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Hausmitteilung
8. November 2010 Betr.: Titel, Jemen, Staufer
W ie soll sie sein, die Superfrau? Auf einige Attribute können Männer sich viel-
leicht einigen: Eine tolle Ratatouille sollte sie zaubern können, mit iPhone,
Chanel No. 5 und Kants kategorischem Imperativ vertraut sein, eine Prise Ver-
ruchtheit, dazu eine beachtliche Oberweite,
also etwa so, wie es der Hamburger Illustra-
tor Nils Fliegner als Titel für diese SPIEGEL-
Ausgabe gezeichnet hat – für die Hälfte der
Auflage. Eine solche Superfrau ist allerdings
nicht leicht zu finden, und darum geht es in
der Titelstory, welche die SPIEGEL-Redak-
teure Claudia Voigt, 44, und Juan Moreno,
38, recherchiert haben: Die Journalisten, bei-
de selbst lange Zeit Single, wollten beschrei-
ben, wie man lebt in der Vereinzelung, war-
um manche Zeitgenossen einen Mann, eine
Frau fürs Leben finden – und andere nicht.
D er Jemen ist dabei, ein neues Somalia zu werden – so jedenfalls die Befürchtung
internationaler Terrorexperten, seit die Qaida mit knapp vereitelten Bom-
benanschlägen Schrecken verbreitet. Die SPIEGEL-Korrespondenten Volkhard
Windfuhr, 73, und Alexander Smoltczyk, 51, bereisten den Jemen, Rückzugsgebiet
der Terroristen, ärmstes Land Arabiens. Sie befragten Politiker im Norden, Prot-
agonisten der Widerstandsbewegung aus dem Süden, und sie diskutierten mit In-
tellektuellen – beispielsweise im „Mokha Bunn“, dem einzigen Literaten-Café in
Sanaa. Dort trafen sie Dschamila Radschab, die Café-Besitzerin, eine attraktive
Frau von Mitte vierzig, die Jeans trägt und vor bitteren Wahrheiten nicht zurück-
schreckt. „Sie stimmte uns zu, dass Präsident Salih dringend etwas unternehmen
müsste“, sagt Smoltczyk. „Aber dann erklärte sie uns eine jemenitische Tradition:
Wer ernst macht mit Veränderungen, der lebt nicht lange“ (Seite 116).
Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 3
In diesem Heft
Titel
Gesellschaft
Szene: Der lebensgefährliche Kampf einer
Iranerin um politisches Asyl /„FAZ“-
Herausgeber Frank Schirrmacher über die
Geheimnisse des menschlichen Gehirns ......... 67
Murks im Bundestag Seite 34
Eine Meldung und ihre Geschichte – Atomgesetz, Hartz IV, Gesundheitsreform – die Koalition produziert schlampige
warum eine katzenfeindliche Britin mit Gesetze, das Parlament fühlt sich übergangen. Bundestagspräsident Norbert Lam-
Adolf Hitler verglichen wurde ....................... 68 mert spricht von unzumutbaren Zeitplänen und kritisiert erneut die Regierung.
Deutsche Einheit: Das letzte Versagen
der Treuhandanstalt ....................................... 70
Ortstermin: Die Nationalmannschaft der
Bundeswehr-Köche trainiert für die WM ....... 75
Wirtschaft
Trends: Rätsel um RWE-Chef Großmann /
„Europa muss
Ernährungsindustrie fühlt sich verfolgt /
WestLB hat wieder Ärger mit Brüssel ............ 88
Weltwirtschaft: Vor dem G-20-Gipfel
aufstehen“ S. 122
wachsen die Spannungen zwischen den
großen Industrienationen ............................... 90
SPIEGEL-Gespräch mit Finanzminister
Wolfgang Schäuble über die umstrittenen Der umstrittene Islam-Kri-
deutschen Überschüsse und die geplante tiker und Mehrheitsbeschaf-
Insolvenzordnung für Euro-Länder ................ 97
Urteile: Ein Oberlandesgericht verurteilt fer der niederländischen
die Deutsche Bank wegen Falschberatung Regierung Geert Wilders
bei Spekulationsgeschäften ........................... 100 fordert im SPIEGEL-Ge-
Konzerne: E.on-Chef Johannes Teyssen spräch europaweiten Wider-
ARIE KIEVIT / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
REUTERS
Kultur
Szene: Die russische Justiz jagt eine
Kunstmäzenin / Die Geschichte der
Modezeichnung im Londoner Design
Museum ........................................................ 134
Brett. Heute tritt die 20- Sarkozy Journalisten ausspionieren? ............. 176
Jährige im Weltcup gegen TV-Sender: Bei RTL wächst der Unmut ......... 178
die besten Profis an. Die
Fans bewundern Hamil- Briefe ............................................................... 8
Impressum, Leserservice .............................. 180
tons Tapferkeit, auch Hol-
Register ........................................................ 182
lywood hat ihre Geschichte Personalien ................................................... 184
entdeckt und verfilmt. Hamilton Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 186
Titelbild: Illustration Nils Fliegner für den SPIEGEL
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Briefe
Der amerikanische Traum wird so lange Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE
nichts mehr werden, solange man nicht
umgehend große Summen in Bildung und ‣ Titel Warum ist es so schwer, den richtigen Partner
Ausbildung steckt. Nur dann kann man zu finden? www.spiegel.de/forum/Partnerwahl
in den USA mittelfristig einigermaßen ‣ Sicherheit Müssen die Kontrollen für Mensch und Ge-
autark werden. päck noch schärfer werden? www.spiegel.de/forum/Flug
MELLRICHSTADT (BAYERN) KARL-HERMANN REICH
‣ Justiz Sollten haftentlassene Sexualstraftäter mit
Die US-Gesellschaft hat nie Selbstkritik Sendern ausgestattet werden?
gelernt – im Gegenteil, ein auserwähltes www.spiegel.de/forum/Sender
Volk kann keine Fehler machen. Und
8 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Briefe
Mehr partizipative Demokratie ist ange- Fazit aus der zweiten Runde mit Heiner
sagt. Seit Jahren ist abzusehen, dass sich Geißler ist die traurige Tatsache, dass die
die Bürger immer stärker für ihre Belange Bahn-Seite noch immer Dokumente nicht
vor Ort interessieren. Sie fordern mehr zur Diskussion bereithält wie zum Bei-
Mitwirkungsmöglichkeiten und mehr spiel neuere Stellungnahmen der Firma
Respekt. Politiker sollten sich nicht ein- Sma und Partner zum Betriebskonzept.
bilden, immer alles besser zu wissen. Es Wie sollen da Mediation und Diskussion
reicht, wenn sie Politik machen. Die Men- funktionieren?
schen wollen Anerkennung ihres „gesun- STUTTGART GÜNTER FLUCK
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Briefe
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Panorama Deutschland
Staatliche Zuschüsse
KIRCHEN 19 Milliarden Euro
Teure Alimentierung
unter anderem für
konfessionelle
Kindertages-
stätten
3,9 Mrd. €
Religions-
unterricht
1,7 Mrd. €
theologische
Fakultäten,
DAVID EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA
kirchliche
Hochschulen
509 Mio. €
Kirchen-
personal
459 Mio. €
Bischofsprozession zur Basilika Vierzehnheiligen in Oberfranken Quelle: Carsten Frerk,
„Violettbuch Kirchenfinanzen“, 2010
TERRORISMUS klammer, die den Stromkreis unter- nicht zu einer Explosion, sondern zu
brach, sollte beim Öffnen des Päck- einer Verpuffung mit Stichflamme ge-
Geringe Sprengkraft chens herausfallen und den Stromim-
puls geben, um damit das Pulver zu
kommen. „Die Brisanz dürfte eher im
Bereich der Füllung von ,polnischen
Stärker regulieren
D ie Innenminister der Bundesländer
wollen den Bund zu einer Verschär-
fung seines 2002 in Kraft getretenen
Ölpalmen-Anbau im
indonesischen Regenwald
Prostitutionsgesetzes drängen. Die In-
nenministerkonferenz betrachte „mit
Sorge, dass neben der klassischen Pro-
stitution ein Trend zu ,Flatrate-Clubs‘
und Gang-Bang-Veranstaltungen festzu-
stellen“ sei, heißt es in einer Beschluss-
vorlage für die Innenministerkonferenz,
die Ende kommender Woche stattfindet.
Zudem seien in der „Straßenprostitu-
tion vermehrt osteuropäische Frauen ver-
treten“, die dem Gewerbe in „schlech-
tem gesundheitlichen Zustand“ nachgin-
gen. Hinzu komme eine deutliche Zu-
ULET IFANSASTI / GETTY IMAGES
ENERGIEPOLITIK
Ackerland umgewandelt werden müssen. zweimal so groß wie Belgien. Als Folge
Biosprit sei „schädlicher für das Klima als würden jährlich bis zu 56 Millionen
die fossilen Energien, die er ersetzen soll“, Tonnen CO2 freigesetzt. Das entspräche
kommentieren neun große Umweltver- zusätzlichen 12 bis 26 Millionen Autos auf
Prostituierte bände eine neue Studie des Londoner Europas Straßen.
Instituts für europäische Umweltpolitik
heißt es in einem Positionspapier aus (IEEP). Die IEEP-Forscher untersuchten
Bremen. Die Innenminister wollen dem die offiziellen Pläne von 23 EU-Mitglied-
jetzt vor allem durch „Erlaubnispflich- staaten zum Ausbau der erneuerbaren
ten für alle Formen von Prostitutions- Energien bis 2020. Deutschland werde
stätten“ entgegenwirken – so wollen sie dann 5,5 Millionen Tonnen Biosprit dem
beispielsweise verhindern, dass schon Benzin und Diesel beimischen und da-
einmal verurteilte Menschenhändler mit im Verbrauch Spitzenreiter vor Groß-
JOCHEN ZICK / KEYSTONE
OLIVER TJADEN
Anwalt Gerhart Baum, 78, Im hochkomplexen Fall Love
über eine neue Stiftung für Parade dürfte das noch Jahre
Love-Parade-Geschädigte dauern; wahrscheinlich
kommt es nicht vor 2012 zum
SPIEGEL: Mehr als hundert Tage nach Prozess. Und vielleicht wird das Ergeb-
der Katastrophe von Duisburg hat nis am Ende für die Opfer wenig be-
noch immer niemand die Verantwor- friedigend sein.
tung für die Massenpanik mit 21 Toten SPIEGEL: Wieso?
übernommen. Was bedeutet das für Baum: Es ist durchaus möglich, dass bei
die Hinterbliebenen und Verletzten? allen Beteiligten Fehler festgestellt
Baum: Eine große Last. Die Menschen werden, diese aber nicht zu Verurtei-
fühlen sich alleingelassen. Sie erwarten lungen führen. Für die Opfer ist es un-
nicht, dass die Schuldfrage innerhalb zumutbar, das abzuwarten. Deshalb
weniger Wochen geklärt wird. Aber sie bemühen wir uns, mit allen potentiell
erwarten, dass sich der Love-Parade- Verantwortlichen schon jetzt umfas-
Veranstalter Lopavent, die Stadt und
das Land klar zu ihrer moralischen Mit-
verantwortung bekennen. Die Love-Pa-
rade-Katastrophe ist nicht vom Himmel
gefallen, sondern sie wurde durch
menschliches Versagen ausgelöst.
SPIEGEL: Wer hat versagt?
Baum: Meines Erachtens haben alle Be-
teiligten Fehler gemacht, welchen An-
teil im Einzelnen sie auch haben mö-
gen: der Veranstalter, die Stadt, das
Land und die Polizei. Ich stehe in Kon-
takt mit mehr als 100 Opfern und ih-
ren Angehörigen, 57 zählen zu unse-
ren Mandanten. Die Menschen sehen
DANIEL NAUPOLD / PICTURE ALLIANCE / DPA
Haftung ungeklärt
Häuser noch stehen und lediglich wegen einer vom Landkreis
verhängten Nutzungsuntersagung dauerhaft unbewohnbar
geworden sind. Den Geologen in Schmalkalden bereitet der-
weil eine andere Parallele zum Erdfall in Tiefenort Kopf-
cher Ankündigungen der türkischen dass die FDP immer noch 500 Mitglie-
Regierung habe sich die Rechtslage in der mehr habe als vor zwölf Monaten.
den vergangenen Jahren kaum verbes- Verschwiegen hatte er, wie viele An-
sert. Angesichts der gravierenden hänger die Partei im Laufe dieses Jah-
Missstände und der geringen Fort- Christliche Kirche in der Türkei res verloren hat.
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Deutschland
TERRORISMUS
Operation „Mondschein“
Die Anzeichen verdichten sich, dass al-Qaida auch in Europa zuschlagen will. Die Bomben
aus dem Jemen zeigen, wie gefährlich die Terrororganisation noch immer ist.
Die Bundesregierung drängt auf eine massive Ausweitung der Frachtgutkontrollen.
W
ie immer gab es Vorzeichen, Nur Wochen später, am 9. Oktober, kam aus der jemenitischen Hauptstadt
Warnungen, Hinweise. Im Juli folgte eine zweite Warnung, diesmal war Sanaa und sollte nach Chicago in die
meldete sich der saudi-arabi- sie konkreter. Die Saudi-Araber bestell- USA, und es war purer Zufall, dass sie
sche Geheimdienst bei den deutschen Si- ten den Verbindungsbeamten des BKA nicht schon auf dem deutschen Flugfeld
cherheitsbehörden und berichtete, al-Qai- in Riad ein und berichteten ihm von ei- detonierte. Diesmal war es kein Geraune
da plane einen Anschlag mit Flugzeugen, nem ausgefeilten Plot. und kein „Rauschen“ mehr, wie die Si-
auch Europa könnte betroffen sein. De- Am 5. Oktober habe al-Qaida die Pla- cherheitsbehörden sagen. Diesmal war
tails? Fehlanzeige. nungen für einen spektakulären Anschlag es Nitropenta, ein hochbrisanter Spreng-
Die Experten vom Bundeskriminal- „mit ein oder zwei Flugzeugen“ abge- stoff, der auch vom Militär eingesetzt
amt (BKA), dem Bundesamt für Verfas- schlossen. Das Attentat solle schon in der wird. Am Freitag vergangener Woche be-
sungsschutz und dem Bundesnachrich- nächsten Woche stattfinden. Neben den kannte sich die Qaida-Filiale auf der Ara-
tendienst beugten sich im Anti-Terror- Deutschen wurden auch mehrere andere bischen Halbinsel.
Zentrum der Bundesregierung über europäische Regierungen informiert, dar- Die abgefangenen Bomben aus dem Je-
die Meldung. Konkrete Maßnahmen er- unter die Briten. men sind der bisherige Höhepunkt nach
griffen sie nicht – welche hätten das Drei Wochen später, in der Nacht zum einem Sommer der Sorgen. Seit Monaten
auch sein sollen, so vage, wie der Hin- vorvergangenen Freitag, wurde die töd- verdichten sich die Hinweise, dass al-Qai-
weis war? liche Fracht in Köln/Bonn verladen. Sie da einen spektakulären Anschlag plant.
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UWE ANSPACH / DPA
Deutschland ist eines der Länder, die als rige Linie der Zurückhaltung ändern Militärgefängnis Bagram und redet; An-
Ziel in Frage kommen. Die Sicherheits- wird. fang Oktober vernahmen ihn vier deut-
behörden sind überzeugt davon, dass in Denn die Sicherheitsbehörden befürch- sche Beamte von BKA und Verfassungs-
der Qaida-Spitze die Entscheidung gefal- ten das Schlimmste, de Maizière lässt sich schutz. Seine Aussage hat vieles ins
len ist, in Europa zuzuschlagen. Angeb- mehrmals die Woche persönlich unter- Rollen gebracht. Sidiqi ist der derzeit
lich soll Osama Bin Laden persönlich die richten. Das BKA hat eine Besondere wichtigste Zeuge, wenn es um Anschlags-
Pläne gebilligt und ihre Finanzierung zu- Aufbauorganisation „Sterne“ gebildet. pläne in Europa geht (SPIEGEL 41/2010).
gesagt haben. Der Verfassungsschutz trägt in Operation Der Islamist berichtete von einem
Die Regierung in Berlin ist dabei, sich „Mondschein“ sämtliche Erkenntnisse Scheich Younis al-Mauretani, angeblich
auf die veränderte Sicherheitslage einzu- zusammen. Und seit gut zwei Monaten der Nummer drei von al-Qaida, der ein
stellen. Bundesinnenminister Thomas de finden in Berlin regelmäßige Lagebespre- großes Ding auf dem alten Kontinent pla-
Maizière (CDU) hat bislang eine andere chungen mit dem amerikanischen Aus- ne. Scheich Younis habe Freiwillige aus
Linie vorgegeben als sein Vorgänger Wolf- landsgeheimdienst CIA und dem Militär- westlichen Ländern rekrutiert, und als er
gang Schäuble (CDU), der laut vor der geheimdienst DIA statt. in diesem Frühjahr in einer kleinen pa-
Terrorgefahr warnte und schon mal über Es geht um die Bomben aus dem Je- kistanischen Stadt auf Sidiqi und dessen
die Auswirkungen der Explosion einer men, es geht um einen möglichen An- Hamburger Freund Rami M. gestoßen sei,
schmutzigen Bombe in Deutschland schlag wie im indischen Mumbai 2008. habe er sie angesprochen: „Perfekt, ge-
schwadronierte. De Maizière liegen diese Und es geht um die Aussagen der beiden nau das, was ich haben möchte.“
Töne nicht. Er will nur dann über Bom- deutschen Islamisten Ahmad Sidiqi, 36, Scheich Younis weihte die beiden Deut-
ben und mögliche Tote reden, wenn es und Rami M., 26. schen in seinen Plan ein, einen Anschlag
nicht anders geht. Die Bevölkerung soll Sidiqi ist seit langem ein Anhänger des in Europa oder den USA zu begehen, und
nicht unnötig verunsichert werden. bewaffneten Dschihad, er kannte die To- versuchte, Sidiqi zu ködern: Bei diesem
Und nun? Wo fast täglich neue Warn- despiloten vom 11. September und ging Szenario gebe es keinen Märtyrer, der
meldungen der Geheimdienste in Berlin in der berüchtigten Terror-WG in der Ausführende werde überleben. Es gehe
eintreffen? Die Kanzlerin hat das Thema Hamburger Marienstraße ein und aus. um einen Angriff auf Finanz- und Wirt-
an sich gezogen, sie drängt auf schärfere Anfang März 2009 verließ er Deutsch- schaftszentren.
Maßnahmen. Vergangene Woche forder- land, um sich den Militanten im afgha- Sidiqis Aussagen decken sich mit den
te Angela Merkel, „weltweit strengere nisch-pakistanischen Grenzgebiet anzu- Angaben von Rami M., der im Juni auf
Kontrollen durchzusetzen, um Terror- schließen. In diesem Juli nahmen ihn Spe- dem Weg in die deutsche Botschaft in Is-
anschlägen vorzubeugen“. Vieles spricht zialeinheiten der US-Armee in Kabul fest. lamabad festgenommen wurde. Scheich
dafür, dass auch de Maizière seine bishe- Seitdem sitzt Sidiqi im amerikanischen Younis habe vor, „ein Netzwerk von Per-
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Deutschland
DUBAI POLICE / DPA (L.); REUTERS (M.); YAHYA ARHAB / DPA (R.)
DIE BOMBE BOMBEN-BAUER ASIRI DER WEG DER BOMBE
Sprengstoff äußerst hoher Konzentration Nächster großer Erfolg Ein Kreuzritter als Adressat
sonen in ganz Europa aufzubauen“, sagt er über sich selbst. „Als Militärkomman- war ein für seine Brutalität berüchtigter
Rami M. deur sage ich: Jedes Ziel hat seine Zeit Großinquisitor, der die Muslime auf der
Die Beichten der beiden Deutschen hät- und seine Gründe.“ Iberischen Halbinsel unterdrückte. UPS
ten allein gereicht, um die Sicherheitsbe- Wer weiß, was von den großen Worten gibt dem Paket die Frachtnummer
hörden unruhig zu machen. Aber erst die Wirklichkeit geworden wäre. Weder bei 1Z20001 V66809 43792, die Bombe reist
amerikanische Regierung hat eine Stim- Scheich Younis noch bei Kashmiri ist klar, ab sofort unter dieser 18-stelligen Num-
mung ausgelöst, die ähnlich „wie vor dem ob sie nicht Aufschneider sind, die ihre mer um die halbe Welt.
11. September 2001“ beschrieben wird. Stellung in Pakistan durch ein paar wuch- Die zweite Bombe wird bei Federal Ex-
Denn nahezu zeitgleich zu Sidiqi warnten tige Schlagzeilen in Europa aufbessern press aufgegeben, von einer Frau, die sich
die Amerikaner vor einem weiteren an- wollen. Aber die Sprengsätze aus dem Hanan Mohamed Ali Alsamawi nennt.
geblichen Anschlagsplan, bei dem es zu- Jemen, die Ende vorvergangener Woche Den Inhalt gibt sie mit „Drucker-Bücher“
gehen sollte wie in Mumbai 2008. In der aufgegeben wurden, sind keine Szena- an, Wert: 360 Dollar. Das Papier soll an
indischen Metropole hatten mehrere rien. Sie sind real. Und sie ändern viel einen „Reynaldkrak“ gehen, West Pratt
Gruppen von Terroristen Hotels gestürmt an der Sichtweise, auch in Berlin. Boulevard, und auch hier handelt es sich
und Geiseln genommen. Knapp 60 Stun- Denn wie bei Scheich Younis und um eine historische Figur: „Reynald
den dauerte das Massaker, am Ende star- Kashmiri gab es Warnungen vorab – und Krak“ war ein französischer Ritter und
ben 175 Menschen. im Mittelalter besonders für seine Grau-
Bis zu 25 Kämpfer seien derzeit auf „Ich bin kein Prediger“, sagt samkeit gegenüber den Muslimen be-
dem Weg nach Europa, heißt es in den kannt. Federal Express vergibt die Num-
amerikanischen Fernschreiben, aufgeteilt Kashmiri. „Jedes Ziel hat seine mer 873447 901 730. Jetzt sind es zwei
auf mehrere Gruppen. Drahtzieher sei Zeit und seine Gründe.“ Flugzeuge, die mit Sprengladungen um
ein Mann namens Ilyas Kashmiri, 46. die Welt fliegen.
„Er ist einer der gefährlichsten Männer diesmal trafen sie zu. Aus einem fiktiven Die Pakete sind bereits in der Luft, als
der Welt“, sagt der amerikanische Terror- Plan ist damit eine echte Gefahr gewor- die saudi-arabischen Behörden erneut
experte Bruce Riedel. „Ein Genie des Bö- den, zu der Teams des BKA derzeit in den BKA-Beamten in Riad einbestellen.
sen“ nannte ihn das US-Magazin „News- mehreren Ländern die Hintergründe zu- Am Freitagmorgen, 2.04 Uhr deutscher
week“ kürzlich. Der Mann hat nur noch sammentragen. Aus den Ermittlungen der Zeit, erfahren die Deutschen, dass von
ein Auge, trägt einen dichten Bart und amerikanischen, britischen, saudischen, nun an jede Minute zählt.
ist eine Legende des Dschihad: Er kämpf- Dubaier und deutschen Polizei ergibt sich Nach 34 Minuten verlässt der BKA-
te gegen die Sowjets in Afghanistan, spä- ein genaues Bild dessen, was geplant war. Mann die Saudis und meldet sich in
ter bombte er in seiner Heimat Kaschmir Die erste Bombe wird Mitte vorvergan- Deutschland. Das UPS-Paket ist da schon
gegen den indischen Staat. gener Woche in Sanaa bei UPS abgege- um 22.56 Uhr in Köln/Bonn angekommen
Im vergangenen Jahr versuchte er laut ben. Ein Frau unterzeichnet mit dem Na- und umgeladen worden, es befindet sich
den Ermittlungsbehörden schon einmal, men Souad Ali Quassim Safed, als Kon- mittlerweile auf dem Flughafen East Mid-
in Europa zuzuschlagen: In Kopenhagen taktadresse gibt sie das „Yemen American lands in Großbritannien. Das BKA leitet
sollte das Gebäude der Tageszeitung „Jyl- Institute“ in Sanaa an. Adressiert ist die die Meldung an die Briten weiter. Kurz
lands-Posten“ angegriffen werden, es soll- Sendung an „Diego Deza“ in der Barry darauf wird die Bombe endlich gefunden.
ten Geiseln genommen und exekutiert Street, Chicago, USA. Was die britischen Ermittler sicherstel-
werden. Der Plot flog auf, aber Kashmiri Es gibt keinen Mann dieses Namens, len, ist eine trickreich aufgebaute Bombe,
lässt sich nicht abhalten. „Ich bin kein der dort wohnt, und trotzdem ist der ausgestattet mit einem Zeitzünder: Die
Prediger, ich mache keine Slogans“, sagt Name mit Bedacht gewählt: Diego Deza Terroristen haben einen Teil einer Medi-
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Deutschland
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Deutschland
Dreimal Merkel
Röttgen und von der Leyen sind zwar
bürgerlich, aber den Linkstrend kann
man mit ihnen nicht stoppen. Ihre Wahl
wird die Unwucht in der Partei weiter
Beim Parteitag nächste Woche werden Ursula von der Leyen verstärken.
Rund ein Viertel der CDU-Mitglieder
und Norbert Röttgen zu stellvertretenden Vorsitzenden zählen sich zu den „Traditionalisten“, das
gewählt. Der konservative Flügel wird schwächer und zorniger. ergab die letzte Umfrage der Konrad-
Adenauer-Stiftung. Fast ein Drittel ist im-
W
enn sich ein konservatives eine Politik der „Wählereinschläferung“, mer noch der Meinung, Frauen sollten
CDU-Mitglied ein innerparteili- heißt es darin, die Hoffnungen der Wäh- ihren Beruf aufgeben, sobald sie Kinder
ches Feindbild zusammensetzen ler auf eine Wende hin zu einer bürgerli- haben. Nur rund 15 Prozent sind der Auf-
sollte, sähe dieses Geschöpf ungefähr so che Politik seien enttäuscht worden. fassung, homosexuelle Lebenspartner-
aus: Es würde sich um eine ökologische Insgesamt 31 Anträge hat Schlarmann schaften sollten der Ehe gleichgestellt
Erneuerung des Wirtschaftens kümmern ausarbeiten lassen, etliche zur Steuer- werden.
sowie um eine Rolle der Frau, in der sich politik. Er will die Ausnahmen bei der Die Heimatlosigkeit der Konservativen
Beruf und Familie vereinbaren lassen. Es Mehrwertsteuer abschaffen und einen ein- schlägt sich auch in Wahlergebnissen nie-
wäre weder strotzend männlich noch heitlichen Satz von 16 Prozent festsetzen. der. Die CDU musste in NRW auch des-
strotzend weiblich, es wäre liberal,
tolerant und ein Zögling der Par-
teivorsitzenden Angela Merkel. Es
könnte sich eine Koalition mit den
Grünen gut vorstellen.
Dieses Geschöpf könnte ein Hy-
brid sein aus Arbeitsministerin Ur-
sula von der Leyen und Umwelt-
minister Norbert Röttgen. Beide
werden auf dem Parteitag in der
kommenden Woche zu Stellvertre-
tern der Vorsitzenden Merkel ge-
wählt und die CDU weiter verän-
dern in eine Richtung, die den
Konservativen verhasst ist.
Der Parteitag in Karlsruhe wird
zur Zäsur werden. Drei Schlacht-
rosse der CDU lassen sich nicht
mehr zu Stellvertretern wählen.
Christian Wulff ist Bundespräsident
geworden, Jürgen Rüttgers zieht
sich nach seiner Wahlniederlage
in Nordrhein-Westfalen aufs Alten-
teil zurück, und Roland Koch wird
Chef des Baukonzerns Bilfinger
Berger. Nur Forschungsministerin
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
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Deutschland
Hamburger Koalitionäre*
Entscheidung am Dienstag
Hartversilbert
verkraften werde.
Bereits damals im Juni soll Wiedemann
davon gesprochen haben, dass es bei K.
offenbar schlimme Sachen gebe. Kinder-
Noch eine Razzia, noch mehr Belastungsmaterial: Für Hamburgs pornografie. Schon da will Alba gedacht
haben, dass hier womöglich etwas fingiert
Grüne ist das Maß bei der HSH Nordbank voll. Sie verlangen werden sollte, um K. zu feuern.
das Aus für Bankchef Nonnenmacher – sonst platzt die Koalition. Am Tag der Razzia stieß ein HSH-Roll-
kommando im Büro von K. dann in kür-
D
ie Bankenaufseher wollten es wis- einer Intrige wie den inzwischen kaltge- zester Zeit auf einen Aufkleber in einem
sen. Ganz genau, ganz egal wie stellten Bankjustitiar Wolfgang Gößmann Bilderrahmen. Bei den Buchstaben und
lange es dauert. So kam der und Peter Wiedemann, Vorstand der Ziffern auf dem Sticker handelte es sich
Dienstschluss, ging der Dienstschluss, und HSH-Sicherheitsfirma Prevent AG. um Zugangsdaten für ein Mail-Postfach.
die BaFin-Mitarbeiter bohrten und bohr- Der Doppelschlag aus Übersee hatte Alba zufolge soll der Prevent-Manager
ten. Erst kurz vor Mitternacht hatten sie Wirkung. Am vergangenen Mittwoch ließ Mehles von ihm verlangt haben, sich an
mit ihrem Gast aus Amerika alle Fragen die Staatsanwaltschaft Hamburg bun- den Dienstrechner von K. zu setzen und
zur HSH Nordbank durchgekaut. Und Ro- desweit bei der Prevent und ihrer IT-Toch- nach verdächtigem Material zu forschen.
land K., Ex-Filialleiter in New York, vor ter Validd durchsuchen. Der Verdacht ge- Das will aber Alba abgelehnt haben – of-
gut einem Jahr unter dubiosen Umstän- gen die Prevent-Manager Wiedemann fenbar ahnte er schon, dass die Sache „stin-
den von der Bank gefeuert, war ihnen und Thorsten Mehles: Sie sollen daran be- ken“ könnte. „It smells“, so beschrieb Alba
am vorletzten Mittwoch offenbar nichts teiligt gewesen sein, Roland K. die schmut- in seiner Aussage sein ungutes Gefühl.
schuldig geblieben. zigen Fotos anzuhängen. Strafrechtlich Stattdessen stießen also Computer-
In allen Einzelheiten berichtete der Fi- gilt das als Verbreitung von kinderporno- experten des HSH-Teams auf die Kinder-
nanzmanager, wie ihm aus seiner Sicht pornofotos im Mail-Postfach. Daraufhin
übel mitgespielt wurde, von der Bank, sollen Justitiar Gößmann und auch Meh-
von ihrer Sicherheitsfirma Prevent, von les den Ex-Cop aufgefordert haben, seine
wem auch immer. Sogar Kinderporno- Kontakte zur New Yorker Polizei oder
fotos seien ihm untergeschoben worden, zum FBI spielen zu lassen, um Roland K.
als die Bank ihn loswerden wollte. verhaften zu lassen. Auch da, sagte Alba,
Noch spannender als alles, was K. er- habe er aber nicht mitgemacht und nur
zählen konnte, war aber das, was die die Zentralnummer der Polizei angerufen.
CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS
BaFin und die Staatsanwaltschaften Kiel K. war später in New York selbst zur
und Hamburg kurz zuvor mit der Post Polizei gegangen und verhört worden –
aus Amerika bekommen hatten: Auszüge ohne dass sich der Verdacht gegen ihn er-
aus der Akte der New Yorker Staatsan- härtete. Im Gegenteil: Die Ermittler leite-
waltschaft, die seit einem Jahr den du- ten ein Verfahren gegen Verantwortliche
biosen Kinderpornofund im Büro von Ro- der Bank und Prevent ein.
land K. durchleuchtet. Die US-Fahnder
führen HSH-Nordbank-Chef Dirk Jens HSH-Nordbank-Chef Nonnenmacher * Grünen-Fraktionschef Kerstan, Bürgermeister Ahlhaus
Nonnenmacher ebenso als Verdächtigen „Was glauben Sie, was ich mache?“ (CDU), Bildungssenatorin Christa Goetsch (Die Grünen).
30 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland
In Deutschland interessiert sich heute Die Bank habe die Prevent doch nur Nonnenmacher also den Prevent-Bericht
auch die Bankenaufsicht BaFin für den beauftragt, weil es „Informationslecks“ tatsächlich nicht gelesen hatte, dann nur,
Fall. Sie untersucht aus bankenrechtlicher und „massive Drohungen“ gegen ihr Füh- weil er ihn nicht lesen wollte. Ein typi-
Sicht, ob die HSH Aufträge an Sicherheits- rungspersonal gegeben habe. Und den Vor- scher Nonnenmacher, gekrönt von dem
firmen ordnungsgemäß vergeben hat – im wurf, die Firma habe im Juli 2009 eine Ver- hochnäsigen Satz: „Was glauben Sie, was
Zentrum steht die Prevent. Allerdings wei- anstaltung mit Ex-Wirtschaftsminister Wer- ich den ganzen Tag mache?“
sen die Bank, Justitiar Gößmann und die ner Marnette verdeckt überwacht, einem Fest steht, dass sich der HSH-Chef mit
Prevent-Manager Mehles und Wiedemann der schärfsten HSH-Kritiker, nannte Non- einer anderen Sache dagegen sehr einge-
jede Verwicklung in illegale Machenschaf- nenmacher „fast lächerlich“. Erstens habe hend beschäftigte: seiner Sicherheit. Der
ten strikt zurück. Prevent teilte mit, so ein die HSH davon nichts gewusst, und zwei- Mann fühlte sich offenbar permanent ver-
Vorwurf sei „haltlos und entbehre jeder tens sei die Veranstaltung doch sowieso folgt, bedroht, fürchtete um sein Leben.
Grundlage“. Der Firma zufolge hatte sie öffentlich gewesen. Sein Schutz – auf Kosten der maroden
im Juni den Auftrag im Fall K. noch gar Dieser Auftritt, der ihn entlasten sollte, Bank – konnte daher allem Anschein
nicht erhalten; deshalb habe Wiedemann hat alles nur noch schlimmer gemacht. In nach nicht teuer genug sein. Doch offen-
damals mit Alba auch noch nicht über die Wahrheit lieferte Nonnenmacher nur den bar war er gar nicht ernsthaft gefährdet.
Sache reden, geschweige denn ihn anheu- nächsten Grund, ihm auch noch das Rest- Glaubt man der Bank, gab es seit An-
ern können. Die HSH, deren Hauptanteils- vertrauen aufzukündigen: mit dem offen- fang 2009 in „anonymen Briefen, E-Mails
eigner Schleswig-Holstein und Hamburg sichtlichen Versuch, den Ausschuss für oder Internetblogs“ Aufrufe zu „Angrif-
sind, legt Wert auf den Hinweis, aus Sicht dumm zu verkaufen. Schließlich sagte er fen auf das Management und deren An-
der Hamburger Staatsanwaltschaft gebe über den Observationsbericht, den Pre- gehörige sowie zu gewaltsamen Protest-
es zurzeit keine Anhaltspunkte, dass die vent nach der Marnette-Veranstaltung ge- aktionen“. Sogar Bombendrohungen. Da-
Tat in New York im Auftrag der Bank ge- schrieben hatte: „Den Bericht habe ich mit rechtfertigt die HSH heute teure Auf-
schah. bis heute weder gesehen noch gelesen.“ träge für die Prevent AG, die schon 2004
Auch Nonnenmacher, der K. für den Was für ein Affront. Denn nur vier für die Bank arbeitete, aber anfangs nur
Zeitpunkt der Razzia extra zu einer Vi- Tage vorher hatte sein Vorstandskollege kleine sechsstellige Umsätze machte. Erst
deokonferenz ins Büro beordert hatte, Martin van Gemmeren genau diesen Be- unter Nonnenmacher gingen die Geschäf-
sprach sich vergangenen Montag von aller richt vorgelesen, im Beteiligungsaus- te mit der HSH in die Millionen.
Schuld frei. Er tat es besonders effektvoll, schuss des Landtags. Die Diktion erinner- So ließ der angeblich stark bedrohte
mit viel Selbstmitleid im HSH-Untersu- te manche Abgeordnete an Stasi-Berichte; Nonnenmacher die Fenster seiner Woh-
chungsausschuss des schleswig-holsteini- als sie ihn deshalb schwarz auf weiß ha- nung mit durchschusshemmenden Folien
schen Landtags. Er werde in „ganz uner- ben wollten, war es zum Eklat gekom- bekleben, falls, wie im Film, ein Scharf-
träglicher Weise“ angegriffen, von der men: Gemmeren weigerte sich, steckte schütze auf ihn anlegen sollte. Auch das
Presse, von den Politikern, jammerte er. das Papier wieder ein und ging. Wenn Schließsystem bekam auf Kosten der Bank
für 4265 Euro ein Spezialtuning, behörden“, erklärt Schlie. Die De-
selbst optisch: Die gelieferten Edel- tektive hätten den Tipp gegeben,
stahlzylinder wurden hartversilbert, dass in Internetforen die Veröffent-
damit es besser aussah. Allein im lichung von Wohnadressen der
zweiten Halbjahr 2009 ließ sich die HSH-Spitzen ein Thema gewesen
Bank das „Projekt Silence“, den sei. Musste die Polizei deshalb et-
Rundumschutz für die HSH-Spitze, was unternehmen? Nein. Es „lagen
fast 950000 Euro kosten. Weitere keine ergänzenden Hinweise vor,
785000 Euro sind für 2010 noch of- so dass auch keine Schutzmaßnah-
fen; die Rechnungen dafür reichten men für Repräsentanten der Bank
bis in den Juni. Aus Sicht der Bank in Schleswig-Holstein angeordnet
kein Problem: Die Prüfer der wurden“, so Innenminister Schlie.
KPMG hätten alle Prevent-Zahlun- Das Gleiche in Hamburg: Auch hier
gen kontrolliert – ohne „wesentli- sah das LKA kein ernstes Risiko.
che Beanstandungen“. Umso mehr vermuten nun die
All die Hinweise, dass Gewalt- Grünen in Hamburg, die schwer an-
anarchos Jagd auf die Manager geschlagene HSH habe mit den Pre-
der Krisenbank machen könnten, vent-Verträgen Millionen verschleu-
stammten aber offenbar nicht von dert. Damit rückt erneut Nonnen-
der Polizei, sondern nur von der macher ins Zentrum der Vorwürfe.
Prevent selbst, die an den Aufträ- Denn bei Beraterverträgen in Mil-
gen verdiente – Prevent will dazu lionenhöhe war es zwar üblich, dass
mit Rücksicht auf das Mandatsver- der HSH-Vorstand sie genehmigte.
hältnis nichts sagen. Gestützt wird Er unterschrieb aber nicht, das er-
diese Schlussfolgerung durch ei- ledigten die Manager eine Etage
nen Brief von Schleswig-Holsteins tiefer. Ausgerechnet bei zwei Pre-
Innenminister Klaus Schlie (CDU) Prevent-Vertrag: Nur Nonnenmachers Unterschrift vent-Verträgen vom 14. April und
an FDP-Fraktionschef Wolfgang 14. August 2009 war es anders. Non-
Kubicki. Darin schreibt Schlie, im Okto- nenmacher hatte noch einen Wohnsitz in nenmacher zeichnete sie selbst ab, in ei-
ber 2009 habe das Landeskriminalamt Frankfurt. nem Fall sogar allein – eine Verletzung der
(LKA) eine Anfrage der hessischen Kol- „Hintergrund waren Informationen des bankinternen Zeichnungsvorschriften.
legen bekommen. Thema: eine mögliche privaten Sicherheitsunternehmens Prevent Die Anwälte der Kanzlei WilmerHale,
Gefährdung von HSH-Bankern – Non- AG an hessische und Hamburger Polizei- die für den Aufsichtsrat den Kinderpor-
nofall aufklären sollten, bekamen diese
entscheidenden Prevent-Verträge offen-
bar nicht zu Gesicht. In ihrem Geheim-
bericht, Stand August 2010, heißt es zu-
mindest: „Prevent arbeitete für die HSH
auf Basis eines Rahmenvertrages, der am
19. August 2009 unterzeichnet wurde. Vor
diesem Datum gab es zwischen beiden
Unternehmen keine schriftlichen Verein-
barungen.“ Das ist nachweislich falsch.
Für die Grünen in Hamburg und die
FDP in Kiel sind das genügend Pflichtver-
letzungen, um Nonnenmacher ohne Ab-
findung zu feuern. Deshalb sollte in Ham-
burg Finanzsenator Carsten Frigge (CDU)
kürzlich auch die Prevent-Verträge von
der Bank anfordern. Lieferfrist: 2. Novem- SIMONE M. NEUMANN
ber. Doch die Bank rührte sich nicht. Auch
Bürgermeister Christoph Ahlhaus (CDU)
wunderte sich; die Bank solle doch einfach
die Verträge zufaxen. Die Grünen setzten
eine neue Frist: 4. November, der vergan- Schwarz-gelbe Koalitionäre: Mal eben über die Gesundheitsreform abstimmen
gene Donnerstag. Diesmal kamen Papiere,
aber für den Koalitionspartner ist nun klar:
B U N D E S TA G
Das war das Ende für Nonnenmacher.
Pfusch im Akkord
Denn was die Landesregierungen in
Hamburg und Kiel erhielten, neben an-
deren Dokumenten, war ein sogenannter
Leistungsschein, abgeschlossen zwischen
Bank und Prevent, datiert auf den 26. Fe- Die Bundesregierung produziert plötzlich Gesetze wie am Fließ-
bruar 2010. Darunter eine Unterschriften-
zeile für Nonnenmacher – aber ohne Non- band. Für Beratungen bleibt wenig Zeit; die eigenen
nenmachers Unterschrift. Was dagegen Leute fühlen sich übergangen. Schreitet der Bundespräsident ein?
fehlte, war jener Leistungsschein vom 14.
W
August 2009, der tatsächlich seine Signa- enn sich Bundestagspräsident ruft die Kollegen im Bundestag zum Wi-
tur trug – und ausschließlich seine. Jener Norbert Lammert mit Besucher- derstand auf: „Es schadet dem Ansehen
Vertrag, der Nonnenmacher nun zum Ver- gruppen aus seinem Wahlkreis des Parlaments, wenn der Eindruck ent-
hängnis werden dürfte. trifft, bekommt jeder Gast erst mal ein steht, als folgten wir vermeintlichen oder
Geschenk. Es handelt sich um ein Poster tatsächlichen Vorgaben, statt selbständig
„Alles andere als eine im DIN-A2-Format, das veranschaulicht, zu urteilen und zu entscheiden.“
wie ein Gesetz entsteht: eine augenfällig Tatsächlich ist im Hohen Haus der Är-
Entlassung von Nonnenmacher hochkomplexe Angelegenheit. Es wim- ger über die Arbeit der Koalition groß.
werden wir nicht akzeptieren.“ melt vor Pfeilen, Grafiken und Flussdia- Nachdem sich Union und FDP monate-
grammen. Nichts, woran der Gesetzgeber lang vor allem mit internen Streitigkeiten
Für den Grünen-Fraktionschef Jens in seiner Sorgfalt nicht gedacht hätte. beschäftigt haben, geht die Regierung
Kerstan ein klarer Täuschungsversuch: In jüngster Zeit freilich hat Lammert nun mit atemberaubender Geschwindig-
„Meines Wissens gibt es ein Dokument, mitunter das Gefühl, dass die auf dem keit voran, um vor dem Jahreswechsel
das der Vorstandschef allein unterschrie- Plakat dargestellten Regeln und Abläufe doch noch einige wichtige Projekte zu
ben hat. Dieses wesentliche Dokument nur noch wenig mit der Wirklichkeit zu vollenden. Atomgesetz, Hartz IV, Ge-
fehlt. Stattdessen wurde uns ein anderes tun haben. Anfang vergangener Woche sundheitsreform, Justierungen am Eltern-
vorgelegt, das den Eindruck erwecken soll, beschwerte er sich in der „Frankfurter geld – alles zugleich und alles im
die Papiere seien komplett übergeben wor- Allgemeinen“ darüber, in welch fragwür- Schweinsgalopp. Für eine gründliche Be-
den. Alles andere als eine Entlassung von diger Weise die schwarz-gelbe Bundesre- ratung der Gesetzentwürfe in den Fach-
Nonnenmacher werden wir jetzt am gierung ihre Verlängerung der Atomlauf- ausschüssen bleibt da keine Zeit, für auf-
Dienstag im Senat nicht akzeptieren.“ Al- zeiten durchs Parlament gepeitscht habe. klärende Debatten im Bundestag auch
lem Anschein nach sind die Grünen bereit, Von „Zumutungen“ sprach der CDU- nicht. Im Halbstundentakt müssen die
an der Personalie Nonnenmacher die Ko- Mann und vom „Verdacht mangelnder Parlamentarier über Gesetze abstimmen,
alition in dieser Woche platzen zu lassen, Sorgfalt“. Der formal zweite Mann im die sie schon deshalb kaum beurteilen
wenn die CDU bei einer schnellen Entlas- Staat hatte vernehmbar auf den Gong ge- können, weil die wichtigsten Änderungs-
sung nicht mitzieht. schlagen. anträge derzeit oft erst in der vorange-
In Kiel hat die FDP die Zustimmung Und jetzt legt Lammert nach. Dass ihn gangenen Nacht eingearbeitet wurden.
der Union, Nonnenmacher zu kippen, so Bundeskanzlerin Angela Merkel für seine Die Tagesordnung für die Plenarsit-
gut wie sicher. Fraktionschef Kubicki am Kritik rüffelte, hat ihn scheint’s nicht be- zung an diesem Donnerstag sieht 31 Punk-
vergangenen Freitag: „Wieder hat Herr eindruckt, im Gegenteil. „Ich habe mehr- te vor, von der Aussprache über das stra-
Nonnenmacher unzureichend und zum fach intern wie öffentlich auf das Miss- tegische Nato-Konzept über die Abstim-
Teil sogar falsch geantwortet. Wir werden verhältnis hingewiesen zwischen dem mung beim Arzneimittelgesetz und die
seinen Rauswurf in der nächsten Woche von Koalition wie Opposition erzeugten Neubestimmung der Hartz-IV-Sätze. Tags
in Angriff nehmen.“ JÜRGEN DAHLKAMP, Beratungsbedarf und der parlamentarisch drauf soll dann mal eben noch die Ge-
GUNTHER LATSCH, JÖRG SCHMITT verfügbaren Beratungszeit“, sagt er und sundheitsreform verabschiedet werden.
34 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland
Die Hauruckmethoden der Bundes- von CDU und CSU trafen, um die Kabi- Die Lobbyisten landeten noch einen wei-
regierung beschneiden nicht nur die Mit- nettssitzung zu besprechen, brachte die teren Coup, der den überlasteten Par-
wirkungsrechte des Parlaments, sondern Runde nicht den Mut auf, die Novelle lamentariern in den vergangenen Tagen
führen auch zu Pfusch und Patzern. Was beim Elterngeld in Frage zu stellen, aus auffiel. Den Pharmahersteller soll erlaubt
nicht passt, wird im Akkord passend ge- Sorge vor Negativschlagzeilen. „Ach, so werden, künftig bei speziellen Behand-
macht. Hatte Kanzlerin Merkel noch den schlimm ist das ja nicht“, sagt voller Iro- lungsprogrammen mitzumischen, die Kran-
„Herbst der Entscheidungen“ ausgerufen, nie einer von Merkels Beratern. „Wenigs- kenkassen bisher nur gemeinsam mit Kli-
reden die eigenen Leute im Parlament tens haben wir ein Beschäftigungspro- niken, Ärzten und Pflegediensten anbieten.
hinter vorgehaltener Hand inzwischen lie- gramm für Beamte aufgelegt.“ „So haben die Pharmaunternehmen
ber vom „Winter des Missvergnügens“. Mehr und mehr zur Posse gerät auch bald die Möglichkeit, ihre Medikamente
Am Ende könnte sogar Bundespräsi- die Gesundheitsreform, die das Parla- noch viel einfacher in den Markt zu drü-
dent Christian Wulff in Verlegenheit ge- ment in dieser Woche absegnen soll. Von cken als bisher“, sagt Wolf-Dieter Ludwig,
raten. „Der Präsident hat das Recht zu den ambitionierten Plänen des jungen Vorsitzender der Arzneimittelkommis-
prüfen, ob das Gesetz verfassungskon- FDP-Ministers Philipp Rösler ist kaum et- sion der deutschen Ärzteschaft. Der SPD-
form ist und ob es verfassungskonform was übrig geblieben. Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach
zustande gekommen ist“ – so steht es auf Bei Röslers Arzneimittelgesetz zeigt spricht von der Gefahr der „legalisierten
Lammerts Plakat, und genau an dieser sich, wie auf den letzten Drücker die Korruption“.
Verfassungsmäßigkeit bestehen im Fall Pharmaindustrie ihre Macht ausspielt. Ei- Und auch die geplanten Hartz-Rege-
des Atomgesetzes ernste Zweifel. Lam- gentlich war geplant, dass ein unabhän- lungen bergen manche Überraschung.
mert vertritt, anders als die Bundesregie- giges Gremium aus Ärzten und Kranken- Der Plan von Bundessozialministerin Ur-
rung, die Meinung, dass es sich um ein kassenvertretern über die Frage entschei- sula von der Leyen klingt ja auch fast zu
zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, det, wie der Nutzen eines Arzneimittels schön, um wahr zu sein. Auf Kosten des
das der Bundesrat absegnen muss. vorab bewertet wird. Doch das passte den Staates sollen die armen Kinder ein war-
Die Frage ist nun, ob Bundespräsident Pharmakonzernen nicht. Von der Nutzen- mes Mittagessen in Kitas und Schulen be-
Wulff diese Einschätzung teilt. Als er bewertung hängt ab, wie viel Geld sie für kommen, Nachhilfe, wenn es in der Schu-
noch Ministerpräsident von Niedersach- ihre Präparate verlangen dürfen. le klemmt, den Beitrag für den Sportver-
sen war, hatte er eine klare Meinung. Und so starteten sie eine Schlussoffen- ein oder die Musikschule.
„Niedersachsen geht davon aus, dass das sive, die Wirkung zeigt. Per Änderungs- Die Frage ist jetzt: Wie soll das gehen?
Gesetz zustimmungspflichtig wird“, ver- antrag soll eine Passage ins Gesetz, wo- Ursprünglich wollte von der Leyen, dass
kündete sein damaliger Regierungsspre- nach nicht ein unabhängiges Gremium, die Jobcenter vor Ort die Sache in die
cher im vergangenen Mai; demnach müss- sondern das Bundesgesundheitsministe- Hand nehmen. Die Arbeitsvermittler, de-
te Wulff das Gesetz nun stoppen. Offiziell rium die Kriterien für die Nutzenbewer- ren Aufgabe eigentlich darin besteht, Ar-
heißt es aus dem Präsidialamt, das Thema tung festlegt. Das ist genau das, was die beitslosen eine Stelle zu verschaffen,
werde „aufmerksam“ verfolgt. Pharmahersteller wollen. Die Passage ent- würden zu Jugendhelfern und Sozialar-
Ein besonders skurriles Beispiel für ge- spricht wörtlich einem Formulierungsvor- beitern. Und zu Experten in Sachen Nach-
setzgeberischen Pfusch beschäftigt der- schlag, den der Verband der forschenden hilfe. Sie müssten kontrollieren, ob ein
zeit die Finanzpolitik. Es geht um das El- Arzneimittelhersteller beim Ministerium Lehrer wirklich qualifiziert genug ist, um
terngeld. Der Plan der Koalition sieht vor, eingereicht hatte. Kindern etwas beizubringen. Millionen
dass nicht nur Hartz-IV-Eltern keine Ex- Gutscheine müssten ausgegeben, kontrol-
trastütze mehr bekommen sollen, son- liert und abgerechnet werden – ein Auf-
dern auch Spitzenverdienerpaare mit ei- wand, der selbst die Bundesagentur für
ner halben Million Euro Jahreseinkom- Arbeit als Deutschlands größte Behörde
men. Für die schwarz-gelbe Regierung lahmlegen würde.
handelt es sich um ein Thema von gro- Deshalb sollen nun auch die Kommu-
ßem symbolischen Wert. Endlich kann nen mit der Aufgabe betraut werden kön-
sie beweisen, dass sie zur Haushaltssanie- nen. Die Frage, wie die Wohltaten zu ver-
rung auch mal bei den Reichen zulangt. tretbarem Aufwand an die Kinder verteilt
Leider bemängeln nun aber die Länder, werden könnten, ist dadurch aber nicht
dass die Maßnahme unterm Strich mehr beantwortet, und das keine acht Wochen,
kosten dürfte, als sie dem Staat einbringt. bevor das Gesetz in Kraft treten soll.
Die bayerische Staatskanzlei rechnet vor, Einige Ausschussvorsitzende beklagten
dass die Einsparungen in ganz Deutsch- sich kürzlich beim Bundestagspräsiden-
land bestenfalls bei vergleichsweise läp- ten Lammert. Die Regierung überfordere
pischen zehn Millionen Euro liegen. Die- die Parlamentarier, hieß es. Es sei kaum
se würden durch den höheren Verwal- möglich, die Flut der Gesetzesanträge in
tungsaufwand mehr als aufgefressen, weil der vorgegebenen Zeit zu bewältigen.
„zukünftig fast alle Elterngeldbescheide „Das entspricht nicht meinen Anforde-
mindestens noch einmal überprüft wer- rungen an ordentliche Gesetzgebungsar-
den müssen“, so die Staatskanzlei. Allein beit“, verfügte Lammert daraufhin vor
in Bayern würden 13 bis 15 neue Sachbe- einer Woche – ein bemerkenswerter Satz
arbeiterstellen erforderlich, die mit rund für einen Politiker in seiner Funktion.
1,18 Millionen Euro pro Jahr zu Buche Und Lammert appelliert nach Merkels
schlügen. Nasenstüber erst recht an das Selbstbe-
Die Initiative sei eine „absolute Kata- wusstsein des Bundestags. „Das Parla-
DARMER / DAVIDS
strophe“, heißt es in der Stellungnahme. ment“, so sein Rat, „hat jede Macht der
Am besten wäre es, das Projekt zu stop- Welt, einen unzumutbaren Zeitplan zu
pen. Doch dazu wird es wohl nicht kom- verändern.“ PETRA BORNHÖFT,
men – Vernunft hin oder her. Als sich Politiker Lammert, Wulff MARKUS DETTMER, KATRIN ELGER,
ALEXANDER NEUBACHER, RENÉ PFISTER
vorvergangene Woche die Spitzenleute Unzumutbarer Zeitplan
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 35
Deutschland
LAURENCE CHAPERON
oder die Wasserwerke – was läuft generell
falsch in der Politik, warum protestieren
zurzeit so viele Menschen?
Wowereit: Wir wollen ja, dass sich die Bür-
ger einmischen. Wir haben absichtlich die
Möglichkeit für Bürgerbegehren und
SPD
Volksentscheide eingeführt. Dass es für
„Eine Abstauber-Partei“
eine Regierung dann nie angenehm wird,
ist doch logisch. Das Problem ist: Bei den
meisten Verfahren kommt mittlerweile,
wie jetzt in Stuttgart, der große Wider-
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, 57, über stand erst, wenn die Entscheidung schon
getroffen ist, wenn der Bagger rollt und
seine Herausforderin Renate Künast, den Erfolg sichtbar wird, dass etwas passiert.
der Grünen und seinen früheren Mitarbeiter Thilo Sarrazin SPIEGEL: Was lernen Sie daraus?
Wowereit: Bei solchen schwierigen Mega-
SPIEGEL: Herr Wowereit, was ist eigentlich servativen eine klare Mehrheit hat. Und Themen sollten wir in Zukunft die Men-
schiefgelaufen, dass sich so viele Men- in Berlin werden Sie bei den Wahlen se- schen lieber vorher mitentscheiden lassen,
schen im linken Lager nach Renate Kü- hen: Die SPD bleibt die stärkste Kraft, statt erst spät im Verfahren etwa durch
nast sehnen? sie behält die Führungsrolle. Bürgerbegehren den Protest zu spüren.
Wowereit: Die gute Nachricht ist doch, SPIEGEL: Wie soll das gehen, wenn die SPD Dafür brauchten wir dann Referenden –
dass in Berlin das linke Lager so stark ist, bei den großen aktuellen Themen wie auch wenn das vielen Parlamenten als In-
dass die Konservativen praktisch keine Atomkraft oder Stuttgart 21 keine nen- strument der direkten Demokratie viel-
Rolle mehr spielen. nenswerte Rolle spielt? leicht nicht gefällt.
SPIEGEL: Ihre Herausforderin wirft Ihnen Wowereit: Protestieren kann jeder. Wenn SPIEGEL: Besser hinhören kann jedenfalls
vor, Berlin sei eine „blockierte Stadt“. die Grünen ihre Umfragewerte stabilisie- nicht schaden, damit es nicht weiterhin
Wowereit: Das Gegenteil ist richtig, wir le- ren wollen, dürfen sie nicht nur einseitige zu einer Abkopplung der politischen Eli-
ben in einer dynamischen Stadt und ha- Klientelpolitik machen. Dann können sie ten von der Bevölkerung kommt – siehe
ben in den vergangenen neun Jahren vie- sich nicht nur „schöne“ Themen aussu- Integrationsdebatte.
le Verkrustungen aufgebrochen. Mich chen, sondern müssen sich auch um die Wowereit: Wenn die Medien nicht so einen
wundert, dass sie das nicht merkt. Ich harten, die unangenehmen Probleme der Hype daraus gemacht hätten, wäre da
kann nur hoffen, dass die Grünen nicht Gesellschaft kümmern. Umstrittene The- manches vielleicht auch nicht so explo-
für neue Blockaden sorgen wollen. men der rot-grünen Koalition wie Hartz diert. Bedenklich finde ich an der von
SPIEGEL: Was hat Künast, was Sie nicht IV werden nicht mehr ihnen zur Last ge- Thilo Sarrazin ausgelösten Diskussion vor
haben? legt, sondern ausschließlich uns. Das gibt allem, dass die Gegenbewegung so kraft-
Wowereit: Das müssen Sie andere fragen. los war. Wo war der Aufstand der Intel-
Wir verstehen uns gut und schätzen uns. lektuellen in diesem Land? Wir kommen
Es ist toll, wenn gute Leute wieder in die jetzt erst langsam wieder zu einer diffe-
Landespolitik kommen, die hier mal wa- renzierten Debatte.
ren und jetzt auf der Bundesebene sind. SPIEGEL: Immerhin haben Sie selbst Sar-
Aber sie müssen sich dann eben auch mit razin als politisches Talent entdeckt und
Haut und Haaren für Berlin entscheiden zum Berliner Finanzsenator gemacht.
und nicht so halb wieder weg sein. Das Wowereit: Er kam nicht als Newcomer aus
CLEMENS BILAN / DAPD
wird ihr noch übel aufstoßen. dem Nirwana, er hatte auch vorher schon
SPIEGEL: Warum sind die Grünen zurzeit seine Karriere. Ich würde übrigens auch
so erfolgreich? heute nicht sagen, dass die Berufung von
Wowereit: Jetzt mal langsam. Auf Bundes- Sarrazin als Finanzsenator ein Fehler war.
ebene sehen uns die meisten Umfragen SPIEGEL: War es auch richtig, einen Pole-
deutlich vor den Grünen. Das zeigt doch, Herausforderin Künast miker wie ihn in zur Bundesbank zu schi-
dass Rot-Grün im Vergleich zu den Kon- „Das wird ihr übel aufstoßen“ cken, wo Diskretion Pflicht ist?
36 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland
Wowereit: In der heutigen Nachbetrach- Wowereit: Das liegt doch nicht an mir! Wir für Menschen nichtdeutscher Herkunft.
tung müsste man darüber reflektieren. waren gerade in Leipzig mit unserer Zu- Die alleinerziehende Mutter mit vier Kin-
Aus der damaligen Sicht war es richtig. kunftswerkstatt, wir gehen auch an viele dern aus Marzahn hat auch Schwierig-
Er hatte die Qualifikation, er wollte es, andere Orte in der Republik und arbeiten keiten, am sozialen Leben teilzuhaben.
alle wollten es, niemand hat widerspro- an Integrationsprojekten. Aber darüber SPIEGEL: Sie sind jetzt neun Jahre im Amt.
chen. Es ist kein Abschieben oder Weg- berichten Sie nicht. Wer heute versucht, Warum tun Sie sich das alles überhaupt
loben gewesen. in diesem Thema differenzierte Positio- noch an? Sie machten zuletzt einen ziem-
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den großen nen zu vertreten, findet kein Gehör. lich gelangweilten Eindruck.
Erfolg Ihres Parteifreundes und Neuköll- SPIEGEL: Jetzt haben Sie die Gelegenheit. Wowereit: Sie zitieren ein Klischee, das
ner Bezirksbürgermeisters Heinz Busch- Was ist Ihre Bilanz nach monatelangen der Wirklichkeit nicht entspricht. Es ist
kowsky? Debatten? sicher richtig, dass in jeder beruflichen
Wowereit: Welchen Erfolg? Wowereit: Es gibt eine sehr starke Verun- Tätigkeit auch Phasen kommen, in denen
SPIEGEL: Er spricht auf dem SPD-Bundes- sicherung. Viele Menschen fühlen sich man fragt: Kommt noch etwas Neues?
parteitag zum Thema Integration, Spit- belastet und angegriffen. Gerade dieje- Will man sich selber verändern? Aber ich
zengenossen wie Sigmar Gabriel und nigen, die eine erfolgreiche Integration habe mich vor etwa einem Jahr entschie-
Frank-Walter Steinmeier suchen seinen hinter sich gebracht haben. den, bei der nächsten Wahl wieder anzu-
Rat. Sein harter Kurs gegen Integrations- SPIEGEL: Vergangene Woche waren Sie treten – und das mit voller Kraft.
verweigerer wird bundesweit gelobt. zum Integrationsgipfel im Kanzleramt. SPIEGEL: Frau Künast hat Sie revitalisiert.
Wowereit: Ach, wissen Sie, er hat in vielen Angela Merkel hatte zuvor „Multikulti“ Wowereit: Mit ihr hat das nichts zu tun.
Dingen recht. Wenn Sie nach Differenzen für gescheitert erklärt. Hat sie recht? Ich fühle mich fit für den Job, mir macht
suchen, geht es um Nuancen. In bestimm- Wowereit: Nein. Aber dieser Satz ist auch er Spaß. Berlin ist auf einem sehr guten
ten Fragen zieht er aus meiner Sicht fal- eine Plattitüde, weil damit so getan wird, Weg, das wird weltweit anerkannt, und
sche Konsequenzen. Natürlich ist es mög- als wollten Anhänger einer multikultu- dabei haben wir noch viel vor uns. Des-
lich, Schulversäumnisse zu sanktionieren, rellen Gesellschaft mit dem Begriff ir- halb trete ich noch mal an. Wenn die Grü-
bis hin zur Beugehaft für die Eltern. gendetwas Böses ausdrücken. Und was nen eine profilierte Bundespolitikerin,
Sanktionen habe ich als Stadtrat in Tem- soll daran gescheitert sein? Wir haben in ihre beste Frau, hier ins Rennen schicken,
pelhof auch verhängt. Es bringt aus mei- unserer Republik viele Menschen mit un- dann ist das doch schön.
ner Sicht aber nichts, dann auch noch das terschiedlichen kulturellen Erfahrungen SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Es bleibt
Kindergeld zu kürzen. Über all das könn- und Sozialisationen. Dieses Land ist in Ihnen gar nichts anderes übrig, weil Sie
te man sachlich diskutieren. vielen Bereichen nicht nur von einer Kul- keine andere Karriereoption haben. Sie
SPIEGEL: Oder nervt es Sie bloß, dass er tur, sondern von mehreren Kulturen be- wurden als Kanzlerkandidat und SPD-
sich über Ihr neues Integrationsgesetz lus- einflusst. Deshalb kann ich nur sagen: Es Chef gehandelt.
tig macht? ist falsch, was sie da sagt. Wowereit: Ich habe mich für die Landes-
Wowereit: Quatsch. Allerdings muss man SPIEGEL: Also ist Integration eine einzige politik entschieden, aus voller Überzeu-
in der Integrationsdebatte nicht über die große Erfolgsgeschichte? Sie wollten doch gung. Die Berliner wollen, dass ihr Re-
gesamte politische Klasse herziehen, zu differenzieren. gierender Bürgermeister sich auch für
der man selbst gehört. Wowereit: Sie ist in der Republik millio- ihre Stadt entscheidet. Das habe ich ge-
SPIEGEL: Kaum jemand weiß, dass Sie im nenfach gelungen, hunderttausendfach in tan, und dazu stehe ich auch.
Nebenjob für die Bundes-SPD Leiter ei- Berlin. Trotzdem gibt es Probleme, weil SPIEGEL: Der Bundeszug ist abgefahren?
ner „Zukunftswerkstatt Integration“ sind. Menschen Schwierigkeiten haben, sich zu Wowereit: Meine berufliche Zukunft liegt
Warum lassen Sie sich von einem Be- integrieren, weil sie in sozial schwierigen in jedem Fall in Berlin.
zirksbürgermeister und einem Ex-Sena- Situationen leben. Das gilt aber für Men- INTERVIEW: KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN,
tor derart die Show stehlen? schen deutscher Herkunft genauso wie FRANK HORNIG
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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Politikerin Schavan
KARRI EREN
A
ls Annette Schavan auf den Chop- Die Fotografen rufen, sie solle nach wie immer einen braven Seitenscheitel
per zugeht, wirkt sie gefasst und rechts blinken. Sie sucht den Schalter für trägt, unten duckt sich das Motorrad, das
entschlossen. Der Chopper sieht den Blinker, und weil sie ihn nicht sofort zum Symbol für Wildheit und Aufbruch
so aus, wie ein Chopper aussehen muss, findet, schimmert Unbehagen in ihrem Ge- geworden ist. Es gibt nur den Zusammen-
lange Vorderradgabel, breiter Lenker, tie- sicht. Sie findet den Blinker, der Chopper hang, dass der Chopper einen Elektromo-
fer Sitz, die Farbe ist weiß. Schavan trägt blinkt nach rechts. Sie soll lächeln, und sie tor hat, also ein forschungsintensiver Chop-
eine schwarze Hose, ein rotes Jackett und lächelt. Annette Schavan sitzt auf einem per ist. Siemens wirbt damit im Rahmen
hohe Schuhe. Sie schwingt ein Bein über Chopper, aber sie sitzt da anders als Peter eines Kongresses für umweltbewusste Ju-
den Sitz, lässt sich nieder und hat ein Fonda in „Easy Rider“. Das Bild wächst gendliche im August in Berlin.
paar Probleme, die Schuhe auf den Ras- nicht zusammen, oben lächelt die Bundes- Schavan steigt ab, erleichtert wirken
ten unterzubringen. ministerin für Bildung und Forschung, die jetzt beide, die Ministerin und das Motor-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 39
Deutschland
rad. Die Deutsche Presse-Agentur schickt den meistzitierten Wörtern in diesem Jahr. freundliches Gesicht, in dem sich keine
das Foto an die Redaktionen, aber kaum Kann sich jemand an ein Wort oder einen Kanten, keine Brüche zeigen, ein Gesicht
einer druckt es. Auch ein Chopper ändert Satz von Schavan erinnern? wie eine ewige Schlichtung, alles ist mit
nichts an Schavans Image. Sie gilt weiterhin Politik ist auch ein Wettbewerb um Auf- allem versöhnt, abgerundet und auf eine
als Deutschlands langweiligste Politikerin. merksamkeit. Die meiste Aufmerksam- Friedensbotschaft konzentriert: Ich tue
Das schleppt sie mit sich rum. Wenn keit bekommt, wer Parteifreunde oder dir nichts.
man sagt, dass man sich für ein paar Mo- Koalitionspartner angreift. Schavan Gleichwohl redet Schavan bei diesem
nate mit Annette Schavan befassen will, macht da nicht mit. Bei vielen Gesprä- Mittagessen oft von Streit. Sie sagt dann:
schlägt einem Mitleid entgegen. Die sei chen über den Zustand der Koalition in „Darüber müssen wir streiten.“ Oder:
doch so blass, so fade, zum Gähnen. Das den vergangenen Monaten hat sie nicht „Da müssen wir in der Sache streiten.“
ist also das Thema dieser Geschichte: Poli- einmal gelästert oder gehetzt. Sie war im- Was sie meint, ist der akademische Streit,
tik und Langeweile. Anders gesagt: Wie mer sachlich, loyal, konstruktiv. Aber sie das schöne, kluge Florettfechten mit Wor-
viel Langeweile verträgt die Demokratie? hat auch nie die Opposition angegriffen, ten, nicht die aggressive Intervention. Das
Annette Schavan, 55, stellvertretende die Industrie oder den Forschungsbetrieb. klingt alles wunderbar, und das Wort
Parteivorsitzende der CDU, gilt als fried- Die Demokratie braucht solche Attacken, „Gurkentruppe“ ist tatsächlich eines der
liche, sachorientierte und verzichtbarsten in diesem
hochintelligente Politikerin. Jahr gewesen. Aber so wie
Das Paradox ist, dass sich Dobrindt in diese Richtung
viele Bürger genau das wün- übertreibt, übertreibt Scha-
schen: eine Politik ohne Ag- van in die andere.
gressionen, ohne Show und Ende April redet sie in
mit Intellekt, also Intelli- Nordrhein-Westfalen, Zeit
genz plus Bildung. Aber in des Wahlkampfs, Zeit der
den Umfragen schafft es Attacke. Sie spricht im
Schavan nie auf hohe Be- Schulzentrum in Haan, hun-
liebtheitswerte. Nur 28 Pro- dert Leute kommen, der
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Deutschland
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 45
Deutschland
PROZESSE
Gefühlte Gerechtigkeit
15 Menschen hat Tim K. getötet, dann sich selbst. Vor Gericht steht sein Vater, der Besitzer
der Waffe. Die Verhandlung soll den Hinterbliebenen der Opfer Genugtuung bringen
und den Rechtsfrieden herstellen. Nun macht der Angeklagte nicht mehr mit. Von Beate Lakotta
A
uch an jenem Tag, als der Gerichts- digen und feinfetzigen Wundrändern, re- Nachbarschaft der Kleischs wohnte – die
mediziner von der Leichenschau ferierten über Hämatombildung, Schnapp- Kinder waren zusammen im Kindergarten
an Stefanie berichtete, saß Dieter atmung, Einblutungen und Überlebens- –, schaute nicht zurück. Nie hat er an all
Kleisch auf seinem Platz im Großen Saal zeiten. Natürlich übersetzten die Ange- den Verhandlungstagen zurückgeschaut.
des Stuttgarter Landgerichts. Er wollte wis- hörigen das im Kopf in Bilder, kein Es ist für die Kleischs kaum vorstellbar,
sen, wie seine Tochter starb. Und er wollte Mensch kann sich dagegen wehren. In den dass nicht auch Herr K. leidet in solchen
dem Mann, der ihm als Angeklagter in ei- Pausen lagen sie sich in den Armen. Momenten. Das Verstörende ist nur: Man
nigen Metern Entfernung gegenüber saß, Chantal, Ibrahim, Jacqueline – in den spürt nichts davon. Doris Kleisch hätte
in die Augen sehen: Jörg K., 51, dem Vater Akten der Rechtsmediziner sind sie alle ihn irgendwann am liebsten geschüttelt,
des Amokläufers von Winnenden. durchnummeriert, L1 bis L15, „L“ für „Lei- „damit man sieht, er empfindet über-
Dieter Kleisch ist ein großer, stattlicher che“. Stefanie Kleisch trägt die Nummer haupt etwas“.
Mann, er ist Meister bei Porsche, sein L6. Die Schülerin sei am Boden liegend Ein Video wurde im Gerichtssaal vor-
Kopf mit den kurzen braunen vorgefunden worden, mit 13 geführt, es zeigt, wie die Einsatzkräfte in
Locken ragt aus jeder Menge „Schussdefekten“. Eine rund- Vollschutzmontur am Tag des Amoklaufs
hervor. Am ersten Prozesstag liche Zusammenhangsdurch- das Haus der K.s umstellt haben. Es wirkt
schon fielen er und seine Frau trennung auf mittlerer Flan- wie Krieg. Dann ist Herr K. zu sehen,
Doris vor dem Gerichtsgebäu- kenhöhe, eine grobfetzige an wie er mit den Polizisten ins Haus geht,
de inmitten einer Gruppe von der Beugeseite des Unterarms, wie er im Schlafzimmerschrank routiniert
schwatzenden, Brote essen- eine Rückenmarksdurchtren- nach der Beretta tastet, so wie er es jeden
den, wartenden Menschen nung in Höhe des neunten Abend vor dem Zubettgehen tat. „Die
auf. Dieter und Doris Kleisch Brustwirbels. Der tödliche Waffe ist weg“, sagt er in geschäftsmäßi-
hielten sich an den Händen, Treffer ging in die Leber. gem Ton. Dann schaut er im Nachtkasten
sie sahen verloren aus, als hät- Während der Gutachter nach: „Die Munition ist auch weg.“
te ihre Trauer sie aus der Welt über Stefanie sprach, richtete „Wie hat Herr K. auf Sie gewirkt?“, will
geworfen. Dieter Kleisch seinen Blick der Vorsitzende Richter von dem Beam-
DAPD
Zwei Tage lang trugen die auf Herrn K. Aber Herr K., ten wissen, der dabei war. „Erstaunlich
Sachverständigen vor. Sie un- Amokschütze Tim K. der mit seiner Familie bis zur beherrscht. Wenn das mein Haus gewesen
terschieden zwischen glattran- Hass auf die Welt Tat seines Sohnes Tim in der wäre, ich wäre aufgeregter gewesen.“
46 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland
GOTTFRIED STOPPEL
die vielen Trauernden, die Verletzten, die
traumatisierten Kinder, der öffentliche
Friede zerstört – die Erschütterung hatte
im ganzen Land nachgehallt, wochen-
Tatort Albertville-Realschule in Winnenden 2009: Welche Schuld trägt der Vater? lang. Sogar der Bundespräsident war zur
Trauerfeier gekommen. Aus der Sicht des
Ein anderer Polizeibeamter berichtete Schlafzimmerschrank versteckt hatte, Generalstaatsanwalts führte deshalb kein
von den Schreien der Kinder in der Schu- zum Mörder wurde. Am 11. März 2009 Weg an einer öffentlichen Hauptverhand-
le, von der Panik, die ausbrach, ein wei- erschoss der 17-jährige Tim K. in der Al- lung vorbei. Auch das Stuttgarter Justiz-
terer davon, wie K.s Sohn sich selbst die bertville-Realschule in Winnenden 12 Kin- ministerium wollte es so.
Beretta an den Kopf setzte und abdrückte der und Lehrer, auf der Flucht vor der Normalerweise dreht sich der Krimi-
– nichts deutete darauf hin, was in Herrn Polizei tötete er noch 3 Menschen, 13 ver- nalprozess um den Täter – Schuld, Strafe,
K. vorging. letzte er, zum Teil schwer. Am Ende er- Resozialisierung. Dieser Prozess sollte
Für die Angehörigen der Opfer war schoss der Junge sich selbst. vor allem für die Opfer da sein, das war
diese Unbewegtheit schon schwer zu fas- Welche Schuld trägt der Vater? die Idee. Er sollte den Nebenklägern So-
sen gewesen. Jetzt aber hat das Verfahren Das Strafverfahren fragt nicht nach ei- lidarität demonstrieren und Genugtuung
für sie eine unvorstellbare Wendung ge- ner moralischen Schuld oder nach einer geben. Aber wie? Mit einem Jahr auf
nommen. Herr K. macht nicht mehr mit. existentiellen, die den Menschen trifft, Bewährung oder zwei?
Erst war der Prozess durch Morddro- weil er so ist, wie er ist. Vor Gericht steht „Angehört zu werden ist für meine
hungen gegen ihn ins Stocken geraten Jörg K. vorerst nur, weil er gegen das Mandanten der erste Schritt zur gefühlten
und drohte zu platzen; Jörg K. hatte sich Waffengesetz verstoßen hat. Er bestreitet Gerechtigkeit“, sagt Jens Rabe, der An-
unter dem psychischen Druck für zwei das nicht, dafür hätte man keinen langen walt der Kleischs. Er gehört zu denjeni-
Verhandlungstage krankgemeldet. Dann Prozess gebraucht. gen, die hinter den Kulissen am härtesten
richteten seine Anwälte aus, er habe be- Aber ist er auch verantwortlich für den um dieses Verfahren gekämpft haben.
schlossen, gar nicht mehr kommen zu Tod von 15 Menschen und den des eige- Warum soll man einen Prozess nicht als
wollen. Der Vorsitzende Richter Reiner nen Sohnes? Nein, hatte die 3. Große öffentliches Forum benutzen, um Opfern
Skujat entschied, von Herrn K. sei ohne- Jugendkammer im Zwischenverfahren und Hinterbliebenen so viel wie möglich
hin keine Aufklärung mehr zu erwarten, befunden, denn es könne nicht ausge- von dem zu geben, was sie brauchen, um
und stellte ihn frei. schlossen werden, dass Tim sich auch auf wieder ins Leben zurückzukehren – so-
So wird von der kommenden Woche anderem Weg aus dem Waffentresor sei- lange es ein faires Verfahren gibt und kein
an die Verhandlung vor der 18. Großen nes Vaters hätte bedienen können. Ja, populistisches Urteil?
Strafkammer ohne den Angeklagten statt- sagt die Staatsanwaltschaft: Der Vater Die Kammer hat diesen Balanceakt in
finden. Für die Beweisaufnahme und das habe die Tat ermöglicht, indem er die den ersten Wochen versucht. Es hat dabei
Urteil scheint dieser Umstand unerheb- Waffe vorschriftswidrig verwahrte; er hät- heikle Momente gegeben, in denen die
lich. Für den tieferen Sinn des Verfahrens te die Gefahr, die von seinem Sohn aus- Verhandlung beinahe zur Trauerfeier ge-
ist er bedeutend. Die Nebenkläger sind riet. Ein Ermittler trug als Zeuge zu jedem
frustriert: „Es war für uns wichtig, dass Todesopfer eine Art Nachruf vor: Ein
der Vater hier sitzen und sich das alles Mädchen schrieb gern Gedichte, eines ge-
anhören musste“, sagt Doris Kleisch. hörte der Tanzgarde an, ein anderes woll-
DANIEL MAURER / PICTURE ALLIANCE / DPA
„Das war auch eine Art Strafe, und die te später mit Behinderten arbeiten. Es
erspart er sich jetzt.“ war eine Verneigung vor den Opfern. Ein
Vater flüchtete, von Gefühlen überwäl-
DAPD / DFD-IMAGES.COM
in Selbstmitleid.“
Die junge Frau erklärte aber auch: „Ich
habe nie gesagt, dass ich Ihnen nicht ver-
zeihen kann. Wenn Sie nur ein einziges
Mal eine ehrliche und persönliche Ent-
Trauernde beim Gedenkgottesdienst in Winnenden 2009: Erschütterung im ganzen Land schuldigung hervorgebracht hätten, hätte
ich Ihnen das vielleicht geglaubt.“
prozesses gehören soll und was er leisten konnte es passieren, dass du nichts ge- Die K.s hatten sich zwar mit Briefen
kann: Schuld und Strafe feststellen, aber merkt hast von dem, was in ihm vorging? an die Opfer gewandt, aber die Versuche
eben auch unter den Augen der Öffent- Sie wollten, dass Jörg K. zu seinem Teil waren glücklos geblieben. Zu persön-
lichkeit die Wahrheit hinter einer mon- der Verantwortung steht. Sie wollten eine lichen Begegnungen fehlte ihnen wohl
strösen Tat ermitteln; das Geschehene Entschuldigung. die Kraft.
aufarbeiten; Rechtsfrieden schaffen. Jörg K. hatte den Saal erst betreten, als Das Tragische ist: All das, worauf die
Diese Idee ist hier vorerst gescheitert, alle Kameras weg waren. Ein unauffälli- Angehörigen warten, hat Jörg K. schon
jedenfalls soweit sie den Part von Herrn ger, eher kleiner, untersetzter Mann mit einmal ausgesprochen. Die Staatsanwältin
K. betrifft. kurzem rötlichgrauem Haar und kurzem hat es gehört, es steht im Protokoll von
Die Anwälte Hans Steffan und Hubert Vollbart. Auch er trug Schwarz, auch er K.s Beschuldigtenvernehmung, knapp
Gorka verteidigen Tims Vater. Sie halten hat ein Kind verloren. Mit raschen Schrit- zwei Wochen nach der Tat. Es war um sei-
wenig vom Bild einer heilenden Gerichts- ten ging er zu seinem Platz. Er schaute ne Waffen gegangen, die Ballerspiele auf
welt: „Der Strafprozess ist keine Thera- niemanden an außer seine Verteidiger. Er dem Computer seines Sohnes, den Tages-
piesitzung“, sagt Steffan. „Man darf sich verschwand hinter ihnen. Seinen Namen ablauf der Familie. Und darum, wie nor-
nicht wundern, wenn jetzt die Interessen sagte er so leise, dass man seine Stimme mal vieles in dieser Familie war und dass
aufeinanderprallen und der Angeklagte kaum hörte. Jörg K. sich nicht erklären konnte, warum
seine Rechte wahrnimmt.“ Auch Jens Rabe hatte Herrn K. noch sein Sohn diese Tat begangen hatte.
nie gesehen. In diesem Moment fragte er Am Ende der Vernehmung hält das
I n Wahrheit war dieses Aufeinander- sich, ob es richtig war, diesen Mann vor
prallen schon am ersten Tag zu besich- Gericht zu zerren.
tigen. Jörg K. war, wegen der Drohungen, Aber dann hatte Jörg K. auf die Frage
Protokoll fest: „Herr K. bricht in Tränen
aus.“ Er sagt, dass es ihm furchtbar leid
tue, was sein Sohn getan habe. Für ihn
die es gegen ihn gab, seit der Tat von der des Richters, ob er sich äußern wolle, nur komme die Schuld hinzu, dass es seine
Polizei abgeschirmt worden. Er war ein ein einziges Wort gesagt: „Nein.“ Waffe war, die Tim verwendet hat. Dass
Phantom geblieben. Ein Hauch von Sen- Die Enttäuschung über sein Schweigen seine Frau und er sich bei allen entschul-
sation lag in der Luft: Wie sieht einer aus, hatte noch im Raum gehangen wie ein digen wollten, aber nicht wüssten, wie.
der so ein Kind hervorgebracht hat? Wie bleiernes Tuch, da ergriffen K.s Verteidi- Herr K. könnte diesen Bann noch im-
redet er, wie tritt er auf? ger das Wort. Sie sprachen von dem Mit- mer brechen, jetzt, wo alle versammelt
Die Familien der Opfer prägten das gefühl, das Herr K. empfinde. Er wisse, sind. Warum tut er es nicht?
Bild des Saals. Normalerweise schafft „Das Strafverfahren selbst behindert so
die Sitzanordnung in Gerichtssälen Di- etwas“, sagt sein Anwalt Hans Steffan.
stanz zwischen den Parteien; in Stuttgart „Wenn ich der Meinung bin, dass Herr K.
wurde jeder Quadratmeter vor der Rich- keine fahrlässige Tötung begangen hat,
terbank des Großen Saals mit zusätzli- kann ich ihm nicht raten, sich dafür zu
chen Tischreihen gefüllt, damit alle 43 entschuldigen.“
Nebenkläger und ihre 19 Anwälte Platz Steffan und sein Kollege Gorka haben
fanden. Herrn K. geraten zu schweigen. Wer sich
Die meisten Hinterbliebenen waren in entschuldigt, zeigt Schuldbewusstsein.
Trauerkleidung gekommen. Seit andert- Von da bis zur Schadensersatzklage ist
halb Jahren hatten sie auf diese Konfron- es nicht mehr weit, das weiß Steffan. Da
JÖRG EBERL
tation mit Jörg K. gewartet. Sie wollten sind die Schmerzensgelder und Unter-
Antworten auf ihre Fragen, damit sie ab- haltsansprüche für Witwen, Waisen, Ver-
schließen können mit der Tat: Warum hat Nebenkläger-Anwalt Rabe letzte, Dienstunfähige. Das Versorgungs-
dein Sohn mein Kind erschossen? Wie Wozu und für wen ist der Prozess da? amt, die Unfallkasse, die Stadt Winnen-
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Deutschland
Seit Tim K. ihre Tochter erschoss, vergeht vor, dass ein Angeklagter zur Urteilsver-
kaum ein Tag, an dem sie nicht über die kündung erscheinen muss. Es ist gut mög-
Familie K. grübelt. Was ist mit der Mut- Tatwaffe Beretta 9mm lich, dass die Kleischs Herrn K. nie wieder
ter? Trifft nicht auch sie ein Teil der 1000 Schuss Munition zum Geburtstag zu Gesicht bekommen werden.
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir müssen
selbstbewusster
werden“
Familienministerin Kristina Schröder, 33,
über die Schattenseiten des Feminismus,
benachteiligte Jungs und warum Frauen keine
Weicheier als Partner wollen
LAURENCE CHAPERON
Politikerin Schröder
SPIEGEL: Frau Schröder, wir haben mal ei- SPIEGEL: Haben Sie schon als Schülerin schlechtsverkehr kaum möglich sei ohne
nen Blick in Ihre Abiturzeitung geworfen. Miniröcke und Pumps getragen? die Unterwerfung der Frau. Da kann ich
Schröder: O Gott, jetzt kommt’s … Schröder: Das ist nicht mein Stil, aber ich nur sagen: Sorry, das ist falsch.
SPIEGEL: Darin findet sich der Satz, dass habe mich in der Tat schon immer gern SPIEGEL: Warum?
Sie niemals Feministin werden möchten. feminin gekleidet. Schröder: Es ist absurd, wenn etwas, das
Was fanden Sie denn so schlimm an de- SPIEGEL: Und Sie hatten nie die Sorge, sich für die Menschheit und deren Fortbestand
nen? damit der Kleiderordnung des Patriar- grundlegend ist, per se als Unterwerfung
Schröder: Gar nichts, aber ich stimme ei- chats zu unterwerfen? definiert wird. Das würde bedeuten, dass
ner Kernaussage der meisten Feministin- Schröder: Ehrlich gesagt: Nein! die Gesellschaft ohne die Unterwerfung
nen nicht zu, nämlich der von Simone de SPIEGEL: Wie finden Sie Alice Schwarzer? der Frau nicht fortbestehen könnte.
Beauvoir: „Man wird nicht als Frau ge- Schröder: Ich habe viel von ihr gelesen – SPIEGEL: Dachten Sie, Feministinnen wür-
boren, man wird es.“ Dass das Geschlecht „Der kleine Unterschied“, später dann den Beziehungen zwischen Männern und
nichts mit Biologie zu tun hat, sondern „Der große Unterschied“ und „Die Ant- Frauen grundsätzlich ablehnen?
nur von der Umwelt geschaffen wird – wort“. Diese Bücher fand ich alle sehr Schröder: Es gab in der Tat eine radikale
das hat mich schon als Schülerin nicht pointiert und lesenswert. Etliche Thesen Strömung, die in diese Richtung argu-
überzeugt. gingen mir dann aber doch zu weit: zum mentiert hat und die die Lösung darin
SPIEGEL: Gab es an Ihrer Schule denn rich- Beispiel, dass der heterosexuelle Ge- sah, lesbisch zu sein. Dass Homosexuali-
tige Feministinnen? tät jetzt aber die Lösung der Benachtei-
Schröder: Natürlich. Meine beste Freundin ligung der Frau sein soll, fand ich nicht
zum Beispiel findet die besagte These wirklich überzeugend.
noch immer richtig, sie unterrichtet fe- SPIEGEL: Was glauben Sie: Hat der Femi-
ministische Theorie an der Uni und wählt nismus die Frauen unterm Strich glückli-
ja auch bis heute Grüne. Aber das ändert cher gemacht?
natürlich nichts daran, dass sie meine bes- Schröder: Gute Frage. Ich glaube, dass zu-
te Freundin ist und bleibt. mindest der frühe Feminismus teilweise
SPIEGEL: Gab es weitere Unterschiede, übersehen hat, dass Partnerschaft und
etwa in Kleidungsfragen? Kinder Glück spenden. Es ist nicht der
Schröder: Ich wollte meine Unabhängig- einzige Weg, aber es ist doch für sehr vie-
keit nie dadurch zum Ausdruck bringen, le Menschen der wichtigste.
dass ich mich besonders maskulin kleide SPIEGEL: Gibt es inzwischen so etwas wie
oder besonders burschikos auftrete. Für einen konservativen Feminismus?
mich ist Gleichberechtigung erst dann er- Schröder: Mit solchen künstlichen Wort-
reicht, wenn man sich als Frau auch hülsen kann ich nicht viel anfangen. Für
AFP
schminken und Röcke tragen kann, ohne mich bedeutet Konservatismus, die Rea-
dass deshalb an der Kompetenz gezwei- Feministin de Beauvoir, Freund Sartre 1960 lität zu akzeptieren. Die Linken wollen
felt wird. „Das hat mich nicht überzeugt“ die Menschen umerziehen. Wir erkennen
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Deutschland
Einen Feminismus, der die Jungs bewusst nistik und Geisteswissenschaften, Männer wenn durchschnittliche Frauen in Füh-
vernachlässigt, halte ich für unmoralisch. dagegen Elektrotechnik – und das hat rungspositionen sitzen?
SPIEGEL: Aber Sie sind doch Frauen- und dann eben auch Konsequenzen beim Ge- Schröder: Das ist ein guter Punkt. Es ist ja
nicht Männerministerin, für Frauen- halt. Wir können den Unternehmen nicht schon so, dass Frauen im Job oft sehr viel
förderung sind Sie nun mal zuständig. verbieten, Elektrotechniker besser zu be- besser sein müssen als Männer, um den
Warum haben Sie nicht längst eine Quote zahlen als Germanisten. Wunschposten zu bekommen.
für Frauen in Führungspositionen ver- SPIEGEL: Die Frauen sind also selbst SPIEGEL: Studien zeigen, dass Frauen kein
langt? schuld, wenn sie weniger verdienen? übersteigertes Interesse haben, ihr Leben
Schröder: Weil eine Quote immer auch Schröder: Zumindest müssen sie sich dar- der Karriere unterzuordnen. Sie selbst
Kapitulation der Politik ist. Für mich be- über bewusst sein, dass mit bestimmten sind früh Ministerin geworden. Wie emp-
deutet Wirtschaft in erster Linie freies Berufswünschen gewisse Einkommens- finden Sie es: Macht Karriere glücklich?
Handeln ohne staatliche Vorschriften. perspektiven verbunden sind. Schröder: Nicht allein. Ein erfolgreiches
Deswegen ist für mich eine Quote nur SPIEGEL: Es gibt gar keine echte Benach- Berufsleben und Spaß an der Arbeit tra-
Ultima Ratio. Ich bin mir sogar sicher, teiligung der Frauen bei der Bezahlung? gen sicher dazu bei, aber ohne ein erfüll-
dass wir keine Quote brauchen – erst Schröder: Natürlich, in mehrfacher Hin- tes Privatleben könnte ich nicht glücklich
recht nicht in Zeiten von steigendem sicht sogar. Erstens wird Frauen oft noch sein.
Fachkräftemangel. Die Unternehmen set- jahrelang nachgetragen, wenn sie für die SPIEGEL: In Ihrer Abi-Zeitung stand auch,
zen schon heute Headhunter darauf an, Familie eine berufliche Auszeit genom- Sie hätten gern Familie und Kinder. Jetzt
gezielt Frauen für die Top-Positionen zu men haben. Zweitens bekommen Frauen, sind Sie 33, sind Ministerin, aber haben
suchen. die Teilzeit arbeiten, dafür im Schnitt keine Kinder. War es das wert?
SPIEGEL: Letztlich ist Ihnen die Freiheit rund 6,5 Prozent weniger Lohn als Män- Schröder: Sie glauben doch wohl nicht im
der Wirtschaft wichtiger als das Ziel, ner. Hinzu kommt, dass viele Frauen Ernst, dass ich darauf antworte.
mehr Frauen in Führungspositionen zu auch einfach schlecht verhandeln. Viele SPIEGEL: Sie sind doch Familienministe-
bringen? sind froh, wenn ihnen der Wiedereinstieg rin.
Schröder: Sie müssen sich auch einmal fra- ins Berufsleben gelingt – Hauptsache, der Schröder: Fragen Sie auch den Gesund-
gen, welche Frauen von einer Quote pro- Job ist einigermaßen kompatibel mit der heitsminister, wann er bei seiner Vorsor-
fitieren würden: wahrscheinlich jene, die Familie. Genau das ist falsch! Wir Frauen geuntersuchung war?
keinerlei familiäre Verpflichtungen ha- glauben oft, wir müssten uns damit be- SPIEGEL: Damit hätten wir kein Problem.
ben. Aber wollen wir nicht genau den liebt machen, dass wir bescheiden sind. Schröder: Das glaube ich sofort.
Frauen mit Familie helfen? Deswegen Die Personalchefs denken aber: Wer sich SPIEGEL: Kann ein Minister Elternzeit neh-
müsste man, wenn überhaupt, theoretisch so günstig hergibt, kann auch nicht be- men?
eine Mütterquote einführen, was prak- sonders gut sein. In dem Punkt müssen Schröder: Solch einen Fall gab es bisher
tisch aber unmöglich ist. Frauen sehr, sehr viel selbstbewusster und noch nicht. Ein Abgeordneter kann es je-
SPIEGEL: Wenn Sie schon keine Quote wol- tougher werden. denfalls nicht, aus verfassungsrechtlichen
len, könnten Sie den Frauen ja wenigstens SPIEGEL: Als Ministerin hatten Sie beim Gründen. Er ist ja direkt vom Volk ge-
dadurch helfen, dass Sie Lohnunterschie- Gehalt ja einen Vorteil. Das ist festge- wählt.
de bei gleicher Leistung verbieten, den schrieben. SPIEGEL: Ihr Mann ist Parlamentarischer
sogenannten Gender Pay Gap. Schröder: Das stimmt. Ich bin froh, dass Staatssekretär im Innenministerium. Wer
Schröder: Das ist schon längst durch das ich darüber nicht verhandeln musste. müsste denn zu Hause bleiben, sollten
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ver- SPIEGEL: Teilen Sie die Meinung Ihrer Vor- Sie Kinder bekommen?
boten. Aber die Wahrheit sieht doch so gängerin Ursula von der Leyen, dass die Schröder: Das entscheiden wir gemein-
aus: Viele Frauen studieren gern Germa- Gleichberechtigung erst dann erreicht ist, sam, wenn es so weit sein sollte.
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vielleicht ist er auch der Ineffizienteste.
Oft sind gerade Mitarbeiter, die familiäre
Verantwortung haben, auch am Arbeits-
platz besonders produktiv.
SPIEGEL: Gibt es eigentlich Stutenbissigkeit
in der Politik?
Schröder: In der Politik geht es manchmal
nicht zimperlich zu. Wenn zwei Frauen
dabei aneinandergeraten, heißt es immer
Stutenbissigkeit. Wenn es zwei Männer
sind, spricht niemand von Hengstbissig-
keit. Die schärfen dann ihr Profil.
SPIEGEL: Also ist diese Bissigkeit unter
Frauen nicht stärker ausgeprägt?
Schröder: Nein. Ich muss mir nur angu-
MARCO URBAN
cken, welch starkes Konkurrenzdenken
Männer oft haben und wie sehr sie sich
in Meetings manchmal aufregen, wenn
Wahlplakat für Helmut Kohl 1998: „Ich fand das Poster lustig“ der Kollege was Kluges gesagt hat. Ich
wage sogar die These: Säßen in der Ar-
SPIEGEL: Sie haben zu Beginn des Jahres Schröder: Ich koche auch sehr gern. Neu- beitswelt nur Frauen in den Konferenz-
geheiratet. Warum haben Sie eigentlich lich habe ich Kalbsbäckchen gemacht. räumen, kämen die Runden viel schneller
Ihren Familiennamen aufgegeben und Das ist echt aufwendig, die muss man zu Entscheidungen.
den Ihres Mannes angenommen? zweieinhalb Stunden in Rotwein schmo- SPIEGEL: Die meisten Frauen Ihrer Gene-
Schröder: Das habe ich, lange bevor ich ren lassen. ration hatten Poster von New Kids on the
Ministerin wurde, entschieden. SPIEGEL: Haben Sie eigentlich Verständnis Block und Take That an den Wänden
SPIEGEL: Es gibt ja Frauen, die sagen, es für Männer, die sich heutzutage verunsi- hängen. Bei Ihnen war es Helmut Kohl.
sei ein Zeichen von Emanzipation, in der chert fühlen? Einerseits sollen sie liebe- Fanden Sie den sexy?
Ehe den eigenen Namen zu behalten. volle und treusorgende Familienväter Schröder: Das mit dem Kohl-Poster ist
Schröder: Das muss jeder selbst wissen. sein, andererseits mögen Frauen auch kei- wirklich ein hartnäckiges Gerücht. Ich
SPIEGEL: Ist es nicht selbstverständlich, ne Weicheier. hatte im Wahlkampf 1998 dieses JU-Pos-
dass Familienministerinnen auch über ihr Schröder: Es ist schon schwieriger gewor- ter mit dem Titel „Keep Kohl“ bei mir
Familienleben Auskunft geben? den für die Männer. Aber für uns Frauen hängen, darauf war ein Elefant im Wolf-
Schröder: Ich finde das nicht selbstver- doch auch. Für die Männer sind die un- gangsee zu sehen, Helmut Kohl war auf
ständlich, aber Sie haben recht: Bei der terschiedlichen Rollenerwartungen das dem Poster nicht mal abgebildet. Ich fand
Familienpolitik geht es tatsächlich immer Problem, wir Frauen leiden oft unter un- das Poster lustig.
auch sehr stark um das Private. Trotzdem serem Perfektionismus. Frauen wollen SPIEGEL: Trotzdem fanden Sie Kohl schon
haben mein Mann und ich entschieden, sowohl die Supermutter sein als auch die als Mädchen klasse. Wieso nur?
dass wir unser Privatleben nicht öffentlich Superpartnerin als auch top im Job. Das Schröder: Seine Rolle bei der Wiederver-
thematisieren wollen. Außerdem will ich stresst. einigung hat mich fasziniert. Wie er diese
ja davon weg, als Ministerin ein bestimm- SPIEGEL: An welchem Vorbild sollten wir Chance mutig ergriffen hat, das war ein-
tes Rollenbild vorzugeben. Ich möchte Männer uns denn orientieren? malig. Ein sensationeller Staatsmann!
niemandem etwas vorleben. Schröder: Für mich wäre der Mann ein SPIEGEL: Das war Ihnen als Zwölfjähriger
SPIEGEL: Ihre Vorgängerin Ursula von der Vorbild, der eine Führungsposition inne- schon so bewusst?
Leyen hatte damit keine Probleme. hat und dabei den Mut besitzt zu sagen: Schröder: Ich weiß nicht, ob ich es damals
Schröder: Das stimmt nicht, auch sie hat Wir halten das Meeting um 16 statt um so formuliert hätte, und wenn ich mir
sehr bewusst ihre Grenze gesetzt. 19 Uhr ab, ich möchte nämlich gern mei- heute Zwölfjährige angucke, dann denke
SPIEGEL: Wo sind für Sie persönlich die nen Sohn ins Bett bringen. Ich garantiere ich auch: Was war denn da mit mir
Grenzen der Gleichberechtigung? Hatten Ihnen: Alle Frauen im Unternehmen wer- los? Aber der Mauerfall hat ja nicht nur
Sie je Probleme, sich von Männern zum den diesen Mann lieben! Wir müssen uns mich fasziniert, das war ein bewegen-
Essen einladen zu lassen? endlich von dieser typisch deutschen Prä- der Moment deutscher Geschichte. Ich
Schröder: Nein. Ich empfinde das als nette senzkultur verabschieden, schließlich ist habe damals politische Sendungen im
Geste, genauso, wenn mir die Tür aufge- nicht unbedingt der der Beste, der am Fernsehen auf VHS-Kassetten aufge-
halten wird. Trotzdem ist es heute weni- längsten hinter dem Schreibtisch sitzt – nommen, weil ich dachte: Das ist span-
ger dogmatisch als früher, gerade deshalb nend, das muss ich für die Nachwelt auf-
kann man ja diese Dinge wieder unver- heben.
krampft nett finden. Das ist sicher ein SPIEGEL: Sie waren ein richtiger Freak.
Privileg meiner Generation. Schröder: Ich war eben absolut begeistert,
SPIEGEL: Wer kocht bei Ihnen zu Hause? wie Zwölfjährige dann eben so sind. Ich
Schröder: Wenn ich Ihnen jetzt sage, ich habe zum Beispiel die Namen der Kabi-
koche immer, dann würde das als Rollen- nettsmitglieder auswendig gelernt.
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
modell interpretiert. Wenn ich sage, mein SPIEGEL: Zum Schluss bitte noch eine ehr-
Mann kocht immer, würden Sie sagen: So liche Antwort: Hätte es eine Karriere wie
ist das also bei Familienministers. Ihre ohne den Feminismus in Deutsch-
SPIEGEL: Also, wer kocht nun? Von Ihnen land gegeben?
weiß man ja immerhin, dass Sie leiden- Schröder: Nein. Das wäre in der Zeit vor
schaftlich backen. dem Feminismus nicht möglich gewesen.
Schröder, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Frau Schröder, wir danken Ihnen
* René Pfister und Markus Feldenkirchen in Berlin. „Jungs sind nicht dümmer als Mädchen“ für dieses Gespräch.
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MANFRED WITT
Opfer G. (mit Kopftuch) in der Hamburger Innenstadt: „Ich kann mein Leben in die Tonne treten“
K R I M I N A L I TÄT
F
rau G. wird schon bald nicht mehr verfolgt. Ständig dreht sie sich um, über- setzt eine Familie zum zweiten Mal in
Frau G. heißen. In diesen Tagen be- prüft, ob ihr jemand auflauert – selbst Furcht und Schrecken. Und es gibt, um
kommt sie einen neuen Personal- dann, wenn weit und breit niemand zu neues Unheil ganz sicher zu verhindern,
ausweis mit einem anderen Namen, der sehen ist. nach derzeitiger Rechtslage keine andere
streng geheim ist. So geheim, dass ihn Die Frau aus Norddeutschland hat pani- Möglichkeit für die Familie, als zu fliehen.
nicht einmal der eigene Vater oder die sche Angst vor einem Mann, der sie vor Erstmals begegnet Frau G. ihrem spä-
ältere Schwester erfahren dürfen. Jahren schwer misshandelt, gedemütigt teren Peiniger Andreas K. während eines
Frau G. darf auch nicht mehr Frau G. und vergewaltigt hat. Der Mann wird in Aufenthalts in einer Reha-Klinik. Die ge-
sein. Ihre Fotoalben, ihre Zeugnisse, ihre diesem Monat, nach Verbüßung seiner lernte Krankenschwester, die auch Psy-
Diplome hat sie in einen Tresor gepackt, Strafe, aus dem Gefängnis im niederbaye- chologie studierte, freundet sich mit dem
ihre Wohnung gekündigt, ihre Möbel ver- rischen Straubing entlassen. Gleich nach zweimal geschiedenen Handwerker aus
äußert oder untergestellt. „Ich kann mein seiner Verurteilung hatte er Frau G. im Ge- Thüringen an, der kurz vor dem Mauer-
Leben in die Tonne treten“, sagt sie ver- richtssaal angedroht: „Ich werde dich über- fall aus der DDR geflüchtet war. Beide
bittert. all finden, wo immer du dich verkriechst. verbringen viel Zeit miteinander, beide
Gerade hat sie für einen Spottpreis ihr Und dann wirst du leiden ohne Ende.“ sind sich einig, die Beziehung nach dem
Auto verkauft, sich von Freunden verab- Bedroht sind, glaubt die Polizei, auch Klinikaufenthalt zu beenden.
schiedet, die sie womöglich nie wieder- die drei Kinder von Frau G., zwei davon Doch Andreas K. bricht die Verabre-
sehen wird, und zum letzten Mal ein Do- sind noch in der Ausbildung. Auch sie dung und taucht plötzlich am bayerischen
kument mit ihrem richtigen Namen un- müssen ihren Namen ändern, ihre ge- Wohnort von Frau G. auf. Die reagiert
terschrieben. wohnte Umgebung verlassen, untertau- zunächst nicht ablehnend. Ihre Ehe ist ge-
Die Endvierzigerin, die ihre Verletzlich- chen. Sich von allem trennen, was bisher scheitert, sie muss drei Kinder allein er-
keit unter einer dicken Schicht Schminke ihr Leben ausgemacht hat. ziehen, fühlt sich häufig überfordert. Sie
zu verbergen sucht, ist auf der Flucht. Sie Eine verkehrte Welt: Ein vielfach vor- ist froh, wenn ihr jemand Mut zuspricht.
kann nachts kaum noch schlafen, wirkt bestrafter Mann, laut Einschätzung der Oder ihr mal hilft, eine Wand zu strei-
auch am Tag fahrig und gehetzt, fühlt sich Polizei nach wie vor hochgefährlich, ver- chen, eine Tür zu reparieren.
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„Ich war so bedürftig damals“, erinnert
sie sich, „so dankbar für jedes freundliche
Wort.“ Und dieser wuchtige Mann aus
dem Osten, der zwar öfter mal viel zu
viel Alkohol trinkt, aber auch ordentlich
zupacken kann und deftige Witze erzählt,
scheint so unrecht nicht zu sein, ein etwas
ungehobelter Kerl mit rustikalem Charme.
Was sie nicht weiß: Andreas K. ist zehn-
mal vorbestraft, hauptsächlich wegen Ge-
waltdelikten. Er ist ein Mann, der Wider-
spruch und Zurückweisung nicht aushal-
ten kann, schon gar nicht von einer Frau.
Entsprechend wütend und unbeherrscht
reagiert er, als Frau G. ihm klarzumachen
versucht, dass sie nach ihrem Ehefiasko
keine feste Beziehung mehr will. Aber
da ist es bereits zu spät.
Erst trifft er sie mit Worten, beleidigt,
droht, schimpft, dann mit Schlägen. Der
erste Vorfall, dem viele weitere folgen,
hat sich nach Erinnerung von Frau G. so
abgespielt: Sie: „Ich will, dass du jetzt
gehst.“ Er: „Was hast du gesagt, du ver-
dammtes Miststück?“ Sie: „Ich will, dass
du jetzt gehst.“ Er: „Das könnte dir so
passen, du Schlampe.“ Sie: „Bitte, bitte
geh.“ Daraufhin habe er erstmals zuge-
schlagen, zwar nur mit der offenen Hand
und nicht wie später mit der Faust. Aber
fest genug, um ihr schmerzhafte Prellun-
gen und blaue Flecken zuzufügen.
Frau G. möchte Andreas K. nicht mehr
sehen. Aber der Mann, der auf seinen ver-
meintlichen Besitzanspruch pocht, lässt
sich nicht so einfach abschütteln, will nicht
wahrhaben, dass er über die Frau nicht
nach seinen Vorstellungen verfügen kann.
Wenn Frau G. versucht, den Konflikt
trotz allem im Guten zu lösen, wenn sie
mehrmals Aussprachen zustimmt, um ihre
Ablehnung zu erklären, dann missversteht
Andreas K. dies als erneute Annäherung.
Er fühlt sich bestärkt in seinen Wünschen
nach Beherrschung und Macht. Will sich
durchsetzen, im Zweifel mit Gewalt.
Für die alleinerziehende Mutter be-
ginnt ein monatelanger Alptraum mit Sze-
nen wie aus einem Horrorfilm. „Es war
die Hölle“, sagt Frau G. heute.
Andreas K. hat sich einen Nachschlüs-
sel fertigen lassen, dringt trotz Verbot
heimlich ins Haus ein. Durchsucht die
Wohnung, wühlt im Schreibtisch. Steht
plötzlich hinter Frau G. in der Küche, ver-
sucht, sie zu küssen. Schlägt zu, wenn sie
sich wehrt. Taucht nachts vor ihrem Bett
auf, angetrunken, fordernd, aggressiv.
Einen Gerichtsbeschluss, wonach er zu
Frau G. und ihren Kindern mindestens
hundert Meter Abstand halten muss, igno-
riert er. Andreas K. reiht sich in die Warte-
schlange ein, wenn sein Opfer im Super-
markt einkauft. Wartet morgens vor ihrer
Haustür, wenn sie die Kinder zur Schule
bringen will. Stemmt abends, nachdem
man ihm die Nachschlüssel abgenommen
hat, die Rollläden hoch, um in ihre Woh-
nung zu gelangen. Fast täglich rückt die
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Deutschland
den aktuellen Wohnort von Frau G. zu er- Die drei Kinder müssen zudem Ab-
fahren. Hierzu stellt er fadenscheinige An- schied nehmen von allen Menschen, die
fragen an verschiedene öffentliche Stellen. sie seit Jahren kennen: den Kumpels vom
Die Geschädigte hat deshalb Angst, dass Sportverein, den Studienkollegen, den
der Täter nach seiner Entlassung erneut alten Schulfreunden. „Ich bin einfach
Kontakt zu ihr sucht und sie angeht. Diese verschwunden, von heute auf morgen“,
Befürchtungen teilt auch der unterzeich- berichtet eine von Frau G.s Töchtern.
nende Sachbearbeiter.“ Nur ein paar engen Vertrauten habe sie
In einer Gefährdungsanalyse kommen eine schriftliche Nachricht hinterlassen:
Kripo-Experten zu einem alarmierenden Nehmt es nicht persönlich, es musste sein,
Ergebnis: Gefährdet ist nicht nur Frau G., vielleicht kann ich euch später alles er-
sondern die ganze Familie, bedroht sind klären.
insbesondere die bereits volljährigen Die andere Tochter trifft es noch härter.
Töchter. Der Familie wird deshalb drin- Sie muss sich von ihrem Freund trennen,
gend empfohlen, mit Hilfe eines speziel- den sie seit zwei Jahren kennt, den sie
len Schutzprogramms eine neue Identität nach wie vor liebt. Der Mann soll sie auf
anzunehmen und unterzutauchen. keinen Fall an ihrem neuen Wohnort auf-
Dem Rat der Polizei zu folgen ist Frau suchen, sich zumindest für unbestimmte
G. äußerst schwergefallen. „Wenn ich kei- Zeit so verhalten, als würde er sie nicht
ne Kinder hätte, dann hätte ich vielleicht kennen. „Das tut verdammt weh“, gesteht
gezögert, hätte mehr riskiert“, erklärt sie. die 21-Jährige, „aber es ist notwendig.“
„Dann hätte ich mir eine Waffe besorgt, Wirklich? „In den USA gibt es vernünf-
um mich im Notfall wehren zu können.“ tige andere Lösungen“, erklärt Christian
Allerdings: Der Antrag der ausgebildeten Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen For-
Sportschützin auf Erteilung einer Waffen- schungsinstituts in Hannover und ehe-
besitzkarte wurde abgelehnt. maliger niedersächsischer Justizminister.
Was es bedeutet, das alte Leben hinter Dort komme in vergleichbaren Fällen sen-
sich zu lassen, alle Brücken abzubrechen, sible Elektronik zum Einsatz: Der entlas-
erfährt Frau G. jeden Tag. Zwar wird sie sene Strafgefangene muss sich als Auflage
einen Sender am Körper installieren las-
Frau G. soll auf Jahre hinaus sen, die gefährdete Person wird mit ei-
nem Empfänger ausgestattet. Bei verbo-
ihren Vater nicht mehr sehen, ihre tener Annäherung schlägt das System
Schwester nicht mehr besuchen. Alarm. Schon eine einmalige Übertretung
führt zu erneuter Inhaftierung.
von Polizeibeamten und Mitarbeitern der Mit seinem Vorschlag, diese Methode
Opferorganisation Weißer Ring unter- in Deutschland zumindest zu testen, ist
stützt. Doch schon beim Kampf gegen die Sozialdemokrat Pfeiffer während seiner
Mühlen der Bürokratie gibt es immer Ministerzeit sowohl bei den eigenen Ge-
wieder Probleme. „Nichts funktioniert rei- nossen als auch bei den anderen Parteien
bungslos“, bedauert sie, „immer braucht gescheitert. Die Vorgehensweise, bekam
es vier, fünf Anläufe.“ er zu hören, passe nicht zum deutschen
Der alte Handyvertrag soll vorzeitig Rechtssystem.
gekündigt werden. Geht nicht, sagt der Immerhin: Nach einem Kabinettsbe-
Telefonanbieter. Das Krankengeld soll auf schluss von Ende Oktober soll es künftig
ein Konto unter dem neuen Namen über- auch in Deutschland möglich sein, neue
wiesen werden. Nur möglich mit neuer Wege zu gehen. Um die Allgemeinheit
Sozialversicherungsnummer, sagt die vor psychisch gestörten und gefährlichen
Krankenkasse. Die Impfausweise sollen Tätern zu schützen, sollen Verurteilte
umgeschrieben werden. Sind wir nicht nach Verbüßung ihrer Strafe in speziellen
für zuständig, sagt das Gesundheitsamt. Therapieeinrichtungen untergebracht
Hinzu kommt eine finanzielle Schief- werden können, die sich grundsätzlich
lage. Die Wohnungssuche für die Kinder, von Gefängnissen unterscheiden. Im Vor-
die damit verbundenen Reisen, die unzäh- dergrund muss dabei die medizinische
ligen Telefonate haben weit mehr gekos- Behandlung stehen.
tet, als Frau G. bezahlen kann. Ihr Konto Frau G. nützt das jüngste Handeln der
ist heillos überzogen, ein Kredit wurde Politik nichts mehr. Sie interessiert viel-
gekündigt. Die Töchter können nur wei- mehr, ob Andreas K. künftig bestimmte
terstudieren, weil eine Stiftung den größ- Bedingungen erfüllen muss. In vergleich-
ten Teil der Kosten übernommen hat. baren Fällen wurden Täter jedenfalls nur
Noch verheerender ist der Verlust na- unter der Bedingung entlassen, sich von
hezu aller persönlichen Beziehungen. ihren ehemaligen Opfern fernzuhalten. Ob
Frau G. soll auf Jahre hinaus ihren Vater dies auch im Fall Andreas K. zutrifft, dar-
nicht mehr sehen, ihre Schwester nicht über wird von den bayerischen Behörden
mehr besuchen. Auch den Kontakt zu ih- keine Auskunft erteilt, auch nicht gegen-
ren Kindern soll sie möglichst vermeiden, über der betroffenen Familie.
nicht mehr mit ihnen telefonieren, keine Frau G. hat vergangene Woche zum
Briefe schreiben. Als Preis für mehr Si- vorerst letzten Mal mit ihrer ältesten
cherheit wird die Familie zerrissen. Tochter telefoniert.
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Szene Gesellschaft
Was war da los,
Frau Daneschnija?
Die iranische Journalistin Mandana
Daneschnija, 29, über ihren Kampf um
politisches Asyl
HIRNFORSCHUNG Bildung neuronal funktionieren, wie Schirrmacher: Ja, klar. Unser Bild vom
sie gespeichert, synchronisiert, abgeru- Gehirn ist ja noch sehr skizzenhaft.
„Das Gehirn fen werden. Oder: Wie funktioniert
Lesen? Habe ich einen freien Willen?
Wir können ja nicht reinschauen, wir
sind auf Rückschlüsse und Kombina-
muss raten“ SPIEGEL: Ziemlich große Fragen.
Schirrmacher: Ja, finde ich auch. Philo-
tionen angewiesen.
SPIEGEL: Sagt Ihnen diese Zahlenkom-
„FAZ“-Herausgeber sophische Fragen, die die Hirnfor- bination etwas: 42556?
Frank Schirrmacher, 51, schung aufwirft und zum Teil beant- Schirrmacher: Ist das ein Rätsel aus
über die Geheimnisse worten hilft. dem Buch?
PICTURE ALLIANCE / DPA
menschlicher Gehirne SPIEGEL: Nur zum Teil? SPIEGEL: Ja. Sie haben Denksportauf-
gaben mit hineingenommen.
SPIEGEL: Herr Schirrma- Schirrmacher: Bei einer dieser Aufga-
cher, Sie haben ein SMS: ben muss man zum Beispiel Worte ent-
Buch über „Gehirntrai- schlüsseln, aus Zahlen. Für jede Ziffer
4 2 5 5 6
ning“ herausgegeben. gibt es drei mögliche Buchstaben, gar
GESELLSCHAFT FÜR GEHIRNTRAINING E.V.
Woher nehmen Sie als Feuilletonist 5 6 6 6 7 8 nicht so einfach. Das Gehirn muss
Ihre Kenntnisse? raten, kombinieren, Varianten prüfen,
Schirrmacher: Ich glaube, das begann 3 8 unter Zeitdruck.
durch die Bekanntschaft mit Wolf SPIEGEL: Hat Ihr Gehirn diese Aufgabe
Singer. Er ist einer der bedeutendsten 6 4 2 4 gelöst?
Hirnforscher in Deutschland, und er Schirrmacher: Ja. Aber ich habe ziem-
konnte einfach phantastisch den Fach-
6 6 7 4 3 6 lich lange gebraucht: sieben Minuten
jargon verständlich übersetzen. So bin 2 3 7 8 2 4 3 6 für das Entschlüsseln von sechs Wor-
ich auf den Geschmack gekommen. ten. Sie kennen sicher jemanden, der
Um bald festzustellen, dass die The- Zu entziffern ist diese SMS aus sechs schneller war …
men der Hirnforscher so etwas wie der Zahlen. Jede Ziffer steht für einen von SPIEGEL: Ein 14-Jähriger hat es vorhin
materialistische Kern jener Fragen drei möglichen Buchstaben, entspre- in eineinhalb Minuten gelöst.
sind, die uns Kultur- und Geisteswis- chend der Handy-Tastatur. Einmaliges Schirrmacher: Wahnsinn! Ein 14-Jähri-
senschaftler von jeher beschäftigen. Tippen der Taste „6“ ergibt beispiels- ger! Aber deren Gehirne sind natür-
SPIEGEL: Nämlich? weise den Buchstaben „m“, zweimal lich auf solche Spiele ganz anders ein-
Schirrmacher: Fragen wie diese: Was ist drücken „n“, dreimal drücken „o“. gestellt.
die angemessene Erziehung? Die rich- Wie lautet die Botschaft? SPIEGEL: Und was bedeutete 42556?
tige Bildung? Da hilft es ja vielleicht, Schirrmacher: Es bedeutete, glaube ich,
wenn ich weiß, wie Erinnerung und Auflösung:
Hallo kommst du mich morgen besuchen
„Hallo“.
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Gesellschaft Szene
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE nehmen würden, die Frau zu identifi-
zieren. Er stellte das Video lieber ins
Ab in die Tonne
Internet, auf eine Facebook-Seite, und
fragte: Wer kennt diese Frau?
Hunderte Menschen riefen die Seite
auf, schon am nächsten Tag war Mary
Warum eine Britin mit Hitler verglichen wurde Bale identifiziert und ihr Leben nicht
mehr das alte. Das Telefon klingelte,
A
ls das Leben von Mary Bale ben der Mauer steht, sie tut das ohne Fremde wünschten sie zur Hölle, Jour-
noch einigermaßen in Ord- Hast, dann lässt sie die Katze in die nalisten kampierten vor ihrem Haus,
nung war, arbeitete sie in ei- Tonne fallen, schließt den Deckel und die Polizei erschien, um sie zu befra-
ner Bank, bei ihren Kollegen war sie setzt ihren Weg fort. gen, um sie zu beschützen. Darryl
bekannt als zuverlässig und berechen- Die Katze heißt Lola, sie gehört Mann, der Eigentümer der Katze und
bar, ihre Nachbarn schätzten sie und einem Paar, Stephanie und Darryl ein Mann mit einem gesunden Gefühl
grüßten, wenn sie Mary Bale auf der Mann. Die beiden vermissen das Tier für Verhältnismäßigkeit, sah sich ge-
Straße trafen. am Abend und entdecken es erst am zwungen, öffentlich zur Mäßigung auf-
Heute wird Mary Bale nur noch sel- nächsten Morgen, als seltsame Laute zurufen, er bat darum, Mary Bale
ten gegrüßt, Arbeit hat sie keine mehr, aus der Mülltonne dringen. nichts anzutun.
ihr Haus verlässt sie nur noch, wenn Darryl Mann arbeitet für eine Tele- Die Frage, die Bale am häufigsten
es sein muss, und nur äußerst ungern kommunikationsfirma, er kennt sich gestellt wurde, lautete: Warum haben
geht sie dann allein durch die Sie es getan? Ihre Antwort
Stadt. Sie fürchtet Übergriffe, war: „Ich weiß es nicht.“
denn sie erhielt Todesdrohun- Vielleicht war es tatsächlich
gen, aus dem In- und Ausland. ein Impuls, der aus dem Nichts
Man verglich sie mit Adolf Hit- kam, vielleicht hing es auch
ler und ließ sie wissen, dass mit ihrem Vater zusammen,
sie verachtenswerter sei als mit den Besuchen im Kranken-
dieser Unmensch, dass sie den haus, bei denen sie sah, wie
Tod verdiene. sein Leben dem Ende ent-
Ruiniert hat Mary Bale ihr gegenging. Vielleicht hatte sie
Leben selbst, in kaum mehr genug von der Ohnmacht und
als einer Sekunde, als sie ei- wollte endlich wieder mächtig
nem Impuls nachgab, einer sein, sich rächen an der Natur,
DARREN STAPLES / REUTERS
Idee, die aus dem Nichts kam, der Welt, für das, was ihrem
wie sie sagt, und im Zentrum Vater widerfuhr. Vielleicht
dieser Idee stand eine harm- quält Mary Bale aber einfach
lose Katze. Mary Bale hatte nur gern Tiere, und es hatte
sie in eine Mülltonne gestopft. bislang niemand mitbekom-
Geschehen ist das in Groß- men.
britannien, in Coventry, in ei- Bale Jetzt stand sie vor Gericht,
ner alten Industriestadt, die ihr drohten sechs Monate Haft
schon bessere Tage gesehen oder eine Geldstrafe von 20000
hat. Hier lebt Mary Bale, in Pfund. Die Richterin hörte
einem schmalen Reihenhaus, die Argumente beider Seiten,
das sie morgens verließ, um nahm zur Kenntnis, dass es der
zur Arbeit zu gehen. Nach Katze gutgeht, dass Mary Bale
Feierabend besuchte sie ihren mittlerweile arbeitslos ist, weil
Vater im Krankenhaus, vom sie aus Scham nicht mehr an
Krankenhaus ging es dann ihren Arbeitsplatz zurückkehr-
wieder nach Hause. Das war Aus der „Bild“-Zeitung te, und dass ihr Vater seinem
ihre tägliche Routine. Leiden erlegen ist.
Ihr Weg vom Krankenhaus nach aus mit Technik, er hat an seinem Haus Die Richterin befand, dass Mary
Hause führte sie an einer roten Back- eine Überwachungskamera angebracht, Bale vom Schicksal schon genug ge-
steinmauer vorbei. Auf der Mauer saß die den Eingang filmt. Auch die Mauer schlagen ist, und urteilte mild. Mary
eine Katze. Mary Bale hatte sie schon und die Mülltonne liegen im Sichtfeld Bale hat eine Geldstrafe in Höhe von
oft getroffen. Auch an diesem Tag be- der Kamera. Mann sichtete die Auf- 250 Pfund zu zahlen sowie die Ge-
gegnete sie dem Tier. zeichnung des vergangenen Tages. richtskosten, außerdem darf sie in den
Die Katze springt auf die Mauer, als Er sah eine Frau, Mitte vierzig, in nächsten fünf Jahren kein Tier halten.
Bale sich nähert. Sie geht auf Bale zu, einem hellen T-Shirt, mit Brille, Hand- Das Urteil löste eine zweite Welle
Bale streichelt ihren Rücken, greift tasche und praktischer Frisur, die seine der Empörung aus, Tierfreunde forder-
dann mit der rechten Hand das Fell Katze in die Tonne schafft, völlig ten eine härtere Strafe. Da reichte es
im Nacken, hebt die Katze hoch, die grundlos. Darryl Mann. Er sagte, der Gerechtig-
ganz entspannt ist und wahrscheinlich Mann hätte nun zur Polizei gehen keit sei Genüge getan. Lola ist seine
ahnungslos. Mit der linken Hand öff- können, aber er bezweifelte, dass die Katze, aber eben auch nur eine Katze.
net Mary Bale eine Mülltonne, die ne- Beamten große Anstrengungen unter- UWE BUSE
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Gesellschaft
DEUTSCHE EINHEIT
A
n einem Sonntagmorgen sitzen von der Treuhand, der großen Abwick-
ein paar Männer und Frauen auf lungsbehörde.
Holzbänken am Berliner Müggel- 90 000 Fälle waren es, die die Treuhand
see, die Männer trinken Bier, die Frauen zu bearbeiten hatte. 4600 Mitarbeiter
Mineralwasser aus Plastikbechern. Sie kümmerten sich darum. Sie sollten in kur-
treffen sich einmal im Jahr hier, ehe- zer Zeit ein ganzes Land privatisieren,
malige Mitarbeiter eines alten Ost-Unter- 48 500 Betriebsstätten, eineinhalb Millio-
nehmens, der WBB, der Wärmeanlagen- nen Hektar Wälder, 30 000 Hektar Seen,
bau Gesellschaft Berlin. Sie reden über zwei Millionen Hektar Landwirtschaft.
die alten Zeiten und den alten Chef, der Das Büro an der Schönhauser Allee ge-
ihren Laden und ein bisschen auch ihr hört zur Nachfolgebehörde der Treuhand,
Leben ruiniert hat. zur BvS, der Bundesanstalt für vereini-
2000 Mitarbeiter hatte der Betrieb, gungsbedingte Sonderaufgaben. Es hat
Werkstätten in der gesamten DDR, in ein Vorzimmer und eine Sekretärin und
Polen und der Sowjetunion. Sie fertigten einen Mitarbeiter, der Teilzeit arbeitet.
Edelstahlrohre und verbanden die Städte Die Behörde wickelt die letzten Reste
und Dörfer mit den Kraftwerken im Land, eines Projekts ab, das einzigartig ist in der
und sie fanden sich, wie Hunderttausende Geschichte: die staatlich gelenkte Privati-
Beschäftigte aus DDR-Betrieben, nach sierung einer sozialistischen Gesellschaft.
der Wiedervereinigung in einem Prozess Es ist, wie der Fall der WBB, auch 20 Jahre
der Verwertung und Entwertung, den sie nach der Wiedervereinigung nicht abge-
nicht genau verstanden, der aber alle schlossen. Die WBB hat über die ganzen
Warnungen vor dem Kapitalismus bestä- Jahre verschiedenste Gerichte beschäftigt,
tigte. Ihr Chef hieß Michael Rottmann. und während die Kollegen von früher am
Vorn auf der Bank sitzt Rainer Kusch, Müggelsee sitzen, zum vielleicht letzten
der ehemalige Personalchef der WBB, 72 Mal, liegt der Fall beim Bundesgerichtshof
Jahre alt, mit kurzen grauen Haaren. Die zur endgültigen Klärung. Die Kollegen
frühere Lohnbuchhalterin kommt zu ihm können nur noch warten.
an den Tisch, ein Schlosser, ein Ab- Die Geschichte ihres Betriebs erzählt
teilungsleiter. von enttäuschten Hoffnungen, von Skru-
Rainer Kusch sieht sich um, lächelt, pellosigkeit, Geldgier. Die Wiederverei-
blickt in die Runde, in die Gesichter sei- nigung bot Geschäftemachern aus dem Angeklagter Rottmann (r.) mit Anwalt, Razzia im
ner alten Kollegen, sagt: „Eigentlich ein Westen die Chance, sich am Untergang
Wunder, dass ich hier dabeisitzen darf.“ der DDR zu bereichern, legal und illegal. nem Essener Reihenhaus. Es hat von au-
Die früheren Mitarbeiter der WBB tref- Einer von ihnen landet im Herbst 1990 ßen nichts Ungewöhnliches. Nur dort, wo
fen sich hier, weil sie keine Opfer mehr auf dem Flughafen in Tegel. andere eine Tischtennisplatte stehen ha-
sein wollen. Sie waren lange Opfer und Michael Rottmann ist 47 Jahre alt, er ben, steht bei Rottmann im Keller ein lan-
fühlten sich auch so. Nach der Wende ist verheiratet, hat zwei Kinder, er lebt ger schwarzer Konferenztisch.
wurde ihr Betrieb verkauft an Rottmann, in Essen in einem Reihenhaus, fährt einen Der Geschäftsführer hat die Firmen-
einen Manager aus dem Westen. Vier Jah- VW Golf. Im Jahr 1990 ist er seit fünf bilanzen der WBB mitgebracht, Grund-
re später war die WBB pleite, ihr Unter- Jahren Angestellter bei der Deutschen buchauszüge, ein paar Immobiliengut-
nehmen schloss, die meisten Mitarbeiter Babcock, er verantwortet kleinere Kraft- achten. Neben Rottmann sitzen zwei
wurden arbeitslos, der Chef war ver- werksprojekte. Sein Vorstand hat ihn Männer aus der Schweiz, einer davon ist
schwunden mit vielen Millionen. nach Berlin geschickt. Die WBB soll der ein Geschäftsmann aus Zürich.
Sie wissen bis heute nicht, was genau Deutschen Babcock den Markt in den Os- Er ist Präsident einer kleinen Aktien-
passiert ist. An diesem Tag wissen sie nur, ten öffnen. Rottmann fährt zum Haupt- gesellschaft im Kanton Aargau, der Che-
dass ihr Chef im Gefängnis sitzt. Sie sind sitz der WBB an der Wallstraße, er läuft matec. Die Chematec hat 40 Mitarbeiter,
die Ahnungslosen in einem der großen am Pförtner vorbei, nimmt den Paternos- ein Aktienkapital von 1,4 Millionen
Betrugsfälle der Treuhandanstalt. ter und trifft einen der beiden WBB-Ge- Schweizer Franken, dem Geschäftsmann
In einem kleinen Büro in Prenzlauer schäftsführer, sie reden über Zahlen, das gehören die meisten der Aktien selbst.
Berg, an der Schönhauser Allee, liegt ihr Unternehmen und die Treuhand. Im Essener Keller geht es immer wieder
Fall als einer der letzten 60 Fälle, ein paar Der Geschäftsführer besucht Michael um seine Chematec. Sie soll die WBB
Quadratmeter sind dort noch geblieben Rottmann ein paar Wochen später in sei- übernehmen.
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SVEN KAESTNER / AP (O. L.); SABINE SAUER / DER SPIEGEL (O. R.); ULLSTEIN BILD / DPA (U.)
Berliner WBB-Hauptsitz 1995, Pressekonferenz der Treuhand in Berlin 1990: Enttäuschte Hoffnungen, Skrupellosigkeit, Geldgier
Sie verfassen einen Partnerschaftsver- Der Leiter des Treuhanddirektorats Firma. Auf den Tischen stehen schwarze
trag. Die Anteile wollen sie zu gleichen Chemie und Anlagenbau ist froh über Schreibmaschinen, an den Wänden hän-
Stücken aufteilen. Sie einigen sich darauf, das Angebot. Er kennt die Konkurrenz gen Tapeten mit Blumenmustern, das Por-
dass jeder der fünf Partner fünf Millionen aus dem Westen und weiß, dass die WBB trät von Erich Honecker ist im Keller ver-
Schweizer Franken als eine Art Sicher- es schwer haben wird auf dem Markt. schwunden.
heitsbetrag erhält. Die Summe ist auch Er verkauft die WBB am 27. Februar „Einer, der weiß, was er will“, sagen
fällig, wenn die WBB scheitert. für zwei Millionen Mark an die Schweizer sie über ihren neuen Chef, „sehr selbst-
Der Partnerschaftsvertrag ist das Dreh- Chematec, die Quittung trägt die Nummer bewusst“, „von der Frisur bis zu den Schu-
buch zu Rottmanns neuem Leben, sollte 172969. Der Käufer verpflichtet sich, 750 hen, da stimmt alles“. Manche macht das
die Treuhand dem Kauf zustimmen. Es Arbeitsplätze zu erhalten, Schulden in skeptisch, andere sehen in Michael Rott-
ist das Drehbuch zu einem der größten Höhe von über 30 Millionen Mark zu über- mann eine Hoffnung.
Betrugsfälle bei der Zerlegung der DDR. nehmen, aber auch Immobilien und ein Auch Rainer Kusch, der Personalchef,
Aber wird die Treuhand zustimmen? Bankguthaben von 150 Millionen Mark. schwankt zwischen Skepsis und Hoff-
Um sicherzugehen, schwindeln Rott- Auf dem Papier verkauft die Treuhand nung. Mit der Wende musste er 500 Kol-
mann und seine Partner die kleine Ak- die WBB an einen Schweizer Anlagen- legen kündigen.
tiengesellschaft aus dem Aargau zu einem bauer. Tatsächlich hat sie das Unterneh- Rottmann spricht von einer neuen Zeit,
finanzkräftigen Anlagenbauer in den Be- men in die Hände eines ehemaligen klei- von hochqualifizierten Mitarbeitern, von
reichen Chemie und Pharmazie hoch, mit nen Babcock-Angestellten gegeben. modernster Technik und von Kraftwer-
einer Tochterfirma in Brasilien und 400 Rottmann kommt ein paar Wochen spä- ken, die er herstellen wolle wie Brötchen.
Beschäftigten. In Wirklichkeit sind es 40. ter im gutsitzenden Anzug in seine neue Am Abend bleibt er lange im Betrieb, er
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Gesellschaft
lässt Wände einreißen für neue Büros, in Zwei Jahre lang ist im Zwickauer Werk
der Chefetage wird er deutlich und sagt: nichts mehr passiert, „Schlankfahren“, ver-
„Sie müssen schon wollen! Es ist der schie- schrotten, das ist Rottmanns Anweisung.
re Wille, der dieses Schiff bewegen wird.“ Von 2000 Mitarbeitern, die mal zum Un-
Rottmann und seine Partner beginnen, ternehmen gehörten, arbeiten noch 250.
den Betrieb zu zerlegen. Sie gründen, im Rainer Kusch ist jetzt Hausmeister und
ersten Schritt, im schweizerischen Olten nicht mehr Personalchef. Die restlichen
die Physical Chemical Engineering Hol- Mitarbeiter ziehen in billigere Büros an
ding AG, kurz: die PCE. Die PCE kauft die Rhinstraße 137, weg aus Berlin-Mitte
im Sommer 1991 die WBB. Aus deren Ver- in den abgelegenen Stadtteil Marzahn.
mögen überweisen sich die Partner den „Durchhalten!“, mahnt Rottmann.
vereinbarten„Sicherheitsbetrag“ über je- Im Sommer 1993 findet er in Vaduz
weils fünf Millionen Schweizer Franken. eine Dreizimmerwohnung für 2600
Sie gründen sechs Gesellschaften als Toch- Schweizer Franken Miete, mit eigener
terunternehmen der PCE, später in Liech- Tiefgarage. Die letzten 25 Millionen
tenstein eine PCE AG. Mark, die jetzt noch auf den Berliner Fir-
Die WBB gehört damit Unternehmen, menkonten liegen, werden in Rottmanns
die meist nur einen Briefkasten in Liech- Geldkreislauf eingespeist, wieder über
tenstein haben. Alle Fäden laufen bei Konten in der Schweiz und Liechtenstein.
Liechtensteiner Anwälten zusammen. Anti-Treuhand-Demonstration in Berlin 1991 Von der WBB bleiben nur noch die Ge-
Im September 1991 lässt sich Michael 48 500 Betriebsstätten, 30 000 Hektar Seen bäude, aber auch sie gehören längst der
Rottmann in einer schwarzen Mercedes- PCE. Sie werden im letzten Schritt zu
S-Klasse in das Zwickauer Werk fahren konten der zwei WBB-Geschäftsführer, die Geld gemacht.
und spricht mit Mitarbeitern. „Wir sind sich ihre Konten extra in einer österrei- Anfang des Jahres kommt Rottmann
an allen Standorten davon überzeugt, chischen Kleinstadt eingerichtet hatten. ein letztes Mal an die Rhinstraße 137 zu
dass Sie alle gemeinsam mit uns an die- Gefährdet ist die WBB deswegen noch einer „Betriebsinformation“. Rottmann
sem Haus bauen werden.“ nicht. Aber die Partnerschaft, die in Rott- streitet kurz mit seinem Finanzdirektor.
In Hamburg nehmen Michael Rott- manns Reihenhaus geschmiedet wurde, Die Mitarbeiter wundern sich.
mann und seine Partner Kontakt zu zwei wird langsam porös. Der Erste, der aus- Gewissheit haben sie ein paar Monate
Rechtsanwälten auf, die ein spezielles schert aus der Runde, ist der Geschäfts- später, als die WBB insolvent ist. Die Bi-
Steuermodell entwickelt haben. Ihre Kun- mann aus Zürich, dessen Chematec den bliothek ist zum Plündern freigegeben.
den kaufen sogenannte Moratoriumsfor- Kauf der WBB erst möglich machte. Bis Die Mitarbeiter nehmen sich, was sie be-
derungen, die wertlos sind und als Vor- Ende 1992 kauft Rottmann seine früheren kommen können, Ordner mit DIN-Vor-
wand dienen, um Gelder am Finanzamt Partner aus dem Unternehmen. schriften und Fachliteratur.
vorbeizubewegen. Die hohen Verluste, Rainer Kusch, der Hausmeister, der
Radikale Wende
mit denen die Geschäfte enden, können mal Personalchef war, ist 57 Jahre alt und
die Kunden steuerlich geltend machen. arbeitslos.
Viel mehr Geld aber verdienen sie, weil Juni 1990 Am Morgen des 10. April 1995 eröffnet
die beiden Anwälte 67 Prozent der Kauf- Die DDR-Volkskammer beschließt das Michael Rottmann sechs Kilometer von
summe im Ausland anlegen; die rest- Treuhandgesetz. Schon bis Ende 1990 seiner Vaduzer Wohnung entfernt, in der
lichen 33 Prozent geben sie als Provision sind rund 500 Betriebe privatisiert. Buchser Filiale der Schweizerischen Bank-
an die Anwälte ab. 3. Oktober 1990 gesellschaft, vier Anlagekonten in ver-
Am 24. März 1992 landen 30 Millionen Die DDR tritt dem Geltungsbereich des Grund- schiedenen Währungen und zwei Depots.
Mark über mehrere Umwege und Brief- gesetzes bei, Deutschland ist wiedervereinigt. Dem Schweizer Bankier sagt er, er erwar-
kastenfirmen auf Konten in Vaduz, so März 1991 te zehn Millionen Mark aus einem Immo-
wie Rottmann es geplant hat. Sechs Mil- Demonstrationen gegen Massenarbeitslosigkeit bilienverkauf. Drei Tage später überweist
lionen Mark verdienen die Anwälte. Nie- vor dem Gebäude der Treuhandanstalt in Berlin. die PCE AG aus Vaduz das Geld tatsäch-
mand merkt etwas. Die Treuhand hat die Ende 1992 lich, Rottmann will es in bar abheben,
WBB aus den Augen verloren. 11 043 Unternehmen, 10 311 Immobilien und aber die Bank weigert sich. Man wolle
Rottmann steht am Morgen als Erster 27 807 Hektar landwirtschaftliche Fläche sich einer möglichen Geldwäsche nicht
in der Firmenküche, pfeift, kocht Kaffee, sind bereits veräußert. schuldig machen. Ein paar Tage später
motiviert weiter: „Sie haben die Fähig- 31. Dezember 1994 erteilt Rottmann der Bank einen Über-
keiten. Bitte trauen Sie sich!“, sagt er. Bei Die Treuhandanstalt stellt ihre Tätigkeit ein. weisungsauftrag über acht Millionen
Rainer Kusch, dem Personalchef, kommt Eine Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Mark. Sie soll das Geld auf die Bahamas
das an. Er denkt, dass seine Ideen jetzt Sonderaufgaben (BvS) übernimmt die ver- nach Nassau transferieren. Dieses Mal
gefragt sind. bleibenden Tätigkeiten, vor allem die Kontrolle zieht die Bank mit, sie überweist.
der abgeschlossenen Privatisierungsverträge.
Michael Rottmann lässt Werbeprospek- Staatsanwälte, Kriminalbeamte und
te drucken und seine Führungskräfte neu Die Bilanz der Treuhand Steuerfahnder durchsuchen am 6. Juli Bü-
einkleiden, sie besuchen Seminare für ros und Wohnungen im gesamten Bun-
gute Tischmanieren. Obst kommt auf die • 23 500 Unternehmen wurden bearbeitet desgebiet. Sie beschlagnahmen Tausende
Schreibtische. Rottmann selbst zieht in • 19 500 (Re-) Privatisierungen Akten. Die Meldungen über den „wohl
das Penthouse ganz oben im Gebäude, • Die übrigen Unternehmen wurden auf- größten Betrugsfall der Treuhandanstalt“
er hat eine neue Freundin, 21 Jahre alt, gelöst oder deren Abwicklung beschlossen dringen in die Schweizer Kleinstadt
Studentin und Praktikantin bei der WBB. • Zusätzlich wurden 25000 Geschäfte oder Buchs vor.
Bis März 1992, ein Jahr nach dem Ver- Gaststätten privatisiert und 42 000 Liegen- Vier Tage später stoppen die Schweizer
schaften verkauft
kauf durch die Treuhand, sind aus der WBB Banker einen Auftrag Rottmanns für eine
63 Millionen Mark in das Geflecht aus 17 • Einnahmen: rund 60 Milliarden DM Anlage über 650 000 Mark in US-Dollar.
Firmen geflossen. Zehn Millionen Schwei- • Defizit: 200 Milliarden DM Zehn Tage später stellen sie eine Anzeige
zer Franken wandern weiter auf die Privat- bei der Bezirksanwaltschaft in Zürich we-
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Gesellschaft
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Sahnetruppe
Ortstermin: Die Nationalmannschaft der Bundeswehr-Köche
trainiert für die WM – und zeigt zukunftsweisenden Einsatz.
D
raußen marschieren Wehrpflichti- „In Afghanistan kochen die Truppen werden. Nur ein aggressiver Soldat könn-
ge, drinnen, in einem gutgetarn- mit dem gleichen Teil“, sagt Oliver Seitz. te dem Russen in den Arsch treten, so
ten Flachbau, duftet es nach ge- Nur eben noch kein Soufflé. erzählte man sich. „Ohne Mampf kein
bratenem Rehrücken im Tramezzini- Oliver Seitz trägt eine weiße Kochjacke Kampf“, sagt Michael Zoller.
Mantel. Ein Stabsunteroffizier schnippelt mit schwarz-rot-goldenem Stehkragen. Er Den Russen gibt es ja nicht mehr in
Kräuterseitlinge, ein Hauptgefreiter rührt ist Meister der Zuckerartistik. Er kann seiner damaligen Form. Möglicherweise
im Physalis-Seealgen-Ragout, ein Haupt- aus Zucker kleine Häuser basteln oder dürfen Soldaten auch deshalb Gänseleber
feldwebel schiebt Polenta-Soufflé in den Schützenpanzer. Alle Soldaten in der essen.
Ofen. Es trainiert die Nationalmannschaft Koch-Nationalmannschaft haben so ein Zoller schaut auf die Feldküche und
der Bundeswehr-Köche in der Albkaserne Spezialgebiet. Fleisch, Saucen, Soufflé, auf die schmorenden und soufflierenden
in Stetten am Kalten Markt. Es duftet ein Hauptgefreiter hat sich auf Petit Fours Nationalköche. Er sieht, wie ein Koch
nach Zukunft. spezialisiert. „Wir sind top ausgebildet, eine Kräuterhaube auf ein Kalbsmedail-
500 Meter die Straße runter liegt das flexibel, eins a ausgerüstet, überall ein- lon häufelt und wie Oliver Seitz gedan-
Öl von Bratkartoffeln in der Luft. In der setzbar“, sagt Oliver Seitz. „Und wir sind kenverloren die Chilikirschen einatmet.
Truppenküche der Albkaserne schaufeln alle freiwillig hier.“ Zoller sieht etwas verwirrt aus.
Soldaten ihre tägliche Ra- Es ist schwer vorstellbar,
tion Cordon bleu, Schaschlik- wie deutsche Soldaten in
pfanne, Waldorfsalat. Zwi- Masar-i-Scharif erst Chili-
schen den Tischen steht ein kirschen essen und anschlie-
Mann in Flecktarn, der ei- ßend Taliban jagen. Man
nem Dachs ähnlich sieht. kann sich allerdings gut vor-
Michael Zoller ist 53 Jah- stellen, wie Karl-Theodor
re alt, S4-Stabsoffizier des zu Guttenberg die Truppe
Feldjägerbataillons 452, er in Afghanistan besucht und
ist zuständig für die Logis- dabei ein Polenta-Soufflé
tik seiner Einheit, er habe verspeist.
daher ein natürliches Inter- „Vielleicht ist das ganz
esse an Ernährung, sagt er. gut, dass wir die Soufflé-
Natürlich freue er sich, dass Leute haben“, sagt Zoller
die Nationalmannschaft in schließlich. „Wenn die
seiner Kaserne trainiere. Wehrpflicht fällt, konkur-
Michael Zoller sagt auch: rieren wir mit der Wirt-
FOTOS: MICHAEL TRIPPEL
Die Paarungsfalle
FOTOS: TINKA UND FRANK DIETZ / AG. FOCUS
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Nie gab es in Deutschland so viele Menschen, die auf der Suche sind nach
dem richtigen Mann, der richtigen Frau. Besonders die 30- bis 50-Jährigen scheitern an
zu hohen Erwartungen. Sie verirren sich zwischen Millionen potentieller
Partner – der Kontakthof Internet verschärft das Problem. Auch die SPIEGEL-Redakteure
Claudia Voigt, 44, und Juan Moreno, 38, beide lange Zeit Single,
erleben diesen Überfluss der Möglichkeiten – die Frau anders als der Mann.
Singles in Deutschland
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Titel
Warum braucht eine Frau einen Mann? „Weil dann alles an mir lächelt. Weil ich ein Kind und
eine Familie möchte. Weil ich Angst habe, komisch zu werden, wenn ich zu lange allein
lebe. Weil es zu zweit im Bett viel wärmer ist. Weil ich gefragt werden möchte, wie mein Tag
war. Weil Steuerklasse eins einfach Unsinn ist. Weil Sex schöner ist mit jemandem,
den man liebt. Weil ich schon immer einen wollte. Weil ich nicht allein alt werden möchte.“
So reden Frauen, die einen Mann suchen. Nicht irgendwelche sind, möchten im Verborgenen bleiben, so, als wäre das Al-
Frauen, sondern acht Frauen, die schon länger auf der Suche leinsein ein Makel.
sind, weil sie die richtigen Männer nicht finden oder die falschen Es leben viele Menschen allein in Deutschland. Die Gesamt-
wollen. Sie alle verdienen ihr eigenes Geld. Einige haben sich zahl der Singles lässt sich nicht exakt beziffern, nur einkreisen.
im Job weit nach oben geboxt. Sie können abends allein in In den letzten Jahren wurden jeweils rund 200 000 Ehen geschie-
eine Bar gehen, ohne merkwürdig angesehen zu werden. Sie den, und in fast 40 Prozent aller Haushalte lebt nur eine Person.
können Männern Zettel mit ihrer Telefonnummer zustecken Und diese Zahlen steigen.
und Sex für eine Nacht haben. Sie können Kinder bekommen Die Sporttrainerin gehört zu jenen Frauen, bei denen man auf
und sie allein aufziehen. Sie können sogar Kinder ohne Sex Anhieb denkt, seltsam, dass die allein ist. Verehrer gibt es genü-
bekommen und den Samenspender ihres Babys nie kennen- gend. Vor einiger Zeit hat sie sich die Haare abschneiden lassen,
lernen. Frauen brauchen keine weil sie es leid war, Avancen von
Männer mehr. Theoretisch. Und Männern zu bekommen, denen nur
doch ist der Wunsch geblieben, ihr Äußeres wichtig war. Sie hat ei-
den Richtigen zu finden. Warum nen Sohn, zwölf Jahre alt. Vor eini-
ist das so? gen Jahren gab es mal einen Mann,
Wenn man mit Frauen redet, die von dem sie heute sagt, den hätte sie
auf der Suche sind, hat jede ihre nicht gehen lassen sollen. Damals hat
eigene Geschichte. Aber wenn man sie sich gewünscht, dass dieser Mann
mit acht Frauen redet, die zwischen Verantwortung übernimmt. Ihm war
dreißig und fünfzig Jahre alt sind, das zu viel. Mittlerweile weiß sie,
erfährt man, dass sich das Problem dass es etwas Besonderes war.
bei Frauen in diesem Alter auf ganz Die Rechtsanwältin ist verliebt,
besondere Weise stellt. Es geht da- obwohl zu Hause ein fester Freund
rum, ob der romantische Film vom auf sie wartet. Die Kindergärtnerin
eigenen Leben noch Wirklichkeit hat ihren Mann verlassen nach
werden kann: große Liebe, durch vielen Jahren fast wortloser Ehe.
Höhen und Tiefen, bis ans Lebens- Eine Befreiung in die Einsamkeit.
ende. Und die Kulturmanagerin hat eine
Eine Sporttrainerin ist unter die- Affäre mit einen 16 Jahre jüngeren
sen Frauen und eine Rechtsanwäl- Mann. Sie verbringen hin und wie-
tin, eine Kindergärtnerin und eine der ein paar Tage, ein paar Nächte
ANNE SCHÖNHARTING
Text beschriebenen. Die allermeis- dass er verheiratet sei. Ihre Zukunft sieht sie nicht
ten von denen, die auf der Suche an seiner Seite.
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„Ich lösche mein Postfach für dich“
Der endlose Weg zur richtigen Frau. Von Juan Moreno
Warum braucht ein Mann eine Frau? „Weil Frauen so gut riechen. Weil ich für jemanden da sein will.
Weil mein Badezimmerschrank leer ist. Weil Youporn auf Dauer keine Lösung ist. Weil mich die
Ruhe im Leben nervt. Weil man nur eine Frau mit dem Überbrücken einer Batterie beeindrucken kann.
Weil ich einen Sohn möchte. Weil ich seit Jahren ein Doppelbett beziehe. Weil meine Wohnung
wie eine Ausnüchterungszelle eingerichtet ist. Weil doch nur das der Sinn des Lebens sein kann.“
So reden Männer, die eine Frau suchen. Einer davon ist 36 ich keines. Sie zweifeln alle so sehr wie ich, jeder für sich, nur
Jahre alt, Rechtsanwalt, blond, schlank, seine Anzüge sind nicht eben in einer Beziehung.“ Seine Mandanten sind Versiche-
billig. Er überlegt, ob er die Rezeptionistin in seiner Kanzlei rungskonzerne. Die Arbeit macht ihm Spaß. Er findet, das sei ein
ansprechen soll. Sie hat eine gute Figur, ist freundlich, lächelt gutes Zeichen. Wer Schönheit im trockenen deutschen Gesell-
nett. Kürzlich hat sie auf einem Zettel „recherchiren“ geschrie- schaftsrecht entdeckt, dürfte grundsätzlich zur Liebe fähig sein,
ben. Seitdem fragt er sich, ob er mit einer Frau mit Recht- findet er. Er will erst mal nichts ändern. Nein, er braucht keine
schreibschwäche zusammen sein könnte. Er lacht viel, dreht Frau in seinem Leben. Er möchte eine, das ist ein Unterschied.
den Kopf etwas, wenn er zuhört, schaut einem in die Augen.
Ein netter Kerl, der viel Geld verdient und im Leben immer Was ist schlimm am Alleinsein? „Bis zu meinem 35. Lebensjahr
die Abzweigung nach oben genommen hat. Frauen mögen das. nichts, ab meinem 50. fast alles. Silvester. Gespräche mit Mutter.
Er hätte gern eine Freundin, später Einzelzimmerzuschlag. Urlaubs-
Familie, Kinder. Er sitzt in einem planung. Diese verdammte Kälte.
Café in der Aachener Straße in Dass ich im Internet nach einer
Köln, seit vier Jahren ist er Single. Frau suchen muss. Dass ich stän-
Vermutlich sind er und die dig erklären muss, warum ich
Rezeptionistin sehr verschieden, allein bin. Dass ich die Witze mei-
glaubt er. So ein fehlendes „e“ ist ner Kumpel nicht mehr hören
wichtig, findet der Anwalt. Er mag kann. Dass ich zynisch werde.
Ausstellungen, Reisen, Restau- Dass ich allein nie erwachsen
rants, Hamburg, und sie schreibt werde.“
„recherchiren“. Das „e“ steht für
den Unterschied, es wäre ein Kom- Kaum etwas trennt Single-Män-
promiss, den er eingehen müsste, ner und Single-Frauen zwischen
ein erstes ungutes Gefühl. Er mag 30 und 50 so sehr wie der Druck.
sich gar nicht vorstellen, wie sie Frauen spüren ihn, Männer nicht.
Rhythmus buchstabiert. Männer haben keine biologische
„Ich arbeite nicht aktiv an der Uhr. Sie können auch mit 55 noch
Abschaffung des Zustands“, sagt Vater werden, sie können sogar als
er. „Meine Eltern machen mir Greis noch Papa werden. Mag sein,
keinen Druck. Meine Schwester dass sie dann zu schwach sind, um
hat Kinder. Ich bin aus der Schuss- ihr Kind im Arm zu halten, aber
ANNE SCHÖNHARTING
linie. Ich bleibe wohl erst mal es ist eine Möglichkeit. Ist doch
Single.“ nicht ihr Problem, wenn die Natur
Auf Hochzeiten hat er sich an- den Frauen die Fruchtbarkeit
gewöhnt, mit den Brauteltern zu nimmt. Das sind die Kompromiss-
sprechen. Die sind meist dankbar, losen, die Sturen, die Bindungs-
weil sich sonst niemand für sie in- ARNE SIGMUND unfähigen, die nie erwachsen wer-
teressiert. Silvester, kurz nach Mit- 40, Politologe den wollen, sagen die Frauen. Wir
ternacht, wenn die Paare sich küs- sind die Ehrlichen, weil wir, anders
sen, geht er meist spazieren. Er Irgendwie hatte ich in der letzten Zeit einfach Pech mit als Joschka Fischer, nicht fünfmal
kommt klar. den Frauen, in die ich mich verliebt habe. Es hat nie so die ewige Liebe versprechen. Wir
„Ich frage mich manchmal: richtig gepasst. Meine letzte langjährige Beziehung ist im sind die wahren Romantiker. Wir
,Kennst du ein Paar, mit dem du Jahr 2004 zu Ende gegangen. Sie scheiterte daran, dass warten. Besser allein als in schlech-
tauschen möchtest?‘“ Inzwischen wir uns auseinandergelebt hatten. Ich bin nun also, mit ter Begleitung.
hat er ein drittes Kölsch bestellt. zwei kurzen Unterbrechungen, seit sechs Jahren Single. Deutschland ist voll von Men-
Er muss nicht viel nachdenken, er Mein letztes Date war im März. Ich mag Frauen mit einer schen, die noch warten. Psycho-
hat schon oft über dieses Thema Kombination aus Intelligenz, Ausstrahlung, Charme und logen sagen, dass es nur schwie-
nachgedacht. Es ist das große faszinierenden Augen. Bei meinem letzten Date hat es rige Fälle gibt, kaum hoffnungs-
Thema der Singles. „Ein glückli- leider nicht „klick“ gemacht. Schade eigentlich, ich mag lose.
ches Paar“, sagt der Anwalt, „ich zwar die Freiheit, mir meine Zeit selbst einteilen zu Nach einer Studie einer
§
meine, ein richtig glückliches? können, aber darauf kann ich auch gern verzichten. Partneragentur sind in Mün-
Wenn ich genau hinschaue, sehe chen 28,8 Prozent der 18- bis
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Titel
Welche Erkenntnis ist wichtig für die Liebe? „Man muss immer ben zu finden, und den vielen Wahlmöglichkeiten, die vor
auf einige Träume verzichten. Verlieben ist wunderschön, aber allem berufstätige Frauen schon ohne Internet haben, verfallen
erst, wenn das wieder abflaut, weiß man, ob man zueinander viele in eine Unfähigkeit, sich überhaupt noch für jemanden
passt. Vor einer Schwangerschaft sollte man gemeinsam über zu entscheiden.
das Leben nach der Schwangerschaft reden. Der richtige Mann Vielleicht sitzt der traumhaftere Traummann ja morgen auf
kann furchtbar langweilig sein. Eine Trennung niemals zu dem Flug nach Frankfurt neben mir, vielleicht werde ich
schnell beschließen. Eine Trennung niemals zu lange hin- wunschlos glücklich mit dem IT-Manager, 83 Matchingpoints,
ausschieben. Nicht jedes Paar ist zu beneiden. Reden und Sex aus Berlin, der gern ins Theater geht. Das Suchen findet kein
sind wichtig, es geht nicht ohne das eine und auch nicht ohne Ende. Und das Netz multipliziert diese Not. Der ambivalente
das andere. Man kann nichts erzwingen.“ Wunsch nach Bindung und Autonomie gleichermaßen
droht uns zu zerreißen.
Fünf Millionen Deutsche beteiligen sich nach einer Außerdem verändert das Internet die Art, wie Frauen
Online-Studie von ARD und ZDF an der Partnersuche und Männer sich kennenlernen. Das Bauchgefühl
im Internet. Jeder 16. Deutsche, Greise und Kinder bekommt erst spät seine Chance. Bevor man den
mit eingerechnet, sucht demnach im Netz eine Frau anderen einfach mal trifft, mailt und mailt und mailt
oder einen Mann. Und so eine Partnersuche ist keine man, irgendwann ein Telefonat. „Man bastelt sich ein
Kleinigkeit. Die seriöseren Anbieter verlangen rund Phantom zusammen und ist dann enttäuscht, wenn das
50 Euro Gebühren im Monat, die Suchende muss einen um- Gegenüber diesem Phantombild nicht entspricht“, sagt Cla-
fangreichen Psychotest absolvieren, sie muss drei Statements sen-Holzberg. Hat man sich endlich zum Spaziergang an der
über sich verfassen, die möglichst pointiert sein sollen, von Elbe oder im Englischen Garten verabredet, begegnen sich
Sätzen wie „ich bin eine zärtliche Frau“ rät das Computersys- beide als potentielle Partner, legen sich bald innerlich auf
tem der Agentur gleich mal ab. Zu langweilig. Sie muss ihre ein Ja oder auf ein Nein fest. Es gibt keine Zeit, sich Zeit zu
Interessen angeben, ihren Wohnort, ihren Beruf, sie kann auch lassen.
Größe und Gewicht nennen. Als Frau, nur als Frau, kann man Oder die Gefühle füreinander bleiben bewusst in der Schwe-
sich entscheiden, in welcher Gehaltsgruppe der zukünftige be, weil mehrere Flirts gleichzeitig laufen. Früher oder spä-
Mann liegen soll und ob er besser ter fühlt sich das alles schal an.
Akademiker wäre. Und es setzt eine große Verwir-
Dann arbeitet das Computer- rung über das Verliebtsein ein.
programm. Die Frage, ob jemand Viele Frauen berichten, dass sie
ein nettes Lächeln hat, bleibt dabei über Internetdates das Gefühl
unberücksichtigt. Der eigene Psy- für dieses Gefühl verloren hät-
chotest, die eigenen Angaben und ten.
Wünsche werden mit den Psycho- Eine Studie der Uni Bamberg,
tests, Angaben und Wünschen al- für die der anonyme Datensatz
ler Männer im System kombiniert. einer Online-Partnerbörse ausge-
Das Ergebnis ist eine Liste von wertet wurde, kommt zu dem Er-
Männern, sortiert nach Matching- gebnis, dass Frauen sich nach oben
points – das Zauberwort der pro- orientieren bei der Partnerwahl.
grammierten Partnersuche. Wenn Da kann noch so oft der Ratschlag
man dem Computersystem ver- vorgebracht werden, sich als Aka-
traut, sind 100 Matchingpoints eine demikerin mit Kinderwunsch doch
märchenhafte Angelegenheit, wie mal unter den Arbeitslosen um-
ein Versprechen auf „... und sie zusehen, weil auch die besonders
lebten glücklich bis ans Ende ihrer häufig allein leben.
Tage“. Studien, die von den Inter-
netbörsen selbst in Auftrag gege- Akademikerinnen wollen in der
ANNE SCHÖNHARTING
Hin- und hergerissen zwischen von einem Partner. Fürsorge und beruflichen
dem Anspruch, den Mann fürs Le- Erfolg, Leidenschaft, Empa-
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59-Jährigen Singles – nicht Einzelhaushalte, nicht alte Omis, wanderungsbestimmungen studiert. Ein Möglichkeiten-Para-
nein, Singles. In Berlin 28,6 Prozent. In Köln 25,9 Prozent. In dies. Der Terror der Möglichkeiten.
Hamburg 25,4 Prozent. In Frankfurt am Main 24,8 Prozent. Für die Liebe bedeutet das: Früher suchte man sich eine gute
Partie, heute sucht man die beste Partie. Es ist nicht einfacher
Aus Studien ergibt sich ein ziemlich klares Bild des Durch- geworden.
schnitts-Single in den deutschen Großstädten. Eher männlich,
mittleres Alter, überdurchschnittliche Ausbildung, überdurch- Wie sollte eine Frau sein? „Wie Salma Hayek. Wie Barbara
schnittliches Einkommen, politisch ein bisschen links, sportlich, Schöneberger. Wie Gina Wild. Nicht wie Ursula von der Leyen.
viel Wohnraum, gern drei Zimmer, auch wenn eines nur zum Sollte gut im Bett sein, will heißen, sie gibt mir das Gefühl,
Bügeln genutzt wird. dass ihr Sex mit mir gefällt. Sollte Kinder wollen. Sollte
Das große Thema der Singles ist die Liebe – warum keine Kinder haben. Viel lachen, wenig shoppen. Sollte
sie scheitert. Soziologen sprechen von einer „Begrün- ihrer besten Freundin nicht alles erzählen. Sollte ihren
dungspflicht“. Niemand fragt einen Familienvater, war- Vater mögen. Sollte sich anlehnen. Meine Kumpels
um er Vater geworden ist. Ein Single muss erklären, sollten mich ihretwegen beneiden. Sie sollte einfach
warum er Single ist. Was ist schiefgegangen? da sein. Immer da.“
Womöglich ist die Erklärung ganz einfach, womöglich
war die Liebe in den letzten Jahren einfach zu erfolgreich. In einem kleinen Restaurant am Roecklplatz in München
Wenn die letzte Generation eines hervorgebracht hat, dann sitzt ein Mann von 50 Jahren, seit zwölf Jahren ist er Single. Er
den Siegeszug der Liebe. Man darf sich heute die Liebe und ist Informatiker, hat einen kleinen Hund, und man könnte
somit automatisch das Leben aussuchen, das einem gefällt. Die sagen, er hat aufgegeben. Er hat sich eingerichtet. Er hat Freun-
Liebe liegt da wie ein Mittagsbuffet, man kann sich herausneh- de, sagt er, sein Netzwerk funktioniert. Er war mal in eine Frau
men, was man will. All you can eat. verliebt, eine Amerikanerin, die eine Weile in München gelebt
Eine der schönsten deutschen TV-Moderatorinnen ist les- hat. Sie war klug, schwierig, kompliziert und hinreißend. Ir-
bisch, ein bekannter Fußballschiedsrichter hat gestanden, bi- gendwann verließ sie ihn und ging zurück in die USA. Diese
sexuell zu sein, der Außenminister ist schwul, die Kanzlerin Frau ist nicht mehr nur die erste große Liebe, sie ist die einzige
kinderlos, der Ex-Kanzler mehr- große Liebe. Alle anderen Frauen
mals geschieden. Monogam, kin- müssen sich an ihr messen. „Ich
derlos, alleinerziehend, hetero- bin ihr mehrmals in die USA ge-
sexuell, geschieden, schwul, wilde folgt. Sie hat mittlerweile geheira-
Ehe oder eben Single. Privatsache, tet. Ich sollte sie vergessen.“ Tut
sehr richtig. Romeo und Julia, Py- er aber nicht. Sie ist die Blaupause,
ramus und Thisbe, Tristan und das Ideal. Drunter macht er es
Isolde, diese Paare wären heute nicht.
zusammen. Wer sollte sie stoppen? „Ich werde anspruchsvoller mit
Nicht mehr die Kirche, die Kon- der Zeit“, sagt der Informatiker,
ventionen, die Eltern entscheiden, und er ist nicht bereit, seine An-
wen man lieben kann, sondern sprüche zu senken. Macht er im
einzig das Streben nach Glück, Beruf auch nicht. Er ist gut im Job,
Erfüllung, Liebe. Nur die Liebe er mag gutes Essen, er wohnt in
zählt. seinem Lieblingskiez in München.
Männer wie der Rechtsanwalt „Warum sollte ich beim wichtigs-
aus Köln kommen zurecht. Sie ten Menschen im Leben Kompro-
sind latent unzufrieden, aber nicht misse machen?“
so, dass sie dringend eine Partne- Vielleicht, weil das Leben ir-
rin suchen. Die Freiheit in ihrem gendwann vorbei ist?
Leben, die Möglichkeiten, die ge- „In Sachen Beziehung verhalten
ANNE SCHÖNHARTING
fallen ihnen. Alles schwebt. Sie sich viele Singles wie Hijacker,
sind offen für Veränderungen, für Flugzeugentführer“, sagt Arnold
spontane Entscheidungen. Ein Op- Retzer. Er ist seit 30 Jahren Psy-
tionsleben, bekenntnisfrei. Leben chotherapeut. Im August 2009 ist
als Möglichkeitswahrung, nicht als sein Buch erschienen, „Lob der
Folge von Entscheidungen. ANDRE SCHARPING Vernunftehe“. Retzer hat ein schö-
41, Wissenschaftler nes, couchfreies Büro in Heidel-
Wie viele Gespräche drehen sich berg. Er mag bequeme Schuhe,
in deutschen Großstädten darum, Meine letzte Beziehung ist an der Distanz zerbrochen. Ich trägt einen grauen Bart und redet
ob man in München, Berlin, Ham- war hier in Berlin, sie 600 Kilometer entfernt im Schwaben- genau so, wie man sich einen The-
burg, Köln leben soll? Oder doch land. Da hätte ich nicht hinziehen können, denn die schwä- rapeuten vorstellt. Ruhig und be-
Mallorca, New York? Es wird bische Idylle ist nichts für mich. Ich wäre sicher eingegan- sonnen. Jeden Tag sitzt er Men-
ernsthaft erwogen. Wie viele Men- gen wie eine Primel. Nun bin ich seit gut einem Jahr Single. schen gegenüber, die über ihre Be-
schen fragen sich, ob ihr Job der Mir gefällt daran die zwanglose Unabhängigkeit. Ich bin viel ziehungen reden. Warum scheitert
richtige ist? Wie vielen Menschen unterwegs und kann mich spontan verabreden. Aber sie, wie kann man sie retten, war-
werden die Alpen fürs Skifahren Beziehungen haben natürlich Vorteile. Die jungen Mütter um habe ich keine?
zu klein, sie träumen von Kanada, und Väter in meinem Freundeskreis strahlen eine ganz
Aspen vielleicht, dem Ural. Hat besondere Zufriedenheit aus, für die ich sie bewundere. Die Hijacker lieben das Auf und
Iran nicht ein Skigebiet? Alles ist Ich hätte auch gern Kinder, vielleicht bald schon, wenn es Ab, die Abwechslung, das Ver-
möglich. Wie viele Menschen träu- passt. Ich hatte vor ein paar Wochen ein Date, aber so liebtsein, dieses Hochgefühl, das
men vom Neustart? Weltreisen richtig „boom“ hat es nicht gleich gemacht. Vielleicht läuft Prickelnde, das pure Glück.
§
werden gemacht, Zweitstudien be- es eher auf eine gute Freundschaft hinaus. Eine Beziehung in Reise-
gonnen, Partner verlassen, Ein- flughöhe langweilt schnell,
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 81
Titel
thie und Partnerschaftlichkeit vereinen, bei Männern kommt len in eine Art Dauersuche, weil wir unsere Überforderung struk-
das kaum vor. turieren wollen durch die Hoffnung, es könnte ein noch passende-
rer Partner um die Ecke kommen. Ein Terror der Möglichkeiten.
Und deshalb lohnt sich die Frage, ob man auf eines jener Und wenn es doch gelingt, sich auf den einen Menschen fest-
raren Exemplare warten möchte oder vielleicht doch bereit zulegen, erschwert die Steinzeit in unseren Genen eine lange
ist, auf die Blumen zu verzichten. Es lohnt auch die Frage, Partnerschaft. Vor allem in der Mitte des Lebens kommen wir
warum viele Frauen so anspruchsvoll sind. Den größten Teil ins Schleudern, erklärt Paul, weil wir darauf programmiert sind,
dessen, was vielleicht möglich wäre, sortieren sie von vorn- den perfekten Partner für die Fortpflanzung zu finden. Aber
herein aus. Auch Clasen-Holzberg plädiert dafür, sich nicht anders als in der Steinzeit sterben wir nicht mehr mit Mitte
auf die Suche nach dem Supermann für das ganze Leben vierzig, sondern werden siebzig, achtzig Jahre alt, und so
zu begeben und dabei allein zu bleiben. Besser wäre stehen wir, wenn die Kinder aus dem Haus sind, ratlos
es, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass eine vor dem Vater dieser Kinder und fragen uns, was wir
Partnerschaft auch Kompromisse und Konflikte be- die nächsten dreißig Jahre mit dem anfangen sollen.
deutet. Und dass sie einen auch dann glücklich ma- „Wir haben kein genetisches Programm für die Part-
chen kann, wenn sie am Ende nur acht oder zehn Jahre nerwahl in der zweiten Lebenshälfte“, sagt Sabine Paul.
gedauert hat. Das muss ja nicht unbedingt eine schlechte Nachricht
sein. Man kann noch mal nachdenken, ob es wirklich der
Was ist schlimm am Alleinsein? „Weihnachten. Das Aufwachen Kerl mit der miesen Laune sein soll, und bleibt nicht der Spiel-
am Geburtstag. Dass die Wohnung abends beim Nachhause- ball des eigenen Fortpflanzungstriebs.
kommen noch genauso aussieht wie am Morgen. Dass ich viel-
leicht keine Kinder bekommen werde. Das Gefühl: Mich liebt Schwierig ist das für jene, die eine goldene Hochzeit erleben
keiner, und ich liebe niemanden. Hochzeitsfeste, die Scham möchten. Die brauchen so eine Art Superpartner. Manche fin-
darüber, keinen abbekommen zu den den auch. Nur hat die Roman-
haben. Auf Reisen allein essen zu tik in Verbindung mit dem Bieder-
gehen. Dass mich niemand in den sinn der fünfziger Jahre uns das
Arm nimmt, wenn es mir schlecht- Ideal der Liebe fürs Leben be-
geht. Dass die Zahnpastatube im- schert. Und davon träumen wir
mer ordentlich zugeschraubt ist.“ nun. Aber auch wenn es schön
wäre: Die Liebe fürs Leben bleibt
„Wir sind genetisch auf zwei Din- eine Ausnahme. Noch ein Satz
ge programmiert“, sagt die Evolu- zum Unterstreichen.
tionsbiologin Sabine Paul, „auf op- Diese Tatsache wird die Gesell-
timales Wohlergehen und auf opti- schaft in Zukunft noch stärker
male Fortpflanzung.“ Paul ist eine verändern, uns noch mehr Patch-
ruhige Frau mit sanfter Stimme, ihr work-Familien und höhere Schei-
elfenhaftes Aussehen passt nicht zu dungsraten bescheren. Anders als
ihren ernüchternden Thesen. Sie ist die Generation der Großmütter
eine der Autoren des Buchs „Der bekommen Frauen nicht mehr le-
Darwin-Code – Die Evolution er- benslänglich für eine unglückliche
klärt unser Leben“. Was die Aus- Ehe. Zum Glück. Wir treffen viele
JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS
nen uns nur noch schwer für einen brauche keinen „Bild“-Zeitungs-Leser und Fußballgucker. Deutschland. „Frauen den-
Einzelnen entscheiden und verfal- ken ihr Leben oft von hin-
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man spürt nicht mehr das Maximale, nur noch das Erreichte. unsere Firma herstellt, ist nicht perfekt, es ist gut genug. Wer
Nach einer Weile mit Retzer hat man den Eindruck, dass er erklärt das Josef Ackermann? Du bist nicht perfekt für mich,
viele Single-Männer gern am Kragen packen möchte, um ihnen du bist aber gut genug? Wer erklärt das seiner Frau?
zu sagen: „Stellt euch verdammt noch mal nicht so an. Hört Zufriedenheit, sich begnügen, das hat für viele eben doch
auf, da kommt nichts mehr. Niemand Besseres mehr da, nur was mit Aufgeben zu tun. Aber wenn unsere Zeit etwas pro-
anders, einzigartig, was bedeutet, dass ihr sie euch nicht vor- pagiert, dann doch, dass alles möglich ist. Warum sich mit we-
stellen könnt.“ Retzer macht das nicht. Er ist Therapeut, er hat niger zufriedengeben? Vielleicht ist es nur konsequent, dass
Verständnis, berufsbedingt. ein Mann, der immer versucht, das Beste aus allem herauszu-
Das lateinische Wort Fortuna hat es ihm angetan. „Es heißt holen, der wie geschaffen ist für unsere Zeit, unser Denken,
Glück, es bedeutet aber auch Zufall“, sagt Retzer. Ein unsere Gesellschaft, dass dieser Mann Single ist. Warum
schönes Wort, weil es den Glauben an das zerstört, was sollte sich jemand, der seine rund 80 Jahre auf der Welt
er „autonome Totalverantwortlichkeit“ nennt. Der maximieren will, mit einer Frau zufriedengeben, die
Glaube unserer Zeit. Die Leute denken, sie hätten die „recherchiren“ schreibt, zumal es keinen gesellschaft-
Liebe und somit das Leben in der Hand, darum dieses lichen, biologischen oder finanziellen Druck gibt, diese
ständige Verlangen, sich Möglichkeiten offenzuhalten. Situation zu ändern?
Man ist seines Glückes Schmied, in Grenzen sicherlich,
aber ganz grundsätzlich, als Lebensentwurf? Als Maxime? Was stört Männer an Frauen? „Ihr Wunsch, den Mann zu
„Man ist ja heute umgeben von Glücksratgebern“, sagt Retzer, verbessern. Ihre viel zu hohen Erwartungen. Ihre Stutenbis-
„dabei vergessen die Menschen, dass Glück und Gesundheit sigkeit gegenüber jüngeren Frauen. Die Idiotie, Sex als Beweis
ein gemeinsames, wesentliches Merkmal haben: Man merkt für Liebe zu nehmen. Dass so gut wie alle kinderlosen Frauen
nicht, wenn man es hat.“ zwischen 35 und 40 panisch-verzweifelt und somit oft unzu-
rechnungsfähig sind. Ihre Forderung nach eigener Emanzipa-
Kürzlich hat Elite-Partner, eine tion, kombiniert mit dem brennen-
Hamburger Internet-Partneragen- den Interesse für den Kontostand
tur, rund 10 000 Singles gefragt, oder zumindest die Berufsaussich-
warum sie keinen Partner finden. ten des eigenen Mannes. Ihre Be-
Häufigste Antwort: Ich bin zu an- ziehung als Teil der eigenen Selbst-
spruchsvoll. verwirklichung zu sehen.“
Streben nach Glück, die Verant-
wortlichkeit für das eigene Glück, In einem marokkanischen Café
für die Liebe. US-Amerikaner ha- in Berlin-Kreuzberg, nicht weit
ben das Glücksstreben sogar von seiner Wohnung, bestellt sich
schriftlich. Jedes Schulkind kennt ein Mann, der als Sprecher für
den Satz aus der Unabhängigkeits- Werbefilme arbeitet, einen Tee
erklärung, in der steht: „The Pur- und sagt, ihn störe rein gar nichts
suit of Happiness“, das Streben an Frauen. Er mag sie sehr. So
nach Glück. Glück als Staatsziel. sehr, dass er nicht sagen könnte,
In den USA wird fast jede zweite mit wie vielen er im letzten Jahr
Ehe geschieden. geschlafen hat. Er hat in manchen
„Man wird mit dieser Maximie- Wochen drei, vier Dates. Nicht
rungshaltung paranoid sensibili- immer geht er mit ihnen ins Bett,
siert für kleine Unterschiede, für aber doch ab und zu. Er sagt von
Abweichungen. Wir fühlen uns sich, er sei ein „altgedienter Single
dem Glück verantwortlich, das ohne Beziehungsroutine“. Seine
heißt, wenn wir es nicht erreichen, Stimme klingt wie die eines besof-
ANNE SCHÖNHARTING
sind wir auch noch schuld, was fenen Matrosen. Satt, kräftig, ein-
wiederum dazu führt, dass man fach unglaublich. Es ist egal, was
diesem Glück noch stärker hinter- er sagt, es hört sich phantastisch
herjagt.“ Dieser Ich-AG-Gedanke an. Er ist dunkelblond, große Hän-
sei bei Männern stärker vorhanden de, er mag schwarze, taillierte
als bei Frauen, sagt Retzer. Nähe MICHAEL KREY Hemden, ein auffallend attraktiver
hat immer mit der Einbuße von 37, Raumausstattermeister Mann. Seit es das Internet gibt, ge-
Freiheit zu tun. hen die Chancen gegen null, dass
Psychologen sagen, dass die Lö- Ich möchte unbedingt Kinder haben. Das ist mir das er jemals wieder eine normale Be-
sung des Problems darin liege, eine Wichtigste im ganzen Leben. Ich hätte auch kein Problem ziehung führt.
Entscheidung zu treffen, die „gut damit, wenn meine neue Partnerin schon Kinder hätte. „Ich habe das Gefühl, dass das
genug“ sei. Nicht perfekt. Barry Ganz ehrlich, ich mag es nicht besonders, Single zu sein. Internet als Ort für die Partner-
Schwartz, ein Professor für Sozial- Klar, es hat auch Vorteile, man kann tun und lassen, was suche immer mehr akzeptiert
theorie aus Pennsylvania, ist davon man will. Aber eigentlich hat man in einer guten Bezie- wird“, sagt er. „Es ist unglaublich,
überzeugt, dass die Menschen in hung ja auch Freiräume. Ich lebe mittlerweile seit April wie viele interessante Frauen da
einer Welt voller Wahlmöglichkei- 2008 allein, obwohl: Allein war ich wohl schon vorher. Es immer wieder nachkommen. Da-
ten zufriedener und stressfreier war damals keine sofortige Trennung, sondern ein schlei- bei ist das Tempo, mit dem man
wären, wenn sie mit „gut genug“ chender Prozess. Ich kannte meine Ex-Frau 16 Jahre, Frauen kennenlernt, verblüffend.“
leben könnten. Irgendwie nach- 12 davon waren wir fest zusammen. Aber irgendwann
vollziehbar, gleichzeitig etwas war der Alltag eingezogen in unsere Beziehung, wir Das Angebot ist sein Problem.
weltfremd. Mein Engagement im haben uns keine Mühe mehr gegeben. Letztendlich habe Wieder die Möglichkeiten, diesmal
Beruf ist nicht maximal, nur gut ich den Fehler begangen, meiner Ex-Frau alles recht zu im Internet. Im Netz wird
§
genug. Wer erklärt das einem Mo- machen, denke ich. die Partnersuche gewisser-
tivationstrainer? Das Produkt, das maßen industrialisiert. Noch
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Titel
ten“, sagt Allmendinger, „sie fragen sich: ‚Wie will ich mit sech- Und wie reagieren die Frauen? Sehr pragmatisch. Im Zweifel
zig dastehen?‘ Und daraus leiten sie ihre Vorstellungen ab.“ entscheiden sich manche erst mal für Karriere und Kinder, not-
Für die Studie „Frauen auf dem Sprung“ haben Allmendinger falls ohne Mann, denn für ein Baby und für einen Berufseinstieg
und ihre Mitarbeiter vom Berliner Wissenschaftszentrum für ist man irgendwann einfach zu alt. Den Mann kann man theo-
Sozialforschung im Jahr 2007 Frauen und Männer zwischen 17 retisch immer noch treffen. Theoretisch. Denn den Männern
und 19 und zwischen 27 und 31 ausführlich zu ihren Lebens- ist ja das Aussehen so wichtig, und Alter und Aussehen bilden
vorstellungen befragt. Im Frühjahr vergangenen Jahres wurde auch nicht unbedingt ein Traumpaar.
die Studie unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise aktualisiert. „Das alles macht die Partnerwahl ungeheuer schwierig“, sagt
Allmendinger trägt ein Kostüm, auf Figur geschnitten, nicht Allmendinger. Das macht einen dann kurz mal sprachlos. So
das, was man unter zeitlos versteht. In einer Ecke ihres schrecklich recht hat sie. Aber, so regt sich ein leiser Wi-
Büros stapeln sich Yogamatten. Drei Minuten höfliches derspruch, es gibt doch Paare. Glückliche sogar. Manche
Geplänkel, dann kommt sie zum Thema. von ihnen haben Kinder. Einige sogar Sex. Und auch
Partnerschaft und Familiengründung lassen sich für Festanstellungen.
Frauen in Deutschland noch immer schwer mit einer Be- Am Ende ist es vielleicht ganz einfach: Man muss
rufstätigkeit vereinbaren, diese Erkenntnis überragt alle sich nur verlieben. Trotz des Terrors der Möglichkeiten,
anderen. Nur ist es den Frauen mittlerweile so wichtig, ganz ohne Rücksicht auf Matchingpoints, Speeddating und
nach ihrer qualifizierten Ausbildung einen interessanten Ar- die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie. Einfach nur so?
beitsplatz zu finden, dass nur 25 Prozent der Frauen zugunsten Das Erstaunliche ist ja, dass sich an den Gefühlen und
der Partnerschaft auf einen beruflichen Aufstieg verzichten würden. Wünschen vieler Frauen seit Generationen nichts geändert
hat. Die Welt um sie herum ist eine andere geworden, die
Viele haben ihre Mütter vor Augen, die nach 20 Jahren als Haus- Biografien von Frauen und Männern haben sich angeglichen,
frau, Schularbeitenhilfe und Köchin von ihren Männern ver- und Frauen sind anspruchsvoller geworden. Ihre Beziehungen
lassen wurden. Im Alter stehen sie ohne Partner da, oft ohne und Ehen sollen aber nach wie vor romantisch oder zumin-
sinnvolle Beschäftigung und genügend Geld. Das neue Schei- dest äußerlich so sortiert sein wie in präfeministischen Zeiten.
dungsgesetz verschärft diese Situa- Da passt etwas nicht mehr zu-
tion. sammen.
Ihre Töchter sind die Umbruch- Die Emanzipation hat den Frau-
generation, geprägt von den an- en eine große Unabhängigkeit be-
steigenden Scheidungsraten in schert. Und das Alleinsein. Kaum
ihrer Kindheit und darauf ange- eine Frau empfindet das als Errun-
wiesen, Ideen zu entwickeln, wie genschaft, im Gegenteil, viele
man sonst noch leben kann, wenn schämen sich dafür. Das geht ein-
das Ein-Verdiener-Kleinfamilien- her mit einer gesellschaftlichen
Modell nicht funktioniert. Auch Wahrnehmung, die in den fünfzi-
deshalb herrscht viel Verwirrung ger Jahren steckengeblieben ist:
darüber, welcher Mann der Rich- Alleinstehende Männer werden
tige sein könnte. Denn obwohl den um ihre Ungebundenheit benei-
Frauen ihre berufliche Karriere det; alleinstehende Frauen haben
wichtig ist (fast 90 Prozent streben keinen abgekriegt, sind bemitlei-
nach einem „möglichst selbstbe- denswerte Geschöpfe, garantiert
stimmten“ Leben), steht eine feste wahnsinnig kompliziert. Wäre
Partnerschaft noch immer ganz ganz schön, wenn sich daran etwas
oben auf der Liste der Wünsche. ändern könnte.
Frauen wollen die große Liebe, Vielleicht ist es ein noch fehlen-
Familie und Erfolg im Beruf. Das der Schritt zur Emanzipation, das
ANNE SCHÖNHARTING
bessuche weckt, ist falsch. Ich ma- Erwachsener sein als die eigenen
che es den Frauen leicht, mit mir Eltern.
in Kontakt zu treten“, sagt der Dann muss der Sprecher los. Er
Werbefilmsprecher. wird nach Hause gehen, im Inter-
Heute Abend wird er mit einer net die neuen E-Mails checken,
24-Jährigen zu einer Restaurant- MARCO BITTNER sich dann für sein Date fertig-
eröffnung in Mitte fahren. Er ist 41, Eventmanager machen.
38. Er hat sich auch schon mit äl-
teren Frauen getroffen, die sich auf Meine Freude über die Freiheiten des Single-Daseins war „Ich bin dankbar für mein Leben,
ihrem Profil ein paar Jahre jünger bei mir nach ein paar Monaten verschwunden. So richtig aber natürlich warte auch ich auf
gemacht hatten. Die Gespräche gemerkt habe ich es beim ersten Kaffee allein in der Sonne die Frau, für die ich mein Postfach
wiederholen sich. Meist geht es und bei der Urlaubsplanung. Da hat sie sich gemeldet, die lösche.“
darum, warum man sucht, wie lan- Sehnsucht nach Mrs. Right. Ich suche in meiner Partnerin Es ist vielleicht der ultimative
ge man sucht, wie oft man das die Ergänzung zu meiner Person, zu meinen Sehnsüchten, Satz. In einer Zeit, in der in Sa-
schon gemacht hat. Er ist klug zu meinem Beruf. Und das trotz oder gerade wegen der An- chen Liebe alles durcheinanderge-
genug, nicht zu viel zu reden, er sprüche und Macken, die im Alter immer mehr werden. Mei- kommen ist. In der die Menschen
hört viel zu, gibt der Frau das Ge- ne letzte Beziehung ist an den 120 Kilometern gescheitert, noch nicht so weit sind wie die
fühl, dass er sie ernst nimmt, tut die uns getrennt haben, und am Vertrauen. Ich bin als Möglichkeiten.
er vielleicht sogar in dem Moment. Eventmanager viel unterwegs, und da ist es unabdingbar, „Ich lösche für dich mein Post-
Er macht das seit Jahren und ist dass man sich vertraut. Zurzeit knüpfe ich Kontakte meist fach.“
sehr routiniert. Er kann die Frauen online, um flexibel neue Menschen außerhalb meines Das Bekenntnis des modernen
lesen, er erkennt Muster, er passt beruflichen Umfelds kennenzulernen. Mein letztes Date hat- Mannes.
sich an. Viele Frauen, mit denen te ich vor einigen Tagen. Mal sehen, was daraus wird. Früher hätte er gesagt: „Ich liebe
er sich trifft, suchen einen Vater. dich.“
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 85
Titel
BEZIEHUNGEN FRAUEN
33,0 MERKMALE EINER GUTEN BEZIEHUNG
„Eine Beziehung wird dann als gut bezeichnet …“
JA, 28,5 … wenn es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt .... 97 ...93
ICH WILL 30,0 … wenn man gemeinsame Zukunftspläne hat ..........................................95 ... 91
MÄNNER
Durchschnittliches … wenn man mit dem Partner alt werden will ........................................... 93 .. 88
Alter bei der
Eheschließung GESAMT
26,1
FLIRTFAKTOR HUND Labrador, Golden Retriever.......................... 71
„Diese Hundebesitzer Dalmatiner.................................................. 51
sind am attraktivsten …“
Deutscher Schäferhund.............................. 50
1991 2008
86 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
SEHNSÜCHTE LEBEN ALS
TRAUMMANN / TRAUMFRAU SINGLE 2009 gab es
16 Mio.
„Welche dieser Eigenschaften ist Ihnen bei
einem Partner /einer Partnerin am wichtigsten?“
Einpersonenhaushalte
4 in Deutschland.
29 Prozent
11 21 Ein kommen der Single-Männer
Einkommen Aussehen, sind zu schüchtern,
Attraktivität 29 um eine Frau
Zeit für
anzusprechen.
EINPERSONEN-
41 HAUSHALTE
37 die Familie
Aussehen,
Zeit für Anteil an Deutschlands
die Familie 31 Attraktivität
Haushalten 39,8
Bildung 26 in Prozent 35,0 36,1
Bildung
30,2
25,1
ANTWORT DER FRAUEN ANTWORT DER MÄNNER
11 Prozent der
Single-Frauen sind heimlich
IDOLE in ihren besten Freund
„Mit welchem verliebt.
Prominenten
würden Sie gern
einen Abend 1970 1980 1990 2000 2009
verbringen?“
41 Prozent
der Singles denken,
sie hätten zu hohe
TABUS Ansprüche an einen
„Was würden Sie Ihrem Partner verschweigen?“ Partner.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 87
Trends
ENERGIE
Rätsel um RWE-Chef
I m Aufsichtsrat des Essener RWE-
Konzerns steigt die Unsicherheit
über die künftige Rolle von Konzern-
chef Jürgen Großmann. Der umtrie-
bige Manager ist bereits seit zwei Wo-
chen krankgeschrieben und soll auch
erst Ende November wieder zurück-
kehren. Die Leitung des Stromriesen
hat unterdessen Finanzchef Rolf Poh-
lig übernommen. Während der Kon-
zern versichert, dass Großmann nach
seiner Genesung weiter für das Amt JENS BÜTTNER / DPA
Am Fiskus vorbei
A uf Anleger, die in Anleihen inves-
tiert haben, kommen erhebliche
Steuernachforderungen zu. Betroffen
sind Besitzer von Anleihen, die ihre
Wertpapiere vor dem 1. Januar 2009
erworben und danach verkauft haben.
Sie bekommen ihren Zinsanteil für das
laufende Jahr gewöhnlich vom Käufer
erstattet. Auf diese sogenannten
Stückzinsen entfällt nach der Rechts-
auffassung der Bundesregierung die
Abgeltungsteuer von 25 Prozent. Seit
Einführung dieser neuen Steuer zu
Jahresbeginn 2009 weigerten sich aber
sämtliche Banken, diesen Anteil an
unterjährigen Zinseinnahmen ihrer
Kunden an die Finanzämter abzu-
den, will es sich die Branche nun laut führen. Sie beriefen sich auf eine
„Lebensmittelzeitung“ ein bis zwei Mil- unklare Gesetzesformulierung, die der
lionen Euro kosten lassen, die „Produk- Großen Koalition bei Einführung der
tionsprozesse darzustellen“. „Wir lassen Abgeltungsteuer unterlaufen war.
nicht länger zu, dass die viertgrößte Bran- Obwohl das Bundesfinanzministerium
che Deutschlands mit 535 000 Mitarbeitern die Angelegenheit schon in einem
pauschal an den Pranger gestellt wird“, so Rundschreiben Ende 2009 klarstellte,
Horst. Besonders verbittert den BVE die blieben die Kreditinstitute bei ihrer
„oft populistische Reaktion“ der Politik. Praxis. Eine endgültige Bereinigung
Gegen den Widerstand der Industrie und erfolgt nun im Rahmen des Jahres-
zur Freude der Verbraucherrechtsorgani- steuergesetzes 2010. Das Bundes-
sation Foodwatch plant Bundesverbrau- finanzministerium rechnet mit Steuer-
cherministerin Ilse Aigner eine Internet- mehreinnahmen von 1,5 Milliarden
plattform, auf der gegen falsche oder irre- Euro. „Der Fall belegt, zu welchen
führende Lebensmittelkennzeichnungen Problemen nachlässige Gesetzgebungs-
vorgegangen werden soll. arbeit führen kann“, sagt der FDP-
Finanzpolitiker Volker Wissing.
W E LT W I R T S C H A F T
D
er Berliner Politikbetrieb kennt Verkleidungsstücke für Protektionismus“, Doch nun zeichnen sich in der globalen
eine eherne Regel: Je größer die warnt der Liberale. Angesichts der dro- Nachkrisenökonomie neue dramatische
Sorge, desto verkrampfter die henden Gefahr fühle er sich als „Missio- Verwerfungen ab. Gleich an mehreren
Rhetorik. nar“ für Freihandel und Globalisierung, Stellen droht die bisherige Welthandels-
Gemessen daran werden Mitglieder der bekannte Brüderle jüngst. ordnung in Unordnung zu geraten:
Bundesregierung in jüngster Zeit von re- Das politische Berlin erregt sich nicht ‣ Im Gefolge der Wirtschafts- und Fi-
gelrechten Angstattacken heimgesucht, ohne Grund. Nach Ausbruch der Finanz- nanzkrise haben viele Länder begon-
wenn der freie Welthandel zur Sprache krise vor drei Jahren war es der inter- nen, ihre Märkte für ausländische Pro-
kommt. Finanzminister Wolfgang Schäub- nationalen Staatengemeinschaft zunächst dukte abzuschotten, weil sie ihre Un-
le (CDU) etwa hält die Berichte über gelungen, den drohenden Absturz der ternehmen schützen wollen.
Währungs- und Handelskriege, Devisen- Weltökonomie mit gemeinsamen Ak- ‣ Zwei der größten Wirtschaftsblöcke,
schlachten und Abwertungswettläufe für tionen zu Bankenrettung und Kon- China und die USA, sind dabei, einen
ein „Wetterleuchten“. junkturförderung zu verhindern. Davon Abwertungswettlauf ihrer Währungen
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brü- profitierte nicht zuletzt Deutschland, in Gang zu setzen.
derle (FDP) hat das „Gespenst des Pro- dessen Wirtschaft in diesem Jahr so ‣ Wichtige Schwellenländer, allen voran
tektionismus“ ausgemacht, das sich hin- stark zulegen wird wie seit 1991 nicht Brasilien und Indonesien, schränken
terhältig zu tarnen weiß. „Es gibt viele mehr. den Kapitalverkehr ein, was den glo-
90 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
balen Geldkreislauf aus dem Takt brin- Lagarde vor Monaten Deutschland ins Vi- Jens Weidmann, und Finanzstaatssekre-
gen könnte. sier. Vor zwei Wochen ließ Geithner dem tär Jörg Asmussen, arbeiten fieberhaft
‣ Aus Verzweiflung über die trostlose Genörgel Taten folgen. Er schlug einen daran, eine Abwehrfront gegen das ame-
Wirtschaftslage treibt die Regierung Mechanismus vor, der Überschussländer rikanische Ansinnen zu organisieren. In
von US-Präsident Barack Obama eine dazu verpflichtet, ihre Finanz- und Wirt- Dutzenden Argumentationspapieren und
diplomatische Offensive voran, die schaftspolitik so zu ändern, dass die In- Vermerken, die zwischen den Hauptstäd-
Länder mit chronischen Überschüssen landsnachfrage stimuliert werde. Dann ten der Teilnehmerstaaten hin und her-
in der Leistungsbilanz international an könnten diese Länder auch mehr impor- gehen, machen sie aus ihrer Ablehnung
den Pranger stellen soll. Im Faden- tieren, meint Geithner. Im Klartext: Die und ihrem Unverständnis kein Hehl.
kreuz: China, Japan und Deutschland. Überschussländer sollen zugunsten der Sie verweisen darauf, dass es unter-
Jede einzelne Entwicklung für sich ist USA freiwillig auf Wettbewerbsvorteile schiedliche Ursachen dafür gibt, warum
bedenklich, zusammen stellen sie eine verzichten. Länder Überschüsse einfahren. Ein Land
ernste Bedrohung für die Weltwirtschaft Auf dem G-20-Finanzministertreffen wie Saudi-Arabien wird auf lange Zeit
dar. Besonders gefährdet ist das Ge- konnte sich der Amerikaner vor zwei Wo- ein Plus verzeichnen, weil es Erdöl ex-
schäftsmodell Deutschlands, das auf den chen noch nicht durchsetzen. Jetzt hat portiert. China verschafft seinen Waren
Erfolg seiner Exportwirtschaft baut. US-Präsident Barack Obama die Angele- einen Vorteil, weil es seine Währung her-
Jahrzehntelang war der Welthandel ge- genheit zur Chefsache erklärt. Er gibt sich untermanipuliert.
prägt von Liberalisierung. Zölle wurden wild entschlossen, das Thema beim Gipfel Der Exportüberschuss Deutschlands sei
gesenkt oder abgeschafft, Handelshemm- in dieser Woche voranzubringen. weder auf die üppige Ausstattung mit
nisse beseitigt. Das setzte Wachstumskräf- In Memoranden und Kommuniqué-Ent- Ressourcen noch mit absichtlicher Wäh-
te frei und mehrte den Wohlstand welt- würfen bombardieren Weißes Haus und rungsabwertung zu erklären, sondern ba-
weit. Über Jahre hinweg wuchs der Welt- US-Finanzministerium die Partnerländer siere allein auf dem Fleiß und der Findig-
handel stärker als die Wirtschaftsleistung. mit ihren Vorstellungen. Danach sollen keit seiner Unternehmen und Arbeitneh-
Ein deutliches Indiz für jene produktiven Staaten unter verschärfte Beobachtung mer, argumentieren sie. Deshalb dürfe
Effekte von Arbeitsteilung und Deutschland nicht an den Pranger
Handelsfreiheit, von denen schon gestellt werden.
der schottische Ökonom Adam Ohnehin empfinden die Deut-
Smith zu berichten wusste: Alle schen den Zielkorridor von vier
profitieren, wenn jeder das her- bis minus vier Prozent des Brutto-
stellt, was er am besten kann. inlandsprodukts als Akt reiner
Zum ersten Mal seit dem Ende Willkür. Es gebe keinen wissen-
des Zweiten Weltkriegs drohen schaftlichen Grund, warum die
nun Rückschläge auf breiter Schwelle für Unbotmäßigkeit aus-
Front – wenn es den Staats- und gerechnet bei diesem Wert liege.
Regierungschefs aus den großen Wohl aber einen politischen:
Industrie- und Schwellenländern, Die USA laufen keine Gefahr,
den G20, nicht gelingt, sich auf selbst unter Kuratel gestellt zu wer-
eine gemeinsame Lösung der Pro- den. Ihr Leistungsbilanzdefizit
bleme zu einigen. In dieser Woche läge mit 3,2 Prozent im erlaubten
treffen sie sich in Südkoreas Rahmen, genauso wie das Groß-
Hauptstadt Seoul, um wieder ein- britanniens (2,2 Prozent), das sich
mal über den Zustand der Welt- dem US-Vorstoß angeschlossen
wirtschaft zu beraten. Ganz oben hat. Die Franzosen unterstützen
auf der Tagesordnung stehen Wäh- die Front der Angelsachsen nicht,
rungskrieg und Ungleichgewichte springen den Deutschen in ihrem
JASON REED / REUTERS
öffentlichkeit viel leichter Vergeltungs- das protektionistische Land zurück- kontrollierte Gelddrucken“ und forderte
maßnahmen gegen dessen Warenflut schlägt. Dessen Wirtschaft und Verbrau- einen „währungspolitischen Schutzwall“.
rechtfertigen. Anstatt globale Ungleich- cher sind zudem gezwungen, die benö- So droht eine Spirale in Gang zu kom-
gewichte zu beseitigen, könnte der neue tigten Waren überteuert im eigenen Land men, deren Ende noch nicht absehbar ist.
Mechanismus die Neigung zu neuen Han- zu ordern, was wiederum einen Wohl- „Das Böse daran ist, dass jeder sein Vor-
delshemmnissen sogar noch befördern. standsverlust bedeutet. gehen mit guten Gründen verteidigen
Ohnehin hat die Flut protektionisti- Für Thomas Straubhaar, den Direktor kann“, klagt Dennis Snower, Präsident
scher Maßnahmen seit dem Höhepunkt des HWWI-Instituts für Wirtschaftsfor- des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
der Finanzkrise vor zwei Jahren unge- schung in Hamburg, sind Zollschranken Die Chinesen manipulieren ihren Yuan
ahnte Ausmaße angenommen. Dabei hat- und andere Handelshemmnisse die Hand- nach unten, damit ihr Exportsektor nicht
ten sich die G-20-Staaten bei ihrer ersten feuerwaffen im globalen Kampf um kollabiert. Die Amerikaner werfen Hun-
Konferenz in Washington im Herbst 2008 Marktanteile. Sie wirken punktuell, kön- derte Milliarden unters Volk in der Hoff-
geschworen, auf eigennützige Schutz- nen aber für den, den sie treffen, tödliche nung, dass ihre Wirtschaft Fahrt auf-
politik zu verzichten. Wirkung entfalten. nimmt. Beides verstärkt den Verfall bei-
332 einzelne Maßnahmen registrierte al- Doch die Länder kämpfen auch mit der Währungen.
lein die EU-Kommission in ihrem jüngsten großem Kaliber gegeneinander. „Das sind Der Kampf der Giganten wird erhebli-
Report. So erschwerten die USA die Ein- che Verwerfungen in der Weltwirtschaft
fuhr von Stahl und bestimmten Schlafsä- Der Kampf der Giganten wird heraufbeschwören. Wenn die Europäi-
cken. Kanada gewährt für die Herstellung sche Zentralbank – gemäß ihres Mandats,
von Speiseeis Rabatte auf heimische Milch. erhebliche Verwerfungen in der auf die Preisstabiliät des Euro zu achten –
Zwischen Oktober 2008 und Oktober Weltwirtschaft heraufbeschwören. die Geldpolitik nicht weiter lockert, wird
2009, neuere Daten gibt es nicht, waren der Außenwert der Gemeinschaftswäh-
fast zwei Prozent des EU-Handels betrof- die Wechselkursmanipulationen und die rung wohl stark steigen. Die Konsequen-
fen. „Das sind die völlig falschen Signale“, Ausweitung der Geldmenge“, sagt Straub- zen sind absehbar: Waren aus der Euro-
schimpft Wirtschaftsstaatssekretär Bernd haar. Zone werden dann teurer. Für die Bun-
Pfaffenbach. Er ist im Brüderle-Ressort Wie entschlossen die Amerikaner vor- desrepublik verheißt das nichts Gutes.
für Außenwirtschaftspolitik zuständig. gehen, zeigte sich am vergangenen Mitt- „Von den Turbulenzen“, sagt Snower,
Mit Sorge beobachtet er, dass viele Ab- woch. Da kündigte Notenbankchef Ben „wäre Deutschland als Export-Vizewelt-
wehrmaßnahmen in Kraft bleiben, ob- Bernanke an, dass die Zentralbank Fed meister besonders betroffen.“
wohl die akute Krise vorbei ist. „Das wird zusätzlich für 600 Milliarden Dollar Mit einem Anflug von Düsternis blickt
den Welthandel belasten“, fürchtet er. Staatsanleihen kaufen werde. Wirtschaftsstaatssekretär Pfaffenbach in
In der Ökonomie besteht schon lange Das hemmungslose Anwerfen der Geld- die Zukunft. Er sieht Parallelen zur Welt-
kein Zweifel daran, dass protektionisti- druckmaschinen wird unweigerlich den wirtschaftskrise. Protektionismus und Ab-
sche Maßnahmen den Wohlstand schmä- Außenwert des Dollar schwächen – und wertungswettlauf seien das Allerletzte,
lern, und zwar für alle. In Ländern, deren seinerseits die Chinesen zwingen, ihre was die Welt derzeit brauche, meint er.
Waren ausgesperrt werden, schrumpft die Währung zu verteidigen. Die Reaktionen „Das erinnert fatal an die dreißiger Jahre
Produktion; als Folge können sie selbst aus Peking waren harsch: Ein Berater der des vergangenen Jahrhunderts.“
weniger importieren, was wiederum auf chinesischen Notenbank rügte das „un- CHRISTIAN REIERMANN
Die Leistungsbilanz der G-20-Mitglieder Prognose für 2010, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
Quelle: IWF
Kanada Russland
Großbritannien
Deutschland
Frankreich
USA Japan
Italien Türkei China
Südkorea
Mexiko Saudi-Arabien
Europäische Union
Indien
Japan Indonesien
Brasilien
Südafrika
DEFIZIT ÜBERSCHUSS
Australien
über 4% über 4%
Argentinien
2 bis 4% 2 bis 4%
92 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Wirtschaft
SPI EGEL-GESPRÄCH
SPIEGEL: Vergangene Woche hat die US- Schäuble: Ich halte nichts von diesen bel- Staaten einzuführen. Sind Sie zufrieden
Notenbank beschlossen, die Wirtschaft lizistischen Begriffen, aber es ist unüber- mit dem Ergebnis?
mit zusätzlichem Geld in Höhe von 600 sehbar, dass sich die Weltwirtschaft in ei- Schäuble: Die Beschlüsse des Rates sind
Milliarden Dollar zu fluten. Wird das die ner schwierigen Situation befindet. Ur- ein großer Erfolg. Noch vor wenigen Wo-
Konjunktur wie erhofft ankurbeln? sache sind die enormen Staatsschulden, chen haben viele prognostiziert, Frank-
Schäuble: Ich habe große Zweifel, ob es die viele Länder im Zuge der Krisenbe- reich werde Deutschland bei seinem En-
sinnvoll ist, unbegrenzt Geld in die Märk- kämpfung aufgenommen haben. Diese gagement für einen europäischen Krisen-
te zu pumpen. Der US-Wirtschaft man- Defizite zurückzuführen ist die vorran- mechanismus nie unterstützen. Und dass
gelt es nicht an Liquidität; deshalb ver- gige Aufgabe, so wie es die G-20-Staaten die Franzosen bereit sein würden, dafür
mag ich das ökonomische Argument die- auf ihrem jüngsten Gipfel in Toronto be- die europäischen Verträge zu ändern, galt
ser Maßnahme nicht zu erkennen. schlossen haben. Dort haben sich alle ver- erst recht als ausgeschlossen. Dann haben
SPIEGEL: Die USA wollen auf diese Weise pflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbie- sich Kanzlerin Merkel und Präsident Sar-
den Wert des Dollar drücken, um so ihre ren, auch die USA. An diesen Beschlüs- kozy in Deauville getroffen und in beiden
Produkte im Ausland leichter verkaufen sen sollten wir festhalten, dann werden Fragen einen historischen Durchbruch er-
zu können. Ist das angesichts der lahmen- wir auch die Unruhe an den Märkten zielt. Er liegt ganz auf der Linie, die wir
den US-Konjunktur nicht eine durchaus dämpfen. Deutschen immer haben wollten.
nachvollziehbare Strategie? SPIEGEL: Für die Unruhe auf den Märkten SPIEGEL: Das glauben Sie selbst nicht. Bis
Schäuble: Nein. Die Beschlüsse der US- sind doch nicht nur die USA verantwort- vor kurzem hat Deutschland gefordert,
Notenbank erhöhen die Unsicherheit in lich, auch die Euro-Krise schwelt weiter. dass Länder, die gegen die Schulden-
der Weltwirtschaft. Sie erschweren einen Die Risikoaufschläge für Staatsanleihen regeln der Euro-Zone verstoßen, auto-
vernünftigen Ausgleich zwischen Indu- aus den Krisenländern Irland und Grie- matisch bestraft werden müssen. Diese
strie- und Schwellenländern, und sie un- chenland sind erneut gestiegen. Wie lan- Forderung ist vom Tisch.
Zitterpartie
Renditen auf Staatsanleihen*
in Prozent
Griechenland
12
11
10
Irland 8
Portugal
GREGOIRE ELODIE / ABACA
Kanzlerin Merkel, Präsident Sarkozy, Premier Cameron: „Ganz auf Linie der Deutschen“ Jan. 2010 Nov.
tergraben die finanzpolitische Glaubwür- ge wird es noch dauern, bevor Europa Schäuble: Es ist nun mal so in Europa,
digkeit der USA. Es passt nicht zusam- neue Staatsgarantien ausreichen muss? dass man nicht alle seine Wunschvorstel-
men, wenn die Amerikaner den Chinesen Schäuble: Ich bin da nicht so pessimistisch. lungen durchsetzen kann. Die große
Wechselkursmanipulationen vorwerfen Die Iren haben wegen der Rettung ihrer Mehrheit der EU-Mitglieder hat klarge-
und anschließend den Dollar-Kurs mit Banken zwar enorme Schulden aufge- macht, dass sie automatische Sanktionen
Hilfe ihrer Notenpresse künstlich nach häuft, kommen aber mit der Sanierung nicht akzeptieren würde. Darauf haben
unten schleusen. ihrer Wirtschaft gut voran. Und auch vor wir gesagt: Statt für etwas zu kämpfen,
SPIEGEL: Diese Woche treffen sich die G-20- der Entschlossenheit der griechischen Re- was nicht zu haben ist, versuchen wir das
Staaten in Südkorea, um über die Lage gierung habe ich großen Respekt. Vor ein zu erreichen, was möglich ist.
der Weltwirtschaft zwei Jahre nach der paar Monaten hätte noch kaum jemand SPIEGEL: Das klingt nach hoher Staats-
tiefsten Finanz- und Wirtschaftskrise der geglaubt, dass die Griechen ein solch kunst. Doch nun bleibt es dabei, dass im
Nachkriegszeit zu beraten. Als die Krise drastisches Sparprogramm umsetzen kön- Europäischen Rat weiter Täter und Wäch-
ausbrach, hat die Staatengemeinschaft er- nen. Jetzt sind sie auf einem guten Weg. ter identisch sind, wie Ex-Verfassungs-
staunlich geschlossen reagiert. Doch nun SPIEGEL: So geordnet, wie sie es darstellen, richter Paul Kirchhof sagte. Die Länder,
versuchen viele Länder, sich Vorteile zu sind die europäischen Verhältnisse nicht. die ihren Haushalt nicht im Griff haben,
verschaffen, indem sie ihren Wechselkurs Erst vor zwei Wochen hat der Europäi- entscheiden mit, welche Strafen dafür
beeinflussen. Fürchten Sie einen weltwei- sche Rat beschlossen, einen neuen Kri- verhängt werden. Wirkungsvolle, rasche
ten Währungskrieg? senmechanismus für überschuldete Euro- Sanktionen kommen so nicht zustande.
98 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Schäuble: Das sehe ich anders. Künftig SPIEGEL: Sie müssen auch Ihre Landsleute
wird es wesentlich einfacher, Sanktionen überzeugen. Als der Euro eingeführt wur-
gegen Defizitsünder durchzusetzen als de, hieß es stets, die deutschen Steuer-
Deutsche-Bank-Chef Ackermann
Vorhersehbares Maximalrisiko?
Heimliche Selbstbedienung
für Investitionen absichern wollten.
Die entsprechenden Produkte hielten
die Banken bereit, besonders aktiv war
die von ihrem Chef Josef Ackermann zum
Zum ersten Mal hat ein Obergericht die Deutsche Bank Investmenthaus getrimmte Deutsche Bank.
Die Produkte hatten Namen wie Credit
wegen Falschberatung einer Kommune verurteilt. Default Swap, Spread Ladder Swap oder
Für ein Spekulationsgeschäft soll sie nun Schadensersatz zahlen. Spread Sammler Swap. Ausgetüftelt hat-
ten sie Finanzmathematiker mit Statistik-
A
n die smarte Beraterin der Deut- Deutsche Bank seit Jahren mit Erfolg um und Wahrscheinlichkeitsberechnungen,
schen Bank aus Frankfurt am Geldangelegenheiten des kommunalen
Main kann sich Walter Lehmann Verbands. Und hatte dabei geholfen, die
noch gut erinnern. Wie sie in seinem Büro Modernisierung der Kläranlage zu finan-
im oberschwäbischen Ravensburg von zieren. Außerdem war da nicht nur die
einer „attraktiven Zinsverbilligungsstra- Frau aus Frankfurt von der Abteilung
tegie“ sprach, und von einem überschau- „Capital Market Sales“, sondern auch der
baren Risiko. Ravensburger Deutsche-Bank-Chef, der
Nur wie das im Detail funktionieren Lehmann versprach, dass das für beide
sollte mit dem billigen Geld, verstand Seiten ein gutes Geschäft wird.
Lehmann nicht. „CMS Spread Sammler Im Juni 2005 unterschrieb Lehmann
Swap“ klingt synthetisch, passt zu den den Vertrag zur Zinsoptimierung. Drei
kühlen Hochhäusern in der Finanzmetro- Jahre später hatte sein Abwasserverband
pole am Main, aber nicht zum schwäbi- rund eine Dreiviertelmillion Euro ver-
schen Barock seiner Heimatstadt. Und in loren.
Lehmanns Business, dem Klären von Ab- Seit der letzten Oktoberwoche weiß
wässern, kommen solche unklaren Begrif- Lehmann warum. Die Ursache steht in
fe auch nicht vor. einem 37-seitigen Urteil des Oberlandes-
Doch der kaufmännische Geschäftslei- gerichts Stuttgart – und auch, wer daran
ter des Abwasserzweckverbands Mariatal schuld ist. Der Verband hatte sich auf ein
vertraute der Beraterin. Warum auch Glücksspiel eingelassen: Die Bank hat eine
nicht? Schließlich kümmerte sich die Wette verkauft; eine Wette, bei der von Kläranlage des Abwasserzweckverbands Mariatal,
100 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
hochkomplizierte Kopfgeburten, deren hochriskant und für Städte und kommu-
Feinheiten außer den Entwicklern kaum nale Unternehmen eher nicht geeignet
jemand verstand. sind. Ein schuldhaftes Verhalten der Ban-
„Im Grunde“, sagt Anwalt Gunder- ken sahen die Gerichte jedoch nur ver-
mann von der Kanzlei Tilp, die seit Jahren einzelt. Die Finanzleute der Kommunen
undurchsichtige Bankgeschäfte im Visier hätten die Risiken erkennen müssen, war
hat, „ist es wie im Spielcasino. Nur weiß der Tenor der meisten Urteile.
der Kunde nicht, dass er am Roulettetisch Genau das aber sahen nun die Richter
steht.“ am Stuttgarter Oberlandesgericht im Fall
Der Kunde setzt einen Betrag darauf, des oberschwäbischen Abwasserzweck-
ob Zinsen in einem bestimmten Zeitraum verbands Mariatal ganz anders. Der 9. Zi-
steigen oder fallen. Die Gefahr liegt darin, vilsenat, spezialisiert auf Bankenver-
dass schon Schwankungen um ein paar fahren, ist in die Tiefen der komplexen
hundertstel Prozentpunkte über Verlust Finanzkonstrukte eingestiegen. Er hörte
oder Gewinn entscheiden. Nur die Bank, unter anderem einen Syndikus der Deut-
wie im Spielcasino, gewinnt immer: über schen Bank; dessen Erklärungen haben
Margen und weil sie die Einzige bei dem die Richter mit der Darstellung vergli-
Deal ist, die wirklich alle Spielregeln chen, die die Deutsche Bank den Abwas-
kennt. sermanagern gegeben hat.
Dutzenden Kommunen drohen aus sol- Im Ergebnis, so die Richter, sei der
chen Swap-Geschäften empfindliche Ver- Zweckverband völlig unzureichend über
luste. In Großstädten wie Leipzig und Risiken informiert worden. Die hätte der
Berlin sind es jeweils dreistellige Millio- Verband nur einschätzen können, wenn
nen-Euro-Beträge, im westfälischen Ha- er über dasselbe Bewertungsinstrumen-
gen 40 Millionen, in Remscheid 19 Millio- tarium verfüge wie die Bank. Außerdem
nen Euro. Pforzheim musste schon 57 Mil- seien die Risiken und Chancen ungleich
lionen Euro bezahlen, die Rücklagen der verteilt gewesen. Bereits zum Zeitpunkt
120 000-Einwohner-Stadt sind damit auf- des Vertragsschlusses hätte „das Verlust-
gezehrt (SPIEGEL 36/2010). risiko“ des Abwasserverbands eine Mil-
Wie viele Städte, Stadtwerke und lion Euro betragen, während die Bank
Zweckverbände hierzulande Teile ihres bei dem Geschäft, das über fünf Jahre ab-
Vermögens mit derartigen Geschäften in geschlossen war, maximal 250 000 Euro
Gefahr gebracht oder schon verloren ha- hätte verlieren können.
ben, weiß niemand genau. Selbst die kom- Einen Zufall mochten die Richter in
munalen Spitzenverbände haben keine solchen Konstruktionen nicht erkennen.
Übersicht. Nur wenige Städte hängen es Die Deutsche Bank handelte, heißt es in
an die große Glocke, wenn sie sich ver- dem Urteil, „vorsätzlich, um mit dem Ge-
zockt haben. schäft entweder direkt oder durch den
Im Herbst 2008, als die internationalen Handel mit den günstig erworbenen Op-
Kapitalmärkte kollabierten, zweifelten tionen einen Gewinn zu erzielen“.
aber immer mehr Bürgermeister daran, Eine Gewinnabsicht bestreitet die
dass sich ihre Wettgeschäfte noch mal Deutsche Bank auch gar nicht, wohl aber,
zum Positiven wenden. Sie sind vor Ge- dem Zweckverband Risiken verschwie-
richt gezogen. In den meisten Fällen al- gen zu haben. „Der Kunde hat mit der
lerdings ohne Erfolg. Bank ein klar vorhersehbares, begrenztes
Zwar waren sich in der Regel die Rich- Maximalrisiko vereinbart“, sagt Christian
ter mit den Klägern aus den Kommunen Duve, Prozessbevollmächtigter der Bank,
einig, dass derartige Finanzprodukte „das musste nicht erst kalkuliert werden.“
Die Rechtsanwälte der Deutschen
Bank haben inzwischen Revision gegen
das Stuttgarter Urteil eingelegt. Das Spe-
kulationsgeschäft des Abwasserverbands
wird nun also den Bundesgerichtshof
(BGH) beschäftigen. Es ist das siebte
Swap-Verfahren gegen die Deutsche
Bank, das Karlsruhe vorliegt. Den ersten
Fall werden die obersten Richter am 8.
Februar verhandeln.
Bankenjuristen gehen davon aus, dass
der BGH die Bedingungen für derartige
Geschäfte mit Kommunen verschärfen
könnte – etwa über spezielle Risikobera-
tungen durch die Banken.
Walter Lehmann, der Geschäftsführer
CHRISTIAN FLEMMING
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 101
OBERHÄUSER / CARO / ULLSTEIN BILD
E.on-Ruhrgas-Zentrale in Essen: Die frühere Perle des Konzerns wird zum Sorgenfall
D
em „Erbe seiner Vorgänger“ fühlt stolzen E.on-Konzerns haben Teyssens will Teyssen Ertragslöcher stopfen und
sich Johannes Teyssen „zutiefst Pläne wenig zu tun. Was er Mitarbeitern neue Geschäfte in Wachstumsregionen
verpflichtet“. Große Wirtschafts- und Kontrolleuren am Montag präsentie- auch außerhalb Europas finanzieren.
lenker wie Rudolf von Bennigsen-Foerder, ren wird, ist zunächst einmal eine Strate- Hintergrund für den rigiden Kurswech-
Klaus Piltz oder Ulrich Hartmann, so gie der Konzentration, des Sparens und sel des E.on-Chefs: Die Zukunftsaussich-
pflegt er in kleinen Runden gern zu er- Verkaufens. Es könnte ein schrittweiser ten des Energieversorgers haben sich dra-
zählen, hätten vor ihm das Sagen an der Abschied aus wichtigen Geschäftsfeldern matisch eingetrübt. Teyssens Vorgänger
Spitze des Stromkonzerns gehabt. und ein Stück weit auch aus Deutschland konnten immer neue Rekordgewinne ver-
Ihrem Mut und Geschick sei es zu ver- und Europa sein. künden, doch damit ist es vorbei.
danken, dass aus den einst regionalen Neben diversen Auslandsaktivitäten Auslandstöchter, etwa in den USA,
Stromversorgern ein Unternehmen von und kleineren Sparten stehen selbst eher- Spanien, Italien oder Frankreich, für die
Weltformat gewachsen sei. Diese Tradi- ne Kernbereiche des Konzerns auf dem E.on vor nicht allzu langer Zeit noch
tion, so Teyssen, wolle er fortsetzen. Auch Prüfstand. Die milliardenschweren Gas- zweistellige Milliardenbeträge ausgege-
unter seiner Ägide soll E.on einen der netze und das in vielen Regionen flächen- ben hat, werfen wegen der Wirtschafts-
vorderen Plätze in der Weltliga der multi- deckende Stromverteilnetz gehören nach krise deutlich geringere Gewinne ab. Der
nationalen Großkonzerne einnehmen. internen Planungen genauso dazu wie Wert von Kraftwerken, Netzen und Aus-
Es ist kein Zufall, dass bei der Aufzäh- der rund 15 Millionen Kunden umfassen- landsbeteiligungen sinkt dramatisch. Erst
lung der großen Konzernchefs ein Name de Vertrieb in Deutschland. All diese vor zwei Wochen musste Teyssen in einer
fehlt: Wulf Bernotat. Mit dessen Hinter- Sparten könnten – abhängig von der Ent- Art Notoperation den Wert einiger Aus-
lassenschaft kann Teyssen offenbar wenig wicklung – neu geordnet oder in Teilen landsbeteiligungen um den stolzen Betrag
anfangen. sogar verkauft werden. von rund 2,6 Milliarden Euro bereinigen.
Sechs Monate hatte der neue Konzern- Massive Einbrüche verzeichnet auch
chef nach dem Abgang des von ihm so die einstige Perle des Konzerns, die Gas-
ungeliebten Vorgängers Zeit, das Erbe zu Tochter E.on Ruhrgas. Bis zu 2,6 Milliar-
analysieren und eine neue Strategie für den Euro Gewinn hatte der Gashändler
den Konzern auszuarbeiten. Am Montag Jahr für Jahr zum E.on-Ergebnis beige-
wird er das mit Spannung erwartete Er- steuert. Doch seit weltweit immer neue,
gebnis präsentieren. Noch liegen nicht sogenannte unkonventionelle Gasvor-
sämtliche Details auf dem Tisch, noch kommen in Schiefergesteinen gefunden
Ende vergangener Woche diskutierten und gefördert werden, verliert Ruhrgas
Aufsichtsräte, amtierende und ehemalige an Bedeutung – und Geld.
Vorstände über Einzelheiten der neuen Denn das Unternehmen hat mit Russ-
Ausrichtung. land und Norwegen langfristige Liefer-
Klar scheint jedoch: Mit der Wachs- Manager Teyssen verträge über Pipeline-Gas abgeschlossen.
tums- und Erfolgsgeschichte des einst so Radikaler Umbau des Konzerns Der Preis ist an die Entwicklung des Öl-
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Wirtschaft
preises gekoppelt. Deshalb kauft die E.on- würde all das zu einer schweren Bedro- den Aufbau neuer Geschäftsfelder in Län-
Tochter den wertvollen Rohstoff in Russ- hung werden. dern, in denen die Wirtschaft stärker
land inzwischen teilweise teurer ein, als Zwar scheinen solche Horrorszenarien wächst, der Stromverbrauch entspre-
er für Großkunden am Spotmarkt ange- ein Stück weit übertrieben, denn selbst chend steigt und die Energiemärkte we-
boten wird. Zwar versuchen Teyssen und bei einem 30-prozentigen Rückgang blie- niger rigide reguliert werden als in
seine Manager nachzubessern und die be E.on noch ein Gewinn vor Steuern Deutschland.
Verträge mit den Russen aufzuweichen. von rund sieben Milliarden Euro im Jahr. Auf der Liste der Wunschkandidaten
Doch die Verhandlungen sind zäh, die Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter stehen asiatische Staaten wie China und
Fortschritte minimal. reagierten vergangene Woche denn auch Indien ganz oben. Aber auch Brasilien
Im Stromgeschäft drohen ebenfalls her- gereizt, als Details der Konzernplanung hält Teyssen für ein lohnendes Ziel. Auf
be Rückschläge. So kostet die Brennele- durchsickerten. diesem Weg soll der Gewinn, den E.on
mentesteuer den Konzern in den nächs- Aber Teyssen scheint gewillt, die Neu- außerhalb seiner angestammten Märkte
ten drei Jahren nach eigenen Schätzun- ausrichtung des Unternehmens auch ge- erzielt, massiv gesteigert werden.
gen mehr als 2,5 Milliarden Euro. Und gen Widerstände durchzusetzen. Der Ka- Bei Arbeitnehmervertretern und einigen
auch die bisherige Kraftwerksplanung, pitaleinsatz im Strom- und Gasgeschäft, Managern stößt diese Strategie auf wenig
die in Teilen auf neuen Kohlekraftwerken so seine Argumentation, sei hoch. E.on Verständnis. Mit der milliardenschweren
basierte, geht kaum noch auf. allein sei demnächst kaum noch in der Abschreibung auf spanische und französi-
Sogar die Inbetriebnahme weitgehend Lage, alle wichtigen Geschäftsbereiche sche Gesellschaften, hieß es am Rande ei-
fertiggestellter Meiler wie etwa in Datteln und Zukunftsfelder mit den dringend not- ner Gewerkschaftskonferenz in der vergan-
droht am Widerstand der Bevölkerung wendigen Milliardeninvestitionen zu ver- genen Woche, habe E.on wieder einmal
zu scheitern. Die mögliche Folge: eine sorgen. eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass
milliardenschwere Investitionsruine und Der E.on-Chef will deshalb die nächs- die Kernkompetenz des Konzerns nicht un-
Großkunden wie die Deutsche Bahn, die ten ein bis zwei Jahre dazu nutzen, sämt- bedingt in Auslandsgeschäften liege.
E.on dann nicht mit preiswerter Energie liche Konzernbereiche zu durchforsten, Hiesige Geschäftsfelder aufzugeben,
beliefern könnte. unrentable Geschäftsfelder zu verkaufen um sich in Brasilien oder China in neue
Selbst im klassischen Vertriebsgeschäft, und Partner für zukunftsfähige Geschäfts- Abenteuer zu stürzen, mache vor diesem
in dem E.on über sieben Regionalgesell- bereiche zu finden. Dabei, kritisieren Ex- Hintergrund wenig Sinn.
schaften fast 30 Millionen Kunden mit Manager, sei der Vorstand sogar bereit, Vielmehr glauben Kritiker, die neue
Strom versorgt, gehen die Margen zurück. mit bisherigen E.on-Regeln zu brechen E.on-Strategie sei auch eine Teilkapitula-
Bei den sogenannten Verteilnetzen, also und sich in strategisch wichtigen Berei- tion vor den sich rasant verändernden
jenen Strippen, mit denen der Strom in chen mit der Junior-Rolle zufriedenzu- Strom- und Energiemärkten in Deutsch-
die Fläche und in die Haushalte transpor- geben. land und Europa. Statt sich an die verän-
tiert wird, stehen in den nächsten Jahren Vor zwei Jahren noch wäre das völlig derten Gegebenheiten besser anzupassen
milliardenschwere Investitionen in intel- undenkbar gewesen. Da brüskierte E.on und mit neuen und innovativen Konzep-
ligente Technik an. sogar seinen langjährigen Geschäftspart- ten und Produkten auf die Herausforde-
Wie brenzlig die Situation werden ner Gazprom. Die Russen hatten E.on rungen des regenerativen Zeitalters zu
könnte, hat die Finanzabteilung dem eine lukrative Beteiligung an einem Gas- reagieren, so die Kritiker, versuche der
E.on-Management in internen Berech- feld angeboten und dafür im Gegenzug E.on-Chef Teile des alten Modells der
nungen vor Augen geführt. Danach droht Mehrheitsbeteiligungen an einigen deut- Stromversorger mit seinen Großkraftwer-
der Vorsteuergewinn nach dem noch po- schen E.on-Regionalgesellschaften gefor- ken und zentralen Strukturen in außer-
sitiven Geschäftsjahr 2010 in den nächsten dert. Der alte Vorstand lehnte das ab. europäische Schwellenländer zu expor-
drei Jahren ohne Gegenmaßnahmen um Teyssen könnte da in Zukunft weniger tieren. Innovativ und zukunftsträchtig sei
bis zu 30 Prozent zu sinken. Der extrem sensibel reagieren. Denn in seiner Strate- das nur bedingt.
hohe Schuldenstand von über 47 Milliar- gie sind die Milliardenerlöse aus Teilver- Und so dürften Teyssen nicht nur am
den Euro könnte dann nicht wie geplant käufen fest eingeplant – sie sollen den er- Montag im Aufsichtsrat, sondern auch in
abgebaut werden. Und auch der Aktien- warteten Gewinneinbruch der nächsten der eigenen Belegschaft in den nächsten
kurs, der seit Anfang des Jahres bereits zwei bis drei Jahre kompensieren. Wochen und Monaten hitzige Diskussio-
um mehr als 20 Prozent gesunken ist, wür- Nach dieser Schwächephase soll es mit nen bevorstehen. Möglicherweise müssen
de womöglich weiter absacken. Für den E.on dann wieder aufwärtsgehen. Kon- die ehrgeizigen Pläne noch einmal nach-
E.on-Konzern, glaubt das Management, kret plant Teyssen dazu Übernahmen und gebessert werden. FRANK DOHMEN
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Panorama
heute Tschernjachowsk, die eine Stiftung sich die Orthodoxen auch mehrerer
als Kulturzentrum nutzt. Ermuntert wur- Schlösser und Burgen des Deutschen Or-
de die Kirche durch ein Gesetz der rus- dens bemächtigten, die nie religiöse Ein-
sischen Staatsduma, das im Januar in richtungen gewesen sind. Das Kalinin-
Kraft treten soll: Danach dürfen religiöse grader Bistum war auch in diesem Fall
Organisationen allen Besitz zurückfor- um eine Ausrede nicht verlegen: In je-
der deutschen Burg „hat es doch eine
Katholische Kirche in Kaliningrad Kapelle gegeben“, so ein Sprecher.
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Ausland
GRIECHENLAND umgebracht wurde, der Mann der spä- losigkeit, Straflosigkeit oder Korrup-
teren Außenministerin, bekannte sich tion allgegenwärtig sind. Und Gewalt.
„Das erzeugt Wut“ der „17. November“ offen zu dem An-
schlag. Trotzdem titelte eine große
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Theodoropoulos: Wenn Ihr Vater im kriti-
Takis Theodoropou- Zeitung, er sei „exekutiert“ und nicht schen Zustand im Krankenhaus liegt
los, 56, Journalist, etwa „ermordet“ worden. Die Wort- und der Arzt ein Fakelaki, also Schmier-
Romanautor und Lei- wahl hatte ihre Bedeutung. geld, verlangt, bevor er ihn operiert, ist
ter des Nationalen SPIEGEL: Eine bislang unbekannte das letztendlich ebenso Gewalt. Es fehlt
Buchzentrums zur Gruppierung „Verschwörung der Zel- das Unrechtsbewusstsein. Man muss
Förderung der Litera- len des Feuers“ bekennt sich zu den dem Arzt nachgeben und wird zum
tur, über den Terror jüngsten Anschlägen. Woher kommen Mitschuldigen. Griechische Eltern ha-
und die Briefbomben die immer neuen Aktivisten? ben ihren Kindern eingeimpft, „die
aus Athen Theodoropoulos: Diese Täter stammen Welt gehört euch“. Jetzt erleben die
aus der Mittelschicht, das sind keine aber, dass sich dies als Illusion erweist.
SPIEGEL: Nach der Schuldenkrise armen Kinder. Das ist ja so beunruhi- Das erzeugt Wut.
schockt Griechenland Europa mit ei- gend. Sie sind in einer Gesellschaft SPIEGEL: Und deshalb soll Grie-
ner Serie von Briefbomben. Was ist aufgewachsen, in der faktische Recht- chenland besonders empfänglich
los in Ihrem Land? für linksradikalen Terror
Theodoropoulos: Terror hat bei uns lei- sein?
der eine lange Geschichte, beginnend Theodoropoulos: Weil Straf-
mit dem Ende der Obristendiktatur losigkeit scheinbar eine
1974 bis zur Zerschlagung der Unter- Selbstverständlichkeit ist,
grundorganisation „17. November“ im antworten manche mit Pa-
Jahr 2002. Die jetzigen Paketbomben- ketbomben. Außerdem ha-
Attentäter sind sozusagen die Kinder ben es die Obristen wäh-
dieser Terrorgenerationen. rend der Diktatur geschafft,
SPIEGEL: Als Grund für die Krise galt bis- dass die Griechen in der
lang Griechenlands Kultur der Korrup- Polizei und im Staat einen
USA
S
tunden bevor Barack Obama am groß der Aufwand für Obamas Besuch ße Haus dementierte, die Zahl sei unsin-
Donnerstagabend vergangener Wo- ist, wie viele Leute er mitnimmt, dass er nig, aber das Dementi stoppte nicht das
che nach Asien aufbricht, steht die Helikopter benutzt, um von Termin zu Gerede. Denn bestätigte der Vorwurf
Air Force One auf dem Militärflughafen Termin zu kommen, schusssichere Limou- nicht, was die Rechte und immer mehr
Andrews, herausgeputzt und beladen, der sinen braucht und bewaffnete Body- Wähler über Obama ohnehin zu wissen
rote Teppich ist ausgerollt. Erwartet wird guards und dass er angeblich 200 Millio- glauben? Dass er ein Präsident sei, der
der Präsident der Vereinigten Staaten. nen Dollar pro Tag für diese Reise nach ein Hunderte Milliarden Dollar teures
Fast 200 Journalisten begleiten ihn, Indien ausgebe. Großmannssüchtig fand Konjunkturprogramm verabschiedete
dazu zwei Dutzend Sicherheitskräfte, Kö- er das, und als die amerikanischen Medien und eine große Gesundheitsreform, der
che, Berater, das halbe Weiße Haus ist von seiner Verwunderung hörten, strick- Milliarden verpulverte, ohne einen einzi-
dabei, verteilt auf den Pressecharter und ten sie daraus eine Nachricht. Die rechten gen neuen Arbeitsplatz zu schaffen?
die Air Force One. Acht Stunden dauert Nachrichtenorganisationen Drudge Re- Zwei Jahre ist es her, dass Barack Oba-
der Flug über den Atlantik ins deutsche port und Fox News machten einen Skan- ma zum ersten schwarzen Präsidenten
Ramstein, dann geht es weiter, wieder dal daraus, und schließlich sagte Michele Amerikas gewählt wurde. Amerika war
acht Stunden bis ins indische Mumbai. Es Bachmann, die Tea-Party-Abgeordnete stolz auf sich selbst, einen Schwarzen ge-
ist das ganz normale Routineprogramm aus Minnesota: „Was für ein schlechtes wählt zu haben, jung, inspirierend, offen
eines Staatsbesuchs. Aber dann wird die- Vorbild der Präsident gibt!“ für alles. Die Linken waren euphorisch.
se Routine plötzlich zum Thema des Ta- Obama, der Verschwender, der Befür- „Konservativismus ist tot“, triumphierte
ges, und nichts ist mehr normal. worter eines starken Staats, der schon beispielsweise Sam Tanenhaus in der li-
Ein indischer Regierungsbeamter in wieder Geld ausgibt, das Amerika gar beralen Zeitschrift „The New Republic“,
Mumbai hat sich darüber gewundert, wie nicht hat. Das war die Botschaft. Das Wei- und viele Intellektuelle riefen ein neues
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Ausland
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ROSLAN RAHMAN / AFP
Ausgebranntes Airbus-A380-Triebwerk: Der Hersteller Rolls-Royce wird unangenehme Fragen beantworten müssen
D
er 4. November hätte ein großer Stunden später setzte der Riesenvogel in nehmen abzulesen. Der Kurs des briti-
Tag werden können für Airbus. Singapur zur Notlandung an – nachdem schen Triebwerkherstellers stürzte um
Schließlich bescherte er dem eu- er zuvor in der Luft massenhaft Treibstoff fast zehn Prozent ab, die Aktie der Airbus-
ropäischen Flugzeugbauer einen der abgelassen hatte. Mutter EADS verlor rund drei Prozent.
spektakulärsten Triumphe über den US- Zwei große Löcher klafften in der linken Die Beinahekatastrophe hat alte Ur-
Erzrivalen Boeing in seiner 40-jährigen Tragfläche, ein sichtbares Zeichen, dass ängste wiederbelebt, die das Flugzeug mit
Firmengeschichte. Bei einem Besuch des scharfkantige Metallteile aus dem Inneren bis zu 853 Sitzplätzen seit seiner Erstaus-
chinesischen Präsidenten Hu Jintao in der Schubdüsen herausgeschleudert wor- lieferung an Singapore Airlines Ende 2007
Frankreich bestellten vier Fluglinien aus den waren. Solche Bruchstücke können auslöst. Das Airbus-Management feiert
dem asiatischen Land Maschinen im Wert aufgrund ihrer Masse und Geschwindigkeit den Megaflieger als Symbol europäischer
von rund 14 Milliarden Euro. Die Order verheerende Wirkungen haben, da sie Ingenieurkunst. Kritiker halten es dage-
toppte sogar einen Großauftrag der ara- schneller sind als Gewehrkugeln. Daher gen für unverantwortlich, so viele Men-
bischen Fluglinie Emirates über 32 Exem- fürchten Piloten derartige „uncontained schen zur selben Zeit in einer engen Röh-
plare des Riesen-Jets A380 vom Frühsom- engine failures“ (zu Deutsch: unkontrol- re zu transportieren, und warnen vor den
mer dieses Jahres. liertes Triebwerksversagen) als einen der verheerenden Folgen beim Absturz einer
Von der breiten Öffentlichkeit wurde dramatischsten Zwischenfälle während des solchen Maschine.
dieser Coup allerdings kaum wahrgenom- Flugs, der heutzutage extrem selten ist. So Bis zum Donnerstag vergangener Wo-
men. Stattdessen gingen ganz andere Bil- war es vergangenen Donnerstag reines che sah es so aus, als wären die Skeptiker
der um die Welt: Aufnahmen von einem Glück, dass die Schrapnelle nicht durch widerlegt worden. Zwar mussten von den
ausgebrannten Triebwerk und der zer- den Rumpf in die Kabine einschlugen oder insgesamt 37 Maschinen, die bei Qantas,
fetzten Tragfläche eines Airbus-A380-Su- das Kerosin in den Tanks entzündeten. Emirates, Air France, Singapore Airlines
perjumbos der australischen Liniengesell- Die Landung war alles andere als Rou- und der Lufthansa zurzeit im Einsatz sind,
schaft Qantas. tine: Vermutlich waren Steuerfunktionen einige wiederholt aus dem Verkehr gezo-
Die Maschine mit der Flugnummer QF an der durchschlagenen Tragfläche aus- gen werden. Mal gab es Probleme mit
32 war kurz vor zehn Uhr morgens mit gefallen. Auf den Videos der Passagiere den Treibstoffpumpen, dann streikte der
466 Menschen an Bord in Singapur ge- ist unter anderem zu erkennen, dass nur Bordcomputer, in einem Fall fiel der
startet und sollte eigentlich knapp acht die Hälfte der Spoiler ausgefahren waren, Strom in der Bordküche aus. Im Frühjahr
Stunden später im australischen Sydney die das Flugzeug nach dem Aufsetzen auf 2009 schickte der A380-Großkunde Emi-
landen. Doch rund fünf Minuten nach die Landebahn drücken. Die äußere Tur- rates sogar eine geharnischte Protestnote
dem Abheben explodierte unweit der bine des Riesen-Jets konnten die Piloten an die Airbus-Führung mit der dringen-
westindonesischen Insel Batam eines von offenbar nicht abschalten. Die Flughafen- den Bitte, lästige Kinderkrankheiten bei
insgesamt vier Triebwerken. Teile der feuerwehr sprühte deshalb Löschschaum dem Jet abzustellen (SPIEGEL 12/2009).
Ummantelung und des Flügels stürzten in das Aggregat, bis es endlich zum Still- Doch nachdem Airbus nachgebessert
zu Boden, Rauch stieg auf. Etwa zwei stand kam. hatte, waren die Streitigkeiten bald ver-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 111
Ausland
gessen. Mit jedem neuen A380, der am ab, um die Passagiere mit genügend Ein Sprecher des britischen Unterneh-
Himmel auftauchte, stieg die Euphorie Sauerstoff zu versorgen. Um die Quelle mens betonte vergangene Woche, Sicher-
über den Doppeldecker mit Duschen und der vermutlich gesundheitsschädlichen heit habe bei Rolls-Royce „immer oberste
Schlafkabinen. Dämpfe zu finden, schalteten die Piloten Priorität“. Man kooperiere eng mit den
Das könnte sich nun ändern. Und die die vier Zapfluftanlagen der Triebwerke Behörden und den betroffenen Kunden.
Frage, wer letztendlich die Verantwor- eine nach der anderen ab und prüften Allerdings sei die Zahl der mit dem Trent-
tung für den brandgefährlichen Zwischen- mit ihrer Nase, bei welcher sich der 900 bestückten A380-Jets bislang noch re-
fall trägt, dürfte nicht nur Luftfahrtexper- Ölgeruch verflüchtigte. Die Lufthansa lativ klein – und damit auch die Möglich-
ten, sondern womöglich schon bald auch erklärte dazu lediglich, dass es noch bei keit, Erfahrungen zu sammeln.
Scharen von Anwälten und Gutachtern keiner ihrer A380-Maschinen „eine Trieb- Fachleute spekulierten schon, auch die
beschäftigen. werksabstellung aufgrund von Ölgeruch“ australische Fluglinie selbst, die eigentlich
Eines immerhin stand Ende vergange- gegeben habe. Ein Airbus-Insider vermu- als besonders sicher gilt, könnte bei der
ner Woche schon fest: Zumindest der bri- tet, dass Ölrückstände nach der Wartung Wartung ihrer A380-Flotte geschlampt ha-
tische Triebwerkhersteller Rolls-Royce, zurückgeblieben sein könnten. ben. Qantas-Chef Alan Joyce wies den
der unter anderem die A380-Modelle von Die Pannenserie von Rolls-Royce-Ag- Vorwurf vergangenen Freitag empört zu-
Lufthansa und Singapore Airlines mit sei- gregaten betraf bislang vor allem Airbus- rück. Er vermutet, dass Materialfehler
nen Schubdüsen vom Typ Trent 900 be- Modelle, aber nicht nur. Am 31. August oder Konstruktionsmängel zu dem Bei-
stückt, wird unangenehme Fragen beant- explodierte bei einer Boeing 747 der Qan- naheabsturz führten.
worten müssen. Der in Singapur notgelandete A380,
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Ausland
Ruby floh und soll sich seither mit Dieb- es Silvio gibt“), und all das um einen gol-
I TA L I E N
stählen und Prostitution durchgeschlagen denen Thron herum, als hätte Fellini sich
D
ürfen 74-Jährige Gruppensex-Par- in Schwierigkeiten helfen kann, dann tue ter haben genüsslich berichtet, wie der
tys veranstalten? Ganz unbedingt. ich es“, erklärte Berlusconi zum Thema. Regierungssprecher Romano Prodis auf
Sollten sie außerdem die Regie- Die Staatsanwaltschaft hat erklärt, die dem Transvestitenstrich fotografiert wur-
rungsgeschäfte eines EU-Kernlandes füh- Freilassung sei rechtens gewesen. Doch de. Und die Provinz Lazium ging der Lin-
ren? Silvio Berlusconi würde auch diese ermittelt sie weiter unter anderen gegen ken verloren, weil ihr Gouverneur sich
Frage uneingeschränkt bejahen: „Nie- einen Model-Agenten wegen des Ver- mit dem Dienstwagen zu seinem brasilia-
mand wird mich dazu bringen, meinen dachts, Minderjährige zur Prostitution ver- nischen Transvestiten fahren ließ.
Lebensstil zu ändern, ich bin stolz darauf.“ führt zu haben. Ruby soll ausgesagt haben, Über seine Moral wird Berlusconi nicht
Wieder steht der italienische Regie- dass sie 7000 Euro und andere Geschenke zu Fall kommen. Denn deretwegen ist er
rungschef im Zentrum einer Affäre, wie- für einen Abend bekommen habe. nicht gewählt worden. Er kann stürzen
der geht es um Minderjährige, Prostitu- Für einen Abend mit dem Premier- über seine nicht gehaltenen Versprechun-
tion und Amtsmissbrauch. Und wieder minister. gen, über die neu gewucherten Müllhau-
wird sein politisches Ende prophezeit. Sie erwähnte auch den Namen eines fen in Neapel. Besessen von seinen eige-
Gianfranco Fini, der Präsident der Ab- Spiels während dieser Feste: „Bunga-Bun- nen Problemen mit der Justiz, gefangen
geordnetenkammer, der die Zusammen- ga“, ein Begriff, den Berlusconi von Mu- in einem Gespinst von Speichelleckern,
arbeit seiner Partei mit Berlusconi aufge- ammar al-Gaddafi übernommen habe. ist dieser Mächtige unfähig, Reformen
kündigt hat, verlangt von ihm „einen Das Mädchen betont allerdings, nie Sex durchzusetzen. Dass Italien die Kredit-
Schritt zurück“. Drei Abgeordnete sind mit dem Premier gehabt zu haben. krise besser überstanden hat als Griechen-
letzten Mittwoch zu Finis Lager gewechselt. In Rom kursierten schon lange Ge- land, Portugal und Irland, ist allein das
Und das alles nur wegen Karima el-Ma- schichten über die Saturnalien im Hause Verdienst von Finanzminister Giulio Tre-
rough? Jener grad volljährig gewordenen des Herrschers, der Villa Arcore bei Mai- monti und des noch sehr traditionellen
Schönen, die sich selbst „Ruby Rubacuori“ land. Dahindrapierte halbnackte Schön- italienischen Wirtschaftssystems.
nennt, Ruby Herzensräuberin? Als Zwölf- heiten und Lap-Dancers, Wein, Drogen Viele hoffen jetzt, dass Fini den Brutus
jährige sollte sie von ihrem marokkani- und Meeresfrüchte, napolitanische Ge- spielt. Und nicht wie bislang den Fabius
schen, auf Sizilien lebenden Vater mit ei- sänge des Hausherrn, immer wieder hym- Cunctator, den Zögerer.
nem viel Älteren verheiratet werden. nische Anrufungen („Gott sei Dank, dass ALEXANDER SMOLTCZYK
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Ausland
JEMEN
D
er Toyota mit den Koranversen
ist oberhalb der Hafenanlagen
zum Stehen gekommen. Man
muss die Augen zusammenkneifen im
weißen Licht. Da ist die Insel Sira, davor
der Felsen mit der Villa des letzten Macht-
habers des Südjemen, „der einzige legiti-
me Präsident“, betont Nassir al-Taawid.
Manche glauben, der Garten Eden habe
sich hier befunden. Und da unten lag der
US-Zerstörer „Cole“, auf den al-Qaida im
Oktober 2000 einen Sprengstoffanschlag
verübte – 17 amerikanische Soldaten
kamen damals um.
Hier fing alles an.
Taawid lässt sich zurück in die Stadt
fahren. Der Fahrer des Toyota trägt einen
Bin-Laden-Bart, zur Tarnung: „Das ist
unauffälliger“, sagt er. Wer sich in Aden
derzeit diskret sprechen möchte, der
muss den Frommen spielen. So sind die
Zeiten: „Wir sind ein besetztes Land.“
Nassir al-Taawid ist ein ehemaliger Ge-
neralmajor der Luftwaffe. Ein gutaus-
sehender Mann, aufrecht und gefechts-
bereit, nur ohne Uniform und ohne Sol-
daten. Der 53-Jährige haust mit seiner
Familie in einer Zementhütte über dem
Hafen. Gerade kommt er von einem Tref-
fen seiner Bewegung, der Harak.
Die Harak will den Jemen 20 Jahre
nach der Vereinigung wieder in zwei Teile
trennen. Also zurück in jene Zeit, als es
zwischen dem Roten Meer und dem Golf
von Aden noch zwei unabhängige jeme-
nitische Staaten gab: den religiös gepräg-
ten Norden und den mit Moskau verbün-
deten sozialistischen Süden. Der Anfüh-
SIMON NORFOLK / AGENTUR FOCUS
nale Regierung des gesamten politischen rage. Da lagern bereits 16 ältere Männer.
Spektrums zu bilden, um rechtzeitig Wah- Sie sind barfuß und in Wickelröcke ge-
len abzuhalten“, im April 2011. Inzwi- kleidet und rupfen langsam Blatt für Blatt
schen will er nichts mehr davon wissen. von ihren Kat-Zweigen, während im Fern-
Am Dienstag voriger Woche startete sehen Tennis läuft, ohne Ton.
die Armee demonstrativ eine großange- Es ist eine der Kat-Runden, in denen
legte Militäroperation gegen die AQAP. die jemenitische Demokratie praktiziert
Der Präsident weiß, dass er jetzt keine wird. Schwerlich würde jemand auf den
Rücksicht mehr auf die Stämme nehmen Gedanken kommen, in diesen kauenden
kann. Die Paketbomben-Sache war zu Herren die alte Elite zu sehen. Aber es
groß. Salih muss den USA, Saudi-Arabien sind ehemalige Minister, Universitätsdi-
und dem Rest der Welt beweisen, dass er rektoren, Diplomaten und Gouverneure
es allein kann. Er muss Hirn und Hand- der 1990 untergegangenen Volksdemokra-
werker des vereitelten Anschlags fassen, tischen Republik Jemen. Einige sprechen
und zwar schnell. Deutsch und schwärmen von ihrer Zeit
Schon seit August hatten die Militärs in Dresden und Karl-Marx-Stadt.
Einsätze in den südlichen Provinzen Abjan Im Sozialismus war auch Kat verboten,
und Schabwa durchgeführt. „Von nun an außer am Donnerstag und Freitag. Inzwi-
gibt es zwischen uns nur noch Blut und schen haben selbst die Würdenträger von
abgeschnittene Köpfe“, gab Anwar al-Aw- einst dicke Backen: „Es regt den Geist
laki, gewohnt vollmundig, damals bekannt. an“, behaupten die Kat-Anhänger.
„Solange ihr dem Despoten Salih dient, Hier wird die Zukunft verhandelt, und
dem Lakaien Amerikas, das einen Kreuz- die Vergangenheit sowieso. Es gibt in der
zug gegen den Islam führt“,
würden die Soldaten nicht
geschont. In den Straßen
Sindschibars wurden im
September schwarze Listen
verteilt mit Todesdrohun-
gen gegen 55 namentlich ge-
nannte Offiziere.
Mindestens zweimal, in
den Städten Laudar und
Huta, kam es zu direkten
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Ausland
Musliminnen in Amsterdam, Islam-Kritiker Wilders: „Genug ist genug, wir werden uns wehren“
SPI EGEL-GESPRÄCH
SPIEGEL: Herr Wilders, Sie gelten als der SPIEGEL: Was haben Sie gegen den Islam? Islam eine totalitäre und gewalttätige
starke Mann hinter der neuen niederlän- Wilders: Das größte Problem Europas – Ideologie ist. Mehr Ideologie als Religion,
dischen Regierung, weil die als Minder- nicht nur heute, sondern seit Jahrzehnten vergleichbar mit Kommunismus oder
heitskabinett auf Ihre Duldung angewie- schon – ist kultureller Relativismus. Er Faschismus. Der Islam gefährdet unsere
sen ist. Warum setzt Ihre Partei, 65 Jahre führt dazu, dass die Europäer heute nicht Freiheit.
nach dem Holocaust, auf Rezepte von mehr wissen, worauf sie stolz sein sollen
vorgestern – auf religiöse und rassische und wer sie eigentlich sind. Weil ein von
Ausgrenzung? sogenannten Liberalen und Linken auf- Geert Wilders
Wilders: Wir befürworten keine religiöse gezwungenes Konzept besagt, alle Kul- ist Vorsitzender und einziges Mitglied der
und schon gar keine rassische Ausgren- turen seien gleich. niederländischen Partei für die Freiheit
zung. Wir haben kein Problem mit ande- SPIEGEL: Gleich oder gleichwertig? (PVV). Kritik an der EU, am Islam und an der
ren Hautfarben, auch nicht mit Muslimen Wilders: Es geht um das, was das schöne multikulturellen Gesellschaft brachten der
– unser Problem ist der Islam. Damit spre- deutsche Wort „Leitkultur“ beschreibt. PVV seit ihrer Gründung 2006 Stimmen-
chen wir vielen unserer Landsleute aus Ich denke, dass wir stolz sein sollten zu zuwächse und bei der Parlamentswahl im
dem Herzen. Wir wurden drittstärkste sagen, dass unsere Kultur besser ist als Juni 2010 mit 15,5 Prozent den dritten Platz.
Partei bei den Wahlen im Juni und sind zum Beispiel die islamische. Wer das sagt, Die amtierende Koalition aus Rechtslibera-
inzwischen, nach letzten Umfragen, be- ist noch kein Rassist, Nazi oder Fremden- len und Christdemokraten wird von Wilders,
reits zweitstärkste Partei in Holland. hasser. Das sind Etiketten, die uns und 47, geduldet. Der bekennende Israel-Freund
vielen Menschen in den Niederlanden, in und Islam-Kritiker lebt unter strengsten
Das Gespräch führten die Redakteure Walter Mayr und Deutschland oder England aufgeklebt Sicherheitsvorkehrungen in Den Haag.
René Pfister in Den Haag. werden – nur weil wir glauben, dass der
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SPIEGEL: Sie behaupten, die niederländi-
sche Kultur sei besser als jene in islami-
schen Ländern. Warum greifen Sie be-
wusst zu Vergleichen, die Menschen an-
derer Konfession herabsetzen?
Wilders: Wer die Tradition von Judentum,
Christentum und Humanismus mit der
des Islam vergleicht, muss nicht Einstein
heißen, um den Unterschied zu sehen.
Kennen Sie ein Land im Nahen Osten, in
dem die islamische Kultur vorherrscht
und wo es wirklich einen Rechtsstaat
gäbe und unabhängigen Journalismus?
Wo Ungläubige, Frauen, Schwule tun
könnten, was ihnen gefällt? Im Westen
haben Menschen ihr Leben gegeben für
die Freiheiten, die wir heute genießen.
SPIEGEL: Sie nehmen nicht zur Kenntnis,
dass Kulturen und Religionen verändert
werden können durch die Menschen. War
es nicht bei der katholischen Kirche ge-
nauso?
Wilders: Ja, aber wie lange hat das gedau-
ert? Ich sage nicht, dass ich den Islam
verbieten will. Ich will weniger Islam in
Europa. Weil er keinen Platz für Diskus-
sionen lässt. Nehmen Sie dagegen den
Judaismus, das Leben in den Jeschiwas:
Da wird diskutiert darüber, wie der Tal-
mud interpretiert werden soll. Im Koran
hingegen heißt es, wer nicht jedes Wort
glaubt, ist ein Ungläubiger. Und die Strafe
dafür ist bekannt: der Tod.
SPIEGEL: Sie leben rund um die Uhr mit
Bodyguards und schlafen in einem schwer-
bewachten Wohnkomplex der Regierung.
Wann treffen Sie eigentlich das Volk, des-
sen Fürsprecher Sie angeblich sind?
Wilders: Ich mache Wahlkampf. Ich zeige
mich auf den Straßen. Das ist dann al-
lerdings, zugegeben, ein merkwürdiges
Spektakel: Um mich herum sind mehr
Polizisten, als man zählen kann.
SPIEGEL: Eine kostspielige Sache für den
niederländischen Steuerzahler.
Wilders: Stimmt. Aber die Alternative
wäre, dass ein demokratisch gewählter
Politiker wie ich, der niemanden mit dem
Tode bedroht hat, nicht mehr öffentlich
auftreten kann. Im Kampf um die Freiheit
des niederländischen Volks habe ich mei-
ne eigene Freiheit verloren. Ich weiß, dass
es normales Leben für mich weder heute
noch morgen geben wird. Aber das ist
der Preis, der bezahlt werden muss.
SPIEGEL: Sie sind einer der meistgeächte-
ten Politiker Europas. Aber in Wahrheit
lieben Sie es doch, wenn Sie mit Ihren
Thesen für Aufregung sorgen.
Wilders: Die Menschen lieben oder hassen
mich, es gibt da keine Grauzone. Ich und
meine Partei, wir sind eine Gefahr für
die politische Elite in vielen Ländern.
Aber sie werden uns nicht stoppen.
Schauen Sie sich Bundeskanzlerin Angela
Merkel an, die sich jetzt an einer Kopie
versucht.
SPIEGEL: Einer Kopie Ihrer Politik, wie Sie
gerade allen Ernstes behauptet haben?
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 123
PHIL NIJHUIS / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
Politiker Wilders (M.), Bodyguards in Den Haag: „Der Preis, der bezahlt werden muss“
Wilders: Merkel hat Angst. Weil es Um- SPIEGEL: Sie vergleichen den Koran mit pitel 19, Vers 27. Räumen Sie ein, dass
fragen gibt, denen zufolge eine charisma- Hitlers „Mein Kampf“. Haben Sie „Mein auch in der Bibel zur Gewalt aufgerufen
tische Persönlichkeit, wenn sie heute Kampf“ gelesen? wird?
hochkäme in Deutschland so wie ich in Wilders: Ja, wenn auch nicht vollständig. Wilders: Im Alten Testament gibt es scho-
den Niederlanden, mit 20 Prozent der Der Koran hat jedenfalls mehr anti- nungslose Passagen, im Neuen Testament
Stimmen rechnen könnte. Ich meine eine jüdische Passagen. Und grundsätzlich: geht es gemäßigter zu. Aber ein entschei-
Persönlichkeit ohne rechtsextremen Hin- Das sind Machwerke mit totalitärem dender Unterschied zwischen Christen-
tergrund, also nicht von den Republika- Ansatz, die keinen Platz lassen für an- tum und Islam ist: Muslime glauben, dass
nern oder von der NPD. Das ist eine Be- dere Meinungen. Faschismus, Kommu- der Koran buchstabengetreu das Wort
drohung für die Volksparteien. Deshalb nismus, Islam gehorchen dem gleichen Gottes abbildet; er ist in der Befehlsform
versuchen sie nun, uns zu kopieren: Mer- Prinzip. geschrieben. Ein Vergleich mit dem Chris-
kel hat die multikulturelle Ge- SPIEGEL: Ihr eigenes Prinzip lau- tentum verbietet sich schon deswegen.
sellschaft für gescheitert erklärt. tet offensichtlich: Je drastischer SPIEGEL: Sie kennen Thilo Sarrazins Buch.
SPIEGEL: Sie hat aber auch „Es wird bald die Vergleiche, desto mehr Teilen Sie seine Meinung, dass es geneti-
gesagt: Der Islam gehört zu ein Verbot ge- Schlagzeilen. sche Gründe für die „Minderwertigkeit“
Deutschland. Und: Wir brau- ben, in Holland Wilders: Schlagzeilen brauche bestimmter ethnischer Gruppen gibt?
chen weitere Zuwanderung. die Burka zu ich nicht. Mir geht’s um die Wilders: Ich glaube nicht an genetische
Wilders: Ja, aber dass die multi- tragen. Wir Wahrheit. Ursachen, ich bin davon weit entfernt.
kulturelle Gesellschaft geschei- SPIEGEL: Die Wahrheit ist, dass Ich glaube vielmehr daran, dass alle Men-
tert sei, das habe ich zuvor
sind sehr Sie die Gesellschaft spalten: schen, die sich zu unseren Werten beken-
noch nie von ihr gehört. Und erfolgreich.“ Hier in Den Haag stammt fast nen, zu unseren Gesetzen, unserer Ver-
die Mehrheit der Deutschen die Hälfte der Einwohner aus fassung, vollwertige Mitglieder unserer
lehnt die Aussage von Bundespräsident Migrantenfamilien, viele davon aus mus- Gesellschaft sind. Ich gehe sogar so weit
Wulff ab, der Islam sei ein Teil Deutsch- limischen. Und Sie fordern, den Koran zu sagen: Die Mehrheit der Muslime in
lands. Das heißt: Was wir in Holland be- zu verbieten? Europa sind Menschen wie du und ich,
reits erlebt haben, passiert nun auch bei Wilders: „Mein Kampf“ ist bei uns verbo- sie führen ein normales Leben, haben ei-
Ihnen – die politische Elite ist in Aufruhr. ten. Dabei ist der Koran schlimmer, was nen normalen Beruf und wollen das Beste
SPIEGEL: An wen denken Sie da? Anstachelung zu Hass und Gewalt an- für ihre Kinder. Mein Problem ist der
Wilders: CSU-Chef Horst Seehofer sagt geht. Wenn meine Freunde auf der Lin- wachsende Einfluss einer Ideologie, die
nicht nur, dass die multikulturelle Gesell- ken konsequent wären, müsste auch der uns unsere Freiheit kosten wird.
schaft tot ist, sondern auch, dass er keine Koran verboten werden. SPIEGEL: Sehen Sie einen deutschen Geert
türkischen und arabischen Immigranten SPIEGEL: Kennen Sie das Prophetenwort: Wilders am Horizont?
mehr will. Wenn ich das Gleiche in Hol- „Doch diese meine Feinde, die nicht woll- Wilders: Ich war unlängst in Berlin auf
land sagen würde, käme ich vor Gericht. ten, dass ich ihr König werde, bringt her Einladung von René Stadtkewitz …
Als ich im Oktober in Berlin auftrat, mel- und macht sie vor mir nieder“? SPIEGEL: … einem Ex-CDU-Mann, der
dete sich fast das halbe deutsche Kabinett Wilders: Ich habe viele solche Passagen ebenfalls eine andere Integrationspolitik
mit Protest zu Wort – ist das kein Zeichen gelesen. fordert und kürzlich eine Partei mit Na-
dafür, dass die Eliten dort verunsichert SPIEGEL: Der zitierte Prophet war aller- men „Die Freiheit“ gründete, den in
sind? dings Jesus, nachzulesen bei Lukas, Ka- Deutschland aber keiner kennt.
124 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Ausland
Wilders: Mag sein, aber für mich zählt vor Sanktionen waren die Folge. Nichts der-
allem eines: Mit extrem rechten Parteien gleichen passiert heute in Schweden,
wie den deutschen Republikanern, wie Dänemark oder den Niederlanden. Es
Le Pens Front national oder der British scheint, als sei der Rechtspopulismus in
National Party will ich nicht das Gerings- Europa salonfähig geworden.
te zu tun haben. Wilders: Die EU täte gut daran, sich an
SPIEGEL: Sie grenzen sich von deren ewig- den Gedanken zu gewöhnen. Meine Par-
gestrigen Chiffren ab, sind sich aber einig tei wird nicht die letzte sein, die da hoch-
beim lautstarken Werben um die Stim- kommt. Die Dänische Volkspartei unter-
men der hart arbeitenden Mittelschicht? stützt bereits seit neun Jahren eine
Wilders: Wir wollen mit diesen rechtsex- Minderheitsregierung, und niemand in
tremen Parteien nichts zu tun haben. Nach Europa beschwert sich darüber.
unserem Erfolg bei den EU-Wahlen haben SPIEGEL: Sie haben sich vehement gegen
wir uns deshalb auch keiner Fraktion im einen EU-Beitritt der Türkei ausgespro-
Europaparlament angeschlossen. Fragen chen. Wie beurteilt die neue niederlän-
Sie doch unsere politischen Gegner in den dische Regierung den Annäherungspro-
Niederlanden: Die teilen zwar nicht un- zess der muslimisch geprägten Republik
sere Meinung, behaupten aber auch nicht Bosnien-Herzegowina und des Kosovo
alle, dass Wilders und seine Leute Extre- an die EU?
misten sind. Wer an die zwei Millionen Wilders: Das ist nicht im Regierungs-
Niederländer als Extremisten bezeichnet, abkommen geregelt. Meine Partei aller-
beleidigt nicht mich, sondern die Wähler. dings lehnt jede Form von EU-Erweite-
SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien kein Ex- rung ab. Wir werden gegen sämtliche
tremist. Und fordern gleichzeitig eine weiteren Kandidaten inklusive Kroatien
„1000-Euro-Kopflumpensteuer“ jährlich stimmen. Die Regierung wird sich in die-
für Frauen, die ihr Haupt verhüllen? sem Fall ihre Mehrheit anderswo suchen
Wilders: Ich habe dafür keine Mehrheit im müssen. Vor allem aber werden wir gegen
Parlament bekommen. Mir geht es ums die Aufnahme der Türkei stimmen –
große Ganze, aber immer wieder wird in Nachbar ja, Familienmitglied nein. Gäbe
der Öffentlichkeit dieser eine Antrag her- es die Armee nicht, so würden in der Tür-
ausgepickt. kei durch Herrn Erdogans Partei die Isla-
SPIEGEL: War die Sache mit der „Kopflum- misten ohne Gegengewicht regieren. Und
pensteuer“ also ein schlechter Witz? wir hätten irgendwann ein Trojanisches
Wilders: Nein, kein Witz, nur ein Antrag Islamisches Pferd in der EU. Plus eine
unter vielen. Wir stützen immerhin eine Außengrenze mit kriminellen Staaten wie
Minderheitsregierung, die ohne uns nicht Syrien und Iran.
an der Macht wäre. Und das heißt: Es SPIEGEL: Was es noch nie gab, bis Geert
wird bald ein Verbot geben, in Holland Wilders kam: dass eine Ein-Mann-Partei
die Burka zu tragen, und eine enorme über die Geschicke eines EU-Mitglieds-
Verringerung der Einwanderung. Wir sind landes mitbestimmt. Sie sind einziges
sehr erfolgreich. Mitglied, Parteivorsitzender, Fraktions-
SPIEGEL: Was erwartet die niederländi- führer, Chefideologe und Schatzmeister
schen Muslime? Wer sich nicht anpassen der von Ihnen gegründeten PVV. Soll das
will, wird künftig zurückgeschickt? so bleiben?
Wilders: Nein, nicht zurückgeschickt. Es Wilders: Wir werden demnächst in der
sei denn, es handelt sich um Kriminelle. Fraktion diskutieren, ob wir weitere Par-
SPIEGEL: Der neue Minister für Immigra- teimitglieder zulassen. Uns geht es dar-
tion hat Sie vor nicht allzu langer Zeit um zu vermeiden, dass die falschen Leute
noch als den „Vormann ordinärer Dreck- unsere Partei als Geisel nehmen.
schleudern im Internet“ bezeichnet. Ha- SPIEGEL: Ist es nicht in Wahrheit so, dass
ben Sie ihn inzwischen zur Rede gestellt? Ihre Partei den falschen Kampf führt –
Wilders: Wenn ich mit Leuten, die mich im Namen einer westlichen Zivilisation,
beschimpfen, nicht sprechen würde, die erkennbar an Überalterung, Bevölke-
könnte ich keine Politik machen. Ich hatte rungsschwund und Parteienverdrossen-
ein gutes Gespräch mit ihm. Mir geht es heit leidet?
um die Ergebnisse, die diese Koalitions- Wilders: Die demografische Entwicklung
regierung mit unserer Unterstützung er- ist in der Tat negativ. Ich las gestern, dass
zielen soll – ich sehe das rein geschäftlich. in England letztes Jahr Mohammed der
Wenn die Regierung ihre Versprechen er- am häufigsten gewählte Vorname für Jun-
füllt, ist es gut. Wenn nicht, bekommt sie gen war. Ich habe nichts gegen muslimi-
ein Problem. sche Babys. Aber wenn der neue Lieb-
SPIEGEL: Schämen Sie sich manchmal für lingsname der Engländer jetzt Moham-
den Hass, den Sie säen? med ist, haben wir ein Problem. Europa
Wilders: Ich säe keinen Hass. Ich nutze muss aufstehen, mit vereinten Kräften,
nur die demokratischen Möglichkeiten und der islamischen Welt mitteilen: Ge-
im Parlament. nug ist genug, wir werden uns wehren,
SPIEGEL: Das hat auch die österreichische mit demokratischen Mitteln.
FPÖ behauptet, als sie vor zehn Jahren SPIEGEL: Herr Wilders, wir danken Ihnen
Teil der Wiener Regierung wurde. EU- für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 125
Ausland
I
n aller Herrgottsfrühe sind sie aufge- wird der Papst sprechen. Wenn er denn hastig ihre Aufnahmegeräte und Digital-
standen, vor Roms Billigflughafen spricht. Er sitzt ganz vorn in der First Class, kameras mit Kreppband unter die Ge-
Ciampino springen sie aus Taxis, strei- man sieht meist nur Kardinäle, wenn sie päckfächer. Sie sind die Einzigen, die sei-
chen ihre dunklen Anzüge und züchtigen durch die Holzklasse zur Toilette eilen. ne Botschaften, ob gelungen oder miss-
Röcke glatt und sprinten zum Spezial- Papst Johannes Paul II., Vaticanisti nen- glückt, exklusiv um die Welt schicken.
schalter der Alitalia. Die fliegt den Papst. nen ihn zärtlich JP2, lag zuletzt auf einer Die Vaticanisti reisen auf ganz eigene
Der kommt als Letzter, in einer creme- Liege vor dem Cockpit. Als er noch gehen Art über den Wolken, sind nah dran und
farbenen Mercedes-Limousine. konnte und sie ihn wegen seiner 104 Aus- doch gefangen, embedded mit Benedikt.
Die Vaticanisti, Vatikanbeobachter, landsreisen „eiliger Vater“ oder „Fliegen- Das ändert sich auch nicht nach der Lan-
auch „Vat-Pack“ genannt, begleiten Be- der Fels“ tauften, spazierte er durch die dung. B16 hat das Rollbahn-Küssen abge-
nedikt XVI. auf seinen Reisen um die Holzklasse, tätschelte die Mexikanerin, schafft. Er schreitet die Gangway hinunter,
Welt, zuletzt vergangenes Wochenende, erkundigte sich nach den Enkeln des Ita- dann gleitet er im Papamobil zu Fußball-
als er den krisengebeutelten Spaniern bei- lieners und begeisterte Pilgermassen in al- stadien, Kathedralen und Präsidenten-
stand und Barcelonas be- palästen, und auf den Stra-
kannteste Kirche, Gaudís ßen winken die Menschen.
Sagrada Família, weihte. Die VAMP-Karawane folgt
Rund 50 Journalisten und im Gänsemarsch, fühlt, wie
Fotografen bilden die Entou- sein Glanz auf sie abstrahlt,
rage Benedikts, es sind Ita- will jubeln, will zurückwin-
liener, klar, ein paar Polen, ken, soll kritisch bleiben,
Franzosen, US-Amerikaner kein leichter Job. Dann sit-
und natürlich Deutsche. Sie zen sie in Pressezentren,
sind eine eingeschworene verfolgen die Messen auf
Gemeinde – Konkurrenten BBC oder Telepace. Und so
auf Benedikts Himmelsfahr- mancher denkt, das hätte er
ten und doch vereint im auch in der Redaktion ha-
Kampf gegen Übermüdung, ben können.
Frust und Langeweile. Damit sie trotzdem auf
Ihr Peiniger heißt Vik ihre Kosten kommen, lädt
van Brantegem, ein übellau- Vik, der Journalistenschin-
niger Flame mit schwarzer der, morgens um fünf zur
Krawatte und Sender im heiligen Messe für die
Ohr. Vik ist päpstlicher VAMPs und verteilt die
AFP
126 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Szene Sport
PSYCHOLOGI E
„Nährboden für
Depressionen“
Jens Kleinert, 46, Psycho-
ANDRE ZELCK / LAIF
DIRK BRUNIECKI
fast fünf Prozent der Sportler sind die
Symptome so intensiv, dass sie drin- Daxl (M.)
gend Hilfe brauchten.
SPIEGEL: Woher kommt das?
Kleinert: Belastung und Erholung ste- FUSSBALL
Zweiter Bildungsweg
hen in keinem gesunden Verhältnis.
Die jungen Sportler haben oft den-
selben Trainingsumfang wie Profis, zu-
sätzlich müssen sie ihre Schulausbil-
dung meistern. Außerdem stecken sie
in der Pubertät.
SPIEGEL: Mit welchen Langzeitfolgen
E s gibt bereits reichlich Fußball im
Fernsehen, und es gibt allerlei Cas-
ting-Shows. Martin Daxl hat eine Idee
nik Scherr, 18, aus Gnas steht jetzt der
Gewinner fest. Der Stürmer bekommt
einen Vertrag beim Erstligaclub Kap-
müssen sie rechnen? für eine Casting-Show für Fußballer fenberger SV, das Grundgehalt zahlt
entwickelt, doch er reklamiert ein Daxls Firma. Bei deren Pilotprojekt
Alleinstellungsmerkmal für sein Kon- im Vorjahr landete auf ähnliche Weise
zept, sogar einen „sozialen Ansatz“. Drazen Savić, 22, im Profikader von
Daxl, 50, ein Persönlichkeitstrainer für Arminia Bielefeld. Volkswagen stieg
Erfolgsoptimierung aus Schermbeck, als Sponsor ein, eine TV-Produktions-
MORRIS MAC MATZEN / REUTERS
sagt, er komme aus „der menschlichen firma bietet das Format nun deutschen
Ecke“. Seine Idee ist der „zweite Bil- Sendern an.
dungsweg für Profis“, diesen Begriff
hat er sich markenrechtlich schützen
lassen. Talente, die im ersten Anlauf
scheiterten, können sich im Internet
bewerben und werden einer mehr-
HANS KLAUS TECHT / PICTURE-ALLIANCE / DPA
WELLENREITEN
M
ächtige Wellen schlagen auf das Arm, die in der Brandung kämpft wie abband. Immer wieder verlor sie das Be-
Riff, ein paar Surfer treiben hilf- eine Ertrinkende, aber irgendwie immer wusstsein. Der Hai hatte ihr den linken
los wie Korken in der reißenden den Kopf oben behält. Arm abgebissen, knapp unterhalb der
Strömung. Bethany Hamilton, 20, beob- Als sie kurz darauf ihre erste Welle rei- Schulter.
achtet vom Strand aus die Brandung, sie tet, erheben sich die Zuschauer in den Jedes Jahr werden vor Hawaii Surfer
hat ein Surfbrett unter dem rechten Arm. Dünen und applaudieren. von Haien angegriffen. Der Fall von Be-
Es wird schwer für sie werden, sich in die- Die Geschichte der Bethany Hamilton, thany Hamilton ging um die Welt. Noch
sen Brechern zu behaupten. Aber sie der einarmigen Surferin aus Hawaii, ist im Krankenhaus liegend fragte sie:
muss da jetzt hinaus. ein modernes Märchen. Sie begann mit „Wann kann ich wieder surfen?“ Die Ärz-
Die besten Surfprofis der Welt sind für einem Alptraum. Es passierte an einem te und ihre Eltern dachten, es sei der
einen Weltcup nach Peniche gekommen – klaren, wolkenlosen Morgen im Oktober Schock. Doch vier Wochen später stand
ein Fischerort an der Westküste Portugals. 2003. Hamilton, damals 13 Jahre alt, war das Kind tatsächlich wieder auf einem
Als die blonde Surferin von der hawai- mit Freunden zum Surfen gegangen. Surfboard. Das Meer, erklärte sie, „ist
ischen Insel Kauai hinauspaddelt, sind Nach ein paar Wellenritten ließ sie sich meine zweite Heimat“, sie verspüre keine
alle Kameras der Fotografen auf sie ge- im Wasser treiben. Sie sah den Hai nicht Angst. Selbst ihr Therapeut war verblüfft
richtet. kommen, der Angriff erfolgte aus der Tie- von diesem Mädchen.
Ihr Brett hat vorn auf der Spitze einen fe des Ozeans. Sie erinnert sich an einen Schnell stellte sich Hamilton auf das
Griff, damit Hamilton sich festhalten „schweren Schlag“, an „ein Rütteln“, Surfen mit einem Arm ein. 2004 trat sie
kann, wenn sie unter den heranrollenden dann war überall Blut im Wasser. Sie spür- erstmals wieder bei kleineren Wettkämp-
Wellen hindurchtaucht. Langsam arbeitet te keine Schmerzen. fen an, nun surft sie im Weltcup gegen
sie sich hinaus durch die schäumende See. Ihre Freunde brachten Bethany zurück die besten Profis aus Australien, Brasilien
Eine zierliche junge Frau mit nur einem an den Strand, wo ihr jemand die Wunde und den USA. Es ist ein kleines Wunder.
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Surferin Hamilton
Ein kleines Wunder
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Sport
Unternehmer Fomenko, Marussia-Sportwagen: Nichts mehr gemein mit den klapprigen Limousinen aus vaterländischer Produktion
N
eben ihm wirkt selbst ein Ferrari sinen aus vaterländischer Produktion. Firmen abzustoßen, wenn sie keinen Er-
zahm. Der Marussia B2 sieht aus Seit drei Jahren existiert die Firma Ma- folg brachten oder sich mit Gewinn ver-
wie das Kampffahrzeug eines russia Motors, die nun den internationa- kaufen ließen.
Filmschurken, flach, breit, mit riesigen len Markt erobern möchte. „Wir wollen An diesem Donnerstag, vor dem letz-
Lufteinlässen in der Wagenfront. Er ist zeigen, dass das neue Russland nicht nur ten Grand Prix der Saison in Abu Dhabi,
das automobile Muskelshirt, wer ihn im ein modernes Auto für den eigenen soll der Deal bekanntgegeben werden
Rückspiegel erblickt, sollte sofort han- Markt schaffen kann, sondern eines für und Marussia ab 2011 im Teamnamen auf-
deln, wenn er Ärger vermeiden will: die ganze Welt“, sagt Jefim Ostrowski, tauchen. Bei ihrem Einstieg in die Königs-
rechts ranfahren, vorbeilassen. einer von vier Investoren. klasse des Autorennsports hoffen die rus-
Lange mussten Russlands Neureiche Damit die Welt dies auch merkt, will sischen Investoren auf Werbegelder von
mit Sportwagen ausländischer Produk- Marussia vom kommenden Jahr an in der russischen Großunternehmen wie den
tion vorliebnehmen. Inzwischen werden Formel 1 mitfahren. Vorige Woche ist eif- Erdöl- und Gasriesen Lukoil, Rosneft und
im Norden Moskaus Autos gefertigt, die rig verhandelt worden, um sich an einem Gazprom – und auf einen Werbeeffekt
es in der Käufergunst mit den Lambor- der bestehenden Teams zu beteiligen. Als für ihre eigene, neue Marke. „Wir haben
ghinis und Porsches aufnehmen. Auf dem Übernahmekandidat gilt, neben Toro Ros- jene halbe Milliarde Menschen im Visier,
Gelände einer ehemaligen Rüstungs- so und HRT, vor allem Virgin Racing. Es die bei Formel-1-Rennen vor dem Bild-
fabrik bauen Mechaniker in Handarbeit wäre der logische Partner. Marussia spon- schirm sitzen“, sagt Ostrowski. Treibende
zwei Modelle zusammen, den B1 und B2. sert den Rennstall des englischen Multi- Kraft hinter dem Projekt ist auch ein an-
Beide haben bis zu 420 PS unter der Hau- unternehmers Richard Branson bereits. derer Mitbegründer von Marussia: Niko-
be, die westliche Fachpresse lobt sie als Außerdem arbeitet Marussia Motors eng lai Fomenko, ein Sänger, Schauspieler,
„Rakete auf Rädern“. mit dem englischen Triebwerkhersteller Unternehmer und Hobbyrennfahrer.
Zwar umgeben die Werkhallen wie zu Cosworth zusammen und bezieht von Die Formel 1, einst europäisch geprägt,
Sowjetzeiten triste Betonmauern und Sta- dort Motor samt Antriebsstrang für seine wandelt sich immer mehr zu einer Renn-
cheldraht, doch ein Marussia hat nichts Sportwagen. Und: Cosworth-Motoren ste- serie, in der sich die neue Weltordnung
mehr gemein mit den klapprigen Limou- cken auch in Virgins Formel-1-Rennautos. spiegelt. Mehrere Rennen finden in Ara-
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bien und Fernost statt, Teams indischer Sport-Großereignisse wie der Grand Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten
und malaysischer Nationalität schicken Prix mehren Putins Ruf als Vater der Na- darf. Die Entscheidung darüber fällt am
ihre Autos an den Start. Der erste russi- tion. Und sie dienen ihm dazu, das Land 2. Dezember in Zürich, und die Chancen
sche Pilot, Witalij Petrow, fährt bei Re- wieder in den Rang einer Sport-Super- stehen nicht schlecht für die Russen.
nault und wird von Lada gesponsert. Ma- macht zu erheben. Bisweilen ist der Marussia-Gründer Ostrowski weiß Pu-
russias Einstieg ist der nächste Schritt, mit Druck von Politik und Öffentlichkeit der- tins Einsatz zu schätzen: „Er hat Russland
dem Russland auf die Bühne des Motor- art groß, dass Russlands Eishockeytrainer wieder stark gemacht. In diesem Sinne
sports drängt. Mit einer Macht, als wäre Wjatscheslaw Bykow nach dem Debakel ist Putin unser Bündnispartner“, sagt er.
es Staatsräson. bei den Winterspielen in Vancouver ver- Im Herzen von Moskau hat die Firma
Premierminister Wladimir Putin, Russ- zweifelt ausrief: „Dann stellt doch eine einen Showroom eröffnet, wo betuchte
lands starker Mann, führte Mitte Oktober Guillotine auf den Roten Platz und richtet Kunden das Modell B1 bewundern kön-
Bernie Ecclestone durch die Schwarz- die gesamte Mannschaft öffentlich hin.“ nen: sechs Zylinder, von null auf hundert
meer-Stadt Sotschi. Dort, an den Ausläu- Putin begreift den Sport als einigendes Stundenkilometer in 4,2 Sekunden.
fern des Kaukasus, werden die nächsten Band für eine Nation, die 20 Jahre nach Blau-weiß-rot spiegelt sich Marussias
Olympischen Winterspiele ausgetragen. dem Zerfall der Sowjetunion noch immer Firmenlogo auf der Karosse, Russlands
Die beiden Männer unterzeichneten ei- auf der Suche nach sich selbst ist. Der Nationalfarben. Ein Interessent betritt
nen Vertrag, der Sotschi zur neuesten Sta- Premier, Judokämpfer und mit 58 Jahren den Salon, er streichelt über den Sport-
tion des Formel-1-Zirkus macht. 140 Mil- gut durchtrainiert, hatte sein Englisch auf- wagen. „Endlich ein Auto“, sagt er , „das
lionen Euro soll der Bau des Kurses kos- gebessert, um Sotschis Olympia-Bewer- unserem Vaterland keine Schande
ten, 2014 wird erstmals gefahren. Gleich bung persönlich vorzutragen. Ebenso macht.“ BENJAMIN BIDDER,
nach Olympia. kämpft er dafür, dass Russland 2018 die DETLEF HACKE, MATTHIAS SCHEPP
Szene
L I T E R AT U R
Modenschau
jung, doch in ihren Gelenken knackt
es wie in altem Parkett; auch trübt sich
die Stimmung empfindlich ein. „Mit
auf Papier
zwei Paar Wollstrümpfen, mit Knie-
wärmern, mit zwei übereinandergetra-
genen, an den Ellenbogen zerschlisse-
nen, mit Eidotterresten und winzigen
Holzspänen durchsetzten Strickjacken
und in einer ausgeleierten Jogginghose
war mir weder warm noch romantisch
zumute.“ Rettung aus diesem Paradies
winkt der jungen
Dame aus dem fer-
nen Indien, in das
der verstorbene On-
FRANCOIS BERTHOUD / COURTESY GALERIE BARTSCH & CHARIAU
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Kultur
A F FÄ R E N FERNSEHEN
Kino in Kürze
Peter Sloterdijk
63, ist Philosoph und Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2002 moderiert er
das „Philosophische Quartett“ im ZDF, zusammen mit Rüdiger Safranski. Zu Sloterdijks bekanntesten Veröffent-
lichungen gehören: „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983), „Regeln für den Menschenpark“ (1999) und „Du
mußt dein Leben ändern“ (2009). In diesem SPIEGEL-Essay beschäftigt er sich mit dem bürgerlichen Auf-
begehren gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 und der wachsenden Entfremdung zwischen Politik und Volk.
D E B AT T E
D ER V E R LETZT E STO LZ
ÜBER DI E AU SSCHA LT U NG DE R B Ü RGE R I N D E MOK RAT I E N
VON P E T E R S LOT E RDI J K
W
ann immer Politiker und Politologen sich über den Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken
Zustand einer modernen res publica Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der
machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom römischen Dekadenz zu vergleichen. Welche Vorstellungen er
sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht
Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage
WERNER SCHUERING (O.); BRIDGEMANART.COM (L.); KUGLER / DAVIDS (R.)
einzuwilligen. Nach ihrer Entehrung ruft die junge Frau ihre implicite zu der Auffassung oder der Befürchtung, dass auch
Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und auf die moderne Republik – wie sie vor gut 200 Jahren aus
erdolcht sich vor den Augen der Versammelten. Eine Welle dem monarchiekritischen Zorn der Amerikanischen und Fran-
der Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und zösischen Revolutionen hervorgegangen war – zu gegebener
Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius Zeit eine postrepublikanische Phase folgen werde. Typischer-
Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für weise wäre auch diese durch das erneute Miteinander von Brot
immer beendet. Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze und Spielen charakterisiert oder, um zeitgemäß zu reden, durch
des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Königs wird eine Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie. Es lässt
für alle Zeiten geächtet. sich nicht leugnen, dass die Vorboten solcher Doppelwirtschaft
allgegenwärtig sind. Lesen wir nicht seit geraumer Weile die
A
us der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgen- Zeichen, die für die Rückentwicklung des öffentlichen Lebens
schwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung wird künftig auf Administration und Entertainment sprechen – Wärmedäm-
allein von Römern ausgeübt werden, sie wird prag- mung für Ministerien und Casting-Shows für Ambitionen? Hat
matisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegen- nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über „Post-
seitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten demokratie“, also der Gedanke, dass Bürgerbeteiligung durch
Verwechslung von Amt und Person vor. Aufgrund dieser Be- die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider einge-
schlüsse setzt sich im Jahr 509 vor Christus die am klügsten spart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologi-
konstruierte republikanische Maschine der Menschheitsge- schen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? Sind
schichte in Gang; durch nicht Unzählige schon wie-
die nachträgliche Hinzufü- der existentiell in De-
gung des Volkstribunen- ckung gegangen, wie einst
amts erlangt sie einen un- die antiken Stoiker und
überbietbaren Grad an Epikureer, und haben sich
Effizienz. Eine Erfolgssto- darauf eingerichtet, dass
ry ohnegleichen beginnt, Bürokratie, Spektakel und
bis, fast ein halbes Jahrtau- private Sammlungen jetzt
send später, die Überdeh- die letzten Horizonte mar-
nung des römischen Macht- kieren?
komplexes den Übergang Man könnte aus diesen
zu neomonarchischen Ver- Beobachtungen den vor-
hältnissen erzwingt. schnellen Schluss ziehen,
Die Lucretia-Legende die postdemokratischen
handelt von der Geburt Tendenzen hätten sich in
der res publica aus dem der Dämmerung der zwei-
Geist der Empörung. Was ten republikanischen Ära,
W
keit. Die Unverletztheit der zivilen Würde gilt als höchstes Gut. er aber geglaubt hätte, die Bürgerausschaltung in der
Der öffentliche Argwohn wacht darüber, dass Arroganz und zweiten postrepublikanischen Situation werde so rei-
Gier, die immer virulenten Hauptmächte der Gemeinheit, in bungslos verlaufen wie nach der Etablierung des an-
der res publica niemals die Oberhand gewinnen. tiken Caesaren-Regimes, sähe sich getäuscht: Denn die klassi-
Es dürfte klar sein, warum es nicht unverfänglich ist, in un- schen Autoren Griechenlands besaßen vom Menschen als zu-
seren Tagen von römischer Dekadenz zu sprechen und aktuelle gleich erosbewegtem und stolzbewegtem Wesen ein ungleich
Zustände mit ihr gleichzusetzen. Wer so redet, bekennt sich tieferes Verständnis als die modernen, weil Letztere sich mehr-
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Kultur
heitlich damit begnügten, die menschliche Psyche allein aus rechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor
der Libido, dem Mangel und des Habenwollens zu deuten. Zu allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Auf-
Fragen des Stolzes und der Ehre fällt ihnen seit über hundert gabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszu-
Jahren nichts mehr ein. Folglich nimmt es nicht wunder, wenn drücken.
heute weder Politiker noch Psychologen Rat wissen, sobald sie Begnügen wir uns, um höflich zu sein, mit der Feststellung,
es mit öffentlichen Regungen der vergessenen Stolzkomponente dass solches Vertrauen zu einer knappen Ressource geworden
im menschlichen Seelenhaushalt zu tun bekommen. Wer sich ist. Sogar Berliner Hofpolitologen sprechen von der manifesten
im Panorama der politischen Unruhen in Europa umsieht, be- Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Be-
sonders an den deutschen Krisenherden, sollte sich eines schnell völkerung. Noch scheuen die Experten vor der harten Diagno-
klarmachen: Wenn heute die se zurück, wonach die Politik
Bürgerausschaltung trotz aller der nützlichen Entpolitisierung
Aufgebote an Expertokratie des Volks vor dem Scheitern
und Amüsierkultur nicht ganz steht.
gelingt, so darum, weil man Den Römern der Caesaren-
die Rechnung ohne den Bür- zeit gelang ihr Entpolitisie-
gerstolz gemacht hat. rungskunststück, weil die kai-
serzeitlichen Eliten lange Zeit
M
it einem Mal steht er den Ansprüchen ihrer Bürger-
wieder auf der Büh- welt halbwegs brauchbare Er-
ne – der thymotische satzangebote machten – trotz
Citoyen, der selbstbewusste, handfester Anzeichen postre-
informierte, mitdenkende und publikanischer Dekadenz: Sie
mitentscheidungswillige Bür- verstanden sich darauf, im ci-
D
Grund, sich über die Anmaßung der Herrschenden zu erregen. er Traum der Systeme gebiert Ungeheuer: Das erleben
Selbst wenn die Anmaßung anonym geworden ist und sich in die Regierenden auf ihre Weise, sobald unzufriedene
den sachzwanggetriebenen Systemen versteckt – die Bürger, Bürger sich ihren Projekten und Prozeduren in den Weg
insbesondere in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und als Adres- stellen. Es überrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Ver-
saten hohler Reden vor Wahlen, spüren doch hin und wieder achtung antwortet. Der unwillkommenen Bürgerdissidenz trat
deutlich genug, welches Spiel mit ihnen getrieben wird. man in Stuttgart und Berlin erschrocken mit Großaufgeboten
Aber warum nur können die Leute mit einem Mal nicht auf von Polizei und Schimpfworten entgegen. So also sieht es aus
den ihnen zugedachten Plätzen ruhig halten? Wieso ist auf ihre – das dunkle Etwas, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? „Be-
systemrelevante Lethargie kein Verlass mehr? In der repräsen- rufsprotestierer, Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten,
tativen Demokratie werden Bürger in erster Linie als Lieferan- Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste!“ In diesen Vokabeln
ten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen wer- fassten die Landesregierung und ihre Alliierten in der Haupt-
den sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahl- stadt ihre Eindrücke von den Zehntausenden zusammen, die
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Kultur
gegen ein zerbröckelndes Großprojekt auf die Straße gingen. Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lässt er sich nicht mehr
Soll man diese Wortwahl dadurch entschuldigen, dass die Spre- leicht davon ablenken. Für die politische Klasse kommt hinzu,
cher unter Schock standen? Im Gegenteil, man schuldet diesen dass die moderne Bürgerausschaltung sich als „Einbeziehung“
Politikern Dank, dass sie endlich aussprachen, wie sie über die des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muss
Bürger denken. Bemerkenswerterweise war ein wichtiger Teil mit so viel restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur
der manchmal seriösen Presse bereit, sich in die bedrängte Selbstreproduktion des politischen Apparats nötig ist.
politische Klasse einzufühlen: „Wutbürger“ nannte man jüngst In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so
die neuen Protestierer – was eine kluge Prägung gewesen wäre, ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Es ist
hätte sie die Erinnerung an den ursprünglichen Zusammenhang dem modernen Staat gelungen, seinen Angehörigen im Moment
von Empörung und Republik beschworen. Leider diente sie im ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augen-
aktuellen Gebrauch nur dazu, die lästigen Dissidenzfliegen zu blick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse, die passivste
verscheuchen. Man sieht jedenfalls: Manche Journalisten wissen, Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geber-
wie sie das Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beitragen qualität der Zahlenden hervorzuheben und den Gabe-Charak-
können. ter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernen
Mit Schlagstöcken und Tränengas antwortete die verschreckte Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden Fiktion,
Kaste auf resolute Argumentierer aus dem Volk, die Unstim- sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe
miges in den Plänen für den neuen Stuttgarter Bahnhof entdeckt Schulden, dass sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen
hatten. Mit der Einleitung eines Parteiausschlussverfahrens rea- können. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die
gierte die altehrwürdige morgen und bis zu ihrem
SPD auf ein bewährt ro- letzten Atemzug für das
bustes Mitglied, das unter bezahlen wird, was die
Aufbietung ausführlicher Bürgerausschalter von heu-
Beweise Unstimmiges in te ihr aufbürden. Man sa-
der deutschen Zuwande- ge nicht, die heutige Politik
rungspolitik aufdeckte – habe keine Visionen mehr.
und dabei Tatsachen vor- Noch gibt es eine Utopie
trug, die ohne genetische für unser Gemeinwesen:
Begründungsversuche so- Wenn das Glück auf unse-
lider dastehen als mit die- rer Seite ist und alle alles
sen. Beide Male hieß es, tun, was in ihrer Macht
man habe sich die not- steht, gelingt am Ende
ANN RONAN PICTURE LIBRARY / TOPFOTO / HIP
Ü
ber so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine ge- östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit offener
nauere Analyse des politischen Systems und seiner Pa- Repression. Die Zukunft wird bestimmt sein vom Wettbewerb
radoxien hinausführen: Den Caesaren gelang es noch zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen
scheinbar spielend, Bürgerausschaltung und Bürgerbefriedung Modus der Bürgerausschaltung. Beide Verfahren gehen davon
miteinander zu verbinden. Die moderne repräsentative Demo- aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation von
kratie ist dazu in der Regel außerstande. Daher stehen den Mo- positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungs-
dernen nur zwei Auswege offen, von denen einer ökonomisch handeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassi-
ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bür- vität rechnet. Das ging bisher erstaunlich gut: Sogar nach der
gerausschaltung durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung missglückten Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009 wid-
durch Resignation. Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der meten sich die Bürger Europas in jenem fatalen Dezember lie-
die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat beobachtet. ber ihren Weihnachtseinkäufen als der Politik; sie zogen es vor,
Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese mit vollen Tüten nach Hause zu kommen, statt ihre mit leeren
gleicht oberflächlich der Zufriedenheit unter einer guten Regie- Händen zurückgekehrten „Vertreter“ zumindest symbolisch so
rung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die mutlos grollende zu teeren und zu federn, wie sie es verdient hätten.
Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Der-
gleich sind. In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie gleichen Spekulationen werden früher oder später zerplatzen,
in den USA üblich, auf unter 50 Prozent absinken, ohne dass weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität
die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen. vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit ist. Hat der Zorn
Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem seine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturen
Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Empörung der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür
und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der steht, wird warten müssen.
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Regisseurin Coppola
Privilegiert und eigensinnig
E
s gibt sogar eine Handtasche, die machte das Park Hyatt in Tokio berühmt, mich“, sagt Coppola. Das ist, wie so vie-
nach ihr benannt ist, die Sofia Cop- ihr nächster Film „Marie Antoinette“ er- les, was sie an diesem Nachmittag im In-
pola Bag, schwarzes Leder, goldene zählte vom Einzug der späteren Königin terview äußert, keine überraschende Fest-
Schnallen, ein edles Modell von Louis in Versailles, das auch nur so eine Art stellung, aber es erlaubt Deutungen. Cleo
Vuitton. Sie liegt im leeren Konferenz- Fünf-Sterne-Plus-Hotel ist. Ihr neuester ist ein Mädchen, das schon früh erwach-
raum des Berliner Regent-Hotels auf ei- Film „Somewhere“ spielt im Chateau sen geworden ist, weil es einen kühlen
nem langen Tisch wie ein Platzhalter. Marmont in Los Angeles, einem fast my- Verstand braucht, sich vom Zirkus um
Die Tür zum Balkon ist geöffnet, die thischen Ort, an dem Tag für Tag, und die Prominenz nicht verrückt machen zu
Gardinen wehen, Sofia Coppola steht das seit Jahrzehnten, der große unge- lassen. Es ist das Lebensthema von Sofia
draußen, klein und schmal, über das Ge- schnittene Film namens Hollywood auf- Coppola.
länder gelehnt und telefoniert. Ein Mo- geführt wird. Als sie drei war, soll sie einen Streit
ment wie aus einem ihrer Filme. „Ich habe in meinem Leben viel Zeit zwischen ihren Eltern mit dem Ausruf
Coppola ist eine Hotel-Regisseurin. Ihr in Hotels verbracht“, sagt Sofia Coppola „Cut!“ beendet haben. Damals will der
erster großer Erfolg „Lost in Translation“ mit sehr leiser Stimme, „schon als Kind, Vater erkannt haben, dass seine Tochter
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Kultur
TOBIS
verrissen, eine harte, aber auch das eine
Szene aus „Somewhere“: „Ich habe in meinem Leben viel Zeit in Hotels verbracht“ privilegierte Erfahrung.
So ein Leben könnte allerdings auch
mal Regisseurin werden würde. Als sie um den Hals trägt sie ein kleines Diamant- versanden. Doch die künstlerische Arbeit
ein Vorschulkind war, begleitete die gan- herz, sie trinkt schwarzen Tee mit Zucker. hat in der Familie Coppola immer einen
ze Familie Francis Ford Coppola zu den Und sie ist müde. Vor sechs Monaten hat hohen Stellenwert eingenommen. Nicht
Dreharbeiten von „Apocalypse Now“, sie ihre zweite Tochter bekommen, im zu arbeiten wäre für Sofia Coppola nie-
Sofia hatte eine gute Zeit in Asien, sie September war „Somewhere“ im Wett- mals eine Option gewesen. Ihre eigenen
malte Hubschrauber und Palmen, wäh- bewerb der Filmfestspiele in Venedig zu Drehbücher bündeln die Ideen und
rend ihr Vater an Marlon Brando, am Wet- sehen und erhielt den Goldenen Löwen, Gedanken, die sie über lange Zeit be-
ter und an dem explodierenden Budget gestern ist sie von New York nach Berlin schäftigt haben. Und weder ihre beiden
verzweifelte und sich nach einem Kollaps geflogen. Schwangerschaften noch die Geburten
dem Tod nah fühlte. Sie könnte in jedem Café in Berlin-Mit- ihrer Töchter haben sie gehindert, ihre
Es kommt nur selten vor, dass ein Mäd- te sitzen, ohne aufzufallen. Sie sagt in Filme fertigzustellen. Als erste ameri-
chen so privilegiert aufwächst wie Sofia etwa auch die Sätze, die an diesen Kaf- kanische Regisseurin wurde sie 2004 für
Coppola, geliebt, im Verbund einer für feehaustischen gesprochen werden. Dass einen Oscar nominiert.
Hollywood-Maßstäbe erstaunlich intakten es nicht einfach sei, die richtige Balance Ihr erster Film war die Verfilmung von
Großfamilie und in der selbstverständli- zu finden zwischen der Zeit mit den Jeffrey Eugenides’ Roman „The Virgin Sui-
chen Nähe zu einer lebendigen kreativen Kindern und der Arbeitszeit. Dass es mit cides“, dank der Unterstützung von Mit-
Welt, die nicht auf Hollywood beschränkt einem BlackBerry immer schwieriger arbeitern ihres Vater hatte sie die Rechte
war. Ihre Mutter, eine Dokumentarfilme- wird, zur Ruhe zu kommen. Der große bekommen. Nach der ersten Woche tauch-
rin, war mit Yves Saint Laurent befreun- Unterschied ist nur, dass sie eben manch- te Francis Ford Coppola am Drehort auf.
det; als Sofia während der Highschool ein mal auch „mein Vater“ sagt oder „mein „Du musst ,Action‘ viel lauter sagen“, wies
Praktikum machen wollte, rief sie Karl Freund“ und den Phoenix-Sänger Tho- er seine Tochter an. Sie dachte sich:
Lagerfeld an. Bald saß sie in seinem Pa- mas Mars meint, den Vater ihrer beiden „Okay, und du kannst jetzt gehen.“
riser Studio. Kinder. Vor den Dreharbeiten zu „Lost in
Was macht so eine Ju- Translation“ verfolgte sie den Schauspie-
gend mit einem Menschen? ler Bill Murray fünf Monate lang mit ih-
Sie führt zuerst einmal rem Wunsch, ihn für die Hauptrolle zu
dazu, dass Sofia Coppola gewinnen. Ohne ihn hätte sie den Film
mit so leiser Stimme nicht gemacht. Ist das noch professionell?
spricht, weil sie nie darum Oder ist das schon Prinzessinnengehabe?
ringen musste, die Auf- Es ist die Kompromisslosigkeit eines Men-
merksamkeit auf sich zu schen, der ohne große Widerstände auf-
lenken. wuchs und es nicht gewohnt ist, ein Nein
Die Art und Weise, wie zu akzeptieren. Am Ende hat Murray
sie in Berlin die Pressear- ja gesagt.
beit zu ihrem neuen Film Es gibt auch einen Wein, der nach Sofia
absolviert, zeugt von er- Coppola benannt ist. Er stammt vom
fahrener Unaufgeregtheit. Weingut ihrer Familie in Kalifornien.
Coppola ist in einem karier- Revolutionär, bockig, duftend und cool,
GETTY IMAGES
146 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Kultur
I
n diesem Herbst sind drei Bücher er- 41, und Alexander Wallasch, 46, wurde im Korengal-Tal sehen und fühlen, arme
schienen, die, na ja, vom Krieg erzäh- im Delirium der Rezensenten bejubelt als Schweine allesamt, Söhne von Alkoholi-
len. In dem einen Buch wagt sich ein der große „Pop-Roman über die Kriegs- kern, die ihnen schon mal ins Bein schos-
Autor hinaus in die Welt, um zu erfahren, Heimkehrer unserer Tage“ („Süddeut- sen, Männer mit einer Vergangenheit als
wie es dort draußen zugeht. In den bei- sche Zeitung“), in der „Frankfurter All- Drogendealer, Schläger, Verlierer, die sich
den anderen Büchern verschanzen sich gemeinen Sonntagszeitung“ hieß es nebu- in die Armee retteten, gestrandet nun im
die Autoren hinter ihren landestypischen lös, wichtig sei dieses Buch, „weil es den gefährlichsten Tal von Afghanistan, ein
Neurosen und literarischem Könnertum. deutschen Kriegseinsatz als historisches paar Kilometer nur lang, umrahmt von
Das eine Buch hat ein Amerikaner ge- Bergen steil wie Ausrufezei-
schrieben; die beiden anderen Bücher chen, umkämpft von jeher. 50
sind von Deutschen. Soldaten sterben. Fast jeden
Der Unterschied? Der amerikanische Tag Feindkontakt. Krieg als
Autor ist erwachsen und bereit, sich ein Sisyphusspiel.
paar existentielle Fragen zu stellen. Die Junger begleitet die Solda-
Deutschen sind entweder Kindsköpfe ten der Battle Company, die
oder Befindlichkeitsschreiber. im Frühling 2007 in das Tal
Und so ist es nicht ganz fair, die drei geschickt worden waren. Er
TIM HETHERINGTON / AGENTUR FOCUS
SPIEGEL: Professor Flasch, Sie sind schon SPIEGEL: In Ihren Kindheitserinnerungen Flasch: Ich denke, mit dem Tod ist alles
vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetre- „Über die Brücke“* erzählen Sie, dass Sie aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
ten. Wie geht das, über die großen theo- sich als Junge mit zwei Fragen beschäftigt ein Gedanke oder ein Willensakt ganz
logischen Schlachten zu referieren, ohne haben: Gibt es Gott? Kann man wissen, ohne körperliche Maschinerie vollzogen
innerlich beteiligt zu sein? dass Christus Gott ist? werden kann. Ich fasse diesen Gedanken
Flasch: Bestens. Ich suche ja keine Lang- Flasch: Ja, nachdem meine Mutter und ruhig, ohne Erregung. Ich bin vergnügt,
weiler, keine bloßen Dogmatiker auf, son- mein Bruder im Bombenkrieg umge- wie Sie sehen.
dern Genies wie Augustinus, Eckhart, kommen waren, wollte ich wissen, ob SPIEGEL: Gab es eigentlich für Sie einen
Leibniz. An jedem Versuch, sich das Le- ich je wieder mit ihnen zusammen sein konkreten Anlass zum Kirchenaustritt?
ben vernünftig zurechtzulegen, ist etwas werde. Flasch: Nein. Der Schneeball des Misstrau-
dran. Zumal ich auch ihre Kritiker lese SPIEGEL: Haben Sie darauf eine Antwort ens wuchs sich durch jahrzehntelanges
und ihnen Geltung verschaffe. gefunden? Studium der Quellen zu einer Lawine aus,
ganz ruhig, ohne abrupten Bruch, aber
mit klarem Ergebnis. Ich atmete auf.
Kurt Flasch SPIEGEL: Sie haben jetzt, mit 80, den hoch-
gilt als einer der gro- dotierten Philosophie-Preis „Tractatus“
ßen Gelehrten des erhalten. Bedeutet Ihnen der eigentlich
Landes. Der Philoso- noch etwas?
phiehistoriker ist Flasch: Dieser auf alle Fälle, denn es ist ein
spezialisiert auf die noch junger Preis, der für eine Denk- und
Spätantike und das Schreibweise vergeben wird, die schwierige
Mittelalter. Er war bis Fragen in lesbare Form bringt. Ich arbeite,
1995 Ordinarius an seit ich denken kann, an meinem Stil. Ich
der Ruhr-Universität schreibe meine Sachen bis zu zehnmal um.
Bochum. Flasch, 80, Ich verstehe Leute nicht, die um ihr Aus-
schrieb über „Aufklä- sehen, ihre Kleidung und ihre Haare be-
rung im Mittelalter“ sorgt sind, aber nicht um ihren Stil.
und „Kampfplätze der SPIEGEL: Ihr jüngstes Buch handelt von
Philosophie“ genauso dem mittelalterlichen Denker Meister
wie über mittelalter- Eckhart, einem Dominikanermönch aus
liche und spätantike dem 13. Jahrhundert, einem Mystiker, der
Denker wie Nikolaus ein stiller Star der Esoterik-Szene ist. Wei-
von Kues und Augus- ter abgewandt vom aktuellen Lärm kann
MAURICE WEISS / OSTKREUZ
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 151
Kultur
Flasch: Philosophische Bücher machen der Papst musste viele Autoren verurtei- Turnierplatz der Ideengeschichte vor. Wo-
keinen Radau, sie laden zum Nachdenken len. Man kann sich vorstellen: Im Warte- her rührte Ihr Interesse am christlichen
ein. Eckhart hat gesagt, er wolle philoso- zimmer im Papstpalast saß nicht nur Eck- Mittelalter?
phisch über das Christentum sprechen. hart, sondern auch Wilhelm von Ockham, Flasch: Das hat, Sie werden lachen, mit
Das interessiert noch immer einige Leute. der Erkenntniskritiker, Logiker und Na- Hitler zu tun. Ich bin Jahrgang 30. Meine
SPIEGEL: Was können wir von Eckhart heu- turphilosoph. Familie war katholisch, politisch katho-
te lernen? SPIEGEL: Der Eckhart, den Sie beschreiben, lisch. Mein Vater war Zentrumsmann.
Flasch: Die Kleinigkeit, konsequent zu ist kein Mystiker, sondern einer, der Ver- Ein Onkel von mir war Reichstagsabge-
denken. Die Frage wachzuhalten: Was nunft und Glauben miteinander versöh- ordneter des Zentrums; er ist nach dem
heißt Erkennen, Welt, Ich, „Gott“. Wir nen will. Geht das überhaupt? 20. Juli 1944 verhaftet und in Mauthau-
lernen, unsere übrigen Überzeugungen Flasch: Eckhart war ein philosophischer sen umgebracht worden. Der Druck auf
von diesen Grundfragen nicht abgetrennt Erfinder. Er wollte nicht nur Glauben und diese Familie war für mich direkte, täg-
festzuhalten. Viele benutzen Eckhart, um Vernunft versöhnen, sondern mit der Ver- liche, harte Erfahrung. Das war finstere
einen Ruhepunkt in der Hektik der Ge- nunft die wesentlichen Inhalte bewei- Zeit. Und dagegen war der Mainzer Dom
genwart zu finden, aber dazu gibt es bil- sen. Das tat er so ingeniös, dass das ganz andere, eine lichte
ligere Mittel. Da gehe ich im Wald spa- sein Versuch interessant bleibt, Größe.
zieren oder mache sonst etwas. auch wenn man das Ergebnis „Ich habe schon SPIEGEL: Und da war das christ-
SPIEGEL: Was war denn das Aufrührerische nicht teilt. Seine Beweise ka- früh über liche Mittelalter das kulturelle
an Eckhart? Warum wurde er in 17 Punk- men auf eine neue, symboli- Wahrheit oder Übergewicht.
ten noch nach seinem Tod vom Papst in sche Auslegung des Christen- Unwahrheit Flasch: Es war jedenfalls nicht
Avignon 1329 abgeurteilt? tums hinaus. Manche meinen, religiöser so verächtlich wie die Gegen-
Flasch: Der Papst schreibt, Eckhart habe das sei das Christentum des drit- wart. Das war mein Ausgangs-
mehr wissen wollen, als sich gehört. Vor ten Jahrtausends.
Sätze nach- punkt. Hinzu kam: Ich hatte
allem aber sah Eckhart im Menschen den SPIEGEL: Die Zeit Eckharts war gedacht.“ früh eine Leidenschaft fürs Ent-
Sohn Gottes. Er fasste die Einheit Gottes eine Zeit der Umbrüche. Es gab ziffern entwickelt. Entziffern
so streng, dass dem Papst die christliche neuen Reichtum, aber auch neue Armut: war aufregend. Das habe ich mit Nazi-
Lehre von Gott als Dreifaltigkeit geleug- Die Gesellschaft fiel auseinander. Zeitungen geübt.
net schien. Flasch: Die Sensibilität für die Armut hat- SPIEGEL: Wie das?
SPIEGEL: Eckhart starb noch während des te zugenommen. Bettelorden waren ent- Flasch: Meine Mutter und ich hörten un-
Prozesses, aber er hat eine große Wir- standen, die arm leben sollten wie Jesus ter einer Wolldecke „Feindsender“. Und
kungsgeschichte entfaltet, bis hin zu den und die Apostel. Eckhart hat die Idee der ich habe das, was die deutsche Propa-
Nazis, die aus ihm eine germanisch-völ- Armut subtil auf die Spitze getrieben. Bei ganda an Lügen herausbrachte, vergli-
kische Figur gemacht haben. ihm heißt die höchste Stufe geistiger Ar- chen mit dem, was ich heimlich unter
Flasch: Missbrauchen können Sie jeden. mut: „Nichts wollen, nichts wissen, nichts der Decke gehört hatte. Ich lernte kom-
Aber in Eckharts Werk war nichts Völki- haben.“ Das ist das große Programm der binieren und Schlüsse aus Andeutungen
sches, außer dass er nicht nur lateinisch, Gelassenheit, die letzte Stufe. Aber die ziehen. Ich betrieb kritisches Quellen-
sondern auch deutsch geschrieben hat. erste ist und bleibt die Gerechtigkeit. studium.
Aber die Jahrzehnte am Anfang des 14. SPIEGEL: Sie führen die dunkle Zeit zwi- SPIEGEL: Sie haben aus dem Dechiffrieren
Jahrhunderts waren eine produktive Zeit; schen 400 und 1600 als allerlebendigsten von Texten einen Beruf gemacht. Welche
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Kultur
Figur des Mittelalters hat Sie zunächst am ner, über die Pascalsche Wette nachden-
meisten fasziniert? ken? Dass man, wenn man glaubt, auf
Flasch: Thomas von Aquin. Ich lese ihn alle Fälle auf der Siegerseite wäre?
seit meiner Jugend. Flasch: Sie versuchen es immer wieder.
SPIEGEL: Hat er Sie überzeugt? Das Kapitel „Theismus“ ist für mich ab-
Flasch: Ich habe schon früh über Wahrheit geschlossen. Und es ist gut so. Ich fand
oder Unwahrheit religiöser Sätze nachge- bei den Frommen zu viele Ausreden.
dacht. Und an Thomas hat mich der Ver- SPIEGEL: Sie haben von den frühen fünfzi-
such fasziniert, den christlichen Glauben ger Jahren bis zur Studentenrevolte Ador-
als vernünftig darzustellen. Bei ihm klang no gehört und bei ihm auch Ihr Staats-
alles so übersichtlich; er ermutigte mich examen gemacht. Horkheimer war der
zum Weiterfragen. Ich hatte damals noch zweite Gutachter Ihrer Dissertation. Die
nicht gelesen, dass Thomas die Todesstra- Studenten damals waren so erfüllt von
fe fordert für Menschen, die den christli- der Weltrevolution wie die Täufer von
chen Glauben verlassen. Also genau das, der Wiederkunft des Messias.
was wir heute in einigen islamischen Län- Flasch: Es war alles hoch ideologisiert,
dern sehen, die Bestrafung der Konver- teilweise rabaukenhaft. Habermas sprach
sion mit Todesstrafe. damals von Linksfaschismus. Ich habe
SPIEGEL: Ihr Buch „Kampfplätze der Phi- viel mit Studenten gesprochen, habe vie-
losophie“, das vor zwei Jahren erschien, les kritisiert. Aber ich fand, in drei Punk-
ist ein wahrer Krimi des Geistes. Da ten hatten sie recht. Erstens: Der Viet-
kommt Augustinus besonders finster vor nam-Krieg war ein Verbrechen. Zweitens:
mit seiner Erbsündenlehre, die Sie eine Sie trugen die Frage nach der Hitlerei,
„Logik des Schreckens“ genannt haben. die sie fälschlich „Faschismus“ nannten,
Sie kritisieren, dass der Mensch bei Au- in Seminare und Familien. Drittens: Die
gustinus so vollständig von der Ordinarienuniversität war über-
Gnade Gottes abhängt, dass holt.
man von freiem Willen eigent- „Ich kann SPIEGEL: Horkheimer war ja
lich nicht mehr reden kann. mir nicht nicht nur Marxist, sondern of-
Flasch: Die Philosophie, gerade helfen: Ich fen für Religion und die letzten
die des Mittelalters, aber nicht liebe Blaise Fragen.
nur sie – hat Jahrhunderte ge- Pascal. Er Flasch: Ich habe ihn mit einer
braucht, sich von dieser Lehre gewissen Feierlichkeit reden hö-
zu erholen. Aber man muss un-
schreibt ren über Gott oder die Natur
terscheiden: Augustinus war gar zu gut.“ bei Spinoza. Auch bei Adorno
ein philosophischer Kopf, wenn gab es diese Ader. Seine „Mini-
auch nicht mit der besten Ausbildung. Er ma Moralia“ enden ja mit dem Ausblick
war ein großartiger Schriftsteller, wenn auf so etwas wie Erlösung.
auch manchmal zu breit. Er hatte eine SPIEGEL: Die Frankfurter Schule und die
gute Menschenkenntnis; er sammelte Blu- Philosophie generell hatten in den unru-
men des Bösen. higen Sechzigern eine große gesellschaft-
SPIEGEL: Den introvertierten, rigiden, glü- liche Relevanz.
henden Blaise Pascal beschreiben Sie da- Flasch: Die „Frankfurter“ wussten sehr
gegen sehr liebevoll. wohl, dass keine sozialistische Revolution
Flasch: Ich beschreibe die Auseinander- bevorstand. Sie waren auch nur Zuschau-
setzung des Aufklärers Voltaire mit Pascal er, allerdings mit großem Presseecho.
und will mich da gar nicht auf eine Seite Heute sind die Philosophen stiller gewor-
schlagen. Aber Pascal war nicht nur den. Die gesellschaftlichen Erwartungen
introvertiert, er hat die Pariser Verkehrs- und die Interessen verändern sich wie die
betriebe quasi erfunden. Er war nicht nur Mode. Ich selbst habe nie den Anspruch
glühend, er hat auch gerechnet. Und ich gehabt, der Gesellschaft Regeln zur Ak-
kann mir nicht helfen: Ich liebe Pascal. tion zu geben. Dazu war ich zu skeptisch.
Er schreibt gar zu gut. Ich begnüge mich, einige Sätze zu schrei-
SPIEGEL: In Ihren Kindheitserinnerungen ben, die einigen Menschen Anlass geben
schreiben Sie: „Zeige mir einen Christen nachzudenken.
wie Pascal, und ich werde demütig eine SPIEGEL: Sie schreiben gerade an einem
Wallfahrt zu ihm machen.“ Buch, das den Titel trägt: „Warum ich
Flasch: Das heißt nicht, dass mich seine kein Christ mehr sein kann“. Wollen Sie
Argumente heute überzeugen. Aber er uns verraten, warum?
hat nicht drum herum geredet. Er hat sich Flasch: Ich schreibe noch nicht daran, aber
mit den damals mächtigen Jesuiten ange- ich will es im nächsten Jahr tun, wenn
legt. Er wollte ein Christentum, das nicht ich meine großen Dante-Arbeiten abge-
nach der Polizei ruft. Er war ein ernsthaf- schlossen habe. Mein Beruf hat es mit
ter Christ, der danach gehandelt hat, dass sich gebracht, dass ich die großen Lehrer
es auf die Hilfe für die Armen ankommt, des Christentums studieren konnte. Nun
und der keine Kompromisse mit der will ich selbst einmal wissen, was dabei
Macht einging. herausgekommen ist.
SPIEGEL: Und wenn Sie jetzt noch mal, als SPIEGEL: Professor Flasch, wir danken Ih-
Skeptiker, aber Wahrscheinlichkeitsrech- nen für dieses Gespräch.
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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Belletristik Sachbücher
1 (1) Ken Follett 1 (1) Thilo Sarrazin
Sturz der Titanen Deutschland schafft sich ab
Bastei Lübbe; 28 Euro DVA; 22,99 Euro
2 (10) Elizabeth George 2 (–) Keith Richards
Wer dem Tode geweiht Life
Blanvalet; 24,99 Euro Heyne; 26,99 Euro
3 (2) Jussi Adler-Olsen
Erbarmen
dtv; 14,90 Euro
4 (3) Jussi Adler-Olsen Die Memoiren eines
Schändung Überlebenskünstlers,
dtv; 14,90 Euro der dem Ruhm,
5 (18) Sophie Kinsella den Drogen und dem
Mini Shopaholic Wahnsinn trotzte
Manhattan; 14,99 Euro 3 (4) Loki Schmidt Auf dem roten
Teppich und fest auf der Erde
Hoffmann und Campe; 20 Euro
Nach mehreren
Romanen über den 4 (2) Richard David Precht
Konsumrausch Die Kunst, kein Egoist zu sein
einer Erwachsenen nun Goldmann; 19,99 Euro
die Variante mit 5 (3) Ronald Reng Robert Enke
einem luxussüchtigen Piper; 19,95 Euro
Kleinkind
6 (6) Thilo Bode
6 (5) Cordula Stratmann Die Essensfälscher
Sie da oben, er da unten S. Fischer; 14,95 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 13,95 Euro 7 (–) Eckart Conze / Norbert Frei / Peter
7 (4) Cornelia Funke Hayes / Mosche Zimmermann
Reckless – Steinernes Fleisch Das Amt und die Vergangenheit
Dressler; 19,95 Euro Blessing; 34,95 Euro
8 (6) Tommy Jaud 8 (5) Kirsten Heisig
Hummeldumm Das Ende der Geduld
Scherz; 13,95 Euro Herder; 14,95 Euro
9 (7) Jonathan Stroud 9 (7) Axel Hacke / Giovanni di Lorenzo
Bartimäus – Der Ring des Wofür stehst Du?
Salomon cbj; 18,99 Euro Kiepenheuer & Witsch; 18,95 Euro
10 (8) Jonathan Franzen 10 (12) Rhonda Byrne
Freiheit The Power
Rowohlt; 24,95 Euro MensSana; 16,99 Euro
11 (11) Ildikó von Kürthy 11 (9) Natascha Kampusch
Endlich! 3096 Tage
Wunderlich; 17,95 Euro List; 19,95 Euro
12 (12) Janne Teller 12 (10) Roger Willemsen
Nichts – Was im Leben wichtig ist Die Enden der Welt
Hanser; 12,90 Euro S. Fischer; 22,95 Euro
13 (14) Terry Pratchett 13 (8) Peer Steinbrück
Der Club der unsichtbaren Unterm Strich
Gelehrten Manhattan; 17,99 Euro Hoffmann und Campe; 23 Euro
14 (15) Don Winslow 14 (–) Joachim Gauck
Tage der Toten Winter im Sommer – Frühling
Suhrkamp; 14,95 Euro im Herbst Siedler; 22,95 Euro
15 (13) Ian McEwan 15 (13) Stephen Hawking / Leonard
Solar Mlodinow Der große Entwurf
Diogenes; 21,90 Euro Rowohlt; 24,95 Euro
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 155
Kultur
D
ass Freiheit nur ein anderes des amerikanischen Mannes ist auch
Wort dafür ist, nichts mehr Rubins Lebensthema. Rubin hat die
zu verlieren zu haben, ist späten Alben des Country-Schmer-
eine der ältesten Weisheiten des zensmannes Johnny Cash genauso
Rock’n’Roll. Es war ein neufor- produziert wie die der Metalband
mulierter Satz für den alten ameri- Slayer, des Rappers Jay-Z und des
kanischen Traum: Wer nichts zu Witwentrösters Neil Diamond – im-
verlieren hat, hat schließlich eine mer ging es in deren Songs um die
Welt zu gewinnen – Yes, we can! Frage, was es heißt, in Amerika ein
Barack Obama wurde damit Prä- Mann zu sein. Für Kid Rock heißt
sident. es, verlieren zu lernen.
In der vergangenen Woche hat Dabei taugt er nicht zum Ideolo-
Obama die Kongresswahlen spek- gen, er gehört nicht zu den Partei-
takulär verloren. Die weiße Arbei- gängern der Tea Party. Er hat zwar
terklasse hat ihn im Stich gelassen, mehrmals die Republikaner unter-
sagen die Demoskopen, er konnte stützt, aber er trat auch bei der De-
sie nicht noch einmal mobilisieren, monstration gegen den neuen Po-
156 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Prisma Wissenschaft · Technik
CREATIV STUDIO HEINEMANN / WESTEND61 / CORBIS )(L.); BERTHOLD STEINHILBER / LAIF (R.)
Schwarze Trüffel, Trüffelsuche mit Stock und Schwein
PILZE Baum stets nur der Pilz eines bestimmten Paarungstyps ge-
ERBGUT
Epigenetische
„Krankheiten vor Ort verstehen“
ERKRANKUNGEN DES GEHIRNS
Einflüsse Alzheimer, Schizophrenie oder
Autismus könnten mit epigene-
tischen Veränderungen in Hirn- Jörn Walter, 52, Walter: Wir können Krankhei-
zellen zusammenhängen. Professor für ten vor Ort, also in der Zelle
Nervenzelle Epigenetik an selbst verstehen und neue
der Universität Therapien und Diagnosen
STOFFWECHSELKRANKHEITEN
des Saarlandes entwickeln. Erkrankte und
in Saarbrücken, gesunde Zellen sind epigene-
F OTO S : S P L / AG E N T U R F O C U S
Epigenetische Veränderungen
SVEN PAUSTIAN
Vulkane
machen Wetter
D ürre, Frost, Überschwemmungen –
auf erstaunlich vielfältige Weise
können Vulkane weltweit zu Wetter-
machern werden, so der Befund einer
Forschergruppe um Kevin Anchukaitis
von der New Yorker Columbia Uni-
versity. Dass die Asche von Vulkan-
ausbrüchen wie des Tambora 1815 zu
Abkühlung und Ernteausfällen selbst
in Europa führen kann, ist lange be-
kannt. Nun jedoch weisen die Forscher
nach, wie sehr dieses Vulkan-Wetter je
nach Region variiert. Ihr neuer Baum-
ring-Atlas, der 800 Jahre und 54 Groß-
eruptionen zurückreicht, zeigt: Wäh-
rend es in Zentralasien oft trockener
wird nach einem Ausbruch, scheint
sich in Südostasien der Monsunregen
eher zu verstärken. „Vulkane können
wichtige Klimafaktoren sein“, so An-
chukaitis. Doch gilt das auch für den
Merapi in Indonesien, der seit Ende
Oktober Asche und Lava speit? Über
hundert Menschen kamen bereits in
BEAWIHARTA / REUTERS seinen Glutwolken um, rund 100 000
wurden evakuiert, auch Flugzeuge um-
geleitet. Um Regen und Temperatur
des Planeten merklich zu beeinflussen,
reicht die Merapi-Aktivität aber offen-
Aschewolken am Merapi bar nicht aus.
OPTIK IMMUNOLOGIE
Jahre gekommenen Astronauten. Jene von ihnen, die be- stellen: Die Schleimhaut
reits kurzsichtig sind und nun auch noch altersbedingt weit- reagiert deshalb nicht
sichtig werden, brauchen eine Brille mit zwei Stärken. Doch auf einwandernde Bak-
die üblichen Gleitsichtbrillen bieten nur eingeschränkte Seh- terien – und die für die Darmbakterium
bereiche und taugen deshalb nicht für den Gebrauch in Verdauung benötigte
Raumfahrzeugen und in der Internationalen Raumstation, Darmflora kann sich ausprägen. Zwei bis drei Wochen spä-
wo es eine Unzahl von Monitoren und Knöpfen im Auge zu ter jedoch produziert die Darmschleimhaut das Signalmole-
behalten gilt. Nach Tests am Boden könnte die verstellbare kül wieder. Fortan sind Bakterien von außen gar nicht mehr
Brille schon bei der nächsten Nasa-Mission abheben. willkommen – sie werden bekämpft.
160 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Technik
L U F T FA H R T
K
aum ein Passagier verirrt sich zum Er hört ihnen zu, und deshalb kennt er tikunternehmens steht eine Flugzeug-
Tor 32, tief im Südosten des Frank- wie kaum ein anderer die verborgenen palette, darauf stehen dicke Scheiben, fest
furter Flughafens. Allenfalls jenen Abläufe im Hinterhof des interkontinen- verzurrt. „Die ist fix und fertig für den
ist der Schlagbaum ein Begriff, die vor talen Luftdrehkreuzes. Transport zum Flugzeug“, sagt Rose.
dem Abflug ihren Hund in die Tierpen- Er zieht seine Zugangskarte durch das Heimlich schiebt er seine Thermoskan-
sion des Airports bringen. „Die liegt hier Lesegerät vor der Schranke. Kein Wach- ne zwischen die Spanngurte des sperrigen
gleich um die Ecke“, sagt Harald Rose. mann steht am Tor zur sogenannten Car- Gebindes und flüstert verschwörerisch:
Der Gewerkschafter ist Ver.di-Sekretär go City Süd. „Wenn ich wollte, könnte „Stellen Sie sich mal vor, da wär jetzt was
am Flughafen und quält sich mit seinem ich hier mit einer ganzen Busladung Leu- anderes als Kaffee drin.“
grauen Familienauto durch den hekti- ten durch“, sagt Rose. Harald Rose ist auf einer Mission: Er
schen Verkehr. Lieferwagen drängeln ne- Wäre Rose ein Terrorist, er wüsste, wo- kämpft nicht nur um gerechte Löhne und
ben schweren Lkw und Baufahrzeugen hin er zu gehen hätte: zu den Rampen, Arbeitsschutz. „Es geht hier auch um Si-
durch das Nadelöhr. Ihre Kennzeichen wo Dutzende Lastwagen rückwärts ran- cherheit“, sagt er. Der Gewerkschafter
sind beinahe so international wie die Flug- gieren. „Da hinten“, sagt der 61-jährige hat das alles schon mal fotografiert und
zeuge, die über sie hinwegdonnern: Bul- Darmstädter und schnappt sich seine rote seine Dokumentation an Politiker, die
garien, Portugal, Türkei, Finnland. Signalweste und eine Thermoskanne. Verwaltung und den Flughafenbetreiber
Rose kennt die Menschen, die hier zur Schnell hat er gefunden, wonach er ge- geschickt. „Niemand hat sich dafür inter-
Arbeit gehen. Es sind „seine Arbeiter“. sucht hat: Auf dem Vorplatz eines Logis- essiert“, klagt Rose.
162 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Frachtabfertigung in Frankfurt am Main Kuriosum, dass ganze Lokomotiven im
Verwundbare Lebensader der Wirtschaft Flugzeug nach Amerika befördert werden.
Wenn die Luftfracht ins schlechte Licht
Seit vorvergangene Woche, versteckt in geriet, dann wegen nächtlichen Fluglärms
Druckerkartuschen, die beiden Paketbom- oder wegen der Triebwerksabgase. Gut
ben in Dubai und Nottingham entdeckt drei Millionen Tonnen Fracht wurden vo-
wurden, hofft er, auf mehr Gehör zu sto- riges Jahr in Deutschland durch die Luft
ßen. Schlagartig ist aller Welt bewusst ge- bewegt, und zwar rund die Hälfte im Un-
worden, wie verwundbar diese Lebens- terdeck von Passagierflugzeugen. An-
ader der Weltwirtschaft ist. „Es war reines dernfalls wäre die knappe Kalkulation
Glück, dass die Bomben nicht explodiert fürs Billigfliegen gar nicht möglich.
sind“, sagt Philip Baum von der Londoner Doch den günstigen Preis zahlen die Pas-
Sicherheitsberatungsfirma Green Light. sagiere mit einem Risiko, bei dem Sicher-
Dieses Glück hatten die beiden Piloten heitsexperten sich wundern, dass Terroris-
des UPS-Jumbos nicht, der am 3. Septem- ten es erst jetzt entdeckt haben: Während
ber von Dubai aus in Richtung Köln ab- die Fluggäste jede Zahnpasta in Klarsicht-
hob. Kurz nach dem Start brach an Bord hüllen packen müssen, gelangen die Palet-
ihrer Maschine ein Brand aus. Im letzten ten der Luftfracht häufig ganz ohne Sicher-
verzweifelten Funkspruch, ehe die Ma- heits-Check an Bord. Seit dem Anschlag
schine zerschellte, klagen die Piloten, von Lockerbie wurde bei der Gepäckkon-
dass Rauch ihnen jede Sicht versperre. trolle der Passagiere schwer aufgerüstet.
Hatte al-Qaida eine Bombe im Fracht- Dass aufgegebene Koffer aber den Fracht-
raum dieser Boeing 747 gezündet? Bisher raum mit den teils unkontrollierten Trans-
galt eine Ladung Lithium-Batterien als portgütern der Luftfrachtunternehmen teilt,
wahrscheinliche Ursache des Brandes. Und hat bisher offenbar niemanden gestört.
wenn auch westliche Sicherheitsexperten Angesichts der Bombenfunde hilft alles
nach wie vor keine Hinweise auf einen Beschwichtigen nichts. Gemäß EU-Verord-
Terrorakt sehen, so rückt das Bekenner- nungen „sind alle Fracht- und Postsendun-
schreiben der Qaida den UPS-Crash doch gen vor der Verladung in ein Luftfahrzeug
in ein neues Licht. Darin rühmen sich die einer 100%igen Frachtkontrolle zu unter-
Terroristen, nicht nur die beiden Paket- ziehen“, heißt es im Beamtendeutsch des
bomben aus dem Jemen, sondern auch der Luftfahrt-Bundesamtes (LBA). Die Wirk-
Absturz in Dubai gehe auf ihr Konto. lichkeit jedoch sieht anders aus, nicht nur
Noch peinlicher als die Qaida-Anschlä- im Jemen oder in Griechenland, sondern
ge offenbarte ein Sprengstofffund in der auch in Deutschland. „Die Gesetze? Das
vergangenen Woche die Gefahren des sind Papiertiger“, schimpft der Gewerk-
Frachtverkehrs: Eine Paketbombe ge- schafter Rose. „Hier sehen Sie die traurige
wöhnlicher Bauart fand ihren Weg bis in Realität.“ Der Boom der vergangenen Jahr-
die Poststelle des Bundeskanzleramts. zehnte hat Hunderte neue Akteure auf
Zweimal wurde die Lieferung in Grie- dem lukrativen Logistikmarkt aufkommen
chenland geröntgt, keiner hat etwas be- lassen. Insgesamt 607 „reglementierte Be-
merkt. Die Zündvorrichtung, so schäumt auftragte“, wie sie der Verordnungstext
ein Top-Beamter in Berlin, hätte „ein nennt, sind in Deutschland vom LBA zer-
Blinder mit Krückstock“ sehen können. tifiziert. Deren Verantwortung ist groß:
RENE SPALEK / BILDERBERG
Plötzlich steht eine Branche im Zen- Was sie den Luftfrachtunternehmen auf
trum der Aufmerksamkeit, die eigentlich den Hof stellen, gilt als kontrolliert. Es wird
möglichst geräuschlos funktionieren will. deshalb nicht mehr durchleuchtet, ehe es
Dass die meisten Fische für Deutschland in den Flugzeugbauch geschoben wird.
am Flughafen Frankfurt anlanden, wird Was diese Firmen anliefern, gelangt
genauso diskret kommuniziert wie das ruck, zuck in den Flieger. „Viele arbeiten
Vorteile billiger als Detektoren, riechen sogar einfach in der Bedienung, Kontrolle großer schnelles Scannen großer Frachtmengen
wenige Sprengstoffmoleküle Frachtstücke
Nachteile benötigen alle 20 Minuten Ruhepausen eher für Stichproben geeignet je größer die Frachtgebinde, desto ungenauer
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 163
Technik
164 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
In Zukunft mittendrin
Wie Forscher das digitale Stadtmodell verbessern wollen
PANORAMA
Der Nutzer kann ruckelfrei
EINBLICKE durch eine echte 3-D-
Umgebung navigieren.
SA B I N E LU B E N OW / LO O K - F OTO
Manche Gebäude, z. B.
Geschäfte oder Museen, BEWEGTE BILDER
können betreten werden. Überall in der 3-D-Szenerie
lassen sich passgenau
Live-Videos einblenden.
gitale Stadt der Zukunft bemüht. Mehrere Ortskoordinaten versehen sind, können
INTERNET
Forschungslabors entwickeln gerade Zu- sie automatisch in die Szenerie eingepasst
M
anche Wunder der Technik se- diese Stadtmodelle in Wahrheit zweidi- te bietet sie kaum mehr als einen Ein-
hen schon am ersten Tag aus wie mensional: Wer eine Straße entlangspa- druck von der Umgebung einer Immobi-
von vorgestern. Googles Straßen- ziert, klickt sich durch eine Serie von Ku- lie oder eines Urlaubshotels; künftig
panorama Street View ist so ein Fall: gelpanoramen, die jeweils aus mehreren könnten Geschäfte ihr Angebot präsen-
Schaulustige zaubern sich damit mitten Fotos der Kamera-Autos zusammengestü- tieren, Restaurants ihre Speisekarte samt
in die Schluchten von Manhattan, die grü- ckelt worden sind. Tagesmenü und Museen einen Blick in
nen Hügel von Bwlchgwyn – oder auch, Für die echte Freiheit der Bewegung ihre laufende Ausstellung.
seit Dienstag vergangener Woche, ins ist ein Raummodell in drei Dimensionen Weitere Nutzanwendungen werden er-
bayerische Oberstaufen. Aber wer vor nötig; dafür müssen die Gebäude vermes- probt. „Für uns ist das wie ein großer
Ort noch ein wenig umherstreifen will, sen werden. Die Firma Navteq, inzwi- Lego-Baukasten“, sagt Microsoft-Ent-
findet daran schwerlich Vergnügen. schen im Besitz von Nokia, will noch in wickler Oliver Scheer. Anfang des Jahres
Die Fortbewegung gelingt nur mit diesem Jahr in Frankreich und Groß- präsentierte die Firma erstmals Live-Vi-
Mühe. Man schiebt sich mit der Maus von britannien Autos durch die Straßen deos in der 3-D-Kulisse von Bing: Ein
einem Haltepunkt zum nächsten, und mit schicken, die mit 64 kreiselnden Lasern paar Mitarbeiter winkten in einer Ein-
jedem Ruck verschmiert und beult sich ausgerüstet sind. Sie können rund 1,5 Mil- kaufspassage fröhlich in die Kamera. Die
ringsum das Panorama, bis das Bild end- lionen Messpunkte pro Sekunde regi- Übertragung fügte sich fast nahtlos in die
lich wieder stabil steht. strieren – und so Fassaden, Brücken und stehende Szenerie – wofür auch immer
„Das ist sicher nur ein Zwischensta- Durchfahrten zentimetergenau erfassen. solche Kunststücke einst gut sein mögen.
dium“, sagt der Berliner Medienprofessor Sogar Einkaufszentren oder Konzertsäle Auch eine Art Kosmos-Modul ist in Ar-
Joachim Sauter, der mit seiner Firma können dreidimensional kartografiert beit: Der Flaneur erhebt den Blick, und
Art+Com schon vor anderthalb Jahrzehn- werden. Nokia verheißt die Navigation zwischen den Dächern erscheint das be-
ten virtuelle Panoramen gebaut hat. in Innenräumen schon für die nähere Zu- stirnte Firmament, wie es gerade in die-
„Sehr bald werden wir dreidimensionale kunft. sem Himmelsausschnitt zu sehen wäre.
Stadtmodelle haben, durch die wir uns Die präzisen Klötzchenmodelle, die so Die Darstellung wird zugespielt von Mi-
frei und flüssig bewegen. Und natürlich entstehen, lassen sich fortan mit immer crosofts Himmelsatlas Worldwide Tele-
werden wir dann auch in viele Gebäude detailreicheren Fotos tapezieren. Das scope, der unzählige Aufnahmen von
reingehen können.“ können auch Aufnahmen von Privat- Weltraumteleskopen enthält. Wer will,
Diese Vision – und etliches mehr – ist leuten sein. Google sammelt bereits Bil- kann also aus dem Finkenweg 37 aufstei-
bereits in Arbeit. Neben Google selbst ist der in großen Massen bei Portalen wie gen und geradewegs den Uranus ansteu-
vor allem die Firma Microsoft um die di- Picasa und Panoramio ein. Sofern sie mit ern. MANFRED DWORSCHAK
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 165
Wissenschaft
RETTUNGSTECHNIK
D
ie japanische Delegation blickt Kinderspielsachen, Fahrräder, Bürostüh- und kritzeln in Notizblöcke. Im Auftrag
gebannt zu den schwitzenden le, hier ein paar Schuhe, dort eine ver- der staatlichen „Fire and Disaster Ma-
Feuerwehrleuten, die an Seilen stümmelte Schaufensterpuppe. nagement Agency“ in Tokio sind sie fast
vor einem Gebäude schweben und Lö- Nur die sechs Japaner passen nicht um die halbe Welt gereist, um die Kata-
cher in die Wand sägen. Es ist Mittag in recht ins Bild: Sie tragen schwarze Bund- strophenforschungsanlage in der texani-
College Station, Texas, die Sonne sticht faltenhosen und blütenweiße Hemden schen Provinz zu besichtigen. Außer der
senkrecht vom Himmel, die Luft ist heiß,
feucht und still.
Über den Köpfen der Japaner kreist Inszenierte Katastrophen
ein US-Militärhubschrauber vom Typ
Black Hawk. In der Ferne, hinter ein- Löschübung
gestürzten Häusern, Schuttbergen und
den Überresten eines entgleisten Amtrak-
Zuges, steigen Rauchsäulen empor. Dort
brennen mit Stroh gefüllte Gebäude und
Flugzeugwracks.
„Phantastisch“, bemerkt einer der Ja-
paner und deutet auf einen Zementhau-
fen, „bis in alle Details ganz ausgezeich-
net gelungen.“ Ein perfektes Desaster:
Sogar einen Alligator gibt es, der dem
Vernehmen nach im Tümpel hinter dem
kollabierten Parkhaus mit den zer-
quetschten Autos haust.
Das Reptil ist der einzige Bewohner
von „Disaster City“, einer bizarren
Trümmerstadt, so groß wie 30 Fußball-
felder, in der Wracks und Ruinen in sorg-
fältiger Kleinarbeit so präpariert und dra- Rettungskurs in eingestürztem Gebäude
piert wurden, dass Militärs, Feuerwehr-
leute und Rettungshelfer aus aller Welt
jedes erdenkliche Katastrophenszenario
durchspielen können: Erdbeben, Torna-
dos, Überschwemmungen, Brände, Gas-
explosionen, Angriffe mit chemischen
oder biologischen Waffen und Terroran-
schläge.
Über 70 000 Retter kommen jedes Jahr
hierher – aus den USA, Kanada und La-
teinamerika, aber auch aus Asien, Austra-
lien, Großbritannien, Norwegen und Por-
tugal. Geschult werden sie von Instruk-
teuren, die bei echten Desastern wie 9/11,
dem Hurrikan „Katrina“ oder dem Erd-
beben in Haiti Rettungseinsätze geleitet
haben. Zugleich ist Disaster City ein Ex- Suchtraining mit Hunden
perimentierfeld für die Wissenschaft: Re-
gelmäßig testen die Ingenieure der be-
nachbarten Texas A&M University hier
die Instrumente, Sensoren und Roboter,
die sie entwickelt haben.
Es gehört zum Konzept der Geister-
FOTOS: BUD FORCE
nicht hiermit vergleichen kann“, fügt George Kemble Bennett, 70, leitet die geht, um explodierende Gebäude, mas-
Phillips rasch hinzu. Fakultät für Ingenieurwesen an der Texas sive Beton- und Stahltrümmer und um
Der Einsatz in Port-au-Prince sei sein A&M University, und er sitzt in praktisch Massen von Opfern – wie bereitet man
bislang schwierigster gewesen, erzählt der jedem Gremium, das sich mit Fragen die Leute auf so etwas vor?“, fragt er.
Feuerwehrmann. „Das Härteste war, sich der nationalen Sicherheit befasst. Ben- „Unseren Rettern wird immer mehr ab-
damit abzufinden, dass den meisten Op- nett ist Direktor des „National Emergen- verlangt, und vor Disaster City gab es
fern nicht mehr zu helfen war.“ Und dann cy Response and Rescue Training Cen- nirgendwo eine Möglichkeit, sie dafür zu
der Geruch der Toten: „Unseren Leuten ter“ und Gründer des Elite-Rettungs- trainieren.“
wurde regelmäßig schlecht davon.“ teams „Texas Task Force 1“. In seinem Als Ken Knight, der damalige Chef der
Einmal arbeiteten sich Phillips und sein wohnzimmergroßen Büro hängt ein Foto, Londoner Feuerbrigade, nach den Bom-
Team in einen eingestürzten Supermarkt auf dem er George W. Bush mit ausge- benanschlägen im Juli 2005 vor die Fern-
vor. Die Rettungshunde hatten kein Si- strecktem Arm den Weg weist, daneben sehkameras trat, erklärte er, das Training
gnal gegeben; Hoffnung, noch Überle- ein Dankesbrief des US-Präsidenten vom in Disaster City habe seinen Leuten ge-
bende zu finden, hatten die Feuerwehr- 21. März 2002: „Unsere Nation wird Ih- holfen, richtig zu reagieren. Nun beraten
leute deshalb nicht. Doch das Bild, das nen und Ihrem Team ewig dankbar sein Bennetts Ingenieure die englische Feuer-
sich ihnen in den Trümmern bot, übertraf für Ihren mutigen Einsatz am Ground wehr beim Bau einer ähnlichen Anlage
alle Befürchtungen: „Etwa 50 Menschen- Zero.“ am Stadtrand von London. Ein zweiter
leiber lagen tot übereinander“, berichtet Bennett lehnt sich in seinem blau-gol- Ableger der Katastrophenstadt entsteht
Phillips. „Sie alle hatten gekämpft, um denen Sessel zurück, faltet die Hände und derzeit im Wüstenemirat Katar. „Dort
sich zu befreien. Aber kein Einziger hat überlegt einen Moment. Dann sagt er: fürchtet man sich eher vor Unfällen in
es geschafft.“ „Schon möglich, dass Disaster City auf der Öl- und Gasindustrie als vor Terror-
Doch lässt sich solch ein Schrecken manche wie ein Disneyland wirkt. Die anschlägen“, so Bennett.
auch trainieren? Hier in Disaster City ha- Retter kommen hierher und kämpfen ge- Mit jeder großen Katastrophe ent-
ben die Kursteilnehmer sichtlich Spaß da- gen ein Feuer, dann gegen das nächste, wickelt sich Disaster City ein Stück wei-
ran, Betonpfeiler mit Kettensägen zu dann brechen sie durch eine Betonwand, ter. So entdeckte Bennett die Vorlage für
traktieren. Aber wird ihnen das wirklich ihr Adrenalinspiegel steigt, und das ist das kollabierte Parkhaus mit den zer-
helfen, wenn sie bei einer realen Kata- völlig in Ordnung. Solange sie dabei et- drückten Autos in Manhattan, einen hal-
strophe dem Horror, dem Chaos und dem was lernen, ist es nicht verboten, Spaß ben Block von Ground Zero entfernt.
Elend gegenüberstehen? Oder ist die Ka- zu haben.“ Nach dem Wirbelsturm „Katrina“ bas-
tastrophenstadt nur ein teures, sehr ame- Was Überschwemmungen, Hurrikane, telten die Katastrophen-Profis einen
rikanisches Disneyland des Terrors? Feuer und Ähnliches betreffe, seien Ret- Berg aus Holztrümmern – das Vorbild
Diese Frage stellt man am besten dem tungsteams heute meist gut gerüstet, sagt waren zerstörte Wohnhäuser in New
Mann, der Disaster City erfunden hat. Bennett. „Aber wenn es um Terrorismus Orleans. Verschüttete Opfer zu lokalisie-
Der Feuerwehrmann Phillips und seine
Kollegen tragen schwere Uniform, Helm,
Atemschutzmaske, Schutzbrille und Oh-
renstöpsel; sie sind schon durchgeschwitzt,
ehe die „realistische Übung“ überhaupt
beginnt. Jon Rigolo, der schnauzbärtige
Instrukteur, erklärt das Szenario: Ein
Opfer, in diesem Fall die Stoffpuppe Mrs.
McGillicuddy, muss aus dem zweiten
Stock eines eingestürzten Bürogebäudes
gerettet werden.
Die Männer müssen sich durch mehre-
re, zum Teil gekippte Wände aus Metall,
Beton und Holz bohren und die Löcher
stabilisieren, bevor sie die Puppe errei-
chen können, die eingeklemmt unter ei-
SMILEY N. / AP
nem Schreibtisch liegt. Es ist ein hölli-
scher Kraftakt, die Luft glüht wie im
Backofen – und als die Sägen und Bohr-
New Orleans nach Hurrikan „Katrina“ 2005: Lässt sich solch ein Schrecken trainieren? maschinen zu dröhnen beginnen und Be-
tonbrocken aus der ersten Wand brechen,
ren sei für Suchhunde in Holztrümmern künftig von einer Kommandozentrale aus wirkt es auf einmal nicht mehr wie ein
schwieriger als in Beton, erklärt Bennett, koordinieren, aufzeichnen und hinterher Spiel.
weil sich der menschliche Geruch im analysieren lassen. Rigolo klatscht in die Hände und brüllt:
Holz stärker ausbreite. In Disaster City Die Wissenschaftler nutzen auch jede „Zwei Minuten Pause, trinkt Wasser!“
werden Hunde nun mit Statisten trai- Gelegenheit, ihre Experimente ins echte Die Feuerwehrmänner ziehen keuchend
niert. Leben zu übertragen: Als im März ver- die Masken vom Gesicht. „Und können
Forscher der Texas A&M University gangenen Jahres das Kölner Stadtarchiv wir bitte mal den Ofen ausschalten?“,
testen derweil im Alligator-Teich neuarti- einstürzte, reisten Abgesandte der Texas fragt ein Engländer mit hochrotem Kopf.
ge Echo-Ortungssysteme, mit denen Was- Task Force 1 mit der Roboterforscherin Der Instrukteur schüttelt den Kopf und
serleichen leichter auffindbar sein sollen. Robin Murphy nach Köln, um mit zwei grinst. „Wir sind sowieso viel zu weich
Flächendeckend werden Highspeed-Ka- Spezialrobotern die Trümmer zu unter- hier“, sagt er. „Der Normalfall ist här-
meras installiert, damit die Übungen sich suchen. ter.“ SAMIHA SHAFY
Technik
Vorstand strengte ein Disziplinarverfah- Die Gefahr für Kinderwagen und Roll-
VERKEHR
ren gegen Happe an – und verlor. Die stühle lässt sich bannen. Die Bahnsteige
D
ie Idee, den Stuttgarter Fernbahn- den 389-seitigen Planfeststellungsbe- Schließlich handele es sich um einen
hof unter die Erde zu legen, war schluss. Darin heißt es: „Eisenbahnspezi- Durchgangsbahnhof, erklärt EBA-Spre-
kaum geboren, da stellte sich ein fische Bestimmungen stehen der bean- cher Moritz Huckebrink. Die Züge wür-
ernstes Problem: Es gibt dort bereits an- tragten Längsneigung von 15,143 Promille den „nur zum Aus- und Einsteigen der
dere Tunnel – und die liegen im Weg. im neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhof Reisenden halten“ und nicht länger ab-
Quer zur gewünschten Trassenführung nicht entgegen.“ Die Bahn habe „Vorkeh- gestellt. „Bei diesen Halten werden die
erstrecken sich die subterranen Korrido- rungen zur Gewährleistung der gleichen Zuggarnituren immer gebremst.“
re der örtlichen Stadtbahnen, die nicht Sicherheit … dargestellt“. Als Beispiel Für Bahn-Kritiker Happe offenbart sich
beliebig verlegt werden können. Den Tief- nennt das EBA etwa „Hinweisschilder in dieser Argumentation der zentrale
bahnhof durchgehend oberhalb oder un- oder sonstige optische Hinweise auf er- Denkfehler der Behörde: Die Bauord-
terhalb von diesen anzulegen, war nicht höhte Längsneigung“. nung, erklärt er, solle auch vor menschli-
möglich. Was soll auf solchen Schildern stehen? cher Unzulänglichkeit schützen. So bleibe
So entschieden sich die Planer für ei- „Vorsicht, dieser Bahnhof entspricht nicht auf einem nach EBO-Richtlinien gebau-
nen Gleiskörper, der teils über und teils der Bauordnung! Kinderwagen können ten Bahnhof der Zug auch dann stehen,
unter den anderen Strecken entlangführt von selbst losrollen und Züge sich ohne wenn der Lokführer versehentlich die
(siehe Grafik). Stuttgart 21 war auf der Vorwarnung in Bewegung setzen. Der Bremse löst. Und das könne schon bei
schiefen Bahn. Bahnhofsvorstand“? kleinen Fahrlässigkeiten passieren. Hap-
Sollte das Projekt alle pe, der selbst Züge gefah-
Proteste überstehen und ren hat, berichtet, dass eine
realisiert werden, wird Stutt- unvorsichtig auf den Füh-
gart den ersten Großstadt- rerstand geworfene Akten-
bahnhof der deutschen Ei- tasche genüge, um den
senbahngeschichte bekom- Bremshebel umzulegen.
men, dessen Bahnsteige ein Eine Ausnahme von der
Gefälle von über 15 Promil- EBO-Bestimmung, die kein
le aufweisen. Das eine Ende größeres Risiko bedeutet,
des Bahnsteigs liegt gut kann laut Happe „nur in ei-
sechs Meter höher als das ner automatischen Brems-
andere. einrichtung bestehen, die
Solch ein Abhang birgt den stehenden Zug bis
zahlreiche Risiken. Kinder- zur Abfahrt festbremst und
wagen oder Rollstühle kön- erst wieder freigibt, wenn
nen von selbst auf die Zugkraft aufgeschaltet ist“.
Gleise rollen; Züge, deren Sämtliche Züge, die künf-
Bremsen sich lösen, würden tig in Stuttgart halten dür-
sich eigenmächtig in Bewe- fen, müssten mit einer sol-
gung setzen. Ein sicherer chen Technik ausgestattet
Bahnbetrieb sieht anders werden.
DPA
172 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Trends Medien
T V- S E R I E
D ie mit Kritikerlob überhäufte und
PRESSEFREIHEIT
E
r ist jetzt seit mehr als 30 Jahren „Unsere Demokratie ist ernsthaft in Ge- L’Oréal-Witwe Liliane Bettencourt wegen
Journalist. Er war Chefredakteur fahr“, sagt Plenel, der vor drei Jahren vermutlich illegaler Parteispenden und
von „Le Monde“, er deckte wäh- den unabhängigen Internetdienst Media- Steuererleichterungen aufdeckten, wer-
rend der Präsidentschaft von François part gründete: „Unsere Republik, ihre Ge- den seit Monaten in einer vom Elysée ge-
Mitterrand zahlreiche Affären auf, wurde setze und ihre Prinzipien zerfallen vor steuerten Operation abgehört, sagt Plenel.
vom Elysée abgehört und hat das alles unseren Augen zu einem großen Asche- Bei zweien von ihnen untersuchte der
immer ausgehalten. Der ehemalige Trotz- haufen.“ Die Freiheit der Franzosen wer- französische Inlandsgeheimdienst sogar
kist Edwy Plenel fand es noch nie einfach, de bedroht und zuallererst die der Presse. die Handy-Rechnungen, um ein genaues
in Frankreich Journalist zu sein. Im Mo- Die Journalisten, die für Mediapart im Diagramm ihrer Kontakte zu erstellen.
ment aber findet er es unerträglich. Juni exklusiv die Affäre um die reiche Von beiden sollen auch Bewegungspro-
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Medien
file angefertigt worden sein – über ihre „Wir sind überzeugt, dass der Präsident fonkontakte zweier „Monde“-Redakteure
Mobiltelefone, per GPS. sich persönlich um alles kümmert“, ent- zu einer mit dem Bettencourt-Fall befass-
In den Redaktionsräumen von Media- gegnet Chefredakteur Angeli, „nichts ten Richterin ausforschen ließ, im Inter-
part, in einer kleinen Seitenstraße des 12. entgeht Sarkozy.“ Alles unter höchster esse des Staates natürlich. Da fällt es
Pariser Arrondissements, gleich hinter der Kontrolle also? Eine solche Einmischung schwer, den zahlreichen Dementis Glau-
Bastille, ist zudem eingebrochen worden. des politisch mächtigsten Mannes hat es ben zu schenken.
Zufall oder eine gezielte, von Elysée- selbst in Frankreich noch nie gegeben. Sarkozys Gegner verweisen auf Fakten
Stabschef Claude Guéant angeordnete Zwar erinnern Sarkozys konservative und merkwürdige Einbrüche: So wur-
Operation, wie Plenel glaubt? Parteifreunde gern daran, dass der So- de erst vor kurzem der Computer des
„Ihr schützt mich überhaupt nicht“, so zialist François Mitterrand im Elysée einst „Monde“-Redakteurs Davet aus dessen
soll sich Nicolas Sarkozy im vergangenen eine eigene Abteilung unterhielt, die auch Wohnung gestohlen. Auch beim Wochen-
Sommer gegenüber dem Direktor der Telefonate von Journalisten abhörte. Erst magazin „Le Point“ verschwand ein Rech-
landesweiten Polizei, einem Sandkasten- Jahre später flog das „cabinet noir“ auf, ner – ausgerechnet der jenes Kollegen,
freund, und dem Chef des Inlandsge- deren Mitglieder kamen vor Gericht. der mit dem Fall Bettencourt befasst war.
heimdienstes (DCRI) beklagt haben. Da- Doch Sarkozy geht offenbar noch weiter Zuvor waren bereits bei Mediapart neben
mals bereiteten ihm Mediapart und die und instrumentalisiert im Verborgenen Laptops auch eine externe Festplatte und
Tageszeitung „Le Monde“ mit täglich Institutionen wie Polizei und Geheim- CDs verschwunden, mit Aufzeichnungen
neuen Enthüllungen zur Bettencourt-Af- dienst – immer mit dem Argument, der von Gesprächen der L’Oréal-Erbin.
färe schwere Zeiten. Das war Mitte Juli. Staat sei in Gefahr. Lauter einfache Diebe also, die an Be-
Inzwischen, so wird jetzt offenbar, haben Ab und an werden die präsidentiellen lastungsmaterial und nie an Wertsachen
sich Polizeidirektor Frédéric Péchenard Interventionen öffentlich, so wie vor we- interessiert sind, wie die Regierung be-
und DCRI-Chef Bernard Squarcini die nigen Wochen, als der „Monde“-Journa- hauptet? Der Pariser Rechtsanwalt Oli-
Klagen ihres Freundes wohl zu Herzen list Gérard Davet ins Visier der Ermittler vier Metzner, der die Bettencourt-Tochter
genommen. geriet. Davet hatte zuvor in einem Artikel vertritt, glaubt nicht daran. Aber könne
Schon im Frühjahr wurde der Inlands- zur Bettencourt-Affäre Arbeitsminister die französische Demokratie es sich leis-
geheimdienst auf Bitten des Präsidenten Éric Woerth schwer belastet, mit erstaun- ten, fragt Metzner, „Agenten loszuschi-
in einer Privatangelegenheit Sarkozys ak- lich vielen Details. Telefonrechnungen cken, um die Computer von Journalisten
tiv: Die Geheimdienstler sollten re- zu klauen, die mit der Affäre be-
cherchieren, wer die Gerüchte über fasst sind?“
das Haus Bruni-Sarkozy gestreut An Sarkozys Vetternwirtschaft,
XAVIER MOUTHON/GLOBEPIX (L.); NICOLAS TAVERNIER / REA / LAIF (R.)
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E
s lässt sich ziemlich genau datieren, liches Gehaltsgefüge“, da die Kollegen Konditionen einzutauschen. Ein Nahost-
wann das Selbstbewusstsein der aus unterschiedlichen Firmen kämen, Kollege habe für seine Rückkehr in die
RTL-Redakteure auf dem Höhe- aber man sei dabei, das „anzugleichen“. Heimatredaktion so schlechte Konditio-
punkt war. Es war, als ihr Anchor Peter Ansonsten meint RTL-Chefredakteur Pe- nen angeboten bekommen, dass er dem
Kloeppel den Grimme-Preis bekam, weil ter Kloeppel, dass der Sender in einer Sender entnervt den Rücken kehrte.
er am 11. September 2001 besser und sou- Art spare, dass die journalistische Quali- Laut Wulf hat man sich zwar von Mit-
veräner moderierte als seine Kollegen tät darunter „offensichtlich nicht leidet“. arbeitern getrennt, „allerdings nicht aus
von ARD und ZDF. Damals, so finden Manche Redakteure sehen das anders. Altersgründen“. In dem einen Fall gehe
RTL-Journalisten, waren sie endlich auf Die Zeit zur Recherche fehle, sagen sie. es um einen freien Mitarbeiter, der nicht
Augenhöhe angelangt mit der bis dahin Immer häufiger seien sie bloß noch in der mehr pauschal, sondern leistungsbezogen
so übermächtig erscheinenden öffentlich- Lage, Agenturmaterial fernsehtauglich zu bezahlt werde. In dem anderen Fall habe
rechtlichen Informationselite. machen. Der Umgang sei rüder gewor- man um die Weiterzahlung der Auslands-
Doch von diesem Selbstbewusstsein ist den. In der Mitarbeiterumfrage mochte zulage im Inland gestritten.
nicht mehr viel geblieben. Heute, lästert jeder Vierte nicht der Aussage zustimmen, RTL-Chefin Anke Schäferkordt sagt,
ein RTL-Mann, sei man froh, wenn man dass er von seinem Vorgesetzten mit Re- man habe auch bei infoNetwork „Struktu-
zu so einem dramatischen Ereignis über- spekt behandelt werde. „Bertelsmann er- ren verändern müssen“. Dabei gebe es „ne-
haupt rechtzeitig live auf dem Sender wartet hier einen positiven Wert von 90 ben verständlichen Unsicherheiten“ auch
wäre. Es hakt manchmal. Als etwa neulich Prozent. 80 Prozent gelten als untere immer „Einzelne, die sich mit notwendigen
die jenseitige Spiritisten-Show „Das Me- Veränderungen eher schwertun“. Ein „an-
dium“ startete, lief 40 Minuten die falsche 257 geblich weitverbreiteter Unmut ist mir in
Folge, bis in Europas größtem Fernsehkon- meinen Gesprächen mit unseren Redaktio-
zern endlich einer den Fehler behob. 218 nen nicht entgegengebracht worden“. Mi-
Der Unmut ist groß unter den Journa- chael Klehm, der für den Deutschen Jour-
listen von RTL und n-tv. Seit die bis dahin nalisten-Verband die RTL-Journalisten be-
getrennt agierenden Redaktionen zu ei- 160 169 158 treut, sagt dagegen: „Früher gab es bei
ner RTL-Tochterfirma mit dem kalten Na- RTL ein Family-Feeling. Heute herrscht
men infoNetwork fusionierten, so klagen ein Klima der Einschüchterung und Angst.“
die Journalisten, gehe es nur noch darum, 114 Ergebnis Schäferkordt verweist auf die Erfolge
möglichst billig möglichst viel Programm- von RTL Deutschland; ihres Kurses. Die Quoten des Senders
minuten zu produzieren. jeweils erstes Halbjahr und der Nachrichtenformate sind stabil.
Besonders kritisch sehen die Fernseh- in Mio.€* * vor Zinsen, Steuern Selbst im Krisenjahr 2009 erwirtschaftete
redakteure den sogenannten Newspool. und Abschreibungen die RTL-Familie einen ordentlichen Ge-
Er ist die Zentraleinheit, die alle Sender winn. 2010 könnte gar ein Rekordjahr
mit Nachrichtenfilmen versorgt. Intern 2005 2006 2007 2008 2009 2010 werden. MARKUS BRAUCK
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Intimzonen – Frauen sprechen
über Sex
Wie fühlt sich ein Orgasmus an? Wo
beginnt Untreue? Was hilft gegen
Routine im Ehebett? SPIEGEL-TV-
Autorin Nicola Burfeindt hat 26 Frau-
en zu ihrer Sexualität befragt. Ent-
standen sind intime, amüsante und
berührende Erlebnisberichte von
Frauen mit Lebenserfahrung, Tief-
gang und Humor.
MICHAEL FOEDROWITZ
dann gingen den Samurais die Erben aus: Ihre Kinder waren schwächlich und
debil. Forscher vermuten, dass das Make-up der Frauen schuld war.
www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist Ausstellung „Hitler und die Deutschen“
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Register
GESTORBEN seln zu verhandeln. Trotz seiner hohen
politischen Ämter behielt er einen kriti-
Harry Mulisch, 83. Große Worte hatten es schen Blick auf das eigene Wirken. „Egal,
ihm angetan, und so behauptete der Autor welche Partei oder gesellschaftliche Orga-
einmal: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.“ nisation wir gründen, es kommt immer so
Tatsächlich beschäftigte sich der im nieder- etwas wie die KPdSU heraus“, sagte er ein-
mal. Wiktor Tschernomyrdin starb am
3. November in Moskau.
mag diese Figuren so sehr, dass sie ihnen bereitet. Nach dem Genuss seinem Ehrentag die
einen Platz in ihrem Kanzlerbüro gönnt. der Hühnersuppe ging es soziale Einrichtung. Er
2005 schenkten die Waldbesitzer Merkel Ströbele besser – und für spendiert dann eine
eine weiße Dame, was nahelag, da die die Castor-Demonstration warme Mahlzeit – aber
Bürger sie in jenem Jahr zu Deutschlands am Wochenende fühlte er garantiert keinen Al-
erster Bundeskanzlerin gewählt hatten. sich auch gewappnet. Ströbele kohol.
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