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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
18. Juni 2001 Betr.: Titel, Düfte, Kambodscha

S
PIEGEL-Redakteur Volker Hage, 51, und Lite-
raturkritiker Marcel Reich-Ranicki, 81, sind alte
Weggefährten, noch aus ihrer gemeinsamen Zeit bei
der „Frankfurter Allgemeinen“. Mehrmals inter-
viewte Hage in den vergangenen Jahren den wort-
gewaltigen Kopf des „Literarischen Quartetts“, jetzt
diskutierte er mit ihm über einen Kanon deutscher
Literatur, den Reich-Ranicki für den SPIEGEL auf-
gestellt hat: Prosa und Lyrik, die jeder Lesebegeis-
terte kennen sollte – sagt jedenfalls Reich-Ranicki.
N. ENKER

Andere werden das anders sehen, was den Kritiker


nicht stört. Im Gegenteil: „Ein Streit darüber, wie
Hage, Reich-Ranicki der Kanon aussehen sollte, kann sehr nützlich sein“,
so Reich-Ranicki im Gespräch
mit Hage, der gemeinsam mit Johannes Saltzwedel, 38, auch das
Titelstück über Sinn oder Notwendigkeit einer solchen Lektüre-
Liste geschrieben hat. Die Autorin Elke Schmitter, 40, seit kur-

C. MORO / ZEITENSPIEGEL
zem SPIEGEL-Redakteurin, debütierte im vergangenen Jahr mit
ihrem Roman „Frau Sartoris“ und stellt nun ihre ganz privaten Fa-
voriten vor. Viele empfohlene Klassiker zählt Schmitter dazu,
aber auch „Es muss nicht immer Kaviar sein“ von Johannes Ma-
rio Simmel – „ein Buch, das mich mehr amüsiert hat als vieles an-
dere“ (Seite 206). Schmitter

E ine Reise in das flüchtige Reich der Düfte unternahm SPIEGEL-Redakteur Philip
Bethge, 34. In Dübendorf bei Zürich traf er Chemiker Roman Kaiser, der in aller
Welt nach neuen, der Natur entliehenen Duftnoten für die Edelparfums und Dusch-
gels von morgen fahndet. Biologe Bethge, der um die Parfum-Abteilungen großer Kauf-
häuser meist einen Bogen macht, war fasziniert von der Vielzahl der Düfte, die Kai-
ser in seinem Labor aus ungezählten Probenfläsch-
chen hervorzauberte. Besonders eindrucksvoll fand
er die Rekonstruktion ganzer „Duftlandschaften“ –
etwa des aus mehreren „Duftbausteinen“ zusam-
mengesetzten Geruchs eines Urwaldflüsschens in
M. STEINMETZ / PLUS 49

Brasilien. Am Ende gab Kaiser ihm noch einige Pro-


ben mit auf die Reise. „Seither riecht es in meinem
Büro leicht pampelmusig-holzig“, sagt Bethge, „wie
die Luftwurzel Philodendron solimoesense aus dem
Kaiser, Bethge Regenwald Französisch-Guayanas“ (Seite 174).

D er Ort scheint wie geschaffen als Kulisse für einen Hollywood-Film: Angkor Wat,
die steinalte, vom Urwald überwachsene Tempelanlage in Kambodscha. Die
Abenteuer der Cyberheldin Lara Croft wurden hier verfilmt, und bevor „Tomb Rai-
der“ – als einer der großen Filme des Jahres angekündigt – nächste Woche in die Ki-
nos kommt, ist SPIEGEL-Reporter Alexander Smoltczyk, 42, an den Ort der Dreh-
arbeiten gefahren. Er sprach mit Archäologen, Mönchen und Marktfrauen über den
Zusammenprall von Cyberwelt und Khmer-Kultur, von Unterhaltungsindustrie und
tatsächlich erlebten Alpträumen. Sein Fazit: „Der Film mag spannend sein. Dramati-
scher sind die Geschichten der einfachen Leute, die man in Kambodscha beiläufig
erfährt.“ Es sind die Geschichten von Menschen, die auf abenteuerliche Weise den
Völkermord unter Pol Pot überlebt haben und nun die Ankunft der hochgerüsteten
Unterhaltungsindustrie des Westens erleben (Seite 70).

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 3
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In diesem Heft
Titel
Der Kanon des Starkritikers –
Marcel Reich-Ranickis Auswahl der wichtigsten
Werke deutschsprachiger Dichtung ................ 206
Schröders Abschwung? Seiten 22, 24
SPIEGEL-Gespräch mit Reich-Ranicki über In atemberaubendem Tempo schmiert
Pflichtlektüre und Leselust ............................. 212 die deutsche Konjunktur ab, von Wo-
Die Autorin Elke Schmitter über che zu Woche schrauben die Experten
jene Bücher, die ihr Leben prägten ................ 218 ihre Prognosen zurück. Spätestens im
Sommer, prophezeien sie, stagniert
Deutschland die deutsche Wirtschaft – und das

M. URBAN
Panorama: Türken-Integration bei deutlich steigenden Preisen. Für
in Deutschland / Kanzler Gerhard Schröder kommt die
Fiasko bei Abgeordneten-Neubauten ............... 17 wirtschaftliche Talfahrt denkbar un-
Wirtschaftspolitik: Die Konjunkturprognosen gelegen. Sie beschädigt sein Image
werden immer düsterer ................................... 22 vom zupackenden Macher, und sie
Interview mit dem bayerischen versorgt die Opposition mit Munition
Ministerpräsidenten Edmund Stoiber für den kommenden Wahlkampf.
über die Fehler des Kanzlers ........................... 24

M.-S. UNGER
Bayerns Ministerpräsident Edmund

R. WEISFLOG
Sachsen: SED-Wahlfälscher Wolfgang
Berghofer könnte die Dresdner CDU retten .... 28
Stoiber (CSU) spottet bereits: „Die-
Geheimdienste: Datenkrimi beim ser Abschwung ist Schröders Ab-
Thüringer Verfassungsschutz ........................... 29 Bauarbeiter, Schröder, Stoiber schwung.“
Urteile: Mehr Geld
für geschiedene Hausfrauen ............................ 30
Hauptstadt: Machtprobe
der Bundesprominenz ..................................... 31
Warum die Union auf Schäuble setzt ............... 32
Wie sich Gregor Gysi zierte ............................. 34
Starke Männer für die Hauptstadt Seiten 31, 32, 34
FDP: Westerwelle hofft auf das Comeback Der Kampf um Berlin findet in der Schwergewichtsklasse statt: Die CDU will einen
seiner Partei in Berlin ...................................... 38 Polit-Profi wie Wolfgang Schäuble für die Neuwahlen aufbieten, die PDS ihren
Behörden: Berlin will das Kind eines besten Fighter Gregor Gysi. Bei den so siegesgewissen Sozialdemokraten und Grü-
Afrikaners abschieben ..................................... 42 nen wächst plötzlich die Sorge, dass ihr Personal dagegen schwach aussehen könnte.
Umwelt: Bayerische Brauer setzen Stoiber
beim Dosenpfand unter Druck ........................ 48
Hochschulen: Immer weniger
Abiturienten wollen studieren ......................... 52
Kriminalität: Wie Selbstverstümmler
Versicherungen betrügen ................................. 58
Affären: Akten eines Subventionsskandals
Nachwuchsflaute an den Unis Seite 52
verschwanden im Kanzleramt ......................... 63 Nur knapp zwei Drittel aller Abituri-
enten wollen studieren – weit weniger
Gesellschaft als noch vor zehn Jahren. Im inter-
nationalen Vergleich bildet Deutsch-
Szene: Managertraining mit Pferden /
Das Ende des kostenlosen Web / land eines der Schlusslichter beim
Der Banker, der Geld verschenkt .................... 67 akademischen Nachwuchs. Viele Unis
Denkmal: Die kambodschanische machen bereits Reklame in eige-
Dschungelruine Angkor Wat als Kulisse für ner Sache: „Schnupperkurse“ und
Probevorlesungen sollen Schüler auf
A. LOBE

den Hollywood-Film „Tomb Raider“................ 70


Ortstermin: Die Rettung der Welt auf den Campus locken.
dem Kirchentag in Frankfurt ........................... 85
Homosexualität: SPIEGEL-Gespräch mit Maschinenbau-Vorlesung in Karlsruhe
den Bundestagsabgeordneten Christina
Schenk, Volker Beck und Johannes Kahrs
über Schwule und Lesben in der Politik .......... 86

Wirtschaft
Trends: Geldbußen für Ex-Hypo-Banker /
TV-Triumph der reifen Damen Seite 120
Kompetenzstreit zwischen Eichel und Müller / Zu den gefeierten Heldinnen
Hausdurchsuchung bei Clearstream ................. 91 deutscher Fernsehproduktionen
Geld: Hoffnung auf Logistikaktien / zählen neuerdings nicht Jung-
Trübe Emissionsstimmung ............................... 93 darstellerinnen in Single-Komö-
Aktien: Frustrierte Kleinanleger hoffen dien, sondern reife Schau-
auf die Hilfe der Justiz .................................... 94 spielerinnen wie Christiane
Affären: Die Schlüsselfigur Hörbiger, Senta Berger und
im Fall Leuna sagt aus ..................................... 98
Uschi Glas – das Publikum liebt
Unternehmer: Christian Völkers –
Deutschlands bekanntester Makler ................ 104
sie vor allem in Rollen, in denen
DEFD

Geldwäsche: Online geht’s besser ................ 106 sie ewige Jugend verkörpern.
Autoindustrie: Toyota fordert
die Konkurrenz heraus .................................. 108 Berger, Friedrich von Thun
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Medien
Trends: Zusatzjob für Siegloch? /
„Coupé“-Verleger baut einen Konzern ........... 111
Fernsehen: Schlechte Quoten für Nachmittags-
talker / Viva wieder mit TV-Ansagerin ........... 112
Vorschau ........................................................ 113
TV-Fußball: Das Milliardenspiel mit
der Bundesliga ............................................... 114
Unterhaltung: Reife Fernsehdarstellerinnen
begeistern Publikum und Kritiker ................... 120

Ausland
Panorama: Streit um polnische Zwangsarbeiter-

DPA (gr.); AP (kl.)


Stiftung / Jugendaufstand in Algerien ............ 123
Europa: Die EU vor dem Big Bang ............... 126
USA: Bushs Flirt mit den spröden Europäern . 128
Frankreich: Jospins trotzkistischer Mentor ... 132
Anti-EU-Proteste in Göteborg, Gipfeltreffen Mazedonien: Ruhe vor dem Sturm in
der albanischen Guerrilla-Hochburg .............. 134
Russland: Rudolf Augstein
über Katharina II. und Fürst Potemkin .......... 136
Europa: Osterweiterung in Gefahr Seite 126 China: Interview mit der Dissidentin Dai Qing
über Korruption und die Herrschaft der KP .. 142
Begleitet von schweren Krawallen versuchten die Staats- und Regierungschefs auf dem Brasilien: Die Sklavenzucht der Gutsherren .. 148
EU-Gipfel in Göteborg, die größte Krise in der Geschichte der Union abzuwenden.
Nach dem Nein der Iren zum Reformvertrag von Nizza droht die Osterweiterung auf Serie: Die Gegenwart der Vergangenheit
der Strecke zu bleiben. Hat sich die EU übernommen? Regierende und Diplomaten Das schmutzige Geschäft
befällt politische Schreckstarre. mit Hitlers Raubkunst ................................. 150
Die Ächtung der Nazi-Architektur –
ein Missverständnis? .................................... 160

Sport
Hitlers Kunsträuber Seite 150 Formel 1: SPIEGEL-Gespräch mit BMW-
Manager Gerhard Berger über die Schumacher-
Erst beschlagnahmten Brüder und den Aufstand gegen Leo Kirch .... 164
die Nazis tonnenweise Radrennen: Dopingmittel direkt
Kulturschätze aus jüdi- aus den Pharmalabors? .................................. 168
schem Besitz, dann
machten die Alliierten Wissenschaft · Technik
KEYSTONE PARIS

Geschäfte damit. Noch Prisma: Spracharchiv für die Ewigkeit /


Lebendtest für BSE in Sicht? .......................... 171
heute lagern weltweit in vielen Museen, Galerien Chemie: Duftjagd in Urwäldern, auf Almen
und Depots Gemälde, die im Krieg geraubt wurden. und Korallenriffen .......................................... 174
Wehrmachtssoldaten, Eine konsequente Rückgabe, so ein Experte, würde Archäologie: Altchinas Terrakotta-Armee
Gemälde (um 1941 in Paris) „Lawinen in der Kunstszene auslösen“. ist vom Verfall bedroht ................................... 178
Medizin: Patienten mit exotischen
Krankheiten – Stiefkinder der Heilkunst ....... 180
Tierschutz: Das Ende der Legebatterien ...... 186
Interview mit Agrarministerin Renate Künast
über den Ausstieg aus der Käfighaltung ......... 188
Deutsche Film-Krise S. 200 Kultur
Mit viel Tamtam wird in dieser Woche der
Szene: Der Roman „Land der Bäume“ des
Deutsche Filmpreis verliehen. Einer der Kan- Kanadiers Alistair MacLeod / Beutekunst-
didaten: „Der Krieger und die Kaiserin“ mit Streit zwischen zwei Schweizer Kantonen ........ 191
Benno Fürmann und Franka Potente. Doch Musik: Das abenteuerliche Leben
das Angebot ist dünn. In einer SPIEGEL- der Pianistin Grete Sultan .............................. 194
R. SIEMONEIT

Polemik klagt Erfolgsproduzent Günter Rohr- Pop: Interview mit Rap-Star Eminem über
bach („Das Boot“): Dem deutschen Film fehlt seine neue HipHop-Crew D12 ........................ 198
es an Identität – und einem effektiven För- Kino: Produzent Günter Rohrbach über das
dersystem. „Krieger …“-Stars Fürmann, Potente Elend der deutschen Filmförderung ............... 200
Theater: „Supermarket“, das neue Stück
der Serbin Biljana Srbljanoviƒ in Wien .......... 202
Bestseller ..................................................... 222

Briefe ................................................................ 8
Ausstieg aus dem Hennenknast Seiten 186, 188 Impressum ................................................... 224
Leserservice ................................................. 224
Agrarministerin Renate Künast will die Legehennen befreien. Über das Ende der tier- Chronik .......................................................... 225
quälerischen Haltung in Batteriekäfigen, die Künasts Vorgänger mit einer rechtswid- Register......................................................... 226
Personalien ................................................... 228
rigen Verordnung aufrechterhalten hatten, entscheidet im Juli der Bundesrat. Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 230
TITELBILD: Illustration J. P. Kunkel für den SPIEGEL

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Briefe

dazu bei, bei einer breiten Masse ein bes-


„In einer Zeit, in der das Thema seres Verständnis dieser Weltreligion zu
fördern.
Zuwanderung zum Problemthema gemacht Frankfurt am Main Armin Eschraghi
wird, ein überraschender, weil mutiger
Artikel. Mutig deshalb, weil er nicht in die Ihr guter Artikel beweist für mich aufs
Neue, dass Religionen, egal welche, so
weitläufig herrschende, von Angst und überflüssig wie ein Kropf sind! Die meisten
Vorurteilen geprägte Haltung gegenüber Massen- und Völkermorde in der Ge-
schichte der Menschheit geschahen im Na-
dieser Weltreligion passt, sondern sich mit men irgendeines Gottes, den noch keiner
ihr auseinander setzt.“ gesehen hat. Man glaubte einfach an ihn.
Mehmet Kanber aus Mannheim zum Titel „Wer war Mohammed? – Und dieser Glaube hat immer wieder zu
Das Geheimnis des Islam“ den schrecklichsten Verbrechen der
SPIEGEL-Titel 23/2001 Menschheitsgeschichte geführt.
Bonn Peter Biehl

Aufmerksam gewor-
Im Namen Gottes den auf den Titelarti-
kel dieser Woche, ver-
Nr. 23/2001, Titel: Wer war Mohammed? –
Das Geheimnis des Islam suchte ich ein Exem-
plar des SPIEGEL hier
Es war höchste Zeit, dass mal jemand die- zu kaufen. Das Titel-
se Weltreligion ins rechte Licht rückt, die blatt war auch unver-
leider größtenteils immer noch missver- ändert, offenbar von
standen wird. Es müsste noch viel mehr der Zensur nicht be-
Aufklärungsarbeit geleistet werden, da vie- anstandet. Dafür wa-
le Menschen in ihrer Voreingenommenheit ren dann aber, wie ich
bei den Wörtern „Islam“ oder „Muslim“ feststellte, die ca. 30
dazu neigen, gleich an Terror und Funda- Seiten mit den drei
mentalismus zu denken, anstatt sich zu in- Artikeln zum Islam
formieren. Natürlich gibt es auch unter den herausgerissen. Scha-

ARTHUR FOX
Muslimen solche, die ihre Religion für ihre de! Als jemand, der
eigenen Zwecke missbrauchen. Aber wo seit längerem an der
sind solche Menschen nicht zu finden? Verschleierte Frauen in Kabul: Ausnahmen bleiben Ausnahmen Deutschen Evangeli-
Dingolfing (Bayern) Teo Montesano schen Oberschule Kai-
Bei Ihrer letzten Titelgeschichte haben Sie ro Religion unterrichtet und stark im in-
Zu früh hatte ich mich auf diesen Be- bewusst auf eine Detailabbildung des Pro- terreligiösen Gespräch engagiert ist, ist
richt gefreut. Der Artikel wurde mit der pheten Mohammed verzichtet. Das ver- dieses mal wieder ein Beispiel dafür, dass
gleichen arroganten Voreingenommen- dient Anerkennung. Denn schließlich war unterschiedliche Sichtweisen nicht toleriert
heit verfasst, wie es der Sicht der meisten der SPIEGEL schon immer um die religiö- werden. Das ist um so irritierender, als
nicht muslimischen Menschen vom Islam sen Empfindungen seiner Leser besorgt. selbst das Interview mit dem Minister für
entspricht. Es wurden keinerlei Vorurteile Sicherlich wird er auch bei der nächsten Ti- die religiösen Stiftungen, Herrn Saksuk,
ausgeräumt. Im Gegenteil. telgeschichte über das Christentum die not- für die nicht wenigen Deutsch sprechenden
Ludwigshafen Monika Chaouki wendige Pietät bei der Auswahl des Titel- Ägypter offenbar so gefährlich angesehen
bildes walten lassen. wird, dass der Zensor es herausreißt.
Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen! Pleiskirchen (Bayern) Christian Winkler Kairo Reinhard Meßling
Sie tragen sehr zum Verständnis der deut-
schen Leser für den Islam bei und sind ein Sachliche und ausgewogene Darstellungen Die Ansichten des Professor Saksuk ehren
positiver Beitrag zum Dialog zwischen den sind beim Thema „Islam“ in den Medien ihn, aber die Wirklichkeit in der islami-
Menschen verschiedener Kulturen und Re- meist keine Selbstverständlichkeit. Um- schen Welt sieht doch anders aus: Man
ligionen. so erfreulicher fand ich daher Ihren gut wird wohl als Person in den meisten Län-
Hamburg Sobeir Zediqian recherchierten Titelbericht, der informa- dern respektiert, das Christentum wird
Afghanistan Hilfs- und Entwicklungsdienst tiv war und sich jenseits gängiger Ver- aber gemeinhin nicht als Religion aner-
teufelungen, aber auch Romantisierungen kannt – wir Christen sind die Ungläubi-
Danke für diesen interessanten Artikel. bewegte. Ein solcher Artikel trägt sicher gen, wir haben in den Augen der Moham-
Das Problem des Fundamentalismus und
dessen Auswirkungen auf unsere westliche
„Zivilisation“ wird aber übertrieben. Als
so genannter Atheist wundert mich mehr
Vor 50 Jahren der spiegel vom 20. Juni 1951
Spekulationen über Nachfolger für DGB-Chef Hans Böckler Keule
der Einfluss der christlichen Religionen auf oder Bambusrohr. Zwischenbericht zum Untersuchungsausschuss
unsere ach so moderne globalisierte Welt. Nr. 42 Geld für Gemälde aus Katastrophenfonds. Sieg für privat
Die USA sind nur ein Beispiel, wie funda- versicherte Rentner Verlagerung der Ungerechtigkeit? Bürokratie
mentalistische, christliche Überzeugungen erschwert Adoption von Flüchtlingskind Unglücklich in der
Formulierung. Hochnotpeinliche Untersuchung über Fußball-Endspiel
„normalen“ Menschen aufgezwungen wer- Frühling verhagelt. Porträt eines Spions Dr. Richard Sorge. Der
den. Man fasse sich zuerst an die eigene Schriftsteller Evelyn Waugh Amüsement mit bitterbösem Witz.
Nase, ehe man über religiöse Auswüchse Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
anderer Völker herzieht. Titel: US-Abgeordneter und Lobbyist Robert Doughton
Düsseldorf Mischa Dreesbach

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Briefe

medaner keine Religion, keinen Glauben. Wohlfahrtsverbände fordern mehr Geld,


In den wenigsten Ländern sind christliche die Justiz fühlt sich kaum angesprochen,
Andachten erlaubt, in Saudi-Arabien durf- und der Pflegebedürftige verzweifelt und
te die Weihnachtsandacht für die Mitar- verendet. Ob da Stammzellen helfen?
beiter deutscher Firmen nicht einmal in Bonn Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch
privaten Räumen gehalten werden, die Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter e. V.
Mitarbeiter deutscher Firmen nehmen aus
diesem Anlass Zuflucht auf das Gelände Der erschütternde Bericht von Michael
der deutschen Botschaft. Die Liste der po- de Ridder ist leider nur allzu wahr. Schlag-
litisch gewollten Intoleranz ist lang, Aus- anfallpatienten wird liebend gern die Er-
nahmen mag es geben, aber es bleiben nährungssonde implantiert, um keine Zeit
Ausnahmen.
Bad Nauheim (Hessen)
Niels Genzmer

Wo war „das Geheimnis“


des Islam versteckt, das uns
in Ihrem Untertitel verspro-
chen wurde? Ich hoffte auf
Aufklärung und sah mich
erneut mit alten Klischees
und Vorurteilen konfron-
tiert. Ging es tatsächlich um
Mohammed, oder war das

THOMAS KÖHLER / PHALANX


nur die Verpackung? Denn
der Inhalt war weit davon
entfernt: Gotteskrieger, Ter-
ror, Bauchtanz, Chomeini,
Taliban. Im Westen nichts
Neues.
Hamburg Ali-Özgür Özdil Gesundheitsministerin Schmidt, Seniorin: Wie vor 30 Jahren

Es ist ein sehr lobenswertes, ja fast histori- mit „der Hilfe zur Nahrungsaufnahme“ zu
sches Ereignis, dass der SPIEGEL dem Is- vergeuden. Statt einen Besuch im „Big
lam die Titelseite und weitere 20 Seiten Brother“-Container abzustatten, sollten
widmet. Zugegebenermaßen war ich etwas Politiker den Autor bei seinen Einsätzen
skeptisch, da der Islam und besonders die begleiten, um einschätzen zu können, was
Muslime in Deutschland nicht zu den Lieb- „Pflegenotstand“ wirklich ist: eine von
lingen der Presse gehören. Desto größer diversen Gesundheitsministern geförderte
war meine Überraschung über die Qualität Abzockerei der Hilflosesten unserer Ge-
und relative Objektivität der verfassten sellschaft.
Schriften. Ein Beitrag von und über in Durmersheim (Bad.-Württ.) Sabine Bühlmann
Deutschland lebende Muslime wäre aber
wünschenswert gewesen. Warum kommu- Der Bericht ist mehr als überfällig. Die be-
niziert die deutsche Presse sehr oft mit is- schriebenen Zustände waren schon bei
lamischen Vertretern außerhalb Deutsch- meiner Ausbildung zum Krankenpfleger
lands über den Islam und lässt die islami- vor 30 Jahren die gleichen. Es ist eine
schen Organisationen und Vertreter in himmelschreiende Schande, dass im so
Deutschland unbeachtet? genannten christlichen Abendland in einer
Gundelsheim (Bad.-Württ.) Yasar Mert „Wohlfahrtsgesellschaft“ für die Bedürfti-
Türkisch-Islamischer Kulturverein gen unter uns am allerwenigsten getan
wird.
Waghäusel (Bad.-Württ.) Michael Heilig
In Würde sterben
Nr. 23/2001, Pflegenotstand: Rettungsmediziner Michael Die Sozialpolitiker, die den Pflegenotstand
de Ridder über die vergessenen Alten zu verantworten haben, sollten sich früh-
zeitig um ein mit unserer Spaßgesellschaft
Die Darstellungen in diesem Artikel über verträgliches Frühableben bemühen. Sonst
die Situation von Pflegebedürftigen sind laufen sie Gefahr, ihr Dasein in dem von
„alltäglich“ in unserer Gesellschaft. Dies ihnen tolerierten finalen Altenversorgungs-
belegen viele Anrufe, die wir beim Bonner inferno inhuman zu beenden. Wer in Wür-
Notruf-Telefon Tag für Tag erhalten. Anru- de in unserer Gesellschaft gelebt hat, soll-
fe von ambulanten Pflegediensten geben te auch in Würde in ihr sterben können.
ein erschütterndes Bild. Herr de Ridder ist Bremen Birgit Behrens
bisher der einzige mir bekannte Mediziner,
der die Diagnose „T74.0 Vernachlässigen Den Artikel fand ich – ich bin examinierte
oder im Stich lassen“ zumindest anspricht. Krankenschwester – sehr aussagekräftig,
Die Politik schweigt, die Professionellen se- nur leider wird auch er nichts am Desaster
hen überwiegend weg, die gemeinnützigen unseres Gesundheitssystems ändern. Die
12 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
gesetzlichen Grundlagen der Pflegever-
sicherung wurden von Menschen gestaltet,
von denen ich bezweifle, dass diese jemals
eine Pflegestation in einem Altenheim oder
Krankenhaus betreten haben. Wenn ein
privat versicherter Politiker erkrankt, liegt
er selbstverständlich in einem schönen Ein-
zelzimmer, und alle Welt dreht sich um
sein Befinden.
Essen Kerstin Vospohl

Geölt und gefettet


Nr. 23/2001, Aktionäre: Auf den Hauptversammlungen
entlädt sich die Wut der Kleinanleger

Man mag von der Unternehmensführung


der Deutschen Telekom AG halten, was
man möchte, aber Manfred Krug hatte in
einem Punkt schon Recht: „Wahrschein-
lich konnten Sie (ein Kleinanleger –Red.)
den Hals nicht voll kriegen, und jetzt muss
ich mir Ihr Gejammere anhören.“ Ak-
tienkäufe, die man an der Börse tätigt,
zeichnen sich durch ein gewisses Risiko
aus, das eingesetzte Kapital eben nicht zu
vermehren, sondern zu verlieren. Wer
glaubt, nach fallenden Kursen seine Einsät-
ze von der Unternehmensführung einkla-
gen zu müssen, hat die Grundprinzipien
des Aktienmarktes nicht verstanden und
sollte davon lieber die Finger lassen.
Lübeck Markus Wedemeyer

Nach ihren gut geölten Reden lassen die


meisten Vorstandsvorsitzenden die Be-
schwerden der Kleinanleger über ihre mas-
siven Kursverluste an sich abtropfen wie
lästiges Wasser. Es interessiert sie nicht,
denn sie wissen, dass die durch Rekord-
gewinne gefetteten Großaktionäre sie ent-
lasten werden. Dass viele Kleinanleger das
miese Spiel, das mit ihnen getrieben wird,
MARTIN ATHENSTÄDT / DPA

Telekom-Aktionärsversammlung
Mieses Spiel mit Kleinanlegern?

durchschauen, nützt ihnen nichts, denn


Kleinanleger können keine Kurse manipu-
lieren! Ein Schelm also, wer zwischen den
Rekordgewinnen der Großaktionäre und
den Rekordverlusten der Kleinaktionäre
einen Zusammenhang sieht und Böses da-
bei denkt!
Wissen (Rheinl.-Pfalz) Beate Triesch

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 13
Briefe

in der öffentlichen Ethikdiskussion interessantes, aber vernachlässigbares Bei-


übersehen. Angesichts dieser Tat- gemüse verwirft, so zeugt dies von ebendie-
sache ist ein polemischer Artikel be- ser Monokausalität. Dass der eine Grund,
stürzend und völlig unangebracht. nämlich der menschlich verursachte Treib-
Bad Wörishofen (Bayern) hauseffekt, sehr wohl eine Ursache (von
Elsbeth und Werner Schuch mehreren) für die gegenwärtig festzustel-
lende Erwärmung ist, ist heute unbestrit-
Wie sich da wieder einer in der ten. Und diese maßgebende Ursache ist
Pose der Kassandra gefällt, warnt, die einzige, die der Mensch mit seiner
protestiert, widerspricht und dabei Technologie positiv oder negativ beein-
alle Register der Rhetorik des uni- flussen kann. Angesichts des komplexen
versalen Verdachts zieht, hinter der Spiels der Ursacheninterferenzen ist also
neuen Biowissenschaft lauere ei- eine weltumspannende CO2-Politik unbe-
gentlich das Böse, der geheime dingt notwendig. Alles andere, Herr Ber-
Plan, die Spezies Mensch umzu- ner, ist zynisch.
züchten. Herr Enzensberger gefällt Visp (Schweiz) Charles-Louis Joris
sich einmal mehr in der Rolle des
Propheten, der apokalyptische Sze-
narien entwirft und die Menschheit
zur Umkehr mahnt. So erbaulich
Prickelnd und erregend
Nr. 23/2001, Kino: Das Beziehungsdrama „Intimacy“
wie hilflos und vor allem ohne er- und die Pornografie-Debatte
sichtlichen Nutzen für eine ratio-
nale Klärung der Probleme. Ihr Artikel hat mich sehr bekümmert.
Düsseldorf Dieter Riegels Hier wird Pornografie als Gegenteil der
Kunst dargestellt. Dabei ist die explizite
OKAPIA

Leider hat Hans Magnus Enzens- Darstellung der Genitalien und des Ge-
Befruchtung einer Eizelle berger nicht deutlich gemacht, wo schlechtsaktes in allen Kunstformen seit
Entwertung menschlichen Lebens? für ihn die Grenze zwischen zuläs- jeher vertreten: von den ersten Höhlen-
siger und nicht zulässiger Forschung zeichnungen über griechische Vasen, das
verläuft. Die Warnung vor einem Gewalt- Kamasutra bis hin zu animierten Compu-
Pose der Kassandra szenario kann sich nicht auf die jetzt zur
Diskussion stehenden Forschungsziele be-
tergrafiken. Unwidersprochen kann ein
Großteil der pornografischen Erzeugnisse
Nr. 23/2001, Polemik: Hans Magnus Enzensberger über
die neue Macht der Gen-Schamanen ziehen, die auf medizinische Fortschritte als Schund bezeichnet werden. Gilt dies
zur Behandlung individueller Patienten aber nicht auch für die Mehrzahl dessen,
Mit großer Begeisterung und Zustimmung und nicht auf die Manipulation der Spezies was uns die Literatur, Film und Fernse-
habe ich soeben Enzensbergers Polemik Mensch ausgerichtet sind. Alle theologi- hen bescheren? Dass die Pornografie in die
gelesen. Sie ist die richtige Antwort auf schen und philosophischen Aussagen zur Illegalität oder eine Schmuddelecke abge-
eine solch dümmliche Diffamierung der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens
Gen-Debatte, wie sie NRW-Ministerpräsi- beziehen sich auf das im Mutterleib be-
dent Clement entfahren ist („introvertier- fruchtete Ei, das ohne Gebärmutter keine
te Diskussion“). Bei seiner Feststellung, Chance zur embryonalen Entwicklung hat.
dass „ein ethischer Konsens in den grund- Bad Soden (Hessen) Helga Hennemann
legenden Fragen menschlicher Existenz
schlechterdings nicht mehr vorhanden ist“,
hätte Enzensberger sich nicht auf das Bei-
spiel der aktiven Sterbehilfe zu beschrän-
Komplexes Spiel
Nr. 23/2001, Klima: Verursachen Sonnenflecken die
ken brauchen. Die längst praktizierten Erderwärmung? Der Geologe Ulrich Berner
Abtreibungen nach Wunsch sowie die über verfrühte Warnungen vor einer Klimakatastrophe

DPA
jüngst erhobene moralische Rechtfertigung
des Körpererkaufs sind weitere Zeugnisse Ein Zusammenhang zwischen Magnetfeld Szene aus „Intimacy“
einer stetig zunehmenden Entwertung der Sonne und Erdklima wird schon lange Viel Spaß mit Partnerinnen
menschlichen Lebens. vermutet. Bisher fehlen allerdings „stand-
Bremen Johannes Bruggaier feste“ Daten für dessen Nachweis. An un- drängt wird, bezeugt die Perversität einer
serer Forschungsstelle in Heidelberg sind Gesellschaft, die jegliche Form der Ge-
Ein Weiser der Nation, der hier gesprochen wir in der einmalig guten Lage, klimarele- waltdarstellung akzeptiert, sich aber scho-
hat? Wenn es nach Herrn Enzensbergers vante Fragestellungen zu untersuchen, und ckiert vom Liebesakt abwendet. Porno-
Verständnis einer Aufgabe für Forschung die Forschungsarbeit von Ulrich Neff ist grafie ist auch nicht notwendigerweise
und Wissenschaft ginge, gäbe es viele Hei- eines unserer DFG-Projekte, die unter an- schmuddelig, verwahrlost oder traurig.
lungsmöglichkeiten noch nicht. Aber er derem auch diese Zielsetzung verfolgen. Ganz im Gegenteil: Ein guter Porno ist
steht im Licht: Die im Dunkeln rühren ihn Heidelberg Prof. Dr. Augusto Mangini prickelnd, erregend und mitreißend. Ich
nicht. Im Dunkel sind die Schwerbehin- Heidelberger Akademie der Wissenschaften bin selber seit vier Jahren Pornodarsteller.
derten, die im Zusammenhang mit der in In der Zeit haben meine Partnerinnen und
seinem Aufsatz angeprangerten Forschung Meine Reaktion auf Ihren Artikel und das ich viel Spaß gehabt und unseren Zu-
auf Hilfe hoffen und warten: MS-Kranke, folgende Interview ist zwiespältig. Wenn schauern viel Freude bereitet.
Parkinson-Kranke und viele mehr. Den Be- der Kollege Berner in seinem Interview Budapest Steve Holmes
troffenen geht es nicht um einen neuen den Klimawissenschaftlern erschrecken-
Menschen, der seiner Meinung nach ge- de Monokausalität vorwirft, gleichzeitig Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
züchtet werden soll, sondern um Hilfe und aber die Sonnenaktivität als einzige Haupt- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Linderung. Die Betroffenen werden auch ursache bezeichnet und alles andere als Die E-Mail-Adresse lautet: leserbriefe@spiegel.de

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Panorama Deutschland
Die von Türken am häufigsten
gesehenen Fernsehprogramme
in Prozent

RTL 54
ProSieben 41
TRT-INT 34
Sat.1 31
ATV-INT 30
Show TV 30
Kanal D 26 Türkische
Fernsehsender
ARD 24 Quelle:
RTL II GöfaK Medienforschung,
22 1761 Befragte; Mehrfach-
ZDF 18 nennungen waren möglich

M. TÜREMIS / LAIF
Fußballfans in einem türkischen Club (in Berlin)

IMMIGRANTEN sche Freunde. Ähnliche Ergebnisse gab es auch bei den Sprach-
kenntnissen: Zwei Drittel aller Befragten sind überzeugt, dass

Deutsche Heimat sie gut oder sehr gut Deutsch sprechen – eine Einschätzung, die
durch Überprüfungen im Wesentlichen bestätigt wurde. Defi-
zite räumten die Teilnehmer der Studie bei den schriftlichen

E in großer Teil der 2,4 Millionen in Deutschland lebenden


Türken ist wesentlich besser integriert als gemeinhin ange-
nommen. Das ist das Ergebnis der ersten repräsentativen Stu-
Leistungen ein; 55 Prozent stuften sich hier als eher mittel-
mäßig bis schlecht ein. Die verbreitete These, das umfassende
Angebot an türkischen Fernsehsendern und Zeitungen sei ein
die über „Mediennutzung und Integration der türkischen Be- Integrationshemmnis, nennt Studienautor Weiß den „größten
völkerung in Deutschland“. Im Auftrag der Bundesregierung er- Unsinn, der kolportiert wird“. Nur 17 Prozent der hier leben-
mittelte der Kommunikationswissenschaftler Hans-Jürgen Weiß den Türken nutzen ausschließlich türkischsprachige Medien,
mit der GFK-Fernsehforschung aus Nürnberg und dem Pots- hingegen informieren sich 28 Prozent ausschließlich über deut-
damer Medienforschungsinstitut Göfak zum Beispiel, dass 56 sche Angebote. Die Hälfte nutzt Sender und Zeitungen in bei-
Prozent der hier ansässigen Türken gut integriert sind. Weite- den Sprachen. Der beliebteste Fernsehsender ist RTL, erst auf
re 24 Prozent verfügen in den Augen der Forscher über „Inte- dem dritten Platz folgt der türkische Sender TRT-INT. Zwar um-
grationspotenzial“, 20 Prozent gelten als schlecht integriert – gebe sich laut Weiß ein großer Teil der Befragten mit türkischer
hauptsächlich Frauen und religiöse ältere Männer. Hingegen Kultur, aber eher im Sinne eines „zweiten Wohnzimmers, das
treffen vier von fünf türkischen Jugendlichen regelmäßig deut- man auch wieder verlassen wird“.

JUSTIZ nahmen“ unter Strafe stellt


und so „den Schutz des
Strafen für Spanner höchstpersönlichen Le-
bensbereichs vor unbefug-

B undesjustizministerin Herta Däubler-


Gmelin (SPD) plant weitere Ver-
schärfungen des Strafgesetzbuchs. Ein
ten Bildaufnahmen und Be-
obachtungen verbessern
soll“. Auch bei Tötungsde-
Eckpunktepapier, über das die Rechts- likten soll der Strafrahmen
politiker von Rot-Grün diesen Monat be- ausgeweitet werden, etwa
raten, sieht unter anderem vor, die Vor- in Fällen, in denen sich je-
schriften gegen sexuellen Missbrauch mand vorsätzlich betrinkt
von Kindern und Jugendlichen auszu- und im Vollrausch tötet
K. MEHNER

weiten. So soll sich in Zukunft auch der oder bei grob fahrlässigen
strafbar machen, der von solchen Vor- Tötungen. Straferleichte-
gängen weiß und sie nicht anzeigt. Zu- Häftlinge (in Bützow in Mecklenburg-Vorpommern) rung soll es bei bestimmten
dem soll bestraft werden, wer den Miss- Fällen des Mordes geben:
brauch belohnt, öffentlich gutheißt oder Volksverhetzung über das Internet und Wenn der Täter oder die Täterin zwar
versucht, andere dazu anzustiften. An- andere neue Medien soll umfassender heimtückisch, aber aus einer außerge-
ders als bisher soll auch derjenige be- als bisher verfolgt werden können. Zu- wöhnlichen Notlage heraus handelt, soll
straft werden, der „in der Absicht auf sätzlich sieht der Entwurf vor, eine neue auch eine mildere Strafe als lebensläng-
ein Kind einwirkt, es zu sexuellen Hand- Strafvorschrift gegen Spanner und Papa- lich möglich sein. Dies beträfe etwa Ehe-
lungen zu bringen“. Die Verbreitung von razzi einzuführen, die erstmals die „Ver- frauen, die aus Verzweiflung ihre sie
Pornografie, Gewaltverherrlichung und letzung der Intimsphäre durch Bildauf- terrorisierenden Männer ermorden.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 17
Panorama

PA R L A M E N T

Fiasko ohne
Haftung
W ann die Bundestagsabgeordne-
ten ihre Übergangsbüros in

C. BACH / BACH & PARTNER


Berlin verlassen und in das neu ge-
baute Jakob-Kaiser-Haus ziehen kön-
nen, ist wieder völlig unklar. Statt wie
geplant in der Sommerpause wird der
Umzug nun frühestens am 22. Okto-
ber beginnen können: „Wir empfeh-
len dem Bundestag, sich auf diesen Jakob-Kaiser-Haus in Berlin
Termin einzurichten“, so ein Spre-
cher der verantwortlichen Bundesbaugesellschaft (BBB). „Ga- ter Ramsauer möchte am liebsten die „Aufsichtsratsvorsitzen-
rantieren können wir das aber nicht.“ Grund für die erneute den und Geschäftsführer der Bundesbaugesellschaft verjagen“,
Verzögerung der ursprünglich schon für Dezember 1999 ge- seine SPD-Kollegin Ilse Janz fühlt sich „von denen nach Strich
planten Fertigstellung: Das Brandschutzsystem funktioniert und Faden betrogen“. FDP-Haushaltsexperte Jürgen Koppelin
nicht. Die entstehenden Mehrkosten von mindestens 6,4 Mil- hat gar „heimlich eine Art Unterausschuss des Haushaltsaus-
lionen Mark wird wohl der Steuerzahler tragen müssen, denn schusses“ ins Leben gerufen, der diese Woche erstmals beraten
die Baufirmen können wahrscheinlich nicht in Regress genom- will, wer für das Fiasko haftbar zu machen ist. Immerhin haben
men werden. Die Abgeordneten hat unterdessen fraktionsüber- im Aufsichtsrat der bundeseigenen BBB der Bundestagspräsi-
greifend die Wut über den Schlamassel gepackt: CSU-Mann Pe- dent und zwei Staatssekretäre ein Vetorecht.

VOLKSZÄH LUNG DOPING 4 Prozent. Belegt ist allerdings, dass


Ausdauersportler durch hartes Training
Boykott der Länder Schlupflöcher für im Freien leicht Asthma bekommen
können.

D ie von Bundesinnenminister Otto


Schily (SPD) geplante neue Volks-
Schummler Vergangene Woche hatte Rad-Olympia-
sieger Jan Ullrich erklärt, die bei einer
zählung droht zu scheitern. Die Länder
weigern sich, mit den Vorbereitungen
zu beginnen, weil der Bundestag bei der
S portlern, die sich mit Kortikoiden
dopen wollen, bleiben auch in Zu-
kunft Schlupflöcher offen. Viele Athle-
Razzia gefundenen Kortikoide wegen
seines Asthmas zu benötigen.
Heute könne „jeder Doktor Dummer-
Verabschiedung des so genannten Zen- ten lassen sich attestieren, Asthmatiker hans ein Attest ausschreiben“, rügt der
susvorbereitungsgesetzes eine Kosten- zu sein, um dadurch legal kortison- Hamburger Bronchial-Allergologe Mar-
beteiligung des Bundes ablehnte. Insge- haltige Präparate einnehmen zu können. tin Ehlers, der selbst Schwimmer der
samt sollen die Vorbereitungen Länder Die ab dem 1. September gültigen deutschen Nationalmannschaft betreut.
und Gemeinden knapp 33 Millionen Dopingbestimmungen des Internationa- Um Gefälligkeitsgutachten zu verhin-
Mark kosten – wovon nach Ländermei- len Olympischen Komitees verlangen dern, fordert er, dass künftig auch die
nung der Bund die Hälfte übernehmen zwar „umfangreiche medizinische Methode, mit der so genanntes Belas-
soll. Der Fall ist jetzt im Vermittlungs- Begründungen“ für Inhalationspräpa- tungsasthma festgestellt wurde, im At-
ausschuss. Die Regierung möchte die rate. Für Kortikoide, die eine bessere test genannt werde.
Erhebungen jedoch noch vor der Bun- Energiebereitstellung
destagswahl 2002 durchführen. Schilys im Muskel ermög-
Staatssekretärin Brigitte Zypries (SPD) lichen sowie
bat ihre Länderkollegen daher in einem schmerzlindernd
Brief, trotz ungeklärter Finanzierung wirken, reicht aber
bereits „auf die Statistischen Landesäm- weiter das Attest ei-
ter und Kommunen einzuwirken, mit nes Arztes.
den notwendigen Vorbereitungen für Bei internationalen
die Tests zu beginnen“. Die Länder Veranstaltungen ga-
wollen aber nicht für den Bund in Vor- ben bis zu 80 Pro-
lage treten: „Das evtl. Scheitern des Ge- zent der Sportler an,
setzes wäre dem Bund anzulasten“, Asthmatiker zu sein
heißt es im internen Votum einer Lan- – im Bevölkerungs-
DPA

desregierung. Anders als bei der viel- schnitt sind es nur


fach boykottierten Volkszählung 1987
sollen diesmal überwiegend Daten der Radprofis (beim
Behörden genutzt werden. Giro d’Italia)
18 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Deutschland
B E T R I E B S R ÄT E Regel hätte zwar in der Mehrheit aller
Fälle die Frauen begünstigt, weil sie
Sieg der Frauen meist schwächer in den Räten vertreten
sind, als es ihrem Anteil entspricht. Ei-

D ie Koalition will die geplante Frau-


enquote für Betriebsräte nachbes-
sern. Bislang war geplant, dass Männer
nige Belegschaftsvertretungen jedoch
sind bereits überproportional weiblich
besetzt. Dort hätten Frauen somit ihre
und Frauen künftig im selben Verhältnis Betriebsratsposten aufgeben müssen.
im Betriebsrat vertreten sein müssen Um das zu verhindern, soll nächste Wo-
wie im Unternehmen selbst. Doch nun che eine so genannte modifizierte Ge-
soll die Vorschrift noch einmal geändert schlechterquote den Bundestag passie-
werden, nachdem Gewerkschafterinnen ren. Danach soll die neue Regel nur in
von IG Metall und Ver.di heftig gegen den Betrieben gelten, in denen Frauen
den Plan protestiert hatten. Denn die in der Minderheit sind.

FÖDERALISMUS derung des Länderfinanzausgleichs zu


Gunsten von Geberländern fordern. Für
Vorstoß aus NRW den Osten sollen Ausnahmen gelten. Zu-
gleich verlangt Clement die radikale Aus-

N ordrhein-Westfalens Ministerpräsi-
dent Wolfgang Clement wird sich
am Montag dieser Woche gezielt mit
weitung von Länderkompetenzen: Mit
einer „umgekehrt konkurrierenden
Gesetzgebung“ will er den Ländern die
der Regierung anlegen: In einer Rede Möglichkeit geben, bisher vom Bund ge-
im Bundesrat vor Gästen aus Politik und machte Gesetze selbst zu erlassen und so
Wirtschaft will der SPD-Vize die Än- „inflexible bundeseinheitliche Regelun-
gen“ zu beseitigen, die
den „Wettbewerb der Län-
der um Investitionen und
Arbeitsplätze“ hemmen. Die
Länder bekämen so etwa
bei der Beamtenbesoldung
oder den Hochschulen
mehr Spielraum. Der NRW-
Premier verspricht sich
den Wegfall mühsamer Ab-
sprachen zwischen Bund
JARDAI / MODUS

und Ländern. „Reine Schön-


heitsoperationen“ am Sys-
tem, so Clement, reichten
Clement (r.), Ministerpräsidentenkollegen nicht aus.

B AY R E U T H Notvorstands, falls der verstockte Fest-


spiel-Boss sich nicht endlich zu einem
Notvorstand neuen Gespräch mit dem Stiftungsrat
bequemt. Wag-
für die Festspiele? ner, der einen
Vertrag auf Le-

B ayerns Kultusminister Hans Zehet-


mair will die Absage von Eva Wag-
ner-Pasquier, 56, für die Leitung der
benszeit hat,
müsste für eine
solche Lösung al-
Bayreuther Festspiele nicht tatenlos lerdings beschei-
hinnehmen. Erst Ende März hatte der nigt werden, dass
Stiftungsrat der Festspiele unter Leitung er nicht mehr
von Zehetmair Wagner-Pasquier zur handlungsfähig
Nachfolgerin ihres Vaters Wolfgang wäre. Da dies un-
Wagner, 81, bestimmt; im Sommer 2002 wahrscheinlich
sollte sie ihr Amt übernehmen. Weil ist, erwägt Zehet-
sich Wagner senior jedoch weigerte, mair, Wagner ei-
über seine Nachfolge zu sprechen, teilte nen Co-Chef an
seine Tochter am vergangenen Freitag die Seite zu stel-
mit, sie stehe für das Amt gegenwärtig len, „von außer-
DPA

nicht mehr zur Verfügung. Zehetmair halb des Geblütes


droht nun mit der Einsetzung eines Wagner-Pasquier Wagner“.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 19
Panorama Deutschland
Herbst bei einer Schlich-
Am Rande tungsstelle in den USA
ihre Honorarforderun-
gen eingereicht. Am
Das Bombay-Kinn meisten erhält mit gut 15
Millionen Mark die
S eine ersten Amtsjahre hat Josch-
ka Fischer im Grunde genommen
mit nur einem einzigen Gesichtsaus-
Kanzlei des New Yorker
Anwalts Melvyn Weiss.
Ihm folgen sein Wa-
druck bestritten: dem Tiefe-Krise- shingtoner Kollege

ULLSTEIN BILDERDIENST
große-Sorge-Blick. Dabei faltet sich Michael Hausfeld mit 12
Millionen und der New
die Haut in staatsmännischer Ernst-
Yorker Juraprofessor
haftigkeit zur berühmten Kosovo- Burt Neuborne, der die
Runzel beziehungsweise zur Nahost- US-Anwälte im Kurato-
Furche auf. Niemals zuvor ist es ei- Häftlinge (1944 im KZ Mittelbau-Dora) rium der Bundesstiftung
nem noch aktiven Politiker gelungen, vertritt, mit 10 Millionen
so sehr wie ein Elder Statesman aus- Z WA N G S A R B E I T E R Mark. Den vor allem durch ihre aggres-
sive Öffentlichkeitsarbeit bekannt ge-
zusehen.
Vergangene Woche konnte man Cash für die Anwälte wordenen Anwälten Michael Witti und
Ed Fagan wurden 8,37 und 8,7 Millionen
gleich zwei neue Fischer-Gesichter
sehen: Der Außenminister hatte Be- M it Beginn der Auszahlungen aus
dem deutschen Zwangsarbeiter-
Fonds an die überlebenden Opfer stehen
Mark zugesprochen. Dies hat unter Kol-
legen in den USA Unverständnis und
Kritik ausgelöst: Fagan und Witti hätten
such von einer Grup-
pe junger Inder, die nun die Honorare für die beteiligten An- zur Lösung des Konflikts nichts beige-
wälte fest. Diese hatten im vergangenen tragen, hieß es in New York.
meisten von ihnen
weiblich. Alle sehr
klug und sehr hübsch,
was man vom Minis- L E U N A - A F FÄ R E ließ. Allerdings, lässt der passionierte
ter ja nur zur Hälfte Hobbyflieger den Ausschuss in einem
sagen kann. Das hatte Teurer Zeuge Brief vom vergangenen Freitag wissen,
sei er gewohnt, mit seinem Privatflug-
auf den faltigen Fi-
scher eine Wirkung,
als seien die Inder
D er französische Geschäftsmann
André Guelfi, 82, will vor dem Ber-
liner Parteispenden-Untersuchungsaus-
zeug anzureisen. Da er selbst nicht für
die Kosten aufkommen wolle, müsse
dies der Bundestag tun. Guelfi will von
nicht Computerfachleute und Ger- schuss als Zeuge aussagen. Über seine seinem Wohnsitz in Malta zunächst
manistikstudenten, sondern allesamt Firma waren bei der umstrittenen Priva- nach Paris fliegen, um in der französi-
Besitzer einer Green Card für plasti- tisierung der ostdeutschen Leuna-Wer- schen Hauptstadt seinen Anwalt Francis
ke jene 256 Millionen Francs Provisio- Chouraqui aufzusammeln, und dann
sche Chirurgen: Plötzlich begann Fi- nen geflossen, die der französische nach Berlin weiterreisen. Geschätzte
scher seinen Jugendfotos ähnlich zu Staatskonzern Elf Aquitaine in Zusam- Kosten für zehn Stunden Flugzeit bei
sehen (nein, nicht dem mit dem menhang mit dem Leuna-Kauf springen Hin- und Rückflug: rund 150 000 Mark.
Helm, sondern dem mit den Turn-
schuhen). Die Gäste hatten vor lau-
fenden Fernsehkameras Deutschland
gelobt, das saubere Wasser und die Nachgefragt
gute Luft. Doch dann erzählte eine
junge Frau vom arroganten Auftreten Wissenslücke
des deutschen Konsulats in ihrer Hei- Welches der folgenden Ereignisse fand am 17. Juni 1953 statt?
mat. Geradezu demütigend habe
man sie behandelt. Fischer zeigte den 43* Volksaufstand in der DDR * korrekte Antwort innerhalb der Altersgruppen:
neuen Gesichtsausdruck Nummer 18 bis
11 Bau der Berliner Mauer 24 Jahre 19
zwei: das Bombay-Kinn. Wutent-
brannt notierte er etwas auf einen 25 bis
Gründung der 28
Zettel, wahrscheinlich „Bombay zu- 6 Bundesrepublik Deutschland
29 Jahre
30 bis
sammenscheißen!“ In dem Mann 44 Jahre 36
steckt also mehr drin, als man in den
6 Gründung der DDR
45 bis
letzten Jahren gesehen hat. Vielleicht Währungsreform und 59 Jahre 54
5
DHM / DER SPIEGEL / XXP

braucht er nur einen anderen Job. Einführung der D-Mark 60 Jahre


und älter 52
Kann sein, dass in Indien demnächst 29 weiß nicht, ist mir egal, keine Angabe
eine Stelle frei wird. Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 11. und 12. Juni;
rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent. Ergänzende Daten zu dieser www.spiegel.de/nachgefragt
Umfrage und weitere tägliche Emnid-Umfragen finden Sie unter:

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Deutschland

WIRTSCHAFTSPOLITIK

Die Konjunktur schmiert ab


Die Wirtschaft wächst kaum noch, die Arbeitslosigkeit steigt – und die Regierung sieht
hilflos zu. Für Steuersenkungen fehlt das Geld und für Reformen, die auf Dauer mehr Jobs bringen
würden, der Mut. Nun bleibt dem Kanzler nur noch eines übrig: das Prinzip Hoffnung.

S
ein Geld hat er im Untergrund ver-
dient – als Kanalarbeiter. Für 4560
Mark brutto im Monat stieg Lothar
Vosseler in muffige Gullys. Schichtdienst
inklusive. Und jetzt? Jetzt ist er arbeitslos.
Kanal Müller im ostwestfälischen Schie-
der-Schwalenberg hat ihm gekündigt. Be-
triebsbedingt.
Lothar Vosseler ergeht es wie Tausen-
den, die in den letzten Monaten ihren Job
verloren haben. Auf dem Bau, in der Tele-
kommunikation, bei jungen Internet-Fir-
men – überall zwingt die schwache Konjunk-
tur Unternehmen, Mitarbeiter zu entlassen.
Nun hat es also Lothar Vosseler er-
wischt. Und damit den Kanzler, der mit
dem Versprechen angetreten ist, die Zahl
der Arbeitslosen bis zur nächsten Wahl auf
3,5 Millionen zu senken. Der drohende Ab-
schwung macht auch vor seiner Familie
nicht Halt: Bei dem arbeitslosen Kanal-
arbeiter handelte es sich um Gerhard
Schröders Halbbruder.
ROBERTO PFEIL / AP

„Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psycholo-


gie“, wusste schon Ludwig Erhard. Schrö-
der hat sich in letzter Zeit als treuer An-
hänger des Altmeisters der sozialen Markt-
wirtschaft erwiesen. Unentwegt bemühte Kanzler Schröder, Finanzminister Eichel: Die Steuerreform ist verpufft
sich der „Überboss“ („Business Week“),
gute Laune zu verbreiten. Und erweckte gilt dem Kanzler als Miesmacher, der nur bendem Tempo schmiert die Konjunktur in
damit den Eindruck, der drohende Ab- eines im Sinn hat: den Aufschwung kaputt- Deutschland ab. In den ersten drei Mona-
schwung lasse sich durch Reden aufhalten. zureden. ten des Jahres wuchs das Bruttoinlands-
Seine Regierung habe durch eine „ver- Aufschwung, welcher Aufschwung? Die produkt nur noch minimal, spätestens im
nünftige“ Steuer-, Wirtschafts- und Be- immer neuen Zahlen, die die Forschungs- Sommer, prophezeien die Forscher, sei
schäftigungspolitik überhaupt erst die institute oder das Statistische Bundesamt in dann endgültig Schluss mit Wachstum.
Grundlage für ein „robustes Wachstum“ diesen Wochen veröffentlichen, verkünden Stagnation heißt das hässliche Wort, das
geschaffen. Wer etwas anderes behauptet, eine ganz andere Botschaft: In atemberau- die Ökonomen dafür verwenden.

Vorboten einer Eiszeit? 3,5


Die Wirtschaft bremst ab... ...die Preise explodieren... ...und die Arbeitslosigkeit steigt wieder.
1,2 Bruttoinlands- Verbraucherpreise Arbeitslose
produkt Veränderungen Zu- und Abnahmen gegenüber
1,0 Veränderungen gegenüber dem dem Vormonat in Tausend +18
0,9 0,9 gegenüber dem Vorjahresmonat +16
0,8 Vorquartal in Prozent 1,9 1999 2000
in Prozent
DIW- 0 2001
0,4
0,3 Prognose
0,2
K . A N D R E W S /A R G U S

II. 0 0,2 –32


I. III. IV. I. II. III. IV. I. II. III.
–0,1 –44
1999 2000 2001 1999 2000 2001
–55

22 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Alle Wirtschaftsindikatoren wald Metzger von den Grünen
weisen nach unten wie abge- gibt sich sicher: „Die Talsohle
knickte Äste: die Auftragsein- ist durchschritten.“
gänge, die Industrie- Doch die beschwichtigenden
produktion, die Auto- Worte können nicht darüber
exporte. Nur eine Kur- Baugewerbe hinwegtäuschen, dass auch SPD
ve zeigt deutlich nach Veränderung der und Grüne zunehmend nervös
oben – die Preisent- Produktion in den ersten werden. Zeigt sich doch, dass
wicklung. Für Fleisch vier Monaten 2001 in die deutsche Wirtschaft keines-
müssen die Deutschen Deutschland gegenüber wegs so robust ist, wie die Re-
10 Prozent mehr be- dem Vorjahreszeitraum gierung immer behauptet hat.
zahlen als im vergan- Noch kurz vor Weihnachten,
–14,2 %

VOLKMAR SCHULZ / KEYSTONE


genen Jahr, für Gemü- als der Abschwung in den USA
se 15, für Heizenergie begann, lautete die Losung im
gar knapp 30 Prozent. Quelle: Commerzbank Kanzleramt: Nun wird Europa
Die Preise steigen wie die USA als Wachstumslokomo-
schon seit mehr als sieben Jah- tive ablösen. Was beim Export
ren nicht mehr. Inflation heißt verloren gehe, mache die Bin-
das hässliche Wort, das die Öko- Krisenbranche Bau: Aufschwung, welcher Aufschwung? nennachfrage dank der Steuer-
nomen dafür verwenden. reform wieder wett.
Für die Regierung ist das bit- Schön wär’s. Inzwischen zeigt
ter. Ihre Vorhersagen, die sie sich, dass der Boom in Ame-
erst vor kurzem revi- rika nicht nur unsanfter endet
dieren mussten, sind als ursprünglich erwartet – die
nicht mehr zu halten. Automobilindustrie Flaute trifft die deutsche Wirt-
Erst Ende April hatte Veränderung der Pkw- schaft auch weitaus direkter
Finanzminister Hans Neuzulassungen in als in früheren Konjunktur-
Eichel seine Wachs- Deutschland im zyklen.
tumsprognose für die- Mai 2001 gegenüber So fiel das amerikanische
ses Jahr von 2,75 auf dem Vorjahresmonat Wachstum mit 1,3 Prozent im
etwa 2 Prozent redu- ersten Quartal äußerst mau aus.
ziert. Doch inzwi-
schen erwarten viele
Experten nur noch ein Quelle: VDA
–6 % Und längst sind es nicht mehr
nur die Technologie- und Com-
puterunternehmen, denen Um-

STEFAN KIEFER
Plus von 1,3 Prozent. satz und Gewinne wegbrechen.
Selbst diese Rate hält Thomas Auch in der Old Economy, bei
Mayer, Chefökonom der Bank den Coca-Colas und General
Goldman Sachs, „für noch opti- Krisenbranche Auto: Die Konsumfreude bröckelt Electrics, geht es abwärts.
mistisch“. Wenn es schlecht lau- Die Konsumfreude bröckelt,
fe, könne man bei nur noch ei- und noch stärker bricht die
nem Prozent landen. Nachfrage nach Maschinen
Und eine schnel- oder Anlagen ein, von denen
le Genesung scheint Deutschland besonders viel im
eher unwahrschein- Handyproduktion Angebot hat – Hochleistungsex-
lich. „Der Abschwung Korrektur der Verkaufs- porteur „Germany“ wird zum
wird bis weit ins prognose 2001: statt 450 Opfer seiner eigenen Strategie.
Jahr 2002 hinein- Millionen nur noch 405 Wer weniger verdient, muss
reichen“, prophezeit Millionen verkaufte Geräte kürzen – bei Investitionen im
Thorsten Polleit, Chef- Ausland zum Beispiel. Viele
ökonom von Barclays
–10 % amerikanische Firmen haben
WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA

Capital. Bis weit ins ihre deutschen Engagements da-


Wahljahr also. her zurückgefahren.
Quelle: Dataquest
Für Schröder geht Und auch deutsche Unter-
es um mehr als um nehmen, die in den USA pro-
nackte Zahlen. Längst hat die duzieren, müssen plötzlich
Opposition erkannt, dass dies streichen – auch in Deutsch-
der Stoff für einen wunderba- Krisenbranche Telekommunikation: Überall wird gestrichen land. Etablierte Konzerne wie
ren Bundestagswahlkampf ist. DaimlerChrysler genauso wie
In Anspielung auf Schröders Slogan von politische Sprecher der Unionsfraktion, vor die jungen Internet-Firmen Intershop
1998 („Dieser Aufschwung ist mein Auf- allem die Investitionen seien zu niedrig. oder Brokat.
schwung“) spottet Bayerns Ministerpräsi- Ein „Blitzprogramm“ verlangt Rainer Brü- Zusätzlich bremst der hohe Ölpreis das
dent Edmund Stoiber (CSU) bereits: „Die- derle, der wirtschaftspolitische Sprecher Wachstum – auch dies eine Entwick-
ser Abschwung ist Schröders Abschwung“ der FDP-Fraktion. Genau wie Stoiber will lung, die die Regierung im vergange-
(siehe Interview Seite 24). er die Ökosteuer aussetzen und die Ein- nen Herbst noch unterschätzt hat. Der
Schon ist in Berlin eine Debatte darüber kommensteuer sofort senken. Preis für ein Fass Rohöl hat sich verdrei-
entbrannt, welcher Weg aus dem Wachs- Äußerlich ruhig geben sich hingegen facht. Nicht nur das Autofahren wird
tumstal führt. Die Regierung müsse mehr Vertreter der Koalition: „Wir müssen Kurs dadurch teurer, auch andere Energie-
tun, um die Konjunktur anzukurbeln, for- halten“, sagt Siegmar Mosdorf, Staatsse- preise heben ab. Das Geld fehlt den
dert Dietrich Austermann, der haushalts- kretär im Wirtschaftsministerium. Und Os- Verbrauchern für andere Ausgaben,
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 23
Deutschland

„Ein ganz armer Hund“


CSU-Chef Edmund Stoiber über den Abschwung, die Fehler des Kanzlers und die PDS
SPIEGEL: Herr Stoiber, einmal angenom- Stoiber: Als Erstes sollte sie die nächste halb kann ich auch nur vor einer Macht-
men, Sie wären jetzt Bundeskanzler. Wie Stufe der Steuerreform vorziehen. Die beteiligung der PDS in Berlin warnen –
hoch wäre dann das Wirtschaftswachs- Ökosteuererhöhung vom 1. Januar 2002 das wäre ein verheerendes Signal für den
tum in Deutschland? muss weg. Die USA und Großbritannien Standort Deutschland.
Stoiber: Zunächst einmal: Ich bin nicht senken die Energiesteuern, Silvio Ber- SPIEGEL: Warum?
Bundeskanzler, und ich muss es auch lusconi plant das Gleiche für Italien. Stoiber: Wenn der Kanzler die Nähe die-
nicht sein, um mir trotzdem ernsthafte SPIEGEL: Solche Steuersenkungen kosten ser wirtschaftsfeindlichen Partei sucht,
Sorgen zu machen. Die Konjunktur Geld. Wie sollen Bund und Länder das gefährdet er die Investitionsbereitschaft
bricht ein, die Arbeitslosigkeit steigt, die finanzieren? in- und ausländischer Unternehmen. Eine
Preise ziehen an, der Osten gewinnt nicht Stoiber: Eine gute Steuerreform würde PDS-Beteiligung in Berlin würde den
den Anschluss – und die Menschen be- sich durch ihre Wachstumsimpulse fast Abschwung in Deutschland weiter ver-
kommen das zu spüren. Mit seinen Cou- von selbst finanzieren. Außerdem kann schärfen. Ein rot-roter Senat wäre für
sinen und einem Schal von Energie Cott- man Dinge machen, die gar nichts München oder Stuttgart ein Hilfspro-
bus löst Gerhard Schröder
diese Probleme nicht.
SPIEGEL: Die Regierung er-
klärt die stotternde Konjunk-
tur mit dem Abschwung in
den USA, der auch Deutsch-
land nach unten ziehe.
Stoiber: Das ist doch Augen-
wischerei. Schröder hat vor
der Wahl 1998 behauptet, al-
lein seine Kandidatur habe
die Wirtschaft in Gang ge-
bracht. Wir werden den
Wählern im Jahr 2002 klar
machen: Dieser Abschwung
ist Schröders Abschwung.
SPIEGEL: Dennoch: Die Krise
FALK HELLER / ARGUM

in den USA könnte auch die


Union nicht wegzaubern.
Stoiber: Natürlich verliert
Deutschland dadurch bei den
Exporten. Bemerkenswert ist Wirtschaftsförderer Stoiber (bei Dornier in Oberpfaffenhofen): „Deutschland nach oben gezogen“
aber, dass die anderen Län-
der in Europa weiter kräftig wachsen, kosten: zum Beispiel auf die völlig ver- gramm – auf das wir gern verzichten
teils mit sieben Prozent. Das zeigt doch: korkste Reform des Betriebsverfassungs- würden, weil wir nichts davon haben,
Vor allem Schröder mit seiner verfehlten gesetzes verzichten. wenn die Hauptstadt noch mehr am
Wirtschaftspolitik ist für den dramati- SPIEGEL: Man könnte auch versuchen, die Krückstock geht.
schen Abschwung verantwortlich. Konjunktur mit milliardenschweren Aus- SPIEGEL: Sie unterstützen also Ihren Kol-
SPIEGEL: Wieso das? Der Kanzler hat den gabenprogrammen anzukurbeln. legen Roland Koch aus Hessen, der damit
Haushalt saniert, die Steuern gesenkt – Stoiber: Das wäre ein Griff in die Mot- droht, einem PDS-Senat die Mittel im
und dafür besonders im Ausland viel tenkiste der siebziger Jahre. Das würde Länderfinanzausgleich zu streichen?
Applaus bekommen. niemals funktionieren – schon gar nicht in Stoiber: So hat Koch das nicht gesagt. Er
Stoiber: Gerade die Steuerreform ent- einer globalisierten Welt. Nationale staat- hat zu Recht auf das massive Problem
lastet die Arbeitnehmer zu schwach und liche Konjunkturpolitik bringt nichts. hingewiesen, dass Regierungen mit PDS-
zu spät. Sie schadet dem Mittelstand und SPIEGEL: Die Politik der Regierung wirkt Beteiligung die Wirtschaftskraft ihrer
damit über 80 Prozent der Unternehmen, auch in Bayern, und da boomt die Wirt- Länder nicht nach vorn bringen und sich
die überhaupt nicht entlastet werden. schaft. So verheerend, wie Sie es dar- die Ausgleichslasten im Finanzausgleich
Gleichzeitig hat Schröder mit so kontra- stellen, können die Auswirkungen von erhöhen. Wir stehen zu den Pflichten des
produktiven Gesetzen wie den 630- Rot-Grün also gar nicht sein. Föderalismus – und auch zur Solidarität
Mark-Jobs, Teilzeit und Scheinselbstän- Stoiber: Sie müssen das Argument um- mit Ostdeutschland. Aber die Leistun-
digkeit den Arbeitsmarkt stranguliert drehen. Bayern, Baden-Württemberg gen und Misserfolge der Länder müssen
und Unternehmensgründern das Leben und Hessen haben im Jahr 2000 durch sich stärker niederschlagen. Die Ver-
schwer gemacht. Die Zahl der Selbstän- ein Wachstum von vier Prozent die Kon- handlungen über den Länderfinanzaus-
digen und Start-ups ist seit Jahresbeginn junktur in ganz Deutschland nach oben gleich, die Ende dieser Woche bei der
um 25 000 zurückgegangen. gezogen. Wenn der Kanzler die Südlän- Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin
SPIEGEL: Was könnte die Regierung tun, der mit ihrem robusten Wachstum nicht anstehen, werden mit weiterer PDS-
um den Abschwung zu stoppen? hätte, wäre er ein ganz armer Hund. Des- Beteiligung sicher nicht leichter.

24 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
gleichgültig, ob für Urlaubsreisen, Klei- ropa – im konjunkturellen Niedergang.“ gefährdet die Defizitziele, zu denen sich
dung oder Möbel. Und das Schlimmste könnte der Republik Deutschland gegenüber der EU-Kommis-
Doch der Abschwung kam keineswegs noch bevorstehen, wenn die Gewerkschaf- sion verpflichtet hat – und es schwächt den
wie ein Naturereignis urplötzlich von ten ihre moderate Lohnpolitik aufgeben. Kurs des Euro. „Wir werden“, versichert
außen über Deutschland. Ein wesentlicher Schon jetzt schimpfen viele Mitglieder der Kanzler deshalb, „den Konsolidie-
Anteil ist auch hausgemacht. darüber, dass ihnen wegen steigender Prei- rungskurs nicht verlassen.“
So ist die Steuerreform bislang wir- se immer weniger Geld übrig bleibt. Andererseits darf die Regierung nicht
kungslos „verpufft“, wie auch der Kanzler Gleichzeitig macht die Pilotenvereinigung den Eindruck vermitteln, als schaue sie der
einräumt. Ein Teil der Entlastung wurde Cockpit vor, wie sich auch 30-Prozent-For- heraufziehenden Krise tatenlos zu. Also
durch den Kostenschub bei Lebensmitteln derungen durchsetzen lassen. Eine Lohn- bleiben als Ausweg nur Maßnahmen, die
und Energie aufgefressen, den Rest erle- Preis-Spirale aber würde noch den letzten kein Geld kosten. Eichels Beamte empfeh-
digte der Staat, indem er len etwa, den Energiesektor ebenso zu li-
sich selbst als Preistreiber beralisieren wie den Ladenschluss.
betätigte. Die Spritpreise Der Minister ist nicht abgeneigt. Bestärkt
wurden zu Jahresbeginn wird er dabei durch einen bislang unbe-
durch eine weitere Stufe der kannten Expertenzirkel, den so genannten
Ökosteuer verteuert, gleich- Financial Market Advisory Council, den
zeitig stiegen Kraftfahr- Beraterkreis für Finanzmärkte. In dieser
zeugsteuer und Rundfunk- vertraulichen Runde lässt Eichel sich seit
gebühren. seinem Amtsantritt von den Chefökono-
Jetzt rächt sich zudem, men renommierter ausländischer Banken
dass die Regierung vor den beraten, darunter Goldman Sachs, Morgan
Reformen am Arbeitsmarkt Stanley oder Salomon Smith Barney. Je-
zurückschreckte. Ein dyna- weils acht bis neun Experten fliegen dazu
mischer Beschäftigungsauf- mehrmals im Jahr auf eigene Kosten aus
bau, der wiederum die Kon- New York oder London ein.
sumnachfrage anheizt und Immer wieder interessiert sich Eichel da-
damit für zusätzliche Jobs bei für die Schlüsselfragen: Welche Aus-
sorgt, sei deshalb nie in wirkungen hat die Politik der Regierung

DPA
Gang gekommen, bemän- auf internationale Anleger, welche Konse-
gelt Goldman-Sachs-Öko- Notenbanker Duisenberg, Greenspan: Eichel drängt quenzen hat sie für den Euro?
nom Mayer: „Wir haben Eine gesicherte Erkenntnis aus
uns auf dünnem Eis bewegt – und sind diesen Diskussionen hat Eichel ge-
eingebrochen.“
Abgekühlte Konjunktur wonnen: Ein Konjunkturprogramm
Ganz anders in Frankreich: Ausgerech- Veränderungen des US-Brutto- 8,3 nach dem Vorbild der siebziger Jah-
net die sozialistische Regierung hat den inlandsprodukts gegenüber K . A N D R E W S /A R G U S
re würde an den Märkten gnaden-
Arbeitsmarkt in vielfältiger Weise flexibi- Vorjahresquartal los abgestraft, eine Reform des Ar-
lisiert, teils im Rahmen der 35-Stunden- 6,8 6,5 beitsmarkts jedoch belohnt.
Woche. Die Teilzeitarbeit und das Geschäft 5,9 Wenn sich die SPD jedoch wegen
von Zeitarbeitsfirmen wurden erleichtert, der Wahlen an dieses heikle Thema
die Sozialabgaben für Geringverdiener ge- nicht heranwagt, dann, so haben die
senkt. Jetzt allerdings wollen die Franzo- Experten dem Minister klar ge-
sen, passend zur Wahl, einen Teil der Re- macht, bleibe nur noch das Prinzip
formen wieder zurückdrehen. 1,3 Hoffnung. Einzig Wim Duisenberg,
In Deutschland hat zudem Hans Eichel 1,0 der Präsident der Europäischen
dazu beigetragen, dass eine Schlüsselindu- 1,5 Zentralbank (EZB), könnte dann
strie in die Krise stürzte: Fast hundert Mil- der deutschen Wirtschaft neuen
liarden Mark mussten die Telefonriesen im Schwung verleihen – indem er kräf-
letzten Sommer hinlegen, als sie um die tig die Zinsen senkt.
UMTS-Lizenzen boten. Mit dem Geld zahl- 1995 1996 1997 1998 1999 2000 01 Wie das geht, hat Alan Green-
te die Regierung Staatsschulden zurück – span vorexerziert. Gleich fünfmal
doch jetzt fehlt den Unternehmen das Geld schütteren Rest des Wirtschaftswachstums senkte der amerikanische Notenbankchef
für Zukunftsinvestitionen. unter sich begraben. in diesem Jahr die Leitzinsen, um ins-
In der einstigen Wachstumsbranche wird Was also tun? Das fragen sich mittler- gesamt 2,5 Prozentpunkte. Duisenberg hin-
nun überall gespart und gestrichen: Die Te- weile auch die Experten der Regierung in gegen konnte sich nur zu einer minima-
lefonkonzerne investieren langsamer als Kanzleramt und Finanzministerium. Ins- len Lockerung von 0,25 Prozentpunkten
geplant in die neuen UMTS-Netze und ver- geheim haben sie schon alle Möglichkeiten durchringen.
zichten auf neues Personal; gleichzeitig durchgespielt, alles kam auf den Prüfstand. Im Gegensatz zu seinem europäischen
streichen sie Subventionen für Handys, was Wie wäre es mit einem Konjunktur- Kollegen schert sich Greenspan weit weni-
potenzielle Neukunden abschreckt. Beides programm? Der Staat nimmt zusätzliche ger um steigende Inflationsraten: Er ver-
trifft auch die Telefonausrüster: Siemens Kredite auf, um Straßen oder Kanäle zu steht sich als eine Art Schleusenwärter an
will 8000 Mitarbeiter entlassen, Nokia in bauen. Die Idee war schnell verworfen. So den großen Geldströmen, die eine Volks-
seinem Bochumer Werk 300, und Motoro- versucht Japan seit Jahren aus der Dauer- wirtschaft mit Liquidität versorgen.
la hat in seiner Flensburger Fabrik Kurz- rezession zu kommen – vergebens. Ein bisschen mehr Greenspan – mit-
arbeit angeordnet. Wie wäre es, wenn man die nächste Stu- hin eine klare Zinssenkung – wünscht
Diese Symptome des drohenden Ab- fe der Steuerreform vorzieht? Zu teuer. sich auch die Bundesregierung. „Jetzt“,
schwungs lassen Ökonomen wie Thorsten Bund und Länder könnten die Einnahme- drängelt Finanzminister Eichel unverhoh-
Polleit zu einer bitteren Erkenntnis kom- ausfälle kaum verkraften. Und neue Schul- len in Richtung EZB, „sind andere am
men: „Deutschland ist Spitzenreiter in Eu- den verbieten sich von selbst. Denn das Zug.“ Christian Reiermann, Ulrich Schäfer
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 25
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Deutschland

punkt, als im Dresdner Rathaus ein Bote


SACHSEN
mit einem Schriftstück eintraf, in dem Erster Versuch

Biedenkopfs Berghofer nun doch seine Kandidatur


mitteilte. „Nicht ich will es“, ließ der in-
zwischen zum Kapitalismus konvertierte
Ergebnis der Oberbürgermeisterwahl
in Dresden am 10. Juni 2001
Ingolf Roßberg

Joker Ex-Kommunist verlauten, „die Wähler


wollen es.“
Beim ersten Urnengang am Sonntag zu-
vor hatte keiner der Bewerber die Wahl
Bürgerinitiative
„OB für Dresden“
Herbert Wagner
47,0 %

42,8 %
Politpoker in Dresden: Der Einsatz CDU
für sich entscheiden können. Allerdings
von Wolfgang Berghofer, Ex-SED- endete der Tag mit einer Überraschung: Friederike Beier
Bürgermeister, könnte die Union an parteilos 8,7 %
Der als Favorit geltende Amtsinhaber Her-
der Macht halten – und dürfte bert Wagner (CDU) holte nur 42,8 Prozent, Ronald Galle
seinen Geschäften nicht schaden. und der von Sachsens Ministerpräsident Bürgerrechtsbewegung 1,5 %
Solidarität
Kurt Biedenkopf öffentlich als „unzuver-

F
ür einen kurzen Augenblick wurde lässig“ und „inkompetent“ abgestempelte
das Phantom sichtbar. Auf der Aus- Kandidat eines Regenbogenbündnisses von de Wolfgang und Kurt Hans übereinander
sichtsplattform des 15. Stocks des FDP bis PDS, Ingolf Roßberg, lag mit 47 nur lobende Worte. Berghofer über Bie-
Dresdner World Trade Centers posierte Prozent vorn. „Mit Berghofer“, freut sich denkopf: „Ein historischer Glücksfall für
Wolfgang Berghofer, letzter DDR-Bürger- nun der Dresdner CDU-Kreisvorsitzende Sachsen.“ Biedenkopf über Berghofer:
meister der Elbestadt, für die Fotografen. Dieter Reinfried, „werden die Karten neu „Ein kluger Kopf.“
Dann zog sich der heutige Unterneh- gemischt“ – dürfte der doch das Opposi- Selbst ein Parteifreund Biedenkopfs, der
mensberater und Firmensanierer in den tionsbündnis zersplittern und Stimmen von Dresdner Politikwissenschaftler Werner
Konferenzsaal zurück und verkündete den Roßberg abziehen, so dass CDU-Mann Patzelt, sieht in der Berghofer-Kandidatur
Journalisten in knappen Worten seinen Wagner gewinnen könnte. vor allem Wahlkampfhilfe für die Bieden-
Rückzug: „Ich stehe nicht zur Verfügung.“ Dass Berghofer, der wegen der Fälschung kopf-Truppe. „Es liegt der Gedanke durch-
Das war am 11. Mai. Die Erklärung sollte der DDR-Kommunalwahlen vom Mai 1989 aus nicht fern“, analysiert Patzelt in Dres-
den Schlusspunkt setzen hinter monate- zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wur- dens Lokalpresse, „dass es sich um einen
lange Spekulationen, ob er für das Amt de, überhaupt noch antreten darf, liegt am Entlastungsangriff zu Gunsten der CDU
des Dresdner Oberbürgermeisters kandi- sächsischen Kommunalwahlsystem. Der handelt“ – Biedenkopfs Joker.
dieren will oder nicht. zweite Wahlgang am kommenden Sonntag Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt
Berghofers Wort hielt freilich gerade mal ist keine Stichwahl, sondern eine Neuwahl, am vorigen Freitag gab sich der Kandidat
vier Wochen, bis zum Dienstag vergange- bei der auch Kandidaten mitmischen kön- siegesgewiss, räumte aber zugleich selbst
ner Woche, 20.20 Uhr. Das war der Zeit- nen, die sich im ersten Wahlgang nicht ein, sollte er nicht gewinnen, „ist die Kan-
beworben hatten. Zum Sieg reicht dann didatur Wahlkampfhilfe für die CDU“.
die einfache Mehrheit. Intern machte der Unternehmensberater
CDU-Gegner halten die Berghofer-Kan- Berghofer, der sich daran gewöhnt hat, mit
didatur für ein Schmierenstück, in dem der Millionen zu jonglieren, keinen Hehl dar-
durch private Affären angeschlagene Bie- aus, dass der OB-Sessel nicht gerade die Er-
denkopf eine Rolle spielt. Der Ex-SED- füllung seiner beruflichen Träume ist.
Funktionär Berghofer hat seit Jahren Schon im Januar hämte er: „Vom OB-Ge-
regelmäßig Kontakt zu Sachsens CDU- halt könnte ich nicht einmal meine Büro-
SEYBOLDTPRESS

Übervater – so segeln die beiden gern ge- miete bezahlen.“ Das Grundgehalt des
meinsame Törns auf dem bayerischen Dresdner Oberbürgermeisters beträgt rund
Chiemsee. Seit 1990 finden die Duzfreun- 13 000 Mark.
Und schließlich spürte der ehemalige
Segler Biedenkopf, Ehefrau Ingrid FDJ-Funktionär Berghofer, ein wendiger
OB-Kandidat Berghofer (u.) Mann mit Stasi-Akte (IM Falk), schon in
Gemeinsame Segeltörns auf dem Chiemsee Wendezeiten, wo seine wahre Berufung
liegt – im freien Unternehmertum. Vor al-
lem ein Mann hatte Berghofer, als der noch
Dresdens Stadtoberhaupt war, schon da-
mals beeindruckt: Rudi Häussler, millio-
nenschwerer Immobilien-Unternehmer aus
Stuttgart. Der Schwabe ebnete Berghofer
den Weg in die Marktwirtschaft. Nach des-
sen Abschied aus der Politik holte ihn
Häussler ins Unternehmen – als General-
bevollmächtigten für Ostdeutschland.
Jetzt will Berghofer in Dresden wirt-
schaftlich Fuß fassen, und dann kann es
nicht schaden, bei der CDU einen Gefal-
ROBERT MICHAEL / MOMENT PHOTO

len gut zu haben. Die Entwicklung einer


Brache in der Innenstadt zu einem Frei-
zeit- und Erlebnispark könnte der lukrati-
ve Einstieg sein. Berghofers Pläne für das
so genannte Ostragehege waren schon
vor Wochen Thema beim Dresdner OB
Wagner. Andreas Wassermann
GEHEIMDIENSTE

Bizarres
Eigenleben
Thüringens Verfassungsschutz stol-
pert von Panne zu Panne. Jetzt
aufgetauchtes internes Material gibt
die skandalerprobte Behörde
bundesweit der Lächerlichkeit preis.

ACTION PRESS
D
er einsame Auftritt erforderte keine
große Vorbereitung und traf doch
ungemein wirkungsvoll. Mit bun- Rechtsextremist Dienel (stehend, 1992): „Biete Festplatten an“
tem Schlips und weißem Hemd, die Ärmel
hochgekrempelt, stand Thomas Dienel vor zug des Innenministeriums aus dem für lungen von Mitarbeitern des Referats „Ver-
dem Thüringer Landtag und hielt sich den Verfassungsschutz zuständigen Re- fassungsschutz, Geheimschutz“ im Innen-
schwitzend ein Schild vor den Bauch: „Bie- ferat verschwanden. Das Material lässt ministerium. Auch Vorschläge für Abhör-
te Festplatten an“, stand da zu lesen. reichlich Rückschlüsse auf die Arbeit maßnahmen gegen namentlich genannte
Die Kabarettnummer des rechtskräftig der Thüringer Geheimen zu. So wird in Rechtsextremisten tauchen auf.
verurteilten Neonazis am vergangenen den aufgetauchten Schreiben eingeräumt, An dem Chaos, wie es sich in den Da-
Donnerstag trieb im Inneren des Hohen dass teien darstellt, hat sich unter dem jetzigen
Hauses auch Thüringens Ministerpräsident • 1996 „mit den gegenwärtigen finanziel- Innenminister Christian Köckert (CDU) of-
Bernhard Vogel die Schweißperlen auf die len, logistischen und personellen Mit- fenbar wenig geändert. Die Behörde führt
ein bizarres Eigenleben. So fliegen in re-
gelmäßigen Abständen Quellen auf und
Abteilungen streiten sich wie die Kessel-
flicker. Erst im vergangenen Monat wurde
etwa bekannt, dass der Thüringer Verfas-
sungsschutz den stellvertretenden NPD-
Landesvorsitzenden Tino Brandt als V-
Mann „Otto“ engagiert hatte – und mit bis
zu 40 000 Mark pro Jahr dessen rechte Um-
MARTIN SCHUTT / DPA

triebe sponserte.
ANDREAS VARNHORN

Im Moment herrscht vor allem Konfu-


sion darüber, woher das nach vier Jahren
jetzt so plötzlich aufgetauchte Material
stammen könnte. Beamte im Landeskri-
Christdemokraten Köckert, Vogel, Verfassungsschutz-Behörde: Rechte Umtriebe gesponsert minalamt erinnern sich, dass bereits in ei-
nem frühen Stadium der Ermittlungen zum
Stirn. Mitten in jener Plenarsitzung, in der teln“ des Verfassungsschutzes eine Be- Datenklau der Verdacht aufkam, Mitar-
auch über das Schicksal des Amtes für Ver- obachtung der Scientology-Organisation beiter des Verfassungsschutzes hätten sich
fassungsschutz entschieden werden sollte, „nicht möglich“ sei; beim Umzug der zwei Computer bemäch-
erreichte den Christdemokraten die alar- • der Aufbau einer Observationsgruppe tigt. Der abgewählte Ex-Innenminister
mierende Nachricht: Der teils streng ver- sich verzögere, weil von der Polizei Richard Dewes (SPD) vermutet die Quel-
trauliche Inhalt von zwei im November „weniger qualifizierte bzw. motivierte len in seiner früheren Behörde. „Die
1997 auf mysteriöse Weise verschwunde- Beamte angeboten“ würden; hatten doch die Sicherungskopien“, sagt
nen Computer-Festplatten des Innenminis- • „keine flächendeckende Beobachtung“ Dewes, der gerade an seinem Comeback
teriums sei wieder aufgetaucht. von rechtsextremen Gruppen erfolgen bastelt.
Seit Jahren häufen sich die Pannen im könne; es seien „nur örtliche Schwer- Amtsnachfolger Köckert hat eine ande-
Thüringer Innenministerium, das unterge- punkte abdeckbar“; re Version parat. Der einsame Landtags-
ordnete Landesamt für Verfassungsschutz • 1997 in rund 50 Thüringer Privatfirmen demonstrant Dienel habe bei einer Ver-
hat seit seiner Gründung eine einmalige Helfer des ehemaligen sowjetischen Ge- nehmung durch die Kriminalpolizei in Wei-
Skandalserie hingelegt. In keinem ande- heimdienstes KGB als Mitarbeiter ver- mar vorvergangene Woche ausgesagt, die
ren Bundesland haben die Schlapphüte mutet wurden und Nachfolgedienste des vertraulichen Unterlagen kursierten in der
ihre Behörde derart der Lächerlichkeit KGB bestrebt seien, „ehemals beste- rechten Szene. Nur weiß niemand, wie sie
preisgegeben. hende Kontakte wieder aufleben zu dorthin gelangt sein könnten.
Die neueste Wendung im Thüringer lassen“. Zudem taugt Dienel als Zeuge allenfalls
Possenstück brachte eine CD-Rom, die der Derartiger Stoff, teilweise als „Ver- nur bedingt. Er war dem Verfassungsschutz
in Suhl erscheinenden Tageszeitung „Frei- schlusssache – Nur für den Dienstge- unter dem Decknamen „Küche“ bis zum
es Wort“ anonym zugespielt wurde. Dar- brauch“ klassifiziert, lässt tiefe Einblicke Jahr 1997 als Quelle zu Diensten. Und den
auf befinden sich rund 1600 Dateien mit zu. So finden sich Protokolle der in einem Schlapphüten hatte der Rechtsextremist
Interna aus dem Dienst. Es scheint sich abhörsicheren Raum des Landtags tagen- und einstige Vormann der Deutschen Sex-
dabei um den Speicherinhalt jener Fest- den Parlamentarischen Kontrollkommissi- liga immer wieder hanebüchenen Unfug
platten zu handeln, die einst beim Um- on ebenso wieder wie dienstliche Beurtei- erzählt. Felix Kurz, Steffen Winter

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 29
Deutschland

der Ehe berufstätig waren, galt dagegen dienenden Ex-Partners (in der Regel die
URTEILE
schon immer die „Differenzmethode“. Die Frau) zu ermitteln, hat der BGH bisher nur

Anreiz zur Arbeit ist für den schwächer gestellten Partner


weit günstiger, weil sie die Differenz zwi-
schen den Einkommen der Ehepartner
stets weitgehend ausgleicht.
die realen Einkünfte während der Ehe
berücksichtigt – nicht aber die Arbeit, die
(meist wieder) die Frau für Haushalt und
Kinder geleistet hat.
Der Bundesgerichtshof hat die
Die latent frauenfeindliche Abzugs- Wenn die Gattin stattdessen aber arbei-
Unterhaltsansprüche regelung für Nur-Hausfrauen, kritisierten ten ging und von genau diesem Geld eine
geschiedener Hausfrauen deutlich Familienrechtlerinnen wie die Berliner An- Haushaltshilfe und eine Tagesmutter fi-
angehoben – auch wältin Ingeborg Rakete-Dombek immer nanzierte, griffen die BGH-Richter, wie bei
Männer könnten davon profitieren. wieder, sei eine „Armutsfalle für Mütter“: Doppelverdienern üblich, auch bisher
„Wenn Mutti wirklich was dazuverdienen schon auf die für die Frauen weit günsti-

D
rei Jahre lang hat Margot N. nach will“, barmt Rakete-Dombek, „muss sie gere Differenzmethode zurück.
der Scheidung um ihr Recht mehr erarbeiten, als sie von ihrem Mann an Jetzt endlich ist dieser „Widersinn“ (Wil-
gekämpft. Obwohl sie mit ihren ei- Unterhalt bekäme.“ Das aber geht zu Las- lutzki) beseitigt. Was eine Frau nach der
genen Einkünften als Fußpflegerin kaum ten der Kinderbetreuung – für geschiede- Scheidung verdient, sei als Maßstab für
auf Sozialhilfeniveau kam, weigerte sich ne Hausfrauen „eine echte Zwickmühle“. den Wert ihrer bisherigen Familienarbeit
der Mann, seiner Ex-Frau etwas zu zahlen. Mehr als vier Millionen Geschiedene le- anzusehen, so die Richter in ihrer Begrün-
„Für mich waren das hammerharte Zei- ben in der Bundesrepublik, jährlich kom- dung, und deshalb „in die Unterhaltsbe-
ten“, sagt die heute 50-Jährige. men etwa 380 000 neue hinzu. Während darfsbemessung miteinzubeziehen“.
In den ersten beiden Instanzen urteil- sich der Lebensstandard der Männer nach Auch längst Geschiedene sind davon be-
ten die Richter zu ihren Gunsten. Dann einer Scheidung eher verbessert, stehen troffen: Wenn sich bei laufendem Unterhalt
kam ihr Fall zum Bundesgerichtshof, Frauen oft plötzlich vor dem Gang zum die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ex-
und dort waren solche Klagen bisher noch Sozialamt. Allein erziehende Mütter tragen Gatten ändern, etwa weil die Kinder voll-
immer gescheitert. Doch jetzt nahm der das höchste Sozialhilferisiko, fast jede fünf- jährig werden oder die Einkünfte steigen,
für Familiensachen zuständige 12. Zivil- te ist auf staatliche Stütze angewiesen. kann dies bei Gericht geltend gemacht wer-
den – und dann ist auch in den Altfällen die
neue Rechtslage zu berücksichtigen.

Bonus für Frauen Beispielrechnung zum Scheidungsunterhalt


NETTO- Frau nicht berufs- Frau Frau
EINKOMMEN tätig wegen berufstätig berufstätig
NACH Kindererziehung
SCHEIDUNG
Mann 4200 4200 4200
Frau 0 1400 2800
Unterhaltsberechnung nach alter Rechtslage („Abzugsmethode“):
Die Frau bekommt drei Siebtel des Einkommens des Mannes. Eigene Einkünfte
werden davon abgezogen.
UNTERHALT 1800 400 0
SALDO Mann 2400 3800 4200
Frau 1800 1800 2800
Unterhaltsberechnung nach neuer Rechtslage („Differenzmethode“):
Die Frau bekommt drei Siebtel der Einkommensdifferenz.
UNTERHALT 1800 1200 600
SALDO Mann 2400 3000 3600
Hausfrau bei der Arbeit: „Armutsfalle für Mütter“ Frau 1800 2600 3400
A. KIRCHHOF / ACTION PRESS

senat den Fall zum Anlass, die verkruste- Auch bei Margot N. kam zur Scheidung „Früher oder später“, so Willutzki, „kön-
te Rechtsprechung seiner Vorgänger zu der finanzielle Schock dazu. Sie hatte nen alle, die bisher schon einen Unter-
revidieren. während der fast 30-jährigen Ehe vor allem haltsanspruch haben, in den Genuss dieser
Jahrelang hatten Anwälte und Richter den Haushalt versorgt und die 1979 gebo- Rechtsprechung kommen.“
den Karlsruher Kollegen vergebens vorge- rene Tochter großgezogen. Doch obwohl Letztlich, glaubt Willutzki, nützt das so-
halten, sie würden Scheidungsunterhalt mit sie nach der Trennung selbst mit einer gar beiden Seiten: „Weil sich Erwerbsarbeit
zweierlei Maß messen. Denn der BGH traf Ganztagsarbeit nur gerade mal halb so viel für die Frauen wieder lohnt, werden letzt-
eine Unterscheidung, die nach Worten des verdienen könnte wie ihr Ex-Mann, ein lich auch die Männer entlastet – im Ergeb-
Kölner Familienrechtsexperten Siegfried Kfz-Meister, sollte der dank Abzugsme- nis müssen sie so weniger zahlen, als wenn
Willutzki „in höchstem Maße ungerecht ist thode keinen Unterhalt bezahlen. die Frau gar nichts dazuverdienen würde.“
und mindestens genauso kompliziert“. Die BGH-Rechtsprechung entstand zu Einige Juristen mahnen dennoch zur
Das Nachsehen hatten dabei Hausfrau- einer Zeit, als sich Frauen auch nach einer Vorsicht, denn der Differenz-Unterhalt
en, die erst nach einer Scheidung richtig Scheidung nur Küche und Kindern wid- kann den Zahler sehr lange belasten. Des-
anfingen, Geld zu verdienen. Ihnen wurde meten. Rechtspolitisch wurde damit jahr- halb sei es jetzt umso wichtiger, sagt der
in der Regel das, was sie nach der Ehe da- zehntelang ein falsches Signal gesetzt, so Hamburger Fachanwalt Gerd Uecker, Un-
zuverdienten, nach der so genannten Ab- Willutzki: „Was für einen Anreiz hat eine terhalt per Ehevertrag oder Gerichtsent-
zugsmethode vom Unterhalt wieder weg- Frau, Geld zu verdienen, wenn sie damit scheid zeitlich zu befristen, „damit der
gestrichen, so dass sie häufig leer ausgingen nur ihren Ex-Mann entlastet?“ Um den Mann nicht blechen muss, bis er unter der
(siehe Grafik). Für Frauen, die schon in Unterhaltsanspruch des schlechter ver- Erde ist“. Dietmar Hipp

30 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
HEINRICH / POP-EYE
Besucherattraktion Brandenburger Tor: Fürs Überleben fehlen vier Milliarden Mark pro Jahr

H AU P T S TA D T

„Endlich wieder Lagerwahlkampf“


In den Wahlkampf um Berlin greift nun auch die Bundesprominenz ein:
Wolfgang Schäuble für die CDU und Gregor Gysi für die PDS. Die Christdemokraten wollen mit
ihrem Schachzug Kanzler Schröder das Finanzdebakel der Metropole anhängen.

I
m 17. Stock des Berliner Hotels Estrel schen Hauptstadt – Gregor Gysi (PDS) und stimmungen im Abgeordnetenhaus gegen
knallten die Sektkorken. Die Koali- Wolfgang Schäuble (CDU). den Christdemokraten Diepgen und für
tionäre von SPD und Grünen hatten Bundeskanzler Gerhard Schröder, der den Sozialdemokraten Wowereit und sei-
nach einer nur zweistündigen Sitzung ihr als SPD-Bundesvorsitzender seinem Berli- nen Senat am Wochenende waren hinfäl-
künftiges Bündnis besiegelt. Die SED- ner Spitzengenossen Klaus Wowereit beim lig geworden. Aus der Wahl für ein Lan-
Nachfolgepartei PDS wussten die neuen Bruch der Großen Koalition den Rücken desparlament wird eine Abstimmung über
Partner dabei billigend im Hintergrund. gestärkt hatte, wurde die Nachricht von die Bundesregierung.
Der Sturz des Regierenden Bürgermeisters den neuen Bewerbern am Freitag beim Eu- Der Kanzler hatte sich in mehreren Ge-
Eberhard Diepgen (CDU) war abgemacht. ropagipfel in Göteborg in eine Sitzung hin- sprächen mit den Berliner Landesgenossen
Eine historische Stunde für die Stadt eingereicht. Er mochte sie zunächst nicht seit Anfang April über den geplanten Ko-
Willy Brandts? glauben. Es war aber klar: Damit war die alitionsbruch informiert und ihn persönlich
Auf dem Fernsehschirm der Präsiden- Wahl in Berlin zur Chefsache geworden. gebilligt: „Dann macht das mal so.“ Seit-
tensuite flimmerten am Dienstag vergan- Alle Gedankenspiele über eventuell dem ist Schröder, ob er will oder nicht, Teil
gener Woche Bilder, die den Noch-Regen- mögliche Konstellationen nach den Ab- dieses Manövers. Die avisierten Kandida-
ten Eberhard Diepgen in einer turen von Schäuble und Gysi
Talkshow zeigten, wie er die Stimmungswechsel stürzten die bis dahin sieges-
„Putschisten“ beschimpfte. Da Derzeitige Sitzverteilung im sicheren Sozialdemokraten und
lachten die zukünftigen Herren Berliner Abgeordnetenhaus Grünen deutlich in Verwirrung.
SPD
Berlins. Triumphierend ließ Peter 42 Sitze CDU Beide Parteien hatten so getan,
Strieder, Supersenator für Bau- PDS 75 Sitze als wären sie der Aufgabe ohne
en, Umweltschutz, Wohnen und 33 Sitze Hilfe von außen gewachsen.
Verkehr, seinen Blick aus dem Jetzt reden andere mit. Sie
Fenster über das glitzernde Ber- müssen eine Antwort mitbrin-
lin Richtung Fernsehturm schwei- gen auf die Frage, was der Re-
Bündnis 90/
fen und schwärmte noch lange. Die Grünen publik die Hauptstadt wert ist.
„Die Stadt lag uns zu Füßen.“ 17 Sitze Denn wer auch immer nach den
Ob sich der umtriebige Lan- Fraktionslose Neuwahlen regiert – er kann das
desvorsitzende da nicht ein biss- 2 Sitze Gesamt: 169 Überleben Berlins nicht aus der
chen zu früh gefreut hat? Vorbei eigenen Kasse bezahlen. 40 Mil-
sind die Zeiten, da Berlin von „Wer könnte Berlin am ehesten aus der Krise führen?“ liarden Mark umfasst der Etat
den lokalen Ablegern der SPD-geführter Senat CDU-geführter Senat 2001, der gerade mal Stagnation
großen Parteien wie deren Pri- INSGESAMT ermöglicht. Davon müssen 3,6
Große Koalition Weiß nicht
vateigentum behandelt und rui- Milliarden durch Neuverschul-
niert wurde. Ende vergangener 19 % OST WEST dung und 5,6 Milliarden durch
Woche signalisierten zwei Figu- den Verkauf städtischen Eigen-
ren von nationalem politischem 15 % 49 % 14 % 22 % tums aufgebracht werden.
und publizistischem Gewicht 13 % 42 % Das bedeutet eine Unter-
57 % 16 %
ihre Kandidatur für die Neu- 17 % 16 % Quelle: Forsa
deckung von über neun Milliar-
20 %
wahlen um das Amt des Regie- Basis: 1048 Befragte den Mark, die sich nach Exper-
renden Bürgermeisters der deut- tenschätzung noch um vier Mil-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 31
Deutschland

liarden erhöhen müsste, wenn wirklich ein


Umschwung bewirkt werden soll. Das
heißt: Konkret fehlen Berlin nach dem

Hilferuf nach draußen derzeitigen Status pro Jahr 13 Milliarden


Mark.
Ein Teil des Defizits erledigt sich, wenn
Wie die Union auf den Kandidaten Schäuble kam. die Sparpläne einer rot-rot-grünen Koali-
tion greifen – nach optimistischen Schät-

D
ie zehn Christdemokraten, die Merkel, ob Diepgen nicht doch noch zungen bringt das zwei bis drei Milliarden
am Dienstagabend vergangener umfallen und sich selbst zum Kandida- Mark Einsparungen. Eine höhere Neuver-
Woche vertraulich zusammen- ten ausrufen würde. schuldung ist nicht denkbar, zudem auch
kamen, waren erstaunlich offen. Nüch- Das größte Risiko, das die Partei im rechtlich problematisch. Also müssen auf
tern gingen sie in Eberhard Diepgens Falle einer Kandidatur Schäubles sieht, absehbare Zeit rund sieben Milliarden pro
Amtsräumen im Roten Rathaus die sind die Ermittlungen der Berliner Jahr von irgendwoher kommen.
möglichen Spitzenkandidaten der Ber- Staatsanwaltschaft. Schäuble steht im Ein Weg könnte eine intensivere Priva-
liner Union für Neuwahlen durch – mit Verdacht, im Zusammenhang mit der tisierung sein. Doch bei den städtischen
klarem Ergebnis. 100 000-Mark-Spende des Rüstungslob- Betrieben sind meist nur noch Minusma-
Diepgen komme als Kandidat nicht byisten Karlheinz Schreiber an die cher wie die Verkehrsbetriebe im Angebot
mehr in Frage, preschte einer der Teil- CDU vor dem Untersuchungsausschuss – da finden sich kaum Käufer. Bleiben noch
nehmer vor. Nach kürzerer Debatte des Bundestags falsch ausgesagt zu ha- Wohnungen und Grundstücke.
war klar: Das sieht die Mehrheit der ben. Sein trickreicher Umgang mit der Die 370 000 städtischen Wohnungen ha-
Runde so, Diepgen eingeschlossen. Ein- Wahrheit in Sachen Schreiber-Spende ben zwar einen Buchwert von knapp 31
wände gebe es aber auch gegen die an- hatte ihn voriges Jahr Partei- und Frak- Milliarden Mark. Doch angesichts des
deren potenziellen Frontmänner, den tionsvorsitz gekostet. Leerstands in Berlin ist dieser Wert nicht
Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Wie ernst die Ermittler das Verfahren annähernd zu realisieren. Die Crux: Je
Frank Steffel, 35, und Finanzsenator nehmen, zeigt, dass sie mittlerweile so- mehr Wohnraum angeboten wird, desto
Peter Kurth, 41 – die beide mit in der gar Altkanzler Helmut Kohl als Zeu- schneller verfallen die Preise.
Runde saßen. gen vernommen haben. Zwei Stunden Bei den Grundstücken (insgesamt 400
Steffel sei zu jung und müsse außer- lang befragten sie den einstigen CDU- Millionen Quadratmeter) sieht die Rech-
dem sein mittelständisches Raumaus- Chef vorletzten Freitag über die Ver- nung nicht ganz so düster aus. 2600 Grund-
stattungsunternehmen führen, argu- sionen Schäubles und dessen Kontra- stücke mit 8,3 Millionen Quadratmetern
mentierten einige. Kurth hingegen sei hentin Brigitte Baumeister. Dabei gab sind jetzt in einem Fonds zusammengefasst
vor allem als Finanzexperte aufgetreten Kohl an, er könne zur Wahrheitsfin- – Wert: 3,8 Milliarden. Für 200 Grundstücke
und repräsentiere nicht die konservati- laufen derzeit Verkaufs-
ve Basis der Union. verhandlungen, als Er-
Nach knapp vierstündiger Diskus- lös wird mit einer Mil-
sion verständigte sich der Kreis darauf, liarde Mark kalkuliert.
mit keinem der drei Berliner Eigenge- „Das wird Berlin al-
wächse in den Wahlkampf zu ziehen, lein nicht wuppen“, ist
und erkor Diepgen zum Headhunter. sich Markus Klimmer,
Der Regierende Bürgermeister und Leiter des Öffentlichen
CDU-Landesvorsitzende solle einen ge- Sektors der Unterneh-
eigneten Spitzenmann von außen su- mensberatung McKin-
chen – am liebsten Wolfgang Schäuble. sey sicher. „Brutalst-
Noch am Montagmorgen hatte Stef- mögliche Haushaltssa-
fel vor Kameras gepoltert, die Berliner nierung“ reiche da nicht
Union brauche keine Hilfe von außer- mehr aus.
halb. Dennoch nahm Steffel am glei- Die Konsequenz ist
M. EBNER / MELDEPRESS

chen Tag Kontakt zu Schäuble auf. Der eindeutig: Da pro Jahr


Name des früheren CDU-Bundesvor- kaum mehr als drei
sitzenden war zu diesem Zeitpunkt Milliarden durch den
schon durch die Medien gegeistert, aus Verkauf des Tafelsilbers
der Berliner CDU-Führung allerdings zu erzielen sind, ist
hatte mit ihm noch niemand geredet. Unionspolitiker Merkel, Schäuble: „Spontane Empörung“ Berlin auf jährlich vier
Am Dienstag, vor der abendlichen Milliarden Mark an
Strategiesitzung im Roten Rathaus, te- dung nichts Wesentliches beitragen. Hilfen durch Bund und Länder angewiesen
lefonierten Steffel und Schäuble noch Über die Kohl-Vernehmung wurde jus- – zuzüglich zum regulären Länderfinanz-
einmal lange miteinander. Wenn über- tizintern nach oben berichtet. Der hier- ausgleich.
haupt, so der etwas pikierte Schäuble, für übliche Weg geht über den Gene- Dennoch drängt es Bundespolitiker zur
dann komme er nur, wenn die gesam- ralstaatsanwalt zur Behörde des Justiz- Machtprobe in die Stadt. Für die CDU be-
te Partei ihn rufe. Tags darauf sprach senators. Der hieß vergangene Woche deutet die Wahl in Berlin die unverhoffte
Diepgen bei Schäuble vor – und infor- noch Diepgen. Chance, Bundeskanzler Gerhard Schröder
mierte dann Parteichefin Angela Mer- Als die Runde vom Dienstag am vor der Bundestagswahl 2002 doch noch
kel. Die ließ sich bis Ende vergangener Donnerstagabend noch einmal zusam- aus dem Tritt zu bringen. „Die SPD war
Woche täglich vom Berliner Lan- mentraf, gab es plötzlich einen, der bei übermütig“, urteilt ein CDU-Präsidiums-
deschef über den Stand der Gespräche der Frage der Schäuble-Kandidatur zö- mitglied über die Aufkündigung der Berli-
unterrichten. Bis zum Schluss bangte gerte – Eberhard Diepgen. ner Koalition. Mit nur 22,4 Prozent der
Stimmen bei der letzten Abgeordneten-
hauswahl jetzt die ganze Stadt umkrem-
32 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
peln zu wollen – das könnte und Bundestagsfraktionschef
die Bundes-CDU vereiteln, Roland Claus geht es für die
falls sie ihre stärksten Batail- PDS um alles – um die West-
lone in die Wahlschlacht wer- Ausdehnung der Partei, um
fen würde. den bundesweiten Rang drei
Dass die Berliner Wahl im Wettbewerb mit FDP und
deshalb „keine Privatangele- Grünen, kurz – um den Platz
genheit der Berliner CDU“ in der Berliner Republik.
sein könnte, versuchten die Deshalb hatten sich Bartsch
CDU-Oberen der Bundes- und Co. auch händeringend
partei dem Regierenden Bür- bemüht, den eitlen Gysi zur
germeister Eberhard Diep- Spitzenkandidatur zu überre-
gen klarzumachen. Sofort den (siehe Kasten Seite 34).
wurden Namen von außer- „Mit ihm könnten wir über
halb genannt: Wolfgang 20 Prozent kommen“, glaubt

M. KAPPELER / DDP
Schäuble, Klaus Töpfer und Bartsch, „der Wiedereinzug
auch Angela Merkel. in den Bundestag wäre so
Vor allem müssten, hieß es gut wie sicher.“ Die noch in
in der CDU-Führung, die Moskau geschulten Strategen
Neuwahlen schnell erfolgen. Sozialdemokraten Schröder, Wowereit: „Die SPD war übermütig“ im Berliner Karl-Liebknecht-
„Wenn man empört ist, muss Haus träumen sogar davon,
man die Empörung spontan mit dem populären Zugpferd
ausdrücken“, sagte ein Präsi- an der Spitze die eigene Par-
diumsmitglied – ein deutli- tei in Berlin stärker machen
cher Seitenhieb auf Diepgen, zu können als die SPD.
der zunächst aussitzen wollte. Bartsch: „Wenn Gysi kandi-
Anders als Edmund Stoibers diert, setzen wir auf Sieg und
CSU erkannte die CDU- nicht auf Platz.“
Führung, dass Gefahr im Ver- Als Regent im Roten Rat-
zug war: Sollte die SPD haus ist der PDS-Spitzen-
mit ihrem dreisten Koali- mann allerdings weiterhin
tionswechsel in Berlin Erfolg schwer vorstellbar. Das wis-
haben, könne sie mit der PDS sen auch die PDS-Planer.
überall im Land koalieren, Sollte also die Gysi-PDS
mittelfristig sogar im Bund. die Wowereit-SPD schlagen,
Bei der Diskussion um könnte sich Gysi mit großer
Spitzenkandidaten von au- Geste zurückziehen und Wo-
ßen richtete sich das Augen- wereit das Amt des Regie-
merk schnell auch auf die renden Bürgermeisters über-
Parteivorsitzende Angela lassen, um das Bündnis zwi-
Merkel – Berlin wäre für sie schen SPD und PDS nicht zu
eine Chance, endlich an das gefährden.
AP

operative Amt zu kommen, Christdemokrat Diepgen: „Den Bundestagswahlkampf eingeläutet“ Die PDS-Strippenzieher
das ihr bisher fehle, sagte ein würden aber auch schon eine
Vorständler. Sie würde damit ohne Ge- mehrfacher Weise legitimiert. Er handelte Regierungsbeteiligung unter der Führung
sichtsverlust aus dem Unions-Kandidaten- als damaliger Bundesinnenminister nicht der SPD als einen Erfolg werten. „Die
rennen herauskommen, das er für sie oh- nur den Einigungsvertrag aus, sondern Bündnisse in Sachsen-Anhalt und Meck-
nehin verloren glaubt. war stets ein leidenschaftlicher Verfechter lenburg-Vorpommern“, meint Claus, „wur-
Merkel witterte eine Falle. Als Kandida- Berlins als Hauptstadt des vereinten den von der SPD-Spitze noch wie Sünden-
tin im unionsinternen Rennen um die Deutschlands. fälle im Ausland behandelt. In Berlin wird
Schröder-Herausforderung wäre sie auf je- Schäuble, der in seiner Fraktion auch das anders.“
den Fall „entsorgt“ – ob sie nun siege oder als Finanzpolitiker von Gewicht galt, glaubt Das Parteivolk der PDS – auch das ist
unterliege. Sie habe deshalb die Chance zudem, mit einem Wahlerfolg in Berlin den Chefsache – wird inzwischen auf eine
verworfen, hieß es in ihrer Umgebung. Makel der Spendenaffäre, die ihn Anfang Machtbeteiligung in Berlin eingestimmt.
Einen Frontstadt-Wahlkampf, wie Hard- 2000 Partei- und Fraktionsvorsitz kostete, Mit einem dramatischen Brief an die Basis
liner in der Union ihn wünschten, wollte doch noch loswerden und einen politischen wird die Vorsitzende Gabi Zimmer die Par-
und könnte sie ohnehin nicht führen. „Es Neuanfang schaffen zu können. tei kommende Woche auf schmerzliche
wird zum ersten Mal wieder einen Lager- Er genoss zwar die Anerkennung, die Einbußen vorbereiten. Sozialisten und So-
wahlkampf geben und nicht einen, bei dem ihm nach seinem schmachvollen Ausschei- zialistinnen, so wird Zimmer in ihrem ers-
es um die Frage geht, wer hat den sympa- den zuteil wurde, doch wusste er genau, ten Brief an die Genossen schreiben, müss-
thischeren Kandidaten“, freute sich CSU- dass er nicht in seine alten Ämter zurück- ten sich auch bei der Haushaltskonsoli-
Generalsekretär Thomas Goppel. Mit dem kehren konnte. Berlin mag er als letzte dierung beweisen.
Putsch von Berlin sah Goppel „den Bun- Chance zum Comeback begreifen. Auch deutliche Worte zum „Unrecht“
destagswahlkampf eingeläutet“. Auch Gregor Gysi konnte dem Sog der der Mauer wird die PDS-Chefin finden,
Statt Merkel zeigte sich überraschend Macht nicht widerstehen. Schon vor seiner um so die Zweifel an der Glaubwürdigkeit
Wolfgang Schäuble bereit, der zunächst Bereitschaft zur Kandidatur war aber die der Partei zu mindern. Die hat der säch-
alle Spekulationen als „absurd“ zurückge- politische Schlacht um Berlin für die PDS sische Landeschef Peter Porsch mit dem
wiesen hatte (siehe Kasten). Für eine sol- längst Chefsache. Nach Einschätzung von Bekenntnis, die Mauer habe 1961 den Frie-
che Herausforderung fühlt Schäuble sich in Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch den erhalten, neu in Frage gestellt. Und
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 33
Deutschland

noch ein anderer Genosse brachte die Stra-


tegen im Karl-Liebknecht-Haus und Gysi
selbst in Rage. Der von der SPD über-

„Eine Art Erleuchtung“ gelaufene Partei-Vize Diether Dehm


schwadronierte im Fernsehen davon, die
PDS wolle „langfristig“ Konzerne wie
Wie Gregor Gysi sich zierte, in Berlin anzutreten. BMW enteignen – dabei kämpft die
SPD/PDS-Regierung von Mecklenburg-

D
as Parkett knarrt, die Stühle kip- auf dem Spiel – und der innere Frieden Vorpommern derzeit um die Ansiedlung
peln, der braune Vorhang hinter in der PDS. Denn je länger Gysi zö- eines BMW-Werks.
dem Rednerpult ist fast der ein- gerte, die Partei in den Wahlkampf Solche Ausrutscher gefährden ein Ziel,
zige Farbtupfer im Plenarsaal des frü- zu führen, desto mehr wuchs die Wut das die PDS mit der Machtbeteiligung ganz
heren Bezirksamts Prenzlauer Berg. der Berliner Vorleute Harald Wolf und elegant erreichen möchte – das Ende der
So ein Raum ist keine Bühne für Gre- Petra Pau. Sie waren es leid, dass Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
gor Gysi – auch wenn die Berliner PDS die Ikone Gysi alle Kameras auf sich „Ich gebe der Berliner PDS gewöhnlich
am Freitagabend hier über die Zukunft zog, während sie die Kärrnerarbeit keinen Ratschlag“, meint Zimmer, „diesen
der Stadt berät. Er rauscht im dunklen leisteten. aber schon: Sie sollte auf der Beendigung
Dienstwagen durch das Land, während Nicht nur die Genossen machten der Überwachung der PDS beharren.“
die Delegierten den Sturm des Roten Druck. In Frankfurt wurde er begrüßt Landeschefin Petra Pau ist da noch resolu-
Rathauses planen. Gysi findet nichts und bejubelt, als sei er schon, was er ter: „Ich erwarte, dass der rot-grüne Senat
dabei: „Wieso bin ich denen Rechen- kaum werden kann, Regierender Bür- die Beobachtung der PDS sofort beendet.“
schaft schuldig, ob ich kandidiere?“ germeister. „Nach dem Beifall“, rief Eilig signalisierte der in Berlin für
Der Meister lenkt die Geschicke der ihm aufmunternd ein Moderator vor den Geheimdienst zuständige SPD-Mann
Partei wieder einmal per Handy, ist un- 5000 Zuhörern zu, „müssten Sie nicht Klaus-Uwe Benneter, die „gewollte und
terwegs in Thüringen, wo er aus sei- nur Bürgermeister Berlins, sondern gezielte Diskriminierung“ werde „sicher
nem Buch („Ein Blick zurück, ein auch von Frankfurt werden.“ Selbst be- nicht mehr lange andauern“. Prompt
Schritt nach vorn“) liest. „Ich bin hier“, kennende CDU-Wähler aus dem Wes- widersprach Bundesinnenminister Otto
hat er tags zuvor auf dem Kirchentag in ten bedrängten ihn: „Herr Gysi, wir Schily (SPD): Er sei durch die jüngsten
Frankfurt am Main erklärt, „um eine Äußerungen zum Mauer-
Art Erleuchtung zu erleben, weil ich bau „eher darin bestärkt,
am Wochenende eine Lebensentschei- die Beobachtung fortzu-
dung treffen muss.“ setzen“.
Tagelang hatten die führenden Kader Doch das wichtigste
der Partei, Bundesgeschäftsführer Diet- Ziel für die SED-Nach-
mar Bartsch und Bundestagsfraktions- folgepartei bleibt die
chef Roland Claus, auf ihn eingere- „strategische Partner-
det – mit „Marx- und Engelszungen“, schaft“ (Claus) mit der
hätte es Heiner Müller beschrie- SPD. Claus spottet schon
ben. André Brie, Europa-Abgeordne- über den „Ostblock“, den
ter, Stratege und Freund des Umworbe- es demnächst im Bundes-
nen, war extra aus Brüssel eingeflogen rat geben könnte: mehre-
worden. re rot-rot-regierte Län-
Dabei war für Gysi, das Perpetuum der, mit denen dann
C. DITSCH / VERSION

mobile der Partei, das Gerede über die Kanzler Schröder zu ver-
Kandidatur fürs Bürgermeisteramt Ber- handeln hat. Von da sieht
lins anfangs nicht viel mehr als ein Spiel er dann nur noch einen
der Eitelkeiten. Da waren Wahlen in kleinen Schritt zur Re-
Berlin erst für 2004 geplant. Genossen Zimmer, Gysi: „Zwischen Herz und Verstand“ gierungsbeteiligung im
Wenige Monate nach seinem Rück- Bund. Wann es dazu
zug vom Vorsitz der Bundestagsfrak- wollen Sie unbedingt in Berlin als Bür- kommen könnte? Claus, der einst das Mag-
tion hatte Gysi in Berlin die Rolle ge- germeister sehen.“ deburger Modell miterfand, hat dafür eine
funden, die ihm liegt – die des Provo- Doch der schwankte weiter – „zwi- griffige Losung: „2006 minus X“.
kateurs. Frei von den Vorgaben seiner schen dem Herz, das Ja sagt, und dem Im Willy-Brandt-Haus, der Berliner Zen-
Partei konnte er selbst über einen PDS- Verstand, der Nein sagt“. Denn Gysi trale der Bundes-SPD, fragten Strieder und
CDU-Senat orakeln, in dem beide kennt das Risiko. Kann er Visionär blei- Wowereit schon mal um einen Profi als
Stadthälften endlich angemessen ver- ben, wenn er ganz konkret erklären Wahlkampfmanager nach: Michael Don-
treten wären. soll, wie welches Haushaltsloch der nermeyer, aus Berlin stammender Partei-
Doch plötzlich war er nicht mehr Stadt zu stopfen sei? sprechƒer, der im engsten Zirkel um Franz
Herr des Verfahrens. Der schnelle Nie- Ende vergangener Woche fiel die Müntefering 1998 die Abwahl von Kohl in
dergang Diepgens zwang die PDS zu Entscheidung: „Meine Frau“, erzählte Bonn organisiert hatte. Generalsekretär
Entscheidungen. Er könne nicht der er, „wurde einfach weich gekocht, ob Müntefering versprach, hilfreich zu sein
Partei predigen, sie solle Verantwor- sie Brötchen holte oder beim Schlach- „mit allem, was wir haben“.
tung übernehmen, und sich nun selbst ter war, alle wollten von ihr, dass ich Das ist bisher nicht viel mehr als ein
drücken, hielten ihm die Genossen vor. kandidiere.“ Irgendwann in der Nacht Appell: „Geht raus auf die Straße und
Er sei der „Mann der Visionen, nicht zum Freitag habe sie dann zu ihm ge- zeigt euch.“ Stefan Berg, Ulrich Deupmann,
der Verwaltung“, wand er sich. Seine sagt: „Gregor, ich bin doch dafür, dass Tina Hildebrandt, Wolfgang Krach,
Jürgen Leinemann, Hartmut Palmer,
eigene Glaubwürdigkeit stand plötzlich du es machst.“ Sven Röbel, Heiner Schimmöller,
Holger Stark, Peter Wensierski

34 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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M. URBAN
FDP-Vorsitzender Westerwelle: Das bürgerliche Traditionsbündnis aufgekündigt

Hals zu werfen. Gleichzeitig paktiert seine


FDP
FDP sogar mit der PDS, wenn es dem ei-
genen Fortkommen dient.

Die Ein-Mann-Show Seite an Seite mit den Postkommunisten


sammelten Liberale in der vergangenen
Woche auf dem Alexanderplatz Unter-
schriften, um Neuwahlen in Berlin notfalls
Die Liberalen sehen sich rechtzeitig zur Neuwahl in Berlin per Volksbegehren zu erzwingen. In Dres-
im Hoch. Um die FDP im Gespräch zu halten, rückt den hat der auch von der PDS unterstütz-
Parteichef Guido Westerwelle sogar an die Seite der PDS. te FDP-Politiker Ingolf Roßberg, 40, gute
Chancen, am kommenden Sonntag zum

E
inen solchen Ansturm hatten die Li- den Neuwahlen. „Wenn die Berliner eine Oberbürgermeister gewählt zu werden.
beralen im Berliner Arbeiterviertel Wiederauflage der Großen Koalition und Auch im Parlament zeigt Westerwelle
Wedding schon lange nicht mehr er- gleichzeitig die PDS verhindern wollen“, wenig Berührungsängste mit den Sozia-
lebt. 80 Funktionäre drängelten sich am rechnet Parteichef Guido Westerwelle vor, listen. So lehnte die FDP als einzige
vergangenen Dienstagabend bei einem „werden sie FDP wählen.“ Bundestagsfraktion neben der PDS die
Parteitreffen ins Bezirksrathaus. „Da sind Seit der 39-Jährige beim Parteitag vor ei- Erweiterung und Verlängerung des Bun-
ja viele“, freute sich der Berliner FDP-Bun- nem Monat den glücklosen Vorsitzenden deswehrmandats für das Kosovo ab.
despräside Martin Matz, 36, über die Wie- Wolfgang Gerhardt ablöste, wähnt er seine Zuvor hatten Verteidigungsminister Ru-
dersehensfeier im großen Kreis, „die sich FDP im Aufwind (siehe Grafik). dolf Scharping und Außenamts-Staats-
monatelang nicht haben blicken lassen.“ Mit viel Trara macht Westerwelle nun sekretär Gunter Pleuger in der FDP-Frak-
Die Liberalen wittern Chancen in der auf sich aufmerksam – gern auch mit wech- tion zwei Stunden lang vergebens versucht
Hauptstadt. Nach sechs Jahren außerpar- selnden Partnern. Mangels anderer vor- zu vermitteln. Die Freidemokraten zeigten
lamentarischer Opposition und kaum zwei zeigbarer Kandidaten wirkt die FDP dabei sich uneinsichtig. „Das Parlament ist der
Jahre nach dem katastrophalen Abschnei- immer mehr wie eine Ein-Mann-Show. Das Auftraggeber“, bellte Westerwelle im Bun-
den bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus bürgerliche Traditionsbündnis mit der destag. „Wir haben keine Regierungs-
(2,2 Prozent) setzen sie auf die Rückkehr CDU hat der neue Vorturner aufgekün- armee.“ Das ging selbst den Oppositions-
ins Berliner Parlament bei den anstehen- digt, ohne sich allzu fest der SPD an den nachbarn aus der Union zu weit. Das seien
doch „altgrüne Anwandlungen“, wetterte
der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers
Das Comeback der Liberalen Stimmenanteile in Prozent gegen Westerwelle.
Für eine Partei, die fast drei Jahrzehnte
auf Bundesebene in Hamburg in Berlin den Außenminister stellte, ist die Abkehr
vom außenpolitischen Konsens in der Tat
ein bemerkenswerter Vorgang. Wortlos
Umfrage lauschte der ehemalige Chefdiplomat Klaus
Juni 2001
Kinkel den Debatten im Plenum. In die
Umfrage Fraktionsdebatte hatte er sich nur mit
9 Umfrage
Juni 2001 rhetorischen Fragen eingemischt. Gänzlich
isoliert von den eigenen Leuten, stimmte
Bundestags-
Juni 2001
wahl 1998 Kinkel schließlich als Einziger für die Ver-
Bürger- 7 längerung des Kosovo-Mandats. Seitdem
6,2 schafts- 6 möchte er sich zur Außenpolitik seiner Par-
wahl Wahl zum tei nicht mehr öffentlich äußern.
Quelle: Infratest dimap

1997 Abgeord- Der nächste Eklat kommt bestimmt.


netenhaus Ende dieses Monats berät das Parlament
3,5 1999
Quelle: Emnid

Quelle: Forsa

in erster Lesung den Vertrag von Nizza,


2,2 der die Osterweiterung der Europäischen
Union vorbereitet. Im Herbst soll die
Bundesrepublik das Paragrafenwerk ratifi-
38 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Deutschland

zieren. Der FDP-Europapolitiker Helmut Abschneiden bei der Wahl zum


Haussmann trommelt dafür, dass die Berliner Abgeordnetenhaus, so
deutschen Liberalen gegen das Vertrags- seine Rechnung, könne selbst eine
werk stimmen – wiederum treu an der Schlappe bei den kommenden
Seite der PDS. Bürgerschaftswahlen in Hamburg
Zwar besteht spätestens seit der Ratifi- überstrahlen.
zierung durch die französische National- Mit dem blassen Spitzenkandi-
versammlung in der vergangenen Woche daten Rudolf Lange liegen die Li-
kaum ein Zweifel, dass der Nizza-Vertrag beralen dort bei sechs Prozent und
im Grundsatz nicht mehr nachverhandelt damit unter dem Bundesschnitt.
wird. Doch darauf kommt es Westerwelles Parteiinterne Widersacher wie Jür-

P. GLASER
Liberalen auch gar nicht an. FDP-Außen- gen Möllemann und Schleswig-
politiker Ulrich Irmer lässt durchblicken, Holsteins Fraktionschef Wolfgang
dass die Ablehnung ein rein taktisches Kubicki warten darauf, ihrem neu- Berliner FDP-Chef Rexrodt (r.)*: Unterstützer gesucht
Spektakel ist, um sich öffentliche Auf- en Vorsitzenden ein schlechtes Ab-
merksamkeit zu verschaffen. Es bestehe schneiden in Hamburg ankreiden zu kön- Hauptstadt hingeworfen, weil er damals
keine „Gefahr“, dass ein Nein der FDP die nen. Bis heute haben es die beiden nicht auf der Landesliste für die Bundestagswahl
deutsche Ratifizierung insgesamt gefähr- verwunden, dass sich Westerwelle ihrem nicht berücksichtigt worden war.
det, sagt Irmer. Schließlich würden Regie- Plan widersetzt hatte, einen FDP-Kanzler- Der amtierende Landesparteichef Gün-
rungskoalition und CDU/CSU schon für kandidaten auszurufen. ter Rexrodt wiederum genießt großen
die erforderlichen Stimmen sorgen. Doch nicht nur in Hamburg, sondern Rückhalt in den eigenen Reihen, scheint
Der Crash-Kurs ist nicht ohne Risiko. auch im knapp 3000 Mitglieder starken sich selbst aber wenig zuzutrauen. Ver-
Wohlgesinnte Sozialdemokraten wie Berliner Landesverband mangelt es offen- zweifelt versuchte er in der vergangenen
Scharping, der in Rheinland-Pfalz einst bar an vorzeigbaren Leuten. Woche, externe Unterstützer für die Ber-
eine sozial-liberale Koalition anführte und Dem von Westerwelle hoch geschätzten liner Freidemokraten zu gewinnen – zum
gute Kontakte zum FDP-Präsiden Rainer Präsidiumsmitglied Martin Matz fehlt der Beispiel den langjährigen Chef des Bun-
Brüderle pflegt, warnen wie einige Alt- Rückhalt der Basis. Berliner Liberale hal- desverbandes der Deutschen Industrie,
liberale vor einem Amoklauf. Westerwelle ten ihm vor, in der Hauptstadt gescheitert Hans-Olaf Henkel. Sogar die FDP-Gene-
gehe ein „hohes Risiko, sich außenpoli- zu sein. Der Betriebswirt hatte 1998 nach ralsekretärin Cornelia Pieper war plötzlich
tisch zu isolieren“, ein. nur zwei Jahren den Landesvorsitz in der als Zugpferd im Gespräch – doch die muss
Um Zweifel an seiner Strategie aus- schon im Frühjahr kommenden Jahres in
zuräumen, braucht Westerwelle nun * Am Samstag vorvergangener Woche mit dem PDS- Sachsen-Anhalt antreten. Ralf Beste,
dringend einen Wahlerfolg. Ein gutes Politiker Gregor Gysi. Alexander Neubacher
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Deutschland

THOMAS GRABKA / ACTION PRESS


Demonstration gegen Abschiebung mit Lufthansa-Maschinen: „Wir werden seine Ausreise zwangsweise durchsetzen“

„Reine Formsache“, dachte er sich, denn


BEHÖRDEN
er hatte schon einmal einen Antrag auf
Familienzusammenführung gestellt, und

Ab nach Abidjan der war „relativ problemlos genehmigt


worden“. Das war vor dreieinhalb Jahren,
als Yannick über Weihnachten 1997 vier
Wochen zu Besuch in Berlin blieb.
Die Berliner Innenverwaltung will einen 16-Jährigen, der in Doch das Bleiberecht für die Bundes-
geordneten Verhältnissen bei seinem Vater lebt, in die republik verfällt, wenn man das Land
Elfenbeinküste abschieben – angeblich in dessen eigenem Interesse. verlässt und sich länger als ein halbes
Jahr wieder im Ausland aufhält. „Das

E
in Mann, eine Frau, drei Kinder. Er tet war, ist 1989 gestorben. Seitdem ist Yan- war uns damals nicht klar“, räumt der
Diplomingenieur bei einer großen nick bei seiner Tante Ahouba, die selbst Vater ein. Er solle, wurde ihm vergan-
amerikanischen Firma in Berlin, sie drei Kinder hat, aufgewachsen. „Ich habe genen Sommer in Berlin gesagt, einen
Bürokraft in einer Anwaltskanzlei. Eine immer Kontakt zu meinem Sohn gehal- neuen Antrag bei Deutschlands Bot-
Fünf-Zimmer-Wohnung in Zehlendorf, ten“, sagt Adiepo, „ich habe es mir nur schaft in Abidjan stellen. Das könne kein
geräumig und sauber. Vor der Haustür ein lange nicht leisten können, ihn zu mir zu Problem sein, dachte sich Adiepo, der
Suzuki Vitara, groß genug, um Vater, Mut- holen. Und bei meiner Schwester war er Junge hatte ja schon mal eine Aufent-
ter, drei Kinder und zwei Kinderwagen auf- gut aufgehoben.“ haltsgenehmigung.
zunehmen. Eine ganz normale Doch was in Deutschland ein
deutsche Familie also und den- Problem ist und was nicht, ist
noch ein behördlicher „Vorgang“. keine Frage der Logik sondern
Denn der Mann ist unüberseh- der Durchführungsbestimmun-
bar Afrikaner, und sein Sohn Yan- gen. Adiepo nahm Urlaub, flog
nick, der zurzeit eine französische nach Abidjan, stellte alle Pa-
Mittelschule in Berlin besucht, piere zusammen und gab sie
soll dahin zurückkehren, woher bei der Deutschen Botschaft
er vor zehn Monaten illegal ge- ab. Dann wartete er.
kommen ist, an die Elfenbein- Ende August, nach vier Wo-
küste – so will es die Berliner Aus- chen, wurde er langsam ner-
länderbehörde. „Man will mich vös, denn sein Urlaub ging zu
bestrafen und trifft das Kind“, Ende und das Schuljahr am
sagt der Vater. Voltaire College, an dem er
Adiepo Assi, 1958 in dem Yannick eingeschrieben hatte,
GOROVENKO

Städtchen Akoupé an der Elfen- fing bald an. Nach fast sechs
beinküste geboren, lebt mit sei- Wochen entschied Adiepo,
ner Familie in soliden Verhältnis- Familie Assi: „Man will mich bestrafen und trifft das Kind“ dass er lange genug gewartet
sen und ist sozial integriert. Er hatte.
habe, sagt der große dunkle Mann in Bis der Junge in die Pubertät kam und „Ich kaufte zwei Tickets, und wir flogen
fließendem Deutsch mit stark französi- die Autorität der Tante, immerhin eine über Zürich nach Berlin.“ Als sie in der
schem Akzent, seit er vor 15 Jahren in die Rechtspflegerin, nicht reichte, ihn zu zäh- Stadt ankamen, hatte das Schuljahr schon
Bundesrepublik gekommen ist, „keinen men. Er blieb nachts weg, färbte sich die angefangen, Adiepo rief bei der zuständi-
richtigen Rassismus erlebt“. Seit 1995 ist er Haare rot und drohte, „in schlechte Ge- gen Sachbearbeiterin in der Ausländer-
mit einer deutschen Frau verheiratet, hat sellschaft abzurutschen“, sagt der Vater. behörde an. „Ihr Sohn ist illegal einge-
eine gültige Aufenthalts- und Arbeitser- So beschloss Adiepo im Sommer vergan- reist!“, tobte sie.
laubnis, der Antrag auf Einbürgerung ist genen Jahres, seinen Sohn zu sich nach Ein paar Tage später ging Adiepo zur
gestellt. Berlin zu holen. Vorher aber ging er zur Behörde, noch immer in der Hoffnung, der
Allerdings: Er hat auch einen Sohn, der Berliner Ausländerbehörde, um eine Auf- Fall lasse sich problemlos klären. Stattdes-
1984 in Abidjan geboren wurde. Die Kin- enthaltsgenehmigung für Yannick zu be- sen bekam er ein dreiseitiges Papier „aus-
desmutter, mit der Adiepo nicht verheira- antragen. gehändigt“; der Antrag „auf Erteilung ei-
42 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Deutschland

ner Aufenthaltsgenehmigung“ werde ab- terer ausländerrechtlicher Maßnahmen“.


gelehnt, Yannick müsse die Bundesrepublik Im Klartext: Der Junge sollte abgeschoben
innerhalb von vier Wochen verlassen. „So- werden, was aber ohne Pass nicht geht.
fern er nicht bis zum 19. 10. 2000 freiwillig So war die „Passlosigkeit“ auch der ein-
ausgereist ist, werden wir seine Ausreise zige „Duldungsgrund“, der die Behörde
zwangsweise durchsetzen.“ Es bestehe „ein veranlasste, Yannick eine bis zum 18. Mai
deutsches öffentliches Interesse daran, dass befristete Duldung zu gewähren. Zwei Tage
sich die Einreise und der Aufenthalt von vor deren Ablauf, am 16 Mai, standen um
Ausländern geregelt vollziehen“, hieß es sechs Uhr drei Zivilpolizisten vor der Zeh-
in der Begründung. lendorfer Wohnung von Adiepo, um des-
Da wurde Adiepo klar, dass sein Sohn ei- sen Sohn Yannick abzuholen. Die Auslän-
nem geregelten Vollzug deutscher Interes- derbehörde hatte schon einen Flug über
sen hinderlich und deswegen Gefahr im Amsterdam nach Abidjan für den 17. Mai
Verzuge war. Über das Rote Kreuz fand er gebucht. Erst nach „massiver anwaltlicher
einen Anwalt, Ronald Reimann, 39. Der Intervention“, sagt Reimann, wurde die
legte sofort „Widerspruch“ ein und stellte Abschiebung auf den 20. Mai verschoben.
einen „Antrag auf Erteilung einer Aufent- Yannick wäre längst in Abidjan gelandet,
haltsbefugnis“. Die gilt als so genannte wenn der zuständige Haftrichter am Amts-
Auffangvorschrift und kann erteilt wer- gericht Schöneberg der übereifrigen Behör-
den, wenn „zwingende de nicht in die Parade
Gründe“ vorliegen und gefahren wäre. Am 17.
die Behörde es will, so- Mai wies er deren Haft-
gar dann, wenn die Ein- antrag ab und ordnete
reisevorschriften ver- an, den schon in Ab-
letzt wurden. Der schiebehaft genomme-
Rechtsanwalt argumen- nen Jungen „sofort zu
tierte mit Artikel 6 des entlassen“. Es sei „frag-
Grundgesetzes („Ehe lich“, ob die Festnahme
und Familie stehen un- „rechtmäßig war“, vor-
ter dem besonderen her hätte „die Duldung
Schutze der staatlichen widerrufen werden

GOROVENKO
Ordnung“) und der müssen“. Am selben
Uno-Kinderrechtskon- Tag wurde Yannick frei-
vention, die in der Bun- Von Ausweisung bedrohter Yannick gelassen.
desrepublik geltendes „Stabile emotionale Bindung“ Anwalt Reimann
Recht ist. spricht von einem „un-
Außerdem legte Reimann die fachärztli- verhältnismäßigen, unverfrorenen Vorge-
che Stellungnahme einer Ärztin für Kin- hen, für das sich der Behördenleiter ent-
der- und Jugendpsychiatrie vor, die dem schuldigen müsste“, es sei „nicht so, dass
„leiblichen Vater“ bescheinigte, er habe die Duldung automatisch wegfällt, nur weil
„in den ganzen Jahren eine stabile emo- der Pass da ist“. Die Ausländerbehörde
tionale Bindung zu seinem Sohn aufrech- will sich zu dem Fall nicht äußern („Wir
terhalten können, die jetzt in der kritischen dürfen nichts sagen“) und verweist auf die
Phase der Pubertät positiv zum Tragen Pressestelle des Innensenators. Dort heißt
kommt“; eine Ausweisung, befand die Ärz- es: „Es ist nicht in unserem Interesse, den
tin, wäre „dem Kindeswohl eindeutig ent- Fall in der Öffentlichkeit breitzutreten.“
gegengesetzt und würde eine nicht zu ver- Um Zeit zu gewinnen, hat Reimann erst
tretende Gefährdung der seelischen Ge- mal ein Angebot der Behörde akzeptiert.
sundheit zur Folge haben“. Yannick darf bis zum 25. Juli bleiben, um
Die Ausländerbehörde konterte mit der das Schuljahr zu beenden, reist dann „frei-
Stellungnahme der deutschen Botschaft in willig“ nach Abidjan zurück und stellt dort
Abidjan, wo man mittlerweile Yannicks erneut einen Antrag „auf Familiennach-
Tante zu einem Gespräch vorgeladen hat- zug zu seinem Vater“.
te. Fazit: „Y. hat zwölf Jahre bei ihr gelebt, Wie wohlwollend der Antrag dann be-
es kann also h. E. von einem vergleichba- handelt wird, darüber macht sich Reimann
ren Mutter-Kind-Verhältnis ausgegangen wenig Illusionen. Adiepo Assi aus Akoupé
werden.“ Woraufhin die Berliner Auslän- in der Elfenbeinküste ist ein wenig zuver-
derbehörde, bislang mit dem Schutz öf- sichtlicher. „Wir fallen doch niemandem
fentlicher deutscher Interessen beschäftigt, zur Last“, sagt der Vater und zeigt die Be-
sich ebenfalls auf das Wohl des Kindes be- lege für 500 Mark Schulgeld am Voltaire
sann, „dem in der Regel die unveränderte College, die er jeden Monat überweist.
Beibehaltung der bisherigen Lebensum- Für den Herbst hat er Yannick schon
stände entspricht“. Deshalb müsse Yannick am Lycée Française angemeldet, wo der
zu seiner „im Herkunftsland lebenden Tan- Junge das Abitur machen soll. Bleibt die
te zurückkehren“. Ausländerbehörde stur, will sich Adiepo
Zugleich bat die Ausländerbehörde die Assi an den Bundespräsidenten wen-
Vertretung in Abidjan „um Übersendung den, damit der interveniert. „Ich probier
des bei Ihnen befindlichen Nationalpas- das. Wer nicht probiert, hat schon ver-
ses“ von Yannick – „zur Veranlassung wei- loren.“ Henryk M. Broder

44 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Deutschland

Wirte in der bayerischen Anti-Dosen-


Koalition.
U M W E LT
Trittin will die achtlos in Grünanlagen,
auf Wegen und an Straßenrändern ent-

Herr der Dosen sorgten Weißblechdosen, Glas- und PET-


Einwegflaschen ab Anfang kommenden
Jahres mit einem Pflichtpfand von 25 Cent
(etwa 50 Pfennig) belegen, für Behältnisse
CSU-Chef Edmund Stoiber vergrätzt die bayerischen ab anderthalb Liter sollen es sogar 50 Cent
Brauer. Um sich gegen Schröder zu sein. Mit der Abgabe soll die zunehmende
profilieren, will er im Bundesrat das Dosenpfand kippen. Vermüllung der Landschaft (neudeutsch:
Littering) gebremst werden.

N
icht nur wenn er sein hopfig-herbes ter zusammen. Manche fühlen sich schon Selbst der bayerische Landtag forderte
„Altenmünster Erlebnisbier“ ver- an die historische „Bierrevolution“ im Jahr die Staatsregierung mit Mehrheit auf, der
kostet, hat Gerd Borges Schaum des Herrn 1848 erinnert, als über 2000 auf- Trittinschen Dosenpfand-Verordnung im
vor dem Mund. Neuerdings bringt den gebrachte Anhänger des süffigen Getränks Bundesrat ihren Segen zu geben. Nicht
Brauer aus Marktoberdorf im Allgäu auch einen Aufstand gegen die Preiserhöhung nur die Sozis haben einem entsprechen-
der Oberbayer Edmund Stoiber zum von einem Pfennig für die Maß Bier an- den Antrag der Grünen zugestimmt,
Schäumen. zettelten. sondern auch eine erkleckliche Zahl von
In diversen Brandbriefen an den Tee- Diesmal entzündet sich die Bierwut an Dissidenten aus den Reihen der CSU. Bis
trinker in der Münchner Staatskanzlei wü- der Blechdose, die Großbrauereien in Ende vergangener Woche schlugen sämt-
tet Borges gegen die erklärte Absicht der wachsender Millionenzahl und oft zu liche Versuche des unglücklichen Um-
Staatsregierung, das von der Bundesregie- Dumpingpreisen über das Land der Bayern weltministers Werner Schnappauf fehl, die
Ordnung in den eigenen Reihen wieder-

P. K N E F F E L / D PA
Getränkedosen in herzustellen.
Recyclinganlage Nicht nur im Landtag, auch an der weiß-
blauen Basis erinnern sich viele daran, dass
die bayerische Staatspartei zehn Jahre lang
zu den schärfsten Gegnern des Dosen-Un-
wesens zählte. Als Trittins Vorvorgänger
Klaus Töpfer 1991 die Verpackungsverord-
nung durch den Bundesrat boxte und dar-
in den Grundstein für die nun drohende
Pfandregelung legte, stimmten die Bayern
mit Nein. Urteil des damaligen Umweltmi-
nisters Peter Gauweiler über die Verord-
nung der in Bonn regierenden Schwester-
partei: zu schlapp. In der Länderkammer
regte Gauweiler sogar an, „über ein Verbot
von Getränkedosen nachzudenken“.
Seit in Berlin Rot-Grün regiert, ist alles
anders. Besonders Stoiber geht es im Bun-
desrat um höhere Politik: Mit
Dose auf der Kippe einem erfolgreichen Angriff
gegen Trittins Dosenpfand
Voraussichtliches Stimmverhalten im Bundesrat zum Pflichtpfand
würde die Union auch den
BAYERN BRANDENBURG BREMEN Kanzler treffen, der derzeit in
SCHLESWIG-HOLSTEIN 4 3 NORDRHEIN-WESTFALEN direkter Konfrontation kaum
6 6
SACHSEN-ANHALT 4 zu beschädigen ist.
SPD/CDU
U
CSU

BADEN-WÜRTTEMBERG
SPD/CD

ne

4
SPD

6 Seit Anfang Juni sammelt


/Grü

SAARLAND 3C
SP

HESSEN
/Grü

die bayerische Anti-Dosen-


FD
D

SPD

DU 5
NIEDERSACHSEN
U/
ne

6S P Koalition Unterschriften gegen


CD

MECKLENBURG- PD / FD RHEINLAND-
U 4
rung beschlossene Dosenpfand VORPOMMERN 3 S CD DP PFALZ die Staatsregierung. Am
PD/P P D/F
am Freitag dieser Woche im HAMBURG 3S DS S
CD U 4 SACHSEN Dienstag dieser Woche, wenn
PD/GAL
Bundesrat noch in letzter Mi- BERLIN das Münchner Kabinett seine
nute zu Fall zu bringen. „Die *voraussichtlich 4 SPD/Grüne* CDU 4 THÜ- Position für die Entscheidung
RINGEN
CSU will ein indogermanisches, Enthaltung/ im Bundesrat endgültig fest-
bayerisches Kulturgut töten“, dafür Unentschieden dagegen legt, wollen die Brauer auf
faucht Borges und ruft rund 700 dem Münchner Odeonsplatz
zumeist mittelständische Brauereien in rollen, um die dort ansässigen mittelstän- mit Treckern, Brauereifahrzeugen, Freibier
Bayern zum kollektiven Widerstand. dischen Brauereien aus dem Markt zu und Dosen-Girlanden demonstrieren.
Borges ist mit seiner Wut nicht allein. drängen. Weil der Unmut über die all- Sollte Stoiber sich nicht belehren lassen,
Weil die Union mit dem bayerischen Kanz- gegenwärtige Knitterbüchse nicht nur bei wollen manche Brauereien den Minister-
lerkandidaten-Kandidaten an der Spitze in Brauern und Mälzern grassiert, finden präsidenten direkt angehen: Bierflaschen-
der Berliner Länderkammer die Schmach außergewöhnliche Allianzen zusammen. Etiketten mit Abbildungen des Landesva-
der Niederlagen bei Steuer- und Renten- Seite an Seite mit dem altlinken Bundes- ters und der Aufschrift „Herr der Dosen“
reform tilgen will, ballt sich daheim im umweltminister Jürgen Trittin kämpfen sind schon in Vorbereitung.
Land mit der vermutlich weltweit höchsten konservative Umweltschützer, traditions- Ob Stoibers Kalkül im Bundesrat auf-
Brauereidichte seit Wochen schweres Wet- bewusste Brauer, Getränkehändler und geht, war Ende vergangener Woche völlig
48 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Deutschland

len Dosengegner vor dem Bundesrat che, konterte Trittins Staatssekretär Rai-
den weltgrößten Dosenberg sammeln. ner Baake.
Auch Umweltminister Trittin hat sich zum Franz Heistermann vom Bundeskartell-
„Standdienst“ verdonnern lassen. amt verlangte eine „Denkpause“ und
Mitunter ergeben sich groteske Argu- nahm für seine Argumentation gegen
mentationsketten. Stoibers Umweltminister das Einwegpfand auch das Trittin unter-
Schnappauf findet nichts dabei, mit Ver- stellte Umweltbundesamt (UBA) in An-
tretern von Aldi, Rewe und Metro vor die spruch. Zu Unrecht, wehrte sich Andreas
Öffentlichkeit zu treten, angeblich um das Troge, der Präsident des Berliner Amtes:
traditionelle Mehrwegsystem gegen Trit- Heistermann interpretiere Verpackungs-
tins Dosenpfand zu schützen. Das Argu- studien des UBA falsch. Troge drängt Bund
ment: Weil niemand zwei Pfandsysteme und Länder, mit der Einführung des Pfan-
unterhalten wolle, würden mit Einführung des nicht länger zu zögern, weil der Mehr-
des Dosenpfands und der Aufstellung weganteil ständig weiter sinke.
entsprechender Rücknahme- In Wahrheit geht es nicht
automaten Mehrwegflaschen 80 mehr um das Ob des Einweg-
aus den Regalen genommen. pfands, sondern nur noch um
Zwar lassen mehrere Umfra- 70 71,8 das Wie. Denn sollte der Bun-
gen unter Einzelhändlern das desrat die Regierungsvorlage
O. v. MÜNCHOW / ZEITENSPIEGEL

glatte Gegenteil erwarten, 60 Mehrweg- wirklich kippen, würde das


doch das ficht die Kämpfer flasche alte Recht fortgelten. Das
gegen das Pfand nicht an. Dosen- schreibt ein Pflichtpfand vor,
Eigentlich, findet Jürgen 50 schwemme wenn – wie seit 1997 gesche-
Resch, Geschäftsführer der hen – die geforderte Mehr-
Bier in Deutschland
Deutschen Umwelthilfe, sei 40 wegquote von 72 Prozent dau-
nach Verpackungsart
es „nichts als Slapstick“, erhaft unterschritten wird. Al-
in Prozent*
Rücknahmeautomat (in Norwegen) wenn die Einwegverkäufer 30 lerdings würden zunächst nur
Groteske Argumente gegen das Dosenpfand an- 25,5 Bier- und Mineralwasserdosen
rennen mit dem Argument, 20 bepfandet, nicht aber Cola-
offen. Zwar wird das Saarland vermutlich es schade der Mehrwegquote. Dose oder Fantabüchsen – Ergebnis
aus der Phalanx der unionsregierten Län- Auch hinter den Kulissen 10 einer missglückten Novelle
der ausscheren; doch auch auf Seiten tobt der Dosenkrieg. Die Quelle: GFK aus der Ära von Trittin-Vor-
*ohne Aldi und Tankstellen
der SPD-geführten Länder profilieren Rewe AG äußerte Anfang gängerin Angela Merkel.
sich Abweichler: In Rheinland-Pfalz führt Juni in einem Schreiben an Die verfahrene Situation
Umweltministerin Klaudia Martini (SPD) die Justizminister der Länder 1992 94 96 98 2000 ließ die verfeindeten Lager
seit Monaten einen erbitterten Feldzug ge- massive kartell- und europa- Ende vergangener Woche
gen das Dosenpfand und für die im Land rechtliche Vorbehalte gegen die geplante doch noch auf einen Kompromisskurs zu-
ansässigen Verpackungs- und Weißblech- Pfandpflicht und warf dem Umwelt- steuern. Danach könnte die im Pfandent-
unternehmen. In Nordrhein-Westfalen ministerium vor, bei der EU-Anmeldung wurf der Regierung aufgegebene Mehr-
ficht die grüne Umweltministerin Bärbel der Neuregelung geschlampt zu haben. wegquote auch in Zukunft erhoben wer-
Höhn für das Pflichtpfand und der sozial- Das Schreiben des Lebensmittelkonzerns den, um die Wirkung der neuen Regelung
demokratische Wirtschaftsminister Ernst sei Teil „einer konzertierten Aktion die- seriös bewerten zu können. Außerdem
Schwanhold dagegen. ser Handelskette“, die von Interventionen könnte sich Trittin auf eine Verschiebung
Die endgültige Entscheidung in Düssel- bei ausländischen Regierungen bis hin der Pfandeinführung vom Jahresbeginn auf
dorf fällt diese Woche voraussichtlich nach zu Aufrufen zu „zivilem Ungehorsam“ rei- das Frühjahr 2002 einlassen.
einem Spitzengespräch zwischen Klaus Töpfer, Vater der Ver-
Trittin und NRW-Regierungschef packungsverordnung von 1991,
Wolfgang Clement. Immerhin, steht – wie schon bei der Öko-
nach einer Abwahl Eberhard steuer – klar zu seinem Nach-
Diepgens in Berlin darf die Re- folger Trittin. „Wir können nicht
gierungsseite mit vier zusätzli- die Pfandpflicht als Knüppel im
chen Stimmen eines rot-grünen Sack haben“, so der heutige Di-
Übergangssenats rechnen. rektor des Uno-Umweltpro-
Angesichts der ungeklärten gramms vergangene Woche,
Mehrheitsverhältnisse in der „und wenn es ernst wird, ein-
Länderkammer liefern sich Geg- fach sagen: Vergiss es.“ Ein sol-
ner und Befürworter des Do- ches Signal, fürchtet Töpfer,
senpfands seit Wochen ein würde die Glaubwürdigkeit
Rund-um-die-Uhr-Duell um die staatlicher Umweltpolitik über
Gunst der Politiker. Industrie- die Pfandfrage hinaus untermi-
verbände, Verpackungswirt- nieren.
schaft, Großbrauereien und Auch Gerhard Schröder, heißt
Handel mit den Branchenriesen es, stehe fest an der Seite seines
Rewe, Aldi und Metro an der Ministers. „Hol mir mal ’ne Fla-
Spitze kämpfen gegen das sche Bier“, dichtete der Kanzler
Pfand, mittelständische Braue- schon im vorigen Jahr, „sonst
reien, Getränkefachhandel, Gast- streik ich hier.“
AP

stättengewerbe und Umweltver- Demonstration für Dosenpfand in München Flasche, nicht Dose.
bände dafür. Diese Woche wol- „Die CSU will ein indogermanisches Kulturgut töten“ Gerd Rosenkranz

50 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Deutschland

Prozent eines Abiturientenjahrgangs zum


Studium ein, 1999 waren es nur noch rund
HOCHSCHULEN
65 Prozent (siehe Grafik).
Die Engpässe bei Ingenieuren, Informa-

„Unihits für Kids“ tikern, Naturwissenschaftlern und Lehrern


– vor allem an den Berufsschulen, aber
auch in technischen und naturwissen-
schaftlichen Fächern – werden sich deshalb
Immer weniger Schulabgänger wollen studieren. Vor allem laut einer Prognose der Bund-Länder-
in den Ingenieurwissenschaften fehlt es am Nachwuchs. Kommission für Bildungsplanung und For-
Viele Hochschulen werben bereits gezielt um Abiturienten. schungsförderung weiter verschärfen. Ab
2015 könnte sich die Lage nochmals zu-

N
och vor ein paar Jahren wäre das um IT-Spezialisten die Absolventenlücke spitzen: Dann stehen wegen des Gebur-
alles nicht nötig gewesen. Da war bei den Informatikern. Bald darauf forder- tenrückgangs generell weniger Arbeits-
man bei den Ingenieuren froh, wenn te die Industrie eine Green Card für Inge- kräfte zur Verfügung.
nicht so viele Studenten kamen – die hätten nieure. Mindestens eine viertel Million Im internationalen Vergleich nimmt sich
nur die Hörsäle und Seminare verstopft und Hochschulabsolventen, heißt es in einer die deutsche Akademikerquote ohnehin
wären am Ende doch arbeitslos geworden. Studie des Essener Sozialwissenschaftlers recht mager aus. Während im Durchschnitt
Damals wäre es wohl auch den Maschi- Klaus Klemm, werden im Jahr 2010 fehlen. aller OECD-Länder rund 25 Prozent eines
nenbau-Ingenieuren an der Universität Jahrgangs einen Studienabschluss
Karlsruhe nicht in den Sinn gekommen, sich erreichen, sind es in Deutschland
80
den Abiturienten aus der Region als akade- Weg von der Wissenschaft nur etwa 16 Prozent (siehe Grafik).
mische Strahlemänner zu präsentieren. Im jüngsten OECD-Bildungsbe-
„Früher haben wir den Abituriententag an 76 Wie viele Abiturienten ein richt, den die Organisation vergan-
einem Samstag im November angeboten“, 74 Studium aufnehmen gene Woche vorgestellt hat, wird
West- Anteil in Prozent
erinnert sich Jörg Wauer, Studiendekan an deutsch- 72 72 ein halbes Jahr nach
die geringe Quote der Deutschen
der Fakultät für Maschinenbau, „da war die land Schulabgang ausdrücklich kritisiert.
Uni leer, der Himmel grau, und die Schüler Vor allem in den Fächern, in
mussten auch noch einen freien Tag opfern.“ Ostdeutschland 67 67 denen schon Absolventenmangel
Die Katastrophenmeldungen über Ein- 66 herrscht, bleibt in Deutschland der
stellungsstopps und Entlassungen schreck- Nachwuchs aus: Hier zu Lande
ten in den neunziger Jahren viele tech- 62 werden weit weniger Naturwissen-
nisch interessierte Abiturienten von einem Quelle: HIS
60 schaftler ausgebildet als in vergleich-
Studium ab. Im Fach Maschinenbau an der baren Industrienationen. In einigen
Karlsruher Uni etwa schrieben sich 1990 1990 1992 1994 1996 1999 Ländern, so der OECD-Bericht, ist
noch knapp 450 Erstsemester ein (bundes- die Zahl der neu ausgebildeten Inge-
weit mehr als 17 000) – im Jahr 1996 kamen „Die Nachfrage nach hoch qualifizierten nieure doppelt so hoch wie in Deutschland
rund 300 weniger (bundesweit nur noch Arbeitskräften wird in den nächsten Jahren – etwa in England und Frankreich.
etwa 7000 Studienanfänger). noch ansteigen“, prophezeit Klemm. Gründe für die Studierunlust der jungen
Nur fünf Jahre später beklagt die Wirt- Zugleich zieht es insgesamt weit weni- Generation sind laut Bildungsforscher
schaft den Mangel an qualifizierten Fach- ger Abiturienten an die Universitäten als Klemm einerseits die Signale vom Arbeits-
kräften in fast allen technischen Berufen. noch vor zehn Jahren. Nach einer Unter- markt („Bis vor kurzem erschien ein Stu-
Zuerst offenbarte vor gut einem Jahr die suchung des Hochschul-Informations-Sys- dium nicht mehr so rentabel wie früher“) –
öffentlich geführte Green-Card-Debatte tems schrieben sich 1990 noch knapp 80 andererseits locken immer mehr attraktive

C. PETERSEN / HUMBOLDT-UNIVERSITÄT

Informationsveranstaltung für Schüler (an der Berliner Humboldt-Universität): Fatale Signale vom Arbeitsmarkt?

52 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Alternativen: Wer sich für eine Berufsaka- Roland Steck, Dozent für Mi-
demie oder die Ausbildung in einem Be- kroelektronik, „das prallt an
trieb entscheidet, verdient von Anfang an den Jugendlichen total ab.“
eigenes Geld und hat gute Karrierechancen An der Universität Essen
auch ohne Hochschulzeugnis. können sich Schüler für ein
Viele Hochschulen umwerben inzwischen „Probestudium“ in Informa-
gezielt den Nachwuchs. Der Abiturienten- tik anmelden, in Paderborn
tag an der Universität Karlsruhe findet nicht dürfen die Pennäler Infor-
mehr im November, sondern nun an einem matik-Scheine machen, die

A. LOBE / ZEITENSPIEGEL
Mittwoch im Frühsommer statt, und Stu- ihnen auf ein späteres Stu-
diendekan Wauer begrüßt im Foyer seines dium angerechnet werden.
Instituts die interessierten Abiturienten Die RWTH Aachen lockt so-
persönlich. Fazit seiner Einführungsrede: gar schon Grundschüler in
„Werden Sie Ingenieur!“ ihr Werkzeugmaschinenla-
Danach geht es auf Entdeckungstour bor („Unihits für Kids“) und Dozent Albers*: Werbung durch persönliche Ansprache
durch das Institut für Maschinenkonstruk- tourt zusätzlich mit dem
tionslehre und Kraftfahrzeugbau (MKL), „Science Truck“, einem mobilen Labor im marketing. Auch bei Siemens ist der Mangel
ein Dozent hält eine Schnuppervorlesung, Sattelschlepper, zu den Gymnasien. zu spüren. „Wir kriegen zwar noch die Leu-
ein anderer preist das vielseitige Berufsbild An der TU Darmstadt steigen die Stu- te, die wir brauchen“, so Hartl, „aber im Be-
des Ingenieurs, und in „Workshops“ bauen dentenzahlen in der Elektrotechnik lang- reich der IT-Techniker und Nachrichtentech-
die künftigen Studenten ein sam wieder an, von einer nik-Ingenieure ist es schon ziemlich eng.“
Getriebe auseinander und Auslastung ist der Fachbe- Und das, obwohl Siemens auf Grund sei-
lernen, wie ein Kugellager
Studienabschlüsse reich aber noch weit ent- ner Größe und seines Renommees im
aussieht. pro Altersjahrgang fernt. Wer dort zurzeit sei- Wettbewerb um die begehrten Fachkräfte
Einer, dem die Nach- in Prozent nen Abschluss macht, hat eine Spitzenadresse ist. Wie lange der Ein-
wuchswerbung besonders Berücksichtigt werden Studiengänge laut „Rent a Prof“-Initiator stellungsboom anhält, dazu wagt der Sie-
am Herzen liegt, ist MKL- ab einer Dauer von drei Jahren bis
zum Abschluss. Steck schon fünf Job-Zusa- mens-Mann allerdings keine Prognose:
Chef Albert Albers. Vor fünf gen in der Tasche: „Immer „Man kann schwer abschätzen, was in ei-
Jahren wechselte er vom Großbritannien 36,8 wieder fragen Firmen an, nem Jahr los ist.“
Kupplungshersteller Luk auf ob wir nicht ihre Stellenan- Günter Ermann, Hochschulreferent bei
Niederlande 33,5
einen Lehrstuhl an der Uni gebote aushängen oder ih- der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg,
Karlsruhe. „Damals konnte USA 33,2 nen Absolventen nennen warnt denn auch davor, die Werbung zu
man sich anhand der Stu- Spanien 30,3 können – denen muss ich übertreiben. „Es ist sicher falsch, jetzt wahl-
dienanfänger bereits aus- dann sagen, dass unsere los junge Leute für ein Ingenieurstudium
rechnen, dass die Absolven- Japan 29,0 Leute meist schon vor der zu rekrutieren“, so der Berufsberater. All-
tenzahlen um das Jahr 2001 Frankreich 24,9 Abschlussfeier irgendwo zu schnell produziert nämlich der Hype um
herum total einbrechen wür- unter Vertrag sind.“ den Akademikermangel einen neuen Über-
den“, sagt der Professor „die Schweiz 20,5 Wie etwa beim Elektro- schuss. Im Boom-Fach Informatik etwa hat
Arbeitsämter haben aber Deutschland 16,0 Riesen Siemens. „Im lau- sich die Zahl der Studienanfänger bundes-
noch von einem Maschinen- fenden Geschäftsjahr stellen weit mehr als verdoppelt. Einige Fakultä-
baustudium abgeraten.“ Italien 16,0 wir knapp 6000 Akademi- ten, etwa in Berlin und Potsdam, haben be-
Die effektivste Werbe- Österreich 12,0 reits einen Numerus clausus eingeführt.
maßnahme, findet Albers, Durchschnitt Das Problem haben die Karlsruher noch
ist die persönliche Anspra- aller 30 OECD- 24,9 nicht. Ihr Abituriententag Ende Mai hat
che der Jugendlichen. Re- Länder: seinen Zweck erfüllt. „Ich konnte mir vor-
gelmäßig gehen er und sei- Quelle: OECD „Bildung auf einen Blick“ 2001 her nicht richtig vorstellen, was man im
ne Professorenkollegen an Maschinenbau eigentlich macht“, sagt Phi-
Schulen, halten Vorträge vor Abiturklassen lipp Steinle, 19, aus dem südbadischen Em-
und Oberstufenschülern, um zu vermitteln, mendingen. Der Abiturient würde gern in
„was wir überhaupt machen“. der Automobilkonstruktion arbeiten – der
Seine „tollste Vorstellung“ hatte Albers Informationstag hat ihn überzeugt, dass
in einem Mädcheninternat im Schwarz- Maschinenbau das richtige Fach für ihn ist.
wald: „Die Schülerinnen hatten noch nie Hannes Günther, 19, aus Walldorf hat
davon gehört, dass man auch was anderes sich auch bei den Informatikern umge-
als Medizin oder Biologie studieren kann.“ schaut. „Da war es aber völlig überlaufen“,
A. KULL / VISION PHOTOS

Albers hinterließ offenbar nachhaltigen erzählt er, „die haben zum Teil noch vor
Eindruck: „Einige von denen sind tatsäch- der Tür vom Hörsaal gestanden.“ Er wür-
lich zum Studium zu uns gekommen.“ de wohl eher Maschinenbau studieren –
Auch andere Hochschulen rühren die wenn er sich überhaupt für die Hochschu-
Werbetrommel: Die TU Darmstadt etwa le entscheidet.
wirbt für ihre Elektrotechnik mit dem Pro- Mangelberuf Ingenieur* Nach 13 Schuljahren, meint Günther,
gramm „Rent a Prof“. Die Schulen dürfen „Es ist schon ziemlich eng“ habe er erst mal genug Theorie gebüffelt.
sich einen Wissenschaftler zu einem be- Vielleicht macht er nach dem Zivildienst
stimmten Thema oder auch zu einer Pro- ker ein, allein die Hälfte davon Elektroinge- eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker.
jektarbeit bestellen. Hoch im Kurs steht nieure“, sagt Winfried Hartl, in der Münch- „Danach kann ich ja immer noch studie-
derzeit die Informationstechnik: Was ist ner Konzernzentrale zuständig für Personal- ren“, sagt er.
UMTS, wie programmiert man ein Handy? Studiendekan Wauer hält wacker dage-
„Da dürfen wir dann nicht den Professor * Oben: bei Schnuppervorlesung am Abituriententag in der gen: „Machen Sie gleich das Studium“,
oder den Doktor raushängen lassen“, sagt Uni Karlsruhe; unten: bei Überprüfung einer Gasturbine. mahnt er. Julia Koch

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Versicherungsbetrug ist in Deutschland


eine beliebte Einnahmequelle geworden:
K R I M I N A L I TÄT
Autobesitzer lassen sich auf Bestellung ihre
Wagen stehlen; Urlauber geben vor, ihnen

Blutiger Betrug sei im Ausland der Koffer abhanden ge-


kommen; und wenn eine teure Vase zu
Bruch geht, muss nicht selten die Haft-
pflicht eines Freundes herhalten. Viel häu-
Um Geld zu kassieren, verstümmeln sich Deutsche mit Axt, figer als sich Versicherungskonzerne das
Gewehr oder Messer. Gerichtsmediziner geben vorstellen konnten, verstümmeln sich Bür-
Versicherungen nun Tipps, wie sie Trickser enttarnen können. ger sogar, um ans große Geld zu kommen.
Verlustreiche Unglücke mit Axt, Säge, Keil-
riemen oder Gewehr: Was auf den ersten
Blick wie ein trauriges Schicksal aussieht,
entpuppt sich bei näherem Hinsehen als
grausige Selbstbeschädigung.
Große Unfallversicherer haben ihre
Sachbearbeiter inzwischen gedrillt, ge-
nauestens zu recherchieren, wenn Glied-
maßen verloren gehen. Haben sie doch
lernen müssen, dass vielen Deutschen
schnöder Mammon mehr bedeutet als kör-
perliche Unversehrtheit. Der Mensch blei-
be ein „unfertiges Mängelwesen“, schluss-
folgern ein Hamburger Versicherungsjurist
und zwei Rechtsmediziner nach der Aus-

VERLAG VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT
wertung einiger hundert Fälle, „die Auto-
aggression erscheint in heutiger Zeit weni-
ger ausrottbar denn je“*.
Für die Versicherungsindustrie hat das
Trio deshalb eine Checkliste entwickelt,
die die „Freiwilligkeit einer Verletzung“
Angeblich durch Pflug beschädigte Hand entdecken hilft. Ein Unfall zu einem unge-
wöhnlichen Zeitpunkt gilt ebenso als Ver-
dachtsmerkmal wie etwa das

D
as Drama war auf den Tag geplant. Fehlen des Amputats – die Er-
Bei der Familie aus Thüringen hat- fahrung hat die Verstümme-
ten sich einige Miese angesammelt: lungsexperten gelehrt, dass Be-
Der Groß-Fernseher musste bezahlt wer- trüger oft Daumen oder Zeige-
den und die wattstarke Stereoanlage, da finger verschwinden lassen, um
waren die Konten nun so gut wie leer Spuren zu verwischen.
geräumt. Der Rest ist angewandte
Nur etwas Geld für Notfälle war noch Wissenschaft und detektivische
vorhanden. Das Ehepaar machte sich Fleißarbeit wie etwa im Fall
auf den Weg zu Versicherungsvertre- des thüringischen Daumenver-
tern. Hier unterschrieben die beiden drei lustes. Stutzig machte Exper-
Unfallversicherungen. Verlust oder Funk- ten der Dortmunder Signal-
tionsausfall eines einzelnen Körperteils Versicherung, dass sich die
hätten zwischen 250 000 (Schulter) und Bluttat so kurz nach Vertrags-
7000 Mark (Zehe) in die Haushaltskasse beginn ereignete. Ein Gutach-
gespült. ter stellte fest, dass der Dau-
Nur sieben Tage nach Versicherungs- men der Hausfrau glatt am-
beginn spielte sich in der Küche dann die putiert worden war, „ohne
Tragödie ab: Die Frau des Hauses hatte ein Lappenbildung“ und „ohne
großes Stück Fleisch gekauft und wollte grobe oder feine Knochen-
daraus Koteletts schlagen. Zielsicher zer- splitterung“. Hätte die Hand
schnitt das Küchenmesser den Schweine- aber tatsächlich, wie sie sagte,
muskel, ein Küchenbeil sollte anschließend auf dem Fleisch gelegen, hätten
den Knochen zertrennen. Mit der linken Ausfransungen zu sehen sein
Hand habe sie das Fleischstück festgehal- müssen; das Kotelett hätte
ten, sagte die Hausfrau, mit dem linken nachgegeben, der Schnitt wäre
Daumen wollte sie die Knochen spreizen. unsauber geworden. Vermut-
Das Beil sei niedergesaust und habe, statt lich hätte die Hausfrau den re-
den Knochen zu teilen, ihren Daumen ab- lativ dicken Daumenknochen
STEFAN ENDERS

gehackt.
Alles Lüge, meinte dagegen die Signal- * Eberhard Hildebrand, Klaus Hitzer,
Versicherung, die arme Frau habe sich Klaus Püschel: „Simulation und Selbst-
schädigung“. Verlag Versicherungswirt-
selbst verstümmelt, um Geld zu kassieren Verstümmelungsexperten Eikert, Höke, Asservat schaft GmbH, Karlsruhe; 244 Seiten; 118
– ein Gericht gab der Assekuranz Recht. Alles Lüge? Mark.

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mit dem Küchengerät aber gar nicht erst des Motors nachspüren wollte und dabei
durchbekommen. mit der Hand abrutschte. Mit Schweine-
Nicht immer freilich hilft ein schnelles schwänzen stellten die Mediziner das
Gutachten. Über acht Jahre dauerte es, bis Unglück nach und dann stand fest: Die
die Wahrheit über die desaströsen Trüm- Geschichte war gelogen. Bei einer Hand,
merbrüche eines 36-jährigen Zahntechni- die zwischen Keilriemen und rotierende

VERLAG VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT
kers herauskam. Der ambitionierte Reiter Scheibe gerät, sind nachher laut Gutachten
hatte 230 000 Mark von der Berufsunfähig- „fetzige Haut- und Weichteilzerreißun-
keitsversicherung kassiert, nachdem ihm gen“, unregelmäßige Knochenbrüche und
angeblich ein Futtertrog aus Sandstein auf „Schmieranhaftungen“ festzustellen – kurz-
die Hand gefallen war. Vier Jahre später um: Die Verletzungen sehen ganz anders
teilte die inzwischen mit ihm verkrachte aus als der glatte Schnitt bei dem außer-
Ehefrau der Versicherung mit, ihr Mann ordentlich gut versicherten Versicherungs-
habe sich die Wanne absichtlich auf die kaufmann.
Hand fallen lassen. Und weil ihm die Ver- Besonders kreativ waren in den neunzi- Unfall-Rekonstruktion
letzungen noch nicht schwer genug er- ger Jahren noch Ärzte in ihrem Bemühen, Abstruse Geschichten
schienen, habe ihr Ehemann im Keller mit Cash mit abgetrennten Gliedern zu machen
einer Schraubzwinge so lange auf seine lin- (SPIEGEL 10/1999). Einer etwa wollte erst Die Versicherung zog ihr Angebot alsbald
ke Hand eingedroschen, bis sie für seine mit dem Fuß in den Rasenmäher geraten wieder aus dem Verkehr, nun machen sich
Arbeit völlig unbrauchbar geworden war. sein, beim Griff nach dem Stumpf sei auch die Chirurgen wieder ausschließlich an ih-
Ermittlungen begannen, dann gestand der noch der rechte Zeigefinger zermalmt wor- rer Kundschaft zu schaffen.
Mann. Er musste das schmerzhaft ergau- den – gelogen. Ein anderer hatte berichtet, Seit Laien aber den alten Ärzte-Dreh
nerte Geld zurückzahlen. bei der Entenjagd sei sein Dackel an ein imitieren, schult etwa die Dortmunder Si-
Angetrieben vom Glauben an schnellen dusselig abgestelltes Gewehr gekommen, gnal Iduna ihre Sachbearbeiter in Spezial-
Reichtum oder ein Leben ohne lästige Ar- worauf das Schrot dem Herrchen die linke seminaren. Dafür haben die Referenten
beit, unterschätzen Betrüger die Möglich- Hand weggeblasen habe – gelogen. Bernd-Matthias Höke und Hans-Dieter
keiten moderner Gerichtsmedizin. Selbst Inspiriert hatte die Mediziner eine be- Eikert unvorstellbare Fälle von Selbstver-
Fachleute aus der Assekuranzbranche flie- sondere Police der Aachener und Münche- stümmelung zusammengetragen und auf-
gen deshalb auf. Ein 29-jähriger Versiche- ner Versicherung, die für 100-prozentige gearbeitet. In Bayern wurde Eikert als Re-
rungsvertreter etwa schrieb auf den Scha- Invalidität bei nur einem abhanden ge- chercheur selbst erstmalig darauf auf-
densbogen, der Keilriemen seines Autos kommenen Körperteil zahlte. Dutzendwei- merksam, was Menschen sich selbst antun
habe Daumen und Zeigefinger der linken se setzten daraufhin gut versicherte Ärzte können. Dorthin abgesandt, um die Ab-
Hand abgerissen, als er dem Scheppern kenntnisreich das Skalpell an sich selbst an. wicklung eines Falls – „Daumenverlust
Unfall oder Vorsatz?
links“ – zu übernehmen, hörte er in einer Anzeichen, die auf Selbstbeschädigung Die weitere Recherche ergab jedoch, dass
Gaststätte zufällig ein Gespräch mit. Ein schließen lassen der Vertreter gefälschte Provisionsrech-
bandagierter Mann prahlte, viel Geld von nungen zur Ermittlung seines Einkommens
seiner Versicherung zu kassieren, weil er Unfallversicherung vorgelegt hatte – was die Schadensumme
sich einen Finger abgehackt habe. Der Fall Geldnot des Versicherten hochtrieb. Nun glaubten die Richter die
war schnell erledigt. Mehrere bestehende Unfallversicherungen, ganze Geschichte nicht mehr, das Ober-
Eine flotte Recherche zahlte sich im Fall meist aus eigener Initiative abgeschlossen landesgericht widerrief das Urteil.
eines Mannes aus, der behauptete, durch Versicherungsabschluss und Unfall liegen Doch nicht alle Versicherungen seien
eine tonnenschwere Spannvorrichtung aus zeitlich nahe beieinander ausreichend sensibilisiert, so die Hambur-
Eisen zwei Finger verloren zu haben. Am- Unfallschilderung ger Gerichtsmediziner Eberhard Hilde-
putation von zwei Gliedmaßen – akkurat brand und Klaus Püschel. Zudem würden
Ungewöhnlicher Ort und Zeit des Unfalls
im rechten Winkel –, das machte den Sach- viele Kollegen den Detektiven die Arbeit
bearbeiter stutzig. Er fragte bei anderen Schwer nachvollziehbare Hand- oder erschweren, weil sie Fälle nicht ausreichend
Unfallversicherungen nach: Der Mann hat- Fingerhaltung dokumentierten. Abgetrennte Finger oder
te zwölf Policen unterschrieben, im Invali- Ungewöhnlicher Hergang bei alltäglichen Füße würden achtlos weggeworfen, was
ditätsfall hätte er 4,5 Millionen Mark kas- Tätigkeiten weitere Ermittlungen verhindere.
siert. Gutachter rekonstruierten den Unfall Unterschiedliche Unfallschilderung gegenüber Irritierend ist für Versicherungsleute je-
unter anderem mit der Hand einer Leiche Versicherern, Ärzten oder Sachverständigen doch auch, dass besonders abstruse Ge-
und kamen zu dem Ergebnis, die Spann- schichten wahr sein können. In Düsseldorf
Vertuschung
vorrichtung hätte nur Quetschungen ver- hatte ein 31-jähriger Kochtopf- und Messer-
ursacht. Der Hochversicherte verlor das Unfallort gesäubert, Beweise vernichtet vertreter behauptet, dass zwei weibliche
Verfahren. Abgetrennte Gliedmaßen fehlen Räuber ihn überfallen, ihm mit einem
Bisweilen müssen die Detektive der Ver- Weigerung, Röntgenaufnahmen oder Fotos Steakmesser aus seiner Musterkollektion
sicherungen aber auch woanders nach der Verletzung anfertigen zu lassen die Hoden abgeschnitten und seine Männ-
Lücken im Lügengebilde der Betrüger su- lichkeit im Klo hinuntergespült hätten. Das
chen. Sieben Wochen nach einer kräftigen Schadensanzeige direkt im Anschluss an entmannte Opfer erhielt 32 000 Mark von
den Unfall durch einen Rechtsanwalt
Versicherungserhöhung (Höchstsumme: der Versicherung – doch die Staatsanwalt-
506 400 Mark) fuhr ein Vertreter mit sei- schaft witterte Betrug.
nem Auto nach Bayern. Er habe ange- lich hingefallen, dass ein just vorbei- Vor Gericht bekam der arme Mann dann
halten, so berichtete der Mann, weil er fahrender Zug ihm die linke Hand total Recht. Ein Urologe war es, der das schlag-
seinen Hund Gassi führen wollte. Auf ei- zerquetscht habe. kräftigste Argument lieferte: Den Hoden-
nem Rasen neben Bahngleisen sei er Der Versicherer wollte nicht zahlen und sack abzuschneiden tue derart weh – das
ins Straucheln gekommen und so unglück- ging vor Gericht, wo er zunächst verlor. mache niemand freiwillig. Udo Ludwig
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Deutschland

ter eine Expertise der Wirtschaftsprü-


sich jetzt auch für die Ermittlungen im Fall
A F FÄ R E N
Pilz. Der Karlsruher Jurist ersuchte das fungsgesellschaft Treuarbeit – an Ministe-

Erhebliche Mühlhäuser Landgericht um Amtshilfe


und forderte „etwa vorhandene Unter-
lagen“ an.
rialrat Nehring im Kanzleramt adressiert
waren. Dort verschwanden sie.
Des Kanzlers Mann für die Wirtschaft

Risiken Schon in den bisher gefundenen Thürin-


ger Pilz-Akten taucht inzwischen auf, wer
Ende der Achtziger Rang und Namen hat-
te: der damalige Bundeskanzler Helmut
war in den entscheidenden Jahren des CD-
Projekts in Thüringen. In Erfurt war Neh-
ring zwischen 1992 und 1995 als Finanz-
staatssekretär mitverantwortlich für das
Der Subventionsskandal um
Kohl, der bayerische Ministerpräsident Millionengrab in Südthüringen.
ein Thüringer CD-Werk Franz Josef Strauß, der damalige bayeri- Was sich in dieser Zeit abspielte, blieb
weitet sich aus. Wie im Fall sche Finanzminister Gerold Tandler. der Staatsanwaltschaft Mühlhausen ein
Leuna verschwanden Mitten im Einheitstaumel im Dezember Rätsel. Zwar ging bereits am 30. März 1995
Akten in Kohls Kanzleramt. 1989 waren sich Kohl und Pilz im noblen eine im Fürstentum Liechtenstein aufge-
Dresdner Interhotel Bellevue begegnet. gebene anonyme Anzeige ein, wonach

R
ichter Michael Krämer ist Kum- Noch für den gleichen Abend wurde mit „namhafte deutsche Politiker und Man-
mer gewohnt. Akten wurden ihm der ARD-„Tagesschau“ vereinbart, das er- datsträger“ von Pilz „jeweils 6-stellige DM-
verweigert, Ermittlungen wurden ste deutsch-deutsche Joint Venture zu prä-Beträge“ erhalten hätten. Pilz hatte solche
behindert. Seit der Jurist aus der nord- sentieren – die hochmoderne CD-Fabrik Zahlungen immer bestritten. Stichhalti-
thüringischen Provinz versucht, einen der im Thüringer Wald, eine Kooperation mit ge Indizien fanden die Strafverfolger bis-
größten Wirtschaftskrimis Ostdeutschlands dem DDR-Kombinat Robotron. lang nicht.
aufzuklären, bremsen ihn Mitglieder der Wie brachial das Pilz-Engagement poli- Fest steht aber: Der Traum von der CD-
CDU-Landesregierung aus. tisch protegiert wurde, zeigte sich im MaiFabrik im Thüringer Wald wurde von Be-
Außerhalb des Freistaats hoffte Krämer 1993 vor dem Schalck-Untersuchungsaus- ginn an gegen alle Bedenken von Experten
auf schnellere Aufklärung. Um die Hinter- schuss des Bayerischen Landtags. Der Ex- realisiert. Seit Herbst 1990 warnten Wirt-
gründe des Baus einer nur durch Subven- Stasi-Offizier Alexander Schalck-Golod- schaftsprüfer, Banker und Insider des CD-
tionen am Leben erhaltenen Business in detaillierten Stel-
CD-Fabrik im thüringischen lungnahmen vor „erhebli-
Suhl – die bis heute mehr als chen Risiken“.
eine halbe Milliarde Mark öf- Schon im Monat vor der
fentlicher Gelder verschlang deutschen Einheit war der
– zu ermitteln, wandte sich Vorstand der Berliner Treu-

MARC DARCHINGER
das Landgericht Mühlhausen handanstalt von einem Bran-
an das Kanzleramt. Die Be- cheninsider schriftlich auf die
amten sollten ihre Aktenbe- sich anbahnende „Verschleu-
stände auf Dokumente zum derung von Steuergeldern“
Subventionsskandal durch- Kohl hingewiesen worden. Das
forsten. Pilz-Projekt sei, ergab eine
Doch die Antwort vom Nachrechnung, rund 200 Mil-
Kanzleramtschef Frank-Wal- lionen Mark zu teuer. Die
ter Steinmeier zum Verfah- Treuhandanstalt nahm die
RALF HIRSCHBERGER / DPA

ren 350 Js 41163/95 – 8Kls fiel Hinweise so ernst, dass sie


notgedrungen karg aus: Der die Informationen umgehend
„Vorgang, der nach Verteiler den Fachleuten im Bonner
und Verfügung auch im Bun- Wirtschafts- und im Finanz-
IMO

deskanzleramt vorhanden ministerium vorlegte.


sein müsste“, konnte „bisher Investor Pilz Nehring In Bonn wurde aber ent-
nicht aufgefunden werden“. Thüringer Gesprächspartner: „Verschleuderung von Steuergeldern“ schieden, wie es in einem in-
Die brisanten Daten wurden, ternen Vermerk vom 28.
mutmaßen Fahnder, Opfer der so genann- kowski räumte dort ein, Franz Josef Strauß September 1990 heißt, „die Angelegenheit
ten Bundeslöschtage, an denen Getreue persönlich habe sich für die Belange des bundesseitig nicht aufzugreifen“. Auch die
von Altkanzler Helmut Kohl heiße Akten bayerischen Unternehmers Pilz eingesetzt. Expertise der Bayerischen Vereinsbank
aus 16 Jahren konservativ-liberaler Regie- Auch fand der Ausschuss in Kopien wurde ignoriert. Deren Spezialabteilung
rung verschwinden ließen. Schalckscher Gesprächsvermerke eine No- IBK hatte vor einer viel zu günstigen Kal-
Der dürre Sechszeiler aus Berlin hebt tiz vom 9. Dezember 1988, wonach sich kulation gewarnt und prognostizierte er-
die Affäre in eine neue Dimension. Bisher der damalige bayerische Finanzminister hebliche Verluste. Doch die Marschrich-
ging die Justiz von einem Gaunerstück des Tandler für die hochfliegenden Pläne ver- tung war vorgegeben. „Die Bundesregie-
bayerischen Unternehmers Reiner Pilz aus wandt habe. rung“ wünsche, erklärte Willibald Wenzel,
– begünstigt durch überforderte und Eine Schlüsselperson im Deal ist ein leitender Beamter des Bundesfinanzmi-
blauäugige Landesbedienstete. Mann, für den sich auch des Kanzlers nisteriums, bei einer Besprechung am
Inzwischen findet sich das Mühlhäuser Chefaufklärer Kalf im Zusammenhang mit 22. August 1990 mit Treuhand und Wirt-
Gericht in der Bundesliga wieder, denn der Aktenvernichtung interessiert: Sighart schaftsprüfern, „die rasche Verwirklichung
der verlustreiche Millionendeal wurde von Nehring, in Kohls Endphase Chef der Wirt- dieses vorgesehenen Joint Ventures“.
ganz oben durchgedrückt. Wolfgang Kalf, schaftsabteilung im Kanzleramt und in un- Der Wunsch war Befehl. Und schon kurz
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof terschiedlichen Funktionen von Beginn an nach Produktionsbeginn sprach Friedrich
und von Bundeskanzler Gerhard Schrö- bis 1995 mit dem Pilz-Investment befasst. Stamm, damals Wirtschaftsstaatssekretär
der mit der internen Aufklärung des Im Bundeswirtschaftsministerium gefun- in Thüringen, dann zu Vertrauten von ei-
obskuren Aktenschwundes beim Re- dene Dokumente belegen, dass bereits nem „klassischen Konkursfall“.
gierungswechsel beauftragt, interessiert Ende 1990 Briefe und Unterlagen – darun- Andreas Wassermann, Steffen Winter

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 63
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Gesellschaft
Klüger werden mit:

Ingo Wimmer
Wimmer, 36, Ex-Türsteher im
Frankfurter Nachtclub „Dorian
Gray“, über seine Seminare für
das Überwinden von Türstehern

SPIEGEL: Ab Ende Juni wollen Sie in


Kursen Leuten beibringen, wie man

FOTOS: W. SCHMITZ / BILDERBERG


in einen Club reinkommt. Was sind
die wichtigsten drei Grundregeln?
Wimmer: Kommen Sie vor der Rush-
hour, am besten als Pärchen. Und
verkleiden Sie sich nicht, das merkt
Führungskräfte-Training mit Pferden ein Türsteher sofort. Verzichten Sie
trotzdem unbedingt auf weiße
Socken und zu sportliche Kleidung.
MANAGERTRAI NI NG SPIEGEL: Nur wie man aussieht, ent-
scheidet über draußen oder drin-

Total groggy nen?


Wimmer: Das Entscheidende ist das
Auftreten der Leute: möglichst ge-

P ferdeleuten und Kinogängern müss-


te die Szene bekannt vorkommen:
Da steht jemand in einer Manege und
um, denn „im Großen und Ganzen ver-
hält sich das Pferd zum Menschen wie
ein Mitarbeiter zum Chef“. Aufgabe ist
langweilt, lässig und selbstbewusst –
auf gar keinen Fall
unterwürfig oder
jagt ein Pferd im Kreis herum, bis das es unter anderem, die Pferde zu moti- aggressiv.
Tier den Kopf senkt und damit Bereit- vieren und zu loben. Fähigkeiten, an SPIEGEL: Sie bieten
schaft zur Zusammenarbeit signalisiert. denen es nach Krebs’ Beobachtungen also in Wahrheit
Der als Pferdeflüsterer bekannt gewor- Führungskräften im Management heute psychologische Be-

MÖLLER / BILD ZEITUNG


dene US-Amerikaner Monty Roberts mangelt. Auch Zuhören soll gelehrt ratung an?
machte diese Methode der Zähmung in werden, denn „in leitender Position Wimmer: Nein, das
Europa bekannt, durch Robert Redfords verliert man heute zu schnell die Ner- nicht, dafür wür-
beherzten Einsatz in der Hollywood- ven, dadurch misslingen die Ge- de ein Nachmittag
Verfilmung des Stoffs wurde sie welt- spräche“. Öfter als alle 14 Tage möchte auch nicht ausrei-
berühmt. Mittlerweile können sich auch Krebs seinen Pferden den Umgang Wimmer chen. Ich erzähle
Manager an ihr erproben. Gerhard mit Managern allerdings nicht zumuten, Anekdoten, ver-
Krebs, 53, Computerfachmann und die vier mächtigen Friesenwallache rate kleine Tricks und übe mit den
Pferdebesitzer im Odenwald, widmete seien nach solchen Begegnungen „total Teilnehmern durch Rollenspiele. So
Roberts’ Methode zum Managertraining groggy“. erfahren sie, was sie falsch machen.
Oft hilft es ja schon, wenn man end-
lich weiß, woran es liegt, dass man
immer wieder abgewiesen wird. Und
SACH BUCH durch seinen Nachfolger „Next Eco- nach dem Seminar biete ich meinen
nomy“. Horx’ These: Sind erst Kunden noch an, mit zwei Türsteher-
Das Paradies kommt schwächelnde Dot.coms verschwunden
und starke ganz oben, wird die Gesell-
Kollegen aus Düsseldorf durchs
Frankfurter Nachtleben zu ziehen.

E s ist ein altes Prinzip: Wenn lange


über einen Umstand geklagt wurde,
erklärt jemand denselben Umstand für
schaft geprägt sein von Unternehmen,
die „den Wettbewerb mit einer sozialen,
schöpferischen und menschlichen Kom-
SPIEGEL: Ist nicht bereits die Anmel-
dung zu Ihrem Seminar eine Kapitu-
lation?
begrüßenswert. Genau dies macht jetzt ponente“ versehen. Mit anderen Wor- Wimmer: Das glaube ich nicht. Tür-
der Zukunftsforscher Matthias Horx, ten: Alles wird gut für die „Ressource steher werden zu sehr bewundert.
45, mit der Arbeitswelt. Wurde bislang Mensch“. Für Horx sowieso, denn er hat Dabei machen die meisten den Job
gewarnt vor deren Flexibilisie- zu seiner wahren Bestimmung nur, weil sie selbst nie reingelassen
rung bis hin zur befürchteten gefunden: Fällt die logische wurden. Mit diesem Wissen sollte
gänzlichen Abschaffung gesi- Beweisführung schwer, helfen man sich vor die Tür stellen. Natür-
cherter Arbeitsplätze, so kehrt Kapitel-Überschriften, die sich lich kann ich aber keinem Schwar-
Horx in seinem „Smart Capita- wie Predigten lesen: „Die wah- zen helfen, wenn er an einen Türste-
lism“ den Spieß um und erklärt re neue Ökonomie beginnt her gerät, der es sich zum Prinzip
„das Ende der Ausbeutung“ im Herzen“. Gewiss. Und wer gemacht hat, keine Schwarzen rein-
durch die Meriten der Netz- Horx glaubt, wird selig. zulassen. Dem bleibt dann nur noch
werktechnologie. Zwar befindet die Möglichkeit, sich in dem Club als
sich der Neue Markt im Senk- Matthias Horx, „Smart Capitalism“. Eich- Kellner oder Barkeeper zu bewerben.
flug, aber schon lauert Rettung born Verlag, Frankfurt; 204 Seiten; 44 Mark.

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 67
Szene

Was haben Sie da


gedacht, Herr Verheugen?
EU-Kommissar Günter Verheugen
über seinen ersten Besuch im neuen
Kanzleramt
„Verflixt, dachte ich, eng im neuen Ka-
binettssaal. Ich war an diesem Vormittag
Gast der Kabinettssitzung und zum ers-
ten Mal im neuen Kanzleramt. Gerade
habe ich den für mich vorgesehenen
Platz zwischen Kanzler und Vizekanzler
gefunden, kurz mit Fischer geplaudert
und versuche jetzt, meine Aktentasche
auf der Kanzlerseite unterzubringen.
Nachdem ich zuletzt in einigen Haupt-
städten kritisiert worden bin, dem Bun-
deskanzler bei der EU-Erweiterung zu
sehr entgegenzukommen, beweist die-
M. EBNER / MELDEPRESS

ses Foto: Es ist nicht wahr, dass zwi-


schen Gerhard Schröder und mich kein
Blatt Papier passt! Wenn man sich tief
bückt, passt eine ganze Aktentasche
dazwischen.“

Fischer, Verheugen

FOTOGRAFIE INTERNET

Krude Mode aus Japan Abschied vom Gratis-Web


E uropäische Designer orientieren sich an Straßenmode, wie sie täglich
neu in London oder Los Angeles zu besichtigen ist. Alles nichts gegen
Tokio: Junge Japaner, zeigt der Fotograf Shoichi Aoki, sind an rebellischer
D ie Zeit der vielen kostenlosen Service-Ange-
bote im Internet geht offenbar ihrem Ende
entgegen. Nicht allein die Musiktauschbörse
Kreativität in Sachen Street Fashion kaum zu übertreffen. Aoki veröffent- Napster wird bald kostenpflichtig: Immer mehr
lichte in seinem monatlichen Ma- Firmen stellen ihre Gratis-Dienstleistungen ein,
gazin „Fruits“ regelmäßig Porträts so wie etwa der Webspace-Anbieter Idrive. Bis
junger Japaner zwischen 12 und 23 zum vergangenen Wochenende konnten Inter-
Jahren aus Tokio – und brachte auf net-Nutzer bei Idrive kostenlos ihre Datenbe-
diese Weise die aktuellsten stände lagern, so als hätte man eine zusätzliche
Straßenkreationen unter Japans Festplatte. Die Daten, beispielsweise Musik-
Jugendlichen in Umlauf. Die Kon- stücke, ließen sich dadurch auch sehr einfach an-
kurrenz wirkte belebend, bald deren Nutzern zur Verfügung stellen. Ab dieser
übertrafen die Kostümierungen Woche kostet der Service knapp fünf Dollar im
einander an Phantasie. Die in den Monat. Bei anderen Anbietern gibt es nur noch
Vierteln Shibuya oder Shinjuku Minimal-Angebote gratis: Der E-Mail-Service
geborene ironische Mischung aus GMX vergibt zwar immer noch kostenlos E-Mail-
selbst entworfener oder genähter Adressen – größere Dateien lassen sich über
Kleidung und internationaler Desi- GMX aber schon jetzt nur empfangen, wenn
gner-Mode stellt jedenfalls für eu- man monatlich mindestens fünf Mark bezahlt.
ropäische Fashion-Interessierte in Und der Online-Musikanbieter Mp3.com ver-
Sachen Stilbruch alles Dagewesene sucht seit kurzem, mit komfortableren Suchmög-
in den Schatten. Denn anders als lichkeiten und zusätzlicher Software Kunden
in Europa entscheidet in Tokio in seinen neuen Bezahldienst zu locken. Von
nicht der neueste Trend über das Sexseiten einmal abgesehen, wurden kosten-
Outfit, sondern der unbedingte pflichtige Angebote im Netz bislang kaum ange-
Wunsch nach Innovation und nommen: Die Ideologie aus der Frühzeit des
PHAIDON VERLAG

Individualität. Aokis Aufnahmen Internet, nach der alle Informationen frei für
sind jetzt unter dem Titel jedermann sein müssen, galt als unumstößlich
„Fruits“ im Berliner Phaidon Ver- und unangreifbar – mittlerweile hat das hehre
Straßenmode in Tokio lag erschienen. Prinzip nur noch nostalgischen Wert.
68 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE nicht ab wie ein Verurteilter, er schrei-
tet eine Showtreppe hinunter. Dann
trinkt er einen Schluck Kaffee, den ihm

Der Banker, der Geld verschenkt seine Frau im Thermoskannenbecher


hinhält, findet zu alter Form zurück und
seine Sprache wieder.
Ein Filialleiter nahm den Reichen und gab den Armen. Wie gut, dass das vorbei sei, jetzt
müsse er vorwärts schauen, auch wenn

W
er weiß schon, ob ein Herz wirkt kein bisschen zerknirscht, in seiner der Zivilprozess noch ausstehe und die
hart oder weich ist? Ob es auf Stimme liegt sogar ein Anflug von Trotz, Sparkasse vielleicht mit den Regress-
Druck eines Daumens nach- trotz Reueeingeständnis. ansprüchen durchkomme, na ja, hilft
gibt wie ein Klumpen Knete – oder starr Sicher habe er geahnt, dass es man- alles nichts. Guckt dabei so jovial über
und hart bleibt wie ein kaltes Steak? chem nicht gelingen würde, die Schul- seinen Schnauzer hinweg, so ungeheuer
Der Richter nicht, der Staatsanwalt den auszugleichen. Bloß war es da be- rechtschaffen und nett, dass man ihm
nicht, nicht einmal der, für den es reits zu spät für die Wahrheit. Zudem auf Anhieb alles anvertrauen möchte:
schlägt: der Angeklagte. fiel niemandem – nicht einmal den be- die eigenen Nöte, die EC-Karte, das
„Haben Sie ein großes, Sparbuch. Versteht, war-
weiches Herz für arme, um seine Kunden ihm
arme Leute?“, fragt Rich- Blankounterschriften leis-
ter Schmitz, weißhaarig, teten, nie an seinen Emp-
streng und schelmisch, und fehlungen, Zweit- und
Hans-Jürgen P., der Ange- Drittkonten einzurichten,
klagte, serviert ihm eine zweifelten. 30 Jahre war er
Antwort, die wie eine Fra- bei der Sparkasse, schon
ge klingt: „Ich mag ein wei- als Lehrling für 200 Mark
ches Herz haben, aber ich pro Monat, angestoßen
habe mich immer dagegen von den Eltern, da, Sohn,
gewehrt, von der Presse hast du eine sichere Sache.
Robin Hood genannt zu Meldung aus der „Bild“-Zeitung Stieg auf, wurde von allen
werden.“ als sehr erfolgreicher, sehr
Robin Hood ritt durch den Sherwood trogenen Kunden selbst kluger Kollege geschätzt.
Forest, für eine gerechtere Welt: Er – sein eigenmächtiges Dann das. Die Wirk-
nahm von den Reichen und gab den Ar- Umverteilungssystem auf, lichkeit wechselte überra-
men. Hans-Jürgen P. ritt nicht und „trug das kein System war, schend die Richtung. War-
auf dem Kopf auch keinen Filzhut mit sondern Chaos. Erst eine um? „Ich verstehe mich
Feder“, wie der Richter, ein leichtes interne Prüfung brachte teilweise selbst nicht“, sagt
Lächeln im rot gebrannten Gesicht, fest- die Manipulationen ans P. Irgendwann sei ihm die
stellt. Nicht eindeutig feststellbar sei, Licht. Viel mehr sagt P. Geschichte einfach aus dem
warum der 48-jährige Familienvater nicht, lächelt allenfalls Ruder gelaufen, weil er
nahm und gab: fast 1,9 Millionen. gequält, wenn der Rich- schlecht „Nein sagen kann“.
Diese Summe hat P. während seiner ter seine Scherze macht: So gab er jedem seine
letzten drei Jahre als stellvertretender Hätten Sie nicht gleich Chance, als habe er einen
Leiter einer Bielefelder Sparkassen-Fi- eine Million abheben ganzen Sack voll Möglich-
liale umverteilt; er bewilligte armen und die der Bahnhofs- keiten zu verschenken. Ei-
A. ZELCK

Schluckern Kredite, ohne große Aus- mission vor die Tür le- nige hätten sich auch tat-
sicht auf Rückzahlung, und zapfte dann gen können? sächlich wieder berappelt,
Geld von den prallen Konten vermö- Am Ende ist Schluss Ex-Banker Hans-Jürgen P. nachdem er noch mal 15000
gender Kunden ab, um es den Minus- mit lustig, P. wird zu drei draufpackte. Einer türki-
kandidaten zuzuschustern. Deshalb trägt Jahren Freiheitsstrafe verdonnert. „Ich schen Familie gewährte er Kredite über
P.s Gerechtigkeit nun statt Federhut das glaube Ihnen, dass Sie den Menschen 680 000 Mark – bei einem Einkommen
Aktenzeichen 1774/99 – Anklage wegen helfen wollten“, so der Richter in seiner von 2000 Mark. „Bei den Türken“, sei
Untreue, Urkundenfälschung, Betrug Urteilsbegründung, „Sie haben nur ei- seine Erfahrung, „gilt das Wort noch.“
und Computerbetrug in 139 Fällen. nen geringen Teil der Summe, maximal P. bedauert, dass es immer nur ums
Der Angeklagte ist seltsam ruhig, sein 25 000 Mark, für sich verwendet. Aber Geld geht, „daran wird heute alles ge-
linker Fuß im blanken Schuh wippt ein mit Robin Hood hat das nichts zu tun, messen, alles“. Klar, seine Verachtung
wenig, sein Zeigefinger hält die Schläfe. schon weil Sie das Vertrauen Ihrer Kun- fürs Geld, ausgerechnet bei ihm, einem
Er sagt im Prozess nur das Nötigste, lässt den missbraucht und viele Ihrer Pro- Banker, das sei natürlich eine Ironie
den Staatsanwalt, einen zappeligen blemkunden immer tiefer in die Ver- des Lebens. Dennoch lasse er sich nicht
Schnellredner wie Dieter Thomas Heck, schuldung getrieben haben.“ Allerdings daran hindern, einem armen Schwein
eine halbe Stunde die Anklagepunkte habe ihm die Sparkasse die Schiebereien was zuzustecken, egal, ob der’s versau-
herunterrasseln, um schließlich ein paar leicht gemacht. fe. „Ich gebe doch nicht Leistung für
karge Sätze hervorzupressen, etwa „Die P. schlenkert aus dem Saal, Arme und Leistung“, sagt P., „schließlich spende
Vorwürfe treffen zu“ oder „Ich möchte Beine raumgreifend von sich werfend, ich der Krebshilfe doch nicht deshalb
mich der Verteidigung anschließen“ und während er in seinem Mundwinkel ei- Geld, um selbst keinen Krebs zu be-
zuletzt „Ich nehme das Urteil an“. Er nen Schnalzer explodieren lässt. Er geht kommen.“ Anuschka Roshani

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 69
Gesellschaft

DENKMAL

Lara Croft im Killing Field

Die 700 Jahre alte Tempelanlage Angkor Wat im kambodschanischen Dschungel ist eines der größten
und schönsten Bauwerke der Menschheit. Durch den Hollywood-Film „Tomb Raider“ wird
die Welt sie neu entdecken – und dann voller Bewunderung zerstören. Von Alexander Smoltczyk

D
as Leben war kein Spiel für Lara Die Leben von Lara Croft und Aki Ra und Schützengräben für sie gebaut. Er hat
Croft. Ihr Vater ist auf einer Expe- überkreuzten sich ein einziges Mal. Das die Granathülsen nach Größe und Her-
dition verschollen; sie überlebte nur war im November vergangenen Jahres, als kunft sortiert, Blumen in die „Maiskol-
knapp einen Flugzeugabsturz im Himala- sich von Westen ein Heerzug auf die Rui- ben“-Minen gestellt und seine Erinnerun-
ja, zog sich nach Croft Manor zurück und nenstadt Angkor zubewegte. Der Treck gen aufgemalt. Zerfetzte Körper, Schä-
jagt seither geheimnisvollen Kunstschät- wurde von Minensuchern begleitet und delhaufen, Explosionen. Alpträume in
zen hinterher, immer verfolgt vom Bösen, von Pionieren der Königlich Kambodscha- heiterem Acryl. Er hat Info-Blätter in drei
immer gehetzt und auf der Hut. nischen Armee. 30 Trucks, diverse Gelän- Sprachen ausgelegt und die Stapel gegen
Das Leben von Aki Ra ist dagegen ziem- defahrzeuge und Motorräder staubten die den Wind mit chinesischen „Type 72“-
lich gewöhnlich, es ist die Biografie eines Straße von Thailand herauf, darunter ein Landminen beschwert. „Ich hatte noch nie
28-jährigen Kambodschaners. Der Vater martialisch bemaltes Gefährt mit einer Hal- von Lara Croft gehört“, sagt Aki Ra und
wurde von den Roten Khmer getötet, weil terung für Raketenwerfer auf dem Dach. Es zieht ein Papier aus dem Stapel. Die Mine
er sich von einem Schwächeanfall zu näherte sich etwas, das die Bewohner der fällt zu Boden. Sie ist entschärft.
schnell erholt hatte („Simulant“). Die Mut- Gegend auch noch Monate später nur als Um vier Szenen aus dem Leben von
ter erschlagen, weil sie einen Bauern er- „The Hollywood“ benennen. Lara Croft zu erzählen, hat „Paramount
mahnt hatte, seine Reisschale nicht zu ver- Um sein Leben zu erzählen, hat Aki Ra Pictures“ ein Team von 150 Filmleuten aus
schütten („Kollaboration mit Saboteuren“). sich lebensgroße Rote-Khmer-Puppen den USA und England nach Siem Reap
Sein bester Freund zu Tode geknüppelt, genäht, ihnen echte Uniformen angezogen fliegen lassen, hat sämtliche Dolmetscher
weil er den Schweinen ihr Futter wegfraß der Gegend angeheuert und
(„Sabotage“). für die einwöchigen Drehar-
Mit zehn Jahren musste Aki Ra Minen beiten ein totales Fotografier-
legen, mit zwölf ließen ihn die Vietname- verbot erlassen. „Tomb Rai-
sen die Minen wieder einsammeln. Letztes der“ werde der Film heißen,
Jahr wurde er eingesperrt, weil er bei sich sagten die Filmleute den Ein-
zu Hause einige Tonnen Granaten und wohnern, das heißt „Grabräu-
Panzerminen angehäuft hatte. Denn Aki ber“ und ist eines der erfolg-
Ra ist der Betreiber eines „Landminen- reichsten Spiele des digitalen
Museums“ in Siem Reap, der Provinzstadt Zeitalters – dank der Cyber-
im Nordwesten des Landes. Ein Privatmu- heldin Lara Croft.
seum, am Rande des tausendjährigen Tem- Das Reich der Khmer-Herr-
pelreichs von Angkor und angefüllt mit al- scher umfasste im 12. Jahr-
G. SCHIEFER

lem, was Ra in den letzten Jahren aus der hundert den größten Teil Süd-
Erde gegraben hat. Warum? „Weil die Tou- ostasiens, vom heutigen Laos
risten wissen sollen.“ Schädel von Völkermord-Opfern: „Ein origineller Drehort“ bis zur Malaiischen Halbinsel,

70 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Tempelruine Angkor Wat: Im 12. Jahrhundert eine Millionenstadt

schönsten Tempel ihrer Zeit. Es blieben aufgequollene Mauern und


Es sind Abbilder des Univer- grünspanige, schwarz angelaufene Stein-
sums, mit den beiden „Ba- quader, die nur von den narbigen Luft-
ray“-Bassins als Urmeer, mit wurzeln einer Würgfeige zusammengehal-
den drei aufragenden Ge- ten werden; Ruinenlandschaften, in denen
birgs-Galerien, die den Hi- es frühmorgens nach Blüten riecht, wo Ur-
malaja meinen, den fünf Tür- waldvögel glucksen, Frösche knarren, und
men der Götter und in der vollbusige, steinerne Tänzerinnen ihre Fin-
Mitte der Berg Meru, das my-
thische Zentrum der Welt. Lara Croft ist eine
Jeder Bau perfekt in Maß Männerphantasie mit
M. STANDEN (gr. ob.); CONCORDE (li.); J. BANNING / LAIF (re. kl.)

und Symmetrie und verziert


mit Zigtausenden Figuren und
Honigmelonenbrüsten
Statuen. Das Relief am Haupt-
tempel Angkor Wat ist einen
halben Kilometer lang, voller
sich in Lotosblüten räkelnder
Schiwas und Tempeltänzerin-
nen, leichtfüßigen, schlangen- ger spreizen, sanft lächelnd inmitten all der
schwänzigen Wassernym- Zerstörung. Es blieb eines der größten und
phen, Kriegern, Elefanten und schönsten Bauwerke der Menschheit – die
Göttern. Alle lächeln. Nur die perfekte Kulisse für die Verfilmung eines
Krieger nicht. Die schlagen Videospiels.
mageren Menschlein Nägel in Vor zehn Jahren war das Gebiet der
den Körper, zerren ihnen die Angkor-Tempel noch Kriegsschauplatz. Re-
Lara-Croft-Darstellerin Jolie: „Sexiest woman of the year“ Zunge heraus und durchboh- gierungstruppen und Rote Khmer hatten
ren sie mit ihren Speeren. sich abwechselnd zwischen den lächelnden
vom Südchinesischen Meer bis weit nach Nach jüngsten Auswertungen von Satel- Steinnymphen verbarrikadiert und legten
Thailand hinein. Angkor war eine Mil- litenbildern ist das Angkor-Imperium an sich Minen vor die Füße, als wären es
lionenstadt, zehnfach so bevölkert wie seiner eigenen Größe untergegangen. Im Knallerbsen. Noch vor wenigen Jahren ist
Paris und über 1000 Quadratkilometer ver- 15. Jahrhundert war das Kanalsystem zu ein Tourist von Guerrillas erschossen wor-
zweigt. Seine Reisfelder und Gärten wur- verzweigt, um die Sedimente noch fort- den, vor vier Jahren gab es den letzten
den bewässert durch ein ausgeklügeltes Sys- waschen zu können. Die Kanäle versan- Putsch. „Wir suchten nach einem originel-
tem von Kanälen, Staubecken und Sielen, deten, die Felder verdorrten, und binnen len Drehort“, hat der Regisseur Simon
das im Rhythmus des Monsuns pulsierte. kurzem waren die Bibliotheken vermodert West erklärt.
Zur Blütezeit Angkors verbrachten die und die hölzernen Siedlungen von Termi- Angkors Steine haben ein halbes Jahr-
Menschen ihr Leben damit, Reis anzubau- ten verdaut. Es blieben nur die Steine, die tausend voller Monsungüsse und Ameisen,
en und steinerne Tempel zu schnitzen, die Sprache und der Dschungel. voller Fledermaus-Urin und Würgefeigen
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 71
Gesellschaft

überstanden. Die Ruinenstadt hat den An- Und dass sie sich für die Rolle ihren
sturm der Cham-Völker im Mittelalter er- Hintern wieder angefuttert habe. Ihr ers-
lebt, die Bomben der U. S. Air Force, die ter großer Film hieß „Der Knochenjäger“,
Granaten der Roten Khmer und das Ziel- der folgende, für den sie einen Oscar
schießen der Vietnamesen. Sie steht im- bekam, hieß: „Durchgeknallt – Girl, Inter-
mer noch. Selbst die Tempel- und Grab- rupted“.
plünderer haben sich in abgelegenere Ge- Das Geheimnis des Erfolgs von „Tomb
biete verzogen. Raider“ ist Lara Croft. Ein Wesen, wie es
„Um ganz ehrlich zu sein, hätten wir lie- sich Computer-Programmierer in einsamen
ber einen romantischen Film gehabt“, sagt Nächten zusammenpixeln. Lara Croft ist
Ang Choulean, Direktor der für die Tem- die Synthese von Pamela Anderson, Batgirl
pelstadt zuständigen Behörde „Apsara“. und Athena. Eine Männerphantasie mit
„Wir wollen der Welt kein Bild von Angkor Honigmelonenbrüsten, Wespentaille und
als Grabstätte geben.“ Choulean ist einer Engelsgesicht, von deren Leibhaftigkeit of-
der besten Kenner der Khmer-Kultur, ein fenbar genügend Leute überzeugt sind,
feinsinniger Gelehrter, den es an die Spit- um Liebesbriefe durchs Netz zu jagen und
ze einer Behörde verschlagen hat. Und er Fan-Clubs zu gründen.
hat mit Sicherheit noch nie seinem Sohn Lara Croft ist auf über 200 Titelseiten
beim „Tomb Raider“-Spiel zugeschaut. zu sehen gewesen und einmal zum „Se-
Deshalb sagt er: „Die Filmleute haben mir xiest Woman of the Year“ ernannt wor-
versprochen, dass kein Blut und keine Ge- den. Eine halbe Milliarde Dollar hat die
walt vorkommen würden, nur ein paar Ge- britische Firma Eidos bislang mit ihr Mönche in Angkor Wat: Die letzten paar hundert
wehre.“ umgesetzt, und wenn der 100-Millionen-
Okay, werden die Filmleute gesagt ha- Dollar-Film „Tomb Raider“ nächste Wo- „The Hollywood“ zahlte den Tempel-
ben, natürlich auch diverse AK-47, Rake- che in die Kinos kommt, dann war das erst hütern der Apsara-Behörde 10 000 Dollar
tenwerfer, explodierende Tempeltore und der Anfang. Denn wenn es gelingt, die Fan- pro Drehtag und fing an, die Ruine des
Kampfmobile – aber es ist doch nur Cyber- tasy-Süchtigen, manischen Tastendrücker „Todestors“ am Westeingang von Angkor
Gewalt, Mister Choulean. „There’s gonna und Joystick-Befriedigten in die Kinos zu Thom, dem Herrscherpalast, mit Styro-
be a lot of kick-ass-action, for sure“, hat die locken, dann wäre das für Eidos und porquadern wiederaufzubauen. Die loka-
Hauptdarstellerin Angelina Jolie erklärt. Paramount die beste aller Welten. le Minensuch-Einheit „Halo Trust“ hatte

CONCORDE

Dreharbeiten zu „Tomb Raider“: „Die Filmleute haben versprochen, dass kein Blut und keine Gewalt vorkommen würden“

72 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Der ehrwürdige Abt Leang Chuon ist
ein hakennasiger, bis zum Kehlkopf täto-
wierter Mann von 68 Jahren. Neben ihm
stehen Duftstäbchen und eine Reihe leerer
Red-Bull-Dosen. „Das Hollywood“, sagt
er, „wird der Welt zeigen, dass Kambo-
dscha friedlich ist und es viele Mönche gibt.
Angkor wird wieder groß werden. So, wie
es in den Schriften steht.“ Er ordnet seine
Kutte. Auf seiner Brust sind die Türme von
Angkor Wat eintätowiert.
Ein junger Mönch fächelt ihm Luft zu.
Auch dessen Kutte ist neu. „Ja. Alle Mön-
che haben mitgespielt“, sagt der Abt. In ei-
ner Szene, wo diese Frau aus dem heiligen
Becken vor dem Tempel steigt und geseg-
net wird. Oder so ähnlich. Nur waren die
in Kambodscha üblichen curryfarbenen
Gewänder dem Art-Director von „Tomb

J. GUARIGLIA
Raider“ zu fade. Also ließ er 210 schreiend-
orangenfarbige Kutten nähen und verteil-
Jahre hat sich nicht viel verändert, die Menschen warten auf die nächste Katastrophe te sie an die Mönche.
„‚The Hollywood‘ wird mehr und mehr
die Drehorte für minenfrei erklärt und Die vier in Angkor gedrehten Filmsze- Touristen nach Angkor holen, und sie wer-
dann alle Aktivitäten gestoppt, weil ihr nen beschreibt sie so: „Vier Männer zogen den meinen Mönchen mehr und mehr Es-
Fahrzeugpark gebraucht wurde. Überall an Seilen, bis das Todestor zusammen- sen verteilen. Die Mönche werden sehr
rannten Leute herum, auf deren T-Shirts stürzte, dann sprang Tomb Raider heraus, glücklich sein“, sagt der ehrwürdige Abt.
„Waterboy“, „Sound“, „Special Effect“ und alles war voller Rauch. Im Tempel Ta „Very happy.“
standen. Prohm winkt Tomb Raider einem Flugzeug Der Satz ist erstaunlich oft zu hören.
Die Paramount-Leute suchten sich in zu. Aber im Himmel war kein Flugzeug, Nachdem sie die letzten 20 Jahre um- und
den Ausländerbars ihre Statisten zusam- weil die Regierung dem Hol-
men und fingen an, im heiligen Becken von lywood kein Flugzeug geben
Angkor Wat ein schwimmendes Dorf auf- wollte. Es gab nur eine
zubauen. Alle Bauern mussten vietname- Windmaschine.“ Von einer
sische Spitzhüte tragen, weil das mehr nach anderen Szene weiß sie nur,
jenem Asien aussieht, wie es in den Köp- dass Angelina Jolie zwi-
fen der Amerikaner zu finden ist. schen den Trümmern her-

C. BOISVIEUX / BILDERBERG (kl. li.); J. GUARIGLIA (re.)


Die letzten paar hundert Jahre hat sich umgerannt sei und irgend-
in Angkor nicht viel verändert. Die Men- etwas gesucht habe, und
schen leben noch so, wie es die Reliefs des irgendwann sei sie von
Bayon-Tempels schildern. Hüten ihre Tie- Mönchen gesegnet worden,
re, ackern, gießen, düngen und warten auf die komische Kostüme
die nächste Katastrophe. anhatten.
Plötzlich erschienen in den Dörfern Leu- Ein spannender Film. Auf
te mit schwarzen T-Shirts und kauften den dem Weg zu den Mönchen
Bauern ihre Fischreusen und Fahrräder ab: erwähnt Frau Bat noch
„Alte Bambusreusen, für einen Dollar!“ ihren Cousin Hom Jan. Der
Die Bauern können es auch heute noch sei als Schüler gezwungen
nicht fassen. „Sie sagen“, sagt Frau Bat, die worden, seinen Lehrer mit Kriegsmuseumsbetreiber Aki Ra: Die Mine ist entschärft
Dolmetscherin, „sehr glücklich. Very hap- einer Hacke zu erschlagen.
Die Roten Khmer hätten ihm Palmwein zu umerzogen wurden und ihre Felder mit
„The Hollywood“ kam trinken gegeben. Er habe später keine Kin- Bomben und Minen gedüngt, von Leuten,
mit 30 Trucks und einem der haben wollen. Oder können. Die Kno- die das Richtige für sie wollten, nachdem
chen des Lehrers liegen noch auf einem ihre Eltern, Lehrer und Kinder vorsorglich
Raketenwerfer sonnenverbrannten Feld an der Straße. totgeschlagen wurden, sagen die Menschen
Etwa an der Stelle, wo während der Dreh- in Kambodscha: „We’re very happy“ – und
arbeiten die Trucks von Paramount ge- sie lächeln wie ihre Steine.
parkt haben. „Die Kinder glauben nicht, Auch der Abt Leang Chuon lebte schon
was wir ihnen erzählen“, sagt Frau Bat, vor der Pol-Pot-Herrschaft in diesem Klos-
„und die Alten wollen es nicht mehr ter. Als die Roten Khmer 1973 ihre Flagge
py.“ Was tut man jetzt in Siem Reap? hören.“ über dem Angkor-Tempel hissten und be-
„Many free time“, sagt Frau Bat. „Sit thin- Direkt neben der alten Tempelanlage, gannen, die Statuen aus der „Tausend-
king, thinking.“ wo Touristengruppen in backender Hitze Buddha-Galerie“ nach Thailand zu tragen,
Sie ist eine demnächst niederkommen- durchs Hindu-Göttergewirr stolpern, liegt um sie dort gegen Salz einzutauschen, da
de, doch auch sonst rundliche Frau mit das Kloster von Angkor Wat. Es ist mit zog der Mönch Chuon seine Kutte aus und
Sonnenhut, und wie alle anderen Dol- grell bunten Szenen aus dem Leben Schi- wurde Bauer. Wer dies nicht tat, der wur-
metscher der Region wurde auch sie von was bemalt, und alle Mönche tragen un- de gezwungen, nach Mittag Reis zu essen
„The Hollywood“ angeheuert, damals im gewöhnlich farbenprächtige Kutten und und so sein Mönchsgelübde zu brechen.
November. fabrikneue Sandalen. Dann zog man ihm die Fingernägel heraus
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früh schlafen gegangen. In haltung Angkors wird von einem „Inter-


Siem Reap konnte der Star nationalen Koordinierungs-Komitee“ un-
sich unbeschwert bewegen. Es ter Unesco-Aufsicht geleitet. Jedes Land
gibt kein Kino in der kleinen betreut seinen Tempel, Frankreich, als
Stadt. Der einzige Hollywood- ehemalige Kolonialmacht, den größten.
Film, den die Leute hier je Schließlich hat der Franzose Henri Mouhot
gesehen hatten, war „Titanic“, die Dschungelstadt entdeckt (im Auftrag
auf einer Leinwand im Sta- der britischen „Royal Geographic So-
dion, und darin kam Jolie ciety“), schließlich gibt es seit mehr als
nicht vor. hundert Jahren die „Ecole Française d’Ex-
Als die Unesco-Beamten in trême-Orient“ (und einen späteren Kul-
Paris erfuhren, dass in ihrem turminister André Malraux, der in seiner
Weltkulturerbe ein Action- Tomb-Raider-Jugend eine gute Tonne Re-
Film gedreht werden sollte,
schickten sie einen Protest- Koreaner haben die Erlaubnis,
brief nach Phnom Penh: „Die

M. STANDEN
im Inneren der Tempelzone
Dreharbeiten könnten nicht
wieder gutzumachende Schä-
sieben Fünf-Sterne-Hotels zu bauen
Tempeltänzerinnen: Pflichtetappe der Traveller den an den Baudenkmälern
zur Folge haben.“ Ohne Er-
und knüppelte ihn zu Tode. Methoden, die folg. Vermutlich wäre der Protest ein-
in diesem lächelnden Land auch heute drucksvoller gewesen, wenn ein Scheck
noch als „severe punishment“ übersetzt beigelegen hätte.
werden, „harte Strafe“. Wie alle armen Länder mit reichem Kul- liefs klaute). Aber egal: Frankreich hat in
Sie habe eben eine Schwäche für sado- turerbe braucht Kambodscha Geld und grandiosem Stil restauriert und dem
masochistische Fesselungen, für Messer, muss jeden Cent aus seinen alten Steinen Dschungel keinen Fußbreit mehr gelassen.
Blut und Tätowierungen. Das sagt die herauspressen. Ohne Geld fangen die Bau- Die „Elefanten-Terrasse“ könnte auch in
Schauspielerin Angelina Jolie gern in ihren ern an, den Steingöttern und Apsara-Nym- Versailles stehen.
Interviews, ein böses, böses Mädchen von phen die Köpfe abzusägen und an Händler Zurzeit sind die Archäologen mit einem
26 Jahren und aufgewachsen in Beverly aus Bangkok zu verkaufen. Ohne Sold von Würgfeigen umklammerten Haufen
Hills. „Sie hatte enorme Brüste und pral- überfällt die Wachsoldaten große Müdig- von 300 000 Steinen beschäftigt, die einmal
le Lippen“, erinnert sich Geert Caboor, keit, wenn die Tempeljäger in den abgele- der Baphuon-Tempel waren. Alle Steine
Eigentümer der „Red Piano“-Bar. Seit generen Stätten auftauchen. sind durchnummeriert. Nur die Montage-
Hollywood bei ihm erschien, hängen Jolie- Um die endgültige Plünderung, den anleitung ist bei der überstürzten Flucht
Fotos an der Wand, und er mixt seine völligen Verfall zu verhindern, ist Angkor vor den Roten Khmer verloren gegangen.
„Tomb Raider“-Cocktails. Ansonsten habe unter den reichen Nationen aufgeteilt Auch China baut seinen Tempel fröh-
Frau Jolie sich von Shrimps ernährt und sei wie die Antarktis oder das Kosovo. Die Er- lich wieder auf, als stünde im Fünfjahres-

J. GUARIGLIA (u.); CELENTANO / LAIF (re. kl.)

Von Wurzeln bedrohter Tempel: Dem Dschungel keinen Fußbreit mehr lassen

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plan, dass hier morgen wieder Zeremonien zen und Hunden ernähren haus.“ Aber vermutlich seien
abgehalten werden müssten. Deutschland musste, das Fleisch roh ver- die Unesco-Leute etwas ner-
dagegen geht mit den Steinen um, als sei- schlungen, damit die Wärter es vös gewesen, weil sie erst im
en es Blindgänger. Kein Team arbeitet vor- nicht merkten. Frühjahr die Errichtung eines
sichtiger, keines hat mehr Skrupel, die Ver- „Jeder kann hier solche Ge- Karaoke-Clubs auf dem Tem-
gangenheit durch Interpretation zu verlet- schichten erzählen“, sagt War- pelgelände nur mühsam ver-
zen, als das vom Außenamt mitfinanzierte rack. Verglichen damit, sei der hindern konnten.
„German Apsara Conservation Project“ Einmarsch der „Tomb Raider“- Nein, im Grunde war es ein
der Fachhochschule Köln. Crew eher harmlos gewesen. anderer Satz der Paramount-
Der Chef-Steinkonservator des deut- Außerdem hätten sich die Pa- Leute, bei dem die Archäolo-
schen Projekts ist der Schotte Simon War- ramount-Leute verhalten, als gen zusammenzuckten: „We’re
rack: „Wir bilden einheimische Experten wollten sie einen Greenpeace- going to put Angkor Wat on
aus. Denn die meisten sind von Pol Pot Preis gewinnen. „Sie kauften the map,“ hatte der „Tomb

EIDOS INTERACTIVE
umgebracht worden, manchmal nur aus ihre Stoffe, Hölzer, Taue auf Raider“-Regisseur Simon West
dem Grund, dass sie Brillen trugen.“ Er den örtlichen Märkten und erklärt. Sein Film werde die
erzählt von einem einheimischen Gra- räumten jeden Styroporquader Leute anlocken, sie würden sa-
bungsleiter, einem ruhig arbeitenden wieder fort. Den Mönchen gen: Wenn Hollywood in Kam-
Mann, von dem sich keiner vorstellen ließen sie die Kutten, den Rest Cyberheldin Lara Croft bodscha dreht, dann können
konnte, dass er sich im Gefängnis von Kat- spendeten sie dem Waisen- Wespentaille da nicht zu viele Minen her-
umliegen. Let’s go!
Vor wenigen Jahren noch konnte man
die Ruinen erleben wie der bretonische
Reisende Pierre Loti vor 90 Jahren: „Ich
blickte nach oben zu den grünüberwu-
cherten Türmen hinauf und zuckte zusam-
men beim Anblick des gigantischen gefro-
renen Lächelns über mir. Und dann ein an-
deres Lächeln, und dann drei und fünf und
zehn.“ Man konnte sich als Entdecker
fühlen, als Jäger des verlorenen Tempels,
sich durch die Würgfeigen quetschen und
plötzlich vor einem Tempel-Steinwald ste-
hen, aus denen Apsara-Nymphchen her-
vorlächeln, vollbusig wie Lara Croft.
Jetzt ist eine Inbesitznahme zu erwarten,
die erfolgreicher sein wird als alle anderen,

Auf der Brust des Mönchs


sind die Türme
von Angkor eintätowiert

weil sie von lächelnden Eroberern ausge-


führt wird, die über unbegrenzten Nach-
schub verfügen: Es nahen die Reiseveran-
stalter. Die verwunschenen Tempel von
Angkor sind dabei, zur Pflichtetappe des
Global Traveller zu werden. Neben der
Mona Lisa, Gizeh und Neuschwanstein.
John Stubbs ist ein rotgesichtiger
Engländer, der seit zehn Jahren für den
„World Monuments Fund“ versucht, das
Preah-Kahn-Kloster vor dem Kollaps zu
retten. Damals war er der einzige Auslän-
der in der Stadt. In diesem Jahr werden
270 000 Touristen erwartet. „Früher“, sagt
M. STANDEN (li.); R. MICHAUD (re. kl.)

er, „ging es darum, die Mauern vor dem


Verfall zu sichern. Dann musste Angkor
vor Kunsträubern und Soldaten geschützt
werden. Heute geht die größte Gefahr vom
Massentourismus aus.“
Der Provinzflughafen von Siem Reap
wird inzwischen von einem Dutzend Flug-
gesellschaften angeflogen. Alle paar Wo-
Reliefs am Westtor: Wird „Tomb Raider“ ein Erfolg, ist Angkor kein Erlebnis mehr chen wird eine neue Direktverbindung
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eröffnet. Im Jahr 2003 möchte der Pre-


mierminister Hun Sen eine Million Besu- Königsstadt im Dschungel
cher durch Angkor schleusen.
Koreaner haben die Erlaubnis bekom- Ost-Baray
men, im Inneren der Tempelzone ein
Resort von sieben Fünf-Sterne-Hotels zu West-Baray Angkor Thom
bauen. Die Regierung plant einen Tief- THAILAND LAOS
Angkor
wasserhafen im Tonle Sap, dem Großen
See, damit Kreuzfahrtschiffe von Vietnam KAMBODSCHA
nach Angkor den Mekong hinaufschippern Angkor Wat Phnom
Penh
2 km VIETNAM
können. Eine Art Ho-Tschi-minh-Pfad für
nostalgische GIs im Rentenalter: „Cruising Siem Reap (5km)
the Battlefields“.
Und sobald die Nationalstraße nach gegeben. Sie dürfen weder jagen noch ei- stone-Nationalpark“, sagt John Stubbs. „Es
Thailand ausgebaut ist, liegt das Heilig- nen Baum schlagen. Der einzige Erwerb ist gibt leider keine Alternative. Zur Not mit
tum in Ausflugsentfernung für Millionen der Verkauf von Postkarten, Kokosnüssen, Voranmeldungen und Rationierungen.“
Thailänder. Die ersten Graffiti, auf dem T-Shirts und geschnitzten Apsara-Tänze- Allerdings werde er dann das Land verlas-
Rücken der Schlange Saka am Tempelzu- rinnen. Deshalb kommen auf jeden Tourist sen haben.
gang, sind in Thai geschrieben. Ohne wirk- etwa drei Souvenirstände und vier „Cold Denn Angkor ist ein Ort, der wie jede
sames Management droht der Frieden drink, Mistaaa?!“-Verkäuferinnen. Ruinenlandschaft von der Einbildungskraft
Angkor mehr zu beschädigen, als es der Nur der Tourismus kann den Erhalt lebt, Sinnbild der Vergänglichkeit und
Krieg je vermochte. Im Tempelbezirk gibt Angkors finanzieren, nur der Tourismus ist Nichtigkeit alles Großen. Der Ort verlangt
es keine Verbote, kaum Wärter und keine Zeit und Ruhe, auch, um auf die Ge-
Absperrungen. Jeder kann auf den Alter- Angkor ist unter den reichen schichten zu horchen, die nicht von den
tümern herumsteigen, wie es ihm gefällt. Nationen aufgeteilt wie Guides heruntergebetet werden.
Die Regierung möchte möglichst viel Be- Die Geschichte von Aki Ra etwa, der
sucher durch Angkor schleusen, denn der
die Antarktis oder das Kosovo seine eigene Hütte zum Landminenmu-
Tourismus ist inzwischen die wichtigste seum umgebaut hat, weil er davon über-
Einnahmequelle des Landes. Alles, was zeugt ist, dass die Touristen auch von den
Geld bringt, ist gut. Kürzlich wurde der Grauen der jüngeren Vergangenheit erfah-
erste Werbefilm in Angkor Wat gedreht. ren sollen. Aber die Behörden haben die
Zwei Mönche hüpfen auf einem Trampolin Hinweistafeln des Minenmuseums umge-
und werben für eine Fluggesellschaft. in der Lage, die Tempelräuber fern zu hal- worfen und Aki Ra vorübergehend ins Ge-
Die neuen Herrscher im Khmer-Reich ten. Aber wenn „Tomb Raider“ der Erfolg fängnis gesteckt. Angkor soll ein von allem
stehen vor einem ähnlichen Problem wie wird, den Paramount sich verspricht, wenn Irdischen gereinigtes Erlebnis sein. Minen-
ihre Vorfahren: Was tun mit der Flut? Die die Besucherzahlen explodieren, dann wird opfer, Krüppel und Bettler sind bereits aus
Besucherströme müssen reguliert, gestaut, Angkor kein Erlebnis mehr sein. Schon hat dem Tempel gejagt worden. Dafür wird
umgelenkt, verteilt werden – wie früher die die nächste Hollywood-Größe die Tempel- nächstes Jahr ein „authentisches Khmer-
Regenfälle des Monsuns. Damit jeder et- stadt als Kulisse genutzt: Der Regie-De- Dorf“ am Eingang zu Angkor errichtet
was davon hat. Denn die Ruinen werden bütant Matt Dillon drehte „Unter dem werden.
von den Nachgeborenen nur geschützt wer- Banyanbaum“ mit Gérard Depardieu in Es könnte so werden wie überall. Angkor
den, wenn sie von ihnen leben können. der Hauptrolle. Wat als Themen-Park. Nachts beleuchtet,
Der König hat den Menschen, die in- „Die ganze Anlage muss gemanagt wer- mit Tempeltänzerinnen und abends „Tomb
nerhalb des Tempelareals leben, ein Gesetz den wie die Pyramiden oder der Yellow- Raider“-Cocktails in der „Red Piano“-Bar:
„Have Fun in Pol-Pot-Land“.
Und danach rüber zur „Ivy Bar“, ins
Zentrum von Siem Reap, die grüne Klo-
brille besichtigen, die dort an der Wand
hängt. Ein Klositz billigster Produktion.
Der Barbesitzer Karl Balch ist zwei Tage
lang mit seinem Motorrad über minenver-
seuchte Dschungelpisten nach Anlong
Veng an der Grenze zu Thailand gefahren,
um das Ding abzuschrauben. „Es war ein
friedliches Anwesen voller Bougainvillea-
Büsche“, sagt Balch in seinem starkem
Cockney-Englisch. „Von dem Klositz konn-
te er direkt ins Tal hinunterschauen.“ Er?
M. STANDEN (li.); H. BOCK / BILDERBERG (ob. kl.)

„Pol Pot.“ Verantwortlich für mindestens


zwei Millionen Tote.
Jetzt hängt „The One and Only Pol Pot
Toilet Seat“ in Karl Balchs „Ivy Bar“ zwi-
schen Ventilatoren, Palmkübeln, „Tiger
Beer“-schwitzenden Gästen und bleichen
Geckos an den Wänden: der letzte Thron
des Tyrannen. Manchmal liegt ein Nichts
zwischen Schrecken und Klamotte, zwi-
schen Todesangst und billigem Thrill. Zwi-
Restaurationsarbeiten an Reliefs: Keine Verbote, kaum Wärter, keine Absperrungen schen Hölle und Hollywood. ™
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Esst mehr Gemüse!


Ortstermin: Die Rettung der Welt – auf dem Kirchentag in Frankfurt

H
alle 4 ist ein Ort der Hoffnung. Drei tes Plastikhuhn. „Es nützt jedenfalls An Gandhi hat ihn aber auch der Le-
Etagen auf dem Frankfurter Mes- nichts“, sagt Wendt, „jeden Tag ein großes bensstil fasziniert, das Schlichte, der Ver-
segelände, ein paar hundert Stän- Stück Fleisch auf dem Teller zu haben.“ zicht auf jeden Luxus. Das nachzuleben
de, eng gedrängt, der so genannte Markt Die Organisation, deren Vorsitzender er fällt Betz allerdings schwerer, als sich
der Möglichkeiten auf dem evangelischen ist, heißt „Verein gegen tierquälerische für den Frieden einzusetzen. „Ich fahre
Kirchentag. Weiße Stellwände, ein Meer Massentierhaltung“. Cabrio“, sagt er, „meine Kinder tragen
von Broschüren, lila Luftballons, sehr viel „Mehr Gemüse essen“, sagt Wendt, und Turnschuhe von Nike, ich bin da hin- und
Freundlichkeit, Gedränge ohne Missmut. erzählt, dass allein in Deutschland 15 Mil- hergerissen.“
Hier sammeln sich Menschen, die Gutes lionen Rinder ihre Fürze lassen, „ein un- Er hat es mal versucht, er hat mal „ge-
tun, die sich stemmen gegen das Böse in heimlicher Methanausstoß“, der den Treib- lebt wie ein Freak“, aber da musste er
der Welt: Krieg und Ozonloch, Hunger und hauseffekt vergrößere. „Ich sage immer“, feststellten, „dass mich niemand ernst
Armut, Klonen und Konsum. Deshalb ist sagt Wendt, „esst halb so viel Fleisch und nimmt“. Jetzt fährt Betz Cabrio, und alle
Halle 4 der ideale Ort für eine kleine Um- zahlt dafür den doppelten Preis, damit es nehmen ihn ernst. „Ich esse Big Macs“,
frage: Was kann die Welt retten? biologisch hergestellt werden kann.“ sagt er noch.
Brigitte Tschigg, 62, setzt „Die Welt ist schon geret-
überrascht die Brille ab, über- tet“, sagt Ludwig von Mat-
legt einen Moment. „Wenn thießen, 58, während er Schu-
alle Menschen in einem ver- he putzt. Auf dem Kirchen-
nünftigen Maß leben wür- tag putzt er den ganzen Tag
den“, sagt sie dann, „das wür- Schuhe und bittet dafür um
de die Welt retten.“ Tschigg eine Spende, die Kindern in
ist Mitglied der Umweltgrup- Peru zugute kommen soll.
pe „David gegen Goliath“. Eigentlich ist er Verkäufer,
Sie ist schlicht gekleidet, früher war von Matthießen,
schlicht frisiert. der Adlige, Kammerjäger in
Vernünftig ist für sie die Amerika. „Kakerlaken, Rat-
FOTOS: B. BOSTELMANN / ARGUM
Konsumwelt der „fünfziger ten“, sagt er, von diesen Pla-
Jahre, als die Menschen an- gen wollte er die Menschen
fingen, ein bisschen Auto zu befreien.
fahren, ein bisschen besser zu Von Matthießen ist auf
leben, alles nur ein bisschen, dem Kirchentag, weil seine
nichts im Übermaß“. In diese „Perle“ das so will und weil er
Bisschen-Welt möchte sie zu- an Gott glaubt. „Jesus Chris-
rück. Das heißt, sie persönlich Kirchentagsbesucher: „Auch wir haben Rechte“ tus hat für uns gelitten und ist
ist schon dort. Auto fährt sie für uns gestorben“, sagt er
ganz selten, ein Handy kommt nicht in Fra- „Wenn wir anfangen, Glauben und Le- und schmiert braune Creme auf den Schuh,
ge, genauso wenig ein Trockner. „Ich habe ben miteinander zu verbinden, retten wir „das hat die Welt gerettet.“
noch nie ein Haarspray benutzt“, sagt sie. die Welt“, sagt Andreas Paulig, 38, evan- „Wenn jeder im Einklang mit sich selbst
„Wenn man die internationalen Finanz- gelischer Pastor und Missionar, zuletzt acht lebt“, sagt Peter, 42, vom „Bisexuellen
märkte kontrolliert“, sagt Olaf Dehler, 25, Jahre in Paraguay. „Da, wo ich bin, versu- Netzwerk“. „Wenn jeder Mensch frei ist
ein schmaler, etwas schüchterner Student, che ich, kleine Glaubenssignale zu setzen.“ von inneren Aggressionen, das ist die hal-
der die Organisation „Attac“ auf dem Kir- Peter Betz, 40, sagt erst einmal nichts. Er be Miete.“ Und die andere Hälfte? „Keine
chentag vertritt. Die Welt, so Dehler, soll- stützt das Gesicht in die Hände und denkt Ahnung“, sagt er.
te nicht für die „Profitinteressen einer klei- nach. Er sitzt hinter einem langen Tisch, „Fragen Sie mich als Privatmann oder
nen Minderheit ticken, sondern für die auf dem Dutzende von Broschüren liegen. als Vertreter meiner Firma“, fragt der
Bedürfnisse der großen Mehrheit“. Er for- Nach einer halben Minute denkt er immer Mann, der die HUK-Coburg auf dem Kir-
dert eine Steuer auf Finanzspekulationen noch nach. Er hat lange Haare und trägt chentag vertritt. Er verkauft Versicherun-
und demonstriert dafür mit Gleichgesinn- ein kariertes Hemd. „Mehr Gandhis“, sagt gen an die Christen und lockt mit Feuer-
ten im Frankfurter Bankenviertel. er schließlich. Betz ist Mitglied im „Bund zeugen und Portemonnaies aus goldfarbe-
„O weh“, sagt Eckhard Wendt, 61, und für Soziale Verteidigung“. nem Plastik, die an seinem Stand ausliegen.
nimmt seine Brille ab. „Die Welt retten? Anfang der achtziger Jahre hat er den Der Experte für Schutz und Sicherheit.
Tja.“ Seine Haare sind grau, er trägt ein Film „Gandhi“ gesehen, mit Ben Kingsley Seinen vollen Namen will er nicht nennen.
weißes T-Shirt, auf dem ein Schwein und in der Hauptrolle, und anschließend hat er Er beugt sich vor, legt die Unterarme auf
eine Kuh abgebildet sind. „Auch wir haben gedacht, so muss man leben, das rettet die Feuerzeuge und die goldenen Porte-
Rechte“, steht auf dem T-Shirt. die Welt. Er begann, für Rüstungskontrolle monnaies und sagt: „Also, als Privatmann
Wendt spielt mit seiner Brille, neben ihm zu streiten, für friedliche Konfliktbewälti- sage ich Ihnen: Die Welt ist nicht zu
steht übermannshoch ein übel zugerichte- gung auch im Alltag. retten.“ Dirk Kurbjuweit

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Gesellschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Offenheit hat ihren Preis“


Die homosexuellen Bundestagsabgeordneten Christina Schenk, Volker Beck und Johannes Kahrs
über Schwule und Lesben in der Politik und das Recht auf Privatleben

SPIEGEL: In Berlin hat sich mit Klaus Wo- heim das getan hat, werden übrigens nicht
wereit zum ersten Mal ein Spitzenpoliti- nur Bürgerrechte verletzt. Es zeichnet auch
ker als Schwuler geoutet. Erleben wir einen ein schlechtes Schwulen- und Lesbenbild.
„Feldversuch in Sachen Toleranz“, wie die Jemand, der sich dafür schämt, ist doch
„Berliner Zeitung“ schrieb? kein Vorbild.
Beck: Eine Stadt wie Berlin kann gut damit Kahrs: Meistens macht man sich mehr Ge-
umgehen. Wir Grünen haben die Tür auf- danken darüber als die gesamte Umgebung.
gestoßen, durch die Herr Wowereit jetzt ge- Wenn es einmal raus ist, merkt man, dass
gangen ist. Ich hoffe, am Outing von Klaus man sich viel zu viele Sorgen gemacht hat.
Wowereit erweist sich: Es ist ein Anachro- Schenk: Na ja. Ich kenne eine Kollegin von

M. URBAN
nismus, wenn andere Kollegen mit ihrer Ho- der SPD, die 20 Jahre unverheiratet mit
mosexualität immer noch so umgehen, als ihrem Lebensgefährten zusammengelebt
müsste man ein Staatsgeheimnis hüten. Johannes Kahrs, 37, SPD-Abgeordneter aus Hamburg, Reserveoffizier
SPIEGEL: Also sind Wähler und Wirklichkeit
mal wieder weiter als die Politik? „Zum Sommerfest des Bundespräsidenten habe ich
Beck: Zumindest tut sich etwas. Wirklich meinen Freund mitgenommen.“
normal ist es in Deutschland erst dann,
wenn ein Bundesminister, ein Wirtschafts- indirekten Outings. Je früher man es sagt, hat. Kurz vor der Kandidatur hat sie ihn ge-
kapitän oder der Leiter einer großen umso eher hat man es hinter sich. heiratet, weil sie sich unter Druck fühlte.
Behörde sich outet und es danach kein Ra- Schenk: Sich als homosexuell zu outen be- Wenn in einigen Gegenden eine uneheliche
scheln im Blätterwald mehr gibt. deutet allerdings auch eine Zuordnung, die Lebensgemeinschaft schon ein Makel ist …
Schenk: Deutschland hinkt gegenüber an- so eindeutig oft nicht ist. Man darf keinem Beck: Ich glaube auch, dass die meisten ho-
deren europäischen Ländern in Sachen To- vorschreiben, wie er mit seiner sexuellen mosexuellen Kollegen das Ende der Wahl-
leranz hinterher, wenn es um alternative Identität umgeht. periode versteckt im Schrank erleben. Da-
Lebensstile geht. Als Bertrand Delanoë, Beck: Natürlich nicht, das ist eine persön- bei wäre es eine gute Gelegenheit, das im
der Bürgermeister von Paris, sich bekannt liche Entscheidung. Wenn man jemand Windschatten von Wowereit unaufgeregt
hat, hat sich in Frankreich kein Mensch zwangsweise outet, so wie Rosa von Praun- über die Bühne zu bringen.
darüber aufgeregt.
Kahrs: Ich finde, Klaus Wowereit hat es
richtig gemacht. Das heißt aber nicht, dass
das überall so wiederholbar ist. Auf dem
Land ist das viel schwerer als in Berlin oder
Hamburg. Vielleicht gilt immer noch der
alte Spruch: Stadtluft macht frei.
SPIEGEL: Werden sich andere Politiker jetzt
ermutigt fühlen, dem Beispiel zu folgen?
Schenk: Das wäre schön. Aber jeder und
jede muss für sich entscheiden, ob und
wann er bereit ist, das immer noch vor-
handene Risiko für die politische Karriere
einzugehen.
Beck: Das Coming-out macht stark und un-
angreifbar. Ich glaube, dass Herr Wowereit
jetzt besser schläft. Und das erlebt jeder, der
sich outet. Man fühlt sich einfach nicht gut,
wenn die Gefahr besteht, dass die Presse
oder der politische Gegner das Heft des
Handelns in die Hand nimmt. Mir ist noch
gut in Erinnerung, wie eine bundesweit
sehr renommierte liberale Zeitung eine drei
viertel Seite lang darüber räsoniert hat,
warum ein Bundesminister der Regierung
Kohl nicht sagt, dass er schwul ist. Das ist
BECKER & BREDEL

natürlich eine besonders perfide Form des

Das Gespräch führten die Redakteure Tina Hildebrandt


und Horand Knaup.

86
Beck: Eigentlich kann nicht viel passieren. Bundestag kam, habe ich allerdings die ers-
SPD, FDP, PDS, die Grünen würden ihn ten Monate gar nichts zum Thema Schwu-
deshalb jedenfalls nicht angreifen. le und Lesben gemacht, um zu zeigen, dass
Schenk: Ich weiß nicht. Wenn ich mir vor- mein politischer Anspruch breiter ist.
stelle, Angela Merkel wäre eben nicht glück- Schenk: Ich hatte mein Coming-out mit 16
lich verheiratet, sondern würde entdecken, und überhaupt keine Probleme damit. Spä-
dass sie lieber mit Frauen zusammenleben ter führte mein Weg in die oppositionellen
will – das wäre ihr politisches Ende. Kreise der DDR über eine Lesbengruppe.
Beck: So was muss auch reifen. Ich wage Zur Bundestagswahl 1990 bin ich als offen
die Prognose: Am Ende dieses Jahrzehnts lesbisch lebende Kandidatin angetreten.

M. URBAN
kostet es auch einen Unionspolitiker auf Ich war auch die Erste, die das von Anfang
dem flachen Land wahrscheinlich nichts an im Handbuch des Deutschen Bundes-
Volker Beck, 41, Grünen-Abgeordneter aus Köln, Rechtsexperte
tags öffentlich gemacht hat. Mein politi-
sches Ziel war und ist die gleichberechtig-
„Das Coming-out macht stark und unangreifbar. te Anerkennung aller Lebensweisen. Da
Wer sich schämt, ist doch kein Vorbild.“ ist die Familienpolitik für Heteros und Ho-
mos genauso wichtig wie der Kampf gegen
Schenk: Wenn man davon ausgeht, dass mehr, wenn er es sagt. Bis ein Schwuler die Diskriminierung und Benachteiligung
zehn Prozent der Bevölkerung homosexu- Kanzler oder eine Lesbe Kanzlerin wer- von Lesben und Schwulen.
ell sind, und voraussetzt, dass der Bundes- den kann, dauert es wohl noch ein wenig SPIEGEL: Das klingt nach heiler lesbisch-
tag ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, länger. schwuler Welt, als gäbe es gar keine Pro-
müsste es ungefähr 70 lesbische oder SPIEGEL: Wie haben Sie persönlich Ihr Ou- bleme. Warum bekennen sich dann so we-
schwule Abgeordnete geben. Bis die sich ting erlebt, und welche Bedeutung hat Ihre nige?
alle bekannt haben, müssen wir wohl noch Homosexualität für Ihre politische Arbeit? Beck: Offenheit hat ihren Preis. Lesben und
ein bisschen warten. Kahrs: Ich habe lange Zeit zwischen Schwule müssen stärker beweisen, dass sie
SPIEGEL: Nur eine Hand voll Abgeordneter Freundinnen und Freunden gewechselt. Als seriös sind. Sie müssen den Verdacht wi-
bekennt sich wie Sie zur Homosexualität, ich mit meinem Freund zusammengezo- derlegen, dass sie Politik nur für ihre Kli-
von CDU/CSU und FDP ist keiner darun- gen bin, war klar: Jetzt bist du über die entel machen. Und natürlich machen die
ter. Zufall? Schwelle gegangen. Ich habe mir damals Männer ihre Herrenwitze, sogar im Bun-
Schenk: Die Haltung der CDU oder CSU nur überlegt, ob ich es vor oder nach dem destag übrigens.
zu Lesben und Schwulen in dieser Gesell- Wahlkampf öffentlich mache – und habe SPIEGEL: Als Sie einmal zur Rechtspolitik
schaft ist schlicht lebensfremd. Insofern mich für danach entschieden. gesprochen haben, sagte ein Zwischenru-
kann ich die Kolleginnen und Kollegen von SPIEGEL: Aus Angst, beim Wähler durch- fer: „Der Beck schon wieder. Hoffentlich
der CDU/CSU gut verstehen. Für einen zufallen? muss ich den nicht heiraten.“
Liberalen wäre das schon leichter. Beck: Das lasse ich mir natürlich nicht ge-
Beck: Je länger man wartet und möglicher- fallen. Ich antwortete: „Keine Angst, Herr
weise Geschichten erfindet, desto höher Kollege, Sie passen nicht in mein Beute-
wird natürlich die Hürde. Mit dem Coming- raster.“ Man muss das Vorurteil der
out gibt man ja sonst zu: Ich habe euch die Lächerlichkeit preisgeben.
ganze Zeit angeschum- Schenk: Man darf nicht sagen: Ich bin les-
melt. Nur nebenbei: Frau bisch, aber bitte haut mich nicht dafür.
Schenks Zahlen von zehn Wenn man offensiv damit umgeht, gibt es
Prozent Bevölkerungsan- kaum Probleme. Wenn man sich für Les-
teil sind eher Wunschden- ben und Schwule einsetzt, wird einem al-
M. URBAN

ken als Realität. lerdings schnell unterstellt, eine Sonder-


Kahrs: Einen Unterschied politik für Minderheiten zu machen. Dabei
macht es auch, ob man ein
Christina Schenk, 49, PDS-Abgeordnete aus Sachsen, Diplom-Physikerin
Listenkandidat ist, den das
Wahlergebnis seiner Par- „Es gibt in Deutschland mehr Lesben
tei in den Bundestag und Schwule als Arbeitslose.“
bringt, oder ob man sich
als Direktkandidat stellt. Kahrs: Nicht nur. Man weckt ja auch einen gibt es mehr Lesben und Schwule in
Da zählt die Gesamtper- gewissen Erwartungsdruck, dass man sich Deutschland als Arbeitslose. Die Diskri-
son viel mehr. Und dann dann schwerpunktmäßig um Schwulenthe- minierung auf Grund der sexuellen Iden-
geht es nicht nur um die men kümmert. Das wollte ich nicht. Ich tität ist eine Frage der Teilhabe, also ein de-
Wähler, sondern auch um wollte Sicherheitspolitik machen. Ich bin mokratiepolitisches Problem.
die Funktionäre der eige- also vor meinem offiziellen Outing zu mei- Kahrs: Ein schwuler Abgeordneter hat es
nen Partei vor Ort. Insbe- nem Bausenator Eugen Wagner gegangen natürlich leichter, selbstbewusst damit
sondere in strukturell kon- und habe gesagt: „Eugen, so ist die Lage.“ umzugehen als ein schwuler 17-jähriger
servativen Landkreisen Er sagte: „Meen Jung, Hauptsache, du wirst Schüler. Wir bewegen uns in einem Umfeld,
kann das Probleme geben. glücklich.“ Damit war das Thema durch. wo man darauf achtet, politisch korrekt zu
SPIEGEL: Würde es einem Beck: Für mich gab es kein echtes politi- sein. Außerdem bin ich bekanntermaßen
konservativ-bürgerlichen sches Coming-out. Als ich 1985 zu den Grü- nicht schüchtern und kann mich wehren.
Parteivorsitzenden scha- nen kam, war ich als Schwuler schon be- Beck: Natürlich bekommt man auch mas-
den, wenn er sich outen kannt. Das Thema Schwulenpolitik lief mir senhaft Briefe mit Beschimpfungen und
würde? sozusagen automatisch zu. Als ich in den Drohungen. Aber das nehme ich nicht
wirklich ernst. Ich habe übrigens viel mehr
Schwulen-Hochzeit* * Symbolische Trauung homosexueller Paare vor zwei Jah- negative Zuschriften für mein Engagement
„Stadtluft macht frei“ ren in Saarbrücken. bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 87
respektieren. Wer allerdings
seine Frau durch die Zeitungen
schleppt, wenn es ihm gerade
passt, und sich in Home-Storys
zeigt, darf sich nicht wundern,
wenn sein Privatleben auch
dann diskutiert wird, wenn es
ihm gerade nicht passt.
Schenk: Für mich ist der Schutz
der Privatsphäre wichtiger als
der Anspruch der Öffentlich-
keit, sich ein ganzes Bild zu ma-
chen. Die Grenze kann nur je-
der selbst ziehen.
Beck: Ich meine auch nicht, dass
das Publikum oder die Medien
die Grenze bestimmen sollen.
Ich möchte keine Kultur wie in
den USA, wo sich die intimsten
Familiendinge in der Zeitung
wiederfinden. Man muss sich
aber selbst fragen, wie weit man
in der Beantwortung privater
Fragen geht. Die Grenze ist

DPA
schnell überschritten, wo man
Homosexuellen-Demonstration in Hamburg*: „Wenn man offensiv ist, gibt es keine Probleme“ sich zum Gegenstand öffentli-
cher Berichterstattung macht.
bekommen als für das Gesetz zur einge- spruch hat und wo dieser Anspruch endet. SPIEGEL: Ist es Privatsache, wenn ein kon-
tragenen Lebenspartnerschaft. In gewissem Umfang ist es berechtigt, wenn servativer Politiker im Wahlkampf die Fa-
Schenk: Das Klima ändert sich. Als ich 1990 man bei einem Spitzenpolitiker wissen will: milie als Hort der Idylle lobt und seine
in den Bundestag kam, erhielt ich eine Wie lebt der eigentlich? Hat er Kinder? Frau schlägt? Wo endet das Recht eines
ganze Reihe Briefe, wie ich dazu käme, Man will sich ja ein Bild machen, wie von Politikers auf Privatleben?
eine solche Schweinerei auch noch öffent- jedem Menschen übrigens, den man ken- Schenk: Natürlich hängt die Glaub-
lich zu machen. Das gab es in dieser Le- nen lernt. Homosexualität ist in diesem würdigkeit eines Politikers auch von der
gislaturperiode noch nicht. Sinne quasi ein Familienstandsmerkmal, Authentizität ab. Es ist immer schwierig,
Beck: Das kann ich nicht bestätigen. das genauso viel über den Menschen aus- etwas zu proklamieren, was man selbst
Schenk: Was es gab, waren Proteste wegen sagt wie „verheiratet“ oder „nicht ehelich nicht lebt.
des Gesetzes über eingetragene Lebens- zusammenlebend“. Beck: Ich bin da für Zurückhaltung der Me-
partnerschaft, im Wesentlichen aus Baden- Kahrs: Ich würde die Grenze früher zie- dien. Gesellschaftliche Mythen sollte man
Württemberg und Bayern. hen: Wenn jemand sein Privatleben der mit sozialwissenschaftlichen Fakten und
SPIEGEL: Sie alle leben in festen Beziehun- Öffentlichkeit vorenthält, sollte man das nicht mit Denunziationen widerlegen.
gen. Können Sie Ihre Partner zu offiziellen SPIEGEL: Die Frage ist doch, inwieweit ein
Anlässen problemlos mitbringen? Politiker Vorbild sein muss und vor- oder
Schenk: Ich habe ohnehin ein gespaltenes nachleben muss, was er fordert.
Verhältnis zu Repräsentationspflichten. Schenk: Ich glaube schon, dass strengere
Wenn es sich anbietet, nehme ich meine Maßstäbe an diejenigen angelegt werden,
Freundin aber mit. die sich zur Wahl stellen.
Beck: Inzwischen laden einige Botschaften Beck: Wo steht denn geschrieben, dass wir
meinen Freund sogar persönlich mit ein. Vorbilder sind und Vorbilder sein wollen?
Unter der Regierung Kohl wurden meistens Glaubwürdig bin ich, wenn ich vor der
Herr und Frau Beck eingeladen. Das hat Wahl sage, ich kämpfe für ein Thema und
mich geärgert, weil ich es als Respektlo- das danach auch tue.
sigkeit empfunden habe. Ein katholischer Kahrs: Das mit der Vorbildfunktion klingt
Bischof wäre auch sauer, wenn er mit Ehe- immer schön. Aber wenn wir ein Quer-
frau geladen würde, weil das seine Le- schnitt durch die deutsche Bevölke-
bensform ignoriert. rung sein sollen, dann sind wir nicht
Kahrs: Um solche Termine reißt man sich ja besser und nicht schlechter. Ich rede
nicht unbedingt. Mein Freund überlegt sehr übrigens im Wahlkampf über Haushalts-
genau, wo er mitwill. Zur Mattiae-Mahlzeit und Finanzpolitik, über Verteidigungs-
in Hamburg, einer hoch seriösen Veran- politik und meine Wahlkreisarbeit und
staltung, ist er mitgegangen, zum Som- nicht darüber, ob ich ein besonders edler
merfest des Bundespräsidenten auch. Mensch bin. Als Politiker bin ich ehrlich
SPIEGEL: Letztlich geht es bei der Frage, ob und halte mich an Zusagen. Wenn Sie
sich ein Politiker outen sollte oder nicht, mich als Privatmensch fragen: Natürlich
auch darum, wie politisch das Private ist. lüge ich auch. Genauso viel oder wenig
SIPA PRESS

Beck: Man muss ernsthaft über die Frage wie Sie.


reden, worauf die Öffentlichkeit einen An- SPIEGEL: Frau Schenk, Herr Beck, Herr
Pariser Bürgermeister Delanoë Kahrs, wir danken Ihnen für dieses Ge-
* Christopher Street Day am 9. Juni. „Kein Mensch hat sich aufgeregt“ spräch.
88 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Trends Wirtschaft
BANKEN

HypoVereinsbank will
keine Bußgelder zahlen
D ie Staatsanwaltschaft München will die Strafverfahren
gegen den ehemaligen Chef der Hypo-Bank, Eberhard
Martini, sowie vier weitere Ex-Vorstände gegen hohe, sechs-

C. LEHSTEN / ARGUM
stellige Zahlungen einstellen. Seit zwei Jahren ermittelt die
Behörde gegen die Banker wegen Untreue und Bilanzfäl-
schung im Zusammenhang mit einem 3,6-Milliarden-Loch im
Immobiliengeschäft der Hypo, das nach deren Fusion mit
der Vereinsbank aufgetaucht war. Über die Moda-
litäten der Einstellungen „wird wie auf einem ara-
bischen Markt geschachert“, berichtet ein an den
Gesprächen beteiligter Manager. Einige der Vor- HypoVereinsbank-Zentrale
stände haben nun beim Aufsichtsrat der HypoVer-
einsbank angefragt, ob das Institut die Zahlungen Bank nicht nur die Strafe gegen den Ex-
übernehme. Ein Beschluss steht zwar noch aus, Chef des Institutes, Jürgen Sarrazin, über-

NORBERT NORDMANN
doch die meisten Aufsichtsräte und der Chef des nommen. Sie hat ihm seine Bereitschaft,
Gremiums, Kurt Viermetz, lehnen dies vehement einen Strafbefehl wegen Beihilfe zur Steu-
ab. Die Bank, die sich zu dem Vorgang nicht äußert, erhinterziehung zu akzeptieren und so ei-
stellt sich damit gegen einen im Finanzgewerbe ver- nen Prozess zu verhindern, obendrein mit
breiteten, schlechten Brauch. So hat die Dresdner Martini mehreren Millionen Mark vergoldet.

WIRTSCHAFTSFÖRDERUNG Finanzminister unterstellt, die MANAGER


Deutsche Ausgleichsbank (DtA),
Kompetenzgerangel die als Tochterunternehmen in die
KfW integriert werden soll, wurde
Bangemann bleibt und
der Minister hingegen vom Wirtschaftsminister
kontrolliert. Anfangs hatte Eichel
kassiert weiter
Z wischen Finanzminister Hans
Eichel und Wirtschaftsminister
Werner Müller ist nach dem hefti-
darauf spekuliert, weiterhin allein
den Vorsitz des KfW-Verwaltungs-
rats innezuhaben. Müller sollte
M artin Bangemann bleibt der
spanischen Telefongesell-
schaft Telefónica als Berater er-
gen Gezerre um die wirtschafts- die DtA, die sich vor allem um halten. Die spanische Zeitung
BARBARA GINDEL / DPA

politische Grundsatzabteilung junge Gründer kümmert, über „El País“ hatte gemeldet, Bange-
erneut ein schwerer Konflikt um einen Mittelstandsbeirat kontrol- manns Vertrag laufe Ende Juni
Prestige und Kompetenzen ent- lieren. Doch der Wirtschaftsminis- aus und werde von Telefónica-
brannt. Die beiden Minister zan- ter pochte ebenfalls auf den Ver- Chef César Alierta, der Bange-
ken über die künftige Organisa- waltungsratsvorsitz – entweder im mann angeblich nicht besonders
tion der Wirtschaftsförderung – zeitlichen Wechsel mit Eichel oder Bangemann schätzt, nicht verlängert. Und
und dabei besonders über den aber als Doppelspitze. Letzteres die „FAZ“ hatte bereits kom-
Zugriff auf die Kreditanstalt für bot der Finanzminister seinem mentiert, damit stehe das Kapitel „Bangemann
Wiederaufbau (KfW). Unter dem Kabinettskollegen schließlich an. und Telefónica“ vor einem wenig rühmlichen
Dach der KfW sollen, so hat es Doch eine Antwort blieb bisher Ende. Der umstrittene Wechsel des prominenten
die Regierung im Sommer 2000 aus. FDP-Politikers aus der Brüsseler EU-Kommission,
beschlossen, sämtliche För- wo er für den Bereich Telekommunikation zustän-
derbanken des Bundes ver- dig war, in die freie Wirtschaft verursachte vor
eint werden. Doch diese Fu- zwei Jahren großen Wirbel. Aus Furcht, Bange-
sion ist, sehr zum Unwillen mann könnte Insiderwissen preisgeben, zwang
RAINER JATSCH-KOESLING / ACTION PRESS

von Kanzler Gerhard Schrö- Brüssel ihn, seinen Amtsantritt bei der Telefónica
der („Das muss jetzt zügig um ein Jahr zu verschieben. Sein Fünf-Jahres-Ver-
vorangehen“), ins Stocken trag, den er 1999 mit Alierta-Vorgänger und Ban-
geraten, weil Eichel und gemann-Freund Juan Villalonga abgeschlossen hat-
Müller sich nicht über die te, läuft deshalb noch bis 2005. Ein vorzeitiger
Organisation der Holding – Ausstieg der Telefónica ist vertraglich ausgeschlos-
und damit auch über ihren sen – es sei denn, Alierta zahlt das gesamte noch
persönlichen Einfluss – eini- ausstehende Salär von insgesamt fast fünf Millio-
gen können. Denn die KfW nen Mark. Ein Insider: „Daran denkt der sparsame
war bislang allein dem Eichel, Müller Telefónica-Chef nicht im Traum.“
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 91
Trends

PETER ENDIG / DDP


Atomkraftwerk Temelín

AT O M S T R O M Temelín lösen zu wollen. „Das überrascht uns sehr“, sagt ein


Sprecher des Prager Energiekonzerns —EZ, „da die deutschen

Absage nach Pannenserie Atommanager immer den hohen Sicherheitsstandard von Te-
melín gelobt haben.“ Die Kündigung der Verträge bedeutet
vermutlich aber noch nicht den kompletten Ausstieg: Die deut-

D er Essener Energiekonzern RWE will keinen Atomstrom


aus dem tschechischen Meiler Temelín beziehen und ver-
handelt deshalb über die Änderung der Verträge mit den Tsche-
schen Konzerne RWE und E.on werden wohl weiterhin indirekt
Atomstrom aus Temelín beziehen – über die US-amerikanische
Handelsagentur Enron in Frankfurt. Der Stromhändler hat Lie-
chen. Der Atommeiler nahe der bayerischen Grenze wird nach ferverträge mit Erzeugern in ganz Europa, und für ihn sei es,
einer Pannenserie bei der Inbetriebnahme von Umweltschüt- so ein Statement von Enron gegenüber dem SPIEGEL, „nahe-
zern hart kritisiert. Vor RWE hat bereits die Münchner E.on zu unmöglich, die Quellen des gehandelten Stroms physisch zu
Energie AG angekündigt, die vereinbarten Lieferverträge mit unterscheiden“.

INTERNET A F FÄ R E N

Stoibers Online-Panne Durchsuchungen bei Clearstream


A uf ihrer Homepage baynet.de verspricht die
bayerische Staatsregierung den „Online-Zugang
zu allem, was in Bayern wichtig ist“. Im Endausbau
D ie Affäre um den Geldwä-
scheverdacht gegen die Deut-
sche-Börse-Tochter Clearstream
Staatsanwalt Carlos Zeyen, „da-
neben hatten wir Zugang zu den
Informatiksystemen.“ Clear-
soll jeder bayerische Landkreis, jede Stadt und jede weitet sich aus. Vorletzten Don- stream bestreitet alle Vorwürfe.
Gemeinde per nerstag wurde die Zentrale von Nach dem FBI und dem Bundes-
Klick im Baynet Clearstream in Luxemburg durch- kriminalamt interessiert sich nun
zu erreichen sein. sucht. „Im Rahmen der Haus- auch die belgische Justiz intensiv
Doch das perfekte durchsuchung wurden zahlreiche für die Geldwäscheermittlungen
Online-Angebot Dokumente eingesehen“, sagt gegen den Wertschriftenabwick-
Edmund Stoibers ler. „In dieser Angelegenheit gibt
hat ein Problem: es eine enge Zusammenarbeit mit
Es präsentiert sich den Luxemburger Behörden“,
unter fremdem bestätigt der Brüsseler Staatsan-
Baynet-Internet-Seite Namen. Die Bay- walt Jean-François Godbille. Zu
net-Bayrische den Hintergründen seines Inter-
TV-Netzwerk GmbH hat Stoibers Staatskanzlei mit- esses will der Belgier „keinen
geteilt, dass sie die Rechte am Namen Baynet Kommentar“ abgeben. Aus Jus-
bereits seit 1993 halte – lange vor dem ersten Auf- tizkreisen ist jedoch zu erfahren,
tritt des Freistaats im Netz unter diesem Namen. dass der Grund dafür der Brüsse-
JEAN-CLAUDE ERNST / LUXPRESS

Entweder müsse der Freistaat seinen Online-Namen ler Clearstream-Konkurrent Eu-


ändern, so forderten die Baynet-Eigentümer Stoiber roclear ist. Die belgischen Ermitt-
nun auf, oder aber der Netzwerk GmbH die ler interessieren sich dafür, ob
Nutzungsrechte abkaufen. Die Höhe der Ablöse- sich aus den Luxemburger Unter-
summe soll in etwa den Kosten entsprechen, die suchungen Parallelen zu Euro-
eine Umbenennung verursachen würde. Jetzt war- clear ergeben und auch dort
ten die Baynet-Eigentümer in Ruhe auf eine Ant- Geldwäsche möglich gewesen
wort aus München. Clearstream-Zentrale sein könnte.
92 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Geld
NEUEMISSIONEN BÖRSE

Fisch statt Chips Aufschwung bei Biotech


D er Erfolg – oder
Misserfolg – von
Neuemissionen ist im-
B iotech-Aktien haben sich nach ihrem tiefen Kurssturz ver-
gleichsweise gut entwickelt. Der Weltmarktführer Amgen
wird an der Nasdaq mit fast 70 Milliarden Dollar mehr als dop-
mer auch ein Indikator pelt so hoch wie Bayer bewertet, weil die Anleger auf viele
für die Stimmung an neue Pharmaprodukte hoffen und der Konzern immerhin Ge-
der Börse. Daran ge- winne macht. Davon sind die meisten deutschen Biotech-Un-
messen ist eine Wende ternehmen, die am Neuen Markt
zum Besseren noch notiert sind, noch weit entfernt. Biotech-Indizes
nicht in Sicht. Selbst Doch auf dem reduzierten Ni- 300
namhafte und gewinn- veau lohne sich bei einzelnen
starke Firmen tun sich Werten der Einstieg, meinen die Nemax 250
JENS PALME

derzeit schwer, ihre Analysten der HypoVereinsbank.


200
Aktien unters Volk zu Sie empfehlen Qiagen. Der welt-
Nordsee-Filiale bringen: Zwar wurde weit führende Anbieter zur 150
die Wall-Street-Premie- Trennung und Reinigung von
re des Nahrungsmittelherstellers Kraft (Milka, Jakobs Krönung) Nukleinsäuren arbeitet profitabel 100
– immerhin der zweitgrößte Börsengang seit AT&T Wireless – und verfügt noch über liquide 2000 2001
50
in der vergangenen Woche als Erfolg gefeiert, doch schon am Mittel von 100 Millionen Euro.
zweiten Tag fiel die Aktie unter den Ausgabepreis. Dasselbe Wer auf wirkliche Entwickler 1600
Schicksal ereilte in Deutschland Fraport, den Frankfurter Flug- neuer Medikamente setzen will, Nasdaq
hafen; die Frisörkette Essanelle musste wegen der geringen ist aber in den USA besser auf- 1400
Nachfrage die Zeichnungsfrist für ihre Aktie verlängern und gehoben. Auch die großen deut- 1200
die Preisspanne für den Einführungskurs senken. Weil selbst schen Fondsgesellschaften wie
solche Old-Economy-Unternehmen Probleme haben, wagen DWS oder DIT sind mit ihren 1000
sich derzeit kaum noch junge Hightech-Firmen an die Börse. Biotech-Fonds vorwiegend in 800
Nun ruhen die Hoffnungen der Börsianer ausgerechnet auf der amerikanischen Werten wie 2000 2001
Fischimbisskette Nordsee, deren Aktien erstmals am 27. Juni Amgen, Genzyme oder Chiron
Quelle: Thomson Financial Datastream
gehandelt werden. investiert.

Deutsche Post AG und Konkurrenten Aktienkurse in Euro Quelle: Thomson Financial Datastream
25 30 90 55
24 29 80 50
23 28 70 45
27
22 60 40
26
21 50 35
25
20 40 30
24
19 23 30 25
18 22 20 20
17
2000 2001 21
2000 2001 10
2000 2001 15
2000 2001
N D J F M A M J O N D J F M A M J O N D J F M A M J O N D J F M A M J

LOGISTIKAKTIEN kurs der vergangenen sieben Monate entfernt. Allerdings hat


Stinnes-Chef Wulf Bernotat Umsatz und Gewinn des Unter-

Kleiner nehmens im ersten Quartal deutlich steigern können – trotz all-


gemeiner Konjunkturschwäche. Stinnes gilt deshalb bei vielen
Analysten als Geheimtipp der Logistikbranche. Aber auch für

Hoffnungsschimmer die beiden am Neuen Markt notierten Logistikexperten D.Lo-


gistics und Thiel Logistik sieht die Zukunft nach der rasanten
Talfahrt der Hightech-Börse ein wenig freundlicher aus. Be-

G ut ein halbes Jahr nach dem erfolgreichen Börsengang der


Post AG dümpelt die Aktie Gelb mit nicht einmal 18 Euro
immer noch deutlich unter dem Ausgabepreis von 21 Euro.
sonders die auf Informationstechnik und Gesundheitswesen
spezialisierte Thiel Logistik konnte die selbst gesteckten Pro-
gnosen in der Vergangenheit weitgehend erfüllen und wird
Deutlich positiver fällt die Bilanz des Post-Konkurrenten Stin- deshalb von zahlreichen Analysten zum Kauf empfohlen. Vor-
nes aus. Zwar musste das Mülheimer Unternehmen in den ver- ausgesetzt, die Konjunktur in Europa bricht nicht weiter ein.
gangenen Monaten auch kräftige Kursabschläge hinnehmen Denn von rückläufigen Auftragseingängen in Handel und In-
und ist mit rund 24,70 Euro noch gut 4 Euro von seinem Höchst- dustrie wäre auch die Logistikbranche massiv betroffen.

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 93
Wirtschaft

AKTIEN

Spekulation
auf Justitia
Viele Anleger fühlen sich getäuscht – von Firmenchefs, die sie mit
geschönten Zahlen zum Kauf von Aktien verführten.
Findige Anwälte sehen darin eine Marktlücke. Werden Gerichte den
Aktionären zurückgeben, was sie an der Börse verloren haben?

D
raußen, auf den Wiesen der Chiem- terföhring, in die Zentrale des einstigen
gauer Alpen, bimmeln die Kuh- Medien-Highflyers. Haffa freilich war „im
glocken. Drinnen, in der Gaststube Meeting“ – und leider unabkömmlich.
des alten Hofs, unter dem König-Ludwig- Doch irgendwann wird der Landwirt den
Bild und den ausgestopften Bachforellen, Unternehmer treffen, ihm in die Augen se-
sitzt der Bauer. Er wartet. hen. „Ich war in meinem Leben noch nie
„Vielleicht kommt er ja heute“, sagt er zu vor Gericht“, versichert er, „aber es geht
seiner Frau. Die sieht ihn zweifelnd an. halt nicht anders.“
Thomas Haffa, der Chef von EM.TV, Der Mann ist nur einer von bundesweit
kommt nicht, heute nicht und morgen auch über 2000 Geschädigten, die Schadenser-
nicht – obwohl er dem Landwirt, wie die- satz fordern – weil sie den allzeit optimis-
ser beteuert, versprochen hatte, im März tischen Aussagen der Haffa-Brüder glaub-
„einmal vorbeizuschauen, um die Dinge ten und deshalb viel Geld verloren.
zu regeln“. Für viele Anleger ist das Klagen gegen
Der Mann hat mit seinem Hof Millionen ihre ehemaligen Lieblinge zu einer ähnli-
verdient – und sie mit Aktien, unter an- chen Leidenschaft geworden wie einst der
derem von EM.TV, wieder verloren. Jetzt Kauf der angeblich so zukunftsträchtigen
will er von Haffa einen Teil des Schadens Aktien. Und so wie sie damals, als jede
erstattet haben. Denn der und sein Bruder neue Nachricht den Kurs beflügelte, an den
hätten ihn „monatelang belogen“, sagt er. Lippen von Haffa, Ron Sommer (Telekom)
Als die Aktie am 9. Oktober vergange- oder Stefan Domeyer (Metabox) hingen, so
nen Jahres auf unter 40 Euro stürzte, griff setzen sie nun auf ihre Anwälte – in der
er zum Telefon. Er hatte 3200 Anteile des Hoffnung, dass die ihnen ihr verlorenes
einstigen Highflyers für rund 80 Euro ge- Geld wiederbeschaffen.
kauft – und ließ sich nicht abwimmeln. Die Klagen richten sich vor allem gegen
Der damalige Finanzchef des Medien- Firmen des Neuen Markts, die ihre Anle-
konzerns, Florian Haffa, versicherte ihm: ger – auf dem Papier – schnell reich und
„Wir werden unsere Zahlen einhalten, und ebenso schnell arm gemacht haben. Wer
dann werden Sie sehen, dass die Aktie wie- auf dem Höhepunkt des Aktienrausches
der steigt.“ Ab Anfang November, „als der in so spekulative Werte wie Infomatec, Me-
Herr Florian nicht mehr im Büro war“, be- tabox und Sunburst einstieg, hat inzwi-
schwichtigte Thomas Haffa den aufge- schen weit über 90 Prozent seines Einsat-
brachten Aktionär: „Wir machen die 600 zes verloren. Viel spricht dafür, dass daraus
Millionen Gewinn. Und allein das Formel- bald 100 Prozent werden.
1-Geschäft ist mehr wert als die momenta- Der Vorwurf der Anleger gegen diese
ne Marktkapitalisierung.“ Unternehmen und deren Vorstände ist fast
FALK HELLER / ARGUM (ob.); MARTIN ATHENSTAEDT / DPA (u.)

Nach dem Gespräch kaufte der Bauer immer der gleiche: Die Firmen hätten ihre
noch mal 6000 Stück zum Kurs von 15 Euro Anleger über die wahren Geschäftsver-
nach – auf Kredit. Doch der prognostizier- hältnisse getäuscht, falsche Zahlen oder
te Gewinn entpuppte sich als Verlust von nicht existierende Aufträge verkündet –
2,6 Milliarden Mark. Die Aktie stürzte ins und so die Kurse gezielt hoch getrieben. Bis
Bodenlose, Freitag schloss sie bei drei Euro. der Schmu aufflog.
Bis vor zwei Wochen glaubte der aufge- Aber auch Anleger, die in so vermeint-
brachte Aktionär noch, er könne die An- lich solide Aktien wie Telekom oder gar
gelegenheit so regeln, wie es auf dem Land DaimlerChrysler investierten, fühlen sich
üblich ist: von Mann zu Mann. gelinkt: Telekom-Chef Sommer werfen
Als ihn aber der EM.TV-Gründer immer sie vor, den Immobilienbesitz des Konzerns
wieder vertröstete und einfach nicht kam, wider besseres Wissen zu hoch bewertet
setzte er sich ins Auto und fuhr nach Un- zu haben. DaimlerChrysler-Chef Jürgen
94 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Konkurrenten zugänglich. Das aber fürch-
100 Kurs EM.TV ten die Unternehmen meist mehr als die
in Euro Statt der angekündigten Gewinne erwirt- Forderungen ihrer Aktionäre.
schaftete die Firma 2,6 Milliarden Mark Allein die Kanzlei Milberg Weiss aus
Verlust. Außerdem verstieß EM.TV-Chef Haffa New York mit 66 Partnern und mehr als
gegen seine Verpflichtung, keine eigenen hundert weiteren Juristen hat bislang für
20 Aktien zu verkaufen. Und er verschwieg in Anleger Schadensersatzansprüche von
0 einem Börsenprospekt wesentliche Details über 20 Milliarden Dollar erstritten. Auf
2000 2001
über den Kauf der Formel 1. ihrer Website veröffentlicht sie stolz ihre
EM.TV-Zentrale in Unterföhring 148 derzeit anhängigen Wertpapierklagen.
Wie ihre US-Kollegen halten die deut-
schen Anwälte von vornehmer Zurück-
Schrempp soll den Aktionären seine wah- haltung nur wenig. „Die Veröffentlichung
ren Absichten – eine Übernahme von falscher Prognosen“, wettert der Münch-
Chrysler statt einer Fusion unter Gleichen ner Anwalt Klaus Rotter, „ist vergleich-
– vorenthalten haben. bar mit Geldfälschung.“ Der 35-Jährige
Es war nur eine Frage der Zeit, bis fin- gründete vor drei Jahren seine Anleger-
dige Anwälte in der Wut der Aktionäre kanzlei, „um der Willkür von Banken
eine Marktlücke erkannten. Denn in den und Unternehmen ein Ende zu machen“.
USA, dem Heimatland des Shareholder- Mittlerweile beschäftigt er weitere vier
Value und der Aktienkultur, gehören Kla- Juristen, vertritt 2500 Mandanten und klagt
gen von Aktionären gegen ihre Firmen gegen 25 Firmen. Er sieht sich als Robin
zum Alltagsgeschäft der Justiz. Hood der Kleinaktionäre und als „Gegner
Wann immer, vor allem an der Techno- der Unternehmen“, die er – um Interes-
logiebörse Nasdaq, eine Aktie einbricht, senkonflikte zu vermeiden – gar nicht
erst vertritt.
40 Auch Andreas Tilp lässt kaum eine Ge-
Kurs
Metabox legenheit aus, öffentlich in Erscheinung zu
in Euro Aktionäre werfen der inzwischen zah- treten. Zusammen mit seinem Partner Diet-
lungsunfähigen Firma vor, Aufträge veröf- mar Kälberer und sieben weiteren Juristen
fentlicht zu haben, die es in Wirklichkeit in Kirchentellinsfurt bei Tübingen und in
10 gar nicht gab. Darüber hinaus habe der Berlin vertritt er knapp 3000 Mandanten.
Vorstand Millionen-Umsätze angekündigt, Seit acht Jahren ist er auf Wertpapierklagen
0 obwohl dazu kein serienreifes Produkt spezialisiert. Mittlerweile fragt er neue
2000 2001
existierte, sowie falsche Bilanzen erstellt. Klienten, ob sie für Medienprojekte zur Ver-
Metabox-Gründer Domeyer fügung stünden – und vermarktet seine Fäl-
le mit größtmöglichem PR-Effekt.
Geltungssucht und Eitelkeit werfen vie-
prüfen Juristen den Fall, sie suchen Ge- le Kollegen den Anlegeranwälten deshalb
schädigte – und reichen Klagen ein. Für vor. Die offensive Öffentlichkeitsarbeit,
Anwälte wie Anleger ist das ein lukratives halten die dagegen, sei notwendig, um
Geschäft. Denn die Juristen arbeiten meist möglichst viele Geschädigte zu finden. So
auf Erfolgsbasis: Gewinnen sie, bekommen können die hohen Kosten einer Klage ver-
sie 20 bis 30 Prozent der erstrittenen Scha- teilt werden.
denssumme. Verlieren sie, gehen sie leer Dann gehen die Probleme erst richtig
aus. Für die Anleger ist deshalb das Pro- los. Denn was den Schutz von Aktionären
zessrisiko – und damit die Hemmschwelle, angeht, ist Deutschland ein Entwicklungs-
vor Gericht zu ziehen – praktisch null. land:
Ohnehin enden die Verfahren nur in den • Zwar müssen börsennotierte Unterneh-
seltensten Fällen mit einem Urteil – meist men seit 1995 alle kursrelevanten Infor-
einigen sich die Kontrahenten außerge- mationen in so genannten Ad-hoc-Mit-
richtlich. Denn wenn es zum Prozess teilungen veröffentlichen. Doch eine
kommt, muss die Firma den Klägern alle Haftung gegenüber Aktionären ist, an-
Beweismittel, darunter auch interne und ders als in Amerika, bei falschen Mel-
belastende Dokumente, übergeben. dungen explizit ausgeschlossen.
Die teilweise streng vertraulichen Pa- • Obwohl der Haftungsausschluss nicht
piere sind damit quasi öffentlich und auch für andere Firmenveröffentlichungen
gilt, müssen Anleger nachweisen, dass
100 Kurs sie vorsätzlich getäuscht wurden.
in Euro Telekom • Außerdem müssen Anleger beweisen,
Deutschlands wertvollstes börsennotiertes dass sie ihre Papiere nur auf Grund der
Unternehmen hat seinen Immobilienbesitz falschen Informationen gekauft haben.
um insgesamt fast vier Milliarden Mark ab- • Selbst wenn falsche oder unvollständige
werten müssen. Dadurch, so behaupten die Angaben in einem Prospekt stehen, haf-
20 Kritiker, seien bei der letzten Emission von ten Vorstände nicht, wenn sie nachwei-
0 Aktien im Sommer 2000 Börsenprospekte sen, dass sie den Fehler nicht kannten.
2000 2001
mit falschen Angaben ausgegeben worden. • Schließlich müssen Anleger ihren Scha-
Telekom-Hauptversammlung 2001 den belegen. Das ist vor allem dann sehr
schwierig, wenn sich ein Anleger ent-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 95
Wirtschaft

schlossen hat, auf Grund einer positi- fern. Der Kurs schoss bis Februar um über Übernahme war. Auch Kleinaktionäre kla-
ven, aber falschen Meldung des Unter- 80 Prozent nach oben – und die Vorstände gen deswegen gegen den Autokonzern.
nehmens, die Aktie nicht zu verkaufen, warfen ihre Aktien auf den Markt. Nicht nur die Justiz, auch die Behörden
obwohl er das eigentlich vorhatte. Bei der Hauptversammlung präsentier- nehmen den Schutz der Anleger in den
Solche juristischen Rahmenbedingungen ten sie sogar Surf-Stationen der Firma USA viel ernster. Mehr als 500 Verfahren
machen jede Klage von Aktionären zu ei- Schneider mit Infomatec-Logo, quasi als hat die dortige Wertpapieraufsicht SEC im
ner hochriskanten Spekulation – ver- Beweis für den Auftrag. Doch außer dem vergangenen Jahr gegen Unternehmen ein-
gleichbar der Anlage am Neuen Markt. Aufkleber sei, laut der Klageschrift, nichts geleitet und deutlich empfindlichere Stra-
Wer ein Auto kauft und merkt, dass es in den Geräten von Infomatec gewesen. fen verhängt als hier zu Lande üblich.
statt der vom Hersteller angegebenen 180 Die Software stammte von CompuTime. Jetzt will auch die Bundesregierung den
nur 120 PS hat, kann es zurückgeben. Wer Das gleiche Spiel wiederholten die Vor- Anlegerschutz, der weit hinter europäischen
aber die Aktie einer Firma kauft, die einen stände im Mai 1999: Diesmal hieß der Kun- Standards herhinkt, verbessern. Sie hat eine
Gewinn von 600 Millionen Mark angekün- de Mobilcom. Die Fir- Kommission eingerichtet, die
digt hat und dann 2,6 Milliarden Mark Ver- ma habe 100 000 Surf- entsprechende Gesetzesände-
lust erwirtschaftet, hat kaum eine Chance, Stationen für 55 Millio- rungen vorschlagen soll.
sein Geld wiederzubekommen. nen Mark geordert. Anlegeranwälte wie Rotter
Mit allen möglichen juristischen Tricks „Ein entscheidender und Tilp haben dazu Stellung-

KEVORK DJANSEZIAN / AP
und Paragrafen versuchen die Anleger- Schritt in Richtung nahmen abgegeben. Sie for-
anwälte nun, die Rechte ihrer Mandanten Marktführerschaft“, ju- dern, dass der Haftungs-
durchzusetzen. Ob sie damit Erfolg haben belten die Vorstände. ausschluss bei Ad-hoc-Mittei-
werden, vermag niemand zu sagen – bis- Tatsächlich waren es lungen aufgehoben wird.
lang gibt es kein einziges Urteil. nur 14 000 Geräte. Außerdem sollte eine Scha-
Gebannt blicken geprellte Aktionäre Wer auf Grund die- Aktionär Kirkorian densersatzpflicht schon bei
deshalb zurzeit nach Augsburg. Dort be- ser Meldung die Aktien Klage gegen Schrempp fahrlässigen Falschmeldungen
greifen. Die Verjährungsfristen
– bei Prospekthaftung bei-
Chance oder Holzweg? spielsweise nur sechs Monate
Anleger-Klagen gegen börsennotierte Unternehmen ab Kenntnis des Mangels –
müssten deutlich verlängert
S AMMELKL AGEN ERFOLGSHONORARE AKTENEINSICHT und Musterklagen zugelassen
USA Ein oder mehrere USA Viele US-Anwälte USA Sobald US-Gerichte werden. Deren Erfolg sollte für
aktive Kläger können fahnden von sich aus ein Verfahren für zulässig alle Geschädigten bindend sein.
hinter sich eine größere nach Erfolg versprechen- erklären, muss das Aber bis solche Regelungen
Gruppe von Anlegern den Klagen und suchen beklagte Unterneh- – wenn sie denn beschlossen
sammeln, die sich im sich dann klagewillige men dem Kläger werden – wirksam werden,
Prozess passiv mit ver- Anleger. Klient und An- sämtliche Firmen- können Jahre vergehen. So
treten lassen („class walt vereinbaren für den dokumente über- lange haben Anleger nur in
action“). Ist die Klage Erfolgsfall, wer wie viel lassen, die dieser einem Fall gute Chancen,
erfolgreich, profitiert bekommt. anfordert. ihr Geld wiederzubekommen:
die ganze Gruppe. Wenn ihnen ein Bankberater
Deutschland Es sind Deutschland Nach den Deutschland Unter- ohne die nötige Aufklärung zu
sind nur Einzelklagen zu- strengen Regeln der An- nehmen können dem einer Aktie geraten hat.
lässig, für den Kleinanle- waltskammer sind Er- Kläger die Einsicht in Auf diese Weise hätte wohl
ger meist ein unkalkulier- folgshonorare für Rechts- interne Akten ver- auch der Chiemgauer Land-
bares finanzielles Risiko. anwälte verboten. weigern. wirt einen Teil seines Vermö-
gensverlustes wiederbekom-
men. Denn der Anlageberater
gann vor wenigen Wochen der Prozess ge- kaufte, hat praktisch sein gesamtes Geld der örtlichen Raiffeisenbank hatte nicht nur
gen die Vorstände von Infomatec – und die verloren, heute notiert Infomatec bei ihm, sondern auch anderen Bauern aus der
Aussichten der Kläger stehen nicht knapp 50 Cent. Doch selbst in diesem Fall Gegend EM.TV dringend empfohlen.
schlecht: Erstmals hat ein Richter das Ver- wird es noch Jahre dauern, bis das Urteil Als der Landwirt das Papier bei 113 Euro
mögen der Vorstände eingefroren und der durch alle Instanzen geprüft und rechts- mit einem Gewinn von 150 000 Mark ver-
Klage von Anlegern prinzipiell Chancen kräftig ist. kaufen wollte, sagte ihm der junge Mann:
eingeräumt. Kein Wunder also, dass auch deut- „Spinnst du? Wenn die erst einmal die For-
Der Richter, das sagte er in der ersten sche Anwälte, wann immer sie können, mel 1 an die Börse bringen, dann gehen die
Anhörung ganz offen, hält viele der Ver- in den USA auf Schadensersatz klagen. auf 200.“ Je tiefer das Papier sank, desto
öffentlichungen des jungen Hightech-Un- Voraussetzung ist allerdings, dass die Ak- heftiger empfahl der Banker dem Bauern,
ternehmens für falsch. Glaubt man der Kla- tien einer Firma auch dort gehandelt weiter Stücke nachzukaufen.
geschrift aus dem Hause Rotter, haben die werden, was nur auf 23 deutsche Unter- Schließlich beschwerte sich der Land-
Vorstände Gerhard Harlos und Alexander nehmen zutrifft. wirt über die schlechte Beratung, die Bank
Häfele – beide saßen zwischenzeitlich in Die Software-Firma Intershop, aber war sofort vergleichsbereit, sie bot ihm eine
Untersuchungshaft – immer wieder be- auch die Telekom und DaimlerChrysler Gutschrift von 5000 Euro an – und die Zu-
wusst falsche Meldungen über Großauf- schlagen sich derzeit mit US-Anwälten her- sage, die Zinsen für den Wertpapierkredit
träge in die Welt gesetzt, um so den Ak- um. Bei dem Autohersteller fordert der ein Jahr lang auf drei Prozent festzu-
tienkurs nach oben zu treiben. US-Milliardär Kirk Kerkorian neun Mil- schreiben. Im Gegenzug musste sich der
So verkündete die Infomatec AG am 29. liarden Dollar Schadensersatz, nachdem Bauer verpflichten, rechtlich nicht gegen
Dezember 1998, sie werde 30 000 Lizenzen DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp die Bank vorzugehen.
einer von ihr entwickelten Technik an die zugegeben hatte, dass der Zusammen- Heute weiß er: „Das hätte ich nicht un-
Firma Schneider Cybermind Systems lie- schluss in Wahrheit nichts anderes als eine terschreiben sollen.“ Wolfgang Reuter

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SCHRAPS / SIMONEIT (li.); W. M. WEBER (re.)


Raffinerie Leuna, Geschäftsmann Holzer: Diskretion ist sein Geschäftsprinzip, Unscheinbarkeit sein Markenzeichen

und die deutsche Politik geflossen seien –


A F FÄ R E N
und immer fällt dabei der Name Holzer.
Jetzt erklärte der Ex-Elf-Präsident Loïk Le

„Einflussagent von Elf“ Floch-Prigent, bei dem Leuna-Geschäft sei-


en „afrikanische Methoden“ nötig gewe-
sen, zu Deutsch: Es seien Schmiergelder
geflossen. Er habe mit dem verstorbenen
Bisher hat der Geschäftsmann Dieter Holzer geschwiegen. Vor dem Staatspräsident François Mitterrand über
Parteispendenausschuss in Berlin soll der Hauptakteur „Lobbymaßnahmen“ gesprochen und des-
der Leuna-Affäre am Donnerstag erstmals öffentlich aussagen. sen Zustimmung erhalten. Die verwickel-
ten Finanzkonstruktionen der Aktion sei-

V
orwürfe perlen an dem Mann ab wie Seit einem Jahr nun träufelt Holzer in en auf Bitten des französischen Finanz-
Regentropfen an der Marmorsäule. homöopathischen Dosen seine Version in ministeriums erdacht worden.
Seit vier Jahren, fast auf den Tag die Öffentlichkeit: „Den Leuna-Skandal Davon will Holzer nichts wissen. Im Mai
genau, wird Dieter Holzer in der interna- gibt es nicht.“ 1992 habe er mit Léthier einen Beratungs-
tionalen Presse als eine der Schlüsselfigu- Am Donnerstag soll der diskrete Ge- vertrag unterzeichnet. Gemeinsam habe
ren der Leuna-Affäre gehandelt, doch der schäftsmann in Berlin öffentlich zu seiner man durch intensive Arbeit – selbstver-
saarländische Geschäftsmann blieb stumm. Rolle bei dem Raffinerieprojekt aussagen. ständlich völlig legal – entscheidend zum
Mochten Journalisten mutmaßen, über Mit ihm tritt erstmals eine Schlüsselfigur Gelingen des Geschäfts beigetragen. Doch
ihn seien Millionen des französischen Mi- der Leuna-Affäre vor dem Parteispenden- die wenigen bekannten Einlassungen des
neralölkonzerns Elf Aquitaine bei der Pri- Untersuchungsausschuss des Bundestags Geschäftsmanns bergen Widersprüche.
vatisierung der ostdeutschen Raffinerie auf: Der Schatten bekommt ein Gesicht. Lange Jahre wohnte der Geschäftsmann
Leuna als Schmiergelder an deutsche Poli- Es geht um einen der größten Polit-Krimis unbehelligt in Monaco. Doch seit die Pari-
tiker geflossen – Holzer schwieg eisern. der Republik. Das deutsch-französische ser Justiz ihn in der Elf-Affäre internatio-
Der Multimillionär ist ein Mann mit bes- Prestigeprojekt beschäftigte damals selbst nal zur Fahndung ausgeschrieben hat, lebt
ten Beziehungen zur deutschen und fran- die politischen Spitzen beider Staaten. Es Holzer wieder im Saarland. Laut dem fran-
zösischen Politik. Er gehörte zum Freun- ging um Helmut Kohls Vision der „blühen- zösischen Haftbefehl vom 3. August 2000
deskreis von Franz Josef Strauß. Der Saar- den Landschaften“. In dem Raffinerie- besteht der Verdacht, dass Holzers Provi-
länder besitzt Wohnungen in aller Welt, Neubau sah der damalige Bundeskanzler sionen „an Drittpersonen, natürliche oder
doch Glamour ist ihm wesensfremd. Mö- „das Flaggschiff dieser Entwicklung“. juristische Personen, Mittler oder nicht“
gen andere Gucci tragen, er setzt sich eine 1992 verpflichtete sich Elf Aquitaine, in weitergeflossen seien. Holzer bestreitet,
dicke Hornbrille auf die Nase, wenn er sich Leuna eine neue Raffinerie zu bauen. Im dass ein Teil seiner Provisionen tatsächlich
auf seinem Sitz beim Flug in der First Class Gegenzug erhielten die Franzosen das ost- Schmiergelder gewesen seien.
in eine Zeitung vertieft. deutsche Tankstellennetz Minol. Im Wind- Doch nicht nur in Frankreich, auch in
Verschwiegenheit gehört zu seinen Tu- schatten des Geschäfts flossen 256 Millio- Deutschland geriet Holzer im Zug der
genden, Diskretion ist sein Geschäftsprin- nen Francs an Provisionen. 161 Millionen Parteispendenaffäre ins Visier der Justiz.
zip bei der Vermittlung großer Geschäfte Francs davon landeten bei Holzers Vaduzer Seit Sommer letzten Jahres ermittelt die
noch größerer Konzerne, Unscheinbarkeit Firma Delta International Establishment. Staatsanwaltschaft Düsseldorf gegen ihn
sein Markenzeichen, als sei er nur ein Der Rest ging an den französischen Ex-Ge- wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung.
Schatten seiner selbst. Mit leiser Stimme, heimdienstoffizier Pierre Léthier. In dem Verfahren geht es um die Bera-
weich und verbindlich im Ton, umwirbt er Seit 1997 halten sich Gerüchte, dass beim tungsgeschäfte der Ex-Verteidigungsstaats-
seine Gesprächspartner. Leuna-Deal Schmiergelder an die CDU sekretärin Agnes Hürland-Büning. Bis Mit-
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te der neunziger Jahre kassierte die CDU- chungsrichters Paul Perraudin. Im vergan- mehreren Briefkastenfirmen in Panama,
Frau rund 8,5 Millionen Mark vom Thys- genen September hatte er der deutschen die Pfahls begünstigten. 1996 floss das Geld
sen-Konzern durch Beraterverträge, die sie Justiz ein übergroßes Diagramm der deut- wieder zurück an Holzer. Der erklärte, er
nicht zuletzt durch ihren langjährigen schen Geldflüsse und einen umfangreichen habe damals eine Mercedes-Niederlassung
Bekannten Holzer bekommen haben will. Bericht geschickt. Der Schweizer sieht den in Ostdeutschland kaufen wollen. Dabei
Am 24. April 1991 habe sie mit der Delta Verdacht erhärtet, dass Holzers Delta In- habe ihm der Daimler-Manager Pfahls als
International einen Beratungsvertrag un- ternational dazu benutzt worden sein Treuhänder für die Kaufsumme gedient,
terschrieben, behauptet sie. Danach war könnte, „kriminelle Erträge zu verteilen“. die Holzer schon mal zurückgelegt habe.
Hürland-Büning „an Beratungsleistungen Perraudin beschreibt ein komplexes Sys- Deshalb seien die Millionen wieder an ihn
für internationale Großunternehmen“ in- tem von Offshore-Firmen, Stiftungen und zurückgegangen, als das Projekt scheiterte.
teressiert. Holzer versprach, Projekte zu Unternehmen im Umkreis von Holzer. Obwohl Perraudin keine Zahlungen be-
vermitteln. Im Gegenzug sollte er 50 Pro- Überweisungen in Millionenhöhe flossen legen konnte, glaubte er, dass zumindest
zent des Honorars erhalten. Bisher hat er nach Liechtenstein, in die Schweiz, nach Teile der Provisionen „an Dritte, öffent-
sich bei der Staatsanwaltschaft noch nicht Luxemburg, Monaco, Österreich liche Bevollmächtigte, staatliche
eingelassen. und Deutschland. Der Geldfluss Entscheidungsbefugte, gewählte
Und diese Provisionen wa- Vertreter und andere Mittelsleute
ren üppig. Je 500 000 Mark er- überwiesen worden sind“. Holzer

MARC DARCHINGER
hielt Hürland-Büning 1992 von dagegen erklärte im Januar 2000
Thyssen und Elf, weil sie ge- an Eides statt, er habe niemals
holfen haben soll, den Bau ei- Geld aus den Leuna-Provisionen
ner konkurrierenden Pipeline an Parteien oder Politiker gezahlt.
zur Leuna-Raffinerie zu ver- Hürland-Büning In gleicher Weise ließ er sich bei
hindern. Allein der Kontrakt den Saarbrückern ein.
für das Projekt Europarc Drei- Dass Holzer bei der Leuna-Privatisie-
linden versprach ihr ein dickes rung Kontakt zur Bonner Politik hatte, ist
Honorar von fünf Millionen klar. Persönlich und in Briefen wandte er
Mark. Sie sollte dabei helfen, sich immer wieder an Ministerien und
ein Grundstück für den ge- Kanzleramt. So schrieb er im November
planten Gewerbepark vor den 1993 an Kohl und bat um „Intervention
Toren Berlins zu besorgen. auf höchster politischer Ebene“. In seiner
Verantwortlich für das Projekt eidesstattlichen Versicherung sagte Hol-
war der Thyssen-Manager zer: „Der Altbundeskanzler, Herr Dr. Hel-
Herbert Ernst Gatzen. mut Kohl, und ich haben noch nie mitein-
Das allein roch schon be- ander gesprochen, auch nicht fernmünd-
denklich. Doch brisant wurde lich.“ Wie ist dann der Satz aus dem
es für Hürland-Büning, als be- Schreiben von 1993 zu verstehen: „Sie
kannt wurde, dass sie ihre Ho- Beratervertrag: Peinlicher Fehler haben mich gebeten, Ihnen kurz dar-
norare mit dem verantwort- zustellen, warum meiner Meinung nach
lichen Thyssen-Manager heimlich teilte – sei durch Kassageschäfte, Devisenum- Elf Aquitaine die Raffinerie in Leuna nicht
der klassische Fall eines so genannten Kick- tausch und Neueinzahlung immer wieder bauen wird“?
backs. Ausgerechnet über Holzers Delta unterbrochen worden (SPIEGEL 41/2000). Jetzt sind auch Holzer-Briefe an sachsen-
flossen 1995 gut drei Millionen Mark an Für Perraudin wird die Spur in die deut- anhaltinische Politiker aus dem Jahr 1993
eine Liechtensteiner Stiftung von Gatzen. sche Politik am Beispiel des ehemaligen aufgetaucht. So wandte er sich an Werner
Die offizielle Rechnung wies für Holzer Verteidigungsstaatssekretärs und Daimler- Münch, damals CDU-Ministerpräsident in
500 000 Mark Provision für das „Projekt Chrysler-Managers Ludwig-Holger Pfahls Magdeburg, an FDP-Wirtschaftsminister
Leuna“ aus. Hürland-Büning, von ihrem deutlich. Der CSU-Mann wird mit inter- Horst Rehberger und dessen Staatssekretär
Parteifreund Heiner Geißler einst als „Mut- nationalem Haftbefehl gesucht und ist seit Arno Bohn. Für den 18. Oktober 1993 war
ter Courage“ gepriesen, mutierte zur „Frau Juli 1999 untergetaucht. Zwischen August ein Treffen mit Bohn in Raum 214 des Wirt-
Raffzahn“ („Bild“). 1992 und November 1993 landeten von Del- schaftsministeriums anberaumt. Thema:
Schlimmer noch: Die Zahlungen sind ta-Konten mehr als 15 Millionen Mark bei „Wohnungen in Leuna“.
unbestritten, die Vereinbarung von 1991 Als 1997 erstmals in der Presse die
aber ist offensichtlich gefälscht. Den beiden Gerüchte um Schmiergeldzahlungen an die
unterlief offenbar ein kleiner, aber peinli- CDU in dem Leuna-Geschäft auftauchten,
cher Fehler: Als Postleitzahl für Dorsten, verfasste das Kanzleramt für Kohl Ver-
den Wohnort der CDU-Frau, setzten sie merke über die „Person von Dieter Hol-
„46284“ ein – doch damals waren die deut- zer“, die heute eigentümlich ambivalent
schen Ortsnummern noch vierstellig; das erscheinen. Zum einen zeichnen sie das
System wurde erst im Juli 1993 umgestellt. Bild eines „außerordentlich vermögenden“
Die deutsche Justiz wollte sich mit dem Mannes mit „erheblichem politischen Ein-
Leuna-Deal lange nicht beschäftigten. Erst fluss in Frankreich“. Auf der anderen Seite
seit dem vergangenen Sommer ermittelt versuchen sie, seine Rolle beim Leuna-
die Staatsanwaltschaft Saarbrücken gegen Geschäft herunterzuspielen. Der Beamte
Holzer wegen des Verdachts der Geldwä- Winfried Kindler notierte: „Wir hatten
sche im Zusammenhang mit Leuna. Herrn Holzer als eine Art ‚Einflussagen-
Seit Monaten brüten die Saarbrücker ten‘ von Elf eingeschätzt, der nach kurzer
JEAN-MARC ARMANI

über den Unterlagen des Genfer Untersu- Zeit nur noch wenig beachtet wurde.“
1993 vermerkte Kindler noch auf einem
Ex-Elf-Präsident Le Floch-Prigent Schreiben: „Quellenschutz – nicht zu den
„Afrikanische Methoden“ Akten.“ Markus Dettmer

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Zahlen, die das 20 Jahre alte Unterneh- Mallorca Adel, Geldadel und Prominenz
UNTERNEHMER
men vorlegte, waren nicht gerade glän- trifft. So lernte er auch, beinahe zwangs-

Höchste zend. Immerhin, in diesem Jahr will der


Makler im operativen Geschäft „eine
schwarze Null“ erreichen, das kommende
läufig, Claudia Schiffer kennen.
Kontakte zu den oberen zwei, drei Pro-
zent der Gesellschaft sind wichtig, denn

Preisklasse Jahr soll „deutlich besser“ werden.


Für das vergangene Jahr hatte Völkers
Provisionseinnahmen von rund 100 Millio-
nen Mark angepeilt – er schaffte etwa die
Engel & Völkers hat sich auf Immobilien
der höchsten Preisklasse spezialisiert: Vil-
len, Eigentumswohnungen zu Preisen von
bis zu 20 000 Mark pro Quadratmeter oder
Christian Völkers ist Deutschlands
Hälfte. Und die Gewinne sind nicht gera- auch ein 75-Quadratmeter-Häuschen auf
bekanntester Makler. Doch die de üppig: Das Unternehmen, schrieb das Sylt – für 1,6 Millionen Mark allerdings ein
Expansion seiner Firma zehrt an Fachblatt „Immobilien-Zeitung“, sei „für ziemlich teures Urlaubsdomizil.
den Erträgen, der geplante seine Ertragsschwäche bekannt“. Für Luxus-Unterkünfte gibt es seit Jah-
Börsengang wurde verschoben. Die Präsentation als Edel-Makler kostet ren mehr Interessenten als Verkäufer. Der-
viel Geld. Chronisch defizitär ist etwa der zeit konstatiert Völkers „eine wahnsinnige

S
ein vermeintliches Techtelmechtel hauseigene Verlag mit seiner Zeitschrift Nachfrage“. Die ist angeschwollen durch
mit Claudia Schiffer hatte für „Grund Genug“. Das Hochglanzblatt (Auf- Millionenerben, Börsengewinnler und
Christian Völkers unangenehme lage: 70 000 Exemplare) findet kaum Käu- reich gewordene Gründer. Gesucht ist die
Folgen: „Es war der Alptraum aller fer am Kiosk. Und auch die Expansion ist Preislage bis zu drei Millionen Mark.
Alpträume.“ teuer. Die einst winzige Firma aus Ham- Wer auf diesem Markt erfolgreich sein
Kaum waren Bilder der beiden in Bou- burg-Blankenese hat sich in die Spitzen- will, muss die Leute kennen, die verkaufen
levardzeitungen erschienen, machten Fo- gruppe der in etwa 10 000 Firmen zersplit- wollen – oder in dem Ruf stehen, entspre-
tografen Jagd auf den neuen Begleiter des terten Branche geschoben. chende Verbindungen zu haben. Engel &
Models, Anrufer legten das Telefonsystem Für bessere Erträge sollen die 24 Li- Völkers ist der deutsche Partner für die
der Hamburger Maklerfirma Engel & Völ- zenzpartner sorgen, die selbständig Büros Immobiliengeschäfte des britisch-amerika-
kers lahm, in der Eingangshalle lungerten betreiben. Für die Nutzung der Marke En- nischen Auktionshauses Sotheby’s. Wich-
TV-Teams herum. „Wir konnten wochen- gel & Völkers sowie für Lehrgänge an der tig an dieser Verbindung ist vor allem der
lang nicht arbeiten“, sagt die Firmenspre- firmeneigenen „Immobilien-
cherin Bettina Prinzessin Wittgenstein. akademie“ ist vorab eine Li-
„Die Geschichte mit Claudia Schiffer zenzgebühr von 40 000 Mark zu
war für das Unternehmen ganz schlecht“, zahlen, dann sind neun Prozent

JENS PALME
Engel & Völkers-Filiale (in Hamburg)
Büros zwischen Lübeck und Kapstadt

Glanz von Sotheby’s, der auf den auser-


wählten Partner abstrahlt. Christian Völ-
kers selbst glaubt nicht daran, dass er als
Sub-Makler für Sotheby’s einen Käufer für
die 23,7 Millionen Mark teure „Unique Ga-
ted Villa“ in Beverley Hills findet. Aber er
– und kein anderer Makler in Deutschland
– hat dieses Sotheby’s-Objekt im Angebot.
Doch der Markt für Luxus-Wohnungen
BERND ISEMANN

ist begrenzt, zuweilen machen sich auch


die Käufer rar. Völkers musste beispiels-
weise sein Büro in Chemnitz schließen,
Model Schiffer, Makler Völkers: „Für das Unternehmen ganz schlecht“ auch Kassel lief so miserabel, dass es vom
Lizenznehmer zurückgekauft wurde.
meint Völkers, 45. Der Börsengang seiner der Provisionseinnahmen an den Fran- Wachstum muss aus anderen Bereichen
Firma stand bevor, der Makler wollte Geld chisegeber zu überweisen. kommen. Seit einigen Jahren vermakelt
für die Expansion einsammeln und als Stra- Mit über 40 Büros zwischen Lübeck und Engel & Völkers Bürohäuser und Gewer-
tege in die „Börsenzeitung“ kommen, dem südafrikanischen Kapstadt, Lizenz- bebauten. Mehr Massengeschäft dürfte
nicht als Leichtfuß in die „Bunte“. nehmer eingeschlossen, bezeichnet sich auch die Akquisition der Blumenauer
Inzwischen ist die Ausgabe von Engel & Engel & Völkers als Deutschlands größter GmbH bringen. Das einst profitable Un-
Völkers-Aktien auf unbestimmte Zeit ver- „bankenunabhängiger Universalmakler“. ternehmen hatte, bevor Völkers es kaufte,
schoben. Schuld sei die schlechte Stim- Christian Völkers selbst wurde zum wohl seine besten Tage aber längst hinter sich.
mung an der Börse, begründet Völkers den bekanntesten Makler Deutschlands. Völkers jedoch ist von dem Kauf begeis-
Rückzug. Für eine erfolgreiche Emission Ungern lehnt er eine Einladung ab, tert: „Das war das beste Geschäft, das wir
hätte er schon Optimismus gebraucht: Die wenn sich zwischen Sylt, Sankt Moritz und je gemacht haben.“ Hermann Bott

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in Kundengesprächen ein Profil der Ge-


schäftsbeziehung zu erstellen.
G E L D WÄ S C H E
„Die Technik arbeitet für die Geldwä-
scher“, warnte kürzlich Jochen Sanio, Prä-

Spur ins digitale Nichts sident des Bundesaufsichtsamtes für das


Kreditwesen (Bakred), auf einer Veran-
staltung der SPD-Bundestagsfraktion. Im
US-Department of State stellten die Dro-
Dank des Internet lassen sich in Sekundenschnelle genfahnder bereits im März 2000 fest, dass
riesige Geldmengen anonym rund um den Globus transferieren – für die Ausführung spezifischer Schritte
ein großer Vorteil für internationale Verbrecherbanden. bei der Geldwäsche eine „signifikante Zu-
nahme der Nutzung von Online-Banking“

I
n der Karibik weiß man, was Bank- mer mehr Menschen wickeln Finanzge- zu beobachten sei.
kunden wünschen. „Unsere Seite er- schäfte im Netz ab, in Deutschland sind es Ein Alptraum für die Fahnder: Sie kön-
möglicht Ihnen einen Kontozugang so- mindestens sieben Millionen. nen die simplen Geldwäscher kaum fas-
wie die prompte Ausführung aller Aufträ- Die Mafia macht da keine Ausnahme. sen, „geschweige denn die Hightech-Wä-
ge, 24 Stunden, 7 Tage, von überall in der Das schalterlose Banking kommt ihren scher“, stellt der Frankfurter Oberstaats-
Welt“, heißt es auf der Homepage der Uni- Bedürfnissen perfekt entgegen. Dreckige anwalt Günter Wittig fest.
ted Bank Limited mit Sitz im Geldwäsche- Dollars lassen sich blitzschnell um den Erd- Tatsächlich führt die Unverbindlichkeit
paradies St. Vincent. Im Management sitzt ball schicken. Mit Notebook und Handy im Netz zu absurden Situationen. So logg-
unter anderen der ehemalige Sekretär des können die Transaktionen gar am Strand te sich Unternehmsberater Daniel Theles-
liechtensteinischen Bankenverbandes. von Rio de Janeiro oder auf der Hotelter- klaf – bis vergangenen November Leiter
Ausgerechnet die Behörden der fürstli- rasse in St. Moritz durchgeführt werden. der Schweizer Meldestelle für Geldwä-
chen Steueroase machen den schillernden Neben der örtlichen und zeitlichen Un- scherei – testweise bei einer Cyber-Bank
Cyber-Bankern jetzt den Prozess. Die In- abhängigkeit bietet Online-Banking dem mit Sitz in Malaysia ein. Obwohl er sein
ternet-Bank UBL soll über einen liechten- Geldwäscher zwei Vorteile: „Erstens kann Konto unter dem Namen Mickey Mouse
steinischen Ableger gegen das Banken- und er den Zugangsschlüssel zum Konto an ei- registrieren ließ, kamen keine Rückfragen.
Sorgfaltspflichtgesetz verstoßen haben. nen Dritten weitergeben“, erklärt Christof Die Gefahr der totalen Anonymisierung
„Die Staatsanwaltschaft nimmt an, dass Müller, Unternehmensberater und ehe- sorgt auch hier zu Lande für Unruhe. In ei-
ohne Lizenz eine Bankrepräsentanz be- maliger Dozent für Wirtschaftskriminalität nem Bericht für die Enquete-Kommission
trieben und Kunden nicht richtig identi- an der Universität St. Gallen. Zweitens „Globalisierung der Weltwirtschaft“ des
fiziert wurden“, bestätigt Lothar Hagen, habe die Bank keine Möglichkeit mehr, Deutschen Bundestages kam das Bakred
vergangenen September zu dem
Schluss: Bezüglich der Methoden
Weltweite Wäsche der Geldwäsche hätten die be-
Wie sich im Internet Schwarzgeld waschen lässt stehenden Erkennungsprobleme
„drastisch zugenommen“. Schuld
Ein Drogenboss hat Schwarzgeld aus Drogengeschäften. seien die Automatisierung im Mas-
Eine Tarnfirma mischt das Bargeld unter die Tages- sengeschäft und die Freisetzung
einnahmen und zahlt es bei der Bank ein. von Bankmitarbeitern, „die noch
Die Firma überweist das Geld an eine Briefkastenfirma den physischen Kontakt zum ein-
im Ausland zur Begleichung von Scheinrechnungen. zelnen Kunden wahren konnten“,
Die Briefkastenfirma überweist das Geld auf ein schrieben die Bankenwächter.
Internet-Konto. Dieses wurde vom Drogenboss unter Das Ende persönlicher Kon-
falscher Identität eröffnet. Er kann jetzt zu jeder Zeit takte soll ein spezielles Identi-
und von überall in der Welt über das Geld verfügen. fikationsverfahren wettmachen.
MAURITIUS

Neukunden von deutschen Direkt-


Staaten und Gebiete, die im Kampf banken, die das Geschäft ohne
Geldwäscheparadies St. Vincent gegen Geldwäsche nicht kooperieren: Schalter betreiben, müssen einem
„Nicht kooperierend“ Panama Israel Niue Postbeamten den Kontoantrag und
Cayman-Inseln Libanon Cook-Inseln einen Pass vorlegen. Erst wenn die
Sprecher des Landgerichts. Com- Bahamas Liechtenstein Philippinen Post die geprüften Formulare an
puter wurden beschlagnahmt, die St. Kitts und Nevis Russland Nauru die Direktbank weitergeleitet hat,
Dominica Marshall-
Filiale zwangsliquidiert. St. Vincent Inseln gibt es den Code.
Die UBL bestreitet alles, gegen und Grenadinen Doch das System namens „Post-
eine Strafverfügung wurde laut Ident“ wirkt wie eine Verzweif-
Hagen „Einspruch erhoben“. An- lungstat. Schließlich gilt fürs In-
sonsten herrscht seit kurzem ternet-Banking wie für jedes Ge-
Funkstille. Der UBL-Sitz in St. schäft im Netz auch: Die Rechner
Vincent beantworte keine Anfra- lassen sich überall installieren,
gen, und von der Homepage eine physische Präsenz in den
fehlt jede Spur – verschwun- Märkten braucht es nicht. Ent-
den im digitalen Nichts. sprechend wird das Regulie-
Dubiose Deals in der an- Quelle: Financial Action Task Force on rungsgefälle zwischen den
Money Laundering, eine Initiative der OECD;
onymen Welt des Online- Stand: 1. Februar 2001 einzelnen Staaten eiskalt aus-
Bankings sind für Fahnder ein genutzt. Anschauungsunter-
Graus: kaum fassbar, ideal richt liefert die europäische
für Geldwäscher und mit ei- Internet-Bank First-e. Ihr Ser-
nem enormen Wachstum. Im- ver, also das elektronische
106 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Gehirn, steht in Irland. Die kontoführende
Banque d’Escompte sitzt in Paris.
Anders als bei den Direktbanken mit
Sitz in Deutschland kann sich ein Kunde
von First-e den Gang zur Post sparen. Zwar
wird das Post-Ident-Verfahren akzeptiert,
doch es geht auch unkomplizierter. Beim
so genannten Belegverfahren verlangt die
Bank nur die Kopie eines Personalauswei-
ses und „zwei unterschiedliche Original-
Haushaltsrechnungen“. Eine Telefon- und
eine Stromjahresabrechnung genügen.

KIMIMASA MAYAMA / REUTERS


Diese Zettelwirtschaft ist dem Bakred
ein Dorn im Auge. Der Kundenidentifizie-
rung, heißt es in einer Stellungnahme des
Aufsichtsamts, komme „zur Betrugsmini-
mierung und Geldwäschebekämpfung eine
essentielle Bedeutung“ zu. Das von First-e
gewählte Belegverfahren sei in Deutsch- Toyota-Präsident Cho mit Luxus-Cabrio: Per Lautsprecher zur kollektiven Kniebeuge
land „zur Umsetzung des Geldwäschege-
setzes nicht zulässig“.
AU TOI N D U ST R I E
Der zuständigen Bankenaufsicht in Pa-
ris scheint das egal. Bei First-e verweist
man auf französisches Recht, das nur eine
Identifikation der Adresse verlange. Dass
dieses Verfahren auf Kriminelle wie eine
Einladung wirkt, wird bestritten. „Wie jede
Cool durch Kaizen
andere Bank haben auch wir schwarze
Toyota erfindet sich neu: Mit pfiffigen Modellen will Japans größter
Schafe unter den Kunden“, sagt Deutsch- Autobauer die Konkurrenten in Europa
land-Chef Dirk Haro, „der Anteil ist je- herausfordern – und in den USA DaimlerChrysler schlagen.
doch völlig normal, das Belegverfahren hat

H
keinen negativen Einfluss.“ iromu Naratani, 49, blickte in die Dazu war zunächst ein Kraftakt auf
Auch die Einführung einer digitalen Si- schockierten Gesichter seiner Bos- dem Heimatmarkt Japan nötig. Vor einem
gnatur dürfte solche Gefahrenherde kaum se. Da wusste er, dass er mit seinem Jahr entsetzte Naratanis Truppe gestan-
entschärfen. Randständige Personen stel- ungewöhnlichen Autodesign gute Arbeit dene Toyota-Ingenieure mit einem Auto
len, so der Wirtschaftskriminalist Christof geleistet hatte. Der Japaner leitet eine speziell für junge Japanerinnen. Traditio-
Müller, „für ein kleines Honorar ihren Na- Pioniertruppe bei Toyota: Sie soll radikal nalisten verspotteten das rundliche Gefährt
men und ihre Unterschrift zur Verfügung.“ mit dem stocksoliden, aber langweiligen prompt als „Kürbis“. Im April lieferte VVC
Experten fordern deshalb die perma- Image des größten Autobauers Japans eine Version für Männer nach: der ge-
nente Überwachung der Transaktionen, bei brechen. drungene Flitzer soll an eine Pilotenkapsel
verdächtigen Abweichungen vom Kunden- Naratanis Abteilung heißt „Virtual Ven- erinnern, Hauptsache, weg vom faden
profil müsse das System sofort Alarm aus- ture Company“ (VVC) – doch ihre Aufgabe Toyota-Stil.
lösen. Bisher fehlen dafür die Instrumen- ist höchst real: Auf Befehl von Toyota-Boss Am liebsten verkauft Naratani seine
te. Das immense Volumen elektronischer Hiroshi Okuda soll VVC die behäbige Spaßautos in grellen, orangefarbenen Ver-
Zahlungsströme lässt sich nur rudimen- Firmenkultur des Autogiganten mit aus- kaufsräumen, etwa im Tokioter Boutiquen-
tär durchleuchten. Laut Oberstaatsanwalt gefallenen Ideen auf Fahrt bringen. viertel Harajuku. Sich und seinen 35 Kol-
Wittig steckt „die entsprechende Software Japans erfolgreichste Automarke erfin- legen hat der Toyota-Samurai ebenfalls
heute noch in den Kinderschuhen“. det sich mal wieder neu. In der Toyota- eine flotte Fassade verpasst: Statt grauer
Sobald die illegalen Gelder durch Ban- Firmenphilosophie haben sie dafür ein Anzüge und Firmenplaketten tragen sie
ken in der Karibik oder im Südpazifik Wort: „Kaizen“ – zu Deutsch etwa „stete Freizeithemden mit offenen Kragen.
fließen, haben Fahnder keine Chance Verbesserung“. Ob am Fließband oder am Doch gearbeitet wird so zielstrebig wie
mehr. Ministaaten wie der UBL-Sitz St. Schreibtisch, unermüdlich werden über- eh und je. Im vergangenen Geschäftsjahr
Vincent werden auf der schwarzen Liste kommene Methoden in Frage gestellt, der- wuchs der Konzerngewinn um 16 Prozent
der Financial Action Task Force der Orga- zeit ist es gerade das Firmenimage. auf Rekordhöhe von 8,6 Milliarden Mark.
nisation für Entwicklung und Zusammen- Toyota will auf der globalen
arbeit als „nicht kooperierend“ geführt. Rangliste der Autoriesen noch
Die Geldwäsche-Gesetze solcher Offshore- höher aufsteigen. Mit rund
Zentren gelten als ungenügend. fünfeinhalb Millionen verkauf-
In dieser schönen neuen Welt klammern ten Fahrzeugen im Jahr belegt
sich Fahnder gern an einen Strohhalm: der japanische Konzern Platz
Elektronisches Geld, so genanntes Cyber- drei hinter Ford und General
Money, hat sich bis heute nicht durchge- Motors. Und deshalb will er
setzt. Bevor die Vorteile des Online-Ban- sich weltweit zur „coolen
kings zum Tragen kommen, muss deshalb Marke“ (Naratani) wandeln.
CLAUDE PARIS / AP

das schmutzige Bargeld über einen Schal-


ter oder die Tageseinnahmen eines unver- * Mit den Toyota-Motorsport-Managern
dächtigen Unternehmens ins Bankensys- Akihiko Saito und Ove Andersson so-
wie den Toyota-Formel-1-Fahrern Allan
tem eingespeist werden – für die Verbrecher McNish und Mika Salo am 23. März in
immer noch ein Risiko. Beat Balzli Frankreich. Prototyp des Toyota-Rennwagens*: „Viel Stolz im Spiel“

108 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Wirtschaft

Das Unternehmen beherrscht gut 43 Pro- sucht der Autoriese abzustreifen. Im März Spitze. Damals war der Marktanteil in Ja-
zent des Heimatmarktes. kommenden Jahres will er in die Formel 1 pan unter 40 Prozent gerutscht, da räumte
Von dieser Bastion aus greift Toyota jetzteinsteigen und sich einem weltweiten Mil- Außenseiter Okuda (Spitzname „Zerstö-
auf den Weltmärkten an, Geld für neue lionenpublikum als sportliche Marke ein- rer“) auf: Ältere Manager schob er in den
Offensiven gibt es reichlich. „Toyota Bank“ prägen. Nach nur 19 Monaten Entwick- Ruhestand ab, jüngere Angestellte spornte
(Branchen-Jargon) verfügt über ein Finanz- lungszeit stellte Toyota einen Prototyp vor. er mit leistungsbezogenen Gehältern an.
polster von etwa 42,4 Milliarden Mark. Gebaut wird das Gefährt von 330 Techni- Überall drückt Toyota aufs Tempo. Die
Vom Börsenwert her könnte der japani- kern in Marsdorf bei Köln. harmonischen Zeiten, als ganze Firmen-
sche Koloss theoretisch Ford, GM und Insgesamt dürfte das Unternehmen in abteilungen gemeinsam in den Kurzurlaub
DaimlerChrysler zugleich schlucken. den kommenden fünf Jahren mehr als drei fuhren, sind vorbei. Auch die Gymnastik
Doch die stolzen Japaner wollen die glo- Milliarden Mark in das Prestigeprojekt am Arbeitsplatz kommt aus der Mode: Täg-
bale Spitze im Alleingang erobern. Die un- pumpen. Anders als Rivalen wie Merce- lich um 13 Uhr wird das Verwaltungsper-
harmonische Fusion von Daimler-Benz des mit McLaren oder BMW mit Williams sonal in Tokio per Lautsprecher zur kol-
und Chrysler schreckt sie gründlich ab. Sie will Toyota kein bestehendes Rennteam lektiven Kniebeuge gerufen, doch die
wollen ihre Firmenkultur – eine Mischung lediglich mit Motoren beliefern. Stattdes- meisten arbeiten einfach weiter.
sen möchten die Japaner Für seine Reformen wird der Toyota-Boss
den werbeträchtigen Ruhm bei den Autohändlern wie ein Retter ver-
Börsenliebling Toyota allein abschöpfen. „Da ist ehrt. Seit Okuda biete Toyota endlich sport-
Die größten Automobilproduzenten der Welt enorm viel Stolz im Spiel“, liche Automodelle für junge Fahrer, sagt
nach aktuellem Börsenwert; Umsatz und Gewinn 2000 sagt Ove Andersson, Präsi- Makoto Umezawa, 49. Er gehört zu Toyotas
in Milliarden Mark Börsen- dent von Toyotas Motor- Starhändlern, in seiner Niederlassung wer-
Umsatz Gewinn wert* sporttochter. den jährlich fast 20 000 Autos verkauft.
Per Mausklick ruft
245,6 8,6 286,4 Umezawa die Leistun-
gen seiner Verkäufer
*Stand: ab: Wer zu viele blaue
14. Juni 2001 Punkte sammelt, be-
kommt weniger Gehalt.
101,3 320,5 8,7 Denn Blau bedeutet
in Umezawas Verkäufer-

MATT MOYER / AP
sprache „Kriegsniederla-
Honda ge“: „Das sind Kunden,
Motor 99,1 120,8 5,2 die sich am Ende für Au-
tos der Konkurrenz ent-
Toyota-Sportcoupé: Weg vom faden Image scheiden“, erklärt Ume-
zawa
Ford Vor allem will Toyota sich auf seine alte
Motor 98,0 357,6 7,3 60
Toyota-Aktie Tugend besinnen: das Sparen. Früher pil-
in Euro gerten europäische Manager nach Japan,
50 um von Toyotas schlanken Produktions-
General abläufen zu lernen. Inzwischen haben sie
Motors 75,2 388,2 9,4
den Lehrmeister in dessen eigener Disziplin
40 überholt.
Nun schlägt Toyota zurück. Bis 2002 sol-
len die Kosten bei Zubehör um 30 Prozent
aus gewachsener Harmonie und hem- 30 gesenkt werden. „Die beste Maßnahme,
mungsloser Zukunftsbesessenheit – nicht um den globalen Überlebenskampf zu ge-
der Globalisierung opfern, sondern ihre winnen, ist das Senken von Kosten“, sagt
Methode bei ausländischen Töchtern kon- 20 Toyota-Präsident Fujio Cho. Im vergange-
sequent verankern. nen Geschäftsjahr sparte der Konzern
Vor allem die Expansion in den USA, wo durch Einschnitte 3,5 Milliarden Mark.
10
Toyota rund neun Prozent des Marktes er- Über Details der Anti-Kosten-Kampa-
1995 2001
obert hat, beflügelt die Japaner. Nun pla- gne reden Toyota-Manager allerdings un-
nen sie die nächste Etappe: Bis 2010 wol- gern. Offiziell halten sie an der Firmen-
len sie DaimlerChrysler in den USA als ei- Europas Autokonzerne werden die Her- kultur fest, also auch an harmonischen Be-
nen der „Großen drei“ nach Ford und GM ausforderung bald zu spüren bekommen. ziehungen zu den Zubehörlieferern. In der
verdrängen. Anfang des Jahres eröffnete Toyota eine Praxis aber geraten diese kräftig unter
Anders in Europa: Hier fährt Nippons Fabrik im französischen Valenciennes. Dort Druck. So reduzierte Toyota die Zahl der
Nummer eins auf der Kriechspur – mit ei- läuft der Kleinwagen Yaris vom Band, Griffe von 30 auf 3 Varianten – und dros-
nem demütigenden Marktanteil von 3,6 Ende des Jahres soll der Mittelklasse-Best- selte den Preis um die Hälfte.
Prozent. Allein im vorigen Jahr erlitt Toyo- seller Corolla dazukommen. Und im neu- Dennoch unterscheide sich Toyotas Me-
ta in Europa einen operativen Verlust von en Toyota-Designzentrum bei Nizza wird thode von rabiateren der westlichen Kon-
420 Millionen Mark. Der Grund: Die an Luxusmodellen für anspruchsvolle kurrenz, beteuert Vorstandsmitglied Yoshio
Schwäche des Euro verteuerte Importwa- Kunden getüftelt. Ishizaka. Im Firmenjapanisch des Mana-
gen aus Fabriken in Japan und England. Die Strategie für die Aufholjagd in Eu- gers klingt die japanische Vorgehensweise
Doch die wahren Ursachen liegen tie- ropa gibt Okuda, inzwischen der Auf- geradezu human und höflich: „Wir laden
fer. Mit meist langweiligen Modellen kann sichtsratschef des Konzerns, vor. Mit ihm unsere Zulieferer ein“, sagt Ishizaka, „ge-
der Konzern Rivalen wie VW kaum Kun- gelangte 1995 ein Manager, der nicht zur meinsam mit uns die Toyota-Methode zu
den abjagen. Dieses mausgraue Image ver- Gründerfamilie Toyota gehörte, an die lernen.“ Wieland Wagner

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 109
Werbeseite

Werbeseite
Trends Medien
KARRIEREN
füge „über umfassende Me-
Weirichs Wechsel dienerfahrung sowie rheto-
rische und dialektische Spe-

K urze Zeit nach Ende seiner


Intendantenlaufbahn bei der
Deutschen Welle zeichnen sich
zialkompetenz“. Das soll of-
fenbar auch den Preis recht-
fertigen: stolze 28 000 Mark
für Dieter Weirich, 57, lukrative pro Tag. Dafür könnten die
Aufträge als Berater ab. So soll Top-Bosse auf Wunsch
sich der langjährige CDU-Me- „per Geschäftsflugzeug oder
dienpolitiker, der in Hessen groß Hubschrauber“ über einen
wurde, künftig um die Kommuni- nahe gelegenen Flugplatz
kation des neuen Börsenunter- anreisen, „völlige Diskre-
nehmens Fraport kümmern. Der tion ist zugesichert“. Sieg-
unterschriftsreife Vertrag bei dem loch, vergangene Woche
Frankfurter Flughafenunterneh- vom SPIEGEL befragt,
men, das zu 33,4 Prozent dem bezeichnet den Vorgang
Land Hessen gehört, ist auf gute als „Missverständnis“. Die
Kontakte zur CDU-Landesregie- Briefaktion, versichert er,
rung zurückzuführen. Auch im sei ohne sein Wissen erfolgt:
Markt des Kabelfernsehens soll „Ich habe meine Zustim-

DPA
der Ex-Intendant, der eine hohe mung nur für interne Schu-
Abfindung erhielt und dessen Siegloch lungen bei der Bausparkas-
Pension die Staatskasse zahlt, se gegeben.“ Im Übrigen
demnächst aktiv werden. „Noch ZDF müsse er bei seinem derzeitigen Status als
vor der Sommerpause“ wolle er freier Mitarbeiter des ZDF für Nebentätig-
loslegen, erzählt Ex-Intendant
Weirich, er könne dabei seine
vielen Kontakte nutzen, „nicht
Diskretion keiten keine Genehmigung des Senders
einholen, auch habe er nicht gegen Stan-
desregeln verstoßen: „Als Fernsehjourna-
nur zu politischen Kreisen“.
zugesichert listen freuen wir uns doch, wenn sich Ge-
sprächspartner kurz und bündig aus-
drücken.“ Die Schwäbisch-Hall-Manager

U m eine Nachrichten-Ikone des öffent-


lich-rechtlichen ZDF, den früheren
Vize-Chefredakteur Klaus-Peter Siegloch,
lassen den Vorwurf, Siegloch überrumpelt
zu haben, nicht auf sich sitzen. „Wir hätten
die Aktion doch nie gestartet, ohne uns
55, gibt es Verwirrung wegen eines mögli- vorher abzusichern“, so Gästebetreuer Rai-
chen gut dotierten Zusatzjobs. Ende April ner Drendel. Ihm und seinen Kollegen lä-
hatten rund zehn Topmanager, darunter gen zudem mehrere Faxe und E-Mails von
VW-Chef Ferdinand Piëch und Telekom- Siegloch vor. Aus denen geht nach seiner
Chef Ron Sommer, Post von der „Schwä- Ansicht eindeutig hervor, „dass nicht nur
bisch Hall Training GmbH“ erhalten. In unsere eigenen Topmanager gemeint wa-
dem Schreiben der Tochter der Bauspar- ren“. Das ZDF nimmt seinen Anchorman
kasse Schwäbisch-Hall, die ein aufwendiges in Schutz. „Da es bislang noch zu keinem
Fernsehstudio unterhält, wird aggressiv konkreten Schulungstermin gekommen
OGANDO / LAIF

für ein TV-Training mit „heute“-Moderator ist“, erklärt Sprecher Philipp Baum, „war
Siegloch „als Ihr ganz persönlicher Coach“ Herr Siegloch auch nicht verpflichtet, uns
geworben. Der ZDF-Mann, heißt es, ver- vorab zu informieren.“
Weirich

M U LT I M E D I A siert ist. Dafür zahlte Internolix,


die aus dem Börsengang viel Geld
Helberts Konzern schöpfte, knapp 40 Millionen
Mark. Helbert, der mit Campoint

D er mit Sex-Blättern reich gewordene


Verleger Klaus Helbert, 34, macht sich
in der New Economy breit. Knall auf Fall
und Kahler auch den Kabelkanal
Single-TV betreibt, hat mit seinen
Blättern eine traurige Berühmt-
stieg er als Großaktionär bei der Soft- heit erreicht – „Coupe“ und
warefirma Internolix in Limburg ein. Den „Blitz-Illu“ kassierten 16 Rügen
dreiköpfigen Aufsichtsrat beschickte er mit vom Deutschen Presserat, ehe
Vertrauten, darunter sein Wirtschaftsprüfer Helbert, Internolix-Website ihm der Großverlag Bauer 50
Klaus Kahler. Das sei eine Bedingung Hel- Prozent des gemeinsamen Verlags
berts gewesen, so Vorstandschef Luigi De Micco; Ziel sei es, für vermutlich über 50 Millionen Mark abkaufte. Seitdem ist
„einen Medienkonzern aufzubauen“. Kapitalgeber Helbert ver- Helbert erst recht auf der Suche nach Beteiligungen. Gern wür-
mittelte laut De Micco auch den Kauf von 50,5 Prozent an der de er 45 Prozent der Tele-München-Gruppe kaufen, doch dar-
Campoint AG, die auf Videoübertragungen im Netz speziali- aus wird nichts: Verkäufer EM.TV favorisiert die WestLB.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 111
Medien
zusammenarbeiten. Das wirkt
kommunikativ und unterhaltsam.
Roger dir einen! SPIEGEL: Sie sprechen erst seit zwei
Jahren Deutsch – alles andere als
m Grunde ist’s im Fernsehen
ILeben:
nicht anders als im richtigen
Leider trifft man hier wie
akzentfrei. Wie haben Sie Ihren Job
bei Viva bekommen?
Serra: Nach meinem Studium bin
dort dauernd diejenigen wieder, ich nach Deutschland gekommen
und habe mich bei Viva beworben.
die man am allerwenigsten ver- Beim ersten Casting wurde ich ab-
misst hat. Eben erst die Hobby- gelehnt. Der Grund: mangelnde
Belgierin Margarethe Schreine- Deutschkenntnisse. Ein Jahr später
makers (schon wieder daheim), brauchte Viva für die Sendung
jetzt den gespreizten „Schmal- „Ritmo“ jemanden, der Deutsch
spurphilosophen“ („Bild“) Roger und Spanisch spricht. Und schließ-
lich hat es doch noch geklappt:
Willemsen. Dessen neues Laber- Jetzt bin ich Ansagerin.
Format heißt „Gipfeltreffen“ und Serra SPIEGEL: Liegt angesichts Ihrer
läuft im ZDF sonntags zur Den- Mini-Auftritte nicht der Verdacht
ker-Primetime kurz vor Mitter- ANSAGERI NNEN nahe, dass Ihr Sender die angebliche
nacht. Logisch ein ganz neues, Wiedereinführung der TV-Ansagerin
total frisches und irre aufregen- „Mein Akzent ist echt“ nur als Reklamegag benutzt?
Serra: Nein. Ich vermittle Informationen
des Konzept: „Da treffen sich Die Spanierin Bibiana Ballbè Serra, und führe den Zuschauer durch das
zwei bekannte Menschen, die 23, über ihren neuen Job als Viva- Programm. Der Akzent soll das ganze
sich einfach mal Ansagerin ein wenig auflockern. Das wirkt witzig
sehen wollten.“ und interessant, wie die Zuschauerreso-
SPIEGEL: Fast alle Sender haben ihre An- nanz zeigt. Kurioserweise werde ich
Genauer: Der sagerinnen abgeschafft, weil sie als alt- manchmal gefragt, ob der Akzent echt
Weltmensch Wil- modisch gelten. Wieso greift nun ausge- ist. Ich versichere Ihnen: ist er.
lemsen verhilft ei- rechnet der Jugendsender Viva in die SPIEGEL: Wäre Ihr Job gefährdet, wenn
nem Irgendwie-Pro- Fernsehmottenkiste? Sie zu gut Deutsch sprechen würden?
mi dazu, einen anderen Serra: Wir definieren die Programman- Serra: Zum einen wird das wohl noch
sagerin als klassische Fernsehfigur neu. ein Weilchen dauern. Zum anderen hof-
Wunsch-Promi kennen zu Ich bin das Bindeglied zwischen den fe ich, dass es bei dieser Entscheidung
lernen. Dafür darf er mit- Moderatoren, und das vermittelt dem mehr um das Talent als um die Sprach-
kommen und mehr reden als Zuschauer das Gefühl, dass wir als Team kenntnisse geht.
die anderen beiden zusammen.
Schon die Auftaktsendung, in der
Willemsen die Schauspielerin
QUOTEN
Marie Bäumer zum Pferdewispe- Talkshow-Quoten
rer Monty Roberts nach Kalifor-
nien begleitete, bewies schlagend:
Talkerdämmerung Jahresdurchschnitt in Prozent

18 „Vera am Mittag“
Die Sendung müsste eigentlich
„W. trifft – Roger Willemsen“ G ibt es vielleicht doch kulturellen Fort-
schritt, sogar im Fernsehen? Nachdem
der Urvater des Quassel-TV, Hans Meiser,
17
16
Sat.1

heißen, weil der Moderator die im März seinen angestammten Sendeplatz „Bärbel
zum Date Verabredeten zu Sta- 15 Schäfer“
bei RTL räumen musste, wird von Herbst
14 RTL
tisten degradiert. Nach Hermes an der Daily-Talker Peter Imhof wegen
Phettberg und Helge Schneider lauer Quote durch eine Gerichtsshow er- 13 „Fliege“
ARD
will Willemsen beim „Gipfeltref- setzt. Sat.1 reagiere mit diesem Schritt auf 12
das veränderte Zuschauerinteresse, heißt „Arabella“
fen“ am nächsten Sonntag, na es aus dem Sender. Die Unlust am Talk be- 11 ProSieben
wen?, zusammenbringen: Ariane kommt auch die Konkurrenz zu spüren. 10
Sommer und Peter Sloterdijk? So verloren die Quasselqueens Bärbel 9 Zuschauer ab 3 Jahre
Sahra Wagenknecht und Edmund Schäfer, Vera Int-Veen und Arabella Kies-
bauer seit 1999 bis zu 20 Prozent ihrer 1999 2000 2001
Stoiber? Nein, noch besser: Her-
Klientel, Moderator Andreas Türck büßte
bert Grönemeyer, Künstler, und noch mehr ein. Einzig Pastor Fliege kann seine Fangemeinde halten. Dabei haben die
Paul Spiegel, Künstleragent. Die übrigen Talkshows vieles probiert und sich nicht allzu streng an die vor drei Jahren
wollten schon immer mal mitein- vereinbarte sittliche Mäßigung gehalten: „Deine Freundin ist im Bett ’ne Null“ (An-
ander reden. Jetzt tun sie es. Das dreas Türck) oder „Sieh’s endlich ein: Du platzt aus allen Nähten“ (Vera am Mittag)
ist echt der Gipfel. Alles Spitze! hießen die Themen. Wenn sich der Quoten-Abwärtstrend verstärkt, heißt es umsat-
Alles Roger! teln. Für diesen Fall hat zumindest Bärbel Schäfer schon vorgesorgt. „Wenn die Lei-
denschaft für dieses Format nicht mehr da ist, werde ich aufhören“, droht sie. „Mei-
ner Neugier auf Menschen kann ich auch in einer anderen Sendeform nachgehen.“
112 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Fernsehen

Vorschau existierenden ge-


sellschaftlichen Wi-
derstände, Vorurtei-
Nie wieder Mauerblümchen le und juristischen
Dienstag, 22.15 Uhr, ZDF Probleme dar. Ein-
Gesa Hotzen und Sabrina Geib sind drucksvollste Kron-
zwei Frauen, die unterschiedlicher zeugen für die ei-
nicht sein können – gelangweilte Ehe- genwilligen Lebens-
frau die eine, gestresste Geschäfts- experimente sind
frau die andere. Und doch haben bei- die Kinder, die zu
de nur einen Wunsch: nie wieder Wort kommen. So
Mauerblümchen sein. Irgendetwas der neunjährige

WOLFGANG MEIER / NDR


wollen sie ändern – an ihrem Aus- Christian, der bei
sehen, ihrem Auftreten und an ihrem seinem schwulen
Lebensgefühl als Frau. Damit sind sie Onkel Guido und
ein Fall für Aisha Rokovsky, Image- dessen Freund Tho-
beraterin, Motivationstrainerin und mas wohnt und sich
Benimmdame in Personalunion. In Sophie Scholz, Quadflieg in „Eine öffentliche Affäre“ inzwischen ein an-
Ein- oder Zweitagesseminaren päp- deres Dasein gar
pelt sie die frustrierten Damen auf, schon entfallenen Flirts mit einem jun- nicht mehr vorstellen kann. „Es gibt
verteilt Schmink-, Styling- und Kla- gen Mädchen ankündigen. Als der we- nichts“, sagt er selbstbewusst, „wor-
mottentipps und zeigt ihnen, wie frau gen seiner Unnachsichtigkeit gefürch- über man sich da lustig machen
selbstbewusst und unwiderstehlich tete Mölders erfährt, dass das Mäd- kann.“ Nur schade, dass der gewitzte
wirkt. Und nicht nur das: Die ehe- chen Selbstmord begangen hat, wirft Film so spät gesendet wird.
malige tschechische Jugend-Europa- ihn das vollständig aus der Bahn. Alles
kommt ans Licht. Seine Frau (Ulrike Taubblind
Kriener) verstößt ihn, der Sender eben- Sonntag, 21.15 Uhr, 3sat
falls. Die Geschichte wird schnörkellos Gudrun Stärke kann weder sehen
erzählt, und Quadflieg vermag mit sei- noch hören. Im Alter von neun Mo-
ner eigenen Schönlingsausstrahlung naten wurde sie taub. In einer Schule
nicht unironisch zu spielen. Der Schluss für Gehörlose lernte sie lesen und
bestätigt Jürgen Habermas’ These vom schreiben. Dann musste sie die Blin-
Strukturwandel der Öffentlichkeit: denschrift lernen, denn mit 13 verlor
Die Frau verzeiht ihrem TV-Mann erst, sie ihr Augenlicht. Seitdem lebt sie im
als er seine Sünden via Bildschirm be- Taubblindenheim des Oberlinhauses
Rokovsky, Seminarteilnehmerin kennt. Das im Medium Geäußerte rich- in Potsdam-Babelsberg. Hier hat sie
tet mehr aus, als es der intime Diskurs der Dokumentarfilmer Wolfram See-
meisterin im Kugelstoßen ist auch auf gekonnt hätte. ger zwei Monate lang besucht. Der
sexuellem Gebiet Expertin, und so Grimme-Preisträger filmte Menschen,
steht die Frage „Wie werde ich zu ei- Zwei Mamas und kein Papa
ner begehrenswerten Frau in einer Mittwoch, 23.30, ARD
Beziehung“ als zentraler Punkt auf Zwei Frauen und ein Baby – davon
der Tagesordnung. Die ZDF-Reihe erzählt diese eindrucksvolle und pro-
„37 Grad“ hat die Frauen einige Mo- vozierende Dokumentation von Ursula
nate lang begleitet, die Ehemänner Ott und Valentin Thurn. Sie begleiten
befragt und natürlich das Seminar das lesbische Paar zur Samenbank nach
WOLFRAM SEEGER / WDR

selbst gefilmt. Die Coaching-Branche Holland, zum Ultraschall und bis zur
boomt – in ausnahmslos allen Lebens- Geburt von Tochter Lili. Der Film zeigt
bereichen. außerdem eine Hausgemeinschaft aus
zwei schwulen Vätern, zwei lesbischen
Eine öffentliche Affäre Müttern und zwei Kindern. Regenbo-
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD genfamilien heißen diese modernen Be- Taubblinde des Oberlinhauses
Die Story von den flotten Fernsehleu- ziehungsformen. Eine Agentur in Berlin
ten, die durch private Irrungen und hilft mittlerweile lesbischen Frauen und denen nichts als der Tastsinn geblie-
Wirrungen von selbstherrlichen TV- schwulen Männern bei der Erfüllung ben ist, und zeigt, wie sie zählen, we-
Stars zu medienskeptischen Zeitgenos- des Kinderwunsches, sehr zum Entset- ben und schwimmen lernen und wie
sen geläutert werden, hat das US-Kino zen mancher Politiker und Kirchen- sie untereinander und mit ihrer Um-
(„Network“) schon früher erzählt. männer. Ohne leibliche Mutter gehe es welt kommunizieren. Die Dokumen-
Barbara Wilde (Buch) und Regisseur nicht, behaupten die einen. Unsinn, sa- tation lässt allein die Betroffenen,
Rolf Schübel („Gloomy Sunday“) ha- gen Familienforscher, ein Kind brauche ihre Angehörigen und ihre Betreuer
ben den Stoff auf Deutschland über- Fürsorge, Verlässlichkeit, Liebe – egal zu Wort kommen und vermittelt so
tragen: Moderator Mölders (Christian von wem. Die Filmemacher befürwor- einen authentischen Eindruck von
Quadflieg) erhält anonyme Drohun- ten die neuen, schillernden Familienfor- den Menschen, die in einer Welt ohne
gen, die die Enthüllung eines ihm men, stellen aber auch die nach wie vor Licht und Laute leben.

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 113
Medien

T V- F U S S BA L L

Das Kick-Kartell
Die Bundesliga ändert ihren Spielplan, und die Fans können Fußball im frei empfangbaren
Fernsehen künftig erst abends sehen. Leo Kirch will so sein hoch defizitäres
Bezahlfernsehen Premiere retten. Mit seinen Milliarden hat er die Liga fest im Griff.

I
n wenigen Wochen, am 28. Juli um ungern verzichtet, von 18.30 Uhr nach hin- titution, ist die Welt des TV-Sports endgül-
20.15 Uhr, droht schwerer Schaden für ten ins Abendprogramm verlegt. Ärger ist tig aus den Fugen geraten. Die verbreitete
Deutschland: Der samstägliche Frieden so sicher wie der Elfmeter nach einem Foul Abendplanung, erst Fußball gucken, dann
in deutschen Wohnzimmern geht zu Ende. im Strafraum. Es drohe eine „Zweispal- Film, Show oder Party, ist dahin. Im Fern-
Von dieser Minute an wird Vati, so sieht tung der Gesellschaft in weibliche und sehen ist Erstliga-Fußball auf den frei emp-
es aus, nicht mehr der Familie gehören, männliche Zuschauer“, analysiert der So- fangbaren Kanälen („Free-TV“) künftig nur
sondern ganz den Programmplanern des ziologe und Medienforscher Friedrich noch spät und nie live zu sehen – stattdes-
Fernsehens. Krotz vom renommierten Hamburger sen soll mit den Bildern vom Ballvolkssport
Gespannt schaut er auf den Bildschirm, Hans-Bredow-Institut, es gebe ein „erheb- nun endlich ein Genre befördert werden,
um endlich die ersten Tore der Bundesliga lich gesteigertes Konfliktpotenzial in den das seit Jahren in einer wirtschaftlichen
mitzukriegen. Wenn Frau und Kinder nör- Familien“. Traurig befand die „Bunte“ be- Depression steckt: das Abonnenten-Fern-
geln, weil sie lieber Jauch statt Jancker se- reits: „Gute Nacht, liebes Familienleben.“ sehen von Premiere World.
hen wollen, werden sie genervt ins Ne- Langsam wird auch dem letzten Fuß- Das hochdefizitäre Unternehmen zeigt
benzimmer geschickt, wo sie dann am ballfan klar, was der Anschlag aufs televi- nicht nur alle Liga-Spiele live, es wandelt
Zweitgerät den Krimi im ZDF oder die sionäre Gemeinwohl bedeutet. auch mit der Zusammenfassung „Alle
Show auf RTL schauen können. Nur jeder Zehnte wolle Fußball um 20.15 Spiele, alle Tore“ um 17.25 Uhr, die jetzt
Solche Szenen könnten sich bald in Mil- Uhr sehen, ermittelte das Forschungsinsti- auf eine volle Stunde ausgedehnt werden
lionen deutscher Haushalte abspielen. tut Forsa in einer Umfrage für „TV Today“, soll, auf den Spuren von „Sportschau“,
Denn ein kleiner Klüngel aus Medienma- 51 Prozent lehnten demnach das Spät-Se- „Anpfiff“ (RTL) und zuletzt „ran“ (Sat.1).
nagern und Fußball-Funktionären hat die hen strikt ab und wollten den 18.30-Uhr- Für den Betreiber, den Münchner Me-
TV-Bundesliga, auf die der deutsche Mann Termin unbedingt behalten. dienunternehmer Leo Kirch, 74, hat sich
Vierzig Jahre nach dem Start der „Sport- sein Pay-TV-Abenteuer bisher als Geld-
* Stefan Effenberg und Roy Präger beim Spiel Hamburger schau“ im Ersten, mit Ernst Huberty und vernichtungsanlage erwiesen. Allein seit
SV gegen Bayern München am 19. Mai in Hamburg. dem „Tor des Monats“ jahrelang eine Ins- der Übernahme im März 1999 fielen bei

Fernsehattraktion Fußball*: „Gute Nacht, liebes Familienleben“ SANDRA BEHNE / BONGARTS

KirchPayTV-Verluste 567
operativ; Quartalszahlen
in Millionen Mark
Quelle: BSkyB
350
311

143

II/00 III/00 IV / 00 I /01


KirchPayTV rund 2,5 Milliarden Mark Ver- len sie nun einsetzen, und auch neue De-
lust an, fast 1,4 Milliarden davon in den coder-Modelle sollen her. Der Aufschwung
letzten zwölf Monaten. Schon vorher wa- von BSkyB kam mit dem Fußball – auf der
ren insgesamt rund fünf Milliarden Mark Insel waren die Spiele der Spitzenkicker
ins Pay-TV geflossen. viele Jahre erst um 22.30 Uhr zu sehen.
Warum auch sollten sich die Deutschen „Das wird in zwölf Monaten auch hier
ein Premiere-Abo zulegen? Die Preis- zu Lande zum Thema“, sagt Ex-RTL-
struktur für die verschiedenen Programm- Chef Helmut Thoma, „20.15 Uhr ist nur
pakete ist fast so kompliziert wie eine eine Übergangslösung.“ Pikanterweise will
Lohnsteuertabelle, das nötige Zusatzgerät der neue Rechte-Besitzer ITV nun in Eng-
(„Decoder“) zum Entschlüsseln der Pro- land Fußball im Free-TV um 18.00 oder
gramme hält seit Jahren nicht, was Kirchs 19.00 Uhr zeigen (siehe Grafik), alles an-
Techniker versprechen. Und von gelunge- dere sei unattraktiv.

BONGARTS
nem Marketing ist kaum etwas zu be- Als Kampfmittel eignet sich Fußball für
merken – als der Disney-Konzern seinen Kirch wie kein anderes Programm. Längst
Knüller „König der Löwen“ erstmals bei Manager Hahn, Eigentümer Kirch hält er nicht nur alle Lizenzrechte für TV-
Premiere im TV zeigte, bekam kaum einer Große Geldvernichtung Übertragungen der Bundesliga (Kosten pro
etwas davon mit. Saison: stolze 750 Millionen Mark), er hat
Bei solchen Pannen ist es kein Wunder, werden“, sagt ARD-Chef Fritz Pleitgen. auch großen Einfluss auf Clubchefs, Ver-
dass 300 Millionen Mark Werbegelder in „Das alles wird doch nur gemacht, damit bandsfürsten, die öffentliche Meinung und
den Jahren 1999 und 2000 verpufften. Leo Kirch mehr Decoder verkaufen kann“, politische Kreise.
Neu gewonnene Kunden ließen sich wettert Willi Lemke, viele Jahre Manager Typisch die Meinung von Engelbert Kup-
auch nicht immer halten. Ende 2000 hatte beim Fußballclub Werder Bremen und nun ka, Präsident des Fußballproficlubs Unter-
Premiere nur 2,3 Millionen Abonnenten – Bildungssenator der Hansestadt. haching, der glaubt, jeder könne sich im
es hätten laut den internen Plänen 2,9 Mil- Für den Juli plant Kirch, mal wieder, Radio frei informieren: „Wenn man das
lionen sein müssen. Dabei hatte Kirchs eine Offensive. Dann wird die heiße Ware Bild dazu sehen will, kostet es halt was.“
Stellvertreter Dieter Hahn schon vor zwei zum Kampfpreis angeboten – monatlich 44 TV-Fußball sei ein Sparteninteresse und
Jahren die letzte Chance ausgerufen: Mark statt vorher knapp 55 Mark kostet kein Grundbedürfnis, sagt Kupka noch, es
„Wenn es jetzt nicht klappt, gibt es keine dann das „Sportpaket“ inklusive eines werde ja auch „niemand bedauert, der für
Entschuldigung mehr“ (SPIEGEL 23/99). Fußballbasisangebots mit weiterhin drei eine Opernkarte 250 Mark zahlt“. Der
In der neuerlichen Zwangslage hilft aus Spielen, allerdings nur in Verbindung mit Mann sitzt im bayerischen Landtag für die
Sicht des Konzerns nur Radikales. Kirchs einem Zweijahresvertrag. CSU, die aus standortpolitischen Gründen
kühles Kalkül: Mit der Verknappung at- Die Kirch-Strategen orientieren sich an Kirch traditionell fördert.
traktiver Rechte im Free-TV werde sein den Künsten ihres Mitgesellschafters Ru- Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) war
malades Pay-Fernsehen doch noch zum pert Murdoch, dessen Pay-Firma BSkyB den Wünschen des Medienhändlers schon
Gewinnbringer. in Großbritannien immerhin fast sechs Mil- letztes Jahr nachgekommen: Damals wur-
„Mit viel Marktmacht sollen die Ge- lionen Abonnenten anzieht. Sogar Mur- den die Spiele auf Freitag, Samstagnach-
wohnheiten der Deutschen aufgebrochen dochs technisches System „Open TV“ wol- mittag, Sonntag und ein „Top-Spiel“ am

TV-Moderatorin Lierhaus: Jancker statt Jauch? ANDREAS GEBHARD / DPA

„ran–Sat.1-Bundesliga“
31,7 Marktanteil in Prozent
Saisondurchschnitte;
30,2 samstags; Zuschauer
ab 3 Jahre

27,3 Quelle: AGF/GfK

25,0
23,0
1997 1998 1999 2000 2001
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Medien

„Kicker“. „Die Bundesliga beugt sich dem


tierter Kommentator bei Premiere auf der
Sendeschema von Kirch“, befand die
Pay-Roll: Er freut sich, dass er künftig nach
„FAZ“. „TV-Skandal! Und das nur, um Pre-
dem Stadionbesuch mehr Zeit für die
miere aus den roten Zahlen zu bringen“,
Heimfahrt habe, und so garantiert recht-
textete der Kölner „Express“, und ein auf-
zeitig zum „ran“-Start zu Hause sei. Gern
gebrachter Leser schrieb: „Erklären Sie das
werden Netzer und Wontorra von den
doch mal meiner Frau.“
reichweitenstarken Blättern „Bild“ und
So macht sich allmählich, wenn auch
„Bild am Sonntag“ („Bams“) – der
spät, Widerstand breit gegen den Durch-
Leiblektüre vieler Fans – zitiert, unter
marsch von Kirch & Co. Selbst die ersten
Beckenbauers Namen erscheinen dort Ko-
Fußballmanager beschleichen Zweifel.
lumnen. Beim zuständigen Axel Springer

ADELAIDE ADVISER / AFP / DPA


20.15 Uhr sei „absoluter Unsinn“, sagt Jür-
Verlag hält Fußballherr Kirch über 40 Pro-
gen Friedrich, Vorstandschef des 1. FC Kai-
zent der Aktien und sitzt im Aufsichtsrat.
serslautern: Da die letzten Berichte im TV
So entwickelte sich in Sachen Fußball ein
dann um 22.00 Uhr laufen, „schließen wir
Medienverbund, den Kirch lange Zeit ver-
die Kleinsten, die E- und F-Jugendspieler,
geblich erhofft hat. Schon länger fällt auf,
vom Bundesliga-Fußball aus“.
wie „Bild“ Kirchs Pay-TV pusht – mal lockt
Pay-TV-Anbieter Murdoch das Blatt seine Leser zu Kommentatoren-
Auch die Politik entdeckt das Thema. Der
Sechs Millionen Abonnenten Tests bei Premiere, dann wieder werden
DFB sollte lieber „pflichtgemäßer Anwalt
VIP-Karten für die Tribüne verlost.
des Volkssports Fußball und nicht Handlan-
Samstagabend verteilt. Das sicherte mehr Gut informiert, durfte die „BamS“ An-
ger der wirtschaftlichen Interessen des Kirch-
Live-Übertragungen im Pay-TV. fang Juni zuerst von „geheimen Bundesliga-
Konzerns“ sein, meint die schleswig-holstei-
Weil die Einnahmen jedoch nicht wie Plänen“ und „TV-Revolution!“ schwadro-
nische Ministerpräsidentin Heide Simonis.
erhofft flossen und eine Fan-Initiative nieren – flankiert von einem höchst einfühl-
Die Landeschefin, die auch im ZDF-Ver-
(„Pro 15:30“) zudem publikumswirksam samen Kommentar von Sportchef Alfred
waltungsrat sitzt, fordert ARD und ZDF auf,
protestierte, wurde der Spielplan kurzer- Draxler. „Ohne die vielen Millionen vom
von einem gesetzlichen Recht Gebrauch zu
hand wieder verändert. Fernsehen würde unsere Bundesliga an
machen, das vom Bundesverfassungsgericht
Jetzt sollen sieben Spiele am bestätigt wurde: Danach dürfen die
Samstagnachmittag laufen – und Hauptsache Tore Öffentlich-Rechtlichen – um ihrer
die Free-TV-Berichte erst am Informationspflicht Genüge zu tun
Abend. Die zeigt praktischerweise Fußball-TV-Sendungen in wichtigen europäischen Märkten – von jedem Bundesligaspiel bis zu
Kirchs Kanal Sat.1, dessen „ran“- Großbritannien Pay-TV Alle Live-Übertragun- 90 Sekunden im TV zeigen, „ge-
Sendung zuletzt enorm verlor (sie- gen bei Canal Plus und TPS gen ein angemessenes Entgelt“ für
he Grafik). Da nutzte auch der Hauptspieltag die Rechte-Inhaber. Allein damit
Samstag, 15 Uhr Free-TV Highlights Sonntag
burschikose Charme von Modera- ließen sich „spannende Sport-
torin Monica Lierhaus nichts. Pay-TV 66 Live-Spiele bei ab 11 Uhr auf TF 1 nachrichten“ senden.
Wenn „ran“ nun gegen „Wet- BSkyB, 40 beim Kabelkanal „ARD und ZDF gehen da viel
NTL als Pay-per-view Spanien
ten, dass …?“ und „Musikanten- zu zögerlich ran“, kritisiert Simo-
stadl“ ansenden muss, drohen wei- Free-TV Bisher 22.30 Uhr Hauptspieltag Sonntag, 17 Uhr nis, „schließlich haben die Länder
tere Blessuren. Eigentümer Kirch in der BBC, nächste Saison Pay-TV Live-Spiele dieses Recht verankert, damit sie
jedoch nimmt das in Kauf – er bei der privaten ITV ab bei Canal Plus und Via Digital als Programmveranstalter unab-
setzt noch immer ganz auf die ver- 18 oder 19 Uhr geplant hängig bleiben. Man kann denen
Free-TV Einzelne Spiele live,
meintliche Zukunft Pay-TV. Und Italien Ausschnitte ab 22.30 Uhr nur zurufen: mehr Mut.“
eine ganze Branche macht mit. Immerhin überlegt ZDF-Chef
Hauptspieltag Sonntag, 15 Uhr beim öffentlich-rechtlichen La 2
Längst zeigt sich das Business Dieter Stolte, in der „heute“-
Bundesliga als eine Art Früh- Pay-TV Niederlande Nachrichtensendung um 19.00 Uhr
stückskartell aus Kirch-Geschäfts- Live-Spiele bei Telepiu/Stream Hauptspieltage breiter zu berichten und weiter
partnern, Kirch-Angestellten und Free-TV Samstag und Sonntag Bilder zu zeigen. Einen „schönen
Kirch-Medien, ein geschlossenes Ausschnitte ab 19 Uhr bei Zugewinn“ erspäht bereits ein
System, in dem Fußball – anders TMC, ab 22.30 Uhr bei der RAI Pay-TV Sendersprecher.
Live-Spiele auf Canal Plus
als gern behauptet – keine frei Frankreich Auch ARD-Chef Pleitgen sieht
handelbare TV-Ware ist, sondern Free-TV Zusammenfassungen neue Chancen. Die „Sportschau“
Teil einer privaten Planwirtschaft. Hauptspieltag im öffentlich-rechtlichen NOS soll mit aktuellen Fotos vom Bun-
Samstag, 20 Uhr ab 22.30 Uhr
Dazu gehören Fußballpromi- desliga-Geschehen sowie Repor-
nente wie Günter Netzer, heute ter-Statements gleich nach Spiel-
hauptberuflich „Top-Repräsentant“ der Niveau verlieren“, befand der Journalist ende aufgewertet werden. Und in der „Ta-
Konzerntochter KirchSport. Der Mann und resümierte über den neuen Spiel- und gesschau“ will der Kölner Intendant auf
kommentiert auch in der ARD Länder- Sendeplan: „Warum eigentlich nicht?“ jeden Fall bei mindestens zwei Spielen Fuß-
spiele und gibt in Interviews den verstän- Draxler hatte kurz zuvor bei einem Essen im ballbilder vom Tage zeigen – vor „ran“.
digen Experten: „Die Rechteverwerter Münchner Käfer-Restaurant zusammen mit Die Verhandlungen mit Kirchs Rechte-
müssen die Chance erhalten, ihre Ausga- Kirch-Manager Hahn und Beckenbauer lan- Händlern laufen auf Hochtouren. Die ha-
ben refinanzieren zu können.“ ge geredet, „natürlich auch über Fußball“, ben Angst vor einer kurzen „Sportschau“,
Oder Jörg Wontorra. Der prominente wie er sagt. notfalls wollen sie sogar die Sonntagsspie-
Moderator, derzeit bei Kirch noch in Diens- Der Ärger der TV-Zuschauer fand sich le den Öffentlich-Rechtlichen anbieten.
ten von Premiere und künftig Star der schließlich nur verschämt im Springer-Mas- Kommt es zu keiner Einigung, will Pleit-
Samstagabendballerei bei Sat.1, lobt Pay-TV senblatt wieder. Die Interessen der Konsu- gen zum Äußersten gehen: „Dann müssen
brav als „perfektes Zusatzangebot“. menten vertritt hingegen die Kirch-freie wir sehen, wie wir mit unseren Kameras in
Oder Franz Beckenbauer, Präsident des Presse. „König Fußball geißelt nun seine die Stadien kommen.“ Hans-Jürgen Jakobs,
Meisters Bayern München und als gut do- Gefolgschaft“, kommentiert das Fachorgan Marcel Rosenbach

118 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Medien
JAUCH & SCHEIKOWSKI

„Julia“-Darstellerin Hörbiger

der mit einer jüngeren (vermeintlich) ein


U N T E R H A LT U N G
Kind gezeugt hat und aus Schusseligkeit in
die Pleite segelt.

Gala der ewigen Jugend Hörbigers Julia – das ist ein weibli-
ches Kraftwerk, ein Mittelpunkt, um den
sich die Welt zu drehen hat. Die Helden
sind in der Moderne nicht ausgestor-
Statt vom Karrierestress jüngerer Singles erzählt das ben, sie sind einfach Frauen geworden.
Fernsehen derzeit mit Erfolg von den Nöten reifer, aber munterer Kleinstadtgeschwätz und moralische Feig-
Heldinnen wie Christiane Hörbiger und Senta Berger. heit halten sie so wenig auf wie einst Ga-
ry Cooper als Marshal in „High Noon“:

M
ein Gott, Käthe. Da saß sie im ist typisch für die tiefe Veränderung, die Als es Julia gelüstet, lässt sie sich mit
grauen Hausfrauenkittel, ratter- Fernsehfrauen im gesetzten Damenalter einem jungen Lover ein, sollen die Leu-
te mit der Nähmaschine und erfasst hat. Christiane Hörbiger, zugege- te doch reden – in Käthes Welt noch un-
schluchzte so anklägerisch, dass jedem ben 62, spielt resch und resolut eine Er- denkbar.
Vater und Sohnemann sofort mulmig ums folgsanwältin, die Richterin und schließ- Es ist nicht nur die Hörbiger, die ju-
Herz wurde: Ist heute etwa Muttertag? lich sogar Bürgermeisterin einer öster- gendfrisch die Kerle und ihre Machen-
Habe ich die Blumen vergessen? reichischen Kleinstadt wird. Stets wohl schaften besser fressen kann. Neben der
Vor mehr als drei Jahrzehnten spielte frisiert schreitet sie durch die Szene und Österreicherin gehören Senta Berger („Lie-
Inge Meysel Käthe Scholz in der Familien- lässt sich durch kaum etwas aus der Bahn be und weitere Katastrophen“), Hannelo-
serie „Die Unverbesserlichen“. Die Öffent- werfen: vom Unfalltod der Tochter nicht, re Hoger („Bella Block“), Thekla Carola
lichkeit hatte die energische Darstellerin vom Fehltritt des Mannes schon gar nicht, Wied („Anna Marx“), Uschi Glas („Anna
zur „Mutter der Nation“ ausgerufen, und Maria – Eine Frau geht ihren Weg“), Han-
es schien, als sei mit den „Unverbesser- nelore Elsner („Die Kommissarin“) und
lichen“ die westdeutsche Familienwirk- Witta Pohl („Happy Birthday“) ins Grup-
lichkeit für immer festgeschrieben: die penbild der kühnen Damen.
BRD als ewiges Gluckenheim, darinnen Und sie alle sind gut im TV-Geschäft.
die Hausfrau waltet, streng, erdrückend „Ich kann mir die Rollen aussuchen“, froh-
und unentrinnbar. lockt Wied, die als Journalistin Marx bald
Doch die Verhältnisse erwiesen sich als eine dritte Staffel produziert – eine Serie,
ganz und gar nicht unverbesserlich. Käthe die beim Publikum besser ankommt, seit
Scholz’ TV-Nachfahrinnen, die heute in Marx beruflich und erotisch auf eigenen
dem Alter sind wie die Meysel damals, also Füßen steht und die Abhängigkeit von
um die 60, sind alles andere als Mütter der einem verheiraten Lover gelöst hat. Wied:
Nation: kein Kittel nirgends, keine Näh- „Wir haben Schmerzen hinter uns, Ver-
maschine, keine verdrucksten Tränen. Und wundungen, jede Menge Lebenserfahrung.
Glucken? Nix da. Höchstens flotte Hüh- Das überträgt sich in unserem Spiel auf
DEFD

ner, um ganz ungalant im Bild zu bleiben. die Zuschauer.“


„Julia“, die jüngst auch von der Kritik „Unverbesserlichen“-Star Meysel 1970* Und sie kann ein Lied davon singen, wie
hoch gelobte Erfolgsserie aus Österreich, BRD als Gluckenheim anstrengend es ist, die dynamische Heldin
120 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
jenseits der 50 zu geben: Diszipliniert leben Kunststück, das Dargestellte ironisch ten Serien und Movies halten an der For-
und mit Heizkissen dem Zipperlein weh- zu brechen. Tatsächlich vermag sich das ever-young-Ideologie fest: Altwerden er-
ren, heißt es da oft. Kommissarinnen-Raubein Bella Block auf scheint als Fortsetzung des Jungseins.
Kollegin Uschi Glas schmeißt demnächst die Schippe zu nehmen: Als ihr Freund Mit Krankheit und Depression behelligen
den Laden in der „Klinik unter Palmen“, in der letzten Folge sie brustentblößt die Märchenspiele vom Senioren-light-
Klausjürgen Wussow, bisher Weißkittel- zu sehen begehrt, öffnet sie scheinbar Leben ihre Helden nur selten. Selbst ge-
Platzhirsch, wird sich warm anziehen müs- willig den Bademantel. Erst im Umschnitt wählter Verzicht, womöglich gar auf Sex,
sen. Auch neue „Julia“-Folgen sind in Ar- erfährt der Zuschauer: Alles Theater – das wäre heute, anders als früher, ein Ta-
beit. Das Matronat marschiert. die Hoger trägt ein sittlich unverdächtiges bubruch. Der Daueroptimismus der Epo-
Der Aufbruch der gesetzten Damen fällt T-Shirt. che hat die Darstellung des Alterns erfas-
zusammen mit einem Stimmungsumbruch Und wo bleiben die Männer? Auffäl- st, es gilt, was Sperl so formuliert: „Man
bei den Movie-Machern des Fernsehens. lig ist, dass den ollen-tollen Frauen kein muss aus jeder Lebensphase das Optimale
„Die auf Jugendlichkeit frisierten Ge- gleichwertiges männliches Ensemble ge- herausholen.“
schichten sind ausgelutscht“, sagt Gabrie- genübersteht. Schauspieler wie Peter Bon- Die Liebe zu den neuen Fernseh-Alten
la Sperl, Münchner Fernsehspielchefin und gartz verkleinern sich im „Julia“-Spektakel fällt den Jüngeren deshalb so leicht, weil
Autorin von Erfolgsstücken mit Senta Ber- zum Mann an ihrer Seite, einem mimischen die Alten alles sind, bloß nicht alt. Der Ju-
ger („Dr. Schwarz und Dr. Martin“), und Schwergewicht wie Götz George, inzwi- gendwahn setzt, so lautet der paradoxe Be-
ihr Kollege Jan Kromschröder, von RTL schen 62, bietet das Medium kaum eine fund, zurzeit bei den Senioren an. Die Ge-
nerationen nähern sich an, weil die Älteren
eine Grenzziehung zu den Jüngeren ver-
weigern.
Vitalismus heißt das Gebot, dem sich
auch die Hörbigers und Bergers zu beugen
haben. Dass es großartige Ausnahmen gibt
wie Oskar Roehlers Kinofilm „Die Un-
berührbare“, der Hannelore Elsner als eine
aus der Epoche gefallene Frau zeigt, ändert
daran nichts.
Alle scheint zu freuen, was sich da auf
dem Bildschirm entwickelt: eine Gala
ewigen Jungseins. „Wir treffen den Nerv
des Publikums“, weiß Uschi Glas. Es sei
noch nie so spannend gewesen, älter zu
werden. „In meinen Geschichten“, sagt
Sperl, „geht es immer um die anarchische
Qualität, darum, dass man sich auflehnen
DEFD

DEFD
TV-Heldinnen Elsner (mit Iris Berben), Glas (mit Gerd Silberbauer): Von den Zwängen der Weiblichkeitsdressur befreit

als Movie-Chef zu Sat.1 gewechselt, be- andere Chance, als den ewigen Jungen zu muss, um die Probleme in den Griff zu
stätigt den Trend: „Wir wollen weg von geben, den Knaben hinter der rauen Scha- bekommen.“
den jugendlichen Hexi-Sexy-Geschichten, le. Die Herren der TV-Schöpfung schaffen Vielleicht, lässt so ein Satz erahnen, ist
die man am Vorabend schon reichlich in einfach nicht, was ihre Kolleginnen so die Power der reifen Damen ja ein nun
den Soaps gesehen hat.“ attraktiv auch bei jüngeren Zuschauern wirklich positives Ergebnis von ’68: Zum
Die immer gleichen Storys vom Kar- macht: glaubhaft darzustellen, wie man ersten Mal ist mit Hörbiger und Berger
rierestress und den Liebesnöten der Jungen Probleme löst. eine Generation zu besichtigen, die sich
bieten, so sieht es nicht nur Sperl, zu we- Rosemarie Wintgen, Serienexpertin beim von den Zwängen der Weiblichkeitsdressur
nig Fallhöhe. Die ganze Problematik des ORB und an der Buchentwicklung für befreit hat. Was politisch gemeint war, hät-
Verlassenwerdens lasse sich am Schicksal „Julia“ beteiligt, meint zu wissen, was te zumindest in der TV-Kultur Erstaunli-
einer älteren Protagonistin eindrucksvoller vor allem das weibliche Publikum, für ches erreicht.
erzählen. Sperl: „Da sind die Identifika- den TV-Markt entscheidend, an den flot- „Julia“ – eine Erbin von ’68? Vermut-
tionsflächen größer.“ ten Protagonistinnen im Oma-Alter schätzt: lich würde die Serienheldin da nur kurz
Auch Hans Janke, Fernsehspielchef beim Ihre Überlebensstrategien angesichts und mit sehr schmalen Lippen lächeln. Fest
ZDF, rühmt die „wunderbare Schau- schwieriger Partner und schutzbedürftiger steht: Wie Vater und Sohn bei Käthe
spielerinnengeneration“ der Hörbigers, Kinder, das Sich-selbst-treu-Bleiben. Scholz tun auch Julia-Verehrer gut daran,
Bergers und Hogers. Denn ihnen gelinge Eine Abkehr vom Jugendwahn ist das ja nicht die Blumen zum Muttertag zu
neben der größeren Lebensechtheit das Faible für Reife allerdings nicht. Die meis- vergessen. Nikolaus von Festenberg

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Panorama Ausland

REUTERS (li.); AFP / DPA (re.)


P H I L I P P I N E N
Rebellensprecher Abu Sabaya mit Abu-Sayyaf-Kämpfern, philippinisches Militär MINDANAO
e e
Zamboanga
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PHILIPPINEN ten die amerikanische Gei- lu
sel Guillermo Sobero „als Su Isabela

Terroristenjagd Geschenk für die Präsi-


dentin zum Nationalfei-
ertag“ enthauptet. Die
Jolo
BASILAN

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aus dem All Suchtruppen, auf schät-
zungsweise 5000 Mann an-
gewachsen, fanden zwar
JOLO
C e l e b es-S 50 km

D er Kampf gegen die muslimische Rebellengruppe Abu


Sayyaf, die 3 amerikanische und 26 philippinische Geiseln
auf der Insel Basilan in ihrer Gewalt hält, gerät zum sicher-
zwei menschliche Torsos, der Amerikaner aber soll sich nicht
unter den Toten befunden haben. Kurz darauf unterliefen zwei
Familien die harte Linie der Präsidentin und zahlten mehr als
heitspolitischen Debakel für die philippinische Präsidentin Glo- 400 000 Mark Lösegeld für die Freilassung ihrer Angehörigen.
ria Macapagal Arroyo. Obwohl Washington mindes- Auch dass der amerikanische Geheimdienst CIA
tens drei FBI-Ermittler entsandt hat und sich auch der Aufklärungsfotos von US-Spionagesatelliten zur
US-Geheimdienst an der Jagd beteiligt, gelang den Verfügung stellte, führte bis zum Wochenende zu
philippinischen Streitkräften bis Ende voriger Woche keinem Erfolg. Angeblich, so behaupten Manilas
kein entscheidender Schlag. Im Gegenteil: Den äußerst Militärs, dauert die Übermittlung der Aufklärungs-
mobilen Terroristen gelang es immer wieder, im dich- ergebnisse zu lange, um die Terroristennester recht-
ten Dschungel unterzutauchen. Bei ihrer Flucht konn- zeitig auszuheben. Arroyo setzte deshalb wieder
ten sie sogar mehrere Male neue Geiseln nehmen. verstärkt auf den konventionellen Kampf gegen die
REUTERS

Während die Präsidentin Verhandlungen mit der Grup- Abu Sayyaf: Um gegen die selbst ernannten Befrei-
pe ablehnte, meldete sich deren Sprecher Abu Sa- ungskämpfer vorzugehen, sollen auf Basilan rund
baya. Seine Männer, so die zynische Mitteilung, hät- Sobero 1000 Zivilisten mit Waffen ausgerüstet werden.

Z WA N G S A R B E I T E R che Dokumente und Zeugenaussagen der Kriegsveteranen im Rat der Stif-


als Beleg. Zwar gibt es eine interne tung, sieht für die Verzögerungs- und
Polnische Stiftung Kommission für strittige Fälle, wenn
ehemalige Zwangsarbeiter ihr Schicksal
Ablehnungspraxis einen simplen
Grund: „Für alle Berechtigten reicht das
unter Druck nicht schriftlich dokumentieren können.
Doch Angaben über die Zahl
Geld nicht, deshalb die Restriktionen.“

I n Warschau häuft sich die Kritik von


NS-Opfern an der Auszahlungspraxis
der deutschen Entschädigungsgelder.
der Ablehnungen werden ver-
weigert. Die umstrittene Aus-
zahlungspolitik führte etwa
Der Grund: Die für ehemalige Zwangs- dazu, dass ein Zwangsarbeiter,
arbeiter zuständige polnische Stiftung der im Zweiten Weltkrieg in
hat von den bisher eingegangenen einer Rüstungsfabrik in Poz-
450 000 Anträgen erst 185 000 positiv be- nań (Posen) Sklavenarbeit ver-
schieden. Außerdem beklagen viele Be- richten musste, leer ausging.
troffene die Ablehnung ihrer Anträge, Er habe das Land nicht verlas-
obwohl diese nach deutschen Regula- sen, argumentiert die Stiftung
rien durchaus bewilligt werden könn- – und erfülle damit nicht die
ten. So reicht es nicht, dass die NS-Op- Auszahlungskriterien. Juristi-
fer ihre Zwangsarbeit notfalls auch mit sche Schritte gegen fragwürdi-
einer eidesstattlichen Versicherung ge Entscheidungen sind laut
DPA

„glaubhaft“ machen. Die Warschauer Satzung ausgeschlossen. Jacek


Partnerstiftung verlangt vielmehr etli- Sasin, Vertreter des Amtes Zwangsarbeiter bei Trümmerbeseitigung (1942)
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 123
Panorama

ALGERIEN

Sommer
des Zorns
A m Abgrund steht das Regime des
größten Maghreb-Staats. Fast eine
Million Demonstranten versammelten
sich vorigen Donnerstag in der Haupt-
stadt Algier zur größten Kundgebung
seit der Unabhängigkeit des Landes von
Frankreich im Jahr 1962. Was als fried-
licher Marsch geplant war, schlug in
einen Volksaufstand um. Jugendliche
errichteten Straßensperren aus bren-

AP
nenden Reifen, griffen mit Steinen und Staatschef Bouteflika Aufständische Jugendliche in Algier
Molotow-Cocktails öffentliche Gebäude
und Polizeiposten an, plünderten Geschäfte und staatliche über die desolate wirtschaftliche und soziale Lage. Gerade der Ju-
Vorratslager. Die Sicherheitskräfte reagierten mit gewohnter gend – 65 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre – fehlt
Brutalität. Es gab mindestens vier Tote und mehrere hundert jegliche Perspektive.
Verletzte. Der Reichtum des Landes, vor allem die Einnahmen aus dem Öl-
Doch die Revolte lässt sich nicht mehr ersticken. Seit zwei Mona- und Gasexport in Höhe von 25 Milliarden Dollar pro Jahr, fließt
ten wird das Land von Protesten erschüttert, die Unruhen der fast ganz in die Taschen der alten Politiker- und Militärkaste. Prä-
Berber in der Kabylei haben sich auf den gesamten Osten Alge- sident Abdelaziz Bouteflika, politisch ein Gefangener der herr-
riens ausgeweitet. „Ihr könnt uns nicht töten, denn wir sind schon schenden Generalsclique, weigerte sich, einen Forderungskatalog
tot“, lautet eine der Parolen – Ausdruck der tiefen Verzweiflung der Demonstranten entgegenzunehmen. Die verlangen ein Ende

TÜRKEI orientierte Generalstab aus dem Amt


drängte. Sollte das Gericht dem Antrag
Folgenschweres Urteil folgen, drohen entweder Neuwahlen
oder eine Störung des prekären Gleich-

G ebannt schauen Europa und die in-


ternationalen Finanzmärkte nach
Ankara, wo diese Woche das Verfas-
gewichts in der Koalition von Regie-
rungschef Bülent Ecevit: Ihrer politi-
schen Heimat beraubt, könnten einige
sungsgericht über das Schicksal des po- Islamisten zur extremen Rechten über-
litischen Islam entscheidet. Der Gene- laufen und deren Chef Devlet Bahçeli
ralstaatsanwalt fordert die Auflösung zum neuen Premier küren. Der Ultra-
der fundamentalistischen Tugend-Par- nationalist hat sich wiederholt gegen die
tei, Nachfolgerin der 1998 verbotenen vom Internationalen Währungsfonds
Wohlfahrtspartei. Deren Chef Necmet- geforderten Sparmaßnahmen zur
tin Erbakan hatte es 1996 zum ersten is- Bekämpfung der Wirtschaftskrise aus-
lamistischen Premierminister des Nato- gesprochen; sollte er Ecevit ablösen,
Partners gebracht, bis ihn der laizistisch droht ein neuerliches Finanzchaos.
DPA

Auch Ärger mit den Europäern ist pro-


grammiert: Im Juli wird der Straßburger Premier Blair, Schatzkanzler Brown
Gerichtshof für Menschenrechte ent-
scheiden, ob nicht bereits die Auflösung G R O S S B R I TA N N I E N
der Wohlfahrtspartei gegen die Men-
schenrechtskonvention verstieß. Nutz-
nießer eines neuerlichen Parteiverbots
Nervenkrieg um
wäre paradoxerweise die Fraktion der
Reform-Islamisten: Der ehemalige
den Euro
Istanbuler Bürgermeister Tayyip Erdo-
gan arbeitet seit Monaten am Aufbau
einer moderaten Islamistenpartei nach
D urch den innenpolitischen Streit
um den Beitritt Londons zum eu-
ropäischen Währungsverbund gerät
dem Vorbild der europäischen Christ- Premier Tony Blair massiv unter Druck.
demokraten. Ein richterliches Verbot Zwar steht der Regierungschef nach sei-
würde seinen Gefolgsleuten den Auf- nem Triumph über die Konservativen,
wand einer förmlichen Parteispaltung er- die als Retter des Pfunds in den Wahl-
AP

Islamisten-Demonstration für Erdogan sparen und ihre Wahlchancen erhöhen. kampf gezogen waren, ziemlich stark
124 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Ausland
NAHOST

„Wir brauchen Europa als Vermittler“


Jeanette Awiad, 55, sischen Seite noch den Willen zu
Gründungsmitglied der einem Frieden in den Grenzen
Bewegung „Frieden von 1967 gibt. Wir brauchen

BRUTMANN / FAMILY PICTURE


Jetzt“, über die Ver- handfeste Beweise, dass Arafat es
trauenskrise zwischen ernst meint.
der israelischen Linken SPIEGEL: Mit der Abriegelung der
und der palästinensi- Autonomiegebiete stärkt Pre-
schen Führung in den mierminister Ariel Scharon bei
Autonomiegebieten den Palästinensern nicht gerade
das Vertrauen.
SPIEGEL: Trotz der internationalen Awiad: In den letzten Wochen hat uns
Bemühungen um einen Waffenstillstand Scharon mit seiner ungewöhnlichen
AFP / DPA

ist die Gewalt noch nicht gestoppt. Zurückhaltung wirklich überrascht. Ich
Geben Sie dem Frieden überhaupt noch gratuliere ihm dazu. Aber er hat nach
eine Chance? wie vor keinen Plan für ein Ende der
der staatlichen Willkür, die Bestrafung der Awiad: Wir fühlen uns eher im Krieg. Es Okkupation und einen Weg zum Frie-
Schuldigen und die Einhaltung demokrati- ist daher sehr schwer, die Friedensbe- den. Ich fürchte, Scharon spielt auf Zeit
scher Freiheiten. Dem Präsidenten setzten wegung in Gang zu halten. Trotzdem und kommt über eine Waffenruhe nicht
sie ein Ultimatum: Bis zum 25. Juni müsse glaube ich weiter an einen Ausgleich – hinaus.
Bouteflika öffentlich einen radikalen Neu- wenn wir zu dem Angebot von Ex- SPIEGEL: Von Friedensnobelpreisträger
beginn verkünden. Die Tageszeitung „al- Premier Ehud Barak in Camp David und Außenminister Schimon Peres er-
Mudschahid“, Sprachrohr der früheren zurückkehren. warten Sie keine Hilfe?
Staatspartei FLN, warnt bereits: „Wir wer- SPIEGEL: Ist diese Hoffnung berechtigt, Awiad: Bisher war er eher eine Art Fei-
den den heißesten Sommer seit der Unab- wenn schon ein Waffenstillstand so genblatt für den Premier. Wir haben
hängigkeit erleben.“ schwer durchzusetzen ist? schon vor seinem Haus demonstriert,
Awiad: Um die Gewaltspirale anzuhal- um seine Politik zu geißeln. Seit Peres
ten, brauchen wir starken internationa- aber für den Mitchell-Report wirbt, der
len Druck. Neben den USA spielt Euro- über vertrauensbildende Maßnahmen
pa dabei eine entscheidende Rolle, wie zurück an den Verhandlungstisch
da; dennoch schiebt Blair den Termin die Vermittlung des deutschen Außen- führen soll, hoffen wir wieder, dass er
für das Referendum über die Einführung ministers Joschka Fischer gezeigt hat. In Scharon zum Guten beeinflusst. Wenn
des Euro weiter hinaus – ungeachtet keinem Fall können wir zu Verhandlun- nicht, werden wir die Arbeitspartei
der Kritik prominenter Gewerkschafts- gen unter der alleinigen Schirmherr- drängen, aus der Regierung auszu-
funktionäre und führender Manager. schaft der USA zurückkehren. Dafür steigen.
Blair will durch die Verzögerungstaktik misstrauen die Palästinenser Washing- SPIEGEL: Wie lange wird Scharon die
Risse in den eigenen Reihen vermeiden. ton zu sehr. Deshalb brauchen wir Siedler noch im Zaum halten können?
Die Fraktion der Euro-Gegner führt Europa. Awiad: Die Mehrzahl wäre wohl bereit,
immerhin kein Geringerer an als Gor- SPIEGEL: Sehen Sie in Autonomiepräsi- die besetzten Gebiete zu räumen, wenn
don Brown, Blairs ewiger Rivale um dent Jassir Arafat noch einen aufrichti- man ihnen eine vernünftige Lösung an-
die Parteiführung. Der einflussreiche gen Verhandlungspartner? böte. Aber es gibt eine militante Min-
Schatzkanzler hält nichts von einem Awiad: Es fällt in der Tat derzeit sehr derheit, die Krieg will. Und die wird zu-
schnellen Referendum über den Beitritt schwer, israelische Linke davon zu nehmend gefährlich, da sie sich in die
zum Euro und übt einen „vollständig überzeugen, dass es auf der palästinen- Ecke gedrängt fühlt.
negativen Einfluss“ auf den Premier
aus. Das enthüllte jetzt David Clark,
langjähriger Chefberater des abgelösten
Außenministers Robin Cook. Auf den
europhilen Chefdiplomaten Cook folgte
der euroskeptischere Ex-Innenminister
Jack Straw. Rückendeckung aus der
Bevölkerung ist dem Populisten Blair für
die Umbesetzung sicher. Nach letzten
Umfragen ist nur jeder vierte Brite
bereit, das Pfund gegen den Euro einzu-
tauschen. Schon befürchten Blair-Ken-
ner, dass der Premier zu dünnhäutig ist,
um sich gegen den machthungrigen
Rivalen Brown und die allgemeine Anti-
Euro-Stimmung zu stemmen. Denn
dafür, spottete der einstige Regierungs-
berater Clark, müsste Blair „mehr als 24
AP

Stunden lang die Nerven behalten“. Aufgebrachte Palästinenser, israelische Grenzpolizisten bei Jerusalem
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 125
Ausland

Gipfeltreffen in Göteborg: „Was sollen wir tun? Die Lage ist so heikel!“

E U R O PA

Vorbeben zum Big Bang?


Schock für die EU: Das Nein der Iren zum Vertrag von Nizza kann die Erweiterung blockieren
und die Union in die größte Krise ihrer Geschichte stürzen. Begleitet von schweren
Ausschreitungen, versuchten sich die ratlosen Regierungschefs in Göteborg in Zweckoptimismus.

A
ls es beim EU-Gipfel in Göteborg Hilflos die Vorschläge zur Reparatur des und in Schaufenster. Die Uniformierten
um das Thema Nummer eins ging, Schadens, wie sie der Belgier Guy Verhof- wehrten sich auch mit Schüssen, es gab
das Nein des irischen Volkes zum stadt und Luxemburgs Jean-Claude Juncker Dutzende Verletzte auf allen Seiten.
Reformvertrag von Nizza, da hielt der machten: Die „Nein-Lobby“ sei europa- Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach
deutsche Kanzler lieber den Mund. Ratlos weit bestens organisiert. Nun müsse endlich von „Desperados, denen man nur mit Här-
hatte Gerhard Schröder zuvor in einer die „Ja-Lobby“ vehement gefördert wer- te begegnen kann“. Außenminister Josch-
Runde von Vertrauten gefragt: „Was sollen den. Der irische Regierungschef Bertie ka Fischer äußerte „Entsetzen über den
wir tun? Die Lage ist so heikel!“ Ahern, den das Verhalten seiner Landsleu- Vandalismus und die sinnlose Gewalt“.
Frankreichs Präsident Jacques Chirac te „tief enttäuscht“ hat, wusste auch nicht Drinnen in den Konferenzsälen blieb
war weniger zurückhaltend. Am Vertrag weiter. Es sei viel leichter, die Probleme zu derweil die Frage unbeantwortet: Ist der
von Nizza, der die Europäische Union diagnostizieren „als ein allgemein aner- Ausgang des irischen Referendums vom
fit machen sollte für die Erweiterung und kanntes Heilmittel zu verschreiben“. vorletzten Donnerstag, bei dem 54 Prozent
bereits von den Parlamenten in Däne- Auch wenn es am Beratungstisch in Gö- mit Nein stimmten, nur ein unerwartetes
mark und Frankreich ratifiziert ist, werde teborg vorigen Freitag niemand offen an- Intermezzo oder das Vorbeben zum Big
„nichts mehr verändert, auch am Fahrplan sprechen mochte – bei internen Konsul- Bang, von dem Joschka Fischer bisweilen
der Erweiterungsverhandlungen nicht“. tationen der Delegationen, auch unter redet? Bereits vor über einem Jahr hatte
Dann fügte Chirac heuchlerisch hinzu: Mitarbeitern des deutschen Kanzlers und der deutsche Außenminister in seiner pro-
„Die demokratische Entscheidung der Iren seines Außenministers, herrschte Alarm- grammatischen Europa-Rede den großen
respektieren wir.“ Arroganz der Ohn- stimmung: Das Nein der Iren kann zum Knall, die fundamentale Krise, nicht mehr
macht. GAU bei den Beitrittsverhandlungen führen ausschließen mögen und daraus die Chan-
Bestätigt sahen sich durch das irische und die Union mit dem einstweiligen Schei- ce für einen Neuanfang der bislang über-
„No“ die üblichen Verdächtigen unter den tern des historischen Experiments in die komplizierten EU abgeleitet.
Staats- und Regierungschefs, denen die Eu- tiefste Krise seit ihrer Gründung stürzen. „Im Nein der Iren“, so Pat Cox, der iri-
ropäische Integration ohnehin zu weit und Krisenstimmung auch vor den Türen des sche Fraktionschef der Liberalen und de-
viel zu schnell geht. Spaniens José María Gipfels: Die Anti-Europa-Hysterie entlud signierte Präsident des Europäischen Par-
Aznar: „Wir haben die Bürger überfor- sich auf den Straßen in schweren Krawal- laments, „steckt das Potenzial, den Erwei-
dert.“ Der Österreicher Wolfgang Schüssel: len. Tausende vor allem auswärtige Glo- terungsprozess aufzuhalten oder gar zu
„Die Europäische Union hat sich über- balisierungsgegner und Demonstranten ge- Schlimmerem zu führen.“ Denn der Ver-
nommen.“ Drei große Reformkonferenzen gen den Besuch von US-Präsident George trag von Nizza scheitert, wenn nur einer
hintereinander – Maastricht, Amsterdam, W. Bush (siehe Seite 128) randalierten in der 15 Mitgliedstaaten die Ratifizierung
Nizza – „das konnte nicht gut gehen“. der Innenstadt, warfen Steine auf Polizisten verweigert.
126 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
M.-S. UNGER (li.); DPA (re.)
Krawalle in Göteborg: „Entsetzen über den Vandalismus“

Es ist keineswegs sicher, dass ein zweites noch ungerechter verteilt. Schuld ist Frank- integrationsbereiten Länder gruppieren
Referendum, vom irischen Premierminister reich, das auf ebenso viel Stimmen (zehn) würden.
in Göteborg nicht offiziell versprochen, son- wie Deutschland beharrt, obwohl es 24 Mil- An den eigentlichen Hintergründen für
dern nur bei Gesprächen am Rande für lionen weniger Einwohner zählt. das Nein der Iren wird sich nicht viel än-
Ende 2002 in Aussicht gestellt, mit einem Ja Erst vorigen Montag wieder verschärfte dern. Der irische Premierminister Ahern
ausgehen wird. Warum sollten die Iren sich Kommissionspräsident Romano Prodi sein erging sich zwar in Verschwörungstheorien.
dann vorführen lassen und einem Vertrag ohnehin abfälliges Urteil über das Mach- Die Nein-Kampagne sei nur deshalb so er-
zustimmen, der ihnen praktisch unverän- werk von Nizza. Dem deutschen CDU-Eu- folgreich gewesen, weil sie von Großbri-
dert erneut vorgelegt werden wird? ropa-Abgeordneten Elmar Brok, der als tannien, Dänemark und aus den USA Gel-
Überdies hatten eine ganze Reihe von Nizza-Beauftragter des Europäischen Par- der erhalten habe.
Regierungschefs, darunter der deutsche laments die Ablehnung des „kümmerli- Der Wahrheit näher aber kam wohl der
Bundeskanzler, bereits in Nizza intern er- chen Resultats“ empfohlen hatte, vertrau- deutsche Sozialdemokrat Willy Görlach,
klärt, der ausgehandelte Text tauge nicht te Prodi während der Plenarsitzung in der seit Jahren einen Feriensitz auf der
viel und bereite die EU nur formal, nicht Straßburg an: „Du hast immer Recht ge- Grünen Insel hat: In den Pubs habe er
aber in ihrer Substanz für die Erweiterung habt mit deiner Meinung zu Nizza. Aber gehört, so der frühere Landwirtschaftsmi-
auf bis zu 27 Staaten vor. ich werde das nie öffentlich zugeben.“ nister Hessens, um was es den Iren wirk-
So würde nach den Beschlüssen von Kippt Nizza und gerät darüber die Er- lich gehe – um finanzielle Sicherheit. In
Nizza die Kommission mit einem Kom- weiterung in akute Gefahr, dann wird, so der ländlich geprägten Bevölkerung seien
missar pro Mitgliedstaat zu groß, die Ab- sagte ein deutscher Diplomat voraus, die die Zeiten der Armut unvergessen, herr-
stimmungen im Rat, dem Legislativorgan EU in „Schreckstarre“ verfallen und sich sche existenzielle Ungewissheit vor, wie es
der Mitgliedstaaten, würden nicht verein- davon nicht wieder erholen, „dann bre- denn künftig mit ihren Agrarzuschüssen
facht, sondern noch schwieriger gemacht, chen die Ränder weg“. Im Berliner Aus- der EU nach dem Beitritt vor allem der
die Stimmenzahl der EU-Staaten im Rat wärtigen Amt werde für diesen Fall mit landwirtschaftlich geprägten Länder Polen
einer Auflösung der bis- und Ungarn weitergehe.
Erweiterung in Gefahr? herigen Formation der Schon wenn die zweite Volksabstim-
Beitrittskandidaten der ersten Runde Union gerechnet. Dann mung in Irland auch nur auf sich warten
zur Europäischen Union könne sich ein Kern von lässt, könnten die Auswirkungen auf die
einigen besonders in- laufenden Beitrittsverhandlungen fatal
tegrationswilligen Staa- sein. Anderthalb Jahre lang Unklarheit, ob
ESTLAND ten herausbilden, um den die ganze Mühe nicht vergebens war. Die
herum sich die weniger Begeisterung für Europa, in den Kandida-
tenländern ohnehin wegen der man-
Bruttoinlands- Arbeits- Inflations- nigfachen neuen Lasten und Gefah-
produkt; 2000 losigkeit rate ren der EU-Mitgliedschaft für die
EU-Mitglied- pro Kopf in Euro 1999 2000 heimische Wirtschaft gedämpft,
POLEN
staaten Estland ..... 3800 ......... 11,7%........... 3,9% könnte leicht in ihr Gegenteil um-
Kandidaten TSCHECHIEN Polen ..... 4500 ......... 12,5%......... 10,2% schlagen. Wie groß die Sorgen sind,
der ersten machte Erweiterungskommissar
Beitrittsrunde Slowenien ..... 9800 ........... 7,6%........... 8,9%
UNGARN Günter Verheugen deutlich: „Man
Tschechien ..... 5200 ........... 8,7%........... 3,9% muss jetzt vor allem aufhören, so zu
SLOWENIEN Ungarn ..... 4500 ........... 7,0%......... 10,0% tun, als störe uns das alles nicht.“
Zypern .. 14 200 ........... 3,6%........... 4,9% In Dublin wie in der EU-Kom-
mission wird bereits an Lösungen
EU-15 ... 22 077 ............ 9,2%............ 2,1%
für den „worst case“ gebastelt. Das
Quelle: Progress Report 2000; Eurostat Szenario: Beim Scheitern der zwei-
ZYPERN d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 127
Ausland

ten Volksabstimmung müssten dann eben


die für die Erweiterung unbedingt not-
USA
wendigen Elemente wie künftige Größe
der Kommission und des Europäischen
Parlaments, Stimmengewichtung und Ab-
stimmungsmodus im Rat aus dem Vertrag
von Nizza herausgelöst und in die Bei-
trittsverträge mit jedem einzelnen Kandi-
Mit Schirm und Charme
datenland eingefügt werden.
US-Präsident George W. Bush verwirrt auf seiner Europa-Reise
Und es gibt sogar Planspiele, wie man die westlichen Verbündeten und bedrängt den östlichen
sich an einem neuerlichen Referendum in Gegenspieler mit kühnen Entwürfen zur Nato-Ausdehnung.
Irland ganz vorbeidrücken könnte. In die

N
um die Nizza-Elemente ergänzten Bei- ur hin und wieder, und dann betont der Sowjetunion – Estland, Lettland, Li-
trittsverträge müsste auf die Ausweitung nachlässig, hält George W. Bush tauen und die Ukraine – Aufnahme in die
jener Politikbereiche verzichtet werden, in den Kopfhörer an sein Ohr. Dabei große europäische Nato-Familie finden
denen bisher Einstimmigkeit notwendig nickt er jedes Mal befriedigt und vertrau- könnten.
war und künftig mit Mehrheit entschieden ensvoll, ja geradezu gönnerhaft – als woll- Am vierten Tag seiner Europa-Reise –
werden soll. Dann wäre die irische Verfas- te er seinen Zuhörern in der Warschauer und unmittelbar vor dem Samstagstreffen
sung nicht berührt, weil Souveränitäts- Universität und der polnischen Nation mi- mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin
rechte nicht eingeschränkt würden. misch klar machen: Ich brauche mir die – hat George W. Bush in Warschau seine
Schon einmal, 1992, hat ein kleines englische Übersetzung gar nicht erst an- Intentionen unmissverständlich gemacht:
Land, Dänemark, in einem Referendum zuhören – jedes Wort, das euer Aleksander Wie vorsichtig auch immer die übrigen
die Zustimmung zum damaligen Maas- Kwa£niewski spricht, liegt goldrichtig auf Nato-Partner darüber denken mögen – er
trichter Vertrag über die Wirtschafts- und meiner Linie. will, dass die atlantische Sicherheitsge-
Währungsunion verweigert. Auch seiner- Und tatsächlich: Sobald der US-Präsi- meinschaft ganz Europa umfasst, also auch
zeit wurde die Krise mit dem simplen Mit- dent selbst das Wort ergreift, finden zehn solche Gebiete, die vor einem Jahrzehnt
tel der Wahlwiederholung überwunden. Jahre alte – und in Wahrheit sehr viel äl- nicht nur zum kommunistischen Imperi-
Doch konnte die EU den euroskeptischen tere – polnische Sehnsüchte ihre rhetori- um Osteuropa gehörten, sondern Be-
Dänen immerhin zusätzlich das vertraglich sche Erfüllung. Bush ruft, einen Vergleich standteil der Sowjetunion selbst waren.
gesicherte Recht anbieten, auf die Beteili- mit John F. Kennedy herausfordernd, den Damit geht der US-Präsident bei den
gung am gemeinsamen Geld zu verzich- Polen zu: „Lasst uns all jenen, die für die Russen ans Eingemachte. Visionär klingt
ten. Das reichte dann für ein Ja. Errichtung der Demokratie und freier das fast und mit kräftigen rhetorischen An-
In Irland liegt der Fall anders. Nachbes- Märkte gekämpft haben, die Worte zu- leihen bei Winston Churchill und John F.
serungen am Vertrag haben alle Mitglied- kommen, die wir einst den Polen zugeru- Kennedy, wenn George W. Bush mit teil-
staaten ausgeschlossen; und auch am Zeit- fen haben: Von jetzt an könnt ihr das, was weise unscharfer Geschichtskenntnis ver-
plan der Ratifizierung bis Ende 2002 wird ihr aufgebaut habt, auch behalten. Nie- spricht: „Kein München mehr und kein Jal-
nicht gerüttelt. Um die Iren zu überzeugen, mand kann euch mehr die Freiheit streitig ta! Wir werden die Schicksale freier eu-
können Kommission und Rat höchstens machen!“ ropäischer Völker nicht verhökern. Ich
unverbindliche Erläuterungen anbieten –
etwa dass die irische Neutralität durch eine
europäische Eingreiftruppe nicht gefähr-
det würde, weil Dublin sich ja an keinem
Militäreinsatz beteiligen müsste.
Die Behandlung der irischen Affäre durch
Europas Staatsmänner hat bereits bizarre
Züge. Auch Kommissionspräsident Prodi
sieht keinen anderen Ausweg, als das Votum
zu ignorieren und später durch ein geneh-
meres zu ersetzen. Dennoch lobte er vor
dem Europäischen Parlament: „Im freien
Ausdruck ihres Willens haben die irischen
Bürger uns erinnert, dass unsere gegenwär-
tige Methode, die Verträge zu ändern, die
Methode von Nizza, nicht länger akzepta-
bel ist. Sie haben uns das in der denkbar de-
mokratischsten Weise gesagt, durch Wah-
len.“ Derselbe Prodi hatte seinen Kommis-
sar Verheugen mit Entlassung bedroht, als
AP

der vor knapp einem Jahr öffentlich darüber Europa-Besucher Bush mit Staatsmännern Aznar, Persson, Berlusconi (r.): „Nato-Mitgliedschaft
nachdachte, ob nicht grundlegende Ände-
rungen der Verträge prinzipiell durch Volks- Jedem im Saal und vor den Fernseh- glaube an eine Nato-Mitgliedschaft für
abstimmungen legitimiert werden sollten, schirmen des Landes ist klar, wie der US- sämtliche Demokratien Europas“ – und
auch in Deutschland. Präsident das meint. Staatspräsident zwar „von der Ostsee bis zum Schwarzen
Damals war Prodi eben noch ganz auf Kwa£niewski hatte eloquent über die Sehn- Meer“. Die falschen Grenzlinien, die Eu-
der Linie Willy Brandts. Der verkündete sucht der Polen gesprochen, frei von Be- ropa viel zu lange geteilt hätten, müssten
als Fazit seiner langen politischen Erfah- drohung leben zu dürfen. Gemeint war: nun endlich „ausradiert werden“.
rungen: „Bei wirklich wichtigen Entschei- Die knapp 40 Millionen Polen würden sich Damit sprach der US-Präsident zwar den
dungen darf man auf keinen Fall das Volk glücklich schätzen, wenn in ihrer nächs- Polen aus dem Herzen, die nicht nur die
befragen.“ Winfried Didzoleit, Dirk Koch ten Umgebung auch frühere Bestandteile drei baltischen Republiken, sondern auch
128 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
die Ukraine und die Slowakei
im gemeinsamen Nato-Ver-
bund sehen wollen. Doch auf
den russischen Präsidenten
Wladimir Putin muss der An-
spruch auf Osterweiterung
des atlantischen Bündnisses
– bis in Gebiete hinein, die
unter Stalin besetzt und dann
stark russifiziert wurden – als
kaltschnäuzige Herausforde-
rung wirken.
Besonders gekoppelt mit
dem Angebot des US-Präsi-
denten an seinen Kollegen
Putin, Russland – politisch
und aus Sicht der Militärstra-
tegen – nicht mehr als poten-
zielles Feindgebiet zu be-
trachten. Mit dem Angebot,
das 1972 geschlossene bilate-
AP

rale Abkommen gegen die Demonstration von Globalisierungsgegnern in Göteborg: Umsturzversuch im Alleingang
Errichtung von Raketen-Ab-
wehrsystemen einfach zu zerreißen, ist ten – sondern gegen Figuren wie Saddam
Putin von Bush an die Wand gedrückt Hussein oder Kim Jong Il.
worden. Für den Russen dürfte der US-Vorstoß
Da war es nur eine natürliche Reaktion mindestens so alarmierend gewesen sein
des Russen, Rückversicherung bei den Chi- wie für die Westeuropäer der Versuch von
nesen zu suchen: Putins plötzliche Reise George W. Bush, die Klimaschutz-Politik
nach Schanghai und das dort eilig zusam- des Westens im Alleingang umzustürzen.
mengezimmerte Bündnis gegen den ge- Das Protokoll von Kyoto über die gemein-
planten amerikanischen Raketenschirm same energiepolitische Selbstbeschränkung
sind zutiefst defensive Reaktionen ge- zur Reduzierung der Treibhausgase wurde
genüber dem Unbekannten. von Bush in Frage gestellt. Der Amerikaner
Russland sieht sich auf einmal vom neu- wagte es, die wirtschaftlichen Lasten eines
en Mann im Weißen Haus fundamental solchen Versuchs als derzeit nicht tragbar
herausgefordert: Wenn Washington die zu charakterisieren – wegen der auch in
einstige Sowjetmacht „nicht mehr als Amerika spürbaren Rezessionsgefahr. Und
er fand es unfair, die Bevöl-
kerungsmassen Chinas und

DPA
Indiens rücksichtsvoll aus-
zuklammern. Außenminister Fischer, Nato-Gast Bush
Dieser Bruch mit den Joviale Geste
politisch korrekten Ansich-
ten der EU konfrontierte ternen Zahlen allzu dürftig anmuten könn-
den US-Präsidenten beim te. Bis zur vergangenen Woche war Euro-
europäisch-amerikanischen pa vom Atlantik bis zum Ural für George
Gipfel von Göteborg mit ei- W. Bush ein weißer Fleck auf der Land-
nem gewichtigen Herren: karte. Den Namen dieser Weltgegend
Göran Persson, Schwedens sprach er ganz texanisch aus, mit einer Sil-
Premier und turnusmäßiger be: „Yurp“.
Vormann der EU, hat den Dass seine erste amtliche Expedition in
Amerikaner in die Schran- diese Terra incognita nicht gleich zur poli-
ken gewiesen. tischen Siegesrunde geraten würde, muss
Die Länder Europas hal- indessen auch Bush selbst klar gewesen
ten fest an den Beschlüssen sein. So weit die Erinnerung reicht, ist noch
AFP / DPA

von Kyoto, die von Wirt- kein reisender US-Präsident in Europa mit
schaftsexperten als zunächst ähnlicher Vorschuss-Häme bedacht wor-
AP

von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“ undurchführbar angesehen den wie der frühere Texas-Gouverneur. In
werden. Aber gegen die einer Art rhetorischem Präventivschlag
Feind“ betrachtet, wenn es die Atom- und nackten Hintern der maskierten Öko-De- hatte das Weiße Haus gleich selbst das
Raketenmacht der einstigen Sowjetunion monstranten von Göteborg war wohl Bush-Bild vorformuliert, mit dem auf die-
nicht mehr als bedrohlich empfindet, dann schwer mit wirtschaftlichen Daten zu ar- sem Europa-Trip gerechnet wurde.
muss Putin sich zum Freund degradiert gumentieren. George W. Bush gelte jenseits des At-
empfinden – als einer, dessen enorme Ra- Auf die Frage, wie oft der US-Präsident lantiks als „seichter, arroganter, waffenver-
ketenmacht auf einmal kein Gewicht mehr in seinen 54 Lebensjahren den europäi- liebter Abtreibungshasser und christlich-
haben soll. Nicht gegen ihn, auch nicht ge- schen Kontinent aufgesucht habe, verwei- fundamentalistischer Possenreißer“, er-
gen das hinreichend erwachsene China soll gert das Weiße Haus stoisch jede Auskunft klärte in der „New York Times“ ein anony-
sich der amerikanische Raketenschild rich- – wohl deshalb, weil das Ergebnis in nüch- mer „höherer Regierungsbeamter“. Bushs
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 129
Ausland

Stabschef vom weißen Haus, ihm seinen ersten europäischen


Andrew Card, mokierte sich sei- Erfolg.
nerseits über die Europäer: „Je- Der Spanier ist aus der
der Präsident ist bis zu seinem „Skepsis-Front“ der meisten
ersten Besuch eine Karikatur.“ Nato-Mitgliedsländer ausgebro-
Der Frust über die beinharte chen – er macht sich zum Be-
Haltung der USA schlug – euro- fürworter des Raketenschirms,
paweit – in wütenden Protest mit dem die USA sich und die
um: Doch während Globalisie- Verbündeten gegen mögliche
rungsgegner, Umweltschützer Erpressungsversuche unbere-
und Abrüstungsbefürworter chenbarer Diktaturen (Irak,
Krawalle machten, gab sich Nordkorea) schützen wollen.
Bush versöhnlich und begrüßte Höhnisch geht Aznar mit „je-
auch Außenminister Joschka Fi- nen Europäern“ (Chirac, Schrö-
scher mit jovialer Geste. der) ins Gericht, die „unter Ver-
„Der Vorwurf eines unilate- zicht auf genauere Analyse“ ein
ralen Vorgehens unsererseits solches Verteidigungskonzept
dürfte heute in den Köpfen eini- „rundweg ablehnen“.
ger Leute gestorben sein“, er- Mit einem anderen begeister-
klärte ein verschmitzt blicken- ten Befürworter seines futuristi-
der Bush den Nato-Partnern. schen Raketenschirms hatte Bush
„Unilateralisten setzen sich doch schon vorher rechnen können.
nicht an einen Tisch mit ande- Es ist der Neue in der Nato-Run-
ren, um ihnen zuzuhören und de, der in Rom erst am Vorabend
Meinungen auszutauschen. Uni- der Bush-Reise als Regierungs-
lateralisten fragen andere Welt- chef vereidigt wurde: Silvio Ber-
führer nicht um ihre Meinung.“ lusconi, 64, der umstrittene Me-
Die übrigen 18 Staatsmänner dien-Milliardär, „Cavaliere del
hörten die Schulter klopfende Lavoro“ (Ritter der Arbeit) und
Bemerkung mit gemischten Ge- neuerdings Ministerpräsident Ita-
fühlen. Nur allzu klar ist, dass liens. Braun gebrannt, als sei er
George W. Bush – wie fast alle gerade seiner Yacht entstiegen,
US-Präsidenten vor ihm – die reihte sich der Neuankömmling

AP
Meinung der Verbündeten ein- Präsidenten Putin, Jiang in Schanghai: Eilig gezimmertes Bündnis unter den Weltführern ein, de-
holt, aber nur, um danach umso nen Bush zuzuhören vorgab.
schwungvoller die eigenen Vorstellungen nach der Todesstrafe traktiert – einem The- Berlusconi ist erklärtermaßen ein nahe-
durchzusetzen. ma, das nicht Gegenstand der Gespräche zu bedingungsloser Anhänger der republi-
Die Überrumpelten können Trost finden gewesen war. kanisch geführten Vereinigten Staaten und
bei Bushs Sicherheitsberaterin Condo- Und doch erwies es sich für Bush als besonders für den Raketenschirm enga-
leezza Rice: Keine Macht der Erde, auch eine gute Idee, Europa vom Süden her zu giert. Den Gegnern des Projekts unterstellt
keine Hyper-Macht, könne die Herausfor- betreten und erst einmal in Spanien zu lan- er nicht ohne Mitgefühl, ihre Länder seien
derungen des globalen Zeitalters im Al- den. In dem wendigen Konservativen Az- eben – anders als Italien – technologisch
leingang angehen, versichert Bushs nar, der den größten Teil seiner zweiten noch nicht fortgeschritten genug, um ohne
schwarze Gouvernante: „Wir wissen aus Amtszeit noch vor sich hat, fand Bush ei- Gesichtsverlust mithalten zu können.
Erfahrung, dass Europa und Amerika die nen äußerst nützlichen Verbündeten. Ge- George W. Bush sympathisiert anscheinend
idealen Partner sind, wenn wir unsere Stär- schickt nahm Aznar seinen zunächst ner- mit dem originellen Kollegen: „Ich kann es
ken und unseren Scharfsinn zusammenle- vösen Gast vor der eigenen Reportermeu- kaum erwarten, mit ihm zusammenzu-
gen. Die Geschichte ist unser Zeuge.“ te in Schutz – vor allem aber bescherte er arbeiten.“
Wie leicht tatsäch- Am Anfang noch befangen und erkenn-
lich eine „Werte- bar schwankend zwischen Unsicherheit
Kluft“ suggeriert wer- und durchsetzungswütigem Übermut, hat
den kann, wenn zu- Bush im Verlauf seiner fünftägigen Char-
fällig am Vortag in me-und-Schirm-Offensive an Selbstver-
den USA ein Bom- trauen und Ruhe gewonnen. Wie viel mag
benterrorist hinge- davon noch übrig sein, wenn er heimkehrt
richtet wurde, hatte von seinem Treffen mit dem kühlen Judo-
sich am Dienstag im kämpfer Wladimir Putin, von Bush bisher
Garten des Madrider nur als „Mister Put’n“ tituliert?
Moncloa-Palastes ge- Dass seine Freude an der Machtaus-
zeigt, auf der ersten übung und sein prinzipiell sonniges Gemüt
Etappe von Bushs Eu- sich durch außenpolitische Rückschläge
ropa-Expedition. nicht erschüttern lassen, hatte „Double-
Nach dem ent- you“ vor Reisebeginn gegenüber Journalis-
spannten Treffen mit ten klargestellt. Selbst seine erste Krise –
Premierminister José um das in China notgelandete US-Spiona-
María Aznar wurde geflugzeug – habe die gute Stimmung bei
der US-Präsident von ihm nicht wirklich trüben können: „Jeder
den Medien sogleich Tag ist ein prächtiger Tag, wenn man der
AP

mit forschen Fragen Anti-Bush-Protest in Göteborg: „Jeder Präsident eine Karikatur“ Präsident ist.“ Carlos Widmann

130 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
Ausland

„Soweit ein französischer Protestant herz-


lich sein kann“, eine Anspielung auf Jos-
FRANKREICH
pins charakterlichen Rigorismus, der im
katholischen Frankreich bis heute als be-

„Eine seltene Perle“ fremdlich empfunden wird.


Fraenkel hatte einiges zu bieten, was auf
der Ena ganz gewiss kein Thema war.
Gänzlich unbescheiden betrachtet er sich
Premier Jospin macht die trotzkistische Vergangenheit zu als den „geistigen Vater“ der Studenten-
schaffen. Sein einstiger Mentor ist ein Danziger Jude. revolution vom Mai 1968, die Charles de
Gaulle um ein Haar aus dem Elysée verjagt

D
er alte Herr mit den verschmitzt hätte: „Ich war es, der Herbert Marcuse
funkelnden Augen hinter der gro- und Wilhelm Reich in Frankreich einführ-
ßen Brille ist ein Sozialist, ein Kom- te.“ Er sorgte für eine französische Über-
munist und Anarchist. Als wäre das nicht setzung von Marcuses Hauptwerk „Trieb-
schwer wiegend genug, bezeichnet er sich struktur und Gesellschaft“; die Verbindung
auch noch als deutschen Intellektuellen jü- von Eros und Marxismus verlieh dem Auf-
discher Herkunft, der den größten Teil sei- stand der Jugend einen unwiderstehlichen
nes Lebens staatenlos war und der seinen Sex-Appeal.
beträchtlichen Charme am liebsten darauf Eine wichtige Strategie der Trotzkisten
verwendete, die Jugend „für die Weltre- bestand darin, „Apparate“ von Staat und
volution zu keilen“. Gesellschaft zu erobern. Keineswegs ein
So etwas wie ein Staatsfeind also. Nun reiner Schreibtisch-Ideologe, konzentrier-
ist der Mann, der immer im Dunkeln wühl- te Fraenkel seine missionarische Arbeit mit
te, schlagartig ins Licht getreten – und er großem Erfolg auf die Ecoles normales,
genießt den späten, wenn auch etwas frag- Schulen, an denen damals in Frankreich
würdigen Ruhm. die Lehrer ausgebildet wurden. Sie schie-
Boris Fraenkel, geboren am 10. Januar nen das ideale Instrument, um trotzkisti-
1921 in Danzig, ist jener Meister, der den sches Gedankengut in alle Richtungen aus-
jungen Lionel Jospin vor fast 40 Jahren für zusäen.
den Trotzkismus gewann – eine Vergan- Mit Jospin hatte Fraenkel Höheres vor.
genheit, die der französische Premier lan- Als sein Eleve die Ena hinter sich hatte, riet
ge verleugnete und jetzt, nach Enthüllun- er ihm, in den diplomatischen Dienst ein-
gen in der Presse, mit gewundenen Er- zutreten. „Das war die beste Tarnung“, er-
klärungen eingestehen musste. klärt Fraenkel, im vornehmen Außenminis-
„Jospin war für uns die seltene Perle, terium am Quai d’Orsay hätte niemand die
und ich habe sie geschliffen“, berichtet Präsenz eines Trotzkisten vermutet. Und
Fraenkel stolz. Die beiden lernten sich 1963 obendrein konnte Jospin dort die von den
zufällig kennen, als Jospin noch an der Internationalisten so begehrten Verbin-
elitären Verwaltungshochschule Ena stu- dungen in die Dritte Welt knüpfen.
dierte, einer Kaderschmiede für künftige Die Erzählungen seines Lehrmeisters be-
hohe Staatsdiener. Fraenkel arbeitete als stätigen einen für Jospin unangenehmen
Ausbilder an Lehrgängen für Jugendlager Verdacht, den der Premier bis heute nicht
und wurde ansonsten von seiner Frau De- ausräumen kann: Offenkundig ließ er sich
nise unterhalten. als „Maulwurf“ zur Unterwanderung der
Dem geschätzten neuen Rekruten gab Institutionen einsetzen, wahrscheinlich
X. ROMEDER

der permanente Berufsrevolutionär Fraen- nicht nur bei seinem Dienstbeginn am Quai
kel ungefähr einmal in der Woche Einzel- d’Orsay 1965, sondern auch bei seinem Ein-
unterricht – eine Vorzugsbehandlung, die Trotzkist Fraenkel tritt in die von François Mitterrand neu ge-
Jospin zugleich schützen sollte. Außer dem Postkarte an den Parteiführer gründete Sozialistische Partei Ende 1971.
Mehr als zehn Jahre lang, nach manchen
trotzkistischen Partei- Zeugenaussagen sogar bis 1987, blieb der
chef Pierre Lambert sozialistische Aufsteiger Jospin mit trotz-
wusste anfangs niemand kistischen Genossen in Verbindung, auch
über den kostbaren Zög- mit deren geheimnisvollem Chef Pierre
ling Bescheid. Fraenkel Lambert, 81, den Fraenkel heute für einen
blieb über zwei Jahre „politischen Gangster“ hält.
lang Jospins einziger Diese Doppelbödigkeit könnte für Jos-
Kontakt. pin verhängnisvoll werden, denn der Pre-
„Es hat sofort zwi- mier hat sein ganzes Image auf Integrität
schen uns gefunkt“, sagt und Transparenz aufgebaut. Eine seiner
der Lehrer über den Lieblingsformeln lautet: „Sagen, was man
Schüler, „Jospin war ein denkt, tun, was man sagt.“ Möglicherwei-
herzlicher Kerl“, und se hat er sich allzu lange ans Gegenteil ge-
fügt dann die ironische halten.
Einschränkung hinzu: Zu seinem „Elefantentreiber“, wie
SIPA PRESS

Fraenkel seine Rolle beschreibt, brach Jos-


* Auf einem Parteitreffen in Paris pin den Kontakt 1966 ab, als der trotzkisti-
Sozialistenchef Mitterrand, Jospin*: Kostbarer Zögling 1977. sche Pate wegen „Sektierertums“ von
132 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
Lambert aus der Bewegung ausgeschlos-
sen wurde. Dabei hätte Fraenkel wenig spä-
ter Zuspruch und Hilfe gut gebrauchen
können. Nach der 68er Revolte versuchte
die französische Regierung nämlich, den
in ihren Augen geistigen Brandstifter aus-
zuweisen. Doch die Deutschen schickten
den Staatenlosen gleich wieder zurück;
Fraenkel wurde ein Jahr lang mit Haus-
arrest in ein kleines Dorf des ländlichen
Departements Dordogne verbannt.
Der Sohn eines ukrainischen Juden und
einer weißrussischen Jüdin, die vor den
Bolschewiken nach Danzig geflohen wa-
ren, kam nach dem Abitur 1938 mit einem
Nansen-Pass für Flüchtlinge nach Frank-
reich. Damals strebte er als linker Zionist
noch nach Palästina in einen Kibbuz. Heu-
te erklärt er offen seine Bewunderung für
den palästinensischen Selbstmordatten-
täter, dessen Bombe in Tel Aviv 20 junge Kampfhandlungen bei Skopje: Überall Stützpunkte, Rekruten, voll gefüllte Waffenarsenale
Disco-Besucher zerriss.
Die letzten Kriegsjahre verbrachte
Fraenkel in einem Schweizer Internie- MAZEDONIEN
rungslager, wo er den Schriftsteller Manès
Sperber und den James-Joyce-Übersetzer
Oskar Fein kennen lernte. Sein großer
trotzkistischer Lehrmeister, den er noch
heute verehrt, wurde Fritz Belleville, der
„Dann schlachtet jeder jeden ab“
bis 1932 der Reichsleitung der Trotzkisten
Der Bürgerkrieg zwischen Armee und Guerrilla
in Deutschland angehört hatte. „Ich habe eskaliert. Vor den Toren Skopjes liegt der Ort Ara‡inovo, die neue
eine fürstliche Erziehung genossen“, sagt Hochburg albanischer Freischärler. Von Renate Flottau
Fraenkel über seine stürmischen Lehr- und

G
Wanderjahre. reift uns die mazedonische Armee fenarsenale. Entschlossen zeigt Hodscha
Und dieses Wissen wollte er Zeit seines hier an, dann nehmen wir Skopje auf die nahe Gebirgskette: „Dort haben
Lebens weitergeben. Sein Freund Marcuse unter Beschuss“, droht der Frei- wir Raketenwerfer mit einer Reichweite
bestätigte ihm: „Du bist ein charismati- schärler-Führer Hodscha, 36. Das ist kein von 18 Kilometern stationiert.“ Damit
scher Typ.“ Seine Genossen bewunderten großmäuliges Geprahle. Seit vorletztem ließen sich der Militärflughafen Skopjes,
seine Fähigkeit, „die Jugend anzuziehen Freitag hält ein Stoßtrupp der albanischen die Regierungsgebäude, Kasernen und Po-
wie der Honig die Bienen“. Befreiungsarmee UÇK den Sprengel lizeistützpunkte treffen. Doch Zivilisten
Einmal noch versuchte er, wieder an sei- Ara‡inovo besetzt. Das „befreite Territo- brauchten keine Angst zu haben, versichert
nen abtrünnigen Schützling heranzutreten. rium“ liegt nur neun Kilometer von der der UÇK-Kommandeur: „Öffentliche Plät-
Als Jospin 1981 nach Mitterrands Wahlsieg mazedonischen Hauptstadt entfernt. Ver- ze werden wir schonen, schließlich kämp-
Parteiführer der Sozialisten wurde, schick- gebens versuchen Armee- und Polizeiein- fen wir nicht gegen die Bevölkerung.“
te Fraenkel ihm eine Postkarte mit seinen heiten seitdem, die neue Hochburg der Die Schleichwege zum Guerrilla-Hort
Glückwünschen. Und dem sinngemäßen Guerrilla zu stürmen. Es herrscht Belage- sind halsbrecherisch und gefährlich, sie lie-
Zusatz: „So hätte ich deine Karriere auch rungszustand. gen teilweise unter Panzerbeschuss. Ein ro-
geplant.“ Kommandeur Hodscha lacht: „Wir sind ter Traktor des Albaners Adnan sorgt für
Er bekam keine Antwort. „Jospin ist besser gerüstet als seinerzeit gegen die Ser- den Transport und schleppt sich über
ein bürgerlicher Politiker der linken ben im Kosovo.“ Überall in den albani- Schotterpisten. Adnan, ehemals Gastar-
Mitte. Er ist ein anderer Mensch gewor- schen Gebieten des Balkan-Staates Maze- beiter in Deutschland, sagt, noch gestern
den, ich kenne ihn nicht mehr“, sagt donien hätten die Freischärler geheime hätten sich Mazedonier und Albaner im
Fraenkel. Dass der Premier über seine Ver- Stützpunkte, Rekruten, voll gefüllte Waf- Dorf Romanovce geschworen, die gute
gangenheit log und bis zuletzt ein Ge- Nachbarschaft so lange wie möglich
heimnis, das immerhin eine ganze Reihe aufrechtzuerhalten, „doch kommt
von Eingeweihten kannte, wahren woll- es zum Krieg, dann wird jeder jeden
te, hält er für eine unglaubliche Dumm- abschlachten“.
heit. In Frankreich sind Tausende Intel- Seit Ausbruch des Konflikts zwi-
lektuelle durch die trotzkistische Schulung schen den beiden Volksgruppen der
gegangen: „Der Trotzkismus, das ist doch Mini-Republik mit ihren zwei Mil-
nicht Syphilis.“ lionen Einwohnern flohen über
Bei der Präsidentschaftswahl im nächs- 42 000 Menschen in das Kosovo. Das
R. FLOTTAU / DER SPIEGEL

ten Jahr will er trotzdem für Jospin stim- Rote Kreuz meldet derzeit 2000
men, allerdings erst im zweiten Wahlgang. Flüchtlinge pro Tag.
Im ersten wählt er die extreme Linke. Ara‡inovo hatte früher 12 000 Ein-
Denn vor kurzem ist Fraenkel wieder in wohner. Jetzt ist es eine Geisterku-
eine Partei eingetreten: in die Revolu- lisse mit quer gestellten Fahrzeugen
tionäre Kommunistische Liga. Er kann das UÇK-Führer Hodscha (l.), Arusha (r.), Mitstreiter als Barrikaden auf der Zufahrts-
Mausen eben nicht lassen. Romain Leick „Wir kämpfen für unsere Menschenrechte“ straße. Die Hinterhöfe sind voll ge-
134 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Ausland

„Ich bin bereit, für unseren Kampf zu ster- entschlossener für die Menschenrechte
ben“, sagt er. Von den vier am Tisch sit- ein.“ Präsident Boris Trajkovski werde von
zenden UÇK-Offizieren wird auch Xhavid den USA jetzt ein Friedensplan diktiert,
Hasani als Terrorist gesucht. Kosovos da- der den Albanern die Gleichberechtigung
maliger Uno-Verwalter Bernard Kouchner garantiere.
ließ ihn verhaften und nach Skopje auslie- Offenkundig ist: Mit der Nato will sich
fern. Die UÇK presste ihn frei, indem sie auch die UÇK-Führung nicht anlegen, son-
vier mazedonische Soldaten als Geiseln dern sie buchstäblich als Schutzmacht ins
nahm und gegen Hasani austauschte. Land ziehen. Ihre Entwaffnung durch die
„Sehe ich wie ein Terrorist aus?“, fragt Allianz würden die Rebellen nach einer
der grauhaarige UÇK-Held mit legendären Friedensvereinbarung akzeptieren, die

DPA
Verdiensten im Kosovo-Krieg. „Wir vertei- auch die Unterschrift der UÇK trüge. So
lief es auch mit der Demilitarisierung im
Kosovo. Und die war eine Farce.
Eines Tages werde ganz Mazedonien ei-
nen albanischen Präsidenten haben,
schwärmt der Offizier Sulejmani, einst
Gastarbeiter bei Ulm, und Kommandant
Hodscha nickt zustimmend: „Die Hälfte
der Bevölkerung Mazedoniens ist doch
schon jetzt albanisch.“ Um dies zu vertu-
stopft mit UÇK-Soldaten. schen, verweigere die Regierung bewusst
Dass es tatsächlich 1000 300 000 Albanern den Personalausweis und
sind, wie mazedonische gebe den Anteil der albanischen Bevölke-
Politiker vermuten, lässt rung mit weniger als 30 Prozent an.
sich nicht bestätigen. Abenteuerliche Rückfahrt aus Ara‡ino-
Etwa 30 Uniformierte, vo: Die Strecke nach Romanovce ist von 40
alle mit dem UÇK-Abzei- Polizisten abgeriegelt, der Traktorfahrer
chen am Ärmel, schwirren verschwunden. Eine einsame Albaner-Fa-
auf dem Stabsgelände um- milie in Gru∆inci bietet nächtlichen Unter-

AP
her – einem versteckt ge- Polizeikontrolle vor Ara‡inovo: Nur Vertrauen in die UÇK schlupf.
legenen Privathaus. Ein Der Fernseher dort läuft pausenlos, die
Spähtrupp kommt aus den Bergen zurück, digen uns doch nur und kämpfen für un- Nachrichten vermitteln drohende Kriegs-
andere machen sich mit Pferden auf den sere Menschenrechte“. gefahr. Die Brücken in Richtung Bulgarien
Weg in die seit Monaten eingeschlossenen Vergleiche zum Kosovo drängen sich seien verstärkt worden, heißt es, um not-
Dörfer um Kumanovo. Die Männer sind auf. Zehn Jahre, sagt Hodscha, hätten die falls Nato-Panzern den Einzug zu ermög-
nervös und gereizt. Die Stimmung steigt politischen Parteien der mazedonischen lichen. „Was wird passieren?“, fragt Groß-
erst, als Kommandant Arusha – „der Bär“ Albaner erfolglos versucht, die Apartheid vater Islam, „wird es Krieg geben?“
– mit dem Outfit eines Indianerhäuptlings in Mazedonien zu beenden. Jetzt habe die Islam versteht nichts von dem neuen
auftaucht. Arusha will feiern, denn eine Bevölkerung nur noch Vertrauen in die Friedensplan des Präsidenten Trajkovski,
neue Rakete ist eingetroffen. In Einzeltei- UÇK. Werde die UÇK aus dem politischen der UÇK-Kämpfern nur eine Teil-Amnestie
len, von Pferden transportiert. Dialog ausgeschlossen, gebe es Krieg. verspricht und unklar lässt, ob die Verfas-
Woher? „Aus Serbien natürlich“, sagt UÇK-Generalstabschef Gezim Ostreni aus sung zu Gunsten der Albaner geändert
Arusha mit der Zahnlücke fröhlich, „erst Debra, der schon im Bosnien- und im Ko- wird. Islam begreift auch nicht, warum
haben wir gegen die Serben Krieg geführt, sovo-Krieg aktiv war, habe als oberster Be- Nato-Generalsekretär George Robertson
jetzt verkaufen sie uns ihre Waffen.“ Eini- fehlshaber bereits genügend Bataillone for- ständig nach Skopje reist und den mazedo-
ge westliche Politiker forderten bereits, die miert. Den Krieg werde man gewinnen – nischen Streitkräften Beistand verspricht.
UÇK-Auslandskonten – insbesondere in „mit Hilfe Gottes, der USA und der Nato“. In der Nacht schläft nur der vier Mona-
der Schweiz – einzufrieren, um weitere Washington sei immer noch ihr Verbün- te alte Säugling Afrim in seiner Wiege. Die
Waffenkäufe zu verhindern. deter, davon ist die Runde der Ara‡inovo- Angst, mazedonische Paramilitärs – zu-
Arusha ist der Rockefeller der mazedo- Rebellen überzeugt, denn „die Amerikaner sammengesetzt aus Kriminellen und na-
nischen UÇK. Neun Millionen Mark zahl- setzen sich im Gegensatz zu den Europäern tionalen Fanatikern – könnten in das ver-
te er für eine Rinderfarm mit 1200 Kühen meintlich leere Dorf zu Plünderzügen ein-
in Singeliƒ. Als Finanzierungsquelle nennt JUGOSLAWIEN rücken, hält alle wach. Die Detonation der
er 18 Cousins und 9 Brüder, die hätten als Sofia Granate, welche die UÇK in Tetovo auf
Kosovo
Gastarbeiter in Deutschland Kredite deut- die Kaserne feuert, ist selbst in Gru∆inci zu
scher Banken ergattert. Mazedonische Pri∆tina hören.
Medien halten Ara‡inovo für das kriminel- BULGARIEN Kurz nach Sonnenaufgang gelingt es,
le Zentrum der Republik, in dem Schmug- Kumanovo den Rest der Strecke in geduckter Haltung
gel und Drogenhandel blühen. Ara‡inovo durch die Büsche zu bewältigen, um den
Vor einer Woche besetzten 200 Polizis- Tetovo Skopje mazedonischen Polizeipatrouillen zu ent-
ten Arushas Ranch. Auf den UÇK-Bären gehen. „Wir wollen keinen Krieg“, beteu-
warten nun 20 Jahre Gefängnis wegen Ter- MAZEDONIEN ert der albanische Begleiter, darum habe
rorismus, weil mazedonische Polizisten ihm V die UÇK sogar einseitig bis zum 27. Juni ei-
a rd a r

– so jedenfalls vermutet der Albaner – nen Waffenstillstand erklärt. „Schreiben


„klammheimlich Bomben in seinen Jeep Ohrid 50 km
Sie“, sagt er zum Abschied, „dass wir ein
platziert hatten“. Bitola friedliebendes Volk sind. Schließlich war
Bereitwillig posiert der 30-Jährige für ALBANIEN GRIECHENLAND
auch Mutter Teresa Albanerin und stamm-
die Kamera, mit dem Gewehr im Anschlag. te aus Skopje.“ ™
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 135
BPK (li.); JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO (re.)

Günstling Potemkin, Zarin Katharina II.*: „Mutter Kaiserin, sogar mehr als eine wirkliche Mutter“

RUSSLAND

Der Eroberer der Zarin


Fürst Potemkin war der mächtigste Günstling in der russischen Geschichte.
Im Auftrag Zarin Katharinas II. befreite er Russlands Süden von den
Türken. Eine neue Biografie schildert nun die ungewöhnliche Liebesbeziehung
zwischen der Herrscherin und dem Adligen. Von Rudolf Augstein

D
er Name Potemkin sagt dem heuti- men, der als Fachmann für osteuropäische 1905 nach dem rumänischen Konstanza, wo
gen Zeitgenossen kaum noch etwas. Geschichte ausgewiesen ist**. Zum Vor- sie es versenkten. 500 Matrosen gingen an
Allenfalls weiß er von den „Potem- schein kommt eine der fesselndsten und Land und lebten friedlich in Rumänien.
kinschen Dörfern“ zu berichten, die von machtvollsten Persönlichkeiten Russlands Sicher wäre Potemkin nicht zu einem
Potemkin zur Täuschung seiner Herrin, der zwischen Zar Iwan dem Schrecklichen derart gepriesenen und geschmähten Mann
Zarin Katharina II. (1729 bis 1796), bei ei- (Russisch: dem Gestrengen), der 1547 bis geworden, wenn es ihm 1774 nicht gelun-
ner Präsentationsreise 1787 durch Südruss- 1584 regierte, und dem roten Zaren Josef gen wäre, eine echte Liebe im Bett seiner
land entlang dem Dnjepr-Ufer wie Holly- Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt außerordentlich sinnlichen Herrin Katha-
wood-Kulissen errichtet worden sein sol- Stalin. rina zu entfachen, die bis zu seinem Tode
len. Der vom Wachtmeister der Garde zum Dem deutschen Seekundigen und Kino- im Oktober des Jahres 1791 andauerte.
Reichsfürsten und zum Fürsten von Taurien gänger ist der Panzerkreuzer „Potemkin“ Potemkin (Russisch: Patjomkin) erschloss
emporgestiegene Favorit der Zarin ist ent- als Stichwort für eine gelungene Meuterei der Zarin nach zwei Kriegen gegen das Os-
weder vergessen, oder man sieht in ihm ei- auf einem russischen Kriegsschiff bekannt, manische Reich den Süden Russlands bis
nen zweiten Münchhausen, einen Schwa- verfilmt 1925 von Stalins Meisterregisseur zum Schwarzen Meer, so wie Zar Peter der
droneur und Abenteurer, dessen Leben Sergej Eisenstein. Die Bezeichnung Pan- Große das Fenster zum Westen aufgestoßen
nachzuerzählen sich nicht mehr lohnt. zerkreuzer hat sich eingebürgert, obwohl und Zar Iwan durch die Eroberung Kasans
Dieser Märchenfigur hat sich jetzt der es sich um ein Linienschiff handelte, aller- 1552 die Richtung nach Sibirien und der
deutsche Historiker Detlef Jena angenom- dings bestückt mit den modernsten Kano- Beringstraße eröffnet hatte.
nen. Zar Nikolai II. hatte ihm 1904, beim Einig sind sich die Kritiker Potemkins
* Links: Zeitgenössische kolorierte Radierung von Gawri- Stapellauf, den Namen „Fürst Potemkin von jeglicher Couleur nur in einem Punkt: Der
lo Charitonow; rechts: Gemälde von Dmitrij Lewizkij (1783). Taurien“ gegeben. Die Bedeutung Potem- Fürst von Taurien, worunter man die Krim
** Detlef Jena: „Potemkin, Favorit und Feldmarschall
Katharinas der Großen“. Verlag Langen Müller, München; kins war also damals anerkannt. Von Odes- und die ihr vorgelagerte Steppe verstand,
368 Seiten; 49,90 Mark. sa navigierten die Aufständischen das Schiff lief stets mit bis zum Nagelbett abgekauten
136 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Ausland

Fingernägeln herum. Die imposante Ge- ten Friedensvertrag mit der Türkei im neralissimus Alexander Suworow, der sich
stalt des Fürsten war nicht gerade elegant ersten türkischen Krieg zunichte machte. schon in Mitteleuropa einen Namen ge-
zu nennen. Auf einem Auge blind gewor- Die Zarin grollte ihm, was gleichzeitig macht hatte. Mit ihm lag Potemkin in ei-
den, trug er meistens eine Augenbinde. seinen Zugang zu ihr versperrte. Das er- nem ironischen Dauerstreit, verwandte
Man sagte ihm nach, er lese keine Bücher möglichte Potemkin, einen Lückenbüßer aber viel Zeit darauf, von der Zarin die
und sei nicht gerade mit viel Humor aus- bei ihr einzuführen. Eine Weile noch blieb gebührenden Verdienstorden für diesen
gestattet. Das darf bezweifelt werden, denn die Orlow-Clique eine Gefahr, dann zer- außerordentlichen Mann zu erlangen. Die
seine Herrscherin ließ ihm ein kostbares streute sie sich. Herrscherin, die vom Krieg keine richtige
Service mit der Widmung zukommen: Anders als Orlow versuchte Potemkin Vorstellung hatte, schrieb alle Verdienste
„Dem größten Fingernägelknabberer in auch nicht, seine Herrin zu kutschieren. ihrem ergebenen Potemkin zu. Dieser
Russland“. Er legte ihr Pläne vor, die sie für ihre ei- machte nicht den Fehler, Admiräle oder
Man kann Potemkins Laufbahn über- genen halten konnte, und beide arbeiteten Generäle, die versagt hatten, abzulösen.
haupt nicht nachvollziehen, wenn man in wie ein Zwillingswerk. Nie vergaß Potem- Stattdessen gab er ihnen verschärfte In-
ihm nicht den Russen sieht, der seine Kerze kin, dass er der erste Diener seiner Herrin struktionen und beließ sie im Amt.
von oben wie von unten gleichzeitig war, deren Wohl er mit Russlands Wohl Dem bekannten russischen Schlendrian
abbrennen ließ. Im Gegensatz dazu konnte für identisch hielt. Er schreibt ihr mit der konnte der Fürst nicht beikommen, das
seine Herrin, die Tochter eines preußischen Anrede „Mutter Kaiserin“ und sogar, dass hatten ja auch die russischen Alleinherr-
Generals, des Fürsten von Zerbst-Dorn- sie „mehr als eine wirkliche Mutter“ sei. scher nie geschafft. Sogar Stalin mit
burg, ihre Herkunft nie ganz verleugnen, Beider Vorhaben war, Russland bis zum seinen rüden Methoden konnte dem
so große Mühe sie auch darauf Schlendrian nicht wirksam be-
verwandte. gegnen. Potemkins Hauptsorge
Nicht gar so ungewöhnlich waren die Krim und die um-
war, dass ein kaiserliches Schlaf- liegenden türkischen Festungen.
zimmer zum Ausgangspunkt ei- Er verlangte von seinen Solda-
ner steilen Karriere wurde. Der ten viel, ließ es sich aber auch
britische Staatsmann und Feld- nicht nehmen, in der Schlacht
herr John Churchill, später Her- mit reich verzierter Uniform die
zog von Marlborough und Sieger Blicke der Feinde auf sich zu
über den französischen Son- lenken. Das imponierte zwar
nenkönig Ludwig XIV., hatte nicht den Offizieren, aber den
auch so ähnlich begonnen und schlichten Gemütern des einfa-
war seiner Königin Anne zu chen Mannes.
Diensten gewesen. Der Fürst verstand sich wie
Potemkins Kunststück be- seine Herrin darauf, sich selbst
stand darin, nach den rausch- zu inszenieren. So ließ er sich
haften Erlebnissen mit Katha- mit nackten Beinen und edel-
rina ihr gemeinsames Lager zu steinbesetzten Pantoffeln sehen.
verlassen und ihr nacheinan- War er abwesend, so gab er
der 15 neue Liebhaber zuzu- dafür keine Erklärung.
führen, die er nach seinem Man muss zugeben, dass seine
Gutdünken aber auch wieder Arbeitslast enorm war, eben weil
abberufen konnte. Bis zuletzt er sich für den gesamten Süden
war ihre Liebe nicht rein pla- als Generalgouverneur verant-
tonisch. Den 16. Nachfol- wortlich fühlte. Hätte er auf Ärz-
ger, Platon Subow, allerdings te gehört und mäßiger gelebt,
durfte er nicht mehr aussu- hätte er der Überlastung wohl
chen. Mit dem Versuch, den auch nicht standhalten können.
28 Jahre jüngeren Liebhaber Das lag so in seiner Natur.
im Bett auszustechen, musste Schickte ihm die Zarin einen all-
AKG

er, wie wohlwollende Freunde zu fordernden Brief, ließ er ihn


ihm klar zu machen versuchten, Meuterei auf dem Panzerkreuzer „Potemkin“*: Siegreiche Matrosen entweder unbeachtet in die
scheitern. Tasche gleiten oder zählte in
Mit über 50 Jahren war Potemkin sicht- Schwarzen Meer zu besiedeln und das seiner Antwort alle jene Großtaten auf, de-
lich gealtert und verbraucht, ja auch krank. Schwarze Meer zu beherrschen. ren er sich rühmen konnte, und endete
Schon vor ihm hatte es einen Favoriten ge- So unmäßig der Fürst von Taurien sei- rhetorisch: Wer sonst hätte das alles leisten
geben, dem im Ausland zugetraut wurde, nen Gelagen und Festen huldigte, seine können? Erst im Todeskampf verstand er
dass er die Herrscherin lenke. Das war Arbeitswut war ebenso unersättlich und sich dazu, Ärzte an sich heranzulassen, und
Grigorij Orlow, der Organisator des Mord- sein Organisationstalent berühmt. Da- nahm sogar gegen seine Malariaschübe
komplotts, das 1762 gegen den rechtmäßi- mals war Eroberung das normalste Ziel Chinin zu sich.
gen Zaren Peter III., aus der Linie Hol- einer Großmacht, und für die Eroberung Die Verschwendungssucht des Fürsten
stein-Gottorp, durchgeführt wurde. Der ge- des südlichen Russland hat Potemkin ist sprichwörtlich, seine stetige Überschul-
waltsame Tod des Gatten hatte Katharina das meiste geleistet, wenn man bedenkt, dung auch. Ihn musste das wenig kümmern,
den Weg auf den Thron geebnet. dass er das Land außerdem auch noch weil er selbst gern schenkte und weil Müt-
Von Orlow hatte die Zarin drei Kinder, besiedelte. terchen Katharina im Endeffekt für all sei-
von denen eins als Graf Alexej Bobrinski Ein geborener Heerführer war er nicht. ne Schulden aufkam. Sie errichtete ihm in
bekannt wurde. Orlow konnte sich mit Unter seiner Oberherrschaft arbeiteten St. Petersburg das „Taurische Palais“, das er
dem Genie Potemkins nicht messen. Ihm fähige Generäle wie etwa der geniale Ge- aber verspielte. Unverdrossen zahlte die
wurde seine hochfahrende Art zum Ver- Zarin seine Spielschulden und erwarb das
hängnis, als er den schon beinahe perfek- * Im Juni 1905 vor Odessa. Palais zurück – um es Potemkin erneut zu
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 137
schenken. Im Überschwang schenk- noch gar nicht vorbereitet war. Es
te sie ihm einen Hut, der so mit war die schlimmste Feuerprobe für
Edelsteinen beschwert war, dass er Potemkin, und er wusste das. Alle
ihn zwar vor sich hertragen, aber Kräfte wurden zusammengezogen,
nicht aufsetzen konnte. auch mit den üblichen Zwangs-
Katharina erkannte als ein rekrutierungen. Drei Jahre dauer-
Hauptübel des Reiches die Leib- te es, dann hatte er den Krieg für
eigenschaft. Sie versprach ihren Be- Russland entschieden.
wunderern in Frankreich, etwa Die Kaiserin wollte ihm nun in
Melchior Freiherr von Grimm und St. Petersburg als einen Triumpha-

ITAR TASS
Voltaire, die Beseitigung dieses tor empfangen. Im Taurischen Pa-
Missstands. Nur, wer wäre dazu lais wurde ein Fest arrangiert, das
weniger im Stande gewesen als Taurisches Palais: „Der Mann mit den abgekauten Nägeln“ alle bisherigen übertraf. Kaum je-
sie selbst, da sie doch ihre nächt- mand merkte, dass die Zarin und
lichen Vergnügungen mit Gütern und Drei Monate hielt man sich in Kiew auf. ihr Eroberer sich in den Wintergarten
Leibeigenen-Seelen zu honorieren pfleg- Man wartete, bis der Dnjepr eisfrei war – so zurückzogen. Sie stritten nicht heftig mit-
te? Potemkin wurde einer der größten dass die Frage erlaubt ist, warum die Reise- einander wie früher, sondern zogen ein
Grundbesitzer in Russland, samt den da- gruppe schon im Januar aufgebrochen war. ernüchterndes Resümee ihrer Beziehung.
zugehörigen unfreien Bauern. „Tout est Das war wohl ein Wunsch der Zarin gewe- Der Fürst beklagte den schädlichen Ein-
permis à Catherine“, schrieb der französi- sen. Die Gründe sind nicht genau bekannt. fluss von Platon Subow, dem neuen Lieb-
sche Aufklärer Denis Diderot. Überall in Kiew waren Villen als Quartiere haber. Man war milde zueinander, obwohl
Ob Katharina und der Fürst den zweiten ausgesucht worden. Die größte blieb dem beide nicht wissen konnten, dass sie sich
türkischen Krieg 1787 geplant haben, bleibt österreichischen Botschafter vorbehalten. zum letzten Mal sahen.
umstritten. Tatsache ist, dass Potemkin in An Zerstreuung mangelte es nicht. Der Fürst blieb länger in St. Petersburg,
jenem Jahr den Höhepunkt seines Ruhms Sieben Galeeren, ganz in Gold und Rot als der Kaiserin lieb war. Sie behauptete,
erreichte, als er seiner Kaiserin auf der gehalten, paradierten an der Spitze einer seine Anwesenheit bei Abschluss des
berühmten Präsentationsreise ihre neuen Armada von 80 Schiffen den Dnjepr hinab Friedens mit dem Osmanischen Reich
und neu besiedelten Gebiete zu Lande und bis ins Schwarze Meer. 3000 Matrosen sei unerlässlich. Er musste nachgeben,
zu Wasser vor Augen führte. ruderten zum Ruhme ihrer Kaiserin. Nicht wusste aber, dass das nicht stimmte. Er
Er hatte es dabei nicht nötig, irgendwel- zufällig hatte der Fürst auf beiden Seiten fühlte sich nicht gut und überließ es seinem
che Filmfassaden zu errichten, kümmerte des Flusses Zehntausende Soldaten auf- Stellvertreter, dem General Repnin, den
sich aber wiederum um jede Einzelheit, gestellt. Friedensvertrag auszuarbeiten. Ergriff
um sein Licht nicht unter den Scheffel zu Der Sultan des Osmanischen Reiches Potemkin in den Verhandlungen mit den
stellen. Es gab keine Poststation auf dem musste sich durch diese spektakuläre Rei- Türken das Wort, redete er oft baren Un-
Weg von St. Petersburg nach Kiew, deren se bedroht fühlen. Die Schiffe von Katha- fug, zum Erstaunen beider Seiten. Die Ver-
Bau er nicht persönlich angeordnet hatte. rinas aufgerüsteter Schwarzmeerflotte ver- handlungen fanden in Jassy statt, und der
Jedes Reiseziel war abgesteckt. Da man im mochten in weniger als 48 Stunden das da- Fürst war ersichtlich krank. Er nahm die
Januar fuhr, reiste man auf Schlitten. Den malige Konstantinopel, die Hauptstadt des heiligen Sakramente des orthodoxen Glau-
prachtvollsten hatte natürlich die Zarin. Sultans am Bosporus, zu erreichen. Ob er bens, wie er Religionsgespräche von jeher
30 Pferde zogen de facto 4 Zimmer. Eines absichtlich provoziert wurde oder ob er geliebt hatte. Die Zarin und er, sie glaub-
hatte der damalige Liebhaber der Monar- die Nerven verlor – gleichviel, er erklärte ten beide an Gott, vorzüglich aber dann,
chin bezogen. Russland den Krieg, auf den dieses Land wenn sie sich eine Niederlage eingestehen
mussten.
Russlands Drang nach Süden D on
Der Fürst kam plötzlich auf die Idee, in
Nikolajew werde es ihm besser gehen. Man
Kiew konnte ihm das nicht ausreden, obwohl er
Ö S T E R - R U S S L A N D zu schwach zum Reisen war. So fuhr man
R E I C H Dnje von Jassy ab in Richtung Nikolajew. Nach
Bug pr
Stunden befahl Potemkin eine Pause, er
fieberte stark, und Schüttelfrost packte ihn.
Trotzdem ließ er wieder anspannen und
K Ö N I G - fuhr weiter. Aber es waren nur wenige
Pr

Nikolajew
ut
Dn

Kilometer, da ließ er erneut anhalten. Es


R E I C H Odessa
jes

Jassy war der 16. Oktober 1791, und Potemkin


tr

U N G A R N 200 Kilometer
soll noch einige Worte hervorgestoßen ha-
Krim ben, etwa: „Nehmt mich aus dem Wagen
1783 annektiert und legt mich auf den Boden. Ich möchte
auf freiem Feld sterben“ oder „Damit soll
Bukarest es nun genug sein“. Man gehorchte wider-
O
S M Donau Konstanza Schwarzes Meer strebend. Dann wurde Potemkin schwä-
cher und verlor das Bewusstsein.
AN Ein großer Mann war tot – man wird
IS
CH Russlands Grenzen einen Panzerkreuzer nach ihm benennen.
Sofia ES bis 1721 Aber er hatte nur mit Segelschiffen zu tun
Konstantinopel
R E IC H gehabt. Eines von ihnen trug den Namen
bis 1739 „Ruhm Katharinas“. Matrosen werden
bis 1793 siegreich meutern, aber das fiel nicht mehr
in seinen Gesichtskreis. Bis dahin vergin-
gen noch 114 Jahre. ™
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Ausland

NETWORK / AGENTUR FOCUS


Dai Qing
zählt zu den wenigen Dissidenten, die
es heute noch wagen, Kritik an der
Modernes Schanghai: „Marktwirtschaft nur dem Namen nach“ Partei zu üben: Die Tochter eines Re-
volutionshelden machte in Mao Tse-
tungs Volksrepublik Bilderbuchkarrie-
CHINA
re. Die Ingenieurin, 59, arbeitete am
chinesischen Raketenprogramm mit

„Die Obrigkeit hat Angst“ und war Übersetzerin beim Geheim-


dienst, bevor sie sich mit engagierten
Reportagen einen Namen als Autorin
machte. Ihre Kritik an den Um-
Die Dissidentin Dai Qing über den nostalgischen weltsünden der Wirtschaftsreformen
Mao-Kult, den Beziehungsfilz innerhalb der KP-Elite und den brachte sie auf Oppositionskurs zur
Generationenwechsel an der Spitze der Partei KP-Spitze; nach
dem Tiananmen-
SPIEGEL: Die KP Chinas begeht am ersten Mehr und mehr Menschen glauben, dass es Massaker 1989
Juli mit Pomp und Propaganda ihren 80. China ohne die autokratische Herrschaft trat sie aus der
Geburtstag. Gibt es für die „Vorhut der der Partei besser gehen würde. Partei aus und
Arbeiterklasse“ überhaupt Grund zum SPIEGEL: Immerhin besitzen über 63 Mil- war ein Jahr in-
Feiern? lionen Menschen das Parteibuch, darunter haftiert.
Dai: Um was zu feiern? Die Herrschaft ei- auch viele junge Leute. Warum?
ner Partei, die seit 52 Jahren andauert? Die Dai: Wir schreiben das Jahr 2001 und nicht
AFP / DPA

strenge Kontrolle der Presse? Oder das das Jahr 1927, als Parteimitglieder bereit Staatsmann. Hat er
mächtige und teure Militär? Grund zu Ju- waren, sich für hehre Ziele der Mehrheit unter Ihren Lands-
bel gibt es nur für jene, die sich bei der Par- aufzuopfern. Klar ist, wenn jemand Ämter leuten den gleichen
tei bedanken für den leichten Zugang zu und Pfründen will, dann besteht der kür- Ruf? Oder ist sein Erbe seit dem Tianan-
Macht und Geld. Die Mehrheit der Chine- zeste Weg darin, Mitglied in der Partei zu men-Massaker befleckt?
sen wird, denke ich, nicht feiern können – werden. Früher betonte die Führung stets, Dai: Dass Deng den Studentenprotest 1989
nicht einmal die Mitglieder der Partei. Das sie säubere ihre Ränge von „schlechten niederschlagen ließ, ist im In- und Ausland
sind vom Regime verordnete Festivitäten, Elementen“. Wenn heute jemand der KP verurteilt worden. Ich bin damals sofort
die nur von der Staats- und Parteiführung beitritt, heißt es hinter vorgehaltener Hand: aus der Partei ausgetreten. Aber in meinen
wahrgenommen werden. Die Partei hat nur Die Massen sind von einer üblen Person Augen hat Deng unserer Nation zweiein-
noch eine Funktion: die eigene Macht zu gesäubert worden. halb Jahre nach der Niederschlagung, als
erhalten unter Ausbeutung des Volkes. SPIEGEL: Diskutieren Chinesen offen über die ganze Nation unter einer Schreckens-
die Rolle der Partei? atmosphäre der proletarischen Diktatur
Dai: Eine ernsthafte Debatte über Errun- litt, den größeren Schaden zugefügt. Da-
genschaften, Fehler oder ideologische Irr- mals, auf seiner Reise in den Süden des
wege ist nicht gestattet. Die einzig erlaub- Landes, proklamierte er: „Werdet reich.“
te Haltung zur Partei sind Lobpreisungen SPIEGEL: Damit hat Deng die stockenden
und Loyalität. So etwas tun in meinem Um- Reformen wieder angekurbelt …
kreis aber nur Schamlose und Dummköp- Dai: … aber Reform bedeutet einen um-
fe. Die Folge: Niemand kümmert sich um fassenden Systemumbau. Die Folge von
die KP. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Dengs begrenzter Forderung „Lasst einige
SPIEGEL: Was bedeutet dann der nostalgi- zuerst reich werden“ war Korruption, die
sche Mao-Kult? inzwischen alle Bereiche des Lebens er-
Dai: Mao ist sicher eine bedeutende histo- fasst hat. Wer Macht hat, kann daraus
rische Figur, über deren Rolle wir noch Kapital schlagen. In der Partei, im Staats-
lange debattieren werden. Dennoch kann apparat und im Militär haben Beste-
man nicht sagen, dass er den einfachen chung, Beziehungsfilz und Ämterkauf er-
Menschen ein glückliches Leben bescherte, schreckende Ausmaße angenommen. Und
DPA

wie er anfangs versprochen hatte. seitdem Kader nur zeitlich befristet im


Partei- und Staatschef Jiang SPIEGEL: Im Westen galt Maos Nachfolger Amt bleiben dürfen, scheren sie sich nicht
„Keiner mag ihn“ Deng Xiaoping lange als weitsichtiger um die Zukunft, sondern schaufeln sich
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binnen kürzester Zeit ungeniert die Ta- Vergangenheit: Ohne Entgleisungen wie auf Peking konzentrierte Macht reduzie-
schen voll. der „Große Sprung nach vorn“, die Ab- ren und umverteilen: Regionen und Pro-
SPIEGEL: Heute regiert die so genannte drit- schottung nach draußen, hätte das Wirt- vinzen sollten sich weitgehend selbst ver-
te Generation um Staats- und Parteichef Ji- schaftswunder schon Jahrzehnte früher walten dürfen wie im System der Europäi-
ang Zemin. Was halten die Leute von ihm? stattgefunden. schen Union.
Dai: Keiner mag ihn, ausgenommen jene, SPIEGEL: Seit Beginn der Reformen geht es SPIEGEL: In letzter Zeit verbreitet die Par-
die direkt von ihm profitieren. Es gibt vielen Chinesen besser, es ist eine wohl- tei immer stärkere nationalistische Töne.
kaum einen KP-Führer, den das Volk so be- habende Mittelklasse entstanden – vor al- Versucht sie damit, bei der Bevölkerung
schimpft wie ihn. Dieser Tage wollte er sich lem im Privatsektor. wieder an Boden zu gewinnen?
– wie einst Mao – mit einem Gedicht ver- Dai: Die Großunternehmer funktionieren Dai: Es dient als Ventil, politischen Unwil-
ewigen, doch man verhöhnte seine Verse beinahe durchweg als Ableger des Regimes. len zu artikulieren. Wenn wir auf den Tian-
als zweitklassige Poesie. Wenn Jiang im Entweder sind sie selbst Beamte, oder sie anmen-Platz ziehen, um gegen Korruption
kommunistischen Vokabular den Aufbau sind mit Genossen vom Partei- und Staats- oder für die Falun-Gong-Organisation zu
einer „fortschrittlichen Kultur“ fordert, er- apparat versippt oder verschwägert. Das demonstrieren, landen wir im Gefängnis.
scheint das als Widerspruch in sich. Doch sind prinzipienlose Karrieristen, die keiner Patriotischer Protest ist dagegen erlaubt
ich glaube, dass sich hinter den hölzernen Kontrolle unterworfen sind. oder, wie nach dem Nato-Bombardement
Phrasen die Hoffnung verbirgt, die Partei SPIEGEL: Dengs Reformen gestatteten den der chinesischen Botschaft in Belgrad, gar
zu verändern. Bauern nach 1979 immerhin, wieder ihre von oben gefördert.
SPIEGEL: Jiang – ein Vorkämpfer der Re- Äcker zu bestellen. SPIEGEL: Könnte dieser Nationalismus
formen? Dai: Ist das etwa eine Errungenschaft? Da- umschlagen in aggressive Aktionen gegen
Dai: Der Parteichef will die politische mit wurde doch nur die ursprüngliche Si- Taiwan?
Macht und den neu erworbenen persönli- tuation wiederhergestellt – bevor Mao die Dai: Möglicherweise. Der abstrakte Stolz
chen Reichtum mit einer neuen Methode Bauern zwang, ihr Land abzugeben und auf ein geeintes Reich ist jahrhundertealt.
erhalten – nach außen hin orientiert am Mitglieder der Volkskommunen zu wer- Wenn es auf dem Festland Demokratie und
Muster einer modernen sozialdemokrati- den. Das gilt auch für die Liberalisierung einen freien Markt gäbe, wären die Chi-
schen Volkspartei. Wenn nesen auf Taiwan vielleicht
uns das eine stabile, ver- bereit zu einem geeinten
nünftige Regierung mit ei- China. Ich bin dafür, dass
nem demokratischen Sys- nur die Einwohner bestim-
tem beschert, wäre das, men dürfen, zu welchem
verglichen mit der beinhar- Land sie gehören. Leute
ten Herrschaft der traditio- wie ich, die sich fragen, ob
nellen Kaderpartei, schon ein unabhängiges Taiwan
ein Fortschritt. Ob Jiang nicht sinnvoller ist, sind sel-
dieser Versuch gelingen ten. Mit solchen Ansichten
wird, ist aber offen. gilt man schnell als Landes-
SPIEGEL: Kann das funktio- verräter.
nieren? Ein autoritäres Chi- SPIEGEL: Die Parteispitze
na nach dem Muster Sin- hat angekündigt, in den
gapurs? kommenden zwei Jahren
Dai: Ohne echte Demokra- abzutreten. Wird die so ge-
tisierung ist dieser gesell- nannte vierte Generation,
schaftliche Umbau nicht zu die mit westlichen Werten
leisten. Schauen wir uns vertraut ist, China refor-
SIPA PRESS

doch die Marktwirtschaft mieren?


an: Sie existiert nur dem Dai: Wahrscheinlich ist
Namen nach. In Wirklich- Propagandaposter aus der Kulturrevolution: „Besonders verhängnisvoll“ eher, dass die nächste Rie-
keit wird sie von den Re- ge nur eine Übergangsrolle
gierenden oder jenen, die ihnen nahe ste- von Handel und Industrie. Die KP hat spielen wird. Vielleicht müssen wir auf die
hen, kontrolliert. Die Machthaber mani- nichts anderes getan, als die eigenen fünfte oder die sechste Generation warten,
pulieren an der Börse sogar die Kurse. Zwangsmaßnahmen zu beseitigen. bis sich China wirklich verändert. Wer
SPIEGEL: Auch wenn es mit den politischen SPIEGEL: Die KP-Führung betont, eine De- weiß, ob es dann noch eine KP geben wird.
Veränderungen nicht vorangeht: Hat die mokratisierung würde in diesem Riesen- SPIEGEL: Noch verhaftet sie Akademiker,
Partei dem Volk in den letzten 20 Jahren reich zu Chaos führen. Hat sie Recht? Journalisten, jugendliche Vordenker der
nicht ein Wirtschaftswunder beschert? Dai: Kann es wirklich schlimmer kommen politischen Reformen. Wie kommt es, dass
Dai: Das ist gewiss kein Verdienst der Kom- als unter dem jetzigen Einparteiensystem? ausgerechnet Sie sich ungehindert äußern
munistischen Partei. Maos Machtergrei- Statt der Herrschaft des Rechts haben wir können?
fung 1949 beendete einen mehr als hun- das Regime einer Machtelite. Dai: Die Obrigkeit hat Angst vor dem wach-
dertjährigen Kriegszustand, Mitte der fünf- SPIEGEL: Die Regierung fürchtet, ein libe- senden Informationsfluss über das Inter-
ziger Jahre gab es eine kurze Zeit des Frie- ralisiertes China könnte wie die Sowjet- net. Sie fürchtet, dass darüber landesweit
dens und der Blüte. Dann aber folgten gut union auseinander brechen. langfristig eine Oppositionsbewegung ent-
zwei Jahrzehnte lang menschenverachten- Dai: Wozu eine allmächtige Zentralregie- stehen könnte. Deshalb unterdrückt das
de politische Kampagnen: „Kampf gegen rung, wenn die Menschen glücklich sind Regime derzeit alle Leute mit vermeintli-
die Rechten“, „Liquidierung der Konter- und es ihnen gut geht? Gewiss würden mit chen Verbindungen zu Organisationen. Ich
revolutionäre“. Denken Sie an den der Abschaffung der Diktatur die Proble- aber bin allein und habe nur meine Stim-
„Großen Sprung nach vorn“ oder, beson- me der Regionen und Minderheiten an die me, wegen der Zensur finde ich kein
ders verhängnisvoll, die „Große Proletari- Oberfläche kommen. Doch würde es un- Gehör. Vielleicht bin ich in den Augen der
sche Kulturrevolution“. Deng Xiaoping abhängigen Tibetern oder Uiguren nicht Obrigkeit zu schwach und zu unmaßgeb-
korrigierte also nur die Verfehlungen der vielleicht besser gehen? Wir müssen die lich, um wieder verhaftet zu werden. ™
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C. HUMBERTO / TDC
Sklavenfarm Santa Clara
„Auf die Sexualorgane achten“

zenda und lehrten, wie man Fleisch räu-


chert. Die Dachziegel für die Gebäude
formten sie auf ihren Oberschenkeln.
Bustamante hielt die 400 Zuchtsklaven
getrennt von den 2400 Arbeitssklaven, die
auf seinen Plantagen schufteten. 23 Caga-

C. HUMBERTO / TDC
tazes (Aufseher) bewachten sie. Jede Frau
brachte bis zu 15 Kinder zur Welt, die in ei-
ner speziellen Krippe von schwarzen Kin-
AKG

dermädchen versorgt wurden. Die Jungen


Brasilianisches Ehepaar mit Sklaven*, Farmer Bustamante: „Arbeitsam und wertvoll“ wurden im Alter von drei Jahren an be-
freundete Sklavenbesitzer verkauft. Die
Die Enthüllung wirft ein neues Licht auf Mädchen blieben bis zur Pubertät im Haus.
BRASILIEN
Brasiliens Geschichte: „Historisch belegt Nach der ersten Menstruation wurden sie

Reproduktive ist bislang nur, dass die Sklavenhalter ihre


Leibeigenen anregten, möglichst viele
Nachkommen zu zeugen“, sagt der Ge-
zu den anderen Frauen in die Senzala, die
Sklavenhütte, gebracht und geschwängert.
Aufsässige Sklaven ließ der Gutsbesit-

Bäuche schichtsforscher Manolo Florentino, Autor


mehrerer Bücher über die Sklaverei.
Schon der Soziologe und Historiker Gil-
berto Freyre schildert in seinem Klassiker
zer mit Füßen und Händen an einen Bal-
ken ketten. Blutflecken und die Schürf-
spuren von Fingernägeln in der Folter-
kammer unter dem Esszimmer zeugen von
Schaurige Enthüllung aus der
„Herrenhaus und Sklavenhütte“, wie den ihrem Martyrium. Die Aufseher peitsch-
Kolonialgeschichte: Weiße Sklavinnen eingebläut wurde, dass sie „nur ten sie aus, oft erhielten sie tagelang kein
Gutsbesitzer züchteten Elitesklaven reproduktive Bäuche“ seien. Sklavenkäu- Essen.
und verkauften sie weiter. fern wurde angeraten, „besonders auf die Bustamante betrieb die Sklavenzucht bis
Sexualorgane der Neger zu achten und kei- zu seinem Tod im Jahr 1860. Seine Frau

W
ie die Kulisse für einen Hol- ne Stücke zu kaufen, bei denen solche un- ließ die Angolaner frei: Das so genannte
lywood-Film liegt die Kaffeefarm terentwickelt oder missgestaltet wären“. „Gesetz des freien Bauchs“ (lei do ventre
Santa Clara inmitten grüner Hü- Die Informationen über die Sklaven- livre) gewährte neu geborenen Sklaven-
gel, 250 Kilometer westlich von Rio de Ja- zucht auf dem Gut Santa Clara beruhen auf kindern die Freiheit. Abgeschafft wurde
neiro. Ein Uhrenturm erhebt sich über dem Überlieferungen eines Vertrauten des Skla- die Sklaverei in Brasilien erst im Jahr 1888.
imposanten weißen Herrenhaus. Seine 52 venhalters, die dessen Urenkel aufzeich- Das befreite Brasiliens Leibeigene zwar
Zimmer und 17 Salons sind mit französi- nete. Sie sollen demnächst in einem Buch von der Zwangsherrschaft, ihre wirtschaft-
schen Tapeten ausgeschlagen, 177 Türen erscheinen. liche Lage besserte sich jedoch kaum: Vie-
und 365 Fenster schmücken das Gebäude. Bustamante begann die Sklavenzucht im le blieben auf den Fazendas, weil es keine
Stühle aus Österreich, ein Klavier aus Jahr 1824, weil es immer schwieriger wur- andere Arbeit für sie gab. Die Plantagen-
Frankreich und Toiletten aus England zeu- de, Schwarze aus Afrika zu importieren. wirtschaft war nicht für den modernen Ka-
gen vom Reichtum des ersten Besitzers England bedrängte Brasiliens Herrscher pitalismus gerüstet, viele Großgrundbesit-
Francisco Thereziano de Bustamante. Der Dom Pedro I., den Verkauf von Sklaven zu zer gingen Bankrott. Das Gut Santa Clara
ließ das Anwesen im Jahr 1790 errichten. untersagen, doch erst 1850 wurde der Han- wurde 1923 zwangsversteigert.
Doch die 38 Fenster eines Seitenflügels del gesetzlich verboten. Der Plantagenbe- Heute verfällt das Anwesen. Die fran-
sind Attrappen. Nur durch versteckte Luft- sitzer kaufte 40 Männer und 360 Frauen zösischen Tapeten blättern von den Wän-
schlitze fällt etwas Licht in das Gebäude, in aus Angola. Er wollte Elitesklaven züchten, den, die Perserteppiche sind zerfasert, in
dem sich eines der schaurigsten Geheim- die auf dem Markt einen besseren Preis den importierten Möbeln nagt der
nisse aus der Zeit der Sklaverei verbirgt: erzielten als die „Crioulos“, wie die in Holzwurm. Adélia wohnt allein in dem ge-
Hier hielt Bustamante 400 Angolaner zu Brasilien geborenen Mischlinge genannt spenstischen Gemäuer, für seine Instand-
Zuchtzwecken. „Der Kaffeeanbau war nur wurden. haltung hat sie kein Geld. Sie lebt von spär-
Fassade“, sagt Adélia Nogueira, 52, eine „Die Angolaner galten als besonders in- lichen Einnahmen aus dem Tourismus, ge-
der Erbinnen des Anwesens. „In Wahrheit telligent, arbeitsam und wertvoll“, sagt legentlich vermietet sie das Haus für Film-
verdiente Bustamante sein Geld mit dem Adélia Nogueira. Die Sklaven brachten den aufnahmen. Jüngst drehte der Fernseh-
Verkauf von Sklavenkindern.“ weißen Herren Errungenschaften ihrer ei- sender Globo eine Seifenoper auf dem
genen Kultur bei. Sie bauten das ausge- Gut. Ihr Titel: „Unsere Heimat“.
* Lithografie von 1834. klügelte natürliche Abwassersystem der Fa- Jens Glüsing

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DIE KUNSTRÄUBER
Die Nazis plünderten systematisch Museen, Galerien und Depots in ganz Europa. Doch auch
Amerikaner und Sowjets rissen nach Kriegsende jede Menge große Kunst an sich. In Paris, London
und New York hängen heute noch Gemälde aus einst jüdischem Besitz. / VON ERICH WIEDEMANN

GHS-ARCHIV
Kunstsammler Göring im Pariser Jeu de Paume: Das Recht des ersten Zugriffs war dem Führer vorbehalten

D
umm gelaufen, die Sache mit Daniel Wildenstein hatte das „Stunden- Fogg ließ die Spur zurückverfolgen. Das
dem „Stundenbuch des Jean de buch des Jean de Carpentin“, eine so Resultat entsprach seinen Befürchtungen:
Carpentin“. Die Familienehre der genannte illuminierte Handschrift aus Das „Stundenbuch“ war heiße Ware.
Wildensteins wäre zu retten gewesen, dem 15. Jahrhundert, 1997 dem Londoner Die Spur führte nach Paris, aber nicht zu
wenn Daniel Wildenstein geschwiegen Händler Sam Fogg verkaufen wollen. Wildenstein, sondern zu dem Filmemacher
hätte. Stattdessen verklagte er im Sommer Unüblicherweise mit dem vertraglichen Francis Warin. Das Kürzel „ka“ auf dem
1999 den amerikanischen Journalisten Vorbehalt, dass Fogg keine Regressfor- Buchdeckel stand für Warins Großonkel
Hector Feliciano, der Wildensteins Vater derungen stellen werde, falls jemand Alphonse Kann, der in den dreißiger Jah-
Georges in seinem Buch „Das verlorene Ansprüche auf das „Stundenbuch“ erhe- ren zu den bedeutendsten Kunstsammlern
Museum“ dubioser Kunstgeschäfte be- ben sollte. Frankreichs gehört hatte und der 1940 von
schuldigt hatte, auf zwei Millionen Mark den deutschen Besatzern enteignet wor-
Schadensersatz. Die Nazis dachten nicht den war.
Das Gericht in Paris gab jedoch dem Be- Am „Stundenbuch“ klebt die hässliche
klagten Recht, und die Wildensteins, im- daran, geldwerte Kunst zu Historie des industriell organisierten deut-
merhin eine der angesehensten Kunst- vernichten. Deshalb lancierten schen Kunstraubs im Zweiten Weltkrieg.
händler-Dynastien der Welt (geschätztes sie die „Entarteten“ auf den Sie zeigt aber auch, dass das schmutzige
Vermögen: zehn Milliarden Mark), stan- Geschäft mit der Raubkunst nach Kriegs-
den ziemlich lädiert da.
internationalen Kunstmarkt. ende weiterging. Galerien, Museen und
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SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST
Behörden behielten alles, was von den ur- fernt worden waren. Denn die Nationalso- sequenteste Modernistenverächter. Er dul-
sprünglichen Eigentümern nicht sofort re- zialisten dachten nicht daran, geldwerte dete nur handfesten und hausbackenen Na-
klamiert wurde. Kunst zu vernichten – egal, was der Führer turalismus. Sogar Rembrandt kam ihm
Georges Wildenstein hatte 1952 das davon hielt. Sie warfen die unverkäuf- nicht ins Haus – weil der NS-amtlich als
„Stundenbuch des Jean de Carpentin“ lichen Bilder ins Feuer und die wert- „Ghetto-Maler“ klassifiziert war.
in die Hände bekommen, als die Pariser vollen Stücke auf den internationalen Andere Nazi-Größen waren nicht so
Nationalbibliothek die „nachrichtenlose“ Markt. Für die Erlöse kauften sie dann kon- dogmatisch. Der zweite Mann im NS-Staat,
Kunst den ursprünglichen Eigentümern ventionelle Kunst. Hermann Göring, nach seinem Selbst-
zurückgab. Kunstsammler Kann verständnis „ein Renaissance-
war vier Jahre zuvor gestorben, Mensch“, hatte in seinem Land-
und seine Erben erhoben keine gut Carinhall in der Schorfheide
Ansprüche, einfach deshalb, bei Berlin sogar einen van Gogh
weil sie damals das Familien- an der Wand.
inventar noch nicht kannten. Der organisierte Kunstdieb-
Der jüdische Kunsthändler stahl war im Osten zügelloser
Wildenstein senior hatte zwar als in den besetzten Ländern
1940 – nach dem Einmarsch der Westeuropas. Polen und die
Deutschen – in die freie Zone, ein Sowjetunion sollten nicht nur
Jahr später nach New York flüch- militärisch, sondern auch kul-
ten müssen. Aber seine Geschäf- turell zerschlagen werden.

ULLSTEIN BILDERDIENST
te mit den Nazis, vor allem mit Frankreich, Skandinavien und

DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT


dem persönlichen Kunsthändler die Benelux-Staaten dagegen
des Führers, Karl Haberstock, waren potenzielle Verbündete,
führte er weiter. Nur dass jetzt auf die man Rücksicht nehmen
sein nichtjüdischer Geschäftsfüh- musste.
rer Roger Dequoy die Schecks Troja-Goldschatz*: „Dem deutschen Volk zu ewigem Besitz“ Die Wehrmacht hielt sich im
und Verträge unterschrieb. Gegensatz zur SS beim Beute-
Dequoy, so urteilten die Pariser Richter, Rose Valland, Kuratorin beim Pariser machen zurück. Sie hätte, wie der russische
sei von Wildenstein beauftragt gewesen, Louvre, beschuldigte die Greifer vom „Ein- Kunsthistoriker Pawel Knyschewski, Do-
die Nazis auf bedeutende französische Pri- satzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), zent für Geschichte der Militärkunst an der
vatsammlungen aufmerksam zu machen, sie hätten am 27. Mai 1943 in den Tuileri- Universität St. Petersburg, recherchierte,
die sich zur Konfiszierung anboten. en 600 in Frankreich beschlagnahmte „Exzesse und Diebstähle … verfolgt und
Wildenstein habe auch einem jüdischen Gemälde von Picasso, Klee, Miró, Max bestraft“.
Sammler namens Schloss angeboten, ihm Ernst und anderen Avantgardisten auf ei- Nur Juden durften uneingeschränkt ent-
den Titel des Ehrenariers zu verschaffen. nem Scheiterhaufen verbrannt. eignet werden. Nach gültiger NS-Doktrin
Tatsache ist: Ein Feuer haben sie ge- hatten sie keinen Anspruch auf den Schutz
Bilder für Linz macht, aber sie haben keine Bilder darin durch die Haager Landkriegsordnung von
Paris im Krieg, das war Traum und Trauma verbrannt, sondern Lumpen und Abfall, 1907, die die Beschlagnahme von Kunst
der Kunsthändler. Die Nazi-Kampagne wie ERR-Cheforganisator Gerhard Utikal ächtete. Kunst aus jüdischem Besitz galt
gegen „entartete Kunst“ schwemmte vor Gericht beweisen konnte. Die Bilder als „herrenlos“.
hochkarätige Impressionisten und Ex- wurden alle vermarktet. Kunst von nichtjüdischen Sammlern
pressionisten in die Pariser Galerien, näm- Die Grenzen zwischen „entarteter“ und musste vom Erwerber bezahlt werden. Wo-
lich die meisten jener 16 500 Artefakte, völkisch akzeptabler Kunst waren fließend. bei sich die deutschen Besatzer vorbehiel-
die aus über 100 deutschen Museen ent- Der Führer war von allen Nazis der kon- ten, die Zahlungsbedingungen selbst zu be-
stimmen. In Frankreich zahlten sie zum
US-Eroberer, Göring-Sammlung*: Sicherheitsverwahrung für die Kunst Teil mit „Reichskassascheinen“, die zu ei-
nem absurden Wechselkurs von 1:20 ge-
gen Francs getauscht wurden.
In Paris stammte der größte Teil der
Ware aus jüdischem Besitz. Die Familien
Levy, Rothschild, Wildenstein, Rosenberg
und Kann besaßen mehr alte Meister und
große Impressionisten als alle übrigen
Händler und Privatsammler zusammen.
Nur 37 von 300 während der Besat-
zungszeit registrierten Pariser Kunsthänd-
lern trieben keinen Handel mit den Deut-
schen. Besonders gut im Geschäft war
Allen Loebl, ein jüdischer Kunstagent, der
unter dem speziellen Schutz Görings stand.
Ohne Loebl hätte der Reichsmarschall
nicht die größte private Kunstsammlung
Deutschlands zusammenkaufen und -steh-
len können.
Der Einsatzstab Rosenberg, der im Hotel
Commodore am Boulevard Haussmann 12
KEYSTONE

* Oben: im Moskauer Puschkin-Museum 1996; unten: in


einem Versteck bei Berchtesgaden 1945.

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SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST

LIMMAT-VERLAG
Schweizer Kanonenkönig Bührle*
Gute Drähte zu Faschisten und Kommunisten

residierte, führte genau Buch. Nach seinen


Aufzeichnungen plünderten ERR-Kom-
missare vom Sommer 1940 bis zum August
1944 in Frankreich 71 619 jüdische Woh-
DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

nungen. Dabei erbeuteten sie über eine


Million Kubikmeter Kunst- und Wertge-
genstände, die in 29436 Eisenbahnwaggons
abtransportiert wurden.
Das Recht des ersten Zugriffs hatte Hit-
ler, der in seiner Heimatstadt Linz an der
Donau ein Weltmuseum für arische Kunst
errichten wollte. Göring kam mindestens
einmal im Vierteljahr zum Einkaufen in
den Jeu de Paume in den Pariser Tuilerien, Wildenstein-Galerie (1941), Wildenstein: Geschäft mit der Raubkunst
wo der ERR seine Kollektionen präsen-
tierte. Er bezog über die Jahre vom ERR Fischers bester Kunde war der deutsch- wurde, nach fünf Jah-
etwa 700 Kunstwerke. Gut zehnmal so vie- stämmige Kanonenkönig Emil Bührle aus ren ganz legal und
le wie Hitler, der im Übrigen – anders als Zürich, der reichste Mann der Schweiz, endgültig ins Eigentum
sein Reichsmarschall – zu den Lieferungen der seine Kanonen an die spanischen und des Erwerbers über.
stets auch eine Rechnung erhielt. italienischen Faschisten, an die Sowjet- Der Kunstdetektiv
Die zweite und dritte Wahl waren für kommunisten und an die deutschen Na- Marc Masurovsky leg-
die Museen im Reich bestimmt. Wie aus tionalsozialisten lieferte. Die Sammlung te im Juni 1997 dem
den Unterlagen der Pariser Filiale der deut- Bührle besitzt noch heute mehr – freilich Bankenausschuss des US-Kongresses einen
schen Speditionsfirma Schenker hervor- legal erworbene – französische Spitzenim- Bericht vor, in dem er nachwies, dass über
geht, holten die Direktoren der großen Mu- pressionisten als die meisten anderen Mu- die Schweiz und von da über Spanien und
seen an Rhein und Ruhr sich die besten seen der Welt. Portugal viele verschleppte Kunstwerke
Stücke aus den jüdischen Sammlungen. Immerhin mussten einige von Fischers nach Übersee geschmuggelt worden wa-
Besonders privilegiert war das Folkwang- Kunden die Ware nach Kriegsende den ren, vor allem nach Argentinien, wo alte
Museum in Essen. Das lag an seinen guten früheren Eigentümern zurückgeben. Bühr- Nazis Unterschlupf gefunden hatten, und in
Beziehungen zum Essener Krupp-Rüs- le zog sich in einem Fall aus der Affäre, in- die Vereinigten Staaten, wo nach dem
tungskonzern, der wichtigsten Stütze der dem er seine bei Fischer erworbenen Im- Krieg Raubkunst im großen Stil gehandelt
großdeutschen Kriegsmaschinerie. pressionisten dem französischen Sammler wurde.
Auch einige französische Museen durf- Paul Rosenberg, dem sie gestohlen wor- Die Regierung in Washington bildete
ten sich im Jeu de Paume bedienen. Der den waren, nach Kriegsende noch einmal 1998 eine Kommission, die US-Museen
Louvre erhielt Tausende Kunstwerke, die abkaufte. nach illegitimem Besitz durchkämmen soll.
die Nazis bei Juden beschlagnahmt hatten. Andere Wiedergutmachungsforderungen Holocaust-Opfer sollen zurückerhalten,
Nur einen Teil davon gab er nach dem wurden von den eidgenössischen Gerichten was ihnen in der Nazi-Zeit abhanden ge-
Krieg zurück. zurückgewiesen, mit dem Standardargu- kommen ist.
ment, die Beschlagnahme sei mit der Zu- Doch der politisch begründete An-
Drehscheibe Luzern stimmung der damals rechtmäßigen Regie- spruch ist juristisch selten zu verwirk-
Hauptdrehscheibe für geraubte und „ent- rung von Frankreich erfolgt und damit le- lichen. Francis Warin aus Paris und
artete“ Kunst war das Auktionshaus Fischer gitim. Im Übrigen geht in der Schweiz auch Fachautor Feliciano haben in den ver-
im schweizerischen Luzern. Kunsthändler heute noch ein Kunstwerk, das unrecht- gangenen sechs Jahren auch eine ganze
Theodor Fischer hatte schon nach der Ok- mäßig, aber im guten Glauben erworben Reihe von Kunstwerken wiederentdeckt,
toberrevolution bei der Vermarktung von die während der Besatzungszeit in Frank-
Kunst aus Russland entscheidend mitgewirkt Das New Yorker Metropolitan reich beschlagnahmt worden waren: ei-
und in den dreißiger Jahren bei Zwangs- nen Braque im Centre Pompidou in Paris,
liquidationen, den so genannten Juden-
Museum besitzt 393 Bilder, einen Rodin in Kopenhagen, einen Ma-
auktionen, gute Renditen erwirtschaftet. die Deutschland in der tisse in der Menil Collection in Houston
Nazi-Zeit unter ungeklärten (Texas), einen Picasso im Museum of
Modern Art in New York, einen weiteren
* Mit einem Oerlikon-Drehringgeschütz in einem deut-
schen Flugboot.
Umständen verließen. Picasso in einer Privatsammlung in Tokio.
152 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
kers in Thüringen, wo Gold, Bargeld und
3000 Kisten Kunst aus Berlin gelagert wa-
ren, darunter die Nofretete-Büste, Rie-
menschneiders „Vier Evangelisten“ und
der „Mann mit dem Goldhelm“ aus dem
Umfeld von Rembrandt.
Nach dem Abkommen von Jalta von
Anfang Februar 1945 hätten die Amerika-
ner die Grube in Merkers, so wie sie war,
an die Sowjets übergeben müssen. Trotz-
dem wurde sie am 14. und 17. April leer
geräumt. Obwohl der Konvoi von zehn mo-
bilen Flakgeschützen, mehreren Flugzeu-
Ausstellung „Entartete Kunst“*: Nur Lumpen und Abfall verbrannt gen und fünf Zügen Infanterie begleitet
wurde, kamen auf dem Weg zur Reichs-
Aber sie konnten kein ein- mens Toussaint, der gegen Erfolgshonorar bank in Frankfurt am Main drei Lastwagen
ziges Stück davon zurück- verlorene Kunstobjekte aufspürt, seien voll abhanden.
holen. von Kunst, die jüdischen und deutschen Das Oberkommando der US-Streitkräf-
Ja, doch, der Matisse Sammlern gehörten. Ein Teil davon stammt te versuchte, die Schuld an den Plünde-
habe früher mal im Haus aus deutschem Auslandsbesitz, der wäh- rungen den befreiten Zwangsarbeitern an-
von Mr. Kann gehangen, rend des Kriegs in den USA eingefroren zuhängen. Aber den ausgehungerten Ma-
räumt Menil-Direktor Ned und nie zurückgegeben wurde. Den größe- lochern aus Polen und der Sowjetunion
Rifkin ein. Nun hänge er ren Teil hatten die amerikanischen Erobe- stand der Sinn nach Stiefeln, Speck und
eben in Houston. Und da rer als Kriegsbeute mitgebracht. Schnaps und nicht nach alten Meistern.
holt ihn so schnell keiner US-Präsident Jimmy Carter gab 1978 der
LAPI / ROGER VIOLLET (gr.)

weg. Kisten mit alten Meistern Regierung in Budapest den ungarischen


Amerikanische Mu- Klauen war 1945 in der U. S. Army, wie der Kronschatz zurück, der bis dahin in Fort
seumsdirektoren räumen Bankier und Historiker Kenneth Alford aus Knox verwahrt worden war. Die Ladung
ein, dass die Herkunft vie- Richmond (Virginia) recherchiert hat, so des ungarischen „Goldzugs“, den die U. S.
ler Top-Exponate, die was wie ein „soldatischer Sport“. Alford: Army 1945 in Österreich beschlagnahmt
während der braunen Dik- „Die Grenze der Plünderei hing nur davon hatte, blieb verschollen. Der Zug hatte das
tatur Deutschland verließen, ungeklärt ist. ab, wie groß der Sack war, den man mit- Vermögen ungarischer Juden enthalten –
Im New Yorker Metropolitan Museum hän- brachte.“ 20 Waggons voll Kunst, Gold, Silber, Mö-
gen 393 davon, im Chicagoer Art Institute Professor Carl Weickert, der die Ober- bel und Juwelen.
548, im Cleveland Museum of Art 370, in aufsicht bei der Bergungsoperation im Großbritannien und die USA hatten –
der Washingtoner National Gallery 350 und „Kunstflakbunker“ in Berlin-Friedrichshain entsprechend geltendem Völkerrecht –
im Bostoner Museum of Fine Arts gut 200. führte, erklärte in einem amtlichen Bericht zwar schon in Jalta die Beschlagnahme von
Einige dieser Kunstwerke waren ihren zur Sache, dass die Bilder, die dort gelagert Kulturgut zu Reparationszwecken ausge-
jüdischen Eigentümern von den Nazis ge- waren, sich heute „im Westen befinden“. schlossen. Aber nur die Briten hielten sich
stohlen worden. Nicht erfasst sind die Ob- 441 hochkalibrige alte Meister – Rubens, weitgehend an die Abmachung.
jekte, die nach 1945 von den alliierten Be- Caravaggio, van Dyck und andere. Selbst General Lucius D. Clay, der spä-
satzern aus deutschen Museen und Privat- Mysteriös auch die amerikanische „Si- tere Lieblingsbesatzer der Deutschen und
sammlungen entführt worden waren. Und cherstellungsaktion“ im Kalibergwerk Mer- Ehrenbürger von Berlin, kam in Versu-
das waren auch nicht wenige. chung. Er wollte, wie
Die Erben der Münchner Bankiersfami- er ganz unverblümt
lie Schintling etwa haben keine Chancen ans Pentagon schrieb,
auf Rückgabe des „Wasserfalls“ von Franz die Briefmarkensamm-
Marc, den seine Eigentümerin, Marie lung des Reichspost-
Schintling, 1939 für eine Ausstellung in San museums „in den
Francisco als Leihgabe zur Verfügung ge- Vereinigten Staaten
stellt hatte. Der „Wasserfall“ war nach na- vermarkten“. Der Plan
zistischem Kunstverständnis „entartete scheiterte aber offen-
Kunst“. Um ihn zu schützen, brachte ihn bar am Einspruch ei-
Marie Schintling nach dem Ende der Aus- ner höheren Instanz.
stellung bei amerikanischen Freunden un- Die acht wertvolls-
ter. Da wurde er nach Kriegsausbruch be- ten Marken der Samm-
schlagnahmt. 1944 ging er dann für läppi- lung, darunter eine
sche 800 Dollar an einen Rechtsanwalt in Blaue Mauritius, lan-
San Francisco. deten später im Tresor
Der – inzwischen völlig verarmten – Wit- des amerikanischen
we Schintling wurde 1948 mitgeteilt, ihre Zolls. Viele Jahre lang
Besitzansprüche seien verjährt. 1999 wur- verweigerte Washing-
de der „Wasserfall“ bei Sotheby’s in Lon- ton die Herausgabe
don für umgerechnet 15 Millionen Mark unter dem Vorwand,
versteigert. man wisse ja nicht, ob
Viele Museen in den Vereinigten Staa- sie der DDR oder der
ten, so sagt der Kölner Kunstfahnder Cle- Bundesrepublik gehör-
AKG

ten. 1990, nach vollzo-


* In München 1937. „Wasserfall“ von Franz Marc: Besitzansprüche verjährt gener Wiedervereini-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 153
SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST
Goudstikker war nach dem Einmarsch der
deutschen Wehrmacht geflüchtet und an
Bord des Schiffes, das ihn nach England
bringen sollte, tödlich verunglückt. Zwei
Monate später wurde die Hälfte seiner 1113
alten Meister von einem betrügerischen
Bankier verkauft. Die 235 wertvollsten
Gemälde der Sammlung gingen an Her-
mann Göring. Zum Schnäppchenpreis von
zwei Millionen Reichsmark, obwohl Göring
selbst den Wert auf acht Millionen veran-
schlagt hatte.
Die holländischen Banken, so hatte im
Dezember 1998 eine Haager Untersu-
chungskommission behauptet, hätten bei
der Enteignung jüdischen Besitzes passi-
ven Widerstand geleistet. Ganz im Gegen-
teil, sagt der Amsterdamer Historiker
Gerard Aalders vom „Niederländischen

NATIONAL ARCHIVES
Institut für Kriegsdokumentation“. „Selbst
nach damaligen Normen war die Rolle der
DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

Finanzinstitute beim Versilbern des ge-


stohlenen Eigentums nicht zu akzeptie-
US-Besatzer, Kriegsbeute*: „Klauen war ein soldatischer Sport“

gung, brachte Botschafter Vernon Walters mer. Nur wenige erhielten nach dem Krieg
die Sammlung dann persönlich zurück ihr Eigentum zurück. Frankreichs Pre-
nach Bonn. Die wertvolle Münzsammlung mierminister Lionel Jospin hat vor zwei
der Deutschen Reichsbank, die nach Jahren eingeräumt, dass auch in sei-
Kriegsende im Schatzamt in Washington nem Amtssitz, dem Hôtel Matignon in Pa-
verwahrt wurde, ist dagegen nie zurück- ris, ebenso wie im Elysée-Palast und in den
gekehrt. Ministerien Gemälde hingen, die die Nazis
Washington fand eine salvatorische For- französischen Juden abgenommen hatten.
mel, um die wichtigsten deutschen Kunst- Die Westalliierten hatten schon am 5.
werke in seinem Herrschaftsbereich quasi Januar 1943 in der „London Declaration“
in Sicherheitsverwahrung zu nehmen. Sie verfügt, nach dem Sieg über Nazi-Deutsch-
sollten, wie es in einem Arbeitspapier der land alle Kunstverkäufe im besetzten Eu-
Militärverwaltung hieß, „treuhänderisch ropa zu annullieren, die unter Druck er-

AP
für das deutsche Volk verwahrt werden“, folgt waren. Nach dem Krieg wurden dann Ex-Kunstschutzoffizier Farmer (1996)
bis Deutschland wieder die nötige Souverä- auch die Kunstgegenstände, soweit sie re- Protest gegen Plünderungen
nität habe, um über seine Kunst zu verfü- quirierbar waren, an die Regierungen der
gen. „Im Augenblick“, so erklärte US-Prä- Staaten zurückgegeben, aus denen sie ren.“ Praktisch alle großen Banken haben
sident Harry Truman, „sind nur die USA stammten. Die ehemaligen Eigner gingen damals Kunst und Wertpapiere aus jüdi-
in der Lage, diese Kunstwerke ordnungs- aber meist leer aus. schem Besitz zu Ramschpreisen gekauft,
gemäß zu verwalten.“ Die Umverteilung war, wie der 1990 ver- darunter auch die Vorläufer der beiden
Dass es nicht zum Schlimmsten kam, storbene Kunstraubexperte Professor Sol größten Bankhäuser der Niederlande,
verdanken die Deutschen dem Leiter des Chaneles von der State University of New ING und ABN Amro Bank.
zentralen Sammellagers in Wiesbaden, Jersey nach Durchsicht großer Mengen Ak- Nach Kriegsende wurde ein großer Teil
„Kunstschutzoffizier“ Walter Farmer. Als ten in den Archiven des State Department der über halb Europa verstreuten Goud-
am 6. November 1945 der Befehl eintraf, und des Geheimdienstes CIA und nach Be- stikker-Bilder an die Niederlande ausge-
202 der wichtigsten Bilder für den Ab- fragung mehrerer MFA&A-Kommissare liefert. Aber die Erben bekamen sie nicht
transport in die USA (Deckname „West- schrieb, die „massivste Plünderei und Ge- zurück. Die Regierung in Den Haag er-
ward Ho“) vorzubereiten, trommelte Far- genplünderei in der Geschichte der Zivili- klärte den Verkauf – gegen den sich Goud-
mer 24 Kollegen aus Deutschland und sation“. stikkers Witwe Desi seinerzeit heftig ge-
Österreich in Wiesbaden zum Protest zu- wehrt hatte – zu einem Akt der Kollabora-
sammen. Tatbestand Plünderung tion und lehnte die Herausgabe ab. Die
Die Vereinigten Staaten, so hieß es im Die niederländische Regierung nutzte das Bilder sind heute über 16 holländische Mu-
„Wiesbadener Manifest“, dürften sich nicht Nachkriegschaos, um den größten privaten seen verteilt.
moralisch auf dieselbe Stufe stellen wie Kunstschatz des Landes, die Sammlung des Die Holländer haben auch deswegen
Hitler-Deutschland. Keine Kränkung sei so jüdischen Amsterdamer Kunsthändlers keine große Neigung, sich mit den Be-
langlebig wie die „Wegnahme eines Teils Jacques Goudstikker, zu konfiszieren. raubten zu arrangieren, weil sie eine Ket-
des kulturellen Erbes einer Nation“. Die tenreaktion fürchten müssen. Nicht alles,
Bilder wurden abtransportiert, aber nach General Clay, der Lieblings- was nach dem Krieg nach Holland „resti-
einer Ausstellungstournee durch die USA tuiert“ wurde, war vorher in Holland ab-
wieder zurückgebracht.
besatzer der Deutschen, wollte handen gekommen.
Die ausgeplünderten Privatsammler hat- sich die Briefmarkensamm- Das Gemeentemuseum in Den Haag
ten keinen Schutzpatron wie Walter Far- lung des Reichspostmuseums etwa hatte 1936 bei der Versteigerung der
Sammlung Oppenheim in München und
* Mit Nachbildungen der Insignien Karls des Großen 1945.
unter den Nagel reißen. 1937 bei der Versteigerung der Sammlung
154 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST
Emma Budge in Berlin mitgeboten. Zwei tage. Museen in Kiew
berühmte Gemälde von Cornelis Troost, und Odessa warten im-
die „Konsultation“ und „Es ist ein Sohn“, mer noch darauf, dass
aus der Sammlung Fritz Guggenheim sind ihnen die Russen die
heute noch im Besitz des „Dienst voor’s ukrainischen Preziosen
Rijks verspreide Kunstvoorwerpen“ in Den zurückgeben, die sie 1945
Haag. Eine konsequente weltweite Rück- im besetzten Deutsch-
gabeaktion, sagt Kunstfahnder Clemens land requiriert hatten.
Toussaint, würde „Lawinen in der Kunst- Allerdings: Die Ukrainer
szene auslösen“. Die Holländer etwa müss- hatten auch ihre eige-
ten auch mindestens hundert Spitzenob- nen Trophäenbrigaden,
DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

DPA
jekte zurückgeben, die sie nach Kriegsen- die in der Sowjetzone
de aus dem alliierten Central Collecting Jagd auf Beutekunst Russlands Präsident Putin, Staatsminister Naumann (r.)*, Eremitage
Point in München hatten mitgehen lassen. machten.
In Artikel 6 des Statuts des Nürnberger Auch die Polen, die unter den Nazis am der sich im Gegensatz zu Diktator Hitler
Kriegsverbrechertribunals wurde aus- meisten gelitten haben, halten deutsche nicht als Kunstliebhaber ausgab. Weil sich
drücklich die Strafbarkeit der „Plünderung Kunstschätze zurück. In der Krakauer aber das Beschaffungsprogramm nicht
öffentlichen oder privaten Eigentums“ im Jagiellonen-Bibliothek lagern Tausende mehr aufhalten ließ, hatte der sowjetische
Krieg betont. Gleichwohl plünderten die Handschriften und Partituren deutscher Kulturapparat plötzlich viel mehr Kunst
Sowjets in Ostdeutschland systematisch Dichter, Denker und Komponisten, die aus zur Verfügung, als er würdig unterbringen
Depots und Museen aus. Sie hießen – ganz dem schlesischen Kloster Grüssau geraubt konnte.
offiziell – „Trophäenkommissionen“, weil worden waren. Dazu gehören Schillers 1957 registrierte eine Moskauer Statistik
sie nicht Diebesgut requirierten, sondern Doktorarbeit und die Originalpartitur von 2 614 874 „Kulturgüter der Deutschen De-
weil sie den ausdrücklichen Auftrag hatten, „Figaros Hochzeit“. mokratischen Republik“, die sich „zur
Beute zu machen. Diktator Stalin plante – ebenso wie vorübergehenden Aufbewahrung in der
Die „Demontaschniki“ machten dabei Diktator Hitler – ein Supermuseum, in dem UdSSR befinden“. Nach einer Bestands-
keinen Unterschied zwischen Kunst, die die bedeutendsten Kunstwerke der Welt aufnahme der Bundesregierung von 1994,
den Deutschen gehörte, und Kunst, die ausgestellt werden sollten, um den „Lehrer die inzwischen deutlich nach oben korri-
die Deutschen selbst im Osten erbeutet des Weltproletariats“ zu preisen. Das giert wurde, lagern in Russland noch
hatten. Die Sammlung des letzten pol- Projekt glitt nach dem Krieg in die Be- 200 000 Museumsgüter. Dazu kommen drei
nischen Königs zum Beispiel, die eigent- deutungslosigkeit ab, weil es nicht finan-
lich auf die Krakauer Burg gehört, ist zierbar war. Es kränkelte auch unter nach- * Mit Museumsdirektor Iwan Saitow im April 2000 bei der
heute noch in der St. Petersburger Eremi- lassendem Interesse von Diktator Stalin, Übergabe eines Mosaiks aus dem Bernsteinzimmer.
ger Jahre mit der US- depots gibt es in vielen Städten der ehe-
Fernsehagentur Global maligen Sowjetunion.
American Television Einen großen Teil der Kunstgegenstän-
schloss. Im Vertragstext de ließ der Kreml 1958/59 in die DDR
heißt es über die Be- zurückbringen, darunter auch den kapita-
stände der Eremitage: len Pergamon-Altar. In den sechziger und
„(Sie) ist das größte siebziger Jahren trafen weitere sowjetische
Depot in Russland, wo Kunsttransporte in der Deutschen Demo-
Kunstwerke in Geheim- kratischen Republik ein. Paradestücke aber

LEHTIKUVA OY
räumen und hinter Ge- waren nicht mehr darunter. Auch der le-
heimschlössern vom Kel- gendäre Goldschatz von Troja, den der
ler bis zum Dachboden Hobby-Archäologe Heinrich Schliemann
in St. Petersburg: Gesetz der Taiga verborgen sind. Der 1881 „dem deutschen Volk … zu ewigem
Dachboden ist gefüllt Besitz“ übergeben hatte, blieb lange Jahre
Regalkilometer unspezifiziertes Archivgut mit 800 Gemälden, einschließlich Wer- geheime Verschlusssache.
und zwei Millionen Bücher. ken von Renoir, Degas, Cézanne, Rubens, Nach internationalem Recht war der
van Gogh.“ massenhafte Diebstahl deutscher Kunst
Bunker, Keller, Kasematten Versprengtes bibliophiles Beutegut ver- durch die Sowjets ein Kriegsverbrechen.
Mehr als die Hälfte der russischen Raub- rottet seit Jahrzehnten in Bunkern, Kel- Dass die Deutschen zuvor das gleiche Ver-
kunst aus Deutschland ist in drei Depots lern und Kasematten von Universitätsbi- brechen begangen hatten, ändert nichts
untergebracht: in der Eremitage, im Mos- bliotheken, auf die sie in den ersten Nach- daran.
kauer Puschkin-Museum und im Braue- kriegsjahren wahllos verteilt wurden. Die Schon nach dem deutsch-sowjetischen
reiturm beim Kloster Sagorsk (heute Ser- Akademie der Wissenschaften lässt in Us- Abkommen über „gute Nachbarschaft,
gijew Possad), 70 Kilometer nordöstlich koje bei Moskau Hunderttausende von Partnerschaft und Zusammenarbeit“ vom
von Moskau. Die Sagorsker Asservate stan- „Reparationsbüchern“ verkommen, die 9. November 1990 müsste die Rückführung
den bis Ende der achtziger Jahre der roten niemand hier lesen kann. der gestohlenen Kunstschätze ein Selbst-
Nomenklatura für Repräsentationszwecke Auf der sechsten Etage des Bibliotheks- gänger sein. Darin haben sich Bonn und
zur Verfügung. silos der Universität Tomsk in Sibirien gam- Moskau explizit dazu verpflichtet, „dass
Genauere Angaben über die Verteilung meln deutsche Folianten wie der „Diwan verschollene oder unrechtmäßig verbrach-
der Beutekunst auf die wichtigsten Depots des Regezdichters Ruba ben El’Aggag“ und te Kunstschätze, die sich auf ihrem Terri-
kann man dem geheimen Joint-Venture- das Stempelgesetz eines königlichen Kas- torium befinden, an den Eigentümer oder
Vertrag entnehmen, den der russische senrendanten namens Esselen ungelesen seine Rechtsnachfolger zurückgegeben
Staatsverlag Kultura Anfang der neunzi- vor sich hin. Und solche sinnlosen Beute- werden“. Im deutsch-russischen Kulturab-
SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST
kommen von 1992 wurde diese Verpflich-
tung feierlich bestätigt.
Der Kreml fühlte sich nicht lange daran
gebunden. Er vertritt heute die Rechtsauf-
fassung, die „Wegführungsaktionen“ sei-
en von der damals rechtmäßigen Regie-
rung (unter Stalin) verfügt worden. Sie
könnten daher nicht ungesetzlich gewesen
sein. Als wenn Unrecht schon dadurch zu
Recht würde, dass es von einer rechtmäßi-
gen Regierung begangen wird.
Im Februar und April 1997 verabschiede-
ten beide Kammern der Duma ein Gesetz,
das die Beutekunst pauschal zu russischem
Eigentum erklärte. Es ist eine Art Gesetz der
Taiga, weil es im Widerspruch zum inter-
nationalen Recht steht, das auch Russland

NYT PICTURES
anerkannt hat. Aber im Juli 1999 wurde es
vom Verfassungsgericht für rechtskräftig er-
klärt, obwohl Präsident Boris Jelzin sich ge-
weigert hatte, es zu unterschreiben.
DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

Amerikanischer
Ausgenommen von den Bestimmungen Domschatz-Dieb Meador
des Beutekunstgesetzes sind die Kriegs- „Mannigfacher Krimi“
souvenirs, die Soldaten und Offiziere sei-
nerzeit privat mitgehen ließen; etwa die 23 ge Beuteschätze zurück-
alten Meister aus dem Schlossmuseum von erstattet: ein Ensemble
Weimar, die sich Georgij Schukow, Stalins von Kirchenfenstern, ein
Oberkommandierender in Deutschland, Ölgemälde („Ruhende

BPK
1946 bei seiner Rückkehr nach Moskau als Henne“) und eine Samm-
Andenken genehmigte. lung von 101 Grafiken, die „Samuhel-Evangeliar“: Finderlohn für den Herrn im Tweed
Anfang 1948 war Marschall Schukows ein sowjetischer Soldat
Raubkunstsammlung von einem Rollkom- 1945 aus einem externen Depot der Bremer zes am 7. Mai 1990 in einer Bank in White-
mando des sowjetischen Geheimdienstes Kunsthalle in Brandenburg gestohlen hat- wright, wo Meadors Erben ihn als Kaution
in seiner Datscha in Rubljowo bei Moskau te. Berlins damaliger Kulturstaatsminister für einen Kredit deponiert hatten. Die zwei
geortet worden. „Kein einziger Gegen- Michael Naumann und Bremens Bürger- wertvollsten Stücke, das „Samuhel-Evan-
stand sowjetischer Herkunft, ausgenom- meister Henning Scherf brachten im April geliar“ und der „Evangelistar“, waren
men der Fußabtreter am Eingang“, rap- vergangenen Jahres zur Übernahme der jahrelang durch die Tresore von Kunst-
portierte Staatssicherheitsminister Wiktor Sammlung als Gegengaben ein Mosaik und händlern, Antiquariaten und piekfeinen
Abakumow. „Selbst in der Küche hingen eine Kommode aus dem legendären Bern- Auktionshäusern gewandert.
vier wertvolle Gemälde an der Wand.“ steinzimmer mit nach St. Petersburg. Christopher de Hamel von der noblen
Noch nicht mal ausgepackt waren 44 Sotheby’s in London erklärte Ende 1986, er
wertvolle Teppiche und Gobelins, 55 klas- Verzicht auf Rückgabe traue sich zu, allein das „Samuhel-Evan-
sische Bilder, 4000 Meter Seidenstoffe, Auf die deutschen Kulturgüter, die noch geliar“ für zehn Millionen Pfund Sterling
große Mengen an Tafelsilber, goldene Uh- im Westen festgehalten werden, hatte da- zu verkaufen, wenn es gelänge, es juristisch
ren, feine Jagdwaffen und eine kostbare gegen schon die Regierung Kohl/Genscher weißzuwaschen. Der Londoner Antiquar
Bibliothek aus Potsdam. 1990 im „Drei-plus-Eins-Vertrag“ mit Sam Fogg bot das gute Stück im Herbst
Bis auf 2200 unanbringbare Objekte – Frankreich, Großbritannien und den USA 1988 – ungereinigt – der Berliner Samm-
„Ufos“ im Museumsleiterjargon – haben verzichtet. lung Preußischer Kulturbesitz für acht Mil-
die Deutschen die von den Nazis erbeute- Für zivile Hehlerware gilt auch weiterhin lionen Dollar an. Bei dem Pariser Kunst-
te Kunst zurückgegeben. Für den Rest hat profanes Straf- und Zivilrecht. Allerdings händler Paul-Louis Couailhac war es – erst
nur theoretisch. In der Praxis ist es für ei- für 15 Millionen, dann für 9 Millionen
Selbst in der Küche nen Geschädigten so gut wie unmöglich, Dollar – im Angebot.
seine Ansprüche durchzusetzen, wie der Der Verkauf an die Kulturstiftung der
Sowjetmarschall Schukows, Fall des Quedlinburger Domschatzes ge- Länder wurde schließlich am 23. März 1990
des Eroberers von Berlin, zeigt hat. im Münchner Hotel Königshof von dem
hingen wertvolle alte Meister Joe Meador, Kunstgeschichtler und Anwalt John Torigian aus Houston (Texas)
Oberleutnant beim 87. Artillerie-Bataillon, und dem Antiquar Heribert Tenschert aus
aus Deutschland. hatte den Stiftschatz – der zum Teil aus dem niederbayerischen Rotthalmünster be-
dem 9. Jahrhundert stammt – kurz vor der siegelt. Kaufpreis: drei Millionen Dollar,
die Bundesregierung im April vergange- deutschen Kapitulation aus einem Stollen davon eine halbe Million für Tenschert „für
nen Jahres eine Datenbank namens „Lost bei Quedlinburg im Harz mitgehen lassen. meine Tätigkeit als Zwischenhändler“.
Art Internet Database“ (www.lostart.de) Der Schatz kehrte erst 1993 aus White- Den „Evangelistar“ bekam die Kultur-
mit „Verlustkatalogen“ ins World Wide wright (Texas) heim nach Quedlinburg. stiftung für einen „Finderlohn“ von 125 000
Web gestellt. Mehrere große Museen be- Voraufgegangen war ein „mannigfaltiger Dollar schließlich auch noch. KSL-Gene-
schäftigen Kunsthistoriker, die die Aufga- Krimi“, wie es Klaus Maurice, der Gene- ralsekretär Maurice erhielt ihn auf dem
be haben, die gesamten Bestände auf ihre ralsekretär der „Kulturstiftung der Län- Genfer Flughafen „von einem Herrn im
Herkunft zu überprüfen. der“ (KSL), nennt. Tweed-Jackett“ zugesteckt.
Dagegen hat Russland dem wiederver- Der Münchner Jurist und Historiker Wil-
einigten Deutschland bislang nur weni- li Korte ortete den größten Teil des Schat- Erich Wiedemann ist SPIEGEL-Redakteur.
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GHS-ARCHIV
Nazi-Parade vor dem Münchner „Haus der Deutschen Kunst“ (1939): „Erhobenen Herzens durch weite Räume“

EIN HAUCH VON TODESNÄHE


Die Monumentalbauten der Nazis wollten Raum und Zeit besiegen. Trotzdem sind
Bauweise und Botschaft nicht so eng verknüpft, wie die NS-Propagandisten, aber auch
die Kritiker dieser Architektur behauptet haben. / VON MATHIAS SCHREIBER

D
er kunterbunten Prächtigkeit post- hen“, sondern auch der erfolgreichste Geg- symbolisierten verschiedene Epochen aus
moderner Baumeister, Bildermacher ner der rationalen Bauhaus-Moderne. „Zweitausend Jahren Deutscher Kultur“.
und Literaten gehe es um nichts, sie Wie ernst es die Kunst-Propheten der Den krönenden Abschluss bildeten Mo-
sei beliebig, unverbindlich, unernst – so NS-Ära meinten, demonstrierte schon die delle der wichtigsten NS-Monumentalbau-
wurde und wird ihren Verfechtern, etwa erste der dann bis 1944 jährlich wiederhol- ten und marschierende Repräsentanten
dem unberechenbaren Architekten Philip ten „Großen Deutschen Kunstausstellun- von SS, SA, Wehrmacht und Partei.
Johnson oder dem nicht minder verdächti- gen“ in München. Sie wurde 1937 im Zu dieser NS-Vernissage strömten mehr
gen Schriftsteller Umberto Eco, regelmäßig „Haus der Deutschen Kunst“, dem säu- als 60 000 Besucher. Sie „schritten“, wie
vorgehalten. Eine Vorhaltung mit Tücken: lenbewehrten Programmbau der NS- Joseph Goebbels schwärmte, „erhobenen
Wenn für Kunst, trotz ihrer Herkunft aus Ästhetik von Paul Ludwig Troost, parallel Herzens durch die weiten Räume des Hau-
dem Spieltrieb des Menschen, vor allem das zur Schandschau „Entartete Kunst“, mit ses der Deutschen Kunst mit einem wahren
Kriterium gelten sollte, dass es ihr oder beispiellosem Pomp eröffnet: Es gab einen Glücksgefühl darüber, dass endlich, endlich
ihren Protagonisten um etwas zu gehen drei Kilometer langen Festzug durch die nach Jahren furchtbarsten Niederbruchs
habe, und zwar möglichst „obsessiv“ oder, Stadt, begleitet von 500 Reitern und Tau- die deutsche Kunst wieder zu sich selbst
wie es früher hieß, „blutig ernst“, dann senden historisch kostümierter Männer zurückgefunden hat“.
müsste die Nazi-Ästhetik als Vorbild gelten. und Frauen; 30 geschmückte Festwagen Die Vernissage als Volks-Event, Kunst
Den Nazi-Künstlern ging es um etwas. für alle: die rechte Realität eines linken
„In der deutschen Kunst tobt ein Kampf Die Gruselgefühle, Ideals, das – als industrialisiertes Bauen
um Tod und Leben“, schrieb 1932 der Ma- die dem Betrachter von für die Masse der Wohnungssuchenden –
ler und Architekt Paul Schultze-Naumburg, auch im antibürgerlichen Bauhaus gelehrt
damals Direktor der Weimarer Kunst- den NS-Fassaden wurde. „Kultur für alle“ war noch für den
hochschule und als Wortführer des entgegenwehen, stammen erfolgreichsten Kulturpolitiker nach 1945,
„Kampfbundes für deutsche Kultur“ nicht aus dem Wissen Hilmar Hoffmann, der in den achtziger
nur der Urheber der berüchtigten Maxime Jahren das Frankfurter „Museumsufer“ or-
„Kunst muss aus Blut und Boden erste- um die NS-Verbrechen. ganisierte, der wichtigste Leitsatz.
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SERIE – TEIL 7 ❚ JAGD NACH KUNST
technik – so verfuhr schon Bayernkönig Monumentales Bauen „in gewaltigstem
Ludwig II. bei Schloss Neuschwanstein. Ausmaß“, als Ausdruck eines fast titani-
Als Troost 1934 starb, soll Hitler erwo- schen „Ordnungswillens“ (Hitler) entsprach
gen haben, dessen Münchner Büro selbst dem Machtgelüst der Nazis und kaschier-
weiterzuführen. Dann aber übernahm der te ästhetisch den ungeheuren Zivilisa-

D. BROGIONI / CONTRASTO / AGENTUR FOCUS


29 Jahre junge Albert Speer die Rolle des tionsbruch ihrer Eroberungs- und Ver-
Reichs-Stararchitekten – Hitler hoffte nichtungspolitik; zugleich bediente diese
wohl, über dieses Talent am leichtesten Architektur aber das diffuse Orientierungs-
die eigenen Bau-Träume verwirklichen zu und Anlehnungsbedürfnis vieler Deut-
können. „Wir bauen“, verkündete der scher, die den Sprung in die Moderne nicht
Führer 1938, „nicht für unsere heutige verkraften konnten – zumindest das war
Zeit, wir bauen für die Zukunft! Daher kein verachtenswertes Motiv.
muss groß, solide und dauerhaft gebaut Diese Moderne war, in der Weimarer
werden.“ Republik, nicht nur definiert durch
Kolonnade am römischen Petersdom Groß, dauerhaft: Größe beherrscht den fortschreitende Industrialisierung, Säku-
„Dekoration der Gewalt“ Raum, ewige Dauer die Zeit. Bauend woll- larisierung, Demokratie und neue Klas-
senkonflikte, sondern auch durch das
Wachstum der Großstädte, durch neue
Massenmedien wie Film und Radio. Die
großstädtischen Massen, gottlos, gierig und
unübersichtlich, erschienen schon den Ex-

DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT


pressionisten als diabolische Zumutung.
Hitlers Bau-Ästhetik gab auf all das eine
eigentümlich treffende Antwort: Kultische
Anlagen wie das Berliner Reichssportfeld
von Werner March oder das Nürnberger
Zeppelinfeld von Speer formierten die dort
versammelten Massen zu symmetrischen
„Ornamenten“ (Siegfried Kracauer), die
der Menschenmenge optisch alles Bedroh-
liche nahmen, indem sie ihr zugleich die
Zugehörigkeit zu einer stolzen Volksge-
meinschaft suggerierten. Speers nächtli-
SÜDD. VERLAG

cher „Licht-Dom“ aus Flak-Scheinwerfern


gab diesem Spuk den Bezug zum Himmel,
eine Art Segen. Auch hier verbinden sich
NS-Architekt Speer, Hitler*: Hochtrabende Kultkulissen paradox technische Moderne und archai-
scher Illusionismus.
te Hitler über Raum und Zeit triumphie- Dass solche Triumphrituale, deren ar-
ren, er wollte die Welt nicht nur mit „Ge- chitektonischer Rahmen auch an ägypti-
walt und Größe“ tausend Jahre und länger sche Nekropolen erinnert, die Menschen
beherrschen; diese groteske Hybris sollte eingeschüchtert hätten, wird oft behauptet.
sich auch vorzeigen, und zwar in „Denk- Speers Lehrmeister Heinrich Tessenow
mälern des Stolzes“, zu deren Ewigkeits- kommentierte die erste große nächtliche
gestus die Feierlichkeit des Mausoleums, Massenveranstaltung dieser Art, am 1. Mai
ein Hauch von Todesnähe, gehörte. 1933 auf dem Berlin-Tempelhofer Feld,
Ihr formaler Kanon stammt manchmal, eher nüchtern: „Es macht Eindruck, das
wie bei der riesigen Nürnberger Kongress- ist alles.“ Der junge Marcel Reich-Ranicki
H. OBERRÜCK

halle von Ludwig und Franz Ruff, direkt erlebte 1936 das Speersche Lichtspektakel
aus der römischen Antike, zumeist aber im Berliner Olympiastadion. Er fand es
aus der Renaissance: geschlossener „nicht erhebend, aber effektvoll“.
Speer-Modell der Berliner Volkshalle Baukörper mit skulptural gegliederter, Nach 1945 las man es meist anders: Da
Groß oder größenwahnsinnig? über markantem Sockelgeschoss sich auf- wurde der Nazi-Monumentalismus ein-
türmender Fassade aus Naturstein, impo- schließlich seiner klassizistischen Formen
Diese seltsam widersprüchliche Verbin- sante Freitreppe, Kolossalpfeiler, Portikus, und Festrituale – ähnlich wie der biedere
dung von kulturpolitisch-propagandisti- Kuppel, Arkade. Größere Anlagen wurden Realismus der Nazi-Malerei – systematisch
scher Modernität und Sehnsucht nach ei- stets axialsymmetrisch geplant, nicht land- dämonisiert und auch in seiner tatsächli-
ner vormodernen „Ordnung“ der Formen schaftlich offen. Hitler verschrieb diese chen Vernebelungskraft überschätzt. Die
ist typisch für die ganze NS-Ästhetik. In Monumentalsprache ausschließlich den re- Ungeheuerlichkeit der nach 1945 allgemein
der Architektur des Münchner Troost-Tem- präsentativen Gebäuden des Reichs; im In- publik gewordenen Nazi-Verbrechen färb-
pels, der für die NS-Zeit wegweisenden dustrie- und Gewerbebau wurde dagegen te rückwirkend die von diesem Regime ge-
Ikone neoklassizistischer Monumental- auch die Fortsetzung der Moderne der förderte Architektur und Kunst tiefschwarz
bauweise, ist dieser Widerspruch kon- zwanziger Jahre geduldet – die Nazis ha- und adelte sie in einem Ausmaß mit der
struktiv fassbar: außen klassizistische Ko- ben die sachliche, auf glatte Kuben mit Faszination des Bösen, das ihre tatsächli-
lonnade und Marmor, innen Stahl, Beton, Flachdächern, auf klare Kanten, Asymme- chen Propaganda-Erfolge weit übertraf.
Fahrstühle und Klimaanlage. Das Pathos trie und gläserne Transparenz fixierte Bau- Das geschah nach einem simplen Me-
aus alten Tagen kostümiert modernste Bau- haus-Sprache also durchaus nicht total un- chanismus: Wer diese Kunst und Architek-
terdrückt, wie nach dem Krieg immer wie- tur nicht heftig genug verwarf, machte sich
* Mit dem deutschen Modell für die Weltausstellung 1937. der behauptet wurde. automatisch verdächtig, auch die Politik der
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 161
Nazis „verharmlosen“ zu wollen. Darin er-
rang Hitler insofern einen späten Sieg, als
die von den Kritikern der NS-Ästhetik vor-
ausgesetzte Einheit von monumentaler
Form und völkischer Gleichschaltung ge-
rade im Zentrum seiner Propaganda stand.
Dabei war diese Einheitsthese eine pure
Anmaßung. Jener vergröberte Klassizis-
mus, den Hitler und Speer – in einer ei-
gentlich rätselhaften Abneigung gegenüber
der deutsch-französischen Gotik – zum
Reichsstil erkoren, war Ende der zwanziger
Jahre auch in anderen, demokratisch ver-
fassten Staaten Europas beliebt, etwa in
Skandinavien, England und Frankreich.
Das finnische Reichstagsgebäude von Jo-
han Sigfrid Sirén, 1931 gebaut, ist ein wuch-
tiger Naturstein-Kasten hinter einer 14-
Säulen-Kolonnade, zu der eine mächtige
Freitreppe hinaufführt. Äußerlich ist er von
den Nazi-Monumentalbauten kaum zu un-
terscheiden. Niemand käme auf die Idee,
seinen Abriss zu fordern. Die durchaus ein-
drucksvolle Pfeilerkolonnade auf der
Haupttribüne des Nürnberger Zeppelin-
feldes dagegen wurde 1967, ebenso wie die
Märzfeldtürme nebenan, gesprengt.
Ein moralischer Exorzismus, der bis heu-
te mit fragwürdigen ästhetischen Argu-
menten drapiert wird. Als Teil der todes-
süchtigen Aufmarsch-Ästhetik, so hieß es,
sei diese Reihe von Kolossalpfei-
lern aus weißem Juramarmor,
wie überhaupt die Nazi-Archi-
tektur, „einschüchternd“, „er-
drückend“, „brutal“, „hohl“,
„trocken“, „größenwahnsinnig“,
„leer“ – Prädikate aus 30 Jahren
publizistischer Bewältigung nazis-
tischer „Dekoration der Gewalt“.
Berninis keineswegs zwergenhaf-
te Kolonnaden auf dem römi-
schen Petersplatz ließen sich
ohne weiteres ähnlich abkanzeln.
Fatal an dieser Art kritischer
Vergangenheitsbewältigung ist
vor allem die Tatsache, dass
sämtliche Prädikate der Abwer-
tung die Hitlersche Propaganda Kanzleramt
fortsetzen, bloß mit umgekehr-
ten Vorzeichen. Aus der von Hitler be-
schworenen „Größe“ wird Größenwahn,
aus „Kraft“ und „Gewalt“ wird Brutalität,
aus dem „ewigen Gepräge“ die ahistori-
sche Starre und Leere.
Die Gruselgefühle, die dem nazikriti-
schen Betrachter von den NS-Fassaden
entgegenwehen, stammen aus dem Wissen
um die NS-Verbrechen, sie reagieren auf
künstlich mit Sinn aufgeladene Mauern,
kaum auf die tatsächlichen Pfeiler, Tri-
umphbögen oder Gesimse. Letzten Endes
ist die Grenze zwischen einem großforma-
tigen Cinemascope-Klassizismus, wie ihn
in den achtziger Jahren der Spanier Ricar-
do Bofill sogar auf den Wohnungsbau an-
wandte, und einer „hochtrabenden“ Kult-
kulisse von Albert Speer fließend, und am
Ende muss das Geschmacksurteil ohne Ge-
162 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
pressiver Realismus ge-
fördert wurde, bestätigte
das gute westdeutsche
Kunst-Gewissen zusätz-
lich.
Allerdings sind figura-
tive Maler wie Erich
Heckel, Werner Heldt,
Otto Pankok, Karl Hofer,
Max Beckmann und Otto
Dix keine Nazis gewe-
sen und galten gleichfalls
als „entartet“. Aber dies
verhinderte nicht ih-
re Vernachlässigung zu
Gunsten der esoterischen
Abstraktion, wie sie etwa
von Ernst Wilhelm Nay,

GHS-ARCHIV
Willi Baumeister und
Hans Hartung praktiziert
Hitler im „Haus der Deutschen Kunst“ (1939): „Denkmäler des Stolzes“ wurde. Dass die simple

DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT


Entgegensetzung von ab-
sinnungsorder herausfinden, welche Art che Modernität der Nachkriegszeit war in strakter Moderne und Nazi-Realismus im
von gebauter „Größe“ der jeweiligen Bau- Wahrheit Luftschutz-Ästhetik. Grunde dem propagandistischen „Kampf“-
aufgabe angemessen ist oder nicht. Um dies zu verschleiern, musste man Ruf Schultze-Naumburgs verpflichtet blieb,
Eine ästhetische Nüchternheit dieser Art die Abwendung von der Nazi-Architektur wurde damals nicht reflektiert. Erst die ag-
hatte in den ersten 40 Nachkriegsjahren nicht nur rhetorisch überbetonen, sondern gressiv dingliche Pop-Art der siebziger Jah-
Deutschlands kaum eine Chance. Die noto- auch die von den Nazis verfolgte Bauhaus- re und die Postmoderne der achtziger Jah-
rische Ächtung der Nazi-Ästhetik war schon Moderne flächendeckend durchsetzen. re haben das geändert und für mehr Tole-
deshalb allseits willkommen, weil der Ab- Mochte sie ästhetisch auch längst ausge- ranz in der Kunstszene gesorgt.
scheu, den sie mit moralischem Argument er- reizt sein, sie war ethisch sakrosankt – auch Die Architekturszene brauchte dafür et-
weil Bauhaus-Meister wie Walter Gropius was mehr Zeit. Noch 1994 polemisierte
und Mies van der Rohe vor den Nazis (für Heinrich Klotz, der Gründungsdirektor des
die sie 1933 noch die neue Reichsbank bau- Deutschen Architektur-Museums in Frank-
en wollten) ins Ausland geflohen waren. furt, gegen Hans Kollhoffs Pläne für ein
Hier die steinerne NS-Ästhetik der Backstein-Hochhaus in Berlin, er sehe dar-
Macht mit ihren Protz-Skulpturen und Sol- in „eine Machtallüre, die wir seit 1945 nicht
datenporträts, dort die helle, demokrati- mehr gekannt haben“.
sche Ästhetik der Moderne, von den Nazis Und als im Mai das neue Berliner Kanz-
als „entartet“ gejagt – diese „allzu stark leramt von Axel Schultes eingeweiht wur-
vereinfachende Sicht, die in ihrer antifa- de, geisterten, natürlich kritisch gemeint,
schistischen Gesinnung verständlicherwei- wiederum Hitlers Lieblingsbegriffe durch
se übers Ziel hinausschoss und 1933 als die Medien: Macht, Größe, Monumenta-
Bruch mit der Moderne überbetonte“ (Pe- lität. Und das, obwohl die an der Spree
ter Reichel 1991 in der Studie „Der schöne neu geschaffene Kanzler-Nutzfläche ziem-
Schein des Dritten Reiches“), bescherte lich genau der des Bonner Vorgängerbaus
den Deutschen nach 1945 nicht nur einen entspricht, eines müden Bauhaus-Nach-
AKG

beispiellosen Triumph der schematischen kommen, der Helmut Schmidt zu Recht an


in Berlin: Wieder zu monumental? Bauhaus-Kiste und des unwirtlich weiträu- eine Sparkasse erinnert hat.
migen Städtebaus. Diese Sicht verhalf auch Wie monumental darf die Demokratie
zwang, so wunderbar einleuchtend das Jahr der gegenstandsfreien Malerei und Skulp- bauen? Bleiben Symmetrie, Kuppeln, Säu-
1945 als „Stunde null“, als echten Epochen- tur zu einer Art Endsieg. lenschmuck, Natursteinfassaden, großzü-
bruch erscheinen ließ. Der war politisch er- „Die Kunst ist abstrakt geworden“, gige Freitreppen, blockartige Baukörper in
wünscht und plausibel, fand faktisch aber schrieb 1959, in einem Vorwort zur zweiten deutschen Landen auf ewig unter Nazi-
nur in Teilbereichen der Gesellschaft statt. Documenta, Werner Haftmann, der damals Verdacht? Erst wenn die Deutschen es
In Wahrheit folgte ja der Wiederaufbau, einflussreichste Kunstkritiker. Das war kei- schaffen, darüber freimütiger, offener, to-
vor allem der Siedlungsbau in den fünfzi- ne Beobachtung, es war ein Dekret. Die leranter zu debattieren als bisher, haben
ger und sechziger Jahren, weitgehend den Deutschen waren jetzt frei, und dem Abso- sie sich wirklich aus dem langen Schatten
unter Speer entworfenen Mustern. Das gilt lutum der Freiheit entsprach die Abstrak- gelöst, den Hitlers Propaganda wirft.
für den Satteldach-„Heimatbund“-Stil der tion. Dass in Ost-Berlin die Stalinallee neo-
Wohnhäuser wie für den lichten, luftigen klassizistisch gestaltet, malerisch ein ex- Mathias Schreiber ist SPIEGEL-Redakteur.
Zeilenbau der aufgelockerten „Stadtland-
schaft“ (Hans Scharoun), wie ihn beispiel-
haft die Berliner „Interbau“ 1957 im Hansa- Im nächsten Heft lesen Sie: Teil 8
viertel vorführte. Das Rezept wurde schon
in den vierziger Jahren empfohlen – weil ALLIANZ GEGEN HITLER
sich diese Bauweise nicht so leicht aus der Der Angriff auf die Sowjetunion war das Fanal zum
Luft bombardieren lasse wie das alte, ex- Weltanschauungskrieg. Roosevelt, Churchill und
trem verdichtete Berlin. Die städtebauli- Stalin bildeten eine ungleiche Allianz gegen Hitler.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 163
Sport

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Beinhartes Aussortieren“
BMW-Motorsport-Direktor Gerhard Berger über bayerische Ingenieurskunst in der Formel 1, den
Aufstand der Automobilwerke gegen Leo Kirch und das Duell der Schumacher-Brüder

SPIEGEL: Herr Berger, beim Grand Prix in SPIEGEL: Und sich damit zugleich in eine Berger: Das weiß ich nicht, aber wenn er
Montreal hat Ihr Fahrer Ralf Schumacher gute Verhandlungsposition gebracht. Mer- bei uns bleiben will, wird er einen Kom-
seinen älteren Bruder Michael geschlagen. cedes und Jaguar flirten heftig mit ihm. promiss eingehen müssen. Will er das Ma-
Hat er das Zeug, auch dessen Nachfolge als Sieht sich BMW-Williams unter Druck, den ximum an Gage erzielen, dann kann es
Superstar der Formel 1 anzutreten? 2002 auslaufenden Vertrag rasch zu ver- sein, dass ein anderer Rennstall aus seiner
Berger: Michael Schumacher zähle ich zur längern? Zwangssituation heraus mehr bietet. Ich
Kategorie Sonderexemplare. Die werden Berger: Versetzen wir uns doch mal in die war für so was immer anfällig, deshalb hät-
nur alle zehn Jahre geboren, so wie vor Lage des Ralf Schumacher. Ein Fahrer will te ich volles Verständnis dafür.
ihm Ayrton Senna oder noch weiter zurück idealerweise das meiste Geld verdienen SPIEGEL: Ralf Schumacher hat 1997 in der
Jim Clark. Der Ralf ist relativ nahe dran an und den größten Erfolg haben. Das ist in Formel 1 debütiert. Sie sind 1997 nach 14
seinem Bruder. Aber jetzt muss er lernen, der Formel 1 aber ganz selten in Einklang Jahren als Rennfahrer ausgestiegen. Nutzt
wie man in Serie siegt. zu bringen. Macht es andererseits Sinn, bei Schumacher Ihren Erfahrungsschatz?
SPIEGEL: Was braucht man dafür? BMW-Williams zwei Jahre Aufbauarbeit Berger: Es war schon zu meiner Zeit so,
Berger: Die besten Fahrer einer jeden zu leisten und wenn die Früchte zu ernten dass die Alten den Jungen auf die Nerven
Epoche waren immer eine Kombination sind, das Team zu verlassen? Sich als Fah- gegangen sind. Jeder Pensionär neigt zur
aus Naturtalent, Arbeitsmoral und Cle- rer vor Vertragsgesprächen Alternativen Verklärung der Vergangenheit, ich auch.
verness. In Kanada hat Ralf diese Quali- aufzubauen ist jedoch völlig richtig. Will ich also Erinnerungen austauschen,
täten gezeigt, geduldig auf seine Chance SPIEGEL: Es heißt, Ralf Schumacher begeh- dann plaudere ich mit Nelson Piquet oder
gewartet. re eine prozentuale Lohnsteigerung, die Keke Rosberg, aber nicht mit Ralf. Das hat
jene der Lufthansa-Kapitäne weit über- keinen Sinn, weil er das alte Zeug nicht
Das Gespräch führte Redakteur Alfred Weinzierl. trifft: von 14 auf 30 Millionen Mark. versteht und es ihn auch nicht interessiert.

BMW-Crew beim Boxenstopp in Montreal: „Verschiedene Kulturen gemischt“ ONLINESPORT


Berger: Er gibt sich besonders mehr gefragt sei. Hat die Wiederein-
stark, ob er es auch ist, wird führung der Traktionskontrolle, die das
sich herausstellen. Montoya ist Durchdrehen der Räder elektronisch ver-
extrem talentiert. Aber er hindert, die Hierarchie in der Rennfah-
muss aufpassen, weil er mit rerszene verändert?
seinen Sprüchen seiner Leis- Berger: Der Fahrer, der hervorragend mit
tung ein bisschen voraus ist. der Power umgehen konnte, schonte ent-
Irgendwann kommt jedenfalls weder die Reifen, oder er war schneller
die Zeit, wo du Fakten schaf- unterwegs – wie Michael Schumacher mit
fen musst. Da wäre ich an dem Gasfuß am Limit balancierte, war eine
Montoyas Stelle jetzt vorsich- Augenweide. Mit der Traktionskontrolle
tig, weil beide Schumachers ist diese Fähigkeit des kontrollierten Drifts
ein großes Kaliber sind. ziemlich neutralisiert.
SPIEGEL: Was trennt Montoya SPIEGEL: Gute Zeiten für das Raubein im
noch von Ralf Schumacher? Cockpit, schlechte Zeiten für den Genius?
Berger: Montoya arbeitet mit Berger: In diesem Bereich ja. Aber der
Emotion und Kraft. Das analy- Michael hat so viele Fähigkeiten, dass er
tische Vorgehen Schumachers nicht zurückfällt. Die Kunst ist jetzt, das
während eines Grand-Prix- Auto so abzustimmen, dass sich die Trak-
Wochenendes hat er nicht. tionskontrolle möglichst selten einschaltet
SPIEGEL: Ist das erlernbar? – das bringt die besten Rundenzeiten. Und
Berger: Wenn man das als Not- da liegt Michael wahrscheinlich wieder
wendigkeit erkennt, ja. Ralf vorne, weil er das Zusammenspiel mit den
war voriges Jahr auch noch et- Ingenieuren beherrscht wie kaum einer.
was verspielt, ist aber im Win- SPIEGEL: Bislang hieß es, bis zur Konkur-
ter gereift, was Konzentration renzfähigkeit in der Formel 1 benötige ein
PAUL CHIASSON / AP

und Zielstrebigkeit angeht. Motorenhersteller drei Jahre. Nun haben


SPIEGEL: Montoya müsste sich Sie nach 25 Rennen schon 2 Siege gefeiert.
seinen Teamkollegen zum Vor- Was können die Einsteiger Jaguar, Renault
bild nehmen? und Toyota von Ihnen lernen?
Montreal-Sieger Ralf Schumacher, Bruder Michael Berger: Es gibt zwei Möglich- Berger: Wir haben gezeigt, dass es auch
„Beide sind ein großes Kaliber“ keiten, wenn dich dein Team- ohne das teure Abwerben von Spitzenleu-
kollege ständig abmontiert. Du ten geht. Dass man in den eigenen Reihen
SPIEGEL: Ihr zweiter Pilot, der anfangs hoch kannst das Problem bei dir selbst suchen nur die richtigen Leute suchen muss.
gelobte Juan Pablo Montoya, ist in acht oder in der Technik. Bei denen, die es bei SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, dass die-
Rennen nur einmal ins Ziel gekommen. Da sich suchen, muss man abwarten, ob sie bes- selben Köpfe, die früher über den Sechs-
scheint Nachhilfeunterricht vonnöten. ser werden oder nicht. Die es, meist unbe- zylinder eines Dreier-BMW nachgedacht
Berger: Wenn der Montoya oder ein ande- gründet, in der Technik suchen, kann man haben, jetzt einen Formel-1-Motor bauen?
rer Fahrer kommen würde und mich nach abschreiben. Berger: Es ist eine Mischung: aus etwa einem
meiner Meinung fragte, dann bekäme er SPIEGEL: Der zuletzt im Ranking mächtig Dutzend Ingenieuren, die schon anderswo
eine ehrliche Antwort. Fragt er mich nicht, abgerutschte Ex-Weltmeister Mika Häkki- im Motorsport tätig waren, und 200 Leuten
sage ich nichts oder mache höchstens nen beklagt, dass ein sensibler Gasfuß nicht aus der BMW-Belegschaft. Mein Kollege
mal eine Anmerkung. Ob er daraus dann Mario Theissen hat die Gabe, das Potenzial
Lehren zieht, muss er selbst wissen. Im eines Ingenieurs zu erkennen. Wir haben
Gegensatz zu anderen Sportlern werden verschiedene Kulturen gemischt.
Formel-1-Fahrer nur nach ihren Resul- SPIEGEL: Notgedrungen. Ihr Wettbewerber
taten beurteilt. Ausflüchte, Begründungen Mercedes lässt seine Rennmotoren bei Il-
interessieren keinen Menschen. Die Renn- mor fertigen, einem Spezialbetrieb in Eng-
ställe sind immer auf der Suche nach dem land. Der BMW-Vorstand entschied, alles
nächsten Fahrer, der noch mehr Leistung im eigenen Haus in München zu machen.
OLIVER RECK

verspricht. Es ist ein beinhartes Aussortie- Berger: Ich muss gestehen, dass ich anfangs
ren. Und manchmal springt auch einer zu auch Bauchweh hatte. Ich kann mich gut
Unrecht über die Klinge. erinnern, wie mir die Leute zum Job gra-
SPIEGEL: Nennen Sie ein Beispiel? BMW-Direktoren Berger, Theissen tuliert haben und dann so ein mitleidiges
Berger: Heinz-Harald Frentzen. Der hätte Lächeln aufsetzten: Jeder andere versucht
bei Williams vor drei Jahren vielleicht nur Im Doppel steuern so ein Projekt auszulagern, und ihr lagert
mehr Zuneigung gebraucht. Aber in den Gerhard Berger, 41, und Mario Theissen, es ein, haben sie alle gesagt. Inzwischen
Spitzenteams schenkt sie dir niemand. Du 48, den Formel-1-Auftritt von BMW. Wäh- weiß ich, dass diese Entscheidung die für
verdienst bei ihnen die höchsten Gagen. rend Ingenieur Theissen den Motorenbau den Erfolg wichtigste überhaupt war. Weil
Dafür erwarten sie, dass du ohne Kinder- verantwortet, bringt Berger seine Erfahrung wir es geschafft haben, die Abläufe eines
mädchen auskommst. aus 210 Grand-Prix-Rennen (10 Siege auf großen Konzerns wie BMW mit den Ge-
SPIEGEL: Labilität scheint nicht das Problem Benetton, Ferrari, McLaren) in die Partner- setzen des Motorsports zu verschmelzen.
des Kolumbianers Montoya zu sein. Er sei schaft mit dem englischen Williams-Team SPIEGEL: Welche Gesetze sind das?
psychisch nicht so zerbrechlich wie ande- ein. Landsmann Niki Lauda urteilt über den Berger: Andere Arbeitszeiten, direktere
re Fahrer, deshalb könne man ihn nicht Tiroler: „Er war kein Weltmeister-Fahrer, Verantwortung, absolute Hingabe. Wenn,
einschüchtern, ließ er Michael Schumacher aber ein Weltmeister-Geschäftsmann.“ sagen wir, am Freitag in Imola ein Motor
wissen. Und überhaupt: Südamerikaner Berger lebt in Monaco, ist mit einer Portu- kaputtgeht, können wir nicht bis Mon-
seien nicht solche Weicheier wie die Eu- giesin verheiratet und hat drei Töchter. tag warten, um zu erfahren, wo der Fehler
ropäer. Ist er wirklich psychisch so stark? lag. Also wird der Motor in einen Klein-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 165
Sport

transporter verfrachtet. Fährt der um 16 ander exakt festlegen. Jetzt sind sie zur Ei- rierenden Serien beide den Bach runter-
Uhr in Italien weg, ist er um 22 Uhr, spätes- nigkeit verpflichtet. Wenn alles ausgehan- gehen. Er muss also alle Parteien an einen
tens um Mitternacht, in München. Da steht delt ist, werden sie wieder die schärfsten Tisch bringen. Kirch ist ein Medienkon-
ein Ingenieur mit seiner Crew bereit, fängt Konkurrenten auf der Rennstrecke sein. zern, der das Produkt Formel 1 weiter-
um ein Uhr an zu arbeiten, und Samstag in SPIEGEL: Sie haben einen guten Draht zu bringen kann. Die Hersteller können für
der Früh haben wir die Analyse. Aber dazu Bernie Ecclestone, dem Slec-Gründer und die Stabilität der Show garantieren. So
braucht man die Hingabe desjenigen, der Formel-1-Impresario. Was will er? schlecht passt das gar nicht zusammen.
Stand-by-Dienst hat. Der nutzt uns nichts, Berger: Ecclestone besitzt noch 25 Prozent SPIEGEL: Sehen Sie einen Königsweg?
wenn er aus der Discothek kommt und drei an der Slec. Wie ich ihn kenne, denkt er Berger: Ich sehe nicht den Zwang, dass die
Flaschen Wein getrunken hat. jede Sekunde darüber nach, wie er den Autoindustrie Anteile erwirbt. Wenn die
SPIEGEL: Und wenn er herausfindet, dass höchsten Wert für diesen Anteil erzielen Vermarktungsregeln, die bis 2007 festge-
jemand geschlampt hat? kann – sei es durch einen Börsengang, legt sind, überarbeitet werden und die
Berger: Dann hat derjenige am Montag ein den Verkauf an die Werke oder wie auch Wünsche der Hersteller einfließen, könn-
Riesenproblem. Das Geschäft ist direkt leis- immer. ten wir nächste Woche einig sein.
tungsbezogen. So wie jeder Fahrer SPIEGEL: Ob Kirch Anteile hält
nach jedem Rennen seine Rech- oder die Autoindustrie: Eine un-
nung bekommt, erhält sie auch der gute Vermischung von sportlichen
Ingenieur. Zu dieser Philosophie und wirtschaftlichen Interessen
gehört, dass wir die Dienste von gibt es auf jeden Fall.
Zulieferern auf ein Minimum re- Berger: Das ist eine echte Gefahr.
duziert haben, wir gießen sogar Die Weichen müssen zugunsten
unsere Motorenteile selbst. des Sports gestellt werden. Wenn
SPIEGEL: Welche Vorteile hat das? nicht Millionen Fernsehzuschauer
Berger: Flexibilität, Schnelligkeit, daran glauben, dass der Beste ge-
kein Know-how-Transfer nach winnt, dass es fair zugeht, funk-
außen. tioniert die Formel 1 nicht. Der
SPIEGEL: BMW gehört zu einer Konzern, die Marke, der Sponsor

OLIVER RECK
Gruppe von fünf Autoherstellern, fahren im Windschatten des Sports
die ab 2008 eine eigene Rennserie mit. Die Stars sind die Fahrer …
veranstalten wollen, weil ihnen Manager Berger, Ecclestone: „Alle Parteien an einen Tisch“ SPIEGEL: … was einige Teamchefs
Leo Kirch als Mehrheitseigner der nicht wahrhaben wollen. Eigen-
Formel-1-Vermarktungsfirma Slec willige Charaktere sind kaum noch
nicht genehm ist. Sie befürchten, Comeback in gefragt in der Formel 1, weil sie
dass Kirch die Live-Übertragun- den Kreisverkehr
Kreisverk
Kreisv erkehr
ehr womöglich nicht zum Image des
gen künftig nur noch in seinem BMW in
BMW de der Formel
der Fo
Formel 1 Sponsors passen oder weil sie zu
Pay-TV zulässt. Wird es je eine viel von der Sonne wegnehmen,
Konkurrenzmeisterschaft geben? Rennen
nneen Punkte
Renn
Re unktee Siege
Punkt Siege Rennställe
Renns
Rennsttälle die auf das Team scheinen soll.
Berger: Zunächst einmal finde ich 1982 13 20 1 Brabham Berger: Absolut kurzsichtig. Ich
es dem Kirch-Konzern gegenüber kann mich sehr gut an die Zeit er-
unfair zu sagen, du hast da was für 1983 15 72 4 Brabham Weltmeister
Nelson Piquet
mit
innern, in der dieser Trend durch-
viel Geld erworben, das möchten geschlagen hat. Ich habe ja noch
wir nicht in deinen Händen wis- 1984 16 41 2 Brabham, Arrows, ATS mit Top-Persönlichkeiten wie Lau-
sen. Was wollen die Autoherstel- 1985 16 40 1 Brabham, Arrows da, Rosberg, Piquet oder Senna
ler? Sie wollen gesichert haben, fahren dürfen. Plötzlich dachten
dass sich ihre Rieseninvestitionen 1986 16 22 1 Benetton, Brabham, Arrows die Teamchefs: Wenn ich dem Star
auch für die Zeit nach Bernie nicht das richtige Auto gebe, ge-
Ecclestone rentieren. Das erfor- 1987 16 10 – Brabham winnt der nicht. Also ist in Wahr-
dert Mitsprache, zum Beispiel bei heit das Auto der Star. Der Fan auf
der Verteilung der Fernsehgelder. 2000 17 36 – Williams der Tribüne kann sich mit Kunst-
Ob es eine erfolgreiche andere stoff aber nicht identifizieren. Der
2001* 8 28 2 Williams
Rennserie geben kann, würde ich will Kämpfer, lebendige Typen, die
in Frage stellen. Den Return-on- gesamt 117 269 11 sich die Schuhe nicht zubinden
*Stand: 18. Juni
Investment von Kirch zu gefähr- oder die Haare gelb färben – so
den, dazu reicht der Hebel der wie die Jugend heute nun mal ist.
Autohersteller jedoch allemal. Deshalb ist SPIEGEL: Ecclestone selbst könnte mit fi- SPIEGEL: Diesem Ideal entspricht aber nicht
es für mich nur eine Frage der Zeit, dass nanziellen Zugeständnissen die Formel 1 mal eine Hand voll der derzeit im Grand-
eine vernünftige Diskussion zwischen den vor dem Zerfall retten. Prix-Zirkus tätigen Fahrer.
Werken und Kirch beginnt. Berger: Nie im Leben. Den Wert seines Ver- Berger: Sie werden heute, in der Zeit der
SPIEGEL: Mercedes-Vorstand Jürgen Hub- mögens zu steigern ist für ihn wie die täg- Sicherheits-Cockpits, mit anderen Werten
bert ist der Ansicht, dass seine Firma schon liche Nahrung. Ecclestone hat einen sehr groß. Die Fahrergeneration vor mir in den
genug in die Formel 1 investiert hat: Er will weiten Blick. Der muss nicht mit einem sechziger und siebziger Jahren, die kann-
Anteile umsonst bekommen. Schritt Kasse machen, aber nach drei, vier te eine klare Statistik: Jedes Jahr sind zwei
Berger: Der Denkansatz ist interessant. Schritten will er sein Kapital verzinst sehen. von ihnen gestorben. Das muss charakter-
Aber die Frage ist: Was lässt sich durch- Und wir reden nicht von zehn Prozent. Ber- bildend gewesen sein, diese Verantwor-
setzen? Wahrscheinlich wird der Kirch nie rechnet in anderen Größenordnungen. tung. Wenn du zehn Jahre gefahren bist,
antworten: Ich will für die Slec-Anteile SPIEGEL: Was will er auf keinen Fall? konntest du dir ausrechnen, mit welcher
mehr Geld von euch, als ich selbst bezahlt Berger: Die Formel 1 ist sein Kind. Eine Wahrscheinlichkeit es dich erwischt.
habe. Wichtig ist, dass bei einem Kompro- Serie der Autohersteller kann er nicht ge- SPIEGEL: Herr Berger, wir danken Ihnen
miss die Hersteller ihre Regeln unterein- brauchen. Er weiß, dass bei zwei konkur- für dieses Gespräch.
166 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
Radprofi Frigo (2. v. r.) beim Giro d’Italia
Verfallsdatum abgelaufen

Ausdauersportlern auf die Beine hilft, blieb


Medikamentenschiebern offensichtlich
nicht lange verborgen – kundige Helfer wa-
ren dann schnell zur Hand. Die Herstellung
von RSR-13, sagt Fritz Sörgel, Leiter des In-
stituts für Biomedizinische und Pharma-
zeutische Forschung in Nürnberg, „ist sim-
pel“. Ein Anwalt könne – ganz legal – die
Patentschrift besorgen. Für die Anmi-
schung im Labor reiche anschließend das
Know-how „eines Chemiestudenten“. Wis-
senschaftler glauben jedenfalls, das beim
Giro gefundene Mittel stamme aus einer
illegalen Chemieküche.
Weit obskurer ist, wie das Mittel He-

GERO BRELOER / DPA


massist ins Hotelzimmer des Radprofis Fri-
go („Ich habe nie gedopt“) gelangen konn-
te. Mit dem Produkt versuchte Baxter vor
Jahren das Rennen um einen Blutersatz-
stoff zu gewinnen. Künstliches Blut gilt als
Forschungslabors der Pharmaindustrie Goldgrube der Branche, der Absatzmarkt
RADRENNEN
suchen. Der Fall Frigo, sagt Bengt Saltin, verspricht Milliardenumsätze. 1998 ging

Brisanter Saft Mitglied der Welt-Anti-Dopingagentur,


„zeigt uns, dass die Dopingmafia besser
organisiert ist, als wir bisher gedacht
haben“.
Hemassist in Belgien, Frankreich, England,
Holland, Finnland und Deutschland in die
dritte Testphase. Verletzte mit starken Blut-
verlusten wurden damit behandelt. Doch
Die Razzia beim Giro d’Italia hat
Als die französische Justiz Ende Mai 41 es starben mehr Patienten, die Hemassist
eine neue Dopingpraxis ans Personen eines Dopingnetzwerks zu Geld- bekommen hatten, als in einer Vergleichs-
Licht gebracht: Athleten bedienen oder Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren gruppe. Baxter zog das Präparat zurück
sich direkt in Pharmalabors. verurteilte, glaubten viele Funktionäre und will alle Chargen vernichtet haben.
noch, die pillenhörige Branche sei endgül- Dass der brisante Saft im Do-it-yourself-

U
nvermittelt im internationalen Do- tig abgeschreckt. Die Funde von San Remo Verfahren nachgebaut wurde, schließt Bax-
pingsumpf stecken, das will sich kei- beweisen das Gegenteil. So stießen die ter-Frau O’Hayer aus: „Hier geht es nicht
ne Firma aus der Pharmabranche Fahnder auch auf RSR-13 – ebenfalls ein mit rechten Dingen zu.“ Für Sörgel gibt es
leisten. Baxter International, ein aktueller Stoff, den es in Apotheken nicht gibt. nur eine Erklärung: Konserven wurden
Börsenstar aus Deerfield bei Chicago, rea- „geklaut“ und sind nun verabreicht wor-
gierte deshalb prompt, als die Razzia beim den. Sollte das der Fall sein, dräut den Kon-
Giro d’Italia ein Blutersatzpräparat aus sei- Muskelmacher im Gepäck sumenten Ungemach. Selbst bei minus 70
nen Forschungslabors zu Tage förderte. Von der Zollfahndung im Jahr 2000 Grad hält sich Hemassist nur zwölf Mona-
Patricia O’Hayer, Mitarbeiterin aus der entdeckte Dopingmittel te – womit das in San Remo gefundene
Baxter-Niederlassung in Brüssel, machte PRÄPARAT TABLET TEN Mittel seit mindestens zwei Jahren abge-
sich vergangenen Mittwoch zur Staatsan- Stückzahlen laufen wäre. „Wer das jetzt noch nimmt“,
waltschaft nach Florenz auf. Sie sollte Androstendion Vorstufe des sagt ein Baxter-Mitarbeiter, „ist nicht mehr
klären, wie das Mittel ins Gepäck von Rad- Testosteron 1 126 000 verkehrstauglich.“
sportlern gelangen konnte. Metandienon Anabolikum 110 628
Auf dem deutschen Schwarzmarkt sind
Bei der bisher größten Durchsuchungs- Hemassist und RSR-13 nach den Erkennt-
aktion im Sport hatten die Fahnder beim „Thai“ Anabolikum aus nissen der Behörden bisher nicht zu ha-
Italiener Dario Frigo den Blutersatzstoff Thailand 33 322 ben. In den 109 Verfahren, die Ermittler im
Hemassist gefunden. Das war selbst für Ephedrin Stimulanzium 23 165 vergangenen Jahr in Deutschland gegen
Dopingexperten eine Sensation: Das Mit- Dopingschmuggler einleiteten, waren die
tel war offiziell nie auf dem Markt, der Clenbuterol Asthma-Mittel 3310 Substanzen nicht aufgetaucht. Denkbar sei
Pharmamulti hatte es noch in der klini- Testosteron Sexualhormon 499 aber, so Leonhard Bierl vom Zollkriminal-
schen Erprobung zurückgezogen. Quelle: Zollkriminalamt
amt in Köln, dass Präparate „umetikettiert
Nicht nur dass Radfahrer offensichtlich werden“ – also der tatsächliche Inhalt von
bereit sind, immer größere Risiken einzu- Ampullen verschleiert wird.
gehen: Seitdem der beliebte Blutauffrischer Jedes Medikament wird in drei Testpha- Dass die Razzia von San Remo die
Epo zuverlässig nachgewiesen werden sen auf Verträglichkeit und Wirksamkeit Performance mancher Rennteams beein-
kann, sind die Athleten bei der Beschaf- geprüft, bevor es in den Handel geht. RSR- trächtigt, ist eher nicht zu erwarten. Die
fung der Muntermacher in eine neue Di- 13 aus dem Hause des amerikanischen US-Biotechnikfirma Amgen hat gerade
mension des Betrugs eingestiegen. Pharmaherstellers Allos Therapeutics be- rechtzeitig Aranesp auf den Markt ge-
Bedienten sich Doper bisher bei zwie- findet sich zur Zeit in Phase drei. Das bracht, eine Art Super-Epo für Patienten
lichtigen Apothekern, bei Schmugglern Präparat, das wie Epo den Sauerstoff- mit Blutarmut. Der Vorteil: Die Wirkung
und geheimen Pillendrehern, so lassen die transport im Blut ankurbeln soll, kommt von Aranesp hält zwei Wochen vor. Wer
in San Remo beschlagnahmten Präparate frühestens in einem Jahr auf dem Markt. den Stoff in der nächsten Woche zu sich
vermuten, dass die Athleten und ihre Be- Dass RSR-13, entwickelt zur Behand- nimmt, steht bei der Tour de France voll
treuer nun offensichtlich Zugang zu den lung von Patienten mit Gehirntumoren, im Saft. Udo Ludwig, Gerhard Pfeil

168 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Prisma Wissenschaft · Technik
TIERSEUCHEN

„Im Zeitraffer“
Claudio Soto, 35, Neurobiologe am
Serono Pharmaceutical Research In-
stitute in Genf, über neue Chancen für
einen BSE-Bluttest am lebenden Rind
und am Menschen

SPIEGEL: Sie haben ein Verfahren ent-

M. HARVEY / WILDLIFE
wickelt, mit dem BSE-Erreger im Labor
vervielfacht werden können. Was heißt
das für den Test auf Rinderwahn?
Soto: Unsere Methode wird die Emp-
findlichkeit bisheriger BSE-Tests um ein Zwergflamingos am Nakuru-See in Kenia
Vielfaches erhöhen und bietet zum ers-
ten Mal die reelle Chance, die Krank- TIERE
heit bei lebenden Rindern nachzuwei-
sen. Auch die Diagnose von vCJK, der
vergleichbaren Krankheit beim Men-
Mysteriöser Flamingotod
schen, könnte möglich werden.
SPIEGEL: Wie funktioniert das?
Soto: Wir imitieren
E in Massensterben unter den Millionen von Zwergflamingos, die jedes Jahr auf
dem Weg nach Südafrika am Nakuru- und Bogoria-See in West-Kenia Zwi-
schenstation machen, gibt Tierschützern vom World Wide Fund for Nature (WWF)
im Zeitraffer den Rätsel auf. Die betroffenen Tiere fliegen orientierungslos im Kreis oder watscheln
Prozess, mit dem rückwärts über den Strand. Andere sind unfähig, vor Räubern zu flüchten. Allein
sich die BSE-Erre- in der vergangenen Woche fielen Hunderte von Zwergflamingos der mysteriösen
ger, so genannte Seuche zum Opfer. Schon in den vergangenen zehn Jahren haben ähnliche Mas-
abnormale Prio- sensterben unter den Populationen gewütet. Denkbar wäre es, dass Schwermetal-
nen, im Gehirn le die Flamingobestände dezimieren. Doch nur der Nakuru-See ist durch Blei-,
vervielfältigen. Quecksilber- und Arseneintrag aus einer nahe gelegenen Stadt belastet. Die Zwerg-
Was beim Men- flamingos ernähren sich fast ausschließlich von bestimmten Algen, die toxische Stof-
schen 30 bis 40 fe erzeugen. Aus irgendeinem Grund, so vermuten Beobachter, könnten die Tiere
Jahre dauert, läuft ihren natürlichen Schutz gegen diese Gifte verlieren. Noch dreht sich die Suche nach
in unserem Labor den Ursachen im Kreis: „Wir haben nicht die Spur eines Hinweises“, klagt WWF-
BSE-Forscher Soto in weniger als ei- Experte John Barker, „warum die Vögel massenhaft zu Grunde gehen.“
nem Tag ab. Da-
durch kann selbst in Blutproben, die nur
sehr wenige infektiöse Prionen enthal-
ten, die Anzahl dieser Prionen in kurzer
Zeit über die Nachweisgrenze vermehrt AIDS den USA hatten frühere Studien gelie-
werden. Theoretisch reicht ein einziges fert, die über einen Anstieg bei sexuell
Prionenmolekül bei unserer Methode
zum Nachweis aus.
Warnsignal aus den USA übertragbaren Krankheiten wie Tripper
und Syphilis berichteten. Solche Warn-
SPIEGEL: Ist ein Bluttest für BSE damit
in greifbare Nähe gerückt?
Soto: Bei Hamstern ist es uns bereits ge-
D ie Zahl der jungen Homosexuellen
in den USA, die mit dem HI-Virus
infiziert werden, steigt in jüngster Zeit
signale gibt es, wie Ulrich Markus vom
Berliner Bundesgesundheitsamt erklärt,
nun auch in Europa. Ähnlich wie in den
lungen, die Erreger im Blut nachzuwei- „in alarmierender Weise“, heißt es in USA müsse auch hier mit einem An-
sen. Bei Rindern oder Menschen wird es einem Bericht des US-Seuchenzentrums stieg bei den HIV-Infektionen gerechnet
jedoch noch eine Weile dauern. Indem in Atlanta. Das ist das Fazit einer Stu- werden.
wir unser Verfahren herkömmlichen die, bei der Epidemiologen über zwei
BSE-Tests vorschalten, könnte es jedoch Jahre lang Freiwillige in Szenekneipen,
schon bald gelingen, zumindest die BSE- Homosexuellen-Treffs und Discos von
Tests für tote Tiere zu verbessern und sechs US-Millionenstädten auf HIV un-
die Krankheit schon bei viel jüngeren tersuchten. Eine geradezu explosive Zu-
Tieren zu erkennen. Bislang kann BSE nahme von Infektionen entdeckten sie
an toten Rindern nur festgestellt werden, dabei unter farbigen Homosexuellen im
wenn sie über 30 Monate alt sind. Alter zwischen 23 und 29 Jahren. Die
SPIEGEL: Könnte das Verfahren auch hel- Quote der jährlichen Neuinfektionen
fen, die Krankheit besser zu verstehen? liegt in dieser Gruppe bei 14,7 Prozent,
Soto: Ja. Die Suche nach möglichen bei den weißen Homosexuellen dieses
Therapien wird nun viel einfacher. Weil Alters bei 2,5 Prozent. Im vergangenen
GLOBE PHOTOS

der Vorgang der Prionen-Vermehrung Februar betrug demnach die Quote der
im Labor schneller abläuft als im Kör- HIV-Infizierten unter den jungen
per, lässt sich nun natürlich auch der schwarzen Schwulen schon 30 Prozent.
Mechanismus besser studieren. Erste Hinweise auf diese Entwicklung in US-Schwuler bei Aids-Veranstaltung
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 171
Prisma Wissenschaft · Technik

LINGUISTIK acht Zentimeter große Nickelscheiben graviert werden. Dem


Schutz der Datenträger dienen Glashalbkugeln, die wie Ver-

Sprachschatz für größerungsgläser wirken. Acht sich verjüngende


Textanfänge am Rand der Scheiben sollen nach-
folgenden Generationen von Archäologen

die Zukunft und Linguisten einen Hinweis auf den


miniaturisierten Sprachschatz liefern.
Bisherige Härtetests haben die

M it einer Flaschenpost an die


Zukunft will eine kleine Stif-
tung in San Francisco künftigen
Scheiben zufrieden stellend über-
standen: Weder Salzwasser noch
Sonnenlicht oder radioaktive
Jahrtausenden eine Ahnung Strahlung konnten ihrer Bot-
vom sprachlichen Reichtum zu schaft etwas anhaben. Die
Beginn des 21. Jahrhunderts ge- stummen Zeugen, so glauben
ben. Mit ihrem „Rosetta-Pro- die Initiatoren des Projekts,
jekt“ nehmen die Initiatoren werden voraussichtlich 2000
Bezug auf den 1799 in Ägyp- Jahre überdauern. Am Sinn
ten entdeckten „Stein von Ro- der Rettungsaktion, bei der
setta“, dem es die Sprachfor- insgesamt 10 000 Scheiben an
scher zu verdanken haben, dass Bibliotheken, Museen und pri-
sie das Geheimnis der Hierogly- vate Sammler abgegeben wer-
phen lüften konnten. Auf einer Ba- den, ist nach Ansicht von Linguis-
saltplatte hatten ägyptische Priester ten kaum zu zweifeln: Schon im

ROSETTA PROJECT
im zweiten vorchristlichen Jahrhun- Jahr 2100, so schätzen sie, werden
dert ein Dekret in drei Sprachen eingra- bis zu 90 Prozent der heute weltweit
viert. Bei dem modernen „Rosetta-Pro- 6000 bis 7000 Sprachen praktisch nicht
jekt“ sollen die ersten drei Kapitel der bibli- mehr verwendet werden.
schen Genesis in 1000 verschiedenen Sprachen,
von Abchasisch bis Zulu, mit Hilfe eines Ionenstrahles auf Moderne „Rosetta“-Scheibe mit Textgravuren

COMPUTER L U F T FA H R T

Schach als Studiengang Auf Luftmatratzen zur Erde


P eter Vas, 52, Computerforscher an der schottischen Universität
Aberdeen, gründet den weltersten Aufbaustudiengang im Fach
„Schach und Künstliche Intelligenz“. Im September soll das Dok-
D ereinst könnten Raumtransporter mit Hilfe von aufblas-
baren Flügeln nach Vollendung ihrer Mission sicher zur
Erde gleiten. Nasa-Ingenieure haben Tests abgeschlossen, bei
torandenseminar beginnen, mehr als ein Dutzend Bewerbungen denen ein Flugmodell mit zusammengefalteten Schwingen in
aus aller Welt liegen vor. Als Gastlektoren will Vas auch Schach- Höhen von 240 bis 300 Metern von einem Trägerflugzeug aus-
genies wie Garri Kasparow verpflichten. „Die Studenten müssen geklinkt wurde. Der Flugkörper überstand die kritische Phase
keine Schachmeister oder Softwaregurus sein“, so Vas, „aber sie beim Übergang vom flügellosen zum flügelgetragenen Zustand
sollten überdurchschnittlich im Rechnen, Programmieren und ohne Probleme. Ob-
Schachspielen sein.“ Mensch und Maschine sollen in den Kursen wohl sich die Trag-
voneinander lernen: „Wir wollen Schach-Großmeister trainieren“, flächen in weniger als
sagt Vas, der seine computergestützte Lehrmethode an seinem einer Sekunde ruckartig
zehnjährigen Sohn Victor demonstriert hat: Der spielt erst seit ei- entfalteten, blieb die
nem halben Jahr Schach und stieg bereits zum schottischen Meis- Fluglage stabil. Gespeist
ter in seiner Altersgruppe auf. Gleichzeitig sollen die Schachdok- werden die aufblasba-
TOM TSCHIDA / DRYDEN / NASA

toranden Programme mit „Künstlicher Intelligenz“ entwickeln. ren Flügel mit kompri-
miertem Stickstoff. Ein
Regulator sorgt dafür,
dass sich der Gasdruck
in den Tragflächen nicht
verändert und die Flü-
gel prall bleiben. Die
Idee des Flugs mit Luft- Testflugzeug mit aufblasbaren Flügeln
ANDREAS RENTZ / BONGARTS

matratzen-Flügeln ist
nicht ganz neu. Schon in den sechziger Jahren haben Firmen
aufblasbare Flugzeuge entwickelt. Künftige Raumtransporter
könnten dank der neuen Flughilfen mit geringerer Geschwin-
digkeit landen. Auch Rettungsvehikel im All würden von der
Technik profitieren: Sie spart Raum und hilft, das Gewicht der
Schachspieler beim Turnier Flugfähren zu reduzieren.
172 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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ROMAN KAISER

Hoya novo-guinense (Papua-Neuguinea) Philodendron solimoesense (Französisch-Guayana)

CHEMIE

Duft unter der Haube


Mit feiner Nase und ausgefeilter Technik fahnden Duftforscher in Regenwäldern, Bergwiesen und
Korallenriffen nach neuen Gerüchen für die Parfums und Shampoos der Zukunft.
Selbst Düfte von Erde und Schnee fangen sie ein – und bauen sie dann im Labor nach.

D
ie Ahnung von etwas nie Geroche- durch die Welt und fahndet nach den duf- die Scouts großer Duftfirmen wie Givau-
nem ereilte Roman Kaiser auf der tenden Innovationen von morgen. Damit dan, Quest International, Firmenich oder
Wanderschaft. Gerade stieg der 55- zählt Kaiser zu einer neuen Spezies von International Flavors & Fragrances durch
Jährige ein steiniges Bachbett im Regen- Geruchsforschern, die Mutter Natur als die Bergwiesen, Wälder und Wüsten der
wald Papua-Neuguineas hinab, als ihm Duftstofflieferanten wiederentdeckt haben. Welt. Sie trotzen Mückenschwärmen und
plötzlich „blumig-fruchtige Nuancen“ in Ausgerüstet mit feinster Analysetechnik extremer Luftfeuchte, um an exotischen
die Nase stiegen – vermischt mit „einer und hoch sensibler Nase, schnüffeln sich Blütenständen, seltenen Früchten und Har-
Idee von dunkler Schokolade und Kakao“. zen schnuppern zu können. Selbst Was-
Eine „spektakuläre Lianenpflanze mit serfällen und Urwaldbächen versuchen sie
bordeauxroten Blüten“ machte Kaiser kurz die geruchlichen Geheimnisse zu entrei-
darauf im Uferbewuchs des Sapoi-Creek ßen, um diese als Leitnoten für Duschgels
in Neuguineas Lakekamu Basin aus. Die und Edelparfums nutzbar zu machen.
Blüten einer Hoya novo-guinense, von „Die Spannbreite der natürlichen Düfte
den Einheimischen Unda Namdanga ge- ist längst noch nicht ausgeschöpft“, erklärt
nannt, verströmten dort ihren Duft. „Noch Kaiser. Der feinsinnige Forscher ist einer
MARC STEINMETZ / PLUS 49 / VISUM

nie zuvor habe ich Ähnliches gerochen“, der Stars der Zunft. Rund 20-mal war er
schwärmt Kaiser. „Das ist eine Note für inzwischen auf so genannten ScentTreks
richtig innovative Parfümerie.“ unterwegs. An der ligurischen Küste wid-
Kaiser ist Duftforscher. Einem modernen mete sich der Wissenschaftler Pinienharz
Jean-Baptiste Grenouille gleich – Protago- und Geißklee. In den Schweizer Bergen
nist in Patrick Süskinds Bestseller „Das war er dem Duft des Himmelsherolds und
Parfum“ –, jagt er der olfaktorischen Voll- dem Phänomen des „Watermelon Snow“
endung nach. Seit mehr als zwei Jahr- auf der Spur – Schnee, der durch eingela-
zehnten reist der Chemiker im Auftrag Geruchsforscher Kaiser gerte Algen rosa erscheint und „leicht nach
des Schweizer Duftstoff-Riesen Givaudan „Düfte sind Ausdruck von Leben“ Wassermelone riecht“. In den Regenwäl-
174 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Wissenschaft

Kaum mehr als eine Sammlung unter-


schiedlich großer Glaskolben ist notwen-
dig, um die flüchtigen Pretiosen einzufan-
gen. Über einzelne Blüten gestülpt, schließt
das Glas die mit Duftmolekülen durch-
setzte Luft um die Blüte, den „Headspace“,
ein. Ist der Duft erst unter der Haube, wird
er mit einer kleinen batteriebetriebenen
Pumpe bis zu drei Stunden durch ein
Adsorptionsröhrchen gesogen, in dem die
Duftmoleküle der Pflanze haften bleiben.
Dann wird das Gemisch mit Hilfe eines
Lösungsmittels wieder vom Filter gelöst
und in einer Mikroampulle eingeschlossen.
Die Ausbeute ist extrem gering: Maxi-
mal 200 Millionstel Gramm Duftmoleküle
gewinnen die Wissenschaftler pro Quelle.
Von einem dreiwöchigen „ScentTrek“
bringt Kaiser 40 bis 50 Proben von jeweils

DEMI BROWN / OXFORD SCIENTIFIC FILMS


etwa 50 Mikrogramm mit nach Hause – ins-
gesamt nicht mehr als 2,5 Milligramm Duft.
Nicht immer sind die begehrten Proben
so einfach zu sammeln, wie es die Metho-
de glauben macht. Man müsse „die Duft-
quelle verstehen“, erläutert Kaiser. Nur wer
ROMAN KAISER

„das innige Geheimnis zwischen Blüte und


Bestäuber“ begreife, könne zum Beispiel
den Duft der madagassischen Orchidee An-
Angraecum sesquipedale (Madagaskar) graecum sesquipedale einfangen: Das weiße
Blütenwunder verströmt nur nachts seinen
Geruchsquellen aus dem Regenwald lilienartigen Duft, weil dann der Bestäuber
Idee von dunkler Schokolade und Kakao der Pflanze, ein Nachtfalter, aktiv ist.
Besonders ergiebig ist die Suche zudem
dern Brasiliens, Französisch-Guayanas und gerade dort, wo sie besonders schwierig
Gabuns sammelte er den Duft prächtiger ist: im Blätterdach des tropischen Regen-
Orchideen. Im Februar erst kehrte er von walds. „Düfte sind ein Ausdruck von
seiner letzten Expedition nach Papua-Neu- Leben“, sagt Kaiser. „Nur wo viel Leben
guinea zurück. ist, kann man auch eine große Anzahl von
Rund 8000 Düfte von Blüten, Früchten Düften erwarten.“
und Wurzeln hat Kaiser inzwischen per Rund 60 Prozent aller irdischen Tier- und
Nase vor Ort „evaluiert“. Über 1500 die- Pflanzenarten lebten in den Wipfelregionen
ser „Noten“ hat er eingefangen und mit in der Regenwälder, berichtet Kaiser – eine
sein Labor in Dübendorf bei Zürich ge- unerschöpfliche Quelle olfaktorischer In-
KLINGELBEIL / MONDADORI / PICTURE PRESS

bracht. novation. Konsequent machte sich der For-


Wer dort mit Kaiser zusammensitzt, scher schon 1996 als Wipfelstürmer einen
erlebt ein Feuerwerk der Düfte. Über und Namen. Von einer aufblasbaren Plattform
über sind die Borde und Schränke des For- aus, die er per Heißluftballon erreichte, er-
schers mit kleinen Glasfläschchen beladen. kundete der Forscher das Blätterdach des
Unermüdlich kann Kaiser neue Duftpro- Regenwaldes von Französisch-Guayana.
ben hervorzaubern, tunkt zur Riechprobe Noch verblüffender sind die Versuche
dünne, angespitzte Pappstreifen in den der Duftjäger, sogar den Geruch von Erde,
„archaischen, moschusartigen“ Geruch des Steinen und Wasser oder ganze „Duft-
asiatischen Agarholzes oder zerstäubt den Parfum-Flakons landschaften“ (Kaiser) aufzuzeichnen.
„pampelmusigen und gleichzeitig holzi- Buhlen um Armanis Gunst Quest-Forscher Clery etwa kehrte erst
gen“ Duft einer Philodendron-Luftwurzel jüngst von einer Expedition nach Mada-
aus Französisch-Guayana. zu verändern oder zu zerstören“, sagt gaskar zurück. Neben 20 Duftproben ver-
Das Erstaunliche dabei: Nicht die Natur Robin Clery, Geruchsjäger der Duft- schiedener Blüten und Harze brachte Clery
verwirrt hier die Sinne. Die Gerüche aus schmiede Quest International. auch den Geruch eines Wasserfalls mit in
Kaisers Labor sind fast alle künstlich her- Tausende von Blüten sind nötig, um auf sein Labor im britischen Ashford.
gestellt. Der Duftfänger ist ein Großmeister klassische Weise auch nur ein paar Tropfen 80 Meter tief falle die „Grande Cascade“
der chemischen Analyse und Synthese. reinen Jasminöls zu extrahieren – ein Ver- im madagassischen Nationalpark Mon-
Denn was Kaiser und seine Kollegen von fahren, das sich bei exotischen Pflanzen tagne d’Ambre; sie verbreite ein Gefühl
ihren Expeditionen mit nach Hause brin- aus ökologischen wie finanziellen Grün- der „Frische und Kühle“, berichtet Clery.
gen, sind nicht etwa die riechenden Blüten den verbietet. Mit dem so genannten Head- Mit Hilfe kleiner im Sprühnebel des Was-
oder Früchte selbst. Allein die flüchtigen space-Verfahren haben die Chemiker je- serfalls positionierter Adsorptionsfilter ver-
Bestandteile, gleichsam die Seele der Düf- doch inzwischen eine Methode zur Hand, suchte der Forscher nicht nur, den Duft
te, fangen die Forscher ein. „Es klingt fast die es ihnen erlaubt, den Geruch selbst der Kaskade selbst festzuhalten. Auch den
unglaublich, aber wir können die Gerüche einzelner Blüten gleichsam wie mit einem Geruch der Moose und anderer Pflanzen
sammeln, ohne irgendetwas in der Natur Geruchs-Recorder aufzuzeichnen. rundum fing Clery auf, um später den ge-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 175
Wissenschaft

ren. Entscheidend ist dabei nicht nur die be- Als Probe aufs Exempel lässt Kaiser Gäs-
sondere Idee, sondern auch die besondere te gern hintereinander am künstlich her-
Ingredienz. Denn: „Nur chemische Einzel- gestellten Rosenduft und dann am natür-
bestandteile lassen sich patentrechtlich lichen Öl der Rose de Mai, dem feinsten
schützen, nicht aber ganze Parfum-Kom- aller Rosenöle, schnuppern. 4,5 Tonnen
positionen“, erklärt der Experte Kaiser. Blütenblätter sind notwendig, um nur ein
Das größte Glück des Duftjägers ist es Kilogramm des kostbaren Öls herzustel-
daher, in den mühsam gesammelten Pro- len. Etwa 9000 Mark müssen Parfümeure
ben bislang unbekannte Duftmoleküle aus- für die Essenz, „absolue“ genannt, bezah-
findig zu machen. Ohnehin beginnt erst im len. Kaisers Rekonstruktion dagegen kostet
heimischen Labor die wahre Kunst der Su- weniger als 100 Mark pro Kilogramm. Ihr
pernasen. Denn nicht der Naturduft ist es, Geruch jedoch beschwört das Bild eines
der schließlich „Contradiction“ von Calvin blühenden Rosengartens in einer Leben-
Klein den Duft einer tropischen Orchidee digkeit herauf, die ihresgleichen sucht.
verleiht, sondern dessen Rekonstruktion. „Bei der klassischen Methode kann sich
Aus 10 bis 200 Molekülsorten besteht ein die Zusammensetzung des Dufts durch
Naturduft. Ihn möglichst identisch im den Extraktionsprozess verändern“, sagt
Labor nachzubauen, erfordert modernste Kaiser. „Wir dagegen fangen den Duft der
Technik und ein Riechorgan der Spitzen- lebenden Pflanze ein.“ Schon begnügt er
klasse. Mit Gaschromatograf und Mas- sich nicht mehr mit der Rekonstruktion
senspektrometer rücken die Forscher den einzelner Düfte. „Duftszenarien“ sind die
Düften zu Leibe, um die wichtigsten Leidenschaft des Schweizers. Das olfakto-
Geruchsträger auszumachen. An erster rische Modell einer mit Holz befeuerten
Stelle jedoch steht für Kaiser und seine skandinavischen Sauna etwa kopierte der
Kollegen immer noch die eigene Nase. In Chemiker schon vor Jahren – eine Kom-
manchen Fällen empfindlicher als jedes position, die bis heute in Calvin Kleins
moderne Analysegerät weist sie dem Duft- „Escape for men“ weiterlebt. Aus vier
forscher den Weg zur Formel der Natur. verschiedenen „Duftbausteinen“ rekon-
„Die Kunst ist, zu wissen, was für den struierte er kürzlich den Geruch eines
Duft wichtig ist“, sagt Kaiser. Jeden Geruch Flüsschens im Regenwald Brasiliens.
ROMAN KAISER

versucht der Forscher daher wie zum ers- Die „größte Herausforderung“ sieht Kai-
ten Mal zu riechen. Analytisch gelingt es ser in der Rekonstruktion edler Weindüfte.
Das Bouquet eines Gewürztraminers von
Duftsuche im Regenwald* Kuehn 1996 etwa hat Kaiser in eine klare
Barocke Ambernoten als neuer Trend? chemische Essenz verwandelt. Die duften-
de Seele eines Château d’Yquem 1988,
samten „Duftakkord“ des Wasserfalls und „sehr barock, mit vielen süßen, karamelli-
seiner Umgebung nachbilden zu können. gen Noten und dem Aroma von Dörr-
Lohnt der Aufwand? Ist in einer Welt, in früchten“, riecht in der Kopie so verführe-
der selbst Klopapier parfümiert wird, der risch, dass sie fast zum Trinken einlädt.
Bedarf an Düften nicht längst gesättigt? Rund 300 solcher Geruchskunstwerke
Rund 3000 Duftingredienzen stehen den hat Kaiser im Labor nachgebaut. Viele von
Parfümeuren bereits zur Verfügung, die es ihnen sind inzwischen Bestandteil be-
erlauben sollten, fast jeden nur erdenk- kannter Edelparfums. In Yves Saint Lau-
lichen Geruch zu komponieren. Und den- rents „Opium“ sind Kreationen aus dem
noch: Im heiß umkämpften 18-Milliarden- Labor des Ausnahme-Duftforschers ent-
Markt der Düfte und Aromen kann nur halten, ebenso wie in Cartiers „So Pretty“
bestehen, wer ständig das Besondere sucht. und Ralph Laurens „Romance – men“.
„Die Parfumindustrie bewegt sich auf dem Unermüdlich suchen die Komponisten
ROMAN KAISER

schmalen Grat zwischen Kunst und Kom- der Düfte die Nase mit Neuem zu kitzeln.
merz“, sagt Felix Mayr-Harting, Marke- Quest International etwa glaubt sogar,
tingexperte von Quest International. unter dem Meeresspiegel olfaktorisches
Rund 90 Prozent der Luxusparfums wer- Blüte im „Headspace“-Kolben Neuland ausgemacht zu haben. „Menschen
den heute in modernen Parfum-Groß- Recorder für die Seele der Düfte können unter Wasser nicht riechen“, er-
küchen zusammengemischt. Firmen wie klärt Mayr-Harting von Quest Internatio-
Givaudan oder Quest buhlen um die Gunst ihm, ein Duftgemenge geruchlich zu se- nal. „Wir aber wollen unseren Kunden nun
etwa eines Giorgio Armani, wenn dieser zieren, das Knäuel aus chemischen Ver- das duftende Reich der Meere erschließen.“
der Welt einen neuen Herrenduft besche- bindungen zu entwirren. Schon auf ihrer Expedition nach Mada-
ren will. Entsprechend blasen die Ge- Sind die Einzelbestandteile bestimmt, gaskar besuchten die Forscher auch die
ruchsstofffirmen ihre Neuentdeckungen zu folgt die Rekonstruktion des Naturduftes. kleine der Küste vorgelagerte Insel Nosy
blumigen Marketing-Versprechen auf. Statt der 200 Moleküle in der Vorlage rührt Hara und platzierten ihre Duftfilter am vor-
„Üppig grüne“ Regenwalddüfte und „ba- Kaiser aus Kostengründen beispielsweise gelagerten Korallenriff.
rocke“ Ambernoten wollen die Duftjäger nur 70 synthetisch hergestellte Kompo- „Ein unglaublich feiner Geruch nach
von Quest International nach ihrer Mada- nenten zusammen und schafft so gleich- Meer“, kommentiert Mayr-Harting –
gaskar-Expedition als neue Trends etablie- sam ein vereinfachtes chemisches Abbild und fügt vorsichtig hinzu: „Ich bin nicht
des Originals. Die Qualität der Kunstdüfte sicher, ob diesen Duft irgendjemand tra-
* Zeppelinartiger Heißluftballon und aufblasbare Beob-
indes ist verblüffend und zur „Düpierung gen wollte – aber für Parfümeure eröff-
achtungsplattform auf den Baumwipfeln; 1996 in Franzö- einer Welt von Dumpfnasen“ (Süskind) al- net er faszinierende Möglichkeiten der
sisch-Guayana. lemal geeignet. Innovation.“ Philip Bethge

176 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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Mark und besitzt eine ful-
ARCHÄOLOGI E
minante Optik. Unter sei-

Rettung nem Elektronenstrahl sehen


winzige Haarrisse aus wie
der Grand Canyon.

für den Kaiser Stundenlang tastete der


Detektor die Xian-Proben
ab. Dann wusste Juling Be-
scheid: „Bei der Bemalung
Pekings Chef-Archäologen sind
verwendeten die Künstler
besorgt: Von der berühmten eine Grundierung“, sagt er.
altchinesischen Terrakotta-Armee „Es ist ein schwarzer, aus
platzt die Farbe ab. Baumharz hergestellter
Lack.“ Diese Schicht ver-

N
ormalerweise schiebt Martin Klein, liert beim Austrocknen jeg-
Chef der Firma VisiTec in Greves- liche Haftung und rollt
mühlen, in sein Rasterelektronen- plackenweise ab.
mikroskop Motorblöcke oder Kurbelwel- Um die Farbschichten zu
len. „Das Gerät kann 300 000fach ver- retten, arbeiten die chinesi-
größern“, erklärt der Ingenieur, „auch die schen Archäologen derzeit
Firma Airbus lässt bei mir ihre Turbinen- mit dem Lösungsmittel Poly-
schaufeln überprüfen.“ ethylenglykol. Kaum aus
Jüngst klopfte neue Kundschaft an und der feuchten Erde präpa-
legte modrige Tonware auf den Tisch. Be- riert, werden die Figuren so-
wehrt mit Latexhandschuhen und Mund- fort mit der Tinktur be-
schutz hob Klein einen Kopf mit grimmem sprüht. Ein anderes Team
Gesicht und altchinesischer Haartracht in experimentiert mit Kom-
die Vakuumkammer. pressen. Dabei werden die

LIASON / GAMMA / STUDIO X


Der Terrakotta-Schädel ist eine Replik Tonkrieger mit getränkter
aus dem Grab des Kaisers Qin Shihuangdi Watte umhüllt.
(221 bis 210 vor Christus). In einem bruta- Die Technik ist aufwen-
len Sturmlauf unterwarf der Reichseiniger, dig, dürfte sich aber lohnen.
der sich „Gott“ (Shen) nannte und drei At- Ein „unvergleichliches, ge-
tentate überstand, über 40 Millionen Men- radezu ungeheuerliches
schen. 700000 Zwangsarbeiter mussten ihm Terrakottakrieger aus Xian: „Ungeheuerliches Erbe“ Erbe“, so die Restauratorin
bei Xian ein Mausoleum errichten. Blänsdorf, liegt im Umfeld
Die Nekropole, erst in Bruchteilen er- des Drachenthrons von Xian im Boden ver-
forscht, gehört zum Exorbitantesten, was borgen. Weit über hundert Kaiser und Kö-
menschlicher Schaffenskraft je gelang. 1974 nige ließen sich in Pyramiden oder riesigen
stießen zwei Bauern beim Brunnenbohren Felskammern bestatten. Jedes einzelne die-
auf ein Nebengelass der Anlage. In drei ser Prunkgräber könnte weitere Armeen
Erdschächten steckten rund 8000 manns- von Jenseitssoldaten offenbaren oder für
hohe Tonkrieger. ganz andere Überraschungen sorgen.
Ein Jahr später ging Peking mit dem Wo die toten Herrscher liegen, ist be-
Fund an die Weltöffentlichkeit. „Das ach- kannt, geöffnet wurde bislang kein einziges
te Weltwunder“, schwärmte Frankreichs ihrer Gräber. Auch der Totenpalast von
Staatspräsident François Mitterrand. Qin Shihuangdi liegt weitgehend unberührt
Eines jedoch verschwieg das Politbüro in im von Reisbauern besiedelten Gelände.
Peking: Beim Auffinden waren die Unter- Vor wenigen Monaten entdeckten die Ar-
welt-Krieger noch mit einer farbigen Pu- chäologen eine weitere Grube mit Terra-
derschicht überzogen. Rote Mennige, blaue kotta-Kriegern. Daneben lagen Pferde-
Sulfate und Bleiweiß hafteten an der Sol- skelette. Weiter östlich kamen 70 verrotte-
dateska. Heute steht die Jenseitsarmee te Holzpuppen zu Tage, bekleidet mit Rüs-
verblasst und schmutzig ockern in ihren tungen aus kleinen Steinplättchen.
BEN BEHNKE

Gruben. Die Erdpyramide, unter der der Mon-


„Es ist eine Tragödie“, erklärt die arch selbst liegt, war antiken Quellen zu-
Münchner Restauratorin Catharina Bläns- Tonreplik unterm Elektronenmikroskop folge einst rund 120 Meter hoch. Im Inne-
dorf, „sobald die Statuen aus dem feuch- Moderkopf mit Lackschaden ren standen kleine Paläste, an der Decke
ten Lehm geschält werden, blättert die kreisten künstliche Gestirne, Walfischöl
Farbe ab.“ Schon nach wenigen Minuten Chinas Jenseitsarmee beschäftigt. Herbert spendete Licht: „Selbst der große Ozean
setzt der Bröselprozess ein. Die Farb- Juling, Leiter der Baustoffmikroskopie bei wurde mittels Quecksilber nachgeahmt“,
schichten rollen sich auf wie Hobelspäne der Bremer Materialprüfungsanstalt, er- erzählt der Historiker Sima Qian (gestor-
und fallen ab. hielt aus Xian vier bemalte Originalfinger ben 86 vor Christus).
Die Chinesen, verzweifelt, stoppten zeit- sowie einige Farbproben. Viele Forscher halten den phantastisch
weise die Ausgrabung. Die meisten Lehm- Um zu ermitteln, was exakt auf der Ter- klingenden Bericht mittlerweile für glaub-
figuren in den Gruben 2 und 3 sind noch rakotta-Oberfläche abläuft, zog der For- würdig. Mit Sonden wurde der Grabhügel
von Erdreich umfangen. scher auch das Argusauge aus Greves- abgesucht. Ergebnis: In seinem Inneren be-
Mittlerweile sind auch deutsche Spe- mühlen zu Rate. Das weltgrößte Raster- findet sich eine hohe Konzentration an
zialinstitute mit dem fatalen Geblätter an elektronenmikroskop kostet 1,4 Millionen Quecksilber. Matthias Schulz

178 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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MEDIZIN

Waisen der Heilkunst


Über vier Millionen Deutsche leiden an exotischen Krankheiten. Jede einzelne davon ist so selten,
dass sich die Entwicklung eines Medikaments nicht lohnt. Viele, oft Kinder, müssen deshalb
sterben. Wird ein neues Gesetz, das der Pharmaindustrie mehr Anreize bieten soll, tatsächlich helfen?
beitsgruppe“, weiß Vater Stephan
Achtstätter. Ab und zu guckt er im
Internet nach, „was die da so ma-
chen“. Hoffnung? „Haben wir ei-
gentlich keine mehr“, sagen er und
seine Frau.
Ähnlich wie den Achtstätters geht
es in Deutschland schätzungsweise
vier Millionen Menschen. Sie alle
leiden an einer von etwa 5000 be-
kannten „seltenen Erkrankungen“
(so werden Leiden genannt, von de-
nen höchstens eine von 2000 Perso-
nen betroffen ist). Fast täglich ster-
ben in Deutschland Menschen, oft
Kinder, an solchen Krankheiten –
weil sie von der Forschung ver-
nachlässigt werden, weil sie keine
Lobby haben und weil sich die Ent-

MARCUS GLOGER / JOKER


wicklung eines passenden Medika-
ments für die Pharmaindustrie
schlicht nicht lohnt.
„Kinder mit solchen Erkrankun-
gen“, sagt Thorsten Marquardt,
Mukopolysaccharidose-Patient Jonas: „Alle Vögel sind schon da“ Spezialist für Stoffwechselerkran-
kungen an der Uni-Kinderklinik

V
or einem Jahr war Jonas Achtstätter, Mukopolysaccharidosen sind extrem sel- Münster, „fallen einfach in ein Loch.“ Oft
6, aus Aachen noch ein fast norma- ten. Untersuchungen zeigen, dass sie in tragen die Syndrome zwar die klangvollen
les Kind. Er konnte sprechen und Deutschland etwa mit einer Häufigkeit von Namen ihrer Entdecker – Morbus Hun-
zählen, sich selbst an- oder ausziehen, ein 1:70 000 auftreten. In der Regel sterben die tington, Morbus Wilson oder Morbus Pom-
Puzzle zusammenlegen, und er liebte es, Kinder, bevor sie 20 Jahre alt sind. Eine pe etwa –, doch niemand fühlt sich für sie
mit Legosteinen oder Playmobilfiguren zu Therapie gibt es für den Typ IIIA bislang verantwortlich. „Verwaiste Krankheiten“
spielen. nicht – und es forscht so gut wie niemand (Englisch „orphan diseases“) werden sie
Seit vergangenem Sommer ist alles an- daran. „Nur in Australien gibt es eine Ar- deshalb auch genannt.
ders. Von einem Tag auf den anderen Erst seit kurzem können die Betroffe-
brauchte Jonas wieder Windeln, statt zu KERNPUNKTE DER ORPHAN-DRUG- nen in Deutschland ein wenig mehr Hoff-
sprechen oder zu spielen schreit er jetzt oft VERORDNUNG DER EU nung schöpfen:
den ganzen Tag. Blitzartig greift er nach
Gläsern, um sie über den Tisch zu schleu- 왎 Verzicht auf Zulassungsgebühr
dern; Schubladen, die nicht gesichert sind, Für Orphan Drugs wird die Zulas-
reißt er hektisch auf. „Binnen eines halben sungsgebühr, die bis zu 500 000
Jahres“, sagt seine Mutter, „ist Jonas zu ei- Mark betragen kann, erlassen.
nem schwer geistig behinderten Kind ge- 왎 Alleinvertriebsrecht
worden.“ Nur singen kann er noch wie vor- Ist ein Arzneimittel als Orphan Drug
her. Vor allem „Alle Vögel sind schon da“. zugelassen, hat die Firma für zehn
Jonas leidet an einer seltenen Stoff- Jahre das Alleinvertriebsrecht.
wechselerkrankung, einer so genannten
Mukopolysaccharidose vom Typ IIIA. Es 왎 Beratung
fehlt ihm ein Enzym, das langkettige Die europäische Zulassungsbehör-
WOLFGANG MARIA WEBER

Zuckerverbindungen, die Mukopolysac- de berät Orphan-Drug-Firmen, zum


charide, in seinen Zellen abbauen kann; Beispiel über notwendige Studien.
deshalb reichern sich diese Stoffe in Jonas’ 왎 Weitere Anreize
Nervengewebe an und zerstören langsam Einzelne Länder der EU können
sein Gehirn. Die Krankheit ist erblich; seit weitere Anreize schaffen, zum Bei-
einem Gentest ist gewiss: Jonas’ Bruder spiel durch Steuernachlässe. Muskeldystrophie-Forscher Lochmüller
Nathan, 3, steht das gleiche Schicksal bevor. „Direkt sehen, wofür man arbeitet“
180 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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• Im letzten Jahr wurde eine zwischen in Europa mit dieser


EU-Verordnung in deutsches Methode therapiert werden, für
Recht umgesetzt, die Phar- die Herstellerfirma Genzyme
maunternehmen Anreize bie- ein lohnendes Geschäft.
ten soll, Medikamente („or- Vor allem für kleinere Unter-
phan drugs“) für seltene Er- nehmen könnte sich die Spezia-
krankungen zu entwickeln lisierung auf Orphan Drugs mit
(siehe Grafik Seite 180). den neuen Vergünstigungen be-
• Erstmals will das Bundesfor- zahlt machen. Doch noch gibt es
schungsministeriums jetzt ein viel zu wenig Firmen, um den
Projekt fördern, das speziell riesigen Bedarf zu decken. „Von
für seltene Erkrankungen den 5000 bekannten Krankhei-
konzipiert ist. ten“, sagt Eberhard Kroll, Ge-
Das Beispiel USA zeigt, dass schäftsführer des Unternehmens

J. H. DARCHINGER
solche Maßnahmen durchaus Orphan Europe Deutschland im
greifen können. Seit 1983 gibt es hessischen Dietzenbach, zu des-
dort den so genannten Orphan sen Sortiment inzwischen elf Me-
Drug Act, der, sogar noch kon- dikamente für seltene Erkran-
sequenter als die europäische Muskeldystrophie-Aktivist Over: Hart umkämpfter Charity-Markt kungen gehören, „wären theore-
Verordnung, Pharmafirmen spe- tisch etwa 1200 behandelbar.
zielle Anreize bietet. Seitdem sind 173 neue Dem verzweifelten Bemühen ihrer El- Doch nur für etwa 50 gibt es bis heute einen
Medikamente für seltene Krankheiten auf tern verdankte es Claudia, dass sie mit 14 ernst zu nehmenden Therapieansatz.“
den Markt gekommen. Jahren an der entscheidenden Studie zu Oft erweist sich der Weg dorthin sogar
Davon profitierte zum Beispiel auch einer Enzymersatztherapie teilnehmen als verblüffend einfach. Häufig helfen alt-
Claudia Riedel, 26, aus Karlsruhe, die ihre konnte. Der Aufwand, dafür alle zwei Wo- bekannte Substanzen, auf denen nicht ein-
Geschichte im Internet veröffentlicht hat: chen in die USA zu fliegen, lohnte sich: mal mehr ein Patentschutz liegt – man
Als Kind fiel sie auf, weil sie kleiner und Sie fing an zu wachsen, wurde kräftiger, der muss nur darauf kommen.
schwächer war als andere, einen dicken dicke Bauch verschwand. „Inzwischen“, Durch Zufall entdeckten zum Beispiel
Bauch und häufig Nasenbluten hatte – Fol- sagt sie, „spritze ich mir mein Medikament schwedische Forscher bei Versuchen mit
gen eines Morbus Gaucher, bei dem durch selbst und führe ein normales Leben.“ Ratten, dass das Unkrautvernichtungsmit-
einen Enzymdefekt massenhaft bestimmte Bis zu eine Million Mark pro Jahr kos- tel NTBC bei einer lebensbedrohlichen Ei-
Fette in Leber, Milz und Knochenmark ein- tet die Behandlung eines Gaucher-Patien- weißabbaustörung (Tyrosinämie Typ I) hel-
gelagert werden. ten – da bedeuten schon 50 Kranke, die in- fen kann; und die Folgen der Kupferspei-
cherkrankheit lindert ein einfaches Zink- auf einem Kongress in Hamburg ihre Toch-
präparat. „Wenn mehr geforscht würde“, ter sogar dem Vizepräsidenten der Firma,
sagt Markus Ries von der Universitäts-Kin- Emil Kakkis, persönlich vor – ohne Erfolg.
derklinik Mainz, wo zurzeit ein Zentrum „Er hat uns viel Glück gewünscht“, sagt sie
für Kinder mit seltenen Speicherkrankhei- enttäuscht, „aber keine konkreten Zusa-
ten aufgebaut wird, „gäbe es mit Sicherheit gen gemacht.“ Inzwischen kündigte Kakkis
schon wesentlich mehr Therapien.“ an, die Firma werde einer begrenzten Zahl
Bevor ein neues Medikament allerdings von Patienten das Medikament doch schon
tatsächlich auf den Markt kommen kann, vor der offiziellen Zulassung zur Verfü-
muss es erst klinisch erprobt werden – für gung stellen – wann das genau sein soll
viele Eltern bedeutet das noch einmal eine und ob Sarah dabei sein wird, ließ er al-
besonders qualvolle Phase. Denn nur we- lerdings offen. Erst 2002 wird das Medika-
nige und – das ist für schnelle und eindeu- ment wahrscheinlich auf dem Markt sein.
tige Ergebnisse wichtig – nur in besonde- Für Sarah ist es dann möglicherweise schon
rer Form betroffene Kinder dürfen an sol- zu spät. „Wir leben nur noch von Stunde
chen Studien teilnehmen. Der Rest muss, zu Stunde“, sagt ihre Mutter.
die Rettung schon vor Augen, warten. Inzwischen sind jedoch immer weniger

J. H. DARCHINGER
So geht es derzeit auch Johanna Krajew- der betroffenen Eltern bereit, ihr Schicksal
ska und ihrer Tochter Sarah aus Beckum. klaglos hinzunehmen. Zahlreiche Patien-
Sarah, inzwischen fast vier Jahre alt, leidet teninitiativen beginnen sich zu formieren;
an der besonders schwer verlaufenden Mu- nach französischem und amerikanischem
kopolysaccharidose vom Typ I. Seit ihrer Muskeldystrophie-Patient Benni (l.)* Vorbild sammeln sie systematisch Gelder
Geburt schwebt sie fast ständig in Lebens- Trotz Hightech-Medizin keine Therapie für die Forschung, suchen die enge Zu-
gefahr; monatelang musste sie beatmet sammenarbeit mit Ärzten und Wissen-
werden, ihre Nieren versagten, es kam zu galerweise mit dem neuen Mittel behandelt schaftlern und machen in den Medien ag-
Magen- und Gehirnblutungen. Die einzige werden – doch die Firma weigert sich bis- gressiv auf ihre Probleme aufmerksam.
Hoffnung für Mutter und Tochter: ein lang, die Substanz herauszurücken. Besonders erfolgreich arbeitet seit einigen
Enzymersatzmedikament der US-Firma Zahlreiche Briefe und E-Mails von Jo- Jahren die Elterninitiative „aktion benni &
Biomarin (kooperiert mit Genzyme), das hanna Krajewska an Biomarin blieben un- co e. V.“ aus Niederbreitbach im Wes-
sich zurzeit in der Erprobung befindet. beantwortet, vergangenes Jahr stellte sie terwald. Benni Over, heute zehn, war knapp
Sarah durfte an dieser Studie nicht teil- drei, als die Ärzte bei ihm die Diagnose
nehmen. Trotzdem könnte sie eigentlich im * Mit seinem von der Krankheit nicht betroffenen Bruder „Duchenne-Muskeldystrophie“ stellten. Bei
Rahmen eines „Einzeltherapieversuchs“ le- Florian. dieser seltenen Erbkrankheit, die so gut wie
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ausschließlich Jungen trifft, schwinden die tenbanken, Reisen und Workshops


Muskeln unaufhaltsam. Schon als Neun- gefördert werden. „Wir wollen ei-
oder Zwölfjährige sitzen die Kinder im Roll- nen Organisationsprozess an-
stuhl; irgendwann versagen Herz und At- stoßen“, sagt der zuständige Be-
mung; eine Therapie gibt es nicht. amte Robert Hauer, „der optima-
„Zu mir kommen Sie ab jetzt nur noch le Forschung ermöglicht.“
zur Verlaufskontrolle“, erklärte der Arzt Zu der Ausschreibung durch-
Bennis entsetzten Eltern, nachdem die Dia- ringen konnte sich das Ministe-
gnose feststand. Der Vater, Klaus Over, rium allerdings erst nach zahl-
empfand das „wie eine fristlose Kündi- reichen empörten Anrufen von
gung“ – trotzdem resignierten er und sei- Forschern, deren Anträge auf För-
ne Frau Connie nicht. „Als wir endlich derung regelmäßig abgelehnt
glauben konnten, dass es trotz aller High- wurden – weil die besonderen

HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS


tech-Medizin keine Therapie für Benni Umstände bei seltenen Erkran-
gab“, erzählt Over, „haben wir uns gesagt: kungen einfach in kein gängiges
Na gut, dann ist das so. Immerhin gibt es Ausschreibungskonzept passten.
ja einige Menschen, die daran forschen. Dabei, sagt Marquardt, kann
Benni hat vielleicht noch 15 Jahre. Bis da- Forschung an seltenen Erkran-
hin muss man doch was machen können.“ kungen durchaus auch Erkennt-
Over überlegte sogar, selbst Medizin zu nisse über sehr häufige Leiden
studieren, um in die Forschung zu gehen. CDG-Patient Léon im Gehapparat* bringen. Marquardts Spezialgebiet
Doch dann besann er sich auf das, was er, Einer von acht Glücklichen ist das CDG-Syndrom, bei dem die
im Marketing tätig, besonders gut kann: Bildung von Zuckerketten auf Ei-
Projekte auf den Weg bringen und Geld klärt beispielsweise Hanns Lochmüller, der weißen gestört ist; die Kinder sind körper-
sammeln. „Ich suche nicht nach Mitleid“, am Gen-Zentrum Großhadern nach einer lich und geistig schwer behindert, viele ster-
erklärt er, „sondern ich weiß, dass ich in ei- somatischen Gentherapie für Duchenne- ben jung. „In Deutschland sind zwar nur
nem hart umkämpften, aber sehr großen Erkrankte forscht, „so direkt zu sehen, etwa 70 Fälle bekannt“, sagt Marquardt,
Markt tätig bin, dem Charity-Markt.“ wofür man arbeitet.“ „aber durch die Erforschung dieser Zucker-
Inzwischen kommt pro Jahr durch Ak- Noch etwas glaubt Over im Film „Lo- ketten haben wir auch etwas darüber er-
tionen wie „Running for Duchenne“ weit renzos Öl“ gelernt zu haben: dass eine fahren, wie Tumoren metastasieren.“
über eine Million Mark zusammen. Ein Ex- Kommunikation der Forscher untereinan- Doch gerade das Beispiel CDG-Syndrom
pertengremium entscheidet darüber, wel- der bei seltenen Erkrankungen besonders zeigt, wie schwierig Fortschritte sind, wenn
che Forschungsprojekte weltweit damit un- wichtig ist. „Wenn wir nur all das zusam- es um extrem seltene Krankheiten geht.
terstützt werden sollen. mentragen könnten, was weltweit in den Die einzige Therapiestudie zum CDG-Typ
Viele Male haben Bennis Eltern den Film Schubladen der Wissenschaftler vor sich Ia, durchgeführt an der Uniklinik Münster
„Lorenzos Öl“ gesehen. In der authenti- hin schlummert“, sagt er, „könnten wir be- in Kooperation mit anderen Kliniken, wird
schen Geschichte kämpfen Augusto und stimmt einige Jahre gewinnen.“ von keiner Pharmafirma unterstützt; be-
Michaela Odone verzweifelt um das Leben Vernetzung ist auch der Grundgedanke vor sie die Kinder damit behandelten,
ihres Sohnes Lorenzo, der an der Fettstoff- der ersten Ausschreibung des Forschungs- mussten die Forscher, um Nebenwirkungen
wechselstörung Adrenoleukodystrophie lei- ministeriums speziell für seltene Erkran- auszuschließen, die Substanzen erst ein-
det; innerhalb weniger Jahre zerstört diese kungen. Fünf Jahre lang sollen für ver- mal an sich selbst erproben.
Krankheit das gesamte Nervensystem und schiedene Leiden mit jeweils ein bis zwei Léon Willrodt, 6, aus Seester in der
führt zum Tode. Millionen Mark Koordinierungsstellen, Da- Nähe von Hamburg, ist einer der glückli-
Weil die Eltern nicht locker- chen acht Teilnehmer dieser Studie. Fröh-
lassen und Wissenschaftler lich plappernd, immer wieder spitze
aus allen Regionen der Welt Schreie ausstoßend, sitzt er im Wohnzim-
zusammenbringen, schaffen mer auf dem Boden – seine Eltern können
sie es schließlich, ein Medi- den Anblick noch immer kaum fassen.
kament zu entwickeln: „Lo- „Der Zustand von Léon“, sagt die Mutter,
renzos Öl“. „hat sich durch die Therapie um 180 Grad
Zwar haben neuere Studi- gedreht.“ Noch vor anderthalb Jahr konn-
en ergeben, dass Lorenzos Öl te er weder sitzen noch sprechen, meist
möglicherweise doch nicht so lag er nur still herum.
gut wirkt wie ursprünglich Trotz des Erfolges war die Fortführung
erhofft. Doch immerhin: Lo- der Therapie immer wieder bedroht: Weil
renzo selbst ist, allen Progno- der Erfolg wissenschaftlich noch nicht er-
sen zum Trotz, inzwischen 22 wiesen ist, wollte die Krankenkasse die für
und noch immer am Leben. die Therapie zusätzlich notwendige teure
Wie die Odones sucht auch Spezialnahrung nicht zahlen.
Over die enge Zusammen- Um die Krankheit endlich bekannter zu
arbeit mit Forschern – und machen, rief Léons Vater Marc Willrodt
stößt bei diesen meist auf schließlich vor drei Jahren den Förderver-
viel Interesse. „Es ist schon ein „CDG-Syndrom“ ins Leben. Vier bis
etwas ganz Besonderes“, er- fünf Stunden täglich, oft bis tief in die
Nacht hinein, arbeitet er ehrenamtlich für
* Oben: mit seinem von der Krankheit den Verein. 200 Prominente schrieb er an,
CINETEXT

nicht betroffenen Bruder Benedikt; un- ob sie Schirmherr werden wollten.


ten: mit Zack O’Malley Greenburg als
Lorenzo und Nick Nolte und Susan Sa- Ganze vier davon haben geantwortet –
randon als seine Eltern. Szene aus „Lorenzos Öl“*: Die Eltern ließen nicht locker alles Absagen. Veronika Hackenbroch

184 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
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durchgesetzt, nach der die Kä-


fighaltung europaweit beibe-
halten werden kann“, klagt
Thomas Janning vom Zentral-
verband der Geflügelwirt-
schaft. „Nun will dieselbe Re-
gierung diese Regelung für
Deutschland kippen.“
Die Geflügelwirtschaft, die
als Profiteur des Rinderwahns
mit der Massenproduktion
von ebenfalls gepferchten und
malträtierten Hähnchen und
Puten kaum nachkommt,
droht mit dem Verlust von an-
geblich fast 5000 Arbeits-
plätzen.
Der EU-Kommission zufol-
ge sind jedoch überhaupt nur
1000 Menschen damit be-
schäftigt, sämtliche im deut-
schen Hennenknast einsitzen-
den 40 Millionen Vögel zu
verwahren. Denn die automa-

ARCHE 2000
tisierten Legebetriebe kom-
men mit einem Minimum an
Legehennen in der Batterie: Kriminelle Praxis zum Schein legalisiert Personal aus. Die in der
Schweiz übliche Volierenhal-
tung, neben Boden- und Freilandhaltung
TIERSCHUTZ
eine erprobte Alternative zur Batterie,
benötigt mindestens doppelt so viele Ar-

Panik in der Lobby beitsplätze.


In einem Gutachten für eine umstritte-
ne und schließlich erfolgreich abgeschmet-
terte Großbatterie in Neubukow pries bei-
Die Bundesregierung will die spielsweise der Stuttgarter Veterinärpro-
Legehennen aus den Batteriekäfigen befreien. Jetzt liegt fessor Werner Bessei die hochmoderne
die Entscheidung beim Bundesrat. Technik, mit der dort 738 000 Hennen be-
treut werden sollten.

V
erschreckt wie ihr Federvieh, wenn fassenden Karlsruher Spruchs war in Fun- Ein „mehrstufiges Alarmsystem“ über-
plötzlich Lampenlicht die fenster- kes neuem Entwurf die Verlängerung des wache den „Anstieg an Schadgasen“. Auch
losen Legebatterien erhellt, gebärden gemeinschaftlichen Futtertrogs – von zehn die Entsorgung der zu erwartenden rund
sich zurzeit Deutschlands Hühnerbarone. auf ganze zwölf Zentimeter je Henne. 55 000 toten Tiere pro Jahr sei zufrieden
Eierproduzenten und Geflügelzüchter be- Erst eine drahtige Juristin, durch die stellend geregelt. Den insgesamt sieben Ar-
schwören die Katastrophe für ihre Branche BSE-Krise auf den Landwirtschaftsminis- beitskräften stünden für die „tägliche Kon-
herauf: Gegenwärtig liegt dem Bundes- tersessel geraten, hat nun die Hennen- trolle mit Herausnahme kranker und toter
rat eine neue Verordnung vor, mit der die halter aufgescheucht. Mit ihrer Ankündi- Tiere“ 0,0022 bis 0,0027 Minuten pro Hen-
Grüne Landwirtschaftsministerin Renate gung, der Käfighaltung ab dem Jahr 2007 ne zur Verfügung.
Künast die Käfighaltung abschaffen möchte. ein Ende zu machen, löst Künast Wehge- Im Dämmerlicht der Hallen und über
Jahrzehntelang hatten die Batteriebe- schrei aus. acht Käfigetagen, so kritisierte die Verhal-
treiber mit den eingepferchten Kreaturen „Vor zwei Jahren hat die rot-grüne Re- tensforscherin und Hennenexpertin Glari-
ein prächtiges Geschäft gemacht, obwohl gierung in Brüssel eine EU-Richtlinie ta Martin diese triste Akkordarbeit, sei es
sie damit gegen das Tierschutzgesetz ver- „unvermeidbar, dass gestorbene Tiere un-
stießen: Seit 1972 ist vorgeschrieben, dass Kreatur im Knast bemerkt verwesen und von anderen an-
der Besitzer seine Pfleglinge „verhaltens- In Deutschland legen 42 Millionen Hühner gepickt werden“.
gerecht unterbringen“ muss. jährlich rund 14 Milliarden Eier Eine einzige Angestellte reicht aus, um
Vor Strafe hatten füllige Landwirt- die 500 000 Hennen und ihre Produktion
Freilandhaltung 4,7%
schaftsminister aus dem Bauernstand ihre freier Auslauf auf bewachsener Fläche, im früheren DDR-Kombinat Industrielle
Agrarlobby bewahrt – mit einer „Verord- 10m2 je Huhn Mast in Bestensee bei Berlin zu kontrol-
nung zum Schutz von Legehennen bei Kä- Intensive Auslaufhaltung 0,4% lieren – jedes vierte in der Hauptstadt ver-
fighaltung“, die in Wirklichkeit die Hüh- 2,5m2 je Huhn zehrte Ei stammt aus diesem Betrieb, der
nerhalter unter ihre Fittiche nahm und die Bodenhaltung 6,1% sich mit einer weiteren halben Million Hen-
kriminelle Praxis zum Schein legalisierte. sieben Hühner je Quadratmeter, nen bereits auf Freiland- oder Bodenhal-
ein Drittel der Fläche mit Streumaterial
Selbst nachdem das Bundesverfassungs- tung umgestellt hat.
gericht 1999 die Verordnung für nichtig er- Volierenhaltung 0,5% Mit einer neuen Variante des stapel-
bis zu 25 Hühner je Quadratmeter, auf mehreren
klärt hatte, hielt der damalige Landwirt- Stockwerken Sitzstangen und Legenester baren Drahtlogis versucht in Niedersach-
schaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) Käfigbatteriehaltung 88,4% sen, wo jedes dritte deutsche Ei erzeugt
den Eierproduzenten die Stange: Einzige Gruppenkäfige, umgerechnet Quelle: Landwirtschafts- wird, Landwirtschaftsminister Uwe Bar-
22 Hühner je Quadratmeter ministerium Mainz
Verbesserung im Sinne des 59 Seiten um- tels (SPD) die Käfighaltung zu retten: Die
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Hennen, die bislang zu viert oder fünft Der von Künast für das Jahr 2007 an- ausgerechnet den Trierer Juristen Gerhard
hinter Gitter gezwängt werden, sollen nach gekündigte Ausstieg beglückt Verhaltens- Robbers beauftragt habe, in einem Gut-
Bartels’ Antrag an den Bundesrat in „aus- forscher, Tierschützer und Verbraucher achten die Strafbarkeit zu beurteilen. Er-
gestaltete Kleingruppenkäfige“ umziehen. gleichermaßen. Doch „Einflüsterungen aus wartungsgemäß stritt Robbers sie ab –
Schon Funkes Tierschutzreferentin Karin der Eierlobby“ hätten für allzu lange Über- „eine absurde Einzelmeinung“, so Schind-
Schwabenbauer, die im neuen Ministerium gangsfristen gesorgt, kritisiert Rechtsan- ler. Noch vor einem Jahr hatte Robbers
das gleiche Amt verwaltet, hatte die Vor- walt Wolfgang Schindler, der in Karlsruhe das Loblied auf Funkes rechtswidrigen Ent-
züge des möblierten Käfigs propagiert. im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfa- wurf angestimmt.
Doch die mit Sitzstange und einem Nest- len die alte Verordnung zu Fall brachte. Noch gilt es nun, die Hürde der Län-
platz angereicherten Abteile sind, so Etho- Das Bundesverfassungsgericht habe ein- dervertretung zu nehmen. „Der Bundes-
login Martin, „eine Farce“: Die Hühner deutig die Strafbarkeit herkömmlicher Kä- rat“, so hofft Schindler, „wird ja wohl nicht
können darin nicht einmal mit den Flü- fighaltung bestätigt. Unverständlich er- strafbare Handlungen unterstützen.“
geln schlagen. scheine, dass Künasts Ministerium dann Renate Nimtz-Köster

„Käfig“ auf dem Ei


Agrarministerin Renate Künast
über den Ausstieg aus der Käfighaltung
SPIEGEL: Frau Künast, wo kaufen Sie wollen wir die Wahrheit sagen – und

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL


Ihr Frühstücksei? die heißt: Käfighaltung. Auch wenn die
Künast: Im Moment komme ich leider Hühner dabei ein bisschen herumhüp-
kaum zum Einkaufen, sondern ernähre fen können: Dieses Ministerium will
mich hauptsächlich in Kantinen und keine „ausgestalteten Käfige“.
Restaurants. Bei den wenigen Eiern, die SPIEGEL: Glauben Sie, dass sich genü-
ich zu Hause esse, achte ich aber schon gend Verbraucher finden werden, die
darauf, woher sie stammen: Seit den zu den Öko-Eiern greifen? Ministerin Künast
Zeiten, in denen Eier nach Fischmehl Künast: Die Schweiz macht seit zehn „Wir sind Vorreiter in der EU“
schmeckten, reagiere ich allergisch auf Jahren vor, wie das funktioniert. Kä-
die Vorstellung von Legebatterien. fighaltung ist dort verboten, und nun gang“. Den Tierschützern wiederum
SPIEGEL: Ihr Vorgänger Karl-Heinz Fun- kaufen schon 75 Prozent der Verbrau- sind die Übergangsfristen zu lang.
ke hat auch gern betont, dass er cher das einheimische Bio-Ei. Das Kä- Künast: Die sind deutlich kürzer als die
Freilandeier bevorzugt. Trotzdem ist fig-Ei ist in der Schweiz und auch in der europäischen Vorgabe, aber lang
für ihn der Ausstieg aus der Batterie- Österreich sogar auf Speisekarten als genug für die Umstellung der Produ-
haltung ein weltfremdes Ziel. solches gekennzeichnet. zenten.
Künast: Weltfremd war die alte Agrar- SPIEGEL: Lässt sich das in Deutschland SPIEGEL: Seit Karlsruhe die alte Hen-
politik. Die hat uns nicht nur BSE be- auch umsetzen? nenhaltungs-Verordnung für nichtig er-
schert. Jetzt stehen Verbrau- klärt hat, sind zwei Jahre vergangen; bis
cher-, Tier- und Umweltschutz zum Ausstieg werden in den Legebat-
im Vordergrund. Mit unserer terien noch über hundert Millionen
Abschaffung der Käfighaltung Hennen verschlissen werden.
sind wir Vorreiter in der EU. Künast: Eigentlich ist jede Woche zu
Auch mit der Kennzeichnung lang, aber ich will ja, dass mein Traum
wollen wir vorne dran sein: Realität wird. Wenn wir die Über-
Sollen wir warten, bis wir im gangszeiten allzu kurz halten, müssen
Jahr 2004 von Brüssel ge- wir Entschädigungen zahlen. Ich will
zwungen werden, Käfig-Eier das Geld der Steuerzahler für Wichti-
auch als solche zu bezeichnen? geres ausgeben. Ich muss mich auch
SILVESTRIS

SPIEGEL: Bislang wurde dem darum kümmern, dass nicht Umge-


Käufer mit viel Etiketten- hungsgeschäfte mit EU-Ländern ge-
schwindel Hühnerglück vor- Hühner in Freilandhaltung macht werden, die noch nach altem
gegaukelt. Wie wollen Sie „Mein Traum soll Realität werden“ Recht Eier produzieren.
künftig Klarheit schaffen? SPIEGEL: Kann ein Betrieb Entschädi-
Künast: Beispielsweise mit dem Wort Künast: Voraussetzung für Erfolg ist gung erwarten, der tagtäglich strafbare
„Käfig“ auf Ei und Schachtel, so dass es eine breite Information. Auch bei uns Tierquälerei betreibt? Nach dem Ge-
jedes Kind versteht. wird sich zeigen, dass man mit der setz müssen die Hennen artgerecht ge-
SPIEGEL: Und wie werden Eier aus den Energie, Geduld und Disziplin einer halten werden.
so genannten ausgestalteten Käfigen Marathonläuferin einiges bewegen Künast: Das Strafrecht soll die Ultima
mit Kleingruppenhaltung deklariert? kann. Der Absatz von Bio-Produkten Ratio sein. Es ist nicht das Instrument,
Künast: Die EU-Kommission hatte mal steigt, also lässt sich das Verhalten von Menschen zu überzeugen. Wenn der
vorgeschlagen, diese Eier als „Nestei Verbrauchern ändern. Bundesrat unserem Entwurf zustimmt,
aus dem Käfig“ zu bezeichnen. Damit SPIEGEL: Noch gibt es viel Kritik: Frau wird es nicht nur glücklichere Hühner,
wird suggeriert, das sei tierschutz- Merkel hat vom „Irrweg“ gesprochen, sondern auch glücklichere Menschen
rechtlich etwas anderes. Aber auch hier die Eierindustrie vom „fatalen Allein- geben – und ich bin einer von ihnen.

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Szene Kultur
L I T E R AT U R
„brillant“, feiert das Lon-
Als das Eis brach doner Fachblatt „New Mu-
sical Express“ die so ge-

W enn das Wort „Heimatdichter“


nicht diesen Ruch des Modrigen,
Kleingeistigen und Gartenzwergigen
nannten Krautrocker Klaus
Dinger und Michael Rother.
In ihrer deutschen Heimat
hätte, dann wäre es am einfachsten, waren Neu! lange nur
Alistair MacLeod, 65, einen Heimat- Spezialisten bekannt. Das
dichter zu nennen. Er stammt von einer „Hamburger Abendblatt“
Insel vor der Ostküste Kanadas, und erklärte die Düsseldorfer

KAZUYUKI ONOUCHI / KLAUS DINGER


das Leben und Sterben der schottisch- gerade erst zur „Nach-
stämmigen Inselfischer, Bergwerkskum- wuchsband“. Macht nichts:
pel, Farmer und Leuchtturmwärter, Selbst Herbert Grönemey-
deren Clans seit Jahrhunderten den er, bei dessen neuer Plat-
harschen Gefilden trotzen, hat ihm Stoff tenfirma Grönland die drei
für sein schmales Lebenswerk geliefert. Neu!-Alben wieder veröf-
Bis heute hat MacLeod, ein emeritierter fentlicht wurden, kannte
Literaturprofessor, gerade 16 Erzählun- die Musik nicht, bis er sie
gen veröffentlicht und schließlich, 1999, Neu!-Musiker, Grönemeyer (M.) im Studio eines Londoner
einen einzigen Roman, „No Great Fotografen hörte. Dass er
Mischief“, für den ihm am vergangenen POP die Neu!-Veteranen Rother und Dinger
Wochenende in Irland der hoch begehr- zur Neuauflage ihrer Klassiker bewegen
te Impac-Preis überreicht wurde.
Der Roman liegt jetzt als einziges seiner
Werke auf Deutsch vor; die Storys sol-
Comeback einer konnte, ist durchaus ein Coup: Das Duo
zankt sich seit Jahren erbittert. Nun wird
dank Grönemeyer sogar über ein neues
len nächstes Jahr folgen. Höchste Zeit,
denn MacLeod schreibt so unnachahm-
lich klar und klassisch, als hätte er sich
Kultband Neu!-Album verhandelt.

einem inneren Reinheitsgebot verpflich-


tet. Sein Stil ist von trügerischer
Schlichtheit, und manchmal bricht in
I hr Fan David Bowie nennt die legen-
däre deutsche Band Neu! die „anar-
chischen Brüder von Kraftwerk“. Für Ra-
wenigen Sätzen ein Leben zusammen. diohead-Sänger Thom Yorke klingt deren
Wie jeden Samstag besucht Alexander, Musik „wie reine Freude“. Auch sonst
ein Kieferorthopäde in mittleren Jah- sorgt die Wiederveröffentlichung der in
ren, seinen ältesten Bruder Calum, ei- den siebziger Jahren publizierten und
nen herunterge- lange vergriffenen drei Platten des Düs-
kommenen Alkoho- seldorfer Avantgarde-Duos Neu! vor al-
liker. Während des lem in Großbritannien für Jubel: Als Gruppe Neu! (1972)
Besuchs schweifen
Alexanders Gedan-
ken ab: Er erinnert
sich an die Eltern,
die ertranken, als HÖRBUCH die Sprache beim Wort und verbohrte
eines Nachts das Eis sich in die Sprache. Er war Filmpionier
vor der Insel brach,
und an jenen Ahn,
Valentins Höllentänze und Vorläufer des absurden Theaters,
ein Groteskgestell von Mensch, zaun-
der einst aus Schottland eingewandert
war. Echos überlagern Echos, Erinne-
rungen überschwemmen die Gegen-
S o stellte er sich vor: „Ich, Karl Va-
lentin, ein Münchner Komiker,
bin der Sohn eines Ehepaares.
dürr, obenauf ein Querulantenschädel,
die Geburt der Komik aus Sadis-
mus und Subversion. Helmut
wart, bis sich Alexanders Tagträumerei Aus Gesundheitsrücksichten er- Bachmaier, der Herausgeber ei-
zu einer grandiosen Generationensaga lernte ich im Alter von zwölf Jah- ner achtbändigen Valentin-Ge-
ausgeweitet hat, in der unentwegt gear- ren die Abnormität.“ Dann kam samtausgabe, hat zur CD (der
beitet, getrunken und gestorben wird. stets, was Kurt Tucholsky einen hörverlag) ein gescheites Book-
Wie viele der MacLeodschen Helden „Höllentanz der Vernunft um let geschrieben, Leben, Lie-
ist Alexander zerrissen zwischen der beide Pole des Irrsinns“ nannte ben, Leiden des „Fundamen-
bürgerlichen Karriere, die er, der Insel- und Bertolt Brecht als einen talkomikers“ nachgezeich-
flüchtige, gewählt hat, und der Sehn- „durchaus komplizierten, bluti- net und in die Abgründe
sucht nach dem rauen Leben der Vor- gen Witz“ lobte. Nun sind 15 hölli- des „chronischen Asthmati-
fahren. Vielleicht ist MacLeod weniger sche und herrliche Wort-Tänzchen kers“ geleuchtet: „Valentin litt
ein Heimatdichter als ein Heimwehdich- Karl Valentins (1882 bis 1948), die er an einer latenten Erwartungsneuro-
ter: einer, der weiß, dass er nie zurück zum Teil mit seiner Partnerin (und se, er hatte stets eine Katastrophe
kann auf jene Insel, die er besingt. Geliebten) Liesl Karlstadt vollführ- vor Augen.“ Der Höllentanz dauert
te, im historischen O-Ton auf der an: Weitere Valentin-CDs sind im
Alistair MacLeod: „Land der Bäume“. Deutsch von Bri-
CD „Buchbinder Wanninger“ ver- Anmarsch.
gitte Jakobeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; sammelt, alle stammen aus der Zeit
288 Seiten; 39,90 Mark. von 1928 bis 1940. Valentin nahm Valentin-Karikatur
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 191
Szene

AU TOR E N

Prozess um
die „Elenden“
H at man das Recht, sich einen be-
kannten Romanhelden anzueig-
nen und ihm Abenteuer zuzuschrei-
ben, die sein Schöpfer nicht vorgese-
hen hatte? Ein Prozess, der nächste
Woche in Paris beginnt, spaltet die
französische Literaturwelt. Der Ver-
lag Plon hat mit großem Werbeauf-
wand (450 000 Mark) eine Fortsetzung
von Victor Hugos berühmtem Roman
„Les Misérables“ herausgebracht –
„Cosette“, eine Auftragsarbeit des
bislang mäßig erfolgreichen Autors
François Cérésa. Für Pierre Hugo, Ur-
urenkel des im Pantheon ruhenden
Schriftstellers, handelt es sich um „ei-
nen Eingriff in das Werk Hugos und
eine Fälschung“. Er verlangt ein Ver-
CINETEXT

bot des Buchs (über 60 000 Exempla-


re sind schon verkauft) und rund 1,3
Millionen Mark Schadensersatz, die Szene aus einer TV-Verfilmung von „Les Misérables“ (2000)
er für gemeinnützige Zwecke stiften
will. Hugos Nachkommen empört besonders, dass Cérésa den für die sozial Unterdrückten kommentiert hatte: „Wenn dieses
bösen Polizeikommissar Javert, der im Original durch Selbst- Ende nicht bewegt, verzichte ich für immer aufs Schreiben.“ Ob-
mord endet, auferstehen lässt: Damit werde das „moralische wohl Cérésas Fortsetzung etwas blass geriet, eilen ihm viele
Recht“ Victor Hugos verletzt, der beim Erscheinen seines Werks Schriftstellerkollegen gegen die befürchtete „Zensur“ zu Hilfe.

DESIGN und Architekturlehrer schon lange um BEUTEKUNST


die Rechte am Namen „Bauhaus“ bal-
Friedensangebot gen (SPIEGEL 8/2001). Kein Wunder
also, dass die Dessauer Pläne schwer
Verkrachte Eidgenossen
im Streit ums Bauhaus umstritten waren. Auf einem – nicht öf-
fentlichen – Treffen am vorvergangenen D ie Regierung des Ostschweizer
Kantons St. Gallen will (mit finan-

E s geht um eine historische Künstler-


clique mit großem Namen, und so
ist es auch nicht verwunderlich, dass im
Wochenende haben die Dessauer nun
eine Art Friedensangebot formuliert.
Völlig neue Produkte werden demnach
zieller Unterstützung durch eine katho-
lische Organisation) eine halbe Million
Franken in einen Prozess gegen den
Zwist um die rechtmäßige Bauhaus-Erb- doch nicht mit dem Bauhaus-Label aus- Kanton Zürich investieren. Die protes-
schaft auch große Worte gebraucht wer- gestattet, neutralere Bezeichnungen tantischen Zürcher hatten im frühen
den. „Mit Bestürzung und Sorge sieht wie „Dessau Design“ sind im Gespräch. 18. Jahrhundert während einer kriegeri-
die Außenwelt zu, wie Dessau seine Mit dem Label „Bauhaus Dessau“ sol- schen Auseinandersetzung mit den ka-
weltberühmte Erbschaft herabsetzt“, len nun ausschließlich Produkte verse- tholischen Nachbarn in der berühmten
hieß es jüngst in einem offenen Brief, hen werden, für die es historische Ent- St. Galler Stiftsbibliothek geplündert:
den ausländische Architekten (unter an- würfe gibt. Rund 100 kostbare Handschriften, 500
derem I. M. Pei aus New York) an deut- bis 1000 alte Drucke und Ähnliches lie-
sche Redaktionen richteten. Grund der gen nach wie vor in Zürich, obwohl
Sorge: Vertreter der Stadt Dessau, das schon 1720 die Rückerstattung zugesagt
Designzentrum Sachsen-Anhalt und worden war. Es gehe, so die Kläger,
auch die Stiftung Bauhaus Dessau hat- „um ein Stück sankt-gallischer Iden-
ten geplant, unter dem Warenzeichen tität“; überdies figuriert der Kanton seit
„bauhausdessau“ historische, noch 1983 im Unesco-Katalog des kulturellen
nicht umgesetzte Entwürfe, aber auch Welterbes. Wenn der Musterprozess vor
ganz neue Produkte herstellen zu las- dem Schweizer Bundesgericht Erfolg
sen. Dieser Plan war heikel, weil sich hat, könnten in ganz Europa bis in na-
AKG

die unterschiedlichsten Institutionen poleonische Zeit zurückreichende Beu-


ebenso wie Nachkommen der Design- Bauhaus-Gebäude in Dessau testreitigkeiten wieder eröffnet werden.
192 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Kultur
VERLAGE an meiner neuen Tätigkeit bei Beck:
Dort kann ich mich auch um internatio- Am Rande
„Manche Karrieren nale Autoren kümmern. Trotzdem bleibt
die erzählende, welthaltige deutsche Li-
starten zu schnell“ teratur natürlich mein Anliegen. Schließ-
lich hat die in letzter Zeit auch beim
Bombe unterm Deckel
Martin Hielscher, 43, bisher Verlags-
lektor bei Kiepenheuer & Witsch, über
seinen Wechsel zu C. H. Beck und
Publikum den Erfolg, den sie verdient.
SPIEGEL: Eine Konsequenz des Erfolgs
deutscher Autoren ist neben einem ge-
Ü berall ist der Wurm drin: in
den schwarzen Kassen, in
Schreinemakers TV-Diät, in der
die Situation der deutschen Gegen- stiegenen Selbstbewusstsein auch deren
wartsliteratur Vorliebe für Litera- Berliner Parteienlandschaft. Und
turagenten. Stört nun auch in – Mozart. Im letzten
SPIEGEL: Herr Hielscher, fast acht Jahre das die Arbeit des Oktoberdrittel 1791 soll der Kom-
lang waren Sie Lektor im Kölner Verlag Lektors?
Kiepenheuer & Witsch und haben sich Hielscher: Wenn ponist seiner Gattin Konstanze
dort einen Ruf als Vorkämpfer für jün- Autoren, die man brieflich gebeichtet haben, dass er
gere deutsche Literatur erarbeitet. Nun entdeckt hat, allein just ein Schweinekotelett vertilge
verlassen Sie das Haus – ist das eine des Geldes wegen
Flucht vor der Übernahme von Kiepen- weggehen, dann („Was für eine Köstlichkeit!“);

RALF JÜRGENS
heuer & Witsch durch den Holtzbrinck- schon. Aber ich 44 Tage später war der Ärmste tot
Konzern zu Beginn nächsten Jahres? habe eigentlich bis- – Opfer der gemeinen Trichinella
Hielscher: Nein. Ich bedaure zwar, her gute Erfahrun-
dass der Verleger Reinhold Neven Du- Lektor Hielscher gen mit Agenten
spiralis, die in besagtem Leckerbis-
Mont sich bei Kiepenheuer & Witsch gemacht – und ich sen genistet und sich nach ange-
weitgehend zurückziehen wird. Aber kann junge Autoren verstehen, die so messener Inkubationszeit im
mein Wechsel zum Münchner Verlag bessere Startbedingungen bekommen.
Gekröse des Musikgenies
C. H. Beck war ohnehin geplant. Mir SPIEGEL: Derzeit bezahlen viele Verlage
ist ein solches privat geführtes Unter- noch viel Geld für junge deutsche ausgebreitet haben muss.
nehmen natürlich sympathisch – seit Autoren, um am Boom teilzuhaben. Ist Diese ebenso unappe-
237 Jahren ist C. H. Beck in den Hän- da nicht ein Ausverkauf zu befürchten? titliche wie die Um-
den einer Familie! Hielscher: Die Gefahr besteht, dass
SPIEGEL: Werden Sie in München als manche Karrieren zu schnell starten sätze des Fleischer-
Cheflektor für Belletristik der deut- und nicht sorgfältig genug begleitet wer- handwerks gefährden-
schen Literatur mehr Raum geben? den. Aber für sorgfältig gemachte, an- de These hat jetzt der
Hielscher: Sicher nicht auf Kosten der spruchsvolle Bücher gibt es immer ein
Ausländer, denn gerade das reizt mich Publikum. Literatur ist unverwüstlich. US-Mediziner Jan V. Hirsch-
mann aufgestellt, zum Entsetzen
von Metzger-Innung und übriger
Musikwelt. Ein Schweinekotelett!
Kino in Kürze Ein Fadenwurm! Und diese Saue-
rei ausgerechnet in Mozarts Inne-
ganz korrekt – klingt
aber als Film-im-Film- reien, also im reinsten Geschöpf
Idee höchst amüsant. unter dem Himmel! Kann das sein
Die zwei amerikani- – der liebreizende Quell der „Klei-
schen Stars, die daran
Gefallen fanden (John nen Nachtmusik“ und der Auslö-
Malkovich als Murnau, ser der Trichinose in ein und dem-
Willem Dafoe als Vam- selben Klangkörper? Leider, es
pir), dachten vielleicht,
kann. Denn die Monarchie hatte
es könnte ihnen etwas
wie Tim Burtons Film keine Künast und das alte Wien
über den Regisseur Ed keine Bioläden; unter jedem Pfan-
Wood und den Dracula- nendeckel tickte eine Zeitbombe
Darsteller Bela Lugosi
in Form des klitzekleinen Parasi-
CINETEXT

gelingen. Doch sie hat-


ten für ihr (kurioser- ten. Auf alle Fälle kommt mit Mis-
Szene aus „Shadow of the Vampire“ weise in Luxemburg ter Hirschmanns Diagnose neuer
produziertes) „The Ma-
„Shadow of the Vampire“. Dass vor 80 king of Nosferatu“ weder ein Drehbuch, Schwung in die Mozartforschung:
Jahren, für den legendären ersten Dra- das den Grundeinfall gruselig oder Hat vielleicht Neidhammel Salieri
cula-Film mit dem Titel „Nosferatu“, phantastisch ausspinnt, noch einen Re- das offenbar unzureichend gegar-
der Regisseur F. W. Murnau als Haupt- gisseur, der mehr als hölzerne Arrange-
darsteller einen echten Vampir engagiert ments zu Stande bringt. Bleiben zwei te Kotelett serviert? Tolle Frage für
und ihm die Hauptdarstellerin zum Ver- eitel auftrumpfende Stars, die einander das neue Jahrtausend.
zehr angeboten habe, ist historisch nicht in den Schatten zu stellen versuchen.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 193
MAURICE WEISS / OSTKREUZ

Pianistin Sultan (2001 in New York, um 1915 in Berlin mit Schwester Käthe und Bruder Wolfgang): „Gesegnet mit musikalischer Reinheit und

MUSIK

Flucht und Fuge


Im Vorkriegs-Berlin war die Pianistin Grete Sultan eine gefeierte Interpretin von Bach und Schönberg.
Die Nazis verboten ihr das Klavier und ermordeten fast ihre ganze Familie.
Ihr gelang die Flucht nach New York. Zum 95. Geburtstag erscheinen neue Aufnahmen.

S
ie konnte kein Englisch. Also spiel- Sonate“, eines der schwierigsten Stücke Hochschule für Musik. Noten konnte sie
te sie die „Hammerklavier-Sonate“, der Klavierliteratur. früher lesen als Buchstaben, mit zwölf gab
kaum dass sie in der neuen Welt an- Sie spielte es auswendig, denn die Noten sie Beethoven-Konzerte. Jetzt sitzt da eine
gekommen war. „Was sollte ich anderes waren in Berlin geblieben. Unwieder- ausgezehrte Frau, mit Wurzelhänden und
tun?“, sagt Grete Sultan. bringlich. Wie der Großteil der Familie. gebeugtem Rücken; und mit einer mäd-
Nach vier Monaten Flucht aus Nazi- Das Westbeth-Gebäude im New Yorker chenhaften Stimme, wie sie sich manchmal
Deutschland, nach dem Transport im ver- Künstlerviertel Greenwich Village gehörte am Ende eines Lebens wieder einstellt.
plombten Waggon, ohne Wasser, ohne einmal der „Bell“-Telefongesellschaft. Jetzt Der Pianist Claudio Arrau hat über die-
Brot, bis sie krank vor Erschöpfung in Lis- ist es ein mietbegünstigtes Reservat für se Frau gesagt: „Grete Sultan zählt zu den
sabon ankam und das Visum nur noch bis künstlerische Avantgarde. An der Ecke größten Klaviervirtuosinnen, gesegnet mit
Mitternacht Gültigkeit hatte, nach der wartet ein weißlockiger Greis mit zu musikalischer Reinheit und Empfindsam-
Überfahrt schließlich auf einem mit Ge- großen, aufgeschnürten Turnschuhen auf keit, Verstand und Seele.“
jagten, Lumpen, Verbrechern überladenen sein Taxi: Merce Cunningham, der von Ar- Sie war der Star der Neuen Musik der
Schiff bis nach New York, wo es zu neblig thritis geplagte Gott des Modern Dance. späten Zwanziger. Grete Sultan war bekannt
war, um die Freiheitsstatue zu sehen – nach Grete Sultan ist die älteste Bewohnerin mit Schönberg, Bartók, Busoni und Adorno.
alldem setzte sie sich ans erstbeste Klavier des Westbeth. Früher, sagt sie, war sie im- Sie wurde verfolgt von Hitler. „Ich habe sie
und spielte Beethovens „Hammerklavier- mer die Jüngste. In der Familie, in der alle überlebt“, sagt sie. „Das ist mein Un-
194 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Kultur

met, die über der Partitur nicht wahnsinnig würdig expressive, rebellische Pianistin“,
wurde: „Für Grete Sultan“. Als er sein fer- schreibt 1930 in der Zeitschrift „Die Musik“
tiges Werk zum ersten Mal hörte, war Cage ein gewisser Theodor W. Adorno. Toscani-
selbst überrascht: „Hey, das klingt ja groß- ni lädt sie zu Beginn der dreißiger Jahre zu
artig!“ Sultan hatte zwei Jahre daran geübt. erfolgreichen Konzerten nach Italien ein.
Sie sagt, die „Etudes“ müssten gespielt wer- Später musste eine große Italien-Tournee
den wie Schubert: „Sie müssen atmen.“ abgesagt werden, weil ihr als Jüdin das Spie-
Vier Tage nach ihrem 90. Geburtstag gab len „deutscher Musik“ in der Öffentlich-
sie noch ein Konzert in New York und spiel- keit von den Nazis verboten wurde: „Nur
te Bachs „Goldberg-Variationen“ auswen- Mendelssohn zählte für sie nicht dazu.“
dig, in einem einzigen Stück, ohne Pause, Von da an spielte sie Bach und Beethoven
mitsamt allen Wiederholungen. Am Tag da- zu Hause: „Da konnte mir keiner etwas vor-
nach wurde sie ins Krankenhaus eingelie- schreiben.“ Sie verdiente etwas Geld mit
fert und musste operiert werden. Heute Konzerten für den Jüdischen Kulturbund,
geht es ihr besser: „Ich werde immer gesün- trat auch in Synagogen auf. „Wir hatten ein
der.“ Sie versorgt sich allein, gibt weiterhin Trio, zusammen mit einem Konzertmeister
Klavierunterricht und bekommt etwas Geld des Gewandhaus-Orchesters. Dann haben
aus Deutschland. Eine Opferrente. sie ihn ins KZ gebracht, und es war aus.“
Grete Sultan kommt aus einer begüter- Ihr Bruder Wolfgang erschoss sich 1936,
ten jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie, nachdem ihn die Gestapo wegen „Rassen-
in der jeden Samstag Streichquartette ge- schande“ vorgeladen hatte. Er hatte sich
spielt werden und bei der Ferruccio Buso- mit einer nichtjüdischen Krankenschwes-
ni zu Gast ist. Die Mutter überträgt Dantes ter verlobt. Seine Geliebte nahm sich we-
„Divina Commedia“ in Versform, zwei nige Tage später das Leben.
Tanten waren Schülerinnen von Clara Am Schicksal der Familie zeigt sich, mit
Schumann. Die Villa steht in Nikolassee. welcher Konsequenz Deutschland sein Bil-
Das Klavierspielen lernt sie von dem dungsbürgertum auslöschte. Im Oktober
amerikanischen Pianisten Richard Buhlig, 1939 wird der „Rittergutsbesitzer Adolf Sul-
einem Schüler des Wiener Klavierpädago- tan“ aus dem Grundbuch von Berlin-Zeh-
gen Theodor Leschetizky. Buhlig ist über lendorf gestrichen: Der nunmehrige „Adolf
den Atlantik gezogen, um von Schönberg Israel Sultan“ habe seine Familienvilla
zu lernen. Später wird er seiner Schülerin einem Volksdeutschen übereignet. Die
das Leben retten. Kaufsumme wird einbehalten.
GRETE SULTAN

Nach ihrer Ausbildung an der Berliner Eine Cousine ist Malerin und hoch ge-
Hochschule für Musik bei Leonid Kreutzer, lobte Schülerin von Lovis Corinth. Sie wird

Empfindsamkeit, Verstand und Seele“

glück. Jetzt bin ich allein. It’s all right.“ Am


Donnerstag dieser Woche wird sie 95, und
genau vor 60 Jahren kam sie in New York an.
Ihr Zimmer ist das einer Emigrantin. We-
nig Möbel, einige Gemälde und Zeichnun-
gen und viele Bücher in vielen Sprachen.
Zwei Steinway-Flügel, die den größten
Raum einnehmen, im Sekretär ein Brief
von Clara Schumann an die Großmutter
und neben dem Bett eine Originalpartitur
von John Cage: „For Grete, with love.“
Sie spricht in perfektem Deutsch, mit
Kopfbewegungen, die ein wenig an die ei-
ner Marionette erinnern, und sie begleitet
ihre Sätze bisweilen mit den Handbewe-
gungen einer Dirigentin oder einer Pianistin
beim Arpeggio. Man kann sich vorstellen, Musikerkollegen Cage, Sultan (siebziger Jahre): „For Grete, with love“
wie sie ihre Konzerte gab: Streng, in die
Melodieführung versunken, und ohne je- später bei Edwin Fischer, beginnt Grete in Sachsenhausen ermordet. Claire Sultan,
den Versuch, sich in den Vordergrund zu Sultan Ende der Zwanziger, Debussy, eine Halbschwester, wird denunziert und
spielen. Make-up hat sie nie getragen. „Ich Schumann, Bach und den Zwölftöner sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ver-
habe immer nur gespielt“, sagt sie. Schönberg in einem Programm zu spielen. gast. Sie besaß ein gültiges Ausreisevisum.
John Cage übertrug 1974 eine Karte des Damals etwas Unerhörtes. Doch es gebe, Ihr Onkel, der Geheimrat Georg Sultan,
südlichen Sternenhimmels auf Notenpa- sagt sie, keine Trennung zwischen zeit- ist ein Träger des Ordens „Pour le mérite“,
pier und komponierte so seine „Etudes genössischer und alter Musik: „Es gibt nur renommierter Arzt und Freund des be-
Australes“. Für jede Hand ein eigenes Stück langweilige Stücke und interessante.“ kannten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch.
mit je zweimal fünf Notenzeilen. Die zwei- Während Hitler sich auf die Macht vorbe- Er erfährt, dass er für den Transport nach
te Hälfte des Werks gilt als praktisch un- reitet, experimentiert Grete Sultan mit Ton- Theresienstadt bestimmt ist. Am Vorabend
spielbar, ein Durcheinander von Noten- Clustern und freien Rhythmen. Die Kritiken lädt er noch einmal zu einem Hausmusik-
trauben und kryptischen Anweisungen. Die aus der Zeit sind euphorisch: „… notiere ich abend ein und begleitet eine Sängerin der
„Etudes“ sind der einzigen Person gewid- die hoch begabte Grete Sultan, eine merk- Staatsoper am Flügel, Mozart, die Arie der
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 195
Kultur

Ihre Freundschaft endet erst 1992, mit


dem Tod von Cage. „John zog noch wäh-
rend des Krieges nach New York. Er lebte
mit Merce Cunningham, dem Tänzer, wir
wohnten ein Stockwerk tiefer.“ Während
die Mutter mit Cage Schach spielte, klemm-
te Grete Sultan Schrauben, Nüsse und Ein-
weckgummis in ihren Flügel und übte
Cages „The Perilous Night“ für präparier-
tes Klavier. Das Autograf liegt bei ihr.
Im Bücherbord von Grete Sultan steht
eine deutsche Ausgabe des chinesischen
„I Ging“. Später wird Cage mit Hilfe
dieses „Buches der Wandlungen“ seine
wichtigen Stücke unter Zuhilfenahme der
„Chance operations“ komponieren.
Cage und Sultan gingen zusammen auf
Tournee, nach Japan, Schweden, Norwe-
gen, Chile. 1955 trat Grete Sultan zum ers-

ULLSTEIN BILDERDIENST
ten Mal wieder in Berlin auf, im Hoch-
meistersaal. Sie spielte Haydn, Schönberg
und Beethovens „Diabelli-Variationen“ –
„deutsche Musik“. Die vertriebene und
enterbte Emigrantin spielte auch wieder,
Sultan-Förderer Toscanini (1952): In Deutschland zu viele Schatten wie schon Ende der zwanziger Jahre, die
amerikanische Avantgarde mit dem glei-
Königin der Nacht. Am frühen Morgen Nach drei Wochen Überfahrt kam sie im chen Ernst, der gleichen absoluten Präzi-
nimmt er Gift und wird tot aufgefunden, Juni 1941 in New York an, krank und mit sion wie die Klassiker. „Derart geistige
mit einem Band Goethe in den Händen. nichts als einem Pappkoffer, mit Seifenlap- Konzentrationsfähigkeit findet sich nicht
Die Eltern bekommen ein Visum für die pen, Handtuch, etwas Wäsche. Die Karrie- oft bei einer Frau“, verkomplimentierte
Schweiz. Kurz vor der Abreise nimmt der re ist zerstört, die letzten zehn Dollar waren sich der Zürcher „Tagesanzeiger“.
Vater Gift: „Er wollte nicht aus Deutsch- ihr auf dem Schiff gestohlen worden. „Ich Aber kein Kritiker erwähnte das Schick-
land fort. Deswegen hat er sich aus dem Le- erzählte den Beamten etwas von Verwand- sal der Künstlerin. Man schrieb diskret:
ben geholfen“, sagt Grete Sultan. Nur die ten in Amerika, die es gar nicht gab. Sonst „… hat ihrer alten Heimat einen Besuch
Mutter kann von Verwandten über die hätten die mich wieder zurückgeschickt gemacht“ („Stuttgarter Zeitung“) oder:
Grenze nach Basel gebracht werden. Da nach Deutschland.“ Ein Ehepaar gibt ihr „Fast 15 Jahre war Grete Sultan nicht bei
ist Grete, die Tochter, schon geflohen, auf ein Zimmer für eine Nacht. In dem Raum uns zu hören“ („Der Tag“).
Drängen ihrer Eltern. liegen nur zwei Bücher, die Bibel und das Adorno wollte sie zur Rückkehr nach
Grete Sultan muss eine der letzten ge- New Yorker Telefonbuch. Sie liest die ganze Deutschland überreden: „Er wollte für
wesen sein, der es gelang, mitten im Krieg Nacht darin und findet den Namen eines mich eine Stelle für zeitgenössische Musik
als Jüdin aus Nazi-Deutschland noch aus- Pianistenfreundes aus Berlin. Gerettet. in Frankfurt schaffen.“ Grete Sultan lehn-
zureisen. Nach etlichen Versuchen hatte Nur ihre Karriere scheint beendet, kaum te ab. In New York waren zu viele Schüler
ihr Lehrer, der Amerikaner Richard Buh- dass sie begonnen hatte. „Ich war zu alt, um und in Deutschland zu viele Schatten.
lig, mit Hilfe seines Generalkonsuls ein Vi- an den Nachwuchswettbewerben teilzuneh- Seit 60 Jahren ist Grete Sultan Teil der
sum besorgen können. men“, sagt sie, und sie war zu wenig be- New Yorker Szene für Neue Musik. Sie
Im Februar 1941 wird sie am Bahnhof kannt, um sofort ins amerikanische Geschäft empfängt ihre Schüler und wird von ihnen
Berlin-Zoo in einen Waggon gesperrt. Geld einsteigen zu können. Sie holt ihre Mutter, zu Konzerten gefahren. Im Mai arbeitete
darf sie nicht mitnehmen, auch keine Ver- „meine beste Freundin“, aus der Schweiz sie mit dem Leipziger Pianisten Steffen
pflegung. Bis zuletzt ist sie sich nicht sicher, nach New York und hält sich mit Unter- Schleiermacher an den „Etudes Australes“.
ob der Zug nicht doch nach Auschwitz fährt. richt über Wasser: „Klavierstunden kann Ein Star ist sie nie geworden, hatte nie ein
Doch das Fahrtziel ist Lissabon, einer der man leicht in fremden Sprachen geben.“ Interesse daran, sich in Szene zu setzen.
wenigen noch freien Häfen des Kontinents. Eines Tages kommt ein wirr aussehender „Ich wollte immer nur spielen.“ Erst 1996
Nur weil Eisenbahnarbeiter ihr in Paris Was- Mann mit einem Lebensmittelpaket vorbei sind einige ihrer historischen Aufnahmen
ser und Brot zuschmuggeln, überlebt Gre- und sagt, sein Lehrer Richard Buhlig habe als CD veröffentlicht worden*.
te Sultan den Transport. Hinter der portu- ihn geschickt. Sein Name sei John Cage. Noch im letzten Jahr hat sie eine Plat-
giesischen Grenze werden die Türen geöff- Der Klang-Anarchist aus Los Angeles tenaufnahme gemacht, mit 94 Jahren ein
net. „Ich erinnere mich an eine Wiese, auf trifft auf eine mit Schumann, Beethoven letzter „Tribute to John Cage“**. Das sei
der die Portugiesen Brot und und Bach nur so voll gesoge- nun vorbei: „Ich bin keine Pianistin mehr.
Getränke ausgebreitet hatten.“ ne Emigrantin aus Deutsch- Meine Augen sehen die Noten nicht
Doch ihr Visum für die USA land. Aber beide sind sich mehr“, sagt Grete Sultan.
ist nur noch einige Tage gültig. einig, dass Musik kompromiss- Aber dann schleppt sie sich, auf ihren
Jeden Tag wartet Grete Sultan los betrieben werden muss Stock gestützt, doch zum Flügel, streckt
vor der jüdischen Gemeinde, oder gar nicht. sich nach dem Pedal, legt den verknöcher-
um ein Billett zu bekommen. ten Zeigefinger auf die G-Taste, beginnt,
In letzter Minute, eine Viertel- * Grete Sultan: „The Legacy, volume 1: mit dem Rücken zu pendeln wie eine jun-
stunde, bevor das Visum ver- The historic piano recordings, 1959-1990“. ge Pianistin: Die ersten Takte der „Gold-
fällt, geht sie an Bord: „Das Concord Concerto. berg-Variationen“.
** Volume 2 erscheint im Herbst 2001.
Schiff war für 300 Passagiere Sultan-CD Außerdem erhältlich: „John Cage. Etudes Sie verbeugt sich zum Abschied.
gebaut. Wir waren 3000.“ „Immer nur gespielt“ Australes. Grete Sultan, Piano“. Wergo. Alexander Smoltczyk

196 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
Kultur

dann hat trotzdem niemand das Recht, mit


dem Finger auf mich zu zeigen. Da müssen
POP
die Eltern schon bei sich die Verantwortung
suchen. Ich verstehe Rap nicht als Anwei-

„Mit mir legt sich keiner an“ sung, sondern als Aufklärung.
SPIEGEL: Was meinen Sie denn damit?
Mathers: Wir erklären, was da draußen
wirklich los ist. Wenn ein Kerl einem an-
Der amerikanische Rap-Star Marshall Mathers deren das Gehirn rauspustet, dann gibt es
alias Eminem über seinen Ruf als Bösewicht des Popgeschäfts, immer eine Vorgeschichte und ein Vor-
weißen HipHop und sein jüngstes Musikprojekt D12 strafenregister – wegen Körperverletzung,
Verwaltigung oder was auch im-
SPIEGEL: Mr. Mathers, Ihre Texte mer. Und woher kommt das?
sind obszön und aggressiv, Sie Weil man nur zwei Optionen hat,
selbst gelten als roh und bösartig. wenn man in Detroit aus einer
Sind Sie das Ihrem Image als wei- miesen Gegend kommt: mit Dro-
ßer Rapper schuldig? gen dealen oder in der Fabrik ar-
Mathers: Nein, erstens bin ich ein beiten. Nein, da ist noch was: Bei
ganz lieber Mensch, und zwei- der Wach- und Schließgesell-
tens sind meine Zornattacken of- schaft gibt es auch Jobs.
fensichtlich Symptome des so ge- SPIEGEL: Darf Ihre fünfjährige
nannten Tourette-Syndroms. Tochter Hailie Jade diese drasti-
SPIEGEL: Zu dem gehören unkon- schen Texte hören?
trollierte verbale Entgleisungen. Mathers: Sie hat alle Songs von
Wollen Sie allen Ernstes behaup- „Devil’s Night“ gehört, warum
ten, Sie seien psychisch krank nicht? Sie kennt die Schimpf-
und für Ihre Texte nicht verant- wörter, aber sie benutzt sie nicht.
wortlich? Wenn sie mich aber je fragen
Mathers: Ja, das Tourette-Syn- würde, Daddy, was bedeutet dies
drom muss die Erklärung für mein oder jenes, dann würde ich ihr
merkwürdiges Verhalten sein. das erklären.
Schauen Sie, wenn ich im Auf- SPIEGEL: Der aggressive Gangsta-
nahmestudio arbeite, dann über- Rap stammt ursprünglich aus den
kommt es mich. Ich will „Vögel“ Ghettos der Schwarzen, Sie sind
sagen und „Bienen“, stattdessen weiß. Wie authentisch sind Ihre
höre ich aus meinen Mund: Fick, Texte?

SUZANNE PLUNKETT / AP
Scheiß, ich erwürge deine Mutter. Mathers: Viele der weißen Rap-
SPIEGEL: Solche Beschimpfungen per versuchen zu sein, was sie
finden sich auch auf der CD „De- nicht sind. Ich nicht: Ich rede über
vil’s Night“ (Motor/Universal), Dinge, mit denen weiße Jungs sich
die Sie mit fünf Rappern unter herumschlagen, aber auch über
dem Namen D12 aufgenommen HipHop-Star Eminem: „Ich kenne den Frust der Schwarzen“ Hispanics und Schwarze. Ich schil-
haben und die in dieser Woche dere, wie ich die Scheiße sehe. Ich
erscheint. Ist das die Sprache, die heuchle niemandem vor, jemand
Ihre Fans sprechen? zu sein, der ich nicht bin. Ich
Mathers: Das ist meine Art der kenne die Probleme meiner Ge-
täglichen Kommunikation. Aus neration, und ich kenne auch den
jedem Loch pustet dieser Kram. Frust der Schwarzen. Ich komme
Entweder lieben mich die Hörer, schließlich nicht aus einer Familie
oder ich tue ihnen weh. Wichtig von Besserverdienenden.
ist: Irgendwie treffe ich sie. SPIEGEL: Und was halten Ihre al-
SPIEGEL: Offenbar. Vom Album ten Freunde von Ihrem Welt-
„The Marshall Mathers LP“ ha- erfolg?
ben Sie mehr als 13 Millionen Mathers: Die Kids, die mit mir im
Stück verkauft. Viertel aufgewachsen sind, fragen
INTERSCOPE / MOTORMUSIC

Mathers: Mich hat das umgehau- sich: Warum bin ich nicht be-
en. Es ist auch für mich unfassbar, rühmt? Warum der? Sie sind ei-
dass ich, im Guten wie im Bösen, fersüchtig und fangen an zu pro-
eine solche Wirkung habe. Wir vozieren und wollen einem etwas
biedern uns nicht an, wir machen anhängen. Natürlich will man
keine Kompromisse. sich wehren gegen solche At-
SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass Eminem-Rap-Gruppe D12: „Aus jedem Loch pustet dieser Kram“ tacken – aber sobald man zurück-
Kids Ihre Texte, die Beschrei- schlägt, gerät man in die Schlag-
bungen des Rauschgiftkonsums, die Glori- Im Übrigen sind für Kinder immer noch zeilen, weil man der mit dem Ruhm und
fizierung von Gewalt, wörtlich nehmen die Eltern zuständig. Sie müssen ihnen mit dem Geld ist. Mit mir legt sich keiner
könnten? Recht und Unrecht, Moral oder Unmoral an: Ich habe immer eine Kalaschnikow
Mathers: Ich fordere niemanden zu irgend- erklären. Wenn ich in einem meiner Texte dabei, ein unglaublich großes Ding.
etwas auf. Ich erzähle Geschichten über sage „Spring von der Brücke, spreng das SPIEGEL: Sie sind im April zu zwei Jahren
mich selbst, meine Gefühle, mein Leben. Haus, tu es jetzt“, und ein Kind springt, Haft auf Bewährung verurteilt worden: Sie
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Kultur

waren mit einer Pistole auf einen Mann


losgegangen, der angeblich Ihre Frau ge-
KINO
küsst hat. War das Ihre Form von Not-
wehr?
Mathers: Ich will es mal so sagen: Alles hat
damit zu tun, wie man aufgewachsen ist.
Wenn man aus dem Ghetto stammt oder
einer ähnlichen Gegend, dann kann man
Alles auf Anfang
zwar in ein besseres Viertel ziehen – seiner
Am Freitag dieser Woche werden die Deutschen Filmpreise vergeben.
Herkunft entkommt man trotzdem nicht. Doch das einheimische Kino steckt weiter in der Krise –
Irgendetwas holt einen immer zurück, die nötig ist ein Umbau des Fördersystems. Von Günter Rohrbach
Typen an der Straßenecke, der alte Club,
in den man noch mal geht, und dann fällt Rohrbach, 72, ist einer der bedeutendsten Das Festival von Cannes, das gerade zum
man in die alten Muster zurück. deutschen Filmproduzenten. Zu seinen achten Mal in Folge keinen deutschen Bei-
SPIEGEL: Nicht nur unter Ihren ehemaligen Erfolgen gehören „Das Boot“, „Schtonk“ trag in den Wettbewerb aufnahm, ist dafür
Freunden haben Sie Feinde: Ihren Auftritt und „Aimée & Jaguar“. lediglich ein Indiz und keine Ausnahme.
bei den Grammys, für die Sie in vier Ka- Die Ursache dafür liegt nicht unbedingt

E
tegorien nominiert waren, nannte die „Los ine verstörte junge Krankenschwes- in der Qualität deutscher Filme, sondern,
Angeles Times“ den „umstrittensten Mo- ter aus der Wuppertaler Psychiatrie, von einigen Ausnahmen – siehe Filmpreis
ment in der 43-jährigen Geschichte des eine wilde Berliner Trabantenstadt- – abgesehen, in ihrer mangelnden Iden-
Preises“. Hat Sie diese Kritik überrascht? Clique, die Tochter eines untergetauchten tität. Deutsche Filme sind als solche im-
Mathers: Nein, ich finde das eigentlich nur Terroristenpaars, pubertierende Internats- mer weniger kenntlich.
lustig. Ich will ja nicht politisch werden, schüler aus dem Bayerischen, die Proban- Das war in den viel zitierten siebziger
aber ich muss das mal loswerden: Diese den einer riskanten Versuchsanordnung Jahren anders. Fassbinders Filme waren
Leute empören sich nur so, weil ich so vie- und ein paar halb erwachsene Straftäter – auf geradezu erdrückende Weise deutsch,
le weiße Fans habe und Rap plötzlich fast alle sind sie jung, die Helden der sechs die von Syberberg und Herzog ebenso, der
wichtig geworden ist. HipHop war so lan- Spielfilme, die am Freitag dieser Woche frühe Wenders, Kluge, Reitz, Schlöndorff,
ge kein Problem, wie er aus der Bronx, für den Deutschen Filmpreis kandidieren. sie alle gaben, stilistisch unterschiedlich,
aus South Central Los Angeles oder aus Zeugnis vom Zustand dieses
Detroit nicht herauskam – aber seit sich Landes. „Die Ehe der Maria
die weißen Kids für ihn interessieren, fal- Braun“, „Die Blechtrommel“
len die Medien, die der Weißen natürlich, und „Das Boot“ waren Welt-
über unsere Musik her und schreien: Die erfolge natürlich auch, weil es
Kinder sind in Gefahr! gute Filme waren, vor allem
SPIEGEL: Sie selbst fallen dagegen über Ho- aber, weil sie Geschichten aus
mosexuelle her. In einem Ihrer Songs auf einer Ferne erzählten, die sich
„The Marshall Mathers LP“ hetzen Sie ge- Deutschland nannte und über
gen Schwule und Lesben. Was stört Sie an der der Fluch ihrer Vergan-
denen? genheit hing.
Mathers: Eigentlich nichts. Ich kann es Die meisten Regisseure der
allerdings nicht ertragen, wenn jemand siebziger Jahre waren Auto-
seine Homosexualität provokativ und renfilmer. Das machte sie un-
öffentlich zur Schau stellt und sich als Tun- verwechselbar und zugleich
te aufspielt. Mit dem Song wollte ich nur doch als Gruppe sichtbar.
provozieren. Das habe ich sogar in dem Seit wir uns aber daran ge-
Lied selbst erklärt, aber meine Texte wer- wöhnt haben, vor allem in
den immer wieder aus dem Zusammen- Marktanteilen zu denken, ist
hang gerissen. Ich wäre doch nicht mit der Ruf dieser Autorengene-
Elton John bei den Grammys aufgetreten, ration hier zu Lande verblasst.
wenn ich wirklich was gegen Homosexuel- Marktanteile waren ihre Stär-
WOLFGANG MARIA WEBER
MARKUS SCHREIBER / AP

le hätte. ke nicht. Auch darum sieht


SPIEGEL: Haben Sie ihm das auch gesagt? sich der neuere deutsche Film
Mathers: Das war nicht nötig, er weiß, dass nicht in dieser Nachfolge. Im
ich keine Vorurteile habe. Elton John ist ein Gegenteil begegnen jünge-
großartiger Kerl. Glauben Sie ernsthaft, re Produzenten und Regisseu-
der würde mit einem Schwulenfeind im Kulturstaatsminister Nida-Rümelin, Produzent Rohrbach re ihren Vorgängern vielfach
Duett singen? Sorge ums internationale Renommee mit Unverständnis oder gar
SPIEGEL: Andere sind da jedenfalls nach- Häme.
tragender. Ihre Mutter hat Sie auf zehn Es wirkt fast so, als setzten Filmemacher Die heutigen Regisseure werden von ih-
Millionen Dollar verklagt, weil sie sich von (und Preisjury) ganz auf Anfang: auf Ju- ren heimischen Zuschauern weitaus besser
Ihnen verleumdet fühlte. gend, auf neue Geschichten aus einer neu- verstanden, aber die Grenzen überschrei-
Mathers: Ach, meine Mutter. Der Rechts- en Zeit, wie sie in „Der Krieger und die ten sie nur in wenigen Ausnahmefällen.
streit zwischen uns ist erledigt. Kaiserin“ und „alaska.de“, in „Die innere Das erzeugt eine merkwürdige Schieflage:
SPIEGEL: Ihre Noch-Ehefrau Kimberly hat Sicherheit“, „Crazy“, „Das Experiment“ Während Fassbinder und Co. in Deutsch-
Sie ebenfalls vor Gericht gebracht, weil Sie und „Gran Paradiso“ erzählt werden. land nahezu vergessen sind, werden ihre
sich in einem Song ausgemalt haben, wie Das zeugt von Hoffnung und Selbstbe- Namen im Ausland unverändert aufgeru-
es wäre, sie zu töten. wusstsein, täuscht aber nicht darüber hin- fen, wenn vom deutschen Film die Rede ist.
Mathers: Mir doch egal. Ich pfeif auf sie. weg, dass das internationale Renommee Die jüngeren Regisseure nervt das ent-
Interview: Helmut Sorge des deutschen Films seit Jahren gering ist. setzlich. Aber muss uns die Erfahrung nicht
200 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
ein deutscher Film gedreht werden. Fernseh-
redakteure erwarten im Prinzip, dass der
Film Prime-Time-tauglich ist, also ab zwölf
Jahren zugelassen. Sie gehen davon aus,
dass die Gewohnheiten der TV-Zuschauer
berücksichtigt werden. Und da sie in den
Fördergremien Sitz und Stimme haben,
können sie ihren Forderungen bis zur letz-
ten Budgetposition Geltung verschaffen.
Damit geht der Einfluss des Fernsehens
weit über das hinaus, was ihm auf Grund
seines finanziellen Beitrags zugestanden
werden muss. Das Fernsehen hat sich den
Film zur Beute gemacht und deklariert dies
in fröhlicher Unverschämtheit seit Jahren
als Mäzenatentum.
Leider haben die Filmschaffenden – und
eine mäßig interessierte Politik – das zu-

CONSTANTIN FILM
gelassen. Auf diese Weise war es möglich,
dass die öffentlich-rechtlichen TV-Systeme
die Filmförderungsanstalt jährlich mit zu-
sammen elf Millionen Mark abspeisen
Filmpreis-Kandidat „Crazy“*: Talente werden gegenwärtig eher abgeschreckt konnten. Die gleiche Summe steuern noch

SENATOR FILM
Nominierte Filme „Der Krieger und die Kaiserin“ (mit Franka Potente), „Das Experiment“ (mit Moritz Bleibtreu): Kampf um Identität

auch erschrecken, dass die eigenen Tradi- Lande alle Voraussetzungen der Menta- einmal die Privaten bei. Elf Millionen, das
tionen offenbar vorwiegend im Gedächtnis lität, der technischen Standards und vor ist etwa die Summe, die bei der kommen-
ausländischer Cineasten weiterleben? allem des Geldes. Warum also dieser Imi- den Weltmeisterschaft die Übertragungs-
Die meisten jüngeren Produzenten und tationsdrang, wenn das Ergebnis nur heil- rechte für ein einziges Fußballspiel, sagen
Regisseure beziehen ihre Inspiration aus- los sein kann? Warum versieht man immer wir Irland gegen Ecuador, kosten werden.
schließlich aus amerikanischen Filmen. häufiger deutsche Filme mit englischspra- Wenn sich am Zustand des deutschen
Hollywood ist das Maß aller Dinge – Chif- chigen Titeln, warum tragen deutsche Ge- Films etwas ändern soll, muss der Einfluss
fre, Zauberformel, mythisches Ziel. In die- fängnisbeamte, wie geschehen, amerikani- des Fernsehens zurückgedrängt und zu-
ses imaginäre Land träumen sie sich hinein, sche Phantasieuniformen? gleich sein finanzieller Beitrag spürbar er-
sie wollen sich lösen vom Fluch ihrer Pro- Die Antwort scheint einfach zu sein. Ins höht werden. Das riecht nach Quadratur
vinzialität. Sie wollen gerade das nicht sein, Kino gehen vor allem junge Leute. Junge des Kreises – und wird ohne Druck nicht
was die Bedeutung ihrer Vorgänger aus- Leute bevorzugen amerikanische Filme. geschehen. Hier ist die Politik gefordert.
machte, nämlich identifizierbar deutsch. Also versuche ich, ihnen zu geben, was sie Demnächst beginnen auch Vorgespräche
Mit verzweifelter Hartnäckigkeit betrei- haben wollen. Dabei verliere ich zwar für die Novellierung des Filmförderungs-
ben sie ihre Mimikry und machen dabei Identität, gewinne aber Marktanteile. Die gesetzes. Man sollte diese Chance zu einem
eine bestürzende Erfahrung: Je mehr sie ganze Wahrheit ist das nicht. radikalen Umbau des gesamten Förde-
sich um Ähnlichkeit mit dem bewunderten Die ganze Wahrheit offenbart das Fern- rungssystems nutzen. Ziel muss es sein, die
Vorbild bemühen, desto weiter entfernen sehen. Es ist das mächtigste Bildmedium un- Verantwortung für die Filme, die in diesem
sie sich von internationaler Anerkennung. serer Zeit. Seit Jahrzehnten bestimmt das Land produziert werden, an die Verant-
Wer Hollywood machen will, muss Holly- Fernsehen in Deutschland ganz entschei- wortlichen zurückzugeben: die Produzen-
wood sein. Auch eine gute Kopie bleibt dend mit darüber, was in unseren Kinos ge- ten und die Regisseure. Heute haben die-
eine Kopie. Aber selbst dafür fehlen hier zu schieht – und diese Macht des Fernsehens se Gruppen lediglich ein Vorschlagsrecht.
war nie so groß wie heute. Ohne seinen sub- Entschieden wird dagegen, nach unter-
* Mit Robert Stadlober, Tom Schilling. stanziellen Finanzierungsbeitrag kann kaum schiedlichen Kriterien, in zahlreichen Gre-
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 201
Kultur

mien auf Bund- und Länderebene. Weil mer auf die Mitte zielen. Das Neue, das
T H E AT E R
die nationalen Filmindustrien (außer in den Ungewöhnliche, das Identitätstiftende
USA) subventionsabhängig sind, haben
Gremien die klassische Funktion des Pro-
duzenten übernommen, nämlich das Geld,
kommt aber von den Rändern.
Leicht wird eine solche Veränderung
nicht durchzusetzen sein. Zu viele politi- Mayer liebt
jedenfalls einen substanziellen Anteil da-
von, zu vergeben.
Zwar sitzen in diesen Gremien in der
Regel durchaus sachverständige Men-
sche und bürokratische Instanzen müssten
überzeugt, zu viele eingeschliffene Ge-
wohnheiten gestürzt werden. Doch wenn
jetzt nicht gehandelt wird, wann dann?
Müller
Mit ihrem Stück „Supermarket“
schen. Aber es kann nicht funktionieren, Freilich, eine bessere Förderung bedeu-
wenn Unbeteiligte in komplizierten Mehr- tet nicht automatisch bessere Filme. Es beschert die serbische
heitsprozessen solche künstlerischen und steht aber außer Zweifel, dass unser ge- Autorin Biljana Srbljanoviƒ den
wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. genwärtiges System Talente eher ab- Wiener Festwochen ein
Dazu kommt, dass den Gremienmit- schreckt. Für viele von ihnen scheint es gewitztes Spiel der Täuschungen.
gliedern aberwitzige Verrenkungen ab- nur den Weg ins Ausland zu geben.

I
verlangt werden. Von ihnen wird erwartet, Der Kulturstaatsminister Julian Nida- n der Kürzelsprache des postmodernen
die Erfolgschancen eines Filmprojekts zu Rümelin ist in doppelter Weise gefordert. Theaters gilt die schwarzhaarige Schöne
prognostizieren – sie sollen also nicht Er sollte sich an die Spitze des notwendi- vom Balkan als „Popstar der Polit-Dra-
urteilen, sondern spekulieren. Das ist ab- gen Erneuerungsprozesses setzen. Für ihn matiker“. Als freche und eloquente Stim-
surd. hat die Sache einen schätzenswerten Vor- me des anderen Serbien betrat Biljana Srbl-
Wie aber sollen öffentliche oder halb- teil. Es geht zunächst nicht um mehr Geld, janoviƒ, 31, während des Nato-Krieges eu-
öffentliche Gelder anders gerecht verteilt sondern um eine andere Verteilung. ropäisches Medienterrain.
werden? Das Filmförderungsgesetz gibt ein Sollte Nida-Rümelin allerdings das Be- Ihr 1999 im SPIEGEL veröffentlichtes
Modell vor. Es belohnt erfolgreiche Filme: dürfnis haben, an der Seite eines deutschen Kriegstagebuch („Achtung! Feind über
Belgrad!“) machte sie mit einem Schlag
berühmt; ihre Stücke („Belgrader Trilo-
gie“) wurden in ganz Europa nachgespielt.
Srbljanoviƒ gilt im internationalen Thea-
ter-Betrieb neben Autoren wie Mark Ra-
venhill („Shoppen und Ficken“) und der
jung verstorbenen Sarah Kane („Gier“)
längst als wichtige Stimme der jüngeren
Dramatikergeneration. Prompt unkten Pes-
simisten, ihr Talent sei zum alsbaldigen
Verbrauch bestimmt. Doch Srbljanoviƒs
kreatives Potenzial ist erkennbar robust.
Schönster Beweis: Die Uraufführung ih-
res neuen Stückes „Supermarket“ bei den
Wiener Festwochen am vergangenen Frei-
tag. Inszeniert hat Schaubühnen-Chef Tho-
mas Ostermeier, 32, dessen Berliner Thea-
ter das Stück koproduziert.
In Jan Pappelbaums praktischer Ein-
DEFD

heitsbühne, mal Bürostube und mal Klas-


Filmpreis-Kandidat „alaska.de“: Das Neue, Ungewöhnliche kommt von den Rändern senzimmer, sieht man den sechs Protago-
nisten dabei zu, wie sie ihre Lebenslügen
Je mehr Zuschauer, desto mehr Geld. Da- Regisseurs die Festivaltreppe in Cannes zu ausstellen, bekräftigen, verwerfen und be-
mit wird die teilweise Finanzierung eines erklimmen, berührt das auch seine Kasse. graben – je nach Neigung, Notwendigkeit
neuen Films ermöglicht – ein Verfahren, Sein Haus, das den Deutschen Filmpreis und Temperament. Leo Schwartz (Falk
das sich „Referenzfilmförderung“ nennt. mit rund fünf Millionen Mark ausstattet, Rockstroh) etwa ist ein aus dem Osten in
Ein vergleichbares System könnte – an wirft außerdem zweimal im Jahr je gut drei den Westen gewechselter Pädagoge, der es
die speziellen Gegebenheiten angepasst – Millionen für künstlerisch ambitionierte bis zum Direktor einer Schule gebracht
auch bei den Länderförderungen installiert Filme aus – bis zu 500 000 Mark pro Film. hat. Zum zehnten Jahrestag des Mauer-
werden, ergänzt durch eine reduzierte Pro- Damit schafft man es nicht einmal auf falls besucht ihn sein alter Bekannter, der
jektförderung für Newcomer. Für Produ- die erste Palais-Stufe. Journalist Hans Britta (Gerd Wameling),
zenten und Regisseure wäre eine solche Es muss also bei den Kulturausgaben der sich ein herzergreifendes Vorher/Nach-
Neuregelung mit erheblichen Risiken ver- des Bundes finanziell aufgesattelt werden. her-Interview verspricht.
bunden. Sie würden – anders als heute – Wenn es Sinn machen soll, ordentlich. Wir Immer wieder platzt Lehrer-Kollege
zwar für Erfolge belohnt, für Misserfolge sind ein großes, reiches Land, und wir sind Mayer (Jörg Hartmann) herein. Mayer hat
hingegen hart bestraft. stolz auf unsere Kultur. Wir wären auch es auf die Sportlehrerin Müller (Cristin Kö-
Wenn die Referenzfilmförderung quer gern stolz auf unsere Filme. nig) abgesehen, die sich bemüht, zwei
durch alle Institutionen eingeführt würde, Zwanzig Jahre lang haben wir für die halbwüchsige Schüler – die Direktorstoch-
dann würde die Stimulanz des Marktes ein Filmkunst nichts gefordert. Jetzt müssen ter Diana (Linda Olsansky) und den Tür-
subventionsgeprägtes System beleben. Das wir es riskieren, als unbescheiden zu gel- ken Mali (Mark Waschke) – an Körper und
könnte enorme Kräfte freisetzen und dem ten. Im Zweifel plädieren wir für Chef- Geist zu ertüchtigen.
deutschen Film einen Teil der Autonomie sache. Vielleicht sagt ja mal jemand dem Genug Personal, um reichlich Verwir-
zurückgeben, deren Fehlen ihn seit Jahren Bundeskanzler, dass im Laufe eines Jahres rung zu stiften. Weil Srbljanoviƒ Fernseh-
lähmt. Ein vom Fernsehen gegängelter und mehr Menschen in deutsche Filme gehen serien liebt, nennt sie ihr Stück im Unter-
durch Gremien kontrollierter Film wird im- als in die Stadien der Bundesliga. ™ titel „soap opera“. Und weil Regisseur
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Mitleidvoll lauschte das Publikum schon
in der Generalprobe am vergangenen Don-
nerstag. Lachen verboten! Vorsicht! Ein
Schicksal kündigt sich an.
Doch dann überschlagen sich die gräss-
lichen Details, die Mali auftischt. Nägel
und Augenbrauen habe die Frau Mama
ihm mit Streichhölzern angezündet. Und
dann habe sie ihn mit wassergetränkten
Ausgaben der Zeitschrift „Theater heute“
geschlagen – das verursache nämlich keine
blauen Flecken. Kann das Ganze nur ein
Scherz sein? Plötzlich ist alle Ergriffenheit
perdu. Wieder hat Srbljanoviƒ mit Entset-
zen Scherz getrieben.
Am Ende ist ohnehin alles im Lot.
Schwartz war gar kein Dissident, er hat
sich alles nur zurechtgelogen. Journalist
Britta ist eigentlich schwul und hat es auf
den Direktor abgesehen. Mayer konnte
Müller gar kein Kind machen, weil er zeu-
gungsunfähig ist, und Schwartzens Tochter
Diana geht nach London zur totgeglaubten
Mutter, die mit einem dubiosen Prinzen li-
iert ist. Wer’s glaubt, wird selig – und hat
dennoch einen kurzweiligen Abend.
Das liegt nicht zuletzt am homogenen
Ensemble, aber auch an Thomas Oster-
meier, der mit sicherem Handwerk den
Rhythmus des Stücks erspürt und mit hüb-
schen Gags überrascht: So erscheint, im-
mer wenn wieder eine Wende ins Un-
ARNO DECLAIR
vorhersehbare eintritt, das Gesicht des je-
weiligen Protagonisten auf einer großen
Video-Leinwand im Bühnenhintergrund.

Srbljanoviƒ-Stück „Supermarket“ in Wien*, Autorin Srbljanoviƒ


Komische Verwirrspiele mit dem Entsetzen

ART ZAMUR / GAMMA / STUDIO X


Ostermeier offenbar auf Anhieb verstan- man glauben? Wer macht wem
den hat, was sie damit meint, inszeniert er was vor?
es erfreulich komisch-burlesk. Jeder betrügt jeden. Das wäre
Direktor Schwartz hat sich eine Legen- als Erkenntnis vielleicht etwas
de ausgedacht. Er will eigentlich ein ehe- dünn, wenn nicht Autorin und
maliger, von den Kommunisten verfolgter Regisseur mit zunehmender
Dissident sein. Ein Opfer. Ein armes Verwirrung das Tempo virtuos
Schwein, das es im Westen zu etwas ge- steigerten und alle Klamotten-Betulichkeit Entsetztes Staunen ist dann auf der Büh-
bracht hat. Diese Geschichte will er dem dennoch vermieden. Was so harmlos be- ne die mimische Grundeinstellung. Wenn
Journalisten mit seiner angeblichen Ge- gann, endet in einem Hexenkessel der De- auch noch, als sei’s ein Zitat aus uralten
heimdienstakte unterjubeln. Aber er kommt struktion. Und das ist – wenigstens auf dem Fernsehzeiten, auf der Leinwand raffiniert
nicht recht dazu, den Scoop an den Mann Theater – natürlich komisch. zusammengeschnittene Schnipsel aus di-
zu bringen: Mayer nervt, Müller kriegt Wenn etwa Mali, der es erotisch ausge- versen Soaps vorüberhuschen, dann sind
ein Kind, die vorhandenen Gören werden dörrten Herren gegen Entgelt besorgt Zitat und Theaterwirklichkeit kaum zu
renitent. („Arsch: 50 Euro“), plötzlich vom abge- trennen.
Immer wieder lässt die Autorin die Sze- feimten Stricher zum bedauernswerten Op- Wer in „Supermarket“ nach politischer
ne neu abspulen, und immer grotesker, fer mutiert, dann kippt die Stimmung ins Ambition sucht, kann es vielleicht so deu-
verworrener und unglaubwürdiger ent- Betroffene. Diana will nämlich wissen, wer ten: Auch die TV-Kriegsbilder aus Serbien
wickelt sie das Geschehen; Thema mit ihm die Striemen auf dem Rücken beige- waren letztlich nur für die zu entziffern,
Variationen: Was ist echt? Was kann bracht habe: ein perverser Freier? O nein, die den Krieg selbst erlebt haben – „live“.
meint Mali, seine Mutter habe ihn ge- So wie Biljana Srbljanoviƒ.
* Mit Mark Waschke, Linda Olsansky. schlagen „seitdem ich neun geworden bin“. Joachim Kronsbein

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 203
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Titel

Kritiker Reich-Ranicki: „Ich bezweifle, dass man heutige Schüler für Goethes ,Tasso‘ begeistern kann“

Arche Noah der Bücher


Marcel Reich-Ranicki präsentiert in einem SPIEGEL-Gespräch seinen persönlichen Kanon deutscher
Dichtung. Die Lektüreliste liefert in Zeiten der Informationsflut und eines neuen
Bildungshungers wertvolle Orientierungshilfe – nicht nur für Schüler, sondern auch für erwachsene Leser.

Z
um „Vorleser der Nation“ ernannte testen und umstrittensten deutschen Lite- kauften Memoiren „Mein Leben“ (1999) ist
ihn einst der Kritikerkollege Fried- raturkritiker, der bis heute unermüdlich er zudem als Bestsellerautor geachtet. Nun
rich Luft, Verächter aber witterten schreibt und gerade erst zwei neue Bücher zieht er für den SPIEGEL das Fazit seines
schon mal den Oberlehrer mit „Beigeruch herausgebracht hat*. Seit dem Erscheinen langen Leselebens: Es dürfte ihm wiederum
von Kreidestaub und Tafelschwamm“. seiner bereits rund eine Million Mal ver- Ärger einbringen – und neue Verehrer.
Tatsächlich konnte der immer auf Publi- Schon öfter hat sich Reich-Ranicki für ei-
kumsnähe erpichte Marcel Reich-Ranicki, * Marcel Reich-Ranicki: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen. nen literarischen Kanon stark gemacht;
81, eine pädagogische Ader nie verleugnen. Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen“. Insel Ver- jetzt gibt er im Gespräch erstmals umfas-
lag, Frankfurt am Main; 144 Seiten; 25 Mark. – „Vom Tag
Er wollte belehren und vor allem: verstan- gefordert“. Deutsche Verlags-Anstalt, München; 208 Sei- send Auskunft darüber, welche Bücher der
den werden. So wurde er zum prominen- ten; 39,80 Mark. deutschsprachigen Literatur nach seiner
206 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Überzeugung jeder heute Die Deutschen, das
kennen sollte: eine Art Volk der Dichter und
Kompass für Schüler, Stu- Denker – ein Volk ohne
denten und Buchbegeis- Lust aufs Buch? Tatsäch-
terte. lich scheint derzeit ein
Erstaunlich, provokant großer Teil der Gesell-
ist Reich-Ranickis Kanon schaft den Mangel an
vor allem dort, wo der Kri- (auch literarischer) Bil-
tiker fürs „rigorose und dung als schmerzlichen
konsequente“ Weglassen Verlust zu begreifen.
plädiert. So empfiehlt er Kurz nachdem „Big
zwar Goethe, bezweifelt Brother“ mit seinem au-
aber, dass „man die heuti- toschlossernden Forrest-
gen Schüler für den ,Tasso‘ Gump-Helden Zlatko –
begeistern kann“ – und „Shakespeare? Wer ist
auch von der deutschen das denn?“ – das Kultur-
Literatur der vergangenen niveau in TV-Germanien
40 Jahre, mit der er auf neue Rekordtiefen
sich in seinem Kritiker- senkte, kam es zu einer
leben so intensiv beschäf- überraschenden, parado-
tigt hat, mag er nur we- xen Wende: „Big Bil-
nig gelten lassen: Christa dung“ war plötzlich ange-
Wolf, Martin Walser und sagt, Günther Jauchs TV-
Peter Handke gehören Wissensquiz „Wer wird
nach Reich-Ranickis Urteil Millionär?“ zwang halb
„nicht in einen Kanon für Deutschland auf die vir-
Schulen“ (siehe Seite 212). tuelle Schulbank zurück.
Aber wer überhaupt Millionen Deutsche haben
braucht einen Kanon in plötzlich den Wert alten
einer Zeit der Hitlisten, Bildungsguts entdeckt –
der Informationsüber- und greifen dabei sogar
schwemmung und des wieder zum Buch.
ausgiebig beschworenen Der Oberzyniker und
Bildungsnotstands? SPIEGEL-Titel 40/1993, 34/1995 TV-Entertainer Harald
„Die Idee, einem Bür- Provokante Pädagogik Schmidt hat seine böse
gertum, das inzwischen so Satire-Show in eine Art
ungebildet ist, wie nicht einmal polizeilich Augsburger Puppenkiste der Erwachse-
vorgesehen, einen literarischen Kanon nenbildung verwandelt, in der der Leipzi-
nachzuwerfen, der ihm ohnehin piepe ger Thomanerchor Bach singt und klassi-
bleibt, ist so absurd, dass ich mich gern sche Dramen der Weltliteratur ebenso wie
WOLFGANG KLUGE / DPA

darauf einlasse“, spöttelte der Verleger das „Literarische Quartett“ des ZDF im
Klaus Wagenbach, als vor einigen Jahren Sandkasten nachgespielt werden.
die Hamburger „Zeit“ Prominente nach Der emeritierte Hamburger Professor
den drei bis fünf wichtigsten Büchern deut- Dietrich Schwanitz, mit Chuzpe mindestens
scher Sprache fragte. so gesegnet wie mit Kompetenz, hat die
„Bildung – Alles, was man wissen muss“ in
einen locker-listigen Übersichtsband ver-
Ratlos im Bücherwald Spaß und Spannung packt, der sich seit Monaten weit oben in
Wie stehen Sie zu der folgenden „Was lesen Sie im Bereich Sachbuch-Hitparaden hält. Demnächst will
Aussage: „Es erscheinen so viele Belletristik überwiegend?“ der Eichborn Verlag das Nachfolgebuch aus
Bücher, dass es völlig unmöglich ist, der Feder einer Schwanitz-Adeptin lancie-
den Überblick zu behalten!“ Belletristik-Leser insgesamt ren: „Bücher – Alles, was man lesen muss“.
Antworten in Prozent Aber muss man überhaupt Literatur le-
Heitere sen? Was soll ein Mensch, der beispiels-
Umfrage 1992 2000 Sonstiges 14,8 29,4 Romane weise ein erfolgreiches Start-up-Unterneh-
32 14,6/15,4 14,5/41,0
Science- 6,7
men gründen will, heutzutage mit Goethe,
trifft sehr zu Männer/Frauen
38 Fiction 12,0/2,5 Georg Büchner oder gar Walther von der
Vogelweide? Wo bleibt die Poesie unter
31 Historische 11,5 den „Lernfeldern der Zukunft“, von denen
ziemlich Romane 11,5/11,5
36 der Kanzler Gerhard Schröder spricht – er
meint neben Wirtschaft, Computertechnik
20 Klassiker 15,9 21,7 Krimis und Sprachen immerhin auch die „Ver-
weniger und anspruchs- 15,8/15,9 31,6/13,7
17 volle Literatur mittlung des kulturellen Erbes“?
Die ehrliche Antwort heißt: Man muss
trifft gar 14 nicht. Auch wer nie ein Drama von Brecht,
nicht zu 8 ein Gedicht von Benn oder Schillers
„Glocke“ gelesen hat, kommt ohne größe-
Quelle: Börsenverein des Deutschen re Schäden, ja oft sehr locker durchs Le-
Quelle: Stiftung Lesen, IFAK-Umfrage Buchhandels, INRA-Umfrage
ben. Mögen Wirtschaftslenker, Politiker
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 207
trifft: Johann Sebastian Bach“ heißt eine
CD-Edition der Deutschen Grammophon,
darin sind zwischen vier Scheiben mit den
Hits der großen Komponisten profunde
Sätze der Berben wie der folgende ab-
gedruckt: „Ich glaube zwar nicht an ein
Leben nach dem Tod, doch mal angenom-
men – ich würde gerne als Note wiederge-
boren werden.“ So etwas läuft an der
Ladenkasse – staune Bajazzo.
Ob Berben-geprüft oder Harald-
Schmidt-getestet, ob in Verkaufsskalen ein-
geordnet, nach US-Manier mit Superlati-
ven beklebt („Einer der größten …“) oder
von Kennerrunden à la „Literarisches
Quartett“ abgeschmeckt: Kultur hat es
leichter, wenn sie vermessen wurde; als
durchgerechnete Gegenwelt zur chaoti-
schen Gegenwart und Zukunft.
Als drohte eine Zeitenwende, eine Sint-
flut des Vergessens, bringt die Moderne
das Wissen der Toten auf die Arche Noah,
auf eine Festplatte, die nicht unbeschränkt
viel Speicherfläche bietet. Eingesammelt
wird alles mit dem Etikett „groß“, ob es
zum Zeitgeist passt oder nicht.
Frühere Epochen würdigten aus der Ver-
gangenheit das, was sie als vorbildlich an-
erkannten; im Zeitalter Michelangelos war
es die Antike. Der verunsicherte Mensch
von heute ist dagegen zum Antiquar ge-
worden, der rastlos, aber gründlich sam-
melt. Man traut sich kein eigenes Urteil zu
und beruhigt lieber das schlechte Gewis-
sen: Gegen die spürbare Kulturvernichtung
könnte die hektische Sicherung der Be-
stände helfen.
Das Bild von den wenigen Büchern, die
jemand auf eine einsame Insel mitnimmt,
enthüllt das Trauma der Gegenwart: Wir le-
ben im Zeitalter des kulturellen Schiff-

Bertelsmann-Buchlager in Gütersloh: Sehnsucht nach Orientierungshelfern


Walther von der Vogelweide
und Hochschullehrer noch so oft und lei- Was aber soll man lesen? Da ist Beratung Gedichte
denschaftlich den Wert profunder Allge- dringend gefragt: Die Vorstellung von Bil-
meinbildung beschwören: Für den realen dung, die sich etwa im Multiple-Choice- Von Burg zu Burg, von Hof zu Hof – so
Erfolg im Leben ist literarische Kenntnis Verfahren von Quizsendungen wie „Wer romantisch es klingt, der Alltag eines
längst eine verschwindende Größe. wird Millionär?“ offenbart, hat sich längst fahrenden Sängers um das Jahr 1200
Ohne Literatur lässt sich also nicht un- verdinglicht – es wächst die Sehnsucht nach war trist und gefährlich. Konkurrenz gab
bedingt schlechter leben – allenfalls ärmer. einem festen Inventar. es obendrein. Umso erstaunlicher, dass
„Literatur ist und war mir Lebenshilfe“, Bildung stellt sich dem modernen der Liedermacher gleich
sagt etwa der Modemacher Wolfgang Joop, Zeitgenossen nicht mehr als offenes in beiden Hauptgattungen
„in den Märchenbüchern der Brüder Unternehmen dar, als eine Wande- Maßstäbe setzte: Bis heu-
Grimm und Hans Christian Andersens rung zu immer neuen Horizonten, als te haben Walthers Liebes-
lernte ich, dass jeder im Leben Rätsel lösen ewiges Weiterfragen, als lebenslange verse („Under der linden“)
und Aufgaben meistern muss, von Oscar faustische Sehnsucht. Heute genügt es ihre Frische bewahrt; zu
Wilde die Kunst der ironischen Selbst- oft schon herauszufinden, ob A, B, C seiner Zeit aber war er
verteidigung, von Gabriel García Már- oder D richtig ist. Da gibt es immer berühmter für seine her-
quez die Untrennbarkeit von Liebe und eine Antwort. ben politischen Songs,
Wehmut.“ Als Zumutung dagegen empfindet die Kaiser und Papst glei-
„Materiell hat Deutschland heute fast es das Publikum, im Museum der Kul- chermaßen aufs Korn
alles“, sagt der Fußballheld und TV-Kom- turgüter selbst auf die Suche gehen zu nehmen. In ergreifenden
mentator Günter Netzer, „das Einzige, was sollen – die wirkliche Lebenswelt ist Altersliedern („Owê, war
diesem Land fehlt, ist Phantasie. Der Rück- doch schon unübersichtlich genug. sint verswunden alliu mî-
zug in eine Traumwelt gelingt aber nur, Darum sind Orientierungshelfer plötz- niu jâr“) klang sein Werk aus: ein konse-
wenn der Fernseher aus bleibt und man lich so gefragt, selbst wenn sie gar keine be- quenter Weg von der Rollenkunst zum
sich in ein Buch vertieft – es muss ja nicht sonderen Kenntnisse besitzen. „Iris Ber- persönlichen Bekenntnis.
immer gleich Thomas Mann sein.“ ben trifft: Giuseppe Verdi. Harald Schmidt
208 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Titel

schlicht überflüssig – und ignorierten sie.


Der alexandrinische Kanon, darin sind sich
die Philologen seit langem einig, trug ent-
scheidend dazu bei, dass die Zahl der ge-
lesenen und erhaltenen Autoren sich all-
mählich immer mehr verringerte.
Genau das wollten spätere Kanon-Tüft-
ler natürlich auf keinen Fall erreichen. Fast
alle bestanden deshalb darauf, ihre Liste sei
bloß als Vorschlag gemeint.
Nur ein paar ganz Strengen reichte das
nicht. Der herrische deutsche Lyriker
Stefan George (1868 bis 1933) etwa ver-
ordnete seinen Jüngern ein regelrechtes
Lesepensum. Georges umfangreiche Aus-
wahl unterschied kommentarlos zwischen
den „Unbedingten“ – zu denen gehörte
unter den Deutschen außer Luther, Goethe
und Hölderlin nur er selbst –, den „Nöti-

MICHAEL ZAPF
gen“ und den „Nützlichen“.
Ähnlich barsch ging 1951 der US-Dichter
Ezra Pound zu Werk, als er sich in einem
Bildungsentertainer Schwanitz: Mit Chuzpe und Witz in die Bestseller-Liste „ABC des Lesens“ mit der Kanonfrage
herumschlug: „Ein Klassiker
bruchs. Da gilt es zu retten, was zu retten ist klassisch nicht deshalb,
ist. „Der Verzicht auf einen Kanon“, sagt weil er gewissen Formregeln
denn auch Reich-Ranicki im SPIEGEL-Ge- entspricht oder weil er zu De-
spräch, „würde den Rückfall in die Bar- finitionen passt, von denen
barei bedeuten.“ sein Verfasser höchstwahr-
An deutschen Schulen ist die Festlegung scheinlich nie gehört hat. Er
auf einen Pflichtlesestoff seit jeher Praxis ist klassisch dank einer ge-
– allerdings handelt es sich bei den „Emp- wissen ewigen, ununterdrück-
fehlungslisten“ für das Fach Deutsch der baren Frische.“ Nur: Wer
einzelnen Bundesländer bloß um Rah- steht für die Frische-Garantie
menvorschläge: Nur ein Bruchteil der dort gerade?
aufgezählten Autoren und Werke wird „Höchst subjektiv und lau-
tatsächlich im Unterricht gelesen. Die letz- nenhaft“ komme ihm seine
te Wahl trifft stets der Lehrer. Auswahl vor, gab der redliche
Reich-Ranicki hat diese Empfehlungs- Hermann Hesse zu, als er 1929
listen der Länder untersucht – und plädiert „Eine Bibliothek der Weltlite-
nun für eine entschlossene Ausmistung: ratur“ für Anfänger zusam-
Auf Autoren wie Christian Dietrich Grab- mengestellt hatte. Aber die Li-
be und Franz Grillparzer etwa könne man Prominenten-Musik-Edition: Wiedergeburt als Note? teraturgeschichte habe eben
im Unterricht getrost verzichten. auch Launen: „Während das
Ohnehin sind die Vorstellungen der Kul- „Parzival“ ebenso beschäftigen wie mit deutsche Volk den ,Trompeter von Säckin-
turbürokraten recht verwirrend. In Sachsen Ernst Jüngers „Zwille“. Ganz schön viel gen‘ las und die Gelehrten in ihren Nach-
zum Beispiel präsentierte das Kultusmi- verlangt von den Computerkids. schlagebüchern uns den Theodor Körner
nisterium unlängst einen Vorschlag, den Immerhin ist der Versuch der Adenauer- als Klassiker empfahlen, war Büchner un-
Oberstufen-Unterricht stofflich zu ent- Stiftung ernster gemeint als die jüngst auf bekannt, Brentano völlig vergessen, Jean
lasten. Dem Plan wären Heinrich von den „Berliner Seiten“ der „FAZ“ aufge- Paul als verludertes Genie auf der schwar-
Kleist, Rainer Maria Rilke und Hugo von stellte Behauptung, das Sammelsurium aus zen Liste!“
Hofmannsthal zum Opfer gefallen. Emp- rund 900 Büchern, das deutsche Verlage Mit der Zeit, so Hesse zuversichtlich,
fohlen wurden hingegen der Revolutions- für die Bibliothek des neuen Kanzleramts hätten sich solche Geschmacksverirrun-
barde Georg Herwegh oder der mediokre gestiftet haben, sei „Des Kanzlers Kanon“. gen noch stets wieder eingerenkt. Viel
Verseschmied und spätere DDR-Kulturmi- Natürlich haben Bestenlisten eine lange wichtiger als alle Arsenale echter oder ver-
nister Johannes R. Becher. „Ein Zerrbild Tradition. Die allerersten Charts dieser Art meintlicher Klassiker sei, was jeder Leser
unserer Kultur“, wetterte der Deutschlehrer wurden schon in der Antike aufgestellt, an eigener Begeisterung aufbringe: „Er
Gottfried Böhme aus Leipzig – inzwischen zum Beispiel von den Gelehrten der le- muss den Weg der Liebe gehen, nicht den
wurde die Liste nachgebessert. gendären, später durch Brand vernichteten der Pflicht.“
Eine neue nationale Lese-Vorgabe für griechischen Bibliothek in Alexandria an Das klingt plausibel, doch hauptamtli-
die Deutschen müsse her, findet man bei der Nilmündung. Die Auswahl, die sich dar- chen Hütern der Dichtung genügt es kei-
der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stif- aufhin einbürgerte, hatte fatalen Erfolg. neswegs. „Wer den literarischen Kanon der
tung in Sankt Augustin bei Bonn. In einem Der rigorose Kanon (ursprünglich etwa: eigenen Muttersprache nicht kennt, hat
Thesenblatt zur „Stärkung des Deutsch- Maßstab) für Tragödiendichtung erklärte sein (oder ihr) rechtmäßiges Erbe auf den
unterrichts“ stellten die Konservativen nur ganze drei Autoren für unanfechtbar: Müll geworfen“, meint Ruth Klüger. Das ist
kürzlich „Literarische Mindestkanones“ Aischylos, Sophokles und Euripides, und nicht einfach so dahingesagt. Die Germa-
für Hauptschule, Realschule und Gym- auch von ihnen nur wenige Stücke. Daraus nistik-Professorin wurde als Kind in meh-
nasium vor. Demnach sollten sich Gymna- schlossen Schulmeister folgender Jahrhun- rere Konzentrationslager verschleppt; in
siasten mit dem Nibelungenlied und dem derte, alle übrigen Werke dieser Art seien ihrem Erinnerungsbuch „weiter leben“
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 209
Titel

erzählt sie, wie die vielen auswendig ge- meint der amerikanische Kulturkritiker
lernten Gedichte sie vor dem geistigen Zu- Die Bibel George Steiner.
sammenbruch bewahrten. „Amnons Schandtat“ Auch Marcel Reich-Ranicki versteht sei-
Harold Bloom, Literaturprofessor in Yale nen Kanon der deutschen Literatur als
und New York, wehrte sich in den neunzi- Die wohl spannendste Erzählung des Al- Provokation und will durchaus zu Wider-
ger Jahren gegen den multikulturellen Um- ten Testaments findet sich im 13. Kapi- spruch herausfordern.
bau der Lehrpläne an US-Universitäten, tel des 2. Buchs Samuel – in einem der In Deutschland, so stellte er 1983 in sei-
indem er eine eigene Liste von weit über „Geschichtsbücher“, die von der Ent- nem Aufsatz „Notizen zur Tradition“ fest,
tausend Werken anlegte; den harten Kern stehung Israels berichten. Das Ganze seien anders als in England oder Frank-
bilden 26 absolut unentbehrliche Autoren. ist eine Love-Story von Shake- reich, Spanien oder Italien im-
Programmatischer Titel des Manifests: speareschem Ausmaß. „Warum mer wieder große Schriftsteller,
„The Western Canon“. „Ohne den Kanon wirst du so mager von Tag zu mitunter gar komplette literari-
hören wir auf zu denken“, behauptet Tag, du Königssohn?“, fragt der sche Epochen „in nahezu gänz-
Bloom – und erklärt neben seinem Haus- weise Jonadab den jungen liche Vergessenheit“ geraten.
heiligen Shakespeare ausgerechnet an- Amnon, Davids erstgeborenen Man fange in diesem Land gern
gelsächsische Spezialgrößen wie Emily Sohn. Der verzehrt sich nach von neuem an. „Das ist ver-
Dickinson und Dr. Samuel Johnson für seiner Schwester Tamar, die im ständlich und noch keineswegs
unentbehrlich. Haus ihres Bruders Absalom verwerflich“, so Reich-Ranicki.
Gerade ihre subversive „Seltsamkeit“, lebt. Also stellt sich der Liebes- „Bedenklich wird es erst da, wo
so Bloom, mache literarische Werke lang- hungrige, wie Jonadab ihm rät, man von neuem anfängt, weil
lebig. „Die größten Schriftsteller des Wes- krank und lockt Tamar an sein man das Alte nicht kennt oder
tens unterlaufen stets alle Werte, unsere Bett. Er tut ihr Gewalt an – und kennen will.“
und ihre eigenen.“ verstößt sie bald danach. „Dass du mich Reich-Ranicki selbst hat mit seinen Leh-
Ganz gleich, in welcher Absicht die von dir stößt, dies Unrecht ist größer als rern Glück gehabt. Zunächst förderte ihn
Leselisten entstanden sind: Heutige Stu- das andere“, sagt Tamar – und bitter in der evangelischen Volksschule in der
denten nehmen sie meist dankbar an. wird Amnon dafür bezahlen. Luthers Bi- polnischen Stadt Wloclawek seine Lehrerin
Für sie nämlich, so hat Michael Menard bel-Übersetzung (1534 erschien erst- – „ein deutsches Fräulein namens Laura“,
von der Hamburger Heinrich-Heine- mals eine komplette Ausgabe) hat die wie er sich später erinnerte. Später ging er
Buchhandlung beobachtet, „gibt es nichts deutsche Sprache mächtig mitgeprägt. in Berlin aufs Gymnasium. Besonders ein
Schlimmeres, als drei Tage mit dem fal- Lehrer, den er sogar daheim besuchte, un-
schen Buch zu verbringen“. terstützte den Schüler bis zum Abitur 1938.
„Das vertiefte Lesen hat nachgelas- 5000“ Bücher verarbeiten kann, lohnt es „Dass er sich meiner so annahm“, so
sen“, sagt Menard. „Heute verlangen die sich allemal, über die Auswahl nachzu- Reich-Ranicki in seinen Memoiren, „hatte
Studenten ,Das Wichtigste auf 128 Seiten‘. denken. wohl auch mit dem ,Dritten Reich‘ zu tun,
Die studieren nicht mehr, um sich ausein- Wer einen Kanon aufstellt, sieht das in mit der Verfolgung der Juden.“
ander zu setzen.“ Gerade diese Nüchtern- der Regel sportlich: Er will nicht bloß de- Der Terror des Nazi-Reichs, der ihn zu-
heit könnte der neuen Debatte um den kretieren, sondern auch diskutieren. „Mit nächst verschonte, verleidete dem Jungen
Kanon nun sogar noch Auftrieb geben: dem Wort ,Kanon‘ bezeichnet man auf nicht etwa die deutsche Literatur, sondern
Wenn ein fleißiger Leser – so die Rech- noble Art die Urteile, die schon sehr lange ließ sie ihn, ganz im Gegenteil, als wun-
nung des Schriftstellers und Literaturfexes bestehen. Doch dieser Konsens muss im- derbare Gegenwelt erscheinen – zumal
Arno Schmidt – im Leben maximal „arme mer ironisiert und relativiert werden“, die jener Autoren, deren Bücher nun
öffentlich verbrannt und aus den Biblio-
theken verbannt wurden. So stieß der
eifrige Leser früh auf die Werke von Tho-
mas, Heinrich und Klaus Mann, auf Döb-
lin, Schnitzler und Werfel, auf Brecht,
Joseph Roth und viele andere.
Im Oktober 1938 wurde der 18-jährige
Abiturient in einen Zug nach Polen gesetzt,
wie durch ein Wunder überlebte er das War-
schauer Ghetto – nahezu alle aus seiner Fa-
milie, auch seine Mutter, wurden ermordet.
Nach dem Krieg dauerte es lange, bis
er wieder zur Literatur fand. Nach miss-
glückter diplomatischer Karriere wurde er
in Polen Lektor, und fast 20 Jahre nach sei-
ner Deportation siedelte er im Juli 1958
wieder nach Deutschland über, wo er als
Literaturkritiker arbeitete – zunächst vor
allem bei der „Zeit“, später bei der „Frank-
furter Allgemeinen“, wo er von 1973 bis
1988 Literaturchef war.
Er habe, sagte Marcel Reich-Ranicki
1994 in einer Ansprache – und zitierte da-
bei Heinrich Heine – ein „portatives Vater-
land“: eines, das nicht die schlechteste
Heimat sei, nämlich „die Literatur, genauer,
AKG

die deutsche Literatur“. Volker Hage,


Brand der Bibliothek von Alexandria (47 v. Chr.): Rigorose Auswahl mit fatalem Erfolg Johannes Saltzwedel

210 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL
Herr der Bücher: Marcel
Reich-Ranicki in seiner
Frankfurter Wohnung

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Literatur muss Spaß machen“


Marcel Reich-Ranicki über einen neuen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke
SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, Sie haben für die an der Literatur interessiert sind. Gibt es um die Schule geht, für den Unterricht
den SPIEGEL Ihren persönlichen literari- es überhaupt einen Bedarf für eine solche besonders geeigneter Werke. Die Frage, ob
schen Kanon zusammengestellt, die Sum- Liste literarischer Pflichtlektüre? wir einen solchen Katalog benöti-
me Ihrer Erfahrung als Literaturkritiker – Reich-Ranicki: Ein Kanon ist nicht etwa ein gen, ist mir unverständlich, denn
für Schüler, Studenten, Lehrer und dar- Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlens-
über hinaus für alle, werter, wichtiger, exemplarischer und, wenn Das Gespräch führte Redakteur Volker Hage.

Chronik der deutschen Literatur


Marcel Reich-Ranickis Kanon

Johann Wolfgang
von Goethe,
Andreas Gryphius, 1749 –1832
1616 –1664 „Die Leiden des
Gedichte jungen Werthers“,
Gotthold Ephraim Lessing, „Faust I“, „Aus
Walther von der Christian Hofmann Johann Christian 1729 –1781 meinem Leben.
Das Nibe- Vogelweide, Martin Luther, von Hofmannswaldau, Günther, „Minna von Barnhelm“, Dichtung und
lungenlied ca. 1170 – 1230 1483 – 1546 1616 –1679 1695 –1723 „Hamburgische Dramaturgie“, Wahrheit“,
(um 1200) Gedichte Bibelübersetzung Gedichte Gedichte „Nathan der Weise“ Gedichte
MIT TE LA LT E R 1 6 . JA H R H U N D ER T 1 7. JA H RHUND ERT 1 8 . JA HRHUND ERT

212 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Titel

der Verzicht auf einen Kanon würde den der verfassten Rahmenrichtlinien und und auch die liebe Elke Heidenreich. Be-
Rückfall in die Barbarei bedeuten. Ein Lehrpläne für den Deutschunterricht an merkenswert der Lehrplan des Sächsischen
Streit darüber, wie der Kanon aussehen den Gymnasien haben einen generellen Staatsministeriums für Kultus: Da werden
sollte, kann dagegen sehr nützlich sein. Fehler: Sie sind zu reichhaltig. Es handelt auch „Texte der Unterhaltungsliteratur von
SPIEGEL: Wie lange kann ein solcher Kanon sich um lange, allzu lange Listen. Bisweilen Konsalik bis Simmel“ empfohlen. Auf
Gültigkeit haben? Der Geschmack ändert hat man sogar den Eindruck, dass irgend- irgendeinem dieser Verzeichnisse habe ich
sich doch – von Individuum zu Indivi- jemand die Namen nacheinander aus einer Ephraim Kishon gefunden.
duum, von Epoche zu Epoche. Literaturgeschichte abgeschrieben hat. Ich SPIEGEL: Unterhaltend braucht demnach
Reich-Ranicki: Jeder Kanon ist ein Produkt bin dafür, dass man dem Lehrer die Mög- der Deutschunterricht nicht zu sein?
seiner Epoche und vom persönlichen Ge- lichkeit der Wahl gibt. Aber bei den jetzi- Reich-Ranicki: Im Gegenteil: Gerade der
schmack gefärbt. Wie er in 20 oder 30 Jah- gen voluminösen Listen sind alle überfor- Deutschunterricht sollte unbedingt unter-
ren aussehen wird, interessiert mich über- dert – die Lehrer ebenso wie die Schüler. haltend sein. Nur kommt es darauf an –
haupt nicht. Sicher ist: anders als heute. Diese Richtlinien und Lehrpläne zeugen und das ist durchaus möglich –, die Schüler
SPIEGEL: Leben wir nicht längst in einer vor allem von einem: von Weltfremdheit. nicht mit minderwertiger, sondern mit
Epoche der totalen Beliebigkeit? SPIEGEL: Nennen Sie ein Beispiel. guter Literatur zu unterhalten.
Reich-Ranicki: Der Bil- SPIEGEL: Was soll denn die Schule bei der
dungsplan für die Gym- Vermittlung von Literatur leisten?
nasien in Baden-Würt- Reich-Ranicki: Die Aufgabe des Deutsch-
temberg ist von erschre- unterrichts besteht nicht nur darin, den
ckender Vollständigkeit: Schülern bestimmte literarische Texte zu
Aus der Epoche nach vermitteln. Wichtiger ist es, dass die Schü-
1945 werden ganz ein- ler etwas lernen, was sich durchaus er-
fach – jedenfalls ent- lernen lässt, nämlich: Wie sollte man ein
steht dieser Eindruck – Gedicht oder eine Novelle lesen und ver-
alle Autoren empfoh- stehen? Es ist eine Banalität, aber vielleicht
len, die in dieser Zeit sollte man doch darauf hinweisen: Wer
publiziert haben, ein- gelernt hat, ein Gedicht von Eichendorff zu
schließlich des mittler- begreifen oder gar zu lieben, der wird auch
weile zum Glück ver- mit Gedichten von Mörike oder Rilke zu
gessenen Gerd Gaiser. Rande kommen. Der Schüler soll lernen,
Nichts gegen Ruth Reh- was eine Ballade ist und was eine Meta-
mann oder Reinhold pher, was die Begriffe Romantik oder Na-
Schneider oder Erich turalismus bedeuten. Er soll erfahren, war-
RUTH WALZ

Loest: Aber ich erlaube um ein bestimmtes Gedicht von Goethe


mir die schüchterne oder Heine, das von allen für schön gehal-
„Faust I“ im Theater (2000)*: „Dafür muss man Zeit haben“ Frage, ob sie wirklich ten wird, tatsächlich schön ist. Aber das
zum Kanon für den Allerwichtigste kommt erst jetzt.
Reich-Ranicki: Wenn das zutrifft, dann ist Gymnasialunterricht gehören sollten. Das SPIEGEL: Wir sind gespannt.
ein Kanon erst recht notwendig. In der Kultusministerium von Sachsen-Anhalt Reich-Ranicki: Dem Schüler soll gezeigt und
Sehnsucht nach einem Kanon verbirgt sich nennt in seinem „Lektüre- und Medienan- bewiesen werden, welche Aufgabe Litera-
die Angst vieler Zeitgenossen, überinfor- gebot“ für den Deutschunterricht an Gym- tur vor allem hat: Sie soll den Menschen
miert und dennoch unwissend zu sein, und nasien und Fachgymnasien Irina Liebmann Freude, Vergnügen und Spaß bereiten und
daraus ergibt sich die Sehnsucht nach einer und Jens Sparschuh und den ehrenwerten sogar Glück.
Ordnung. Gerade wer fürchtet, in der un- Erich Loest – und wiederum Gerd Gaiser. SPIEGEL: Ist das machbar?
entwegt wachsenden Bücherflut zu ertrin- Im Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe Reich-Ranicki: Aber sicher. Freilich hängt
ken, wird für einen Kanon dankbar sein. in der Freien und Hansestadt Hamburg fin- es vom pädagogischen Geschick des Leh-
SPIEGEL: Haben Sie sich mit den aktuellen den sich – doch etwas überraschend – die rers ab und von der richtigen Auswahl der
Lehrplänen vertraut gemacht? Autorinnen Karin Struck und Elisabeth zu behandelnden Werke.
Reich-Ranicki: Die von den Minis- Plessen. Auf einer in Rheinland-Pfalz gül- SPIEGEL: Manches von Kishon oder der Hei-
terien der einzelnen Bundeslän- tigen Lektüreliste sehen wir nicht ohne denreich ist doch durchaus vergnüglich.
Verwunderung die Autoren Innerhofer und Reich-Ranicki: Lassen Sie
* Mit Bruno Ganz, Corinna Kirchhoff (2000). Woelk, Peter Schneider, Leonie Ossowski die Scherze, denn Sie

Johann Peter Hebel, Friedrich von Schlegel, Clemens Ferdinand Jakob Raimund,
1760 – 1826 1772 –1829 Brentano, 1790 –1836
„Schatzkästlein Essayistisches 1778 –1842 „Der Verschwender“
Friedrich von Schiller, des rheinischen Gedichte
1759 – 1805 August Graf von Platen,
Hausfreundes“ 1796 – 1835, Gedichte
„Kabale und Liebe“, Adelbert von
„Die Schaubühne Chamisso,
als moralische Friedrich Hölderlin, 1781 –1838
Anstalt betrachtet“, 1770 – 1843 „Peter Schlemihls
„Don Carlos“, „Hyperion oder der Heinrich von Kleist, wundersame
„Über naive und Eremit in Griechen- 1777 –1811 Geschichte“
sentimentalische land“, Gedichte „Die Marquise von O.“,
Dichtung“, „Michael Kohlhaas“, Joseph Freiherr
„Wallenstein“, E.T.A. Hoffmann, „Prinz Friedrich von von Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff,
„Maria Stuart“, Novalis, 1772 – 1801 1776 –1822 Homburg“, kleinere 1788 –1857 1797 –1848
Balladen Gedichte „Die Serapions-Brüder“ Erzählungen Gedichte „Die Judenbuche“, Gedichte
1 9 . JA HRHUND ERT

d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 213
Titel

zwingen mich, Sie zu belehren, dass Fonta- Schule verzichten, leider auch auf Gott-
ne noch unterhaltsamer ist als die Heiden- fried von Straßburg. Danach Luther:
reich und Joseph Roth besser als Kishon! unbedingt zwei, drei Auszüge aus der
SPIEGEL: Also wie wollen Sie Ihre hehren Bibelübersetzung, beispielsweise „Amnons
Ziele erreichen? Mit einem entsprechend Schandtat an Absaloms Schwester“ aus
ergänzten und aktualisierten Kanon? dem zweiten Buch Samuel.
Reich-Ranicki: Umgekehrt – zunächst mit ei- SPIEGEL: Warum gerade diese Geschichte?
nem entsprechend gekürzten, mit einem ri- Reich-Ranicki: Weil sie beweist, wie modern
goros zusammengestrichenen Lektüreplan. das Alte Testament bisweilen ist, hier gibt
Er muss berücksichtigen, dass dem Lehrer es Stellen, die von Strindberg oder He-
oft für Deutsch nicht mehr als drei Unter- mingway hätten stammen können.
richtsstunden in der Woche zur Verfügung SPIEGEL: Was wollen Sie mit der Barock-
stehen und dass die Schüler für die Lektü- dichtung machen?
re heute erheblich we-
niger Zeit haben als vor
30 oder gar 50 Jahren.
Umfangreiche Werke,
längere Romane vor
allem, muss man, wie
schmerzhaft es auch
sein mag, weglassen,
„Die Wahlverwandt-
schaften“ oder den
„Zauberberg“ etwa.
SPIEGEL: Sind diese Ro- Büchners „Woyzeck“ auf der Bühne*: „Große
mane nicht gut genug?
Reich-Ranicki: Ich ken- deres – für Goethe und Schiller, für Kleist,

JAUCH & SCHEIKOWSKI


ne keine besseren. Hölderlin und die Romantiker.
Aber sie sind für Schü- SPIEGEL: Von Lessing bleibt nichts im
ler zu schwierig und zu Kanon?
anspruchsvoll. Auch Reich-Ranicki: O doch: „Nathan der Weise“
auf den „Grünen Hein- und „Minna von Barnhelm“ und mindes-
rich“, den „Joseph“- Frischs „Homo faber“ im Kino*: „Der Film ist nützlich“ tens ein Auszug aus der „Hamburgischen
Roman und erst recht Dramaturgie“ – am besten das letzte Stück.
auf den „Mann ohne Eigenschaften“ muss Reich-Ranicki: Wir müssen uns auf drei ge- SPIEGEL: Und der gewaltige Goethe – was
man verzichten. Im Vordergrund sollten niale Autoren beschränken – auf Hofmann sollte davon in den Unterricht gelangen?
Gedichte, Dramen und kurze Romane, von Hofmannswaldau und Gryphius und als Reich-Ranicki: Da muss man rigoros und
besser noch: Erzählungen, stehen. Übergang zur Sturm-und-Drang-Zeit Johann konsequent sein. Man muss Zeit haben vor
SPIEGEL: Wie stellen Sie sich die Literatur Christian Günther. Mit der Literatur des 18. allem für „Faust I“ und für die Lyrik aus
des Mittelalters in der Schule vor? Jahrhunderts sollte man in der Schule be- den verschiedenen Zeitabschnitten, insge-
Reich-Ranicki: Zwei – nicht zu lange – Aus- sonders streng verfahren, also keine Lyrik samt nicht weniger als 20 bis 30 Gedichte.
züge aus dem „Nibelungenlied“ müssen von Lessing oder Klopstock, keine Prosa Ferner sollte man auch den „Werther“
sein. Das Allerwichtigste aus dem deut- von Wieland oder Herder. Das muss man gründlich behandeln und Auszüge aus
schen Mittelalter ist, glaube ich, die Lyrik den Studenten der Germanistik überlassen. „Dichtung und Wahrheit“. Ob man die heu-
Walthers von der Vogelweide, von ihm soll- SPIEGEL: Warum wollen Sie den Schülern tigen Schüler für den „Tasso“ oder ein so
te man mindestens fünf Gedichte behan- einen genialen Dichter wie Klopstock vor- herrliches Stück wie die „Iphigenie“ begeis-
deln. Aus der Epoche des Minnesangs enthalten?
empfehle ich überdies einige wunderbare Reich-Ranicki: Weil wir Zeit und Platz brau- * Links: mit Sam Shepard und Julie Delpy (1991); rechts:
(und nicht Zeit raubende!) Kleinigkeiten. chen für noch Wichtigeres und Bedeuten- Probe mit Kaya Bruel in Kopenhagen (2000).
Auf Wolfram von Eschen-
bach muss man in der
Heinrich Heine Friedrich Nietzsche, Heinrich Mann,
1797 –1856 1844 –1900 1871 –1950 Thomas Mann,
Gedichte, Prosa Essayistisches „Professor Unrat“ 1875 –1955
Eduard Mörike „Buddenbrooks“,
Arthur Schnitzler, Christian „Tristan“, „Der
1804 –1875 1862 – 1931 Morgenstern,
Gedichte Tod in Venedig“, Hermann Hesse,
„Reigen“, „Leutnant 1871 –1914 „Tonio Kröger“,
Georg Büchner Gustl“, „Professor Gedichte 1877 –1962
„Mario und der „Unterm Rad“
1813 –1837 Bernhardi“ Zauberer“,
„Dantons Tod“, Hugo von Essayistisches
„Woyzeck“, „Lenz“ Gerhart Hauptmann, Hofmannsthal, Carl Sternheim
Theodor Fontane, 1862 – 1946 Stefan George, 1874 –1929 1878 –1942
Theodor Storm, 1819 – 1898 „Die Ratten“ „Der Schwierige“,
1817 –1888 1868 –1933 „Der Snob“
„Schach von Gedichte Gedichte
Novellen Wuthenow“, Frank Wedekind,
Gottfried Keller, „Frau Jenny Treibel“, 1864 – 1918 Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Rainer Maria Rilke, Robert Walser,
1819 –1890 „Effi Briest“, „Frühlings 1869 –1945 1874 –1936 1875 –1926 1878 –1956
Erzählungen „Der Stechlin“ Erwachen“ Gedichte Essayistisches Gedichte Erzählungen
19. JAH R H U N DE R T 20. JAHRHUNDERT

214 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Abiturientenklasse über den „Tell“ gere-
det. Sie fanden das Stück, das sie gerade Johann Christian Günther
gelesen hatten, sehr langweilig. Aber der Gedichte
Vergleich der Ermordung Geßlers mit dem
Attentat auf Rudi Dutschke hat sie, ich Wortgewaltige Barockdichter hatte es
übertreibe nicht, beinahe fasziniert. schon viele gegeben. Aber der Schlesier
SPIEGEL: Soll man also den „Tell“ Günther traf ganz neue Töne:
und die „Räuber“ in der Schule be- Seine Verse klingen bei aller
handeln? Rhetorik so authentisch, kraft-
Reich-Ranicki: Das kann man tun, voll und Ich-bewusst nach
aber ich würde doch eher den „Don Liebe, Hass, Reue, Zweifel,
Carlos“ empfehlen und den „Wal- Ergebung, Übermut oder Groll,
lenstein“ und als drittes Stück ent- dass man ihn zum Vorläufer
weder „Kabale und Liebe“ oder des Sturm und Drang erklärte.
„Maria Stuart“. So beschwerte sich der Poet,
SPIEGEL: Ist damit Schiller für Sie der in seinem kurzen Leben
abgehakt? wenig Glück hatte, einmal
Reich-Ranicki: Keineswegs. Drei, über die Frauen: „Viel verspre-
vier Balladen, vor allem „Die Kra- chen, wenig halten; / Sie ent-
niche des Ibycus“ und den „Ring des Po- zünden und erkalten / Öfters, eh ein Tag
OLIVER FANTITSCH

lykrates“, sollte man unbedingt berück- verfließt. / Dieses ist / Aller Jungfern Hin-
sichtigen, ferner zumindest Auszüge aus terlist.“ Goethe rühmte den nahezu ver-
der Schrift „Die Schaubühne als eine mo- gessenen Kollegen später für seine
ralische Anstalt betrachtet“ und aus der Kunst, „im Leben ein zweites Leben
Schriftsteller schrieben vor allem Dramen“ Arbeit „Über naive und sentimentalische durch Poesie hervorzubringen“.
Dichtung“.
tern kann, weiß ich nicht. Nebenbei: Es ist SPIEGEL: Sie wollten doch rigoros kürzen –
das erste deutsche Rundfunk-Hörspiel. haben Sie keine Angst vor Überfrachtung? Achim von Arnim, Chamisso, Conrad Fer-
SPIEGEL: Goethe und der Rundfunk – viel- Reich-Ranicki: Eben deshalb verzichte ich dinand Meyer, Herwegh und Freiligrath,
leicht bringen Sie hier was durcheinander? auf das gesamte Werk von Jean Paul. Hin- um eben Platz zu haben für jeweils einige
Reich-Ranicki: Durchaus nicht. Hier haben gegen müssen ganz stark repräsentiert sein: Gedichte von Novalis, Brentano, Eichen-
wir es mit einem Werk zu tun, in dem es Kleist, Hölderlin und Büchner. Von Höl- dorff, Platen, Mörike, von der Droste und,
nur auf das Akustische ankommt. derlin mindestens ein halbes Dutzend Ge- das wird manche verwundern, von Rai-
SPIEGEL: Und ist das alles von Goethe? dichte und wenigstens ein Brief aus dem mund, zumindest das „Hobellied“ aus dem
Reich-Ranicki: Genügt Ihnen das nicht? Da „Hyperion“. Von Kleist ziemlich viel: Theaterstück „Der Verschwender“.
hilft nun nichts: Wenn man das Zentrale „Michael Kohlhaas“, „Die Marquise von SPIEGEL: Wie aber soll man mit der Prosa
bei Goethe ordentlich „durchnehmen“ O.“ und zwei, drei der kleineren Erzäh- und mit dem Drama des 19. Jahrhunderts
will, muss man auf „Egmont“ und „Götz lungen und natürlich und unbedingt der umgehen?
von Berlichingen“ ebenso verzichten wie „Prinz von Homburg“. Von Büchner bei- Reich-Ranicki: Bis heute merkt man unse-
auf „Stella“ und „Clavigo“, von „Hermann nahe alles, also „Dantons Tod“, „Woyzeck“ rem Kanon die Lektürelisten aus der ersten
und Dorothea“ ganz zu schweigen. und die Erzählung „Lenz“. Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Damals
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Schillers Dra- SPIEGEL: Doch wohl etwas viel Theater? war die Literatur des 19. Jahrhunderts noch
men, die Sie wohl nicht ignorieren wollen, Reich-Ranicki: Es ist nicht meine Schuld, sehr gegenwärtig und wurde daher viel zu
junge Menschen noch interessieren? dass die meisten der großen deutschen stark im Deutschunterricht und auch im
Reich-Ranicki: Mit Sicherheit. Nur muss Schriftsteller, also Lessing, Schiller, Kleist Theaterrepertoire berücksichtigt. Jetzt ist
man seine Stücke aus heutiger Sicht er- oder Büchner, vor allem Dramen und kei- es Zeit, vieles, was längst verstaubt ist, zu
klären. Bei den „Räubern“ bietet sich die ne Romane geschrieben haben. streichen, also Gotthelf und Stifter, Grab-
Parallele zu den Vorgängen um 1968 wie SPIEGEL: Bei der Lyrik wollen Sie sich ganz be, Grillparzer und Hebbel, Immermann,
von selber an. Ich habe einmal mit einer auf Goethe und Hölderlin konzentrieren? Conrad Ferdinand Meyer und Raabe.
Reich-Ranicki: In der Tat SPIEGEL: Das ist ja nicht zu glauben: Sie
verzichte ich auf die wollen den Schülern solche Glanzstücke
Alfred Döblin, Gedichte von Uhland, wie „Das Amulett“ von
1878 –1957 Georg Heym,
„Die Ermordung einer 1887 – 1912
Butterblume“, „Berlin Gedichte
Alexanderplatz“
Georg Trakl, Erich Kästner, Peter Huchel,
1887 – 1914 1899 –1974 1903 –1981
Gedichte Gedichte Gedichte
Franz Kafka,
1883 – 1924 Anna Seghers,
Kurt Tucholsky 1900 –1983
„Der Prozeß“, „Die Ver- 1890 – 1935, Wolfgang Koeppen
wandlung“, „Ein Bericht „Das siebte Kreuz“,
Feuilletons Bertolt Brecht, 1906 –1996
für eine Akademie“, „Der Ausflug der
1898 –1956 „Tauben im Gras“ Max Frisch,
„In der Strafkolonie“, toten Mädchen“
„Ein Hungerkünstler“ Joseph Roth „Mutter Courage 1911 –1991
Robert Musil, 1894 – 1939, und ihre Kinder“, Ödön von Horváth, „Tagebuch“, „Homo
1880 –1942 Gottfried Benn, „Radetzky- „Leben des Galilei“, 1901 –1938 Günter Eich, faber“, „Biedermann
„Die Verwirrungen des 1886 –1956 marsch“, „Kalender- „Kasimir und 1907 –1972 und die Brandstifter“,
Zöglings Törleß“, „Tonka“ Gedichte Erzählungen geschichten“ Karoline“ Gedichte „Montauk“

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Titel

Reich-Ranicki: Noch eine Menge.


Arthur Schnitzler Vor allem Chamissos „Peter
„Leutnant Gustl“ Schlemihl“, an dessen Beispiel
den Schülern das Wesen des
Ein großes kleines Werk: Kaum mehr als Phantastischen und zugleich des
30, 40 Seiten (je nach Schriftgrad) um- Romantischen bewusst gemacht
fasst dieses legendäre Selbstgespräch werden kann. Überdies: sehr viel
eines Soldaten in der Nacht vor dem ge- von der Lyrik und Prosa Heines,
planten Selbstmord. Die 1900 publizier- ferner „Die Judenbuche“ der
te Novelle ist der erste Droste, einige Kalenderge-
durchgespielte innere Mo- schichten von Johann Peter He-
nolog der deutschsprachi- bel, mindestens zwei Erzählun-
gen Literatur – ein voll- gen aus den „Serapions-Brü-
endetes Lehrstück aus dern“ von E.T.A. Hoffmann und
dem Wien des ausgehen- je zwei von Gottfried Keller und
den 19. Jahrhunderts, von Theodor Storm.
eine Novelle, in der sich SPIEGEL: Ist denn Storm wirklich

JAUCH & SCHEIKOWSKI


die erwachende psycho- so ein bedeutender Erzähler?
analytische Neugier der Reich-Ranicki: Darüber kann man
Zeit ebenso spiegelt wie streiten, aber ich bin für Storm
eine heute kaum noch im Kanon, weil sich am Beispiel
nachvollziehbare Vorstel- seiner Prosa sehr schön und an-
lung von Ehre und Satis- schaulich erklären lässt, was die TV-Serie „Berlin Alexanderplatz“*: Schwieriger Dialekt
faktion. Wie in anderen frühen Erzählun- moderne Novelle von einer Er-
gen lässt der Österreicher Schnitzler zählung unterscheidet – vor allem der Kon- Worten: Meist kommt es nicht auf einzel-
auch hier seine Figur sich selbst entlar- flikt im Mittelpunkt, von dem aus das ne Bücher an, sondern auf die Autoren.
ven – am Ende erübrigt sich der patheti- Ganze straff organisiert ist. Überdies: An- SPIEGEL: Was wollen Sie also von Thomas
sche Plan des Offiziers, sich am Morgen ders als die Erzählung ist die Novelle kei- und Heinrich Mann aufnehmen?
eine Kugel in den Kopf zu jagen, auf neswegs eine Gattung in der Nachbarschaft Reich-Ranicki: Von Thomas Mann drei oder
überraschende Weise. des Romans, sondern des Dramas, übri- vier Erzählungen – am besten „Tonio Krö-
gens schon bei Kleist. Wichtiger als Storm ger“, „Tristan“, „Der Tod in Venedig“ und
ist allerdings Fontane. Da brauchen wir un- „Mario und der Zauberer“ – und von allen
Meyer und „Die schwarze Spinne“ von bedingt verhältnismäßig viel, also mindes- Romanen bloß die „Buddenbrooks“. Von
Gotthelf vorenthalten? tens zwei Romane, nämlich „Effi Briest“ Heinrich Mann ist alles schon verstaubt
Reich-Ranicki: Jede Diskussion über den und entweder „Frau Jenny Treibel“ oder und überlebt, vielleicht mit einer Ausnah-
Kanon leidet darunter, dass die Gesprächs- „Der Stechlin“, ein Buch, das ich beson- me: „Professor Unrat“. Ich empfehle den
partner sich gern auf Werke berufen, die ders liebe, das aber für die Jugend wohl et- Roman auch deshalb, weil man seine Be-
sie vor Jahrzehnten in ihrer Schulzeit ge- was weniger geeignet ist. Überdies: wenn handlung mit dem Marlene-Dietrich-Film
lesen haben. Sie wollen nicht bedenken, möglich noch die Erzählung „Schach von „Der blaue Engel“ schön verbinden kann.
dass im Laufe der Zeit sich vieles überlebt Wuthenow“. Von den Kafka-Romanen nur „Der Pro-
hat. Ohnehin kommen hier stets auch re- SPIEGEL: Sie haben die Liste des 19. Jahr- zeß“, aber auf jeden Fall einige Geschich-
gionale Interessen zum Zuge: Die Schwei- hunderts deutlich reduziert, aber das wird ten, so „In der Strafkolonie“, „Der Hun-
zer werden auf Gotthelf und Meyer nicht Ihnen mit dem 20. Jahrhundert nicht ge- gerkünstler“, „Die Verwandlung“, „Ein
verzichten, die Österreicher nicht auf Stif- lingen. Bericht für eine Akademie“. Ganz wichtig:
ter und Grillparzer – und dagegen ist natür- Reich-Ranicki: Sie vergessen, dass wir hier Schnitzlers „Leutnant Gustl“ – exempla-
lich nichts einzuwenden. Lesen Sie noch nur ein Minimalprogramm entwerfen. Und risch für den inneren Monolog, den er lan-
einmal Ihre Lieblingsbücher, Sie werden wenn man sich auf kleinere epische For- ge vor Joyce fabelhaft angewandt hat. Von
verblüfft erkennen, dass nicht nur Sie ge- men konzentriert, dann kann man so gut Musil vor allem „Die Verwirrungen des
altert sind. wie alle wirklich wichtigen Schriftsteller Zöglings Törleß“ und von den Erzählungen
SPIEGEL: Was bleibt dann? im Unterricht behandeln. Mit anderen wohl „Tonka“; bei Hesse, der einst so
populär war, sollte man sich mit „Unterm

* Mit Günter Lamprecht (1980).

Arno Schmidt, Paul Celan,


1914 –1979 1920 – 1970 Günter Grass, Sarah Kirsch, Wolf
„Die Umsiedler“, Gedichte *1927 *1935 Biermann,
„Seelandschaft „Die Blech- Gedichte *1936
mit Pocahontas“ Friedrich
Dürrenmatt, trommel“, Gedichte
1921 – 1990 „Katz und Maus“ Thomas Bernhard,
1931 –1989 Jurek Becker,
Peter Weiss, „Die Panne“
1916 –1982 Heinrich Böll, Peter Rühmkorf, „Holzfällen“, 1937 –1997
Ernst Jandl, *1929 „Wittgensteins „Jakob der
„Die Verfolgung und Er- 1917 – 1985 1925 – 2000 Neffe“
mordung Jean Paul Ma- „Der Mann mit den Gedichte Lügner“
Gedichte
rats dargestellt durch die Messern“, „Wanderer,
Schauspielgruppe des kommst du nach Spa...“, Ingeborg Hans Magnus Uwe Johnson, Robert
Hospizes zu Charenton „Doktor Murkes Bachmann, Enzensberger, 1934 –1984 Gernhardt,
unter Anleitung des gesammeltes 1926 – 1973 *1929 „Mutmassungen *1937
Herrn de Sade“ Schweigen“ Gedichte Gedichte über Jakob“ Gedichte
20. JAHRHUNDERT

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Titel

Jeder liest für sich allein


Wie Lektüre den Menschen prägt – mein privater deutscher Literaturkanon. Von Elke Schmitter

L
angeweile – mein erstes Lesemotiv. und pietistischen Schriften gefüttert wird wird. „Der Herzog der Stille / wirbt un-
Und wie beglückend, es wiederzu- und als Erwachsener, voller Mitgefühl ten im Schlosshof Soldaten“ – der Lyriker
finden: In einem Kinderbuch, das und Selbstmitleid, einen Bildungsroman Paul Celan ist darin einzigartig.
heute vergriffen ist (aber es gibt ja Anti- verfertigt: nicht klassisch und nicht gut Ich erinnere mich, einen Morgen lang
quariate) und den obskuren Titel „Harriet gebaut, weder erbaulich noch heiter. glücklich gewesen zu sein, weil jemand in
M. Welsch – Spionage aller Art“ führte, Man war nicht allein in jener Phase des der U-Bahn neben mir einen Satz (den
macht sich die Heldin aus Langeweile leichten Jugend-Irreseins, die wir ja alle ich vergessen habe) aussprach, der in sei-
auf den Weg in die Welt. Ihre Mittelklas- durchlaufen (durchgehen, heute vielleicht ner Melodie, in seinem Rhythmus dem
durchtanzen): Die Tagebücher von Kafka ersten, vollkommenen Satz der Proust-
waren mein Brevier – und der Anstrei- Übersetzung von Eva Rechel-Mertens
chungen kein Ende. „Wie fern sind mir z. gleichgebildet war: „Lange Zeit bin ich
B. die Armmuskeln“ (20. Februar 1911). früh schlafen gegangen.“
Dieses mitgeführte Befremden, dem er Denn auch das Nüchterne kann schön
seine ganze Kraft widmet: nur kein Un- sein: Fabian, Titelheld von Erich Kästners
glück vergessen! Da baut sich einer ein Roman, ist ein schwerer Melancholiker
Gehäuse aus Schmerz, macht hin und der neuen Sachlichkeit aus einer uns nicht
wieder ein Fenster auf, erschrickt vor so fernen Epoche, in der den Menschen
Luftzug und Licht und kehrt zurück zu die Utopien ausgingen und sie ihren Kopf
seiner ureigenen Scham, ein Mensch zu zum Besserwissen, aber nicht mehr zum
sein. Viel schwarze Tinte ist da geflossen, Klügerwerden nutzten. Ein luzides und be-
mit kleinen Lachen in Lakonie. scheidenes Buch voller Sentenzen, zu de-
Von da aus war es nicht weit zu Heine, nen ich eine Neigung habe, weil sie wie ei-
dem es wie keinem gegeben ist, mit jedem ne Abkürzung des Geistes scheinen, aber
Entsetzen Scherz zu treiben: „Ich aber den Umweg des Begreifens erzwingen.
verhänge die Fenster / Des Zimmers mit Deshalb, auch deshalb, Fontane – und
schwarzem Tuch; / Es machen mir meine da nicht nur „Effi Briest“. Das „weite
Gespenster / Sogar einen Tagesbesuch.“ Feld“ ist sprichwörtlich geworden, wie er
DEFD

Es ist der Rhythmus, der alles bei ihm überhaupt groß darin war, vorzugsweise
Simmel-Verfilmung*: Alles verziehen grundiert, eine verlässliche Eindeutigkeit älteren Herren zitierfähige Weisheiten an-
in diesem Kosmos von Ambivalenz: Ro- zudichten, die nur auf den ersten Blick,
se-Familie kennt sie längst besser, als ihr mantik und deren Verspottung, Polemik wenn überhaupt, gemütlich sind. Ich be-
lieb ist, und sie hat gelernt, dass sie deren und äußerste Zartheit, totale Selbstbezo- wundere ihn als moralischen Autor: Die
Geheimnisse deshalb nicht ergründen genheit und großer politischer Scharfsinn. Auseinandersetzung Instettens, des betro-
wird, weil sie mittendrin steckt. Mein Gedächtnis für Lyrik ist dürftig, genen Ehemanns, mit einem Vertrauten
So wählt sie die Beobachtung, das heißt: doch bei Heine hält es fest: „Das Fräulein über die Frage, ob er sich duellieren soll –
Ein Mädchen von elf Jahren erforscht die stand am Meere / Und seufzte lang und wie wird da (in „Effi Briest“) abgewogen!
Nachbarschaft, denkt sich eine Route aus bang …“ Wer hier nicht singt, ist taub! Der Freund gibt die Zeit zu bedenken:
und hockt sich unter Küchenfenster, ver- Das Melodische ist nicht mit Schönheit Wofür Sie sich heute duellieren, liegt sie-
steckt sich im Gebüsch, setzt sich in einen identisch, doch bei Matthias Claudius ist ben Jahre zurück. Wann setzt eigentlich
Speiseaufzug und hört täglich mit, was es vereint: „Kalt ist der Abendhauch. / Verjährung ein? Das ist ein pragmatisches
Maier, Müller, Schulze reden, wenn sie Verschon uns, Gott! mit Strafen / Und lass Argument, von großer Lebensklugheit,
mit sich allein sind. Und schreibt es auf. uns ruhig schlafen! / Und unsern kranken und Instetten gibt ihm beinahe Recht. Es
Denn sie will Schriftstellerin werden. Nachbarn auch!“ Getrost würde ich das stellt die einmalige Absolutheit des mo-
Wie Zeit langsam vergeht, sich eintrübt ganze kleine Werk von Georg Büchner als ralischen Vergehens gegen die totale und
und verdickt, ist meine Erfahrung von den Gipfel dessen annoncieren, was die unpersönliche der Zeit, des trivialen Ver-
Kindheit – das zähe Gefühl der Abson- deutsche Sprache erreichen kann, wenn gehens von Zeit. Aber jetzt wissen Sie da-
derung, das damit verbunden ist und das sie Schärfe und Klugheit behalten will – von, entgegnet Instetten schließlich, und
übergeht in Absonderlichkeit, auch das doch schön ist es eher im Untergrund, im selbst, wenn Sie nie davon sprechen, Sie
fand ich aufgeschrieben wieder: Im „An- Rumor der einzelnen Zeilen, im Unerbitt- werden es ja nicht vergessen. Weil Sie es
ton Reiser“, der literarischen Lebensbe- lichen, Schroffen, Nichtversöhnlichen: wissen, ist es nun in der Welt, und damit
schreibung des unglücklichen Karl Phi- „Blutwurst sagt: komm Leberwurst!“ bin ich nicht mehr Privatmann, sondern
lipp Moritz, des ersten modernen Neuro- Man muss es sprechen, mit dieser ein Mitglied der Gesellschaft, und als sol-
tikers. Eine arme Jugend im zerstückelten schrecklichen Pause, und leise, dann ches habe ich meine Ehre zu retten …
Deutschland der Goethe-Zeit, ein ver- schaudert es einen sofort … Manchmal Das ist ein großer, wie man heute sagt,
wahrlostes Kind, das mit trockenem Brot gleicht das Melodische das Nichtverste- „Diskurs“, der deshalb so ergreift, weil
hen aus und hält es fest, lötet den Leser nur seine Verkleidung historisch ist. Er
* Oben: Alain Noury (l.) in „Und Jimmy ging zum Re- an einzelne Zeilen, deren Rätselhaftig- setzt Scham und Schuld in Beziehung,
genbogen“ (1970); rechts: mit Angelica Domröse (1968). keit durch Schönheit in Schwebe gehalten Erfahrung und Prinzipien, den Einzelnen

218 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Stefan George
und die Gesellschaft: Was kann ein Ro- Und Simmel, wenn ich gerade dabei Gedichte
man, der zudem so wunderbar geschrie- bin, verzeihe ich ohnehin alles, was ande-
ben ist, Größeres leisten? (Unterschätzt re über ihn sagten, als er noch nicht pro- Bei den Pariser Symbolisten hatte er
wird übrigens noch immer Fontanes moviert war zum Zeitdiagnostiker – und sein Handwerk gelernt. Doch in den ei-
traurigster Eheroman „Unwiederbring- zwar für eines seiner Bücher, das mich genen Gedichten überwand Stefan Geor-
lich“ – in seiner fatalen Abschüssigkeit, mehr amüsiert hat als vieles andere: „Es ge bald die Jugendstil-Dekadenz: Er fühl-
der inneren Konsequenz ein einzigarti- muss nicht immer Kaviar sein“. (Nicht te sich zum Lehrmeister
ges Buch, ein mähliches Versickern in die nur wegen der Rezepte!) kultureller Erneuerung
Ausweglosigkeit, tatsächlich: unerhört Was darf man nicht vergessen? Die berufen. Unbeirrbar
modern.) „Buddenbrooks“, die ich beinahe nacher- sammelte der priester-
Und das Glück in der deutschen Lite- zählen kann (was bestürzend vermessen lich strenge Poet, der
ratur – das gibt es natürlich auch. „See- klingt, aber doch keine große Leistung ist, zeitlebens bei Freunden
landschaft mit Pocahontas“ von Arno weil es auch eine Pointen-Fibel ist). Erst und Gönnern logierte,
Schmidt ist nicht nur eine Novelle für die spät ist mir aufgefallen, wie wenig Thomas eine Elite junger Män-
gebildeten Stände – obwohl die, wie im- Mann selbst hier, in seinem ersten Roman, ner um sich. In diesem
mer bei Schmidt, auf ihre erhöhten Kos- seinen Figuren verfällt, wie sehr er sie auf „Geheimen Deutsch-
ten kommen. Es ist auch die erste mir be- Abstand bringt zu sich wie zu seinen Le- land“ galten seine Ge-
kannte Liebesgeschichte in der deutschen sern und wie gekonnt er dafür sorgt, dass dichtbände („Der Sie-
Literatur, die eine hässliche Heldin er- wir, mit ihm, über sie lachen. Er ist ein bente Ring“, „Der Stern
hört. Der armen Selma Wientge, Steno- Autor ohne Mitgefühl, doch seine Ge- des Bundes“) als Hei-
typistin aus der Provinz, im „zaundür- schöpfe, in all ihrem Reichtum und ihrer ligtümer, und seine Übersetzungen von
ren Wespenkleid“, dünn und staksig: Ihr Beschränktheit, sind meine Verwandten Dante oder Shakespeare wurden auch
leuchtet in dieser Nachkriegsnovelle rei- geworden, und was ich von jener geschicht- außerhalb des Kreises gerühmt. Mit ihrer
ne, erotische Erfüllung. lichen Phase weiß, verdanke ich nicht zu- rätselhaft kristallinen Klarheit ist Geor-
Bei Arno Schmidt darf es nach Blut- letzt seiner klugen Anschaulichkeit. ges Sprachkunst wegweisend für die
wurst und nach Bratkartoffeln riechen, Die „Buddenbrooks“ also, und von deutsche Dichtung des 20. Jahrhunderts
nach schalem Bier und faulen Witzen, Max Frisch den leichtesten Roman, sein geworden.
und doch gibt es ein Glück des Kleinbür- anmutigstes Spiel mit Einbildungskraft und
geralltags, das neben ihm nur Heinrich Identität: „Mein Name sei Gantenbein“:
Böll – in schlichteren Worten – zu würdi- ein Mann, der den Blinden spielt und Rad“ begnügen, von Brecht empfehle ich
gen wusste. Dessen wunderbare Leni durch diesen kleinen Trick – oder auch unbedingt zwei, drei der „Kalenderge-
Pfeiffer, Zentrum seines „Gruppenbilds diese große Lüge – die Menschen aufrich- schichten“, von Joseph Roth den „Radetz-
mit Dame“, ist mir ans Herz gewachsen tiger werden lässt, weil sie sich vor ihm, kymarsch“ und zwei Geschichten, vielleicht
schon bei der ersten Lektüre. der ja nichts sieht, nicht mehr verstellen „Die Legende vom heiligen Trinker“ und
Und beiläufig gelingt es Böll, auch hier müssen. Frischs Erzählung „Der Mensch „Stationschef Fallmerayer“, von Döblin
in diesem Roman mit seinen nervösen erscheint im Holozän“, ein mürbes Spät- „Die Ermordung einer Butterblume“ und
Kettenrauchern und heimgekehrten Sol- werk von feinster Ironie, darf auch nicht da, wo der Berliner Dialekt nicht zu große
daten, bigotten Kirchenmännern und unterschlagen werden: Ein alter Mann, al- Schwierigkeiten bereitet, „Berlin Alexan-
gläubigen Menschen, freundlichen Rich- lein im Gebirg, der von einem Unwetter derplatz“. Zwei, drei kurze Geschichten
tern und vergesslichen Nazis ein Bild des heimgesucht wird, und das mögliche Ende von Robert Walser sollten nicht fehlen und
Nachkriegsdeutschlands zu zeichnen. der Welt und das seines unauffälligen Le- schließlich „Das siebte Kreuz“ der Anna
Wer „Gruppenbild mit Dame“ und bens scheinen zusammenzufallen. Seghers und auch noch ihre Erzählung „Der
„Das Brot der frühen Jahre“ geschrieben Zuletzt ein Zeitgenosse, der eigentlich Ausflug der toten Mädchen“.
hat, dem ist selbst „Frauen vor Fluss- alles kann – er lebt in Hamburg und lacht SPIEGEL: Glauben Sie, dass es sinnvoll ist, in
landschaft“ zu verzeihen – wie auch dem über sich und die Welt, beherrscht jede li- den Unterricht Verfilmungen literarischer
begnadeten Prosapoeten Schmidt eine terarische Form und hört nie auf zu pro- Werke einzubeziehen?
Neigung zum ranzigen Altherrenwitz … bieren, schreibt unerbittliche Prosa und Reich-Ranicki: Ja, ich bin davon überzeugt
zarteste, politische Lyrik, mei- – und man kann ruhig auch solche Filme
ßelt am Alterswerk und hat einbeziehen, die nicht gerade Meisterwer-
den Mut, auch dann bei sich ke der Filmkunst sind. Und umgekehrt:
zu bleiben, wenn die Besich- Bücher, die nicht zu den Höhepunkten der
tigung seines porösen Inners- deutschen Literatur gehören, können ge-
ten nicht eben schmeichelnd legentlich behandelt werden, wenn es eine
ausfällt: Peter Rühmkorf. Es gute Verfilmung gibt. Ein Beispiel: Ob
wäre zu sprechen von den „Homo faber“ in den Kanon gehört, ist
frühen Memoiren „Die Jahre keineswegs sicher, aber der Film ist nicht
die ihr kennt“, von seinen schlecht und nützlich.
letzten Gedichten, vom Tage- SPIEGEL: Findet sonst noch etwas von Max
buchwerk „Tabu“. Frisch Gnade vor Ihren Augen?
JAUCH & SCHEIKOWSKI

Es wäre noch von vielem Reich-Ranicki: Einige kleine Prosastücke aus


zu sprechen! Ein großer Vor- seinem „Tagebuch“ und eventuell „Mon-
teil der Literatur gegenüber tauk“.
journalistischer Arbeit ist SPIEGEL: Wird eine 15-jährige Schülerin
eben am Ende auch: dass ihr „Montauk“ verstehen? Muss man dazu
„Effi Briest“-Filmversion*: Großer Diskurs niemals der Platz ausgeht. nicht mindestens 50 sein?
Reich-Ranicki: In „Montauk“ geht es vor
allem um die Liebe. Daran sind viele
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Titel

kleine Geschichten, etwa: „Der Mann mit


den Messern“ und „Wanderer kommst du
nach Spa …“, von Arno Schmidt „See-
landschaft mit Pocahontas“ und „Die Um-
siedler“, von Grass „Katz und Maus“ und
ausgewählte Kapitel aus der „Blechtrom-
mel“, von Uwe Johnson einige Abschnitte
aus den „Mutmassungen über Jakob“, von
Thomas Bernhard „Wittgensteins Neffe“
und „Holzfällen“.
SPIEGEL: Wie ist es mit Dürrenmatt bestellt?
Reich-Ranicki: Da ist vieles inzwischen ver-
blasst und verstaubt. Ich glaube, es genügt
eine einzige Novelle: „Die Panne“.
SPIEGEL: Und die Prosa von Martin Walser,
Peter Handke, Siegfried Lenz, Christa
Wolf, Jurek Becker, Botho Strauß, Hans
Erich Nossack?
Reich-Ranicki: Das sind natürlich allesamt
ehrenwerte Autoren, aber sie gehören doch
nicht in einen Kanon für Schulen. Hier
zwei Beispiele. Ich habe Christa Wolfs
Roman „Nachdenken über Christa T.“
nachdrücklich gelobt – und Martin Walsers
Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ebenfalls.
In beiden Fällen bedauere ich meine na-

DEFD
hezu enthusiastischen Urteile keineswegs.
Kinofilm „Tod in Venedig“*: „An der Liebe sind Jungen und Mädchen interessiert“ Aber seit dem Roman der Wolf sind 33
Jahre vergangen, seit Walsers Novelle im-
Mädchen und Jungen im Schulalter nach gar gelesen wurden. Aber sie haben sich merhin 23 Jahre. Versuchen Sie, diese
wie vor stark interessiert, auch wenn sie überlebt. Vom literaturhistorischen Stand- Bücher heute zu lesen – und Sie werden
darüber nicht gern sprechen. punkt gesehen, waren es Eintagsfliegen, sehr verwundert sein.
SPIEGEL: Erotische Motive in der Literatur nützliche Eintagsfliegen – Alfred Kerr hat SPIEGEL: Im Falle von Jurek Beckers La-
spielen in Ihrer Kritik stets eine besonders einen Band seiner gesammelten Kritiken so ger-Roman „Jakob der Lügner“ sind wir
große Rolle. Sollte etwa die Schule in die- genannt: „Eintagsfliegen“. Aber es wäre anderer Meinung. Gibt es nicht Bücher,
ser Hinsicht ähnlich verfahren? falsch und auch schädlich, wollten wir die- die vielleicht nicht gleich in den Kanon
Reich-Ranicki: Ja, ich widme der Liebe in se Werke in den Kanon aufnehmen. gehören, sich aber hervorragend als Schul-
der Literatur viel Platz. Das geht auf einen SPIEGEL: Welche Romane und Erzählungen stoff eignen?
einfachen Umstand zurück: Die Liebe ist waren denn keine Eintagsfliegen? Reich-Ranicki: Woran denken Sie?
das zentrale Thema der deutschen Litera- Reich-Ranicki: Von Wolfgang Koeppen SPIEGEL: Etwa an Plenzdorfs „Die neuen
tur – von Walther von der Vogelweide bis „Tauben im Gras“, von Böll „Doktor Mur- Leiden des jungen W.“ oder Schlinks Ro-
zu Ingeborg Bachmann und Sarah Kirsch. kes gesammeltes Schweigen“ und zwei man „Der Vorleser“.
Zu den größten Erotikern der europäischen Reich-Ranicki: Ich habe nichts dagegen, dass
Literatur gehören zwei deutsche Autoren: Hugo von Hofmannsthal man Plenzdorfs Erzählung im Unterricht
Goethe und Heine. Gut beraten ist der behandelt, aber in den Kanon gehört sie
„Der Schwierige“
Lehrer, der immer wieder auf Erotisches nun doch nicht. Und Schlinks „Vorleser“?
eingeht. Und ich hätte Sympathie für einen Ein gut lesbares, verdienstvolles Buch, des-
Deutschlehrer, der plötzlich, jeden Kanon Als letzter großer Dichter des alten Euro- sen sprachliches Niveau nicht sehr hoch
ignorierend, seine Schüler beispielsweise pa ist der Wiener Hugo von Hofmanns- ist. Jurek Becker? Nein, seine inzwischen
Nabokovs „Lolita“ lesen lässt oder Tsche- thal gerühmt worden. Sein Ge- schon vergessenen Romane ha-
chows Erzählung „Die Dame mit dem heimnis: Er überwindet die Tra- ben im Kanon nichts zu suchen.
Hündchen“. dition, ohne sie lächerlich zu Aber „Jakob der Lügner“? Ja-
SPIEGEL: Und was ist mit den typischen machen. Sein „Schwieriger“ wohl, Recht haben Sie, ich gebe
deutschen Nachkriegsautoren, mit denen (1921), der entschlusslose nach und nehme das Buch in
Sie sich als Kritiker zeitlebens beschäftigt Junggeselle Graf Hans Karl meinen Kanon auf.
haben – bleibt davon für Ihren Kanon Bühl, fühlt sich fehl am Platz in SPIEGEL: Was machen Sie mit
nichts übrig? der feinen Gesellschaft, zu der den Dramatikern des Jahrhun-
Reich-Ranicki: Ja, hier muss man sehr vor- er doch zählt; am Schluss wird derts?
sichtig sein – und da bleibt in der Tat nur er überrascht und erlöst von Reich-Ranicki: Das Drama veral-
wenig. Ich habe viel über große deutsche der menschlich-echten Liebe tet besonders schnell. Werfen
Schriftsteller der Vergangenheit geschrie- der Gräfin Helene Altenwyl. Sie einen Blick auf das Reper-
ben, aber zugleich so gut wie nie die deut- Diese Selbstfindung auf toire der deutschen Theater zwi-
sche Literatur der Gegenwart vernachläs- höchstem Niveau, nach klassi- schen den beiden Weltkriegen –
sigt oder gar ignoriert. Darunter waren schem Muster auf wenige Momente kon- was man damals gespielt hat, ist, von we-
nicht wenige gute oder zumindest brauch- zentriert, ist in einem virtuos beiläufigen nigen Ausnahmen abgesehen, längst ver-
bare Bücher, die zu Recht viel diskutiert Dialog erzählt, der das Drama zu einer gessen. Für den Kanon kommen wohl nur
und 10 oder vielleicht sogar 20 Jahre lang so- der besten deutschsprachigen Konver- acht oder neun Dramatiker in Frage:
sationskomödien macht. Hauptmann („Die Ratten“), Schnitzler
* Mit Dirk Bogarde und Björn Andresen (1970). („Reigen“, „Professor Bernhardi“), Hof-
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Titel

mannsthal („Der Schwierige“), Wedekind Schüler finden, von Morgenstern und Reich-Ranicki: Sehr ungern, aber meinet-
(„Frühlings Erwachen“), Sternheim („Der Georg Heym, von Kästner, Huchel, Eich, wegen: „Werther“, „Effi Briest“, „Bud-
Snob“), Horváth („Kasimir und Karoline“), Celan, Ingeborg Bachmann, Jandl, Enzens- denbrooks“, „Der Prozeß“, „Faust I“, je
Brecht („Galilei“, „Mutter Courage“), berger, Sarah Kirsch, Rühmkorf und auch ein Band mit ausgewählten Dramen von
Peter Weiss („Marat“). Biermann und Robert Gernhardt. Schiller und Kleist, je ein Band mit aus-
SPIEGEL: Und das ist alles? Keine Stücke SPIEGEL: Insgesamt ist die Zahl der Frauen gewählten Gedichten von Goethe, Heine
von Frisch, Dürrenmatt, Walser, Handke? in Ihrem Kanon recht klein. und Brecht. Und wenn Sie mir noch zwei
Reich-Ranicki: Allenfalls Frischs „Bieder- Reich-Ranicki: Das stimmt schon, aber ich
mann und die Brandstifter“. Von Dürren- kann es nicht ändern. Anders als zum
matt haben sich alle Stücke, sogar „Der
Besuch der alten Dame“, überlebt, ob die
Beispiel in England, Frankreich oder
Polen gibt es nur wenige deutsche Auto-
Bestseller
Stücke von Walser und Handke je gelebt rinnen von beachtlicher Qualität. Ich Belletristik
haben, dessen bin ich nicht sicher. bin nicht bereit, einen ermäßigten Tarif
1 (1) Henning Mankell
SPIEGEL: Sind Sie im Bereich der Lyrik wegen Geschlechtszugehörigkeit anzu-
ebenso streng? wenden. Der Mann, der lächelte Zsolnay; 39,80 Mark
Reich-Ranicki: In der Lyrik haben die An- SPIEGEL: Und die Nobelpreisträgerin Nelly
2 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter
thologisten viel Unheil angerichtet. Ich Sachs?
Reich-Ranicki: Ihre Lyrik und der Feuerkelch Carlsen; 44 Mark
wurde immer über-
schätzt und hat sich in- 3 (3) John Grisham Die Bruderschaft
zwischen überlebt. Heyne; 46 Mark
SPIEGEL: Warum haben
Sie die nichtfiktionale 4 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter
Prosa, außer derjenigen und der Stein der Weisen Carlsen; 28 Mark
von Lessing, Goethe,
Schiller und Heine, nicht 5 (5) Donna Leon Feine Freunde
aufgenommen? Diogenes; 39,90 Mark
Reich-Ranicki: Weil sie
sich in der Schule 6 (6) Joanne K. Rowling Harry Potter
verhältnismäßig schwer und die Kammer des Schreckens
vermitteln lässt. Doch Carlsen; 28 Mark
sollte man Essayistisches
von Friedrich Schle- 7 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter
gel, Nietzsche und und der Gefangene von Askaban
Thomas Mann aufneh- Carlsen; 30 Mark
men, vielleicht auch
noch von Karl Kraus 8 (9) Stephen King
und Feuilletons von Kurt Duddits – Dreamcatcher Ullstein; 48 Mark
Tucholsky.
SPIEGEL: Insgesamt, so 9 (8) John le Carré Der ewige Gärtner
scheint uns, leidet auch
List; 44,90 Mark
Kinofilm „Wahlverwandtschaften“*: Schmerzhafter Verzicht Ihre Liste unter dem
Problem der Überfrach- 10 (10) Per Olov Enquist
liebe Anthologien, ich habe viele her- tung. Wann sollen die Schüler das alles
Der Besuch des Leibarztes Hanser; 42 Mark
ausgegeben, und es hat mir immer Freude lesen?
bereitet. Aber viele Anthologisten sind Reich-Ranicki: Also, was wollen Sie? Dass 11 (11) John R. R. Tolkien
Faulpelze: Sie verlassen sich gern auf ihre ich dieses Programm noch mehr reduziere?
Vorgänger. So werden manche Gedichte Das kann ich nicht. Das sollen andere ma- Der Herr der Ringe Klett-Cotta; 59,90 Mark
100, ja 200 Jahre lang mitgeschleppt. Das chen. Es wird ohnehin manchen geben, der 12 (12) Zeruya Shalev Mann und Frau
gilt für Klopstock und Herder, deren lite- mich erdrosseln wird: kein Stifter, kein
Berlin; 39,80 Mark
rarhistorische Bedeutung niemand anzwei- Jean Paul!
felt, für Lessing, der ein Genie, aber kein SPIEGEL: Auch ohne Jean Paul wirkt Ihre 13 (15) Frédéric Beigbeder
großer Lyriker war, für Uhland, den man Liste opulent.
überschätzt hat, für Fontane, dessen Ge- Reich-Ranicki: Ich habe doch schon auf Neununddreißigneunzig
dichte oft nur Plaudereien in Versen sind. so vieles verzichtet! Zum Beispiel auf Rowohlt; 39,90 Mark
SPIEGEL: Nun wollen wir aber hören, wen die ausländische Literatur. Ich bin in Ber-
Sie von der Lyrik des 20. Jahrhunderts gel- lin auf die Schule gegangen, da haben wir 14 (14) Liza Marklund Studio 6
ten lassen. im Englischunterricht „Hamlet“ gelesen Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
Reich-Ranicki: Auch hier ist vieles mitge- und Dickens und Joseph Conrad, im
schleppt worden, worauf man verzichten Französischunterricht Molière und Mau- 15 (–) Minette Walters
kann, um Platz zu machen für sechs be- passant und andere. Heute sei das unmög- Schlangenlinien
deutende Poeten: für Hofmannsthal, Geor- lich, sagt man mir. Andererseits: Abitu- Goldmann; 46 Mark
ge, Rilke, Trakl, Benn und selbstverständlich rienten, die keine Ahnung haben, was
für Brecht, den Jahrhundertlyriker. sich hinter den Namen Shakespeare, Bal-
SPIEGEL: Ist das alles? zac, Dostojewski verbirgt – wäre das nicht Warum musste die
„verrückte Annie“ im
Reich-Ranicki: Es sollten sich im Kanon absurd? Rinnstein sterben?
noch einzelne Gedichte von der Lasker- SPIEGEL: Könnten Sie zehn oder zwölf Der neue Thriller der
Bücher nennen, die ein Abiturient unbe- britischen Krimi-Königin
* Mit Marie Gillain, Jean-Hugues Anglade (1996). dingt kennen sollte?
222 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Titel genehmigen sollten, schlage ich einen Reich-Ranicki: Nein, wo denken Sie denn
Band mit den Werken von Büchner vor hin? Das ist ja eine ganz weltfremde Frage. Max Frisch
und einen Auswahlband mit der Lyrik der SPIEGEL: Und die Germanisten? „Montauk“
deutschen Romantiker. Reich-Ranicki: Ob in Deutschland, in Öster-
SPIEGEL: Dass die Kultusministerkonferenz reich oder in der Schweiz – es wird sich Ein Wochenende auf Long Island, das
Ihren Kanon zumindest in den Hauptzügen kein einziger Germanist finden, der einen ein Schweizer Schriftsteller mit einer viel
akzeptiert – halten Sie das für möglich? solchen Kanon-Vorschlag für ansatzwei- jüngeren Frau verbringt, bevor er zurück
se akzeptabel hält. Jeder wird nach Europa reist. Beide sind
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich empört darauf hinweisen, dass erst seit kurzem ein Paar,
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ dieser oder jener Autor fehlt. kennen sich noch wenig, die
Ich aber meine, dass mein Ka- Gespräche finden in engli-
Sachbücher non-Vorschlag immer noch viel scher Sprache statt, was dem
zu umfangreich ist. Jeder Kenner Mann Gelegenheit gibt, sein
1 (1) Sebastian Haffner Geschichte
der deutschen Literatur (und es Leben noch einmal wie aus
eines Deutschen DVA; 39,80 Mark gibt Hunderte von hervorragen- weiter Ferne zu betrachten.
den Kennern) ist ganz und gar Wenig Stoff eigentlich, und
2 (2) Dietrich Schwanitz Bildung sicher, dass er einen besseren doch weitet sich, dank raffi-
Eichborn; 49,80 Mark Kanon machen kann als ich. Und nierter Montage kleinster Er-
das gilt ebenfalls für alle, die innerungsstücke, die 1975
3 (3) Norman G. Finkelstein sich für Kenner, für Experten erschienene Erzählung „Mon-
Die Holocaust-Industrie Piper; 38 Mark unserer Literatur halten. Ihre Zahl tauk“ zu einer faszinierenden
beträgt schätzungsweise zwei bis drei autobiografischen Skizze mit Tiefen-
4 (5) Günter Ogger Der Börsenschwindel Millionen. schärfe, zu einem melancholischen, da-
C. Bertelsmann; 44 Mark SPIEGEL: Also alles für die Katz? bei niemals sentimental gestimmten Al-
Reich-Ranicki: Nein. Aber nicht ich sollte terswerk („Sowie eine Frau mir gefällt,
5 (4) Carola Stern Doppelleben mich über den eventuellen Nutzen meiner komme ich mir jetzt als Zumutung vor“):
Kiepenheuer & Witsch;
39,90 Mark Arbeit äußern, sondern doch wohl andere. kluge Reflexionen über die Liebe, ohne
SPIEGEL: Wie kommt es, dass Sie die Ka- Schmu und Schmus.
non-Idee, die Sie ja seit Jahren immer neu
diskutiert haben, nicht loslässt?
Reich-Ranicki: Das hat zunächst mit einer gelang mir, den Titel des Buches zu lesen.
Die bekannte Publizistin Warschauer Gymnasialschülerin zu tun, Es war Leo Tolstois „Anna Karenina“. Wie
beschreibt ihren die mir vor vielen Jahren aufgefallen ist. man sieht, habe ich diese Schülerin bis
Lebensweg zwischen Ost Sie stand an einer Haltestelle und las ein heute nicht vergessen.
und West, Stasi und
Amnesty International Buch. Dann kam die Straßenbahn, sie ging SPIEGEL: Aber sie gehört doch mit Sicher-
zur Bahn, ohne die Lektüre zu unterbre- heit einer Minderheit an.
chen, und auch auf den Stufen des Wag- Reich-Ranicki: Ja, wahrscheinlich einer
6 (6) Günter de Bruyn Preußens Luise gons, in den sie stieg, las sie weiter. Ich verschwindend kleinen Minderheit. Nur
Siedler; 28 Mark folgte ihr und setzte mich neben sie. Ich habe ich als Kritiker dafür zu sorgen,
wagte es nicht, sie anzusprechen. Doch es dass diese Minderheit nicht noch kleiner,
7 (7) Guido Knopp Hitlers Frauen dass sie vielleicht sogar arg größer wird.
und Marlene C. Bertelsmann; 48 Mark Das habe ich von meinen Lehrmeistern
gelernt, von den Brüdern Schlegel, von
8 (11) Dietrich Schwanitz Männer Heine und Fontane, von Kerr und Polgar:
Eichborn; 44 Mark Sie alle waren der Ansicht, dass Kritik
vor allem vermitteln müsse, und zwar zwi-
9 (8) Dale Carnegie Sorge dich schen der Literatur und dem Publikum.
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark Diesem Zweck dient der Kanon. Und
ich bin sicher, dass viele Leser, junge und
10 (10) Hans-Olaf Henkel alte, Schüler und Lehrer und sogar Rent-
Die Macht der Freiheit Econ; 39,90 Mark ner, für einen solchen Kanon dankbar sein
werden. Denn ein fragwürdiger Kanon
11 (12) Bodo Schäfer Der Weg zur ist immer noch besser als überhaupt kein
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Kanon.
SPIEGEL: Warum eigentlich?
12 (9) Florian Illies Generation Golf Reich-Ranicki: Ohne Kanon gibt es nur Will-
kür, Beliebigkeit und Chaos und, natür-
Argon; 34 Mark
lich, Ratlosigkeit. Ich habe einmal ge-
13 (13) Gregor Gysi schrieben: Ohne Liebe zur Literatur gibt es
keine Kritik. Ich darf das hier ergänzen:
Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn Einem Deutschlehrer, der die Literatur
Hoffmann und Campe; 39,90 Mark nicht liebt, wird es nicht glücken, das
Interesse an der Literatur zu wecken und
14 (15) Dagmar von Gersdorff eben die Liebe zur Literatur. Es wird ihm
Goethes Mutter Insel; 49,80 Mark nicht gelingen, seine Schüler zu überzeu-
gen, dass Literatur – ich wiederhole es –
15 (–) Sebastian Haffner Spaß machen kann, darf und soll.
Historische Variationen DVA; 39,80 Mark Schüler Marcel Reich (um 1936) SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, wir danken
„Lehrpläne zeugen von Weltfremdheit“ Ihnen für dieses Gespräch.
d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1 223
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224 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Chronik 9. bis 15. Juni SPIEGEL TV

S A M S TA G , 9 . 6 . TIERE Angler sichten vor Rostock Gewöhn- MONTAG


liche Delfine in der Ostsee – eine zoolo- 23.15 – 23.45 UHR SAT.1
STARS Vor 18 000 Zuschauern startet Ma- gische Sensation.
donna, 42, in Barcelona ihre Welttournee. SPIEGEL TV REPORTAGE
Acht Großleinwände prangen auf der Büh- MITTWOCH, 13. 6. Immer Terror mit dem Terrier –
ne, es folgt Hitkost bis zum Abwinken, Beobachtungen in einem Erziehungscamp
vorgetragen von einem Popstar, der mal STAATSFINANZEN Minister Hans Eichel für Mensch und Hund
im Kilt, mal in der Lederhose singt. stellt den Haushalt 2002 vor. Der Posten
„Arbeit und Soziales“ steigt auf
S O N N TA G , 1 0 . 6 . 88,8 Milliarden Euro – mehr als ein
Drittel des Gesamtetats.
HAUPTSTADT I Sonderparteitag der Berliner
SPD über den Bruch der Großen Koali- RELIGION In Frankfurt beginnt der 29. Evan-
tion. Spitzenkandidat Klaus Wowereit gelische Kirchentag. Gestritten wird über
bekennt: „Ich bin schwul – und das ist Abendmahl und Embryonenforschung.
auch gut so.“
BILDUNG Die OECD übt Kritik an der
NEUSCHWANSTEIN Vor 115 Jahren starb er „Gelehrtenrepublik“ Deutschland. Nur

SPIEGEL TV
im Starnberger See, nun kommt eine späte 16 Prozent der deutschen Bevölkerung
Diagnose: Der Selbstmörder, Schlossbauer besitzen einen Hochschulabschluss
und Märchenkönig Ludwig II. litt nach (OECD-Durchschnitt: 25 Prozent). Hundeerziehung
Ansicht des Leiters der Münchner Uni-
Psychiatrie, Hans-Jürgen Möller, unter ei- D O N N E R S TA G , 1 4 . 6 . Wenn Hundehalter sich keinen Respekt
ner „Wahnerkrankung mit ungünstigem mehr verschaffen können bei ihrem Tier,
HAUPTSTADT II SPD und Grüne bringen ei-
Verlauf“, wahrscheinlich Schizophrenie. sollten sie ein zehntägiges Seminar in der
nen Misstrauensantrag gegen den Regieren- niedersächsischen Provinz buchen. Dort
den Bürgermeister Eberhard Diepgen ein. betreibt Günter Ostermeier eine Schule
M O N TA G , 1 1 . 6 .
OSTERWEITERUNG Beim EU-Gipfel in Göte- für menschlich-tierische Störfälle. Das ei-
TODESSTRAFE Sechs Jahre wartete der gentliche Problem, glaubt er, ist immer
borg nennen die Regierungschefs kein
„Oklahoma-Bomber“ Timothy McVeigh fixes Datum für die Aufnahme weiterer der Mensch.
auf seine Hinrichtung. Am Tag seiner Exe- Mitgliedsländer.
kution belagern 1400 Journalisten das Ge- DONNERSTAG
fängnis in Terre Haute (US-Staat Indiana). KLIMA Während seiner Europareise 22.20 – 23.15 UHR VOX
Um sieben Uhr Ortszeit wird dem 168fa- bekräftigt US-Präsident George W. Bush
chen Mörder Gift injiziert. Angehörige der seine ablehnende Haltung, die Emissionen SPIEGEL TV EXTRA
Opfer dürfen die Exekution auf Video- von Treibhausgasen zu vermindern. Der Herr des Schreckens –
schirmen verfolgen. Achterbahnen und ihr Konstrukteur
KÖNIGSMORD Ein offizieller Bericht klärt
REISEN Die ersten zwölf Touristen tauchen
Hysterische Schreie, verzerrte Gesichter.
das Palastmassaker von Nepal. Demnach
zum Weltkrieg-II-Schlachtschiff „Bis- Beinahe senkrecht stürzen die Passagie-
erschoss Kronprinz Dipendra als alleiniger
marck“ hinab. Preis pro Teilnehmer: re in den Abgrund: „Der Koloss“, die
Täter seine Eltern und sieben Verwandte.
37 500 Dollar. größte Holzachterbahn der Welt, steht in
F R E I TA G , 1 5 . 6 .
der Nordheide und wurde konstruiert
D I E N S TA G , 1 2 . 6 . von dem Münchner Werner Stengel.
NS-OPFER Die ersten ehemaligen Zwangs-
FERNSEHEN Wegen mickriger Quoten bei arbeiter erhalten Geld. Die Überweisun- SAMSTAG
„Big Diet“ wirft Margarethe Schreine- gen gehen nach Polen, Tschechien und in 22.10 – 23.15 UHR VOX
makers (54 Kilogramm) das Handtuch. die USA.
SPIEGEL TV SPECIAL
Bauern aus Zentsuji Schöner Wohnen –
(Südwestjapan) ver- die Deutschen von Pattaya
packen würfelförmige Die thailändische Sexmetropole ist nicht
Melonen, herangereift nur jährlich für Hunderttausende Touris-
in speziellen Glas- ten Anziehungspunkt; fast 7000 Deutsche
behältern, für den leben und arbeiten hier. Dokumentation
Transport in die USA. über Bäcker, Metzger und Immobilien-
makler am Golf von Thailand.

SONNTAG
23.00 – 23.50 UHR RTL
SPIEGEL TV MAGAZIN
Operation Sparschwein – die Bundeswehr
zwischen verschleppten Reformen und
knappen Kassen; Flucht nach Westen –
warum ostdeutsche Plattenbauviertel zu
Geisterstädten verkommen; Berlin im
Madonna-Fieber – die „Queen of Pop“ zu
Gast in der Hauptstadt.
AP

225
Register
gestorben eine leer stehende Bäckerei in der Ber-
nauer Straße. Von dort aus gelang es der
Sir David Spedding, 58. Das erste Zei- Gruppe von 15 jungen Leuten in mühevol-
tungsfoto war auch das letzte – erst nach ler, gefährlicher Handarbeit, einen Tunnel
seinem Tod durften die Briten erfahren, in den Ostsektor zu graben. Als „Tunnel
wie der Chef des Secret Intelligence Ser- 57“ ist der unterirdische Gang weltberühmt
vice, des so genannten geworden: Am 3. und 4. Oktober 1964 hol-
MI6, ausgesehen hat. ten Fuchs und seine Fluchthelfer 57 Men-
Passend zum Metier schen nach West-Berlin. Bald darauf kehr-
war Englands obers- te Fuchs ins bürgerliche Leben zurück und
ter Auslandsaufklärer eröffnete in Berlin-Neukölln eine Drogerie.
ein etwas schrulliger Idealismus und Wut auf die deutsche Tei-
Oxford-Historiker mit lung waren der Antrieb für die Fluchthel-
Sport-Tick („immer für fer, wie sich ein Freund erinnert. „Etwas
eine Runde Golf zu ha- Abenteuerlust war auch dabei.“ Wolfgang
ben“), der die Akten Fuchs starb am 7. Juni in Berlin an Krebs.
tatsächlich in grüner
Tinte mit „C“ abzeichnete, dem Tradi- Víctor Paz Estenssoro, 93. Viermal, zwi-
tionskürzel der Londoner Spionagechefs. schen 1952 und 1989 insgesamt mehr als
Einmal, zu Weihnachten 1998, empfing er 12 Jahre lang, war er Präsident Boliviens.
sogar Dame Judi Dench, die Darstellerin Mit 34 hatte der Wirtschaftsprofessor die
seiner Amtsrolle in neueren James-Bond- nationalrevolutionäre
Filmen, zum Lunch. Seine Dienstzeit war Bewegung MNR ge-
turbulent: Er erlebte in Chile 1973 den gründet. Er verschrieb
Sturz des Präsidenten Allende, vereitelte in seinem Land zweimal
Amman ein Attentat des Terroristen Abu die Revolution – mit
Nidal auf die Queen, half im Irak Atom- entgegengesetzten Vor-
anlagen aufzuspüren und jagte in Bosnien zeichen. Zunächst trug
Kriegsverbrecher. Sir David Spedding, der ihn 1952 ein Aufstand

REUTERS
das MI6 von 1994 bis 1999 geleitet hatte, von Minenarbeitern,
starb am 13. Juni an Lungenkrebs. Indios und Polizisten
an die Macht. Darauf-
Prinzessin Leila Pahlewi, 31. Weder den hin enteignete er die Zinnbarone, gab den
Verlust ihrer Heimat noch die Entmachtung Indios Land und führte das allgemeine
und den Tod ihres Vaters, des „Königs der Wahlrecht ein. Als er 1985 mit 78, unter-
Könige“, wie er zu Re- stützt von der linken Partei seines Neffen,
gentschaftszeiten ge- in den Präsidentenpalast zurückkehrte,
nannt wurde, hat das lähmte eine Hyperinflation die Wirtschaft.
jüngste Kind des ehe- Deshalb setzte er neoliberale Reformen
DAVID ATLAN / POINT DE VUE

maligen Schahs von durch, sogar mit Hilfe von Notstandsge-


Persien je verwunden. setzen, um den Protest der Volksmassen
Als Neunjährige musste einzudämmen. Víctor Paz Estenssoro starb
sie den Pfauenpalast in am 7. Juni in seiner Heimatstadt Tarija.
Teheran verlassen und
nach Massachusetts in Henri Alekan, 92. Seine Arbeitsprinzipien
den USA emigrieren. waren: Streite nie mit Regisseuren, und ver-
Sie absolvierte zwar die Universität, einer suche stets, deren Wünsche umzusetzen.
geregelten Tätigkeit ging sie aber nie nach. Dennoch hatte der französische Kamera-
Mit dem Schah-Vermögen konnte sie es sich mann Stil und eigenen Willen; so weigerte
leisten, zwischen Europa und den Staaten er sich standhaft sein ganzes Arbeits-
zu pendeln und als Förderin iranischer leben lang – etwa um Zeit zu sparen –, vor
Kunst aufzutreten. In einer Erklärung ihrer den Dreharbeiten Be-
Mutter, der Ex-Kaiserin Farah, heißt es: „Sie leuchtungsproben oh-
ertrug das Leben in Europa nicht und lieb- ne Schauspieler durch-
JACQUES DEMARTHON / AFP / DPA

te Iran.“ Prinzessin Leila Pahlewi starb am zuführen. Seiner Phi-


10. Juni in London wahrscheinlich an einer losophie von Licht und
Überdosis Schlaftabletten. Schatten verdankt das
Kinopublikum so mär-
Wolfgang Fuchs, 62. „Westen“ war für chenhaft anmutende
viele ehemalige DDR-Bürger das Synonym Bilder wie in „Die
für „Freiheit“. Fuchs und seine Freunde Schöne und das Biest“
verhalfen ihnen dazu. Der Optiker aus Jena von Jean Cocteau (1946)
war bereits 1957 in den Westsektor Berlins oder in „Der Himmel über Berlin“ von
geflohen; der Erste, der mit seiner Hilfe die Wim Wenders (1987). Allein für diese
Mauer überwand, war 1962 sein Schwager, Arbeit erhielt Alekan vier Auszeichnun-
den er einfach über den „antiimperialisti- gen. Henri Alekan starb am 15. Juni in
schen Schutzwall“ zog. 1964 mietete Fuchs Auxerre (Burgund).
226 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
Werbeseite

Werbeseite
Personalien
Zoran Djindjiƒ, 48, serbischer Minister-
präsident, hat sein Kabinett zum Deutsch-
unterricht verpflichtet. Beim Besuch des
nordrhein-westfälischen Ministerpräsiden-
ten Wolfgang Clement, der mit einer
großen Delegation von Wirtschaftsbossen
gekommen war, versicherte der serbische
Regierungschef, dass demnächst alle seine
Minister Deutsch könnten. Djindjiƒ selbst
hat das bereits als Habermas-Student an
der Uni Frankfurt gelernt. Voraussetzung
sei allerdings, dass die Geschäfte – mit ent-
sprechenden Krediten – auch wirklich zu
Stande kämen.

Joschka Fischer, 53, Außenminister, konn-


te jetzt mit seinen Französischkenntnissen
in der Öffentlichkeit brillieren. „Quel mal-
heur“, stöhnte der Grüne, der auch des
Englischen mächtig ist, als ihm der Füllfe-
derhalter auslief, mit dem er am vergange-
nen Dienstag auf
dem deutsch-fran-
zösischen Gipfel
ein Dokument un-

FOTOS: ACTION PRESS


terzeichnen woll-
te. Um Mitleid
heischend zeigte
er die tintenbe-
fleckten Finger Neumann, Jagger
seinem französi-
schen Amtskolle- Vanessa Neumann, 28, venezolanische Millio-
ULRICH ZAISER / ROPI

gen Hubert Vé- nenerbin, Philosophie-Doktorandin und Gelegen-


drine. Der hatte heitsgeliebte des in die Jahre gekommenen Rolling
seinen Füller je- Stone Mick Jagger, 57, machte in der britischen
doch schon in Ge- Illustrierten „Tatler“ etliche offenherzige Anmer-
Fischer brauch und setzte kungen über ihre seit 1998 andauernde Beziehung.
gerade klecksfrei Weil sie mit 18 Jahren schon 220 Millionen Dollar erbte, habe sie es nie nötig ge-
seinen Namen unter das Schriftstück. Fi- habt, die „Sicherheit der Ehe“ zu suchen – „ich will nur Sex“. Kompliment Mr. Jag-
scher starrte auf seine verschmierte rechte ger. Aber nicht nur ältere Männer, auch jüngere, in ihrem Alter, säumten ihren Weg.
Hand und murmelte kopfschüttelnd: „Wie Denen kaufte sie Flüge nach Paris oder auf die karibische Jet-Set-Insel Mustique und
in der Schule“. Das dann allerdings wieder Geschenke. Doch diese „Toyboys“ haben sie rasch „gelangweilt“, mit denen sei sie
auf Deutsch. „Schlitten gefahren“. Nicht nur deshalb bevorzugt die reiche Schöne den runzligen,
dürren Oldie, es ist auch, wie sie hinzufügt, „wegen des besseren Sex“.
Bill Clinton, 54, ehemaliger US-Präsident,
platzte vergangene Woche als nicht gela-
dener Gast mitten in eine konsternierte dem Paar die Hand gegeben, wandte er Plácido Domingo, 60, spanischer Startenor
Hochzeitsgesellschaft, die in der Lobby ei- sich an die Braut und raspelte: „Sie sind und Thomas Gottschalk, 51, deutscher
nes Hotels im britischen Harrogate feierte. wunderschön, ich hoffe, Sie haben einen Showmaster, sind seit Dienstag einander
Der Hobbygolfer war mit einem Dutzend herrlichen Tag.“ künstlerisch verbunden. Domingo, auch
Bodyguards auf dem künstlerischer Direktor der Oper von Los
Weg zum Golfplatz Angeles, informierte den Entertainer vor
des Hotels, ließ es dem gemeinsamen Besuch der „Tosca“-
sich dann aber nicht Aufführung, er, Gottschalk, sei zum Mit-
nehmen, dem Braut- glied des „Opera-Boards“, einer Art Auf-
paar Rebecca, 30, sichtsrat, gewählt worden, eine in Los
und Justin Garnett, Angeles’ Society begehrte Ehre. Der Sänger
29, zu gratulieren, erhofft sich von Gottschalk, mit dem er
für ein Erinnerungs- einmal, begleitet von Fußballer Toni Polster,
foto mit den beiden in dessen „Late Night Show“ „Wien, Wien,
Hochzeitern zu po- nur du allein“ angestimmt hat, einen enge-
sieren und an Stelle ren Kontakt zu deutschen Künstlern und
ROSS-PARRY AGENCY

eines Geschenks eine an Opern interessierten Sponsoren. Als Do-


Menükarte zu signie- mingo den neuen Opern-Rat einer Society-
ren. Komplimente gab Lady vorstellen wollte, fragte die Dame
es natürlich auch. Gottschalk: „Singen Sie? Sie wären der
Kaum hatte Clinton Clinton, Hochzeitspaar Garnett richtige Typ für den Siegfried.“
228 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1
George W. Bush, 54, US-Präsident, ge- dutzten Generalkonsul Leif Sjöström, be-
nießt neuerdings den Ruf eines Ehestifters. vorzugt aus Sauerteig. „Warum nur gibt es
Ein gutes Dutzend Paare unter den Bush- so ein Brot nicht in Schweden?“, klagte sie.
Mitarbeitern gaben sich seit dem Einzug ins Ausdauernd ließ sie sich über Zutaten und
Weiße Haus das Jawort, nicht gezählt die Backverfahren informieren, bevor sie sich
zahlreichen Romanzen unter den ehema- gleich für vier Brotlaibe, vor allem Hol-
ligen Wahlkampfhelfern, die jetzt in der steiner Krustenbrot, entschied und, bela-
Bush-Administration tätig sind. White- den mit zwei Papiertaschen, zurückhetzte.
House-Sprecher Ari Fleischer glaubt den Die seien für ein Picknick mit den Kindern
Grund für die Eheschließungen zu kennen: am Wochenende, beschied sie den fragen-
Das „an sich schon familienfreundliche Kli- den Diplomaten, und um die Menge mach-
ma im Weißen Haus“, sei „noch freundli- te sie sich auch keine Sorgen: „Was übrig
cher“ geworden. Nüchterner urteilt Nina bleibt, frier ich ein.“
Rees, Mitarbeiterin von
Vize-Präsident Richard
Cheney, über massen-
hafte Beziehungskisten
im amerikanischen Re-
gierungssitz: „Die meis-
ten von uns kennen gar
kein Leben außerhalb
des Weißen Hauses; das
endet damit, dass man
sich halt mit den Leuten
zusammentut, die man
auf den Fluren trifft.“

FRANK OSSENBRINK
Anna Lindh, 43, Schwe-
dens Außenministerin
mit ausgeprägtem Hang
zum Familiären, mochte Eichel, Xiang
von ihren privaten Vor-
lieben auch am Rand des Ostseerates in Hans Eichel, 59, auf Heller und Pfennig
Hamburg nicht lassen. Nach den Beratun- genau rechnender Finanzminister, flog mit
gen mit ihren Kollegen aus den Ostsee-An- dem chinesischen Finanzminister Xiang
rainerländern und zwischen hektischen Te- Huaicheng, 61, im Bundesgrenzschutz-
lefonaten wegen der Krisen auf dem Balkan hubschrauber von Berlin zur Transrapid-
und in Nahost verschwand die Ministerin so Versuchsstrecke im emsländischen Lathen,
unerwartet und geschwind über den Rat- um dem ZK-Mitglied die Magnetschwebe-
hausmarkt in der Innenstadt, dass sie sogar bahn nahe zu bringen. Der Chinese pack-
ihre Sicherheitsbeamten abhängte. Ziel der te im Hubschrauber eine Deutschlandkar-
dynamischen Schwedin: ein Bäcker im na- te aus und begehrte, Dauer und Entfer-
hen „Schlemmermarkt“. „Ich liebe deut- nung des Fluges zu wissen: „How far is it
sches Brot“, erklärte Anna Lindh dem ver- to Transrapid?“ Eichel, der sich angesichts
der chinesischen Dis-
Lindh tanzen für die deutsche
Kurzstrecke genierte,
wich ins Ungefähre
aus: „Very far.“ Xiang
insistierte: „How long
does it take to Transra-
pid?“ „Nearly two
hours.“ Xiang blieb
hartnäckig: „And how
many kilometers?“ Ei-
chel, dem die Sache
langsam peinlich wur-
de, zeigte auf den lin-
ken Kartenrand: „Here
SOFIA EKSTRÖM / PRESSENS BILD / DPA

you can see, it’s in the


far, far west of Ger-
many, a long trip.“ Der
chinesische Finanzmi-
nister gab sich endlich
zufrieden: „Oh, I see
the far far west of Ger-
many.“
229
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Magazin 2000 plus“: „Die Wis- Zitat


senschaftler hatten berechnet, dass Torna-
dos genügend Energie auf den Erdboden Die „Frankfurter Allgemeine“
übertragen, um sexistische Erschütterun- zum SPIEGEL-Essay „Die neue
gen in einem bestimmten Frequenzbereich Scholastik“ von Peter Glotz zur
zu verursachen.“ biopolitischen Debatte (Nr. 24/2001):

Hat Peter Glotz Recht, wenn er die biopo-


litische Debatte im SPIEGEL für obsolet er-
klärt, da sie so tue, „als könne man den
vierzelligen Embryo im Reagenzglas absolut
schützen, während der eingenistete unter
vielfältigen Kautelen zur Disposition“ stehe?
Aus der „Gala“ In der Demokratie, so Glotz, muss Recht-
setzung am Rechtsempfinden, dem Com-
monsense, der Menschen anknüpfen. Im
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Der Streit um Lebensschutz und Forschungs-
Verteidiger des 38-jährigen Angeklagten freiheit werde gegen diesen Grundsatz mit
vermutet, die Frau habe die Geschichte er- „halsbrecherischer Kasuistik“ verstoßen.
funden, um sich ein Bleiberecht in Italien Gestern hat Ernst Benda, der ehemalige Prä-
zu sichern. Die werdende Mutter habe sich sident des Bundesverfassungsgerichts, das
vor ihrer Geburt in Deutschland frei be- Argument von Glotz aufgenommen – und
wegen können.“ umgedreht. Die Quintessenz des Vortrags,
den Benda auf dem Kirchentag in Frankfurt
hielt, könnte man wohl so beschreiben:
Eben weil die Rechtsetzung im Sinne von
Glotz am Rechtsempfinden der Menschen
anknüpfen muss, darf die Singularität der
Abtreibungsregelung entgegen dem, was
Glotz will, nicht bestritten werden. Alles
Aus einer Anzeige im „Hahnheider andere würde darauf hinauslaufen, die vom
Landboten“ Commonsense durchaus anerkannte „ein-
malige Situation des Mutter-Kind-Verhält-
nisses“ nicht anzuerkennen und sie im Ge-
Aus der „Welt“: „Der Vorstandsvorsitzende genteil für andere Zwecke zu instrumenta-
der tschechischen VW-Tochter µkoda, Vratí- lisieren. Benda legt in Frankfurt dar: Wer
slav Kulhánek, hat dem Prager Minister- von Clement über Herzog bis Schröder in
präsidenten Milo∆ Zeman geschäftsschädi- diesen Tagen die Ratio der Abtreibungs-
gendes Verhalten vorgeworfen. Zeman hat- regelung für die Forschungsfreiheit verein-
te den Mittelklasse-Wagen µkoda Octavia, nahmen will, handelt in Wirklichkeit gegen
den µkoda der Regierung in einer acht Zen- deren Ratio.
timeter langen Sonderanfertigung zur Ver-
fügung gestellt hatte, als ‚maximal geeignet
für kleinwüchsige Politiker‘ kritisiert.“ Der SPIEGEL berichtete …
… in Nr. 41/1997 und in Nr. 29/2000 „Für
Kinder hatten die nichts übrig“ und
„Stockschläge und Kniebeugen“ über die
Missstände im DDR-Spezialkinderheim
Meerane in Sachsen. Ex-Zöglinge hatten
sieben Jahre nach der Wende vier ihrer
Erzieher wegen Misshandlung, Miss-
brauchs und Freiheitsberaubung ange-
Aus einem Werbeprospekt zeigt. 2000 wurde der Prozess noch vor
der Beweisaufnahme wegen Verjährung
eingestellt. Es handele sich um „normale
Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: Straftaten“, für die die Verjährungsfrist
„Manchmal singen sie halbstundenlang, für DDR-Unrecht nicht gelte.
wenn sie besonders vergnügt sind, sogar
den Radetzkymarsch der einstigen öster- Dem widersprachen Dienstag vergangener
reichischen Besatzer. Die Rohrtribünen Woche die Richter des 5. Strafsenats beim
schaukeln dann bedenklich im Dreivier- Bundesgerichtshof in Leipzig. Sie hoben in
teltakt.“ einem Revisionsverfahren das Urteil des
Landgerichts Chemnitz vom vergangenen
Sommer auf. In keinem der Fälle – so die
Richter – könne die Verfolgungsverjährung
anerkannt werden. Die Vorwürfe gegen die
Erzieher werden nun im Herbst vor dem
Aus der „Welt“ Landgericht Leipzig geklärt.
230 d e r s p i e g e l 2 5 / 2 0 0 1

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