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Eine für alles

Warum Männer immer noch zu viel von Frauen erwarten


DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN - MAGAZIN

Hausmitteilung
8. November 2010 Betr.: Titel, Jemen, Staufer

W ie soll sie sein, die Superfrau? Auf einige Attribute können Männer sich viel-
leicht einigen: Eine tolle Ratatouille sollte sie zaubern können, mit iPhone,
Chanel No. 5 und Kants kategorischem Imperativ vertraut sein, eine Prise Ver-
ruchtheit, dazu eine beachtliche Oberweite,
also etwa so, wie es der Hamburger Illustra-
tor Nils Fliegner als Titel für diese SPIEGEL-
Ausgabe gezeichnet hat – für die Hälfte der
Auflage. Eine solche Superfrau ist allerdings
nicht leicht zu finden, und darum geht es in
der Titelstory, welche die SPIEGEL-Redak-
teure Claudia Voigt, 44, und Juan Moreno,
38, recherchiert haben: Die Journalisten, bei-
de selbst lange Zeit Single, wollten beschrei-
ben, wie man lebt in der Vereinzelung, war-
um manche Zeitgenossen einen Mann, eine
Frau fürs Leben finden – und andere nicht.

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

JÖRG MÜLLER / DER SPIEGEL


Erste Erkenntnis: „Frauen kommen mit dem
Alleinsein besser klar“, sagt Voigt. Vom
Fluch des hohen Anspruchs bleiben sie al-
lerdings nicht verschont: Ihren Supermann
wünschen sie sich mit Geld, Bizeps, einem
Ferrari in der Garage und, für den Notfall, Moreno Voigt
Viagra in der Nachttischschublade – so sieht
es zumindest Fliegner, der auch das Titelbild für die andere Hälfte der Auflage er-
stellt hat. Bis aufs Titelbild sind die Ausgaben identisch, vor dem SPIEGEL sind
Frauen und Männer gleich, selbstredend (Seite 76).

D er Jemen ist dabei, ein neues Somalia zu werden – so jedenfalls die Befürchtung
internationaler Terrorexperten, seit die Qaida mit knapp vereitelten Bom-
benanschlägen Schrecken verbreitet. Die SPIEGEL-Korrespondenten Volkhard
Windfuhr, 73, und Alexander Smoltczyk, 51, bereisten den Jemen, Rückzugsgebiet
der Terroristen, ärmstes Land Arabiens. Sie befragten Politiker im Norden, Prot-
agonisten der Widerstandsbewegung aus dem Süden, und sie diskutierten mit In-
tellektuellen – beispielsweise im „Mokha Bunn“, dem einzigen Literaten-Café in
Sanaa. Dort trafen sie Dschamila Radschab, die Café-Besitzerin, eine attraktive
Frau von Mitte vierzig, die Jeans trägt und vor bitteren Wahrheiten nicht zurück-
schreckt. „Sie stimmte uns zu, dass Präsident Salih dringend etwas unternehmen
müsste“, sagt Smoltczyk. „Aber dann erklärte sie uns eine jemenitische Tradition:
Wer ernst macht mit Veränderungen, der lebt nicht lange“ (Seite 116).

E s lief nicht gut für Richard Löwenherz, seine Feinde


waren zu mächtig. Zum Beispiel Heinrich VI., römisch-
deutscher Kaiser, Sohn des berühmten Staufers Barbarossa;
aus politischer Rache ließ Heinrich VI. seinen Widersacher,
den englischen König, kidnappen und auf der Reichsburg
Trifels einkerkern. Diese Begebenheit ist eine von unzähligen
Staufer-Geschichten, denn die Geschichte des mittelalter-
lichen Europas ist auch Staufer-Geschichte, das Reich des
schwäbischen Herrschergeschlechts erstreckte sich von der
Ostsee bis nach Sizilien. Im neuen SPIEGEL-Buch „Die Stau-
fer und ihre Zeit“ schildern SPIEGEL-Redakteure und His-
toriker den Aufbruch in eine neue Epoche (DVA; 19,99 Euro).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 3
In diesem Heft
Titel

Im Fadenkreuz der Terroristen


Warum die Suche nach dem richtigen
Lebenspartner immer häufiger scheitert ........ 76
Seiten 22, 162
Deutschland Die Hinweise ver-
Panorama: Biosprit klimaschädlicher als fossile dichten sich, dass
Brennstoffe / Der FDP laufen die Mitglieder al-Qaida einen An-
davon / Konservative Politiker fordern härtere schlag in Europa
Haltung gegenüber der Türkei ........................ 17 plant. Festgenom-
Terrorismus: Sicherheitsbehörden
befürchten Anschläge in Deutschland ............ 22
mene Islamisten
CDU: Ursula von der Leyen und berichten von Plä-
Norbert Röttgen rangeln um Angela Merkels nen, Wirtschafts-
Erbfolge ......................................................... 28 und Finanzzentren
Affären: Die Hamburger Grünen wollen die anzugreifen. Nach
Ablösung von HSH-Nordbank-Chef den vereitelten An-
Nonnenmacher zur Koalitionsfrage machen ... 30 schlägen mit Paket-
Bundestag: Das Tempo im „Herbst bomben auf Fracht-
der Entscheidungen“ führt zu Pfusch
OLIVER BERG / DPA

an Gesetzen ................................................... 34 maschinen will die


SPD: Interview mit Berlins Regierendem Bundesregierung
Bürgermeister Klaus Wowereit über nun die internatio-
Bürgerproteste, seine Herausforderin Renate nalen Kontrollen ver-
Künast und Thilo Sarrazin ............................. 36 De Maizière schärfen.
Karrieren: Die ungelenke Polit-Show
der Forschungsministerin Annette Schavan ... 39
Prozesse: Der angeklagte Vater
des Amokläufers von Winnenden bleibt

Widerstand gegen Amerika


der Verhandlung fern ..................................... 46
Feminismus: SPIEGEL-Gespräch mit
Familienministerin Kristina Schröder über
Seiten 90, 97
die Irrtümer der Frauenrechtlerinnen ............ 54 Die USA machen Druck und wollen, dass die Deutschen ihren Export drosseln.
Kriminalität: Aus Angst vor ihrem aus Finanzminister Wolfgang Schäuble wehrt sich: „Der Vorschlag ist unter keinen
der Haft entlassenen Vergewaltiger flieht Umständen akzeptabel“, sagt er im SPIEGEL-Gespräch.
eine Frau in eine neue Identität ..................... 60

Gesellschaft
Szene: Der lebensgefährliche Kampf einer
Iranerin um politisches Asyl /„FAZ“-
Herausgeber Frank Schirrmacher über die
Geheimnisse des menschlichen Gehirns ......... 67
Murks im Bundestag Seite 34
Eine Meldung und ihre Geschichte – Atomgesetz, Hartz IV, Gesundheitsreform – die Koalition produziert schlampige
warum eine katzenfeindliche Britin mit Gesetze, das Parlament fühlt sich übergangen. Bundestagspräsident Norbert Lam-
Adolf Hitler verglichen wurde ....................... 68 mert spricht von unzumutbaren Zeitplänen und kritisiert erneut die Regierung.
Deutsche Einheit: Das letzte Versagen
der Treuhandanstalt ....................................... 70
Ortstermin: Die Nationalmannschaft der
Bundeswehr-Köche trainiert für die WM ....... 75

Wirtschaft
Trends: Rätsel um RWE-Chef Großmann /

„Europa muss
Ernährungsindustrie fühlt sich verfolgt /
WestLB hat wieder Ärger mit Brüssel ............ 88
Weltwirtschaft: Vor dem G-20-Gipfel

aufstehen“ S. 122
wachsen die Spannungen zwischen den
großen Industrienationen ............................... 90
SPIEGEL-Gespräch mit Finanzminister
Wolfgang Schäuble über die umstrittenen Der umstrittene Islam-Kri-
deutschen Überschüsse und die geplante tiker und Mehrheitsbeschaf-
Insolvenzordnung für Euro-Länder ................ 97
Urteile: Ein Oberlandesgericht verurteilt fer der niederländischen
die Deutsche Bank wegen Falschberatung Regierung Geert Wilders
bei Spekulationsgeschäften ........................... 100 fordert im SPIEGEL-Ge-
Konzerne: E.on-Chef Johannes Teyssen spräch europaweiten Wider-
ARIE KIEVIT / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF

plant radikalen Strategiewechsel .................. 102 stand gegen die „totalitäre


und gewalttätige Ideologie“,
Ausland die der Koran predige, und
Panorama: Russischer Streit um deutsche spricht sich strikt gegen
Kirchen im früheren Ostpreußen / jede EU-Erweiterung aus.
Der griechische Schriftsteller Takis
Theodoropoulos über die neue Wilders
Welle der Gewalt .......................................... 106
USA: Der verflogene Zauber des
Barack Obama .............................................. 108
4 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Luftfahrt: Die Explosion eines
Triebwerks schürt neue Ängste vor dem
Riesenflieger A 380 ....................................... 111
Italien: Warum moralische
Verfehlungen Silvio Berlusconi nicht zu Fall
bringen werden ............................................. 114
Jemen: Wie Separatisten, Stammesführer
und Dschihadisten ein
Land zu ihrer Geisel machen ........................ 116
Niederlande: SPIEGEL-Gespräch mit dem
niederländischen Islam-Kritiker Geert Wilders
über seinen Kampf für ein Koran-Verbot und
die Migranten-Debatte in Deutschland ......... 122
Global Village: Mit dem Heiligen Vater
rund um die Welt .......................................... 126
Beschädigter Airbus A 380
Sport
Szene: Casting-Show für Fußballer /
Sportpsychologe Jens Kleinert

Schrapnell im Flügel Seite 111


über psychosomatische Beschwerden bei
Nachwuchssportlern ..................................... 129
Wellenreiten: Die einarmige Surferin
Die Beinahe-Katastrophe nach dem Start eines Airbus A380 schürt die Bethany Hamilton tritt im Weltcup gegen
Angst, ob die Technik solcher Riesenflieger überhaupt beherrschbar ist. Die die besten Profis an ...................................... 130
heikelsten Fragen aber muss sich der Triebwerkhersteller gefallen lassen. Formel 1: Die russische Sportwagenmarke
Marussia steigt in die Rennserie ein .............. 132

REUTERS
Kultur
Szene: Die russische Justiz jagt eine
Kunstmäzenin / Die Geschichte der
Modezeichnung im Londoner Design
Museum ........................................................ 134

Die späte Angst des Opfers


Debatte: Der Philosoph Peter Sloterdijk
Seite 60 über das bürgerliche Aufbegehren ................ 136
Kino: Sofia Coppola und
Aus Furcht vor einem Gewalttäter, der aus dem Gefängnis entlassen werden ihr neuer Film „Somewhere“ ........................ 144
soll, muss eine von ihm vergewaltigte Frau samt ihren Kindern untertauchen. Literatur: Wie verschieden
Der Mann hatte ihr Rache geschworen, sie aus dem Knast heraus bedroht. deutsche und amerikanische Autoren
Die Behörden sind machtlos. über den Krieg schreiben .............................. 148
Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Philosophiehistoriker Kurt Flasch über
mittelalterliche Denker und das
Verhältnis von Vernunft und Glauben .......... 151

Der ausgeschaltete Bürger


Bestseller ..................................................... 155
Seite 136 Musikkritik: „Born Free“, das neue Album
des Sängers Kid Rock ................................... 156
In einem SPIEGEL-Essay beschäftigt sich der Philosoph Peter Sloterdijk mit
dem Aufbegehren der Bürger gegen Großprojekte wie Stuttgart 21: Politik hier- Wissenschaft · Technik
zulande sei zu vergleichen mit dem „Monolog eines Autistenclubs“. Prisma: Vulkane als Wettermacher / Das
Liebesleben der Trüffeln .............................. 159
Luftfahrt: Die Sicherheitslücken im
Frachtverkehr ............................................... 162
Internet: Was kommt nach Googles

Wunder auf der


Street View? ................................................. 165
Rettungstechnik: Erdbeben, Bomben,
Hurrikane – in „Disaster City“ üben Helfer

Welle Seite 130 ihren Einsatz ................................................. 168


Verkehr: Schiefe Gleise in Stuttgart 21 .......... 172

Vor sieben Jahren biss Medien


ihr beim Surfen vor Hawaii Trends: „Im Angesicht des Verbrechens“
ein Tigerhai den linken floppt / Macht Schäuble-Tochter beim SWR
Arm ab, doch Bethany Karriere?........................................................ 175
Hamilton stieg wieder aufs Pressefreiheit: Lässt Frankreichs Präsident
REX FEATURES / ACTION PRESS

Brett. Heute tritt die 20- Sarkozy Journalisten ausspionieren? ............. 176
Jährige im Weltcup gegen TV-Sender: Bei RTL wächst der Unmut ......... 178
die besten Profis an. Die
Fans bewundern Hamil- Briefe ............................................................... 8
Impressum, Leserservice .............................. 180
tons Tapferkeit, auch Hol-
Register ........................................................ 182
lywood hat ihre Geschichte Personalien ................................................... 184
entdeckt und verfilmt. Hamilton Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 186
Titelbild: Illustration Nils Fliegner für den SPIEGEL

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Briefe

Überheblich und von sich eingenommen


„Jetzt mal nicht so pessimistisch! wollen sie weiterhin die „allseitige Leit-
währung“ sein, vergessen aber, dass
Amerika wird seinen Optimismus so wenig amerikanische Banker durch ihr Denken
einbüßen wie seine Fähigkeit, sich immer und Handeln die Welt in die letzte Krise
wieder neu zu erfinden. Und mal ganz stürzten.
ESSEN ANGELIKA KLOS
ehrlich: Welches Land wird so sehr mit dem
Begriff der Freiheit identifiziert, wie viele Das amerikanische Mittelmaß konnte bis-
her gut hinter dem Ost-West-Konflikt und
ungezählte Erfindungen haben von dort der teuren Konzentration auf die eindruck-
ihren Siegeszug um die Welt angetreten?“ schindende Raumfahrt versteckt werden.
Matthias Kaiser aus Hausach in Baden-Württemberg
Jetzt aber hilft kein Mittel der Welt mehr,
zum Titel „Die verzweifelten Staaten von Amerika – Eine Nation das marode Fundament zu stabilisieren.
SPIEGEL 44/2010 verliert ihren Optimismus“ Jammern und Demonstrieren hilft nicht.
Arschbacken zusammenkneifen und für
sich arbeiten. Das ist das neue Fundament.
wenn doch? Dann fällt man aus rosa- KÖLN JOACHIM DREETZ
Gnadenlos seziert roten patriotischen Wolken und lernt auf
schmerzhafte Art, was anderswo Binsen- Amerika war groß, solange es ausbeuten
Nr. 44/2010, Titel: Die verzweifelten Staaten von
Amerika – Eine Nation verliert ihren Optimismus weisheiten sind. Es wirkt alles so wie ein konnte. Es ist die Krise eines aggressiven
Hollywood-Western: Schöne Fassaden und inhumanen Systems, das an Grenzen
Ich stelle mir vor, ich erzähle meinen En- vorne, und hintendran sind Bruchbuden. stößt. Es ist die Krise des Kapitalismus –
kelkindern später mal vom Fall des ame- GUMMERSBACH (NRDRH.-WESTF.) weil dieser für Nachhaltigkeit und Stabilität
rikanischen Weltreichs und werde dann F. LOTHAR WINKELHOCH keine Mechanismen aufweist.
darauf hinweisen, dass der SPIEGEL KAUFUNGEN (HESSEN) KONSTANTIN RICHTER
schon im Jahr 2010 ganz deutlich den Ver-
fall beschrieben hat. Für mich sind Igno- Es ist nicht nur traurig, sondern vor allem
ranz und Überheblichkeit zwei der vielen beängstigend, dass Obamas Reformkurs
Gründe dafür. Es zeigt sich, dass im Ka- nicht geklappt hat: Der nächste Präsident
pitalismus in Reinkultur die Reichen nur wird aus Sicht der Amerikaner kein
so lange immer reicher werden können, „Weichei“ sein, sondern ein Hardliner, der
wie Menschen vorhanden sind, die aus- sich eine neue außenpolitische Aufgabe
gebeutet werden können, die also Arbeit BROOKS KRAFT / CORBIS vornehmen wird; ein neuer Feind muss
haben und Steuern zahlen. her, als Ablenkung für all das, was innen-
LAGE (NRDRH.-WESTF.) HANS-MARTIN KAUP politisch den Bach runtergeht.
BIELEFELD E.-MARTIN KLEIN
Uneingeschränktes Lob für den auf-
schlussreichen und analytischen Titel. US-Präsident Obama bei einer Armenspeisung
FRANKFURT AM MAIN THEO DECHERT Beängstigendes Scheitern Unehrlich und heuchlerisch
Nr. 43/2010, Diplomaten:
Amerikaner, die in Europa wohnen, ha- Bei der Forschung nach den Ursachen für Eine Historikerkommission hält das Auswärtige Amt
ben den kritischen Blick auf ihre Heimat den Niedergang Amerikas stellt sich die für mitschuldig am Holocaust
bekommen. Sie haben aus der Entfernung Frage, welche Wertvorstellungen dazu
erkannt, dass der amerikanische Traum, geführt haben. Da kann man an allerers- Die angebliche Überraschung über die
gebaut auf Schulden und Selbstherrlich- ter Stelle nur nennen: Lügen aus Prinzip Ergebnisse der Studie zum Beitrag des
keit, zu Isolation führt und nun gegen- als fundamentalen Bestandteil amerika- Auswärtigen Amts an der Ermordung der
über der sozialen europäischen Nachhal- nischer Verfassungswirklichkeit. europäischen Juden ist unehrlich und
tigkeit das Nachsehen hat. SEEHEIM-JUGENHEIM (HESSEN) THOMAS HAMBEK heuchlerisch. Denn das ist alles seit lan-
BERLIN ALAN BENSON gem durch das Buch von Raul Hilberg
Ein sehr guter und so wahrer Artikel. Die „Die Vernichtung der europäischen Ju-
Dieser gründlich recherchierte Artikel, Amerikaner haben kein Problem – sie den“ bekannt. Darin werden viele Doku-
der die USA gnadenlos seziert, lässt nur sind das Problem! Sie haben Obama nicht mente zitiert, die belegen, dass die SS
einen Schluss zu: Der amerikanische verdient, der zudem acht Jahre früher den Abtransport der Juden aus den be-
Traum vom „Immer mehr auf Kosten hätte gewählt werden müssen, bevor setzten Ländern in die Vernichtungslager
anderer“ ist zu Ende. Bush jr. das Land endgültig versaut hat. immer mit dem Auswärtigen Amt ab-
FRANKFURT AM MAIN ERIK SCHNEIDER

Der amerikanische Traum wird so lange Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE
nichts mehr werden, solange man nicht
umgehend große Summen in Bildung und ‣ Titel Warum ist es so schwer, den richtigen Partner
Ausbildung steckt. Nur dann kann man zu finden? www.spiegel.de/forum/Partnerwahl
in den USA mittelfristig einigermaßen ‣ Sicherheit Müssen die Kontrollen für Mensch und Ge-
autark werden. päck noch schärfer werden? www.spiegel.de/forum/Flug
MELLRICHSTADT (BAYERN) KARL-HERMANN REICH
‣ Justiz Sollten haftentlassene Sexualstraftäter mit
Die US-Gesellschaft hat nie Selbstkritik Sendern ausgestattet werden?
gelernt – im Gegenteil, ein auserwähltes www.spiegel.de/forum/Sender
Volk kann keine Fehler machen. Und
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Briefe

den Menschenverstandes“, ihre „Laien-


logik“ wollen sie rehabilitiert sehen, nicht
nur alle vier Jahre, wenn sie um ihre
Stimmabgabe umbuhlt werden.

BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK / BPK


COTTBUS PROF. DR. WOLF SCHLUCHTER
LEHRSTUHL FÜR SOZIALWISS. UMWELTFORSCHUNG

Die Behauptung der Befürworter, beim


Ausstieg sei wieder eine Planungszeit von
16 Jahren nötig, erscheint mir unlogisch.
Bei den möglichen Alternativen ist viel
Außenminister Ribbentrop, Diplomaten 1940 weniger zu planen. Die Modernisierung
Blutrünstige Wolfsrudel des Kopfbahnhofs und der bisherigen
Strecke nach Ulm als kostengünstigste
stimmte. Die entsprechenden Briefe wur- Version verlangt weniger Planungen und
den von Minister von Ribbentrop oder geologische Untersuchungen, als bisher
von Staatssekretär von Weizsäcker abge- durchgeführt wurden.
zeichnet. Außerdem war das Judenreferat LEINFELDEN-ECHTERDINGEN (BAD.-WÜRTT.)
des Ministeriums eingeschaltet. JOCHEM OBERREUTER
BERLIN DR. HARALD MENCKE
Was sind 1,4 Milliarden Euro für den so-
Das Auswärtige Amt unter Joschka Fischer fortigen Ausstieg, wenn der komplette
hat nicht nur die Studie über die Verstri- Bau über 10 Milliarden kosten würde?
ckung in die Verbrechen Nazi-Deutsch- BIETIGHEIM-BISSINGEN (BAD.-WÜRTT.)
lands in Auftrag gegeben, sondern auch MATTHIAS SCHLICHENMAIER
Widerständler wie Friedrich von Prittwitz
und Gaffron geehrt. Dieser hatte 1933 Das auch vom SPIEGEL gelobte so-
nicht nur um seine Entlassung gebeten, genannte Mediationsverfahren zum er-
sondern auch, allerdings vergeblich, ver- neuten Ausbau des Frankfurter Flugha-
sucht, seine Kollegen in London und Paris fens mitsamt seinem Versprechen auf ein
zum gleichzeitigen Rücktritt zu bewegen. Nachtflugverbot war nichts weiter als Teil
BOCHUM PROF. DR. MICHAEL WALA einer verlogenen Inszenierung. Die Ver-
RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM antwortlichen wollen behaupten, dieser
Flughafenausbau sei in einem demokra-
Sobald eine verbrecherische Staatsfüh-
rung zur Menschenhatz bläst, werden aus
Gesinnungs-Bildungseliten blutrünstige
Wolfsrudel.
BERLIN WOLFGANG GERHARDS

Es verwundert eigentlich nicht, dass


das seinerzeitige Außenministerium im
Gleichschritt mit den Nazis marschierte.
Aber es gab auch hier rühmliche Ausnah-

BERND WEISSBROD / DPA


men wie etwa Fritz Kolbe, Beamter im
Auswärtigen Amt. Unter ständiger Le-
bensgefahr hat er Sand in das Getriebe
der früh erkannten Barbarei gestreut und
über die Gräueltaten berichtet. Nach dem
Krieg hat man seine Wiedereinstellung Schlichter Geißler, Ministerpräsident Mappus
verhindert. Mehr Mitwirkung, mehr Respekt
ARNSTEIN (BAYERN) RALF MARKERT
tisch und rechtsstaatlich sauberen Verfah-
ren genehmigt worden. 120 000 Bürgerin-
Verlogene Inszenierung nen und Bürger haben ihre mit viel Mühe
und Sachverstand verfassten schriftlichen
Nr. 43/2010, Verkehr: Trotz Schlichtungsgesprächen
sieht die Landesregierung keine Alternative zu Stutt- Einwendungen für den Papierkorb ge-
gart 21; Nr. 44/2010, Mediation: Wie sich Konflikte schrieben. Das ist uns sehr wohl bewusst.
um Großprojekte wie Stuttgart 21 entschärfen lassen NAUHEIM (HESSEN) THOMAS ARNOLD

Mehr partizipative Demokratie ist ange- Fazit aus der zweiten Runde mit Heiner
sagt. Seit Jahren ist abzusehen, dass sich Geißler ist die traurige Tatsache, dass die
die Bürger immer stärker für ihre Belange Bahn-Seite noch immer Dokumente nicht
vor Ort interessieren. Sie fordern mehr zur Diskussion bereithält wie zum Bei-
Mitwirkungsmöglichkeiten und mehr spiel neuere Stellungnahmen der Firma
Respekt. Politiker sollten sich nicht ein- Sma und Partner zum Betriebskonzept.
bilden, immer alles besser zu wissen. Es Wie sollen da Mediation und Diskussion
reicht, wenn sie Politik machen. Die Men- funktionieren?
schen wollen Anerkennung ihres „gesun- STUTTGART GÜNTER FLUCK

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Briefe

gemäß und rechtmäßig erfolgt. Das bran-


Übung macht den Meister! denburgische Ministerium für Wissen-
schaft hat inzwischen erklärt, die Berufung
Nr. 43/2010, Medizin: Warum ein starkes Immunsystem
eine Erkältung nur schlimmer macht Schnelleckes sei unstrittig; an deren Recht-
mäßigkeit bestehe kein Zweifel. Schnellecke
Naturheilkundlich orientierten Behandlern hat sich durch seine Tätigkeit in der Juris-
ist das alles seit langem bekannt. Wenn tenausbildung, durch Vorlesungen und Vor-
Kinder und Teenager häufiger an den Ab- träge hohe Qualifikation erworben. Seit
wehrmaßnahmen leiden, so ist das damit seiner Berufung 2008 hält er regelmäßig
zu erklären, dass sich ihr Immunsystem erst Vorlesungen an unserer Hochschule und
noch durch alle erwähnten 200 Virenarten bereichert die akademische Ausbildung.
durchkämpfen muss. Es ist also das intakte WILDAU (BRANDENB.) PROF. DR. LÁSZLÓ UNGVÁRI
Immunsystem, das sich durch die „Pein“ PRÄSIDENT DER TH WILDAU
zeigt. Wer nie darunter leidet, hat ganz of-
fensichtlich eine schwache Immunabwehr.
BAD HEILBRUNN (BAYERN) WERNER GRILL Mit der Wucht eines Tsunamis
Nr. 43/2010, Gesundheit: Sind Kinder zu dick, liegt
das oft an den Eltern

Wie lange brauchen die Verantwortlichen


dieses Staates noch, bis sie erkennen, dass
in Zeiten mangelnder sozialer Kontrolle,
veränderter Familienstrukturen und völlig
SPL / AGENTUR FOCUS

neuer Einflüsse aus Medien und Internet


Ganztagsschulen und -betreuung viele Pro-
bleme der Familien und der Gesellschaft
nicht lösen, aber doch lindern würden?
GELTENDORF (BAYERN) IRMGARD KANTOR
Niesattacke
Der Körper übt den Ernstfall Schon jetzt nimmt die Anzahl der Patien-
ten spürbar zu, die aufgrund ihrer Körper-
Seit Jahren versuche ich mein Immunsys- masse nicht auf meinem Zahnarztstuhl
tem zu stärken: morgens Wechselduschen, behandelt werden können. Die Welle, die
selten Fleisch, öfter Fisch, viel Obst und hier auf uns zurollt, wird die gewohnt hei-
Gemüse, Bewegung, regelmäßiges Hände- melige Finanzierung der gesetzlichen Kran-
waschen. Trotzdem bin ich von Erkältungs- kenversicherung schon sehr bald wie ein
attacken verschont geblieben. Habe ich Tsunami überfluten. Warum wird bei Kin-
etwa eine schwache Körperabwehr? dern der Anspruch auf körperliche Unver-
FRANKFURT AM MAIN OTTFRIED KOSCHORRECK sehrtheit eigentlich außer Kraft gesetzt?
BREMEN DR. HANS-WERNER BERTELSEN
„Harmlose“ Erkältungsviren sind nur des-
halb harmlos, weil der menschliche Körper
WALTRAUD GRUBITZSCH / PICTURE-ALLIANCE / DPA

sie so schnell beseitigt. Warum sonst ster-


ben Menschen mit Immundefekten und
schwacher Abwehr durch Chemotherapien
et cetera sonst an ebendiesen Viren? Auch
der Sinn der Erkältungen liegt auf der
Hand: Der Körper übt den Ernstfall und
produziert eine Vielzahl regulativer Zellen,
die bei einer Invasion nichtharmloser Viren
zuschlagen können, bevor größere Schäden
entstehen. Übung macht den Meister!
LEIPZIG KATHLEEN SITTE Übergewichtige Kinder beim Sport
Problemlinderung durch Ganztagsschulen?

Ordnungsgemäß und rechtmäßig Man sollte in dieser Diskussion auch an


strukturelle Maßnahmen denken wie etwa
Nr. 40/2010, Karrieren: Wolfsburgs Oberbürgermeister
schmückt sich mit einem Professorentitel – zu Recht? eine angemessene Besteuerung von Soft-
drinks und Süßigkeiten zugunsten der För-
Ihr süffisanter Bericht zu Honorarprofes- derung des Obst- und Gemüsehandels.
suren mag den üblichen deutschen Miss- FRANKFURT AM MAIN
gunstinstinkt erfreuen. Dem, der eine sol- DR. MED. HEIDE RICHTER-AIRIJOKI
che Auszeichnung zu Recht verliehen be-
kommen hat, geht es jedoch wahrlich an Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
die persönliche Ehre. Deshalb möchten wir tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
in Hinblick auf Oberbürgermeister Rolf leserbriefe@spiegel.de
Schnellecke klarstellen: Die Berufung zum
Honorarprofessor für Verwaltungsmanage- In dieser Ausgabe befindet sich im Mittelbund ein viersei-
ment an unserer Hochschule ist ordnungs- tiger Beihefter der Firma Sky Deutschland, Unterföhring.

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Panorama Deutschland
Staatliche Zuschüsse
KIRCHEN 19 Milliarden Euro

Teure Alimentierung
unter anderem für
konfessionelle
Kindertages-
stätten
3,9 Mrd. €
Religions-
unterricht
1,7 Mrd. €
theologische
Fakultäten,
DAVID EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA

kirchliche
Hochschulen
509 Mio. €
Kirchen-
personal
459 Mio. €
Bischofsprozession zur Basilika Vierzehnheiligen in Oberfranken Quelle: Carsten Frerk,
„Violettbuch Kirchenfinanzen“, 2010

D ie deutschen Kirchen, ihre Mitglieder und Wohlfahrtsver-


bände, erhalten wesentlich höhere staatliche Zuschüsse als
vielfach angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt der Experte
lungsministerium, nur fünf Prozent stammen direkt von der
Kirche. Die Bundesländer zahlen zudem „Baulasten“ für den
Erhalt von Tausenden Kirchen und Pfarrhäusern. Aufgeschreckt
für kirchliche Finanzen, Carsten Frerk, in seiner neuen Publika- durch die öffentliche Debatte, hatten die katholischen Bischöfe
tion „Violettbuch Kirchenfinanzen“, die Mitte dieser Woche ver- das Thema einer stärkeren Trennung von Staat und Kirche auf
öffentlicht wird. Das Buch dürfte die Debatte um die künftige ihrer Tagung in Fulda auf das Programm gesetzt. In einem Fach-
Finanzierung der Kirchen anheizen. Denn nach Frerks Berech- vortrag wurde die Möglichkeit für eine Ablösung von rund 460
nung betragen die direkten und indirekten Leistungen, die der Millionen Euro Ansprüchen, teils aus dem 19. Jahrhundert, vor-
Staat Katholiken und Protestanten und deren Einrichtungen gestellt. Für die Kirche ist das allerdings nur dann vorstellbar,
bisher gewährt, jährlich rund 19 Milliarden Euro. Diese Summe wenn die Bundesländer dafür letztmalig „einen zweistelligen
enthält nicht die 9 Milliarden Euro Kirchensteuern und die schät- Milliardenbetrag“ zahlen, „damit die Kirchen dann – bei einer
zungsweise 45 Milliarden für Caritas und Diakonie. Verzinsung von drei bis vier Prozent – den bisherigen Umfang
Teils geschehe das direkt, wie bei den Zuschüssen der Bun- an Staatsleistungen erzielen könnten“.
desländer für Bischöfe und anderes Kirchenpersonal, teils in- Angesichts vieler Konfessionsloser wird in Bundesländern wie
direkt, wie durch Steuerbefreiungen. Allein der Religionsun- Sachsen darüber diskutiert, ob eine Co-Finanzierung von Kir-
terricht kostete den Staat im vergangenen Jahr 1,7 Milliarden, chentagen noch angemessen ist. Der SPD-Bundestagsabgeord-
theologische Fakultäten und kirchliche Hochschulen weitere nete Rolf Schwanitz möchte, dass die Gespräche über die
509 Millionen Euro. Mit 3,9 Milliarden finanziert werden Staatszuschüsse auf Bundesebene weiter in Gang kommen:
christliche Kindergärten. Selbst eine rein kirchliche Unter- „Wir müssen jetzt dringend die rechtlichen Grundlagen schaf-
nehmung wie Misereor, das Bischöfliche Hilfswerk, bekam fen, um die Regeln für die Ablösung der überkommenen
zuletzt 63 Prozent seines 162-Millionen-Etats vom Entwick- Staatsleistungen endlich festzulegen.“

TERRORISMUS klammer, die den Stromkreis unter- nicht zu einer Explosion, sondern zu
brach, sollte beim Öffnen des Päck- einer Verpuffung mit Stichflamme ge-
Geringe Sprengkraft chens herausfallen und den Stromim-
puls geben, um damit das Pulver zu
kommen. „Die Brisanz dürfte eher im
Bereich der Füllung von ,polnischen

E ine Paketbombe, die Anfang ver-


gangener Woche im Kanzleramt
eintraf, war von eher geringer Spreng-
zünden. Nach Einschätzung der deut-
schen Kriminaltechniker wäre es wohl
Böllern‘ liegen“, heißt es in einer Be-
wertung des Bundeskriminalamts. Als
angeblicher Absender war auf dem Pa-
kraft. Nach Angaben der Polizei ent- ket das griechische „Wirtschaftsministe-
hielt das Päckchen ein Buch mit rotem rium, Generalsekretariat, D. Georgako-
Einband und griechischer Aufschrift, in poulos“ vermerkt. Experten des Berli-
dessen hohles Innere ein etwa zehn ner Landeskriminalamts sprengten es
Zentimeter langer, mit schwarzem Pul- mit einem Wassergewehr. Das Paket
ver gefüllter zylindrischer Kunststoffge- war von UPS aus Athen nach Berlin
genstand gebettet war. Bei dem Pulver geliefert und in der Poststelle des
handelte es sich möglicherweise um Kanzleramts geröntgt worden. Dabei
ein Perchlorat-Gemisch, wie es auch war den Beamten der Inhalt aufgefal-
bei Feuerwerk eingesetzt werden kann. len. Als Urheber werden griechische
Von dem Pulver führte ein Kabel zu Anarchisten der Gruppe „Verschwö-
acht 1,5-Volt-Batterien. Eine Wäsche- Griechische Paketbombe rung der Zellen des Feuers“ vermutet.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 17
Panorama
MENSCHENHANDEL

Stärker regulieren
D ie Innenminister der Bundesländer
wollen den Bund zu einer Verschär-
fung seines 2002 in Kraft getretenen
Ölpalmen-Anbau im
indonesischen Regenwald
Prostitutionsgesetzes drängen. Die In-
nenministerkonferenz betrachte „mit
Sorge, dass neben der klassischen Pro-
stitution ein Trend zu ,Flatrate-Clubs‘
und Gang-Bang-Veranstaltungen festzu-
stellen“ sei, heißt es in einer Beschluss-
vorlage für die Innenministerkonferenz,
die Ende kommender Woche stattfindet.
Zudem seien in der „Straßenprostitu-
tion vermehrt osteuropäische Frauen ver-
treten“, die dem Gewerbe in „schlech-
tem gesundheitlichen Zustand“ nachgin-
gen. Hinzu komme eine deutliche Zu-
ULET IFANSASTI / GETTY IMAGES

ENERGIEPOLITIK

Biosprit schadet Klima


nahme der Fälle von Menschenhandel
zum Zweck sexueller Ausbeutung. Es
gebe keine belastbaren Hinweise, dass
das Gesetz von 2002 einen „kriminali-
tätsmindernden Effekt“ gehabt habe,

S teigender Einsatz von Biosprit in Eu-


ropa wird zu einem Anstieg der klima-
schädlichen CO2-Emissionen führen, weil
cker sowie Weizen produziert werde. Da-
für müssten laut Studie weltweit bis zu
69 000 Quadratkilometer Wald, Weiden
für die Produktion der Agrotreibstoffe und Feuchtgebiete als Ackerland kulti-
weltweit riesige Flächen in zusätzliches viert werden – eine Fläche mehr als
FRANKA BRUNS / AP

Ackerland umgewandelt werden müssen. zweimal so groß wie Belgien. Als Folge
Biosprit sei „schädlicher für das Klima als würden jährlich bis zu 56 Millionen
die fossilen Energien, die er ersetzen soll“, Tonnen CO2 freigesetzt. Das entspräche
kommentieren neun große Umweltver- zusätzlichen 12 bis 26 Millionen Autos auf
Prostituierte bände eine neue Studie des Londoner Europas Straßen.
Instituts für europäische Umweltpolitik
heißt es in einem Positionspapier aus (IEEP). Die IEEP-Forscher untersuchten
Bremen. Die Innenminister wollen dem die offiziellen Pläne von 23 EU-Mitglied-
jetzt vor allem durch „Erlaubnispflich- staaten zum Ausbau der erneuerbaren
ten für alle Formen von Prostitutions- Energien bis 2020. Deutschland werde
stätten“ entgegenwirken – so wollen sie dann 5,5 Millionen Tonnen Biosprit dem
beispielsweise verhindern, dass schon Benzin und Diesel beimischen und da-
einmal verurteilte Menschenhändler mit im Verbrauch Spitzenreiter vor Groß-
JOCHEN ZICK / KEYSTONE

Bordelle betreiben. Daneben fordern britannien, Frankreich und Spanien sein.


sie bundeseinheitliche Zugangs- und Insgesamt sollen 2020 in Europa 9,5 Pro-
Kontrollmöglichkeiten für Orte, an de- zent der Energie für den Verkehr aus
nen der Prostitution nachgegangen Biosprit bestehen, der fast vollständig
wird, und ein flächendeckendes Ange- aus Ölsaat, Palmöl, Rohr- und Rübenzu-
bot an Ausstiegshilfen für Prostituierte.

RÜSTUNG Deutschen Industrie geleitet – mit Genehmigung der ES-Kon-


trolleure. Nach der Umorganisation des BDI-Ausschusses in ei-
Rückruf eines Generals nen eigenständigen Verband untersagte das Ministerium dem
63-Jährigen jedoch seinen Industriejob. Grundlage ist die Vor-

D ie deutsche Rüstungsindustrie muss vorerst auf ihren Chef-


Lobbyisten verzichten. Die Anti-Korruptions-Abteilung
des Verteidigungsministeriums, „Ermittlungen in Sonderfällen“
schrift, dass ausscheidende Offiziere fünf Jahre lang nicht in
dem Bereich tätig werden dürfen, mit dem sie zuvor dienstlich
zu tun hatten. Marzi selbst sieht nach seinem Wechsel vom
(ES), hat dem Geschäftsführer des neuen Bundesverbandes der BDI-Ausschussgeschäftsführer zum Verbandsvertreter eine „in-
Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, Generalleutnant a. D. haltlich unveränderte Tätigkeit“ und klagt gegen das Verbot.
Heinz Marzi, mit sofortiger Wirkung seine Tätigkeit verboten. Der Wechsel von Ministerialen und Politikern in die Wirtschaft
Der ehemalige stellvertretende Luftwaffeninspekteur hatte sorgt immer wieder für Aufsehen, zuletzt im Fall des hessi-
nach seiner Pensionierung im vergangenen Jahr zunächst den schen Ex-Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), der Chef
Ausschuss Verteidigungswirtschaft im Bundesverband der des Bauriesen Bilfinger Berger wird.
18 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland
K ATA S T R O P H E N Frage der Hilfen abkoppeln.
Meist haben Betroffene erst
„Unzumutbar für eine realistische Chance, Ent-
schädigungen einzufordern,
die Opfer“ wenn die Ermittlungen abge-
schlossen sind und das Ge-
Ex-Bundesinnenminister und richt Schuldige benannt hat.

OLIVER TJADEN
Anwalt Gerhart Baum, 78, Im hochkomplexen Fall Love
über eine neue Stiftung für Parade dürfte das noch Jahre
Love-Parade-Geschädigte dauern; wahrscheinlich
kommt es nicht vor 2012 zum
SPIEGEL: Mehr als hundert Tage nach Prozess. Und vielleicht wird das Ergeb-
der Katastrophe von Duisburg hat nis am Ende für die Opfer wenig be-
noch immer niemand die Verantwor- friedigend sein.
tung für die Massenpanik mit 21 Toten SPIEGEL: Wieso?
übernommen. Was bedeutet das für Baum: Es ist durchaus möglich, dass bei
die Hinterbliebenen und Verletzten? allen Beteiligten Fehler festgestellt
Baum: Eine große Last. Die Menschen werden, diese aber nicht zu Verurtei-
fühlen sich alleingelassen. Sie erwarten lungen führen. Für die Opfer ist es un-
nicht, dass die Schuldfrage innerhalb zumutbar, das abzuwarten. Deshalb
weniger Wochen geklärt wird. Aber sie bemühen wir uns, mit allen potentiell
erwarten, dass sich der Love-Parade- Verantwortlichen schon jetzt umfas-
Veranstalter Lopavent, die Stadt und
das Land klar zu ihrer moralischen Mit-
verantwortung bekennen. Die Love-Pa-
rade-Katastrophe ist nicht vom Himmel
gefallen, sondern sie wurde durch
menschliches Versagen ausgelöst.
SPIEGEL: Wer hat versagt?
Baum: Meines Erachtens haben alle Be-
teiligten Fehler gemacht, welchen An-
teil im Einzelnen sie auch haben mö-
gen: der Veranstalter, die Stadt, das
Land und die Polizei. Ich stehe in Kon-
takt mit mehr als 100 Opfern und ih-
ren Angehörigen, 57 zählen zu unse-
ren Mandanten. Die Menschen sehen
DANIEL NAUPOLD / PICTURE ALLIANCE / DPA

all diese Fehler. Es macht sie schier


verrückt, dass niemand dazu steht.
SPIEGEL: Die nordrhein-westfälische
Landesregierung hilft immerhin mit ei-
nem Nothilfefonds …
Baum: Ja, der Nothilfefonds und der
Beauftragte des Landes Wolfgang Riot-
te arbeiten schnell und unbürokratisch.
Doch die Mittel aus diesem Topf sind
fast aufgebraucht. Außerdem greifen Todesfalle Love Parade
die bisherigen Hilfen zu kurz. Es gibt
Menschen, die fallen durch das Raster. sende Hilfen für die Betroffenen aus-
SPIEGEL: Welche? zuhandeln.
Baum: Der Fonds zahlt zum Beispiel SPIEGEL: Woher soll das Geld kommen?
nur für stationäre Behandlungen. Die Baum: Ich bin mit dem Konzern Axa
Behandlungsdauer darf zudem 40 im Gespräch, der den Veranstalter ver-
Tage nicht überschreiten. Es gibt aber sichert. Mein Eindruck ist, dass auch
viele schwer traumatisierte Love-Pa- die Landesregierung sich solchen Ge-
rade-Opfer, die langfristig ambulante sprächen nicht entziehen wird. Wich-
Hilfen brauchen. Psychologen gehen tig ist vor allem, dass wir uns auf ver-
davon aus, dass mehr als 500 Men- bindliche Kriterien für Hilfen einigen.
schen posttraumatische Belastungsstö- Unser Ziel ist bis zum nächsten Früh-
rungen entwickeln werden, zum Teil jahr die Gründung einer staatlich kon-
erst nach Jahren. Wir müssen für alle trollierten Stiftung unter Einbeziehung
Opfer jetzt verlässlich regeln, dass ih- der Verantwortlichen und der Opfer.
nen geholfen wird – auch bei Spätfol- In diese Stiftung sollten auch die Gel-
gen oder ambulanten Behandlungen. der anderer Hilfsfonds einfließen. Die
SPIEGEL: Wie könnte das gelingen? Love-Parade-Opfer brauchen eine zen-
Baum: Das geht nur, indem wir die trale Anlaufstelle, die mit maximaler
strafrechtliche Schuldfrage von der Transparenz arbeitet.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 19
Deutschland Panorama

Erdfall von Schmalkalden

wirksame Rechtsgrundlage, um Betroffenen schnell und sinn-


voll zu helfen“, kritisiert Tilo Kummer (Die Linke). Erst im
Januar hatte sich ein ähnlicher Krater in einem Wohngebiet
in Tiefenort aufgetan; damals bedauerten Ministerpräsidentin
Christine Lieberknecht und Umweltminister Jürgen Reinholz
(beide CDU), keine Handlungsmöglichkeiten zu haben, um
den Geschädigten umfassend zu helfen. Erdfälle wie am ver-
gangenen Montag in Schmalkalden ereignen sich in Thüringen
nach Angaben der Landesanstalt für Umwelt und Geologie
in Weimar bis zu 50-mal im Jahr. Ursache dafür sind eine
Vielzahl stillgelegter Schächte des Altbergbaus sowie eine so-
genannte Subrosionszone, die sich über fast zwei Drittel der
Landesfläche erstreckt. Dort bilden sich immer wieder Hohl-
räume in kalk-, gips- und salzhaltigem Gestein, das vom
Grundwasser ausgespült wird, so dass darüberliegende Schich-

KARINA HESSLAND / IMAGO


ten einstürzen und an der Oberfläche Krater entstehen. Thü-
ringen hat zwar eigens ein Altbergbau- und Unterirdische-
Hohlräume-Gesetz, doch dem zufolge muss das Land vor al-
lem für Schäden durch den Altbergbau haften. Die Mehrzahl
der Erdfälle liegt in der Verantwortung derjenigen, denen
das Grundstück gehört. Auch Versicherungen übernehmen
ERDLÖCHER die Schäden nicht, wenn, wie in Tiefenort, die betroffenen

Haftung ungeklärt
Häuser noch stehen und lediglich wegen einer vom Landkreis
verhängten Nutzungsuntersagung dauerhaft unbewohnbar
geworden sind. Den Geologen in Schmalkalden bereitet der-
weil eine andere Parallele zum Erdfall in Tiefenort Kopf-

A ls Folge des Erdfalls in Schmalkalden drohen den Eigen-


tümern der angrenzenden Häuser hohe finanzielle Ver-
luste. Obwohl es in Thüringen wegen der besonderen Be-
zerbrechen: Dort war bereits 2002 ein Krater entstanden, der
anschließend mit Beton zugegossen wurde. Doch der Beton-
Stöpsel sackte immer wieder ab – zuletzt im Januar. Wie
schaffenheit des Untergrunds immer wieder zu ähnlichen wirksam also die am vergangenen Donnerstag begonnene
Schäden komme, fehle in dem Bundesland „noch immer eine Befüllung des Schmalkaldener Lochs mit Kies ist, ist unklar.

UNION schritte „erwarten wir von Ihnen eine PA R T E I E N


entsprechend deutliche Botschaft“,
Druck auf Türkei heißt es in dem Schreiben der beiden
konservativen Politiker an Barroso.
FDP verliert Mitglieder
D ie konservativen Regierungspar-
teien in Deutschland und Öster-
reich drängen die EU-Kommission zu
N ach einem Jahr in der Regierung
laufen der FDP immer mehr Mit-
glieder davon. Nach Auskunft der Par-
einer härteren Haltung gegenüber der teizentrale haben die Liberalen seit
Türkei. In dem für Dezember ange- Jahresanfang rund 2000 Mitglieder ver-
kündigten „Fortschrittsbericht Türkei“ loren. Der Ansehensverlust bei den
müsse klar und deutlich benannt wer- Wählern schlage allmählich auch auf
den, dass es in der Türkei immer noch die Mitgliederzahl durch, heißt es im
eine massive Einschränkung der Reli- Thomas-Dehler-Haus. Lag die Zahl am
gionsfreiheit gebe, heißt es in einem 31. Dezember 2009 noch bei 72 116,
Brief an EU-Kommissionspräsident war sie zum 1. September bereits auf
José Manuel Barroso. Das Schreiben 70 166 gesunken – Tendenz fallend.
ist gemeinsam von Unionsfraktions- „Vor allem Neumitglieder, die im
chef Volker Kauder und dem Fraktions- Boomjahr 2009 zu uns gekommen sind,
vorsitzenden der Österreichischen treten jetzt wieder aus“, sagt Moritz
Volkspartei, Karlheinz Kopf, verfasst Kracht von der FDP-Landesgeschäfts-
worden. Die EU müsse stärker darauf stelle Nordrhein-Westfalen. Auf der
hinweisen, dass religiöse Minderheiten FDP-Kreisvorsitzendenkonferenz am
in der Türkei in besonderem Maße un- 24. Oktober in Berlin hatte General-
ter Restriktionen litten. Trotz zahlrei- sekretär Christian Lindner verkündet,
MUSTAFA OZER / AFP

cher Ankündigungen der türkischen dass die FDP immer noch 500 Mitglie-
Regierung habe sich die Rechtslage in der mehr habe als vor zwölf Monaten.
den vergangenen Jahren kaum verbes- Verschwiegen hatte er, wie viele An-
sert. Angesichts der gravierenden hänger die Partei im Laufe dieses Jah-
Missstände und der geringen Fort- Christliche Kirche in der Türkei res verloren hat.
20 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland

INA FASSBENDER / REUTERS


Minister de Maizière vergangene Woche am Flughafen Köln/Bonn: Fast täglich neue Warnmeldungen der Geheimdienste

TERRORISMUS

Operation „Mondschein“
Die Anzeichen verdichten sich, dass al-Qaida auch in Europa zuschlagen will. Die Bomben
aus dem Jemen zeigen, wie gefährlich die Terrororganisation noch immer ist.
Die Bundesregierung drängt auf eine massive Ausweitung der Frachtgutkontrollen.

W
ie immer gab es Vorzeichen, Nur Wochen später, am 9. Oktober, kam aus der jemenitischen Hauptstadt
Warnungen, Hinweise. Im Juli folgte eine zweite Warnung, diesmal war Sanaa und sollte nach Chicago in die
meldete sich der saudi-arabi- sie konkreter. Die Saudi-Araber bestell- USA, und es war purer Zufall, dass sie
sche Geheimdienst bei den deutschen Si- ten den Verbindungsbeamten des BKA nicht schon auf dem deutschen Flugfeld
cherheitsbehörden und berichtete, al-Qai- in Riad ein und berichteten ihm von ei- detonierte. Diesmal war es kein Geraune
da plane einen Anschlag mit Flugzeugen, nem ausgefeilten Plot. und kein „Rauschen“ mehr, wie die Si-
auch Europa könnte betroffen sein. De- Am 5. Oktober habe al-Qaida die Pla- cherheitsbehörden sagen. Diesmal war
tails? Fehlanzeige. nungen für einen spektakulären Anschlag es Nitropenta, ein hochbrisanter Spreng-
Die Experten vom Bundeskriminal- „mit ein oder zwei Flugzeugen“ abge- stoff, der auch vom Militär eingesetzt
amt (BKA), dem Bundesamt für Verfas- schlossen. Das Attentat solle schon in der wird. Am Freitag vergangener Woche be-
sungsschutz und dem Bundesnachrich- nächsten Woche stattfinden. Neben den kannte sich die Qaida-Filiale auf der Ara-
tendienst beugten sich im Anti-Terror- Deutschen wurden auch mehrere andere bischen Halbinsel.
Zentrum der Bundesregierung über europäische Regierungen informiert, dar- Die abgefangenen Bomben aus dem Je-
die Meldung. Konkrete Maßnahmen er- unter die Briten. men sind der bisherige Höhepunkt nach
griffen sie nicht – welche hätten das Drei Wochen später, in der Nacht zum einem Sommer der Sorgen. Seit Monaten
auch sein sollen, so vage, wie der Hin- vorvergangenen Freitag, wurde die töd- verdichten sich die Hinweise, dass al-Qai-
weis war? liche Fracht in Köln/Bonn verladen. Sie da einen spektakulären Anschlag plant.
22 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
UWE ANSPACH / DPA

Polizeistreife am Frankfurter Flughafen: Schwarze Liste unsicherer Airports

Deutschland ist eines der Länder, die als rige Linie der Zurückhaltung ändern Militärgefängnis Bagram und redet; An-
Ziel in Frage kommen. Die Sicherheits- wird. fang Oktober vernahmen ihn vier deut-
behörden sind überzeugt davon, dass in Denn die Sicherheitsbehörden befürch- sche Beamte von BKA und Verfassungs-
der Qaida-Spitze die Entscheidung gefal- ten das Schlimmste, de Maizière lässt sich schutz. Seine Aussage hat vieles ins
len ist, in Europa zuzuschlagen. Angeb- mehrmals die Woche persönlich unter- Rollen gebracht. Sidiqi ist der derzeit
lich soll Osama Bin Laden persönlich die richten. Das BKA hat eine Besondere wichtigste Zeuge, wenn es um Anschlags-
Pläne gebilligt und ihre Finanzierung zu- Aufbauorganisation „Sterne“ gebildet. pläne in Europa geht (SPIEGEL 41/2010).
gesagt haben. Der Verfassungsschutz trägt in Operation Der Islamist berichtete von einem
Die Regierung in Berlin ist dabei, sich „Mondschein“ sämtliche Erkenntnisse Scheich Younis al-Mauretani, angeblich
auf die veränderte Sicherheitslage einzu- zusammen. Und seit gut zwei Monaten der Nummer drei von al-Qaida, der ein
stellen. Bundesinnenminister Thomas de finden in Berlin regelmäßige Lagebespre- großes Ding auf dem alten Kontinent pla-
Maizière (CDU) hat bislang eine andere chungen mit dem amerikanischen Aus- ne. Scheich Younis habe Freiwillige aus
Linie vorgegeben als sein Vorgänger Wolf- landsgeheimdienst CIA und dem Militär- westlichen Ländern rekrutiert, und als er
gang Schäuble (CDU), der laut vor der geheimdienst DIA statt. in diesem Frühjahr in einer kleinen pa-
Terrorgefahr warnte und schon mal über Es geht um die Bomben aus dem Je- kistanischen Stadt auf Sidiqi und dessen
die Auswirkungen der Explosion einer men, es geht um einen möglichen An- Hamburger Freund Rami M. gestoßen sei,
schmutzigen Bombe in Deutschland schlag wie im indischen Mumbai 2008. habe er sie angesprochen: „Perfekt, ge-
schwadronierte. De Maizière liegen diese Und es geht um die Aussagen der beiden nau das, was ich haben möchte.“
Töne nicht. Er will nur dann über Bom- deutschen Islamisten Ahmad Sidiqi, 36, Scheich Younis weihte die beiden Deut-
ben und mögliche Tote reden, wenn es und Rami M., 26. schen in seinen Plan ein, einen Anschlag
nicht anders geht. Die Bevölkerung soll Sidiqi ist seit langem ein Anhänger des in Europa oder den USA zu begehen, und
nicht unnötig verunsichert werden. bewaffneten Dschihad, er kannte die To- versuchte, Sidiqi zu ködern: Bei diesem
Und nun? Wo fast täglich neue Warn- despiloten vom 11. September und ging Szenario gebe es keinen Märtyrer, der
meldungen der Geheimdienste in Berlin in der berüchtigten Terror-WG in der Ausführende werde überleben. Es gehe
eintreffen? Die Kanzlerin hat das Thema Hamburger Marienstraße ein und aus. um einen Angriff auf Finanz- und Wirt-
an sich gezogen, sie drängt auf schärfere Anfang März 2009 verließ er Deutsch- schaftszentren.
Maßnahmen. Vergangene Woche forder- land, um sich den Militanten im afgha- Sidiqis Aussagen decken sich mit den
te Angela Merkel, „weltweit strengere nisch-pakistanischen Grenzgebiet anzu- Angaben von Rami M., der im Juni auf
Kontrollen durchzusetzen, um Terror- schließen. In diesem Juli nahmen ihn Spe- dem Weg in die deutsche Botschaft in Is-
anschlägen vorzubeugen“. Vieles spricht zialeinheiten der US-Armee in Kabul fest. lamabad festgenommen wurde. Scheich
dafür, dass auch de Maizière seine bishe- Seitdem sitzt Sidiqi im amerikanischen Younis habe vor, „ein Netzwerk von Per-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 23
Deutschland

DUBAI POLICE / DPA (L.); REUTERS (M.); YAHYA ARHAB / DPA (R.)
DIE BOMBE BOMBEN-BAUER ASIRI DER WEG DER BOMBE
Sprengstoff äußerst hoher Konzentration Nächster großer Erfolg Ein Kreuzritter als Adressat

sonen in ganz Europa aufzubauen“, sagt er über sich selbst. „Als Militärkomman- war ein für seine Brutalität berüchtigter
Rami M. deur sage ich: Jedes Ziel hat seine Zeit Großinquisitor, der die Muslime auf der
Die Beichten der beiden Deutschen hät- und seine Gründe.“ Iberischen Halbinsel unterdrückte. UPS
ten allein gereicht, um die Sicherheitsbe- Wer weiß, was von den großen Worten gibt dem Paket die Frachtnummer
hörden unruhig zu machen. Aber erst die Wirklichkeit geworden wäre. Weder bei 1Z20001 V66809 43792, die Bombe reist
amerikanische Regierung hat eine Stim- Scheich Younis noch bei Kashmiri ist klar, ab sofort unter dieser 18-stelligen Num-
mung ausgelöst, die ähnlich „wie vor dem ob sie nicht Aufschneider sind, die ihre mer um die halbe Welt.
11. September 2001“ beschrieben wird. Stellung in Pakistan durch ein paar wuch- Die zweite Bombe wird bei Federal Ex-
Denn nahezu zeitgleich zu Sidiqi warnten tige Schlagzeilen in Europa aufbessern press aufgegeben, von einer Frau, die sich
die Amerikaner vor einem weiteren an- wollen. Aber die Sprengsätze aus dem Hanan Mohamed Ali Alsamawi nennt.
geblichen Anschlagsplan, bei dem es zu- Jemen, die Ende vorvergangener Woche Den Inhalt gibt sie mit „Drucker-Bücher“
gehen sollte wie in Mumbai 2008. In der aufgegeben wurden, sind keine Szena- an, Wert: 360 Dollar. Das Papier soll an
indischen Metropole hatten mehrere rien. Sie sind real. Und sie ändern viel einen „Reynaldkrak“ gehen, West Pratt
Gruppen von Terroristen Hotels gestürmt an der Sichtweise, auch in Berlin. Boulevard, und auch hier handelt es sich
und Geiseln genommen. Knapp 60 Stun- Denn wie bei Scheich Younis und um eine historische Figur: „Reynald
den dauerte das Massaker, am Ende star- Kashmiri gab es Warnungen vorab – und Krak“ war ein französischer Ritter und
ben 175 Menschen. im Mittelalter besonders für seine Grau-
Bis zu 25 Kämpfer seien derzeit auf „Ich bin kein Prediger“, sagt samkeit gegenüber den Muslimen be-
dem Weg nach Europa, heißt es in den kannt. Federal Express vergibt die Num-
amerikanischen Fernschreiben, aufgeteilt Kashmiri. „Jedes Ziel hat seine mer 873447 901 730. Jetzt sind es zwei
auf mehrere Gruppen. Drahtzieher sei Zeit und seine Gründe.“ Flugzeuge, die mit Sprengladungen um
ein Mann namens Ilyas Kashmiri, 46. die Welt fliegen.
„Er ist einer der gefährlichsten Männer diesmal trafen sie zu. Aus einem fiktiven Die Pakete sind bereits in der Luft, als
der Welt“, sagt der amerikanische Terror- Plan ist damit eine echte Gefahr gewor- die saudi-arabischen Behörden erneut
experte Bruce Riedel. „Ein Genie des Bö- den, zu der Teams des BKA derzeit in den BKA-Beamten in Riad einbestellen.
sen“ nannte ihn das US-Magazin „News- mehreren Ländern die Hintergründe zu- Am Freitagmorgen, 2.04 Uhr deutscher
week“ kürzlich. Der Mann hat nur noch sammentragen. Aus den Ermittlungen der Zeit, erfahren die Deutschen, dass von
ein Auge, trägt einen dichten Bart und amerikanischen, britischen, saudischen, nun an jede Minute zählt.
ist eine Legende des Dschihad: Er kämpf- Dubaier und deutschen Polizei ergibt sich Nach 34 Minuten verlässt der BKA-
te gegen die Sowjets in Afghanistan, spä- ein genaues Bild dessen, was geplant war. Mann die Saudis und meldet sich in
ter bombte er in seiner Heimat Kaschmir Die erste Bombe wird Mitte vorvergan- Deutschland. Das UPS-Paket ist da schon
gegen den indischen Staat. gener Woche in Sanaa bei UPS abgege- um 22.56 Uhr in Köln/Bonn angekommen
Im vergangenen Jahr versuchte er laut ben. Ein Frau unterzeichnet mit dem Na- und umgeladen worden, es befindet sich
den Ermittlungsbehörden schon einmal, men Souad Ali Quassim Safed, als Kon- mittlerweile auf dem Flughafen East Mid-
in Europa zuzuschlagen: In Kopenhagen taktadresse gibt sie das „Yemen American lands in Großbritannien. Das BKA leitet
sollte das Gebäude der Tageszeitung „Jyl- Institute“ in Sanaa an. Adressiert ist die die Meldung an die Briten weiter. Kurz
lands-Posten“ angegriffen werden, es soll- Sendung an „Diego Deza“ in der Barry darauf wird die Bombe endlich gefunden.
ten Geiseln genommen und exekutiert Street, Chicago, USA. Was die britischen Ermittler sicherstel-
werden. Der Plot flog auf, aber Kashmiri Es gibt keinen Mann dieses Namens, len, ist eine trickreich aufgebaute Bombe,
lässt sich nicht abhalten. „Ich bin kein der dort wohnt, und trotzdem ist der ausgestattet mit einem Zeitzünder: Die
Prediger, ich mache keine Slogans“, sagt Name mit Bedacht gewählt: Diego Deza Terroristen haben einen Teil einer Medi-
24 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland

De Maizière reist mit einem Fünf-Punk-


te-Plan an. Die wohl heikelste Forderung
aus Berlin ist ein möglicher Zugriff der
Sicherheitsbehörden auf die Datenban-
ken von Logistikunternehmen wie FedEx
oder UPS. Damit könnten jene Sendun-
gen herausgefiltert werden, die verdäch-
tig scheinen. Allerdings wäre das ein Ein-
griff in das grundgesetzlich geschützte
Postgeheimnis und damit verfassungs-
rechtlich problematisch.
Zu den Vorschlägen der Bundesregie-
rung gehört auch, Fracht aus Krisenstaa-
ten wie dem Jemen gezielt zu überprüfen.
Verkehrs- und Innenministerium erwägen
eine Schwarze Liste, auf der Flughäfen
geführt werden, die nur schwache Kon-
trollen durchführen.
Eigentlich sollte im Sommer 2011 eine
Neufassung des Luftsicherheitsgesetzes
ins Parlament eingebracht werden. Die
Koalition plant nun, Teile des Gesetzes
noch bis Ende diesen Jahres zu ändern.
„Falls Gesetzesänderungen oder Ergän-
Qaida-Kämpfer im Jemen: Die Gefahr kommt nicht mehr nur aus Pakistan zungen notwendig sind, würden wir diese
schnellstmöglich vornehmen“, sagt Bun-
zinspritze aus Plastik mit bis zu fünf ne auf dem Weg nach Detroit in die Luft desverkehrsminister Peter Ramsauer
Gramm Bleiazid aufgefüllt, einer ent- jagen. (CSU).
zündbaren Masse, die auch in militäri- Asiri ist Mitglied von „al-Qaida auf der Es könne „nicht sein, dass mehrfach
schen Sprengkapseln eingesetzt wird. Das Arabischen Halbinsel“, einer Gruppe, die durchsuchte und gescannte Flugpassagie-
Spritzenstück ist eingebettet in weißes hervorging aus der Verschmelzung saudi- re oben im Flugzeug sitzen, während un-
Pulver, 300 Gramm Nitropenta. In das arabischer und jemenitischer Zellen. In ten unkontrolliert die gefährliche Fracht
Bleiazid eingetaucht ist eine zerbrochene ihren Reihen finden sich sowohl Afgha- lagert“, sagt Bundesjustizministerin Sabi-
Leuchtdiode, daran angeschlossen sind nistan-Veteranen wie entlassene Guanta- ne Leutheusser-Schnarrenberg (FDP) mit
Platine und Batterie eines Handys. Pulver, namo-Insassen, die einen unstillbaren einem Seitenhieb auf de Maizière: „Kraft
Handy-Schaltkreis und Spritze sind teils Hass auf die USA hegen. Die Medien- und Zeit hätten besser in die Kontrolle
in, teils um eine Printerkartusche von abteilung der Gruppe gibt Videos, Maga- der Fracht investiert werden sollen statt
Hewlett Packard herum angeordnet, Mo- zine und Tonbotschaften auf Englisch und in grundrechtlich sensible, aber technisch
dell HP-05A. Auf diese Weise ist es fast Arabisch heraus. fragwürdige Neuentwicklungen wie den
unmöglich, den Sprengsatz zu erkennen. Im September erklärte das Anti-Terror- Körperscanner.“
Die Zündung soll erfolgen, wenn das Zentrum der US-Regierung, die Qaida In einem zentralen Punkt scheint sich
angeschlossene Handy den vorher einge- auf der Arabischen Halbinsel stelle eine de Maizière bereits durchgesetzt zu ha-
stellten Alarm auslöst. Die Diode würde ernstzunehmende Bedrohung der Sicher- ben: beim Streit um die Zuständigkeit für
dann erleuchten, sich erwärmen und das heit des Landes dar. „Allein die schiere die Luftsicherheit. Der Innenminister
Bleiazid entflammen, das wiederum das möchte die Aufsicht über die Luftfracht-
Nitropenta zünden würde – eine poten- Die Sicherheitsbehörden hätten sicherheit der Bundespolizei übertragen.
tiell tödliche Kettenreaktion. „Alles aus einer Hand“ ist das Motto des
Der Sprengstoff, stellen britische Kri- gern Zugriff auf die Daten von Ministers, so möchte er auch in Brüssel
minaltechniker fest, sei „von äußerst Unternehmen wie FedEx und UPS. argumentieren. Intern signalisierte Ram-
hoher Konzentration“. Die Herstellung sauer bereits Zustimmung: „Wenn wir zu
im Jemen setze „eine Logistik voraus, Anzahl von Anschlagsplänen gegen die der Erkenntnis gelangen, dass andere Or-
über die nur staatliche Einrichtungen ver- USA legt nahe, dass einer dieser Pläne ganisationsstrukturen effektiver wären,
fügen dürften“, heißt es im Dossier der Erfolg haben wird“, schrieb der Ex-CIA- wird es keine Ressort-Egoismen geben.“
Ermittler. Mann Philip Mudd in einem Aufsatz im Asiri, der mutmaßliche Bombenbauer,
Bombe Nummer zwei bleibt schon am August. Und fügt hinzu: „Die afghanisch- kann schon jetzt seinen nächsten großen
Persischen Golf hängen. Wieder gibt es pakistanische Grenzregion wird in Zu- Erfolg feiern. Nach dem Sprengsatz von
ein Spritzenteil mit Bleiazid als Initial- kunft nicht mehr die einzige und auch Detroit vor dem Weihnachtsfest 2009
zündung, wieder rund 300 Gramm Nitro- nicht mehr die vorrangige Quelle dieser werden bald in vielen Staaten auf der
penta. Diesmal soll die Detonation durch Bedrohung sein.“ Welt Körperscanner eingeführt, die die
den Faden einer Glühbirne ausgelöst Die Sprengstoffpakete aus Arabien Passagiere bis auf die Haut durchleuch-
werden. werden – auch wenn sie ihre tödliche ten können.
Ermittler gehen davon aus, dass beide Wirkung nicht erzielten – den gesamten Und nach den Bomben aus Sanaa wird
Sprengsätze von einem der versiertesten Flugverkehr ändern, bei dem es im Fracht- im Frachtverkehr nichts mehr so sein wie
Bombenbauer der Qaida stammen: Ibra- bereich bis heute keine umfassenden Kon- vorher. Da scheint es für al-Qaida fast
him al-Asiri, 29. Der Saudi soll schon die trollen gibt (siehe Seite 162). Anfang die- egal, ob die Sprengstoffpakete auch tat-
Unterhose des Nigerianers Umar Farouk ser Woche kommen die Innenminister der sächlich explodiert sind.
Abdulmutallab mit Sprengstoff präpariert europäischen Union in Brüssel zusammen. MATTHIAS GEBAUER, JOHN GOETZ,
PETER MÜLLER, YASSIN MUSHARBASH,
haben; der Afrikaner wollte im Dezem- Sie wollen beraten, welche Lehren aus BRITTA SANDBERG, HOLGER STARK,
ber 2009 eine Northwest-Airlines-Maschi- dem Beinahe-Crash zu ziehen sind. VOLKHARD WINDFUHR

26 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland

Pressesprecher der „Aktion Linkstrend


stoppen“. „Zeigen Sie wieder, dass wir
CDU
bürgerlich sind.“

Dreimal Merkel
Röttgen und von der Leyen sind zwar
bürgerlich, aber den Linkstrend kann
man mit ihnen nicht stoppen. Ihre Wahl
wird die Unwucht in der Partei weiter
Beim Parteitag nächste Woche werden Ursula von der Leyen verstärken.
Rund ein Viertel der CDU-Mitglieder
und Norbert Röttgen zu stellvertretenden Vorsitzenden zählen sich zu den „Traditionalisten“, das
gewählt. Der konservative Flügel wird schwächer und zorniger. ergab die letzte Umfrage der Konrad-
Adenauer-Stiftung. Fast ein Drittel ist im-

W
enn sich ein konservatives eine Politik der „Wählereinschläferung“, mer noch der Meinung, Frauen sollten
CDU-Mitglied ein innerparteili- heißt es darin, die Hoffnungen der Wäh- ihren Beruf aufgeben, sobald sie Kinder
ches Feindbild zusammensetzen ler auf eine Wende hin zu einer bürgerli- haben. Nur rund 15 Prozent sind der Auf-
sollte, sähe dieses Geschöpf ungefähr so che Politik seien enttäuscht worden. fassung, homosexuelle Lebenspartner-
aus: Es würde sich um eine ökologische Insgesamt 31 Anträge hat Schlarmann schaften sollten der Ehe gleichgestellt
Erneuerung des Wirtschaftens kümmern ausarbeiten lassen, etliche zur Steuer- werden.
sowie um eine Rolle der Frau, in der sich politik. Er will die Ausnahmen bei der Die Heimatlosigkeit der Konservativen
Beruf und Familie vereinbaren lassen. Es Mehrwertsteuer abschaffen und einen ein- schlägt sich auch in Wahlergebnissen nie-
wäre weder strotzend männlich noch heitlichen Satz von 16 Prozent festsetzen. der. Die CDU musste in NRW auch des-
strotzend weiblich, es wäre liberal,
tolerant und ein Zögling der Par-
teivorsitzenden Angela Merkel. Es
könnte sich eine Koalition mit den
Grünen gut vorstellen.
Dieses Geschöpf könnte ein Hy-
brid sein aus Arbeitsministerin Ur-
sula von der Leyen und Umwelt-
minister Norbert Röttgen. Beide
werden auf dem Parteitag in der
kommenden Woche zu Stellvertre-
tern der Vorsitzenden Merkel ge-
wählt und die CDU weiter verän-
dern in eine Richtung, die den
Konservativen verhasst ist.
Der Parteitag in Karlsruhe wird
zur Zäsur werden. Drei Schlacht-
rosse der CDU lassen sich nicht
mehr zu Stellvertretern wählen.
Christian Wulff ist Bundespräsident
geworden, Jürgen Rüttgers zieht
sich nach seiner Wahlniederlage
in Nordrhein-Westfalen aufs Alten-
teil zurück, und Roland Koch wird
Chef des Baukonzerns Bilfinger
Berger. Nur Forschungsministerin
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Annette Schavan bleibt in ihrem


Amt (siehe Porträt Seite 39).
Von den Nachrückern sind Rött-
gen und von der Leyen die stärks-
ten. Der neue hessische Minister-
präsident Volker Bouffier geht
zwar als Konservativer durch, hat CDU-Politiker von der Leyen, Röttgen: Die Nachrücker werden Merkels Werk fortsetzen
aber bundespolitisch kaum Ein-
fluss. Damit ist klar, dass Merkel kein Be- Auch der Wirtschaftspolitiker Christian halb eine Schlappe einstecken, weil viele
triebsunfall der CDU-Geschichte ist. Rött- von Stetten ist unzufrieden mit Merkels ihrer Anhänger einfach zu Hause blieben,
gen und von der Leyen werden Merkels Sparkurs und wird auf dem Parteitag Ent- es waren insgesamt 330 000. Und es wa-
Werk fortsetzen: die Verwandlung der lastungen in Höhe von rund zwei Milliar- ren gerade einstige Hochburgen, wo die
Union in eine moderne Partei ohne Ideo- den Euro fordern, obwohl Merkel gesagt CDU die stärksten Verluste erlitt.
logie und mit diffusem Programm, so hat, dass es dafür keinen Spielraum gebe. Zwar sind die Traditionalisten nur eine
schwarz wie rot wie grün. Das ist der Unmut der Funktionäre. Minderheit in der Union, aber sie werden
Diese Metamorphose erzürnt schon Auf den Regionalkonferenzen, die Merkel immer lauter, immer radikaler, weil sie
jetzt viele Konservative und Wirtschafts- in den vergangenen Wochen besucht hat- sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Das
liberale. Auf dem Parteitag will Josef te, schlug ihr der Unmut der Basis entge- liegt auch an ihnen selbst, weil sie keine
Schlarmann, Chef der Mittelstandsverei- gen. „Was uns fehlt, ist eine Richtung“, starke Figur hervorgebracht haben, kei-
nigung und ewiger Quälgeist der Kanzle- schimpfte Kurt Hahn vom Kreisverband nen Nachfolger für einen Roland Koch.
rin, einen Antrag einbringen, der einen Heilbronn. „Wir brauchen eine Profil- Stefan Mappus, Ministerpräsident in Ba-
Kurswechsel verlangt. Merkel betreibe schärfung“, pflichtete Michael Nickel bei, den-Württemberg, der sich konservativ
28 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
gibt, bellte erst laut gegen Röttgen, ist dass seine Partei redet, redet, redet, bevor
aber nur noch mit sanftem Miauen zu entschieden wird, was in Sachen Wehr-
vernehmen, seitdem er vom Protest ge- pflicht ganz anders war: erst die Entschei-
gen Stuttgart 21 bedrängt wird. dung, dann die Diskussion. Röttgen will
Merkel selbst hat sich nicht bemüht, ei- das umkehren und damit die Demokratie
nen Konservativen stark zu machen. Sie wieder auf die Füße stellen.
kümmerte sich um Leute wie Röttgen oder Röttgen und von der Leyen zieht es in
von der Leyen, die ihren Kurs mittragen. den Hort der größten Politikerbeglückung:
Röttgen steht für die ökologische Er- das Kanzleramt. Von der Leyen macht kei-
neuerung der Partei. Zwar ist er von Haus ne Anstalten mehr, ihren Ehrgeiz zu ver-
aus nicht gerade Umweltschützer, aber bergen. „Es geht um eine breitere Basis
er hat erkannt, dass erneuerbare Energien für meine Vorstellung von Politik, aber
die deutsche Wirtschaft voranbringen auch um mehr Einfluss auf die langen Li-
können. nien der CDU“, sagt sie. „Als Familienmi-
Von der Leyen steht für ein modernes nisterin konnte ich etwa das Elterngeld nur
Frauenbild, Job plus Familie. Dafür hat ins Ziel bringen, weil Angela Merkel hinter
sie als Frauenministerin gekämpft, und mir stand.“ Viele „Alphatiere“ der Union
die wird sie in gewisser Weise ewig blei- seien anfangs skeptisch gewesen. Noch ein-
ben, auch wenn sie jetzt offiziell Arbeits- mal will sie dieses Gefühl der Abhängigkeit
ministerin ist. Da kann sie zusätzlich das nicht erleben, sie möchte eine Politikerin
soziale Herz der CDU stärken. mit eigener Autorität werden, auch deshalb
hat sie sich entschieden, für den
Posten der stellvertretenden CDU-
Vorsitzenden zu kandidieren.
Röttgen ist genauso ehrgeizig,
unten sein empfindet er als Zumu-
tung. Wenn man Politiker in Philo-
sophen und Ingenieure unterteilt,
landet Röttgen bei den Philoso-
phen. Das Tüfteln und Friemeln
an Gesetzen ist seine Stärke nicht,
das sollen untere Chargen erledi-
gen, er denkt lieber in großen Li-
nien und entwirft bessere Welten
von morgen, nicht ganz ohne den
Gestus des Genialischen, mit dem
er Funktionäre seiner Partei oft ge-
gen sich aufbringt, nicht aber die
Basis in Nordrhein-Westfalen. Die
hat ihn gewählt. Einen konserva-
tiven Kandidaten gab es gar nicht,
auch das zeigt, was in der CDU
mittlerweile los ist.
Von der Leyen und Röttgen sind
nun Kandidaten für das Kanzler-
amt, wenn Merkel einst geht oder
gehen muss. Das heißt nicht, dass
einer der beiden tatsächlich Bun-
deskanzler werden kann. Ihr gro-
ßer Rivale um dieses Amt heißt
Karl-Theodor zu Guttenberg, der-
RETO KLAR

zeit mehr Popstar als Verteidi-


gungsminister. Er ist nicht in der
CDU, sondern in der CSU, aber
seine Popularität macht ihn zum
Obwohl beide von Merkel nach oben Kronprinzen Nummer eins. Sein Profil
geschoben wurden, haben sie sich inzwi- ist noch so diffus, dass auch die Konser-
schen einen kritischen Blick auf die Kanz- vativen gut mit ihm leben können.
lerin zugelegt. Von der Leyen findet Mer- Sollte Merkel bald abtreten, würde er
kels Politik zu leidenschaftslos, sie und ihr Nachfolger. Von der Leyens und Rött-
ihre Leute sind der Meinung, die Kanzle- gens Chance kommt erst, wenn die Kanz-
rin müsse offensiver für die Politik der lerin im Jahr 2013 die Bundestagswahl
Koalition werben. verlieren würde. Beide haben also ein
Röttgen findet, dass Merkel die Partei großes Interesse daran, Merkel erst ein-
entpolitisiert und zur Friedhofsruhe ver- mal zu stützen und bis dahin das eigene
dammt hat, würde das aber so nie aus- Profil zu schärfen. Die Konservativen ih-
drücken. „Politik“, sagt er, „braucht wie- rer Partei werden sie aber kaum gewin-
der Mut zur Diskussion, ohne dass das nen können. DIRK KURBJUWEIT,
Ergebnis vorher schon feststeht.“ Er will, RENÉ PFISTER, SEBASTIAN WESSLING

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 29
Deutschland

Hamburger Koalitionäre*
Entscheidung am Dienstag

grafischen Schriften, als falsche Verdäch-


tigung.
Das Aktenkonvolut aus Amerika ent-
hält ein Verzeichnis aller Papiere und Aus-
sagen im Fall Roland K. Weil das kom-
plette Material der HSH Nordbank vor-
liegt, können die deutschen Fahnder dort
jetzt bestellen, was sie interessiert. Das
stärkste Pfund der US-Strafverfolger lag
aber schon mit im Postpaket: die Aussage
eines New Yorker Ex-Polizisten, Gil Alba.
Den hatte die Prevent angeheuert, damit
er ihr bei der geplanten Durchsuchung in
K.s Büro zur Hand ging. Und glaubt man
dem Sicherheitsmann, dann roch es für

VICTORIA BONN-MEUSER / ACTION PRESS


ihn schon vor der Razzia am 17. Septem-
ber 2009 danach, dass hier nicht alles mit
rechten Dingen zuging.
Laut Staatsanwaltschaft New York hat
der Zeuge ausgesagt, dass Prevent-Mana-
ger Wiedemann ihn schon Mitte Juni 2009
in New York getroffen und für die geplan-
te Aktion gegen K. eingekauft habe. Wie-
demann habe ihm erklärt, er brauche ei-
nen Mann zum Absichern; wer wisse
A F FÄ R E N
schließlich schon, wie K. seine Entlassung

Hartversilbert
verkraften werde.
Bereits damals im Juni soll Wiedemann
davon gesprochen haben, dass es bei K.
offenbar schlimme Sachen gebe. Kinder-
Noch eine Razzia, noch mehr Belastungsmaterial: Für Hamburgs pornografie. Schon da will Alba gedacht
haben, dass hier womöglich etwas fingiert
Grüne ist das Maß bei der HSH Nordbank voll. Sie verlangen werden sollte, um K. zu feuern.
das Aus für Bankchef Nonnenmacher – sonst platzt die Koalition. Am Tag der Razzia stieß ein HSH-Roll-
kommando im Büro von K. dann in kür-

D
ie Bankenaufseher wollten es wis- einer Intrige wie den inzwischen kaltge- zester Zeit auf einen Aufkleber in einem
sen. Ganz genau, ganz egal wie stellten Bankjustitiar Wolfgang Gößmann Bilderrahmen. Bei den Buchstaben und
lange es dauert. So kam der und Peter Wiedemann, Vorstand der Ziffern auf dem Sticker handelte es sich
Dienstschluss, ging der Dienstschluss, und HSH-Sicherheitsfirma Prevent AG. um Zugangsdaten für ein Mail-Postfach.
die BaFin-Mitarbeiter bohrten und bohr- Der Doppelschlag aus Übersee hatte Alba zufolge soll der Prevent-Manager
ten. Erst kurz vor Mitternacht hatten sie Wirkung. Am vergangenen Mittwoch ließ Mehles von ihm verlangt haben, sich an
mit ihrem Gast aus Amerika alle Fragen die Staatsanwaltschaft Hamburg bun- den Dienstrechner von K. zu setzen und
zur HSH Nordbank durchgekaut. Und Ro- desweit bei der Prevent und ihrer IT-Toch- nach verdächtigem Material zu forschen.
land K., Ex-Filialleiter in New York, vor ter Validd durchsuchen. Der Verdacht ge- Das will aber Alba abgelehnt haben – of-
gut einem Jahr unter dubiosen Umstän- gen die Prevent-Manager Wiedemann fenbar ahnte er schon, dass die Sache „stin-
den von der Bank gefeuert, war ihnen und Thorsten Mehles: Sie sollen daran be- ken“ könnte. „It smells“, so beschrieb Alba
am vorletzten Mittwoch offenbar nichts teiligt gewesen sein, Roland K. die schmut- in seiner Aussage sein ungutes Gefühl.
schuldig geblieben. zigen Fotos anzuhängen. Strafrechtlich Stattdessen stießen also Computer-
In allen Einzelheiten berichtete der Fi- gilt das als Verbreitung von kinderporno- experten des HSH-Teams auf die Kinder-
nanzmanager, wie ihm aus seiner Sicht pornofotos im Mail-Postfach. Daraufhin
übel mitgespielt wurde, von der Bank, sollen Justitiar Gößmann und auch Meh-
von ihrer Sicherheitsfirma Prevent, von les den Ex-Cop aufgefordert haben, seine
wem auch immer. Sogar Kinderporno- Kontakte zur New Yorker Polizei oder
fotos seien ihm untergeschoben worden, zum FBI spielen zu lassen, um Roland K.
als die Bank ihn loswerden wollte. verhaften zu lassen. Auch da, sagte Alba,
Noch spannender als alles, was K. er- habe er aber nicht mitgemacht und nur
zählen konnte, war aber das, was die die Zentralnummer der Polizei angerufen.
CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS

BaFin und die Staatsanwaltschaften Kiel K. war später in New York selbst zur
und Hamburg kurz zuvor mit der Post Polizei gegangen und verhört worden –
aus Amerika bekommen hatten: Auszüge ohne dass sich der Verdacht gegen ihn er-
aus der Akte der New Yorker Staatsan- härtete. Im Gegenteil: Die Ermittler leite-
waltschaft, die seit einem Jahr den du- ten ein Verfahren gegen Verantwortliche
biosen Kinderpornofund im Büro von Ro- der Bank und Prevent ein.
land K. durchleuchtet. Die US-Fahnder
führen HSH-Nordbank-Chef Dirk Jens HSH-Nordbank-Chef Nonnenmacher * Grünen-Fraktionschef Kerstan, Bürgermeister Ahlhaus
Nonnenmacher ebenso als Verdächtigen „Was glauben Sie, was ich mache?“ (CDU), Bildungssenatorin Christa Goetsch (Die Grünen).

30 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland

In Deutschland interessiert sich heute Die Bank habe die Prevent doch nur Nonnenmacher also den Prevent-Bericht
auch die Bankenaufsicht BaFin für den beauftragt, weil es „Informationslecks“ tatsächlich nicht gelesen hatte, dann nur,
Fall. Sie untersucht aus bankenrechtlicher und „massive Drohungen“ gegen ihr Füh- weil er ihn nicht lesen wollte. Ein typi-
Sicht, ob die HSH Aufträge an Sicherheits- rungspersonal gegeben habe. Und den Vor- scher Nonnenmacher, gekrönt von dem
firmen ordnungsgemäß vergeben hat – im wurf, die Firma habe im Juli 2009 eine Ver- hochnäsigen Satz: „Was glauben Sie, was
Zentrum steht die Prevent. Allerdings wei- anstaltung mit Ex-Wirtschaftsminister Wer- ich den ganzen Tag mache?“
sen die Bank, Justitiar Gößmann und die ner Marnette verdeckt überwacht, einem Fest steht, dass sich der HSH-Chef mit
Prevent-Manager Mehles und Wiedemann der schärfsten HSH-Kritiker, nannte Non- einer anderen Sache dagegen sehr einge-
jede Verwicklung in illegale Machenschaf- nenmacher „fast lächerlich“. Erstens habe hend beschäftigte: seiner Sicherheit. Der
ten strikt zurück. Prevent teilte mit, so ein die HSH davon nichts gewusst, und zwei- Mann fühlte sich offenbar permanent ver-
Vorwurf sei „haltlos und entbehre jeder tens sei die Veranstaltung doch sowieso folgt, bedroht, fürchtete um sein Leben.
Grundlage“. Der Firma zufolge hatte sie öffentlich gewesen. Sein Schutz – auf Kosten der maroden
im Juni den Auftrag im Fall K. noch gar Dieser Auftritt, der ihn entlasten sollte, Bank – konnte daher allem Anschein
nicht erhalten; deshalb habe Wiedemann hat alles nur noch schlimmer gemacht. In nach nicht teuer genug sein. Doch offen-
damals mit Alba auch noch nicht über die Wahrheit lieferte Nonnenmacher nur den bar war er gar nicht ernsthaft gefährdet.
Sache reden, geschweige denn ihn anheu- nächsten Grund, ihm auch noch das Rest- Glaubt man der Bank, gab es seit An-
ern können. Die HSH, deren Hauptanteils- vertrauen aufzukündigen: mit dem offen- fang 2009 in „anonymen Briefen, E-Mails
eigner Schleswig-Holstein und Hamburg sichtlichen Versuch, den Ausschuss für oder Internetblogs“ Aufrufe zu „Angrif-
sind, legt Wert auf den Hinweis, aus Sicht dumm zu verkaufen. Schließlich sagte er fen auf das Management und deren An-
der Hamburger Staatsanwaltschaft gebe über den Observationsbericht, den Pre- gehörige sowie zu gewaltsamen Protest-
es zurzeit keine Anhaltspunkte, dass die vent nach der Marnette-Veranstaltung ge- aktionen“. Sogar Bombendrohungen. Da-
Tat in New York im Auftrag der Bank ge- schrieben hatte: „Den Bericht habe ich mit rechtfertigt die HSH heute teure Auf-
schah. bis heute weder gesehen noch gelesen.“ träge für die Prevent AG, die schon 2004
Auch Nonnenmacher, der K. für den Was für ein Affront. Denn nur vier für die Bank arbeitete, aber anfangs nur
Zeitpunkt der Razzia extra zu einer Vi- Tage vorher hatte sein Vorstandskollege kleine sechsstellige Umsätze machte. Erst
deokonferenz ins Büro beordert hatte, Martin van Gemmeren genau diesen Be- unter Nonnenmacher gingen die Geschäf-
sprach sich vergangenen Montag von aller richt vorgelesen, im Beteiligungsaus- te mit der HSH in die Millionen.
Schuld frei. Er tat es besonders effektvoll, schuss des Landtags. Die Diktion erinner- So ließ der angeblich stark bedrohte
mit viel Selbstmitleid im HSH-Untersu- te manche Abgeordnete an Stasi-Berichte; Nonnenmacher die Fenster seiner Woh-
chungsausschuss des schleswig-holsteini- als sie ihn deshalb schwarz auf weiß ha- nung mit durchschusshemmenden Folien
schen Landtags. Er werde in „ganz uner- ben wollten, war es zum Eklat gekom- bekleben, falls, wie im Film, ein Scharf-
träglicher Weise“ angegriffen, von der men: Gemmeren weigerte sich, steckte schütze auf ihn anlegen sollte. Auch das
Presse, von den Politikern, jammerte er. das Papier wieder ein und ging. Wenn Schließsystem bekam auf Kosten der Bank
für 4265 Euro ein Spezialtuning, behörden“, erklärt Schlie. Die De-
selbst optisch: Die gelieferten Edel- tektive hätten den Tipp gegeben,
stahlzylinder wurden hartversilbert, dass in Internetforen die Veröffent-
damit es besser aussah. Allein im lichung von Wohnadressen der
zweiten Halbjahr 2009 ließ sich die HSH-Spitzen ein Thema gewesen
Bank das „Projekt Silence“, den sei. Musste die Polizei deshalb et-
Rundumschutz für die HSH-Spitze, was unternehmen? Nein. Es „lagen
fast 950000 Euro kosten. Weitere keine ergänzenden Hinweise vor,
785000 Euro sind für 2010 noch of- so dass auch keine Schutzmaßnah-
fen; die Rechnungen dafür reichten men für Repräsentanten der Bank
bis in den Juni. Aus Sicht der Bank in Schleswig-Holstein angeordnet
kein Problem: Die Prüfer der wurden“, so Innenminister Schlie.
KPMG hätten alle Prevent-Zahlun- Das Gleiche in Hamburg: Auch hier
gen kontrolliert – ohne „wesentli- sah das LKA kein ernstes Risiko.
che Beanstandungen“. Umso mehr vermuten nun die
All die Hinweise, dass Gewalt- Grünen in Hamburg, die schwer an-
anarchos Jagd auf die Manager geschlagene HSH habe mit den Pre-
der Krisenbank machen könnten, vent-Verträgen Millionen verschleu-
stammten aber offenbar nicht von dert. Damit rückt erneut Nonnen-
der Polizei, sondern nur von der macher ins Zentrum der Vorwürfe.
Prevent selbst, die an den Aufträ- Denn bei Beraterverträgen in Mil-
gen verdiente – Prevent will dazu lionenhöhe war es zwar üblich, dass
mit Rücksicht auf das Mandatsver- der HSH-Vorstand sie genehmigte.
hältnis nichts sagen. Gestützt wird Er unterschrieb aber nicht, das er-
diese Schlussfolgerung durch ei- ledigten die Manager eine Etage
nen Brief von Schleswig-Holsteins tiefer. Ausgerechnet bei zwei Pre-
Innenminister Klaus Schlie (CDU) Prevent-Vertrag: Nur Nonnenmachers Unterschrift vent-Verträgen vom 14. April und
an FDP-Fraktionschef Wolfgang 14. August 2009 war es anders. Non-
Kubicki. Darin schreibt Schlie, im Okto- nenmacher hatte noch einen Wohnsitz in nenmacher zeichnete sie selbst ab, in ei-
ber 2009 habe das Landeskriminalamt Frankfurt. nem Fall sogar allein – eine Verletzung der
(LKA) eine Anfrage der hessischen Kol- „Hintergrund waren Informationen des bankinternen Zeichnungsvorschriften.
legen bekommen. Thema: eine mögliche privaten Sicherheitsunternehmens Prevent Die Anwälte der Kanzlei WilmerHale,
Gefährdung von HSH-Bankern – Non- AG an hessische und Hamburger Polizei- die für den Aufsichtsrat den Kinderpor-
nofall aufklären sollten, bekamen diese
entscheidenden Prevent-Verträge offen-
bar nicht zu Gesicht. In ihrem Geheim-
bericht, Stand August 2010, heißt es zu-
mindest: „Prevent arbeitete für die HSH
auf Basis eines Rahmenvertrages, der am
19. August 2009 unterzeichnet wurde. Vor
diesem Datum gab es zwischen beiden
Unternehmen keine schriftlichen Verein-
barungen.“ Das ist nachweislich falsch.
Für die Grünen in Hamburg und die
FDP in Kiel sind das genügend Pflichtver-
letzungen, um Nonnenmacher ohne Ab-
findung zu feuern. Deshalb sollte in Ham-
burg Finanzsenator Carsten Frigge (CDU)
kürzlich auch die Prevent-Verträge von
der Bank anfordern. Lieferfrist: 2. Novem- SIMONE M. NEUMANN
ber. Doch die Bank rührte sich nicht. Auch
Bürgermeister Christoph Ahlhaus (CDU)
wunderte sich; die Bank solle doch einfach
die Verträge zufaxen. Die Grünen setzten
eine neue Frist: 4. November, der vergan- Schwarz-gelbe Koalitionäre: Mal eben über die Gesundheitsreform abstimmen
gene Donnerstag. Diesmal kamen Papiere,
aber für den Koalitionspartner ist nun klar:
B U N D E S TA G
Das war das Ende für Nonnenmacher.

Pfusch im Akkord
Denn was die Landesregierungen in
Hamburg und Kiel erhielten, neben an-
deren Dokumenten, war ein sogenannter
Leistungsschein, abgeschlossen zwischen
Bank und Prevent, datiert auf den 26. Fe- Die Bundesregierung produziert plötzlich Gesetze wie am Fließ-
bruar 2010. Darunter eine Unterschriften-
zeile für Nonnenmacher – aber ohne Non- band. Für Beratungen bleibt wenig Zeit; die eigenen
nenmachers Unterschrift. Was dagegen Leute fühlen sich übergangen. Schreitet der Bundespräsident ein?
fehlte, war jener Leistungsschein vom 14.

W
August 2009, der tatsächlich seine Signa- enn sich Bundestagspräsident ruft die Kollegen im Bundestag zum Wi-
tur trug – und ausschließlich seine. Jener Norbert Lammert mit Besucher- derstand auf: „Es schadet dem Ansehen
Vertrag, der Nonnenmacher nun zum Ver- gruppen aus seinem Wahlkreis des Parlaments, wenn der Eindruck ent-
hängnis werden dürfte. trifft, bekommt jeder Gast erst mal ein steht, als folgten wir vermeintlichen oder
Geschenk. Es handelt sich um ein Poster tatsächlichen Vorgaben, statt selbständig
„Alles andere als eine im DIN-A2-Format, das veranschaulicht, zu urteilen und zu entscheiden.“
wie ein Gesetz entsteht: eine augenfällig Tatsächlich ist im Hohen Haus der Är-
Entlassung von Nonnenmacher hochkomplexe Angelegenheit. Es wim- ger über die Arbeit der Koalition groß.
werden wir nicht akzeptieren.“ melt vor Pfeilen, Grafiken und Flussdia- Nachdem sich Union und FDP monate-
grammen. Nichts, woran der Gesetzgeber lang vor allem mit internen Streitigkeiten
Für den Grünen-Fraktionschef Jens in seiner Sorgfalt nicht gedacht hätte. beschäftigt haben, geht die Regierung
Kerstan ein klarer Täuschungsversuch: In jüngster Zeit freilich hat Lammert nun mit atemberaubender Geschwindig-
„Meines Wissens gibt es ein Dokument, mitunter das Gefühl, dass die auf dem keit voran, um vor dem Jahreswechsel
das der Vorstandschef allein unterschrie- Plakat dargestellten Regeln und Abläufe doch noch einige wichtige Projekte zu
ben hat. Dieses wesentliche Dokument nur noch wenig mit der Wirklichkeit zu vollenden. Atomgesetz, Hartz IV, Ge-
fehlt. Stattdessen wurde uns ein anderes tun haben. Anfang vergangener Woche sundheitsreform, Justierungen am Eltern-
vorgelegt, das den Eindruck erwecken soll, beschwerte er sich in der „Frankfurter geld – alles zugleich und alles im
die Papiere seien komplett übergeben wor- Allgemeinen“ darüber, in welch fragwür- Schweinsgalopp. Für eine gründliche Be-
den. Alles andere als eine Entlassung von diger Weise die schwarz-gelbe Bundesre- ratung der Gesetzentwürfe in den Fach-
Nonnenmacher werden wir jetzt am gierung ihre Verlängerung der Atomlauf- ausschüssen bleibt da keine Zeit, für auf-
Dienstag im Senat nicht akzeptieren.“ Al- zeiten durchs Parlament gepeitscht habe. klärende Debatten im Bundestag auch
lem Anschein nach sind die Grünen bereit, Von „Zumutungen“ sprach der CDU- nicht. Im Halbstundentakt müssen die
an der Personalie Nonnenmacher die Ko- Mann und vom „Verdacht mangelnder Parlamentarier über Gesetze abstimmen,
alition in dieser Woche platzen zu lassen, Sorgfalt“. Der formal zweite Mann im die sie schon deshalb kaum beurteilen
wenn die CDU bei einer schnellen Entlas- Staat hatte vernehmbar auf den Gong ge- können, weil die wichtigsten Änderungs-
sung nicht mitzieht. schlagen. anträge derzeit oft erst in der vorange-
In Kiel hat die FDP die Zustimmung Und jetzt legt Lammert nach. Dass ihn gangenen Nacht eingearbeitet wurden.
der Union, Nonnenmacher zu kippen, so Bundeskanzlerin Angela Merkel für seine Die Tagesordnung für die Plenarsit-
gut wie sicher. Fraktionschef Kubicki am Kritik rüffelte, hat ihn scheint’s nicht be- zung an diesem Donnerstag sieht 31 Punk-
vergangenen Freitag: „Wieder hat Herr eindruckt, im Gegenteil. „Ich habe mehr- te vor, von der Aussprache über das stra-
Nonnenmacher unzureichend und zum fach intern wie öffentlich auf das Miss- tegische Nato-Konzept über die Abstim-
Teil sogar falsch geantwortet. Wir werden verhältnis hingewiesen zwischen dem mung beim Arzneimittelgesetz und die
seinen Rauswurf in der nächsten Woche von Koalition wie Opposition erzeugten Neubestimmung der Hartz-IV-Sätze. Tags
in Angriff nehmen.“ JÜRGEN DAHLKAMP, Beratungsbedarf und der parlamentarisch drauf soll dann mal eben noch die Ge-
GUNTHER LATSCH, JÖRG SCHMITT verfügbaren Beratungszeit“, sagt er und sundheitsreform verabschiedet werden.
34 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Deutschland

Die Hauruckmethoden der Bundes- von CDU und CSU trafen, um die Kabi- Die Lobbyisten landeten noch einen wei-
regierung beschneiden nicht nur die Mit- nettssitzung zu besprechen, brachte die teren Coup, der den überlasteten Par-
wirkungsrechte des Parlaments, sondern Runde nicht den Mut auf, die Novelle lamentariern in den vergangenen Tagen
führen auch zu Pfusch und Patzern. Was beim Elterngeld in Frage zu stellen, aus auffiel. Den Pharmahersteller soll erlaubt
nicht passt, wird im Akkord passend ge- Sorge vor Negativschlagzeilen. „Ach, so werden, künftig bei speziellen Behand-
macht. Hatte Kanzlerin Merkel noch den schlimm ist das ja nicht“, sagt voller Iro- lungsprogrammen mitzumischen, die Kran-
„Herbst der Entscheidungen“ ausgerufen, nie einer von Merkels Beratern. „Wenigs- kenkassen bisher nur gemeinsam mit Kli-
reden die eigenen Leute im Parlament tens haben wir ein Beschäftigungspro- niken, Ärzten und Pflegediensten anbieten.
hinter vorgehaltener Hand inzwischen lie- gramm für Beamte aufgelegt.“ „So haben die Pharmaunternehmen
ber vom „Winter des Missvergnügens“. Mehr und mehr zur Posse gerät auch bald die Möglichkeit, ihre Medikamente
Am Ende könnte sogar Bundespräsi- die Gesundheitsreform, die das Parla- noch viel einfacher in den Markt zu drü-
dent Christian Wulff in Verlegenheit ge- ment in dieser Woche absegnen soll. Von cken als bisher“, sagt Wolf-Dieter Ludwig,
raten. „Der Präsident hat das Recht zu den ambitionierten Plänen des jungen Vorsitzender der Arzneimittelkommis-
prüfen, ob das Gesetz verfassungskon- FDP-Ministers Philipp Rösler ist kaum et- sion der deutschen Ärzteschaft. Der SPD-
form ist und ob es verfassungskonform was übrig geblieben. Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach
zustande gekommen ist“ – so steht es auf Bei Röslers Arzneimittelgesetz zeigt spricht von der Gefahr der „legalisierten
Lammerts Plakat, und genau an dieser sich, wie auf den letzten Drücker die Korruption“.
Verfassungsmäßigkeit bestehen im Fall Pharmaindustrie ihre Macht ausspielt. Ei- Und auch die geplanten Hartz-Rege-
des Atomgesetzes ernste Zweifel. Lam- gentlich war geplant, dass ein unabhän- lungen bergen manche Überraschung.
mert vertritt, anders als die Bundesregie- giges Gremium aus Ärzten und Kranken- Der Plan von Bundessozialministerin Ur-
rung, die Meinung, dass es sich um ein kassenvertretern über die Frage entschei- sula von der Leyen klingt ja auch fast zu
zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, det, wie der Nutzen eines Arzneimittels schön, um wahr zu sein. Auf Kosten des
das der Bundesrat absegnen muss. vorab bewertet wird. Doch das passte den Staates sollen die armen Kinder ein war-
Die Frage ist nun, ob Bundespräsident Pharmakonzernen nicht. Von der Nutzen- mes Mittagessen in Kitas und Schulen be-
Wulff diese Einschätzung teilt. Als er bewertung hängt ab, wie viel Geld sie für kommen, Nachhilfe, wenn es in der Schu-
noch Ministerpräsident von Niedersach- ihre Präparate verlangen dürfen. le klemmt, den Beitrag für den Sportver-
sen war, hatte er eine klare Meinung. Und so starteten sie eine Schlussoffen- ein oder die Musikschule.
„Niedersachsen geht davon aus, dass das sive, die Wirkung zeigt. Per Änderungs- Die Frage ist jetzt: Wie soll das gehen?
Gesetz zustimmungspflichtig wird“, ver- antrag soll eine Passage ins Gesetz, wo- Ursprünglich wollte von der Leyen, dass
kündete sein damaliger Regierungsspre- nach nicht ein unabhängiges Gremium, die Jobcenter vor Ort die Sache in die
cher im vergangenen Mai; demnach müss- sondern das Bundesgesundheitsministe- Hand nehmen. Die Arbeitsvermittler, de-
te Wulff das Gesetz nun stoppen. Offiziell rium die Kriterien für die Nutzenbewer- ren Aufgabe eigentlich darin besteht, Ar-
heißt es aus dem Präsidialamt, das Thema tung festlegt. Das ist genau das, was die beitslosen eine Stelle zu verschaffen,
werde „aufmerksam“ verfolgt. Pharmahersteller wollen. Die Passage ent- würden zu Jugendhelfern und Sozialar-
Ein besonders skurriles Beispiel für ge- spricht wörtlich einem Formulierungsvor- beitern. Und zu Experten in Sachen Nach-
setzgeberischen Pfusch beschäftigt der- schlag, den der Verband der forschenden hilfe. Sie müssten kontrollieren, ob ein
zeit die Finanzpolitik. Es geht um das El- Arzneimittelhersteller beim Ministerium Lehrer wirklich qualifiziert genug ist, um
terngeld. Der Plan der Koalition sieht vor, eingereicht hatte. Kindern etwas beizubringen. Millionen
dass nicht nur Hartz-IV-Eltern keine Ex- Gutscheine müssten ausgegeben, kontrol-
trastütze mehr bekommen sollen, son- liert und abgerechnet werden – ein Auf-
dern auch Spitzenverdienerpaare mit ei- wand, der selbst die Bundesagentur für
ner halben Million Euro Jahreseinkom- Arbeit als Deutschlands größte Behörde
men. Für die schwarz-gelbe Regierung lahmlegen würde.
handelt es sich um ein Thema von gro- Deshalb sollen nun auch die Kommu-
ßem symbolischen Wert. Endlich kann nen mit der Aufgabe betraut werden kön-
sie beweisen, dass sie zur Haushaltssanie- nen. Die Frage, wie die Wohltaten zu ver-
rung auch mal bei den Reichen zulangt. tretbarem Aufwand an die Kinder verteilt
Leider bemängeln nun aber die Länder, werden könnten, ist dadurch aber nicht
dass die Maßnahme unterm Strich mehr beantwortet, und das keine acht Wochen,
kosten dürfte, als sie dem Staat einbringt. bevor das Gesetz in Kraft treten soll.
Die bayerische Staatskanzlei rechnet vor, Einige Ausschussvorsitzende beklagten
dass die Einsparungen in ganz Deutsch- sich kürzlich beim Bundestagspräsiden-
land bestenfalls bei vergleichsweise läp- ten Lammert. Die Regierung überfordere
pischen zehn Millionen Euro liegen. Die- die Parlamentarier, hieß es. Es sei kaum
se würden durch den höheren Verwal- möglich, die Flut der Gesetzesanträge in
tungsaufwand mehr als aufgefressen, weil der vorgegebenen Zeit zu bewältigen.
„zukünftig fast alle Elterngeldbescheide „Das entspricht nicht meinen Anforde-
mindestens noch einmal überprüft wer- rungen an ordentliche Gesetzgebungsar-
den müssen“, so die Staatskanzlei. Allein beit“, verfügte Lammert daraufhin vor
in Bayern würden 13 bis 15 neue Sachbe- einer Woche – ein bemerkenswerter Satz
arbeiterstellen erforderlich, die mit rund für einen Politiker in seiner Funktion.
1,18 Millionen Euro pro Jahr zu Buche Und Lammert appelliert nach Merkels
schlügen. Nasenstüber erst recht an das Selbstbe-
Die Initiative sei eine „absolute Kata- wusstsein des Bundestags. „Das Parla-
DARMER / DAVIDS

strophe“, heißt es in der Stellungnahme. ment“, so sein Rat, „hat jede Macht der
Am besten wäre es, das Projekt zu stop- Welt, einen unzumutbaren Zeitplan zu
pen. Doch dazu wird es wohl nicht kom- verändern.“ PETRA BORNHÖFT,
men – Vernunft hin oder her. Als sich Politiker Lammert, Wulff MARKUS DETTMER, KATRIN ELGER,
ALEXANDER NEUBACHER, RENÉ PFISTER
vorvergangene Woche die Spitzenleute Unzumutbarer Zeitplan
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Deutschland

ihnen den Status der Unbeflecktheit, der


Amtsinhaber Wowereit ausblendet, was sie alles mitbeschlossen
haben und was sie tun würden, wenn sie
ihre bisherige Programmatik noch ernst
nehmen. Die Grünen sind insofern der-
zeit eine Abstauber-Partei.
SPIEGEL: Heißt das, ihr Höhenflug ist bald
vorbei?
Wowereit: Jedenfalls wird es Zeit, dass die
Grünen in Berlin sich endlich mit Inhal-
ten beschäftigen. Die Spitzenkandidatin
hat da in ihrer Bewerbungsrede viele All-
gemeinplätze geboten, sie hat ein Nega-
tivbild der Stadtpolitik gezeichnet und
einfach vielen vieles verheißen. Wenn es
wieder um ernsthafte Politik geht, wird
sich das entzaubern.
SPIEGEL: Castor-Transporte, Stuttgart 21
und bei Ihnen in Berlin die Flugrouten

LAURENCE CHAPERON
oder die Wasserwerke – was läuft generell
falsch in der Politik, warum protestieren
zurzeit so viele Menschen?
Wowereit: Wir wollen ja, dass sich die Bür-
ger einmischen. Wir haben absichtlich die
Möglichkeit für Bürgerbegehren und
SPD
Volksentscheide eingeführt. Dass es für

„Eine Abstauber-Partei“
eine Regierung dann nie angenehm wird,
ist doch logisch. Das Problem ist: Bei den
meisten Verfahren kommt mittlerweile,
wie jetzt in Stuttgart, der große Wider-
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, 57, über stand erst, wenn die Entscheidung schon
getroffen ist, wenn der Bagger rollt und
seine Herausforderin Renate Künast, den Erfolg sichtbar wird, dass etwas passiert.
der Grünen und seinen früheren Mitarbeiter Thilo Sarrazin SPIEGEL: Was lernen Sie daraus?
Wowereit: Bei solchen schwierigen Mega-
SPIEGEL: Herr Wowereit, was ist eigentlich servativen eine klare Mehrheit hat. Und Themen sollten wir in Zukunft die Men-
schiefgelaufen, dass sich so viele Men- in Berlin werden Sie bei den Wahlen se- schen lieber vorher mitentscheiden lassen,
schen im linken Lager nach Renate Kü- hen: Die SPD bleibt die stärkste Kraft, statt erst spät im Verfahren etwa durch
nast sehnen? sie behält die Führungsrolle. Bürgerbegehren den Protest zu spüren.
Wowereit: Die gute Nachricht ist doch, SPIEGEL: Wie soll das gehen, wenn die SPD Dafür brauchten wir dann Referenden –
dass in Berlin das linke Lager so stark ist, bei den großen aktuellen Themen wie auch wenn das vielen Parlamenten als In-
dass die Konservativen praktisch keine Atomkraft oder Stuttgart 21 keine nen- strument der direkten Demokratie viel-
Rolle mehr spielen. nenswerte Rolle spielt? leicht nicht gefällt.
SPIEGEL: Ihre Herausforderin wirft Ihnen Wowereit: Protestieren kann jeder. Wenn SPIEGEL: Besser hinhören kann jedenfalls
vor, Berlin sei eine „blockierte Stadt“. die Grünen ihre Umfragewerte stabilisie- nicht schaden, damit es nicht weiterhin
Wowereit: Das Gegenteil ist richtig, wir le- ren wollen, dürfen sie nicht nur einseitige zu einer Abkopplung der politischen Eli-
ben in einer dynamischen Stadt und ha- Klientelpolitik machen. Dann können sie ten von der Bevölkerung kommt – siehe
ben in den vergangenen neun Jahren vie- sich nicht nur „schöne“ Themen aussu- Integrationsdebatte.
le Verkrustungen aufgebrochen. Mich chen, sondern müssen sich auch um die Wowereit: Wenn die Medien nicht so einen
wundert, dass sie das nicht merkt. Ich harten, die unangenehmen Probleme der Hype daraus gemacht hätten, wäre da
kann nur hoffen, dass die Grünen nicht Gesellschaft kümmern. Umstrittene The- manches vielleicht auch nicht so explo-
für neue Blockaden sorgen wollen. men der rot-grünen Koalition wie Hartz diert. Bedenklich finde ich an der von
SPIEGEL: Was hat Künast, was Sie nicht IV werden nicht mehr ihnen zur Last ge- Thilo Sarrazin ausgelösten Diskussion vor
haben? legt, sondern ausschließlich uns. Das gibt allem, dass die Gegenbewegung so kraft-
Wowereit: Das müssen Sie andere fragen. los war. Wo war der Aufstand der Intel-
Wir verstehen uns gut und schätzen uns. lektuellen in diesem Land? Wir kommen
Es ist toll, wenn gute Leute wieder in die jetzt erst langsam wieder zu einer diffe-
Landespolitik kommen, die hier mal wa- renzierten Debatte.
ren und jetzt auf der Bundesebene sind. SPIEGEL: Immerhin haben Sie selbst Sar-
Aber sie müssen sich dann eben auch mit razin als politisches Talent entdeckt und
Haut und Haaren für Berlin entscheiden zum Berliner Finanzsenator gemacht.
und nicht so halb wieder weg sein. Das Wowereit: Er kam nicht als Newcomer aus
CLEMENS BILAN / DAPD

wird ihr noch übel aufstoßen. dem Nirwana, er hatte auch vorher schon
SPIEGEL: Warum sind die Grünen zurzeit seine Karriere. Ich würde übrigens auch
so erfolgreich? heute nicht sagen, dass die Berufung von
Wowereit: Jetzt mal langsam. Auf Bundes- Sarrazin als Finanzsenator ein Fehler war.
ebene sehen uns die meisten Umfragen SPIEGEL: War es auch richtig, einen Pole-
deutlich vor den Grünen. Das zeigt doch, Herausforderin Künast miker wie ihn in zur Bundesbank zu schi-
dass Rot-Grün im Vergleich zu den Kon- „Das wird ihr übel aufstoßen“ cken, wo Diskretion Pflicht ist?
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Deutschland

BERNHARD FREISEN / GLOBAL-PICTURE.NET

BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS


Protestthemen Integration, Fluglärm: „Wir wollen ja, dass sich die Bürger einmischen“

Wowereit: In der heutigen Nachbetrach- Wowereit: Das liegt doch nicht an mir! Wir für Menschen nichtdeutscher Herkunft.
tung müsste man darüber reflektieren. waren gerade in Leipzig mit unserer Zu- Die alleinerziehende Mutter mit vier Kin-
Aus der damaligen Sicht war es richtig. kunftswerkstatt, wir gehen auch an viele dern aus Marzahn hat auch Schwierig-
Er hatte die Qualifikation, er wollte es, andere Orte in der Republik und arbeiten keiten, am sozialen Leben teilzuhaben.
alle wollten es, niemand hat widerspro- an Integrationsprojekten. Aber darüber SPIEGEL: Sie sind jetzt neun Jahre im Amt.
chen. Es ist kein Abschieben oder Weg- berichten Sie nicht. Wer heute versucht, Warum tun Sie sich das alles überhaupt
loben gewesen. in diesem Thema differenzierte Positio- noch an? Sie machten zuletzt einen ziem-
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den großen nen zu vertreten, findet kein Gehör. lich gelangweilten Eindruck.
Erfolg Ihres Parteifreundes und Neuköll- SPIEGEL: Jetzt haben Sie die Gelegenheit. Wowereit: Sie zitieren ein Klischee, das
ner Bezirksbürgermeisters Heinz Busch- Was ist Ihre Bilanz nach monatelangen der Wirklichkeit nicht entspricht. Es ist
kowsky? Debatten? sicher richtig, dass in jeder beruflichen
Wowereit: Welchen Erfolg? Wowereit: Es gibt eine sehr starke Verun- Tätigkeit auch Phasen kommen, in denen
SPIEGEL: Er spricht auf dem SPD-Bundes- sicherung. Viele Menschen fühlen sich man fragt: Kommt noch etwas Neues?
parteitag zum Thema Integration, Spit- belastet und angegriffen. Gerade dieje- Will man sich selber verändern? Aber ich
zengenossen wie Sigmar Gabriel und nigen, die eine erfolgreiche Integration habe mich vor etwa einem Jahr entschie-
Frank-Walter Steinmeier suchen seinen hinter sich gebracht haben. den, bei der nächsten Wahl wieder anzu-
Rat. Sein harter Kurs gegen Integrations- SPIEGEL: Vergangene Woche waren Sie treten – und das mit voller Kraft.
verweigerer wird bundesweit gelobt. zum Integrationsgipfel im Kanzleramt. SPIEGEL: Frau Künast hat Sie revitalisiert.
Wowereit: Ach, wissen Sie, er hat in vielen Angela Merkel hatte zuvor „Multikulti“ Wowereit: Mit ihr hat das nichts zu tun.
Dingen recht. Wenn Sie nach Differenzen für gescheitert erklärt. Hat sie recht? Ich fühle mich fit für den Job, mir macht
suchen, geht es um Nuancen. In bestimm- Wowereit: Nein. Aber dieser Satz ist auch er Spaß. Berlin ist auf einem sehr guten
ten Fragen zieht er aus meiner Sicht fal- eine Plattitüde, weil damit so getan wird, Weg, das wird weltweit anerkannt, und
sche Konsequenzen. Natürlich ist es mög- als wollten Anhänger einer multikultu- dabei haben wir noch viel vor uns. Des-
lich, Schulversäumnisse zu sanktionieren, rellen Gesellschaft mit dem Begriff ir- halb trete ich noch mal an. Wenn die Grü-
bis hin zur Beugehaft für die Eltern. gendetwas Böses ausdrücken. Und was nen eine profilierte Bundespolitikerin,
Sanktionen habe ich als Stadtrat in Tem- soll daran gescheitert sein? Wir haben in ihre beste Frau, hier ins Rennen schicken,
pelhof auch verhängt. Es bringt aus mei- unserer Republik viele Menschen mit un- dann ist das doch schön.
ner Sicht aber nichts, dann auch noch das terschiedlichen kulturellen Erfahrungen SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Es bleibt
Kindergeld zu kürzen. Über all das könn- und Sozialisationen. Dieses Land ist in Ihnen gar nichts anderes übrig, weil Sie
te man sachlich diskutieren. vielen Bereichen nicht nur von einer Kul- keine andere Karriereoption haben. Sie
SPIEGEL: Oder nervt es Sie bloß, dass er tur, sondern von mehreren Kulturen be- wurden als Kanzlerkandidat und SPD-
sich über Ihr neues Integrationsgesetz lus- einflusst. Deshalb kann ich nur sagen: Es Chef gehandelt.
tig macht? ist falsch, was sie da sagt. Wowereit: Ich habe mich für die Landes-
Wowereit: Quatsch. Allerdings muss man SPIEGEL: Also ist Integration eine einzige politik entschieden, aus voller Überzeu-
in der Integrationsdebatte nicht über die große Erfolgsgeschichte? Sie wollten doch gung. Die Berliner wollen, dass ihr Re-
gesamte politische Klasse herziehen, zu differenzieren. gierender Bürgermeister sich auch für
der man selbst gehört. Wowereit: Sie ist in der Republik millio- ihre Stadt entscheidet. Das habe ich ge-
SPIEGEL: Kaum jemand weiß, dass Sie im nenfach gelungen, hunderttausendfach in tan, und dazu stehe ich auch.
Nebenjob für die Bundes-SPD Leiter ei- Berlin. Trotzdem gibt es Probleme, weil SPIEGEL: Der Bundeszug ist abgefahren?
ner „Zukunftswerkstatt Integration“ sind. Menschen Schwierigkeiten haben, sich zu Wowereit: Meine berufliche Zukunft liegt
Warum lassen Sie sich von einem Be- integrieren, weil sie in sozial schwierigen in jedem Fall in Berlin.
zirksbürgermeister und einem Ex-Sena- Situationen leben. Das gilt aber für Men- INTERVIEW: KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN,
tor derart die Show stehlen? schen deutscher Herkunft genauso wie FRANK HORNIG

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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Politikerin Schavan

KARRI EREN

Ministerin für Cello und Chopper


Wer Bildungsministerin Annette Schavan begleitet, erlebt eine intelligente, interessante Frau.
Gleichwohl gilt sie als Deutschlands fadeste Politikerin, weshalb sich
die Frage stellt: Wie viel Langeweile verträgt die Demokratie? Von Dirk Kurbjuweit

A
ls Annette Schavan auf den Chop- Die Fotografen rufen, sie solle nach wie immer einen braven Seitenscheitel
per zugeht, wirkt sie gefasst und rechts blinken. Sie sucht den Schalter für trägt, unten duckt sich das Motorrad, das
entschlossen. Der Chopper sieht den Blinker, und weil sie ihn nicht sofort zum Symbol für Wildheit und Aufbruch
so aus, wie ein Chopper aussehen muss, findet, schimmert Unbehagen in ihrem Ge- geworden ist. Es gibt nur den Zusammen-
lange Vorderradgabel, breiter Lenker, tie- sicht. Sie findet den Blinker, der Chopper hang, dass der Chopper einen Elektromo-
fer Sitz, die Farbe ist weiß. Schavan trägt blinkt nach rechts. Sie soll lächeln, und sie tor hat, also ein forschungsintensiver Chop-
eine schwarze Hose, ein rotes Jackett und lächelt. Annette Schavan sitzt auf einem per ist. Siemens wirbt damit im Rahmen
hohe Schuhe. Sie schwingt ein Bein über Chopper, aber sie sitzt da anders als Peter eines Kongresses für umweltbewusste Ju-
den Sitz, lässt sich nieder und hat ein Fonda in „Easy Rider“. Das Bild wächst gendliche im August in Berlin.
paar Probleme, die Schuhe auf den Ras- nicht zusammen, oben lächelt die Bundes- Schavan steigt ab, erleichtert wirken
ten unterzubringen. ministerin für Bildung und Forschung, die jetzt beide, die Ministerin und das Motor-
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Deutschland

rad. Die Deutsche Presse-Agentur schickt den meistzitierten Wörtern in diesem Jahr. freundliches Gesicht, in dem sich keine
das Foto an die Redaktionen, aber kaum Kann sich jemand an ein Wort oder einen Kanten, keine Brüche zeigen, ein Gesicht
einer druckt es. Auch ein Chopper ändert Satz von Schavan erinnern? wie eine ewige Schlichtung, alles ist mit
nichts an Schavans Image. Sie gilt weiterhin Politik ist auch ein Wettbewerb um Auf- allem versöhnt, abgerundet und auf eine
als Deutschlands langweiligste Politikerin. merksamkeit. Die meiste Aufmerksam- Friedensbotschaft konzentriert: Ich tue
Das schleppt sie mit sich rum. Wenn keit bekommt, wer Parteifreunde oder dir nichts.
man sagt, dass man sich für ein paar Mo- Koalitionspartner angreift. Schavan Gleichwohl redet Schavan bei diesem
nate mit Annette Schavan befassen will, macht da nicht mit. Bei vielen Gesprä- Mittagessen oft von Streit. Sie sagt dann:
schlägt einem Mitleid entgegen. Die sei chen über den Zustand der Koalition in „Darüber müssen wir streiten.“ Oder:
doch so blass, so fade, zum Gähnen. Das den vergangenen Monaten hat sie nicht „Da müssen wir in der Sache streiten.“
ist also das Thema dieser Geschichte: Poli- einmal gelästert oder gehetzt. Sie war im- Was sie meint, ist der akademische Streit,
tik und Langeweile. Anders gesagt: Wie mer sachlich, loyal, konstruktiv. Aber sie das schöne, kluge Florettfechten mit Wor-
viel Langeweile verträgt die Demokratie? hat auch nie die Opposition angegriffen, ten, nicht die aggressive Intervention. Das
Annette Schavan, 55, stellvertretende die Industrie oder den Forschungsbetrieb. klingt alles wunderbar, und das Wort
Parteivorsitzende der CDU, gilt als fried- Die Demokratie braucht solche Attacken, „Gurkentruppe“ ist tatsächlich eines der
liche, sachorientierte und verzichtbarsten in diesem
hochintelligente Politikerin. Jahr gewesen. Aber so wie
Das Paradox ist, dass sich Dobrindt in diese Richtung
viele Bürger genau das wün- übertreibt, übertreibt Scha-
schen: eine Politik ohne Ag- van in die andere.
gressionen, ohne Show und Ende April redet sie in
mit Intellekt, also Intelli- Nordrhein-Westfalen, Zeit
genz plus Bildung. Aber in des Wahlkampfs, Zeit der
den Umfragen schafft es Attacke. Sie spricht im
Schavan nie auf hohe Be- Schulzentrum in Haan, hun-
liebtheitswerte. Nur 28 Pro- dert Leute kommen, der

SOEREN STACHE / PICTURE ALLIANCE / DPA


zent der Deutschen wün- Saal ist halbvoll. Kalte Be-
schen sich, dass sie eine tonarchitektur, Tüten mit
wichtige Rolle spielt. 42 Pro- Gummibärchen auf den
zent wollen das nicht, 27 Stühlen. Schavan hält eine
Prozent ist sie unbekannt. ordentliche Rede, der wuch-
Es sieht fast aus, als würde tigste Satz ist: „Ich wünsche
hier das Modell für eine bes- mir, dass wieder mehr Be-
sere Politik verkannt. geisterung für Bildungspoli-
tik aufkommt.“ Als sie fer-
Politik und Aggression tig ist, meldet sich ein Mann
Es ist Mitte August, Annette und fährt den Moderator an,
Schavan besucht das Klini- er solle Schavan nicht mit
kum in Garmisch-Partenkir- Frau Doktor anreden, son-
chen. In einem Konferenz- dern mit Frau Professor.
raum berichten leitende Ärz- Das ist der aggressivste Akt
te über ihre Arbeit, es geht des Abends. Hätte Schavan
um kaputte Hüften, kaputte nicht selbst erwähnt, dass
Knie, auf den Brötchen bald eine Landtagswahl an-
schwitzt die Wurst. Schavan steht, hätte man nichts ge-
hört engagiert zu, neben ihr merkt. Wären alle Politiker
döst Alexander Dobrindt, so, geriete die Politik bald
Abgeordneter dieses Wahl- in Vergessenheit.
kreises im Bundestag und
Generalsekretär der CSU. Politik und Show
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Der Arzt sagt, sie mach- Garmisch-Partenkirchen, Mit-


ten hier auch „aggressive In- te August, der Tross mit
terventionen bei Komplika- Dobrindt und Schavan hat
tionen“. Schavan nickt, das Krankenhaus verlassen
Dobrindt wacht auf. „Das und wartet auf die Seilbahn,
könnte mein Leitspruch die zur Zugspitze fährt.
sein“, ruft er fröhlich, Scha- Christdemokratin Schavan*: Wettkampf um die auffälligsten Bilder Dobrindt telefoniert unge-
van lacht. Dobrindt wieder- duldig einem Fotografen der
holt die Worte, „aggressive Interven- damit Positionen deutlich werden und Deutschen Presse-Agentur hinterher,
tionen bei Komplikationen“ und schaut eine Debatte beginnen kann. Schavan erzählt von den Büchern, die sie
dabei aus, als würde er an einer Mozart- Mitte Oktober sitzt sie im Restaurant jüngst gelesen hat.
kugel schmecken. Zu köstlich. Boccaccio in Ulm, wo sie ihren Wahlkreis Oben weht ein kalter Wind, auf den
Von Alexander Dobrindt stammt der hat. „Mein Aggressivitäts- und mein Kon- Felsen liegt Schnee, es sind minus ein
Spruch, der Koalitionspartner FDP sei eine kurrenzgen sind unterentwickelt“, sagt Grad. Der Sommer ist hier, auf knapp
„gesundheitspolitische Gurkentruppe“. Er sie. Annette Schavan hat ein weiches, 3000 Metern, erfroren. Annette Schavan
ist der Mann für aggressive Interventionen zieht einen schwarzen Schneeanzug an,
in der Politik und damit das Gegenteil von *per
Oben: auf einem mit Elektromotor betriebenen Chop-
auf einem Kongress in Berlin im August; unten: mit
wird in ein Klettergeschirr geschnallt und
Annette Schavan. Anders als sie findet er Kindern bei einer Grünkohlveranstaltung der Stadt Ol- dann mit einem Polizisten zu einer Seil-
reichlich Gehör, „Gurkentruppe“ zählt zu denburg im März. schaft vereinigt. So soll sie zum Gipfel-
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kreuz aufsteigen. Das sind rund 15 Me- Im Laufe dieser Recherche hat sich ge- retisch. Schavan hat viel davon, sie spielt
ter Höhenunterschied, es gibt Treppen. zeigt, dass die Eingangsthese, Schavan ma- nicht dauernd Rollen, fast immer wirkt
Dobrindt, der nicht angeseilt ist, geht vor- che Politik ohne Show, nicht stimmt. Sie sie wie der ruhige, besonnene Mensch,
aus. Er grinst breit und kräht, gleich wer- hockt sich auf einen Chopper, sie kraxelt der sie eben ist, ein Mensch, der nichts
de er der Bundeskanzlerin eine SMS schi- zu einem Gipfelkreuz, und ihr ehemaliger Wildes in seiner Biografie herzeigen
cken: Die Ministerin Schavan gehöre jetzt Sprecher Elmar König erzählt, dass sie kann. Gute Schülerin, Studentin der Er-
zur Seilschaft der CSU. Er wird das an sich in einen umweltfreundlichen Smart ziehungswissenschaft, der Philosophie
diesem Nachmittag dreimal sagen. gesetzt hat, um in die „Tagesschau“ zu und der katholischen Theologie, Leiterin
Schavan kommt nur langsam voran, kommen. Das Rennen machte allerdings der Bischöflichen Studienförderung Cu-
von vorn hilft Dobrindt mit ausgestreck- Sigmar Gabriel von der SPD, der auch in sanuswerk, von 1995 bis 2005 Kultus-
ter Hand, von hinten sichert der Polizist. dem Smart eine Runde gedreht hat und ministerin in Baden-Württemberg, seit-
Die Fotografen sind, zum Teil auf Som- als umfangreicher Mensch in einem win- dem Forschungsministerin im Bund.
merschuhen, schon zum Gipfelkreuz vor- zigen Auto die besseren Bilder lieferte.  Ein solches Leben, ein solches Sein
ausgeeilt. Politik ist nicht nur der Wettkampf um mündet in der Politik in die Adjektive:
Man fragt sich, wie schon beim Chop- die aggressivsten Wörter, sondern auch öde, langweilig, fade, blass. Nichts ist auf-
per, warum macht Annette Schavan das? der Wettkampf um die auffälligsten Bil- regend, nichts hat Unterhaltungswert.
Warum beteiligt sie sich an einer Insze- der. Schavan mischt hier mit, sie macht Und Unterhaltungswert zählt dann doch
nierung, bei der sie nicht gut aussehen Politik mit Show, aber die Show ist mehr als Authentizität.
kann? schlecht, weil sie nicht zu ihr passt. Es macht etwas mit einem Menschen,
Das Foto, das am vergoldeten Gipfel- Nach dem „Gipfelsturm“ sitzt sie in wenn er ständig diese Adjektive hört und
kreuz entsteht, schafft es auf die Titelseite der Hütte neben dem immer noch feixen- liest, wenn Bekanntheit und Beliebtheit
vom „Pfälzischen Merkur“, der seit 1713 den Dobrindt, löffelt eine Suppe und mäßig sind. Bei Annette Schavan führt
in der Saarpfalz erscheint. Dobrindt steht kippt einen Schnaps. Es herrscht eine es dazu, dass sie sich manchmal als
vor Schavan, beide lächeln, der Polizist wohlige Stimmung, wie sie sich nur nach Scheinwilde gibt, auf dem Chopper, auf
ist seltsamerweise nicht zu sehen. „Poli- winterlichen Anstrengungen einstellt, dem Gipfel. Sie selbst sagt dazu: „Ich sehe
tiker als Gipfelstürmer“ steht über dem wenn man Kälte ausgehalten und Ängste kein Problem darin, ich kann mir das
Foto, das den Eindruck erweckt, als seien überwunden hat. Schavan erzählt so be- leisten.“
die beiden die knapp 3000 Meter bis zum geistert von ihrem Abenteuer, dass sie Politik kommt in der Mediengesell-
Gipfelkreuz geklettert. Das Ganze ist eine authentisch wirkt dabei. Aus der Show schaft nicht ohne Show aus. Im Wettbe-
plumpe Inszenierung von Mut und Tat- wird echtes Leben. Sie hat diesen Auf- werb um Aufmerksamkeit kann sie nicht
kraft, Gipfelsturm ohne Berg. stieg als gefährlich und anstrengend emp- nur Bilder von grauen Anzügen und Kos-
Schavan gefällt das Motiv so gut, dass funden. tümen in trostlos-kühlen Büros liefern.
sie ein Foto in ihr Buch „Gott ist größer, Authentizität ist eine hochgehandelte Das wäre zu viel der Langeweile. Die In-
als wir glauben“ aufnimmt, mit Polizist. Kategorie in der Politik, jedenfalls theo- szenierung, die Show hat eine demokra-
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tieerhaltende Funktion, weil sie Aufmerk- ihr eigenes Projekt der ernsthaften, sach- schweigt. Sie verständigen sich mit Bli-
samkeit für die Politik schafft. orientierten Politik. cken und sind selbst ergriffen von der Fei-
Die gute Show nimmt auf, was da ist, Am 4. Juni schleicht Annette Schavan erlichkeit der Musik und der Worte. Es
und macht es interessanter. Die schlechte auf Zehenspitzen an das Pult in der Ka- ist eine gute Show, sie passt perfekt zu
Show hat keinen Anknüpfungspunkt bei pelle des Franziskanerinnen-Klosters in Schavan.
dem Menschen, den sie inszeniert, und Schwäbisch Gmünd. Sie sagt, dass sie
wirkt daher leicht albern. Mit ihren selt- jetzt Psalmen vorlesen werde. Neben ihr Politik und Intellekt
samen Auftritten hintertreibt Schavan sitzt ein Cellist, er spielt, sobald Schavan Julius Berger spielt ein Cello von Andrea
Amati aus dem Jahr 1566, es ist das ver-
mutlich älteste Cello der Welt. Nur ein
wirklich guter Musiker kommt an ein sol-
ches Instrument. Als er 1996 auf dem ka-
tholischen Kongress in Hildesheim ge-
spielt hatte, sprach ihn eine Frau an und
sagte, wie sehr sie seine Musik bewegt
habe. „Ich wusste nicht, wer das ist“, er-
zählt Berger. Die Frau stellte sich als An-
nette Schavan vor. Beide waren ein biss-
chen verlegen, Schavan fragte, ob sie ihm
beim Tragen des Cellos helfen könne. Er
lehnte höflich ab. Sie wurden Freunde.
Zu ihren gemeinsamen Auftritten sagt
Berger: „Die Vorleserin muss in den
Nachklang des Cellos hineinlauschen,
und dann kommt die Sprache. Es kann
PETER KNEFFEL / PICTURE ALLIANCE / DPA

nur in einem bestimmten Moment los-


gehen, Annette findet ihn.“
Wenn man sich viel mit Politik beschäf-
tigt, hört man nicht oft Sätze wie diese,
man trifft eigentlich auch nicht auf Men-
schen wie Julius Berger, der sein Verhält-

* Mit CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt und


Bergsteigerin Schavan auf der Zugspitze*: Manchmal die Scheinwilde spielen einem Polizisten.

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Deutschland

nis zu Schavan mit einem Satz der Kaise-


rin von Japan beschreibt. Sie, die Berger
gern für sich spielen lässt, sagte ihm: „Ju-
lius, gute Gedanken halten die Welt zu-
sammen, und gute Gedanken sind wie
Gebete.“ So sei das auch mit ihm und
Annette Schavan. Er sehe sie nicht oft,
aber gedanklich seien sie viel beiein-
ander.
Schavan ist eine Politikerin aus einer
anderen Welt als die allermeisten der
Wähler. Sie ist wahrscheinlich die einzige
Bundesministerin, die einen Bücherstapel
auf der hinteren Mittelkonsole ihres
Dienstwagens hat. Im Oktober lagen dort
Bücher von David Grossman, von Tom
Segev, von Hanns-Josef Ortheil sowie „Jo-
hann Wanners beste Weihnachtsrezepte“.
Aber nützt ihr Belesenheit als Ministerin?
Oder ist Intellekt ein Problem in der Poli-
tik? Eigentlich müsste doch der Wett-
bewerb um Gedanken der edelste Wett-
bewerb der Politik sein.
Ein Paradox der Annette Schavan ist,
dass man sich mit der Frau, die als
Deutschlands langweiligste Politikerin
gilt, nicht eine Sekunde langweilt. Sie hat
ein breites Spektrum, sie hat Tiefe, sie
hat Wissen.
Als es beim Gespräch im Boccaccio in
Ulm um die Integrationsdebatte geht, sagt
sie, „muslimische Gelehrte haben uns die
griechischen Philosophen übersetzt“, nun
gehe es um „die Inkulturation des Islam
in Europa“. Schavan führt den politischen
Diskurs häufig mit einem feuilletonisti-
schen Einschlag. Das macht jener Min-
derheit Spaß, die einen Sinn dafür hat,
die anderen schalten ab, langweilen sich
oder sind verärgert, weil die Ministerin
so „abgehoben daherquatscht“, wie sie
vielleicht sagen würden.
Das wirft die Frage auf, für wen Politik
gemacht wird. Für alle, kann die Antwort
in einer Demokratie nur lauten. Muss sie
sich deshalb nivellieren, simplifizieren,
damit alle folgen können?
Der italienische Intellektuelle Sergio
Benvenuto hat in der Zeitschrift „Lettre
International“ geklagt, die Politik seines
Landes werde vor allem für die „Sport-
bar“ gemacht, für grimmige Männer, die
über Schwule und Frauen als Huren läs-
tern. „Die Leute“, schreibt Benvenuto,
„wollen Leute an der Regierung, die ,so
reden wie ich‘“. Diese Leute wollen „Poli-
tiker, die die gleichen Dummheiten, Kli-
schees und Gemeinplätze verbreiten, die
sie gewöhnlich selbst von sich geben“.
Annette Schavan macht sicher nicht
Politik für die Sportbar. Sie ist das andere
Extrem. Sie kommuniziert Politik oft so,
dass sich nur Eliten angesprochen fühlen
können. Aber ohne Massen gibt es keine
Demokratie. Für Politiker heißt das: kom-
plex denken, einfach reden.
Zu Stuttgart 21 fällt Schavan im Boc-
caccio ein, dass der Jakobsweg durch Ba-
den-Württemberg führe, und schon früher
44 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
hätten „die Menschen große Anstrengun-
gen unternommen, um diese Wege zu ge-
hen“. Gemeint ist, dass auch die heutigen
Stuttgarter für neue Wege einige Lasten
auf sich nehmen sollten. Man könnte
auch sagen: Stellt euch nicht so an.
Manchmal braucht sie einen Übersetzer,
aber die gibt es nur in der Außenpolitik.

Politik und Ergebnis


Was kommt raus, wenn jemand Politik
macht wie Annette Schavan? Sie selbst
sieht sich als erfolgreiche Politikerin und
nennt vor allem den wachsenden For-
schungsetat als schöne Frucht ihrer Ar-
beit. Während in Zeiten der Schulden-
bremse fast alle anderen Minister Federn
lassen müssen, wächst ihr Etat 2011 um
7,2 Prozent.
Dazu sagt der Berliner Politologe Her-
fried Münkler, ein Mann mit großen Er-
fahrungen im Bildungs- und Forschungs-
betrieb, es sei so sehr Konsens, dass
Deutschlands Zukunft von diesem Be-
reich abhänge, dass Schavan das Einren-
nen offener Türen als Erfolg verbuche. Er
hält nichts von ihrer Hochbegabtenförde-
rung, wenig von der Exzellenzinitiative
für Hochschulen, er wünscht seiner Bran-
che eine bessere Ministerin.
Das ist eine Stimme, es gibt freund-
lichere. Aber es würde wohl niemand sa-
gen, dass Annette Schavan es schafft, Auf-
merksamkeit auf ihr Themengebiet zu
lenken und große Debatten anzustoßen.
Mit Schavan bleibt die Forschungspolitik
im Ghetto der Forschenden. Das ist der
Preis der Langeweile.
Wenn jemand im kleinen Kreis interes-
sant ist, heißt das nicht, dass er im öffent-
lichen Raum der Politik Interesse wecken
kann. Das sind sehr verschiedene Dinge.
Und da keine Staatsform so sehr aufmerk-
same Bürger braucht wie die Demokra-
tie, kann Annette Schavan nicht das Mo-
dell für eine bessere Politik sein, zumal
sie sich bei ihren Inszenierungen selbst
widerlegt.
Im März kocht Annette Schavan in Ol-
denburg mit Kindern Grünkohl, weil sie
„Oldenburger Grünkohlkönigin“ ist. Die
Kinder reiben sich bald Tränen aus den
Augen, weil sie Zwiebeln schneiden müs-
sen, Schavan schöpft Grünkohl aus einem
großen Topf. Es ist eine dieser Shows, die
Politiker auf die Schnelle nach irgend-
etwas aussehen lassen sollen, hier: Volks-
verbundenheit mittels Kinderfreundlich-
keit, ein weiterer Gipfel ohne Berg, das
meiste ist längst vorgekocht.
Aber Kinder sind nicht misstrauisch,
sie glauben, was sie sehen, und so ent-
larvt Scharifa aus Oldenburg das trügeri-
sche Wesen von Inszenierungen auf eine
bezaubernde Weise. Als ein Lokalrepor-
ter die Kinder fragt, ob sie wüssten, was
die Frau Schavan beruflich mache, meldet
sich Scharifa ganz schnell und sagt: „Ko-
chen.“ MITARBEIT: JULIA HERRNBÖCK

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Deutschland

CHRISTOPH PUESCHNER / ZEITENSPIEGEL


Ehepaar Kleisch am Grab der Tochter: „Es war für uns wichtig, dass der Vater sich das alles anhören musste“

PROZESSE

Gefühlte Gerechtigkeit
15 Menschen hat Tim K. getötet, dann sich selbst. Vor Gericht steht sein Vater, der Besitzer
der Waffe. Die Verhandlung soll den Hinterbliebenen der Opfer Genugtuung bringen
und den Rechtsfrieden herstellen. Nun macht der Angeklagte nicht mehr mit. Von Beate Lakotta

A
uch an jenem Tag, als der Gerichts- digen und feinfetzigen Wundrändern, re- Nachbarschaft der Kleischs wohnte – die
mediziner von der Leichenschau ferierten über Hämatombildung, Schnapp- Kinder waren zusammen im Kindergarten
an Stefanie berichtete, saß Dieter atmung, Einblutungen und Überlebens- –, schaute nicht zurück. Nie hat er an all
Kleisch auf seinem Platz im Großen Saal zeiten. Natürlich übersetzten die Ange- den Verhandlungstagen zurückgeschaut.
des Stuttgarter Landgerichts. Er wollte wis- hörigen das im Kopf in Bilder, kein Es ist für die Kleischs kaum vorstellbar,
sen, wie seine Tochter starb. Und er wollte Mensch kann sich dagegen wehren. In den dass nicht auch Herr K. leidet in solchen
dem Mann, der ihm als Angeklagter in ei- Pausen lagen sie sich in den Armen. Momenten. Das Verstörende ist nur: Man
nigen Metern Entfernung gegenüber saß, Chantal, Ibrahim, Jacqueline – in den spürt nichts davon. Doris Kleisch hätte
in die Augen sehen: Jörg K., 51, dem Vater Akten der Rechtsmediziner sind sie alle ihn irgendwann am liebsten geschüttelt,
des Amokläufers von Winnenden. durchnummeriert, L1 bis L15, „L“ für „Lei- „damit man sieht, er empfindet über-
Dieter Kleisch ist ein großer, stattlicher che“. Stefanie Kleisch trägt die Nummer haupt etwas“.
Mann, er ist Meister bei Porsche, sein L6. Die Schülerin sei am Boden liegend Ein Video wurde im Gerichtssaal vor-
Kopf mit den kurzen braunen vorgefunden worden, mit 13 geführt, es zeigt, wie die Einsatzkräfte in
Locken ragt aus jeder Menge „Schussdefekten“. Eine rund- Vollschutzmontur am Tag des Amoklaufs
hervor. Am ersten Prozesstag liche Zusammenhangsdurch- das Haus der K.s umstellt haben. Es wirkt
schon fielen er und seine Frau trennung auf mittlerer Flan- wie Krieg. Dann ist Herr K. zu sehen,
Doris vor dem Gerichtsgebäu- kenhöhe, eine grobfetzige an wie er mit den Polizisten ins Haus geht,
de inmitten einer Gruppe von der Beugeseite des Unterarms, wie er im Schlafzimmerschrank routiniert
schwatzenden, Brote essen- eine Rückenmarksdurchtren- nach der Beretta tastet, so wie er es jeden
den, wartenden Menschen nung in Höhe des neunten Abend vor dem Zubettgehen tat. „Die
auf. Dieter und Doris Kleisch Brustwirbels. Der tödliche Waffe ist weg“, sagt er in geschäftsmäßi-
hielten sich an den Händen, Treffer ging in die Leber. gem Ton. Dann schaut er im Nachtkasten
sie sahen verloren aus, als hät- Während der Gutachter nach: „Die Munition ist auch weg.“
te ihre Trauer sie aus der Welt über Stefanie sprach, richtete „Wie hat Herr K. auf Sie gewirkt?“, will
geworfen. Dieter Kleisch seinen Blick der Vorsitzende Richter von dem Beam-
DAPD

Zwei Tage lang trugen die auf Herrn K. Aber Herr K., ten wissen, der dabei war. „Erstaunlich
Sachverständigen vor. Sie un- Amokschütze Tim K. der mit seiner Familie bis zur beherrscht. Wenn das mein Haus gewesen
terschieden zwischen glattran- Hass auf die Welt Tat seines Sohnes Tim in der wäre, ich wäre aufgeregter gewesen.“
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Deutschland

ging, sehr wohl erkennen und die Tat ver-


hindern können.
Das Gericht könnte Jörg K. also auch
wegen fahrlässiger Tötung verurteilen.
Von einer niedrigen Geldstrafe bis zu fünf
Jahren Gefängnis ist alles denkbar, zu-
mindest theoretisch.
Wie hoch auch immer die Strafe für
den Vater ausfällt – sie kann nicht im Ver-
hältnis zur Tat des Sohnes stehen. Kriti-
ker waren von Anfang an der Meinung,
es sei ein Stellvertreterprozess; man hätte
ihn nie führen dürfen. Und die Stuttgarter
Staatsanwaltschaft hätte die ganze Ge-
schichte ja auch am liebsten mit einem
Strafbefehl aus der Welt geschafft.
Aber für wen und wozu sind Strafpro-
zesse eigentlich da?
Da waren die empörten Angehörigen,

GOTTFRIED STOPPEL
die vielen Trauernden, die Verletzten, die
traumatisierten Kinder, der öffentliche
Friede zerstört – die Erschütterung hatte
im ganzen Land nachgehallt, wochen-
Tatort Albertville-Realschule in Winnenden 2009: Welche Schuld trägt der Vater? lang. Sogar der Bundespräsident war zur
Trauerfeier gekommen. Aus der Sicht des
Ein anderer Polizeibeamter berichtete Schlafzimmerschrank versteckt hatte, Generalstaatsanwalts führte deshalb kein
von den Schreien der Kinder in der Schu- zum Mörder wurde. Am 11. März 2009 Weg an einer öffentlichen Hauptverhand-
le, von der Panik, die ausbrach, ein wei- erschoss der 17-jährige Tim K. in der Al- lung vorbei. Auch das Stuttgarter Justiz-
terer davon, wie K.s Sohn sich selbst die bertville-Realschule in Winnenden 12 Kin- ministerium wollte es so.
Beretta an den Kopf setzte und abdrückte der und Lehrer, auf der Flucht vor der Normalerweise dreht sich der Krimi-
– nichts deutete darauf hin, was in Herrn Polizei tötete er noch 3 Menschen, 13 ver- nalprozess um den Täter – Schuld, Strafe,
K. vorging. letzte er, zum Teil schwer. Am Ende er- Resozialisierung. Dieser Prozess sollte
Für die Angehörigen der Opfer war schoss der Junge sich selbst. vor allem für die Opfer da sein, das war
diese Unbewegtheit schon schwer zu fas- Welche Schuld trägt der Vater? die Idee. Er sollte den Nebenklägern So-
sen gewesen. Jetzt aber hat das Verfahren Das Strafverfahren fragt nicht nach ei- lidarität demonstrieren und Genugtuung
für sie eine unvorstellbare Wendung ge- ner moralischen Schuld oder nach einer geben. Aber wie? Mit einem Jahr auf
nommen. Herr K. macht nicht mehr mit. existentiellen, die den Menschen trifft, Bewährung oder zwei?
Erst war der Prozess durch Morddro- weil er so ist, wie er ist. Vor Gericht steht „Angehört zu werden ist für meine
hungen gegen ihn ins Stocken geraten Jörg K. vorerst nur, weil er gegen das Mandanten der erste Schritt zur gefühlten
und drohte zu platzen; Jörg K. hatte sich Waffengesetz verstoßen hat. Er bestreitet Gerechtigkeit“, sagt Jens Rabe, der An-
unter dem psychischen Druck für zwei das nicht, dafür hätte man keinen langen walt der Kleischs. Er gehört zu denjeni-
Verhandlungstage krankgemeldet. Dann Prozess gebraucht. gen, die hinter den Kulissen am härtesten
richteten seine Anwälte aus, er habe be- Aber ist er auch verantwortlich für den um dieses Verfahren gekämpft haben.
schlossen, gar nicht mehr kommen zu Tod von 15 Menschen und den des eige- Warum soll man einen Prozess nicht als
wollen. Der Vorsitzende Richter Reiner nen Sohnes? Nein, hatte die 3. Große öffentliches Forum benutzen, um Opfern
Skujat entschied, von Herrn K. sei ohne- Jugendkammer im Zwischenverfahren und Hinterbliebenen so viel wie möglich
hin keine Aufklärung mehr zu erwarten, befunden, denn es könne nicht ausge- von dem zu geben, was sie brauchen, um
und stellte ihn frei. schlossen werden, dass Tim sich auch auf wieder ins Leben zurückzukehren – so-
So wird von der kommenden Woche anderem Weg aus dem Waffentresor sei- lange es ein faires Verfahren gibt und kein
an die Verhandlung vor der 18. Großen nes Vaters hätte bedienen können. Ja, populistisches Urteil?
Strafkammer ohne den Angeklagten statt- sagt die Staatsanwaltschaft: Der Vater Die Kammer hat diesen Balanceakt in
finden. Für die Beweisaufnahme und das habe die Tat ermöglicht, indem er die den ersten Wochen versucht. Es hat dabei
Urteil scheint dieser Umstand unerheb- Waffe vorschriftswidrig verwahrte; er hät- heikle Momente gegeben, in denen die
lich. Für den tieferen Sinn des Verfahrens te die Gefahr, die von seinem Sohn aus- Verhandlung beinahe zur Trauerfeier ge-
ist er bedeutend. Die Nebenkläger sind riet. Ein Ermittler trug als Zeuge zu jedem
frustriert: „Es war für uns wichtig, dass Todesopfer eine Art Nachruf vor: Ein
der Vater hier sitzen und sich das alles Mädchen schrieb gern Gedichte, eines ge-
anhören musste“, sagt Doris Kleisch. hörte der Tanzgarde an, ein anderes woll-
DANIEL MAURER / PICTURE ALLIANCE / DPA

„Das war auch eine Art Strafe, und die te später mit Behinderten arbeiten. Es
erspart er sich jetzt.“ war eine Verneigung vor den Opfern. Ein
Vater flüchtete, von Gefühlen überwäl-

D er Unternehmer Jörg K. ist Waffen-


narr und Sportschütze von Jugend
an. Er gab seine Leidenschaft an den
tigt, aus dem Saal.
Mit der Schuld von Herrn K. hat das
nichts zu tun. Man kann deshalb die An-
Sohn weiter; einen Sohn, den er nicht gut sicht vertreten, all das gehöre nicht in ein
genug kannte. Der einen Hass auf die Strafverfahren hinein. Man kann ebenso
Welt entwickelte und der am Ende mit gut sagen: Recht lebt. Das Verfahren ge-
der Waffe, die sein Vater aus Angst vor Vorsitzender Richter Skujat (M.), Beisitzer gen Jörg K. zeigt, wie sich die Vorstellung
Einbrechern unter den Pullovern im Balanceakt mit heiklen Momenten davon wandelt, was zum Kern des Straf-
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Deutschland

dass er niemals auf Verzeihung hoffen


könne. Aber auch sein Leben sei aus den
Fugen, Morddrohungen, Suizidgedanken,
die Sorge um die Tochter, ein Leben unter
falschem Namen an wechselnden Orten.
Die Trauer um den eigenen Sohn. Dann
baten sie, man möge in K.s Fall von Strafe
absehen, er sei schon gestraft genug.
Da war ein ungläubiges Raunen durch
den Saal gegangen. Am folgenden Ver-
handlungstag war in der hintersten Sitz-
reihe für die Nebenkläger eine junge Frau
aufgestanden, die ihre kleine Schwester
bei dem Amoklauf verloren hat. Sie rich-
tete das Wort direkt an Herrn K. und sag-
te, was alle empfanden: „Sie, Herr K.,
werden als Opfer hingestellt und nicht als
Täter.“ Das sei ein Schlag ins Gesicht der
Angehörigen. „Sie schwelgen doch lieber

DAPD / DFD-IMAGES.COM
in Selbstmitleid.“
Die junge Frau erklärte aber auch: „Ich
habe nie gesagt, dass ich Ihnen nicht ver-
zeihen kann. Wenn Sie nur ein einziges
Mal eine ehrliche und persönliche Ent-
Trauernde beim Gedenkgottesdienst in Winnenden 2009: Erschütterung im ganzen Land schuldigung hervorgebracht hätten, hätte
ich Ihnen das vielleicht geglaubt.“
prozesses gehören soll und was er leisten konnte es passieren, dass du nichts ge- Die K.s hatten sich zwar mit Briefen
kann: Schuld und Strafe feststellen, aber merkt hast von dem, was in ihm vorging? an die Opfer gewandt, aber die Versuche
eben auch unter den Augen der Öffent- Sie wollten, dass Jörg K. zu seinem Teil waren glücklos geblieben. Zu persön-
lichkeit die Wahrheit hinter einer mon- der Verantwortung steht. Sie wollten eine lichen Begegnungen fehlte ihnen wohl
strösen Tat ermitteln; das Geschehene Entschuldigung. die Kraft.
aufarbeiten; Rechtsfrieden schaffen. Jörg K. hatte den Saal erst betreten, als Das Tragische ist: All das, worauf die
Diese Idee ist hier vorerst gescheitert, alle Kameras weg waren. Ein unauffälli- Angehörigen warten, hat Jörg K. schon
jedenfalls soweit sie den Part von Herrn ger, eher kleiner, untersetzter Mann mit einmal ausgesprochen. Die Staatsanwältin
K. betrifft. kurzem rötlichgrauem Haar und kurzem hat es gehört, es steht im Protokoll von
Die Anwälte Hans Steffan und Hubert Vollbart. Auch er trug Schwarz, auch er K.s Beschuldigtenvernehmung, knapp
Gorka verteidigen Tims Vater. Sie halten hat ein Kind verloren. Mit raschen Schrit- zwei Wochen nach der Tat. Es war um sei-
wenig vom Bild einer heilenden Gerichts- ten ging er zu seinem Platz. Er schaute ne Waffen gegangen, die Ballerspiele auf
welt: „Der Strafprozess ist keine Thera- niemanden an außer seine Verteidiger. Er dem Computer seines Sohnes, den Tages-
piesitzung“, sagt Steffan. „Man darf sich verschwand hinter ihnen. Seinen Namen ablauf der Familie. Und darum, wie nor-
nicht wundern, wenn jetzt die Interessen sagte er so leise, dass man seine Stimme mal vieles in dieser Familie war und dass
aufeinanderprallen und der Angeklagte kaum hörte. Jörg K. sich nicht erklären konnte, warum
seine Rechte wahrnimmt.“ Auch Jens Rabe hatte Herrn K. noch sein Sohn diese Tat begangen hatte.
nie gesehen. In diesem Moment fragte er Am Ende der Vernehmung hält das

I n Wahrheit war dieses Aufeinander- sich, ob es richtig war, diesen Mann vor
prallen schon am ersten Tag zu besich- Gericht zu zerren.
tigen. Jörg K. war, wegen der Drohungen, Aber dann hatte Jörg K. auf die Frage
Protokoll fest: „Herr K. bricht in Tränen
aus.“ Er sagt, dass es ihm furchtbar leid
tue, was sein Sohn getan habe. Für ihn
die es gegen ihn gab, seit der Tat von der des Richters, ob er sich äußern wolle, nur komme die Schuld hinzu, dass es seine
Polizei abgeschirmt worden. Er war ein ein einziges Wort gesagt: „Nein.“ Waffe war, die Tim verwendet hat. Dass
Phantom geblieben. Ein Hauch von Sen- Die Enttäuschung über sein Schweigen seine Frau und er sich bei allen entschul-
sation lag in der Luft: Wie sieht einer aus, hatte noch im Raum gehangen wie ein digen wollten, aber nicht wüssten, wie.
der so ein Kind hervorgebracht hat? Wie bleiernes Tuch, da ergriffen K.s Verteidi- Herr K. könnte diesen Bann noch im-
redet er, wie tritt er auf? ger das Wort. Sie sprachen von dem Mit- mer brechen, jetzt, wo alle versammelt
Die Familien der Opfer prägten das gefühl, das Herr K. empfinde. Er wisse, sind. Warum tut er es nicht?
Bild des Saals. Normalerweise schafft „Das Strafverfahren selbst behindert so
die Sitzanordnung in Gerichtssälen Di- etwas“, sagt sein Anwalt Hans Steffan.
stanz zwischen den Parteien; in Stuttgart „Wenn ich der Meinung bin, dass Herr K.
wurde jeder Quadratmeter vor der Rich- keine fahrlässige Tötung begangen hat,
terbank des Großen Saals mit zusätzli- kann ich ihm nicht raten, sich dafür zu
chen Tischreihen gefüllt, damit alle 43 entschuldigen.“
Nebenkläger und ihre 19 Anwälte Platz Steffan und sein Kollege Gorka haben
fanden. Herrn K. geraten zu schweigen. Wer sich
Die meisten Hinterbliebenen waren in entschuldigt, zeigt Schuldbewusstsein.
Trauerkleidung gekommen. Seit andert- Von da bis zur Schadensersatzklage ist
halb Jahren hatten sie auf diese Konfron- es nicht mehr weit, das weiß Steffan. Da
JÖRG EBERL

tation mit Jörg K. gewartet. Sie wollten sind die Schmerzensgelder und Unter-
Antworten auf ihre Fragen, damit sie ab- haltsansprüche für Witwen, Waisen, Ver-
schließen können mit der Tat: Warum hat Nebenkläger-Anwalt Rabe letzte, Dienstunfähige. Das Versorgungs-
dein Sohn mein Kind erschossen? Wie Wozu und für wen ist der Prozess da? amt, die Unfallkasse, die Stadt Winnen-
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Deutschland

Die K.s bestreiten das. Aus dem Ab-


schlussgespräch, so erinnerte es Jörg K.
bei seiner Vernehmung, hätten sie den
Eindruck mitgenommen, dass „nichts
Gravierendes“ sei mit ihrem Sohn. Ein
Arzt habe gesagt, er solle den Jungen
mehr unter Leute bringen. Da nahm ihn
Jörg K. mit zum Schießen in den Schüt-
zenverein.
Die fatale Waffenbrüderschaft zwischen
Vater und Sohn ist bislang das einzig Greif-
bare bei der Suche nach der Wahrheit. Es
war eine waffenstarrende Festung, in der
Tim aufwuchs. Einen ganzen Tag lang be-
richtete ein Ermittler von Jörg K.s Arse-
nalen: Gewehre, Pistolen, über 5000
Schuss Munition, manches davon in Kar-
tons und Schubladen, eine Kalaschnikow-
Imitation als Wandschmuck in der Diele,

TORSTEN SILZ / DAPD


die Tresore, die Alarmanlage.
Einmal geben die Eltern ihrem Sohn
2000 Euro, er soll das Geld in seinem Safe
verwahren, denn in den anderen Treso-
Haus der Familie K., Polizeibeamte 2009: Eine waffenstarrende Festung ren liegen Waffen, die die Mutter so ver-
abscheut. Einmal geht nachts die Alarm-
den, alle könnten Geld fordern. Allein Schuld? Warum verweigert auch sie die anlage los, der Vater streift im Pyjama
bei den Anwaltshonoraren dürfte eine Aussage? Was war das für ein Familien- mit der geladenen Pistole aus dem Schlaf-
halbe Million Euro zusammenkommen. leben? zimmerschrank durchs Haus. Da steht die
K.s Verteidiger bestreiten die Verwert- Jahrelang fuhr der Vater den Sohn bei- Mutter Todesängste aus. Nie wieder will
barkeit von Aussagen, in denen Jörg K. spielsweise zum Tischtennisspielen, zu- sie die Waffe im Schlafzimmer haben.
sich – noch als Zeuge – belastet hat, ohne letzt kutschierte er ihn alle zwei Wochen Aber sie ist es, die ihrem Sohn Horror-
zu ahnen, dass man ihn später belangen zum Arm-Wrestling ins 70 Kilometer ent- filme für Erwachsene schenkt und Killer-
würde. Sie erreichen, dass manche Zeu- fernte Ispringen. Eigentlich viel Zeit für spiele, das letzte zu Weihnachten.
gen aus diesem Grund nicht gehört wer- eine Beziehung zwischen Vater und Sohn. Tim wiederum will dem Vater zum
den dürfen. Sie hinterfragen Ermittlungs- Wie denn sein Verhältnis zu Tim gewesen 50. Geburtstag Munition schenken. Da er
ergebnisse: Lässt sich nachweisen, dass sei, wird der Vater in einer Vernehmung noch keine 18 ist, gehen sie gemeinsam
die tödliche Munition wirklich von Herrn gefragt: „Gut. Wenn ich ihn etwas gefragt in einen Waffenladen. Dort nimmt der
K. stammte, etwa durch DNA-Spuren? habe, hat er geantwortet.“ Vater 1 000 Schuss entgegen, der Sohn be-
Nein. Welche zweifelsfreien Beweise gibt Die Angehörigen hatten sich vom Pro- zahlt die Rechnung.
es dafür, dass die Waffe überhaupt im zess eine Antwort auf die Frage nach dem Einen Teil dieser Munition wird Tim
Schrank lag? Keine. Warum erhofft; sie haben sie noch nicht K. später in der Schule verschießen.
Würde Herr K. wegen fahrlässiger Tö- gefunden. Vielleicht werden sie von den Erschöpft und blass hatten die Kleischs
tung verurteilt, wäre seine bürgerliche Zeugen, die in den nächsten Wochen zu nach dem Vortrag über den Waffenkult
Existenz perdu – oder vielleicht müsste Wort kommen werden, mehr erfahren: im Hause K. das Landgericht verlassen.
man sagen: der materielle Rest davon. den Schulfreunden, Lehrern, der Thera- Sie blinzelten benommen in die Herbst-
Bei einem Verstoß gegen das Waffenge- peutin. Fünfmal sind die K.s mit ihrem sonne, sie wollten noch zum Friedhof,
setz wäre das nicht ganz so klar. Dann pubertierenden Sohn zu therapeutischen zur Tochter. Dieter Kleisch ließ Jörg K.s
würden die Opfer möglicherweise leer Gesprächen in die Jugendpsychiatrie ge- Schweigen noch immer keine Ruhe: „War-
ausgehen. Für das Urteil ist es nicht maß- fahren. Er selbst hielt sich für manisch- um entzieht er sich? Warum sagt er
geblich, ob sich Herr K. entschuldigt. „Ein depressiv, jedenfalls zeitweise. Für die El- nichts? Er hat doch nichts mehr zu ver-
Urteil“, sagt Steffan, „können Sie nur auf tern standen die Schulprobleme im Mit- lieren?“
nachweisbare Fakten gründen.“ telpunkt. Und zu gewinnen?
Steffan weiß, dass die Strategie, die Die Therapeutin hat den Ermittlern er- „Sich selber“, sagte Doris Kleisch. „Er
Gorka und er eingeschlagen haben, auf klärt, sie habe die Eltern auf Gewalt- muss doch irgendwie unter uns weiterle-
die Nebenkläger zynisch wirkt. Aber sie phantasien ihres Sohnes angesprochen. ben.“
sehen dazu keine Alternative. In diesem Augenblick passierte eine
Polizeilimousine das Paar. Für einen kur-

E gal, welches Urteil das Gericht fällt,


sie werden es akzeptieren, sagen die
Kleischs. Aber nach dem Prozess, fürch-
zen Augenblick schien es, als sei im ab-
gedunkelten Fond die Silhouette einer
kleinen, kräftigen Person zu erkennen.
tet Doris Kleisch, könnte sie in ein Loch „Da sitzt er drin, sie fahren ihn nach Hau-
fallen. „Es ist das Letzte, was ich noch se“, sagte Dieter Kleisch fassungslos.
für unsere Tochter tun kann.“ Dann schauten die beiden dem Auto hin-
Und dann? „Dann muss ich es wegpa- terher, bis es um die Ecke verschwand.
cken, auch wenn Fragen offenbleiben.“ Die Strafprozessordnung schreibt nicht
REUTERS

Seit Tim K. ihre Tochter erschoss, vergeht vor, dass ein Angeklagter zur Urteilsver-
kaum ein Tag, an dem sie nicht über die kündung erscheinen muss. Es ist gut mög-
Familie K. grübelt. Was ist mit der Mut- Tatwaffe Beretta 9mm lich, dass die Kleischs Herrn K. nie wieder
ter? Trifft nicht auch sie ein Teil der 1000 Schuss Munition zum Geburtstag zu Gesicht bekommen werden. 
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SPI EGEL-GESPRÄCH

„Wir müssen
selbstbewusster
werden“
Familienministerin Kristina Schröder, 33,
über die Schattenseiten des Feminismus,
benachteiligte Jungs und warum Frauen keine
Weicheier als Partner wollen

LAURENCE CHAPERON
Politikerin Schröder

SPIEGEL: Frau Schröder, wir haben mal ei- SPIEGEL: Haben Sie schon als Schülerin schlechtsverkehr kaum möglich sei ohne
nen Blick in Ihre Abiturzeitung geworfen. Miniröcke und Pumps getragen? die Unterwerfung der Frau. Da kann ich
Schröder: O Gott, jetzt kommt’s … Schröder: Das ist nicht mein Stil, aber ich nur sagen: Sorry, das ist falsch.
SPIEGEL: Darin findet sich der Satz, dass habe mich in der Tat schon immer gern SPIEGEL: Warum?
Sie niemals Feministin werden möchten. feminin gekleidet. Schröder: Es ist absurd, wenn etwas, das
Was fanden Sie denn so schlimm an de- SPIEGEL: Und Sie hatten nie die Sorge, sich für die Menschheit und deren Fortbestand
nen? damit der Kleiderordnung des Patriar- grundlegend ist, per se als Unterwerfung
Schröder: Gar nichts, aber ich stimme ei- chats zu unterwerfen? definiert wird. Das würde bedeuten, dass
ner Kernaussage der meisten Feministin- Schröder: Ehrlich gesagt: Nein! die Gesellschaft ohne die Unterwerfung
nen nicht zu, nämlich der von Simone de SPIEGEL: Wie finden Sie Alice Schwarzer? der Frau nicht fortbestehen könnte.
Beauvoir: „Man wird nicht als Frau ge- Schröder: Ich habe viel von ihr gelesen – SPIEGEL: Dachten Sie, Feministinnen wür-
boren, man wird es.“ Dass das Geschlecht „Der kleine Unterschied“, später dann den Beziehungen zwischen Männern und
nichts mit Biologie zu tun hat, sondern „Der große Unterschied“ und „Die Ant- Frauen grundsätzlich ablehnen?
nur von der Umwelt geschaffen wird – wort“. Diese Bücher fand ich alle sehr Schröder: Es gab in der Tat eine radikale
das hat mich schon als Schülerin nicht pointiert und lesenswert. Etliche Thesen Strömung, die in diese Richtung argu-
überzeugt. gingen mir dann aber doch zu weit: zum mentiert hat und die die Lösung darin
SPIEGEL: Gab es an Ihrer Schule denn rich- Beispiel, dass der heterosexuelle Ge- sah, lesbisch zu sein. Dass Homosexuali-
tige Feministinnen? tät jetzt aber die Lösung der Benachtei-
Schröder: Natürlich. Meine beste Freundin ligung der Frau sein soll, fand ich nicht
zum Beispiel findet die besagte These wirklich überzeugend.
noch immer richtig, sie unterrichtet fe- SPIEGEL: Was glauben Sie: Hat der Femi-
ministische Theorie an der Uni und wählt nismus die Frauen unterm Strich glückli-
ja auch bis heute Grüne. Aber das ändert cher gemacht?
natürlich nichts daran, dass sie meine bes- Schröder: Gute Frage. Ich glaube, dass zu-
te Freundin ist und bleibt. mindest der frühe Feminismus teilweise
SPIEGEL: Gab es weitere Unterschiede, übersehen hat, dass Partnerschaft und
etwa in Kleidungsfragen? Kinder Glück spenden. Es ist nicht der
Schröder: Ich wollte meine Unabhängig- einzige Weg, aber es ist doch für sehr vie-
keit nie dadurch zum Ausdruck bringen, le Menschen der wichtigste.
dass ich mich besonders maskulin kleide SPIEGEL: Gibt es inzwischen so etwas wie
oder besonders burschikos auftrete. Für einen konservativen Feminismus?
mich ist Gleichberechtigung erst dann er- Schröder: Mit solchen künstlichen Wort-
reicht, wenn man sich als Frau auch hülsen kann ich nicht viel anfangen. Für
AFP

schminken und Röcke tragen kann, ohne mich bedeutet Konservatismus, die Rea-
dass deshalb an der Kompetenz gezwei- Feministin de Beauvoir, Freund Sartre 1960 lität zu akzeptieren. Die Linken wollen
felt wird. „Das hat mich nicht überzeugt“ die Menschen umerziehen. Wir erkennen
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Deutschland

an, dass es Unterschiede gibt, auch zwi-


schen Mann und Frau.
SPIEGEL: Eine Ihrer ersten Amtshandlun-
gen war ja, ein Referat für die Opfer des
Feminismus einzurichten.
Schröder: Tut mir leid, aber ein Referat
mit solch einem Namen gibt es im Bun-
desfamilienministerium nicht.
SPIEGEL: Ein Referat für Jungs. Wer hat
Sie auf diese komische Idee gebracht?
Schröder: Was ist daran komisch? Ich fand
schon immer, dass wir das Thema Jun-
gen- und Männerpolitik sträflich vernach-
lässigen. Es ist doch so: Früher hatte das
katholische Arbeitermädchen vom Land
die größten Probleme in der Schule. Heu-
te sind es die Jungs aus bildungsfernen
Schichten.
SPIEGEL: Wie würden Sie uns Jungs denn
gern helfen?
Schröder: Ich will zum Beispiel dafür sor-
gen, dass es mehr männliche Erzieher in
Kitas und Grundschulen gibt. Jungs, die
bei alleinerziehenden Müttern aufwach-
sen, bekommen oft, bis sie zwölf Jahre
alt sind, weder in der Kita noch in der
Grundschule einen Mann zu Gesicht.
SPIEGEL: Ist das denn so schädlich?
Schröder: Ja. Wenn man davon ausgeht,
dass Männer und Frauen unterschiedlich
sind, dann liegt es sehr nahe zu sagen:
Die Kinder profitieren davon, wenn sie
beide Geschlechter erleben. Eine allein-
erziehende Freundin etwa erzählt mir im-
mer wieder, dass ihre kleine Tochter ganz
viel Zeit mit Bekannten, Onkel oder Brü-
dern verbringen will. Ihr fehlt einfach
eine Vaterfigur im Alltag.
SPIEGEL: Wie könnte man uns sonst noch
helfen?
Schröder: Wir müssen auch die pädagogi-
schen Inhalte in Kitas und Schulen dar-
aufhin prüfen, ob sie die Bedürfnisse von
Jungs angemessen berücksichtigen. Mal
überspitzt ausgedrückt: Schreiben wir
genug Diktate mit Fußballgeschichten?
Dafür interessieren sich auch die Jungs.
Oder geht es immer nur um Schmetter-
linge und Ponys?
SPIEGEL: Offenbar geht es oft um Schmet-
terlinge.
Schröder: Fest steht: Jungs sind schlechter
in der Schule als Mädchen, sie gehen häu-
figer auf die Hauptschule, sie bleiben
häufiger sitzen. Und keiner kann mir er-
zählen, dass Jungs dümmer sind als Mäd-
chen.
SPIEGEL: Das ist ja nett von Ihnen.
Schröder: So bin ich eben.
SPIEGEL: Wir hatten, offen gesagt, den Ein-
druck, dass wir Männer bislang ganz gut
ohne Ihre Hilfe klarkamen: Von den 185
Dax-Vorständen in Deutschland sind im-
merhin 181 männlich.
Schröder: Ich fände es aber ganz mies, den
Jungs zu sagen: Weil die Männer die ver-
gangenen Jahrtausende unbestritten die
Vorherrschaft besaßen, werdet ihr jetzt
in der Schule nicht vernünftig gefördert.
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Deutschland

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES (L.); WOLFGANG VON BRAUCHITSCH (R.)


Väter auf Spielplatz, Führungsriege der Commerzbank: „Für Männer sind die unterschiedlichen Rollenerwartungen das Problem“

Einen Feminismus, der die Jungs bewusst nistik und Geisteswissenschaften, Männer wenn durchschnittliche Frauen in Füh-
vernachlässigt, halte ich für unmoralisch. dagegen Elektrotechnik – und das hat rungspositionen sitzen?
SPIEGEL: Aber Sie sind doch Frauen- und dann eben auch Konsequenzen beim Ge- Schröder: Das ist ein guter Punkt. Es ist ja
nicht Männerministerin, für Frauen- halt. Wir können den Unternehmen nicht schon so, dass Frauen im Job oft sehr viel
förderung sind Sie nun mal zuständig. verbieten, Elektrotechniker besser zu be- besser sein müssen als Männer, um den
Warum haben Sie nicht längst eine Quote zahlen als Germanisten. Wunschposten zu bekommen.
für Frauen in Führungspositionen ver- SPIEGEL: Die Frauen sind also selbst SPIEGEL: Studien zeigen, dass Frauen kein
langt? schuld, wenn sie weniger verdienen? übersteigertes Interesse haben, ihr Leben
Schröder: Weil eine Quote immer auch Schröder: Zumindest müssen sie sich dar- der Karriere unterzuordnen. Sie selbst
Kapitulation der Politik ist. Für mich be- über bewusst sein, dass mit bestimmten sind früh Ministerin geworden. Wie emp-
deutet Wirtschaft in erster Linie freies Berufswünschen gewisse Einkommens- finden Sie es: Macht Karriere glücklich?
Handeln ohne staatliche Vorschriften. perspektiven verbunden sind. Schröder: Nicht allein. Ein erfolgreiches
Deswegen ist für mich eine Quote nur SPIEGEL: Es gibt gar keine echte Benach- Berufsleben und Spaß an der Arbeit tra-
Ultima Ratio. Ich bin mir sogar sicher, teiligung der Frauen bei der Bezahlung? gen sicher dazu bei, aber ohne ein erfüll-
dass wir keine Quote brauchen – erst Schröder: Natürlich, in mehrfacher Hin- tes Privatleben könnte ich nicht glücklich
recht nicht in Zeiten von steigendem sicht sogar. Erstens wird Frauen oft noch sein.
Fachkräftemangel. Die Unternehmen set- jahrelang nachgetragen, wenn sie für die SPIEGEL: In Ihrer Abi-Zeitung stand auch,
zen schon heute Headhunter darauf an, Familie eine berufliche Auszeit genom- Sie hätten gern Familie und Kinder. Jetzt
gezielt Frauen für die Top-Positionen zu men haben. Zweitens bekommen Frauen, sind Sie 33, sind Ministerin, aber haben
suchen. die Teilzeit arbeiten, dafür im Schnitt keine Kinder. War es das wert?
SPIEGEL: Letztlich ist Ihnen die Freiheit rund 6,5 Prozent weniger Lohn als Män- Schröder: Sie glauben doch wohl nicht im
der Wirtschaft wichtiger als das Ziel, ner. Hinzu kommt, dass viele Frauen Ernst, dass ich darauf antworte.
mehr Frauen in Führungspositionen zu auch einfach schlecht verhandeln. Viele SPIEGEL: Sie sind doch Familienministe-
bringen? sind froh, wenn ihnen der Wiedereinstieg rin.
Schröder: Sie müssen sich auch einmal fra- ins Berufsleben gelingt – Hauptsache, der Schröder: Fragen Sie auch den Gesund-
gen, welche Frauen von einer Quote pro- Job ist einigermaßen kompatibel mit der heitsminister, wann er bei seiner Vorsor-
fitieren würden: wahrscheinlich jene, die Familie. Genau das ist falsch! Wir Frauen geuntersuchung war?
keinerlei familiäre Verpflichtungen ha- glauben oft, wir müssten uns damit be- SPIEGEL: Damit hätten wir kein Problem.
ben. Aber wollen wir nicht genau den liebt machen, dass wir bescheiden sind. Schröder: Das glaube ich sofort.
Frauen mit Familie helfen? Deswegen Die Personalchefs denken aber: Wer sich SPIEGEL: Kann ein Minister Elternzeit neh-
müsste man, wenn überhaupt, theoretisch so günstig hergibt, kann auch nicht be- men?
eine Mütterquote einführen, was prak- sonders gut sein. In dem Punkt müssen Schröder: Solch einen Fall gab es bisher
tisch aber unmöglich ist. Frauen sehr, sehr viel selbstbewusster und noch nicht. Ein Abgeordneter kann es je-
SPIEGEL: Wenn Sie schon keine Quote wol- tougher werden. denfalls nicht, aus verfassungsrechtlichen
len, könnten Sie den Frauen ja wenigstens SPIEGEL: Als Ministerin hatten Sie beim Gründen. Er ist ja direkt vom Volk ge-
dadurch helfen, dass Sie Lohnunterschie- Gehalt ja einen Vorteil. Das ist festge- wählt.
de bei gleicher Leistung verbieten, den schrieben. SPIEGEL: Ihr Mann ist Parlamentarischer
sogenannten Gender Pay Gap. Schröder: Das stimmt. Ich bin froh, dass Staatssekretär im Innenministerium. Wer
Schröder: Das ist schon längst durch das ich darüber nicht verhandeln musste. müsste denn zu Hause bleiben, sollten
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ver- SPIEGEL: Teilen Sie die Meinung Ihrer Vor- Sie Kinder bekommen?
boten. Aber die Wahrheit sieht doch so gängerin Ursula von der Leyen, dass die Schröder: Das entscheiden wir gemein-
aus: Viele Frauen studieren gern Germa- Gleichberechtigung erst dann erreicht ist, sam, wenn es so weit sein sollte.
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vielleicht ist er auch der Ineffizienteste.
Oft sind gerade Mitarbeiter, die familiäre
Verantwortung haben, auch am Arbeits-
platz besonders produktiv.
SPIEGEL: Gibt es eigentlich Stutenbissigkeit
in der Politik?
Schröder: In der Politik geht es manchmal
nicht zimperlich zu. Wenn zwei Frauen
dabei aneinandergeraten, heißt es immer
Stutenbissigkeit. Wenn es zwei Männer
sind, spricht niemand von Hengstbissig-
keit. Die schärfen dann ihr Profil.
SPIEGEL: Also ist diese Bissigkeit unter
Frauen nicht stärker ausgeprägt?
Schröder: Nein. Ich muss mir nur angu-

MARCO URBAN
cken, welch starkes Konkurrenzdenken
Männer oft haben und wie sehr sie sich
in Meetings manchmal aufregen, wenn
Wahlplakat für Helmut Kohl 1998: „Ich fand das Poster lustig“ der Kollege was Kluges gesagt hat. Ich
wage sogar die These: Säßen in der Ar-
SPIEGEL: Sie haben zu Beginn des Jahres Schröder: Ich koche auch sehr gern. Neu- beitswelt nur Frauen in den Konferenz-
geheiratet. Warum haben Sie eigentlich lich habe ich Kalbsbäckchen gemacht. räumen, kämen die Runden viel schneller
Ihren Familiennamen aufgegeben und Das ist echt aufwendig, die muss man zu Entscheidungen.
den Ihres Mannes angenommen? zweieinhalb Stunden in Rotwein schmo- SPIEGEL: Die meisten Frauen Ihrer Gene-
Schröder: Das habe ich, lange bevor ich ren lassen. ration hatten Poster von New Kids on the
Ministerin wurde, entschieden. SPIEGEL: Haben Sie eigentlich Verständnis Block und Take That an den Wänden
SPIEGEL: Es gibt ja Frauen, die sagen, es für Männer, die sich heutzutage verunsi- hängen. Bei Ihnen war es Helmut Kohl.
sei ein Zeichen von Emanzipation, in der chert fühlen? Einerseits sollen sie liebe- Fanden Sie den sexy?
Ehe den eigenen Namen zu behalten. volle und treusorgende Familienväter Schröder: Das mit dem Kohl-Poster ist
Schröder: Das muss jeder selbst wissen. sein, andererseits mögen Frauen auch kei- wirklich ein hartnäckiges Gerücht. Ich
SPIEGEL: Ist es nicht selbstverständlich, ne Weicheier. hatte im Wahlkampf 1998 dieses JU-Pos-
dass Familienministerinnen auch über ihr Schröder: Es ist schon schwieriger gewor- ter mit dem Titel „Keep Kohl“ bei mir
Familienleben Auskunft geben? den für die Männer. Aber für uns Frauen hängen, darauf war ein Elefant im Wolf-
Schröder: Ich finde das nicht selbstver- doch auch. Für die Männer sind die un- gangsee zu sehen, Helmut Kohl war auf
ständlich, aber Sie haben recht: Bei der terschiedlichen Rollenerwartungen das dem Poster nicht mal abgebildet. Ich fand
Familienpolitik geht es tatsächlich immer Problem, wir Frauen leiden oft unter un- das Poster lustig.
auch sehr stark um das Private. Trotzdem serem Perfektionismus. Frauen wollen SPIEGEL: Trotzdem fanden Sie Kohl schon
haben mein Mann und ich entschieden, sowohl die Supermutter sein als auch die als Mädchen klasse. Wieso nur?
dass wir unser Privatleben nicht öffentlich Superpartnerin als auch top im Job. Das Schröder: Seine Rolle bei der Wiederver-
thematisieren wollen. Außerdem will ich stresst. einigung hat mich fasziniert. Wie er diese
ja davon weg, als Ministerin ein bestimm- SPIEGEL: An welchem Vorbild sollten wir Chance mutig ergriffen hat, das war ein-
tes Rollenbild vorzugeben. Ich möchte Männer uns denn orientieren? malig. Ein sensationeller Staatsmann!
niemandem etwas vorleben. Schröder: Für mich wäre der Mann ein SPIEGEL: Das war Ihnen als Zwölfjähriger
SPIEGEL: Ihre Vorgängerin Ursula von der Vorbild, der eine Führungsposition inne- schon so bewusst?
Leyen hatte damit keine Probleme. hat und dabei den Mut besitzt zu sagen: Schröder: Ich weiß nicht, ob ich es damals
Schröder: Das stimmt nicht, auch sie hat Wir halten das Meeting um 16 statt um so formuliert hätte, und wenn ich mir
sehr bewusst ihre Grenze gesetzt. 19 Uhr ab, ich möchte nämlich gern mei- heute Zwölfjährige angucke, dann denke
SPIEGEL: Wo sind für Sie persönlich die nen Sohn ins Bett bringen. Ich garantiere ich auch: Was war denn da mit mir
Grenzen der Gleichberechtigung? Hatten Ihnen: Alle Frauen im Unternehmen wer- los? Aber der Mauerfall hat ja nicht nur
Sie je Probleme, sich von Männern zum den diesen Mann lieben! Wir müssen uns mich fasziniert, das war ein bewegen-
Essen einladen zu lassen? endlich von dieser typisch deutschen Prä- der Moment deutscher Geschichte. Ich
Schröder: Nein. Ich empfinde das als nette senzkultur verabschieden, schließlich ist habe damals politische Sendungen im
Geste, genauso, wenn mir die Tür aufge- nicht unbedingt der der Beste, der am Fernsehen auf VHS-Kassetten aufge-
halten wird. Trotzdem ist es heute weni- längsten hinter dem Schreibtisch sitzt – nommen, weil ich dachte: Das ist span-
ger dogmatisch als früher, gerade deshalb nend, das muss ich für die Nachwelt auf-
kann man ja diese Dinge wieder unver- heben.
krampft nett finden. Das ist sicher ein SPIEGEL: Sie waren ein richtiger Freak.
Privileg meiner Generation. Schröder: Ich war eben absolut begeistert,
SPIEGEL: Wer kocht bei Ihnen zu Hause? wie Zwölfjährige dann eben so sind. Ich
Schröder: Wenn ich Ihnen jetzt sage, ich habe zum Beispiel die Namen der Kabi-
koche immer, dann würde das als Rollen- nettsmitglieder auswendig gelernt.
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

modell interpretiert. Wenn ich sage, mein SPIEGEL: Zum Schluss bitte noch eine ehr-
Mann kocht immer, würden Sie sagen: So liche Antwort: Hätte es eine Karriere wie
ist das also bei Familienministers. Ihre ohne den Feminismus in Deutsch-
SPIEGEL: Also, wer kocht nun? Von Ihnen land gegeben?
weiß man ja immerhin, dass Sie leiden- Schröder: Nein. Das wäre in der Zeit vor
schaftlich backen. dem Feminismus nicht möglich gewesen.
Schröder, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Frau Schröder, wir danken Ihnen
* René Pfister und Markus Feldenkirchen in Berlin. „Jungs sind nicht dümmer als Mädchen“ für dieses Gespräch.
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MANFRED WITT
Opfer G. (mit Kopftuch) in der Hamburger Innenstadt: „Ich kann mein Leben in die Tonne treten“

K R I M I N A L I TÄT

Auf der Flucht


Aus Angst vor einem vielfach vorbestraften Gewalttäter, der diesen Monat aus dem Gefängnis entlassen
werden soll, taucht die von ihm vergewaltigte Frau mit staatlicher Hilfe unter. Der Mann,
der in der Haft keine Reue zeigte, hatte noch im Gerichtssaal mit Vergeltung gedroht. Von Bruno Schrep

F
rau G. wird schon bald nicht mehr verfolgt. Ständig dreht sie sich um, über- setzt eine Familie zum zweiten Mal in
Frau G. heißen. In diesen Tagen be- prüft, ob ihr jemand auflauert – selbst Furcht und Schrecken. Und es gibt, um
kommt sie einen neuen Personal- dann, wenn weit und breit niemand zu neues Unheil ganz sicher zu verhindern,
ausweis mit einem anderen Namen, der sehen ist. nach derzeitiger Rechtslage keine andere
streng geheim ist. So geheim, dass ihn Die Frau aus Norddeutschland hat pani- Möglichkeit für die Familie, als zu fliehen.
nicht einmal der eigene Vater oder die sche Angst vor einem Mann, der sie vor Erstmals begegnet Frau G. ihrem spä-
ältere Schwester erfahren dürfen. Jahren schwer misshandelt, gedemütigt teren Peiniger Andreas K. während eines
Frau G. darf auch nicht mehr Frau G. und vergewaltigt hat. Der Mann wird in Aufenthalts in einer Reha-Klinik. Die ge-
sein. Ihre Fotoalben, ihre Zeugnisse, ihre diesem Monat, nach Verbüßung seiner lernte Krankenschwester, die auch Psy-
Diplome hat sie in einen Tresor gepackt, Strafe, aus dem Gefängnis im niederbaye- chologie studierte, freundet sich mit dem
ihre Wohnung gekündigt, ihre Möbel ver- rischen Straubing entlassen. Gleich nach zweimal geschiedenen Handwerker aus
äußert oder untergestellt. „Ich kann mein seiner Verurteilung hatte er Frau G. im Ge- Thüringen an, der kurz vor dem Mauer-
Leben in die Tonne treten“, sagt sie ver- richtssaal angedroht: „Ich werde dich über- fall aus der DDR geflüchtet war. Beide
bittert. all finden, wo immer du dich verkriechst. verbringen viel Zeit miteinander, beide
Gerade hat sie für einen Spottpreis ihr Und dann wirst du leiden ohne Ende.“ sind sich einig, die Beziehung nach dem
Auto verkauft, sich von Freunden verab- Bedroht sind, glaubt die Polizei, auch Klinikaufenthalt zu beenden.
schiedet, die sie womöglich nie wieder- die drei Kinder von Frau G., zwei davon Doch Andreas K. bricht die Verabre-
sehen wird, und zum letzten Mal ein Do- sind noch in der Ausbildung. Auch sie dung und taucht plötzlich am bayerischen
kument mit ihrem richtigen Namen un- müssen ihren Namen ändern, ihre ge- Wohnort von Frau G. auf. Die reagiert
terschrieben. wohnte Umgebung verlassen, untertau- zunächst nicht ablehnend. Ihre Ehe ist ge-
Die Endvierzigerin, die ihre Verletzlich- chen. Sich von allem trennen, was bisher scheitert, sie muss drei Kinder allein er-
keit unter einer dicken Schicht Schminke ihr Leben ausgemacht hat. ziehen, fühlt sich häufig überfordert. Sie
zu verbergen sucht, ist auf der Flucht. Sie Eine verkehrte Welt: Ein vielfach vor- ist froh, wenn ihr jemand Mut zuspricht.
kann nachts kaum noch schlafen, wirkt bestrafter Mann, laut Einschätzung der Oder ihr mal hilft, eine Wand zu strei-
auch am Tag fahrig und gehetzt, fühlt sich Polizei nach wie vor hochgefährlich, ver- chen, eine Tür zu reparieren.
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„Ich war so bedürftig damals“, erinnert
sie sich, „so dankbar für jedes freundliche
Wort.“ Und dieser wuchtige Mann aus
dem Osten, der zwar öfter mal viel zu
viel Alkohol trinkt, aber auch ordentlich
zupacken kann und deftige Witze erzählt,
scheint so unrecht nicht zu sein, ein etwas
ungehobelter Kerl mit rustikalem Charme.
Was sie nicht weiß: Andreas K. ist zehn-
mal vorbestraft, hauptsächlich wegen Ge-
waltdelikten. Er ist ein Mann, der Wider-
spruch und Zurückweisung nicht aushal-
ten kann, schon gar nicht von einer Frau.
Entsprechend wütend und unbeherrscht
reagiert er, als Frau G. ihm klarzumachen
versucht, dass sie nach ihrem Ehefiasko
keine feste Beziehung mehr will. Aber
da ist es bereits zu spät.
Erst trifft er sie mit Worten, beleidigt,
droht, schimpft, dann mit Schlägen. Der
erste Vorfall, dem viele weitere folgen,
hat sich nach Erinnerung von Frau G. so
abgespielt: Sie: „Ich will, dass du jetzt
gehst.“ Er: „Was hast du gesagt, du ver-
dammtes Miststück?“ Sie: „Ich will, dass
du jetzt gehst.“ Er: „Das könnte dir so
passen, du Schlampe.“ Sie: „Bitte, bitte
geh.“ Daraufhin habe er erstmals zuge-
schlagen, zwar nur mit der offenen Hand
und nicht wie später mit der Faust. Aber
fest genug, um ihr schmerzhafte Prellun-
gen und blaue Flecken zuzufügen.
Frau G. möchte Andreas K. nicht mehr
sehen. Aber der Mann, der auf seinen ver-
meintlichen Besitzanspruch pocht, lässt
sich nicht so einfach abschütteln, will nicht
wahrhaben, dass er über die Frau nicht
nach seinen Vorstellungen verfügen kann.
Wenn Frau G. versucht, den Konflikt
trotz allem im Guten zu lösen, wenn sie
mehrmals Aussprachen zustimmt, um ihre
Ablehnung zu erklären, dann missversteht
Andreas K. dies als erneute Annäherung.
Er fühlt sich bestärkt in seinen Wünschen
nach Beherrschung und Macht. Will sich
durchsetzen, im Zweifel mit Gewalt.
Für die alleinerziehende Mutter be-
ginnt ein monatelanger Alptraum mit Sze-
nen wie aus einem Horrorfilm. „Es war
die Hölle“, sagt Frau G. heute.
Andreas K. hat sich einen Nachschlüs-
sel fertigen lassen, dringt trotz Verbot
heimlich ins Haus ein. Durchsucht die
Wohnung, wühlt im Schreibtisch. Steht
plötzlich hinter Frau G. in der Küche, ver-
sucht, sie zu küssen. Schlägt zu, wenn sie
sich wehrt. Taucht nachts vor ihrem Bett
auf, angetrunken, fordernd, aggressiv.
Einen Gerichtsbeschluss, wonach er zu
Frau G. und ihren Kindern mindestens
hundert Meter Abstand halten muss, igno-
riert er. Andreas K. reiht sich in die Warte-
schlange ein, wenn sein Opfer im Super-
markt einkauft. Wartet morgens vor ihrer
Haustür, wenn sie die Kinder zur Schule
bringen will. Stemmt abends, nachdem
man ihm die Nachschlüssel abgenommen
hat, die Rollläden hoch, um in ihre Woh-
nung zu gelangen. Fast täglich rückt die
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Deutschland

zumal der Gefangene anfangs keine Ruhe


gibt. Er schreibt Briefe, die Frau G. unge-
öffnet ihrer Anwältin übergibt. Er schickt
ehemalige Mitgefangene vorbei, die schöne
Grüße aus dem Knast ausrichten.
Um ihr Leben wieder zu normalisieren,
flieht Frau G. mit ihrer Familie in ein an-
deres Bundesland. Sie übernimmt einen
Job als Leiterin einer Senioreneinrich-
tung, kümmert sich um die Ausbildung
ihrer Kinder. Sie versucht, die erlittenen
Torturen nach und nach zu vergessen.
Die Verdrängung funktioniert halb-
wegs, bis sie im März dieses Jahres einen
SOEREN STACHE / DDP

Anruf der Kripo erhält: Andreas K. werde


im November entlassen. Frau G. be-
kommt schwere Herzprobleme, schafft
nicht einmal mehr den Weg zu ihrem Ar-
Justizvollzugsanstalt Straubing: Briefe und Grüße aus dem Knast beitsplatz. „Ich war wie vor den Kopf ge-
stoßen“, erinnert sie sich. „Ich wusste
Polizei an, doch sie kann die Frau nicht Doch mindestens ebenso dramatisch zwar, dass er irgendwann seine Strafe ver-
wirklich schützen. Andreas K. prügelt sind die seelischen Verletzungen. Frau G. büßt hat. Aber ich dachte immer, die kön-
sich mit den Beamten, prügelt sich auch wird nach der Gewalttat von Angstzu- nen den doch nicht einfach rauslassen.
mit Bekannten von Frau G., ist nicht zur ständen heimgesucht, muss sich behan- Der kriegt bestimmt Sicherungsverwah-
Räson zu bringen. Er wird mit einem deln lassen. Die früher gesellige Frau rung oder so was Ähnliches, da wird
Hammer erwischt, vorübergehend festge- kapselt sich oft ab, reagiert misstrauisch schon irgendwas passieren. Heute weiß
nommen, wieder freigelassen. Pfeift auf gegenüber Neuem. Jahrelang ist es ihr ich, wie naiv das war.“
Anzeigen wegen Widerstands. Terrori- unmöglich, eine Beziehung zu einem Tatsächlich ist die Verhängung nachträg-
siert sein Opfer mit bis zu 70 Anrufen am Mann aufzunehmen. licher Sicherungsverwahrung – unabhän-
Tag, droht Frau G. immer wieder, ihr Beim Prozess vor dem Landgericht gig von der derzeitigen politischen Diskus-
die Ohren abzuschneiden, sie mit 50 Mes- München II wird offenbar, wie gestört sion um europäische Rechtsstandards – in
serstichen umzubringen. K. hat längst K.s Verhältnis zum anderen Geschlecht Deutschland durchaus möglich. Die Hür-
jegliche Kontrolle über seine Emotionen schon früher war. Eine Ex-Freundin floh den sind jedoch hoch. Die Sanktion kann
verloren. vor K. ins Frauenhaus, eine Ex-Ehefrau nur angeordnet werden, wenn nach dem
Die erste Vergewaltigung übersteht klagt als Zeugin über fortwährende häus- ursprünglichen Gerichtsurteil neue, bis-
Frau G. mit leichten Blessuren. Bei der liche Gewalt. Und noch zu DDR-Zeiten lang nicht berücksichtigte Umstände be-
zweiten kämpft sie um ihr Leben. kannt werden, die bei einer Freilassung
Andreas K. hat an diesem Abend ein „Ich dachte immer, auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Tä-
Kellerfenster eingeschlagen, sich unbe- ters für die Allgemeinheit schließen lassen.
merkt ins Haus geschlichen. Er ist ange- die können den doch nicht Dies sei bei Andreas K. nicht der Fall, ver-
trunken, überrascht sein Opfer beim Du- so einfach rauslassen.“ sichert die Münchner Oberstaatsanwältin
schen im Badezimmer, die Kinder schla- Andrea Titz. Das jedenfalls habe eine sorg-
fen nebenan. Auf flehentliche Bitten, die misshandelte Andreas K. in Thüringen fältige Prüfung bei der Staatsanwaltschaft
Wohnung zu verlassen, reagiert er mit eine Freundin nach dem gleichen Muster und dem Vollstreckungsgericht ergeben.
nie dagewesener Brutalität. Schlägt auf wie Frau G.: Weil die Freundin die Be- Der Kripo bekanntgewordene Details
die schmächtige Frau ein, die kaum 50 ziehung zu ihm beenden wollte, schlug aus der Haftzeit lassen freilich darauf
Kilogramm wiegt. Trifft sie im Gesicht, er ihre Wohnungstür ein, verprügelte und schließen, dass K. wenig einsichtig ist, auch
im Bauch, in den Nieren, im Unterleib. vergewaltigte sie. keinerlei Reue zeigt. Weil er sich einer
Drückt ihr den Hals zu. Blut rinnt ihr aus Vor Gericht versucht K. zunächst, die Therapie verweigert habe, sei er nicht, wie
der Nase in den Rachen, sie hat Angst zu Übergriffe auf Frau G. zu leugnen. Erst allgemein üblich, nach zwei Dritteln der
ersticken. „Ich dachte, das ist das Ende“, als ihm der Vorsitzende wegen dieses Ver- Haftzeit entlassen worden, sondern müsse
sagt sie im Rückblick. haltens eine mögliche Sicherungsverwah- seine Strafe bis zum letzten Tag absitzen.
Sie schleppt sich mit letzter Kraft in rung androht, legt er ein Geständnis ab. Hinzu kommt: Bei einem Rechtsstreit
ihr Bett, Andreas K. legt sich dazu, nähert Er wolle „die Taten so stehenlassen“, wie um die Zahlung von Schmerzensgeld wi-
sich. Die Verletzte hat keine Kraft mehr, sie Frau G. geschildert habe. Das Urteil, derrief er aus dem Gefängnis heraus sein
Widerstand zu leisten. Hinterher schläft acht Jahre Gesamtfreiheitsstrafe wegen Geständnis, ließ Frau G. über seinen An-
K. ein. Bei seiner Festnahme am nächsten mehrfacher Vergewaltigung und Körper- walt als Lügnerin darstellen. Und wie
Morgen liegt er noch im Bett von Frau G. verletzung, nimmt er an. Sicherungsver- schon früher ist er offenbar nach wie vor
Seit diesem Tag ist er in Haft. wahrung wird, auch im Hinblick auf das von der Vorstellung besessen, nicht er sei
Ärzte listen die Folgen der Nacht auf. Geständnis, dann doch nicht verhängt – an seinem Unglück schuld, sondern sein
Das Nasenbein von Frau G. ist gebrochen, eine fahrlässige Unterlassung? Opfer.
das linke Trommelfell gerissen, die Ober- Seltsam: Obwohl K.s sich wiederholen- Bei der Polizei wird K.s bevorstehende
lippe verletzt, die Augen blutunterlaufen, de Attacken auf Frauen krankhafte Züge Freilassung deshalb als ernsthafte Bedro-
das Gesicht total geschwollen. Rippen tragen, zumindest psychische Auffälligkei- hung für Frau G. gesehen. Dazu heißt es
sind geprellt, die Nieren tun weh, auch ten möglich erscheinen lassen, wird kein in einem Papier der Kriminalpolizeiinspek-
der Rücken hat etwas abbekommen. Ge- psychiatrischer Gutachter zugezogen. Das tion Fürstenfeldbruck: „Seit seiner Inhaf-
blieben sind bis heute, klagt Frau G., stän- Gericht hält den Mann für völlig normal. tierung versucht der Täter immer wieder,
dige Schmerzen an der Wirbelsäule und Die Drohungen, die K. noch im Gerichts- Kontakt mit der Geschädigten aufzuneh-
im Unterleib. saal ausstößt, ängstigen Frau G. noch lange, men. Insbesondere ist er daran interessiert,
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Deutschland

den aktuellen Wohnort von Frau G. zu er- Die drei Kinder müssen zudem Ab-
fahren. Hierzu stellt er fadenscheinige An- schied nehmen von allen Menschen, die
fragen an verschiedene öffentliche Stellen. sie seit Jahren kennen: den Kumpels vom
Die Geschädigte hat deshalb Angst, dass Sportverein, den Studienkollegen, den
der Täter nach seiner Entlassung erneut alten Schulfreunden. „Ich bin einfach
Kontakt zu ihr sucht und sie angeht. Diese verschwunden, von heute auf morgen“,
Befürchtungen teilt auch der unterzeich- berichtet eine von Frau G.s Töchtern.
nende Sachbearbeiter.“ Nur ein paar engen Vertrauten habe sie
In einer Gefährdungsanalyse kommen eine schriftliche Nachricht hinterlassen:
Kripo-Experten zu einem alarmierenden Nehmt es nicht persönlich, es musste sein,
Ergebnis: Gefährdet ist nicht nur Frau G., vielleicht kann ich euch später alles er-
sondern die ganze Familie, bedroht sind klären.
insbesondere die bereits volljährigen Die andere Tochter trifft es noch härter.
Töchter. Der Familie wird deshalb drin- Sie muss sich von ihrem Freund trennen,
gend empfohlen, mit Hilfe eines speziel- den sie seit zwei Jahren kennt, den sie
len Schutzprogramms eine neue Identität nach wie vor liebt. Der Mann soll sie auf
anzunehmen und unterzutauchen. keinen Fall an ihrem neuen Wohnort auf-
Dem Rat der Polizei zu folgen ist Frau suchen, sich zumindest für unbestimmte
G. äußerst schwergefallen. „Wenn ich kei- Zeit so verhalten, als würde er sie nicht
ne Kinder hätte, dann hätte ich vielleicht kennen. „Das tut verdammt weh“, gesteht
gezögert, hätte mehr riskiert“, erklärt sie. die 21-Jährige, „aber es ist notwendig.“
„Dann hätte ich mir eine Waffe besorgt, Wirklich? „In den USA gibt es vernünf-
um mich im Notfall wehren zu können.“ tige andere Lösungen“, erklärt Christian
Allerdings: Der Antrag der ausgebildeten Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen For-
Sportschützin auf Erteilung einer Waffen- schungsinstituts in Hannover und ehe-
besitzkarte wurde abgelehnt. maliger niedersächsischer Justizminister.
Was es bedeutet, das alte Leben hinter Dort komme in vergleichbaren Fällen sen-
sich zu lassen, alle Brücken abzubrechen, sible Elektronik zum Einsatz: Der entlas-
erfährt Frau G. jeden Tag. Zwar wird sie sene Strafgefangene muss sich als Auflage
einen Sender am Körper installieren las-
Frau G. soll auf Jahre hinaus sen, die gefährdete Person wird mit ei-
nem Empfänger ausgestattet. Bei verbo-
ihren Vater nicht mehr sehen, ihre tener Annäherung schlägt das System
Schwester nicht mehr besuchen. Alarm. Schon eine einmalige Übertretung
führt zu erneuter Inhaftierung.
von Polizeibeamten und Mitarbeitern der Mit seinem Vorschlag, diese Methode
Opferorganisation Weißer Ring unter- in Deutschland zumindest zu testen, ist
stützt. Doch schon beim Kampf gegen die Sozialdemokrat Pfeiffer während seiner
Mühlen der Bürokratie gibt es immer Ministerzeit sowohl bei den eigenen Ge-
wieder Probleme. „Nichts funktioniert rei- nossen als auch bei den anderen Parteien
bungslos“, bedauert sie, „immer braucht gescheitert. Die Vorgehensweise, bekam
es vier, fünf Anläufe.“ er zu hören, passe nicht zum deutschen
Der alte Handyvertrag soll vorzeitig Rechtssystem.
gekündigt werden. Geht nicht, sagt der Immerhin: Nach einem Kabinettsbe-
Telefonanbieter. Das Krankengeld soll auf schluss von Ende Oktober soll es künftig
ein Konto unter dem neuen Namen über- auch in Deutschland möglich sein, neue
wiesen werden. Nur möglich mit neuer Wege zu gehen. Um die Allgemeinheit
Sozialversicherungsnummer, sagt die vor psychisch gestörten und gefährlichen
Krankenkasse. Die Impfausweise sollen Tätern zu schützen, sollen Verurteilte
umgeschrieben werden. Sind wir nicht nach Verbüßung ihrer Strafe in speziellen
für zuständig, sagt das Gesundheitsamt. Therapieeinrichtungen untergebracht
Hinzu kommt eine finanzielle Schief- werden können, die sich grundsätzlich
lage. Die Wohnungssuche für die Kinder, von Gefängnissen unterscheiden. Im Vor-
die damit verbundenen Reisen, die unzäh- dergrund muss dabei die medizinische
ligen Telefonate haben weit mehr gekos- Behandlung stehen.
tet, als Frau G. bezahlen kann. Ihr Konto Frau G. nützt das jüngste Handeln der
ist heillos überzogen, ein Kredit wurde Politik nichts mehr. Sie interessiert viel-
gekündigt. Die Töchter können nur wei- mehr, ob Andreas K. künftig bestimmte
terstudieren, weil eine Stiftung den größ- Bedingungen erfüllen muss. In vergleich-
ten Teil der Kosten übernommen hat. baren Fällen wurden Täter jedenfalls nur
Noch verheerender ist der Verlust na- unter der Bedingung entlassen, sich von
hezu aller persönlichen Beziehungen. ihren ehemaligen Opfern fernzuhalten. Ob
Frau G. soll auf Jahre hinaus ihren Vater dies auch im Fall Andreas K. zutrifft, dar-
nicht mehr sehen, ihre Schwester nicht über wird von den bayerischen Behörden
mehr besuchen. Auch den Kontakt zu ih- keine Auskunft erteilt, auch nicht gegen-
ren Kindern soll sie möglichst vermeiden, über der betroffenen Familie.
nicht mehr mit ihnen telefonieren, keine Frau G. hat vergangene Woche zum
Briefe schreiben. Als Preis für mehr Si- vorerst letzten Mal mit ihrer ältesten
cherheit wird die Familie zerrissen. Tochter telefoniert. 
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Szene Gesellschaft
Was war da los,
Frau Daneschnija?
Die iranische Journalistin Mandana
Daneschnija, 29, über ihren Kampf um
politisches Asyl

„Meinen Mund habe ich mir selbst zuge-


näht, als ich in den Hungerstreik trat.
Das tat weh, aber es ist nichts gegen die
Qualen, die man in iranischen Gefäng-
nissen erleidet. Vor zehn Monaten bin
ich geflohen, zusammen mit meinem
Mann und meiner acht Jahre alten Toch-
ter. Wir sind über die Türkei nach Grie-
chenland gekommen. In Iran würde
mich das Regime einsperren, weil ich
für die Rechte von Frauen gekämpft
habe. In Athen habe ich Asyl beantragt.
Seitdem warten wir. Ich werde die Fäden
erst ziehen und wieder essen, wenn wir
ORESTIS PANAGIOTOU / DPA

alle politisches Asyl bekommen.“

Mandana Daneschnija wurde kurz nach dem Interview


von Unbekannten überfallen und zusammengeschla-
gen. Daneschnija

HIRNFORSCHUNG Bildung neuronal funktionieren, wie Schirrmacher: Ja, klar. Unser Bild vom
sie gespeichert, synchronisiert, abgeru- Gehirn ist ja noch sehr skizzenhaft.
„Das Gehirn fen werden. Oder: Wie funktioniert
Lesen? Habe ich einen freien Willen?
Wir können ja nicht reinschauen, wir
sind auf Rückschlüsse und Kombina-
muss raten“ SPIEGEL: Ziemlich große Fragen.
Schirrmacher: Ja, finde ich auch. Philo-
tionen angewiesen.
SPIEGEL: Sagt Ihnen diese Zahlenkom-
„FAZ“-Herausgeber sophische Fragen, die die Hirnfor- bination etwas: 42556?
Frank Schirrmacher, 51, schung aufwirft und zum Teil beant- Schirrmacher: Ist das ein Rätsel aus
über die Geheimnisse worten hilft. dem Buch?
PICTURE ALLIANCE / DPA

menschlicher Gehirne SPIEGEL: Nur zum Teil? SPIEGEL: Ja. Sie haben Denksportauf-
gaben mit hineingenommen.
SPIEGEL: Herr Schirrma- Schirrmacher: Bei einer dieser Aufga-
cher, Sie haben ein SMS: ben muss man zum Beispiel Worte ent-
Buch über „Gehirntrai- schlüsseln, aus Zahlen. Für jede Ziffer
4 2 5 5 6
ning“ herausgegeben. gibt es drei mögliche Buchstaben, gar
GESELLSCHAFT FÜR GEHIRNTRAINING E.V.

Woher nehmen Sie als Feuilletonist 5 6 6 6 7 8 nicht so einfach. Das Gehirn muss
Ihre Kenntnisse? raten, kombinieren, Varianten prüfen,
Schirrmacher: Ich glaube, das begann 3 8 unter Zeitdruck.
durch die Bekanntschaft mit Wolf SPIEGEL: Hat Ihr Gehirn diese Aufgabe
Singer. Er ist einer der bedeutendsten 6 4 2 4 gelöst?
Hirnforscher in Deutschland, und er Schirrmacher: Ja. Aber ich habe ziem-
konnte einfach phantastisch den Fach-
6 6 7 4 3 6 lich lange gebraucht: sieben Minuten
jargon verständlich übersetzen. So bin 2 3 7 8 2 4 3 6 für das Entschlüsseln von sechs Wor-
ich auf den Geschmack gekommen. ten. Sie kennen sicher jemanden, der
Um bald festzustellen, dass die The- Zu entziffern ist diese SMS aus sechs schneller war …
men der Hirnforscher so etwas wie der Zahlen. Jede Ziffer steht für einen von SPIEGEL: Ein 14-Jähriger hat es vorhin
materialistische Kern jener Fragen drei möglichen Buchstaben, entspre- in eineinhalb Minuten gelöst.
sind, die uns Kultur- und Geisteswis- chend der Handy-Tastatur. Einmaliges Schirrmacher: Wahnsinn! Ein 14-Jähri-
senschaftler von jeher beschäftigen. Tippen der Taste „6“ ergibt beispiels- ger! Aber deren Gehirne sind natür-
SPIEGEL: Nämlich? weise den Buchstaben „m“, zweimal lich auf solche Spiele ganz anders ein-
Schirrmacher: Fragen wie diese: Was ist drücken „n“, dreimal drücken „o“. gestellt.
die angemessene Erziehung? Die rich- Wie lautet die Botschaft? SPIEGEL: Und was bedeutete 42556?
tige Bildung? Da hilft es ja vielleicht, Schirrmacher: Es bedeutete, glaube ich,
wenn ich weiß, wie Erinnerung und Auflösung:
Hallo kommst du mich morgen besuchen
„Hallo“.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 67
Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE nehmen würden, die Frau zu identifi-
zieren. Er stellte das Video lieber ins

Ab in die Tonne
Internet, auf eine Facebook-Seite, und
fragte: Wer kennt diese Frau?
Hunderte Menschen riefen die Seite
auf, schon am nächsten Tag war Mary
Warum eine Britin mit Hitler verglichen wurde Bale identifiziert und ihr Leben nicht
mehr das alte. Das Telefon klingelte,

A
ls das Leben von Mary Bale ben der Mauer steht, sie tut das ohne Fremde wünschten sie zur Hölle, Jour-
noch einigermaßen in Ord- Hast, dann lässt sie die Katze in die nalisten kampierten vor ihrem Haus,
nung war, arbeitete sie in ei- Tonne fallen, schließt den Deckel und die Polizei erschien, um sie zu befra-
ner Bank, bei ihren Kollegen war sie setzt ihren Weg fort. gen, um sie zu beschützen. Darryl
bekannt als zuverlässig und berechen- Die Katze heißt Lola, sie gehört Mann, der Eigentümer der Katze und
bar, ihre Nachbarn schätzten sie und einem Paar, Stephanie und Darryl ein Mann mit einem gesunden Gefühl
grüßten, wenn sie Mary Bale auf der Mann. Die beiden vermissen das Tier für Verhältnismäßigkeit, sah sich ge-
Straße trafen. am Abend und entdecken es erst am zwungen, öffentlich zur Mäßigung auf-
Heute wird Mary Bale nur noch sel- nächsten Morgen, als seltsame Laute zurufen, er bat darum, Mary Bale
ten gegrüßt, Arbeit hat sie keine mehr, aus der Mülltonne dringen. nichts anzutun.
ihr Haus verlässt sie nur noch, wenn Darryl Mann arbeitet für eine Tele- Die Frage, die Bale am häufigsten
es sein muss, und nur äußerst ungern kommunikationsfirma, er kennt sich gestellt wurde, lautete: Warum haben
geht sie dann allein durch die Sie es getan? Ihre Antwort
Stadt. Sie fürchtet Übergriffe, war: „Ich weiß es nicht.“
denn sie erhielt Todesdrohun- Vielleicht war es tatsächlich
gen, aus dem In- und Ausland. ein Impuls, der aus dem Nichts
Man verglich sie mit Adolf Hit- kam, vielleicht hing es auch
ler und ließ sie wissen, dass mit ihrem Vater zusammen,
sie verachtenswerter sei als mit den Besuchen im Kranken-
dieser Unmensch, dass sie den haus, bei denen sie sah, wie
Tod verdiene. sein Leben dem Ende ent-
Ruiniert hat Mary Bale ihr gegenging. Vielleicht hatte sie
Leben selbst, in kaum mehr genug von der Ohnmacht und
als einer Sekunde, als sie ei- wollte endlich wieder mächtig
nem Impuls nachgab, einer sein, sich rächen an der Natur,
DARREN STAPLES / REUTERS
Idee, die aus dem Nichts kam, der Welt, für das, was ihrem
wie sie sagt, und im Zentrum Vater widerfuhr. Vielleicht
dieser Idee stand eine harm- quält Mary Bale aber einfach
lose Katze. Mary Bale hatte nur gern Tiere, und es hatte
sie in eine Mülltonne gestopft. bislang niemand mitbekom-
Geschehen ist das in Groß- men.
britannien, in Coventry, in ei- Bale Jetzt stand sie vor Gericht,
ner alten Industriestadt, die ihr drohten sechs Monate Haft
schon bessere Tage gesehen oder eine Geldstrafe von 20000
hat. Hier lebt Mary Bale, in Pfund. Die Richterin hörte
einem schmalen Reihenhaus, die Argumente beider Seiten,
das sie morgens verließ, um nahm zur Kenntnis, dass es der
zur Arbeit zu gehen. Nach Katze gutgeht, dass Mary Bale
Feierabend besuchte sie ihren mittlerweile arbeitslos ist, weil
Vater im Krankenhaus, vom sie aus Scham nicht mehr an
Krankenhaus ging es dann ihren Arbeitsplatz zurückkehr-
wieder nach Hause. Das war Aus der „Bild“-Zeitung te, und dass ihr Vater seinem
ihre tägliche Routine. Leiden erlegen ist.
Ihr Weg vom Krankenhaus nach aus mit Technik, er hat an seinem Haus Die Richterin befand, dass Mary
Hause führte sie an einer roten Back- eine Überwachungskamera angebracht, Bale vom Schicksal schon genug ge-
steinmauer vorbei. Auf der Mauer saß die den Eingang filmt. Auch die Mauer schlagen ist, und urteilte mild. Mary
eine Katze. Mary Bale hatte sie schon und die Mülltonne liegen im Sichtfeld Bale hat eine Geldstrafe in Höhe von
oft getroffen. Auch an diesem Tag be- der Kamera. Mann sichtete die Auf- 250 Pfund zu zahlen sowie die Ge-
gegnete sie dem Tier. zeichnung des vergangenen Tages. richtskosten, außerdem darf sie in den
Die Katze springt auf die Mauer, als Er sah eine Frau, Mitte vierzig, in nächsten fünf Jahren kein Tier halten.
Bale sich nähert. Sie geht auf Bale zu, einem hellen T-Shirt, mit Brille, Hand- Das Urteil löste eine zweite Welle
Bale streichelt ihren Rücken, greift tasche und praktischer Frisur, die seine der Empörung aus, Tierfreunde forder-
dann mit der rechten Hand das Fell Katze in die Tonne schafft, völlig ten eine härtere Strafe. Da reichte es
im Nacken, hebt die Katze hoch, die grundlos. Darryl Mann. Er sagte, der Gerechtig-
ganz entspannt ist und wahrscheinlich Mann hätte nun zur Polizei gehen keit sei Genüge getan. Lola ist seine
ahnungslos. Mit der linken Hand öff- können, aber er bezweifelte, dass die Katze, aber eben auch nur eine Katze.
net Mary Bale eine Mülltonne, die ne- Beamten große Anstrengungen unter- UWE BUSE

68 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Gesellschaft

DEUTSCHE EINHEIT

Kaufhaus des Ostens


Es ist eine der größten Betrugsgeschichten der deutschen Verei-
nigung: Die Abwicklung des DDR-Betriebs WBB kostete Millionen
Euro und 2000 Menschen den Job. Nun ist das letzte Versagen
der Treuhand verjährt. Der Verantwortliche ist ein freier Mann.

A
n einem Sonntagmorgen sitzen von der Treuhand, der großen Abwick-
ein paar Männer und Frauen auf lungsbehörde.
Holzbänken am Berliner Müggel- 90 000 Fälle waren es, die die Treuhand
see, die Männer trinken Bier, die Frauen zu bearbeiten hatte. 4600 Mitarbeiter
Mineralwasser aus Plastikbechern. Sie kümmerten sich darum. Sie sollten in kur-
treffen sich einmal im Jahr hier, ehe- zer Zeit ein ganzes Land privatisieren,
malige Mitarbeiter eines alten Ost-Unter- 48 500 Betriebsstätten, eineinhalb Millio-
nehmens, der WBB, der Wärmeanlagen- nen Hektar Wälder, 30 000 Hektar Seen,
bau Gesellschaft Berlin. Sie reden über zwei Millionen Hektar Landwirtschaft.
die alten Zeiten und den alten Chef, der Das Büro an der Schönhauser Allee ge-
ihren Laden und ein bisschen auch ihr hört zur Nachfolgebehörde der Treuhand,
Leben ruiniert hat. zur BvS, der Bundesanstalt für vereini-
2000 Mitarbeiter hatte der Betrieb, gungsbedingte Sonderaufgaben. Es hat
Werkstätten in der gesamten DDR, in ein Vorzimmer und eine Sekretärin und
Polen und der Sowjetunion. Sie fertigten einen Mitarbeiter, der Teilzeit arbeitet.
Edelstahlrohre und verbanden die Städte Die Behörde wickelt die letzten Reste
und Dörfer mit den Kraftwerken im Land, eines Projekts ab, das einzigartig ist in der
und sie fanden sich, wie Hunderttausende Geschichte: die staatlich gelenkte Privati-
Beschäftigte aus DDR-Betrieben, nach sierung einer sozialistischen Gesellschaft.
der Wiedervereinigung in einem Prozess Es ist, wie der Fall der WBB, auch 20 Jahre
der Verwertung und Entwertung, den sie nach der Wiedervereinigung nicht abge-
nicht genau verstanden, der aber alle schlossen. Die WBB hat über die ganzen
Warnungen vor dem Kapitalismus bestä- Jahre verschiedenste Gerichte beschäftigt,
tigte. Ihr Chef hieß Michael Rottmann. und während die Kollegen von früher am
Vorn auf der Bank sitzt Rainer Kusch, Müggelsee sitzen, zum vielleicht letzten
der ehemalige Personalchef der WBB, 72 Mal, liegt der Fall beim Bundesgerichtshof
Jahre alt, mit kurzen grauen Haaren. Die zur endgültigen Klärung. Die Kollegen
frühere Lohnbuchhalterin kommt zu ihm können nur noch warten.
an den Tisch, ein Schlosser, ein Ab- Die Geschichte ihres Betriebs erzählt
teilungsleiter. von enttäuschten Hoffnungen, von Skru-
Rainer Kusch sieht sich um, lächelt, pellosigkeit, Geldgier. Die Wiederverei-
blickt in die Runde, in die Gesichter sei- nigung bot Geschäftemachern aus dem Angeklagter Rottmann (r.) mit Anwalt, Razzia im
ner alten Kollegen, sagt: „Eigentlich ein Westen die Chance, sich am Untergang
Wunder, dass ich hier dabeisitzen darf.“ der DDR zu bereichern, legal und illegal. nem Essener Reihenhaus. Es hat von au-
Die früheren Mitarbeiter der WBB tref- Einer von ihnen landet im Herbst 1990 ßen nichts Ungewöhnliches. Nur dort, wo
fen sich hier, weil sie keine Opfer mehr auf dem Flughafen in Tegel. andere eine Tischtennisplatte stehen ha-
sein wollen. Sie waren lange Opfer und Michael Rottmann ist 47 Jahre alt, er ben, steht bei Rottmann im Keller ein lan-
fühlten sich auch so. Nach der Wende ist verheiratet, hat zwei Kinder, er lebt ger schwarzer Konferenztisch.
wurde ihr Betrieb verkauft an Rottmann, in Essen in einem Reihenhaus, fährt einen Der Geschäftsführer hat die Firmen-
einen Manager aus dem Westen. Vier Jah- VW Golf. Im Jahr 1990 ist er seit fünf bilanzen der WBB mitgebracht, Grund-
re später war die WBB pleite, ihr Unter- Jahren Angestellter bei der Deutschen buchauszüge, ein paar Immobiliengut-
nehmen schloss, die meisten Mitarbeiter Babcock, er verantwortet kleinere Kraft- achten. Neben Rottmann sitzen zwei
wurden arbeitslos, der Chef war ver- werksprojekte. Sein Vorstand hat ihn Männer aus der Schweiz, einer davon ist
schwunden mit vielen Millionen. nach Berlin geschickt. Die WBB soll der ein Geschäftsmann aus Zürich.
Sie wissen bis heute nicht, was genau Deutschen Babcock den Markt in den Os- Er ist Präsident einer kleinen Aktien-
passiert ist. An diesem Tag wissen sie nur, ten öffnen. Rottmann fährt zum Haupt- gesellschaft im Kanton Aargau, der Che-
dass ihr Chef im Gefängnis sitzt. Sie sind sitz der WBB an der Wallstraße, er läuft matec. Die Chematec hat 40 Mitarbeiter,
die Ahnungslosen in einem der großen am Pförtner vorbei, nimmt den Paternos- ein Aktienkapital von 1,4 Millionen
Betrugsfälle der Treuhandanstalt. ter und trifft einen der beiden WBB-Ge- Schweizer Franken, dem Geschäftsmann
In einem kleinen Büro in Prenzlauer schäftsführer, sie reden über Zahlen, das gehören die meisten der Aktien selbst.
Berg, an der Schönhauser Allee, liegt ihr Unternehmen und die Treuhand. Im Essener Keller geht es immer wieder
Fall als einer der letzten 60 Fälle, ein paar Der Geschäftsführer besucht Michael um seine Chematec. Sie soll die WBB
Quadratmeter sind dort noch geblieben Rottmann ein paar Wochen später in sei- übernehmen.
70 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
SVEN KAESTNER / AP (O. L.); SABINE SAUER / DER SPIEGEL (O. R.); ULLSTEIN BILD / DPA (U.)
Berliner WBB-Hauptsitz 1995, Pressekonferenz der Treuhand in Berlin 1990: Enttäuschte Hoffnungen, Skrupellosigkeit, Geldgier

Sie verfassen einen Partnerschaftsver- Der Leiter des Treuhanddirektorats Firma. Auf den Tischen stehen schwarze
trag. Die Anteile wollen sie zu gleichen Chemie und Anlagenbau ist froh über Schreibmaschinen, an den Wänden hän-
Stücken aufteilen. Sie einigen sich darauf, das Angebot. Er kennt die Konkurrenz gen Tapeten mit Blumenmustern, das Por-
dass jeder der fünf Partner fünf Millionen aus dem Westen und weiß, dass die WBB trät von Erich Honecker ist im Keller ver-
Schweizer Franken als eine Art Sicher- es schwer haben wird auf dem Markt. schwunden.
heitsbetrag erhält. Die Summe ist auch Er verkauft die WBB am 27. Februar „Einer, der weiß, was er will“, sagen
fällig, wenn die WBB scheitert. für zwei Millionen Mark an die Schweizer sie über ihren neuen Chef, „sehr selbst-
Der Partnerschaftsvertrag ist das Dreh- Chematec, die Quittung trägt die Nummer bewusst“, „von der Frisur bis zu den Schu-
buch zu Rottmanns neuem Leben, sollte 172969. Der Käufer verpflichtet sich, 750 hen, da stimmt alles“. Manche macht das
die Treuhand dem Kauf zustimmen. Es Arbeitsplätze zu erhalten, Schulden in skeptisch, andere sehen in Michael Rott-
ist das Drehbuch zu einem der größten Höhe von über 30 Millionen Mark zu über- mann eine Hoffnung.
Betrugsfälle bei der Zerlegung der DDR. nehmen, aber auch Immobilien und ein Auch Rainer Kusch, der Personalchef,
Aber wird die Treuhand zustimmen? Bankguthaben von 150 Millionen Mark. schwankt zwischen Skepsis und Hoff-
Um sicherzugehen, schwindeln Rott- Auf dem Papier verkauft die Treuhand nung. Mit der Wende musste er 500 Kol-
mann und seine Partner die kleine Ak- die WBB an einen Schweizer Anlagen- legen kündigen.
tiengesellschaft aus dem Aargau zu einem bauer. Tatsächlich hat sie das Unterneh- Rottmann spricht von einer neuen Zeit,
finanzkräftigen Anlagenbauer in den Be- men in die Hände eines ehemaligen klei- von hochqualifizierten Mitarbeitern, von
reichen Chemie und Pharmazie hoch, mit nen Babcock-Angestellten gegeben. modernster Technik und von Kraftwer-
einer Tochterfirma in Brasilien und 400 Rottmann kommt ein paar Wochen spä- ken, die er herstellen wolle wie Brötchen.
Beschäftigten. In Wirklichkeit sind es 40. ter im gutsitzenden Anzug in seine neue Am Abend bleibt er lange im Betrieb, er
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 71
Gesellschaft

lässt Wände einreißen für neue Büros, in Zwei Jahre lang ist im Zwickauer Werk
der Chefetage wird er deutlich und sagt: nichts mehr passiert, „Schlankfahren“, ver-
„Sie müssen schon wollen! Es ist der schie- schrotten, das ist Rottmanns Anweisung.
re Wille, der dieses Schiff bewegen wird.“ Von 2000 Mitarbeitern, die mal zum Un-
Rottmann und seine Partner beginnen, ternehmen gehörten, arbeiten noch 250.
den Betrieb zu zerlegen. Sie gründen, im Rainer Kusch ist jetzt Hausmeister und
ersten Schritt, im schweizerischen Olten nicht mehr Personalchef. Die restlichen
die Physical Chemical Engineering Hol- Mitarbeiter ziehen in billigere Büros an
ding AG, kurz: die PCE. Die PCE kauft die Rhinstraße 137, weg aus Berlin-Mitte
im Sommer 1991 die WBB. Aus deren Ver- in den abgelegenen Stadtteil Marzahn.
mögen überweisen sich die Partner den „Durchhalten!“, mahnt Rottmann.
vereinbarten„Sicherheitsbetrag“ über je- Im Sommer 1993 findet er in Vaduz
weils fünf Millionen Schweizer Franken. eine Dreizimmerwohnung für 2600
Sie gründen sechs Gesellschaften als Toch- Schweizer Franken Miete, mit eigener
terunternehmen der PCE, später in Liech- Tiefgarage. Die letzten 25 Millionen
tenstein eine PCE AG. Mark, die jetzt noch auf den Berliner Fir-
Die WBB gehört damit Unternehmen, menkonten liegen, werden in Rottmanns
die meist nur einen Briefkasten in Liech- Geldkreislauf eingespeist, wieder über
tenstein haben. Alle Fäden laufen bei Konten in der Schweiz und Liechtenstein.
Liechtensteiner Anwälten zusammen. Anti-Treuhand-Demonstration in Berlin 1991 Von der WBB bleiben nur noch die Ge-
Im September 1991 lässt sich Michael 48 500 Betriebsstätten, 30 000 Hektar Seen bäude, aber auch sie gehören längst der
Rottmann in einer schwarzen Mercedes- PCE. Sie werden im letzten Schritt zu
S-Klasse in das Zwickauer Werk fahren konten der zwei WBB-Geschäftsführer, die Geld gemacht.
und spricht mit Mitarbeitern. „Wir sind sich ihre Konten extra in einer österrei- Anfang des Jahres kommt Rottmann
an allen Standorten davon überzeugt, chischen Kleinstadt eingerichtet hatten. ein letztes Mal an die Rhinstraße 137 zu
dass Sie alle gemeinsam mit uns an die- Gefährdet ist die WBB deswegen noch einer „Betriebsinformation“. Rottmann
sem Haus bauen werden.“ nicht. Aber die Partnerschaft, die in Rott- streitet kurz mit seinem Finanzdirektor.
In Hamburg nehmen Michael Rott- manns Reihenhaus geschmiedet wurde, Die Mitarbeiter wundern sich.
mann und seine Partner Kontakt zu zwei wird langsam porös. Der Erste, der aus- Gewissheit haben sie ein paar Monate
Rechtsanwälten auf, die ein spezielles schert aus der Runde, ist der Geschäfts- später, als die WBB insolvent ist. Die Bi-
Steuermodell entwickelt haben. Ihre Kun- mann aus Zürich, dessen Chematec den bliothek ist zum Plündern freigegeben.
den kaufen sogenannte Moratoriumsfor- Kauf der WBB erst möglich machte. Bis Die Mitarbeiter nehmen sich, was sie be-
derungen, die wertlos sind und als Vor- Ende 1992 kauft Rottmann seine früheren kommen können, Ordner mit DIN-Vor-
wand dienen, um Gelder am Finanzamt Partner aus dem Unternehmen. schriften und Fachliteratur.
vorbeizubewegen. Die hohen Verluste, Rainer Kusch, der Hausmeister, der

Radikale Wende
mit denen die Geschäfte enden, können mal Personalchef war, ist 57 Jahre alt und
die Kunden steuerlich geltend machen. arbeitslos.
Viel mehr Geld aber verdienen sie, weil Juni 1990 Am Morgen des 10. April 1995 eröffnet
die beiden Anwälte 67 Prozent der Kauf- Die DDR-Volkskammer beschließt das Michael Rottmann sechs Kilometer von
summe im Ausland anlegen; die rest- Treuhandgesetz. Schon bis Ende 1990 seiner Vaduzer Wohnung entfernt, in der
lichen 33 Prozent geben sie als Provision sind rund 500 Betriebe privatisiert. Buchser Filiale der Schweizerischen Bank-
an die Anwälte ab. 3. Oktober 1990 gesellschaft, vier Anlagekonten in ver-
Am 24. März 1992 landen 30 Millionen Die DDR tritt dem Geltungsbereich des Grund- schiedenen Währungen und zwei Depots.
Mark über mehrere Umwege und Brief- gesetzes bei, Deutschland ist wiedervereinigt. Dem Schweizer Bankier sagt er, er erwar-
kastenfirmen auf Konten in Vaduz, so März 1991 te zehn Millionen Mark aus einem Immo-
wie Rottmann es geplant hat. Sechs Mil- Demonstrationen gegen Massenarbeitslosigkeit bilienverkauf. Drei Tage später überweist
lionen Mark verdienen die Anwälte. Nie- vor dem Gebäude der Treuhandanstalt in Berlin. die PCE AG aus Vaduz das Geld tatsäch-
mand merkt etwas. Die Treuhand hat die Ende 1992 lich, Rottmann will es in bar abheben,
WBB aus den Augen verloren. 11 043 Unternehmen, 10 311 Immobilien und aber die Bank weigert sich. Man wolle
Rottmann steht am Morgen als Erster 27 807 Hektar landwirtschaftliche Fläche sich einer möglichen Geldwäsche nicht
in der Firmenküche, pfeift, kocht Kaffee, sind bereits veräußert. schuldig machen. Ein paar Tage später
motiviert weiter: „Sie haben die Fähig- 31. Dezember 1994 erteilt Rottmann der Bank einen Über-
keiten. Bitte trauen Sie sich!“, sagt er. Bei Die Treuhandanstalt stellt ihre Tätigkeit ein. weisungsauftrag über acht Millionen
Rainer Kusch, dem Personalchef, kommt Eine Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Mark. Sie soll das Geld auf die Bahamas
das an. Er denkt, dass seine Ideen jetzt Sonderaufgaben (BvS) übernimmt die ver- nach Nassau transferieren. Dieses Mal
gefragt sind. bleibenden Tätigkeiten, vor allem die Kontrolle zieht die Bank mit, sie überweist.
der abgeschlossenen Privatisierungsverträge.
Michael Rottmann lässt Werbeprospek- Staatsanwälte, Kriminalbeamte und
te drucken und seine Führungskräfte neu Die Bilanz der Treuhand Steuerfahnder durchsuchen am 6. Juli Bü-
einkleiden, sie besuchen Seminare für ros und Wohnungen im gesamten Bun-
gute Tischmanieren. Obst kommt auf die • 23 500 Unternehmen wurden bearbeitet desgebiet. Sie beschlagnahmen Tausende
Schreibtische. Rottmann selbst zieht in • 19 500 (Re-) Privatisierungen Akten. Die Meldungen über den „wohl
das Penthouse ganz oben im Gebäude, • Die übrigen Unternehmen wurden auf- größten Betrugsfall der Treuhandanstalt“
er hat eine neue Freundin, 21 Jahre alt, gelöst oder deren Abwicklung beschlossen dringen in die Schweizer Kleinstadt
Studentin und Praktikantin bei der WBB. • Zusätzlich wurden 25000 Geschäfte oder Buchs vor.
Bis März 1992, ein Jahr nach dem Ver- Gaststätten privatisiert und 42 000 Liegen- Vier Tage später stoppen die Schweizer
schaften verkauft
kauf durch die Treuhand, sind aus der WBB Banker einen Auftrag Rottmanns für eine
63 Millionen Mark in das Geflecht aus 17 • Einnahmen: rund 60 Milliarden DM Anlage über 650 000 Mark in US-Dollar.
Firmen geflossen. Zehn Millionen Schwei- • Defizit: 200 Milliarden DM Zehn Tage später stellen sie eine Anzeige
zer Franken wandern weiter auf die Privat- bei der Bezirksanwaltschaft in Zürich we-
72 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Gesellschaft

für ihn, auch die BvS, die Nachfolge-


behörde der Treuhand, ermittelt gegen
Rottmann.
In England ist Rottmann nur 27 Tage,
nachdem er verhaftet wurde, wieder frei.
Er lebt mit seiner Familie wieder im Haus
in Hazlemere und kämpft von nun an ge-
gen seine Auslieferung nach Deutschland.
Im Januar 2005 schließen Rottmanns
Anwälte mit der BvS einen Vergleich. Rott-
mann verpflichtet sich, 20 Millionen Euro
an die BvS zu zahlen. Macht er das nicht,
steigt die Summe auf 50 Millionen. Im De-
zember meldet er in London Privatinsol-
venz an und erklärt sich für mittellos.
14 Jahre nach dem Beginn seiner
Flucht, neun Jahre nach seiner Verhaf-
tung in England, am 8. Juli 2009, gibt Mi-
chael Rottmann auf und sitzt in einem

CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL


Flugzeug von London nach Berlin, Poli-
zeibeamte begleiten ihn und bringen ihn
ins Untersuchungsgefängnis nach Moabit.
Drei Monate später beginnt sein Prozess
am Landgericht. Rottmann ist 66 Jahre
alt und „ein armer Rentner“, das sagt er
Ex-Personalchef Kusch (r.), Kollegen am Müggelsee: „Den Arsch von der Wand kriegen“ selbst über sich.
Zwei Monate später verurteilt die Wirt-
gen des Verdachts der Geldwäsche und den sie nicht genug Beweise. Das Verfah- schaftsstrafkammer Michael Rottmann
legen Rottmanns Konten und Depots of- ren wird eingestellt. Michael Rottmann wegen schwerer Untreue in drei Fällen
fen. Eine Kopie schicken sie an Rott- ist mit seiner neuen Frau seit Monaten zu drei Jahren und neun Monaten Haft.
manns Anwalt in Zürich. auf der Flucht. Bis der deutsche Staat Sein Verteidiger legt Revision ein.
Rottmann wird klar, dass Liechtenstein Rottmann sucht, vergeht ein Jahr. Am 28. Oktober 2010, gegen Mittag,
und die Schweiz für ihn Vergangenheit Als am 27. Dezember 1996 der interna- erreicht ihn ein Fax aus Leipzig. Der
sind. Sein Rechtsberater eröffnet in Lu- tionale Haftbefehl vorliegt, ist Rottmann 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
xemburg bei der Vereinsbank Internatio- in England. Er mietet ein Haus in der das Urteil aufgehoben und stellt das Ver-
nal ein Konto mit der Nummer 087812 Nähe von London und kümmert sich um fahren ein. Die Straftaten, die Michael
und lässt einen Scheck über 2,2 Millionen die beiden Kinder, die sie inzwischen ha- Rottmann zur Last gelegt worden waren,
Mark gutschreiben. Der Scheck kommt ben. Er ist jetzt ihr Privatlehrer. sind verjährt.
aus Nassau, das Geld ist für Rottmann, In Berlin am Columbiadamm kommen Rottmann sitzt in seiner Einzelzelle in
der kurz darauf selbst in die Bank kommt, die Ermittler Schritt für Schritt weiter. Die der Haftanstalt, als ein Sozialarbeiter ihm
sich ausweist und die notwendigen Papie- beiden ehemaligen WBB-Geschäftsführer die Nachricht überbringt. Er steht auf,
re unterschreibt. sitzen in Untersuchungshaft, ein Gericht packt seine wenigen Sachen zusammen,
Auf das Konto geht immer wieder Geld verurteilt sie zu Haftstrafen. Die Anklage zieht ein Sakko über, bindet den Schlips,
ein, am 30. August sind es acht Millionen gegen einen Berater Rottmanns ist fertig. er tritt hinaus auf die Straße, niemand
Mark, das ist genau die Summe, die Rott- Der Vorwurf lautet: Untreue in drei Fällen, wartet. Er steigt in ein Taxi, fährt zum
mann knapp drei Monate zuvor nach Nas- Beihilfe zur Untreue in zwei Komplexen. Flughafen Tegel und verlässt die Stadt,
sau transferiert hatte. Die Spur der WBB- Er wird vom Landgericht Berlin am 16. so schnell er kann.
Gelder ist verwischt, und die Fluchtkasse September 1999 zu drei Jahren Haft ver- Am Müggelsee, wenige Kilometer wei-
ist angelegt. urteilt. Von Rottmann fehlt jede Spur. ter, sagt die ehemalige Lohnbuchhalterin:
In Berlin haben Wirtschaftsermittler ei- Dann, im September 2000, fangen die „Jeder musste sehen, dass er mit dem
nen Hinweis aus dem Umfeld des Unter- Fahnder ein Telefongespräch zwischen Arsch von der Wand kommt.“
nehmens bekommen, sie sitzen in einem Rottmann und einem Bekannten in Auch Rainer Kusch, der ehemalige Per-
Seitentrakt des Flughafens Tempelhof Deutschland ab. Sie wissen jetzt, dass er sonalchef, musste das damals. Nach dem
und gehören zur Zerv, der Zentralen Er- sich in Südengland aufhält, in der Nähe Ende der WBB wurde er arbeitslos, war
mittlungsstelle für Regierungs- und Ver- von London, wo genau, wissen sie nicht. ein Jahr lang krank, er hatte mehrere Hör-
einigungskriminalität, 1991 gegründet, um Am 13. September erreicht das Amts- stürze. Er blieb arbeitslos, bis er Rentner
die Verbrechen der DDR aufzuklären. hilfeersuchen die zuständige Polizei in der wurde mit 60. „Es war meine Unterschrift,
Rottmann ist einer der wichtigsten Fälle Grafschaft Buckinghamshire. Eine Polizei- die unter den Kündigungen stand, nicht
der Abteilung 113. streife entdeckt Rottmann in Henley-on- Rottmanns“, sagt er. Rainer Kusch sieht
In einem Punkt sind sich die Ermittler Thames, einer Kleinstadt mit 10 000 Ein- sich um, lächelt, blickt wieder in die Run-
sicher: Rottmann und seine Helfer hatten wohnern in der Grafschaft Oxfordshire. de, in die Gesichter seiner alten Kollegen,
von Beginn an vor, die WBB um einige Die Beamten verhaften ihn vor seinem sagt: „Eigentlich ein Wunder, dass ich
Millionen zu erleichtern. Der Aufbau des Haus in Hazlemere. Michael Rottmann hier dabeisitzen darf.“
Firmengeflechts, der Auslandskonten und kommt in Untersuchungshaft. Rund 13 Millionen Euro hat der Fall
Scheingeschäfte erscheint ihnen präzise Das ist das Ende seiner Flucht, aber bis den deutschen Staat gekostet. Vom Ver-
geplant. Aber wie konnte all das unter er nach Deutschland zurückkehrt, werden mögen der WBB bleiben 50 Millionen
den Augen der Treuhand-Verantwortli- neun weitere Jahre vergehen. Euro verschwunden.
chen geschehen? Sie ermittlen auch gegen Zu Hause interessieren sich nicht MARKUS DETTMER, BARBARA HARDINGHAUS,
Treuhand-Mitarbeiter. Am Ende aber fin- mehr nur die deutschen Justizbeamten ANDREAS WASSERMANN

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Sahnetruppe
Ortstermin: Die Nationalmannschaft der Bundeswehr-Köche
trainiert für die WM – und zeigt zukunftsweisenden Einsatz.

D
raußen marschieren Wehrpflichti- „In Afghanistan kochen die Truppen werden. Nur ein aggressiver Soldat könn-
ge, drinnen, in einem gutgetarn- mit dem gleichen Teil“, sagt Oliver Seitz. te dem Russen in den Arsch treten, so
ten Flachbau, duftet es nach ge- Nur eben noch kein Soufflé. erzählte man sich. „Ohne Mampf kein
bratenem Rehrücken im Tramezzini- Oliver Seitz trägt eine weiße Kochjacke Kampf“, sagt Michael Zoller.
Mantel. Ein Stabsunteroffizier schnippelt mit schwarz-rot-goldenem Stehkragen. Er Den Russen gibt es ja nicht mehr in
Kräuterseitlinge, ein Hauptgefreiter rührt ist Meister der Zuckerartistik. Er kann seiner damaligen Form. Möglicherweise
im Physalis-Seealgen-Ragout, ein Haupt- aus Zucker kleine Häuser basteln oder dürfen Soldaten auch deshalb Gänseleber
feldwebel schiebt Polenta-Soufflé in den Schützenpanzer. Alle Soldaten in der essen.
Ofen. Es trainiert die Nationalmannschaft Koch-Nationalmannschaft haben so ein Zoller schaut auf die Feldküche und
der Bundeswehr-Köche in der Albkaserne Spezialgebiet. Fleisch, Saucen, Soufflé, auf die schmorenden und soufflierenden
in Stetten am Kalten Markt. Es duftet ein Hauptgefreiter hat sich auf Petit Fours Nationalköche. Er sieht, wie ein Koch
nach Zukunft. spezialisiert. „Wir sind top ausgebildet, eine Kräuterhaube auf ein Kalbsmedail-
500 Meter die Straße runter liegt das flexibel, eins a ausgerüstet, überall ein- lon häufelt und wie Oliver Seitz gedan-
Öl von Bratkartoffeln in der Luft. In der setzbar“, sagt Oliver Seitz. „Und wir sind kenverloren die Chilikirschen einatmet.
Truppenküche der Albkaserne schaufeln alle freiwillig hier.“ Zoller sieht etwas verwirrt aus.
Soldaten ihre tägliche Ra- Es ist schwer vorstellbar,
tion Cordon bleu, Schaschlik- wie deutsche Soldaten in
pfanne, Waldorfsalat. Zwi- Masar-i-Scharif erst Chili-
schen den Tischen steht ein kirschen essen und anschlie-
Mann in Flecktarn, der ei- ßend Taliban jagen. Man
nem Dachs ähnlich sieht. kann sich allerdings gut vor-
Michael Zoller ist 53 Jah- stellen, wie Karl-Theodor
re alt, S4-Stabsoffizier des zu Guttenberg die Truppe
Feldjägerbataillons 452, er in Afghanistan besucht und
ist zuständig für die Logis- dabei ein Polenta-Soufflé
tik seiner Einheit, er habe verspeist.
daher ein natürliches Inter- „Vielleicht ist das ganz
esse an Ernährung, sagt er. gut, dass wir die Soufflé-
Natürlich freue er sich, dass Leute haben“, sagt Zoller
die Nationalmannschaft in schließlich. „Wenn die
seiner Kaserne trainiere. Wehrpflicht fällt, konkur-
Michael Zoller sagt auch: rieren wir mit der Wirt-
FOTOS: MICHAEL TRIPPEL

„Das Wichtigste ist, dass schaft ums Personal, da ist


der Soldat satt wird.“ Dach- das wichtig, dass wir uns
se sind Allesfresser. um weiche Faktoren küm-
„Das Wichtigste ist ein mern. Hat ja auch der Herr
ausgewogener Geschmacks- zu Guttenberg gesagt.“
akkord“, sagt der Haupt- Soldaten, Bundeswehr-Koch Seitz: „Top ausgebildet, überall einsetzbar“ Ein Soufflé ist ein leich-
feldwebel Oliver Seitz ter Auflauf, er besteht aus
durch den Dampf der Gänseleber. Oliver Das klingt nach Guttenberg. Nach dem, aufgeschlagenem Eiweiß und Luft. „Tja“,
Seitz, 29, ist Kapitän der Nationalmann- was der Verteidigungsminister so alles sagt Zoller, „der Herr zu Guttenberg.“
schaft der Bundeswehr-Köche. Er und sagte, um seine Bundeswehr-Reform Oliver Seitz kontrolliert die Teller, be-
fünf weitere Köche kochen an diesem Tag durchzudrücken. Gut ausgebildet, mobil, vor sie aufgetragen werden, prüft, ob die
für 120 Soldaten aus der Albkaserne. Es freiwillig, das ist Guttenbergs Traum- Jakobsmuschel-Garnelen-Roulade richtig
ist die Generalprobe für die Weltmeister- armee. Die Koch-Nationalmannschaft ist drapiert ist und ob das Himbeer-Jasmin-
schaft der Militärköche in Luxemburg. heute schon so, wie die Bundeswehr ein- Sorbet zart genug schmilzt. Bei der Olym-
Zoller und Seitz. Sie dienen derselben mal sein soll. piade in Erfurt vor zwei Jahren hat sein
Bundeswehr, aber sie marschieren in un- Michael Zoller biegt um die Ecke. Team eine Goldmedaille geholt. Nun will
terschiedliche Richtungen. „Wollt’ mal sehen, was die Gourmet-Leu- er in Luxemburg wieder gewinnen. „Wir
Die Truppe von Oliver Seitz kocht auf te können“, sagt Zoller und schaut einem müssen da ja nicht nur unsere eigene Ehre
einem Autoanhänger mit dem Nummern- Koch auf die Finger, der Garnelen in verteidigen, sondern auch die Ehre des
schild Y-323 245. Ein drei mal drei Meter geeiste Scheiben aus Jakobsmuscheln Landes“, sagt Oliver Seitz. Die Sicherheit
großer tarnfarbener Klotz auf Rädern, rollt. Deutschlands wird irgendwie auch in Lu-
mit Öfen im Inneren und vier Herdplatten Zoller dient der Bundeswehr seit 34 xemburg verteidigt.
obendrauf. Gulaschkanone nennen Zivi- Jahren. Er hat den Kalten Krieg erlebt. Die ersten Soldaten betreten den Speise-
listen so einen Anhänger. Bundeswehr- Damals kursierte unter Wehrdienstleis- saal. Zoller trinkt einen Aperol-Spritz, dann
Soldaten sprechen von der Taktischen tenden die Legende, dass das Essen so geht er rüber in die Kaserne. Er sei noch satt
Feldküche 250. grottig sei, damit die Soldaten aggressiv vom Cordon bleu, sagt er. TAKIS WÜRGER
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 75
Titel

Die Paarungsfalle
FOTOS: TINKA UND FRANK DIETZ / AG. FOCUS

76 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Nie gab es in Deutschland so viele Menschen, die auf der Suche sind nach
dem richtigen Mann, der richtigen Frau. Besonders die 30- bis 50-Jährigen scheitern an
zu hohen Erwartungen. Sie verirren sich zwischen Millionen potentieller
Partner – der Kontakthof Internet verschärft das Problem. Auch die SPIEGEL-Redakteure
Claudia Voigt, 44, und Juan Moreno, 38, beide lange Zeit Single,
erleben diesen Überfluss der Möglichkeiten – die Frau anders als der Mann.

Singles in Deutschland

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 77
Titel

„Man bastelt sich ein Phantom zusammen“


Der endlose Weg zum richtigen Mann. Von Claudia Voigt

Warum braucht eine Frau einen Mann? „Weil dann alles an mir lächelt. Weil ich ein Kind und
eine Familie möchte. Weil ich Angst habe, komisch zu werden, wenn ich zu lange allein
lebe. Weil es zu zweit im Bett viel wärmer ist. Weil ich gefragt werden möchte, wie mein Tag
war. Weil Steuerklasse eins einfach Unsinn ist. Weil Sex schöner ist mit jemandem,
den man liebt. Weil ich schon immer einen wollte. Weil ich nicht allein alt werden möchte.“

So reden Frauen, die einen Mann suchen. Nicht irgendwelche sind, möchten im Verborgenen bleiben, so, als wäre das Al-
Frauen, sondern acht Frauen, die schon länger auf der Suche leinsein ein Makel.
sind, weil sie die richtigen Männer nicht finden oder die falschen Es leben viele Menschen allein in Deutschland. Die Gesamt-
wollen. Sie alle verdienen ihr eigenes Geld. Einige haben sich zahl der Singles lässt sich nicht exakt beziffern, nur einkreisen.
im Job weit nach oben geboxt. Sie können abends allein in In den letzten Jahren wurden jeweils rund 200 000 Ehen geschie-
eine Bar gehen, ohne merkwürdig angesehen zu werden. Sie den, und in fast 40 Prozent aller Haushalte lebt nur eine Person.
können Männern Zettel mit ihrer Telefonnummer zustecken Und diese Zahlen steigen.
und Sex für eine Nacht haben. Sie können Kinder bekommen Die Sporttrainerin gehört zu jenen Frauen, bei denen man auf
und sie allein aufziehen. Sie können sogar Kinder ohne Sex Anhieb denkt, seltsam, dass die allein ist. Verehrer gibt es genü-
bekommen und den Samenspender ihres Babys nie kennen- gend. Vor einiger Zeit hat sie sich die Haare abschneiden lassen,
lernen. Frauen brauchen keine weil sie es leid war, Avancen von
Männer mehr. Theoretisch. Und Männern zu bekommen, denen nur
doch ist der Wunsch geblieben, ihr Äußeres wichtig war. Sie hat ei-
den Richtigen zu finden. Warum nen Sohn, zwölf Jahre alt. Vor eini-
ist das so? gen Jahren gab es mal einen Mann,
Wenn man mit Frauen redet, die von dem sie heute sagt, den hätte sie
auf der Suche sind, hat jede ihre nicht gehen lassen sollen. Damals hat
eigene Geschichte. Aber wenn man sie sich gewünscht, dass dieser Mann
mit acht Frauen redet, die zwischen Verantwortung übernimmt. Ihm war
dreißig und fünfzig Jahre alt sind, das zu viel. Mittlerweile weiß sie,
erfährt man, dass sich das Problem dass es etwas Besonderes war.
bei Frauen in diesem Alter auf ganz Die Rechtsanwältin ist verliebt,
besondere Weise stellt. Es geht da- obwohl zu Hause ein fester Freund
rum, ob der romantische Film vom auf sie wartet. Die Kindergärtnerin
eigenen Leben noch Wirklichkeit hat ihren Mann verlassen nach
werden kann: große Liebe, durch vielen Jahren fast wortloser Ehe.
Höhen und Tiefen, bis ans Lebens- Eine Befreiung in die Einsamkeit.
ende. Und die Kulturmanagerin hat eine
Eine Sporttrainerin ist unter die- Affäre mit einen 16 Jahre jüngeren
sen Frauen und eine Rechtsanwäl- Mann. Sie verbringen hin und wie-
tin, eine Kindergärtnerin und eine der ein paar Tage, ein paar Nächte
ANNE SCHÖNHARTING

Kulturmanagerin, eine Schriftstel- miteinander, aber sie werden nie-


lerin, eine Journalistin, eine Fri- mals zusammen im Supermarkt
seurin und eine Unternehmens- einkaufen. Eine Beziehung sei das
sprecherin. Wie sehr viele andere nicht, sagt sie. Die Schriftstellerin
suchen sie den richtigen Mann. hat zwei Kinder. Und stellt sich die
Manche von ihnen suchen nicht ALEXANDRA REUTER Frage, ob das nun ein richtiges
aktiv, andere sind mit einem Mann 39, Medizinische Bademeisterin Leben ist. Die Journalistin hätte
zusammen, zweifeln aber an der gern ein zweites Kind gehabt.
Zukunft dieser Beziehung. Jede Ich bin seit gut eineinhalb Jahren Single, und ich genieße Aber nur mit einem Mann, der
von ihnen wäre gern die Hälfte meine Unabhängigkeit. Meine letzte Beziehung ist an auch den Alltag mit diesem Kind
eines zufriedenen Paars. unseren unterschiedlichen Vorstellungen von einem erleben möchte. Die Friseurin hat-
Sie sind in diesem Text die gemeinsamen Leben gescheitert. Aber ich finde es auch te einige kurze Beziehungen. Jetzt
Stimmen der Frauen, aber sie woll- schön, allein zu sein. Ich stresse mich da nicht so, ist sie über vierzig. Wenn sie noch
ten sich nicht fotografieren las- Kinder will ich ohnehin keine haben. Ich mag Männer, die jemanden für länger findet, gut,
sen und ihren Namen nicht in der sehr groß sind, ich finde, das strahlt Stärke und Über- wenn nicht, auch gut. Und die
Zeitung lesen. Diejenigen Männer legenheit aus, und ich mag Männer mit kräftiger und Unternehmenssprecherin ist auf
und Frauen, die auf diesen Seiten gleichzeitig sanfter Stimme. Mein letztes Date hatte ich der Suche nach einem Mann,
abgebildet sind und ihre Geschich- vor ein paar Monaten. Daraus ist aber nichts geworden. während sie mit einem deutlich äl-
te erzählen, sind andere als die im Der Mann hat mir bei unserem ersten Treffen gesagt, teren Mann zusammenlebt.
§

Text beschriebenen. Die allermeis- dass er verheiratet sei. Ihre Zukunft sieht sie nicht
ten von denen, die auf der Suche an seiner Seite.
78 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
„Ich lösche mein Postfach für dich“
Der endlose Weg zur richtigen Frau. Von Juan Moreno

Warum braucht ein Mann eine Frau? „Weil Frauen so gut riechen. Weil ich für jemanden da sein will.
Weil mein Badezimmerschrank leer ist. Weil Youporn auf Dauer keine Lösung ist. Weil mich die
Ruhe im Leben nervt. Weil man nur eine Frau mit dem Überbrücken einer Batterie beeindrucken kann.
Weil ich einen Sohn möchte. Weil ich seit Jahren ein Doppelbett beziehe. Weil meine Wohnung
wie eine Ausnüchterungszelle eingerichtet ist. Weil doch nur das der Sinn des Lebens sein kann.“

So reden Männer, die eine Frau suchen. Einer davon ist 36 ich keines. Sie zweifeln alle so sehr wie ich, jeder für sich, nur
Jahre alt, Rechtsanwalt, blond, schlank, seine Anzüge sind nicht eben in einer Beziehung.“ Seine Mandanten sind Versiche-
billig. Er überlegt, ob er die Rezeptionistin in seiner Kanzlei rungskonzerne. Die Arbeit macht ihm Spaß. Er findet, das sei ein
ansprechen soll. Sie hat eine gute Figur, ist freundlich, lächelt gutes Zeichen. Wer Schönheit im trockenen deutschen Gesell-
nett. Kürzlich hat sie auf einem Zettel „recherchiren“ geschrie- schaftsrecht entdeckt, dürfte grundsätzlich zur Liebe fähig sein,
ben. Seitdem fragt er sich, ob er mit einer Frau mit Recht- findet er. Er will erst mal nichts ändern. Nein, er braucht keine
schreibschwäche zusammen sein könnte. Er lacht viel, dreht Frau in seinem Leben. Er möchte eine, das ist ein Unterschied.
den Kopf etwas, wenn er zuhört, schaut einem in die Augen.
Ein netter Kerl, der viel Geld verdient und im Leben immer Was ist schlimm am Alleinsein? „Bis zu meinem 35. Lebensjahr
die Abzweigung nach oben genommen hat. Frauen mögen das. nichts, ab meinem 50. fast alles. Silvester. Gespräche mit Mutter.
Er hätte gern eine Freundin, später Einzelzimmerzuschlag. Urlaubs-
Familie, Kinder. Er sitzt in einem planung. Diese verdammte Kälte.
Café in der Aachener Straße in Dass ich im Internet nach einer
Köln, seit vier Jahren ist er Single. Frau suchen muss. Dass ich stän-
Vermutlich sind er und die dig erklären muss, warum ich
Rezeptionistin sehr verschieden, allein bin. Dass ich die Witze mei-
glaubt er. So ein fehlendes „e“ ist ner Kumpel nicht mehr hören
wichtig, findet der Anwalt. Er mag kann. Dass ich zynisch werde.
Ausstellungen, Reisen, Restau- Dass ich allein nie erwachsen
rants, Hamburg, und sie schreibt werde.“
„recherchiren“. Das „e“ steht für
den Unterschied, es wäre ein Kom- Kaum etwas trennt Single-Män-
promiss, den er eingehen müsste, ner und Single-Frauen zwischen
ein erstes ungutes Gefühl. Er mag 30 und 50 so sehr wie der Druck.
sich gar nicht vorstellen, wie sie Frauen spüren ihn, Männer nicht.
Rhythmus buchstabiert. Männer haben keine biologische
„Ich arbeite nicht aktiv an der Uhr. Sie können auch mit 55 noch
Abschaffung des Zustands“, sagt Vater werden, sie können sogar als
er. „Meine Eltern machen mir Greis noch Papa werden. Mag sein,
keinen Druck. Meine Schwester dass sie dann zu schwach sind, um
hat Kinder. Ich bin aus der Schuss- ihr Kind im Arm zu halten, aber
ANNE SCHÖNHARTING

linie. Ich bleibe wohl erst mal es ist eine Möglichkeit. Ist doch
Single.“ nicht ihr Problem, wenn die Natur
Auf Hochzeiten hat er sich an- den Frauen die Fruchtbarkeit
gewöhnt, mit den Brauteltern zu nimmt. Das sind die Kompromiss-
sprechen. Die sind meist dankbar, losen, die Sturen, die Bindungs-
weil sich sonst niemand für sie in- ARNE SIGMUND unfähigen, die nie erwachsen wer-
teressiert. Silvester, kurz nach Mit- 40, Politologe den wollen, sagen die Frauen. Wir
ternacht, wenn die Paare sich küs- sind die Ehrlichen, weil wir, anders
sen, geht er meist spazieren. Er Irgendwie hatte ich in der letzten Zeit einfach Pech mit als Joschka Fischer, nicht fünfmal
kommt klar. den Frauen, in die ich mich verliebt habe. Es hat nie so die ewige Liebe versprechen. Wir
„Ich frage mich manchmal: richtig gepasst. Meine letzte langjährige Beziehung ist im sind die wahren Romantiker. Wir
,Kennst du ein Paar, mit dem du Jahr 2004 zu Ende gegangen. Sie scheiterte daran, dass warten. Besser allein als in schlech-
tauschen möchtest?‘“ Inzwischen wir uns auseinandergelebt hatten. Ich bin nun also, mit ter Begleitung.
hat er ein drittes Kölsch bestellt. zwei kurzen Unterbrechungen, seit sechs Jahren Single. Deutschland ist voll von Men-
Er muss nicht viel nachdenken, er Mein letztes Date war im März. Ich mag Frauen mit einer schen, die noch warten. Psycho-
hat schon oft über dieses Thema Kombination aus Intelligenz, Ausstrahlung, Charme und logen sagen, dass es nur schwie-
nachgedacht. Es ist das große faszinierenden Augen. Bei meinem letzten Date hat es rige Fälle gibt, kaum hoffnungs-
Thema der Singles. „Ein glückli- leider nicht „klick“ gemacht. Schade eigentlich, ich mag lose.
ches Paar“, sagt der Anwalt, „ich zwar die Freiheit, mir meine Zeit selbst einteilen zu Nach einer Studie einer
§

meine, ein richtig glückliches? können, aber darauf kann ich auch gern verzichten. Partneragentur sind in Mün-
Wenn ich genau hinschaue, sehe chen 28,8 Prozent der 18- bis
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 79
Titel

Welche Erkenntnis ist wichtig für die Liebe? „Man muss immer ben zu finden, und den vielen Wahlmöglichkeiten, die vor
auf einige Träume verzichten. Verlieben ist wunderschön, aber allem berufstätige Frauen schon ohne Internet haben, verfallen
erst, wenn das wieder abflaut, weiß man, ob man zueinander viele in eine Unfähigkeit, sich überhaupt noch für jemanden
passt. Vor einer Schwangerschaft sollte man gemeinsam über zu entscheiden.
das Leben nach der Schwangerschaft reden. Der richtige Mann Vielleicht sitzt der traumhaftere Traummann ja morgen auf
kann furchtbar langweilig sein. Eine Trennung niemals zu dem Flug nach Frankfurt neben mir, vielleicht werde ich
schnell beschließen. Eine Trennung niemals zu lange hin- wunschlos glücklich mit dem IT-Manager, 83 Matchingpoints,
ausschieben. Nicht jedes Paar ist zu beneiden. Reden und Sex aus Berlin, der gern ins Theater geht. Das Suchen findet kein
sind wichtig, es geht nicht ohne das eine und auch nicht ohne Ende. Und das Netz multipliziert diese Not. Der ambivalente
das andere. Man kann nichts erzwingen.“ Wunsch nach Bindung und Autonomie gleichermaßen
droht uns zu zerreißen.
Fünf Millionen Deutsche beteiligen sich nach einer Außerdem verändert das Internet die Art, wie Frauen
Online-Studie von ARD und ZDF an der Partnersuche und Männer sich kennenlernen. Das Bauchgefühl
im Internet. Jeder 16. Deutsche, Greise und Kinder bekommt erst spät seine Chance. Bevor man den
mit eingerechnet, sucht demnach im Netz eine Frau anderen einfach mal trifft, mailt und mailt und mailt
oder einen Mann. Und so eine Partnersuche ist keine man, irgendwann ein Telefonat. „Man bastelt sich ein
Kleinigkeit. Die seriöseren Anbieter verlangen rund Phantom zusammen und ist dann enttäuscht, wenn das
50 Euro Gebühren im Monat, die Suchende muss einen um- Gegenüber diesem Phantombild nicht entspricht“, sagt Cla-
fangreichen Psychotest absolvieren, sie muss drei Statements sen-Holzberg. Hat man sich endlich zum Spaziergang an der
über sich verfassen, die möglichst pointiert sein sollen, von Elbe oder im Englischen Garten verabredet, begegnen sich
Sätzen wie „ich bin eine zärtliche Frau“ rät das Computersys- beide als potentielle Partner, legen sich bald innerlich auf
tem der Agentur gleich mal ab. Zu langweilig. Sie muss ihre ein Ja oder auf ein Nein fest. Es gibt keine Zeit, sich Zeit zu
Interessen angeben, ihren Wohnort, ihren Beruf, sie kann auch lassen.
Größe und Gewicht nennen. Als Frau, nur als Frau, kann man Oder die Gefühle füreinander bleiben bewusst in der Schwe-
sich entscheiden, in welcher Gehaltsgruppe der zukünftige be, weil mehrere Flirts gleichzeitig laufen. Früher oder spä-
Mann liegen soll und ob er besser ter fühlt sich das alles schal an.
Akademiker wäre. Und es setzt eine große Verwir-
Dann arbeitet das Computer- rung über das Verliebtsein ein.
programm. Die Frage, ob jemand Viele Frauen berichten, dass sie
ein nettes Lächeln hat, bleibt dabei über Internetdates das Gefühl
unberücksichtigt. Der eigene Psy- für dieses Gefühl verloren hät-
chotest, die eigenen Angaben und ten.
Wünsche werden mit den Psycho- Eine Studie der Uni Bamberg,
tests, Angaben und Wünschen al- für die der anonyme Datensatz
ler Männer im System kombiniert. einer Online-Partnerbörse ausge-
Das Ergebnis ist eine Liste von wertet wurde, kommt zu dem Er-
Männern, sortiert nach Matching- gebnis, dass Frauen sich nach oben
points – das Zauberwort der pro- orientieren bei der Partnerwahl.
grammierten Partnersuche. Wenn Da kann noch so oft der Ratschlag
man dem Computersystem ver- vorgebracht werden, sich als Aka-
traut, sind 100 Matchingpoints eine demikerin mit Kinderwunsch doch
märchenhafte Angelegenheit, wie mal unter den Arbeitslosen um-
ein Versprechen auf „... und sie zusehen, weil auch die besonders
lebten glücklich bis ans Ende ihrer häufig allein leben.
Tage“. Studien, die von den Inter-
netbörsen selbst in Auftrag gege- Akademikerinnen wollen in der
ANNE SCHÖNHARTING

ben wurden, belegen, dass heute Mehrzahl einen Akademiker, in


angeblich 20 Prozent aller Partner- der Sprache der Sozialpsychologie
schaften so ihren Anfang nehmen. heißt das: Sie zeigen bei der Part-
Die Psychologin und Paarthera- nerwahl eine klare Tendenz zu
peutin Claudia Clasen-Holzberg ist bildungshomophilem Kontaktver-
seit 25 Jahren mit demselben KATHRIN GLEITSMANN halten.
Mann verheiratet, sie haben drei 40, Porzellanmalerin Das Problem sei nur, sagt die
Kinder. Ihr Mann ist auch Thera- Therapeutin Claudia Clasen-Holz-
peut, aus Neugier haben sich beide Seit über einem Jahr lebe ich allein, meine letzte Bezie- berg, dass die Frauen einen erfolg-
unabhängig voneinander bei einer hung hat den verschiedenen Lebensumständen, also reichen Mann wollen, der morgens
Partnerbörse im Internet ange- Studium und beruflicher Tätigkeit, sowie dem großen den Tee ans Bett bringt, überra-
meldet, ihr Ergebnis: nicht mal 50 Altersunterschied nicht standgehalten. Über mein Leben schend Blumen ins Büro schickt
Matchingpoints. Damit hätten sie entscheide ich selbstbestimmt, ich gehe den eigenen und abends nach einem Quickie in
sich nie kennengelernt, nicht auf Vorlieben und Interessen nach. Ich verbringe viel Zeit mit der Tiefgarage fragt, wie der Ter-
diesem Weg. meinen Freunden und Kollegen, dabei genieße ich sehr min mit dem Chef gelaufen sei, um
Clasen-Holzberg betreibt ihre die Verbundenheit mit ihnen. Wir kochen zusammen, anschließend ohne Murren den
Praxis seit knapp 20 Jahren. In den oder wir gehen in Ausstellungen und in die Oper. Im Mo- Müll runterzutragen.
letzten fünf bis zehn Jahren beob- ment fühle ich mich sehr wohl, so wie ich lebe. In einer Solche Männer sind selten, sehr
achtet sie bei Frauen um die drei- Beziehung sind mir Einfühlsamkeit und Sinnlichkeit selten. Diesen Satz bitte unterstrei-
ßig eine wachsende Ratlosigkeit wichtig, das Füreinander-da-Sein. Ich lasse alles auf chen. Er kann Ehen retten. Mag ja
angesichts der großen Freiheit. mich zukommen und habe keine festgelegte Vorstellung sein, dass es Frauen gibt, die
§

Hin- und hergerissen zwischen von einem Partner. Fürsorge und beruflichen
dem Anspruch, den Mann fürs Le- Erfolg, Leidenschaft, Empa-
80 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
59-Jährigen Singles – nicht Einzelhaushalte, nicht alte Omis, wanderungsbestimmungen studiert. Ein Möglichkeiten-Para-
nein, Singles. In Berlin 28,6 Prozent. In Köln 25,9 Prozent. In dies. Der Terror der Möglichkeiten.
Hamburg 25,4 Prozent. In Frankfurt am Main 24,8 Prozent. Für die Liebe bedeutet das: Früher suchte man sich eine gute
Partie, heute sucht man die beste Partie. Es ist nicht einfacher
Aus Studien ergibt sich ein ziemlich klares Bild des Durch- geworden.
schnitts-Single in den deutschen Großstädten. Eher männlich,
mittleres Alter, überdurchschnittliche Ausbildung, überdurch- Wie sollte eine Frau sein? „Wie Salma Hayek. Wie Barbara
schnittliches Einkommen, politisch ein bisschen links, sportlich, Schöneberger. Wie Gina Wild. Nicht wie Ursula von der Leyen.
viel Wohnraum, gern drei Zimmer, auch wenn eines nur zum Sollte gut im Bett sein, will heißen, sie gibt mir das Gefühl,
Bügeln genutzt wird. dass ihr Sex mit mir gefällt. Sollte Kinder wollen. Sollte
Das große Thema der Singles ist die Liebe – warum keine Kinder haben. Viel lachen, wenig shoppen. Sollte
sie scheitert. Soziologen sprechen von einer „Begrün- ihrer besten Freundin nicht alles erzählen. Sollte ihren
dungspflicht“. Niemand fragt einen Familienvater, war- Vater mögen. Sollte sich anlehnen. Meine Kumpels
um er Vater geworden ist. Ein Single muss erklären, sollten mich ihretwegen beneiden. Sie sollte einfach
warum er Single ist. Was ist schiefgegangen? da sein. Immer da.“
Womöglich ist die Erklärung ganz einfach, womöglich
war die Liebe in den letzten Jahren einfach zu erfolgreich. In einem kleinen Restaurant am Roecklplatz in München
Wenn die letzte Generation eines hervorgebracht hat, dann sitzt ein Mann von 50 Jahren, seit zwölf Jahren ist er Single. Er
den Siegeszug der Liebe. Man darf sich heute die Liebe und ist Informatiker, hat einen kleinen Hund, und man könnte
somit automatisch das Leben aussuchen, das einem gefällt. Die sagen, er hat aufgegeben. Er hat sich eingerichtet. Er hat Freun-
Liebe liegt da wie ein Mittagsbuffet, man kann sich herausneh- de, sagt er, sein Netzwerk funktioniert. Er war mal in eine Frau
men, was man will. All you can eat. verliebt, eine Amerikanerin, die eine Weile in München gelebt
Eine der schönsten deutschen TV-Moderatorinnen ist les- hat. Sie war klug, schwierig, kompliziert und hinreißend. Ir-
bisch, ein bekannter Fußballschiedsrichter hat gestanden, bi- gendwann verließ sie ihn und ging zurück in die USA. Diese
sexuell zu sein, der Außenminister ist schwul, die Kanzlerin Frau ist nicht mehr nur die erste große Liebe, sie ist die einzige
kinderlos, der Ex-Kanzler mehr- große Liebe. Alle anderen Frauen
mals geschieden. Monogam, kin- müssen sich an ihr messen. „Ich
derlos, alleinerziehend, hetero- bin ihr mehrmals in die USA ge-
sexuell, geschieden, schwul, wilde folgt. Sie hat mittlerweile geheira-
Ehe oder eben Single. Privatsache, tet. Ich sollte sie vergessen.“ Tut
sehr richtig. Romeo und Julia, Py- er aber nicht. Sie ist die Blaupause,
ramus und Thisbe, Tristan und das Ideal. Drunter macht er es
Isolde, diese Paare wären heute nicht.
zusammen. Wer sollte sie stoppen? „Ich werde anspruchsvoller mit
Nicht mehr die Kirche, die Kon- der Zeit“, sagt der Informatiker,
ventionen, die Eltern entscheiden, und er ist nicht bereit, seine An-
wen man lieben kann, sondern sprüche zu senken. Macht er im
einzig das Streben nach Glück, Beruf auch nicht. Er ist gut im Job,
Erfüllung, Liebe. Nur die Liebe er mag gutes Essen, er wohnt in
zählt. seinem Lieblingskiez in München.
Männer wie der Rechtsanwalt „Warum sollte ich beim wichtigs-
aus Köln kommen zurecht. Sie ten Menschen im Leben Kompro-
sind latent unzufrieden, aber nicht misse machen?“
so, dass sie dringend eine Partne- Vielleicht, weil das Leben ir-
rin suchen. Die Freiheit in ihrem gendwann vorbei ist?
Leben, die Möglichkeiten, die ge- „In Sachen Beziehung verhalten
ANNE SCHÖNHARTING

fallen ihnen. Alles schwebt. Sie sich viele Singles wie Hijacker,
sind offen für Veränderungen, für Flugzeugentführer“, sagt Arnold
spontane Entscheidungen. Ein Op- Retzer. Er ist seit 30 Jahren Psy-
tionsleben, bekenntnisfrei. Leben chotherapeut. Im August 2009 ist
als Möglichkeitswahrung, nicht als sein Buch erschienen, „Lob der
Folge von Entscheidungen. ANDRE SCHARPING Vernunftehe“. Retzer hat ein schö-
41, Wissenschaftler nes, couchfreies Büro in Heidel-
Wie viele Gespräche drehen sich berg. Er mag bequeme Schuhe,
in deutschen Großstädten darum, Meine letzte Beziehung ist an der Distanz zerbrochen. Ich trägt einen grauen Bart und redet
ob man in München, Berlin, Ham- war hier in Berlin, sie 600 Kilometer entfernt im Schwaben- genau so, wie man sich einen The-
burg, Köln leben soll? Oder doch land. Da hätte ich nicht hinziehen können, denn die schwä- rapeuten vorstellt. Ruhig und be-
Mallorca, New York? Es wird bische Idylle ist nichts für mich. Ich wäre sicher eingegan- sonnen. Jeden Tag sitzt er Men-
ernsthaft erwogen. Wie viele Men- gen wie eine Primel. Nun bin ich seit gut einem Jahr Single. schen gegenüber, die über ihre Be-
schen fragen sich, ob ihr Job der Mir gefällt daran die zwanglose Unabhängigkeit. Ich bin viel ziehungen reden. Warum scheitert
richtige ist? Wie vielen Menschen unterwegs und kann mich spontan verabreden. Aber sie, wie kann man sie retten, war-
werden die Alpen fürs Skifahren Beziehungen haben natürlich Vorteile. Die jungen Mütter um habe ich keine?
zu klein, sie träumen von Kanada, und Väter in meinem Freundeskreis strahlen eine ganz
Aspen vielleicht, dem Ural. Hat besondere Zufriedenheit aus, für die ich sie bewundere. Die Hijacker lieben das Auf und
Iran nicht ein Skigebiet? Alles ist Ich hätte auch gern Kinder, vielleicht bald schon, wenn es Ab, die Abwechslung, das Ver-
möglich. Wie viele Menschen träu- passt. Ich hatte vor ein paar Wochen ein Date, aber so liebtsein, dieses Hochgefühl, das
men vom Neustart? Weltreisen richtig „boom“ hat es nicht gleich gemacht. Vielleicht läuft Prickelnde, das pure Glück.
§

werden gemacht, Zweitstudien be- es eher auf eine gute Freundschaft hinaus. Eine Beziehung in Reise-
gonnen, Partner verlassen, Ein- flughöhe langweilt schnell,
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 81
Titel

thie und Partnerschaftlichkeit vereinen, bei Männern kommt len in eine Art Dauersuche, weil wir unsere Überforderung struk-
das kaum vor. turieren wollen durch die Hoffnung, es könnte ein noch passende-
rer Partner um die Ecke kommen. Ein Terror der Möglichkeiten.
Und deshalb lohnt sich die Frage, ob man auf eines jener Und wenn es doch gelingt, sich auf den einen Menschen fest-
raren Exemplare warten möchte oder vielleicht doch bereit zulegen, erschwert die Steinzeit in unseren Genen eine lange
ist, auf die Blumen zu verzichten. Es lohnt auch die Frage, Partnerschaft. Vor allem in der Mitte des Lebens kommen wir
warum viele Frauen so anspruchsvoll sind. Den größten Teil ins Schleudern, erklärt Paul, weil wir darauf programmiert sind,
dessen, was vielleicht möglich wäre, sortieren sie von vorn- den perfekten Partner für die Fortpflanzung zu finden. Aber
herein aus. Auch Clasen-Holzberg plädiert dafür, sich nicht anders als in der Steinzeit sterben wir nicht mehr mit Mitte
auf die Suche nach dem Supermann für das ganze Leben vierzig, sondern werden siebzig, achtzig Jahre alt, und so
zu begeben und dabei allein zu bleiben. Besser wäre stehen wir, wenn die Kinder aus dem Haus sind, ratlos
es, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass eine vor dem Vater dieser Kinder und fragen uns, was wir
Partnerschaft auch Kompromisse und Konflikte be- die nächsten dreißig Jahre mit dem anfangen sollen.
deutet. Und dass sie einen auch dann glücklich ma- „Wir haben kein genetisches Programm für die Part-
chen kann, wenn sie am Ende nur acht oder zehn Jahre nerwahl in der zweiten Lebenshälfte“, sagt Sabine Paul.
gedauert hat. Das muss ja nicht unbedingt eine schlechte Nachricht
sein. Man kann noch mal nachdenken, ob es wirklich der
Was ist schlimm am Alleinsein? „Weihnachten. Das Aufwachen Kerl mit der miesen Laune sein soll, und bleibt nicht der Spiel-
am Geburtstag. Dass die Wohnung abends beim Nachhause- ball des eigenen Fortpflanzungstriebs.
kommen noch genauso aussieht wie am Morgen. Dass ich viel-
leicht keine Kinder bekommen werde. Das Gefühl: Mich liebt Schwierig ist das für jene, die eine goldene Hochzeit erleben
keiner, und ich liebe niemanden. Hochzeitsfeste, die Scham möchten. Die brauchen so eine Art Superpartner. Manche fin-
darüber, keinen abbekommen zu den den auch. Nur hat die Roman-
haben. Auf Reisen allein essen zu tik in Verbindung mit dem Bieder-
gehen. Dass mich niemand in den sinn der fünfziger Jahre uns das
Arm nimmt, wenn es mir schlecht- Ideal der Liebe fürs Leben be-
geht. Dass die Zahnpastatube im- schert. Und davon träumen wir
mer ordentlich zugeschraubt ist.“ nun. Aber auch wenn es schön
wäre: Die Liebe fürs Leben bleibt
„Wir sind genetisch auf zwei Din- eine Ausnahme. Noch ein Satz
ge programmiert“, sagt die Evolu- zum Unterstreichen.
tionsbiologin Sabine Paul, „auf op- Diese Tatsache wird die Gesell-
timales Wohlergehen und auf opti- schaft in Zukunft noch stärker
male Fortpflanzung.“ Paul ist eine verändern, uns noch mehr Patch-
ruhige Frau mit sanfter Stimme, ihr work-Familien und höhere Schei-
elfenhaftes Aussehen passt nicht zu dungsraten bescheren. Anders als
ihren ernüchternden Thesen. Sie ist die Generation der Großmütter
eine der Autoren des Buchs „Der bekommen Frauen nicht mehr le-
Darwin-Code – Die Evolution er- benslänglich für eine unglückliche
klärt unser Leben“. Was die Aus- Ehe. Zum Glück. Wir treffen viele
JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS

sicht auf dauerhafte Partnerschaften Menschen; unsere moralischen


angeht, hat sie wenig Hoffnungsfro- Vorstellungen haben sich gelo-
hes zu berichten. ckert; viele Frauen sind finanziell
„Unser genetisches Programm unabhängig; sie suchen sich einen
passt nicht mehr richtig zu unseren Mann, einen nächsten und oft auch
Lebensbedingungen“, sagt Sabine einen übernächsten Mann. Serielle
Paul. Es beginnt schon damit, dass Monogamie heißt das auch.
permanente Überforderung Frauen JOHANNA ZUBER
unattraktiv erscheinen lässt. Glanz- 46, Fitnesstrainerin Was stört Frauen an Männern?
lose Haare, fahle Haut, kein ent- „Männer achten viel zu sehr aufs
spanntes Scherzen, kein Esprit. Das Seit ich Single bin, habe ich mehr Flexibilität in meinem Aussehen von Frauen. Dass sie
kommt bei Männern überhaupt Leben und viel mehr Freude. Ich lebe mit meinem Sohn sich nicht aufs Kinderthema ein-
nicht gut an. Nur gehört Überfor- und meiner Tochter allein. Vor sechs Jahren habe ich lassen, weil sie auch mit Ende
derung längst zum Alltag, auch weil mich von meinem Mann getrennt. In der Ehe war das Le- vierzig noch Kinder zeugen kön-
die meisten Leute zu viele Leute ben lange nicht so entspannt wie heute. Mein Mann hat nen. Haare in der Nase, Haare in
kennen. In der Steinzeit zogen die viel Wert darauf gelegt, dass wir alle zusammen essen, den Ohren. Wie heißt das so schön:
Menschen in Großfamilienverbän- wenn er nach Hause kommt. Ich musste kochen, das „Verhaltensstarre bei verbaler
den umher, das waren überschau- fand ich total stressig. Heute koche ich mit meinen Kin- Aufgeschlossenheit“. Dass sie es
bare Gruppen. „Deshalb können dern zusammen, wenn und wann wir Lust haben, und wir nicht zugeben können, wenn sie
wir uns nur von maximal 200 Men- gehen auch öfter mal essen. Ich glaube, ich war einfach einen Fehler gemacht haben. Sie
schen die Namen merken, alles fortschrittlicher als mein Ex-Mann. Jetzt ist es mit der verbringen zu viel Zeit mit Arbeit.
darüber hinaus wird schwierig“, Männersuche nicht so einfach. Ich bin anspruchsvoller Wenn sie zu allem ja und amen
sagt Sabine Paul. geworden mit der Zeit. Ich will einen Mann, der immer sagen. Lügen und Feigesein.“
Die Mobilität und das Internet noch spontan und flexibel ist, und wenn die Männer älter
bringen uns heute mit viel mehr werden, sind sie genau das nicht. Mein letztes Date hatte Die Soziologin Jutta Allmendin-
Menschen zusammen. Und dem ich im Januar. Ich habe mich dann aber entschlossen, ihn ger gilt als Expertin für die Wün-
sind wir nicht gewachsen. Wir kön- nicht mehr zu treffen, er war einfach zu kleinbürgerlich. Ich sche jüngerer Frauen in
§

nen uns nur noch schwer für einen brauche keinen „Bild“-Zeitungs-Leser und Fußballgucker. Deutschland. „Frauen den-
Einzelnen entscheiden und verfal- ken ihr Leben oft von hin-
82 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
man spürt nicht mehr das Maximale, nur noch das Erreichte. unsere Firma herstellt, ist nicht perfekt, es ist gut genug. Wer
Nach einer Weile mit Retzer hat man den Eindruck, dass er erklärt das Josef Ackermann? Du bist nicht perfekt für mich,
viele Single-Männer gern am Kragen packen möchte, um ihnen du bist aber gut genug? Wer erklärt das seiner Frau?
zu sagen: „Stellt euch verdammt noch mal nicht so an. Hört Zufriedenheit, sich begnügen, das hat für viele eben doch
auf, da kommt nichts mehr. Niemand Besseres mehr da, nur was mit Aufgeben zu tun. Aber wenn unsere Zeit etwas pro-
anders, einzigartig, was bedeutet, dass ihr sie euch nicht vor- pagiert, dann doch, dass alles möglich ist. Warum sich mit we-
stellen könnt.“ Retzer macht das nicht. Er ist Therapeut, er hat niger zufriedengeben? Vielleicht ist es nur konsequent, dass
Verständnis, berufsbedingt. ein Mann, der immer versucht, das Beste aus allem herauszu-
Das lateinische Wort Fortuna hat es ihm angetan. „Es heißt holen, der wie geschaffen ist für unsere Zeit, unser Denken,
Glück, es bedeutet aber auch Zufall“, sagt Retzer. Ein unsere Gesellschaft, dass dieser Mann Single ist. Warum
schönes Wort, weil es den Glauben an das zerstört, was sollte sich jemand, der seine rund 80 Jahre auf der Welt
er „autonome Totalverantwortlichkeit“ nennt. Der maximieren will, mit einer Frau zufriedengeben, die
Glaube unserer Zeit. Die Leute denken, sie hätten die „recherchiren“ schreibt, zumal es keinen gesellschaft-
Liebe und somit das Leben in der Hand, darum dieses lichen, biologischen oder finanziellen Druck gibt, diese
ständige Verlangen, sich Möglichkeiten offenzuhalten. Situation zu ändern?
Man ist seines Glückes Schmied, in Grenzen sicherlich,
aber ganz grundsätzlich, als Lebensentwurf? Als Maxime? Was stört Männer an Frauen? „Ihr Wunsch, den Mann zu
„Man ist ja heute umgeben von Glücksratgebern“, sagt Retzer, verbessern. Ihre viel zu hohen Erwartungen. Ihre Stutenbis-
„dabei vergessen die Menschen, dass Glück und Gesundheit sigkeit gegenüber jüngeren Frauen. Die Idiotie, Sex als Beweis
ein gemeinsames, wesentliches Merkmal haben: Man merkt für Liebe zu nehmen. Dass so gut wie alle kinderlosen Frauen
nicht, wenn man es hat.“ zwischen 35 und 40 panisch-verzweifelt und somit oft unzu-
rechnungsfähig sind. Ihre Forderung nach eigener Emanzipa-
Kürzlich hat Elite-Partner, eine tion, kombiniert mit dem brennen-
Hamburger Internet-Partneragen- den Interesse für den Kontostand
tur, rund 10 000 Singles gefragt, oder zumindest die Berufsaussich-
warum sie keinen Partner finden. ten des eigenen Mannes. Ihre Be-
Häufigste Antwort: Ich bin zu an- ziehung als Teil der eigenen Selbst-
spruchsvoll. verwirklichung zu sehen.“
Streben nach Glück, die Verant-
wortlichkeit für das eigene Glück, In einem marokkanischen Café
für die Liebe. US-Amerikaner ha- in Berlin-Kreuzberg, nicht weit
ben das Glücksstreben sogar von seiner Wohnung, bestellt sich
schriftlich. Jedes Schulkind kennt ein Mann, der als Sprecher für
den Satz aus der Unabhängigkeits- Werbefilme arbeitet, einen Tee
erklärung, in der steht: „The Pur- und sagt, ihn störe rein gar nichts
suit of Happiness“, das Streben an Frauen. Er mag sie sehr. So
nach Glück. Glück als Staatsziel. sehr, dass er nicht sagen könnte,
In den USA wird fast jede zweite mit wie vielen er im letzten Jahr
Ehe geschieden. geschlafen hat. Er hat in manchen
„Man wird mit dieser Maximie- Wochen drei, vier Dates. Nicht
rungshaltung paranoid sensibili- immer geht er mit ihnen ins Bett,
siert für kleine Unterschiede, für aber doch ab und zu. Er sagt von
Abweichungen. Wir fühlen uns sich, er sei ein „altgedienter Single
dem Glück verantwortlich, das ohne Beziehungsroutine“. Seine
heißt, wenn wir es nicht erreichen, Stimme klingt wie die eines besof-
ANNE SCHÖNHARTING

sind wir auch noch schuld, was fenen Matrosen. Satt, kräftig, ein-
wiederum dazu führt, dass man fach unglaublich. Es ist egal, was
diesem Glück noch stärker hinter- er sagt, es hört sich phantastisch
herjagt.“ Dieser Ich-AG-Gedanke an. Er ist dunkelblond, große Hän-
sei bei Männern stärker vorhanden de, er mag schwarze, taillierte
als bei Frauen, sagt Retzer. Nähe MICHAEL KREY Hemden, ein auffallend attraktiver
hat immer mit der Einbuße von 37, Raumausstattermeister Mann. Seit es das Internet gibt, ge-
Freiheit zu tun. hen die Chancen gegen null, dass
Psychologen sagen, dass die Lö- Ich möchte unbedingt Kinder haben. Das ist mir das er jemals wieder eine normale Be-
sung des Problems darin liege, eine Wichtigste im ganzen Leben. Ich hätte auch kein Problem ziehung führt.
Entscheidung zu treffen, die „gut damit, wenn meine neue Partnerin schon Kinder hätte. „Ich habe das Gefühl, dass das
genug“ sei. Nicht perfekt. Barry Ganz ehrlich, ich mag es nicht besonders, Single zu sein. Internet als Ort für die Partner-
Schwartz, ein Professor für Sozial- Klar, es hat auch Vorteile, man kann tun und lassen, was suche immer mehr akzeptiert
theorie aus Pennsylvania, ist davon man will. Aber eigentlich hat man in einer guten Bezie- wird“, sagt er. „Es ist unglaublich,
überzeugt, dass die Menschen in hung ja auch Freiräume. Ich lebe mittlerweile seit April wie viele interessante Frauen da
einer Welt voller Wahlmöglichkei- 2008 allein, obwohl: Allein war ich wohl schon vorher. Es immer wieder nachkommen. Da-
ten zufriedener und stressfreier war damals keine sofortige Trennung, sondern ein schlei- bei ist das Tempo, mit dem man
wären, wenn sie mit „gut genug“ chender Prozess. Ich kannte meine Ex-Frau 16 Jahre, Frauen kennenlernt, verblüffend.“
leben könnten. Irgendwie nach- 12 davon waren wir fest zusammen. Aber irgendwann
vollziehbar, gleichzeitig etwas war der Alltag eingezogen in unsere Beziehung, wir Das Angebot ist sein Problem.
weltfremd. Mein Engagement im haben uns keine Mühe mehr gegeben. Letztendlich habe Wieder die Möglichkeiten, diesmal
Beruf ist nicht maximal, nur gut ich den Fehler begangen, meiner Ex-Frau alles recht zu im Internet. Im Netz wird
§

genug. Wer erklärt das einem Mo- machen, denke ich. die Partnersuche gewisser-
tivationstrainer? Das Produkt, das maßen industrialisiert. Noch
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 83
Titel

ten“, sagt Allmendinger, „sie fragen sich: ‚Wie will ich mit sech- Und wie reagieren die Frauen? Sehr pragmatisch. Im Zweifel
zig dastehen?‘ Und daraus leiten sie ihre Vorstellungen ab.“ entscheiden sich manche erst mal für Karriere und Kinder, not-
Für die Studie „Frauen auf dem Sprung“ haben Allmendinger falls ohne Mann, denn für ein Baby und für einen Berufseinstieg
und ihre Mitarbeiter vom Berliner Wissenschaftszentrum für ist man irgendwann einfach zu alt. Den Mann kann man theo-
Sozialforschung im Jahr 2007 Frauen und Männer zwischen 17 retisch immer noch treffen. Theoretisch. Denn den Männern
und 19 und zwischen 27 und 31 ausführlich zu ihren Lebens- ist ja das Aussehen so wichtig, und Alter und Aussehen bilden
vorstellungen befragt. Im Frühjahr vergangenen Jahres wurde auch nicht unbedingt ein Traumpaar.
die Studie unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise aktualisiert. „Das alles macht die Partnerwahl ungeheuer schwierig“, sagt
Allmendinger trägt ein Kostüm, auf Figur geschnitten, nicht Allmendinger. Das macht einen dann kurz mal sprachlos. So
das, was man unter zeitlos versteht. In einer Ecke ihres schrecklich recht hat sie. Aber, so regt sich ein leiser Wi-
Büros stapeln sich Yogamatten. Drei Minuten höfliches derspruch, es gibt doch Paare. Glückliche sogar. Manche
Geplänkel, dann kommt sie zum Thema. von ihnen haben Kinder. Einige sogar Sex. Und auch
Partnerschaft und Familiengründung lassen sich für Festanstellungen.
Frauen in Deutschland noch immer schwer mit einer Be- Am Ende ist es vielleicht ganz einfach: Man muss
rufstätigkeit vereinbaren, diese Erkenntnis überragt alle sich nur verlieben. Trotz des Terrors der Möglichkeiten,
anderen. Nur ist es den Frauen mittlerweile so wichtig, ganz ohne Rücksicht auf Matchingpoints, Speeddating und
nach ihrer qualifizierten Ausbildung einen interessanten Ar- die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie. Einfach nur so?
beitsplatz zu finden, dass nur 25 Prozent der Frauen zugunsten Das Erstaunliche ist ja, dass sich an den Gefühlen und
der Partnerschaft auf einen beruflichen Aufstieg verzichten würden. Wünschen vieler Frauen seit Generationen nichts geändert
hat. Die Welt um sie herum ist eine andere geworden, die
Viele haben ihre Mütter vor Augen, die nach 20 Jahren als Haus- Biografien von Frauen und Männern haben sich angeglichen,
frau, Schularbeitenhilfe und Köchin von ihren Männern ver- und Frauen sind anspruchsvoller geworden. Ihre Beziehungen
lassen wurden. Im Alter stehen sie ohne Partner da, oft ohne und Ehen sollen aber nach wie vor romantisch oder zumin-
sinnvolle Beschäftigung und genügend Geld. Das neue Schei- dest äußerlich so sortiert sein wie in präfeministischen Zeiten.
dungsgesetz verschärft diese Situa- Da passt etwas nicht mehr zu-
tion. sammen.
Ihre Töchter sind die Umbruch- Die Emanzipation hat den Frau-
generation, geprägt von den an- en eine große Unabhängigkeit be-
steigenden Scheidungsraten in schert. Und das Alleinsein. Kaum
ihrer Kindheit und darauf ange- eine Frau empfindet das als Errun-
wiesen, Ideen zu entwickeln, wie genschaft, im Gegenteil, viele
man sonst noch leben kann, wenn schämen sich dafür. Das geht ein-
das Ein-Verdiener-Kleinfamilien- her mit einer gesellschaftlichen
Modell nicht funktioniert. Auch Wahrnehmung, die in den fünfzi-
deshalb herrscht viel Verwirrung ger Jahren steckengeblieben ist:
darüber, welcher Mann der Rich- Alleinstehende Männer werden
tige sein könnte. Denn obwohl den um ihre Ungebundenheit benei-
Frauen ihre berufliche Karriere det; alleinstehende Frauen haben
wichtig ist (fast 90 Prozent streben keinen abgekriegt, sind bemitlei-
nach einem „möglichst selbstbe- denswerte Geschöpfe, garantiert
stimmten“ Leben), steht eine feste wahnsinnig kompliziert. Wäre
Partnerschaft noch immer ganz ganz schön, wenn sich daran etwas
oben auf der Liste der Wünsche. ändern könnte.
Frauen wollen die große Liebe, Vielleicht ist es ein noch fehlen-
Familie und Erfolg im Beruf. Das der Schritt zur Emanzipation, das
ANNE SCHÖNHARTING

ergibt ziemlich oft ein Bermuda- Alleinsein zu akzeptieren, zumin-


dreieck. Denn dafür brauchen sie dest in bestimmten Lebensphasen.
dringend die Unterstützung ihrer Beziehungen haben sich verän-
Partner. Doch die meisten Männer dert, das wesentliche Merkmal: Sie
machen da nicht mit. Auch das werden kürzer. Und wenn es doch
belegen die Zahlen von Jutta All- HEIKE GLEICHMANN irgendwann pling macht und das
mendinger. Während die Frauen 52, Geschäftsführerin Herz klopft? Dann sollte man auch
vor allem Männer suchen, die sich einen Mann mit 50 Matchingpoints
Zeit für ihre Partnerin nehmen, Ich lebe jetzt das erste Mal im meinem Leben ganz allein, in Erwägung ziehen und riskieren,
ist es den Männern am wichtigs- nur mit zwei Katzen, und die sprechen leider nicht. Ich dass die Liebe nur eine begrenzte
ten, dass ihre Frau gut aussieht. habe zwar zwei tolle Kinder, aber die sind schon ausge- Zeit dauern wird, vielleicht nur für
Das sind ehrliche Antworten. Und zogen. Allein ist es nicht so schön, ich bekomme weder acht Jahre oder sechs. Nicht mehr
sie zeigen, wie breit der Graben Kritik noch Lob, und ich denke, dass beides sehr wichtig für immer und ewig. Es war dann
ist zwischen den Zukunftswün- ist im Leben. Ich bin nun seit eineinhalb Jahren Single, aber hoffentlich eine gute Zeit.
schen von Frauen und Männern. vorher hatte ich 15 Jahre lang eine Wochenendbezie-
Noch Anfang der sechziger Jahre hung. Am Ende ist sie wohl daran gescheitert, dass ihm Wie sollte ein Mann sein? „Kinder-
träumte die Mehrzahl einheitlich exponierter gesellschaftlicher Status sehr wichtig war lieb. Wie George Clooney. Männ-
vom Haus im Grünen, von zwei und ich mich eher so geben möchte, wie ich auch bin. lich. Nicht zu männlich. Er sollte
Kindern, vom Papi, der das Geld Ich mag bei Männern nicht den Status, sondern Humor, sich für irgendetwas außer Fußball
nach Hause bringt, und Mami, die Offenheit, Ehrlichkeit und eine gewisse Leichtigkeit, das interessieren. Gut im Bett. Wäre
daheim alles richtet. Es hat sich viel Leben zu sehen, ohne dabei oberflächlich zu sein. Und schön, wenn er zuhören könnte und
verändert in sehr kurzer Zeit. Die ein Mann sollte im Beruf schon was auf die Beine ge- auch mal nachfragen würde. Er
Feinabstimmung zwischen den Ge- stellt haben. sollte einen besten Freund haben.
schlechtern steht erst noch bevor. Lustig. Er selbst.“
84 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
mehr Möglichkeiten, noch mehr Frauen, die in Frage kommen, Ihr ganzes Privatleben wird davon bestimmt. Sie sind unlocker,
noch mehr Entscheidungen, die man treffen muss, noch mehr unwitzig, unattraktiv.
potentiell verpasste Chancen. Er könne zuschauen, sagt er, wie die Frauen bei den nächsten
Eine Untersuchung von Emnid ergab bereits im Jahr 2003: Treffen verlieren. „Redundanz“ sei ein großes Problem. Sie
Die Deutschen finden sich vor allem bei der Arbeit, dann im langweilen ihn schnell, keine Aufregung, nicht das Maximale.
Freundeskreis, dann im Internet. Platz drei, vor dem Club, der Eigentlich seltsam, dass ihn Wiederholungen langweilen. Er
Disco, dem Urlaub oder der Käsetheke. Eine aktuellere Studie sitzt Tag für Tag vor dem Rechner. Schreibt Frauen an, die er
zeigt, dass bei den 30- bis 50-Jährigen ein Drittel aller Kontakt- vermutlich irgendwann doof findet. An manchen Tagen sitzt
aufnahmen, die zu einer Partnerschaft führen, über das In- er acht Stunden vor dem Rechner. Viel redundanter geht es
ternet erfolgen. Tendenz steigend. 1,3 Millionen Deutsche nicht, „natürlich stumpft das ab“.
haben laut Branchenverband Bitkom einen Lebens- Es gebe Leute, die klug genug seien, davon irgend-
gefährten im Internet gefunden. wann die Finger zu lassen. Sie wissen, dass es einem
Der Werbefilmsprecher trinkt seinen Tee und ana- auf Dauer nicht guttut. „Man muss mit diesem An-
lysiert seine Situation. Auch er hat schon oft darüber gebot umgehen können, sich beschränken. Aber viel-
nachgedacht: „Das Internet ist ein Marktplatz, in dem leicht gehöre ich nicht dazu. Ich muss immer wieder
sich das Angebot ständig ändert. Lose, nette, enge, sehr schauen, was für eine neue, hübsche, interessante Frau
enge Bekanntschaften ergeben sich. Es werden immer oder Gesprächspartnerin da kommt. Jeden Tag kann man
mehr. Der Reiz, der sich dem Auge bietet, ist inflationär. Und gucken. Was könnte heute für ein Leben auf mich warten?“
da ich das schon lange mache, weiß ich, wie man die Aufmerk- Die Suche verstetigt sich. Viele ehemalige Singles, die
samkeit einer Frau im Internet bekommt.“ kurzzeitig in einer Beziehung sind, melden sich beim ersten
Seit längerem ist er auf einer Internetseite, die „Finya“ heißt. Streit sofort wieder im Internet an. Viele haben ihr Such-
Es gibt Dutzende dieser Portale im Internet. Er hat ein paar profil nicht gelöscht, sie „deaktivieren“ es. Es ist noch alles
sympathische Fotos eingestellt, darunter stehen ein paar per- gespeichert: die Hobbys, der Fragebogen, den man auch auf
sönliches Statements. Eines ist vom französischen Dichter einer solchen Seite ausfüllen muss, das Statement, die Fotos.
Eugène Marin Labiche: „Ein Ego- Ein Klick, und man ist wieder im
ist ist ein Mensch, der nicht an Geschäft.
mich denkt.“ Ein anderes lautet: Der Werbefilmsprecher spürt,
„Hauptsache, man kommt autis- dass irgendwas nicht stimmt, aber
tisch rüber!“ er spürt auch keinen Druck. Er hat
Freunde, einen abwechslungsrei-
Einige Männer lassen sich mit chen Job, er geht oft aus. Vielleicht
freiem Oberkörper fotografieren wird es einfach so weitergehen.
oder beim Surfen, vor ihrem Auto, Vielleicht eine Alters-WG, mit
vor ihren zwei Autos. Ein Münch- Freunden. Was ist schlecht daran,
ner schreibt als persönliches State- sein Leben lang frei zu sein? Es
ment, als Satz, der ihn charakteri- maximal zu leben? Der Preis könn-
sieren soll: „Die Schlampen aus te sein, dass man die letzten zehn
dem P1 können mir gestohlen Jahre seines Lebens einsam ist. Ist
bleiben.“ das vielleicht ein guter Deal? So
„Auf so einem Portal ist alles was erklärt einem niemand.
bedeutsam, alle Angaben. Man Psychologen sagen, dass man
muss offen sein, aber nicht zu of- heute „Beziehungskompetenz“
fene Ansprachen machen. Natür- brauche. Da uns die alten Sicher-
lichkeit ist wichtig. Alles, was den heiten genommen wurden, muss
Anschein von verzweifelter Lie- man jetzt selbst zurechtkommen.
ANNE SCHÖNHARTING

bessuche weckt, ist falsch. Ich ma- Erwachsener sein als die eigenen
che es den Frauen leicht, mit mir Eltern.
in Kontakt zu treten“, sagt der Dann muss der Sprecher los. Er
Werbefilmsprecher. wird nach Hause gehen, im Inter-
Heute Abend wird er mit einer net die neuen E-Mails checken,
24-Jährigen zu einer Restaurant- MARCO BITTNER sich dann für sein Date fertig-
eröffnung in Mitte fahren. Er ist 41, Eventmanager machen.
38. Er hat sich auch schon mit äl-
teren Frauen getroffen, die sich auf Meine Freude über die Freiheiten des Single-Daseins war „Ich bin dankbar für mein Leben,
ihrem Profil ein paar Jahre jünger bei mir nach ein paar Monaten verschwunden. So richtig aber natürlich warte auch ich auf
gemacht hatten. Die Gespräche gemerkt habe ich es beim ersten Kaffee allein in der Sonne die Frau, für die ich mein Postfach
wiederholen sich. Meist geht es und bei der Urlaubsplanung. Da hat sie sich gemeldet, die lösche.“
darum, warum man sucht, wie lan- Sehnsucht nach Mrs. Right. Ich suche in meiner Partnerin Es ist vielleicht der ultimative
ge man sucht, wie oft man das die Ergänzung zu meiner Person, zu meinen Sehnsüchten, Satz. In einer Zeit, in der in Sa-
schon gemacht hat. Er ist klug zu meinem Beruf. Und das trotz oder gerade wegen der An- chen Liebe alles durcheinanderge-
genug, nicht zu viel zu reden, er sprüche und Macken, die im Alter immer mehr werden. Mei- kommen ist. In der die Menschen
hört viel zu, gibt der Frau das Ge- ne letzte Beziehung ist an den 120 Kilometern gescheitert, noch nicht so weit sind wie die
fühl, dass er sie ernst nimmt, tut die uns getrennt haben, und am Vertrauen. Ich bin als Möglichkeiten.
er vielleicht sogar in dem Moment. Eventmanager viel unterwegs, und da ist es unabdingbar, „Ich lösche für dich mein Post-
Er macht das seit Jahren und ist dass man sich vertraut. Zurzeit knüpfe ich Kontakte meist fach.“
sehr routiniert. Er kann die Frauen online, um flexibel neue Menschen außerhalb meines Das Bekenntnis des modernen
lesen, er erkennt Muster, er passt beruflichen Umfelds kennenzulernen. Mein letztes Date hat- Mannes.
sich an. Viele Frauen, mit denen te ich vor einigen Tagen. Mal sehen, was daraus wird. Früher hätte er gesagt: „Ich liebe
er sich trifft, suchen einen Vater. dich.“
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 85
Titel

Mit Liebe gerechnet PRINZIP HOFFNUNG


„Meine Eltern führen /
Die deutschen Paare in Zahlen führten eine glückliche Ehe“......... 31 .. 38
Quellen: Statistisches Bundesamt 2009, „Brigitte“-Studie
„Meine Großeltern führten
eine glückliche Ehe“ .................... 30 .. 39
„Frauen auf dem Sprung“ 2008/2009, LiebesTrendMonitor 2007/2008,
www.singleboersen-vergleich.de; Angaben in Prozent

BEZIEHUNGEN FRAUEN
33,0 MERKMALE EINER GUTEN BEZIEHUNG
„Eine Beziehung wird dann als gut bezeichnet …“

JA, 28,5 … wenn es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt .... 97 ...93
ICH WILL 30,0 … wenn man gemeinsame Zukunftspläne hat ..........................................95 ... 91
MÄNNER
Durchschnittliches … wenn man mit dem Partner alt werden will ........................................... 93 .. 88
Alter bei der
Eheschließung GESAMT
26,1
FLIRTFAKTOR HUND Labrador, Golden Retriever.......................... 71
„Diese Hundebesitzer Dalmatiner.................................................. 51
sind am attraktivsten …“
Deutscher Schäferhund.............................. 50

454291 Nur 6 Prozent


der Frauen finden das
377055 Herrchen des
Anzahl geschlossener Ehen Zwergpinschers
attraktiv.

1991 2008

LEBENSENTWÜRFE SCHEIDUNGEN UND


UND PRIORITÄTEN TRENNUNGEN
ZIELE 106
„Sind Ihnen folgende Personen
IM BUNDES-
und Dinge wichtig?“ DURCHSCHNITT

Freunde............................ 91 .... 87 IN DEN BUNDESLÄNDERN


auf 10 000 Ehen, 2008
Feste Beziehung ................ 77 ... 68
Hamburg ........................ 137
Eigener Job........................ 74 .... 78 Berlin .............................. 132
Bremen ........................... 130
Eigene Familie Schleswig-Holstein .......... 120
mit Kindern ...................... 68 .... 51
Hessen............................ 116
Nordrhein-Westfalen ........ 115
OPFER
„Für meine Partnerschaft würde ich …“ Saarland ......................... 114
Niedersachsen ................. 113
… Freundschaften Rheinland-Pfalz ............... 110
vernachlässigen................................. 19.... 31 Bayern ............................ 103
… aufhören Baden-Württemberg .......... 94
zu arbeiten........................................ 22.... 13 Sachsen-Anhalt .................. 91
… auf Kinder Brandenburg ..................... 88
verzichten ........................................... 17....35 Mecklenburg-Vorpommern .. 87
… Einkommensverluste Thüringen .......................... 85
hinnehmen ....................................... 63... 62 Sachsen ......................... 80

86 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
SEHNSÜCHTE LEBEN ALS
TRAUMMANN / TRAUMFRAU SINGLE 2009 gab es

16 Mio.
„Welche dieser Eigenschaften ist Ihnen bei
einem Partner /einer Partnerin am wichtigsten?“
Einpersonenhaushalte
4 in Deutschland.
29 Prozent
11 21 Ein kommen der Single-Männer
Einkommen Aussehen, sind zu schüchtern,
Attraktivität 29 um eine Frau

Zeit für
anzusprechen.
EINPERSONEN-
41 HAUSHALTE
37 die Familie
Aussehen,
Zeit für Anteil an Deutschlands
die Familie 31 Attraktivität
Haushalten 39,8
Bildung 26 in Prozent 35,0 36,1
Bildung
30,2
25,1
ANTWORT DER FRAUEN ANTWORT DER MÄNNER

11 Prozent der
Single-Frauen sind heimlich
IDOLE in ihren besten Freund
„Mit welchem verliebt.
Prominenten
würden Sie gern
einen Abend 1970 1980 1990 2000 2009
verbringen?“

ANTWORT DER FRAUEN ANTWORT DER MÄNNER SINGLE-BÖRSEN UND


4 Dates haben Singles
durchschnittlich pro Jahr.
32,1
Günter Jauch ............. Heidi Klum.................. 15,3 PARTNERVERMITTLUNGEN
21,5
Moritz Bleibtreu.......... Esther Schweins......... 14,6 IM INTERNET
Harald Schmidt ......... 10,7 Iris Berben..................14,1

41 Prozent
der Singles denken,
sie hätten zu hohe
TABUS Ansprüche an einen
„Was würden Sie Ihrem Partner verschweigen?“ Partner.

erotische Tagträume von anderen ........................... 41,6


einen Seitensprung ................................................ 40,0 Umsatz 2008:
wie viele Partnerinnen/Partner
ich vor ihm / ihr hatte.............................................. 29,7 164 Mio. €
SCHEIDUNGSALTER DIE ZEIT
Durchschnittliches Alter
44,2 DANACH 29 (27)
bei der Scheidung „Wie ist Ihr manchmal
41,4 Verhältnis Kontakt
zu Ihrem
38,5 Nach 5 6
bis
Jahren Ehe …
Ex-Partner?“
20 (20)
42 (38)
kein
FRAUEN (MÄNNER) sind gute Kontakt
… ist das Risiko
Freunde mehr
einer Scheidung 6 (10)
würde ihn gern zurückgewinnen
35,7 am höchsten.
2 (3)
gehen ab und zu miteinander ins Bett
1 (2)
1990 2008 habe neuen Partner, vermisse den/die Ex aber noch

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 87
Trends

ENERGIE

Rätsel um RWE-Chef
I m Aufsichtsrat des Essener RWE-
Konzerns steigt die Unsicherheit
über die künftige Rolle von Konzern-
chef Jürgen Großmann. Der umtrie-
bige Manager ist bereits seit zwei Wo-
chen krankgeschrieben und soll auch
erst Ende November wieder zurück-
kehren. Die Leitung des Stromriesen
hat unterdessen Finanzchef Rolf Poh-
lig übernommen. Während der Kon-
zern versichert, dass Großmann nach
seiner Genesung weiter für das Amt JENS BÜTTNER / DPA

des Vorstandsvorsitzenden zur Ver-


fügung stehe, befürchten einige Auf-
sichtsräte, dass der Konzernlenker bei
der für Dezember angesetzten Sitzung
des Kontrollgremiums seinen Rücktritt Fertigpizza-Produktion
ankündigen könnte. Der Grund: Der
Aufsichtsrat plant, den Vertrag von LEBENSMITTEL

Kampagne gegen „Hexenjagd“


Finanzchef Pohlig gegen den Willen
des Vorstandschefs um weitere zwei
bis drei Jahre zu verlängern. Daran
hatte Großmann schon auf einer der
letzten Sitzungen heftige Kritik geübt.
Wird der Beschluss dennoch gefasst,
so die Befürchtung, könnte der Kon-
D ie ARD-Themenwoche „Essen ist Leben“ hat die Ernährungsindustrie in gewaltige
Erregung versetzt. Als „Schrott“ bezeichnet der Geschäftsführer der Bundesver-
einigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), Matthias Horst, viele der Beiträge,
zernchef das als Affront gegen sich die sich kritisch mit der industriellen Lebensmittelproduktion und -vermarktung aus-
werten und Konsequenzen ziehen. einandersetzten. „Wir haben die Nase voll“, sagt Horst, „wir lassen uns diese Hexenjagd
nicht mehr bieten.“ Der Darstellung, „da werde geschummelt, betrogen und es mit
der Gesundheit nicht so genau genommen“, will der Verband nun eine Transparenz-
kampagne entgegensetzen. In einer außerordentlichen Vorstandssitzung am vergan-
genen Donnerstag wurde beschlossen, mit Hilfe einer Werbeagentur das Image zu
korrigieren. Statt der 25 000 Euro, die bisher für die Eigendarstellung ausgegeben wer-

IMMOBILIEN Yoom-Mitbegründer Malte Niebuhr ist


die Ablösesumme an die Mieter kein
Mieter als Makler Problem: Sie sei deutlich geringer als
die herkömmliche Maklerprovision,

D ie Idee wirkt im ersten Moment


bestechend: Seit Dezember 2009
bietet das Hamburger Start-up-Unter-
und schließlich könne jeder den Be-
trag beim Auszug zurückbekommen,
wenn er die Wohnung wieder über
nehmen Yoom GmbH ein Internetpor- yoom.de vermittelt. Das Geld sei so-
tal an, über das Mieter bundesweit mit nicht verloren. Derzeit bietet
Nachmieter für ihre Wohnung suchen yoom seinen 11 500 registrierten Nut-
können – und zwar maklerfrei. Damit zern 642 Exposés aus 90 Städten an.
will Yoom die „oft in keinem Verhält-
nis zur erbrachten Leistung“ stehenden
Kosten für die ungeliebten Immobi-
lienvermittler, die zwei Monatsmieten
Courtage kassieren dürfen, umgehen.
Die Kehrseite der Medaille: Yoom
macht aus Mietern Makler. Sie organi-
sieren die Besichtigung, holen Gehalts-
WOLFGANG VON BRAUCHITSCH

nachweise der Interessenten ein und


stellen den Kontakt zu den Vermietern
her. Kommt ein Vertrag zustande, kas-
siert der zum Hobby-Makler mutierte
Vormieter eine Nettokaltmiete vom
Neumieter, der außerdem 99 Euro Ge-
Großmann bühr an yoom.de entrichten muss. Für Nachmieterportal yoom.de
88 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Wirtschaft
A B G E LT U N G S T E U E R

Am Fiskus vorbei
A uf Anleger, die in Anleihen inves-
tiert haben, kommen erhebliche
Steuernachforderungen zu. Betroffen
sind Besitzer von Anleihen, die ihre
Wertpapiere vor dem 1. Januar 2009
erworben und danach verkauft haben.
Sie bekommen ihren Zinsanteil für das
laufende Jahr gewöhnlich vom Käufer
erstattet. Auf diese sogenannten
Stückzinsen entfällt nach der Rechts-
auffassung der Bundesregierung die
Abgeltungsteuer von 25 Prozent. Seit
Einführung dieser neuen Steuer zu
Jahresbeginn 2009 weigerten sich aber
sämtliche Banken, diesen Anteil an
unterjährigen Zinseinnahmen ihrer
Kunden an die Finanzämter abzu-
den, will es sich die Branche nun laut führen. Sie beriefen sich auf eine
„Lebensmittelzeitung“ ein bis zwei Mil- unklare Gesetzesformulierung, die der
lionen Euro kosten lassen, die „Produk- Großen Koalition bei Einführung der
tionsprozesse darzustellen“. „Wir lassen Abgeltungsteuer unterlaufen war.
nicht länger zu, dass die viertgrößte Bran- Obwohl das Bundesfinanzministerium
che Deutschlands mit 535 000 Mitarbeitern die Angelegenheit schon in einem
pauschal an den Pranger gestellt wird“, so Rundschreiben Ende 2009 klarstellte,
Horst. Besonders verbittert den BVE die blieben die Kreditinstitute bei ihrer
„oft populistische Reaktion“ der Politik. Praxis. Eine endgültige Bereinigung
Gegen den Widerstand der Industrie und erfolgt nun im Rahmen des Jahres-
zur Freude der Verbraucherrechtsorgani- steuergesetzes 2010. Das Bundes-
sation Foodwatch plant Bundesverbrau- finanzministerium rechnet mit Steuer-
cherministerin Ilse Aigner eine Internet- mehreinnahmen von 1,5 Milliarden
plattform, auf der gegen falsche oder irre- Euro. „Der Fall belegt, zu welchen
führende Lebensmittelkennzeichnungen Problemen nachlässige Gesetzgebungs-
vorgegangen werden soll. arbeit führen kann“, sagt der FDP-
Finanzpolitiker Volker Wissing.

WESTLB Spanien von den Bankiers nicht genug


abgewertet worden seien. Der tatsäch-
Pikante Abwertung liche Wert der PIIGS-Anleihen mit
einem Nennwert von zehn Milliarden

N ach Ansicht der Europäischen


Union hat die WestLB bei der Aus-
gliederung ihrer Bad Bank eine zusätz-
Euro sei am Stichtag 30. April rund
400 Millionen Euro niedriger gewesen.
Auch bei der Auslagerung von Kredit-
liche Beihilfe von 3,4 Milliarden Euro geschäften kalkuliert die EU-Kommis-
vom Staat kassiert. Die EU-Kommis- sion mit einer Milliarde Euro höheren
sion wirft der Düsseldor- Abschlägen als die
fer Bank vor, dass diese WestLB. Die EU-Kom-
bei der Übertragung der mission sei fünfmal so
Vermögenswerte in Höhe streng vorgegangen wie
von 77 Milliarden Euro bei ihren europäischen
auf die Bad Bank zu Stresstests für die Ban-
hohe Buchwerte ange- ken im Sommer, heißt es
setzt habe. Besonders bei der WestLB. Vergan-
pikant: Im bisher gehei- gene Woche waren die
men Gutachten des spa- Fusionsverhandlungen
nischen EU-Wettbewerbs- mit der BayernLB ge-
GEORGES GOBET / AFP

kommissars Joaquín scheitert, weil die ver-


Almunia wird unter an- einigten Kreditinstitute
derem moniert, dass die nach Ansicht der Bayern
Anleihen der PIIGS-Staa- keine Mindestrentabilität
ten Portugal, Irland, Ita- von zehn Prozent hätten
lien, Griechenland und Almunia erreichen können.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 89
Wirtschaft

Chinesisches Containerschiff im Hamburger Hafen

PETER VON STAMM / ACTION PRESS

W E LT W I R T S C H A F T

Rückschläge auf breiter Front


Handelshürden, Währungskrieg, Kapitalkontrollen: Drei Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise
mehren sich die Spannungen zwischen den Industrienationen, der freie Welthandel gerät unter
Druck. Die protektionistischen Maßnahmen treffen besonders Export-Vizeweltmeister Deutschland.

D
er Berliner Politikbetrieb kennt Verkleidungsstücke für Protektionismus“, Doch nun zeichnen sich in der globalen
eine eherne Regel: Je größer die warnt der Liberale. Angesichts der dro- Nachkrisenökonomie neue dramatische
Sorge, desto verkrampfter die henden Gefahr fühle er sich als „Missio- Verwerfungen ab. Gleich an mehreren
Rhetorik. nar“ für Freihandel und Globalisierung, Stellen droht die bisherige Welthandels-
Gemessen daran werden Mitglieder der bekannte Brüderle jüngst. ordnung in Unordnung zu geraten:
Bundesregierung in jüngster Zeit von re- Das politische Berlin erregt sich nicht ‣ Im Gefolge der Wirtschafts- und Fi-
gelrechten Angstattacken heimgesucht, ohne Grund. Nach Ausbruch der Finanz- nanzkrise haben viele Länder begon-
wenn der freie Welthandel zur Sprache krise vor drei Jahren war es der inter- nen, ihre Märkte für ausländische Pro-
kommt. Finanzminister Wolfgang Schäub- nationalen Staatengemeinschaft zunächst dukte abzuschotten, weil sie ihre Un-
le (CDU) etwa hält die Berichte über gelungen, den drohenden Absturz der ternehmen schützen wollen.
Währungs- und Handelskriege, Devisen- Weltökonomie mit gemeinsamen Ak- ‣ Zwei der größten Wirtschaftsblöcke,
schlachten und Abwertungswettläufe für tionen zu Bankenrettung und Kon- China und die USA, sind dabei, einen
ein „Wetterleuchten“. junkturförderung zu verhindern. Davon Abwertungswettlauf ihrer Währungen
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brü- profitierte nicht zuletzt Deutschland, in Gang zu setzen.
derle (FDP) hat das „Gespenst des Pro- dessen Wirtschaft in diesem Jahr so ‣ Wichtige Schwellenländer, allen voran
tektionismus“ ausgemacht, das sich hin- stark zulegen wird wie seit 1991 nicht Brasilien und Indonesien, schränken
terhältig zu tarnen weiß. „Es gibt viele mehr. den Kapitalverkehr ein, was den glo-
90 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
balen Geldkreislauf aus dem Takt brin- Lagarde vor Monaten Deutschland ins Vi- Jens Weidmann, und Finanzstaatssekre-
gen könnte. sier. Vor zwei Wochen ließ Geithner dem tär Jörg Asmussen, arbeiten fieberhaft
‣ Aus Verzweiflung über die trostlose Genörgel Taten folgen. Er schlug einen daran, eine Abwehrfront gegen das ame-
Wirtschaftslage treibt die Regierung Mechanismus vor, der Überschussländer rikanische Ansinnen zu organisieren. In
von US-Präsident Barack Obama eine dazu verpflichtet, ihre Finanz- und Wirt- Dutzenden Argumentationspapieren und
diplomatische Offensive voran, die schaftspolitik so zu ändern, dass die In- Vermerken, die zwischen den Hauptstäd-
Länder mit chronischen Überschüssen landsnachfrage stimuliert werde. Dann ten der Teilnehmerstaaten hin und her-
in der Leistungsbilanz international an könnten diese Länder auch mehr impor- gehen, machen sie aus ihrer Ablehnung
den Pranger stellen soll. Im Faden- tieren, meint Geithner. Im Klartext: Die und ihrem Unverständnis kein Hehl.
kreuz: China, Japan und Deutschland. Überschussländer sollen zugunsten der Sie verweisen darauf, dass es unter-
Jede einzelne Entwicklung für sich ist USA freiwillig auf Wettbewerbsvorteile schiedliche Ursachen dafür gibt, warum
bedenklich, zusammen stellen sie eine verzichten. Länder Überschüsse einfahren. Ein Land
ernste Bedrohung für die Weltwirtschaft Auf dem G-20-Finanzministertreffen wie Saudi-Arabien wird auf lange Zeit
dar. Besonders gefährdet ist das Ge- konnte sich der Amerikaner vor zwei Wo- ein Plus verzeichnen, weil es Erdöl ex-
schäftsmodell Deutschlands, das auf den chen noch nicht durchsetzen. Jetzt hat portiert. China verschafft seinen Waren
Erfolg seiner Exportwirtschaft baut. US-Präsident Barack Obama die Angele- einen Vorteil, weil es seine Währung her-
Jahrzehntelang war der Welthandel ge- genheit zur Chefsache erklärt. Er gibt sich untermanipuliert.
prägt von Liberalisierung. Zölle wurden wild entschlossen, das Thema beim Gipfel Der Exportüberschuss Deutschlands sei
gesenkt oder abgeschafft, Handelshemm- in dieser Woche voranzubringen. weder auf die üppige Ausstattung mit
nisse beseitigt. Das setzte Wachstumskräf- In Memoranden und Kommuniqué-Ent- Ressourcen noch mit absichtlicher Wäh-
te frei und mehrte den Wohlstand welt- würfen bombardieren Weißes Haus und rungsabwertung zu erklären, sondern ba-
weit. Über Jahre hinweg wuchs der Welt- US-Finanzministerium die Partnerländer siere allein auf dem Fleiß und der Findig-
handel stärker als die Wirtschaftsleistung. mit ihren Vorstellungen. Danach sollen keit seiner Unternehmen und Arbeitneh-
Ein deutliches Indiz für jene produktiven Staaten unter verschärfte Beobachtung mer, argumentieren sie. Deshalb dürfe
Effekte von Arbeitsteilung und Deutschland nicht an den Pranger
Handelsfreiheit, von denen schon gestellt werden.
der schottische Ökonom Adam Ohnehin empfinden die Deut-
Smith zu berichten wusste: Alle schen den Zielkorridor von vier
profitieren, wenn jeder das her- bis minus vier Prozent des Brutto-
stellt, was er am besten kann. inlandsprodukts als Akt reiner
Zum ersten Mal seit dem Ende Willkür. Es gebe keinen wissen-
des Zweiten Weltkriegs drohen schaftlichen Grund, warum die
nun Rückschläge auf breiter Schwelle für Unbotmäßigkeit aus-
Front – wenn es den Staats- und gerechnet bei diesem Wert liege.
Regierungschefs aus den großen Wohl aber einen politischen:
Industrie- und Schwellenländern, Die USA laufen keine Gefahr,
den G20, nicht gelingt, sich auf selbst unter Kuratel gestellt zu wer-
eine gemeinsame Lösung der Pro- den. Ihr Leistungsbilanzdefizit
bleme zu einigen. In dieser Woche läge mit 3,2 Prozent im erlaubten
treffen sie sich in Südkoreas Rahmen, genauso wie das Groß-
Hauptstadt Seoul, um wieder ein- britanniens (2,2 Prozent), das sich
mal über den Zustand der Welt- dem US-Vorstoß angeschlossen
wirtschaft zu beraten. Ganz oben hat. Die Franzosen unterstützen
auf der Tagesordnung stehen Wäh- die Front der Angelsachsen nicht,
rungskrieg und Ungleichgewichte springen den Deutschen in ihrem
JASON REED / REUTERS

im Handel. Abwehrkampf aber auch nicht bei.


Für Export-Vizeweltmeister Die Bundesregierung will das
Deutschland steht viel auf dem Ansinnen der Amerikaner kon-
Spiel. Das Land erlebt gerade ein struktiv unterlaufen. Das neue
unerwartetes Job- und Wachstums- Überwachungsregime soll zwar
wunder, vor allem dank der gro- US-Minister Geithner, Fed-Chef Bernanke: Akt der Willkür Ungleichgewichte ins Visier neh-
ßen Wettbewerbsfähigkeit seiner men, so ihr Konzept, dabei aber
Unternehmen auf den Weltmärkten. In geraten oder ihre Politik ändern müssen, auch andere Indikatoren als die bloße
diesem Jahr wird die Wirtschaft voraus- wenn ihre Leistungsbilanz einen Über- Leistungsbilanzkennziffer berücksichti-
sichtlich um rund 3,5 Prozent wachsen, schuss oder ein Defizit von mehr als vier gen, beispielsweise die Ausstattung mit
vielleicht sogar mehr. Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf- Rohstoffen, die internationale Wettbe-
Der Erfolg weckt Missgunst, besonders weist. An dieser quantitativen Vorgabe werbsfähigkeit, aber auch die demografi-
unter den Staaten, die sich nur schlep- halten die Amerikaner verbissen fest. sche Entwicklung.
pend aus der Krise befreien können, allen Die Bundesregierung ist nicht bereit, Einen Zielkorridor mit genauen Zah-
voran die USA. Den Erfolg der anderen sich der Vorgabe des angeschlagenen He- lenvorgaben wollen die Deutschen in
sieht Amerikas Regierung als Ursache für gemons zu beugen. Der Vorschlag sei für Seoul auf jeden Fall verhindern. Noch ist
die eigene Misere. Chinas und Deutsch- Deutschland „unter keinen Umständen nicht absehbar, wer sich durchsetzt.
lands Leistungsbilanzüberschüsse verhin- akzeptabel“, sagt Finanzminister Wolf- So oder so, der Ton zwischen den Re-
derten, dass diese Länder selbst genug gang Schäuble im SPIEGEL-Gespräch gierungen wird rauer. Die Experten der
Nachfrage entfalten, um schwächeren (Seite 97). Und in einer Vorlage seine Hau- Bundesregierung fürchten, dass es den
Staaten zu helfen, mäkelt US-Finanz- ses heißt es: „Nicht-kooperative Lösun- Amerikanern nicht allein darum geht, an-
minister Timothy Geithner seit langem. gen lehnen wir ab.“ dere Länder zu Anpassungen zu zwingen.
Mit ähnlichen Argumenten nahm Die Unterhändler der Bundesregierung, Sitzt ein Land wie China ständig auf der
Frankreichs Finanzministerin Christine der Wirtschaftsberater der Kanzlerin, Anklagebank, lassen sich vor der Welt-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 91
Wirtschaft

öffentlichkeit viel leichter Vergeltungs- das protektionistische Land zurück- kontrollierte Gelddrucken“ und forderte
maßnahmen gegen dessen Warenflut schlägt. Dessen Wirtschaft und Verbrau- einen „währungspolitischen Schutzwall“.
rechtfertigen. Anstatt globale Ungleich- cher sind zudem gezwungen, die benö- So droht eine Spirale in Gang zu kom-
gewichte zu beseitigen, könnte der neue tigten Waren überteuert im eigenen Land men, deren Ende noch nicht absehbar ist.
Mechanismus die Neigung zu neuen Han- zu ordern, was wiederum einen Wohl- „Das Böse daran ist, dass jeder sein Vor-
delshemmnissen sogar noch befördern. standsverlust bedeutet. gehen mit guten Gründen verteidigen
Ohnehin hat die Flut protektionisti- Für Thomas Straubhaar, den Direktor kann“, klagt Dennis Snower, Präsident
scher Maßnahmen seit dem Höhepunkt des HWWI-Instituts für Wirtschaftsfor- des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
der Finanzkrise vor zwei Jahren unge- schung in Hamburg, sind Zollschranken Die Chinesen manipulieren ihren Yuan
ahnte Ausmaße angenommen. Dabei hat- und andere Handelshemmnisse die Hand- nach unten, damit ihr Exportsektor nicht
ten sich die G-20-Staaten bei ihrer ersten feuerwaffen im globalen Kampf um kollabiert. Die Amerikaner werfen Hun-
Konferenz in Washington im Herbst 2008 Marktanteile. Sie wirken punktuell, kön- derte Milliarden unters Volk in der Hoff-
geschworen, auf eigennützige Schutz- nen aber für den, den sie treffen, tödliche nung, dass ihre Wirtschaft Fahrt auf-
politik zu verzichten. Wirkung entfalten. nimmt. Beides verstärkt den Verfall bei-
332 einzelne Maßnahmen registrierte al- Doch die Länder kämpfen auch mit der Währungen.
lein die EU-Kommission in ihrem jüngsten großem Kaliber gegeneinander. „Das sind Der Kampf der Giganten wird erhebli-
Report. So erschwerten die USA die Ein- che Verwerfungen in der Weltwirtschaft
fuhr von Stahl und bestimmten Schlafsä- Der Kampf der Giganten wird heraufbeschwören. Wenn die Europäi-
cken. Kanada gewährt für die Herstellung sche Zentralbank – gemäß ihres Mandats,
von Speiseeis Rabatte auf heimische Milch. erhebliche Verwerfungen in der auf die Preisstabiliät des Euro zu achten –
Zwischen Oktober 2008 und Oktober Weltwirtschaft heraufbeschwören. die Geldpolitik nicht weiter lockert, wird
2009, neuere Daten gibt es nicht, waren der Außenwert der Gemeinschaftswäh-
fast zwei Prozent des EU-Handels betrof- die Wechselkursmanipulationen und die rung wohl stark steigen. Die Konsequen-
fen. „Das sind die völlig falschen Signale“, Ausweitung der Geldmenge“, sagt Straub- zen sind absehbar: Waren aus der Euro-
schimpft Wirtschaftsstaatssekretär Bernd haar. Zone werden dann teurer. Für die Bun-
Pfaffenbach. Er ist im Brüderle-Ressort Wie entschlossen die Amerikaner vor- desrepublik verheißt das nichts Gutes.
für Außenwirtschaftspolitik zuständig. gehen, zeigte sich am vergangenen Mitt- „Von den Turbulenzen“, sagt Snower,
Mit Sorge beobachtet er, dass viele Ab- woch. Da kündigte Notenbankchef Ben „wäre Deutschland als Export-Vizewelt-
wehrmaßnahmen in Kraft bleiben, ob- Bernanke an, dass die Zentralbank Fed meister besonders betroffen.“
wohl die akute Krise vorbei ist. „Das wird zusätzlich für 600 Milliarden Dollar Mit einem Anflug von Düsternis blickt
den Welthandel belasten“, fürchtet er. Staatsanleihen kaufen werde. Wirtschaftsstaatssekretär Pfaffenbach in
In der Ökonomie besteht schon lange Das hemmungslose Anwerfen der Geld- die Zukunft. Er sieht Parallelen zur Welt-
kein Zweifel daran, dass protektionisti- druckmaschinen wird unweigerlich den wirtschaftskrise. Protektionismus und Ab-
sche Maßnahmen den Wohlstand schmä- Außenwert des Dollar schwächen – und wertungswettlauf seien das Allerletzte,
lern, und zwar für alle. In Ländern, deren seinerseits die Chinesen zwingen, ihre was die Welt derzeit brauche, meint er.
Waren ausgesperrt werden, schrumpft die Währung zu verteidigen. Die Reaktionen „Das erinnert fatal an die dreißiger Jahre
Produktion; als Folge können sie selbst aus Peking waren harsch: Ein Berater der des vergangenen Jahrhunderts.“
weniger importieren, was wiederum auf chinesischen Notenbank rügte das „un- CHRISTIAN REIERMANN

Die Leistungsbilanz der G-20-Mitglieder Prognose für 2010, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
Quelle: IWF

Kanada Russland
Großbritannien
Deutschland

Frankreich
USA Japan
Italien Türkei China
 
Südkorea

Mexiko Saudi-Arabien
Europäische Union
Indien

Japan Indonesien
Brasilien

Südafrika
DEFIZIT ÜBERSCHUSS
Australien
über 4% über 4%
Argentinien
2 bis 4% 2 bis 4%

kein G-20-Mitglied 0 bis 2% 0 bis 2%

92 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Wirtschaft

HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / DER SPIEGEL


Minister Schäuble: „Die Europäische Union wurde nicht zur Bereicherung von Finanzinvestoren gegründet“

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Zu lange auf Pump gelebt“


Finanzminister Wolfgang Schäuble, 68, über die US-amerikanischen Forderungen nach
geringeren deutschen Exporten, seine Pläne für eine Insolvenzordnung für
europäische Schuldenländer und die Bedeutung der deutsch-französischen Achse für Europa
SPIEGEL: Herr Minister, wie gut verstehen der US-Handel mit Deutschland aus- telstand vernachlässigt. Es gibt viele
Sie sich mit Ihrem amerikanischen Amts- schlaggebend, sondern der mit der Ge- Gründe für die amerikanischen Proble-
kollegen Timothy Geithner? samtheit der Länder der Euro-Zone. Und me – die deutschen Exportüberschüsse
Schäuble: Herr Geithner ist ein exzellenter hier ist die Bilanz tendenziell ausgegli- gehören nicht dazu.
Minister. Wir haben ein persönlich gutes chen. Wo also ist das Problem? Wir be- SPIEGEL: Das sieht die US-Regierung an-
Verhältnis. klagen uns ja auch nicht über die Export- ders. Sie fordert, dass die deutschen Ame-
SPIEGEL: Trotzdem kritisiert er unablässig erfolge einzelner amerikanischer Bundes- rika-Exporte künftig gedrosselt werden
die Regierenden jener Länder, die hohe staaten. müssen, wenn sie einen bestimmten
Exportüberschüsse erzielen und zu wenig SPIEGEL: Die deutsche Wirtschaft profitiert Schwellenwert übersteigen. Werden Sie
tun, um die Binnenwirtschaft anzukur- aber davon, dass sich die Industrie hier- dem Drängen nachgeben?
beln. Damit sind doch Sie gemeint, oder? zulande vor allem auf die Auslandsmärk- Schäuble: Der Vorschlag ist für Deutsch-
Schäuble: Die Vermutung liegt nahe. Des- te konzentriert hat und die Löhne jahre- land unter keinen Umständen akzepta-
halb antworte ich ihm wieder und wieder, lang kaum gestiegen sind. Die Amerika- bel. Würden wir solche Mechanismen ein-
dass ich seine Betrachtungsweise in dieser ner betrachten das als unfair. führen, würden wir den internationalen
Angelegenheit für falsch halte. Schäuble: Die deutschen Exporterfolge Wettbewerb ja beschränken. Wir sind
SPIEGEL: Immerhin hat Deutschland im gründen nicht auf irgendwelchen Wäh- doch aber seit Jahren gemeinsam mit den
vergangenen Jahr fast 14 Milliarden Euro rungstricksereien, sondern auf der gestie- Amerikanern der Auffassung, dass der
mehr an Waren in die USA verkauft als genen Wettbewerbsfähigkeit der Unter- Welthandel weiter geöffnet werden muss.
von dort eingeführt. Können Sie nicht nehmen. Das amerikanische Wachstums- Daran sollten wir festhalten und zum Bei-
verstehen, dass sich der amerikanische modell dagegen steckt in einer tiefen spiel die Doha-Runde zur Förderung des
Finanzminister deswegen Sorgen macht? Krise. Die USA haben zu lange auf Pump Welthandels vorantreiben. Das würde das
Schäuble: Nein, denn seit wir in Europa gelebt, ihren Finanzsektor übermäßig globale Wachstum weit effektiver fördern
den Euro eingeführt haben, ist nicht mehr aufgebläht und ihren industriellen Mit- als eine bilaterale Quotenregelung.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 97
Wirtschaft

SPIEGEL: Vergangene Woche hat die US- Schäuble: Ich halte nichts von diesen bel- Staaten einzuführen. Sind Sie zufrieden
Notenbank beschlossen, die Wirtschaft lizistischen Begriffen, aber es ist unüber- mit dem Ergebnis?
mit zusätzlichem Geld in Höhe von 600 sehbar, dass sich die Weltwirtschaft in ei- Schäuble: Die Beschlüsse des Rates sind
Milliarden Dollar zu fluten. Wird das die ner schwierigen Situation befindet. Ur- ein großer Erfolg. Noch vor wenigen Wo-
Konjunktur wie erhofft ankurbeln? sache sind die enormen Staatsschulden, chen haben viele prognostiziert, Frank-
Schäuble: Ich habe große Zweifel, ob es die viele Länder im Zuge der Krisenbe- reich werde Deutschland bei seinem En-
sinnvoll ist, unbegrenzt Geld in die Märk- kämpfung aufgenommen haben. Diese gagement für einen europäischen Krisen-
te zu pumpen. Der US-Wirtschaft man- Defizite zurückzuführen ist die vorran- mechanismus nie unterstützen. Und dass
gelt es nicht an Liquidität; deshalb ver- gige Aufgabe, so wie es die G-20-Staaten die Franzosen bereit sein würden, dafür
mag ich das ökonomische Argument die- auf ihrem jüngsten Gipfel in Toronto be- die europäischen Verträge zu ändern, galt
ser Maßnahme nicht zu erkennen. schlossen haben. Dort haben sich alle ver- erst recht als ausgeschlossen. Dann haben
SPIEGEL: Die USA wollen auf diese Weise pflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbie- sich Kanzlerin Merkel und Präsident Sar-
den Wert des Dollar drücken, um so ihre ren, auch die USA. An diesen Beschlüs- kozy in Deauville getroffen und in beiden
Produkte im Ausland leichter verkaufen sen sollten wir festhalten, dann werden Fragen einen historischen Durchbruch er-
zu können. Ist das angesichts der lahmen- wir auch die Unruhe an den Märkten zielt. Er liegt ganz auf der Linie, die wir
den US-Konjunktur nicht eine durchaus dämpfen. Deutschen immer haben wollten.
nachvollziehbare Strategie? SPIEGEL: Für die Unruhe auf den Märkten SPIEGEL: Das glauben Sie selbst nicht. Bis
Schäuble: Nein. Die Beschlüsse der US- sind doch nicht nur die USA verantwort- vor kurzem hat Deutschland gefordert,
Notenbank erhöhen die Unsicherheit in lich, auch die Euro-Krise schwelt weiter. dass Länder, die gegen die Schulden-
der Weltwirtschaft. Sie erschweren einen Die Risikoaufschläge für Staatsanleihen regeln der Euro-Zone verstoßen, auto-
vernünftigen Ausgleich zwischen Indu- aus den Krisenländern Irland und Grie- matisch bestraft werden müssen. Diese
strie- und Schwellenländern, und sie un- chenland sind erneut gestiegen. Wie lan- Forderung ist vom Tisch.

Zitterpartie
Renditen auf Staatsanleihen*
in Prozent
Griechenland
12

11

10

Irland 8

Portugal
GREGOIRE ELODIE / ABACA

Quelle: Thomson Reuters Datastream 4


* zehn Jahre Laufzeit

Kanzlerin Merkel, Präsident Sarkozy, Premier Cameron: „Ganz auf Linie der Deutschen“ Jan. 2010 Nov.

tergraben die finanzpolitische Glaubwür- ge wird es noch dauern, bevor Europa Schäuble: Es ist nun mal so in Europa,
digkeit der USA. Es passt nicht zusam- neue Staatsgarantien ausreichen muss? dass man nicht alle seine Wunschvorstel-
men, wenn die Amerikaner den Chinesen Schäuble: Ich bin da nicht so pessimistisch. lungen durchsetzen kann. Die große
Wechselkursmanipulationen vorwerfen Die Iren haben wegen der Rettung ihrer Mehrheit der EU-Mitglieder hat klarge-
und anschließend den Dollar-Kurs mit Banken zwar enorme Schulden aufge- macht, dass sie automatische Sanktionen
Hilfe ihrer Notenpresse künstlich nach häuft, kommen aber mit der Sanierung nicht akzeptieren würde. Darauf haben
unten schleusen. ihrer Wirtschaft gut voran. Und auch vor wir gesagt: Statt für etwas zu kämpfen,
SPIEGEL: Diese Woche treffen sich die G-20- der Entschlossenheit der griechischen Re- was nicht zu haben ist, versuchen wir das
Staaten in Südkorea, um über die Lage gierung habe ich großen Respekt. Vor ein zu erreichen, was möglich ist.
der Weltwirtschaft zwei Jahre nach der paar Monaten hätte noch kaum jemand SPIEGEL: Das klingt nach hoher Staats-
tiefsten Finanz- und Wirtschaftskrise der geglaubt, dass die Griechen ein solch kunst. Doch nun bleibt es dabei, dass im
Nachkriegszeit zu beraten. Als die Krise drastisches Sparprogramm umsetzen kön- Europäischen Rat weiter Täter und Wäch-
ausbrach, hat die Staatengemeinschaft er- nen. Jetzt sind sie auf einem guten Weg. ter identisch sind, wie Ex-Verfassungs-
staunlich geschlossen reagiert. Doch nun SPIEGEL: So geordnet, wie sie es darstellen, richter Paul Kirchhof sagte. Die Länder,
versuchen viele Länder, sich Vorteile zu sind die europäischen Verhältnisse nicht. die ihren Haushalt nicht im Griff haben,
verschaffen, indem sie ihren Wechselkurs Erst vor zwei Wochen hat der Europäi- entscheiden mit, welche Strafen dafür
beeinflussen. Fürchten Sie einen weltwei- sche Rat beschlossen, einen neuen Kri- verhängt werden. Wirkungsvolle, rasche
ten Währungskrieg? senmechanismus für überschuldete Euro- Sanktionen kommen so nicht zustande.
98 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Schäuble: Das sehe ich anders. Künftig SPIEGEL: Sie müssen auch Ihre Landsleute
wird es wesentlich einfacher, Sanktionen überzeugen. Als der Euro eingeführt wur-
gegen Defizitsünder durchzusetzen als de, hieß es stets, die deutschen Steuer-

H.-C. PLAMBECK / DER SPIEGEL


bisher. Auch werden wir früher – präven- zahler müssten nie für die Schulden an-
tiv – ansetzen können. Außerdem hat es derer Staaten eintreten.
die deutsche Position nicht gerade be- Schäuble: Gerade weil wir wollen, dass
fördert, dass im Jahr 2003 die rot-grüne die deutschen Steuerzahler im Krisenfall
Bundesregierung gemeinsam mit der da- so wenig wie möglich in Anspruch ge-
maligen französischen Regierung dem nommen werden, ist eine geordnete Um-
Stabilitäts- und Wachstumspakt großen, Schäuble (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* schuldung unter Beteiligung der Privat-
bleibenden Schaden zugefügt hat mit der „Die Griechen sind auf einem guten Weg“ gläubiger so wichtig. Wir alle sollten aber
Ansage: Der Pakt gilt für alle, nur nicht auch zur Kenntnis nehmen: Es ist vor al-
für die beiden größten Mitgliedstaaten. Schäuble: Im Krisenfall. Aber die Euro- lem in unserem Interesse, den Euro stabil
SPIEGEL: Dafür hat Deutschland jetzt zu- päische Union wurde ja auch nicht zur zu halten. Niemand profitiert von der Ge-
gestimmt, dass die milliardenschweren Bereicherung von Finanzinvestoren ge- meinschaftswährung mehr als die größte
Rettungspakete für Griechenland und gründet. Ich stelle mir ein zweistufiges europäische Volkswirtschaft.
Europa dauerhaft verlängert werden. Ist Verfahren vor: Gerät ein Land in Zah- SPIEGEL: Auch EZB-Präsident Jean-Claude
das nicht ein etwas hoher Preis für den lungsschwierigkeiten, setzt die Europäi- Trichet ist von Ihrem Krisenmechanismus
lieben Frieden in der EU? sche Union ein Spar- und Sanierungspro- nicht überzeugt. Die Aussicht, im Ernst-
Schäuble: Nein, denn wir haben einen gramm in Gang wie im Falle Griechen- fall Geld zu verlieren, so fürchtet er, wür-
ganz neuen Krisenmechanismus geschaf- lands. In einem ersten Schritt könnten de bloß die Investoren verschrecken.
fen, bei dem wir unsere wichtigste For- dann die Laufzeiten für diejenigen An- Schäuble: Ich bin anderer Auffassung. Wir
derung durchgesetzt haben: Künftig wer- leihen verlängert werden, die in dieser werden einen überzeugenden Krisenme-
den die privaten Gläubiger, also die kritischen Phase fällig werden. Hilft das chanismus für die Euro-Zone entwickeln,
Banken und Finanzinvestoren, beteiligt, nicht, müssten die Privatgläubiger in ei- der die Glaubwürdigkeit der Gemein-
wenn ein Land seine Schulden nicht mehr nem zweiten Schritt einen Abschlag auf schaftswährung dauerhaft erhöht. Dieses
bedienen kann. Wer hohe Risikoaufschlä- ihre Forderung hinnehmen. Dafür wür- Ergebnis können wir nicht erreichen,
ge auf Staatsanleihen kassiert, muss die- den sie im Gegenzug Garantien auf den wenn wir die Rettungsschirme einfach nur
ses Risiko künftig auch tragen, wenn es Rest bekommen. verlängern, ohne die Regeln zu ändern.
ernst wird. Das ist ein wichtiges Prinzip: SPIEGEL: Und wer wird das Verfahren SPIEGEL: Die Märkte sind davon noch
Regierungen und Geldgeber werden sich kontrollieren – eine europäische Einrich- nicht wirklich überzeugt. Vergangene
künftig viel vorsichtiger verhalten, wenn tung oder der Internationale Währungs- Woche machte schon das Wort vom
es um neue staatliche Schulden geht. fonds (IWF), den die Europäer schon in „Merkel-Crash“ die Runde, weil private
SPIEGEL: Klingt gut. Aber zum einen müs- der Griechenland-Krise eingeschaltet Investoren die Risiken scheuen, die ihnen
sen die Maßnahmen erst noch national haben? die europäischen Regierungschefs aufer-
abgesegnet werden. Und zum anderen ist Schäuble: Aus wohlerwogenen Gründen legen wollen.
völlig unklar, wie die Beteiligung privater haben wir damals entschieden, dass wir Schäuble: Ob die Bewegung auf den Märk-
Gläubiger aussehen soll. den IWF mit einbinden. Das hat sich als ten wirklich eine Folge unserer Gipfel-
Schäuble: Die Einzelheiten arbeiten wir guter Ansatz erwiesen. Es gibt keine In- beschlüsse war, möchte ich bezweifeln.
in der Bundesregierung und auf europäi- stitution weltweit, die über ein vergleich- Wichtiger ist etwas anderes: Europa ist
scher Ebene gerade aus. Sicher ist schon bares Maß an Expertise für Restrukturie- immer dann vorangekommen, wenn
jetzt, dass sich der neue Mechanismus rung verfügt und über ein vergleichbares Deutschland und Frankreich die Initiative
nicht auf die Altschulden, sondern nur Maß an Reputation auf den Märkten. übernommen haben. Genau das haben
auf neue Kredite beziehen wird. Mir Diese Expertise können wir auch beim Sarkozy und Merkel bei ihrer Einigung
schwebt vor, dass alle Anleihen von Euro- künftigen Krisenmechanismus brauchen. zum Krisenmechanismus eindrucksvoll
Staaten künftig Klauseln enthalten, in Schließlich müssen wir die Finanzmärkte demonstriert. Das ist das eigentliche Si-
denen genau festgelegt ist, was im Krisen- davon überzeugen, dass die neuen Regeln gnal des jüngsten EU-Gipfels, und ich bin
fall mit den Forderungen der Gläubiger funktionieren. sicher, dass dieses Signal über kurz oder
passiert. lang auch die Märkte erreichen wird.
SPIEGEL: Konkret, sie werden ihr Geld nur * Mit den Redakteuren Michael Sauga und Peter Müller SPIEGEL: Herr Schäuble, wir danken Ihnen
zum Teil zurückerhalten. im Finanzministerium in Berlin. für dieses Gespräch.
Wirtschaft

Deutsche-Bank-Chef Ackermann
Vorhersehbares Maximalrisiko?

Beginn an, so die Richter des 9. Zivilsenats


in ihrem Urteil, fast alle Gewinnchancen
bei der Bank und fast alle Verlustrisiken
bei dem Kommunalverband lagen.
„Diese Vorgehensweise hat den Cha-
rakter einer heimlichen Selbstbedienung
der Bank am Vermögen des Kunden“, be-
fanden die Stuttgarter Richter. Sie attes-
tierten der Bank Vorsatz. Die Beratung
sei derart schlecht gewesen, dass der kom-
munale Verband „wie im Blindflug die
Anlageentscheidung getroffen hat“. Die
Deutsche Bank wurde verurteilt, dem Ab-
wasserverband 710 000 Euro plus Zinsen
als Schadensersatz zu zahlen.
Mit dem Richterspruch vom 27. Okto-
ber hat zum ersten Mal ein deutsches
Obergericht eine Bank in vollem Umfang
haftbar gemacht für Verluste, die kom-
munalen Unternehmen aus Zinsspeku-
lationsgeschäften entstanden sind. „Das
Urteil ist ein Signal, Hunderte von Kom-
munen können nun auf Schadensersatz
hoffen“, glaubt der Tübinger Rechtsan-

ARNE DEDERT / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


walt Peter Gundermann, der das Urteil
für den Verband erstritten hat.
Wie von Sinnen hatten in der ersten
Hälfte dieses Jahrzehnts Bürgermeister,
Kämmerer und Geschäftsführer von Kom-
munalunternehmen zu Instrumenten ge-
griffen, die Investmentbanker zur wunder-
samen Geldvermehrung ersonnen hatten.
Hochriskante Zinsspekulationen zumeist,
mit denen Städte, ihre Unternehmen und
URTEILE
Verbände Schulden senken und Kredite

Heimliche Selbstbedienung
für Investitionen absichern wollten.
Die entsprechenden Produkte hielten
die Banken bereit, besonders aktiv war
die von ihrem Chef Josef Ackermann zum
Zum ersten Mal hat ein Obergericht die Deutsche Bank Investmenthaus getrimmte Deutsche Bank.
Die Produkte hatten Namen wie Credit
wegen Falschberatung einer Kommune verurteilt. Default Swap, Spread Ladder Swap oder
Für ein Spekulationsgeschäft soll sie nun Schadensersatz zahlen. Spread Sammler Swap. Ausgetüftelt hat-
ten sie Finanzmathematiker mit Statistik-

A
n die smarte Beraterin der Deut- Deutsche Bank seit Jahren mit Erfolg um und Wahrscheinlichkeitsberechnungen,
schen Bank aus Frankfurt am Geldangelegenheiten des kommunalen
Main kann sich Walter Lehmann Verbands. Und hatte dabei geholfen, die
noch gut erinnern. Wie sie in seinem Büro Modernisierung der Kläranlage zu finan-
im oberschwäbischen Ravensburg von zieren. Außerdem war da nicht nur die
einer „attraktiven Zinsverbilligungsstra- Frau aus Frankfurt von der Abteilung
tegie“ sprach, und von einem überschau- „Capital Market Sales“, sondern auch der
baren Risiko. Ravensburger Deutsche-Bank-Chef, der
Nur wie das im Detail funktionieren Lehmann versprach, dass das für beide
sollte mit dem billigen Geld, verstand Seiten ein gutes Geschäft wird.
Lehmann nicht. „CMS Spread Sammler Im Juni 2005 unterschrieb Lehmann
Swap“ klingt synthetisch, passt zu den den Vertrag zur Zinsoptimierung. Drei
kühlen Hochhäusern in der Finanzmetro- Jahre später hatte sein Abwasserverband
pole am Main, aber nicht zum schwäbi- rund eine Dreiviertelmillion Euro ver-
schen Barock seiner Heimatstadt. Und in loren.
Lehmanns Business, dem Klären von Ab- Seit der letzten Oktoberwoche weiß
wässern, kommen solche unklaren Begrif- Lehmann warum. Die Ursache steht in
fe auch nicht vor. einem 37-seitigen Urteil des Oberlandes-
Doch der kaufmännische Geschäftslei- gerichts Stuttgart – und auch, wer daran
ter des Abwasserzweckverbands Mariatal schuld ist. Der Verband hatte sich auf ein
vertraute der Beraterin. Warum auch Glücksspiel eingelassen: Die Bank hat eine
nicht? Schließlich kümmerte sich die Wette verkauft; eine Wette, bei der von Kläranlage des Abwasserzweckverbands Mariatal,

100 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
hochkomplizierte Kopfgeburten, deren hochriskant und für Städte und kommu-
Feinheiten außer den Entwicklern kaum nale Unternehmen eher nicht geeignet
jemand verstand. sind. Ein schuldhaftes Verhalten der Ban-
„Im Grunde“, sagt Anwalt Gunder- ken sahen die Gerichte jedoch nur ver-
mann von der Kanzlei Tilp, die seit Jahren einzelt. Die Finanzleute der Kommunen
undurchsichtige Bankgeschäfte im Visier hätten die Risiken erkennen müssen, war
hat, „ist es wie im Spielcasino. Nur weiß der Tenor der meisten Urteile.
der Kunde nicht, dass er am Roulettetisch Genau das aber sahen nun die Richter
steht.“ am Stuttgarter Oberlandesgericht im Fall
Der Kunde setzt einen Betrag darauf, des oberschwäbischen Abwasserzweck-
ob Zinsen in einem bestimmten Zeitraum verbands Mariatal ganz anders. Der 9. Zi-
steigen oder fallen. Die Gefahr liegt darin, vilsenat, spezialisiert auf Bankenver-
dass schon Schwankungen um ein paar fahren, ist in die Tiefen der komplexen
hundertstel Prozentpunkte über Verlust Finanzkonstrukte eingestiegen. Er hörte
oder Gewinn entscheiden. Nur die Bank, unter anderem einen Syndikus der Deut-
wie im Spielcasino, gewinnt immer: über schen Bank; dessen Erklärungen haben
Margen und weil sie die Einzige bei dem die Richter mit der Darstellung vergli-
Deal ist, die wirklich alle Spielregeln chen, die die Deutsche Bank den Abwas-
kennt. sermanagern gegeben hat.
Dutzenden Kommunen drohen aus sol- Im Ergebnis, so die Richter, sei der
chen Swap-Geschäften empfindliche Ver- Zweckverband völlig unzureichend über
luste. In Großstädten wie Leipzig und Risiken informiert worden. Die hätte der
Berlin sind es jeweils dreistellige Millio- Verband nur einschätzen können, wenn
nen-Euro-Beträge, im westfälischen Ha- er über dasselbe Bewertungsinstrumen-
gen 40 Millionen, in Remscheid 19 Millio- tarium verfüge wie die Bank. Außerdem
nen Euro. Pforzheim musste schon 57 Mil- seien die Risiken und Chancen ungleich
lionen Euro bezahlen, die Rücklagen der verteilt gewesen. Bereits zum Zeitpunkt
120 000-Einwohner-Stadt sind damit auf- des Vertragsschlusses hätte „das Verlust-
gezehrt (SPIEGEL 36/2010). risiko“ des Abwasserverbands eine Mil-
Wie viele Städte, Stadtwerke und lion Euro betragen, während die Bank
Zweckverbände hierzulande Teile ihres bei dem Geschäft, das über fünf Jahre ab-
Vermögens mit derartigen Geschäften in geschlossen war, maximal 250 000 Euro
Gefahr gebracht oder schon verloren ha- hätte verlieren können.
ben, weiß niemand genau. Selbst die kom- Einen Zufall mochten die Richter in
munalen Spitzenverbände haben keine solchen Konstruktionen nicht erkennen.
Übersicht. Nur wenige Städte hängen es Die Deutsche Bank handelte, heißt es in
an die große Glocke, wenn sie sich ver- dem Urteil, „vorsätzlich, um mit dem Ge-
zockt haben. schäft entweder direkt oder durch den
Im Herbst 2008, als die internationalen Handel mit den günstig erworbenen Op-
Kapitalmärkte kollabierten, zweifelten tionen einen Gewinn zu erzielen“.
aber immer mehr Bürgermeister daran, Eine Gewinnabsicht bestreitet die
dass sich ihre Wettgeschäfte noch mal Deutsche Bank auch gar nicht, wohl aber,
zum Positiven wenden. Sie sind vor Ge- dem Zweckverband Risiken verschwie-
richt gezogen. In den meisten Fällen al- gen zu haben. „Der Kunde hat mit der
lerdings ohne Erfolg. Bank ein klar vorhersehbares, begrenztes
Zwar waren sich in der Regel die Rich- Maximalrisiko vereinbart“, sagt Christian
ter mit den Klägern aus den Kommunen Duve, Prozessbevollmächtigter der Bank,
einig, dass derartige Finanzprodukte „das musste nicht erst kalkuliert werden.“
Die Rechtsanwälte der Deutschen
Bank haben inzwischen Revision gegen
das Stuttgarter Urteil eingelegt. Das Spe-
kulationsgeschäft des Abwasserverbands
wird nun also den Bundesgerichtshof
(BGH) beschäftigen. Es ist das siebte
Swap-Verfahren gegen die Deutsche
Bank, das Karlsruhe vorliegt. Den ersten
Fall werden die obersten Richter am 8.
Februar verhandeln.
Bankenjuristen gehen davon aus, dass
der BGH die Bedingungen für derartige
Geschäfte mit Kommunen verschärfen
könnte – etwa über spezielle Risikobera-
tungen durch die Banken.
Walter Lehmann, der Geschäftsführer
CHRISTIAN FLEMMING

des Abwasserzweckverbands Mariatal,


hat ganz persönliche Konsequenzen ge-
zogen. Er hat sein Privatkonto bei der
Deutschen Bank gekündigt.
Anwalt Gundermann: „Wie im Spielcasino“ ANDREAS WASSERMANN

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 101
OBERHÄUSER / CARO / ULLSTEIN BILD
E.on-Ruhrgas-Zentrale in Essen: Die frühere Perle des Konzerns wird zum Sorgenfall

Selbst Zukunftsbereiche wie die erneu-


KONZE RNE
erbaren Energien scheinen – trotz wich-

Raus aus Europa


tiger Stellung im Konzern – vor Teyssens
Umgestaltungs- und Sparplänen nicht
vollkommen sicher. Was die gesteckten
Renditeziele nicht erfüllt, wissen ehema-
Beim Stromriesen E.on sind die goldenen Zeiten vorbei. Konzern- lige Top-Manager und Vorstände, soll ab-
gestoßen oder – falls möglich – in Part-
chef Teyssen will deshalb Teile des Stammgeschäfts nerschaften mit anderen Unternehmen
verkaufen und stattdessen in Wachstumsregionen expandieren. fortgeführt werden.
Mit den erzielten Milliardeneinnahmen

D
em „Erbe seiner Vorgänger“ fühlt stolzen E.on-Konzerns haben Teyssens will Teyssen Ertragslöcher stopfen und
sich Johannes Teyssen „zutiefst Pläne wenig zu tun. Was er Mitarbeitern neue Geschäfte in Wachstumsregionen
verpflichtet“. Große Wirtschafts- und Kontrolleuren am Montag präsentie- auch außerhalb Europas finanzieren.
lenker wie Rudolf von Bennigsen-Foerder, ren wird, ist zunächst einmal eine Strate- Hintergrund für den rigiden Kurswech-
Klaus Piltz oder Ulrich Hartmann, so gie der Konzentration, des Sparens und sel des E.on-Chefs: Die Zukunftsaussich-
pflegt er in kleinen Runden gern zu er- Verkaufens. Es könnte ein schrittweiser ten des Energieversorgers haben sich dra-
zählen, hätten vor ihm das Sagen an der Abschied aus wichtigen Geschäftsfeldern matisch eingetrübt. Teyssens Vorgänger
Spitze des Stromkonzerns gehabt. und ein Stück weit auch aus Deutschland konnten immer neue Rekordgewinne ver-
Ihrem Mut und Geschick sei es zu ver- und Europa sein. künden, doch damit ist es vorbei.
danken, dass aus den einst regionalen Neben diversen Auslandsaktivitäten Auslandstöchter, etwa in den USA,
Stromversorgern ein Unternehmen von und kleineren Sparten stehen selbst eher- Spanien, Italien oder Frankreich, für die
Weltformat gewachsen sei. Diese Tradi- ne Kernbereiche des Konzerns auf dem E.on vor nicht allzu langer Zeit noch
tion, so Teyssen, wolle er fortsetzen. Auch Prüfstand. Die milliardenschweren Gas- zweistellige Milliardenbeträge ausgege-
unter seiner Ägide soll E.on einen der netze und das in vielen Regionen flächen- ben hat, werfen wegen der Wirtschafts-
vorderen Plätze in der Weltliga der multi- deckende Stromverteilnetz gehören nach krise deutlich geringere Gewinne ab. Der
nationalen Großkonzerne einnehmen. internen Planungen genauso dazu wie Wert von Kraftwerken, Netzen und Aus-
Es ist kein Zufall, dass bei der Aufzäh- der rund 15 Millionen Kunden umfassen- landsbeteiligungen sinkt dramatisch. Erst
lung der großen Konzernchefs ein Name de Vertrieb in Deutschland. All diese vor zwei Wochen musste Teyssen in einer
fehlt: Wulf Bernotat. Mit dessen Hinter- Sparten könnten – abhängig von der Ent- Art Notoperation den Wert einiger Aus-
lassenschaft kann Teyssen offenbar wenig wicklung – neu geordnet oder in Teilen landsbeteiligungen um den stolzen Betrag
anfangen. sogar verkauft werden. von rund 2,6 Milliarden Euro bereinigen.
Sechs Monate hatte der neue Konzern- Massive Einbrüche verzeichnet auch
chef nach dem Abgang des von ihm so die einstige Perle des Konzerns, die Gas-
ungeliebten Vorgängers Zeit, das Erbe zu Tochter E.on Ruhrgas. Bis zu 2,6 Milliar-
analysieren und eine neue Strategie für den Euro Gewinn hatte der Gashändler
den Konzern auszuarbeiten. Am Montag Jahr für Jahr zum E.on-Ergebnis beige-
wird er das mit Spannung erwartete Er- steuert. Doch seit weltweit immer neue,
gebnis präsentieren. Noch liegen nicht sogenannte unkonventionelle Gasvor-
sämtliche Details auf dem Tisch, noch kommen in Schiefergesteinen gefunden
Ende vergangener Woche diskutierten und gefördert werden, verliert Ruhrgas
Aufsichtsräte, amtierende und ehemalige an Bedeutung – und Geld.
Vorstände über Einzelheiten der neuen Denn das Unternehmen hat mit Russ-
Ausrichtung. land und Norwegen langfristige Liefer-
Klar scheint jedoch: Mit der Wachs- Manager Teyssen verträge über Pipeline-Gas abgeschlossen.
tums- und Erfolgsgeschichte des einst so Radikaler Umbau des Konzerns Der Preis ist an die Entwicklung des Öl-
102 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Wirtschaft

preises gekoppelt. Deshalb kauft die E.on- würde all das zu einer schweren Bedro- den Aufbau neuer Geschäftsfelder in Län-
Tochter den wertvollen Rohstoff in Russ- hung werden. dern, in denen die Wirtschaft stärker
land inzwischen teilweise teurer ein, als Zwar scheinen solche Horrorszenarien wächst, der Stromverbrauch entspre-
er für Großkunden am Spotmarkt ange- ein Stück weit übertrieben, denn selbst chend steigt und die Energiemärkte we-
boten wird. Zwar versuchen Teyssen und bei einem 30-prozentigen Rückgang blie- niger rigide reguliert werden als in
seine Manager nachzubessern und die be E.on noch ein Gewinn vor Steuern Deutschland.
Verträge mit den Russen aufzuweichen. von rund sieben Milliarden Euro im Jahr. Auf der Liste der Wunschkandidaten
Doch die Verhandlungen sind zäh, die Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter stehen asiatische Staaten wie China und
Fortschritte minimal. reagierten vergangene Woche denn auch Indien ganz oben. Aber auch Brasilien
Im Stromgeschäft drohen ebenfalls her- gereizt, als Details der Konzernplanung hält Teyssen für ein lohnendes Ziel. Auf
be Rückschläge. So kostet die Brennele- durchsickerten. diesem Weg soll der Gewinn, den E.on
mentesteuer den Konzern in den nächs- Aber Teyssen scheint gewillt, die Neu- außerhalb seiner angestammten Märkte
ten drei Jahren nach eigenen Schätzun- ausrichtung des Unternehmens auch ge- erzielt, massiv gesteigert werden.
gen mehr als 2,5 Milliarden Euro. Und gen Widerstände durchzusetzen. Der Ka- Bei Arbeitnehmervertretern und einigen
auch die bisherige Kraftwerksplanung, pitaleinsatz im Strom- und Gasgeschäft, Managern stößt diese Strategie auf wenig
die in Teilen auf neuen Kohlekraftwerken so seine Argumentation, sei hoch. E.on Verständnis. Mit der milliardenschweren
basierte, geht kaum noch auf. allein sei demnächst kaum noch in der Abschreibung auf spanische und französi-
Sogar die Inbetriebnahme weitgehend Lage, alle wichtigen Geschäftsbereiche sche Gesellschaften, hieß es am Rande ei-
fertiggestellter Meiler wie etwa in Datteln und Zukunftsfelder mit den dringend not- ner Gewerkschaftskonferenz in der vergan-
droht am Widerstand der Bevölkerung wendigen Milliardeninvestitionen zu ver- genen Woche, habe E.on wieder einmal
zu scheitern. Die mögliche Folge: eine sorgen. eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass
milliardenschwere Investitionsruine und Der E.on-Chef will deshalb die nächs- die Kernkompetenz des Konzerns nicht un-
Großkunden wie die Deutsche Bahn, die ten ein bis zwei Jahre dazu nutzen, sämt- bedingt in Auslandsgeschäften liege.

E.on-Aktienkurs im Vergleich zum Dax +13,1


Veränderung gegenüber Jahresanfang, Veränderung
in Prozent 1. Halbjahr 2010 zum Vorjahres-
Dax in Mrd. Euro zeitraum
0
Umsatz 44,3 + 6,7 %
–5

– 10 Gewinn 4,2 – 7,2 %


– 15
Nettover-
– 20 schuldung 47,4 + 6,1 %*
FRANK AUGSTEIN / AP

– 25 –22,3 Quellen: Thomson Financial


Datastream, Konzernangaben
– 30 * Veränderung seit Ende 2009
Jan. 2010 Juni Nov.
Gasspeicheranlage in Gronau: Alle Bereiche sollen auf den Prüfstand

E.on dann nicht mit preiswerter Energie liche Konzernbereiche zu durchforsten, Hiesige Geschäftsfelder aufzugeben,
beliefern könnte. unrentable Geschäftsfelder zu verkaufen um sich in Brasilien oder China in neue
Selbst im klassischen Vertriebsgeschäft, und Partner für zukunftsfähige Geschäfts- Abenteuer zu stürzen, mache vor diesem
in dem E.on über sieben Regionalgesell- bereiche zu finden. Dabei, kritisieren Ex- Hintergrund wenig Sinn.
schaften fast 30 Millionen Kunden mit Manager, sei der Vorstand sogar bereit, Vielmehr glauben Kritiker, die neue
Strom versorgt, gehen die Margen zurück. mit bisherigen E.on-Regeln zu brechen E.on-Strategie sei auch eine Teilkapitula-
Bei den sogenannten Verteilnetzen, also und sich in strategisch wichtigen Berei- tion vor den sich rasant verändernden
jenen Strippen, mit denen der Strom in chen mit der Junior-Rolle zufriedenzu- Strom- und Energiemärkten in Deutsch-
die Fläche und in die Haushalte transpor- geben. land und Europa. Statt sich an die verän-
tiert wird, stehen in den nächsten Jahren Vor zwei Jahren noch wäre das völlig derten Gegebenheiten besser anzupassen
milliardenschwere Investitionen in intel- undenkbar gewesen. Da brüskierte E.on und mit neuen und innovativen Konzep-
ligente Technik an. sogar seinen langjährigen Geschäftspart- ten und Produkten auf die Herausforde-
Wie brenzlig die Situation werden ner Gazprom. Die Russen hatten E.on rungen des regenerativen Zeitalters zu
könnte, hat die Finanzabteilung dem eine lukrative Beteiligung an einem Gas- reagieren, so die Kritiker, versuche der
E.on-Management in internen Berech- feld angeboten und dafür im Gegenzug E.on-Chef Teile des alten Modells der
nungen vor Augen geführt. Danach droht Mehrheitsbeteiligungen an einigen deut- Stromversorger mit seinen Großkraftwer-
der Vorsteuergewinn nach dem noch po- schen E.on-Regionalgesellschaften gefor- ken und zentralen Strukturen in außer-
sitiven Geschäftsjahr 2010 in den nächsten dert. Der alte Vorstand lehnte das ab. europäische Schwellenländer zu expor-
drei Jahren ohne Gegenmaßnahmen um Teyssen könnte da in Zukunft weniger tieren. Innovativ und zukunftsträchtig sei
bis zu 30 Prozent zu sinken. Der extrem sensibel reagieren. Denn in seiner Strate- das nur bedingt.
hohe Schuldenstand von über 47 Milliar- gie sind die Milliardenerlöse aus Teilver- Und so dürften Teyssen nicht nur am
den Euro könnte dann nicht wie geplant käufen fest eingeplant – sie sollen den er- Montag im Aufsichtsrat, sondern auch in
abgebaut werden. Und auch der Aktien- warteten Gewinneinbruch der nächsten der eigenen Belegschaft in den nächsten
kurs, der seit Anfang des Jahres bereits zwei bis drei Jahre kompensieren. Wochen und Monaten hitzige Diskussio-
um mehr als 20 Prozent gesunken ist, wür- Nach dieser Schwächephase soll es mit nen bevorstehen. Möglicherweise müssen
de womöglich weiter absacken. Für den E.on dann wieder aufwärtsgehen. Kon- die ehrgeizigen Pläne noch einmal nach-
E.on-Konzern, glaubt das Management, kret plant Teyssen dazu Übernahmen und gebessert werden. FRANK DOHMEN

104 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Panorama

IGOR ZAREMBO / PICTURE ALLIANCE / DPA


Orthodoxer Patriarch Kirill (M.) in Arnau

RUSSLAND vor Ort, die zuallererst Anspruch auf

Angriff aufs deutsche Erbe


die Immobilien gehabt hätten, wurden
bei der Vergabe gar nicht erst gehört –
die orthodoxe Kirche betrachtet beide
Konfessionen als lästige Konkurrenz

E s kommt nicht oft vor, dass Aufruhr


herrscht in Russlands Exklave Kali-
ningrad, dem früheren ostpreußischen
dern, der ihnen nach 1917 im Zuge
der Kirchenverfolgung durch Stalin weg-
genommen worden war.
und versucht seit langem schon, sie über-
all im Lande auszuschalten.
Swetlana Sokolowa, die Direktorin des
Gebiet rund ums einstige Königsberg. Im nördlichen Ostpreußen hatte es or- Kaliningrader Stadtmuseums Friedländer
Seit Ende Oktober aber sehen sich die thodoxen Kirchenbesitz zwar nie gege- Tor, sieht in der Entscheidung des Parla-
Behörden einer Welle des Unmuts aus- ben: Das Gebiet war erst 1945 an Mos- ments „eine Katastrophe für das kultu-
gesetzt: Historiker, Künstler und Schrift- kau gefallen. Trotzdem erkannten die relle Erbe der Region und für den Touris-
steller, darunter die Chefs des PEN-Zen- Kaliningrader Kirchenoberen in dem mus“. Die orthodoxe Kirche habe kein
trums, des lokalen Symphonieorchesters neuen Gesetzentwurf sofort eine Chan- Geld für Erhalt oder Wiederaufbau der
und des Schriftstellerverbands, haben ce: Unterstützt von der Gebietsregie- alten Anlagen, deutsche Investoren aber
in einem offenen Brief die „aggressive rung, brachten sie im Kaliningrader Par- würden nun abgeschreckt. Im Fall der
Klerikalisierung“ des Landes angepran- lament ein Eilgesetz durch, das ihnen St. Katharinenkirche von Arnau östlich
gert. Immer rücksichtsloser strebe die auch die wertvollsten deutschen Erb- Kaliningrads ist das bereits so. Das Got-
eng mit dem Staat verbandelte Russisch- stücke überschreibt. Die kleinen evan- teshaus, berühmt für seine Fresken aus
Orthodoxe Kirche nach Vermögen und gelischen und katholischen Gemeinden dem 14. Jahrhundert, hatte nach dem
Machtzuwachs. Krieg einer Kolchose als Getreidespeicher
Grund für die Aufregung ist die hand- gedient, bevor es verfiel. Ein deutsches
streichartige Übernahme von ehemals Kuratorium baute von 1993 an den Turm
deutschen Kirchen, Schlössern und Bur- wieder auf, errichtete einen neuen Dach-
gen durch die Orthodoxen. Dazu zählen stuhl und schloss mit der Provinzregie-
die frühere Königsberger katholische Kir- rung einen Vertrag über die Nutzung der
che Zur Heiligen Familie, in der heute Kirche als Museum – 385000 Euro inves-
die Kaliningrader Philharmonie zu Hau- tierten die Deutschen bisher. Als jetzt
se ist, die wiederaufgebaute, ehemals auch diese Kirche an die Orthodoxen fiel
evangelische Luisenkirche, die ein Pup- und der Vertrag annulliert wurde, stellten
pentheater beherbergt, oder die Schloss- sie die Renovierungsarbeiten ein.
ruine der früheren Kreisstadt Insterburg, Besonders erregt die Kaliningrader, dass
VIKTOR SANDER / WHITE NIGHT PRESS

heute Tschernjachowsk, die eine Stiftung sich die Orthodoxen auch mehrerer
als Kulturzentrum nutzt. Ermuntert wur- Schlösser und Burgen des Deutschen Or-
de die Kirche durch ein Gesetz der rus- dens bemächtigten, die nie religiöse Ein-
sischen Staatsduma, das im Januar in richtungen gewesen sind. Das Kalinin-
Kraft treten soll: Danach dürfen religiöse grader Bistum war auch in diesem Fall
Organisationen allen Besitz zurückfor- um eine Ausrede nicht verlegen: In je-
der deutschen Burg „hat es doch eine
Katholische Kirche in Kaliningrad Kapelle gegeben“, so ein Sprecher.

106 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Ausland
GRIECHENLAND umgebracht wurde, der Mann der spä- losigkeit, Straflosigkeit oder Korrup-
teren Außenministerin, bekannte sich tion allgegenwärtig sind. Und Gewalt.
„Das erzeugt Wut“ der „17. November“ offen zu dem An-
schlag. Trotzdem titelte eine große
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Theodoropoulos: Wenn Ihr Vater im kriti-
Takis Theodoropou- Zeitung, er sei „exekutiert“ und nicht schen Zustand im Krankenhaus liegt
los, 56, Journalist, etwa „ermordet“ worden. Die Wort- und der Arzt ein Fakelaki, also Schmier-
Romanautor und Lei- wahl hatte ihre Bedeutung. geld, verlangt, bevor er ihn operiert, ist
ter des Nationalen SPIEGEL: Eine bislang unbekannte das letztendlich ebenso Gewalt. Es fehlt
Buchzentrums zur Gruppierung „Verschwörung der Zel- das Unrechtsbewusstsein. Man muss
Förderung der Litera- len des Feuers“ bekennt sich zu den dem Arzt nachgeben und wird zum
tur, über den Terror jüngsten Anschlägen. Woher kommen Mitschuldigen. Griechische Eltern ha-
und die Briefbomben die immer neuen Aktivisten? ben ihren Kindern eingeimpft, „die
aus Athen Theodoropoulos: Diese Täter stammen Welt gehört euch“. Jetzt erleben die
aus der Mittelschicht, das sind keine aber, dass sich dies als Illusion erweist.
SPIEGEL: Nach der Schuldenkrise armen Kinder. Das ist ja so beunruhi- Das erzeugt Wut.
schockt Griechenland Europa mit ei- gend. Sie sind in einer Gesellschaft SPIEGEL: Und deshalb soll Grie-
ner Serie von Briefbomben. Was ist aufgewachsen, in der faktische Recht- chenland besonders empfänglich
los in Ihrem Land? für linksradikalen Terror
Theodoropoulos: Terror hat bei uns lei- sein?
der eine lange Geschichte, beginnend Theodoropoulos: Weil Straf-
mit dem Ende der Obristendiktatur losigkeit scheinbar eine
1974 bis zur Zerschlagung der Unter- Selbstverständlichkeit ist,
grundorganisation „17. November“ im antworten manche mit Pa-
Jahr 2002. Die jetzigen Paketbomben- ketbomben. Außerdem ha-
Attentäter sind sozusagen die Kinder ben es die Obristen wäh-
dieser Terrorgenerationen. rend der Diktatur geschafft,
SPIEGEL: Als Grund für die Krise galt bis- dass die Griechen in der
lang Griechenlands Kultur der Korrup- Polizei und im Staat einen

SIMELA PANTZARTZI / DPA


tion und Bestechung. Gibt es auch eine Feind sehen. Das ist der
Kultur der Gewalt, die ignoriert wurde? Nährboden für diese Grup-
Theodoropoulos: Ja, wir haben den Ter- pen. Das Virus der Gewalt
rorismus nicht klar verurteilt, sondern ist in einen Körper mit ei-
ihn sogar toleriert. Ein Beispiel: Als nem geschwächten Immun-
1989 der Politiker Pavlos Bakojanni Mutmaßlicher Paketbomber in Athen system eingedrungen.

TÜRKEI ministeriums regelmäßig Vorschläge E U R O PA


zur Schulreform erarbeitet, regt einen
Getrennte Schulklassen? getrennten Unterricht von Jungen und
Mädchen an. Religion soll es schon ab
Angst geht um
E mpfehlungen des „Nationalen Bil-
dungsrats“ zur Islamisierung der
Schulen sorgen für Empörung unter
dem ersten Schuljahr geben und dazu
einen Lehrplan, der die Schüler künf-
tig stärker mit den „Werten“ des Islam
D ie Angst vor Volksbefragungen mit
ungewissem Ausgang und einer
Lähmung der EU kehrt nach Brüssel
Laizisten. Die regierungsnahe Kom- vertraut macht. Das könne Kindern zurück. Auslöser ist die beim Treffen
mission, die im Auftrag des Bildungs- aus besonders konservativen Familien der Staats- und Regierungschefs Ende
den Zugang zum Schulbe- Oktober auf Druck von Kanzlerin An-
such erleichtern. Man dürfe gela Merkel beschlossene „begrenzte
Jungen und Mädchen nicht Vertragsänderung“. Darin soll unter
zum gemeinsamen Unter- anderem festgelegt werden, unter wel-
richt zwingen, so ein Mit- chen Bedingungen die Euro-Länder
glied des Rats. Kritiker sich gegenseitig in einer finanziellen
sehen hinter den Vorschlä- Notlage helfen dürfen. In den Nieder-
gen einen ernsten Vorstoß, landen haben die rechtspopulistische
den religiösen Einfluss im Partei der Freiheit (siehe Interview
Bildungssystem massiv zu er- Seite 122) und die Sozialistische Partei
höhen. Die Ausbildung wer- bereits ein Referendum gefordert. In
de immer konservativer, sagt Großbritannien wollen euroskeptische
Güven Boga von der Lehrer- Konservative die Gelegenheit zu einer
gewerkschaft Egitim-Sen. Volksabstimmung nutzen, in Irland ist
Geschlechtertrennung trage sie womöglich verfassungsrechtlich
lediglich dazu bei, dass „die ebenso unvermeidlich wie in Tsche-
BURHAN OZBILICI / AP

Mädchen stigmatisiert wer- chien. Luxemburgs Außenminister Jean


den.“ Widerstand gegen die Asselborn fürchtet: „Da kommen noch
Pläne kommt auch von der weitere Länder!“ Polens Premier Do-
Religionsgemeinschaft der nald Tusk stellt sogar schon die kom-
Schüler in Ankara Aleviten. plette Brüsseler Entscheidung in Frage.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 107
Präsident Obama bei der Pressekonferenz am Tag nach der Wahl, Rivalin Palin bei einer Wahlveranstaltung der Tea Party: „Ich verstehe, dass

USA

Der geläuterte Präsident


Vor zwei Jahren weckte die Wahl Barack Obamas bei seinen Anhängern die Hoffnung auf eine Wende
zu linken Werten und einem starken Staat. Doch jetzt gewannen die Republikaner die Mehrheit
im Repräsentantenhaus zurück und machten damit klar: Amerika bleibt ein konservatives Land.

S
tunden bevor Barack Obama am groß der Aufwand für Obamas Besuch ße Haus dementierte, die Zahl sei unsin-
Donnerstagabend vergangener Wo- ist, wie viele Leute er mitnimmt, dass er nig, aber das Dementi stoppte nicht das
che nach Asien aufbricht, steht die Helikopter benutzt, um von Termin zu Gerede. Denn bestätigte der Vorwurf
Air Force One auf dem Militärflughafen Termin zu kommen, schusssichere Limou- nicht, was die Rechte und immer mehr
Andrews, herausgeputzt und beladen, der sinen braucht und bewaffnete Body- Wähler über Obama ohnehin zu wissen
rote Teppich ist ausgerollt. Erwartet wird guards und dass er angeblich 200 Millio- glauben? Dass er ein Präsident sei, der
der Präsident der Vereinigten Staaten. nen Dollar pro Tag für diese Reise nach ein Hunderte Milliarden Dollar teures
Fast 200 Journalisten begleiten ihn, Indien ausgebe. Großmannssüchtig fand Konjunkturprogramm verabschiedete
dazu zwei Dutzend Sicherheitskräfte, Kö- er das, und als die amerikanischen Medien und eine große Gesundheitsreform, der
che, Berater, das halbe Weiße Haus ist von seiner Verwunderung hörten, strick- Milliarden verpulverte, ohne einen einzi-
dabei, verteilt auf den Pressecharter und ten sie daraus eine Nachricht. Die rechten gen neuen Arbeitsplatz zu schaffen?
die Air Force One. Acht Stunden dauert Nachrichtenorganisationen Drudge Re- Zwei Jahre ist es her, dass Barack Oba-
der Flug über den Atlantik ins deutsche port und Fox News machten einen Skan- ma zum ersten schwarzen Präsidenten
Ramstein, dann geht es weiter, wieder dal daraus, und schließlich sagte Michele Amerikas gewählt wurde. Amerika war
acht Stunden bis ins indische Mumbai. Es Bachmann, die Tea-Party-Abgeordnete stolz auf sich selbst, einen Schwarzen ge-
ist das ganz normale Routineprogramm aus Minnesota: „Was für ein schlechtes wählt zu haben, jung, inspirierend, offen
eines Staatsbesuchs. Aber dann wird die- Vorbild der Präsident gibt!“ für alles. Die Linken waren euphorisch.
se Routine plötzlich zum Thema des Ta- Obama, der Verschwender, der Befür- „Konservativismus ist tot“, triumphierte
ges, und nichts ist mehr normal. worter eines starken Staats, der schon beispielsweise Sam Tanenhaus in der li-
Ein indischer Regierungsbeamter in wieder Geld ausgibt, das Amerika gar beralen Zeitschrift „The New Republic“,
Mumbai hat sich darüber gewundert, wie nicht hat. Das war die Botschaft. Das Wei- und viele Intellektuelle riefen ein neues
108 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Ausland

Stärke des Einzelnen, wenn es dem Land


schlechtgeht, anders als Europa. Während
in Griechenland die Menschen auf die
Straßen gingen und einen spendableren
Staat verlangten, fand in Amerika die
Tea-Party-Bewegung Zulauf, die den
Staat zu ihrem Feind erklärte.
Zum ersten Mal seit langem erleben die
Amerikaner wieder Mangel, und das rüt-
telt am Selbstverständnis, dass alles immer
größer und besser wird. Die dramatische
Lage des Staatshaushalts gibt einfach nicht
her, dass beide Seiten zufriedengestellt
werden – die Linken, die mehr Staatsaus-
gaben verlangen, und die Rechten, die we-
niger Steuern wollen. Im Boom unter Clin-
ton war noch beides möglich. Es gab auch
die Notenbank, die Zinsen senken konnte,
aber nun sind die Zinsen so niedrig wie
nie, und die Notenbank greift zu ihrem

ALEX WONG / GETTY IMAGES (L.); JOSHUA LOTT / AFP (R.)


letzten, fragwürdigen Mittel und über-
schwemmt die Märkte mit frischem Geld.
Jetzt muss Amerika sich entscheiden.
Das größte Problem, das Obama in den
nächsten zwei Jahren als Präsident lösen
muss, ist: gleichzeitig Arbeitsplätze zu
schaffen und die Staatsfinanzen zu sanie-
ren. Die Staatsverschuldung wird Ende
des Jahres 94 Prozent des Bruttoinlands-
produkts betragen, und wenn Obama kei-
ne Steuern erhöht, muss er so brutal spa-
ren wie kein anderer Präsident vor ihm.
manche Leute sich das anschauten und sagten, die treiben es zu weit“ Ökonomen und Kommentatoren wie
Thomas Edsall reden von einer neuen
Zeitalter aus, den „Neuen Liberalismus“. schwert, als ich während des Wahlkampfs Ära, einem „Amerika der Einschnitte“,
Es schien, als glaubte auch Obama daran. ein Jahr lang in Iowa herumgerannt bin.“ in dem es nicht mehr immer weiter nach
Und nun? Mehr als 60 Sitze im Reprä- Er gibt Fehler zu, Schwächen, ja einen oben geht. Allein im nächsten Jahr droht
sentantenhaus haben die Demokraten bei Hauch Maßlosigkeit. Er sagt: „Wir haben ein Haushaltsloch von 1,3 Billionen Dol-
den Zwischenwahlen verloren und da- so gehandelt, weil wir in einer Notlage lar, die mit Steuererhöhungen herbeige-
mit die Mehrheit, die sie vor vier Jahren waren. Ich kann verstehen, dass Leute schafft oder durch Kürzungen eingespart
erst gewonnen hatten. Sie haben mindes- gedacht haben, dies sei unser Programm.“ werden müssen. Arthur Brooks, Präsi-
tens sechs Sitze im Senat eingebüßt und Und dann sagte er noch: „Ich verstehe, dent des konservativen American Enter-
neun oder mehr Gouverneursposten. dass manche Leute sich das anschauten prise Institute, spricht vom „neuen Kul-
Obama hat deutlicher verloren als einst und sagten, die treiben es zu weit.“ Es turkampf“, den Staatsfreunde und Staats-
Ronald Reagan bei seiner ersten Zwi- klingt wie späte Einsicht, wie ein Verspre- gegner untereinander ausfechten.
schenwahl 1982, deutlicher auch als Bill chen, auf die Wünsche der Mehrheit Die Republikaner haben jetzt die Mehr-
Clinton 1994. mehr Rücksicht zu nehmen. Das Wahl- heit im Repräsentantenhaus, und dessen
Einen Abend lang wurde ein geeigne- ergebnis hat ihn dazu gezwungen. Sprecher, John Boehner, ist der neue star-
tes Maß für die Niederlage gesucht. War In Zeiten der Krise vertraut Amerika ke Mann in Washington. Damit tragen
es eine Welle, die Obama überschwemm- nicht auf den Staat. Mehr als die Hälfte die Konservativen nun Mitverantwortung
te? Eine Flut? Oder sogar ein Tsunami? der Amerikaner sagen, sie wünschten sich für eine Lösung der Probleme des Landes,
Aber die eigentliche Frage blieb ohne weniger Staat, gleich viele sehen den für die Misere am Arbeitsmarkt, die
Antwort: Warum hat Obama verloren? Staat als Bedrohung für die persönliche Schuldenkrise. Und die Wähler haben an
War es eine Laune der Wähler? Miss- Freiheit. Amerika glaubt lieber an die diesem 2. November gezeigt, wie unge-
gunst? Rassismus? Oder eine duldig sie sein können, wenn eine
Absage an seine Politik? Partei ihre Probleme nicht löst.
Am Tag nach der Niederlage Fraglich ist, wie sich die zornige
betritt er den East Room im Tea Party verhält, der radikale Teil
Weißen Haus für eine Presse- der Republikaner. Sie hat wichtige
konferenz. Er nimmt die letzte Wahlen verloren, in Nevada, in De-
Stufe zum Podium mit einem laware, dort waren ihre schrillen
kleinen Sprung. Warum der Kandidaten für viele unwählbar, und
Zauber nicht mehr funktioniert, deswegen hat die Partei die Mehr-
MICHAEL REYNOLDS / DPA

TOM PENNINGTON / AFP

will einer wissen, warum er heit im Senat verpasst. Es lag Rück-


nicht mehr ankommt bei den sichtslosigkeit in diesen Kandidatu-
Leuten. „Es ist gefährlich, iso- ren, Starrköpfigkeit, die als Prinzi-
liert im Weißen Haus zu sein“, pienfestigkeit durchgehen sollte.
antwortet Obama. „Die Leute Dennoch gilt die rechte Bürgerbe-
haben sich nicht über mich be- Republikaner Boehner, Paul: „Amerika der Einschnitte“ wegung als wichtigster Gewinner
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 109
Ausland

der Wahl. Mehrere ihrer profiliertesten


Köpfe werden nun im Kongress vertreten
sein. Rand Paul zum Beispiel, der neue
Senator von Kentucky, 47, Augenarzt,
Vorbild einer neuen Generation der Je-
dermänner, Pizzabäcker und Englisch-
lehrer, die mit ihm in den Kongress ge-
schwemmt wurden. Oder Marco Rubio,
39, der Anwalt und Nachwuchspolitiker
aus Florida, der ab Januar ebenfalls im
Senat sitzen wird. Er gilt als große Hoff-
nung der Bewegung, sieht gut aus, ist
zweisprachig, kubanischer Abstammung,
und manche Leute sagen, er könne Reden
halten wie Barack Obama. Viele setzen
jedoch weiter auf Ex-Gouverneurin Sarah
Palin als Star der Tea-Party-Bewegung,
wenn es in den nächsten Präsidentschafts-
wahlkampf geht.
Aber wie kompromissbereit wird die
Tea Party sein? Immer wieder haben ihre
Kandidaten deutlich gemacht, wie wichtig
ihnen Prinzipien sind, bis zur Lächerlich-
keit. „Die Tea Party glaubt, die Lösung
sei, so viel Staat wie möglich zu zerstö-
ren“, schreibt Jennifer Senior im „New
York“-Magazin – „wie ein trotziger Teen-
ager, der glaubt, seine Eltern müssten nur
tot umfallen, damit alles gut wird“.
Und wie weit kann Obama auf die Re-
publikaner zugehen, ohne seine Wieder-
wahl 2012 zu gefährden? Die Zwischen-
wahlen haben seine Chancen schon allein
dadurch verschlechtert, dass die Repu-
blikaner Gouverneursposten und die
Mehrheit in zahlreichen Parlamenten der
Bundesstaaten hinzugewonnen haben.
Dadurch haben sie die Macht, in ent-
scheidenden Bundesstaaten die Wahlbe-
zirke neu zu definieren, und zwar so,
dass sich die Wahlchancen ihrer Partei er-
höhen.
Aber auch die Demokraten könnten zu
einem Problem für Obama werden. Mit
jedem Schritt, den er auf die Republikaner
zugeht, verprellt er seine Parteifreunde.
Die sind jetzt zwar mit weniger Abgeord-
neten im Repräsentantenhaus vertreten,
dafür aber überwiegend mit Vertretern
vom linken Flügel der Partei. Schon dis-
kutieren manche Demokraten offen dar-
über, ob sie 2012 einen Gegenkandidaten
zu Obama in die Vorwahlen schicken, bei-
spielsweise Howard Dean, den Präsident-
schaftsbewerber von 2004.
Zehn Tage ist der Präsident nun in
Asien unterwegs. Er will US-Produkte an-
bieten, Märkte für Unternehmen erschlie-
ßen, Flugzeuge verkaufen und Schnell-
züge, sagt er, auch deshalb ist seine Dele-
gation so groß. Es ist ein ehrgeiziges
Projekt: die amerikanische Wirtschaft, die
lange auf Pump gelebt hat, wieder in eine
Exportwirtschaft umzuwandeln.
Es ist auch ein wenig Wunschdenken
dabei, auf diese Weise den bevorstehen-
den harten Entscheidungen noch einmal
auszuweichen. Das wäre eine sehr ame-
rikanische Lösung. MARC HUJER

110 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
ROSLAN RAHMAN / AFP
Ausgebranntes Airbus-A380-Triebwerk: Der Hersteller Rolls-Royce wird unangenehme Fragen beantworten müssen

Die australische Fluggesellschaft und


L U F T FA H R T
Singapore Airlines hielten ihre A380-Flot-

Schneller als Gewehrkugeln


te erst einmal am Boden. Auch die Luft-
hansa sagte am Donnerstagabend vergan-
gener Woche einen ihrer geplanten A380-
Flüge nach Johannesburg ab. Gleichzeitig
Die Explosion eines Airbus-A380-Triebwerks kurz nach dem Start ordneten Airbus und Rolls-Royce als Her-
steller zusätzliche Inspektionen an.
in Richtung Australien schürt neue Ängste vor der Der Schaden war trotzdem gewaltig –
Riesenmaschine – und Zweifel an der Qualität ihrer Schubmotoren. und Ende vergangener Woche bereits an
den Börsenkursen der betroffenen Unter-

D
er 4. November hätte ein großer Stunden später setzte der Riesenvogel in nehmen abzulesen. Der Kurs des briti-
Tag werden können für Airbus. Singapur zur Notlandung an – nachdem schen Triebwerkherstellers stürzte um
Schließlich bescherte er dem eu- er zuvor in der Luft massenhaft Treibstoff fast zehn Prozent ab, die Aktie der Airbus-
ropäischen Flugzeugbauer einen der abgelassen hatte. Mutter EADS verlor rund drei Prozent.
spektakulärsten Triumphe über den US- Zwei große Löcher klafften in der linken Die Beinahekatastrophe hat alte Ur-
Erzrivalen Boeing in seiner 40-jährigen Tragfläche, ein sichtbares Zeichen, dass ängste wiederbelebt, die das Flugzeug mit
Firmengeschichte. Bei einem Besuch des scharfkantige Metallteile aus dem Inneren bis zu 853 Sitzplätzen seit seiner Erstaus-
chinesischen Präsidenten Hu Jintao in der Schubdüsen herausgeschleudert wor- lieferung an Singapore Airlines Ende 2007
Frankreich bestellten vier Fluglinien aus den waren. Solche Bruchstücke können auslöst. Das Airbus-Management feiert
dem asiatischen Land Maschinen im Wert aufgrund ihrer Masse und Geschwindigkeit den Megaflieger als Symbol europäischer
von rund 14 Milliarden Euro. Die Order verheerende Wirkungen haben, da sie Ingenieurkunst. Kritiker halten es dage-
toppte sogar einen Großauftrag der ara- schneller sind als Gewehrkugeln. Daher gen für unverantwortlich, so viele Men-
bischen Fluglinie Emirates über 32 Exem- fürchten Piloten derartige „uncontained schen zur selben Zeit in einer engen Röh-
plare des Riesen-Jets A380 vom Frühsom- engine failures“ (zu Deutsch: unkontrol- re zu transportieren, und warnen vor den
mer dieses Jahres. liertes Triebwerksversagen) als einen der verheerenden Folgen beim Absturz einer
Von der breiten Öffentlichkeit wurde dramatischsten Zwischenfälle während des solchen Maschine.
dieser Coup allerdings kaum wahrgenom- Flugs, der heutzutage extrem selten ist. So Bis zum Donnerstag vergangener Wo-
men. Stattdessen gingen ganz andere Bil- war es vergangenen Donnerstag reines che sah es so aus, als wären die Skeptiker
der um die Welt: Aufnahmen von einem Glück, dass die Schrapnelle nicht durch widerlegt worden. Zwar mussten von den
ausgebrannten Triebwerk und der zer- den Rumpf in die Kabine einschlugen oder insgesamt 37 Maschinen, die bei Qantas,
fetzten Tragfläche eines Airbus-A380-Su- das Kerosin in den Tanks entzündeten. Emirates, Air France, Singapore Airlines
perjumbos der australischen Liniengesell- Die Landung war alles andere als Rou- und der Lufthansa zurzeit im Einsatz sind,
schaft Qantas. tine: Vermutlich waren Steuerfunktionen einige wiederholt aus dem Verkehr gezo-
Die Maschine mit der Flugnummer QF an der durchschlagenen Tragfläche aus- gen werden. Mal gab es Probleme mit
32 war kurz vor zehn Uhr morgens mit gefallen. Auf den Videos der Passagiere den Treibstoffpumpen, dann streikte der
466 Menschen an Bord in Singapur ge- ist unter anderem zu erkennen, dass nur Bordcomputer, in einem Fall fiel der
startet und sollte eigentlich knapp acht die Hälfte der Spoiler ausgefahren waren, Strom in der Bordküche aus. Im Frühjahr
Stunden später im australischen Sydney die das Flugzeug nach dem Aufsetzen auf 2009 schickte der A380-Großkunde Emi-
landen. Doch rund fünf Minuten nach die Landebahn drücken. Die äußere Tur- rates sogar eine geharnischte Protestnote
dem Abheben explodierte unweit der bine des Riesen-Jets konnten die Piloten an die Airbus-Führung mit der dringen-
westindonesischen Insel Batam eines von offenbar nicht abschalten. Die Flughafen- den Bitte, lästige Kinderkrankheiten bei
insgesamt vier Triebwerken. Teile der feuerwehr sprühte deshalb Löschschaum dem Jet abzustellen (SPIEGEL 12/2009).
Ummantelung und des Flügels stürzten in das Aggregat, bis es endlich zum Still- Doch nachdem Airbus nachgebessert
zu Boden, Rauch stieg auf. Etwa zwei stand kam. hatte, waren die Streitigkeiten bald ver-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 111
Ausland

gessen. Mit jedem neuen A380, der am ab, um die Passagiere mit genügend Ein Sprecher des britischen Unterneh-
Himmel auftauchte, stieg die Euphorie Sauerstoff zu versorgen. Um die Quelle mens betonte vergangene Woche, Sicher-
über den Doppeldecker mit Duschen und der vermutlich gesundheitsschädlichen heit habe bei Rolls-Royce „immer oberste
Schlafkabinen. Dämpfe zu finden, schalteten die Piloten Priorität“. Man kooperiere eng mit den
Das könnte sich nun ändern. Und die die vier Zapfluftanlagen der Triebwerke Behörden und den betroffenen Kunden.
Frage, wer letztendlich die Verantwor- eine nach der anderen ab und prüften Allerdings sei die Zahl der mit dem Trent-
tung für den brandgefährlichen Zwischen- mit ihrer Nase, bei welcher sich der 900 bestückten A380-Jets bislang noch re-
fall trägt, dürfte nicht nur Luftfahrtexper- Ölgeruch verflüchtigte. Die Lufthansa lativ klein – und damit auch die Möglich-
ten, sondern womöglich schon bald auch erklärte dazu lediglich, dass es noch bei keit, Erfahrungen zu sammeln.
Scharen von Anwälten und Gutachtern keiner ihrer A380-Maschinen „eine Trieb- Fachleute spekulierten schon, auch die
beschäftigen. werksabstellung aufgrund von Ölgeruch“ australische Fluglinie selbst, die eigentlich
Eines immerhin stand Ende vergange- gegeben habe. Ein Airbus-Insider vermu- als besonders sicher gilt, könnte bei der
ner Woche schon fest: Zumindest der bri- tet, dass Ölrückstände nach der Wartung Wartung ihrer A380-Flotte geschlampt ha-
tische Triebwerkhersteller Rolls-Royce, zurückgeblieben sein könnten. ben. Qantas-Chef Alan Joyce wies den
der unter anderem die A380-Modelle von Die Pannenserie von Rolls-Royce-Ag- Vorwurf vergangenen Freitag empört zu-
Lufthansa und Singapore Airlines mit sei- gregaten betraf bislang vor allem Airbus- rück. Er vermutet, dass Materialfehler
nen Schubdüsen vom Typ Trent 900 be- Modelle, aber nicht nur. Am 31. August oder Konstruktionsmängel zu dem Bei-
stückt, wird unangenehme Fragen beant- explodierte bei einer Boeing 747 der Qan- naheabsturz führten.
worten müssen. Der in Singapur notgelandete A380,

PASCAL RO SSI GN O L / R EUTER S


Der Mischkonzern liefert sich seit der heißt es bei Qantas, sei zudem erst kürz-
Einführung seiner größten, sechs Tonnen lich von Lufthansa-Technik gewartet wor-
schweren Düsenmotoren einen erbitter- den – um die Triebwerke kümmerte sich
ten Wettbewerb mit einem Konsortium allerdings Rolls-Royce selbst.
um die US-Hersteller General Electric Am Ende können wohl nur die nun an-
und Pratt & Whitney. Das Triebwerk der stehenden Untersuchungen klären, wer
Amerikaner, das unter anderen Emirates für das Unglück verantwortlich ist. Und
und Air France für ihre A380-Flotte ge- die können noch Wochen oder womög-
wählt haben, gilt in Fachkreisen als kos- lich gar Monate dauern.
tengünstiger und verbrauchsärmer als das Bis dahin müssen auch die Airbus-
Modell der Europäer. Trotzdem schaffte Airbus A380 Manager mit dem Verdacht leben, ihr
es Rolls-Royce, sich rund die Hälfte des
umkämpften Markts zu sichern. Große Zukunft? Prestigeflieger könnte womöglich weni-
ger sicher sein als bislang angenommen.
Auffällig ist allerdings: Bei Kunden, die A 380-Flugzeuge Dabei trifft sie an dem Debakel in Sin-
sich für die US-Variante entschieden, ist im Einsatz gapur wohl die geringste Schuld. Immer-
von Problemen mit dem Antrieb bislang 13 hin flog der A380 bei den übrigen Betrei-
wenig bekannt. Ganz anders sieht die Si- bern mit US-Triebwerken auch in der
tuation bei Abnehmern der britischen Ag- vergangenen Woche wie geplant – ohne
gregate aus. 11 Probleme.
Am Freitag vergangener Woche musste Vielleicht tröstet Airbus-Chef Tom En-
erneut ein Qantas-Jumbo vom Typ Boe-
ing 747 wegen Problemen mit einem Rolls-
6 ders und seine Kollegen ja, dass zurzeit
auch ihr Wettbewerber Boeing mit einer
Royce-Triebwerk nach Singapur zurück- Pechsträhne kämpft. Mysteriöse Vibratio-
kehren. Bereits im September 2009 war 4 nen bei der Frachtversion ihres A380-
ein A380 von Singapore Airlines mit 450 Konkurrenzmodells 747-8 sorgten erst
Insassen wegen eines ausgefallenen An- kürzlich dafür, dass die Auslieferung des
triebsaggregats in Paris notgelandet. 3 ersten Transporters bereits zum vierten
Am 6. August dieses Jahres erwischte sowie weitere 197 Bestellungen von 17 Kunden Mal verschoben wurde.
es auch die Lufthansa. Die Piloten des Als veritabler Alptraum erweist sich
Jets mit der Kennung D-AIMB auf dem Singapore Airlines, Qantas und für die Amerikaner inzwischen ihr neuer
Weg von Tokio nach Frankfurt hatten Lufthansa nutzen Flugzeuge mit dem Langstrecken-Jet 787. Er hat über zwei-
festgestellt, dass der Druck bei einer der Rolls-Royce-Triebwerk Trent 900. einhalb Jahre Verspätung angesammelt –
vier Turbinen bedrohlich abgefallen war. mehr als einst der Airbus-Pannenflieger
Schuld war nach Aussagen von Insidern tas kurz nach dem Abheben ein Rolls- A380.
eine defekte Ölpumpe. Die Cockpit-Crew Royce-Motor, woraufhin ein Loch in der Erst im August musste Boeing die Aus-
stellte das Triebwerk vorsorglich ab und Triebwerkverkleidung prangte. Auch in lieferung seines ersten sogenannten
landete mit den übrigen drei sicher auf diesem Fall musste der Jet zum Start- Dreamliners an die japanische Fluggesell-
dem Rhein-Main-Airport. Dort wartete flughafen in San Francisco zurückkehren schaft ANA auf das erste Quartal 2011
allerdings schon die Feuerwehr auf den und dort notlanden. Ein Qantas-Spre- vertagen. Damals war eines der für die
A380, was vor Ort für einige Aufmerk- cher versicherte kurze Zeit später, die 787 vorgesehenen Triebwerke bei einem
samkeit sorgte. Wartungsintervalle würden strikt einge- Testlauf im britischen Derby schwer be-
Bislang unbekannt ist ein weiterer halten. schädigt worden.
Vorfall, der sich kurze Zeit später am Zu diesem Zeitpunkt hatte die europäi- Der Schubmotor wird ebenfalls vom
14. September ereignete. Nach SPIEGEL- sche Flugsicherheitsagentur EASA bereits A380-Zulieferer Rolls-Royce produziert,
Informationen bemerkten Crew und Pas- zusätzliche Kontrollen für das A380-Trieb- soll besonders sparsam sein und trägt das
sagiere plötzlich Ölgeruch an Bord. Er werk von Rolls Royce gefordert. Hinter- Kürzel Trent 1000. Die aufgetretenen Pro-
gelangte aus einem der Triebwerke in die grund sei eine ungewöhnliche Abnutzung bleme, versichert der Hersteller, seien in-
Kabinenluft. bestimmter Bauteile. Sie könnten auch zwischen längst behoben.
Das bordeigene Klimasystem zapft bei dem Qantas-Airbus eine Rolle ge- DINAH DECKSTEIN, ULRICH JAEGER,
an den Kompressoren der Turbinen Luft spielt haben. GERALD TRAUFETTER

112 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Ausland

Ruby floh und soll sich seither mit Dieb- es Silvio gibt“), und all das um einen gol-
I TA L I E N
stählen und Prostitution durchgeschlagen denen Thron herum, als hätte Fellini sich

Burlesconis haben. Ihr Traum war die Welt der Show-


girls, die Welt des Silvio Berlusconi.
Im Mai wurde Ruby in Mailand be-
die Liturgie ausgedacht. Und anschlie-
ßend, im Séparée, das echte Bunga-Bun-
ga, für die Treuesten der Treuen.

langer Abgang schuldigt, Schmuck und Geld gestohlen


zu haben, damals noch minderjährig und
ohne Papiere. Die Polizisten waren des-
halb nicht wenig überrascht, als sie drän-
Die jüngsten Enthüllungen lassen ver-
muten, dass wenig an diesen Erzählungen
übertrieben war. Nun sind Macht und
Potenz fast deckungsgleiche Begriffe in
Fromme Christen halten ihn für
gende Anrufe aus dem Sitz des Regie- Italien. Auch der real existierende Katho-
krank, der Stammtisch aber rungschefs bekamen. Ruby sei demnach lizismus hier ist einer der Sinnlichkeit,
jubiliert: Roms Regierungschef tappt verwandt mit dem ägyptischen Präsiden- der Doppelmoral und der Absolution.
von Affäre zu Affäre. Doch über ten Mubarak und müsse sofort freigelas- Das fiel schon Martin Luther auf.
seine Moral wird er kaum fallen. sen werden. Auch der Premier soll am Die katholische Wochenzeitung „Fami-
Apparat gewesen sein. „Wenn ich Leuten glia Cristiana“ mag Berlusconi für „krank
und unzurechnungsfähig“ halten. Man
mag über „Burlesconi“ spotten. Aber der
folgt dem kategorischen Imperativ des
Populisten: Sage nichts, von dem du nicht
annehmen kannst, dass die Mehrzahl der
Wähler insgeheim auch so denkt. Deswe-
gen schadet ihm auch sein Satz nicht:
„Besser hübschen Mädchen nachschauen
als schwul zu sein.“ Das sagen sich viele
Mammas auch.
Berlusconi redet, wie in der „Bar dello
Sport“ geredet wird, dem italienischen
Stammtisch. Er lebt demonstrativ und un-
geniert, was alle gern leben würden,
wenn sie es könnten. Seine Ideologie ist,
jeder sollte unpolitisch vor allem an sich
selbst denken.
Sehr viele Italiener schämen sich ihres
GIUSEPPE CAROTENUTO / FOTOGLORIA Regierungschefs. Aber: „Steckt nicht in
jedem Italiener, selbst wenn er für Ber-
lusconi nur Abscheu empfindet, in den
Winkeln seiner Respektabilität gut ver-
borgen ein kleiner Berlusconi?“, fragte
ACTION PRESS

der Psychoanalytiker Sergio Benvenuto


gerade in „Lettre international“. Bunga-
Bunga ist überall.
Gespielin el-Marough, Premier Berlusconi: Jeder soll vor allem an sich selbst denken Auch die Opposition hat moralisch kei-
nen großen Vorsprung. Berlusconis Blät-

D
ürfen 74-Jährige Gruppensex-Par- in Schwierigkeiten helfen kann, dann tue ter haben genüsslich berichtet, wie der
tys veranstalten? Ganz unbedingt. ich es“, erklärte Berlusconi zum Thema. Regierungssprecher Romano Prodis auf
Sollten sie außerdem die Regie- Die Staatsanwaltschaft hat erklärt, die dem Transvestitenstrich fotografiert wur-
rungsgeschäfte eines EU-Kernlandes füh- Freilassung sei rechtens gewesen. Doch de. Und die Provinz Lazium ging der Lin-
ren? Silvio Berlusconi würde auch diese ermittelt sie weiter unter anderen gegen ken verloren, weil ihr Gouverneur sich
Frage uneingeschränkt bejahen: „Nie- einen Model-Agenten wegen des Ver- mit dem Dienstwagen zu seinem brasilia-
mand wird mich dazu bringen, meinen dachts, Minderjährige zur Prostitution ver- nischen Transvestiten fahren ließ.
Lebensstil zu ändern, ich bin stolz darauf.“ führt zu haben. Ruby soll ausgesagt haben, Über seine Moral wird Berlusconi nicht
Wieder steht der italienische Regie- dass sie 7000 Euro und andere Geschenke zu Fall kommen. Denn deretwegen ist er
rungschef im Zentrum einer Affäre, wie- für einen Abend bekommen habe. nicht gewählt worden. Er kann stürzen
der geht es um Minderjährige, Prostitu- Für einen Abend mit dem Premier- über seine nicht gehaltenen Versprechun-
tion und Amtsmissbrauch. Und wieder minister. gen, über die neu gewucherten Müllhau-
wird sein politisches Ende prophezeit. Sie erwähnte auch den Namen eines fen in Neapel. Besessen von seinen eige-
Gianfranco Fini, der Präsident der Ab- Spiels während dieser Feste: „Bunga-Bun- nen Problemen mit der Justiz, gefangen
geordnetenkammer, der die Zusammen- ga“, ein Begriff, den Berlusconi von Mu- in einem Gespinst von Speichelleckern,
arbeit seiner Partei mit Berlusconi aufge- ammar al-Gaddafi übernommen habe. ist dieser Mächtige unfähig, Reformen
kündigt hat, verlangt von ihm „einen Das Mädchen betont allerdings, nie Sex durchzusetzen. Dass Italien die Kredit-
Schritt zurück“. Drei Abgeordnete sind mit dem Premier gehabt zu haben. krise besser überstanden hat als Griechen-
letzten Mittwoch zu Finis Lager gewechselt. In Rom kursierten schon lange Ge- land, Portugal und Irland, ist allein das
Und das alles nur wegen Karima el-Ma- schichten über die Saturnalien im Hause Verdienst von Finanzminister Giulio Tre-
rough? Jener grad volljährig gewordenen des Herrschers, der Villa Arcore bei Mai- monti und des noch sehr traditionellen
Schönen, die sich selbst „Ruby Rubacuori“ land. Dahindrapierte halbnackte Schön- italienischen Wirtschaftssystems.
nennt, Ruby Herzensräuberin? Als Zwölf- heiten und Lap-Dancers, Wein, Drogen Viele hoffen jetzt, dass Fini den Brutus
jährige sollte sie von ihrem marokkani- und Meeresfrüchte, napolitanische Ge- spielt. Und nicht wie bislang den Fabius
schen, auf Sizilien lebenden Vater mit ei- sänge des Hausherrn, immer wieder hym- Cunctator, den Zögerer.
nem viel Älteren verheiratet werden. nische Anrufungen („Gott sei Dank, dass ALEXANDER SMOLTCZYK

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Ausland

JEMEN

Jenseits von Aden


Präsident Salih sitzt zwischen allen Stühlen: Im Süden machen Separatisten mobil, im Norden
rebellieren Schiiten. Für Bin Ladens Qaida ist das verarmte Land
Aufmarschbasis im weltweiten Terrorkampf, wie die jetzt abgefangenen Paketbomben beweisen.

D
er Toyota mit den Koranversen
ist oberhalb der Hafenanlagen
zum Stehen gekommen. Man
muss die Augen zusammenkneifen im
weißen Licht. Da ist die Insel Sira, davor
der Felsen mit der Villa des letzten Macht-
habers des Südjemen, „der einzige legiti-
me Präsident“, betont Nassir al-Taawid.
Manche glauben, der Garten Eden habe
sich hier befunden. Und da unten lag der
US-Zerstörer „Cole“, auf den al-Qaida im
Oktober 2000 einen Sprengstoffanschlag
verübte – 17 amerikanische Soldaten
kamen damals um.
Hier fing alles an.
Taawid lässt sich zurück in die Stadt
fahren. Der Fahrer des Toyota trägt einen
Bin-Laden-Bart, zur Tarnung: „Das ist
unauffälliger“, sagt er. Wer sich in Aden
derzeit diskret sprechen möchte, der
muss den Frommen spielen. So sind die
Zeiten: „Wir sind ein besetztes Land.“
Nassir al-Taawid ist ein ehemaliger Ge-
neralmajor der Luftwaffe. Ein gutaus-
sehender Mann, aufrecht und gefechts-
bereit, nur ohne Uniform und ohne Sol-
daten. Der 53-Jährige haust mit seiner
Familie in einer Zementhütte über dem
Hafen. Gerade kommt er von einem Tref-
fen seiner Bewegung, der Harak.
Die Harak will den Jemen 20 Jahre
nach der Vereinigung wieder in zwei Teile
trennen. Also zurück in jene Zeit, als es
zwischen dem Roten Meer und dem Golf
von Aden noch zwei unabhängige jeme-
nitische Staaten gab: den religiös gepräg-
ten Norden und den mit Moskau verbün-
deten sozialistischen Süden. Der Anfüh-
SIMON NORFOLK / AGENTUR FOCUS

rer der Harak, der letzte starke Mann des


Südjemen, Ali Salim al-Bid, lebt nicht
mehr im Palast auf dem Felsen am Hafen,
sondern im Exil.
Das hat jahrelang niemanden so recht
interessiert. Bis sich im Dezember 2009
ein im Jemen ausgebildeter Terrorist, der
sogenannte Unterhosenbomber, auf ei- Altstadt von Sanaa: Die Armut liegt wie Staub auf den Straßen
nen Transatlantikflug eincheckte und
bis in der vorvergangenen Woche im Je- Auf den Konferenzen der Terrorexper- an die tausend Kämpfer, schätzen die Ge-
men präparierte Tonerkartuschen mit ten hat der Jemen Afghanistan als Heim- heimdienste. Aber die Truppe ist hoch-
Sprengsätzen als Luftfracht aufgegeben stätte von al-Qaida abgelöst. Seit Bin La- motiviert und erfahren. Es sind ehemalige
wurden. „Die geplanten Attentate sind dens Netzwerk im Januar 2009 seine Guantanamo-Gefangene darunter, aus
im Nachhinein ein Segen für uns“, hat Kämpfer in Saudi-Arabien und im Jemen Saudi-Arabien verjagte Islamisten und
Jemens Außenminister gesagt, „sie haben zur „Al-Qaida auf der Arabischen Halb- aus dem Exil zurückgekehrte Jemeniten.
die Welt alarmiert.“ insel“ (AQAP) zusammengeführt hat, ge- Es gibt eine große Zahl strengstgläubiger
Schön, wenn man der Lage etwas Posi- hen die perfidesten Aktionen vom Jemen Islamschulen, aus denen die Qaida rekru-
tives abgewinnen kann. aus. Zahlenmäßig ist die Gruppe klein, tieren kann. Es gibt im Süden Wüsten
116 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
und Gebirge, die jeden Einsatz der Ar- uns gebracht hat. Da oben herrscht noch Die Männer tragen Krummdolche im
mee fragwürdig werden lassen. die Stammesgesellschaft, auch wenn sie Gürtel und laufen mit prall gespannten
Und es gibt einen ganzen Landesteil, Auto fahren.“ Es ist die Bitternis eines Backen herum, als würden sie Pingpong-
den ehemaligen Südjemen, wo Armut, die Mannes, der bessere Zeiten gesehen hat. bälle schmuggeln. Der Grund ist Kat. In
Enttäuschung und Wut auf den Norden In der einstigen Volksdemokratischen den Nachbarländern sind die Blätter als
gefährliche Ausmaße angenommen haben. Republik Jemen im Süden waren Stam- Droge verboten, im Jemen ist Kat fast so
An der Promenade von Aden rosten mesnamen und Schleier verpönt, Frauen banal wie Kaugummi. Die derzeit beste
fröhlich die Klettergeräte des Sozialismus. wurden für die Armee rekrutiert. Doch Sorte auf dem Markt nennt sich „Russian
Aden sieht aus, wie Rostock oder Wismar die Kommunisten legten die Schriften Rocket“.
aussehen würden, wenn der Westen 1990 von Lenin mit ähnlicher Verbohrtheit aus „Krater“ heißt der älteste Teil Adens,
die alte Elite zum Teufel gejagt, die Stra- wie islamistische Agitatoren heute den der tatsächlich in einem alten Vulkankra-
ßen umbenannt, die VEB übernommen Koran. Einmal wurden Tausende Men- ter liegt, seine zerrissenen Ränder ziehen
sich bis in den Himmel. An einem mit
Ketten verhängten Gebäude hängt ein
verblichenes Schild: „Rambow“.
Es ist das ehemalige Handelskontor, in
dem ab 1880 Arthur Rimbaud arbeitete.
Der französische Dichter hatte versucht,
in der Region mit Kaffee, Gewürzen und
Waffen zu handeln. „Das dreckige Rote
Meer wird von den Hitzewellen gemar-
tert“, schrieb er nach Hause, „Aden ist
ein Vulkankrater. Die Ränder lassen kei-
ne Luft hinein, und wir braten hier am
Grunde des Loches.“ Heute ist das Haus
von allen Geistern verlassen, die Türen
sind verriegelt, die Fenster blind von
Staub.
In ganz Aden gibt es jetzt keinen Buch-

STEPHANE LEHR / POLARIS / LAIF


laden mehr, der etwas anderes in den Re-
galen hätte als islamische Erbauungslite-
ratur. Frauen ist es unmöglich geworden,
ohne Nikab auf die Straße zu gehen. Die
lebenspralle Hafenstadt ist heute ein Ort
ohne weibliche Gesichter.
„Das ist nicht mehr unser Land“, sagt
der ehemalige General Taawid: „Wir wol-
len unser Land zurück. Die Regierung in
Sanaa muss zurücktreten, dann können
wir reden.“
Die Regierung in Sanaa will nicht zu-
rücktreten.
Die Harak ist eigentlich keine bewaff-
nete Bewegung, aber durchaus in der
Lage, Angriffe zu führen, „sporadische
Aktionen, wenn jemand attackiert wird“,
wie der Ex-Offizier es nennt. Im Sommer
gab es mehrere Attacken auf Polizei-
stationen, in Aden und Sindschibar, 50
Kilometer weiter östlich.
Die Separatisten werfen der Regierung
in Sanaa vor, sie benutze al-Qaida, um
den Widerstand im Süden in die Ecke des
Terrors zu stellen: „Wir haben keinerlei
Kontakt zur Qaida. Der Norden schickt
POLARIS / LAIF

uns diese Teufel her, damit er uns be-


kämpfen kann und die Amerikaner zu-
frieden sind.“
Bildnis von Präsident Salih, jemenitische Soldaten: „Der Norden schickt uns diese Teufel“ Nassir al-Taawid hätte jeden Eid ge-
schworen, dass die Geheimdienste des
und ansonsten keinen Pfennig in den Auf- schen in ideologischen Machtkämpfen Nordens bei den Überfällen auf die Poli-
bau Ost gesteckt hätte. umgebracht. Innerhalb weniger Tage. zeistationen mitgemischt haben. Doch
„Die Einheit hat uns die Prediger ge- Die „Main-Street“ in Aden ist eine Karl- alle Indizien deuten hin auf „Al-Qaida
bracht, die Armut und die Abhängigkeit“, Marx-Allee mit auffälligen Löchern unter auf der Arabischen Halbinsel“.
sagt Taawid. Jedem Beamten im Süden den Fenstern der Häuser. Irgendwann lie- „Hier ist es“, sagt Taawid. Sein Toyota
sei ein Aufpasser aus dem Norden zur ßen die Kommunisten alle Klimaanlagen ist in der Nähe eines dreistöckigen Kolo-
Seite gestellt worden. Wer Alkohol trinkt, herausreißen. Das Volk schwitzt, also nialbaus zum Stehen gekommen: des
riskiert, öffentlich angeprangert zu wer- schwitzen alle. Das Volk hat einiges aus- Crescent Hotel. Queen Elizabeth II. hat
den. „Das ist die Kultur, die der Norden stehen müssen mit seinen Regimen. hier übernachtet. „Wir haben beobachtet,
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 117
wie Anwar al-Awlaki hier saß“, sagt er,
der Terrorverdächtige, der Qaida-Einpeit-
scher mit dem US-amerikanischen Pass.
Das mutmaßliche Hirn hinter den Paket-
bomben, „er saß hier, vor etwa einem
Jahr, und trank in aller Ruhe Tee“.
Das ehemalige Crescent Hotel ist heute
Sitz der Geheimpolizei.

D ie Qaida der Arabischen Halbinsel


will den Sturz der dortigen Regime
und die Errichtung einer Theokratie nach

BRUNO ZANZOTTERA / PARALLELOZERO


dem Vorbild der Taliban. Geführt wird
die Truppe von einem kleinen Mann,
dem anderthalb Meter großen ehemali-
gen Privatsekretär Bin Ladens, Nassir al-
Wuhaischi, genannt Abu Bassir. Im Jahr
2006 floh er aus dem angeblichen Hoch-
sicherheitsgefängnis von Sanaa, mit 22
anderen.
Jemens Staatspräsident Salih soll Qai- Kat-Konsumenten auf einer Feier in Sanaa: Als würden sie Pingpongbälle schmuggeln
da-Kämpfern im Januar 2009 ein Angebot
gemacht haben. Er versprach angeblich Noch im Juni hatte es nach einem Deal Nicht wenige meinen, es gebe keine
die Freilassung von Gefangenen und ausgesehen: „Awlaki wird von uns fest- Alternative zu diesem Präsidenten. Das
freies Geleit nach Somalia oder Saudi- genommen und zu einer kurzen Haft im ist auch die Haltung der USA und der
Arabien. 20 der 60 Topleute sollen das Jemen verurteilt“, hatte damals ein Ein- Nachbarstaaten. Der Jemen liegt geo-
Angebot angenommen haben. Der klein- geweihter gesagt: „Dafür gibt es Hilfs- politisch zu exponiert, als dass man Risi-
gewachsene Führer der AQAP war aller- maßnahmen für den Stamm.“ ken eingehen wollte. Die Zusammenar-
dings nicht darunter. Die Chancen für diesen Plan sind heute beit mit Salih sei gut, sagte US-General
Die neue Generation der Qaida hat den gleich null, die Paketbomben haben eine James Mattis dem Senat: „Wir müssen
totalen Krieg ausgerufen. Sie will die Re- politische Lösung massiv erschwert. Aw- enge Verbindungen mit den Jemeniten
gierung in Sanaa stürzen. Es verbindet laki ist zu gefährlich. Innerhalb des Dschi- schmieden.“ Krise, Qaida und lokale Auf-
sie nichts mit den Nostalgikern im Süden, had-Netzwerks gibt es niemanden, der ständische hätten Jemens Regierung und
nichts mit dem Regime im Norden. so ausgetüftelt Bomben zu bauen versteht das Militär „an die Bruchstelle“ gebracht.
Anwar al-Awlaki ist ihr Chefpropagan- wie die AQAP. Ihre Leute sind besser als Präsident Salih sitzt zwischen allen
dist. Er soll in seinem Stammesgebiet le- die alten. Wer glaubt, sie – wie auch im- Stühlen. Er braucht die Islamisten und
ben, in den Provinzen Maarib oder Schab- mer – für seine Ziele einspannen zu kön- die Stammesführer, aber vor allem
wa, östlich von Sanaa. Weil Awlakis Vater nen, der geht ein hohes Risiko ein. braucht er die USA. Als Zeichen guten
Landwirtschaftsminister war und immer Willens wurde die „Iran-Straße“ im Bot-
noch ein einflussreicher Parlamentarier
ist, wird angenommen, dass auch die
Regierung ziemlich genau weiß, wo der
D
as Bildnis des Staatspräsidenten Ali
Abdullah Salih hängt an allen Mau-
ern von Sanaa, der märchenhaften Haupt-
schaftsviertel von Sanaa umbenannt. Sie
heißt jetzt „Straße des Morgentaus“.
In seinem Ministerium gibt sich Nabil
Schurke lebt. stadt mit Lehmtürmen im Tudorstil, wie al-Fakih aufrichtig Mühe, das Bild seines
Die Regierung möchte eine Aktion der übrig geblieben aus einem antiken Wett- Landes geradezurücken. Er ist Minister
USA gegen Awlaki möglichst vermeiden. bewerb im Sandburgenbau. Seit 1978 ist für Tourismus. Er sagt: „Verschwindend
Ein Drohnenangriff auf dessen Stamm – Salih im Amt, erst als Chef des Nord- wenige Touristen wurden entführt“, ge-
und es gäbe eine neue Front im Osten. jemen, dann, nach der Vereinigung, als schweige denn umgebracht. Das ist rich-
Immerhin begann vergangene Woche in Oberhaupt des ganzen Landes. Der Herr- tig. Aber würde man mit diesem Satz bei
seiner Abwesenheit ein Prozess gegen scher schaut auf den Fotos streng und einer Touristikmesse werben wollen?
ihn, wegen Aufrufs zum Mord an Aus- meistens zur Seite. Das soll ihm etwas Vi- „Unser Land wird zu einem wahren Do-
ländern. sionäres geben. Aber es wirkt, als wolle rado der europäischen Urlaubsgäste wer-
er dem Blick des Betrach- den …“, sagt der Minister und beginnt
Das 1990 wiedervereinigte Land ist politisch zerris- SAU D I - ters ausweichen. hochglänzende Broschüren über den
sen: Im Norden rebellieren schiitische Huthi- A RA B I EN Präsident Salih regiert Tisch zu schieben, „… sobald der Spuk
Milizen, im Süden sind Separatisten aktiv. Al-Qaida mittels eines fein gespon- im Norden und im Süden vorbei ist.“
nutzt den Jemen als Rückzugsgebiet. Wirtschaftlich nenen Patronagenetzes. Er vergisst den Spuk im Osten, wo sich
steht das Land vor dem Kollaps. O M A N Seine Kritiker sagen, er im März 2009 ein jugendlicher Qaida-An-
Gebiet der Huthi-Rebellen nutze die Stammesfehden hänger zusammen mit vier koreanischen
ehemalige Grenze für sich aus, kaufe sich Touristen und dem Fremdenführer in die
Saada zwischen Nord- und Feinde zu Freunden und Luft gejagt hat. Die Gruppe wollte den
Südjemen
sei bereit, sich auch mit Sonnenuntergang über der Lehmstadt
Rotes den Islamisten zu verstän- Schibam fotografieren. Und er vergisst
Meer Maarib Schibam digen, wenn es dem den im Westen, wo Speedboote von Pi-
Sanaa Schabwa Machterhalt diene. Aber raten durch die Tauchparadiese jagen.
JEMEN seit die Einkünfte aus den Es ist schwer, Minister für Tourismus
Abjan Ölexporten drastisch ge- im Jemen zu sein.
Sindschibar sunken sind, wird es Das Land kriselt in allen Ecken. Im Nor-
Aden
200 km schwerer, dieses System den, im Grenzgebiet zu Saudi-Arabien,
zu schmieren. rebellieren seit Jahren die Huthi-Milizen,
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Ausland

deren Mitglieder offenbar von der Wie-


dereinführung eines Imamats träumen.
Im Süden wird immer ungenierter die
erneute Teilung des Landes gefordert.
Überall sitzen somalische Bürgerkriegs-
flüchtlinge, 800 000 womöglich schon,
von denen niemand genau weiß, wer sie
sind und was aus ihnen werden soll.
Im April empfing der Vizepremier für
Verteidigung, Raschad al-Alimi, eine
Gruppe Journalisten, ein kleiner Mann
mit schütterem Haar und lauernder Un-
zufriedenheit angesichts des schlechten
Rufs seines Landes in der Welt. „Al-Qai-
da“, hatte er damals erklärt, „wird von
den Medien übertrieben dargestellt.“
Die Regierung hätte ein Umerziehungs-
programm für Altkämpfer aufgestellt, die
in den Achtzigern zu Tausenden nach Af-
ghanistan gegangen seien, behauptete er:
„Es gibt keine Gefahr für Ausländer im Je-
men, die von al-Qaida ausgeht. Das ist Me-
diengeschwätz, unverantwortlich und un-
begründet.“ Dann ging das Licht aus im
neuen Regierungspressesaal. Einer der üb-
lichen Stromausfälle. Auch wenn das jetzt
vermutlich übertrieben dargestellt ist.
Die Armut liegt wie Staub auf den Stra-
ßen des schönen Sanaa. Man sieht bar-
füßige Kinder Plastikflaschen am Faden
hinter sich herziehen, vor den Unesco-ge-
schützten Lehmwänden. Das Budget des
Jemen belief sich 2009 auf gut neun Mil-
liarden Dollar, nicht einmal doppelt so
viel, wie die Deutschen jährlich für ihre
Hunde ausgeben. Die Ministerien mussten
letztes Jahr ihre Ausgaben halbieren.
Einer Studie zufolge wird der Jemen
das erste Land sein, in dem die Wasser-
vorräte aufgebraucht sein werden. Bis zu
80 Prozent des Wassers in der Landwirt-
schaft versickern in den Kat-Plantagen.
Die Öl- und Gasvorkommen schwinden
schneller, als die Infrastruktur für das
„Dorado“ aufgebaut werden kann.
Ein Großteil der 23 Millionen Jemeni-
ten lebt in 150 000 Dörfern verstreut, iso-
liert durch Berge und Wüsten. In weiten
Teilen gibt es keine befestigten Straßen,
weder Wasser- noch Stromversorgung.
Das Gesetz machen die Stammesführer
und sonst niemand. Der Staatspräsident
stützt sich zwar auf das Stammeswesen,
trotzdem werden seine Statthalter oft als
unfähig und korrupt wahrgenommen.
„Dort ist eine Menge Diplomatie von-
nöten, aber an der fehlt es“, sagte Edmund
Hull, der ehemalige US-Botschafter in Sa-
naa: „Wir haben die Initiative al-Qaida
überlassen, und al-Qaida gibt den Ton an.“
Washington hat nun für 2011 bis zu 250
Millionen Dollar Hilfe zugesagt. Andere
meinen, dass gerade Salih der Grund da-
für ist, dass der Jemen im 21. Jahr der
Einheit so uneinig ist wie noch nie.
Salih feierte den 32. Jahrestag seiner
Macht, am 17. Juli, mit einer tischgroßen
Cremetorte und einer ebenso süßen An-
kündigung: „Wir sind bereit, eine natio-
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 119
Ausland

nale Regierung des gesamten politischen rage. Da lagern bereits 16 ältere Männer.
Spektrums zu bilden, um rechtzeitig Wah- Sie sind barfuß und in Wickelröcke ge-
len abzuhalten“, im April 2011. Inzwi- kleidet und rupfen langsam Blatt für Blatt
schen will er nichts mehr davon wissen. von ihren Kat-Zweigen, während im Fern-
Am Dienstag voriger Woche startete sehen Tennis läuft, ohne Ton.
die Armee demonstrativ eine großange- Es ist eine der Kat-Runden, in denen
legte Militäroperation gegen die AQAP. die jemenitische Demokratie praktiziert
Der Präsident weiß, dass er jetzt keine wird. Schwerlich würde jemand auf den
Rücksicht mehr auf die Stämme nehmen Gedanken kommen, in diesen kauenden
kann. Die Paketbomben-Sache war zu Herren die alte Elite zu sehen. Aber es
groß. Salih muss den USA, Saudi-Arabien sind ehemalige Minister, Universitätsdi-
und dem Rest der Welt beweisen, dass er rektoren, Diplomaten und Gouverneure
es allein kann. Er muss Hirn und Hand- der 1990 untergegangenen Volksdemokra-
werker des vereitelten Anschlags fassen, tischen Republik Jemen. Einige sprechen
und zwar schnell. Deutsch und schwärmen von ihrer Zeit
Schon seit August hatten die Militärs in Dresden und Karl-Marx-Stadt.
Einsätze in den südlichen Provinzen Abjan Im Sozialismus war auch Kat verboten,
und Schabwa durchgeführt. „Von nun an außer am Donnerstag und Freitag. Inzwi-
gibt es zwischen uns nur noch Blut und schen haben selbst die Würdenträger von
abgeschnittene Köpfe“, gab Anwar al-Aw- einst dicke Backen: „Es regt den Geist
laki, gewohnt vollmundig, damals bekannt. an“, behaupten die Kat-Anhänger.
„Solange ihr dem Despoten Salih dient, Hier wird die Zukunft verhandelt, und
dem Lakaien Amerikas, das einen Kreuz- die Vergangenheit sowieso. Es gibt in der
zug gegen den Islam führt“,
würden die Soldaten nicht
geschont. In den Straßen
Sindschibars wurden im
September schwarze Listen
verteilt mit Todesdrohun-
gen gegen 55 namentlich ge-
nannte Offiziere.
Mindestens zweimal, in
den Städten Laudar und
Huta, kam es zu direkten

CATALINA MARTIN-CHICO / COSMOS


Gefechten mit der Qaida.
Die Armee umzingelte ver-
dächtige Bezirke mit Pan-
zern und evakuierte die Be-
völkerung. Dann wurden
die Viertel mit Artillerie
und aus der Luft beschos-
sen. Die AQAP-Krieger Frauen in einem Park in Sanaa: Kaum weibliche Gesichter
entkamen trotzdem.
US-Geheimdienste sprachen von pu- Runde linke Nasseristen und Baathisten,
rem Aktionismus. auch Pragmatiker, die ihre Stimme der
Das Regime in Sanaa möchte mit die- Islampartei geben würden: „Nur sie hat
sem Feldzug auch die Separatisten im Sü- derzeit die Kraft, den Präsidenten zu
den schwächen. Die Armee soll sich in einer Dezentralisierung der Macht zu
den Provinzen festsetzen können. Jede drängen.“
Kritik wäre letztlich eine Kritik am heili- Vielleicht liegt es an der beruhigen-
gen Krieg gegen den Terror. den Wirkung der Kat-Blätter. Jedenfalls
Die Führung der Harak macht es dieser glaubt kaum einer an einen neuen Bür-
Propaganda leicht. In der Provinz Schab- gerkrieg zwischen Nord und Süd.
wa rief ihr Generalsekretär Ende Septem- Volksdichter Muajjad Barakat meint:
ber dazu auf, der Armee die Zufahrts- „Wir können allein auf uns gestellt nicht
wege abzuschneiden. Die ganze Kampa- viel erreichen. Die Gegensätze unter uns
gne sei nur „ein Vorwand, um den Süden Südjemeniten sind leider auch eine Tat-
zu unterwerfen“. Das erklärte aus dem sache.“ Der geeignete Rahmen wäre ein
Exil Ali Salim al-Bid, der ehemalige Mehr-Regionen-Staat, „so wie Belgien
Machthaber des Südens. oder die ehemalige Tschechoslowakei“.
In Aden steht der Toyota mit den Ko- Und so werden Entwürfe gemacht und
ranversen vor einem unansehnlichen Ge- alte ideologische Fronten begradigt. Für
bäude. „Institut für Menschenrechtsstu- die Regierung haben sie nur Verachtung
dien“ ist über dem Tor zu lesen. „Der übrig. Für jenes Regime, mit dem sie die
Präsident steht unter großem Druck der Unfähigkeit verbindet, sich von der Ver-
USA, Europas und der Golfstaaten“, sagt gangenheit zu befreien.
der Leiter des Zentrums, Takija Abd al- Während die Gegenwart längst von an-
Wahid, und bittet zur weiteren Debatte deren geschrieben wird.
in eine mit Auslegware eingerichtete Ga- ALEXANDER SMOLTCZYK, VOLKHARD WINDFUHR

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Ausland

VINCENT MENTZEL / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF


PATRICK POST / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF

Musliminnen in Amsterdam, Islam-Kritiker Wilders: „Genug ist genug, wir werden uns wehren“

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Sie werden uns nicht stoppen“


Der niederländische Islam-Gegner Geert Wilders über seinen Kampf für ein Koran-Verbot,
die Morddrohungen gegen ihn und die Migranten-Diskussion in Deutschland

SPIEGEL: Herr Wilders, Sie gelten als der SPIEGEL: Was haben Sie gegen den Islam? Islam eine totalitäre und gewalttätige
starke Mann hinter der neuen niederlän- Wilders: Das größte Problem Europas – Ideologie ist. Mehr Ideologie als Religion,
dischen Regierung, weil die als Minder- nicht nur heute, sondern seit Jahrzehnten vergleichbar mit Kommunismus oder
heitskabinett auf Ihre Duldung angewie- schon – ist kultureller Relativismus. Er Faschismus. Der Islam gefährdet unsere
sen ist. Warum setzt Ihre Partei, 65 Jahre führt dazu, dass die Europäer heute nicht Freiheit.
nach dem Holocaust, auf Rezepte von mehr wissen, worauf sie stolz sein sollen
vorgestern – auf religiöse und rassische und wer sie eigentlich sind. Weil ein von
Ausgrenzung? sogenannten Liberalen und Linken auf- Geert Wilders
Wilders: Wir befürworten keine religiöse gezwungenes Konzept besagt, alle Kul- ist Vorsitzender und einziges Mitglied der
und schon gar keine rassische Ausgren- turen seien gleich. niederländischen Partei für die Freiheit
zung. Wir haben kein Problem mit ande- SPIEGEL: Gleich oder gleichwertig? (PVV). Kritik an der EU, am Islam und an der
ren Hautfarben, auch nicht mit Muslimen Wilders: Es geht um das, was das schöne multikulturellen Gesellschaft brachten der
– unser Problem ist der Islam. Damit spre- deutsche Wort „Leitkultur“ beschreibt. PVV seit ihrer Gründung 2006 Stimmen-
chen wir vielen unserer Landsleute aus Ich denke, dass wir stolz sein sollten zu zuwächse und bei der Parlamentswahl im
dem Herzen. Wir wurden drittstärkste sagen, dass unsere Kultur besser ist als Juni 2010 mit 15,5 Prozent den dritten Platz.
Partei bei den Wahlen im Juni und sind zum Beispiel die islamische. Wer das sagt, Die amtierende Koalition aus Rechtslibera-
inzwischen, nach letzten Umfragen, be- ist noch kein Rassist, Nazi oder Fremden- len und Christdemokraten wird von Wilders,
reits zweitstärkste Partei in Holland. hasser. Das sind Etiketten, die uns und 47, geduldet. Der bekennende Israel-Freund
vielen Menschen in den Niederlanden, in und Islam-Kritiker lebt unter strengsten
Das Gespräch führten die Redakteure Walter Mayr und Deutschland oder England aufgeklebt Sicherheitsvorkehrungen in Den Haag.
René Pfister in Den Haag. werden – nur weil wir glauben, dass der
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SPIEGEL: Sie behaupten, die niederländi-
sche Kultur sei besser als jene in islami-
schen Ländern. Warum greifen Sie be-
wusst zu Vergleichen, die Menschen an-
derer Konfession herabsetzen?
Wilders: Wer die Tradition von Judentum,
Christentum und Humanismus mit der
des Islam vergleicht, muss nicht Einstein
heißen, um den Unterschied zu sehen.
Kennen Sie ein Land im Nahen Osten, in
dem die islamische Kultur vorherrscht
und wo es wirklich einen Rechtsstaat
gäbe und unabhängigen Journalismus?
Wo Ungläubige, Frauen, Schwule tun
könnten, was ihnen gefällt? Im Westen
haben Menschen ihr Leben gegeben für
die Freiheiten, die wir heute genießen.
SPIEGEL: Sie nehmen nicht zur Kenntnis,
dass Kulturen und Religionen verändert
werden können durch die Menschen. War
es nicht bei der katholischen Kirche ge-
nauso?
Wilders: Ja, aber wie lange hat das gedau-
ert? Ich sage nicht, dass ich den Islam
verbieten will. Ich will weniger Islam in
Europa. Weil er keinen Platz für Diskus-
sionen lässt. Nehmen Sie dagegen den
Judaismus, das Leben in den Jeschiwas:
Da wird diskutiert darüber, wie der Tal-
mud interpretiert werden soll. Im Koran
hingegen heißt es, wer nicht jedes Wort
glaubt, ist ein Ungläubiger. Und die Strafe
dafür ist bekannt: der Tod.
SPIEGEL: Sie leben rund um die Uhr mit
Bodyguards und schlafen in einem schwer-
bewachten Wohnkomplex der Regierung.
Wann treffen Sie eigentlich das Volk, des-
sen Fürsprecher Sie angeblich sind?
Wilders: Ich mache Wahlkampf. Ich zeige
mich auf den Straßen. Das ist dann al-
lerdings, zugegeben, ein merkwürdiges
Spektakel: Um mich herum sind mehr
Polizisten, als man zählen kann.
SPIEGEL: Eine kostspielige Sache für den
niederländischen Steuerzahler.
Wilders: Stimmt. Aber die Alternative
wäre, dass ein demokratisch gewählter
Politiker wie ich, der niemanden mit dem
Tode bedroht hat, nicht mehr öffentlich
auftreten kann. Im Kampf um die Freiheit
des niederländischen Volks habe ich mei-
ne eigene Freiheit verloren. Ich weiß, dass
es normales Leben für mich weder heute
noch morgen geben wird. Aber das ist
der Preis, der bezahlt werden muss.
SPIEGEL: Sie sind einer der meistgeächte-
ten Politiker Europas. Aber in Wahrheit
lieben Sie es doch, wenn Sie mit Ihren
Thesen für Aufregung sorgen.
Wilders: Die Menschen lieben oder hassen
mich, es gibt da keine Grauzone. Ich und
meine Partei, wir sind eine Gefahr für
die politische Elite in vielen Ländern.
Aber sie werden uns nicht stoppen.
Schauen Sie sich Bundeskanzlerin Angela
Merkel an, die sich jetzt an einer Kopie
versucht.
SPIEGEL: Einer Kopie Ihrer Politik, wie Sie
gerade allen Ernstes behauptet haben?
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PHIL NIJHUIS / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
Politiker Wilders (M.), Bodyguards in Den Haag: „Der Preis, der bezahlt werden muss“

Wilders: Merkel hat Angst. Weil es Um- SPIEGEL: Sie vergleichen den Koran mit pitel 19, Vers 27. Räumen Sie ein, dass
fragen gibt, denen zufolge eine charisma- Hitlers „Mein Kampf“. Haben Sie „Mein auch in der Bibel zur Gewalt aufgerufen
tische Persönlichkeit, wenn sie heute Kampf“ gelesen? wird?
hochkäme in Deutschland so wie ich in Wilders: Ja, wenn auch nicht vollständig. Wilders: Im Alten Testament gibt es scho-
den Niederlanden, mit 20 Prozent der Der Koran hat jedenfalls mehr anti- nungslose Passagen, im Neuen Testament
Stimmen rechnen könnte. Ich meine eine jüdische Passagen. Und grundsätzlich: geht es gemäßigter zu. Aber ein entschei-
Persönlichkeit ohne rechtsextremen Hin- Das sind Machwerke mit totalitärem dender Unterschied zwischen Christen-
tergrund, also nicht von den Republika- Ansatz, die keinen Platz lassen für an- tum und Islam ist: Muslime glauben, dass
nern oder von der NPD. Das ist eine Be- dere Meinungen. Faschismus, Kommu- der Koran buchstabengetreu das Wort
drohung für die Volksparteien. Deshalb nismus, Islam gehorchen dem gleichen Gottes abbildet; er ist in der Befehlsform
versuchen sie nun, uns zu kopieren: Mer- Prinzip. geschrieben. Ein Vergleich mit dem Chris-
kel hat die multikulturelle Ge- SPIEGEL: Ihr eigenes Prinzip lau- tentum verbietet sich schon deswegen.
sellschaft für gescheitert erklärt. tet offensichtlich: Je drastischer SPIEGEL: Sie kennen Thilo Sarrazins Buch.
SPIEGEL: Sie hat aber auch „Es wird bald die Vergleiche, desto mehr Teilen Sie seine Meinung, dass es geneti-
gesagt: Der Islam gehört zu ein Verbot ge- Schlagzeilen. sche Gründe für die „Minderwertigkeit“
Deutschland. Und: Wir brau- ben, in Holland Wilders: Schlagzeilen brauche bestimmter ethnischer Gruppen gibt?
chen weitere Zuwanderung. die Burka zu ich nicht. Mir geht’s um die Wilders: Ich glaube nicht an genetische
Wilders: Ja, aber dass die multi- tragen. Wir Wahrheit. Ursachen, ich bin davon weit entfernt.
kulturelle Gesellschaft geschei- SPIEGEL: Die Wahrheit ist, dass Ich glaube vielmehr daran, dass alle Men-
tert sei, das habe ich zuvor
sind sehr Sie die Gesellschaft spalten: schen, die sich zu unseren Werten beken-
noch nie von ihr gehört. Und erfolgreich.“ Hier in Den Haag stammt fast nen, zu unseren Gesetzen, unserer Ver-
die Mehrheit der Deutschen die Hälfte der Einwohner aus fassung, vollwertige Mitglieder unserer
lehnt die Aussage von Bundespräsident Migrantenfamilien, viele davon aus mus- Gesellschaft sind. Ich gehe sogar so weit
Wulff ab, der Islam sei ein Teil Deutsch- limischen. Und Sie fordern, den Koran zu sagen: Die Mehrheit der Muslime in
lands. Das heißt: Was wir in Holland be- zu verbieten? Europa sind Menschen wie du und ich,
reits erlebt haben, passiert nun auch bei Wilders: „Mein Kampf“ ist bei uns verbo- sie führen ein normales Leben, haben ei-
Ihnen – die politische Elite ist in Aufruhr. ten. Dabei ist der Koran schlimmer, was nen normalen Beruf und wollen das Beste
SPIEGEL: An wen denken Sie da? Anstachelung zu Hass und Gewalt an- für ihre Kinder. Mein Problem ist der
Wilders: CSU-Chef Horst Seehofer sagt geht. Wenn meine Freunde auf der Lin- wachsende Einfluss einer Ideologie, die
nicht nur, dass die multikulturelle Gesell- ken konsequent wären, müsste auch der uns unsere Freiheit kosten wird.
schaft tot ist, sondern auch, dass er keine Koran verboten werden. SPIEGEL: Sehen Sie einen deutschen Geert
türkischen und arabischen Immigranten SPIEGEL: Kennen Sie das Prophetenwort: Wilders am Horizont?
mehr will. Wenn ich das Gleiche in Hol- „Doch diese meine Feinde, die nicht woll- Wilders: Ich war unlängst in Berlin auf
land sagen würde, käme ich vor Gericht. ten, dass ich ihr König werde, bringt her Einladung von René Stadtkewitz …
Als ich im Oktober in Berlin auftrat, mel- und macht sie vor mir nieder“? SPIEGEL: … einem Ex-CDU-Mann, der
dete sich fast das halbe deutsche Kabinett Wilders: Ich habe viele solche Passagen ebenfalls eine andere Integrationspolitik
mit Protest zu Wort – ist das kein Zeichen gelesen. fordert und kürzlich eine Partei mit Na-
dafür, dass die Eliten dort verunsichert SPIEGEL: Der zitierte Prophet war aller- men „Die Freiheit“ gründete, den in
sind? dings Jesus, nachzulesen bei Lukas, Ka- Deutschland aber keiner kennt.
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Ausland

Wilders: Mag sein, aber für mich zählt vor Sanktionen waren die Folge. Nichts der-
allem eines: Mit extrem rechten Parteien gleichen passiert heute in Schweden,
wie den deutschen Republikanern, wie Dänemark oder den Niederlanden. Es
Le Pens Front national oder der British scheint, als sei der Rechtspopulismus in
National Party will ich nicht das Gerings- Europa salonfähig geworden.
te zu tun haben. Wilders: Die EU täte gut daran, sich an
SPIEGEL: Sie grenzen sich von deren ewig- den Gedanken zu gewöhnen. Meine Par-
gestrigen Chiffren ab, sind sich aber einig tei wird nicht die letzte sein, die da hoch-
beim lautstarken Werben um die Stim- kommt. Die Dänische Volkspartei unter-
men der hart arbeitenden Mittelschicht? stützt bereits seit neun Jahren eine
Wilders: Wir wollen mit diesen rechtsex- Minderheitsregierung, und niemand in
tremen Parteien nichts zu tun haben. Nach Europa beschwert sich darüber.
unserem Erfolg bei den EU-Wahlen haben SPIEGEL: Sie haben sich vehement gegen
wir uns deshalb auch keiner Fraktion im einen EU-Beitritt der Türkei ausgespro-
Europaparlament angeschlossen. Fragen chen. Wie beurteilt die neue niederlän-
Sie doch unsere politischen Gegner in den dische Regierung den Annäherungspro-
Niederlanden: Die teilen zwar nicht un- zess der muslimisch geprägten Republik
sere Meinung, behaupten aber auch nicht Bosnien-Herzegowina und des Kosovo
alle, dass Wilders und seine Leute Extre- an die EU?
misten sind. Wer an die zwei Millionen Wilders: Das ist nicht im Regierungs-
Niederländer als Extremisten bezeichnet, abkommen geregelt. Meine Partei aller-
beleidigt nicht mich, sondern die Wähler. dings lehnt jede Form von EU-Erweite-
SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien kein Ex- rung ab. Wir werden gegen sämtliche
tremist. Und fordern gleichzeitig eine weiteren Kandidaten inklusive Kroatien
„1000-Euro-Kopflumpensteuer“ jährlich stimmen. Die Regierung wird sich in die-
für Frauen, die ihr Haupt verhüllen? sem Fall ihre Mehrheit anderswo suchen
Wilders: Ich habe dafür keine Mehrheit im müssen. Vor allem aber werden wir gegen
Parlament bekommen. Mir geht es ums die Aufnahme der Türkei stimmen –
große Ganze, aber immer wieder wird in Nachbar ja, Familienmitglied nein. Gäbe
der Öffentlichkeit dieser eine Antrag her- es die Armee nicht, so würden in der Tür-
ausgepickt. kei durch Herrn Erdogans Partei die Isla-
SPIEGEL: War die Sache mit der „Kopflum- misten ohne Gegengewicht regieren. Und
pensteuer“ also ein schlechter Witz? wir hätten irgendwann ein Trojanisches
Wilders: Nein, kein Witz, nur ein Antrag Islamisches Pferd in der EU. Plus eine
unter vielen. Wir stützen immerhin eine Außengrenze mit kriminellen Staaten wie
Minderheitsregierung, die ohne uns nicht Syrien und Iran.
an der Macht wäre. Und das heißt: Es SPIEGEL: Was es noch nie gab, bis Geert
wird bald ein Verbot geben, in Holland Wilders kam: dass eine Ein-Mann-Partei
die Burka zu tragen, und eine enorme über die Geschicke eines EU-Mitglieds-
Verringerung der Einwanderung. Wir sind landes mitbestimmt. Sie sind einziges
sehr erfolgreich. Mitglied, Parteivorsitzender, Fraktions-
SPIEGEL: Was erwartet die niederländi- führer, Chefideologe und Schatzmeister
schen Muslime? Wer sich nicht anpassen der von Ihnen gegründeten PVV. Soll das
will, wird künftig zurückgeschickt? so bleiben?
Wilders: Nein, nicht zurückgeschickt. Es Wilders: Wir werden demnächst in der
sei denn, es handelt sich um Kriminelle. Fraktion diskutieren, ob wir weitere Par-
SPIEGEL: Der neue Minister für Immigra- teimitglieder zulassen. Uns geht es dar-
tion hat Sie vor nicht allzu langer Zeit um zu vermeiden, dass die falschen Leute
noch als den „Vormann ordinärer Dreck- unsere Partei als Geisel nehmen.
schleudern im Internet“ bezeichnet. Ha- SPIEGEL: Ist es nicht in Wahrheit so, dass
ben Sie ihn inzwischen zur Rede gestellt? Ihre Partei den falschen Kampf führt –
Wilders: Wenn ich mit Leuten, die mich im Namen einer westlichen Zivilisation,
beschimpfen, nicht sprechen würde, die erkennbar an Überalterung, Bevölke-
könnte ich keine Politik machen. Ich hatte rungsschwund und Parteienverdrossen-
ein gutes Gespräch mit ihm. Mir geht es heit leidet?
um die Ergebnisse, die diese Koalitions- Wilders: Die demografische Entwicklung
regierung mit unserer Unterstützung er- ist in der Tat negativ. Ich las gestern, dass
zielen soll – ich sehe das rein geschäftlich. in England letztes Jahr Mohammed der
Wenn die Regierung ihre Versprechen er- am häufigsten gewählte Vorname für Jun-
füllt, ist es gut. Wenn nicht, bekommt sie gen war. Ich habe nichts gegen muslimi-
ein Problem. sche Babys. Aber wenn der neue Lieb-
SPIEGEL: Schämen Sie sich manchmal für lingsname der Engländer jetzt Moham-
den Hass, den Sie säen? med ist, haben wir ein Problem. Europa
Wilders: Ich säe keinen Hass. Ich nutze muss aufstehen, mit vereinten Kräften,
nur die demokratischen Möglichkeiten und der islamischen Welt mitteilen: Ge-
im Parlament. nug ist genug, wir werden uns wehren,
SPIEGEL: Das hat auch die österreichische mit demokratischen Mitteln.
FPÖ behauptet, als sie vor zehn Jahren SPIEGEL: Herr Wilders, wir danken Ihnen
Teil der Wiener Regierung wurde. EU- für dieses Gespräch.
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Ausland

VATI KA N Himmelsfahrten mit Benedikt


Global Village: Wie Vatikan-Beobachter mit dem Papst um die Welt reisen –
und dabei Johannes Paul II. nachtrauern

I
n aller Herrgottsfrühe sind sie aufge- wird der Papst sprechen. Wenn er denn hastig ihre Aufnahmegeräte und Digital-
standen, vor Roms Billigflughafen spricht. Er sitzt ganz vorn in der First Class, kameras mit Kreppband unter die Ge-
Ciampino springen sie aus Taxis, strei- man sieht meist nur Kardinäle, wenn sie päckfächer. Sie sind die Einzigen, die sei-
chen ihre dunklen Anzüge und züchtigen durch die Holzklasse zur Toilette eilen. ne Botschaften, ob gelungen oder miss-
Röcke glatt und sprinten zum Spezial- Papst Johannes Paul II., Vaticanisti nen- glückt, exklusiv um die Welt schicken.
schalter der Alitalia. Die fliegt den Papst. nen ihn zärtlich JP2, lag zuletzt auf einer Die Vaticanisti reisen auf ganz eigene
Der kommt als Letzter, in einer creme- Liege vor dem Cockpit. Als er noch gehen Art über den Wolken, sind nah dran und
farbenen Mercedes-Limousine. konnte und sie ihn wegen seiner 104 Aus- doch gefangen, embedded mit Benedikt.
Die Vaticanisti, Vatikanbeobachter, landsreisen „eiliger Vater“ oder „Fliegen- Das ändert sich auch nicht nach der Lan-
auch „Vat-Pack“ genannt, begleiten Be- der Fels“ tauften, spazierte er durch die dung. B16 hat das Rollbahn-Küssen abge-
nedikt XVI. auf seinen Reisen um die Holzklasse, tätschelte die Mexikanerin, schafft. Er schreitet die Gangway hinunter,
Welt, zuletzt vergangenes Wochenende, erkundigte sich nach den Enkeln des Ita- dann gleitet er im Papamobil zu Fußball-
als er den krisengebeutelten Spaniern bei- lieners und begeisterte Pilgermassen in al- stadien, Kathedralen und Präsidenten-
stand und Barcelonas be- palästen, und auf den Stra-
kannteste Kirche, Gaudís ßen winken die Menschen.
Sagrada Família, weihte. Die VAMP-Karawane folgt
Rund 50 Journalisten und im Gänsemarsch, fühlt, wie
Fotografen bilden die Entou- sein Glanz auf sie abstrahlt,
rage Benedikts, es sind Ita- will jubeln, will zurückwin-
liener, klar, ein paar Polen, ken, soll kritisch bleiben,
Franzosen, US-Amerikaner kein leichter Job. Dann sit-
und natürlich Deutsche. Sie zen sie in Pressezentren,
sind eine eingeschworene verfolgen die Messen auf
Gemeinde – Konkurrenten BBC oder Telepace. Und so
auf Benedikts Himmelsfahr- mancher denkt, das hätte er
ten und doch vereint im auch in der Redaktion ha-
Kampf gegen Übermüdung, ben können.
Frust und Langeweile. Damit sie trotzdem auf
Ihr Peiniger heißt Vik ihre Kosten kommen, lädt
van Brantegem, ein übellau- Vik, der Journalistenschin-
niger Flame mit schwarzer der, morgens um fünf zur
Krawatte und Sender im heiligen Messe für die
Ohr. Vik ist päpstlicher VAMPs und verteilt die
AFP

Journalistenbetreuer; mit Papstreden des Tages. Wer


Hilfe von Schweizergardis- Fluggast Benedikt: B16 hat das Rollbahn-Küssen abgeschafft die nicht abholt, verschläft
ten, die in Zivil reisen, sorgt oder aus der Gänsemarsch-
er dafür, dass Papstreisen sicher sind und ler Welt. Das waren noch Zeiten, schwär- reihe tanzt, wird vor grinsenden Kollegen
Journalisten spuren. men heute die Vaticanisti. B16, der jetzige niedergebrüllt. So kommt es, dass alt-
Vik steht am Flughafen-Gate, klatscht Papst, mache es ihnen schwer mit seinen ehrwürdige Papstspezialisten und welt-
in die Hände und brüllt: „Gänsemarsch“, intellektuellen Höhenflügen, sagt einer. bekannte Fernsehkommentatoren heulend
alle in eine Reihe, „hopp, hopp, hopp!“ B16 komme nicht an in der Welt, das im- zusammenbrechen und bei der nächsten
Monate im Voraus mussten die Vaticanisti mer neu zu erleben sei schmerzhaft. Reise doch wieder dabei sind.
Stapel von Empfehlungsschreiben und Benedikt XVI. spricht selten im Flieger, Nach vollbrachter Arbeit übergeben sich
Formularen einreichen und geloben, Klei- und wenn, dann steht er steif ganz vorn die Vaticanisti dann manchmal im Papst-
derordnung und Sperrfristen einzuhalten. im Eingang zum Economy-Abteil. Er ant- flieger, weil die Maschine im Tiefflug über
Wenn ihre Medien gelitten sind im Vati- wortet auf drei Fragen, die vorher einge- ein Flughafengebäude rast, das vom Papst
kan, dürfen sie mehrere tausend Euro be- reicht wurden, meist aber aus der Feder noch schnell gesegnet werden muss. An-
rappen, und Vik hängt ihnen am Gate seiner Ordensträger stammen. JP2 durfte sonsten sind Rückreisen vergnüglich. Ste-
eine Chipkarte um den Hals, darauf steht man alles fragen, und er hatte auf alles wardessen lassen Champagnerkorken knal-
„Vatican Accredited Media Personnel“, eine Antwort, sagen die Vaticanisti. len und verteilen Andenken: Früher gab
kurz VAMP – glamourös ist etwas anderes. Bei B16 warten sie auf rhetorische Aus- es eine Stange Zigaretten für jeden, heute
Das Gerangel beginnt an der Gangway. rutscher. Wird er wieder etwas sagen zum gibt es einen Rosenkranz aus Plastik.
Die Vaticanisti bahnen sich mit Kamera- Islam, zum Missbrauch, zur Schlechtigkeit Nach Ankunft in Rom fehlt meist die
stativen oder Laptop-Taschen einen Weg, der Welt? Wenn B16 vor den Vorhang Hälfte der Kopfkissen mit dem eingestick-
und Vik drängelt brüllend von hinten. tritt, stellt Papstsprecher Federico Lom- ten Wappen vom Papst. Vaticanisti sagen,
Eine Sitzordnung im Himmel mit Bene- bardi die Fragen, und Georg Gänswein, man findet sie ein paar Tage später auf
dikt ist nicht vorgesehen, es geht um die der Privatsekretär des Pontifex, hält das Roms größtem Flohmarkt an der Porta
besten Plätze an Bord. Das sind die an Mikrofon. Die Vaticanisti schreien dann Portese. Zu sündhaft teuren Preisen.
den Vorhängen zur Business-Class. Dort „Sit down!“ und „Silenzio!“ und kleben FIONA EHLERS

126 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Szene Sport
PSYCHOLOGI E

„Nährboden für
Depressionen“
Jens Kleinert, 46, Psycho-
ANDRE ZELCK / LAIF

loge an der Deutschen


Sporthochschule in Köln,
über Belastungen für
Nachwuchsathleten

SPIEGEL: Sie haben 1400 Leistungssport-


ler zwischen 13 und 18 Jahren nach
psychosomatischen Beschwerden ge-
fragt. 15 Prozent haben entsprechende
Symptome. Welche sind das?
Kleinert: Kopfschmerzen, Stimmungs-
schwankungen, Energielosigkeit. Viele
sind von Schlafproblemen geplagt. Bei

DIRK BRUNIECKI
fast fünf Prozent der Sportler sind die
Symptome so intensiv, dass sie drin- Daxl (M.)
gend Hilfe brauchten.
SPIEGEL: Woher kommt das?
Kleinert: Belastung und Erholung ste- FUSSBALL

Zweiter Bildungsweg
hen in keinem gesunden Verhältnis.
Die jungen Sportler haben oft den-
selben Trainingsumfang wie Profis, zu-
sätzlich müssen sie ihre Schulausbil-
dung meistern. Außerdem stecken sie
in der Pubertät.
SPIEGEL: Mit welchen Langzeitfolgen
E s gibt bereits reichlich Fußball im
Fernsehen, und es gibt allerlei Cas-
ting-Shows. Martin Daxl hat eine Idee
nik Scherr, 18, aus Gnas steht jetzt der
Gewinner fest. Der Stürmer bekommt
einen Vertrag beim Erstligaclub Kap-
müssen sie rechnen? für eine Casting-Show für Fußballer fenberger SV, das Grundgehalt zahlt
entwickelt, doch er reklamiert ein Daxls Firma. Bei deren Pilotprojekt
Alleinstellungsmerkmal für sein Kon- im Vorjahr landete auf ähnliche Weise
zept, sogar einen „sozialen Ansatz“. Drazen Savić, 22, im Profikader von
Daxl, 50, ein Persönlichkeitstrainer für Arminia Bielefeld. Volkswagen stieg
Erfolgsoptimierung aus Schermbeck, als Sponsor ein, eine TV-Produktions-
MORRIS MAC MATZEN / REUTERS

sagt, er komme aus „der menschlichen firma bietet das Format nun deutschen
Ecke“. Seine Idee ist der „zweite Bil- Sendern an.
dungsweg für Profis“, diesen Begriff
hat er sich markenrechtlich schützen
lassen. Talente, die im ersten Anlauf
scheiterten, können sich im Internet
bewerben und werden einer mehr-
HANS KLAUS TECHT / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Trauerfeier für Enke 2009 stufigen Sichtung unterzogen. Daxls


Agentur Davitasports hat dafür ein ei-
Kleinert: Ohne Regeneration wird ihre genes Bewertungssystem entwickelt,
Leistung zurückgehen. Sie werden ir- bei dem es um Spielverständnis, Ath-
gendwann frustriert, weil sie einen letik, Technik, aber auch um die Per-
Misserfolg nach dem anderen erleben. sönlichkeit und Vermarktbarkeit geht.
Wenn sich das Stimmungstief stabili- Wer nach diesen Kriterien das Zeug
siert, wird es kritisch. Dann kann zum Profi hat, bekommt einen soge-
Sport ein Nährboden sein, auf dem nannten Fördervertrag und absolviert
Depressionen wachsen. ein Jahr lang kostenlos ein Coaching- Polster (M.)
SPIEGEL: In dieser Woche jährt sich der Programm; er wird fit gemacht fürs
Suizid des depressiven Fußballtor- Probetraining bei Proficlubs. Im Sommer könnte die Show starten,
warts Robert Enke. Hat das große Me- Mit dieser Geschäftsidee landete Daxl die Vorauswahl der Talente läuft be-
dieninteresse Ihre Arbeit verändert? im österreichischen Privatfernsehen. reits. Daxl sieht sich als der „Lieferant
Kleinert: Die Akzeptanz für die Sport- Bei Puls 4 lief gerade über acht Folgen von Top-Talenten“, er würde gern Oli-
psychologie hat insgesamt zugenom- mit zuletzt 4,6 Prozent Marktanteil ver Kahn für sein „Kompetenzgre-
men. Wir können Athleten durch ge- die finale Sichtung unter zwölf übrig- mium“ gewinnen.
zieltes Training und Tipps unterstüt- gebliebenen Kandidaten. Ex-Profi Und er sucht einen Proficlub, der den
zen. Zum Beispiel brauchen sie Zeit Toni Polster gehörte zur Jury, die Teil- Sieger einer deutschen Show in sein
für sich. Ebenso wichtig ist es, über nehmer wohnten für „Austria’s New Team aufnimmt. Bayern München hat
Schwierigkeiten zu sprechen. Am bes- Footballstar“ in einer Villa. Mit Domi- abgesagt.
ten mit Nichtsportlern.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 129
Sport

WELLENREITEN

Aus der Tiefe


des Ozeans
Beim Surfen vor Hawaii biss ihr vor sieben
Jahren ein Tigerhai den linken Arm ab,
doch wenige Wochen nach dem Unglück stand
Bethany Hamilton schon wieder auf
dem Brett. Jetzt tritt sie im Weltcup gegen
die besten Profis an.

M
ächtige Wellen schlagen auf das Arm, die in der Brandung kämpft wie abband. Immer wieder verlor sie das Be-
Riff, ein paar Surfer treiben hilf- eine Ertrinkende, aber irgendwie immer wusstsein. Der Hai hatte ihr den linken
los wie Korken in der reißenden den Kopf oben behält. Arm abgebissen, knapp unterhalb der
Strömung. Bethany Hamilton, 20, beob- Als sie kurz darauf ihre erste Welle rei- Schulter.
achtet vom Strand aus die Brandung, sie tet, erheben sich die Zuschauer in den Jedes Jahr werden vor Hawaii Surfer
hat ein Surfbrett unter dem rechten Arm. Dünen und applaudieren. von Haien angegriffen. Der Fall von Be-
Es wird schwer für sie werden, sich in die- Die Geschichte der Bethany Hamilton, thany Hamilton ging um die Welt. Noch
sen Brechern zu behaupten. Aber sie der einarmigen Surferin aus Hawaii, ist im Krankenhaus liegend fragte sie:
muss da jetzt hinaus. ein modernes Märchen. Sie begann mit „Wann kann ich wieder surfen?“ Die Ärz-
Die besten Surfprofis der Welt sind für einem Alptraum. Es passierte an einem te und ihre Eltern dachten, es sei der
einen Weltcup nach Peniche gekommen – klaren, wolkenlosen Morgen im Oktober Schock. Doch vier Wochen später stand
ein Fischerort an der Westküste Portugals. 2003. Hamilton, damals 13 Jahre alt, war das Kind tatsächlich wieder auf einem
Als die blonde Surferin von der hawai- mit Freunden zum Surfen gegangen. Surfboard. Das Meer, erklärte sie, „ist
ischen Insel Kauai hinauspaddelt, sind Nach ein paar Wellenritten ließ sie sich meine zweite Heimat“, sie verspüre keine
alle Kameras der Fotografen auf sie ge- im Wasser treiben. Sie sah den Hai nicht Angst. Selbst ihr Therapeut war verblüfft
richtet. kommen, der Angriff erfolgte aus der Tie- von diesem Mädchen.
Ihr Brett hat vorn auf der Spitze einen fe des Ozeans. Sie erinnert sich an einen Schnell stellte sich Hamilton auf das
Griff, damit Hamilton sich festhalten „schweren Schlag“, an „ein Rütteln“, Surfen mit einem Arm ein. 2004 trat sie
kann, wenn sie unter den heranrollenden dann war überall Blut im Wasser. Sie spür- erstmals wieder bei kleineren Wettkämp-
Wellen hindurchtaucht. Langsam arbeitet te keine Schmerzen. fen an, nun surft sie im Weltcup gegen
sie sich hinaus durch die schäumende See. Ihre Freunde brachten Bethany zurück die besten Profis aus Australien, Brasilien
Eine zierliche junge Frau mit nur einem an den Strand, wo ihr jemand die Wunde und den USA. Es ist ein kleines Wunder.
130 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Surferin Hamilton
Ein kleines Wunder

keine Berufsausbildung, keine Universi-


tätslaufbahn. Sie will einfach nur surfen.
Das Wellenreiten, sagt sie, sei für sie „das
Wichtigste“, draußen in der Brandung
schöpfe sie die Kraft, „um positiv zu den-
ken, nie aufzugeben“.
Hamilton spricht leise, mit dünner
Stimme, der Blick ist zu Boden gerichtet.
Sie ist scheu, öffentliche Auftritte kosten
sie Mühe. Im April 2011 kommt ein Hol-
lywood-Film über sie in die Kinos, ihre
Eltern werden von den Stars Helen Hunt
und Dennis Quaid gespielt. Sie war ein
paarmal bei Dreharbeiten dabei, es sei
„interessant“ gewesen. Aber eigentlich
sei sie am liebsten zu Hause auf Kauai.
Das Leben auf der Insel ist einfach, über-
sichtlich. „Ich treffe Freunde, wir gehen
surfen, niemand sieht in mir etwas Be-
sonderes, so soll es sein“, sagt sie.
Hamilton hat eine spezielle Technik
entwickelt, Wellen mit einem Arm anzu-
paddeln. Sie nutzt den Sog des heranrol-
lenden Brechers, lässt sich auf ihrem Brett
mitreißen und springt in dem Moment
auf, wenn die Welle bricht. Es ist eine
spektakuläre Nummer. Wenn sie klappt,
gleitet Hamilton danach mit der gleichen
Eleganz wie ihre Kolleginnen den Wel-
lenhang entlang. Wenn es nicht klappt
und sie stürzt, gehen Tonnen von Wasser
über sie nieder, und die Zuschauer am
Strand halten den Atem an.
In den letzten Monaten wagte sich Ha-
milton in immer höhere Wellen. Sie surfte
IMAGO (L.); CLIFFORD WHITE / CORBIS (R.)

die gefährlichen Reviere vor Oahu, dem


hawaiischen Mekka der Surfer. Sie ist ehr-
geizig. Sie will sich immer noch ihren gro-
ßen Kindheitstraum erfüllen und Welt-
meisterin werden.
Beim Weltcup in Portugal fliegt Hamil-
ton nach der dritten Runde raus. Die Kon-
kurrentinnen schnappen ihr die besten
Wellen weg, sie surfen auch dynamischer,
Zu dem Surfspektakel in Peniche kom- bolfigur geworden. Die Menschen bewun- radikaler.
men am ersten Wochenende Tausende dern Hamilton für ihre Tapferkeit. Ihr „Na ja, sie haben ja auch zwei Arme“,
Zuschauer. Sie tragen coole Sonnen- Buch „Soul Surfer“ schaffte es in den USA sagt Hamilton hinterher und lacht. Dann
brillen, lässige Klamotten, es gibt Energy in die Bestseller-Listen. Sie trat in unzäh- springt sie unter die Dusche.
Drinks umsonst, aus großen Lautspre- ligen Talkshows auf. Ihre Eltern mussten Am nächsten Tag trainiert sie mit ein
chern dröhnt elektronische Musik. einen Manager engagieren, der ihre Ter- paar männlichen Profikollegen in der
Die Welt der Surfer ist ziemlich über- mine koordiniert. Sie besuchte Opfer der Nähe von Peniche. Sie surft mehr Wellen
dreht. Der Sport wird gern als Lebens- Tsunami-Katastrophe auf Sumatra, ein- als alle anderen, obwohl sie das anschlie-
anschauung verbrämt. Nur selten hält der mal sprach sie auf dem US-Luftwaffen- ßende Rauspaddeln viel Kraft kostet. Sie
Betrieb inne, wie vergangene Woche stützpunkt in Ramstein vor verwundeten bleibt auch am längsten draußen. Die
nach dem tragischen Tod des ehemaligen Soldaten. Hamilton kommt aus einer gläu- Männer nicken ihr anerkennend zu.
Champions Andy Irons, der ebenfalls von bigen Familie. Sie redete über Religion Nach vier Stunden steht sie ausge-
Kauai stammte. und Gott und sagte: „Er hat es für mich pumpt an Land. Sie ist glücklich. Es war
Hamilton ist in der Surferszene eine getan. Er kann es auch für dich tun.“ Die ein guter Trainingstag. Sie hat noch viele
Heldin. Sobald sie in Peniche am Strand Soldaten applaudierten. Ihr Manager Jahre Zeit, um den Titel zu holen.
auftaucht, stürmen Autogrammjäger auf stand neben ihr und nickte. Es regnet in Strömen, Hamilton wartet
sie zu. Zwischen den Läufen zieht sich Mittlerweile hat sich Hamilton zurück- auf den Shuttlebus, der sie ins Hotel zu-
die junge Frau in eine Athleten-Lounge gezogen, so weit es geht. Sie konzentriert rückbringen soll. Gegenüber an eine Mau-
zurück. Aber auch dort kommt sie kaum sich jetzt hauptsächlich auf ihre Surfkar- er hat jemand ein Graffito gemalt. Es
zur Ruhe, ständig holt eine Betreuerin riere. Sie ist ein typisches Surfergirlie, mit zeigt einen grinsenden Hai mit blitzenden
sie ab für das nächste Interview. Aus dem bunten Aufklebern auf dem Brett und ei- Zähnen. Sie betrachtet das Bild eine Wei-
Surfermädchen aus Hawaii ist eine Sym- nem rosa Surfanzug. Sie plant erst mal le, dann sagt sie: „Süß.“ GERHARD PFEIL

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 131
Sport

Unternehmer Fomenko, Marussia-Sportwagen: Nichts mehr gemein mit den klapprigen Limousinen aus vaterländischer Produktion

Virgin Racing braucht seinerseits drin-


FORMEL 1
gend finanzstarke Helfer. Das Team

Putins neue nimmt in diesem Jahr erstmals an der


Formel 1 teil, mit mäßigem Erfolg. Jüngst
hatte Bernie Ecclestone in einem Inter-

Rakete view über die Neulinge geschimpft: „Sie


tun nichts für uns, sondern sind einfach
nur peinlich. Wir müssen einige dieser
Krüppel loswerden.“ Bei Virgin müsse
Die junge Sportwagenmarke
kräftig investiert werden, fordert der
Marussia drängt in die Chefvermarkter der Rennserie.
IMAGO

Formel 1 – Russlands nächster Branson selbst scheint die Lust an der


Schritt auf dem Weg Formel-1-Manager Ecclestone, Premier Putin Formel 1 ein bisschen vergangen zu sein.
zur Weltmacht des Sports. „Einige dieser Krüppel loswerden“ Er hat in seinem Leben mehr als 300 Un-
ternehmen gegründet und nie gezögert,

N
eben ihm wirkt selbst ein Ferrari sinen aus vaterländischer Produktion. Firmen abzustoßen, wenn sie keinen Er-
zahm. Der Marussia B2 sieht aus Seit drei Jahren existiert die Firma Ma- folg brachten oder sich mit Gewinn ver-
wie das Kampffahrzeug eines russia Motors, die nun den internationa- kaufen ließen.
Filmschurken, flach, breit, mit riesigen len Markt erobern möchte. „Wir wollen An diesem Donnerstag, vor dem letz-
Lufteinlässen in der Wagenfront. Er ist zeigen, dass das neue Russland nicht nur ten Grand Prix der Saison in Abu Dhabi,
das automobile Muskelshirt, wer ihn im ein modernes Auto für den eigenen soll der Deal bekanntgegeben werden
Rückspiegel erblickt, sollte sofort han- Markt schaffen kann, sondern eines für und Marussia ab 2011 im Teamnamen auf-
deln, wenn er Ärger vermeiden will: die ganze Welt“, sagt Jefim Ostrowski, tauchen. Bei ihrem Einstieg in die Königs-
rechts ranfahren, vorbeilassen. einer von vier Investoren. klasse des Autorennsports hoffen die rus-
Lange mussten Russlands Neureiche Damit die Welt dies auch merkt, will sischen Investoren auf Werbegelder von
mit Sportwagen ausländischer Produk- Marussia vom kommenden Jahr an in der russischen Großunternehmen wie den
tion vorliebnehmen. Inzwischen werden Formel 1 mitfahren. Vorige Woche ist eif- Erdöl- und Gasriesen Lukoil, Rosneft und
im Norden Moskaus Autos gefertigt, die rig verhandelt worden, um sich an einem Gazprom – und auf einen Werbeeffekt
es in der Käufergunst mit den Lambor- der bestehenden Teams zu beteiligen. Als für ihre eigene, neue Marke. „Wir haben
ghinis und Porsches aufnehmen. Auf dem Übernahmekandidat gilt, neben Toro Ros- jene halbe Milliarde Menschen im Visier,
Gelände einer ehemaligen Rüstungs- so und HRT, vor allem Virgin Racing. Es die bei Formel-1-Rennen vor dem Bild-
fabrik bauen Mechaniker in Handarbeit wäre der logische Partner. Marussia spon- schirm sitzen“, sagt Ostrowski. Treibende
zwei Modelle zusammen, den B1 und B2. sert den Rennstall des englischen Multi- Kraft hinter dem Projekt ist auch ein an-
Beide haben bis zu 420 PS unter der Hau- unternehmers Richard Branson bereits. derer Mitbegründer von Marussia: Niko-
be, die westliche Fachpresse lobt sie als Außerdem arbeitet Marussia Motors eng lai Fomenko, ein Sänger, Schauspieler,
„Rakete auf Rädern“. mit dem englischen Triebwerkhersteller Unternehmer und Hobbyrennfahrer.
Zwar umgeben die Werkhallen wie zu Cosworth zusammen und bezieht von Die Formel 1, einst europäisch geprägt,
Sowjetzeiten triste Betonmauern und Sta- dort Motor samt Antriebsstrang für seine wandelt sich immer mehr zu einer Renn-
cheldraht, doch ein Marussia hat nichts Sportwagen. Und: Cosworth-Motoren ste- serie, in der sich die neue Weltordnung
mehr gemein mit den klapprigen Limou- cken auch in Virgins Formel-1-Rennautos. spiegelt. Mehrere Rennen finden in Ara-
132 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
bien und Fernost statt, Teams indischer Sport-Großereignisse wie der Grand Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten
und malaysischer Nationalität schicken Prix mehren Putins Ruf als Vater der Na- darf. Die Entscheidung darüber fällt am
ihre Autos an den Start. Der erste russi- tion. Und sie dienen ihm dazu, das Land 2. Dezember in Zürich, und die Chancen
sche Pilot, Witalij Petrow, fährt bei Re- wieder in den Rang einer Sport-Super- stehen nicht schlecht für die Russen.
nault und wird von Lada gesponsert. Ma- macht zu erheben. Bisweilen ist der Marussia-Gründer Ostrowski weiß Pu-
russias Einstieg ist der nächste Schritt, mit Druck von Politik und Öffentlichkeit der- tins Einsatz zu schätzen: „Er hat Russland
dem Russland auf die Bühne des Motor- art groß, dass Russlands Eishockeytrainer wieder stark gemacht. In diesem Sinne
sports drängt. Mit einer Macht, als wäre Wjatscheslaw Bykow nach dem Debakel ist Putin unser Bündnispartner“, sagt er.
es Staatsräson. bei den Winterspielen in Vancouver ver- Im Herzen von Moskau hat die Firma
Premierminister Wladimir Putin, Russ- zweifelt ausrief: „Dann stellt doch eine einen Showroom eröffnet, wo betuchte
lands starker Mann, führte Mitte Oktober Guillotine auf den Roten Platz und richtet Kunden das Modell B1 bewundern kön-
Bernie Ecclestone durch die Schwarz- die gesamte Mannschaft öffentlich hin.“ nen: sechs Zylinder, von null auf hundert
meer-Stadt Sotschi. Dort, an den Ausläu- Putin begreift den Sport als einigendes Stundenkilometer in 4,2 Sekunden.
fern des Kaukasus, werden die nächsten Band für eine Nation, die 20 Jahre nach Blau-weiß-rot spiegelt sich Marussias
Olympischen Winterspiele ausgetragen. dem Zerfall der Sowjetunion noch immer Firmenlogo auf der Karosse, Russlands
Die beiden Männer unterzeichneten ei- auf der Suche nach sich selbst ist. Der Nationalfarben. Ein Interessent betritt
nen Vertrag, der Sotschi zur neuesten Sta- Premier, Judokämpfer und mit 58 Jahren den Salon, er streichelt über den Sport-
tion des Formel-1-Zirkus macht. 140 Mil- gut durchtrainiert, hatte sein Englisch auf- wagen. „Endlich ein Auto“, sagt er , „das
lionen Euro soll der Bau des Kurses kos- gebessert, um Sotschis Olympia-Bewer- unserem Vaterland keine Schande
ten, 2014 wird erstmals gefahren. Gleich bung persönlich vorzutragen. Ebenso macht.“ BENJAMIN BIDDER,
nach Olympia. kämpft er dafür, dass Russland 2018 die DETLEF HACKE, MATTHIAS SCHEPP
Szene

L I T E R AT U R

Schicksal mit Aussicht


I n Südfrankreich ist es kalt. Die pitto-
reske Burg, in der sie wohnt, der
herrliche Garten, das tiefblaue Firma-
ment – all das kann die Erzählerin die-
ses im Wortsinn wunderbaren Romans
nicht darüber trösten, dass der Winter
unbarmherzig herrscht. Sie ist noch ZEICHNUNGEN

Modenschau
jung, doch in ihren Gelenken knackt
es wie in altem Parkett; auch trübt sich
die Stimmung empfindlich ein. „Mit

auf Papier
zwei Paar Wollstrümpfen, mit Knie-
wärmern, mit zwei übereinandergetra-
genen, an den Ellenbogen zerschlisse-
nen, mit Eidotterresten und winzigen
Holzspänen durchsetzten Strickjacken
und in einer ausgeleierten Jogginghose
war mir weder warm noch romantisch
zumute.“ Rettung aus diesem Paradies
winkt der jungen
Dame aus dem fer-
nen Indien, in das
der verstorbene On-
FRANCOIS BERTHOUD / COURTESY GALERIE BARTSCH & CHARIAU

kel, ein schottischer


Lord, geschäftliche
Beziehungen unter-
hielt. Die unermess-
lich reiche Sikh-Fa-
milie namens Bill,
die zu feiern und zu
genießen versteht,
wie es dem vernünftigen, maßvollen
und sozial verantwortlichen Europäer
unmöglich geworden ist, lockt mit ei-
nem cremeweißen Umschlag, den der Berthoud-Zeichnung „Bad Girl, good girl“, 2001
Postbote bringt. „Allein der Anblick
der vier kleinen Briefmarken, auf de-
in Mann liegt am Boden, eine Frau in High Heels steht abgewandt vor ihm,
nen jeweils ein Tiger, eine Leoparden-
katze, eine indische Otter und zwei
Goldregenblüten abgebildet waren, im
E seine Krawatte als Beute in der Hand. Mit Zeichnungen wie dieser von François
Berthoud, hochdramatisch und lässig zugleich, begrüßt das Londoner Design Mu-
Verein mit dem indischen Poststempel, seum bis zum 6. März das fashionverliebte Publikum. Zu sehen sind Modezeich-
der mit dem trägen, bürokratisch ver- nungen aus der Sammlung der Münchner Galeristin Joëlle Chariau; zugleich er-
sierten Schwung eines Gogolbeamten scheint der opulente Bildband „Drawing Fashion“ (Prestel Verlag; 59 Euro; in eng-
lischer Sprache), der ein Jahrhundert der Mode als grafische Pointen würdigt. Ein
ANTONIO (L.); AURORE DE LA MORINERIE (R.) BEIDE COURTESY GALERIE BARTSCH & CHARIAU

auf die Briefmarken gedrückt worden


war, spülte in meine trostlose Verfas- eleganter Frauenarm, nur mit einem Handschuh bekleidet, ein Tüllkleid auf einem
sung Bilder aus der orientalischen Fauteuil oder eben der scharfe
Welt.“ Der junge Erbe wird heiraten, Schritt im Stöckelschuh nach
und die Erzählerin ist zur Märchen- vollbrachter Tat: Mit souveräner
hochzeit gebeten: Welche Aussichten Detailarbeit gelingt es den Gro-
für das Schicksal! ßen des Fachs, von Georges Le-
Den delikaten Zusammenstoß des illu- pape bis Aurore de La Morine-
sionsbereiten europäischen Einzel- rie, den Stil einer ganzen Kol-
gemüts mit der trägen Undurchdring- lektion in nur einer Zeichnung
lichkeit des mondänen Clans im nord- zu charakterisieren. Anders als
indischen Lucknow inszeniert Anna im Katalog präsentiert die Lon-
Katharina Fröhlich, 38, voller rhetori- doner Ausstellung erfreulicher-
scher Verve. Der zweite Roman der weise auch Beispiele von René
deutschen Autorin flimmert vor Freu- Gruau, dessen Erben einen Ab-
de am manieristischen Witz und ist die druck seiner Arbeiten im Buch
Überraschung der Saison – kühn, be- verhinderten. Und natürlich ist
rauschend und wundersam. eine Modenschau im Museum
ohne Geschiebe und Getöse
Anna Katharina Fröhlich: „Kream Korner“. Berlin Werke von Antonio 1966, de La Morinerie 2007 schon für sich ein Gewinn.
Verlag, Berlin; 176 Seiten; 19,90 Euro.

134 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Kultur
A F FÄ R E N FERNSEHEN

Kunstmäzenin in der Sackgasse Im Reich


E in deutscher Dokumentar-
film erfährt, drei Jahre nach
der sieben Särge
der Uraufführung, eine Fortset-
zung durch die russische Justiz.
In „Rubljowka – Straße zur
S chweden ist das Sehnsuchtsland für
alle Krimi-Freunde, die es schaurig
gepflegt lieben. Mit Ingmar-Bergman-
Glückseligkeit“ hatte die Kölner schweren Charakteren und erlesen bru-
Regisseurin Irene Langemann talen Morden, möglichst in erhabener
2007 die Welt der Reichen und Landschaft, weit weg vom Gemetzel
Mächtigen von Moskau por- der Modernisierungsverlierer. Klar,
trätiert, die an der Rubljowo- dass eine herausgehobene Krimi-Gestalt
Uspenskoje-Chaussee wohnen, wie Bella Block (Hannelore Hoger) ei-
darunter Wladimir Putin. Erst nes Tages auf Nordlandtour gehen wür-
störte der Geheimdienst die de. Zumal der Schauspieler Rolf Lass-
Dreharbeiten; später versuchte gård auf die inzwischen pensionierte
ein russischer Investor mit Kommissarin wartet. Als einstiger Dar-
dubiosen Methoden und viel steller von Kommissar Kurt Wallander
Geld, die Verbreitung von ist er ohnehin von nordischem Krimi-

FRED R. CONRAD / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF


„Rubljowka“ zu verhindern Hochadel. Diesmal, in der ungewohn-
(SPIEGEL 47/2007). Hauptgrund ten Rolle eines Verdächtigen, spielt er
dafür waren offenbar Szenen, wieder einen wortkargen Fürsten der
die das ruppige Geschäftsgeba- Finsternis. Er scheint immer zu irgend-
ren der Immobilienunternehme- etwas entschlossen zu sein – wenn man
rin Janna Bullock zeigen, wenn- nur wüsste, wozu. Das Gipfeltreffen
gleich diese jede Einflussnahme am ZDF-Samstag dieser Woche „Bella
bestreitet. Ein entlarvender Ein- Block: Das schwarze Zimmer“ (Buch:
blick: Ansonsten inszeniert sich Susanne Schneider, Regie: Rainer Kauf-
Bullock als großzügige Kunst- mann) erfüllt alle Erwartungen, wenn
mäzenin. Sie wurde sogar in Bullock 2007 die seelenvolle deutsche Bella dem
den Aufsichtsrat der New Yor- waidwunden Schwedenbär nachstellt,
ker Guggenheim-Stiftung gewählt, ver- paar bei Immobiliengeschäften „un- um rauszukriegen, ob er einst seine
antwortlich für das berühmte Guggen- rechtmäßig angeeignet“ haben soll. Bul- Frau ermordet hat. Wunderbarerweise
heim-Museum. Doch im April legte Bul- lock bestreitet die Vorwürfe: Diese sei- entwickelt sich dennoch kein Zwei-
lock plötzlich ihr Aufsichtsratsmandat en „unbegründet und falsch“, so ihr kampf, wer am knurrigsten und melan-
nieder, infolge geschäftlicher Auseinan- New Yorker Anwalt Robert Wolf zum cholischten sei. Vielmehr vermensch-
dersetzungen in Russland. Jetzt leiteten SPIEGEL; Bullocks Firma sei „das Op- licht sich die oft barsche deutsche Ex-
russische Staatsanwälte sogar ein Straf- fer“ Organisierter Kriminalität. Dass Polizistin zu einer zarten Spätverlieb-
verfahren gegen Bullock und ihren Ehe- Bullock in einem russischen Gefängnis ten, sieht jünger, schöner und zerbrech-
mann Alexej Kusnezow ein; die beiden landet, ist in jedem Fall eher unwahr- licher aus, als es der Zuschauer in Er-
werden per Haftbefehl wegen Betrugs scheinlich: Sie besitzt auch die amerika- innerung hat. Aber auch Mordsüchtige
gesucht. Es geht um 25 Milliarden Rubel nische Staatsbürgerschaft; in New York kommen im schwarzen Zimmer bei
(580 Millionen Euro), die sich das Ehe- gehören ihr mehrere teure Immobilien. den sieben Särgen auf ihre Kosten.

Kino in Kürze

„Der letzte schöne Herbsttag“. Es kann so anderen zu berichten. Das allerdings


schlecht nicht stehen um die Liebe in mit so viel Witz, Charme und Leichtig-
Deutschland, wenn sie Beziehungs- keit, dass man ihnen gern dabei zuhört.
komödien hervorbringt wie den zwei-
ten Film von Regisseur Ralf Westhoff. „Live aus Peepli – Irgendwo in Indien“ be-
Nach seinem Überraschungserfolg richtet vom hoffnungslos verschulde-
„Shoppen“ zum Thema Speed-Dating ten Kleinbauern Natha (Omkar Das
widmet er sich diesmal den Bindungs- Manikpuri), der gerade sein Land und
RAPID EYE MOVIES

neurosen eines Münchner Pärchens damit seine Lebensgrundlage verliert.


Anfang dreißig (Julia Koschitz, Felix Und von einem Regierungsprogramm,
Hellmann), das sich furchtbar gern hat das Bauernfamilien in Not erst dann
und dabei langsam in den Wahnsinn unterstützt, wenn sich ihre Ernährer
treibt. Weswegen die zwei – entspann- aus Verzweiflung umgebracht haben. Szene aus „Live aus Peepli …“
ter Öko-Schluffi und energische Folglich denkt Natha über einen lukra-
Pragmatikerin – kaum mehr tun, als tiven Freitod nach. Das hochgelobte präsentiert sich weitab von Bolly-
ihr Zusammenleben zu diskutieren Regie-Debüt von Anusha Rizvi, produ- Schwulst als herzhafte, vernichtende
oder dem Zuschauer direkt in die Ka- ziert und protegiert von Bollywood- Realsatire über die Verlierer der
mera von den Unzulänglichkeiten des Megastar Aamir Khan („Lagaan“), Globalisierung.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 135
Kultur

Peter Sloterdijk
63, ist Philosoph und Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2002 moderiert er
das „Philosophische Quartett“ im ZDF, zusammen mit Rüdiger Safranski. Zu Sloterdijks bekanntesten Veröffent-
lichungen gehören: „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983), „Regeln für den Menschenpark“ (1999) und „Du
mußt dein Leben ändern“ (2009). In diesem SPIEGEL-Essay beschäftigt er sich mit dem bürgerlichen Auf-
begehren gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 und der wachsenden Entfremdung zwischen Politik und Volk.

D E B AT T E

D ER V E R LETZT E STO LZ
ÜBER DI E AU SSCHA LT U NG DE R B Ü RGE R I N D E MOK RAT I E N
VON P E T E R S LOT E RDI J K

W
ann immer Politiker und Politologen sich über den Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken
Zustand einer modernen res publica Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der
machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom römischen Dekadenz zu vergleichen. Welche Vorstellungen er
sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht
Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage
WERNER SCHUERING (O.); BRIDGEMANART.COM (L.); KUGLER / DAVIDS (R.)

„Tod der Lucretia“, Gemälde von Jérôme Preud’homme, 1784


136 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs- mend in Formalien verstrickte, setzte sich auf der Seite der
Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen, Unterhaltung – namentlich in den Arenen rund um das Mittel-
möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getrei- meer und bei den Festen der metropolitanen Oberschicht – der
despenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Trend zur Verrohung und Enthemmung durch. Das Miteinander
Beides wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete auf
den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 einen Weltzustand, in dem die Machtausübung nur noch durch
(Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu die weitgehende Entpolitisierung der Reichspopulationen ge-
Besorgnis Anlass gäbe. sichert werden konnte.
Der Hinweis auf die römische Dekadenz im Mund eines deut- Das Spiel mit römischen Reminiszenzen rührt früher oder
schen Politikers aber war nicht nur ein Symptom von standes- später an gefährliche Materie. Wer Rom erwähnt, sagt zugleich
gemäßer Halbbildung. Er war auch nicht bloß ein Symptom res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht versäumen,
von verbalem Draufgängertum, das bei einer gewissen Klientel nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen. Mochten auch
Eindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von gefährlichen die Caesaren ihre Dekrete nach wie vor mit der geheiligten
Implikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichen Formel „Senat und Volk von Rom“ (SPQR) absegnen – es stand
wäre, hätte er sie sich bewusst gemacht. doch fest, dass beide Instanzen so gut wie völlig entmachtet
Das römische Brot-und-Spiele-System war ja nicht weniger waren.
gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem Die „öffentliche Sache“ Alteuropas begann mit einem be-
20. Jahrhundert als „Massenkultur“ bezeichnet. Es symboli- denkenswerten Affektsturm: Der Sohn des letzten römisch-
sierte die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik etruskischen Königs, Tarquinius Superbus junior, war auf die
zum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichen Reize einer jungen römischen Matrone namens Lucretia auf-
Mimen im Zentrum. Dieser Übergang war unausweichlich ge- merksam geworden, nachdem er durch die Prahlereien ihres
worden, seit das römische Imperium nach seiner Konversion Gatten Collatinus von deren Schönheit und Sittsamkeit erfahren
zur caesarischen Monarchie mehr und mehr auf die Eliminie- hatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, dass ein Un-
rung von Senat und Volk aus der Regelung der öffentlichen tergebener erotisch glücklicher sein sollte als er selbst. Der
Angelegenheiten zusteuerte. In dieser Sicht war die römische Rest ist dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare
Dekadenz nichts anderes als die Kehrseite der politischen Bür- Weltliteratur: Der junge Tarquinius dringt in Lucretias Wohnung
gerausschaltung: Während die Reichsverwaltung sich zuneh- ein und nötigt sie durch eine Erpressung, in ihre Vergewaltigung

Polizei-Einsatz gegen G-8-Gegner in Rostock 2007


D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 137
Kultur

einzuwilligen. Nach ihrer Entehrung ruft die junge Frau ihre implicite zu der Auffassung oder der Befürchtung, dass auch
Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und auf die moderne Republik – wie sie vor gut 200 Jahren aus
erdolcht sich vor den Augen der Versammelten. Eine Welle dem monarchiekritischen Zorn der Amerikanischen und Fran-
der Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und zösischen Revolutionen hervorgegangen war – zu gegebener
Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius Zeit eine postrepublikanische Phase folgen werde. Typischer-
Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für weise wäre auch diese durch das erneute Miteinander von Brot
immer beendet. Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze und Spielen charakterisiert oder, um zeitgemäß zu reden, durch
des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Königs wird eine Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie. Es lässt
für alle Zeiten geächtet. sich nicht leugnen, dass die Vorboten solcher Doppelwirtschaft
allgegenwärtig sind. Lesen wir nicht seit geraumer Weile die

A
us der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgen- Zeichen, die für die Rückentwicklung des öffentlichen Lebens
schwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung wird künftig auf Administration und Entertainment sprechen – Wärmedäm-
allein von Römern ausgeübt werden, sie wird prag- mung für Ministerien und Casting-Shows für Ambitionen? Hat
matisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegen- nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über „Post-
seitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten demokratie“, also der Gedanke, dass Bürgerbeteiligung durch
Verwechslung von Amt und Person vor. Aufgrund dieser Be- die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider einge-
schlüsse setzt sich im Jahr 509 vor Christus die am klügsten spart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologi-
konstruierte republikanische Maschine der Menschheitsge- schen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? Sind
schichte in Gang; durch nicht Unzählige schon wie-
die nachträgliche Hinzufü- der existentiell in De-
gung des Volkstribunen- ckung gegangen, wie einst
amts erlangt sie einen un- die antiken Stoiker und
überbietbaren Grad an Epikureer, und haben sich
Effizienz. Eine Erfolgssto- darauf eingerichtet, dass
ry ohnegleichen beginnt, Bürokratie, Spektakel und
bis, fast ein halbes Jahrtau- private Sammlungen jetzt
send später, die Überdeh- die letzten Horizonte mar-
nung des römischen Macht- kieren?
komplexes den Übergang Man könnte aus diesen
zu neomonarchischen Ver- Beobachtungen den vor-
hältnissen erzwingt. schnellen Schluss ziehen,
Die Lucretia-Legende die postdemokratischen
handelt von der Geburt Tendenzen hätten sich in
der res publica aus dem der Dämmerung der zwei-
Geist der Empörung. Was ten republikanischen Ära,

LANGROCK / ZENIT / LAIF


man später Öffentlichkeit die wir die politische
BIALOBRZESKI / LAIF

nennen wird, ist anfangs Moderne nannten, bereits


ein Epiphänomen des Bür- auf ganzer Linie durchge-
gerzorns. Aus dem Unmut setzt. Dann bliebe uns,
der zusammenströmenden den Bewohnern der zwei-
Menge bildete sich das ers- Forum Romanum Reichstag ten res publica amissa (des
te Forum. Die erste Tages- preisgegebenen Gemein-
ordnung umfasste nur ei- Die Politik hierzulande kommt immer mehr wesens) erneut nichts üb-
nen einzigen Punkt: die dem Monolog eines Autistenclubs nahe. rig als das Warten auf die
Zurückweisung einer herr- Caesaren – und auf deren
scherlichen Infamie. Aus ihrer synchronen Erregung über den billige Ausgaben, die Populisten, sofern Populismus heute den
zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die einfachen Leute, Beweis liefert, dass Caesarismus auch mit Komparsen funktio-
dass sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus, mit niert. Also hätte Oswald Spengler mit seiner gefährlichen Sug-
dem alles anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen, gestion recht behalten, man müsse Dekadenztheoretiker sein,
war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich eines Affronts gegen die um als Zeitdiagnostiker auf der Höhe der Phänomene zu
ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Herzens. stehen?
Um das Entscheidende noch einmal zu sagen: Was wir jetzt Doch wir sind in dieser Angelegenheit besser beraten, wenn
mit dem griechischen Ausdruck „Politik“ umschreiben, ist ein wir uns vom Elan der Analogie nicht mitreißen lassen. Zwar
Derivat des Ehrsinns und der stolzen Regungen gewöhnlicher fehlt es nicht an Hinweisen darauf, dass wir postrepublikani-
Menschen. Für das Spektrum der stolzverwandten Affekte hält schen und postdemokratischen Zuständen entgegengehen. De-
die alteuropäische Tradition den Ausdruck thymós bereit. Auf ren signifikantestes Symptom, die erneute Bürgerausschaltung
der thymotischen Skala der menschlichen Psyche erklingen durch eine monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit, ist
viele Töne – von Jovialität, Wohlwollen und Generosität über heute auf breiter Front zu diagnostizieren. Dass Politik hierzu-
Stolz, Ambition und Trotz bis hin zu Empörung, Zorn, Ressen- lande immer mehr dem Monolog eines Autistenclubs nahe-
timent, Hass und Verachtung. Solange eine politische Kommune kommt, zeigt die aktuelle Linie der schwarz-gelben Regierung
von ihrem Stolzzentrum her gelenkt wird, stehen Fragen von in Fragen der Atomenergie.
Ehre und Ansehen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksam-

W
keit. Die Unverletztheit der zivilen Würde gilt als höchstes Gut. er aber geglaubt hätte, die Bürgerausschaltung in der
Der öffentliche Argwohn wacht darüber, dass Arroganz und zweiten postrepublikanischen Situation werde so rei-
Gier, die immer virulenten Hauptmächte der Gemeinheit, in bungslos verlaufen wie nach der Etablierung des an-
der res publica niemals die Oberhand gewinnen. tiken Caesaren-Regimes, sähe sich getäuscht: Denn die klassi-
Es dürfte klar sein, warum es nicht unverfänglich ist, in un- schen Autoren Griechenlands besaßen vom Menschen als zu-
seren Tagen von römischer Dekadenz zu sprechen und aktuelle gleich erosbewegtem und stolzbewegtem Wesen ein ungleich
Zustände mit ihr gleichzusetzen. Wer so redet, bekennt sich tieferes Verständnis als die modernen, weil Letztere sich mehr-
138 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Kultur

heitlich damit begnügten, die menschliche Psyche allein aus rechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor
der Libido, dem Mangel und des Habenwollens zu deuten. Zu allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Auf-
Fragen des Stolzes und der Ehre fällt ihnen seit über hundert gabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszu-
Jahren nichts mehr ein. Folglich nimmt es nicht wunder, wenn drücken.
heute weder Politiker noch Psychologen Rat wissen, sobald sie Begnügen wir uns, um höflich zu sein, mit der Feststellung,
es mit öffentlichen Regungen der vergessenen Stolzkomponente dass solches Vertrauen zu einer knappen Ressource geworden
im menschlichen Seelenhaushalt zu tun bekommen. Wer sich ist. Sogar Berliner Hofpolitologen sprechen von der manifesten
im Panorama der politischen Unruhen in Europa umsieht, be- Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Be-
sonders an den deutschen Krisenherden, sollte sich eines schnell völkerung. Noch scheuen die Experten vor der harten Diagno-
klarmachen: Wenn heute die se zurück, wonach die Politik
Bürgerausschaltung trotz aller der nützlichen Entpolitisierung
Aufgebote an Expertokratie des Volks vor dem Scheitern
und Amüsierkultur nicht ganz steht.
gelingt, so darum, weil man Den Römern der Caesaren-
die Rechnung ohne den Bür- zeit gelang ihr Entpolitisie-
gerstolz gemacht hat. rungskunststück, weil die kai-
serzeitlichen Eliten lange Zeit

M
it einem Mal steht er den Ansprüchen ihrer Bürger-
wieder auf der Büh- welt halbwegs brauchbare Er-
ne – der thymotische satzangebote machten – trotz
Citoyen, der selbstbewusste, handfester Anzeichen postre-
informierte, mitdenkende und publikanischer Dekadenz: Sie
mitentscheidungswillige Bür- verstanden sich darauf, im ci-

LANGROCK / ZENIT / LAIF


ger, männlich und weiblich, vis romanus den Stolz auf die
und klagt vor dem Gericht der zivilisatorischen Leistungen
öffentlichen Meinung gegen des Imperiums zu wecken; sie
die misslungene Repräsenta- banden die Völker der Periphe-
tion seiner Anliegen und sei- rie durch römische soft power
ner Erkenntnisse im aktuellen an das Zentrum; sie waren
politischen System. Er ist wie- klug genug, den Massen in den
der da, der Bürger, der empö- Städten die Teilhabe am thea-
rungsfähig blieb, weil er trotz tralischen Narzissmus des Kai-
aller Versuche, ihn zum Libi- serkults zu gewähren. Im Ver-
do-Bündel abzurichten, seinen gleich hiermit springt die Hilf-
Sinn für Selbstbehauptung be- losigkeit unserer politischen
wahrt hat, und der diese Qua- Klasse in allen Belangen des
litäten manifestiert, indem er thymotischen Haushalts ins
seine Dissidenz auf öffentliche Auge. Sie hat den Bürgern oft
Plätze trägt. Der unbequeme nicht mehr zu bieten als die
Bürger weigert sich, ein politi- Aussicht auf Teilhabe an ihrer
scher Allesfresser zu sein, duld- eigenen Kläglichkeit – ein An-
sam und fern von „nicht hilf- gebot, auf das die Bevölkerung
reichen“ Meinungen. Diese in der Regel nur im Karneval
informierten und empörten und bei Aschermittwochs-
TEAM2

Bürger verfielen plötzlich, reden eingeht. Wird die Frage


man begreift nicht wie, auf Gladiatorenkampf, Bundesligaspiel gestellt, wie das breite Volk
den Gedanken, den Artikel 20 auf die Performance der Regie-
Absatz 2 des Grundgesetzes Den Römern gelang ihr Entpolitisierungskunst- renden reagiert, verzeichnen
auf sich selbst zu beziehen, wo- stück, weil sie Ersatzangebote machten. Meinungsforscher seit einiger
nach alle Staatsgewalt vom Zeit am häufigsten die Aus-
Volk ausgehe. Was ist in ihn gefahren, wenn er das mysteriöse kunft: mit Verachtung. Unnötig zu sagen, dass dieses Wort zum
Verfassungsverbum „ausgehen“ als Anweisung versteht, seine elementaren Vokabular der thymotischen Analyse gehört.
vier Wände zu verlassen, um zu bekunden, was er will und Wenn die Bezeichnung für den Minuspol der Stolz-Skala so
weiß und fürchtet? häufig und so heftig gebraucht wird wie zur Stunde, dürfte be-
An der Quelle des römischen Gemeinwesengefühls stand die greiflich werden, in welchem Maß die psychopolitische Regu-
Unwilligkeit, die allzu krass gewordene Arroganz der Herr- lierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder läuft.
schenden länger zu dulden. Auch heute sehen zahllose Bürger

D
Grund, sich über die Anmaßung der Herrschenden zu erregen. er Traum der Systeme gebiert Ungeheuer: Das erleben
Selbst wenn die Anmaßung anonym geworden ist und sich in die Regierenden auf ihre Weise, sobald unzufriedene
den sachzwanggetriebenen Systemen versteckt – die Bürger, Bürger sich ihren Projekten und Prozeduren in den Weg
insbesondere in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und als Adres- stellen. Es überrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Ver-
saten hohler Reden vor Wahlen, spüren doch hin und wieder achtung antwortet. Der unwillkommenen Bürgerdissidenz trat
deutlich genug, welches Spiel mit ihnen getrieben wird. man in Stuttgart und Berlin erschrocken mit Großaufgeboten
Aber warum nur können die Leute mit einem Mal nicht auf von Polizei und Schimpfworten entgegen. So also sieht es aus
den ihnen zugedachten Plätzen ruhig halten? Wieso ist auf ihre – das dunkle Etwas, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? „Be-
systemrelevante Lethargie kein Verlass mehr? In der repräsen- rufsprotestierer, Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten,
tativen Demokratie werden Bürger in erster Linie als Lieferan- Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste!“ In diesen Vokabeln
ten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen wer- fassten die Landesregierung und ihre Alliierten in der Haupt-
den sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahl- stadt ihre Eindrücke von den Zehntausenden zusammen, die
140 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Kultur

gegen ein zerbröckelndes Großprojekt auf die Straße gingen. Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lässt er sich nicht mehr
Soll man diese Wortwahl dadurch entschuldigen, dass die Spre- leicht davon ablenken. Für die politische Klasse kommt hinzu,
cher unter Schock standen? Im Gegenteil, man schuldet diesen dass die moderne Bürgerausschaltung sich als „Einbeziehung“
Politikern Dank, dass sie endlich aussprachen, wie sie über die des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muss
Bürger denken. Bemerkenswerterweise war ein wichtiger Teil mit so viel restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur
der manchmal seriösen Presse bereit, sich in die bedrängte Selbstreproduktion des politischen Apparats nötig ist.
politische Klasse einzufühlen: „Wutbürger“ nannte man jüngst In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so
die neuen Protestierer – was eine kluge Prägung gewesen wäre, ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Es ist
hätte sie die Erinnerung an den ursprünglichen Zusammenhang dem modernen Staat gelungen, seinen Angehörigen im Moment
von Empörung und Republik beschworen. Leider diente sie im ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augen-
aktuellen Gebrauch nur dazu, die lästigen Dissidenzfliegen zu blick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse, die passivste
verscheuchen. Man sieht jedenfalls: Manche Journalisten wissen, Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geber-
wie sie das Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beitragen qualität der Zahlenden hervorzuheben und den Gabe-Charak-
können. ter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernen
Mit Schlagstöcken und Tränengas antwortete die verschreckte Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden Fiktion,
Kaste auf resolute Argumentierer aus dem Volk, die Unstim- sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe
miges in den Plänen für den neuen Stuttgarter Bahnhof entdeckt Schulden, dass sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen
hatten. Mit der Einleitung eines Parteiausschlussverfahrens rea- können. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die
gierte die altehrwürdige morgen und bis zu ihrem
SPD auf ein bewährt ro- letzten Atemzug für das
bustes Mitglied, das unter bezahlen wird, was die
Aufbietung ausführlicher Bürgerausschalter von heu-
Beweise Unstimmiges in te ihr aufbürden. Man sa-
der deutschen Zuwande- ge nicht, die heutige Politik
rungspolitik aufdeckte – habe keine Visionen mehr.
und dabei Tatsachen vor- Noch gibt es eine Utopie
trug, die ohne genetische für unser Gemeinwesen:
Begründungsversuche so- Wenn das Glück auf unse-
lider dastehen als mit die- rer Seite ist und alle alles
sen. Beide Male hieß es, tun, was in ihrer Macht
man habe sich die not- steht, gelingt am Ende
ANN RONAN PICTURE LIBRARY / TOPFOTO / HIP

wendigen Reaktionen, das sogar das Unmögliche, die


Zuschlagen und das Aus- Staatsbankrottvermeidung.
schließen, nicht leicht- Sie ist von nun an der rote
gemacht. Bürgerausschal- Stern am Abendhimmel
tung als Beruf – das ist der Demokratie.
gelegentlich noch härter Unzählige Kommentare
als das übliche Bohren von haben seit der 2008 aufge-
harten Brettern. brochenen Finanzkrise die DAPD
Auf breiter Front sieht Gefährlichkeit der Speku-
man dieselben Bunker- Kaiser Augustus Kanzlerin Merkel lation an den Finanzmärk-
reflexe gegen die Störung ten beschworen. Von der
der Routinen, dasselbe Bürgerausschaltung als Beruf – das ist gelegentlich gefährlichsten der Speku-
Unbehagen an der Wort- noch härter als das übliche Bohren dicker Bretter. lationen war nie die Rede:
ergreifung der Unberufe- Die meisten heutigen Staa-
nen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakter- ten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivität
festigkeit. der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihre
Bürger weiter in die Unterhaltung ausweichen werden; die

Ü
ber so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine ge- östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit offener
nauere Analyse des politischen Systems und seiner Pa- Repression. Die Zukunft wird bestimmt sein vom Wettbewerb
radoxien hinausführen: Den Caesaren gelang es noch zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen
scheinbar spielend, Bürgerausschaltung und Bürgerbefriedung Modus der Bürgerausschaltung. Beide Verfahren gehen davon
miteinander zu verbinden. Die moderne repräsentative Demo- aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation von
kratie ist dazu in der Regel außerstande. Daher stehen den Mo- positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungs-
dernen nur zwei Auswege offen, von denen einer ökonomisch handeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassi-
ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bür- vität rechnet. Das ging bisher erstaunlich gut: Sogar nach der
gerausschaltung durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung missglückten Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009 wid-
durch Resignation. Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der meten sich die Bürger Europas in jenem fatalen Dezember lie-
die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat beobachtet. ber ihren Weihnachtseinkäufen als der Politik; sie zogen es vor,
Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese mit vollen Tüten nach Hause zu kommen, statt ihre mit leeren
gleicht oberflächlich der Zufriedenheit unter einer guten Regie- Händen zurückgekehrten „Vertreter“ zumindest symbolisch so
rung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die mutlos grollende zu teeren und zu federn, wie sie es verdient hätten.
Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Der-
gleich sind. In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie gleichen Spekulationen werden früher oder später zerplatzen,
in den USA üblich, auf unter 50 Prozent absinken, ohne dass weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität
die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen. vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit ist. Hat der Zorn
Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem seine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturen
Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Empörung der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür
und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der steht, wird warten müssen. 
142 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Regisseurin Coppola
Privilegiert und eigensinnig

wenn wir mit meinem Vater unterwegs


waren, für mich ist das eine vertraute
Welt.“
Wenn Sofia Coppola „mein Vater“
sagt, dann tönt ein imaginärer Fanfaren-
stoß durch den Raum. Francis Ford Cop-
pola: „Der Pate“, „Apocalypse Now“,
„Rumble Fish“, „Cotton Club“. Für sie ist
er „mein Vater“, nahbar und ein selbst-
verständlicher Teil ihres Lebens. Sie war
nach zwei Söhnen seine erste Tochter und
blieb die Einzige, großgeschrieben. Sofia,
die Prinzessin. Kurz nach ihrer Geburt
verewigte er sie im ersten Teil von „Der
Pate“, sie war das Baby in der berühmten
Taufszene.
In „Somewhere“ erzählt Sofia Coppola
nun die Geschichte eines elfjährigen Mäd-
chens, das aufwächst in einem Raumschiff
namens Ruhm. Der Vater dieses Mäd-
chens, der Filmstar Johnny Marco, er lebt
im Chateau Marmont. Alle zwei Wochen
besucht ihn dort seine Tochter Cleo, wie
das halt so ist mit Kindern aus getrennten
Beziehungen.
Cleo bewegt sich in dem Hotel mit
gelassener Grazie. Es ist ja das Zuhause
ihres Vaters. Wenn die Tochter nicht da
ist, gleitet Johnny Marco durch die Tage,
manchmal lässt er sich zwei Striptease-
Tänzerinnen kommen, manchmal muss
er zu einem PR-Termin für einen neuen
Film, oder er kifft ein bisschen, hat Sex
mit der Frau aus dem Nachbarzimmer,
irgendeiner Frau, klimpert auf einem Kla-
SHERYL NIELDS / AUGUST

vier oder spielt Wii. Ein Star zu sein, so


erzählt es Coppola in ihrem Film, ist so
ziemlich das Ermüdendste auf dieser
Welt, und die Anstrengungen, einer zu
werden, sind die Mühe nicht wert. Der
Hollywood-Star Stephen Dorff spielt
diese Rolle so irritierend großartig, dass
KINO
einen der Verdacht beschleicht, es sei

Aus bestem Hause


seine eigene Leere, die sich da zeigt.
Nur wenn Cleo zu Besuch kommt, ist
plötzlich ein Funken Lebenslust in den
Augen von Johnny Marco, die Tochter
In ihrem neuen Film „Somewhere“ erzählt die Regisseurin bestellt dann den Roomservice ab und
macht das Frühstück oder kocht Spaghet-
Sofia Coppola die Geschichte eines jungen ti, und obwohl sie ja noch ein Kind ist,
Mädchens, das aufwächst in einem Raumschiff namens Ruhm. scheint sie die Lebensklügere zu sein.
„Jeder meiner Filme erzählt etwas über

E
s gibt sogar eine Handtasche, die machte das Park Hyatt in Tokio berühmt, mich“, sagt Coppola. Das ist, wie so vie-
nach ihr benannt ist, die Sofia Cop- ihr nächster Film „Marie Antoinette“ er- les, was sie an diesem Nachmittag im In-
pola Bag, schwarzes Leder, goldene zählte vom Einzug der späteren Königin terview äußert, keine überraschende Fest-
Schnallen, ein edles Modell von Louis in Versailles, das auch nur so eine Art stellung, aber es erlaubt Deutungen. Cleo
Vuitton. Sie liegt im leeren Konferenz- Fünf-Sterne-Plus-Hotel ist. Ihr neuester ist ein Mädchen, das schon früh erwach-
raum des Berliner Regent-Hotels auf ei- Film „Somewhere“ spielt im Chateau sen geworden ist, weil es einen kühlen
nem langen Tisch wie ein Platzhalter. Marmont in Los Angeles, einem fast my- Verstand braucht, sich vom Zirkus um
Die Tür zum Balkon ist geöffnet, die thischen Ort, an dem Tag für Tag, und die Prominenz nicht verrückt machen zu
Gardinen wehen, Sofia Coppola steht das seit Jahrzehnten, der große unge- lassen. Es ist das Lebensthema von Sofia
draußen, klein und schmal, über das Ge- schnittene Film namens Hollywood auf- Coppola.
länder gelehnt und telefoniert. Ein Mo- geführt wird. Als sie drei war, soll sie einen Streit
ment wie aus einem ihrer Filme. „Ich habe in meinem Leben viel Zeit zwischen ihren Eltern mit dem Ausruf
Coppola ist eine Hotel-Regisseurin. Ihr in Hotels verbracht“, sagt Sofia Coppola „Cut!“ beendet haben. Damals will der
erster großer Erfolg „Lost in Translation“ mit sehr leiser Stimme, „schon als Kind, Vater erkannt haben, dass seine Tochter
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Kultur

Von jeher bewegt sich Sofia Coppola


in der Welt der internationalen Boheme,
deren Codes waren für sie nie ein Ge-
heimnis. Dieses Leben hat ihr ein so
selbstverständliches Selbstbewusstsein
verliehen, dass es sie wenig interessiert,
welchen Eindruck sie hinterlässt und ob
sie womöglich langweilig wirkt.
Sie ist groß geworden mit der Möglich-
keit, sich ihre Empfindsamkeit und ihren
Eigensinn zu bewahren. Nach dem Ende
ihrer Schulzeit studierte sie an der Cal-
Arts, einer berühmten Kunsthochschule
in der Nähe von Los Angeles, sie probier-
te sich als Fotografin und als Modede-
signerin. Seit dieser Zeit ist sie gut be-
freundet mit Marc Jacobs, der die Tasche
mit ihrem Namen kreierte.
Vorher noch, als sie 18 war, hatte ihr
Vater sie gebeten, in „Der Pate III“ die
Rolle von Al Pacinos Tochter zu überneh-
men, weil die Schauspielerin Winona Ry-
der kurzfristig ausfiel. Sofia Coppolas
Auftritt wurde von der Presse hämisch

TOBIS
verrissen, eine harte, aber auch das eine
Szene aus „Somewhere“: „Ich habe in meinem Leben viel Zeit in Hotels verbracht“ privilegierte Erfahrung.
So ein Leben könnte allerdings auch
mal Regisseurin werden würde. Als sie um den Hals trägt sie ein kleines Diamant- versanden. Doch die künstlerische Arbeit
ein Vorschulkind war, begleitete die gan- herz, sie trinkt schwarzen Tee mit Zucker. hat in der Familie Coppola immer einen
ze Familie Francis Ford Coppola zu den Und sie ist müde. Vor sechs Monaten hat hohen Stellenwert eingenommen. Nicht
Dreharbeiten von „Apocalypse Now“, sie ihre zweite Tochter bekommen, im zu arbeiten wäre für Sofia Coppola nie-
Sofia hatte eine gute Zeit in Asien, sie September war „Somewhere“ im Wett- mals eine Option gewesen. Ihre eigenen
malte Hubschrauber und Palmen, wäh- bewerb der Filmfestspiele in Venedig zu Drehbücher bündeln die Ideen und
rend ihr Vater an Marlon Brando, am Wet- sehen und erhielt den Goldenen Löwen, Gedanken, die sie über lange Zeit be-
ter und an dem explodierenden Budget gestern ist sie von New York nach Berlin schäftigt haben. Und weder ihre beiden
verzweifelte und sich nach einem Kollaps geflogen. Schwangerschaften noch die Geburten
dem Tod nah fühlte. Sie könnte in jedem Café in Berlin-Mit- ihrer Töchter haben sie gehindert, ihre
Es kommt nur selten vor, dass ein Mäd- te sitzen, ohne aufzufallen. Sie sagt in Filme fertigzustellen. Als erste ameri-
chen so privilegiert aufwächst wie Sofia etwa auch die Sätze, die an diesen Kaf- kanische Regisseurin wurde sie 2004 für
Coppola, geliebt, im Verbund einer für feehaustischen gesprochen werden. Dass einen Oscar nominiert.
Hollywood-Maßstäbe erstaunlich intakten es nicht einfach sei, die richtige Balance Ihr erster Film war die Verfilmung von
Großfamilie und in der selbstverständli- zu finden zwischen der Zeit mit den Jeffrey Eugenides’ Roman „The Virgin Sui-
chen Nähe zu einer lebendigen kreativen Kindern und der Arbeitszeit. Dass es mit cides“, dank der Unterstützung von Mit-
Welt, die nicht auf Hollywood beschränkt einem BlackBerry immer schwieriger arbeitern ihres Vater hatte sie die Rechte
war. Ihre Mutter, eine Dokumentarfilme- wird, zur Ruhe zu kommen. Der große bekommen. Nach der ersten Woche tauch-
rin, war mit Yves Saint Laurent befreun- Unterschied ist nur, dass sie eben manch- te Francis Ford Coppola am Drehort auf.
det; als Sofia während der Highschool ein mal auch „mein Vater“ sagt oder „mein „Du musst ,Action‘ viel lauter sagen“, wies
Praktikum machen wollte, rief sie Karl Freund“ und den Phoenix-Sänger Tho- er seine Tochter an. Sie dachte sich:
Lagerfeld an. Bald saß sie in seinem Pa- mas Mars meint, den Vater ihrer beiden „Okay, und du kannst jetzt gehen.“
riser Studio. Kinder. Vor den Dreharbeiten zu „Lost in
Was macht so eine Ju- Translation“ verfolgte sie den Schauspie-
gend mit einem Menschen? ler Bill Murray fünf Monate lang mit ih-
Sie führt zuerst einmal rem Wunsch, ihn für die Hauptrolle zu
dazu, dass Sofia Coppola gewinnen. Ohne ihn hätte sie den Film
mit so leiser Stimme nicht gemacht. Ist das noch professionell?
spricht, weil sie nie darum Oder ist das schon Prinzessinnengehabe?
ringen musste, die Auf- Es ist die Kompromisslosigkeit eines Men-
merksamkeit auf sich zu schen, der ohne große Widerstände auf-
lenken. wuchs und es nicht gewohnt ist, ein Nein
Die Art und Weise, wie zu akzeptieren. Am Ende hat Murray
sie in Berlin die Pressear- ja gesagt.
beit zu ihrem neuen Film Es gibt auch einen Wein, der nach Sofia
absolviert, zeugt von er- Coppola benannt ist. Er stammt vom
fahrener Unaufgeregtheit. Weingut ihrer Familie in Kalifornien.
Coppola ist in einem karier- Revolutionär, bockig, duftend und cool,
GETTY IMAGES

ten Flanellhemd erschienen, so hat Francis Ford Coppola das Bou-


einer dunklen Baumwoll- quet des Weins auf dem Etikett beschrie-
hose und Mokassins. Ihr ben. Er wird sich etwas dabei gedacht
Gesicht ist ungeschminkt, Tochter, Vater Coppola 1990: „Okay, du kannst jetzt gehen“ haben. CLAUDIA VOIGT

146 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Kultur

Ereignis mit dem Potential


thematisiert, die eingespielte
Mentalität und Kultur der
Heimat zu unterwandern“ –
dabei kommt der Krieg nur
als eine Kuriosität vor, zwi-
schen Avocadokernen im
Hintern und deutsch-verbla-
senen Dunkelphantasien.
Der andere Roman, „Das
amerikanische Hospital“ von
Michael Kleeberg, 51, spielt
in Paris, er ist stiller und klü-
ger und macht doch deutlich,
wie schwer es ist, heute einen
Roman zu schreiben, der die
Wucht des Krieges einfängt.
Das dritte Buch ist eine
Großreportage des amerika-
nischen Journalisten Sebas-
tian Junger, die auf Deutsch
so heißt wie auf Englisch:
„War“. Anscheinend gibt es
auf Deutsch kein Wort für

ZUMA PRESS / ACTION PRESS


diesen Zustand. Was auch er-
klärt, warum jemand wie
Guttenberg kommen musste,
um den Deutschen zu erklä-
ren, dass sie im Krieg sind.
Und damit ist man auch
US-Soldaten im Korengal-Tal in Afghanistan: Die Schlacht als Sisyphusspiel schon mittendrin in dem Di-
lemma, von dem die drei Bü-
cher handeln. Wie geht eine Gesellschaft
L I T E R AT U R
damit um, dass sie einen Krieg kämpft,

Wunden der Sehnsucht


den man berechtigt finden kann oder
nicht, von dem man sich aber erst einmal
ein Bild machen muss, den man in Spra-
che überführen muss, um ihn zu fassen
Nähe und Erfahrung statt Distanz und zu kriegen?
Genau das schafft Junger, 48, erfahrener
Metaphorik: Wie unterschiedlich amerikanische und deutsche Reporter und 1997 Autor des Weltbestsel-
Autoren über den Krieg schreiben. Von Georg Diez lers „Der Sturm“. Er wollte verstehen, er
wollte sehen und fühlen, was die Soldaten

I
n diesem Herbst sind drei Bücher er- 41, und Alexander Wallasch, 46, wurde im Korengal-Tal sehen und fühlen, arme
schienen, die, na ja, vom Krieg erzäh- im Delirium der Rezensenten bejubelt als Schweine allesamt, Söhne von Alkoholi-
len. In dem einen Buch wagt sich ein der große „Pop-Roman über die Kriegs- kern, die ihnen schon mal ins Bein schos-
Autor hinaus in die Welt, um zu erfahren, Heimkehrer unserer Tage“ („Süddeut- sen, Männer mit einer Vergangenheit als
wie es dort draußen zugeht. In den bei- sche Zeitung“), in der „Frankfurter All- Drogendealer, Schläger, Verlierer, die sich
den anderen Büchern verschanzen sich gemeinen Sonntagszeitung“ hieß es nebu- in die Armee retteten, gestrandet nun im
die Autoren hinter ihren landestypischen lös, wichtig sei dieses Buch, „weil es den gefährlichsten Tal von Afghanistan, ein
Neurosen und literarischem Könnertum. deutschen Kriegseinsatz als historisches paar Kilometer nur lang, umrahmt von
Das eine Buch hat ein Amerikaner ge- Bergen steil wie Ausrufezei-
schrieben; die beiden anderen Bücher chen, umkämpft von jeher. 50
sind von Deutschen. Soldaten sterben. Fast jeden
Der Unterschied? Der amerikanische Tag Feindkontakt. Krieg als
Autor ist erwachsen und bereit, sich ein Sisyphusspiel.
paar existentielle Fragen zu stellen. Die Junger begleitet die Solda-
Deutschen sind entweder Kindsköpfe ten der Battle Company, die
oder Befindlichkeitsschreiber. im Frühling 2007 in das Tal
Und so ist es nicht ganz fair, die drei geschickt worden waren. Er
TIM HETHERINGTON / AGENTUR FOCUS

Bücher zusammen zu besprechen. Ande- schwitzt mit ihnen, er friert


rerseits ist das Thema so relevant und der mit ihnen, er sieht Taranteln
Unterschied so eklatant, dass man dabei und tote Soldaten, er wird be-
doch einiges über Deutschland erfährt schossen, er hat Angst, er hat
und darüber, warum es sich in diesem Respekt vor den Männern,
Land manchmal so stickig anfühlt. die sich im Grunde keine Ge-
Da sind also auf der einen Seite die danken machen über diesen
beiden deutschen Romane. Der eine, Krieg, obwohl er ihnen ihren
„Deutscher Sohn“ von Ingo Niermann, Autor Junger: Moralisch und militärisch Schlaf und ihre Frauen raubt,
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Kultur

15 Monate ihres Lebens und spä- um Flaschenbier, mal um Lyrik.


ter auch ihre Zukunft. Mal um Sex, Sex, Sex, mal um
Junger erzählt von Steiner, der Reden, Reden, Reden. Mal um
sich auf Heimaturlaub von seiner Porno, mal um Melodram, die
Mutter so wecken lässt wie im bürgerliche Antwort auf Porno.
Camp, sie soll ihn am Fußknö- Der eine Roman funktioniert wie
chel berühren und seinen Nach- eine redundante Wichsvorlage,
namen sagen, weil er ohne dieses der andere wie eine literarische
Ritual beim Wachwerden auf den Laubsägearbeit.
Gedanken kommen könnte, das Niermann und Wallasch erzäh-
Camp sei von Aufständischen len von einem verwundeten Af-
überrannt worden. ghanistan-Veteranen, seinen di-
Er erzählt vom 19-jährigen Ti- versen Selbstbefriedigungsmetho-
mothy Vimoto, dessen Vater Ser- den, seiner Gespielin Helen, von
geant Major ist und sich nur ein der deutschen Provinz und dem
paar Kilometer entfernt befindet, Kult der „Deutschreligiösen“.
als sein Sohn bei seinem allerers- Kleeberg erzählt von einem
ten Gefecht stirbt. psychisch gezeichneten Veteranen
Er erzählt von Juan Restrepo, des Golfkriegs von 1991 und von
der so schön Gitarre spielt, auf einer Frau, die zur künstlichen
einem Patrouillengang getötet Befruchtung ins Krankenhaus
wird und einem verzweifelten, kommt. Der Krieg kommt in be-
verwundbaren, verlorenen Vor- rechenbarer Prosa vor, das Reden
posten seinen Namen gibt. über den Krieg plätschert dahin,
„Restrepo“ heißt auch der Film, das Trauma des Soldaten hat na-
den Junger mit dem Fotografen türlich mit Kindern zu tun, sonst
Tim Hetherington gemacht hat schließt sich ja der Kreis nicht.
und für den er beim Sundance Überhaupt tappen beide Roma-
Festival den Großen Preis der ne, aus Mangel an Wirklichkeits-
Jury bekam, ein eindrucksvolles erfahrung, in die Metaphorikfalle.
Dokument dafür, wie nah Junger Im einen Fall sind es Zitronen, die
den Soldaten während seiner lan- an einen Anschlag erinnern, im

SCHLEYER / ULLSTEIN BILD


gen Besuche gekommen war. anderen Fall sind es Ibisse, die in
Junger reflektiert diese Nähe, einem Ölsee verenden. „Mir ge-
die ihn in die Gefahr der journa- hen die armen Vögel nicht aus
listischen Abhängigkeit bringt dem Kopf“, sagt die Frau in Klee-
und doch der beste Weg ist, dem bergs Roman, und so ganz kann
Wesen des Krieges zu begegnen. Autoren Niermann, Kleeberg: Plätscherndes Reden man den Autor nicht vor so ei-
So wie praktisch alle anderen gro- nem bescheuerten Satz seiner Fi-
ßen Kriegsbücher von Männern geschrie- ben können, wenn jeder einzelne bereit guren in Schutz nehmen: „Sie müssen“,
ben wurden, die den Horror selbst kann- ist, für den anderen zu sterben. fährt die Frau fort, „viele solcher schreck-
ten, etwa die Vietnam-Berichte „An die Das ist der patriotische Teil dieses tief lichen Sachen gesehen haben.“
Hölle verraten“ von Michael Herr, „In skeptischen Buchs. Junger bleibt offen, Wenn man Sebastian Jungers „War“
der Armee des Pharaos“ von Tobias moralisch und militärisch. Aber im Grun- liest, wenn man seinen Film „Restrepo“
Wolff und „A Rumor of War“ von Philip de erzählt er, dass der Krieg in Afghani- sieht und die Langeweile spürt und die
Caputo oder die Golfkriegs-Memoiren stan für Amerika nicht zu gewinnen ist. Angst und das Adrenalin und den Solda-
„Jarhead“ von Anthony Swofford. Wie es Junger dabei gelingt, Interpre- ten am Ende in die Augen schaut, wie sie
Sie alle haben der Bestie in den tation aus Erzählung zu formen, ist ein still und erloschen dasitzen, dann weiß
Schlund geschaut. wesentlicher Triumph dieses Buchs. Es man, dass die ganze Kriegssache so viel
Nur so versteht man, wie leicht Solda- geht bei alldem letztlich auch um die Rol- komplizierter ist, als es die hingeschrie-
ten süchtig werden nach dem Kampf. le, die Journalisten und Schriftsteller spie- benen Romane wahrhaben wollen.
Nur so versteht man, warum die len, als Wirklichkeitsbeschaffer oder Bes- Das hat schon auch mit Sex zu tun, wie
schlimmste Wunde die ist, „die dich den serwisser. Und genau deshalb ist das, was es etwa „Deutscher Sohn“ so rotzig vor-
Krieg vermissen lässt, in dem du sie erlit- deutschen Autoren dazu einfällt, bislang führt. In „War“ geht es um die Frage, ob
ten hast“. so erschreckend hohl. ein Mann nun schwuler ist, wenn er auf
Nur so versteht man, warum die Sol- Das hat sicher auch mit der Tradition Sex verzichtet oder vor lauter männli-
daten, wie die tätowierten Kerle von der deutscher Kriegsliteratur nach dem Zwei- chem Sexualtrieb mit einem Mann schläft.
Battle Company, über ihren neuen Chef ten Weltkrieg zu tun. Da gab es Wolfgang Es geht um die Frage, „ob es wohl men-
herfallen und ihm zur Begrüßung erst ein- Borcherts weinerliches Heimkehrerdrama tal möglich sei, während eines Feuerge-
mal in den Bauch boxen. „Draußen vor der Tür“, da gab es Gert fechts zu masturbieren. Das wäre, zuge-
Gewalt ist das Medium, in dem sie zu Ledigs Ostfront-Roman „Die Stalinorgel“, gebenermaßen, der Mount Everest der
Hause sind, Gewalt ist das Medium, in da gab es Lothar-Günther Buchheims Un- Masturbation“. Worauf ein Soldat zu Jun-
dem sie sich ausdrücken. tergangsfeier „Das Boot“. Und es ist ger sagt: „Wir sind wie die Tiere, nur
Dass Krieg schlecht ist, ist bekannt. symptomatisch, wie die beiden deutschen schlimmer.“
Junger aber interessieren nicht die Wer- Kriegsromane dieses Herbstes ihre Form Solch ein Satz findet sich in keinem
tungen von Menschen, die nicht dabei wählen, die mal prollige, mal gefühlige der beiden deutschen Romane. Er findet
waren. Ihn interessiert, was geschieht, Traumatisiertenprosa. sich nur da, wo es blutig ist und grau-
wenn Menschen in Gefahr sind, unter Wobei die Romane so verschieden sind, sam, manchmal auch zärtlich und sogar
Adrenalin stehen, nur als Gruppe überle- dass sie sich fast ergänzen. Mal geht es schön. 
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SPI EGEL-GESPRÄCH

„Mehr wissen, als sich gehört“


Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch über seine lebenslange
Beschäftigung mit den theologischen Ideen des Mittelalters, den Kampf zwischen
Vernunft und Religion und seine eigene Abkehr vom Glauben

OLIVER LANG / DDP


Papst-Messe in München 2006: „Schneeball des Misstrauens“

SPIEGEL: Professor Flasch, Sie sind schon SPIEGEL: In Ihren Kindheitserinnerungen Flasch: Ich denke, mit dem Tod ist alles
vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetre- „Über die Brücke“* erzählen Sie, dass Sie aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
ten. Wie geht das, über die großen theo- sich als Junge mit zwei Fragen beschäftigt ein Gedanke oder ein Willensakt ganz
logischen Schlachten zu referieren, ohne haben: Gibt es Gott? Kann man wissen, ohne körperliche Maschinerie vollzogen
innerlich beteiligt zu sein? dass Christus Gott ist? werden kann. Ich fasse diesen Gedanken
Flasch: Bestens. Ich suche ja keine Lang- Flasch: Ja, nachdem meine Mutter und ruhig, ohne Erregung. Ich bin vergnügt,
weiler, keine bloßen Dogmatiker auf, son- mein Bruder im Bombenkrieg umge- wie Sie sehen.
dern Genies wie Augustinus, Eckhart, kommen waren, wollte ich wissen, ob SPIEGEL: Gab es eigentlich für Sie einen
Leibniz. An jedem Versuch, sich das Le- ich je wieder mit ihnen zusammen sein konkreten Anlass zum Kirchenaustritt?
ben vernünftig zurechtzulegen, ist etwas werde. Flasch: Nein. Der Schneeball des Misstrau-
dran. Zumal ich auch ihre Kritiker lese SPIEGEL: Haben Sie darauf eine Antwort ens wuchs sich durch jahrzehntelanges
und ihnen Geltung verschaffe. gefunden? Studium der Quellen zu einer Lawine aus,
ganz ruhig, ohne abrupten Bruch, aber
mit klarem Ergebnis. Ich atmete auf.
Kurt Flasch SPIEGEL: Sie haben jetzt, mit 80, den hoch-
gilt als einer der gro- dotierten Philosophie-Preis „Tractatus“
ßen Gelehrten des erhalten. Bedeutet Ihnen der eigentlich
Landes. Der Philoso- noch etwas?
phiehistoriker ist Flasch: Dieser auf alle Fälle, denn es ist ein
spezialisiert auf die noch junger Preis, der für eine Denk- und
Spätantike und das Schreibweise vergeben wird, die schwierige
Mittelalter. Er war bis Fragen in lesbare Form bringt. Ich arbeite,
1995 Ordinarius an seit ich denken kann, an meinem Stil. Ich
der Ruhr-Universität schreibe meine Sachen bis zu zehnmal um.
Bochum. Flasch, 80, Ich verstehe Leute nicht, die um ihr Aus-
schrieb über „Aufklä- sehen, ihre Kleidung und ihre Haare be-
rung im Mittelalter“ sorgt sind, aber nicht um ihren Stil.
und „Kampfplätze der SPIEGEL: Ihr jüngstes Buch handelt von
Philosophie“ genauso dem mittelalterlichen Denker Meister
wie über mittelalter- Eckhart, einem Dominikanermönch aus
liche und spätantike dem 13. Jahrhundert, einem Mystiker, der
Denker wie Nikolaus ein stiller Star der Esoterik-Szene ist. Wei-
von Kues und Augus- ter abgewandt vom aktuellen Lärm kann
MAURICE WEISS / OSTKREUZ

tinus. Zuletzt erschien man nicht reden, oder?


von ihm „Meister
Eckhart. Philosoph * Kurt Flasch: „Über die Brücke. Mainzer Kindheit
des Christentums“ 1930 – 1949“. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am
Main; 144 Seiten; 19,80 Euro.
(C. H. Beck Verlag). Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Matthias
Matussek.

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Kultur

PASCAL MANOUKIAN / SYGMA / CORBIS


Straßenbeichte im polnischen Wallfahrtsort Tschenstochau 1981: „Die Kleinigkeit, konsequent zu sein“

Flasch: Philosophische Bücher machen der Papst musste viele Autoren verurtei- Turnierplatz der Ideengeschichte vor. Wo-
keinen Radau, sie laden zum Nachdenken len. Man kann sich vorstellen: Im Warte- her rührte Ihr Interesse am christlichen
ein. Eckhart hat gesagt, er wolle philoso- zimmer im Papstpalast saß nicht nur Eck- Mittelalter?
phisch über das Christentum sprechen. hart, sondern auch Wilhelm von Ockham, Flasch: Das hat, Sie werden lachen, mit
Das interessiert noch immer einige Leute. der Erkenntniskritiker, Logiker und Na- Hitler zu tun. Ich bin Jahrgang 30. Meine
SPIEGEL: Was können wir von Eckhart heu- turphilosoph. Familie war katholisch, politisch katho-
te lernen? SPIEGEL: Der Eckhart, den Sie beschreiben, lisch. Mein Vater war Zentrumsmann.
Flasch: Die Kleinigkeit, konsequent zu ist kein Mystiker, sondern einer, der Ver- Ein Onkel von mir war Reichstagsabge-
denken. Die Frage wachzuhalten: Was nunft und Glauben miteinander versöh- ordneter des Zentrums; er ist nach dem
heißt Erkennen, Welt, Ich, „Gott“. Wir nen will. Geht das überhaupt? 20. Juli 1944 verhaftet und in Mauthau-
lernen, unsere übrigen Überzeugungen Flasch: Eckhart war ein philosophischer sen umgebracht worden. Der Druck auf
von diesen Grundfragen nicht abgetrennt Erfinder. Er wollte nicht nur Glauben und diese Familie war für mich direkte, täg-
festzuhalten. Viele benutzen Eckhart, um Vernunft versöhnen, sondern mit der Ver- liche, harte Erfahrung. Das war finstere
einen Ruhepunkt in der Hektik der Ge- nunft die wesentlichen Inhalte bewei- Zeit. Und dagegen war der Mainzer Dom
genwart zu finden, aber dazu gibt es bil- sen. Das tat er so ingeniös, dass das ganz andere, eine lichte
ligere Mittel. Da gehe ich im Wald spa- sein Versuch interessant bleibt, Größe.
zieren oder mache sonst etwas. auch wenn man das Ergebnis „Ich habe schon SPIEGEL: Und da war das christ-
SPIEGEL: Was war denn das Aufrührerische nicht teilt. Seine Beweise ka- früh über liche Mittelalter das kulturelle
an Eckhart? Warum wurde er in 17 Punk- men auf eine neue, symboli- Wahrheit oder Übergewicht.
ten noch nach seinem Tod vom Papst in sche  Auslegung des Christen- Unwahrheit Flasch: Es war jedenfalls nicht
Avignon 1329 abgeurteilt? tums hinaus. Manche meinen, religiöser so verächtlich wie die Gegen-
Flasch: Der Papst schreibt, Eckhart habe das sei das Christentum des drit- wart. Das war mein Ausgangs-
mehr wissen wollen, als sich gehört. Vor ten Jahrtausends.
Sätze nach- punkt. Hinzu kam: Ich hatte
allem aber sah Eckhart im Menschen den SPIEGEL: Die Zeit Eckharts war gedacht.“ früh eine Leidenschaft fürs Ent-
Sohn Gottes. Er fasste die Einheit Gottes eine Zeit der Umbrüche. Es gab ziffern entwickelt. Entziffern
so streng, dass dem Papst die christliche neuen Reichtum, aber auch neue Armut: war aufregend. Das habe ich mit Nazi-
Lehre von Gott als Dreifaltigkeit geleug- Die Gesellschaft fiel auseinander. Zeitungen geübt.
net schien. Flasch: Die Sensibilität für die Armut hat- SPIEGEL: Wie das?
SPIEGEL: Eckhart starb noch während des te zugenommen. Bettelorden waren ent- Flasch: Meine Mutter und ich hörten un-
Prozesses, aber er hat eine große Wir- standen, die arm leben sollten wie Jesus ter einer Wolldecke „Feindsender“. Und
kungsgeschichte entfaltet, bis hin zu den und die Apostel. Eckhart hat die Idee der ich habe das, was die deutsche Propa-
Nazis, die aus ihm eine germanisch-völ- Armut subtil auf die Spitze getrieben. Bei ganda an Lügen herausbrachte, vergli-
kische Figur gemacht haben. ihm heißt die höchste Stufe geistiger Ar- chen mit dem, was ich heimlich unter
Flasch: Missbrauchen können Sie jeden. mut: „Nichts wollen, nichts wissen, nichts der Decke gehört hatte. Ich lernte kom-
Aber in Eckharts Werk war nichts Völki- haben.“ Das ist das große Programm der binieren und Schlüsse aus Andeutungen
sches, außer dass er nicht nur lateinisch, Gelassenheit, die letzte Stufe. Aber die ziehen. Ich betrieb kritisches Quellen-
sondern auch deutsch geschrieben hat. erste ist und bleibt die Gerechtigkeit. studium.
Aber die Jahrzehnte am Anfang des 14. SPIEGEL: Sie führen die dunkle Zeit zwi- SPIEGEL: Sie haben aus dem Dechiffrieren
Jahrhunderts waren eine produktive Zeit; schen 400 und 1600 als allerlebendigsten von Texten einen Beruf gemacht. Welche
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Kultur

Figur des Mittelalters hat Sie zunächst am ner, über die Pascalsche Wette nachden-
meisten fasziniert? ken? Dass man, wenn man glaubt, auf
Flasch: Thomas von Aquin. Ich lese ihn alle Fälle auf der Siegerseite wäre?
seit meiner Jugend. Flasch: Sie versuchen es immer wieder.
SPIEGEL: Hat er Sie überzeugt? Das Kapitel „Theismus“ ist für mich ab-
Flasch: Ich habe schon früh über Wahrheit geschlossen. Und es ist gut so. Ich fand
oder Unwahrheit religiöser Sätze nachge- bei den Frommen zu viele Ausreden.
dacht. Und an Thomas hat mich der Ver- SPIEGEL: Sie haben von den frühen fünfzi-
such fasziniert, den christlichen Glauben ger Jahren bis zur Studentenrevolte Ador-
als vernünftig darzustellen. Bei ihm klang no gehört und bei ihm auch Ihr Staats-
alles so übersichtlich; er ermutigte mich examen gemacht. Horkheimer war der
zum Weiterfragen. Ich hatte damals noch zweite Gutachter Ihrer Dissertation. Die
nicht gelesen, dass Thomas die Todesstra- Studenten damals waren so erfüllt von
fe fordert für Menschen, die den christli- der Weltrevolution wie die Täufer von
chen Glauben verlassen. Also genau das, der Wiederkunft des Messias.
was wir heute in einigen islamischen Län- Flasch: Es war alles hoch ideologisiert,
dern sehen, die Bestrafung der Konver- teilweise rabaukenhaft. Habermas sprach
sion mit Todesstrafe. damals von Linksfaschismus. Ich habe
SPIEGEL: Ihr Buch „Kampfplätze der Phi- viel mit Studenten gesprochen, habe vie-
losophie“, das vor zwei Jahren erschien, les kritisiert. Aber ich fand, in drei Punk-
ist ein wahrer Krimi des Geistes. Da ten hatten sie recht. Erstens: Der Viet-
kommt Augustinus besonders finster vor nam-Krieg war ein Verbrechen. Zweitens:
mit seiner Erbsündenlehre, die Sie eine Sie trugen die Frage nach der Hitlerei,
„Logik des Schreckens“ genannt haben. die sie fälschlich „Faschismus“ nannten,
Sie kritisieren, dass der Mensch bei Au- in Seminare und Familien. Drittens: Die
gustinus so vollständig von der Ordinarienuniversität war über-
Gnade Gottes abhängt, dass holt.
man von freiem Willen eigent- „Ich kann SPIEGEL: Horkheimer war ja
lich nicht mehr reden kann. mir nicht nicht nur Marxist, sondern of-
Flasch: Die Philosophie, gerade helfen: Ich fen für Religion und die letzten
die des Mittelalters, aber nicht liebe Blaise Fragen.
nur sie – hat Jahrhunderte ge- Pascal. Er Flasch: Ich habe ihn mit einer
braucht, sich von dieser Lehre gewissen Feierlichkeit reden hö-
zu erholen. Aber man muss un-
schreibt ren über Gott oder die Natur
terscheiden: Augustinus war gar zu gut.“ bei Spinoza. Auch bei Adorno
ein philosophischer Kopf, wenn gab es diese Ader. Seine „Mini-
auch nicht mit der besten Ausbildung. Er ma Moralia“ enden ja mit dem Ausblick
war ein großartiger Schriftsteller, wenn auf so etwas wie Erlösung.
auch manchmal zu breit. Er hatte eine SPIEGEL: Die Frankfurter Schule und die
gute Menschenkenntnis; er sammelte Blu- Philosophie generell hatten in den unru-
men des Bösen. higen Sechzigern eine große gesellschaft-
SPIEGEL: Den introvertierten, rigiden, glü- liche Relevanz.
henden Blaise Pascal beschreiben Sie da- Flasch: Die „Frankfurter“ wussten sehr
gegen sehr liebevoll. wohl, dass keine sozialistische Revolution
Flasch: Ich beschreibe die Auseinander- bevorstand. Sie waren auch nur Zuschau-
setzung des Aufklärers Voltaire mit Pascal er, allerdings mit großem Presseecho.
und will mich da gar nicht auf eine Seite Heute sind die Philosophen stiller gewor-
schlagen. Aber Pascal war nicht nur den. Die gesellschaftlichen Erwartungen
introvertiert, er hat die Pariser Verkehrs- und die Interessen verändern sich wie die
betriebe quasi erfunden. Er war nicht nur Mode. Ich selbst habe nie den Anspruch
glühend, er hat auch gerechnet. Und ich gehabt, der Gesellschaft Regeln zur Ak-
kann mir nicht helfen: Ich liebe Pascal. tion zu geben. Dazu war ich zu skeptisch.
Er schreibt gar zu gut. Ich begnüge mich, einige Sätze zu schrei-
SPIEGEL: In Ihren Kindheitserinnerungen ben, die einigen Menschen Anlass geben
schreiben Sie: „Zeige mir einen Christen nachzudenken.
wie Pascal, und ich werde demütig eine SPIEGEL: Sie schreiben gerade an einem
Wallfahrt zu ihm machen.“ Buch, das den Titel trägt: „Warum ich
Flasch: Das heißt nicht, dass mich seine kein Christ mehr sein kann“. Wollen Sie
Argumente heute überzeugen. Aber er uns verraten, warum?
hat nicht drum herum geredet. Er hat sich Flasch: Ich schreibe noch nicht daran, aber
mit den damals mächtigen Jesuiten ange- ich will es im nächsten Jahr tun, wenn
legt. Er wollte ein Christentum, das nicht ich meine großen Dante-Arbeiten abge-
nach der Polizei ruft. Er war ein ernsthaf- schlossen habe. Mein Beruf hat es mit
ter Christ, der danach gehandelt hat, dass sich gebracht, dass ich die großen Lehrer
es auf die Hilfe für die Armen ankommt, des Christentums studieren konnte. Nun
und der keine Kompromisse mit der will ich selbst einmal wissen, was dabei
Macht einging. herausgekommen ist.
SPIEGEL: Und wenn Sie jetzt noch mal, als SPIEGEL: Professor Flasch, wir danken Ih-
Skeptiker, aber Wahrscheinlichkeitsrech- nen für dieses Gespräch.
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20 (20) Ferdinand von Schirach 20 (17) Ulrich Detrois Höllenritt –


Schuld Ein deutscher Hells Angel
Piper; 17,95 Euro packt aus Econ; 18 Euro

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 155
Kultur

Der Untergang des weißen Mannes


Musikkritik: „Born Free“, das neue Album des amerikanischen Sängers Kid Rock

D
ass Freiheit nur ein anderes des amerikanischen Mannes ist auch
Wort dafür ist, nichts mehr Rubins Lebensthema. Rubin hat die
zu verlieren zu haben, ist späten Alben des Country-Schmer-
eine der ältesten Weisheiten des zensmannes Johnny Cash genauso
Rock’n’Roll. Es war ein neufor- produziert wie die der Metalband
mulierter Satz für den alten ameri- Slayer, des Rappers Jay-Z und des
kanischen Traum: Wer nichts zu Witwentrösters Neil Diamond – im-
verlieren hat, hat schließlich eine mer ging es in deren Songs um die
Welt zu gewinnen – Yes, we can! Frage, was es heißt, in Amerika ein
Barack Obama wurde damit Prä- Mann zu sein. Für Kid Rock heißt
sident. es, verlieren zu lernen.
In der vergangenen Woche hat Dabei taugt er nicht zum Ideolo-
Obama die Kongresswahlen spek- gen, er gehört nicht zu den Partei-
takulär verloren. Die weiße Arbei- gängern der Tea Party. Er hat zwar
terklasse hat ihn im Stich gelassen, mehrmals die Republikaner unter-
sagen die Demoskopen, er konnte stützt, aber er trat auch bei der De-
sie nicht noch einmal mobilisieren, monstration gegen den neuen Po-

RETNA USA / INTERTOPICS


weil die, die nichts mehr zu verlie- pulismus auf, die der Comedian
ren haben, nicht mehr daran glau- Jon Stewart am Wochenende vor
ben, noch irgendetwas gewinnen der Wahl in Washington organisiert
zu können. Sänger Kid Rock hat. Kid Rocks Charme besteht dar-
Der amerikanische Rockstar Kid in, überzeugend das Unterschichts-
Rock hat eine Platte über dieses raubein geben zu können. Das gibt
Land gemacht, das gerade seinen dem Verlierenlernen eine eigenar-
Traum verliert. Sie heißt „Born tige Schönheit und Würde.
Free“ und steht wie ein Monument In dem Song „Care“ zählt er all
für all diejenigen, die Obama die die Dinge auf, die er gern ändern
Wahl verhagelt haben – ein Abge- würde, aber nicht ändern kann,
sang auf den weißen amerikani- Krieg, Obdachlosigkeit und Armut.
schen Mann. Seine Heimatstadt Detroit, so sagt
Kid Rock, bürgerlich Robert er in Interviews, habe ihn zu „Born
James Ritchie, 39 Jahre alt, hat Free“ inspiriert, die ehemalige Au-
seinen Teil des amerikanischen tometropole, die heute entvölkert
Traums gelebt, er stieg auf zu vor sich hin gammelt und wie keine
Ruhm und brachte es zu Reichtum. andere Stadt für den Untergang
Er war mit Pamela Anderson ver- der amerikanischen Arbeiterschaft
heiratet. Die Ehe hat nicht lange steht. Wieder und wieder betont
gehalten. Angefangen hat er als Kid Rock im Titelsong, frei geboren
weißer Rapper, er war eine Art zu sein und sich von niemandem
White-Trash-Clown. Dann holte er CD-Cover in Ketten zwingen zu lassen – so
Gitarren dazu, und dabei blieb es. singt, wer ahnt, dass man sich für
Mal war seine Musik Rap-Metal- diesen Stolz keine Zukunft mehr
Crossover, mal war sie Südstaaten- kaufen kann.
Geschrammel, inzwischen ist er bei Dabei ist „Born Free“ keine wütende „Born Free“ erzählt von den Gefühlen
Country-Rock angelangt, breitbeinig Platte, kein Album voller Hass oder Res- von Menschen, die überflüssig geworden
klingt es immer noch. Obwohl er selbst sentiments. Kid Rocks Songsammlung sind und sich trotzdem nicht unterkriegen
längst Vater eines Sohnes geworden ist, bündelt klanglich noch einmal alles, was lassen wollen. Die sich noch an die Ver-
nennt er sich bis heute „Kid“. die amerikanische Rockmusik zwischen sprechen erinnern, die das Leben ihnen
„Born Free“ ist sein achtes Studio- Bruce Springsteen, Tom Petty und Coun- einmal gab, die sich aber daran gewöhnt
album. Es spricht zu denen, die früher try-Rock einmal groß und würdig ge- haben, dass diese Versprechen nicht ein-
die Autos und Häuser Amerikas bauten, macht hat. Musik wie ein Sixpack ameri- gelöst werden. Jetzt reicht es nicht einmal
sich nun überflüssig fühlen und weder kanisches Bier, getrunken auf dem Park- mehr zur Wut.
begreifen wollen noch akzeptieren kön- platz vor einer Shopping-Mall irgendwo „Born Free“ ist ein Denkmal, ein Denk-
nen, was mit ihnen geschieht. Der in New Jersey: Man sitzt auf der Lade- mal für eine soziale Schicht, die lernt, mit
Rock’n’Roll ist einst für diese Männer fläche des Pick-ups, in der Sportsbar ihrem Bedeutungsverlust und ihren Ab-
erfunden worden, als Soundtrack ihrer schauen die Kumpels Baseball. stiegsängsten zu leben.
Lebensgeschichten. „Born Free“ geht Aufgenommen hat Kid Rock „Born Man wird sie auch in Duisburg, Bir-
nun darum, würdevoll den eigenen Nie- Free“ mit dem berühmten Produzenten mingham oder Lille verstehen.
dergang zu ertragen. Rick Rubin. Das passt, Angst und Größe TOBIAS RAPP

156 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Prisma Wissenschaft · Technik

CREATIV STUDIO HEINEMANN / WESTEND61 / CORBIS )(L.); BERTHOLD STEINHILBER / LAIF (R.)
Schwarze Trüffel, Trüffelsuche mit Stock und Schwein

PILZE Baum stets nur der Pilz eines bestimmten Paarungstyps ge-

Sex unter Trüffeln


deiht, einer Art Pilzgeschlecht, deren es offenbar zwei gibt.
Nur wenn Wildschweine oder Insekten die Sporen an den
Standort des jeweils anderen Paarungstyps tragen, können
neue Trüffeln entstehen. Dabei waren Pilzkundler davon aus-

D er massenhaften Zucht von Trüffeln sind Forscher in Ita-


lien und Frankreich offenbar einen entscheidenden
Schritt näher gekommen. Denn an Schwarzen Trüffeln haben
gegangen, die Trüffeln würden sich ohne Partner aus einem
einzigen Pilzgeflecht bilden. Kein Wunder, dass ihre Massen-
zucht bisher nicht gelingen wollte und die duftenden Speise-
sie nun im Detail aufgedeckt, wie sich die kostbaren Speise- pilze ein so knapper Gaumenschmaus geblieben sind. Schwar-
pilze, die unterirdisch an den Wurzeln von Eichen leben, fort- ze Trüffeln werden mit Schweinen oder Hunden gesucht und
pflanzen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass an einem erzielen derzeit einen Preis von 2300 Euro pro Kilogramm.

ERBGUT
Epigenetische
„Krankheiten vor Ort verstehen“
ERKRANKUNGEN DES GEHIRNS
Einflüsse Alzheimer, Schizophrenie oder
Autismus könnten mit epigene-
tischen Veränderungen in Hirn- Jörn Walter, 52, Walter: Wir können Krankhei-
zellen zusammenhängen. Professor für ten vor Ort, also in der Zelle
Nervenzelle Epigenetik an selbst verstehen und neue
der Universität Therapien und Diagnosen
STOFFWECHSELKRANKHEITEN
des Saarlandes entwickeln. Erkrankte und
in Saarbrücken, gesunde Zellen sind epigene-
F OTO S : S P L / AG E N T U R F O C U S

Epigenetische Veränderungen
SVEN PAUSTIAN

über die Verän- tisch unterscheidbar.


in Muskel- und Fettzellen gehen derlichkeit des SPIEGEL: Wie entstehen diese
offenbar mit Diabetes Typ 2 und
Erbguts Unterschiede?
Fettsucht einher.
Fettzelle Walter: Einerseits können sie
SPIEGEL: Die USA stellen rein zufällig früh im Leben
KREBS 190 Millionen Dollar für entstehen. Zum anderen be-
die Epigenom-Forschung einflussen Faktoren wie fal-
Umweltfaktoren können zur Verfügung. Was ver- sche Ernährung und Rauchen
über epigenetische Effekte
birgt sich dahinter? das epigenetische Muster.
bösartige Geschwülste
Walter: Es geht darum zu SPIEGEL: Wie weit ist die deut-
Krebszellen
auslösen.
verstehen, wie die Gene in sche Epigenom-Forschung?
jeder Zelle abgelesen wer- Walter: Es gibt einige sehr gute
den. Die Epigenetiker er- Gruppen. Was fehlt, ist eine
VORGEBURTLICHE PRÄGUNG forschen, wie die geneti- deutsche Beteiligung an dem
Frühe Einflüsse auf das Erb- sche Information in jeder weltweit agierenden interna-
gut können später zu Krank- Zelle interpretiert wird. tionalen Epigenom-Projekt
heiten führen. SPIEGEL: Was kann man mit IHEC. Wir hoffen jetzt auf
Embryo den Daten anfangen? Fördergelder des Bundes.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 159
Wissenschaft · Technik Prisma
KLIMAFORSCHUNG

Vulkane
machen Wetter
D ürre, Frost, Überschwemmungen –
auf erstaunlich vielfältige Weise
können Vulkane weltweit zu Wetter-
machern werden, so der Befund einer
Forschergruppe um Kevin Anchukaitis
von der New Yorker Columbia Uni-
versity. Dass die Asche von Vulkan-
ausbrüchen wie des Tambora 1815 zu
Abkühlung und Ernteausfällen selbst
in Europa führen kann, ist lange be-
kannt. Nun jedoch weisen die Forscher
nach, wie sehr dieses Vulkan-Wetter je
nach Region variiert. Ihr neuer Baum-
ring-Atlas, der 800 Jahre und 54 Groß-
eruptionen zurückreicht, zeigt: Wäh-
rend es in Zentralasien oft trockener
wird nach einem Ausbruch, scheint
sich in Südostasien der Monsunregen
eher zu verstärken. „Vulkane können
wichtige Klimafaktoren sein“, so An-
chukaitis. Doch gilt das auch für den
Merapi in Indonesien, der seit Ende
Oktober Asche und Lava speit? Über
hundert Menschen kamen bereits in
BEAWIHARTA / REUTERS seinen Glutwolken um, rund 100 000
wurden evakuiert, auch Flugzeuge um-
geleitet. Um Regen und Temperatur
des Planeten merklich zu beeinflussen,
reicht die Merapi-Aktivität aber offen-
Aschewolken am Merapi bar nicht aus.

OPTIK IMMUNOLOGIE

Brille für Raumfahrer Einlass für Bakterien


F ehlsichtigkeit wird fortan kein Hindernis mehr sein bei
der Reise in den Weltraum. Denn für US-Astronauten
steht jetzt eine neuartige Spezialbrille bereit, deren Brech-
S obald ein Mensch auf die Welt kommt, kriegt er Besuch.
Mehr als tausend unterschiedliche Arten von Bakterien
besiedeln seinen Darm – ohne dass die Körperabwehr die
kraft sich beliebig verstellen lässt. Sie besteht aus einer fes- winzigen Eindringlinge attackieren würde. Forscher der Me-
ten und einer flexiblen Linse vor jedem Auge. Über einen dizinischen Hochschule Hannover haben jetzt an Mäusen
Schalter auf dem Nasensteg kann man eine durchsichtige entdeckt, wie das mög-
Flüssigkeit zwischen den Linsen verschieben und auf diese lich ist: Nach der Ge-
Weise die Form der flexiblen Linse verändern: Die Brech- burt hören die Zellen
kraft im gesamten Glas ändert sich. Das macht die Brille, die der Darmschleimhaut
ein kalifornischer Hersteller unter dem Namen Superfocus zeitweilig auf, ein zen-
auch kommerziell anbietet, interessant für die US-amerika- trales Signalmolekül des
nische Luft- und Raumfahrtbehörde Nasa und ihre in die Immunsystems herzu-
BSIP / SERCOMI

Jahre gekommenen Astronauten. Jene von ihnen, die be- stellen: Die Schleimhaut
reits kurzsichtig sind und nun auch noch altersbedingt weit- reagiert deshalb nicht
sichtig werden, brauchen eine Brille mit zwei Stärken. Doch auf einwandernde Bak-
die üblichen Gleitsichtbrillen bieten nur eingeschränkte Seh- terien – und die für die Darmbakterium
bereiche und taugen deshalb nicht für den Gebrauch in Verdauung benötigte
Raumfahrzeugen und in der Internationalen Raumstation, Darmflora kann sich ausprägen. Zwei bis drei Wochen spä-
wo es eine Unzahl von Monitoren und Knöpfen im Auge zu ter jedoch produziert die Darmschleimhaut das Signalmole-
behalten gilt. Nach Tests am Boden könnte die verstellbare kül wieder. Fortan sind Bakterien von außen gar nicht mehr
Brille schon bei der nächsten Nasa-Mission abheben. willkommen – sie werden bekämpft.
160 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Technik

L U F T FA H R T

Papiertiger gegen Bombe


Die Paketbomben der Qaida und griechischer Terroristen offenbaren blamable
Sicherheitslücken in der Luftfracht. Ob sich Bomben mit moderner
Durchleuchtungstechnik erkennen lassen, ist fraglich. Zudem gelangen viele
Lieferungen ganz ohne Sicherheits-Check ins Flugzeug.

K
aum ein Passagier verirrt sich zum Er hört ihnen zu, und deshalb kennt er tikunternehmens steht eine Flugzeug-
Tor 32, tief im Südosten des Frank- wie kaum ein anderer die verborgenen palette, darauf stehen dicke Scheiben, fest
furter Flughafens. Allenfalls jenen Abläufe im Hinterhof des interkontinen- verzurrt. „Die ist fix und fertig für den
ist der Schlagbaum ein Begriff, die vor talen Luftdrehkreuzes. Transport zum Flugzeug“, sagt Rose.
dem Abflug ihren Hund in die Tierpen- Er zieht seine Zugangskarte durch das Heimlich schiebt er seine Thermoskan-
sion des Airports bringen. „Die liegt hier Lesegerät vor der Schranke. Kein Wach- ne zwischen die Spanngurte des sperrigen
gleich um die Ecke“, sagt Harald Rose. mann steht am Tor zur sogenannten Car- Gebindes und flüstert verschwörerisch:
Der Gewerkschafter ist Ver.di-Sekretär go City Süd. „Wenn ich wollte, könnte „Stellen Sie sich mal vor, da wär jetzt was
am Flughafen und quält sich mit seinem ich hier mit einer ganzen Busladung Leu- anderes als Kaffee drin.“
grauen Familienauto durch den hekti- ten durch“, sagt Rose. Harald Rose ist auf einer Mission: Er
schen Verkehr. Lieferwagen drängeln ne- Wäre Rose ein Terrorist, er wüsste, wo- kämpft nicht nur um gerechte Löhne und
ben schweren Lkw und Baufahrzeugen hin er zu gehen hätte: zu den Rampen, Arbeitsschutz. „Es geht hier auch um Si-
durch das Nadelöhr. Ihre Kennzeichen wo Dutzende Lastwagen rückwärts ran- cherheit“, sagt er. Der Gewerkschafter
sind beinahe so international wie die Flug- gieren. „Da hinten“, sagt der 61-jährige hat das alles schon mal fotografiert und
zeuge, die über sie hinwegdonnern: Bul- Darmstädter und schnappt sich seine rote seine Dokumentation an Politiker, die
garien, Portugal, Türkei, Finnland. Signalweste und eine Thermoskanne. Verwaltung und den Flughafenbetreiber
Rose kennt die Menschen, die hier zur Schnell hat er gefunden, wonach er ge- geschickt. „Niemand hat sich dafür inter-
Arbeit gehen. Es sind „seine Arbeiter“. sucht hat: Auf dem Vorplatz eines Logis- essiert“, klagt Rose.
162 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Frachtabfertigung in Frankfurt am Main Kuriosum, dass ganze Lokomotiven im
Verwundbare Lebensader der Wirtschaft Flugzeug nach Amerika befördert werden.
Wenn die Luftfracht ins schlechte Licht
Seit vorvergangene Woche, versteckt in geriet, dann wegen nächtlichen Fluglärms
Druckerkartuschen, die beiden Paketbom- oder wegen der Triebwerksabgase. Gut
ben in Dubai und Nottingham entdeckt drei Millionen Tonnen Fracht wurden vo-
wurden, hofft er, auf mehr Gehör zu sto- riges Jahr in Deutschland durch die Luft
ßen. Schlagartig ist aller Welt bewusst ge- bewegt, und zwar rund die Hälfte im Un-
worden, wie verwundbar diese Lebens- terdeck von Passagierflugzeugen. An-
ader der Weltwirtschaft ist. „Es war reines dernfalls wäre die knappe Kalkulation
Glück, dass die Bomben nicht explodiert fürs Billigfliegen gar nicht möglich.
sind“, sagt Philip Baum von der Londoner Doch den günstigen Preis zahlen die Pas-
Sicherheitsberatungsfirma Green Light. sagiere mit einem Risiko, bei dem Sicher-
Dieses Glück hatten die beiden Piloten heitsexperten sich wundern, dass Terroris-
des UPS-Jumbos nicht, der am 3. Septem- ten es erst jetzt entdeckt haben: Während
ber von Dubai aus in Richtung Köln ab- die Fluggäste jede Zahnpasta in Klarsicht-
hob. Kurz nach dem Start brach an Bord hüllen packen müssen, gelangen die Palet-
ihrer Maschine ein Brand aus. Im letzten ten der Luftfracht häufig ganz ohne Sicher-
verzweifelten Funkspruch, ehe die Ma- heits-Check an Bord. Seit dem Anschlag
schine zerschellte, klagen die Piloten, von Lockerbie wurde bei der Gepäckkon-
dass Rauch ihnen jede Sicht versperre. trolle der Passagiere schwer aufgerüstet.
Hatte al-Qaida eine Bombe im Fracht- Dass aufgegebene Koffer aber den Fracht-
raum dieser Boeing 747 gezündet? Bisher raum mit den teils unkontrollierten Trans-
galt eine Ladung Lithium-Batterien als portgütern der Luftfrachtunternehmen teilt,
wahrscheinliche Ursache des Brandes. Und hat bisher offenbar niemanden gestört.
wenn auch westliche Sicherheitsexperten Angesichts der Bombenfunde hilft alles
nach wie vor keine Hinweise auf einen Beschwichtigen nichts. Gemäß EU-Verord-
Terrorakt sehen, so rückt das Bekenner- nungen „sind alle Fracht- und Postsendun-
schreiben der Qaida den UPS-Crash doch gen vor der Verladung in ein Luftfahrzeug
in ein neues Licht. Darin rühmen sich die einer 100%igen Frachtkontrolle zu unter-
Terroristen, nicht nur die beiden Paket- ziehen“, heißt es im Beamtendeutsch des
bomben aus dem Jemen, sondern auch der Luftfahrt-Bundesamtes (LBA). Die Wirk-
Absturz in Dubai gehe auf ihr Konto. lichkeit jedoch sieht anders aus, nicht nur
Noch peinlicher als die Qaida-Anschlä- im Jemen oder in Griechenland, sondern
ge offenbarte ein Sprengstofffund in der auch in Deutschland. „Die Gesetze? Das
vergangenen Woche die Gefahren des sind Papiertiger“, schimpft der Gewerk-
Frachtverkehrs: Eine Paketbombe ge- schafter Rose. „Hier sehen Sie die traurige
wöhnlicher Bauart fand ihren Weg bis in Realität.“ Der Boom der vergangenen Jahr-
die Poststelle des Bundeskanzleramts. zehnte hat Hunderte neue Akteure auf
Zweimal wurde die Lieferung in Grie- dem lukrativen Logistikmarkt aufkommen
chenland geröntgt, keiner hat etwas be- lassen. Insgesamt 607 „reglementierte Be-
merkt. Die Zündvorrichtung, so schäumt auftragte“, wie sie der Verordnungstext
ein Top-Beamter in Berlin, hätte „ein nennt, sind in Deutschland vom LBA zer-
Blinder mit Krückstock“ sehen können. tifiziert. Deren Verantwortung ist groß:
RENE SPALEK / BILDERBERG

Plötzlich steht eine Branche im Zen- Was sie den Luftfrachtunternehmen auf
trum der Aufmerksamkeit, die eigentlich den Hof stellen, gilt als kontrolliert. Es wird
möglichst geräuschlos funktionieren will. deshalb nicht mehr durchleuchtet, ehe es
Dass die meisten Fische für Deutschland in den Flugzeugbauch geschoben wird.
am Flughafen Frankfurt anlanden, wird Was diese Firmen anliefern, gelangt
genauso diskret kommuniziert wie das ruck, zuck in den Flieger. „Viele arbeiten

Spurensuche Methoden zur Sprengstoffkontrolle bei Luftfracht

SPÜRHUNDE IONENDETEKTOREN RÖNTGEN

Vorteile billiger als Detektoren, riechen sogar einfach in der Bedienung, Kontrolle großer schnelles Scannen großer Frachtmengen
wenige Sprengstoffmoleküle Frachtstücke
Nachteile benötigen alle 20 Minuten Ruhepausen eher für Stichproben geeignet je größer die Frachtgebinde, desto ungenauer

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 163
Technik

dings der Computer“, erklärt Semling.


Der berechne für jedes Material in der
Ware das Volumen, die Dichte und die
effektive Atomzahl. „Wenn sich daraus
ein verdächtiges Verhältnis ergibt, wie es
ein bestimmter Sprengstoff hat, dann
schlägt die Anlage Alarm“, sagt der Ver-
kaufsleiter.
Doch je größer die Gebinde, desto
schlechter die Auflösung. Viele Experten
misstrauen deshalb den Versprechungen
der Geräte-Industrie. „Man darf sich da
nichts vormachen“, sagt etwa der Sicher-
heitschef einer großen Fracht-Airline, „so
ein Paket aus dem Jemen hätte keines

ALI HAIDER / PICTURE ALLIANCE / DPA


der Geräte erkannt.“
Namhafte Frachtfluggesellschaften ver-
sprechen sich deshalb mehr von „intelli-
genteren“ Sicherheitskonzepten. Sie be-
werten ihre Lieferanten, aber auch Flug-
häfen und Herkunftsländer nach ihrem
Gefahrenpotential.
Trümmer des UPS-Jumbos in Dubai*: Hat al-Qaida eine Bombe im Frachtraum gezündet? So entstehen Abteilungen in den Flug-
gesellschaften, die in ihrer Arbeit der von
mit Zeitarbeitsfirmen, lassen kaum aus- Eigentlich müssten die zertifizierten Geheimdiensten wenig nachstehen. Die
gebildete Leiharbeiter die Paletten zusam- Logistiker alles kontrollieren, was ihnen Lufthansa etwa scheint im Fall der Paket-
menbauen“, berichtet ein Sicherheitsma- Unternehmen oder Privatpersonen anlie- bomben frühzeitig Verdacht geschöpft zu
nager, der am Frankfurter Flughafen ar- fern. Doch Scannen ist lästig und zeitauf- haben: Die Airline stellte schon am
beitet. In guten Unternehmen würden die wendig. Zudem gibt es auch hier Unter- 11. Oktober ihre Jemen-Flüge ein.
Arbeiter einer Zuverlässigkeitsüberprü- schiede: „In den Ländern der EU gelten Den Grund für diese interne Entschei-
fung des Landeskriminalamts unterzogen. unterschiedliche Schwellenwerte, ab de- dung gibt die Lufthansa nicht bekannt.
Andere sparen sich die 47 Euro Gebühr. nen ein Gerät bei einer verdächtigen La- Doch fällt auf, dass sie ziemlich genau
Das Gesetz zwingt sie ja nicht dazu. dung anschlägt“, berichtet etwa Joachim zu dem Zeitpunkt getroffen wurde, als
Nicht selten schuften die Männer für Ehrenthal vom Joint Air Transportation bei den Nachrichtendiensten Warnungen
8,50 Euro die Stunde, manchmal auch Competence Center for Security an der vor einem bevorstehenden Terroran-
zwei Schichten hintereinander. Das ist Universität St. Gallen. schlag auf zwei Flugzeuge eingingen (sie-
zwar verboten, aber das Geld reicht vie- Je sensibler das Gerät eingestellt sein he Seite 22).
len zum Überleben nicht. „Das sind arme muss, desto häufiger schlägt es Alarm. Oft kann es schon reichen, den Inhalt
Seelen, die können leicht von Terroristen Die Pakete müssen dann aufwendig nach- der Ladungen besser zu erfassen. „Wer
angeworben werden“, sagt der Experte. kontrolliert werden. Das ist teuer, wes- schickt eigentlich einen Drucker aus dem
Der Transport zum Flughafen wird zu- halb sich Logistikunternehmen lieber in Jemen in die USA?“, fragt der Londoner
dem gern Subunternehmen überlassen. Ländern ansiedeln, in denen sie weniger Sicherheitsberater Baum und antwortet
Häufig handelt es sich um Ein-Mann-Spe- Vorschriften plagen. „Sicherheit in der sich selbst: „Das muss doch jeden Kon-
ditionen, die mit ihrem einzigen Liefer- Luftfracht lässt sich nur herstellen, wenn trolleur hellhörig machen.“
wagen die Ware zum Terminal fahren. wirklich alle mitmachen“, sagt Ehrenthal. Ein solch offensives Vorgehen prakti-
Bei der Übergabe der Ware reicht es, Doch selbst wenn jeder Container, jede ziert der deutsche Zoll bereits im Stillen –
wenn der Fahrer ein simples Papier vor- Kiste und jede Lieferung mit Hilfe der eher aus der Not heraus. Ein Beamter,
zeigt, auf dem er versichert, den Wagen besten verfügbaren Technik gescannt der im Paketzentrum des Köln/Bonner
stets verschlossen gehalten zu haben. Ver- würde – wäre eine gutgebaute Bombe Flughafens arbeitet, klagt über viel zu
plomben? So konkret steht es nicht in der überhaupt zu erkennen? Die Hersteller wenig Personal: Allein bei UPS würden
Verordnung. der Geräte zumindest platzten in der vo- Stunde für Stunde mehr als 100 000 Pake-
Allen Terrorwarnungen zum Trotz rigen Woche auf einer Fachmesse in te umgeschlagen.
wurden die Regeln sogar noch verwässert: Frankfurt fast vor Zuversicht. Modernen „Wir schauen uns die Frachtlisten an
Früher mussten beide, der Fahrer und das Ionendetektoren und Röntgen-Scannern, und streichen jene Pakete an, die uns ver-
Frachtunternehmen, ein gemeinsames aber auch guttrainierten Spürhunden ent- dächtig erscheinen“, berichtet der Staats-
Zertifikat mit Schrift und Siegel erstellen. gehe kein noch so raffinierter Sprengsatz. diener: „Alles andere würde den Waren-
„Jetzt kann der Fahrer sich den Wisch „Wir hätten eine Paketbombe wie jene strom lahmlegen.“
einfach aus dem Internet herunterladen“, aus dem Jemen erkennen können“, be- Doch auch dieser Ansatz scheitert an
berichtet der Frankfurter Experte. hauptet etwa Bernhard Semling. der rauen Wirklichkeit. Denn was nützt
Die real existierende Sicherheitslage Der Manager beim Scannerhersteller es den Beamten, die Liste mit den Pake-
im Frachtwesen kennen alle Beteiligten. Smiths Detection in Wiesbaden führt die ten, die sie gern kontrollieren würden, an
Der Öffentlichkeit gegenüber aber heißt Funktionsweise an einer vollautomati- die Frachtunternehmen zu schicken?
es, über Details dürfe man nicht reden. schen Durchleuchtungsanlage vor. Last- Wenn das Papier an der riesigen Paket-
Denn das spiele den Terroristen in die wagengroß ist sie, damit selbst Luftfracht- verteilanlage ankommt, zucken die Ar-
Hände. Wie viel Fracht wirklich durch- Container durchpassen. Die Ware er- beiter dort oft nur mit den Schultern.
leuchtet wird, wird deshalb wie ein Staats- scheint auf dem Bildschirm so, wie es „Ein Drittel der Lieferungen“, so be-
geheimnis behandelt. Passagiere vom Sicherheitscheck am Flug- richtet der Zöllner resigniert, „ist da
hafen kennen: in bunten Umrissen. „Die schon wieder in der Luft.“
* Am 4. September. eigentliche Überprüfung übernimmt aller- GERALD TRAUFETTER, ANDREAS ULRICH

164 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
In Zukunft mittendrin
Wie Forscher das digitale Stadtmodell verbessern wollen

PANORAMA
Der Nutzer kann ruckelfrei
EINBLICKE durch eine echte 3-D-
Umgebung navigieren.

SA B I N E LU B E N OW / LO O K - F OTO
Manche Gebäude, z. B.
Geschäfte oder Museen, BEWEGTE BILDER
können betreten werden. Überall in der 3-D-Szenerie
lassen sich passgenau
Live-Videos einblenden.

gitale Stadt der Zukunft bemüht. Mehrere Ortskoordinaten versehen sind, können
INTERNET
Forschungslabors entwickeln gerade Zu- sie automatisch in die Szenerie eingepasst

Aus dem satzfunktionen für die 3-D-Karten der


Suchmaschine Bing.
Das Projekt „Street Slide“ zum Bei-
werden. Wer etwa mit Street View den
Prager Marktplatz betrachtet, kann um-
schalten auf eine Fotoansicht; dann er-

Finkenweg ins All spiel beruht auf ähnlichen Aufnahmen,


wie sie auch Google verwendet. Aber sie
werden geschickt in Echtzeit zu einem
nahtlosen Panorama verschnitten – der
möglichen Hunderte von eingeblendeten
Schnappschüssen, verblüffend raumge-
treu arrangiert, eine nähere Erkundung –
der Datenschutz freilich dürfte beim
Googles Street View, vorige
Betrachter gleitet elegant an den Häuser- Großverbrauch von Privatfotos zur ech-
Woche in Deutschland fronten entlang. Und wo der Blick in Sei- ten Herausforderung werden, wenn das
gestartet, gilt schon jetzt als tenstraßen fällt, drehen diese sich per- Verpixeln von ein paar Häusern in Ober-
veraltet. Weit raffiniertere spektivgerecht mit. staufen schon nicht fehlerfrei gelingt.
Straßenpanoramen sind in Arbeit. Street Slide gaukelt echte Räumlichkeit Die digitale Stadt ist wie geschaffen für
schon recht gut vor. Bislang aber sind all lagerichtige Informationen aller Art. Heu-

M
anche Wunder der Technik se- diese Stadtmodelle in Wahrheit zweidi- te bietet sie kaum mehr als einen Ein-
hen schon am ersten Tag aus wie mensional: Wer eine Straße entlangspa- druck von der Umgebung einer Immobi-
von vorgestern. Googles Straßen- ziert, klickt sich durch eine Serie von Ku- lie oder eines Urlaubshotels; künftig
panorama Street View ist so ein Fall: gelpanoramen, die jeweils aus mehreren könnten Geschäfte ihr Angebot präsen-
Schaulustige zaubern sich damit mitten Fotos der Kamera-Autos zusammengestü- tieren, Restaurants ihre Speisekarte samt
in die Schluchten von Manhattan, die grü- ckelt worden sind. Tagesmenü und Museen einen Blick in
nen Hügel von Bwlchgwyn – oder auch, Für die echte Freiheit der Bewegung ihre laufende Ausstellung.
seit Dienstag vergangener Woche, ins ist ein Raummodell in drei Dimensionen Weitere Nutzanwendungen werden er-
bayerische Oberstaufen. Aber wer vor nötig; dafür müssen die Gebäude vermes- probt. „Für uns ist das wie ein großer
Ort noch ein wenig umherstreifen will, sen werden. Die Firma Navteq, inzwi- Lego-Baukasten“, sagt Microsoft-Ent-
findet daran schwerlich Vergnügen. schen im Besitz von Nokia, will noch in wickler Oliver Scheer. Anfang des Jahres
Die Fortbewegung gelingt nur mit diesem Jahr in Frankreich und Groß- präsentierte die Firma erstmals Live-Vi-
Mühe. Man schiebt sich mit der Maus von britannien Autos durch die Straßen deos in der 3-D-Kulisse von Bing: Ein
einem Haltepunkt zum nächsten, und mit schicken, die mit 64 kreiselnden Lasern paar Mitarbeiter winkten in einer Ein-
jedem Ruck verschmiert und beult sich ausgerüstet sind. Sie können rund 1,5 Mil- kaufspassage fröhlich in die Kamera. Die
ringsum das Panorama, bis das Bild end- lionen Messpunkte pro Sekunde regi- Übertragung fügte sich fast nahtlos in die
lich wieder stabil steht. strieren – und so Fassaden, Brücken und stehende Szenerie – wofür auch immer
„Das ist sicher nur ein Zwischensta- Durchfahrten zentimetergenau erfassen. solche Kunststücke einst gut sein mögen.
dium“, sagt der Berliner Medienprofessor Sogar Einkaufszentren oder Konzertsäle Auch eine Art Kosmos-Modul ist in Ar-
Joachim Sauter, der mit seiner Firma können dreidimensional kartografiert beit: Der Flaneur erhebt den Blick, und
Art+Com schon vor anderthalb Jahrzehn- werden. Nokia verheißt die Navigation zwischen den Dächern erscheint das be-
ten virtuelle Panoramen gebaut hat. in Innenräumen schon für die nähere Zu- stirnte Firmament, wie es gerade in die-
„Sehr bald werden wir dreidimensionale kunft. sem Himmelsausschnitt zu sehen wäre.
Stadtmodelle haben, durch die wir uns Die präzisen Klötzchenmodelle, die so Die Darstellung wird zugespielt von Mi-
frei und flüssig bewegen. Und natürlich entstehen, lassen sich fortan mit immer crosofts Himmelsatlas Worldwide Tele-
werden wir dann auch in viele Gebäude detailreicheren Fotos tapezieren. Das scope, der unzählige Aufnahmen von
reingehen können.“ können auch Aufnahmen von Privat- Weltraumteleskopen enthält. Wer will,
Diese Vision – und etliches mehr – ist leuten sein. Google sammelt bereits Bil- kann also aus dem Finkenweg 37 aufstei-
bereits in Arbeit. Neben Google selbst ist der in großen Massen bei Portalen wie gen und geradewegs den Uranus ansteu-
vor allem die Firma Microsoft um die di- Picasa und Panoramio ein. Sofern sie mit ern. MANFRED DWORSCHAK

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 165
Wissenschaft

RETTUNGSTECHNIK

Disneyland des Terrors


In „Disaster City“, einer texanischen Geisterstadt aus Ruinen, Wracks und Schutt,
trainieren Rettungshelfer aus aller Welt für den Einsatz bei
Großbränden, Erdbeben, Überschwemmungen und Terroranschlägen.

D
ie japanische Delegation blickt Kinderspielsachen, Fahrräder, Bürostüh- und kritzeln in Notizblöcke. Im Auftrag
gebannt zu den schwitzenden le, hier ein paar Schuhe, dort eine ver- der staatlichen „Fire and Disaster Ma-
Feuerwehrleuten, die an Seilen stümmelte Schaufensterpuppe. nagement Agency“ in Tokio sind sie fast
vor einem Gebäude schweben und Lö- Nur die sechs Japaner passen nicht um die halbe Welt gereist, um die Kata-
cher in die Wand sägen. Es ist Mittag in recht ins Bild: Sie tragen schwarze Bund- strophenforschungsanlage in der texani-
College Station, Texas, die Sonne sticht faltenhosen und blütenweiße Hemden schen Provinz zu besichtigen. Außer der
senkrecht vom Himmel, die Luft ist heiß,
feucht und still.
Über den Köpfen der Japaner kreist Inszenierte Katastrophen
ein US-Militärhubschrauber vom Typ
Black Hawk. In der Ferne, hinter ein- Löschübung
gestürzten Häusern, Schuttbergen und
den Überresten eines entgleisten Amtrak-
Zuges, steigen Rauchsäulen empor. Dort
brennen mit Stroh gefüllte Gebäude und
Flugzeugwracks.
„Phantastisch“, bemerkt einer der Ja-
paner und deutet auf einen Zementhau-
fen, „bis in alle Details ganz ausgezeich-
net gelungen.“ Ein perfektes Desaster:
Sogar einen Alligator gibt es, der dem
Vernehmen nach im Tümpel hinter dem
kollabierten Parkhaus mit den zer-
quetschten Autos haust.
Das Reptil ist der einzige Bewohner
von „Disaster City“, einer bizarren
Trümmerstadt, so groß wie 30 Fußball-
felder, in der Wracks und Ruinen in sorg-
fältiger Kleinarbeit so präpariert und dra- Rettungskurs in eingestürztem Gebäude
piert wurden, dass Militärs, Feuerwehr-
leute und Rettungshelfer aus aller Welt
jedes erdenkliche Katastrophenszenario
durchspielen können: Erdbeben, Torna-
dos, Überschwemmungen, Brände, Gas-
explosionen, Angriffe mit chemischen
oder biologischen Waffen und Terroran-
schläge.
Über 70 000 Retter kommen jedes Jahr
hierher – aus den USA, Kanada und La-
teinamerika, aber auch aus Asien, Austra-
lien, Großbritannien, Norwegen und Por-
tugal. Geschult werden sie von Instruk-
teuren, die bei echten Desastern wie 9/11,
dem Hurrikan „Katrina“ oder dem Erd-
beben in Haiti Rettungseinsätze geleitet
haben. Zugleich ist Disaster City ein Ex- Suchtraining mit Hunden
perimentierfeld für die Wissenschaft: Re-
gelmäßig testen die Ingenieure der be-
nachbarten Texas A&M University hier
die Instrumente, Sensoren und Roboter,
die sie entwickelt haben.
Es gehört zum Konzept der Geister-
FOTOS: BUD FORCE

stadt, dass sich der inszenierte Horror so


real wie möglich anfühlen soll – deshalb
liegen zwischen den Ruinen und Trüm-
mern aus Beton, Stahl und Holz verstreut
168
Universität, zu deren Verbund auch Di-
saster City gehört, gibt es in College Sta-
tion hauptsächlich Rinder, Pferde, Kir-
chen und Straßen, die nach George Bush
benannt sind.
„Wir haben in Japan bekanntlich ein
sehr hohes Erdbebenrisiko“, sagt Katsu-
hiro Miyakawa, der stellvertretende Di-
rektor der japanischen Katastrophen-
schutzbehörde. „Und hier können wir
von den Besten der Welt lernen, uns auf
den Ernstfall vorzubereiten.“
Der Klimawandel lässt die Zahl der Na-
turkatastrophen steigen. Hinzu kommt
die allgegenwärtige Gefahr von Terror-
anschlägen. Nach dem Wirbelsturm „Ka-
trina“, der im Sommer 2005 den Südosten
der Vereinigten Staaten verwüstete, gab
das Heimatschutzministerium eine Studie
in Auftrag, um zu klären, wie gut die
USA grundsätzlich auf katastrophale Er-
eignisse vorbereitet sind. Das Ergebnis
war niederschmetternd: Knapp drei Vier-
tel aller Bundesstaaten und 90 Prozent
der untersuchten Städte wurden als nicht
hinlänglich vorbereitet eingestuft.
Braucht die moderne Welt also einen
Ort wie Disaster City?
Dave Phillips, Teamleiter der Feuer-
wehr von Lincolnshire in Großbritannien,
hat gerade mit einer rund 50 Kilogramm
schweren, ohrenbetäubend knatternden,
Dreckwasser speienden Kettensäge einen
Betonblock zerteilt. Zufrieden wischt er
sich Schweiß und Schmutz aus dem Ge-
sicht und sagt: „Das Training hier ist so
lebensnah wie nur möglich, aber es ist
beruhigend zu wissen, dass die Decke
nicht über einem zusammenkrachen
kann.“
Der Engländer, eine imposante Er-
scheinung mit kahlrasiertem Schädel, ist
bereits zum zweiten Mal hier – diesmal
hat er den Kurs „Fortgeschrittener struk-
tureller Kollaps 5“ belegt. Er will üben,
wie man durch stahlverstärkte Betonwän-
de in einsturzgefährdete Gebäude dringt,
ohne von der Wucht einer berstenden
Stahlstange „in zwei Teile geschnitten zu
werden“, wie er es ausdrückt.
Der Unterricht besteht aus theoreti-
schen Lektionen im Morgengrauen, ge-
folgt von zehn bis zwölf Stunden
Schwerstarbeit bei sengender Hitze. Am
fünften Tag steht eine „realistische
Übung“ auf dem Programm: ein Kata-
strophenszenario, das Phillips und die an-
deren Kursteilnehmer aus Großbritan-
nien und Kanada ohne Anleitung bewäl-
tigen müssen.
Phillips stürzt erst einmal eine Flasche
Wasser hinunter. „Ohne das Training
hier“, sagt er dann, „hätten wir den Ein-
satz in Haiti nicht auf dieselbe Weise be-
wältigen können.“ Es sei hilfreich, kom-
plizierte Situationen schon einmal erlebt
zu haben – auch wenn sie simuliert seien.
So könne man im Ernstfall schneller rea-
gieren. „Obwohl man Haiti natürlich
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 169
Wissenschaft

nicht hiermit vergleichen kann“, fügt George Kemble Bennett, 70, leitet die geht, um explodierende Gebäude, mas-
Phillips rasch hinzu. Fakultät für Ingenieurwesen an der Texas sive Beton- und Stahltrümmer und um
Der Einsatz in Port-au-Prince sei sein A&M University, und er sitzt in praktisch Massen von Opfern – wie bereitet man
bislang schwierigster gewesen, erzählt der jedem Gremium, das sich mit Fragen die Leute auf so etwas vor?“, fragt er.
Feuerwehrmann. „Das Härteste war, sich der nationalen Sicherheit befasst. Ben- „Unseren Rettern wird immer mehr ab-
damit abzufinden, dass den meisten Op- nett ist Direktor des „National Emergen- verlangt, und vor Disaster City gab es
fern nicht mehr zu helfen war.“ Und dann cy Response and Rescue Training Cen- nirgendwo eine Möglichkeit, sie dafür zu
der Geruch der Toten: „Unseren Leuten ter“ und Gründer des Elite-Rettungs- trainieren.“
wurde regelmäßig schlecht davon.“ teams „Texas Task Force 1“. In seinem Als Ken Knight, der damalige Chef der
Einmal arbeiteten sich Phillips und sein wohnzimmergroßen Büro hängt ein Foto, Londoner Feuerbrigade, nach den Bom-
Team in einen eingestürzten Supermarkt auf dem er George W. Bush mit ausge- benanschlägen im Juli 2005 vor die Fern-
vor. Die Rettungshunde hatten kein Si- strecktem Arm den Weg weist, daneben sehkameras trat, erklärte er, das Training
gnal gegeben; Hoffnung, noch Überle- ein Dankesbrief des US-Präsidenten vom in Disaster City habe seinen Leuten ge-
bende zu finden, hatten die Feuerwehr- 21. März 2002: „Unsere Nation wird Ih- holfen, richtig zu reagieren. Nun beraten
leute deshalb nicht. Doch das Bild, das nen und Ihrem Team ewig dankbar sein Bennetts Ingenieure die englische Feuer-
sich ihnen in den Trümmern bot, übertraf für Ihren mutigen Einsatz am Ground wehr beim Bau einer ähnlichen Anlage
alle Befürchtungen: „Etwa 50 Menschen- Zero.“ am Stadtrand von London. Ein zweiter
leiber lagen tot übereinander“, berichtet Bennett lehnt sich in seinem blau-gol- Ableger der Katastrophenstadt entsteht
Phillips. „Sie alle hatten gekämpft, um denen Sessel zurück, faltet die Hände und derzeit im Wüstenemirat Katar. „Dort
sich zu befreien. Aber kein Einziger hat überlegt einen Moment. Dann sagt er: fürchtet man sich eher vor Unfällen in
es geschafft.“ „Schon möglich, dass Disaster City auf der Öl- und Gasindustrie als vor Terror-
Doch lässt sich solch ein Schrecken manche wie ein Disneyland wirkt. Die anschlägen“, so Bennett.
auch trainieren? Hier in Disaster City ha- Retter kommen hierher und kämpfen ge- Mit jeder großen Katastrophe ent-
ben die Kursteilnehmer sichtlich Spaß da- gen ein Feuer, dann gegen das nächste, wickelt sich Disaster City ein Stück wei-
ran, Betonpfeiler mit Kettensägen zu dann brechen sie durch eine Betonwand, ter. So entdeckte Bennett die Vorlage für
traktieren. Aber wird ihnen das wirklich ihr Adrenalinspiegel steigt, und das ist das kollabierte Parkhaus mit den zer-
helfen, wenn sie bei einer realen Kata- völlig in Ordnung. Solange sie dabei et- drückten Autos in Manhattan, einen hal-
strophe dem Horror, dem Chaos und dem was lernen, ist es nicht verboten, Spaß ben Block von Ground Zero entfernt.
Elend gegenüberstehen? Oder ist die Ka- zu haben.“ Nach dem Wirbelsturm „Katrina“ bas-
tastrophenstadt nur ein teures, sehr ame- Was Überschwemmungen, Hurrikane, telten die Katastrophen-Profis einen
rikanisches Disneyland des Terrors? Feuer und Ähnliches betreffe, seien Ret- Berg aus Holztrümmern – das Vorbild
Diese Frage stellt man am besten dem tungsteams heute meist gut gerüstet, sagt waren zerstörte Wohnhäuser in New
Mann, der Disaster City erfunden hat. Bennett. „Aber wenn es um Terrorismus Orleans. Verschüttete Opfer zu lokalisie-
Der Feuerwehrmann Phillips und seine
Kollegen tragen schwere Uniform, Helm,
Atemschutzmaske, Schutzbrille und Oh-
renstöpsel; sie sind schon durchgeschwitzt,
ehe die „realistische Übung“ überhaupt
beginnt. Jon Rigolo, der schnauzbärtige
Instrukteur, erklärt das Szenario: Ein
Opfer, in diesem Fall die Stoffpuppe Mrs.
McGillicuddy, muss aus dem zweiten
Stock eines eingestürzten Bürogebäudes
gerettet werden.
Die Männer müssen sich durch mehre-
re, zum Teil gekippte Wände aus Metall,
Beton und Holz bohren und die Löcher
stabilisieren, bevor sie die Puppe errei-
chen können, die eingeklemmt unter ei-

SMILEY N. / AP
nem Schreibtisch liegt. Es ist ein hölli-
scher Kraftakt, die Luft glüht wie im
Backofen – und als die Sägen und Bohr-
New Orleans nach Hurrikan „Katrina“ 2005: Lässt sich solch ein Schrecken trainieren? maschinen zu dröhnen beginnen und Be-
tonbrocken aus der ersten Wand brechen,
ren sei für Suchhunde in Holztrümmern künftig von einer Kommandozentrale aus wirkt es auf einmal nicht mehr wie ein
schwieriger als in Beton, erklärt Bennett, koordinieren, aufzeichnen und hinterher Spiel.
weil sich der menschliche Geruch im analysieren lassen. Rigolo klatscht in die Hände und brüllt:
Holz stärker ausbreite. In Disaster City Die Wissenschaftler nutzen auch jede „Zwei Minuten Pause, trinkt Wasser!“
werden Hunde nun mit Statisten trai- Gelegenheit, ihre Experimente ins echte Die Feuerwehrmänner ziehen keuchend
niert. Leben zu übertragen: Als im März ver- die Masken vom Gesicht. „Und können
Forscher der Texas A&M University gangenen Jahres das Kölner Stadtarchiv wir bitte mal den Ofen ausschalten?“,
testen derweil im Alligator-Teich neuarti- einstürzte, reisten Abgesandte der Texas fragt ein Engländer mit hochrotem Kopf.
ge Echo-Ortungssysteme, mit denen Was- Task Force 1 mit der Roboterforscherin Der Instrukteur schüttelt den Kopf und
serleichen leichter auffindbar sein sollen. Robin Murphy nach Köln, um mit zwei grinst. „Wir sind sowieso viel zu weich
Flächendeckend werden Highspeed-Ka- Spezialrobotern die Trümmer zu unter- hier“, sagt er. „Der Normalfall ist här-
meras installiert, damit die Übungen sich suchen. ter.“ SAMIHA SHAFY
Technik

Vorstand strengte ein Disziplinarverfah- Die Gefahr für Kinderwagen und Roll-
VERKEHR
ren gegen Happe an – und verlor. Die stühle lässt sich bannen. Die Bahnsteige

Schiefe Bahn Leiter der Untersuchung konnten keine


Verfehlung des Ingenieurs feststellen.
Der Vorstand war blamiert: Stuttgart
21 schien nicht genehmigungsfähig – es
sollen eine verstärkte Querneigung zur
Mitte hin bekommen und rollhemmende
Beläge. Das wird zwar den Besitzern von
Rollkoffern Verdruss bescheren, sorgt
Der Stuttgarter Tiefbahnhof soll in
sei denn, das Eisenbahn-Bundesamt aber für relative Sicherheit.
einem heiklen Gefälle liegen. (EBA) würde einer von der Bauordnung Das Problem jedoch, dass Züge unver-
Es überschreitet den Richtwert der abweichenden Planung zustimmen. mittelt losrollen können, ist bautechnisch
Bauordnung um das Fünffache. Und das geschah. nicht lösbar. Die Behörde schließt solche
Am 28. Januar 2005 erließ die Behörde Malaisen deshalb schlechterdings aus.

D
ie Idee, den Stuttgarter Fernbahn- den 389-seitigen Planfeststellungsbe- Schließlich handele es sich um einen
hof unter die Erde zu legen, war schluss. Darin heißt es: „Eisenbahnspezi- Durchgangsbahnhof, erklärt EBA-Spre-
kaum geboren, da stellte sich ein fische Bestimmungen stehen der bean- cher Moritz Huckebrink. Die Züge wür-
ernstes Problem: Es gibt dort bereits an- tragten Längsneigung von 15,143 Promille den „nur zum Aus- und Einsteigen der
dere Tunnel – und die liegen im Weg. im neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhof Reisenden halten“ und nicht länger ab-
Quer zur gewünschten Trassenführung nicht entgegen.“ Die Bahn habe „Vorkeh- gestellt. „Bei diesen Halten werden die
erstrecken sich die subterranen Korrido- rungen zur Gewährleistung der gleichen Zuggarnituren immer gebremst.“
re der örtlichen Stadtbahnen, die nicht Sicherheit … dargestellt“. Als Beispiel Für Bahn-Kritiker Happe offenbart sich
beliebig verlegt werden können. Den Tief- nennt das EBA etwa „Hinweisschilder in dieser Argumentation der zentrale
bahnhof durchgehend oberhalb oder un- oder sonstige optische Hinweise auf er- Denkfehler der Behörde: Die Bauord-
terhalb von diesen anzulegen, war nicht höhte Längsneigung“. nung, erklärt er, solle auch vor menschli-
möglich. Was soll auf solchen Schildern stehen? cher Unzulänglichkeit schützen. So bleibe
So entschieden sich die Planer für ei- „Vorsicht, dieser Bahnhof entspricht nicht auf einem nach EBO-Richtlinien gebau-
nen Gleiskörper, der teils über und teils der Bauordnung! Kinderwagen können ten Bahnhof der Zug auch dann stehen,
unter den anderen Strecken entlangführt von selbst losrollen und Züge sich ohne wenn der Lokführer versehentlich die
(siehe Grafik). Stuttgart 21 war auf der Vorwarnung in Bewegung setzen. Der Bremse löst. Und das könne schon bei
schiefen Bahn. Bahnhofsvorstand“? kleinen Fahrlässigkeiten passieren. Hap-
Sollte das Projekt alle pe, der selbst Züge gefah-
Proteste überstehen und ren hat, berichtet, dass eine
realisiert werden, wird Stutt- unvorsichtig auf den Füh-
gart den ersten Großstadt- rerstand geworfene Akten-
bahnhof der deutschen Ei- tasche genüge, um den
senbahngeschichte bekom- Bremshebel umzulegen.
men, dessen Bahnsteige ein Eine Ausnahme von der
Gefälle von über 15 Promil- EBO-Bestimmung, die kein
le aufweisen. Das eine Ende größeres Risiko bedeutet,
des Bahnsteigs liegt gut kann laut Happe „nur in ei-
sechs Meter höher als das ner automatischen Brems-
andere. einrichtung bestehen, die
Solch ein Abhang birgt den stehenden Zug bis
zahlreiche Risiken. Kinder- zur Abfahrt festbremst und
wagen oder Rollstühle kön- erst wieder freigibt, wenn
nen von selbst auf die Zugkraft aufgeschaltet ist“.
Gleise rollen; Züge, deren Sämtliche Züge, die künf-
Bremsen sich lösen, würden tig in Stuttgart halten dür-
sich eigenmächtig in Bewe- fen, müssten mit einer sol-
gung setzen. Ein sicherer chen Technik ausgestattet
Bahnbetrieb sieht anders werden.
DPA

aus. Das EBA verlangt solche


Laut Eisenbahn-Bau- und Geplanter Durchgangsbahnhof in Stuttgart: Unvermittelt losrollende Züge? Maßnahmen nicht. „Beson-
Betriebsordnung (EBO) sol- dere Vorkehrungen“, sagt
len deshalb Bahnhöfe kein Behördensprecher Hucke-
merkliches Gefälle haben. Stuttgarter Stuttgart 21 brink, „sind nicht erforder-
Der Richtwert ist auf 2,5 Hauptbahnhof Schemazeichnung im Querschnitt; lich.“ Die Zusage des Am-
Heilbronner Steigungen überhöht
Promille festgesetzt. Stutt- Straße tes, an den schiefen Glei-
gart 21 überschreitet ihn um sen werde die „gleiche
das Fünffache. Planetarium Willy- Sicherheit“ gewährleistet
Entsprechend früh kriti- Brandt-Straße sein wie auf einem der Bau-
sierten Fachleute das Bau- Steigung: ordnung entsprechenden
vorhaben. Bahn-Manager 15,1 Promille
15,1 Bahnhof, ist so jedoch nicht
Eberhard Happe, damals haltbar.
Leiter Zugförderung in Ham- „Der Entscheidung des Ei-
Regelneigung
burg, schrieb 1992 in einem senbahn-Bundesamtes“, ur-
in Bahnhöfen:
Fachaufsatz: „Die Bahnsteig- teilt Happe, „und den zu ih-
gleisneigung … muss als kri-
Innerhalb der Bahnsteighalle
(Länge: 430 m) ergibt sich ein Höhen-
2,5 rer Rechtfertigung gemach-
Promille
minell angesehen werden.“ unterschied von gut 6 Metern ten Ausführungen mangelt
Das Urteil verfehlte seine es an jeglicher stringenten
Wirkung nicht. Der Bahn- Logik.“ CHRISTIAN WÜST

172 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Trends Medien
T V- S E R I E
D ie mit Kritikerlob überhäufte und

Im Angesicht der Quote


mit dem Deutschen Fernsehpreis
dekorierte ARD-Serie „Im Angesicht
des Verbrechens“ entwickelt sich zum
Flop. Gerade mal um die zwei Millio-
nen Zuschauer schalteten jeweils die
ersten vier Folgen ein – was einem
Marktanteil von nicht einmal neun
Prozent entspricht. Besonders bitter:
Die Wiederholungen alter „Tatort“-
Folgen erreichen auf diesem Sende-
platz am Freitagabend sonst knapp 3,5
Millionen Zuschauer. „Die ARD hatte
andere, etwa doppelt so hohe Erwar-
tungen“, sagt Dominik Graf, der Re-
gisseur der Serie. „Aber die Einschalt-
quoten allein sagen wenig aus. Man
muss auch die Klicks im Internet da-
zuzählen, die DVD-Verkäufe, viel-
leicht auch den Image-Gewinn für den
Sender.“ Graf gibt sich kämpferisch:
„Ich hätte gerade jetzt Lust, eine Fort-
setzung zu drehen. Einige Journalisten
haben ja netterweise geschrieben, die
Serie sei einmalig. Ich hoffe nicht, dass

JULIA VON VIETINGHOFF / ARD


sie recht behalten.“ Ein ARD-Sprecher
bestätigte, dass man sich „für diese
hervorragende Krimi-Serie mehr Zu-
schauer gewünscht“ hätte. Über eine
mögliche Fortsetzung werde aber erst
entschieden, wenn alle Teile im Ersten
Szene aus dem ARD-Krimi „Im Angesicht des Verbrechens“ gezeigt wurden.

PRESSERECHT erstattung gelitten hat und Ihnen dar- KARRI EREN


aus Unannehmlichkeiten entstanden
NDR entschuldigt sich sind. Gleichzeitig danken wir Ihnen
für die Bereitschaft zu einer außer-
Schäuble-Tochter
U m eine Schadensersatzklage zu
verhindern, hat sich der NDR auf
gerichtlichen Einigung.“ Der NDR
verpflichtete sich zudem, diese Briefe
soll aufsteigen
einen ungewöhnlich weitreichenden
Vergleich mit dem Militärdienstleister
Ecolog eingelassen. Das Unternehmen
nicht von sich aus zu veröffentlichen.
Auch wurde festgelegt, in welcher Wei-
se sich der NDR im Falle von Presse-
I m Südwestrundfunk (SWR) sorgt
eine Personalie für Querelen. Dort
gilt Christine Strobl als aussichtsreichs-
arbeitet unter anderem für die deut- anfragen zu dem Fall äußern dürfe. te Kandidatin für die Nachfolge des
schen Truppen in Afghanistan. Dem Zwischenzeitlich hatte Ecolog auch scheidenden Fernsehfilmchefs Carl Ber-
Sender wurde bereits gerichtlich unter- erwogen, eine Klage vor einem US- gengruen. Pikant ist die Überlegung
sagt, weiter zu behaupten, Ecolog Gericht vorzubereiten, und den Anwalt deshalb, weil die derzeitige Leiterin
habe Drogen aus Afghanistan ge- und früheren Bundestagsabgeordneten des SWR-Familienprogramms Tochter
schmuggelt. Nun kam der NDR der Friedrich Merz damit beauftragt. von Bundesfinanzminister Wolfgang
Firma weiter entgegen. Schäuble (CDU), Ehefrau des General-
In dem Vergleich ver- sekretärs der baden-württembergi-
pflichteten sich die Re- schen CDU Thomas Strobl und selbst
daktionsverantwortli- CDU-Mitglied ist. Im Sender kursiert
chen von tagesschau.de dazu ein anonymer Brief vorgeblicher
und NDR Info, Entschul- SWR-Mitarbeiter an den rheinland-
digungsbriefe an den pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt
Vorstand des Unterneh- Beck (SPD), die darin „CDU-Filz“
mens und dessen Grün- sehen. An der Senderspitze heißt es,
der Nazif Destani zu die familiäre Biografie dürfe weder die
TIM GREVENITZ / NDR

schreiben. „Wir bedau- Karriere von jemandem befördern


ern es, wenn Ihr Ruf als noch sie verhindern. Ein Sprecher sag-
Unternehmer und der te, es sei noch nichts entschieden. End-
Ihrer Familie durch un- gültig beschlossen wird die Personalie
sere Verdachts-Bericht- Studio von NDR Info in Hamburg am 19. November im Verwaltungsrat.
D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 175
MOUSSE / ABACA
Präsident Sarkozy, Ehefrau Bruni: „Ihr schützt mich überhaupt nicht“

PRESSEFREIHEIT

Alles unter Kontrolle


Frankreichs Präsident soll den Inlandsgeheimdienst auf
Journalisten angesetzt haben, die
ihm lästig sind. Die Opposition fordert Aufklärung.

E
r ist jetzt seit mehr als 30 Jahren „Unsere Demokratie ist ernsthaft in Ge- L’Oréal-Witwe Liliane Bettencourt wegen
Journalist. Er war Chefredakteur fahr“, sagt Plenel, der vor drei Jahren vermutlich illegaler Parteispenden und
von „Le Monde“, er deckte wäh- den unabhängigen Internetdienst Media- Steuererleichterungen aufdeckten, wer-
rend der Präsidentschaft von François part gründete: „Unsere Republik, ihre Ge- den seit Monaten in einer vom Elysée ge-
Mitterrand zahlreiche Affären auf, wurde setze und ihre Prinzipien zerfallen vor steuerten Operation abgehört, sagt Plenel.
vom Elysée abgehört und hat das alles unseren Augen zu einem großen Asche- Bei zweien von ihnen untersuchte der
immer ausgehalten. Der ehemalige Trotz- haufen.“ Die Freiheit der Franzosen wer- französische Inlandsgeheimdienst sogar
kist Edwy Plenel fand es noch nie einfach, de bedroht und zuallererst die der Presse. die Handy-Rechnungen, um ein genaues
in Frankreich Journalist zu sein. Im Mo- Die Journalisten, die für Mediapart im Diagramm ihrer Kontakte zu erstellen.
ment aber findet er es unerträglich. Juni exklusiv die Affäre um die reiche Von beiden sollen auch Bewegungspro-
176 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Medien

file angefertigt worden sein – über ihre „Wir sind überzeugt, dass der Präsident fonkontakte zweier „Monde“-Redakteure
Mobiltelefone, per GPS. sich persönlich um alles kümmert“, ent- zu einer mit dem Bettencourt-Fall befass-
In den Redaktionsräumen von Media- gegnet Chefredakteur Angeli, „nichts ten Richterin ausforschen ließ, im Inter-
part, in einer kleinen Seitenstraße des 12. entgeht Sarkozy.“ Alles unter höchster esse des Staates natürlich. Da fällt es
Pariser Arrondissements, gleich hinter der Kontrolle also? Eine solche Einmischung schwer, den zahlreichen Dementis Glau-
Bastille, ist zudem eingebrochen worden. des politisch mächtigsten Mannes hat es ben zu schenken.
Zufall oder eine gezielte, von Elysée- selbst in Frankreich noch nie gegeben. Sarkozys Gegner verweisen auf Fakten
Stabschef Claude Guéant angeordnete Zwar erinnern Sarkozys konservative und merkwürdige Einbrüche: So wur-
Operation, wie Plenel glaubt? Parteifreunde gern daran, dass der So- de erst vor kurzem der Computer des
„Ihr schützt mich überhaupt nicht“, so zialist François Mitterrand im Elysée einst „Monde“-Redakteurs Davet aus dessen
soll sich Nicolas Sarkozy im vergangenen eine eigene Abteilung unterhielt, die auch Wohnung gestohlen. Auch beim Wochen-
Sommer gegenüber dem Direktor der Telefonate von Journalisten abhörte. Erst magazin „Le Point“ verschwand ein Rech-
landesweiten Polizei, einem Sandkasten- Jahre später flog das „cabinet noir“ auf, ner – ausgerechnet der jenes Kollegen,
freund, und dem Chef des Inlandsge- deren Mitglieder kamen vor Gericht. der mit dem Fall Bettencourt befasst war.
heimdienstes (DCRI) beklagt haben. Da- Doch Sarkozy geht offenbar noch weiter Zuvor waren bereits bei Mediapart neben
mals bereiteten ihm Mediapart und die und instrumentalisiert im Verborgenen Laptops auch eine externe Festplatte und
Tageszeitung „Le Monde“ mit täglich Institutionen wie Polizei und Geheim- CDs verschwunden, mit Aufzeichnungen
neuen Enthüllungen zur Bettencourt-Af- dienst – immer mit dem Argument, der von Gesprächen der L’Oréal-Erbin.
färe schwere Zeiten. Das war Mitte Juli. Staat sei in Gefahr. Lauter einfache Diebe also, die an Be-
Inzwischen, so wird jetzt offenbar, haben Ab und an werden die präsidentiellen lastungsmaterial und nie an Wertsachen
sich Polizeidirektor Frédéric Péchenard Interventionen öffentlich, so wie vor we- interessiert sind, wie die Regierung be-
und DCRI-Chef Bernard Squarcini die nigen Wochen, als der „Monde“-Journa- hauptet? Der Pariser Rechtsanwalt Oli-
Klagen ihres Freundes wohl zu Herzen list Gérard Davet ins Visier der Ermittler vier Metzner, der die Bettencourt-Tochter
genommen. geriet. Davet hatte zuvor in einem Artikel vertritt, glaubt nicht daran. Aber könne
Schon im Frühjahr wurde der Inlands- zur Bettencourt-Affäre Arbeitsminister die französische Demokratie es sich leis-
geheimdienst auf Bitten des Präsidenten Éric Woerth schwer belastet, mit erstaun- ten, fragt Metzner, „Agenten loszuschi-
in einer Privatangelegenheit Sarkozys ak- lich vielen Details. Telefonrechnungen cken, um die Computer von Journalisten
tiv: Die Geheimdienstler sollten re- zu klauen, die mit der Affäre be-
cherchieren, wer die Gerüchte über fasst sind?“
das Haus Bruni-Sarkozy gestreut An Sarkozys Vetternwirtschaft,
XAVIER MOUTHON/GLOBEPIX (L.); NICOLAS TAVERNIER / REA / LAIF (R.)

hatte, wonach die beiden fremd- an die ,Berlusconisierung‘ der fran-


gingen. Begründet wurde dieser Ein- zösischen Medien haben sich die
satz vom zuständigen Innenminister Franzosen in den vergangenen
mit dem Verdacht auf ein Komplott drei Jahren wohl oder übel schon
aus dem Ausland, das zum Ziel gewöhnt: Der Patenonkel seines
haben könnte, den französischen jüngsten Sohns, der Großindustrielle
Staatschef vor dem G-20-Gipfel in Martin Bouygues, kontrolliert den
Verruf zu bringen. Madame Bruni größten privaten TV-Sender TF1.
soll die Polizei- und Geheimdienst- Sarkozys ehemaliger Bürochef im
berichte damals zur persönlichen Innenministerium sitzt in der Ge-
Lektüre erhalten haben. schäftsführung.
Inzwischen soll Geheimdienstchef Darüber hinaus hat es der Präsi-
Squarcini, ein korsischer Terroristen- dent verstanden, den gesamten öf-
jäger, den Sarkozy in seiner Zeit als fentlichen Rundfunk unter seine
Innenminister schätzen lernte, eine Chefredakteur Angeli, L’Oréal-Witwe Bettencourt Kontrolle zu bringen: Er ernennt die
eigene Truppe zur Beobachtung von „Nichts entgeht Sarkozy“ Intendanten von Radio und Fern-
Journalisten aufgestellt haben. sehen und bevorzugt dabei stets
Der Präsident persönlich gebe die des Redakteurs wurden geprüft. Auf- Freunde und Vertraute. Die zeigen sich
Anweisung, wer von ihnen ausgeforscht grund des Vergleichs seiner Anruflisten willfährig, wie zuletzt bei France Inter –
werden solle. Das zumindest behauptet mit denen des mutmaßlichen Informan- als zwei Humoristen gehen mussten, die
seit dem vergangenen Mittwoch Claude ten wurde ein Mitarbeiter des Justizmi- die Regierung karikiert hatten. So ist
Angeli, Chefredakteur der satirischen nisteriums enttarnt und umgehend nach kaum verwunderlich, dass nur noch weni-
Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“, Französisch-Guayana strafversetzt. ge Medien Kritik an der Regierung wagen.
eines der wenigen politisch und finan- „Le Monde“ klagte gegen unbekannt, In der französischen Medienlandschaft hat
ziell unabhängigen Blätter Frankreichs. wegen Verletzung des Informantenschut- inzwischen eine Verschiebung stattgefun-
Angeli beruft sich bei seinen Anschul- zes. Denn den für die journalistische Ar- den: Internetpublikationen wie Mediapart
digungen auf „sehr zuverlässige Infor- beit unverzichtbaren Quellenschutz hatte oder Rue89, eine Seite, die ein Ex-Redak-
manten“ im Zentrum des Inlandsgeheim- das von Präsident Sarkozy im Januar ver- teur der Tageszeitung „Libération“ be-
dienstes. kündete neue Mediengesetz eigentlich so- treibt, übernehmen nun die Enthüllungen.
Eine Kaskade von Dementis ging dar- gar noch verstärkt. Allerdings mit einer Sozialisten und Grüne forderten nach
aufhin bei den Pariser Agenturen ein: Ausnahme: Wenn Staatsinteressen gefähr- den jüngsten Vorwürfen eine Aufklärung
„Total zusammengesponnen“ sei das al- det sind, dürfen Quellen enthüllt werden. der Vorgänge. Geheimdienstchef Squar-
les, hieß es aus dem Elysée-Palast. „Der Das sei der Fall gewesen, verteidigte sich cini und sein Vorgesetzter, Polizeichef
Geheimdienst ist nicht die Stasi oder das im September der zuständige Polizeichef, Péchenard, wurden daraufhin am Don-
KGB“, so der Innenminister. „Ich erhalte der die Verantwortung für die Geheim- nerstag hinter verschlossenen Türen von
meine Befehle nicht von Sarko, sondern dienstoperation übernahm. einer parlamentarischen Kommission an-
von meinem Vorgesetzten, dem Polizei- Vergangene Woche musste die Regie- gehört. Einzelheiten der Anhörung wur-
chef“, dementierte der Geheimdienst- rung zudem zugeben, dass auch ein von den nicht bekannt. Schon allein aus na-
chef. Sarkozy dekorierter Staatsanwalt Tele- tionalem Interesse nicht. HELENE ZUBER

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 177
Medien

Neues RTL-Sendezentrum in Köln


„Früher gab es ein Family-Feeling“

Grenze des Akzeptablen“, kommentierte


der Betriebsrat in einem Rundschreiben.
Bei einer Betriebsversammlung am ver-
gangenen Dienstag sprach der Betriebs-
ratsvorsitzende gar von einem „Berufs-
zweig im Niedergang“. Während ein
Journalist mit abgeschlossenem Hoch-
schulstudium, Volontariat und mehrjäh-
riger Berufserfahrung im Newspool mit
einem Tagessatz von 130 Euro abgespeist
werde, verdienten etwa Cutter bei RTL
mehr als das Doppelte.
Auch sonst liegt offenbar einiges im
Argen bei infoNetwork. Zwar schätzten
in der Umfrage gute 71 Prozent die Aus-
sichten des Unternehmens optimistisch
ein. Den eigenen Arbeitsplatz halten je-
wird er von vielen nur „das Bergwerk“ doch nur knapp 38 Prozent für sicher. Tat-
T V- S E N D E R
genannt. Redakteure, die dort arbeiten, sächlich hat nur jeder Zweite bei infoNet-

Im Fernseh- klagen über schlechte Bezahlung, hohen


Arbeitsdruck und mangelnde Wertschät-
zung ihrer journalistischen Arbeit.
work einen festen unbefristeten Vertrag.
Rechnet man die Studenten mit ein, sind
es sogar nur etwas über 40 Prozent.

Bergwerk Bei der aktuellen Mitarbeiterbefragung


des Bertelsmann-Konzerns, zu dem RTL
gehört, gaben die Journalisten des News-
pools ihren Unmut deutlich zu Protokoll.
Die Jungen würden mit befristeten Ver-
trägen und dürftigen Tagessätzen abge-
speist, die Alten – mit den besseren Ver-
trägen aus besseren Tagen – hätten Angst,
Die Journalisten bei RTL sind
Nur 4 Prozent zeigten sich mit der Ver- aus dem Unternehmen gedrängt zu wer-
unzufrieden. Die Jungen fühlen gütung zufrieden. Zum Vergleich: Bei den, heißt es bei Redakteuren. Entspre-
sich schlecht bezahlt, die Alten RTL-Deutschland insgesamt sind es im- chende Geschichten machen schnell die
fürchten, rausgedrängt zu werden. merhin 54 Prozent. Runde. Ein Europa-Korrespondent sei ge-
Eine Umfrage belegt den Unmut. Michael Wulf, infoNetwork-Geschäfts- drängt worden, seinen unbefristeten Ver-
führer, sagt, es gebe „noch kein einheit- trag gegen einen neuen mit schlechteren

E
s lässt sich ziemlich genau datieren, liches Gehaltsgefüge“, da die Kollegen Konditionen einzutauschen. Ein Nahost-
wann das Selbstbewusstsein der aus unterschiedlichen Firmen kämen, Kollege habe für seine Rückkehr in die
RTL-Redakteure auf dem Höhe- aber man sei dabei, das „anzugleichen“. Heimatredaktion so schlechte Konditio-
punkt war. Es war, als ihr Anchor Peter Ansonsten meint RTL-Chefredakteur Pe- nen angeboten bekommen, dass er dem
Kloeppel den Grimme-Preis bekam, weil ter Kloeppel, dass der Sender in einer Sender entnervt den Rücken kehrte.
er am 11. September 2001 besser und sou- Art spare, dass die journalistische Quali- Laut Wulf hat man sich zwar von Mit-
veräner moderierte als seine Kollegen tät darunter „offensichtlich nicht leidet“. arbeitern getrennt, „allerdings nicht aus
von ARD und ZDF. Damals, so finden Manche Redakteure sehen das anders. Altersgründen“. In dem einen Fall gehe
RTL-Journalisten, waren sie endlich auf Die Zeit zur Recherche fehle, sagen sie. es um einen freien Mitarbeiter, der nicht
Augenhöhe angelangt mit der bis dahin Immer häufiger seien sie bloß noch in der mehr pauschal, sondern leistungsbezogen
so übermächtig erscheinenden öffentlich- Lage, Agenturmaterial fernsehtauglich zu bezahlt werde. In dem anderen Fall habe
rechtlichen Informationselite. machen. Der Umgang sei rüder gewor- man um die Weiterzahlung der Auslands-
Doch von diesem Selbstbewusstsein ist den. In der Mitarbeiterumfrage mochte zulage im Inland gestritten.
nicht mehr viel geblieben. Heute, lästert jeder Vierte nicht der Aussage zustimmen, RTL-Chefin Anke Schäferkordt sagt,
ein RTL-Mann, sei man froh, wenn man dass er von seinem Vorgesetzten mit Re- man habe auch bei infoNetwork „Struktu-
zu so einem dramatischen Ereignis über- spekt behandelt werde. „Bertelsmann er- ren verändern müssen“. Dabei gebe es „ne-
haupt rechtzeitig live auf dem Sender wartet hier einen positiven Wert von 90 ben verständlichen Unsicherheiten“ auch
wäre. Es hakt manchmal. Als etwa neulich Prozent. 80 Prozent gelten als untere immer „Einzelne, die sich mit notwendigen
die jenseitige Spiritisten-Show „Das Me- Veränderungen eher schwertun“. Ein „an-
dium“ startete, lief 40 Minuten die falsche 257 geblich weitverbreiteter Unmut ist mir in
Folge, bis in Europas größtem Fernsehkon- meinen Gesprächen mit unseren Redaktio-
zern endlich einer den Fehler behob. 218 nen nicht entgegengebracht worden“. Mi-
Der Unmut ist groß unter den Journa- chael Klehm, der für den Deutschen Jour-
listen von RTL und n-tv. Seit die bis dahin nalisten-Verband die RTL-Journalisten be-
getrennt agierenden Redaktionen zu ei- 160 169 158 treut, sagt dagegen: „Früher gab es bei
ner RTL-Tochterfirma mit dem kalten Na- RTL ein Family-Feeling. Heute herrscht
men infoNetwork fusionierten, so klagen ein Klima der Einschüchterung und Angst.“
die Journalisten, gehe es nur noch darum, 114 Ergebnis Schäferkordt verweist auf die Erfolge
möglichst billig möglichst viel Programm- von RTL Deutschland; ihres Kurses. Die Quoten des Senders
minuten zu produzieren. jeweils erstes Halbjahr und der Nachrichtenformate sind stabil.
Besonders kritisch sehen die Fernseh- in Mio.€* * vor Zinsen, Steuern Selbst im Krisenjahr 2009 erwirtschaftete
redakteure den sogenannten Newspool. und Abschreibungen die RTL-Familie einen ordentlichen Ge-
Er ist die Zentraleinheit, die alle Sender winn. 2010 könnte gar ein Rekordjahr
mit Nachrichtenfilmen versorgt. Intern 2005 2006 2007 2008 2009 2010 werden. MARKUS BRAUCK

178 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Impressum Service
Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Leserbriefe
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ST E L LV. C H E F R E DA KT E U R Dr. Martin Doerry Pauly, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel. (069) 9712680, licher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für
Fax 97126820 die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mail-
D E U T S C H E P O L I T I K · H AU P T STA DT B Ü RO Leitung: Dirk Kurbjuweit, K A R L S R U H E Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. boxen sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
Michael Sauga (stellv.), Christoph Schwennicke (stellv.). Redaktion (0721) 22737, Fax 9204449
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Jeden Tag. 24 Stunden.
DIENSTAG, 9. 11., 23.20 – 0.15 UHR | VOX
SPIEGEL TV EXTRA
Intimzonen – Frauen sprechen
über Sex
Wie fühlt sich ein Orgasmus an? Wo
beginnt Untreue? Was hilft gegen
Routine im Ehebett? SPIEGEL-TV-
Autorin Nicola Burfeindt hat 26 Frau-
en zu ihrer Sexualität befragt. Ent-
standen sind intime, amüsante und
berührende Erlebnisberichte von
Frauen mit Lebenserfahrung, Tief-
gang und Humor.

SAMSTAG, 13. 11., 20.15 – 0.05 UHR | VOX


DIE GROSSE SAMSTAGSDOKUMENTATION
Als Feuer vom Himmel fiel –
JO YONG-HAK / REUTERS

Der Bombenkrieg gegen Nazi-


Deutschland
Am 14. November 1940, vor 70 Jah-
ren, flogen deutsche Bomber im
Zweiten Weltkrieg einen verheeren-
G-20-Tagungsgebäude in Seoul: Die Mächtigen treffen sich zum großen Feilschen den Angriff auf die englische Indu-
striestadt Coventry. Mit Bombarde-
POLITIK | Geschacher ums Geld ments wie diesen wollte Hitler Groß-
Geschützt von Zehntausenden Soldaten, versuchen Merkel und Co. beim G-20- britannien, das letzte demokratische
Gipfel in Südkorea einen globalen Währungskrieg zu verhindern. SPIEGEL Bollwerk gegen die Nazis in Europa,
ONLINE berichtet aus Seoul über das Gefeilsche um Wechselkurse und Handels- zur Aufgabe zwingen. SPIEGEL-TV-
bilanzen.

WISSENSCHAFT | Schwäche durch Schminke


Während der Edo-Zeit ab 1600 stieg Japan zur Supermacht Asiens auf, doch

MICHAEL FOEDROWITZ
dann gingen den Samurais die Erben aus: Ihre Kinder waren schwächlich und
debil. Forscher vermuten, dass das Make-up der Frauen schuld war.

PANORAMA | Mysteriöser Kindstod


Die Zwillingstöchter der ehemaligen DDR-Bürgerin Ute L. sollen 1981 kurz nach Brennendes Köln im Zweiten Weltkrieg
der Geburt gestorben sein. Die Leichen hat sie nie gesehen, es gibt kein Grab,
keine Totenscheine. Was passierte mit den Säuglingen? Eine Spurensuche. Autor Michael Kloft zeichnet in sei-
ner vierstündigen Dokumentation
AUTO | Visionär unter Strom nach, wie der Bombenkrieg mit den
Elon Musk avanciert zum Schrecken der Autobranche: Mit seinem Elektro- Angriffen der Deutschen auf War-
mobil Tesla mischt er die Branche auf. Auf SPIEGEL ONLINE erzählt der schil- schau, Rotterdam oder Coventry be-
lernde Unternehmer, warum er jetzt auch noch eine Mars-Rakete bauen will. gann und schließlich auf Deutschland
zurückschlug. Zeitzeugen berichten
KULTUR | Soul-Seelsorger über ihre schrecklichen Erlebnisse in
Mit seinem Hit „I Need a Dollar“ traf der Newcomer Aloe Blacc die Bunkern und Luftschutzkellern.
krisengeplagten Amerikaner ins Mark. Porträt eines Sängers, der von den
Fans und Kritikern schon als neuer Marvin Gaye gefeiert wird. SONNTAG, 14. 11., 23.15 – 24.00 UHR | RTL
SPIEGEL TV MAGAZIN
Urteile im Akkord – Überlastete Sozial-
| Rostige Giganten gerichte; Hitler und die Deutschen – Ein
Museumsbesuch; Der Trick mit Hartz IV –
Es sind gespenstische Relikte Osteuropäer erschleichen Stütze.
aus dem Zweiten Weltkrieg:
Mitten in der Nordsee errichtete
HOWARD KINGSNORTH / CORBIS

das britische Militär Seefestun-


gen zur Abwehr deutscher Luft-
PAUL ZINKEN / ACTION PRESS

angriffe. einestages.de erzählt


die Geschichte der riesigen Boll-
werke – und zeigt die beein-
druckendsten Bilder.

www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist Ausstellung „Hitler und die Deutschen“

D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0 181
Register
GESTORBEN seln zu verhandeln. Trotz seiner hohen
politischen Ämter behielt er einen kriti-
Harry Mulisch, 83. Große Worte hatten es schen Blick auf das eigene Wirken. „Egal,
ihm angetan, und so behauptete der Autor welche Partei oder gesellschaftliche Orga-
einmal: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.“ nisation wir gründen, es kommt immer so
Tatsächlich beschäftigte sich der im nieder- etwas wie die KPdSU heraus“, sagte er ein-
mal. Wiktor Tschernomyrdin starb am
3. November in Moskau.

DOOMERNIK / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF


Heinrich Riebesehl, 72. „Ja, das ist meine
Wiese. Na und?“, soll ein Bauer gesagt
haben, als er das Bild sah, das der Fotograf
gemacht hatte. Riebesehl dürfte den Kom-
mentar als Kompliment empfunden ha-
ben: Seine Serie „Agrarlandschaften“ (1976
bis 1979), vor allem im Raum Hannover
entstanden, gehört bis heute zu den Meis-
ländischen Haarlem geborene Sohn einer terwerken dokumentarischer Fotokunst –
Jüdin und eines aus Österreich stammen- „lakonische Fotografien einer lakonischen
den Bankangestellten in zahlreichen seiner Gegend“, wie ein Kritiker schrieb. Riebe-
Romane, Theaterstücke und Essays mit den sehl hatte an der Essener Folkwangschule
menschlichen und moralischen Verheerun- beim gefürchteten Fotografieprofessor
gen der Kriegszeit. Als Mulisch neun Jahre Otto Steinert studiert,
alt war, ließen sich seine Eltern scheiden, dessen nüchternen
während des Kriegs kollaborierte sein Vater Stil er perfektionierte.
mit den deutschen Nazi-Besatzern, wo- 1964 gelang Riebesehl
durch er zwar seine Ex-Frau und den Sohn eines der bekanntes-
schützte, wofür er aber später für drei Jahre ten Porträts von Jo-

MICHAEL THOMAS / DPA


in ein Internierungslager gesperrt wurde. seph Beuys: Es zeigt
Mulisch verließ als 17-Jähriger ohne Ab- den Künstler mit blu-
schluss die Schule, ein christliches Lyzeum, tiger Nase, ein Kruzi-
und arbeitete fortan als Schriftsteller und fix in der Hand. Spä-
Journalist. 1961 berichtete er aus Israel vom ter verschwanden die
Eichmann-Prozess. Unter seinen in unge- Menschen aus Riebe-
mein schneller Folge geschriebenen, klugen, sehls Bildern, was ihre eindringliche Wir-
mitunter zur sprachlichen Prätention nei- kung nur noch steigerte. Heinrich Riebe-
genden Büchern waren die Romane „Das sehl starb am 31. Oktober in Hannover.
Attentat“ (1982) und „Die Entdeckung des
Himmels“ (1992) die erfolgreichsten, die Theodore Sorensen, 82. Er sei seine „in-
Verfilmung des Ersteren erhielt 1987 den tellektuelle Blutbank“, lobte US-Präsident
Oscar als bester ausländischer Film. Harry John F. Kennedy seinen politischen Berater,
Mulisch, der sich neben seiner literarischen Redenschreiber und engen Vertrauten. Von
Arbeit in politischen Debatten engagierte, Sorensen stammen berühmte Kennedy-Zi-
starb am 30. Oktober in Amsterdam. tate wie „Fragt nicht, was euer Land für
euch tun kann, sondern fragt, was ihr für
Wiktor Tschernomyrdin, 72. Die Stationen euer Land tun könnt“. Solche Sätze waren
seiner Laufbahn glichen denen eines küh- es, die sogar Richard Nixon anerkennen
len Karrieristen: Direktor eines Gaskombi- ließen, dass der Stratege des Rivalen die
nats, sowjetischer Gasminister, Chef des seltene Gabe hatte, Worte zu finden, die
staatlichen Energiekonzerns Gazprom. Tat- die amerikanische Psyche durchdrangen.
sächlich aber hatte der in einer Kosaken- In Nebraska aufgewachsen und früh politi-
familie im Südural unweit von Orenburg siert, studierte Sorensen Jura und heuerte
geborene Sohn eines Chauffeurs ein großes bald darauf bei dem gerade gewählten Se-
Herz. Dies half ihm im tief gespaltenen nator John F. Kennedy an. Der geniale
Russland größeres Blutvergießen zu ver- Sprachkünstler wurde auch als wahrer Au-
hindern, wie der Menschenrechtler Lew tor des Buchs „Zivilcourage“ gehandelt,
Ponomarjow anmerk- für das Kennedy 1957 den Pulitzer-Preis er-
te. Von 1992 bis 1998 hielt. Während der Kuba-Krise verhinderte
diente Tschernomyr- Sorensen womöglich einen Atomkrieg: Er
din Boris Jelzin als Mi- überredete den Präsidenten zu einem di-
nisterpräsident. Er war plomatischen Brief an Chruschtschow. Nach
sich nicht zu schade, John F. Kennedys Tod blieb der Anwalt der
vor laufenden Fernseh- Familie treu und beriet die Brüder Robert
MISHA JAPARIDZE / AP

kameras mit einem und Edward. Sein eigener Versuch, in den


tschetschenischen Re- Senat zu kommen, scheiterte, er blieb aber
bellenführer über die ein gefragter Ratgeber. Theodore Sorensen
Freilassung von Gei- starb am 31. Oktober in New York.
182 D E R S P I E G E L 4 5 / 2 0 1 0
Personalien
Banksy, ungefähr 36-jähriges Künstler- Tony Blair, 57, ehemaliger
phantom, sucht die Öffentlichkeit. Nach britischer Premierminister,
langem Drängen gab der Street-Artist, hegt eine Leidenschaft für
der seine Identität seit Jahren verbirgt, Armbanduhren. Das lässt
dem spanischen Magazin „El País Sema- sich aus der Menge der
nal“ ein Interview. Fragen durften aller- Chronometer schließen,
dings nur schriftlich gestellt werden; die die Blair aus dem Geschen-
Antworten kamen erst nach wochenlan- kefundus von Downing
ger Verzögerung per Mail. Banksy be- Street auswählte, als seine
sprüht seit den frühen Neunzigern Lon- Amtszeit 2007 beendet

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL


doner Hauswände mit Ratten oder knut- war. Zwölf Luxusuhren,
schenden Polizisten, aber auch die Mauer so weiß die „Sunday
zwischen Westjordanland und Israel und Times“ zu berichten, hat
den Louvre hat er illegal mit Kunst be- der Labourpolitiker mit-
stückt. Seine Schablonenbilder erzielen genommen. Neun davon
dank Sammlern wie Brad Pitt und Jude sollen vom italienischen
Law Spitzenpreise. Banksys Film „Exit Merkel, Schachfiguren Ministerpräsidenten Silvio
Through the Gift Shop“, der jetzt in deut- Berlusconi stammen. Der
schen Kinos läuft, gibt vor, das Leben ei- 2008, als es in der Großen Koalition ge- Umgang mit den kleinen und großen
nes anderen Sprayers zu dokumentieren, hörig rumpelte, kam die zweite Lieferung, Aufmerksamkeiten, die britische Staats-
seine eigene Person bleibt weiter im Dun- diesmal zwei Bauern zum Schutz der männer erhalten, ist penibel geregelt.
keln. Eine besonders hohe Meinung von Dame. 2009, nach Merkels neuerlichem Offizielle Geschenke an Minister gehen
Wahlsieg, wagten die Waldbesitzer ein erst einmal automatisch in Staatsbesitz
heikles Geschenk: einen König. Die Bun- über. Wünscht der Politiker privaten Ge-
deskanzlerin sitze so fest im Sattel, dass brauch, müssen Gegenstände, die teurer
sie einen König neben sich ertragen kön- als 160 Euro sind, bezahlt werden. Wie
ne, hieß es bei der Übergabe. Merkel zeig- viel Auslöse der Ex-Premier für seinen
te sich großzügig und gewährte auch die- Uhrenschatz und 54 weitere Erinnerungs-
ser Figur einen Platz in ihrem Büro. Im- stücke insgesamt gezahlt hat, gibt sein
merhin ist es nur ein Holzkönig. Büro allerdings nicht preis.

Hans-Christian Ströbele, 71, stellvertre- Willi Lemke, 64, Uno-Sonderberater für


tender Vorsitzender der Bundestagsfrak- Sport und Aufsichtsratschef von Werder
tion der Grünen, konfrontierte seine Mit- Bremen, ist unter die Währungshüter ge-
arbeiter vergangenen Donnerstag mit ei- gangen: Er hat die Schirmherrschaft für
nem toten Huhn. Die Niederlage bei der den „Bremer Taler“ übernommen – ein
Abstimmung über die Verlängerung der neues Zahlungsmittel, für das Obdachlose
AKW-Laufzeiten war dem und andere Bedürftige
Politiker auf den Magen ge- eine warme Mahlzeit
schlagen. Deshalb kaufte er bekommen. Besser si-
ein Bio-Federvieh, das er tuierte Bürger sollen
zu einem stärkenden Süpp- die Münzen für drei
chen verarbeiten wollte. Euro in Kirchenbüros
Die Zubereitung erfolgte in kaufen und etwa an
Banksy-Werk der vollausgestatteten Kü- Bettler auf der Straße
che, die zu den Grünen- verteilen. Die können
seinem Gewerbe hat Banksy offenbar Bundestagsbüros gehört. damit in der christli-
nicht: Künstler zu sein erfordere so viel Seine verblüfften Mitarbei- chen Begegnungsstätte
Egoismus, „dass dieser Beruf am Ende ter gaben dem Tier einen „Bremer Treff“ ein Es-
nur Vollidioten anzieht“, teilt er im „Se- Namen. „Gertrude“ wurde sen bezahlen. „Vielen
manal“ mit. nach altem Familienrezept, Menschen wird es hof-
mit viel Gemüse, von Strö- fentlich leichterfallen,
Angela Merkel, 56, Bundeskanzlerin, bele persönlich zum Ko- einen ,Taler‘ zu ver-
blickt der Adventszeit mit besonderer chen gebracht. Drei Stun- schenken als Geld“,
Spannung entgegen. In den vergangenen den später servierte er hofft Lemke. Die Ver-
beiden Jahren hat ihr der Deutsche Wald- Suppe für alle. Ströbele bindung mit dem „Bre-
besitzerverband jeweils große Schachfi- verzehrt nach eigener An- mer Treff“ hat für den
guren geschenkt. Nun ist die Frage, ob gabe höchstens ein-, zwei- Sozialdemokraten Tra-
sie wieder welche bekommt, und wenn mal im Jahr Fleisch und dition: Seit Lemkes 50.
ja, welche. Merkel, der nachgesagt wird, dann natürlich bio, glück- Geburtstag 1996 be-
sie betreibe Politik wie ein Schachspiel, lich und eigenhändig zu- sucht er jedes Jahr an
GIRIBAS / ULLSTEIN BILD

mag diese Figuren so sehr, dass sie ihnen bereitet. Nach dem Genuss seinem Ehrentag die
einen Platz in ihrem Kanzlerbüro gönnt. der Hühnersuppe ging es soziale Einrichtung. Er
2005 schenkten die Waldbesitzer Merkel Ströbele besser – und für spendiert dann eine
eine weiße Dame, was nahelag, da die die Castor-Demonstration warme Mahlzeit – aber
Bürger sie in jenem Jahr zu Deutschlands am Wochenende fühlte er garantiert keinen Al-
erster Bundeskanzlerin gewählt hatten. sich auch gewappnet. Ströbele kohol.
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OBERSTAUFEN TOURISMUS
Quark-Mango-Torte

Silvia Barber, 48, Pensionswirtin im All-


gäuer Marktflecken Oberstaufen, wird
für ihre Technologiefreundlichkeit be-
lohnt. Barber ist die Bäckerin jener
Quark-Mango-Torte, die mit der Auf-
schrift „Street View – Willkommen in
Oberstaufen“ in den Medien Furore
Anne Hathaway, 27, machte. Die Kurdirektorin von Oberstau-
Hollywood-Star, ver- fen stellte bereits im August ein Foto von
mischt Fiktion und Barbers Kreation für ihre Pro-Street-
Wirklichkeit. Bei den View-Kampagne ins Internet; seit ver-
Dreharbeiten zu „Love gangenem Dienstag ist die Gemeinde der
& Other Drugs – Neben- erste Ort Deutschlands, der virtuell zu
wirkung inklusive“ seien besuchen ist. Der süße Gruß an Google
reichlich Tränen geflossen, wurde geschrieben mit „Lebensmittelfar-
weil sie Mitleid mit den Film- ben vom Kindergeburtstag meiner Nichte
charakteren empfunden habe, vom Vortag“, erinnert sich Barber; der
gesteht die Amerikanerin. In Leckerbissen kostete in der Herstellung
der Romantikkomödie tritt sie keine vier Euro. Insider schätzen den
als emotional abgestumpfte internationalen Werbeeffekt für Ober-
Schwerkranke auf. Jake Gyl- staufen durch die Google-Mania und die
lenhaal spielt einen Viagra- Medienberichterstattung auf mehrere Mil-
Vertreter, der die Wirkung sei- lionen Euro. „Meinen Werbeetat fürs
nes Produkts gern demon- nächste Jahr“, so Tortenbäckerin Barber
striert. Mehr als einmal ließ zufrieden, „kann ich eindampfen.“
Hathaway für diverse Sex-
szenen alle Hüllen fallen. Die Carl Djerassi, 87, Erfin-
Nacktheit vermittle eine wichti- der der Antibabypille, ou-

R. CHANDRIC / PICTURE PRESS


ge Botschaft, meint die Schau- tet sich als Extremist in
spielerin: „Diese Leute haben Sachen Familienplanung.
überhaupt kein Problem damit, Der Chemiker österrei-
sich auszuziehen. Aber sie chischer Abstammung ist
fürchten sich zu Tode, offen überzeugt, dass für die
zu sein und ihre emotionale westlichen Industriena-
Verletzlichkeit preiszugeben.“ tionen der wichtigste Djerassi
Diese trostlose Seelenlage Aspekt dabei längst nicht
habe sie total fertiggemacht, mehr die Verhütung ist. Heutzutage stelle
verriet sie der amerikani- sich stattdessen immer öfter die Frage:
schen „Vogue“. Ihre Dünn- Wie werde ich schwanger?! „Wäre ich
häutigkeit führt Hathaway eine junge Frau“, so Djerassi, „würde ich
auch auf ihre persönliche Si- meine Eizellen einfrieren lassen.“ Lägen
tuation zurück. Einen Film die Eizellen erst einmal in Sicherheit, kön-
über Vertrauen zu machen, ne auch gleich eine Sterilisation folgen,
so meint sie, „erfordert findet der ehemalige Stanford-Professor.
eine Menge Vertrauen“. Denn eines sei klar: Die Verantwortung
Ihre schlagzeilenträchtige für alles rund ums Baby trage nach wie
Trennung von dem italie- vor der weibliche Teil der Bevölkerung.
ERDMANN / AUGUST

nischen Betrüger Raffael- Daran fühlt sich Djerassi mitverantwort-


lo Follieri lag zum Zeit- lich: „Der größte Nachteil“ an seiner re-
punkt der Filmarbeiten volutionären Entwicklung sei, dass viele
nicht lange zurück. „Männer denken, jede Frau nimmt sowie-
so die Pille; sie wollen nicht einmal Kon-
dome benutzen“.
185
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der Gebrauchsanweisung für den Zitate


„Pocket-Scouter“, ein Zahnhygieneinstru-
ment: „Mit dem Biberschwanz messen sie Die „Frankfurter Allgemeine“
die Zahnfleischtaschen: Ist die Tiefe mehr zum SPIEGEL-Interview „Große Gier“
als der erste weiße Strich, ist eine Behand- mit Borussia Dortmunds
lung ihres Zahnarztes notwendig!“ Trainer Jürgen Klopp (Nr. 44/2010):

Was viele wohlwollende Beobachter der


Borussia raten – sich im Spiel auch einmal
zurückzunehmen, mit den Kräften zu
haushalten –, lässt Trainer Klopp kalt.
Die Mannschaft spielt exakt seinen Stil,
sein Temperament, sie packt – wie er –
Aus „Badische Neueste Nachrichten“ alles, was sie an Kraft und Emotion auf-
bringen kann, in 90 Minuten Fußball.
„Wir gewinnen auf unsere Art“, hat
Aus der „Bergedorfer Zeitung“: „Wären Klopp gerade dem SPIEGEL gesagt,
auch sie (Benzintanks –Red.) leer, griffe „oder eben nicht.“ Was sich erweitern
eine große Batterieanlage ein, die die Be- lässt zu dem Satz: Die Dortmunder wer-
leuchtung, Beatmungsgeräte und lebens- den auf ihre Art Meister werden – oder
bedrohliche Maschinen im OP sichert.“ eben gar nicht.

Die „Hannoversche Allgemeine


Bildunterschrift aus dem „Freiburger Wo- Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch „Wir
chenbericht“: „In solchen ,Liebes-Mobi- haben ein freundliches Klima“ mit
len‘ geht es zu Stoßzeiten hoch her. Der Kanzlerin Angela Merkel (Nr. 44/2010):
jetzige Standort ist in der Kritik.“
Politik besteht immer wieder in der Auf-
gabe, gute Miene zum bösen Spiel zu
machen. Im jüngsten SPIEGEL-Interview
ist Kanzlerin Angela Merkel bei dieser
Übung zu beobachten. Die CDU-Vorsit-
zende wird auf das Reden über ihren von
vielen Medien bereits auserkorenen mög-
lichen Nachfolger Karl-Theodor zu Gut-
Anzeige in der „Märkischen Allgemeinen“ tenberg (CSU) angesprochen. Es nervt
sie, ist zu hören. Den Redakteuren sagt
die Regierungschefin aber: Es ist „schön,
Aus der „Frankfurter Rundschau“: „Der dass die Zeit, als Sie über gähnende Leere
tote österreichische Rechtspopulist Jörg im Unionspersonaltableau geschrieben
Haider ist bei einer seiner Reisen zu Sad- haben, ganz offensichtlich überwunden
dam Hussein in den Irak einem Bericht ist“. Wenn man bedenkt, dass die nord-
zufolge vom Bundesnachrichtendienst rhein-westfälische CDU-Basis erst am
(BND) finanziert worden.“ Sonntag Umweltminister Norbert Röttgen
aufs Schild des stärksten Landesverbands
gehoben hat, also nach Andruck des
Nachrichten-Magazins, kommt der Be-
merkung fast eine prophetische Note zu.

Die PMG Presse-Monitor GmbH


über die Ergebnisse ihrer Untersuchung
Aus dem „Evangelischen Gemeindeblatt der Übernahme von Zitaten in 130
für Württemberg“ deutschen und internationalen Medien:

Das Zitate-Ranking der PMG Presse-Mo-


Aus den „Husumer Nachrichten“ unter nitor GmbH zeigt für das dritte Quartal
der Überschrift „Stepptanz für Senioren“: 2010 in der Spitzengruppe der am häu-
„Beweglichkeit und Koordination werden figsten zitierten Medien ein stabiles Bild.
dabei ebenso trainiert wie Gleichgewicht In der umfassendsten Untersuchung der
und Körperhaltung. Vorkenntnisse sind Übernahme von Zitaten und Themen
nicht erforderlich, wohl aber Kleidung so- regionaler und überregionaler Meinungs-
wie Schuhe mit glatter Sohle.“ führermedien in Deutschland liegt der
SPIEGEL aktuell deutlich vor der „New
York Times“ und der „Bild“-Zeitung.
Bildunterschrift aus der „Neuen Ruhr/ Der SPIEGEL als erstplatzierter im Ran-
Rhein Zeitung“: „Martin Stadtfeld: Vor king des dritten Quartals verzeichnet mit
fünf Jahren hat er sich in die Herzen einer 871 gemessenen Zitaten einen deutlichen
Zuhörerin gespielt, die jetzt seine Gattin Anstieg im Vergleich zum Vorquartal
wurde …“ (Q2: 623).
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