehr schönes Mädchen, denn sonst hätte ihn selbst seine
missliche Finanzlage nicht von der Flucht abgehalten. Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück.
Ihm fiel ein, dass er ja gar nicht wusste, woher dieses „zauberhafte" Abendessen
herkommen sollte. Gewiss, er hatte an die Misses Mabey geschrieben, sie über seine für heute
geplante Ankunft mit seiner zukünftigen Gattin informiert und verlangt, dass zwei
Schlafzimmer gelüftet sowie ein schlichtes Abendessen vorbereitet werden sollte. Er wusste
jedoch nicht, ob die beiden Misses noch gut genug sehen konnten, um zu lesen, geschweige
denn, ob sie in der Lage waren, ein Abendessen herzurichten. Also hatte er keine Ahnung,
was er bei seiner Ankunft vorfinden würde.
Er hatte vorgehabt, seinen Kammerdiener von London vo rauszuschicken, um alles zu
regeln, doch das hatte er sich wieder anders überlegt. Über Meggies Herkunft musste er
Mallard ebenso im Dunkeln lassen wie alle anderen auch. Gerüchte verbreiteten sich aus den
Dienerquartieren sehr geschwinde bis in die feinsten Salons aus, und das wäre das Letzte, was
er brauchte.
Mallard durfte erst dann kommen, wenn Hugo Meggie besser in der Hand hatte, und falls
ihm das nicht gelänge, konnte er behaupten, der Schock ihrer Hochzeitsnacht hätte sie restlos
aus dem Gleichgewicht gebracht.
Hugo lächelte vor sich hin. Das war eine brillante Idee! Er stellte sich die durch exzessive
Leidenschaft aus dem Gleichgewicht gebrachte Meggie vor, wie sie in seinem Bett lag mit
jenem verträumten Blick, mit dem sie ihn kurz zuvor bedacht hatte, und dem Haar, das wie
eine goldene Wolke ihre Schultern umschwebte.
Gewiss, mit diesem Blick hatte sie ihn erst dann bedacht, als er ihr ein feines Abendessen
versprochen hatte, doch es gab ja mehr als eine Art, Appetit zu befriedigen. Meggie wusste es
nur noch nicht.
Auf einmal fühlte sich Hugo schon wesentlich besser.
8. KAPITEL

Meggie erreichte ihr Zimmer und brach vor Lachen auf ihrem harten Bett zusammen. Das
war alles zu viel für sie. Hugo Montagu war vollkommen bei Verstand, was sie ungeheuer
erleichtert hatte. Doch dafür schien er sie nun für eine Art schwachsinniges Dummchen zu
halten. Weshalb sonst würde er in dieser merkwürdigen Weise mit ihr sprechen?
Sie setzte sich hoch. Seine falsche Annahme war einmal etwas anderes. Während die
meisten Leute fanden, sie nähme viel zu viel wahr, war ihr zukünftiger Ehemann offenbar ge-
nau gegenteiliger Ansicht. Ebensogut hätte er Rose anreden können.
Was hatte Schwester Agnes doch gesagt? ,Er glaubt, du wärst nicht ganz von dieser Welt.
Er hält dich für einen Engel’
Meggie schüttelte den Kopf. Sie begriff nicht, wie er sie für einen Engel halten konnte,
wenn er doch immer betont hatte, dass er sie in seinem Bett haben wollte? Indes, was wusste
sie schon von Männern und deren Begehren? Falls er unbedingt einen geistesschwachen
Engel zur Ehefrau ha ben wollte, dann würde sie ihm das auch bieten. Er war schließlich so
gütig, sie zu heiraten.
Falls die Wahrheit einmal herauskäme, würde er möglicherweise merken, dass es gar nicht
so übel war, eine nicht nur vollkommen irdische, sondern auch eine dazu noch verständige
Ehefrau zu haben.
Zunächst war es jedoch ihr einziges Ziel, aus dem Pflege heim hinauszugelangen, bevor
noch etwas dazwischenkam. Zu schade, dass es erst Freitag ist, dachte sie, während sie ihr
Gewand ablegte. Samstags wurde ihr zum Waschen der wöchentliche Luxus eines Eimers voll
heißen Wassers zugestanden. Morgen würde sie schon eine verheiratete Frau mit eigenem
Haus sein. Möglicherweise bekam sie dann jeden Tag einen Eimer warmes Wasser. Das wäre
vielleicht ein Luxus!
Mit einem Stück Kernseife wusch sie sich in der kleinen Schüssel so sauber wie möglich
und rieb sich dann mit dem fadenscheinigen Handtuch trocken, das an einem Nagel beim
Waschständer hing.
Nun noch ein sauberes Kleid. Das, welches sie getragen hatte, wollte sie einpacken, um es
später zu waschen. Ihr Schrank enthielt nur ihr zweites weißes Arbeitskleid sowie ihr gutes
Gewand für den sonntäglichen Kirchgang, und das war schwarz mit einem einfachen weißen
Kragen. Sie legte beides aufs Bett und überlegte, welches davon wohl angemessener wäre.
Jemand klopfte leise an die Tür. Meggie seufzte. Sie wusste schon, dass es Rose war.
„Herein!"
„Ach Meggie!" rief Rose, als sie ins Zimmer platzte. „Schwester Agnes schickt mich, um
Ihnen beim Packen zu helfen. Sie sagte. Sie würden uns heute verlassen, um getraut zu
werden. Stimmt das? Wenn Schwester Agnes es sagt, muss es ja stimmen, doch ich begreife
nicht, wie das gekommen ist. Haben Sie ihn in der Stadt kennen gelernt? Davon ha ben Sie ja
gar nichts gesagt! Ist er schön? Vornehm? Er muss sehr elegant sein. Ist es die große Liebe?
Oooh, das ist ja so romantisch! Das halte ich gar nicht aus!"
Über die Schulter hinweg warf Meggie Rose einen amüsierten Blick zu. „Tatsächlich habe
ich ihn hier bei uns kennen gelernt. Er ist der Sohn einer unserer Schirmherrinnen."
Rose sah sie verblüfft an. „Dann ist er ein Vornehmer! Ist er ein richtiger Gentleman?"
„Nicht nur ein Gentleman, sondern ein richtiger Lord. Erstaunlich, nicht?"
Rose schüttelte den Kopf. „Dann werden Sie eine richtige Lady?"
„Vermutlich." Daran hatte Meggie überhaupt noch nicht gedacht. Meggie Bloom, die ihr
Leben lang nur ein Schmutzfleck auf der gesellschaftlichen Achtbarkeit gewesen war, würde
sich in Lady Hugo Montagu, die Gattin eines Aristokraten, verwandeln. Das erschien ihr
ausgeschlossen, und das würde es auch sein, es sei denn, die Wahrheit käme nicht an den Tag.
„Eine richtige Lady", bestätigte sie und fragte sich, wie sie das wohl hinbekommen sollte.
Nur gut, dass sie anständig zu sprechen gelernt hatte, doch alles andere würde eine echte
Herausforderung darstellen.
Rose legte einen Finger an den Mund. „Ich überlege nur so ... Da Sie ja nun eine feine
Lady werden, brauchen Sie doch sicherlich eine Zofe, die Sie ankleidet, nicht?"
Meggie zuckte die Schultern. „Ich wüsste nicht, wozu. Ich habe mich bisher immer selbst
angezogen, und ich fände es ein wenig albern, wenn ich das jetzt von jemand anders machen
ließe."
„Also Meggie . . . meine Schwester hat oben in Wickham Market in dem großem Haus
gedient, bis man es vor einem halben Jahr zumachte. Sie war natürlich keine Zofe, sondern
nur ein Zimmermädchen, aber sie hat alles von der französischen Zofe gelernt, die sich um die
Mistress kümmerte. Seitdem ist es Daisys Herzenswunsch, als Zofe zu arbeiten. Nur hat sie
bislang keine Anstellung finden können." Rose holte tief Luft. „Falls Sie einmal jemanden
brauchen - Daisy ist ein nettes Mädchen und kann hart arbeiten. Wir wären Ihnen alle so
dankbar, und Daisy würde sich riesig freuen!"
Meggie ging zu Rose und drückte ihr die Hand. „Wenn ich meine neuen Lebensumstände
kenne, werde ich sehen, was sich machen lässt", sagte sie liebevoll. Trotz ihrer Einfalt war
Rose ein gutes Mädchen und hatte nur die allerbesten Ab sichten. „Vielleicht kannst du mir
jetzt helfen. Welches Gewand ist deiner Meinung nach am angemessensten für meine Ankunft
in Lord Hugos Haus? Das weiße oder das schwarze?"
Rose musste sich sehr konzentrieren. „Schade, dass Sie nichts mit einem bisschen mehr
Farbe haben. Der Lord soll Sie j a nicht für eine Nonne halten. Aber er wird es wohl besser
wissen, denn sonst würde er Sie ja nicht mitnehmen, oder?" Sie lachte fröhlich über ihren
Scherz. „Trotzdem - weshalb nicht das Schwarze? Das wird auf der Reise nicht so schnell
schmutzig. Ich frage mich sowieso, warum Schwester Agnes Weiß für unsere
Arbeitsbekleidung ..."
Meggie hörte nur mit einem halben Ohr auf Roses Plappern. Sie hatte sich bereits das
schwarze Gewand angezogen und le gte nun den Rest ihrer Sachen säuberlich gefaltet auf die
Matratze. Danach holte sie die Reisetasche hervor, in der sie immer ihr Stickgarn und die
Nadeln aufbewahrte, und stellte sie geöffnet aufs Bett.
Als Erstes packte sie zwei Nachthemden aus grob gewebtem Stoff hinein, dann kam ein
Baumwollkittel sowie ihre zweite Haube und die Ersatzschürze hinzu. In das schmutzige
Kleid und die Schürze, die sie bei der Arbeit getragen hatte, wickelte sie ihre Arbeitsschuhe
ein und legte dieses Bündel oben darauf. Jetzt fehlten nur noch die Zahnbürste, die Haarbürste
und Tante Emilys Bibel.
Zum Schluss holte sie den großen Beutel mit dem Gobelin, an dem sie so viele Jahre
gearbeitet hatte. Das war das Einzige, das ihr wirklich gehörte. Sie hatte sich gedacht, wenn
sie einst den Bildteppich fertig hatte, würde er die Summe ihrer Erfahrungen darstellen. Tag
für Tag, Stich für Stich. Bis ihr Leben endete und sie auf dem Feld begraben wurde, wo man
all denen den letzten Ruheplatz gab, die keine Angehörigen hatten.
Und nun hatte sich plötzlich alles geändert. . .
Meggie schaute auf den großen Beutel hinunter, der ihre kostbare Arbeit enthielt, und
schwor sich im Stillen, nie mals diesen Prüfstein aufzugeben, denn er enthielt alle ihre
Erinnerungen.
Sie nahm den Gobelin heraus, betrachtete ihre Stickerei und meinte, sie läse in ihrem
persönlichen Tagebuch. Mit der Fingerspitze strich sie über die üppigen Bäume, in deren
Ästen bunte Fantasievögel saßen. Das hatte sie während des Winters vor sechs Jahren
gestickt, als sich Mrs. Beatrice Collins hier von ihrem schrecklichen Kummer über den fünf-
ten Verlust eines Kindes erholte. Meggie hatte ihr die jeweils fertig gestellten Bilder gezeigt
und dabei unaufhörlich von Gottes Liebe und Weisheit gesprochen und vom Himmel, wo jetzt
Mrs. Collins Kinder bei den Engeln Frieden gefunden hatten.
Als sich die ersten Knospen an den Bäumen zeigten, war Mrs. Collins heim zu ihrem
Ehemann gegangen, und ihr verstörter Geist hatte ebenfalls Frieden gefunden.
Und an dieser Bildfolge hier hatte Meggie im darauf folgenden Jahr gearbeitet, als
Schwester Agnes an einer so schlimmen Grippe litt, dass alle um ihr Leben bangten. Damals
hatte Meggie begonnen, Vertrauen zu Schwester Agnes zu fassen, und zur selben Zeit hatte
auch Hadrian begonnen, Vertrauen zu Meggie zu fassen. Deshalb war sein Abbild in die
Szene gestickt worden. Jetzt blickte sein liebes Gesicht sie an und erinnerte sie daran, wie
klein er einmal gewesen war. . .
„Hadrian!" Sie steckte den Bildteppich in den Beutel zurück. „Ach Rose - wie konnte ich
ihn nur vergessen? Wür dest du so nett sein und ihn für mich holen? Der arme Kerl befindet
sich noch im Garten, wo ich ihn zurückgelassen habe."
„Gewiss, Meggie." Roses Miene wurde finster. „Ich dachte nicht, dass er uns auch
verlassen würde. Ich weiß gar nicht, wer mir mehr fehlen wird, Sie oder Ihr liebes Hundchen."
Sie ließ den Kopf hängen, und Tränen standen in ihren Augen. „Bis jetzt schien alles noch
nicht wahr zu sein."
Rasch ging Meggie zu Rose und legte ihr den Arm um die breiten Schultern. „Du wirst mir
auch fehlen, doch sorge dich nicht. Ich verspreche, zurückzukommen und euch zu besuchen."
Das meinte Meggie ganz aufrichtig. Schließlich konnte sie nicht einfach spurlos
verschwinden, und warum sollte sie auch? Hugo hatte ihr doch gesagt, sein Haus sei nur eine
halbe Wegstunde entfernt.
„Versprochen?" fragte Rose. „Und dann bringen Sie auch das Hundchen mit?"
„Wenn ich kann." Meggie fragte sich, wie sie Hadrian überhaupt aus dem Pflegeheim
hinausbringen sollte, zumal Hugo doch eine solc he Abneigung gegen Tiere hatte. Nun, sie
würde einfach hartnäckig bleiben. Wenn er sie wirklich so dringend heiraten wollte, dann
musste er eben auch die Konsequenzen in Kauf nehmen, und das schloss das Zusammenleben
mit einem Wolf ein.
Ungeduldig lehnte sich Hugo gegen seinen Wagen und wünschte, Meggie würde endlich
kommen.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Jemand kam den Pfad entlang, der aus dem
Garten herausführte. Die Gestalt verschwand hinter Bäumen und tauchte nur wenige Schritte
entfernt wieder auf.
Es handelte sich um ein Mädchen, ganz in Weiß gekleidet wie Meggie, und ein Häubchen
saß schief auf seinem Kopf. Sie war großknochig, rundlich und hatte ein Gesicht wie ein
Pudding. Als sie ihn sah, blieb sie stehen. Das Kinn fiel ihr praktisch bis auf den
beträchtlichen Busen hinab, und mit den Händen wedelte sie wie wild.
Hugo fragte sich, was sie wohl als Nächstes tun würde, denn zweifellos war sie eine von
„denen".
Plötzlich riss sie den Blick von ihm los und schaute sich um, als erwartete sie, dass jemand
aus dem Nichts auftauchen würde. Dann drehte sie sich um, steckte die Finger in den Mund,
stieß einen durchdringenden Pfiff aus und schlug mit den Armen wie ein Huhn mit seinen
Flügeln.
Hugo, der das nicht mit ansehen konnte, wünschte, eine Wärterin würde kommen und das
Mädchen mitnehmen.
In diesem Moment schoss ein gewaltiges Tier zwischen den Bäumen hervor und direkt auf
die Weißgekleidete zu. Hugos Knie gaben vor Angst beinahe nach. „Achtung!" schrie er und
sprang instinktiv zu ihr. Sie mochte vielleicht geistesgestört sein, doch das hieß nicht, dass sie
von einem Wolf gefressen werden musste.
Er raste den Pfad entlang, um sich zwischen die Bestie und das Mädchen zu werfen, doch
der Wolf erreichte die Verrückte als Erster, sprang sie an und legte ihr seine Pfoten auf die
Schultern. Statt sie jedoch umzureißen und aufzufressen, leckte er ihr das Gesicht, während
sie kicherte und ihm den Kopf kraulte.
Hugo blieb stehen und strich sich über die Stirn. Sein Herz pochte heftig. Hier war nichts
normal - nicht einmal die wilden Tiere!
„Sie müssen Seine Lordschaft sein, der gekommen ist, um unsere Meggie zu heiraten",
sagte sie noch immer kichernd und schob die Pfoten des Wolfs von ihren Schultern herunter.
„Ich bin Rose Kersey, und das hier ist Hadrian, Meggies liebes kleines Hundchen. Ich habe
Meggie gerade gesagt, wie sehr sie beide uns allen fehlen werden, aber sie können ja ohne-
einander nicht leben, also müssen wir allein zurechtkommen. Ohne die beiden, meine ich."
Hugo räusperte sich. „Wenn Sie Meggies liebes kleines Hundchen so sehr mögen, Miss
Kersey, dann können Sie es gern behalten."
„O nein, Sir. Das geht nicht. Er würde sich so nach Meggie sehnen, und sie sich nach ihm.
Ich weiß nicht, was sie beide nachts ohne einander machen würden."
Sie schlug die Hände auf den Mund, kicherte und verdrehte die Augen. „Jetzt sind Sie ja zu
dritt, nicht? Ich schätze, Hadrian wird im Bett Platz machen müssen."
Hugo protestierte, was jedoch wie ein ersticktes Schluchzen klang. Meggie konnte doch
nicht mit einem Wolf in einem Bett schlafen . . . oder doch? Er sagte sich, dass er dieses arme
Mädchen ebenso wenig ernst nehmen durfte wie Meggie.
„Wir werden sicherlich gut miteinander zurechtkommen", meinte er beruhigend. „Werden
Sie jetzt nicht irgendwo erwartet?"
Sie legte die Stirn in Falten. „Ich glaube nicht, Sir. Lassen Sie mich sehen . . . Schwester
Agnes hat mich gebeten, Meggie beim Packen zu helfen, und Meggie hat mich gebeten, das
liebe Hundchen aus dem Garten zu holen. Zeit zum Abendessen ist es noch nicht, also denke
ich, ich sollte hier auf Meggie warten."
„Da bin ich, Rose", sagte Meggie hinter Hugo. „Vielen Dank für deine Mühe."
Hugo drehte sich sofort herum, bereit, Meggie beim Arm zu packen, in die Kutsche zu
werfen und die Auffahrt im Eiltempo hinunterzujagen. Doch seine Hand erstarrte, als er sich
dem nächsten Schock gegenübersah.
Die Frau, die vor ihm stand, erkannte er kaum wieder. Ein formloses schwarzes Gewand
umhüllte Meggies Gestalt, und eine gleichermaßen formlose Haube bedeckte ihren Kopf.
Alles an Meggie war bedeckt, einschließlich ihres blonden Haars, das ihr jetzt nicht mehr über
den Rücken fiel, sondern zu einem festen Knoten unter der entsetzlichen Haube
zusammengesteckt war. Sie sah aus, als ginge sie auf Pilgerfahrt.
„Stimmt etwas nicht, Lord Hugo?" fragte sie.
„Nichts, das man nicht ändern könnte", meinte er. Das Erste, was er nach der Trauung tun
würde, wäre, ihr vernünftige Garderobe zu verschaffen, die so viel wie möglich von ihr
unbedeckt ließ.
„Erregt mein Gewand Ihr Missfallen, Mylord?" erkundigte sie sich.
„Sie sehen aus wie Schwester Agnes", antwortete er. „Haben Sie eine ihrer Trachten für
sich abgeändert?"
Meggie blickte ihn völlig unbefangen an. Sein Sarkasmus ging über sie hinweg. „Nein,
Mylord. Dies ist mein Sonntagsgewand." Sie hob die schäbige Reisetasche, die sie in einer
Hand hielt, in die Höhe. „Hier drinnen befinden sich meine weltlichen Besitztümer. Ich
dachte mir, mein sauberes weißes Kleid sollte ich mir für unsere Hochzeit aufheben."
Hochzeit. Dieses Wort riss ihn aus seiner vorübergehenden Lähmung. Weshalb sorgte er
sich wegen eines hässlichen schwarzen Gewands, wenn er ihr doch bald alles ausziehen
konnte?
„Eine nette Idee", meinte er. „Sehen Sie - dies hier ist meine feine Kutsche mit meinen
beiden hübschen weißen Pferden. Sind Sie bereit?"
„Zuerst müssen wir uns von Schwester Agnes verabschieden. Sie wird gleich
herauskommen. Und ich muss den Pferden Hadrian vorstellen, damit sie keine Angst vor ihm
bekommen."
„Vorstellen? Mein liebes Kind, Sie werden diesen Wolf nicht in die Nähe meiner Pferde
bringen!"
„Sie brauchen sich nicht zu sorgen, Lord Hugo. Hadrian versteht sich gut mit anderen
Tieren. Man muss ihnen nur erklären, dass sie von ihm nichts zu befürchten haben.
Selbstverständlich muss ich mich ihnen selbst zuerst einmal vorstellen."
Sie gab ihm ihre Gepäckstücke und ging zu der Kutsche, ehe er sie zurückhalten oder sie
auch nur warnen konnte, dass seine beiden Wallache ziemlich ungebärdig waren.
Wenn sich ihnen Fremde näherten, verdrehten die Pferde normalerweise die Augen und
schnaubten. Zu seiner großen Verblüffung jedoch senkten sie jetzt die Köpfe, schnupperten an
Meggies fürchterlichem Gewand, und ihre Ohren zuckten, während Meggie leise mit den
Tieren sprach und ihnen die Nasen streichelte.
Sprachlos schüttelte Hugo den Kopf, trat an den offenen Zweispänner und verstaute die
Gepäckstücke unter dem Sitz. Nur einen Moment hatte er den Rücken gekehrt, und das war
genau ein Moment zu lange.. Als er sich wieder umdrehte, blieb ihm beinahe das Herz stehen.
Der verdammte Wolf beschnüffelte an Meggies Seite mit großem Interesse die extrem
verletzlichen Beine seiner extrem teuren Vollblüter. Und was er nicht zu glauben vermochte -
die Pferde schnüffelten zurück und wirkten nicht im Gerings ten beunruhigt. Vorsichtig fasste
er die Zügel für den Fall, dass seine Rösser wieder zu Verstand kämen.
„Ah, da seid ihr ja beide, Lord Hugo, Meggie." Schwester Agnes kam heran. „Wie ich
sehe, hat Hadrian mit seinen neuen Gefährten bereits Freundschaft geschlossen. Wie nett. Sie
werden feststellen, dass er für Lyden Hall sehr nützlich ist, denn er versteht sich nicht nur aufs
Bewachen des Hauses, sondern auch des Viehs." Sie lächelte liebevoll auf den Wolf hinunter.
„Er hat viele Hühner und Schafe auf unserem kleinen Bauernhof vor Eindringlingen gerettet.
Er wird uns allen sehr fehlen."
Hugo lächelte schwach. „Ach wirklich, Schwester? Weshalb behalten Sie ihn dann nicht
einfach hier?"
Schwester Agnes schaute ihn erstaunt an. „Hat Meggie Ihnen nicht erzählt, dass er ihr
gehört? Es würde mir nicht im Traum einfallen, die beiden zu trennen. Meggie hat ihn als
Welpen aufgezogen."
Hugo ließ die Zügel los, nahm Schwester Agnes' Arm und führte sie ein paar Schritte
beiseite. „Schwester, Sie müs sen doch ... es wird Ihnen doch nicht entgangen sein . . . ich
meine, Sie wissen doch, dass Meggies Schoßtier ein Wolf ist?"
„Selbstverständlich. Ich bin ja nicht blind, Lord Hugo. Und außerdem ist er ein äußerst
intelligentes und gutmütiges Tier. Wir mögen ihn alle sehr, doch nur zu Meggie gehört er."
Hugo gab es auf. Schwester Agnes gehörte offenbar in die selbe Schublade wie ihre
Schutzbefohlenen. „Ja, ich fürchte, das ist bedauerlich, Schwester", sagte er so laut, dass Meg-
gie es hören musste. „Einen Wolf kann ich in meinem Haus nicht aufnehmen." Er blickte fest
zu Meggie hinüber, um ihr zu zeigen, dass es ihm ernst war.
Meggie erwiderte nichts. Sie schaute ihn einfach mit ihrem üblichen, ungetrübten
Gesichtsausdruck an, und wieder schien sie durch ihn hindurchzusehen. Dann nickte sie, ließ
Pferde und Wolf stehen und ging an Hugo vorbei zur Kut sche. Sie raffte die Röcke und zog
sich in den Wagen. Hugo sah es mit Erleichterung. Sie hatte also beschlossen, ihm wie eine
Ehefrau zu gehorchen.
Er wandte sich wieder an Schwester Agnes. „Danke für alles, Schwester. Wie gesagt, ich
werde mein Bestes tun, um Meggie glücklich zu machen. Ich werde selbstverständlich
schreiben ..."
„Äh, Lord Hugo?" Die Nonne deutete mit dem Kopf zu der Kutsche. Hugo blickte über die
Schulter und sah, wie Meggie ihre Reisetasche und den Beutel unter dem Sitz hervorzog.
Dann richtete sie sich im Wagen auf und schaute Hugo völlig ausdruckslos an.
„Was soll das denn nun wieder?" Er verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte weder
Zeit noch Geduld für derartigen Uns inn.
„Ich bleibe bei Hadrian, Mylord. Ich bin für ihn verant wortlich, und ich werde ihn nicht
verlassen, nicht einmal Ihnen zuliebe. Ich bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, doch meine
Entscheidung lässt sich nicht ändern." Damit warf sie die Gepäckstücke herunter und stieg
dann selbst vom Wagen.
Hugo erkannte, dass es ihr vollkommen ernst war. Für einen räudigen Wolf wollte sie aufs
Heiraten verzichten! Falls es noch einer Bestätigung ihrer Verrücktheit bedurft hätte, so
bekam er sie jetzt.
Der Stolz hätte es verlangt, dieses undankbare Geschöpf einfach stehen zu lassen, in den
Wagen zu springen und in das Land der geistig Gesunden zurückzukehren. Doch die Vor-
stellung, dass sich vierhunderttausend Pfund in Luft auflösten, war zu viel für ihn. Dies und
der Gedanke, dass Meggie niemals sein Bett zieren würde . . .
„Wenn es Ihnen so viel bedeutet, dann nehmen Sie das blöde Viech mit", sagte er leise und
verschluckte sich beinahe an diesen Worten. „Der Wolf wird jedoch nicht in meiner Kutsche
fahren und auc h nicht in meinem Bett schlafen. Haben Sie das verstanden?"
„In Ihrem Bett schlafen?" Meggie schaute ihn an, als wäre er der Geistesgestörte. „Gewiss
nicht. Und was eine Kutschfahrt angeht, so würde Hadrian die Bewegung und den Spaß
vorziehen, nebenherlaufen zu können."
Sie hob ihr Gepäck wieder auf, das Hugo ihr aus der Hand nahm und zurück in den Wagen
warf. „Und jetzt hinein mit Ihnen!"
Meggie drehte sich zu Rose um und umarmte sie, wo rauf diese prompt in lautes Weinen
ausbrach. Nachdem Meggie ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, verwandelte sich das
Schluchzen sofort in hemmungsloses Kichern.
Meggie drehte sich nun zu Schwester Agnes um, die zu Hugos Erstaunen echte Tränen in
den Augen hatte. „Meggie, Kind", sagte sie und machte ihr das Kreuzeszeichen auf die Stirn.
„Möge Gott mit dir sein und über dich wachen. Möge er dir Weisheit schenken bei allem, was
du tust."
Amen, dachte Hugo, fand jedoch, die Nonne verlangte ein ziemlich großes Wunder.
„Danke, liebe Freundin", erwiderte Meggie. „Ich bedanke mich für Ihre Güte und für Ihre
eigene Weisheit. Ihre Worte werde ich stets in meinem Geist und meinem Herzen bewahren.
Ich werde sie gewiss sehr oft brauchen." Sie neigte den Kopf. „Gott schütze Sie. Sie werden
stets in meinen Gedanken wohnen."
„Wie du auch in meinen, Kind." Die Nonne nahm Meggies Gesicht zwischen die alten
Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Tue immer dein Bestes. Mehr verlangt Gott
nicht von uns."
Meggie vollführte einen richtigen Hof knicks, und es überraschte Hugo ungemein, dass sie
überhaupt wusste, wie so etwas aussah. Dann ging sie erneut an ihm vorbei und kletterte in
die Kutsche, bevor er ihr dabei zu helfen vermochte.
Das kann ja heiter werden, dachte er, verabschiedete sich von Schwester Agnes, kletterte
ebenfalls hinauf und schlug sanft mit den Zügeln. Die Pferde gehorchten sofort und setzten
sich in Bewegung. Der Wolf trottete munter neben ihnen her.
9. KAPITEL

Als die Kutsche auf die Landstraße einbog und Fahrt aufnahm, atmete Meggie auf. Für
einen Moment hatte sie ge dacht, jetzt wäre ihre schöne strahlende Zukunft verloren, auf die
sie sich zwei Stunden lang gefreut hatte.
Wie viel ihr das bedeutete, hatte sie erst gemerkt, als sie wegen Hadrian klar Stellung
bezog, doch sie wäre niemals glücklich geworden, wenn sie den Wolf im Stich gelassen hätte.
Sie warf einen Blick über den Rand des offenen Zweispänners, wo Hadrian mit
heraushängender Zunge fröhlich nebenhersprang.
Meggie lächelte zu ihm hinunter und warf dann einen verstohlenen Blick auf Hugo, der
geschwiegen hatte, seit er in den Wagen gestiegen war. Mit leicht zusammengezogener Stirn
blickte er geradeaus und schien sich ihrer Anwesenheit gar nicht bewusst zu sein.
Das war Meggie nur recht, denn auf diese Weise konnte sie sein Profil mit der scharfen
Nase und dem schönen Mund betrachten. Ihr Blick wanderte über die Linie seines festen
Kinns dorthin, wo sich sein Haar über den in Unordnung geratenen Kragen ringelte. Sein
Halstuch saß ganz schief. Sie lächelte heimlich, als sie daran dachte, wie der Ärmste aus dem
Erkerzimmer gekommen war. Er hatte ausgesehen, als wären sämtliche Höllenhunde hinter
ihm her gewesen. Offenbar war er so an seine Freiheit gewöhnt, dass es ihm durchaus nicht
behagte, eingesperrt zu sein, und wenn auch nur für kürzeste Zeit.
Merkwürdigerweise fand sie seine Gegenwart nicht im Geringsten beunruhigend. Er wirkte
körperlich zwar geradezu überwältigend, doch er verängstigte sie nicht. Trotz seiner Kraft,
seiner Größe und Breite fühlte sie sich an seiner Seite so sicher und beschützt, als wäre er ihr
schon seit Ewigkeiten bekannt, und dabei kannte sie ihn weniger als jeden anderen Menschen.
Wirklich sehr merkwürdig, doch alles im Zusammenhang mit Hugo war ja merkwürdig.
„Was starren Sie mich so an?" fragte er ärgerlich.
„Ich wollte mich nur mit Ihrem Gesicht vertraut machen", antwortete sie errötend.
„Schließlich werde ich es ja in Zukunft oft zu sehen bekommen."
„Hmm", brummelte er nur und schaute wieder auf die Straße.
„Lord Hugo, könnten wir jetzt nicht dieses Gespräch führen? Über unsere Ehe, meine ich.
Darüber, was Sie von mir erwarten, außer dass ich in Ihrem Bett schlafen soll."
Sein Kopf fuhr herum. „Lieber Himmel, Meggie, können Sie nicht ein wenig taktvoller
sein?"
„Falls Sie Taktgefühl wollten, hätten Sie sich jemand anders zum Heiraten aussuchen
sollen. Sie kamen zu mir mit einer bestimmten Absicht, erklärten mir sowohl Ihre Liebe als
auch Ihr Verlangen nach mir, doch sagten Sie nichts darüber, wie meine Rolle in Ihrem Leben
aussehen soll - abgesehen davon, dass ich Ihre Ehefrau sein soll, was alles Mögliche bedeuten
kann."
Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Eins nach dem anderen, ja? Im Moment verlange ich von
Ihnen nur, dass Sie tun, was ich Ihnen sage, und so wenig wie möglich reden."
„So wenig wie möglich reden?" wiederholte Meggie langsam. Vielleicht wollte er ja
wirklich ein Dummchen heiraten - ein hübsches, engelhaftes Dummchen, das ihm das Bett
wärmte und bei allem, was er sagte, ahnungslos lächelte.
Natürlich wusste sie, dass es der Preis für ihre Freiheit sein würde, sich so zu verhalten,
wie er es erwartete, doch im Pflegeheim hatte es ein wenig anders ausgesehen. Sie schluckte.
„Wie Sie wollen, Mylord. Sonst noch etwas?"
„Ja. Hören Sie auf, mich Mylord zu nennen. Für Sie bin ich Hugo. Und damit uns keine
ärgerlichen Fragen gestellt werden, haben Sie mir zuzustimmen, wenn ich sage, dass wir uns
bereits seit geraumer Zeit kennen."
Meggie nickte. „Sie haben also das Pflegeheim in den vergangenen beiden Monaten
laufend besucht?"
„Nein!" Er wirkte genervt. „Ich wünsche nicht, dass das Pflegeheim erwähnt wird. Wir
werden sagen, wir hätten uns in Woodbridge kennen gelernt. Weitere Ausführungen sind
überflüssig. Haben Sie das verstanden, Meggie?"
„Ich glaube ja", antwortete sie, obwohl sie sich dessen nicht so sicher war. Weshalb wollte
er die Wahrheit vertuschen? Es sei denn, er hielte das Pflegeheim für unter seiner Würde, was
allerdings seltsam wäre, zumal seine Mutter doch als die Schirmherrin dort auftrat.
Seine Mutter . . . „Hugo, wird sich Ihre Mutter nicht fragen, weshalb wir lügen?"
„Meine Mutter? Wieso meine Mutter?"
„Nun, sie wird doch sicherlich die Wahrheit von Schwester Agnes hören. Die beiden halten
schließlich engen Kontakt zueinander."
Hugo erblasste. „Verdammt, daran habe ich nicht gedacht. Meiner Mutter werde ich also
die Wahrheit sagen müssen, doch sie wird sie für sich behalten, wenn ich sie darum bitte. Sie
glaubt schließlich an die wahre Liebe", sagte er so geistesabwesend, als hätte er Meggie
vollkommen vergessen. „Sie traut mir ohnehin keine Vernunft zu. Warum sollte sie mich also
näher befragen?"
Für jemanden, dem die wahre Liebe gefehlt hat, lässt er sich davon aber nichts anmerken,
dachte Meggie. Möglicherweise beginnt er jetzt erst die Konsequenzen seines Vorge hens zu
begreifen. „Ist es denn so wichtig, was andere Leute denken?" fragte sie leise.
„Natürlich ist das wichtig. Lebenswichtig sogar. Das werden Sie noch früh genug merken.
Auf jeden Fall müssen die Leute das denken, was sie denken sollen, weil ich es ihnen sage, es
sei denn, Sie widersprächen mir. Ich warne Sie: Falls Sie in dieser Richtung irgendwelche
Fehler begehen, bekommen wir beide sehr viel Ärger."
Meggie nickte verzagt. „Sie können mich noch zurückbringen", sagte sie und kämpfte mit
den Tränen ihrer Enttäuschung. „Das wäre vielleicht auch das Beste. Ich weiß, was ich bin,
und für Sie kann ich nur eine Prüfung sein." Sie wischte sich die Augen mit dem Ärmel.
Hugo schaute zu ihr hinüber und legte dann seine Hand auf ihre. „Verzeihen Sie. Ich wollte
Sie nicht erschrecken, sondern nur warnen." Seine Stimme klang viel sanfter, als sie sie je
gehört hatte. „Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen die Anpassung möglichst zu erleichtern,
Meggie, und ich werde versuchen, Ihnen nicht mehr aufzubürden, als Sie zu tragen
vermögen."
Sie schaute auf seine große, männliche Hand hinunter. Seine beschützende Berührung war
beinahe mehr, als sie ertrug. Bisher war sie immer diejenige gewesen, die die Rolle der
Beschützerin übernahm, und stets hatte sie mehr Zärtlichkeit gegeben als erhalten. Für sie war
es eine enorme Erleichterung, dass sich jemand tatsächlich um sie kümmern wollte, jemand,
der nicht immer erwartete, dass sie jedermanns Probleme löste oder sie zumindest verstand.
Vielleicht lag ja doch eine gewisse Schönheit darin, für ein Dummchen gehalten zu werden
...
Hugo hatte die weit geschwungene und zu beiden Seiten von großen Eichen gesäumte
Auffahrt zu Lyden Hall schön gefunden, und nun genoss er den Anblick ganz besonders. Die
jetzt voll belaubten Bäume schienen anzukündigen, dass er sich einem würdevollen Ort
näherte.
Er hoffte, dass sein spärliches Personal von der Ankunft des neuen Herrn ebenso
beeindruckt war, weil er nämlich den genau richtigen Eindruck machen wollte, den man von
einem Mann seiner Stellung erwartete. Den Wolf, der noch immer neben dem Zweispänner
herlief, vergaß er lieber. Wenn ihn jemand sähe, würde er hoffentlich annehmen, es handele
sich um einen großen Jagdhund.
Natürlich wusste Hugo nicht, ob die beiden Misses Mabey das Personal von seiner
Ankunft, geschweige denn von seinen Wünschen informiert hatten. Und Gott allein mochte
wissen, was die Belegschaft denken würde, wenn man seine zukünftige Gattin zu Gesicht
bekäme. Möglicherweise wäre es am Besten, wenn sich die Leute sämtlich in dem aufs Meer
hinausgehenden Teil des Hauses befänden, so dass er Meggie hineinschmuggeln und sie dann
unter Decken verstecken könnte. So wie sie jetzt aussah, würde ihm niemand abnehmen, dass
er ihrem Zauber erlegen war oder dass sie aus der Kleinstadt Woodbridge stammte. Die
Mensche n dort kleideten sich seit mindestens hundert Jahren nicht mehr wie die Pilger.
Und wenn Meggie dann den Mund aufmachte . . . über ihren Akzent machte er sich keine
Sorgen. Erst während der Herfahrt hatte er festgestellt, dass sie absolut ordentlich sprach, und
nicht etwa wie dieses fürchterliche Mädchen na mens Rose. Vermutlich hatte Meggie von
einer der vornehmen Insassinnen sprechen gelernt.
Was ihm wirklich Sorgen bereitete, war das, was Meggie sagen mochte, wenn sie den
Mund aufmachte, bevor er sie gründlicher anleiten konnte. Er musste sie eben so lange wie
möglich isoliert halten. Für wie lange, wusste er noch nicht. Er würde einfach behaupten,
ihrer beider Liebe schlösse ein öffentliches Auftreten aus.
Hugo lächelte in sich hinein. Diese Vorstellung war gar nicht so schlecht. Er würde kein
Problem damit haben, seine Zeit mit Miss Meggie Bloom im Bett zu verbringen. Er konnte
ihren lieben, verstörten Geist von seinem Kopfkissen aus unterrichten und sie dann mit jeder
Menge Liebesspielen belohnen, wenn sie etwas richtig verstanden hatte. Falls nötig,
gelegentlich auch mit einer zusätzlichen Praline . . .
Er wollte schon dafür sorgen, dass sie sehr vieles richtig verstand, jawohl. Sein ganzes
Leben lang war er noch nie so motiviert gewesen.
Das ist unmöglich. Gott hat einen furchtbaren Fehler ge macht. Er hat jemand anders
gemeint. Mich nicht.
Als Hugos Haus auftauchte, fasste sich Meggie mit beiden Händen an den Kopf. Sie
meinte umsinken zu müssen. Noch nie hatte sie etwas dermaßen Großartiges gesehen. Nicht
einmal vorgestellt hatte sie es sich.
Mindestens fünf Mal so groß wie das Pflegeheim, das sie immer für riesig gehalten hatte,
beherrschte Lyden Hall ein Stück Land, das im Süden eine ausgedehnte Grasfläche, eine
weitere Grasfläche und einen Fluss im Norden sowie einen ganzen Wald im Westen aufwies.
Noch mehr Wasser funkelte im Osten, und Meggie konnte nur vermuten, dass dies das Meer
war. Das gehörte Hugo wahrscheinlich ebenfalls.
Und das sollte ihre neue Heimstatt sein? Meggie fasste es einfach nicht.
Beim Packen hatte sie sich ein Landhaus an der See vorge stellt, groß nach ihren
Maßstäben, mit einem kleinen Stück Land darum herum, wo sie sich den von Hugo
versprochenen Garten einrichten konnte. Die Wirklichkeit indes überstieg ihr
Begriffsvermöge n - ebenso wie Hugo.
Sie wusste wirklich nicht, was sie jetzt tun sollte, außer aus reiner Verzweiflung Hugos
Anweisungen zu befolgen und den Mund zu halten.
Vor vielen Jahren hatte sie die einzige Fähigkeit erlernt, die ihr das Überleben ermöglichte,
und auf die besann sie sich jetzt: Anpassungsfähigkeit ist alles! Sie würde schon
zurechtkommen. Irgendwie . . .
Als Hugo aus dem Wagen sprang, öffnete sich die gewaltige Vordertür, und eine winzige,
verschrumpelte Gestalt erschien, hüpfte auf und nieder, und ihr gewaltiges Arrangement
weißen Haars hüpfte mit ihr.
„Sie sind da! Schwester, sie sind da!" rief sie. „Hallooo!" Sie winkt ihnen wild zu.
Meggie hatte keine Ahnung, wer die Frau sein konnte, doch sie mochte sie sofort. Sie
spürte nichts als echte Willkommensfreude in ihr und noch etwas, etwas wunderbar Sorgloses
und Lebensfrohes, als hätte diese Frau noch nie einen Moment des Zwangs erlebt.
„Ach, du meine Güte", flüsterte Hugo und bot Meggie seine Hand. „Das wird
möglicherweise schlimmer als gedacht. Mir erscheint sie nicht im Geringsten hinfällig."
„Hinfällig?" Meggie ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen. „Leg dich, Hadrian", befahl
sie. Der Wolf gehorchte sofort. „Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Kennen Sie sie denn
nicht, Hugo? Sie steht immerhin in Ihrer Tür."
„Ich habe sie noch nie im Leben gesehen, doch das erkläre ich Ihnen später. Fürs Erste
sagen Sie guten Tag und wie geht's und nichts weiter."
„Wie Sie wollen", sagte sie. Das wurde langsam zu einer Litanei. Hugo hakte sich bei
Meggie ein und geleitete sie vorwärts.
„Lord Hugo?" Die alte Frau lächelte strahlend, lief die Stufen hinunter und kam heran. „Du
ahnst ja nicht, wie aufregend dieser Augenblick ist! In Erwartung deiner Ankunft saßen wir ja
schon wie auf Kohlen! Ich bin Ottoline Mabey. Du musst mich Tante Ottoline nennen, denn
wir sind ja jetzt eine Familie, und ich werde dich Hugo nennen. Und ist dies deine zukünftige
Braut? Wie bezaubernd du bist, meine Liebe! Wie heißt du, Kind?"
Bevor Meggie antworten konnte, sprang Hugo ein und verbeugte sich. „Darf ich Ihnen
Meggie Bloom vorstellen? Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Miss - äh - Tante Ottoline."
„Guten Tag, wie geht es Ihnen?" fragte Meggie höflich und knickste tief. Das wäre dann
wohl mein Anteil an der Unterhaltung, dachte sie.
„Ausnehmend gut, vielen Dank", antwortete Ottoline und klopfte sich auf den Bauch. „Hin
und wieder ein Löffel voll Abführsalz hält die Verdauung in Gang."
Meggie schmunzelte, sie mochte Ottoline immer mehr.
Hugo schien nicht übermäßig begeistert. „F reut mich, das zu hören", sagte er, was
angesichts seiner Miene eine glatte Lüge war. „Dann haben Sie also meinen Brief erhalten?"
„O ja, gerade gestern, und Dorelia und ich haben uns auch bemüht, so sehr wir konnten,
um alles für Ihre Ankunft vorzubereiten." Sie schaute über ihre Schulter zu der leeren Tür.
„Schwester!" kreischte sie und drehte sich dann wieder zu Hugo und Meggie um.
„Wahrscheinlich ist sie in der Küche und hat ein Auge auf Cookie. Den fanden wir gestern am
Orford-Kai. Er kam direkt von einem Kauffahrer, und als wir erfuhren, dass er gerade
gefeuert worden war, haben wir ihn uns geschnappt. Er ist ein bisschen mürrisch, aber das
wird sich geben, wenn er sich erst einmal eingelebt hat."
„Gefeuert? Weswegen genau hat man ihn gefeuert?" wollte Hugo argwöhnisch wissen.
„Wegen Diebstahls, mein Guter, aber Dorelia wird ihm schon im Handumdrehen den Kopf
zurechtsetzen. Er sagte, er habe nur die Extrarationen genommen, die sonst ohne hin
verdorben wären, und ich fand, das hörte sich doch sehr sparsam an. Dennoch schadet es
nicht, ein Auge auf ihn zu haben, damit er wieder richtig Tritt fasst."
Hugo schloss kurz die Augen. „Schon gut, schon gut. Solange er nur kochen kann ..."
„Selbstverständlich habe ich ihn vorher geprüft", erklärte Ottoline etwas pikiert. „Ich hielt
ihn für ungeheuer geschickt, Dorelia fand das auch und Mr. Coldsnap ebenfalls. Gestern
Abend speisten wir hervorragend."
„Wer ist Mr. Coldsnap?"
„Nun, dein Verwalter, mein Guter. Hat dir denn dieser lä cherliche Peasenhall überhaupt
nichts erzählt, als er dir das Gut verkaufte? Reginald Coldsnap leitet Lyden schon seit vielen
Jahren."
Meggie gewann den Eindruck, dass sie nicht die Einzige war, die sich hier nicht auskannte.
Hugo schien absolut gar nichts über Lyden Hall oder die Leute zu wissen, die damit in
Zusammenhang standen. Sie fragte sich, ob er überhaupt jemals durch diese Tür getreten war.
„Mr. Peasenhall sagte nur, der Landbesitz werde gut verwaltet." Hugo schien sich immer
mehr zu ärgern. „Doch wir wollen nicht hier draußen stehen bleiben. Miss Bloom wird sich
vor dem Abendessen waschen und umziehen wollen. Haben Sie wie erbeten zwei
Schlafzimmer vorbereitet?"
„Die allerbesten sogar, und sie liegen nebeneinander, wie zu Zeiten unserer lieben Kusine
Lally. Oh, sie war ja so glücklich, als sie Linus heiratete. Das ist - beziehungsweise das war -
Lord Eliot, mein Guter. Was für eine Tragödie, als sie starb, obwohl wir unser Bestes taten,
um sie ihm zu ersetzen. Ach, der alte Junge fehlt Dorelia und mir ja so. Wir waren eine
glückliche Familie."
Meggie machte große Augen, als sie ganz leise eine Erinne rung an Glückseligkeit spürte -
körperliche Glückseligkeit, falls sie sich nicht täuschte. War es möglich, dass Ottoline und
ihre Schwester tatsächlich. . .? Sie errötete heftig und drängte den Gedanken rasch beiseite.
Ottoline warf Meggie einen scharfen Blick zu, fast als wüsste sie, was diese gedacht hatte.
Sie klatschte in die Hände. „Nun, jetzt ist keine Zeit für Erinnerungen. Es gibt schließlich eine
Hochzeit zu planen", meinte sie und schob die beiden zur Tür. „Heute Morgen besuchte ich
den Vikar. Er erwartet dich, und ihm wäre jede Zeit recht, doch du musst bedenken, dass er
sonntags die Morgenandacht hält, also wäre es morgen oder am Montag am Besten für die
Zeremonie."
Hugo nickte und führte Meggie durch die offene Tür. „Also morgen, denke ich. Ein
Aufschub wäre sinnlos."
Meggie hörte kaum, was er sagte, sie hielt sich an seinem Arm fest, als hinge ihr Leben
davon ab. Es war ein Wunder, dass ihre Beine vor Schock nicht nachgaben.
Die Halle, in die sie traten, war riesig, so riesig, dass eine ganze Familie darin Platz gehabt
hätte. Meggie schaute an den hellblauen Wänden hinauf zu der hohen, gewölbten weißen
Decke. Benommen blickte sie wieder hinunter und sah, dass der Fußboden aus gemustertem
Marmor bestand. Und die Wände waren mit gewaltigen Gemälden behängt, welche Szenen
aus der Bibel, von Schlachten und ländlichen Jagden mit Männern, Gewehren und Hunden
zeigten.
In Meggies Kopf drehte sich alles. Zu viel. Das war zu viel. „Meggie? Fühlen Sie . . .
fühlst du dich unwohl?" Meggie hörte ganz entfernt Hugos Stimme und strengte sich an, die
Augen zu öffnen und zu ihm hochzulächeln. „Ich fühle mich vollkommen wohl", antwortete
sie strahlend - und fiel dann in Ohnmacht.
10. KAPITEL

„Sei ein braves Mädchen, und mach die Augen auf, ganz weit auf. Tu's für dein nettes
Tantchen, ja?"
Meggie rührte sich. Verschwommen war ihr bewusst, dass sie in dem weichesten Bett
ruhte, das sie je gekannt hatte. Ein Leinenlaken lag locker über ihrem Körper. Beruhigender
Lavendelduft entströmte einem kühlen Tuch, das gegen ihre Stirn gedrückt wurde.
Sie musste träumen. Zum letzten Mal hatte sich jemand so liebevoll um sie gekümmert, als
sie sieben Jahre alt gewesen war und Ziegenpeter gehabt hatte. Tante Emily hatte an ihrem
Bett gesessen, ihr Geschichten vorgelesen und ihr Suppe eingeflößt. Doch Tante Emily war
schon viele Jahre tot, und andere Tanten hatte sie nicht. Sie hatte überhaupt keine
Verwandten. Und krank war sie auch nicht. Sie spürte nur ein starkes Magengrimmen.
Sie stöhnte. Ich habe das Abendessen verschlafen, dachte sie. Kein Wunder, heute war
Freitag, und sie hasste Hirsebrei. Sie hatte also nichts verpasst, bis auf den Mittagsimbiss. Das
machte nichts. Es wäre ebenfalls nur Hir sebrei gewesen. Also weiterschlummern, nur
weiterschlummern . . .
„Komm schon, Kind", flüstere dieselbe Stimme. „Der arme gute Hugo läuft draußen
immer hin und her. Er weiß wohl nicht, dass Bräute Nerven haben, nicht wahr?"
Hugo . . . Bräute.
Die Worte rissen Meggie aus ihrem Dämmerzustand. Lyden Hall! Sie befand sich auf
Lyden Hall, und die lustige kleine Ottoline wollte sie aufwecken.
Langsam schlug Meggie die Augen auf und begegnete Ottolines Blick. Doch Meggie
spürte nichts von der überschäumenden Lebendigkeit, die zuvor von Ottoline ausgegangen
war. Stattdessen fühlte sie eine tiefe Gemütsruhe . . .und weit unter dieser Ruhe eine große,
dunkle Leere, einen Platz, an dem tiefes Wissen wohnte.
Einen langen Moment blickte Meggie gebannt in diese zeitlosen Augen, bevor sie auf den
Weckruf reagierte. Und während sie das tat, hörte sie ein stummes Summen, das durch ihre
Knochen vibrierte und in ihrem Herzen widerhallte. Meggie erkannte es als das Lied der
Seele, welches aus den Tiefen dieser Frau kam.
Sofort setzte sie sich hoch. „Wer sind Sie? Sie sind doch nicht Ottoline - das ist
unmöglich!"
„Genau wie ich es mir dachte", stellte die Frau, die nicht Ottoline war, zufrieden fest. „Du
besitzt die Gesegnete Gabe, nicht wahr, Kind? Ottoline hatte ebenfalls schon diesen
Eindruck."
Auf einmal begriff Meggie - identische Zwillinge! So ähnlich die beiden sich auch sahen,
so waren sie doch innerlich so verschieden wie Tag und Nacht. „Sie sind Dorelia."
„Richtig." Die kleine Frau nickte. „Und du bist Meggie Bloom, das Sehende Kind. Du bist
hier sehr willkommen." Tränen glitzerten in ihren strahlenden braunen Äuglein. Liebevoll
streichelte sie Meggies Hand.
Meggie dachte nicht daran, die Feststellung der Frau abzuleugnen, denn sie erkannte etwas
von sich selbst in Do relia wieder. „Sie . . . Sie besitzen die Gabe ebenfalls, nicht wahr?"
flüsterte sie und hätte weinen mögen vor Freude, jemanden gefunden zu haben, der ebenso
„anders" war wie sie.
„Ja, meine Liebe, doch ich glaube, meine Gesegnete Gabe benimmt sich nicht so wie
deine", entgegnete Dorelia fröhlich. „Weißt du, diese Gabe gibt es nämlich in allen Formen
und Größen, genau wie die Menschen auch."
„Tatsächlich?" Lag hier vielleicht die Antwort auf die Fragen, die sie seit langem quälten?
„Gewiss doch. Zum Beispiel gibt es Menschen, die in die Zukunft sehen können. Zu denen
gehöre ich glücklicherweise nicht, denn sonst würde ich Gott weiß was herauszufinden
versuchen. Ich stecke meine Nase auch schon so genug in anderer Leute Angelegenheiten."
Meggie lachte leise. „Ich verstehe genau, was Sie meinen."
„Ja?" Dorelia blickte sie forschend an. „Wie zeigt sich deine G. G. genau?"
Am liebsten hätte Meggie laut gelacht. Ihre G. G.! Das hörte sich beinahe so an, als
handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Körperteil. „Ja, also . . . die Zukunft oder so
etwas kann ich nicht vorhersehen, doch ich kann . . . nun, ich vermag anderer Leute Gedanken
zu hören. Nur manchmal, und nicht immer, wenn ich es möchte. Manchmal höre ich leider
überhaupt nichts, wie ich erst kürzlich entdeckte."
„Ja, das kann ärgerlich sein", meinte Dorelia. „Ich habe die Heilenden Hände, doch bis auf
eine hervorragende Diagnose kann ich damit keine garantierten Erfolge erzielen. In solchen
Fällen wende ich die Behandlung an, die ich für angemessen erachte, und hoffe auf das
Beste."
Dorelia verzog die Lippen. „Dabei würde ich es sehr begrüßen, wenn es andersherum wäre
- eine miserable Diagnose und ein hervorragendes Resultat. Aber was soll's - man muss eben
aus seiner G. G. das Bestmögliche machen. Und weil wir gerade davon reden", sagte sie und
drückte Meggie aufs Bett zurück, „liege einen Moment still. Ich will dich untersuchen."
„Mir fehlt doch nichts", wehrte Meggie ab. „Ich habe nur nichts zu Mittag gegessen."
„Was dir fehlt und was nicht, werde ich beurteilen." Seufzend und vor sich hin summend
drückte Dorelia die Hände an verschiedene Stellen auf Meggies Körper.
„Mmmm", sagte sie, als sie fertig war. „Alles in Ordnung, nur hungrig, wie du sagtest, und
auch müde, doch das werden wir gleich haben. Genauer gesagt, du bist verängstigt und
verwirrt, und deine Empfindungen sind in Aufruhr, doch um das festzustellen, bedarf es
keiner G. G. Das kommt nur von der Liebe."
Tief beschämt drehte Meggie den Kopf zur Seite, denn sie wusste, dass sie nicht lügen
konnte, schon gar nicht bei dieser Frau. „Es ist nicht Liebe", flüsterte sie. „Ich darf eigentlich
nichts sagen, doch Hugo und ich kennen einander gar nicht. Er glaubt nur, bei ihm wäre es
Liebe, was jedoch nur daran liegt, weil seine Triebe das Kommando über seinen Geist
übernommen haben."
Dorelia schaute sie einen Moment perplex an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und
wollte sich ausschütten vor Lachen, bis sie sich seitwärts über das Bett lehnte. Ihr kleiner
Kopf ruckte vor und zurück, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Meggie hatte noch
nie einen Menschen so ungehemmt lachen sehen, und obgleich ihr der Anblick ungeheuren
Spaß machte, wusste sie nicht, was Dorelia eigent lich so furchtbar amüsant fand. Doch das
musste sie auch gar nicht wissen.
Dorelias Heiterkeit sagte ihr ja genug: Meggie war nichts als ein törichtes Mädchen.
Sie wartete, bis Dorelia sich wieder beruhigt und sich Nase und Augen an dem
Taschentuch abgewischt hatte, welches sie aus dem Ärmel zog.
„Du siehst wirklich nicht mehr, was?" fragte die alte Frau kichernd. „Nun, macht nichts.
Du bist ja noch jung."
„Mir ist völlig klar, dass Ihnen das Ganze lachhaft vorkommen muss", sagte Meggie,
„doch ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich nahm Hugos Heiratsantrag nur an, um meine
Freiheit zu gewinnen."
Dorelias Gesicht verzog sich aufs Neue, und sie barg es in ihrem Taschentuch. „Deine
Freiheit!" sagte sie, als sie endlich den Kopf hob und sich heftig die Nase schnauzte. „Freiheit
ist ein Bezugsbegriff. Es gibt die Freiheit des Geistes, der Gedanken und des Körpers, und
alle diese Freiheiten beziehen sich auf die Bedingungen, denen du selbst oder die anderen
unterliegen. Welche Art von Freiheit meinst du denn erreicht zu haben?"
Meggie runzelte die Stirn. Sie wusste, dass sie jetzt frei war von Mauern, von Regeln und
Bestimmungen, denen sie ihr ganzes Leben lang unterworfen gewesen war, doch sie hatte das
Gefühl, als wäre sie gerade neuen Regeln und Be stimmungen begegnet. Auf ihre Weise
wollte die alte Frau sie sicherlich davor warnen.
Dorelia hüpfte vom Bett und öffnete die Tür des größten Kleiderschranks, den Meggie je
gesehen hatte. „In Erwartung eurer Ankunft habe ich gestern ein Abendkleid für dich
ausgelüftet und gebügelt - nur für den Fall, dass du keines dabeihättest. Ottoline meinte, das
wäre möglich. Das ist nämlich Ottolines G. G. Sie hat immer Vorstellungen von der Zukunft,
und es empfiehlt sich, darauf zu hören."
Besaß Ottoline etwa auch eine G. G.? „Ach, du liebe Güte!"
Dorelia nahm sie nicht zur Kenntnis. „Das Gewand ent spricht natürlich nicht der neuesten
Mode, denn es gehörte meiner lieben Lally, die bereits vor vielen Jahren verstarb, doch der
Stoff ist noch sehr gut." Sie nickte zufrieden. „Sobald Lally dahingeschieden war, habe ich es
in Mottenkugeln und Lavendel gepackt. Ach ja, Lavendel - den kann man wirklich immer
gebrauchen."
Sie griff in den Schrank, holte das Kleid heraus und hielt es gegen das Licht, das durchs
Fenster hereinströmte. „Ich glaube, die Farbe passt zu deinem Teint. Viele wirken in Grün
blässlich, doch Ottoline hatte auch darüber ihre Ideen. Ich änderte den Schnitt so gut wie
möglich ab."
„Oh ... es ist einfach hinreißend!" So elegante Kleidung hatte Meggie bisher nur von fern
bei großen Damen gesehen, wenn diese ins Pflegeheim kamen, um ihre Angehörigen zu
besuchen. Sie blickte Dorelia zweifelnd an. „Es scheint mir nicht recht, das Gewand Ihrer
Kusine anzuziehen."
„Sei nicht albern. Lally braucht es ja nicht mehr. Herunter mit diesem scheußlichen
schwarzen Sack, den du da anhast." Sie schüttelte das grüne Gewand aus und hielt es an
Meggies Schultern. „Lally war so groß wie du, also brauchte ich es nicht zu kürzen, und du
hast auch beinahe die gleiche Figur, viel zu schlank. Und genau wie bei Lally, könnte dein
Busen ein bisschen voller sein, doch das wird mit der Zeit schon noch kommen."
Um ihre Figur hatte sich Meggie noch nie gekümmert, und ganz gewiss hatte sie noch nie
über ihren Busen nachgedacht. Der war einfach da und diente offenbar nur dem Zweck, Leute
wie Jasper Oddbin auf lasterha fte Gedanken zu bringen. Nun bekam er anscheinend noch eine
weitere Funktion: Er musste das Mieder von Kleidern ausfüllen.
„Jawohl, Tante Dorelia", antwortete sie gehorsam und fragte sich im Stillen, wie ihre Brust
wohl mit der Zeit voller werden sollte. Die hatte sich seit acht Jahren keinen Deut geändert
und würde sicherlich nicht plötzlich vorspringen und einen hübschen Busen bilden.
„Schon besser, und es gibt noch eine ganze Truhe mit Lallys Kleidern, die alle nicht mehr
gebraucht werden. Und wenn ich etwas nicht ertrage, dann ist es Vergeudung." Sie legte den
Kopf schief, und ihre Augen glänzten herausfordernd. „Du benötigst doch eine Aussteuer,
nicht wahr? So etwas brauchen alle Bräute, und jetzt hast du ja auch eine. Also lass uns nicht
mehr darüber reden."
„Vielen Dank", sagte Meggie aufrichtig und streifte ihr eigenes Kleid ab, das ihr seit ihrer
Ankunft im Pflege heim gedient hatte. „Ich besitze nämlich tatsächlich nichts Passendes, das
ich anziehen könnte."
„Das weiß ich doch, denn ich habe deine Reisetasche ausgepackt. Was ich darin fand und
dieses fürchterliche Gewand da, das sieht mir alles so aus, als kämst du direkt aus irgendeiner
Anstalt."
Meggie errötete heftig. „Das . . . das stimmt." Sie blickte zu Boden. „Ich arbeitete in der
Pflegeans talt von Woodbridge. Aber bitte sagen Sie Hugo nichts. Er möchte, dass das
niemand erfährt, und ich versprach, es nicht zu verraten. Ich soll sagen, ich hätte ihn in der
Ortschaft kennen gelernt."
Dorelia warf Meggie einen vorwurfsvollen Blick zu. „Von mir erfährt niemand ein Wort!
Aber dem guten Hugo muss man wohl einmal etwas Verstand beibringen. Wo wohnt deine
Familie, Kind?"
„Ich habe keine", antwortete Meggie. „Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und mein
Vater starb noch früher." Sie konnte es nicht glauben, wie leicht ihr dieses Eingeständnis fiel:
Ihr war es, als kannte sie Dorelia schon ihr ganzes Leben. Mit Ottoline verhielt es sich ebenso.
„Hmmm. Du bist also verwaist. Keine lebenden Verwand ten? Nicht einmal Tanten oder
Onkel? Was ist mit Brüdern oder Schwestern?"
„Ich habe niemanden", wiederholte Meggie.
„Bevor du zu den Nonnen nach Woodbridge gingst, warst du also im Waisenhaus. Im
Waisenhaus von Ipswich, richtig? Das ist das Einzige in dieser Gegend. Und es wird auch von
Nonnen betrieben." Dorelia schnaufte verächtlich. „Kein Wunder, dass du deine Freiheit
begehrtest. Nun, davon kannst du mir ein andermal erzählen. Jetzt ist es nötig, dass wir dich
fürs Abendessen zurechtmachen. Wir müssen Cookie beeindrucken, sonst läuft er uns noch
weg." Sie schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es ist, einen guten Koch
zu finden, geschweige denn, ihn zu halten. Diesen hier werde ich aber auf keinen Fall
fortlassen. Wir haben zu lange allein auskommen müssen."
Auf dem Korridor wurde laut und wütend geschimpft. „Fort mit dir, du verdammtes
Mistvieh! Hat dir deine Herrin denn überhaupt keine Manieren beigebracht? Ich erlaube nicht,
dass . . . Lass mich sofort vorbei!"
Ein leises Knurren vor der Tür war zu hören.
Meggie sprang hoch. „Hadrian? O Himmel! Er darf doch nicht im Haus sein. Ich ließ ihn
draußen ..."
„Ach, ist das der Name deines lieben Wolfs?" Dorelia schob Meggie wieder zurück aufs
Bett. „Er kam genau in dem Moment hereingesprungen, als du ohnmächtig wur dest, und
seitdem hat er deine Tür bewacht. Ein reizender Bursche. Im Freien sieht man ja heutzutage
seinesgleichen nicht mehr. Wölfe wurden immer furchtbar missverstanden, nicht?"
„Ja, doch bevor er noch furchtbarer missverstanden wird, muss ich zu ihm gehen", erklärte
Meggie. Angesichts der Furcht, die Hugo vor ihm hatte, könnte er Hadrian womöglich etwas
wirklich Schlimmes antun - ihn treten oder ihn sogar erschießen.
„Sei nicht albern, Kind", sagte Dorelia und schwang die Haarbürste, die sie von Meggies
Frisiertisch geholt hatte. „Der liebe Hugo muss sich mit deinem Hadrian einigen, und je eher,
desto besser. Ist dir nicht klar, dass die beiden um ihre Gebietsrechte kämpfen?"
Meggie runzelte die Stirn. „Das Haus ist mehr als groß genug für alle beide. Und bis jetzt
ist es noch nicht einmal Hadrians Territorium."
„Ich meinte auch nicht das Haus, sondern dich." Dorelia begann Meggies Haar zu bürsten.
„Für Hadrian bist du seine Familie, sein Rudel, und soviel weiß ich: Das Tier ist dir ergeben.
Den Geist von Tieren kenne ich so gut wie meinen eigenen. Und den kennen sie ebenfalls."
„Wirklich?" Meggie lächelte. Das wäre dann noch eine Gemeinsamkeit.
„Natürlich. Es ist so: Dein Hadrian wird Hugo als deinen Gefährten akzeptieren müssen,
und Hugo, der arme Junge, wird Hadrian als deinen Bruder akzeptieren müssen. Mit der Zeit
werden sie beide es lernen, sich gegenseitig zu tolerie ren, doch du musst ihnen gestatten, ohne
deine Einmischung miteinander auszukommen."
„Hugo mag doch keine ..."
„Was wer mag und nicht mag, interessiert nicht. Er wird früh genug lernen, wie die Dinge
hier stehen."
Meggie schwieg. Sie merkte, dass es keinen Sinn hatte, mit Dorelia zu debattieren. Hugo
würde sich nicht nur mit Hadrian einigen müssen, und es könnte interessant werden, dabei
Zuschauer zu sein.
Während Dorelia weiter Meggies Haar bürstete, gab diese sich dem ungewohnten
Vergnügen hin und vergaß dabei sowohl Hugo als auch Hadrian, bis Dorelia die Bürste fallen
ließ und leise aufschrie.
„Das Abendessen!" rief sie. „Ich habe ja vollkommen die Zeit ve rgessen. Wir dürfen
Cookie und sein Festessen keinesfalls warten lassen. Du musst dich sofort fertig machen. Hur-
tig, Mädchen! Ich weiß auch nicht, wo ich meine Gedanken hatte."
Im nächsten Moment hatte Dorelia Meggies Haar zu einem losen Nackenknoten gedreht
und festgesteckt. Irgendwoher holte sie eine Schüssel mit warmem Wasser und wusch Meggie
Hände und Gesicht, als hätte sie ein kleines Kind vor sich, trocknete sie dann mit einem
weichen Tuch ab und stellte sie wieder aufrecht hin. Danach zog sie ihr das Gewand über den
Kopf.
„So", sagte sie triumphierend und drehte Meggie zu einem langen Spiegel um. „Das sieht
doch gut aus, nicht wahr?"
Benommen betrachtete Meggie sich im Spiegel. Das Gewand, eine Angelegenheit aus
zartester hellgrüner Seide, sah aus, als wäre es direkt auf ihrem Körper gesponnen worden.
Und eben das war das Problem.
„Ist das nicht ein wenig . . . unanständig?" Meggie zupfte an dem tiefen Ausschnitt, der
einen großen Teil ihres kleinen Busens freigab. Sie fühlte sich praktisch nackt.
„Unsinn. Das ist jetzt große Mode. Ich sagte dir doch, ich hätte das Gewand umgeändert."
„Ich ... in meinem ganzen Leben war mein Hals noch nie mals unbedeckt!" Was würde
wohl Schwester Agnes jetzt von ihr denken? Keine drei Stunden aus dem Pflegeheim, und
schon sah Meggie aus wie ein lockeres Mädchen. „Und meine Arme ebenfalls nicht."
„Du kannst dir ja einen Schal um die Schultern legen, doch das halte ich absolut nicht für
nötig." Dorelia überlegte. „Ich glaube, ich begreife. Es sind die Nonnen, ja? Ich möchte nur
wissen, was die davon verstehen, wenn sie doch in ihren Trachten immer fast ersticken. Du
bist bald eine verheiratete Frau, und du kannst mir glauben, Gentlemen mögen es ganz und
gar nicht, wenn ihre Gattinnen in formlose Säcke verpackt sind."
„Ich dachte, ich sollte versuchen, Cookie zu beeindrucken", sagte Meggie kess.
Dorelia schaute einen Moment finster drein, und dann lachte sie und klatschte in die
Hände. „Die Nonnen haben dir also doch nicht den ganzen Humor ausgetrieben."
„Nicht alle Nonnen waren übel." Meggie wollte von Schwester Agnes erzählen, doch
Dorelia winkte ungeduldig ab. „Ja, ja, Liebling. Später."
Sie zog eine weiße Rose aus der Vase auf dem Frisiertisch und steckte sie in Meggies
Haar. „So. Perfekt. Und da du keine Mutter hast, die dich in diesen Dingen instruieren könnte,
werde ich das jetzt übernehmen. Du musst dich heute Abend voll auf deinen zukünftigen
Gatten konzentrieren, ob du ihn nun schon seit Adam kennst oder nicht."
Meggie verschluckte sich beinahe. Sie sah sich scho n, wie sie sich im Zusammenhang mit
Adam voll auf Hugo konzentrierte. Keinen einzigen Bissen würde sie hinunterbekommen!
„Jawohl, Tante Dorelia."
„Lächle oft und behalte um Himmels willen deine Ansichten für dich. Du wirst bald
feststellen, dass Männer ausschließlich an ihrer eigenen Meinung interessiert sind. Ein
hübsches Gesicht und ein angenehmes Verhalten lassen keinen Sturm aufkommen. Männer
mögen keine klugen Frauen."
Meggie krampfte sich der Magen zusammen. Wurde tatsächlich von jeder Gattin erwartet,
dass sie sich wie eine hoffnungslos Schwachsinnige verhielt? Redeten alle Männer mit ihren
Ehefrauen in diesen schmerzlich kurzen und kindischen Sätzen? Meggie hatte gedacht, sie
würde sich mit anderen Personen unabhängig von deren Geschlecht ebenso gut und lebhaft
unterhalten können wie mit Schwester Agnes.
Sogar ihre Lehrerinnen im Waisenhaus hatten sie trotz aller Abneigung ihr gegenüber dazu
ermuntert, so viel wie möglich zu lernen. Doch was nützte denn ihre ganze Ausbildung, wenn
sie sie jetzt hinter vorgegebenem Schwachsinn verbergen musste, nur damit sie von ihrem
Ehemann bewundert werden konnte?
Sie hatte nicht gewusst, dass Männer Frauen nur zur Zierde haben wollten, obwohl Hugo
es ihr bei mehr als einer Gelegenheit klargemacht hatte, dass er genau das erwartete.
„Meine Liebe, du bist so still. Hast du mir überhaupt zugehört?" fragte Dorelia.
„Ja", antwortete Meggie leise. „Ganz genau. Ich habe mich Hugos Wünschen in jeder
Weise zu fügen."
„Nun, nicht allen seinen Wünschen." Dorelias Augen funkelten mutwillig. „Einige davon
können bis morgen warten, und du solltest dafür sorgen, dass sie es auch tun. Doch wenn erst
einmal der Ring an deinem Finger steckt, ist es etwas anderes. Du verstehst? Oder haben dich
die Nonnen vollkommen im Dunkeln gelassen?"
Meggie senkte den Blick. „Falls Sie vom heiligen Akt der Trauung reden, brauche ich
keine Instruktionen. Was danach kommt, macht mir Kopfzerbrechen."
Sofort wurde Dorelia wieder ganz ernst. „Ach, liebes Kind, ich habe ja deine eigene
Ankunft auf dieser Welt ganz vergessen. Natürlich musst du Angst haben, doch mit Glück
sind das, was danach kommt, ein gesundes Kind und eine gesunde Mutter."
„Oh..." Meggie hatte gar nicht an die Schwangerschaft oder an den Tod im Kindbett
gedacht. „Ist es üblich, dass Mütter bei der Geburt ihres Kindes sterben?" erkundigte sie sich
angstvoll.
„Nein, besonders dann nicht, wenn bei der Geburt richtig verfahren wird." Ihre Miene
verfinsterte sich. „Genau wie deine arme Mutter hatte auch Lally dieses Glück nicht. Sie und
ihr Baby starben zusammen. Ich vermochte für die beiden nichts zu tun, weil dieser Idiot von
einem Arzt mich nicht an ihr Bett ließ. Nun, reden wir nicht mehr darüber." Sie fuhr mit der
Hand durch die Luft, als wollte sie die Erinnerung verscheuchen. „Der Kerl kommt nicht
mehr in unser Haus, das verspreche ich dir. Sonst noch Fragen?"
„Welches sind eigentlich meine Pflichten hier? Ich meine, außer Kinder zu gebären."
„Oh, ganz einfach: Du kümmerst dich um das Haus deines Gatten, um seine Geschäfte,
seine Pächter und ganz allgemein um das Wohlergehen aller, die deiner Fürsorge
unterstehen."
„Und das alles, wenn ich doch restlos dumm bin, ein wandelnder Tafelaufsatz?"
Dorelia lächelte. „Also hast du mich doch verstanden. Gut. Du musst noch viel über
Männer lernen, mein gutes Mädchen, wenn du deinen Gatten in der Hand behalten willst. Wir
reden noch darüber, doch jetzt haben wir keine Zeit mehr."
Sie drehte Meggie um und schob sie zur Tür. „Gehe jetzt. Verhalte dich so, wie ich es dir
gesagt habe. Du bist nicht die einzige Frau, die in eine Ehe gestolpert ist, ohne ihren Gatten zu
kennen, doch es liegt an dir, was daraus wird. Ich zähle auf dich. Wir alle zählen auf dich."
Meggie wandte den Kopf, um Dorelia zu fragen, was diese seltsame Bemerkung bedeuten
sollte, doch die Tante war wie durch Zauberhand verschwunden. Meggie untersuchte das
Zimmer, fand jedoch keinen Geheimausgang. Sie nahm sich vor, später noch einmal
nachzusehen und sich zunächst nach Dorelias Rat zu richten.
11. KAPITEL

Noch einmal starrte Hugo auf Meggies Schlafzimmertür und dann auf den verdammten
Wolf, der ihn daran hinderte, sicherzustellen, dass seine vierhunderttausend Pfund noch nicht
verloren waren.
„Dämliches Mistvieh", murmelte er finster. „Man sollte dich abknallen."
Das dämliche Mistvieh zog eine Lefze hoch und knurrte.
Hugo hob ebenfalls eine Ecke seiner Lippe hoch und knurrte zurück. Dann begab er sich
zur Tür des Nebenraums, den eine der beiden Mabey-Schwestern ihm zugewiesen hatte.
Die Mabey-Schwestern. Die sind wieder einmal typisch für mein Glück! dachte er, setzte
sich aufs Bett und streifte sich die Stiefel ab. Lord Eliot hatte nicht nur zwei verrückte alte
Jungfern hinterlassen, sondern auch noch verrückte alte Zwillings-Jungfern. Als Meggie in
Ohnmacht gefallen war, worauf Ottoline unverzüglich verschwand und dann in zweifacher
Ausfertigung zurückkehrte, hatte er gefürchtet, selbst verrückt zu sein.
Außerdem schien es die beiden nicht zu interessieren, ob er sich möglicherweise um
Meggies Wohlergehen sorgte. Sobald er sie aufs Bett gelegt hatte, war er des Raums
verwiesen worden, als hätte er hier nichts zu sagen. Er, der Eigner von Lyden Hall -
hinausgeworfen, als wäre er ein Schuljunge!
Dass Meggie ihn aber auch so erschrecken musste! Wenn sie plötzlich krank werden
wollte, hätte sie damit wenigstens bis morgen Nachmittag warten und ihm die Gelegenheit
geben können, sie zuerst zu heiraten.
Hugo rieb sich die Füße, schaute sich dabei im Zimmer um und entdeckte den Waschstand.
Wenigstens hatte derjenige, der hier sämtliche Dienstboten zu vertreten schien, nicht nur sein
Gepäck, sondern auch warmes Wasser herauf gebracht.
Bis jetzt hatte Hugo nur einen recht dunkelhäutigen Burschen bemerkt, der verdächtig nach
einem Zigeuner aus sah, sowie den Dieb namens Cookie, der als Koch angestellt war. Wie die
beiden Mabeys bisher zurechtgekommen waren, ging ihn nichts an. Wie er selbst
zurechtkommen sollte, war wichtiger.
Er war es nicht gewöhnt, ohne Mallard auszukommen, der ihn seit seinem zwölften
Lebensjahr bedient hatte und sogar während der elenden Zeit in Paris bei ihm gewesen war.
Hugo entledigte sich seines Jacketts, des Hemds sowie des zerdrückten Halstuchs und trat
an die Waschschüssel. Er spritzte sich Wasser über die Brust und ins Gesicht, suchte sich
frisches Leinenzeug sowie einen sauberen Gehrock heraus und schaffte es irgendwie, sich
anzukleiden.
Er überprüfte sein Aussehen im Spiegel, befand, dass es so ginge, und marschierte wieder
in den Korridor hinaus - bereit, den Kampf mit Meggies Köter und den Mabey-Schwestern
erneut aufzunehmen.
Zu seiner Überraschung stand die Nebentür offen. Weder Meggie noch der Köter oder die
Mabey-Schwestern waren in Sicht. Das bedeutete, Meggie war entweder gestorben und
zwecks rascher Beseitigung der Leiche von den Schwestern fortgeschafft worden, oder sie
hatte sich wieder erholt und war in den Salon hinuntergegangen. Hugo eilte die Treppe hinab,
um sich zu vergewissern, dass seine letzte Vermutung zutraf.
Zwar fand er den Salon, doch Meggie befand sich nicht darin. Er versuchte es in der
Bibliothek - mit demselben Ergebnis. Er suchte im Wintergarten, im Morgenzimmer, im
Frühstückszimmer und zum Schluss im Speisezimmer.
Von Meggie auch dort keine Spur, doch zwei Gedecke sowie drei angezündete Kerzen in
Leuchtern zierten den langen ovalen Tisch aus Kirschbaumholz. Vier weitere Kandelaber
brannten auf den Anrichten zu beiden Seiten des Raums und beleuchteten das Speisezimmer
mit einem warmen, intimen Glühen. Es erleichterte Hugo, dass die Mabey-Schwestern genug
Verstand besaßen, ihn und Meggie an ihrem ersten Abend allein zu lassen. Das setzte
natürlich voraus, dass er sie noch fand. Sie mochte ja auch davongewandert und in den Fluss
gefallen sein.
Gerade als ihm dieser beunruhigende Gedanke durch den Kopf ging, hörte er ihr Lachen
auf der anderen Seite der Schwingtür, die in die Küche führte. Sofort stieß er die Tür auf.
Und da stand Meggie, eingehüllt in eine riesige weiße Schürze und umgeben von den
Mabey-Schwestern, dem dunkelhäutigen Zigeuner und einem äußerst stämmigen und
reichlich einschüchternden Mannsbild, das Hugo für Cookie hielt. Sie alle beugten sich über
einen großen Topf und redeten so schnell, dass er kein einziges Wort verstand. Der Köter
hockte aufmerksam zu ihren Füßen, und seine Augenbrauen zuckten, als verstünde er im
Gegensatz zu Hugo jedes Wort. Diesen bedachte er nur mit einem eher gleichgültigen Blick
und wandte sich sich dann wieder dem Topf zu.
„Entschuldigung", sagte Hugo. Niemand beachtete ihn. Er räusperte sich.
„Entschuldigung!" wiederholte er laut. Mit jedem Moment wuchs seine Verärgerung mehr. Er
war es nicht gewohnt, übersehen zu werden.
Alle blickten auf.
„Hugo, mein Lieber", zwitscherte eine der Mabey-Schwestern. „Da bist du ja endlich.
Komm doch her, und schau dir dein Abendessen an! Unser schlauer Cookie hat heute diese
Hummer direkt von einem Fischerboot. . . Oh, du wur dest ja noch gar nicht vorgestellt. Nicht
deinem Abendessen, sondern Cookie." Sie lächelte ihn so huldvoll an, als präsentierte sie ihm
einen König. „Lord Hugo, ich darf Ihnen Cookie Crumpton vorstellen, den hervorragenden
neuen Küchenmeister."
Nach dem heutigen Tag verblüffte Hugo gar nichts mehr. Die formelle Vorstellung eines
Mannes, der eher wie ein Preisboxer denn wie ein Küchenmeister aussah, schien vollkommen
normal zu sein. Hugo neigte das Haupt. „Ich bin entzückt."
Cookie grinste und zeigte dabei seine braunen Zähne, von denen die Hälfte fehlte. „Prost,
Euer Lordschaft. Diese Hummer hier kriegen jetzt noch einen Schluck von meiner Sher-
rysoße. Hoffe, das regt Ihren Appetit an, denn danach kommt eine nette, zarte Lammkeule mit
Minzgelee und ..."
„Aha", sagte Hugo, der sich nicht auf ein Gespräch mit einem elenden Koch einlassen
wollte. „Meggie, meine Liebe, ich freue mich zu sehen, dass es dir wieder besser geht.
Würdest du bitte mitkommen und deinen - äh - Hund hier lassen?"
„Selbstverständlich", sagte sie und lächelte ihn süß an, während sie die Schürze abband.
Hugos Gereiztheit schwand. Er konnte kaum verärgert sein, wenn ihn die Sonne persönlich
anlachte. Dies war der Engel, den er durch Schwester Agnes' Fenster entdeckt hatte, nur noch
unendlich viel schöner. Meggies schlanke Figur kam unter dem hauchdünnen Stoff ihres
Gewands kunstvoll zur Geltung. Trotz aller Fantasie hatte er sich eine solche Vollkommenheit
nicht vorgestellt.
Er betrachtete ihr zartes Gesicht, den Schwanenhals, die anmutigen Arme und Schultern
sowie die reizvolle Rundung ihres kleinen Busens. Als er merkte, dass er sie geradezu un-
verschämt anstarrte, zwang er seinen Blick zu ihrem Gesicht zurück - ein großer Fehler, denn
sie schaute ihm direkt in die Augen mit diesem durchdringenden, überirdischen Blick, der
sein Untergang zu werden drohte.
Und wo, zum Teufel, hatte sie dieses Kleid her? Nun, einerlei. Es vertrieb jedenfalls das
Bild, das sie in diesem sche ußlichen schwarzen Gewand geboten hatte.
Er reichte ihr den Arm. „Wir wollen uns zum Essen setzen - wann immer es serviert
werden mag", fügte er boshaft für die anderen bestimmt hinzu.
„Hadrian, Schatz, du bleibst bei Cookie, ja?" sagte Meggie und schwebte auf Hugo zu, als
hätte sie das ihr Leben lang getan. „Er wird dir zu fressen geben, was dein Herz begehrt.
Nicht wahr, Cookie?"
„Aber klar doch, Miss", antwortete Cookie. „Der alte Hund und ich, wir verstehen uns. Mir
fehlt mein eigener kleiner Bootsmann, wie ich ihn genannt habe. Der ist nämlich bei einem
schweren Sturm über Bord gegangen. Hat mir wirklich das Herz gebrochen." Er klopfte sich
auf die Brust und zerquetschte eine Träne.
„Oh, wie traurig", sagte Meggie mit großem Mitgefühl. „Be stimmt war Bootsmann ein
liebes Hündchen, stets verspielt, und trotzdem hörte er immer auf dich, wenn es sein musste."
„Genau, Miss, obwohl ich keine Ahnung habe, woher er das wusste."
„Mit Hadrian ist es auch so." Meggie hakte sich bei Hugo ein. „Ein gutes, liebevolles Tier,
das einem bedingungslos vertraut, gibt es nicht alle Tage. So ein Vertrauen muss man von
Anfang an aufbauen, nicht wahr, Cookie?"
„Genau, Miss. Und bei diesem Hund hier haben Sie es ganz bestimmt geschafft. Der ist ein
feiner Kerl, jawohl." Cookie bückte sich und kraulte Hadrian zwischen den Ohren.
Und das Mistvieh schloss auch noch zufrieden die Augen und leckte sich die Schnauze!
„Oh, schau nur, Cookie - er mag dich." Meggie strahlte den Mann an, als wäre er ihr bester
Freund.
Jetzt reichte es Hugo. Er schob sie aus der Küche. Mit Geduld und fester Hand würde er sie
schon erziehen!
Meggie ließ sich vorwärtsschieben und kam sich dabei wie ein eingefangenes Schaf vor.
Sie warf einen kurzen Blick zu Ottoline und Dorelia zurück, die beide lächelten und ihr
ermunternd zunickten.
„So", sagte Hugo auf der anderen Seite der Schwingtür und führte sie entschlossen zu
ihrem Stuhl. „Dieses ist dein richtiger Platz."
Meggie schaute ihn fragend an. „Mein richtiger Platz?" Meinte er das nun wörtlich oder im
übertragenen Sinne?
„Jawohl, meine Liebe. Dieses ist dein Platz bei Tisch. Neben mir. Beim Essen. Du gehörst
nicht in die Küche. Da hält sich nur das Personal auf."
Aha, dachte Meggie. Sie bemühte sich, ganz ernst zu bleiben und nicht zu vergessen, dass
Dorelia ihr gesagt hatte, sie dürfe niemals widersprechen.
„Ja, Hugo", sagte sie gehorsam und beäugte das viele Silber und Kristall auf dem Tisch.
Zwei Gläser, zwei Messer, zwei Gabeln, zwei Löffel... sie konnte sich nicht vorstellen, dass
das alles gebraucht wurde. Es verursachte doch nur mehr Abwasch.
Hugo nickte. „Sehr gut, Meggie. Du brauchst nur zwei Dinge zu beachten, nämlich dass du
den Mund hältst und dass du tust, was ich dir sage. Und ich sage dir: Halte dich von den
Dienstboten fern. Die tun ihre Arbeit weit besser, wenn sie nicht durch deine Gegenwart
abgelenkt werden."
Meggie nickte zurück. „Ich soll mich von den Dienstboten fern halten." Sie legte sich die
Serviette auf den Schoß und setzte sich sehr gerade hin, wie es ihr die Nonnen beigebracht
hatten. „Wie du willst, Hugo." Sie lächelte wieder, doch ihr Herz war nicht daran beteiligt.
Schon jetzt merkte sie, dass sie sich sehr anstrengen musste, um das gehorsame Dummchen
zu spielen.
Dass er es gutheißt, wird mein Lohn sein, sagte sie sich. Doch wie viel bedeutete seine
Liebe, wenn die Person, auf die sie sich richtete, überhaupt nicht existierte? Sie seufzte.
Immerhin gab es ja noch die Aussicht auf den anderen Teil ihrer Ehe, die Geschichte, die
sich im Bett abspielte. Das hatte sie keine Minute lang vergessen.
Die Kraft seiner Arme hatte sie ja bereits kennen gelernt, als sie von ihm hochgehoben und
herumgewirbelt worden war. Ach, wie wunderbar hatte sich seine Berührung an ihrer Taille
angefühlt! Und morgen Nacht würde sie auch ent decken, wie wundervoll sich seine
Berührung an anderen Stellen ihres Körpers anfühlte. Allein bei dem Gedanken, nackt an ihn
geschmiegt zu liegen, wurde ihr schon von Kopf bis zu den Zehenspitzen heiß.
Meggie errötete heftig. Sie musste wohl wollüstig sein, wenn sie so etwas dachte, und dann
noch am Speisetisch! Ganz offensichtlich hatte sie die fleischlichen Neigungen ihrer Mutter
geerbt, doch anders als diese, würde Meggie zumindest verheiratet sein, wenn sie in das Bett
eines Mannes ging. Hoffentlich musste sie dort nicht auch schwachsinnig und gehorsam sein.
Eine Bewegung an der Küchentür unterbrach ihren düsteren Gedankengang. Dorelia spähte
durch den Spalt, blinzelte ihr zu und verschwand sofort.
Meggie erinnerte sich wieder an ihre Pflicht und strahlte. „Gefällt dir dein Zimmer, Hugo?
Meines gefällt mir sehr. Ich kann sogar auf den Fluss hinaussehen. Und es hat ein großes
Himmelbett."
„Meines auch." Er fingerte an seinem Messer herum.
„Bei meinem Waschstand hatte ich einen Eimer warmes Wasser."
„Ich ebenfalls." Er kratzte sich am Ohr.
„Das übrige Mobiliar ist auch hübsch. So etwas Hübsches habe ich noch nie gesehen. In
meinem Zimmer im Pflegeheim befanden sich nur ein kleines eisernes Bettgestell und ein
Schreibtisch. Ach ja, und ein kleiner Kleiderschrank, aber der brauchte ja auch nicht größer zu
sein."
„Meggie, ich halte es für besser, wenn du das Pflegeheim nicht mehr erwähnst, auch mir
gegenüber nicht." Er spielte noch immer mit seinem Messer herum und blickte sie nicht an.
„Oh, Entschuldigung. Darf ich das Waisenhaus erwähnen? Mein Zimmer dort war ganz
ähnlich, nur teilte ich es mit drei anderen Mädchen. Im Pflege . . . äh, in dem anderen Heim
konnte ich wenigstens ein bisschen allein sein."
„Genug geplappert, Meggie!"
Meggie faltete die Hände im Schoß. „Ich bitte um Entschuldigung." Sie bemühte sich,
möglichst zerknirscht zu klingen.
„Keine Ursache", erwiderte er, ohne sie anzuschauen. „Dies war ein sehr langer Tag, und
ich bin müde. Ich möchte lieber hier still sitzen und dich in deinem hübschen Kleid
bewundern."
Oje, dachte Meggie, Dorelia hatte schon Recht: Ich soll wirklich nur ein Dekorationsstück
sein.
„Woher kommt dieses Gewand eigentlich?" erkundigte er sich. „Du sagtest doch, du habest
nichts weiter bei dir."
„Von Lally", antwortete sie. Wo blieb Cookie nur mit den Hummern? Ihr Magen schien
ein Loch zu haben.
„Von Lally?" Entsetzt schaute er auf. „Etwa von Lord Eliots verstorbener Gattin?"
Meggie nickte. „Ich hielt es ja für unanständig, doch Tante Dorelia bestand darauf."
„Unanständig? Wieso? Weil Lally tot ist?"
„Nein, weil es so gut wie gar kein Mieder hat." Das muss er doch selbst sehen, dachte sie.
„Und die Ärmel sind nur winzige Puffs. So wenig, wie ich bedeckt bin, hätte ich auch ein
Nachthemd tragen können."
„Meggie!" Hugos Stimme klang plötzlich angespannt. „Rede nicht über dergleichen am
Speisetisch. Du solltest überhaupt nicht darüber sprechen. Es ist nicht. . . anständig."
„Aha, reden soll ich nicht darüber, weil es unanständig ist, doch anziehen soll ich mich so,
ja? Ich finde, du lebst in einer sehr merkwürdigen Welt, Hugo Montagu", gab sie unbedacht
zurück.
„Ach, und die Welt, in der du lebst, ist normal, was?" versetzte er. „Das denke ich kaum!"
Erschrocken sah Meggie ihn an. Ihr war, als hätte er sie geschlagen. Er weiß es! Er weiß
von meinem Talent, und er hält mich für eine Laune der Natur, für ein Monstrum! Wie sie
von Schwester Agnes wusste, hatte Hugo sich bemüht, sehr viel über sie herauszufinden, und
im Laufe seiner Re cherchen musste irgendjemand es ihm erzählt haben. Das war also gemeint
gewesen, als er Schwester Agnes gesagt hatte, er wisse, dass sie „anders" sei!
Sie fühlte sich so gedemütigt, dass sie hätte sterben mögen. „Wenn du mich für so
abnormal hältst, frage ich mich, weshalb du mich überhaupt heiraten willst", flüsterte sie.
Er wurde rot. „Ich halte dich nicht für . . . ich meine nur, dass du ... dass du dich in der
Welt nicht auskennst."
Meggie blickte auf ihre Hände hinunter. „Du meinst, weil ich die meiste Zeit meines
Lebens hinter Mauern verbracht habe? Oder beziehst du dich auf irgendetwas Merkwürdiges
an mir, das dir missfällt?"
„Nicht doch! Ich bezog mich einzig und allein auf deine Abgeschiedenheit, Meggie.
Vergib mir, wenn ich mich barsch angehört habe."
„Gib dir keine Mühe." Sie wollte in Tränen ausbrechen. „Du hast nur gesagt, was du
meintest."
„Nein! Ich meinte nur, aus Mangel an Erfahrung könntest du nicht wissen, was anständig
ist und was nicht."
Meggie blickte in sein Gesicht, in dem sich nur aufrichtige Reue spiegelte. Außerdem hatte
er ja auch zuvor noch niemals angedeutet, dass er ihr irgendetwas unterstellte.
Meggie wurde ganz schwach vor Erleichterung. Hugo sprach die Wahrheit. Er hielt sie nur
für ein unwissendes Mädchen, das er heiraten wollte, weil sie so dekorativ war und er sich
einbildete, sie zu lieben.
Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. „Ich habe fürchterlichen Hunger", erklärte sie,
weil sie entschlossen war, das Thema zu wechseln. „Du sicherlich ebenfalls. Hast du schon
einmal Hummer gegessen?"
„Oft sogar." Offensichtlich erleichterte es ihn ebenso wie sie, über etwas anderes zu
sprechen. „Allerdings frage ich mich, ob das wirklich etwas Neues für dich ist. In die
Zubereitung schienst du dich ja sehr vertieft zu haben."
„Ich habe noch nie einen Hummer gesehen, geschweige denn gekostet. Cookie versicherte
mir, das sei eine große Delikatesse."
„Dann wird es ja Zeit, dass du dich daran gewöhnst. Ich versprach dir schließlich
Hochgenüsse, und die sollst du auch haben."
Wie auf Stichwort ging die Tür auf, und Cookie erschien mit den schön dekorierten
Hummern auf einer großen Platte. Er stellte sie auf die Anrichte, und Roberte, der
dunkelhäutige Diener, der seine ganzen dreißig Lebensjahre auf Lyden Hall verbracht hatte,
kam gleich hinter Cookie her. Er zerteilte die Hummer und legte sie auf die auf dem Tisch
aufgedeckten Teller. Bei dem herrlichen Duft, der von ihnen aufstieg, hätte Meggie in
Ohnmacht sinken können.
„Wein!" Befehlsgewohnt hob Hugo eine Augenbraue. Unverzüglich zog Roberte eine
Flasche aus einem Kübel, schenkte die blassgelbe Flüssigkeit mit großer Sorgfalt ein und
verschwand dann wieder.
Meggie wartete ungeduldig darauf, dass Hugo das Dank gebet sprach, doch als er sein Glas
hob und den Wein kostete, merkte sie, dass er nicht beten würde. Sie neigte den Kopf,
murmelte selbst ein Dankgebet, hob dann die erstbeste Gabel und stürzte sich ohne ein
weiteres Wort auf ihren Teller.
Als der erste Bissen ihre Zunge berührte, schloss sie genießerisch die Augen. Etwas so
Köstliches hatte sie noch niemals gegessen, und sie hätte sich auch nie vorgestellt, dass etwas
so herrlich schmecken könnte.
Als sie aufschaute, sah sie, dass Hugo sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen
betrachtete. „Mmmm", sagte sie mit vollem Mund. „Einfach großartig. Süperb."
„Mit der Art, wie du dich darüber hermachst, hast du deine Meinung bereits deutlich
kundgetan", bemerkte er trocken und tupfte sich den Mund mit der Serviette. „Ich bin ganz
deiner Meinung. Cookie hat das wirklich gut hinbekommen."
Meggie schluckte den letzten Bissen hinunter und nickte dann eifrig. „Cookie sollte heilig
gesprochen werden."
Hugo lachte. „Cookie sollte wahrscheinlich eher eingekerkert werden, doch angesichts
seiner Kochkünste wollen wir ihm alles durchgehen lassen. Trink einen Schluck Wein. Du
wirst feststellen, dass er bestens zu Hummer passt."
Meggie, die noch niemals Wein getrunken hatte, hob ihr Glas und trank einen großen
Schluck. Sie musste ein wenig husten, genoss jedoch die Wärme, die der Wein hervorrief,
während er durch ihre Kehle rann.
„Immer langsam." Hugo hielt ihre Hand zurück, bevor Meggie weitertrinken konnte.
„Wein muss man nippen, und nicht hinunterstürzen. Trinke ihn langsam, oder du fällst im
Handumdrehen vom Stuhl."
Meggie konnte nur den Kopf schütteln. „So viele neue Freuden! Du musst bitte mein
Unwissen entschuldigen. Nicht einmal bei der Kommunion erhielt ich Wein. Ich vermisste
ihn auch nicht."
Hugo runzelte ein wenig die Stirn. „An deine Religion habe ich noch gar nicht gedacht. Du
bist doch getauft?"
Meggie nickte. „Meine Tante Emily ließ mich taufen, als ich ein Baby war."
„Deine Tante Emily? Ich dachte, du hättest keine Verwand ten."
„Habe ich auch nicht. Emily Crewe war meine Ziehmutter. Ich nahm an, du wüsstest über
meine Vergangenheit Bescheid." Hatte Schwester Agnes ihn vielleicht falsch verstanden? Es
wäre entsetzlich, wenn sie, Meggie, ihm ihren Familienstand erläutern müsste und er sie dann
womöglich nicht mehr heiraten wollte.
„Ah ja, jetzt weiß ich wieder", sagte er. „Sie starb, als du ungefähr neun Jahre alt warst.
Und dann kamst du ins Waisenhaus, glaube ich."
Meggie atmete wieder. Hugo wusste doch alles. „Ja. Sie war eine wunderbare Frau und so
gütig. Ich liebte sie sehr."
„Ließ sie dich im katholischen oder im anglikanischen Glauben taufen?"
„Im anglikanischen. Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich Katholikin wäre?"
„Nicht im Geringsten." Er schien erleichtert zu sein. „Ich bin nicht religiös. Ich habe mich
bislang um dergleichen auch nicht gekümmert, doch wer weiß, ob es nicht irgendwelche
katholischen Bestimmungen über eine Heirat außerhalb die ses Glaubens gibt? Ich will nicht,
dass irgendetwas morgen unserer Trauung im Weg steht."
„Nein?" fragte sie leise, und ihr wurde ganz warm bei dem Gedanken, dass Hugo so darauf
bedacht war, sie zu heiraten - auch wenn nur deswegen, um sie ins Bett zu bekommen.
„Wo wird die Trauung stattfinden?" erkundigte sie sich und stellte sich voller Erregung
vor, wie sie mit Hugo beim Altar stand. „Gibt es hier eine Pfarrkirche? Tante Emily und ich
sind jeden Sonntag in unsere Pfarrkirche gegangen. Mir gefielen die schlichten Gottesdienste
sehr. Ich fand die katholischen Zeremonien so ... langweilig."
„Ja, das kann ich mit gut vorstellen", meinte Hugo. „Mich würde es ebenfalls langweilen,
wenn ich kein Wort verstehen könnte."
Meggie biss sich auf die Zunge. Sie verstand Latein gut ge nug, um Vergil im Original zu
lesen, doch das brauchte Hugo nicht zu wissen. „Du hast meine Frage noch nicht beantwor-
tet", erinnerte sie ihn. „Gibt es hier eine Pfarrkirche?"
„Vermutlich ja, denn es gibt auch einen Vikar", antwortete Hugo. „Ich werde ihn jedoch
bitten, hierher nach Lyden Hall zu kommen, um uns zu vermählen. Ich denke, eine Trauung
im eigenen Haus ist weniger vulgär als in einer örtlichen Kirche, die keiner von uns je zuvor
betreten hat."
„Müssen wir denn nicht in einer Kirche getraut werden?" fragte Meggie überrascht.
„Nein. Diese Sonderlizenz, welche ich eben zu diesem Zweck recht teuer erworben habe,
gestattet es uns, getraut zu werden, wo immer es uns gefällt."
„Oh." Sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. Wenn immer ihr ihre eigene Hochzeit
im Traum erschienen war, hatte sie sich stets in einer einfachen, kleinen Kirche gesehen. Sie
hatte einen Blumenkranz auf dem Kopf getragen und den Eheschwur vor einem freundlich
dreinblickenden Vikar gesprochen . . .
Nun, jetzt war nicht die Zeit, Fantasien nachzuhängen, so viel ihr eine kirchliche
Zeremonie auch bedeutet hätte. Hugo hatte offensichtlich mit Gott nicht viel im Sinn, was
zwar sehr bedauerlich war, sie jedoch nichts anging. Also lächelte sie und wiederholte erneut
ihren Lieblingssatz: „Wie du willst, Hugo."
„Genau. Der Salon dürfte gut geeignet sein. Als Erstes werde ich morgen gleich an den
Vikar schreiben und ihn bitten, nach dem Mittagsmahl zu kommen. Auf diese Weise wird er
nicht erwarten, zum Essen eingeladen zu werden." Er blickte sie streng an. „Unnötiges
Theater vertrage ich nicht."
Meggie hatte noch nie etwas so Unromantisches gehört, doch sie schwieg. Roberte räumte
die Teller sowie den ersten Satz Messer und Gabeln ab und schenkte das Weinglas wieder
voll, das Hugo bereits geleert hatte.
Einen Moment später trug Cookie eine Platte herein, auf der eine ganze Lammkeule lag.
Das köstliche Aroma lenkte Meggie von ihrer düsteren Hochzeitsvision ab. Sie wollte sich
das Mahl nicht verderben lassen, auch, nicht von dem Gedanken, in einem Salon getraut zu
werden.
Fasziniert schaute sie zu, wie Cookie gekonnt an der Anrichte die Keule entbeinte und
dann hauchdünne Scheiben saftig-rosigen Fleischs davon herunterschnitt. So etwas hatte
Meggie noch nie gesehen. Ihrer Erfahrung nach war Lamm immer grau und fettig und bestand
aus sehnigen Stücken, die in Fett schwammen.
Cookie konnte tatsächlich Wunder wirken.
Zu diesem Gang holte Roberte sehr zu Meggies Erstaunen eine weitere Flasche hervor.
Diesmal war es Rotwein, und den goss er in die größeren Gläser.
Also dafür sind die da, dachte Meggie, doch wozu zwei Weinsorten zum Essen? Das
erschien ihr genauso übertrieben wie die vielen Besteckteile. Nun, es stand ihr nicht an, die
Lebensart der Aristokratie zu hinterfragen. Sie musste sie nur so schnell wie möglich erlernen,
damit sie Hugo keine Schande machte.
Roberte stellte den Teller mit dem Lammfleisch, dem Gemüse und den Röstkartoffeln in
Soße vor sie hin, und Meggie ergab sich der reinen Freude des Essens. Dies hier war nicht nur
Nahrung, es war Ambrosia. Sosehr sie Tante Emily auch geliebt hatte, eine Köchin war diese
nicht gewesen. Für sie waren Speisen nur dazu da, um den Körper zu ernähren, und nicht um
den Geist anzuregen.
Meggie hatte nie geahnt, dass Speisen eine Kunstform waren wie Gemälde, Wandbehänge
oder schöne Musik. Essbare Kunst. Anscheinend gab es auch Künstler in allen Formen und
Größen. Cookie war dafür ein Beispiel.
Hugo schwieg während des zweiten Gangs, ebenso während des dritten, einer Obstpastete
in Schaumkruste. Sein Blick war ausschließlich auf seinen Teller gerichtet. Meggie hoffte
inbrünstig, dass er nur deshalb so schweigsam war, weil er Cookies Talent auch so würdigte
wie sie.
Sie schaute hoch, als Roberte neben ihr erschien und ihr Glas Ciaret wieder auffüllte. Der
Wein war ihr so glatt durch die Kehle geronnen, dass sie kaum gemerkt hatte, dass sie ihn
schon ausgetrunken hatte. Den Rest des Weins goss Roberte in Hugos Glas. Meggie staunte,
denn im Laufe des Mahls hatte Hugo es fertig gebracht, beinahe die ganze Flasche allein zu
leeren. Jetzt wartete sie fasziniert, ob er wohl vom Stuhl fallen würde. Auf ihn jedoch schien
der Wein keinerlei Wirkung auszuüben. Hugo blieb völlig gerade sitzen und sackte kein
bisschen in sich zusammen.
Sie war beeindruckt. Sie selbst hatte nur zwei Glas ge trunken - nun, den Weißwein
mitgerechnet, drei - , und ihr war schon ein wenig schwindelig. Nein, richtig beschwipst,
merkte sie, lehnte sich zurück und hatte das Gefühl, als würde sie einfach davonschweben. Ihr
Kopf schien gar nichts mehr mit ihrem Körper zu tun zu haben.
Ihr Körper, ja, damit musste sie sich ernsthaft befassen.
Sie fragte sich, wie sie aus dem Speisezimmer und die Treppe hinauf kommen sollte, ohne
aus den Nähten zu platzen. Das viele Essen musste ja irgendwohin.
Sie hielt sich die Hand über den Mund und kicherte, als ihr eine lächerliche Vision durch
den Kopf tanzte - überreife Alabasterkugeln, aufgebläht von gewaltigen Speiseportio nen . . .
„Darf ich fragen, was so komisch ist?" Hugo warf seine Serviette auf den Tisch, ohne
Meggie anzusehen.
„Oh, ich dachte nur gerade daran, wie Tante Dorelia meinen Busen ausfüllen will",
antwortete sie und unterdrückte einen Schluckauf.
„Wie bitte?" Er schaute sie erschrocken an.
„Es ist ja sehr einfach." Sie wischte sich die Augen mit der Serviette. „Tante Dorelia
braucht mich nur täglich so zu füttern wie heute, und im Handumdrehen wird mir meine Brust
aus dem Mieder quellen." Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. „Und was würden die
Nonnen dazu sagen? Zweifellos ein Zeichen für übermäßige Fleischeslust."
Ehe Meggie sich's versah, zog Hugo sie vom Stuhl, hob sie sich in die Arme und trug sie
ohne ein Wort der Erklärung aus dem Speisezimmer.
„Oh", brachte sie heraus und drückte die Wange an seine harte Schulter, während er mit ihr
die Treppe hochzusteigen begann. „Ich glaube, das ist nicht ganz korrekt. Tante Dorelia sagte
unmissverständlich, dass du heute Nacht die Hände noch von mir lassen müsstest. Vor
morgen darf ich nicht verführt werden."
Mitten auf der Treppe blieb Hugo stehen und schaute auf sie hinunter. „Es ist mir einerlei,
was Tante Dorelia sagt. Im Übrigen - falls du denkst, ich wollte dich in dein Zimmer bringen,
um dich zu verführen, dann irrst du dich gewaltig." Er setzte den Weg die Treppe hinauf fort.
„Ach ja?" Das klang recht enttäuscht. „Wie schade." Sie lächelte zu ihm hoch. „Nun, das
macht nichts. Ich kann warten. Ich habe mein ganzes Leben gewartet."
Die Gewitterwolken verschwanden von Hugos Gesicht und machten großer Erheiterung
Platz. „Willst du mir damit sagen, du seist noch eine Jungfrau? Nun, darauf bin ich schon
selbst gekommen. Wann solltest du auch die Gelegenheit zu etwas anderem gehabt haben?"
Hugos Launen schlagen so schnell um wie das Wetter, dachte Meggie. „Wohl wahr. Doch
nicht, dass ich gesündigt hätte, falls mir die Gelegenheit dazu begegnet wäre. Zumindest
glaube ich das nicht, denn die Idee zu sündigen kam mir erst, als du mir begegnetest.
Allerdings muss ich gestehen, dass sie mir dann auch nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist."
Jetzt musste Hugo laut lachen. „Ist das so?" Lässig strich er ihr mit dem Finger eine
Haarsträhne von der Wange.
Meggie nickte ernsthaft. „Seit ich dich an Schwester Agnes1 Fenster sah, dachte ich
unausgesetzt an dich, doch da ich mir nicht vorstellen konnte, dich wieder zu sehen, fühlte ich
mich wohl ein bisschen weniger sündhaft, das heißt, ich wandelte nicht wirklich auf dem Pfad
der Versuchung. Dennoch ist es gut, dass ich keine Katholikin bin, denn dann hätte ich ja
meine wollüstigen Gedanken vor dem Priester beichten müssen, und was hätte der dann von
mir gedacht?"
„Mich schaudert es." Hugo stieß ihre Tür auf und trug Meggie ins Zimmer.
Atemlos und voller Erwartung schaute sie ihn an. Was würde er als Nächstes tun? Sie
hoffte, er würde sie tatsächlich verführen, obgleich sie wusste, dass sie sich das nicht wün-
schen durfte, zumindest nicht heute Nacht. Sie konnte den heftigen Pulsschlag zwischen ihren
Beinen und die Feuchtigkeit an ihrer geheimsten Körperstelle nicht ignorieren. Hugos Augen
waren nachtdunkel geworden und glitzerten, als wüsste er alles.
„Hugo?" Sie biss sich auf die Lippe.
Langsam, ganz langsam ließ er sie hinab, bis ihre Füße den Boden berührten. Seine Hände
strichen sinnlich an ihr hinunter und blieben auf ihren Hüften liegen. „Hmm?" Beinahe vergaß
sie, was sie hatte sagen wollen. „Wir werden doch wirklich morgen getraut?" fragte sie.
„Ja." Seine Stimme klang leise und samtweich. „Und wenn wir dann verheiratet sind,
meine entzückende Meggie, dürfen wir uns auch nach Herzenslust aneinander erfreuen.
Gefällt dir diese Vorstellung?"
Sie musste schlucken, ihre Kehle war plötzlich wie ausge trocknet, und ihr Herz hämmerte
heftig. „Sie gefällt mir sogar sehr." Das Pulsieren zwischen ihren Beinen wurde schier
unerträglich. Sie unterdrückte das Bedürfnis, seine Hand zu nehmen und sie genau an diese
Stelle zu legen.
„Gut. Ich denke nämlich an dich genauso viel wie du an mich." Er hob die Hände und ließ
seine Finger an den Seiten ihres Gesichts hinuntergleiten. „Ich freue mich zu hören, dass du
so bereit bist, meine Ehefrau zu werden. Vorhin dachte ich, du hättest etwas dagegen, mein
Bett zu teilen."
„Das war nur, weil ich nicht glaubte, dass du mich wirklich heiraten wolltest. Jetzt ist es
anders."
„Wie anders?" erkundigte er sich leise.
„Sehr anders", antwortete sie ebenfalls flüsternd. Ihre Beine drohten nachzugeben, was sie
neuerdings immer taten, wenn er in der Nähe war. Ihr stockte der Atem, als er ihr eine warme
Hand hinter den Nacken legte und sie zu sich heranzog.
„Zeig's mir, Meggie", murmelte er und senkte den Kopf. Sein Mund war ihrem jetzt ganz
nahe. „Zeige mir, dass du es ehrlich meinst. Küss mich, mein Schatz, damit ich mich heute
Nacht daran erinnern kann."
Dieser Bitte vermochte Meggie ebenso wenig zu widerstehen wie ihrem eigenen
Verlangen. Sie schloss die Augen, bot ihm ihr Gesicht und öffnete die Lippen. Heiß und for-
schend presste er seinen Mund auf ihren. Sie schmiegte sich an seinen Körper, schob die
Hände in sein dichtes Haar und gab sich seinem Kuss willig hin. Die Empfindungen, die sie
durchströmten, überstiegen alle ihre Vorstellungen.
Sie musste sich einfach gegen ihn pressen, spreizte dabei ein wenig die Beine und fühlte
seine heftige Erregung, was sie noch mehr in Brand setzte.
Diese Berührung entflammte ihn gleichermaßen. Er gab jede Beherrschung auf, während
seine Zunge gegen ihre stieß, dann noch tiefer eindrang, das Innere ihres Mundes erforschte
und dabei so überwältigende Empfindungen auslöste, dass Meggie vor größter Wollust
aufschrie.
Der Klang ihrer eigenen Stimme zog sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Mit einem
erstickten Aufschluchzen riss sie sich von ihm los, weil eine tiefe Intuition ihr sagte, sie
würde sich nicht mehr zurückhalten können, falls sie ihm erlaubte, sein erotisches Spiel noch
eine einzige Sekunde länger fortzusetzen. „Nein", keuchte sie. „Nicht jetzt. Erst müssen wir
verheiratet sein."
Hugo barg das Gesicht kurz an ihrem Nacken, hob dann den Kopf und blickte auf sie
hinunter. „Verzeihung. Das war wohl ein wenig töricht von mir." Er atmete schwer.
„Allerdings war es auch sehr vielversprechend."
Er ließ die Hände an ihren Armen hinuntergleiten, ging danach rasch zur Tür, lächelte
Meggie noch einmal zu und öffnete dann die Tür. „Morgen. Bis morgen werden wir noch
durchhalten müssen." Die Tür schloss sich leise hinter ihm.
Benommen stand Meggie da. Sie war sich nicht ganz sicher, was eben mit ihr geschehen
war, doch sie wusste genau, dass es sich wiederholen würde, und bei dieser Aussicht fühlte
sie nichts als reine Freude.
12. KAPITEL

Strahlendes Sonnenlicht schmerzte Hugo in den Augen. Er warf sich einen Arm übers
Gesicht und fragte sich verärgert, weshalb Mallard ohne jegliche Vorwarnung die Fenstervor-
hänge geöffnet hatte.
Er blinzelte zu den Fenstern hinüber und erschrak dann, als er merkte, dass er nicht in
seinem gewohnten Bett lag und dass Mallard nirgends in Sicht war. Außerdem zeigte sein
Körper alle Anzeichen einer großen und schmerzhaften Erregung, die wohl mit etwas
zusammenhing, das er eben noch geträumt hatte - nein, nicht mit etwas, sondern mit
jemandem . . . mit Meggie Bloom.
Hugo schoss in die Höhe. Ja, er hatte von Meggie Bloom geträumt, und heute war sein
Hochzeitstag!
Mit der Hand rieb er sich übers Gesicht und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Richtig,
er musste den Vikar herbeizitieren, und dann würde er mit der Frau vermählt werden, die ihm
vierhunderttausend Pfund einbrachte.
Er stand auf, schwankte zu dem Klingelzug hinüber, riss kräftig daran und hoffte nur, der
Zigeuner würde merken, dass das bedeutete, der Herr verlangte einen heißen Kaffee. Ein
gebutterter Toast würde auch nicht schaden, und warmes Wasser wäre äußerst nützlich.
Die Ereignisse des gestrigen Abends gingen ihm durch den Kopf. Noch nie in seinem
ganzen Leben hatte er eine solche körperliche Zurückhaltung geübt. Dafür verdiente er ei-
gentlich eine Tapferkeitsmedaille. Er mochte vielleicht eine Schwachsinnige heiraten, doch
Schwachsinn war ihm nur recht, wenn er mit Meggies sinnlicher Hingabe einherging.
Und der Lohn ist ja auch nicht so übel, sagte er sich. Mit Meggies sinnlosem Gerede,
ihrem ewigen Lächeln und dem ständigen „Wie du willst, Hugo" würde er sich abfinden,
solange er nur ihren Körper haben konnte. Oft. Sehr oft.
Möglicherweise hatten Geistesgestörte ja einen ausnehmend gut entwickelten Sinn für
Erotik - sozusagen als Ausgleich für ihr verwirrtes Gehirn. In diesem Fall würde ich Meggie
durch die Heirat nicht einmal ausnutzen, dachte er, sondern ich gebe ihr nur das, was ihr
gefällt.
Dieser Gedankengang richtete ihn moralisch ungemein auf. Er sollte eigentlich dankbar für
ihren Geisteszustand sein. Wie viele Ehefrauen gaben schon die Wollust ihres Gatten in
vollem Maße zurück?
Schon wollte Hugo wieder ins Bett steigen, als er ein Stück Papier unter der Tür
hervorlugen sah. Er bückte sich, hob es auf und drehte es um. „Lord Hugo Montagu" stand in
zitteriger Handschrift darauf. Er faltete den Bogen auseinander und las:
Hugo, mein lieber Junge,
falls Du bis zehn Uhr noch nicht wach bist, komme ich Dich selbst holen. Ich hoffe jedoch,
dass Du nicht so undiszipliniert bist, nach neun Uhr noch im Bett zu liegen.
Hier ist Dein Plan für heute: Du musst Dich selbstverständ lich anziehen und zum
Frühstück herunterkommen. Danach wirst Du den Vormittag mit Deinem Verwalter Mr.
Reginald Coldsnap verbringen, der Dich von Deiner bevorstehenden Trauung ablenken wird,
indem er Dich mit dringenden Problemen im Zusammenhang mit Deinem Gut konfrontieren
wird.
Den Vikar habe ich bereits aufgesucht, der Deine Trauung sehr gern he ute Nachmittag um
zwei Uhr in der Kapelle von Lyden vornehmen wird. In den letzten achtzig Jahren wurden
alle Ehen dort geschlossen. Leider steht er zu einem früheren Zeitpunkt nicht zur Verfügung.
Du musst also so geduldig wie möglich warten.
Zu der Zeremonie: Mr. Coldsnap ist einverstanden, als Trauzeuge zu fungieren, das heißt,
falls Du nicht Cookie bevorzugst. Meine Schwester und ich werden selbstverständlich der
Braut zur Seite stehen.
Bis dahin wirst Du die liebe Meggie in Ruhe lassen. Dorelia und ic h werden uns um sie
kümmern. Außerdem wirst Du auch ihren lieben Wolf in Ruhe lassen, weil er Dich nur beißen
wird, falls Du ihn verärgerst. Ich könnte es ihm nicht verübeln.
Was Du und Deine Braut nach der Trauung macht, liegt ganz bei euch. Dorelia und ich
erwarten nicht, euch zu sehen. Also fühlt euch uns gegenüber nicht irgendwie verpflichtet.
Deine Dich liebende Tante Ottoline
Hugo schnaufte verächtlich. Deine dich liebende Tante! Verrückte alte Schachtel! Sie
dachte doch wohl nicht im Ernst, sie könnte ihm Vorschriften machen? Ihr und ihrer
Schwester wollte er schon den Kopf zurechtrücken!
Er knüllte den Brief zusammen, warf ihn in den kalten Kamin und wartete ungeduldig auf
seinen Kaffee.
Es wurde an die Tür geklopft. „Hier ist Roberte, Mylord."
„Das hoffe ich auch. Herein!" Hugo sprang ins Bett und erwartete seinen Kaffee.
„Guten Morgen, Mylord." Roberte trat ein und trug nur einen Eimer dampfenden Wassers
herein.
„Wo ist mein Kaffee?" wollte Hugo wissen.
„Ihr Kaffee? Unten auf der Anrichte, glaube ich. Miss Ottoline beauftragte Cookie vor
ungefähr einer Stunde, eine Kanne frisch aufzubrühen. Es ist fast zehn Uhr."
„Willst du mich etwa tadeln?" fuhr Hugo ihn an.
„Nicht doch, Mylord, doch Sie sollten wissen, dass Mr. Coldsnap seit einer Stunde auf Sie
wartet. Er war sehr froh, dass Sie endlich auf Lyden erschienen, doch es ist nicht an mir, für
ihn zu sprechen", fügte er hinzu. „Ihr Wasser." Er stellte den Eimer auf den Waschstand und
verschwand, ehe Hugo noch etwas sagen konnte.
Statt sich aufzuregen, beschloss Hugo, lieber das Wasser zu benutzen, ehe es kalt wurde.
Er wusch sich gründlich, kämpfte sich - wieder ohne Hilfe - in seine Kleidung und versuchte
dann, Ordnung in sein Haar zu bringen.
Als er danach die Tür öffnete und einen Blick durch den Korridor warf, sah er, dass das
verdammte Mistvieh wieder vor Meggies Tür lag.
Seine Laune war nicht eben die beste, als er ins Frühstückszimmer kam und dort einen
schmächtigen, spitznasigen Mann mit dicker Brille hinter einem gewaltigen Papierstapel am
Tisch sitzen sah.
„Guten Morgen", grüßte Hugo kühl. „Kann ich Ihnen helfen?"
„Lord Hugo!" Der Mann sprang auf. „Endlich! Ah, mein guter Sir, seit Wochen freue ich
mich auf diese Gelegenheit!"
„So?" Hugo betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Reginald Coldsnap entsprach nicht gerade
seiner Vorstellung von einem Verwalter. Verwalter sollten stämmige Burschen sein, die den
ganzen Tag in den Feldern herumliefen, und nicht dürre, bleiche Gestalten, die aussahen, als
wären sie noch nie aus ihrem Kontor herausgekommen.
„Gewiss freue ich mich", sagte der Verwalter begeistert. „Und an einem so
verheißungsvollen Tag treffen wir uns end lich!" Er ergriff Hugos Hand und schüttelte sie
heftig. „Darf ich Sie von Herzen willkommen heißen auf Lyden Hall und Ihnen gleichzeitig
meine Glückwünsche aussprechen zu Ihrer anstehenden Eheschließung?"
„Danke." Nur über meine Leiche wird dieser Mensch mein Trauzeuge! Dachte Hugo. „Und
wenn es Ihnen recht ist, würde ich jetzt gern in Ruhe mein Frühstück zu mir nehmen. Danach
reden wir weiter."
Sofort machte Reginald Coldsnap ein bekümmertes Gesicht. „Ich bitte um Vergebung." Er
hielt sich die knochigen Hände vor die ebenso knochige Brust. „Ich wollte mich nicht in Ihr
Privatleben drängen. Lord Eliot und ich haben immer den Morgen gemeinsam in diesem
Raum verbracht und die Konten überprüft. Ich bin wohl der alten Gewohnheit zum Opfer
gefallen."
„Sie brauchen nicht gleich so niedergeschlagen zu sein, Coldsnap", lenkte Hugo ein. „Ich
bin es nicht gewohnt, ohne meinen Morgenkaffee aus dem Schlafzimmer zu gehen, und ganz
gewiss befasse ich mich nicht vor meinem Frühstück mit Konten jedweder Art."
„Verstehe, Mylord. Würde es Ihnen passen, mich in einer halben Stunde im Arbeitszimmer
zu treffen? Ich würde ja nicht drängen, doch es gibt wirklich eilige Dinge - längst fällige
Abrechnungen, unbezahlte Löhne und dergleichen."
„Was meinen Sie mit .dergleichen'?" Hugo schenkte sich Kaffee ein und setzte sich.
Coldsnaps Tonlage gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Soll ich Ihnen das jetzt erläutern?" Coldsnap rückte sich seine Brille zurecht.
„Da Sie eben so laut die Alarmglocken läuteten, können Sie ja wohl nicht ernsthaft
glauben, ich würde in Frieden frühstücken. Also los schon, Mann. Was ist passiert?"
Reginald Coldsnap senkte den Blick. „Passiert ist eigentlich nicht direkt etwas, Mylord.
Lord Eliot hat das Gut sehr gut geführt. Ärger gab es erst in der Zeit nach seinem Tod."
„Und?"
„Die Treuhänder wollen keine Gelder mehr für das Gut vorstrecken. Also waren mir die
Hände weitestgehend ge bunden. "
„Gebunden?" Hugo schenkte sich seine zweite Tasse voll. Nachdem ihn der Kaffee nun
gestärkt hatte, warf er einen Blick auf die diversen abgedeckten Schüsseln auf der Anrichte
und füllte sich einen Teller mit Nierchen, gekochten Eiern und Brathering. Dann nahm er
wieder Platz. „Sie sind doch der Verwalter. Sicherlich werden Sie so gehandelt haben, wie Sie
es für richtig hielten."
„Nein, Mylord. Die Treuhänder untersagten jede über das absolut Notwendige
hinausgehende Ausgabe. Deshalb konnten die verschiedenen Ver- und
Ausbesserungsvorhaben nicht wie von Lord Eliot und mir geplant durchgeführt werden."
„Was für Vorhaben waren das? Mir scheint doch alles in gutem Zustand zu sein."
„Vielleicht was dieses Haus betrifft, doch die Katen der Pächter wurden nicht repariert, die
Dränagegräben nicht neu gezogen, die Rinder nicht auf die richtigen Felder gebracht, um den
Fruchtwechsel zu gewährleisten. Praktisch alles kam zum Stillstand. Wie ich schon sagte, mir
waren die Hände gebunden. Ich betete um einen Käufer, der bereit wäre, sich so schnell wie
möglich um die notwendigen Arbeiten zu kümmern. Nach zwei langen, enttäuschenden
Jahren kamen Sie, Mylord, und das war die Antwort auf meine Gebete. Ich hoffe doch sehr,
ich habe mich nicht getäuscht."
„Was genau erwarten Sie von mir, Mr. Coldsnap?"
„Dass Sie das Gut wieder in seinen früher so gedeihlichen Zustand zurückversetzen."
Reginald Coldsnap trocknete sich die Stirn mit einem Taschentuch. „Dazu bedarf es einer
erheblichen Summe Geldes. Lord Eliot hatte nie etwas dagegen, einen großen Prozentsatz
seiner Erträge in das Gut zu stecken, doch die Treuhänder gaben nur immer einen winzigen
Anteil dieser Erträge frei."
„Wieso das? Die Treuhänder müssen doch ein Interesse daran gehabt haben, dass das Gut
Erfolg hatte und gedieh."
„Nein, Mylord. Deren einziges Interesse ist es, so viel wie möglich aus Lyden
herauszupressen, um den Wert des Treuhandvermögens und damit auch ihre Kommission zu
erhöhen. Lord Eliots Testament legte nämlich fest, dass Lyden bei seinem Tod an den Markt
zu bringen sei, und die Treuhänder argumentieren, dass irge ndwelche Aus- oder
Verbesserungs arbeiten zu Lasten des neuen Eigners gehen müssen."
„Aha", sagte Hugo, den weder der verblichene Lord Eliot noch dessen Treuhänder
sonderlich interessierten.
„Deshalb sind wir weit in Rückstand geraten", sprach Coldsnap weiter, „und als Ergebnis
davon sind die Erträge furchtbar zurückgegangen, obgleich der den Treuhändern zu-
gestandene Prozentsatz des Einkommens unverändert blieb. Jeder Penny, der uns übrig blieb,
wurde dafür gebraucht, um unseren Kopf über Wasser zu halten."
„Hmmm, hmmm", machte Hugo verärgert. Er hatte sich Lyden gekauft, damit es ihn
ernährte, und nicht umgekehrt.
„Nicht nur das Gut selbst befindet sich in Schwierigkeiten", fuhr Coldsnap fort. „Gute
Leute, die schon lange unter Schutz und Schirm von Lyden Hall leben, strampeln sich ab, um
zurechtzukommen. Dennoch muss ich nun einer Familie die Pacht kündigen. Bis jetzt fand ich
Mittel und Wege, dieses zu verhindern. Ohne Ihre Hilfe allerdings ..." Er schwieg, schob die
Brille auf seiner Nase hoch und nahm seine Rede wieder auf. „Diese Leute sind von Ihnen
abhängig, Mylord."
Hugo bekam Gewissensbisse. Bis jetzt war er noch für nie manden verantwortlich gewesen
außer für sich selbst, und das war ihm auc h nicht besonders gut gelungen. Andererseits hatte
er Lyden erstanden, um seiner Familie und der Umwelt zu beweisen, dass er seinen Charakter
geändert hatte, und womit ginge das besser, als damit, ein paar ums Überleben kämpfende
Pächter zu retten, die ihm dazu auch noch gehörten?
„Wie viel genau wird das kosten?" fragte er vorsichtig.
„Gut fünfzigtausend Pfund, Mylord." Coldsnap wischte sich erneut die Stirn.
„Fünfzigtausend?" Hugo verschluckte sich fast.
„Mir ist klar, dass sich das nach sehr viel anhört, doch Sie haben das Gut auch zu einem
sehr annehmbaren Preis erworben, weil jedem die Schwierigkeiten nach Lord Eliots Tod
bekannt waren."
Hugo stöhnte innerlich und erinnerte sich zu spät daran, dass seine Mutter ihn vor
Entschlüssen ohne vorherige gena ue Prüfung der Sachlage gewarnt hatte.
„Wenn ich Sie richtig verstehe, Mr. Coldsnap, dann wollen Sie mir sagen, dass ich nicht
nur keinerlei Gewinn aus meinem eigenen Grundbesitz erwarten kann, sondern dass ich auch
noch tief in die Tasche greifen muss, um das Gut wieder auf Vordermann zu bringen?"
„Genau, Mylord. Falls Sie jedoch die Investition vornehmen, kann ich fast dafür
garantieren, dass Lyden die doppelte Summe innerhalb kürzester Zeit wieder einbringt,
wahrscheinlich sogar bereits innerhalb eine s Jahres."
Sein eigenes Geld verdoppeln? Das hörte sich gut an in Hugos Ohren. Nach der
Eheschließung mit Meggie würde er vierhunderttausend Pfund besitzen - nun ja, nachdem er
Waldock ausbezahlt hatte auf jeden Fall zweihunderttausend. Da waren fünfzigtausend als
Einsatz eigentlich nicht zu viel, falls die Summe tatsächlich in einem Jahr wieder hereinkäme.
„Ja", sagte er bedächtig, „es wäre nicht gut, die Pächter leiden und Lyden noch weiter
herunterkommen zu lassen. Mein Geld verdoppeln und die Erträge vergrößern, sagen Sie?"
„So ist es, Mylord."
„Nun, ich halte viel von klugen Investitionen, und über das benötigte Geld könnte ich
verfügen."
„Ah." Coldsnap nickte zufrieden. „Sie sind also ein Geschäftsmann. Das freut mich.
Entschuldigen Sie, Mylord, doch sehr oft sind Herren Ihres - äh - Standes eher daran
interessiert, Geld auszugeben, als es zu verdienen. Ich kenne zahlreiche Fälle, in denen sich
Menschen durch ihre Maßlosigkeit ruinierten."
Hugo meinte schon, Coldsnap hätte ihn durchschaut. Er errötete. „Das ist bei mir nicht der
Fall", entgegnete er.
„Gewiss nicht, Mylord. Sie sind eindeutig ein Mensch, der weiß, was Verantwortung
bedeutet. Ich freue mich von Herzen, dass Sie nach Lord Eliot kommen, und über diesen kann
ich nicht genug Gutes sagen. Er ruhe in Frieden."
Bestürzt bemerkte Hugo, wie Reginald Coldsnaps Brillengläser beschlugen. „Ich fühle
mich durch Ihr Vertrauen geschmeichelt", sagte er lächelnd.
„Es wird in der Tat eine Freude sein, Sie und Ihre Gattin hier zu haben, Lord Hugo."
„Vielen Dank, sehr freundlich. Ich hoffe, meine Gattin und ich werden uns Ihres
Vertrauens würdig erweisen." O Gott, worauf lasse ich mich hier nur ein? fragte er sich. Er
hatte nicht nur zwei verrückte alte Jungfern, sondern auch noch einen kurzsichtigen,
rührseligen Verwalter geerbt! Von der geistesgestörten - wenn auch höchst begehrenswerten -
Braut ganz zu schweigen, die er sich anzueignen gedachte.
Coldsnap beugte sich ein wenig näher heran. Seine spitze Nase zuckte. „Da wir gerade von
Vertrauen sprachen - investieren Sie auch an der Börse?"
Bisher hatte Hugo nur in sein eigenes Vergnügen investiert, doch das musste Coldsnap ja
nicht unbedingt wissen. In der Rolle eines Geschäftsmannes gefiel sich Hugo besser.
„Gelegentlich", log er. „Weshalb?"
Coldsnap flüsterte nur noch. „Falls Sie an lukrativen Geld anlagen interessiert sind, möchte
ich Ihnen raten, auf Ottoline und Dorelia Mabey zu hören. Lord Eliot sagte mir, die beiden
hätten ein Gespür für die Börse."
„Das meinen Sie doch nicht ernst." Hugo verbarg sein abfälliges Lächeln hinter seiner
Serviette.
„Das meine ich durchaus ernst! Lord Eliot folgte stets ihren Empfehlungen."
Hugo fragte sich, ob Linus Eliot ganz bei Verstand gewesen war. Wenn er den Mabey-
Schwestern das Kommando überlassen und sich mit seinen Finanzen nach ihrem Rat gerichtet
hatte, dann war es ja kein Wunder, wenn Lyden jetzt in Schwierigkeiten steckte!
Doch das sollte nicht seine Sorge sein. In ein paar Stunden wäre er ein reicher Mann. Alles
in allem hatte er sich recht gut geschlagen. Er wollte jedermann beweisen, was für ein
gerissener Geschäftsmann er war, indem er Lyden vom Rand des Zusammenbruchs
zurückholte. Mit wenig Mühe konnte er aus dem Gut eines von Englands Schmuckstücken
machen.
Nachdem er nunmehr gefrühstückt hatte, fühlte er sich schon wesentlich wohler, ja,
beinahe großherzig. „Wann benötigen Sie das Geld?" erkundigte er sich.
„So schnell wie nur möglich, Mylord. Darf ich also auf Grund Ihrer Zusage Ausgaben
vornehmen?"
„Selbstverständlich. Wozu hätte man denn sonst Geld, wenn man es nicht einem guten
Zweck zuführte? Nur zu, mein Lieber. Lassen Sie uns Lydens früheren Glanz wieder
erwecken."
Coldsnap sprang buchstäblich in die Höhe. „Jawohl, Mylord. Wir werden die
Herausforderung annehmen und siegreich daraus hervorgehen!" rief er, als wäre er Heinrich V
vor der Verkündung der Schlacht von Agincourt. „Bis zu Ihrer Trauung bleiben Ihnen noch
ein paar Stunden. Sollten wir nicht erst einmal das Gut besichtigen? Ich stelle Ihnen dann
einige jener Menschen vor, deren Leben Sie wieder lebenswert machen wollen. Ein schöneres
Geschenk für Ihre Pächter anlässlich Ihrer Hochzeit ist kaum denkbar. Die Leute werden
Ihnen ewig dankbar sein und Ihnen immer währende Treue schwören."
Hugo sah sich schon stilvoll herumreiten und Wohltätigkeit über seine Fächer ausschütten.
Ja, so sollte es sein. Auf einem seiner schneeweißen Wallache würde er stolz über das Gut
reiten und die Huldigungen seiner Pächter entgegennehmen. Das hätte er sich selbst auch
nicht besser ausdenken können.
„Dann lassen Sie uns anfangen", sagte er zu Coldsnap. „Wir werden allen Betroffenen
verkünden, dass sie einen neuen Herrn haben, der ihnen wieder zu Wohlstand verhelfen wird.
Organisieren Sie für meine Pächter heute Abend eine Feier im Dorf und sagen Sie, dies sei ein
Gastmahl anlässlich meiner Vermählung."
„Eine großartige Idee! Ach Sir, dies ist ein herrlicher Tag!"
Darin stimmte Hugo mit Coldsnap überein.
13. KAPITEL

„Hochheben, Ottoline, hochheben!" befahl Dorelia mit einem Mund voller Stecknadeln.
Ottoline tat, wie ihr geheißen, und riss Meggies Arme hoch, während Dorelia an der
Seitennaht des weißen Gewands aus Spitze und Satin herumbastelte, um es für Meggie
passend zu machen.
„Hmmm. Jetzt wieder herunter", sagte Dorelia, und Ottoline zog Meggies Arme an deren
Seiten zurück.
Meggie machte es nichts aus, dass sie herumgestoßen und gezogen wurde und dass man
über sie sprach, als wäre sie nicht anwesend. Mit den Gedanken war sie viel zu sehr damit
beschäftigt, was geschehen würde, wenn sie dieses Kleid wieder ablegte. Das hieß, falls sie
dann noch wach war.
Letzte Nacht hatte sie so gut wie gar nicht geschlafen, was kein Wunder war, wenn man
bedachte, was ihr innerhalb weniger Stunden widerfahren war.
In einem Moment war sie die alte, schlichte Meggie Bloom gewesen, die ihrer täglichen
Arbeit nachging, und im nächs ten Moment war sie mit dem Sohn eines Dukes verlobt ge-
wesen, der sie zu seinem großartigen Herrenhaus mitnahm, sie in Seide kleiden ließ und sie
mit Hummer und Schaumgebäck verköstigte. Und der ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte,
als wäre sie das schönste, begehrenswerteste Geschöpf auf Erden.
Und sie hatte immer gedacht, dergleichen passierte nur im Märchen! Irgendwann in ihrem
Leben musste sie einmal sehr gut gewesen sein, wenn Gott sie jetzt derartig belohnte.
Allerdings wusste sie nicht, wann das gewesen sein sollte.
„Entzückend, entzückend!" sagte Dorelia, sprang auf und bewunderte ihr Werk. „Ach, wie
das an die Hochzeit der lieben Lally erinnert! Sie sah ja so reizend in diesem Gewand aus.
Erinnerst du dich, Ottoline?"
„Glaubst du, ich würde langsam das Gedächtnis verlieren? Selbstverständlich erinnere ich
mich. Auch daran, wie blass und nervös sie im Gegensatz zu unserer Meggie hier wirkte. Das
war natürlich kein Wunder, denn Lally war ja auch sehr behütet aufgewachsen. Die Gute war
ja noch vollkommen unschuldig. Sie ist sogar vor dem Betreten der Kapelle in Ohnmacht
gesunken. Falls du dich noch erinnerst, Schwester."
Meggie errötete. Wusste Ottoline etwa von dem heißen Kuss, den sie, Meggie, mit Hugo
getauscht hatte?
„Ottoline!" sagte ihre Schwester vorwurfsvoll. „Nicht alle Bräute fallen vor ihrer Trauung
in Ohnmacht, und Lally hatte schon immer schwache Nerven. Meggie hat nicht das Leben
geführt, in dem sie sich solche Schwachheiten hätte leisten können. Und weshalb sollte sie
auch nervös sein, wenn sie doch weiß, dass sie eine kluge Wahl getroffen hat?"
Hoffentlich stimmt das auch, dachte Meggie. Während der Hälfte der schlaflosen Nacht
hatte sie nämlich gezittert aus Angst, nicht zu wissen, was sie tat.
Ottoline nahm die leichten Schuhe, welche Dorelia ihr reichte, und putzte die Spitzen mit
ihrem Ärmel ab. „Habe ich dir erzählt, dass ich den lieben Hugo mit Reginald das Haus habe
verlassen sehen? Er wirkte sehr fröhlich. Möglicherweise hielt ich seine Natur zu Unrecht für
etwas säuerlich."
Sie stellte die Schuhe auf den Fußboden und nickte Meggie zu, die annahm, sie solle
hineinschlüpfen. Glücklicherweise passten sie. Meggie sah schon Ottoline einen oder zwei
Zehen abhacken, falls die Schuhe zu eng gewesen wären.
„Fröhlich war er? Heute wird der Gute schließlich getraut", meinte Dorelia. „Da hat er
doch jeden Grund, fröhlich zu sein. Was seine Natur angeht, so werden wir ja sehen, was die
Zeit bringt."
Über Hugos Natur hatte sich Meggie auch schon Gedanken gemacht und sich gewünscht,
sie könnte wenigstens ein kleines bisschen von dem erkennen, was in ihm vorging. Nun, sie
würde ihn ja bald genug kennen lernen, und zwar auf die Weise, wie normale Menschen
einander kennen lernten, was vielleicht auch das Beste war.
„Und jetzt noch das Letzte." Ohne Umstände drückte Ottoline Meggie auf einen Stuhl,
setzte ihr den zarten Schleier auf den Kopf und zupfte ihn so zurecht, dass er über Meggies
Rücken hinabfiel.
Dorelia klatschte in die Hände. „Perfekt. Wo ist der Blumenkranz, den ich geflochten habe,
Ottoline?"
„Draußen auf dem Balkon, wo du ihn selbst vor nicht einmal einer Stunde hingelegt hast.
Ha! Und du meinst, mein Gedächtnis funktoniere nicht mehr richtig?"
„Du brauchst ja nicht gleich grob zu werden!" Dorelia holte den Kranz und steckte ihn auf
Meggies Schleier fest. „Ja", sagte sie und betrachtete das Bild erfreut. „Wirklich sehr nett. Ich
bin tatsächlich gut, wenn ich das von mir selbst so sagen darf."
„Und ich?" fragte Ottoline düster. „An dem Endergebnis bin ich genauso beteiligt wie du.
Also wirklich, Dorelia, manchmal glaube ich, du hättest ans Theater gehen sollen, wo du Tag
und Nacht im Rampenlicht hättest stehen können."
Meggie hörte nicht auf das Wortgeplänkel. Sie stand auf und trat vor den großen Spiegel
an der gegenüberliegenden Wand. Die Frau, die sie daraus anschaute, hatte fast keine
Ähnlichkeit mehr mit der Meggie Bloom, die sie kannte. Sie war eine ganz andere.1 Diese
Frau lebte ein Leben voller Ele ganz. Sie wusste alles über Tischgedecke, Visitenkarten und
welche Kleider man zu tragen hatte. Sie verfügte über Dienerinnen, die ihr beim An- und
Ausziehen dieser Kleider halfen, die diese reinigten, bügelten und sie in den Schrank legten.
Diese Frau war eine Aristokratin.
Trotzdem kam ihr irgendetwas an dem Spiegelbild bekannt vor, und mit einem Mal wusste
sie auch, was: Als sie gestern zum Abendessen hinunterging, war ihr das an der Wand hän-
gende Porträt einer jungen blonden Frau aufgefallen, die ge nau dieses Gewand trug und in die
Ferne schaute, als hinge sie einem seligen Traum nach. Und Meggie sah exakt so aus wie
Lally Eliot auf diesem Porträt, das vor über dreißig Jahren gemalt worden war!
Sie unterdrückte ihr Lachen. Dorelia und Ottoline Mabey hatte ihre jüngere Kusine
offensichtlich sehr geliebt, und nun ehrten sie Meggie, indem sie ihr genau Lallys Aussehen
gaben.
„Ich danke Ihnen beiden." Sie wandte sich vom Spiegel ab. „Sie waren sehr freundlich."
Auf Dorelias faltigem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Ah, Kind, wir sind doch jetzt
eine Familie, und wir freuen uns so sehr, dir bei dieser großen Gelegenheit zur Seite zu
stehen. Zu schade, dass du keine Mutter hast, die hier sein könnte, doch das lässt sich nun
einmal nicht ändern."
„Wer war eigentlich deine Mutter, Liebes?" erkundigte sich Ottoline. „Ich habe schon hin
und her überlegt, doch in die sem Teil Suffolks gibt es so viele Blooms, dass man sie nicht
auseinanderhalten kann."
Meggie blickte auf ihre Hände. Das Letzte, worüber sie an diesem glücklichen Tag
diskutieren wollte, war ihre Mutter. „Sie hieß Margaret", antwortete sie widerstrebend.
„Margaret? Wirklich?" Ottolines Finger flatterten an ihrer Brust. „Und wie lautete der
Taufname deines Vaters, Kind?"
„Das weiß ich nicht", sagte Meggie. „Ich weiß überhaupt nichts von ihm, nur dass er vor
meiner Geburt starb."
„So ein Unglück", meinte Dorelia. „Und du weißt gar nichts?"
Meggie spürte Erregung in den beiden Schwestern. „Nur dass meine Mutter nach dem Tod
meines Vaters ganz allein in der Welt stand. Mehr hat mir später niemand erzählt."
„Wie ungewöhnlich." Ottoline wechselte einen raschen Blick mit ihrer Schwester.
„Wissen Sie denn etwas über sie?" Meggie fragte sich, weshalb die beiden so verlegen
schienen.
„Ob wir etwas wissen?" Ottoline drehte sich ein Löckchen um den Finger.
„Ich kannte nie eine Margaret Bloom. Du?" fragte Dorelia und blickte ihre Schwester
scharf an.
„Nein, ich auch nicht, ich auch nicht", versicherte Ottoline rasch. „Jedenfalls gibt es in
dieser Gegend unzählige Blooms. Das war schon immer so."
„Bitte!" Meggie schaute von einer Schwester zur anderen. „Falls Sie etwas über meine
Mutter wissen, würden Sie es mir dann sagen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mir
etwas verschweigen."
„Das Gefühl, das du hast, kommt nur von den Nerven, Liebes", erklärte Dorelia brüsk.
„Was mich nicht verwundert, denn jetzt ist es Zeit für die Zeremonie."
Das lenkte Meggie sofort ab. Ihr Mund wurde ganz trocken. „Jetzt? Jetzt gleich?"
„Ja. Die Kapelle ist nicht weit entfernt, doch wir müssen uns auf den Weg machen."
„Die Kapelle?" Meggie war verwirrt. „Sind Sie sicher? Gestern sagte mir Hugo, wir
würden im Salon getraut werden."
„Im Salon!" Dorelia bewegte die Hand, als wollte sie einen üblen Geruch fortwedeln. „Es
wird Zeit, dass du anfängst, das meiste zu missachten, das dir dein Gatte erzählt, und dafür
auf diejenigen hörst, die es besser wissen. Du wirst in der Familienkapelle getraut. Gleich,
Liebes. Wir sollten wirklich gehen, denn einen Vikar lässt man nicht warten."
Meggies Herz strömte schier über vor Dankbarkeit. Sie würde also doch in einer Kirche
getraut werden. Ihr Ehe schwur würde vor einem Altar besiegelt werden. Und obendrein trug
sie tatsächlich ein weißes Hochzeitskleid mit Schleier und Blumenkranz!
Ihre Träume waren endlich wahr geworden.
Als Hugo beim Altar stand, merkte er, dass es nicht so einfach wie angenommen war.
Er wünschte, er wäre noch draußen und spielte seinen bedürftigen Pächtern den
großmütigen Herrn vor. Das war sehr befriedigend gewesen. Die Leute hatten ihm applaudiert
und ihm praktisch die Hand geküsst, während er vorbeiritt. Ungemein wichtig war er sich
vorgekommen.
Hier in der Kapelle fühlte er sich nicht wohl. Hier sah er niemanden, der ihn verehrte, und
zudem hatten die verdammten Mabey-Schwestern auch noch eine kirchliche Trauung
arrangiert. Gewiss, es war nur eine Kapelle, doch das kam auf dasselbe heraus.
Einen bedeutungslosen Eheschwur vor einem Gott zu leis ten, den er kaum zur Kenntnis
nahm und an den er noch weniger glaubte, war reine Blasphemie. Nun ja, wenn keine
Blasphemie, so war die kirchliche Trauung zumindest absurd, eine Farce. Er heiratete
schließlich nur aus praktischen Erwägungen heraus. Meggie . . . nun, mit Meggie würde er
schon umgehen können.
Und wie er mit ihr umgehen würde! Und wenn das einmal den Reiz verlieren sollte, wollte
er dafür sorgen, dass sie in irgendeiner Ecke von Lyden versteckt wurde und eine Pflegerin
bekam, die sich um ihre Bedürfnisse kümmerte.
Wo, zum Teufel, blieb sie überhaupt? Typisch Meggie. Sie vergaß ihre eigene Hochzeit!
Vermutlich würde sie auch noch ihr eigenes hübsches Köpfchen vergessen, wenn das nicht an
ihren ebenso hübschen Schultern festgewachsen wäre.
Reginald Coldsnap räusperte sich und stieß Hugo an. Der schaute zurück auf die Tür, und
das Herz blieb ihm beinahe stehen.
Dort stand Meggie - wieder eine himmlische Vision in Weiß.
Diesmal allerdings war der Heiligenschein ein von hinten angestrahlter Blumenkranz, und
der engelhafte Effekt wurde noch unterstrichen durch den Schleier, der ihr vom Kopf auf die
Schultern herabfiel. Ihr Gewand, welches aus irgendeinem durchscheinenden Stoff bestand,
fing ebenfalls das Licht ein, das durch die offene Kapellentür hereinfiel.
Es war Hugo nur zu gut bekannt, dass Meggie Bloom, mochte sie auch wie ein Engel
aussehen, absolut nichts Engelhaftes an sich hatte. Er wusste wirklich nicht, wie er zu
solchem Glück gekommen war - ein paar Schwüre, und Meggie gehörte ihm ganz allein. Er
konnte sie in sein Bett nehmen und sie unterrichten. Das wäre dann die Art von Unterricht,
bei dem sie ihm eifrig folgen würde.
Lächelnd trat er zu ihr und streckte ihr seine Hand entge gen. Sie nahm sie und reichte ihr
Brautsträußchen einer der beiden Mabey-Schwestern, die wie aus dem Nichts erschie nen
waren. Wahrscheinlich hatten sie sich hinter Meggies Schleier versteckt.
Meggie erwiderte Hugos Lächeln, und diesmal war es nicht das übliche, geistlose Lächeln,
sondern in ihren Augen spie gelte sich dabei die wirkliche Freude. Hugo hatte das Gefühl,
vom Blitz getroffen zu werden, es verschlug ihm den Atem und brachte ihn aus dem
Gleichgewicht.
Wäre er frommer gewesen, hätte er das für ein Omen ge halten, so jedoch rechnete er es nur
seinen Nerven zu. Er riss den Blick von Meggie los und richtete ihn fest auf den Vikar.
Sobald der Mann mit seiner Predigt begann, vergaß Hugo Meggie, deren Lächeln, ihre Augen
und ihren Körper. Er konnte nur noch an die Dauerhaftigkeit dessen denken, worauf er sich
hier einließ.
Meggie mochte ihm jetzt liebreizend erscheinen, doch was geschah, wenn er einmal ihres
schwachsinnigen Plapperns müde wurde? Oder noch schlimmer - was geschah, wenn ihre
geistige Verwirrung nicht nur für ihn, sondern auch für alle anderen sichtbar wurde? Am Ende
stand er mit einer kreischenden, sabbernden Irren da! Er würde sie im Westflügel einschließen
und den Schlüssel wegwerfen müssen. Möglicherweise würde er auch seine Kinder
wegschließen müssen, falls sie nach ihr schlugen.
Ihm brach der Schweiß aus. Vierhunderttausend Pfund, sagte er sich. Die Rettung vor dem
Ruin! Ja, richtig.
„Lord Hugo?"
„Ja?" Er blickte den Vikar ausdruckslos an.
„Ich fragte: Willst du, Hugo Philip Michael George, die hier anwesende Frau zu deiner
angetrauten Gattin nehmen, und so weiter und so weiter... in guten wie in bösen Ta gen, bis
dass der Tod euch scheidet? Haben Sie mir zugehört, Mylord?"
„Oh. Entschuldigung. Nein. Ich meine, ja, ich will. Ich will das alles tun." Hugo meinte,
ihm würde gleich übel werden.
„Sehr gut." Der Vikar nickte ihm aufmundernd zu. „Und du, Meggie, willst du diesen
Mann zu deinem angetrauten Gatten. . ."
„Madrigal", sagte sie.
Hugo schloss die Augen. Es ging schon los! „Meggie", flüsterte er. „Sage nur: ,Ich will'."
„Ich will aber nicht", erklärte sie beleidigt. „Es wäre nicht richtig."
„Jetzt ist wirklich keine Zeit für einen deiner Anfälle!" sagte er ungehalten. „Wir befinden
uns mitten in unserer Trauungszeremonie."
„Das ist mir durchaus klar." Sie starrte ihn wütend an. „Ich habe nur darum gebeten, wenn
ich den Eheschwur leiste, mit meinem richtigen Namen angesprochen zu werden, und der
lautet Madrigal. Ich sehe nicht, wieso die Bitte, bei meinem richtigen Namen genannt zu
werden, einen Anfall darstellt."
„Madrigal- was ist das überhaupt für ein Name?" verlangte Hugo zu wissen.
„Das ist der Name, den mir meine Mutter bei meiner Geburt gab, der Name, auf den ich
auch getauft wurde. Es tut mir Leid, wenn er dir nicht gefällt, doch so lautet er nun einmal,
und ich möchte gern unter diesem Namen getraut werden, wenn es dir nichts ausmacht."
„Meggie, es wäre mir völlig einerlei, selbst wenn dein Name Isebel lautete. Kann es jetzt
endlich weitergehen?"
„Eigentlich heiße ich Madrigal Anna", sagte sie. „Der volle Name wäre durchaus
angebracht, zumal du eben deine ganze Namensliste herunterbeten ließest. Und es besteht
keinerlei Anlass, grob zu werden."
Der Vikar räusperte sich. „Dürfte ich empfehlen, diese Diskussion später fortzusetzen?
Schließlich sind Sie mitten bei Ihren Eheschwüren."
Hugo nickte kurz. Er hätte Meggie erwürgen mögen. „Fahren Sie fort, Vikar."
„Willst du - äh - Madrigal Anna diesen Mann zu deinem . . ." Der Rest der Zeremonie
verlief ohne Zwischenfälle.
Meggie blinzelte, als sie in das helle Sonnenlicht hinaustrat. Eine verheiratete Frau - sie
war tatsächlich eine verheiratete Frau. Sie vermochte es kaum zu fassen. Hugos Verhalten in
der Kapelle vermochte sie ebenfalls nicht zu fassen.
Erst hatte er mitten bei seinen Eheschwüren geträumt, dann den Vikar unterbrochen und
sich schließlich darüber aufgeregt, weil sie mit ihrem vollen Namen genannt werden wollte.
Und das, nachdem er sie in der Kapelle mit einem derartig herzlichen Lächeln begrüßt hatte,
dass ihr ganz warm ums Herz geworden war. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie ihn
wirklich für irre halten. Seine Laune schlug um wie ein Pendel, nur nicht so berechenbar.
Im Augenblick war er absolut leutselig, schüttelte dem Vikar und Mr. Coldsnap die Hand
und benahm sich, als wäre er der Einzige, der eben getraut worden war. Ihr schenkte er so
wenig Beachtung, als wäre sie eine Statue.
„Mein liebes Kind", gurrte Ottoline und streichelte ihr den Arm. „Es ist ja so aufregend,
nicht? Wenn ich mir vorstelle, dass dein Taufname Madrigal lautet... Du hättest mich und
meine Schwester mit einer Feder umstoßen können!"
Dorelia starrte Ottoline zornig an. „Mich stößt nichts mit einer Feder um! Allerdings gebe
ich zu, dass dieser Name originell ist. Und wie das klingt: Madrigal Montagu. Ent zückend.
Einfach entzückend. Zu schade, dass man dich Lady Hugo nennen wird. Das ist nur halb so
melodisch. Spielst du übrigens Pianoforte, Liebes? Das solltest du nämlich - bei einem so
klangvollen Namen."
„Ich spiele es, doch nicht besonders gut." Meggie vergaß ihren Ärger über Hugo. Die
Aufregung der Zwillingsschwestern war ansteckend. „Schwester Prudence vom Waisenhaus
hat es mich ein wenig ge lehrt, doch nicht wegen meines Namens, sondern weil sie dachte, ich
würde einmal eine Gouvernante werden und dabei diese Fertigkeit benötigen."
„Gouvernante? Um Himmels willen, wie unangemessen das gewesen wäre!"
„Unangemessen?" Hatte etwa Dorelia die Wahrheit über ihre Herkunft herausgefunden?
„Ja, das sagte ich. Du warst dazu bestimmt, Herrin von Lyden Hall zu werden, Kind, und
nicht dazu, für irgendeine zweitklassige Familie zu arbeiten, die dann die Nase über dich
gerümpft hätte."
Meggie musste lachen. „Sie sind sehr freundlich, Tante Dorelia, doch ich fürchte, ich bin
nur fürs Dienen bestimmt - auf die eine oder andere Weise. Dass ich hier bin, ist ein absoluter
Zufall."
„Ha!" Ottoline stieß ihren Finger in Meggies Schulter. „Willst du mir weismachen, du
glaubst nicht an das Schicksal? Du mit deiner G. G.? Manchmal kann ich über die jungen
Leute nur den Kopf schütteln. Sie haben einfach keinen gesunden Menschenverstand.
Stimmt's nicht, Schwester?"
„Das liegt an der mangelnden Erfahrung", erklärte Do relia. „Du darfst es Madrigal nicht
vorwerfen, dass sie die Bestimmung nicht erkennt, wenn sie sie sieht. Das ist mehr etwas für
deine G. G., Ottoline. Auf jeden Fall ist Madrigals Bescheidenheit erfreulich."
„Das stimmt", pflichtete Ottoline bei. „Madrigals Bescheidenheit ist eine der ersten
Eigenschaften, die mir bei ihr aufgefallen sind. Ein sehr hübscher Zug, sagte ich mir. Sie wird
gut passen."
Mit einem Lächeln auf seinem schmalen Gesicht erschien Mr. Coldsnap an Meggies Seite.
„Lady Hugo, es ist mir eine Ehre." Er neigte sich über ihre Hand. „Reginald Coldsnap,
Verwalter von Lyden Hall, zu Ihren Diensten. Gestatten Sie mir, Sie in Ihrem neuen Heim
willkommen zu heißen und Ihnen alles Glück zu wünschen."
Da sich zuvor noch nie jemand über ihre Hand gebeugt hatte, kam sich Meggie reichlich
töricht vor, doch Reginald Coldsnaps ehrliche Freude erwärmte ihr Herz. Der einzige Mensch
auf Lyden, der sich bisher ihr gegenüber unange nehm verhalten hatte, war Hugo. Alle
anderen waren die Freundlichkeit selbst.
„Guten Tag." Sie erwiderte sein Lächeln. „Ich danke Ihnen für das Willkommen und für
Ihre guten Wünsche. Für mich ist das alles völlig neu."
Sie spürte einen konzentrierten Blick, der sich in ihren Rücken bohrte, und merkte, dass
Hugo nur drei Schritt von ihr entfernt stand. Er hörte nicht dem Vikar zu, der auf ihn
einredete, sondern ihr. „Lyden ist so groß, und ich habe bislang nur in einem einfachen
Landhaus gewohnt", fügte sie hinzu. Daraus konnte Hugo nun machen, was er wollte, und er
durfte auch gern alle Fragen beantworten, die sich eventuell aus ihrer Aussage ergaben. Er
hatte ihr schließlich nur untersagt, das Pflegeheim zu erwähnen, und das hatte sie nicht getan.
Lügen wollte sie jedoch auch nicht.
„Lyden ist in der Tat sehr groß, Milady. Seit vierzig Jahren mühe ich mich dafür ab. Ich
freue mich, eine junge Herrin hier zu wissen. Schon viel zu lange haben wir hier nur alte
Knochen." Er schaute sie schalkhaft an. „Mit Glück hören wir ja bald das Trappeln kleiner
Kinderfüßchen."
Meggie errötete, weil sie nicht wusste, was man auf eine solche Bemerkung höflicherweise
erwiderte. „Ich werde mein Bestes tun, um es Ihnen so bald wie möglich recht zu machen",
sagte sie auf gut Glück.
Hugo blieb die Luft weg.
„Das heißt, ich liebe selbst Kinder", berichtigte sie rasch. Sie würde Hugo wohl nie Freude
machen! „So Gott will, wird er mich mit vielen Kindern segnen."
„Eine hübsche Vorstellung", meinte Dorelia und nahm Meggie beim Arm. „Und jetzt
verabschiede dich von dem guten Reginald, Kind."
„Gehen wir denn irge ndwohin?" Meggie schaffte es noch, einen kurzen Knicks vor
Reginald Coldsnap zu machen, ehe Dorelia sie zu Hugo und dem Vikar hinüberzog.
„Stelle keine dummen Fragen", zischte sie. „Vikar, Sie ha ben aber eine nette Predigt
gehalten, obwohl Hugo sich so unorthodox verhalten hat. Madrigal, meine Liebe, denkst du
nicht auch, dass der Vikar es sehr hübsch gemacht hat?"
„In der Tat, und ich danke Ihnen, dass Sie meinen Taufnamen benutzten. Seit Jahren schon
habe ich ihn nicht mehr gehört." Wie eine Warnung schob Hugo seine Hand unter ihren
Ellbogen und drückte ihn. Meggie widerstand der Versuchung, ihren Arm fortzureißen.
„Oh, wäre mir Ihr voller Name vorher bekannt gewesen, hätte ich ihn natürlich gleich
benutzt. Das ist schließlich auch üblich." Er bedachte Hugo mit einem finsteren Blick.
„Nehmen Sie es Hugo nicht übel", bat Meggie rasch. „Er kannte mich immer nur als
Meggie. Ich hätte daran denken sollen, ihn vorher darüber zu informieren, doch ich wurde so
lange immer nur bei meinem Rufnamen genannt, dass ich den anderen fast vergessen hatte."
„Das macht doch nichts", beschwichtigte der Vikar. „Jetzt muss ich mich aber auf den Weg
machen, und Sie müssen das sicherlich ebenfalls. Werden Sie Ihre Hochzeitsreise außerhalb
verbringen?"
„Au . . . außerhalb?" wiederholte sie stockend „Nein. Ich war noch nie außerhalb
Suffolks."
Diesmal kniff Hugo ziemlich hart in Meggies Ellbogen, und sie schwieg gehorsam, weil
sie an die grünen und blauen Flecke dachte, die sie sonst davontragen würde.
„Fürs Erste planen wir nur, uns in unserem neuen Heim einzuleben", erklärte Hugo.
„Meine Anwesenheit wird hier auf dem Gut benötigt, und meine Gattin wird das Haus
übernehmen wollen. Möglicherweise reisen wir später."
„Ich halte es für sehr klug, Lord Hugo, Ihre unmittelbare Aufmerksamkeit auf Lyden zu
richten und Ihr persönliches Vergnügen zurückzustellen, wenn ich das so sagen darf. Ich
bewundere Ihr Pflichtbewusstsein."
„Nicht doch, Vikar. Das Wohlergehen meiner Pächter muss mir doch am Herzen liegen.
Mit Glück und harter Arbeit dürfte es nicht lange dauern, bis sie wieder auf den grünen Zweig
gekommen sind, und wenn es so weit ist, werde ich mit meiner Gattin eine Hochzeitsreise
machen. Nicht früher."
Heftig schüttelte der Vikar Hugos Hand. „Ich danke Ihnen, Mylord. Das erleichtert mich
ungemein. Und vielen dankbaren Seelen wird es ebenso gehen."
„Nun, als ich heute ausritt, um mit den Leuten zu reden, waren sie anscheinend in der Tat
erleichtert zu hören, dass sich die Dinge hier ändern werden. Ich beabsichtige den Vorgang
des Wechsels dadurch zu beschleunigen, dass ich eine größere Geldsumme in das Gut
einbringe ..."
Meggie hörte dem Gespräch aufmerksam zu, und es erstaunte sie, dass Hugo so viel an
Leuten lag, die er zuvor nie gesehen hatte. Sie spürte die große Dankbarkeit des Vikars und
dessen Achtung vor ihrem Ehegatten. Dieselbe Achtung fühlte sie auch in Reginald Coldsnap.
Ein Mann, der seine eigenen Wünsche hinter denen der von ihm Abhängigen zurückstellte,
verdiente wahrhaftig Achtung. Gerade als Meggie Hugos Charakterstärke angezweifelt hatte,
erwies sich das als Irrtum. Sein wetterwendisches Verhalten lag ganz eindeutig an den vielen
Bürden, die er sich aufgeladen hatte - sie selbst eingeschlossen. Alle Vorbehalte, die sie
während der letzten achtzehn Stunden gequält hatten, lösten sich ange sichts von Hugos
offensichtlicher Güte in nichts auf. Sie durfte sich glücklich schätzen, einen solchen Mann
geheiratet zu haben.
Meggie bereute ihren eigenen Wankelmut. Sie legte ihre Hand über seine, die ihren
Ellbogen festhielt, drückte seine Finger ein wenig und versuchte ihn wissen zu lassen, dass es
ihr Leid tat.
Mitten in einem Satz unterbrach sich Hugo und schaute kalt auf sie hinunter. Sobald er
ihrem Blick begegnete, verschwand diese Kälte und wurde zu strahlend blauem Feuer.
Meggie hielt den Atem an. Diesen Blick kannte sie. Nur drei Mal hatte sie ihn bisher
gesehen: durch Schwester Agnes' Fenster, in der vergangenen Nacht in ihrem Zimmer, und
noch einmal kurz in der Kapelle, als sie zu ihm getreten war. So sah Hugo Montagus nackte
Seele aus!
„Würden Sie uns bitte entschuldigen, Vikar?" fragte er. „Wir werden die Lage später
genauer besprechen. Ich werde mit Ihnen schriftlich einen Termin vereinbaren."
„Ja, sehr gern." Die Wangen des Vikars waren so rot ge worden wie zwei reife Kirschen,
als hätte er Hugos Gedanken gelesen. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Lord Hugo, Lady
Hugo. Genießen Sie ihn." Damit verschwand er um die Ecke.
Meggie blickte sich um und sah, dass sie und Hugo ganz allein waren. „Oh", sagte sie und
drehte sich wieder zu Hugo um. „Das ist nett. Was tun wir jetzt?"
„Das hängt ganz von dir ab." Hugo strich mit einem Finger über ihre Wange. „Du wirkst
jetzt nicht mehr so, als wolltest du mir die Augen auskratzen, was hilfreich ist."
„Hugo, vergib mir." Meggie schaute zu Boden und nahm sich selbst ihren Ausbruch übel.
„Ich wollte dir keine Schwierigkeiten machen. Manchmal handele ich, ohne nachzudenken.
Ich bemühe mich ja um Beherrschung, doch es gelingt mir nicht immer."
Sein Finger glitt unter ihr Kinn, und sanft hob er ihren Kopf an. „Du musst dich nicht
schelten, Schatz. Du bist eben, was du bist, und zumindest kennst du deine Grenzen. Was
zählt, ist nach Besserung zu streben."
„Das will ich tun." Sie versank in seinem Blick. „Das will ich wirklich tun." Er neigte den
Kopf und ließ seine Lippen ganz zart über ihre streichen. Meggie erzitterte bei dieser
Berührung. Sie sehnte sich danach, ihm die Arme um den Nacken zu legen und den Kuss zu
wiederholen, den sie gestern Abend geteilt hatten. Doch sie schaffte es, an sich zu halten. Bei
Tageslicht musste man vorsichtig sein und sich ordentlich benehmen. Widerstrebend zog sie
sich zurück.
„Meggie", flüsterte Hugo an ihrer Schläfe. „Meggie, was soll ich nur mit dir machen?" Er
seufzte sehnsüchtig und bedauernd zugleich.
Sie verstand seine Gefühle. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und es schien, als
dauerte es noch eine Ewigkeit, bis sie endlich unterging.
„Wollen wir uns nicht einmal das Meer ansehen? Bevor es dunkel wird, vergehen noch
Stunden, und ich würde mich so freuen, sie am Meer verbringen zu dürfen. Das heißt, selbst-
verständlich nur, wenn es dir recht ist. Ich habe das Meer noch nie gesehen."
„Das wäre mir durchaus recht. Wenn du gestern etwas ge sagt hättest, würde ich es dir
gezeigt haben. Also weshalb nicht jetzt?"
„Ja, weshalb nicht? Hugo . . . Hadrian hat das Meer auch noch nie gesehen. Können wir
ihn nicht mitnehmen?" fragte sie ganz leise und bereitete sich schon auf seine Reaktion vor.
Er verblüffte sie. Statt der erwarteten heftigen Ablehnung zuckte er nur die Schulter.
„Wenn es dir Freude macht - bitte. Heute ist schließlich dein Hochzeitstag, und ich möchte,
dass du glücklich bist."
„Oh, vielen Dank!" rief sie entzückt. Was für ein lieber, guter Mensch er doch war! „Ich
bin auch glücklich - sehr glücklich."
„Gut. Kannst du reiten?"
„Auf einem richtigen Pferd? Nun, als ich klein war, schenkte mir Tante Emily ein Pony,
und auf dem bin ich immer geritten. Als sie dann starb, kam ich ins Waisenhaus, und seitdem
habe ich nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Deine Frage kann ich also nur mit ‚vielleicht'
beantworten."
Hugo lächelte auf sie hinab. „Möchtest du es gern einmal probieren? Bis ans Meer ist es
nicht weit, und heute Morgen habe ich in den Stallungen eine Stute gesehen, die dir zusagen
könnte. Coldsnap meinte, sie sei sehr sanft."
„Ich würde es schrecklich gern probieren, doch du wirst Geduld mit mir haben müssen.
Wahrscheinlich werde ich wie ein Kartoffelsack auf dem Tier sitzen, bevor ich kopfüber
hinunterfalle."
„Das werde ich nicht zulassen." Hugo fasste ihre Hand und drückte sie ein wenig. „Lass
uns zum Haus gehen und sehen, ob die albernen Jungfern eines von Lallys alten Reitkostümen
für dich heraussuchen können. Ich werde Roberte bitten, die Pferde zu satteln."
Meggie strahlte. „Wird das ein Abenteuer! Ein richtiges, wundervolles Abenteuer."
„Meine liebe Meggie", sagte er, hob sich ihre Hand an die Lippen und küsste ihre
Fingerspitzen, „irgendetwas sagt mir, dass das Leben mit dir immer ein Abenteuer sein wird."
„Oh, das hoffe ich doch. " Sie lachte. „Ich fände es ja schrecklich, wenn ich langweilig
wäre."
14. KAPITEL

Die hübsche braune Stute mit dem einfallslosen Namen „Star" stand geduldig still,
während Hugo Meggie in den ungewohnten Damensattel half.
Mit schief gelegtem Kopf und gespitzten Ohren beobachtete Hadrian den Vorgang höchst
aufmerksam. Meggie musste lachen. Sie wusste ganz genau, was der Wolf von Hugo hielt.
Hadrian war gewiss nicht begeistert davon, dass der Mann, der schon so kühn seine Herrin
vereinnahmt hatte, sie nun einer möglichen Gefahr aussetzte.
„Wir reiten ans Meer, Hadrian", raunte sie ihm zu und nahm die Zügel auf. „Du wirst
schon sehen. Dort kannst du im Sand herumtollen ... Es gibt dort doch Sand, Hugo?"
„Das will ich hoffen." Hugo stieg auf einen der weißen Wallache.
„Fein. Und du kannst auch Krebse fangen . . . Dort gibt es doch Krebse, nicht wahr,
Hugo?"
„Ich werde mein Bestes tun, um einen Krebs für dich zu finden", versprach er amüsiert.
„Genau genommen war ich selbst noch nicht an diesem Teil des Strandes."
„Nun, Hadrian wird sicherlich eine Menge Dinge finden, die er jagen kann, auch falls es
keine Krebse gibt. Kann es jetzt bitte losgehen?"
„Selbstverständlich. Sobald Roberte Stars Kopf freigibt, brauchst du sie nur noch mit
deinen Hacken anzustoßen, und sie setzt sich in Bewegung. Nur keine Angst!"
„Angst? Wieso denn? Star mag vielleicht überrascht sein, nach so langer Zeit wieder
jemanden auf ihrem Rücken zu haben, doch sie freut sich sehr auf den Ausritt und auf ein
wenig Bewegung, nicht wahr, mein armer Liebling? Sie hat sich furchtbar gelangweilt."
„Hat sie dir das erzählt, als du ihr etwas ins Ohr flüstertest?"
Meggie biss sich auf die Lippe. Vor lauter Aufregung hatte sie viel zu viel gesagt. Sie
musste besser aufpassen, wenn sie die Wahrheit vor Hugo verbergen wollte. „Es wäre doch
nur verständlich", meinte sie. „Würdest du dich nicht auch langweilen, wenn du immer nur im
Stall stündest?"
„Keine Ahnung. So etwas ist mir noch nie passiert. Also gut, Roberte, lass ihren Kopf los."
„Sei vorsichtig, Liebes!" riefen Dorelia und Ottoline im Duett von den Eingangsstufen her.
„In Ordnung." Meggie winkte. „Vor dem Dunkelwerden sind wir wieder zurück."
„Nur keine Eile. Amüsiert euch schön, und gebt Acht auf das Hochwasser." Die beiden
schwenkten ihre Taschentücher so wild, als wollten Hugo und Meggie einen ganzen Monat
fortbleiben, und nicht nur ein paar Stunden.
Hugo drehte den Kopf seines Wallachs nach Osten und ritt voran. Meggie setzte Star
ebenfalls in Gang, doch nicht mittels eines Stoßes mit dem Absatz, was ihr zu roh erschien.
Vielmehr bat sie das Tier stumm, sich voranzubewegen. Die Stute gehorchte glücklich und
nahm wie selbstverständlich den Platz rechts neben Hugos Wallach ein.
„Da wäre noch etwas", sagte Meggie zu Hugo. „Ich kann diese liebe Stute unmöglich Star
nennen."
„Nein?" Hugos Mundwinkel zuckten. „Und weshalb nicht?"
„Weil das nicht zu ihr passt. Sie braucht einen hübscheren Namen, etwas Poetischeres."
„Wie Madrigal vielleicht?" Er warf ihr einen Seitenblick zu, und seine dunkelblauen
Augen blitzten schalkhaft.
„Hugo, fange nicht wieder damit an. Du brauchst mich nie anders als Meggie zu nennen,
doch es ist sehr unfreundlich von dir, wenn du dich über den Namen lustig machst, den meine
Mutter für mich ausgesucht hat. So gesehen, ist mein Name das einzige Geschenk, das ich
von ihr habe - abgesehen von meinem Leben natürlich. Und da sie ihr Leben für meines
gegeben hat, schulde ich ihr besondere Ehre."
„Ich bitte um Verzeihung", sagte er leise und sehr ernst. „Ich wollte dich nicht ärgern. Ich
finde Madrigal sogar sehr nett, nur . . . ungewöhnlich. Wie kam es eigentlich zu der Kurzform
Meggie?"
„Keine Ahnung. Meggie war vermutlich leichter für die Leute. Es ist doch nicht unüblich,
dass Namen gekürzt werden, oder?"
„Durchaus nicht. Mein Bruder heißt zum Beispiel Raphael, doch seine Freunde und
Verwandten nennen ihn Rate. Alle anderen nennen ihn Euer Gnaden", fügte er mit kurzem
Auflachen hinzu.
„Dann ist er also der Duke." Meggie versuchte, sich Hugos Bruder vorzustellen. Ob die
beiden einander wohl ähnlich sahen? „Er muss sehr erhaben sein."
„Rate? Nein, überhaupt nicht. Er kann zwar überaus selbstherrlich sein, doch für
affektiertes Getue hat er weder Zeit noch Sinn."
„Steht ihr euch nahe?" Meggie wünschte, sie besäße Geschwister, mit denen sie Freude
und Leid hätte teilen können.
„Nein, das würde ich eigentlich nicht sagen. Unsere Cha raktere sind sehr unterschiedlich.
Lange Zeit waren wir nicht einmal Freunde, doch wir haben unsere größten Probleme
ausgeräumt, was uns beide erleichtert."
„Es wäre ja auch zu schade, einen Bruder zu haben und nicht dessen Freund zu sein. Gibt
es noch mehr von euch? Geschwister, meine ich." Meggie war klar, dass sie ihn mit ihren
Fragen plagte, doch sie wusste ja so wenig von ihm.
„Nein", antwortete er geduldig. „Wahrscheinlich hätten Rate und ich noch weitere
Geschwister gehabt, wenn mein Vater nicht gestorben wäre, als ich noch ein kleines Kind
war. Meine Mutter heiratete nicht wieder."
„Wie traurig", sagte Meggie mitfühlend. „In so jungen Jahren den Vater zu verlieren muss
sehr hart gewesen sein. Wie ist er gestorben?"
„Es war ein Unfall. Ich erinnere nicht viel davon", ant wortete er kurz angegebunden.
„Doch lass uns nicht über Trauriges nachdenken, Meggie. Das Heute dreht sich um die
Zukunft, und nicht um die Vergangenheit. Es ist eine Chance für uns beide, einen neuen
Anfang zu machen."
Meggie nickte, obwohl sie nicht wusste, warum Hugo einen neuen Anfang machen musste.
Ihm ging es doch schon sehr gut. Er schien ihr ein Mensch zu sein, der genau wusste, was er
wollte, und das dann sofort in die Tat umsetzte.
„Winken", befahl er.
„Wie bitte?" fragte Meggie aus ihren Gedanken aufgeschreckt. „Wozu denn winken?"
Hugo sah sie an, als wäre sie geistesschwach. „Den Leuten zuwinken, Meggie. Du siehst
doch da vorn die Leute, ja? Das sind Pächter von Lyden. Du bist ihre neue Herrin, also winke
ihnen zu."
Meggie sah eine Gruppe Männer und Frauen in Arbeitskleidung am Straßenrand stehen.
Die Frauen knicksten, und die Männer berührten respektvoll ihre Mützenränder. Eine Welle
des Wohlwollens und der Begeisterung schwappte zu Meggies Überraschung von ihnen auf
sie zu.
Sie war es gewohnt, in der Außenwelt übersehen zu werden, unsichtbar zu sein. Begrüßt zu
werden, als wäre sie eine wichtige Persönlichkeit von wirkliche m Belang, überwältigte sie.
Zum ersten Mal erkannte sie, wie groß ihre Verantwortung als Hugos Gattin war. Diese
Menschen waren jetzt ihre Leute genau wie Hugos. Sie winkte ihnen strahlend zu, und ihr
Herz floss schier über vor Dankbarkeit dafür, dass man sie akzeptierte.
„Es reicht", flüsterte Hugo und ließ seine Hand sinken. „Du brauchst dich nur huldreich zu
zeigen. Spare dir deine Kräfte für heute Nacht."
Meggie starrte ihn an und brach dann in Gelächter aus. „Fürchtest du, ich könnte
vorschnell ermüden? Ich versichere dir, ich bin kein schlaffes Blümchen, auch wenn ich
gestern ohnmächtig wurde. Das war ein Versehen, ausgelöst durch zu wenig Nahrung und zu
viele Schocks. Es wird nicht wieder geschehen."
Hugo hob eine Augenbraue. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du jetzt eine Lady
bist. Eine Lady winkt nicht wie eine Zirkusartistin. Sie hebt nur eine Hand, die sie dann kurz
aus dem Handgelenk bewegt. Dasselbe Prinzip kannst du auch auf andere körperliche
Aktivitäten anwenden. Du hast dich stets huldvoll und zurückhaltend zu bewegen."
„So?" Meggie konnte ihr Lachen kaum unterdrücken. „Bist du dir da ganz sicher?"
„Selbstverständlich. Weshalb fragst du?"
„Nun, du sagtest mir eben, ich sollte mir meine Kräfte für heute Nacht aufsparen. Ich kann
mir nicht vorstellen, wozu ich sie dann brauche, wenn ich zurückhaltend sein soll. Doch ganz
wie du willst, Hugo."
„Du musst nicht alles so wörtlich nehmen, Meggie. Ich bezog mich auf dein Verhalten vor
anderen Leuten."
„Das erleichtert mich ungemein." Meggie fand, Hugo ging jeder Sinn für Humor ab.
Möglicherweise mochte er es nicht, aufgezogen zu werden. Vielleicht wollte er auch nicht an
ihre Herkunft erinnert werden und daran, wie wenig sie vom Leben wusste. Sie seufzte.
„Meggie, schau!" Sie waren auf einer kleinen Anhöhe angekommen. „Dort ist es. Dein
Meer." Er hielt sein Pferd an und deutete voraus.
Meggie blieb mit ihrer Stute neben ihm stehen und blickte über das dunkle, glitzernde
Wasser hinaus, das sich bis zum Horizont erstreckte. Sie schloss die Auge n und atmete tief
ein. So also roch das Meer - nach Salz und unzähligen anderen Dingen. Der herbe Geruch
stieg ihr nicht nur in die Nase, er erfüllte ihr Herz und ihr ganzes Wesen mit Freude. Sie
schaute auf Hadrian hinunter, dessen Nase hin und her zuckte. Seine gelben Augen waren
halb geschlossen, als genösse er die vielen köstlichen Düfte, welche Meggie mit ihrem
begrenzten Geruchssinn kaum zu erahnen vermochte. Sie meinte ein Lächeln auf seinem
Gesicht zu erkennen, und sie konnte die Freude spüren, die ihn durchströmte.
„Können wir rasch weiterreiten, Hugo?" Vor Aufregung hielt sie es kaum noch aus.
„Glaubst du wirklich, du kannst im Sattel bleiben, wenn wir Tempo aufnehmen?" Offenbar
bezweifelte er das.
„Sei nicht albern. Wenn ich so lange oben geblieben bin, werde ich wohl jetzt auch nicht
hinunterfallen. Dazu hätte ich außerdem gar keine Zeit. Hadrian und ich haben es nämlich
furchtbar eilig."
Hugo betrachtete sie mit völlig ausdrucksloser Miene. „Wie du meinst, Meggie. Ich muss
zugeben, dein Selbstvertrauen ist gewaltig, doch das sollte mich eigentlich nicht erstaunen.
Vorsicht entsteht nur aus Vernunft."
„Willst du damit sagen, ich besäße keine Vernunft?" fragte Meggie pikiert. „Ich bat nur
darum, etwas rascher zu reiten."
Er stöhnte einmal kurz auf. „Sehr wohl. Beuge dich etwas vor, und halte die Hände still.
Versuche, dich mit dem natür lichen Rhythmus des Gangs deiner Stute zu bewegen, und nicht
so, als säßest du auf einem Schaukelpferd. Vielleicht erinnerst du das noch aus deiner
Kindheit."
Meggie erinnerte zwar herzlich wenig, vertraute indessen vollkommen der Fähigkeit ihrer
Stute, sie sicher zu tragen, und nickte nur ungeduldig.
„Halte dich an meiner Seite, und lasse die Stute um Himmels willen nicht durchgehen.
Falls sie damit anfängt, setze dich nach hinten und ziehe an den Zügeln, was ihr ein wenig in
die empfindlichen Mundwinkel schneiden wird."
Von wegen! dachte Meggie, die es nicht fasste, wie jemand einem Tier so etwas
Scheußliches antun konnte. „Keine Angst", rief sie laut. „Wir beide kommen schon gut
zurecht. Los jetzt, Hugo. Ich platze bald vor Ungeduld."
Er warf ihr noch einen letzten Blick zu und nahm dann einen kurzen Galopp auf. Meggie
folgte ihm sofort. Hadrian lief direkt hinter ihr her. Die Zunge hing ihm aus der offenen
Schnauze heraus, doch nicht, weil er erschöpft gewesen wäre, sondern aus reiner Freude.
Lachend beugte sich Meggie über den Hals der Stute. „Los, Mädchen, laufe so schnell, wie
du magst. Du sollst auch dein Vergnügen haben."
Das Pferd warf einmal den Kopf auf, wieherte kurz, machte einen langen Hals und
galoppierte so geschwind, dass die Landstraße nur so vorbeiflog.
Der Wind peitschte Meggies lose Haarsträhnen um ihre Wangen. Sie hob das Gesicht dem
Himmel entgegen und dankte Gott, dass er ihnen allen diesen herrlichen Augenblick schenkte.
Dies war die wirkliche Freiheit - das wilde Rauschen des Meeres, keine Begrenzungen, die
sie aufhielten, keine Re geln und Vorschriften, die sie behinderten. Es gab nur die Sonne, den
Wind und die Küste, die jetzt nur noch einen Wimpernschlag entfernt war.
Meggie blickte rasch zu Hugo hinüber, um zu sehen, ob sein Vergnügen ebenso groß war
wie ihres, und bemerkte, dass er sie in diesem Moment mit einem bewundernden Lächeln be-
trachtete. Wahrscheinlich freut er sich nur, dass er mich noch nicht vom Erdboden
zusammenfegen musste, dachte sie. Sie lächelte ihm zu und konzentrierte sich dann wieder
auf den rasch näher kommenden Strand.
Minuten später erreichten sie ihn.
„Mein liebes Mädchen, du bist völlig unberechenbar", erklärte Hugo und half Meggie beim
Absitzen. „Ich weiß nie, was ich von dir erwarten soll. Du sagst, du habest seit frühester
Kindheit nicht mehr auf einem Pferd gesessen, und dennoch reitest du in einem
halsbrecherischen Tempo, als wäre dir das zur zweiten Natur geworden."
„Warum auch nicht?" Sie schaute zu ihm hoch. Ihre Hände lagen noch auf seinen
Schultern, und in ihren klaren grauen Augen funkelte ihre Erheiterung. „Die Stute und ich
haben uns ja auch nicht gestritten."
„Mit Streit hat das nichts zu tun, Meggie", sagte er so ge duldig wie möglich.
„Grundsätzlich ist ein gewisses Maß an Können erforderlich, wenn man während eines
Galopps auf dem Pferd bleiben will."
Meggie winkte ab. „Das mag ja sein, doch ich glaube nicht, dass es immer auf das Können
ankommt. Diese Stute ist ein sehr vernünftiges Tier, das genau weiß, was zu tun ist, und das
gleicht meinen Mangel an Erfahrung aus. Ich habe üb rigens entschieden, dass sie Arta heißen
sollte. Das ist das griechische Wort für Wind - weil sie ja auch wie der Wind läuft."
„Woher, um alles in der Welt, kennst du denn das griechische Wort für Wind?" fragte
Hugo verblüfft.
„Ach, das habe ich wahrscheinlich irgendwo aufgeschnappt." Sie errötete, als hätte sie
etwas Falsches gesagt. „Die vielen Jahre katholischer Liturgie haben wohl ihre Spuren
hinterlassen." Sie bückte sich, um Stiefel und Strümpfe abzulegen und um ihr Gesicht zu
verbergen.
„Ja, vermutlich." Hugo versuchte, den verführerischen Anblick von Meggies schmalen
Fesseln zu ignorieren. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihr ein paar Wörter im Kopf ge-
blieben waren, doch die hätten dann lateinisch, und nicht griechisch sein müssen. Und
weshalb hatte sie ein so bestürztes Gesicht gemacht, als dächte sie, es wäre eine Sünde, das
Wort zu kennen?
Meggie wurde für ihn immer mehr zu einem Rätsel.
Beispielsweise war sie im einen Moment völlig verwirrt, und im nächsten schien sie einen
messerscharfen Verstand zu besitzen. Es gab tatsächlich Augenblicke, da hielt er sie für
vollkommen normal . . .
Das war natürlich reine s Wunschdenken seinerseits. Schließlich wusste er ja ganz genau,
dass sie nicht normal war. Er hatte sie immerhin aus einem Irrenhaus geholt, nicht wahr?
Er schaute ihr4iinterher, als sie zum Wasser lief. Das lange blonde Haar flatterte im Wind,
das Reitkostüm hatte sie bis zu den Knien hochgerafft und dadurch ihre hübschen Waden
entblößt. Hugo musste schlucken. Er wollte nicht daran denken, wie sich diese
wunderschönen Beine unter seinen Händen anfühlen würden. Das konnte er ja noch früh ge-
nug feststellen. Erst jedoch musste er diesen Tag überstehen. Dabei begehrte er nichts mehr,
als sie hier und jetzt zu nehmen . . .
Meggies Wolf rannte hinter ihr her, warf dabei Sandklümpchen hoch, stieß mit der
Schnauze gegen Meggies Hüfte und tanzte um sie herum, als wollte er sie noch eiliger ans
Meer treiben. Sie tanzte mit ihm, lachte und neckte, lief vor und zurück und rannte dann den
Strand hinunter. Hadrian kauerte nieder, nahm dann die Jagd wieder auf, und als er Meggie
eingeholt hatte, sprang er sie an, wobei er aufpasste, sie um ein paar Fingerbreit zu verfehlen.
Während er die beiden beim Spiel beobachtete, fragte sich Hugo, wie er das Tier eigentlich
jemals für gefährlich hatte halten können. Hadrian verhielt sich genau wie ein treuer Hund,
wenn er auch ein wenig besitzbetont war, was Meggie betraf. Das konnte Hugo ihm indes
nicht verübeln, denn Meggie vermochte ja Gefahren nicht zu erkennen. Wenn er es sich
richtig überlegte, sah er jetzt ein, dass Hadrian nicht bedrohlicher war als ein großer Hund.
Meggie bückte sich, hob eine Muschel auf, untersuchte sie sorgfältig und rieb sie zwischen
ihren Fingern. Sie hob sie sich ans Gesicht, roch daran und hielt sie dann Hadrian hin, damit
er ebenfalls daran schnüffelte.
Hugo lächelte. Meggie war wie ein Kind. Sie entdeckte die Welt mit allen ihren Sinnen
und wollte ihre Entdeckungen teilen. Von den einfachsten Dingen war sie entzückt, von Din-
gen, die für ihn ganz selbstverständlich waren. Sie begeisterte sich für den Geschmack von
Hummer, für den ersten Tropfen Wein auf ihrer Zunge und sogar für die Beschaffenheit und
den Geruch einer Muschel.
Hugo hatte sich schon seit Jahren keine Seemuschel mehr genau ange sehen.
Er vermochte dem Impuls nicht zu widerstehen, zog sich Stiefel und Strümpfe aus, rollte
sich die Hose hoch und ging, von Meggies Begeisterung angesteckt, über den Sand auf sie zu.
In ihm regte sich eine schwache Erinnerung an jene längst vergangenen Tage, als das Leben
noch aufregend war und an jeder Ecke eine neue Entdeckung wartete. Das waren die Tage
gewesen, bevor die Welt für ihn einförmig, grau und trüb geworden war. Diese Einförmigkeit
hatte nichts als Langeweile gebracht und das Bedürfnis, in immer gefährlicheren
Unternehmungen und körperlichen Exzessen stets neue Erregung zu finden.
„Hugo, schau einmal!" Sie hielt ihm etwas anderes entge gen, das sie gefunden hatte. „Dies
ist ein Krebsskelett, falls ich mich nicht sehr täusche. Stimmt's? Hier sind die winzigen
Klauen, und das ist der platte Panzer." Sie legte Hugo ihren Fund behutsam auf die flache
Hand.
Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte sich Hugo über solche Torheit lustig gemacht.
Jetzt hielt er das kleine Skelett, als wäre es der kostbarste aller Schätze. „In der Tat", bestä-
tigte er, „und das bedeutet, hier müssen irgendwo Krebse he rumhuschen. Vielleicht finden wir
ja einen Gezeitentümpel. Dort werden sie sich am wahrscheinlichstem aufhalten." Aus
irgendeinem Grund war ihm im Augenblick nichts wichtiger, als einen Krebs für Meggie zu
finden.
Während der nächsten Stunde spazierten sie am Strand entlang, stocherten zwischen
Steinen herum und entdeckten alle möglichen Wunder: Seeigel, versteinerte Schwämme, an
Steinen klebende Uferschnecken und in einem Tümpel einen Aal, der geduldig darauf
wartete, dass das Hochwasser ihn wieder ins Meer hinausschwemmte.
Meggie staunte über alles. Sie stocherte, schnüffelte und streichelte. Seetang, den Hugo
noch vor kurzem als etwas Schleimiges und Hässliches bezeichnet hätte, dem man unbedingt
ausweichen musste, erklärte Meggie zu etwas Wunderschönem. Sie wies auf das anmutige
Wiegen der Wedel hin und auf den tiefgrünen Farbton, der nur dann unansehnlich wurde,
wenn die Pflanze der Luft und dem Sonnenlicht ausgesetzt war.
Der ebenso neugierige Hadrian steckte seine Nase überall hinein, bis schließlich ein Krebs,
den sie gefunden hatten, hineinzwickte. Da jaulte er erschrocken auf und schlug mit der Pfote
nach dem Übeltäter. Dann richtete er sich wieder auf und verzog sich beleidigt.
Meggie lachte Tränen über ihn, und Hugo fiel in ihr Lachen ein. Der Wolf verschwand
hinter einer Düne, um sich die eingebildeten Wunden zu lecken und seine Würde wieder
herzustellen.
Sie wanderten noch ein Stück weiter. Meggie grub ein leeres Möwenei, eine von Sand,
Wind und Meer glatt geschliffene grüne Glasscherbe und ein eige nartig geformtes Stück
Treibholz aus, welches Hugo an eine Schlange erinnerte, die er einmal gefangen und - ohne
Erfolg - zu zähmen versucht hatte.
Alle diese Gegenstände landeten in dem Rock, den Hugo ausgezogen hatte, um daraus ein
Bündel für Meggies rasch anwachsende Kollektion zu machen. Vermutlich würde der
Gestank nie wieder aus dem Jackett herausgehen, doch Hugo merkte, dass ihn das nicht im
Geringsten störte.
Als die Sonne sich schließlich schräger gen Westen neigte und das Hochwasser am Strand
heraufkroch, fanden sie einen geschützten Platz in den Dünen. Sie lehnten sich ge gen die
Sanderhebung und beobachteten die Seemöwen, die kreischend über ihnen flogen, ins Meer
hinabstießen und mit einem Fisch im Schnabel wieder auftauchten.
Meggie wurde ganz schweigsam. Sie verfolgte die Tauchflüge der Seemöwen, bis ihre
Lider schwer wurden und am Ende zufielen. Hugo legte ihr einen Arm um die Schultern und
bettete ihren Kopf an seiner Brust. Hadrian lag still etwas abseits, hatte die Schnauze auf die
großen Vorderpfoten gelegt und hielt die Augen wachsam auf Meggie gerichtet.
Hugo seufzte zufrieden und schaute übers Wasser hinaus, während seine Gedanken auf die
Reise gingen in die ungewohnte Stille seiner Seele. Hin zum Frieden. Hin zu Meggie.
Hugo, der in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen hatte, schloss die Augen. Das
Rollen der Brandung, die Schreie der Möwen und Meggies leises Atmen direkt unter seinem
Ohr bildeten eine sanfte, beruhigende Geräuschkulisse. Das Letzte, das ihm durch den Kopf
ging, bevor er eindöste, war die Feststellung, dass er schon seit Stunden nicht mehr an Geld
gedacht hatte . . .
15. KAPITEL

Eine zuvor nie gefühlte Zufriedenheit erfüllte Meggie, während sie und Hugo gemächlich
heimwärts ritten. Gelegentlich tauschten sie Bemerkungen über die vorüberziehende Sze nerie
aus, doch ansonsten bewahrten sie freundschaftliches Schweigen. Darüber war Meggie froh,
denn sie benötigte Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln und alles zu verarbeiten, das sie in den
vergangenen wenigen Stunden erlebt hatte.
An diesem Nachmittag hatte sie zum ersten Mal das Gefühl der Verbundenheit mit Hugo
erfahren. Dieser Nachmit tag hatte ihr eine Seite von ihm gezeigt, die sie sich nur hatte
erhoffen können: Hugo hatte sowohl seine Fähigkeit zum Vergnügtsein als auch seine
Zärtlichkeit offenbart.
Zärtlichkeit. . . Meggie hatte gemeint, noch zu träumen, als sie sich beim Aufwachen in
seinen Armen wiederfand, sein Gesicht an ihrem Kopf, als hielte er sie immer so.
Verschlafen genoss sie seine Nähe, nahm den warmen, männlichen Duft wahr und fühlte
die harten Muskeln unter seinem Hemd. Er hatte ihr einen unvergesslichen Nachmittag
geschenkt, und nur weil sie darum gebeten hatte.
Er, ein kultivierter Mann von Welt, war barfuss über den Sand gelaufen und in die
Brandung gewatet, hatte Pfützen und Tümpel erforscht und Löcher gebuddelt, und alles nur,
um ihr eine Freude zu machen.
Sie hatte mehr gelacht als je zuvor und jeden Moment genossen. Und dabei hatte sie ihr
Herz verloren.
Meggie schüttelte verwundert den Kopf. Sie hatte sich tatsächlich in ihren Gatten verliebt!
Ein tiefes Glück erfüllte ihr ganzes Wesen, denn sie hatte nie erwartet, dass Gott ihr ein
solches Geschenk machen würde. Sie hatte ein gutes Gewissen, denn sie konnte Hugos
Gefühle in aller Aufr ichtigkeit zurückgeben, und sie wünschte nur, sie dürfte ihm das auch
sagen.
Das Problem bestand darin, dass sie nicht wusste, wie sie das anfangen sollte. Genau
genommen wusste sie überhaupt nichts über die Liebe. Natürlich hatte sie Tante Emily geliebt
und Schwester Agnes ebenfalls, doch das war eine andere Art von Zuneigung und hatte nichts
zu tun mit der Liebe zwischen Mann und Frau.
Männer waren kein Teil ihrer Erfahrung gewesen, abge sehen von zufälligen Gedanken, die
sie aufgeschnappt hatte von denjenigen, mit denen sie in Kontakt gekommen war. Und diese
Fantasien hatten ganz gewiss nichts mit Liebe zu tun gehabt.
Langsam gewann sie den Eindruck, als wäre die Liebe etwas, worüber Männer nicht
sprechen mochten. Seit seinem Heiratsantrag hatte auch Hugo nicht mehr davon geredet. Also
war es möglicherweise nicht korrekt, über Liebe zu sprechen, und Ladys wie Gentlemen
betrachteten dieses Thema vielleicht als vulgär oder übertrieben sentimental. Da Hugo
andererseits kein Problem damit hatte, über Wollust zu reden, musste das wohl korrekt sein.
Sie seufzte. Auf gar keinen Fall wollte sie etwas Falsches tun oder sagen, besonders nicht
bei einem so wichtigen Thema. Nun, Hugo würde schon genug über korrektes Benehmen
wissen, und sie brauchte nur seiner Führung zu folgen und über die Dinge zu schweigen, die
er ebenfalls nicht erwähnte. Glücklicherweise brauchte sie heute Nacht überhaupt nichts zu
sagen. Sie konnte ihm ohne alle Worte zeigen, wie es in ihrem Herzen aussah.
Vor lauter Erwartung fröstelte sie. Die Sonne war fast untergegangen, und es würde bald
Nacht werden. Sie schaute sich um und merkte, dass sie die Richtung geändert hatten,
während ihre Gedanken auf Wanderschaft gewesen waren. Sie hatte keine Ahnung, wo sie
und Hugo sich jetzt befanden. Diese Route war nicht die, auf der sie ausgeritten waren. Der
Weg machte einen Bogen nach Westen, folgte dem Fluss und verlief dann wieder in östlicher
Richtung.
Duftende Kiefern säumten den Pfad, auf dem sie sich jetzt bewegten, und gerade als
Meggie dachte, sie hätte jetzt vollends die Orientierung verloren, kam das Herrenhaus in
Sicht. Ihre Hände erstarrten an den Zügeln: Lyden Hall brannte lichterloh - helle
orangefarbene Flammen illuminierten sämtliche Fenster des Westflügels!
„Hugo!" rief sie von Panik erfasst. „Hugo, wir stehen in Flammen!"
Er schaute zu ihr hinunter und lachte. Das schöne Haus brannte ab, und er lachte!
„Hugo, um Himmels willen, so tu doch etwas!" Wie konnte er nur so gleichgültig sein?
„Was soll ich denn tun, Meggie? Die Sonne löschen?"
„Die - die Sonne?"
„Die Sonne. Schau noch einmal genau hin."
Das tat sie. Natürlich! Der Sonnenuntergang im Westen spiegelte sich in Hunderten von
Fensterscheiben und erweckte die Illusion von loderndem Feuer. „Oh, wie furchtbar töricht
von mir."
„Wieso? Vermutlich hast du noch nie ein Haus mit so vielen Fensterscheiben gesehen. Ein
erstaunlicher Anblick, nicht wahr? Das passiert auf Southwell bei einem guten Sonnenun-
tergang auch. Dann sieht das ganze Gebäude aus, als würde es brennen."
„Hat Southwell auch so viele Fenster wie Lyden?"
„ Sogar noch mehr. Ich werde dich bald einmal dorthin mitnehmen, und dann kannst du es
dir selbst ansehen. Southwell ist einer der größten Herrensitze des Landes."
„Wirklich?" Meggie war furchtbar beeindruckt.
„Wirklich. Das haben sämtliche Herzogssitze so an sich. Seit Generationen befindet sich
Southwell in Familienbesitz. Hin und wieder fühlte einer meiner Ahnen den Drang, etwas
anzubauen, und das tat er dann auch. Man könnte sich dort tagelang verlaufen."
„Ich könnte mich schon auf Lyden verlaufen. Ach Hugo, wie soll ich mich nur daran
gewöhnen, mit dir verheiratet zu sein? Erst dachte ich, ich würde in einem netten Häus chen
wohnen, und dann entdecke ich dies hier." Mit einer umfassenden Geste schloss sie das
riesige Herrenhaus samt dem Land ein. „Und nun erzählst du mir, Lyden Hall sei gar nichts
verglichen mit Southwell." Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich das bewältigen
soll. Wie schafft deine Mutter das?"
„Gar nicht. Das tut das Personal. Sie hat nur ein Auge auf die Leute, besonders in
Abwesenheit meines Bruders. Nach seiner Heirat verbringt Rate jetzt mit seiner Gattin viel
Zeit auf ihrem Sitz in Irland."
„Und dort haben sie vermutlich auch so viel Personal?"
„So viel, dass alles reibungslos läuft. So wird es auch hier sein, wenn ich erst einmal eine
Haushälterin, einen Butler und eine angemessene Anzahl von Bediensteten eingestellt habe.
Hast du dir etwa Sorgen gemacht, du müsstest alles allein scha ffen?"
„Nicht so viele Sorgen wie gestern", gestand sie aufrichtig. „Ich merkte jedoch sehr
schnell, dass Tante Dorelia und Tante Ottoline genau wussten, wie Lyden zu führen war.
Wieso müssen wir eine Haushälterin einstellen, wenn wir doch die beiden haben? Wäre das
nicht eine fürchterliche Geldverschwendung?"
Hugo schnaufte verächtlich. „Dorelia und Ottoline führen kein Haus, sondern einen Zirkus.
Wir haben einen Zigeuner als Diener, einen Kriminellen als Koch und weiß Gott, wer noch
alles hier herumschleicht. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Wäscherin zwei bärtige
Köpfe hätte. Das werde ich erst genau wissen, wenn ich Schnurrbarthaare in meiner
Unterwäsche finde."
Meggie lachte über seine Albernheit. „Hugo, du musst freundlicher zu den Tanten sein. Ich
finde sie beide sehr lieb, und sie sind sehr froh, uns bei sich zu haben" Sie runzelte die Stirn.
„Da fällt mir ein - aus dem, was ich hörte, konnte ich entnehmen, dass du Lyden Hall erst vor
kurzem gekauft hast."
„Ja, das stimmt. Ich erwarb es vor zwei Monaten, und zwar genau an dem Tag, als ich dich
zum ersten Mal sah. Ein bemerkenswertes Zusammentreffen. "Er bedachte sie mit einem
Lächeln, bei dem ihr Herz schneller schlug. „Schon damals muss ich gewusst haben, dass ich
dich heiraten würde. Zu diesem Zweck benötigte ich schließlich ein Haus für dich. Weshalb
fragst du?"
„Weil ich gern wissen möchte, wie alles zusammenhängt und warum die Tanten noch auf
Lyden leben, wenn die ur sprüngliche Familie es doch veräußert hat. Bist du mit ihnen
irgendwie verwandt? Dessen war ich mir nicht sicher, zumal du immer so grob auf sie
reagierst."
„Verwandt? Himmel, nein. Ich sagte dir doch, dass ich sie vorher noch nie gesehen hatte.
Sie waren in Lyden enthalten wie ein doppelsitziges Rosshaarsofa - pieksig, ärgerlich und
unbequem."
Meggie lachte. „Also mit Worten kannst du umgehen, wenngleich sie auch unfreundlich
sind."
„So etwas nennt man Ironie, meine Teure, doch ich erwarte nicht, dass du das verstehst."
Darauf ging Meggie nicht ein, denn sie merkte, dass sie während des ganzen Nachmittags
vergessen hatte, das Dummchen zu spielen. Dieses Versehen war Hugo nicht einmal
aufgefallen. Nicht dass sie über Themen gesprochen hätten, die von ihr Intelligenz erfordert
hätten - die Sache mit Arta war ihr schlimmster Ausrutscher gewesen, doch sie hatte sich auch
nicht sonderlich dumm gegeben.
Viel schwieriger dürfte es sein, ihre Gabe vor ihm geheim zu halten. Falls Hugo davon
etwas merkte, würde er sich bestimmt über sie empören, und das könnte sie nicht ertragen. Er
mochte erfreulich großzügig sein, doch diese Großzügigkeit ging mit Sicherheit nicht so weit,
dass er eine Gattin akzeptierte, die anderer Leute Gedanken las. Er würde sie nur als
Monstrosität betrachten.
„Meggie, weshalb schaust du mich an, als wäre ich eine Fliege an der Wand, die du
totzuschlagen beabsichtigst?" fragte er, als sie die Pferde vor den Eingangsstufen anhielten.
„Eine Fliege?" Sie lächelte. „Ich denke, Herren deines Standes vergleichen sich immer nur
mit Löwen, Drachen und dergleichen", neckte sie. „Gewiss hat doch noch nie eine Fliege
herzogliche Maßstäbe erreicht - oder möglicherweise bin ich auch nur zu dumm, um das zu
wissen."
Hugos Miene wurde ganz ausdruckslos. „Möglicherweise", sagte er nur, saß ab und warf
die Zügel über den Pfosten neben der Treppe, half ihr beim Absteigen und ließ sie dann sofort
wieder los.
Verwirrt über seine plötzliche Kälte fragte sich Meggie, was sie nun schon wieder Falsches
gesagt hatte, doch dann fiel ihr ein, dass er es nicht mochte, an die unterschiedliche Herkunft
und Erziehung erinnert zu werden.
„Ich werde Hadrian in die Küche bringen und mich um sein Abendfressen kümmern",
sagte sie und ließ es sich nicht anmerken, wie sehr sein Stimmungsumschwung sie verletzt
hatte.
„Meggie, lasse Hadrian heute auch dort, ja? Mir wäre es lieber, wenn er nicht im Haus
umherschliche."
„Du hast doch nicht noch immer Angst vor ihm? Heute Nachmittag schienst du dich doch
recht gut mit ihm zu vertragen."
„Verflixt noch mal!" brauste er auf. „Ich hatte noch nie Angst vor diesem verdammten
Vieh, und das sagte ich bereits mehrma ls. Ich möchte nur etwas Ruhe in meinem
Schlafzimmer haben. So viel kannst du doch begreifen, oder nicht?"
„Doch, natürlich." Sie kämpfte mit den Tränen. „Ich bitte um Entschuldigung. Ich verstand
nur nicht gleich, was du meintest."
„Nun, macht nichts", sagte er ein wenig sanfter. „Manchmal vergesse ich, dass du nicht
immer alles mitbekommst."
„Es wäre hilfreich, wenn du dich etwas genauer ausdrücktest." Sie blickte zu Boden, damit
er nicht merkte, dass er sie verärgert hatte. „Du kannst nicht erwarten, dass ich deine
Gedanken lese." Das war ihr nur so herausgerutscht, und Meggie erstickte fast an ihren
eigenen Worten. „Das - das wollte ich nicht sagen", fügte sie errötend hinzu. „Ich meinte nur,
ich . . . ach, ist ja auch einerlei."
Sie drehte sich um und floh ins Haus.
Hugo schaute ihr hinterher. Ihr unvermittelter Gefühlsaus bruch verwirrte ihn. Während des
ganzen Nachmittags war sie so fröhlich gewesen, und innerhalb eines Wimpernschlages
verwandelte sie sich in ein heulendes Häufchen Unglück. Wahrsche inlich lag das an ihrer
Geistesschwäche. Er musste jedoch fairerweise zugeben, dass sich Frauen seiner Erfahrung
nach oft so unlogisch verhielten. Nur hatte er das nicht von Meggie erwartet. Am Strand hatte
sie so lustig herumgealbert, war so ... umgänglich gewesen.
Hugo fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und fluchte leise. Er hatte sie doch nur
gebeten, ihren verdammten Wolf in der Küche zu lassen. Das war doch wirklich nichts Un-
vernünftiges. Man könnte ja denken, er hätte sich wie ein Menschenfresser benommen.
Wie dem auch sei - er musste es wieder gutmachen, oder sie würde noch tagelang
schmollen, wie er auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht
vermutete. Verdammt. Er hatte nicht einmal irgendwelchen Glitzerkram im Haus.
Geschmeide wirkte bei Frauen immer, und bei Meggie brauchte es nicht einmal teurer
Schmuck zu sein, sie würde den Unterschied ja doch nicht merken.
Vielleicht taten es ja auch ein paar nette Pralinen. Falls er Glück hatte, ließen sich ja in der
Speisekammer welche finden. Er würde sich also dazu herablassen müssen, eine der
erbärmlichen Mabey-Schwestern oder den noch erbärmlicheren Cookie danach zu fragen,
doch er fand, ein wenig Herablassung seinerseits wäre das Ziel wert. Er wollte Meggie
schließlich heute Nacht eifrig und willig in seinem Bett haben.
„Roberte!" brüllte er. Hugo war es nicht gewohnt, auf einen Diener zu warten, der ihm die
Pferde abnehmen sollte.
Roberte erschien nicht. Natürlich nicht. Weshalb sollte er auch? Nach Hugos Wünschen
richtete sich ja niemand, so wie ihn alle ignorierten. Offenbar wusste niemand, dass er hier
der Herr war.
Nun, morgen wollte er die Dinge schon zurechtrücken. Jawohl. Er und Reginald Coldsnap
würden ordentliches Personal anheuern, eine Mannschaft, die einigen Respekt vor ihm zeigte.
Doch inzwischen musste er die verdammten Gäule selbst in den Stall bringen. Es war ja
niemand da, um das für ihn zu tun.
Meggie schaffte es, ihre Tränen zurückzuhalten, und brachte Hadrian brav in die Küche.
„Würdest du ihn freundlicherweise füttern und dich um ihn kümmern, Cookie?" fragte sie.
„Seine Lordschaft möchte Hadrian nämlich nicht oben haben." Sie versuchte zu lä cheln. „Ich
weiß, dass Hadrian dich mag, und deshalb lasse ich ihn auch unbesorgt bei dir. Das heißt,
wenn es dir nichts ausmacht."
Cookie streichelte ihr über die Schulter. „Das gute Hund chen und ich, wir kommen Schon
zurecht, überlassen Sie es nur Cookie. Ich mache Hadrian etwas Nettes zum Abendessen, und
dann richte ich ihm ein Lager beim Herd. Gehen Sie nur, und kümmern Sie sich um Ihren
Mann, so wie es sein soll."
„Vielen Dank, Cookie." Meggie drückte Hadrian kurz an sich und flüsterte ihm
Anweisungen ins Ohr. Er leckte ihre Wange, so dass sie annahm, ihn störte es nicht allzu sehr,
in der Küche mit den vielen guten Gerüchen bleiben zu müssen.
Als sie allerdings in ihrem Zimmer allein war, gab sie alle Haltung auf, warf sich aufs Bett
und weinte sich die Augen aus, so gedemütigt fühlte sie sich.
Wie konnte Hugo nur so launisch sein - lieb und nett in der einen Minute, kalt und kurz
angebunden in der nächsten. Er hatte behauptet, sie zu lieben, und dennoch behandelte er sie
wie ein dummes Kind ohne Verstand.
Meggie schniefte. So hat er mich doch von Anfang an behandelt, sagte sie sich. Weshalb
rege ich mich jetzt so darüber auf? Sie dachte einen Moment nach. Wirklich, sie benahm sich
töricht. Wenn sie es zuließ, dass ihre Gefühle verletzt wurden, dann war es ihre eigene
Schuld. Dafür konnte er doch nichts.
Meggie setzte sich hoch, trocknete ihre Augen und schna uzte sich die Nase. Sie hatte
soeben den ersten Nachteil ihrer Liebe zu Hugo entdeckt. Seit Jahren hatte niemand sie mehr
zum Weinen gebracht, wie elend sie sich auch immer gefühlt hatte, doch Hugo vermochte in
wenigen Minuten ihr Innerstes nach außen zu kehren.
Ich muss mich an ihn gewöhnen, mahnte sie sich streng. Hugo nahm kein Blatt vor den
Mund und verbarg auch nicht sein Missvergnügen. Wenn sie ihn lieben wollte, musste sie
sich eben eine dickere Haut zulegen.
Sie hörte es an die Tür klopfen, putzte sich noch einmal die Nase und zwang sich ein
Lächeln auf die Lippen. „Ja?"
Die Tür öffnete sich. Dorelia und Ottoline rauschten herein. „Da bist du ja wieder,
Liebste", zwitscherte Dorelia. „Wir haben etwas Schönes für dich, und . . . Oh, was ist denn
das? Tränen, Süße?"
„Sand in den Augen", behauptete Meggie.
„Unsinn", erklärte Ottoline. „Du hast geweint, und ich möchte wissen, weshalb. Der
dumme Junge hat doch nichts Unschickliches getan? Falls er im Sand mit dir geschlafen hat,
drehe ich ihm den Hals um. Bei den ersten Erfahrungen muss man einem Mädchen doch
rücksichtsvoll begegnen!"
Meggie hätte beinahe aufgelacht. Ottoline und Dorelia schämten sich kein bisschen, ihre
Nase überall hineinzustecken. „Nichts dergleichen ist geschehen. Wir hatten eine nette Zeit
zusammen. Ich bin jetzt nur müde. Vergangene Nacht habe ich nicht viel geschlafen."
„Ha!" Dorelia entzündete ein Feuer im Kamin. „Glaube nur nicht, das könntest du heute
Nacht nachholen. Reiß dich zusammen, Mädchen. Du hast einen Gatten, um den du dich
kümmern musst, und eines kann ich dir sagen: Er erwartet, befriedigt zu werden, und keine
schnarchende Braut im Bett vorzufinden. Und eine heulende ebenfalls nicht."
Meggie errötete. „Ich habe weder Angst vor Hugo noch die Absicht einzuschlafen." Sie
hob das Kinn. „Ich brauche nur ein wenig Zeit für mich selbst."
„Die sollst du auch haben." Ottoline klatschte in die Hände. „Roberte, komme herein!" rief
sie durch die offene Tür. „Rasch, rasch, bevor das Wasser kalt wird."
Auf der Stelle erschien Roberte, zog einen riesigen Kup ferzuber herein und stellte ihn
mitten ins Zimmer. Sofort lief er wieder hinaus und kam mit zwei Eimern voll dampfenden
Wassers zurück, die er in den Zuber goss. Ottoline und Do relia holten ebenfalls noch je zwei
Eimer, und endlich war das Bad gefüllt.
Meggie sah sprachlos zu. Sollte das etwa für sie sein? Für sie, Meggie Bloom, die seit
Jahren nichts anderes kannte als einen Lappen und eine kleine Waschschüssel, die meistens
mit kaltem, wenn nicht gar gefrorenem Wasser gefüllt war?
„Nun, Kind? Was schaust du so? Kleider aus!"
Bedeutungsvoll blickte Meggie auf Roberte, der noch im Zimmer umherging und Kerzen
anzündete.
„Oh", sagte Dorelia. „Ja, natürlich. Vielen Dank, Roberte. Du darfst jetzt gehen. Den Rest
mache ich."
Er verneigte sich und verschwand.
Im Handumdrehen hatte Ottoline Meggie entkleidet, während Dorelia eine Flasche aus
ihrer Tasche zog und den Inhalt in den Zuber schüttete. Aus dem Wasser stieg der herrlichs te
Duft auf, der Meggie an einen Blumengarten im Sommer erinnerte.
„Das ist meine eigene Mischung, die ich eigens für dich zusammengestellt habe. Sie wirkt
entspannend und nervenstärkend. Hinein mit dir, Kind."
Meggie ließ sich ins Wasser gleiten. „Oh", seufzte sie und tauchte bis zu den Schultern
unter. „Oh, das ist einfach himmlisch!" Sie schloss die Augen.
„Hier ist die Seife, Liebes. Sie duftet natürlich nach Rosen. Ich lege sie dir hier an die
Seite. Komm, Ottoline. Wir wollen die Kleine ihrem Bad und ihren Gedanken überlassen. Sie
hat eine große Nacht vor sich."
„Recht vielen Dank, liebe Tanten. Sie sind sehr freundlich." Sie hörte die Röcke rascheln,
als die beiden hinausschwebten und leise sie Tür hinter sich schlössen. Meggie lächelte. Sie
fühlte sich schon sehr viel besser. Die Tanten könnten gar nicht netter zu ihr sein, und was sie
ihr alles sagten!
Soweit sie verstanden hatte, waren alle Bräute vor der Hochzeitsnacht nervös. Sie dagegen
konnte es gar nicht erwarten. Was bei meiner erblichen Belastung wohl nicht überraschend
ist, dachte sie. Doch nicht nur darauf freute sie sich. Sie wusste, dass Hugo und sie sich
hinterher still in den Armen liegen würden. Ihr Kopf würde an Hugos Brust ruhen, und sie
würde sein Herz stark und gleichmäßig schlagen hören, genau wie es schon einmal gewesen
war.
Meggie glitt noch tiefer in den Badezuber und träumte davon, wie Hugo sie fest an sich
drückte und sie vor allen Gefahren der Nacht beschützte.
Ach, ist es schön, nicht mehr allein zu sein ...
16. KAPITEL

Nachdem er sich gegen die Pralinen entschieden hatte, pflückte Hugo im Garten einen
Blumenstrauß. Meggie schien ja alles zu mögen, das mit der Natur zusammenhing, was auch
sein Jackett belegte.
Er fluchte heftig, als er sich an einem Rosendorn stach. Was er nicht alles für Meggie tat!
Am Ende fand er, dass sie sich über seine Gabe freuen würde, band die Blumen zusammen
und trug sie sowie das Bündel, das einmal ein ordentliches Jackett gewesen war, ins Haus und
marschierte die Treppe hinauf. Glücklicherweise begegnete er den beiden alten Schachteln
nicht. Er wäre auch nicht der der Stimmung gewesen, sich deren Unsinn anzuhören.
Roberte war noch immer nirgends in Sicht, doch wenigstens stand ein Eimer mit sauberem
Wasser bei der Waschschüssel. Hugo steckte den Finger hinein - lauwarm. Was denn sonst?
Er fand, dass es nichts brachte, wenn er sich aufregte. Die Chance, dass dabei etwas
herauskommen würde, war gleich null. Er entkleidete sich schnell, bevor das Wasser ganz
kalt wurde, und wusch sich so gründlich, wie das bei der kleinen Schüssel möglich war.
Als er mit dem Waschen, Rasieren und Ankleiden fertig war, steckte er Meggies Blumen
in den Wassereimer, holte sein Jackett und legte ihre Schätze zum Weichen in das Sei-
fenwasser. Dann öffnete er die Glastüren zum Balkon und stellte die Schüssel nach draußen,
damit sich der Gestank nach verdorbenem Fisch nicht in seinem Zimmer ausbreitete.
Was ich nicht alles für Meggie tue, dachte er noch einmal, stützte sich auf die Balustrade
und schaute über die nachtschwarze Rasenfläche hinaus, die bis zum Fluss hinunterreichte. Er
warf einen Blick zu dem indigoblauen Himmel hinauf, über den sich zinnoberrote Streifen
zogen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch später würde er das Wasser in sein
silbriges Licht tauchen. Das würde nett aussehen.
Irgendwo schrie eine Eule, und ihn fröstelte. Er wusste nicht, weshalb Eulenschreie ihn
immer verstörten, nur dass er dann immer an Liebe und Verlust, an Leere und Bedauern
denken musste.
Irgendetwas raschelte in den Kletterpflanzen, die sich hinter ihm an der Mauer
emporrankten. Er drehte sich um und sah eine Blaumeise, die damit beschäftigt war, ihr Nest
zu ordnen. Vier winzige Köpfchen lugten aus dem Geflecht. Das muss ich Meggie zeigen,
dachte er lächelnd.
Ach, ist es schön, nicht mehr allein zu sein . . .
Die Worte kamen aus dem Nichts und waren so deutlich in seinem Kopf, als hätte er sie
laut ausgesprochen.
„Was, zum Teufel. . .?" murmelte er und fuhr herum, um nachzuschauen, ob jemand an der
Balkontür stand. Er sah niemanden. Natürlich war niemand da, das wusste er.
Hugo kratzte sich am Kopf. Zwar glaubte er nicht, dass Geisteskrankheit ansteckend war,
doch Meggie schien allerlei merkwürdige Auswirkungen auf ihn zu haben. Und genau etwas
so Absurdes hätte sie auch sagen können.
Meggie ... Er war doch ein Idiot! Natürlich. Ihr Zimmer und seines teilten sich einen
Balkon. Wenn er gestern daran gedacht hätte, als der verdammte Wolf ihn von ihrer Tür
vertrieben hatte, würde er sich viel Ärger erspart haben.
Als Hugo zu ihrer Balkontür ging, merkte er, dass er es gar nicht gehört haben würde, falls
sie gesprochen hätte. Die Glastür war nämlich fest verschlossen. Er vermochte der Versu-
chung nicht zu widerstehen, einmal hineinzuspähen, zumal auch die Vorhänge nicht
zugezogen waren.
Zuerst sah er nichts als flackernde Kerzen und das goldene Licht, das sie verbreiteten. Und
dann sah er sie. Vor dem Kaminfeuer saß sie in einem Badezuber. Ihr Kopf ruhte auf dem
hinteren Rand, die Knie hatte sie hochgezogen, und ihre Augen waren geschlossen. Das nasse
Haar fiel ihr über die Schultern in das Wasser und floss um ihre Seiten wie das einer
Meerjungfrau. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als träumte sie etwas ganz besonders
Schönes.
Hugo stöhnte. Was immer Meggie auch träumte - es konnte niemals so liebreizend sein,
wie sie im Moment aussah. Falls es einen Himmel auf Erden gab, so schaute er jetzt direkt
hinein.
Er drückte die Fingerspitzen an das Glas, als könnte er Meggie durch die Scheibe hindurch
berühren, als könnte er diese helle Haut liebkosen und die sanften Rundungen ihrer Brüste,
die auf der Wasseroberfläche zu treiben schienen wie zwei von hellrosa Knospen gekrönte
Alabasterkugeln. Er wollte seine Hand über diesen flachen Leib bewegen, hinab zu dem
dunklen Dreieck, das er kaum zu erkennen vermochte, und seine Finger durch die seidige
Krause bis hin zum Mittelpunkt ihrer Weiblichkeit gleiten lassen.
Meggie - unglaublich weiblich, unerträglich begehrens wert.
Seine Erregung wurde so heftig, dass es fast schmerzte. Hugo fühlte sich wie ein Jüngling,
der zum allerersten Mal eine Frau sah.
Er kam sich vor wie ein Voyeur.
Mit Gewalt riss er sich von diesem Anblick los, starrte auf seine an die Fensterscheibe
gepresste Hand und versuchte, sein heftiges, raues Atmen zu kontrollieren. Ich bin mit ihr
verheiratet, sagte er sich, ich habe das Recht, sie zu begehren, sie zu nehmen, wo und wann
ich will! Weshalb also hatte er ein schlechtes Gewissen? Weshalb ging er nicht einfach zu ihr
und tat mit ihr das, was er schon unzählige Male zuvor mit unzähligen Frauen getan hatte?
Meggie. Er schüttelte den Kopf. Weshalb hatte sie ihn mit einem solchen Bann belegt?
Weshalb hatte sie sein hartes Herz gerührt und weshalb sein Gewissen geweckt, das er zuvor
nie beachtet hatte? Schließlich hatte er sie nur aus einem einzigen Grund geheiratet, nicht
wahr? Nun ja, aus zwei Gründen. Er begehrte ihren Körper ebenso sehr wie ihr Geld.
Doch jetzt war noch etwas anderes hinzugekommen, der aufrichtige Wunsch, sie zu
beschützen, ihr Glücklichsein und ihren Seelenfrieden zu gewährleisten. Er hätte nicht genau
sagen können, wann Zärtlichkeit an die Stelle des kalten Pragmatismus' getreten war, wann er
begonnen hatte, ihre Bedürfnisse über seine zu stellen. Der Ausflug an den Strand hatte etwas
damit zu tun, doch das war es nicht allein ... Er glaubte fast, das alles hatte schon vor langer
Zeit begonnen, nur war ihm das jetzt erst klar.
Er ließ den Arm von der Glasscheibe sinken und wandte sich sowohl von seinen
verwirrenden Gedankengängen als auch von Meggie und der Versuchung ab. Er wollte sie
nicht nehmen wie ein brünstiger Hengst, wobei es ja nur darauf angekommen wäre, seine
eigenen wollüstigen Bedürfnisse zu befriedigen. Meggie verdiente etwas weit Besseres.
Er wollte sich Zeit lassen und langsam die Leidenschaft erwecken, die - das wusste er - wie
ein ruhiges Feuer in ihrem Blut brannte. Eine Kostprobe hatte er ja gestern Abend genossen.
Mit einem einzigen Kuss hatte Meggie ihm restlos den Kopf verdreht. Doch sie war eine
unberührte und unerfahrene Jungfrau. Seine Aufgabe als Ehemann war es, sie so sanft wie
möglich in die Freuden der Liebe einzuführen. Das wilde Liebesspiel würde dann später in
ihrer Ehe folgen.
Er seufzte bedauernd, kehrte in sein eigenes Zimmer zurück und wünschte, er hätte die
Schüssel mit dem kalten Wasser aufgehoben, um jetzt seinen Kopf hineinstecken zu können.
Da das Wasser langsam kühl geworden war, beendete Meggie ihr herrliches Bad und stieg
aus dem Zuber. Auf einem Hocker sah sie große, weiche Tücher liegen, von denen sie sich
eines um den Körper schlang, während sie mit dem zweiten ihr frisch gewaschenes Haar vor
dem Feuer trocknete. Welch ein Luxus . . . Sie fühlte sich wie eine verwöhnte Prinzessin in
ihrem eigenen Schloss.
Trotz ihres Glücks wurde sie das Gefühl nicht los, dass eben irgendetwas Merkwürdiges
geschehen war, doch dieses Gefühl näher zu deuten, vermochte sie nicht. Sie wusste indessen,
dass davon keine Bedrohung ausging.
Sobald ihr Haar trocken war, flocht sie es locker, trat dann an den Schrank und holte das
grüne Gewand heraus, welches sie am Abend zuvor getragen hatte. Sie kämpfte mit den
Knöpfen im Rücken und schaffte es schließlich, sich vorzeigbar anzukleiden. Amüsiert stellte
sie fest, dass das schwarze Gewand, welches sie auf der Herreise getragen hatte, ebenso wie
ihre beiden weißen Arbeitskleider verschwunden war. Offenbar missbilligten Dorelia und
Ottoline diese Kleidungsstücke zu sehr.
Als sie das Klopfen hörte, erwartete sie die beiden, die ihr beim Ankleiden helfen wollten
und nun sicherlich maßlos erstaunt sein würden zu sehen, dass sie bereits fertig war.
„Sehen Sie nur, ich bin schon sauber, trocken und ange zogen!" rief sie und öffnete die Tür.
„Oh, du bist es." Sie schaute zu Hugo auf. „Ich dachte, du wärst die Tanten."
„Er erleichtert mich, dass ich es nicht bin." Er zog einen Wassereimer voller Blumen hinter
seinem Rücken hervor. „Die habe ich dir gepflückt, Meggie. Als eine Art Entschuldigung."
„Wofür denn eine Entschuldigung?" fragte sie und betrachtete die Blumen entzückt.
„Weil ich vorhin so barsch zu dir war. Es tut mir Leid, Liebling. Ich weiß, dass ich dich
verärgert habe, obwohl du es dir nicht anmerken ließest."
„Ach Hugo, das habe ich doch längst wieder vergessen", sagte sie ganz ehrlich. „Hast du
sie selbst gepflückt? Sie sind wunderschön! Mir hat noch niemals jemand Blumen geschenkt."
Selig roch sie daran. „Ich werde wirklich verwöhnt..."
„Ich sagte dir doch, es sei meine Lebensaufgabe, dich zu verwöhnen. Wo soll ich sie
hinstellen? Das heißt, wenn ich hineinkommen darf."
„Selbstverständlich darfst du das." Sie trat zurück. „Dies ist doch dein Haus."
„Es ist aber dein Zimmer, und es ist dein Recht, hier allein zu sein, falls du das wünschst."
„Hugo, wir sind jetzt verheiratet! Du solltest kommen und gehen können, wie es dir
beliebt."
Er stellte den Eimer auf einen kleinen Tisch und nahm ihre Hände in seine. „Ich werde
kommen und gehen, wenn ich dazu aufgefordert werde", erklärte er ganz leise, beugte sich zu
ihr und küsste sie sanft auf die Wange. „Fordere mich später auf. Ich glaube, wir gehen jetzt
besser zum Abendessen hinunter, ehe wir es noch verpassen."
„Meinst du tatsächlich, Cookie würde uns das Mahl versagen, falls wir uns verspäten?" Sie
wünschte, Hugo würde sie noch einmal küssen, und diesmal richtig.
„Das meinte ich nicht." Seine Augen funkelten.
„Oh, ich verstehe." Sie errötete, allerdings nicht aus Verlegenheit, sondern als Reaktion auf
seinen glühenden Blick. „Wie töricht von mir."
„Durchaus nicht, doch ich weiß, dass man regelmäßig essen muss, wenn man bei Kräften
bleiben will. Und du wirst deine Kräfte benötigen."
Meggie lächelte glücklich. „Dann geben Sie mir unverzüglich etwas zu essen, Mylord. Ich
hungere entsetzlich - und nicht nur nach Speisen."
„Freut mich, das zu hören." Er lachte leise. „Dein Mangel an Hemmungen ist erfrischend,
meine Liebe. Wir werden später sehen, wie weit er geht."
Meine Liebe! Meggie durchlief es heiß bei dieser sanften Erinnerung daran, dass er für sie
mehr empfand als reines Verlangen. Möglicherweise drückte man in der Aristokratie so seine
Empfindungen aus - verpackt in kleinen Nettigkeiten statt in großartigen Erklärungen.
Das werde ich mir merken, nahm sie sich vor, während sie an seiner Seite wie eine richtige
aristokratische Ehefrau die Treppe hinabstieg.
„Und das Schönste war, dass ich herrlich baden konnte", fuhr Meggie in ihrem Bericht
über die Freuden des Tages fort und schob sich den nächsten Bissen Taubenbraten in den
Mund. „Den Badezuber vor dem Kamin musst du bemerkt haben. Der ist ja zu groß, um
übersehen zu werden."
„Ja, ich habe ihn gesehen." Oh, und wie ich ihn gesehen habe, und noch eine ganze Menge
mehr! Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er an die erotischen Details dachte.
„Tante Dorelia schüttete eine Mischung duftender Blütenessenzen in das Wasser. Ich
dachte, ich wäre im Himmel."
Ich ebenfalls, bestätigte Hugo im Stillen und nahm einen tiefen Schluck aus seinem
Weinglas. „Ach ja?" fragte er laut.
„O ja! Ach Hugo, ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig baden können. Ich
kann dir gar nicht sagen, was das für ein Genuss war, und das nach den anderen herrlichen
Erlebnissen von heute, für die ich dir eben gedankt habe. Und für meine hübschen Blumen
muss ich dir auch noch einmal danken. Genau so hat auch mein Bad geduftet - wie ein
Blumenstrauß."
„Meggie", sagte er wild entschlossen, jede weit ere Unterhaltung über Meggie und ihr Bad
abzubrechen. Seine Nerven und seine Lenden ertrugen es nicht mehr. „Statt mir von heute zu
erzählen, wovon mir ja der größte Teil bekannt ist, erzähle mir doch lieber etwas über dein
früheres Leben."
Danach hatte er sie ohnehin fragen wollen, um so viele Hintergrundinformationen wie
möglich zu erhalten. Morgen musste er an die Kanzlei Gostrain, Jenkins and Waterville
schreiben, um seine Trauung bekannt zu geben, und dann wäre es unerlässlich, die richtigen
Dinge zu erwähnen. Je mehr Einzelheiten ihm über Meggies Herkunft vorlagen, desto besser.
Auf diese Weise wäre er auch vorbereitet, falls die Advokaten beschließen sollten, noch
weitere Nachforschungen über Meggies Stammbaum - beziehungsweise über das
Nichtvorha ndensein desselben - anzustellen, ehe sie ihm ihre Erbschaft aushändigten.
Eigentlich bereitete ihm diese Vorstellung heute keine Probleme. Warum jedoch hatte er
nun ein so schlechtes Gewis sen, als wäre er ein Dieb, der nicht nur unberechtigt eine
Erbschaft, sondern auch noch einen sehr privaten Teil von Meggies Geschichte raubte?
„Mein früheres Leben?" Ihr Lächeln verschwand.
„Ja." Er fühlte sich noch schlechter, als er sah, dass er ihr die Fröhlichkeit aus dem Gesicht
geraubt hatte. „Bei dem Entzücken, das du an den einfachsten Dingen hast, scheint es mir, als
hättest du eine sehr harte Kindheit gehabt."
„Waisenhäuser sind eben keine Luxusheime, und Irrenanstalten ebenfalls nicht."
Hugo dachte an ihre geistigen Probleme. „Ja, Meggie, ich weiß. Ich meinte auch die Zeit
davor. Als du bei Tante Emily lebtest."
„Das erzählte ich dir doch. Bei ihr war ich glücklich. Sie besaß zwar nicht viel Geld, doch
wir kamen zurecht."
„Also wart ihr nicht wirklich arm. Besaß deine Tante Emily vielleicht Geld von deiner
eigenen Familie, womit sie deinen Unterhalt bestreiten konnte?"
Meggie blickte ihn verwirrt an. „Du sagtest doch . . . erst gestern sagtest du, du
verstündest. Das mit meiner Situation, meine ich. Dass es keinen gab, überhaupt niemanden."
„Gewiss." Verdammt, es war ein hartes Stück Arbeit, so zu tun, als wüsste er, wovon er
sprach, obgleich er nicht den geringsten Schimmer hatte. „Ich überlege nur, ob deine Tante
Emily nicht vielleicht irgendeine entfernte Verwandte von dir war. Schließlich nahm sie dich
auf, als deine Mutter starb. Dafür muss sie doch einen Grund gehabt haben."
Meggie blickte auf ihren Teller. „Sie war eine gute Frau. Darin bestand ihr Grund."
„Meggie, entschuldige. Ich wollte dich mit meiner Frage nach deiner Vergangenheit nicht
aufregen. Doch du wirst es gewiss einsehen, dass ich als dein Gatte alle Einzelheiten wissen
möchte, um die Art deines früheren Lebens zu begreifen."
„Du warst so gütig, mich zu ehelichen, dass es jetzt ziemlich unfreundlich wäre, wenn ich
dir deine Fragen nicht beantwortete. Nur kenne ich leider auch nur wenige Einzelheiten",
entgegnete sie und legte ihr Essbesteck an den Tellerrand. „Was ich jedoch weiß, werde ich
dir erzählen." Sie holte tief Luft, faltete die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch. Ihr
Gesicht wirkte im Kerzenlicht plötzlich sehr blass.
Hugo vermochte sie kaum anzuschauen und den Schmerz zu sehen, den er ihr mit seinen
Fragen zufügte. „Meggie, warte. Falls du lieber nicht weiterreden möchtest, lassen wir es
dabei."
„Nein." Sie hob den Kopf und blickte Hugo in die Augen. „Du hast Recht. Du solltest alles
wissen, bevor du mich wirklich zu deiner Ehefrau machst. Das wäre nur reell und anständig."
„Reell und anständig? Ich frage mich, ob es hier überhaupt so etwas gibt", sagte er. „Auf
dein Leben scheint es jedenfalls nicht zuzutreffen." Und was ich gerade tue, ist ebenfalls nicht
anständig, dachte er. Wieso hatte er nur mit diesem Thema angefangen?
„Nein, das stimmt nicht", protestierte sie. „Tante Emily war wundervoll zu mir, ebenso
Schwester Agnes, doch du warst noch viel mehr als wundervoll, Hugo. Sieh doch, was du mir
alles gegeben hast: Deinen Namen, deine Heimstatt und deine . . . Freundschaft. Für mich gab
es sowohl schlechte Zeiten als auch gute. Und jetzt..." Sie lächelte und zuckte nur die
Schulter, als wollte sie etwas ausdrücken, wozu ihr die Worte fehlten.
„Jetzt?"
„Jetzt fühle ich mich wie die glücklichste Frau der Welt. Wer könnte mehr verlangen?"
Bei ihrem lieben, vertrauensvollen Gesichtsausdruck wollte Hugo alles vergessen - seine
dummen Fragen, ihre Antworten und ganz bestimmt auch das Nachtmahl, von dem er noch
kaum gekostet hatte. „Meggie, Schatz, vielleicht sollten wir ein andermal weiterreden."
„Nein, Hugo. Ich glaube, es ist wirklich das Beste, wenn ich dir deine Fragen jetzt
beantworte. Ich möchte nicht, dass du später irgendetwas über mich herausbekommst und
dann denkst, ich hätte es dir absichtlich verschwiegen."
Im Moment interessierte ihn an Meggies beschränktem Le ben so gut wie gar nichts, doch
er hatte ja danach gefragt, und nun musste er sich ihre Antwort anhören, obwohl er viel lieber
etwas ganz anderes gemacht hätte.
„Sehr wohl. Berichte mir alles, von dem du glaubst, dass ich es wissen sollte."
„Also . . . Schwester Agnes sagte, die wichtigsten Einzelheiten seien dir bekannt, und das
heißt, du weißt Bescheid über meine Mutter - und meinen Vater."
„Du meinst, dass dein Vater vor deiner Geburt starb?" Das wäre nur logisch, denn nach
dem Tod ihrer Mutter war Meggie schließlich eine Waise gewesen.
„Ja." Meggie blickte wieder auf ihre Hände. „Ich sollte dir sagen, was mir Tante Emily von
meiner Mutter erzählte, nämlich dass diese nach dem Tod meines Vaters ganz allein auf der
Welt gewesen sei, und als der Vikar unseres Kirchspiels von ihrer misslichen Lage erfuhr,
stellte er sie als Haushälterin ein, damit sie Unterkunft und Kost hatte. Wie du weißt, starb sie
dann, und der Vikar bat Tante Emily, mich aufzunehmen, weil dazu niemand in Bury St.
Edmunds bereit war."
„Bury St. Edmunds - das ist ein ganzes Stück landeinwärts, nicht wahr?" Hugo merkte sich
diese nützliche Information. „Deshalb warst du auch zuvor noch nie an der See."
„Ja, doch du möchtest etwas über mein Leben bei Tante Emily wissen."
„Richtig, jedoch nur die reinen Fakten." Sie sollte schneller vorankommen, er brauchte
keine Einzelheiten mehr. Was er brauchte, war Meggie in seinem Bett. Nackt.
Sie nickte. Natürlich ahnte sie nicht, auf welchen erotischen Abwegen sich seine Gedanken
wieder befanden. „Tante Emily war eine kinderlose Witwe ohne Verwandte in der Nähe. Ihr
einziger Bruder war nach Kanada ausgewandert, und die Familie ihres Ehemannes lebte oben
in Yorkshire."
„Crewe . . . ich glaube, ich habe einmal etwas von den Crewes von Yorkshire gehört.
Gehören sie zum Landadel?"
„Tante Emily sagte, sie seien wo hlbestallte Grundbesitzer, doch ohne wirklich
gesellschaftlichen Belang. Und Tante Emilys eigene Familie, die Stoddards, waren einfache
Bauern. Doch sie hielt Charakter immer für wichtiger als Herkunft und meinte, das Herz eines
Menschen zähle mehr als alles andere."
„Meine eigene Mutter sagte oft dasselbe", erwiderte Hugo leise. „Zum Thema Ehe erklärte
sie, dass sie nichts von dynastischen Verbindungen halte, sondern dass ich mir eine nette " rau
suchen sollte, die zu meinem Naturell passt."
Meggie warf ihm einen verschämten Blick zu. „Ich glaube, mit unserer Eheschließung hast
du sie viel zu wörtlich ge nommen. "
Er lächelte. „Ein wenig vielleicht, doch falls sie das Thema Stammbaum erwähnen sollte,
werde ich sie an ihre eigenen Worte erinnern. Außerdem mache ich mir keine Sorgen. Sie
wird dich mögen, da bin ich mir ganz sicher."
„Ich kann nur beten, dass du Recht behältst, Hugo."
Das dachte Hugo auch. Was seine Mutter wohl sagen würde, wenn sie die Neuigkeit
erfuhr? „Sieh es einmal so, Schatz: Bis du sie kennen lernst, wirst du schon das Benehmen
einer Lady haben. Da du bereits sprichst wie eine Lady, hast du schon eine Sorge weniger.
Mit Ausnahme deines Blutes wirst du eine richtige Lady sein."
„Meinst du tatsächlich, ich spräche wie eine Lady?" Sie biss sich auf die herrlich volle
Unterlippe, und Hugo musste sich zur Konzentration zwingen.
„Ja, das meine ich, und ich gestehe, dass mich das erstaunt. Hat dir deine Tante Emily
deine Aussprache beigebracht?"
„Nein, ich lernte sie von Schwester Prudence."
„Wer, zum Teufel, ist Schwester Prudence?"
„Eine Nonne im Waisenhaus. Sie war die Tochter eines Earls."
„Aha, das erklärt es. Mein liebes Mädchen, du sprichst, als wärst du selbst die Tochter
eines Earls." Das meinte Hugo ganz ernst, und er freute sich, dass das Rätsel um Meggies
perfekten Akzent gelöst war.
Meggie strahlte vor Freude. „Danke. Ich habe mich auch sehr bemüht, es zu lernen, und
Schwester Prudence hat sich mit mir ebenfalls große Mühe gegeben, obwohl sie das hasste."
„Schwester Prudence mochte dich wohl auch nicht?"
„Ganz und gar nicht. Für sie war ich eine echte Prüfung, doch sie hielt es wohl für ihre
Pflicht, aus mir etwas zu machen. Möglicherweise dachte sie, mir ihre Lektionen ein-
zuhämmern wäre ein weiterer Weg, mich ihren Regeln zu unterwerfen. So waren alle
Nonnen. Sie hatten Regeln für alles, und gehorchte man ihnen nicht sofort, dann gab es das
Lineal oder den Rohrstock, und zwar auf die Hände."
Hugo verzog das Gesicht. „Das hört sich nicht besonders wohltätig an."
„Wohltätig? Die Nonnen des Waisenhauses waren Tyrannen! War ich einmal wirklich
ungezogen, wurde mir mit dem Rohrstock der Hintern versohlt. Schwester Lukas
Gnadenreich war die Schlimmste. Ich wusste, dass sie jeden Schlag genoss. Schwester
Prudence dagegen verprügelte mich mit Worten, und dabei konnte sie sehr grausam sein. Ich
frage mich oft, wie sie ins Kloster gekommen war. Vielleicht hatte der Earl dem Orden Geld
gegeben, um sie los zu werden. Du liebe Güte, ich habe schon seit Jahren nicht mehr an sie
gedacht."
„Gut, und das brauchst du auch nie wieder. Du bist jetzt hier bei mir und unterliegst allein
meinen Regeln."
„Und wie sehen die aus?" Sie stützte das Kinn in die Hand und schaute ihn mit halb
geschlossenen Augen verträumt an.
„Ich bestimme, dass dein Leben mit Freude zu erfüllen sei."
„Die Schwestern wären entsetzt über deine hedonistische Haltung", gab Meggie zurück
und trank ihren Wein aus. „Du solltest mir Vorträge über meine ehelichen Pflichten halten
und darüber, wie ich mich dir mit geschlossenen Augen zu unterwerfen und dabei zu beten
habe, dass ich das ertragen werde, was mir Gott als mein Schicksal im Leben zugewiesen
hat."
Hugo wartete nicht darauf, dass Roberte nachschenkte, sondern füllte Meggies Glas selbst
auf. Ein wenig Wein schien eine höchst viel ve rsprechende Seite an Meggie hervorzubringen.
„Dein Los im Leben? Haben dir das die Nonnen erzählt? Es wundert mich, dass sie dich
überhaupt instruiert haben."
„Nein, nein. Die Nonnen haben nur Andeutungen ge macht." Meggie nippte an ihrem
Weinglas. „Doch diese Andeutungen waren eher Angst einflößend. Die Wahrheit über das
Liebesspiel erfuhr ich von einer Patientin im Pflegeheim. Mrs. Lindsay sprach oft und lange
davon und ging dabei sehr ins Detail."
Hugo hätte sich beinahe verschluckt. Na, großartig! Die Details des Liebesaktes hatte
Meggie von einer anderen Irren erfahren! „Ach ja?"
„Ja. Sie hielt das für die schönste Sache der Welt. Ihr Problem bestand nur darin, dass sie
ihrer Neigung so oft gefrönt hatte, dass ihr Ehemann nicht mehr Schritt halten konnte, und
jemand anders ebenfalls nicht. Am Ende waren alle erschöpft, und sie musste eingeliefert
werden." Meggie lächelte ein wenig. „Nicht, dass es Mrs. Lindsay aufgehalten hätte. Zufällig
weiß ich, dass sie es heimlich mit Mr. Carlyle trieb, und dem hat es sehr gut getan."
Hugo erstickte seinen Lachanfall mit den Händen. Er musste zugeben, wenn Meggie ihn
nicht wütend machte oder unbeherrschbares Verlangen in ihm entfachte, dann erheiterte sie
ihn mehr als sämtliche Leute, die er kannte. Und ganz ohne jede Frage zeigte sie ihm das
Leben in einem völlig anderen Licht. Nur Meggie vermochte über solche Dinge so
unbekümmert zu reden. Wie viel sie davon in den Akt selbst einbrachte, mochten die Götter
wissen. Er wollte jedenfalls keinen Moment länger warten, es herauszufinden.
„Ja also ..." Er schob seinen Stuhl zurück. „Wenn es dir nichts ausmacht, auf den Pudding
zu verzichten, sollten wir jetzt nach oben gehen und Mrs. Lindsays Theorie von den Wundern
des Liebesspiels auf die Probe stellen." Er hielt ihr die Hand hin.
Meggie ergriff sie ohne ein weiteres Wort.
17. KAPITEL

„Höre nur, Ottoline, ich glaube, sie kommen jetzt herauf." Dorelia ließ ihr Strickzeug auf
den Schoß sinken und neigte den Kopf zur Seite. „Welche Freude, welche Freude!" Sie
summte ein kleines Lied.
Ottoline ließ ihr eigenes Strickzeug ebenfalls sinken und neigte den Kopf zur Seite genau
wie ihre Schwester. „Ich glaube, du hast Recht. Und sie kommen so früh - sicherlich ein gutes
Zeichen. Ach, was das für Erinnerungen weckt!" Sie lächelt e verträumt. „Wir hatten es doch
wirklich schön, nicht wahr? Nach dem Tod der armen Lally mangelte es Linus nie an
Gesellschaft."
Dorelia lachte leise. „Der gute Linus - so mannhaft bis zum Ende. Zu schade, dass es nicht
zwei von ihm gab. Allerdings haben wir ja stets redlich geteilt. Doch jetzt wollen wir nicht
alten Erinnerungen nachhängen. Diese Zeiten sind vorbei, und nun gibt es Wichtigeres." Sie
legte ihr Strickzeug auf den Tisch neben sich und schaute aus dem Fens ter ihres gemeinsamen
Wohnzimmers. „Der Mond wird bald aufgehen."
„Der Vollmond", fügte Ottoline hinzu. „Ein gutes Omen, glaube ich. Fruchtbarkeit,
Schwester, Fruchtbarkeit! Vielleicht werden wir zweifach gesegnet - bei der Neigung der
Familie zu Zwillingen."
„Uns bleibt nur die Hoffnung. Viel wichtiger ist, wie diese Nacht für das liebe Mädchen
abläuft. Mir erscheint die Gute ein wenig spröde."
„Ich sage dir, das liegt an den Nonnen und deren unna türlichen Vorstellungen.
Wahrscheinlich haben sie die Kleine halb zu Tode verängstigt, obwohl mit Madrigals
Instinkten alles in Ordnung ist. Es zählt nur, was ihr Gemahl damit anfängt."
„Oh, mir erscheint er doch sehr männlich, und so, wie er reagiert, wenn sie in der Nähe ist,
sehe ich keine Schwierigkeiten voraus. Nein, es wird alles so laufen, wie du es sagtest,
Ottoline."
„Wieso hörst du dich so überrascht an? Habe ich mich jemals geirrt?" Laut stöhnend stand
Ottoline auf und ging, um das Feuer zu schüren.
„Nicht direkt geirrt, doch ich wünschte, du würdest es lernen, deine G. G. besser zu
deuten." Sie bedachte ihre Schwester mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du sagtest, falls wir
Linus bewegten, Lyden nach seinem Tod verkaufen zu lassen, statt es uns zu vermachen, und
dabei festzulegen, dass uns erlaubt wird, hier wohnen zu bleiben, dann würde uns eine
Familie geschickt werden, die uns auf unsere alten Tage glücklich macht."
„Und? Hatte ich nicht Recht? Ist nicht der liebe Hugo mit Madrigal erschienen? Ist dir das
nicht Familie genug?"
„Davon rede ich ja. Du hast nichts davon gesagt, dass es nicht unsere richtige Familie sein
würde, oder?"
„Alles sehe ich ja auch nicht, Dorelia. Und ich weiß gar nicht, worüber du dich beschwerst
- wir haben genau das, was wir wollten, und noch mehr. Lally wäre sehr glücklich."
„Lally spielt keine Rolle. Um Madrigal mache ich mir Sorgen." Dorelia schüttelte den
Kopf. „Hättest du den genauen Wortlaut deiner G. G. besser beachtet, würden wir Zeit für
Vorbereitungen gehabt haben. Wie es jetzt aussieht, haben wir keine Ahnung, wie viel
Madrigal von der Wahrheit weiß, und wenn du mich fragst, ahnt sie so gut wie nichts, die
Gute."
„Ich weiß, ich weiß", murrte Ottoline. „Ich war heute Morgen hier, wie dir bekannt ist.
Doch es ist nicht meine Schuld, dass man ihr nichts über ihren Vater erzählt hat, und es ist
auch nicht meine Schuld, dass der dumme Bengel Margaret Bloom nicht heiratete. Du
brauchst mich also gar nicht so anzustarren. Die Frage ist jetzt: Sagen wir ihr die Wahrheit,
oder halten wir den Mund?"
„Hmm. Hmm. Ja, das ist das Problem. Angenommen, sie weiß nicht, dass sie unehelich auf
die Welt gekommen ist -stell dir vor, was für ein Schock das für sie bedeutet. Von dem
Schock für den guten Hugo ganz zu schweigen."
Ottoline ließ sich in ihren Sessel zurücksinken. „Ja, wir befinden uns in einer vertrackten
Lage, Schwester. Ich glaube, wir sollten fürs Erste schweigen, zumindest bis wir wissen,
woher der Wind weht."
„Schön und gut, doch wie sollen wir Madrigal die Mitgift übermitteln? Wir waren
übereingekommen, ihr unser Treuhandvermögen zu überweisen, weil wir dafür keine
Verwendung haben. Zu diesem Zweck brauchen wir einen Advokaten. Und dieser wird
wissen wollen, weshalb wir Meggie unser Erbteil auszahlen möchten, und wenn wir dann er-
klären, wir seien der Meinung, es stünde ihr rechtmäßig zu, müssen wir erläutern, weshalb."
„Advokaten sind zu Stillschweigen verpflichtet", meinte Ottoline. „Außerdem verbietet
uns kein Gesetz, unser Geld zu verschenken. Ich sehe nicht, weshalb wir irgendetwas
erläutern müssen."
„Nicht einmal Madrigal gegenüber?" fragte Dorelia.
„Am wenigsten ihr gegenüber."
Dorelia schaute finster drein. „Das weit größere Problem wird es sein, diese blöden
Vermögensverwalter loszuwerden, die Linus eingesetzt hat und die keinen roten Heller
heraus rücken, nicht einmal für uns, die wir doch ein Anrecht auf das Einkommen haben. Was
nutzt es, das Mädchen mit einer Mitgift auszustatten, wenn ihr Ehemann da nicht heran-
kommt? Ich glaube, wir können sie ihr nur testamentarisch vermachen, doch wir leben
möglicherweise noch fünfzig Jahre lang."
„Nur das nicht! Meine Knochen knarren jetzt schon ge nug." Ottoline runzelte nachdenklich
die Stirn. „Wir könnten direkt zu Hugo gehen und ihn um einen Rat fragen. Er wird doch
sicherlich einen Advokaten seines Vertrauens ha ben, der sich unserer Sache annimmt. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass Hugo etwas dagegen hätte, eine Mitgift für Madrigal
entgegenzunehmen."
„Es dürfte ihn sogar sehr erfreuen. Schließlich ist er nicht nur ein Mann, sondern der Sohn
eines Dukes. Ihm dürfte es nicht schwer fallen, diese schä ndlichen Kerle hinauszuwerfen, die
glauben, sie könnten alte Damen übervorteilen."
„Ja, das wäre vielleicht eine Lösung. Doch würde Hugo unseren Beschluss, Madrigal unser
ganzes Geld zu geben, nicht für höchst exzentrisch halten?"
„Er hält uns bereits für exzentrisch. Weshalb sollte er es da für besonders eigenartig halten,
wenn wir ihm unsere Mittel zur Verfügung stellen?"
„Ja." Dorelia nickte langsam. „Wahrscheinlich wird er einsehen, dass wir niemanden
haben, dem wir das Geld vererben könnten, und da er sich ohnehin bereit erklärt hat, sich bis
zu unserem Tod um uns zu kümmern, scheint die Vereinbarung nur gerecht zu sein. Oh, du
bist klug, Schwester. Das dürfte die Lösung sein!"
„Für den Anfang jedenfalls. Ich bin mir nicht so sicher, dass die Wahrhe it am Ende nicht
doch herauskommt. Was meinst du denn, wie lange den beiden nicht die Ähnlichkeit
zwischen Madrigal und Lallys Porträt auffällt? Und der Taufname des Mädchens ist dazu
noch in Lallys Bibel in der Bibliothek eingetragen."
Dorelia seufzte. „Ein Jammer, dass David das arme Mädchen nicht heiratete. Dann wäre
alles ganz anders gekommen. Es war wirklich zu dumm."
„Doch sie liebten sich, Schwester, und wenngleich es mit einer Tragödie endete, hatte
David doch zumindest die Ab sicht, seine Meg zu ehelichen. Schau nur, was ihre gegenseitige
Liebe uns nach so langer Zeit gebracht hat - ein liebes, reizendes Mädchen, das wir vergöttern
können."
„Und Kinder, die wir mit unserer Zuneigung überhäufen können", sagte Dorelia glücklich.
„Du erinnerst dich doch, dass du Kinder gesehen hast, ja?"
„Würdest du bitte aufhören, mich wie eine Geistesschwache zu behandeln?" fuhr Ottoline
sie an. „Ich sagte dir bereits ein dutzend Mal, dass es Kinder geben würde."
„Falls der liebe Hugo seine Aufgabe richtig erfüllt. Ich hoffe, er gehört nicht zu denen, die
nur an ihr eigenes Vergnügen denken. Madrigal würde es bestimmt nicht gefallen, wenn man
sie stößt und schiebt und in ihr herumstochert. Falls Hugo jedoch ein wenig so wie Linus ist,
wird sie zu den befriedigtsten Frauen auf Erden gehören." Sie seufzte laut. „Den Körperbau
hat er ja dazu."
„Was zwischen Madrigal und ihrem Gatten im Schlafzimmer geschieht, geht mich nichts
an." Ottoline schnaufte verächtlich. „Wirklich, Schwester, manchmal glaube ich, deine G. G.
führt dich zu sehr auf die körperliche Ebene. Allein wie du heute Nacht durch das alte Portal
in Hugos Schlafzimmer geschlichen bist, um ihn zu beäugen! Du solltest dich schämen."
„Ich habe ihn nicht ,beäugt'", erklärte Dorelia beleidigt. „Ich wollte nur sehen, ob der
Junge unter seiner Kleidung eine gute Farbe und Spannkraft hat. So etwas ist wichtig zur
Bestimmung der Gesundheit und der Tüchtigkeit eines Mannes. Was so aussieht wie breite
Schultern und kräftige Oberschenkel, könnten auch vom Schneider eingenähte Polster sein.
Das ist nämlich allgemein gängige Praxis."
„Wie dem auch sei, ich finde, du hättest nicht unaufgefordert in Hugos Schlafzimmer
gehen sollen. Das Portal zu benutzen, um zu Linus zu gelangen, war das eine, doch dies hier
geht meiner Meinung zu weit."
„Sei doch nicht albern, Schwester. Der gute Hugo hat ja gar nicht gemerkt, dass ich da war.
Ich verhielt mich so leise wie ein Mäuschen, und er war zu sehr damit beschäftigt, mit Wasser
herumzuspritzen, als dass er etwas bemerkt hätte. Ich sah, was ich sehen musste, und ging
wieder."
„Du solltest es besser zum letzten Mal gesehen haben." Ottoline erhob sich. „Ich gehe jetzt
ins Bett. Falls du noch die halbe Nacht wach bleiben und dir über Hugos Tüchtigkeit den
Kopf zerbrechen möchtest, ist das deine Sache. Doch ich warne dich: Am Ende bekommst du
nur Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen, und klüger bist du trotzdem nicht." | Sie warf
ihrer Schwester noch einen finsteren Blick zu. „Und ich empfehle dir sehr, dass du - wie groß
auch deine Neugier sein mag - deinen Kopf nicht mehr in den Kleiderschrank steckst."
Die Hand auf dem Messingknopf, blieb Hugo an der Tür stehen und schaute Meggie an.
Seine Augen waren dunkel wie die Nacht und spiegelten eine Frage, die Meggie nicht zu
deuten vermochte. Sie wartete, das Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie war sich Hugos
Nähe sehr bewusst.
Er streckte seine freie Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über Meggies Wange.
„Meggie, sage mir ..." Er schwieg wieder.
Sie drehte leicht den Kopf und drückte ihre Lippen sanft an seine warme Hand. „Was soll
ich dir sagen?" flüsterte sie und blickte ihm dann in die Augen. Ach, frage mich doch, dachte
sie. Frage mich, ob ich dich liebe, und ich werde dir eine ehrliche Antwort geben.
„Dass du mir vertraust", antwortete er rau. „Dass du weißt, dass ich dir nicht wehtun will.
Dass du dich wirklich nicht fürchtest."
Meggie lächelte sanft. „Ich vertraue dir, und ich fürchte mich nicht. Wie könnte ich mich
denn vor jemandem fürchten, der ein so gutes Herz hat wie du?"
Er schloss kurz die Augen, als schmerzten ihre Worte. „Vielleicht bist du zu
vertrauensselig. Doch ich werde mich nicht mit dir streiten. Ich bin viel zu selbstsüchtig."
„Das Letzte, was du bist, ist selbstsüchtig, Hugo Montagu, und darüber werde ich mich mit
dir ebenfalls nicht streiten. Ich möchte dich indes bitten, ohne weitere Umstände die Tür zu
öffnen."
Hugo lächelte sie an, und der Schatten verschwand aus seinem Gesicht. „Dein Wunsch ist
mir Befehl." Er drehte den Griff und stieß die Tür auf. „N ach Ihnen, Mylady." Er schloss die
Tür hinter ihnen wieder.
Als Meggie über die Schwelle trat, war sie verblüfft, und es dauerte einen Moment, bis
sich ihre Augen an die plötzliche Lichtflut gewöhnt hatten. Keine Ecke, keine Tischplatte,
kein Zoll auf der Kamineinfassung war leer geblieben - das ganze Zimmer stand voller
Kerzen!
„Großer Gott", flüsterte Hugo hinter ihr. „Soll das der Himmel sein oder die Hölle?"
„Ganz sicher der Himmel. Hugo, schau einmal aufs Bett."
„Du liebe Güte", murmelte er. „Ist denn vor diesen Frauen gar nichts sicher?"
Das Bett war bis auf den letzen Zoll dick mit Rosenblättern bestreut. Die schmückten
Tagesdecke wie Kopfkissen, sie rie selten von den Seiten der Matratze hinunter und schwebten
über den Fußboden.
Hugo zog Meggie an seinen harten Körper, so dass sie mit dem Rücken zu ihm stand, und
verschränkte wie zum Schutz die Arme vor ihr. „Wir sollten uns lieber in mein Zimmer
zurückziehen", meinte er. „Hier drinnen ersticken wir möglicherweise."
„Was, und die Bemühungen der Tanten verkommen lassen? Ach Hugo, so grausam kannst
du doch nicht sein." Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Dieses hier ist
offensichtlich ihre Vorstellung von Romantik. Wir dürfen sie nicht enttäuschen."
„Die Tanten enttäuschen? Nicht doch, wie könnten wir! Ich bitte um Vergebung, dass ich
das auch nur in Erwägung zog."
Sie drehte sich in seinen Armen herum, barg das Gesicht an seiner Brust und ließ die
Hände zu seinen schmalen Hüften gleiten. „Hugo, stört es dich wirklich so sehr? Es war doch
sehr lieb von den Tanten, sich solche Mühe zu machen."
Hugo hielt sie fester. „Mich stört überhaupt nichts, solange du nur so weitermachst",
antwortete er, legte die Hände auf ihren Po und zog sie ganz fest an sich heran.
Erregt und fordernd presste er sich an sie, so dass ihre Knie zu zittern begannen und ihr
Herz noch heftiger hämmerte. Atemlos klammerte sie sich an ihn. Falls sie ihn losließe, würde
sie wahrscheinlich in die Knie sinken.
Er senkte den Kopf, und sein Mund strich sanft über ihren. Meggie seufzte. Sie öffnete ihre
Lippen an seinen, und heißes Verlangen erfasste ihren Körper.
Sofort vertiefte Hugo den Kuss, schob die Finger in ihr Haar und streichelte mit den
Daumen ihr Kinn. Unterdessen wagte sich seine Zunge ruhelos in die warmen Tiefen ihres
Mundes vor.
Stöhnend erwiderte Meggie diese intime Berührung. Mit den Händen strich sie über seinen
Rücken, drückte die Finger in seine kräftigen Muskeln und genoss jede Empfindung. Das war
es, worauf sie gewartet, wonach sie sich gesehnt hatte, seit sie seiner zum ersten Mal ansichtig
geworden war. Nun gehörte er ihr und sie ihm, und sie durfte ihm alles vorbehaltlos schenken.
Das Verlangen durchflutete sie wie flüssiges Feuer und sammelte sich dort, wo sie ihren
Pulsschlag am heftigsten fühlte.
„Meggie - Meggie, meine Süße", murmelte Hugo, während er Küsse in ihre Halsbeuge
tupfte. Er tastete nach den Knöpfen und Bändern ihres Gewands. Im Handumdrehen hatte er
sie gelöst und Meggie den Stoff von den Schultern und an den Armen hinuntergeschoben, bis
ihr die Seide über die Hüften rutschte und ihr um die Füße herum zu Boden glitt.
Meggie fröstelte - nicht weil sie fror, sondern weil sie seinen Blick von ihrem Gesicht
hinab über ihren nackten Körper gleiten sah. Sie merkte, wie sich ihre Brustspitzen hart
aufrichteten, während er jede Einzelheit ihrer unbekleideten Gestalt betrachtete.
Schamlos. Sie war schamlos, und das bekümmerte sie nicht im Geringsten. Sie wollte ja,
dass er sie so heiß und begehrlich betrachtete.
„Meggie", sagte er schwer atmend, „d u bist sehr liebreizend - so liebreizend, lebendig,
empfänglich und so begehrens wert." Er ließ seine Hände leicht an ihren Seiten hinaufgleiten
und streichelte mit den Daumen die unteren Rundungen ihrer Brüste.
Zitternd und voller Sehnsucht wartete sie auf die endgültige Berührung, doch anstatt ihr die
ersehnte Befriedigung zu gewähren, hob er Meggie mühelos auf die Arme und barg sie an
seiner breiten Brust.
„Oh, das war so schön", sagte sie enttäuscht. „Ich wünschte, du hättest nicht aufgehört."
„Ich bin entzückt, das zu hören." Hugo lachte leise. „Doch versuche lieber, deine Ungeduld
zu zähmen. Ich erschrecke mich so leicht." Er ließ den Mund über ihre Stirn streichen, und sie
fühlte das Lächeln an der Bewegung seiner Lippen.
Seufzend legte sie ihm die Arme um den Nacken und genoss seinen berauschenden Duft.
„Ich kann nichts dagegen machen, dass ich dich begehre." Sie schob die Finger durch sein
seidiges Haar. „Bin ich fürchterlich undamenhaft?"
„Hinreißend undamenhaft", korrigierte er und trug sie zum Bett, als wäre sie so leicht wie
eine Feder. „Doch es kommt noch vieles, und ich will, dass du jeden Augenblick die ser Nacht
genießt, Meggie. Und du wirst ihn genießen, das verspreche ich dir."
„Oh, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich sagte dir ja, dass ich keine
Angst habe."
„Du vielleicht nicht. Ich dagegen umso mehr."
Diese Feststellung verwirrte Meggie. „Wovor solltest du denn Angst haben? Du hast so
etwas doch schon hundert Mal gemacht."
Hugo lächelte und strich ihr sacht übers Haar. „Doch noch nie mit meiner Gattin. Ich habe
Angst davor, dich so sehr zu begehren, dass ich es zu schnell mache." Er küsste sie auf die
Nasenspitze. „Ich will mir jedoch Zeit lassen. Du, mein gieriger Liebling, wirst dich damit
abfinden müssen." Er schlug die Tagesdecke zurück, und ein Schwärm von Rosenblättern
segelte in alle Richtungen.
Meggie musste lachen, als sich die zarten rosa Blütenblätter auf sie beide niedersenkten
und sie von Kopf bis Fuß bedeckten. „Du siehst aus wie ein Blumenladen!" Mit den Fingern
fuhr sie durch sein Haar und wirbelte dadurch einen neuen Blütenregen auf.
„Verdammte alte Schachteln!" Hugo pflückte sich ein Blütenblatt aus dem Mund, legte
Meggie aufs Bett, trat zurück und betrachtete sie bewundernd. „Ich muss sagen, du siehst
einfach bezaubernd aus, wenn du nichts anhast als Rosenblätter."
Meggie stützte sich auf einem Ellbogen auf. „Ich wünschte, das könnte ich von dir
ebenfalls sagen", bemerkte sie keck.
„Aha, ein Wink, und zwar einer mit dem Zaunpfahl!" Er legte sein Jackett ab und knöpfte
sein Hemd auf. „Der Lady kann geholfen werden."
Als er sich das feine Leinenhemd abstreifte, stockte Meggie der Atem. Der Feuerschein
flackerte golden über seine glatte Haut und zeigte jede seiner herrlichen Brustmuskeln. Hugo
bückte sich, zog sich die Schuhe aus und legte die Hose ab. Nun war er so nackt wie Meggie.
Er richtete sich auf und blickte sie an. Sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht deuten.
Meggie konnte ihn nur anschauen und die vollkommene Schönheit sowie die Kraft seines
männlichen Körpers bewundern. Hugos Körper . . . Ihr Blick glitt von seinen breiten
Schultern und der breiten Brust über seine schmale Taille und die Hüften hinunter zu seinen
muskulösen Beinen. Seine deutlich sichtbare Erregung drängte sie, diesen Teil seines Körpers
zu berühren, ihn mit ihrem Körper zu umfangen - sich mit ihm zu vereinigen.
„Oh ..." flüsterte sie. „O Hugo, ich hatte ja keine Ahnung! Ich rätselte immer darüber,
konnte mir jedoch etwas so Wundervolles nicht vorstellen . . . Du bist schön!"
Mit einem Schritt war Hugo wieder beim Bett und zog sie in die Arme. „Meggie", stöhnte
er und drückte seinen Mund an ihre Wange. „Wie machst du das nur? Du raubst mit so sehr
den Verstand, dass ich mich selbst nicht mehr kenne. O Meggie, wie ich dich begehre!"
Zärtlich umfasste er ihr Gesicht, presste seinen Mund über ihren und küsste sie, bis ihr die
Sinne schwanden.
Hugo drückte sie auf die Matratze, ließ seine Hände an ihrer Kehle hinabgleiten, um dann
ihre Brüste zu umfassen, und streichelte mit den Daume n über ihre zarten Knospen. Als er die
empfindsamen Spitzen umspielte und sie sanft zwischen die Finger nahm, bog sie sich ihm
lustvoll entgegen.
Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie dachte, es müsste zerspringen. Nie zuvor hatte sie
etwas so Herrliches gefühlt - bis er den Kopf senkte und sich eine der Knospen in den Mund
zog. Meggie hatte nicht nur Angst um ihr Herz, sondern fürchtete auch, sie würde wie Martha
Lindsay ins Pflegeheim gebracht werden müssen.
„Hugo", keuchte sie, als er der anderen Brust die gleiche Glückseligkeit angedeihen ließ.
„Hugo, sie hatte Recht."
„Wer hatte Recht?"
„Mrs. Lindsay", antwortete sie verträumt. „Sie wusste ge nau, wovon sie sprach." Sie
liebkoste seinen Rücken, ließ die Finger zu seinem Po weiterwandern, dann nach vorn und
umfasste ihn - so stark, so schön. Und so männlich.
Hugo hob den Kopf und schaute auf sie hinunter. Er atmete schwer. „Meggie, mein
Mädchen, ich kann mir nicht vorstellen, dass dir Mrs. Lindsay auch nur die Hälfte erzählt hat.
Du wirst es selbst herausfinden müssen."
Aufs Neue küsste er sie, spreizte die Finger über ihrem flachen Bauch, schob sie in das
weiche, feuchte Dreieck und liebkoste sie. Wieder stockte Meggie der Atem. Sie wand sich
und drückte sich dabei fest an ihn, so dass sie seine Erregung spürte. Sie zog Hugo noch
dichter zu sich heran. Ihr war es, als müsste sie vor Sehnsucht nach ihm sterben.
„Ach . . . bitte", flehte sie, ohne genau zu wissen, worum sie eigentlich bettelte. Hugo
würde es schon wissen. Er wusste ja alles.
Natürlich wusste er es. Er ließ seine Finger zwischen ihre Schenkel gleiten und streichelte
diese geheime Stelle, als wusste er wirklich ganz genau, was sie brauchte.
Mit einem leisen Aufschrei bog sie sich ihm entgegen. Seine Finger glitten hinein,
bewegten sich rhythmisch und schür ten das Feuer, das hell loderte und sich von ihrem
intimsten Winkel bis zum allerletzten Nerv ausbreitete, bis ihr ganzes Sein von der herrlichen
Empfindung durchströmt wurde.
„Hugo!"
Er küsste ihr Haar, ihre erhitzten Wangen, ihren Mund, den Hals. „Meggie, ich hätte mir
nie vorgestellt, dass du ... Willst du mich? Willst du mich in dich nehmen?"
Sie schlug die Augen auf und sah ihn mit einer Liebe an, bei der ihr fast das Herz
zersprungen wäre. „Ja ... o ja, und bitte ganz schnell, ja?"
Er schien leise zu lachen, doch genau wusste sie das nicht, weil er seinen Kopf in dem Tal
zwischen ihren Brüsten geborgen hatte. Sie wusste nicht, ob seine Schultern bebten oder ob es
ihre darauf ruhenden Finger waren, die so zitterten. Sie wusste nur, dass sich seine Hüften
über ihre hoben und dass er sie behutsam berührte, so als wollte er im nächsten Moment in sie
eindringen.
Meggie presste ihr Gesicht gegen seine Brust und legte die Arme um seinen Rücken. Bis
jetzt hatte Martha Lindsay die Einzelheiten des Liebesspiels zutreffend geschildert, und was
sie als Nächstes beschrieben hatte, vermochte Meggie kaum zu erwarten.
„Meggie? Meggie, Liebste?" Hugo streichelte ihr Gesicht, ihren Nacken und ihre Brüste.
„Tue ich dir weh?"
„Nein, nicht so sehr, dass ich dich bitten würde aufzuhö ren. " Sie stieß ihre Hüften gegen
seine - und schrie dann vor Schmerz auf. Das hatte sie nicht erwartet! Martha Lindsay hatte es
auch nicht erwähnt. . . falls es überhaupt normal war.
„Meggie, meine Süße, lass mich, bitte lass mich. Es tut mir Leid, dass ich dir so wehtue,
doch du bist so eng, und da sollte man es am Besten ganz schnell machen."
„Was sollte man ganz schnell machen? Du sagtest doch, du wolltest dir Zeit lassen. Und
ich entsinne genau, dass du versprachst, ich würde es genießen."
„Das stimmt auch. Doch ich beziehe mich auf dein Jungfernhäutchen, das durchstochen
werden muss, ehe du mein Eindringen genießen kannst. Es schmerzt nur dieses eine Mal, das
schwöre ich." Er strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn. „Das geschieht, wenn du deine
Jungfräulichkeit verlierst - ein kurzer Schmerz und hinterher ein wenig Blut."
„Oh." Es erleichterte Meggie ungemein, dass mit ihr alles in Ordnung war. „Wenn es so
ist, dann tue, was du tun musst, Hugo. Ich werde versuchen, tapfer zu sein."
Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und schaute ihr so zärtlich in die Augen, dass
sie alles für ihn getan hätte. Hugo nahm ihre Hände in seine und schob seine Finger zwischen
ihre. Er presste seinen Mund auf ihren, küsste sie tief und drang dann kurz und kraftvoll in sie
ein.
Meggie keuchte auf, als sie den plötzlichen Schmerz verspürte, während Hugo tief in sie
eindrang. Tränen brannten in ihren Augen, und sie barg das Gesicht an seiner Schulter. Ihr
Atem ging schnell und flach.
„Meggie, Süße, es ist vollbracht", flüsterte er in ihr Haar. „Alles erledigt, mein tapferes
Mädchen. Ich vermute, deine Mrs. Lindsay vergaß ihre eigene Defloration, nachdem sie
merkte, was danach kam. Offenkundig hat weder sie noch sonst jemand dir gesagt, was du zu
erwarten hattest."
Durch tränenfeuchte Wimpern schaute sie zu ihm hoch. „Nein ..." gab sie zu und merkte,
dass der heftige Schmerz schon langsam nachließ und sie sich nach und nach an ihn
gewöhnte. Wirklich, so furchtbar schlimm fühlte es sich gar nicht an. „Wenigstens weiß ich
jetzt, weshalb ich keine ängstliche Braut war", sagte sie lächelnd. Dass sie diesen Teil des
Liebesspiels ganz und gar nicht mochte, verschwieg sie ihm.
„Meine liebreizende Meggie ..." Er gab eine ihrer Hände frei, ließ seine Finger zu ihrer
Brust wandern und umspielte die Spitze, nahm dann die hart gewordene Knospe zwischen die
Zähne und biss sanft hinein.
Meggie seufzte und legte die Arme um seinen Nacken, während er diese sinnliche
Liebkosung an ihrer anderen Brust fortsetzte und Meggie wieder an den Ort der intensiven
Empfindungen trug, wo für sie nichts existierte als seine aufreizenden Zärtlichkeiten. Sie
fühlte die feuchte Hitze seines Körpers an ihrem, hörte das leise Stöhnen, das ihr sagte, dass
sein Glück ebenso groß war wie ihres, und spürte das mächtige Schlagen des Herzens in
seiner Brust. Es erschien ihr so laut, dass sie nicht mehr wusste, wessen Herz sie wirklich
hämmern hörte.
Er ließ seine Hand zu der Stelle hinuntergleiten, wo sich ihre beiden Körper vereinigten.
Seine Finger fanden die kleine empfindsame Knospe, und Meggie hielt die Luft an, als sie
spürte, wie er ihr Begehren wieder zu glühendem Feuer entfachte.
„Das magst du, nicht wahr?" erkundigte er sich flüsternd. „Ich mag es ebenfalls." Er setzte
das Spiel seiner Fingerspitzen fort. „Wie schön du doch bist, meine Meggie. Lass mich dich
lieben. Lass mich dir zeigen, wie gut das sein kann."
Er veränderte seine Lage ein klein wenig und glitt tiefer in sie hinein. Diesmal stöhnte sie
beseligt auf. Noch weiter spreizte sie die Beine und hob ihm ihre Hüften entgegen, um noch
mehr von ihm zu bekommen. Er gab es ihr. Er bewegte seine Hüften in sanftestem Rhythmus,
der sich ganz langsam aufbaute, bis Hugo schließlich in ihr heißes Zentrum vorstieß. Hugo
fasste sie bei den Hüften und zeigte ihr, wie sie sich seinen Bewegungen anpassen, wie sie
sich noch weiter öffnen und wie sie ihn noch tiefer in sich aufnehmen konnte.
Sie glich sich dem von ihm gesetzten Rhythmus an, und ihr Körper wurde eins mit seinem
in einer Harmonie, die in ihrer Seele widerhallte.
Aus ihren leisen Aufschreien wurde ein heftiges Keuchen, das sich mit seinem vermischte,
als sie gemeinsam den ekstatischen Höhepunkt erreichten.
Wie von fern hörte sie ihn ihren Namen rufen. Seine Muskeln spannten sich an. Heftig
erschaudernd fand er die Erlösung gemeinsam mit ihr.
Meggie hatte alles Zeitgefühl verloren, wusste nur, dass ihr Herz nun ruhiger schlug und
sie wieder zu atmen vermochte: Sie fühlte sich körperlos, so als würde sie allein von Hugos
Gewicht festgehalten. Still und schwer lag er in ihren Armen, seine Stirn ruhte an ihrer
Schulter, und sein Herz schlug an ihrem.
Träge bewegte er seine Hände an ihrem Rücken. „Meggie, sage mir, dass du glücklich
bist."
„Ja, ich bin glücklich", antwortete sie und drückte ihre Lippen in sein weiches, feines und
von der Anstrengung noch feuchtes Haar. Er rollte sich auf die Seite, stützte sich auf einem
Ellbogen auf und schaute auf sie hinab. Mit der freien Hand zeichnete er eine Linie von ihrer
Schläfe zum Kinn.
„Gut." Er streichelte ihren Nacken. „Ich bin es ebenfalls. Ich will dir nicht vorlügen, dass
es keine anderen Frauen gegeben hätte, es waren sogar viele. Doch keine hat mich so berührt
wie du, meine süße Meggie. Keine einzige." Er führte ihre Hand an seinen Mund. Mit der
Zungenspitze liebkoste er erst zärtlich die empfindsame Haut an der Unterseite und dann ihre
Handinnenfläche.
„Du willst nur freundlich sein." Sie war plötzlich verlegen geworden. „Ich weiß, dass ich
noch viel zu lernen habe, doch vielleicht zeigst du mir beim nächsten Mal, wie du wirklich
möchtest, dass ich dich berühre. Ich ... du weißt, dass mir die Erfahrung fehlt."
Er atmete tief ein und langsam wieder aus. „Nein, so meinte ich das nicht. Ich weiß nicht,
wie ich es dir erklären soll, damit du es richtig verstehst, doch du musst mir glauben, wenn
ich dir sage, dass . . .", er machte eine Pause, als überlegte er sich jedes Wort ganz genau,
„...dass ich nie eine so vollendete Erfüllung gefunden habe."
„Oh." Mit einem Finger strich sie über seine Brust. „Das freut mich. Mir geht es ebenso.
Können wir es bald wieder tun?"
Er ließ seine Stirn an ihren Nacken sinken und unterdrückte sein Lachen. „Mmm", meinte
er und biss spielerisch I in ihr Ohrläppchen. „Sehr bald sogar und die ganze Nacht lang, falls
ich es schaffe, meine Kräfte zu bewahren. Ich merke schon, du wirst sie beanspruchen."
Meggie lächelte glücklich. „Ich werde mein Bestes tun“, versprach sie und fand, Hugo
habe eine sehr nette, wenn auch spitzfindige Art und Weise gefunden, ihr zu sagen, dass er sie
liebte.
Vollendete Erfüllung. Diese Umschreibung wollte sie sich für den zukünftigen Gebrauch
merken.
18. KAPITEL

„Was, zum Henker . . .?"


Hugo, der sich gerade zur Seite gedreht hatte, um Meggies zärtlichen und höchst
ansprechbaren Mund seine volle Aufmerksamkeit zu widmen, fuhr hoch und starrte wütend
auf die Glastüren, durch die gedämpft, doch unmissverständlich das Schreien und Heulen
eines randalierenden Mobs hereindrang.
Hugo fragte nicht danach, was die tobende Menge wollte, sondern gehorchte seinem
Überlebensinstinkt, und der sagte ihm, dass sofortiges Handeln ohne langes Nachdenken
angezeigt sei. Also schwang er die Beine über die Bettkante und griff sich seine abgelegte
Kleidung.
Die können doch nicht gekommen sein, um mich zu lynchen, weil sie vielleicht meinen,
ich triebe es mit der Ehefrau eines anderen, sagte ihm sein Verstand. Dieses hier ist die
Meine, und eines der örtlichen Mädchen habe ich auch nicht geschwängert - also weshalb
wollen die mich?
Jetzt setzte sich Meggie ebenfalls auf, zog sich das Laken über die Brüste und betrachtete
ihn strahlend lächelnd. „Wir bekommen anscheinend Besuch, wie du sicherlich hörst."
„Ich weiß nicht, was es da zu lächeln gibt." Meggie lebte in der Tat gefährlich, wenn sie
nicht einmal so viel Verstand besaß, um sich zu fürchten! „Möglicherweise wollen die unser
Haus abbrennen oder uns im Bett ermorden - Gott weiß, weshalb. Jedenfalls wohne ich hier
noch nicht so lange, um irgendetwas Verwerfliches angestellt zu haben."
„Mach dich nicht lächerlich." Meggie schien sich unge mein zu amüsieren. „Die wollen
dich doch nur hochleben lassen."
„Wie, zur Hölle, kommst du denn darauf?" Er streifte sich sein zerknülltes Hemd über. Der
verdammte Wolf! Ja, das musste es sein. Die Leute wollten Hadria ns sofortige Tötung
fordern!
„Nun, dies ist deine Hochzeitsnacht, und du bist der Gutsherr", antwortete sie, als wäre das
Erklärung genug.
„Genau. Meine Hochzeitsnacht, und die Leute wissen, wo mit ich beschäftigt bin - mit
meinen ehelichen Pflichten nämlich. Also sollten sie mich in Ruhe lassen. Wo ist überhaupt
dieser Roberte? Dessen Aufgabe ist es doch, den ungebetenen Mob vom Anwesen fern zu
halten."
„Hugo, das ist kein Mob, sondern das sind deine Pächter. Tritt auf den Balkon hinaus und
zeige dich ihnen, dann werden sie sich bald wieder verziehen. Sie wollen dir nur alles Gute
wünschen und dir danken."
„Wofür?" Jetzt fiel es ihm ein: Er hatte Coldsnap ja befohlen, für die Pächter heute Abend
eine Feier zu arrangieren, und die war offensichtlich in vo llem Gang. „Oh." Er kam sich recht
töricht vor, weil er gleich das Schlimmste angenommen hatte, doch er war es nun einmal nicht
gewohnt, als Held betrachtet zu werden. „An das Fest habe ich nicht mehr gedacht."
„Sieht ganz so aus." Meggie lachte leise. „Also dann los. Je länger du sie warten lässt,
desto lauter werden sie. Ach, und nur damit du es weißt: In deinem Haar hängen noch
Rosenblätter."
Hugo fuhr sich mit den Fingern über den Kopf. Dieses Le ben hatte überhaupt nichts mehr
mit dem zu tun, welches er noch vor dreißig Stunden geführt hatte - mit dem vollkommen
normalen Leben, wie es gewesen war, bevor er das Pflegeheim für Geistesgestörte betreten
und Meggie heraus geholt hatte. Anscheinend hatte er nicht nur Meggie, sondern sämtliche
Insassen herausgeholt. Andererseits - so richtig beklagen konnte er sich nicht.
Er öffnete die Glastür, trat auf den Balkon hinaus und schaute über das Geländer auf die
ausgelassene Menge hinunter. Die Leute sangen und schrien auf der mondbeschienenen
Rasenfläche.
Sobald man ihn sah, wurde das Gebrüll ohrenbetäubend. „Lord Hugo, Lord Hugo", riefen
die Leute rhythmisch, schwenkten Bierkrüge in die Luft, und auf allen Gesichtern lag ein
breites Grinsen.
Jede Menge Männer, Frauen und Kinder hatten sich versammelt, unter ihnen Reginald
Coldsnap, Roberte, Cookie und . . . Hugo verschluckte sich beinahe. In einem Anfall
fehlgeleiteter Solidarität hatte Cookie den verdammten Wolf mit angeschleppt, der nun mit
allen anderen drauflosheulte. Unglaublich - niemanden schien es zu stören.
Wie Meggie gesagt hatte, wollten sie ihm alles Gute wünschen. Das jedenfalls konnte er
den Rufen entnehmen.
„Segen über Sie, Eure Lordschaft! Möge Gott der Herr persönlich seinen Segen auf Sie
herabregnen lassen!"
„Vielen, vielen Dank, Sir! Das Festessen war großartig!"
„Und nachdem Sie jetzt verheiratet sind, wünschen wir Ihnen viel Freude und jedes Jahr
ein Mädchen oder einen Jungen!"
„Alle guten Wünsche, Lord Hugo, für eine glückliche und gedeihliche Zukunft! Ihre Feier
war ein großer Erfolg, der sehr gewürdigt wurde, wie Sie sehen", rief Coldsnap, den Hugo
wenigstens deutlich verstehen konnte.
„Für den schönen Abend bringe ich Ihnen einen echten Toast von Suffolk!" rief jemand
aus. „Auf den Mann meiner Frau, und runter mit dem Bier!" Der Pächter leerte seinen Krug,
schwankte hin und her und fiel dann zu Boden.
„Und runter mit dem alten Jimmy", fügte ein Grauhaariger hinzu, der Hugo vorkam, als
wäre er sein ganzes Leben lang betrunken gewesen. „Er hätte sagen müssen: ,Auf die Frau des
neuen Bräutigams, und runter mit dem Bräutigam'." Er lachte laut über seinen eigenen Witz,
versuchte dann, nüchtern zu erscheinen, und hob seinen Krug dem Balkon entgegen. „Danke,
Sir. Ich und die Meinen danken Ihnen. Nun sehen die zukünftigen Zeiten wieder rosig aus und
unsere vollen Bäuche auch."
„Hört, hört!" riefen alle zusammen.
Hugo traute seinen Ohren nicht. In seinen ganzen sechsundzwanzig Lebensjahren hatte
ihm noch niemand zugejubelt, zumindest nicht für irgendwelche ehrenhaften Taten. Er musste
schlucken und schalt sich einen sentimentalen Narren. Dennoch war er tief berührt von der
aufrichtigen Zuneigung, die ihm entgegenschlug. Er blinzelte seine Tränen fort und schämte
sich seines Mangels an Beherrschung. Seine Leute mussten schließlich einen starken Mann
vor sich sehen I und keinen winselnden Weichling!
Meggie erschien an seinem Rücken und legte leicht ihre Hand auf seine Schulter, als hätte
sie gespürt, dass er das jetzt brauchte. Er drehte sich um, legte ihr seinen Arm um die
schmalen Schultern und zog sie vorwärts, damit die Menschenmenge sie sah und auch ihr
zujubelte. Als er allerdings sah, wie sie gekleidet war, fürchtete er, die Leute könnten ein
wenig zu viel von seiner Gattin zu Gesicht bekommen.
Meggie war barfuss und trug nur ein Nachtkleid mit einem Schal darüber. Das offene Haar
fiel ihr über Schultern und Rücken. Der Mond übergoss sie mit seinem Licht, das über ihre
blonden Strähnen floss und sich in den Fasern ihres weißen Schals und des Nachtkleids fing,
wodurch wieder einmal die perfekte Illusion eines Engels entstand.
An seiner Seite schaute sie zu ihm hoch. Ein freudiges Lä cheln lag auf ihren Lippen, und
in ihren Augen spiegelte sich die Liebe.
Das Herz blieb Hugo fast stehen. Liebe? Allmächtiger! Es war schon schlimm genug, dass
sie dachte, er liebte sie, und jetzt liebte sie ihn auch noch? Was, zum Teufel, sollte er tun?
Als die Pächter Meggie sahen, brauste ein ohrenbetäubender Ruf auf und lenkte Hugo
vorübergehend von seiner Panik ab. Er wollte sich später damit befassen, viel später. Meggie
legte ihm einen Arm um die Taille und zog sich mit der freien Hand ihren Schal fester.
„Hallo", rief sie, als wäre es für sie etwas ganz Alltägliches, dass große Menschenmengen sie
lobpreisten. „Hattet ihr ein schönes Fest?"
Ein vielstimmiges Ja antwortete ihr.
„Gut. Mein Gatte ist ein sehr gütiger und großzügiger Mensch, nicht wahr?"
Die Rufe wurden zu einem tosenden Gebrüll. Lachend drehte sich Meggie zu Hugo um.
„Ich glaube, man mag dich."
Er konnte nur den Kopf schütteln und musste schlucken. Dann hob er eine Hand und
wartete, bis sich der Lärm gelegt hatte.
„Ich danke euch allen", rief er. „Es war sehr nett von euch, meiner Gemahlin und mir
Glück zu wünschen. Dasselbe wünsche ich euch ebenfalls, und möge uns allen gutes
Gedeihen beschieden sein." Erneut wartete er die zustimmenden Rufe ab. „Und da ihr jetzt
euer Vergnügen hattet, seid ihr vielleicht so freundlich, mich auch zu meinem zurückkehren
zu lassen."
Die Antwort darauf bestand aus kreischendem Gelächter, Pfiffen sowie einigen zotigen
Kommentaren. Hugo zog sich Meggie dicht an seine Seite und winkte.
„Richtig, Eure Lordschaft", brüllte Cookie. „Wir sollten jetzt alle unsere Betten aufsuchen.
Mir scheint, das wird heute noch eine stürmische Nacht."
Die Menschenmenge quittierte diese letzte Bemerkung mit Begeisterungsrufen und löste
sich dann langsam auf. Unter Absingen fröhlicher Lieder machten sich alle auf den Weg. Der
alte Jimmy wurde auf die Schulter gehoben und weggetragen.
Hugo hielt Meggie fest umschlungen und sah seine Pächter in die Nacht verschwinden.
Das Singen wurde immer leiser, bis nur noch der Wind in den Bäumen und das ferne
Tirilieren I einer Nachtigall zu hören waren.
Meggie lehnte sich gegen seine Schulter. „Das war wunderbar, wirklich wunderbar."
Er strich ihr sanft übers Haar. „Woher wusstet du das?" Sie neigte den Kopf zur Seite und
schaute zu ihm hoch. „Woher ich wusste, dass es wunderbar war? Also wirklich, Hugo -
manchmal frage ich mich, ob du meinst, ich hätte überhaupt keinen Geist."
„Unsinn", sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er hatte wieder einmal vergessen,
dass sie selbst die einfachste Feststellung anders als allgemein üblich interpretierte.
Fast wie zum Beweis seines Gedankens warf sie den Kopf zurück und wollte sich
ausschütten vor Lachen. „Siehst du - du kannst nicht beides haben, mein Guter. Entweder ich
soll dumm sein oder nicht. Du musst mir sagen, wie du's gerne hättest, denn wenn du es dir
ständig anders überlegst, bringst du mit Sicherheit meinen bereits verwirrten Geist
durcheinander."
Er wünschte, sie hätte ihn nicht an ihren gestörten Verstand erinnert. „Ich möchte dich
genau so, wie du bist", sagte er taktvoll.
„Meinst du das ehrlich?" In ihren Augen glomm dieses innere Licht, das ihm ans Herz
ging.
„Das meine ich ganz ehrlich", antwortete er aufrichtig. „Für mich bist du schön, Meggie.
Schön und lieb und unglaublich unschuldig."
„So unschuldig nun auch nicht mehr." Ein sündiges und Vollkommen irdisches Glitzern
trat in diese engelhaften Augen. „Und wenn man uns nicht unterbrochen hätte, wäre ich es
noch weniger."
„Keine Sorge. Ich habe ein Lesezeichen hinterlassen. Ich glaube, es war ungefähr hier." Er
nahm ihren lächelnden Mund gefangen, fuhr mit der Zungenspitze über die Konturen ihrer
Lippen und drängte sie dann auseinander, ehe er sanft in das Innere ihres Mundes eindrang.
„Mmm." Meggie seufzte beseligt, als sie den Kopf wieder hob. „Daran könnte ich mich
gewöhnen."
„Oh, das wirst du auch", versprach er und strich über ihr weiches Haar. Alles an Meggie
war weich - ihre Haut, ihr Atem, ihre Berührung. Und wie weich sie sich innerlich anfühlte,
so heiß, so feucht und glatt. . . Der Gedanke allein verstärkte schon seine Erregung.
„Hier draußen ist es so schön." Sie lehnte sich an Hugo, ohne sein immer größer
werdendes Verlangen zu bemerken. „Ich glaube, ich kann sogar das Meer riechen. Und wenn
man ganz genau lauscht, hört man hin und wieder den Schrei eines Küstenvogels. Ist das nicht
wunderschön?"
„Wunderschön", bestätigte er, wobei er sich keineswegs auf die Küstenvögel bezog.
„Heute ist Vollmond." Meggie schaute zu der strahlend goldenen Scheibe hinauf, die
zwischen der schwarzen Silhouette der leicht schwankenden Baumwipfel und den silbern
funkelnden Sternen hing. „Sein Licht macht Vögel und andere Tiere unruhig."
Hugo hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Nicht nur die Tiere! Doch er mahnte sich
streng zu warten. Im Augenblick war Meggie so glücklich und schwärmte drauflos . . .
sicherlich würde sie doch nicht ewig so weiterschwärmen?
„Hadrian hatte schon immer eine Vorliebe für den Vollmond", fuhr sie fort. „Ich freue
mich so, dass Cookie ihn mitbrachte."
„Wüsste ich's nicht besser, würde ich sagen, Hadrian hat wacker mitgesoffen - bei dem
ganzen Radau, den er machte", erwiderte Hugo.
„Oh, Hadrian hat nur den Mond angerufen."
„Den Mond angerufen?" Hugo hatte sich noch immer nicht an Meggies seltsame
Ausdrucksweise gewöhnt. „Was, zum Teufel, soll das nun wieder bedeuten?"
„Nun, dass er den Mond mit seiner Seele ansingt."
„Du denkst, dieser Wolf besäße eine Seele?" fragte Hugo zweifelnd.
„Gewiss. Jedes Wesen besitzt eine Seele, und jede Seele hat eine einzigartige Stimme.
Leider haben nur die meisten von uns Menschen vergessen, sie auch zu benutzen, weil wir be-
fürchten, die Kräfte unserer inneren Natur freizusetzen. Hadrian kennt diese Angst nicht. Er
feiert seine Wildheit, und mit seinem Lied ehrt er die Schöpfung und den natürlichen
Kreislauf des Lebens."
Hugo schaute sie nur an. Jetzt war das arme Mädchen tatsächlich nicht mehr zu retten.
„Wirklich." Sie lächelte ihm zu. „Du solltest auch einmal versuchen, den Mond
anzusingen. Es fühlt sich großartig an." Solange sie den Mond nicht in meiner Nähe anheult,
sollte es mir wohl möglich sein, diese letzte geistige Verwirrung zu ignorieren, dachte er.
„Das Heulen ist auch ein Teil des Rudelverhaltens", erläuterte sie. Hugos langes
Schweigen fiel ihr offenbar nicht auf. „Hadrian sieht uns als sein Rudel an, als seine Familie,
und da er wohl deine Pächter als Teil des großem Rudels betrachtet, fiel er in ihren Gesang
ein. Sie haben ihm doch das Gefühl gegeben, unter ihnen willkommen zu sein, nicht wahr?"
„In der Tat, und ich wollte schon danach fragen: Weshalb, meinst du, scheinen die Leute
gar keine Angst vor ihm zu haben? Wölfe sind schließlich gefährliche Raubtiere."
Meggie schaute über die Rasenfläche hinaus auf den Fluss, auf dessen Oberfläche sich das
Mondlicht silbern spiegelte. „Die Leute haben vielleicht deswegen keine Angst, weil er sich
nicht wie ein gefährliches Raubtier benimmt. Er ist lieb und sanft und freundlich, und er
verhält sich wie ein etwas zu groß geratener Hund, wofür er trotz seiner Augenfarbe meistens
auch gehalten wird. Jedenfalls mag er Menschen, und sie mögen ihn." Sie blickte zum
Himmel hoch, als wäre die Antwort dort zu finden.
Hugo rieb sein Kinn über ihren Scheitel. „Wahrscheinlich hast du Recht, doch ich glaube,
dir ist gar nicht klar, wie merkwürdig dieses blinde Zutrauen ist. Jeder vernünftige Bauer hätte
zu den Waffen gegriffen. Einen Moment lang glaubte ich vorhin wirklich, wir hätten den Mob
auf dem Hals, weil man Hadrian heute mit den Pferden laufen sah und ihm nun das Fell über
die Ohren ziehen wollte. Und mir gleich mit."
„Ich verstehe nicht, wie du auch nur eine Minute denken konntest, die Leute wollten etwas
anderes, als dir ihre Ehre zu erweisen. Du bist schließlich der Retter deiner Pächter, der Mann,
der sich an seinem eigenen Hochzeitstag die Zeit nahm, mit ihnen zu reden und ein Fest für
sie zu arrangieren, um ihre Moral zu stärken und ihre hungrigen Bäuche zu füllen."
„Ich würde mich nicht in so leuchtenden Farben malen". Er wünschte, seine Motive wären
wirklich so uneigennützig gewesen, und er wäre der Mann, den Meggie beschrieben hatte. Er
bekam ein schlechtes Gewissen und beschloss, ihr wenigstens einen kleinen Teil der Wahrheit
zu erzählen.
„Bitte höre mir zu", unterbrach sie ihn, ehe er mit seiner Erklärung beginnen konnte. „Ich
weiß, es macht dich verlegen, denn du bist ein sehr bescheidener Mensch, doch du musst
verstehen, weshalb du für deine Pächter so ein Held bist. Sieh es einmal aus ihrem
Blickwinkel: Jeder reiche Müßiggänger hätte Lyden kaufen können, um sich dann nicht mehr
um das Wohlergehen der Leute zu kümmern, als es diese gierigen Treuhänder taten. Natürlich
hatten deine Pächter große Angst davor, ihrem Schicksal überlassen zu werden, und
selbstverständlich sehen sie dich nun als ihren Retter an."
Hugo runzelte ein wenig die Stirn. Seine eigene Rede war vergessen, als er Meggies
überraschend akkuraten Ausführungen zu einer Situation hörte, von der er selbst erst heute
Morgen erfahren hatte.
„Woher weißt du das alles? Das mit den Pächtern und den Treuhändern, meine ich. Von
mir jedenfalls nicht."
Leicht errötend senkte sie die Lider. „Ich habe es mir zusammengereimt aus allem, was ich
hörte ..."
„Aha!" Er war erleichtert, weil er die Antwort direkt vor sich sah. „Die Mabey-
Schwestern! Sie konnten den Mund nicht halten, nicht wahr?"
„Sie erzählten mir etwas", gestand sie leise. „Und dann die Predigt des Vikars und Mr.
Coldsnap . . . Die Pächter erzählten mir ebenfalls etwas . . . Ich hörte doch gerade, was sie dir
zuriefen."
Meggie schien zu befürchten, zu viel gesagt zu haben. „Ent schuldige, du hast klargestellt,
dass ich mich weder in deine Angelegenheiten einmischen noch davon sprechen darf. . . dass
ich überhaupt nicht so vie l reden darf."
„Meggie, ich tadele dich doch gar nicht. Wie kommst du nur darauf?" Schon während er
das fragte, wusste er die Antwort. Er erinnerte sich an seine eigenen, in seiner maßlosen
Arroganz geäußerten Worte von gestern: ,Ich verlange von dir nur, dass du tust, was ich dir
sage, und dass du so wenig wie möglich redest.' „Bitte sprich weiter, Schatz. Ich will mir
anhören, was du denkst, wirklich."
Unter den Wimpern hervor warf sie ihm einen zweifelnden Blick zu. „Eigentlich gibt es
nichts mehr. Ich dachte nur, du solltest wissen, weshalb die Leute eine so hohe Meinung von
dir haben. Du hast heute viele Menschen glücklich gemacht, mich eingeschlossen, und dafür
werde ich dir für den Rest meines Lebens dankbar sein."
Hugo wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich war er derjenige, der für den Rest
seines Lebens dankbar sein sollte. Zwar wusste er nicht, wie es geschehen war, doch Meggie i
hatte sich langsam in sein Herz geschlichen und darin festgesetzt. Er wollte sie nicht
desillusionieren, doch ihm war klar, dass er es noch einmal tun musste, wenn er mit seinem
neu entdeckten Gewissen leben wollte.
„Meggie, ich bin weder heldenhaft noch ein Retter. Ich bin nicht edel, nicht bescheiden
und nicht einmal besonders anständig. Das musst du mir glauben."
Zur Antwort berührte sie nur mit den Fingerspitzen unend lich zärtlich seine Wange, und
als sie wieder sprach, schwang dieselbe Zärtlichkeit in ihrer Stimme mit. „Ich weiß aber, dass
du das alles und noch mehr bist", sagte sie, und ihre Augen leuchteten so sehr, dass Hugo
kaum noch Luft bekam. „Und alle anderen wissen das ebenfalls. Du bist der Einzige, der
deinen Wert nicht hoch genug ansetzt."
Darauf fiel Hugo keine Erwiderung ein, denn Meggies Be rührung und das Sternenlicht in
ihren Augen raubten ihm jede Konzentration. Der Schal war ihr von den Schultern gerutscht
und auf den Boden geschwebt. Die Schatten der Nacht verwandelten das weiße Nachtgewand
in dunkles Blauviolett, und das Mondlicht beleuchtete sie verführerisch, Während sie sich mit
dem Rücken an das Balkongeländer lehnte.
Hugo konnte nicht anders, als die Silhouette ihrer schlanken Gestalt zur Kenntnis zu
nehmen. Ebensowenig vermochte er es, das lange, wohlgeformte Bein zu ignorieren, welches
das vorn offene Gewand freigab, und er konnte auc h die rosigen Brustspitzen nicht übersehen,
die sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten.
„Falls ich meinen Wert ansetzte, würde ich feststellen, dass ich verarmt bin", brachte er
heraus, als ihm einfiel, dass er ihr noch eine Erwiderung schuldete.
Lächelnd schüttelte Meggie den Kopf. „Vielleicht kennst du ja deinen Wert tatsächlich
nicht, und das hieße, dass es irgendetwas gibt, das ich dich lehren kann." Mit den Fingern
strich sie leicht über die Linie seiner Lippen, erhob sich dann auf die Zehenspitzen und küsste
ihn ganz zart dort, wo eben noch ihre Finger gewesen waren.
Hugo legte ihr die Arme fester um den Rücken und zog sie zu sich heran. Er ließ sich
jedoch von ihr führen und lieferte sich ihr aus wie noch nie zuvor einer Frau.
Ein Gefühl der Überraschung und des Entzückens durchrieselte ihn, als Meggie die
Initiative übernahm, ihre Zunge in seinen Mund gleiten ließ und seine umspielte. Überaus
sanft biss er ihr in die Zungenspitze und zog sie sich zwischen die Zähne. Er verführte Meggie
zu einem intimen Spiel der Zungen in seinem Mund, auf den sie sofort reagierte, bis er sie am
liebsten gleich hier auf dem Boden genommen hätte.
Aufs Neue überraschte sie ihn. Während er sich hoch in dem wilden Kuss verlor, glitten
ihre Hände zu seiner Brust hinunter und strichen über sein halb offenes Hemd. Sie ließ die
Finger unter den Stoff gleiten. Mit den Daumen umspielte sie seine Brustwarzen und
liebkoste sie so, wie er es zuvor bei ihr getan hatte, bis er die Zähne aufeinander presste, um
der intensiven Freude Herr zu werden.
Zu seinem Bedauern zog Meggie ihre Hände wieder fort, legte sie jedoch an die unteren
Hemdknöpfe, welche er vorhin in der Eile gerade noch hatte schließen können. Jetzt löste sie
sie wieder, zog ihm das Hemd aus der Hose und schob es beiseite. Ihr Mund glitt über seine
heiße Haut, schloss sich um seine hart gewordenen Brustwarzen, zog und sog daran, bis er
kaum noch zu atmen vermochte.
„Meggie", stöhnte er, schob seine Finger in ihr Haar, und seine Beine zitterten vor
Anstrengung, die Beherrschung nicht zu verlieren. „Meggie ..."
Sie antwortete nicht. Stattdessen tastete sie flink nach seinem Gurtband und öffnete auch
dort die Knöpfe. Für Hugo war es schier unerträglich, wie sich ihre Fingerspitzen bei der
kleinsten Bewegung an seine erregte Männlichkeit drückten. Schließlich befreite sie ihn, doch
dabei blieb es nicht.
Als Hugo schon dachte, sie würde vielleicht doch noch von jungfräulicher Scheu gepackt
werden, schloss sie die Finger um ihn. Hugo presste die Zähne aufeinander. Er atmete schwer
und rau, während sie ihn sanft und ohne jedes Zeichen von Gehemmtheit streichelte. Seine
Beine drohten nachzugeben, als sie die ganz besonders empfindliche Spitze, umfasste und ihn
dann rhythmisch liebkoste.
Er stöhnte auf und griff noch fester in ihr Haar.
„Schatz, ich warne dich", presste er keuchend hervor. „Wenn du so weitermachst, werde
ich dir keine Freude mehr bereiten können." Behutsam nahm er ihr Handgelenk, zog es sich
wieder an die Brust und drückte es sich flach an die Haut. Gleichzeitig ließ er seine andere
Hand über die feste Rundung ihres Pos hinuntergleiten und hob ihr das Nachtgewand bis zur
Taille hoch. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit, dachte er.
Leise und erregt seufzte sie, als er nach dem daunenweichen gelockten Haar tastete. Jetzt
schob er seine Hand zwischen ihre Schenkel. Ihr Moschusduft berauschte ihn noch mehr,
während er die Finger tief hineingleiten ließ.
Meggie zitterte wie ein Blatt im Wind. Sie klammerte sich an seinem Nacken fest, spreizte
die Beine. Die kleinen, spitzen Schreie, die sich ihrer Kehle entrangen, versuchte sie an seiner
Schulter zu ersticken.
Ihm war klar, dass er sie unverzüglich hinein und ins Bett bringen sollte, doch ebenso klar
war ihm, dass er das nicht mehr schaffen würde, denn sowohl er als auch Meggie standen
kurz vor dem Höhepunkt.
„Meggie, Süße ..." Er zog sie in die Schatten und lehnte sie gegen die Mauer. Dort hob er
sie an, legte sich ihre Beine um die Taille und zog ihre nackten Schenkel auf sich herunter.
Ohne eine Sekunde des Zögerns drang er in sie ein. Sie umfing ihn, hieß sein Eindringen
willkommen und drängte sich ihm entgegen.
Hugo konnte zwar schon auf viele Jahre sexueller Erfahrung zurückblicken, doch noch nie
hatte eine Frau so schnell und so wild auf ihn reagiert wie Meggie. Noch nie hatte er so viel
von sich selbst gegeben. Stets war er bestrebt gewesen, ein gewisses Maß an Kontrolle zu
behalten. Niemals hatte er sein Herz ganz hingegeben. Jetzt war ihm das nicht mehr möglich -
nicht bei Meggie.
„Hugo", keuchte Meggie. Noch kramp fhafter hielt sie sich an ihm fest, warf den Kopf
zurück und schloss die Augen.
„Hugo, es geschieht wieder ... oh, das halte ich nicht aus ..."
„Lasse es geschehen. Liebste. Lass es zu." Er barg seinen Mund an ihrer Kehle. Er wollte
sein eigenes Fieber dämpfen, wusste indes zu gut, dass er verloren wäre, wenn die Woge erst
einmal den Scheitelpunkt erreicht hatte. Und schon wurde er in die Brandung hineingezogen.
Meggie schluchzte auf. Die Woge der Ekstase ereichte ihren Höhepunkt und brach. Die
krampfartigen Zuckungen übertrugen sich auf Hugo, und schließlich fand auch er die
Erlösung - den Weg nach Haus, nach Haus zu ihr.
Endlich daheim . . .
19. KAPITEL

6. Juni 1822
Lyden Hall bei Orford
Suffolk

Sehr geehrte Herren Gostrain, Jenkins and Waterville, ich schreibe Ihnen, um Sie über
meine Eheschließung zu informieren. Das glückliche Ereignis fand gestern auf Grund einer
Sonderlizenz hier auf Lyden Hall statt.
Wie ich bereits Mister Gostrain erläuterte, stammt meine , Gattin, die geborene Madrigal
Anna Bloom, aus Suffolk und hat keine Angehörigen. Ihre Mutter Margaret starb bei der
Geburt der Tochter, die sie als mittellose Waise zurückließ.
Von dem Vater ist mir - wie auch meiner Gattin - nur bekannt, dass er einige Monate vor
seiner Ehefrau ablebte. Meine Gattin verbrachte die ersten neun Jahre in der Obhut einer
Witwe und wurde nach deren Tod in das Waisenhaus von Ipswich gebracht, wo sie sich in der
Obhut der Nonnen befand.
Meine Gattin ist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, also volljährig, so dass ich Ihnen
versichere, dass kein Einwand gegen die Rechtmäßigkeit unserer Eheschließung erhoben
werden kann.

Hugo las sein Schreiben noch einmal durch und warf dann die Feder angewidert von sich.
Wie er sich hasste für das, was er tat. . . was er bereits getan hatte!
Gewiss wäre Meggies Geld ihm bei Eheschließung ohne hin zugekommen, und falls sie in
dem Pflegeheim geblieben wäre, hätte sie auch keinen Bedarf dafür gehabt. Mit Sicherheit
wäre sie nicht so glücklich gewesen wie jetzt, da er sie zu seiner Ehefrau gemacht hatte.
Weshalb also fühlte er sich wie der allerletzte Betrüger?
Weil ich niemals auf die Idee gekommen sein würde, sie zu heiraten, wenn sie nicht mit
vierhunderttausend Pfund ausgestattet gewesen wäre, gab er sich selbst die Antwort. Also
hatte er etwas gestohlen - oder war dabei, es zu stehlen -, von dem sie nicht einmal wusste,
dass es ihr gehörte.
Und was noch verwerflicher war, er hatte sie belogen. Er hatte ihr erzählt, er wolle sie
heiraten, weil er sie seit Wochen liebte. Das hatte sie geglaubt und in die Heirat eingewilligt.
Das Verrückteste an der ganzen Situation war, dass es jetzt keine Lüge mehr war. Er liebte
sie tatsächlich und aus ganzem Herzen. Dabei gestand er sich ein, dass er sich noch nie in
seinem Leben mit einer anderen Person so verbunden ge fühlt hatte wie mit ihr, als brauchte er
vor ihr nichts von sich zu verbergen. Mit Ausnahme seiner Lügen natürlich . . .
Er schüttelte den Kopf, denn er wusste, dass nichts seine Schande geringer machen konnte.
Meggie zu lieben vergrößerte sie eher noch, denn ihm blieb keine andere Wahl, als seine
Täuschung fortzusetzen. Die Gründe dafür würde sie nie begreifen. Ihr Herz war viel zu gut
und ihr Geist zu schlicht, als dass sie die Realität der Welt und die manchmal notwendigen
Täuschungen verstehen würde.
Den ganzen Schlamassel hätte er sich ersparen können, wenn er nicht ein solcher Idiot
gewesen wäre und sein ganzes Geld verloren hätte. Dann wäre er auch nie in die Kanzlei des
Advokaten gegangen, hätte nichts von Meggies Vermögen erfahren und würde sie auch nicht
geheiratet haben. Und er hätte niemals solches Glück erfahren.
Das tröstete ihn zwar nur wenig, doch er hatte seinem Gewissen noch einen zweiten Trost
zu bieten, und so nahm er die Feder wieder zur Hand und setzte seinen Brief fort.
Die wenig glanzvolle Vorgeschichte meiner Gattin erwähne ich nur, um Sie über die
Wahrheit zu informieren, weil es vermutlich bösartiges Gerede wegen unseres Standesunter-
schieds geben wird. Ich erwähne es auch, damit Sie verstehen, weshalb meine Gattin keine
Mitgift in die Ehe einbringt, was mein folgendes Anliegen erklärt.
Ich bitte Sie, mich auf Lyden aufzusuchen und mit mir ein rechtmäßiges Dokument
aufzusetzen, mit dem meine Gattin im Falle meines Todes mit einem Versorgungssanteil
ausgestattet wird. Ebenfalls möchte ich Anteile für die Kinder, die uns geboren werden
könnten, sowie eine Summe Geldes zur persönlichen Verfügung meiner Gattin während
meiner Lebzeiten aussetzen.
„Ihr sehr ergebener . . . und so weiter, und so fort", murmelte Hugo vor sich hin und setzte
seine schwungvolle Unterschrift darunter. Er löschte die Tinte ab, las sich alles noch einmal
durch und war mit dem Geschriebenen zufrieden. Er hatte den Advokaten genug
Anhaltspunkte gegeben und dabei alles weggelassen, was sie veranlassen könnte, ihm
Kenntnis von Meggies Erbschaft zu unterstellen.
Er erwartete, dass sie in ungefähr vierzehn Tagen vor seiner Tür stehen würden, und bis
dahin blieb ihm nur zu beten, dass James Gostrain vergessen hatte, dass Hugo in seinem Büro
gewesen war, als die Unterhaltung über Margaret Bloom und deren Kind stattgefunden hatte.
Er faltete, adressierte und versiegelte den Brief und legte ihn zum Versand bereit. Danach
machte er sich an die weit schwierigere Aufgabe, seiner Mutter zu schreiben.

„Du lieber Himmel! Große Güte!" Eleanor, Dowager Duchess of Southwell, setzte ihre
Lesebrille ab und blickte auf den Brief in ihren Händen. Sie konnte ihn unmöglich richtig
gelesen haben.
„Was haben Sie, Mama?" Rate schaute von seinem Frühstück auf und hob fr agend eine
Augenbraue. „Gewöhnlich äußern Sie sich weniger wortreich zu ihrer Korrespondenz. Was ist
geschehen? Ist vielleicht Hermione Horsley endlich verblichen und hat Platz auf dem
gesellschaftlichen Thron gemacht? Oder hat Lady Stanhope eine weitere geheimnisvolle
Debütantin herausgebracht und die nächste Ehe der Saison gestiftet?"
Eleanor warf ihrem Sohn einen entnervten Blick zu. „Falls du dich auf deine eigene Ehe
beziehst, mein Lieber, dann solltest du nicht vergessen, wer dafür verantwortlich war -gewiss
nicht Sarah Stanhope. Für meinen Plan war sie nur eine Art Beiwerk. An deiner Stelle würde
ich jedoch dieses lächerliche Grinsen aus dem Gesicht nehmen, oder du wirst dir gleich sehr
töricht vorkommen. Dieses hier sind nämlich wirkliche Neuigkeiten, und sie betreffen dich
ebenso wie mich."
„Dann heraus damit." Rate stützte den Kopf auf die Faust. „Ich möchte nämlich wieder
hinauf zu Lucy und unserem Sohn gehen."
„Vernarrt bist du! Ich habe noch nie erlebt, dass ein Vater so viel Aufhebens von einem
Neugeborenen gemacht hätte."
Sie winkte ab und verbarg hinter dieser Geste ihren eigenen riesigen Stolz auf ihren
kleinen Enkelsohn, der vor zwei Ta gen ohne viel Wirbel zur Welt gekommen war. „Also gut,
ich werde es dir sagen. Dieser Brief kommt von deinem Bruder."
Rate wurde wieder ernst. „Aha. Und was hat Hugo jetzt wieder angestellt? Zuletzt hörte
ich, dass er in London den großen Edelmann spielt und an allen vornehmen Gesellschaften
teilnimmt in der Bemühung, zu einem guten Ruf zu kommen. Ich nehme an, nun ist er wieder
zu seinen schlechten Gewohnheiten zurückgekehrt." Er rieb sich die Stelle zwischen seinen
Augenbrauen, als wären Kopfschmerzen im Anzug. „Ich werde ihm nicht wieder aus seinen
Schwierigkeiten heraushelfen. Schließlich hat er mir versprochen, sich zu ändern."
„Du fällst ein zu vorschnelles Urteil über deinen Bruder, Liebling. In der Tat versprach er,
sich zu ändern, und das hat er anscheinend auch auf eine Weise getan, die ich nie erwartet
hätte." Sie reichte ihm die erste Briefseite, damit er die erstaunlichen Neuigkeiten selbst lesen
konnte.
Schweigend las Rate. „Was, in Gottes Namen..." Er blickte seine Mutter an. „Verheiratet?
Hugo? Mit einer mittellosen Waisen von - woher? Ist Woodbridge nicht die Kleinstadt, wo
sich Eunice Kincaids Pflegeanstalt befindet?"
„Richtig, doch das Heim liegt drei Meilen außerhalb der Ortschaft", antwortete die
Dowager Duchess geistesabwesend. „Nein, das Interessante daran ist, dass Hugo nicht nur
einfach eine mittellose Waise, sondern ausgerechnet Meggie Bloom geheiratet hat."
Rate betrachtete seine Mutter, als litte sie an Geistesverwirrung, was sie wiederum unter
diesen Umständen amüsant fand. „Vielleicht sollten Sie das ein wenig näher erklären.
Offensichtlich wissen Sie etwas über das Mädchen, und da Sie sich nicht unter mittellosen
Waisen zu bewegen pflegen, muss ich mich doch fragen, weshalb Sie mir bisher nichts gesagt
haben."
Eleanor schenkte ihrem Sohn ein nachsichtiges Lächeln. „Mein lieber Junge, du wirst doch
nicht annehmen, ich würde dir alle Einzelheiten meines geschäftigen Lebens erzählen. Dabei
würdest du dich zu Tode langweilen."
„Haben Sie wieder einmal eine Ehe gestiftet?" erkundigte sich Rate.
„Nicht im Geringsten. Die Nachricht überrascht mich ebenso wie dich. Ich weiß nicht, was
ich davon halten soll. Ich kann mir nur denken, dass Hugo Meggie im vergange nen März traf,
als ich ihn an meiner Statt nach Woodbridge schickte. Ich litt nämlich an einer fürchterlichen
Erkältung, und da Hugo ohnehin in diese Richtung reiten wollte, dachte ich, er könnte dort
etwas für mich erledigen."
„Sie haben Hugo geschickt, um diese Irre zu besuchen?" Rate war entsetzt. „Mama, was
dachten Sie sich dabei?"
„Sei nicht albern, Raphael. Ich schickte Hugo mit einem Bankwechsel und einem Brief zu
der Anstaltsleiterin."
„Meine Advokaten haben doch bereits ein kleines Vermögen für Eunice Kincaids
Unterhaltskosten bezahlt. Weshalb senden Sie noch mehr Geld an diese Anstalt?" Rate kratzte
sich den goldblonden Kopf. „Entschuldigung, doch das begreife ich nicht. Würden Sie bitte
etwas deutlicher werden?"
Die Dowager Duchess war sich nicht sicher, wie ihr Sohn auf die ganze Wahrheit reagieren
würde. „Du weißt, dass die Pflegeanstalt von Woodbridge ein ruhiges Heim nahe der Küste
von Suffolk ist, eine ideale Umgebung für Menschen mit geistigen Störungen. Indes erzählte
ich dir nicht, dass ich eine Schirmherrin dieser Institution bin."
Rate war verblüfft. „So, eine Schirmherrin. Wie lange sind Sie das denn schon?"
„Seit du ein Junge warst."
„Und trotzdem sagten Sie nic hts davon, selbst als Sie Eunice dort einliefern ließen?"
„Dafür sah ich keine Notwendigkeit. Du hast dich nie für meine wohltätigen Aktivitäten
interessiert. Warum auch?"
„Jetzt bin ich daran ungemein interessiert." Er warf Hugos Brief auf den Tisch. „Doch
sprechen Sie nur weiter. Wie kam es dazu, dass Sie die Schirmherrin einer Irrenanstalt
wurden?"
„Eines Pflegeheims, Schatz. Ich finde, ,Irrenanstalt' ist ein wenig zu barsch ausgedrückt."
„Mir ist es gleichgültig, wie Sie dieses verdammte Etablissement nennen. Ich will wissen,
wie und warum es zu Ihrer Verbindung damit kam."
Die Dowager Duchess wusste, dass sie sich hier auf ge fährliches Gebiet begab. „Nun, kurz
nach dem Tod deines Vaters half ich, dieses Pflegeheim zu gründen, und seitdem hatte ich
stets ein Auge darauf. Es ist wirklich ganz reizend dort." Sie trank einen großen Schluck
Kaffee und versuchte, angesichts von Rates gnadenloser Befragung die Fassung zu bewahren.
„Sie gründeten das Pflegeheim also nach dem Tod meines Vaters", fasste er zusammen.
„Weshalb taten Sie das?"
„Ich wollte sicherstellen, dass hilfsbedürftigen Menschen auch dann geholfen wurde, wenn
sich die eigene Familie nicht ordentlich um sie kümmern konnte."
„Verstehe." Rate nickte. „Ich kann mir Ihr Interesse daran durchaus vorstellen, wenn ich an
Papas wiederholte Anfälle von Melancholie denke."
„Ja. Genau das ist es." Sie war erleichtert, dass er von selbst darauf gekommen war. Seit
sie ihm vor einem Jahr die Wahrheit über die Krankheit seines Vaters sagte, hatte er dieses
Thema nicht mehr erwähnt. „Es gab nämlich Zeiten", fuhr sie fort, „da dachte ich, deinem
Vater würde es bei professioneller Pflege besser gehen, nur existierte zu dieser Zeit eine
solche Institution noch nicht."
„Ich nehme an, Sie hofften, mit einer solchen Einrichtung könnten andere Menschen, die
so waren wie er, vor ihren eigenen destruktiven Handlungen bewahrt werden."
Rate hatte doch nicht etwa den Rest der Wahrheit erraten? Nur wie sollte er? Sie war doch
so vorsichtig ge wesen. Lieber Gott, betete sie im Stillen, lasse ihm dieses eine kleine
Stückchen Unschuld - das Angedenken seines Vaters!
Die Dowager Duchess bemühte sich, äußerlich die Fassung zu bewahren, während ihr Herz
vor Panik flatterte. „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht ganz."
„Nein? Dann will ich deutlicher werden. Mich beschleicht der Verdacht, dass Sie mehr
über Papas Todesumstände wissen, als ich bisher annahm."
„Was sollte ich sonst noch darüber wissen? Du warst doch derjenige, der nach diesem
schrecklichen Unfall seine Leiche entdeckte, Liebling. Gleich danach erzähltest du mir alles,
was du gesehen hattest..."
„Alles nicht, Mama." Er stand auf, trat ans Fenster und wandte ihr den Rücken. „Ich
glaube, Sie haben mir ebenfalls nicht alles erzählt. Ich denke, wir sollten endlich aufrichtig
zueinander sein. Mir wäre die Wahrheit jetzt lieber als ein Bündel Halbwahrheiten und
Ausflüchte." Unvermittelt fuhr er herum und blickte ihr durch den Raum hindurch direkt ins
Gesicht. „Ich will Sie nicht bedrängen, doch ich möchte eine Antwort haben."
Da merkte die Dowager Duchess, dass er es wusste, schon immer gewusst hatte. Am
liebsten wäre sie jetzt gestorben, denn sie hatte sich so sehr bemüht, ihre beiden Söhne vor der
grimmigen Realität des Selbstmordes des Dukes zu beschützen. Keinem der beiden hatte sie
diese Bürde zumuten wollen.
Jetzt wusste sie, dass sie versagt hatte. Mit ihrem Schweigen hatte sie Raphael nicht nur
gezwungen, diese Last zu tragen, sondern sie auch noch ganz allein zu tragen. Er hatte
ebenfalls Schweigen bewahrt und war deshalb ein beherrschter, verantwortungsbewusster
Neunjähriger geworden, der zu einem beherrschten, verantwortungsbewussten Mann heran-
gewachsen war. Von seinen Gefühlen hatte er nichts preisge geben, bis er Lucy und mit ihr ein
gewisses Maß an Frieden gefunden hatte.
Die Dowager Duchess raffte ihren Mut zusammen. Sie schuldete ihrem Sohn nicht nur eine
Antwort, sondern die volle Wahrheit. „Ich gründete das Pflegeheim, weil ich nicht wusste,
wie ich sonst mein Gewissen erleichtern sollte", gestand sie und blickte ihm in die Augen.
„Ich tat es, weil ich keine andere Möglichkeit wusste, mit der Schuld und dem Schmerz über
den Tod deines Vaters umzugehen. Ich tat es, damit andere Ehefrauen und Kinder nicht mehr
unnötigerweise ihre Eltern verloren. Hast du verstanden, Raphael? Muss ich noch deutlicher
werden?"
„Ich danke Ihnen, Mama", sagte er und blickte zu Boden. „Dieses Eingeständnis war
gewiss nicht einfach, doch Sie ahnen ja nicht, wie sehr es mich erleichtert, dass ich nun
endlich offen über das Geschehene sprechen kann. In all den vielen Jahren glaubte ich, Sie
vor der Wahrheit bewahren zu müssen."
„Das war es doch, was ich für dich zu tun versuchte! Deshalb schwieg ich."
Rate hob den Kopf. „Sie schwiegen, obwohl Sie wussten, dass Vaters Tod kein Unfall war.
Sie wussten, dass er sich absichtlich den Gewehrlauf an die Kehle gehalten und dann den
Abzug betätigt hatte. Nach dem, was ich Ihnen eben sagte, muss Ihnen klar sein, dass ich das
alles mit angesehen habe. Damals sah ich ihn mit dem Gewehr hinausgehen und dachte, er
hätte vergessen, mich mitzunehmen. Ich rannte ihm hinterher und nahm die Abkürzung durch
den Wald. Gerade als ich zwischen den Bäumen herauslief, drückte er ab. An seiner Absicht
bestand kein Zweifel."
„Mein lieber Junge, ich kann nur sagen, dass es mir sehr, sehr Leid tut..." Sie wischte sich
die Tränen ab, die ihr in die Augen getreten waren. „Du sagtest nur, du hättest seine Leiche
auf dem Acker gefunden, und weil du nie wieder davon sprachst, dachte ich, du wolltest keine
bösen Erinnerungen aufwühlen. Nur deshalb schwieg ich."
„Mama, sagen Sie mir noch dieses: Woher kannten Sie die Wahrheit, zumal Sie doch nicht
dabei waren?"
Die Dowager Duchess nickte, und die Tränen strömten ihr über die Wangen. „Ich wusste
es einfach. Manchmal sagte dein Vater in seinen Verzweiflungsanfällen Dinge, mit denen er
mich furchtbar erschreckte, weil ich ahnte, dass er sie halbwegs ernst meinte." Sie tupfte sich
die Wangen mit der Serviette ab. „An jenem letzten Morgen ging er in fürchterlicher
Verfassung in seine Bibliothek. Er schrie und tobte." Sie schloss die Augen.
„Bitte, Sie brauchen nicht darüber zu sprechen", sagte Rate leise. „Sie regen sich nur auf,
und das wollte ich nicht."
„Es ist längst an der Zeit, dass ich spreche. Du hast ein Recht auf Wahrheit." Sie holte tief
Luft. „Zwar hatte ich immer Angst vor dem, was er tun könnte, doch nachdem seinen
Drohungen nie Taten gefolgt waren, redete ich mir ein, aus ihm spräche nur die Umnachtung.
Er erholte sich auch stets wieder, und das Leben ging weiter."
„Also ließen Sie ihn allein, als er sich in die Bibliothek zurückzog."
Sie nickte. „Ich wusste nie, wie lange seine Anfälle andauerten, und diesmal hatte er schon
tagelang getrunken. Er schloss und verriegelte die Tür, und ich dachte, er wollte - wie schon
so oft - seinen Rausch ausschlafen. Doch diesmal schlüpfte er aus dem Haus und tat, was er
schon lange ange droht hatte." Sie presste sich die Stirn gegen die Hand, als könnte sie so ihre
Schuldgefühle verdrängen.
Rate durchquerte das Zimmer, kniete sich vor sie und legte seine Hand über ihre. „Es war
ebensowenig Ihre Schuld wie meine, Mama. Wir mögen uns quälen mit dem, was wir hätten
tun können oder sollen, doch nichts davon bringt ihn uns wieder zurück. Wir müssen uns
selbst davon freisprechen und weiterleben. Wir haben uns etwas vorgelogen, um uns
gegenseitig zu beschützen, und dabei schafften wir es, uns in der kalten Einsamkeit zu
verschließen. Vermutlich haben wir Hugo dasselbe angetan."
„Liebling, dein Bruder - weiß er, dass sein Vater Selbstmord begangen hat?"
Rate fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte schwer. „Nein. Ich glaube auch nicht,
dass er etwas vermutet, und ich hoffe, dass es dabei bleibt. Mit fünf Jahren den Vater zu
verlieren war für ihn schlimm genug. Ich erinnere noch, wie verzweifelt er war und wie Leid
es mir für ihn tat. Er war immer ein so sonniger, fröhlicher kleiner Bursche ge wesen, der nur
Unsinn im Kopf hatte und alle zum Lachen brachte, doch nach dem furchtbaren Tag schien
das Licht in seinen Augen zu verlöschen, und obgleich er immer so tut, scheint es nie wirklich
zurückgekommen zu sein."
„Ich weiß", sagte die Dowager Duchess leise. „Ich mache mir über ihn schon seit langem
die größten Sorgen, doch nicht wegen des Glücksspiels und des anderen Unsinns, sondern
weil ich glaube, Hugo weiß gar nicht, wer er ist. Bei ihm muss ich etwas falsch gemacht
haben. Ich war ihm wohl keine so gute Mutter..." Sie wischte sich die aufs Neue fließenden
Tränen mit zitternden Fingern fort.
„Machen Sie sich doch keine Vorwürfe. Sie waren uns beiden eine wunderbare Mutter."
Rate reichte ihr sein Ta schentuch. „Ich habe mir selbst die Schuld an seinen Schwie rigkeiten
gegeben. Um die Wahrheit zu sagen, ich dachte immer, der wirkliche Hugo wäre nach Papas
Tod verschwunden. Erinnern Sie sich? Er schloss sich im Kinderzimmer ein, weigerte sich
wochenlang herauszukommen, und als er es endlich tat, war er ein anderes Kind - heikel,
rebellisch und äußerst nervös."
„Ja, ich entsinne mich. Ich war so in meine Trauer versunken, dass ich euch beiden nicht
die nötige Aufmerksamkeit schenkte, doch ich erinnere mich, dass ich ebenfalls dachte, er
wäre nicht er selbst. Für diese Veränderung machte ich den Schock und die Traurigkeit
verantwortlich, doch er hat seine Schwierigkeiten nie überwunden, nicht wahr?"
„Nein, obwohl ich letztes Jahr den alten Hugo ein paar Mal habe aufblitzen sehen, was
mich wieder hoffen ließ . . . Ach, Mama", sagte er mit einem Lachen und nahm den Brief
wieder zur Hand, „wir zerbrechen uns hier den Kopf über die Vergangenheit, und dabei
sollten wir an die Zukunft denken. Hugo hat geheiratet!"
Eleanor wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Ja, das hat er. Ich vermag es noch
immer nicht zu glauben."
„Ich auch nicht. Doch klären Sie mich einmal auf - wer ist diese Meggie Bloom?" Rate
erstarrte plötzlich. „Nein, o nein, sagen Sie mir nicht... sie ist doch keine . . . oder doch? Dann
hätte er sie bestimmt nicht heiraten dürfen. Oder doch, falls sie zu diesem Zeitpunkt gerade
bei Verstand gewesen wäre . . . O du lieber Himmel, was hat er da nur wieder getan?"
Eleanor lachte fröhlich, was sie von den düsteren Empfindungen der letzten halben Stunde
befreite. „Kein Grund zur Sorge! Glücklicherweise gibt es eine ganz andere Erklärung.
Meggie Bloom arbeitet - arbeitete - im Pflegeheim. Zwar lernte ich sie nie kennen, doch mir
wurde berichtet, sie sei ein reizendes, sehr mitfühlendes Mädchen und könne ganz
hervorragend mit den Gestörten umgehen."
„Das dürfte Hugo wohl weniger kümmern", meinte Rate spöttisch. „Ist das Mädchen eine
überwältigende Schönheit?"
Die Dowager Duchess dachte nach. „Das weiß ich nicht", antwortete sie dann. „Schwester
Agnes, die Nonne, welche die Anstalt leitet, äußerte sich nicht dazu, und warum auch? Sie
weiß schließlich, dass ich mich nur für die Pflege interessiere, die den Patienten zuteil wird.
Von Meggie Bloom sprach sie nur im Zusammenhang mit deren ausgezeichneter Arbeit."
„Merkwürdig, dass Hugo das Pflegeheim nicht erwähnt. Er schreibt, er habe Meggie in
Woodbridge getroffen."
„Vielleicht hat er sie ja tatsächlich im Ort kennen gelernt. Sie ist schließlich nicht
eingesperrt, und Woodbridge ist das größte Dorf in der Nähe von Lyden."
Nachdenklich rieb sich Rate mit dem Daumen über die Unterlippe. „Mama, wäre es
möglich, dass dieses mittellose Mädchen fand, Hugo sei ein netter Fang, den es sich nicht
entgehen lassen sollte? Die Heirat scheint reichlich überstürzt zu sein, und angesichts des
Standesunterschieds hätte die Frau dabei viel zu gewinnen, wenn sie es richtig anstellte."
Der Dowager Duchess stockte der Atem. „Meinst du, er hätte sie ... Liebe Güte, daran habe
ich nicht gedacht! Oh, das wäre aber sehr unglücklich."
„Mmmm", machte Rate und las die Seite noch einmal. „Andererseits schreibt er, er liebe
sie sehr und sei glücklicher denn je. Er muss sie in der Tat sehr lieben, wenn er eine mittellose
Waise heiratet, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich wirklich so verhält. Es wäre
eine unge heuer selbstlose Tat, ein solches Mädchen zu ehelichen, und für seine
Selbstlosigkeit war Hugo nie bekannt."
„Nein, ganz im Gegenteil", stimmte die Dowager Duchess zu.
„Jedenfalls würde Hugo immer sagen, dass er sie liebte, wenn er versuchte, der Sache
einen guten Anstrich zu geben, und Sie wissen ja, dass er sich bemüht, seine Fehler zu
übertünchen."
„Menschen werden erwachsen, mein Guter", bemerkte Eleanor, um ihren jüngeren Sohn zu
verteidigen, „und nicht jedem kann die Verantwortung so früh zukommen wie dir."
„Mama, ich möchte Hugo ja gar nicht verteufeln. Ich will mir das Ganze nur erklären
können. Sosehr ich meinen Bruder auch liebe, sowenig habe ich die Absicht, mich von ihm
hinters Licht führen zu lassen, falls er irgendetwas getan hat, das die Familie ernsthaft
kompromittieren könnte."
„Wie denn?" fragte die Dowager Duchess scharf. „Raphael, er ha t das Mädchen nur
geheiratet, und das ist kein Verbrechen. Die Verbindung mag unpassend sein, doch es ist nun
einmal geschehen, und wir sollten gute Miene zu diesem Spiel machen."
„Das fiele mir nicht weiter schwer, solange Hugo diese Meggie wirklich liebt und sie seine
Liebe erwidert. Jede Person, die meinen Bruder aufrichtig glücklich macht, hat meinen Segen.
Ihr gesellschaftlicher Hintergrund interessiert mich nicht. Nur wissen wir sehr wenig über
Miss Blooms Stärken, dafür umso mehr über Hugos Schwächen." Er neigte den Kopf zur
Seite und schaute seine Mutter fragend an. „Fällt Ihnen irgendetwas ein, das eine logische
Erklärung für diese plötzliche und höchst überraschende Trauung sein könnte?"
„Nun, über das Thema Heirat sprach ich tatsächlich mit Hugo." Die Dowager Duchess
tippte sich mit einem Finger an den Mund. „Er sagte, er habe gerade Lyden Hall gekauft,
beabsichtige, sich dort niederzulassen und wolle eine Heirat in Betracht ziehen. Und dann ist
er ja auch wegen der Saison nach London gegangen..."
„Was nicht zu Hugos normalen Verhaltensweisen passt", stellte Rate fest. „Ich kann mir
nur denken, dass er sich Ihre Worte zu Herzen genommen und nach einer Gattin Ausschau
gehalten hat, so verrückt, wie diese Vorstellung auch sein mag."
„Ja, und von mehr als einer Person hörte ich, dass er ein Auge auf diese entsetzliche
Amelia Langford geworfen habe in der Absicht, ihr einen Antrag zu machen, was ich keinen
Moment glaubte - trotz ihres Riesenvermögens."
„Amelia Langford?" Gequält schloss Rate die Augen. „Das glaube ich nicht. Eines kann
ich meinem Bruder bescheinigen - geschmackliche Verfehlungen ließ er sich nie zuschulden
kommen. Was mich wieder auf mein Argument bringt: Falls Hugo in London fleißig nach
einer gesellschaftlich achtbaren Gattin suchte, wann hatte er dann die Zeit, um draußen in
Suffolk um diese Meggie Bloom zu freien? Und weshalb?"
„Ich weiß nicht. Meine Quellen berichten, er sei seit dem April auf fast jeder wichtigen
Gesellschaft gesehen worden. Ich kann mir ebenfalls schlecht vorstellen, dass er
zwischendurch immer hin- und hergefahren sein soll..."
„Eben. Und das sagt mir, falls er mit Miss Bloom in Schwierigkeiten geriet, dann muss das
bereits im März gewesen sein. Geheiratet hat er sie Ende der letzten Juniwoche. Muss ich
noch deutlicher werden?"
Die Dowager Duchess runzelte die Stirn. „Ach, ich weiß nicht recht, Schatz. Falls er sie
wirklich geschwängert hat, wer hätte ihn dann dazu zwingen können, sie zu ehelichen? Sie hat
weder Einfluss noch Verwandte, die ihm die Pistole auf die Brust hätten setzen können. Hugo
ist immerhin der Sohn eines Dukes, und man würde von ihm nicht erwarten, dass er ein so
bedeutungsloses Mädchen heiratet. Außerdem kommt so etwas täglich vor, und Geld bereinigt
das Problem gewöhnlich."
„Wie welterfahren Sie doch sind", bemerkte Rate.
„Bei einem Sohn wie Hugo muss man das auch sein." Die Dowager Duchess nahm den
Brief wieder auf. „Ich würde gern glauben, dass wir uns täuschen und dass er das Mädchen
wirklich liebt. Ganz ausgeschlossen wäre das auch nicht. Wie ich schon sagte, soll diese Miss
Bloom ja voller Mitgefühl und sehr sensibel sein. Ich kann nur annehmen, dass dein Bruder
diese Qualitäten in ihr erkannt hat. Und vielleicht hat er sich ja tatsächlich gewandelt. Laut
seinem Schreiben kümmert er sich sehr um die Geschäfte seines Gutes."
„Lassen Sie mich sehen." Rate streckte die Hand aus, und die Dowager Duchess reichte
ihm die nächste Briefseite. Rate las und rieb sich dann den Nacken. „Er schreibt, es habe
irgendwelche Unregelmäßigkeiten bezüglich früherer Treuhänder gegeben." Er schaute hoch.
„Was für frühere Treuhänder? Bezieht sich das auf Linus Eliots Zeit? Wer führte das Gut?"
„Ich habe keine Ahnung. Als wir zuletzt miteinander sprachen, erzählte mir Hugo nur sehr
wenig, doch er sagte etwas von einem Verwalter."
„Hmmm. Offenbar ist er dabei, alles zu klären. Und er schreibt, er werde mich um meinen
Rat bitten, wenn ihm mehr Einzelheiten vorlägen, denn er sei besorgt um seine Pächter und
deren Wohlergehen." Erstaunt blickte Rate seine Mutter an. „Er will mich konsultieren? Das
hat Hugo bisher noch nie getan, es sei denn, wenn ich ihn wieder einmal aus seinen
Schwierigkeiten heraushelfen sollte."
„Wie ich schon sagte - Menschen werden eben erwachsen, Liebling."
Rates Miene wurde immer ungläubiger. „Er schreibt, mo mentan kümmere sich jemand um
die Pächter, bis er selbst die Probleme im Griff hat. Er wolle jedoch, dass ihre Zukunft um
jeden Preis sichergestellt werde. Mama, ich glaube, Sie sollten sich ungesäumt auf den Weg
nach England ma chen und nachsehen, was da eigentlich los ist. Ich würde ja selbst reisen,
wenn ich nicht Gattin und Kind hätte, die mich brauchen."
„Ja, genau das werde ich tun, und bei Schwester Agnes, der Leiterin des Woodbridge-
Sanatoriums werde ich beginnen. Wenn es Antworten gibt, wird sie sie kennen. Wer sollte
besser als sie wissen, was sich zwischen Meggie Bloom und Hugo abgespielt hat?"
Rate lächelte breit. „Eine gute Idee, Mama! Fragen Sie also die Nonne, und vergessen Sie
ja nicht, mich über alle Einzelheiten zu informieren."
„Fürchterlicher Junge!" sagte die Dowager Duchess liebevoll, drückte ihrem Sohn einen
Kuss auf den Scheitel und ging dann, um ihre Reisevorbereitungen zu treffen.
20. KAPITEL

„Was für eine reizende Stickerei, Kind. Haben dich das die Nonnen gelehrt?" Ottoline
schaute zu, wie Meggie die letzten Stiche an der Darstellung der Eva ausführte.
„Mmm." Meggie setzte sich zurück und begutachtete ihre eigene Arbeit, die jetzt auf einen
ordentlichen Rahmen ge spannt war, den Dorelia irgendwo ausgegraben hatte, überhaupt
schleppte die Tante alle möglichen Schätze von Lally an, welche sie über die Jahre gehortet
hatte.
Schildpattkämme, silberbeschlagene Haarbürsten, hüb sche Kristallgefäße voller Cremes
und Wässerchen aus Dorelias eigener Anfertigung erschienen wie durch Zauber in Meggies
Zimmer. Garderobe für alle Tages- und Nachtzeiten, geschickt von Dorelia abgeändert, füllte
langsam den riesigen Kleiderschrank. Meggie gewann den Eindruck, als erwarteten die
Schwestern, dass sie herumliefe wie eine übertriebene Modepuppe, dabei hatte sie doch gar
keine Gelegenheit, all die schönen Sachen zu tragen - und auch gar keine Lust, sich sieben
Mal am Tag umzuziehen. Im Übrigen hatte sie Besseres zu tun.
Beschränkten sich Meggies Pflichten früher nur auf Patienten und Gärtnerei, so trug sie
jetzt für sehr vieles die Verantwortung: Sie musste sich um die Pächter und deren
Wohlergehen kümmern - von der Gesundheit der Kinder bis zum Zustand der Abzugskanäle.
Mr. Coldsnap, den sie inzwischen sehr schätzen gelernt i hatte, führte sie herum und stellte
ihr die einzelnen Familien vor. Er beantwortete ihr sämtliche Fragen und erklärte Dinge, die
sie seiner Meinung nach als Hugos Gattin wissen musste. Er vermittelte ihr das Gefühl, eine
wirkliche Herrin zu sein. Für ihn war sie eben Lady Hugo.
Lyden Hall selbst brauchte ebenfalls Führung, denn je mehr Personal Hugo einstellte, desto
mehr Leute hatte sie zu beaufsichtigen. Zu ihrem Erstaunen waren die Mabey-Schwestern
zurückgetreten. Sie bekundeten, sie seien erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können,
und gaben Ihr nur sanfte Hinweise, wo sie es für nötig hielten.
Zwei Diener ersetzten nun Roberte, der zum Butler aufgestiegen war. Meggie hatte jetzt
eine Haushälterin, eine Hute Seele namens Mrs. Hitchcock, die glücklicherweise mit
jedermann einschließlich Cookie gut auskam.
Sogar ihre eigene Zofe hatte Meggie. Daisy, die sie, wie Rose versprochen, aus Snape
geholt hatte, war gottlob wesentlich intelligenter und tüchtiger als ihre jüngere Schwester.
„Wo ist der Apfel, Liebes?"
„Wie bitte?" fragte Meggie.
„Wo ist der Apfel?" wiederholte Ottoline. „Sollte Eva dem armen Jungen nicht einen Apfel
hinhalten, um ihn zu vorführen?"
Meggie schaute zu ihrer lieben, adoptierten Tante auf. „Nein, sollte sie nicht. Die
Vorstellung, dass das Weib für die Verderbtheit des Menschen verantwortlich sein sollte, fand
ich schon immer ziemlich deprimierend. Adam nahm schließlich den Apfel an, doch davon
redet niemand mehr."
Ottoline kicherte. „Sehr richtig, Kind. Wann kommt übrigens Adam ins Bild? Ich nehme
an, als Nächstes."
„So ist es." Verschmitzt lächelte sie Ottoline zu. „Bis jetzt fehlte mir das richtige Modell.
Wenn ich ihn darzustellen versucht hätte, wäre das vermutlich auf Jasper Oddbin
hinausgelaufen, der nicht sehr inspirierend ist mit seinen X-Beinen und dem fast kahlen
Kopf."
Ottoline bog sich vor Lachen. „Nein, das wäre tatsächlich nicht gegangen. Doch der liebe
Hugo, das ist etwas ganz anderes, was? Der würde deine Stickerei wirklich zieren mit seiner
edlen männlichen Figur und dem vollen Haar, in dem jedes Mädchen gern wühlen würde."
„Tantchen, manchmal glaube ich, Sie schämen sich überhaupt nicht." Längst hatte Meggie
alle Einzelheiten von Ottolines und Dorelias ungewöhnlicher Beziehung zu Linus Eliot
erfasst, und insgeheim fand sie das großartig, wenn auch recht exzentrisch.
Die beiden Schwestern standen mit Sicherheit den körperlichen Aspekten des Lebens sehr
lustvoll gegenüber, und nachdem Meggie verheiratet war, machten sie auch kein Hehl daraus.
„Madrigal, Liebes? Hörst du mir überhaupt zu?"
„Gewiss." Meggie suchte sich eine weitere Docke Garn heraus. „Sie sprachen gerade von
Hugos Haar. Es muss geschnitten werden, gebe ich zu. Ich frage mich, ob er jemals seinen
Kammerdiener herbeibefiehlt. Er sagt zwar immer, er würde es tun, doch es wird nie etwas
daraus."
„Das überrascht mich nicht. Denke einmal nach: Warum sollte dein Gatte die
personifizierte Erinnerung an sein früheres Leben in diese Idylle holen, die er hier hat? Er
lernt es, selbst zurechtzukommen, und das gefällt ihm - zumindest für den Moment."
Meggie setzte sich gerade auf. „Für den Moment? Wie meinen Sie das? Wollen Sie damit
sagen, es wird ihm nicht mehr lange gefallen?"
„Ich will nur sagen, dass er ein Mann ist. Männer werden leicht rastlos. Hugo könnte zu
der Ansicht gelangen, dass er von den Wundern der Ehe und des einfachen Landlebens fürs
Erste genug hat."
„Wie meinen Sie das, Tante?" Meggie fühlte eine seltsame, nervöse Energie von Ottoline
ausgehen, und das beunruhigte sie.
„Ich meine nur, höchstwahrscheinlich wird er binnen kurzem nach London oder
sonstwohin verschwinden, ehe er dann wiederkommt und die Bruchstücke zusammensucht",
meinte Ottoline. „So verhalten sich nämlich Männer seines Standes."
Meggies Mund wurde ganz trocken. Das glaubte sie nicht, das wollte sie nicht glauben!
Das würde Hugo ihr nicht antun. „Ich denke. Sie täuschen sich in ihm", flüsterte sie.
„Ich will dich doch nicht quälen, Kind, sondern nur warnen." Ottoline nahm Meggies
Hand. „So ist das Leben nun einmal. Wenn man sie sich selbst überlässt, streunen Männer
umher. Sie langweilen sich schnell und sind immer auf der Suche nach neuen Eroberungen.
Man muss sie dort halten, wo sie hingehören, oder gehen, wohin sie gehen. Ich persönlich
empfehle, immer dicht an ihrer Seite zu bleiben, um alle Versuchungen abzuwenden."
Meggie nickte, sie hatte diesen Rat nicht verlangt.
Ottoline tätschelte ihre Hand. „Du bist ein gutes Mädchen, Madrigal, wirklich." Dann
verließ sie das Zimmer, als hätte sie nichts Wichtiges von sich gegeben.
Wie erstarrt blieb Meggie sitzen. Die Vorstellung, dass Hugo sich eine andere Frau suchte,
war sehr schmerzhaft, und dass ihr eine Person das sagte, die es wissen musste . . . Am
liebsten wäre Meggie gestorben.
Gestorben? Absoluter Unsinn! Sie hatte schon viel zu viel überlebt, um sich von den
Vermutungen einer alten Frau niederschmettern zu lassen, welche Hugo nicht einmal kannte.
Meggie atmete tief durch und hob trotzig das Kinn. Das glaubte sie einfach nicht von
Hugo. Es zählte nicht, was andere Herren seines Standes taten. Hugo war nicht wie sie.
Meggie schaute zur Uhr auf dem Kaminsims. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie sich
bei ihrem Treffen mit dem Vikar verspäten, der eine Hilfsorganisation der Damen gründen
wollte, von der Meggie die Vorsitzende und Schirmherrin sein sollte. Eine Schirmherrin von
irgendetwas zu sein, fand nie zwar seltsam, doch die Idee an sich war es wert. Ihr erschien es
eine gute Möglichkeit, den Leuten zu zeigen, dass
Hugos Interesse an guten Werken über Lyden Halls Grenzen hinausging. Bis auf Weiteres
behielt sie das Ganze jedoch für sich, weil sie erst etwas Konkretes haben wollte, das sie
Hugo vorweisen konnte.

Den täglichen Nachmittagsritt über das Gut mit Mr. Coldsnap genoss Hugo immer sehr. „Jetzt
ist es erst Mitte Juni", sagte er zu seinem Begleiter. „Wenn wir auf den südlichen Feldern Heu
anbauen, die nördlichen Felder umpflügen und bis zum Herbst brachliegen lassen, könnten
wir dann dort nicht Wintergetreide aussäen und trotzdem den nächsten Fruchtwechsel für den
kommenden Frühling planen?"
„In der Tat, das wäre möglich", stimmte Coldsnap anerkennend zu, „und es ist sehr gut,
dass Sie das erkennen."
„Nun, Sie haben mich schließlich mit den Büchern, Aufzeichnungen und Empfehlungen
ausgestattet, und ich bemühe mich nur, alles möglichst vernünftig umzusetzen."
„Wirklich, Lord Hugo, Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Menge gelernt. Man
benötigt viel Vorstellungskraft, um über das Offensichtliche hinauszublicken, und davon
besitzen Sie genug."
Hugo warf ihm einen Seitenblick zu. „Ja, das sagte man mir schon", erwiderte er trocken.
Er fügte nicht hinzu, dass er zum ersten Mal in seinem Leben diese Vorstellungskraft zu
einem guten Zweck einsetzen wollte.
Oh, wie ihm das Gefühl gefiel, tatsächlich produktiv zu sein und zu sehe n, dass er bereits
in der kurzen Zeit etwas erreicht hatte. Wenn er nachts nach beglückendem Liebesspiel mit
Meggie in den Armen einschlief, fühlte er eine solche Befriedigung, wie er sie nie erwartet
hatte, als er Lyden - und Meggie - übernommen hatte.
Das Leben meinte es gut mit ihm, viel besser, als er es verdiente. Er fragte sich nur, wem
er die Gaben verdankte, die ihm verliehen worden waren.
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Freude es mir bereitet, an Ihrer Seite zu arbeiten,
so wie es in den alten Tagen gewesen war", redete Coldsnap munter weiter. „Die Pächter
empfinden ebenso, und sie äußern es immer wieder. Und auf Ihre Gemahlin lassen sie
ebenfalls nichts kommen. Sie scheint genau zu wissen, was die Leute brauchen, und sie
verhält sich so unbeschwert, natürlich und charmant, dass alle richtig aufleben, wenn sie sie
besuchen kommt." Cold snap nickte. „Eine reizende Frau, Lord Hugo. Sie hätten keine bessere
Wahl treffen können."
Darin stimmte Hugo zwar mit ihm überein, neigte jedoch nur das Haupt und lächelte. Es
wäre nicht gut, allzu viel über Meggie zu sagen, sie könnte schließlich einen Rückfall
erleiden. Ihm blieb nur zu beten, dass dies nicht geschähe.
Innerhalb von nur zwei Wochen hatte sie sich so gebessert, dass er langsam glaubte,
Meggies Geisteskrankheit wäre nur durch akuten Liebesmangel und die fehlende Stimulation
ausgelöst worden, wie dies für das Anstaltsleben typisch war. Nachdem er sie aus den Mauern
befreit hatte, war Meggie auf Lyden richtig aufgeblüht. Mit jeder Stunde, jedem Tag schien
die Heilung ihres gestörten Gehirns fortzuschreiten. Gewiss hatte sie noch immer ihre
merkwürdigen Momente, in denen sie die verrücktesten Feststellungen und Bemerkungen
äußerte, doch das fiel ihm kaum noch auf. Vielleicht hatte er sich nur daran gewöhnt.
Es besorgte ihn, dass sie ihm noch immer nicht gesagt hatte, dass sie ihn liebte, obgleich er
sich dessen fast sicher war. Er konnte es sich nur so erklären, dass sie die Fülle ihrer Gefühle
nicht zu verstehen vermochte, weil sie zuvor noch keinen Mann geliebt hatte.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er seiner Familie dankbar für die Liebe, sie ihm so
frei zuteil geworden war. Weshalb er sie nicht ebenso frei angenommen hatte, war ihm noch
immer ein Rätsel - wahrscheinlich lag das zu einem Teil daran, weil er ein Zweitgeborener
war, und zum anderen daran, weil er seinen Vater verloren hatte, ehe er ihn richtig hatte
kennen lernen können. Seine Erinnerungen an den Mann waren nur schattenhafte Bilder, die
ihm noch immer manchmal Sonnenschein und fröhliches Lachen vorgaukelten.
Es gab auch noch Erinnerungen an düstere, deprimierende und beängstigende Zeiten, in
denen die Sonne nicht mehr zu existieren schien. Er entsann sich, dass er sich damals Ver-
stecke gesucht hatte, aus denen er nicht mehr auftauchen wollte, doch er erinnerte nicht mehr,
weshalb.
Vielleicht war das ja auch gut so. Auf jeden Fall war seine Kindheit nicht mehr von
Belang. Er hatte sie überlebt und dabei einen klaren Verstand behalten. Jetzt sorgte er sich um
Meggie, die ihre schlimme Kindheit nicht so gut überstanden hatte.
Er wünschte, er könnte sich darauf verlassen, dass sie wie der ganz gesund werden würde,
doch tief in seinem Inneren glaubte er nicht daran, dass ihm dieses Glück beschieden sein
würde. Irgendetwas flüsterte ihm immer wieder ein, dass die Katastrophe zuschlagen würde,
wenn er am wenigsten daran dachte. Meggies Geist würde wieder zerfallen, und seine Welt
würde über ihm zusammenbrechen.
„Ja, wirklich", redete Coldsnap weiter, der Hugos langes Schweigen ignorierte. „Es ist zu
schade, dass nicht alle Ehen so glücklich sind." Er deutete auf eine Kate am Weg. Ein
ordentlicher Zaun umgab dort einen Vorgarten, in dem Gemüse wuchs. „Das da ist
beispielsweise Johnnie Jaffreys Haus, Johnnie arbeitet draußen beim Landesteg. Er ist ein
guter, arbeitsamer Mann, doch gebrochen an Herz und Geist."
„Warum das?" erkundigte sich Hugo, obwohl er es eigent lich gar nicht wissen wollte, denn
er hatte genug eigene Sorgen.
„Das ist eine traurige Geschichte, Mylord, und ich wünschte, ich müsste sie nicht erzählen.
Vor ungefähr zwanzig Jahren heiratete Johnnie nämlich eine Frau aus Thorpeness, was ein
Stück die Küste hinauf liegt. Deshalb kannte er auch weder ihre Familie noch die
Vorgeschichte. Die beiden hatten sich auf einem der Jahrmärkte kennen gelernt und sich
ineinander verliebt. Keine sechs Wochen danach heirateten sie, doch wenn Sie mich fragen,
Johnnie hätte sich erst bei der Familie der jungen Frau erkundigen sollen, weshalb man es so
eilig hatte, das Mädchen loszuwerden."
Coldsnap nahm den Hut ab und kratzte sich den Schädel. „Nach einem Monat stellte sich
heraus, dass Stella Gering - so lautete ihr Mädchenname - völlig von Sinnen war. Eines
Nachts versuchte sie, Johnnie zu erstechen. Leider konnte er nicht beweisen, dass sie zur Zeit
der Trauung schon irre gewesen war, denn das hätte die Ehe ungültig gemacht. Die Heirat mit
einer Irren ist gesetzlich verboten."
Hugo wurde leichenblass. Großer Gott! „Wissen Sie das genau?"
„Gewiss, Mylord", antwortete Coldsnap und warf Hugo einen erstaunten Seitenblick zu.
„Es spricht für Sie, dass Johnnies missliche Lage Sie so mitnimmt, doch leider muss ich Ihnen
sagen, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist."
Hugo hörte dem Verwalter kaum noch zu. Er war der Meinung gewesen, alle
Eventua litäten bedacht zu haben, doch dieses kleine gesetzliche Detail war ihm vollkommen
entgangen. An etwas so Offensichtliches hätte er denken müssen, doch in seiner Eile, Meggie
zu heiraten, hatte er das Wichtigste übersehen - ihre geistige Gesundheit beziehungsweise ihre
Geistesgestörtheit.
Hugo wischte sich über die Stirn, auf der kalte Schweiß perlen standen. Nachdenken,
Mann! befahl er sich. Falls irgendjemand Meggies Geisteszustand zur Zeit der Trauung
entdeckte, musste er selbst in der Lage sein, das zu widerlegen.
„Lord Hugo? Wollen Sie denn den Rest der Geschichte nicht hören?"
„O doch. Entschuldigen Sie. Fahren Sie bitte fort." Hugo hörte nur halb zu. Im Geist suchte
er verzweifelt nach einer Lösung für die erschreckende Möglichkeit, dass seine Ehe mit
Meggie illegal wäre.
„Die zweite Tragödie bestand nämlich darin, dass niemand von Stellas Familie oder aus
dem Dorf aussagen wollte, dass sie tatsächlich zum Zeitpunkt der Eheschließung irre gewesen
war. Vorher - ja, und hinterher ohne jede Frage, doch nicht in jenem bestimmten Zeitpunkt.
Also konnte sich der alte Johnnie nicht aus den Fesseln seiner Ehe befreien."
„Das verstehe ich nicht", sagte Hugo erschüttert. „Sie erklärten doch, Irre dürften nicht
heiraten."
„Hier liegt ja der Hase im Pfeffer, Mylord. Das Gesetz bestimmt, solange Irre einen
vorübergehend klaren Verstand haben und das Gewicht des Vertrags verstehen, ist die
Eheschließung legal."
Das könnte es sein! Schwester Agnes - sie hatte doch der Ehe ihren Segen gegeben, nicht
wahr? Sie hatte wörtlich ge sagt, Meggie müsse es „selbst beurteilen", und diese Äußerung
allein zeigte doch, dass die Nonne Meggie für geistig gesund genug hielt, um zu heiraten. Und
welches Gericht würde sich mit einer Ordensschwester anlegen?
„Ich kann natürlich nicht beschwören", fuhr Coldsnap fort, „dass Johnnie wirklich Recht
hatte und dass das Mädchen tatsächlich irre war, als es ihn heiratete, doch es lief darauf
hinaus, dass Stella in eine Irrenanstalt gebracht wurde, wo sie noch heute lebt, während der
arme Johnnie Jaffrey dazu verdammt ist, sein eigenes Leben allein zu Ende zu bringen."
Coldsnap setzte sich den Hut wieder auf.
Hugo rieb sich den Nacken. „Mmmm. Ein wahrer Jammer", meinte er, doch im Stillen
überlegte er weiter. Dass Meggie der Heirat zugestimmt hatte, während sie in einem Heim für
Geisteskranke eingeschlossen war, könnte sich ge gen ihn richten, ebenso wie die Tatsache,
dass sie und Hugo weniger als vierundzwanzig Stunden später bereits getraut worden waren.
Ein Gericht könnte Schwester Agnes' Beurteilung anfechten und fragen, weshalb Meggie
Bloom einge kerkert war, wenn sie doch zu diesem Zeitpunkt angeblich nicht unter geistigen
Störungen litt?
Er versuchte, ganz ruhig zu atmen, und redete sich ein, er suche Schwierigkeiten, wo sich
keine befa nden - oder zumindest noch nicht befanden. Er musste nur Meggies Einkerkerung
geheim halten. Und überhaupt - wer würde jetzt ihre geistige Gesundheit bezweifeln, da sie
sich so normal wie nur möglich verhielt? Er kannte einige Exzentriker, die sich wesentlich
verrückter benahmen als sie. Die Mabey-Schwestern waren ein klassisches Beispiel, und die
hatte noch niemand eingesperrt.
Am Besten nicht daran denken, sagte er sich entschlossen. Meggie würde weiterhin in
ihrem halb gesunden Zustand bleiben, und beide würden sie den Rest ihres Lebens in
glücklicher Ehe verbringen. Wenn es sein musste, wollte er bis zum letzten Blutstropfen für
Meggie und seine Ehe kämpfen. Schluss.

„Ich glaube, unser Plan hat funktioniert, Schwester, obgleich ich mir nicht völlig sicher bin",
meinte Ottoline und reichte Dorelia eine Flasche. „Ich kann mir nicht helfen, aber ich fürchte,
ich war ein wenig grausam zu dem armen Kind."
„Danke, meine Liebe." Dorelia nahm die Flasche und steckte einen Trichter hinein. „Und
wenn schon, du meintest doch, du hieltest es für unerlässlich, dass Madrigal Hugo begleitet,
wenn er sich plötzlich nach London aufmacht. Allerdings wüsste ich sehr gern, weshalb er das
tun sollte und weshalb du die Lage für so dringlich hältst."
„Wenn ich das selbst wüsste, würde ich es dir sagen", erwiderte Ottoline leicht gereizt.
„Ich sah nur die Schwierigkeiten, falls er allein ginge. Er braucht Madrigal an seiner Seite.
Betrug - das war das Wort, klar und deutlich. Betrug im Zusammenhang mit Hugo."
„Ja, ich weiß nicht..." Dorelia füllte ihr Kräuteröl in die Flasche. „Hypericum perforatum",
murmelte sie und beschriftete das Etikett. „Herrliches Heilöl. Nichts dringt besser und
schneller in das Gewebe ein als Johanniskrautöl. Was sagtest du gerade? Ah ja. Betrug. Es ist
ein bisschen früh in dieser Ehe, dass Hugo etwas mit einer anderen anfangen sollte. Sieh dir
doch an, wie er bei unserer Kleinen ist - er kann ja weder Augen noch Hände von ihr lassen."
„Ich habe ja auch nicht gesagt, dass der Betrug aus Untreue bestehen würde, obwohl ich
glaube, irgendwie hat eine Frau damit etwas zu tun. Ich sagte, die beste Möglichkeit,
Madrigal zu veranlassen, mit ihm nach London zu gehen, sei es, ihr den Gedanken in den
Kopf zu setzen, der gute Hugo könnte streunen, falls sie ihn nicht begleitete." Ottoline nahm
die volle Flasche zurück und verkorkte sie. „Sie erklärte sehr deutlich, dass sie die Idee mit
London abscheulich finde, der arme Engel. Sie ist davon überzeugt, ihren Gatten in
Verlegenheit zu bringen, weil ihr die Lebensart der vornehmen Welt fremd sei. Absoluter
Unsinn, doch das braucht sie nicht zu wissen."
„Sie braucht nur ein wenig Vertrauen", erklärte Dorelia und streckte die Hand nach der
nächsten Flasche aus.
„Dennoch finde ich es grausam, anzudeuten, ihr Gatte könnte bei der allerersten
Gelegenheit mit einer anderen ins Bett springen. Du hättest den Ausdruck in ihrem lieben Ge-
sicht sehen sollen! Am Boden zerstört war sie, und das mit Recht."
„Nun, dir ist eben nichts Besseres eingefallen", meinte Dorelia unge halten. „Was muss, das
muss - und so weiter."
„Ich habe ja nur gesagt, dass ich sie nicht aufregen wollte!" gab Ottoline ärgerlich zurück.
„Lieber Himmel, ich wünschte wirklich, ich wüsste, was das alles soll. Nun, wir werden es ja
bald feststellen." Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah zu, wie ihre Schwester die
nächste Portion Kräuteröl abfüllte. „Dorelia, Liebste, was hältst du davon, wenn wir uns einen
Advokaten suchten? Meinst du, wir sollten Hugo schon auf Madrigals Mitgift ansprechen?
Wir haben schon drei Wochen damit gewartet."
„Hmm. Vielleicht, Schwester, vielleicht. Ich gestehe, ich habe versucht, meinen Mut
zusammenzuraffen. Ein Versprecher dem lieben Jungen gegenüber, und wir könnten
wirklichen Schaden anrichten."
„In der Tat", pflichtete Ottoline bei. „Obwohl wir noch immer nicht sicher sind, was er
über Madrigal weiß. Wenn ihm nun die ganze Geschichte bekannt ist, und wir regen uns
wegen nichts und wieder nichts auf?"
„Ach, ich weiß es einfach nicht." Dorelia schnalzte mit der Zunge. „Sagt dir denn deine G.
G. gar nichts?"
„Nein, doch mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass wir etwas mehr tun sollten,
als nur um ein Zeichen zu beten."
„Ein Gebet um ein Zeichen hat uns bisher noch nie im Stich gelassen. Ich glaube wirklich,
dir fehlt die Geduld, Liebste."
„Miss Ottoline - Miss Dorelia?" Bekleidet mit seiner vornehmen neuen blau- goldenen
Livree erschien Roberte an der Tür zum Destillationsraum.
„Ja, mein Lieber?" antworteten die beiden Schwestern gleichzeitig und strahlten ihn
freundlich an.
„Ein Mr. Gostrain ist gerade gekommen und hat etwas Dringendes mit Lord Hugo zu
besprechen, der jedoch noch nicht zurückgekehrt ist. Mr. Gostrain sagt, er gehöre zu der
Kanzlei. . .", Roberte warf einen Blick auf die schneeweiße Karte in seiner Hand, „. . .
Gostrain, Jenkins and Waterville. Was soll ich ..."
Weiter kam er nicht. Die Mabey-Schwestern stießen einen doppelten Aufschrei aus,
hetzten Hals über Kopf durch die Tür hinaus zum Haupthaus und rannten ihn dabei fast um.
21. KAPITEL

Hugo, der durch den Hintereingang hereingekommen und gleich nach oben gegangen war,
um seine Reitkleidung abzulegen, blieb auf der Stelle stehen, als er die aufgeregten
Frauenstimmen in der Eingangshalle unten hörte. Zwischen Entzückensschreien konnte er
eine ebenso aufgeregte und beunruhigend bekannte männliche Stimme ausmachen. Be stürzt
trat er an das Treppengeländer und hoffte nur, er würde sich über die Identität dieser Stimme
täuschen. Er blickte hinunter, schloss dann die Augen und strich sich mit der Hand übers
Gesicht.
Nicht nur, dass James Gostrain ohne Vorwarnung einge troffen war. Die Mabey-
Schwestern hatten ihn auch noch überfallen wie zwei ältliche Wegelagerinnen!
„Mr. Gostrain, Sie lieber, guter Mann, was für ein absolutes Wunder, dass Sie gerade jetzt
gekommen sind!" zwitscherte Dorelia und umfasste den Arm des erschrockenen Advokaten
wie ein Schraubstock. Ihrer Schwester warf sie einen Blick zu. „Was habe ich dir gesagt,
Ottoline? Man bittet, man erhält, und Geduld ist der Schlüssel. Ist das etwa kein Zeichen?"
Hugo stöhnte. Dieses war mit Sicherheit nicht die würdige Begrüßung, die er sich für
seinen Advokaten vorgestellt hatte. Was mochte Gostrain nur denken - und weshalb hatten
sich die Mabey-Schwestern auf ihn gestürzt?
Ottoline packte Mr. Gostrains anderen Arm. „So ist es, Schwester, so ist es. Ja, Mr.
Gostrain, da nun der liebe Hugo gerade nicht im Haus ist und Sie nichts Besseres zu tun ha-
ben, sollten Sie sich vielleicht einmal anhören, was wir Ihnen zu sagen haben."
Das wollte Hugo ebenfalls hören, und er würde den alten Schachteln den Hals umdrehen,
falls sie ihn womöglich wegen irgendwelcher Verbrechen beschuldigten, die er nie begangen
hatte.
„Ich bitte um Vergebung, doch wer sind Sie?" fragte der erschrockene Advokat und blickte
auf die knochigen Hände, die ihn festhielten.
„Nun, wir sind Dorelia und Ottoline Mabey", zwitscherte Dorelia wieder. „Hugos geliebte
Tanten. Hat er Ihnen nichts von uns gesagt?"
„Ah - ja, die Reste. . . äh, die Hinterlassenschaft des verblichenen Lord Eliot."
„Genau, und weil Sie es gerade erwähnen - es handelt sich tatsächlich um eine
Hinterlassenschaft, denn wir möchten gern der allerliebsten Madrigal etwas hinterlassen, und
dazu brauchen wir Ihre Beratung, mein Guter."
Hinterlassenschaft? Hugo hatte genug gehö rt. Weil die alten Schachteln außer ihrem
eigenen Firlefanz nichts zu hinterlassen hatten, wollte er Mr. Gostrain nicht länger dem
albernen Geschwätz aussetzen. Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und eilte die Treppe
hinunter.
„Mr. Gostrain. Welch angenehme Überraschung." Er mä ßigte sein Tempo zu einem
würdevollen Schreiten. „Wie ich sehe, haben Sie Miss Ottoline und Miss Dorelia Mabey,
meine - äh - Tanten bereits kennen gelernt. Tantchen, wür det ihr bitte Mr. Gostrain freilassen?
Ich glaube, er legt nicht nur großen Wert auf seine Ärmel, sondern auch auf seine
Gliedmaßen."
Die beiden machten ein Gesicht, als hätte man ihnen ein köstliches Kuchenstück aus den
Händen gerissen. „Sehr wohl, lieber Hugo, doch wir wünschten, du würdest uns anhören."
„Ja, später. Jetzt habe ich mit Mr. Gostrain etwas zu besprechen und wäre euch sehr
verbunden, wenn ihr uns das erledigen ließet."
„Gewiss." Ottoline - oder war es Dorelia? Hugo konnte sie noch immer nicht
auseinanderhalten - scharrte mit der Schuhspitze auf dem Boden. „Also dann später." Sie ließ
Gostrains Arm los, fasste stattdessen den ihrer Schwester und zerrte daran. „Ottoline, Liebste,
wie sollten die Männer ihrer Arbeit überlassen und uns an unsere eigene machen."
Beide zusammen drehten sich in exakt demselben Moment um und huschten zur Vordertür
hinaus.
Hugo lächelte schwach. „Ich entschuldige mich. Bitte, kommen Sie doch in mein
Arbeitszimmer. Dort dürften wir ungestört sein. Wie Sie bemerkt haben werden, läuft auf
Lyden noch nicht alles so glatt."
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Lord Hugo. Vielmehr sollte ich das tun, weil
ich meine Ankunft nicht schriftlich angekündigt habe, doch meine Gründe dafür werden Sie
gleich verstehen. Ich dachte, im Licht der Neuigkeiten, die ich Ihnen zu übermitteln habe,
würden Sie gern auf die Formalitäten verzichten."
„Oh? Hoffentlich gute Neuigkeiten?" erkundigte sich Hugo höflich, obwohl er sich
innerlich verkrampfte. Entweder Gostrain wollte ihn über Meggies Vermögen informieren,
oder er hatte von ihrem Aufenthalt in der Irrenanstalt erfahren. Das eine bedeutete den Sieg,
das andere die sichere Katastrophe.
„Ich kann nur sagen, dass es erstaunliche Neuigkeiten sind, Mylord. Ungemein erstaunlich.
Ich weiß nicht, wie Sie es aufnehmen werden. Ich muss Sie warnen, ich war sehr erschüttert,
als ich sie vernahm."
Das hörte sich gar nicht gut an. Hugo bedachte alles, was er als Glücksspieler gelernt hatte,
und lächelte unverdrossen, obgleich ihm fast übel wurde. „Nichts könnte erstaunlicher sein als
die glückliche Wendung, die mein Leben vor kurzem genommen hat", bluffte er. „Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, welche Freude meine Gattin mir gebracht hat, Mr. Gostrain, und ich
weiß, dass ich in Ihrer Schuld stehe. Mein gegenwärtiges Glück wäre ohne Ihren weisen Rat
nicht möglich gewesen."
„Es sollte mich freuen, wenn Ihnen meine Ausführungen gedient haben." Gostrain nahm in
dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz.
„Ich hoffe, Ihre Partner teilen Ihre Meinung." Hugo ent spannte sich ein wenig. „Es kommt
ja nicht alle Tage vor, dass ein Mann meiner Position eine Frau von Meggies Stand heiratet."
„Gewiss nicht, Sir. Das ist es auch, was ich mit Ihnen besprechen möchte."
Hugo stählte sich und legte die Hände auf der Schreibtischplatte zusammen. „Ich nehme
an, Sie beziehen sich auf den Ehevertrag, den ich Sie aufzusetzen bat? Ich warne Sie, Gostrain
- Einwände gegen meine Wünsche lasse ich nicht zu."
„Ich werde auch keine erheben. Ich bringe Ihnen nämlich etwas weit Besseres als einen
Ehevertrag, Mylord. Bevor ich indes ins Detail gehe, bin ich verpflichtet, Ihnen einige
persönliche Fragen zu der Vergangenheit Ihrer Gemahlin zu stellen."
Lieber Gott, hoffentlich meint er nicht Meggies jüngste Vergangenheit! Hugo hatte schwer
damit zu tun, eine unbeteiligte Miene zu bewahren. „Fragen Sie nur, obschon ich Ihnen
bereits alles berichtet habe, was ich über meine Gattin weiß. Sie ist eine ehrenhafte,
anständige Frau, die keine Schuld an ihrem unerfreulichen Leben trifft."
„Das bezweifle ich keineswegs, Mylord. Die Fragen beziehen sich auch nicht auf den
Charakter Ihrer Gemahlin, sondern auf ihre Abstammung."
Vor Erleichterung wäre Hugo beinahe aufgesprungen. Gostrain wusste also nichts von der
Irrenanstalt! „Ihre Abstammung? Ich teilte Ihnen bereits mit, mir sei nur bekannt, dass
Meggies Mutter im Wochenbett starb."
Gostrain zog ein Dokument aus seiner Mappe, holte seine Brille aus seiner Tasche, setzte
sie sich auf die Nase und blickte auf die Papiere hinunter. „Sie sagten, Mylord, dass die
Mutter Ihrer Gemahlin Margaret hieß, also Margaret Bloom richtig?"
„Ja", antwortete Hugo argwöhnisch. „Weshalb?"
„Lassen Sie mich fortfahren. Sie sagten, Ihre Gemahlin stamme von hier, doch wissen Sie,
woher ihre Mutter kam?"
„Aus Ramsholt, glaube ich, doch dort wurde Meggie nicht geboren. Noch einmal: Weshalb
fragen Sie?" O ja, es läuft alles genau nach Plan, frohlockte er heimlich.
„Haben Sie bitte etwas Geduld mit mir. In Ihrem Brief erwähnten Sie, Ihre Gemahlin sei
nach der Geburt von einer Witwe aufgenommen worden. Haben Sie eine Ahnung, wie diese
hieß oder wo sie wohnte?"
Hugo setzte ein fragendes Stirnrunzeln auf. „Durchaus. Sie hieß Emily Crewe und wohnte
in Bury St. Edmunds, wo Margaret Bloom ebenfalls lebte. Mr. Gostrain, worauf wollen Sie
hinaus?"
„Geduld, Mylord. Sie erwähnten ebenfalls, der Vater Ihrer Gemahlin sei vor deren Geburt
gestorben. Woher wissen Sie das?"
„Von meiner Gattin, die ihrerseits die Informationen über ihren Vater natürlich auch nur
von Mrs. Crewe hat. Weshalb ist das alles von Wichtigkeit? Ich will nur einen Ehevertrag
erstellen und keine Ahnentafel."
„Gewiss, gewiss. Ich denke, das reicht auch." Mr. Gostrain kratzte sich den Kopf. „Lord
Hugo, Sie stehen unter dem Eindruck, Ihre Gemahlin sei mittellos. Ich freue mich, Ihnen
mitteilen zu dürfen, dass dem nicht so ist. Tatsächlich ist Ihre Gattin eine sehr wohlhabende
Frau."
Eine Welle der Erleichterung durchströmte Hugo. Das war's dann! Lyden war gerettet, er
und Meggie waren frei! Nun musste er nur noch seine restlichen Karten ausspielen, ohne sich
dabei zu vertun.
Er machte ein ungläubiges Gesicht. „Verzeihen Sie, Mr. Gostrain, möglicherweise haben
Sie nicht richtig zugehört. Ich sagte doch ganz klar, Meggie habe keinerlei Familie, keine
Wurzeln. Von ihrem achten Lebensjahr an lebte sie in einem Waisenhaus!"
„Eben, und alles, was Sie mir erzählten, erklärt, weshalb sie bis jetzt unauffindbar war. Der
Vater Ihrer Gattin, ein gewisser Mr. David Russell, ist nämlich keineswegs vor ihrer Geburt
gestorben. Er segelte nach Indien und ließ Margaret Bloom mit dem ungeborenen Kind
zurück. Später versuchte Mr. Russell, Margaret mit ihrem Kind aufzuspüren - leider ohne
Erfolg. Das enorme Vermögen, welches er bei der Ostasiatischen Kompanie gemacht hatte,
hinterließ er dennoch Margaret Bloom und ihrem Kind in der Hoffnung, dass sie noch
irgendwann gefunden wurden. Uns beauftragte man, als Testamentsvollstrecker zu
fungieren."
Hugo musste sich nicht verstellen, er starrte Mr. Gostrain an, als wäre der von allen guten
Geistern verlassen. „Was sagen Sie da? Wollen Sie andeuten, dass. .." Er musste schlucken.
Gostrain deutete überhaupt nichts an, sondern er gab Hugo die schlichten Fakten: Meggie war
unehelich geboren!
Was für ein Idiot er doch gewesen war! Als er die Advo katen über David Russell hatte
sprechen hören, war er der Meinung gewesen, der Mann wäre ein entfernter Verwandter von
Meggie. Dass er ihr Vater sein könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen.
O Gott, Meggie war ein uneheliches Kind! Wie sollte er das nur seiner Mutter erklären? Er
versuchte sich von seinem Schock zu erholen. „Ich . . . verzeihen Sie. Ich brauche nur einen
Moment."
Mr. Gostrain lächelte breit. „Das kann ich verstehen. Wie ich schon bemerkte, die
Neuigkeit ist erstaunlich. Die Gemahlin, die Sie für mittellos hielten, hat eine Mitgift von
vierhunderttausend Pfund in die Ehe eingebracht, welche Ihnen zukommt. Sie brauchen nur
einige einfache Dokumente zu unterschreiben."
Hugo nickte nur. Meggie, die arme Meggie . . . wie würde sie die Nachricht über ihre
Abstammung aufnehmen? Das musste er ihr sehr behutsam beibringen und ihr versichern,
dass es ihm überhaupt nichts ausmache. Und dann wurde ihm klar: Es machte ihm tatsächlich
nichts aus. Meggie war Meggie, und was ihre Eltern angestellt hatten, war nicht ihre Schuld.
Weshalb sollte es ihn kümmern, ob ihre Eltern verheiratet waren oder nicht?
Die wirkliche Schande bestand in der elenden Kindheit, zu der sie verurteilt gewesen war,
nur weil ihr schurkischer Vater nicht zu der von ihm geschwängerten Frau gestanden hatte.
Hugos Blut kochte vor Zorn. Wenn der Kerl sein Kind wirklich finden wollte, hätte er es auch
gefunden, und dann wären Meggie die vielen Jahre in den verschiedenen Institutionen erspart
geblieben.
„Lord Hugo, Sie sind so still. Haben Sie keine Fragen? Vierhunderttausend Pfund sind viel
Geld."
„Ja, ich habe eine Frage. Was wissen Sie über diesen David Russell? Was für ein Mensch
war er?"
„O Freude! Schwester, hast du das gehört? Unsere ganzen Sorgen waren umsonst!"
Hugo fuhr in seinem Sessel herum und sah die Mabey-Schwestern mit einem Teetable tt in
das Arbeitszimmer kommen. „Was denken Sie sich eigentlich dabei, eine private Konferenz
zu unterbrechen?"
„Wir dachten, ihr beide brauchtet etwas zu essen, und es war gut, dass wir gerade jetzt
kamen, denn sonst hätten wir nie gehört, wie du dich na ch dem guten David erkundigtest."
Hugo schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Jetzt reicht's!" brüllte er. „Ich habe genug
von Ihren Albernheiten, zumal ich dabei bin, ein sehr haariges Problem zu lösen. Hinaus mit
Ihnen beiden!"
„Du wolltest doch etwas über David Russell hören, und wer könnte er dir besser erzählen
als wir? Habe ich Recht, Dorelia?" Ottoline stellte das Tablett auf den niedrigen Tisch vor
dem Sofa. „Milch oder Zucker, Mr. Gostrain? Weder noch? Gut, sehr viel besser für die
Verdauung. "
Hugo stöhnte. „Bitte, verzeihen Sie ihnen", flüsterte er dem Advokaten zu, der von einem
Zwilling zu dem anderen schaute. „Ihr fortgeschrittenes Alter ..."
„Das hat meinen Verstand nicht beeinträchtgt, und mit meinem Gehör ist auch alles in
Ordnung!" erklärte Dorelia. „Willst du nun etwas über Madrigals Vater und das, was
zwischen ihm und Margaret Bloom im Sommer 1799 vorgefallen ist, hören oder nicht?"
„Sie beide wissen tatsächlich etwas über Meggies Eltern und haben bisher nicht den Mund
aufgemacht?"
Ottoline schob ihm eine Tasse Tee hin. „Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen, Schatz.
Wir wollten nur warten, bis wir wussten, wie viel dir bekannt war. Wir wollten nichts sagen,
das dich oder Madrigal beunruhigen könnte. Also gibt es etwas Wichtiges?"
„Oh, nur die Kleinigkeit von vierhunderttausend Pfund, die David Russell einer Tochter
vererbte, die nicht aufzufinden war", sagte Hugo trocken.
„Du meine Güte! Dann hat Vetter David ja doch etwas aus sich gemacht. Das hatte ich
auch gehofft", rief Dorelia.
Hugo starrte sie an. „Vetter David?"
„Ja, Schatz, Lallys Bruder. Er war ein kluger Junge, wenn auch ein wenig ungestüm." Sie
ließ sich aufs Sofa fallen. „Die gute Nase fürs Geschäft liegt in der Familie, wenn ich das
sagen darf."
Hugo machte den Mund auf, doch heraus kam nur ein erstickter Ton. Meggie war
tatsächlich mit diesen alten Schachteln verwandt? Die Ärmste - kein Wunder, dass sie im
Woodbridge-Sanatorium gelandet war!
„Nun beruhige dich schon, Schatz", sagte Ottoline zu Hugo und reichte Mr. Gostrain eine
Tasse. „Nachdem wir unseren Tee getrunken haben, werden wir nett plaudern. Inzwischen
können wir ja über das erwähnte Vermächtnis reden."
„Das Vermächtnis ..." Hugo rieb sich die Stirn, hinter der eine Ader heftig pulsierte.
„Genau, das Vermächtnis", bekräftigte Dorelia. „Wir ha ben etwas Geld auf einem
Treuhandkonto liegen, das wir der allerliebsten Madrigal als Teil ihrer Mitgift vermachen
möchten."
Hugo nahm seine Tasse auf und blickte in die dunkle Flüs sigkeit. Wenn hier jemand ins
Irrenhaus gehörte, dann waren es diese beiden!
„Ja, doch da gibt es ein kleines Problem", fuhr Dorelia fort. „Die Treuhänder sind nämlich
einfach unausstehlich, und wir hoffen, dass der nette Mr. Gostrain das für uns in Ordnung
bringt."
Der Advokat schaute Hugo fragend an, und dieser zuckte die Schultern. „Nur zu", meinte
er. „Verschwenden Sie Ihre wertvolle Zeit. Sonst werden wir das Ende der Geschichte nie
erfahren."
„Sehr wohl." Der Advokat nahm Tasse sowie Untertasse und setzte sich in den Sessel
neben dem Sofa, auf dem sich die Mabey-Schwestern niedergelassen hatten. „Sagen Sie mir,
wer hat dieses Treuhandkonto eingerichtet?"
„Nun, der gute Linus - das heißt, der verblichene Lord Eliot - hinterließ uns seinen ganzen
Besitz, da er selbst keine Erben hatte", antwortete Dorelia munter. „Er sagte uns, wir sollten
damit ganz nach Gutdünken verfahren, denn er wusste ja, welchen Spaß es uns machte, sein
Geld anzulegen. Ottoline kann die Bewegungen an der Börse besonders gut voraussehen."
Hugo schloss die Augen. Coldsnap hatte also Recht ge habt. Kein Wunder, dass Eliot bei
seinem Tod fast bankrott gewesen war.
„Meine Schwester hat ganz Recht", sagte Ottoline höchst selbstzufrieden. „Doch die
Treuhänder haben keine Ahnung, wie schlau wir sind, und halten uns für nicht
zurechnungsfähig. Sie rücken nur ein paar Hand voll Pennies für uns he raus. Wirklich sehr
ärgerlich. Und dann investieren sie das ganze Gutseinkommen bis auf unsere paar Pennies
und meinen, sie könnten so das Kapital besser vergrößern als wir. Hach!"
„Verstehe." Gostrain stellte seine Tasse ab und legte die Finger aneinander.
„Selbstverständlich kann ich mir die Verwaltung des Treuhandvermögens einmal genauer
anschauen. Sie sind berechtigt, das ganze Einkommen nach Gutdünken zu verwenden. Falls
die Treuhänder ihren gesetzlichen Pflichten nicht nachgekommen sind, können und sollten sie
gewechselt werden."
„Habe ich's dir nicht gesagt; Schwester?" frohlockte Ottoline.
„Das habe ich dir gesagt", korrigierte Dorelia. „Hast du das etwa schon vergessen?"
„Sei nicht albern, Dorelia. Ich vergesse niemals etwas, und wenn es dir recht ist, würde ich
Mr. Gostrain bitten fortzufahren. Und das solltest du ebenfalls tun, zumal unser Zeichen
direkt vor uns sitzt."
Hugo erschauderte. Falls Meggie sich jemals in eine der Mabey-Schwestern verwandelte,
würde er sie persönlich nach Woodbridge zurückbringen.
„Ich muss Ihnen jedoch sagen", redete Mr. Gostrain weiter, „dass Sie zwar das Geld an
wen auch immer vermachen können, das Kapital indes nicht angreifen dürfen, es sei denn,
Lord Eliot hätte eine höchst unübliche Anordnung verfügt, was ich jedoch bezweifele."
„Das ist unwichtig." Dorelia winkte ab. „Für uns zählt nur, dass Madrigal am Ende das
Geld bekommt und weiß, dass es aus ihrer Familie stammt. Ich bin sicher, der liebe Hugo fin-
det das Einkommen nützlich, wenn Sie nur für die gerechte Aufteilung sorgen könnten."
„Ich werde mein Bestes tun. Ah, darf ich fragen, wie groß das Treuhandvermögen ist?"
„Natürlich dürfen Sie das", zirpte Ottoline. „Nach der letzten Abrechnung beläuft es sich
auf dreihundertfünfzigtausend Pfund."
Hugo ließ seine Teetasse fallen.
22. KAPITEL

Mit einem Korb voller Rosen kam Meggie aus dem Garten. Es freute sie, wie ihr Treffen
mit dem Vikar verlaufen war, und noch mehr freute es sie, dass der Vikar ebenfalls entzückt
gewesen war. Um das zu erkennen, hatte sie nicht ihre Gabe einsetzen müssen, die Wellen der
Zustimmung, die sie von ihm empfangen hatte, waren überaus erfreulich gewesen.
Sie fand, dass sie sich schon recht wacker hielt in ihren Bemühungen, sich wie eine Lady
zu benehmen, denn das war ja genau das, was Hugo sich von ihr erhoffte, und da sie ihn
glücklich machen wollte, hatte sie in der Zwischenzeit viel gelernt. Nun kritisierte er nicht
mehr alles, was sie tat, und beanstandete nicht mehr jedes Wort, das aus ihrem Mund kam.
„Hallo, Cookie", grüßte sie fröhlich und stellte den Korb auf den Küchentisch. „Heute ist
ein herrlicher Tag, nicht wahr?"
„Jawohl, Mylady. Und Ihrem Hundchen habe ich auch einen schönen Knochen
aufgehoben, mit viel Mark darin und ganz saftig."
„Cookie, du verwöhnst Hadrian." Meggie lächelte. „Nur gut, dass er sich jetzt so viel
bewegen kann, denn sonst würde er einen dicken Bauch ansetzen."
„Ja, so einen wie diesen hier." Fröhlich klopfte sich Cookie auf seinen Wanst. „Ich habe
Jahre gebraucht, um den wachsen zu lassen."
„Das hast du gut hinbekommen, Cookie." Meggie holte sich eine Vase und begann, die
Rosen darin anzuordnen. „Weißt du, ob mein Gemahl schon zurückgekehrt ist?"
„Ja, er trinkt gerade Tee im Arbeitszimmer mit einem fremden Gentleman und den Misses,
und die sind beide furchtbar aufgeregt über irgendetwas."
„Na so was." Meggie legte Gartenhandschuhe sowie Schürze ab. „Merkwürdig, es wurde
doch niemand erwartet. Ich sollte lieber einmal nachschauen." Eilig machte sie sich auf den
Weg zum Arbeitszimmer, denn sie wusste, dass Hugo die Tanten ungemein anstrengend fand,
wenn diese aufgeregt waren.
An der offenen Tür stockte ihr Schritt, und sie besah sich erst einmal die Szene, die sich ihr
bot: Die Scherben einer Teetasse lagen auf dem Schreibtisch. Hugo hüpfte fluchend auf und
nieder, während er gegen die nassen dunklen Flecke auf seinem Jackett und der Hose schlug.
Dorelia und Ottoline sprangen um ihn herum, sie schnatterten und wedelten mit den Armen
wie immer, wenn sie furchtbar aufgeregt waren.
Nur der Mann, der in einem Sessel neben dem Sofa saß, erschien einigermaßen gesammelt.
Er erhob sich, sobald er Meggie sah. „Lady Hugo, nehme ich an?" Er kam auf sie zu.
„Ja", antwortete sie und wunderte sich über die von dem Fremden ausgehende Mischung
von Eifer, Erregung und Erwartung, die sein ruhiges Äußeres Lügen strafte.
„Ich bin James Gostrain, Lord Hugos Advokat." Er neigte sich über ihre Hand. „Ich freue
mich, Ihre Bekanntschaft zu machen."
„Danke", sagte sie geistesabwesend und blickte wieder zu Hugo. „Ist alles in Ordnung?
Mein Gemahl scheint ein wenig außer sich zu sein."
Mr. Gostrain lächelte ihr zu. „In der Tat, das ist er wohl. Er erhielt soeben eine
ungewöhnliche Nachricht. Nehmen Sie doch bitte Platz, denn ich denke mir, er wird sie mit
Ihnen teilen wollen, sobald er seine Fassung wiedererlangt hat."
Meggie nickte, zog sich einen Sessel heran, faltete die Hände und bereitete sich aufs
Warten vor. Sie musste sich indes nicht lange gedulden. Hugo entdeckte sie beinahe sofort.
„Meggie, ach Liebling, gottlob bist du da. Du glaubst ja nicht, was geschehen ist. Ich
bekam den Schock meines Le bens, und dir wird es ebenso gehen, wenn du hörst, weshalb Mr.
Gostrain hergekommen ist."
Sie blickte ihn unbeteiligt an, denn sie wusste nicht, ob die Nachricht sehr gut oder sehr
schlecht war oder irgendwo in der Mitte lag. Selbst von den Tanten empfing sie nichts
Hilfreiches, weil diese viel zu aufgelöst waren. „Vielleicht solltest du mich aufklären", meinte
sie, drückte die Hände zusammen und betete, die Nachricht - was immer es auch war - möge
nicht das Glück zerstören, das sie und Hugo zusammen gefunden hatten. Das könnte sie nicht
ertragen.
„Also . . . Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Mr. Gostrain - oh, entschuldige, Meggie.
Habt ihr euch schon bekannt gemacht?"
Meggie nickte und wünschte, Hugo würde endlich zur Sache kommen. Langsam geriet sie
nämlich ebenso aus der Fassung wie er und musste um ihre Haltung ringen.
„Ja also . . . Mr. Gostrain ist der Hauptteilhaber der Kanzlei, die sich um die
Angelegenheiten meiner Familie kümmert. Nach unserer Vermählung schrieb ich an diese
Advokaten und bat um die vertragliche Einrichtung eines Kontos zu deinen Gunsten, um dich
und unsere künftigen Kinder abzusichern."
Wenn das das einzige Problem war - Meggie entspannte sich ein wenig. „Ich brauche doch
nichts, Hugo. Ich habe ja alles. Du warst schon so überaus großzügig."
„Hör mir einfach weiter zu, Meggie", bat er ungeduldig. „In meinem Brief erwähnte ich
einige Details über dich, damit man . . . nun, einerlei. Es schien mir eben eine gute Idee zu
sein."
Meggie wurde blass. Sie hatte ja geahnt, dass ihre Ehe zu gut war, um wahr zu sein, und
dass sie ein solches Glück nicht verdiente. Jetzt hatte Mr. Gostrain gewiss ein Schlupfloch
gefunden, einen Grund, weshalb die Ehe ungültig war. Damit ersparte er Hugo die
Peinlichkeit, eine unehelich Geborene, gesellschaftlich Ausgestoßene zur Frau genommen zu
haben. „Was für Details?" fragte sie kaum hörbar.
„Nur Grundsätzliches", antwortete er leichthin. „Wer deine Mutter war, wie sie starb, was
danach mit dir geschah. Den Rest hat Mr. Gostrain selbst herausgefunden."
Meggie hätte tot umsinken mögen, so sehr gedemütigt fühlte sie sich. Was musste der
Advokat jetzt von ihr denken? Und was die Tanten? Kein Wunder, dass sie so aufgelöst
waren. Ihre liebe kleine Madrigal Montagu, die in jeder Hinsicht Lally ersetzen sollte - auch
was die Achtbarkeit betraf - war ein Bankert!
„Den Rest?" fragte sie. Wie lange würde es wohl dauern, bis alle Welt die Wahrheit über
die unglückliche Frau kannte, welche der arme Hugo zur Gattin genommen - und verstoßen
hatte?
„Ja, Liebling", sagte Hugo sehr sanft. „Mr. Gostrain stellte einige Nachforschungen an und
entdeckte, wer dein Vater war, und das ist der Haken an der Sache."
Meggie blickte auf ihre Hände. Eine Ehe konnte doch nicht annulliert werden, nur weil
einer der Partner unehelich ge boren war, oder doch? Das glaubte sie nicht. Da musste noch
etwas anderes sein, etwas wirklich Schlimmes, etwas, das mit ihrem Vater zu tun hatte.
Vielleicht hatte er ein entsetzliches Verbrechen begangen . . . Ihr wurde buchstäblich übel.
Kein Wunder, dass man ihr nie etwas gesagt hatte. Die Wahr heit war zu fürchterlich, noch
fürchterlicher als es war, ihre Mutter unverheiratet und schwanger zurückzulassen.
„Er starb nicht so, wie du es annahmst, Liebling." Hugo kam zu ihr, kniete sich neben ihren
Sessel und nahm ihre Hand in seine. „Es tut mir Leid. Du wirst es nicht gern hören."
Meggie schloss ganz fest die Augen. Es war wirklich etwas Schlimmes. Sie konnte sich
nur denken, dass ihr Vater einen Mord verübt hatte. „Wurde er gehängt?" Sie gab sich große
Mühe, nicht zu weinen.
„Gehängt?" Bestürzt blickte Hugo sie an. „Wie kommst du denn auf solche Idee?"
„Du ... du sagtest, ich würde es nicht gern hören. Und dass er nicht so gestorben sei, wie
ich es annahm." Meggie drückte sich die zitternde Hand auf den Mund. „Wenn er nicht
gehängt wurde, was geschah dann mit ihm?"
„Die liebe Madrigal liegt gar nicht so falsch", meinte Dorelia, die jetzt zum ersten Mal
etwas äußerte. „David war tatsächlich ein gesuchter Mann, und deshalb musste er auch das
Land so schnell verlassen, der arme Junge. Eine Schande, dass er die vielen Jahre im Exil
verbringen musste, doch wenigstens hat er ja ein Vermögen gemacht, und mehr wollte er
schließlich nicht."
Benommen krampfte Meggie die Hände um die Armlehne ihres Sessels. „Heißt das, er sei
nicht vor meiner Geburt gestorben?"
„Selbstverständlich ist er das nicht. Dazu war er viel zu gerissen", antwortete Dorelia sehr
selbstgefällig.
„Weshalb wurde er denn gesucht?" verlangte Hugo zu wissen. „Herrgott, ich könnte Sie
beide erwürgen, weil Sie es für sich behalten haben!"
„Ganz ruhig!" sagte Ottoline. „Du hörst kein einziges Wort mehr, wenn du nicht anders mit
uns redest!"
„Drohen Sie mir nicht!" fauchte Hugo. „Los, weiter. Weshalb wurde David Russell
gesucht?"
„Weil er ein Schmuggler war, mein Guter", erläuterte Ottoline. „Ein schneidiger
Schmuggler zwar, doch auf jeden Fall ein Schmuggler, und die Zöllner Seiner Majestät
kannten seine Aktivitäten ganz genau. In derselben Nacht, da sie ihn festnehmen wollten,
entkam er - um Haaresbreite, möchte ich hinzufügen."
„Das ist ja fabelhaft, einfach fabelhaft." Hugo drückte sich die Zeigefinger in die
Augenwinkel.
Meggie legte den Kopf gegen ihre Rückenlehne und hielt sich die Hände vors Gesicht. Ihr
Vater war ein von den Be hörden Seiner Majestät gesuchter Schmuggler. Großartig. Mr.
Gostrain musste ja ganz begeistert sein, auch noch diese Einzelheit über ihren widerwärtigen
Hintergrund zu erfahren! Was Hugo dazu später äußern würde, wollte sie sich lieber nicht
ausmalen, doch seiner Miene nach zu urteilen, würde es sich gewaschen haben.
„Du darfst sie an dieser Stelle nicht hängen lassen, Schwester", meinte Dorelia. „Madrigal
wird wissen wollen, weshalb ihr Vater das Land ohne ihre Mutter verließ."
„Das wollte ich ihr ja gerade erzählen, Dorelia. Ich wünschte, du würdest mich nicht so
drängen." Ottoline ordnete ihre Röcke und legte die Hände im Schoß zus ammen. Meggie
hätte vor Ungeduld schreien mögen. „Nun denn", fuhr Ottoline fort, „Die Wahrheit ist, dass
Vetter David von Margaret Blooms Schwangerschaft wusste und das Mädchen auch heiraten
wollte, nur waren Megs Eltern dagegen."
„Was?" Meggie setzte sich ganz gerade auf und starrte die beiden Schwestern wütend an.
„Tanten, was haben Sie mir eigentlich noch alles vorenthalten? Sie sagten beide, Sie wüs-sten
nichts von meiner Mutter. Und was soll dieser Unsinn mit Vetter David?"
Hugo nahm ihre Hand. „Es stellt sich wohl heraus, dass dein Vater, David Russell, Lallys
Bruder war."
„Er war - was?" Meggie fasste es nicht. Sie hatte schon gedacht, ihre gegenwärtigen
Lebensumstände wären unmöglich, doch diese Information überschritt wirklich alle Grenzen
der Vernunft.
„Meggie, Liebste, ich weiß, dass sich diese Geschichte geradezu abenteuerlich anhört, und
ich erfuhr die Zusammenhänge auch eben erst", sagte Hugo sehr sanft. „Nichtsdestotrotz ist es
die Wahrheit."
„Ach Tanten, wie konnten Sie mich nur so schändlich belügen?" Vor Empörung zitterte
Meggie von Kopf bis Fuß. „Mein Vater war also Lallys Bruder. Hielten Sie das der
Erwähnung nicht wert, obwohl ich Sie doch fragte, ob Sie meine Mutter kannten? Wie ist das
nur möglich?"
„Nun fahr doch nicht gleich aus der Haut, Madrigal", beschwichtigte Dorelia. „Wir
kannten deine Mutter nicht. Wir wussten nicht einmal etwas von ihr. Das erfuhren wir erst
viel später. Und was David, der ungezogene Junge, angestellt hatte, erfuhren wir auch erst,
nachdem er außer Landes war. Hätte ich gewusst, dass er schmuggelte, würde ich ihm den
Hosenboden versohlt haben. So ein Unsinn aber auch - und dann noch ein unschuldiges
Dorfmädchen zu schwängern! Wenn er die Kleine so begehrte, hätte er sie ja auch vorher
heiraten können, ehe er mit ihr ins Bett sprang."
Meggie hätte den beiden den Hals umdrehen mögen, weil sie ihr das alles vorenthalten
hatten. Zornig starrte sie die Tanten an. „Ich denke, Sie sollten jetzt lieber mit der ganzen
Geschichte herausrücken, wie entsetzlich sie auch immer sein mag. Ich habe Anrecht darauf,
und Hugo ebenfalls. Er war so gütig, mich zu ehelichen, obwohl ich eine unehelich Geborene
bin, doch dieses geht über alles hinaus, das er hätte erwarten können, und ich möchte ihn nicht
im Dunkeln lassen."
Hugos Hand erstarrte auf ihrer, und Meggie blickte ihn erschrocken an. „Du wusstest es
nicht?" fragte sie. „Schwester Agnes erklärte, du seist dir der Umstände meiner Geburt
bewusst und störtest dich nicht daran."
Gequält schaute Hugo drein. „Ich versicherte, ich verstünde." Seine Stimme bebte ein
wenig. „Das tat ich auch. Das tue ich noch immer. Meggie, mein Liebling, höre mich an.
Nichts davon ist deine Schuld. Es ist zwar deine Geschichte, doch nicht deine Schuld."
„Madrigals Schuld!" Dorelia schnaufte verächtlich. „Als ob das jemand behauptet hätte.
David ist der allein Schuldige! Er hätte sich anständig benehmen müssen, doch er brauchte ja
das große Abenteuer und immer mehr Geld, was zu der Schmuggelei führte und dann zu dem
tragischen Ende."
Ottoline nickte heftig. „Tragisch, wirklich tragisch. Die arme junge Meg - denkt, er wäre
erschossen worden, wo er sich in Wirklichkeit aus dem Staub gemacht hat."
„Erschossen?" Bei jeder neuen Enthüllung drehte sich alles in Meggies Kopf.
Dreiundzwanzig Jahre lang hatte sie ohne alle Antworten gelebt, nun bekam sie mehr, als sie
sich jemals vorgestellt hatte, und bis jetzt war jede entsetzlicher als die vorige.
„Ja, erschossen. Das hatten die Eltern der armen Kleinen erzählt, diese Narren", erklärte
Dorelia. „Sie waren gegen die Verbindung mit David. Bei seinem unpassenden Beruf war das
ja auch kein Wunder, von seinem gesellschaftlichen Rang einmal ganz abgesehen. Die
meisten Liaisons dieser Art enden damit, dass das Mädchen ruiniert ist und der Mann sich
nach einer neuen Eroberung umsehen muss. Deine bedauernswerte Mutter war zweifellos
ruiniert, obwohl das nicht Davids Absicht gewesen war."
„Oh, wie furchtbar für sie." Meggie versuchte sich vorzustellen, wie ihrer Mutter zu Mute
gewesen sein musste - ganz allein, schwanger und in dem festen Glauben, ihr Geliebter wäre
tot...
„Ich verstehe zwar die Sorge der Blooms, als sie von der Beziehung ihrer Tochter
erfuhren", fügte Ottoline hinzu. „Doch was sie taten, war unverantwortlich." Sie schüttelte
den Kopf, so dass ihre weißen Löckchen von einer Seite zur anderen flogen. „Natürlich
wussten sie nicht, dass ihre Tochter schwanger war, denn Margaret hatte es ihnen nicht er-
zählt. Hätte sie es nur getan, denn dann wäre möglicherweise alles anders gekommen. Doch
man weiß ja, wie töricht junge Mädchen in solchen Dingen sein können."
Dorelia betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. „Wie tragisch, wie furchtbar
tragisch. Hätten wir nur etwas geahnt, würden wir die liebste Madrigal sofort unter unsere
Fittiche genommen haben, nicht wahr, Schwester?"
„Oh, selbstverständlich. Familie bleibt Familie, gleichgültig, von welcher Seite des Lakens
sie kommt, doch wir ahnten ja nichts. Niemand wusste, dass überhaupt ein Kind exis tierte.
Von Davids Verhältnis mit Meg erfuhren wir erst, als er uns sehr viel später aus Indien
schrieb und uns bat, nach Margaret und dem Kind zu suchen."
„Das hat er getan?" Meggie blickte finster. „Wieso? Weshalb kümmerte er sich noch
darum, nachdem er uns im Stich gelassen hatte?"
„Weil er euch beide nach Indien holen wollte, nachdem er nun genug Geld und ein Haus
besaß. Erwähnte ich nicht, dass es bei ihm und deiner Mutter wahre Liebe gewesen war?"
Meggie holte einmal tief Luft. „Nein, das erwähnten Sie nicht. Und das ist wohl die einzig
gute Nachric ht bei dieser ganzen Katastrophe."
„Ach Kind, vergib mir", bat Ottoline. „Für deine Eltern warst du ein absolutes
Wunschkind, und die beiden liebten einander ohne Ende."
Meggie empfand es als ungemein tröstlich, zu erfahren, dass ihre Eltern einander
zumindest geliebt hatten. „Was schrieb er Ihnen sonst noch?" erkundigte sie sich. Sie musste
unbedingt wissen, was ihr Vater gedacht und gefühlt hatte, nachdem alles schief gegangen
war.
„Nun, er erläuterte, dass er schon geplant hatte, ins Exil zu gehen, weil ihm klar war, dass
er nicht mehr lange mit der Schmuggelei so weitermachen konnte, zumal ihm die Leute vom
Zoll immer näher rückten. Er berichtete uns, er habe an Meg in Ramsholt, wo sie bei ihren
Eltern wohnte, geschrieben und sie gebeten, ihn in der Nacht des 24. Juni um elf Uhr in
Bawdsey zu treffen. Dort hatte er sein Schiff festgemacht, und dort wollte er Meg auch zu
sich an Bord nehmen." Ottoline seufzte schwer, drückte sich ein Taschentuch an den Mund
und erstickte ihr Weinen. „Ich kann nicht mehr weitersprechen."
Dorelia, der die Tränen ebenfalls übers Gesicht strömten, riss ihrer Schwester das
Taschentuch aus der Hand und putzte sich damit die Nase. „Oje, oje, welche Tragödie. Und
das ist mein Taschentuch, Schwester!"
„Unsinn", fauchte Ottoline. „Das habe ich selbst heute Morgen aus dem Wäschehaufen
genommen."
„Bitte", flehte Meggie, „reden Sie weiter, Tante Ottoline. Was geschah? Was lief schief?"
„Ja, das war es ja, Kind." Ottoline warf ihrer Schwester noch einen finsteren Blick zu. „Gar
nichts wäre schief ge gangen, wenn diese idiotischen Blooms nicht gewesen wären. Die fingen
nämlich den Brief ab, bevor Meg ihn lesen konnte, und verrieten den Zöllnern dann genau,
wo und wann der liebe David in jener Nacht zu finden war."
Aufrichtig entsetzt griff sich Meggie an die Kehle. „Wie konnten sie nur etwas so
Scheußliches tun? Wie konnten sie das ihrer eigenen Tochter antun? Und ihr dann zu sagen,
er sei getötet worden . . . Doch sind Sie sich absolut sicher? Wie hatte mein Vater denn wissen
können, dass die Blooms ihm die Zöllner auf den Hals geschickt hatten?"
„Das wusste er erst zwei Jahre später, als wir auf seine Anfrage antworteten und ihm alle
Einzelheiten nannten. Oh, was für ein Schlag das für ihn gewesen sein musste!" Ottoline zog
ein zweites Taschentuch aus ihrem Ärmel und betupfte sich die Augen. „Ihm berichten zu
müssen, dass seine wahre Liebe und ihr Kind spurlos verschwunden waren ..."
„Wir stellten nämlich Nachforschungen an, Liebling", erläuterte Dorelia, während sich ihre
Schwester von ihren Emotionen erholte. „Wir fanden die Blooms und erkundigten uns nach
Megs Aufenthaltsort. Sie antworteten, sie wüssten es nicht, und er kümmerte sie auch nicht,
denn nachdem sie ihr erzählt hätten, David sei tot, sei sie ohne weiteres Wort verschwunden.
Sie nannten sie ein undankbares Geschöpf, wenn auch nicht in einer so höflichen
Ausdrucksweise."
„Und du solltest gehört haben, was sie äußerten, als wir ihnen sagten, dass ihre Tochter mit
Davids Kind schwanger sei!" fiel Ottoline wieder ein. „Fürchterliche Dinge! Einfach
fürchterlich. Da informierten sie uns auch von ihrer schänd lichen Tat und sagten, sie hätten
der armen Meg erzählt, dass sie den Brief abgefangen und dazu benutzt hatten, David zu
verraten. Kein Wunder, dass Meg fortlief."
„Sie meinten, sie bedauerten nur, dass Vetter David überlebt hatte", fügte Dorelia hinzu.
„Und das war ein Wunder." Ottoline wischte sich mit dem Taschentuch übers ganze
Gesicht. „Er hatte nämlich bis zum allerletzten Moment auf Meg gewartet, während seine
Mannschaft sich ins Gefecht stürzte. Schließlich war er doch ge zwungen, ohne Meg
abzusegeln. Ihm brach zwar das Herz, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Als er dann
erfuhr, dass sie seinen Brief nie erhalten hatte, brachen diese Wunden wieder auf ..."
Meggie hatte auch das Gefühl, ihr würde das Herz brechen. Zum ersten Mal konnte sie sich
nun ein wirkliches Bild von ihren Eltern machen. „Liebe Tanten", fragte sie schließlich
zögernd, „haben Sie eine Ahnung, weshalb mich meine Mutter Madrigal nannte? Meine Tante
Emily sagte mir, ihre letzten Worte seien gewesen, dass ich Madrigal Anna heißen sollte."
Dorelia und Ottoline trockneten ihre Augen im selben Moment und strahlten Meggie an.
„Die teure Madrigal", sagte Dorelia liebevoll.
„Ja, die liebe, teure Madrigal", pflichtete Ottoline bei. „Eine reizende Frau war sie, unsere
erste Kusine und Davids sowie Lallys Mutter, was sie zu deiner Großmutter väterlicherseits
macht. Deine Mutter gab dir ihren Namen und den Namen der Großmutter deines Vaters,
Anna. Erinnere mich daran, dass ich dir einmal die Inschriften in unserer Familienbibel
zeige."
Meggie war also nach ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter benannt worden. Sie
musste schlucken. Bis jetzt war ihr der Zusammenhang nicht ganz klar gewesen. Sie besaß
also Wurzeln, wirkliche Wurzeln. Sie hatte einen Vater, den sie endlich beim Namen nennen
konnte, und sie ähnelte tatsächlich der Schwester ihres Vaters, und das nicht nur in der
Einbildung der beiden Tanten.
Familie. Ihre Familie. Ottoline und Dorelia waren also auch eine Art Kusinen, wenn auch
um drei Ecken herum. Ihr ganzes Leben lang hatte Meggie keine Verwandten gehabt, und nun
wohnte sie unter einem Dach mit zwei Menschen, in deren Adern tatsächlich das gleiche Blut
wie ihres floss. So überwältigt war sie, dass sie kein einziges Wort heraus brachte. Sie presste
sich die Hände fest auf die Augen, um ihre Tränen zurückzuhalten.
„Liebling?" flüsterte Hugo leise an ihrem Ohr. Sein Atem strich warm über ihre Wange,
und sein Arm lag um ihre Schultern. „Bist du so überwältigt? Möchtest du gern allein sein?"
Meggie unterdrückte ihr Auflachen, das eigentlich ein Schluchzen war. „Nein. Ich war
mein ganzes Leben allein, bis du des Wegs kamst. Ich hatte keine Familie außer Hadrian.
Jetzt habe ich einen Gemahl und Tanten und . . . ach Hugo, ich gehöre tatsächlich zu einem
eigenen Rudel! Ich vermag es gar nicht zu fassen. Mir ist, als müsste ich laut losheulen." Sie
blickte ihn an und lachte aus ehrlicher Freude.
Sofort ließ Hugo sie los, schaute ihr in die Augen und fasste sie fest bei den Händen.
„Meggie, höre mir zu. Ich weiß, du hast eine Reihe von Schocks hinter dir, doch du willst
gewiss nicht, dass Mr. Gostrain denkt, mit dir stimme etwas nicht, oder?"
Mr. Gostrain! Den hatte sie ganz vergessen, denn er hatte sich diskret aus ihrem Blickfeld,
wenn auch nicht außer Hörweite zurückgezogen. „Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch
irgendetwas tun könnte, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen", erwiderte sie ebenso leise.
„Offensichtlich kam er, um dir unsere Ehe auszureden, und alles, was er heute Nachmit tag
hörte, kann sein Anliegen nur bestärken. Er muss sehen, dass ich nicht geeignet bin, deine
Gattin zu sein."
„Nicht doch, meine Liebste." Hugo legte die Arme um sie und zog sich Meggie an die
Brust. „Das sieht er ganz und gar nicht, und du darfst ihm auch keinen Grund dazu geben.
Bitte - und wenn auch nur mir zuliebe, nimm dich zusammen. Ich bitte dich!"
„Vergib mir." Es war ihr furchtbar peinlich, dass sie den unverzeihlichen Fehler begangen
hatte, in der Öffentlichkeit Gefühle zu zeigen. „Ich werde mich ordentlich benehmen, ich
schwöre es."
„So ist's recht. Und jetzt fasse dich, denn es geht noch weiter, und du musst so gelassen
wie möglich erscheinen. Kannst du das für mich tun?"
„Für dich kann ich so ziemlich alles tun", versicherte sie tapfer. „Sage mir, ob Mr. Gostrain
versuchen will, unsere Ehe auflösen zu lassen. Ich weiß nicht, ob ich ruhig bleiben kann,
wenn ich nicht wenigstens vorgewarnt werde."
„Nichts dergleichen wird er tun", versprach Hugo und küsste ihre Hand. „Das genaue
Gegenteil ist der Fall. Du brauchst ihm nur aufmerksam zuzuhören und alles zu un-
terschreiben, worum er dich bittet. Ich werde das ebenfalls tun. Wirst du das schaffen,
Meggie?"
„Ja, natürlich." So würdelos, wie ich mich verhalten habe, dachte sie, verdiene ich es, wie
eine Schwachsinnige angesprochen zu werden.
„Gut. Ausgezeichnet." Beruhigend drückte er ihr die Hand. „Mr. Gostrain, ich glaube,
meine Gattin ist jetzt bereit, sich anzuhören, was Sie ihr zu sagen haben. Bitte, fassen Sie sich
jedoch kurz, denn sie ist bereits sehr erschöpft von den Enthüllungen dieses Tages."
„Wie Sie wünschen, Mylord." Er räusperte sich. „Wir beginnen also mit David Russells
Vermächtnis an seine unmittelbare Nachfahrin Madrigal Anna Bloom ..."
23. KAPITEL

Alles in allem habe ich mich recht gut verhalten, fand Meggie. Sie hatte nicht gekreischt
und war nicht in Ohnmacht gesunken. Sie hatte überhaupt nicht viel getan, außer dass sie
beinahe Hugos Finger gebrochen hätte. Das schien ihm indes nichts auszumachen.
Dennoch stimmte etwas ganz und gar nicht. Seit Mr. Gostrain und die Tanten nicht nur die
Nachricht über ihre Erbschaft, sondern auch die Wahrheit über Meggies Eltern enthüllt hatten,
war Hugo nicht mehr der Alte gewesen. Er hatte distanziert und geistesabwesend gewirkt.
Gewiss, er war durchaus freundlich' und sehr höflich gewesen, doch während des Dinners
hatte er kaum einmal ihren Blick erwidert und so gut wie überhaupt nichts geäußert.
Tief atmete sie die Nachtluft ein und beobachtete eine Eule, die geräuschlos über den Fluss
schwebte und in einem Wäldchen am gegenüberliegenden Ufer verschwand. Vorhin hatte es
geregnet, und die Tropfen bildeten einen kristallenen Schimmer auf dem Gras, auf dem das
Licht des Halbmondes glitzerte wie lauter winzige Sterne.
In der Außenwelt ging alles seinen üblichen Gang. Nichts deutete darauf hin, dass alles in
Meggies innerer Welt auf dem Kopf stand. Sie war nicht mehr dieselbe Frau wie heute
Morgen beim Aufstehen. Die Grenzlinien ihres Lebens waren neu definiert worden. Ihre
Existenz hatte eine zuvor fehlende Form und Substanz erhalten.
Meggie fühlte sich sehr elend.
Sie hörte Hugo durch die offene Tür auf den Balkon heraustreten und fühlte dann, wie sich
seine Hände sanft auf ihre Schultern legten.
„Meggie? Komm ins Bett, Liebling. Du wirst dich noch erkälten, wenn du hier nur in
deinem Nachtgewand stehst."
Sie drehte sich in seinen Armen herum und schaute zu ihm hoch. Das Herz tat ihr weh. Sie
war sicher, dass sie wusste, was ihn quälte. „Hugo, du warst doch immer aufrichtig zu mir,
nicht wahr?"
Er legte die Arme etwas fester um ihren Rücken. „Weshalb fragst du?"
„Du sagtest, dich störe die Sache mit meinem Vater nicht. Stimmt das wirklich?"
„Wie könnte mich etwas an einem Mann stören, der dir ein Vermögen hinterlassen hat? Ich
glaube, dass mich nicht einmal die Mabey-Schwestern stören, denn sie wollen dir ja ebenfalls
eines vermachen."
Meggie lächelte unsicher. „Ja, sie sind sehr großzügig. Doch das ist etwas anderes, Hugo.
Sie sind schließlich keine Verbrecher."
„Ich weiß nicht, ob man deinen Vater wirklich einen Verbrecher nennen darf, Liebling. Er
mag einige Gesetze gebrochen haben, doch in diesem Teil der Welt ist die Schmuggelei ein
Jahrhunderte alter Beruf."
„Mag sein, doch meinen Vater hat er in Schwierigkeiten gebracht. Und was ist dabei
herausgekommen? Er verlor die Frau, die er liebte. Er musste seine Familie und sein Land
hinter sich lassen. Sein Kind lernte er nie kennen. Die Tanten sagen, sein Herz sei gebrochen."
Statt einer Antwort hob Hugo sie sich auf die Arme und trug sie hinein. Mit dem Fuß stieß
er die Glastür zu, legte Meggie dann aufs Bett und zog die Decken um sie herum hoch.
Danach setzte er sich neben sie auf die Bettkante und nahm ihre Hand in seine.
„Also gut - worum handelt es sich eigentlich? Ich glaube nicht, dass dich das zerbrochene
Herz deines Vaters so traurig macht. Seit James Gostrain die Katze aus dem Sack ließ, warst
du ungewöhnlich schweigsam, und beim Dinner hast du kaum etwas gegessen, obwohl es
dein Lieblingsgericht gab. Die meisten Menschen würden vor Freude in die Luft springen,
wenn man ihnen mitteilte, sie hätten vierhunderttausend Pfund geerbt und könnten noch
weitere dreihundertfünfzigtausend erwarten."
Sie war ungewöhnlich schweigsam gewesen? Hugo meinte wohl, sie habe sein eigenes
Verhalten nicht bemerkt, oder es war ihm selbst nicht bewusst, was sie nicht verwundern
würde. Sie zog die Knie hoch, umschlang sie mit den Armen und überlegte, wie sie ihm die
Wahrheit beibringen sollte.
„Meggie, machst du dir wegen des Geldes aus irgendeinem Grund Sorgen?"
„Nicht doch. Ich bin mir ganz sicher, die Erbschaft wird sehr nützlich sein", antwortete sie,
weil sie ihn in diesem Punkt beruhigen wollte, „und ich freue mich, dass ich dir etwas
zurückgeben kann, nachdem du für mich so vie l getan hast. Von Geld verstehe ich eigentlich
gar nichts, denn ich besaß ja nie etwas. Du dagegen verstehst sehr viel davon und wirst schon
wissen, was damit zu tun ist. Schließlich gehört es jetzt dir, und da brauche ich mir ja keine
Sorgen darum zu machen, nicht wahr?"
„Wo liegt denn dann das Problem?" Hugo zog sich sein Hemd aus und warf es über einen
Stuhl. „Irgendetwas stimmt doch nicht, Meggie, und es wäre mir lieber, wenn du es mir
sagtest, anstatt es für dich zu behalten und dich dabei elend zu fühlen."
Meggie raffte ihren Mut zusammen. „Ich . . . ich möchte, dass zwischen uns immer
Ehrlichkeit und Wahrheit herrschen. Unsere Ehe kann nur dann gedeihen, wenn sie auf
Vertrauen und Aufrichtigkeit basiert."
Hugo nickte, schaute zu Boden und rieb sich den Nacken. „Ja, und?"
„Und ich kann mir nicht helfen, aber mir ist, als seist du derjenige, der mir etwas
vorenthält."
„Wie kommst du nur auf eine so lächerliche Idee?"
„Weil ich dich kenne, Hugo, und weil ich es weiß, wenn du etwas verschweigst. Ich glaube
auch zu wissen, worum es sich handelt."
„Ach ja?" Er schaute sie an, und sein Blick schien plötzlich eiskalt zu werden. Hugo stand
auf, ging zum Kamin, drehte sich dann wieder zu ihr um und verschränkte die Arme vor der
Brust. „Dann sage es mir doch, kluge Meggie, wenn du es so genau weißt."
Meggie ließ sich gegen die Kissen sinken. Sein Zorn überraschte und kränkte sie. „Ich
glaube, dass ich unehelich ge boren bin, macht dir sehr wohl etwas aus", antwortete sie leise.
„Weil du ein sehr großzügiger Mensch bist, versuchtest du, dir einzureden, dass das nicht von
Belang sei, und das fiel dir umso leichter, solange dir keine wirklichen Einzelheiten vorlagen.
Da dir jetzt indes alles bekannt ist, wirst du von der Wahrheit und von mir abgestoßen. Das ist
es doch, nicht wahr?"
Zu ihrer Verblüffung warf Hugo laut lachend den Kopf in den Nacken. „Du bist vielleicht
eine Närrin!"
Meggie konnte ihn nur anstarren, und sie wurde immer zorniger. „Denke meinetwegen,
was du willst, doch lache mich bitte nicht aus. Es fiel mir nicht leicht, das zu sagen, und du
kannst wenigstens meine Empfindsamkeit respektieren, einerlei, für wie dumm du mich
hältst." Sie wandte den Kopf zur Seite und wischte sich wütend die Tränen fort, die ihr in die
Augen getreten waren.
Sofort stand Hugo wieder bei ihr, setzte sich auf das Bett, nahm sie in die Arme und
drückte sich ihr Gesicht an die nackte Brust. „Es tut mir Leid, Meggie", flüsterte er rau an
ihrer Schläfe und streichelte ihr übers Haar. „Ich wollte dich nicht verärgern."
„Das hast du aber getan!" Sie schaffte es, ihre Hände zwischen seinen und ihren Körper zu
schieben und Hugo fortzustoßen.
„Was - was soll denn das?" fragte er unwillig. Meggie richtete sich auf den Knien auf. Ihr
Zorn wurde so heiß, und das Blut hämmerte so sehr in ihrem Kopf, dass sie kaum noch sehen,
geschweige denn denken konnte. „Du kannst nicht einfach sagen, was du willst, ohne an die
Folgen zu denken, und dann glauben, eine rasche Entschuldigung würde schon alles richten!"
Sie zitterte am ganzen Körper. „Manche Menschen haben nämlich Gefühle, auch wenn sie dir
vielleicht abgehen!"
Verwirrt blickte er sie an. „Was soll das heißen?"
„Das, was ich gesagt habe." Ungehalten wischte sie sich aufs Neue übers Gesicht und
verfluchte ihre Tränen. „Falls du Gefühle hast, dann weiß nur Gott, wie diese aussehen. Ich
bin noch niemandem begegnet, der so wetterwendisch ist wie du - im einen Moment
freundlich und zuvorkommend, und im nächsten tyrannisch, es sei denn, du bist gerade
vollkommen gleichgültig. Du magst der Sohn eines Herzogs sein, Hugo Montagu, doch das
ist keine Entschuldigung für dein flegelhaftes Benehmen und schon gar nicht für deine Lügen
mir gegenüber!"
„Was denn für Lügen? Ich sagte dir nur, dass mich dein verdammter Vater nicht im
Geringsten interessiere, und das stimmt auch. Ich halte ihn für einen charakterlosen Idioten,
der deine Mutter hätte heiraten müssen, um dann bei euch beiden zu bleiben. Das Einzige,
was mich interessiert, bist du, Meggie." Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, und seine
Beherrschung war ebenso am Ende wie Meggies.
„Es empört mich, dass du verlassen wurdest, obwohl du eine anständige Ausbildung hättest
haben können. Und jetzt, da du weder deinen Vater noch sein Geld brauchst, stellt dir der
Mann die Mittel zur Verfügung. Dafür allein könnte ich ihn mit Freuden umbringen!"
„Oh..." machte sie nur, und ihr Zorn verflüchtigte sich auf der Stelle. Sie fand, Hugo wirkte
jetzt überhaupt nicht mehr gleichgültig.
„Oh? Hast du weiter nichts zu sagen? Du beschuldigst mich, zu lügen und ein Tyrann der
Gefühle zu sein. Für dich zählt es wohl überhaupt nicht, dass ich dich mehr als das Leben
selbst liebe, und weshalb, zum Teufel, sollte es das auch?"
„ W . . . was?" Diese Bemerkung erschütterte sie so sehr, dass sie kaum noch zu atmen
vermochte. „Was hast du gesagt?"
„Du hast es doch gehört." Er stand rasch auf und ging zur Glastür, trat indes nicht hinaus,
sondern stützte eine Hand gegen die Scheibe und ließ den Kopf hängen.
Meggie setzte sich kerzengerade im Bett auf. Es bestürzte sie, ihn so sehr getroffen zu
haben, dass er seine eigenen Re geln gebrochen und ihr tatsächlich gesagt hatte, dass er sie
liebte.
Sie kletterte aus dem Bett, ging zu ihm, legte ihm die Arme um die Taille und ließ ihren
Stolz fahren. „Vergib mir", flüsterte sie an seinem Rücken. „Mein Temperament ist mit mir
durchgegangen. Du hast die Standpauke nicht verdient. Dafür habe ich nur die
Entschuldigung, dass ich sehr leicht verwundbar bin, weil auch ich dich sehr, sehr liebe."
Hugo drehte sich zu ihr um. Seine Augen glitzerten wie kaltes blaues Sternenlicht und
wirkten ebenso entfernt. „Ah, das kommt dir so leicht von den Lippen, Meggie, und dennoch
höre ich das jetzt von dir zum ersten Mal. Wieso?"
Meggie wich zurück, sein Zorn war beinahe greifbar. „Ich . . . ich dachte ..." Völlig
verwirrt biss sie sich auf die Lippe.
„Was dachtest du?" fragte er bitter. „Dass mich deine Gefühle auch in dieser Beziehung
nicht interessieren? Dass es mich nicht kümmert, ob du mich liebst, solange ich dich nur ins
Bett nehmen und mich wie ein Flegel verhalten kann? Wahrscheinlich meinst du, ich besäße
so wenig Gefühl, dass ich gar nicht in der Lage bin, dich zu lieben."
„Nicht doch! Ich weiß, dass du mich liebst, denn du sagtest es mir, als du mir den
Heiratsantrag machtest. Da du es jedoch später nie wieder erwähntest, dachte ich . . . Nun, ich
dachte, dies sei ein unschickliches Thema."
„Ein unschickliches Thema? Wer, zum Teufel, hat dir denn das . . . ach, ist ja auch egal."
Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, presste die Lippen fest zusammen und blickte zu
Boden.
„Bitte sei nicht böse auf mich." Sie errötete und kam sich vor wie eine Närrin. „Ich
verstehe nichts von den Regeln, die bei der Liebe in den oberen Klassen gelten. Du hast mir
nur gesagt, im Bett brauchte ich mich nicht wie eine Lady zu benehmen."
Hugo hob den Kopf und betrachtete sie vollkommen ausdruckslos.
„Und da dachte ich, im Bett dürfe ich dir zeigen, dass ich dich liebe, ohne dabei zu reden.
Du magst es ja nicht, wenn ich rede, ohne gefragt zu werden, oder wenn ich etwas Falsches
sage. Ich habe mich so sehr bemüht, die Ehefrau zu sein, die du wünschtest."
Hugo schwieg noch immer.
Am liebsten wäre Meggie gestorben. Falls er ihr nicht vergab und nicht mehr mit ihr
sprach, hatte sie es wahrscheinlich nicht anders verdient. „Ich kann nur noch erklären, ich
bedaure, dass ich dich beschuldigte, keine Gefühle zu haben, und es tut mir Leid, wenn ich
dich gekränkt haben sollte. Ich sagte dir ja, dass ich ganz schlimm sein kann, wenn ich meiner
Natur die Zügel schießen lasse. Allein deswegen wurde ich unzählige Male mit dem
Rohrstock verprügelt."
„So?" Er hob eine Augenbraue. „Von Schwester Lukas Gnadenreich, nehme ich an?"
Erleichtert darüber, dass er endlich etwas geäußert hatte, nickte sie. „Ich erwarte, dass du
mich jetzt ebenfalls verprügeln möchtest."
„Nicht genau", murmelte er.
„Nein?" Sie hatte keine Ahnung, was er dachte, denn er betrachtete sie höchst eigenartig.
Zumindest sah er nicht mehr so mordlüstern aus. „Bist du dir ganz sicher?"
„Durchaus." Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wenn mir meine Gattin endlich sagt,
dass sie mich liebe, denke ich nicht als Erstes daran, sie zu verprügeln."
„Ach Hugo! Meinst du damit, es sei kein so unschickliches Thema?"
„Falls du dich auf die so unpassend benannte Schwester Lukas Gnadenreich beziehst und
auf deren Neigung, dich mit dem Rohrstock zu verprügeln, so halte ich dieses für ein höchst
unschickliches Thema. Falls du dich hingegen darauf beziehst, mich auch nur halb so viel zu
lieben wie ich dich, dann nicht. Dies ist ein Thema, dem ich die ganze Nacht lang zuhören
könnte."
Zutiefst erleichtert atmete Meggie auf. „Und ich könnte dir die ganze Nacht davon
erzählen. Ich wollte es dir schon immer sagen, und nun komme ich mir sehr töricht vor, dass
ich es nicht schon längst getan habe." Eine Frage ging ihr durch den Kopf. „Ich überlege
gerade . . . hat es einen Grund, dass du nicht mehr erwähntest, mich zu lieben?"
Seufzend schaute er auf irgendeinen Punkt über ihrer rechten Schulter. „Vermutlich hielt
ich es für besser, dich damit nicht zu bedrängen. Du hast nie vorgegeben, mich aus Liebe zu
heiraten, Meggie. Allerdings hegte ich den Verdacht, deine Gefühle könnten sich verändert
haben, und deshalb rechnete ich damit, dass du es mir schon einmal sagen würdest. Ich
gestehe, dass ich mir langsam Sorgen machte, ich könnte mich möglicherweise geirrt haben."
„Ach Hugo . . . Hugo, es tut mir ja so Leid", beteuerte sie reumütig. „Vergib mir meine
Begriffsstutzigkeit."
„Es war nicht dein Fehler", versicherte er sanft. „Du konntest ja nicht wissen, was ich
dachte."
„Wahrscheinlich nicht." Sie lächelte ein wenig unsicher, als ihr das Paradoxe an dieser
Bemerkung bewusst wurde. „Trotzdem hätte ich nicht die Beherrschung verlieren und dir all
die schlimmen Dinge sagen dürfen. Vergibst du mir wenigstens dieses?"
„Da gibt es nichts zu vergeben." Er trat zu ihr und streichelte ihre Wange mit den
Fingerknöcheln. „Wir hatten uns eben missverstanden."
„Gott sei Dank!" Wieder stiegen Tränen in ihren Augen auf.
„Ich glaubte wirklich, du wärst zu der Ansicht gelangt, ich sei dir keine angemessene
Gattin und du begehrtest mich nicht mehr. Und als du so böse wurdest..."
Er unterbrach sie mit einem langen Kuss, der keinen Zweifel an der Stärke seiner Gefühle
ließ. Als er Meggie danach wieder freigab, nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände und
schaute sie entschlossen an. „Du gehörst mir - jetzt und für alle Zeit. Vergiss das nie, Meggie,
und bezweifle niemals meine Liebe!"
Tränenblind schüttelte sie den Kopf. „Das werde ich nicht, doch bezweifle auch du meine
Liebe nicht, Hugo Montagu. Möglicherweise habe ich dich nicht aus Liebe geheiratet, doch
ich schwöre, ich liebe dich, seit wir getraut wurden, du mich ans Meer brachtest und mir
einige der schönsten Stunden meines Lebens schenktest. Du sollst wissen, dass mein
Eheschwur aufrichtig gemeint war. Als du mich ins Bett nahmst, schenkte ich dir nicht nur
meinen Körper, sondern mein ganzes Herz, und das ist für immer dein."
„Und mein Herz ist dein, Meggie." Er strich ihr mit den Händen über den Rücken, zog ihr
dann das Nachtkleid über den Kopf und warf es zur Seite. Er kämpfte kurz mit seiner Hose,
bis diese schließlich dem Nachtgewand folgte.
Heiß und verlangend presste er seinen Mund auf ihren, während er sie unvermittelt mit sich
auf den Boden zog. Sein Gewicht drückte sie gegen den Teppich, und seine Körperwärme
schien ihre Brüste zu verbrennen. Keuchend stieß er seine Hüften gegen ihre Schenkel, und
der starke Beweis seines Begehrens presste sich an ihren Leib. „Lass mich dich jetzt lieben,
Meggie. Gott steh mir bei - ich kann nicht mehr warten."
„Ja, o ja!" rief sie, fühlte sein Drängen und spreizte bereitwillig die Beine für ihn. Sie hielt
die Luft an, während er mit einer einzigen, mächtigen Bewegung in sie eindrang.
„Du bist mein." Er zog sich zurück und drang gleich erneut in sie ein, fasste in ihr Haar
und hielt ihren Kopf fest in seinen Händen. „Mein Körper, mein Blut", keuchte er und stieß so
tief in sie, dass sie aufschrie. „Mein Herz, meine Seele, mein Leben - Meggie."
„Ja", schluchzte sie, begegnete jedem kräftigen Stoß, bog sich ihm in absoluter Hingabe
entgegen.
„Ich liebe dich - oh, wie ich dich liebe!" stöhnte er und küsste sie so hart, dass sie Blut
schmeckte, ob ihr eigenes oder seines, wusste sie nicht, und es kümmerte sie auch nicht.
Mit den Fingern fuhr sie über seinen muskulösen Rücken. Sie griff in sein Haar und zog
seinen Kopf noch dichter zu sich herunter. Von einem blinden, verzweifelten Begehren ge-
trieben, das ebenso von ihrem Herzen wie von ihrem Körper kam, wollte Meggie ausgefüllt,
erfüllt werden - sie wollte eins mit ihm werden.
Tief in ihrem Leib fühlte sie die Spannung anwachsen, diese herrliche Empfindung, die
sich immer mehr aufbaute, bis sie sie fortzureißen drohte. Meggie griff nach dem Gip fel, ihre
Hüften drängten sich Hugos entgegen, und mit den Händen fasste sie seinen Po, um ihn noch
näher zu sich zu pressen.
Hugo erhörte ihr stummes Flehen und trieb sie mit einer letzten tiefen Bewegung in die
überwältigende Erlösung.
Meggie fühlte ihn in ihren Armen erzittern. Er biss in ihre Schulter, während er sich seiner
eigenen Erfüllung ergab. Ein Aufschrei entrang sich ihm, als er sich in sie ergoss, mit einer
Hitze, die sie beide versengte.
Hugo musste unbedingt schlafen, doch der Schlummer floh ihm, und er wusste auch genau,
weshalb: Das kam vom schlechten Gewissen, und Hugos Gewissen war so schlecht, wie es
nur sein konnte. Wenn er sich jemals zuvor geschämt hatte, so war das gar nichts gegen die
Scham, die er jetzt mit sich herumschleppte.
Er blickte auf Meggie hinunter, die friedlich in seinem Arm schlief. Ein leichtes Lächeln
lag auf ihrem Gesicht. Sie ist tatsächlich bemerkenswert, dachte er, und das Herz tat ihm weh.
Grundehrlich war diese Frau, und ohne Vorbehalte oder Ausflüchte verschenkte sie ihre
Gefühle. Sie war alles, was er nicht war. Hugo wusste nur zu genau, dass er sie nicht
verdiente.
Einen entsetzlichen Moment lang hatte er gedacht, sie hätte irgendwie die Wahrheit erraten
und hasste ihn nun, weil er ein solcher Schurke war. Als er dann allerdings ge merkt hatte,
dass sie nur deshalb so bekümmert war, weil sie sich selbst für unwürdig hielt, seine
Gemahlin zu sein, fühlte er sich erst recht elend.
Wenn hier jemand unwürdig war, dann er. Er hatte Meggie ausschließlich mit der Absicht
geheiratet, an ihre Erbschaft zu gelangen. Das allein war schon kriminell genug, doch dann
waren auch noch die Mabey-Schwestern gekommen und hatten den Topf noch einmal um fast
die Hälfte aufgestockt. Das ergab für Hugo die Gesamtsumme von
siebenhundertfünfzigtausend Pfund, von denen er keinen Penny verdiente.
Oh, jetzt war er wahrhaftig ein reicher Mann, doch er fühlte sich, als hätte er Blutgeld von
einer absolut Unschuldigen genommen, die ihn hassen würde, falls sie die Wahrheit erführe.
Ihn durchlief es eiskalt. Falls sie jemals dahinter käme, weshalb er sie tatsächlich geheiratet
hatte, würde sie ihm nie wieder vertrauen und ihm auch nicht mehr glauben, dass er sie
aufrichtig liebte.
Kein Geld der Welt bedeutete etwas neben diesen kostbaren Geschenken, die sie ihm
gemacht hatte, und keine der Gaben war kostbarer als ihre Liebe.
Möglicherweise war es das Beste, wenn er direkt nach London ginge, seine Schulden bei
Waldock bezahlte und wenigstens dieses Problem aus der Welt schaffte. Da nun die
Dokumente unterzeichnet waren, welche ihm Zugriff auf Meggies Erbschaft gewährten, war
er in der Lage, das unrühmliche Kapitel seines Lebens abzuschließen, und je eher er das tat,
umso besser. Das schlechte Gewissen und die Angst, dass die Wahrheit herauskommen
mochte, würden ihn sonst ständig verfolgen.
Meggie bewegte sich und schlug verschlafen die Augen auf. „Mmm", machte sie und
drückte einen leichten Kuss auf seine Schulter. „Woran denkst du gerade? Du siehst ja
furchtbar bekümmert aus." Sie streichelte ihm liebevoll und sanft über die Brust.
Er legte seine Hand über ihre Finger und zog Meggie dann dichter zu sich heran. „Ich
überlegte gerade, dass ich mich morgen nach London begeben sollte. Dort ist einiges zu erle-
digen, das ich immer hinausgeschoben habe, und James Gostrains Besuch mahnte mich,
meine anderen Obliegenheiten nicht zu vernachlässigen."
Meggie richtete sich auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen, ohne darauf zu
achten, dass die Decke ihr bis zur Taille hinunterrutschte und die hohen weißen Brüste
freigab. „Nach London? Morgen?"
„Ja", antwortete er und liebkoste eine dieser lieblichen, festen Erhebungen. „Möchtest du
mich nicht begleiten?"
Der Einfall erschien ihm plötzlich genial. Wieso war er nicht schon längst darauf
gekommen? Er wollte keinen Moment auf Meggie verzichten, und möglicherweise gefiel es
ihr ja in London. Er musste sie nur von der Gesellschaft fern halten. Ein paar Spaziergänge,
viel Zeit im Bett und vielleicht ein wenig Unterhaltung, an der niemand sonst beteiligt war -
ja, das wäre eine gute Idee.
Meggie runzelte die Stirn. „Hugo, ich dachte, du hieltest mich nicht geeignet für die
Außenwelt. Willst du jetzt nur höflich sein?"
Er lächelte. „Wann war ich jemals höflich zu dir? Auf jeden Fall glaube ich, du wirst es
schon schaffen. Ich hatte ohnehin vor, für dich eine angemessene Garderobe zu beschaffen,
und dies wäre die richtige Gelegenheit dazu. Du kannst schließlich nicht ewig in Lallys
abgelegten Kleidern herumlaufen."
Meggie neigte den Kopf zur Seite. „Möchtest du wirklich, dass ich mitkomme, oder
erwartest du, dass ich dankend ablehne? Willst du nur meine Gefühle nicht verletzen, falls du
mich nicht zum Mitkommen auffordertest?"
Hugo versuchte, einen Sinn in Meggies verdrehte Logik zu bringen, was ihm gelegentlich
trotz aller Liebe recht schwer fiel. „Ich habe dich aufgefordert, weil ich dich sehr gern
mitnehmen möchte." Hoffentlich genügte ihr diese Antwort.
Meggie nickte. „Weshalb?"
Hugo seufzte. „Meggie, habe ich dir nicht gerade erst gezeigt, was ich für dich empfinde?"
Eine leichte Röte zog sich von ihren hohen Brüsten über ihren Hals bis hinauf in die
Wangen. „Tante Ottoline meinte, du würdest plötzlich nach London gehen wollen. Männer
langweilten sich schnell und pflegten sich dann auf den Weg zu machen, um neues
Territorium zu erobern."
Mit einem Ruck setzte sich Hugo auf. „Das hat sie dir erzählt? Diese verdammte Hexe!
Wie kann sie es wagen, dergleichen anzudeuten? Meggie, wann hörst du endlich auf, diesen
närrischen alten Frauen zuzuhören, die einen Schwanz nicht von einem Schwanzlurch
unterscheiden können und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen?"
Meggie tippte sich mit einem Finger an den Mund. „Ich glaube, du irrst dich gewaltig."
„Wie bitte? Willst du mir etwa weismachen, diese zwei alten Schachteln seien etwas
anderes als frustrierte Jungfern, die nichts lieber tun, als schlechte Ratschläge zu verteilen?"
Meggie schlüpfte aus dem Bett und ging zum Kleiderschrank hinüber. „Hast du dich schon
einmal gefragt, weshalb unsere Zimmer keine Verbindungstür besitzen?" Sie legte die Hände
auf ihre sanft gerundeten nackten Hüften. „Ich glaube, in den Ehen der Oberschicht ist es
üblich, dass die beiden Gatten einen leichten Zugang zueinander haben, damit sie ihren
ehelichen Pflichten diskret nachkommen können. Jedenfalls hat mir das Mrs. Lindsay
berichtet."
Hugo betrachtete sie amüsiert. Sie ahnte ja nicht, welche Auswirkung es auf ihn hatte, wie
sie da völlig unbekleidet stand und ihm dank der irren Mrs. Lindsay einen Vortrag über
aristokratische Schlafzimmer-Etikette hielt!
„Es gibt einen Verbindungsbalkon", stellte er fest.
„Welcher mitten im eiskalten Winter eine höchst abschreckende Wirkung hat, kann ich mir
vorstellen. Weißt du ferner, dass dieses Zimmer hier früher Tante Ottoline gehörte? Tante
Dorelias Raum befand sich auf der anderes Seite deines Zimmers. Jedenfalls war das so zu
Lebzeiten von Lord Linus Eliot."
„Und?" Hugo fragte sich, auf welchen verschlungenen geistigen Pfaden Meggie jetzt wohl
wandelte.
„Ich wunderte mich immer über die Größe dieses Kleiderschranks und darüber, wie rasch
Dorelia an meinem ersten Abend hier verschwand, nachdem sie mich angekleidet hatte.
Durch die Schlafzimmertür war sie nicht gegangen, und wenn sie auf den Balkon
hinausgetreten wäre, hätte ich es gesehen."
„Was meinst du mit ‚verschwinden'?" fragte Hugo, der sich nur auf den wesentlichsten
Punkt konzentrierte.
„Nun, eben ,verschwinden'. Ich entdeckte es zufällig heute Morgen, als ich nach einem
Schuh suchte." Meggie öffnete die Schranktür, schob die Kleider zur Seite, trat in den
Schrank und betätigte eine Verriegelung. Zu Hugos Verblüffung glitt die hintere
Schrankwand beiseite, hinter der sich eine zweite Holzwand befand. Dahinter sah Hugo sein
eigenes Bett, in dem er genau eine Nacht lang geschlafen hatte. Meggie trat durch die
Öffnung, drehte sich um und winkte ihm zu.
„Große Güte!" stieß er hervor. „Heißt das, diese elende Schrulle sei von deinem Zimmer in
meines gehüpft? So etwas habe ich ja noch nie gehört! Weshalb hat sie nicht wie jeder andere
die Tür benutzt?"
„Die Macht der Gewohnheit vermutlich." Meggie schmunzelte. „Oder möglicherweise
wollte sie auch wissen, was für eine Sorte Mann in das Schlafzimmer ihres teuren Linus'
gezogen war. Ich weiß es nicht. Nur gut, dass Tante Ottoline nicht von der anderen Seite
denselben Trick benutzt hat."
Langsam dämmerte es ihm. „Du meinst, die Tanten und Linus Eliot. . . Nein, ich weigere
mich, das zu glauben."
„Auch gut." Meggie kam wieder aus dem Schrank und strahlte Hugo triumphierend an.
„Glaube, was du willst. Ich habe jedenfalls ge nug gehört, um ganz genau zu wissen, dass nach
Lallys Tod zwischen den dreien ein sehr befriedigendes Verhältnis bestand. Dank dieser
Kleiderschränke konnte man wenigstens die Schicklichkeit wahren. Keine Verbindungstüren,
keine Indiskretionen. Wenn du einmal genau hinschaust, wirst du feststellen, dass es sogar
Trennstangen zwischen den beiden Balkons gab, die erst kürzlich wieder abgebaut wurden."
Hugo ließ sich in die Kissen zurückfallen, hielt sich den Bauch und wollte sich ausschütten
vor Lachen. „O Himmel - das ist ja zu gut, um wahr zu sein!"
Meggie fiel in sein Lachen ein. „Ja, nicht? Eigentlich finde ich es richtig rührend. Kein
Wunder, dass Lord Eliot ihnen sein ganzes Geld hinterließ - wahrscheinlich als Bezahlung
ihrer hingebungsvollen Dienste."
Hugo wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Meggie, o Meggie - deine Verwandten!
Was soll ich da nur denken?" Er barg das Gesicht in den Kissen.
„Du solltest denken, dass das nicht zu unterdrückende wollüstige Begehren in der Familie
liegt", erklärte sie, kletterte ins Bett zurück und rieb sich die Wange an seinem Rücken.
„Meine Mutter hatte zweifellos eine leidenschaftliche Natur, und das traf auf meinen Vater
sehr wahrscheinlich ebenfalls zu. Und jetzt die beiden Tanten! Armer Hugo. Was wirst du
nun machen?"
Er drehte sich auf den Rücken und zog sie sich auf sich. „Nur ein Narr weiß nicht, wie man
Schwäche in Kraft umwandelt", erklärte er. „Die Frage ist vielmehr - was wirst du jetzt tun?"
Mit den Fingern strich er über eine ihrer schon harten Brustspitzen.
Meggie erzitterte. Sie warf den Kopf in den Nacken, und ein Seufzer entrang sich ihrer
Kehle. „Oh, ich weiß nicht. . . ah!"
Hugo presste seine Hüften fest an sie, so dass sie seine Erregung deutlich spürte. „Bist du
ganz sicher?"
Über ihm spreizte Meggie ein wenig die Knie, und das nutzte Hugo sofort aus. Er hob den
Kopf, legte den Mund um ihre Brustspitze, sog daran und umspielte sie mit der Zunge. Er
liebte es, wie Meggie sich über ihm wand, und wünschte nur, die Decke wäre dabei nicht im
Weg.
Meggie schob ihre Hände hinter seinen Kopf und zog Hugo noch dichter zu sich heran.
„Mach weiter", raunte sie. „Bitte höre nicht auf."
Das beabsichtigte er auch gar nicht. Er veränderte seine Lage und drückte den Beweis
seines starken Begehrens gegen ihre gespreizten Schenkel, doch die verwünschte Decke be-
hinderte ihn noch immer. Ungeduldig fasste er Meggie bei der Taille, drehte sie herum und
stieß die Decke halb vom Bett. Er hatte mit Meggie etwas vor, wobei er sie frei, unbedeckt
und auf dem Rücken liegend haben wollte.
Er drückte Küsse in das Tal zwischen ihren Brüsten und ließ dann den Mund tiefer
hinuntergleiten. Jetzt umfasste er ihre Hüfte und liebkoste sie mit den Lippen an ihrer
empfindlichen Stelle zwischen ihren Schenkeln.
Sie hielt die Luft an. „H . . . Hugo . . . was tust du da?" Ihre Stimme bebte.
„Ich glaube, wenn ich dich dazu überreden will, mit mir nach London zu kommen, dann
geht das nur, wenn ich mich auf die in deiner Familie liegende Neigung zur Leidenschaft
besinne." Er hob kurz den Kopf. „Du würdest eine Woche ohne Liebesspiel ja eindeutig nicht
überleben."
Meggie lachte atemlos. „Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung sein
soll."
„Ich mache dir niemals etwas anderes als Komplimente. Außerdem würde ich die Woche
ebenfalls nicht überstehen." Er senkte den Kopf wieder und setzte sein Liebesspiel fort.
Meggies Hüften zuckten unter seinen Berührungen, und ihre Finger verkrampften sich in
seinem Haar. „Hugo . . . das ist zu viel... oh, Hugo, das halte ich nicht aus!" Und noch
während sie das sagte, drängte sie sich ihm entgegen.
Hugo, der selbst vor Verlangen zitterte, stieß seine Zunge in sie. Er fühlte, wie sie erbebte,
und wusste, dass sie das Ziel bald erreicht haben würde. Sofort hob er sich über sie und
drückte ihre Schultern gegen die Matratze.
„Komm mit mir, Meggie. Komme mit nach London. Sage mir, dass du kommst."
Keuchend stieß sie wieder die Hüften zu ihm hoch, während er diesmal in sie eindrang, um
sich gleich wieder zurückzuziehen und Meggie auf diese Weise immer mehr zu reizen. „Sag
Ja, Meggie."
Sie schrie auf, drückte die Augen fest zu, und ein feiner Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht.
„Hugo, bitte", flehte sie. „O bitte ..."
„Du brauchst nur Ja zu sagen, und ich gebe dir alles, was du willst." Er bemühte sich
verzweifelt, nicht selbst die Beherrschung zu verlieren.
„Ja!" schrie sie und zog ihn noch fester an sich.
Er brauchte nur noch drei Bewegungen, und dann erlebte sie einen Höhepunkt, der sie
beide mit sich riss.
Hugo rollte sich auf die Seite und keuchte heftig, um wieder zu Atem zu kommen.
Meggie legte die Stirn gegen seinen Hals und ließ ihren Arm über seine Taille fallen. „Tu
mir das nie wieder an." Ihr Atem hatte sich noch nicht beruhigt. „Du hättest mich doch nur
nett zu bitten brauchen."
Hugo küsste sie auf das feuchte Haar und unterdrückte sein Lachen. „Ich nahm an, genau
das hätte ich getan."
„Du Biest." Liebevoll streichelte sie seinen Rücken. „Ich wäre doch ohnehin
mitgekommen."
„Ich hätte also meine volle Überzeugungskraft überhaupt nicht einsetzen müssen? Wenn
ich das gewusst hätte, würde ich mich geschont haben."
Meggie biss ihm sanft ins Ohr. „Wann brechen wir auf?"
„Sobald du heute Morgen gepackt hast." Er gähnte. „Es gibt Dinge, die man besser schnell
erledigen sollte."
„Was ist mit Hadrian?" fragte sie schläfrig und kuschelte sich an Hugo. „Für einen Teil
dieser langen Reise lässt du ihn doch in die Kutsche, oder?"
„Nein, o nein!" Hugo riss die Augen auf. „Du wirst ihn doch nicht nach London
mitnehmen wollen?"
„Wieso denn nicht? Zurücklassen kann ich ihn nicht. Falls du ihn also nicht mitnehmen
willst, werde ich ebenfalls hier bleiben müssen."
Hugo stöhnte. Wegen Hadrian hatte er schon einmal mit Meggie gestritten und den Kampf
gründlich verloren. Außerdem war er jetzt entschieden zu müde zum Argumentieren.
„Also gut, solange wir uns darüber einig sind, dass Hadrian unser Grundstück in London
nicht verlässt. Der Garten dort ist groß genug, um ihn glücklich zu machen, und ich will nicht,
dass die Londoner Damen laut kreischend zu dem nächsten Konstabier laufen und behaupten,
ein Wolf befände sich unter ihnen."
Meggie lachte leise. „Soweit ich weiß, wäre Hadrian nicht der Erste. . ."
„Und ich dachte immer, du hättest ein behütetes Leben geführt." Hugo gab ihr einen Kuss
auf die Schläfe.
Meggie murmelte noch irgendetwas, und schließlich schlief sie ein.
24. KAPITEL

Meggie holte aus und warf den Ball so weit sie konnte. Dann sah sie lächelnd zu, wie
Hadrian hinterhersprang und zwischen den Bäumen verschwand, die an die
gegenüberliegende Mauer des riesigen Parks grenzten.
Sie hatte nie geahnt, dass es in London so große Häuser mit dazugehörigen, herrlichen
Parkanlagen gab. Als Hugo ihr gesagt hatte, Hadrian würde einen großen Garten haben, in
dem er spielen konnte, hatte sie sich darunter eine Art eingezäunter Wiese mit ein paar
Blumen vorgestellt, und nicht diese endlose Rasenfläche mit von Blumenbeeten umgebenen
Bäumen.
Hadrian war auf jeden Fall sehr zufrieden damit. Zwischen seinen wilden Tollereien lag er
meistens in der Sonne. Hätte Meggie allerdings gewusst, wie schmutzig die Londoner Luft
war, würde sie ihn auf Lyden gelassen haben.
Sie fragte sich, ob es nicht für sie selbst auch besser ge wesen wäre, dort zu bleiben.
Obgleich sie schon eine Woche Zeit gehabt hatte, um sich an die Verhä ltnisse in London zu
gewöhnen, fasste sie es noch immer nicht, wie groß Southwell House war. Das schöne weiße
Granitgebäude befand sich mitten im Hanover Square und nahm einen großen Teil davon ein.
Sein Inneres war ebenso beeindruckend wie sein Äußeres. Teure Gemälde sowie kostbare
Möbel schmückten es, und Meggie verbrachte viele Stunden mit der Besichtigung und
Bewunderung einer Sammlung von Bildteppichen.
Am atemberaubendsten fand sie indessen die Bibliothek, welche dreimal so groß war wie
die auf Lyden und jede Menge kostbarer Ausgaben von Meisterwerken enthielt.
Es juckte ihr in den Fingern, Sophokles, Euripides und Kallimachos im Original zu lesen.
Auch Milton und Donne, zwei ihrer Lieblingsdichter, zierten die Regale mit ihren voll-
ständigen Werken. Hier gab es so viel aufzunehmen, so viel zu genießen, trotzdem konnte sie
es sich unmöglich leisten, sich von Hugo mit der Nase in einem Buch erwischen zu lassen.
Einige Dinge würde er weder verstehen noch akzeptieren, und dazu gehörte auch die
Entdeckung, dass sie ein heimlicher Blaustrumpf war.
Während er sie in London herumführte, hatte sie sich immer wieder auf die Zunge beißen
müssen. Besonders im Britischen Museum war es ihr sehr schwer gefallen, den Mund zu
halten, weil dort fast jeder Raum so wunderbare Dinge ent hielt, zu denen sie sich gern
geäußert hätte. In Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett ging es ihr ebenso. Sie hatte es so
aufregend gefunden, die erstaunlich exakten Nachbildungen historischer Figuren
anzuschauen, obwohl sie absolute Unkenntnis der Geschichte selbst vorgeben musste.
Schwester Agnes hatte ihr empfohlen, sich Miss Linwoods Gobelin-Ausstellung am
Leicester Square anzuschauen, und es war Meggie gelungen, Hugo dazu zu überreden, sie
dorthin zu führen. Da hatte sie so viel Entzücken äußern können, wie sie wollte, ohne mehr
preiszugeben als ihre Bewunderung für herrliche Petitpoint-Stickerei und hübsche Bilder.
Noch jetzt musste sie lächeln, wenn sie daran dachte, wie sehr Hugo sich dabei gelangweilt
hatte . . .
Hadrian brachte den Ball zurück und ließ ihn vor ihren Füßen fallen. Seine goldenen
Augen funkelten auffordernd. Meggie tat ihm den Gefallen, hob den Ball auf und ließ ihn in
die entgegengesetzte Richtung fliegen.
Nachdem sie sich die Finger an ihrem Taschentuch abgewischt hatte, setzte sie sich auf
eine Bank unter einer schattigen Ulme, stützte die Wange in eine Hand und schaute zu dem
künstlichen Goldfischteich hinüber. Obgleich sie den Aufenthalt hier durchaus genoss, ging
ihr eine Sorge nicht aus dem Kopf:
Hugo.
Irgendetwas belastete ihn, und sie hoffte inständig, dass sie nicht der Grund war. So
aufmerksam er sich auch zeigte, so sorgfältig hielt er sie von den Orten fern, an denen sie
seine Bekannten hätte treffen können. Nicht, dass sie das gestört hätte. Sie hatte schon genug
mit London selbst zu tun und wollte nicht auch noch befürchten müssen, Hugo vor seinen
Freunden zu blamieren, doch sie wollte andererseits nicht, dass er sich ihrer schämte.
Obwohl er ja höchst eindringlich darauf bestanden hatte, dass sie ihn nach London
begleitete, beschlich sie hin und wieder der Eindruck, als sei sie hier in seine ganz private
Welt eingedrungen.
Hier war er es gewohnt, dass Butler und Diener ihm aufwarteten. Der Kammerdiener, der
schon seit vierzehn Jahren für ihn arbeitete, kannte seine Gewohnheiten, Vorlieben und
Abneigungen besser als Meggie. Mallard und die übrigen Angestellten behandelten sie so
förmlich und respektvoll, als dachten sie, Hugo wäre wohl verrückt geworden, sie zu
ehelichen. Sie spürte die Verwirrung der Leute sehr deutlich. Hugo schien dagegen nichts zu
bemerken und konnte sich deswegen auch keine Sorgen machen.
Meggie vermochte sich seine düstere Nachdenklichkeit nur mit der Angelegenheit zu
erklären, von der er in der Nacht vor ihrer Abreise gesproche n hatte. Die ganze Woche war er
beschäftigt gewesen - hauptsächlich mit James Gostrain -, und er schien mit dem Ergebnis
auch recht zufrieden zu sein. Allerdings hatte er gesagt, dass sich der Mann, den er unbedingt
hatte aufsuchen wollen, unerwarteterweise nicht in London befände, und dass sie seine
Rückkehr abwarten müssten, bevor sie wieder nach Lyden heimkehren könnten.
Möglicherweise war er nun deswegen besorgt.
Ganz gewiss jedoch gab er ihr keinen Anlass, sich wegen anderer Frauen Sorgen zu
machen. Des Nachts liebte er Meggie vorbehaltslos - manchmal mit feuriger Leidenschaft,
manchmal mit schlichter Zärtlichkeit, doch niemals ließ er Zweifel an seinen Gefühlen für sie
aufkommen.
Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte sie ihren Adam ge funden und er seine Eva, und sie
beide regierten in einem Eden, wie Meggie es sich immer vorgestellt hatte.
„,Diese beiden im Paradies der Arme des anderen . . .'" murmelte sie vor sich hin.
„Das ist aus Miltons ,Das verlorene Paradies', nicht wahr? Ein wahres Meisterwerk und
eines meiner Lieblingsbücher."
Meggie, die nicht, wie sonst üblich, gespürt hatte, dass sich jemand in der Nähe befand,
schrak heftig zusammen, als sie die fremde weibliche Stimme hinter sich hörte. Sie sprang
auf, fuhr herum und sah eine elegante ältere Dame, die sie ihrerseits betrachtete.
Meggie öffnete den Mund, brachte indes nichts heraus. Die absolute Stille, die von dieser
Fremden ausging, bestürzte sie ebenso wie deren plötzliches Erscheinen. Nur einmal in ihrem
Leben hatte Meggie bisher ein solches Phänomen kennen gelernt. Entsetzt merkte sie, wen sie
da vor sich hatte.
„Euer Gnaden? Sind Sie das? Ich - ich meine. Sie müssen Hugos Mutter sein." Sie errötete
heftig. „Das ist die einzige Person, die ... das heißt... Ich - wir haben Sie nicht erwartet." Sie
schlug die Hände vors Gesicht, weil ihr klar war, dass sie den schlimmstmöglichen Eindruck
machte. Sie stammelte geistloses Zeug, ihr Haar hatte sich vollkommen aufgelöst, und ihr
Gewand war beim Spielen mit Hadrian schmutzig geworden.
Die Dowager Duchess wirkte dagegen absolut makellos in Garderobe und Haltung. Sie
nahm Meggies Hände, zog sie ihr sanft wieder herunter und hielt sie dann fest. Meggie wagte
einen vorsichtigen Blick zu ihr hinauf.
„Wie hättet ihr mich auch erwarten können, zumal ich ja nicht geschrieben habe?" fragte
die Dowager Duchess of Southwell fröhlich. „Als ich hörte, dass du und Hugo euch in
London aufhieltet, war mein Wunsch, dich kennen zu lernen, größer als meine Bedenken, in
eure Privatsphäre einzudringen."
„Dies ist doch Ihr Haus", erwiderte Meggie rasch. „Der Eindringling bin doch ich."
„Mein liebes Kind...", die Dowager Duchess lächelte Meggie unerwartet liebevoll zu,
„...du bist einfach zauberhaft, noch zauberhafter, als ich glaubte. Wie Hugo jemals so klug
sein konnte, sich in dich zu verlieben, vermag ich mir nicht vorzustellen, doch ich bin
entzückt darüber."
„Sie sind . . . wirklich?" Meggie konnte das nicht glauben. Offenbar hatte Hugo seiner
Mutter nicht die volle Wahrheit berichtet, denn sonst hätte diese ihre höchst unpassende
Schwiegertochter wohl nicht so herzlich empfangen.
„Natürlich bin ich entzückt, meine Liebe. In seinem Brief, den Hugo mir nach Irland
schrieb, machte er kein Hehl aus seinen Gefühlen, und soweit ich nach meiner Rückkehr
hörte, muss er sehr glücklich sein. Ich kann dir nur danken."
Vor Erstaunen blieb Meggie beinahe der Mund offen stehen. Sie hatte sich vor der
Reaktion von Hugos Familie auf die Eheschließung gefürchtet, und nun dankte man ihr dafür,
dass sie ihn geheiratet hatte? Irgendjemand sollte der armen Frau lieber die Wahrheit sagen,
bevor sie noch den Schock ihres Lebens bekam.
„Nicht doch. Sie müssen mir nicht danken", brachte sie heraus. „Vielmehr ist Hugo
derjenige, der mich glücklich ge macht hat. Möglicherweise hat er Ihnen nicht alles über mich
erzählt..."
Die Dowager Duchess lachte leise. „Jedenfalls hat er mir genug erzählt, wenngleich er sich
auch nur auf die knappsten Einzelheiten beschränkte. Als Wichtigstes erwähnte er, dass er
sich Hals über Kopf in die Frau verliebt habe, die er dann ehelichte. Den Rest wollte ich selbst
herausfinden. Ich komme gerade aus Suffolk."
Meggie wurde blass. „Um Himmels willen", flüsterte sie. „Dann wissen Sie ja alles über
mich."
„Ich werde mich neben dich setzen, Meggie, denn wir müs sen uns einmal unterhalten." Die
Dowager Duchess nahm neben Meggie auf der Bank Platz. „Wie interessant - die Gattin
meines älteren Sohnes lernte ich auch auf einer Londoner Gartenbank kennen. Die liebe Lucy
sah ebenso überrascht aus wie du. Ich muss ja einen fürchterlichen ersten Eindruck machen."
Sie lächelte schelmisch.
„Aber nein, durchaus nicht, Euer Gnaden. Ich hatte nur die allergrößten Bedenken, dass Sie
mich ablehnen würden, wenn Sie von meinem Hintergrund erführen." Sie blickte auf ihre
Hände. „Ich ve rmute, Schwester Agnes hat Ihnen alles erzählt."
„Ja, Schwester Agnes sowie Dorelia und Ottoline Mabey. Wie hübsch Lyden Hall ist! Man
sagte mir, Hugo habe in kürzester Zeit gewaltige Fortschritte gemacht."
„Oh, gewiss, Euer Gnaden. Er leistet Großartiges, und seine Pächter geben große Stücke
auf ihn. Wie alle anderen ebenfalls. Ihr Sohn ist äußerst verantwortungsbewusst und
mitfühlend. Seine erste Sorge gilt stets den anderen, nie sich selbst."
„Ja." Die Dowager Duchess nickte nachdenklich. „Das hörte ich auch. Die Mabey-
Schwestern waren in jeder Be ziehung überaus mitteilsam."
„Erzählten sie Ihnen auch, dass wir miteinander verwandt sind?" erkundigte sich Meggie.
„Ja, was für eine ungewöhnliche Geschichte." Die Dowager Duchess schüttelte den Kopf.
„So tragisch, und dann hat es so gut geendet. Ich freue mich ungemein für dich, meine Liebe.
Nach so vielen einsamen Jahren hast du nicht nur deine Verwandten gefunden, sondern Hugo
ebenfalls. Das zeigt doch wieder einmal, dass Gott sich doch um uns kümmert." Sie lachte.
„Und in deinem Fall hat Er dich nicht nur heimgeführt, sondern Er hat auch dafür gesorgt,
dass du gut versorgt dorthin gelangtest."
Dass die Dowager Duchess sie so vorbehaltlos akzeptierte, betäubte Meggie beinahe.
Womit hatte sie nur dieses unglaubliche Glück verdient? „Und Sie missbilligen mich
tatsächlich nicht - trotz allem?"
„Wie könnte ich denn, mein liebes Kind, zumal alle Welt dein Loblied singt, Hugo
eingeschlossen? Dorelia und Ottoline Mabey fanden in ihrer großen Begeisterung für dich gar
kein Ende, und ich dachte schon, sie würden mich überhaupt nicht mehr fortlassen."
Meggie lächelte. „Ja, so sind sie, die lieben Tanten. Sie neigen dazu, Hugo wahnsinnig zu
machen, doch ich glaube, insgeheim mag er sie recht gern."
Die Dowager Duchess lachte leise. „Sie haben sich kein bisschen verändert, obwohl ich sie
seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Das letzte Mal muss mindestens fünfundzwanzig
Jahre her sein. Damals tauchten sie in London mit Linus Eliot auf, was ziemliche Aufregung
auslöste. Man spekulierte bereits allerseits heftig über das, was zwischen den dreien vor sich
ging."
„O du meine Güte!" rief Meggie, wobei sie sich nicht auf das fragwürdige Verhalten der
Tanten bezog, sondern auf Hadrian, der jetzt gerade mit dem Ball zwischen den Zähnen auf
die beiden Damen zugerast kam.
„Das muss Hadrian sein", stellte die Dowager Duchess fest, als der Wolf vor ihr stehen
blieb, den Ball fallen ließ und sie dann mit schief gelegtem Kopf neugierig anschaute. „Was
für ein hübscher Kerl!" Sie streichelte ihm über den Kopf, als lägen ihr jeden Tag Wölfe zu
Füßen.
Meggie schmunzelte entzückt. Falls sie noch Zweifel an der Gelassenheit der Dowager
Duchess gehabt hatte, so lösten sie sich nun bei dieser einfachen Geste auf. „Er war mir ein
großartiger Freund", bemerkte sie.
„Ja, Schwester Agnes berichtete mir, du habest ihn als winzigen Welpen aufgelesen und
großgezogen, und ich sehe, wie sehr er dir ergeben ist. Anscheinend vermisst man ihn im
Sanatorium beinahe ebenso wie dich. Dabei fällt mir ein - Meggie, meine Liebe, in welchem
Gesundheitszustand befand sich Eunice Kincaid bei deiner Abreise? Ich hörte, du seist
weitgehend zuständig für die Pflege der Ärmsten gewesen. Was für ein Jammer, dass sie so
endete, doch du wirst sicherlich die ganze Geschichte kennen."
„Leider nein. Ich weiß nur, dass sie mit Ihnen irgendwie verwandt ist, doch über
Einzelheiten äußerte sich Schwester Agnes nie."
„Nein?" Die Dowager Duchess machte sich bereit für einen guten Klatsch. „Dann lass
mich erzählen. Es ist eine ziemliche Geschichte. Mein lieber Sohn Raphael rettete seine
Gattin aus Eunice Kincaids grausamen Klauen. Eunice ist nämlich Lucys Stiefmutter und war
jahrelang einfach scheußlich zu dem armen Mädchen. Im Frühling vor einem Jahr ging
Raphael nach Irland, und da entdeckte er Lucy auf einem Felsen. . ."
„Meine Gemahlin ist - wo?" Hugo meinte nicht richtig gehört zu haben. „Bei wem?"
Der alte Butler räusperte sich. „Lady Hugo befindet sich im Garten bei Ihrer Frau Mutter,
Mylord."
Hugo schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Deine Sehkraft muss nachgelassen haben, Loring,
und dein Gehör ebenfalls. Meine Mutter befindet sich in Irland."
Loring richtete sich gerade auf. „Pardon, Mylord, doch mit meinen Augen und Ohren ist
alles in Ordnung. Ihre Gnaden traf vor etwa einer Stunde ein und verlangte als Erstes, zu Ihrer
Gemahlin gewiesen zu werden."
Als Hugo zur Tür hereinkam, war seine Stimmung noch ausgezeichnet gewesen. Jetzt
näherte er sich der Verzweiflung. Zwar hatte er gewusst, dass es einmal zu einer Konfron-
tation kommen würde, doch er hatte dieses für etwas später vorgesehen, und vor allem wollte
er selbst dabei anwesend sein. Er hatte nicht vorausgesehen, dass seine Mutter und Meggie
allein zusammentreffen würden und Meggie dann den Fragen der Dowager Duchess hilflos
ausgesetzt wäre.
„Großer Gott", murmelte er erschaudernd. Dass Meggie ihre fünf Sinne beisammen
behielt, war für ihn so gut wie ausgeschlossen. „Wo genau im Garten befinden sich die
Damen?" erkundigte er sich und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten.
„Das vermag ich nicht zu sagen, Mylord. Die Lady ist hinausgegangen, um mit ihrem - äh -
Hund zu spielen, und als Ihre Frau Mutter hinausging, um die Lady zu suchen, verlangte sie,
nicht gestört zu werden. Also könnten sie jetzt überall sein."
Das ist ja prächtig! dachte Hugo. Einfach prächtig. Seine Mutter war also in der letzten
Stunde nicht nur Meggie gegenübergetreten, sondern dem verdammten Wolf ebenfalls. Nun,
daran ließ sich wohl nichts mehr ändern.
Er schritt durch das Haus auf die Terrasse hinaus und suchte von dort aus den weitläufigen
Park nach einem Zeichen von den beiden Damen ab. Schließlich brachte der Wolf ihn auf die
richtige Fährte. Hadrian umsprang nämlich den Zierteich. Sein Schwanz war aufgerichtet,
seine Nase gesenkt und die Augen waren aufs Wasser gerichtet. Zweifellos plante er eine
Zwischenmahlzeit aus Goldfischen.
Von mir aus soll Hadrian den ganzen verdammten Teich haben, dachte Hugo. Meggie und
seine Mutter saßen auf einer in der Nähe stehenden Bank, hatten ihm den Rücken zugekehrt
und waren offensichtlich in ein Gespräch vertieft.
Er verschwendete keine Sekunde. Auf der einen Seite der Doppeltreppe, die in den Park
führte, lief er hinunter, marschierte forsch über die Rasenfläche und verlangsamte den Schritt
dann, um sich den Anschein von Gelassenheit zu geben. Bedauerlicherweise ging seine
Bemühung ins Leere, denn beim Herannahen hörte er erst Meggies leise Stimme und dann das
prustende Gelächter seiner Mutter. Auf diese Weise hatte Hugo die Dowager Duchess noch
nie lachen gehört, und ihr Heiterkeitsausbruch schockte ihn jetzt dermaßen, dass seine Knie
beinahe nachgaben. Seine Mutter musste Meggie für eine ausgewachsene Zirkusnummer
halten!
O Gott, betete er im Stillen, steh mir bei in der Stunde meiner Not! Hilf meiner Mutter zu
verstehen. Lass sie wenigstens sehen, dass ich Meggie liebe!
Zwar glaubte er kaum daran, dass Gott wirklich zuhörte, dennoch schickte Hugo sein
Stoßgebet mit größerer Inbrunst als je zuvor gen Himmel.
Er schluckte und ging um die Bank herum. „Mama", grüßte er und gab ihr einen Kuss auf
die Wange. „Welch wunderbare Überraschung." Er richtete sich wieder auf und blickte Meg-
gie prüfend ins Gesicht. Zu seiner Erleichterung wirkte sie ganz entspannt und unbekümmert.
„Hallo, Liebling. Wie ich sehe, haben du und meine Mutter euch ja bereits miteinander
bekannt gemacht."
Die Dowager Duchess wischte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. „Hugo, Schatz! Wie
schön, dich wieder zu sehen. Oh . . . oh, du liebe Güte!" Erneut brach sie in Gelächter aus.
„Vergib mir, deine Gattin hat mir gerade eine Geschichte über ..." Sie bedeckte ihren Mund,
erstickte ein höchst undamenhaftes Prusten und setzte dann ihre Rede fort: „... über eine
gewisse Martha Lindsay und deren Schwierigkeiten erzählt."
Hugo wurden die Knie weich. „Meggie?"
„Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Hugo", sagte seine Gattin fröhlich. „Deine Mutter
weiß alles über meine Zeit im Woodbridge-Sanatorium, und es macht ihr überhaupt nichts
aus. Weil Schwester Agnes nicht darüber gesprochen hat, wusste sie auch nichts von Mrs.
Lindsays ganz bestimmter Art von Besessenheit. Wir sprachen vorhin über die Tanten und
deren Arrangement mit Linus Eliot, und das brachte uns natürlich auf Mrs. Lindsay und . . .
Nun, du weißt schon."
„Die gute Schwester Agnes!" rief die Dowager Duchess, aus deren Augen noch immer die
Lachtränen rollten. „Ich glaube, sie wollte mich vor dem bewahren, was sie für die
unerfreulicheren Formen der Geisteskrankheit hält."
Meggie schmunzelte. „Wiederholen Sie das nur nicht in Schwester Agnes' Gegenwart,
Euer Gnaden, doch ich persönlich denke, dass Mrs. Lindsay sich eine der angenehmsten
Formen dieser Krankheit ausgesucht hat."
Die Dowager Duchess brach fast zusammen. „Oh, meine Gute, du wirst mir noch den Rest
geben, wirklich! Kein Wunder, dass man dich im Sanatorium vermisst. Ich glaube, du warst
für alle dort ein richtiger Sonnenstrahl."
Hugo strich sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Mutter wusste, dass Meggie in der
Heilanstalt gelebt hatte, und sie tat, als gäbe es nichts Entzückenderes! Meggies Geistes-
krankheit musste ansteckend sein, anders konnte er sich das nicht erklären.
„Hugo, Schatz, was hast du denn?" erkundigte sich die Do wager Duchess übergangslos
ernüchtert. „Du bist plötzlich so blass geworden. Du fühlst dich doch nic ht etwa unwohl?
„Mir ging es nie besser."
Meggie biss sich auf die Unterlippe und machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Hugo, es
tut mir Leid. Ich weiß, du willst nicht, dass ich über das Pflegeheim spreche, doch deine
Mutter hatte bereits Schwester Agnes aufgesucht, und da gab es keinen Grund mehr,
irgendetwas zu verhehlen, zumal du auch sagtest, du wolltest ihr ohnehin alles erzählen." Sie
blickte ihn unsicher an. „Das wolltest du doch, oder?"
Hugo warf ihr einen Blick zu. Sein Ärger richtete sich nicht auf sie, sondern auf seine
Mutter. „Meggie, Liebste, du musst dich nicht entschuldigen. Und ja, gewiss wollte ich
meiner Mutter alles erzählen. Ich wäre dir indes sehr dankbar, wenn du mir einen großen
Gefallen tätest und uns einen Moment unter vier Augen reden ließest. In ein paar Minuten bin
ich wieder bei dir."
Meggie nickte und stand auf, doch leichte Unmutsfalten zeigten sich auf ihrer sonst so
glatten Stirn, und ihre klaren grauen Augen spiegelten Besorgnis.
„Es ist nichts, Liebling. Nur eine Familienangelegenheit", behauptete er, weil er sie
beruhigen wollte. „Es dauert auch wirklich nicht lange."
Sie schenkte ihm ihr unsicheres Lächeln, das er so liebte, rief Hadrian, knickste vor der
Dowager Duchess und ging dann ohne ein weiteres Wort.
„Sie ist ein reizendes Geschöpf", bemerkte die Dowager Duchess, nachdem Meggie fort
war. „So lieb und hübsch und so unverklemmt. Ich kann mir vorstellen, dass du dich auf der
Stelle zu ihr hingezogen fühltest. Schwester Agnes berichtete mir die ganze Geschichte, die
mich tief bewegte."
Hugo überhörte das. „Wollten Sie mir etwa nachspionieren, Mama?"
Sie neigte den Kopf zur Seite. „Zugegeben, als ich deinen Brief erhielt, fürchtete ich, du
könntest etwas Unkluges gemacht haben. Ich hielt es für das Beste, nach England
zurückzukehren und zu sehen, was ich herausfinden konnte."
„Wieso überrascht mich das nicht?" fragte er bitter, obwohl er tief in seinem Inneren
wusste, dass er es verdiente, wenn man ihm misstraute.
„Sei doch vernünftig, Liebling. Ich bin schließlich deine Mutter, und es ist nur natürlich,
dass mir an deinem Wohlergehen liegt. Ich wollte sicher sein, dass du eine kluge, und nicht
nur eine impulsive Ehe geschlossen hast, und ich muss dir gestehen, nachdem ich sowohl mit
Schwester Agnes als auch mit den Mabey-Schwestern gesprochen habe, könnte mein Herz
nicht glücklicher sein."
„Ach, und weshalb das? Ich nehme an, du hast von dem Meggie kürzlich zugekommenen
Vermögen gehört, ist es das? Das macht selbstverständlich alles vollkommen akzeptabel,
nicht wahr, und damit ist ihre Vergangenheit ausgelöscht." Ihm fiel in der Tat keine andere
Erklärung dafür ein, dass seine Mutter nicht nur Meggies Unehelichkeit, sondern auch ihre
Geistesgestörtheit akzeptierte.
Die Dowager Duchess blickte ihn bestürzt an. „Liebling, hast du so wenig Vertrauen zu
mir, dass du glaubst, ich würde an einer aus Liebe geschlossenen Ehe herumnörgeln? Alles,
was ich mir je für dich wünschte, war Glück und ein produktives Leben, und beides hast du in
Meggie gefunden."
Darauf wusste Hugo beim besten Willen nichts zu erwidern. Langsam glaubte er, er selbst
wäre der geistig Gestörte.
„Um auf deine Frage zu antworten - die gute Meggie hat vielleicht nicht die allerbeste
Vergangenheit", fuhr seine Mutter fort, „doch wie du sehr richtig sagtest, das liegt hinter ihr,
und jetzt ist sie deine Gattin. Ja, und so ungewöhnlich es auch erscheint, sie hat sich zudem
als eine Erbin heraus gestellt, die dich zu einem der reichsten Männer Englands machen dürfte.
Doch das liegt neben der Sache."
„Neben der Sache?" Hugo fasste es nicht. „Mama, ich vermag nicht zu glauben, dass Sie
im Ernst sprechen. Seit wann ignorieren Sie die Bedeutung größerer Vermögen?"
„Was dein Glück mit Meggie angeht, so meine ich es absolut ernst. Geld hat nämlich damit
nichts zu tun. Dagegen dürfte Meggies Mitgift für den Rest der Welt ein sehr nützlicher
Köder sein. Ich habe vor, die Nachricht von deiner Eheschließung sofort in London zu
verbreiten, wobei ich die Einzelheiten für die Neugierigen ein wenig verändern werde. Auf
meinem Herweg habe ich alles ausgearbeitet und denke, mein Plan ist absolut durchführbar."
Hugo starrte auf den Boden. Soso. Sie würde also alles in die Hand nehmen. Sie wollte
hier und da etwas ändern und Meggie dadurch eine neue Vergangenheit verschaffen, ja? Er
wusste, dass er dankbar sein sollte - dankbar für ihre Ak zeptanz der Ehe mit Meggie und
dafür, dass sie anbot, jeden Skandal von vornherein im Keim zu ersticken.
Vor einem Monat wäre er auch tatsächlich dankbar ge wesen, doch jetzt... Er wusste nicht,
was er davon halten sollte. Er wollte nur, dass seine Mutter Meggie so akzeptierte, wie sie
war, und nicht, wie sie dachte, dass sie sein sollte.
„Hugo, Liebling, mache doch nicht so ein niedergeschlagenes Gesicht. Ich habe in keiner
Weise etwas gegen deine liebe Gattin. Ich will ihr nur den Weg erleichtern. Du weißt doch,
wie grausam die Leute der Gesellschaft sein können bei einer Person, die sie für . . . nun, für
anders halten, wenn du verstehst, was ich meine."
„Was für einen interessanten Euphemismus Sie doch verwenden, Mama."
„Mein lieber Junge, ich weiß, dass du deine Gattin liebst und dass du deshalb
verständlicherweise sehr empfindlich bist, aber du möchtest sie doch gewiss vor Verachtung
bewahren, nicht wahr? Wofür sollte es gut sein, wenn man überall herumerzählte, dass
Meggie unehelich geboren ist?"
„Nein, das wäre sicherlich nicht gut."
„Eben. Deshalb dachte ich, wir sagen, dass Meggie als kleines Waisenkind sehr still und
sehr einfach in Suffolk aufwuchs, dass sie sowohl mit den Russells aus Aldeburgh als auch
mit den Mabeys aus Southwold verwandt sei, und da sie die einzige Überlebende sei, kämen
ihr auch beide Vermögen zu. Und das ist sogar alles wahr. Wie findest du das, Liebling?"
„Recht gut", meinte er tonlos. „Und womit wollen Sie ihren sechsjährigen Aufenthalt im
Woodbridge-Sanatorium erklä ren? Oder beabsichtigen Sie, diesen Teil ihres Lebens ganz zu
streichen?"
„Ich wusste nicht, wieso das jemals zur Sprache kommen sollte, Hugo. Nicht, dass ihr
Aufenthalt in Woodbridge schändlich wäre. Schwester Agnes konnte Meggies Arbeit nicht
genug loben - das Mädchen sei einfach brillant mit den Patienten umgegangen - , doch die
Leute können in solchen Dingen ja manchmal solche entsetzlichen Snobs sein."
Hugos Kopf schoss in die Höhe, und es fiel ihm schwer, einen neutralen Gesichtsausdruck
bei zu behalten. Meggie hatte in dem Pflegeheim gearbeitet? Sie hatte sich um die Patienten
gekümmert und war keine von ihnen gewesen?
„Schwester Agnes sagte, Meggies Arbeit sei brillant gewesen?" wiederholte er derart
benommen, dass es ein Wunder war, wie er überhaupt noch reden konnte.
„Gewiss, Liebling. Hat Schwester Agnes dir das nicht erzählt? Nachdem die fürchterlichen
Nonnen des Waisenhauses die Kleine zur Strafe für die eine oder andere eingebildete Sünde
zu ihr schickten, war Meggie ihre rechte Hand, ein wahres Geschenk des Himmels. Ich
glaube, dass Schwester Agnes das Mädchen so leicht mit dir gehen ließ, lag nur daran, weil
sie Meggie liebte, sie glücklich wissen wollte und erkannte, dass du sie ebenfalls liebtest."
Hugo wandte ihr den Rücken, trat an den Goldfischteich, setzte sich an den Rand und
blickte ins Wasser. Sein verzerrtes Spiegelbild schien ihn zu verspotten.
Alles, was er von Meggie gedacht hatte, rührte von seiner Annahme her, sie sei eine
Insassin gewesen, eine Person, die man eingesperrt hatte, weil sie geistesgestört war. Dennoch
hatte er sie akzeptiert und geliebt. Er hatte gedacht, sie wäre möglicherweise wieder genesen,
und gleichwohl hatte er gefürchtet, sie könnte wieder in ihren vorherigen Zustand
zurückfallen.
Nur gab es gar keinen „vorherigen Zustand". War er selbst so irre gewesen, dass er in ihr
eine Krankheit sah, die überhaupt nicht existierte? Hatte er auf Grund dieser irrtümlichen
Annahme alles, was sie sagte oder tat, völlig falsch interpretiert?
Er versuchte sich an alles zu erinnern, das zwischen ihnen vorgefallen war, und während er
sich die Einzelheiten vor Augen führte, erkannte er in Meggie eine absolut normale und
geistig gesunde Frau.
Er selbst war der Idiot gewesen, als er ihr klargemacht hatte, wie sie sich verhalten sollte.
Und sie hatte ihm eben diesen Gefallen getan!
Er presste sich den Handrücken auf den Mund und war viel zu erschüttert, um zu sprechen
oder auch nur zusammenhängend zu denken.
Meggie war gesund! Vollkommen, wunderbar gesund! Ihre Ehe konnte nicht angefochten
werden, und ihren zukünftigen Kindern drohte keine Gefahr. Er liebte Meggie aus vollem
Herzen, und sie liebte ihn ebenso. Irgendwo war ein Wunder geschehen, und trotz seiner
Verwirrung erkannte Hugo, dass dieses Wunder bereits vor langer Zeit eingetreten war und er
es nur als Letzter gemerkt hatte.
Meggie, o Meggie! Gab es je eine geistig gesündere Person als dich in deiner
Aufrichtigkeit? Eine, die geradliniger, argloser und uninteressierter war an dem, was ihr die
materielle Welt geben würde, und dennoch interessiert an den natürlichen Schönheiten dieser
Welt? War je eine Person so bedingungslos zur Liebe bereit wie du?
Tränen brannten in seinen Augen. Meggie, seine liebe, teure Meggie, die Einzigartige unter
den Frauen . . . Was hatte er nur getan? Was hatte er, um Himmels willen, nur getan?
„Hugo, was hast du denn nur?" fragte seine Mutter ungehalten. „Du tust gerade so, als
hörtest du dies alles zum ersten Mal."
Hugo wischte sich rasch die Augen. Er wollte auf gar keinen Fall, dass seine Mutter -
geschweige denn Meggie dachte, er hätte seine Gemahlin jemals für etwas anderes als
vollkommen gesund gehalten.
„Ich bitte um Entschuldigung", murmelte er, stand auf und drehte sich zu seiner Mutter
um. Sein schlechtes Gewissen, das ihn vorher schon geplagt hatte, drohte ihn nun vollends
niederzudrücken. „Ich ... ich vermag Ihnen nicht die Tiefe meiner Gefühle zu beschreiben. Sie
akzeptierten meine Gemahlin so bereitwillig und verließen sich auf meine Beurteilung,
obwohl ich Ihnen doch stets nur Grund gegeben habe, an mir zu zweifeln. Ihre Großmütigkeit
Meggie gegenüber konnte ich zuerst kaum glauben, doch jetzt erkenne ich, dass Sie wirklich
verstehen."
„Hugo, mein Lieber, wie sollte ich denn auch nicht?" fragte sie leise. „Hältst du mich
tatsächlich für eine so vertrocknete Alte, dass ich die Wunder der Liebe vergessen hätte?"
„Niemals, Mama! Und ich habe Sie auch niemals dafür gehalten. Wie könnte ich? Sie sind
meine Mutter."
Die Dowager Duchess lachte. „Richtig. Ist es dir noch nie in den Sinn gekommen, dass du
überhaupt nicht hier wärst, wenn ich seinerzeit für deinen Vater nicht ebenso empfunden hätte
wie du für Meggie? Wirklich, Hugo, so fantasielos kannst du doch nicht sein."
„Ich darf aufrichtig versichern, dass mit meiner Fantasie alles in Ordnung ist", bemerkte er
trocken.
„Auf jeden Fall hattest du genug Fantasie, um über die Grenzen hinauszublicken, die uns
die Gesellschaft setzt, und um eine Frau aus Liebe statt aus Gründen der Stellung oder des
Vermögens zu ehelichen. Und was meine Zweifel an dir betrifft, so sehe ich ja selbst, was
diese Ehe aus dir gemacht hat. Ich glaube, dass du endlich zu dir selbst gefunden hast, mein
Liebling, und das macht mich sehr, sehr glücklich. Du hast deine Lektionen gut gelernt."
Was sollte er nun darauf erwidern - etwa: ,Mama, ich bin ein größerer Schuft, als Sie es
sich vorstellen können'? Lieber nicht. „Meggie ist eine ausgezeichnete Lehrerin", stellte er
stattdessen fest. „Ich lerne jeden Tag etwas Neues." Und das stimmte absolut.
„Das sagte Meggie auch von dir", erwiderte seine Mutter.
„Ihr habt vielleicht nicht beide die gleiche Erziehung ge nossen, trotzdem habt ihr vieles
miteinander gemein. Mich schaudert es, wenn ich mir vorstelle, wie schne ll es dich
gelangweilt hätte, wenn du nur mit einem hübschen Gesicht verheiratest wärst."
Irgendetwas sagte Hugo, dass er gleich noch einen weiteren Schock erleben würde. Er
bereitete sich schon darauf vor. „Meggie ist viel mehr als nur ein hübsches Gesicht." Er hatte
keine Ahnung, worauf seine Mutter abzielte.
„In der Tat. Wenn man den Nonnen im Waisenhaus auch sonst nichts Gutes nachsagen
kann, so erkannten sie doch immerhin den Intellekt deiner Gattin und benutzten ihn, sie zu
einer Lehrerin auszubilden. Schwester Agnes erzählte mir, dass Meggie bereits Latein,
Griechisch sowie Französisch beherrschte, als sie im Sanatorium ankam, und dort studierte sie
dann alles, was sie finden konnte. Ich halte das für höchst empfehlenswert. Du weißt ja, wie
sehr ich dafür bin, dass Frauen eine ordentliche Ausbildung erhalten."
Hugo rieb sich ganz fest das Ohrläppchen. „Ja, das erwähnten Sie mehrmals."
„Und aus gutem Grund, Liebling. Wir Frauen werden ge halten, oberflächlich in unseren
Gedanken zu sein und uns allein für die Geschehnisse des Alltagslebens um uns herum zu
interessieren. Meiner Meinung jedoch ist nichts mit dem inneren Reichtum zu vergleichen.
Einige Menschen mögen spotten, doch ich glaube, für dich ist es ein wahrer Segen, eine
gebildete Frau geheiratet zu haben, besonders in Anbetracht deines eigenen Interesses an den
Klassikern."
Hugo hätte Meggie den Hals umdrehen mögen. Eine Intellektuelle - und sich dann die
ganze Zeit als Dummchen auszugeben! Kein Wunder, dass sie für ihre Stute einen
griechische n Namen aus dem Ärmel geschüttelt hatte, und um ihr Wissen zu vertuschen, war
ihr dann verspätet irgendeine blöde Erklärung dafür eingefallen. Doch wahrscheinlich war er
auch noch selbst daran schuld. Wann hatte er ihr denn jemals angedeutet, dass er von ihr
etwas anderes erwartete als reine Ignoranz?
Plötzlich musste er unbedingt einiges mit seiner Gemahlin zurechtrücken. „Mama, wären
Sie sehr böse, wenn ich Sie jetzt allein ließe?" fragte er. „Ich versprach Meggie, bald wieder
bei ihr zu sein."
„Geh nur zu deiner teuren Gattin, Liebling. Ich bin auch ehrlich gesagt recht müde. Ich
war, wie mir scheint, wo chenlang unterwegs und würde mich gern zum Schlafen in meine
Räume zurückziehen. Das Abendessen werde ich wohl wieder mit euch zusammen
einnehmen können. Morgen früh werde ich aufstehen, mich auf die Londoner Gesellschaft
stürzen und Meggies sowie dein Loblied singen." Sie erhob sich und küsste ihn auf die
Wange. „Dein Bruder wird sich sehr über die guten Nachrichten freuen . . . Oh, wo hatte ich
nur meine Gedanken? Hugo, Liebling, du bist ja Onkel ge worden! Du hast einen
wunderschönen kleinen Neffen, ein ganz entzückendes Baby! Vor drei Wochen kam es zur
Welt."
Hugo lächelte und freute sich aufrichtig für seinen Bruder. „Rate ist wahrscheinlich ganz
aus dem Häuschen. Ich werde ihm sofort schreiben und ihm gratulieren. Und gleichzeitig
werde ich ihn über meine eigene Eheschließung informieren."
„Das wird er gern hören", sagte die Dowager Duchess ernst. „Ich glaube, abgesehen davon,
dass seine Gattin die Geburt seines Sohnes gesund überstanden hat, könnte ihm nichts größere
Freude bereiten, als zu erfahren, dass du ebenso glücklich verheiratet bist wie er."
Hugo fand Meggie in der Bibliothek vor. Sie beugte den Kopf über einen Katalog alter
Manuskripte und war so vertieft darin, dass sie ihn gar nicht eintreten hörte.
„Hallo, Meggie. Was liest du da?" fragte er und sah, dass sie vor Schreck buchstäblich
aufsprang.
„N . . . nichts." Sie steckte den Katalog in eine Schublade des Schreibtischs, vor dem sie
gerade stand.
„Nichts?"
„Nun - äh - Madame DeChaille empfahl mir, mich vor der nächsten Anprobe über die
neueste Mode zu informieren." Sie errötete tief.
„Meggie, mein kluges Mädchen! Ich glaube, langsam begreife ich, wie du der Wahrheit
ausgewichen bist, ohne mich direkt zu belügen."
„Was willst du damit sagen?"
„Dass du mir seit einem guten Monat Sand in die Augen streust. Ich möchte gern wissen,
weshalb, meine kleine Gelehrte. Altissima quaeque flumina minimo sono labi. Übersetzen
bitte."
„Die tiefsten Flüsse fließen am leisesten", flüsterte sie. Ihr Gesicht war erstarrt, und sie
schaute ihn aus großen Augen entsetzt an. „Ach Hugo! Hasst du mich jetzt, weil ich dich
getäuscht habe?"
„Ich dich hassen? Meggie, in diesem Moment liebe ich dich mehr denn je, obwohl du mich
verblüffst. Weshalb hast du mir nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt?"
Sie senkte den Kopf. „Ich dachte, du wolltest eine dumme Gemahlin haben."
Hugo betrachtete ihren unbedeckten Nacken, der unge mein zerbrechlich wirkte und in den
sich zarte Strähnchen hellblonden Haars ringelten. Gern hätte er dorthin einen Kuss getupft,
doch dann würde er sie auch an anderen Stellen geküsst haben, und das Gespräch wäre nie
abgeschlossen worden. „So, du dachtest also, ich wollte eine dumme Ehefrau. Warum?
Hieltest du mich für so blöd, dass ich den Gedanken an eine intelligente Unterhaltung nicht
ertragen könnte?"
„Nicht doch! Du schienst nur keine kluge Ehefrau zu wollen, und da du so gütig warst,
dich in mich zu verlieben, so, wie du dachtest, dass ich sei... da fand ich, ich sollte mir Mühe
geben, mich dir zum Gefallen auch so zu zeigen - wenigstens so lange, bis ich dich mit der
Vorstellung vertraut gemacht haben würde, dass ich gebildet bin."
Hilflos hob sie die Hände. „Am ersten Abend auf Lyden erklärte mir Tante Dorelia
unmissverständlich, dass kein Mann eine gebildete Frau begehrte und dass ich lieber den
Mund halten sollte. Sie meinte, Männer wollten keine Ansichten von Frauen hören. Sie
mochten überhaupt keine klugen Frauen, und alles was sie wo llten, seien ein hübsches
Gesicht und ein angenehmes Verhalten."
Hugo rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. „Verstehe", sagte er nach einem
Moment. „Den närrischen alten Schachteln hast du natürlich geglaubt, weil du ja niemanden
sonst hattest, der dir hätte sagen können, wie Männer sich ihre Gattinnen vorstellen und wie
nicht."
„Du hast mich so behandelt, als wäre ich beschränkt, Hugo. Also glaubte ich ihnen auch."
Hugo starrte zur Decke hinauf. Er wusste, dass es für ihn keine Ausrede mehr gab. „Es ist
alles meine Schuld", ge stand er ein. „Im Nachhinein erkenne ich, dass ich mich in jeder
Beziehung schlecht verhalten habe, und dafür ent schuldige ich mich. Ich . . . nun, ich dachte,
du hättest keinerlei Ausbildung genossen. So bin ich auch von falschen Voraussetzungen
ausgegangen und habe mich entsprechend verhalten."
„Du meinst, es stört dich wirklich nicht?" Meggies wunderschöne Augen leuchteten auf.
Ihre Freude und Erleichterung spiegelten sich darin so deutlich, dass es Hugo den Atem
benahm.
„Meggie - Meggie", seufzte er, trat zu ihr, zog sie fest zu sich heran und umschlang sie, als
könnte er sie sich in die Seele hineinziehen. „Ich bin ja so ein Narr. Mea maxima culpa, mein
Liebling. Willst du mir vergeben?"
„Es gibt nichts zu vergeben." Sie blickte zu ihm hoch, und die Tränen, die jetzt in ihren
Augen standen, ließen sie noch mehr leuchten. „Gar nichts. Du bist nie anders als gut und
liebevoll zu mir gewesen. Du hast mich geheiratet, obgleich du wusstest, dass ich nur meinem
Leben entfliehen wollte. Du gingst ein großes Risiko ein, doch deine Zuversicht hat dich nicht
getrogen, denn ich liebe dich mehr, als ich es zu sagen vermag."
Hugo barg Gesicht und Hände in ihrem Haar und sog ihren süßen Duft ein. Er schloss die
Augen, und sein Herz hämmerte heftig, doch nicht aus Leidenschaft, sondern aus Angst.
„Meggie", flüsterte er. Eine letzte Barriere brach in ihm nie der, und er erkannte, falls er ihr
jetzt nicht die absolute Wahr heit sagte, würde er es nie wieder gutmachen können. Sein Leben
- und seine Ehe - würden für immer eine Lüge sein.
Er holte so tief Luft wie noch nie. „Meine Liebste, ich war nicht vollkommen aufrichtig zu
dir. Willst du mich anhören und dann versuchen, mir mein Vergehen zu vergeben?"
Meggie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. "Wie könntest du dich denn gegen mich
vergangen haben?" Sie lächelte zärtlich. „Du bist doch der beste aller Männer."
„Das bin ich eben nicht, Liebste. Das ist es ja, was ich dir sagen möchte, und ich bete nur,
dass du es verstehst." Sanft nahm er ihre Hände in seine und führte Meggie zu einem Sessel.
Er beabsichtigte, ein volles Geständnis abzulegen, koste es, was es wolle.
Als er es an die Tür klopfen hörte, hätte er beinahe frustriert aufgeschrien. „Was ist denn?"
fragte er barsch und trat von Meggie fort.
Die Tür öffnete sich, und der alte Loring erschien. „Lord Waldock möchte Sie sprechen,
Mylord. Er sagt, ihm liege Ihre dringende Bitte vor."
Hugo fluchte innerlich. Waldock hatte sich für seinen Be such den denkbar ungünstigsten
Zeitpunkt ausgesucht, doch leider konnte er den Mann schlecht abweisen.
„Meggie, können wir unser Gespräch später fortsetzen? Dies ist der Mann, auf den ich seit
einer Woche warte."
Sie nickte, wollte zur Tür gehen und zögerte dann. „Hugo, was immer dich belastet, mache
dir bitte keine Sorgen. Du bist wirklich der beste aller Männer, auch wenn du es nicht
wahrhaben willst."
Hugo versuchte ihr zuzulächeln, drehte sich dann um und wappnete sich, sowohl seiner
Vergangenheit als auch seiner Zukunft gegenüberzutreten.
25. KAPITEL

Meggie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo für Hugo Vergebung brauchte.
Er hatte sehr blass, sehr bedrückt ausgesehen, und in seinen dunkelblauen Augen hatte die
Reue gestanden.
Sie holte den Katalog wieder aus der Schublade und stellte ihn auf das Regal zurück, weil
sie nicht mehr in der Stimmung war, darin herumzublättern.
„Das war heute vielleicht ein Tag, was, Hadrian?" Sie blickte den Wolf an, der es sich
unter dem Schreibtisch bequem gemacht hatte. Jetzt hob er den Kopf, scha ute sie an und
zwinkerte einmal, als stimmte er ihr zu.
„Dass Hugos Mutter einfach auftaucht und dann noch so eine wunderbare Frau ist, ganz
ohne Vorurteile und sehr großzügig . . . Kein Wunder, dass aus Hugo ein so edler Mensch
wurde."
Hadrian legte den Kopf wieder auf die Pfoten und schloss die Augen.
„Wie du meinst." Meggie lächelte. „Doch eines Tages wirst du so denken wie ich. Du bist
ja nur eifersüchtig."
Hadrian nahm sie gar nicht zur Kenntnis.
„Närrischer Wolf. Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mich zum Abendessen um. Du magst
gern hier bleiben und schmollen, doch ich glaube, du solltest auch versuchen, ein bisschen
vorurteilsfreier zu werden." Sie bückte sich und kraulte ihn hinter den Ohren. Hadrian
brummte ein wenig, machte jedoch keine Anstalten, seinen Platz zu räumen. Also ließ sie ihn,
wo er war, und schloss leise die Tür.
Draußen blieb sie unvermittelt stehen, denn sie spürte die Gegenwart eines Fremden in der
Eingangshalle. Von diesem Unbekannten ging Mordlust aus, die sich eindeutig gege n Hugo
richtete und weniger gegen einen Mann namens Waldock, der derjenige war, auf den Hugo
die ganze Woche lang gewartet hatte.
Meggie konnte sich nicht vorstellen, weshalb der Fremde so gefährlich zornig war, und
was er überhaupt in diesem Haus tat. Lo ring, der alte Oberbutler, hatte ihn jedenfalls nicht
angemeldet.
Sie war entschlossen, es herauszufinden, dann falls Hugo sich in Schwierigkeiten befand,
wollte sie es wissen. Also raffte sie ihre ganze Kraft zusammen, befleißigte sich einer
gelassenen Haltung, nach der ihr gar nicht war, und trat in die riesige Halle hinaus, wo ein
Mann auf und ab ging. Er befand sich ungefähr in Hugos Alter und war vornehm gekleidet,
doch sein gut aussehendes Gesicht war verzerrt.
„Guten Tag", grüßte sie. „Ich bin Lady Hugo Montagu. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
Als er ihre Stimme hörte, schreckte der Fremde zusammen. „Lady Hugo - was für eine
Überraschung!" Er kam auf sie zu und neigte sich über ihre Hand. „Erlauben Sie mir, dass ich
mich vorstelle. Ich bin Michael Foxiane, ein alter Freund Ihres Gatten."
Meggie musste ihr Erschaudern unterdrücken. Sie vermochte kaum zu glauben, dass dieser
Mensch ein Freund von Hugo war.
Er hatte irgendetwas Abstoßendes an sich, und in seinem Herzen spürte sie etwas Finsteres
und Falsches, das er hinter seiner Jovialität zu verbergen trachtete.
„Angenehm", sagte sie und entzog ihm rasch ihre Hand. „Mein Gemahl ist im Augenblick
beschäftigt, was Ihnen Lo ring bereits mitgeteilt haben wird." Sie wusste, dass sie ihm
höflichkeitshalber etwas hätte anbieten müssen, doch einem Mann, der solchen Hass gegen
Hugo hegte, wollte sie nichts geben.
„Genau genommen warte ich nur, bis mein Gefährte seine Angelegenheit erledigt hat. Wir
sind nämlich auf dem Weg zu einer Verabredung, und ich war es müde, in der Kutsche zu
warten. Ihren Gatten wollte ich nur kurz begrüßen, weil ich ihn schon so lange nicht mehr
gesehen habe, doch Sie kennen zu lernen, Lady Hugo, ist eine unerwartete Dreingabe."
, . . . du bist ein hübsches Frauenzimmerchen, was? Ich würde gern die wahre Geschichte
hinter dieser Hochzeit kennen. Hugo brauchte weiß Gott eine Erbin, nachdem ich mit ihm
fertig war. Nur merkwürdig, wie diese hier gerade rechtzeitig aus dem Nichts auftauchte, um
seinen verfluchten Hals aus der Schlinge zu ziehen . . .'
Meggie blieb buchstäblich die Luft weg, als ihr diese erschreckenden Worte direkt in den
Kopf drangen. Nur selten hatte sie die Gedanken eines anderen so klar und deutlich
empfangen, als hätte sie sie selbst formuliert, und in solchen Fällen hatte es sich meistens um
die Gedanken Gestörter gehandelt. War Michael Foxiane trotz seines selbstsicheren
Auftretens vielleicht ebenfalls gestört?
Entschlossen, bis zur Wurzel der Feindseligkeit dieses Mannes vorzudringen, zwang sie
sich zu lächeln. Dieses Mal war sie für ihr Talent tatsächlich dankbar. „Sie sagten, Sie und
mein Gemahl seien gute Freunde. Kennen Sie ihn schon viele Jahre, Mr. Foxiane?"
„Wir sind zusammen auf der Schule gewesen", antwortete er und blickte sie von Kopf bis
Fuß mit einem so beleidigenden Lächeln an, dass sich ihr der Magen umdrehte. „Und Sie,
Lady Hugo? Wie lange kennen Sie Ihren Gatten schon? Von Ihrer Heirat erfuhr ich erst heute,
als unser gemeinsamer Freund Waldock nach London zurückkehrte und das Schreiben Ihres
Gatten vorfand."
, . . . und mir den Schock meines Lebens versetzte. Ich könnte Montagu mit bloßen Händen
erwürgen. Fünfundsiebzigtausend Pfund bei dieser verdammten Wette im White's glatt in den
Sand gesetzt, und zur Hölle mit dieser blöden Kusine Amelia, die schwor, sie habe Montagu
schon so gut wie am Haken. Die kriegt einen Anfall, wenn sie das hört, und das geschieht ihr
recht, der dummen Kuh. Aber ich werde dafür sorgen, dass Montagu für meinen Verlust
bezahlt, und zwar so, dass es wirklich wehtut - nämlich erst mit seinem Stolz und später mit
seinem Ruf. Und wenn er dann genug gelitten hat, werde ich ihn vollends erledigen, diesen
hinterlistigen Bastard …’
„Ich kenne meinen Gemahl seit einigen Monaten." Meggie ließ sich ihr Entsetzen nicht
anmerken. Wenn sie Hugo helfen wollte, musste sie sehr vorsichtig sein. „Merkwürdig, dass
er Sie mir gegenüber nie erwähnte."
Foxiane zuckte nur die Schultern. „Es dürfte sicherlich so einiges geben, wovon Ihnen Ihr
Gatte nichts gesagt hat. Erzählte er Ihnen beispielsweise, dass er nicht nur sein Gut, sondern
auch seinen letzten Penny an Arthur Waldock verloren hat, und zwar beim Glücksspiel ein
paar Tage vor Ihrer Hochzeit? Waldock befindet sich jetzt hier um zu kassieren."
,. . . blöde Ziege. Natürlich hat er dir das nicht erzählt. Wie fühlt man sich, wenn man
erfährt, dass man nur des Geldes wegen geheiratet wurde? Ich wette, er hat dir etwas von
Liebe vorgefaselt, und das hast du ihm geglaubt, du Närrin . . .'
Meggie konnte es nicht verhindern, dass sie erblasste. „Ja, ich weiß", log sie und versuchte,
nicht die Fassung zu verlieren. Hugo hatte sie ihres Geldes wegen geheiratet? Das war völlig
ausgeschlossen, denn bis vor einer Woche hatten sie doch beide noch nichts von der Erbschaft
gewusst. Zu Hugos Spielverlusten logen Foxianes Gedanken allerdings nicht. Meggie sah die
Bilder in ihrem Kopf, als wäre sie an jenem Abend selbst dort gewesen - Hugo betrunken und
verzagt, Foxiane gab die Karten . . .
Meggie stockte der Atem. Gezinkte Karten! Foxiane hatte betrogen, und er hatte einen
Komplizen gehabt, einen Diener in einem Etablissement namens Boodle's, in dem Hugo und
Foxiane an diesem Abend gewesen waren.
Entsetzt starrte sie Foxiane an. Ihr war, als sähe sie mit seinen Augen und dächte die
Gedanken in seinem Kopf. Er war ein Ungeheuer, ein wahres Ungeheuer!
„Er hat Ihnen nichts erzählt, oder?" fragte Foxiane triumphierend. „Vermutlich hat er Ihnen
auch nicht gesagt, dass er ein unverbesserlicher Spieler ist, den sein eigener Bruder für drei
Jahre auf den Kontinent ins Exil schickte, weil er Hugos Schulden und der ewigen Skandale
müde war."
Meggie ballte die Fäuste so fest, dass ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten. Sie zwang
sich zur Konzentration, um auch noch die allerletzte Einzelheit aus Foxianes üblem Geist zu
ziehen.
„Doch, das hat er mir erzählt", sagte sie, während weitere schmerzliche Bilder auf sie
einströmten.
„Vergangenes Jahr kehrte er zurück, nachdem er in Paris eine Menge Geld gewonnen
hatte, welches er dann vor einem Monat an Lord Maldock im Boodle's verlor. Lord Waldock
räumte ihm eine Frist von neunzig Tagen ein, um die Schulden in voller Höhe zu bezahlen,
damit Hugo Lyden nicht verlöre."
Als Meggie die Wahrheit richtig erfasste, wurde ihr ganz übel. Hugo hatte sie wegen so
vieler Dinge immer wieder belogen, nur in einem Punkt nicht: Er liebte sie wirklich, denn von
ihrem Geld hatte er nichts wissen können. Das war doch wenigstens etwas.
Sie wollte nicht zulassen, dass Foxiane ihren Gatten sowie alles zerstörte, was sie
zusammen hatten, und das nur, weil Hugo in der Vergangenheit Fehler gemacht hatte. Sie
musste ihn vor diesem bösen Menschen beschützen, was immer es auch kosten mochte.
Meggie hob das Kinn. „Die Vergangenheit meines Gemahls interessiert mich nicht. Ich
sehe in ihm nur den Ehrenmann, der er jetzt ist."
„Ehrenmann? Meine liebe Lady Hugo, Sie sind hinters Licht geführt worden, nicht wahr?"
Er lächelte gehässig. „Mein Freund muss Sie ja im Bett überaus glücklich gemacht haben. Er
hatte schließlich schon immer einen guten Ruf bei den - äh - Damen."
Meggie verlor den Kampf um ihre Beherrschung. Sie wollte sich diese Verunglimpfungen
nicht länger anhören, auch wenn einiges davon der Wahrheit entsprach. „Mr. Foxiane,
weshalb wollen Sie mir eigentlich so eifrig alles über die Vergangenheit meines Gemahls
erzählen?" fragte sie eisig. „Hofften Sie, Sie könnten unsere Liebe und unser gegenseitiges
Vertrauen zerstören? Wenn das der Fall ist - und mir fällt kein anderer Grund ein -, dann
haben Sie eine seltsame Vorstellung von Freundschaft."
Er lief rot an, und seine Augen wurden gefährlich schmal. „Die liebe kleine Gattin hat also
Klauen, was? Vorsicht, Kätzchen! Sie wollen mich doch nicht verärgern?"
„Ach nein?" Oh, sie wollte ihn durchaus verärgern, und es würde ihm noch Leid tun, dass
er auch nur daran gedacht hatte, Hugo zu verletzen.
In diesem Augenblick ging die Tür des Arbeitszimmers auf, und Hugo kam mit einem groß
gewachsenen, angenehm aus sehenden Mann heraus. Er entdeckte Meggie und Foxiane sofort,
und seine Miene zeigte einen vorsichtig überraschten Ausdruck.
„Foxiane, ich wusste nicht, dass du hier warst. Ich sehe, mit meiner Gattin hast du dich
bereits bekannt gemacht."
„Eine charmante Dame", sagte Foxiane gedehnt. „Darf ich dir alles Glück wünschen,
Montagu?"
„Vielen Dank." Hugo ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Sehr freundlich von dir,
uns alles Gute zu wünschen."
Jetzt reichte es Meggie. Sie ertrug es nicht, dass Hugo derartig getäuscht wurde und dass er
auch noch Foxianes betrügerische Hand berührte. Sie dachte nicht lange über die Folgen nach,
sie wusste nur, dass Hugo auf der Stelle die Wahrheit erfahren musste. „Nicht! Glaube ihm
nichts! Er ist mitnichten dein Freund, Hugo. Er hat dich fürchterlich betrogen!"
Hugo blieb stehen und blickte sie erstaunt an. „Meggie, was soll das?"
„Er hat dich beim Kartenspielen betrogen", erklärte sie. Dass sie sich wie eine Närrin
vorkam, war ihr gleichgültig. Foxiane durfte mit seinem Betrug nicht durchkommen. „Es
geschah an dem Abend, als er dich ins Boodle's mitnahm."
„Wie können Sie es wagen, eine derartige Beschuldigung auszusprechen?" fuhr Foxiane
sie an. Sein Gesicht wurde zornrot. „Montagu, bringe diese Frau zum Schweigen, bevor ich es
selbst tue. Ist sie denn verrückt?"
„Ich empfehle, dass du selbst schweigst." Hugo warf Foxiane einen wütenden Blick zu, trat
zu Meggie und nahm sie bei den Schultern. „Was, in Gottes Namen, ist in dich gefahren?"
„Es stimmt!" beharrte sie. Wie sie es anstellen sollte, dass Hugo ihr glaubte, wusste sie
nicht. Sie erkannte erst jetzt, falls sie ihm die ganze Wahrheit sagte, würde sie damit auch die
Wahrheit über sich selbst preisgeben. Also musste sie einen anderen Weg finden, um ihn zum
Zuhören zu zwingen.
„Meggie, ich weiß nicht, was du erreichen willst, doch du solltest es jetzt sehr schnell und
sehr gut erklären."
„Das versuche ich ja." Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Mr. Foxiane schloss bei
White's eine Wette auf fünfundsiebzigtausend Pfund ab, dass du vor dem Ende der Saison
Amelia Langford heiraten würdest, und als er merkte, dass du nicht die Absicht hattest,
dergleichen zu tun, beschloss er, dafür zu sorgen, dass du alles verlieren würdest und dann
gezwungen wärst, diese Frau dennoch zu ehelichen."
„Wie kannst du das erfahren haben?" verlangte Hugo zu wissen.
Meggie kamen die Tränen - teilweise, weil seine Finger an ihren Schultern sie so
schmerzten, doch noch mehr, weil sie plötzlich Angst davor hatte, dass er sie nun für alle
Zeiten verachten würde, weil er dachte, sie hätte ihn angelogen. Und selbst falls er ihr glaubte,
würde er sie wegen ihrer angeblichen Geistesgestörtheit noch mehr verachten. „Das . . . das
hörte ich", stammelte sie.
„Du hörtest ein Gerücht, nahmst es für bare Münze, und nun zeihst du meinen Freund der
schlimmsten Sünde, die ein Gentleman begehen kann?" Vor Zorn bebte seine Stimme.
„Hugo, du musst mir glauben - bitte! Damals wollte er dir übel, und das will er jetzt auch."
„Montagu, ich warne dich! Entweder deine Frau nimmt ihre beleidigenden Anwürfe
zurück, oder ich fordere dich zum Duell", sagte Foxiane hinter ihr eiskalt.
„Langsam, Foxiane." Lord Waldock sprach jetzt zum ersten Mal. „Lasse Lady Hugo zu
Ende reden. Ich möchte hören, was sie sonst noch zu sagen hat. Sie würde eine solche
Anschuldigung sicherlich nicht äußern, wenn sie nicht glaubte, dass es zutrifft. Ich gestehe,
ich habe mich auch gefragt, weshalb du heute Nachmittag so ärgerlich wurdest, als du er-
fuhrst, dass Montagu nicht nur geheiratet hat, sondern auch seine Schulden zurückzahlen
konnte."
„Du hast meine Reaktion falsch gedeutet", erwiderte Foxiane aalglatt. „Ich war überrascht,
nichts weiter. Fragwürdige Erbinnen wachsen schließlich nicht an Bäumen, und ich konnte
mir nicht vorstellen, wie Montagu ohne viel Mühe eine gefunden hatte, gerade als er sie
dringend brauchte."
„Das geht dich auch nichts an, mein Freund", sagte Hugo. „Hat meine Gattin Recht, was
deine Wette bei White's betrifft?"
„Ja, doch dass bei White's Wetten angenommen werden, ist ja allgemein bekannt",
antwortete Foxiane und schüttelte den Kopf, als verstünde er nicht, weshalb Hugo das fragen
musste. „Alle möglichen Leute hätten meine Eintragung im Wettbuch sehen können, und was
beweist das schon? Du weißt selbst, wie viele Personen darauf gesetzt hatten, dass du Amelia
heiratest. Das macht mich noch lange nicht zum Falschspieler. Und welches Motiv sollte ich
überhaupt gehabt haben? Von deiner Heirat erfuhr ich erst heute. Gewiss habe ich mich ein
bisschen geärgert, dass ich damit eine hohe Wette verloren hatte, doch das würde wohl jedem
so gehen."
„Stimmt." Waldock nickte kurz. „Lady Hugo, entschuldigen Sie, wenn ich Sie so genau
befrage, zumal wir einander nicht einmal näher kennen, doch ihre Anschuldigung ist eine
ernste Sache. Können Sie uns sagen, was Sie sonst noch gehört haben, und von wem?"
„Von wem ich es hörte, kann ich Ihnen nicht sagen, Mylord", antwortete sie und wandte
sich zu ihm um. „Doch ich kann Ihnen versichern, dass Mr. Foxiane meinen Gemahl an jenem
Abend mit dem Vorsatz durch die Clubs führte, ihn so betrunken zu machen, dass er den
Überblick verlor. In derselben Absicht brachte er ihn schließlich auch ins Boodle's, weil er
wusste, dass mein Gemahl dem ernsthaften Glücksspiel nicht würde widerstehen können."
Foxiane fragte: „Und was soll das beweisen? Wir sind ge meinsam in die Clubs gegangen,
ja. Wollen Sie etwa behaup ten, ich hätte ihn mit Gewalt mitgeschleppt und ihn zum Trinken
gezwungen? Und im Boodle's hätte ich ihn veranlasst, ein Spiel nach dem anderen mit großen
Einsätzen zu machen, und ihn dann gezwungen, jedes Spiel zu verlieren?" Er drehte sich zu
Hugo um, seine Augen glitzerten. „Falls du überhaupt noch etwas von diesem Abend
erinnerst, dann weißt du möglicherweise noch, dass ich überhaupt nicht mitspielte."
„Das entsinne ich durchaus." Müde rieb sich Hugo die Stirn. „Meggie, lass bitte gut sein.
Du kannst nichts mehr zu sagen haben, also entschuldige dich bei Mr. Foxiane dafür, dass du
etwas Gehörtes fehl interpretiertest. Wenn wir Glück haben, sieht er ein, dass du von London
und den Vergnügungen hier nichts verstehst."
Foxiane lachte, und dabei lief es Meggie kalt über den Rücken. „Mach dich nicht
lächerlich, Montagu. Glaubst du, du könntest mich überreden, eine Entschuldigung
anzunehmen, weil deine Frau eine absolute Unschuld wäre?" Mit dem Kinn deutete er auf
Meggie. „Sie teilte mir bereits mit, dass sie nicht nur über deine zweifelhafte Vergangenheit,
sondern auch über dein kürzliches Fiasko bestens informiert sei, wobei sie mir unaufgefordert
die Fakten nannte."
Hugo ließ Meggies Schultern los und wich zurück, als litte sie unter einer ansteckenden
Krankheit. Offenbar dachte er, sie hätte irgendwie die Wahrheit herausgefunden und wollte
ihn nun beschämen. Sein langes Schweigen bestätigte ihre Befürchtung, und sie erkannte,
dass ihr nichts übrig blieb, als Foxiane vollkommen und in allen Einzelhe iten bloßzustellen.
Sie richtete den Blick auf den Mann, der jetzt auch zu ihrem Feind geworden war. „Ich
spreche von Tatsachen, Mr. Foxiane. Sagt Ihnen der Name Joseph Potter etwas? Seit
anderthalb Jahren ist er im Boodle's angestellt, und sein Gehalt wird großzügig aufgestockt
durch Ihre monatlichen Zuwendungen."
Zu ihrer Genugtuung wurde Foxiane weiß wie sie Wand.
Seine Gedanken gerieten in Aufruhr, und blinde Panik überdeckte Vernunft. „Wer . . .
Wovon, zum Teufel, reden Sie? Ich kenne keinen Joseph Potter."
„Das ist ja merkwürdig", meinte Meggie kühl. „Er ist nämlich der Diener, der Sie mit den
Karten versorgt, die Sie so gern mögen. An jenem Abend spielten Sie zwar nicht selbst, Mr.
Foxiane, doch Sie gaben die Karten." Meggie beobachtete ihn genau, weil sie ahnte, dass er
alles Mögliche tun mochte, wenn er sich in die Ecke getrieben fühlte. „Gezinkte Karten
können ein Spiel ja ganz anders ausgehen lassen, nicht wahr? Wie sah das Blatt doch gleich
aus, das Sie Lord Waldock zuteilten. . . ich glaube, es war Piksechs verdeckt, Karoass offen,
und zum Schluss die Kreuzvier. Ist das richtig?"
„Für diese Information müssen Sie Potter ein kleines Vermögen gezahlt haben! Ich bringe
die verdammte Hexe um!" Foxiane sprang auf sie zu, doch Hugo war schneller, hielt ihn fest
wie ein Schraubstock und drückte ihm einen Arm über die Kehle.
„Was soll das?" zischte er. „Benehmen wir uns etwa dane ben, Foxiane?" Unvermittelt ließ
Hugo ihn los und stieß ihn zu Boden.
Foxiane schnappte nach Luft. „Das Weib lügt wie ge druckt!" keuchte er hervor.
Meggie wich zurück und versuchte sich unsichtbar zu machen.
Waldock ging zu Foxiane, packte ihn beim Kragen und zog ihn in die Höhe. „Wer ist hier
derjenige, der wie gedruckt lügt, teurer Freund? Herrgott, manchmal wunderte ich mich über
deine Glückssträhnen - besonders im Boodle's - , doch nie hätte ich mir vorgestellt, dass du so
tief sinken würdest! Jetzt erfahre ich, dass du Montagu absichtlich zu deinem eigenen Nutzen
ruinieren wolltest und mich dabei als Mittel zum Zweck benutztest. Ich sollte dich
umbringen!" Er holte mit der Faust aus, versetzte ihm einen krachenden Kinnhaken und warf
ihn wieder zu Boden.
Foxiane rutschte über den Marmor und hielt sich den blutigen Mund. Schwer atmend
schaffte er es, sich auf den Knien aufzurichten. „Fahrt zur Hölle!" stieß er hervor. „Allesamt!
Ihr mit euren Titeln und eurem ererbten Reichtum hieltet euch immer für etwas Besseres. Und
was hatte ich außer einem wertlosen Stammbaum und meinem Verstand? Beantwortet mir
das! Was hätte ich tun sollen - mir eine Anstellung in der Stadt suchen wie ein Plebejer? Oder
hätte ich Buchhalter werden und für einen von euch arbeiten sollen?"
Er hob den Kopf und starrte sie wütend an. „Das hätte euch wohl gefallen, was? Mich
degradiert, gedemütigt zu sehen! Seit unseren Tagen in Harrow habt ihr beide immer auf mich
herabgesehen. Doch dann musstet ihr mich beachten, nicht wahr? Ich machte ein Vermögen
und nahm es mit den Besten von euch auf!"
Meggie vermochte weder seinen Anblick noch das Selbstmitleid zu ertragen, das von ihm
ausging, und sie war dankbar, als Hugo zu ihn ging und ihn beim Ellbogen fasste.
„Steh auf", befahl er leise, „und höre mit dem Gejammere auf. Du magst vielleicht keine
Moral haben, doch beweise etwas Selbstachtung, Mann!"
Foxiane folgte Hugos Befehl, als reagierte er ganz automatisch auf die Stimme der
Autorität. Er stand auf, klopfte sich selbst ab und straffte die Schultern. „Und was jetzt?"
fragte er.
„Ganz offensichtlich bist du in London erledigt", meinte Waldock. „Ich an deiner Stelle
würde mich so schnell wie möglich aufs Land verziehen und keine Rückkehr planen."
Hugo hob eine Augenbraue. „Sagte Waldock ,schnell'? Ich würde das in ,sofort' abändern,
falls dir dein Leben lieb ist."
Foxiane lächelte zynisch. „Seltsam, diese Drohung gerade von dir zu hören, Montagu. Ich
erinnere, dass du es warst, dessen Leben ständig in Gefahr war wegen deiner verkommenen
Taten. Natürlich hattest du ja einen einflussreichen Bruder, der dich immer wieder
herausholte."
„Ich bezweifle, dass selbst mein edler Bruder mich gerettet haben würde, hätte ich das
getan, was du tatest. Aus meinen früheren Sünden kann ich mich nicht herausreden, doch ich
habe wenigstens niemals jemanden betrogen." Er blickte zu Meggie hinüber. „Zumindest
nicht beim Kartenspie len", schloss er leise.
Meggie konnte ihn nur benommen anschauen. Sie benötigte nicht ihre Gabe, um die
Wahrheit zu erkennen. Die sah sie in seinen Augen: Er hatte sie tatsächlich nur des Geldes
wegen geheiratet! Irgendwie hatte er von ihrer Erbschaft erfahren, und dann war er
gekommen, um sie sich zu holen - nicht aus Liebe, sondern aus Notwendigkeit. Liebe war
ihm nie in den Sinn gekommen. Meggie wollte auf der Stelle tot umfallen.
„Bitte verschwinde, Foxiane." Hugo seufzte müde. „Und tue mir den großen Gefallen, mir
nie wieder unter die Augen zu kommen. Ich werde mein Bestes tun, nicht nur dein Vergehen
mir gegenüber, sondern auch die Beleidigungen zu vergessen, die du gegen meine Gattin
gerichtet hast."
„Keine Sorge, Montagu. Ich werde dieses Stück Dreck persönlich außer Landes
befördern." Waldock nahm Foxiane beim Arm und riss ihn zur Tür herum. „Ach übrigens -
diesen Wechsel, den du heute gezeichnet hast, den werde ich zerreißen. Betrachte ihn als null
und nichtig. Für mich hat der Abend im Boodle's niemals stattgefunden. Zumindest wir sind
doch Männer von Ehre."
Hugo nickte wortlos. Er wirkte erschöpfter, als Meggie ihn jemals gesehen hatte, doch das
war ihr jetzt einerlei.
„Ich bitte um Entschuldigung, Lady Hugo." Waldock bemerkte sie jetzt erst. Während des
Streits hatte sie sich hinter eine Säule zurückgezogen. „Ich kann nur hoffen. Sie verge ben mir,
dass ich an Ihnen - wenn auch nur kurz - gezweifelt habe, und ich wünsche mir sehr, dass wir
in Zukunft Freunde sein können. Es war sehr tapfer von Ihnen, dass Sie frei he raus
gesprochen und die Wahrheit zu Gunsten Ihres Gatten aufgedeckt haben."
Meggie tat ihr Bestes, ihm ein Lächeln zu schenken. Sie wollte nur noch fort von allen,
Hugo einbezogen. Sobald sich die Tür hinter Foxiane und Waldock geschlossen hatte, wandte
sich Meggie zur Treppe und betete nur, Hugo möge sie in Frieden ziehen lassen.
„Meggie, warte!" Er hielt sie am Arm fest, als sie an ihm vorbeieilen wollte. „Wir müssen
uns unterhalten. Ich möchte dich hundert Dinge fragen, und du wirst ebenfalls hundert Fragen
haben."
Sie vermochte ihm nicht in die Augen zu schauen. „Ich will mich nicht unterhalten." Sie
entzog ihm ihren Arm. „Ganz ehrlich - ich möchte in Ruhe gelassen werden."
„Meine Liebste, ich bedaure alles, was eben vorgefallen ist, und noch mehr bedaure ich,
was du eben über mich und meine Vergangenheit erfahren hast, doch lass mich jetzt um
Gottes willen nicht allein. Erzähle mir, wie du das alles über Foxiane herausfandest. Ich kann
mir nicht erklären, wie du auch nur die leiseste Ahnung von den Vorfällen gehabt haben
solltest."
Zum ersten Mal blickte Meggie ihn jetzt direkt an. „Ich las es in Foxianes Gedanken."
„Das geschieht mir wohl recht." Hugo nickte. „Dein Zorn ist völlig verständlich, doch
willst du mir nicht wenigstens die Wahrheit sagen?"
„Du hast so oft gelogen, dass du die Wahrheit gar nicht mehr erkennen würdest, wenn du
sie hörtest. Doch was macht das schon? Du hast mich betrogen. Du hast mich nicht aus Liebe
geheiratet, sondern wegen des Geldes, welches ich, wie du wusstest, erben würde."
Er blickte zu Boden. „Ja, das stimmt, Meggie. Ich gestehe, dass ich dich belogen und
betrogen habe, und du weißt auch, warum. Du scheinst überhaupt viele meiner Verfehlungen
zu kennen. Bitte gib mir doch die Möglichkeit zu einer Erklärung."
Sie wandte den Kopf ab. Diese „Verfehlungen" waren so schwerwiegend, dass sie sie noch
nicht ganz verarbeitet hatte. Überhaupt war ihr alles zu viel. Im Augenblick empfand sie gar
nichts mehr. Sie musste dringend zur Ruhe kommen. Und auf einmal wusste sie genau, was
sie zu tun hatte: Sie musste nach Hause gehen.
„Ich will keine Erklärungen. Ich will fort, Hugo. Ich werde gehen, wohin ich gehöre."
Er starrte sie an, und sein Gesicht wurde so weiß wie Foxianes kurz zuvor. „Das meinst du
doch nicht ernst."
„Durchaus. Du hast jetzt ein erfülltes Leben und benötigst mich nicht mehr. Versuche
nicht, mich umzustimmen, denn das würde dir nicht gelingen. Mein Entschluss steht fest."
„Und ich kann dich nicht überreden, es dir noch einmal zu überlegen?" Er sah aus, als hätte
sie ihn ebenso hart geschlagen wie zuvor Waldock Foxiane.
„Es gibt nichts mehr zu überlegen." Ihr Herz schmerzte unerträglich. „Ich muss gehen.
Würdest du so freundlich sein, mir eine deiner Kutschen zur Verfügung zu stellen?"
Zustimmend neigte er den Kopf. Den Ausdruck seiner Augen konnte sie nicht sehen, doch
das wollte sie auch gar nicht. Es tat ihr auch so schon weh genug.
„Wie du willst, Meggie."
Sie hörte seiner leisen Stimme die Ironie an, und das hätte ihren Entschluss beinahe
zunichte gemacht, doch sie stählte sich dagegen. „Vielen Dank. Ich werde heute Abend
abreisen, sobald ich gepackt habe. Du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich nehme Hadrian mit."
„Nimm alles mit, was du willst", sagte er, und dann war er fort.
26. KAPITEL

„Meggie hat - was hat sie getan? Und du hast sie einfach so gehen lassen?" Die Dowager
Duchess blickte ihren Sohn an, als zweifelte sie an dessen Verstand.
„Ja, einfach so." Er wandte ihr den Rücken und schaute aus dem Fenster. So lange hatte er
mit sich selbst gekämpft, dass er jetzt kaum noch denken, geschweige denn reden konnte. Mit
Sicherheit wollte er sich nicht lange darüber auslassen, weshalb Meggie ihn verlassen hatte.
Seine Mutter würde ja doch nur für sie Partei nehmen.
„Liebling, als ich dich vorhin verließ, war noch alles in Ordnung, und wie ich heute zum
Abendessen herunterkomme, stelle ich fest, dass deine Gattin fort ist, dass du so aussiehst, als
wäre dir eine ganze Armee Läuse über die Leber gelaufen, und dass das Personal mit langen
Gesichtern auf Zehenspitzen umherschleicht, als stünde das Ende der Welt bevor. Womit hast
du Meggie, um Himmels willen, vertrieben?"
Hugo schüttelte den Kopf. Was er getan hatte, lag schon eine scheinbare Ewigkeit zurück,
doch die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Es war ein Wunder, dass er Meggie so lange hatte
Sand in die Augen streuen können.
„Vielleicht hilft es, wenn du darüber sprichst", meinte die Dowager Duchess.
Er drehte sich zu ihr um, vermochte den mitfühlenden Aus druck in ihren Augen jedoch
kaum zu ertragen. „Lassen Sie mich nur, Mutter", bat er leise. „Es gibt nichts mehr zu tun und
zu sagen. Meggie hat sich sehr klar ausgedrückt. Sie will mit mir nichts mehr zu schaffen
haben, und das kann ich ihr auch nicht verübeln."
„Sei nicht närrisch", sagte seine Mutter streng. „Du verhältst dich, als wäre dies dein erster
kleiner Ehekrach. Also lass mich dir - wenn auch ungebeten - einen Rat geben: Womit immer
du Meggie verärgert hast, lässt sich sehr wahr scheinlich mit einigen wohlgewählten Worten
der Abbitte in Ordnung bringen, und je eher du sie aussprichst, desto besser. So etwas darf
man nicht auf die lange Bank schieben."
„Meggie würde nur eine einzige Abbitte akzeptieren, nämlich dass ich mir das Gewehr an
den Kopf setze und abdrücke", murmelte er bitter.
„Hugo!" rief seine Mutter aus und sprang auf. Ihre Wangen waren plötzlich blutleer
geworden. „Sage so etwas nie wieder! Niemals, hast du gehört?"
Hugo, der seine Mutter noch nie so erregt gesehen hatte, blickte sie bestürzt an. „Das
meinte ich doch nur im übertragenen Sinn!" Seine Mutter konnte das doch nicht wörtlich
genommen haben. „Ich bin nicht so verzagt, um mir das Le ben zu nehmen, Mama,
wenngleich ich im Moment glaube, alles würde viel einfacher sein, wenn ich tot wäre."
Langsam setzte sich die Dowager Duchess wieder. „Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du
dergleichen nicht sagtest." Sie räusperte sich, drückte sich die Hände auf die Knie, hob den
Kopf und schaute ihren Sohn völlig gefasst an. „Also jetzt wieder zu deinem Missverständnis
mit Meggie. Ich vermute, sie ist nach Lyden zurückgekehrt. Das wäre das Vernünftigste, und
Meggie scheint mir ein sehr vernünftiges Mädchen zu sein."
„Überaus vernünftig", erwiderte Hugo. „Und sie hat einen bemerkenswerten
Selbsterhaltungstrieb. Mama, um Ihnen Zeit zu ersparen - die Wahrheit der Sache ist die, dass
Meggie ein paar unschöne Dinge über mich entdeckt hat, die ich lieber nicht näher erläutern
möchte. Meine Vergangenheit hat mich sozusagen wieder eingeholt."
„Oh, das ist alles? Nun, Liebling, was erwartetest du denn?"
Hugo hätte beinahe aufgelacht. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich genau das. Ich habe es mir
ja selbst eingebrockt. Meggie wäre ja verr . . . Meggie hat keinerlei Anlass, mich
zurückzunehmen."
„Außer dass sie dich liebt", meinte seine Mutter. „Hugo, es sieht dir nicht ähnlich, dich zu
verkriechen und dir deine Wunden zu lecken. Du warst immer ein Kämpfer, also kämpfe auch
jetzt. Du liebst Meggie doch."
Hugo ließ den Kopf hängen. „Das ist es ja. Ich liebe sie mehr, als ich sagen kann, und
deshalb will ich nur, dass sie glücklich ist. Da sie nun die hässliche Wahrheit über mich kennt,
vermag ich ihr nur zu geben, worum sie gebeten hat: Ein Leben auf Lyden ohne mich."
„Liebes Kind, du scheinst zu denken, wenn du dich auf diesem selbst errichteten
Scheiterhaufen des Edelmuts opferst, könntest du alle deine Fehler wieder gutmachen. Ich
fürchte, dazu ist es zu spät."
„Vielen Dank für Ihre tröstlichen Worte", spottete Hugo. „Und ich dachte, Sie wollten mir
helfen."
„Du kannst wirklich ein törichter Junge sein! Ich wollte damit ausdrücken, dass Fehler
dazu da sind, um aus ihnen zu lernen. So wie du an die Sache herangehst, verzehnfachst du
deine Fehler nur. Du stehst unter dem Eindruck, es handele sich um die Vergangenheit, doch
in Wirklichkeit dreht es sich um die Zukunft." Sie winkte ihn fort. „Jetzt nimm dir eine
Kutsche und mache dich auf den Weg. Meggie wird sich schon fragen, wo du bleibst."
Hugo hatte die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht. „Sie haben mir nicht zugehört!" fuhr
er seine Mutter an. „Meggie will mich nicht mehr!"
„Blödsinn. Natürlich will sie dich. Sie ist nur verärgert, und in diesem Zustand äußern
Frauen so manches. Das hat Meggie nun getan, und jetzt bist du an der Reihe. Also wirklich,
Hugo, verstehst du denn gar nichts von der menschlichen Natur?"
„Ich bemühe mich. Bis heute hatte ich darin nur wenig Übung."
Die Dowager Duchess lächelte ihn liebevoll an. „Solange du nur daran denkst, dass du
nicht mehr dieser törichte, rebellische Junge bist, dem es Spaß bringt, in Schwierigkeiten zu
geraten! Du bist jetzt ein verantwortungsbewusster Mann, der seiner Gattin, seinem Gut und
seinen Pächtern ergeben ist." Sie lachte leise. „Ich fand es schon immer merkwürdig, dass
Männer ganze Länder regieren, dagegen nie zu verstehen scheinen, was direkt vor ihrer Nase
geschieht."
Sie erhob sich, trat zu Hugo ans Fenster und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „ Lasse es
mich bitte wissen, wie es ausge gangen ist. Ich werde mich mindestens noch zwei Wochen in
London aufhalten und die gute Nachricht von deiner Vermählung verbreiten. Ja, und ich
glaube, eine Hochzeitsanzeige in der Zeitung wäre eine gute Idee ..."
Entnervt schüttelte Hugo den Kopf. „Sie haben einfach nicht zugehört. Nun gut, wenn Sie
sich unbedingt in Verlegenheit bringen wo llen - nur zu."
„Ich liebe dich doch, Schatz." Die Dowager Duchess wirkte nicht im Mindesten besorgt.
„Loring, bitte einen Wagen für Lord Hugo, er muss unverzüglich nach Suffolk abreisen!" rief
sie und verschwand dann durch den Korridor.
Hugo schaute ihr nachdenklich hinterher. Genau fünfzehn Sekunden später stürzte er aus
dem Zimmer und befahl Mallard, seinen Koffer zu packen.

„Mein liebes Mädchen, so unerwartet und schön es auch ist, dich wieder zu sehen, so merke
ich doch, dass du bekümmert bist." Meggies Ankunft im Morgengrauen schien Schwester
Agnes nicht weiter zu beunruhigen. „Ich glaube, du musst jetzt erst einmal essen und dann
schlafen, und danach reden wir über das, was dir Sorgen macht."
Meggie war ungemein erleichtert über Schwester Agnes' sachliche Beherrschung der
Situation. Außerdem stimmte es.
Meggie war tatsächlich zutiefst bekümmert, erschöpft und hungrig. Gegen die letzten
beiden Probleme musste zuerst etwas getan werden. Die wichtigste Angelegenheit konnte
warten. Meggie wusste, dass sie jetzt ohnehin nicht sehr klar denken und reden konnte.
Statt nach Lyden, war sie nach Woodbridge zum Pflege heim gefahren, weil sie das tiefe
Bedürfnis spürte, ihre Seele zu erforschen, um Antworten zu Hugo zu finden, und Schwester
Agnes war die einzige Person, die ihr dabei helfen konnte. Meggie tat genau das, was
Schwester Agnes ihr empfahl: Sie aß ein frühes Morgenmahl und kuschelte sich dann in
ihrem alten Zimmer ins Bett. Hadrian legte sich an seiner üblichen Stelle bei der Tür nieder.
Meggie schloss die müden Augen und schlummerte endlich ein.
„Hugo, lieber Junge! Wie schön, dass du wieder hier bist!" Sobald Dorelia und Ottoline die
Kutsche gehört hatten, waren sie aus dem Haus gestürzt, hüpften nun beide gleichzeitig auf
und nieder und wedelten wild mit den Händen in der Luft.
„Wo ist denn Madrigal?" erkundigte sich Ottoline und lugte in die Kutsche.
„Hugo, was hast du mit ihr gemacht?" Dorelia drehte sich zu ihm um und blickte ihn
argwöhnisch an.
Hugos Herz sank. „Ist sie denn nicht hier? Sie müsste mindestens schon vor drei Stunden
eingetroffen sein."
„Nein, das ist sie nicht, und ich möchte wissen, weshalb du meinst, dass sie hier sein
sollte." Dorelias Augen blitzten.
„Wieso sollte die liebe Madrigal London ohne dich verlassen haben und durch die Nacht
gefahren sein, wenn ich fragen darf?"
„Der Betrug!" rief Ottoline. „Ach Schwester, es ist ganz gewiss der Betrug!"
Dorelias Augen wurden immer größer. „Ottoline, ich fürchte, du hast Recht. Um Himmels
willen, was machen wir denn nun? Sagt dir deine G. G. denn gar nichts? Die liebe, gute
Madrigal, der Engel - sie muss sich in einem fürchterlichen Zustand befinden. Rasch, meine
Liebe, schau, was du sehen kannst."
Hugo war seit elf Stunden ohne Schlaf auf der Straße ge wesen, sein Magen hatte sich vor
Angst zusammengekrampft, und sein schlechtes Gewissen hatte ihn die ganzen neunzig
Meilen lang gequält. „Was, zum Teufel, quasselt ihr da?" schnauzte er die beiden an.
„Still!" schimpfte Dorelia zurück. „Ottoline arbeitet."
Hugo sah die andere Tante an, die mit geschlossenen Augen vor und zurück schwankte,
während ihre Schwester leise zu summen und ebenfalls zu schwanken begann. „O du lieber
Gott", murmelte er. „Sie sind irre! Vollkommen. Restlos verrückt."
„Wenn hier jemand verrückt ist, dann bist du das." Dorelia kniff ihn kräftig in den Arm.
„Wir hätten dich niemals nach London gehen lassen sollen, wenn dort der Betrug lauerte! Und
nun hast du Madrigal verloren. Also halte gefälligst den Mund, während Ottoline sie zu
finden versucht. Ihre G. G. lässt sich nicht gern stören."
„Was zur Hölle ist eine G. G.?" wollte er wissen und rieb sich den schmerzenden Oberarm.
„Die Gesegnete Gabe, du Idiot. Alle Frauen in der Familie besitzen sie in der einen oder
anderen Form, und deine Gattin ebenso." Dorelia trat ihm kräftig auf den Fuß, und Hugo
schrie erschrocken auf. „Und jetzt sei endlich still!"
Hugo starrte erst sie und dann ihre schwankende Schwester an, die den Eindruck erweckte,
als glaubte sie, gleich Gottes Wort direkt aus dem Himmel zu empfangen. Die Gesegnete
Gabe? Was, um alles in der Welt, bedeutete das? „Was soll das heißen, Meggie habe sie
ebenso?" zischte er Dorelia ins Ohr. „Antworten Sie!"
„Oh, der Himmel steh mir bei", flüsterte Dorelia zurück. „Ottoline vermag eben die
Zukunft zu schauen, ich habe die Heilende Kraft, und Madrigal kann Gedanken lesen. Wüsste
ich's nicht besser, würde ich denken, sie hat deine gelesen und ist davongelaufen, was ganz
logisch wäre. Doch sie sagte ja, du seist für sie schon immer ein unbeschriebenes Blatt
gewesen."
Hugo fasste es nicht. „Wollen Sie mir einreden, Meggie könnte tatsächlich Gedanken
lesen?"
„Ich will dir überhaupt nichts einreden. Ich stelle lediglich Fakten fest. Madrigal hielt ihre
G. G. für einen Fluch, und nicht für eine Gabe, das kleine Lämmchen. Erst als sie herkam,
entdeckte sie, dass sie vollkommen normal war, so wie wir auch. Und jetzt rede nicht mehr
dazwischen."
Hugo wüsste überhaupt nichts mehr. Einerseits glaubte er nicht an solchen Hokuspokus,
doch andererseits gab es nun zum ersten Mal eine Erklärung dafür, wie Meggie nicht nur die
Wahrheit über Foxiane herausgefunden hatte, sondern wie sie auch die kleinsten Einzelheiten
jenes Abends erfahren hatte, an dem nur die drei Freunde die Spielkarten gesehen haben
konnten. Diese Information hatte ihr Foxiane gewiss nicht freiwillig gegeben. Außerdem war
Hugo sich ganz sicher, dass Meggie noch nie etwas von Boodle's gehört hatte. Und seit wann
wüsste sie etwas über Siebzehnundvier? Das hatten die Nonnen ihr bestimmt nicht
beigebracht. Von denen hatte sie nur Latein und Griechisch gelernt.
Die Nonnen . . . Schwester Agnes. Natürlich!
Ich werde gehen, wohin ich gehöre, hatte Meggie gesagt. O Gott - das hatte sie gemeint!
Deshalb war sie nicht nach Haus gekommen. Sie hatte ihn wirklich verlassen!
„Schon gut", sagte er zu Ottoline, die sich jetzt mit den Händen vor dem Gesicht
herumfuchtelte. „Ich weiß genau, wo sich Meggie aufhält."
Ottoline öffnete die Augen. „Nun, wenn du das so genau weißt, weshalb stehst du dann
noch hier herum? Ich vermag jedenfalls nichts weiter zu erkennen als etwas, das einem
Pinguin bemerkenswert ähnlich sieht, und das ergibt für mich keinen Sinn."
„Das muss Madrigals Schwester Agnes sein, Liebste", erklärte Dorelia triumphierend.
„Roberte, hurtig!" rief sie dem Butler zu, der in der Nähe gestanden und aufmerksam zugehört
hatte. „Spanne den Wagen an!"
„Nichts wirst du anspannen!" Hugo fuhr sich mit beiden Händen durch das wirre Haar.
„Roberte, wenn du dich nützlich machen willst, dann sattle einen meiner beiden Wallache und
bringe ihn unverzüglich her. Und ihr, liebe Tanten, bleibt freundlicherweise hier und haltet
euch aus jedem Ärger heraus. Verstanden?"
Die beiden nickten. Sie wirkten ungeheuer zufrieden mit sich selbst.
„Sehr gut." Hugo wollte ins Haus gehen, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor er
wieder davonritt.
„Hugo, mein Lieber." Dorelia bohrte ihm den Finger in den Arm. „Was wirst du nun
wegen des Betrugs unternehmen?"
„Welcher Betrug?" Er wünschte, sie würde ihn nicht fortwährend misshandeln.
„Wie soll ich denn das wissen? Betrug eben. Ottoline sagte, es gebe einen Betrug, der in
London herauskommen würde, und deshalb müsse Madrigal an deiner Seite sein. Offenbar
kam es auch so, denn weshalb sonst sollte Madrigal ins Pflegeheim zurückgeeilt sein?"
Hugo blickte ihr lange direkt in die Augen und fragte sich, ob nicht vielleicht doch etwas
an diesem Unsinn mit der G. G. daran war.
Er hatte keine Ahnung, was über ihn kam, doch er beugte sich hinunter und drückte
Dorelia einen Kuss auf die Wange. „Nur keine Angst", sagte er beruhigend. „Ich werde sie
wieder zurückholen."
„Wie schon Vergil sagte: ,Amor vincit omnia'" erwiderte sie zu Hugos Verblüffung.
„Et nos cedamos amori", fügte Ottoline hinzu und stellte sich auf die Zehensitzen, um sich
ebenfalls einen Kuss abzuholen. „Vergiss das nicht, Hugo, mein Lieber."
„Ich werde daran denken", versicherte er und berührte ihre weiche, faltige Wange mit den
Lippen.
Alles besiegt die Liebe, also wollen wir uns ihr ergeben . . .

„Meggie, meine Liebe, ich verstehe vollkommen, weshalb du so verärgert bist", meinte
Schwester Agnes, nachdem Meggie geendet hatte. „Hingegen verstehe ich nicht, warum du
glaubst, deine Ehe sei nun gefährdet." Sie faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und
blickte Meggie leidenschaftslos an.
Meggie hätte schreien mögen, doch während der letzten Stunde hatte sie Schwester Agnes
alles bis ins Detail erläutert, und jetzt war es sinnlos, sich noch weiter aufzuregen.
„Hugo hat mich belogen, Schwester! Er log schon, als er mir sagte, weshalb der mich
heiraten wollte. Er liebte mich nicht im Geringsten, sondern trachtete nur nach meiner
Erbschaft. Kein Wunder, dass ihn mein Hintergrund nicht interessierte, denn er brauchte das
Geld viel zu dringend, um sich noch über etwas anderes Gedanken zu machen. Wie soll ich
mich denn da fühlen?"
„Wie du schon sagtest - betrogen", antwortete Schwester Agnes gelassen. „Doch warst du
nicht auch einverstanden, ihn zu heiraten? Du liebest ihn nicht im Mindesten, wie du sowohl
ihm als auch mir klarmachtest. Soweit ich erinnere, wolltest du nur deine Freiheit."
„Richtig, Schwester, doch zumindest war ich aufrichtig. Ich dachte mir keine lange
Geschichte aus von Liebe auf den ersten Blick und den übrigen Geschichten, die er mir und
allen anderen - einschließlich seiner Mutter - auftischte."
„Sei nicht so sicher, dass es alles nur Geschichten waren", meinte Schwester Agnes
lächelnd. „Du vergisst, dass ich dabei war, als er dich zum allerersten Mal sah, und da wirkte
er wie jemand, den der Blitz getroffen hatte. Das war einer der Gründe, weshalb ich es ihm
abnahm, als er von Liebe sprach und zu mir kam, um um deine Hand anzuhalten. Ich glaube
nicht, dass dich das ganz gleichgültig ließ."
Tief errötend blickte Meggie zu Boden. Natürlich waren ihre Gefühle damals von reiner
Wollus t bestimmt worden, doch sie konnte auch nicht behaupten, ihm gegenüber jemals
gleichgültig gewesen zu sein.
„Meggie, dein Gatte mag dich betrogen haben, und für diese Sünde wird er Gott und auch
dich um Vergebung bitten müssen. Doch gibt uns der Herr nicht immer wieder die
Möglichkeit, unsere Fehler wieder gutzumachen? Schließlich ist niemand von uns
vollkommen."
„Vollkommenheit habe ich ja auch nicht verlangt." Heiße Tränen standen in Meggies
Augen. „Ich bat nur um Aufrichtigkeit. Hugo hatte zahllose Gelegenheiten, mir die Wahrheit
zu sagen, und trotzdem zog er es vor, mich weiter zu belügen. Wie soll ich denn unter diesen
Umständen noch an seine Liebe glauben?"
„Hast du nie daran gedacht, dass er sich nach eurer Ehe schließung ebenso in dich verliebt
haben könnte wie du dich in ihn, und dass er fürchtete, dich zu verlieren, falls er dir die
Wahrheit sagte? Denke nach, Meggie. Suche in deinem Geist nach Zeichen der Reue und in
deinem Herzen nach Verständnis für ihn, und dann vergib ihm."
Meggie tat, wie ihr geheißen, und ihr fiel wieder ein, was er gesagt hatte, kurz bevor die
Katastrophe über sie hereingebrochen war.
,Mea maxima culpa . . . ich war nicht vollkommen aufrichtig zu dir . . . willst du mich
anhören und dann versuchen, mir meine Vergehen zu vergeben? Meine Liebste . . . meine
Liebste . . .'
Diese Worte hallten ein ums andere Mal in ihrem Geist wider und erinnerte sie an seine
Zärtlichkeit. Sie entsann den gequälten Ausdruck seiner Augen, als er zu einem Geständnis
ansetzte. „Ja, ich erinnere etwas", flüsterte sie. „Hugo wollte mir die Wahrheit sagen, doch
wir wurden unterbrochen. Ich hatte das bis jetzt vergessen."
„Möglicherweise hast du noch so manches vergessen, Kind. Du erzähltest mir von dem
Glück, das du bei ihm erfahren hattest. Wäre es nicht möglich, dass er sich seit eurer Ehe-
schließung verändert hat und wirklich zu dem Menschen wurde, den du in ihm sahst? Liebe
kann Wunder wirken."
„Möglich." Meggie wollte Schwester Agnes nur zu gern glauben.
„Ich halte das für mehr als möglich. Denke nur an die Frau, die aus dir geworden ist. Dich
hat die Liebe doch auch zum Besseren verändert. Weshalb sollte das nicht auch bei deinem
Gatten so sein?"
„Ich weiß nicht. Ich verstehe ja, was Sie meinen, doch über die Lügen komme ich nicht
hinweg."
„Sage mir, Kind, hast du einmal dein eigenes Gewissen befragt, ob es nicht Dinge gibt, die
du deinem Gatten vorent hieltest, oder kleine Unwahrheiten, die du ihm vielleicht aus
irgendwelchen Gründen erzählt hast?"
Meggie senkte den Kopf. Es stimmte. Sie hatte Hugo vorgemacht, sie wäre dumm und
ungebildet. Noch schlimmer, sie hatte ihm nie von ihrer Gabe erzählt. Und weshalb nicht?
Weil sie befürchtet hatte, das würde ihn dann abstoßen. „Ja", gestand sie leise. „Ich habe ihm
etwas vorenthalten, weil ich fürchtete, er könnte sich von mir abwenden."
„Mmm. ,Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein'", zitierte Schwester
Agnes. „Hast du so wenig Vertrauen in Gottes Plan für euch beide, dass du nur siehst, wie es
zu dieser Ehe kam, nicht jedoch das, was du daraus gewonnen hast und noch gewinnen wirst?
Gott muss einen Plan schließlich auf irgendeine irdische Weise ins Werk setzen, und ich finde
es hervorragend, wie Er es geschafft hat, dich und deinen Gatten zusammenzuführen."
Meggie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie kam sich vor wie der größte Narr, denn
natürlich hatte Schwester Agnes Recht. Hätte Hugo nicht sein ganzes Geld verspielt, würde er
Meggie niemals des Erbes wegen geheiratet haben. Ihr Leben wäre noch immer leer. Hugo
hätte Lyden nicht gekauft und sich nicht um die Zukunft der Pächter gekümmert. Die Tanten
würden niemanden gehabt haben, der Licht in ihr Leben brachte - kurz, allen würde es noch
immer elend ergehen. Gott musste wirklich einen Plan gehabt haben, und wer war sie, um mit
Ihm darüber zu streiten?
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich glaube, ich war sehr töricht."
„Nicht doch, mein Kind. Wir haben alle das Recht auf unsere Gefühle, ob gute oder böse,
und wir haben ebenfalls ein Recht auf Zweifel und Enttäuschungen. Wir müssen nur jene
Gefühle und Zweifel aufgeben, die uns nichts Gutes bringen. Wir müssen dafür sorgen, dass
wir und die anderen mit dem Leben vorankommen, und genau das solltest du jetzt tun."
„Ich liebe Hugo ja. Ich wünschte nur, ich verstünde ihn besser. Jeden anderen Menschen
verstehe ich so gut, und ihn überhaupt nicht. Ich dachte, er wäre so verantwortungsbewusst
und kümmere sich um jeden, doch dann von allen seinen Missetaten zu erfahren ..."
„Meggie, haben wir das nicht eben gerade durchgesprochen?" fragte Schwester Agnes
streng.
Meggie nickte einfältig. „Ich habe nur alles in dem scheuß lichen Geist von diesem Foxiane
gesehen, und - ach Schwester, es waren so fürchterliche Bilder ..."
Zu ihrer Verblüffung brach die Nonne in lautes Gelächter aus. „Das kommt davon, wenn
man in anderer Leute Köpfe herumschnüffelt!" Sie wischte sich die Lachtränen fort.
„Ojemine, was bin ich froh, dass ich nicht mit deiner Gabe geschlagen bin, Meggie, meine
Liebe." Wieder betupfte sie sich die Augen. „Armer, armer Lord Hugo, schutzlos dem
ausgesetzt!"
„Ich weiß nicht, was Sie daran so komisch finden", meinte Meggie verärgert.
Sofort wurde die Schwester wieder ernst. „Meggie, liebes Kind, verzeih mir, wenn ich
gefühllos erscheine. Doch du bist noch sehr jung und musst noch viel lernen. Du magst fähig
sein, anderer Leute Gedanken zu lesen, doch das bedeutet nicht, dass du die Weisheit besitzt,
das Entdeckte richtig zu deuten. Du musst erstens bedenken, aus welchen Quellen diese
Informationen stammen, und zweitens muss dir klar sein, dass du eben nicht alles über die
Vergangenheit deines Gatten weißt."
Die Nonne seufzte. „Ich überlege, ob ich dir nicht etwas Sachdienliches erzählen soll, das
ich beim letzten Besuch der Dowager Duchess erfuhr. Ich hoffe, es ist nicht ungehörig, doch
ich glaube, du verstehst das Verhalten deines Gatten besser, wenn du weißt, was er als Kind
erlitten hat."
„Bitte Schwester, alles was Sie mir berichten können, würde mir wirklich sehr helfen."
„Sehr wohl, doch es muss unter uns bleiben, denn dein Gatte kennt die wahren Umstände
des unglücklichen Todes seines Vaters nicht. Seine Mutter und sein Bruder wollen, dass das
auch so bleibt."
Soweit Meggie wusste, kam Hugos Vater bei einem Unfall ums Leben, als Hugo noch ein
kleines Kind gewesen war. Hugo hatte ihr deutlich gesagt, dass über dieses Thema nicht
gesprochen werde. „Ich werde Stillschweigen bewahren", versprach sie.
„Es begann mit einer bedauerlichen Geisteskrankheit, an der der Duke litt, einer schweren
Melancholie, die immer ein schreckliches Chaos anrichtete, wenn sie in Erscheinung trat. Er
hatte dann Stimmungsumschwünge und war in diesen Augenblicken unberechenbar. Ach, es
ist nicht leicht, darüber zu reden."
Sie blickte Meggie so traurig und zögernd an, dass diese unruhig wurde. „Weiter,
Schwester." Sie ahnte, dass jetzt etwas wirklich Schlimmes kam, sie spürte das Grauen in
Schwester Agnes, den tiefen Kummer. „Bitte fahren Sie fort."
„Ja. Ja, natürlich." Schwester Agnes holte tief Luft. „Die Wahrheit ist, dass der Duke
Selbstmord beging, Meggie. Der arme Mann hat sich das Leben genommen."
Bestürzt blickte Meggie die Nonne an. „Hugos Vater hat sich selbst umgebracht?"
„Ich bedaure, das sagen zu müssen, Kind. Ich werde dir noch etwas mehr darüber erzählen,
damit du verstehst, wie das alles kam..."
27. KAPITEL

Hugo machte sich nicht erst die Mühe, seinen Wallach anzubinden, sondern warf ihm nur
die Zügel über den Nacken, saß ab und lief direkt zur Tür des Pflegeheims. Seine einzige
Absicht war es, Meggie zu finden und sie hier auf der Stelle herauszuholen.
Während des ganzen Ritts von Orford nach Woodbridge hatte er gebetet. Das kam bei ihm
nur sehr selten vor, doch diesmal hatte er es mit größter Inbrunst getan. Er würde Gott sogar
seinen Erstgeborenen geschenkt haben, wenn er dafür Meggie zurückerhalten und ihre
Vergebung erlangt hätte. Alles wollte er tun, wenn er nur den Frieden, die Erfüllung, das
einfache Glück wieder erlangen könnte, das er bei ihr gefunden hatte.
Seine Seele hatte er schon vor langer Zeit an den Teufel verschachert, also konnte er sie
Gott jetzt nicht mehr als Tauschobjekt offerieren, doch er konnte ihm noch sein Herz, sein
blutendes, schmerzendes, elendes Herz anbieten, das nur Meggie gehörte, ob sie es wollte
oder nicht. Ihm war klar, dass sie es wahrscheinlich gar nicht mehr haben wollte.
In der Halle traf er niemanden an, also begab er sich direkt zu Schwester Agnes'
Arbeitszimmer, denn er sagte sich, die Nonne würde wissen, wo genau Meggie sich jetzt
aufhielt.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Hugo wo llte gerade anklopfen, als er Meggies
Stimme hörte. Vor Erleichterung gaben seine Knie nach. Gott sei Dank, sie war hier, und ihr
war nichts zugestoßen!
„Weiter, Schwester", hörte er sie sagen. „Bitte fahren Sie fort." Ihre Stimme klang sehr
drängend.
Hugo ließ die Hand sinken. Er war sich nicht ganz sicher, ob er gerade in diesem Moment
stören durfte. Vielleicht sollte er lieber warten. Und ganz ehrlich gesagt, wollte er auch hören,
wovon die Rede war.
„Ja. Ja, natürlich", erwiderte Schwester Agnes leise. Sie schien irgendetwas zu bedauern.
„Die Wahrheit ist, dass der Duke Selbstmord beging, Meggie. Der arme Mann hat sich das
Leben genommen."
Hugo stockte das Herz. Von welchem armen Mann wurde hier gesprochen, um Himmels
willen? Doch nicht etwa von seinem eigenen Vater? Nein, es musste sich um jemand anders,
um einen anderen Duke handeln.
„Hugos Vater hat sich selbst umgebracht?" hörte er Meggies entsetzte Stimme.
„Ich bedaure, das sagen zu müssen, Kind . . ."
Hugo sank gegen die Wand. Er presste sich die Hände auf die Schläfen, als könnte er so
das vertreiben, was er soeben gehört hatte. Nein, o Gott, nein! Das durfte nicht wahr sein!
Jemand hätte ihm doch etwas gesagt, seine Mutter oder Rate. Die Nonne täuschte sich. Ja, sie
musste sich irren. Sein Vater war doch ein guter Mensch, ein starker Mann gewesen - ein
geistig gesunder Mann!
O Gott, sei mir gnädig. Sage mir, dass alles nur ein Irrtum ist.
Doch Gott war nicht gnädig.
„Offenbar litt der Duke gerade an einer seiner geistigen Störungen. Er nahm sein Gewehr
mit aufs Feld hinaus und ... es ist eine schmerzliche Tatsache, dass er sich in den Kopf
schoss", fuhr Schwester Agnes unbarmherzig fort.
Ebenso umbarmherzig hämmerte sich jedes Wort in Hugos Kopf hinein. Sein Vater war
doch durch einen Unfall gestorben - durch einen Jagdunfall!
„Tragischerweise war der ältere Sohn Zeuge seines Sterbens. Bis vor kurzem ahnte die
Dowager Duchess nichts davon, denn er hatte nie darüber gesprochen. All die Jahre hatte die
Schuld sie gequält, und jetzt kämpft sie mit dem Wissen, dass sie ihren Sohn nicht hatte
beschützen können ..."
Hugo vermochte kein Wort mehr zu hören. Blind und um Atem ringend stolperte er durch
den Flur. Irgendwie schaffte er es, ins Freie zu gelangen, und dort musste er sich sofort
übergeben. Er würgte immer und immer wieder, obwohl sein Magen leer war.
Schließlich lehnte er sich zitternd gegen die Mauer und legte den Kopf auf die kühlen
Steine. Die Tränen rannen ihm über die Wangen.
Seine arme Mutter. Sie hatte die Wahrheit gekannt und darunter gelitten. Kein Wunder,
dass sie so blass geworden war, als er gesagt hatte, er würde sich ein Gewehr an den Kopf
setzen und sich erschießen.
Und Rate ... er hatte alles mit angesehen und dennoch niemandem ein Wort gesagt.
Wahrscheinlich hatte er gewollt, dass der Vater ein christliches Begräbnis bekäme, statt an
einer Landstraßenkreuzung mit einem Pfahl im Herzen zum Zeichen seines Selbstmordes
verscharrt zu werden.
Selbstmord ...
Immer wieder schüttelte Hugo den Kopf und versuchte die Bilder zu vertreiben, die auf
seinen Geist einstürmten, nachdem sie so lange verschüttet gewesen waren, dass sie für ihn
praktisch nicht mehr existierten. Damals war er erst fünf Jahre alt gewesen, doch jetzt kamen
sie mit solcher Klarheit zurück, als wäre alles gestern erst gewesen.
Die Bibliothek, der verbotene Raum. Er hatte mit den Soldaten gespielt und war in seiner
eigenen Welt versunken ge wesen, in der ihm nichts geschehen konnte, wo Väter nicht brüllten
und Mütter nicht weinten.
Dann hatte er seinen Vater kommen gehört und sich rasch hinter den Vorhängen der
Fensterbank versteckt. O Gott, wie genau er es jetzt erinnerte! Sein Vater war
hereingekommen, hatte die Tür hinter sich abgeschlossen und begonnen zu wüten. Er hatte
Dinge gesagt, die Hugo nicht verstand, die ihm jedoch große Angst machten. Und dann hatte
sein Vater aufgehört zu toben und stattdessen zu weinen angefangen.
Hugo konnte noch deutlich die Worte hören: „Es ist alles zu viel. Am Besten, ich mache
Schluss. Am Besten, ich mache Schluss mit mir. Dann hat das Elend ein Ende. Eleanor, die
Kinder - alle sind besser daran ohne mich. Ich bin nicht gut für sie. Ich bin für niemanden gut.
Ich tue es wirklich."
Danach hatte lange Stille geherrscht. Schließlich wurde die Tür aufgeschlossen, er hatte
seinen Vater hinausgehen gehört, und die Tür wurde wieder geschlossen.
Seitdem hatte Hugo keine verschlossenen Türen mehr ertragen.
Eulenschreie ebenfalls nicht, und plötzlich wusste er auch, weshalb nicht: Sein Vater hatte
ihm immer Gute Nacht ge sagt, indem er den klagend en Ruf der Eule imitierte. Hu-huu-huu,
hu-huu- huu, kleine Jungen müssen nun schlafen gehen. Und dann hatte er den kleinen Hugo
immer geküsst, ihm einen Klaps auf den Po gegeben und ihn nach oben ins Kinderzimmer
geschickt.
Hugo stöhnte, als hätte man ihm den Bauch aufgeschlitzt. Blind begann er zu rennen. Er
wollte seinen Erinnerungen entfliehen, als könnte er ihnen davonlaufen . . .
Als Nächstes nahm er wahr, dass er sich in einem kleinen Hain befand. Er hatte keine
Ahnung, wie viel Zeit inzwischen verga ngen war oder wo genau er sich befand -
zusammengekrümmt und die Arme um seine Taille geschlungen.
Etwas Kaltes und Nasses stieß an seinen Nacken, und er wollte es fortschieben. Seine
Finger berührten warmes Fell.
Hadrian, dachte er verschwommen. Es war Meggies Wolf Hadrian, der ihn wieder in die
Wirklichkeit zurückbrachte. Hugo legte die Arme um das Tier und barg das Gesicht in dem
weichen Fell, als könnte der Wolf ihn irgendwie vor dem Untergang retten. Doch im tiefsten
Herzen wusste er, dass er mehr als Hadrian brauchte, wenn er überleben wollte - er brauchte
seine Ehefrau.
„Meggie", rief er, hob den Kopf zum Himmel und stieß einen klagenden Schrei aus, der
aus seiner Seele kam. „Meggie, meine Liebe, ich brauche dich . . . Komm doch zu mir! Bitte,
bitte, komm zu mir ..."
Mitten in Schwester Agnes' Rede hob Meggie den Kopf und lauschte. In ihrem Geist hörte
sie nur ein ganz leises Flüstern, fast nur ein Rascheln, doch dahinter spürte sie Verzweiflung.
Es war ein Hilferuf, doch sie wusste nicht, woher er kam. Sie runzelte die Stirn.
„Meggie, was hast du, Kind? Du scheinst ja mit den Gedanken ganz woanders zu sein."
„Verzeihen Sie, Schwester. Ich habe Ihnen durchaus zugehört, nur . . . etwas kam
dazwischen, was, weiß ich nicht genau."
„Schon gut, meine Liebe. Ich sagte nur, ich hätte bei meiner Arbeit hier bemerkt, dass sich
die Menschen oftmals nicht bewusst sind, welchen Einfluss Vorkommnisse aus ihrer
Vergangenheit auf sie haben. Verstehst du, was ich meine?"
Meggie nickte und versuchte sich trotz der Ab lenkung zu konzentrieren. „Sie wollen
sagen, weil Hugo in sehr jungen Jahren seinen Vater auf tragische Weise verlor, fühlte er sich
verlassen, wurde zornig und benahm sich als Folge davon schlecht."
„So ungefähr. Möglicherweise erinnert er von seinem Vater nicht mehr sehr viel, doch das
irrationale Verhalten des Dukes und dessen plötzlicher Tod werden ihn beeinflusst haben.
Meggie, um Himmels willen, was hast du nur? Du siehst aus, als stünde dein Sessel in
Flammen."
„Ich - ich weiß nicht. Mir ist, als sollte ich etwas sehr Wichtiges tun, nur weiß ich nicht,
was ..."
Sobald sie das ausgesprochen hatte, kam Hadrian zur Tür hereingefegt und sprang sie an.
Er legte seine Pfoten auf ihre Schultern, und der Blick seiner gelben Augen schien sich in
ihren zu bohren. Der Wolf vermittelte ihr die ganze Dringlichkeit, die sie gefühlt hatte.
„Hadrian, was ist denn los?" fragte sie und konzentrierte sich nur auf ihn. „Sag's mir. Ich
höre zu."
Sanft nahm er ihren Ärmel zwischen die Zähne, zog daran und bestand darauf, dass sie
mitkäme.
„Ich muss gehen", teilte sie Schwester Agnes mit. „Ich habe zwar keine Ahnung, was
geschehen ist, doch in muss sofort gehen." Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und
hastete hinter Hadrian her, der bereits kehrtgemacht hatte und aus dem Zimmer raste. Ohne
anzuhalten, lief er aus dem Haus, über den Rasen und in den kleinen Wald. Dort ent deckte sie
Hugos Wallach, der friedlich graste. Hugo selbst war allerdings nirgends zu sehen.
,Meggie, meine Liebe, ich brauche dich. . . Komm zu mir . . . bitte komm zu mir . . .'
Sie überlegte nicht lange, fragte sich auch nicht, weshalb sich Hugo beim Pflegeheim
befand, doch sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass er in Schwierigkeiten steckte und sie
brauchte. Meggie rannte schneller als je zuvor in ihrem Leben und betete, er möge nicht
verletzt sein oder in Lebensgefahr schweben.
„Ich komme, Hugo!" rief sie, als sie einmal stehen bleiben musste, weil sie fürchterliches
Seitenstechen hatte. Hadrian blieb ebenfalls stehen und schaute sie ungeduldig an. Seine
goldenen Augen drängten sie zur Eile. „Ich komme ja schon. Warte nur einen Moment",
keuchte sie, atmete ein paar Mal tief durch und lief dann weiter.
Am Ende entdeckte sie Hugo, noch bevor Hadrian ihn erreicht hatte. Mit dem Rücken
kauerte er sich an eine Buche, hatte die Knie hochgezogen und die Stirn darauf gelegt. Seine
zusammengesunkenen Schultern bebten.
Gottlob, dachte sie erleichtert, als sie sah, dass er körperlich unversehrt war. Die
Erleichterung schlug indes in Angst um: Nicht sein Körper war in Gefahr, sondern sein Geist!
Hugo litt furchtbare seelische Qualen. Irgendetwas schien ihn innerlich zu zerreißen.
Sie lief zu ihm, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen, umschlang ihn ganz fest und zog
ihn dicht zu sich heran. „Ich bin hier, mein Geliebter. Ich bin ja hier", flüsterte sie an seiner
Wange. „Dir geschieht nichts. Du bist in Sicherheit, mein Liebling. Du bist in Sicherheit bei
mir."
Erlegte die Arme fest um ihren Rücken. „Meggie", flüsterte er kaum hörbar. „Meggie,
meine Meggie. Du bist gekommen. Du bist wirklich gekommen."
„Selbstverständlich, was sonst hätte ich denn tun können, Hugo? Ich liebe dich doch."
Er bewegte die Hände an Meggies Rücken hinauf und schob sie seufzend in ihr Haar.
„Dafür danke ich Gott." Seine Stimme brach. „Zumindest dafür danke ich Gott."
„Was ist denn geschehen?" Meggie bemühte sich, trotz aller Panik ganz ruhig zu sprechen.
Sie presste ihre Wange an seine und versuchte, irgendetwas zu erspüren, irgendetwas, aus
dem sie einen Hinweis entnehmen könnte, doch sie fühlte nur seine Verzweiflung. Er hatte
einen furchtbaren Schock erlitten, so viel stand fest.
„Ist Mr. Foxiane etwa zurückgekommen, nachdem ich fort war?" fragte sie. „Oder
vielleicht Lord Waldock? Hast du irgendwelche schlimmen Nachrichten erhalten?"
„Schlimme Nachrichten? Ich erfuhr soeben, dass mein Vater sich selbst umbrachte und
dass alles, was ich mein Le ben lang von ihm glaubte, nichts als ein Haufen Lügen war."
„Du hast mein Gespräch mit Schwester Agnes mit ange hört." Sie fasste es nicht. Von allen
fürchterlichen Dingen, die hätten geschehen können, musste es ausgerechnet das Schlimmste
sein!
„Ja", bestätigte er tonlos. „Ich kam, um dich zu suchen, um mit dir zu reden, dir zu sagen,
wie sehr ich dich liebe und wie sehr ich es bedaure, dass du die Wahrheit auf gerade diese
Weise erfahren musstest. Stattdessen entdeckte ich, dass ich mich während der letzten
einundzwanzig Jahre in einem furchtbaren Irrtum befunden habe." Er erschauderte. „Das
vermag ich . . . das vermag ich nicht zu verwinden."
„Hugo, ach Hugo, es tut mir ja so Leid." Sie küsste seine Wange, sein Haar und streichelte
seinen Rücken. Sie hätte ihn so gern vor dem entsetzlichen Schmerz bewahrt, der ihn
erschütterte.
„Entschuldige", bat er mit stockender Stimme. „Ich glaube, ich bin nicht ganz bei
Verstand, Meggie. Vielleicht komme ich nach meinem Vater."
Als sie ihre Wange gegen seine drückte, fühlte sie die Tränen auf seinem Gesicht und die
Qual in seinem Herzen. „Du bist vollkommen bei Verstand", flüsterte sie. „Das warst du
immer. Du kannst doch nicht erwarten, dass du eine solche Nachricht gleichmütig
hinnimmst."
Sein Seufzer hörte sich an wie ein Schluchzen. „Nein, wahrscheinlich nicht. Erinnerungen
... so viele Erinnerungen überfielen mich aus heiterem Himmel wie ein einziger großer
Albtraum, der mich verschlucken wollte."
Bebend erzählte er, woran er sich erinnert hatte. Meggie hörte aufmerksam zu, und wenn
nötig, fügte sie einige Einzelheiten hinzu, die sie von Schwester Agnes erfahren hatte, um ihm
dabei zu helfen, das Bild jenes schrecklichen Tages zu vervollständigen.
Danach war sie fast ebenso erschüttert wie er, küsste seine Lider und schmeckte das Salz
seiner Tränen. „Der Albtraum ist Vergangenheit, mein Liebling. Da du dich jetzt endlich
erinnert hast, kannst du aufwachen und frei sein. Weißt du noch, dass du mir fast das Gleiche
sagtest, als ich die Wahr heit über meine Eltern erfuhr? Du sagtest, es sei zwar meine
Geschichte, doch nicht meine Schuld. Und das trifft auch auf dich zu."
„Wie kommt es nur, dass du so klug bist?" Er drückte seine Lippen an ihre Stirn. „Meggie,
mein Segensgeschenk des Himmels."
„Gott hat uns beide gesegnet", erwiderte sie. „Ich denke. Er hat mich gelehrt, dass wir uns
vom Glauben und dem Vertrauen darauf leiten lassen müssen, dass Er uns gibt, wessen wir
bedürfen. Wir müssen die Arme ausbreiten, um Seine Gaben und Seine Gnade zu empfangen.
Das vergaß ich gestern, als ich London verließ."
„Vergib mir, meine Liebe." Er streichelte ihr Gesicht. „Vergib mir, dass ich ein solcher
Schwächling bin. Ich kam her, um zwischen uns alles wieder in Ordnung zu bringen, und ich
schaffte es nur, dir zu zeigen, wie schwach ich bin."
„Nicht doch, Hugo. An dir ist nichts Schwaches, du bist edel und stark, und trotz der
Schwierigkeiten deiner Kind heit hast du alles überlebt. Ich glaube, du gehst zu streng mit dir
ins Gericht."
Er schüttelte den Kopf. „Sieh doch, was ich dir angetan habe, dir, die du eine weit
schwerere Kindheit hattest als ich. Ich habe dich unter einem Vorwand zu einer
Eheschließung veranlasst. Ich schwor, dich zu lieben, ehe ich es tatsächlich tat. Ich belog dich
wegen deines Erbes. Ich gab vor, absolut nichts davon zu wissen, als Gostrain mich besuchte,
und dabei hatte ich in seiner Kanzlei unbeabsichtigt ein Gespräch belauscht, in dem es um die
Suche nach einer bestimmten Erbin ging. Genau das führte mich zu dir. Von Schwester Agnes
wusste ich schon genug Einzelheiten über dich, so dass ich keinerlei Zweifel mehr hatte, dass
du die Gesuchte warst."
Er seufzte schwer. „Sicherlich habe ich noch viele meiner weiteren Sünden ausgelassen,
doch wie dem auch sei, du hast keinen Anlass, mir irgendetwas zu vergeben, und dennoch
meinst du, ich wäre zu streng mit mir selbst, meine liebe, großzügige Meggie."
Meggies Herz strömte schier über vor Liebe zu ihm. „Ich habe keinerlei Grund, dir nicht zu
vergeben", sagte sie und versuchte zusammenhängend zu reden, was ihr nicht sonderlich gut
gelang. „Vielmehr habe ich jeden Grund, dich um deine Vergebung zu bitten."
„Meine Vergebung?" Er versuchte aufzulachen. „Was glaubst du denn, hätte ich dir zu
vergeben?"
Meggie holte tief Luft und nahm ihren Mut zusammen. „Ich habe dir nicht die Wahrheit
über mich gestanden." Sie verzog das Gesicht und zwang sich dazu, es auszusprechen. „Ich
meine, über meine . . . geistige Verwirrung."
Hugo brach in so heftiges Lachen aus, dass Meggie sich in der Tat fragte, ob er wirklich
ganz bei Verstand war. Er bebte ja förmlich vor Erheiterung!
„Meinst du ... deine G. G.?" Diesmal waren es Lachtränen, die er sich fortwischte.
Meggie sah ihn verblüfft an. Woher wusste er etwas davon? Es sei denn, Ottoline und
Dorelia hatten es ihm gesagt. Wer
sonst hätte auch diesen Ausdruck verwenden sollen? „Oh, diese bösen, schrecklichen
Tanten - die haben es dir erzählt! Ich bringe sie um!"
„Was, du willst diese liebenswerten Tanten ermorden? Nur über meine Leiche!" Er nahm
ihr Gesicht zwischen die Hände. „Wir brauchen die beiden doch noch, Meggie. Jedenfalls
wenn du mit mir kommst. Willst du das, Liebling? Willst du mit mir heimkommen?"
„Ich wollte niemals nicht heimkommen. Ich brauchte nur etwas Zeit mit Schwester Agnes,
um meine Gedanken zu ordnen und wieder klar zu sehen."
Er lächelte. „Ich hätte dir also überhaupt nicht hinterherjagen und in Panik ausbrechen
müssen vor Angst, dich möglicherweise für immer verloren zu haben?"
„Nein, doch dass du es tatest, wundert mich nach dem, was die Tanten dir von mir erzählt
hatten. Macht es dir tatsächlich nichts aus, dass ich eine Monstrosität bin?"
„Eine Monstrosität? Du lieber Himmel, nein. Sieh doch nur, zu welchem guten Nutzen du
dein Talent schon eingesetzt hast: Du hast Foxianes dunkle Machenschaften aufgedeckt und
uns dabei zweihunderttausend Pfund erspart. Das nenne ich einen Segen. Und da mir die
Tanten versicherten, für dich sei ich absolut unergründlich, habe ich doch von deiner Gabe
gar nichts zu befürchten."
„Ich liebe dich." Sie legte ihm die Arme um den Nacken. „Ich werde dich immer lieben.
Und ja, ich komme mit dir nach Haus." Sie küsste ihn glücklich.
Hugo erwiderte den Kuss, und Meggie spürte, wie die Liebe seines Herzens in ihres
strömte und sie erfüllte. Hugo liebte sie so, wie sie nun einmal war - so, wie Gott sie
erschaffen hatte mit allen Stärken und Schwächen, und genauso liebte sie auch Hugo.
„Komm, Liebling", bat er, als er den Kuss beendet hatte. „Lass uns heimkehren, du,
Hadrian und ich. Ich versprach den Tanten, dich gesund und heil zurückzubringen."
Er erhob sich, half ihr ebenfalls auf und pfiff dann nach dem Wolf, der unter einem
Ginsterbusch Posten bezogen hatte. Jetzt jedoch sprang Hadrian sofort hoch und trottete
neben Hugo her, als hätte er schon immer dorthin gehört.
Meggie lächelte. Mehr als ein Problem war heute gelöst worden.
„Ach übrigens", bemerkte Hugo so ganz nebenbei, „ich überlege gerade ... mit deiner G. G.
und den Tanten könnten wir tatsächlich die Börse sprengen, meinst du nicht?" „Hugo!"
Meggie bedachte ihn mit einem gespielt entsetzten
Er lachte. „Nur keine Angst, meine Liebe. Meine Tage als Glücksspieler sind endgültig
vorbei. Du bist für mich das Beste in meinem Leben ..."

-ENDE -

Das könnte Ihnen auch gefallen