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Dänemark dkr 53,– Frankreich € 6,50 Italien € 6,50 Österreich € 5,80 Portugal (cont) € 6,50,– Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren € 6,70 Printed in Germany

Integration
Fremdsprache Deutsch – der
harte Alltag an Grundschulen
vor Schmerzmitteln
Erforscht:

Ärzte warnen Schwangere


Ibuprofen, Paracetamol etc.
Die letzten Tage
des Jesus von Nazareth

LITERATUR SPIEGEL

das Abenteuer Familie


Eltern, Liebe, Wahnsinn –
Nr. 14 / 31.3.2018
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Abläufe
Meine
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Asylklagen, Wald
vereinfachen?
Jesus sieht häufig etwas blass aus. Die Bil- In einem System, das
der, auf denen er in Kirchen und Museen

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL


zu sehen ist, zeigen meistens einen hellhäu-
tigen Mann, der ein glattes, schmales Gesicht alle verbindet.
und einen sanften Blick hat. Doch so sah der
Galiläer, der sich am liebsten in den Fischer-
dörfern am See Genezareth aufhielt, mit
Sicherheit nicht aus. Sein Vater war Bau-
handwerker, wahrscheinlich hat er schon in
früher Jugend gelernt, wie man richtig zu-
Pieper vor der Jerusalemer Stadtmauer packt. Das für diese Ausgabe angefertigte
Bild auf dem SPIEGEL-Cover zeigt deshalb
einen Mann, dem das Leben schon ein paar Falten ins Gesicht geschrieben hat. So
oder ähnlich könnte der charismatische Wanderprediger ausgesehen haben. Sein Tod
in Jerusalem wurde zum Urknall einer neuen Religion, des Christentums. Titelautor
Dietmar Pieper hat in der Heiligen Stadt mit Archäologen und anderen Wissenschaft-
lern gesprochen, die inzwischen so detailliert wie noch nie zuvor die historischen
Ereignisse hinter den biblischen Geschichten zu beschreiben vermögen. Seite 10

Mehr als 300 000 Asylklagen stapeln sich seit ver-


gangenem Jahr an deutschen Verwaltungsgerich-
ten. Die Richter sind überlastet, vielerorts steht DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

die Justiz kurz vor dem Kollaps. Redakteurin Dia-


lika Neufeld begleitete den Cottbusser Richter
Gregor Nocon in seinem Arbeitsalltag, in dem er
täglich entscheiden muss, was dringlicher ist: die
Anliegen der Flüchtlinge oder die der Bürger. Sie
verfolgte Verhandlungen von Klägern, die nach
Pakistan und Kenia abgeschoben werden sollten,
und solche, in denen die Kläger gar nicht erst zum Nocon, Neufeld
Gerichtstermin auftauchten, weil sie bereits abge-
schoben worden waren. Dass all diese Menschen klagen, fand Neufeld absolut ver-
ständlich: »Viele haben Erfolg und dürfen am Ende bleiben.« Beeindruckt hat sie,
wie pragmatisch Richter Nocon und seine Kollegen handelten. »Sie betrachten die
zahlreichen Klagen als Teil der Weltlage, die man eben so hinnehmen muss«, sagt
Neufeld. Was hingegen dringend behoben werde müsse, sei der Personalmangel an
den Gerichten: Bundesweit fehlen Hunderte Stellen. Seite 54

Schon Ende der Neunzigerjahre hat Volker


Weidermann erstaunliche Waldproteste
erlebt. In den Cascade Mountains im US-
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Bundesstaat Oregon besuchte er sogenann-


te Baumsitzer, junge Menschen, die oft Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-
monatelang in den Wipfeln uralter Red- schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
wood-Bäume ausharrten, um sie vor heran- Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
rückenden Rodungsmaschinen der Holz- Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
industrie zu schützen. Waldfreund ist der im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
SPIEGEL-Autor seit seiner Jugend in Darm-
Holbein, Weidermann stadt am Rande des Odenwalds, den er
früh wandernd erkundet hat. Für das ak-
Digital-schafft-Perspektive.de
tuelle Heft ging der Literaturkritiker dem Phänomen nach, warum die deutschen
Buchhandlungen seit einiger Zeit von Waldbüchern überquellen. Dafür besuchte
Weidermann Menschen wie Ulrich Holbein, der seit mehr als 30 Jahren im Knüllwald
bei Kassel lebt. Was macht den Wald zum Sehnsuchtsort? »Für mich ist er die Gegen-
welt zu unserer gehetzten, total überwachten Zeit. Wie ein Buch, in dem man wandern
kann«, sagt Weidermann. Seite 104

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 3


Inhalt
71. Jahrgang | Heft 14 | 31. März 2018

Titel Zeitgeschichte Die Tochter


der RAF-Terroristin
Ulrike Meinhof berichtet
Religion Die letzten Tage im SPIEGEL-Gespräch
des Menschen Jesus – von ihrer schwierigen
neue wissenschaftliche Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Erkenntnisse zum Urknall
des Christentums . . . . . . . . . . . 10
Gesellschaft

Deutschland Früher war alles schlechter:


Blitzschlag / Gehört

JENS SCHLUETER / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


Leitartikel Die Politik die Steckrübe zu Deutsch-
muss die Islamskepsis ernst land? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Eine Meldung und ihre
Meinung Der schwarze Kanal / Geschichte Ein Unternehmer
So gesehen: Die neue sucht per Stellenanzeige
Herrenkollektion von nach »Taugenichtsen« . . . . . . 53
Horst Seehofer . . . . . . . . . . . . . . . 8
Justiz Bundesweit klagen
Merkel bremst bei Banken- Asylbewerber gegen
union / Arbeitsagentur- ihre Abschiebung aus Deutsch-
Chef warnt vor der Abschaf- land – aus dem Alltag
fung von Hartz IV /
Deutsche »Tornados« nicht
Weltpolitik in Neumünster: des Verwaltungsgerichts
in Cottbus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Nato-tauglich . . . . . . . . . . . . . . . 20 der Fall Puigdemont
Homestory Warum ein
Justiz Der Kampf der Juristen Über die Frage, ob der ehemalige katalanische ehemaliger Geschichtslehrer
um Carles Puigdemont – Regionalpräsident ausgeliefert werden heute seinen eigenen
und das Schweigen der deut- Unterricht besuchen sollte . . 59
schen Politiker . . . . . . . . . . . . . . 24
soll, urteilen Richter. Die Bundesregierung
dürfte Einfluss auf die Entscheidung nehmen.
Europa Brüssel will die EU- Das aber will sie nicht tun. Warum nicht? Seite 24 Wirtschaft
Gelder für Polen kürzen . . . . 28
Bund rechnet mit steigenden
AfD Die Posse um eine Zinsen / Bundesamt ordnet
geplante Parteistiftung geht Rückruf für BMW an . . . . . . . 60
in die nächste Runde . . . . . . . 31
Handel Die neuen Eigentümer
Konjunktur SPIEGEL-Gespräch von Galeria Kaufhof
mit Wirtschaftsminister treiben das Unternehmen
Peter Altmaier über den in die Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Handelskonflikt mit
den USA und die Renaissance Finanzindustrie Wer wird
der Marktwirtschaft . . . . . . . . 32 Nachfolger von
MAX EHLERT

Deutsche-Bank-Chef
Bildung Warum viele Grund- John Cryan? . . . . . . . . . . . . . . . . 66
schulen überfordert sind . . . . 36
Gastronomie Der Spitzenkoch
Ethik Schwerstkranke Meine Mutter, die Mörderin Franz Keller wurde aus
verzweifeln an den Gesetzen Zorn über schlechte Nahrungs-
zur Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . 40 Weihnachten fiel aus, die Kinder verwahrlosten, mittel zum Bauern . . . . . . . . . . 68
die Revolution war wichtiger: Autorin Bettina Röhl
Attentate Zwei Frauen wollen Schicksale Wie rumänische
herausfinden, warum ihre
über die Zeit mit ihrer Mutter Ulrike Meinhof, Arbeiter in einer
Mütter in Ägypten erstochen bevor diese untertauchte – und warum die RAF- deutschen Werft um ihren
wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Terroristin bis heute ein Mythos ist. Seite 46 Lohn gebracht werden . . . . . . 70

4 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Medien Kulturgeschichte Gelb aus Pipi,
Lila aus Schnecken, Rot aus
Unterhaltung Lisa Blumenberg, Läuseblut – die bedeutende
Produzentin der Erfolgsserie Pigmentsammlung der
»Bad Banks«, über die Frage, Harvard-Universität wird in
was gutes Fernsehen kostet 74 einem »Atlas der Farben«
verewigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Ausland
Kultur
Was Kim Jong Uns Peking-

HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL


reise über Chinas Strategie im Beutekunst im Londoner
Koreakonflikt erzählt / Der Victoria and Albert Museum /
Brand im russischen Kemerowo Das Festival von Cannes
zeigt die Kluft zwischen schränkt die Kritiker ein /
Regierung und Volk . . . . . . . . . 76 Kolumne: Besser weiß ich
es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Saudi-Arabien Aufstand
von oben – der neue Kurs Literatur Autoren beschreiben
von Thronfolger die Flucht in den Wald . . . . 104
Mohammed bin Salman . . . . 78
Internet Der Rechtsprofessor
Türkei Eine rechte Hardlinerin Grundschulen unter Druck und Autor Tim Wu über die
will Präsident Erdoǧan Zukunft von Facebook . . . . 110
bei den nächsten Wahlen Deutsche in der Minderheit, Migrantenkinder
herausfordern . . . . . . . . . . . . . . . 82 fast unter sich: Das ist der Alltag an Debatte Die Karriere des
Gerüchts vom
Kommentar Russland ist
manchen Grundschulen. Können Lehrer »Bevölkerungsaustausch« .. 112
nicht das Opfer des Westens, die Probleme der Nation lösen?
es ist ein Aggressor . . . . . . . . . 84 Oft werden sie alleingelassen. Seite 36 Belletristik Besuch
bei der Bestsellerautorin
Bergkarabach In der Maja Lunde . . . . . . . . . . . . . . . . 114
abtrünnigen Kaukasusrepublik
drängen Frauen an die Musikkritik Der Berliner
Macht, leiten Ministerien Der selbstbestimmte Tod Independent-Pianist
und Polizeieinheiten . . . . . . . . 86 Malakoff Kowalski legt
Was dürfen Schwerstkranke in ihren letzten das Album »My First
Tagen von Ärzten oder vom Staat erwarten? Viele Piano« vor . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Wissenschaft Patienten sterben schneller, als die Politik
Vom Glücksgefühl beim entscheidet. Der Streit um die Sterbehilfe und die Sport
»Birding« / Bauchspeicheldrüse Würde am Lebensende bricht wieder auf. Seite 40
aus dem Internet / Kommentar: Die Fußballstars in den
Ubers fragwürdiges Interesse sozialen Medien / Magische
am autonomen Fahren . . . . . 90 Momente: Baseballspieler
Max Kepler über seinen
ANDRE COELHO / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

Internet Steven Spielbergs ersten Homerun als Profi 117


neuer Film spielt in
grandiosen digitalen Welten – Kampfsport Wie die
in Wahrheit kämpfen Wrestlerin Shadia Bseiso
Erfinder von Virtual-Reality- im Nahen Osten zur
Anwendungen noch Vorkämpferin der Gleich-
mit immensen technischen berechtigung wird . . . . . . 118
Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . 92
Fußball Die dubiosen
Statistik Der schwedische Geschäfte des Thomas
Forscher Ola Rosling über den von Heesen rund
verstörenden Drang des um den Hamburger SV . . . . 121
Menschen, die Welt partout Ready Player – wann?
pessimistisch zu betrachten 95
Steven Spielbergs neuer Film »Ready Player One« Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Medizin Schmerzmittel unter feiert die schier grenzenlosen Möglichkeiten der Impressum, Leserservice . . . 124
Verdacht – können Ibuprofen Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
& Co. in der Schwangerschaft
Virtual Reality. Werden wir bald alle mit Datenbrille Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
den Nachwuchs unfruchtbar durch betörende Fabelwelten reisen? Oder Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
machen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 sitzen wir (mal wieder) einem Hype auf? Seite 92 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titel-Illustration: SAMSON für den SPIEGEL 5


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Innere Realpolitik
Leitartikel Warum es richtig ist, Islamskepsis ernst zu nehmen

R
ealpolitik ist nicht nur ein Konzept für die Diploma- abwendet, ist sie verloren. Das Thema Islam hat leider
tie. Sie kann auch bei inneren Angelegenheiten hel- langfristig dieses Potenzial.
fen, und vielleicht ist dies eine Zeit für Realpolitik im Auch beim realpolitischen Ansatz geht es vor allem um
Inneren. Oft hilft sie bei besonders großen Themen. Aufklärung. Wenn in Berlin muslimische Kinder einen
Das Unbehagen gegenüber dem Islam reicht tief in die Mitschüler als »Juden« beschimpfen, ist das eine Ausnah-
Gesellschaft hinein. Horst Seehofers Satz, der Islam gehöre me. Wenn ein syrischer Flüchtling eine Frau vergewaltigt,
nicht zu Deutschland, fand breite Zustimmung. In einer ist das eine Ausnahme. Es geht um kleine Zahlen. Das
Onlineumfrage sagten zudem 65 Prozent der Bürger, sie muss deutlich werden.
fänden richtig, dass der Innenminister dieses Thema ange- Aber der Realpolitiker weiß, dass im Diskurs zu diesem
sprochen habe. Auf Menschen islamischen Glaubens wird Thema nicht nur Fakten zählen. Man kann noch so oft auf
mit Argusaugen geschaut, gleich welcher Herkunft. Ihre die kleinen Zahlen hinweisen. Man kann noch so oft sagen,
Verfehlungen, ihre Straftaten, auch die angeblichen, lassen dass eine Vergewaltigung nichts mit dem Islam zu tun hat,
bei nicht wenigen Deutschen die Emotionen kochen. Aha, dass Islam und Islamismus verschiedene Dinge sind, irgend-
heißt es dann, man habe es ja wie wird dann doch alles
geahnt, gewusst. Und so vermengt und vergrößert,
gehe es nicht weiter. Wer hat und heraus kommt für man-
eine Antwort, wer hat eine che Bürger die Bedrohung
Lösung? Islam.
Die AfD hat eine, jeden- Realpolitik kümmert sich
falls tut sie so: Diffamierung, daher nicht nur um die
Hetze, Rassismus, möglichst Fakten, sondern auch um
weg mit denen, zurück nach das, was aus den Fakten
Syrien, in die Türkei. Was gemacht wird. Das ist eine
aber ist mit den anderen zweite Realität, die manch-
MARIAN KAMENSKY / TOONPOOL.COM

Parteien, Strömungen der mal stärker wirkt als die


Gesellschaft? erste. Sie kann Ängste aus-
Es gibt zwei Wege, mit der lösen, und die muss man
weitverbreiteten Skepsis ernst nehmen. Man darf
gegenüber dem Islam umzu- sie auf keinen Fall der AfD
gehen, eine radikale und eine überlassen.
realpolitische. Der radikale Beschweigen wäre der
Ansatz vermutet Rassismus schlimmste Fehler. Als
hinter den Sorgen, er streitet wir unsere Leser kürzlich
vehement ab, dass es ernst- gefragt haben, was sie
hafte Probleme mit dem Islam gebe, und sieht vor allem vom SPIEGEL denken, war das eine der größeren Sorgen:
zwei Lösungen: das Thema zu beschweigen oder die Skep- Journalisten könnten blind sein für negative Folgen
sis zu bekämpfen, durch Aufklärung, aber auch durch der Flüchtlingspolitik (SPIEGEL 11/2018). Unsere
aggressives Zurückweisen. Seehofer ist der Feind dieser Leser wollen das ganze Bild haben, und sie werden
Leute. es bekommen.
Für ihren Ansatz spricht die Entschiedenheit, in der auch Es ist zudem richtig, dass sich die CSU dieses Themas
oft eine Schönheit liegt. Man ist klar, man vertritt mit Haut annimmt. Auch von den klassischen Parteien muss
und Haaren seine eigenen Werte und die einer liberalen, ein Angebot für die Skeptiker kommen, damit sie sich
humanitären Demokratie. Klingt immer gut. nicht der AfD zuwenden. Auch wenn Seehofer aus
Realpolitik ist nicht entschieden, nicht klar und deshalb liberal-humanitärer Sicht oft danebenliegt, ist er ein über-
oft nicht besonders schön. Man vertritt eventuell Werte, zeugter Demokrat. Und natürlich kann man ihm wider-
aber nicht offensiv, ordnet sie manchmal einem anderen sprechen, ihn politisch bekämpfen. Für die realpolitische
Ziel unter, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Man Sicht ist wichtig, dass er da ist. Zudem muss die Politik
macht Kompromisse. den Islamismus energisch eindämmen, muss den
In der Außenpolitik ist das andere Ziel mal der Frieden, Einfluss staatlich-türkischer Organisationen zurück-
mal der Wohlstand einer Nation. Im Inneren ist das höchs- drängen.
te Ziel, die liberale Demokratie zu bewahren, als Bewahre- Das zusammen ergibt die beste Chance, skeptische
rin der Freiheit. Dafür braucht man die Wähler. Wenn sich Bürger mit dem Islam zu versöhnen und die liberale
eine große Zahl der Bürger von der liberalen Demokratie Demokratie zu erhalten. Dirk Kurbjuweit

6 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


OLYMP.COM/SIGNATURE

GERARD BUTLER’S
CHOICE
PHOTO: GREG WILLIAMS
Meinung So gesehen

Männersachen
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal CSU-Designer Seehofer präsen-
tierte seine Herrenkollektion.
Die 68er-Falle G Diese Woche sorgte ein Foto für
Irritationen, auf dem neun Herren in
Vor ein paar Tagen war die man bei den Achtundsechzigern einer Reihe stehen. Vor allem die
eine Fernsehjournalistin so verachtete. Modewelt reagierte entsetzt. Das Bild
bei mir, die für das ZDF Auch mit ihrer Behauptung, die entstand, als Stardesigner Horst See-
einen Film über das Erbe Aufarbeitung des Nationalsozialismus hofer die erste Kollektion seines
der 68er dreht. Sie wollte eingeleitet zu haben, ist es nicht weit Hauptstadt-Labels »Alt-Moabit« vor-
wissen, was ich von der Be- her. Die meisten waren viel zu be- stellte. Sein kriselndes Modehaus
wegung halte, die in diesem schäftigt mit Sit-ins, um sich ernsthaft CSU will mit dem Showroom im
Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feiert. der Nazizeit zu widmen. Wer in die Regierungsviertel neue Märkte
Ich bin 1962 geboren. Als ich in die Archive steigt und nach einer syste- erschließen. Denn zu selten greifen
Oberstufe kam, tauchten die ersten matischen Befassung der 68er mit Kunden nach Dirndl und Trachtenjan-
68er als Lehrer auf. Ich erinnere mich dem »Dritten Reich« sucht, kommt ker, den Klassikern des Hauses. Doch
noch gut daran, wie sich der neue mit leeren Händen heraus. Im »Kurs- die neue CSU-Linie überzeugt nicht.
Deutschlehrer mit den Worten »Ich buch«, dem wichtigsten Stichwortge- Zu sehr atmet sie den Stil der Fünfzi-
bin der Rainer, ihr dürft Du zu mir sa- ber des revolutionären Zeitgeistes, fin- gerjahre: dunkles schweres Tuch, alt-
gen« vorstellte. den sich Castro-Reden und Aufsätze backene Schnitte. Andere Häuser
Je länger das Ereignisjahr zurück- über das Scheitern der indischen wagen dieses Frühjahr Experimente,
liegt, desto mehr überwölben Mythen Landreform: Die NS-Verbrechen wa- nutzen bunte Farben oder Federn.
das Geschehene. Fragt man Teilneh- ren bestenfalls eine Randnotiz.
mer der Bewegung, dann hat die De- Das Problem an solchen Aufrechne-
mokratie erst mit ihnen in Deutsch- reien ist, dass man mit jeder Kritik
land Einzug gehalten. Sie seien es ge- nur die Wichtigkeit derer stärkt, die
wesen, die das Land aus der Düsternis man kritisiert. Ich glaube, dass die
der Adenauerzeit geholt hätten. Bedeutung von 1968 für das Leben in
Tatsächlich war Konrad Adenauer Deutschland maßlos überschätzt wird.
längst Vergangenheit, als die 68er Aber was hilft es, das zu sagen? Je
auftauchten. Jeder klarsichtige Beob- mehr man sich an der Studentenbewe-
achter wusste seit Bildung der ersten gung abarbeitet, desto mehr bestätigt Derweil verzichtet die CSU in die-
Großen Koalition, dass die Zukunft man sie in der Wahrnehmung, die ser Saison konsequent auf eine Da-
den Sozialdemokraten mit Willy wichtigste Generation aller Zeiten ge- menkollektion, setzt ganz auf eine un-
Brandt gehörte und nicht den abge- wesen zu sein. So bin ich auch mit die- inspirierte Herrenlinie. Bei Seehofer,
halfterten Konservativen. Es waren ser Kolumne wieder mal ein unfreiwil- der dank seiner schlichten Strickmus-
auch nicht die 68er, die mit Brandt liger Zeuge ihres historischen Rangs. ter zum Chefdesigner aufstieg, mag
den ersten SPD-Mann ins Kanzleramt Der 68er-Falle entkommt man nicht. das nicht verwundern. Ärgerlich ist es
wählten, dafür waren sie zahlenmäßig dennoch. »Damenmode kann der ein-
zu unbedeutend. Es war die bürger- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan fach nicht«, lästert die Konkurrenz.
lich-kleinbürgerliche Mittelschicht, Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. »Herrenmode aber auch nicht.« Die
Zeiten, in denen Seehofers Assistent
Alessandro Dobrindt (Spitzname:
Kittihawk »kleines Karo«) für Stammkundin-
nen »Ladies After Work Parties«
schmiss, sind vorbei.
Besonders tragisch: Dem Altmeis-
ter verrutschen die Maße. Auf den
ersten Bildern dominieren überlange
Ärmel, unförmige Hosenbeine und
zum Platzen gespannte Sakkos. Hier
rächt sich Seehofers Marotte, Kol-
lektionen auf den eigenen Leib zu
schneidern und bei Schauen statt Mo-
dels eigene Leute auf den Laufsteg zu
schicken. Über kurz oder lang dürfte
der wirtschaftliche Druck ihn zwin-
gen, solche Traditionen aufzugeben.
Vielleicht eines Tages sogar sein mo-
disches Credo: »Die Tennissocke ge-
hört zu Deutschland!« Melanie Amann

8 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


BOCHUM
FÖRDERT WIEDER –
UND ZWAR
WISSENSCHAFT.
DIE METROPOLE RUHR IST EINE DER DICHTESTEN WISSENSCHAFTSLAND-
SCHAFTEN EUROPAS. UND MIT 290.000 STUDIERENDEN DEUTSCHLANDS
GRÖSSTE HOCHSCHULREGION. 22 HOCHSCHULEN UND VIELE WEITERE
FORSCHUNGSINSTITUTE ARBEITEN JEDEN TAG DARAN, NEUE STANDARDS
IN DER WISSENSCHAFT ZU SETZEN. SO WIE DAS HORST GÖRTZ INSTITUT
FÜR IT-SICHERHEIT IN BOCHUM.
DIE GANZE GESCHICHTE UNTER WWW.METROPOLE.RUHR
Titel

Seine letzten Tage

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

Kreuzweg-Darstellung in Jerusalem: Suche nach den wahren Ereignissen hinter den Geschichten

10 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


Religion Es ist ein Krimi von historischem Ausmaß: Was passierte wirklich um den 7. April des
Jahres 30, als in Jerusalem angeblich der Gottessohn hingerichtet wurde? Mit modernsten
Geräten werten Forscher Indizien aus – ihre Erkenntnisse können Skeptikern kaum gefallen.
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

Tempelberg mit Klagemauer und Felsendom: Archäologen graben Tunnel und legen das alte Pflaster frei

11
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Station auf der Via Dolorosa: Millionen Menschen sind für den Glauben gestorben

D
ie Frau ist Ingenieurin, welterfah- zur Verfügung stehen: Laserscanner, Geo- Das sei ein Beleg dafür, dass das Grab
ren, sehr gelassen, und sie sollte radar, ferngesteuerte Kameras. Es war eine echt ist, sagt Moropoulou heute. Denn im
eigentlich nur eine marode Ka- Operation, die über den Auftrag, die Ka- Jahr 326 hatte Konstantin, erster christ-
pelle vor dem Einsturz bewahren. pelle zu restaurieren, weit hinausging. licher Kaiser des Römischen Reiches, Ge-
Antonia Moropoulou sagt, sie habe nicht Aber wann hat man schon mal die Gele- sandte geschickt, um das Grab zu sichern.
damit gerechnet, nebenbei Hinweise da- genheit, ein Heiligtum auseinanderzuneh- Und die wussten ziemlich sicher, wo sie
rauf zu finden, dass Teile der größten Le- men und zu vermessen? suchen mussten.
gende der Weltgeschichte wahr sein müs- Schließlich stießen die Spezialisten zum Zwei Jahrhunderte vorher hatten Roms
sen: der Legende von einem Mann na- Heiligtum vor, in einer seit Jahrhunderten eigene Leute – noch unter heidnischer Re-
mens Jesus, den 2,5 Milliarden Christen verschlossenen Kammer. Die Pilger beka- gierung – versucht, die Pilgerstätte der
für den Sohn Gottes halten. Moropoulou men dort bloß eine Steinplatte zu sehen, ersten missliebigen Christen für immer ver-
sagt, sie habe es nicht einmal geahnt – bis die das angebliche Jesus-Grab verschloss. schwinden zu lassen: Sie überbauten den
dann im vergangenen Jahr die Ergebnisse Moropoulou ließ das Ding mit aller Vor- Hügel mit seinen Kavernen und Höhlen
einer chemischen Analyse kamen. sicht abheben, drei christliche Kirchenfüh- einfach mit einem Tempel samt Terrasse,
Die Professorin der Technischen Uni- rer überwachten die Arbeiten. den sie, ausgerechnet, der Liebesgöttin Ve-
versität von Athen gilt als Spezialistin für Darunter die Überraschung: eine weitere nus widmeten.
die Rettung historischer Monumente in al- Platte. Die Experten der Professorin hatten Moropoulous Mörtel ist nur das jüngste
ler Welt. Und der zerfallende Bau, um den keine Ahnung, aus welcher Zeit die stam- Indiz in einem historischen Krimi von welt-
es ging, war jene Kapelle, die innerhalb men könnte – also auch zur Seite damit. geschichtlicher Bedeutung. In diesen Ta-
der Jerusalemer Grabeskirche steht. Unter »Darunter kam Geröll zum Vorschein«, gen zu Ostern pilgern wieder Zehntausen-
dieser Kapelle, so alte Überlieferungen, erzählt Moropoulou. »Wir entfernten es de nach Jerusalem und in die Grabes-
soll Jesu Leichnam nach der Hinrichtung und fanden nackten Fels, so gemeißelt, wie kirche, das bedeutendste Heiligtum ihrer
in eine Höhle gelegt worden sein. die Felsengräber zur Zeit von Jesus gemei- Religion. Es geht den Menschen um ein
Nur: Welchen wissenschaftlichen Wert ßelt waren.« Es sei ein »unglaubliches Ge- Gottesgefühl.
haben schon Überlieferungen in einer fühl« gewesen. Den Wissenschaftlern hingegen geht es
Stadt, die immer wieder zerstört und neu Wissenschaftlich interessant war vor al- seit Jahrzehnten darum herauszufinden,
aufgebaut wurde, in der Schutt aus Jahr- lem der Mörtel, der die so lange versteckte was wirklich passierte in den letzten Tagen
tausenden so vieles unter sich begraben zweite Platte gehalten hatte. Denn das Ge- eines Predigers, Aufrührers, Revoluzzers,
hat? misch würde sich vielleicht datieren lassen. eines Menschen namens Jesus, der vermut-
Moropoulou und ihr Team begannen Das Team nahm eine Probe davon mit, für lich am 7. April des Jahres 30 hingerichtet
im Frühjahr 2016 mit den Bauarbeiten. das Labor. Schließlich ergab die Analyse, wurde.
Doch sie restaurierten nicht nur sorgfältig dass diesen Mörtel ein Mensch angerührt Archäologen ziehen Schnitte durchs Ge-
Stein um Stein, sie setzten auch alle High- hatte, der in der Mitte des vierten Jahr- lände, viele Meter tief, um in frühere Jahr-
tech-Geräte ein, die Archäologen heute hunderts lebte. hunderte vorzustoßen. Kollegen graben

12 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


Titel

Tunnel unter der Stadt und legen das Pflas- Jordan, dessen Tal mehr als tausend Meter Der erste nicht christliche Zeuge ist der
ter jener Straßen frei, auf denen die Men- tiefer als Jerusalem liegt. In einer alten Vil- jüdische Historiker Flavius Josephus, der
schen einst gingen. Andere haben legen- la oben auf dem Berg arbeitet der Archäo- im Jahr 93 diesen Jesus – »der Christus
däre Orte ausfindig gemacht, von denen loge Dieter Vieweger, seit 2005 leitet er genannt wird«, wie er distanziert schreibt –
niemand wusste, wo sie lagen – etwa den das Deutsche Evangelische Institut für Al- an zwei Stellen erwähnt. Und er nennt ei-
Schauplatz des Prozesses gegen diesen Je- tertumswissenschaft des Heiligen Landes. nen Bruder, den Jesus gehabt haben soll.
sus, zwischen zwei verschütteten Toren. An der Gartenmauer des Instituts zeigt Von diesem Jakobus ist auch im Neuen
Forscher haben eine Spur jenes Mannes Vieweger nach Nordosten und sagt: »Dort Testament die Rede.
gefunden, der wohl genau dort dafür sorg- sind die Wege, die Jesus genommen hat, 20 Jahre später erwähnten schließlich
te, dass dieser seltsame Aufwiegler besei- als er nach Jerusalem hinaufging« – als die römischen Politiker Tacitus und Plinius
tigt wurde. Sie haben auch den Fersenkno- das Drama begann. den Namen Jesus, sie bestätigten zum Bei-
chen eines Gekreuzigten samt rostigem Vieweger ist einer der führenden Ar- spiel Zeitangaben der Evangelisten und
Nagel entdeckt, die manche Zweifel besei- chäologen in Jerusalem, er arbeitet mit Ra- handelnde Personen. Sie schrieben, dass
tigten. Und auch vieles andere von dem, dar und Robotern, aber er arbeitet auch der Aufrührer hingerichtet wurde, als Ti-
was aufgeklärten Westlern lange als from- für die Kirche. Natürlich glaubt er also berius Kaiser war (14 bis 37) und ein Pon-
mes Märchen galt, hat sich inzwischen als daran, dass der Mann, den die Christen tius Pilatus Präfekt von Judäa (26 bis 36).
zumindest plausibel herausgestellt. Oft ka- für den Auferstandenen halten, wirklich Das passt, dabei konnten die beiden Rö-
men die Wissenschaftler durch Zufälle zu gelebt hat. Immerhin: Darin ist er sich mit mer Christen nicht ausstehen.
neuen Erkenntnissen – weil ein Hotel ab- fast allen Wissenschaftlern einig. Dieter Vieweger steht oben auf dem Öl-
gerissen wurde, weil Arbeiter ihren Spaten Ein britischer Theologe hat vergangenes berg und schaut hinüber ins Westjordan-
durch schieres Glück an den richtigen Stel- Jahr zusammengetragen, was alles dafür land. »Die galiläischen Pilger sind über Je-
len in die Erde stachen. spricht, dass Jesus existiert hat. Die ersten richo nach Jerusalem gekommen«, sagt
Es geht nicht darum, per Bodenradar schriftlichen Quellen sind Briefe seines An- der Archäologe. Wie Tausende andere Pil-
einen Gott zu finden. Es geht darum, die hängers Paulus – keine neutralen Berichte, ger sei der fromme Jude Jesus wahrschein-
Spur eines sterblichen Mannes aufzuneh- aber der Apostel hatte alles aufgeschrieben lich aus seiner Heimat Galiläa aufgebro-
men, dessen Geschichte die Welt bis heute bis spätestens 26 Jahre nach der Hinrich- chen, um in der Hauptstadt das Pessach-
stärker prägt als die der meisten anderen tung. Nah dran also, da lebten noch viele, fest zu feiern. Wo die alten Trampelpfade
historischen Gestalten. die das Geschehen und die Orte gekannt für Fußgänger und Lastentiere verliefen,
Millionen Menschen sind für den Glau- haben müssen. Hätte Paulus die Gestalt »da fährt man heute über Landstraßen«.
ben, der sich von Jesus herleitet, gestorben frei erfunden, er wäre damit nicht weit ge- Jerusalem war damals eine von Feinden
oder in seinem Namen umgebracht wor- kommen. besetzte Stadt. Die Römer regierten den
den. Bis heute gründen viele mo- Landstrich mit harter Hand. Sie lie-
derne Staaten ihr Selbstverständnis ßen den Anführern der Juden, den
auf eine christlich-abendländische Tempelpriestern, allerdings weitge-
Tradition. Es ist, zumindest für den hende Autonomie in Fragen der Re-
Westen, also wohl die wichtigste ligion. Solange die mit ihnen kolla-
Überlieferung von allen. Nur: Was borierten, ging es der jüdischen
passierte damals wirklich vor je- Oberschicht gut. Die wirklichen
nem Tag, der heute Ostern genannt Gegner der jüdischen Elite waren
wird? nicht die Römer, sondern Leute aus
Es sind extrem schwierige Unter- ihrem eigenen Volk.
suchungen. Die meisten histori- »Es gab viel Kritik an der Art,
schen Zeugen stehen unter dem wie die Priester-Aristokratie den
Verdacht, sie hätten mit ihren Aus- jüdischen Glauben praktizierte«,
sagen ihren Glauben begründen sagt der Jerusalemer Archäologe
wollen. Und auch viele der Wissen- David Mevorah vom Israel-Mu-
schaftler heute sind Christen. Trotz- seum, einer der besten Kenner der
dem kann man ihre Argumente Jesus-Zeit. Die Herren des Tempels
und Funde nicht einfach ignorieren. seien als korrupt beschimpft wor-
Das Terrain ist zudem vermint, den, »es lag etwas in der Luft«.
weil drei Weltreligionen wenige Von Jesu Ankunft in Jerusalem
Quadratkilometer für sich bean- bis zur Hinrichtung am Kreuz ver-
spruchen und an den entscheiden- gingen nur wenige Tage, ungefähr
den Ecken alles umstritten ist. Und eine Woche. Was er wann genau
weil zum Beispiel Israelis versu- an diesen Tagen tat, lässt sich nicht
chen, mit Grabungen im Gestern rekonstruieren – aber wo es pas-
ihre Politik von heute zu begrün- sierte, das wissen Archäologen, die
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

den. Und dann ist Jerusalem auch viele der biblischen Orte ausgegra-
noch archäologisch und geologisch ben haben.
ein Albtraum, da jede historisch re- Man kann die riesigen Wasserbe-
levante Schicht unter anderen liegt, cken sehen, in denen sich die
die auch wertvoll sind. Pessachpilger reinigten. Die Stufen,
auf denen Jesus zum Tempel hin-
Der Weg ins Verderben aufgegangen sein dürfte, wo er
Der Blick vom Jerusalemer Ölberg dann gegen die Geldwechsler pole-
geht über die biblische Landschaft, Archäologe Vieweger auf dem Ölberg misierte, sind freigelegt. Der Felsen,
unter der Dunstglocke fließt der »Dort sind die Wege, die Jesus genommen hat« auf dem er wohl gekreuzigt wurde,

13
Titel

lässt sich mit archäologischer Genauigkeit Auch der Deutsche Vieweger erkennt Dieser Jeschua hatte sich in den zwei,
lokalisieren. in den Schriften einen historischen Kern. drei Jahren vor seinem Tod laut Bibel auch
Neben den Archäologen sind es vor al- »Die Geschichten haben ein Gerüst, das einen Ruf als Heiler erworben. Deshalb
lem Historiker, die mit ihren Methoden in für die damaligen Zuhörer nachvollzieh- war es durchaus möglich, dass viele Pilger
die damalige Welt vordringen. Sie stützen bar sein musste«, sagt er. »Die Leute kann- ihn in Jerusalem freudig begrüßten, wie
sich auch auf die vier Evangelien. Die Er- ten ja die Orte, von denen in den Evange- es in den Evangelien heißt. Alles nur Wun-
zählungen seien nicht nur das Ergebnis re- lien die Rede ist. Als ich in Jerusalem an- derkram, Hokuspokus?
ligiöser Fantasien, glauben die meisten kam, war ich sehr skeptisch und dachte, Schon vor Jahrzehnten entdeckten Ar-
Wissenschaftler – es kommt darauf an, dass in dieser Stadt der vielen Geschichten chäologen bei Grabungen unter der Ruine
brauchbare Schilderungen von religiösen fast nichts historisch stimmt«, so Vieweger. einer alten Kirche im Fischerort Kaper-
Überhöhungen wie den Jesus-Wundern zu »Heute weiß ich, dass es einige Orte gibt, naum am See Genezareth etwas zumin-
unterscheiden. die authentisch sind.« dest Merkwürdiges. Zum Vorschein kamen
Aufgeschrieben wurden die Evangelien die Reste eines Gebäudes aus dem 1. Jahr-
in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts. Ankunft in Jerusalem hundert. Und es ließ sich anhand von Öl-
Der US-Historiker Mark D. Smith, der für Unter den vielen anderen Pilgern fiel Jesus lampen und eingeritzten Zeichen im Putz
Ausgrabungen in Betsaida mitverantwort- wahrscheinlich schon dadurch auf, dass er nachvollziehen, dass es wohl ein normales
lich war, hält die Schriften des Matthäus, der Anführer einer ganzen Gruppe war. Wohnhaus gewesen sein dürfte – das je-
Markus, Lukas und Johannes für nützliche Zwölf Anhänger nennen die Evangelien mit doch nach Jesu Tod in kurzer Zeit zu einer
Quellen, wenn man sie vorsichtig anpackt Namen, die Apostel. Allerdings variieren Art Gedenkstätte umgewandelt wurde.
und mit historischen und archäologischen die Namen, was bleibt, ist die Zahl Zwölf. In der Bibel heißt es, Jesus habe in ei-
Erkenntnissen abgleicht. Sie ist eine alttestamentliche Zahl und ent- nem Haus in Kapernaum die Schwieger-
In seinem gerade erschienenen Buch spricht den zwölf Stämmen Israels, das mutter seines künftigen Apostels Petrus
»The Final Days of Jesus« (»Die letzten riecht nach frühchristlicher Propaganda. geheilt, des Fischers. Und das Gerücht da-
Tage Jesu«) weist Smith darauf hin: »Ge- Daheim im ländlichen Galiläa hatte sich von habe alle Kranken und Geplagten zu
schrieben wurden sie, während noch Men- Jesus einen Namen als Weisheitslehrer ge- ihm getrieben.
schen am Leben waren, die bereits zur Zeit macht. Ob er Griechisch konnte, die Spra- Als Jesus dann nach Jerusalem zog, wo
der Kreuzigung lebten.« Im Vergleich zu che der Gebildeten in der Stadt, ist nicht er sich mit der geistlichen und weltlichen
den Beweismitteln, mit denen es Althisto- bekannt. Er sprach sicherlich Aramäisch, Macht anlegte, folgten ihm neben Jüngern
riker meistens zu tun haben, seien die vier und sein aramäischer Name lautete Je- wie Petrus wohl auch Frauen. Eine davon
Texte noch nah am Geschehen und »frühe schua ben Josef – Jesus wurde er in den wurde zu einer eigenen Legende, als engs-
Quellen« aus der ersten Generation der auf Griechisch geschriebenen Evangelien te Freundin des Predigers, wichtiger viel-
Augenzeugen. genannt. leicht als die Männer: Maria aus Magdala.

Teich Betesda

Hof der
Burg Antonia Heilig- Heiden Große Säulenhalle mit Marktständen
tum und Wechslertischen

traditionelle
Via Dolorosa Te m p e l Treppenaufgänge zur Südmauer, Hulda-Tore

Vorstadt

Wa
sse Teich Siloah
rgra
be
n/A


q

Kreuzigungsstätte du
kt
Golgatha (heute: Unterstadt
Grabeskirche) Theater
(möglicher
Standort)

Oberstadt »Abendmahlssaal«

Königspalast des Herodes N

»Verborgenes Tor«

Jerusalem zur Zeit Jesu

14
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL


Ausgrabungen am Siloah-Teich, Jerusalemer Jude bei ritueller Reinigung: Ein idealer Ort für einen Prediger und Anführer

Maria hat eindrucksvolle Szenen in al- Und Archäologen fanden in den Jahren des Tempels. Die archäologischen Über-
len vier Evangelien. Gemeinsam mit an- danach noch etwas dort: eine Synagoge – reste wurden bereits im 19. Jahrhundert
deren Frauen steht sie unter dem Kreuz. dabei hatten viele Skeptiker argumentiert, entdeckt. Das zweite Becken, den Siloah-
Sie ist angeblich dabei, als Jesus begraben Jesus könne unmöglich in den Synagogen Teich, fanden erst vor einigen Jahren städ-
wird. Sie erzählt den schockierten Män- Galiläas gepredigt haben, weil es auf dem tische Bauarbeiter, die ein Abwasserrohr
nern zwei Tage später vom leeren Grab. Land damals einfach keine gab. Doch in verlegen sollten.
Erst Jahrhunderte später erfand Papst Gre- Magdala, am Ufer des Sees Genezareth, Die noch nicht vollständig ausgegrabe-
gor der Große, ein grober Klotz, die Ge- stand der Gegenbeweis. ne Anlage von Siloah ist erheblich größer
schichte, Maria Magdalena sei die »namen- Während Jesus in Jerusalem ankam, be- als ein übliches Schwimmbecken: 70 Me-
lose Sünderin« der Bibel gewesen, später reiteten sich wohl auch zwei mächtige ter lang und zwischen 40 und 60 Meter
wurde sie deshalb zur Prostituierten ge- Männer auf die Festtage vor: Pilatus und breit. Trotzdem war sie für Jahrhunderte
macht. Natürlich hat der Papst gelogen, Kaiphas sind neben Jesus die entscheiden- verschwunden. Ihre Dimensionen lassen
vielleicht, weil er der Überzeugung war, den Personen für den Urknall des Chris- erahnen, welche Menschenmengen sich
dass Frauen per se sündig seien und einen tentums. Pontius Pilatus, der römische dort vor Pessach versammelten. Ein idea-
Mann brauchen, der sie rettet. Präfekt von Judäa, ist historisch vielfach ler Ort für einen Prediger. Auch für einen
Lange war nicht einmal klar, ob es über- verbürgt. Aber was ist mit Kaiphas, dem Aufrührer.
haupt den Ort Magdala gab. Mönche fan- jüdischen Hohepriester? Er galt lange als David Mevorah vom Jerusalemer Israel-
den in den Siebzigerjahren des 20. Jahr- der Bösewicht im Drama der letzten Tage. Museum sagt: »Wenn zu einem der großen
hunderts Reste davon, aber die eigent- Festtage die Gläubigen nach Jerusalem
liche Entdeckung machten Experten der Der Aufrührer strömten, fanden viele von ihnen ihren
Israelischen Altertumsbehörde 2009: Da- Während sich die Stadt im Zeichen des na- Schlafplatz außerhalb der Stadt in vorbe-
mals sollte ein Kirchenmann am See henden Pessachfests mit Pilgern füllte, tat reiteten Lagern.« Auch drei solche Pilger-
Genezareth ein Heim für Pilger bauen las- Jesus das, was er am besten konnte: Er camps haben Archäologen ausfindig ge-
sen, er sammelte Geld, kaufte ein her- predigte, er pestete gegen die Obrigkeit, macht.
untergekommenes Hotel namens Hawaii und er heilte, vor allem an den öffentlichen
Beach am See Genezareth. Bevor die Bädern. Natürlich hatte er keine Wunder- Der Tempel
Bagger das alte Ding abrissen, prüften die kräfte, aber womöglich arbeitete er mit Vom Siloah-Teich konnte man über zwei
Beamten vorschriftsgemäß den Unter- Suggestion, wie es auch heute noch Wun- gepflasterte Straßen hinauf zum Großen
grund – und stießen nur einen halben derheiler durch ihr Charisma fertigbrin- Tempel gehen, dem Heiligtum der Juden.
Meter unter den Grashalmen auf einen gen – zumindest für eine Weile. Heute führt der Aufstieg von Siloah durch
einst reichen Ort: Magdala, die Heimat Einer der Orte, an denen Jesus geheilt einen arabischen Stadtteil. Die alten Stra-
dieser Maria. haben soll, ist der Betesda-Teich nördlich ßen liegen verschüttet unter den Häusern

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018 15


in mehr als zehn Meter Tiefe. Durch Tun-
nelgrabungen haben die israelischen Ar-
chäologen sie zum Teil begehbar gemacht;
die palästinensischen Bewohner wurden
nicht um Erlaubnis gefragt.
Weitere Ausschachtungen werden von
Wachleuten mit Maschinenpistole gesi-
chert, niemand in Israel spricht gern öf-
fentlich darüber. Es handle sich um eine
»enorm wichtige, aber nicht reguläre und
sehr politische Ausgrabung«, sagt jemand,
der mit den Arbeiten vertraut ist.
Die Pracht des Tempels muss die Men-
schen damals beim ersten Anblick wie eine
Offenbarung getroffen haben. Mehr als
30 Meter hohe Stützmauern aus riesigen
Kalksteinquadern. Goldene Fassaden, die
den Glanz der Sonne spiegelten. Purer
Prunk.
Der Tempel war laut Mevorah »der
größte Sakralbau, der jemals in der römi-
schen Welt gebaut wurde«. Die Grund-
fläche ist dreimal so groß wie die des
Petersdoms in Rom mitsamt seinen Vor-
plätzen.
Die Priesterschaft bildete die jüdische
Elite, ihre Familien waren wohlhabend
und einflussreich. Es war allerdings das
Vorrecht der römischen Präfekte, die Ho-
hepriester einzusetzen und abzuberufen.
Zwischen Pontius Pilatus und dem Ho-
hepriester Kaiphas bestand anscheinend
gutes Einvernehmen. Unter der römischen
Besatzung genossen die Priester-Aristo-
kraten weiterhin ihre Privilegien, sie leb-
ten im Luxus. Das »Prächtige Palais«, das
gegenüber der Südwestecke des Tempel-

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL


bergs ausgegraben wurde, wird von man-
chen für das Haus des Kaiphas gehalten –
doch der Mann blieb lange ein Phantom,
eine literarische Figur.
Vor einigen Jahren dann entdeckten
Ausgräber im Süden Jerusalems eine läng-
liche Kalksteinkiste – ein sogenanntes
Ossuar. In Ossuaren wurden die Knochen
Toter verwahrt, es gibt einige dieser Stein- Kapelle über dem angeblichen Jesus-Grab: »Wir fanden nackten Fels darunter«
behälter aus damaliger Zeit.
»Aber«, sagt Mevorah und zeigt auf die
fein gearbeiteten Blumenornamente, »das Laut Bibel packte Jesus angesichts dieser Ein feierliches Essen, bei dem Jesus er-
hier ist eines der schönsten Ossuare, die Abzockerei der Zorn. Bei Markus heißt es: zählte, Brot und Wein seien sein Fleisch
wir kennen.« Und vor allem steht auf zwei »Die Tische der Geldwechsler und die Stän- und Blut? An so etwas muss man schon
Seiten der Kiste auf Aramäisch ein Name: de der Taubenhändler stieß er um … Steht fest glauben. Das heutige Haus in der Je-
Kaiphas. nicht geschrieben: ›Mein Haus wird ein rusalemer Oberstadt, in dem sich der Saal
Der Tempelkult in Jerusalem war mit Bethaus heißen für alle Völker‹? Ihr aber des Letzten Abendmahls befinden soll,
hoher Wahrscheinlichkeit ein glänzendes habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.« wurde erst zur Zeit der Kreuzritter über
Geschäft für Kaiphas und seine elitären Sollte er das tatsächlich gesagt haben, einem älteren Gedenkort errichtet. Nichts
Priester. Wenn der Provinzler Jesus zum hatte er nun die Priester gegen sich. spricht dafür, dass es diese Veranstaltung,
Tempel hochstieg, muss er auf den soge- so wie überliefert, wirklich gab.
nannten Hof der Heiden gekommen sein, Der Prozess Ähnlich die Geschichte von Judas. Es
wo das Geld verdient wurde. Händler bo- Viele Schilderungen aus der Bibel passen gibt keine historischen Erkenntnisse, kei-
ten dort in einer riesigen Halle Opfertiere zu den archäologischen Erkenntnissen. nen Ort, nichts über den Mann, keine 30
an, die von Priestern zertifiziert waren Aber natürlich findet sich ausgerechnet zu Silberstücke irgendwo.
und deshalb mehr kosteten als unten in den Stellen, die von den Evangelisten mit Vergleichsweise sauber nachgewiesen
der Stadt. Geldwechsler hielten spezielle religiöser Inbrunst aufgeschrieben wurden, ist durch Tacitus und Flavius Josephus da-
Münzen bereit, mit denen die Tempel- gar nichts – keine historischen Indizien, gegen: Jesus wurde nach seinen Reden an
steuer bezahlt werden musste – und sie keine archäologischen. Das Letzte Abend- den Becken und im Tempel festgenommen
kassierten acht Prozent Gebühren. mahl ist so ein Fall. und Pontius Pilatus vorgeführt. Für dessen

16 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


Titel

Urteilsspruch gibt es Belege bei beiden ge im Hof davor aufhielt«. Pilatus sei bei Weil sie aber seit Jahrhunderten inner-
Historikern. Bedarf kurz aufgestanden, um im Hof mit halb der heutigen Stadtmauern liegt, ka-
In den Evangelien heißt es, dass Jesus Kaiphas zu reden. Im Johannesevangelium men immer wieder Zweifel an der Authen-
zuerst von Kaiphas oder anderen führen- finden sich tatsächlich Hinweise auf ein selt- tizität des Ortes auf. Dabei ist die Sache
den Priestern verhört worden sei. An- sames Hin- und Hergehen des Präfekten. einfach zu erklären: Im Lauf der Zeit hatte
schließend hätten ihn die jüdischen Anfüh- Was aber wurde dem Angeklagten vor- Jerusalem auf der Nordseite verschiedene
rer an die römische Staatsmacht überstellt. geworfen? Auf einem Schild über seinem Mauern. Zur Jesus-Zeit lag der Todeshügel
Das passt zu den realen Zuständigkeiten. Kreuz stand laut Bibel: Iesus Nazarenus sehr wohl vor der Stadt.
Das Verfahren war kurz, aber es folgte Rex Iudaeorum, lateinisch für Jesus von Der deutsche Archäologe Vieweger lei-
Regeln, und die Verantwortung lag am Nazareth, König der Juden. War dieser tet derzeit in der nahe gelegenen Erlöser-
Ende dort, wo sie hingehörte: beim Prä- Landmensch aus Galiläa so leichtsinnig kirche die Untersuchungen an einem 14
fekten. Der Hohepriester durfte Jesus an- oder unbedarft, dass er sich selbst an einem Meter in den Boden reichenden Tiefen-
schwärzen, ein Urteil verlangen, aber er der Wasserbecken, bei einer Rede oder schnitt. Im grellen Licht der Arbeitslam-
durfte nur dann ein Todesurteil fällen, beim Handauflegen als König bezeichnet pen sieht man in die Schichten der Jahr-
wenn jemand seinen Tempel entweiht hat- hatte? Das wäre natürlich Aufruhr – prak- tausende hinab.
te. Das war jetzt nicht der Fall. Kaiphas tisch also Selbstmord. Wo heute die beiden benachbarten Kir-
musste deshalb Pilatus einschalten. »Bist du der König der Juden?«, soll Pi- chen stehen, war bis zur Zeit um Jesu Ge-
Meistens hielt sich der Präfekt von Ju- latus ihn gefragt haben. Jesus antwortete burt ein großer Steinbruch. »250 mal 150
däa in der Hafenstadt Cäsarea auf. Aber angeblich: »Du sagst es.« Eine Bestätigung. Meter, bei mindestens 22 Meter Höhe«,
Pessach war eine Zeit der Unruhe: Am Oder doch nicht? Sollte die Antwort be- sagt Vieweger. Die Kalksteinquader für
Fest der ungesäuerten Brote feiern die Ju- deuten: Das sagst du, aber nicht ich? Tempel, Palast und auch für viele Privat-
den ihren Aufstand gegen Ägyptens Pha- Die Bibel wäre nicht die Bibel, wenn häuser wurden dort herausgehauen.
rao. Pilatus musste jeden Aufruhr umge- ihre Verfasser alles klar formuliert hätten. Als der Abbau endete, schwemmten die
hend ersticken und begab sich deshalb übli- Viele Sätze und Vokabeln schwirren vor winterlichen Regengüsse Erdreich in den
cherweise nach Jerusalem. Als Amtssitz Ambivalenz. Das scheinbar einfache Wort Steinbruch. Es entstanden Gärten und Fel-
nutzte er dort den Palast des früheren Kö- »König« konnte damals einiges bedeuten, der. Nur ein Felsen des alten Steinbruchs
nigs Herodes, nach dem Tempel das zweit- es ließ Raum zwischen weltlicher Macht ragte über sie in die Höhe, wie Vieweger
größte Gebäude der Stadt. und spiritueller Führung. Aber egal, das erklärt. »Er blieb unberührt stehen, weil
Am Freitagmorgen dieser letzten Wo- eine hätte die Römer provoziert, das an- dieser Felsen aus weicherem Gestein be-
che des Predigers Jesus soll dem Präfekten dere Kaiphas. stand, den man für die Bauten nicht ver-
überraschend der Besuch des Hohepries- wenden konnte«: Golgatha.
ters gemeldet worden sein. Eine praktische Die Kreuzigung Jeschua ben Josef, der wenige Tage vor-
Schwierigkeit aber muss es gegeben haben, Bespuckt, verhöhnt und gefoltert soll Jesus her vom Ufer des Sees Genezareth nach Je-
das gilt Historikern als sicher: Der Hohe- nach dem absolut üblichen römischen Ur- rusalem aufgebrochen war, wurde also auf
priester und seine Begleiter durften den teil – Tod am Kreuz – den Weg nach Gol- dem unbrauchbaren Rest eines Steinbruchs
Herodes-Palast nicht betreten. In den Räu- gatha angetreten haben, wie der Hinrich- gekreuzigt. Und weil der Stein weich war,
men der Besatzungsmacht, die der Viel- tungshügel in der Bibel genannt wird. Den eignete er sich auch für Grabhöhlen.
götterei frönte, hätten sie sich religiös be- Mann erwartete ein qualvoller Tod. Weil
schmutzt. Sie hätten dann ihre kultischen Jerusalem so kurz vor dem Fest nicht Der Tote
Aufgaben beim Fest nicht erfüllen können. durch eine Kreuzigung verunreinigt wer- In den Evangelien ist es ein Josef von Ari-
Aus diesem Dilemma müsse Kaiphas ei- den durfte, musste alles außerhalb der mathäa, ein Angehöriger der jüdischen
nen Ausweg gefunden haben, meint Smith, Stadt stattfinden, das gilt Historikern als Oberschicht, der sich um die Beerdigung
der US-Historiker. Er und der britische Ar- sicher. von Jesus kümmert. Laut Bibel erhielt er
chäologe Shimon Gibson argumentieren, Aber wo lag Golgatha? Kaiser Konstan- von Pontius Pilatus die Erlaubnis, die Lei-
dass es nur eine Lösung gegeben haben tin hatte zwar dort, wo seine Leute Golga- che zu bestatten. Er legte sie in eine freie
könne: Der Prozess müsse im »Verborge- tha und die nur ungefähr 40 Meter ent- Felshöhle, die er für sich und seine Familie
nen Tor« stattgefunden haben. fernte Grabhöhle unter dem Heiligtum der vorgesehen hatte.
Reste davon findet man vor der west- Venus gefunden haben wollten, eine Kir- Diese Geschichte wollten Skeptiker lan-
lichen Stadtbefestigung. Aus dem Gras tre- che errichten lassen, die Grabeskirche. ge auf keinen Fall glauben. Die Kreuzi-
ten wenige steinerne Überbleibsel einer
früheren Anlage hervor. Laut Gibsons Re-
konstruktion »führte das Tor direkt in den Die Grabeskirche
Privatbereich des herodianischen Palas- in Jerusalem
tes«, es sei also kein öffentlicher Durch-
gang gewesen. noch vorhandener Fels
Ädikula
Bei Ausgrabungen hat sich zudem he- überlieferter Ort ursprünglicher Fels
rausgestellt, dass es sich um ein Doppeltor des Grabes Jesu
handelte: Zwischen einer inneren und
einer äußeren Mauer und ihren jeweiligen
Durchgängen lag ein Hof, etwas größer als Golgatha-Felsen
ein Tennisplatz. überlieferter Ort der
Smith argumentiert in seinem neuen Kreuzigung Jesu
Buch, dieser Hof müsse der Ort gewesen
sein, auf den sich Kaiphas und Pilatus eini- 5m
gen konnten. Stimmt das, dann befand sich
Jesus innen im Gewahrsam der Römer,
»während sich das hohepriesterliche Gefol-

17
Titel

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL


Pilgerin in der Grabeskirche: Wer wurde in der Höhle hinter der »Kapelle der Syrer« bestattet?

gung war die schändlichste Form der Hin- konnte es gründlich untersuchen, und sie Der Altar ist halb zerstört, ein dunkles Ge-
richtung nach römischem Recht. Sie sollte sagt: »Ich bin überzeugt, Kaiser Konstantin mälde kaum mehr erkennbar unter einer
besonders abschreckend wirken. Oft wur- hat das authentische Grab gefunden.« geborstenen Glasscheibe.
de behauptet, man habe die Hingerichte- Der Deutsche Vieweger kann der Kol- Einmal in der Woche, am Sonntag,
ten einfach am Marterholz verrotten las- legin folgen – aber nur bis in den Fels im feiert der syrisch-orthodoxe Metropolit
sen und nicht beerdigt. Gewölbe der Grabeskirche, nicht weiter. hier einen Gottesdienst. Mehr erlauben
Doch der Historiker Smith hat alte In dem Bau kennt er sich ebenfalls sehr ihm die Armenier nicht. Die beiden Glau-
Quellen genauer ausgewertet. Dabei fiel gut aus. »Ich bin da nachts überall unten bensrichtungen liegen seit Generationen
ihm auf: Die Geschichten von den verrot- in den Fundamentkammern gewesen mit im Streit und können sich nicht einigen,
teten Leichen beziehen sich vor allem auf den Armeniern und Griechen«, erzählt wer das düstere Loch renovieren darf.
die gekreuzigten Rebellen beim Sparta- Vieweger. Er meint die armenischen und Ein niedriger Durchgang unter dem Ge-
cus-Aufstand. Zu Friedenszeiten – und im griechischen Geistlichen, die sich mit mälde führt in die 2000 Jahre alte Grab-
Jerusalem des Jahres 30 war Frieden – Vertretern von vier weiteren Glaubens- höhle mit zwei offenen Kammern. Nach
»gab es unter römischer Herrschaft keinen richtungen die Hoheit über die Kirche tei- einer nicht biblischen Überlieferung soll
Fall, dass eine Leiche nach der Hinrich- len. »Das verlangt viele Kannen Tee, die jener Mann, der sich angeblich um den
tung einfach dort blieb, wo sie war«, sagt man vorher gemeinsam trinken muss«, Leichnam von Jesus gekümmert hatte, spä-
Smith. sagt er. ter hier bestattet worden sein.
Außerdem gab es schon vor Jahrzehn- Bei der Errichtung der Grabeskirche hät- Die meisten Pilger werden die schäbige
ten einen bis heute einzigartigen Fund: das ten Konstantins Leute im Felsen fünf jüdi- Kapelle und die Grabhöhle wohl auch in
von einem Nagel durchbohrte Fersenbein sche Gräber aus der Jesus-Zeit nahe bei- diesen Ostertagen wieder mit keinem Blick
eines gekreuzigten Mannes namens Jeho- einander gefunden. Sie sind alle noch er- würdigen, weil sie nichts von der Geschich-
hanan. Archäologen hatten es 1968 in ei- halten. Vier davon sind Familiengruften te ahnen. Es kann sein, dass all diese Men-
nem Grab nördlich von Jerusalem ent- mit mehreren Kammern, deshalb hätten schen zwar weit gereist sind, um den hei-
deckt. Der Knochen stützt Smith’ Theorie. die antiken Archäologen das einzige leere ligsten Ort der Christenheit zu sehen – aber
Wurde Jesus also tatsächlich in der Grab- Einzelgrab mit einem Rollstein zur Jesus- dann ein paar Meter an ihm vorbeigehen.
kapelle über Golgatha abgelegt, wie die Höhle erklärt. Clemens Höges, Dietmar Pieper
Professorin Moropoulou nach der Mörtel- Vieweger hält diesen Schluss nicht für
Twitter: @DiPiep
analyse sagt? zwingend. »Das richtige Grab kann auch
Zum ersten Mal wurden die genauen unter den vier Familiengräbern sein«, sagt
Umrisse und Abbruchkanten des Felsens er. Video
Wo liegt Golgatha?
unter ihrer Führung vermessen. 60 Stunden Vielleicht ist es jenes, das heute »Grab
stand das Grab selbst offen, dann waren des Josef von Arimathäa« genannt wird. spiegel.de/sp142018jesus
dort die Restaurierungsarbeiten und Mate- Der Weg dorthin führt durch die »Kapelle oder in der App DER SPIEGEL
rialanalysen abgeschlossen. Moropoulou der Syrer«, ein schmuddeliges Gewölbe:

18 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


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Deutschland
»So gut wie nirgendwo gibt es so viel Rechtsunsicherheit, was am Lebensende wann wem erlaubt ist.« ‣ S. 40

LUDOVIC MARIN / AP
Macron, Merkel am 16. März im Pariser Élysée-Palast

EU-Reform

Merkel bremst bei Bankenunion


Rückschlag für Frankreichs Reformpläne der Wirtschafts- und Währungsunion

 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat beim jüngsten Der Bankenabwicklungsfonds soll bis Ende 2023 ein Volumen
Eurogipfel in Brüssel die Erwartung an schnelle Reformen bei von 55 Milliarden Euro umfassen. Da dieser Betrag zur Abwick-
der Bankenunion gedämpft. Diese hat die Aufsicht über Europas lung mehrerer Großbanken nicht ausreichen könnte, schlägt
Großbanken und soll künftig bei Bedarf auch deren Abwicklung unter anderem die EU-Kommission vor, dass der Fonds im Not-
übernehmen können. Merkel äußerte Bedenken gegen Pläne der fall auf ein Darlehen in Höhe von 60 Milliarden Euro beim ESM
EU-Kommission, die sogenannte Letztabsicherung (»Common zurückgreifen darf.
Backstop«) des Bankenabwicklungsfonds beim Eurorettungs- Merkels Position bedeutet einen Rückschlag für Frankreichs
schirm ESM anzugliedern. Das ESM-Gesetz sehe vor, dass das Präsidenten Emmanuel Macron, der auf umfassende Reformen
Geld aus dem Fonds nur zum Einsatz kommen könnte, wenn in der Wirtschafts- und Währungsunion drängt, wie etwa ein
»die Eurozone als Ganzes gefährdet« sei, sagte Merkel im Kreis eigenes Budget zur Bekämpfung wirtschaftlicher Schocks. Die
der Staats- und Regierungschefs der 19 Euroländer am Freitag angedachten Ergänzungen bei der Bankenunion sollen ein Teil
vor einer Woche. Eine derartige Gefahr drohe aber nicht zwin- der Reformen sein, mit denen sich die EU beim Gipfel im Juni
gend bei der Rettung einzelner Banken. Merkel führte zudem befassen will. Ein Regierungssprecher betonte, dass die Haltung
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM aus dem der Bundesregierung »zur Zukunft des ESM derzeit abgestimmt«
Jahr 2014 an, nach dem der Bundestag jeweils die Letztentschei- werde, »verfassungsgerichtliche Vorgaben« würden »selbstver-
dung über Ausgaben aus dem Fonds behalten muss. ständlich« berücksichtigt. MP

20 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Hartz IV Jobs auf einem sozialen Arbeitsmarkt Weißer Ring
anbieten, um ihnen gesellschaftliche »Gut vernetzt«
»Ich warne, das System Teilhabe zu ermöglichen.
infrage zu stellen« SPIEGEL: In Deutschland gibt es derzeit  In der Affäre um mutmaßliche Über-
rund 845 000 Langzeitarbeitslose, für griffe auf Frauen beim Weißen Ring in
Detlef Scheele, 61, Vor- wie viele käme eine solche Maßnahme Lübeck prüft das Innenministerium
standsvorsitzender der infrage? Schleswig-Holstein, ob hohe Landes-
Bundesagentur für Arbeit, Scheele: Man darf den sozialen Arbeits- beamte versagt haben. Auslöser ist eine

HC PLAMBECK
über ein »solidarisches markt nur denen anbieten, die es sehr Mail vom 20. Juli 2017, die der Lübecker
Grundeinkommen« und schwer auf dem normalen Arbeitsmarkt Polizeichef Norbert Trabs ins Ministe-
die Kritik an Hartz IV haben. Das sind unseren Forschern rium geschickt hatte. Wie sich nach
zufolge bis zu 200 000 Personen. Bei Recherchen von SPIEGEL und »Lübecker
SPIEGEL: Gehört Hartz IV abgeschafft, allen anderen muss man sich bemühen, Nachrichten« herausstellt, ging sie an
wie gerade diskutiert wird? durch abschlussorientierte Qualifizie- zwei Spitzenbeamte, die mittlerweile aus
Scheele: Es gibt die Grundsicherung rung, Ausbildung und Vermittlung anderen Gründen nicht mehr in ihren
für Arbeitssuchende seit fast 15 Jahren. einen Weg in den ersten Arbeitsmarkt Ämtern sind, sowie an eine heute noch
Da ist es vernünftig zu schauen, ob zu bauen. aktive stellvertretende Abteilungsleiterin.
noch alles zeitgemäß ist. Ich warne aber SPIEGEL: Wie soll das gelingen? Keiner von ihnen informierte die Haus-
davor, das ganze System infrage zu Scheele: Man muss die Betroffenen spitze. Deshalb wurden alle drei aufgefor-
stellen. Dafür gibt es keinen Anlass, intensiver betreuen. Bei drei Pilot- dert, dienstliche Stellungnahmen abzu-
weil wir Erfolge haben. Es geht darum, projekten von uns hat sich die Vermitt- geben. Die Mail des Polizeichefs bezog
Schwachstellen zu beheben. lungsquote verdoppelt, wenn unsere sich auf einen Belästigungsversuch von
SPIEGEL: Berlins Regierender Bürger- Vermittlungsfachkräfte die Menschen Detlef Hardt, Chef des Weißen Rings
meister Michael Müller fordert ein »soli- häufiger gesehen haben. Es geht doch
darisches Grundeinkommen«: Hartz-IV- nicht darum, Menschen in einem sozia-
Empfänger sollen gegen Zahlung eines len Arbeitsmarkt zu »parken«, sondern

IMAGO STOCK&PEOPLE / IMAGO / BLICKWINKEL


Mindestlohns mit gemeinnützigen, staat- in reguläre Arbeit zu bringen. Bevor wir
lich subventionierten Jobs versorgt wer- uns in Wortspielereien wie »Grund-
den. Ergibt das Sinn? einkommen« ergehen, sollten wir uns
Scheele: Der Name ist problematisch. um solche Instrumente kümmern.
Er ist nah am Begriff des »bedingungs- SPIEGEL: Welche Reformen halten Sie
losen Grundeinkommens«, aber hat für vordringlich?
nichts damit zu tun. Er weckt Erwartun- Scheele: Von dem Geld, das wir in der
gen, die er nicht erfüllen kann. Lassen Grundsicherung erhalten, geben wir,
Sie uns lieber anpacken und umsetzen, vereinfacht gesagt, 38 Prozent für die
was im Koalitionsvertrag steht, da Eingliederung der Menschen aus und
sind Mittel für einen sozialen Arbeits- 62 Prozent für die Verwaltung. Das ist Holstentor in Lübeck
markt eingestellt, darum sollten wir uns ein Missverhältnis. Wir müssen das
kümmern. System so vereinfachen, dass wir mehr in Lübeck. Darin hieß es: »Da es sich
SPIEGEL: Für wen ist der gedacht? Geld und Zeit für die Vermittlung der um den Vorsitzenden des Weißen Rings
Scheele: Es geht um Menschen, die so Menschen in Arbeit haben. MAD Lübeck handelt, der sehr gut vernetzt
große Probleme haben, dass sie so gut ist, könnte die Angelegenheit Wellen
wie keine Chance auf dem regulären ‣ Lesen Sie auch auf Seite 32 das schlagen.« Der damalige Landesvorsit-
Arbeitsmarkt haben. Denen müssen wir SPIEGEL-Gespräch mit Bundeswirtschafts- zende des Weißen Rings, Ex-Justizminis-
befristet sozialversicherungspflichtige minister Peter Altmaier. ter Uwe Döring, überlege, »wie man
die Situation ›geräuschlos‹ bearbeiten
kann«. Das, meldete Trabs ins Ministe-
rium, sei aber »nicht die Angelegenheit
Uno-Posten Dr. Heusgen ihre Stelle aufgrund seiner der Polizei«. Trotz dieser Mail blieb
Heusgen »flankierte« nur Flankierung bekam« – letztlich habe sie Hardt, früher Polizist, noch bis Novem-
ja einen anderen Posten angetreten als ber im Amt.
 Die Bundesregierung sieht kein Pro- den, den ihr Mann für sie angestrebt Auch Hardts Anwalt Oliver Dedow
blem darin, dass der frühere Spitzenbe- hätte. Christoph Heusgen, heute deut- sorgt beim Weißen Ring für Empörung.
amte im Kanzleramt Christoph Heus- scher Botschafter bei den Vereinten Dedow war bisher einer von acht Juris-
gen seine Position nutzte, um seiner Nationen, hatte Ende 2016 von seiner ten, die der Verein hilfesuchenden
Ehefrau bei der Suche nach einem Pos- Dienstadresse im Kanzleramt die Opfern in Lübeck empfohlen hat. Der
ten bei den Vereinten Nationen zu hel- designierte Kabinettschefin des Uno- Weiße Ring hat ihn nun von der Liste
fen. In einer Antwort auf eine Kleine Generalsekretärs in einer Mail gebeten, gestrichen. Dedow verteidigt nicht nur
Anfrage des AfD-Abgeordneten Anton »dabei zu helfen, dass meine Frau Ina den mutmaßlichen Täter, er hat kürz-
Friesen heißt es, Heusgen habe »in sei- eine Stelle im Büro des Generalsekre- lich für Hardt auch Anzeige gegen
ner Eigenschaft als im Bundeskanzler- tärs bekommt« (SPIEGEL 47/2017). Die unbekannt gestellt – wegen Verleum-
amt für die internationale Personalpoli- Bundesregierung rechtfertigt dies mit dung. Die Anzeige zielt auf Frauen, die
tik zuständiger Abteilungsleiter« die den Zielen, die deutsche »Personal- Hardt belasten. Betroffen sein könnten
Bemühungen der Bundesregierung um präsenz in internationalen Organisatio- also auch mutmaßliche Opfer, die
eine »politische und strategisch wichti- nen« zu erhöhen, die Familienfreund- Dedow früher beraten hat. Der Anwalt
ge Stelle« für Ina Heusgen »flankiert«. lichkeit im öffentlichen Dienst zu stär- sieht in seinem Mandat keinen Interes-
Es sei aber »unzutreffend, dass Frau ken und Frauen zu fördern. AMA senkonflikt. IT

21
Zeitgeschichte
20 000 Sowjet-Spione in
der Bundesrepublik?
 Nach Einschätzung des US-Geheim-
dienstes CIA hätte die Bundesrepublik
im Kalten Krieg »innerhalb eines Jah-
res« eine Atomwaffe herstellen können.
Rund sechs Jahre hätte es gebraucht,
um nuklearwaffenfähige Raketen zu sta-
tionieren, die die Sowjetunion hätten
erreichen können. Das belegt die CIA-
Studie »Westdeutsche Fähigkeiten und
Absichten zur Produktion und Statio-
nierung von Nuklearwaffen« von 1966,

LARS BERG / IMAGO


die William Burr von der privaten Orga-
nisation National Security Archive jetzt
veröffentlicht hat. Die Amerikaner
schätzten, dass westdeutsche Kernkraft-
»Tornado«-Kampfjet im schleswig-holsteinischen Jagel werke schon 1970 rund tausend Kilo-
gramm Plutonium pro Jahr hätten pro-
Rüstung keinem Nato-Einsatz mehr teilnehmen«, duzieren können, genug für über hun-
»Tornados« Nato-untauglich heißt es im BMVg-Papier. Die Moderni- dert Atomwaffen. Auf der Tagesord-
sierung bedeute noch nicht abschätzbare nung stand damals der Abschluss eines
 Deutschland kann wegen der alters- »Mehrkosten in Millionenhöhe«. Ebenso Atomwaffensperrvertrags – die Ameri-
schwachen Kampfjets der Bundeswehr besitzt der »Tornado« bis heute kein von kaner beobachteten aufmerksam mög-
seine Nato-Bündnisverpflichtungen nicht der Nato gefordertes Freund-Feind- liche Atomwaffenstaaten. Immerhin
einhalten. In einem vertraulichen Bericht Erkennungssystem, das irrtümliche An- bezweifelte Washington den Willen
schreibt das Bundesverteidigungsminis- griffe auf alliierte Jets vermeiden soll. Der Bonns zum Bau einer eigenen Bombe.
terium (BMVg), dass die 93 »Tornados« Einbau der Geräte in die deutschen »Tor- Laut CIA unternahmen eigene Agenten
deshalb sofort umfangreich modernisiert nados« sei bis 2019 »nicht mehr realisier- sowie die rund 20 000 sowjetischen
werden müssten. Das IT-System und die bar«, so der Bericht. Trotz der Mängel Spione in der Bundesrepublik »große
Verkabelung der in den Achtzigerjahren hat Deutschland bei der Nato zehn »Tor- Anstrengungen«, um jeden Schritt in
eingeführten Jets, die im Ernstfall auch nados« für deren Eingreiftruppe angemel- diese Richtung aufzudecken. KLW
amerikanische Atombomben abwerfen det. Verteidigungsministerin Ursula von
sollen, gelten als veraltet. Der Jet ist der Leyen (CDU) hatte 2016 entschieden,
daher nicht ausreichend abhörsicher und die »Tornados« noch bis 2035 und damit
verfügt über kein kryptiertes Kommuni- länger als geplant zu nutzen. In der Nato
kationssystem. Im jetzigen Zustand Zwischenzeit will sie einen marktverfüg- Entspannung am Himmel
»könnte das Waffensystem ›Tornado‹ an baren Nachfolger aussuchen. MGB, GT
 Die Gefahr eines militärischen
Zwischenfalls zwischen der Nato und
Russland im Luftraum über Europa
AfD AfD-Vorstand, »und zugleich mit einem hat sich verringert. Nach Angaben aus
Pegida ja, Bachmann nein Rechtsbrecher auf der Bühne stehen.« Brüssel verletzten die Russen den
Auf Pegida selbst will die AfD nicht ver- Luftraum der Nato von Anfang 2016
 Die AfD will mit der rechten Straßen- zichten, weil man die Straßenbewegung bis Ende 2017 viermal. Nach Aus-
bewegung Pegida kooperieren – nicht in Sachsen als Unterstützer sieht. bruch der Krimkrise kamen solche
aber mit deren Frontmann Lutz Bach- Befürchtet wird intern, dass die abtrünni- Zwischenfälle hingegen beinahe jeden
mann. Auf einem Geheimtreffen des Lan- ge Parteichefin Frauke Petry der AfD bei Monat vor. Auch stiegen westliche
desvorstands der AfD Sachsen mit meh- der Landtagswahl 2019 mit ihrer neuen Abfangjäger zuletzt seltener wegen
reren Bundesvorständen am Dienstag- Partei Blaue Wende mehrere Prozent- russischer Flugzeuge auf: 2014 und
abend im sächsischen Siebenlehn wurde punkte abjagen könnte. AMA 2015 führte die Nato jeweils mehr als
Teilnehmern zufolge beschlossen, auf 400 sogenannte Alarmstarts durch,
Distanz zu Bachmann zu gehen. Partei- 2017 ging die Zahl auf 250 zurück.
mitglieder sollen intern dazu aufgefor- Alarmstarts werden ausgelöst, wenn
ZUMA WIRE / ZUMA PRESS / ACTION PRESS

dert werden, auf Auftritte mit dem Pegi- sich russische Flugzeuge etwa den
da-Organisator zu verzichten und ihn Grenzen der baltischen Staaten
nicht mehr zu AfD-Veranstaltungen ein- nähern, ohne sich zu identifizieren.
zuladen. Kooperationen sollten künftig Moskau und Brüssel haben einander
über Siegfried Däbritz, Bachmanns in der Vergangenheit häufig »Provo-
Co-Chef, laufen. Die AfD fürchtet, Bach- kationen« vorgeworfen. Unklar ist, ob
manns langes Vorstrafenregister könnte russische Zurückhaltung oder west-
Wähler vor allem im Westen verprellen. liche Gelassenheit zur Trendwende
»Wir können nicht die Rechtsbrüche der geführt hat. Die Nato will sich dazu
Bundesregierung anprangern«, sagt ein Bachmann nicht äußern. KLW

22 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


DIGEL.DE
MORRIS MACMATZEN / GETTY IMAGES
LEHTIKUVA / REUTERS

Beobachter vor der Justizvollzugsanstalt Neumünster, Politiker Puigdemont in Helsinki: Über Nacht zur Weltbühne

24
Deutschland

Warten in Neumünster
Justiz Die Bundesregierung könnte die Entscheidung beeinflussen,
ob der abgesetzte Ministerpräsident Kataloniens, Carles Puigdemont, nach Spanien
ausgeliefert wird. Doch sie gibt sich lieber teilnahmslos.

D
as Stück Weltpolitik spielt vor ei- sche Angelegenheit, war die unerschütter- Dass die Regierung sich so festlegt und
ner historischen Kulisse aus ro- liche Sprachregelung seit Beginn der Ver- distanziert, irritiert den stellvertretenden
tem Backstein. Vor 113 Jahren schärfung der Krise im Herbst vergangenen Direktor der Stiftung Wissenschaft und
wurde die Justizvollzugsanstalt Jahres. Sie ist es bis heute. Der Konflikt Politik, Günther Maihold. Die Bundesre-
Neumünster gebaut, sie sieht mit ihren müsse »innerhalb der spanischen Rechts- gierung finde sich plötzlich »im Treibsand
Giebeln und der mächtigen Toreinfahrt und Verfassungsordnung gelöst werden«, einer Auseinandersetzung« wieder, in der
aus wie eine kaiserliche Festung. 571 Häft- sagte Regierungssprecher Steffen Seibert reines Vertrauen auf die Entscheidungen
linge haben Platz, der zurzeit berühmteste am Tag nach der Festnahme. Schließlich der Justiz und politische Zurückhaltung
Gefangene wohnt auf neun Quadratme- sei Spanien ein demokratischer Rechts- nicht ausreichten, sagt der Professor. Er
tern und bekommt viel Besuch. staat. Der Sprecher des Auswärtigen Amts fordert Regierung und Bundestag auf, die
Der Europaabgeordnete Bernd Lucke ist verwies auf die Unabhängigkeit der Justiz. Zeit der juristischen Prüfung zu nutzen,
gekommen, der längst vergessene und aus Die vornehme Zurückhaltung aber um die spanischen Konfliktparteien zu ei-
der Partei ausgetretene Gründer der AfD. überspielt nur das Dilemma, in dem die nem »verfassungspolitischen Dialog« ein-
Er bleibt 90 Minuten lang bei Carles Puig- Bundesregierung steckt. Auch wenn das zuladen. Mit dem Ziel, »die drohende Es-
demont im Besucherraum. Danach tritt er Verfahren des Europäischen Haftbefehls kalation nach der Entscheidung über die
vor die Fernsehkameras und verkündet mit gegen Puigdemont festen Regeln folgt, Auslieferung zu vermeiden«.
aufgeregter Stimme: Der Politiker aus Ka- wirft die Festnahme auch politische Fragen Dass ausgerechnet Deutschland in die-
talonien werde sein Ehrenwort geben, nicht auf. Sind die Vorwürfe gegen den Politiker sen politischen Treibsand geraten ist, hat
zu fliehen, wenn er freigelassen würde. tatsächlich strafrechtlicher oder doch po- auch mit der Schwäche des europäischen
Andreas Beuth ist da, der linke Szene- litischer Natur? Ist er also ein mutmaß- Rechtsraums zu tun. Es fehlt an einer ge-
anwalt der Hamburger Roten Flora, und licher Straftäter oder doch ein politisch meinsamen Rechtssprache. Delikte, die in
ein 18-jähriger Schüler aus Lübeck, der Verfolgter? Weil Auslieferungsersuchen Spanien strafbar sind, gibt es im deutschen
das »Solidaritätscomité Katalonien« ver- häufig eine politische Note haben, sieht Strafgesetzbuch nicht – und umgekehrt.
tritt. Mit 47 anderen Aktivisten stehen sie das Gesetz vor, dass die Bundesregierung Trotz gemeinsamer Instrumentarien wie
vor dem Gefängnis und fordern, Puigde- dem Europäischen Haftbefehl zeigt die
mont freizulassen. Praxis, dass jeder Nationalstaat nach eige-
Es nieselt, zwei Grad über null, die Poli- Deutschland folgte nem Belieben damit umgeht.
zisten sitzen im Mannschaftswagen mit mustergültig den Regeln »Eine breite Debatte über einen echten
Standheizung. Obwohl die Versammlung europäischen Strafverfolgungs- und Fahn-
nicht genehmigt ist, lassen sie die Demon- und brachte sich dungsraum ist seit Jahren überfällig«, sagt
stranten die katalanische Separatistenfah- damit in die Zwickmühle. Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher
ne schwenken. Kriminalbeamter. »Wir brauchen ein ein-
Die Stadt ist mit der Festnahme des ehe- heitliches europäisches Regelwerk zur Ver-
maligen katalanischen Regierungschefs am Einfluss nehmen und eine Auslieferung am folgung schwerwiegender Delikte, also ge-
vergangenen Sonntag zur Weltbühne ge- Ende bewilligen kann oder auch nicht. wissermaßen eine Europäische Strafpro-
worden – und Deutschland zu einem Regis- »Wir erwarten, dass die Bundesregie- zessordnung.«
seur wider Willen. Egal, welches Urteil die rung – ebenso wie es die Regierungen an- Doch davon ist man weit entfernt, wie
deutschen Institutionen am Ende fällen: Das derer europäischer Staaten bereits getan der Fall Puigdemont zeigt. Allein Deutsch-
Stück muss für Deutschland schlecht enden. haben – von ihrer im Gesetz ausdrücklich land, so scheint es, folgte mustergültig den
Verweigern die Deutschen das Ersuchen vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch ma- Regeln und brachte sich damit in die
der spanischen Justiz, den Vorkämpfer der chen wird, die Auslieferung nicht zu be- Zwickmühle.
katalanischen Unabhängigkeitsbewegung willigen«, sagen die deutschen Anwälte Als vorvergangenen Freitag die spani-
auszuliefern, ist das Verhältnis zu einem Puigdemonts, Sören und Wolfgang Schom- sche Justiz den Haftbefehl zum Spezial-
politisch und wirtschaftlich wichtigen Part- burg. Sie sehen »ein breites außenpoliti- verfahren 20907/2017 gegen Puigdemont
ner in der Europäischen Union schwer ge- sches Ermessen« der Regierung. erneuerte, befand sich der 55-jährige Poli-
stört. Liefern sie Puigdemont aus, befeu- Diesem Wunsch aber wird die Bundesre- tiker in Helsinki und besuchte den Freun-
ern sie die Wut der Katalanen und lassen gierung wohl nicht nachkommen. Sollte die deskreis Kataloniens im finnischen Parla-
die Auseinandersetzungen womöglich es- Justiz den Weg für eine Auslieferung frei ma- ment. Einer seiner Gastgeber hatte wohl
kalieren. Umso befremdlicher ist, wie teil- chen, so verlautet es einhellig aus der Gro- unbeabsichtigt den spanischen Geheim-
nahmslos die Bundesregierung in dieser ßen Koalition, werde man keinen politischen dienst auf die Spur des Flüchtigen gesetzt:
Tragödie wirkt. Widerstand leisten. Auch andere Schritte Ein Tweet verriet, dass der Gast am Don-
Die deutsche Regierung ist über Nacht sind demnach nicht geplant. Politische Ini- nerstagabend anreisen und zwei Tage spä-
zu einem Akteur in dem Konflikt gewor- tiativen für eine Aussöhnung müssten aus ter abreisen wollte.
den, an dem sie nie teilhaben wollte. Der Spanien kommen, die deutsche Regierung Als Puigdemont erfuhr, dass die finni-
Streit um Katalonien sei eine innerspani- sehe sich nicht in der Rolle eines Beraters. schen Behörden ihn festnehmen wollten,

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 25


ANDREU DALMAU / EPA-EFE / REX/SHUTTERSTOCK
Polizisten, Demonstranten in Barcelona nach Festnahme Puigdemonts: Verhaftet auf einem Parkplatz etwa 30 Kilometer hinter der Grenze

ließ er seinen Flug verfallen und nahm be- bestand der Rebellion nicht kennt, hätte Wie spanische Zeitungen berichteten,
reits am Freitagabend ein Schiff nach Puigdemont allenfalls wegen des Finanz- waren zwölf CNI-Beamte und zehn Poli-
Stockholm. Dort ließ er sich von zwei ka- delikts ausgeliefert werden können. In Spa- zisten einer Spezialeinheit auf die Verfol-
talanischen Polizisten im Auto abholen, nien wäre er dann auch nur deshalb ange- gung des ehemaligen Ministerpräsidenten
die ihm als Fahrer zur Verfügung standen. klagt worden. während seiner Reise angesetzt. Sie orte-
Ende Oktober 2017 setzte der spanische Darin aber sah der nun zuständige Rich- ten Puigdemont über die GPS-Signale
Ministerpräsident Mariano Rajoy den ka- ter am Obersten Gerichtshof eine unglei- eines am Auto angebrachten Peilsenders
talanischen Regionalpräsidenten Puigde- che Behandlung gegenüber den in Spanien und des Smartphones eines Begleiters.
mont und die Mitglieder seines Kabinetts verbliebenen Angeklagten. Deshalb setzte Das BKA schickte die Informationen
ab, nachdem die Abgeordneten in Barce- er die Europäischen Haftbefehle aus. Am der Fahndung an die Bundespolizei und
lona dafür gestimmt hatten, Katalonien Mittwoch vergangener Woche legte der- das Landeskriminalamt in Schleswig-Hol-
vom spanischen Staat loszulösen. Am selbe Richter die 69-seitige Anklage gegen stein. Um 23.28 Uhr am Samstag infor-
1. Oktober hatte Puigdemont ein verfas- die katalanischen Politiker vor. Überzeugt mierte es außerdem das Bundesinnen-
sungswidriges Referendum über die Un- von seiner Argumentation, reaktivierte er ministerium, das Bundesjustizministerium
abhängigkeit abhalten lassen. die Europäischen Haftbefehle. sowie das Bundesamt für Justiz per E-Mail
Einer Vorladung vor den Nationalen Ge- Auf der Fahrt durch Schweden und Dä- über den wieder eröffneten Haftbefehl.
richtshof in Madrid entzog sich Puigde- nemark blieb Puigdemont unbehelligt und Eine Rücksprache erfolgte wohl nicht.
mont, indem er sich in Begleitung von vier setzte seine Fahrt nach Deutschland unge- Die zuständigen Ministerien, so erklärt
Ex-Ministern nach Belgien absetzte. Sein stört fort. Das Bundeskriminalamt (BKA) es ein Beamter, hätten bereits den ersten
Stellvertreter und sieben Kabinettsmitglie- erfuhr bereits am Samstag, dass Puigde- Haftbefehl gegen Puigdemont geprüft und
der wurden in Untersuchungshaft genom- mont auf dem Weg ins Land war. Die In- beschlossen, dass einer Festnahme in
men. Eine Richterin erließ für die fünf formationswege für die europaweiten Fahn- Deutschland nichts entgegenstehe. An die-
Flüchtigen Europäische Haftbefehle. Ein dungen sind kurz: Der spanische Verbin- ser Einschätzung habe sich nichts geändert,
Vorwurf lautete »rebelión« gegen die dungsbeamte hat seinen Arbeitsplatz im deshalb habe es keinen Gesprächsbedarf
Staatsgewalt, ein Straftatbestand, auf den BKA. Puigdemont sei am Sonntagmorgen gegeben. Und so erfuhr das Justizminis-
bis zu 25 Jahre Haft stehen. Der andere an der deutsch-dänischen Grenze zu erwar- terium, das bei Auslieferungsfragen feder-
ist die »Veruntreuung öffentlicher Gelder«, ten, aber »auf keinen Fall vor 10 Uhr«, hieß führend ist, nichts darüber, dass Puigde-
die wird mit bis zu 8 Jahren Haft bestraft. es in einer schriftlichen Mitteilung des spa- mont bereits auf dem Weg nach Deutsch-
Am 14. Dezember sollte ein Gericht in nischen Innenministeriums. Die Ermittlun- land war.
Brüssel über die Auslieferung Puigde- gen führte laut diesem Dokument die spa- Die Landespolizei besetzte am Sonn-
monts und seiner Begleiter nach Spanien nische Nationalpolizei gemeinsam mit dem tagmorgen Routen, die für den dänisch-
befinden. Da Belgien aber den Straftat- spanischen Geheimdienst CNI. deutschen Grenzverkehr infrage kommen.

26
Deutschland

Eine führt über die Autobahn A 7 und den katalanische Unabhängigkeit »internatio- tatbestand der Rebellion erfüllt sei«. Und
Grenzübergang Ellund, die andere über nalisieren«. In seinem Exil im belgischen erst recht gelte dies beim deutschen »Hoch-
die Bundesstraße 200. Um kurz nach Waterloo bekam er zuletzt kaum noch verrat«. Der ehemalige Vorsitzende Rich-
11 Uhr schalteten Autobahnpolizisten auf Aufmerksamkeit. Deshalb reiste er wieder ter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer,
der A 7 den Schriftzug »Folgen Sie mir« mehr, nach Kopenhagen und Genf zum sagt: »Es liegt nicht nahe, dass Herr Puig-
an, Carles Puigdemont wurde auf einem Beispiel, und spielte mit dem Risiko. Nach demont den Vorsatz hatte, mit Mitteln der
Rastplatz etwa 30 Kilometer hinter der seiner Verhaftung kann er sich nun zur Gewalt Spanien zu destabilisieren.«
Grenze festgenommen. Seine vier Beglei- Märtyrergestalt stilisieren. Zehntausende Selbst wenn aber das Gericht die Tat-
ter wurden auf freien Fuß gesetzt, darunter gingen seither in Katalonien auf die Straße bestände für vergleichbar hält, kann es
sein Freund und Finanzier, der katalani- und forderten seine Freilassung. zu dem Schluss kommen, dass Puigde-
sche Unternehmer Josep Maria Matamala, Ob der Protest eskaliert, hängt auch von mont von Spanien »politisch verfolgt«
sowie ein Historiker aus Barcelona. Um Deutschland ab. Das Oberlandesgericht wird. Dann wäre die Auslieferung unzu-
12.23 Uhr informierte das Lagezentrum Schleswig entscheidet, ob eine Auslie- lässig. Mit dieser Begründung könnte sich
des Bundesinnenministeriums die Kolle- ferung zulässig ist. Dafür prüft es zum die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig
gen aus dem Justizministerium über die Beispiel, ob die beiden Vorwürfe in dem sogar über einen Beschluss des Gerichts
Festnahme. Die Politik in Berlin war alar- 19-seitigen Europäischen Haftbefehl deut- hinwegsetzen. Als letzten Schritt schließ-
miert. schen Straftaten entsprechen: die »Rebel- lich bliebe Puigdemont der Gang zum
Am Sonntagabend telefonierten Justiz- lion« etwa dem deutschen »Hochverrat«, Bundesverfassungsgericht. Weil das Aus-
ministerin Katarina Barley, Außenminister die »Veruntreuung öffentlicher Gelder« lieferungsersuchen einen politischen
Heiko Maas, Kanzleramtschef Helge der deutschen »Untreue«. Nur wenn min- Hintergrund habe, gebe es »durchaus Mög-
Braun und Hans-Georg Engelke, Staats- destens ein Sachverhalt auch nach deut- lichkeiten für ein Verfassungsgericht, be-
sekretär im Bundesinnenministerium mit- schem Recht strafbar ist, ist eine Ausliefe- sonders zu differenzieren«, sagt der Göt-
einander. Die Runde war sich rasch einig, rung zulässig. Und nur wegen eines solchen tinger Europa- und Völkerrechtsprofessor
dass es keine politische Einmischung ge- Delikts kann in Spanien angeklagt werden. Frank Schorkopf.
ben dürfe. Kein Ressort habe Bedenken Ausgenommen sind 32 Kategorien schwe- Rechtsanwalt Wolfgang Schomburg, der
oder Kritik angemeldet, heißt es. Verhan- rer Straftaten, die nicht zwingend in bei- gemeinsam mit seinem Sohn Sören Puig-
delt wurde offenbar in erster Linie die Fra- den Ländern strafbar sein müssen. demont vertritt, sieht gute Chancen für
ge, wie die Zurückhaltung der Bundesre- Der Haftbefehl gegen Puigdemont, der seinen Mandanten. Den Haftbefehl hält
gierung am besten zu kommunizieren sei. dem SPIEGEL vorliegt, listet unter ande- er für »unschlüssig«. So haben die Spanier
»Es ist wichtig und richtig, dass die Poli- rem Gewaltakte gegen Polizisten im Vor- als Vorwurf auch »Korruption« ange-
tik sich nicht in ein rechtsstaatliches Ver- feld und am Tag des Referendums in Ka- kreuzt, »ohne dies mit einem Wort zu be-
fahren einmischt«, sagt Günter Krings, talonien auf. Polizeiwagen seien umringt, gründen«, wie der Anwalt sagt. Zum Vor-
Parlamentarischer Staatssekretär beim Beamte an Durchsuchungen und Festnah- wurf der »Veruntreuung öffentlicher Gel-
Bundesinnenminister. »Ein Skandal liegt men gehindert worden. Mehrere Polizis- der« falle die Begründung mager aus.
nicht in der Festnahme Puigdemonts in ten seien dabei verletzt worden. Das Oberlandesgericht aber ist mit dem
Deutschland, sondern blamabel ist die Un- Allerdings hat Puigdemont laut dem Fall noch gar nicht befasst, die General-
tätigkeit der Behörden in Finnland oder Dokument mit den gewalttätigen Aus- staatsanwaltschaft hat den Antrag bis Re-
Dänemark.« Die Opposition sieht das an- schreitungen lediglich gerechnet, aber daktionsschluss nicht gestellt. Theoretisch
ders und kritisiert den »offensiven Schul- nicht dazu aufgefordert. »Es ist offensicht- könnte die Behörde darauf verzichten,
terschluss« der Bundesregierung »mit der lich, dass das keinen deutschen Straftatbe- wenn sie eine Auslieferung von vornherein
Linie von Ministerpräsident Rajoy«, wie stand erfüllt«, sagt der Karlsruher Straf- für unzulässig hielte. Dann käme Puigde-
es Andrej Hunko, Bundestagsabgeordne- verteidiger Michael Rosenthal. mont sofort frei.
ter der Linken, ausdrückt. »Die enge Bin- Auch der Kölner Auslieferungsrechts- Die Generalstaatsanwaltschaft will in der
dung an Madrid und die distanzierte bis experte Nikolaos Gazeas sagt, schon nach Woche nach Ostern entscheiden und hat
feindselige Haltung zu den Unabhängig- spanischem Recht gebe es »erhebliche sich bereits mit dem Bundesjustizministe-
keitsbewegungen scheint mir eine Kon- Zweifel, ob im Fall Puigdemont der Straf- rium »ins Benehmen« gesetzt, wie es vor-
stante in der deutschen Spanienpolitik zu gesehen ist. Justizministerin Barley könnte
sein, die ich für falsch halte.« theoretisch am Ende nach Rücksprache mit
Auch die Grünenabgeordnete Franziska Kanzleramt und Auswärtigem Amt ein
Brantner glaubt, dass die anscheinend be- Veto gegen Puigdemonts Auslieferung ein-
dingunglose Solidarisierung der deutschen legen. In der Regierung würde man einen
Regierung mit Rajoy »auf Dauer nicht hilf- solchen Schritt aber als rechtspolitischen
reich ist«. Man müsse erkennen, dass dies Affront gegen die Länder ansehen, denen
der Lage nicht gerecht werde. der Bund das Bewilligungsverfahren über-
In Madrid ist man zufrieden, dass Puig- tragen habe, wie es im Kanzleramt heißt.
demont in Deutschland festgesetzt wurde, Immerhin bliebe es den deutschen Be-
und bezeichnet die Zusammenarbeit der hörden im Falle einer Auslieferung erspart,
Sicherheitsbehörden als »exzellent«. Mög- Puigdemont selbst nach Spanien zu über-
licherweise hat aber auch Puigdemont bil- stellen. Die Spanier träfe in diesem Fall
ligend in Kauf genommen, in Deutschland eine »Holschuld«, wie Juristen sagen. Sie
aufgegriffen zu werden. Er hätte zumin- würden den katalanischen Rebellen dann
KAY NIETFELD / DPA

dest wissen können, dass er überwacht selbst in Deutschland abholen müssen.


wird. Einer seiner Sicherheitsleute hatte Melanie Amann, Annette Bruhns,
schon vor zwei Monaten Peilsender am Jörg Diehl, Dietmar Hipp,
Auto entdeckt. Christiane Hoffmann, Martin Knobbe,
Wiederholt hat Puigdemont seit seiner Justizministerin Barley Andreas Ulrich, Helene Zuber
Flucht erklärt, er wolle den Kampf für die Sie könnte ein Veto einlegen

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 27


Deutschland

Die Spur des Geldes


Europa Finanzmittel für Osteuropa soll es künftig nur noch geben, wenn sich die Regierungen
an Recht und Gesetz halten. Die Spaltung der EU droht sich zu vertiefen.

CZAREK SOKOLOWSKI / DPA


Kontrahenten Merkel, Morawiecki: Soll Brüssel den Haushalt nutzen, um widerspenstige EU-Mitglieder zu disziplinieren?

G
ünther Oettinger betritt den Sejm, sein Außenminister nehmen sich Zeit für ław Kaczyński, die Brüsseler Politiker ein-
das polnische Parlament, Dutzen- den Mann aus Brüssel, schließlich geht es fach abtropfen. Nun aber hat die EU einen
de Kameras schieben sich ihm um eine Frage, die für Polen und andere neuen Hebel angesetzt, dessen Wirksam-
entgegen. Ob er »bei den Regio- Länder im Osten lebenswichtig ist: Wie keit unbestritten ist. Ausgerechnet Oettin-
nalfördermitteln« etwas ändern wolle, ruft sieht der nächste EU-Rahmenhaushalt aus, gers Finanzplan für die Jahre 2021 bis 2027
ein Journalist auf Deutsch. Die Frage ist und wie viel Geld bekommen sie aus dem könnte für Bewegung sorgen.
sperrig, doch egal, was Oettinger darauf Gemeinschaftsbudget überwiesen? Nie wird in der EU härter verhandelt,
antwortet, in Polen wird das auf jeden Fall Es könnte deutlich weniger werden als als wenn es ums Geld geht, vor allem,
zu heißen News. Es geht darum, ob die bisher, und schuld daran ist die Regierung wenn insgesamt eine Billion Euro zu ver-
Milliarden aus EU-Fördertöpfen künftig in Warschau selbst. Wegen der umstritte- teilen sind. Beim letzten Mal zog sich das
nur noch ausgezahlt werden sollen, wenn nen Justizreform der Partei »Recht und Gefeilsche zwischen Geber- und Nehmer-
Polen sich an rechtsstaatliche Grundsätze Gerechtigkeit« (PiS), mit der sie sich die ländern (siehe Grafik) über 29 Monate.
hält. Es ist die Frage, die Oettinger am Richter des Landes gefügig machen könn- Verschärft wird die Lage, weil die EU dies-
Montag bei jedem Termin begleitet. te, hat die EU-Kommission ein sogenann- mal zwar mehr ausgeben will, etwa um
Oettinger ist zwar nur Haushaltskom- tes Rechtsstaatverfahren nach Artikel 7 ihre Außengrenzen zu schützen, Migran-
missar in der EU-Kommission, kein be- des EU-Vertrags eingeleitet. An dessen ten zu integrieren und grenzübergreifend
sonders glanzvoller Posten, doch in War- Ende könnte Polen sogar sein Stimmrecht zu forschen. Gleichzeitig ist weniger Geld
schau wird er behandelt wie ein Staatsgast. in EU-Gremien verlieren, doch bislang ließ da, weil mit den Briten demnächst ein fi-
Premierminister Mateusz Morawiecki und Polens starker Mann, PiS-Parteichef Jaros- nanzkräftiges Mitglied die EU verlässt.

28 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Dazu kommt nun die Frage, die Oettin- Oettinger nimmt den Ball dankend auf. ckelt aber in der Nähe von Viktor Orbáns
ger in Warschau aufgeworfen hat: Soll die »Wir können nur dort Haushaltsmittel ein- Heimatdorf entlang, ein Umstand, der das
EU das Geld auch nutzen, um widerspens- setzen, wo wir uns sicher sind, dass die Misstrauen der Kontrolleure erregte.
tige EU-Mitglieder zu disziplinieren? Noch Gerichte unabhängig sind«, sagt er in War- Ärger gab es bereits bei der Reisepla-
hat die Kommission nicht endgültig ent- schau vor polnischen Unternehmern. nung. »Vorbereitung und Organisation der
schieden; doch wenn es nach Oettinger Der Kommissar weiß: Es ist eine starke Mission waren schwierig wegen der an-
geht, ist die Antwort klar. Bei der Kom- Drohung, denn Transfers aus Brüssel sind fänglich fehlenden Kooperation«, heißt
missionssitzung am Mittwoch bekam er im Budget der Osteuropäer fest eingerech- es im Parlamentsbericht. Entsprechend
für die Idee breite Unterstützung. net. So machen EU-Mittel in Ungarn in niederschmetternd fiel der Befund am
Es ist eine explosive Mischung, doch der Finanzierungsperiode von 2014 bis Ende aus. »Öffentliche Ausgaben in Un-
Brüssel hat es satt, Jahr um Jahr Milliarden 2020 immerhin 2,6 Prozent des Bruttoin- garn leiden unter fehlender Transparenz«,
nach Osteuropa zu überweisen, nur um landsprodukts aus, in Polen sind es 2,4 Pro- schreiben die Parlamentskontrolleure, die
am Ende mit den Empfängern ständig zent, in Tschechien 1,8 Prozent und in der Gefahr »von Korruption« sei groß.
Stress zu haben. Rund 150 Milliarden Euro Slowakei 2,3 Prozent. Nun bringt eine milliardenschwere Kor-
haben allein die vier Visegrad-Staaten Diese Gelder sollen helfen, die Lebens- ruptionsaffäre Orbán zusätzlich unter
Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn verhältnisse zwischen Ost und West lang- Druck. Die Zeitung »Magyar Nemzet« be-
seit 2007 netto aus EU-Töpfen erhalten, sam anzugleichen, eine Erfolgsgeschichte, richtet über einen Ungarn, der in den USA
doch wenn es darum geht, Flüchtlinge auf- die der Generaldirektor für Regionalpoli- unter einem Zeugenschutzprogramm der
zunehmen oder Urteile des Europäischen tik den Haushaltskontrolleuren am Diens- Bundespolizei FBI steht. Der Mann hat
Gerichtshofs zu befolgen, zeigen sie der tag nahezubringen versuchte. Was sich in über ein gigantisches Geldwäschesystem
EU die kalte Schulter. Das sei ein Wahlhil- seiner Powerpointpräsentation allerdings ausgepackt. Offenbar sollen bis zu vier
feprogramm für Populisten und rechte Par- Milliarden Euro an EU-Geldern außer Lan-
teien wie die AfD, heißt es in Brüssel und des geschafft worden sein. Die Spur des
zunehmend auch in der Bundesregierung »Brüssel hat es satt, Geldes lasse sich bis in hohe Kreise von
unter Kanzlerin Angela Merkel. Milliarden zu über- Orbáns Partei Fidesz verfolgen, heißt es.
»Die EU ist eine Wertegemeinschaft, Noch dramatischer ist die Lage in der
nicht allein ein Binnenmarkt«, sagt Mi- weisen, nur um ständig Slowakei, vor allem nach der Ermordung
chael Roth (SPD), Europa-Staatsminister Stress zu haben.« des Journalisten Ján Kuciak und seiner
im Auswärtigen Amt. »Das muss sich dann Verlobten. Kuciak hatte recherchiert, wie
aber auch in den Haushalten der EU wider- EU-Gelder offenbar in mafiösen Kanälen
spiegeln.« Alle Mitgliedstaaten stünden in nicht wiederfindet, ist ebenfalls europäi- versickern, entsprechend viele Fragen hat-
der Pflicht, die Prinzipien des Rechtsstaats scher Alltag: Immer wieder stellen die te eine Abordnung von EU-Parlamenta-
zu achten. »Wenn dies nicht geschieht, Kontrolleure fest, dass die Gelder miss- riern bei einem eilig anberaumten Besuch
dann muss das auch Auswirkungen auf die bräuchlich eingesetzt werden. Anfang März. Doch wer dachte, die slo-
Gewährung von EU-Mitteln haben.« Der entscheidende Grund dafür, so die wakische Regierung habe ein Interesse an
So droht sich die Spaltung zwischen Ost Chefin des EU-Haushaltskontrollausschus- Aufklärung, täuschte sich. Mal gab es kei-
und West weiter zu vertiefen, und das ses, Oettingers Parteifreundin Inge Gräßle: ne Simultandolmetscher, mal wollten die
ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Weil die EU nicht die Kapazitäten hat, Slowaken verhindern, so der anschließen-
die EU wegen des Nervengiftanschlags von müssen die begünstigten Mitgliedstaaten de Bericht, dass die ganze EU-Delegation
Salisbury und Donald Trumps Drohung mit weitgehend selbst prüfen, ob die EU-Gel- bei den Gesprächen dabei sein konnte.
einem Handelskrieg Einigkeit demonstrie- der sinnvoll ausgegeben werden. Logisch, Gräßles Fazit ist angesichts dieser Bi-
ren müsste. »Ein Kampf Migration gegen dass manche nicht allzu viel Eifer an den lanz wenig überraschend: »Ich wünsche
Kohäsion, Agrarförderung gegen Mittel für Tag legen, wenn es darum geht, Missstän- mir schärfere Instrumente im nächsten
eine gemeinsame Verteidigung würde die de im eigenen Land aufzudecken. mehrjährigen Finanzrahmen, auch eine
EU spalten«, mahnt Oettinger im polni- Zu einem entsprechenden Befund ka- Verknüpfung mit der Frage der Rechts-
schen Parlament. Und auch Agrarkommis- men Gräßle und ihre Kollegen etwa im staatlichkeit ist angebracht.«
sar Phil Hogan klagt: Die Rivalität zwischen vergangenen September bei einer Visite Oettinger ist längst an der Arbeit, am
Ost und West »kriecht in die Debatte«. in Ungarn. Dort standen nicht nur Gesprä- Mittwoch stellte er seinen Kollegen in der
Der deutsche Außenminister Heiko che mit der Regierung auf der Agenda, internen Sitzung erstmals Details vor. Un-
Maas bekommt die Sorgen ebenfalls zu sondern auch eher ungewöhnliche Termi- umstritten ist die Idee nicht, denn wenn die
spüren, als er kürzlich zum Antrittsbesuch ne wie die Fahrt mit einer Schmalspur- Bürger am Ende die Leidtragenden sind,
in Warschau weilt. Beim Treffen mit sei- bahn. Die hat zwar kaum Passagiere, zu- könnte die Bestrafungsaktion aus Brüssel
nem polnischen Kollegen Jacek Czaputo-
wicz im prächtigen Regierungsgästehaus
ereilt auch ihn die Frage nach der Rechts- Die größten Netto-Zahler und -Empfänger in Milliarden Euro
staatlichkeit. »Ich hoffe, dass wir nicht in
die Situation kommen, dass Strukturfonds Deutschland ZAHLER 12,9 7,1 EMPFÄNGER Polen
irgendeine Rolle spielen«, sagt Maas.
Hinter verschlossenen Türen aber lässt Frankreich 8,2 6,0 Rumänien
er keinen Zweifel daran, dass die Bundes- Großbritannien 5,6 4,3 Griechenland
regierung die Pläne der EU-Kommission
unterstützt, Geld und Werte zu verknüp- Italien 2,3 3,6 Ungarn
fen. Die Argumentation ist einfach. Wenn
Deutschland schon, wie angekündigt, be- Niederlande 2,1 3,3 Tschechien
reit ist, künftig mehr in das EU-Budget zu Schweden 1,6 2,1 Spanien
zahlen, dann will Berlin auch mitreden,
wie das Geld ausgegeben wird. Belgien 1,2 Quelle: EU-Finanzbericht 2016 2,0 Slowakei

29
nach hinten losgehen, so die Befürchtung.
Oettinger will daher auf jeden Fall ein Sze-
nario verhindern, in dem etwa eine Auto-
bahn im Osten Polens nicht gebaut werden
kann, weil die Regierung für ihre Attacken
auf den Rechtsstaat bestraft wird.
Um das Problem zu umgehen, will er
sich offenbar die Mechanik des Vergabe-
verfahrens zunutze machen: Üblicher-
Jetzt im weise strecken EU-Mitglieder das Geld für
von der EU finanzierte Projekte vor, erst
später erstattet Brüssel die Ausgaben an
Handel die jeweilige Staatskasse. Diese Rückzah-
lungen will die EU künftig kappen, sollte
sie Verstöße gegen den Rechtsstaat finden.
Die Drohung entwickelt bereits eine ge-
wisse Wirkung, wie sich am laufenden Ver-
fahren gegen Polen zeigt. Monatelang war
die EU-Kommission auf Granit gestoßen,
doch zuletzt ließen die Polen zum ersten
Mal erkennen, dass sie zu Änderungen an
der Justizreform bereit sind, und reichten
in Brüssel drei Vorschläge ein. So soll etwa
das Renteneintrittsalter von Richterinnen
und Richtern angeglichen werden. Die EU
hatte die diesbezüglichen Regeln als dis-
kriminierend gerügt.
Noch, so die Einschätzung in Brüssel,
reicht das bei Weitem nicht, um die Brüs-
seler Forderungen zu erfüllen, aber viele
glauben, dass die Verbesserungsvorschläge
nur ein erstes Signal sind. »Weitere werden
folgen«, sagt ein EU-Diplomat.
Das könnte auch daran liegen, dass die
Anreize beizudrehen für Polens Regierung
größer sind als bislang bekannt. Sollte
Polen einlenken, so Oettinger in Warschau
in kleinem Kreis, dann könnte er darauf
verzichten, die Klausel zur Rechtsstaatlich-
www.spiegel-geschichte.de keit in seinen Budgetrahmen aufzuneh-
men, oder diese später wieder streichen.
Offiziell verneint die Kommission diese
Verbindung, mit der Sache vertraute Di-
plomaten bestätigen dem SPIEGEL aller-
dings den Zusammenhang.
X Auch als App für iPad, Android Es wäre ein Deal, bei dem alle gewinnen
sowie für PC/Mac. Hier testen: könnten: die EU, weil sie spätestens bei
der Frage der Sanktionen gegen Polen
spiegel-geschichte.de/digital mangels Einstimmigkeit (Ungarn hat sein
Veto angekündigt) der Verlierer sein wird,
die polnische Regierung, die aus der Ecke
des Schmuddelkindes herauskommt, und
auch Außenminister Maas, der aus der un-
angenehmen Lage befreit wäre, zwischen
Brüssel und Warschau zu lavieren.
In Berlin gibt man sich kampfesmutig.
Obwohl Warschau bislang bloß eher kos-
Weitere Themen: metische Änderungen an der Justizreform
in Aussicht stellt, spricht die Bundesregie-
rung davon, dass die Diskussion über das
Alltag Das Leben im Schloss nächste EU-Rahmenbudget zu ersten Er-
gebnissen führe. »Unsere Gespräche«, sagt
Staatsminister Roth, »zeigen Wirkung.«
Diplomatie Der bizarre Kampf um die Ehre Markus Becker, Peter Müller, Jan Puhl,
Christoph Schult
Hofzeremoniell Politik mit Glamour Twitter: @PeterMueller9

30
Deutschland

mente keine Rolle spielen. Ihm sei gleich- bis Friedrich-Ebert-Stiftung, nicht sonder-

»Nuklearer gültig, sagt sein Umfeld, wer den Think-


tank eines Tages führt – solange der Stre-
semanns Namen trägt. Gauland gehe es
lich beliebt, da sie 2017 mit 581 Millionen
Euro Steuergeld bezuschusst wurden. So
wolle man »das wahre Ausmaß der staat-

Endschlag« um den Denkzettel für das Establishment.


Der Streit ist festgefahren. Zuletzt ge-
lang Weidels Lager ein Coup: Offenbar hin-
lichen Parteienfinanzierung durch Hilfs-
konstrukte und Schattenhaushalte ver-
schleiern«, heißt es in einem AfD-Papier.
AfD Der Streit der Rechts- ter Gaulands Rücken gewann man die Gauland soll besonders verärgert sein
populisten um ihre Ex-CDU-Abgeordnete Erika Steinbach als über die Behauptung aus Weidels Lager,
Stiftungsvorsitzende. Der Kontakt wurde nur die Erasmus-Stiftung sei bürgerlich-ge-
politische Stiftung eskaliert. hergestellt von Weidels Büroleiterin, die mäßigt und die Stresemann-Stiftung ein
Parteichef Gauland droht, früher für Steinbach gearbeitet hat. Diese Sammelbecken Rechtsradikaler.
das Projekt scheitern zu lassen. Personalie macht eine Lösung des Streits Dabei vertraut Weidel selbst ihr Projekt
nicht leichter, denn Steinbach stellt im einem Mann an, der sich jahrzehntelang
SPIEGEL klar: »Für eine Stresemann-Stif- in rechtsradikalen Kreisen bewegt hat. Der

A m vergangenen Donnerstag trägt


ein Saaldiener ein Blatt Papier in
das Plenum des Berliner Reichstags,
eine Botschaft für AfD-Fraktionschef Ale-
tung stehe ich nicht zur Verfügung. Ich habe
nicht die Absicht, lange namensrechtliche
Prozesse mit dessen Erben zu führen.«
Nun eskaliert der Streit. Der zuneh-
Österreicher Hans Hausberger, 61, ist eine
zentrale Figur der Erasmus-Stiftung. Er
unterstützte schon in den Neunzigerjahren
die Republikaner bei ihrem Versuch, eine
xander Gauland. Parteikollegen haben dar- mend frustrierte Gauland drohte in der parteinahe Stiftung zu etablieren. Damals
auf einen Kompromiss skizziert, wie man jüngsten Telefonkonferenz des Bundesvor- brüstete er sich als »Mann von Schönhu-
die zwei Stiftungen, die um den Sta- ber«, des Republikanerchefs und
tus als AfD-Parteistiftung konkurrie- einstigen Waffen-SS-Mitglieds Franz
ren, unter ein Dach bringen könnte. Schönhuber. Heute schreibt Haus-
Auf seinem Sitz in der ersten Reihe berger auf Facebook: »Merkel und
des AfD-Blocks beugt sich Gauland ihr verlogenes schwarz-rotes Pack
über das Papier, liest, nickt und gibt gehörten eingeknastet.«
bald darauf grünes Licht. Den Republikanern rechnete der
Doch kurze Zeit später muss die Unternehmensberater vor, dass ih-
AfD-Spitze genervt feststellen, dass nen wegen ihrer Erfolge bei Land-
schon wieder alles offen ist – die tagswahlen »etwa 60 Millionen
Unterhändler der Stiftungen liegen Mark« zustünden. Die Rechtspartei
bei wichtigen Details doch noch gründete auch eine Carl-Schurz-Stif-
über Kreuz. Das Kompromisspapier tung, eine Franz-Schönhuber-Stif-
ist wieder vom Tisch. tung und eine Johann-Gottlieb-Fich-
Für die AfD gerät der seit 2014 te-Stiftung – interne Unterlagen zei-
schwelende Streit über die Partei- gen, dass Hausberger stets involviert
stiftung langsam zum Fiasko. Die war. Beigetreten sei er der Partei
Rechtspopulisten erhoffen sich staat- aber nie, sagt er, wohl aber der AfD.
liche Fördergelder von jährlich bis Dort mischte er schon 2015 auf
zu 75 Millionen Euro und damit die höchster Ebene mit. Interne Mails
Chance, Parteifreunden lukrative der AfD zeigen, dass er mit der da-
Posten und der AfD einen Think- maligen Chefin Frauke Petry die
tank zu verschaffen. Doch persönli- »Herbstoffensive« konzipierte, bei
FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK.NET

che Befindlichkeiten, Rivalitäten der die AfD mit Plakaten und Demos
und taktische Spielchen bremsen Stimmung gegen Angela Merkels
das Vorhaben. Die Lage ist so ver- Flüchtlingspolitik machte. »Seitdem
fahren, dass Gauland unverhohlen bin ich gut vernetzt in der Partei«,
droht, das ganze Projekt zu kippen. sagt Hausberger. Den Sprung von Pe-
Mehrere Stiftungskonzepte hat try zu Alice Weidel schaffte er locker:
die Bundespartei schon verfolgt, »Ich schätze sie sehr, und ich denke,
doch die Initiatoren fielen meist den dass sie mich auch schätzt.«
Umstürzen in der AfD zum Opfer. Kontrahenten Gauland, Weidel Nun profitiert Weidel, wie Haus-
Übrig sind lediglich die Desiderius- Rivalitäten und taktische Spielchen berger in Überlingen am Bodensee
Erasmus-Stiftung aus dem Umfeld gemeldet, von dessen Erfahrung.
von Fraktionschefin Alice Weidel »Die Personalie Hausberger wirft
und die nach dem einstigen Reichskanzler stands nach Angaben von Teilnehmern ei- die Frage auf, ob die AfD durch alte rechte
Gustav Stresemann benannte Stiftung, für nen »nuklearen Endschlag« gegen das Stif- Netzwerke unterstützt wird, die früher die
die Gauland sich einsetzt. tungsprojekt an: Wenn sich kein Einheits- Republikaner gefördert haben«, sagt Ul-
Die AfD-Politiker treiben sehr unter- modell mit Namen Stresemann finde, wer- rich Müller von Lobbycontrol.
schiedliche Motive: Über Weidel heißt es, de er persönlich auf dem Bundesparteitag Allerdings ist Hausbergers Bilanz beim
sie wünsche sich die Stiftung als Machtba- in Augsburg Ende Juni dafür werben, dass Thema Stiftungen durchwachsen: Die Vor-
sis, als Instrument, um Unterstützer zu be- die AfD gar keine Stiftung bekomme. haben der Republikaner litten an densel-
lohnen und die ideologische Lufthoheit Es ist keine hohle Drohung, Gauland ben Rechtsstreitigkeiten und Machtspielen
über die AfD zu erlangen. Für Gauland weiß, dass sein Wort an der AfD-Basis Ge- wie die der AfD. Keine konnte sich eta-
wiederum, dessen Führungsrolle unange- wicht hat. Dort sind die Stiftungen eta- blieren. Melanie Amann, Sven Becker
fochten ist, sollen machttaktische Argu- blierter Parteien, von Konrad-Adenauer-

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 31


Deutschland

»Ich orientiere mich


SPIEGEL: Donald Trump wirft den Deut-
schen vor, die USA jahrelang unfair be-
handelt zu haben. Die Bundesrepublik
habe milliardenschwere Exportüberschüs-
se, trage aber zu wenig zur militärischen

an Strauß«
Verteidigung des Westens bei. Können Sie
nachvollziehen, dass Trump das für einen
schlechten Deal hält?
Altmaier: Wir haben uns auf dem Nato-
Gipfel von Wales 2014 darauf verständigt,
die Militärausgaben in Richtung von zwei
SPIEGEL -Gespräch Wirtschaftsminister Peter Altmaier, 59, will den Prozent des Bruttosozialprodukts zu er-
Handelsstreit mit den USA entschärfen und die Marktwirt- höhen. Dieses Ziel ist nach wie vor gültig,
schaft erneuern: durch mehr staatliche Hilfen für die Industrie. und die Bereitschaft, dieses Ziel zu errei-
chen, ist wichtig für die europäisch-ame-
rikanischen Beziehungen insgesamt. Ich
habe meinen Gesprächspartnern in Wa-
SPIEGEL: Herr Minister, Ihr Amtsvorgän- Kompromiss mit den Vereinigten Staaten shington zugesichert, dass ich mich auch
ger Sigmar Gabriel hat mal gesagt: Wer finden. Wie soll das gehen? als Wirtschaftsminister für dieses Ziel ein-
US-Präsident Donald Trump nicht ent- Altmaier: Wir sind uns mit den USA einig, setzen werde.
schlossen entgegentritt, macht sich mit- gemeinsam gegen Überkapazitäten auf SPIEGEL: Sie wollen nicht nur für den
schuldig. Ist das auch Ihre Haltung? dem weltweiten Stahlmarkt vorzugehen, freien Welthandel kämpfen, sondern auch
Altmaier: Als Wirtschaftsminister urteile die ihren Ausgangspunkt auch in China für eine Renaissance der Marktwirtschaft,
ich nicht öffentlich über Staatschefs ande- haben. Wir suchen nach einer einheit- so haben Sie es jedenfalls angekündigt.
rer Länder. Trump ist gewählter amerika- lichen Linie im Kampf gegen Dumping- Viele Bürger haben aber das Gefühl, dass
nischer Präsident, und in dieser Zeit fallen preise und den Diebstahl geistigen Eigen- Globalisierung und Deregulierung in den
wegweisende Entscheidungen in der Han- tums. Und wir wollen Lösungen finden, vergangenen Jahren schon viel zu weit ge-
delspolitik. Ein gutes deutsch-amerikani- die mit internationalen Handelsregeln ver- trieben wurden. Sind Sie in der falschen
sches Verhältnis ist für mich von strategi- einbar sind. Ich bin zuversichtlich, dass Richtung unterwegs?
scher Bedeutung, ganz gleich, wer Präsi- die EU und die USA bis zum Sommer zu Altmaier: Nein. Seit dem Ende des Kalten
dent oder Kanzler ist. einem vernünftigen Kompromiss finden Kriegs erleben wir einen Siegeslauf der
SPIEGEL: Trump will aber die regelgebun- können. Marktwirtschaft, der inzwischen auch Län-
dene weltweite Wirtschaftsordnung durch der wie China, Vietnam oder Kuba erfasst
eine Serie von Deals ersetzen, die dem hat. Sie ist als wirtschaftliches Prinzip al-
Prinzip »America First« folgen. Muss die ternativlos. Zugleich müssen wir feststellen,
Bundesregierung hier nicht ein klares »Die subjektive Belastung dass wir in Deutschland durch nationale
Stoppsignal setzen? durch Bürokratie wird heute Gesetze und europäische Vorhaben eine
Altmaier: Wir dürfen uns nicht auf das Überregulierung erzeugt haben, die uns
Spiel gegenseitiger Vorwürfe und Polemi-
viel stärker empfunden Wachstum gekostet hat.
ken einlassen. Es geht jetzt darum, den als vor 10 oder 15 Jahren.« SPIEGEL: Jetzt wird es interessant, schließ-
größten Rückschlag in der internationalen lich waren Sie als Kanzleramtsminister in
Handelspolitik seit 40 Jahren zu verhin- den vergangenen Jahren für viele Gesetze
dern. Nach dem Krieg ist es gelungen, Zöl- SPIEGEL: Experten fordern, dass Europa mitverantwortlich.
le und Wirtschaftsbarrieren schrittweise und die Vereinigten Staaten die Gelegen- Altmaier: Es geht weniger um einzelne
abzubauen, auch zum Vorteil der Export- heit für ein neues umfassendes Handels- Gesetze als um die Summe der Vorschrif-
nation Deutschland. Nun droht ein Rück- abkommen nutzen sollten. Hat das eine ten. Wenn Sie mit jungen Start-ups reden,
fall in den Protektionismus der Dreißiger- Chance? wird klar, dass die subjektive Belastung
jahre, der die Weltwirtschaftskrise mit aus- Altmaier: Es stimmt, dass wir viel weiter durch Bürokratie heute viel stärker emp-
gelöst hat. Wir müssen alles tun, dass es hätten sein können, wenn es in der letzten funden wird als noch vor 10 oder 15 Jah-
dazu nicht kommt. Legislaturperiode nicht in einzelnen Par- ren. Das ist ein alarmierendes Zeichen,
SPIEGEL: In Brüssel haben einige Ihre Rei- teien erhebliche Widerstände gegen das denn wir werden die Marktwirtschaft nur
se nach Washington in der vergangenen geplante Freihandelsabkommen TTIP ge- erhalten, wenn es Menschen gibt, die be-
Woche kritisiert, weil es so aussah, als geben hätte. Heute bedauern viele, dass reit sind, Risiken einzugehen und sich
wollten Sie einen Separatfrieden mit den sie damals nicht die Kraft hatten, über ih- selbstständig zu machen.
USA aushandeln, an der EU-Kommission ren Schatten zu springen. SPIEGEL: Wollen Sie jetzt wirklich die alte
vorbei. SPIEGEL: Dann nehmen Sie doch jetzt ei- Formel vom Fortschritt durch Wachstum
Altmaier: Unfug. Ich habe bei meinen Ge- nen neuen Anlauf. hervorkramen?
sprächen keine Zweifel gelassen, dass wir Altmaier: Eine Neuauflage zum jetzigen Altmaier: Allerdings. Ohne Wachstum
Europäer geschlossen agieren. Ich habe Zeitpunkt halte ich für unrealistisch. Die gibt es keine erfolgreiche Politik. Der Er-
mich deshalb eng mit der EU-Handels- EU müsste mit der Trump-Administration folg der AfD und anderer populistischer
kommissarin Cecilia Malmström abge- wieder bei null anfangen. Das wäre ein Parteien hängt damit zusammen, dass sich
stimmt. Nur so ist es gelungen, die USA Verhandlungsprozess über mehrere Jahre. in der Mittelschicht viele Menschen sor-
zu einem vorläufigen Verzicht auf Straf- So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen gen, dass ihr Wohlstand gefährdet sein
zölle gegen europäische Stahl- und Alu- rasch Fortschritte erzielen, und deshalb könnte. Es war aber gerade das Erfolg-
miniumexporte zu bewegen. schlage ich vor, dass wir unabhängig von sprinzip der sozialen Marktwirtschaft,
SPIEGEL: Die Zölle sind nur aufgescho- Begriffen nach einer pragmatischen Lö- dass sie Wohlstand für alle geschaffen hat,
ben. Bis Anfang Mai wollen Sie nun einen sung suchen. für Beamte genauso wie für Fabrikarbei-

32 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

Handelspolitiker Altmaier: »Es droht ein Rückfall in den Protektionismus der Dreißigerjahre«

33
Deutschland

SPIEGEL-Gespräche
ter oder Unternehmer. Daran müssen wir Lage über Nacht verändert hatte. Aber
live im Bucerius anknüpfen, wenn wir nicht nur für wirt-
schaftliche, sondern auch für politische
im Grundsatz haben Sie recht: Unterneh-
mer machen ihre Investitionsentscheidun-
Kunst Forum Stabilität in Deutschland sorgen wollen.
SPIEGEL: Fragt sich nur, wie.
gen davon abhängig, dass sie auf die Ver-
lässlichkeit staatlicher Rahmenbedingun-
Altmaier: Die deutsche Wirtschaft kann gen vertrauen können, nicht nur für drei
in den nächsten Jahren weiter um 2 bis oder vier Jahre, sondern auch mittel- und
Macht und Pracht. 2,5 Prozent pro Jahr wachsen. Ich halte
es für möglich, dass wir diesen Wachs-
langfristig. Ich schlage deshalb vor, dass
sich alle verantwortlichen Kräfte im
tumspfad noch für mindestens 15 bis Bundestag zu einer Charta der sozialen
Die Höfe des Barock 20 Jahre fortsetzen können, wenn wir die Marktwirtschaft bekennen, mit der wir
Marktwirtschaft erneuern. Wir werden zentrale wirtschaftliche Stellgrößen fest-
deshalb für Vollbeschäftigung sorgen, eine schreiben, und zwar für die nächsten drei
Richard Rilinger
neue Gründerwelle durch Bürokratie- oder vier Legislaturperioden.
abbau auslösen und die Zahl der Woh- SPIEGEL: Wie soll das aussehen?
nungseigentümer erhöhen, was viele Altmaier: Die Parteien der Großen Koa-
Menschen auch im Alter entlasten würde. lition sowie die Grünen und die FDP
Es kann nicht sein, dass es in einem der sollten sich dazu verpflichten, dauerhaft
wirtschaftlich stärksten Länder Europas einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vor-
deutlich weniger Immobilieneigentum zulegen, auf Steuererhöhungen zu verzich-
gibt als in anderen Staaten. ten und die Sozialabgaben unter 40 Pro-
SPIEGEL: Das Beispiel zeigt, dass es da- zent der Bruttolöhne zu halten. Diese Zie-
rum geht, wie das Wachstum verteilt wird. le folgen nicht nur den Festlegungen im
Seit Jahren geht die Schere zwischen Arm aktuellen Koalitionsvertrag, sondern auch
und Reich auseinander. den Ergebnissen der Jamaikaverhandlun-
Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger
Altmaier: Das stimmt so nicht, gerade in gen. Auf diesem Weg würde eine über-
jüngster Zeit sind die Löhne stärker ge- wältigende Mehrheit des Bundestags dem
Die Habsburgerin Maria Theresia (1717 bis 1780) stiegen als die Produktivität, und die un- deutschen Mittelstand zusichern, dass er
war zu ihrer Zeit die mächtigste Frau Europas. teren Einkommensgruppen haben aufge- künftig keine zusätzlichen Lasten zu
Am intriganten Wiener Hof setzte die Kaiserin holt. Trotzdem werden wir uns genau an- schultern hat.
Diplomatie, Zeremoniell und Prunk für ihre sehen, welche Bevölkerungsgruppen SPIEGEL: Das klingt sehr wirtschafts-
Ziele ein. Über weibliche Herrschaft im nicht im nötigen Umfang an der wirt- freundlich. Die Schwierigkeit besteht aber
Absolutismus spricht die Historikerin schaftlichen Entwicklung beteiligt waren darin, dass derzeit in vielen Ländern die
Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger mit den und was wir für sie tun können. Ludwig Steuer- und Abgabenlast der Unterneh-
SPIEGEL-Redakteurinnen Bettina Musall
Erhard und Konrad Adenauer haben als men sogar gesenkt wird. Kann sich
Kanzler und Wirtschaftsminister in der Deutschland davon abkoppeln?
und Eva-Maria Schnurr.
frühen Nachkriegszeit ihr Erfolgsmodell Altmaier: Wir werden das genau beob-
schließlich nicht als freie, sondern als so- achten, aber ein Wettlauf, bei dem die In-
ziale Marktwirtschaft konstruiert. dustrieländer ihre Steuersätze nach und
Montag, 9. April 2018, 20 Uhr SPIEGEL: Erhard und Adenauer waren in nach auf null senken, hat keinen Sinn. Das
den meisten wirtschaftspolitischen Fragen wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tode.
Bucerius Kunst Forum, unterschiedlicher Auffassung. Ich halte es allerdings für notwendig, den
Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg Altmaier: Aber als Kombination waren Soli in den nächsten Jahren schrittweise
sie unschlagbar. ganz abzuschaffen, auch für Unterneh-
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen SPIEGEL: Und die Kombination in Ihrem men und Wirtschaft. Außerdem gilt: Viele
bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich. Sinne heißt: mehr Umverteilung. Länder machen erst jetzt die Reformen,
Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt Altmaier: Entschieden nein. Wir wollen die wir in den vergangenen 15 Jahren hin-
am Veranstaltungstag zum Besuch der den Kuchen nicht anders aufteilen, son- ter uns gebracht haben.
Ausstellung „Karl Schmidt-Rottluff: dern ihn für alle größer machen. Deshalb SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner ist von
expressiv | magisch | fremd“ wollen wir etwa mehr Geld in Kitas und den Reformen der vergangenen Jahre we-
(27. Januar bis 21. Mai 2018).
Ganztagsschulen stecken, um so alleiner- niger überzeugt. Immer mehr Sozialde-
ziehenden Frauen die Möglichkeit zu ge- mokraten wollen die unpopuläre Hartz-
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
ben, am Berufsleben teilzunehmen. Ich Reform durch ein bedingungsloses oder
geöffnet. Änderungen vorbehalten. bin überzeugt, dass Wachstum nicht solidarisches Grundeinkommen ersetzen.
durch staatliche Intervention und soziale Was halten Sie davon?
Wohltaten entsteht, sondern durch Arbeit Altmaier: Nach meiner festen Überzeu-
sowie durch unternehmerische Entschei- gung hat der gute Zustand der deutschen
dungen und Investitionen. Wirtschaft auch damit zu tun, dass die
SPIEGEL: Das Problem der vergangenen Kanzler Gerhard Schröder und Angela
Jahre bestand aber darin, dass die Unter- Merkel seit 15 Jahren den Mut hatten,
BUCERIUS nehmen durch viele erratische Beschlüsse grundlegende Strukturreformen zu ver-
K U N S T der Politik verunsichert waren und nicht einbaren, durchzusetzen und zu verteidi-
FORUM mehr investieren wollten. Erst wurden die gen. Ich halte die Diskussion über ein be-
Laufzeiten der Kernkraftwerke verlän- dingungsloses Grundeinkommen für ei-
gert, dann kam der Atomausstieg. nen Holzweg der Wirtschaftspolitik, weil
Altmaier: Der Atomausstieg war notwen- es das Leistungsprinzip schwächen würde,
dig, weil der Unfall von Fukushima die auf dem unser aller Wohlstand basiert.

34 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Wer die Reformen zurückdrehen will, ge- liche europäischen Spitzenforscher, die auf
fährdet Arbeitsplätze und Wohlstand. dem Feld der künstlichen Intelligenz unter-
Deutschland profitiert etwa davon, dass wegs sind, einen Arbeitsvertrag mit Goo-
wir mehr Industriejobs haben als die meis- gle abschließen. Die wichtigsten Plattfor-
ten anderen europäischen Länder. Das ist men der Internetökonomie haben ihren

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


ein Vorteil, den wir unbedingt bewahren Sitz ebenfalls in den USA, auch hier muss
müssen. Europa aufholen.
SPIEGEL: Lassen Sie uns raten: durch SPIEGEL: Ihr Vorgänger Gabriel prägte
mehr Marktwirtschaft. die Parole »Zerschlagt Google«.
Altmaier: Ja, aber auch durch strategische Altmaier: Es gab Politiker, die im einen
Wirtschaftspolitik. Die langfristige Siche- Augenblick Unternehmen wie Google als
rung der Industrie vor allem durch Inno- Feindbilder der Menschheit gezeichnet
vationen gehört zu jenen Fragen, die nicht Altmaier beim SPIEGEL-Gespräch* haben und im nächsten Augenblick auf
allein vom Markt gelöst werden können. »Das Grundeinkommen ist ein Holzweg« Google Earth unterwegs waren. Wir müs-
Ich orientiere mich nämlich nicht nur an sen erkennen, dass diese Unternehmen
Erhard und Adenauer, sondern auch an die Realität bereits verändert haben, nicht
Franz Josef Strauß. Wenn der als Finanz- richten. Was kann der Staat dabei tun? nur aufgrund ihrer Marktmacht, sondern
minister nicht die Initiative ergriffen hätte, Altmaier: Er kann die Beteiligten zu- auch, weil sie für Millionen Konsumenten
aus der kleinteiligen europäischen Flug- sammenbringen. Ich hatte im Jahr 2012 nützlich sind. Ich werde deshalb im ersten
zeugindustrie den Airbus-Konzern zu als Umweltminister ein gemeinsames Zu- halben Jahr meiner Amtszeit Gespräche
schmieden, hätte Europa nie zu den US- sammengehen aller europäischen Foto- mit den Chefs von Google, Facebook,
Konkurrenten Boeing und McDonnell voltaikproduzenten vorgeschlagen, um Microsoft, Apple und Amazon führen,
Douglas aufschließen können. auf die Herausforderung durch die Kon- mit einem doppelten Ziel: Zum einen
SPIEGEL: Von Strauß lernen heißt siegen kurrenz aus China zu reagieren. Das ist müssen wir Missstände beseitigen, wie sie
lernen. Wo ist Ihr Airbus-Projekt? damals auf wenig Gegenliebe gestoßen, sich jüngst beim Datenskandal um Face-
Altmaier: Ich werde eine Initiative starten mit dem Ergebnis, dass heute kein einzi- book offenbart haben. Zum anderen müs-
zum Erhalt und zum Ausbau zukunftssi- ger bedeutender europäischer Anbieter sen wir Möglichkeiten der Zusammen-
cherer und umweltverträglicher Industrie- überlebt hat. So etwas sollte uns nicht arbeit ausloten.
arbeitsplätze in Deutschland. Ich werde noch einmal passieren. SPIEGEL: Welche könnten das sein?
mich dafür einsetzen, dass hierzulande SPIEGEL: In welchen Branchen muss die Altmaier: Die Internetkonzerne sollten
die weltweit modernsten Stahlwerke, Alu- Regierung nachhelfen? mehr Arbeitsplätze in Europa schaffen.
miniumgießereien und Kupferhütten ste- Altmaier: Die Autoindustrie ist der indus- Dafür muss Europa ein Partner auf Au-
hen. Die Bundesrepublik muss ihre füh- trielle Kern Deutschlands, aber es gibt genhöhe werden: bei künstlicher Intelli-
rende Stellung im Maschinenbau sowie Nachholbedarf: bei alternativen Antrieben, genz und in vielen anderen Bereichen.
in der optischen und medizintechnischen beim autonomen Fahren. Außerdem SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
Industrie erhalten. Und wir müssen unse- braucht Europa dringend eine Batteriezel- für dieses Gespräch.
re gute Ausgangsposition bei der Digitali- lenproduktion. Hier werde ich Gespräche
sierung der Wirtschaft unter dem Stich- aufnehmen, um zu gemeinsamen Initia-
wort Industrie 4.0 verteidigen, sowohl bei tiven der Industrie zu kommen. Und wir Video
Peter Altmaiers Karriere
den Standards als auch bei den Anwen- müssen dafür sorgen, dass nicht sämt- in Zitaten
dungen. spiegel.de/sp142018altmaier
SPIEGEL: Das sind alles ehrenwerte Ziele, * Mit den Redakteuren Michael Sauga und Gerald Trau- oder in der App DER SPIEGEL
die sich aber vor allem an Unternehmer fetter im Berliner Wirtschaftsministerium.

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HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL
Zweitklässler in Hamburg-Wilhelmsburg: In den ersten Jahren werden die Weichen gestellt

Früh abgehängt
Bildung Viele Migrantenkinder besuchen Grundschulen in sozialen Brennpunkten – Gewalt ist
dort nur eines von vielen Problemen. Trotzdem erhalten die Lehrer kaum Unterstützung.

W
enn der Wind von Osten weht dort hat oftmals erst zwei Wochen später nicht Deutsch gesprochen wird: in Ham-
und ein Flugzeug über die Pes- Zeit. burg 22 Prozent der Grundschulen, in Ber-
talozzischule donnert, verlie- Saner unterrichtet seit zwölf Jahren in lin und Bremen mehr als 40 Prozent.
ren sich die Kinderstimmen Raunheim. Ihre Fächer: Deutsch, Mathe- Es sind solche Grundschulen, die in die-
im Getöse. Die Flieger steuern den Frank- matik, Deutsch als Zweitsprache. Die Pes- sen Tagen viele Schlagzeilen machen. In
furter Flughafen manchmal im Minuten- talozzischule ist mit 700 Schülern eine Berlin mobbten muslimische Kinder eine
takt an, Raunheim liegt nur vier Kilometer der größten Grundschulen Deutschlands. Mitschülerin, weil sie nicht an Allah glaubt,
von den Rollbahnen entfernt. Fast immer Knapp 90 Prozent der Kinder haben aus- und bedrohten sie. Eine andere Grund-
müssen die Lehrer die Fenster geschlossen ländische Wurzeln. Die meisten von ihnen schule engagierte einen privaten Sicher-
lassen, sogar im Sommer bei 30 Grad. kommen aus Familien, in denen zu Hause heitsdienst, um die Gewalt in den Griff zu
Wer in Raunheim geboren ist, kennt es nicht oder kaum Deutsch gesprochen wird. bekommen.
nicht anders. Eine Schülerin aus Syrien Das klingt extrem, ist aber für viele Die »Bild«-Zeitung berichtete von »El-
aber erschrak über den Lärm der Trieb- Grundschulen in Deutschland normal. Bei- tern aus ganz Deutschland«, die sich nach
werke einmal so sehr, dass sie sich panisch spiel Nordrhein-Westfalen: An mehr als einem Artikel über den »Islamismus-
unter ihren Tisch flüchtete. »Da steht man jeder zehnten der 2750 staatlichen Grund- Alarm« mit eigenen Geschichten melde-
dann als Lehrerin und fragt sich, wie man schulen sprechen mehr als die Hälfte der ten: Eine Mutter aus Bonn habe geschil-
einem verängstigten Kind, dessen Sprache Kinder zu Hause selten oder nie Deutsch. dert, dass muslimische Mitschüler ihrer
man nicht spricht, die Situation begreiflich In 78 Schulen sind es sogar mehr als drei Tochter in der dritten Klasse gesagt hätten,
machen soll« sagt Katrin Saner, Konrek- Viertel der Kinder. ihre Eltern würden als Ungläubige in der
torin an der Pestalozzischule. Auch die Zahlen aus den Stadtstaaten Hölle verbrennen. Andere hätten geklagt,
Sie könnte beim Staatlichen Schulamt sind eindrucksvoll. An vielen Schulen sind »dass Schülerinnen gemobbt wurden, weil
um Hilfe bitten. Doch die Psychologin Kinder in der Mehrheit, in deren Familie sie ›unreine‹ Gummibärchen essen«. Die

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Deutschland

Süßigkeiten enthalten Gelatine aus Schwei- Katrin Saner hat sich einen Winterman- Aber natürlich wisse er, dass das selbst
nefleisch. tel angezogen und führt über das Gelände dann illusorisch wäre, wenn er darauf ein
Die Grundschulen galten lange als der der Pestalozzischule in Raunheim. Es Anrecht hätte: Es gibt nicht genug ausge-
Ort in Deutschland, an dem Integration schneit an diesem Mittwoch im Februar. bildete Fachkräfte.
gefördert wird und gelingt wie an keinem Kinder auf dem Hof versuchen lachend, Bisher konnte Reiss zumindest noch alle
anderen. Funktioniert nun das Miteinan- eine Kugel zu rollen, um einen Schnee- offenen Lehrerstellen besetzen, viele da-
der verschiedener Nationalitäten und Re- mann zu bauen. In der Pausenhalle sitzen von mit Quereinsteigern. Ab Mai aller-
ligionen nicht einmal mehr bei Sechs- bis ein paar Jungs an Holztischen. Sie wurden dings wird sich eine Lücke von 50 Stunden
Zehnjährigen? in die Strafecke geschickt, weil sie sich im auftun, zum neuen Schuljahr fehlen drei
Häufig ist der Zuwandereranteil vor al- Unterricht danebenbenommen haben. bis vier ausgebildete Klassenleitungen.
lem an jenen Schulen besonders groß, die »Das wirkt«, sagt Saner. »Das Jobprofil ist sehr anspruchsvoll«, sagt
ohnehin schon in Problemvierteln mit ho- An der Pestalozzischule muss das Kol- er. Ein Grundschullehrer müsse gleichzei-
her Arbeitslosigkeit und Armut liegen. legium jeden Raum und jede Ecke nutzen. tig Erzieher, Sozialarbeiter und Experte
Fast 70 Prozent der Kinder mit Migrations- Häufig weichen die Lehrer auf die Flure für Deutsch als Fremdsprache sein und
hintergrund in Großstädten besuchten und Gänge aus, wenn sie Gruppenarbeit dazu noch Förderschulkompetenz haben.
Grundschulen, an denen mehrheitlich Zu- mit den Kindern machen wollen. Die Schu- »Solche Leute findet man nicht so einfach.«
wanderer und sozial benachteiligte Schü- le wird vermutlich weiterwachsen, eine Lange waren die Politiker damit be-
ler lernen, stellte der Sachverständigenrat schäftigt, davor zu warnen, dass die Ge-
deutscher Stiftungen für Migration und sellschaft vergreise. Seit einigen Jahren
Integration (SVR) fest. »Irgendwo gibt es aber steigen die Geburtenzahlen wieder,
Zweisprachig aufzuwachsen könnte ein eigentlich immer und es kommen mehr Migranten.
großer Vorteil sein. Viele Linguisten emp- Die Landesverbände der Gewerkschaft
fehlen Migranten, mit ihren Kindern zu einen Engpass«, sagt Erziehung und Wissenschaft (GEW) haben
Hause jene Sprache zu sprechen, in der der Schulleiter. nachgezählt: 2017 konnten demnach rund
sie sich heimisch fühlen. Es ist besser, 2000 Lehrerstellen nicht besetzt werden,
von den Eltern gutes Arabisch, Polnisch trotz mehrerer Tausend Quer- und Seiten-
oder Türkisch zu lernen als fehlerhaftes Hochrechnung für das Jahr 2022 geht von einsteiger. Dass Grundschullehrer in den
Deutsch. Außerhalb der Familie allerdings 850 statt 700 Schülern aus. Da die Mieten meisten Bundesländern deutlich schlech-
sollten die Kinder so schnell wie möglich in Raunheim unter denen in Frankfurt am ter bezahlt werden als ihre Kollegen an
mit dem Deutschen in Kontakt kommen. Main liegen, wächst die Stadt trotz des den Gymnasien, trägt nicht zur Attrakti-
Was aber, wenn in der Nachbarschaft Fluglärms weiter – stärker, als es der Kom- vität des Berufs bei. Auf Leitungsebene
kaum jemand Deutsch spricht und in den mune recht ist und auch als es erlaubt ist. sieht es nicht besser aus: Rund tausend
Klassen mehrheitlich Schüler sitzen, die Ein »nicht unerheblicher Teil der zuge- Schulleiterstellen an deutschen Grund-
ebenfalls Nachholbedarf haben und auch zogenen Neubürger« lebe »in nicht geneh- schulen sind derzeit nicht besetzt.
noch in ärmlichen Verhältnissen leben? migungsfähigen Wohnsituationen zum Vor allem in sozialen Brennpunkten ist
Jeder vierte Grundschüler mit Migra- Teil unter unwürdigen und die Gesundheit der Job hart. Kornelius Knettel, 37, Schul-
tionshintergrund in Deutschland verfüge gefährdenden Umständen«, heißt es auf leiter an einer Grundschule in Düsseldorf-
nicht über »die Lesekompetenz, die er be- der Internetseite der Stadt. Man müsse Oberbilk ist notgedrungen Experte für
nötigt, um dem Unterricht an einer weiter- »insbesondere Kinder davor schützen, in Mangelverwaltung geworden. »Irgendwo
führenden Schule problemlos folgen zu krank machenden, unbelichteten und gibt es eigentlich immer einen Engpass«,
können«, schreiben die SVR-Experten. feuchten Räumen aufwachsen zu müssen«. sagt er.
Auch das Institut zur Qualitätsentwicklung Das lässt erahnen, was manche der Kin- Mehr als 300 Kinder besuchen seine
im Bildungswesen kommt zu dem Ergeb- der an der Pestalozzischule zu Hause er- Grundschule Sonnenstraße, etwa 80 Pro-
nis, dass Schüler aus zugewanderten leben. Deutsche Grammatikregeln sind ihr zent von ihnen sprechen zu Hause nicht
Familien in Deutsch und Mathematik »im kleinstes Problem. Deutsch. In der Regel sitzen 29 Kinder in
Durchschnitt signifikant geringere Kom- Offiziell hat die Pestalozzischule einen einer ersten Klasse. In Oberbilk sind die
petenzen« erreichten. Anspruch auf anderthalb Stellen für Sozial- Armutsrate und auch der Migrantenanteil
Doch in den ersten Jahren werden die pädagogen. »Optimal wäre eine Stelle für höher als in den meisten anderen Stadttei-
Weichen für die Zukunft der Kinder ge- jede Klasse«, sagt Rektor Simon Reiss. len Düsseldorfs. Akademikerkinder sind
stellt. Ein Schüler, der so früh schon abge-
hängt wird, hat es schwer, den Rückstand
aufzuholen. Aus benachteiligten Grund- Nichtdeutsche Familiensprache Zahl der
schülern können frustrierte Jugendliche Grundschulen, bei denen die Mehrheit der Kinder zu Hause kaum Deutsch spricht Schulen
werden – und aus frustrierten Jugend-
lichen gescheiterte Erwachsene. Berlin 43% der Schulen 160
Die Lehrer aber fühlen sich allein gelas- Bremen 41% 38
sen. Die Kultusminister kündigten schon
vor mehr als zehn Jahren an, dass Schulen Hamburg 22% 44
mit einem hohen Migrantenanteil »spezifi-
sche Mittel« erhalten sollten, für mehr Leh-
Nordrhein-Westfalen 14% 393
rer oder mehr sozialpädagogische Fach- Hessen 14% 154
kräfte. »Was bisher gemacht wird, hat aber
weder Nachhaltigkeit noch Breitenwir- Bayern 11% 238
kung«, sagt der Bildungsforscher Horst Schleswig-Holstein 4% 14
Weishaupt. Die wohlklingenden Minipro-
gramme seien in vielen Bundesländern Die Schulen erheben den Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache häufig, indem die Eltern bei
der Anmeldung danach gefragt werden. Die Angaben sind daher nicht immer exakt vergleichbar. Unter den Quelle: SPIEGEL-Anfrage
»nicht mehr als Symbolpolitik«. Schülern mit nichtdeutscher Familiensprache können auch manche Kinder sein, die gut Deutsch sprechen. in den Bundesländern

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Für SPIEGEL-Abonnenten: an Knettels Schule rar. »Oftmals fahren
diese Eltern lieber in einen anderen Stadt-

Digital-Upgrade nur € 0,50. teil, um ihre Kinder dort einzuschulen«,


sagt er. »Das ist leider die Wahrheit. Es
fehlt die Durchmischung.«
Während Knettel erzählt, klopft es, eine
Schülerin steht aufgeregt in der Tür. »Shi-
rin ist wieder weggelaufen«, sagt sie. »Da
ist irgendwas Blödes im Heim passiert.«
Knettel bittet sie, zu einer Kollegin zu
gehen, damit die sich kümmere. Die Acht-
Jetzt jährige aus Syrien sei nicht zum ersten Mal
4 Wochen davongelaufen, erzählt er. Sie sei allein mit
gratis ihrer Schwester nach Deutschland geflüch-
tet und im Heim ohne die Eltern »sehr un-
testen glücklich«. Es sind Probleme, mit denen
der Pädagoge, der selbst fünf Kinder hat,
fast täglich konfrontiert ist.
Knettel macht auch Hausbesuche, etwa
wenn ein Kind nicht regelmäßig zum
Unterricht erscheint. Als er zusammen mit
einem Kollegen zu einer Familie ging, weil
eine Schülerin tagelang nicht im Unterricht
erschienen war, schlief die Neunjährige um
neun Uhr morgens noch – gemeinsam mit
zwei anderen Kindern auf dem Wohnzim-
mersofa. Die Kinder trugen noch die Klei-
der vom Vortag, nicht einmal die Schuhe
hatten sie ausgezogen. Knettel schaltete
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg das Jugendamt ein.
Immer wieder drückten sich Schüler auf
den Fluren herum, weil sie keine Lust
hätten, nach Hause zu gehen, wo sie nur
Trostlosigkeit erwarte. »Das tut weh,
wenn man so etwas sieht«, sagt er.
Der Schulleiter hat mithilfe der Bezirks-
regierung einen Fußballplatz bauen lassen,
eine Stiftung hat 20 iPads gesponsert, zu-
dem gab es weitere Spenden. »Wir sind
dafür sehr dankbar. Aber es fühlt sich nicht
gut an, wenn man immer als Bittsteller auf-
Ohne Verpflichtung lesen treten muss«, sagt er. »Wir Schulleiter müs-
sen uns ständig Strategien überlegen, um
Bereits ab freitags 18 Uhr an Geld zu kommen. Das ist bitter und
Auch offline lesbar kostet viel Zeit, die wir an anderer Stelle
brauchten.« Das alles sei eine große He-
Auf bis zu 5 Geräten rausforderung, der er sich aber noch
immer gern stelle.
Inklusive SPIEGEL DAILY – Die neue digitale Tageszeitung Ihm kommt zugute, dass Düsseldorf kei-
ne arme Stadt ist. Häufig allerdings haben
gerade diejenigen Kommunen, in denen
sich Brennpunktschulen häufen, nicht ge-
nug Geld, um Zuschüsse für Hausaufga-
benhilfe, Sozialarbeiter oder Ganztags-
betreuung zu gewähren. Von den maroden
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen! Gebäuden ganz zu schweigen: Auch dafür
müssen meist die Kommunen zahlen.
Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als Bund oder Länder müssten sich stärker
SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt € 4,10 pro Ausgabe. einbringen, sagt Bildungsforscher Weis-
haupt. »Es geht hier nicht darum, soziale
Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur Wohltaten zu verteilen, sondern dafür zu
nächsterreichbaren Ausgabe kündigen. sorgen, dass diese Gesellschaft langfristig
qualifizierte Arbeitskräfte hat.« Es gebe
durchaus Möglichkeiten, dem Abwärts-
Einfach jetzt anfordern: trend etwas entgegenzusetzen.
Die Stadt Hamburg verteilt einen be-
trächtlichen Teil der Gelder für Bildung
abo.spiegel.de/upgrade
38 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018
Deutschland

rin, die Grundschule Buddestraße, war im


Jahr 2000 in Verruf geraten. Ein Kampf-
hund hatte einen Sechsjährigen auf dem
Schulgelände totgebissen. Eltern, denen
ihre Kinder wichtig waren, wählten spä-
testens von diesem Zeitpunkt an eine an-
dere Schule oder zogen weg.
Viele Wilhelmsburger machten sich Sor-
gen um die Zukunft des Viertels. Eine neue
Elterninitiative engagierte sich für das Kon-
zept der heutigen Elbinselschule. Diese
bietet »Englisch immersiv« mit einem
Großteil des Unterrichts auf Englisch.
»Das macht die Schule für viele bildungs-
interessierte Eltern wieder attraktiv und
war vor allem in der Gründungsphase ein
wichtiger Anker, um die Schülerschaft zu
verändern«, sagt Schulleiter Christoph-Bo-
ris Frank. Ein anderer Zweig der Schule
ist musisch-kreativ. Jedes Kind kann dort
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

ein Instrument lernen, im Chor singen


oder Theater spielen.
Besonders wichtig: die Sprachentwick-
lung der Kinder. »Das gilt für die Schüler
mit Defiziten genauso wie für die Leis-
tungsstarken«, sagt Frank. Offene Stellen
Konrektorin Saner, Schulleiter Reiss konnte der Schulleiter bisher immer be-
in Raunheim setzen. Viele junge Kollegen fänden das
»Das Jobprofil ist sehr anspruchsvoll« Konzept interessant, sagt er. Bald soll auch
eine Schulkrankenschwester an der Elb-
inselschule anfangen. Sie wird weniger für
nach einem sozialen Index. Vereinfacht die alltäglichen Blessuren zuständig sein
ausgedrückt: Je schwieriger die Schüler- als für Prävention: gesundes Essen, Hygie-
schaft, desto mehr Mittel gibt es. Eine ne, Zahngesundheit, Sexualkunde.
Schule kann bis zu zwei Drittel mehr Wo- Das Schulzentrum ist im Rahmen der
chenstunden pro Schüler erhalten und zur Internationalen Bauausstellung neu ent-
individuellen Förderung einsetzen. Seit standen: die Klassenzimmer groß und hell, PORDENONE
2013 gibt es für rund 30 Schulen mit be- die Bibliothek gut ausgestattet, eine moder- Damen-Halbschuh
sonders schwierigen Bedingungen weitere ne Mensa mit hohen Fenstern. In den Klas-
Unterstützung: zusätzliche Lehrerstellen sen lernen im Schnitt weniger als 20 Kin-
oder mehr Stunden für Fortbildungen oder der. Die Elbkinderschule ist eine verbind-
Elternarbeit. liche Ganztagesschule.
Die Elbinselschule im Hamburger Stadt- Sigrid Skwirblies unterrichtet nur 17
teil Wilhelmsburg profitierte bis vor Kur-
zem von dem Programm. Ihre Vorgänge-
Kinder. In ihrem Klassenzimmer riecht
es an diesem Donnerstagmorgen wie
DER SCHUH ZUM
bei einem Herrenfriseur, das kommt im

Mehrfach benachteiligt
Deutschunterricht öfter vor. Um das Buch-
stabieren zu trainieren, ist eine Wanne
WOHLFÜHLEN
Kinder im Grundschulalter mit Risikofaktoren: mit Rasierschaum gefüllt. Darin sollen die
Eltern erwerbslos, mit geringem Einkommen Kinder mit dem Finger Wörter schreiben.
oder niedrigem Bildungsstand (Stand 2014) Auf dem Gang hat die Lehrerin ein Tram-
polin aufgebaut. Ein Mädchen versucht
mindestens alle drei
ein Risikofaktor Risikofaktoren beim Hüpfen, das Wort »Äpfelchen« zu • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
buchstabieren.
• SUPERBEQUEM-FUSSBETT
ohne Auch an der Elbinselschule haben mehr
Migrations- 20% 2% als 80 Prozent der Kinder eine ausländi- • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
hintergrund sche Herkunftssprache, mittlerweile stim- • GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
me aber die soziale Mischung wieder, sagt
mindestens ein Frank. Vielen Eltern sei es wichtig, dass
Elternteil zuge-
ihre Kinder etwas lernen. Das alles wirke
wandert, Kind 42% 6% sich auf die Leistung aus. Schon innerhalb
selbst in Deutsch-
land geboren der ersten zwei Jahre nach Gründung der
Schule habe man die Zahl der Schüler, die
Kind selbst
die Mindeststandards im Unterricht nicht
zugewandert 55 % 10% erfüllen können, halbiert. KATALOG UND BEZUGSQUELLEN:
Susmita Arp, Katrin Elger
www.finncomfort.de
Quelle: Bildungsbericht 2016

39
FINNCOMFORT, POSTFACH, D-97433 HASSFURT/MAIN
Deutschland

JOANNA NOTTEBROOK / DER SPIEGEL

Krebspatient Brennecke: »Man schläft ein, das Herz hört auf zu schlagen, und dann ist jut«

»Die spielen auf Zeit«


Ethik Beim Recht der Sterbehilfe ist auf nichts mehr Verlass. Die Politik
macht Todkranken das Lebensende schwer,
Patienten hoffen auf eine Entscheidung. Von Cornelia Schmergal

40 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


H
ans-Jürgen Brennecke braucht erlaubt oder verboten ist, wie in Deutsch- stanzen. Posthum bekam Bettina Koch
genau 34 Sätze, um zu begrün- land«, sagt der Palliativmediziner Gian recht.
den, warum er sterben will. Domenico Borasio. Selten stieß das Urteil eines obersten
Dann, wenn er es nicht mehr er- Würde das Urteil umgesetzt, müsste der Bundesgerichts auf so viel Widerspruch
trägt. Und nicht etwa so, wie es dem Tu- Staat einem Schwerstkranken ermöglichen, wie dieses. Die Bundesärztekammer em-
mor gefällt, der vielleicht noch immer sich selbst zu töten. Ein Arzt dagegen dürf- pörte sich, der Deutsche Ethikrat interve-
irgendwo in seinem Körper lauert. te einem Sterbenden nach dem neuen Pa- nierte, und der damalige Gesundheitsmi-
Brennecke leidet unter einer seltenen ragrafen im Strafgesetzbuch keine töd- nister Hermann Gröhe (CDU) erklärte, er
Krebsart, dem Burkitt Lymphom. Kein Tu- lichen Medikamente zur Verfügung stellen, wolle das Urteil aushebeln. Keine Behörde,
mor wächst schneller, in medizinischen jedenfalls nicht, wenn er zuvor schon bei schon gar keine in seinem Zuständigkeits-
Lehrbüchern kann man das nachschlagen. einem Suizid assistiert hat. Selbsttötung ist bereich wie das BfArM, dürfe sich »zum
Im Moment gibt der Tumor Ruhe, und nicht strafbar, wie könnte sie auch, daher Handlanger« der Suizidbeihilfe machen.
Brennecke will die Zeit nutzen. galt das früher ebenfalls für die Beihilfe Eilig ließ seine Behörde ein Gutachten
Denn er kämpft nicht nur gegen den dazu – uneingeschränkt. Nun aber stehen erstellen, das ihm, wenig überraschend,
Krebs. Er kämpft auch gegen den Staat. bis zu drei Jahre Haft auf die wiederholte recht gab. Der Verfassungsrechtler Udo Di
Vor fünf Monaten hat der 73-Jährige »Förderung der Selbsttötung«. Fabio empfahl darin auch einen »Nichtan-
einen Antrag verfasst. Brennecke bittet Sicher ist: Die Neuregelung, die der wendungserlass«, um das Urteil zu umge-
darin um ein todbringendes Medikament. Bundestag nach langer Debatte beschloss, hen. Diese Praxis sei im Steuerrecht ge-
Sollte der Krebs zurückkehren, habe er hat den Grundsatzstreit um die Selbst- bräuchlich, um Entscheidungen zu korri-
den Entschluss gefasst, »freiverantwort- bestimmung am Lebensende nicht befrie- gieren, »die die Exekutive für verfehlt
lich aus dem Leben zu scheiden«. Für det. Was dürfen schwerstkranke Patienten hält«. Es war eine unverhohlene Auffor-
Brennecke ist es eine Frage der Menschen- in ihren letzten Lebenstagen von Ärzten, derung an die Regierung, die rechtspre-
würde: »Durch meinen Suizid möchte ich Angehörigen und vom Staat erwarten? chende Gewalt im Staat zu ignorieren.
mein dann schnell zunehmend unerträgli- Brauchen sie in den verwundbarsten Selbst den Juristen im Gesundheitsmi-
ches Leiden in einer humanen Art und Momenten ihrer Existenz besonderen nisterium war das nicht geheuer. Stattdes-
Weise beenden.« Auf den Umschlag Schutz, wie es vor allem christlich geprägte sen erwogen sie die Idee, das Kabinett kön-
schrieb er: An das Bundesinstitut für Arz- Politiker sehen? Oder brauchen sie die ne das Bundesverfassungsgericht um eine
neimittel und Medizinprodukte (BfArM), Überprüfung der Rechtslage für das
53175 Bonn. BfArM bitten. Schließlich schlug Gröhe
Als Brennecke das Kuvert abschickte, »Die Materie ist kaum vor, das Parlament solle sich noch einmal
fiel im Garten das Laub. Nun strecken die
Krokusse ihren Kopf zur Sonne, und noch
noch juristisch zu mit dem Thema Sterbehilfe und der Ab-
gabe tödlicher Betäubungsmittel befassen;
immer wartet er auf eine Entscheidung aus nennen. Sie ist längst möglicherweise in fraktionsoffener Ab-
Bonn. »Bitte haben Sie Verständnis«, politisch.« stimmung. Diesen Vorschlag schickte er
schrieb die Behörde, dass die Prüfung des vor einigen Wochen an die Chefs der Ko-
Antrags noch dauern werde. alitionsfraktionen und an das Kanzleramt.
Doch Brennecke hat kein Verständnis. Freiheit, autonom über das Ende ihres Lei- Eine Antwort blieb bis heute aus. Nun
Er will schneller sein als der Krebs. »Die dens zu entscheiden, wie es auch Huma- muss sein Nachfolger Jens Spahn (CDU)
spielen auf Zeit«, sagt er. »Und ich weiß nisten fordern? das Problem lösen. Nur weiß er noch nicht,
nicht, wie viel Zeit ich habe.« Patienten wie Hans-Jürgen Brennecke wie. Man sondiere den Fall, heißt es im
Das Recht scheint auf Brenneckes Seite. hoffen seit Monaten vergebens auf eine Ministerium. Die Große Koalition steht
Vor ziemlich genau einem Jahr fällte das Antwort, beim Recht der Sterbehilfe ist vor einer Debatte, die größer werden
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eine derzeit auf wenig Verlass. Nun wird der könnte, als es selbst Spahn lieb ist.
Entscheidung, die die Diskussion um Ster- Bundestag sich voraussichtlich noch ein- »Die Materie ist kaum noch juristisch
behilfe und die Selbsttötung Schwerstkran- mal mit der Frage befassen müssen. zu nennen. Sie ist längst politisch«, sagt
ker radikal verändert hat. Der Staat dürfe, Die Leipziger Richter hatten über den der Würzburger Rechtsphilosoph und
so das Urteil, schwer und unheilbar Kran- Fall von Bettina Koch entschieden – einer Strafrechtsexperte Eric Hilgendorf. Die Si-
ken in extremen Notlagen den Zugang zu Frau, die nach einem Unfall vom Hals ab- tuation sei verfahren. »Es ist kaum noch
einer todbringenden Arznei nicht verweh- wärts gelähmt war und künstlich beatmet möglich, den Studierenden in der Vorle-
ren: »Der Einzelne ist insbesondere am werden musste. Sie litt unter ständigen sung das unübersichtliche Recht der Ster-
Lebensende und bei schwerer Krankheit Krampfanfällen, die Schmerzen empfand behilfe zu erklären.«
auf die Achtung und den Schutz seiner sie als »unerträglich« und »entwürdigend«. Möglicherweise wird Karlsruhe das letz-
Autonomie angewiesen«, schrieben die Im November 2004 stellte sie beim BfArM te Wort haben. Denn die Neuregelung aus
Richter in ihrer Begründung. Die staatliche den Antrag auf eine todbringende Arznei. dem Jahr 2015 ist inhaltlich und handwerk-
Gemeinschaft müsse die selbstbestimmte Die Bonner Behörde kann Schwerst- lich so umstritten, dass das Bundesverfas-
Entscheidung eines Schwerstkranken ach- kranken in Ausnahmefällen erlauben, Be- sungsgericht derzeit gleich elf Beschwer-
ten, das eigene Leben beenden zu wollen; täubungsmittel in der Apotheke zu erwer- den prüft. Noch in diesem Jahr wollen die
sie dürfe ihm das nicht unmöglich machen. ben. Auch Natrium-Pentobarbital gehört Richter entscheiden. Und es ist nicht aus-
Allerdings steht das Leipziger Urteil in dazu. Mit ein paar Milligramm davon geschlossen, dass sie das Parlament auffor-
krassem Widerspruch zu einem Gesetz, kann man epileptische Anfälle beenden. dern, den Paragrafen zu überarbeiten.
mit dem der Bundestag der Suizidbeihilfe Mit 15 Gramm ein Leben. Genau so viel Die Würde des Menschen ist unantast-
Ende 2015 Grenzen gesetzt hatte. In einer erbat Bettina Koch für sich. bar, so steht es im Grundgesetz. Was aber
der sensibelsten ethischen Rechtsfragen Zwei Monate nachdem die Behörde ei- am Ende des Lebens als würdig empfun-
befindet sich Deutschland nun im Schwe- nen Ablehnungsbescheid verschickt hatte, den wird, dazu gibt es sehr unterschied-
bezustand. »So gut wie nirgendwo« auf ließ sie sich in die Schweiz fahren und liche Ansichten. Kaum eine Debatte ist
der Welt gebe es so viel Rechtsunsicherheit nahm sich dort das Leben. Nach ihrem sensibler, gerade vor dem Hintergrund der
darüber, »was am Lebensende wann wem Tod kämpfte sich ihr Mann durch alle In- deutschen Geschichte. Jede Liberalisie-

41
Deutschland

rung der Sterbehilfe, fürchten ihre Gegner, für lange Spaziergänge ist Brennecke zu Doch noch schwerer auszuhalten ist der
könne gesellschaftlichen Druck auf schwach. Er weiß nicht, ob es der Tumor Gedanke, Menschen zu unbegrenztem
Schwerstkranke ausüben, ihr Leben zu be- war, der ihm die Kraft genommen hat, oder Leiden zu verurteilen: Nun rächt sich,
enden – und sei es, um niemandem zur die Chemotherapie. Direkt unter dem lin- dass der Bundestag vor zweieinhalb Jah-
Last zu fallen. So argumentiert etwa der ken Schlüsselbein kann er einen Knubbel ren eine menschenwürdigere Reform des
SPD-Politiker Franz Müntefering. Christ- ertasten, den Venenzugang für den Tropf, Sterbehilferechts versäumt hat. Eine frak-
lich orientierte Konservative wie Gröhe falls der Krebs zurückkehrt. Doch eines tionsübergreifende Parlamentariergruppe
hadern generell damit, ein Leben von weiß er genau: Wenn die Kraft nicht mehr um den damaligen CDU-Abgeordneten
Menschenhand zu beenden. Es gehe um reicht für die Chemo, will er nicht mehr und ehemaligen Pfarrer Peter Hintze hat-
Nähe, um Zuwendung und medizinische kämpfen. te dafür geworben, Ärzten in eng gesteck-
Begleitung in den letzten Lebenstagen. »Ich wünsche mir meinen Tod so, dass ten Grenzen zu gestatten, Patienten in
Niemand würde widersprechen. Und ich mich im Leben verabschieden kann«, schwerster Not beim Sterben zu helfen –
doch zeigen Umfragen, dass für drei Vier- sagt Brennecke. Seine letzten Stunden sol- wenn es sich um eine »unheilbare, unum-
tel der Deutschen zu ihrer Würde auch die len friedlich sein. Aufgeräumt. Er will seine kehrbar zum Tode führende Erkrankung«
Möglichkeit gehört, unerträgliches Leid Frau um sich haben, seine Kinder, Freunde, handelt.
mit fremder Hilfe abkürzen zu dürfen. in Ruhe Abschied nehmen. »Seltsam«, Es gibt Leiden, die niemand für längere
Im BfArM wächst der Stapel mit Anfra- sagt er und blickt aus seinem Esszimmer Zeit ertragen kann. Als Hintze seinen Ge-
gen von Menschen, die sich eine todbrin- in den Garten. »Bei der Geburt sind alle setzentwurf vorstellte, erzählten die Par-
gende Arznei wünschen. 98 Anträge zäh- hellauf begeistert. Warum kann der Tod lamentarier von Menschen, die Kot erbra-
len die Beamten inzwischen. Unter ihnen nicht genauso gefeiert werden?« Gehöre chen, und von Sterbenden, denen der Tu-
sind Schwerstkranke, die vorbereitet sein doch auch dazu, sagt Brennecke. mor durch den Hals wucherte. Es müsse
wollen, wenn sich ihr Zustand verschlech- Mal angenommen, das BfArM würde einen leichteren Weg für sie geben, sagte
tert. Eine Orthopädin zum Beispiel, die seinem Wunsch zustimmen. Das würde Hintze. Da wusste er schon, dass er selbst
von Multipler Sklerose in den Rollstuhl ge- bedeuten, »dass mir dieses Mittel von ei- nicht mehr viel Zeit hatte.
zwungen wurde und in der letzten Phase nem Apotheker abgegeben wird, um die- Hintze starb ein Jahr darauf an Krebs,
ihres Lebens »nicht hilflos ausgeliefert« ses Mittel bei Bedarf ausschließlich zu die- seine Idee hat noch heute viele Befürwor-
sein will. Oder Brennecke, der fürchtet, sem Zweck einzusetzen«, so hat er es in ter. »Ich argumentiere mit dem christlich
dass der Tumor zurückkommt. seinem Antrag geschrieben. Brennecke geprägten Humanismus: Wenn wir wissen,
Und dann gibt es jene Menschen, die müsste Medikamente gegen das Erbrechen dass es unerträgliches menschliches Leid
ihr Leiden schon heute als so unerträglich schlucken, dann das Natrium-Pentobarbi- gibt, muss man helfen, es zu lindern«, sagt
empfinden, dass sie es abkürzen wollen. tal. »Man schläft ein, das Herz hört auf zu SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach.
Sofort. Fünf der Antragsteller sind bereits schlagen, und dann ist jut«, sagt er. Doch der Bundestag entschied sich für
tot. Die Deutsche Gesellschaft für huma- Und wenn sein Antrag abgelehnt wird? einen anderen Weg. Im Gegenzug fließt
nes Sterben spricht von einer »unerträg- »Man kann genügend andere Tabletten seither mehr Geld in Hospize und Pallia-
lichen Hinhaltetaktik«. schlucken, dann stirbt man auch«, sagt er. tivmedizin. Wenn die Betreuung in den
Wann es über die Anfragen entscheidet, »Nur dauert es quälend lange.« letzten Lebenstagen nur fürsorglich, nur
dazu äußert sich das BfArM nicht konkret. Die Zumutungen des Leipziger Urteils professionell genug sei, argumentierten
Es handle sich um sehr verschiedene An- sind offensichtlich. Wie soll eine Behörde die Politiker, werde niemand mehr den
träge, auch Experten müssten eingebun- wie das BfArM über so existenzielle Fragen Suizid wollen. Es gehe darum, Leiden zu
den werden, »sodass eine Prognose über und individuelles Schicksal entscheiden? lindern – und nicht Leben zu beenden.
den Zeitpunkt einer individuellen Ent- Wie soll sie beurteilen, wer als Schwerst- Helmut Feldmann sieht die Sache an-
scheidung nicht pauschal möglich ist«. Die kranker zu gelten hat? Kann man Beamten ders. »Mein ganzes Leben lang habe ich
Beamten warten auf Vorgaben. zumuten oder zutrauen, die Lebensmüden die Gesetze geachtet. Aber dieses Gesetz
In der Nähe von Lüneburg, an seinem und Einsamen von den Todkranken zu akzeptiere ich nicht«, sagt er. Seit 33 Jah-
Schreibtisch mit Blick auf den Garten, unterscheiden? Oder müsste eine Ethik- ren ist er Mitglied der SPD, 25 Jahre lang
plant Hans-Jürgen Brennecke seinen Wi- kommission darüber bestimmen, von wel- führte er den Ortsverband in Dortmund-
derstand. Er will das BfArM verklagen – chem Zeitpunkt an die Not unerträglich ist? Körne, im Schrank liegt die Partei-Ehren-
wegen Untätigkeit. nadel in Silber. Auch ungeliebte Mehrhei-
Brennecke war in seinem Leben schon ten hat er immer akzeptiert, »gehört ja
vieles: Erzieher, Diplompädagoge, Lehrer,
Sozialarbeiter. Vor allem war er ein wider-
Umfrage dazu zur Demokratie«. Doch dieses Mal
will er sich nicht beugen. »Was der Bundes-
ständiger Mann. Im Hausflur zeugt das »Sollte es in Deutschland bei einer schweren tag beschlossen hat, geht am Wunsch der
Foto eines jungen Mannes mit dunklem unheilbaren Erkrankung ein Recht auf meisten Menschen völlig vorbei.«
Schopf davon. Ein Journalist hat es vor eine ›Beihilfe zur Selbsttötung‹ geben?« Seine Stimme ist etwas heiser; wenn er
beinahe fünf Jahrzehnten gemacht. Als länger spricht, fehlt ihm am Ende des Sat-
junger Erzieher kämpfte Brennecke gegen Ja: 77 % zes die Luft. »COPD, Lungenemphysem«
unhaltbare Zustände in einem Hamburger steht in seiner Krankenakte. Das Leiden,
Kinderheim. Als er in Rente ging, sorgte das schleichend alle Lungenbläschen zer-
er für die Rückgabe von Beutekunst an 1003 Befragte; 2014, stört, quälte schon andere in der Familie.
Befragung
ihre jüdischen Eigentümer. Heute streitet »Palliativversorgung und Sterbehilfe«; Vor 40 Jahren sah Feldmann seinen Vater
Zentrum für Qualität
er für einen selbstbestimmten Tod. »Ich in der Pflege; an 100 fehlende
sterben, vor 15 Jahren seine Schwester.
will ja nicht, dass mir der Staat beim Ster- Prozent rundungsbedingt Ihre Fotos sind bei ihm, jeden Tag, sie ste-
ben hilft«, sagt er. »Ich will nur nicht, dass hen in der Schrankwand aus Eiche. Ge-
er es mir verbietet.« keine Angabe blieben sind aber auch die anderen Bilder,
Sein Körper ist schmal geworden in den die in seinem Kopf. Es tue ihm leid, das so
N ei 6%
Jahren seit der Diagnose. Vor der Haustür n: 16 % drastisch zu formulieren, »aber meine
liegen Felder und sattgrüne Wiesen, doch Schwester ist elendig krepiert«.

42
Schwerstkranken schmerzstillende Medi-
kamente überlassen, mit denen man sich
umbringen könnte. Bewegen sie sich damit
ebenfalls am Rande der Legalität?
Schon bevor das Gesetz verabschiedet
wurde, hatten 141 Strafrechtsexperten in
einem gemeinsamen Appell vor der Kri-
minalisierung der Ärzte gewarnt. Auch die
Wissenschaftlichen Dienste des Bundesta-
ges äußerten Bedenken. So hat das neue
Gesetz vor allem maximale Verunsiche-
rung geschaffen. Bei Ärzten, die nicht wis-
sen, was ihnen erlaubt ist und was nicht.
Bei Schwerstkranken, die sich allein gelas-
sen fühlen. Und bei allen, die sich sorgen,
was sie am Ende des Lebens erwartet.
Sein erklärtes Ziel hat das Gesetz dage-
gen nicht erreicht: das endgültige Aus für
die Sterbehelfervereine in Deutschland.
Der ehemalige Hamburger Justizsenator
und Gründer von Sterbehilfe Deutschland,
Roger Kusch, will sein Angebot erneuern
– allen Verboten zum Trotz. Der Verein
habe dazu seine Statuten geändert, teilte
er im Januar mit. »Sterbewillige«, wie die
JOANNA NOTTEBROCK / DER SPIEGEL

Vereine das nennen, könnten nach einem


längeren Verfahren nun Angehörige in die
Schweiz schicken, um dort die tödlichen
Medikamente abzuholen. Auch bei Feld-
mann hat der Verein im Februar angerufen.
Das Angebot sei nun wieder möglich.
Umso klarer wird, dass sich die Parla-
mentarier mit dem gesamten Regelwerk
Lungenkranker Feldmann: »Mund auf, Knarre rein, abdrücken« zur Sterbehilfe noch einmal beschäftigen
sollten, selbst wenn das Bundesverfas-
sungsgericht sie nicht dazu auffordert. Es
Feldmann wollte wissen, was die Pallia- erträglichen Tod ein Menschenrecht. »Es ist Zeit für eine neue Debatte über Würde
tivmediziner am Ende seiner Tage für ihn kann nicht sein, dass nicht ich über meinen und Selbstbestimmtheit am Lebensende.
tun könnten. Vier Ärzte hat er dazu be- Tod entscheide, sondern die Abgeordne- Aber sie sollten sich beeilen. Auch die Pa-
fragt. Ihre Antworten lassen ihn wach lie- ten im Bundestag«, sagt er. tienten, die auf einen Brief des BfArM war-
gen in der Nacht. Den Tod durch Ersticken, Bereits die Formulierung des Gesetzes ten, verdienen eine schnelle Entscheidung.
sagten sie, könnten sie ihm nicht ersparen. ist tückisch. Ganz konkret hat es die »ge- Allerdings haben sich die Mehrheiten
Sie könnten nur dafür sorgen, dass er ihn schäftsmäßige« Beihilfe zum Suizid unter im Bundestag mit der vergangenen Wahl
nicht bewusst erlebe. Strafe gestellt, um die Arbeit umstrittener nach rechts verschoben. Das macht es noch
Noch kommt Helmut Feldmann zu- Vereine wie Dignitas oder Sterbehilfe weniger wahrscheinlich, dass Vorschläge
recht, er achtet auf sich, er liest viel über Deutschland zu verbieten, die den schmerz- wie jener, den einst CDU-Mann Peter Hint-
seine Krankheit und besucht seine Lebens- losen Tod durch ein Medikament verspre- ze vorlegte, eine Mehrheit finden könnten.
gefährtin im Pflegeheim. Jeden Tag. Ihre chen. Auch Feldmann hatte 2012 einen Mit- »Ich bin mir sicher, dass das Parlament die
Demenz ist vergleichsweise gnädig. Sie gliedsantrag bei Sterbehilfe Deutschland Rechtslage sogar noch verschärfen würde
lässt die Kranken vergessen, was am Ende unterschrieben, als Absicherung für den – und ich würde das bedauern«, sagt SPD-
ihrer Tage auf sie zukommen mag. Ernstfall. 1000 Euro hat er als Aufnahme- Fraktionsvize Lauterbach.
Feldmann vergisst nicht, er sucht einen gebühr gezahlt. Mit der AfD ist eine Riege robuster Le-
Ausweg. »Mund auf, Knarre rein, abdrü- Diesen Weg will das Gesetz versperren, bensschützer in das Parlament eingezogen,
cken, fertig«, sagt er, auch das wäre denk- auch andere Schwerstkranke klagen des- in der Union dringen Konservative wie
bar. Er hat schon vor Jahren versucht, sich halb in Karlsruhe, außerdem haben die der neue Gesundheitsminister Spahn auf
eine Pistole zu besorgen. Vergebens. »Hat Sterbehilfevereine selbst Beschwerde ein- eine Korrektur nach rechts. Man muss be-
nicht geklappt, so ganz ohne Verbindun- gelegt. Man kann darüber streiten, ob die fürchten, dass es bei der Debatte um die
gen in die Unterwelt.« Vereine dem Wohl und der Würde der Suizidassistenz nicht zu mehr Selbstbe-
Sich vor den Zug zu werfen kommt Menschen dienen oder beides missachten. stimmung am Ende kommen wird.
ebenfalls nicht infrage – schon wegen des Tragisch aber ist, dass selbst Palliativme- Helmut Feldmanns Hoffnung ist nun ein
Lokführers. Es müsse einen anderen Weg diziner ihre Arbeit behindert sehen. Auch Gebet, das er jeden Abend spricht. Der
geben, findet er. Deswegen hat er das sie wollen das Gesetz in Karlsruhe kippen. »gütige Gott«, bittet er, möge schneller sein
Bundesverfassungsgericht angerufen. Denn die Neuregelung erschwert die als seine Krankheit und ihm einen gnädi-
Feldmann hat eine jener elf Beschwer- Arbeit von Ärzten, die Sterbende auf ih- gen Tod schenken.
den gegen das neue Gesetz auf den Weg rem letzten Weg begleiten. Viele Medizi- »Ich möchte eines Nachts im Schlaf ster-
gebracht, über die Karlsruhe entscheiden ner und Pflegekräfte sind nun noch mehr ben«, sagt Feldmann. »Ohne Qual.«
muss. Für ihn ist die Hoffnung auf einen verunsichert – zum Beispiel, wenn sie

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 43


Deutschland

»Terror im Taucherparadies«, so titelte die sich als das Profil eines Islamisten. Der Ex-
Mord unter »Welt am Sonntag«.
Doch dann begannen die ägyptischen
Behörden zu mauern und lieferten nur
Wirtschaftsstudent, der in Hurghada als
Klempner arbeitete, hatte eine schwarze
Dschihadistenfahne gepostet. Und einen
Palmen spärliche Auskünfte. Von Terrorismus wol-
len sie offiziell nichts wissen, stattdessen
Link zu einem Aufruf zum Kampf gegen
die »Ungläubigen« auf einer IS-nahen Seite.
machen sie Andeutungen über mögliche Anders als die Ägypter behaupteten, lie-
Attentate Zwei Frauen suchen die psychische Probleme des Attentäters. ge »sehr wohl der Verdacht nahe, dass die
Wahrheit über den Tod ihrer Bis heute wissen die Hinterbliebenen der Tat religiös motiviert war«, schlussfolgerte
Opfer nicht, wo der mutmaßliche Mörder das BKA. Möglicherweise habe der Täter
Mütter, die im Urlaub erstochen weggesperrt ist und wann Ägyptens Staats- »im Auftrag einer Person oder einer terro-
wurden. War es ein Terrorist? anwaltschaft ihn anzuklagen gedenkt – falls ristischen Vereinigung gehandelt«.
Die Ägypter mauern. überhaupt. Seit einem Dreivierteljahr geht Doch klare Beweise konnte das BKA
das so, zum Ärger auch der deutschen nicht erbringen, eigene Ermittlungen kön-
nen deutsche Polizisten im Ausland nur

M yriam Mundt und Lena Krüger


sind an den Strand gekommen,
an dem ihre Mütter starben.
Sie sind den staubigen Weg abgelaufen,
bedingt anstellen. Der Generalbundes-
anwalt verzichtete deshalb vorerst darauf,
ein eigenes Terrorverfahren zu eröffnen.
Er beließ die Angelegenheit bei der Staats-
den der Attentäter entlanggegangen sein anwaltschaft Hildesheim, die den Mordfall
müsste. Vorbei an den Wachmännern, der unter dem Aktenzeichen 17 Js 24178/17

STEFANIE LOOS / DER SPIEGEL


Tauchschule, vorbei an den Dattelpal- führt. Dabei ist es bis heute geblieben.
men und den Sonnenschirmen aus Stroh. An einem nassen Wintertag sitzen
Bis zu den Liegen, auf denen ihre Müt- Myriam Mundt und Lena Krüger in der
ter die Mittagssonne genossen hatten, be- Kanzlei eines Berliner Anwalts, den die
vor ihr Mörder zustach. Familien eingeschaltet haben. Der Tod ih-
Wenige Monate nach der Tat stehen rer Mütter belastet sie, doch sie wollen das
Mundt und Krüger am Ufer des Roten Leid der Angehörigen öffentlich machen.
Meeres und wollen Antworten. Doch am Spätere Opfer Krüger, Mundt Krüger holt ihr Handy aus der Tasche.
Ort des Attentats in Ägypten finden sie nur Die Familien fühlen sich alleingelassen Darauf ist die letzte WhatsApp-Nachricht
Gerüchte, keine Gewissheiten. ihrer Mutter gespeichert, ein Foto vom
Ein Shopbetreiber aus dem Nachbar- Meer. Es stammt vom Abend vor dem At-
hotel habe die Festnahme mit seinem Han- tentat, an dem die beiden Freundinnen auf
dy gefilmt, raunt ihnen jemand zu. Doch den Urlaub anstießen.
als sie den Mann treffen, zeigt er ihnen kein Keine 20 Stunden später waren sie tot.
Video, sondern nur ein Foto des Täters aus Krüger: »Die ganze Geschichte ist ein
der Presse. In einem Blumenladen lassen riesengroßes Fragezeichen.«
STEFANIE LOOS / DER SPIEGEL

sich die Töchter zwei Gestecke aus Rosen Mundt: »Man kriegt nichts gesagt, man
binden. Sie legen sie dort ab, wo ihre Müt- kriegt nichts zu hören, man kriegt nichts
ter ihre letzten Minuten verbrachten, set- zu sehen, man kriegt gar nichts.«
zen sich in den Sand und blicken aufs Was- Krüger: »Wir verlangen nicht viel. Wir
ser. Dann fliegen sie zurück nach Deutsch- wollen einfach nur wissen, was passiert ist.
land, mit mehr Fragen als Antworten. Wie sollen wir sonst jemals abschließen?«
Es war am 14. Juli 2017, ein Freitag im In den ersten Wochen waren deutsche
Hochsommer, als der Ägypter Abdelrah- Töchter Myriam Mundt, Lena Krüger Behörden und Politiker noch bemüht. Der
man Schaaban Abo Kora an einem Hotel- »Wie sollen wir jemals abschließen?« damalige SPD-Generalsekretär Hubertus
strand in Hurghada auf Urlauberinnen Heil, aus dessen Wahlkreis die Opfer ka-
einstach. Seine Opfer waren Frauen aus Ermittler und Diplomaten, die mehrfach die men, besuchte Ingrid Mundts Tochter My-
Deutschland, Tschechien, Russland und Ägypter um Informationen gebeten haben. riam. Sigmar Gabriel, zu jener Zeit noch
Armenien, die am Strand lagen. Drei von Für die Angehörigen ist es eine Qual. Außenminister, meldete sich per Telefon,
ihnen starben, darunter Ingrid Mundt, 65, Nach wie vor spricht viel für einen isla- später schickte er den Angehörigen einen
und Susanne Krüger, 56. mistischen Hintergrund der Attacke. Das Brief. Er versicherte, die Behörden befass-
Die Frauen kannten sich seit Jahren, Bundeskriminalamt (BKA) hatte danach Be- ten sich »intensiv mit Ihrem Fall«.
beide waren Friseurmeisterinnen aus der amte ans Rote Meer geschickt. Sie inspizier- Inzwischen, so sehen es Mundt und Krü-
Nähe von Peine in Niedersachsen. Sooft ten den Tatort und trugen Aussagen von ger, denke niemand mehr an sie. Weder
es ging, machten sie Urlaub in Hurghada, Zeugen zusammen. Einer berichtete, der die Politik noch die Behörden noch die
Mundt tauchte und hatte in dem Strandort Attentäter habe gerufen, Ausländer und Öffentlichkeit. Ähnlich wie viele Hinter-
eine Ferienwohnung, es war ihr erster ge- Christen hätten in Ägypten nichts zu suchen. bliebene des Breitscheidplatz-Anschlags
meinsamer Tag in diesem Sommerurlaub. Eine Russin, die den Angriff verletzt fühlen sie sich alleingelassen.
Das Messer das Attentäters traf beide überlebte, beobachtete, wie der Täter te- Im November erreichte ein Schreiben
in die Lunge und ins Herz. lefonierte, bevor er zum benachbarten Ho- des Bonner Bundesamts für Justiz die
Zunächst sah alles eindeutig aus, nach tel eilte und auf weitere Frauen einstach. Familien. Dort hatten sie einen Antrag auf
dem Anschlag eines Islamisten, der in Zwei seiner Opfer verfolgte er bis ins Was- »Härteleistungen für Opfer terroristischer
Kontakt mit der Terrorgruppe IS ge- ser der Lagune. Straftaten« gestellt, wie sie Angehörigen
standen haben soll. So berichteten es Die deutschen Staatsschützer sahen sich nach Anschlägen zustehen. Das Amt
ägyptische Medien und deutsche Zeitun- eine Facebook-Seite genauer an, die sie schrieb, man könne ihnen »zum jetzigen
gen mit Verweis auf Sicherheitskreise. dem Attentäter zuordneten. Sie entpuppte Zeitpunkt leider keine Hoffnung machen«,

44 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


dass sie eine Entschädigung bekämen. Die
Belege für einen terroristischen Hinter-
Aufstieg und Fall des
grund seien bisher zu dünn.
Der Anwalt der Familien, Roland We-
ber, bat die ägyptische Botschaft um Aus-
Martin Schulz – das Buch zur
kunft. Nach Monaten hat er eine Antwort
bekommen, die ihn ratlos zurücklässt. Der
Täter habe zugegeben, die Frauen ersto-
»REPORTAGE DES
chen zu haben, schrieben die Ägypter, ein
Urteil habe es bisher aber nicht gegeben.
Man habe ihn zur Beobachtung in eine
psychiatrische Klinik gebracht, da er seit
JAHRES«
Jahren unter Krampfanfällen leide und vor
der Tat sein Medikament nicht regelmäßig
eingenommen habe.
Was die angebliche Krankheit mit der
Tat zu tun haben soll, ist unklar. Weber ist
überzeugt: »Die Ägypter wollen ver-
schleiern, dass der Angriff islamistisch mo-
tiviert war.« Auf Fragen des SPIEGEL ant-
worteten die ägyptischen Behörden nicht.
Die deutschen Familien sind nicht die Ein-
zigen, die verzweifeln. Bei dem Attentat
kam auch eine Frau aus Prag ums Leben.
Die tschechische Botschafterin in Kairo be-
klagte sich über die ägyptischen Behörden.
Sie vermutete: »Sie reden nicht von Terro-
rismus, weil das Wort Touristen abschrecken
könnte.« Hurghada ist eines der wichtigsten
Urlaubsziele Ägyptens.
Im Herbst sah es kurz so aus, als klärte
sich der Fall doch noch. Eine ägyptische
Zeitung berichtete, die Ermittler bereite-
ten eine Terroranklage vor, der Attentäter
sei als schuldfähig eingestuft worden. Aber
dann geschah wieder: nichts.
Einen Monat später schickten die Tsche-
chen ein Polizeiteam nach Hurghada. »Die
ägyptischen Beamten waren freundlich«,
heißt es aus dem tschechischen Außen-
ministerium, »aber viele Informationen
haben wir nicht bekommen.« Die Staats-
anwaltschaft Hildesheim rechnet damit,
dass »noch viele Monate ins Land gehen«,
bis »sich in dieser Sache etwas tut«. 320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich
Der Umgang mit dem Fall scheint Men-
schenrechtler zu bestätigen, die sagen, von
einem Rechtsstaat könne in Ägypten kaum Nie zuvor lagen in der deutschen Politik der extreme
die Rede sein. Höhenflug und der krachende Absturz näher beieinander als bei
Mundt und Krüger stellen in ihrer
Verzweiflung eigene Recherchen an. Auf Martin Schulz. Markus Feldenkirchen hat den Kanzlerkandidaten
Google haben sie die Namen von IS- und SPD-Vorsitzenden begleitet, so exklusiv und hautnah,
Männern eingetippt, die laut einem ägyp-
tischen Pressebericht mit dem Angreifer
wie es in Deutschland bislang nicht möglich gewesen ist.
in Verbindung standen. Doch sie konnten Eindrucksvoll erzählt er in seinem Buch nun die ganze Geschichte
nichts zu den angeblichen Hintermän- eines politischen und persönlichen Dramas.
nern finden. Im Internet entdeckten sie
ein Radiointerview mit einer russischen
Augenzeugin und schrieben den Sender
an, ob er einen Kontakt herstellen könne. »EIN MEISTERHAFTES, PRÄZISE
Warum ihre Mütter starben, wissen sie BEOBACHTETES STÜCK POLITIKREPORTAGE.«
noch immer nicht. »Es ist wie ein riesiges Aus der Jury-Begründung für die Auszeichnung zum »Journalisten des Jahres«
Puzzle«, sagt Mundt, »und uns fehlen fast
alle Teile.«
Christoph Sydow, Wolf Wiedmann-Schmidt
Mail: wolf.wiedmann-schmidt@spiegel.de

45
www.dva.de
Deutschland

Röhl: Wahnsinnig, dieser Brief. Ulrike

»Wir waren Meinhof hat sich in einen Hass hinein-


gesteigert. Die Ideologie der Kulturrevo-
lution dehnte sie bis ins Privatleben aus.
SPIEGEL: Sie hat darauf bestanden, das

Ausstellungsstücke Weihnachtsfest 1969, also das letzte Fest


vor ihrem Weg in den Untergrund und den
Terrorismus, ausfallen zu lassen. Sie zitie-
ren ihren damaligen Lebenspartner Peter

der Revolution«
Homann damit, Ulrike Meinhof habe ge-
sagt, er sei ein sentimentaler Bourgeois,
der bei den Kindern ein falsches Gefühl
von Gemeinsamkeit erzeugen wolle. Sie
verbringen dann den Heiligabend ohne
SPIEGEL -Gespräch Die Journalistin Bettina Röhl, 55, Baum, ohne Geschenke, ohne schönes Es-
sen, in einer chaotischen Wohnung und re-
über Kälte und Verwahrlosung im Zusammenleben mit ihrer den darüber, dass man nicht Weihnachten
Mutter, der späteren RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, feiern sollte.
Röhl: In der Kommune 2 in Berlin wurde
und die Frage, warum sie die 68er für ein Missverständnis hält auch der Weihnachtsbaum angezündet.
Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige,
die gegen solche Konventionen verstoßen
wollte, aber sie hat das übererfüllt.
SPIEGEL: In diesem Jahr wird, da sie sich
zum 50. Mal jährt, überall an die 68er-
Revolte erinnert. Sie sind überzeugt, dass
die Bewegung der 68er heute falsch be-
wertet wird. Inwiefern?
Röhl: Die meisten Historiker, die über 68
etwas Wichtiges geschrieben haben, waren
selber 68er. Das macht ihre Texte nicht
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

falsch, das muss man aber wissen. Aber in


Büchern, in Filmen, in der ganzen Verar-
beitung, bis hin zu dem Eichinger-Film
»Der Baader Meinhof Komplex«, zeigt
sich: Bei aller Kritik, die sie selbst an der
Bewegung üben, schwelgen sie in den 68er-
Mythen.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Röhl: Der Schuss auf den Studenten Ben-
no Ohnesorg im Juni 1967 sei der Urknall
SPIEGEL: Frau Röhl, Ihre Eltern Ulrike ganze Welt anzünden. Meine Mutter woll- gewesen, danach hätten sich alle radikali-
Meinhof und Klaus Röhl waren in den te schon vorher die Revolution. Sie wollte sieren müssen, so ungefähr haben wir das
Sechzigerjahren Journalisten, haben ge- als Kommunistin das System der Bundes- gelernt. Die Idee dahinter war, der Staat
meinsam die linke Zeitschrift »Konkret« republik bekämpfen, immer sprach sie refaschisiere sich, die Polizei schieße wie-
gemacht. Die beiden Eltern ließen sich vom System. Dann geht sie nach der Tren- der auf Studenten. Aber 2009 hat sich he-
Ende der Sechzigerjahre scheiden, weil Ihr nung 1968 nach Berlin, da war sie 33, und rausgestellt, dass der Schütze Karl-Heinz
Vater Ihre Mutter betrogen hat, Ihre Mut- will bei der Studentenrevolte mitmischen, Kurras gar kein Nazi war, sondern ein Sta-
ter gründete bald danach die terroristische will dabei sein bei dem, was dort unter der si-Mann Ost-Berlins. Dass er ein Mörder
Rote Armee Fraktion, genannt RAF. Lesen Führung des sozialistischen Studentenbun- war, steht heute fest, und dass sein Fall da-
wir Ihr Buch richtig, wenn wir daraus des SDS, dem auch Rudi Dutschke ange- mals von den Behörden falsch behandelt
schließen, die RAF hätte es nicht gegeben, hört, schon in Gang gekommen ist. wurde, auch. Doch selbst wenn Kurras
wenn Ihre Mutter nicht so gekränkt vom SPIEGEL: Es ist interessant, wie Ihre Mut- ein Nazi gewesen wäre, hätte nicht die
Ehebruch gewesen wäre und sie sich in ter den Hass auf ihren Ex-Mann mit ihren Bundesrepublik Ohnesorg umgebracht,
ihrer Mutterrolle wohler gefühlt hätte? politischen Anliegen verknüpft. In Ihrem sondern ein einzelner Mensch. Bei einer
Röhl: Das würde ich nicht so sehen. Dieser Buch veröffentlichen Sie einen Brief, in gewalttätigen Studentendemonstration im
Ehekrach meiner Eltern war für meine dem sie schreibt: »Wirklich – das einzige April 1968 in München starben zwei Men-
Mutter sicher ein ganz großes Thema, das Mittel gegen die Angst ist der Hass. Wenn schen, der eine wurde von einem Stein ge-
sagt auch der Schriftsteller Peter Rühm- man sie wirklich hasst, wenn man sich troffen, der andere von einer Holzlatte. In
korf: Ulrike Meinhof war eine wahnsinnig wirklich darüber im Klaren ist, dass das beiden Fällen wahrscheinlich von Studen-
gekränkte Frau. Rühmkorf wusste auch, die Fressen sind, die als GIs in Vietnam, ten. Meine Mutter sah diese Toten ganz
wie sehr mein Vater Klaus Röhl in diese Persien, Kambodscha, in den Negergettos, taktisch, sie fuhr sogar nach München, um
andere Frau verliebt war, mit der er heute als Werkschutz die Politik des Imperia- die dortigen Studenten zu beruhigen. Sie,
noch zusammenlebt. Aber Rühmkorf sag- lismus machen – dann kann man was ge-
te auch: Meinhof ist nun nicht die Einzige gen die Angst machen, sich scheiden las- * Bettina Röhl: »Die RAF hat euch lieb: die Bundes-
in der Menschheitsgeschichte, der so etwas sen. Mein GI ist der Röhl. Und meine republik im Rausch von 68 – Eine Familie im Zentrum
passiert ist. Da kann man nicht gleich die Angst.«* der Bewegung«. Heyne; 640 Seiten; 24 Euro.

46 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


PRIVAT
KLAUS MEHNER / BERLINPRESSSERVICES.DE

Zwillinge Bettina (l.) und Regine Röhl


im Alter von neun Jahren um 1972,
Ehepaar Klaus Röhl, Ulrike Meinhof
beim Hamburger Galopp-Derby 1963,
Journalistin Meinhof in Berlin 1970
PRIVATPHOTO RÖHL

»Ich finde sie schwer auszuhalten«

47
Deutschland

und da war sie keinesfalls die Einzige, er- SPIEGEL: Das klingt nicht, als ob Sie das senmörder. Der chinesische KP-Vorsitzen-
klärte die Erschlagenen, um es so hart zu glaubten. de Mao Zedong war wohl der effektivste
sagen, wie es ist, zu Kollateralschäden der Röhl: Natürlich nicht. Auch das ist ein Massenmörder aller Zeiten. Und trotzdem
Revolution. Der eine, Benno Ohnesorg, gern gepflegter 68er-Mythos, um zu ver- haben die Leute auf den Straßen diese Na-
gilt als Rechtfertigung für alles, was folgte, tuschen, dass man Mao Zedong hinterher- men geschrien. Sie haben sich zu sehr an
und die anderen zählten nicht. gelaufen war. Es gab in der älteren Ge- der Kulturrevolution orientiert, an dieser
SPIEGEL: Diskreditiert dieser Umstand in neration eine Obrigkeitshörigkeit, das Idee vom Neuen Menschen. Aber was ist
Ihren Augen die ganze Bewegung, die stimmt, aber die rührte aus dem Gefühl, der Neue Mensch? Niemand kannte ihn,
doch, neben vielen falschen und gefähr- das Leben könne ganz schnell zusammen- niemand wusste, wie man ein Neuer
lichen Folgen, immerhin eine notwendige brechen. Die 68er hatten es doch viel bes- Mensch wird.
Auseinandersetzung mit der NS-Zeit her- ser. Sie hatten zehn Leben. Studentenre- SPIEGEL: Für manche ist Ihre Mutter eine
beigeführt hat? volte, K-Gruppe, ein paar Häuser beset- Art Heilige der RAF. Sie widerlegen das
Röhl: Waren das wirklich die 68er? Die zen, danach fünf Jahre Bhagwan-Sekte, Stück für Stück.
Auschwitzprozesse waren vorher. Wissen ein Studium beenden, dann noch mal Kar- Röhl: Mein hauptsächliches Wissen habe
Sie, auch bei den Schüssen auf den Stu- riere in der Politik. So viele Chancen – ich aus Akten oder von Zeitzeugen, die
dentenführer Rudi Dutschke progagierten die gab es vorher nicht, die gibt es auch ich interviewt habe, aber in dem Zeitraum,
die Führer des SDS spontan, dass die heute nicht. den ich in meinem Buch beschreibe, bin
Bundesrepublik oder der Springer-Verlag SPIEGEL: Der Kapitalismus hat eine Ge- ich fünf bis elf Jahre alt, da habe ich auch
mitgeschossen hätten. Dabei war der neration erschaffen, die dann gegen den Erinnerungen. Ich versuche anhand mei-
Schütze ein Einzeltäter. An diesen Mythen Kapitalismus auf die Straße ging? ner Familienbiografie die Geschichte von
hängen die 68er unwahrscheinlich fest, wir
alle. Die Bewältigung der Nazivergangen-
heit spielte damals kaum eine Rolle. Es
wurden nicht gegen Nazis Eier geworfen,
sondern gegen das Amerika-Haus. Nicht
die Nazis sollten weg, sondern die klein-
bürgerliche Familie. Und vor allem das
Kapital.
SPIEGEL: Dennoch spricht viel dafür, dass
1968 ein notwendiger Katalysator war, um
ein liberaleres Deutschland zu schaffen.
Röhl: Das ist Quatsch. Die Reformen wa-
ren alle schon vorher eingeleitet: die Ent-
nazifizierung, die Emanzipation der Frau,
die Liberalisierung der Familien. Die 68er-
Generation ist vielmehr die erste Nutznie-
ßerin der neuen Freiheiten. Wenn Sie in
deren Biografien gucken, womit haben die
sich beschäftigt, bevor sie 18 waren? Die
sind ins Kino gegangen, haben Sport ge-
trieben, waren Ski laufen. Die hatten eine
unpolitische, glückliche Jugend in einer
Wohlstandsgesellschaft mit wachsender

PRIVAT
Liberalität. Sie waren Nutznießer von
mehr Taschengeld, der Pille, einem Plat- Zeichnung der Baracken in Sizilien von Bettina Röhl 1970: »Angst, sich nicht zu erinnern«
tenspieler zu Hause. Geknallt hat es, weil
es bei den Jüngeren plötzlich eine neue
Lässigkeit, ein Aufbruchgefühl gab. Die Röhl: Ja, die 68er-Vertreter wie Gerd Koe- 68 neu zu erzählen. Die Scheidungsakten
Älteren, die den Krieg erlebt hatten, denen nen und Götz Aly sprechen von einer und die Korrespondenz aus dem Gefäng-
Sparen, Ordnung und auch Autorität et- unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Ihre nis, aus der ich viel zitiere, waren bis heute
was bedeutete, kamen ihnen spießig vor. selbstempfundene Leere haben die 68er unbekannt, da lasse ich meine Mutter sel-
SPIEGEL: Wenn man Ihnen folgt, gab es mit Ideologien gefüllt, mit Karl Marx und ber sprechen. Man kann sie sympathisch
für die jungen Leute keinen Grund, gegen Mao Zedong. Das ist der einzige Punkt, finden oder nicht, manchmal lacht man
irgendetwas aufzustehen? in dem ich der damaligen Bundesrepublik auch. In einem Briefwechsel mit ihrem An-
Röhl: Absolut keinen. Ich glaube, die Zeit eine gewisse Schuld geben würde. Da war walt Heinrich Hannover finde ich sie aller-
war voller Energie. Es gab ja im Westen ein solcher Fortschritt und Schwung nach dings schwer auszuhalten. Von Reue keine
eine wahre Kulturexplosion, in der Musik, oben, aber es fehlte offenbar ein geistiger Spur. Immerhin ist sie als Kopf der RAF
in der Mode. In Verkennung dessen, was oder moralischer Überbau. Junge Leute an mehreren Morden und Mordversuchen
in China geschah, vermischten die 68er wünschen sich Sinn. Und dann ist die Re- beteiligt gewesen.
diese fantastische Entwicklung im Westen volution zur Mode, zum Phantasma ge- SPIEGEL: Und Ihr Vater?
mit der völkermörderischen chinesischen worden. Röhl: Mein Vater, der damals in der außer-
Kulturrevolution, die zum Vorbild ge- SPIEGEL: Die ernsten Themen der 68er, parlamentarischen Opposition als „Röhl,
macht wurde. Heute erklärt man nun, die die Verbrechen im Vietnamkrieg zum Bei- das Schwein“ galt, ist mir durch die Akten
68er hätten gewissermaßen aus urpsycho- spiel, waren in Ihren Augen Moden? immer sympathischer geworden. Er be-
logischen Gründen gegen das Schweigen Röhl: Niemand der 68er kannte sich wirk- müht sich auf seine Weise um seine Ex und
der Eltern nach der Nazizeit auf die Barri- lich mit Vietnam aus. Der vietnamesische wirft meiner Mutter noch ein Auto hinter-
kaden gehen müssen. Revolutionär Ho Chi Minh war ein Mas- her, das war ihr dann natürlich auch nicht

48 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


recht. Ihr Anwalt versucht, ihr die Kinder diese Diskussionen. Sie konnte nicht auf- SPIEGEL: Sie schildern im Buch keine Sze-
zuzuführen, aber selbst den zerlegt sie am stehen. ne, in der es einen Körperkontakt zwi-
Ende mit Hass. Ihre Pamphlete sind ideo- SPIEGEL: Aber er konnte. schen Ihrer Mutter und Ihnen gibt. War
logisch, terroristisch, sie rechtfertigt Mor- Röhl: Ja, er hatte einen Bezug zu Kindern. sie im Muttersein nicht angekommen?
de, aber trotzdem gibt es den Mythos der Er war nicht nur später mein Retter, son- Röhl: Ihr fehlte diese natürliche Leichtig-
guten Terroristin, der Heiligen. dern schon im Herbst 68. Er hat uns oft keit. Sie hat die Kinder als Erziehungs-
SPIEGEL: Also Ihre Mutter trennt sich mit seiner Ente zur Schule gefahren, wir objekte gesehen. Es ist skurril, dass eine
1968 von Ihrem Vater, sie zieht mit Ihnen kamen trotzdem meist zu spät. Meine Mut- Frau, die ihre Kinder von der RAF nach
und Ihrer Zwillingsschwester Regine nach ter hat uns Kinder problematisiert, aber Sizilien verschleppen ließ und in ein paläs-
Berlin, Sie sehen Ihren Vater noch hinter wenn ich irgendein Problem in der Schule tinensisches Lager bringen lassen wollte,
dem Wagen herlaufen. War Ihnen in dem hatte, dann war es das, dass es null Ver- überall als besonders liebende Mutter emp-
Moment des Wegfahrens klar, dass das der sorgung gab. funden wird.
Bruch zwischen Ihren Eltern war? SPIEGEL: Sie hatten kein Schulbrot? SPIEGEL: Sie war auch hart gegenüber
Röhl: Nein, aber der Umzug nach Berlin Röhl: Schulbrot? Wir kamen mit zerlöcher- Männern.
war ein riesiges Kontrastprogramm. Wir ten Strumpfhosen, irgendwelchen drecki- Röhl: Sie wollte die Radmuttern am Auto
waren in der Großstadt mit der Mutter gen Nickis, die Haare nicht geschnitten meines Vaters lösen lassen, um ihn umzu-
allein, die in größter Geschwindigkeit, also oder gekämmt, die Zähne nicht geputzt. bringen. Und in ihrer Zeit in Jordanien
in wenigen Monaten, eine Metamorphose Und keine Schulsachen dabei. Meine Mut- schweigt sie dazu, dass Peter Homann, der
machte, von einer Frau, die mit hochge- ter lobt uns Kinder in einem Brief, den ich Mann, mit dem sie zusammengelebt hat,
steckter Frisur auf Establishment-Partys erst im Januar bekommen habe: »Ich bin als Verräter erschossen werden soll; viel-
leicht hat sie sich sogar an diesem schreck-
lichen Plan, der dann misslang, beteiligt.
Und wir Kinder wären doch vernichtet ge-
wesen, wenn wir wirklich in einem paläs-
tinensischen Lager gelandet wären. Mein-
hof war die einzige Terroristin, die so hart
gegen ihre nächsten Menschen vorgegan-
gen ist.
SPIEGEL: Die RAF-Gründerin Gudrun
Ensslin hat ihren kleinen Sohn auch weg-
gegeben.
Röhl: Ja, zum Vater und zu Pflegeeltern,
aber nicht mit solcher Aktivität. Es war
schon Ulrike Meinhof, die die revolutio-
näre Energie hatte, sie wusste, dass eine
Revolution nur mit Gewalt durchzusetzen
ist, Andreas Baader und Gudrun Ensslin
alleine hätten keine RAF zustande-
ECKHART SIEPMANN / PRIVAT

gebracht. Die RAF hatte durch Meinhof


auch das beste Medienkonzept. Der Ge-
fängnisausbruch Andreas Baaders war ja
der Auftakt der RAF. Es war ein Medien-
signal.
SPIEGEL: Bislang hieß es oft, Ihre Mutter
Kind Bettina Röhl 1970 im sizilianischen Lager: »Wir wären doch vernichtet gewesen« sei spontan bei der Befreiung Baaders im
Mai 1970 mit aus dem Fenster gesprungen.
Sie sagen dagegen, es sei geplant gewesen.
geht, zur Ober-68erin, die alle Attitüden momentan richtig stolz auf sie. Sie gingen Röhl: Ja.
von 68 übererfüllt. Und diese Entwick- heute zum Kindergeburtstag, und weder SPIEGEL: Sind Sie sicher?
lung hat sie auf ihre Wohnung und ihre die Kleiderfrage noch die Geschenkfrage Röhl: Einige Zeitzeugen sehen das so, an-
Kinder übertragen. Ich war fünf und woll- kam auf mich zu. Sie gingen verdreckt, wie dere nicht. Aber wie war die Situation
te meine hübschen Kleider behalten, ich sie dauernd rumlaufen. Sie nahmen eigene denn damals? Ulrike Meinhof nimmt ihren
habe diese Veränderung mit Händen und Sachen zum Schenken mit. Von Schul- nächsten Filmjob beim WDR nicht an, sie
Füßen bekämpft, aber unsere Mutter hat kameraden werden sie allerdings auch führt ihren Lehrauftrag an der Universität
meine Schwester und mich absichtlich ver- kaum mehr eingeladen.« nicht weiter, macht dieses Abschiedsvideo,
wahrlosen lassen. Insofern waren meine SPIEGEL: Es gibt dieses berühmte Fernseh- daran sieht man, dass sie abschließt mit
Schwester und ich Ausstellungsstücke der interview mit Ihrer Mutter, bevor sie in der Welt und das auch will. Meine Schwes-
Revolution. den Untergrund gegangen ist. Da spricht ter hat gesehen, dass sie eine Waffe hatte,
SPIEGEL: Sie haben als Grundschülerin sie viel von Kindern. als sie zur sogenannten Baader-Befreiung
morgens mit Ihrer Schwester vor dem Bett Röhl: Sie hat sich inszenieren wollen als ging. Meine Mutter hat, glaube ich, nicht
der Mutter gestanden und gebettelt, dass jemand, der an der Welt zerbricht. Sie war mal die Miete für den Mai 1970 gezahlt.
sie Frühstück macht und aufsteht. eine Meisterin der Inszenierungen, sie SPIEGEL: Und es war auch klar, dass Sie
Röhl: Meine Mutter und ihr Freund Ho- wusste, wie Worte wirken, bis zum und Ihre Schwester zu einer Bremer Fami-
mann haben – so seine Schilderung – je- Schluss. Da darf man sie nicht unterschät- lie kommen sollten. Dann brachten Freun-
den Abend diese Zweiliterflaschen Weiß- zen. Der Titel meines Buches ist ein Zitat de Ihrer Mutter Sie über die grüne Grenze
wein ausgetrunken, jede Nacht 40 Ziga- von ihr: »Die RAF hat euch lieb.« Den bis nach Sizilien. Es waren lauter fremde
retten Roth-Händle geraucht, dazu immer Satz muss man erst mal bringen. Leute um Sie herum, Sie konnten nicht

49
wissen, was als Nächstes passieren würde
und ob diese Leute Sie nicht vielleicht in
der nächsten Stadt aussetzen.
Röhl: Ich hatte Urvertrauen. Ich dachte,
das sind Freundinnen meiner Mutter, die
machen schon das Richtige. Als die uns
dann in Sizilien zurückließen, mit einer
Frau, die wir nicht kannten, die auch
bitterlich weinte, weil sie ebenfalls zurück-
gelassen wurde, ohne Auto, ohne Geld,
da habe ich schon gedacht: Was ist jetzt
los?
SPIEGEL: Wovor haben Sie sich am meis-
ten gefürchtet?
Röhl: Irgendwann hat man Angst, dass
man sich nicht mehr an seine Eltern er-
innert und dass man die Schule verpasst,
so blöd das klingt, aber ich wusste, ich ver-
lerne jetzt Lesen und Schreiben. Zum
Schluss lebten wir mit Hippies, die sehr
nett waren. Der Mann kellnerte in einem
Restaurant, weil aus Berlin kein Geld mehr
kam. Da war ich schon sehr froh, dass
irgendwann Stefan Aust in dieses Restau-
rant kam.
SPIEGEL: Stefan Aust, später Chefredak-
teur des SPIEGEL und Autor des Standard-
werks »Der Baader-Meinhof-Komplex«,
kannte Ihre Eltern aus seiner Zeit bei
»Konkret«, er wollte Sie zu Ihrem Vater
zurückbringen. War er ein fremder Mann
für Sie?
Röhl: Nein, das war Onkel Aust aus Papis
Firma, der da stand mit seinem fröhlichen
spitzbübischen Lachen und fragte: Na,
Kinder, wollt ihr mitkommen? Ja, wollten
wir. Da hat er uns eingesackt. Wir sind mit
dem Zug von dort weg, und Aust hatte
wirklich Angst vor der Rache der RAF.
Das war auch nicht unberechtigt.
SPIEGEL: Sie sollten dann zu Ihrem Vater,
den Ihre Mutter Ihnen gegenüber als
Schwein dargestellt hatte. Hatten Sie davor
Angst?
Röhl: Die Hippies, die ihn gar nicht kann-
ten, sagten immer: Wenn ihr heult oder
laut seid, dann kommt ihr zum Vater. Aust
hat gesagt: Wenn ihr nicht zu eurem Vater
könnt oder wollt, dann kommt ihr zu mir
nach Stade, da habe ich ganz viele Pferde,
da sind meine Eltern. Da waren wir beru-
higt.
SPIEGEL: Die Fahndungsplakate nach den
Terroristen der RAF haben die Erinnerun-
gen einer ganzen Generation geprägt. Ha-
ben Sie sich geschämt, diese Mutter zu ha-
ben, die überall mit Plakaten gesucht wird?
Röhl: Eigenartigerweise nicht. Wir kamen
in eine Schule in Hamburg-Blankenese,
mein Vater war in Bestlaune, meine Oma
war da und Emmi, die uns den Haushalt
führte. Sie ist die Mutter des Liederma-
chers Wolf Biermann, eine Kommunistin.
Da wollte natürlich mein Vater auch meine
Ausriss aus Meinhof-Brief von 1970, Mutter vorführen, denn sie konnte ja
Vater Röhl, Töchter Regine, Bettina (r.), 1972 nichts dagegen haben, dass wir von einer
»Die tollsten Kindergeburtstage in riesigen Gärten« Kommunistin miterzogen wurden.

50
Deutschland

SPIEGEL: War die Rückkehr in ein bürger- meine Kindheit war schwerer als die mei-
liches Leben schwierig? ner Mutter, objektiv. Vielleicht habe ich
Röhl: Nein, wir waren sofort akzeptiert. mehr Lust zu leben. Aber Menschen, die

DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


Ich erinnere mich an die tollsten Kinder- diese schweren Depressionen haben, kön-
geburtstage in den riesigen Gärten. Meine nen da nicht einfach heraus, das sehe ich
Schwester war sowieso die Coolste und auch.
der Star. Das war eine tolle Zeit. Und bei SPIEGEL: Sie selbst werden auch psycho-
schlimmen Nachrichten auf den Titelseiten logisiert – als Tochter einer RAF-Terroris-
der Zeitungen ist mein Vater mit uns in tin haben Sie bei »Tichys Einblick«
Travemünde Rollschuh gefahren, bis der geschrieben, einer rechtskonservativen
Tag vorbei war und die Zeitungen weg. Plattform. Ihre konservative Wende gilt
Wir hatten eine unbeschwerte Schulzeit. Röhl (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* als Abrechnung mit der Mutter.
SPIEGEL: Im Ernst? Ihre Mutter war im »Die haben revolutionieren lassen« Röhl: Ich habe keine Wende vollzogen.
Gefängnis und erhängte sich dann. »Tichys Einblick« sehe ich als liberal-kon-
Röhl: Als meine Mutter gestorben ist – die- Intimste berühren. Weiter will ich nicht servativ. Ich habe früher Rot-Grün ge-
se Zeit war nicht unbeschwert, das stimmt. gehen, ich bin kein Psychologe. Aber völlig wählt, mit Überzeugung. Es waren meine
Ich sage nur, die Schule hat uns den Weg normal ist es nicht. Recherchen über Mao Zedong, über China
zurück erleichtert. Es war, wie schon ge- SPIEGEL: Warum fühlten sich kluge, aka- und Vietnam, die meine Sicht auf 68 ent-
sagt, insgesamt eine fantastische Zeit, die demische, linke Frauen, die sich mit Macht mythologisiert haben. Ich bin bei vielen
jeden mitriss. Die angeblich schlimmen in Gruppenbeziehungen beschäftigt ha- Themen immer noch links, ich bin zum
bürgerlichen Leute aus Blankenese waren ben, von Machos angezogen? Andreas Beispiel für den Mindestlohn. Und ich bin
supertolerant. Da hat nicht einer gesagt, Baader faszinierte Ihre Mutter, den Röhl, so konservativ wie die meisten erfolgrei-
geh mal lieber nicht mit einem der Röhl- einen Frauenhelden erster Güte, hatte sie chen Linksliberalen, die ich kenne. Nur re-
Zwillinge. Ein Freund hat später zu mir ge- sogar geheiratet. den die anders, als sie leben. Mit Ulrike
sagt: »Ihr wart die Baader-Meinhof-Tor- Röhl: Mein Vater hatte auch etwas Begeis- Meinhof haben meine politischen Über-
ten.« So leicht ist das gewesen damals. terndes. Er bringt Spaß und intellektuellen zeugungen nichts zu tun.
SPIEGEL: Heute schauen wir anders auf Witz ins Leben, hat eine Leichtigkeit, küm- SPIEGEL: Nach 68 sei ein ganzes Land der
die Kriegskindergeneration, zu der auch mert sich. Meine Eltern haben zehn Jahre RAF auf den Leim gegangen, sagen Sie.
Ihre Mutter gehört, die 1934 geboren wur- lang ganz gut zusammengepasst, sie haben Wie meinen Sie das?
de. Sehen Sie Ihre Mutter als einen durch gemeinsam gearbeitet und waren gemein- Röhl: Terror war irgendwie in. Das ist ein
den Krieg beschädigten Menschen? sam erfolgreich. Sie war in ihn verliebt, Gesellschaftsspiel geworden. Da gab es rie-
Röhl: Nein. vielleicht auch, weil er sie aus ihren De- sige Geschichten, im SPIEGEL, im »Stern«,
SPIEGEL: Wenigstens als junge Waise? Sie pressionen herausgerissen hat. Und sie hat die RAF-Anwälte, die RAF-Sympathisan-
verlor früh den Vater und mit 14 Jahren die Stärke gehabt, ihn zu verlassen. Das ten, eine Story nach der anderen. Die meis-
auch die Mutter. hat ihn übrigens fertig gemacht. Er hat sich ten aus der Bewegung, die den Marsch
Röhl: Das schon eher. Aber Oldenburg, vorgestellt, er könne die Geliebte haben – durch die Institutionen angetreten hatten,
wo meine Mutter nach der Flucht aus Jena und Frau und Kinder. Und Baader? Zeit- die Lehrer, Richter, Journalisten, haben
landete, war heil. Meine Großmutter ar- zeugen sagen, dass die Mädchen reihen- die RAF und die anderen extremen Grup-
beitete dort als Lehrerin und machte ihren weise mit Männern ins Bett gegangen seien, pen konsumiert. Die haben revolutionie-
Doktor. Renate Riemeck, die auch zu die- wenn diese auf Revoluzzer gemacht hätten. ren lassen. Mit schönem Grusel. Das war
ser Frauenfamilie gehörte, seit meine Mut- SPIEGEL: Ihre ältere Halbschwester hat wie eine Reality-Serie, jede Woche, immer
ter fünf Jahre alt war, wurde die jüngste Ihrem Vater gegenüber Missbrauchsvor- mit echten Toten und echten Waffen, mit
Professorin Deutschlands. Ich finde nicht, würfe erhoben und gesagt, er habe auch Entführungen und Hungerstreiks.
dass Meinhof ein schwereres Schicksal hat- Sie missbraucht. Ihr Vater hat das übrigens SPIEGEL: Hatten Sie Angst, selber Mutter
te als ihre ganze Generation. bestritten. zu werden, mit einer Terroristin als Mutter?
SPIEGEL: Gleichwohl hatte sie, wie Peter Röhl: Ja, 2010 wurde ich gegen meinen Röhl: Nein. Ich wollte schon mit 16 Mutter
Homann auch Ihnen gegenüber gesagt hat, Willen und ohne mein Zutun quasi als Op- sein und bin es dann erst mit 45 geworden.
etwas Melancholisches, tief Unglückliches. fer geoutet. Mein Vater hat sich an meiner Vielleicht weil ich mich mit einer Gesell-
Röhl: Das stimmt zu 100 Prozent, etwas Person festgehalten, als so eine Art Mein- schaft auseinandersetzen musste, die mir
Depressives, was aber auch einige moch- hof zwei. So habe ich es empfunden. Ich immer wieder ihren Meinhof-Mythos ser-
ten. Sie wirkte dadurch, das hat mir ein an- war als Tochter die ersehnte Ehefrau, die vierte.
derer Freund erzählt, verletzlich und dann das Haus wieder anwärmen sollte. Und da SPIEGEL: Schmieren Sie jetzt besonders
auch sympathisch. Wenn jemand so er- sehe ich ansexualisierte Übergriffe eher ambitionierte Schulbrote?
schöpft ist, eine gewisse Unsicherheit hat, als Vehikel, um diesen seelischen Bezug Röhl: Natürlich. Ich gehöre wahrscheinlich
aber auch riesigen Erfolg, das übt eine An- zu mir zu bekommen. Wenn er betrunken zu der schrecklichen Generation, die ihre
ziehung aus. So sah es auch Peter Homann. war, hat er auch Ulrike zu mir gesagt. Do- Kinder zu sehr verwöhnt. Das ist der neue
Ich fand es angenehm, dass ein naher minant waren für mich in dieser Zeit aber Zeitgeist, und dem ist man unterlegen, ob
Mensch ein so warmes Licht auf sie wirft. die Rettung durch ihn und dieses fantasti- man jetzt Verwandte hat wie ich oder nicht.
SPIEGEL: Wie ist Ihre Mutter, die Nähe sche und anregende Leben zu Hause. SPIEGEL: Frau Röhl, wir danken Ihnen für
kaum zulassen konnte, mit dem Diktat der SPIEGEL: Wenn Ihr Vater in Ihnen die Ul- dieses Gespräch.
freien Liebe umgegangen? rike erkannt hat, sehen Sie sie manchmal
Röhl: Diese ganz schwere Depression ging auch selber in sich?
bei ihr sicher auch in sexuelle Bereiche Röhl: Nein, gar nicht. Ich empfinde mich Video
Eine Kernfamilie
hinein. Meinhof will ihren Ex-Mann Röhl, als einen leichteren und glücklicheren Typ, von 1968
ihren Ex-Freund Homann und die Kinder spiegel.de/sp142018roehl
quasi umbringen. Da würde ich mal auf * Mit den Redakteurinnen Cordula Meyer und Susanne oder in der App DER SPIEGEL
persönliche Probleme schließen, die das Beyer in Hamburg.

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 51


Gesellschaft
Der Mensch ist zu einer Aktennummer geschrumpft. ‣ S. 54

Q UE L L E : STAT I ST I SC H E S B UN DE SAMT
1983: 25

Früher war alles schlechter


Nº 118: Tote durch Blitzschlag
1980
starben in
Deutschland
24 Menschen 1996: 12
durch einen
Blitz.

2007: 6

2015 gab es
2 Opfer.

2010: 0

Zeus macht schlapp. Was ist wahrscheinlicher: im Lotto eine war als heute, von rund vier Opfern pro einer Million Einwoh-
Million zu gewinnen oder vom Blitz erschlagen zu werden? Bei- ner pro Jahr auf unter 0,1 pro Million. Für Gesamtdeutschland
des ist sehr unwahrscheinlich, dennoch ist die Antwort eindeutig: liegen vergleichbare Daten erst ab 1980 vor, doch auch in dieser
In Deutschland gibt es jedes Jahr gut Hundert Lottomillionäre – jüngeren Vergangenheit ist der Rückgang, wie oben dargestellt,
vom Blitz getötet dagegen wurden in diesem Jahrtausend im deutlich zu erkennen. Woran liegt’s? Jedenfalls nicht daran, dass
Schnitt rund drei Menschen jährlich. Unsinnig, fast ketzerisch er- es weniger blitzt. Es gibt weniger Beschäftigte in der Landwirt-
scheint es, im Zusammenhang mit Blitzschlag von Fortschritt zu schaft (ergo weniger Leute im Freien, wenn’s donnert), es gibt
sprechen. Ein Blitz, »wie aus heiterem Himmel«, steht schon genauere Wettervorhersagen, mehr Risikobewusstsein durch
sprichwörtlich für den unabwendbaren Zufall oder für die gött- Aufklärung, erfolgreichere Notfallbehandlung. Übrigens: Der
liche Intervention, von Zeus geschleudert, wann und auf wen es Golfsport, ein ansonsten eher risikoloses Hobby, bleibt blitz-
ihm passt. Zahlen aus den USA aber, wo die Berechnungen sehr gefährdet. 2012 erschlug ein Blitz vier Frauen auf einem Golf-
weit zurückreichen, zeigen, dass das Risiko, vom Blitz erschla- platz in Nordhessen. In den USA kommt im Schnitt jedes Jahr
gen zu werden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts 40-mal höher ein Golfer durch Blitzschlag ums Leben. Mail: guido.mingels@spiegel.de

Heimat bescheidenen, heimatlichen Klang, einen Auf der Speisekarte steht jetzt: »Münch-
nostalgischen Mehrwert, ist also hip. Man ner Schweinsbraten mit Bayerisch Kraut«.
Gehört die Steckrübe zu sucht nach lokalen Produkten, die gleich- Früher hätte man gesagt: Schweinsbraten
Deutschland, Herr Peter? zeitig überraschen. Kräuter wie Giersch, mit Kraut.
Mädesüß, Engelwurz. Etwas, das nach SPIEGEL: Gehört die Steckrübe also zu
Peter Peter, 61, Restaurantkritiker und einem altdeutschen Märchen klingt. Deutschland?
Autor von »Kulturgeschichte der deut- SPIEGEL: Kurt Tucholsky schrieb: »Deut- Peter: Die Älteren würden sagen: leider
schen Küche« über eine Prämierung sche, kauft deutsche Zitronen!« ja. Aber was gehört schon zu Deutsch-
Peter: Ja, er kritisierte land? Das Sauerkraut
SPIEGEL: Herr Peter, die Steckrübe ist den nationalen Ungeist. haben uns die Mongo-
zum Gemüse des Jahres ausgerufen wor- Essen war eben immer len gebracht. Die Möh-
den. Haben Sie dafür Verständnis? politisch. Es gab den re kommt aus Indien.
Peter: Meine Güte, ausgerechnet die Speisekartenerlass von Die Kartoffel aus Süd-
NIGEL CATTLIN / HOLT STUDIOS / OKAPIA

Steckrübe, die Mecklenburger Ananas? Wilhelm II. Mayonnaise amerika. Die Steckrübe
Ein bisschen fad. Allein schon dieser sollte Öltunke heißen. aus Skandinavien.
Name ist bitterer Spott. Aber ja, die Ent- Später gründeten die Meist dauert es nur drei
scheidung passt in die Zeit. Nazis den Reichsvoll- Generationen, dann
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? kornbrotausschuss. Heu- werden Zutaten als hei-
Peter: Es ist eine Avance an die »cucina te geht es eher darum: misch empfunden.
povera«, an die Arme-Leute-Küche. Frü- Was ist moralisch kor- SPIEGEL: Was ist dann
her waren Steckrüben Notkost, eigentlich rekt? Dazu gehört wie- noch typisch deutsch?
Schweinefutter. Heute hat das so einen der die Heimatküche. Peter: Döner. JST

52 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Mitarbeiter. Da haben wir keine Chance«. BMW produziert
Eine Meldung und ihre Geschichte
nicht weit weg in München, Audi in Ingolstadt, auch die Wa-
cker-Chemie sei in der Nähe. »Bei denen landen die Mitar-

Vollbeschäftigung beiter, die es noch gibt auf dem süddeutschen Stellenmarkt.«


Kalz musste seine Lage verbessern, er brauchte einen
Wettbewerbsvorteil, er brauchte etwas, was seinen Betrieb
einzigartig machte. Deshalb saß er an diesem Sonntag im
Warum ein Unternehmer mit Februar in seiner Firma und googelte verbissen nach einer
einer Stellenanzeige nach Lösung für sein Problem.
»unmotivierten Taugenichtsen« sucht Kalz kann nicht mehr genau sagen, wie er auf die Idee
kam, er kann nur sagen, dass die Idee plötzlich da war.
Sie passt in einen knappen Satz: Humor ist Mangelware

D ie persönliche Revolte von Jochen Kalz, Inhaber und


Geschäftsführer von »Kalz Brandschutz und Elektro-
technik«, begann an einem Sonntag im Februar nach
einem ausgiebigen Frühstück, als Kalz sich in seine Firma
in der Wirtschaft. Das war Kalz’ zentrale Einsicht. Alle Fir-
men konkurrieren um Aufträge, um Mitarbeiter, sie kämpfen
um die besten Margen, um mehr Umsatz, mehr Gewinn. Es
ist kalt da draußen, unbarmherzig, nicht lustig.
aufmachte, voller Wut. Kalz wollte es wagen, lustig zu sein, selbstironisch sogar.
Kalz, eigentlich ein besonnener Mann, hatte sich am Früh- Er würde sich kleinmachen, um sich von allen anderen zu
stückstisch in Rage geredet, seine einzige Zuhörerin war Bar- unterscheiden, um endlich neue, fähige Mitarbeiter zu finden.
bara Baumer, seine Partnerin und, wie Kalz es beschreibt, Kalz gefiel die Idee der Selbstironie, einerseits.
»meine kaufmännische Assistenz im Betrieb«. Andererseits beunruhigte sie ihn aber auch, immerhin ver-
Barbara Baumer saß ihm gegenüber, während Kalz sich kauft er als »Vollsortimenter im präventiven Brandschutz«
heißredete. Er sprach darüber, dass er täglich zehn, zwölf Sicherheit, Verlässlichkeit und Korrektheit.
Stunden in seiner Firma arbeite, dass der letzte Urlaub über Kalz lebt und arbeitet in Eggenfelden, einer Kleinstadt mit
zwei Jahre zurückliege, dass er einen Gutteil seiner Tage knapp 15 000 Einwohnern. Er fragte sich, ob seine Idee wirk-
damit verbringe, Kunden zu er- lich gut war oder ob sie seinen
klären, warum er ihre Aufträge Ruf vielleicht doch ruinieren wür-
verschieben musste, um Tage, um de. Aber Kalz fiel nichts anderes
Wochen, um Monate. Es war im- ein, also setzte er seine Idee um.
mer derselbe Grund: Ihm fehlten Man kann es den Mut der Ver-
Mitarbeiter. zweiflung nennen.
»Es war eine zutiefst unbefrie- Gut eine Woche später er-
digende Situation«, sagt Kalz nun schien Kalz’ neue Stellenanzeige
am Telefon und deutlich ruhiger. in der Lokalzeitung. Er beschrieb
So hatte er sich sein Leben nicht seine Firma nicht mehr wie üb-
vorgestellt. Es musste sich etwas lich als »überregional tätiger
PETRA SCHLIERF / PNP

ändern, dringend. Dienstleister im Bereich des vor-


Seit mehr als zwei Jahren such- beugendes Brandschutzes«, son-
te Kalz Mitarbeiter für seinen Be- dern als »Möchtegernunterneh-
trieb. Meister, Bachelor-Absolven- men«, den Chef als »inkompe-
ten aus der Fachrichtung Elektro- tent und planlos«, gesucht wur-
technik, Facharbeiter, Metallhand- Kalz, Baumer den »unmotivierte Taugenicht-
werker, Kundendiensttechniker se«. Außendienstlern wurde ein
und Helfer. Kalz hatte in der Lo- Bobbycar versprochen, dem Rest
kalzeitung inseriert, in der »Pas- ein »17er für’s Freibier«.
sauer Neuen Presse«, im »Vilstal- Die Anzeige erschien an einem
boten«, einem Anzeigenblatt. Er Von der Website Pnp.de Samstag. Gegen 8.30 Uhr rief der
war bei der Agentur für Arbeit, erste Bewerber an, und bis Mitte
hatte die Beamten um Bewerber gebeten, und auch auf Face- der kommenden Woche saß Kalz vor allem am Telefon.
book hatte er es versucht: »Um unserem Wachstum gerecht Mehr Bewerber riefen an, der Entwicklungschef einer großen
zu werden, suchen wir …«, es folgte Kalz’ lange Liste. Automobilfirma, ein paar Psychologen, Freunde, Bekannte,
»Das Ergebnis war bescheiden«, fasst Kalz seine Erfahrun- Nachbarn. Von ein paar Uneinsichtigen abgesehen, gratu-
gen aus diesen zwei Jahren zusammen. Vorruheständler seien lierten alle Kalz zu dem mutigen Entschluss, sich selbst mal
bei ihm erschienen, pleitegegangene Gastwirte hätten vor nicht so ernst zu nehmen. Das sei sehr angenehm, sehr
seiner Tür gestanden, nutzlose Männer ohne Führerschein. undeutsch und sehr nötig. Es sei nur gerecht, dass er dafür
»Niemand war qualifiziert, niemand schien verlässlich.« belohnt werde.
Kalz ist Teil des deutschen Mittelstands. Menschen wie er, Am Ende lagen die Unterlagen von 25 Bewerbern vor ihm,
so hört er Politiker immer wieder sagen, seien die Garanten manche fachfremd, andere überqualifiziert wie die Ingenieure
für Wohlstand, Innovation und Beschäftigung. Firmen wie von Siemens und Osram, deren Papiere Kalz gleich zur Seite
seine seien der Motor der Wirtschaft. Es gab mal eine Zeit, schob. Kalz stellte einen Deutschen ein, der im Vertrieb ar-
da freute sich Kalz über solches Lob, sah es als Ansporn, heu- beiten wird, und einen Techniker, der aus Syrien stammt.
te hält er diese Sätze für Phrasen. »Das war ’ne gute Aktion«, sagt Kalz am Telefon. Er plant
Kalz fühlt sich schon lange nicht mehr als Innovator, nicht auch schon etwas Neues.
wertgeschätzt von der Politik, er fühlt sich »übervorteilt«. Was denn?
Der demografische Wandel macht ihn fertig, und »die In- »Betriebsgeheimnis.«
dustrie gewinnt zu oft im Konkurrenzkampf um potenzielle Uwe Buse

53
Gesellschaft

Verschoben

DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

Aktenschränke im Verwaltungsgericht Cottbus

Justiz Fast jeder abgelehnte Asylbewerber klagt gegen seine Abschiebung.


Bundesweit müssen Richter entscheiden, ob Menschen bleiben dürfen
oder nicht – viele andere Klagen bleiben über Jahre liegen. Aus dem Alltag
eines Verwaltungsgerichts. Von Dialika Neufeld

54
A
m Montagvormittag, gegen 11.30 tet. Seine Leiter gaben stolze Interviews, Nocon trägt eine blaue Fliege, eine Bril-
Uhr, steht Richter Gregor Nocon weil sie nach all der Kritik beweisen konn- le mit runden Gläsern und ein kariertes
in seiner Amtsstube im dritten ten: »Wir schaffen das doch.« Alle Zahlen Jackett in Jägerfarben. Er ist ein Mann,
Obergeschoss des Verwaltungs- gingen runter. Nur bei Nocon und seinen der gern in lateinischen Redewendungen
gerichts Cottbus neben einer fenstergro- Kollegen gehen sie noch immer weiter rauf. antwortet und in seiner Freizeit mit seiner
ßen Karte Afrikas und blättert in einer Nocon ist seit 1998 Richter am Verwal- Frau im brandenburgischen Wald Stein-
Akte, dick wie ein Unterarm. Draußen tungsgericht, in diesem schlüpferrosa ge- pilze sammeln geht. In seiner rechten Ho-
sind minus zehn Grad, der Rasen vor dem strichenen ehemaligen Kasernengebäude sentasche steckt eine altmodische silberne
Gebäude ist mit Reif überzogen, aber hier am Rande der Stadt, zuständig für Cottbus Uhr, die er manchmal behutsam an einer
drinnen, in diesem Raum voller Topfpflan- und vier Brandenburger Landkreise mit Kette herauszieht, als könnte er mit ihr die
zen, hat Gregor Nocon mit ganz anderen Doppelnamen: Elbe-Elster, Dahme-Spree- Zeit anhalten.
Klimazonen zu tun: Zu seinen Füßen lie- wald, Spree-Neiße und Oberspreewald- Und um Zeit geht es viel im Moment,
gen rote Ordner mit der Aufschrift Ghana Lausitz. »Der schönste Beruf«, sagt er, an seinen Arbeitstagen. Er hat keine, und
oder Gambia, auf zwei hoch- und runter- aber eine Situation wie diese habe er in auch seine Kollegen haben keine, was im
fahrbaren Schreibtischen überlagern sich seinen 20 Jahren im Amt noch nicht erlebt. Großen mit der Weltlage zu tun hat und
Eilanträge von Menschen aus den staubigs- Er sagt: »Die Lage finde ich dramatisch.« im Kleinen mit den sechs Aktenschränken
ten Teilen dieser Welt, und vorn am Ein- Am Verwaltungsgericht Cottbus ist die im Geschäftszimmer von Frau Gubatz und
gang türmen sich die Fälle des Tages einen Flüchtlingskrise so aktuell, als schriebe Frau Cornelius, ein paar Zimmer den po-
halben Meter hoch. man das Jahr 2015. Die große »Welle«, lierten Flur hinunter.
Da ist beispielsweise die somalische von der alle sprachen, ist vom Bundesamt Diese Aktenschränke sind graubeigefar-
Familie, die nach Italien abgeschoben wer- zu Nocon und seinen Kollegen in den an- ben und haben jeweils vier tiefe Auszüge.
den soll; da ist der junge Mann aus dem Sie stehen dort wie ein blechgewordenes
Tschad, der jetzt plötzlich sagt, er sei ho- schlechtes Gewissen. Dicht an dicht hän-
mosexuell und werde deswegen verfolgt; gen darin die unbearbeiteten Asylklagen,
ein Äquatorialguineer, der sich bei einem gelbe und rote Ordner, mehr als 1200
Fußballspiel mit dem Sohn des Präsiden- Stück. Zu jedem dieser Pappordner gehört
ten angelegt haben will und deshalb blei- ein Mensch, der wartet, ein Schicksal, ein
ben wolle; ein Syrer, der sich gegen die Leben und sehr viel Schriftverkehr. Mit
Abschiebung nach Schweden wehrt. Anwälten, mit dem Bamf. Und nicht sel-
»Die muss ich alle abarbeiten«, sagt ten eine stundenlange mündliche Ver-
Richter Nocon. Aber erst mal müsse er handlung. Das Problem: In Nocons Kam-
über die Graugänse nachdenken. mer gibt es nur drei Richter, die über Asyl-
»Die Graugänse«, sagt er nun, »kom- klagen entscheiden können, das bedeutet
men aus dem Süden zurück.« Auch eine 400 abzuarbeitende Fälle pro Amtsper-
Art von Migration. Es wird Frühling, es son. Und täglich kommen neue hinzu.
eilt. Deshalb hat Nocon vor sich auf Jeden Tag steht er also erneut vor der
dem Tisch zwischen all den Asylfällen die Aufgabe zu entscheiden, was dringender
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

Klage von einem Naturschutzverein auf- ist: zu klären, ob Menschen im Abschie-


gemacht. Es geht darin um Windkraftan- beflieger sitzen sollen oder eben, ob Grau-
lagen und die Frage, ob sie abgeschaltet gänse im Landkreis Oberspreewald-Lau-
werden sollten, weil die heimkehrenden sitz in Rotorblätter fliegen, ob ein Schup-
Graugänse möglicherweise bald von ihren pen zu nah am Nachbarszaun steht oder
Rotorblättern geschreddert würden. die Lärmbelästigung an der Landstraße
»In welcher Höhe fliegen diese Gänse für eine alte Dame noch erträglich ist.
jetzt?«, fragt Nocon. Das muss er heraus- Richter Nocon Nocon zieht die Schultern hoch. »Wir
finden. Er könnte auch hinfahren, durch »Wie hoch fliegen diese Gänse jetzt?« bearbeiten nicht nach Staatsangehörigkeit
brandenburgische Landschaften, und sich des Klägers, sondern nach Dringlichkeit«,
die Anlagen ansehen, in normalen Zeiten sagt er, »was anderes können wir nicht
hätte er das längst getan. Nur warten eben deren Verwaltungsgerichten in Deutsch- tun.« So kommt es, dass die Akten zu sei-
noch die vielen Männer und Frauen mit land herübergeschwappt, von einem Be- nem Graugans-Fall schon seit neun Mona-
den fremd klingenden Namen auf seine cken ins nächste. Denn jeder Asylbewer- ten herumliegen, normalerweise sollte so
Aufmerksamkeit, und bei ihnen geht es ber, den das Bamf ablehnt, hat das Recht, ein Eilverfahren in vier Wochen entschie-
um alles, ums Gehen oder Bleiben, rein gegen die Entscheidung Klage einzurei- den sein. Seine ältesten Verfahren, erzählt
oder raus. Er lässt die Akte erst mal liegen chen – und die meisten tun das auch. Nocon, liegen seit sechs Jahren.
und beschließt stattdessen per schriftli- So landen die Akten aus dem Bundes- Für viele der Asylklagen in Nocons
chem Urteil ein paar Dublin-Fälle, Ab- amt auf den Tischen der Verwaltungsrich- Blechschrank wäre Deutschland eigentlich
schiebungen nach Spanien und Italien. ter. Mehr als 320 000 Asylklagen waren gar nicht zuständig. Es gebe sie nur, erzählt
Es ist das Jahr drei nach dem deutschen es 2017 bundesweit. Ein Jahr zuvor waren der Richter, weil es den Behörden nicht
Flüchtlingssommer, die Reden von »Flu- es noch 70 000. In dem kleinen Gericht gelinge, die Kläger innerhalb der gesetz-
ten« und »Strömen« werden weniger. Im in Cottbus haben sich die Asylklagen seit lichen Sechsmonatsfrist nach der Dublin-
vergangenen Jahr kamen nur noch 2011 mehr als verdreizehnfacht. Die Zahl Regelung abzuschieben. Weniger als zehn
186 000 Menschen in Deutschland an. Die der Richter aber ist beinahe gleich geblie- Prozent der Abschiebungen in andere EU-
Sammelunterkünfte leeren sich, das Bun- ben. Im Moment warten 5358 Altklagen Staaten werden tatsächlich auch vollzogen.
desamt für Migration und Flüchtlinge darauf, von gerade mal 18 Richtern bear- Sobald die Frist verstreicht, ist Deutsch-
(Bamf) hatte in anderthalb Jahren mehr beitet zu werden, fast die Hälfte davon land verantwortlich für das Asylverfahren.
als 7000 neue Mitarbeiter eingestellt und Asylangelegenheiten. Nocon sagt: »Es ist Wird der Asylbewerber dann abgelehnt,
Hunderttausende Asylanträge abgearbei- unmöglich zu schaffen.« landet seine Klage bei Nocon, in einer gel-

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Gesellschaft

DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL


Richter Görich bei Verhandlung ohne Kläger: Wie ein Theaterschauspieler bei der Probe, auf einer leeren Bühne, ohne Publikum

ben Mappe. »Wenn Dublin funktionieren die Stille will nicht so recht zu der Schwere Brandenburg seit der Klagewelle an den
würde«, sagt er, »dann würde ich nicht so der Entscheidung passen, die hier gleich vier Verwaltungsgerichten eingestellt. In
oft die Lage in Kamerun, Kenia oder Li- gefällt werden soll. Herr Chaudhry legt Cottbus kamen in der Zeit von 2011 bis heu-
byen beurteilen müssen, sondern nur die seine Hände auf die Knie und atmet laut te zwölf neue Richter hinzu, um Nocon und
in Spanien und Italien.« aus. Er habe Angst, sagt er. »Diese Unge- seine Kollegen zu unterstützen. Das klingt
Am nächsten Morgen, noch vor neun wissheit«, er sagt: »Wenn ich verliere, gehe erst mal nach viel, nur haben in der glei-
Uhr, betritt ein Mann mit einem schwarz- ich wohl sehenden Auges in den Tod.« chen Zeit elf Richter das Gericht verlassen.
roten Rucksack das Gericht, lässt sich von Doch Chaudhry wird noch warten müs- Um neun Uhr soll die Verhandlung be-
der Justizbeamtin hinter der dicken Glas- sen, zuerst findet in Saal C, in einem win- ginnen, der Richter setzt sich in seiner
scheibe am Eingang durch die Sicherheits- zigen Gerichtsraum am Ende des Flures, Robe hinter die Milchglasscheibe, die sei-
schleuse lotsen und geht in den leeren Be- eine Serbien-Verhandlung statt. nen Tisch vom Rest des Raumes trennt,
sucherraum im ersten Stock. Der zuständige Richter trägt seine und macht sich bereit. Doch dann ge-
Der Mann heißt Ahmed Waheed schwarze Robe über blauen Jeans, ein schieht etwas, das auf Außenstehende
Chaudhry, ist 49 Jahre alt, Vater von drei Mann mit einem Jungsgesicht und einem wirkt wie ausgedacht: Richter Görich ver-
Kindern und kommt aus Pakistan, wo er silbernen Stecker im linken Ohrläppchen. handelt in einem leeren Raum ohne Kläger
als Landwirt gearbeitet und Reis, Zucker- Er heißt Görich. Vor sich auf dem Tisch und ohne Angeklagte. Er ruft durch das
rohr und Weizen angebaut hat, ein leiser legt Richter Philipp Görich die Akten ab, Mikrofon die Kläger auf: »In Sachen Igor
Mensch mit weicher Stimme und ange- daneben stellt er einen Becher dampfen- V. gegen die Bundesrepublik Deutschland
grauten Schläfen. Er hängt seine Daunen- den Tee. Er ist 28 Jahre alt. bitte in Saal C eintreten.« Aber niemand
jacke an den Ständer und setzt sich ans Im April 2016 wurde Richter Görich zur kommt, kein Kläger, keine Beklagte, nur
Fenster neben einen Gummibaum. Seit Entlastung des Gerichts eingestellt, direkt die Dolmetscherin fürs Serbische.
vier Jahren ist er in Deutschland, seit an- nach dem Referendariat, das erzählt er, Die Kläger, eine Familie mit einem zwei-
derthalb Jahren hat er eine Festanstellung wenn man ihn nach seinem jugendlichen jährigen Kind, sind nach Serbien abgescho-
als Hausmeister in einer Moschee in Berlin. Alter fragt. Er sagt: »Ich gehöre zum Asyl- ben worden, eine Woche vor dem Ver-
Zweimal in der Woche spiele er Badmin- paket eins.« Zwölf Richter hat das Land handlungstag. Richter Görich eröffnet
ton, »nur mit Deutschen«, sagt er. trotzdem, er sieht dabei aus wie ein Thea-
Bisher hat ihn die offene Klage vor der terschauspieler bei der Probe, auf einer
Abschiebung geschützt. Ein Urteil könnte Für die einen geht es um leeren Bühne, ohne Publikum.
das nun ändern. Auf den langen Fluren ist Zufahrten und Strafzettel. Es ist nicht selten, dass in Cottbus auf die-
um diese Zeit kein Mensch zu sehen, die se Weise verhandelt wird. Manchmal kom-
Richter sitzen auf ihren Stuben und wälzen
Für die anderen um men Kläger nicht, weil sie abgeschoben wor-
Papier, kein Schritt ist zu hören, kein Wort, ein Leben in Deutschland. den sind, manchmal sind sie ausreisepflichtig

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und tauchen vor der Verhandlung unter, ten«, erzählt Chaudhry, »die Frauen konn- unserem Kopf ist nie weggegangen«, ant-
manchmal haben sie aus anderen Gründen ten gar nicht in die Moschee, weil es zu wortet Chaudhry.
das Interesse an der Klage verloren, ziehen gefährlich war für sie. Die Kinder wurden »Verstehe ich Sie richtig, dass Ihnen per-
sie aber nicht zurück, manchmal sind sie ein- auf dem Weg zur Schule beschimpft.« sönlich von Juni 2013 bis 2014 nichts pas-
fach krank. »Afghanen kommen eigentlich Dann, 2012, sei ein Imam ins Dorf gekom- siert ist?«, fragt der Richter.
immer«, sagt Görich, »ein Drittel der Pakis- men, erzählt Chaudhry. Er habe die Men- »Nein, in Rabwah gab es keinen An-
taner nicht.« Menschen, die in sichere Her- schen im Dorf gegen ihn und seine Glau- schlag auf mich. Aber in meinem Dorf im-
kunftsstaaten abgeschoben werden sollen, bensbrüder aufgehetzt, habe gepredigt, mer wieder«, sagt Chaudhry.
haben so schlechte Chancen vor Gericht, dass ins Paradies komme, wer einen Ah- Richter Görich will herausfinden, ob
dass sie selten erscheinen. Sie lassen sich madi töte. sich die Aussagen von Herrn Chaudhry
dann von ihren Anwälten vertreten, oder, Es habe nicht lange gedauert, und die mit denen decken, die er damals bei seiner
wie im Fall der Serben, gar nicht. ersten Steine seien gegen die Moschee ge- Anhörung beim Bamf gemacht hat, ob es
Warum fällt die Verhandlung dann nicht flogen, die Angreifer hätten zu Chaudhry Widersprüche gibt, ob er seinen Schilde-
einfach aus? Warum die wertvolle Zeit des gesagt: »Wir lassen dich nie mehr in Ruhe«, rungen etwas hinzufügt, ob seine Flucht-
Richters vernichten? so erzählt er es. Er sei der Vorsteher seiner gründe plausibel sind oder ob er mögli-
So will es die Prozessordnung, sagt Rich- Gemeinde gewesen, das habe ihn für die cherweise lügt, um zu bleiben.
ter Nocon. Wo es eine Klage gibt, muss es Angreifer zum wichtigsten Ziel gemacht. So dauern manche dieser mündlichen
ein Urteil geben. Es gebe auch Fälle, bei »Mein Leben war nicht mehr sicher.« Verfahren mehrere Stunden. Am längsten
denen die Kläger selbst nach der Abschie- Herr Chaudhry macht nun ein Geräusch dauere Afghanistan, das erzählen die
bung noch ein großes Interesse an der Kla- wie ein verletztes Tier, und es laufen Trä- Richter in Cottbus, Afghanistan sei kom-
ge haben – in der Hoffnung, dass sie zu-
rückkehren können. »Das ist halt Teil des
Jobs«, sagt auch Görich. Eine Viertelstun-
de nach der Eröffnung der Geisterverhand-
lung, um 9.15 Uhr, schließt er sie wieder.
Dann rechnet er die Kosten der Dolmet-
scherin ab. Das Urteil folgt schriftlich.
Aber Herr Chaudhry ist da, und der 28-
jährige Herr Görich wird nun über sein
Schicksal verhandeln. Chaudhry soll nach
Pakistan abgeschoben werden, das Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge will
es so. Sein Asylantrag wurde als »unbe-
gründet« abgelehnt.

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Chaudhry nimmt zwischen seinem An-
walt und der Dolmetscherin für Urdu
Platz, vor ihm steht ein Schildchen, auf
dem »Kläger« steht. Ihm gegenüber steht
der Tisch für die »Beklagte«, in diesem
Fall die Bundesrepublik Deutschland, ver-
treten durch das Bamf. Die Plätze hinter
diesem Tisch bleiben leer, wie immer. Das
Bamf verteidigt sich nicht selbst, es lässt Pakistaner Chaudhry: »Wenn ich verliere, gehe ich sehenden Auges in den Tod«
nur Akten für sich sprechen.
»Erzählen Sie mir noch einmal, warum
Sie Pakistan verlassen haben«, sagt Rich-
ter Görich jetzt zu Herrn Chaudhry. nen aus seinen Augen. »Meine Kinder und pliziert, manchmal seien es bis zu sieben
Der beginnt vorsichtig zu sprechen, sei- meine Frau waren so verängstigt«, sagt er, Stunden.
ne Geschichte geht in etwa so: Er und seine »sie haben ganz laut geweint. Sie konnten Während Ahmed Waheed Chaudhry im
Familie gehören der religiösen Minderheit nicht mehr essen vor Angst.« Sein Anwalt ersten Stock um sein Leben in Deutsch-
der Ahmadiyya an. Die Ahmadis werden schiebt seinem Mandanten eine Packung land bangt, hat Richter Nocon zwei Etagen
in Pakistan verfolgt, jahrzehntelang schon, Taschentücher herüber. über ihm in der Mittagspause im »Sozial-
aber seit 2010 hat sich die Lage noch ein- Chaudhry erzählt, die Übersetzerin raum« schnell eine Suppe vom Lieferser-
mal deutlich verschlimmert, es gab zwei übersetzt, der Richter spricht das, was vice gegessen, »schwarze Linsen, Kohl und
große Anschläge auf ihre Moscheen, viele ihm die Dolmetscherin übersetzt hat, lang- irgendwas mit einer grünlichen Färbung«,
Menschen kamen ums Leben oder wurden sam in sein Diktiergerät. So wird jeder sagt er, er hat eine Besprechung gehabt,
verletzt. Immer wieder gibt es Morde. Ein Satz zweimal wiederholt. Immer wieder bei der es um eine Zufahrt ging, die die
großer Teil der pakistanischen Muslime muss der Richter nachfragen, um Details Stadt gebaut hat und die die Klägerin um-
glaubt, dass die Ahmadis keine echten aus den Erinnerungen des Klägers zu gebaut haben möchte, weil sie ihre Boote
Muslime seien und dass sie den Propheten ziehen. nicht mehr vom Grundstück ziehen kann.
beleidigten. Das macht sie zu Vogelfreien »Wann war der letzte Vorfall vor Ihrer Und er hat längst die nächsten Abschiebun-
in ihrem eigenen Land, es ist ihnen unter Ausreise?«, fragt der Richter. gen entschieden: Ein Kläger muss zurück
Strafe verboten, ihre Religion öffentlich »In dem ganzen Jahr vor unserer Flucht nach Italien, weil er dort zuerst registriert
auszuleben, ihre Unterdrückung ist gesell- nach Rabwah haben wir uns in unserem worden ist, Fingerabdrucknahmedatum:
schaftlich akzeptiert. Haus verbarrikadiert. Wir konnten nicht 15.10.2015. »Da greift die Dublin-Rege-
»Wir konnten unsere Gebete nur noch mehr rausgehen. Auch in Rabwah gibt es lung, das sind die schnellsten Verfahren«,
von Sicherheitsleuten bewacht verrich- jeden Tag Anschläge, und die Angst aus sagt Nocon. Ein Libanese muss nach Spa-

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nien, »seine Argumente haben eine Art bürokratischer Vertei-
mich nicht überzeugt«. Und lungskampf geworden. Solan-
ein Iraker muss zurück nach ge sich die Asylfälle beim Bun-
Schweden, »den Eilantrag desamt für Migration und
habe ich abgelehnt«. Flüchtlinge stapelten, war das
Fragt man Nocon, wie es ein Problem, aber keines, das
sich anfühlt, nach dem Mittag- den Bürger groß beeinträchtig-
essen mit den Kollegen mal te. Doch nun konkurrieren die
eben per schriftlichem Urteil Anliegen der Flüchtlinge auf
die Abschiebung von drei Men- einmal mit denen der einheimi-
schen zu besiegeln, sagt er: »Es schen Kläger. Für die einen
ist Aufgabe des Richters, Emo- geht es um Wochenendhäuser,
tionen außen vor zu lassen. um Strafzettel und Zufahrten,
Befindlichkeiten haben hier für die anderen geht es um ein
nichts verloren.« Er sagt aller- Leben in Deutschland. Beides
dings auch: »Bei einer norma- hat seine Berechtigung, für bei-
len Arbeitsbelastung habe ich des muss Platz sein in einem
die einzelnen Sachverhalte im funktionierenden Rechtsstaat.
Kopf, diese Schicksale, die ei- Nur lässt die Ausstattung der
nen begleiten. Aber angesichts Justiz es nicht zu, dass die Rich-
der schieren Zahl habe ich den ter ihre Aufgaben erfüllen. Die
Überblick verloren. Wenn Sie Grenze des Machbaren liegt
mehr als 300 Sachen haben – lange hinter ihnen. Es brauchte
das verliert sich im Abstrak- effizientere Arbeitsabläufe und
ten.« Der Mensch ist zu einer Hunderte zusätzliche Stellen.
Aktennummer geschrumpft. Experten vermuten, dass es

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Besonders seien für ihn aber Jahre dauern wird, bis sich die
sowieso eher die Anerkennun- Lage an den Gerichten norma-
gen als die Ablehnungen. Wenn lisiert hat. So ist der Frust der
sich das Blatt für den Kläger Bürger vorprogrammiert, was
tatsächlich noch mal wendet: Zündstoff bedeuten kann, ge-
»Etwa die Frau aus Somalia, die rade in einem Ort wie Cottbus,
von der Schabab-Miliz verfolgt wo immer wieder rechte Über-
worden ist und im Gefängnis ge- griffe für Schlagzeilen sorgen,
sessen hat, weil man ihr unisla- Blick aus dem Gerichtssaal: Bürokratischer Verteilungskampf wo die AfD bei der Bundes-
misches Verhalten vorgeworfen tagswahl 24 Prozent geholt hat
hatte.« In der Anhörung beim und wo der Anti-Einwande-
Bundesamt konnte sie das aus rungs-Verein »Zukunft Heimat«
irgendwelchen Gründen nicht richtig erzäh- »Nein«, sagt Nocon, »ich kann ja jetzt regelmäßig mit »Schnauze voll«-Plakaten
len. »Erst nach anderthalb Stunden in der nicht sagen: Hören Sie mal, es ist zu viel durch die Straßen zieht.
mündlichen Verhandlung vor Gericht konn- zu tun, ich habe den Überblick verloren, Es ist Nachmittag geworden am Verwal-
te sie sich so weit öffnen, dass sie mir ihre deshalb werfe ich jetzt in Ihrem Fall mal tungsgericht. Nach zweieinhalb Stunden
Fluchtgründe sehr detailreich und schlüssig die Münze.« Die Überlastung am Gericht Verhandlung tritt Herr Chaudhry aus dem
erzählt hat.« Die Frau durfte dann bleiben. zeige sich vielmehr in den überlangen War- Gerichtssaal C zurück auf den Flur. Er
Es gibt Kritiker, die sagen, dass die vie- tezeiten, erzählt Nocon. wirkt, als sei mit jedem Satz, den er vor
len Klagen möglicherweise auch damit zu Sein ältestes Verfahren stammte aus dem Richter hat sprechen müssen, mit je-
tun haben, dass die Entscheidungen des dem Jahr 2012. Es ging um Anwohner, die der Erinnerung, ein bisschen Kraft aus sei-
Bamf sich verschlechtert haben, seit der sich durch den Lärm der benachbarten nem Körper entwichen. Es mache ihm sol-
politische Druck, die Verfahren zu be- Schule beeinträchtigt fühlten. »Das habe che Sorgen, nicht zu wissen, wie der Rich-
schleunigen, gewachsen ist und Tausende ich jetzt gerade im Februar abgeschlossen«, ter sich entscheiden wird, sagt er. Es kann
noch unerfahrene Entscheider die Verant- sagt er. »Abgeschlossen« heißt in diesem ein paar Wochen dauern, bis er das Urteil
wortung tragen. Dafür spräche auch, dass Fall: Die Klägerin hat hingeschmissen, weil erfährt. Chaudhry zieht seine Daunenja-
die Erfolgsquote der Kläger immer weiter es zu lange gedauert hat, fast sechs Jahre. cke über, schultert den Rucksack und ver-
wächst: Fast 44 Prozent der Klagen, die Nocon erzählt von einem Supermarkt, schwindet in der Ungewissheit, in der Cott-
inhaltlich entschieden wurden, gingen der seit 2013 nicht anbauen kann, weil er, busser Kälte.
2017 positiv für den Kläger aus. Nocon, keine Zeit habe, sich mit dem Fall Zwei Wochen später, an einem Freitag
Besonders erfolgreich aber waren die zu befassen. Von einer Frau, die seit fünf Mitte März, bekommt sein Anwalt in Ham-
Syrer, die sogenannten Aufstocker, die Jahren auf die Baugenehmigung für ihr Ein- burg Post vom Gericht in Cottbus. Richter
vom Bundesamt nur subsidiären Schutz familienhaus wartet. Vor einiger Zeit bekam Görich hat anders als das Bamf entschie-
erhalten haben, eine verlängerbare Auf- er Post von einer alten Dame, die ihn darauf den und Herrn Chaudhry den Flüchtlings-
enthaltserlaubnis für ein Jahr, die sie nicht hinwies, dass sie gestorben sein könnte, be- status gegeben. Den »Premium-Status«,
berechtigt, ihre Familie nachzuholen. Sie vor er ihre Klage entschieden habe. Die wie Nocon es nennt. Er darf bleiben. Seine
klagen meist auf einen echten Flüchtlings- Frau war über achtzig. Nocon zog ihren Fall Klage war ein Erfolg. Als anerkannter
status. Erfolgsquote in der ersten Instanz: vor. »Die konnte nicht mehr schlafen«, sagt Flüchtling kann er nun, wenn es gut läuft,
70 Prozent. er, »das war ihr nicht mehr zuzumuten.« bald seine Familie nachholen, seine Frau
Leidet bei der hohen Fallzahl auch die Aus Angela Merkels »Wir schaffen das« und seine drei Kinder. Nach Deutschland,
Qualität der Entscheidungen des Gerichts? ist an den deutschen Verwaltungsgerichten endlich in Sicherheit.

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Gesellschaft

politik, nun das. Ich fragte: »Was ist denn schon die deutsche

Geschichten
Kultur? Wir haben doch höchstens die Sprache gemeinsam,
von Schleswig-Holstein bis Südtirol!«
Die Nacht wurde länger, der Wein schwerer, wir gingen
auseinander. Mich ließ das nicht los, er war doch mein Ge-
schichtslehrer, er hatte mich zum kritischen Denken animiert.
Homestory Warum mein ehemaliger Lehrer
Ich fragte ihn, ob wir uns ein weiteres Mal treffen könnten.
seinen eigenen Unterricht besuchen sollte Mein Lehrer ist in der DDR groß geworden, hat dort stu-
diert, war SED-Mitglied, wenn auch ein zweifelndes, wie er
sagt. Wie viele ehemalige DDR-Lehrer musste er nach 1990

J eder hat wahrscheinlich diesen einen Lehrer, den er bei


diesen melancholischen Schulgesprächen rausholt. Für
mich ist das mein Geschichtslehrer, vor ein paar Wochen
traf ich ihn wieder. Wir saßen in seinem Wohnzimmer, am
ein völlig anderes Geschichtsbild lehren als noch ein Jahr zu-
vor. Er hat das geschafft und sagt: »Ich bin nach der Wende
immer konservativer geworden.«
Bei unserem erneuten Treffen sprachen wir wieder über
Weihnachtsbaum funkelte das dunkelblaue Lametta, als wir Flüchtlinge und den Islam, diesmal nüchterner. Er berichtete
auf den Islam zu sprechen kamen und es vorbei war mit der von seiner Schwester, auch eine Lehrerin, die Klassen mit ei-
Gemütlichkeit. nem Anteil an Schülern mit einem Migrationshintergrund
Es fühlt sich seltsam an, den eigenen Geschichtslehrer zu von 80 Prozent unterrichte. Viele Schüler seien unmotiviert,
belehren, aber ich kann nicht anders, als es zu versuchen. zeigten wenig Leistungsbereitschaft. Mein Lehrer selbst, das
Ich habe ihm viel zu verdanken. gibt er zu, unterrichtet nur wenige Migranten. Er sei froh,
Ich erinnere mich an unsere erste Stunde im Geschichts- dass er bald in Rente gehe.
Leistungskurs nach den Sommerferien 2006. Ich besuchte Vor einiger Zeit, sagte er, habe die Kita seiner Enkeltochter
die elfte Klasse eines Gymnasiums in einer brandenburgi- in Berlin auf das Weihnachtsfest verzichtet, aus Respekt vor
schen Kleinstadt und war ein mäßig begabter und übermäßig den überwiegend muslimischen Kindern. Weihnachten ge-
fauler Schüler. Der neue Lehrer – kurzes, grau-weißes Haar, höre aber nun einmal in einem christlich-abendländisch ge-
kariertes Kurzarmhemd, Sandaletten, aus der Brusttasche prägten Europa dazu. Er sei ja nicht prinzipiell dagegen,
lugte eine Schachtel Zigaretten – ging an der Tafel auf und Flüchtlinge aufzunehmen, es störe ihn nur, wie sie zuweilen
ab. Mit verrauchter Stimme dozierte er: »Wenn ihr, meine aufträten. Schließlich seien sie in Deutschland zu Gast.
lieben Schüler, denkt: Leistungskurs Geschichte, das klingt »Ich möchte nicht, dass ein Migrant mir vorschreibt, wie
nach Geschichtchen, Geschichtchen klingt nach Märchen, ich zu leben habe!«
und bei Märchen, da kann ich mithalten, dann seid ihr hier »Aber wann hat denn mal ein Migrant zu dir gesagt, wie
falsch!« Stille im Klassenraum. Die meisten der 27 Schüler, du hier zu leben hast?«
auch ich, hatten das Fach nicht aus Begeisterung gewählt, Wir gingen in sein Arbeitszimmer und schauten uns anti-
sondern weil wir dachten: Da kommt man mit wenig Auf- israelische Propagandavideos an, die er manchmal Schülern
wand durch. zeigte, um zu belegen, wie einflussreich der Antisemitismus
Die folgenden drei Jahre Geschichtsunterricht waren an- heute sei. Es gibt schreckliche, aber viele davon sind alt und
spruchsvoll. Unser Lehrer trimmte uns zur Sorgfalt im Um- haben wenige Klicks. Eines der Videos zeigte zwei Rapper,
gang mit Quellen und Fakten, vor allem bei den historischen sie hetzen gegen Israel und die USA. Es seien deutsche Rapper,
Konflikten: ob Katholiken/Protestanten, Ost/West, Israel/Pa- und das Video sei hier in Deutschland gedreht, sagte mein
lästina. Wir lernten, uns mit anderen Weltbildern ausein- Lehrer.
anderzusetzen, ließen alle Seiten zu Wort kommen, ratterten Das stimmte nicht, wie ich später festgestellt habe. Eine
nicht einfach Ereignisse ab. Sicher, manchmal war der Unter- einfache Google-Suche ergab, dass das Video sechs Jahre alt
richt trocken, von multimedialen Spielereien hielt mein Leh- ist, aus Österreich stammt und dass die beiden Protagonisten
rer wenig, aber das brauchte es auch nicht. Er war so über- deswegen vor Gericht standen.
zeugend, wie keine Geschichtsdokumentation es sein kann. Neugierig geworden, rufe ich bei der Kita an und frage, ob
Als es darum ging, was ich studieren sollte, gab es nur eine sie schon mal auf das Weihnachtsfest verzichtet haben. »Nein,
Wahl: Geschichte. Zu meinem Lehrer hatte ich wenig Kon- das haben wir nicht. Die Kinder lieben Weih-
takt, dennoch war er mir immer präsent. Seine Art zu nachten, wir feiern es jedes Jahr«, sagt eine
denken hat mein Studium geprägt. Betreuerin.
Kurz nach Weihnachten lud er mich und drei Mein Lehrer, der früher mit Quellen arbeite-
andere aus unserem Leistungskurs zu sich ein. te, mit Fakten, verlässt sich heute aufs Hören-
Er kochte ein italienisches Fünfgängemenü, wir sagen, auf widerlegbaren, populistischen Un-
tranken Wein, sprachen über alte Geschichten, sinn. Auf Märchen. Vielleicht ist er müde ge-
über Politik. Es war ein schöner Abend. Doch worden vom Zweifeln, Überprüfen, von der
spät in der Nacht, die anderen waren schon ge- Pflicht, Dinge immer wieder neu zu hinterfra-
gangen, diskutierten wir beide über Flüchtlinge. gen. Vielleicht sehnt er sich deswegen nach
Mein Lehrer sagte, die Integration einfachen Geschichtchen, er wäre ja nicht der
funktioniere nicht. Das liege am Is- Einzige. Ich wünschte, ich könnte ihm zurück-
lam, der nicht mit der deutschen geben, was er mir da-
Kultur vereinbar sei. Ich mals gegeben hat. Ich
war irritiert, vor einem wünschte, er könnte
Jahr hatte er noch ganz bei sich selbst in die
anders darüber gespro- Schule gehen, so, wie
chen, da lobte er die er damals war.
deutsche Flüchtlings- Michael Graupner

Illustration: Thilo Rothacker für den SPIEGEL 59


Wirtschaft
»Sie kauen auf der Todesangst eines auf barbarische Weise gezüchteten und geschlachteten Tieres.« ‣ S. 68

Lufthansa
Mitarbeiter
fordern Bonus
 Vom Drei-Milliarden-Euro-Rekord-
gewinn der Lufthansa sollen nicht nur
die Aktionäre über eine erhöhte Divi-
dende profitieren. Auch die Beschäftig-
ten fordern ihren Anteil – in Form
einer Sonderprämie. Vorbild sind
Autohersteller wie VW, Daimler oder
Porsche, die ihren Mitarbeitern über
Betriebsvereinbarungen in der Spitze
fast 10 000 Euro bezahlen (siehe Gra-
fik). Bei der Lufthansa als Dienstleis-
tungsfirma waren derartige Beträge
bisher unvorstellbar, zumal viele Ange-
stellte wie etwa die rund 22 000 Flug-
begleiter im Mutterkonzern eine tarif-
vertraglich garantierte Gewinnbeteili-
gung erhalten. In erfolgreichen Jahren
können sie, je nach Grundgehalt, zwi-
schen 1700 und 4000 Euro zusätzlich
einstreichen. Nicoley Baublies, Tarif-
vorstand und Sprecher der Kabinen-
gewerkschaft UFO, verlangt trotzdem,
dass die Lufthansa nach dem besonders
HAMILTON / REA / LAIF

guten Jahr 2017 »noch was rüberwach-


sen lässt« und wie die Autobauer eine
freiwillige Ergebnisbeteiligung oben-
Finanzminister Scholz drauf legt. »Das Geld ist da«, wirbt er
für seinen Vorschlag. Gerade die
Bodenabfertigungsmitarbeiter und das
Bordpersonal hätten maßgeblich dazu
Haushalt beigetragen, dass die Lufthansa als
erste europäische Airline ein Fünf-Ster-
Bund erwartet steigende Zinsen ne-Niveau vorweisen und Premium-
Preise verlangen könne. Ein Lufthansa-
 Das Bundesfinanzministerium (BMF) schwarze Null. Scholz dürfe nicht »von Sprecher lehnt Sonderzahlungen unter
rechnet für die kommenden Jahre mit einer dauerhaften Entlastung der öffent- Verweis auf die im Tarifvertrag verein-
deutlich höheren Zinsen. Die Bundes- lichen Haushalte durch das nach wie vor barte Gewinnbeteiligung ab. Sie dürfte
regierung stelle sich in der »Finanzplanung außergewöhnliche Niedrigzinsumfeld« 2018 ohnehin deutlich höher ausfallen
bis zum Jahr 2022 auf eine notwendige ausgehen, warnen die Beamten des BMF als im Vorjahr, argumentiert er. Im
Normalisierung des Kapitalmarktumfelds ihren Minister in der Vorlage. »Schon in Übrigen hätte sich der Vorstand bei den
ein«, heißt es in einem internen Papier den zurückliegenden Monaten sind die Mitarbeitern für die gute Zusammen-
des BMF. Als normal gilt unter Fachleu- Renditen mittel- bis langfristiger Staats- arbeit erst kürzlich durch Geschenke
ten ein Zinsniveau zwischen drei und vier schuldverschreibungen wieder leicht wie Montblanc-Kugelschreiber oder
Prozent. Derzeit liegt es deutlich unter gestiegen«, heißt es in dem Papier. Eine JBL-Bluetooth-Kopfhörer bedankt. DID
einem Prozent. Bundesfinanzminister zehn Jahre laufende Bundesanleihe bei-
Olaf Scholz (SPD) will deshalb Vorsorge spielsweise warf zuletzt 0,5 Prozent Zin- Sonderprämien*
treffen, um die Belastungen für den sen ab, deutlich mehr als noch vor Mona- für Mitarbeiter deutscher Automobilhersteller
Bundeshaushalt abzufedern. Steigt die ten. Derzeit lässt Scholz den Haushalt für 2017 *jeweiliger Höchstbetrag
durchschnittliche Verzinsung der Bundes- 2018 und damit verbunden die mittel-
schuld nur um einen Prozentpunkt, muss fristige Finanzplanung bis 2022 aufstel-
er zusätzlich über zehn Milliarden Euro len. Die Europäische Zentralbank hat zu Porsche Daimler VW
für den Schuldendienst aufbringen. Ein verstehen gegeben, dass sie ab Mitte 9656€ 5700€ 4100 €
solcher Kostenschub steht in Konkurrenz kommenden Jahres die Leitzinsen von
mit anderen Ausgaben und gefährdet die derzeit null Prozent anheben will. REI

60
Konsum Hildenbrand: Weil er lecker ist. Wer von Abgasaffäre
uns hat als Kind nicht gern die Teig-
»Roher Teig ist schüssel ausgeschleckt? Da wir keine
Behörde ordnet Rückruf
das neue Eis« Eier verwenden, kann jeder so viel für BMW-Modelle an
naschen, wie er will.
Diana Hildenbrand, 36, SPIEGEL: Das klingt nach einem Kind-  Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA)
verkauft in ihrem Berliner heitstraum. Aber auch nach Bauch- hat einen amtlichen Rückruf für über
Laden »Spooning Cookie schmerzen. 11 000 Luxusmodelle von BMW an-
ZENTRALNORDEN

Dough« rohen Keksteig Hildenbrand: Bisher hat sich noch nie- geordnet. Betroffen sind davon die
im Becher. Sie kam wäh- mand beschwert. Ein Besucher hat mal Modelle 750d und M550d. Bundes-
rend ihrer Schwanger- sechs Kugeln gegessen. Aber natürlich ist verkehrsminister Andreas Scheuer
schaft auf die Idee. Dass der Teig mächtiger als ein Eis. (CSU) begründet den Schritt der
das Konzept zeitgleich auch in den USA SPIEGEL: Würde der Teig auch gebacken Behörde damit, in der Motorsteuerung
Trend wurde, ist Zufall. schmecken? seien »die vorhandenen unzulässigen
Hildenbrand: Roh schmeckt er besser, Abschalteinrichtungen zu entfernen«.
SPIEGEL: Frau Hildenbrand, roher dafür haben wir ihn geschmacklich ent- BMW leugnete bislang Manipulationen
Keksteig im Bällchen auf die Hand: Ist wickelt. Aber man kann ihn auch backen. am Abgassystem beharrlich. Ein 7er-
das der neue Kuchen oder das neue Da empfehlen wir: außen knusprig, BMW war erstmals im Mai 2017 bei
Eis? innen etwas weich lassen. Messungen der Deutschen Umwelthilfe
Hildenbrand: Eher das neue Eis – das SPIEGEL: Chocolate Peanut, Nutty Crum- mit drastisch überhöhten Stickoxid-
könnte auch an der Kugelform und den ble – die Sorten klingen sehr amerika- emissionen aufgefallen. Als das KBA
Bechern liegen, in denen wir den Teig nisch. Wann kommt die Rohversion der Anfang dieses Jahres einen Wagen prü-
servieren. Im Sommer wollen wir eine heimischen Keks-Klassiker? fen wollte, kam der Fall ins Rollen. Der
Mischung anbieten, ein Keks-Eis, das Hildenbrand: Da passen wir uns saisonal Händler, bei dem der Wagen besorgt
dann auch in der Waffel bestellt werden an, im Winter hatten wir Spekulatius- werden sollte, hatte wohl eine Meldung
kann. Normal verkaufen wir den Teig und Lebkuchenteig. Und wir bringen an den Konzern gemacht. Daraufhin
bei Zimmertemperatur – dann ist er Ideen von unseren Reisen mit: Nach wollten die Münchner Ingenieure das
fluffiger. einem Urlaub in Australien haben wir Fahrzeug erst einmal zu einem ver-
SPIEGEL: Warum sollte man rohen Teig eine Sorte mit Marshmallows und gerös- meintlichen Service ins Werk zurück-
essen? teten Pekannüssen entwickelt. RED beordern. Das Verhalten kam den
Beamten verdächtig vor, sie bestellten
die BMW-Verantwortlichen zu einer
Anhörung ein. Dabei erklärten die
Ingenieure, es sei »irrtümlich« eine
falsche Software auf die Wagen auf-
gespielt worden, die eigentlich für ande-
re Modelle vorgesehen war. Man wolle
im Rahmen einer Serviceaktion die
richtige Software auf den Wagen instal-
ZENTRALNORDEN

lieren. BMW hatte den Vorwurf, es


handele sich dabei um eine Abschaltein-
richtung, zurückgewiesen, als der SPIE-
GEL über den Fall berichtet hatte. GT

Kommentar

Junckers Augenwischerei
Pläne der EU-Kommission, mit Gewinnen der EZB die Kosten des Brexit auszugleichen, sind unfair und feige.
Der Brexit lässt die EU-Kommission zu innovativer Hochform konsequenterweise auch Länder wie Polen, Tschechien, Däne-
auflaufen. Die Lücke, die der Abgang des Nettozahlers Großbri- mark oder Schweden auf die Hälfte ihrer Notenbankgewinne
tannien in die Kassen der EU reißt, wollen Kommissionspräsi- verzichten. Ehrlicher wäre es ohnehin, die EU-Kommission wür-
dent Jean-Claude Juncker und Co. mithilfe der Europäischen de die Mitgliedsländer direkt bitten, ihre Beiträge für Brüssel auf-
Zentralbank (EZB) schließen. Deren Gewinne und die der ange- zustocken, anstatt eine Umwegfinanzierung über die EZB vorzu-
schlossenen nationalen Notenbanken wollen sie zur Hälfte nach schlagen. Davor schreckt sie jedoch zurück, weil sie Widerstand
Brüssel umleiten. Die Währungshüter überwiesen ihre Über- aus den Hauptstädten fürchtet. Offenbar hofft die Kommission,
schüsse bislang in der Regel komplett an die Regierungen der dass niemand in den Mitgliedstaaten merkt, dass die Innovation
Mitgliedsländer. aus Brüssel auf dasselbe hinausliefe wie höhere Beiträge.
Junckers Idee offenbart Sinn für Ironie. Ausgerechnet der Aus- Das ist Augenwischerei. Bezeichnend ist ohnehin, dass offen-
stieg eines Nicht-Eurolands soll dazu führen, dass die Länder der bar keiner der Eurokraten auf die Idee kommt, dass die EU künf-
Währungsunion stärker in die Pflicht genommen werden. Das ist tig vielleicht mit weniger Geld auskommen könnte, wenn ihr ein
nicht nur unfair, sondern auch kaum durchsetzbar. Gerecht wäre Land mit 65 Millionen Einwohnern abhanden kommt. Wann,
es, wenn für die Verluste aus dem Brexit nicht nur die 19 Länder wenn nicht jetzt, wäre es an der Zeit, Aufgaben und Ausgaben
der Eurozone geradestünden, sondern alle. Und dann müssten zu überprüfen? Christian Reiermann

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 61


Wirtschaft

Wahnsinn im Warenhaus
Handel Galeria Kaufhof ging es stets besser als Karstadt. Doch unter dem neuen
Eigentümer HBC rutscht das Unternehmen immer tiefer in die Krise. Es gilt als Sanierungsfall.
Das liegt vor allem an der Strategie von HBC-Manager Richard Baker.

STEINACH / IMAGO
Werbung vor Berliner Kaufhof-Filiale: »Ohne Gegenmaßnahmen droht die Zahlungsunfähigkeit«

R
ichard Baker hat Ärger mit sei- das dann dem eigenen Laden in Rechnung sen sein. Dabei war der neue Eigentümer
nem Personal. Genauer gesagt stellt. Von HBC-Seite heißt es dazu nur, gekommen, um Kaufhof nach vorn zu
mit einer Stewardess, die noch dass man aus Sicherheitsgründen keine bringen. Tatsächlich macht das Manage-
bis Januar in seinem Firmenjet Angaben zu Reisen einzelner Führungs- ment um Richard Baker alles schlimmer.
gearbeitet hat. Er habe Überstunden nicht kräfte machen könne. Die Reisekosten Seit der Übernahme im Herbst 2015
bezahlt und sie überhaupt wie eine Leib- würden Galeria Kaufhof nicht in Rech- sind die Filialumsätze eingebrochen, von
eigene behandelt, klagt die 46-Jährige. Be- nung gestellt. 3,1 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 2,6
sonders intensiv, so gab die US-Amerika- Für die Mitarbeiter von Galeria Kaufhof im Jahr 2017, so steht es in einem vertrau-
nerin in der New Yorker Klatschzeitung ist das Getue um Bella ein Affront. Denn lichen Unternehmensbericht, der dem
»Daily News« zu Protokoll, habe sie sich sie sollen zur Rettung des Unternehmens SPIEGEL vorliegt. Im vergangenen Ge-
um Bakers Hündin Bella und deren Hinter- einem Sanierungstarifvertrag zustimmen schäftsjahr soll bei Galeria Kaufhof ein
lassenschaften kümmern müssen. und womöglich auf Urlaubs- und Weih- Jahresfehlbetrag von mehr als hundert
Baker ist der Verwaltungsratsvorsitzen- nachtsgeld verzichten. Millionen Euro aufgelaufen sein.
de des kanadischen Warenhauskonzerns Am vergangenen Mittwoch hat der Mut- In dem Papier findet die Kölner Ge-
Hudson’s Bay Company (HBC), der vor terkonzern HBC seine Zahlen veröffent- schäftsführung deutliche Worte. »Galeria
zweieinhalb Jahren Galeria Kaufhof über- licht, demnach ist der Umsatz in Europa Kaufhof befindet sich in einer ausgepräg-
nommen hat. Und sein Schoßhündchen im vierten Quartal um 3,4 Prozent gesun- ten Ertragskrise«, heißt es da. Ohne wei-
kennt man auch in der Kölner Zentrale ken. Der Rückgang ist auf Misserfolge von tere drastische Sanierungsmaßnahmen
der deutschen Kaufhauskette. Das Tier Hudson’s Bay in den Niederlanden und werde Kaufhof »kurz- bis mittelfristig in
fliegt gern mit, wenn der Multimillionär der Marke Inno in Belgien zurückzufüh- einer substanziellen wirtschaftlichen Not-
per Firmenjet zu wichtigen Sitzungen aus ren. Hauptgrund dürfte aber das schlechte lage verbleiben«. Auch um die Liquidität
den USA oder Kanada einschwebt. Und Weihnachtsgeschäft in Deutschland gewe- sei es nicht gut bestellt: »Ohne Gegenmaß-

62
nahmen droht die Zahlungsunfähigkeit.«
Kaufhof-Geschäftsführer Roland Neuwald
hat bereits angekündigt, in der Hauptver-
waltung in Köln 400 von 1600 Arbeits-
plätzen abzubauen, jede vierte Stelle.
Am Freitag, den 13. April, soll in Frank-
furt am Main die Tarifkommission der Ge-
werkschaft Ver.di darüber entscheiden, ob
die Arbeitnehmervertreter mit dem Unter-
nehmen Verhandlungen über einen Sanie-
rungstarifvertrag aufnehmen werden. Ein
sogenanntes Zukunftskonzept namens

KAI KITSCHENBERG / FUNKE / ACTION PRESS


»Turn2Win« soll Kaufhof »zurück auf die
Erfolgsspur« führen. Doch die darin skiz-
zierten Ideen der Führungstruppe be-
schränken sich vor allem auf Schlagworte
wie »Stärkung der Marke«, »Filialumbau-
ten«, »Omnichannel Boost«. Innovative
Ideen: Fehlanzeige. Dabei drängt die Zeit.
Mit jedem Tag verliert Galeria Kaufhof
Kunden – und Mitarbeiter. Selbst hoch-
rangige Manager sind inzwischen über-
zeugt, dass die aktuelle Strategie der Kon- HBC-Großaktionär Baker: »Das gehört jetzt alles mir!«
zernmutter das Unternehmen geradewegs
in die Pleite führen wird. Einige sollen be-
reits vorsorglich einen Insolvenzberater ker und seine Getreuen seit Herbst 2015 Jerry Storch, um deutsche Journalisten
konsultieren. Zwar hat sich die Kaufhof- verfolgen, greift nicht. Die Entscheidungen von anderen Schwachstellen abzulen-
Spitze ausbedungen, dass der Mutterkon- der Spitze sind unverständlich, wider- ken: »Wir werden ihnen eine Milliarde
zern monatlich die entstehenden Verluste sprüchlich, oft schlicht falsch. geben«, lautet angeblich dessen Satz,
ausgleicht. Doch ob HBC die Defizite aus ‣ Immobilien: HBC hat die meisten Kauf- »das wird sie über Jahre triggern!«
Deutschland auf Dauer auffangen will und hof-Immobilien an ein Gemeinschafts- ‣ Sortiment: Baker hat unbekannte Mo-
kann, ist fraglich. Bakers Investoren drän- unternehmen weitergereicht, an dem es demarken aus den USA in die Läden ge-
gen seit Monaten, das schwächelnde Eu- die Mehrheit hält. Auf diesem Weg holt und viele teure Schuhe. Doch die
ropa-Geschäft wieder abzustoßen. schröpft Baker Kaufhof in Heuschre- durchschnittliche Kaufhof-Kundin kauft
Baker scheint daran nicht im Traum zu cken-Manier mit höheren Mietzahlun- keine High Heels für 500 bis 700 Euro.
denken. Intern ist mancher Manager irri- gen. Bei Vorzeigefilialen am Berliner Gleichzeitig wurden Lebensmittelabtei-
tiert, dass der Amerikaner die schlechten Alexanderplatz oder in der Hohen Stra- lungen zusammengestutzt, die zwar kei-
Zahlen nicht wahrhaben will, Fehler nicht ße in Köln haben sich die Mieten, die ne hohe Margen brachten, aber dafür
eingesteht und deshalb auch nicht korri- Kaufhof an HBS Global Properties ab- verlässlich viele Kunden in die Läden
giert. Es könnte auch ein Problem der führen muss, mehr als verdoppelt. Ins- lockten.
Selbstwahrnehmung sein. Baker tritt als gesamt kostet das Kaufhof rund 50 ‣ Expansion: Die Eröffnung der soge-
Macher und Erfolgstyp auf. Eine Nieder- Millionen Euro mehr pro Jahr – ohne nannten Premium-Outlet-Kette Saks
lage darf nicht sein, kann nicht sein. bessere Mietbedingungen. Im Gegen- Off 5th in Deutschland soll weit hinter
Baker und seine Mannschaft können die teil: Für Instandhaltungsmaßnahmen an den Erwartungen zurückliegen. Das An-
aktuelle Misere nicht auf eine allgemein den Gebäuden muss Kaufhof den neuen gebot besteht zum Großteil aus Klamot-
schlechte Lage der Warenhäuser in aller Verträgen zufolge in Zukunft selbst auf- ten, die HBC in seinen nordamerikani-
Welt und in Deutschland im Besonderen kommen. Die Aufsichtsratsmitglieder, schen Warenhäusern nicht loswird. Gut
schieben. Schon gar nicht, seit vor einer die diese Mieterhöhungen durchge- zu erkennen an den zum Teil noch vor-
Woche Konkurrent Karstadt bekannt ge- winkt haben, könnte das im Falle einer handenen US-Etiketten. Auch die Ex-
geben hat, im abgelaufenen Geschäftsjahr Insolvenz in erhebliche Erklärungsnot pansion der Kaufhof-Schwester Hud-
2016/17 erstmals seit zwölf Jahren einen bringen. son’s Bay in die Niederlande läuft offen-
Überschuss erzielt zu haben, und ein Plus ‣ Investitionen: Eine Milliarde Euro stell- bar nicht annähernd wie geplant. In der
von 1,4 Millionen Euro verkündete. te HBC in Aussicht, um die Kaufhof-Fi- Filiale im Zentrum von Amsterdam
Das ist für die Kaufhof-Beschäftigten lialen zu modernisieren. Doch abgese- steht mitunter mehr Verkaufspersonal
vor allem deshalb bitter, weil es lange um- hen von ein paar Schönheitskorrektu- als Kundschaft, während draußen die
gekehrt war: Während Karstadt seit Jahren ren an prominenten Standorten ist von Touristenströme vorbeiziehen.
um die Existenz kämpfte, war Kaufhof so- dem Geld bislang nicht viel angekom- All diese Entscheidungen lösen bei
lide aufgestellt. Der Umsatz lag mehr oder men. Der Bau eines dringend benötig- Handelsexperten ein Déjà-vu aus: Vieles
weniger konstant bei rund 2,8 Milliarden ten E-Commerce-Lagers in Nordrhein- erinnert an das Gebaren von Nicolas Berg-
Euro. »Wir waren finanzstabil«, bestätigt Westfalen liegt seit Mai 2017 auf Eis, gruen bei Karstadt. Der Deutschamerika-
der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende weil HBC die nötigen Sicherheiten ver- ner war einst als solventer Retter angetre-
Lovro Mandac. 20 Jahre lang führte Man- weigert. HBC bestreitet das: »Galeria ten – und hat in Essen nichts als verbrann-
dac Kaufhof, er hält es für »unsozial, dass Kaufhof hat die volle Unterstützung te Erde hinterlassen. Reiche Erben aus
die Mitarbeiter nun für die Management- von HBC.« Offenbar basierte das Inves- Amerika scheinen dem deutschen Waren-
fehler bezahlen sollen«. titionsversprechen, so berichten Insider, hausgeschäft kein Glück zu bringen.
Genau die aber sind in seltener Deut- bloß auf einer spontanen Kommunika- Dabei wären die Fehler bei Kaufhof ver-
lichkeit zu erkennen. Die Strategie, die Ba- tionsidee des ehemaligen HBC-Chefs meidbar, wenn HBC-Verwaltungsratsvor-

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 63


Wirtschaft

tro gezahlt hatte. »Project Donau« heißt


das Vorhaben bei der Karstadt-Mutter Sig-
David Simon na intern. In einem persönlichen Schreiben
Hudson’s Bay Company Simon Property Group von Benko an Baker heißt es, man könne
den Deal innerhalb weniger Wochen über
die Bühne bringen.
Richard Baker
Verwaltungsratschef HBC Europe Doch der Amerikaner wischte das aus
seiner Sicht »unvollständige, nicht binden-
Marken (u. a.): Galeria Kaufhof HBS Global Properties de, unaufgeforderte Angebot« brüsk vom
Hudson’s Bay Saks Off 5th
Lord & Taylor 41 Kaufhof-Immobilien Tisch. Zu einem persönlichen Treffen
Galeria Inno
Saks Fifth Avenue Hudson’s Bay u. a. und andere musste Benko Baker regelrecht zwingen.
Es fand nur statt, weil Baker irgendwann
auch seinen Aktionären erklären muss, wa-
sitzender Baker nicht so beratungsresistent te Karstadt-Gruppe übernommen und ver- rum er nicht einfach Benkos Geld nimmt
wäre. Es gibt genügend interne Mahner, folgt seither das Ziel, Karstadt und Kauf- und Kaufhof den Rücken kehrt.
langjährige Angestellte und Berater, die hof zur sogenannten Deutschen Waren- Dass Richard Baker den Österreicher
Kaufhof und seine Kunden gut kennen. haus AG zu vereinen. mit den gleichen Initialen nicht ausstehen
Baker hingegen soll bis zur Übernahme Der junge Aufsteiger aus Tirol war Me- kann, ist kein Geheimnis. In Bakers Um-
keine Filiale von innen gesehen haben – tro-Chef Olaf Koch scheinbar persönlich feld kursiert der Spruch: »Eher würde er
aber darauf bestehen, dass er stets das letz- suspekt. Als Benko damals im Bieterstreit im Hochzeitskleid über die Fifth Avenue
te Wort hat. Einen »verwöhnten kleinen um Kaufhof sein Angebot erneut erhöhte, in New York tanzen, als an Benko zu ver-
Jungen« nennen ihn seine hausinternen stellte Richard Baker die Metro vor ein Ul- kaufen.« Warum die Abneigung auch hier
Gegner. timatum – und Koch zog den Deal in einer so groß ist, weiß keiner so genau. Sicher
Kurz nach dem Einstieg von HBC reiste eilends an einem Juni-Sonntag einberufe- ist aber, dass Benko so schnell keine Ruhe
Baker nach Berlin, um der traditionsrei- nen Aufsichtsratsitzung durch. geben wird – und die schlechten Zahlen
chen Kaufhof-Filiale am Berliner Alexan- Inzwischen hat sich die Situation ge- bei Kaufhof spielen ihm dabei in die Hän-
derplatz seine Aufwartung zu machen. Ge- dreht. Karstadt ist unter Benko und sei- de. So soll er bereits im vergangenen Som-
meinsam mit Betriebsräten und Abtei- nem neuen Management auf einem guten mer, als der Kreditversicherer Euler Her-
lungsleitern umrundete er seine neueste Weg. In der Personalabteilung der Kar- mes Kaufhof die Garantiezusagen kürzte,
Errungenschaft. Irgendwann riss er die stadt-Zentrale in Essen stapeln sich die Be- versucht haben, im Reich von HBC für
Arme in die Höhe, verdrehte die Augen werbungsunterlagen von enttäuschten Unruhe zu sorgen.
und schrie begeistert: »Das gehört jetzt al- Kaufhof-Mitarbeitern, die bereit wären, Er schrieb eine private E-Mail an David
les mir. Damit kann ich tun und lassen, zum einstigen Erzrivalen überzulaufen. Simon, einen an HBS Global Properties
was ich will!« So erzählen es Augenzeugen Während man bei Karstadt über Expan- beteiligten Immobilieninvestor. Darin ver-
unisono. Ein Sprecher von HBC erklärt sion redet, umfasst das Sanierungspro- wies Benko auf die »offensichtlich ernst-
dazu: »Herr Baker hat diese Aussage nicht gramm bei Kaufhof auch die Schließung haften Probleme« von HBC in Europa.
getroffen.« von Standorten. Zum Beweis fügte er Presseberichte aus
Auch wenn seine exaltierten »Awe- Bleibt also die Frage, wie lange Benko deutschen Medien an, die ausführlich die
some«-, »Exciting«- und »Spectacular«- warten muss. Zuletzt bot er HBC im Herbst Kaufhof-Misere thematisieren.
Ausrufe nun dem ersten Frust gewichen 2017 rund drei Milliarden Euro für Kauf- Aus den auf Englisch abgefassten Zeilen
sind: Baker hört auf niemanden. Außer hof – 200 Millionen mehr, als HBC an Me- spricht das Unverständnis Benkos darüber,
vielleicht auf seinen 82-jährigen Vater Ro- dass Baker nicht in Verhandlungen mit
bert, mit dem er gern telefoniert (»Yes, ihm eintreten möchte: »Ich habe gehört,
Daddy«). Aber auch der ist kein ausgewie- dass Mr Baker keine Geschäfte mit Signa
sener Kenner des deutschen Einzelhandels. machen möchte, aber ich verstehe nicht,
Bei Kaufhof-Mitarbeitern herrscht Wut warum.«
und Verzweiflung über den Egoshooter Eine Antwort von David Simon bekam
aus Amerika. Auch mit der Arbeitneh- Benko freilich nicht. Simon ließ Benkos
merseite bei Galeria Kaufhof hat es sich Mail stattdessen direkt an HBC weiterlei-
Baker in Rekordzeit verscherzt. Gesamt- ten. Er gilt als Freund von Richard Baker.
betriebsratschef Uwe Hoepfel, einst ein Der wiederum bedient sich derweil
Fürsprecher des Amerikaners, hat sich munter an seinem Laden – oder lässt es
inzwischen gegen Baker in Stellung andere tun: Bakers Frau soll genau einmal
gebracht – und sich mit dessen Aufsichts- in der Kaufhof-Zentrale in Köln zu Besuch
ratschef Wolfgang Link angelegt. Der Er- gewesen sein. Bei dieser Gelegenheit soll
nennung des Kaufhof-Geschäftsführers sie sich aus der Kaufhof-Kunstsammlung
Roland Neuwald etwa stimmte die Arbeit- all jene Stücke ausgewählt haben, die sich
nehmerseite im Aufsichtsrat erst im zwei- gut in ihrem Apartment in New York ma-
STEPHAN PICK / ROBA IMAGES

ten Durchgang zu. chen würden.


Das eigentlich Absurde an der Geschich- So erzählt man es sich in den Fluren der
te ist, dass die Entscheidung der Metro, Kölner Zentrale. Ein HBC-Sprecher sagt
Kaufhof an HBC zu verkaufen, nicht nur dazu: »Es ist nicht geplant, Kunstwerke
eine Entscheidung für Baker war. Sondern aus den Büros von Galeria Kaufhof nach
offenbar auch eine Entscheidung gegen Nordamerika zu bringen.«
den österreichischen Immobilieninvestor Susanne Amann, Simone Salden
René Benko. Der hatte im Sommer 2014 Karstadt-Eigner Benko simone.salden@spiegel.de
die von Berggruen heruntergewirtschafte- »Ich verstehe nicht, warum«

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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

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Wirtschaft

Kritiker sehen darin allerdings auch ei-

Zurück auf Los nen Schwachpunkt, da die Deutsche Bank


zwar ihr Investmentbanking schrumpfen
möchte, aber nach wie vor hochgradig da-
von abhängig ist. Achleitner war es, der
Finanzindustrie Die Deutsche Bank zerlegt sich selbst, Aufsichts- bis zuletzt dieses Geschäftsmodell vertei-
ratschef Paul Achleitner sucht einen Nachfolger für digt hatte, sich gegen tiefere Einschnitte
John Cryan. Als heißer Kandidat gilt jetzt ein Mann aus der Schweiz. gestemmt und darüber mit Cryan immer
wieder aneinandergeraten war.
Holt Achleitner nun Zeltner, wäre das

D ie Deutsche Bank, einst Dreh- und


Angelpunkt der deutschen Wirt-
schaft, ist irreparabel. Zu diesem
vernichtenden Urteil kam Stuart Graham,
zuständig, die Vermögensverwaltung für
Reiche.
Andere Kandidaten haben Achleitner
offenbar reihenweise Absagen erteilt: Vom
ein Eingeständnis seines eigenen Schei-
terns, es sei denn, er will auch ihm das bis-
herige Modell aufzwingen. Mit dieser Vor-
gabe dürfte es jedoch kaum gelingen, ei-
einer der renommiertesten Bankenanalys- Goldman-Sachs-Banker Richard Gnodde nen Neuen von außen zu gewinnen.
ten, schon im vergangenen Herbst. Noch bis zum Chef der italienischen UniCredit, Eine Verpflichtung Zeltners könnte
drastischer formulierte es jetzt eine Deut- Jean Pierre Mustier. Der von vielen her- auch aus anderen Gründen noch scheitern.
sche-Bank-Mitarbeiterin: die für IT zustän- beigesehnte Ex-Bundesbankchef und heu- Er gilt zwar als fähiger Banker, ihm haftet
dige Vorstandsfrau Kim Hammonds. Sie tige Verwaltungsratspräsident der UBS, jedoch ein Makel an: In seiner Zeit als
bezeichnete ihren Arbeitgeber vor rund Axel Weber, steht nicht zur Diskussion. Deutschlandchef der UBS etablierte sich
150 Führungskräften – also quasi öffent- Nun also womöglich Zeltner. Achleitner die Bank als Anlaufstelle für deutsche Steu-
lich – als das »kaputteste Unternehmen«, soll bereits Gespräche mit ihm geführt ha- erflüchtlinge, die ihr Geld in die Schweiz
in dem sie je beschäftigt war. ben. Zeltner hatte sich Hoffnungen ge- schaffen wollten. Als die Sache aufflog und
Wer könnte und wer wollte einen sol- macht, einst UBS-Chef Sergio Ermotti zu später durch einen Vergleich mit den deut-
chen Konzern führen? Paul Achleitner, beerben. Verwaltungsratschef Weber hat schen Finanzbehörden beigelegt wurde,
seit sechs Jahren Aufsichtsratschef der jedoch andere Pläne, man trennte sich. war Zeltner bereits in die Zürcher Zentrale
irreparablen Bank, ist zu dem Schluss Seitdem orientiert Zeltner sich neu und aufgestiegen. Am Finanzplatz Zürich wur-
gekommen, dass John Cryan es nicht prüft verschiedene berufliche Optionen. den ihm mitunter auch charakterliche
kann. Er will den Vorstandschef vor die Zeltner, der zwei Jahrzehnte in der UBS Schwächen nachgesagt.
Tür setzen und nach Informationen des verbracht hat, besitzt gegenüber angel- Dass es zu einem Wechsel an der Vor-
SPIEGEL einen Schweizer für die un- sächsischen Kandidaten den Vorteil, dass standsspitze kommt, ist offenbar ausgemach-
mögliche Mission gewinnen: Jürg Zeltner, er Deutsch spricht und anders als seine te Sache, auch wenn Cryan am Mittwoch in
50 Jahre alt und bis Ende vergangenen Vorgänger Josef Ackermann, Anshu Jain einem Brief an die Mitarbeiter erklärte, er
Jahres im Vorstand der Schweizer Groß- und John Cryan kein Investmentbanker wolle mit der Bank »den Weg weitergehen«.
bank UBS für das Wealth Management ist. Der Suchprozess für seine Nachfolge läuft,
ist aber in einem frühen Stadium.
Achleitner will im April Gespräche
mit Aktionären führen und zur
Hauptversammlung am 24. Mai
handlungsbereit sein. Erst dann
dürfte sich klären, ob Zeltner oder
ein anderer Cryan ersetzt.
Die Deutsche Bank sowie Ach-
leitner und Cryan wollten sich zu
dem Thema nicht äußern. Zeltner
war für eine Stellungnahme nicht
zu erreichen.
Neben Cryan wird wohl auch
IT-Chefin Kim Hammonds ihren
Job verlieren, sie steht wegen mä-
ßiger Erfolge ohnehin in der Kri-
tik und gilt nach ihren Aussagen
über den Zustand der Bank als
nicht mehr zu halten. Weitere Ver-
änderungen im Vorstand, der als
überdimensioniert gilt, könnten
nach einem Führungswechsel fol-
gen. Die Deutsche Bank geht wie-
KOSTAS KOUFOGIORGOS / TOONPOOL.COM

der einmal zurück auf Los.


Heftige Kritiker Cryans unter
den Anteilseignern sind zwei
Scheichs aus Katar, Hamad Bin
Jassim Al-Thani und sein Cousin
Hamad Bin Khalifa Al-Thani, die
zusammen mehr als acht Prozent
der Deutschen Bank kontrollie-
ren. Von ihnen weiß man, dass sie

66 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Wirtschaft

einen von außen kommenden Investment- wohl eine Lösung mit Schenck und Sewing
banker an der Spitze favorisieren, sie
würden sich nach SPIEGEL-Informationen
auch mit Zeltner arrangieren.
lieber. Sie werden von den Beschäftigten
als Garant dafür gesehen, dass sich die
Deutsche Bank wieder auf den Heimat-
Steuern?
Ebenso sieht der chinesische Großaktio-
när HNA Cryan mittlerweile skeptisch, ist
markt Deutschland besinnt. Holt Achleit-
ner einen Chef von außen, düpiert er da-
Lass ich machen.
aber gerade mit ganz anderen, eigenen mit Schenck und Sewing. Es heißt, zumin-
Problemen beschäftigt. Erst vor einigen dest Schenck könne dann die Lust auf den
Wochen hatten die Chinesen ihren Anteil Laden verlieren.
an der Deutschen Bank von knapp 10 auf Wer auch immer die Deutsche Bank in
8,8 Prozent reduziert. Sollte es zu einem Zukunft führt, hat eigentlich nur zwei Op-
Wechsel an der Bankspitze kommen, wür- tionen: Er kann versuchen, Cryans Sanie-
de wohl auch HNA einen externen Mana- rungskurs zu beschleunigen und das In-
ger einer internen Lösung vorziehen. vestmentbanking stärker zu stutzen – oder
Der amerikanische Fondsgigant Black- die Bank zu zerschlagen.
rock hat Cryan bisher die Treue gehalten. Allerdings dürfte sich jeder neue Chef
Blackrock-Chef Larry Fink tauscht sich re- mit der Sanierung ähnlich schwer tun wie
gelmäßig mit Achleitner aus, der Bankkon- Cryan. Zu abhängig hat sich die Bank von
zern ist ein wichtiger Geschäftspartner. Handelsgeschäften gemacht, die heute
Das hat Fink 2015 nicht davon abgehalten, nicht mehr funktionieren; zu zersplittert
den Daumen über Cryans Vorgänger An- sind nach rasantem Wachstum und etli-
shu Jain zu senken und so wesentlich zu chen Zukäufen in der Ära Ackermann ihre
dessen Ablösung beizutragen. An Cryan IT-Systeme und zu hoch ihre Kosten. Wer
würde Blackrock jedoch gern festhalten. aber radikal Kosten senkt, läuft Gefahr,
Eine Schlüsselrolle könnte Cerberus zu- noch schneller Erträge zu verlieren. Cryan
kommen. Der amerikanische Hedgefonds ist an dieser Herausforderung gescheitert.
Daher rückt eine Zerschlagung näher.
Tatsächlich ist sie in der jetzigen Strategie
»Man müsste bereits angelegt. Die Tochter Postbank
jetzt die Treppe wird im zweiten Quartal mit dem Privat-
und Firmenkundengeschäft der Deutschen
von ganz Bank zusammengelegt. Die Vermögens-
oben kehren.« verwaltung DWS hat der Konzern gerade
abgespalten und eine Minderheit an die
Börse gebracht. Die dritte Säule bilden In-
unter der Führung des Waffennarren Ste- vestmentbanking und Zahlungsverkehr.
phen Feinberg war vor einigen Monaten Intern ist unter dem Projektnamen
mit gut drei Prozent bei der Deutschen »Jade« bereits die Möglichkeit diskutiert
Bank eingestiegen und nimmt meist star- worden, die drei Bereiche nur noch über
ken Einfluss auf die Unternehmen, an de- eine Holding zusammenzuhalten. Dann
nen er beteiligt ist. Auch Feinberg soll un- könnte irgendwann das Privat- und Fir-
zufrieden mit dem Tempo des Umbaus bei menkundengeschäft mit der Commerz-
der Bank sein, hat aber bisher nicht erken- bank zusammengehen und für das Invest-
nen lassen, wem er das anlastet. mentbanking ein anderer Partner gefun-
Eine interne Nachfolge für Cryan gilt den werden.
nach wie vor als mögliches, aber unwahr-
scheinliches Szenario. »Das wäre ein Akt
der Verzweiflung«, heißt es aus dem Um-
feld des Aufsichtsrats. Dabei hatte Achleit-
Cryan wird das alles wohl nicht mehr
als Chef erleben. Aber auch Achleitner
kann sich nicht sicher sein, dass er dann
noch das Sagen haben wird. Er war es, der
VLH.
ner erst vor gut einem Jahr den Invest- Cryan installiert hat, Cryans Mannschaft
mentbanker Marcus Schenck und Christi- ist seine Mannschaft. Cryans Scheitern ist
an Sewing, Vorstand für das Privat- und
Firmenkundengeschäft, zu Co-Vizechefs
auch seines.
Aktionäre und Analysten stellen Ach-
Wir machen Ihre
befördert und damit zu Kronprinzen ge-
macht.
leitner nun infrage. »Man müsste jetzt die
Treppe von ganz oben kehren«, sagt ein Steuererklärung.
Für Schenck und Sewing spricht, dass Kenner der Bank. Aber das ist leichter ge-
sie sich anders als externe Kandidaten sagt als getan. Innerhalb des Aufsichtsrats,
nicht erst über Monate einarbeiten müss- den Achleitner weitgehend nach seinem
ten. Allerdings haben beide in ihren jetzi- Gusto zusammengestellt hat, gibt es kaum
gen Rollen bisher nicht gezeigt, dass sie eine ernsthafte Opposition. Außerdem www.vlh.de
das Geldhaus wieder auf Kurs bringen fürchten Aktionäre, ein zeitgleicher Wech-
könnten. sel in beiden Spitzenämtern könnte die
Das Arbeitnehmerlager würde gern mit Bank destabilisieren. Die Schwäche des
Cryan weitermachen. Man wünsche sich Konzerns liegt in Achleitners Verantwor-
Klarheit und Ruhe, heißt es in Aufsichts- tung – und sie ist zugleich sein Schutz.
ratskreisen. Wenn es zu einem Wechsel Tim Bartz, Martin Hesse
kommt, wäre den Arbeitnehmervertretern

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 67


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Wirtschaft

1988 heuerte ihn der Unternehmer Max

Küchengott auf Grundig als Gastro-Direktor des »Schloss-


hotels Bühler Höhe« in Baden-Baden und
drei weiterer Restaurants an, für ein Ge-

Kriegspfad halt von einer halben Million Mark pro


Jahr. Keller holte schnell einen Michelin-
Stern, litt jedoch unter den Verwaltungs-
pflichten. Als er sich einmal dem Willen
Gastronomie Spitzenkoch Franz Keller rechnet in einer autobiogra- des Patrons widersetzte, flog er raus. Er
fischen Wutschrift mit Industriefraß und pervertierter Landwirtschaft fand diese Konsequenz irgendwie beein-
ab. Eine Begegnung mit einem, der aus Notwehr Bauer wurde. druckend.
Ein Angebot des »Kronenschlösschens«
brachte ihn nach Hattenheim im Rheingau.

F
ranz Keller weiß, wie er einem den Gastronom und Winzer, schmuggelte fran- Wieder erkochte er einen Stern. Doch in
Appetit verderben kann. »Das zösische Weine ein, um den Gästen die Wahrheit hatte er den Sterne-Zirkus be-
nächste Mal, wenn Sie auf einem süße deutsche Plörre zu ersparen. In der reits satt. Die Kosten zwangen zu Kom-
zähen Stück Billigfleisch herum- Gesellenzeit in Lyon gewann der Sohn das promissen, irgendwann reicht man aufge-
beißen, denken Sie daran: Sie kauen auf Herz des cholerischen Jahrhundertkochs pepptes Convenience-Food. »Die Insze-
der Todesangst eines auf barbarische Paul Bocuse, und in Michel Guérards Res- nierung für die Gäste und die Wahrheit in
Weise gezüchteten und geschlachteten Tie- taurant »Pot-au-Feu« in Paris amüsierte der Küche klaffen im Sterne-Zirkus immer
res.« Oder: »Ist Ihr Kalbsschnitzel schön er sich, wenn spät in der Nacht Alain De- weiter auseinander«, sagt Keller heute.
weiß? Dann litt das Tier sein kurzes, er- lon oder Lino Ventura ohne Reservierung Kompromisse waren ohnehin nie seine
bärmliches Leben lang an Eisenmangel.« hereinschneiten und ewig an der Cham- Sache. Er war damals 43 Jahre alt. Zeit für
So klingt das, wenn ein Küchengott auf pagnerbar warten mussten, weil natürlich den radikalen Schnitt.
dem Kriegspfad ist. »Ein Sternekoch greift kein Gast mehr ging, wenn Alain Delon 1993 eröffnete er 250 Meter neben dem
an«, warnt denn auch ein Button auf dem oder Lino Ventura da waren. Bocuse impf- »Kronenschlösschen« die »Adler Wirt-
Deckel seines zu Ostern erscheinenden Bu- te ihm ein, was er nie mehr vergessen soll- schaft«, ein kleines Restaurant mit 60 Plät-
ches – der Titel: »Vom Einfachen das Be- te: Der Koch ist frei, unabhängig und der zen. Er schrieb an die Leute vom Miche-
ste: Essen ist Politik oder warum ich Bauer Star im Restaurant. Das war die passende lin-Führer, dass er ab sofort nicht mehr
werden musste, um den perfekten Genuss Philosophie für den jungen Keller. mitmache bei der Sterne-Jagd. Seine 900
zu finden«*. Stammkunden ließ er wissen, von nun an
Man ahnt: Wer schon so viel aufs Cover gelte für ihn nur noch ein Motto: Vom Ein-
schreibt, hat Druck im Kessel. »Der »Ein Schwein, das fachen das Beste. Ehrliches Essen ohne
Dampf musste raus«, sagt Franz Keller nicht fett sein darf, ist Chichi, aus besten Grundprodukten, deren
und koffert frei von der Leber gegen Poli- Qualität er nicht nur beurteilen, sondern
tik und Industrie, denen die Gesundheit eine arme Sau.« auch kontrollieren und am besten selbst
ihrer Bürger wurst sei. erzeugen konnte.
Die Schelte kommt aus berufenem Mun- Leider hatte sich das in Deutschland Im Zentrum: Fleisch, am liebsten vom
de. Keller hat bei den französischen Koch- noch nicht herumgesprochen. 1973, zu- Charolais-Rind. Doch so sehr er sich be-
legenden Paul Lacombe, Paul Bocuse und rück im heimischen »Schwarzen Adler«, mühte, optimale Ware war kaum zu krie-
Michel Guérard gelernt, danach mit Eck- erkochte der Sohn den zweiten Michelin- gen. Damit Fleischproduktion sich rechnet,
hart Witzigmann die Nouvelle Cuisine Stern, doch sein herzloser und wohl auch muss schnell gemästet und günstig ge-
nach Deutschland gebracht. Zeitweise war eifersüchtiger Vater hielt ihn wie einen schlachtet werden. So ist die Logik des Sys-
er der am besten verdienende Koch des Kochsklaven. Heimlich, am Alten vorbei, tems. Keller konnte sich nur schwer damit
Landes, immer einer der besten. kochte der Junior 60 Liter Gulaschsuppe abfinden. »Man kann sich doch nicht den
Über zwei Jahre lang hat sich der Meis- für die Demonstranten gegen das geplante ganzen Tag mit Ernährung beschäftigen
ter abends an den Schreibtisch gesetzt und Kernkraftwerk Wyhl – besser haben AKW- und dann an den fragwürdigen Produk-
sich die Wut von der Seele geschrieben. Gegner wohl nie gegessen. tionsbedingungen vorbeischauen.« Spin-
Herausgekommen ist ein saftiges Manifest: Natürlich eskalierte der Streit der Al- deldürre Milchkühe, die aussehen wie Eu-
für einen respektvollen Umgang mit pha-Männchen. Fast hätte der Junge den ter auf Stelzen. Mastrinder, die in engen
Mensch, Umwelt und Tier bei der Herstel- Vater mit einem Stuhl erschlagen. Den Ställen vollgestopft werden. Schweine, die
lung von Qualitätslebensmitteln – und für Riss im Tisch, auf dem der Stuhl zerbarst, bewegungsunfähig in ihren eigenen Exkre-
die sofortige Rückkehr aller Bürger an den sieht man heute noch. menten liegen. Hühner, die umfallen
Herd. Franz junior flüchtete nach Italien und wegen ihrer zu schweren Brüste.
Essen hat mit Moral zu tun, glaubt Kel- lernte die Leichtigkeit. In Italien wurde »Wir behandeln die Nutztiere, von de-
ler, doch sein Buch ist beileibe nicht mora- ein Produkt nicht x-mal gedreht und ge- ren Fleisch, Proteinen und Energie wir
linsauer. Sein Trick: Er verschränkt das manscht, gesiebt und erhitzt, gefroren, pas- leben, wie den letzten Dreck. In diesen
Thema mit seinem Leben. Weil Essen nun siert, geraspelt. Dort nahm man gutes Öl, Produktionsbedingungen kann man kein
mal sein Leben bestimmt. gute Tomaten, super Nudeln, tollen Fisch gutes und gesundes Stück Fleisch produ-
Alles begann im Familienrestaurant, – und Ende. Es war seine Befreiung von zieren. No way«, sagt Keller. »Wir müssen
dem »Schwarzen Adler« in Oberbergen der Schwere und Strenge der französi- die Tiere ehren, die uns ernähren.«
bei Freiburg. Seine Mutter war die erste schen Küche. Olympus, der Bulle, nutzt diese Einstel-
Sterneköchin Deutschlands, sein Vater, Für sein erstes eigenes Restaurant und lung seines Besitzers gnadenlos aus. Das
Bistro in Köln 1979 bekam er zwei Sterne riesige Tier, Kopf und Nacken so gewaltig
* Franz Keller: »Vom Einfachen das Beste: Essen ist
Politik oder warum ich Bauer werden musste, um den
und die wertvolle Erfahrung, dass sich der wie der eines Bisons, will schmusen. Zärt-
perfekten Genuss zu finden«. Westend; 240 Seiten; 24 Aufwand, den man für die Sterneküche lich lehnt sich der tonnenschwere Koloss
Euro. betreibt, nicht rechnet. Er gab auf. ans Gatter, Franz Keller zieht gerade noch

68 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


reif«, sagt er. Die Kuhmilch gehört den
Kälbern, gemolken wird nicht. Im Som-
mer kommen die Rinder auf die zwölf
Hektar große Weide. Wenn für eine Kuh
die Zeit gekommen ist, fährt ein anderes
Tier im Hänger zum kleinen Bioschlacht-
hof mit, als Sterbehelfer. Schließlich nutzt
die beste Aufzucht nichts, wenn das Opfer
am Ende in Todesangst große Mengen
Adrenalin ins Fleisch ausschüttet. Keller
verwertet alles am Tier, selbst das Fell
kommt zum Gerben. Zu seiner Philoso-
phie gehört auch die Wiederentdeckung
eines Verwertungskreislaufs.
Hinter dem Wohnhaus leben Kellers
Schweine. Es sind Bunte Bentheimer, eine
seltene Rasse, die viel Fett ansetzt. Für die
Industrie ist das ein Ausschlusskriterium,
für Keller ein Muss. »Ein Schwein, das
nicht fett sein darf, ist eine arme Sau.«
Zwei Winter müssen seine Sauen gesehen
haben. Erst dann hat das Fleisch die rich-
tige Reife und Struktur.
Fett ist ein Geschmacksträger, das lernt
man spätestens, wenn man Kellers Brot in
die frische Kräuterleberwurst tunkt, die in

C.KELLER
seiner Küche steht. Auf dem Ofen sim-
mern die Überreste eines Hahns in einem
Pot-au-Feu; das Fleisch ist grau. Genau so
müsse es aussehen, wenn das Tier ausge-
wachsen war, sagt Keller. Das wisse nur
keiner mehr. Der ganze Rummel rund ums
Fleisch lenke nur vom Wesentlichen, der
Haltung, ab und solle Durchschnittsfleisch
teurer machen, warnt er. Etwa die Erfin-
dung der diplomierten Fleischsommeliers,
die nach einem Zwei-Wochen-Kurs in
Fleischboutiquen verkaufen. Oder der
Dry-aged-Hype, ein »durchschaubarer
Marketingschwachsinn«. Monatelang ab-
hängen muss nur das Fleisch alter Tiere,
nicht aber das von Turbomastviechern.
Selbst an der berühmten Marmorierung
des japanischen Kobe- oder Wagyu-Flei-
sches lässt Keller keine gute Faser. Das sei
ein Zeichen von Überfütterung, vergleich-
bar mit der Produktion der Gänsestopfleber.
In Kellers Philosophie ist Fleisch zur Bei-
lage geworden, das Gemüse übernimmt die
Hauptrolle. Wenn die Leute erst wieder
MARKUS BASSLE

selbst kochten, den Unterschied schmeck-


ANJA HAHN

ten zwischen einer Tunnelfolientomate und


einer selbst gezogenen, komme das Inter-
Schwein, Keller, Ex-Schwein: »Erst dann ist das Fleisch wirklich gut« esse an Qualitätsprodukten ganz von allein,
daran glaubt Keller fest. Als Anreiz hat er
seiner Wutschrift Rezepte beigefügt, zum
rechtzeitig seine Hand aus dem Spalt. Nun Der Spitzenkoch ist aus dem Sterne-Him- sofort Loslegen. Schließlich gebe es nichts
krault er Olympus von oben, das Tier mel hinabgestiegen, in die Gummistiefel ge- Verführerisches als echten Genuss.
schnaubt wohlig. schlüpft und Bauer geworden, aus purer Doch bei allem Veränderungswillen dür-
Der Stier der Rasse Limousin steht im Notwehr. 2010 hat er die »Adler Wirtschaft« fe nicht vergessen werden, was wahr sei
Laufstall mit rund 30 Kühen und Kälbern. seinem Sohn übergeben und ist auf den Fal- und unverrückbar bleiben müsse. Etwa,
Es ist Franz Kellers Stall, der Falkenhof in kenhof gezogen, um das Fleisch für sich dass ein Kartoffelsalat immer mit Brühe
Heidenrod, eine halbe Autostunde von und das Restaurant zu produzieren. und nie mit Mayonnaise gemacht werden
Hattenheim entfernt. Hier züchtet er Rin- Und zwar genau so, wie er sich das im- dürfe. Niemals. Nein, auch nicht im Nor-
der, Schweine und Geflügel, weil er die mer gewünscht hat. Kellers Rinder dürfen den. Nirgendwo.
Qualität, die er auf dem Teller haben will, drei Jahre alt und damit erwachsen wer- Michaela Schießl
nirgends kaufen kann. den. »Erst dann ist das Fleisch wirklich

69
Wirtschaft

Schiffbruch
Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten.
Der Rumäne baut Kreuzfahrtschiffe, schuftet ohne Pause. Lange will er
nicht wahrhaben, dass er ausgebeutet wird. Die Geschichte einer Enttäuschung.

NORBERT ENKER / DER SPIEGEL


Arbeiter Naidin am Gelände der Meyer-Werft in Papenburg: »Wie ein Gefangener auf Ausgang«

S
ein Leben in Deutschland hat sagen. Fünfeinhalb Jahre, in denen er be- Adiletten und führt seinen Dackel aus.
Constantin Naidin in eine gelbe, handelt wurde wie ein Mitarbeiter ohne »Deutsche Wertarbeit«, sagt er und nickt
abgegriffene Plastiktüte gepackt. Rechte, wie ein Mensch zweiter, oft auch Naidin zu, der einen Kopf kleiner, aber ein
»Danke für Ihren Einkauf«, steht dritter Klasse. Fünfeinhalb Jahre, in denen gutes Stück breiter ist. Der Rumäne lächelt.
auf Rumänisch darauf. Fünfeinhalb Jahre sein Traum von Deutschland zerstob. Die Wertarbeit entstand ja unter seiner
in einer Tüte – Lohnabrechnungen, Kas- Nun steht er zum letzten Mal vor dem Tor Mitwirkung. Das Jucken der Mineralwolle,
senzettel, Kontoauszüge. Und ein kleines der Meyer-Werft, wo im November 2012 mit der er die stählernen Rumpfteile
silbernes Notizbuch. alles begonnen hatte. Bald soll der Bus kom- dämmte, kann er noch spüren. Das Wuch-
»Mit Unterlagen«, sagt Naidin, »ist man men, der ihn zurück nach Rumänien brin- ten der Bleche, mit denen er die Verscha-
am sichersten.« gen wird. 33 Stunden wird die Fahrt dauern. lung der Kabinen baute, es sitzt ihm noch
In das silberne Büchlein hat er die Sta- Neben ihm wartet ein Wohnmobilbesit- im Kreuz. Und wenn er seit Oktober nicht
tionen seines Arbeitslebens in Deutschland zer aus Altenburg auf das Auslaufen eines mehr zu Hause bei seiner Frau und den
notiert. Eines Lebens als Arbeiter auf der Schiffs, eines 20 Stockwerke hohen, blau Kindern war, dann nur wegen dieser Rie-
Papenburger Meyer-Werft. Als »Fremd- lackierten Berges, der aus dem braungrü- senpötte. Made in Germany, das war auch
arbeiter«, wie sie in Papenburg heute noch nen Wasser der Ems ragt. Der Mann trägt das Werk von ihm, von Constantin Naidin,

70 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


48 Jahre alt, aus der Nähe von Craiova im
Süden Rumäniens.
Doch nun ist er nicht mehr dabei. Nai-
din flog raus, am 7. März dieses Jahres. Er
hatte irgendwann angefangen, nicht mehr
bloß zu malochen, sondern Fragen zu stel-
len. Nach dem Zustandekommen des
Lohns, das ihm komisch vorkam, und nach
Urlaubsgeld. Er tat das leise, wie es seine
Art ist. Dennoch war er zum Risiko gewor-
den. Er müsse »sofort weg«, erinnert er
die Worte seines Chefs. Beim Erzählen
fängt Naidin leicht zu zittern an, er wischt
ein paar Tränen in den Ärmel der schwar-
zen Kunstlederjacke. Eigentlich, sagt er,

NORBERT ENKER / DER SPIEGEL


fühle er sich schon lange nur noch »wie
ein Gefangener auf Ausgang«.
Im Oktober 2014 notierte Naidin in sein
silbernes Notizbuch: »Wir wurden ge-
zwungen, 15 Stunden täglich zu arbeiten,
auch sonntags.« Mitte August 2016, so Nai-
din, verlangte sein Boss von ihm und eini-
gen Kollegen die Karten ihrer kurz zuvor Unterwegs nach Rumänien: Menschen, die lautlos neben uns herleben
bei der Deutschen Bank eröffneten Kon-
ten. Ein paar Transfers müsse er machen,
hieß es, Naidin bekomme sein Geld in bar. 19 Uhr wartet. In der Facebook-Werbung 1985 baute Meyer das erste Kreuzfahrt-
Für den Oktober 2016 hielt Naidin in einer des rumänischen Busunternehmers war schiff.
Tabelle seine Arbeitszeit fest: 292 Stun- noch von Fünfsternequalität die Rede, nun Über 20 000 direkte und indirekte Ar-
den – 132 mehr als in der offiziellen Ver- sieht es nicht mehr ganz so gut aus: Der ab- beitsplätze hängen von der Werft ab, sagt
dienstabrechnung. getakelte Mercedes-Sprinter mit litauischem eine Frau von Papenburg Marketing, die
Damit wäre der Mindestlohn de facto Kennzeichen liegt in der Hand zweier mol- durchs Besucherzentrum führt. Dann be-
ausgehebelt. Mit Glück kam Naidin auf dauischer Fahrer, die ihrem russischen Na- schreibt sie die Farbenlehre auf der Werft.
etwa sechs Euro pro Stunde, trotz ständi- vigationsgerät auch nach stundenlangen »Die 3300 Leute der Stammbelegschaft
ger Samstagsarbeit selten über 1300 Euro Umwegen noch artig folgen werden. Sie tragen die gelben Helme.« Die Arbeiter
im Monat. werden Kette rauchen und nach jeder Ziga- der Fremdfirmen hätten andere Farben,
Die Notizen passten nicht so recht zu rette auf einen kleinen Parfumflakon drü- »und die Schwarzarbeiter tragen schwarze
seiner Vorstellung von Deutschland. Ka- cken, der die Luft noch beißender macht. Helme«. Sie kichert.
putt machen lassen wollte er sie sich aber Naidin stellt seine kleine schwarze Seit 2010 flossen der Werft vom Bund
nicht. Jedenfalls nicht durch ein paar Über- Sporttasche in den Gepäckraum. Der In- rund 35 Millionen Euro Subventionen aus
stunden. Die Schikanen tat er lange als halt besteht im Wesentlichen aus ein paar dem Programm »Innovativer Schiffbau
Schönheitsfehler ab. Seine Nachsicht war Rumkugeln, einem metallisch glänzenden sichert wettbewerbsfähige Arbeitsplätze«
groß. Das nächtliche Röcheln der Asthma- Trainingsanzug, etwas Unterwäsche und zu, wovon in erster Linie die Stammbeleg-
tiker im schimmligen Dachzimmer, wo sie der gelben Plastiktüte. Das war’s. schaft profitiert.
zu acht wohnten? Geschenkt. Das Zigaret- Am selben Tag erscheint in der »Frank- Um die Schwerstarbeit auf der Werft
tengeld, das man auch ihm, dem Nichtrau- furter Allgemeinen Sonntagszeitung« ein kümmert sich allerdings längst eine Schat-
cher, vom Lohn abzog? Nicht der Rede großes Interview mit dem Besitzer der Pa- tenarmee, die nicht finanziell gestützt
wert. Dass sein Chef ihm die Bankkarte penburger Werft, Bernard Meyer. Nach wird. Männer wie Naidin. »Menschen, die
für das Lohnkonto wegnahm? War ver- den 2000 Arbeitsnomaden, die sich bei Sub- lautlos neben uns herleben, deren Sorgen
mutlich normal. unternehmen für die Werft abrackern, wird man kaum kennt und die kein Deutsch
Auch als sein neuer Boss begann, sie als er nicht gefragt. Meyer spricht über Kart- können, weil sie abends zu platt sind, um
»behinderte Bauern« zu beschimpfen, hör- bahnen, Riesenrutschen und Theaterbüh- in den Sprachkurs zu gehen«, wie ein ehe-
te Naidin lange weg. Er blieb bescheiden, nen, die sie in die Schiffe einbauen würden. maliger Betriebsrat sagt.
beklagte sich nicht. Der Meyer-Clan ist eine Macht in Pa- Für ihre Arbeitgeber sind diese Wander-
Erst als Vorarbeiter anfingen, handgreif- penburg und Umgebung. Der größte Ar- arbeiter mit den Werkverträgen Austausch-
lich zu werden, und als einige seiner Freun- beitgeber der Region, ein wichtiger Steu- ware, und Meyer bekommt durch die Kon-
de und Kollegen nach Rumänien zurück- erzahler, die bekannteste Familie. Nach struktion eine Art Sorglospaket: Es macht
geschickt wurden, wagte Naidin es zum Meyer kommt lange nichts – und irgend- es möglich, Arbeiter zu beschäftigen, ohne
ersten Mal, sich zu »erkundigen«, wie er wann die Schnapsbrenner Berentzen. sie anzustellen.
sagt. Der Kontakt zu Gewerkschaften sei Von 23 Bootsbauern in der einst moras- Für Diskussionen sorgt diese Schatten-
ihm verboten worden, aber nun wollte er tigen Torfregion sind die Meyers die Einzi- wirtschaft nur kurzfristig – wenn etwas
wissen, ob es üblich sei, dass ein Chef von gen, die übrig blieben. Früh hat die Fami- passiert. Wenn ein griechischer Lackierer
seinen Mitarbeitern das Urlaubs- und lie von Holz- auf Stahlbau umgestellt. Es in den Tod stürzt, wie im November.
Krankengeld einkassiere. Er machte sich gibt amüsante Unternehmensgeschichten Wenn zwei rumänische Arbeiter in einer
Sorgen um sein Konto, bei dem er nicht wie die von der Fähre, die 1913 in 5000 Kis- der klaustrophobisch engen Unterkünfte
überblickte, was damit passierte. ten nach Tansania verschifft und dort zusam- verbrennen, wie im Sommer 2013. Solche
Um 22.30 Uhr am Abend seiner Abreise mengesetzt wurde und bis heute auf dem Arbeitsverhältnisse gibt es nicht nur im
trifft der Kleinbus ein, auf den Naidin seit Tanganjika-See ihren Dienst tut. Schiffbau. Gut 10 000 Wanderarbeiter aus

71
Wirtschaft

Südosteuropa sind heute allein in Nieder- Hause, wie er konnte, kam aber selbst in vernetzt: Auf einer Raststätte eilt ein
sachsen im Einsatz. Deutschland irgendwie nicht vom Fleck. Schrauber mit seiner mobilen Werkstatt her-
Nach fünf Stunden Fahrt hat es Naidins Aus Papenburg schaffte er es nicht hinaus, bei. Bis Craiova sind es noch 15 Stunden.
Bus gerade mal bis nördlich von Bremen im Kino war er kein einziges Mal. Er hatte Naidin unterschrieb im März 2016 bei
geschafft. Ein liegen gebliebenes Fahrzeug einen Job. Ein Leben hatte er nicht. Isofonics den Arbeitsvertrag. Da war er erst
eines Kollegen der Fahrer muss abge- Naidin spricht nicht schlecht über die mal glücklich. Ein Job in Deutschland mit
schleppt werden. In Rostock werden zwei Werft. Sein Stolz, an großen Schiffen mit- 9,50 Euro pro Stunde und Urlaub. Wie lan-
weitere Arbeiter eingesammelt, am Mor- gebaut zu haben, ist nicht verschwunden, ge hatte er darauf gewartet? Und was für
gen kommen in Berlin ein paar Wäsche- vielleicht etwas eingetrübt. »Die Herren ein Vergleich zu den Anfängen, als ihn der
säcke und ein Kühlschrank einer mol- der Werft konnten nichts dafür«, sagt er. Boss seiner ersten Firma Ende 2012 mit ei-
dauischen Kundin hinzu. Naidin schläft Die seien sauber. nem Pulk von Kollegen auf das Gemeinde-
ein bisschen. Craiova lässt auf sich warten. Zumindest tun sie einiges dafür, sauber amt mitnahm, Zettel unterschrieben ließ –
Viele der Werftarbeiter in Papenburg dazustehen. Tatsächlich ist das Netz der und sie erst Monate später an den Nach-
kommen aus derselben Gegend wie Nai- Meyer-Firmen mit ihren Standorten in Pa- zahlungsaufforderungen merkten, dass sie
din. Kleine Walachei wurde die Ecke frü- penburg, Rostock und Turku schwer zu ein eigenes Gewerbe angemeldet hatten.
her genannt, weitab vom Schuss liegt sie heu- entwirren. Aber es gibt eine Verbindung Mit Isofonics sah es für Naidin so aus,
te noch. Nach Mindestlohn fragt dort keiner. zum Subunternehmen, für das auch Naidin als wäre er endlich in Deutschland ange-
Als die aufgeblähte sozialistische Wirt- arbeitete. Und diese Verbindung führt nach kommen, so, als würde er »die deutschen
schaft implodierte, erwischte es auch Nai- Luxemburg. Dorthin hatte Bernard Meyer Rechte bekommen«, wie er sagt.
din, den gelernten Klempner: Erst verlor 2015 seine Dachgesellschaft verlegt – auch Naidin ist mit seiner Geschichte jetzt an
er seine Arbeit im großen Donauwasser- um die Gründung eines Aufsichtsrats zu einem wichtigen Punkt angekommen,
werk, dann den Job im Kohlekraftwerk. vermeiden, den er in Deutschland hätte denn jetzt trennen sich zwei Welten, zwei
Im Sommer 2012, als absehbar war, dass einrichten müssen. Von der Dachgesell- Welten mitten in Deutschland.
die beiden Kinder bald mit der Ausbildung schaft aus geht es über zwei Meyer-Firmen Dem einen Deutschland, in dem Werft-
beginnen würden, erzählte ihm ein Freund in Rostock zur Meyer-Tochter ND Coa- eigner Bernard Meyer sogar eine Sozial-
von einer Werft in Deutschland, die Kreuz- tings in Papenburg – der Drehscheibe für charta unterschrieb, die »gesundheits-
fahrtschiffe baue und Leute brauche. den Einsatz von Subunternehmern. gerechte« Beschäftigung verspricht und
Für Naidin hörte sich das an wie ein Sech- ND Coatings organisiert viel von dem, alle »Nachunternehmer« auf Zahlung des
ser im Lotto. Er sah eine Zukunft aufblitzen was die Werft früher mit eigenen Monteu- Mindestlohns verpflichtet. Zur Überprü-
mit einem kleinen Haus in Deutschland, in ren, Lackierern und Schiffszimmerern als fung der Firmen heuerte die Werft sogar
das er seine Familie nachholen wollte. Er Generalunternehmer selbst besorgt hatte. den TÜV Rheinland an.
ertappte sich sogar dabei, wie er an eine Und hier kam irgendwann George-Cristian Und dem anderen Deutschland, das Nai-
Kreuzfahrt dachte. Seine Hoffnung trübte Toader ins Spiel, ein Mann, der einst selbst din und ein halbes Dutzend weiterer Iso-
sich etwas, als er feststellte, dass der Weg auf der Werft gearbeitet hatte und sich dann fonics-Arbeiter erlebten, deren Unterlagen
zur Werft immer nur über Firmen lief, die mit seiner Isofonics GmbH zum Unterneh- dem SPIEGEL vorliegen. Es ist eine Ge-
Radoja oder Intelcon Electro Construct hie- mer aufschwang. Inzwischen arbeiten etwa schichte systematischen Betrugs. Und völ-
ßen. Oder Isofonics, wo er 2016 landete. 150 Leute auf der Werft für ihn. liger Hilflosigkeit, die im Sommer 2016 in
Geschont hat er sich deshalb nicht. Er Der Kleinbus mit Naidin ist inzwischen bizarre Ausbeutung umschlägt. Damals,
war fleißig, gehörte zu denjenigen Arbei- bis in die Nähe von Brünn in Tschechien erzählen die Betroffenen, sammelte Toa-
tern, die unter Zeitdruck noch auf den gekommen. Es gibt Probleme mit dem rech- der die Bankkarten ein. In der Folgezeit,
Schiffen rumwerkelten, wenn diese sich be- ten Vorderlicht, dessen Gehäuse sich aus so ist an Auszügen zu sehen, werden die
reits auf der engen Ems Richtung Nordsee der Halterung löst. Naidin nimmt es gelas- Konten mit teils fünfstelligen Summen ge-
zwängten. Er schickte so viel Geld nach sen, die moldauischen Fahrer scheinen gut füllt, die kurz darauf wieder abfließen, of-
fensichtlich an Verwandte von Toader. Auf
die Fragen des SPIEGEL, so Toader, werde
man nicht antworten.
Für den Isofonics-Chef lief es gut. Viel-
leicht etwas zu gut. Fast 300 000 Euro Ge-
winnvortrag wies seine Firma für 2016
aus – ein ziemliches Kunststück bei nur
1,2 Millionen Euro Bilanzsumme.
Womöglich lag das daran, dass bei To-
ader ganz eigene Gesetze galten: Statt
Lohnfortzahlung hieß es Lohnrückzah-
lung im Krankheitsfall. Auch Urlaubsgeld
habe er sich erstatten lassen. Arbeitern
wie Naidin, die ihren Lohn in bar abhol-
ten, zahlte man diese Lohnbestandteile
erst gar nicht aus.
NORBERT ENKER / DER SPIEGEL

Wer es wagte, die Zahlungsmodalitäten


infrage zu stellen, sei in der Firmenhalle
in Papenburg vor versammelter Mann-
schaft fertiggemacht worden, berichten Ar-
beiter. Diese Meetings hätten den Charak-
ter von »Gehirnwäsche« gehabt. Gerade-
zu hysterisch habe der Firmenchef auf den
Posten an der ungarisch-rumänischen Grenze: Craiova lässt auf sich warten Namen Daniela Reim reagiert. »Ihre Tele-

72
fonnummer könnt ihr gern haben, aber
gleichzeitig auch eure Kündigung.«
Reim, 45, leitet seit vier Jahren die Be-
ratungsstelle für Mobile Beschäftigte in Ol-
denburg, eine Art Ersatzbetriebsrat für
Entrechtete. Reim ist Rumänin, gelernte
Lehrerin und stört mit ihrer resoluten
Freundlichkeit das eingespielte Gefüge
zwischen den Meyers und ihren Subunter-
nehmen. »Engel« wird sie von manchen
Arbeitern genannt.
Der litauisch-moldauische Kleinbus hat
sich inzwischen durch den südlichen Kar-
patenbogen geschlängelt. Die Sonne scheint,
es ist nicht mehr weit bis Craiova. In Naidin

NORBERT ENKER / DER SPIEGEL


kommt Leben. Eine weite Tiefebene tut sich
auf, mit viel Brachland. Naidin zeigt mit ei-
nigem Stolz auf die Ford-Fabrik, etwas wei-
ter liege der Raketenabwehrschild der US-
Armee. Wirtschaftlich war es das schon fast,
die Geschichte vom alten Kohlenmeiler und
dem kaputten Lokomotivenwerk möchte
Naidin nicht vertiefen. Heimkehrer Naidin, Ehefrau Madalina: »Die Herren der Werft konnten nichts dafür«
Unter den Hunderten Fällen von Lohn-
betrug, die Reim und ihre Kollegin bear-
beiten, ist auch der von Marian Pirva*, der Solche Lohntricksereien setzen den ihnen auf der Bank erschien, erinnert sich
zusammen mit seiner Frau und seiner Sozialsystemen mächtig zu: Das Wirt- Christian, sei er empfangen worden »wie
Tochter in einer Art renoviertem Schup- schafts- und Sozialwissenschaftliche Insti- ein alter Bekannter«. Er selbst habe dann
pen am Rand von Papenburg wohnt. tut der Hans-Böckler-Stiftung beziffert die einige Formulare unterschreiben müssen,
»Im September hat er eine Woche Ur- Einbußen durch Lohnbetrug für 2016 auf »das schien normal«. Es folgten Briefe zum
laub genommen für die Taufe seiner Toch- 9,9 Milliarden Euro. Telefonbanking, obwohl er kaum ein Wort
ter«, sagt Reim. Das Urlaubsgeld sei ihm Ein Sprecher der Werft sagt, über die Deutsch sprach. Auch Constantin Naidin
zwar überwiesen worden, »aber für Herrn Sozialcharta sichere man ab, »alle Regeln« bekam Unterlagen für das Onlinebanking,
Toader waren das Schulden, die er eintrei- zur Entlohnung einzuhalten. Im Übrigen »obwohl ich keine Ahnung davon hatte«.
ben wollte«. Um den Druck zu erhöhen, verweist er an Isofonics. Die Reaktion, Wie einige andere Arbeiter hat auch
behielt Isofonics den Januarlohn ein. Pirva sagt der Ex-Betriebsrat, sei »eine ziem- Naidin Kontoauszüge aufbewahrt und
geriet mit den Raten für den Fernseher liche Verrenkung«. Meyer selbst habe sich nicht vernichtet, wie angeordnet wurde.
und den Gebrauchtwagen in Verzug. Er doch Subunternehmen wie Isofonics »her- Bleibt die Frage der teils fünfstelligen Be-
kündigte. »Ich habe das Klima der Angst angezüchtet«. Und wenn mal einer von träge, die da munter hin- und herbewegt
nicht mehr ertragen.« denen hochgehe, kämen drei neue. wurden und am Ende wohl in Toaders Um-
Als Reim sich an Toader wandte, antwor- »Ein Blick auf die Torerfassung der feld versickerten. »Für mich sieht das nach
tete dessen Assistentin per E-Mail, Reim Werft hätte einen Hinweis geben können, Geldwäsche aus«, sagt Daniela Reim.
müsse sich Gedanken machen, ob sie ihr was läuft«, sagt Wentingmann, die seit Jah- Die Deutsche Bank sagt, Kontoeröffnun-
Amt so »rumänisch destruktiv« weiterfüh- ren Meyer bearbeitet. »Jeder Arbeiter gen könnten auch dann erfolgen, wenn der
ren wolle. Eine Kopie des Schreibens ging loggt sich am Eingang mit seiner Chipkarte Kontoinhaber »die deutsche Sprache nicht
an die Geschäftsführung der Meyer-Toch- ein.« Der Werftsprecher behauptet, eine perfekt beherrscht«. Kein Wort zur Frage
terfirma ND Coatings. Arbeitszeitkontrolle gehe aus »daten- nach Geldwäsche. Aus dem Umfeld der
Bei Pirva lief es wie bei vielen anderen: schutzrechtlichen« Gründen nicht. Bank ist aber zu erfahren, dass man dort
Er bekam eine Lohnabrechnung, die sau- Dass bei Isofonics mit den Lohnabrech- hellhörig wurde, rechtliche Schritte einlei-
ber wirkte – 160 Stunden à 9,50 Euro. Tat- nungen etwas nicht stimmt, wusste man tete und betroffene Konten kündigte. Der
sächlich arbeitete er oft 100 Stunden mehr bei der Meyer-Tochter ND Coatings schon Werftsprecher meldet sich noch mal. Isofo-
im Monat – unbezahlt. Auf den Mindest- seit Sommer 2016. Zwei Arbeitern, die nics, sagt er, sei dreimal erfolgreich geprüft
lohn von 8,84 Euro kam er nie. sich beschwerten, wurde sogar eine Abfin- worden. Beim aktuellen Audit gebe es aller-
Ursula Wentingmann von der IG Metall dung gezahlt, damit sie Ruhe gaben. Der dings »Abweichungen«.
in Leer hat nachgerechnet, dass Pirva von ND-Coatings-Geschäftsführer, sagt der Naidins Neffe Christian kommt gut zu-
Februar 2017 bis Januar 2018 exakt Sprecher, habe »zum Teil« davon gewusst. recht in England. Für ihn ist Deutschland
11 754,56 Euro vorenthalten wurden. Das Und dann? Wurde geschwiegen. erst mal durch. Naidin selbst würde trotz
hieße: Sozialversicherungsbetrug, Verstoß Constantin Naidin ist angekommen. Er allem gern zurück auf die Werft, es müsse
gegen Arbeitszeitgesetze, Verstoß gegen steigt aus dem Bus. In einem Café wartet nur »etwas mehr Ehrlichkeit« geben.
den Mindestlohn und womöglich Sitten- sein Neffe Christian auf ihn. Auch Chris- Nach 33 Stunden Fahrt steht er vor sei-
widrigkeit: Viele Werkvertragsarbeiter wa- tian arbeitete früher auf der Meyer-Werft, nem kleinen Haus. Hinten im Garten, an
ren als Fachkräfte angestellt und müssten auch er für Toader. Inzwischen hat er ei- der verrosteten Hollywoodschaukel, wartet
mindestens zwei Drittel des Tariflohns be- nen Job auf einer Obstfarm in England. seine Frau. Naidin läuft den Weg hoch. Toto,
kommen. »Und der liegt in ganz anderen Ganz abnabeln von Deutschland konnte sein alter Mischlingshund, bellt ihn an wie
Bereichen«, sagt Wentingmann. er sich nicht. »Ich hab ja noch mein Konto einen Fremden. Er hat Naidin nicht erkannt.
da, bei der Deutschen Bank.« Die Karte da- Nils Klawitter
* Name geändert. für musste auch er abgeben. Als Toader mit

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 73


Medien

SPIEGEL: Und das ist?

»Geld hilft« Blumenberg: Vielleicht genau das Kleine,


das Provinzielle. Ich mag es, wenn man
beim Eigenen bleibt. Die Dänen haben es
mit der Politikserie »Borgen« doch vorge-
Unterhaltung Die Produzentin Lisa Blumenberg über ihre macht, wie es geht. Dort ist alles wahnsin-
nig klein – und wahnsinnig spannend. Ich
Erfolgsserie »Bad Banks«, die deutsche Provinz glaube an lokale Marken, die international
und die Frage, ob gutes Fernsehen teuer sein muss funktionieren.
SPIEGEL: »Bad Banks« dreht sich um
Frankfurt, um die Bankerszene, es geht
um eine neue Finanzkrise. Wie kamen Sie
darauf?
Blumenberg: Vor zehn Jahren hat mich
die Finanzkrise nachhaltig beeinflusst. Es
gab diesen Schlüsselmoment, als Merkel
und Steinbrück Seite an Seite vor die Pres-
se gingen und sagten: Macht euch keine
Sorgen. Von da an hat mich das interessiert.
SPIEGEL: Wie haben Sie das Geld zu-
sammenbekommen?
Blumenberg: Als ich meine Idee beim
ZDF das erste Mal vorgestellt habe, wurde
mir gesagt: Das ist toll, aber da musst du
Geld mitbringen. Es war klar, dass wir in
ein Koproduktionsmodell mit dem Sender
gehen würden.
SPIEGEL: Wie viel hat das ZDF beige-
steuert?
Blumenberg: Gemeinsam mit Arte mehr
RICARDO VAZ PALMA / ZDF

als die Hälfte.


SPIEGEL: Es steckt auch eigenes Geld Ihrer
Firma in dem Projekt. Ist das Risiko hoch?
Blumenberg: Man geht weitaus stärker in
Vorleistung. Kreativ und finanziell. Man
braucht ein großes Team, um eine so
Hauptdarstellerin Beer: »Die nehmen uns die besten Köpfe weg« aufwendig zu finanzierende Produktion
auf die Beine zu stellen. Ich mache das ja
nicht allein. Aber die unternehmerische
Blumenberg, 53, ist Produzentin bei Letter- diglich deshalb so schlecht, weil es am und künstlerische Freiheit ist auch un-
box Filmproduktion. Die viel gelobte Dra- ganz großen Geld fehlte? gleich größer als beim klassischen, voll fi-
maserie »Bad Banks« entstand nach ihrer Blumenberg: Geld hilft, wie immer. Und nanzierten Formatfernsehen.
Idee und lief bei Arte und im ZDF. Derzeit es ist wahr: Wenn man heute international SPIEGEL: Werden die Fernsehproduzenten
arbeitet sie an einer Fortsetzung. mithalten will, braucht man größere Bud- mächtiger?
gets als früher. Aber man braucht auch bes- Blumenberg: Es geht nicht um Macht, son-
SPIEGEL: Frau Blumenberg, Sie hatten für sere Ideen. dern um Qualität, die im Team entsteht.
Ihre Serie »Bad Banks« ein Budget von SPIEGEL: Warum? Wir sind aber nicht mehr so abhängig von
rund acht Millionen Euro zur Verfügung. Blumenberg: Weil man diese neuen Se- dem einen Auftraggeber. Wir suchen uns
Ist Erfolg käuflich? rien international vermarkten muss, damit unsere Partner, und da sind die klassischen
Blumenberg: Ich weiß, acht Millionen man sie überhaupt finanzieren kann. Und Fernsehsender nur eine Möglichkeit. Aber
klingen nach viel Geld. So viel ist es dann das geht nur über Themen, die internatio- sie profitieren auch. Sie müssen weniger
aber nicht. nal verstanden werden. Geld in die Hand nehmen und bekom-
SPIEGEL: Ein »Tatort« kostet für 90 Mi- SPIEGEL: Die Briten haben die Queen, die men dafür ein hochpreisiges Qualitätspro-
nuten etwa 1,5 Millionen Euro. Sie haben Amerikaner das Weiße Haus. Das wird auf dukt, das zum Teil doppelt so viel wert ist.
fast so viel für eine einzige Folge mit gut der ganzen Welt verstanden. Was haben SPIEGEL: Streamingdienste wie Netflix und
50 Minuten ausgegeben. die Deutschen? Amazon machen dem klassischen Fernsehen
Blumenberg: Die erste Staffel der Netflix- Blumenberg: Auf dem internationalen mit enorm teuren Produktionen Konkurrenz.
Serie »The Crown« über das englische Fernsehmarkt funktionierten jahrelang Stärkt das Ihre Position als Produzentin?
Königshaus soll über hundert Millionen nur zwei Themen: Nazis und Stasi. Und Blumenberg: Ja, durchaus. Die Streaming-
Euro verschlungen haben, und das waren mit Recht, weil wir eine besondere Ge- dienste, aber auch die Pay-TV-Anbieter,
auch nur zehn Teile. Aber man sieht es schichte haben. Aber wir müssen auch zeit- mischen jetzt im Kampf um die kreativsten
der Produktion auch an. Sie ist groß- genössisch erzählen, wenn wir heute inter- Leute der Fernsehszene mit. Und die Sen-
artig. nationalen Erfolg haben wollen. Es wird der registrieren: Wenn wir nicht aufpassen,
SPIEGEL: Tom Tykwers Serie »Babylon nie ein deutsches »House of Cards« geben. nehmen die uns die besten Köpfe weg.
Berlin» kostete rund 40 Millionen Euro. Na und? Anstatt nach dem zu suchen, was SPIEGEL: Was macht gutes Fernsehen
Die ARD konnte sie allein nicht finanzie- uns fehlt, sollten wir lieber nach dem su- so teuer? Wo sind etwa bei »Bad Banks«
ren. Waren deutsche Serien jahrelang le- chen, was uns ausmacht. die acht Millionen Euro geblieben?

74 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Blumenberg: Man sieht es vor allem in Entwürfen beauftragt. Auch das Leipziger
der Ausstattung. Nehmen wir etwa den Stadtmodell hat ein Stadtplaner eigens für
großen Handelsraum der Bank. Wir haben uns entwickelt. Jede einzelne Formel, die
dieses Motiv komplett ausgestaltet, mit irgendwo vorkommt, ist recherchiert.
150 Arbeitsplätzen mit jeweils fünf Moni- Nichts ist bloß ausgedacht. Alles muss
toren und einem eigenen Netzwerk, damit stimmen und echt sein. Es gibt eine Szene,
die Monitore mit etwas Sinnvollem be- da steigt eine reiche arabische Familie im
spielt werden konnten. Und dann kom- Hintergrund aus dem Flugzeug. Da haben
men noch 120 Komparsen dazu. Das ist wir auch recherchiert, wer ist in der Regel
ein großer Faktor. dabei, in welcher Reihenfolge wird gegan-
SPIEGEL: Braucht man das? gen? Wir haben monatelang mit Bankern
Blumenberg: Das sieht man, und das gesprochen, offiziell und geheim, und das
braucht man auch. Man kann nicht be- ist alles eingeflossen, bis in die Sätze, die
haupten, die Szene spielt in einer großen die Figuren sagen.
deutschen Universalbank, und dann sind SPIEGEL: Ihr liebstes Detail?
da 20 Leute. Für die Komparsen im Han- Blumenberg: Christian Schwochow kam
delsraum beispielsweise haben wir ein Cas- von einer Londoner Recherchereise mit
ting mit 1000 Leuten gemacht, und wir der Geschichte zurück, dass im Handels-
haben uns bemüht, Darsteller mit Bank- raum einer dortigen Bank regelmäßig der
oder Wirtschaftshintergrund zu finden. Kammerjäger kommt und dass sie ein
Wir haben im Vorfeld des Drehs das ganze Mäuseproblem haben. Und dann haben
Motiv in einer Halle aufgebaut und die wir das in Frankfurt gegengecheckt, und,
Komparsen dort unter Anleitung eines ja, da war es auch so. Da wird schließ-
ehemaligen Investmentbankers trainiert. lich den ganzen Tag gearbeitet und am
Und der Zuschauer spürt in einer solchen Arbeitsplatz gegessen, und das ist na-
Szene, dass alles stimmt. Wir haben auch türlich ein Fest für Mäuse. Und das De-
sonst einen ziemlichen Auf- tail haben wir natürlich ein-
wand beim Casting betrieben. gebaut.
SPIEGEL: Inwiefern? SPIEGEL: Ist diese Detailver-
Blumenberg: Wir haben nicht sessenheit ein Grund für den
GERMAN SELECT / GETTY IMAGES

einfach mit unserer Casting- Erfolg von »Bad Banks«?


direktorin zusammengehockt Blumenberg: Die großen Se-
und darüber nachgedacht, wer rien, die wir lieben, die leben
uns zu Rolle A oder Rolle B doch alle davon, dass man als
einfällt. Es war eher ein lang- Zuschauer in andere Welten
sames Vortasten. Regisseur eintaucht und dass sie aus der
Christian Schwochow betreibt Binnenperspektive erzählt wer-
das Casting mit Leidenschaft Blumenberg den. Und da muss eben alles
und Akribie. Erst haben wir stimmen. Es ist doch langweili-
die Hauptrolle besetzt, und als die gefun- ges Fernsehen, sich ein Thema und ein Vor-
den war, die Figuren drum herum und so urteil zu nehmen und das anhand einer Ge-
weiter. Und alle kamen vor die Kamera schichte zu bestätigen. Ob es nun die Ban-
von Christian. Es hat allein Wochen ge- ker in »Bad Banks« sind, das Weiße Haus
dauert, bis wir mit Paula Beer unsere per- in »House of Cards« oder die Antiterror-
fekte Hauptdarstellerin gefunden hatten. abteilung in »24«. Die Menschen, die dort
Das kostet alles Geld und Zeit. leben, sind weit weg von uns, und zugleich
SPIEGEL: Wie lange haben Sie dafür ge- haben sie sehr viel mit uns zu tun.
braucht, den Stoff zu entwickeln? SPIEGEL: Sie arbeiten bereits an der zwei-
Blumenberg: Von der ersten Idee zum ten Staffel?
Drehbeginn vergingen vier Jahre. Es ein Blumenberg: Wir sind in der Entwicklung
rechercheintensives Sujet. Allein ein Jahr der Bücher. Wir sind in der Finanzierung.
habe ich mit Headautor Oliver Kienle, der Der große Erfolg hat dem Ganzen natür-
die Story kreiert hat, mit Unterstützung lich einen enormen Schub gegeben. Es ist
von Experten an der Entwicklung des ers- eine große Chance, eine Marke nachhaltig
ten Buches gearbeitet. Es hat Monate ge- zu etablieren. Auch international.
dauert, aus der Grundidee, dass alles auf SPIEGEL: Ist die zweite Staffel leichter
eine neue Finanzkrise hinauslaufen soll, oder schwerer?
einen sinnvollen Finanzplot zu kreieren, Blumenberg: Schwerer. Die Fallhöhe ist
der wirklich stimmt, den man sich vorstel- eine andere, die Aufmerksamkeit auch.
len kann. Und wir müssen das Setting weiterführen,
SPIEGEL: Sie haben die Skyline von Frank- aber auf andere Weise. Man kann ja nicht
furt digital manipuliert, sie ziemlich auf- jedes Mal eine Finanzkrise erzählen. Im
gemotzt. Winter fangen wir an zu drehen. Und Ende
Blumenberg: Also, wir haben unsere fik- nächsten Jahres soll die zweite Staffel dann
tive Bank in die Skyline montiert. Auch zu sehen sein.
das macht man ja nicht mal so nebenbei Interview: Markus Brauck
am Laptop. Da wurde ein Architekt mit

75 www.dva.de
Ausland
Was passiert, wenn Frauen an der Macht sind ‣ S. 86

THIBAULT CAMUS / AP
Mit einer weißen Rose setzt diese Frau vor der Wohnung der ermordeten Mireille Knoll in Paris ein Zeichen
gegen Antisemitismus. Tausende Franzosen nahmen am Mittwoch an einem stillen Gedenkmarsch für die
85-jährige Jüdin teil, die den Holocaust überlebt hatte und am Freitag vergangener Woche tot in ihrem aus-
gebrannten Appartement gefunden wurde. Ihr Körper wies elf Stichwunden auf. Ein Nachbar und ein zwei-
ter Verdächtiger wurden verhaftet; die Ermittler gehen von einem antisemitischen Motiv für den Mord aus.

Analyse

China hat Zeit


Der Besuch von Kim Jong Un hat die Position Pekings im Koreakonflikt gestärkt.

Chinas Staatschef Xi Jinping saß entspannt zurückgelehnt und Regimes wichtiger als alle Nachteile, die ihm aus dem Bündnis
sprach ohne Manuskript, als er Nordkoreas Diktator Kim Jong erwachsen. China hat Zeit. Korea wird immer sein Nachbar sein.
Un in Peking empfing. Kim saß nach vorn gebeugt und machte Dieses klar definierte Ziel und die strategische Geduld unter-
sich Notizen. Die Bilder, die das chinesische Staatsfernsehen scheiden Pekings Koreapolitik vom hektischen Hin und Her des
nach dem überraschenden Treffen in dieser Woche ausstrahlte, US-Präsidenten Donald Trump. Der droht Kim Jong Un mal mit
zeigen genau, was Chinas Führung demonstrieren will: Wir wis- der Vernichtung, dann wieder geht er auf dessen Angebot zu
sen, was wir tun – und wir haben das Sagen. einem direkten Treffen ein.
Pekings Strategie im Koreakonflikt ist seit Jahren konsequent: Ob dieses Treffen zustande kommt oder nicht – Chinas Führung
China betrachtet Nordkorea als Teil seiner Einflusszone, als jedenfalls hat ihre Position erneut gestärkt. Auch Xi Jinping weiß,
Puffer zwischen sich und der Weltmacht USA, die es aus seiner dass die Teilung der koreanischen Halbinsel nicht das letzte Wort
Nachbarschaft verdrängen will. Auch Peking wäre es lieber, der Geschichte bleiben wird, dass ein Konflikt jederzeit ausbre-
Nordkorea würde sein Kernwaffenprogramm aufgeben. Dafür chen kann. Aber je später das passiert, desto besser für das immer
hat die Führung sogar begrenzten Sanktionen zugestimmt. Nach mächtiger werdende China und desto größer sein Einfluss darauf,
wie vor aber ist China der Fortbestand des nordkoreanischen wie dieser Konflikt am Ende ausgehen wird. Bernhard Zand

76 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Cyberattacken Russland
»Hacking wird Teil der Die Kluft zum Volk
Außenpolitik«  Kaum hat Russlands Präsident Wladi-
mir Putin seine Wiederwahl mit gro-
Der Sicherheitsexperte Adam Segal, 49, ßem Abstand gewonnen, da erschüttert
der das Programm für Cyberspace-Politik ein Großbrand das Vertrauen in seine
des US-Thinktanks Council on Foreign Administration: In der sibirischen
Relations leitet und ein Buch über Cyber- Industriestadt Kemerowo sind mehr als
angriffe veröffentlicht hat (»The Hacked 60 Menschen umgekommen, als im Ein-
World Order«), spricht über die Attacke kaufszentrum »Winterkirsche« ein Feu-

MATT RICHMAN
gegen den Geschäftsmann Elliott Broidy. er ausbrach. Die meisten der Opfer
Dieser hat gegen die Regierung Katars sind Kinder. Nach Katastrophen wie
wegen Cyberspionage in den USA Klage dieser findet eine Gesellschaft meist
eingereicht: Sie soll seine E-Mails gehackt Segal zusammen, in der Trauer um ihre
und US-Medien zugespielt haben. Der Opfer. Nicht so in Russland.
Republikaner Broidy, der für US-Präsi- können, wer den Befehl für den Angriff Die Umstände des Brandes und auch
dent Donald Trump Millionenspenden gegeben hat. Dafür brauchte man der Umgang mit den Trauernden haben
sammelte, ist als Lobbyist für die mit Geheimdienstinformationen, auf die eine viele Russen empört. In Kemerowo
Katar verfeindeten Vereinigten Arabi- Privatperson nicht zugreifen kann. wurden Brandschutzbestimmungen
schen Emirate (VAE) tätig. Zudem nutzen viele Regierungen Hacker, missachtet, eine schnelle Evakuierung
die ihnen nicht direkt unterstellt sind. wurde versäumt, Informationen wur-
SPIEGEL: Was ist das Neuartige am SPIEGEL: Russland, China, die USA, den zurückgehalten. Verzweifelte Ange-
Cyberangriff auf den Lobbyisten Elliott Nordkorea, nun die Golfstaaten – hacken hörige demonstrierten. Doch statt sich
Broidy, und was steckt dahinter? jetzt eigentlich alle?
Segal: Er ist Teil einer Kampagne, mit der Segal: Hacking wird Teil der Außenpoli-
in den USA die öffentliche Meinung zu tik. Es ist günstig, einfach und manchmal
Katar und den VAE beeinflusst werden effektiv. Viele gehen davon aus, dass die
soll. Diejenigen, die hinter diesem Angriff seit vergangenem Juni schwelende Katar-
stehen, wollen Broidy delegitimieren und krise dadurch ausgelöst wurde, dass die
seine Lobbyarbeit gegen Katar und für VAE katarische Websites hackten und
die VAE als wirtschaftlich motiviert dar- gefälschte Zitate des Emirs von Katar ver-
stellen. Es ist außergewöhnlich, dass eine breiteten, die den Anschein erweckten,
Privatperson eine ausländische Regierung er unterstütze Iran und Israel. Wir wer-
wegen einer Cyberattacke verklagt. den künftig in jedem Konflikt Cyber-

AFP
SPIEGEL: Lässt sich nachweisen, dass die angriffe sehen – entweder zum Ausspio-
Regierung Katars beteiligt war? nieren oder zum Beeinflussen. Es ist Großbrand in Kemerowo
Segal: Das wird sehr schwierig vor schwierig, sich davor zu schützen. Re-
Gericht. Es reicht nicht aus, dass die gierungen versuchen es. Aber wenn die Vorwürfe und Fragen der Bürger
Hacker möglicherweise katarische IP- eine Privatperson ins Visier eines Staates anzuhören, machten die Beamten
Adressen hatten. Man müsste beweisen gerät, hat sie keine Chance. RAS ihnen umgekehrt Vorwürfe. In der
Menge der Trauernden sahen sie bloß
einen Haufen Umstürzler.
So wirft das Feuer von Kemerowo
Chappatte ein Licht auf die Kluft, die Volk und
Staat in Russland trennt. Russische
Beamte fürchten ihren Präsidenten
mehr als ihre Bürger. Statt das
Gespräch mit den Menschen zu suchen,
entschuldigte sich Gouverneur Aman
Tulejew bei Präsident Putin »für das,
was auf unserem Territorium passiert
ist«. Die Parlamentarierin Jelena Misu-
lina sprach, als wäre Putin das Opfer:
Sie drückte ihm ihr Mitgefühl aus für
diesen »Stoß in seinen Rücken«.
Es ist ein altes Muster in Russland:
Brandschutzbestimmungen werden
missachtet, weil die Aufsicht korrupt
ist; aber statt den Ursachen abzuhelfen,
sucht und bestraft man lieber einen
konkreten Schuldigen. Seit dem Groß-
brand in einer Permer Diskothek 2009
scheint sich nichts geändert zu haben.
Der Zorn der Bürger trifft jedoch auch
CHAPPATTE

diesmal nicht Putin, sondern die loka-


len Beamten. ESC

77
Ausland

Der Aufstand von oben


Saudi-Arabien Kronprinz Mohammed bin Salman ist entschlossen, sein Land
in die Moderne zu führen, dafür fordert er absolute Gefolgschaft und Gehorsam. Zurzeit
tourt der Thronfolger durch die USA, wo er um neue Investoren wirbt.

S
audi-Arabien ist ein Land der fes- ihn auf seine Ranch eingeladen haben. Es hilft, die Lage in Riad mit etwas Ab-
ten Regeln. Die Alten zeigen den Außerdem stehen angeblich Termine mit stand zu betrachten, zum Beispiel von der
Jungen die Richtung, erst freund- Bill Gates, Apple-Chef Tim Cook und Spitze des Kingdom Centre aus. Der Wol-
lich, dann, wenn einer sich nicht Wirtschaftsbossen von Microsoft, Amazon kenkratzer gilt als Wahrzeichen der Stadt.
beugen mag, auch mit Zwang. Die Jungen und Walt Disney an. Bei allen will der Ein Symbol des scheinbar unaufhaltsamen,
wiederum widersprechen nicht, sie folgen Prinz für sein Reformpaket »Vision 2030« schwindelerregenden Fortschritts. Gebaut
den Alten, sie ertragen Demütigungen, bis werben. wurde das Kingdom Centre von Prinz Al-
sie selbst diejenigen sind, die Befehle er- In diesen Tagen wird in den USA außer- waleed Bin Talal, einem Enkel des Staats-
teilen. So entsteht, was die Beduinen »Bu- dem verhandelt, was das Königreich gründers Ibn Saud. Prinz Alwaleed gehört
schra Chair« nennen, das bessere Morgen. außenpolitisch bewegt: die harte Linie ge- zu jenen Verhafteten, denen im Ritz ein
Die beiden Worte erhalten gerade eine gen Iran, die Trumps neuer Sicherheitsbe- Großteil ihres Reichtums abgezwungen
neue Bedeutung, seit in Riad mit Kron- rater John Bolton unterstützt. Und natür- wurde. Noch ist unklar, welche Anteile
prinz Mohammed bin Salman ein Mann lich der Krieg im Jemen. von diesem Glitzerturm ihm überhaupt
den Ton angibt, der mit allen Regeln der Der etwa zweiwöchige Trip erinnert vie- noch gehören.
Vergangenheit brechen will. le an eine ähnliche Reise des damaligen Ganz oben, in 302 Meter Höhe, erlaubt
Riad ist in diesen Tagen eine Stadt in Königssohns und späteren Regenten Faisal ein langer Steg, die sogenannte Sky Bridge,
Aufruhr. Genau genommen ist kaum noch Bin Abdulasis vor 75 Jahren. Damals be- einen 360-Grad-Rundblick über das Wüs-
etwas übrig von der alten Ordnung, die gann die besondere Beziehung zwischen tenplateau, das heutige Riad. 1950 lebten
hier bis vor wenigen Monaten herrschte. den USA und dem erst 1932 gegründeten hier nur etwa 80 000 Menschen.
Für alle sichtbar wurde das spätestens im Wüstenstaat. Unten, am Boden, weisen breite Tras-
November, als die Regierung Hunderte Mit- Wie König Faisal besitzt Mohammed bin sen in alle Himmelsrichtungen. Die Kö-
glieder der Königsfamilie, Geschäftsleute Salman einen absoluten Willen zur Macht. nig-Fahad-Straße führt in ihrer Verlänge-
und andere einflussreiche Saudi-Araber im Aber er hat wenig Regierungserfahrung, rung in die Provinz Kassim, in die Stadt
Luxushotel Ritz-Carlton einsperren ließ, Buraida, eine Hochburg der Konservati-
um ihnen ihre angeblich durch Korruption ven, mit denen sich das Königshaus die
erschlichenen Reichtümer abzunehmen. »Was der König und der Macht teilte. Die König-Chalid-Straße
Es gab zwar schon immer Konkurrenz Prinz für dieses weist zu den beiden wichtigsten heiligen
innerhalb der Königsfamilie und auch Kri- Stätten des Islam, nach Mekka und Medi-
tik von außen an ihrem Gebaren. Dennoch Land getan haben, ist na, und die König-Abdullah-Straße nach
galten die rund 15 000 Prinzen und Prin- unbezahlbar.« Nordosten, nach Dammam. Dort liegt das
zessinnen und ihre Günstlinge als weithin Öl. Die Hauptstraßen sind nach den Kö-
unantastbar. Das ist vorbei. Das vielleicht nigen benannt, die diese Wüste mit Mil-
Ungewöhnlichste an diesem Aufstand ge- manche halten das für eine gefährliche liarden von Petrodollars, Stahl und Beton
gen die Reichen und Mächtigen ist, dass Kombination. Seit der Razzia gegen Hun- zu einem Moloch der Moderne machten,
er von oben kommt, von einem 32-Jähri- derte einflussreiche Unternehmer und ge- mit heute über sechs Millionen Einwoh-
gen, der gegen die eigene Klasse aufbe- gen das alte politische Führungspersonal ist nern allein in Riad.
gehrt, um am Ende der einzig Mächtige in jedem Gespräch die Angst spürbar, wo- Vor seiner Verhaftung am 4. November
zu bleiben. möglich der Nächste zu sein, der verhört wies die Forbes-Liste Prinz Alwaleed mit
Prinz Mohammed bin Salman ist der oder verhaftet, vielleicht sogar gefoltert 18,7 Milliarden Dollar auf Platz 45 der
Lieblingssohn des aktuellen Herrschers, wird. Berichte von Inhaftierten und über wohlhabendsten Menschen aus. Der 62-
König Salman. Der hat den Kronprinzen einen Toten im Ritz legen auch das nahe. Jährige ist unter anderem beteiligt an
zum Erneuerer des Wüstenreichs be- Saudi-Arabien erfindet sich gerade neu, Twitter und der Hotelkette Four Seasons,
stimmt und ihn schon jetzt mit der Macht- und niemand weiß, ob diese dramatische er war der reichste Privatunternehmer
fülle eines Regenten ausgestattet. Zurzeit Transformation gelingen wird. Wird das der arabischen Welt. Ein Ruf des Königs
reist MBS, wie er in seiner Heimat genannt Land in der Lage sein, die Wirtschaft wie- hatte ihn in dieser Nacht in einem Wüs-
wird, durch die USA. Präsident Donald der anzukurbeln, mit mittelständischen Be- tencamp ereilt, ahnungslos machte er sich
Trump hat ihn mit allen Ehren in Washing- trieben und einer eigenen Dienstleistungs- auf ins Ritz.
ton empfangen und lobte Saudi-Arabien gesellschaft? Kann es die Fesseln der reli- Als er nach fast drei Monaten aus der
als guten Freund. giösen Fundamentalisten wirklich ablegen? Haft zurückkehrte, war der Milliardär ab-
Danach wollte MBS weiter nach Wes- Es ist eine Zeitenwende, über 86 Jahre gemagert, hatte fünf Kilo verloren, seine
ten, dort soll seine königliche Hoheit den nachdem hier erstmals Öl gefunden wurde, Haare wirkten grauer. Was wirklich ge-
Talkshow-Star Oprah Winfrey treffen, Ge- wenige Jahre nach Gründung dieser Na- schehen ist in diesem Fünfsternehotel,
neral a. D. David Petraeus und die ehema- tion durch Ibn Saud. Seither glaubte sich weiß man bis heute nicht. In einem Inter-
lige Außenministerin Condoleezza Rice. die Herrscherfamilie sicher. Bis Prinz Mo- view dementierte der Prinz Gerüchte über
Der frühere Präsident George W. Bush soll hammed bin Salman kam. Folter, Zwang und Misshandlungen: »Ich

78 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


MOHAMMED ELSHAMY / ANADOLU AGENCY / DDP
Kronprinz Mohammed bin Salman bei der Uno in New York: In den USA mit allen Ehren empfangen

TASNEEM ALSULTAN / THE NEW YORK TIMES / LAIF

Straßenfest für Männer und Frauen in der Küstenstadt Chubar: Bis vor Kurzem undenkbar in Saudi-Arabien

79
»äußerst besorgt«, so der Mann, der regel-
mäßig Umgang mit dem Prinzen hat.
Sicher ist, es musste etwas geschehen.
Seit über drei Jahren ist der Ölpreis nie-
drig, er schwankt zudem gefährlich zwi-
schen 35 und 70 Euro, seit die USA dank
Fracking energiewirtschaftlich zunehmend
unabhängiger werden vom Nahen Osten.
Die Milliarden-Auslandsreserven des Kö-
nigreichs schmelzen dahin – von ehemals
über 700 Milliarden sind nicht einmal 500
Milliarden Dollar übrig. Das Haushaltsde-
fizit dürfte sich dieses Jahr auf mindestens
50 Milliarden Dollar belaufen.
Saudi-Arabien muss also weg vom Öl,
hin zu einer Gesellschaft, die selbst pro-
duziert. Das Land braucht dringend Ar-
beitsplätze, rund 19 Prozent der Saudi-
Araber sind zwischen 15 und 24 Jahre alt,
und das heißt, dass über fünf Millionen
Menschen bald Schulen und Universitäten
verlassen, Jobs brauchen und Wohnungen.
Darauf aber ist diese auf Subventionen ge-
bettete Wirtschaft nicht vorbereitet. 70
Prozent der Arbeitnehmer sind Staatsbe-
dienstete. Sie kosten viel und arbeiten we-
nig. Der Straßen- und Häuserbau, das
Gärtnern und Putzen werden von Philip-
pinern, Pakistanern oder Indern erledigt.
Über zwölf Millionen Ausländer arbeiten
hier für wenige Hundert Dollar im Monat.
Nun sollen die Gastarbeiter gehen. Ein
neues Besteuerungssystem macht ihre Be-
schäftigung zunehmend unattraktiv. Man-
che Ausländer verlassen bereits das Land.
Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, kleine
Baufirmen schließen. Aber werden die
Saudi-Araber ihr Auto künftig wirklich
selbst waschen und den Rasen selbst mä-
hen? Werden sie Gas- und Wasser-Instal-
lationsfirmen gründen und auf dem Bau
arbeiten?
ARNOLD PAIRA / LAIF

Fahad Al-Deghaither sitzt in seinem ge-


schmackvoll eingerichteten Gartenhaus in
Riad, der Blick geht durch die Fensterfront
auf ein gepflegtes Anwesen. Neben diesem
Skyline in Riad mit Kingdom Centre: Symbol des scheinbar unaufhaltsamen Fortschritts Haus besitzt der 60-Jährige, groß, schlank,
graues Haar, noch ein zweites in Los An-
geles. Der Manager befürwortet die neue
hatte alles, es war fast wie zu Hause.« Ein Neom soll auf dem Gebiet gleich dreier Strategie des Kronprinzen. »Was der Kö-
Vertrauter des Unternehmers sagte dage- Staaten, Saudi-Arabien, Ägypten und Jor- nig und der Prinz für dieses Land getan
gen zum SPIEGEL, der Prinz habe die danien, entstehen, ein Ort wie ein Labor, haben, ist unbezahlbar«, sagt er, »sie ha-
Herrschaft über weite Teile seines Besitzes das zeigt, wie Menschen künftig leben wol- ben Saudi-Arabien vom Bankrott zurück
verloren, darunter auch den Medienkon- len. Geplant wird das 500-Milliarden-Dol- ins Leben befördert.«
zern Rotana Group. lar-Projekt vom ehemaligen Siemens-Chef Vor 40 Jahren schrubbte Deghaither in
Das ehrgeizigste Projekt von Prinz Al- Klaus Kleinfeld. Riad den Fußboden des Lebensmittel-
waleed steht als Miniatur im Eingangsbe- »Es ist eine Zeit großer Unsicherheit und marktes, in dem er damals angefangen hat-
reich seines Büros – eine silberne Hoch- Unwägbarkeiten«, sagt ein Geschäftsfreund te. Am Ende managte er eine der größten
haus-Pyramide. Es sollte das höchste von Prinz Alwaleed. Durch die erzwunge- Supermarktketten des Landes. Auch des-
Gebäude der Welt werden, geplante Bau- nen Besitzabtretungen seien wichtige Ver- halb predigt der Unternehmer jetzt die Be-
kosten: 1,2 Milliarden Dollar. Nun darf es mögenswerte von Privatfirmen unter scheidenheit der Anfänge und unterneh-
nicht fertiggestellt werden, heißt es. Prinz Staatskontrolle. Wie künftig das Manage- merischen Pragmatismus. Bei der Arbeit,
Alwaleeds Kingdom Holding soll stattdes- ment aussehen solle von der Kingdom Hol- so sagt er, müsse man sich eben manchmal
sen in die Zukunftsstadt Neom investieren, ding und anderer, weltweit operierender die Hände schmutzig machen.
ein Lieblingsprojekt von MBS. Auch die- Konzerne, welche Rechte und Funktionen Viele der jungen Saudi-Araber mögen
sen Gerüchten widerspricht der Prinz öf- frühere Eigentümer noch ausübten, wisse Mohammed bin Salman. Er ist jung. Er
fentlich. niemand. Ausländische Investoren seien stoppte die unerträgliche Langeweile in

80 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Ausland

diesem Land, in dem nichts erlaubt war, sich gerade neu definiert? Und wie sicher eine Geldzahlung – über eine Milliarde
was Spaß macht – ins Kino gehen, sich im ist hier das Geld von Investoren, die Riad Dollar, heißt es. Als Sohn des vor über drei
Café mit einem Mädchen treffen, Musik doch händeringend sucht für seine Groß- Jahren verstorbenen Königs gehört Prinz
hören, Partys feiern. Nun ist die Religions- vorhaben? Mutaib zu einem der mit König Salmans
polizei entmachtet, und Frauen werden er- Die meisten Saudi-Araber sind nicht Söhnen konkurrierenden Teil der Saud-
mutigt, ihr eigenes Geld zu verdienen, reich, sie haben keine goldenen Wasser- Familie.
rauszugehen, ein Leben zu haben. Es ist hähne in ihrer Wohnung. Familienväter Es gibt jetzt Analysten in Riad, die nicht
eine Revolution von oben, wenn auch eine arbeiten in zwei Jobs, um die Kinder zu mehr wagen, aufzuschreiben, wie sie die
mit autoritären Zügen. ernähren. Es gibt viele arme Frauen, al- Entwicklung wirklich einschätzen im Kö-
35 Jahre lang waren Kinos verboten. leinerziehende Mütter und junge Saudi- nigreich. Sie fürchten, dass sie dann selbst
Nun sollen 300 davon gebaut werden. Araber, die keine Anstellung finden. Ihre in Ungnade fallen könnten. Denn sie wür-
Internationale Stars kommen auf einmal größte Hoffnung heißt MBS. Gleichzeitig den wohl fragen, was die Saudi-Araber im
nach Riad, der US-Rapper Nelly und der ist er auch ihre einzige. Denn ein Staats- Gegenzug bekommen für die bis zu 400
Schauspieler John Travolta waren schon system, das Meinungsfreiheit gewährt, Milliarden Dollar schweren Deals, die
da. Frauen singen und tanzen auf der Büh- Volksvertreter ins Parlament wählt und MBS mit den Amerikanern voriges Jahr
ne, in engen Kostümen, undenkbar war Menschenrechte respektiert, ist vom Kron- ausgehandelt hat. Schutz vor den Feinden,
all das bisher. Auch die großen Stars des prinzen nicht vorgesehen. Das Modell der den Iranern zum Beispiel? Und, ob der
Nahen Ostens treten immer häufiger auf. »konstitutionellen Monarchie« ist durch- Krieg im Jemen, der schon drei Jahre dau-
Die Karten für das Konzert des ägypti- aus als rote Linie zu verstehen. Aktivisten ert, dem Land wirklich nutzt oder doch
schen Sängers Tamer Hosny am 30. März überschreiten diese nicht, wenn sie ihr Le- mehr schadet, weil er teuer ist und Riads
waren binnen zwei Stunden ausverkauft. ben in Freiheit genießen wollen. Image ruiniert?
Auf dem Ticket steht eine kleine Ein-
schränkung: »Tanzen verboten«.
Und ab Juni dürfen Frauen hinterm
Steuer sitzen. Binnen drei Tagen gingen
bei einer Fahrschule für Frauen 165 000
Anmeldungen ein.
Man fragt sich, warum geht das alles
plötzlich? Und wieso stehen die ultra-
konservativen Kräfte nicht auf gegen die
Verlotterung der Sitten, wie es so oft
vorhergesagt wurde? Die Wahrheit ist,
dass die meisten religiösen Führer auf
der Gehaltsliste des Königshauses stehen.
Die Regierung kann die lauten Töne ex-

TASNEEM ALSULTAN / THE NEW YORK TIMES / LAIF


tremer Kleriker jederzeit an- und wieder
abschalten.
Jene Religionsführer, die sich nicht kau-
fen lassen, befinden sich dagegen im Ge-
fängnis, darunter der prominente Prediger
Salman Alodah. Er hat über 14 Millionen
Follower auf Twitter. Aber seit September
2017 twittert Alodah nicht mehr.
Viele der Reformen, die MBS anstößt,
sind überfällig. Und er setzt sie in atembe-
raubendem Tempo durch, er kennt keiner-
lei Skrupel. Auch gegen Korruption, oft Kulturfestival bei Riad: Eine Revolution mit autoritären Zügen
bisher beste Einnahmequelle vieler im Kö-
nigreich, geht er vor, allerdings willkürlich.
Jahrzehntelang war es normal, sich an Auf- Seit den Ereignissen im Ritz-Carlton Sie würden sicher auch wissen wollen,
trägen persönlich zu bereichern. Der Gou- besitzt Mohammed bin Salman Kontrolle ob der Börsengang des staatlichen Ölun-
verneur nahm Prozente, der Direktor des über vier Schlüsselbereiche, die seine ternehmens Saudi Aramco deshalb ver-
städtischen Krankenhauses, der neue Bet- Macht im Königreich für die nächsten schoben wurde, weil man den Investoren
ten bestellte. Zehn Prozent der Staatsaus- Jahrzehnte absichern dürften: die Sicher- die Bücher zu den saudi-arabischen Kron-
gaben seien so jährlich verloren gegangen, heitskräfte, die privaten Wirtschaftskon- juwelen nicht öffnen wollte. Und natürlich
sagt der Thronfolger. zerne, die Medien und das religiöse Es- fragen sie sich, ob die vielen Opfer auf dem
Der Zorn der Untertanen auf die herr- tablishment. Weg dieser dramatischen Reformen – die
schende Klasse ist groß. Deshalb kam die Doch schon lange vor der Razzia, die de facto ein Umsturz der alten Verhältnisse
»Antikorruptionsrazzia« im Ritz-Carlton im Ritz endete, nahm sich der Kronprinz sind – sich irgendwann rächen werden.
bei den meisten Saudi-Arabern auch gut die Befehlsgewalt über Polizei und Ge- Bei den Beduinen heißt es, dass die Zeit
an. Dass es dabei bis heute an Transparenz heimdienste, als er seinen mächtigsten alle Wunden heilt und jeder zurückkehrt,
fehlt, an schriftlichen Anklagen und Bele- Konkurrenten kaltstellte, den früheren wenn er seine Verletzung überwunden hat.
gen gegen die Festgesetzten und womög- Innenminister Prinz Mohammad bin Naif. Sie sagen aber auch, dass die Dinge dann
lich schwere Menschenrechtsverletzungen Der soll seither unter Hausarrest stehen. zwar vergeben sind, aber nie vergessen.
geschahen, stört die wenigsten hier. Im November wurde zudem Prinz Mutaib Susanne Koelbl
Aber was bedeutet so ein Umgang für verhaftet, bis dahin Chef der Nationalgar- Mail: susanne.koelbl@spiegel.de
die Rechtsstaatlichkeit dieses Landes, das de. Er ist inzwischen wieder frei gegen

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CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES
Wahlkämpferin Akşener: »Ich weiß, dass Erdoğan bereit ist, alles zu tun, um an der Macht zu bleiben«

viele hier ist Akşener die letzte Hoffnung

Die Rache der Wölfin auf einen demokratischen Wandel.


Bislang traten bei Wahlen fast aus-
schließlich säkulare, linke Politiker gegen
Türkei Eine rechte Hardlinerin fordert Präsident Erdoğan an. Mit Akşener erwächst dem
Präsidenten nun Konkurrenz aus dem
Erdoğan bei den nächsten Präsidentschaftswahlen heraus. rechten Lager. Die 61-Jährige war in den
Wer ist Meral Akşener? Und hat sie eine Chance? Neunzigerjahren Innenministerin einer
Mitte-rechts-Regierung. Sie saß für die
rechtsextreme Partei der Nationalistischen

W
er sich mit dem türkischen Kopftuch, Geschäftsmänner im Anzug. Sie Bewegung (MHP) im Parlament, verließ
Präsidenten Recep Tayyip halten türkische Flaggen in den Händen diese jedoch 2016 im Streit.
Erdoğan anlegt, braucht Mut und Plakate mit der Aufschrift: »Präsiden- Nach mehr als 15 Jahren AKP-Herr-
und Selbstbewusstsein. Op- tin Meral!« schaft ist das Land in zwei Lager gespalten:
positionspolitikerin Meral Akşener hat Akşener steht auf der Bühne und ruft: Das eine verehrt Erdoğan wie einen Heils-
beides im Übermaß. »Fürchtet euch nicht! Wir werden Erdoğan bringer; das andere verabscheut ihn als
An einem Winternachmittag spricht besiegen!« Despoten. Beobachter trauen Akşener zu,
Akşener in Giresun, einer Stadt am Schwar- »Meral! Meral!« und »Türkiye! Tür- Wähler aus beiden Lagern für sich zu ge-
zen Meer, zu ihren Anhängern. Die kiye!«, skandieren die Zuschauer. winnen. Umfragen sehen die Iyi-Partei bei
Schwarzmeerküste ist seit je fest in der Hand Es steht nicht gut um die türkische Op- rund zwölf Prozent. Bei einer möglichen
der Regierungspartei AKP – die Familie von position. Kemal Kılıcdaroğlu, Chef der So- Stichwahl gegen Erdoğan will sogar die so-
Präsident Erdoğan stammt aus der Region. zialdemokraten, hatte im vergangenen zialdemokratische CHP, die größte türki-
Nun aber sind die Straßen mit dem Banner Sommer einen Gerechtigkeitsmarsch ge- sche Oppositionspartei, Akşener unter-
der Iyi Parti geschmückt, jener Partei, die gen Erdoğan mit Zehntausenden Men- stützen.
Akşener im vergangenen Herbst gegründet schen organisiert, doch seitdem ist es still Die Zentrale der Iyi-Partei liegt in An-
hat, um Erdoğan spätestens bei den Präsi- um ihn geworden. Selahattin Demirtaş, kara nicht weit vom Präsidentenpalast ent-
dentschaftswahlen 2019 herauszufordern. der ehemalige Co-Vorsitzende der prokur- fernt, sie sieht aus wie der Sitz eines Inter-
Auf dem Rathausplatz haben sich Tau- dischen Partei HDP, sitzt seit beinahe an- netkonzerns: Junge Frauen und Männer
sende Menschen eingefunden, Frauen mit derthalb Jahren in Untersuchungshaft. Für sitzen in lichtdurchfluteten Räumen vor

82 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Ausland

Flachbildschirmen. Akşener hat ein schlag- nen abzuschotten und Jobs in die Türkei daher nicht, wie er mit ihr umgehen, sie
kräftiges Team um sich versammelt: Ihr zurückzuholen. Ihre Parolen erinnern an angreifen solle, ohne Wählerinnen zu ver-
Sprecher war Redakteur bei einem regie- den Wirtschaftsnationalismus von Donald prellen.
rungsnahen Fernsehsender, ihr außenpoli- Trump. Bei den Menschen in Anatolien Um Präsidentin zu werden, muss Akşe-
tischer Berater hat zuvor für einen inter- kommen sie an. ner zweierlei gelingen: Sie muss frustrier-
nationalen Thinktank gearbeitet. Die Präsidentschaftswahlen sind für No- te AKP- und MHP-Wähler auf ihre Seite
Meral Akşener empfängt in ihrem Büro vember 2019 geplant. Akşener glaubt aber ziehen – und Kurden. Auch deshalb reist
im ersten Stock, kurze Haare, Perlenohr- wie viele, dass Erdoğan die Abstimmung sie an einem frühen Wintermorgen in die
ringe, ein cremefarbenes Jackett. Hinter vorziehen wird auf den 15. Juli 2018, den kurdischen Gebiete im Südosten der
ihr liegen anstrengende Wochen: Sie ist zweiten Jahrestag des Putschversuchs. Türkei. Anhänger entrollen am Flughafen
viel gereist, hat Regionalbüros eröffnet, Ihr fehlt das Charisma des ehemaligen von Diyabakır ein Plakat auf Türkisch
Reden gehalten. Doch auch jetzt spricht HDP-Chefs Selahattin Demirtaş, der Er- und Kurdisch: »Willkommen, Schwester
sie mit der gleichen festen Stimme wie auf doğan bei der Parlamentswahl im Juni Meral«.
der Bühne in Giresun. »Ich trete an, um 2015 an den Rand einer Niederlage brach- Sie schüttelt Hände, lächelt, gibt sich jo-
die Türkei mit sich selbst zu versöhnen«, te. Aber sie hat die Härte und die Erfah- vial. Als Innenministerin hatte sie in den
sagt sie. rung, die es braucht, um es mit Erdoğan Neunzigerjahren Repressionen gegen Kur-
Als Innenministerin war Akşener eine aufzunehmen. Während der Kampagne den zu verantworten. Von dieser Politik
nationalistische Hardlinerin, weniger gegen das Präsidialsystem wurde sie vom hat sie sich inzwischen distanziert. Sie
fromm als Erdoğan, aber genauso kompro- Fernsehen totgeschwiegen, bei ihren Auf- weiß, dass sie die Wahl ohne die Stimmen
misslos gegenüber Minderheiten. Medien der Kurden nicht gewinnen kann. Sie hat
bezeichneten sie als die »türkische Marine eine Zweitwohnung in Bitlis angemietet,
Le Pen«. Inzwischen gibt sie sich als Poli- Akşener ist aufrichtig einer mehrheitlich kurdischen Stadt. Doch
tikerin der Mitte, betet fünfmal am Tag, besorgt über den viele Kurden begegnen ihr nach wie vor
trägt jedoch kein Kopftuch. Ihr Büro ist mit Skepsis. Anders als Erdoğan, der den
sparsam eingerichtet: ein Tisch, ein paar wachsenden Despotis- Kurden zunächst mehr Freiheit in Aussicht
Stühle, ein Porträt von Staatsgründer Ata- mus in der Türkei. gestellt hatte, erkennt Akşener die Kurden
türk an der Wand. Bewusst grenzt sie sich nicht als Minderheit mit eigener Kultur
vom Präsidenten mit seinem 1000-Zim- und eigener Geschichte an.
mer-Palast ab. tritten stellten die Behörden den Strom ab Vom Flughafen in Diyabakır fährt Akşe-
Die Türkei jedoch, die Akşener vor- oder errichteten Straßensperren. Regie- ner weiter in den Osten, vorbei an unbe-
schwebt, unterscheidet sich nicht grund- rungsnahe Medien verbreiteten das Ge- stellten Feldern, durch verlassene Dörfer,
sätzlich von Erdoğans Vorstellungen: Wie rücht, sie habe ihren Mann betrogen. Sie bis in die Stadt Cizre nahe der Grenze
der Präsident setzt sie auf einen starken machte trotzdem weiter. »Ich weiß, dass zum Irak. Das türkische Militär und Re-
Staat, auf Werte wie Nation und Familie. Erdoğan bereit ist, alles zu tun, um an der bellen der verbotenen kurdischen Arbei-
Erdoğans Autoritarismus aber ist nicht ihre Macht zu bleiben«, sagt sie. terpartei PKK hatten sich hier im Winter
Sache. Im vergangenen Frühjahr führte sie Wie Erdoğan hat Akşener als Außen- 2016 einen Häuserkampf geliefert, bei
die Kampagne gegen die Einführung des seiterin in der Politik Karriere gemacht. dem Dutzende Menschen starben. Heute
Präsidialsystems mit an, das noch mehr Sie wurde 1956 in Westanatolien geboren. gleicht der Ort einer Geisterstadt: Häuser
Macht bei Erdoğan konzentriert. Am Ende Ihre Eltern waren Muslime, 1923 wurden liegen in Trümmern, in den Wänden Ein-
gewann Erdoğan das Referendum, aber sie aus Griechenland in die Türkei um- schusslöcher, in den Straßen Krater, die
nur knapp. Das Ergebnis hat Akşener gesiedelt. Akşener studierte Geschichte von Granaten gerissen wurden.
trotzdem Hoffnung gemacht. Sollte sie in Istanbul, promovierte, arbeitete als Am Marktplatz steigt Akşener aus
Präsidentin werden, will sie zum parla- Dozentin, getrieben von dem Wunsch auf- dem Wagen. Soldaten mit Maschinen-
mentarischen Regierungssystem zurück- zusteigen. 1995 zog sie für die Partei gewehr eskortieren sie. Sofort sammeln
kehren, Journalisten aus den Gefängnissen des Rechten Weges ins Parlament ein, ein sich Menschen um sie, Kinder fragen nach
freilassen und den Geheimdienst refor- Jahr später wurde sie Innenministerin – einem Autogramm, Frauen winken von
mieren. als erste und bislang einzige Frau in der Balkonen. Akşener läuft von Geschäft
Damit findet sie selbst unter einigen Türkei. zu Geschäft, spricht mit dem Bäcker,
AKP-Anhängern Zustimmung. Laut ei- 1997 drängte das Militär den islamis- dem Metzger. Ein Juwelier erzählt ihr,
nem Bericht des Center for American Pro- tischen Premier Necmettin Erbakan aus sein Handel habe sich bis heute nicht
gress in Washington lehnt mittlerweile dem Amt. Akşener aber weigerte sich, von den Kriegsfolgen erholt. Sie nickt
mehr als jeder zehnte AKP-Wähler die geräuschlos abzutreten. Ein General droh- freundlich und kündigt Investitionen für
Säuberungsaktion der Regierung nach te, sie auf einem »öligen Pflock« zu pfäh- den Osten der Türkei an. Die Menschen
dem Putschversuch im Juli 2016 ab. Fast len. Seither hat sie den Ruf, furchtlos zu applaudieren.
ein Fünftel ist besorgt über die Richtung, sein. Ihre Anhänger nennen sie »Asena«, Akşener bleibt nicht länger als eine
die das Land unter Erdoğan eingeschla- nach einer Wölfin aus der türkischen Stunde in Cizre. Doch ihr Besuch zeigt
gen hat. Sagenwelt. Wirkung. Es kommt nicht oft vor, dass sich
Zugute kommt Akşener auch die fragile Akşener ist aufrichtig besorgt über den Politiker aus dem Westen des Landes in
Wirtschaftslage. Zwar meldete das türki- wachsenden Despotismus in der Türkei. den Kurdengebieten sehen lassen. Und so
sche Statistikamt vor Kurzem ein Wirt- Und sie hat noch eine Rechnung offen: Sie mögen sie die Hardlinerin aus Ankara hier.
schaftswachstum von elf Prozent für das will nicht als die Frau, die nach nicht ein- »Ich werde für Akşener stimmen«, sagt
dritte Quartal im Vergleich zum Vorjahr. mal einem Jahr aus dem Amt gejagt wurde, eine Händlerin aus Cizre. »Sie ist eine
Die Inflation jedoch ist stark gestiegen, die in Erinnerung bleiben. Im Wahlkampf Frau. Sie ist nicht Erdoğan. Und das ist
türkische Lira war Ende 2017 im Vergleich setzt sie auf die Unterstützung von Frauen. gut.«
zum Dollar so schwach wie seit 1981 nicht Sie bezeichnet sich als Frauenrechtlerin, Maximilian Popp
mehr. Akşener verspricht, den türkischen in ihrer Partei hat sie eine Frauenquote Twitter: @Maximilian_Popp
Markt gegenüber ausländischen Konzer- durchgesetzt. Erdoğan, so glaubt sie, wisse

83
Ausland

Kommentar

Putin ist zu weit gegangen


Der Westen musste auf den Giftanschlag in Salisbury reagieren. Mit der Ausweisung russischer
Diplomaten zeigt er Geschlossenheit – wirkungsvoller wäre ein anderes Mittel.

Experten der Organisation für das Verbot von


Chemiewaffen (OPCW) vor Ort ermitteln und hof-
fentlich bald ihre Resultate präsentieren.
Wer aber so tut, als könne im Grunde jeder hin-
ter diesem Angriff stecken, der handelt unlauter.
Das in Salisbury verwendete Nowitschok-Gift wur-
de in der Sowjetunion unter höchster Geheimhal-
tung entwickelt. Mittlerweile haben drei daran be-
teiligte Forscher im Detail Auskunft gegeben. Die
Herstellung ist äußerst komplex, und nach allem,
was man weiß, wurde Nowitschok nur in einem
Labor im russischen Schichany produziert (und
ANTON VAGANOV / REUTERS

nicht etwa in Usbekistan, obwohl dies auch in


Deutschland einige Russlandfreunde behaupten).
Wenn ein solches Gift in die Welt gelangt, das
aus Russland stammt, müsste man aus Moskau
Bestürzung und ernst gemeinte Aufklärungsange-
bote erwarten. Wollte Wladimir Putin guten
Putin-Wahlplakat in Sankt Petersburg Willen zeigen, müsste er gegenüber der OPCW
das Nowitschok-Programm offenlegen, dessen

E
Existenz die Regierung trotz allem nach wie vor
in wenig führen die Begriffe in die Irre, die nun die bestreitet. Stattdessen kamen aus Russland von Anfang an
ganze Zeit zu lesen sind im Zusammenhang mit der nur: Hohn, Spott und Verschwörungstheorien.
jüngsten diplomatischen Krise zwischen Russland All das erinnert an den Abschuss von Flug MH17 über der
und dem Westen. Zwar begann sie tatsächlich mit ei- Ukraine im Jahr 2014. Auch damals gab es zunächst keine
nem »Ex-Spion« oder gar »Doppelagenten«. Doch das klingt Beweise für die Schuld der prorussischen Separatisten; die
nach vergnüglicher James-Bond-Unterhaltung, dabei geht es lieferten später die internationalen Ermittler. Und Russlands
um etwas sehr Ernsthaftes, Bedrohliches. Zum ersten Mal Staatsmedien und Trollarmeen reagierten wie heute: so viele
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist auf europäischem Verschwörungstheorien und Lügen in die Welt hinauszusen-
Boden eine Chemiewaffe eingesetzt worden. Wohl mehr als den, bis gar nichts mehr klar scheint.
130 Menschen sind im englischen Salisbury mit einem der Auch in Deutschland gibt es in diesen Tagen Politiker und
schrecklichsten Gifte in Berührung gekommen, die der Bürger, bei denen diese Strategie aufgeht. Viele von ihnen
Mensch je hergestellt hat. sehen Russland als ewiges Opfer des Westens – als gäbe es
Das muss man sich in Erinnerung rufen, um zu verstehen, nicht eine ganze Historie aggressiven russischen Verhaltens.
warum der Anschlag auf Sergej Skripal zu einer internatio- Als hätte Russland nicht völkerrechtswidrig die Krim annek-
nalen Eskalation geführt hat. Wer eine solche geächtete Waffe tiert, im Osten der Ukraine Krieg führen lassen, mit Hacker-
mitten in Europa einsetzt, der begeht eine beispiellose Ag- kommandos westliche Demokratien angegriffen. In diesen
gression. Der Westen musste darauf antworten, und er tut Kreisen wird immer entschuldigend die angebliche »Einkrei-
das in ziemlich beeindruckender Geschlossenheit: Dass 18 sung« Russlands durch die Nato beschworen – die es, wie je-
EU-Staaten, die USA, die Nato-Zentrale zusammen rund der Blick auf eine Landkarte zeigt, nicht gibt.
150 russische Diplomaten ausweisen, ist ein deutliches Signal, Die Erfahrungen der vergangenen Jahre belegen, dass Wla-
dass ein solcher Anschlag nicht geduldet werden kann. dimir Putin die Konfrontation mit dem Westen sucht, weil ihm
Nun ist es richtig, dass der Öffentlichkeit bisher keine so- das innenpolitisch nützt. Wenn Europa in Sicherheit und Frie-
genannten gerichtsfesten Beweise dafür vorliegen, dass der den leben will, kann es dieses Verhalten aber nicht hinnehmen,
russische Staat diesen Anschlag angeordnet hat. Allerdings: es muss die internationale Rechtsordnung verteidigen. Aller-
Wer wollte ernsthaft glauben, dass Staaten wie Ungarn, Tsche- dings muss man die Frage stellen, wie wirkungsvoll die Aus-
chien und Italien, die stets für eine konziliante Haltung gegen- weisung von Diplomaten ist – eine rein symbolische Maßnah-
über Russland plädiert haben, bei dieser Strafaktion mitma- me, auf die sogleich russische Gegenmaßnahmen folgten.
chen würden, wenn die Briten keine überzeugenden Erkennt- Großbritannien sollte zu einem effektiveren Mittel greifen:
nisse vorgelegt hätten? Die »City of London« ist das Herz der russischen Finanzelite,
Richtig ist aber auch, dass die Öffentlichkeit spätestens hier verbinden sich die Interessen von Putins Entourage, der
seit dem Irakkrieg 2003 Geheimdienstinformationen skep- Oligarchen und der Mafia. Eine kluge Maßnahme wäre es,
tisch gegenübersteht. Die britische Regierung sollte deshalb endlich gegen diese Gelder vorzugehen. Damit würde Groß-
schnellstmöglich alle Details der Untersuchungen veröffent- britannien nicht nur die russische Elite empfindlich treffen –
lichen und erklären, worauf sich ihr Urteil stützt. Zu begrüßen sondern wohl sogar auf Sympathien bei einer Mehrheit der
ist deshalb auch, dass seit zwei Wochen die unabhängigen russischen Bevölkerung stoßen. Mathieu von Rohr

84 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


„Die Schulz-Story“:
Wie entsteht eine große
SPIEGEL-Titelgeschichte?
Ein Blick hinter die Kulissen
des Nachrichten-Magazins –
exklusiv für SPIEGEL-Leser
Michael B. Rehders

Maurice Weiss

Klaus Brinkbäumer Markus Feldenkirchen Buchcover

Erleben Sie einen besonderen Abend beim SPIEGEL. Schauen Sie gemeinsam
mit Chefredakteur Klaus Brinkbäumer in die journalistische Werkstatt
des Nachrichten-Magazins, und erfahren Sie, wie eine große SPIEGEL-Titelgeschichte von
der Idee bis zum fertigen Titelbild entstanden ist: „Die Schulz-Story“, die
preisgekrönte und nun auch als Buch erschienene Reportage von SPIEGEL-Redakteur
Markus Feldenkirchen, der Martin Schulz während seines Wahlkampfs
im vergangenen Jahr exklusiv und hautnah begleitet hat. Im Anschluss lädt der
SPIEGEL Sie ein zu einem Get-together und persönlichen Gesprächen mit der Redaktion.

Montag, 9. April 2018, 18 Uhr


SPIEGEL-Haus, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.


Eintritt: 25 Euro, ermäßigt 20 Euro, Abonnenten 20 Euro, zuzügl. Gebühren.
Einlass ab 17 Uhr. Änderungen vorbehalten. Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr,
und melden Sie sich für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an.
Ausland

Land der Frauen


Bergkarabach Die kleine, abtrünnige Region im Kaukasus ist zutiefst patriarchalisch.
Aber seit Jahren schon übernehmen Frauen hier die Macht. Sie sind
Ministerinnen und Richterinnen, leiten Universitäten und Polizeieinheiten.

E
ine Frau steht in einem Keller im 1991 für unabhängig erklärte und ein Krieg Hier lässt sich beobachten, was passiert,
Kaukasus. Anfang vierzig ist sie, ausbrach, der bis heute schwelt. Fast wenn man Frauen einfach machen lässt
sie trägt Jeans und das schwarze 40 000 Tote und mehr als eine Million Ver- und ihnen den Zugang zur Macht ermög-
Haar offen. Sie zeigt in die Ecke, triebene gab es auf beiden Seiten. licht. Keine von ihnen hat sich dieses
in der sie als Jugendliche mit ihrer Familie Und so kam es in Bergkarabach als Fol- Schicksal ausgesucht. Keine ist erklärte Fe-
kauerte. Zeigt zur Treppe, wo sich eine ge des Krieges zu einem Laborversuch: ministin, mit MeToo-Debatten oder Gen-
Granate in den Körper ihres Bruder bohr-
te. Zeigt auf die Kiste, aus der sie die
Kalaschnikow hievte, jedes Mal, wenn ihr
Vater an die Front zog.
Die Frau, die durch den Keller führt, der
Vorratskammer war, dann Bombenkeller,
heute schmerzhafte Erinnerung, ist Armi-
ne Alexanjan, Nummer zwei im Außen-
ministerin von Bergkarabach. Eine Frau
mit Macht, stolz und geschieden.
Dank einer historischen Chance ist sie
in eine Position gekommen, die man ihr
sonst nie zugestanden hätte. Nicht hier, in
dieser Machorepublik, wo Männer bis heu-
te an den Waffen stehen, Grenzverläufe
sichern und Befehle bellen. Wo bis vor
zwei Generationen Frauen ihren Mund
mit Tüchern verhüllten und selbst 70 Jahre
Sowjetherrschaft das traditionelle Rollen-
verhältnis nur unerheblich verbesserten.
Wo noch heute der Pfarrer den Bräutigam
beim Ehegelöbnis fragt: »Sprichst du in
ihrem Namen?« und die Braut »Wirst du
gehorsam sein?«
Die abtrünnige Republik Bergkarabach,
die völkerrechtlich zu Aserbaidschan ge-
hört, ist von Krieg und Armut gezeichnet
und streng patriarchalisch – trotzdem sind
es Frauen, die hier seit rund zwei Jahr-
zehnten die Macht erobern. Sie erklimmen
Führungspositionen, übernehmen Minis-
terien, leiten die Universität, den Obersten
Gerichtshof, Polizeieinheiten. Füllen Lü-
cken, die Männer hinterlassen haben, weil
Männer gefallen sind oder kriegsverletzt
oder abgehauen nach Russland, als es dort
für sie Arbeit gab.
Von 150 000 Einwohnern in dieser win-
zigen Region zwischen Schwarzem und
Kaspischem Meer, die nur viermal so groß
ist wie das Saarland, stehen 45 000 Män-
ner an den Waffen, aktiv und als Reserve-
soldaten. Propagandaplakate und »Ach-
tung, Feind hört mit«-Schilder hängen an
den Fassaden, Grundschulkinder haben
Waffenkunde, ein Fernsehsender zeigt un-
aufhörlich Militärparaden.
KARL MANCINI

All das richtet sich gegen den Nachbarn


Aserbaidschan. Mit dem ist Bergkarabach
bis aufs Blut verfeindet, seitdem es sich

86 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


derfragen haben sie so wenig am Hut, wie das nicht. Es fließen Tränen, es fließt der erkennung. Bisher ist Bergkarabach inter-
es deutsche Trümmerfrauen nach dem gute Ararat-Weinbrand, und bald wird klar, national nicht anerkannt, nicht mal von
Zweiten Weltkrieg hatten. dass Frauen hier lustiger erzählen als Män- der Schutzmacht Armenien – es ist quasi
Was aber machen die Frauen aus dieser ner. Der einzige Mann in der Runde, Ale- eine armenische Exklave auf dem Gebiet
einmaligen Chance, was können andere xanjans Vater, hat sich längst zu seinen Kü- Aserbaidschans.
Frauen von ihnen lernen? hen vors Haus geschlichen. Alexanjan muss diesen De-facto-Staat
Alexanjan führt aus dem Keller hinauf In Stepanakert, der Hauptstadt, hat Ale- repräsentieren, kein leichter Job, sie ab-
in die Wohnung ihrer Eltern, in der Küche xanjan ein Büro im ersten Stock des solviert ihn mit eiserner Disziplin, trotz
spielt ihre Mutter Karten mit anderen Da- Außenministeriums, ein kleines Haus zwi- Rückschlägen und Isolation. Wenn jemand
men um die siebzig, Goldzähne, bonbon- schen heruntergekommenen Plattenbau- erklären kann, wie sich Frauen behaupten
farbene Morgenmäntel am späten Nach- ten. Über ihrem Schreibtisch hängt das in einer Gesellschaft, in der es heißt, »Frau-
mittag, schwarze Augenbrauen wie die Foto eines Esels. en sind zwar fleißig, aber das Hirn der
von Charles Aznavour. Es gibt Maulbeer- »Willensstark und starrköpfig«, sagt Ale- Männer ist größer«, dann sie. Sie sagt, es
marmelade, eingelegte Gurken, sie erzäh- xanjan, so sei sie selbst. Diese Charakter- funktioniere mit diplomatischem Geschick,
len von Männern, die ihnen abhandenka- eigenschaften würden ihr helfen, für ihr sie nennt es »Paradiplomatie«.
men durch Untreue oder Krieg. Alle haben Lebensziel zu kämpfen: das Recht auf Frauen in Bergkarabach behaupten sich
jemanden verloren, aber verbittert hat sie Selbstbestimmung und internationale An- behutsam, taktisch klug. Etwa wenn die
stellvertretende Außenministerin Besu-
chern ihr schwieriges Land erklärt, wenn
sie im Hintergrund Strippen zieht, nach
außen aber dem Minister, ihrem Chef,
den Vortritt lässt, sodass er die Lorbeeren
erntet.
Männer, das weiß Alexanjan, das wissen
alle Frauen hier, müssen mit Sanftmut über-
zeugt werden, dürfen nicht das Gefühl ha-
ben, überholt oder beiseitegedrängt zu wer-
den. Wichtig dabei: Nach außen müssen
die Rollen gewahrt werden. Wie es auch
auf den Straßen von Stepanakert zu sehen
ist – dort sind Frauen Anhängsel, sie don-
nern sich auf wie die Kardashian-Schwes-
tern, stolzieren in kniehohen Stiefeln unter
kurzen Röcken am Arm ihrer Männer, die
kantige Pelzmützen tragen.
Als Anhängsel taugt Alexanjan wenig,
dazu ist sie zu selbstbewusst. Ihr Mann war
eifersüchtig, sie warf ihn raus und erzieht
seither ihre Kinder allein. Viele Frauen in
Bergkarabach haben eigene Karrieren und
ein unabhängiges Leben – aber sie reiben
das ihren Männern nicht ständig unter die
Nase. So herrscht, wenn schon nicht im
Land, zumindest zwischen den Geschlech-
tern und in den Familien: Frieden.
Narine Agabaljan ist eine dieser Frauen,
Hosenanzug, praktisches Kurzhaar, 50
Jahre alt. Sie war Bergkarabachs erste Kul-
turministerin mit einem Stab, der zu 80
Prozent aus Frauen bestand, jetzt ist sie
Bildungsministerin. Sie empfängt in einem
eiskalten Büro mit ernstem Gesicht unter
einer Fahne von Bergkarabach. Sie sagt
von sich, der Krieg habe sie stark gemacht.
Mit 23 Jahren saß sie als Soldatin im Schüt-
zengraben, ihr Mann starb an der Front,
zwei Monate später brachte sie einen Sohn
zur Welt. Sie nannte ihn Edmon nach dem
Vater. Wenn sie ein Mann gewesen wäre,
hätte sie in dieser Zeit mit dem Trinken
angefangen.
Narine Agabaljan aber kämpfte sich zu-
rück ins Leben. Als TV-Journalistin berich-

Polizistinnen in der Hauptstadt Stepanakert


Keine ist erklärte Feministin

87
Ausland

tete sie über feindliche Linien, Verluste,


Pogrome und war es bald leid. Suchte nach
neuen Wegen, stieg ein in die Politik, wur-
de Kulturministerin, gab Geld aus für die
Renovierung von Moscheen, nicht für Waf-
fen. Kommt bis heute ohne Mann zurecht.
Was unterscheidet sie von ihren männ-
lichen Ministerkollegen?
»Zwei Dinge«, sagt die Ministerin und
lächelt immer noch nicht. »Erstens: flexi-
bel bleiben, nicht klammern an Posten und
Machterhalt.« Zweitens führe sie ihr Mi-
nisterium wie eine Familie. Heißt: »Zuhö-
ren, ausreden lassen. Keine Ellenbogen,
kein Prahlen mit Heldentaten, jeden Tag
Kompromisse.«
Welche Bevormundungen oder Zudring-
lichkeiten durch männliche Kollegen oder
Mitbürger Frauen trotz weiblicher Füh-
rung zu erdulden haben, darüber sprechen
hier weder Frauen noch Männer.
»Gewalt gegen Frauen kennen wir
nicht«, sagt die Bildungsministerin. Ihr fal-
le kein Land der Erde ein, welches sicherer
wäre für Frauen. Warum, wegen der vielen
Soldaten, der Sicherheitsleute? »Weil wir
so wenige sind«, sagt die Ministerin, und
das sagen fast alle Frauen, denen man in
Bergkarabach begegnet. Weil jede jede
kenne und kein Mann sich einen Skandal
erlauben könne.
Knapp zwei Kilometer vom Ministerium
entfernt lehrt und rechnet Manusch Minas-
jan, dunkler Pagenkopf, warme Stimme.
Minasjan ist die erste Rektorin der staat-
lichen Universität. Zahlen hat sie stets als
Herausforderung begriffen, nicht als Män-
nerkram. Sie studierte Statistik, leitete die
Finanzbehörde, sagt: »Unser Land bietet
ungeheure Chancen für Frauen.«
Sie führt über lange Flure, stößt Türen Ministerin Alexanjan, Gebirgslandschaft nördlich der Hauptstadt
auf. »Schauen Sie, die Lehrsäle sind voller Nach außen müssen die Rollen gewahrt werden
Mädchen.« Kramt in Statistiken, tippt die
Zahlen zur Überprüfung in einen Taschen-
rechner. »Von allen Frauen im erwerbsfä- fragt, warum nicht auch für sie die Wehr- auch eine Katastrophe, die ganze Familien
higen Alter arbeiten knapp 90 Prozent. In pflicht gelte. Frauen gehörten daheim an zerreißt, offenbart sich außerhalb der
den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl den Herd, habe der Minister gesagt, die Hauptstadt. Je weiter man nach Norden
der Frauen in leitender Position bei uns Studentinnen waren verärgert. »Ich per- kommt, desto öfter sieht man mannstiefe
um 300 Prozent gestiegen. Im öffentlichen sönlich denke«, so die Rektorin, »sie soll- Schützengräben, befestigt mit Holzplan-
Dienst um 60 Prozent. Was sagen Sie ten in die Armee gehen können, wenn sie ken oder zugeschüttet und ein paar Meter
nun?« wollen.« Sie würden, das sagen fast alle weiter erneut ausgehoben. Es ist ein Ge-
Sind Frauen die besseren Chefs, gehen Frauen in Bergkarabach, im Notfall ihr schacher um wenige Meter, die man dem
sie anders um mit der Macht? Sie habe oft Land auch mit Waffen verteidigen. Feind abgetrotzt hat, es wirkt wie das Vor
darüber nachgedacht, sagt die Rektorin. Wie sehr der Dauerkrieg einerseits eine und Zurück in einem Schachspiel, das kei-
»Frauen sind flexibler und zuverlässiger – Chance für Frauen ist – andererseits aber nen Sieger kennt.
vor allem aber sind sie besser ausgebildet.« In Talysch, einem Grenzort am Fuße
Weil Mädchen keinen Wehrdienst leisten Kaspisches grüner Hügel, stehen sich die feindlichen
RUSSLAND
müssten, konzentrierten sie sich aufs Stu- Meer Truppen gegenüber, junge Männer mit
dium, das qualifiziere sie für bessere Jobs. Schwarzes Milchbart, auf Brusthöhe ihrer Uniform
»Und sie sind klug genug«, sagt auch diese Meer ist ihre Blutgruppe eingestickt. Talysch ist
Frau, »das nicht raushängen zu lassen vor Bergkarabach ein Trümmerfeld, jedes Haus versehrt,
ihren Männern.« ASERBAID- Bombenkrater im Garten. Fast jede Nacht,
Sind Frauen pazifistischer als Männer? TÜRKEI ARMENIEN SCHAN sagen sie, donnert drüben die Artillerie.
Nein, antwortet die Rektorin, als wäre es Stepanakert Es ist ein Dorf der Männer, sie baggern
eine Schande. Neulich, sagt sie, sei der Ver- 100 km die Trümmer weg, bauen die alte Festhalle
teidigungsminister an der Universität ge- wieder auf, trinken Wodka dazu aus Li-
IRAN
wesen, die Studentinnen hätten ihn ge- monadenflaschen. Ihre Frauen hausen

88 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


für den Fortbestand und weitere Kriege.
Vor allem aber, weil sie Kinder lieben.
Mit Nana wächst eine neue Generation
heran, die einen Schritt weiter ist als die
Frauen wie die Bildungs- und die Vize-
Außenministerin. Ihre Vorstellungen von
einem friedlichen Bergkarabach gehen
über eine Lösung des Konflikts mit Aser-
baidschan hinaus. Diese Frauen haben den
Krieg in den Neunzigerjahren nicht erlebt,
der Viertagekrieg im April 2016 war für
sie nur ein kurzer, böser Traum. Sie den-
ken weniger in Opfer-und-Täter-Katego-
rien und machen kaum noch einen Unter-
schied zwischen Männern und Frauen.
So wie die jungen Menschen abends im
Bardak, einer Garage in Stepanakert, jetzt
ein Klub, wo im Schummerlicht junge
Bergkarabacher flirten, rauchen, Wodka
kippen und zu »Another Brick In The
Wall« tanzen und im Leben nicht daran
denken zu dienen, zu leiden, zu sterben
aus Hass. Aber noch ist es nicht so weit,
noch ist dieses Land eine verbarrikadierte
Insel und nur durch einen Korridor mit Ar-
menien verbunden, durch den zweimal
täglich Kleinbusse mit Menschen und Wa-
ren holpern. Nicht weit von hier stehen
sechs Frauen an einem schneebedeckten
Hang, keine von ihnen spricht von Politik.
Das Frauenteam spürt den Feind auf
und macht ihn unschädlich. Dieser Feind
verschanzt sich nicht im Schützengraben,
er liegt bereits am Boden, ein paar Zenti-
meter tief in frostiger Erde. Die Frauen
sind Minenentschärferinnen, im Auftrag
der US-Hilfsorganisation Halo räumen sie
den Dreck der Kriege weg. Sie machen
Männerarbeit, und sie machen sie gut.
Warditer, 38, trägt grünen Nagellack,
Schülerinnen eines Militärgymnasiums, Richterinnen am Obersten Gerichtshof derbes Schuhwerk. Wie in Zeitlupe
Die Zahl der Frauen in leitender Position ist um 300 Prozent gestiegen schwingt sie den Detektor, bis er Alarm
schlägt, greift zur Trillerpfeife, um die an-
deren zu warnen, zieht ihr Visier vors Ge-
eine Stunde entfernt in weißen Containern Gewiss, auch Nana zieht an Feiertagen sicht, gräbt behutsam, bis die Mine freige-
mit Bollerofen und schicken ihre Kinder mit der Flagge von Bergkarabach durch legt ist und entschärft werden kann.
in eine provisorisch aufgebaute Schule, wo die Straßen, steht stramm, wenn mit Or- »Es ist wie Staubsaugen«, sagt Warditer,
sie Unterricht in Waffenkunde bekommen, den behängte Veteranen rote Nelken auf ihr Mann sei überhaupt nicht begeistert
fünf Stunden pro Woche. Kriegsgräber legen. Aber sie weiß, dass gewesen, aber: »Ich liebe meinen Job. Zu
Aber es gibt auch Orte, in denen Hoff- ihr Vaterland keine Zukunft hat, wenn Hause muss ich wirklich staubsaugen, hasse
nung gedeiht wie eine zarte Pflanze, mit es weiter in der Vergangenheit verharrt. es und sehne mich zurück zu den Minen.«
Menschen darin, die weniger verstrickt Sie führt auf die Hauptstraße von Ste- Bisher ist jeder zehnte der 400 Räumer
sind in diesen ewigen Konflikt zwischen panakert, wo Soldaten flanieren, Mädchen weiblich. Im Sommer, wenn der Boden
Christen und Muslimen im Kaukasus. am Arm. weich ist, sollen es doppelt so viele sein.
Menschen wie Nana, 27, dunkle Locken, »Hier irgendwo«, sagt sie und zeigt auf Ihr kleines Land voller Waffen braucht sie
wache Augen, neugierig auf alles Fremde. die Häuserfassaden, »werde ich eines Ta- dringend: Bergkarabach hat eine der höchs-
Nana ist Politikwissenschaftlerin, ihr Job ges arbeiten: in einem Büro der Vereinten ten Konzentrationen an Landminen und
ist es, die Lehranstalten Bergkarabachs in Nationen, das es heute noch nicht gibt, als Streubomben weltweit.
die Moderne zu führen, ausländische Do- Politikberaterin, als Vermittlerin zwischen »Ich will diese Hölle nie wieder erle-
zenten herzulocken, Austauschprogram- den Welten.« ben«, sagt Warditer, die danebenstand, als
me zu organisieren. Sie hat in Armenien Nana glaubt fest daran, dass sie irgend- ihr Onkel auf eine Mine trat und zerfetzt
studiert, hatte dort eine Karriere vor sich wann ein freies Leben lebt, unabhängig wurde. »Meine Arbeit«, sagt sie und fasst
und kehrte zurück, »weil man mich hier von Kriegen und Männern. Kinder? Na- sich an ihr Herz, »wird nicht umsonst ge-
dringender braucht«. Wenn Nana das türlich wolle sie auch Kinder. Kinder ha- wesen sein.«
Sprichwort hört, das hier jeder kennt: ben hier fast alle Frauen, wenn nicht, emp- Fiona Ehlers
»Frauen sind das Rückgrat, darauf sitzt der finden sie es als großes Unglück. Sie haben Mail: fiona.ehlers@spiegel.de
Kopf, der ist männlich«, wird sie wütend. Kinder, weil das Land Nachwuchs braucht,

Fotos: Karl Mancini / DER SPIEGEL 89


Wissenschaft+Technik
»Wir haben die zwölf gemeinsten Fragen ausgesucht – die Leser sollen erst einmal so richtig scheitern.« ‣ S. 95

Medizin Tiere
Wir basteln uns eine »Leider war’s ein Helmspecht«
Bauchspeicheldrüse
Die Hobby-Ornithologin SPIEGEL: Haben Sie einen Lieblings-
G Viele Diabetiker haben Mühe damit, und Wissenschaftsjour- vogel?
sich Tag und Nacht mit der passenden nalistin Johanna Rom- Romberg: Jede Art hat etwas Liebens-
Dosis Insulin zu versorgen – nicht zu berg, 59, beschreibt in wertes. Meisen sind toll, weil sie es
hoch, nicht zu niedrig. Der schwanken- ihrem Buch »Federnle- durch ihre Lebhaftigkeit und geringe
de Bedarf verlangt eine Menge Rechne- sen« das Glück, Vögel zu Scheu den Menschen leicht machen, sie
rei und häufige Korrekturen, etwa vor beobachten. zu beobachten.
Mahlzeiten. Ein paar Hundert Bastler SPIEGEL: Ganz anders als der Elfenbein-
haben das Verfahren inzwischen auto- SPIEGEL: Welche Vögel sind Ihnen heute specht.
matisiert. Eine Apparatur, zusammen- schon begegnet? Romberg: Ja, leider. Der gilt als ausge-
gebaut nach Plänen aus dem Internet, Romberg: Frühmorgens im Garten wa- storben; der letzte Nachweis in den
ersetzt ihnen die ausgefallene Bauch- ren das – unter anderen – eine Bande USA stammt von 1944. Aber 2004 wur-
speicheldrüse. Das Eigenbausystem Buchfinken, ein besonders hübscher de er angeblich wieder gesichtet, von
besteht aus drei handelsüblichen Teilen: Bergfink und um die 20 Feldsperlinge, Vogelkundlern im Bundesstaat Arkan-
Ein Gerät überwacht den Blutzucker- die ich seit Jahren durchfüttere. Im sas. Ich war bei einer der vielen darauf-
spiegel; eine Insulinpumpe, gesteuert Wald, wo ich heute auch war, singt im folgenden Suchaktionen dabei und habe
per Funk von einem Minicomputer, Moment so viel, dass man geübt sein für einen Moment geglaubt, vom Boot
speist das lebenswichtige Hormon in muss, um einzelne Stimmen heraus- aus einen gesehen zu haben. Es war
den Blutkreislauf ein. Entscheidend ist zuhören. Ich habe einen Schwarzspecht aber leider ein Helmspecht. Bis heute
die Software, die je nach den gemelde- wahrgenommen, dazu Meisen, Rotkehl- gibt es keinen eindeutigen Beweis dafür,
ten Blutzuckerwerten die Pumpe regu- chen, Zaunkönige, Wintergoldhähnchen, dass der Elfenbeinspecht tatsächlich
liert. Sie lässt sich, mitsamt genauen Waldbaumläufer. noch existiert.
Anleitungen, unter OpenAPS.org her- SPIEGEL: Seit Ihrer Kindheit bestimmen SPIEGEL: Müssen Vogelenthusiasten
unterladen. Freiwillige, teils selbst Dia- Sie Vögel, wo immer Sie sich aufhalten. um die halbe Welt reisen, um aufregen-
betiker, haben sie entwickelt und stetig Warum? Reicht es nicht, dass die Tiere den Exemplaren nachzujagen?
verbessert. Sie wollten nicht warten, einfach da sind? Romberg: Eben nicht, auch das ist das
bis die Industrie eine brauchbare Romberg: Das Wunderbare am Birding, Großartige an Vögeln. Sie sind überall:
Lösung liefert. Weil die Aktivisten kein so heißt in England der dort sehr ver- im Wald, im Garten und in den Städten,
fertiges Gerät anbieten, benötigen sie breitete Volkssport des Vogelbeobach- wo der Artenreichtum inzwischen oft
auch keine behördliche Zulassung. Dia- tens, ist für mich das Wiedererkennen. größer ist als auf dem Land. Friedhöfe,
betiker, so argumentieren sie, seien es Wenn ich im Frühjahr einen vertrauten Brachflächen oder Müllkippen sind
ohnehin gewohnt, ihre Gesundheit Ruf höre, den ich mehr als acht Monate hervorragende Lebensräume. Und als
selbstständig zu überwachen. MDW lang vermisst habe, dann ist das einer Ausrüstung brauchen Sie nur ein Fern-
der besten Momente des Jahres. glas und ein Bestimmungsbuch. JKO

Fußnote

40
Prozent der Gentests, die Privat-
firmen wie 23andMe direkt an Kunden
verkaufen, enthalten falsch positive
ALL CANADA PHOTOS / GETTY IMAGES

Befunde – etwa Hinweise auf ein


Krebsrisiko, das in Wahrheit gar nicht
besteht. Das ergab die Nachkontrolle
einer Stichprobe von 49 Genanalysen,
die das Fachjournal »Genetics in
Medicine« veröffentlichte. Ohne ärzt-
liche Beratung, warnen die Forscher,
könnten Laien solche Resultate kaum
richtig einschätzen. Junge Helmspechte

90
REUTERS
Ein Gebirge von Fahrrädern türmt sich in der chinesischen Küstenstadt Xiamen. Die ausgemusterten Schrott-
gefährte sind die Kollateralverluste einer beispiellosen Materialschlacht. Mehrere Anbieter zugleich
versuchen, den Weltmarkt mit billigen, bunten Leihrädern zu überrollen – mit weitreichenden Folgen für
die Mobilitätskultur: Nun ist das Fahrrad Wegwerfware.

Kommentar

Ethisch unreif
Das fahrerlose Auto ist eine gute Idee – bei dem Billigtaxibetreiber Uber jedoch in schlechten Händen.

Die 49-jährige Frau, die am 18. März in Tempe, Arizona, als erste he in Arizona, wo nun der Roboter ungebremst in einen Menschen
Passantin der Welt von einem Roboterauto überfahren wurde, fuhr. Uber ist kein Technologietreiber, eher ein Trittbrettfahrer
erlangte eine ebenso traurige Berühmtheit wie die Person, die zur der Automobilrobotik, nach einer Expertise des Beratungs-
Sicherheit hinterm Steuer saß. Videoaufzeichnungen der Bord- unternehmens Navigant technologisch ähnlich weit abgeschlagen
kameras kursierten bald im Internet. Sie zeigen kurz das Opfer wie der Elektroautohersteller Tesla, dessen »Autopilot« nach
und sehr ausgiebig eine erkennbar unkonzentrierte Frau auf dem einem tödlichen Unfall in ein Assistenzsystem zurückprogram-
Fahrersitz. Unabhängig davon, dass hier ein krudes Verständnis miert werden musste.
von Persönlichkeitsrechten herrscht, dürften die Aufnahmen dem Solcher Leichtsinn diskreditiert eine Technologie, die segensreich
Fahrzeugbetreiber Uber wohl keine Argumente liefern, mit denen sein kann, wenn sie wirklich mit dem Ziel verfolgt wird, das Fahren
sich erneut von seinen technischen Problemen ablenken ließe. Der sicherer zu machen. Uber beteuert, das zu wollen, scheint aber in
Fahrdienstleister, nicht gerade von sozialen Skrupeln gepeinigt, erster Linie daran interessiert, einen billigen Ersatz für Taxifahrer
schob schon einmal die Schuld auf Sicherheitsfahrer (und hat laut zu bekommen. Den Testwagen fehlt die technologische Reife für
»New York Times« auch einen gefeuert), als Uber-Versuchswagen einen sicheren Erprobungseinsatz, weil diesem Unternehmen die
2016 in San Francisco mehrfach Ampelsignale missachteten und ethische Reife fehlt, solche Entwicklungen seriös voranzubringen.
ein Gefährt sogar bei Rot einen Fußgängerweg querte. Es gab Die Regierung von Arizona hat Uber nun die Erlaubnis für Straßen-
Streit mit den dortigen Behörden, und Uber startete eine Testrei- tests entzogen. Sie hätte sie nie erteilen dürfen. Christian Wüst

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 91


Technik

COURTESY OF WARNER BROS. PICTURES


Szene aus »Ready Player One«: Danach verwandelt sich das Unwohlsein in Staunen, wie detailknisternd die Welt aus Atomen und Alltag doch ist

Idyll hinter der Brille


Internet Demnächst soll die virtuelle Realität den Massenmarkt erobern, seit 50 Jahren wird ihr
baldiger Durchbruch verkündet. Das Silicon Valley spekuliert auf digitale Traumwelten,
wie sie der neue Spielberg-Film »Ready Player One« feiert. Wie weit ist die Technik wirklich?

D
ie Realität ist ein mieses Drecks- Und wenn sie nicht gestorben sind, Dollar den VR-Brillenhersteller Oculus
loch, aber Parzival lässt sich nicht dann wird der Regisseur Steven Spielberg aufkaufte, eine Klitsche damals, erst 2012
unterkriegen. Der Waisenjunge seinem Science-Fiction-Film »Ready Player gegründet. Schon 2020 könnten VR-
lebt in einem Slum aus überein- One«, der nun in die Kinos kommt, eine Unternehmen 40 Milliarden Dollar Um-
andergestapelten Wohnwagen. Als einzi- Fortsetzung hinterherschicken. satz machen, schätzen Marktforscher.
ger Ausweg bleibt ihm die »Oasis«: eine Fans und Investoren fiebern dem Film Doch was ist Hype – und wie steht es
digitale Parallelwelt. entgegen. Denn sie hoffen auf den Einzug wirklich um die Virtual Reality? Zeit für
Doch auch dieser virtuelle Kosmos ist der Virtual Reality (VR) in Wohnzimmer, einen Ortstermin im Cyberspace, in einer
bedroht; ein totalitärer Datenkonzern will Büros und Schulen. Art real existierenden »Oasis«.
mit seiner verkabelten Söldnerarmee die Konzerne wie Google und Microsoft, »Wir können Parks gestalten, die schöner
Kontrolle übernehmen. Parzival kämpft Intel und Samsung, Sony und HTC wett- sind als das Original«, schwärmt Philip Ro-
im Netz gegen King Kong, Dinos und Ma- eifern um die Hoheit in den neuen Digi- sedale, während er seine Spielfigur durch
nager. Er mausert sich zum Revoluzzer talwelten, um die besten Chips, Brillen eine Traumlandschaft spazieren führt: Bir-
und erobert schließlich Macht, Geld und und Tüftler. Vor vier Jahren preschte ken, Holzbrücken, Täler – ein Idyll in seiner
das Mädchen seines Lebens. Facebook vor, als es für zwei Milliarden Simulation einer schönen, neuen Welt, die

92 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Hardware für
die Virtual Reality

Bewegungsverfolgung Haptik
Q Infrarotkameras vermessen den Raum Q Sensoren an
und die Position des Spielers darin den Datenhand-
Q Alternativ kann eine Kamera im Display schuhen umschließen
QR-Marker an den Wänden registrieren, die Fingerglieder
um die Teilnehmer im Raum zu verorten Q So ersetzen die Finger
herkömmliche Controller
zum Zeigen und Steuern
virtueller Objekte

VR-Rucksack
Q verarbeitet die
Signale aller Sensoren
Q bereitet das 3-D-
Bild für die Datenbrille Körpertracking
(»Head-Mounted Q Sensoren übertragen Kopf- und Mimiktracking
Display«, HMD) auf die Koordinaten Q Beschleunigungssensoren
von Gelenken und messen die Kopfdrehungen
Gliedmaßen Q anpassbare Linsen für jedes Auge (3-D)
Q eine Infrarotkamera im Helm erfasst die
Position der Pupillen und der Augenbrauen
Q eine Kamera unter dem Display »liest«
die Mimik von Mund und Unterkiefer

er »High Fidelity« genannt hat. Ein Klick, cond Life«. Dabei sind rund eine Million tische Stadtszenen, so düster wie im Film
schon tanzt Rosedale in einem Klub. Noch Nutzer ihrem Zweiten Leben treu geblie- »Blade Runner«, oder sie beamen sich zur
ein Klick, er schlendert durch ein Kaufhaus, ben. Das dortige Bruttoinlandsprodukt be- »Apollo«-Landefähre auf dem Mond, wo
in dem er sich ein neues Aussehen zulegt: trägt rund 500 Millionen Dollar, mehr als am Horizont gerade die ferne Erde aufgeht.
eine Dame im Abendkleid. in manch realem Kleinstaat. »Sansar« setzt auf Perfektionismus und
Im echten Leben ist Rosedale ein cha- Für Rosedale ist das nur ein Vorge- zentrale Kontrolle. Rosedale dagegen wet-
rismatischer Endvierziger mit verwuschel- schmack auf die VR-Welt der Zukunft: tet mit »High Fidelity« auf offene Stan-
ter Künstlertolle. Aber davon sieht man »Die Nutzerzahlen werden bald von einer dards. Jeder Nutzer soll seine eigenen vir-
gerade nichts, denn sein Kopf steckt unter Million Menschen auf eine Milliarde ex- tuellen Räume bauen. »Das wird das neue
einer Datenbrille, einem Head-Mounted plodieren«, sagt er. »Virtual Reality ist heu- Internet«, schwärmt Rosedale.
Display (HMD). Er steht in seinem lichten te dort, wo das Web Anfang der Neunzi- Diese Prophezeiung ist nicht ganz neu.
Büro im Zentrum von San Francisco und gerjahre war.« Der Durchbruch der VR steht unmittelbar
gestikuliert ins Leere. Statt sich mit der Maus durch Websites bevor – und das seit fünfzig Jahren.
Rosedale ist einer der Helden der vir- oder mit dem Handy durch Apps zu kli- »Das ultimative Display« nannte der
tuellen Realität. Sein Vater war Pilot, die cken, werden Nutzer schon bald mit Da- Ingenieur und Harvard-Professor Ivan
Familie zog ständig um, der scheue Junge tenbrillen durch virtuelle Büros, Shops Sutherland in den Sechzigern seinen
träumte von eigenen Welten. Er lernte pro- oder Landschaften streifen, glaubt Rose- Traum eines VR-Systems, das nicht nur
grammieren, entwickelte Software, mit dale: »Ich könnte mich online in ein Phy- das Umherschauen und Greifen ermög-
Ende 20 war er Millionär. siklabor begeben, um dort mit den besten lichen sollte, sondern echte Körperlichkeit:
Inspiriert vom Film »The Matrix«, grün- Professoren aus aller Welt Experimente In diesem »Wunderland« würden »Hand-
dete er »Second Life«, die bislang erfolg- durchzuspielen«, sagt er. »Da kann eine schellen wirklich fesseln«, »Kugeln wirk-
reichste Simulation, in der Nutzer Klubs reale Schule nicht mithalten.« lich töten«. Sutherlands Schnittstelle wäre
und Shoppingmalls und das Berlin der Rosedales härteste Konkurrenz ist die nicht mehr unterscheidbar vom echten
Zwanzigerjahre nachgebaut haben. Mutterfirma von Second Life, die er vor Leben.
Der Hype um die virtuelle Realität be- knapp acht Jahren verlassen hat. Die 1968 baute Sutherland einen Prototyp,
wegt sich in Wellen: Euphorie und Frust Kollegen, mehr als 70 Mitarbeiter sind es, der aussah wie ein Kronleuchter aus
wechseln sich etwa alle zehn Jahre ab. sitzen zwei Meilen entfernt und basteln Kabeln und Monitoren, so schwer, dass
Nach einem großen Medienwirbel um eine neue Spielwelt namens »Sansar«. er an der Decke montiert war, um die
2007 ist es heute still geworden um »Se- Dort gleiten Avatare durch hyperrealis- Nutzer nicht zu erschlagen. Der Spitzna-

93
me des Ungetüms: »Damokles- de VR total überverkauft, die Leu-
schwert«. te haben überzogene Erwartun-
Industrie und Militär griffen ein gen«, sagt Jim Rüggeberg am Ran-
paar der Damokles-Ideen für Flug- de der Konferenz. Der Unterneh-
simulatoren auf; sie helfen auch mer bastelt in Berlin gemeinsam
beim Entwerfen von Autos. Archi- mit Studenten der TU Wien und
tektur- und Ingenieurbüros nutzen seinem Bruder ein sogenanntes Ho-
virtuell begehbare Modelle, dazu ein lodeck: eine virtuelle Welt, die

MAX PLANCK INSTITUTE FOR BIOLOGICAL CYBERNETICS


paar Hotels und Immobilienmakler, man nicht nur mit dem Controller
und natürlich Computerspieler. erkundet, sondern indem man dar-
Doch abgesehen von diesen Ni- in herumläuft.
schen ist der Durchbruch auf dem Im Mai will Rüggeberg seine di-
Massenmarkt bislang ausgeblie- gitale Spielwelt, sie heißt »Illusion
ben, stellten die Marktforscher von Walk«, testweise eröffnen. Ähnli-
Deloitte vorigen Herbst fest. Die ches gibt es in New York, Toronto,
Verbreitung von Cyberbrillen düm- London und Dubai unter dem Na-
pelt bei rund drei Prozent der men »The Void«.
Deutschen. Seine virtuelle Welt ist flexibel,
Denn bislang fehlt ein kleines derzeit hat Rüggeberg sie in eine Bü-
Detail: der Nutzen für Nutzer. VR roetage in Berlin-Charlottenburg
ist eine brillante Lösung auf der Su- Probandin im »Cyberneum« in Tübingen projiziert. Vier Spieler schultern
che nach einem Problem. Was Blümerant nach 20 Minuten den speziellen VR-Computer wie ei-
fehlt, ist eine »Killer App«, wie es nen Rucksack, setzen die Brille auf,
die Navigation für Smartphones ist und los geht es durch verwinkelte
(abgesehen natürlich vom Selfie). Ende rant, weil das Auge und der Gleichge- Gänge in ein Raumschiff. Wer nicht aufpasst,
März trafen sich deshalb mehr als 500 Ex- wichtssinn im Innenohr widersprüchliche rempelt physisch mit den Körpern der an-
perten aus über 20 Ländern, um darüber Signale empfangen, ähnlich der Reise- deren Figuren zusammen, denn die Mitspie-
zu reden, wie es um die Kunstwelttechnik krankheit im Auto. Warum also sollte man ler sind ja real. Es ist ein Schock, die unge-
bestellt ist. Diese Konferenz, die weltgröß- sich dem aussetzen? Die ersten Anwendun- filterte Wucht eines neuen Mediums.
te zum Thema wissenschaftliche VR-For- gen dürften kaum dem Vergnügen dienen. Die Türen des Raumschiffs befinden sich
schung (»IEEE VR«), fand an einem über- So begeben sich traumatisierte Soldaten genau dort, wo auch die echten Bürotüren
raschend kleinen Ort statt: in Reutlingen, als Teil einer Therapie in fast lebensecht sind, man kann sie anfassen – »Mixed Re-
einem Städtchen bei Stuttgart, voll schwä- wirkende VR-Szenen aus dem Krieg, der ality« heißt dieser Trick. Der »Illusion
bischer Bodenständigkeit. ihre Seelen verletzt hat. »In einer Ge- Walk« endet heute mit dem Balancieren
Etwa die Hälfte der globalen VR-For- sprächstherapie kann der Patient die über einen immensen Abgrund. Zittriges
schung komme aus Europa, sagt Betty unangenehmen Erinnerungen leichter Vortasten. Der Kopf weiß, dass dies nur
Mohler, amerikanische Informatikerin und verdrängen als in VR«, sagt Albert Rizzo, eine Illusion ist, aber das Unbewusste spürt
leitende Organisatorin des Kongresses, ein Psychologe von der University of die Präsenz in der Traumwelt. »Limbo«
»vor allem aus Frankreich und Deutsch- Southern California, den bei der Reutlin- wird dieser Zustand genannt, eine Art Klar-
land – besonders in der Autoindustrie wird ger Konferenz alle nur »Skip« rufen. traum, halb real, halb surreal.
das viel eingesetzt«. Rizzo manipuliert nicht Maschinen, son- Geschafft. Die Brille abnehmen, durch-
Mohler erforscht an der TU Darmstadt dern menschliche Sinne. Schlaganfall- atmen. Bloß mag man plötzlich dem Fuß-
mithilfe von VR, wie die Körperwahrneh- patienten gaukelt er mit VR-Brillen einen boden und den Wänden nicht mehr so
mung das Denken einfärbt. Wenn man funktionierenden Arm vor. Das Gehirn ak- recht trauen. Ob man durch sie hindurch-
zum Beispiel in Experimenten Frauen ein- zeptiert das Trugbild als Teil des eigenen gehen kann? Nur wenige Minuten haben
schüchtert, schneiden sie in Gedächtnis- Körpers. Eine fromme Lüge, die den Hei- die Sinne nachhaltig erschüttert.
tests schlechter ab. Lässt man sie dann in lungsprozess unterstützt. An Worte, Bilder Die neueste Technik wirft die ältesten
männliche Spielfiguren schlüpfen, bringen und Filme sind wir gewöhnt und haben ge- Fragen auf, denen schon Immanuel Kant
sie wieder eine bessere Leistung. lernt, sie auf Distanz zu halten. Aber wenn und Aristoteles nachgingen – und vor ih-
Die starke Grundlagenforschung hat wir uns selbst durch einen Raum bewegen, nen vielleicht die Steinzeitmenschen, als
Mohler einst nach Deutschland gelockt. werde das Erleben körperlich, sagt Rizzo: sie Höhlenwände bemalten: Was ist das,
Sie kam von Utah als Doktorandin ans Vor allem Kinder können die digitale Realität?
»Cyberneum«, ein Zentrum der VR-For- »Immersion« oft kaum von wirklichem Er- Nach ein paar Atemzügen verfliegt das
schung am Max-Planck-Institut für biolo- leben unterscheiden. Unwohlsein und verwandelt sich in Stau-
gische Kybernetik in Tübingen. Die Konferenz der VR-Forscher zeigt: nen: wie hochauflösend und detailknis-
Dort, an einem Hang am Rande der Stu- 50 Jahre lang ist die Branche dem »ulti- ternd die Welt aus Atomen und Alltag
dentenstadt, thront der Campus mit einer mativen Display« hinterhergejagt. Doch doch ist. Staubfussel im Gegenlicht, der
Industriehalle, in der ein fast deckenhoher selbst die avanciertesten Traumwelten wie Duft von Tulpen und Bohnerwachs – gro-
Roboterarm menschliche Probanden in »High Fidelity« oder »Sansar« schaffen es ßes Kino. Da ist es, das ultimative Display.
der Luft herumwirbelt, bis ihnen schwind- nicht einmal, die eigenen Hände und Füße Hilmar Schmundt
lig wird. Die Quälerei dient dazu, den realistisch abzubilden. Geschweige denn
Gleichgewichtssinn zu ergründen. Tastsinn, Geruch, Geschmack.
Was sich nach Kirmesgaudi anhört, ist Vielleicht liegt die Stärke der VR derzeit Video
Auf dem Berliner
fundamental für das Verständnis der soge- weniger in der technischen Perfektion als Holodeck
nannten Cybersickness, eines der größten in der Erkundung menschlicher Fehlwahr- spiegel.de/sp142018vr
ungelösten Probleme der VR: Vielen Nut- nehmungen. Dem ganz alltäglichen Irrsinn oder in der App DER SPIEGEL
zern wird nach rund 20 Minuten blüme- eben, der Real Virtuality. »Jahrelang wur-

94 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Wissenschaft

»Schlechter als Affen«


Rosling: Mein Vater …
SPIEGEL: … der bekannte Mediziner und
Statistiker Hans Rosling …
Rosling: … dachte vor 20 Jahren, der ak-
tuelle Wissensstand habe sich wohl noch
Statistik Der schwedische Forscher Ola Rosling, 42, kämpft mit ver- nicht überall herumgesprochen. Also ha-
blüffenden Fakten gegen die menschliche Sucht nach Schwarzmalerei. ben wir den Leuten unermüdlich Daten
eingehämmert. Aber das half nicht viel.
Heute wissen wir: Es ist nicht der Mangel
SPIEGEL: Herr Rosling, noch zwei? Wieder trifft die dritte Antwort an Daten. Die Menschen haben einfach
Sie wollen mit harten zu. In Deutschland entschieden sich dafür grundlegend falsche Vorstellungen von der
Daten beweisen, dass nur neun Prozent der Befragten, in ande- Welt, sie folgen einer instinktiven Neigung
die Welt besser ist, als ren Ländern war es kaum besser. zum Dramatisieren.
wir denken. Geben Sie SPIEGEL: Wie viele Menschen kommen SPIEGEL: Das Schwarzsehen ist fest in un-
uns ein Beispiel? überhaupt auf die richtige Lösung? seren Köpfen verdrahtet?
Rosling: Nehmen wir Rosling: Im Schnitt etwa zehn Prozent. Rosling: Ich denke, die Evolution hat uns
die Todesopfer von Na- SPIEGEL: Also wären die Befragten, bei damit ausgestattet. Ständig in Sorge zu
turkatastrophen im Lauf nur drei möglichen Antworten, besser ge- sein dürfte für unsere Urahnen ein Über-
der vergangenen hundert Jahre. Was mei- fahren, wenn sie einfach geraten hätten. lebensvorteil gewesen sein. Leider sind
nen Sie, hat sich die Zahl mehr als verdop- Rosling: Stimmt. Wenn Sie die Wahl ei- wir, wenn es um unser Weltbild geht, noch
pelt? Ist sie unverändert hoch? Oder hat nem Schimpansen überlassen, wird er heute fixiert aufs Negative, wir verlangen
sie sich mehr als halbiert? Die letzte Ant- immerhin ein Drittel der richtigen Antwor- geradezu danach.
wort ist richtig. Aber von rund 12 000 Be- ten treffen. SPIEGEL: Was lässt sich dagegen tun?
fragten in 14 Ländern haben im Schnitt SPIEGEL: Hauen gebildete Leute weniger Rosling: Wir brauchen eine neue Wissens-
nur zehn Prozent diese Antwort gewählt, daneben? kultur. Zunächst muss ich akzeptieren, dass
in Deutschland waren es sechs ich diesen Filter im Kopf habe.
Prozent. Die Irrtümer, zu denen er mich
SPIEGEL: Woher kommt diese verleitet, sind aber doch faszi-
Fehleinschätzung? nierend – sie zu korrigieren soll-
Rosling: Wir sind überzeugt, te mir Spaß machen. Im Buch
Mutter Natur schlage immer stär- erklären wir anhand der gemei-
ker zurück, sie räche sich an uns. nen Beispielfragen, wie die Le-
Ein stimmiges Bild, aber es ist ser zu einem wahrhaftigeren
falsch. Natürlich gibt es gelegent- Bild der Welt finden könnten.
lich ein Jahr mit sehr hohen Op- Auf unserer Website gapmin-
ferzahlen. Aber wenn wir ganze der.org bieten wir dazu weiter-
Jahrzehnte vergleichen, sehen führendes Material.
wir einen klaren Trend. In den SPIEGEL: Ihr Vater ist während
Dreißigern wurden im Schnitt der Arbeit am gemeinsamen
INTERTOPICS / PHOTOSHOT

971000 Tote pro Jahr gezählt. Im Buch verstorben. War es


laufenden Jahrzehnt, 2000 bis schwierig, ohne ihn fertig zu
2016, sank der Mittelwert auf werden?
jährlich 72 000 Todesopfer. Wa- Rosling: Ja und nein. Meine
rum blieb dieser Rückgang unbe- Frau Anna, mein Vater und ich,
merkt? Wir können uns heute wir haben viele Jahre als Trio zu-
besser schützen als früher. Aber Vater Rosling 2015 sammengearbeitet. Ich hatte
wir schaffen es nicht, das zu feiern. »Wir wussten genau, was wir in seinem Sinne zu tun hatten« schon 1999 mein Studium abge-
SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch brochen, um ihm bei seinem Auf-
präsentieren Sie eine ganze Rei- klärungsprojekt zu helfen. Als er
he solcher Fragen*. Schneiden die Leute Rosling: Leider nicht. Bildung allein ga- vor etwa zwei Jahren erfuhr, dass er nicht
immer so schlecht ab? rantiert keine faktenbasierte Weltsicht, im mehr lange zu leben hatte, blieben uns noch
Rosling: Wir arbeiten seit Jahren mit rund Gegenteil. Wer sich eingehend mit den glo- zwölf Monate gemeinsamer Arbeit. Es war
200 Fragen. Für das Buch haben wir die balen Problemen beschäftigt, der hält sie am Ende schrecklich, ihn zu verlieren. Aber
zwölf gemeinsten ausgesucht – die Leser irgendwann für allgegenwärtig. Der Kopf wir hatten noch kaum Zeit zu trauern; das
sollen erst einmal so richtig scheitern. Und ist einfach voll davon. Deshalb unterliegen Buch zu vollenden hat uns enorm bean-
ja, in der Regel liegen fast alle Befragten auch Fachleute dieser Verzerrung. Im ver- sprucht. Unser Trost war: Wir wussten ge-
falsch. Sie sehen die Dinge viel zu pessi- gangenen Jahr erst habe ich das auf dem nau, was wir in seinem Sinne zu tun hatten.
mistisch. Noch ein Beispiel? World Health Summit in Berlin getestet. SPIEGEL: Werden Sie das Lebenswerk Ih-
SPIEGEL: Bitte. Dort fragte ich die versammelten Medizi- res Vaters fortsetzen?
Rosling: Wir zählen derzeit etwa zwei ner nach der Impfquote bei einjährigen Rosling: Das werden wir. Als Nächstes
Milliarden Kinder im Alter von bis zu 15 Kindern: Sind 20 Prozent gegen mindes- wollen wir unsere Methode, mit Testfra-
Jahren. Wie viele werden es nach Uno-Be- tens eine Krankheit geimpft? Oder 50? gen grundfalsche Vorstellungen aufzude-
rechnungen zum Ende dieses Jahrhunderts Oder gar 80? Sogar diese Experten schnit- cken, auf einzelne Länder anwenden. Zum
sein? Vier Milliarden? Drei? Oder immer ten schlechter ab als Affen. 80 Prozent Beispiel: Worin irren die Deutschen über
wäre richtig gewesen. Deutschland?
* Hans Rosling (mit Anna Rosling Rönnlund und Ola SPIEGEL: Woher kommt diese hartnäckige Interview: Manfred Dworschak
Rosling): »Factfulness«. Ullstein; 400 Seiten; 24 Euro. pessimistische Verzerrung?

95
Wissenschaft

Werdende Mutter beim Baden


Sich Ruhe und Entspannung gönnen

bungspflichtigen Substanzen, 51 Millionen


Packungen wurden 2017 verkauft, 320 Mil-
lionen Euro Umsatz erzielten die Pharma-
unternehmen damit, der Marktanteil von
Ibuprofen hat sich in den vergangenen
zehn Jahren beinahe verdoppelt.
Umfragen ergaben, dass bis zu 28 Pro-
zent der Schwangeren Ibuprofen einneh-
men, von den werdenden Müttern im
ersten Drittel der Schwangerschaft sind es
bis zu 24 Prozent. Paracetamol schlucken
sogar bis zu 73 Prozent der Frauen, die
ein Kind erwarten.
Und nun mehren sich die Hinweise da-
rauf, dass Schmerzmittel in der frühen
Schwangerschaft die spätere Fruchtbarkeit
der Kinder mindern könnten, von Mäd-
chen und Jungen. Im Verdacht stehen ne-

DOC-STOCK
ben Ibuprofen auch Paracetamol, Acetyl-
salicylsäure und weitere chemisch ver-
wandte Substanzen.
»Es gibt Gründe, sich Sorgen zu ma-
chen«, sagt der Biologe David Kristensen

Gift fürs Ei vom Kopenhagener Universitätsklinikum,


der sich seit vielen Jahren mit der Wirkung
dieser Schmerzmittel beschäftigt. »Man-
che Befunde sind alarmierend.«
Medizin Auch Schwangere schlucken Schmerzmittel. Doch jetzt In der angesehenen Fachzeitschrift »Hu-
wird klar, dass Wirkstoffe wie Ibuprofen die Keimzellen des man Reproduction« erschien Anfang Fe-
Embryos zerstören können – der Nachwuchs würde unfruchtbar. bruar eine Studie von Forschern der Uni-
versität im bretonischen Rennes, an der
auch Kristensen beteiligt war. Die Wissen-

E
s gibt keine Beweise, dass es sich für das Kind zwar gefährlich werden, aber schaftler hatten das Gewebe von Eierstö-
so zugetragen hat. Aber es könnte so weit ist es ja in diesem Fall noch nicht. cken aus 185 abgetriebenen weiblichen
sich so zugetragen haben. Tau- In den nächsten Tagen bekämpft die Embryonen aus der siebten bis zwölften
sendfach, zehntausendfach viel- Frau deshalb morgens und abends ihre Pein Schwangerschaftswoche Ibuprofen-Lösun-
leicht, allein in Deutschland. mit einer weißen Tablette. Der Schmerz gen ausgesetzt. Das Ergebnis: Der Wirk-
Angenommen also, eine junge Frau verschwindet, bald ist er vergessen. stoff führte in einer Konzentration, wie sie
wacht eines Morgens mit Kopfschmerzen Sieben Monate später kommt ein gesun- nach Einnahme einer Tablette entstehen
auf, der Nacken ist verspannt, alles tut des Mädchen zur Welt. Es entwickelt sich kann, zu einem »dramatischen Verlust an
weh. Sie kann nicht zu Hause bleiben, prächtig, lernt laufen, sprechen, lesen, Keimzellen«.
muss an diesem Tag unbedingt zur Arbeit, schreiben, rechnen, alles nach Plan, es Der Schaden falle individuell sehr unter-
muss funktionieren. macht Abitur, studiert, findet einen guten schiedlich aus, berichtet Séverine Mazaud-
Die Frau ist schwanger, gerade erst, man Job, heiratet. Als es Mitte dreißig ist, will Guittot von der Universität Rennes, die
sieht noch nichts. Darf sie ein Schmerz- das Kind dann selbst Kinder bekommen. Hauptautorin der Studie. Im schlimmsten
mittel schlucken, am besten Ibuprofen, Aber es will und will nicht klappen. Der Fall sei das embryonale Eierstockgewebe
den Wirkstoff, der ihr immer so gut hilft? Arzt stellt fest: In den Eierstöcken der durch das massive Zellsterben »löchrig wie
Im Beipackzettel steht: „Wenden Sie erwachsenen Tochter finden sich keine Ei- Klöppelspitze« geworden. Zwar habe sich
sich an Ihren Arzt.“ Der würde wahrschein- zellen mehr, die heranreifen und befruch- das Gewebe teilweise wieder erholt, wenn
lich sagen, was allgemein als Konsens un- tet werden könnten. Vor fünf oder zehn man die Ibuprofen-Lösung entfernte, aber
ter Ärzten gilt: Natürlich sollte man in der Jahren hätte sie noch Kinder kriegen kön- in etlichen Fällen bleibe doch ein dauer-
Schwangerschaft Medikamente möglichst nen. Aber jetzt ist die sogenannte Follikel- hafter Schaden.
vermeiden. Aber Ibuprofen und Paraceta- reserve, das Reservoir an Eizellen, das an- Bei embryotox.de findet sich bislang
mol sind altbewährte, gut untersuchte gelegt wurde, als die Frau selbst noch ein unter dem Stichwort »Ibuprofen« kein
Mittel. Embryo war, bereits aufgebraucht, früher Hinweis auf die aktuelle Untersuchung.
Wenn er dann, wie viele Ärzte, auf der als bei den meisten anderen Frauen. Dort heißt es: »Ibuprofen gehört in den
von der Charité betriebenen und vom Es ist nur ein Gedankenexperiment. ersten zwei Dritteln der Schwangerschaft
Bundesgesundheitsministerium und von Aber eines, das Forscher derzeit beschäftigt: neben Paracetamol zu den Analgetika der
der AOK geförderten Website embryo- Könnte es sein, dass die Unfruchtbarkeit Wahl.«
tox.de weiter nachforschte, fände er dort der Tochter zusammenhängt mit dem Ibu- Für Christof Schaefer vom Pharmako-
die Information, es gebe „beim Menschen profen, das ihre Mutter vor über 35 Jahren vigilanz- und Beratungszentrum Embryo-
keine ernsthaften Hinweise“ auf Fehlbil- in der Schwangerschaft genommen hat? naltoxikologie der Berliner Charité, das
dungen am Anfang der Schwangerschaft. Ibuprofen ist das Lieblingsschmerzmittel die Website betreibt, ist die Untersuchung
Ab dem sechsten Monat könne Ibuprofen der Deutschen unter den nicht verschrei- aus Rennes zwar ein »interessantes Sig-

96 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


IN DER SPIEGEL-APP

nal«. Es könne aber »wie alle experimen- Selbst erwachsenen Männern kann Ibu-
tellen Studien nicht unbesehen auf den le- profen wohl noch schaden. Kristensen stell-
benden Menschen übertragen« werden. te fest, dass junge Männer, die sechs Wo-
»Wir wollen die Frauen deshalb nicht un- chen lang zweimal 600 Milligramm Ibupro-
nötig in Panik versetzen«, sagt Schaefer. fen pro Tag einnahmen, in einen Zustand
Das Problem dabei: Eine Studie, die be- des »kompensierten Hypogonadismus«
weisen könnte, dass Ibuprofen oder ande- hineinrutschen konnten – eine Störung der
re Schmerzmittel in der Schwangerschaft Hormonproduktion des Hodens, die sonst
die Fruchtbarkeit des Nachwuchses beein- typischerweise ältere Männer ereilt.
trächtigen, lässt sich schwer durchführen. Auch Paracetamol und Acetylsalicylsäu-
Idealerweise müsste man Schwangere und re und wahrscheinlich noch weitere ähn-
ihre Kinder dafür bis zu 40 Jahre lang be- liche Wirkstoffe bringen das Hormonsys-
gleiten und immer wieder untersuchen – tem des embryonalen Hodens durchein-
ein praktisch unmögliches Vorhaben. ander, das zeigen Tierexperimente und
»Frauen sollten zu Beginn der Schwan- Studien an menschlichem Gewebe.
gerschaft oder besser noch vorher über die Besonders beunruhigend: Wir nehmen
möglichen Gefahren von Schmerzmitteln offenbar permanent Paracetamol zu uns –
aufgeklärt werden, so wie über die Ge- ungewollt und unbemerkt gelangt das
fahren von Alkohol«, fordert deshalb Zeug in den Körper, und zwar in einer Do-
Mazaud-Guittot. sis, die einer fünftel Tablette pro Tag ent-
David Kristensen waren schon vor zehn sprechen kann. Forscher haben keine Er-
Jahren Zweifel an der Unbedenklichkeit klärung für diese Dauerbelastung, sie ver-
der Wirkstoffe gekommen. Damals rannte muten aber, dass der Stoff via Trinkwasser
er, noch Doktorand, zu seinem Professor den Verbraucher erreicht, aus anilinhal-
und zeigte ihm aufgeregt, was ihm aufge- tigen Farbstoffen und Pflanzenschutzmit-

DUNJA BATARILO / SILVIA JANSEN


fallen war: Die chemischen Strukturen von teln oder aus der Tiermast.
Acetylsalicylsäure, aber auch von Parace- Kürzlich wurde in Rennes eine Studie
tamol und Ibuprofen ähnelten in gewisser zur Wirkung von Paracetamol auf die em-
Weise denen von Phthalaten und Para- bryonalen Eierstöcke durchgeführt. Séve-
benen. Erstere stecken in Weichmachern, rine Mazaud-Guittot darf die Ergebnisse
Letztere in Konservierungsstoffen, beide noch nicht verraten, doch die Effekte schei-
stehen im Verdacht, die männliche Frucht- nen zumindest etwas weniger drastisch zu
barkeit zu beeinträchtigen. sein als bei Ibuprofen.
Bald darauf konnten die beiden For- Shanna Swan von der Mount Sinai
scher zeigen, dass Phthalate, Parabene School of Medicine beschäftigt sich seit
und Schmerzmittel die gleichen hormo- den Neunzigerjahren mit der Frage, wa-
nellen Kommunikationswege im Körper rum die Spermaqualität in den vergange-
blockieren – unter anderem die des männ-
lichen Sexualhormons Testosteron. »Der
nen Jahrzehnten immer weiter abgenom-
men hat. Ob zu diesem Phänomen die
Blinder
einzige Unterschied ist, dass die Dosis bei
den Schmerzmitteln viel höher ist«, sagt
Schmerzmittel wesentlich beitragen, ver-
mag sie noch nicht zu sagen, doch sie hat
Passagier
Kristensen. sich in die Debatte eingeklinkt. »Wirklich Marc Fälker ist von Geburt an blind.
Es gibt Studien, die darauf hindeuten, kompliziert«, sagt sie, »wird es bei der Fra-
Zu Hause in Unna, umringt
dass Ibuprofen auch die Fruchtbarkeit von ge, warum die Leute eigentlich so viele
Jungen beeinträchtigen könnte, zumindest Schmerzmittel nehmen.«
von 2000 Stoffpinguinen, träumt er
dann, wenn die Mutter es innerhalb eines Tatsächlich haben sich Paracetamol von einem besonderen Erlebnis:
bestimmten Zeitfensters am Ende des und Ibuprofen zu Lifestyle-Medikamen- Einmal im Leben will er die echten
ersten Schwangerschaftsdrittels einnimmt. ten entwickelt, die von ehrgeizigen Hob- Tiere hautnah erleben. Marc will
Das Mittel stört das hormonelle Gleichge- bysportlern ebenso konsumiert werden auf die Falklandinseln reisen, auf
wicht des embryonalen Hodens. wie von Menschen, die auf eine stim- denen Hunderttausende Pinguine
mungsaufhellende Wirkung hoffen. Und – leben – zwei Wochen auf See,
von Schwangeren. schaukelnd, seekrank, ohne Blinden-
Ibuprofen und Paracetamol »Wir müssen junge Frauen dringend stock. Die Reise seines Lebens.
Verkaufte Packungen in Deutschland, in Mio. darüber aufklären, was sie alles gegen
Schmerzen tun können, ohne Medika-
Sehen Sie die Visual Story im
50,6 mente zu nehmen«, sagt Hartmut Göbel,
Neurologe und Chefarzt der Schmerz- digitalen SPIEGEL, oder scannen
klinik Kiel. An die frische Luft zu gehen Sie den QR-Code.
helfe bei leichteren Kopfschmerzen, auch
30,7 27,8 regelmäßiger Sport. Und wenn es gar
26,1 nicht mehr gehe, erklärt der Mediziner,
solle man sich, bevor man eine Pille
schlucke, erst einmal Ruhe und Entspan-
nung gönnen – und sich dann eben doch
Quelle:
mal krankschreiben lassen.
IQVIA
Veronika Hackenbroch
2008 2017 2008 2017 JETZT DIGITAL LESEN

97
Wissenschaft

Bunt
Kulturgeschichte Rot betört, Blau besänftigt, Schwarz löst Demut aus. Farben haben
eine magische Wirkung auf die menschliche Psyche, Farben haben Geschichte
geschrieben. Nun stellt eine der großen Pigmentsammlungen der Welt ihre Schätze vor.

Woher stammen die Farben, was stellt der Gleißendes Pipi


Mensch mit ihnen an, welche Rolle spiel-
ten sie in früheren Zeiten? In ihrer Kollek- Was ist es, was da auf den Bildern des eng-
tion archiviert die Harvard-Universität in lischen Landschaftsmalers William Turner
Cambridge bei Boston mehr als 2500 Pig- so prachtvoll gleißt? Stimmt es, dass es
mente. Jetzt haben die Kunstmuseen der sich um den Urin hungernder Kühe han-
Hochschule einen »Atlas seltener und ge- delt? Das ist eines der ungelösten Rätsel
bräuchlicher Farben« herausgebracht*. Er der Pigmentforschung. »Indisch Gelb«
erzählt, wie das Bunte in die Welt kam; wurde einst in Form senffarbiger Kugeln
hier ein kleiner Reigen berühmter Töne: aus dem Osten geliefert, und niemand
wusste genau, woher es kam. Nur der un-
verkennbare Ammoniakgeruch nährte ei-
nen gewissen Verdacht. Diesen schien im
Jahr 1883 der Brief eines indischen Kolo-
nialbeamten zu bestätigen: In einem Dorf
PASCALE GEORGIEV FOR ATELIER EDITIONS

namens Mirzapur im Nordosten des Lan-


des habe er persönlich die weltweit einzige
Produktionsstätte des Farbpigments in Au-

PASCALE GEORGIEV FOR ATELIER EDITIONS


genschein genommen, schrieb der Autor.
Dort sei er Zeuge geworden, wie die Leute
Kühe in Eimer urinieren ließen. Der Zu-
stand der Tiere sei erbärmlich gewesen,
denn um den Gelbwert des Exkrets zu op-
timieren, würden sie ausschließlich mit
Mangoblättern ernährt. Dass das bis Ende
des 19. Jahrhunderts gebräuchliche »In-
disch Gelb« urinhaltig war, beweisen in-
Die erste Farbe zwischen Labortests. Der Rest der Ge-
schichte ist unbestätigt. In Mirzapur jeden-
Roter und gelber Ocker sind den Urein- falls kann sich heute niemand mehr daran Läuseblut auf den Talaren
wohnern Australiens heilig. Denn dies sind erinnern, dass dort einst Kühe auf Mango-
die Farben der Erde. Eisenhaltige Mine- diät gesetzt worden seien. Was als Spaniens »Siglo de Oro«, golde-
rale, die eine breite Palette von erdigen nes Zeitalter, bekannt ist, könnte mit glei-
Gelb-, Orange- oder Rottönen ausbilden, cher Berechtigung auch als rotes durchge-
waren die ersten Pigmente der Mensch- hen, denn nicht nur Gold und Silber
heit. Sie wurden auf Höhlenwände im eis- schafften die Spanier über den Atlantik,
zeitlichen Europa aufgetragen, sie dienten sondern auch jede Menge Rot. Veneziani-
den Indianern Amerikas zur Körperbema- scher Samt, römische Kardinalstalare,
lung, und in Australien sind sie Grundlage französische Dirnenwangen und britische
einer bis heute lebendigen Maltradition. Soldatenröcke – sie alle wurden mit Co-
Über Jahrtausende brachen dort die Män- chenille-Rot aus Südamerika gefärbt. Das
ner in oft Monate währenden Pilgerzügen Geheimnis, wie sich der Farbstoff herstel-
zu den Ockervorkommen des Südens auf. len lässt, erlernten die spanischen Kolo-
Die heiligen Brocken, die sie von dort mit- nialherren von den Azteken und Inka: Die
brachten, dienten nicht nur den Künstlern züchteten Cochenille-Schildläuse auf Kak-
als Farbe, sie waren auch ein wichtiges tusblättern. Aus dem Lebenssaft dieser In-
Handelsgut. In den »Ockerkriegen« ver- sekten gewannen sie dann das scharlach-
suchten die weißen Farmer von Mitte des rote Pigment, das den Spaniern so viel
19. Jahrhunderts an diesem Treiben ein Wohlstand bescheren sollte. Bis heute
Ende zu setzen. Sie richteten unter den wird der Farbstoff etwa für M&Ms oder
Aborigines ein Gemetzel an. Den Kult um in Lippenstift verwendet, zu erkennen am
JEAN-PHILIP LESSARD

den Ocker zu tilgen gelang ihnen nicht. Kürzel E 120. Vegetarier rebellieren gegen
die Nutzung des tierischen Produkts. Star-
bucks verzichtet inzwischen darauf und
* »An Atlas of Rare & Familiar Colour – The Harvard
Art Museums’ Forbes Pigment Collection«. Atelier Édi- versichert, dass am Erdbeer-Frappuccino
tions; 224 Seiten. nicht länger Läuseblut klebt.

98 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Tödliche Bleiche te dann ein Teenager dafür, dass die Farbe
der Mächtigen zu etwas Gewöhnlichem
Weiß verursache mehr seelische Pein als wurde. Im Jahr 1856 stieß der 18-jährige
blutiges Rot, schrieb Herman Melville in Chemiker William Perkin beim Experi-
seinem »Moby Dick«. Das mag Ansichts- mentieren zufällig auf eine lila Substanz

JEAN-PHILIP LESSARD
sache sein, unstrittig aber ist, dass Weiß (Farbton: »mauve«). Es war der erste der
dem Körper Schaden zufügen kann: Blei- Anilin-Farbstoffe, die bald viele der tradi-
weiß, lange Zeit das gebräuchlichste aller tionellen Pigmente ersetzen sollten. Dem
Pigmente, ist giftig. Das war schon in der Ruf der Farbe Purpur war das wenig zu-
Antike bekannt, dennoch mochten die träglich. Schon bald hing ihr der Bei-
Künstler auf ihr glänzendes Weiß nicht ver- geschmack alternder Jungfern an. »Traue
zichten. Plinius der Ältere beschrieb, wie Pigments eigene Verträge mit ihren Auf- nie einer Frau, die Mauve trägt«, warnte
es herzustellen sei: Bleiplatten mussten ne- traggebern ab, Albrecht Dürer fluchte über der Schriftsteller Oscar Wilde.
ben Schalen voll Essig gelagert werden. den exorbitanten Preis. Fast alles Ultrama-
Drum herum aufgehäufte Tierexkremente rin, das sich auf der Leinwand der alten
hielten die Temperatur konstant. Das Meister findet, stammt vom selben Ort:
Ganze wurde versiegelt, bis Essigdämpfe aus den Sar-i-Sang-Minen im afghanischen
und Dungausdünstung das Blei in strah- Hindukusch, wo Lapislazuli aus dem Fels
lendweißes Bleikarbonat verwandelt hat- gebrochen wurde. Den Wert der blauen
ten. Für viele Frauen erwies sich das so Steine haben auch die Taliban erkannt. Bis
entstehende Bleiweiß als Fluch. Sie ver- zu 20 Millionen Dollar pro Jahr erlösen
suchten, damit ihre Haut zu bleichen, und sie mit dem Verkauf von Lapislazuli.
zogen sich schleichende Vergiftungen zu.
Berühmtestes Opfer war die englische
Gesellschaftsdame Maria, Countess of Co-
ventry, die im Jahr 1760, gerade einmal Für Kaiser und Jungfern
28-jährig, verstarb. Sie hatte sich zu Tode
geschminkt. Halden stachelbesetzter Schneckengehäu-
se im Libanon zeugen noch heute von ei-
ner Industrie, die den Phöniziern einst
Reichtum bescherte. Aus einer Drüse der
Purpurschnecke gewannen sie einen vio-

JEAN-PHILIP LESSARD
letten Farbstoff, der Preise ähnlich wie
Gold erzielte. Allerdings war der Aufwand
erheblich: Für jedes Kilo Lila mussten
knapp zehn Millionen Gastropoden ster-
ben. Im antiken Rom regelte ein strenger
Dresscode, wer sich in Purpur kleiden durf-
te. Zeitweilig war dieses Recht nur dem Verwandlung ins Nichts
Kaiser selbst vorbehalten. Viel später sorg-
Ein Abgrund. Ein schwarzes Loch. Ein
PASCALE GEORGIEV FOR ATELIER EDITIONS

Nichts. Vieles wurde über Vantablack


gesagt. Nur über eines herrscht Einigkeit:
Eine Farbe ist es nicht. Dieses schwärzeste
Schwarz der Welt lässt sich als Inbegriff
der Unfarbigkeit verstehen. Entwickelt
wurde das Hightech-Pigment von der
britischen Firma Surrey NanoSystems. Es
besteht aus einem Wald winziger Kohlen-
stoff-Nanoröhrchen, in dem sich jeder
eintreffende Lichtstrahl verirrt. Mit dem
Licht schluckt Vantablack auch jede
sichtbare Spur von Oberfläche. In einem
Zimmer, das mit diesem Pigment be-
Edel, schön, vollkommen schichtet ist, herrscht totale Finsternis.
Das Erstaunliche: Eine Lampe darin leuch-
Das Wort »Ultramarin« deutet auf eine tet sichtbar, der Raum jedoch bleibt –
Herkunft »jenseits des Meeres« hin, »La- schwarz. In der Kunstwelt löste es Em-
pislazuli« hat den Beiklang von Orient. pörung aus, als sich der Bildhauer Anish
Das tiefblaue Pulver, das aus Lapis gemah- Kapoor vor zwei Jahren exklusive Nut-
len wurde, galt in der Renaissance als kost- zungsrechte für dieses Schwarz zusichern
barste aller Farben. Das spätmittelalterli- ließ. Er allein darf nun vermittels Vanta-
JEAN-PHILIP LESSARD

che »Buch von der Kunst«, das sonst an black dreidimensionale Kunstobjekte in
jedem Pigment etwas zu mäkeln fand, samtig-zweidimensionales Nichts ver-
pries Ultramarin als »edel, schön, vollkom- wandeln.
men«, es stehe »über allen Farben«. Künst- Johann Grolle
ler schlossen über den Gebrauch dieses

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žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Kultur
»Ich glaube, dass Optimismus im Leben hilft.« ‣ S. 110

Gedenken

Beharrliche Melodien
G Der Musikwissenschaftler Francesco
Lotoro hat jahrzehntelang recherchiert und
Tausende Kompositionen ausfindig ge-
macht, die während der Nazizeit in Kon-
zentrations- oder Arbeitslagern geschrie-
ben wurden, erschaffen von Menschen,
deren Leben für unwürdig erklärt worden
war. Die ungewöhnliche Sammlung be-
inhaltet Lieder, Sinfonien, sogar Opern.
Bei Feierlichkeiten in Jerusalem zum 70-
jährigen Bestehen des Staates Israel sollen
nun am 15. April einige der Stücke, die
zum Teil auf Toiletten- oder Zeitungs-
papier notiert sind, zum wahrscheinlich
ersten Mal überhaupt vom Ashdod Sym-
phony Orchestra gespielt werden. Auch
ein Lied gehört dazu, das der jüdischen
Dichterin Ilse Weber zugeschrieben wird,
die 1944 in Auschwitz ermordet wurde.
Zuvor war sie in Theresienstadt interniert,
wo sie es Kindern vorsang, darunter einem
kleinen Mädchen. Aviva Bar-On überlebte
den Holocaust, sie ist heute 85 Jahre alt
und wird in Jerusalem dieses Lied singen,
MARTIN LENGEMANN / LAIF

das sie nie vergessen hat. »Die Musik


drückt das aus, was nicht gesagt werden
kann und worüber zu schweigen unmög-
lich ist«, formulierte der französische Lite-
rat Victor Hugo; die Beobachtung trifft auf
die von Lotoro entdeckten musikalischen
Lotoro Schätze besonders zu. KS

Kommentar

Cannes schasst Filmkritik


Neue Regeln für Berichterstatter verändern den Charakter des Festivals.
Der Leiter des bedeutendsten Filmfestivals der Welt hat vor ein früh berichtet (und kritisiert) worden: »Ich kann sehr gut einen
paar Tagen verkündet, dass er die Stars auf dem roten Teppich Tag länger auf die in den Zeitungen gedruckten Kritiken warten.«
künftig nicht mehr stören lassen will durch mäkelnde Filmkritiker. Der Verband der französischen Filmkritiker prophezeit, dass
Thierry Frémaux, seit 2001 Chef der Filmfestspiele in Cannes, künftig lieber glamouröse Fotos statt kritische Analysen präsen-
hat für das am 8. Mai beginnende diesjährige Festival ein paar tiert würden, denn man benötige »Zeit zur Beurteilung von
revolutionäre Neuerungen verfügt. In die Schlagzeilen schaffte er Filmen«. Rund 4000 Journalisten haben sich bisher alljährlich
es mit dem Gebot, dass Selfies auf dem roten Teppich künftig ver- akkreditieren lassen. Vermutlich werden künftig weniger Berich-
boten seien. Außerdem ordnete Frémaux an, dass es morgend- terstatter nach Cannes reisen, einen Boykott der Filmfestspiele
liche Vorab-Pressevorführungen der Wettbewerbsbeiträge nicht aber wird es nicht geben; dazu ist die Côte d’Azur im Mai zu
mehr geben wird, von nun an dürfen die Medienleute die Filme schön, dafür ist die Konkurrenz zwischen den Netzjournalisten,
frühestens parallel zu den Galaaufführungen am Abend sehen. die von den Änderungen weniger betroffen sind, und den
Frémaux räumt damit den Weg frei, Cannes in jene PR-Show zu Printkritikern zu groß. Trotzdem hat Frémaux’ Attacke sein
verwandeln, die sich die Filmindustrie schon lange wünscht. Der Festival beschädigt. Cannes ist nun ganz offiziell kein Fest
für seine Eitelkeit berüchtigte Festivalchef schasst die Filmkritik des Diskurses über Filmkunst mehr, sondern eine Reklameschau
als Institution, mit der windigen Begründung, bislang sei oft zu der Kinogeschäftsleute. Wolfgang Höbel

102 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Téwodros beging angesichts der Über- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht

Personenschutz
macht der ausländischen Truppen
Selbstmord, sein kleiner Sohn, Prinz
Alamayo, wurde nach Großbritannien
gebracht (wo er mit nur 18 Jahren Für eine kurze Zeit war ich Irena
starb). Die Soldaten durften plün- Elżbieta Woś, geboren im Fe-
dern – manches Beutestück gelang- bruar 1923 in Warschau. Ich
CORNELIUS JABEZ HUGHES / VICTORIA AND ALBERT MUSEUM, LONDON

te später in britische Museen. Von war 16, und es wäre mein erster
nächster Woche an zeigt das Londo- Schultag nach den Ferien gewe-
ner Victoria and Albert Museum sen, als die deutsche Wehrmacht
(V&A) eine Auswahl schmuckvoller Polen überfiel. Als ich 20 war,
Objekte aus Abessinien, das später zu trat ich dem Widerstand bei. Die Sache
Äthiopien wurde, auch alte Fotografien ging nicht gut aus. Ich versteckte mich
und weiteres Dokumentationsmaterial. mit meiner Familie in einem Keller, doch
Tristram Hunt, Historiker, ehemali- im September 1944 wurden wir entdeckt.
ger Politiker und seit 2017 Chef des Beim Eintritt in das Holocaust Memorial
V&A, will, wie er sagt, die afrikanische Museum in Washington bekommt man
Handwerkskunst feiern und zugleich eine Identification Card ausgehändigt; die
ein Licht auf die »kontroverse Geschich- meine war eine statistische Unwahrschein-
te« der eigenen Sammlung werfen. lichkeit: eine polnische, katholische Über-
Doch was hält er von den – internatio- lebende. Es braucht nur Sekunden, um
nal geführten – Debatten um die Resti- Anteil zu nehmen und sich in das Schick-
Prinz Alamayo 1868 tution ethnologischer Stücke? In Frank- sal eines anderen hineinzuversetzen; diese
reich forderte Präsident Emmanuel Eigenschaft wird, wie die Grausamkeit, zu
Museen Macron vor Kurzem die Rückgabe. den spezifisch menschlichen gerechnet.
Geplünderter Glanz Hunt sagt, natürlich gefalle Politikern Am Tag zuvor, auf dem March for Our
die große Geste, doch Kultur sei kein Lives in Washington – der auf ein gemein-
G Queen Victoria sandte in den 1860er- Werkzeug für Leute mit eigener geopoli- sames Stehen in einem sehr dichten Pulk
Jahren 13 000 Soldaten nach Ostafrika. tischer Agenda. Das V&A habe in der hinauslief –, war dieselbe Eigenschaft in
Man nannte das – was harmlos klang – Vergangenheit Stücke zurückgegeben, Anspruch genommen: Eine Rednerin, ein
»Expedition«. Doch sollte diese vor auch nach Afrika, aber er halte nichts Sprecher nach dem anderen erzählten von
allem dazu dienen, militärische Stärke von generellen Aussagen, dafür sei die Geschwistern, Freunden, Klassenkame-
zu zeigen und britische Diplomaten zu Angelegenheit zu komplex. »Jedes raden, die durch Schusswaffen getötet wur-
befreien, die der abessinische Kaiser Objekt hat seine Geschichte, jedes Land den. Eine Erzählerin schwieg nach einer
Téwodros gefangen hielt. Im April hat seine eigenen Gesetze. Man muss sehr kurzen Rede, bis jene etwa 6 Minuten,
1868 kam es zur Schlacht um Magdala, jeden Fall einzeln betrachten.« UK 20 Sekunden verstrichen waren, die der
Attentäter von Parkland für seinen Mas-
senmord gebraucht hatte. Vielleicht kann-
ten nicht viele das Stück »4ˇ33ˇˇ« von John
Kino geworfen werden. Beim Zuschauen Cage, in dem die Unruhe des Publikums
Geisterflucht denkt man nicht einen Moment lang: die Musik ausmacht, aber alle waren ver-
Moment mal, das kann doch nicht heu- traut mit der Tradition der Schweigeminu-
G Was für eine coole Entscheidung des te spielen? Große Geschichten gehören te, sodass diese lange Zeit verstrich ohne
Regisseurs Christian Petzold, diese alte eben keiner Zeit. Und das Elend ist Anzeichen von Ungeduld. Ein Junge von
Geschichte einfach in unsere Gegen- ewig. Franz Rogowski als Georg und vielleicht 17 Jahren demonstrierte mit
wart zu versetzen. Was heißt zu verset- Paula Beer als Marie spielen traum- einem Schild, auf dem sein Bruder abgebil-
zen? Sie spielt einfach heute. Ohne wandlerisch verloren. Gespenster zwi- det war, ein siebenjähriger Bub, erschossen
die immer gleichen historischen Kostü- schen den Welten. Dass der Film (Kino- bei einem Shooting an einer Grundschule.
mierungen, den klassischen Braunstich start: 5. April) einen trotzdem kaltlässt, Ich habe niemanden gesehen, der ihn ange-
des deutschen Nazifilms. Anna Seghers liegt wohl an Petzolds Frostregie, die sprochen hätte, aber ich hoffe, jemand hat
hat ihren Exilroman »Transit« Anfang alle Emotionen zu einem Standbild aus es getan und den richtigen Ton gefunden.
der Vierzigerjahre geschrieben. Er dem Kühlhaus der Geschichte herunter- Das meiste im Leben ist ja eine Frage
spielt im Paris, im Marseille von damals, temperiert. Schade. Eine großartige der richtigen Dramaturgie. Die Jugend-
als Europas Juden und Intellektuelle Chance. Verpasst. VW lichen von Parkland haben es vermocht, in
auf dem Kontinent umherirrten, auf drei Stunden Traurigkeit zu ermöglichen –
der Suche nach Sicherheit und Schutz. und eine Empörung, die zu politischen
Es ist die Geschichte eines Autors Aktionen führt. Statt Entzweiung zu schaf-
namens Weidel, der sich in Paris das fen durch den Versuch, den korrupten,
Leben genommen hat. Und seiner Frau komplizierten amerikanischen Waffen-
Marie, die seinen Tod nicht glauben komplex aufzulösen, hat diese Gruppe
will. Und Georgs, der das letzte Manus- von Schülern auf das Miterleben, die Em-
kript Weidels verwahrt und durch ein pathie gesetzt. Nicht als sentimentalen
Missverständnis die Identität des toten Ersatz für Politik, sondern als deren real-
Autors annimmt. Marie und Weidel politischen Ausgangspunkt.
sind Flüchtlinge unter Flüchtlingen,
Taumelnde, die von Liebe zu Liebe, Beer, Rogowski An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
PIFFL

von Unsicherheit zu Unsicherheit Nils Minkmar im Wechsel.

103
Kultur

Wald als Widerstand


Literatur Eine Familie sucht ihr Heil unter Bäumen, ein Mann verschwindet im ewigen Grün,
der Förster Peter Wohlleben erobert mit seinen Büchern die Welt. Die Burn-out-
Gesellschaft zieht sich zurück. Der Wald ist der utopische Ort unserer Zeit. Von Volker Weidermann

S
o geht es nicht weiter. Es fehlt das weil es keine Wahl gibt. Unerfüllter Sie wollen eigentlich das ganze Jahr
Grün, das Licht, die Ruhe und die Wunsch legt sich auf unerfüllten Wunsch, über im Zelt leben. Später wollen sie eine
Harmonie. Raus aus diesen kalten, und irgendwann liegen sie unter dem Berg eigene Blockhütte bauen. Bäume fällen,
dunklen Straßenschluchten, rein der eigenen Unzufriedenheit begraben vom Wald und selbst angebautem Gemüse
in den Wald. Die Tische in den Buchläden und japsen nach Luft. leben. Doch es ist alles unendlich mühsam,
biegen sich unter grünen Titeln. Was ist »Wir waren die Hilflosen. Wir waren die matschig, kalt und schwer. Wie die Wäsche
da los? Was ist das Wald-Geheimnis? Verlorenen. Wir haben nie den richtigen waschen? Was kochen? Wohin mit dem
Eine wahre Waldbuchflut strömt seit ei- Durchbruch als Künstler geschafft, waren Müll?
ner ganzen Weile in die deutschen Buch- nie wirklich unser eigener Chef. Wir waren Hippieträume – vom grünen Meer so-
handlungen und von dort in die lesende Versager. Wir konnten eigentlich gar nichts fort zurückgewiesen. »So hatten wir uns
Welt. Neue Bücher, alte auch. und hatten das Gefühl, man müsse alles das nicht vorgestellt. Wir hätten bei Son-
Das Urbuch der großen Waldsehnsucht können.« nenschein ankommen sollen, mit geöffne-
ist schon vor mehr als 150 Jahren in Ame- Irgendwann haben sie gedacht, dass es tem Sonnendach und Blumen im Haar.«
rika erschienen. Es kommt noch heute in vielleicht nicht an ihnen liegt. Dass sie viel- Alle hatten sie gewarnt. Das wird nichts.
immer neuen Ausgaben und Auflagen he- leicht gar keine Versager sind. Dass dieses Ihr seid verrückt. »Ihr müsst realistisch
raus: »Walden oder Leben in den Wäl- permanente Gefühl des Ungenügens in sein«, hatte der Direktor gemahnt, als sie
dern«, der Bericht des amerikanischen dem Leben, das sie führen, nie enden wird. die Kinder von seiner Schule abmeldeten.
Philosophen H. D. Thoreau über sein Le- »Wir müssen Unmengen an Geld ranschaf- Sie wollten aber nicht mehr realistisch sein,
ben in einer Waldhütte. In die Einsamkeit fen, um einen gewissen Standard zu halten, so wie alle um sie herum, realistisch und
der Wälder von Massachusetts trieb ihn um den Job zu behalten und machen zu frustriert. Der neue Frust ist wenigstens
Mitte des 19. Jahrhunderts der Überdruss können, was alle machen. Das ist ver- selbst gewählt. Na ja, nicht von allen. Die
an der gestressten, vollen Welt: »Wir woh- dammt frustrierend.« Kinder sind schon nachhaltig geschockt,
nen dicht zusammengepfercht, sind einan- vor allem über den Verlust ihrer leuchten-
der im Weg, stolpern übereinander und den elektronischen Endgeräte. Aber die
verlieren, meine ich, einigermaßen den Manchmal, sekundenlang, Kinder sind auch am anpassungsfreudigs-
Respekt voreinander. Gewiss würde weni- Glück. Das, wofür sie in die ten. Sie finden ihre Aufgaben und ihren
ger große Häufigkeit für jeden bedeuten- Platz im Wald. Manchmal, sekundenlang,
den und herzlichen Verkehr genügen.« verdammte Undurch- ist echtes Glück da. Harmonie aller mit al-
Ja, das würde wohl genügen, denken dringlichkeit gezogen sind. lem. Das, wofür sie in diese ganze ver-
viele, die sich morgens in die U-Bahn stop- dammte Undurchdringlichkeit gezogen
fen, gehetzt irgendwo ihre Kinder abge- sind. Zwei Jungs am Fluss, Sonne, sie su-
ben, weiterhetzen, immer an irgendwelche Schließlich ist die Verzweiflung groß chen schöne Steine, dann sitzen sie Schul-
Fremden stoßen, den Blick nach innen, genug, und sie ziehen in den Wald. Sie ter an Schulter am Wasser, eine sehr blaue
auf Displays, nur nicht die Welt sehen, wie nehmen Kontakt auf zu einem Typen, der Libelle im Licht. Die Mutter schaut und
sie ist. sich »Kapitän« nennt und selbst allein und denkt: »Für diese Momente lebte ich im
Reisen wir durch die Fluchtbücher un- abgeschieden in einer Hütte in den Wäl- Wald. Für diese kurzen Einblicke in die
serer Zeit. In die Buchwelt des deutschen dern Schwedens lebt. Der Besitzer dieses Ewigkeit – wie in der Hängematte. Den
Welterfolgsautors Peter Wohlleben, in den Waldes, Millionär und Menschenfreund, Rest der Zeit hatte ich Angst.«
echten Wald eines bärtigen Philosophen erlaubt ihnen, sich in der Nähe des »Kapi- Angst und Kopfschmerzen und Unzu-
und in sein kleines Haus am Rand unserer täns« niederzulassen. Sie werfen Renten- friedenheit. Man nimmt sich eben selbst
Welt, in die Geschichte eines Mannes, der bescheide, Kontoauszüge, Versicherungs- mit in den Wald. Andrea Hejlskov ist frus-
27 Jahre lang in den Wäldern von Maine policen, alles, alles weg, melden die Kinder triert vor allem darüber, dass sie die ganze
verschwand, von niemandem gesehen, von der Schule ab und lösen alle Fesseln. Hausarbeit machen muss, die ohne jedes
von niemandem berührt. Und zunächst Hinein ins Grün! Wald, wir kommen! Hilfsmittel natürlich wahnsinnig kräfterau-
aber zur Geschichte einer recht normalen Es wird natürlich vor allem grauenvoll. bend und zeitaufwendig ist. Ihre Leistun-
dänischen Familie. Andrea Hejlskov, Mutter, Ehefrau, von gen bleiben unsichtbar, ungewürdigt. Der
Frau, Mann, vier Kinder. Die frühen Beruf Kinderpsychologin, hat das alles Mann fällt Bäume, handwerkert, redet mit
Träume haben sich irgendwie nicht ganz aufgeschrieben. Zunächst in einem Blog, dem »Kapitän« über die kommende Re-
erfüllt. Jetzt hetzen sie durch ihr Leben, dann als Buch: Sie und ihre Familie, sie volution und ist ganz und gar bei sich.
»Alltag war Bildschirme, war nie genug sind überhaupt auf gar nichts vorbereitet. Alles wie draußen in der Waldesferne?
Geld haben, nie, nie, nie genug Zeit ha- Ja, gelesen und vorbedacht und gut ge- Nur der Mann ist glücklich? Es ist ziemlich
ben.« Es ist nicht so, dass sie rausgefallen plant haben sie eigentlich alles. Aber toll, wie erschütternd realistisch Andrea
wären aus dem System. Sie sind durch- die grüne Wirklichkeit ist von enormer Hejlskov ihre Waldtraumverwirklichung
schnittlich, das heißt halb erfolgreiche Aka- Andersartigkeit als die Fantasie und die beschreibt. Es wird halt immer kälter,
demiker, mit Kompromissen zufrieden, Träume. dunkler, feuchter, anstrengender. Irgend-

104 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


KILIAN SCHÖNBERGER

Sehnsuchtsziel Wald: »Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind«

105
Kultur

wann kommen auch noch Jünger, Wald- »Mr Ordinary« haben sie Knight ge- nicht gehörten, für die andere gearbeitet,
sehnsüchtlinge aus der Stadt dazu, die nannt, nachdem sich die Menschen ent- Kompromisse gemacht hatten, die er nicht
Hejlskovs Blog gelesen haben und auch täuscht von ihm abgewendet hatten, als machen wollte. Trotzdem ist es erschüt-
frei sein wollen und die dänische Wald- klar war, dass er endgültig keine Botschaf- ternd zu lesen, wie sich die Gesellschaft
familie als Gurus betrachten und eigene ten zu verkünden hat. Schon auf dem Foto an so einem rächt. An einem, der einfach
Zelte in der Nähe aufschlagen. Die Kinder im Highschool-Jahrbuch sah er so aus: ei- nur nicht dazugehören will, auf einem
fordern Privatsphäre, Elektrizität, Internet, ner wie wir. Durchschnittlich. Unauffällig. Planeten, der keinen Ausweg kennt. Weg-
Bad. Der »Kapitän« ist auch etwas ver- Normal. gesperrt, Gefängnis, Besuch empfangen
rückter als gedacht, und so geht die ganze Das ist das Atemberaubende an Finkels hinter einer Glaswand, reden über
schöne Waldutopie dahin. Buch: diese leise Gewöhnlichkeit des Chris- Telefon. Du willst Isolation? Du kannst
Aber sie waren eben wirklich verzwei- topher Knight. Langsam, sacht und behut- sie haben!
felt, vorher in der Stadt, und sie sind zäh. sam nähert sich der Autor dem stillen Trotzdem wird er sich im Gefängnis im-
Sechs Jahre bleiben sie in der Wildnis. Waldmenschen an. Besucht ihn im Gefäng- mer noch freier fühlen als in der Zeit da-
Heute leben sie immer noch im Wald, aber nis, später, als er einen Job hat, in der Auto- nach, in der sogenannten Freiheit da drau-
jetzt weiter südlich, in milderem Klima. werkstatt seines Bruders. Bis zum Schluss ßen. In Freiheit merke er, wie unfrei er
Sie haben ihren »Traum quasi immer mehr reden sie nicht wirklich viel. Aber einmal sich fühle, sagt er zu Finkel. Es gibt auch
verfeinert«, sagt Andrea Hejlskov. Sie ha- ist er ihm ganz nah. Knight hat ihm ein lei- keinen Weg zurück in den Wald. Das ist
ben Solarzellen auf dem Dach und einen ses, trauriges Geständnis gemacht, und Fin- vorbei für ihn. Finkel schreibt: »Er ist sich
Brunnen vor der Tür. Eine Kompromiss- kel schreibt: »Knight kann also doch mit des bodenlosen Unsinns bewusst, der die
wildnis. einer anderen Person interagieren, und Welt erfüllt, und hat beschlossen, so wie
Aber auch schon Thoreau ließ sich in zwar in der denkbar offensten und verletz- die meisten von uns, ihn einfach zu er-
sein Einsamkeits-Hüttchen jede Woche Le- barsten Weise. Und dies ist der Moment, tragen, es zu versuchen. Er scheint auf-
ckereien von der nicht allzu fern lebenden in dem ich zumindest annähernd nachvoll- gegeben zu haben. Es ist vernünftig, aber
Familie auf den Tisch bringen. Man muss ziehen kann, warum Knight damals in den es ist herzzerreißend.«
den Wald nicht übertreiben. Wald verschwand. Er tat es, weil die Welt Mr Ordinary wird mit aller Gewalt wie-
So wie der Waldradikale Christopher keinen Platz hat für Menschen wie ihn. Er der in die Gesellschaft eingefügt, der er
Knight. Der Mann, der im Wald ver- war nicht glücklich in seiner Jugend – nicht entkommen wollte. Die normale Dänen-
schwunden war, 27 Jahre lang. Niemand auf der Highschool, nicht auf der Arbeit, familie erkämpft sich einen Kompromiss
hat ihn in der Zeit gesehen. Er hat nicht nicht, wenn er unter Menschen war. Es am Rand.
geredet, niemanden berührt, er hat die machte ihn fortwährend nervös. Es gab kei- Wald ist Widerstand. Das hat auch
ganze Zeit über in einem Zelt gelebt, gar nen Ort für ihn, und statt weiter zu leiden, schon der zärtliche Waldphilosoph Tho-
nicht weit entfernt von einer Blockhaus- ergriff er die Flucht. Es war weniger ein reau gewusst. Noch vor seinem Einsam-
siedlung an einem See. Am Rand der Zivi- Protest, mehr eine Suche. Er war ein keitsbuch hatte er seinen berühmten Auf-
lisation und doch unsichtbar für die Welt. Flüchtling vor der Gattung Mensch. Der ruf »Über die Pflicht zum Ungehorsam
Man ahnte, dass es ihn gab. Er klaute Wald gewährte ihm Unterschlupf. gegen den Staat« veröffentlicht. Sein flam-
sich all die Jahre seine Lebensnotwendig- ›Ich habe es getan, weil die Alternative mendes Plädoyer für die Unabhängigkeit
keiten zusammen. Brach immer wieder in war, zutiefst unzufrieden zu sein‹, sagt des Einzelnen von einem unlauteren, die
Ferienhütten ein, stahl Lebensmittel, Bü- Knight. ›Ich fand einen Ort, an dem ich Sklaverei ermöglichenden Staat. Wald war
cher, Gasflaschen, alles, was er brauchte. zufrieden leben konnte.‹« für ihn Fundamentalopposition und Glück.
Mehr als 1000 Einbrüche hat er in der Zeit Bis es damit vorbei war. Klar, er hat ge- Ein schwieriges Glück, Kampfglück. Kein
verübt. Ohne erwischt oder auch nur ge- stohlen, immer wieder gestohlen, in Hüt- geschenktes. »Wie niedrig auch dein Le-
sehen zu werden. Bis man ihn schließlich ten geklaut, Dinge genommen, die ihm ben sein mag, tritt ihm entgegen und lebe
eben doch erwischte. Das Phantom. es! Weich ihm nicht aus und gib ihm keine
Christopher Knight. Er redet nicht, als Schimpfnamen! Es ist nicht so schlecht wie
sie ihn schnappen. Seit wann er im Wald du«, schrieb Thoreau. Und appellierte an
lebe, wollen sie wissen. Die letzte Radio- alle Waldsehnsüchtlinge der Welt: »Nur
nachricht, an die er sich erinnert, vor sei- der Tag bricht an, für den wir wach sind.«
ner Waldzeit, war das Reaktorunglück von Das konnte auch schon damals als ein
Tschernobyl. Das war 1986. Ermahnungsruf über den Atlantik gelesen
Aber nicht deswegen ist er in den Wald werden an die deutschen Romantiker, die
geflohen. Nicht aus Angst vor Radioakti- in entschlossener Weltabkehr dem Wald
vität, nicht aus Protest. Sondern: einfach entgegenseufzten. In traumschönen Ver-
so. Er wollte nicht dazugehören. Er funk- sen, wie der Dichter Joseph von Eichen-
tionierte nicht so richtig in der Gesellschaft. dorff: »Waldeinsamkeit / Du grünes Revier
Er wollte allein sein. / Wie liegt so weit / Die Welt von hier! /
Sie haben um Botschaften gebeten, Schlaf nur, wie bald / Kommt der Abend
nachdem sie ihn endlich gefangen hatten. schön, / Durch den stillen Wald / Die Quel-
Um Weisheiten, die er aus dem Wald doch len gehn.« Oder Adalbert Stifter in einem
mitgebracht haben musste. Wofür lebt der schönsten Waldtexte der Weltliteratur,
MARMARA / LE FIGARO / LAIF

denn einer so lange in der Abgeschieden- der Erzählung »Der Hochwald« aus dem
heit? Da muss doch etwas bei rauskom- Jahr 1842. Dunkler, geheimnisvoller, ein-
men, für uns alle. Doch es kam nichts he- samer, sehnsuchtsvoller ist kaum je der
raus. Oder genauer: Stille. Wald beschrieben worden als hier, in die-
Und »Der Ruf der Stille« hat der ameri- ser Geschichte aus dem unberührten Böh-
kanische Journalist Michael Finkel sein merwald zur Zeit des Dreißigjährigen Krie-
Buch genannt, in dem er den Weltflücht- Waldkenner Wohlleben ges. »Wie ein schöner Gedanke Gottes
ling Christopher Knight beschreibt. »Das alte Uhrwerk der Natur« senkte sich gemach die Weite des Waldes

106
Drin im etwas verfallenen Bienenhaus
leuchtet eine blaue Altpapiertonne. Er fin-
de es eine Unart, dass man heutzutage in
den Häusern der Leute erst mal von Müll-
tonnen begrüßt werde. Deshalb habe er
seine hier versteckt. Aber Papier werfe er
ohnehin nicht weg. All die alten Zeitungen.
Man wisse nie, was man noch mal lesen
wolle.
Ulrich Holbein ist ein sanfter Mann. Er
redet leise, weiche Stimme. Er hat sehr
viele Bücher geschrieben, früher bei
Suhrkamp, über die Stille, Philosophen,
Romantik. Vor vielen Jahren hat er im
SPIEGEL einen sehr lustigen, bösen, spöt-
tischen Text über Sloterdijk gebracht. Das
kam nicht überall gut an. Bei Suhrkamp
zum Beispiel.
Eines seiner besten Bücher hat er über
Narren geschrieben, Philosophen, Wracks,
Diktatoren, Baumfrauen, Musen, Snobs
und Zickzackdenker, es erschien unter
WWW.MAIRISCH.DE

dem Titel »Narratorium« im Ammann-


Verlag, den es auch schon nicht mehr gibt.
Eines seiner letzten Bücher, »Mehr
Grün!«, erschien bei einem Verlag namens
Waldbewohnerin Hejlskov in Osby 2016: Das Leben wurde anstrengender als gedacht think-oya.
Man kann schon auch verloren gehen,
hier so abseits von der Welt. Einmal die
in ihre Seele«, schreibt Stifter. Der Wald direkt am Haus vorbei, ein grün vermoos- Woche kommt ein fahrender Supermarkt
ist der Schutz vor der Welt, dem Krieg, je- ter Briefkasten am Anfang des schlammi- vorbei. Menschen eigentlich nicht. Aber
der bösen Macht da draußen. Man muss gen Pfades, der zum Haus führt, steht of- Nachbarn hat er. Die Familie Laabs. Der
nur tief genug hineingehen, zuhören, leise fen. Ulrich Holbein, Walddandy, Philo- Kampf zwischen unserem Waldautor und
sein. Der Waldzauber klingt so: »Alles soph, Schriftsteller in hellgrünem Sakko, den Eingeborenen nebenan ist der Kampf
spricht, alles erzählt, und nur der Mensch wartet schon. Holbein ist Waldpraktiker unserer Zeit. Ulrich Holbein hat ihn in ei-
erschaudert, wenn ihm einmal ein Wort und Waldbewohner. Keiner, der mal kurz nem Text namens »Knüll-Idylle« so be-
vernehmlich wird.« Aber am Ende geht den Wald erfühlt und dann grüne Sehn- schrieben: »Hier tobt der ewige Kampf
trotz schützenden Waldes die Burg in suchtsbücher schreibt. Seit 30 Jahren lebt zwischen Gemüsegarten und Blumenwelt,
Flammen auf. er hier. zwischen Frau Saubermann und Dr. Cha-
Ist der Wald nur eine Schimäre, eine Als Sechzehnjähriger hatte er Thoreaus os. Kampf zwischen französischem Gar-
grüne Projektion überforderter Stadtmen- »Walden« gelesen, sich außerdem in den ten, der zur Nutzfläche pervertierte, und
schen immer schon? Klar. Aber nebenbei Schlager »Oh My Darling Caroline« ver- englischem Garten, den ich zum sinnvol-
gibt es ihn wirklich. Zum Beispiel auf liebt – »In Montana, in den Bergen / steht len Urwald weiterdachte. Hochgerüstete
den alten apokalyptischen SPIEGEL-Co- ein Haus am Waldesrain / und dort war’n Landfrau motorisierter Neuzeit versus na-
vern aus den Achtzigerjahren, den Saure- wir froh und glücklich / ich und meine Ca- tursüchtigen Städter und dessen naturmys-
Regen-Jahren: »Der Wald stirbt«, »Der roline«, sang Ronny. Dann noch »Doktor tischer Zuspätromantik! Maschinenpark
Schwarzwald stirbt« waren die panischen Schiwago« im Kino gesehen, »da blühte versus archaischen Anti-Ackerbau. Kampf
Titelzeilen damals. und glühte ein einsames Tusculum mit zwischen Lebenlassen und Trockenrasur.
»Hier muss ich die Hefte doch irgendwo ›sensibler‹ Traumfrau, märchenhaft einge- Frau Laabs und ich gehören zusammen
haben«, murmelt suchend der Schriftstel- bettet in russischen Winter und Revolu- wie Materie und Geist, Versorgungstrakt
ler, Philosoph und Waldbewohner Ulrich tionshorror, Urbild für jedes Knüll-Idyll«. und Überbau, Technik und Natur. Kampf
Holbein aus einer Papierecke oben unterm Dann kam er irgendwann hierher, hat zwischen botanischem Laisser-faire und
Dach seines Waldhäuschens im Knüllwald. eine Weile in einer Art Kommune etwas autoritärer Erziehung: ›Da kimmt doch
Irgendjemand hatte ihm vor ein paar weiter oben in einem Bauernhaus gelebt, der Donner druffe!!! Noch so’n Wort unds
Jahren sämtliche SPIEGEL-Ausgaben, rot die verflüchtigte sich in alle Richtungen, Fernsehn is widder gestrichen für heude!!!
gebunden, hier in den Wald gebracht. Und und er fand hier dieses Hexenhäuschen Wenn de nich uffheerst – ich hau dir’n
Holbein findet sich erstaunlich schnell in für sich. Ein Imker hatte es gebaut, hatte Kopp ab, Freund!‹«
diesen roten Türmen zurecht. Ob er die keinen gefragt, einfach gebaut, schließlich So Holbein schriftlich. Jetzt steht er hier
ganzen alten Zeitungsstapel nicht mal ein- erweitert, um ein weiteres Stockwerk, ein im lichtgrünen Sakko, fragender Blick,
fach wegwerfen wolle? »Aber nein! Sehen Bienenhaus gleich daneben. Irgendwann rührt die Hände, streicht den Bart. Man
Sie, gleich hier!« Ein vergilbtes »Zeit«- kam ein Ortsvorsteher und meinte, das sei hört sie gar nicht, die Familie Laabs. Ja,
Feuilleton liegt obenauf: »Den Schelling- ja illegal, und das koste 50 Mark. Hatte manchmal ein Bellen. Aber so sei das eben,
Artikel muss ich unbedingt noch lesen.« der Imker nicht, durfte es aber in Honig- meint der Waldmann. Hier in der absolu-
Willkommen im Knüllwald. Am Rand gläsern abbezahlen, dann war es legal. ten Stille entwickle sich eben eine ganz
von nirgendwo, südlich von Kassel. Ein Jetzt gehört es Ulrich Holbein. andere Empfindlichkeit als zum Beispiel
kleines Haus, da, wo der Wald anfängt, Der hat, wo früher die Bienen lebten, in Berlin. Da pegle man das weg. Hier da-
überwuchert von Efeu, ein Wildbach führt auch Papier angehäuft. Papier auf Papier. gegen, in seiner Knüll-Stille: jedes Flüstern

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018 107


ein Krach! Er hat schon lange Briefwechsel
mit dem Ohropax-Erfinder geführt über
die Frage, wie absolute Stille herzustellen
sei. Vergebens.
»Hier«, er deutet auf die Wiese vor sei-
nem Efeuhaus, zwei verrostete Tore ste-
hen herum. »Wie viele Jahre Schreiben
mich dieser Fußballplatz schon gekostet
hat«, klagt er. Im Ernst? Wie oft spielt
denn hier jemand? Weiß er gar nicht ge-
nau. »Selten.« Das ist doch wohl verrückt,
hier schon seltensten Fußballspaß zu ver-
dammen. Er will doch nicht zum Weltfeind
werden, aus lauter Lärmempfindlichkeit?
Und wir erinnern ihn an das Oscar-Wilde-
Märchen vom »selbstsüchtigen Riesen«,
in dem der Riese die spielenden Kinder
aus seinem Garten vertreibt, um seine
Ruhe zu haben. »Stimmt«, sagt Holbein,
und er erzählt, dass er das Märchen als
kleiner Junge gelesen und sofort als Comic
gezeichnet habe. Er suche das gleich
mal raus.
Später, im Haus, wird er ihn nicht fin-
den, den frühen Comic. Wir stehen erst
ein wenig in der Küche herum. Die Decke
ist so niedrig, dass man fast mit dem Kopf
anstößt. Holbein sagt, er würde ja zum Sit-
zen einladen, er glaube aber, der herum-
stehende Stuhl werde zusammenbrechen.
Ein Stockwerk höher: Bücher, Bücher und
Bücher, mal steht ein Schreibtisch herum,
dann wieder Bücher. Meist nach Farben
sortiert. Es gibt ein grünes Regal, mit den

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL


Waldbüchern, Baumbüchern, grünen
Philosophen. In einen Raum muss man
durch ein Fenster klettern. Und auf der an-
deren Seite durch ein Fenster wieder hi-
naus. Eine Tür hatte der Imker hier nicht
bedacht oder nicht gewollt. Holbein er-
zählt von seiner Weltchronik, an der er ar-
beitet. Eine umfassende Weltgeschichte, Philosoph Holbein: »Lass alle Sterne unter dir!«
in der der Mensch natürlich leider nur ein
kleines Kapitel einnimmt: »Jahrmilliarden
vergangener Phasen und Welten rauschen
vorbei, als Festumzug im Eildurchlauf, zwi-
schen Urknall und Kosmos-Kollaps. Be-
schleunigte Teilchen gehen auf Weltformel-
suche«, schreibt er in seinem Exposé.
Wir stehen, gehen, klettern durch sein
Haus. Wir lesen in alten Tagebüchern,
»Die grüne Erleuchtung« heißt eins. In den
meisten Zimmern ist es kalt, in einem
brennt ein Holzfeuer im Ofen.
Er erzählt, dass er einen Winter lang
gar kein Feuer gemacht habe. Für ihn ist
die Natur, der Wald, beseelt. Er schreibt
von Waldelfen, Waldgeistern, er wollte da
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

auf Nummer sicher gehen und kein Holz


verbrennen. Aber da hat er Rheuma be-
kommen, und dann hat ihm zum Glück
jemand gesagt, dass durch das Verbrennen
von Holz die Geister nicht etwa verbrannt,
sondern freigesetzt, also befreit, würden.
Jetzt heizt er mit gutem Gewissen.
Ulrich Holbein ist ein friedlicher Mann.
Spinner, ja vielleicht, wie alle weisen Leu- Holbein-Wohnhaus im Knüllwald: Befreiung der Geister

108
Kultur

te. In dem klugen Buch »Weltverschöne- worden, sich endlich der Vernichtung aus- ger gute Luft. Aber es wird gut werden.
rung« hat er »elf grüne Gebote« aufge- geliefert sieht.« Oder wenigstens: nicht so schlecht, wie
schrieben. Im zehnten heißt es: »Geh in Der Wald ist ein Zauberspiegel. Er zeigt es die Paniknachrichten jeden Tag ver-
die Unendlichkeit ein und frag nicht den Menschen, was sie sehen wollen. Die melden.
dauernd nach der Uhrzeit! O Mensch, wer- 34 Gesetze, die Jünger am Ende seines Nein, zum Urzustand der Urwälder gibt
de wesentlich! Sei da, sei du! Blüh auf, Waldgangs formuliert, sind in allem das es kein Zurück, schreibt Wohlleben, will
entseelter Atheist! Drum Tauwind und Gegenteil zum Beispiel der grünen Gebote ja auch keiner. Aber wie es ist, ist es noch
Daowind ins Winterland! Erst übertrei- Holbeins. Jedes Gesetz ein Schuss: »8. Der völlig okay: »Ganz würde das alte Uhr-
ben, dann langsam steigern! Lass alle Waldgang stellt eine neue Antwort der werk der Natur aber nicht mehr in Takt
Sterne unter dir! Vergiss die Meinungen, Freiheit dar. 9. Die Freien sind mächtig kommen, denn den beschriebenen Flicken-
vergiss die Zeit und erhebe dich ins Gren- auch in winziger Minderheit. 10. Die Zeit teppich unserer Landschaft aus Äckern,
zenlose …« ist arm an großen Männern, aber sie bringt Feldern und kleineren Waldgebieten kann
Das ist der Waldspirit des Ulrich Hol- Gestalten hervor. 11. Durch die Bedrohung und will niemand beseitigen – auch ich
bein. »Lass alle Sterne unter dir!« Der formen sich kleine Eliten aus.« nicht. Schließlich habe auch ich morgens
Waldspirit der Weltüberdrüssigen. Der In Punkt 20 immerhin scheint er das Hunger, möchte in ein Frühstücksbrötchen
Überforderten und Beleidigten. Bild vom Wald als Zauberspiegel auch für beißen und brauche dazu jemanden, der
Der Ruhesucher in unserer Epoche der denkbar zu halten: »In ihm begegnet der ein Weizenfeld bestellt.«
großen Gereiztheit, der totalen Beobach- Mensch sich selbst in seiner unaufgeteilten Taucht eine grundsätzliche Gefährdung
tung und Überwachung. Fluchtpunkt un- und unzerstörbaren Substanz.« am Horizont auf, als Gerücht oder Mög-
serer Zeit. Der amerikanische Autor Dave Also: Ernst Jünger begegnete sich selbst. lichkeit, weist Wohlleben sie zurück.
Eggers hat in seinem politischen Fanal- Ulrich Holbein sieht die Sterne von oben Kann gar nicht sein, »sonst hätte die
roman »Der Circle«, in dem er die voll- und lässt alle Meinungen hinter sich, und Evolution schon gegengesteuert«. Peter
endete Überwachung von uns allen durch Deutschland? Wohlleben ist der Waldpfarrer unserer
einen großen Technologiekonzern schil- Deutschland liest den Wald, so wie der Zeit. Wir alle sind aufgehoben in einem
dert, seinen letzten Helden, Mercer Me- Förster Peter Wohlleben ihn sieht. Der Er- größeren Wissen, einem größeren Heil,
deiros, in den Wald fliehen lassen. Der folg dieser Waldbücher seit Jahren ist das der Wald uns bietet. Und gegen den
letzte Widerständler sucht Schutz in einer atemberaubend. Mehr als eine Million Terror der Nachrichtenticker und der
einsamen Waldhütte, letzter ungesehener ständigen Beschleunigung setzt er die
Flecken in einer total überwachten Welt. unendliche Langsamkeit des Wachstums
Doch sie jagen ihn, die, die alles beobach- »Eigentlich müssten wir und der Evolution. Im Wald wird in Jahr-
ten wollen, die jedes Geheimnis für ein die Wälder nur sein tausenden gerechnet. Wenn’s schnell ge-
Verbrechen halten und totale Transparenz hen soll, in Jahrhunderten. Lehnt euch zu-
für die Vollendung kapitalistischen Glücks. lassen. Auf möglichst rück, Leser, wartet ab. Das Gute kommt
Sie finden ihn im Wald, sie jagen ihn in großer Fläche.« ganz von selbst: »Wir dürfen Waldöko-
den Tod. Sie haben nur helfen wollen: »Er systemen viel mehr zutrauen als bisher,
hat sich da oben verkrochen, allein, uner- das Wort ›unwiederbringlich‹ sollte in die-
reichbar für die Tausenden, sogar Millio- Wohllebens wurden im deutschsprachigen sem Zusammenhang gestrichen werden«,
nen, die ihm auf jede erdenkliche Art ge- Raum bislang verkauft, Lizenzen bislang schreibt Wohlleben.
holfen hätten, wenn sie es gewusst hätten.« in 35 Länder, in zehn Ländern stand oder Ist das nicht schön? Und seine Forde-
Und er, Mercer im Wald, wollte einfach steht ein Wohlleben-Waldbuch in der Best- rung, seine Botschaft an die Burn-out-Ge-
nur nicht mitmachen. Das verzeiht ihm sellerliste, auch in der Liste der »New York sellschaft, die es gewohnt ist, mit täglichen
die Gesellschaft der Allesbeobachter nicht. Times«. Er ist der König des Wäldertrends Apokalypsenachrichten zu leben und un-
Kühler, gewalttätiger, deutscher, ins Sol- unserer Zeit. Aber: Was ist das, was die ter Überforderung zu leiden, ist klar, groß,
datische gewendet, hat das schon Ernst Menschen in den Büchern des Försters Pe- umfassend, einfach und gut: »Die positive
Jünger in seiner 1951 erschienenen Schrift ter Wohlleben finden? Was sehen wir im Botschaft lautet nun, dass wir nicht nur ur-
»Der Waldgang« geschrieben. Er setzt der Spiegel seiner Waldbücher? sprüngliche Wälder zurückgewinnen, son-
Welt ein großes Nein entgegen. Oder: Wir finden dort: Beruhigung und Ruhe dern auch das Klima in die richtige Rich-
»Man könnte noch weiter abkürzen und und Schönheit und Langsamkeit. Ein Teil tung bringen können. Und dazu bräuchten
statt des ›Nein‹ einen einzigen Buchstaben seines Buchgeheimnisses liegt im Namen wir noch nicht einmal irgendetwas zu tun,
setzen – nehmen wir an, das W. Das könn- des Autors: Wohlleben. Dieses wohlige sondern im Gegenteil: sein lassen. Auf
te dann etwa heißen: Wir, Wachsam, Waf- Gefühl stellt sich augenblicklich beim möglichst großer Fläche.«
fen, Wölfe, Widerstand. Es könnte auch Lesen seiner Bücher ein. Und die Gewiss- Das ist die grüne Utopie der Wald-
heißen: Waldgänger. heit: Es wird am Ende alles irgendwie gut bücher und des Waldes, die Sehnsucht der
Das wäre ein erster Schritt aus der sta- werden. Waldflüchtlinge unserer Zeit. Wald ist
tistisch überwachten und beherrschten Peter Wohlleben ist ein guter Erzähler, sanfter Widerstand gegen diese verdamm-
Welt. Und sogleich erhebt sich die Frage, Erzähler aus Leidenschaft. Und er kennt te Wirklichkeit da draußen. Die Gegen-
ob denn der Einzelne auch stark genug sich aus. welt. Die Schönheit. Grünes Meer und
zu solchem Wagnis ist.« Waffen, Wölfe, In einer Welt, in der jeder überall, in Ewigkeit. Innere Emigration. Weltflucht.
Widerstand. Dem Krieger gerät alles zum der Politik, im Journalismus, im Sport, Die Zukunft bitte ohne mich. Ich bin
Schützengraben. Waldgewitter, Donner- »geheime Netzwerke« vermutet, die zu im Wald.
schlag. unser aller Unheil geknüpft worden sind,
Der ehemalige Wehrmachtssoldat Jün- enthüllt er die geheimen Netzwerke des
ger schreibt im demokratischen Deutsch- Guten. Das »Internet des Waldes«, das er Video
Zauber des Waldes
land über den Mann, den er sich als Wider- in seinem neuesten Buch erwähnt, ist das
standshelden imaginiert: »Waldgänger Gespräch aller mit allen zum Nutzen aller. spiegel.de/sp142018wald
aber nennen wir jenen, der, durch den gro- Klar gibt es zurzeit Schwierigkeiten: we- oder in der App DER SPIEGEL
ßen Prozess vereinzelt und heimatlos ge- niger Wald, weniger Artenvielfalt, weni-

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018 109


Instagram und WhatsApp aus dem Face-

»Facebook regulieren!« book-Konzern, wäre für ihn erniedrigend.


Es wäre für ihn eine Niederlage, wenn
er vor dem Kongress aussagen würde.
Er sieht sich als der Mann, der die Mensch-
Internet Manipulationen, Datenverkäufe, Fake News: heit zusammenbringt, das ist sein Selbst-
Der Monopolist Facebook ist zu einer Gefahr für die Demokratie bild.
geworden. Gibt es einen Weg, diese Macht zu beschränken? SPIEGEL: Was wären die direkten Folgen
durch die Änderung des Datenschutzes
und des Schutzes der Privatsphäre?
Tim Wu, 45, ist einer schen zu manipulieren. Sie haben dabei Wu: Das würde grundsätzlich das Ge-
der weltweit profilier- ein paar sehr aggressive Experimente ge- schäftsmodell von Facebook gefährden.
testen Kritiker der In- startet. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Und dort haben sie ja schon reagiert. Sie
ternetmonopolisten wie SPIEGEL: Der Nutzer wurde zur Ware. wollen um jeden Preis vermeiden, dass sie
KNOPF DOUBLEDAY

Facebook oder Google. Wu: Und Cambridge Analytica ist ja nur wie ein Medienunternehmen behandelt
In Büchern wie »The ein Beispiel dafür. Der Einfluss Russlands werden, das dann die Persönlichkeitsrech-
Attention Merchants« bei den amerikanischen Wahlen ist ein te ganz anders regeln müsste als die neu-
verbindet der Rechts- anderes. Die Bots, also automatisierte trale Plattform, die Facebook sein will. Die
professor von der New Nutzer, Roboter im Prinzip, sind ein wei- Änderung des Algorithmus im Januar ist
Yorker Columbia University die historische teres Problem. Und Fake News über- eine Antwort darauf – Freunde und Fami-
Analyse der Aufmerksamkeitsökonomie haupt. All das ist die Konsequenz daraus, lie werden ja seitdem gegenüber Nachrich-
mit einer Reflexion der Regulierungs- dass Facebook sich vor ein paar Jahren ten bevorzugt.
möglichkeiten dieser, so sieht es derzeit aus, entschieden hat, eine Werbe- und Mani- SPIEGEL: Zurück zu den Anfängen also?
demokratiefressenden Maschinen*. pulationsplattform zu sein, besser als alle Wu: In gewisser Weise. Vor 15 Jahren hat-
anderen. ten viele Menschen die Vorstellung, dass
SPIEGEL: Herr Professor Wu, wie ernst ist SPIEGEL: In Ihren Büchern »Der Master das Internet die Demokratie verbessern
die Lage für Facebook? Switch« und »The Attention Merchants« würde. Und das war ja keine verrückte
Wu: Sehr ernst. Bei Facebook herrscht re- erzählen Sie die Vorgeschichte all dieser Idee. Ich glaube, dass Optimismus im Le-
gelrecht Panik. Dass Cambridge Analytica Entwicklungen. Was ist nun die beste Re- ben hilft. Das Problem war, dass niemand
an die Daten von 50 Millionen Facebook- aktion auf die Datenexzesse von Face- dafür sorgte, dass die Interessen der wich-
Nutzern gelangte und damit die amerika- book, Google und den anderen Internet- tigsten Akteure auch auf dieses Ziel gerich-
nischen Präsidentschaftswahlen eventuell monopolisten? tet blieben. Man nahm einfach an, dass
manipuliert hat, ist ja nur der aktuellste Wu: Ich beschäftige mich vor allem mit schon alles gut werden würde.
Skandal. Auch bei Google gibt es dunkle Fragen des Wettbewerbs- und des Kartell- SPIEGEL: Und deshalb nun der Schock?
Geschichten. Aber Facebook hat mehr Lei- rechts, und ich glaube, dass immer deut- Wu: Es war einfach unrealistisch zu den-
chen im Keller als Google. licher wird, dass man Facebook, um es ken, dass man die wichtigsten demokrati-
SPIEGEL: Wie geht es jetzt weiter? schen Aufgaben an Privatunternehmen de-
Wu: Es wird weitere Enthüllungen geben. legieren könne, die sich vor allem darum
Mehr und mehr Angestellte werden sich »Zweck hätte nicht sorgen, wie sie ihren Besitzern, Investoren
melden, die ihren Job gekündigt haben, Profit sein sollen, sondern oder Aktionären Jahr für Jahr das meiste
weil sie bei dieser Art von Geschäftsprak- Geld einbringen. Und man kann ihnen das
tiken nicht mitmachen wollten. Sie sind eine bessere und reifere auch gar nicht vorwerfen. Sie sagen ab und
wie Deserteure, die das Facebook-Regime Form von Öffentlichkeit.« zu ein paar idealistische Sätze über die
verlassen, so wie Ostdeutsche die DDR »Community«. Aber das ist nicht ihr ei-
verlassen haben. Und jetzt sagen sie: Das gentlicher Daseinszweck.
war kein Paradies hier. einmal auf dieses Unternehmen zu fokus- SPIEGEL: Das Problem liegt also am Ur-
SPIEGEL: Sie beschreiben das Geschäfts- sieren, auf die eine oder andere Art regu- sprung all dieser Firmen?
modell von Facebook als den Grund lieren muss. Facebook ist einfach zu groß Wu: Niemand hat Facebook oder Twitter
allen Übels, also die Verwertung der geworden. In den USA gibt es, und das be- so konstruiert, dass sie eine Quelle der In-
Daten von Nutzern zu Werbezwecken. schreibe ich in meinem neuen Buch, eine formation und nicht der Desinformation
Ist Facebook einfach zu weit gegangen, im Vergleich zu Europa sehr viel ältere sein würden. Niemand übernahm die Ver-
oder ist das Geschäftsmodell an sich das Tradition, wie man mit dem Problem der antwortung dafür, als die eine Art von In-
Problem? Größe von Unternehmen umgeht: Man formation – Lügen, Fake News, Propagan-
Wu: Um diese Frage zu beantworten, muss zerschlägt sie, sehr aggressiv, so wie es un- da – mehr Geld einbrachte als die andere
man ins Jahr 2012 oder 2013 zurückgehen. ter Präsident Theodore Roosevelt Anfang Art, die Wahrheit. Das war der große Feh-
Facebook hatte damals ein echtes Einnah- des 20. Jahrhunderts geschehen ist. Das ler damals.
meproblem. Sie hatten all die Aufmerk- sogenannte Trust Busting. SPIEGEL: Was hätte man anders machen
samkeit der Menschen, aber sie machten SPIEGEL: Mark Zuckerberg spricht selbst können? Oder was kann man jetzt anders
damit einfach nicht genug Geld. Und so davon, dass Facebook reguliert werden machen?
investierten sie viel Zeit und viele Dollar könnte, aber es wirkt gleichzeitig so, als Wu: Nehmen wir Google, ein Unterneh-
darauf zu überlegen, wie sie das ändern wollte er, dass der Staat sich heraushält. men, das hehre Ziele hatte – Google hätte
könnten. Wie sie also die Welt überzeugen Wu: Ich glaube nicht, dass Facebook wirk- keine normale Firma sein sollen, sondern
könnten, dass sie die Macht haben, Men- lich reguliert werden will. Ich glaube, dass ein öffentliches Unternehmen. Der Zweck
Mark Zuckerberg ein Mann mit einem hätte nicht Profit sein sollen, sondern eine
* Tim Wu: »The Attention Merchants. The Epic
empfindlichen Ego ist, der groß und mäch- bessere und reifere Form von Öffentlich-
Scramble to Get Inside Our Heads«. Vintage Books; tig sein will. Eine Zerschlagung von Face- keit.
432 Seiten. book, etwa durch die Abtrennung von SPIEGEL: Ist es dafür zu spät?

110 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.3. 2018


Kultur

JOSH EDELSON / AFP


Facebook-Zentrale im kalifornischen Menlo Park: »Der Glaube, dass der Mensch sich selbst überlassen werden müsse«

Wu: Im Gegenteil. Ich glaube, gerade jetzt Chance dazu geben. Auf der anderen Seite der Faschismus in Deutschland an die
ist Raum und Gelegenheit für eine andere gab es den radikal libertären Glauben, dass Macht kam. Ganz so dunkel sehen Sie die
Art von sozialem Netzwerk, um Facebook der Mensch sich selbst überlassen werden Situation aber nicht?
Konkurrenz zu machen. Jemand, dem müsse, also Egoismus statt Kooperation. Wu: Ich glaube schon, dass es interessant
man mehr vertraut, jemand, der die Pri- SPIEGEL: Das kalifornische Ethos hat sei- ist, heute wieder zu überlegen, wie Fa-
vatsphäre schützt. Amerika ist ein von Mo- nen Anfang in den späten Sechziger- und schismus entsteht – zumindest teilweise
ral geprägtes Land, auch wenn es gerade frühen Siebzigerjahren – es ist letztlich, wie durch eine weit verbreitete wirtschaftliche
durch Donald Trump nicht so aussieht. Ein es scheint, eine Frage des Menschenbildes. Unzufriedenheit, die durch extreme wirt-
Unternehmen mit einem moralischen An- Wu: Mich erinnert die Situation ein wenig schaftliche Konzentration von Reichtum
spruch hätte gerade gute Chancen. an den Streit zwischen Freud und seinen verursacht wird. Und die Sehnsucht nach
SPIEGEL: Das wäre eine andere Art von Schülern. Freud beschreibt ja in »Das Un- einem starken Mann eröffnet, der ver-
Marktwirtschaft? behagen in der Kultur«, dass ein gewisser spricht, die Menschen von dieser Unge-
Wu: Auch das hat in den USA eine Tradi- Zwang nötig sei, um die dunklen Kräfte rechtigkeit zu befreien.
tion. Jemand wie der Jurist Louis Brandeis der Menschen zu bändigen, Sex, den To- SPIEGEL: Monopolisten wie Facebook und
etwa hatte Ende des 19. Jahrhunderts die destrieb, Macht – eine gewisse Form von Google sind durch ihre wirtschaftliche
Vorstellung, dass der Markt den Menschen Repression ist nötig, laut Freud, um die Zi- Macht eine Gefahr für die Demokratie?
dienen müsse. Für ihn war die persönliche vilisation zu retten. Wu: Wir haben eine ökonomische Struk-
Entwicklung der wichtigste Faktor, viel SPIEGEL: Und Facebook wäre dann das tur wie Ende des 19. Jahrhunderts, im Gil-
wichtiger als Geld. Diese Gedanken wer- Es des Kapitalismus, die dunkle Seite die- ded Age, wie es in den USA genannt wur-
den wieder relevanter, glaube ich. ser Form von Marktwirtschaft? de, als der Wunsch immer stärker wurde,
SPIEGEL: Der Idealismus am Anfang des Wu: So könnte man es sagen. Freud steht den extremen Reichtum in den Händen
Internets also, der Mythos der Weltverän- jedenfalls heute recht gut da, wie ich finde. einiger weniger zu zerschlagen. Es ist kein
derung, der Silicon Valley so antreibt. Die Hoffnungen und Träume der frühen Wunder, dass auch die Politik diesen Ra-
Wu: Und genau dort haben die Widersprü- Internetära scheinen heute in vielem zu- dikalismus mehr und mehr spiegelt, nicht
che ja angefangen. Es gibt den doppelten mindest naiv. All die Idealisten, die sagten, nur in den USA. Je größer die wirtschaft-
Ursprung des Internets, geboren aus dem wir bauen Dinge für die Gemeinschaft und lichen Nöte, desto krasser die politischen
kalifornischen Ethos. Auf der einen Seite geben sie allen umsonst. Antworten. Auch das ist die Geschichte
gab es den Glauben daran, dass die Men- SPIEGEL: Freud veröffentlichte »Das Un- von Facebook. Interview: Georg Diez
schen gut sind, man müsse ihnen nur die behagen in der Kultur« 1930, kurz bevor

111
Kultur

Der andere Camus


Debatte Wird Europa von Fremden erobert? Erleben wir einen »Bevölkerungsaustausch«?
Über die rasante Karriere eines rechten Kampfbegriffs

W
enn man in diesen Tagen über die deutsch-fran- einer mittelalterlichen Gasse öffneten sich die hölzernen Fen-
zösische Grenze bei Saarbrücken fährt und einige sterläden, eine Dame schaute hinaus, recht grimmig, und die-
Tage später wieder zurück, schaut man mit ganz se Dame trug einen Schleier. Die Dame tat ihm nichts, schaute
besonderer Aufmerksamkeit aus dem Zugfenster. nach der Schilderung von Camus nur böse – heute möchte
Aber man entdeckt nichts, es herrscht die glorreiche Norma- man bemerken, dass sie eine Vorahnung gehabt haben mag,
lität des kleinen Grenzverkehrs. Keine wüsten Lager von dass der Besucher auch ihr nicht freundlich gesinnt bleiben
Migrantenhorden, keine Massen, keine Krise. Und die Staats- würde. Camus war ab diesem Zeitpunkt überzeugt, dass Mi-
macht? Geht in deutsch-französischen Teams durch die Gän- gration eigentlich eine Eroberung sei und dass hinter alldem
ge des Zuges und bemüht sich, nicht immer nur Personen ein großer Plan stehe. Bildungsbürger aus katholischen Fa-
mit dunkler Hautfarbe zu kontrollieren. Und doch bestehen milien wie er sollen ausgetauscht werden gegen Araber und
bezüglich des Zustands unserer Grenzen Sorgen. Oder geht Afrikaner. Helle Haut gegen dunkle. Weil Eliten es so wollen.
es um etwas anderes? Es wurde Camus’ wichtigstes Werk und sein Lebensthema.
In einem vornehm »Erklärung 2018« benannten Manifest Das Buch fand lange keinen deutschen Verlag. Einer der gro-
bekunden Publizisten, Wissenschaftler und Bürger zwei Ab- ßen Wortführer der kleinen Identitären Bewegung, Martin
sichten: Sie warnen vor einer »Beschädigung« Deutschlands Lichtmesz, übersetzte es. Auch Lichtmesz hat natürlich die
durch »illegale Masseneinwanderung« und unterstützen die »Erklärung 2018« unterschrieben.
Forderung nach »Wiederherstel- Warum jemand so einen Aus-
lung« der »rechtsstaatlichen Ord- tausch möchte, ja ob die These
nung an den Grenzen unseres überhaupt stimmt – mit den Fragen
Landes«. lesender Zeitgenossen gibt sich
Die Erklärung, deren praktische Camus nicht ab. Als ihn während
politische Forderung vage bleibt, einer Diskussion der Soziologe Her-
suggeriert ein Bild: Fremde Massen vé Le Bras mit Statistiken und Fak-
schaden Deutschland, und nie- ten widerlegte – ein Bevölkerungs-
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
mand schützt das Recht. Diese Sug- austausch findet nicht statt, ist nicht
gestion basiert auf dem derzeit geplant und auch nicht möglich –,
wirkmächtigsten rechten Konzept, wehrte sich Camus mit dem Hin-
dem des Bevölkerungsaustauschs. weis, Johanna von Orléans habe ja
Kein anderes Thema, kein anderes auch nicht angegeben, wie viele
Bild entfaltet im Lager jenseits der englische Truppen im Lande seien.
politischen Mitte eine solche Dyna- Werbeplakate im Berliner Hauptbahnhof Der Witz des Konzepts liegt in
mik – weder die Eurokrise noch die der emotionalen Überwältigung
Ehe für alle. Schon ein flüchtiger bei gleichzeitiger optischer Plausi-
Besuch einschlägiger Internetseiten zeigt, dass sich um diese bilität: Letztlich kann jeder türkische Gemüsehändler, jeder
Vorstellung einer »Umvolkung« alle selbst ernannten Retter Flüchtling und jeder brasilianische Tourist als Beleg für den
des Abendlandes versammeln, Skandalautor Akif Pirinçci ist anrollenden »Umvolkungsplan« gesehen werden. Camus
dabei, der AfD-Philosoph Marc Jongen und natürlich AfD- spricht von der »Würde des Blicks« – seines eigenen natürlich.
Chef Alexander Gauland selbst, der markig erklärt: »Der Be- Er meint: Wenn er eine Eroberung durch dunkle Männer er-
völkerungsaustausch in Deutschland läuft auf Hochtouren!« kennt, dann findet auch eine statt. Dieser Begriff entlastet –
Das Konzept ist selbst ein Migrant. Ersonnen hat es der man muss sich nicht mehr darum kümmern, wer die neuen
französische Schriftsteller Renaud Camus – der mit dem hu- Nachbarn sind, wie das Zusammenleben gelingen kann, man
manistischen Literaturnobelpreisträger Albert nur den Nach- muss sich mit ihnen gar nicht weiter beschäftigen.
namen gemein hat – schon 1996. Camus war da 50 Jahre alt, Es geht Camus und seinen Anhängern nicht um die ko-
hatte eine bewegte, für seine Generation typische politische operative Lösung eines Problems, sondern um die Begrün-
Biografie hinter sich. Er war im Mai 1968 bei den Vorkämp- dung eines heroischen Widerstandsrechts. Camus sieht sich
fern für die Schwulenrechte aktiv, nennt den großen Roland in der Nachfolge der Résistancekämpfer – nur sei die jetzige
Barthes bis heute seinen Lehrer. Später gab er dem Sozialisten Besatzung Frankreichs durch Araber und Afrikaner halt
François Mitterrand seine Stimme, war dann an der Umwelt- schlimmer, denn es seien hundertmal mehr Besatzer im Land.
bewegung interessiert. Und stets publizierte er Romane, Tage- Die Botschaft der Proponenten der These vom Bevölkerungs-
bücher, Bücher über Kunst und Musik. austausch richtet sich gegen vage definierte Eliten im Inland.
Doch das entscheidende Erlebnis, so schildert er es, hatte Die Spielregeln der Republik sind dort außer Kraft gesetzt,
mit großer Politik eigentlich gar nichts zu tun. Damals be- wo man sich auf ein überstaatliches, ein angeblich kulturelles,
suchte er das französische Departement Hérault in der Ab- letztlich nur durch Hautfarbe begründetes Widerstandsrecht
sicht, ein Buch über die mittelalterlichen Städte und Dörfer beruft. Es ist eine Kampfansage von nicht zu unterschätzen-
sowie die Kunstschätze der Region zu schreiben. Dabei er- der Brisanz, denn jemand, der in seiner Vorstellungswelt um
eignete sich eine Szene, die nicht besonders spektakulär war, alles kämpft, erlaubt sich auch alles.
aber dafür folgenreich: An einem sehr alten Wohnhaus in so Nils Minkmar

112 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Get your
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
kicks on
ROUTE
Belletristik Sachbuch

1 (1) Ferdinand von Schirach 1 (1) Michael Wolff


Strafe Luchterhand; 18 Euro Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro

2 (2) Jojo Moyes Mein Herz 2 (2) Manfred Lütz


in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro Der Skandal der Skandale Herder; 22 Euro

3 (11) Maja Lunde 3 (15) Gerald Hüther


Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro Würde Knaus; 20 Euro

4 (5) Maja Lunde 4 (4) Bas Kast Der Ernährungskompass


Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

5 (4) Bernhard Schlink 5 (3) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt


Olga Diogenes; 24 Euro Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

6 (12) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist 6 (7) Peter Hahne Schluss mit euren
nur eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro ewigen Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro

7 (6) Guido Maria Kretschmer 7 (5) Wolfram Eilenberger


Das rote Kleid Goldmann; 14 Euro Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro

8 (10) Gregor Gysi


8 (3) Elena Ferrante
Die Geschichte des verlorenen Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

Kindes Suhrkamp; 25 Euro


9 (12) Navid Kermani
9 (–) John Grisham Entlang den Gräben C. H. Beck; 24,95 Euro

Forderung Heyne; 24 Euro


10 (6) Hans-Werner Sinn Auf der Suche
10 (7) Daniel Kehlmann nach der Wahrheit Herder; 28 Euro

Tyll Rowohlt; 22,95 Euro


11 (14) Joschka Fischer Der Abstieg des
11 (8) Elena Ferrante Meine geniale Westens Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

Freundin Suhrkamp; 22 Euro 12 (20) Erling Kagge


Stille Insel; 14 Euro ISBN 978-3-86124-715-9
12 (10) Mariana Leky Was man von
224 S., 70 farb. Abb., Paperback, 18 € [D]
hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro 13 (9) Elke Heidenreich
Alles fließt Corso; 24,90 Euro
13 (–) Esther Kinsky
Hain Suhrkamp; 24 Euro 14 (11) Rolf Dobelli Die Kunst
des guten Lebens Piper; 20 Euro
Auf der Bundesstraße 96
14 (13) Marc-Uwe Kling
QualityLand Ullstein; 18 Euro 15 (8) Axel Hacke Über den Anstand
in schwierigen Zeiten und die Frage,
reisten Raphael Thelen und
15 (15) Susanne Fröhlich wie wir miteinander umgehen
Verzogen Fischer Krüger; 17,99 Euro
Thomas Victor einmal quer durch
Kunstmann; 18 Euro

16 (–) Laetitia Colombani Ostdeutschland – vom tiefsten


16 (17) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro Mit den Händen sehen Insel; 22,95 Euro Sachsen bis zur Ostseeküste.
17 (–) Klaus Modick Keyserlings 17 (–) Robin Lane Fox Was ihnen unterwegs begegnete,
Geheimnis Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro Der englische Gärtner Klett-Cotta; 32 Euro
hatten sie nicht erwartet. Ihre
18 (–) Hideo Yokoyama 18 (19) Peter Wohlleben Das geheime
64 Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro Gespräche mit Hausbesetzern,
Atrium; 28 Euro
19 (–) Klaus Brinkbäumer Architektinnen, Barfrauen, Pop-
Zum ersten Mal erscheint ein Nachruf auf Amerika
Buch des japanischen Autors S. Fischer; 24 Euro
musikern und vielen anderen
auf Deutsch – ein Thriller mit
kafkaesken Qualitäten, ein
Der SPIEGEL-Chefredakteur
Menschen brachten ein Klischee
Panorama des modernen Japan
über den Abschied von den
USA, wie wir sie kannten, ums andere ins Wanken …
19 (16) Sebastian Fitzek und die Frage, was die Zukunft
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro dem Westen bringen mag

20 (19) James Baldwin 20 (13) Bruce Dickinson What Does


Von dieser Welt dtv; 22 Euro This Button Do? Heyne; 22 Euro

113
www.bebraverlag.de
Kultur

Nicht smart, sondern weise


Belletristik Maja Lunde hat einen Bestseller über eine Welt ohne Bienen geschrieben. Jetzt veröffentlicht
sie ein Buch über Wasserknappheit. Wer ist die Frau, die uns die Umwelt erzählt?

E s gibt Sätze, die man eigentlich nicht


sagen kann, wenn man ernst genom-
men werden will. Wobei es ja auch
immer darauf ankommt, wer sie sagt,
überraschend. »Schon komisch, dass ich
Dan Brown überholt habe, dabei gibt es
bei mir weder Sex noch Crime«, sagt sie,
während sie im Museum den aufgemalten
turhippies«, wie sie sagt, im Kinderzim-
mer hing ein Anti-Atomkraft-Plakat. Für
ihre Bücher recherchiert sie aufwendig,
war in Spitzbergen, um Eisbären zu beob-
sprachtheoretische Binsenweisheit. Maja Linien nach Afrika folgt. achten, und in Griechenland, um sich
Lunde steht da also und sagt einen Satz Dass »Die Geschichte der Bienen« so Flüchtlingscamps anzusehen.
wie: »Alles hängt eben mit allem zusam- einschlug, lag sicherlich auch am perfek- Maja Lunde steht vor den Vitrinen
men«, und während man bei jedem ande- ten Timing. 2017 war de facto ein misera- mit den ausgestopften Tieren, zeigt auf
ren Schriftsteller die Paulo-Coelho-Karte bles und daher medial gesehen ein gutes Fußbälle, Flaschendeckel, Zitronennetze.
ziehen und ihn vom Platz verweisen wür- Jahr für die Biene. Häufig sah man Über- Überall sind kleine Plastikteile drapiert,
de, sagt man erst mal nichts und denkt schriften wie »Warum sterben sie?« oder die sich in die Flora einpassen, als hätten
dann: ja, stimmt eigentlich. Maja Lunde »Bienensterben – EU berät über Neonico- sie immer schon dazugehört. In einer Vi-
sagt also: »Alles hängt eben mit allem zu- tinoide«. Nachrichtensprecher übten sich trine am Eingang ist eine Ladung Plastik
sammen« und guckt beim Laufen auf den darin, das Wort Neonicotinoide flüssig ausgestellt wie ein Kunstwerk, 3,4 Kilo-
Boden. Da sind Linien aufgemalt, sie füh- auszusprechen, und schließlich hat die Bie- gramm, so viel, wie jede Minute in den
ren zu Vogelarten, Pflanzenarten, durch ne es auch in den Koalitionsvertrag ge- Oslofjord geschüttet wird.
den ganzen Planeten, man kann sie ablau- schafft, in dem festgeschrieben ist, dass Das ganze Museum ist liebevoll gestal-
fen und Abzweigungen nehmen, von der die Biene der Regierung »besonders am tet, etwas altbacken und sehr pädagogisch.
Blattlaus zum Polarbären, eigentlich für Herzen« liegt. Erst diese Woche versicher- »Wir müssen nicht smarter werden, son-
Kinder, aber es macht trotzdem Spaß und te die neue Landwirtschaftsministerin Ju- dern weiser«, sagt Maja Lunde. Noch so
ist auch interessant, die Linien sind breit lia Klöckner, die Biene sei »systemrele- ein Satz. Aber auch der stimmt. Nach den
und bunt, Maja Lunde lächelt. Bienen nun also das Wasser. Könnte funk-
Im Naturhistorischen Museum ist viel tionieren. Das Thema Wasser steht als
los, draußen ist es kalt, minus 15 Grad, das Die Horrorzukunft hat Krisenherd nicht minder hoch im Kurs als
ist selbst für Oslo ungewöhnlich, die Stadt schon begonnen die Biene, eine willkürlich aus dem Netz
versinkt Ende Februar im Schnee. Maja herausgegriffene Headline der vergange-
Lunde läuft durch das Museum, sie kennt und ist in Wahrheit eine nen Woche: »Gletscherschmelze ist nicht
sich gut aus. Sie hat hier viel Zeit verbracht Horrorgegenwart. mehr aufzuhalten«.
für ihre Recherchen, einer ihrer wissen- »Die Geschichte des Wassers« erzählt
schaftlichen Berater arbeitet hier. Sie war von der gleichen Welt wie »Die Geschich-
hier schon als Kind, kennt jede Vitrine, je- vant«. Solche Vokabeln kannte man bis- te der Bienen«, auf zwei zeitlichen Ebe-
des Skelett, es habe sich eigentlich nichts her eher von Banken. Die Biene hat jetzt nen. 2017 kehrt eine betagte Frau in ihre
verändert, sagt sie. eine Lobby. Und die Deutschen kaufen Heimat in Norwegen zurück. Sie war ihr
Maja Lunde war vor Kurzem noch eine Bienenbücher. Leben lang Umweltaktivistin, hat sich für
unbekannte norwegische Kinder- und Maja Lunde entwirft in ihrem Buch eine den Erhalt der heimischen Wasserfälle
Drehbuchautorin, jetzt ist sie Weltbestsel- Welt, die nach dem »großen Kollaps« nicht und des Gletschers eingesetzt. Jetzt ist
lerautorin. mehr bestäubt wird. Alle Bienen sind tot. vom Gletscher kaum noch etwas übrig,
Noch bevor »Die Geschichte der Bie- Sie verwebt drei Geschichten miteinander, windige Geschäftemacher verkaufen ton-
nen«, ihr erstes Buch für Erwachsene, in um die Zusammenhänge klar darzustellen. nenweise Gletschereis »in die Wüstenstaa-
Norwegen erschienen war, wurden die 1852 entwirft ein talentloser Biologe einen ten«, das dort Ölscheichs in Form exqui-
Rechte schon an sieben ausländische Ver- Bienenkorb, der die Imkerei revolutionie- siter Eiswürfel die Drinks kühlt. Die Frau,
lage verkauft. Es ist in 30 Sprachen über- ren wird. 2007 wird ein Imker in den USA verzweifelt und trotzig, stiehlt eine La-
setzt und steht seit einem Jahr auf der Best- als einer der Ersten vom Bienenmassen- dung Eis, lädt es auf ihr Boot und segelt
sellerliste. Es war 2017 in Deutschland das sterben heimgesucht. 2098 ist China das damit Richtung Süden, nach Frankreich,
meistverkaufte Buch, über 400 000 Exem- einzige noch halbwegs existierende Land, wo ihr Ex-Freund mittlerweile lebt, der
plare. Maja Lunde hat vor, eine Klima- da dort die Menschen die Arbeit der In- schuld ist an der ganzen Misere. Im Jahr
Tetralogie zu schreiben, der zweite Band sekten übernommen haben und per Hand 2041 wiederum sind ein französischer Va-
»Die Geschichte des Wassers« ist vorige die Pflanzen bestäuben. ter und seine Tochter zu Klimaflüchtlin-
Woche auf Deutsch erschienen*. Auf die Idee mit den Bienen kam sie gen geworden. Es ist so trocken, dass sich
Ob sich der Erfolg wiederholen lässt, ist durch eine Dokumentation im Fernsehen. Südeuropa in einen unbewohnbaren Kon-
noch nicht abzusehen, vieles spricht dafür, Noch bevor das Buch fertig war, beschloss tinent verwandelt hat und alle, die stark
auch »Die Geschichte des Wassers« ist di- sie, die Geschichte weiterzuschreiben, vier genug sind, nach Norden flüchten. Auf ih-
rekt auf der Bestenliste eingestiegen. Öko- Bücher insgesamt, ein zusammenhängen- rer Reise finden die beiden ein Boot, ge-
logie sells, das findet auch Maja Lunde des fiktionales Universum, das die Folgen strandet im ausgetrockneten Canal de Ga-
der menschlichen Lebensweise für die Um- ronne bei Bordeaux.
* Maja Lunde: »Die Geschichte des Wassers«. Aus dem
welt illustriert. Das Klima und der Schutz Keine Bienen heißt keine Nahrung, kein
Norwegischen von Ursel Allenstein. btb; 480 Seiten; des Planeten spielten schon eine Rolle für Wasser heißt nichts zu trinken. Die Men-
20 Euro. sie, als sie Kind war, ihre Eltern waren »Na- schen verenden elendig. Frappierend ist,

114 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


und dass sie 16 000 Kilometer flie-
gen wird, um ihr Buch über den
menschengemachten Umweltkol-
laps vorzustellen, macht ihr zu
schaffen, »schrecklich«.
Man muss ehrlich sagen, dass
Maja Lundes Prosa keine stilistische
Meisterleistung ist. Die Story ist
vorhersehbar, und die Bilder sind
plakativ. Im Bienenbuch gibt es
Bienenvergleiche, im Wasserbuch
Wasservergleiche. Was Lunde je-
doch gelingt, ist, das Versagen der
Menschheit als Versagen der Men-
schen darzustellen. Als Unvermö-
gen jedes Einzelnen, über seine ei-
genen nächstliegenden Bedürfnisse
hinauszusehen. Der Mensch als
solcher wird bei Lunde zum Pro-
blemfall.
Vor ein paar Jahren tauchte ein
Begriff auf im Pop-akademischen
Diskurs, der es schaffte, eine große
Katastrophe cool zu verpacken:
Anthropozän. Das Anthropozän
bezeichnet das Zeitalter des Men-
schen. Indem der Mensch aber sein
eigenes Zeitalter bekommt, seinen
eigenen definierten geologischen
Abdruck auf dem Planeten, denkt
er sein Ende schon mit. Jedes Zeit-
alter geht auch zu Ende.
Lundes Bücher malen das An-
thropozän in gewisser Weise aus,
zeigen plastisch, was es heißt, wenn
der Mensch sich die Welt untertan
macht und nichts dagegen tun
kann, weil er eben Mensch ist.
Noch mehr Technik, mehr Mensch-
sein werden die Welt nicht retten.
»Wir müssen nicht smarter, sondern
weiser werden.«
Maja Lunde steht vor einer Vitri-
ANDREA GJESTVANG / DER SPIEGEL

ne im naturhistorischen Museum.
Schon ihr Vorname bietet Stoff für
allerhand Witze, eine Frau, die
Maja heißt, schreibt ein Buch über
Bienen. In der Vitrine sitzen und
fliegen Dutzende kleine Lunde.
Lunde sind Meeresvögel, »meine
Autorin Lunde: Noch mehr Technik, mehr Menschsein werden die Welt nicht retten Lieblingsvögel«, sagt Lunde. Mitt-
lerweile sind Lunde eine gefährdete
Vogelart. Die Lunde sind umgeben
dass viele der absurden Horrorszenarien, sich betroffen Bücher über das Bienenster- von Plastik, einem gelben Seil, einem blau-
die Lunde aufgreift, bereits Wirklichkeit ben zu kaufen und dann mit dem SUV en Ball, einem orangefarbenen Handschuh.
sind. In China müssen heute schon Men- nach Hause zu fahren. Und es ist viel zu Die Vitrine ist aufwendig gestaltet, zeigt
schen auf Bäume steigen, um per Hand einfach, sich über diese Heuchelei zu ein Stillleben, eine Klippe, das Leben der
die Blüten zu bestäuben. Und in Nor- echauffieren, weil es das richtige Lesen im Lunde. Sie haben diese Traurigkeit an sich,
wegen bietet ein Start-up tatsächlich Pre- falschen Leben gibt. die ausgestopfte Tiere immer an sich haben,
miumeiswürfel an, selbst geschlagen aus Im Laufe des Gesprächs bekommt Lun- auch wenn sie noch so niedlich sind mit ih-
dem Svartisengletscher, damit auserwählte de sieben Kurznachrichten, am Morgen rem roten Schnabel. Einer der Lunde hängt
wenige »1000 Jahre Geschichte in ihrem hatte sie ein Treffen mit einem Filmprodu- nur wenige Zentimeter über einem Felsen,
Glas« haben können. Die Horrorzukunft zenten, darauf eins mit ihrer Agentin, um die Flügel ausgebreitet. Man kann nicht sa-
hat bereits begonnen und ist in Wahrheit die Reise zu besprechen, am nächsten Tag gen, ob er gerade abhebt oder ankommt.
eine Horrorgegenwart. Bei so viel Horror geht es nach Australien. Sie wird für ein Xaver von Cranach
dient Lesen auch als Verdrängungsmög- Literaturfestival eingeflogen. Danach Neu- Twitter: @xvrocketscience
lichkeit. Es ist die menschliche Heuchelei, seeland und Leipzig. Lunde ist gefragt,

115
Kultur

Ins Hirn geschraubt


1979 in den USA geborene und in Deutschland aufgewachse-
ne Musiker mit persischen Wurzeln treibt sich in den unter-
schiedlichsten Genres herum, auf seinen letzten Alben (»Kill
Your Babies«, »I Love You«) spielte er neben Klavier auch
Gitarre und sang, außerdem macht er erfolgreich Film- und
Musikkritik Der Berliner Independent-Musiker Theatermusik.
Malakoff Kowalski entlockt seinem alten Klavier In der Berliner Independent-Szene ist der Mann mit der
überraschend leise Töne: »My First Piano«. komischen Mütze längst eine große Nummer. Alles Pompöse
hätte man erwartet, Show und wilde Emotionen. Stattdessen
nun eine leise Piano-CD.
Es begann mit einem alten Foto, das der Musiker im Fami-
lienfundus entdeckt hatte: ein Klavier, davor eine Sitzbank
und ein etwa einjähriger Knabe im Strampelanzug. Das Foto
des kleinen Aram löste beim großen Kowalski sofort eine
Flut von Erinnerungen aus, Erinnerungen an den besonderen
Klang dieses Wurlitzer-Klaviers, Erinnerungen an die Mutter,
eine Pianistin, die alles gespielt hatte, was er heute noch liebt,
von Schumann bis zu Bach und Beethoven.
Kowalski machte sich auf die Suche nach dem Klavier und
fand es in der Nähe von Hamburg, brachte es nach Berlin
und ließ es restaurieren. So vorsichtig tastend, wie seine Stü-
cke klingen, so langsam eroberte er sich das alte Instrument
zurück. Dessen Klang ist alles andere als perfekt, nicht so
strahlend klar wie der eines modernen Konzertflügels, eher
matt und schlicht wie bei den Pianos, auf denen der große
Entertainer Chilly Gonzales seine Platten einspielt, unüber-
hörbar ein Vorbild Kowalskis.
Aber man kann sich in diesen Klang verlieben, gerade
wenn man so komponiert, wie Kowalski das tut, nämlich
eher verspielt und improvisierend. Klassische Komponisten
haben bekanntlich einst ganze Sinfonien im Kopf produziert,
Künstler wie Kowalski probieren eher, sie suchen und finden,
sie wiederholen simple Ideen so lange, bis sie sich festsetzen
und zu größeren Einheiten zusammenwachsen. »Ich unter-
halte mich die ganze Zeit mit mir selbst«, sagt Kowalski über
das Komponieren.
Natürlich gibt er den Stücken auch wohlklingende Namen,
schließlich soll man sie unterscheiden können. Aber glückli-
JULIJA GOYD

cherweise sind diese Titel komplett austauschbar, er könnte


sie auch einfach durchnummerieren. Nichts an »Is It Spring?«
Pianist Kowalski zum Beispiel erinnert an den beginnenden Frühling, das
»Ich unterhalte mich die ganze Zeit mit mir selbst« Stück wurde nur im März aus dem Klavier gezaubert. Und
warum »65 East India Row« genau so und nicht anders heißt,
lässt sich mit der Musik selbst jedenfalls nicht begründen. Im

D iese Musik gibt erst mal Rätsel auf: Da klimpert jemand


auf einem seltsam wattig klingenden Klavier, so als er-
forsche er das Instrument, ein paar einzelne Töne,
dann auch Akkorde, scheinbar harmloses Zeug.
liebevoll gemachten Booklet erklärt er, dass dies die Adresse
jenes Hauses in Boston gewesen sei, wo er einst mit seinen
Eltern gelebt habe, an das er sich aber gar nicht erinnern
könne, weil er die Stadt viel zu früh verlassen habe.
Malakoff Kowalskis neue CD »My First Piano« enttäuscht »My First Piano« ist natürlich eine nostalgische Angele-
beim ersten Hören. Zehn Stücke von extremer Unauffällig- genheit. Kowalski kehrt zurück in seine eigene Vergangenheit,
keit, 40 Minuten abstrakte Klangmalerei, ein fast monochro- in die seiner Eltern. »Ich muss noch sehr viel über meine per-
mes Bild. sische Familiengeschichte lernen«, sagt er – persisch aller-
Beim zweiten Hören jedoch tauchen plötzlich erste Farb- dings hört sich hier überhaupt nichts an.
tupfer auf, Melodiefetzen, die man zu kennen meint, Disso- Kowalskis Musik ist im guten Sinne absolut abstrakt, ihr
nanzen, die schnell aufgelöst werden, kurze chromatische fehlt jede Anspielung auf irgendwelche Dinge der äußeren
Läufe und einige Blue Notes, diese netten, kleinen Stim- Welt, er erzählt musikalische Short Stories, die bei jedem
mungsaufheller. Hörer vollkommen andere Assoziationen auslösen werden.
Noch mal von vorn: Das Tempo bleibt stets moderat, ja Das gilt auch für »Dimanche soir«, eine kleine Hommage
langsam, Motive von Mahler, Debussy und Brahms klingen an Erik Satie, das vielleicht schönste Stück dieses Albums.
an, brechen schnell wieder ab, Kowalski spielt mit den Asso- »Es entstand an einem friedlichen Sonntagabend in meinem
ziationen wie eine Katze mit einem Ball. Immer wieder ver- Wohnzimmer in Berlin«, sagt Kowalski. »Wahrscheinlich hat-
fällt er auf neue Ideen – und kehrt am Ende doch zu den te ich gerade gegessen und mir einen Tee aufgesetzt.«
alten zurück. Von Stück zu Stück schraubt sich seine Musik Musik zum Tee, das ist es. Keine Musik zum Lauthören,
tiefer ins Hirn. Ist das Klassik, ist das Jazz, ist das Pop? Man fürs Joggen oder die Autobahn. Und doch darf man den Auf-
weiß es nicht, aber man kann danach süchtig werden. wand nicht unterschätzen: Malakoff Kowalski hat eine Menge
Malakoff Kowalski heißt in Wahrheit Aram Pirmoradi, er Kunstfertigkeit investiert, damit sich seine Zuhörer bei einer
ist auch kein großer Pianist und schon gar kein Virtuose. Der Tasse Tee entspannen können. Martin Doerry

116 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Sport
Selbst im trüben Geschäft mit minderjährigen Fußballtalenten war von Heesen aktiv. ‣ S. 121

Social-Media-Follower * in Millionen Facebook Instagram Twitter *verifizierte Accounts, Stand: 28. März Top 3 der Spieler-
freundinnen bzw. -frauen
MICHAEL DALDER / REUTERS; ROLAND KRIVEC / IMAGO; JULIAN STRATENSCHULTE / DPA; JÜRGEN

Ann-Kathrin Brömmel
44,9 32,4 9,2 9,0 (Mario Götze)

12,1 35,5 12,4 8,8 0,1 0,9


6,3 16,7 1,1 4,1
FROMME, CHRISTOPHER NEU / FIRO SPORTPHOTO; UWE SPECK / WITTERS

Bayern München James Rodríguez Robert Lewandowski Manuel Neuer Cathy Hummels
(Mats Hummels)

0,1 0,3

15,0 10,3 13,2 4,7 Scarlett Gartmann


5,1 8,4 6,2 3,2 (Marco Reus)

3,2 4,3 3,0 2,0 0,2


Borussia Dortmund Mario Götze Marco Reus André Schürrle

Geschossene Tore, erfolgreiche Dribblings und die Note ner Bayern München durchaus mithalten – sieht man einmal
im »Kicker«, das waren früher wesentliche Kriterien, um die Be- vom Kolumbianer James Rodríguez ab, dem viele Fans in Süd-
deutung eines Profifußballers zu bemessen. In der öffentlichen amerika folgen. Mit über 69 Millionen Followern ist Mesut Özil
Wahrnehmung und für die Vermarktung spielt heute die Reso- Spitzenreiter aller deutschen Spieler. Weltweit kommt niemand
nanz in den sozialen Medien eine entscheidende Rolle. Dort kön- an Cristiano Ronaldo (315 Millionen) heran, der den Brasilianer
nen die Spieler von Borussia Dortmund gegen den ewigen Geg- Neymar (190 Millionen) auf Platz zwei weit hinter sich lässt.

Magische Momente Baseball, jeden Tag. Da verliert man


leicht den Glauben.
»Ich habe gejubelt und geschrien« SPIEGEL: Im Herbst 2015 kamen Sie ins
MLB-Team der Twins. Sie waren am Ziel.
Baseballprofi Max Kepler, 25, aus Berlin über seinen ersten Homerun Kepler: Es war kurz vor Saisonende. Als
ich davon erfuhr, rief ich meine Eltern in
SPIEGEL: Am Donnerstag musst immer auf der Lauer sein, be- Berlin an. Am nächsten Tag saßen sie im
sind Sie mit den Minne- kommst nicht viele Chancen. Wenn der Flugzeug, waren dann bei meinem MLB-
sota Twins in die neue Moment da ist, musst du perfekt sein. Das Debüt im Stadion.
Baseballsaison gestartet. macht Baseball für mich einzigartig. SPIEGEL: In der folgenden Saison zählten
Wie halten Sie mental SPIEGEL: Mit 16 wechselten Sie in die Sie schon bald zur Stammformation.
bis zu 162 Meisterschafts- USA, verbrachten über sechs Jahre bei Dann kam der 12. Juni 2016, Heimspiel
spiele aus? Nachwuchsteams der Minnesota Twins in gegen Boston, in der Verlängerung stand
Kepler: Nie an gestern denken, egal, ob unterklassigen Ligen, bevor Sie den es 4:4. Sie waren am Schlag, der Ball kam
USA TODAY NETWORK / DDP IMAGES

der Tag gut oder schlecht war. Du musst Sprung in die Major League Baseball mit 157 Stundenkilometern auf Sie zu.
Niederlagen schnell abhaken, das habe ich (MLB) schafften. Was war das Schwerste Kepler: Ich hatte an dem Tag noch keinen
mit der Zeit gelernt. auf diesem Weg? Ball getroffen, war etwas müde. Ich habe
SPIEGEL: Ihr Saisonziel? Kepler: An manchen Tagen dachte ich, einfach einen lockeren Schwung genom-
Kepler: Wie vergangenes Jahr die Play- ich schaffe es nirgendwohin. Man verdient men und den Ball perfekt getroffen. Und
offs erreichen. Das Gefühl, sich qualifi- wenig, spielt in kleinen Städten, wo nichts dann flog der über den Zaun.
ziert zu haben, war überwältigend. los ist. Immer nur Baseball, Baseball, SPIEGEL: Ihr erster Homerun in der
SPIEGEL: Sie sind in Berlin aufgewachsen. MLB. Sie hatten das Spiel entschieden.
Wie kamen Sie zum Baseball? Ihre Reaktion?
Kepler: Meine Mutter stammt aus Texas, Kepler: Die Freude war riesig. Als ich um
ich ging auf eine deutsch-amerikanische die Bases gelaufen bin, habe ich gejubelt
Schule. So kam ich mit sieben, acht Jah- und geschrien. Richtig realisiert habe ich
ren mit Baseball in Kontakt. das alles aber erst in der Umkleidekabine,
SPIEGEL: Bis zur U15 standen Sie auch als das Adrenalin nachließ. Meine Mann-
GETTY IMAGES SPORT

bei Hertha BSC im Tor. Warum haben Sie schaftskollegen haben mir dann noch eine
sich für Baseball entschieden? Bierdusche verpasst, das ist obligatorisch
Kepler: Ich spielte Fußball, Basketball, nach dem ersten Homerun.
Tennis, war Schwimmer. Aber ich wollte SPIEGEL: Haben Sie den Ball noch?
einen anderen Sport machen als andere Kepler: Ja, der liegt bei meiner Mutter in
Kinder. Das Coole beim Baseball: Du Kepler beim Homerun 2016 Berlin. TNE

117
Sport

Die Erlöserin
Kampfsport Shadia Bseiso ist die erste Araberin im Profi-Wrestling, das von Männern
dominiert wird – im Nahen Osten gilt sie als Symbol der Befreiung.

Athletin Bseiso: »Plötzlich war mein Vater stolz auf mich«

118
D
ie Frau, die am Golf ein Idol ist, man Rights Watch, »davon profitiert auch gen mit Kämpferinnen ausbauen. Bislang
trägt ihre langen schwarzen Haa- der Sport.« sind ein Viertel aller 130 WWE-Stars weib-
re offen zur Schau. Sie hat fun- In Saudi-Arabien wird unter König Sal- lich. »Shadia Bseiso ist für unsere globale
kelnde Ohrstecker. In einem man seit vergangenem September an staat- Marke ein Glücksfall«, sagt Adam Big-
schwarz-silbernen Abendkleid und Balle- lichen Schulen Sportunterricht für Schüle- wood, WWE-Direktor für internationale
rinas steigt die 31-Jährige in den Ring des rinnen angeboten. In Mishref, Kuwait, Geschäfte im Nahen Osten.
International Tennis Centre, schnappt sich gehen Frauen im Park joggen, was vor Jah- An einem sonnigen Vormittag sitzt Bsei-
ein Mikro und heizt der Menge ein. »Was ren undenkbar war. In Sadr City, im Irak, so in Bigwoods Büro in Dubai, 15. Stock,
geht ab, Abu Dhabi? Bald könnt ihr mich haben sich Frauen dem Gewichtheben ver- Turm A der beiden Al Kazim Towers. Sie
hier kämpfen sehen.« schrieben. trägt Pumps und ein duftendes Parfum,
Das Publikum springt von den Sitzen Dabei ist es gar nicht so lange her, dass ihre Fingernägel sind rosa lackiert, sie
auf und brüllt: »Shadia! Shadia!« Kinder die beiden arabischen Staaten Katar und könnte genauso gut Model sein. Bevor
in den T-Shirts ihrer Wrestlinghelden, ver- Saudi-Arabien sowie das islamische Sulta- Bseiso zu sprechen beginnt, faltet sie die
schleierte Frauen, Männer im Kandura, nat Brunei erstmals überhaupt Athletin- Hände vor sich auf dem Tisch und lehnt
einem weißen Gewand, zücken ihr Handy nen zu den Olympischen Spielen entsand- sich nach vorn. Dann erzählt sie, wie sie
und filmen Bseisos Auftritt. ten. 2012 in London war das. zum Wrestling kam. Es ist die Geschichte
Es ist die Halbzeitshow der World Vier Jahre später erlebte Rio de Janeiro eines modernen Märchens, das vielleicht
Wrestling Entertainment (WWE), eines die Spiele muslimischer Frauen, von denen gerade deswegen die Strahlkraft besitzt,
US-Medienunternehmens, das seine viele mit Hidschab, dem arabischen Kopf- Konventionen zu brechen.
Kämpfer weltweit auf Tournee schickt. tuch, antraten, unter ihnen erstmalig eine Bseiso wurde in der jordanischen Haupt-
Zum 16. Mal ist man in den Vereinigten US-Fechterin. Es waren spektakuläre Bil- stadt Amman geboren. Sie wuchs in einem
Arabischen Emiraten. Die Menschen am der, als die deutschen Beachvolleyballerin- liberalen Haushalt auf, mit zwei älteren
Golf lieben Wrestling. nen Laura Ludwig und Kira Walkenhorst Schwestern und einem jüngeren Bruder.
Dieses Mal haben die Amerikaner eine im Bikini gegen zwei Ägypterinnen in Leg- Der Vater, ein Bauingenieur, sagte ihr, sie
neue Sensation mitgebracht: Shadia Bsei- gings und langem Oberteil antraten. könne werden, was sie wolle, solange sie
so, die »erste arabische Betriebswirtschaft studie-
Frau«, die demnächst als re. Also studierte sie Be-
Wrestlerin für die WWE triebswirtschaft in Beirut,
antritt, so hat der Stadion- der Hauptstadt des Liba-
sprecher sie angekündigt. non. Nebenbei machte sie
Der Jubel auf den Rän- das, wofür sie eigentlich
gen wirkt, als hätten die brannte: Radio.
Menschen in der von Für bessere Jobchancen
Männern autoritär regier- zog sie nach dem Studium
ten Föderation am Persi- in die Vereinigten Arabi-
schen Golf sehnlich auf schen Emirate, nach Du-
eine Erlöserin wie sie bai. Sie bekam eine Mu-
gewartet. Auf eine Lokal- siksendung bei Virgin Ra-
heldin, die sich nicht in dio, später präsentierte sie
die Rolle der schwachen im Fernsehen einen Able-
Frau fügt. Sondern eine, ger der Gesangs-Casting-
DAVID GUNN

die öffentlich austeilt. Die show »The Voice« und


stark ist. moderierte Live-Events
Schon einen Tag vor für Nike und Mercedes.
Bseisos Auftritt war das Wrestlerin Bseiso beim Try-out im April 2017: »Ich war platt« Als Ausgleich zum Job
Publikum in Abu Dhabi meldete sich Bseiso vor
ausgeflippt. Zum ersten fünf Jahren zum Brasilia-
Mal in der Geschichte des Emirats waren Shadia Bseisos Eintritt in den Wrestling- nischen Jiu-Jitsu an. Der Sport ist in den
zwei US-Wrestlerinnen in der Öffentlich- zirkus ist für die Gleichberechtigung mus- Vereinigten Arabischen Emiraten auf Be-
keit gegeneinander angetreten. »This is limischer Frauen der nächste große Schritt. treiben der Königsfamilie zum National-
hope«, das macht Hoffnung, hatten die Zu- Bseiso nennt die Chance ein »Privileg«, sport gereift. Bseiso trainierte täglich an-
schauer gerufen. Die Athletinnen rührte doch sie spüre auch Erfolgsdruck. »Alle derthalb Stunden.
das zu Tränen. schauen auf mich«, sagt sie, »wenn ich »Shadia hat mich mit Fragen gelöchert«,
Die Reaktion der Zuschauer erzählt viel scheitere, dann scheitere ich als Repräsen- erzählt ihr Jiu-Jitsu-Trainer. Jede ihrer Be-
über die Stimmung in der Golfregion. Die tantin dieser Region.« wegungen habe sie Hunderte Male wieder-
Menschen, so scheint es, sind bereit für Selbst in den USA, dem Heimatland des holt. »Sie wollte alles perfekt machen.«
einen kulturellen Wandel, für eine tole- modernen Wrestlings, ist der Sport eine Bseiso ließ sich beim Training filmen und
rantere Gesellschaft, die Frauen von der von Männern dominierte Welt. Eine Mas- studierte die Videos bis in die Nacht. Was
männlichen Vormundschaft befreit. Die kerade muskelbepackter Show-Gladiato- sie lernte, teilte sie mit der Welt auf Insta-
den Frauen nicht mehr nur die Rolle der ren und Machos, die einander in perfekt gram und auf ihrem Blog. Der Sport wurde
Mutter und Hausfrau aufdrückt. Die sie einstudierten Inszenierungen mit der Faust ihre Sucht.
auch als Sportlerin akzeptiert. ins Gesicht schlagen, Klappstühle über den Bseiso nahm an lokalen Wettkämpfen
»Was wir im Nahen Osten erleben, ist Schädel hauen oder aus dem Ring werfen. teil, gewann über ein Dutzend Medaillen.
eine allmähliche Lockerung des traditio- Die WWE, die im vergangenen Jahr Irgendwann erzählte Bseiso dem Vater
nellen Rollenverständnisses«, sagt Minky 801 Millionen Dollar umsetzte und deren von ihrem Leben als Kampfsportlerin. Der
Worden, Direktorin für globale Initiativen Shows weltweit Millionen Fernsehzu- wollte davon wenig wissen, habe das The-
bei der Menschenrechtsorganisation Hu- schauer verfolgen, will die Veranstaltun- ma nie mehr angesprochen. Bis Bseiso ihm

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 119


Amerikanische Wrestlerinnen in Abu Dhabi: Tränen der Rührung

nach Jahren erzählte, dass ihre Kämpfe Bseiso einen Dreijahresvertrag im Ent- Schwimmverband Druck machte, durfte
im Staatsfernsehen übertragen werden. wicklungsteam der WWE. sie mit dem Olympiateam der Männer
»Plötzlich war er stolz auf mich.« »Shadia hat großes Potenzial«, sagt Can- trainieren.
In den meisten islamischen Ländern yon Ceman, WWE-Direktor für Talentent- Shaida Bseiso schindet sich seit Januar
müssen Frauen ihren Ehemann oder Vater wicklung. Sie bringe die Athletik und Aus- täglich sechs Stunden im WWE-Trainings-
fragen, ob sie in der Öffentlichkeit Sport strahlung mit. Sie habe keine Scheu, vor zentrum in Orlando, einer 2415 Quadrat-
treiben dürfen. In Iran ist es Frauen noch Tausenden Zuschauern aufzutreten, spre- meter großen Halle mit sieben Wrestling-
heute verboten, Fußballspiele zu besu- che Englisch und Arabisch. Ceman nennt ringen. Ehemalige WWE-Größen zeigen
chen. Die Vereinigten Arabischen Emirate das eine »wertvolle Kombination«. hier, wie man sich von den Ringecken auf
sind fortschrittlicher. In Dubais zahlrei- Es sei symptomatisch für den Nahen Os- den Gegner stürzt und wie man fällt, ohne
chen Fitnessstudios trainieren Frauen teil- ten, dass ein ausländisches Unternehmen sich zu verletzen.
weise neben Männern. das Potenzial einer Athletin erkenne und Eine Stunde pro Tag steht Character De-
Shadia Bseiso hatte nie geplant, Wrest- nutze, sagt Human-Rights-Aktivistin Wor- velopment auf dem Programm – eine Ein-
lerin zu werden. Sie wollte die erste ara- den. Die gezielte Förderung von Frauen heit, bei der es darum geht, glaubhaft den
bischsprachige WWE-Show im Fernsehen ist in arabischen Ländern eine Ausnahme. Guten oder den Bösen im Ring zu spielen.
moderieren. Anfang vergangenen Jahres Fast alle Olympiateilnehmer aus der Re- Ausbildungschef Ceman sagt, er könne
lud man sie in Dubai zu einem Casting ein. gion trainierten im Ausland. »Der Staat sich Bseiso in beiden Rollen vorstellen.
Die Jury fragte sie, welche Filme sie zu- kümmert sich erst, wenn Eigeninteressen »Ich hoffe, sie wird eine Gute.«
letzt gesehen habe und wie sie diese an- bedient werden können«, sagt Worden Bis zu vier Jahre dauert die Ausbildung
moderieren würde. Bseiso sagte, sie und verweist auf Katar. zum Profi in der Entwicklungsliga. In die-
schaue kaum fern. Sie trainiere lieber. Das Emirat habe schon im Sommer ser Zeit treten die Athleten mehrmals wö-
Ein paar Monate später bekam Bseiso 2010 angekündigt, Frauen zu den Olym- chentlich in kleineren Shows vor ein paar
von der WWE eine E-Mail. Darin stand, pischen Spielen nach London zu schicken, Hundert Zuschauern auf. Nur etwa ein
sie solle sich noch einmal vorstellen. Aller- um sich erfolgreich für die Fußball-WM Drittel der 90 Athleten im Trainingszen-
dings bei einem sogenannten Try-out für 2022 bewerben zu können. Katars Macht- trum in Orlando erhält im Anschluss einen
potenzielle Wrestler. »Ich war platt«, er- haber hätten gewusst, dass es ohne ein Zei- Vertrag für die große WWE-Bühne.
zählt Bseiso. »Nie hätte ich mich in dieser chen des guten Willens in der Frage der Bseiso will auf diese Bühne – vermut-
Rolle gesehen.« Gleichberechtigung unmöglich gewesen lich mehr als jede andere ihrer Mitstreite-
Im vergangenen April stand Bseiso mit wäre, die WM zu bekommen. rinnen. Sie sagt: »Ich will der Welt zeigen,
33 anderen Athleten aus 18 Ländern in der Bis heute müssen Frauen aus dem Na- dass es für muslimische Sportlerinnen kei-
gläsernen Dubai Opera, vor ihr ein Wrest- hen Osten, die Sport treiben wollen, viele ne Grenzen gibt.«
lingring. Vier Tage lang ließ ein Team von Schwierigkeiten überwinden. Es gilt, die Matthias Fiedler
WWE-Trainern die Frauen und Männer Familie von ihren Ambitionen zu über-
Lkw-Reifen wälzen, Sit-ups machen, Bo- zeugen. Oft fehlen die Trainingsmöglich-
denrollen üben. Ein Coach nahm Bseiso keiten. Faye Sultan, in London Kuwaits Video
Training mit
in den Schwitzkasten, sie wand sich in erste olympische Schwimmerin, zog ihre Shadia Bseiso
Sekundenschnelle heraus, konterte mit Bahnen allein in einem Kinderbecken, in spiegel.de/sp142018wrestlerin
einem Armhebel. Damit hatte der Trainer dem ihre Füße auf dem Beckenboden oder in der App DER SPIEGEL
nicht gerechnet. Im Oktober unterschrieb aufschlugen. Erst als ihr Vater beim

120
Sport

»Ganz liebe Grüße«


Fußball Der Hamburger SV verpflichtete mit Thomas von Heesen einen Manager, der
als Investor windige Deals machte. Er täuschte sogar einen Geschäftspartner.

A
uf dem WhatsApp-Profil des neu- Profifußball unerfahrenen Trainer Chris- dessen entschied sich der HSV für einen
en HSV-Managers Thomas von tian Titz unterstützen, kündigte Wettstein Mann aus der Vergangenheit mit einer
Heesen war bis vor wenigen Ta- zunächst an. Außerdem werde er An- ganz eigenen Agenda.
gen eine schwarze Bombe mit sprechpartner für Spielerberater sein. Das Heesen sei »ein wandelnder Interes-
brennender Lunte zu sehen. Vermutlich schloss Heesen gleich mal aus. Dem »Ham- senkonflikt«, sagt ein Spielerberater. Er
sollte die Botschaft lustig sein: Hey, ich burger Abendblatt« sagte er: »Ich habe wolle seinen Namen nicht in der Zeitung
bin’s, der Tommi, wo ich auftauche, ist Le- nichts mit Verträgen oder den Planungen lesen, weil er Nachteile für seinen Spieler
ben in der Bude. für die Zukunft zu tun.« Jetzt sieht Hee- beim HSV befürchte, sagt der Agent:
Heesen, 56, darf sich allerdings nicht sens Jobbeschreibung bis Saisonende laut »Aber wie kann dieser Verein in dieser Si-
wundern, dass es in der Fußballbranche HSV so aus: »Bindeglied zwischen dem tuation auf diesem Posten einen Mann ein-
womöglich Menschen gibt, die das Sym- Trainerteam, dem Direktor Sport und dem setzen, der selbst Firmen hat und in der
bol anders gedeutet haben könnten: als Vorstand«. Branche Geld verdienen will?« Heesen
Zeichen für die verbrannte Erde, die Tho- Der HSV ist ein Musterbeispiel dafür, habe nun »Zugang zu Insiderwissen, an
mas von Heesen immer wieder hinterlas- wie ein ruhmreicher Verein in Deutsch- das er sonst niemals herankäme«, wettert
sen hat. land durch jahrelanges Missmanagement der Berater. »Ich werde mich zu Vertrags-
Denn fast egal, wo der gebürtige West- gegen die Wand gefahren wird. Miserable verhandlungen nicht mit von Heesen an
fale nach einer erfolgreichen Spielerkar- Transferpolitik und ein absurdes Gehalts- einen Tisch setzen, und ich glaube auch
riere als Trainer, Sportdirektor, Manager niveau sind Ursachen dafür, dass der einst nicht, dass ein anderer Kollege das tun
oder Berater anheuerte, ob in Nürnberg, so stolze Klub nun vor dem ersten Bundes- wird.«
Bielefeld, Saarbrücken, auf Zypern, in ligaabstieg seiner Geschichte steht und HSV-Chef Wettstein kanzelt Kritiker
Polen oder in der Steiermark: Meist ging abhängig von den Geldspritzen eines Mil- Heesens als diejenigen ab, die nur weitere
es in den Vereinen, für die Heesen Verant- liardärs ist. Unruhe in einen eh schon aufgewühlten
wortung übernahm, ziemlich turbulent zu, Ein anderer Grund für die Misere ist Klub bringen wollten. »Es sind alte Kamel-
manchmal auch rasant bergab. das Chaos auf der Leitungsebene. Die len, die hochkommen, weil er jetzt in der
Das kann passieren, der Fußball ist ein jüngste Personalie Heesen steht stellver- Öffentlichkeit steht«, sagte Wettstein. Da-
launisches Gewerbe. Was bei Heesens tretend für alles, was beim HSV seit Jah- mit macht er es sich einfach. Wettstein
Funktionärslaufbahn besonders in den ren schiefläuft. Vorstand Wettstein hätte müsste wissen, wie rätselhaft die Deals
letzten Jahren auffällt, hat eine andere die Chance gehabt, einen ersten Schritt sind, die Thomas von Heesen während sei-
Note. Es geht um seine privaten Geschäfte, Richtung Neustart zu wagen und einen ner Zeit beim HSV schloss.
die zuweilen in zweifelhafter Nähe zu unbelasteten Sportdirektor zu verpflich- Allein als er stellvertretender Aufsichts-
jenem Klub stehen, für den er gerade ein ten. Einen Mann für die Zukunft. Statt- ratschef des HSV war, gründete Thomas
Mandat hat oder bei dem er gerade ange- von Heesen drei Firmen, die in Transfer-
stellt ist. rechte von Spielern oder Vereine inves-
Thomas von Heesen ist an mindestens tieren wollten. Am 15. Juni 2015, dreiein-
14 Unternehmen beteiligt. Manche wollen halb Monate nach seinem Ausscheiden aus
auf dem Transfermarkt an das große Geld dem Kontrollgremium der Profifußball-
kommen. Manche mischen, so steht es abteilung, ließ Heesen eine weitere Gesell-
jedenfalls im Handelsregister, bei der In- schaft ins Handelsregister eintragen. Ihr
vestorenbetreuung mit. Selbst im trüben Name: Triple A Talents Management
Geschäft mit minderjährigen Fußballtalen- UG & Co. KG. Der eingetragene Firmen-
ten war Heesen aktiv. zweck: »Investitionen und Beteiligungen
Die Unschärfe im Umgang mit seinen an Transferrechten an Sportlern und Ver-
Beteiligungen betrifft auch seine Zeit beim einen sowie deren Rechte, insbesondere
Hamburger SV. Dort saß der Netzwerker im Zusammenhang mit der HSV Fußball
von Juli 2014 bis Februar 2015 als stellver- AG«. Sowohl Heesen als auch der HSV
tretender Vorsitzender im Aufsichtsrat. Zu schrieben dem SPIEGEL jetzt auf Nachfra-
dem hanseatischen Traditionsverein, für ge, diese Firma habe keine Geschäfte mit
den er als Spieler zwei deutsche Meister- dem Klub gemacht.
schaften und – als Höhepunkt der Klub- Im Februar 2016 gründete Thomas von
IBRAHIM / ACTION PRESS

historie – 1983 den Europapokal der Lan- Heesen zudem im irischen Cork die Firma
desmeister gewann, kehrte Heesen nun in International Sportsfinance & Invest
der Stunde größter Not zurück. Company, er ist alleiniger Gesellschafter.
Vor knapp drei Wochen präsentierte »Geschäftsbeziehungen außerhalb von
HSV-Vorstand Frank Wettstein Thomas Ticketverkäufen zwischen dem HSV und
von Heesen als Nachfolger des geschassten der International Sportsfinance & Invest
Sportchefs Jens Todt. Den offiziellen Titel HSV-Manager Heesen Company Limited, Irland, bestehen
trägt Heesen nicht. Heesen werde den im »Nichts mit Verträgen zu tun« nicht«, schrieb der Klub. Heesens Anwalt

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 121


Sport

erklärte: »Es gibt keine Geschäfte oder


Interessenkonflikte zwischen dieser Firma
und der Tätigkeit unseres Mandanten
beim HSV.«
Über Heesens geschäftliche Aktivitäten
mit dem HSV hatte der SPIEGEL bereits
im Dezember 2016 berichtet. Der Vorgang
findet sich auch in dem Buch »Football
Leaks – Die schmutzigen Geschäfte im
Profifußball« wieder, das im Mai 2017 in
den Handel kam.
Dort wird beschrieben, wie sich der
HSV im März 2015 auf Gespräche mit dem
Investor Doyen einließ. Der ewig klamme
Klub brauchte mal wieder dringend Geld,
und unter Beteiligung Heesens, nur weni-
ge Tage zuvor aus dem Aufsichtsrat aus-
geschieden, begannen die Kontakte mit
Doyen – einer Firma aus London, die zu

GETTY IMAGES /
den skrupellosesten Finanziers in der Fuß-
ballbranche gehört und deren Eigentümer
aus der kasachisch-türkischen Oligarchen-
szene stammen. Harte Jungs. Profi Guedes: Für 30 Millionen Euro nach Paris
Die Idee war, Doyen Anteile an den
Transferrechten von sechs Spielern zu ver-
kaufen, darunter Pierre-Michel Lasogga, von Spieleranteilen. Hierzu hatte er auch ren wolle. Er versprach einen schnellen
Cléber, Jonathan Tah und Maximilian weder einen Auftrag noch Handlungs- Rückruf.
Beister. Im Raum standen Erlöse für den vollmacht.« Ähnlich formulierte Abmah- Knapp eine Stunde später meldete er
HSV in Höhe von 12,2 Millionen Euro. So- nungen verschickte die Anwältin an wei- sich. »Vergessen Sie es, wir machen da
wohl der HSV als auch Doyen bestätigten tere Medienhäuser in Deutschland, die nichts mehr«, sagte Heesen. Und was sei
damals die Recherchen des SPIEGEL. Am Heesens Doyen-Connection nacherzählt mit den Abmahnungen gegen die anderen
Ende kam es doch nicht zu einem Vertrag – hatten. Verlage? Er werde sich kümmern, sagte er,
der Weltfußballverband Fifa hatte den Ver- Wenige Tage nach Eingang des Schrei- versprochen, niemand könne jetzt Ärger
kauf von Transferrechten, die sogenannte bens riefen zwei Reporter des SPIEGEL brauchen, er habe genug mit seiner aktuel-
Third-Party Ownership (TPO), ab Mai bei Heesen an. Er sei in einer Besprechung, len Aufgabe zu tun. Tschüs.
2015 untersagt. antwortete er, er wisse nichts von einem Am Abend erreichte den SPIEGEL ein
Als Heesen vor wenigen Wochen beim Unterlassungsbegehren. »Ein Buch?« weiteres Schreiben seiner Anwältin. »Wir
HSV plötzlich wieder in verantwortlicher »Football Leaks?« »Doyen?« »Belege?« möchten Sie bitten, künftig jegliche Kor-
Rolle auftauchte, nahmen zahlreiche Heesens Antworten waren Echos mit respondenz in dieser Angelegenheit mit
Medien die Doyen-Episode noch einmal Fragezeichen, er gab sich ratlos. Er habe uns zu führen und unseren Mandanten
auf. Vom »Hamburger Abendblatt« be- seiner Anwältin kein Mandat erteilt, die nicht mehr direkt zu kontaktieren.« Sie
fragt, erwiderte Heesen: »Wir sind auf An- Schreiben zu verschicken, versicherte er. bat zudem darum, dass ihr die Belege aus-
frage von Doyen nach London geflogen Dies sei ein Missverständnis, das er klä- gehändigt würden, »damit unser Mandant
und hatten dort einen Termin vor Ort.
Didi hat das Gespräch geführt. Ich hatte
keine Handlungsbefugnis und keinen Auf-
trag von der Fußball AG. Am Ende des
Tages hat sich herausgestellt, dass das Ge-
schäftsmodell überhaupt nicht infrage
kommt. Punkt. Mehr gibt es dazu nicht
zu sagen.« Mit Didi ist Dietmar Beiers-
dorfer gemeint, damals Vorstandsvorsit-
zender des HSV.
Den SPIEGEL erreichte am Donnerstag
vorvergangener Woche Post von einer
Hamburger Medienanwältin. Als »recht-
liche Vertretung von Thomas von Heesen«
forderte sie die beiden Autoren des Buches
»Football Leaks« auf, eine Unterlassungs-
erklärung zu unterschreiben. Die Darstel-
lung der Gespräche zwischen dem HSV,
Heesen und Doyen sei »unwahr« und
stelle »einen schweren Eingriff in die Per-
sönlichkeitsrechte unseres Mandanten
dar«. Weiter hieß es: »Unser Mandant ver-
handelte nicht mit der Investorengruppe
Doyen im März 2015 über den Verkauf Dubioser Heesen-Vertrag: »Investiert bedeutet bezahlt«

122 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


die Gelegenheit bekommt, sich ein Bild beteiligt, schrieb er seinem Partner. Die
von der Sach- und Rechtslage zu machen«. restlichen 53 Prozent halte ein Investor PLAN B
Bis dahin würden keine »gerichtlichen aus Málaga, der 2,6 Millionen Euro zuge- SAMSTAG, 31. 3., 17.35–18.05 UHR | ZDF
Maßnahmen« ergriffen. schossen habe.
Im Football-Leaks-Material finden sich Einen Teil dieses Geldes habe die Euro- Faire Ostern – Schokolade von
zahlreiche Dokumente, aus denen zwei- pean Talents bereits in Spieler investiert, der besten Seite
felsfrei hervorgeht, wie stark Heesen mit schrieb Heesen, allein 500 000 Euro in Kaum ein Verbraucher weiß,
oder ohne Auftrag und Handlungsvoll- den damals 17-jährigen Gonçalo Manuel welche Probleme die Schokoladen-
macht in die Gespräche des HSV mit Ganchinho Guedes von Benfica Lissabon. produktion in den Kakaoanbau-
Doyen eingebunden war. Er hatte sich mit Heesens Kompagnon war da schon skep- ländern verursacht. Dass Schokola-
Unterhändlern der Firma in München tisch. Er antwortete: »Möchte aber dabei dengenuss ohne bitteren Nach-
getroffen, er war mit Beiersdorfer zu Ver- schon hinzufügen, dass ich bis heute noch geschmack funktionieren kann, will
handlungen nach London gereist, über nie von Dir oder von unseren Steuerbera- der Gründer des deutschen Start-
Monate hatte Heesen damals den Kontakt tern irgendwelche Unterlagen unserer ups Fairafric zeigen.
zu den möglichen Geldgebern gehalten. Agentur bekommen habe.«
Zwischenzeitlich skizzierte er sogar die Dem SPIEGEL liegt ein vier Seiten um-
Idee, wie Doyen Aktionär bei der HSV fassendes »Co-Operation Agreement« SPIEGEL TV REPORTAGE
Fußball AG werden könnte. »That’s the vom 28. August 2014 vor, das Thomas von DIENSTAG, 3. 4., 23.10–0.15 UHR | SAT.1
way it works in Germany«, schrieb er Heesen unterzeichnet hat und das die
unter einen Fünf-Punkte-Plan für einen 500 000-Euro-Beteiligung an dem portu- Der Kinderretter – Familien
Doyen-Boss, »so läuft das bei uns in giesischen Jungstar Guedes belegen soll. in Not
Deutschland«. Heesen firmierte demnach als »Member Neue Geschichten aus dem Alltag
Wie es bei Heesen in Österreich so ge- of the Board« der Firma European Talent des Jugendamts Braunschweig.
laufen war, enthüllte das »Hamburger Resources AG. Vertragspartner waren die Eine junge, alleinerziehende Mutter
Abendblatt«. Beim Kapfenberger SV in Firma von Guedes’ Spielerberater mit Sitz befürchtet, ihr Kind entzogen zu
der Steiermark hatte Heesen bis Novem- in Luxemburg und der Berater persönlich. bekommen. Ohne die Hilfe des Ju-
ber 2012 als Trainer gearbeitet. Für ihren Einsatz sollte die European gendamts wäre sie völlig verloren.
Das »Abendblatt« beschrieb zum Bei- Talents demnach an Transfererlösen, Prä- Sozialpädagoge Florian Fischer ent-
spiel, dass sich Heesen mit seiner Firma mien und Werbeeinnahmen des Spielers wirft einen Notfallplan.
TvH Sportmarketing noch in seiner Zeit Guedes beteiligt werden.
als Chefcoach des Vereins mit insgesamt Heesen hatte seinem österreichischen
100 000 Euro jeweils 50 Prozent der Geschäftspartner geschrieben, dass die hal- SPIEGEL GESCHICHTE
Transferrechte seiner Spieler Mario Grgić be Million Euro für Guedes »investiert« MITTWOCH, 4. 4., 22.00–23.30 UHR | SKY
und Thomas Hirschhofer gesichert hatte. sei: »Investiert bedeutet, dass die VOH 2
Seine Wette: je höher die Ablöse beim Ver- dort investiert und bezahlt hat.« Doch in I am JFK Jr.
kauf der Spieler seiner Mannschaft, desto Wahrheit wurden die 500 000 Euro nicht Das Leben von John F. Kennedy Jr.
höher sein Gewinn. überwiesen. Eine Firma namens European endete viel zu früh, als er 1999
Das Geschäft mit Transferbeteiligungen Talent Resources AG wurde niemals regis- mit nur 38 Jahren bei einem Flug-
hatte es Heesen offenbar besonders ange- triert. Folglich wurde Heesen offiziell auch zeugabsturz ums Leben kam. Film-
tan. Fünf Tage nach seinem Abgang als niemals ihr »Member of the Board«. aufnahmen aus privaten Archiven
Trainer gründete er in Hamburg die Guedes wechselte im Januar 2017 für porträtieren den letzten Superstar
Agentur VOH 2 Sportmanagement. Als 30 Millionen Euro von Benfica zu Paris dieser US-Dynastie.
Geldgeber fand er einen österreichischen Saint-Germain, Heesen spielte dabei keine
Millionär, der in die Firma einstieg. Zahl- Rolle. Für Heesen scheint das alles kein
reiche Unterlagen, die dem SPIEGEL vor- Problem. Sein Anwalt antwortete, die ARTE RE:
liegen, geben einen tiefen Einblick in das European Talent Resources AG sei »letzt- DONNERSTAG, 5. 4., 19.40–20.15 UHR | ARTE
Geschäftsgebaren Heesens, welche groß- lich nie gegründet worden«. Grund sei das
spurigen Versprechen Heesen seinem Part- »fehlende Kapital« des anderen Investors Die perfekte Welle – Big-Wave-
ner machte – und welche windigen Aus- aus Málaga gewesen. Dieses Geld sei Surfen in Portugal
flüchte er dann fand, als die erhofften Ein- »Voraussetzung für die Durchführung« des Der portugiesische Küstenort Nazaré
nahmen ausblieben. 500 000-Euro-Vertrags mit dem Berater ist einzigartig in Europa. Hier bil-
Im März 2013 berichtete Heesen seinem von Guedes gewesen, der deshalb »ver-
Geschäftsfreund von zahlreichen Deals, die worfen« worden sei. »Zahlungen diesbe-
er in Aussicht habe, von Investments in züglich sind nie geleistet worden.« Das
Firmen, Transferabtretungen, Vermitt- sind auch die Einlassungen des Anwalts
lungsprovisionen und einer »Kooperation« zum Vorwurf des Betrugs: »Mehr gibt es
mit einer schwäbischen Firma »in einer hierüber nicht zu sagen.«
Gesamthöhe von ca. 40 000 000 €. Betei- Festzuhalten bleibt: Heesen hat für eine
ligung von VOH 2 als Gesellschafter zu Aktiengesellschaft, die nie gegründet wur-
50%!« Seine Mail beendete er wie die an de, einen Vertrag unterschrieben. Als er
einen guten Freund: »Ganz liebe Grüße an das damals tat, war er bereits beim Ham-
alle, Thomas«. burger SV: als stellvertretender Vorsitzen- Atlantikküste bei Nazaré
Anderthalb Jahre später prahlte Heesen der des Aufsichtsrats.
noch immer von seinen Geschäftsideen Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
den sich nach Stürmen Riesenwellen
aus der großen, bunten Welt des Fußballs. Gunter Latsch, Nicola Naber, Jörg Schmitt, und locken Extremsportler aus
Ihre gemeinsame Firma VOH 2 sei nun zu Michael Wulzinger aller Welt an, etwa den deutschen
47 Prozent an der European Talents AG Surfprofi Sebastian Steudtner.

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Nachrufe
Lys Assia, 94 Philip Kerr, 62
Wenn die Karriere einer Das war fast ganz zum
Schlagersängerin damit Schluss, als er diese wahn-
beginnt, in einer Pariser sinnig schöne, traurige
Show für Josephine Baker Hommage an Erich Kästner
einzuspringen und anschlie- schrieb. »Friedrich, der gro-
ßend ein festes Engagement ße Detektiv« heißt das
in der Tasche zu haben, Buch, in dem Kinder lernen
dann nennt man das wohl können, wie das Leben der
einen vielversprechenden Menschen sich veränderte,
Auftakt. Das war 1948, die als in Deutschland die Nazis
Schweizerin Lys Assia war an die Macht kamen.
Mitte zwanzig. Ihre weiche Warum Kästner sich so
Stimme war international schwertat, sein Heimatland
gefragt: Assia sang für den zu verlassen. Und warum
amerikanischen Rundfunk Bücher damals so gefährlich
und ging auf Deutschland- waren, dass sie verbrannt
tournee. 1956 wurde sie als werden mussten. Vor allem
Interpretin des Schlagers aber: wie schön und lebens-
»Refrain« zur ersten Siege- kräftigend und abenteuer-
rin des Grand Prix Euro- lich das Lesen ist. Philip

DDP IMAGES
vision de la Chanson gekürt. Kerr wurde 1956 in Edin-
1963 heiratete sie den däni- burgh geboren, er liebte
schen Hotelier Oscar Peder- James Bond und stahl als
sen und zog sich aus dem Elfjähriger »Lady Chatter-
Stéphane Audran, 85 Showbusiness zurück. Nach ley’s Lover« aus dem
Die französische Schauspielerin, eine der wichtigsten Ver- der Jahrtausendwende wag- Bücherregal der Eltern,
treterinnen der Nouvelle Vague, erschloss sich ihre Rollen te sie ein Comeback: schrieb eine eigene Version,
über die Kleidung ihrer Figuren. »Wenn man beim Äußeren Zuletzt nahm sie im Alter die er über Nacht an Kame-
sorgfältig vorgeht, folgt das Innere«, erklärte Stéphane von 88 Jahren noch mal an raden verlieh. Später hatte
Audran. Von Couturier Karl Lagerfeld, der häufig für ihre der Schweizer Vorentschei- er die Idee, in Schulen Lek-
Garderobe verantwortlich zeichnete, lernte Audran dabei dung zum Grand Prix teil. türekurse verbotener
die Nuancen, die sie stets chic, nie zu modisch erscheinen Lys Assia starb am 24. März Bücher anzubieten. Um das
und zum Inbegriff der modernen Französin werden ließen. in Zollikon, Schweiz. CLV Lesen für Kinder zu dem
Nachdem Audran 1959 erstmals für Claude Chabrol in geheimen Großereignis zu
»Schrei, wenn du kannst« vor der Kamera gestanden hatte, Erwin C. Dietrich, 87 machen, das es ist. Berühmt
spielte sie in den meisten seiner bitterbösen Gesellschafts- Sein Vermögen machte der wurde Kerr mit seinen Kri-
porträts der Sechziger- und Siebzigerjahre die weibliche Schweizer Filmproduzent in minalromanen um den
Hauptrolle. Ihr zurückhaltender Glamour, die kühle Schön- den Sechziger- und Siebzi- Ermittler Bernie Gunther,
heit und ihr kontrolliertes, unaufgeregtes Spiel verkörper- gerjahren mit Sexfilmchen der während der Nazizeit
ten meisterhaft die bürgerliche Fassade, hinter der sexuelle wie »Die bumsfidelen Mäd- Verbrechen aufklärt. Kerr
wie mörderische Abgründe schlummern. Wirkte ihr Gesicht chen vom Birkenhof«; 1970 hat Berlin geliebt, die Stadt
bisweilen maskenhaft leer, so sprach ihre Mimik in ihrer verhalf Erwin C. Dietrich war die Hauptfigur in den
minimalen Ausformung doch Bände: Verzweiflung, Ekel der jungen Ingrid Steeger meisten seiner Romane. Sei-
oder Begehren – alles stellte sie ohne Text mühelos her. Die mit »Ich – ein Groupie« nen Kästner lässt Kerr am
als Colette Suzanne Jeannine Dacheville in Versailles gebo- zum Durchbruch als sexy Ende über den frühen,
rene Schauspielerin war mehr als die Muse des Regisseurs Ulknudel. Der Hunger des begeisterten Leser Friedrich
Chabrol, mit dem sie von 1964 bis 1980 verheiratet war. Publikums nach nackter sagen: »Es war die Liebe zu
Die beiden bildeten eine Arbeitsgemeinschaft, ihr Part war Haut und Klamauk war Büchern, die Friedrich und
es, mit ihrem subtilen Spiel Chabrols Vorstellungen von der groß damals, Dietrich stillte mich miteinander verband.
Gesellschaft sichtbar zu machen. Für ihre Darstellung einer ihn. Die sexuelle Revolu- Sie hat uns zu Freunden
Lehrerin, die sich in eine emotionale Bindung zu einem bru- tion interessierte ihn nicht, gemacht.« Philip Kerr starb
talen Mörder begibt, in dem Film »Der Schlachter« (1970) ihn interessierte es, Geld am 23. März in London. VW
wurde sie mehrfach ausgezeichnet. In einigen Rollen lebte zu verdienen. Er betrieb
sie den Seitensprung so selbstverständlich, als stellte Ehe- einen eigenen Filmverleih,
bruch einen festen Bestandteil bürgerlichen Lebens dar, wie eröffnete das erste richtig
in »Die untreue Frau« (1969) oder »Blutige Hochzeit« große Multiplexkino in der
(1973). Eine hinterhältige Mörderin gab sie in »Champagner- Schweiz, und seine Gewin-
Mörder« (1967) an der Seite von Anthony Perkins. All ne steckte er in Filme wie
WRITER PICTURES / INTERFOTO

diese Rollen prädestinierten sie für ihren Part in Luis Buñuels »Die Wildgänse kommen«
surrealem Film »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« (1978) mit Roger Moore; im
(1972), dort ist sie Teil eines bourgeoisen Freundeskreises, Laufe seiner langen Kar-
der mit Gewalt oder durch erotische Ablenkung vom riere bekam er auch inter-
gemeinsamen Mahl abgehalten wird. Ein letzter Höhe- nationale Anerkennung.
punkt ihres Schaffens war die Hauptrolle in »Babettes Fest« Erwin C. Dietrich starb am
(1987). Stéphane Audran starb am 27. März. SMO 15. März in Zürich. KS

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018 125


Personalien dung«, hieß es. Die Socken müssten daher anbleiben. Falls Her-
ren ohne Strümpfe auftauchten, werde der Veranstalter »selbst-
verständlich« eine »Auswahl an Socken« bereithalten, um »die
Situation zu bereinigen«. Reporter Tucker stellte bei seiner
Recherche fest, dass auch viele private Klubs sockenlose Män-

Männer unten ohne ner aussperren wollen und ihre Satzungen entsprechend ge-
ändert haben. Das Luxushotel Ritz hingegen ist aufgeschlossen;
Tucker konnte sich unbehelligt – und unbesockt – in der Lob-
G Im Dienst der Wahrheit zog der »Times«-Reporter Grant by aufhalten. Im gediegenen Goring Hotel durfte Tucker seine
Tucker, 25, seine Socken aus und begab sich in London auf Fußknöchel bei einer schönen Tasse Tee zur Schau stellen. Der
eine Recherche der besonderen Art. Anlass: Der Trend zum »mankle« (von »man« und »ankle«) ist durch modische Vorbil-
nackten Männerknöchel hat in Großbritannien einen so hohen der wie Musiker Pharrell Williams populär geworden. Den
Verbreitungsgrad erreicht, dass sich die Organisatoren der Royal- Trend hält Journalist Tucker für unumkehrbar, und auch wenn
Ascot-Rennwoche jetzt gezwungen sahen, Stellung zu nehmen. er selbst »ein großer Fan« von Socken sei, störe ihn das nicht:
Das alljährliche Pferderennen, eines der liebsten gesellschaft- »Ein Knöchel kann eine schöne Sache sein, solange er zu einem
lichen Ereignisse der Queen, sei »synonym mit eleganter Klei- schönen Mann gehört.« KS

RICHARD POHLE / NEWS LICENSING / DDP

Sexy bleibt sexy Natural zeigt sie sich jetzt


auf dem Cover des Magazins
neue Nackt zu sein. Auf die
Frage, ob dieser Auftritt jetzt
G Popstars müssen sich stän- »Paper«, ohne Lippenstift, einen Wendepunkt darstelle
dig neu erfinden, das gehört Haare glatt, ganz pur. Die und sie in Zukunft auf drama-
zur Berufsbeschreibung. Sie Welt sieht zum ersten Mal die tische Imagewechsel ver-
ändern ihren Kleidungsstil, Sommersprossen der Chris- zichten werde, antwortete
ihre Frisur, das Make-up. Die tina Aguilera – und flippt aus. Aguilera der »Paper«-Auto-
Musikerin Christina Aguilera, Im Internet wird ihr Auftritt rin: »Ich war schon immer
37, ist da keine Ausnahme. als Sensation gehandelt. Als jemand, der offensichtlich
Sexy Glamour war bisher ihr sie sich 2014 nackt mit Baby- gern experimentiert, der das
Ding, mit reichlich rotem bauch ablichten ließ, schien Theatralische liebt.« Ihr
Lippenstift und superblonden das Interesse nicht so groß. Schminkkoffer hat also noch
Haaren, gern gelockt. Sexy Ungeschminkt scheint das lange nicht ausgedient. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


hört bis zur Fertigstellung
Weltschloss für eben das »Bauvorhaben
Heimatkundler Humboldt Forum im Berli-
ner Schloss« und die »Stif-
G Für Horst Seehofer, 68, tung Humboldt Forum im
wurde das Innenministerium Berliner Schloss«. Über die
neu zugeschnitten, weshalb künftige Vertretung des
er auch für die Ministeriums im
Bereiche Heimat Stiftungsrat sei
und Bau zuständig noch nicht ent-

MARIA FECK / DER SPIEGEL


ist – und so zum schieden, sagt

MICHAEL KAPPELER / DPA


Schlossherrn wird: eine Sprecherin
Ihm untersteht der Seehofers. Dabei
(weit gediehene) soll das Gremium
Wiederaufbau des bald einen ersten
Berliner Stadt- Intendanten für
schlosses. Dort die geplante Ver-
wird einmal das Humboldt sammlungsstätte der Welt- Die Augenzeugin
Forum einziehen, das viele kulturen berufen. Vielleicht
historische Objekte aus Afri-
ka und Asien präsentieren
soll und gern als Zentrum
hat sich Kulturstaatsminis-
terin Monika Grütters des-
halb so beeilt, schon einmal
»Traurigkeit gespürt«
der Weltkulturen angekün- einen Kandidaten vorzu- In Hamburg wurden vergangene Woche Obdachlose
digt wird. Übergangsweise schlagen – ohne die nächste befragt. Wo kommen die Menschen her, warum
hat nun der Verfechter einer Sitzung des Stiftungsrates wurden sie obdachlos? Die Hansestadt will so auch
Heimatkunde das letzte abzuwarten. Denn eigentlich
ihre Hilfsangebote überprüfen. Die Sozialarbeiterin
Wort. Kurios? Doch in See- ist sie es, die sich gern mit
hofers Verantwortungs- dem Projekt Humboldt Fo- Katrin Wollberg, 46, leitet den Bereich Notunter-
bereich als Bauminister ge- rum schmückt. UK künfte beim städtischen Sozialdienstleister Fördern
und Wohnen und hat viele der Interviews geführt.
G »Die erste Frage lautet: Sind Sie obdachlos? Schon da müs-
Gericht gegangen. In der TV- sen einige schlucken. In dem Moment müssen sie sich ihre
Streit ohne Ende Serie »Feud« kommen die Situation eingestehen. Da habe ich viel Traurigkeit gespürt,
G Hat sie ihre Schwester Worte aus dem Munde von auch Scham. Es ist kaum noch der klassische Tippelbruder
einst eine »bitch« (»Mist- Catherine Zeta-Jones, die oder Berber, den man trifft. Etliche Obdachlose, mit denen
stück«) genannt oder nicht? de Havilland darstellt. Am ich gesprochen habe, haben Schulabschluss und Berufsausbil-
Vor allem um diese angeb- Montag entschied das Ge- dung, sie beziehen Rente oder Arbeitslosengeld, manche
liche Äußerung von Olivia richt gegen die Klägerin, die arbeiten sogar, können aber keine Wohnung bezahlen.
de Havilland, 101, über wegen der kommerziellen Der Auslöser für den Sturz in die Obdachlosigkeit ist häu-
Joan Fontaine ging es beim Nutzung ihrer Person zudem fig eine Trennung, vor allem bei Männern. Sie verlassen
Prozess der Filmdiva gegen Kompensation in Millionen- die gemeinsame Wohnung, flüchten sich in Alkohol, werden
den Sender FX in Los Ange- höhe gefordert hatte. De depressiv, melden sich anfangs im Job krank, irgendwann
les. De Havilland, bekannt Havilland klagt nicht zum wird das egal, sie verlieren die Arbeit, ihr Einkommen, öff-
aus »Vom Winde verweht«, ersten Mal. 1944 gewann sie nen keine Post mehr, Schulden häufen sich, sie werden
ist wegen Rufschädigung vor einen Prozess gegen Warner zwangsgeräumt – so dreht sich die Spirale nach unten. Unter
Brothers. Noch bei der den Obdachlosen sind zunehmend Menschen mit psychi-
Oscarverleihung 2003 schen Erkrankungen, sie halten dem Druck der ständigen
wurde sie mit Standing Veränderung in der digitalisierten Welt nicht mehr stand.
Ovations für das Urteil Obdachlose Frauen versuchen häufig, in einer Zweckgemein-
gefeiert, das Schauspie- schaft unterzukommen, für eine Bleibe bieten sie ihre
lern mehr Rechte Dienste an, von Hausarbeiten bis hin zu sexuellen Gefällig-
beschert und das Ende keiten. Wir haben deshalb im Winternotprogramm geschütz-
des alten Studio- te Frauenplätze geschaffen.
systems besiegelt hat. Es gibt immer mehr ausländische und weniger deutsche
Ein Urteil gegen FX Obdachlose, wir fragen uns: Wo sind die geblieben? Etlichen
hätte indes das Ende konnten wir sicher helfen, aber es gibt auch einen Teil, der
von Filmen einläuten sich verdrängt fühlt. In den Interviews saßen auch Obdach-
JULIEN MIGNOT / NYT / REDUX / LAIF

können, in denen reale, lose aus Bulgarien, Polen und Rumänien vor mir. Haben
lebende Personen sie keine Chance auf unserem Arbeitsmarkt, beraten wir sie,
porträtiert werden wie damit sie in ihre Heimatländer zurückfinden. Wenn unser
aktuell in »I, Tonya«. Winternotprogramm mit kostenlosen Schlafplätzen, Abend-
Doch endgültig ent- essen, Frühstück, Duschen und Waschmaschine am 3. April
schieden ist nichts, de endet, werden viele von ihnen auch von sich aus heimreisen,
Havilland will in sie haben in Hamburg schlicht überwintert.«
Berufung gehen. SMO Aufgezeichnet von Annette Großbongardt

127
»Hört endlich auf, Unternehmen wie Facebook und Co.
als ›soziale Netzwerke‹ zu benennen! Diese Unternehmen
sind doch Lichtjahre von ›sozial‹ entfernt.«
Ingrid Dietz, Saarbrücken

Die persönliche Ebene Zu Facebook mussten mich meine Enkel Beitragsschuldner haben in der gesetz-
tragen: »Opa, warum bist du nicht in Face- lichen Krankenversicherung (GKV) und in
Nr. 13/2018 Die Falle Facebook: Wie der allmächtige
book?« Schließlich meldete ich mich an der privaten (PKV) gleichermaßen nur An-
Konzern noch zu stoppen ist – und wie sich die Nutzer
schützen können und hatte für ein paar Jahre ein Konto. Als spruch auf Notfallleistungen. In dem ge-
Facebook sich aber zum 30. Januar 2015 schilderten Fall dürfte also auch die GKV
Eine Gefahr für die Demokratie ist nicht mit neuen Allgemeinen Geschäftsbedin- die Augen-OP des Versicherten nicht er-
Facebook, sondern die Unmündigkeit vie- gungen zur unbeschränkten Nutzung mei- statten. Die Schuldenprobleme in der GKV
ler Nutzer, Manipulationen nicht durch- ner Daten ermächtigte, kündigte ich sofort sind gemessen an der Versichertenzahl
schauen zu können. Vielleicht sollte man, mein Konto und verlangte die Löschung etwa zweimal so hoch sind wie in der PKV.
um künftige Generationen gegen Fake all meiner Daten. Dennoch bekam ich Stefan Reker, Sprecher des PKV-Verbandes, Berlin
News zu immunisieren, »Methoden der weiterhin gezielte Werbung und Mails, ich
Irreführung« als Schulfach einführen. solle doch mein Konto wieder aktivieren. Vielleicht kommt doch noch mal die Bür-
Klaus Müller, Essen Seither ist’s umgekehrt: Ich versuche, mei- gerversicherung. Junge, gesunde Single-
ne Enkel zu überzeugen, sich diesem Kra- Beamte müssten dann mehr bezahlen,
Die datengetriebene Internetwirtschaft be- ken nicht länger auszuliefern. aber Beamte mit Familie und Pensionäre
nötigt mehr denn je eine Wertedebatte. Friedrich Pieper, Ulm-Ermingen (Bad.-Württ.) weniger. Das wäre gerecht.
Auf der letzten Dmexco in Köln ging Axel Ruch, Cuxhaven (Nieders.)
Sheryl Sandberg in ihrer Rede mit keinem
einzigen Wort auf Fake News oder Hate Mein Mitleid mit jenen, die sich die Bei-
Speech ein. Gerade im Top-Management träge zu ihrer privaten Krankenversiche-
MARCIO JOSE SANCHEZ / DPA
fehlt es in erheblichem Maße an Selbst- rung nicht mehr leisten können, hält sich
reflexion und echter Einsicht. in Grenzen. In Zeiten, in denen sie gut
Rasmus Helt, Hamburg verdienten, verließen sie die gesetzliche
Krankenversicherung, weil sie sich bei ei-
Als Raumfahrtingenieur habe ich die Mög- ner privaten Krankenversicherung günsti-
lichkeit, mich weltweit mit ehemaligen ger versichern konnten. Dann darf man
Kollegen und neuen Freunden unverbind- Facebook-Gründer Zuckerberg 2013 aber auch nicht heulen, wenn das Einkom-
lich und ohne Verpflichtungen auszutau- men sinkt. Typischer Fall von verzockt.
schen und auf dem neuesten Stand der Ent- Trotz des denkbar alarmierenden Charak- Claus Arnold, Filderstadt (Bad.-Württ.)
wicklungen zu bleiben. Ohne Facebook ters dieses Datenskandals (Inwieweit wur-
wäre mein Ruhestand viel langweiliger. de der Brexit beeinflusst?) befindet sich Was man daraus macht
Danke, Mark Zuckerberg! die zivilisierte Welt sicher nicht an einem
Nr. 12/2018 Eine Amerikanerin stirbt im Berliner
Joachim Kehr, Weßling (Bayern) Abgrund oder gar unter einer totalitär
Technoklub Berghain – und die Stadt macht weiter,
geführten Schattenregierung. Eines aber als wäre nichts geschehen
Da erfinden wir mit dem Internet neue sollte allen aufgeklärten Geistern nun end-
Kommunikationskanäle, und dann über- lich klar geworden sein. Facebook & Co. Der Autor hat es geschafft, die bewegende
lassen wir die Kontrolle den Unternehmen. sind keine »sozialen«, sondern lediglich Geschichte dieses unsinnigen Todes enga-
Da müssen wir uns nicht wundern, dass »gesellschaftliche« Medien. giert zu erzählen und dabei das ignorante
sie missbraucht werden. Autoritäre Re- Hauke Guttenberg, Lübeck und begünstigende Milieu darum herum
gime wie Russland oder China haben die schonungslos zu beleuchten. Nicht zuletzt
gesellschaftliche Brisanz dieser Kanäle er- Verzockt hat er damit der Verstorbenen ihre Würde
kannt und nutzen sie konsequent für sich. zurückgegeben, und man kann nur hoffen,
Nr. 12/2018 Die Politik ignoriert die Probleme
Klaus Täschner, Platjenwerbe (Nieders.) dass solche »Vorfälle« nicht weiter als Kol-
verarmter Privatversicherter
lateralschäden hingenommen werden.
Wir kommen Orwells »1984« immer nä- Selbstständige sind mitnichten reich! Sie Ulrich Rudat, Korschenbroich (NRW)
her. Auch wenn sich jetzt viele Deutsche müssen alles selbst aufbringen – die pri-
von Facebook zurückziehen wollen, so ist vate Rentenversicherung, die Beiträge für Man muss kein Toxikologe sein, um fest-
doch bei vielen die Social-Media-Sucht so die private Krankenversicherung mit ho- zustellen, dass die Dosis bei der zarten Sta-
stark geworden, dass es ein Zurück in alte hem Eigenanteil und so weiter. Sie sind als tur der Frau in jedem Fall eine Überdosis
Zeiten nicht mehr geben wird. Der richtige Mittelstand eine der Säulen der Wirtschaft. war. Ich möchte nicht zynisch klingen,
Weg kann nur der sein, Medienkompetenz Krankmachen geht nicht! Urlaube gehen aber wenn ich statt einer Schlaftablette
stärker in die Schulen zu bringen. Kom- mit Einkommenseinbußen einher. Im Al- zehn Tabletten nehme, verklage ich auch
munikation muss wieder stärker auf die ter können sie dann die zu hohen Prämien nicht den Hersteller. Leider gibt es bei
persönliche Ebene gebracht werden. Dann nicht mehr bezahlen und dürfen nicht E-Pillen keinen Beipackzettel – da könnte
wird es auch weniger Datenmissbrauch in die gesetzliche Krankenversicherung natürlich durch Drugchecking und Aufklä-
und Fake News geben. wechseln. Wann ändert sich das endlich? rung noch einiges getan werden.
Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenb.) Imogen Schäfer, Berlin Name und Anschrift sind der Redaktion bekannt

128 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


Briefe

Von den Berliner Klubs hat das Berghain Aufklärerisches Erbe Rüdiger Safranski hat recht, wenn er an-
die strikteste Etikette für Drogenkonsum. gesichts der unüberbrückbaren Gegen-
Nirgendwo werden die Gäste gründlicher Nr. 12/2018 Nach der Dresdner Debatte sätze von einer völkischen kulturellen Prä-
zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein
durchsucht und Konsumenten schneller streiten Intellektuelle über Redefreiheit gung spricht, einem »anthropologischen
des Klubs verwiesen. Die Hauptschuldigen und den richtigen Umgang miteinander Faktum«. Deshalb kommen Einwanderer
am Tod der jungen Frau sind konservative hier nicht als sterile Individuen an, und
Politiker, die die Legalisierung des Drug- Wer sagt, dass die Position Grünbeins links ihre kulturellen Impulse mögen wir kei-
checking in Klubs und auf Festivals blo- sei; wer sagt, dass die Position Tellkamps neswegs rundum als Bereicherung werten!
ckieren. rechts sei? Was beinhalten diese Klassi- Wolfgang Wettlaufer, Tübingen (Bad.-Württ.)
Florian Fischer, Berlin fizierungen überhaupt noch? Meiner An-
sicht nach verläuft die Trennlinie, wenn

ROLF HAID / PICTURE ALLIANCE / DPA


Auf der Suche nach dem Verantwortlichen denn eine zu ziehen wäre, zwischen ver-
haben Sie niemals die Tote selbst in Be- antwortungsethisch begründeter Vernunft
tracht gezogen. Es scheint so, als hätten und einer gesinnungsethisch verankerten
alle anderen Beteiligten und der Ort die Gefühlshaftigkeit.
Verantwortung zu übernehmen. Das ent- Reinhard Egenolf, Freiburg (Bad.-Württ.)
spricht dem heutigen Zeitgeist, die Schuld
bei anderen zu suchen. Für ein Nachrich- Es gibt eine überzeugte Linke, die nicht
ten-Magazin finde ich die Recherche und marxistisch, kommunistisch oder Ähnli-
den Umfang des Berichts deplatziert. ches ist. Aber es gibt kein Gegenstück auf Autor Safranski
Andreas Schwengler, Breisach am Rhein (Bad.-Württ.) der anderen Seite. Wir müssen das Spek-
trum ergänzen, sonst besteht die Gefahr Ein Mann, der in der Vergangenheit lebt,
Die junge Frau trägt in erster Linie selbst der Radikalisierung, indem Andersdenken- will Politik für eine neurechte Zukunft ma-
die Verantwortung für die Dosierung. de mundtot gemacht werden. chen. Dabei ist ihm die Deutungshoheit
Nicht eingegangen wird auf die Rolle des Vera Mathiszik, Hamburg über die Gegenwart längst entglitten.
Freundes, der ihr eine zweite Pille gegeben Deutschland ändert sich. Irgendwann auch
hat. Ihm und ihrem Ehemann, der sie al- Der Nation fehle ein Gewissen, wird be- einmal Badenweiler. Das ist gut so.
lein gelassen hat, kann man einen Vorwurf klagt. Woran könnte das liegen? Vielleicht Karl Kraft, Marburg (Hessen)
machen. Es ist im Berghain üblich, sich daran, dass das Verhältnis zur Erinnerung
umeinander zu kümmern. Das Berghain an den Nationalsozialismus immer noch Herrn Safranski spricht von Unterschie-
ist das, was man daraus macht. Ich bin mir als zentrale Frage der deutschen Identität den, die sich nur bis zu einem bestimmten
sicher, dass im Rahmen des auch in Berlin gilt? Die Verbrechen begründen zweifels- Grad mischen können. Diese Haltung er-
um sich greifenden Neokonservatismus po- ohne eine besondere Verpflichtung, doch klärt nicht, warum ich mit türkischem
litische Kräfte auf eine Chance warten, die- sind sie für den Großteil der Deutschen Hintergrund Deutsch und Philosophie stu-
sen Ort der Freiheit und Selbstverantwor- nur noch Erzählung und nicht mehr Erleb- diert habe und in der deutschen Kultur zu
tung zu schließen. Bedauerlich, dass der nis. Ihre Mahnung allein genügt immer we- Hause bin. In biologistischer Weise ver-
SPIEGEL diesen Kräften Vorschub leistet. niger als moralischer Kompass. langt er »Artenschutz für die Unterschiede
Thomas Weinberger, Berlin Michael Leumann, Kißlegg (Bad.-Württ.) der menschlichen Kulturen«. Herr Safrans-
ki, Sie und ich sind von der gleichen Art!
Eine europäische Rechte, die das Projekt Und an dieser Stelle noch: Danke für den
Europa gleichermaßen zu bewahren und dezidierten Widerspruch des SPIEGEL-
durchzusetzen sucht, wäre durchaus vor- Interviewers an vielen Stellen! Das tat gut!
stellbar. Ihr Anspruch könnte sehr wohl Dr. Suna Wölk, Hannover
die Forderung nach einer Flüchtlingsquote
und das Werben um Mitarbeit aller Mit- Ich habe selten eine so intelligente, groß-
gliedsländer der EU sein, insofern hier auf artige Stellungnahme gelesen wie die von
das aufklärerische Erbe der Rechtsgleich- Rüdiger Safranski. Er bringt es so haar-
heit und den Humanismus rekurriert wird. scharf auf den Punkt, was einen bewegt.
Ehepaar Jennifer, Carlo 2013 Simon Limbeck, Essen Gott sei Dank weiß er so viel mehr als sein
Befrager, der zuweilen sehr dem Gutmen-
Der Kauf und die Einnahme von Drogen Wir sind von der gleichen Art schen-Kitsch verfällt.
werden als etwas so Banales, Normales Ellen Steiner, Steckborn (Schweiz)
Nr. 12/2018 SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophen
dargestellt, als gehörte der Konsum in den
Rüdiger Safranski über die Frage, ob Rechte und Linke
Klubs der Hauptstadt automatisch dazu. noch miteinander reden können Es gibt eine Pflicht zur Fremdenliebe, die
Und als hätten Politik und Polizei dem als Gebot der Bibel zum Bestandteil der
nichts entgegenzusetzen. Einem Menschen, der derselben Ethnie abendländischen Zivilisation geworden ist.
Peter Kallmeyer, Hamburg entstammt wie man selbst, der zufällig den Dass ein Kenner der europäischen Geistes-
gleichen Pass hat, ist man in keiner Weise geschichte das ebenso verleugnet wie die
Durch Zufall am Flughafen auf eine Ge- mehr verpflichtet als jedem anderen Men- vom Christentum unberührten Retter des
schichte – eher: Tragödie – zu stoßen, bei schen dieser Welt. Jeder muss – so Kant – christlichen Abendlandes, ist traurig.
der sich nicht nur eine erschütternde die Menschheit sowohl in seiner Person Jürgen Thiede, Kirchlinteln (Nieders.)
menschliche Katastrophe, sondern wiede- als auch in der Person eines jeden anderen
rum eine heillos überforderte Berliner Ver- jederzeit als Zweck an sich selbst und nie-
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
waltung offenbart, und gleichzeitig dem mals bloß als Mittel brauchen. Das Wir ist (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Leser Widersprüche nicht zu ersparen, ist also die Gattung Menschheit, nicht irgend- sowie digital zu veröffentlichen und unter
Qualitätsjournalismus im besten Sinne. ein Hirngespinst wie Volk oder Nation. www.spiegel.de zu archivieren.
Eva Keldenich, Berlin Bernhard Schindlbeck, München

129
Hohlspiegel Rückspiegel

JETZT IM HANDEL: Der SPIEGEL berichtete …


DER INNOVATIONS-

TURBO
… in Nr. 9/2018, »Jesus von Knüppel-
damm«, über den Betrugsverdacht
Aus der »Frankfurter Rundschau« gegen den ehemaligen Bundes-
verkehrsminister Günther Krause, der
offenbar wertlose Aktien als
Aus der »Nordbayerischen Zeitung«: Sicherheit für den Kauf einer Villa in
»Acht Jahre lang hatte der gelernte Mecklenburg hinterlegt hatte:
Metzger dort als kompromissloser
Verteidiger die Knochen hingehalten.« Der Ex-Politiker und seine Frau Heike
Krause-Augustin müssen die Immobilie
bis zum 10. April 2018 räumen. Am Diens-
Aus dem »Freisinger Tagblatt«: tag hatten sie eine vom Landgericht Neu-
»Landeshauptmann Karl Steininger, 78, brandenburg gesetzte Frist zur Zahlung
aus dem Landkreis Miesbach ist des Kaufpreises verstreichen lassen, ohne
Bayerns oberster Gebirgsschütze. Er hat das Geld zu überweisen. Die Ermittlungen
Obama getroffen, Putin, Merkel der Staatsanwaltschaft wegen des Ver-
und alle Päpste der letzten Jahrzehnte.« dachts des Betrugs sind davon unberührt
und dauern an.

… in Nr. 12/2018, »Mit Gottes Ohr«,


dass der Bundesnachrichtendienst (BND)
Anlagen in den Glockentürmen der
Münchner Frauenkirche eingebaut hat,
um Spione oder ausländische
Weitere Themen: Diplomaten beschatten zu können:

KREATIVITÄT Am Montag hat der BND die Anlagen


abgebaut. Nach Auskunft des Dienstes
So wecken Sie die Neugier wurde der sogenannte Repeater seit 2011
nicht mehr genutzt. Er habe ausschließlich
Ihrer Mitarbeiter der BND-internen Kommunikation ge-
Aus einem Aushang dient; die Anlage sei nie dazu geeignet ge-
am Bremer Hauptbahnhof WEITERBILDUNG wesen, fremde Funkverkehre abzuhören.
Was kostenlose
Aus dem »Hamburger Abendblatt«:
»Dressel ist Familienvater und hat sogar
Onlinekurse wirklich … in Nr. 37/2017, »In die Fresse«, über den
EU-Beamten Martin Selmayr, der
drei kleine Kinder, seine Frau bringen den Brüsseler SPIEGEL-Korrespondenten
arbeitet als Richterin. Hinzu kommen Peter Müller beschimpfte mit »Wenn
weitere familiäre Belastungen.« MARKETING ich dich damals getroffen hätte, hätte ich
dir in die Fresse gehauen. Arschlöcher
Personalisierte Werbung, machen Arschlochjournalismus« anläss-
die nicht nervt lich Müllers Selmayr-Porträt
»Perfektes Feindbild« in Nr. 52/2016:

Bei der Befragung von EU-Kommissar


Günther Oettinger im Haushaltskontroll-
Kleinanzeige aus der ausschuss des EU-Parlaments am Dienstag
»Schwäbischen Zeitung« wegen Selmayrs fragwürdiger Berufung
zum Generalsekretär der Kommission
wollte der Europaabgeordnete Bernd
Aus den »Nürnberger Nachrichten«: Lucke wissen, wie Selmayrs Verbalattacke
»Dass das Gericht die Strafe trotzdem sich damit vertrage, dass EU-Beamte
zur Bewährung aussetzte,
enttäuscht die Opfer der Angehörigen.«
! Verhalten unterlassen sollen, das dem An-
sehen der Europäischen Union schade.
Auch als digitale Ausgabe erhältlich: »Herr Abgeordneter Lucke«, antwortete
harvardbusinessmanager.de Oettinger, »sollte die Äußerung dem Herrn
Peter Müller vom SPIEGEL gegenüber so
gefallen sein, wäre sie mit Sicherheit nicht
guter Stil, im Gegenteil.« Der Vorfall habe
jedoch nicht im »Mittelpunkt unserer fach-
lichen Bewertung des Kandidaten Martin
Aus dem »Stuttgarter Wochenende« Selmayr« gestanden.

130 DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018


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