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Goldschatz

Neuer Fall im
zur Therapie«
KURT KRÖMER

PSYCHOTERROR
AFD-MILLIONEN
Der Irre mit dem

Frauen-Handball
»Ich muss jetzt los,

gegen die Windsors

Harrys selbstzerstörerischer Feldzug
DEUTSCHLAND
Nr. 2 | 7.1.2023
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 HAUSMITTEILUNG

Handball | Seite 78
Foto & Werbedesign Soyka

Ende Oktober berichtete der SPIEGEL über Psychoterror im deutschen Hand-

ball. Jahrelang hatte Trainer André Fuhr Spielerinnen drangsaliert, einige muss-
ten in psychotherapeutische Behandlung. Der Beitrag löste ein Beben aus. Der
Coach war unter anderem in Blomberg tätig, einer nordrhein-westfälischen Klein-
stadt. Als ein SPIEGEL -Team nun recherchieren wollte, wie die Veröffentlichung
sich beim dortigen Bundesligaverein ausgewirkt hat, stieß es auf Widerstand. Kaum einer der Ver-
antwortlichen stand für Gespräche zur Verfügung. Mehrere Spielerinnen berichteten Redakteur Mat-
thias Fiedler und SPIEGEL -Mitarbeiter Erik Eggers allerdings, dass viele im Verein von den Me-
thoden des Trainers gewusst hätten, und: Auch unter dessen Nachfolger habe sich wenig verändert.

Missbrauch | Seite 32

Der Fall, der bis März 2021 vor dem Tübinger Landgericht verhandelt
wurde, rief Entsetzen hervor: Zwei Mädchen waren von ihrem Pflege-
vater sexuell missbraucht worden, jahrelang, obwohl die Familie eng
vom Jugendamt betreut wurde. Der Mann wurde verurteilt, doch die

Wilma Leskowitsch
Frage bleibt: Wie konnte es passieren, dass die Kinder ihm trotz staat-
licher Aufsicht schutzlos ausgeliefert waren? Und das Jugendamt auch
nicht mitbekam, dass die Mädchen von der Pflegemutter misshandelt
wurden? SPIEGEL -Redakteurin Annette Großbongardt, die bereits
über etliche Missbrauchsskandale berichtet hat, sprach mit einer der
Betroffenen, die heute eine junge Frau ist, und erhielt Einblicke in den gewaltvollen Alltag eines
Pflegekindes. »Jugendämter sollten Anwalt der Kinder sein«, sagt Großbongardt, »doch immer
wieder zeigt sich, dass die Kinder und ihre Not nicht gesehen werden, weil man vor allem mit
Erwachsenen kommuniziert anstatt mit ihnen.«

Kurt Krömer | Seite 110

Alexander Bojcan ist trockener Alkoholiker,

alleinerziehender Vater und war jahrelang
depressiv. Als Redakteurin Carola Padtberg
ihn vorigen Februar zum ersten Mal traf,
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

merkte sie bereits, dass Bojcan mit seiner

Bühnenfigur Kurt Krömer haderte. Er sprach
davon, dass ihm die Satiresendung »Chez
Krömer« zunehmend schwerfalle, weil er
dort meist schroff sein musste. Dass er im
Dezember das Ende der RBB-Show verkün-
dete, überraschte Padtberg nicht. Nun traf
sie Bojcan erneut. Sie sprachen über sein neues Leben als Bestsellerautor, über toxische Männ-
lichkeit und das Leiden am öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

»Dein SPIEGEL«
Fake News, Verschwörungsmythen – das Internet ist voll davon. Sie werden
gelesen, geglaubt, geteilt. Mit einem Klick landen Inhalte, die unseriös oder ge-
fährlich sind, im WhatsApp-Chat oder in der Direktnachricht bei Instagram.
Wer verbreitet die Lügen im Internet? Und warum? Woran erkennt man sie?
Die Titelgeschichte des Kinder-Nachrichten-Magazins »Dein SPIEGEL « erklärt,
wie man weniger leicht auf Täuschungen hereinfällt. Außerdem im Heft: wie
eine Modellbauerin im Hamburger Miniaturwunderland ganze Welten in Hand-
arbeit erschafft. »Dein SPIEGEL « erscheint am Dienstag.

Letzte Seite | Seite 122

Mit dieser Ausgabe haben wir die »Letzte Seite« neu gestaltet, die ja bei vielen der wahre Einstieg
ins Heft ist. Dort stehen künftig drei Rubriken: die Glosse »So gesehen« von Stefan Kuzmany, die
»Zeitreise« des Kollegen Rainer Lübbert und natürlich, wie bisher, der beliebte »Hohlspiegel«.

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 3

INHALT TITEL

96 | Royals Prinz Harry rächt

sich öffentlich an seiner Familie.
Schadet er damit der Monar-
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 2 | 7.1.2023
chie – oder vor allem sich selbst?

104 | Der Abgang von Harry und

Meghan erinnert stark an König
Edward VIII. und Wallis Simpson

106 | Monarchie Historiker und

»The Crown«-Berater Robert
Lacey erklärt, wie rassistisch das
britische Königshaus ist

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Warum es
wenig Hoffnung auf Reformen in
der katholischen Kirche gibt

8 | Streit um Aufarbeitung der

Colonia Dignidad / Bahn
fehlt Personal in Stellwerken /
Die Gegendarstellung

Andrew Milligan / dpa

12 | Außenwirtschaft Die
Regierung hadert mit strengeren
Regeln für Rüstungsexporte

15 | Warum Deutschland Schüt-

zenpanzer an die Ukraine liefert

Der verlorene Prinz 16 | Klimaschutz Henning

Jeschke von der »Letzten
Generation« fordert im SPIEGEL -
TITEL In einer beispiellosen Medienkampagne überzieht Prinz Harry das Gespräch eine Revolution
Haus Windsor mit Vorwürfen. Seine Angriffe treffen das britische Königshaus in
19 | Proteste Was blieb vom
schwieriger Zeit: Das Land ist in der Wirtschaftskrise tief gespalten – und die »heißen Herbst«?
königliche Familie demontiert sich vor den Augen der ganzen Welt. | 96, 104, 106
22 | Judenhass Experten kri-
tisieren die Antisemitismuslisten
des Simon Wiesenthal Center

26 | Parteienfinanzierung Die
AfD könnte ein Zehn-Millionen-
Euro-Erbe wieder verlieren

29 | Gewalt CDU-Politikerin
Serap Güler über Lehren aus den
Berliner Silvesterexzessen

30 | Umwelt Der verseuchte

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

Stefan Wermuth / REUTERS

Christian Spicker / IMAGO

Silbersee in Bitterfeld-Wolfen

32 | Familie Zwei Mädchen wer-

den von ihren Pflegeeltern
gequält – wo war das Jugendamt?

36 | Kirche Papst Benedikt XVI.:

Kurt Krömer Benedikt XVI. Sahra Wagenknecht Nachruf auf ein umstrittenes Idol
Der Comedian erzählt, wie es Der erste deutsche Papst seit Die Linkenpolitikerin drängt auf
nach dem Ende seiner Show rund 500 Jahren hinterlässt Verhandlungen mit dem russi- 39 | Nach Benedikts Tod tobt in
»Chez Krömer« weitergeht. | 110 auch ein dunkles Erbe. | 36, 39 schen Machthaber Putin. | 68 Rom ein Richtungsstreit

4 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
REPORTER DEBAT TE

40 | Familienalbum / Stirbt die 74 | Geopolitik Der Historiker

deutsche Küche? Yuval Noah Harari über
die Weltordnung nach Putin
41 | Eine Meldung und ihre

Gordon Zammit / Alamy / mauritius images

Geschichte Wie eine junge
Geflüchtete auf dem Mittelmeer SPORT
ein Kind gebar
77 | Sportland Saudi-Arabien /
42 | Karrieren Porträt des Warum gibt es derzeit so viele
IT-Unternehmers Arkadiy Verletzte beim Skifahren?
Dobkin, dessen Konzern mitten
im Ukrainekrieg steht 78 | Psychoterror Das Leiden
der Handballerinnen beim Bun-
47 | Homestory Über den desligisten HSG Blomberg-Lippe
Versuch, das Leben mithilfe eines Deutsche Waffen für die Welt
Chatroboters zu vereinfachen
Die Ampelkoalition wollte Rüstungsexporte strenger regulieren und
WISSEN mehr Rücksicht auf Menschenrechte nehmen. Doch tatsächlich hat
sich wenig geändert – zum Ärger insbesondere der Grünen. | 12, 15
WIRTSCHAF T 84 | Wie lange ist Skifahren
in den Alpen noch möglich? /
48 | Renaissance der Second- Analyse: Wohl kein Ausstieg
hand kleidung / Expertenzoff um vom Atomausstieg
Solaranlagen für Balkone
86 | Unfallforschung Was
50 | Öffentlich-Rechtliche Die Karambolagen über die
ARD brauchte dringend Reformen Verkehrswende verraten

54 | Einzelhandel Rewe-Chef 89 | Erneuerbare Energie Gibt

Lionel Souque über steigende es bald Wasserstoff aus Luft?
Preise und die Macht der Marken
90 | Ethik Wissenschaftler ent-
56 | E-Mobilität Ein Ex-Tesla- decken die Gefühle der Insekten
Manager will von Europa

Noel Celis / AFP

aus den Batteriemarkt erobern 92 | Klimaforschung Die
Gletscherbewegungen der
58 | Geldinstitute Sind Spar- Vorzeit geben Erkenntnisse zur
kassen nicht reif für eine Chefin? Zukunft der Antarktis
Tödliche Welle
60 | Essay Der Ökonom 93 | Raumfahrt Erste Welt-
Nach den Metropolen hat Omikron Chinas ländliche
Moritz Schularick fordert eine raumbahnhöfe in Westeuropa
Regionen erreicht. Sie sind schlecht auf das Virus vorbereitet. Viele
neue Wirtschaftspolitik
Ältere und Ungeimpfte sterben. | 64
KULTUR
AUSLAND
94 | Die deutsche »Sesam-
62 | Regenbogenstreit in Polen / straße« wird 50 / »Der junge
Nord- und Südkorea wollen sich Mann« von Annie Ernaux
mit Lautsprechern beschallen
108 | Literatur Arno Geiger hat
64 | China Das Coronavirus jahrelang in Altpapiercontainern
trifft mit verheerenden nach Inspiration gesucht
Folgen auf eine unvorbereitete
Landbevölkerung 110 | Comedy SPIEGEL -Ge-
spräch mit Kurt Krömer über das
Photopress Müller / IMAGO

67 | Analyse Wie sich die US- Ende seiner Show »Chez Krömer«
Republikaner selbst zerlegen
113 | TV Serien in Edeloptik
68 | Ukrainekrieg Die Linke beim ZDF
Sahra Wagenknecht und der
Sicherheitsexperte Carlo Masala 115 | Buchkritik Wunderbare
streiten im SPIEGEL -Gespräch Liebesromane von Ewald Arenz
über die Rolle des Westens Leiden im Ersten
SPIEGEL-TV-Programm | 31 Bestseller | 114 Welche Lehren zieht die ARD aus dem Skandal um die frühere Vor-
Impressum, Leserservice | 116
72 | Iran Wer sind die Menschen, Nachrufe | 117 Personalien | 118
sitzende Patricia Schlesinger? Ein Neuanfang müsste her, doch der
denen die Hinrichtung droht? Briefe | 120 Letzte Seite | 122 Senderverbund verstolpert sich in den eigenen Strukturen. | 50
Titelfotos [M]: Tim Graham Photo Librar y / Getty Images; Chris Jackson / Getty Images; Rufus Fox / RoyalFoto; Samir Hussein / WireImage;
WPA Pool / Getty Images; Danny Lawson / AFP; William Fawcett / Getty Images Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 5
Ratzingers finstere Erben
LEITARTIKEL Nach dem Tod Benedikts XVI. hoffen Katholiken gerade in Deutschland, dass der Vatikan
endlich tiefgreifende Reformen angeht. Doch Papst Franziskus ist schwach und hat viele Gegner.
Chris Furlong / Getty Images
Bischöfe und er Pilgerstrom nach Rom hatte biblische Ausmaße.
Kardinäle bei der
Trauerfeier
für Benedikt XVI.
D Als der Leichnam von Papst Johannes Paul II. im
April 2005 in den Petersdom getragen wurde,
gaben ihm Zehntausende Gläubige das Geleit. Viele wein­
ten, andere sangen Kirchenlieder, immer wieder brande­
te Applaus auf. Über eine Million Menschen erwies dem
aufgebahrten Johannes Paul II. die letzte Ehre.
Bei Papst emeritus Benedikt XVI., bürgerlich Joseph
Ratzinger, waren es in den Tagen seiner Aufbahrung kei­
ne 200 000 Gläubige. Zu seiner Beisetzung vergangenen
Donnerstag kamen gerade mal 50 000 Menschen.
Auch in Deutschland hielt sich das Interesse am Ver­
storbenen in Grenzen. Dabei war es doch »unser« Papst,
der erste deutsche nach 482 Jahren, der da zu Grabe
getragen wurde. Klar, Benedikt XVI. verfügte nicht über
die Volksnähe seines Vorgängers. Doch mangelndes Cha­
risma ist nur ein Grund für das vergleichsweise geringe
Interesse am toten Papst, auch in Deutschland.
Die verhaltene Anteilnahme zeigt, wie fremd vielen
Menschen die Kirche inzwischen ist – und wie weit fort­
geschritten deren Niedergang. In der öffentlichen Wahr­
nehmung wird der Katholizismus heute kaum noch mit
Aufrichtigkeit, Anstand und Gerechtigkeit verbunden,
sondern vor allem mit Sexualvergehen an Kindern und
Franziskus Jugendlichen. Manche katholischen Eltern trauen sich
kaum noch zu erzählen, wenn sie ihre Kinder zur Kom­
handelt munion schicken. So schlecht ist das Image. In der Bundes­
bisweilen republik sind seit Bekanntwerden der Missbrauchsskan­
dale von 2010 an mehr als zweieinhalb Millionen Katho­
konfus, seine liken aus der Kirche ausgetreten.
Botschaften Benedikt XVI. war ein Gesicht dieser epochalen Krise.
Während seines Pontifikats wurden zahllose Fälle von
sind wider- sexuellen Übergriffen auf Kinder und Jugendliche be­
sprüchlich. kannt. Und nach seinem Pontifikat erodierte die Kirche
6 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
weiter. In Deutschland fühlt sich ein Gutteil der Miss­
brauchsopfer abgespeist. Die Reformbewegung Maria 2.0
kämpft vergebens für mehr Beteiligung von Frauen. In
Köln treibt Kardinal Rainer Maria Woelki mit seinem
Starrsinn die Gläubigen zur Verzweiflung.
Nun, nach dem Tod des emeritierten Papstes, hoffen
manche, dass der als eher liberal geltende Papst Fran­
ziskus endlich befreit handeln kann. Dass er die Kirche
demokratischer ausrichtet, etwa die Rolle der Frauen
stärkt. Dass er tolerantere Positionen zu Themen wie
Homosexualität bezieht. Ist die Hoffnung berechtigt?
Es spricht nicht vieles dafür. Das Lager, für das Bene­
dikt XVI. stand, ist stark. Ratzingers finstere Erben halten
die Kirche im Griff. Auch die zarten Reformversuche
einiger deutscher Bischöfe sind gegen Rom chancenlos.
Noch aus dem angeblichen Ruhestand hatte Ratzinger
gegen die Zulassung von wiederverheirateten Katholiken
zur Kommunion gewettert. Er machte die sexuelle Revo­
lution der 68er­Bewegung mitverantwortlich für Kindes­
missbrauch durch Kleriker. Er behauptete, die »moderne
Gesellschaft« formuliere »ein antichristliches Credo«,
wenn sie die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiere.
Mit solchen Aussagen blieb der Schattenpapst der Held
der traditionalistischen Kräfte im Vatikan, die von der
Lebenswelt durchschnittlicher Katholiken himmelweit
entfernt sind. Im Vatikan besitzen die Benedikt­Fans gro­
ßen Einfluss. Sie werden weiter gegen Papst Franziskus
intrigieren, den sie für einen Luftikus halten.
Etwa US­Kardinal Raymond Burke, ein langjähriger
Ratzinger­Freund. Wenn Franziskus von »Mutter Erde«
spricht, kritisiert Burke das als häretisch. Fordert der Papst
mehr Schutz für homosexuelle Partnerschaften, nennt
Burke es abfällig eine »Privatmeinung«.
Franziskus war 2013 als Erneuerer angetreten. Doch
seine Politik ist bisweilen konfus, er sendet widersprüch­
liche Botschaften. Mal bezeichnete er Homosexuelle als
»Kinder Gottes«, mal verbot er die Segnung gleich­
geschlechtlicher Paare.
Die katholische Kirche braucht grundlegende Refor­
men. In Deutschland riefen die Bischöfe den Synodalen
Weg ins Leben, ein Gesprächsformat, bei dem sie mit
Laien etwa über eine Lockerung des Zölibats oder eine
mögliche Reform des Kirchenapparats beraten. Doch den
Traditionalisten in der Kurie geht schon die Debatte zu
weit. Im Juli drohte der Heilige Stuhl den Teilnehmenden
des Synodalen Wegs, es sei »nicht zulässig, neue amtliche
Strukturen oder Lehren einzuführen«.
Hinter den Mauern des Vatikans fürchtet man nichts
mehr als den offenen Bruch zwischen liberalen und
konservativen Ländern in der Weltkirche. Derweil ver­
lassen die Deutschen die Kirche in Scharen. Allein vergan­
genes Jahr sind hierzulande schätzungsweise mehr als
400 000 Katholiken ausgetreten. Das sind zweimal mehr,
als wegen Benedikts Tod aus aller Welt nach Rom pilgerten.
Felix Bohr n
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DEUTSCHLAND

Sina Schuldt / dpa

Wilhelmshaven, Niedersachsen: Das mit verflüssigtem Erdgas (LNG) beladene Tankschiff »Maria Energy« (hinten) liegt am schwimmenden
Terminal, dem Spezialschiff »Höegh Esperanza«. Das Gas reicht laut Betreiber Uniper, um 50 000 Haushalte für ein Jahr mit Energie zu versorgen.
Auf den letzten Metern zum Terminal wurde der Tanker von der Polizei eskortiert. Es ist das erste voll beladene Tankschiff seit der Eröffnung
des LNG-Terminals Mitte Dezember. In Wilhelmshaven wird im fast 300 Meter langen Spezialschiff »Höegh Esperanza« das angelieferte verflüssigte
Erdgas wieder in den gasförmigen Zustand umgewandelt. Anschließend soll es dann ins deutsche Netz eingespeist werden.

Streit um Colonia Dignidad

CHILE Thüringens Regierungschef Ramelow schreibt Brandbrief ans Auswärtige Amt.

ie zähe Aufarbeitung der Verbrechen in der chilenischen
D Colonia Dignidad sorgt für innerdeutsche Verstimmung.
Deutsche und chilenische Wissenschaftler, die auf Beschluss
des Bundestags die Errichtung einer Gedenkstätte voranbringen
sollen, werden offenbar von ihren Aufgaben entbunden. Einen ent-
sprechenden Wunsch der Chilenen bestätigte das Auswärtige Amt
(AA) der Thüringer Staatskanzlei. Jens-Christian Wagner, Stif-
tungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, ist einer der beiden
betroffenen deutschen Experten. Er sagt, er habe erst durch Dritte
von dem Vorgang erfahren. Das Team um Wagner hatte im März
2021 ein fertiges Konzept für einen Gedenkort und ein Dokumen-
tationszentrum auf dem Gelände der einstigen Colonia vorgelegt.
»Es wäre bedauerlich, wenn das nicht weiterverfolgt werden wür-
de«, so Wagner. Laut Auswärtigem Amt sollen zum 50. Jahrestag
des Staatsstreichs von General Pinochet im September Teile der
Anlage mit »würdevollen Gedenktafeln« versehen werden. Der
Rest könne sich Jahre hinziehen. Thüringens Regierungschef Bodo
Ramelow (Linke), der kürzlich die Colonia besuchte, hat nun einen
Brandbrief an das AA verschickt. Mit »Unverständnis« habe er die
Entscheidung aufgenommen. Überdies sei seine Reise nach Chile
aus dem AA mit heftigem Widerstand begleitet worden. Im No-
vember habe ihn nach Aussagen von Zeugen zudem ein Referats-
leiter des AA als »aufgeblasenen Pfau« bezeichnet und seinen Be-
such vor Ort als Selbstdarstellung abqualifiziert. In einem früheren
Schriftwechsel hatte AA-Staatssekretär Andreas Michaelis versi-
chert, es seien keine abfälligen Bemerkungen gefallen. STW

8 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

Deal mit dem Staat
TERRORISMUS Während der
mutmaßliche Terrorchef und
»Reichsbürger«-Aktivist Hein-
rich XIII. Prinz Reuß vom Ende
der Bundesrepublik träumte,
machte er noch kurz vor seiner
Festnahme munter Geschäfte
mit dem deutschen Staat. Es
ging um ein rund 394 Hektar
großes Waldgrundstück in Thü-
ringen im Eigentum des Bun-
des. Wie aus einem Schreiben
des Finanzministeriums an
die Bundestagsabgeordnete
Gesine Lötzsch (Linke) her-
vorgeht, sollte der 71-Jährige
dafür knapp 1 Million Euro
zahlen. Der Kaufvertrag wurde
am 5. Dezember beurkundet;
nur zwei Tage später führten
Keine Weichensteller
VERKEHR Die Deutsche Bahn
hat weiterhin Probleme, ihre
Stellwerke zu besetzen. Bislang
wollte der Staatskonzern dies
nicht einmal auf Anfragen von
Abgeordneten offenlegen, be-
gründete dies mit der »Sicher-
heit« und »Wettbewerbsnach-
teilen«. Dem SPIEGEL liegen
jetzt interne Dokumente der
DB Netz AG, vor. Sie zeigen:
Im vergangenen Sommer gab
es bundesweit einen sprunghaf-
ten Anstieg von Verspätungen,
weil in den Stellwerken kein
oder zu wenig Personal da war,
um die Weichen zu stellen –
häufig aufgrund von knapper
Planung. Insgesamt entstanden
zwischen Januar und Oktober
Nachgezählt
Sparquote privater Haushalte
in Deutschland, in Prozent des
verfügbaren Einkommens*
10,6
2017 2018
S Quelle: DZ Bank, 2022: Schätzung; * inkl. Zunahme betrieblicher Versorgungsansprüche
◆
Spezialkräfte der Polizei den
Käufer in Handschellen ab.
Prinz Reuß gilt als Kopf einer
radikalen Politsekte, die wilden
Verschwörungsideologien an-
hing und einen gewaltsamen
Umsturz geplant haben soll
(SPIEGEL 51/2022). Zu den Vor-
würfen wollte sich sein Vertei-
diger nicht äußern. Das Ministe-
rium bemüht sich um Schadens-
begrenzung. Der Kaufvertrag,
so heißt es in dem Schreiben, sei
»schwebend unwirksam«, wer-
de nicht genehmigt. Für Lötzsch
ist das Geschäft ein Beleg dafür,
dass die Bundesregierung »im-
mer noch auf dem rechten Auge
blind« sei. Sie dürfe »nicht län-
ger zuschauen«, wie solche Leu-
te »ihre Infrastruktur mithilfe
des Staates aufbauen«. SRÖ
Verspätungen von 375 000 Mi-
nuten. Besonders dramatisch
war die Lage in der Mitte
Deutschlands, etwa im Raum
Frankfurt. Allein dort kam es zu
100 Verspätungen pro Tag. Wie
viele Züge deswegen ganz aus-
fielen, führt die Bahn nicht aus.
Oft sind die Stellwerke auch no-
torisch unterbesetzt, etwa im
Raum Leipzig, in Bayern und
im Westen Deutschlands. Dort
sei »keine vollständige Deckung
des leistungswirksamen Perso-
nalbedarfs beim Stellwerksper-
sonal« vorhanden, um den Be-
trieb überhaupt zu gewährleis-
ten. Ein Problem, das die Bahn
seit Jahren nicht lösen kann.
Bereits 2013 waren Mainz und
Bebra wochenlang größtenteils
vom Netz abgeschnitten. FIN
8
Billionen Euro
umfasst das private Geld-
16,4 vermögen insgesamt,
trotz des Krisenjahres
2022 ein Anstieg um
2 Prozent.
2022
10,8 11
€ bitterten Widerstand der tra-
Fast 40 Prozent
des privaten Geldver-
mögens sind Bargeld
und Bankeinlagen.
2019 2020 2021
DIE GEGENDARSTELLUNG
Treffen sich zwei Jäger
Von Alexander Neubacher
n den Wäldern um Berlin,
I wo sich sonst Fuchs und
Hase gute Nacht sagen,
tobt ein Kampf, der nicht nur
mit Worten, sondern mit Waf-
fen ausgetragen wird. Bran-
denburgs Jägerinnen und Jä-
ger sind entzweit. Es geht um
Schießen oder Schonen, Wald
oder Wild, Rettung des Welt-
klimas oder Wahrung waid-
männischer Kultur. Treffen
sich zwei Jäger: Mindestens
einer sieht vermutlich rot.
Auslöser des Streits ist das
Reh, Capreolus capreolus,
Unterfamilie Trughirsche. Für
die einen ist es das Tier des
Jahres 2019. Für die anderen
ist es ein Feind des Waldes,
weil es sich über die jungen
Triebe hermacht, aus denen
eigentlich eine gesunde, öko-
logisch vorteilhafte Mischve-
getation erwachsen soll. Von
einer Rehplage ist die Rede.
Die um Wald und Klima
besorgten Grünen im Bran-
denburger Landtag haben
sich deshalb mit den Mitglie-
dern des Ökologischen Jagd-
verbandes zusammengetan,
um ein neues Jagdgesetz zu
schaffen. Abertausende Rehe
sollen zusätzlich geschossen
werden. »Nicht ausrotten,
aber drastisch reduzieren«,
sagt der Vorsitzende der
Ökojäger, Mathias Graf von
Schwerin. In seinem Revier
zahlt er Jungjägern eine Ab-
schussprämie von 50 Euro
pro Tier.
Nun könnte man als Au-
ßenstehender vielleicht glau-
ben, Jäger müssten nicht groß
überzeugt werden, um Rehe
zu schießen. Wozu sonst die
Büchse? Doch der grüne Ge-
setzentwurf trifft auf den er-
ditionellen Jägerschaft. Der
Plan sei wildtierfeindlich, So-
zialstrukturen von Rudeltie-
ren würden brutal zerschos-
sen, er produziere »tausend-
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
faches Tierleid«, so der Deut-
sche Jagdverband.
Die Konservativen fürchten
auch um das Brauchtum, das
bei einer auf Effizienz ge-
trimmten Jägerei verloren
gehe. Das rituelle Streckelegen
der Beute auf einem Bett aus
Fichtengrün, das feierliche
Verblasen mit dem Jagdhorn,
am besten im Fackelschein:
Von solchem Zauber hält die
Ökofraktion wenig. Hier
bringt man die Beute schnellst-
möglich ins Kühlhaus, um das
Wildbret frisch zu halten.
Die Grünen wollen Tiere
töten, die Konservativen eher
nicht – verkehrte Welt im
Forst.
Für die Grünen ist
das Reh der
Feind des Waldes.
Also abschießen.
Egoistische Motive mögen
bei dem Streit ebenfalls eine
Rolle spielen, auf beiden Sei-
ten. In der Ökofraktion sind
viele Waldbesitzer im grünen
Mäntelchen vertreten, denen
das Reh die Rendite wegknab-
bert. Im Traditionslager wie-
derum heuchelt man mitunter
Tierliebe, wo es in Wahrheit
um Trophäen geht. Ja, man
lässt von zwei Böcken auch
mal einen laufen. Bis nächstes
Jahr, wenn er ein imposante-
res Geweih trägt.
Gerade unternimmt Bran-
denburgs grüner Forstminister
einen neuen Anlauf für das
Jagdgesetz, doch die Stim-
mung ist vergiftet. Ökojäger-
Chef Schwerin berichtet,
man habe sogar zwei seiner
Hunde entführt; er fand sie
erst Tage später, ohne ihren
GPS-Sender, angebunden an
einen Pfahl.
Oder stellt die Mutter Na-
tur selbst eine Lösung bereit?
In einigen Revieren soll die
Zahl der Rehe zuletzt rückläu-
fig sein. Dem Wolf sei Dank.
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 9
CHAPPATTES WELT
Ministerien
erfüllen Quote
BEHINDERTE Alle 15 Bundesmi-
nisterien sowie das Kanzleramt
erfüllen eigenen Angaben zufol-
ge die gesetzlichen Quoten für
die Zahl von schwerbehinderten
Beschäftigten in ihren Ämtern.
Das geht aus den Antworten auf
SPIEGEL-Anfragen an die Minis-
terien und das Kanzleramt her-
vor. Den Angaben zufolge zähl-
ten etwa das Justizministerium
mit 9,27 Prozent sowie das Mi-
nisterium für Arbeit und Soziales
Rechtsextreme
Zeitbombe
SAARLAND Im Zuge der Er-
mittlungen im Mordfall Samuel
Yeboah, der 1991 bei einem
Brandanschlag auf eine Ge-
flüchtetenunterkunft in Saar-
louis ums Leben kam, hat die
Generalstaatsanwaltschaft Saar-
brücken einen weiteren rechts-
extremen Terroranschlag aus
den Neunzigerjahren überprüft.
Das geht aus der Antwort der
Bundesregierung auf eine An-
frage der linken Bundestags-
abgeordneten Martina Renner
hervor. Es handelt sich um ein
versuchtes Bombenattentat auf
ein Asylbewerberheim in der
10 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
mit 9,85 Prozent zuletzt die
höchsten Quoten an schwerbe-
hinderten Beschäftigten. Private
und öffentliche Arbeitgeber mit
20 und mehr Arbeitsplätzen
müssen nach dem Sozialgesetz-
buch auf mindestens fünf Pro-
zent ihrer Arbeitsplätze schwer-
behinderte Personen beschäf-
tigen. Für Bundesministerien
gilt eine Quote von sechs Pro-
zent, wenn sie am 31. Oktober
1999 auf mindestens sechs Pro-
zent der Arbeitsplätze bereits
schwerbehinderte Menschen be-
schäftigt hatten. Zum Teil haben
Wallerfanger Straße in Saarlouis
im September 1992. Damals
hatten unbekannte Täter im
Keller des sogenannten Oranna-
Heims, in dem rund 180 Men-
schen – darunter Kinder und
Senioren – lebten, eine Zeit-
bombe deponiert. Der profes-
sionell gebaute Sprengsatz mit
Zeitzünder, TNT-Ladung und
einem Kanister voller Brandbe-
schleuniger war unter einer höl-
zernen Treppe versteckt und
hätte in kürzester Zeit eine töd-
liche Feuerwalze entfacht. Etwa
50 Minuten vor der eingestell-
ten Zündzeit ging bei der Poli-
zei ein anonymer Anruf ein; die
Bombe wurde entdeckt und
konnte entschärft werden. Bei
sich die Ministerien selbst höhe-
re Pflichtquoten auferlegt. So
hat etwa das Finanzministerium,
das derzeit eine Schwerbehin-
dertenquote von sechs Prozent
angibt, das Ziel einer durch-
schnittlichen Schwerbehinder-
tenquote von zehn Prozent bis
zum Jahr 2032 festgelegt. Dem-
nach soll bis 2025 eine Beschäf-
tigungsquote von sieben Pro-
zent und bis 2029 eine Beschäf-
tigungsquote von acht Prozent
erreicht werden. Dies wurde in
einer Inklusionsvereinbarung
festgehalten. RED
ihrem Bau war ein extrem selte-
nes Metall verwendet worden,
das in einem nahe gelegenen
Stahlwerk produziert worden
war. Dort arbeitete zur Tatzeit
ein Lehrling, der bereits wegen
der Herstellung ähnlicher
Sprengkörper polizeibekannt
war und rund einen Kilometer
vom Tatort entfernt wohnte.
Unabhängig davon meldete sich
ein Zeuge, der die Stimme des
Auszubildenen auf einem von
der Polizei veröffentlichten Mit-
schnitt der telefonischen Bom-
bendrohung wiedererkannt ha-
ben wollte. Trotz der Indizien
konnte der Verdächtige seiner-
zeit nicht überführt werden.
Auch die Urheber eines maschi-
Heron-Drohne muss
am Boden bleiben
MILITÄR Bei der Bundeswehr
wachsen die Zweifel, ob die
Truppe ihren Auftrag für die
Uno-Mission Minusma in Mali
ausführen kann. Schon seit
dem 23. Dezember haben die
malischen Behörden keine Flug-
genehmigung für die Überwa-
chungsdrohne Heron erteilt,
mit deren Bildern die Bundes-
wehr für die Uno ein aktuelles
Lagebild erstellen soll.
Bereits in den letzten Mo-
naten hatte Mali die Genehmi-
gung für die Flüge immer wie-
der verweigert. Zwar wurden
anlässlich eines Besuchs von
Verteidigungsministerin Chris-
tine Lambrecht, SPD, Mitte
Dezember wieder einige weni-
ge Starts erlaubt, danach aber
stellte sich die Putschistenregie-
rung in Bamako wieder quer.
In einem Lagebericht warnt
die Bundeswehr, eine Normali-
sierung des Flugbetriebs »als
substanzieller Beitrag zur Auf-
tragserfüllung« sei »derzeit un-
verändert nicht absehbar«.
Ohne die Heron-Flüge sei
die Mission sinnlos, heißt es
bei der Bundeswehr, da die
Drohnen auch zur Begleitung
von Patrouillen im Raum Gao
essenziell seien. Die Bundes-
regierung hatte im November
wegen der malischen Schikanen
entschieden, die Mission in Mali
spätestens im Mai 2024 aus-
laufen zu lassen. Voraussetzung
ist allerdings, dass die Sicherheit
der Bundeswehr gewährleistet
ist. MGB
nengeschriebenen Bekenner-
briefs, in dem gegen »Schein-
asylanten« gehetzt wurde und
dem ein Teil der Zündvorrich-
tung beilag, blieben im Dun-
keln. Auf die Frage nach dem
Ergebnis der erneuten Prüfung
des Falls erklärte die Saarbrü-
cker Generalstaatsanwaltschaft,
dass sie derzeit »keine neuen
Ermittlungsansätze« sehe. Poli-
tikerin Renner fordert indes eine
Wiederaufnahme des Verfah-
rens, auch mithilfe moderner Er-
mittlungstechnik. »Hier geht es
um versuchten Mord, und es lie-
gen handfeste Hinweise auf
mögliche Täter vor. Diesen muss
mit allen forensischen Mitteln
nachgegangen werden.« SRÖ
»Ein Schlag ins
Gesicht«
Franziska Brandmann, 28,
Bundesvorsitzende der Jungen
Liberalen, fordert eine Neu-
ordnung des Bildungssystems.
SPIEGEL: Frau Brandmann, im-
mer wieder erreichen uns Hiobs-
botschaften aus den Schulen: Ein
Teil der Viertklässlerinnen und
Viertklässler kann nicht richtig
schreiben und lesen. Ein wissen-
schaftliches Gremium befand,
Grundschulen kommen ihrem
Bildungsauftrag nicht nach.
Brandmann: Diese Ergebnisse
sind ein Schlag ins Gesicht für
jeden, der in den letzten Jahren
in der Bildungspolitik Verant-
wortung getragen hat. Mich
wundern sie nicht: Ständig fällt
Unterricht aus, weil Lehrkräfte
fehlen. Wer oft Schulen be-
sucht, sieht, wie marode und
ungepflegt viele Gebäude sind.
Wenn Büros so aussehen wür-
den, gingen viele Erwachsene
auf die Barrikaden. Im Gegen-
satz zu ihnen können Kinder
aber nicht kündigen. Es gibt Ju-
gendliche, die trauen sich in der
Schule nicht zur Toilette. Sie
fühlen sich von der Politik ver-
gessen – und ich finde: Sie füh-
len das zu Recht.
SPIEGEL: Im Wahlkampf ver-
sprechen Parteien regelmäßig,
die Bildung voranzubringen.
Ihre Partei, die FDP, nennt
»weltbeste Bildung für jeden«
als ein zentrales Ziel ihrer Poli-
tik. Warum passiert so wenig?
Brandmann: Kinder sind unsere
Zukunft, das klingt immer gut.
Leider übersetzen sich die An-
kündigungen zu selten und zu
langsam in konkrete Verände-
rungen. Das betrifft alle Partei-
en, auch meine eigene.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Brandmann: Das Wirrwarr an
Zuständigkeiten in der Bil-
dungspolitik ist die Wurzel des
Problems. Die zahlreichen Ak-
teure und Ebenen schieben
sich gegenseitig den schwarzen
Peter zu, Bund, Länder und
Kommunen. Den Schulkindern
und Eltern ist aber völlig egal,
wer zuständig ist. Sie wollen se-
hen, dass jemand etwas ändert.
SPIEGEL: Jemand?
Brandmann: Es ist doch auffäl-
lig, dass alle dieselben Proble-
me haben. Der Lehrermangel
ist ein Beispiel. Es ergibt keinen
Sinn, dass jedes Land eine eige-
ne Lösung bastelt und alle sich
gegenseitig Lehrkräfte abjagen.
Der Bund sollte die Expertise
bündeln und sich um eine über-
geordnete Lösung kümmern.
SPIEGEL: Sie wollen den Bil-
dungsföderalismus abschaffen.
Brandmann: Es spricht nichts
dagegen, dass die Länder gewis-
se Aufgaben behalten, etwa
Lehrpläne mitgestalten. Aber
die Kultusministerinnen und
Kultusminister müssen sich ein-
gestehen, dass sie in zentralen
Fragen keine Antworten haben.
Die KMK hat ihre Aufgaben in
den letzten Jahren nicht erfüllt.
Wenn sie keine Vorschläge hat,
wie sich der Trend umkehren
lässt – welchen Sinn hat die
KMK dann noch?
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Brandmann: Wir sollten uns
jede Aufgabe einzeln vorneh-
men und überlegen, wer sie am
besten erfüllen kann. Wir brau-
chen ein echtes Kooperations-
gebot. Der Bund soll nicht nur
stärker investieren, sondern
auch Mindeststandards und
-maßnahmen bestimmen dür-
fen. Neben einem bundesweiten
Sanierungs- und Schulbaupro-
gramm könnte er auch Maßnah-
men gegen den Lehrermangel
auf den Weg bringen. Wichtig
ist, dass es weniger gemeinsame
Zuständigkeiten gibt – das funk-
tioniert offensichtlich nicht.
SPIEGEL: Verfechter des Bil-
dungsföderalismus sagen, dass
er einen Wettbewerb um das
beste Schulsystem ermöglicht.
Brandmann: Was soll das Ziel
dieses Wettbewerbs sein? Ein
Kind hat keine Wahl, ob es lie-
ber in Hessen oder Mecklen-
burg-Vorpommern zur Schule
gehen möchte, weil das System
dort besser zu ihm passt. Ich
fände es sinnvoller, wenn Schu-
len mehr Freiheiten hätten und
untereinander in einen echten
Wettbewerb treten könnten.
Wenn sie Profile herausbilden
und Kinder sich entscheiden
können, welche Schule für sie
das beste Angebot bietet. OLB
Brandmann
James Zabel
»Wir waren uns einig, dass
die Schule zu früh anfängt«
DER AUGENZEUGE Stefan Heinz, 30, ist Polizist in
Hessen. Als Botschafter des Bürgerrats Bildung
und Lernen sitzt er mit der Politik am Tisch – und
kann Vorschläge machen.
»Wenn irgendwo steht, ›Sie
sind Teil einer Zufallsauswahl‹,
klingeln bei mir die Alarmglo-
cken. Vor knapp zwei Jahren
bekam ich einen Brief, da stand
drin, ich sei durch eine zufällige
Auswahl zum Bürgerrat Bil-
dung und Lernen eingeladen.
Und: ›Bitte klicken Sie diesen
Link‹. Ich hatte noch nie von
Bürgerräten gehört. Ich bin
Polizist, berufsbedingt habe ich
erst mal an eine Betrugsmasche
gedacht. Nachdem ich das ge-
googelt hatte, wirkte es seriös.
Ich habe dann ohne Erwar-
tung an einer Onlineeinfüh-
rung teilgenommen. Da waren
mehrere Hundert Leute und
ein paar Moderatoren, die uns
erklärt haben, dass wir als
Bürgerrat Ideen für ein besse-
res Bildungssystem entwi-
ckeln sollen. Vorkenntnisse
braucht man nicht. Im Gegen-
teil, es ist sogar gut, wenn
Leute mit unterschiedlichen
Bildungsabschlüssen, Erfah-
rungen und Berufen mitma-
chen. Das macht Bürgerräte
aus. Ich finde, das ist eine gute
Möglichkeit, selbst Feedback
zu geben. Jeder geht durch die
Schule, aber kaum einer kann
Verbesserungen vorschlagen.
Zu meiner Zeit als Schüler gab
es das zumindest nicht.
Sandra Schildwächter / DER SPIEGEL
Die Leute kommen poli-
tisch aus komplett unter-
schiedlichen Lagern. Aber
es geht um die Gemeinsam-
keit. Auch zwischen den Er-
wachsenen und den Kindern
und Jugendlichen, die mit-
machen. Wir waren uns zum
Beispiel einig, dass Schülerin-
nen und Schüler auch etwas
über Steuern oder Mietrecht
lernen sollten. Und dass die
Schule morgens zu früh an-
fängt.
Die Forderungen tragen
wir dann in die Politik. Vor
dem Bildungsausschuss des
Sächsischen Landtags zu spre-
chen war einschüchternd. Ich
hatte aber das Gefühl, dass
man ernst genommen wird,
auch wenn das nicht heißt,
dass unsere Vorschläge umge-
setzt werden.
Etwa alle zwei Monate ha-
ben wir einen Termin. Manch-
mal ist das stressig, aber letzt-
endlich weiß man, wofür man
es tut. Ich habe selbst eine
einjährige Tochter. Ich will
denen Gehör verschaffen,
denen nicht zugehört wird,
also den Kindern und Jugend-
lichen. Denn die müssen
die Bildungspolitik ja aus-
baden.«
Aufgezeichnet von Swantje Unterberg
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 11
DEUTSCHLAND

Florian Boillot / SZ Photo

Minister Habeck, Raketenwerfermodell auf Berliner Messe im Juni 2022: Bekenntnis aus anderer Zeit

Das Waffendilemma
AUSSENWIRTSCHAF T Strengere Kontrolle von Rüstungsexporten, mehr Rücksicht auf
Menschenrechte – das war das Ziel der Ampel, insbesondere der Grünen.
Doch nun zeichnet sich ab: Ändern wird sich an der bisherigen Praxis erst mal wenig.

ls sich Ende November auf Einladung
A des Wirtschaftsstaatssekretärs Sven
Giegold rund 40 Sicherheitsexperten
zusammenschalteten, staunte manch einer
über die Zusammensetzung des Kreises: Men­
schenrechtsaktivisten neben Wissenschaftle­
rinnen und Rüstungslobbyisten. Anders als
früher waren Vertreter von Zivilgesellschaft
und Industrie gemeinsam geladen.
Sie sollten ihre Erwartungen an das »na­
tionale Rüstungsexportgesetz« formulieren,
in dem die Bundesregierung klare Krite­
rien für deutsche Waffenausfuhren festschrei­
ben will. Zwei Minuten Redezeit, egal ob
Waffengegner oder Waffenproduzent. Nichts
sollte den Anschein von Parteilichkeit er­
wecken.
Manch ein Vertreter der Friedensbewe­
gung hatte gehofft, in Giegold, immerhin ein
Grüner und tiefgläubiger Christ, einen Ver­
bündeten im Kampf gegen Rüstungsexporte
zu finden – und wurde enttäuscht. »Wir ma­
chen das Gesetz nicht für den Grünenpartei­
tag, sondern für die Ampelkoalition«, wird
Giegold von Beteiligten der Runde zitiert.
Deutschland zählt zu den größten Waffen­
verkäufern der Welt, daran hat bislang auch
die Ampelkoalition nichts geändert. Die Re­
gierung hat bis heute Rüstungsexporte im
Gesamtwert von 8,4 Milliarden Euro geneh­
migt – der zweithöchste Betrag seit Bestehen
der Bundesrepublik. Nur 2021, im letzten Jahr
der Regierung Merkel, lag der Wert höher,
bei 9,4 Milliarden Euro. Zwar entfielen im
vergangenen Jahr auf die von Russland an­
gegriffene Ukraine Lieferungen im Wert von
2,2 Milliarden Euro, bleiben dennoch 6,2 Mil­
liarden Euro für den Rest der Welt. Zum Ver­
gleich: 2020 lag selbst die Große Koalition
mit Waffenausfuhren im Wert von 5,8 Mil­
liarden Euro unter den Exporten der Ampel­
koalition abzüglich der Ukrainehilfe.
Die größten Abnehmer sind enge Partner
wie die Niederlande, die USA und das Ver­
einigte Königreich; auf EU­, Nato­ und der

12 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


Nato gleichgestellte Länder entfielen
5,1 Milliarden Euro. Zu den guten
Kunden zählen aber auch Katar
(50 Millionen Euro), Oman (49 Millio-
nen), Ägypten (28 Millionen), Saudi-
Arabien (17 Millionen) und die Ver-
einigten Arabischen Emirate (9 Mil-
lionen), wie eine Antwort des Wirt-
schaftsministeriums auf eine Schrift-
liche Frage der Linkenabgeordneten
Sevim Dağdelen zeigt. Staaten also,
die nicht als Streiter für Demokratie
und Menschenrechte bekannt sind.
Zwar ging ihr Anteil am gesamten
Genehmigungswert zurück. Aber
ganz verzichten kann und will auch
die Ampel auf diese Abnehmer nicht.
Weitere geplante Ausfuhren in Golf-
staaten liegen ihr nach SPIEGEL -In-
formationen zur Genehmigung vor.
Eigentlich hat sich die neue Bun-
desregierung »eine restriktive Rüs-
tungsexportpolitik« vorgenommen
– so steht es im Koalitionsvertrag.
Dafür wollen SPD, Grüne und FDP
das Rüstungsexportkontrollgesetz
schaffen: verbindliche, transparente
Regeln für Exportentscheidungen mit
Fokus auf die Achtung der Menschen-
rechte und des Völkerrechts. Das Vor-
haben geht auf die Grünen zurück. In
ihrem Wahlprogramm hieß es: »Ex-
porte von Waffen und Rüstungs-
gütern an Diktaturen, menschen-
rechtsverachtende Regime und in
Kriegsgebiete verbieten sich.«
Ein Bekenntnis, das aus einer an-
deren Zeit zu stammen scheint. Russ-
lands Angriff auf die Ukraine hat die
Aufrüstung aus der Schmuddelecke
ins Zentrum deutscher Politik beför-
dert. Was als anstößig galt, ist heute
opportun. Die wertegeleitete Außen-
politik, die sich die Grünen auf die
Fahne geschrieben haben, wird auf
eine harte Probe gestellt.
Beispielhaft zeigt sich dies am ge-
planten Rüstungsexportkontroll-
gesetz. Der Entwurf dazu sollte bis
Ende 2022 vorliegen, er verzögert
sich. Erste Eckpunkte dafür unterlau-
fen die Erwartungen vieler, die auf
mehr Moral im Waffengeschäft
gehofft hatten. Ein Prestigeprojekt
grüner Außen- und Wirtschaftspolitik
könnte zum Papiertiger werden – und
zu einem weiteren Beispiel, wie grü-
ne Ideale und Realpolitik die Partei
in ein Dilemma bringen.
Dabei sitzen die Grünen an den
Schaltstellen. Waffenausfuhren ge-
nehmigt das Wirtschaftsministerium
von Robert Habeck. Sein Haus
schreibt auch das Rüstungsexport-
kontrollgesetz – mit Beteiligung des
ebenfalls grün geführten Auswärtigen
Amts von Annalena Baerbock. Ha-
beck und Baerbock könnten den
Bruch in der deutschen Waffenpolitik
herbeiführen, aber sie scheuen ihn.
Russlands Überfall auf die Ukraine
hat das deutsche Prinzip, keine Waf-
fen in Kriegsgebiete zu liefern, außer
Kraft gesetzt. Kanzler Olaf Scholz
(SPD) räumte es in seiner Rede über
die »Zeitenwende« ab, aber keine an-
dere Partei hat sie schneller vollzogen
als die friedensbewegten Grünen.
Wäre es nach ihnen gegangen, wären
deutsche Kampf- und Schützenpan-
zer schon längst in der Ukraine im
Einsatz. Am Donnerstag verkündete
die Regierung tatsächlich, Kampfpan-
zer des Modells Marder an die Ukrai-
ne zu liefern (siehe Seite 15).
Allmählich aber macht sich in der
Partei die Sorge breit, dass unter dem
Eindruck der »Zeitenwende« Rüs-
tungsexporte in Krisengebiete gene-
rell legitimiert werden – und Waffen-
deals mit problematischen Partnern
auch dem Schmieden von Allianzen
gegen Russland dienen könnten. Baer-
bock selbst hat diese Sorge geschürt,
mit einem denkwürdigen Auftritt auf
dem Grünenparteitag im Oktober.
Es gebe Momente, sagte Baerbock
vor 800 Delegierten, »wo unsere Wer-
te und Normen aufeinanderclashen«.
Der SPIEGEL hatte zuvor enthüllt,
dass die Regierung Rüstungsexporte
nach Saudi-Arabien genehmigt hatte,
trotz eines Waffenembargos wegen
der Beteiligung der Monarchie am
Jemenkrieg und ihrer Verstrickung
in den Mord am Regierungskritiker
Jamal Khashoggi.
Die ausgelieferten Rüstungsgü-
ter – Materialien zur Ausrüstung und
Bewaffnung der Kampfflugzeuge Tor-
nado und Eurofighter – seien Teil
eines europäischen Gemeinschafts-
projekts, rechtfertigte sich Baerbock.
Die Verträge habe die alte Regierung
abgeschlossen. Nach schwieriger Ab-
wägung seien Habeck und sie zu dem
Schluss gekommen, »dass wir mehr
europäische Rüstungskooperation
DEUTSCHLAND
wollen und brauchen«. Die überra-
Bomben- schende Erklärung: »Weil ansonsten
geschäft reichen die 100 Milliarden niemals
aus«, so Baerbock mit Blick auf das
Deutsche Rüstungs- Sondervermögen für die Bundeswehr.
exporte 2022, Top-5- »Und ich will nicht, dass wir noch
Zielländer nach Wert mehr im sozialen Bereich sparen und
der Genehmigungen Lisa dann keine Mittel mehr hat für
in Mrd. Euro die Kinder, die sie dringend brau-
Ukraine Niederlande chen.« Gemeint war die grüne Fami-
2,2 1,8 lienministerin Lisa Paus.
Waffen für Diktatoren zur Finan-
zierung der Kindergrundsicherung?
8,4 Viele Delegierte waren entsetzt, von
Mrd.
»moralischer Erpressung« war die
Rede. So, als wollte sie den Schock
andere 2,8
lindern, kündigte Baerbock noch das
Rüstungsexportkontrollgesetz an. Die
Ungarn 0,2 Eckpunkte waren zwei Tage zuvor öf-
Großbritannien 0,5 fentlich geworden.
USA 0,9 Rüstungsexporte sind ein ver-
S Quelle: schwiegenes Geschäft, weshalb sich
◆
Wirtschaftsministerium,
vorläufige Angaben die Regierung selten dafür rechtferti-
gen muss. Die Ampel hatte sich vor-
genommen, Licht ins Dunkel zu brin-
gen. Daran wird sie jetzt von den
eigenen Leuten erinnert.
»Natürlich widerstrebt es einer
Bundesregierung, Gesetze zu schrei-
ben, die ihre Entscheidungsfreiheit
einengen – aber genau das ist mein
Anspruch als Parlamentarierin an das
Rüstungsexportkontrollgesetz«, sagt
die grüne Abgeordnete Sara Nanni.
Es müsse klare Kriterien enthalten,
welche Waffen wohin geliefert wer-
den dürfen. »Das neue Gesetz muss
den Ermessensspielraum der jetzigen
und auch der nächsten Bundesregie-
rungen stark verkleinern.«
Im Wirtschaftsministerium arbei-
ten die Ministerialen unter Staats-
sekretär Giegold an dem Gesetz. Gie-
gold, 53, ist Protestant, Parteilinker
und Öko, ein Pazifist ist er nicht.
»Wenn man die Einlassungen von
Grünenpolitiker Staatssekretär Giegold verfolgt, dann
Baerbock, Giegold:
»Wo unsere Werte bleibt das Gesetz hinter dem Ver-
und Normen sprechen des Koalitionsvertrages zu-
aufeinanderclashen« rück«, kritisiert Arnold Wallraff. Der
frühere Präsident des Bundesamts für
Ausfuhrkontrolle wachte von 2007
bis 2017 über deutsche Kriegswaffen-
exporte und berät heute die Kirchen.
Aus Wallraffs Sicht sind die Zuge-
ständnisse an die Industrie zu groß.
Er wirft Giegold eine »vorweggenom-
mene Zurückhaltung« vor.
Rüstungslobbyisten dagegen loben
Giegold als pragmatisch, sie würden
gern an der bestehenden Rechtslage
festhalten. Menschenrechte und Rechts-
staatlichkeit spielten bei den Geneh-
migungen bereits bislang eine Rolle,
Tobias Schwarz / AFP
die Regierung unterschied jedoch
nach Gattungen: Bei Kleinwaffen, die
man auch zur Unterdrückung von Re-
gimegegnern einsetzen kann, war sie
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 13
DEUTSCHLAND
streng, bei Fregatten und U-Booten
großzügig. »Was schwimmt, geht!«,
soll der einstige Außenminister Hans-
Dietrich Genscher (FDP) gesagt ha-
ben. Künftig aber soll gelten: Wer
gegen Menschenrechte und Völker-
recht verstößt, erhält in der Regel
nichts. Das könnte die Industrie
schmerzen, doch Giegold kommt ihr
entgegen.
Bislang kann die Regierung bei
Kriegsgerät, das ein europäischer
Partner produziert, für das die Bun-
desrepublik aber Komponenten lie-
fert, das Exportgeschäft blockieren.
Ausländische Rüstungskonzerne sind
darüber bisweilen so genervt, dass sie
Güter ohne eine einzige deutsche
Schraube fertigen. »German free«,
heißt es dann oft.
Künftig soll dieses Prinzip fallen.
»Kein deutsches Vetorecht. Dafür
setze ich mich ein«, schrieb Verteidi-
gungsministerin Christine Lambrecht
(SPD) jüngst an die Ampelabgeord-
neten. Ob Kriegsgerät in einen pro-
blematischen Staat geliefert wird, soll
in der EU per Mehrheitsbeschluss
bestimmt werden – im Zweifel würde
Deutschland überstimmt. Giegold
spricht von einer Europäisierung der
Exportkontrolle. Rüstungskritiker be-
fürchten, dass Deutschland letzte Ein-
flussmöglichkeiten aufgibt.
Brüssel versucht seit Längerem,
die europäische Rüstungsindustrie zu
stärken. Kommission, Parlament,
Mitgliedstaaten – alle sind für eine
Angleichung nationaler Exportvor-
schriften. Strittig aber ist, ob die Re-
geln gleich streng oder gleich locker
sein sollen. Aus französischer Sicht
kommt eine Verschärfung nicht in-
frage.
Die grüne Europaabgeordnete
Hannah Neumann dagegen mahnt
Berlin, hart zu bleiben. »In allen Poli-
tikbereichen gilt der Grundsatz: Was
nicht vergemeinschaftet ist, da gilt der
kleinste gemeinsame Nenner oder ein
Kompromiss, auf den man sich ei-
nigt«, so Neumann. Warum sich die
EU ausgerechnet bei gefährlichen
Kriegswaffen auf eine laxe Minimal-
lösung einlassen sollte, erschließe sich
ihr nicht. Sie hofft darauf, dass die
deutschen Maßstäbe europäischer
Standard werden.
Christian Mölling, Leiter des Pro-
gramms Sicherheit und Verteidigung
bei der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik, hält das für un-
realistisch: »Mehr europäische Ko-
operation ist möglich, aber nicht zu
rein deutschen Bedingungen. Kein
EU-Staat wird sich in seine Exporte
hineinreden lassen«, sagt er. Ähnlich
sieht es die FDP. »Wir wollen mehr
14 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Produkte auch autoritären Ländern
anzudienen. Das Dokument liegt
dem SPIEGEL vor.
Der Vertrag biete eine »Vergröße-
rung des Export-Werkzeugkastens«,
hieß es. Umso besser, dass Italien dem
Abkommen offenbar ebenfalls bei-
treten soll. Aus Schlupflöchern wür-
Mohammed Almuaalemi / Getty Images
den so langsam Schleusen.
Hensoldt bestreitet auf Anfrage,
das internationale Abkommen zu
nutzen, um Ausfuhren in Länder wie
Saudi-Arabien zu ermöglichen. Die
Firma halte sich »an die geltenden
internationalen Abkommen, Gesetze
und Vorschriften«, so ein Sprecher.
Der Bund gibt sich machtlos. Man
Eurofighter-Modell europäische Zusammenarbeit, die könne »nicht in operative unterneh-
auf Messe in Riad auch bestimmte Drittländer mit Rüs- merische Entscheidungen« eingrei-
2018: Waffendeals
zum Schmieden tungslieferungen versorgt«, sagt der fen, heißt es im Wirtschaftsministe-
von Allianzen gegen Abgeordnete Hagen Reinhold. rium. Dabei hat die Regierung mit
Russland Die Regeln der Bundesregierung Hensoldt ein vertrauliches Sicher-
haben ohnehin nur begrenzten Ein- heitsabkommen abgeschlossen, wo-
fluss auf den Rüstungsmarkt. Die Ma- nach der Bund »sensitiven Aktivi-
nager vieler Unternehmen haben täten« des Konzerns zustimmen muss.
längst erkannt, wie sich Exportkon- Die Hensoldt-Präsentation listete
trollen austricksen lassen. Das legen »strategische Exportthemen« auf,
vertrauliche Dokumente der Hen- unter anderem Rüstungslieferungen
soldt AG nahe, eines börsennotierten an zumeist autoritäre Länder in der
Produzenten von Verteidigungselek- Golfregion. Für das Artillerieortungs-
tronik. Technik von Hensoldt wird in system Cobra sollten Hensoldt-Bau-
vielen europäischen Rüstungsprojek- teile an die Vereinigten Arabischen
ten wie dem Eurofighter verbaut. Die Emirate geliefert werden. Man gehe
Bundesrepublik ist mit 25,1 Prozent davon aus, dass das Wirtschaftsminis-
an dem Unternehmen beteiligt. terium zustimmen werde, schrieb
Im Herbst enthüllte der SPIEGEL , Hensoldt.
wie Hensoldt trotz eines Ausfuhrver- Zu den weiteren strategischen Pro-
bots an Saudi-Arabien liefern konnte. jekten gehörten Radargeräte für
Das bayerische Unternehmen bedien- Kriegsschiffe, die an Saudi-Arabien
te sich dafür seiner Auslandstöchter geliefert werden sollten, in diesem
in Großbritannien und Südafrika. Fall von den USA. Hier, so hieß es,
Diese Praxis könnte die Bundesregie- prüfe die Bundesregierung die An-
rung im neuen Gesetz eindämmen, frage. Weiter waren da offenbar schon
doch danach sieht es nicht aus. geplante Lieferungen von Radarge-
Ein weiteres Schlupfloch bieten räten an Kuwait und Ägypten. Für die
internationale Vereinbarungen. 2019 Lieferung nach Kuwait mit einem
unterzeichneten Frankreich und Gesamtvolumen von 150 bis 200 Mil-
Deutschland ein »Abkommen über lionen Euro war demnach kurz vor
Ausfuhrkontrollen im Rüstungsbe- dem Regierungswechsel im Novem-
reich«. Die Bundesrepublik verpflich- ber 2021 eine Voranfrage positiv be-
tete sich, den Export französischer schieden worden. Der Ausfuhr nach
Rüstungsgüter nicht zu behindern, Ägypten wurde laut Präsentation
wenn deutsche Bauteile einen kleine- ebenfalls noch zu Zeiten der Großen
ren Teil des Gesamtprojekts ausma- Koalition zugestimmt. Nun stand
chen. Seitdem können deutsche Waf- offenbar eine zweite Partie an. Mit
fenproduzenten als Teil französischer einer Genehmigung, so Hensoldt, sei
Programme legal in Länder wie Anfang des Jahres zu rechnen.
Saudi-Arabien liefern. Ob die Bundesregierung bereits
Aus den Hensoldt-Dokumenten über die Anfragen entschieden hat,
»Kein EU-Staat geht hervor, wie sich Lobbyisten des ist unklar. Hensoldt wollte sich nicht
Unternehmens für den Beitritt Spa- zu den »genannten, teilweise laufen-
wird sich in niens zu diesem Abkommen einsetz- den Projekten und Genehmigungs-
seine Exporte ten, der im September 2021 auch verfahren äußern«, das Wirtschafts-
erfolgte. Eine Präsentation der ministerium ebenfalls nicht.
hineinreden Lobbyabteilung von Hensoldt vom
lassen.« September 2022 offenbart, wie Hen-
Sven Becker, Rafael Buschmann,
Marina Kormbaki, Ralf Neukirch,
Christian Mölling, soldt dieses erweiterte Rüstungs- Niklas Olschewski, Christoph Schult,
Sicherheitsexperte abkommen nutzen will, um seine Gerald Traufetter n

VERTEIDIGUNG
40 Marder für Kiew
Lange stemmte sich Kanzler Olaf Scholz dagegen, deutsche Schützenpanzer in die Ukraine zu schicken.
Jetzt soll das Land sie doch bekommen – wie kam es dazu?
Ein Tabu ist gefallen. Am Donnerstag-
abend gab Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) bekannt, dass Deutschland
seine Waffenhilfe für die Ukraine aus-
weiten und nun doch Schützenpanzer
vom Typ Marder liefern werde.
Der Kanzler verkündete seinen Kurs-
wechsel in einer gemeinsamen Presse-
erklärung mit US-Präsident Joe Biden.
Die Ukraine werde »so lange wie nötig«
Unterstützung erhalten, teilte das Kanz-
leramt mit. »Zu diesem Zweck beabsich-
tigen die Vereinigten Staaten, der Ukraine
Schützenpanzer vom Typ Bradley zur
Verfügung zu stellen, und Deutschland
beabsichtigt, Schützenpanzer vom Typ
Marder zu liefern.«
Zum Umfang der Lieferung machten
Kanzleramt und Weißes Haus keine
Angaben. Nach SPIEGEL -Informationen
will Deutschland bis zu 40 Marder liefern,
um ein ukrainisches Bataillon auszu-
statten. Zusätzlich soll ein Patriot-Flug-
abwehrsystem geliefert werden.
Damit rückt der Kanzler ab von seinem
bisherigen Kurs der Zurückhaltung in der
Panzerfrage. Bislang hatte Scholz mit dem
Argument, dass kein anderes westliches
Land Kampf- und Schützenpanzer liefere,
Kiews Bitten darum abgewiesen. »Keine
deutschen Alleingänge«, das war bis zu-
letzt Scholz’ Mantra. Den Kanzler trieb
die Sorge vor einer Ausweitung des
Krieges um – vor einer direkten Konfron-
tation zwischen der Nato und Russland.
Marcus Prell / Bild am Sonntag
Im April vergangenen Jahres deutete
Scholz im Interview mit dem SPIEGEL an,
dass Panzerlieferungen aus Deutschland
eine Eskalation des Krieges zur Folge
haben könnten. »Es darf keinen Atom-
krieg geben«, sagte Scholz damals.
Das Argument des Kanzlers, Deutsch-
land dürfe keinen Alleingang unterneh-
men, fiel zuletzt in sich zusammen: Frank-
reichs Staatspräsident Emmanuel Macron
hatte am Mittwoch die Lieferung älterer
französischer Spähpanzer vom Typ AMX-
10 RC verkündet. Bald darauf bekundete
US-Präsident Joe Biden seine Erwägung,
amerikanische Schützenpanzer des
Typs Bradley an die Ukraine zu liefern.
Scholz, so schien es zunächst, geriet unter
Zugzwang.
Offenbar liefen jedoch bereits seit
Wochen vertrauliche Gespräche zwischen
Berlin, Washington und Paris über Pan-
zerlieferungen an Kiew. Kurz nach Silves-
ter sei die Entscheidung für die 40 Marder
gefallen, heißt es. Eine ähnliche Anzahl
Bradley-Panzer soll aus den USA kom-
men. Diese gleiche Menge soll die Ge-
schlossenheit des Westens unterstreichen
– und die Lesart nahelegen, dass kein
deutscher oder US-amerikanischer Allein-
gang erfolgt. Scholz muss sein Mantra
also nicht aufgeben.
Der Entscheidung, im elften Kriegs-
monat Schützenpanzer zu liefern, liegt die
von den drei Bündnispartnern geteilte
Analyse zugrunde, dass die ukrainische
Schützenpanzer Marder bei Rheinmetall
Defence in Unterlüß
DEUTSCHLAND
Armee mehr schwere Panzer benötige,
um russische Stellungen im Süden und
Osten zu brechen. Keineswegs sei man
gedrängt worden, heißt es in Berlin.
Geplant ist, ukrainische Soldaten mög-
lichst bald an den Mardern und Patriot-
Systemen auszubilden. Die Schulungen
sollen in Deutschland stattfinden. Unklar
ist jedoch, wann die Panzer ausgeliefert
werden und woher sie kommen.
Verteidigungsministerin Christine
Lambrecht (SPD) hatte noch vor Kurzem
ausgeschlossen, Marder aus Bundeswehr-
beständen abzugeben. »Wir brauchen
die«, hatte Lambrecht im Deutschland-
funk gesagt. Der Rüstungskonzern Rhein-
metall, Hersteller des Schützenpanzers
Marder, könnte nach SPIEGEL -Informa-
tionen bis zum Sommer 40 ausgemusterte
Modelle einsatzbereit machen.
Seit Monaten fordert die Ukraine Mar-
der – aber auch modernste Kampfpanzer
vom Typ Leopard 2. Doch davon will die
Bundesregierung weiterhin keine liefern.
Allerdings plant Berlin, die Ukraine
mit weiteren Gepard-Flugabwehrpanzern
zu unterstützen. Dazu laufen Gespräche
mit zwei Staaten, die noch über Gepar-
den und die zugehörige Munition ver-
fügen. Deutschland hat bereits 30 Flug-
abwehrpanzer geliefert. Die Geparden
haben sich besonders beim Abschuss
russischer Drohnen, die meist iranischer
Bauart sind, bewährt.
Grüne und FDP haben den Kanzler in
Interviews und Gastbeiträgen immer
wieder gedrängt, der Ukraine mit mehr
schweren Waffen beizustehen. Entspre-
chend groß ist nun die Erleichterung der
Koalitionspartner. »Endlich bewegt sich
der Kanzler«, sagte Marie-Agnes Strack-
Zimmermann (FDP). »Diese Entschei-
dung der USA, Frankreichs und Deutsch-
lands ist absolut richtig und war lang
ersehnt«, so Grünen-Fraktionsvizin
Agnieszka Brugger.
Aber sowohl Strack-Zimmermann als
auch Brugger fordern weitergehende
Unterstützung. »Wir müssen jetzt sofort
ukrainische Soldaten am Marder und Leo-
pard ausbilden. Denn nach dem Marder
kommt der Leopard«, sagte Strack-Zim-
mermann. Brugger verwies auf die »Idee,
den Leopard im europäischen Verbund zu
liefern«, die weiterverfolgt werden müsse.
Der Druck auf den Kanzler, mehr für
die Ukraine zu tun, bleibt hoch.
Matthias Gebauer, Marina Kormbaki n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 15
DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Herr Jeschke, das Jahr en-

dete mit einer Anspielung auf die
»Letzte Generation« in der Weih-
nachtsansprache des Bundespräsi-

»Wir müssen jetzt eine denten. Es begann mit Straßenblo-

ckaden eines kleinen Grüppchens.
Was ist in der Zwischenzeit passiert?

politische Krise erzeugen« Jeschke: Wir haben es geschafft, dass

trotz Pandemie und Krieg die Klima-
realität wieder auf die Agenda kam,
vor allem in den letzten drei Mona-
SPIEGEL-GESPRÄCH Der Mitbegründer der »Letzten Generation«, ten. Gegen den fatalen Regierungs-
kurs regte sich Widerstand – das war
Henning Jeschke, 22, wirft der Regierung Verfassungsbruch vor. Er hofft auf eine gut.
friedliche Revolution – und setzt dafür nicht nur auf Straßenblockaden. SPIEGEL: Einige Aktivistinnen und
Aktivisten haben Weihnachten in Ge-
wahrsam verbracht. Vielen stehen
Gerichtsprozesse bevor. Neulich gab
es Hausdurchsuchungen wegen des
Verdachts der Bildung einer krimi-
nellen Vereinigung. Auch bei Ihnen.
Wirklich ein gutes Jahr?
Jeschke: Ich sage nicht, dass es ein
gutes Jahr für uns persönlich war.
Aber es geht nicht um uns, sondern
um eine Veränderung.
SPIEGEL: Fridays for Future brachten
im September 2019 mehr als eine Mil-
lion Menschen auf die Straße – zeit-
gleich stellte die Regierung ein un-
zureichendes Klimapaket vor. Sie
sagen: Daran sehe man, dass an-
gemeldete Massenproteste nichts
bringen. Aber gilt das nach einem
Jahr nicht auch für die »Letzte Gene-
ration«?
Jeschke: Die Dynamik zeigt, dass das,
was wir machen, jetzt immer stärker
zu wirken beginnt.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Jeschke: Daran, dass sich immer mehr
Menschen anschließen.
SPIEGEL: Wie viele Menschen sind
denn aktiv?
Jeschke: Es gibt Gruppen in mehr als
50 Orten. In Berlin sind etwa 500 Men-
schen wegen Aktionen polizeilich er-
fasst. Es haben sich knapp 2000 selbst
bei der Staatsanwaltschaft als Unter-
stützer unserer angeblichen kriminel-
len Vereinigung angezeigt. Jede Woche
hören sich weitere 200 Menschen
unsere Vorträge an.
SPIEGEL: Man sieht dennoch immer
wieder die gleichen Gesichter. Es
sieht eher nicht wie eine Massenbe-
wegung aus.
Jeschke: Es gibt viele Aufgaben und
Möglichkeiten, sich einzubringen,
nicht alle sprechen mit der Presse,
müssen sich festkleben oder in Ge-
Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

wahrsam nehmen lassen. Ich schätze,

dass wir allein rund 80 Menschen
haben, die in Vollzeit mitmachen. Ich
gehöre dazu.

Aktivist Jeschke Das Gespräch führte der Redakteur Jonas

Schaible.

16 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


SPIEGEL: Sie sind Mitgründer, gehören zum
engsten Führungskreis. Haben Sie das Stu­
dium aufgegeben?
Jeschke: Ich bin auf dem Papier noch einge­
schrieben, aber habe faktisch nach dem zwei­
ten Semester unterbrochen. Irgendwann
konnte ich mir einfach nicht mehr erklären,
was es bringen soll, wenn ich versuche, später
einen Job in einer NGO zu finden und die
Welt dort ein bisschen besser zu machen.
SPIEGEL: Angeblich beziehen zahlreiche Ak­
tivisten der »Letzten Generation« ein festes
Gehalt von einem Berliner Verein. Wer sind
Ihre Geldgeber?
Jeschke: Schauen Sie gerne auf die Website –
uns haben Tausende Menschen mit einer
Durchschnittsspende von 100 Euro unter­
stützt. Weitere Gelder sammeln wir inter­
national, also über das »A22­Netzwerk«, wel­
ches im April 2022 entstand. Unter anderem
Adam McKay, der Regisseur des Films »Don’t
Look Up«, hat den elf Widerstandsprojekten
von Neuseeland bis Kanada geholfen.
SPIEGEL: Wie viel Geld hat die »Letzte Ge­
neration«?
Jeschke: In den Weihnachtstagen kamen vie­
le Spenden. Sie helfen, dass wir 2023 weiter­
machen. Unser Ziel ist, dass sich die Regie­
rung wieder an die Verfassung hält und die
Klimasicherheit an die erste Stelle stellt.
Unser Plan scheint nun machbar: Wir werden
in mehr Orten auftauchen, die Diskussionen
auch lokal anstoßen und alle zu Mitmach­
treffen einladen.
SPIEGEL: Wovon leben Sie derzeit?
Jeschke: Von Kindergeld und Spenden.
SPIEGEL: Sie ordnen dem Kampf gegen die Kli­
makrise alles unter. Wie hat das angefangen?
Jeschke: Zu Schulzeiten haben wir oft in der
Klasse über so etwas diskutiert, ich war da­
mals Klassensprecher. Nach dem Abitur nahm
mich ein Kumpel zu einem Camp in der Nähe
des Tagebaus Garzweiler II mit. Wenige Wo­
chen später habe ich einen Vortrag von Ex­
tinction Rebellion gehört. Die Fakten kannte
ich, aber das Puzzle wurde für mich neu
zusammengesetzt. Da ist meine Hoffnungs­
blase geplatzt. Die Begrenzung auf unter
1,5 Grad Überhitzung ist physikalisch durch.
SPIEGEL: Es ist fraglos extrem unwahrschein­
lich, aber wieso soll das 1,5­Grad­Ziel physi­
kalisch unerreichbar sein?
Jeschke: Emissionen wirken sich erst einige
Jahre später aus. Was wir jetzt ausstoßen,
spüren wir erst in zehn Jahren richtig.
SPIEGEL: Neue Studien gehen davon aus, dass
die Erwärmung sehr schnell stoppt, wenn sich
Treibhausgase nicht mehr anreichern.
Jeschke: Die 1,5 Grad dürften aber bereits in
den Dreißigerjahren erreicht sein.
SPIEGEL: Das stimmt. Fast alle denkbaren
1,5­Grad­Pfade sehen vor, dass wir eine Wei­
le übers 1,5­Grad­Ziel hinausschießen und
dann bis Ende des Jahrhunderts dahin zurück­
kehren.
Jeschke: Damit das gelingen kann, rechnet
der Weltklimarat IPCC aber mit CO2­Filtern,
die komplette Fantasy sind.
Michaela Rehle / REUTERS
Festgeklebte Protestierende in München
»Zu viele Menschen
glauben immer noch, wir
hätten die Lage im Griff.«
SPIEGEL: Wovon gehen Sie denn aus? Was ist
noch zu schaffen?
Jeschke: Nach allem, was ich lese, sehe ich:
2 Grad werden wir auch reißen. Das ist fast
unausweichlich, wenn der Permafrost taut,
der Amazonas zur Savanne wird, wenn wir
noch zehn Jahre so weitermachen. Auch we­
gen des Blue Ocean Events …
SPIEGEL: … damit ist gemeint, dass die Arktis
im Spätsommer irgendwann fast eisfrei sein
wird, wodurch enorme Sonnenenergie vom
Wasser aufgenommen wird, statt vom Eis re­
flektiert zu werden. Die kurzfristigen Effekte
dürften aber gering sein.
Jeschke: Nature­Studien rechnen damit, dass
allein dies rund 0,2 Grad mehr bringt. Über
diese Teufelskreise wird aber kaum aufge­
klärt. Wir sind wohl ohne Kursänderung nur
wenige Jahre von dem Punkt entfernt, wo wir
über 2 Grad unausweichlich festschreiben.
Einige beginnen darüber zu sprechen, dass
wir wie in einer Kriegswirtschaft gesteuert
und damit eben gerecht aufgeteilt die fossilen
Industrien runterfahren und endlich die wach­
senden Emissionen stoppen. Danach die At­
mosphäre mit Mooren, Wäldern und regene­
rativer Landwirtschaft wieder säubern.
SPIEGEL: Sie ziehen systematisch die be­
sonders dramatischen Prognosen am Rand
der Wahrscheinlichkeitsverteilung heran.
Warum?
Jeschke: Es gibt einen Text von drei Klima­
forschern, in dem sie beschreiben, dass sie
schon 2015, als das Pariser Abkommen unter­
schrieben wurde, niemanden kannten, der
glaubte, dass 1,5 Grad zu erreichen wären.
Doch kaum einer möchte Alarmist sein. Die
Warnungen, an denen ich mich orientiere,
finde ich in aktuellen Fachartikeln.
SPIEGEL: Meinen Sie den Weltklimarat?
Jeschke: Der IPCC formuliert sehr vorsichtig,
dafür mit großer Sicherheit. Aber Risiko ist
DEUTSCHLAND
Schaden mal Wahrscheinlichkeit, und wenn
der mögliche Schaden das Aussterben der
Menschheit ist, muss man auch an aktuellen
Studien dran sein. Das kann der IPCC nicht.
Und er formuliert am Ende auch so, dass es
politisch genehm ist.
SPIEGEL: Nur die Zusammenfassung für poli­
tische Entscheider wird zwischen Staaten aus­
gehandelt. Der eigentliche Bericht wird es
nicht.
Jeschke: Stimmt. Aber wenige lesen die Tau­
senden Seiten.
SPIEGEL: Wie, glauben Sie, wird sich die Er­
wärmung in den nächsten 20 Jahren aus­
wirken?
Jeschke: Es wird Extremwetter geben, Miss­
ernten, scheiternde Staaten, Bürgerkriege,
Massenflucht, noch viel mehr Menschen in
Folterlagern in Nordafrika. Es drohen Todes­
zonen am Äquator, wo die Wasserversorgung
gefährdet, Landwirtschaft nicht mehr möglich
ist oder es an zu vielen Tagen im Jahr zu heiß
wird, um sich draußen aufzuhalten. In Euro­
pa werden sich Politiker durchsetzen, die
Mauern hochziehen und an der Grenze schie­
ßen lassen wollen. Ich gehe davon aus, dass
wir zurückschauen werden und sagen: Oh, es
kam auch diesmal alles schneller als gedacht.
Ich halte es etwa für eine realistische Gefahr,
dass es die globale Wirtschaft, wie wir sie ken­
nen, in 10, 20, 30 Jahren nicht mehr gibt, weil
die Lieferketten völlig zusammenbrechen.
SPIEGEL: Wie, glauben Sie, kommen diese
Warnungen an?
Jeschke: Niemand hört das gern. Die Bot­
schaft, dass wir alles im Griff haben, ist an­
genehmer. Ob die »Letzte Generation« Erfolg
hat, hängt deshalb auch davon ab, dass die
Menschen immer heftigeres Vorgehen gegen
uns nicht mehr hinnehmen und politischen
Wandel wollen. Würden wir nicht bei unse­
rem Grundsatz bleiben, dass wir friedfertig
bleiben, hätten wir schon verloren.
SPIEGEL: Sind Sie nur aus strategischen Grün­
den gewaltfrei oder auch aus Überzeugung?
Jeschke: Wenn die Menschen nicht mehr klar­
kamen mit ihrer aussichtslosen Lage, haben
sie früher zur Mistgabel gegriffen. Erst im
letzten Jahrhundert kam mit friedlichem Un­
gehorsam eine Ausdrucksform von existen­
zieller Unzufriedenheit dazu, die effektiver
ist und zugleich moralisch höherwertig.
SPIEGEL: Das war nicht die Frage. Die lautete,
ob Sie Gewalt prinzipiell ablehnen.
Jeschke: Ja, Gewalt ist für mich nicht vertret­
bar.
SPIEGEL: Wenn Aktivisten die Spitze eines
Weihnachtsbaums absägen, sich an einen Bil­
derrahmen kleben oder einen Gottesdienst
stören, gefährden sie niemanden. Wenn sie
sich auf der Straße festkleben, womöglich in­
direkt schon. Warum halten Sie an dieser
Form fest?
Jeschke: Niemand würde über den Tannen­
baum berichten, gäbe es die Straßenblocka­
den nicht. Symbolische Aktionen ohne Dis­
ruption werden nicht reichen. Deshalb wird
es weiter beides geben.
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 17
DEUTSCHLAND
SPIEGEL: Sie berechnen die Reaktion
der Gesellschaft. Was macht Sie so
sicher, dass Sie mit den Straßenblo-
ckaden nicht schon zu viele Men-
schen vergraulen?
Jeschke: Es gibt eine kleine laute Min-
derheit, die uns leidenschaftlich hasst.
Die große Masse fühlt sich unwohl
mit unseren Aktionen, glaubt aber,
dass wir in der Sache recht haben. Es
gab mal eine Umfrage von 1965, da
fanden nur 30 Prozent in den USA,
dass die Aktionen der Bürgerrechts-
bewegung richtig waren. Trotzdem
hatte sie Erfolg.
SPIEGEL: Das ist mehr Unterstützung,
als Sie haben. Nach einer Umfrage
aus dem November lehnen 81 Pro-
zent der Deutschen Ihre Aktionen ab.
Jeschke: Was nicht heißt, dass sie
unsere Kritik und Forderungen falsch
finden.
SPIEGEL: Es gibt noch einen großen
Unterschied zur Bürgerrechtsbewe-
gung: Rechtliche Diskriminierung
kann man abrupt durch Gesetzge-
bung beenden. Die Klimakrise nicht.
Ist eine Strategie, die auf Reibung
setzt, da nicht viel weniger aussichts-
reich?
Jeschke: Das Problem heute ist viel
komplexer, das bestreite ich nicht.
Aber zu viele Menschen glauben im-
mer noch, wir hätten die Lage im
Griff, sie müssten oder könnten nichts
tun. Wenn wir darauf warten, dass
die Krisen durch Extremwetter die
Menschen aufrütteln, wird es zu spät
sein. Wir müssen jetzt eine politische
Krise erzeugen.
SPIEGEL: Die Ablehnung unter An-
hängern von CDU und CSU ist nahe-
zu absolut, 97 Prozent finden Ihre
Aktionen falsch. Wie wollen Sie eine
Transformation hinbekommen, wenn
Sie die konservative Hälfte der Ge-
sellschaft gegen sich haben?
Jeschke: Diese Umfrage sagt nichts
darüber, ob der gesamte konservative
Teil lieber Klimaschutz oder den
Untergang der Gesellschaft möchte.
Nur, dass er Straßenblockaden ab-
lehnt. Ja, ach was.
SPIEGEL: Es ist denkbar, dass es zur
konservativen Identität wird, die
»Letzte Generation« abzulehnen und
alles, wofür sie steht. Halten Sie es
für möglich, dass sich im Rückblick
zeigen könnte, dass Sie der Sache ge-
schadet statt genützt haben?
Jeschke: Unwahrscheinlich. Was ich
sehe, ist, dass mehr Menschen statt in
Schockstarre zu verfallen, laut wer-
den und sich organisieren. Was bleibt
uns allen sonst?
SPIEGEL: Der Staat geht zunehmend
hart gegen die »Letzte Generation«
vor. Die Staatsanwaltschaft Neurup-
18 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
mufkinnphotos / ddp
Klimaaktivistin, pin ermittelt wegen des Verdachts,
Polizisten dass Sie eine kriminelle Vereinigung
in München
bilden, deren Zweck »zumindest auch
auf die Begehung von Straftaten hin-
reichenden Gewichts ausgerichtet
ist«. Trifft offensichtlich zu, oder?
Jeschke: Kommen Sie schon, es trifft
offensichtlich nicht zu. Wenn der Re-
gierungskurs das Grundgesetz ver-
letzt und alle Klimaziele reißt, müs-
sen wir die Verfassung und unsere
Gesellschaft schützen, das ist das Ziel.
SPIEGEL: Wie soll die ständige Kon-
frontation zwischen der »Letzten Ge-
neration« und dem Staat enden? Kein
Staat kann ständigen Rechtsbruch
hinnehmen.
Jeschke: Wir werden an den Punkt
kommen, an dem die Regierung etwas
unternehmen muss, weil die Störun-
gen so massiv werden und sie ein-
sieht, dass sie den Kurs ändern muss.
Weil sich uns immer mehr Menschen
anschließen, solange sie die Klima-
krise ignoriert, weil aber auch immer
mehr Menschen kommen, wenn sie
mit Repression reagiert. Dann bleibt
ihr nur noch wirksamer Klima-
schutz – und wir können mit den
»Man muss Störungen aufhören.
bezweifeln, SPIEGEL: Danach sieht es derzeit al-
lerdings wirklich nicht aus.
dass die Jeschke: Bisher waren es einfach noch
Regierung auf nicht genug Menschen, es wurde nicht
dem Boden genug gestört.
SPIEGEL: Ihre Antwort scheint immer
der Verfas- zu sein: jetzt erst recht. Diese un-
sung steht.« erschütterliche Überzeugung finden
manche Menschen unheimlich. Gibt
es bei Ihnen auch Raum für: jetzt
nicht mehr?
Jeschke: Wir sind nicht impulsiv. Wir
haben einen Plan entworfen, auf Ba-
sis der Analyse früherer gesellschaft-
licher Kämpfe. Wir reflektieren per-
manent, ob wir unsere Ziele errei-
chen, ob wir anders handeln sollten.
SPIEGEL: Ihre Rhetorik ist radikal,
Ihre konkreten Forderungen sind oft
sehr überschaubar: ein Gesetz gegen
Lebensmittelverschwendung, ein
Tempolimit von 100 auf Autobahnen,
die Fortführung des 9-Euro-Tickets
für den öffentlichen Nahverkehr. Wie-
so so bescheiden?
Jeschke: Wir haben immer gesagt,
dass es große Maßnahmen braucht,
aber daneben auch Sofortmaßnah-
men, die belegen, dass die Regierung
das Problem wirklich ernst nimmt.
SPIEGEL: Würde die Politik sie um-
setzen, wäre das Problem nicht ge-
löst. Würden Sie dann nicht umge-
hend neue Forderungen erheben
müssen?
Jeschke: Solange sogar diese kleinen
Maßnahmen nicht ergriffen werden,
muss man bezweifeln, dass die Regie-
rung auf dem Boden der Verfassung
steht. Wenn sich das ändert, würden
wir erst einmal annehmen, dass die
Regierung die Klimakrise zur wich-
tigsten Aufgabe gemacht hat. Deshalb
würden wir unsere Störungen einstel-
len. Natürlich würden wir genau be-
obachten, wie es weitergeht.
SPIEGEL: Wie müsste es dann weiter-
gehen?
Jeschke: Wir haben keine Zeit für eine
langsame Transformation, es braucht
eine friedliche Revolution. Dafür sind
Veränderungen nötig, so wie wir in
der Pandemie bereit waren, Ein-
schränkungen hinzunehmen, damit
unsere Großeltern nicht sterben. Die
beste Chance, das politisch hinzukrie-
gen, sind geloste Bürgerräte. Die Er-
fahrung zeigt, dass sie hohe Legitimi-
tät haben und dass auch Autofans
darin bereit sind, weitreichende Maß-
nahmen mitzutragen. Nur so geht es.
Denn am Ende braucht es natürlich
eine gesellschaftliche Mehrheit.
SPIEGEL: Es gab schon einen Bürger-
rat Klima. Der hat keine Revolution
herbeigeführt.
Jeschke: Dessen Livestream haben
wenige Hundert auf YouTube verfolgt.
Es braucht viel mehr Aufmerksam-
keit, Leute müssen aufgeregt darüber
diskutieren. Es muss aber auch etwas
aus den Beschlüssen folgen. Die Re-
gierung könnte sich öffentlich selbst
verpflichten, die Ideen umzusetzen.
SPIEGEL: Herr Jeschke, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch. n

Rechter Schulterschluss
PROTESTE Extrem rechte Akteure hatten einen »heißen Herbst« angekündigt, Politik und Behörden
waren alarmiert. Am Ende blieben die Demos gegen die Regierung und Geflüchtete
sowie für Russland überschaubar. Und doch hatte die Bewegung Erfolge, vor allem im Osten.
ie sind wütend. »Straße frei«, schreien
S sie, wieder und wieder. Den Polizisten,
die vor ihnen eine Reihe bilden, brüllen
sie ins Gesicht: »Widerstand!« Sie trillern und
trommeln, schwenken ihre Fahnen in der
Dunkelheit. Einmal versuchen sie, durch die
Polizeilinie zu kommen, drücken und rangeln,
ein paar Meter schaffen sie.
An einem Samstag Ende November sind
sie dem Aufruf des Rechtsextremisten Jürgen
Elsässer nach Leipzig gefolgt, zur letzten
Großdemonstration des Jahres. Elsässer und
andere Rechtsextremisten haben sich nach-
mittags nahe dem US-amerikanischen Kon-
sulat versammelt, Motto: »Ami go home«. In
ihren Reden ist Deutschland ein Staat, der
nicht souverän ist, mit einer Regierung, die
tut, was ihnen der US-Präsident befiehlt.
Dazu gibt es Kaffee, Kuchen und Bratwurst.
Nach knapp zwei Stunden Reden zieht
man los, demonstrieren. Doch nach wenigen
Minuten kommen die selbst ernannten Wider-
ständler nicht weiter. Mehrere Hundert Anti-
faschisten sitzen auf der Straße und blockie-
ren den Weg. Mit schwarzen Jacken, Kapuzen
und Regenschirmen, um auf Fotos nicht er-
kennbar zu sein. Ihre FFP2-Masken leuchten
weiß in der Dunkelheit.
Die Polizei berät sich. Die Organisatoren
der rechtsextremen Demo laufen vor und re-
den laut auf die Uniformierten ein, sie sollten
die Gegendemonstranten »härter anpacken«.
Am Ende entscheidet die Polizei jedoch, die
Sitzblockade nicht aufzulösen. Der Aufwand
wäre nicht verhältnismäßig, finden sie. Statt-
dessen müssen die Rechten umdrehen. Sie sind
zu wenige. Nur rund 1000 sind gekommen,
dabei hatte Elsässers »Compact«-Magazin
großspurig angekündigt, die Soundanlage kön-
ne »bis zu 30 000 Menschen« beschallen.
Es ist ein Flop für die Rechtsextremen. Und
das vor der Winterpause.
War also der gesamte »heiße Herbst«, wie
die Organisatoren vieler Veranstaltungen ihn
DEUTSCHLAND
selbst nannten, eine Niederlage? Im Sommer
hatten Politik und Behörden befürchtet, dass
es zu »Volksaufständen« käme, wenn die Prei-
se weiter steigen und die Gasvorräte zur Nei-
ge gehen sollten. Oder zumindest, dass es
demokratiefeindliche Demonstrationen ge-
ben würde, die größer wären als die Corona-
Proteste. All das ist nicht passiert.
Und doch fällt die Bilanz gemischt aus,
Rechtsaußen hatte auch Erfolge.
Ein Sonntag Ende September, Lubmin,
Mecklenburg-Vorpommern. Im Kurpark di-
rekt an der Ostsee sollen alle mal winken.
Rund 4000 Menschen sind gekommen, sie
recken ihre Hände in die Luft, schwenken
Fahnen, jubeln.
Die Demonstrierenden behaupten, dass
sie gekommen seien, um für eine Öffnung von
Nord Stream 2 zu werben. Die damalige Bun-
deskanzlerin Angela Merkel hatte den ersten
Strang der Pipeline hier 2011 in Betrieb ge-
nommen, gemeinsam mit dem russischen
Lubmin
Prorussische
Demonstration
mit Neonazis
Ende September
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 19
 DEUTSCHLAND
Präsidenten Dmitrij Medwedew. Sie sagen
auch, dass sie einfach nur Frieden wollten mit
Russland, und verteilen säuberlich gerollte
Zettel mit dem Text von einem der bekann-
testen Volkslieder der DDR, der »kleinen
weißen Friedenstaube«.
Doch die meisten Plakate, Fahnen und Re-
den sind nicht friedlich. Zwischen deutschen
und russischen Flaggen wehen schwarze mit
der Aufschrift »Widerstand lässt sich nicht
verbieten«. Auf Plakaten heißt es: »Ihr glaubt
es hört auf wenn ihr gehorcht … Doch es geht
weiter, wenn ihr gehorcht!«. Und auf der Büh-
ne sagt ein Redner: »Wir sind mitten in einer
Revolution.« Er nennt Politiker »feige Ge-
stalten«, über die bald »das Volk« richten
werde und »dann gnade euch Gott.« Ein
anderer sagt, es sei an der Zeit, »im Reichstag
mal wieder durchzufegen«.
Überraschungsgast ist Andreas Kalbitz,
Neonazi und ehemals AfD-Landeschef in
Brandenburg. Er hoffe, dass Lubmin »ein Auf-
takt ist«, sagt er. Die »Blockparteien« hätten
sich den »Staat zu Beute gemacht« und da-
gegen müsse der Widerstand auf den Straßen
weitergehen. »Wenn wir aufhören, Angst
zu haben, haben die keine Macht mehr«,
ruft er. Zwei NPD-Männer, die in der Menge
stehen und sonst nicht klatschen, applaudie-
ren ihm.
Genau wie der Rest des Publikums. Das
allerdings auch jubelt, wenn es auf der Bühne
heißt, man wolle nicht in die rechte Ecke ge-
stellt werden – obwohl viele Rechtsextremis-
ten aus der Region anwesend sind, erkennbar
an ihren Szeneklamotten. Auch »Reichsbür-
ger« und »Identitäre« sind da. Und Neonazis,
die Mitglied der verbotenen »Heimattreuen
Deutschen Jugend« waren oder Pullis tragen,
auf denen eine »schwarze Sonne« zu sehen
ist. Zwischen ihnen stehen bürgerlich geklei-
dete Menschen, die einfach nur klatschen
oder Friedensfahnen schwenken.
In dem Dorf an der Ostsee wird deutlich,
wie sehr sich die Melange aus »Querden-
Stefan Boness / Ipon
20 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
»Im Osten gibt es eine
weniger gefestigte demo-
kratische Kultur, kaum
Raum für Diskussionen.«
Mathias Berek, Kulturwissenschaftler
kern«, Esoterikerinnen, prorussischen Frie-
densaktivistinnen sowie Rechtsextremen eta-
bliert hat, die während der Coronademons-
trationen entstanden ist. Sie alle eint die
Ablehnung des Staates und seiner demokra-
tischen Institutionen und Werte.
Die Akteure von Rechtsaußen konnten
diese Gruppen an sich binden, nachdem die
Pandemie nicht mehr im Vordergrund stand.
Nun kämpfen sie alle gemeinsam gegen die
Demokratie, bedienen sich dafür immer neu-
er Etiketten. Ging es anfangs um die Corona-
maßnahmen, ist man nun für Nord Stream 2,
gegen höhere Energiepreise oder gegen die
USA. Und immer gegen die Regierenden.
Das klappt nicht nur in Lubmin, sondern über-
all, wo extrem rechte Akteure oder »Quer-
denker« Veranstaltungen organisieren. Im
Herbst gab es sogar kleine Querfront-Erfolge.
In Brandenburg an der Havel liefen Politiker
der Linken mit extrem Rechten und »Quer-
denkern« gemeinsam, am Berliner Neptun-
brunnen vereinte sich die rechtsextreme
»Handwerker-Demo« von Elsässer mit dem
»Aktionstag der Friedensbewegung«, bei dem
Fans der Deutschen Kommunistischen Partei
und von Sahra Wagenknecht waren.
Auch AfD-Funktionäre nehmen an den
Demonstrationen teil, halten Reden oder or-
ganisieren sie. Anfang Oktober veranstaltete
die Partei das erste Mal seit Langem wieder
eine Großdemonstration, mitten in Berlin,
Motto, frei nach Donald Trump: »Zuerst
unser Land«. Deutschlandweit mobilisierte
Berlin
Protest der AfD
mit Partei-
funktionären
im Oktober
die AfD, finanzierte Reisebusse, holte so rund
10 000 Demokratiefeinde auf die Straße.
Björn Höcke, Landeschef in Thüringen und
Machthaber in der AfD, sprach am Tag der
Deutschen Einheit in Gera bei einer Kundge-
bung, die unter anderem von den »Freien Thü-
ringern« organisiert worden war. Er zelebrierte
dort den Schulterschluss mit jenen rechtsext-
remen Akteuren, von denen sich die Partei-
spitze öffentlich zu distanzieren versuchte.
Höckes Rede zeigte, um was es ihm und
seinen Kameraden geht: ums Ganze. Er will,
dass seine Zuhörer »kämpfen«, gegen den
Staat, die Medien, jegliche Migration. Und
gegen die USA. Der AfD-Mann und andere
Akteure der Szene versuchen seit Monaten,
vom Antiamerikanismus in verschiedenen
Milieus zu profitieren. Deswegen wettern sie
gegen Washington, behaupten, die Biden-
Regierung würde dem deutschen Kanzler und
seinem Kabinett Vorschriften machen, die
diese ohne Rücksicht auf die eigene Bevölke-
rung umsetzen würden. Sie erklären die Bun-
desrepublik für nicht souverän, ganz nach Art
der »Reichsbürger«.
Am Ende ziehen 10 000 Menschen durchs
thüringische Gera. Polizei ist kaum vor Ort,
und die Beamten, die da sind, schützen vor
allem Höcke und die anderen Organisatoren.
Die skandierende Menge läuft weite Strecken
unbegleitet durch die Stadt, beschimpft Jour-
nalisten und schreit Jugendliche an, bei denen
sie glauben, dass diese Migrationshintergrund
hätten: »Abschieben, Abschieben!«
Es ist kein Zufall, dass der Protest im Osten
größer und lauter ist. Der Kulturwissenschaft-
ler Mathias Berek arbeitet am Zentrum für
Antisemitismusforschung der TU Berlin und
befasst sich mit dem gesellschaftlichen Zu-
sammenhalt der Wendezeit.
»Im Osten gibt es eine weniger gefestigte
demokratische Kultur, kaum Raum für Dis-
kussionen und Aushandlungsprozesse«, sagt
Berek. Soll heißen: Viele Menschen im Osten
haben es nach dem Ende der Diktatur nicht
Leipzig
Verschwörungs-
ideologische
»Montagsdemo« im
September

gelernt, politisch zu streiten, Meinungen aus-
zufechten. Berek sieht das als Versäumnis der
Politik, die in den neuen Bundesländern vie-
lerorts schlicht durchregierte. »Was es heute
gibt, sind gefestigte rechte und rechtsradikale
Strukturen, denen es nun regelmäßig gelingt,
die bürgerliche Mitte zu mobilisieren.« Die
Rechten seien zwar wie auch in den alten Bun-
desländern eine Minderheit, agierten aber im
Osten lauter, selbstbewusster.
»Viele haben nach der Wende eine krasse
Selbstwirksamkeitserfahrung erlebt«, sagt der
Forscher, »mit den Montagsdemos hat man
gemeinsam ein Regime zu Fall gebracht.«
Dann sei dieses Gefühl rasch verpufft, das
institutionelle Misstrauen gegenüber Stasi und
SED wurde übertragen auf die Nachwende-
parteien und die Westler, die »rüber« kamen
und wichtige Posten übernahmen. »Den
Spruch, schon immer ›verarscht‹ worden zu
sein, hört man im Osten überall.«
Die extrem rechten Akteure würden ver-
suchen, an die Emotionen der frühen Neun-
ziger anzuknüpfen, so Berek. Tatsächlich ist
immer wieder von der »Wende 2.0« die Rede,
man geht besonders gern montags auf die
Straße, wie damals. Aus einem Ohnmachts-
gefühl allein werde natürlich niemand zum
AfD-Wähler, so Berek. »Damit die Partei Er-
folg hat, muss das Autoritäre hinzukommen,
ein Ermächtigungsgefühl.« Genau das adres-
sieren Höcke und seine ihm nahestehenden
Parteikollegen.
Berek attestiert jenen, die auf die Straße
gehen, noch eine weitere Motivation: die
Angst vor dem »Verlust von Dominanz«, wie
er es nennt. »Es gibt in Teilen der Gesellschaft
einen ausgeprägten Hass auf alles, was von
der eigenen Norm abweicht«, sagt Berek. Auf
Geflüchtete, die Hilfe brauchen, auf Frauen,
die hohe politische Ämter einnehmen, auf
Queere, die sichtbar sein wollen.
»Auf den Straßen berauscht sich dann ein
Mob am Gefühl, allein das Volk zu vertreten
und eine Homogenisierung wiederherzustel-
Erfurt
Demonstration
der Thüringer
AfD im September
len, die es so eigentlich nie gab.« Diese Grup-
pe werde immer weiter in die bürgerliche
Mitte vordringen, wenn es der Politik nicht
bald gelinge, den großen Teil der Unentschlos-
senen und Schweigenden im Osten anzuspre-
chen, warnt Berek. Zudem sei die Zivilgesell-
schaft in den östlichen Bundesländern viel
schwächer aufgestellt.
Ein Dienstag im November, Wilhelmshaven in
Niedersachsen. Der Himmel ist blau, Möwen
schreien. Mehrere Betriebe haben hier in den
vergangenen Jahren dichtgemacht. Die
Arbeitslosenquote lag 2021 bei 10,9 Prozent,
höher als in jeder kreisfreien Stadt im Osten.
Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen liegt
nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung
bei 19 050 Euro. Wilhelmshaven rangiert da-
mit unter 401 untersuchten Landkreisen und
kreisfreien Städten auf Platz 396 – deutlich
hinter dem brandenburgischen Cottbus, dem
sächsischen Chemnitz oder dem thüringi-
schen Gera. Anders als dort geht in Wilhelms-
haven montags niemand gegen steigende
Energiepreise oder die Unterbringung von
Geflüchteten demonstrieren.
Miguel Schaar wundert das nicht. Der
54-Jährige stammt von der Nordseeküste,
kam als Ordensbruder viel herum in der Welt
und fand irgendwann seine Heimat in Wil-
helmshaven. Er sagt, wer hier unzufrieden
sei, der packe lieber selbst an, anstatt zu me-
ckern. Das sei das Ergebnis einer starken Zi-
vilgesellschaft, gepaart mit nordischer Muss-
halt-Haltung. Die hohen Wahlerfolge der AfD
im Osten hätten ihn in die Politik getrieben,
sagt Schaar. »Es reicht nicht, nur für die De-
mokratie zu sein. Ich hatte das Gefühl, selbst
mehr machen zu müssen.« Seit vergangenem
Herbst ist er Mitglied bei den Grünen, wurde
prompt in den Stadtrat gewählt.
Bei einem Spaziergang zeigt er auf Indus-
triebrachen am Hafen, auf fußgängerfeindli-
che Schnellstraßen im Stadtzentrum. Aber er
zeigt auch, wo sich etwas tut: Da sind die an-
DEUTSCHLAND
gepassten Bürgersteige für Menschen mit Be-
hinderung, die auf seine Initiative hin um-
gebaut worden sind, und Fahrradsymbole,
die Autofahrende daran erinnern, dass sie
Rücksicht nehmen sollen. »Und das mit den
Fahrradstreifen bekommen wir hier auch
noch hin«, sagt Schaar.
Auch in Wilhelmshaven gibt es einen Trend
zur Verrohung. Zweimal hätten Unbekannte
sein Fahrrad zerstört, seit er politisch aktiv ist,
sagt Schaar. Die Beschimpfungen auf dem
Wochenmarkt würden zunehmen. Neben
steigenden Preisen gehe es immer wieder um
Geflüchtete. Wilhelmshaven habe viel Leer-
stand und viele Menschen aufgenommen.
»Da kommt von Einzelnen schon öfter der
Vorwurf, wir sollen uns lieber mehr um Deut-
sche kümmern.«
Aber: »Wenn’s drauf ankommt, dann ste-
hen wir echt zusammen.« Vor Weihnachten
habe er kurzfristig eine Spendenaktion für
die Tafel organisiert. »Binnen vier Tagen sind
550 Geschenktüten zusammengekommen,
mit Schokolade, Kleinigkeiten, handgeschrie-
benen Karten«, sagt der Grünenpolitiker.
Auch für geflüchtete Kinder sei viel dabei ge-
wesen. »Da merke ich dann doch, dass wir
noch eine mitfühlende Gesellschaft sind.«
Tatsächlich ist die Wut auf lokaler Ebene
am meisten zu spüren. Trotz aller Entlas-
tungspakete der Bundesregierung, guten Wet-
ters und Gasreserven fanden und finden sich
Woche für Woche Antidemokraten zusam-
men. Sie ziehen gern vor die Häuser der Bür-
germeister. Oder sie protestieren gegen Unter-
künfte für Geflüchtete. Oder sie organisieren
sich via Telegram, um gemeinsam Politiker-
auftritte zu stören.
Immer wieder haben sie damit Erfolg. Poli-
tiker müssen schreien, um gegen den Lärm
anzukommen. Kommunalpolitiker entschei-
den sich gegen Unterkünfte für Geflüchtete,
obwohl die schon fertig geplant waren. Eine
Mehrheit im Stadtrat fordert plötzlich das
Ende aller Sanktionen gegen Russland und
niedrigere Energiekosten, nachdem rund 800
Menschen wegen der Schließung eines
Schwimmbads demonstriert hatten.
Da montagabends in so vielen Orten
demonstriert wird, ist meist nur wenig Polizei
dort. Sie lässt die Demos laufen, selbst wenn
sie nicht ordnungsgemäß angemeldet sein
sollten. In lokalen Medien gab es zudem an-
fangs kaum Einordnung zu den Demonstra-
tionen, es war die Rede von Bürgerinnen und
Bürgern, die Sorgen haben, nicht von Demo-
kratiefeinden mit extremen Parolen.
Aus dem lauwarmen Herbst könnte also
ein Frustfrühling für die Politik werden, vor
allem auf lokaler Ebene. Die Rechtsextremen
werden alles versuchen, um zu mobilisieren.
Sie haben neue Großdemonstrationen an-
gekündigt, wollen sich im Februar in Ramstein
versammeln, bei dem US-Luftwaffenstütz-
punkt. Die Hoffnung auf eine echte Querfront
haben sie nicht aufgegeben.
Maik Baumgärtner, Ann-Katrin Müller,
Marc Röhlig n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 21
DEUTSCHLAND
Coopers Liste
JUDENHASS Mit seiner jährlichen Top Ten der schlimmsten antisemitischen Vorfälle
macht das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles seit Jahren Schlagzeilen.
Jüdische und nicht jüdische Intellektuelle, Politiker und Wissenschaftler werfen der
Organisation vor, den Namen des berühmten Nazijägers zu instrumentalisieren.
abbi Abraham Cooper redet
R mit sonorer Stimme gegen den
Verkehr an, der draußen über
den sechsspurigen Pico Boulevard
rauscht. Der Mann scheint in sich zu
ruhen, obwohl seine Lebensaufgabe
seit mehr als 40 Jahren eigentlich kei-
ne Ruhe verträgt.
Cooper ist Vizedirektor des Simon
Wiesenthal Center (SWC) in Los An-
geles, benannt nach dem österrei-
chisch-israelischen Nazijäger. Das
Zentrum gehört zu den lautstärksten
Kämpfern gegen Antisemitismus.
Wann immer irgendwo auf der Welt
Jüdinnen und Juden angefeindet, be-
droht oder angegriffen werden, er-
hebt das SWC seine Stimme und
macht Druck auf Täter und politisch
Verantwortliche.
Cooper war schon dabei, als der
Rabbiner Marvin Hier die Organi-
sation 1977 ins Leben rief, heute
betreibt das Zentrum ein großes
Museum und eine Filmabteilung, die
mit ihren Dokumentationen bereits
zwei Oscars gewann. Es gibt Zweig-
stellen in New York, Chicago, Miami,
Toronto, Paris, Jerusalem und Bue-
nos Aires. Eine »jüdische Verteidi-
gungsbehörde« hat Rabbi Hier das
SWC einst genannt.
Schräg gegenüber dem Haupt-
quartier in Pico-Robertson, dem Her-
zen der jüdischen Gemeinde von Los
Angeles, steht das Prestigeobjekt der
Organisation, ein stufenartig ange-
legtes Gebäude mit einer Fassade aus
rotem Granit: das Museum of Tole-
rance. Nach eigenen Angaben besu-
chen jedes Jahr über 250 000 Men-
schen die interaktiven Ausstellungen,
mehr als die Hälfte von ihnen sind
Schülerinnen und Schüler.
»Bildung ist der Schlüssel«, sagt
Cooper in seinem kleinen Büro im
ersten Stock des Wiesenthal-Zen-
trums. Die größte Herausforderung
sei nicht der Hass der Menschen, son-
dern ihre Neugier, ihre Lernbereit-
schaft. »Wir wollen keine Zionisten
oder Israelliebhaber aus den Men-
22 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
schen machen, sondern die Juden
und das Judentum demystifizieren«,
sagt der Rabbiner.
Die Verdienste der Institution und
ihrer Mitarbeiter sind unbestritten.
Seine Bekanntheit verdankt das SWC
aber einer anderen Aktivität. Jedes
Jahr geben Cooper und seine Mit-
streiter eine Top-Ten-Liste mit den
weltweit schlimmsten antisemiti-
schen und antiisraelischen Vorfällen
und Verunglimpfungen heraus. Kürz-
Hamas lich erschien die neueste Liste. Wie
und Heusgen in den Jahren davor wurde sie in den
Medien zitiert.
Ausgewählte Akteure Besonderen Widerhall finden das
und Ereignisse aus SWC und seine Liste in Deutschland,
den jährlichen Top-
Ten-Listen des Simon wo der Vorwurf des Antisemitismus
Wiesenthal Center zu Recht besonders ernst genommen
mit den schlimmsten wird – und der Judenhass steigt. Die
antisemitischen Zahl der registrierten antisemitischen
Vorfällen
Straftaten ist im vergangenen Jahr um
2012
29 Prozent angewachsen, im Schnitt
Mahmoud Ahmadi-
nejad, ehemaliger verzeichnete die Polizei pro Tag mehr
Präsident Irans als acht antisemitische Delikte.
Jakob Augstein, Trotzdem sind die Antisemitis-
Journalist muslisten des SWC jedes Jahr Gegen-
2015 stand hitziger Debatten. Denn neben
»Islamischer Staat« eingefleischten Antisemiten und Israel-
Terrororganisation feinden knöpfen sich Cooper und sei-
Europäische Union ne Mitstreiter immer wieder deutsche
2017 Beamte, Politiker und Publizisten
Hassan Nasrallah, vor – unter ihnen des Hasses und Ex-
Chef der Hisbollah tremismus unverdächtige Akteure.
Labour Partei Die zweifelhafte Ehre hatten unter
Großbritannien anderen bereits SPIEGEL -Miteigen-
2019 tümer Jakob Augstein im Jahr 2012,
Terroranschläge auf der Berater von Kanzlerin Angela
Juden in den USA Merkel, Christoph Heusgen, 2019,
und Deutschland der Kulturabteilungsleiter im Auswär-
Christoph Heusgen, tigen Amt, Andreas Görgen, 2020,
ehemaliger Merkel-
Berater und UNO- oder 2021 der Antisemitismusbeauf-
Botschafter tragte des Landes Baden-Württem-
2021 berg, Michael Blume.
Hamas, Palästi- Nachdem es im vergangenen Jahr
nesische Terror- auch von vielen jüdischen Vertretern
organisation Kritik an der Listung Blumes gab,
Michael Blume, setzt die jüngst erschienene Liste an-
Antisemitismus- dere Schwerpunkte. Auf Platz eins
beauftragter für
Baden-Württemberg firmiert unter anderem die Einladung
S Quelle: Simon
des Rappers und Hitlerverherrlichers
◆
Wiesenthal Center Kanye West durch Ex-Präsident Do-
nald Trump. Das Treffen trage bei
»zur Normalisierung und zur Aus-
weitung des Antisemitismus«, heißt
es zur Begründung. Die Kritik an
Trump ist bemerkenswert, SWC-
Gründer Hier hat einst bei dessen
Inauguration gesprochen.
Die Vorwürfe gegen deutsche Ver-
treter fällt diesmal etwas vorsichtiger
aus. Die antisemitische Bildsprache
der Kasseler Kunstschau Documenta
wird erwähnt sowie das Schweigen
von Bundeskanzler Olaf Scholz wäh-
rend einer Pressekonferenz mit dem
Palästinenserpräsidenten Mahmoud
Abbas, in der dieser Israel vorwarf,
»50 Holocausts« begangen zu haben.
Es werden auch Antisemitismus-
vorwürfe gegen »zwei deutsche Anti-
semitismusbeauftragte« behauptet,
allerdings ohne Michael Blume und
seinen Kollegen aus Schleswig-Hol-
stein namentlich zu nennen, die ver-
mutlich gemeint sind.
Der SPIEGEL hat knapp ein Dutzend
Antisemitismusexperten um ihre Ein-
schätzung gebeten. Diese sind sich
mitunter uneins über Definitionen,
alle aber üben Kritik an der Machart
und Zusammenstellung der Top Ten
bis 2022. Zwar sehen einige der Ex-
perten die auf den Listen genannten
Deutschen kritisch, doch keiner wür-
de sie wie das Wiesenthal Center in
eine Reihe stellen mit dem iranischen
Regime, der libanesischen Hisbollah
oder der palästinensischen Hamas,
die mit der Auslöschung des jüdi-
schen Staates drohen und für Terror-
anschläge verantwortlich sind.
»Diese Listen sind höchst fragwür-
dig«, kritisiert etwa Felix Klein, der
Antisemitismusbeauftragte der Bun-
desregierung. »Wenn Antisemiten
mit Mordabsichten neben Menschen
genannt werden, die sich dem Kampf
gegen Judenhass verschrieben haben,
befeuert das Wiesenthal-Zentrum
eine fehlgeleitete und spaltende De-
batte. Stattdessen wären Allianzen
von Demokratinnen und Demokra-
ten dringend nötig.«
»Die Listen schaden dem Kampf
gegen militante Antisemiten«, sagt
der Historiker und Publizist Michael
Wolffsohn, Autor des Buchs »Eine
andere Jüdische Weltgeschichte«.
»Ich halte manche der Genannten
für nützliche Idioten, die sich als
Rechtfertiger der gefährlichen Anti-
semiten instrumentalisieren lassen.
Aber es ist kontraproduktiv, sie in
einem Atemzug mit denen zu nen-
nen, die für uns Juden eine tödliche
Gefahr sind.«
»Die Listen des SWC sind ein Pa-
radebeispiel dafür, wie der Antisemi-
 DEUTSCHLAND

tismusvorwurf als politisches Instrument

missbraucht wird, um Gegner und andere
Meinungen zu delegitimieren«, kritisiert der
Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in
Frankfurt am Main, Meron Mendel.
»Dass Personen wie Heusgen und Blume
auf den Listen stehen, ist schlicht und ergrei-
fend großes Unrecht. Es bedeutet nichts an-
deres, als dass wahrhaftig antisemitische
Großakteure wie die Hamas und Iran in poli-
tisch unverantwortlicher Weise verharmlost
werden«, sagt Micha Brumlik, ehemaliger
Leiter des Fritz-Bauer-Instituts.

Den deutschen Diplomaten Christoph Heus-

gen setzte das Wiesenthal Center im Dezem-
ber 2019 auf Platz sieben der Liste – gleich
hinter die Erwähnung von Gewalttaten
gegen Juden in New York und das versuchte
Massaker eines Rechtsextremisten in einer
Synagoge in Halle.
Heusgens Listung wurde damals von vie-
len Medien erwähnt. Die »Augsburger All-
gemeine« fragte: »Ist der deutsche Uno-Bot-
schafter Heusgen ein Antisemit?«, die »Bild«-
Zeitung wählte Heusgen am 13. Dezember
zum »Verlierer des Tages«. Heusgen habe bei
den Vereinten Nationen 25-mal gegen Israel
gestimmt und »israelische Bulldozer« mit
»Hamas-Raketen« gleichgesetzt, begründete
das Wiesenthal Center die Entscheidung.
Gemeint war eine Rede, die Heusgen im
März 2019 im Uno-Sicherheitsrat gehalten
hatte. Thema war eine Resolution gegen die
israelische Siedlungspolitik. »Warum legen
Sie nicht Ihre vorgeschriebenen Reden zur
Seite und sagen mir, wie Sie gedenken, die
bestehende Resolution umzusetzen?«, fragte
Heusgen und wollte vom israelischen Uno-
Botschafter wissen, wie dessen Regierung den
Siedlungsbau beenden werde. An den paläs-
tinensischen Vertreter richtete er die Frage,
wie er die Hetze und die Raketenangriffe
gegen Israel zu stoppen plane. »Wir glauben,
dass internationales Recht der beste Weg ist,
um Zivilisten zu schützen, damit Zivilisten in
Frieden und Sicherheit leben können, damit
1 sie ohne Angst vor israelischen Bulldozern
und vor palästinensischen Raketen leben«,
sagte Heusgen abschließend.
1 | Wiesenthal-Center-Vizedirektor Cooper vor einer Wand mit Namen von Spenderinnen und Diese »Gleichsetzung« sei »pure Häme«,
Spendern 2 | Kleidung eines KZ-Häftlings in der Ausstellung des Wiesenthal Center kommentierte »Bild« und wurde später vom
3 | Büste des Namensgebers Wiesenthal 4 | Eingang des Museum of Tolerance in Los Angeles
Wiesenthal Center zitiert.
Heusgen wehrt sich dagegen, Israel unfair
behandelt zu haben. »Mein Maßstab war und
ist das internationale Recht«, sagt er bei
einem Treffen im Büro der Münchner Sicher-
heitskonferenz, deren Chef er nun ist. »Wir
können Israel da nicht anders behandeln als
andere Staaten, sonst würde uns zu Recht ein
doppelter Standard vorgeworfen werden.«
G L Askew II / DER SPIEGEL (4)

Den Vorwurf des einseitigen Stimmverhal-

2 3
tens weist er ebenfalls zurück. »Während
meiner zwei Jahre im Sicherheitsrat 2019/20
gab es dort keine einzige Abstimmung über
Israel«, sagt er. Auf die zahlreichen Abstim-
4 mungen über israelkritische Resolutionen in
der Generalversammlung habe er keinen Ein-

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 23

DEUTSCHLAND

fluss gehabt. »Das deutsche Stimmverhalten

dort wurde ausschließlich vom Auswärtigen
Amt bestimmt.«

Ehud Olmert empfängt Anfang Dezember in

seinem Büro im Tel Aviver Stadtteil Neve
Zedek. Olmert wurde Anfang 2006 israeli-
scher Premier, 2009 wurde er von Benjamin

Amit Shabi / DER SPIEGEL

Netanyahu abgelöst. Von 2016 bis Juli 2017
verbüßte er eine Freiheitsstrafe wegen Kor-
ruption.
»Von allen Staats- und Regierungschefs,
die ich getroffen habe, war Angela Merkel 1
diejenige, die mich am meisten beeindruckt
hat«, sagt der 77-Jährige. Er habe die Kanz-
lerin und ihren außenpolitischen Berater
Heusgen in viele sehr sensible Angelegen-
heiten eingeweiht, sagt Olmert und hebt
besonders die Entscheidung Deutschlands
hervor, U-Boote an Israel zu verkaufen. »Es

Horst Tappe
ist furchtbar, dass es nötig ist zu erklären, dass
Christoph Heusgen kein Antisemit ist«, sagt 3
Olmert. »Darüber hinaus: Wenn man über
Markus Schreiber / AP / dpa

ihn sagt, dass er Antisemit sei, sagt man auch

etwas über Angela Merkel, weil er ihr engster
1 | Ex-Premier Olmert in seinem Tel Aviver
Mitarbeiter war.« Büro 2022 2 | Kanzlerin Merkel mit ihrem
Für Olmert geht es auch um die Frage, wie außenpolitischen Berater Heusgen 2016
viel Kritik sich die israelische Regierung ge- 2 3 | Gründer Wiesenthal im Jüdischen
fallen lassen sollte – und wie man mit Versu- Dokumentationszentrum Wien 1986
chen umgeht, solche Kritik zu diskreditieren.
»Ich denke, dass Israel von der internatio- Olmert zeigt sich irritiert, dass die Wiesen- einem Jahr in den Blick des Wiesenthal-Zen-
nalen Gemeinschaft in den vergangenen Jah- thal-Leute ihn so abblitzen ließen. Immerhin trums. An den Tagen zwischen Weihnachten
ren viel besser behandelt wurde, als wir es hatte er sich als Bürgermeister Jerusalems und Neujahr 2021 ereilte ihn ein Anruf seiner
verdient haben«, sagt der ehemalige Regie- dafür eingesetzt, dass das SWC ein Filetgrund- Mitarbeiter: Er stehe auf Platz sieben.
rungschef. »Ich verniedliche nicht den Un- stück mitten in der Stadt erhielt, wo nach Die Vorwürfe: Blume habe antijüdische,
sinn, die Schwächen und die Fehler, die die jahrelangem Zwist demnächst auch ein Mu- antiisraelische und verschwörungstheoreti-
Palästinenser gemacht haben. Aber wer in seum of Tolerance eröffnet werden soll – in sche Beiträge auf Twitter mit einem Herzen
den vergangenen zwölf Jahren keinen Frieden Teilen über einem ehemaligen muslimischen versehen und weiterverbreitet. 2019 soll er
machen wollte, war der Staat Israel. Ich habe Friedhof. außerdem eine Nachricht auf Facebook gelikt
mich nicht nur einmal gewundert, dass man Das SWC habe exzellente Bildungspro- haben, die Zionisten mit Nazis verglichen
uns nicht stärker kritisiert. Ich weiß, was gramme über die Erinnerung an den Holo- habe. Belege wurden nicht aufgeführt. Statt-
Angela Merkel über Bibi Netanyahu denkt. caust organisiert, sagt Olmert, aber »es han- dessen kritisierte das SWC, dass Blume weder
Das hat sie nie öffentlich gesagt.« delt sich um eine Organisation, die politisch die Stadt Freiburg aufgefordert habe, die
Der Umgang des Wiesenthal-Zentrums mit zum rechten Lager gehört. Sie werden mit Städtepartnerschaft mit der iranischen Stadt
Heusgen empörte Olmert damals so sehr, dass einer politischen Linie identifiziert, mit der Isfahan zu beenden, noch die Landesbank
er sich schriftlich bei Rabbi Hier, dem Gründer ich mich nicht identifizieren würde«. Die Baden-Württemberg dazu gedrängt habe, das
des SWC, beschwerte. »Im Kampf Israels Antisemitismus-Listen seien PR, sagt Olmert. Konto des Palästinakomitees Stuttgart zu
gegen Antisemitismus können wir keinen bes- »Ich glaube, dass das dem Kampf gegen Anti- schließen.
seren Freund des Staates Israel und des jüdi- semitismus schadet.«
schen Volkes finden als Botschafter Heusgen«, Auch Baden-Württembergs Antisemitis- Knapp ein Jahr später sitzt Blume in der Lobby
schrieb Olmert am 4. Februar 2020 nach Los musbeauftragter Michael Blume geriet vor eines Hotels in Hannover. »Weder vorher
Angeles. »Auf der Basis meines Zeugnisses noch nachher hat mich das Simon Wiesenthal
und meiner engen Bekanntschaft mit ihm und Center kontaktiert«, erzählt er. »Ich habe
seinen Aktivitäten fordere ich Sie auf, seinen schon 2019 meinen Facebook-Account ge-
Namen von der Liste zu nehmen.« löscht. Die Landesbank erfüllt in Stuttgart die
Zuvor habe er in Los Angeles angerufen, Sparkassenfunktion, darf also nicht einfach
sagt Olmert. Rabbi Hier habe ihn an Cooper, »Ich finde es problema- Konten kündigen. Und über Städtepartner-
seinen damaligen Stellvertreter, verwiesen. schaften entscheiden in Deutschland die Städ-
Der habe ihm gesagt, die Listen seien schon
tisch, dass man sich hinter te.« Die Vorwürfe des SWC seien »nicht nur
veröffentlicht. »Das war ein harter Anruf«, dem guten Namen eines bizarr, sondern auch längst überprüft und
erinnert sich Cooper knapp drei Jahre später Holocaustüberlebenden erwiesen unwahr«, sagt Blume. »Diese
in seinem Büro in Los Angeles. Aber man Trump-Fans hätten ja mal fair nachfragen
habe Olmert erklärt, warum Heusgen auf der versteckt, der sich bei der können, aber rechte Onlinepranger trollen
Liste stehe. »Ich weiß zu schätzen, dass er
loyal zu seinen Freunden steht«, sagt Cooper
Suche nach NS-Verbrechern eben gerne Demokratinnen und Europäer mit
digitalen Fakes.«
über Olmert, »aber der Input, den wir aus der verdient gemacht hat.« Der Fall Blume hat zu mehreren gericht-
ganzen Welt bekommen, sieht manchmal an- Volker Beck, Chef der Deutsch-Israelischen lichen Auseinandersetzungen geführt. Im
ders aus als der eines Ministerpräsidenten.« Gesellschaft Zusammenhang mit dem Antisemitismus-

24 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


vorwurf auf Twitter hat etwa der
»Bild«-Kolumnist Joachim Steinhöfel
vor dem Landgericht Hamburg eine
einstweilige Verfügung erreicht, wo-
nach das Unternehmen ihm vorläufig
nicht verbieten darf, Blume als »anti-
semitischen Antisemitismusbeauf-
tragten« zu bezeichnen. Bei Stein-
höfels Äußerung handle es sich »nicht
um eine Schmähkritik, sondern um
eine – zwar scharfe, aber noch zuläs-
sige – Meinungsäußerung«, so das
Gericht. Blume selbst war nicht be-
teiligt in dem Verfahren.
Blume erreichten nach der Listung
durch das Wiesenthal Center viele
Solidaritätsbekundungen. Der Zen-
tralrat der Juden nannte die Vorwürfe
»absurd«, die jüdischen Gemeinden
in Baden-Württemberg verurteilten
einhellig »den Versuch einer Verun-
glimpfung« Blumes. Die Generalkon-
sulin des Staates Israel in München,
Carmela Shamir, schrieb an Blume:
Seine Arbeit und sein Engagement
seien in Deutschland und Israel be-
kannt und sehr geschätzt.
Baden-Württembergs Minister-
präsident Winfried Kretschmann
(Grüne) drückte in einem Brief an
Rabbiner Hier sein »tief empfundenes
Befremden« über die Nennung Blu-
mes aus, wies die erhobenen Vorwür-
fe »entschieden zurück«. Er könne
nicht anders, schrieb Kretschmann,
als die Aufnahme Blumes auf die Liste
als »Rufschädigung des Beauftragten
und des Landes Baden-Württemberg
aufzufassen, die jeglicher Grundlage
entbehrt«. Er habe persönlich große
Hochachtung vor dem Engagement
Simon Wiesenthals zu dessen Leb-
zeiten, daher werde er den Brief auch
an das Wiener Wiesenthal Institut für
Holocaust-Studien weiterleiten.
Damit spielte Kretschmann auf
den Vorwurf an, das SWC habe sich
mit seinen Listen längst vom Ver-
mächtnis des berühmten Nazijägers
entfernt. Simon Wiesenthal, 1908 in
Ostgalizien geboren, 2005 in Wien
gestorben, überlebte mehrere Kon-
zentrationslager und galt weltweit als
moralische Instanz. Nach Kriegsende
verschrieb er sich dem Aufspüren von
NS-Verbrechern.
Mithilfe des israelischen Geheim-
dienstes Mossad enttarnte Wiesenthal
etwa den Mann, der 1944 in Amster-
dam Anne Frank verhaften ließ und
dadurch in den Tod geschickt hatte.
Er half dabei, Adolf Eichmann zu fin-
den und den KZ-Kommandanten
Franz Stangl.
1977 gestattete Simon Wiesenthal
dem US-Rabbiner Hier, seinen Na-
men für die Benennung des Zentrums
in Los Angeles zu nutzen. Wiesen-
thals Bedingung: Die Mitarbeiter soll-
ten ihn bei der Jagd nach Nazi-Kriegs-
verbrechern unterstützen. Der Rab-
biner ließ sich darauf ein, er wollte
unbedingt den Namen des berühmten
Nazijägers für seine Organisation ha-
ben. Er habe sich, so sagt es Cooper
heute, gewissermaßen auf die Worte
König Salomos berufen: »Ein guter
Name ist wertvoller als gutes Öl.«
Doch schon bald sollte das Verhält-
nis zu Hier abkühlen, vor allem weil
Wiesenthal sich nicht in Entscheidun-
gen einbezogen fühlte, so beschreibt
es Wiesenthals israelischer Biograf
Tom Segev. 1984 schrieb demnach der
Holocaustüberlebende in einem Brief
an Hier: »Meine Mitarbeiter in Wien
sagen, die Beziehungen zwischen
dem Center und mir gestalten sich,
als sei ich bereits tot, und das Center
nutze nur meinen Namen.« Er mahn-
te das Zentrum an, sich auf seine
»eigentliche Funktion« zu besinnen,
»als Ort einer ernsthaften und gründ-
lichen Forschung«. 1993 soll sich Wie-
senthal vergebens um einen Wechsel
in der Leitung bemüht haben. Er
musste sich, so Segev, mit der Ehre
des Namensgebers begnügen.
Als das SWC Ende 2012 den
Journalisten und Gesellschafter des
SPIEGEL, Jakob Augstein, auf die
Antisemitismusliste setzte, sagte Se-
gev der »taz«, das Center habe mit
dem berühmten Nazijäger nur noch
wenig zu tun. Es sei heute »eine poli-
tische Organisation« und stehe, »wie
die meisten großen jüdischen Ver-
bände in den USA«, ziemlich weit
rechts – »weiter rechts als die Mehr-
heit der Juden in den USA«.
Diese Kritik am SWC hat sich über
die vergangenen Jahre verstärkt. »Ich
finde es problematisch, dass man sich
hinter dem guten Namen eines Holo-
caustüberlebenden versteckt, der sich
bei der Suche nach NS-Verbrechern
verdient gemacht hat«, sagt Volker
Beck, der ehemalige Bundestagsabge-
ordnete der Grünen und heutige Prä-
sident der Deutsch-Israelischen Ge-
sellschaft. »Die Listen des Wiesen-
thal-Zentrums suggerieren: ›Simon
Wiesenthal hat die Nazis gejagt, wir
jagen jetzt die Antisemiten.‹« Wenn
man den Namen einer großen histo-
rischen Person trage, reklamiere man
für sich die Mission dieser Persönlich-
keit. »Man sollte dann auch dem
Maßstab gerecht werden.«
Beck kritisiert die Beliebigkeit der
Listen: »Wenn man mit der Zuschrei-
bung von Antisemitismus beliebig
umgeht, dann spielt man jenen Leu-
ten ins Blatt, die von der ›missbräuch-
lichen Verwendung des Antisemi-
tismusvorwurfs‹ faseln und damit
DEUTSCHLAND
nur antiisraelischen Antisemitismus
Erfolgreiche kleinreden. So macht man uns den
Nazijagd Kampf gegen pseudowoken Antise-
mitismus in der Kulturszene unnötig
Simon Wiesenthal und schwer.«
das Jüdische Doku-
mentationszentrum
trugen zur Aufspürung In den Regalen des Simon Wiesenthal
von rund 1100 Center in Jerusalem reihen sich die
Kriegsverbrechern Aktenordner mit den Namen bekann-
des Naziregimes bei. ter Naziverbrecher aneinander. Ef-
Jeder Punkt stellt
einen der gefassten raim Zuroff, 74 Jahre alt, hat sein
Täter dar. ganzes Leben damit verbracht, die
großen und kleinen Täter des Holo-
caust zu finden und vor Gericht zu
bringen.
Zuroff leitet die Jerusalemer De-
pendance des Zentrums, aber wenn
man ihn nach den Aktivitäten der
Rabbiner Hier oder Cooper befragt,
geht er merklich auf Distanz. Was er
und sein Team in Jerusalem machten,
sei »sehr anders als das, was in L. A.
passiert«, sagt Zuroff.
Mithilfe seiner Mitarbeiter sucht
Adolf er für die Prozesse gegen die Täterin-
Eichmann, nen oder Täter von einst geeignete
Organisator Zeugen, oft fliegt er zu den Verhand-
des Holo- lungen, um die Nebenkläger zu unter-
caust
stützen. Simon Wiesenthal sieht er
als seinen Mentor.
Auf die Antisemitismuslisten aus
Los Angeles angesprochen, sagt Zu-
roff: »Das ist Coopers Baby.« Helfen
diese Listen im Kampf gegen Anti-
semitismus? »Sie haben einen Wert.
Sie lenken die Aufmerksamkeit auf
das Thema«, sagt Zuroff. Aber das
Karl verpflichte die Verantwortlichen
Silberbauer, dazu, »so vorsichtig wie möglich zu
ließ als SS-
Oberscharführer sein und sicherzustellen, nicht aus
Anne Frank Versehen jemanden zu nominieren,
verhaften. der Israel geholfen hat, die U-Boote
aus Kiel zu bekommen«. Er spielt auf
Merkels Ex-Berater Heusgen an.
In seinem kleinen Büro in Beverly
Hills wehrt sich Rabbi Cooper gegen
Vorwürfe, mit seinen Listen dem
Kampf gegen die wahren antisemiti-
Franz Stangl, schen Extremisten zu schaden. »Wir
Kommandant inflationieren den Antisemitismus
der Vernichtungs-
lager Sobibor und nicht«, sagt Cooper. Die Liste helfe,
Treblinka die ganze Bandbreite des Antisemi-
tismus zu erfassen, sie sei »eine Art
Alarmsystem.« Es gehe nicht darum,
alle Gelisteten auf ein Niveau zu stel-
len, aber gerade die Deutschen hätten
eine besondere Verantwortung, »kei-
nen Schaden anzurichten, wenn es
um Israel und die Juden geht«.
Wiesenthal habe sich einst ge-
wünscht, dass das Zentrum, das sei-
nen Namen trägt, »kein Eisschrank«
sei, sagt Cooper. Ob der berühmte
Nazijäger die Listen gutgeheißen hät-
te, lässt sich heute nicht mehr beant-
worten. Die erste Top Ten erschien
fünf Jahre nach seinem Tod.
S Grafik Christoph Schult, Philipp Wittrock n
◆
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 25
DEUTSCHLAND

Das Material wirft die Frage auf, ob der

Gönner überhaupt noch wusste, was er tat,
als er der AfD sein Vermögen hinterließ. Be-
reits Ende 1998 kam Strangfeld laut einem
nervenärztlichen Gutachten wegen »aggres-

Wunder, Wahnsinn und siver Durchbrüche mit Wahnerleben und Grö-

ßenfantasien« gegen seinen Willen in das
Landeskrankenhaus Wunstorf. Er hatte seine

jede Menge Gold damalige Freundin geschlagen und vor Ge-

richt randaliert.
Der Gutachter notierte, Strangfeld stelle
»eine erhebliche Gefahr für die öffentliche
PARTEIENFINANZIERUNG Der Erfinder Reiner Strangfeld vermachte der AfD Sicherheit und Ordnung« dar, er sei »hoch-
gradig denkgestört« und »nicht in der Lage
mehr als zehn Millionen Euro – die größte Zuwendung an eine Partei in der zu einer adäquaten Realitätskontrolle«. Der
Geschichte der Bundesrepublik. Aber ist das Testament gültig? Persönliche Patient litt an einer Psychose und hatte laut
Unterlagen legen nahe: Der Mann war psychisch schwer gestört. Gutachten eine »paranoide und narzisstische
Persönlichkeitsstörung«. Wann gen au die
psychischen Probleme des Erfinders began-
ine Eingangstür mit Stahlrahmen und nen und wann sie überhandnahmen, lässt sich
E Sicherheitsschlössern, sonst war die
Wohnung im zweiten Stock eines rot
verklinkerten Mehrfamilienhauses unauffällig.
nicht genau bestimmen.
Für die AfD könnte die psychische Ver-
fassung ihres Gönners zu einem Problem wer-
Die Möbel? »Nichts Dolles«, sagt ein Polizist, den. »Wenn es Hinweise darauf gibt, dass der
»keine Spur von Luxus.« Eine verstaubte alte Verstorbene zum Zeitpunkt der Errichtung
Sitzecke mit Sofa, Sesseln und Couchtisch. des Testaments nicht testierfähig war, kann
Als der 79-jährige Reiner Strangfeld im diese Verfügung angefochten werden«, sagt
Juli 2018 Suizid beging, ahnte niemand, Katja Habermann, Hamburger Fachanwältin
dass in der Wohnzimmerschrankwand ein für Erbrecht.
Millionenschatz versteckt war. Im Sockel Reiner Strangfeld wuchs in Schlesien auf.
und in den unteren Fächern entdeckte die Zusammen mit seinem Zwillingsbruder und
Polizei 50 Goldbarren, je ein Kilogramm seiner verwitweten Mutter floh er nach West-
schwer, dazu Schatullen und Röhrchen voller Berlin und besuchte in der Nachkriegszeit ein
Gold- und Silbermünzen und 10 000 Euro katholisches Elitegymnasium. Es folgten ein
in bar. Studium in Ingenieurswesen und der erste
Auch im Keller, hinter Fliesen versteckt, Job als Trainee bei Siemens. Dann ging
und in angemieteten Schließfächern in Lu- Strangfeld nach Oldenburg zu einem Unter-
xemburg hatte Strangfeld Gold deponiert. nehmen, das Flechtmaschinen konstruierte.
Der Nachlass des Erfinders aus der nieder- Der junge Ingenieur entwickelte ein neues
sächsischen Stadt Bückeburg war eine Sensa- Modell und meldete sein erstes Patent an.
tion. Denn das Vermögen aus Edelmetallen Dutzende sollten folgen.
und Immobilien, so stand es in Strangfelds Seinen Durchbruch als Erfinder hatte
Testament, sollte der AfD zukommen: mehr Strangfeld in den Siebzigerjahren bei DAL,
als zehn Millionen Euro – es ist die größte be- einer Firma für Sanitäranlagen in Porta
kannte einzelne Zuwendung an eine politische Westfalica. Er tüftelte an Bad- und Toiletten-
Partei in der Geschichte der Bundesrepublik. armaturen. Die von ihm entwickelte WC-
Aber war Reiner Strangfeld bei klarem Druckspülung wurde millionenfach in den
Verstand, als er der AfD sein Vermögen hin- Badezimmern des Landes eingebaut. Strang-
terließ? War er testierfähig? feld stieg zum Chefingenieur und Prokuristen
In der inzwischen verkauften Wohnung auf und verdiente am Verkauf seiner Erfin-
blieben nicht nur Gold und Silber zurück, dungen mit.
sondern auch die privaten Unterlagen des In dieser Zeit genoss der smarte Erfinder
Erfinders. Elf Kisten, vollgepackt mit Ge- sein Leben offenbar in vollen Zügen. Er jette-
richtsakten, Dokumenten und Papieren, mit te um die Welt, bei der Lufthansa hatte er als
Fotoalben, Kontoauszügen und medizini- Vielflieger den »Senator Status«. Er flog mit
schen Befunden. Die AfD hatte kein Interes- der Concorde in die USA und reiste an die
se an den Kartons, sie sollten zusammen mit schönsten Strände der Welt. Fotos zeigen
den Möbeln entsorgt werden. Der SPIEGEL den jungen braun gebrannten Mann mit
konnte das Material auswerten. schwarzem Haar und einer Pilotensonnen-
Dieser Nachlass legt nahe: Strangfeld war brille auf den Bahamas und in Südamerika,
psychisch schwer krank und lebte in einer in einem Sportflugzeug und in einem Heiß-
Welt voller Wahnvorstellungen, Rassismus luftballon, am Strand und knutschend auf
und Antisemitismus. Zweimal wurde der ag- einer Segeljacht.
gressive und gefährliche Mann zwangsweise Gegenüber fremden Kulturen war Strang-
in die Psychiatrie eingewiesen und medika- feld damals offenbar noch aufgeschlossen.
privat (4)

mentös behandelt. Eines der Fotoalben ist voller Aufnahmen

einer einheimischen Hochzeit in Venezuela,
* Undatierte Aufnahmen aus dem Nachlass. Jetsetter Strangfeld* zu der er eingeladen war.

26 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


Strangfeld fuhr einen Porsche und
kaufte sich die Neubauwohnung in
Bückeburg. Eine »Gelddruckmaschi-
ne« habe er erfunden, schrieb er in
einem Brief an eine Anwältin und
meinte damit die WC-Armatur, die
ihm Hunderttausende D-Mark ein-
brachte. Unter »Millionär sucht«
schaltete er Kontaktanzeigen in meh-
reren Zeitungen. In einer Kiste finden
sich die Briefe etlicher Frauen:
»Lieber unbekannter Millionär, ich
würde Dich gern kennenlernen.«
In den Achtzigerjahren began-
nen für Strangfeld die Probleme,
die vielen Auseinandersetzungen
und Gerichtsverfahren. Von seinem
Arbeitgeber trennte er sich im Streit.
Er überzog die Firma DAL mit
Klagen wegen seiner Patente. Und
als das Unternehmen übernommen
wurde, wandte er sich an den
Nachfolger. In mehreren Ländern
waren mehr als 100 Patente von
Strangfeld eingetragen, selbst in Ar-
gentinien waren Erfindungen von
ihm registriert.
Die Einnahmen sprudelten, aber
das reichte ihm nicht. Eine außerge-
richtliche Einigung war offenbar nicht
möglich. Ein Patentanwalt notierte
nach einem Gesprächstermin, Strang-
feld habe sich »in einem unerträgli-
chen Erregungszustand« befunden,
»der eine sachgerechte Diskussion
der Angelegenheit ausschloss«.
Der Erfinder sah bald überall Geg-
ner, die ihm Unrecht taten – nicht nur
wegen seiner pfiffigen Klospülung.
Beim Bundesministerium der Finan-
zen beschwerte er sich über Steuern,
und Aldi schrieb er an, weil er ver-
geblich versucht hatte, einen Fern-
seher zu kaufen, der gerade im An-
gebot war. »DEN wollte ich haben«,
so Strangfeld, er habe geplant, sehr
früh aufzustehen, dann aber Tetris
gespielt, und dann waren wohl alle
Fernseher vergriffen.
Die Briefe, deren Kopien er sorg-
fältig aufbewahrte, sind lang und wirr.
Der fröhliche Jetsetter verwandelte
sich im Lauf der Jahre offenbar in
einen Millionär, der auch seine Hosen
beim Discounter kaufte und immer
wunderlicher wurde.
Auf einer DIN-A4-Seite beschrieb
er, wie er einen Schlüssel wiederfand,
der ihm aus einem Loch in der Hosen-
tasche seiner Aldi-Jeans gefallen war.
Er habe ein »Märchen« erlebt, freute
sich Strangfeld. Als Beweis tackerte
er die abgetrennte Hosentasche mit
dem Loch an den Zettel.
Politisch schlug er nun extremis-
tische Töne an. In einem Schreiben
an Gerhard Frey, den Gründer der
rechtsextremen Deutschen Volks-
AfD-Wahlsieger union (DVU), beklagte sich Strang-
Alexander Gauland, feld über das »multikulturelle Mit-
Alice Weidel 2017:
War ihr Mäzen
teleuropa«. Sein Vater und zwei sei-
testierfähig? ner Onkel seien kurz vor Ende des
Zweiten Weltkriegs als »Helden«
gefallen. »Und was singt der Deut-
sche heute zu einem Geburtstag?«,
fragt Strangfeld, um selbst die offen-
bar seiner Meinung nach empörende
Antwort zu geben: »Happy Birthday
natürlich«.
Irgendwann fing Strangfeld an,
Gespräche und Telefonate heimlich
mitzuschneiden. In den Kisten finden
sich mehr als 50 Bänder mit Unter-
haltungen und oft stundenlangen
Monologen – die letzte Aufnahme
datiert aus dem Sommer 2017. Wa-
rum Strangfeld seinen Alltag so ex-
zessiv dokumentiert hat, ist schwer
zu sagen. Kurze Kommentare zwi-
schen den Aufnahmen lassen erah-
nen, dass es dem Drang geschuldet
gewesen sein könnte, Gesagtes später
beweisen zu können.
Der Strangfeld-Peak
Einnahmen der AfD, in Millionen Euro
Spenden Mitgliedsbeiträge, staatliche Mittel, Sonstiges
Vermächtnisse darunter von Reiner Strangfeld *
25
20
15
10
5 Wunstorf in seinem Gutachten
0 »Lucia« erschienen, behauptete
2015 2016 2017 2018 2019
* Der Nachlasspfleger Strangfelds erfasste 2019 weitere Vermögenswerte
aus dem Nachlass.
S Quelle: Bundestag
◆
DEUTSCHLAND
Die Bänder liefern verstörende
Einblicke in die krude Gedankenwelt
des AfD-Mäzens. In einem mit-
geschnittenen Telefonat mit einer
FDP-Abgeordneten bezeichnet
Strangfeld den Moderator Cherno
Jobatey als »arrogantes Ausländer-
Arschloch« und echauffiert sich da-
rüber, dass »russische Juden« ins
Land kämen, die »hier sogar ihre
Grabsteine einklagen« könnten.
Deutschland sei zur »Unheimat« ge-
worden. Im selben Telefonat behaup-
tet Strangfeld, dass »die deutsche
Getty Images
Frau« seit 50 Jahren darauf gepolt
sei, »dass der Deutsche scheiße ist
und der Neger der Gute«.
Neben rassistischen Ausfällen do-
kumentieren die Bänder, dass Strang-
feld offenbar bereits früh an para-
noiden Wahnvorstellungen litt. Be-
reits bei der Bundestagswahl 1998
sah er unsichtbare Mächte am Werk,
die ihn daran hindern wollten, seine
Stimme für die rechtsextreme DVU
abzugeben. Vor dem Wahllokal
sprach Strangfeld wahllos Passanten
an, die die Verschwörung gegen
ihn und die DVU bezeugen sollten.
Dass die Passanten sich von ihm ab-
wandten, sah Strangfeld als Beweis
dafür, dass auch sie Teil der Ver-
schwörung seien.
Nur ein Passant hörte Strangfeld
geduldig zu. Doch der entpuppte sich
am Ende selbst als verrückt: Laut
Strangfelds Aufnahmen behauptete
er, in Berlin den Antichristen gesehen
zu haben, auf der anderen Straßen-
seite.
Wenige Tage nach der Wahl ver-
schlechterte sich Strangfelds Zustand,
seine damalige Freundin und sein
Zwillingsbruder brachten ihn in die
Psychiatrie. Dort behandelte ihn ein
Oberarzt, den Strangfeld für einen
Migranten hielt. Er beschimpfte ihn
als »Ausländersau« und behauptete,
»Juden und Türkensäue« seien min-
derwertige Menschen.
Die AfD hat offenbar keine Pro-
bleme, Millionen von einem offen-
sichtlich psychisch kranken Rechts-
extremisten anzunehmen. Einen Fra-
genkatalog zu Reiner Strangfeld und
seinem Vermächtnis wollte die Partei
nicht beantworten.
Zu Rassismus und Antisemitis-
mus kamen schon damals »religiöse
Wahnthemen«, wie der Sachverstän-
dige des Landeskrankenhauses in
notierte. Im Ruhrgebiet sei ihm die
2020 Strangfeld, seine »Schutzheilige«.
Strangfeld war damals aggressiv
und bedrohte andere Patienten in der
geschlossenen Abteilung. Mitarbeiter
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 27
DEUTSCHLAND
der Klinik mussten ihn fixieren und mit
Neuroleptika behandeln. Die Medikamente
halfen. Aber nur kurz.
Denn das vielleicht größte Problem war,
dass Strangfeld seine psychische Erkrankung
nicht wahrhaben wollte. Acht Tage nach sei-
ner Zwangseinweisung wurde er entlassen.
Die ihm verschriebenen Neuroleptika, die
seinen Zustand stabilisiert hatten, setzte er
sofort wieder ab. Der Patient sei »krankheits-
uneinsichtig, er hält sich für gesund und nicht
behandlungsbedürftig«, schrieb der Gutach-
ter damals.
Ein Gericht setzte vorübergehend einen
Betreuer ein. Denn Strangfeld war mit dem
von ihm angeschobenen Gerichtsprozess
völlig überfordert, in dem es um Patentrech-
te ging.
Statt sich mit seiner Krankheit auseinan-
derzusetzen, kämpfte er fortan gegen das
psychiatrische Gutachten, in dem seine Pro-
bleme benannt waren. Das Papier sei von
Repräsentanten dieses »Unrechtsstaates
eingekauft worden«, um ihn zu entrechten,
schrieb Strangfeld an das Bückeburger Amts-
gericht. Er sah sich als Opfer einer Verschwö-
rung von Richtern, Anwälten und dem Staat.
Beim Amtsgericht legte man einen eigenen
Aktenordner für die vielen langen und wirren
Briefe des Erfinders an, einen »Querulanten-
ordner«.
Strangfeld war nach dem Klinikaufenthalt
offenbar in seine wahnhafte Parallelwelt zu-
rückgekehrt, in der es Engel gab und skurrile
Wunder geschahen. 2006 landete er erneut
in der Psychiatrie in Wunstorf. Sein Zustand
hatte sich verschlimmert. Strangfeld trank
laut den Unterlagen zwei Flaschen Sekt am
Tag, konnte kaum noch schlafen. Er war un-
ruhig und aggressiv, bedrohte und schlug sei-
ne Freundin. Ihr Partner fühle sich »fremd-
bestimmt«, sagte sie in der Klinik.
Weil von ihm laut Amtsgericht eine »Ge-
fahr für sich und andere« ausging, kam er
wieder in die geschlossene Abteilung. Der
behandelnde Arzt hielt ihn nun auch für
suizidgefährdet. Strangfeld randalierte in
der Klinik, wurde erneut fixiert und medika-
mentös ruhig gestellt. Eine »paranoide nar-
zisstische Persönlichkeit« attestierten ihm die
Ärzte. Ein paar Tage später hob das Gericht
die Zwangsunterbringung auf. Der Erfinder
kehrte in seine Fantasiewelt zurück.
»Die Sehnsucht nach Wundern ist so alt
wie die Menschheit«, schrieb er in einer
Zeitungsannonce. Er suche einen »journa-
listischen Schutzengel«, der ihm dabei hel-
fen solle, ein Buch zu schreiben, das »sogar
mehrere Wunder dokumentarisch belegt«.
Dazu zählte er die »Schraubenwette«. In sei-
nen Anfangsjahren bei Siemens habe er als
einziger Mitarbeiter die Größe eines Schrau-
benkopfes korrekt geschätzt – für ihn ein
Wunder.
Politisch war er inzwischen am rechten
Rand des Parteienspektrums angekommen.
Bei der Bundestagswahl 2013, so legen es
Briefwahlunterlagen nahe, die Strangfeld auf-
28 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
privat (3)
Erfinder Strangfeld, Zeitungsannoncen*
Kisten im Keller
Nachdem Reiner Strangfeld sein Vermö-
gen der AfD vermacht hatte, beauftragte
die Partei einen Makler mit dem Verkauf
seiner Wohnung. Vorher wurde sie ent-
rümpelt. In elf Kisten verpackt, landeten
Strangfelds persönliche Sachen in einem
Düsseldorfer Keller. Nach einem Hinweis
konnten die SPIEGEL-Redakteure dieses
immaterielle Erbe des Erfinders sichten.
Der Mann, so stellte sich heraus, hatte ak-
ribisch sein ganzes Leben dokumentiert.
bewahrte, wählte er die NPD. Zumindest hat-
te er es offenbar vor.
Strangfeld hatte am Ende niemanden mehr,
dem er vertraute. Selbst aus der Kranken-
versicherung war er längst ausgetreten, weil
sie Informationen über ihn speichere. In sei-
nem Wahn wandte er sich 2015 an die chine-
sische Vertretung in Berlin und versprach
dem Botschafter zehn Kilogramm Gold. Da-
für sollte China ihm behilflich sein, die Exis-
tenz »Hohen Sinns« zu beweisen. Bei einem
Besuch der chinesischen Botschaft in Luxem-
burg, bei der Strangfeld das Gold offenbar
übergeben wollte, verstand aber niemand,
was der irre Erfinder überhaupt wollte. Der
Botschafter sei beschäftigt, sagte man ihm.
Zurück in seiner Wohnung, kapselte sich
Strangfeld immer mehr ab. »Nicht einmal
meine Freundin hat Zutritt, geschweige denn
Reinigungskräfte oder gar Nachbarn«, notier-
te er im November 2016 in einer Art Tage-
bucheintrag. Als er rund eineinhalb Jahre
später beschloss, Suizid zu begehen, lebte er
völlig zurückgezogen und isoliert in Bücke-
burg. Seine Freundin hatte sich von ihm ge-
trennt, sein Bruder war gestorben. Er hatte
kaum noch Kontakte nach außen. So berich-
ten es seine Nachbarn. Von Freunden oder
Verwandten ist nichts bekannt.
Möglicherweise leben aber noch Verwand-
te des Erfinders, die einen Anspruch auf das
Erbe erheben könnten. Es gibt Kanzleien und
Detekteien, die auf die Suche nach solchen
Erben spezialisiert sind. »Im Zweifel«, so An-
wältin Habermann, »müsste die AfD den
Nachlass dann an die tatsächlichen Erben zu-
rückzahlen.«
Am 18. Juni 2018, zwei Wochen vor sei-
nem Tod, verfasste Strangfeld ein Testament,
das vom Bückeburger Nachlassgericht geprüft
und für gültig erklärt wurde. »Ich, Reiner
Strangfeld, geboren am 3. Oktober 1938,
hinterlasse hiermit mein gesamtes Vermögen
der in den Bundestag eingezogenen Partei
AfD«, heißt es darin. Es folgt eine Liste mit
seinen Vermögenswerten – und wo sie im
Haus versteckt sind. Das zweiseitige Schrei-
ben steckte er in eine Klarsichtfolie und kleb-
te es an ein Bild im Flur.
Es war noch dunkel, als Strangfeld am
3. Juli 2018 in einem weißen Kleinwagen am
Stadtrand von Bückeburg auf eine Wiese fuhr.
Er stieg aus und übergoss sich mit Benzin. Um
4.23 Uhr meldete sich ein Zeuge bei der Poli-
zei. An der Auffahrt zur Bundesstraße sehe
er einen brennenden Menschen. Seinen Tod
hatte der verwirrte Erfinder wie einen politi-
schen Protest inszeniert. Nur dass niemand
verstand, was er wollte.
Hubert Gude, Sven Röbel n
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben
zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Men-
schen darüber. Sofortige Hilfe erhalten Sie
rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter
der kostenlosen Rufnummer 0800 111 0 111.
Eine Übersicht weiterer Hilfsangebote gibt es
auf der Website Suizidprophylaxe.de.

»Misslungene
Sozialisation«
GEWALT Serap Güler, 42, CDU-Bundestagsabge-
ordnete und Ex-Integrationsstaatssekretärin in
Nordrhein-Westfalen, über die Silvesterexzesse
SPIEGEL: Parteikollegen von Ihnen wie
der Unionsfraktionsvize Jens Spahn
sehen die Ursachen für die Gewaltex-
zesse in der Silvesternacht auch in ge-
scheiterter Integration. Haben sie recht?
Güler: Wir müssen offen aussprechen,
dass es sich bei den meisten der Ge-
walttäter offenbar um junge Men-
schen mit Migrationsgeschichte han-
delt. Das darf man nicht verschleiern.
Trotzdem, denke ich, geht’s hier we-
niger um Integration. Die meisten
dieser jungen Männer wurden wahr-
scheinlich schon hier geboren.
SPIEGEL: Respektlosigkeit vor dem
Staat, Missachtung von Recht und
Ordnung haben nichts mit misslun-
gener Integration zu tun?
Güler: Das alles ist eher misslungene
Sozialisation. Wir reden ja zum Bei-
spiel bei Hooligans, Querdenkern
oder Linksextremen, die Polizisten »Mein Vater
angreifen, auch nicht über Integration. hätte denen
Auch dort gibt es Respektlosigkeit und
Verachtung gegenüber dem Staat. Es
die Leviten
gibt keinen automatischen kausalen gelesen.«
Zusammenhang, dass jemand sich in
Deutschland nicht eingelebt hat und
deshalb rohe Gewalt anwendet.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Güler: Mein verstorbener Vater hat
58 Jahre lang in diesem Land gelebt,
und er wäre bis zum Schluss durch
jeden Integrationskurs gefallen, weil
er nicht ausreichend Deutsch konnte.
Er hatte aber Anstand und Respekt
und hätte den Angreifern aus der Sil-
vesternacht deutlich die Leviten ge-
lesen. Wenn wir jetzt aus den Ge-
schehnissen eine Integrationsdebatte
machen, leiden vor allem diejenigen
darunter, die sich hier anständig ver-
halten, Recht und Gesetz respektie-
ren. Das ist die übergroße Mehrheit
der Migrantinnen und Migranten.
Und die sind am wütendsten auf die
Krawallmacher und wollen nicht mit
ihnen in einen Topf geworfen werden. Unionspolitikerin
SPIEGEL: Wenn es nicht um fehlende Güler
Integration geht, worum geht es dann?
Güler: Was wir jetzt vor allem führen
müssen, ist eine Debatte über den
Umgang mit Gewalttätern und einen
Staat, der nicht mehr ernst genom-
men wird.
SPIEGEL: Was kann man dagegen tun?
Güler: Der Staat muss seine Stärke
ausschöpfen. Die Täter müssen die
volle gesetzliche Härte spüren – ganz
egal woher sie kommen. Wenn wir
darüber diskutieren, dass Klima-
kleber Gefängnisstrafen bekommen
sollten, müssen wir es bei den Silves-
tertätern erst recht tun. Statt Sozial-
stunden zu verhängen, muss die Jus-
tiz denen knallhart zeigen: Da landet
ihr, wenn ihr so weitermacht.
SPIEGEL: Ein Drittel der in der Silves-
ternacht Festgenommenen waren laut
Berliner Polizei Afghanen und Syrer.
Vieles ist noch unklar, aber sollten
auch Geflüchtete darunter sein, muss
die Politik dann diese Gruppe stärker
in den Blick nehmen?
Güler: Diese Menschen haben oft in
ihrer Heimat oder auf der Flucht Ge-
walt erfahren. Das kann aber keine
Entschuldigung dafür sein, wenn sie
hier selbst Gewalt ausüben. Wir müs-
sen sie genau wie alle anderen kon-
sequent bestrafen. Und wenn recht-
lich möglich, müssen wir auch über
die Folgen für ihren Aufenthalt reden
und über Abschiebungen.
SPIEGEL: Nach Syrien und Afghanis-
tan wird derzeit nicht abgeschoben.
Güler: Es muss aber klar sein: Wer
hier Recht und Gesetz bricht, muss
damit rechnen, dass er im Zweifel und,
wenn unsere Gesetze das hergeben,
wieder gehen muss. Die Bundesregie-
rung muss auch immer wieder prüfen,
ob wir in sichere Regionen vor allem
nach Syrien abschieben können – in
Stefan Boness / Ipon
DEUTSCHLAND
Afghanistan ist die Lage derzeit si-
cherlich schwieriger. Vor der Macht-
übernahme der Taliban haben wir
nach Afghanistan Straftäter und Ge-
fährder abgeschoben. Dies muss für
beide Staaten erneut geprüft werden.
Denn wenn der Staat Attacken auf
sich selbst duldet, werden es Notlei-
dende künftig schwerer haben, weil
die gesellschaftliche Stimmung kippt.
SPIEGEL: Es gibt strenge rechtliche Vo-
raussetzungen für eine Abschiebung
von Straftätern in Staaten, in denen
ihnen Lebensgefahr droht. Führen Sie
da nicht eine Scheindebatte?
Güler: Die Lageberichte zu Syrien und
Afghanistan sind aus dem Jahr 2021.
Das Auswärtige Amt hat für beide
Länder aktuelle Berichte angekün-
digt. Auch wenn die Situation sich vor
Ort wahrscheinlich nicht groß ver-
ändert hat: Die Kommunikation, dass
wir in diese Länder nicht abschieben
können, ist ja eine Art Freifahrtschein.
Die Forderung, diese Prüfung regel-
mäßig vorzunehmen, ist daher keine
Scheindebatte. Sie ist auch eine Bot-
schaft, dass sich diejenigen, die sich
hier danebenbenehmen, darauf ge-
fasst machen müssen, dass sich die
Situation für sie auch ändern kann.
SPIEGEL: Ist es richtig, die Herkunft
von Tätern zu thematisieren?
Güler: Ja, weil das Verschweigen die
Erzählung der Rechten stärkt, die Poli-
tik wolle jemanden decken. Es darf
niemand gedeckt werden. Gleichzeitig
müssen wir klarmachen, dass die Leid-
tragenden der Gewalttäter auch die
überbordende Mehrheit der Migran-
tinnen und Migranten selbst sind, die
sich hier ordentlich benehmen. Da
muss uns die Balance im Ton gelingen.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die
Respektlosigkeit und den Hass gegen-
über Feuerwehrleuten, Sanitätern
und der Polizei?
Güler: Das ist nicht nur ein Berliner
Phänomen, aber Berlin sticht immer
wieder negativ hervor. Polizei ist Län-
dersache. Ich habe den Eindruck,
dass die Landesregierung die Polizei
ziemlich alleinlässt, sich nicht aus-
reichend vor sie stellt und sich statt-
dessen lieber mit semantischen De-
batten befasst, ob man zum Beispiel
Clankriminalität auch so nennen darf.
SPIEGEL: Wie kann die Debatte das
Land einen statt spalten?
Güler: Wir brauchen eine Allianz der
Anständigen. Sie müssen lauter wer-
den, sich gemeinsam gegen die kleine
Minderheit der Gewalttätigen stellen
und deutlich machen, dass das keine
Kavaliersdelikte waren, sondern ein
Tabubruch, den wir als Gesellschaft
missbilligen und nicht akzeptieren.
Interview: Anna Reimann n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 29
DEUTSCHLAND
Der Schmutz im
Silbersee
UMWELT Das riesige Schlammloch von Bitterfeld-Wolfen,
die berüchtigte Altlast aus Zeiten der DDR-Chemieindustrie,
schien unter Kontrolle. Doch jetzt geraten
tonnenweise giftige Abfälle wieder in Bewegung.
inst zog es Prominente aus aller Welt an
E den Silbersee nach Bitterfeld-Wolfen –
zum Gruseln. Der Sozialist Jacques De-
lors kam aus Brüssel, der Demokrat Michael
Dukakis aus Massachusetts, und auch die US-
Schauspielerin Jane Fonda wurde nach dem
Mauerfall in Gummistiefeln am stinkenden
Schlammloch gesichtet.
Der Silbersee, das verbliebene Loch des
Tagebaus Grube Johannes, war eine berüch-
tigte Altlast der DDR. Er führte der Welt vor
Augen, wie der Planet aussehen kann, wenn
eine Chemieindustrie ohne Rücksicht auf Ver-
luste produziert: fast wie die Oberfläche des
Mondes.
In seinen dunkelsten Zeiten ließ er eine
ganze Region nach faulen Eiern stinken.
Aus den Tiefen des gefluteten Tagebaulochs
stiegen immer wieder Blasen aus Schwefel-
wasserstoff auf, die Schwaden zogen durch
die Wohnsiedlungen von Greppin, Wach-
tendorf und Wolfen. Seit die Altlast nach
der Wende ruhte und Biofilter sowie eine
künstliche Belüftung die Gerüche zurück-
hielten, interessierten sich die Menschen vor
Ort kaum noch für sie. Bis jetzt: Der fast ver-
gessene See stinkt auf einmal erneut zum
Himmel.
Der Silbersee, wie das Tagebauloch im
Volksmund wohl wegen des hohen Queck-
silberanteils heißt, ist 27 Hektar groß. Die
Zusammensetzung des Schlammbodens ist
einmalig und hat so überhaupt nichts mit Karl
Mays romantischem Schatzsee zu tun. Ab
1921 kam zunächst Kraftwerksasche in die
stillgelegte Braunkohlegrube, dann folgten
Abwässer der Kunstseideproduktion der Che-
miefabrik in Wolfen. Später flossen Zellstoffe
und Hefereste hinein.
30 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Ehemalige Grube dem Großen Goitzschesee samt Badesträn-
Johannes 2018 den, Jachtklub und Marina. Im Untergrund
jedoch lauert weiter ein chemischer Cocktail,
den Nazizeit und DDR der Menschheit hin-
terlassen haben.
In Bitterfeld-Wolfen gibt es neben dem Sil-
bersee noch die Grube Antonie, in der unter
anderem fast 700 000 Kubikmeter Abfälle
der chemischen Industrie größtenteils im
Grundwasser lagern, darunter die hochgifti-
gen Insektizide Lindan und DDT. Nach der
Wende hat man berechnet, was ein Aushub
der Deponie kosten würde: bis zu vier Mil-
liarden Mark. Das wurde als unverhältnis-
mäßig verworfen.
Es gibt die Grube Greppin, gefüllt mit etwa
2,5 Millionen Kubikmeter Abfällen der Che-
mieindustrie. Auch diese Deponie wird vom
Grundwasser durchströmt. Und, nicht zu ver-
gessen, die Großdeponie mit dem schönen
Namen Freiheit III, in der ebenfalls hoch-
toxische Stoffe im Boden lagern. Das ver-
Holger John / VIADATA / IMAGO
seuchte Grundwasser von Bitterfeld-Wolfen
wird aufwendig nach oben gepumpt und ge-
reinigt. Bis zu 2,7 Millionen Kubikmeter Was-
ser pro Jahr – das Ganze firmiert als Teil eines
ökologischen Großprojekts und dürfte bis in
alle Zeiten andauern.
Auch der Silbersee sollte jetzt unter einer
Ein Gewässer ist es kaum: Der Silbersee Schlackeschicht verschwinden. Das Land
besteht aus einer bis zu zwölf Meter dicken
Schlammschicht, darüber steht im Schnitt ein
Meter hoch Wasser. Analysen aus dem Jahr
Sachsen-Anhalt, das die Verantwortung für
die alte Grube trägt, hat vor Jahrzehnten
einen Zaun gezogen. Schilder warnen vor
1995 deuten darauf hin, dass der Schlamm dem Betreten.
57 Tonnen Blei enthält, 11 Tonnen Arsen, Der zuständige Sanierer sagte der regio-
1,4 Tonnen Quecksilber und 1,3 Tonnen Kad- nalen Presse vor Jahren, es sei da »stets die
mium, alles ziemlich giftig. Für die TU Braun- Angst, es könnte doch mal jemand in die Pam-
schweig war das Gewässer seinerzeit ein pe fallen«. Schon nach dem Mauerfall gab es
»Flüssigdeponiekörper mit extrem hohem die Sorge, die angrenzende Bundesstraße
Umweltgefährdungspotential«. könnte in den See rutschen.
Was tun mit einer derartigen Altlast? Ober- So kam es zur Idee mit der Schlacke, die
irdisch ist Bitterfeld-Wolfen, die einst dre- zuvor in Versuchen getestet wurde. Über eine
ckigste Stadt Europas, ein saniertes Idyll mit landeseigene Entsorgungsfirma wird der Gift-
tümpel jetzt langsam mit Schlacke aus der
Hausmüllverbrennung zugeschüttet. 74 000
Giftige Gruben Tonnen wurden zunächst in einem Seitenarm
versenkt, der sich Nordschlauch nennt. Dann
Industrie- und ehemalige Tagebauregion kam Mutterboden darüber – alles sah nach
in Bitterfeld-Wolfen
heiler Welt aus.
Von 150 000 Tonnen Schlacke jährlich für
den restlichen See war nun die Rede. Dann
Ortsteil könne in 20 Jahren aus der Giftkloake ein
Wolfen Erholungsareal werden.
Doch seit vergangenem Jahr läuft es nicht
mehr nach Plan in Bitterfeld-Wolfen. Bereits
im Mai wurden an einer Messstelle vor Ort
Grube Greppin hohe Werte ermittelt, sie überschritten den
Grube Johannes
Leitwert, den die Weltgesundheitsorganisa-
»Silbersee«
Ortsteil tion für Geruchsbelästigung festgelegt hat. Es
Bitterfeld stank wieder schwefelig, im Sommer beson-
Grube Antonie ders heftig.
Anwohner vermuten die Schlackeschüttun-
gen als Ursache. Und sie könnten recht haben:
Womöglich setzt die Unruhe im Gewässer eine
Grube Freiheit III mikrobiologische Kettenreaktion in Gang, die
2 km nunmehr schwer zu kontrollieren ist. Darauf
deutet die Abschrift einer »Gefahrenfeststel-
S Karte: OpenStreetMap lung Grube Johannes« aus dem Jahr 1997 hin,
 DEUTSCHLAND

erstellt im Umweltamt des Landkreises Bitter­

feld. Ein zentraler Satz findet sich in der Mit­ SPIEGEL TV Programm
te des Papiers: »Grundvoraussetzung für die
Herstellung kontrollierbarer Bedingungen«
sei die Vermeidung von »mechanischen Ein­
griffen in den Schlammkörper«.
Fred Walkow hat die Umweltbehörde einst
geleitet und erinnert sich auch an Versuche
der Technischen Universität Braunschweig
mit dem toxischen Schlamm der Grube: »Es
wurde davor gewarnt, die Schichten im See
zu stören.« Walkow steht am Rand der Depo­
nie und sagt nachdenklich: »Es ist immer ein
Risiko, in eine Altlast einzugreifen. All die
Jahre existierte ein funktionierendes Regime,
das jetzt offensichtlich gestört wurde.«
Einer, der die Verhältnisse in der Deponie
kennt, ist Raino Rieseler. Der Ingenieur
schrieb Mitte der Neunzigerjahre an der Otto­
von­Guericke­Universität Magdeburg seine
Diplomarbeit über die Ausgasungen aus dem
Schlamm des Silbersees. Rieseler erinnert sich
gut, wie er seinerzeit mit einem Kahn immer

wieder über die stinkende Wasserfläche ru­
derte. Mit einem Probenstecher wurde
Schlamm aus dem See geholt und später im
Labor untersucht. Rieseler sagt, man müsse
sich den See wie eine riesige Götterspeise vor­
stellen, die mit ein wenig Wasser bedeckt ist.
Vor allem Zellulose und Lignin bilden die re­
lativ feste Schwabbelmasse – und bei deren
Abbau entstehen die Gase.
Es sind mikrobiologische Prozesse, bei
denen Bakterien bestimmte Stoffe umwan­
deln. »Wenn sich im Schlamm nichts bewegt«,
sagt Rieseler, »dann finden die Bakterien ir­
gendwann nichts mehr zu fressen, sie ›hun­
gern‹ und produzieren keine Gase – als Folge
riecht es nicht mehr.« In der Diplomarbeit
wird vor Turbulenzen aller Art am See ge­
warnt. Dann würden giftige Gasblasen plötz­
lich auch aus größeren Tiefen der Deponie
aufsteigen.
Die Bitterfelder Altlast mit Massen von
Schlacke zuzuschütten, hält Rieseler für die
denkbar schlechteste Idee: »Ich würde die
Finger davon lassen, irgendwas in diesen See
zu kippen.«
Diese Erkenntnis ist auch in den sachsen­
anhaltischen Amtsstuben angekommen. Die
Verfüllung mit Schlacke ist vorläufig gestoppt.
Das Wirtschaftsministerium räumt ein, man
habe seinerzeit bei den Sanierungsplanungen
die mikrobiologischen Prozesse im Silbersee
nicht simuliert. Aber es habe umfangreiche
Untersuchungen dazu gegeben, die man als
ausreichend betrachte.
Die Behörde macht die Hitze im Sommer
für den Gestank verantwortlich. Seit Mitte
November lägen die Tagesmittelwerte beim
Schwefelwasserstoff wieder durchgehend
unter dem Leitwert für Geruchsbelästigung.
Kein Kunststück, wie der Ingenieur Rie­
seler findet. Auch der Stoffwechsel von Bak­
terien verlaufe bei Kälte langsamer. Sobald
Tschetscheniens Präsident Kadyrow
SPIEGEL TV
MONTAG, 9. 1., 23.25 – 0.00 UHR, RTL
Der Bluthund des Diktators
Tschetscheniens Machthaber Ramsan
Kadyrow und Kremlchef Wladimir Putin
gelten als ziemlich beste Freunde. Ob im
Ukrainekrieg oder bei der Verfolgung von
tschetschenischen Oppositionellen –
seit Jahren hinterlässt Kadyrow eine
Spur der Vernichtung. Porträt eines
brandgefährlichen Gewaltherrschers.
Das Geschäft mit der Angst
Warum sich deutsche Kunden mit
Armbrüsten eindecken.
ARTE RE:
DIENSTAG, 10. 1., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE In anderen Teilen der Welt leben die
Heim zu Allah – Wenn Muslime
sterben
Stirbt ein Mensch muslimischen Glau-
bens, soll der Leichnam so schnell wie
möglich rituell gewaschen, in Leintücher entkommen konnten. Einen verheeren-
gewickelt und in Richtung Mekka begra-
ben werden. Obwohl die islamische
Religionsgemeinschaft nach den Christen im Tresor ihrer Bank einschlossen.
IMAGO
die zweitgrößte des Landes bildet,
ist eine islamkonforme Bestattung auf
deutschen Friedhöfen nicht immer
möglich. Viele Musliminnen und Muslime
möchten auch deshalb nach ihrem
Tod in ihren Herkunftsländern beigesetzt
werden – da sie dort zum Beispiel
trotz Überführung oft schneller beerdigt
werden können als hierzulande.
CURIOSITY CHANNEL
DIENSTAG, 10. 1., 20.15 – 21.00 UHR, SKY
Todesfalle Wetter – Rettung
aus dem Banktresor
Milde 20 Grad am Silvestertag, Jahr-
hundertflut im Ahrtal, unvorhergesehene
Stürme und Unwetter in Deutschland.
Menschen schon lange mit extremen
Wetterphänomen wie Schlammlawinen,
Tornados und Flächenbränden. In der
Dokumentation berichten Überlebende,
wie sie der Todesfalle Wetter knapp
den EF5-Tornado überlebten mehrere
Angestellte in Oklahoma nur, weil sie sich
SPIEGEL TV

SPIEGEL TV

es wärmer wird, so seine Prognose, werde es

wieder losgehen.
Steffen Winter n Muslime bei Totengebet in Hamburg Zerstörte Häuser nach der Ahrtal-Flut 2021

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 31

DEUTSCHLAND
Gestohlene Kindheit
FAMILIE Zwei Mädchen werden von ihren Pflegeeltern jahrelang missbraucht
und misshandelt – und wieder einmal will das Jugendamt
trotz früher Warnungen nichts gemerkt haben. Von Annette Großbongardt
ls Rebecca zum ersten Mal floh,
A war sie 13. Sie erinnere sich ge-
nau, sagt sie, es war März und
draußen noch ziemlich kalt. Sie sei
zuerst nach Stuttgart an den Flughafen
gefahren, dann tagelang durch die
Stadt geirrt. Schließlich sprach ein
alter Mann sie an, ob alles okay sei.
Da habe sie angefangen zu weinen.
Der Mann rief die Polizei, die brachte
sie wieder dorthin zurück, von wo sie
abgehauen war: zu ihren Pflegeeltern.
Und so litt sie weiter. In einem
Alltag, den sie so beschreibt: Nach
der Schule durften sie und ihre Pflege-
schwester nur in der Küche auf der
Bank sitzen, häkeln, stricken oder
lesen. Spielen im Kinderzimmer –
32 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
verboten. Sich mit Freunden treffen
– verboten. Für falsches Verhalten
gab es Schläge. Schon um fünf oder
sechs Uhr nachmittags mussten sie zu
Bett gehen. Wenn sie Post von ihren
leiblichen Eltern bekam, habe Frau
S. diese immer geöffnet und gelesen.
So erzählt es Rebecca, die in Wirk-
lichkeit anders heißt, bei einem Tref-
fen in Tübingen. Manchmal zittert
ihre Stimme, manchmal stockt sie,
pickt Krümel vom Teigteilchen, das
sie vom Bäcker mitgebracht hat. Sie
ist heute 21 Jahre alt, trägt Jeans und
Ausgelieferte weiße Sneaker, an ihren Ohrringen
Pflegekinder:
Schläge, Psychoterror
baumeln kleine Kreuze. Sie ist raus
und sexueller aus der Familie, arbeitet als Kranken-
Missbrauch pflegerin, klingt selbstbewusst. Doch
die Erinnerungen, das ist spürbar, be-
lasten sie bis heute schwer.
Die Pflegemutter, stellt später ein
Gericht fest, habe die Pflegetöchter
durch »eiserne Reglements« körper-
lich sowie psychisch misshandelt. Und
als die Mädchen etwa acht und zehn
Jahre alt waren, begann der Pflege-
vater, sie regelmäßig sexuell zu miss-
brauchen. Jahrelang.
Niemand schritt ein, obwohl die
Familie vom Jugendamt betreut wur-
de. Regelmäßig schaute eine Erzie-
hungshelferin vorbei, Rebecca hatte
zudem einen Vormund beim Jugend-
amt, es gab Hausbesuche. Doch keiner
will gemerkt haben, dass da etwas ge-
waltig schieflief. Wie kann es sein, dass
professionell geschulte Fachkräfte die
Notlage eines Kindes nicht erkennen?
Es ist dieselbe Frage, die sich viel
zu oft in Missbrauchsskandalen stellt:
Wo war das Jugendamt? Immer wie-
der zeigt sich ein ähnliches Muster:
wie leicht sich Mitarbeiter von Ju-
gendbehörden mitunter einwickeln
und täuschen lassen. Wie im Fall Lüg-
de, wo ein arbeitsloser Dauercamper
jahrelang sein Pflegekind und dessen
Freundinnen schwer sexuell miss-
brauchte. In Tübingen glaubte man
offenbar blind einer Pflegemutter,
die sich als tüchtige schwäbische

Hausfrau gerierte, und ihrem Mann, einem
Elektriker.
Rebeccas Geschichte zeigt, wie der Staat
beim Kinderschutz versagt hat. Wie schwierig
es für ein Kind aus prekären Verhältnissen ist,
Beistand zu finden.
Wie wurde diese Pflegefamilie überhaupt
ausgewählt? Wie überprüft? Das Landratsamt
Tübingen, zu dem das Jugendamt gehört, ant-
wortet auf SPIEGEL -Anfrage nur allgemein,
Pflegefamilien würden »sehr sorgfältig aus-
gewählt und vorbereitet« mit Qualifizierungs-
kursen, Hausbesuchen, Fragebögen zu per-
sönlichen und familiären Verhältnissen, die
Bewerber müssten ein polizeiliches Führungs-
zeugnis und ein ärztliches Attest vorlegen.
Allzu sorgfältig kann all das bei Familie S.
nicht erfolgt sein. Das Sozialministerium in
Stuttgart hat die Auswahl der Pflegeeltern
auch später kritisiert, zumal das Ehepaar
gleich drei Pflegekinder aus schwierigen
Verhältnissen bekam. Man habe aber keine
»durchgreifenden Rechtsfehler« gefunden, so
das Ministerium. Das Landratsamt erklärt,
bei dieser Prüfung durch die Rechtsaufsicht
und in zwei Ermittlungsverfahren sei »kein
rechtlich vorwerfbares Fehlverhalten« der
Jugendamtsbeschäftigten festgestellt worden.
Im Übrigen sei »eine Erörterung ohne Ver-
letzung des Sozialdatenschutzes der betrof-
fenen Personen nicht möglich«. Kein Wort
von Versäumnissen oder Fehlentscheidungen,
auch kein Bedauern.
Ob das Jugendamt fachlich richtig gehan-
delt hat, wurde noch gar nicht überprüft. Zwar
soll eine Expertenkommission des Uniklini-
kums Ulm den Fall aufarbeiten. Doch die
Experten warten nun schon seit anderthalb
Jahren auf die Freigabe der Jugendamtsakten.
Diese verweigere ihnen das Sozialministe-
rium bisher aus Datenschutzgründen, die die
Kommission für »überzogen« halte, klagt
Andreas Jud, Co-Leiter der Studie. Die Auf-
klärung wäre aber wichtig, um aus dem Fall
zu lernen und dadurch bestmöglich zu ver-
hindern, dass Kinder wie Rebecca weiter zum
Opfer werden. Man suche einen »gangbaren
Weg« für das Forschungsvorhaben, so das
Sozialministerium.
Rebecca war fünf Jahre alt, als sie 2006 bei
Familie S. in einer kleinen Gemeinde südlich
von Tübingen einzog. Das Jugendamt hatte
dafür gesorgt, weil ihre Mutter Drogenpro-
bleme hatte und mit der Erziehung überfor-
dert war. Auch Rebeccas jüngerer Halbbruder
kam in die Pflegefamilie. Dort gab es noch ein
anderes Pflegekind, Eva, zwei Jahre älter, auch
Illustrationen: Tim Möller-Kaya / DER SPIEGEL (2)
ihr Name wurde zu ihrem Schutz geändert.
Am Anfang habe sie sich herzlich aufge-
nommen gefühlt, erinnert sich Rebecca, »es
hätte mein Zuhause werden können«. Doch
es wurde für sie zur Hölle.
Sie spricht von ständigen »Demütigungen«
und »Schikanierungen«. Wenn sie die Brot-
box nicht rechtzeitig aus ihrem Schulranzen
holte, sei ihr die an den Kopf geworfen wor-
den. Auch ihre geliebte Kinderbibel, ein Ge-
schenk ihrer leiblichen Eltern, habe ihr Frau
Eines der Mädchen habe
sich aus der Pflegefamilie
»gehungert«, stellte
später das Gericht fest.
S. an den Kopf geschleudert, einmal so fest,
dass das Buch auseinanderbrach. Wenn sie
ihre Wäsche nicht rechtzeitig zum Waschen
gebracht habe, sei sie bestraft worden. Sie sei
geschlagen worden, »mit der Hand, dem
Kochlöffel, dem Teppichklopfer«.
Als sie größer wurde, sei der Pflegevater
zudringlich geworden. Er habe sie angefasst,
erst über der Kleidung, dann darunter. Er
habe sie immer massiver bedrängt. Samstags,
wenn seine Frau zum Einkaufen fuhr, habe er
zu ihr gesagt: komm! Dann nahm er sie mit
in sein Büro und tat ihr sexuelle Gewalt an.
Manchmal sei es auch im Esszimmer gesche-
hen, weil er von dort aus die Straße sehen
konnte und rechtzeitig mitbekam, wenn seine
Frau zurückkehrte.
Einmal habe die Pflegemutter sie jedoch
überrascht, als er ihr die Strumpfhose he-
runtergezogen hatte. Frau S. habe ihren Mann
geohrfeigt, es habe Streit gegeben. »Ich
meine, dass sie mich sogar kurz in den Arm
genommen hat, aber dann hat sie mir vor-
geworfen, dass es meine Schuld sei.« Oder:
»Dass ihr das mit euch machen lasst!«
Pflegevater Harry S. wurde im März 2021
wegen sexuellen Missbrauchs seiner Pflege-
töchter und Besitzes von Kinderpornografie
zu fünf Jahren und sechs Monaten Freiheits-
strafe verurteilt. Er habe die Einkaufsfahrten
seiner Frau zu sich »stetig steigernden und
sich wiederholenden sexuellen Übergriffen«
genutzt, so das Gericht. Dabei habe er aus-
genutzt, dass die Mädchen durch die Pflege-
DEUTSCHLAND
mutter »eingeschüchtert« und »verängstigt«
waren. Mitunter filmte oder fotografierte er
den Missbrauch. Videos, die er anschaute, hie-
ßen »The beautiful 10 year old sweety« oder
»Lara 8 YO (years old – Red.) rape suck fuck«.
Für das Jugendamt jedoch schien alles in
bester Ordnung gewesen zu sein. Die Fami-
lienhelferin Z. sagte vor Gericht, sie habe
»keinerlei Verdachtsmomente« für körper-
liche Misshandlungen oder gar sexuellen
Missbrauch erkennen können. Ihm sei »nichts
Negatives aufgefallen«, sagte der Vormund.
Es habe »keine konkreten Anhaltspunkte ge-
geben, um an der Erziehungsfähigkeit der
Pflegemutter zu zweifeln«, sagte der Amts-
leiter.
Dabei gab es früh Hinweise. Schon 2010
meldete sich die Psychotherapeutin Heidrun
Overberg, zu der die damals zehnjährige Eva
für eine Therapie überwiesen worden war.
Das Mädchen sei in einem »besorgniserre-
genden psychischen und physischen Zustand«
gewesen, schilderte die Psychologin später
dem Gericht. Ihr sei schnell klar gewesen:
»Hier ist ein Kind in großer Not.« Sie diag-
nostizierte eine Autismus-Spektrum-Störung
(ASS) und stellte Verhaltensauffälligkeiten
fest, die für sie auf Misshandlungen hinwie-
sen: Das Mädchen sei verzweifelt gewesen,
depressiv, habe panische Ängste gehabt.
Sie informierte das Jugendamt. Eva habe
eine »tiefgreifende Entwicklungsstörung«,
schrieb sie in ihrer Begutachtung an das Amt,
sie sei »traumatisiert« durch die Pflegemutter.
Diese habe das Kind von seiner leiblichen
Mutter »systematisch entfremdet«. Sie emp-
fahl, Eva aus der Pflegefamilie herauszuneh-
men und vorerst in eine Klinik zu geben. Es
bestehe »dringender Handlungsbedarf«, das
Kind sei »hoch gefährdet«. Die Therapeutin
sprach von »Kindesmisshandlung«, hatte al-
lerdings keine Hinweise auf sexuelle Gewalt.
Doch der Jugendamtsleiter, sagt Overberg,
habe ihr die Dokumentation zurückgesandt,
angeblich »ungelesen«, wie er ihr geschrieben
habe. Darin hatte sie auch ihn und seine
Mitarbeiter kritisiert. Anstatt auf sie zu hören,
wurde die Therapie des Mädchens bei Over-
berg abgebrochen. Von der Sozialdezer-
nentin, die das Gutachten auch bekommen
hatte, wurde die Psychologin sogar schriftlich
ermahnt, sich nicht weiter in »ein gelingendes
Pflegeverhältnis« einzumischen.
Overbergs Warnungen hätten ausreichen
müssen, ein Verfahren wegen Kindeswohl-
gefährdung einzuleiten. Dass dies das Jugend-
amt aber unterließ, sieht auch das Sozial-
ministerium kritisch. Nicht nur die Psycho-
login, auch die Kindsmutter habe Hinweise
auf eine mögliche Gefährdung gegeben, sagte
eine Sprecherin dem SPIEGEL . Das Jugend-
amt habe diese zwar geprüft, sei aber zu ei-
nem anderen Ergebnis gelangt als die Psycho-
therapeutin.
Ein Verfahren ist dann angezeigt, so heißt
es im Sozialgesetzbuch VIII, wenn dem Ju-
gendamt »gewichtige« Anhaltspunkte für eine
Gefährdung bekannt werden. Doch ob sie
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND
gewichtig sind, bewertet das Jugendamt. Auf-
grund dessen »Beurteilungsspielraums« sei
es nicht möglich gewesen, so das Sozialminis-
terium, die Entscheidungen des Jugendamts
rechtlich zu monieren.
Im Urteil gegen den Pflegevater bemän-
gelte das Landgericht, der Leiter des Jugend-
amts habe noch nicht einmal darlegen können,
»wie eine wirksame Kontrolle der Pflege-
eltern durch das Jugendamt Tübingen erfolg-
te«. Auch die Vorwürfe der Psychologin gegen
die Pflegemutter habe er »nicht entkräften«
können. Er habe vor allem versucht, »sich
selbst zu entlasten« und die Mitarbeiter des
Jugendamts in Schutz zu nehmen.
Detaillierte Nachfragen des SPI EGEL ,
etwa, wie viele Hinweise auf Kindeswohl-
gefährdung es zur Pflegefamilie gab oder wie
oft die Familienhelferin auch mal mit den
Kindern allein gesprochen habe, beantwortet
das Landratsamt nicht, erneut heißt es, das
würde den Sozialdatenschutz verletzen. Ob
das in der Absolutheit zutrifft, ist schwer
nachzuvollziehen. Selbst zur Frage, ob es eine
unabhängige Ansprechperson für die Pflege-
kinder gab, an die sie sich vertrauensvoll wen-
den konnten, will das Landratsamt deshalb
nichts sagen.
Die Psychologin Overberg, die so früh
gewarnt hatte, ist empört, dass das Jugendamt
bisher nicht für sein »Versagen« in dem Fall
einstehe, es gebe keine sichtbaren personellen
Konsequenzen. »Die Jugendämter müssen
eine Fachaufsicht bekommen, sie bestimmten
über Schicksale, werden aber viel zu wenig
kontrolliert.« Sie engagiert sich bis heute in
dem Fall, schreibt Briefe an die Behörden und
den Ministerpräsidenten. »Wäre man meinem
Rat gefolgt, wäre den Kindern viel Leid er-
spart geblieben«, sagt sie. Durch »Versäum-
nisse und Fehlverhalten des Jugendamtes«
sei den Kindern und der leiblichen Mutter
»schwerer Schaden« zugefügt worden. Den
Mädchen sei die Kindheit gestohlen worden.
Im Sommer 2012 wurde Eva in die Kinder-
klinik des Tübinger Universitätsklinikums
eingeliefert. Sie sei lebensgefährlich abgema-
gert gewesen, so Overberg, habe Essen und
Trinken verweigert und am ganzen Körper
blaue Flecken gehabt. Das Mädchen habe eine
schwere Essstörung entwickelt.
Zu der Zeit kämpfte ihre leibliche Mutter
vergebens darum, die Tochter aus der Pflege-
familie herauszuholen. Sie ist selbst Erziehe-
rin, arbeitet in einem Kindergarten. Aber
damals, als sie ihre Tochter zunächst in Tages-
pflege zu Frau S. gab, sei sie überfordert ge-
wesen, erzählt sie in einem langen Telefonat
mit dem SPIEGEL . Sie ringt noch immer mit
der Entscheidung, dass sie ihr Kind damals
weggab, sagt, sie mache sich Vorwürfe. In
ihrer damaligen Beziehung habe es Gewalt
gegeben, das habe sie »traumatisiert«. »Ich
war nicht sicher, mein Kind war nicht sicher.«
Frau S. sei ihr vom Jugendamt empfohlen
worden als absolut vertrauenswürdige Person.
Frau S. sei ihr schon bestimmend vorge-
kommen. Aber sie habe gedacht, ihrer Toch-
34 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Mit 15 unternahm
Rebecca ihren
dritten und letzten
Fluchtversuch.
ter würde es guttun, dort mit anderen Kin-
dern zusammen zu sein. Doch dann habe
Frau S. erklärt, die Tagespflege lohne sich
nicht mehr, sie stelle auf Vollzeitpflege um.
Das Jugendamt, sagt die leibliche Mutter,
habe ihr zugeraten, ihre Tochter ganz zu Frau
S. zu geben. Wenn sie wieder stabiler sei,
bekomme sie das Kind zurück. Einen Nach-
mittag in der Woche habe sie ihre Tochter bei
sich gehabt.
»Doch dann kam die Entfremdung«, er-
zählt sie. Frau S. habe angerufen und gesagt,
die Tochter wolle nicht mehr zu ihr kommen.
»Ich habe das geglaubt, dachte, sie will mich
nicht mehr sehen.« Sie habe damals ja nicht
gewusst, wie die Pflegemutter ihre Tochter
unter Druck gesetzt, sie manipuliert und ge-
schlagen habe. »Ich habe sie später gefragt,
warum hast du mir nichts gesagt?« Da habe
sie geantwortet, sie habe panische Angst ge-
habt, dass man sie totschlagen würde.
Ein Brief und die Folgen
Im Mai 2021 landete die Mail einer Psycho-
login im SPIEGEL-Investigativpostfach: In
Tübingen gebe es einen Missbrauchsskan-
dal, der in die Öffentlichkeit gehöre. Einige
Zeit später begann diese Recherche. Im
Sommer 2022 war erstmals eine der Pflege-
töchter bereit, mit dem SPIEGEL zu spre-
chen; später öffnete sich auch die leibliche
Mutter der zweiten Pflegetochter der Fami-
lie und berichtete von ihren verzweifelten
Versuchen, ihr Kind dort herauszuholen.
Irgendwann sei ihr aufgefallen, wenn sie
ihre Tochter alle sechs bis acht Wochen be-
suchen durfte, wie merkwürdig sich diese ver-
halten habe, sobald die Pflegemutter in ihrer
Nähe war. Sie habe dem Jugendamt gesagt:
»Da stimmt etwas nicht.« Doch Frau S. habe
sie beim Jugendamt schlechtgemacht, habe
behauptet, ihre Tochter habe Angst vor der
Mutter. Das Jugendamt glaubte Frau S. und
wollte der leiblichen Mutter schließlich sogar
das Sorgerecht entziehen lassen.
Verzweifelt hatte die Mutter Hilfe beim
Familiengericht gesucht, am Ende wurde ihr
2012 sogar für mehr als zwei Jahre der Kon-
takt zu ihrem Kind untersagt. Der Richter
berief sich dabei auf die vermeintliche Wei-
gerung des Kindes, seine Mutter sehen zu
wollen. Dass die Pflegemutter das Mädchen
gezwungen hatte zu lügen, durchschaute er
nicht. Ein Gutachter bescheinigte der Pflege-
mutter sogar, sie sei »uneingeschränkt er-
ziehungsfähig«.
Im Prozess gegen Harry S. 2021 stellte das
Landgericht Tübingen fest, wie sehr auch die
Pflegemutter die Mädchen misshandelt hatte.
Um die magersüchtige Eva zum Essen zu
zwingen, stellte sie die Eieruhr. Aß Eva nicht
rechtzeitig auf, so das Gericht, bekam sie
einen Schlag auf den Hinterkopf. Sie habe
doch vom Jugendamt »kein behindertes Kind
gewollt«, habe die Pflegemutter oft geklagt.
Ein Kuscheltier, das Evas Mutter geschickt
hatte, habe Frau S. dem Hund hingeworfen.
Sie habe dem Mädchen auch abschätzige
Briefe an dessen Mutter diktiert.
Weil Eva insgeheim zur Mutter zurück-
wollte, habe sie Essen und Trinken verweigert
und »hungerte sich« aus der Pflegefamilie, so
das Gericht. Anfang 2014 hatte sie es ge-
schafft: Nach einem erneuten Klinikaufent-
halt musste sie nicht mehr zur Familie S. zu-
rück – auf Anraten der Ärzte und weil sie und
ihre Mutter darauf drängten, nicht weil das
Jugendamt sich Sorgen gemacht hätte.
Rebecca aber war weiter der Pflegemutter
und den Übergriffen des Pflegevaters ausge-
liefert. Die Psychologin Overberg appellierte
2014 an den Landrat, die Sozialdezernentin
und den Jugendamtsleiter mit neuen Hinwei-
sen zur Pflegemutter, das Mädchen und des-
sen Bruder aus der Familie zu nehmen. »Ich
sprach wie gegen eine Mauer, alles, was ich
vortrug, wurde abgewehrt«, sagt Overberg.
So blieb Rebecca noch drei Jahre bei Familie
S. und wurde in der Zeit weiter missbraucht.
Warum hat sie sich niemandem anver-
traut? Es gab niemanden, sagt Rebecca. Wenn
ihre Eltern oder Großeltern zu Besuch kamen,
habe Frau S. immer darauf bestanden, dass
die Türen offen blieben. Sie seien praktisch
keine Minute allein gewesen, »wir hatten kei-
ne Privatsphäre«. Es sei den Mädchen »nicht
möglich gewesen, unbewacht mit anderen
Personen Kontakt aufzunehmen«, so später
die Staatsanwaltschaft.
Wenn die Frau vom Jugendamt nach Hau-
se kam, habe es Kaffee und selbst gebackenen
Kuchen gegeben, erzählt Rebecca. Hat die
 DEUTSCHLAND

Familienhelferin denn nie gefragt, wie
es ihr geht? »Doch, schon, aber dann
hat man ihr aufgetischt, was uns Frau
S. vorher eingebläut hat.« Die Pflege-
mutter habe zweimal die Woche mit
dem Jugendamt telefoniert, da sei ihr
klar gewesen, dass alles sofort bei ihr
gelandet wäre, wenn sie etwas erzählt
hätte. Als sie einmal bei der Pflege-
mutter zu Hause gewesen sei, erzählt
Heidrun Overberg, habe sie dort die
Familienhelferin Z. getroffen: »Die
beiden Frauen schienen befreundet,
sie duzten und umarmten sich.«
Dem Jugendamt sei eine »har-
monisch-liebevolle Familie« vorge-
gaukelt worden, so das Gericht, man
habe »Theater gespielt«. Aber muss
ein Jugendamt nicht auch für den
Fall gewappnet sein, dass es belogen
wird? Natürlich verschleiern Miss-
brauchstäter ihre Taten. Doch von
Täterstrategien scheinen die Jugend-
helfer in Tübingen so wenig Ahnung
gehabt zu haben wie ihre Kollegen im
Fall Lügde. Inwieweit sie geschult wa-
ren zum Thema sexueller Missbrauch,
vermag das Landratsamt derzeit nicht
zu beantworten.
Mit 15 unternahm Rebecca ihren
dritten und letzten Fluchtversuch, es
war der 31. Januar 2017. »Ich hatte
den festen Entschluss, diesmal auf
keinen Fall zurückzugehen«, erzählt
sie. Am Abend davor habe sie ihren
MP3-Player besprochen und ver-
steckt. »Meine Lebensgeschichte«
nannte sie es, sie schildert darin den
Missbrauch durch den Pflegevater,
hoffte, die Polizei werde die Aufnah-
me später finden.
Am nächsten Morgen radelte sie
mit dem Schulrucksack auf dem
Rücken zum Bahnhof. Im Zug nach
Stuttgart wurde sie kontrolliert, sie
hatte kein Ticket. Die Schaffnerin
habe sie gefragt, ob bei ihr zu Hause
alles in Ordnung sei, sie spüre da et-
was. »Ich habe geweint und hab ihr
gesagt, dass ich nicht in meine Pflege-
familie zurück möchte.« Da habe die
Zugbegleiterin ihre Strecke getauscht
und sei mit ihr zurück nach Tübingen
gefahren. Sie habe ihr gesagt, sie
solle sofort zum Jugendamt gehen.
Das habe sie gemacht und dort den
Missbrauch offenbart. Sie konnte es
Illustrationen: Tim Möller-Kaya / DER SPIEGEL (2)
schaltet. Als die Polizei sein Mobil-
telefon durchsuchte, fand sie laut Ge-
richt nur ein »Schredder-Programm«
und auf mehreren Rechnern keine
Bild- oder Videodateien mehr. Einige
der gelöschten Daten konnten aber
wiederhergestellt werden.
Harry S. sitzt nun im Gefängnis.
Rebecca sagt, er habe »nicht genug
Strafe bekommen«. Auch ihre Pflege-
mutter habe »für das, was sie uns an-
getan hat, eine Strafe verdient«. Doch
Frau S. wurde lediglich wegen Falsch-
aussage zu einer Geldstrafe verurteilt.
Im Strafprozess gegen ihren Mann
hatte sie gelogen.
Evas leibliche Mutter hat die
Pflegemutter angezeigt. Doch die Er-
mittlungen wegen Körperverletzung
und Misshandlung Schutzbefohlener
wurden eingestellt. Zwar seien beide
Mädchen, schrieb ihr die Staats-
anwältin, von Frau S. »fraglos und
ohne jeden Zweifel« körperlich miss-
handelt wurden, vor allem ihre Toch-
ter »auch psychisch in erheblichem
Maße gequält« worden. Die Vorwür-
fe seien jedoch verjährt oder nicht
ausreichend konkret zu bestimmen.
Durch ihre Autismus-Störung sei Eva
vollkommen wehrlos gewesen, sagt
die Psychologin Overberg, deshalb
sei sie besonders schwer betroffen.
Sie lebte danach jahrelang in psychia-
trischen Kliniken, Therapieeinrich-
tungen und Notunterkünften.
Als Frau S. im Prozess gefragt wur-
de, ob sie ihre Pflegetöchter körper-
lich misshandelt habe, berief sie sich
auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht.
Als ihr ein Foto von einer der Pflege-
töchter nackt auf der Toilette gezeigt
wurde, das ihr Mann aufgenommen
hatte, behauptete sie, sie habe »nie
etwas mitbekommen«. Auf eine aus-
führliche SPIEGEL -Anfrage zu den
Vorwürfen reagierte die Pflegemutter
nicht.
Heidrun Overberg hat den da-
maligen Jugendamtsleiter und die
Sozialdezernentin angezeigt, wegen
Misshandlung von Schutzbefohlenen
durch Unterlassen, unterlassener Hil-
feleistung, den Amtsleiter zudem we-
gen versuchter Strafvereitelung. Auch
gegen den Landrat, den sie persönlich
informiert hatte, erstattete sie Anzei-
ge. Die Staatsanwaltschaft hatte die
Ermittlungen auch auf die Jugend-
amtsmitarbeiter ausgeweitet. Alle
Verfahren wurden eingestellt. Eine
Strafbarkeit liege nicht vor, so die
Staatsanwaltschaft, weil es für die
Beschuldigten keine Hinweise auf
sexuellen Missbrauch gegeben habe,
bevor sich die Pflegetochter offenbart
habe. Bei der Konfrontation des Pfle-
gevaters mit den Vorwürfen hätten
die Jugendamtsmitarbeiter »nicht er-
kannt und bedacht«, dass möglicher-
weise Beweismittel vernichtet wür-
den. Ein Vorsatz für eine Strafverei-
Pflegemutter; telung sei nicht nachweisbar.
Pflegevater S.
im Gefängnis: Bis heute, sagt Rebecca, habe sich
Man glaubte ihnen bei ihr noch nicht einmal jemand ent-
offenbar blind schuldigt. n

nicht sagen, deshalb habe sie es auf-

geschrieben. Dann endlich habe man
ihr gesagt: Du musst nicht zurück.
Erst sechs Wochen später erstat-
tete das Jugendamt Anzeige, genug
Zeit für den Pflegevater, um Beweise
zu vernichten. Denn das Jugendamt
hatte ihn mit den Vorwürfen kon-
frontiert. Er sei sich keiner Schuld
bewusst, behauptete er da. Dann erst
wurde die Staatsanwaltschaft einge-

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 35

DEUTSCHLAND
DER EINSI EDLER
KIRCHE Nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri wurde Joseph Ratzinger umjubelt – später drohte der
Missbrauchsskandal sein Lebenswerk zu überschatten. Wie geht der deutsche Papst in die Geschichte ein?
W
er Gelegenheit hatte, ihn in den letz­
ten Jahren vor seinem Tod zu tref­
fen, erlebte einen winzigen Mann
in blütenweißem Papstgewand, gebückt und
fast blind, federleicht, durchsichtig, ja jenseitig
beinahe – aber noch immer von eiserner Dis­
ziplin. Zur Morgenmesse in der Hauskapelle,
im Beisein von Kurienerzbischof Georg Gäns­
wein, erschien Altpapst Benedikt XVI. mit
dem Rollator. Die allenfalls einen Zentimeter
hohe Schwelle am Eingang zu überwinden – es
kostete ihn Mühe. Aber es gelang.
Noch Jahre zuvor, bei Spaziergängen in
den Vatikanischen Gärten, den Vertrauten
Gänswein wie immer an seiner Seite, war der
2013 zurückgetretene Heilige Vater ge­
sprächsbereit: Er erkundigte sich mit hoher
Stimme und bayerischem Akzent nach dem
Befinden des Gastes. Dann entschwand er
wieder in sein Altersdomizil.
Nun aber, am 31. Dezember 2022, ist er
seinen Weg zu Ende gegangen: Joseph Aloisius
Ratzinger, geboren im bayerischen Marktl am
Inn, starb im Alter von 95 Jahren. Er ging
durch das, was er noch zu Lebzeiten »das
dunkle Tor des Todes« nannte. Seine letzten
Jahre verbrachte der erste deutsche Papst seit
einem halben Jahrtausend als Einsiedler im
vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae.
Bis zuletzt empfing er dort Besucher. Und
zwar, Kritikern zum Trotz, noch immer im
Papstgewand. Ein letztes Foto vom 1. Dezem­
ber zeigt einen im Sessel zusammengesunke­
nen Greis mit Gästen. Kein Wort ist von dieser
Begegnung überliefert. Dem Altpapst, der
immer wieder mit deutlichen Worten aus
seiner Sicht verfehlte Entwicklungen in der
Kirche kritisierte, war am Ende die Stimme
abhandengekommen.
Was wird bleiben von diesem hochge­
lehrten, ein wenig weltfremden Pontifex aus
Bayern, der am Donnerstag in der Krypta des
Petersdoms zu Grabe getragen wurde? Der
Kampf um die Deutungshoheit über Ratzinger
und sein theologisches Vermächtnis tobt seit
Jahrzehnten. Er wird nun vermutlich noch an
Heftigkeit zunehmen.
Da sind die einen, die den ehemaligen Chef
der Glaubenskongregation für das Abbild
der existenziellen Krise der Weltkirche halten,
für Reformverweigerung, Rigorismus, Ver­
tuschung. Für einen Papst fernab der Lebens­
wirklichkeit zahlloser Gläubiger. Und da sind
die anderen, die in Ratzinger den prominen­
36 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
testen und theologisch beschlagensten Ver­
teidiger der wahren Lehre sehen.
Als »Panzerkardinal« wurde der Bayer von
Gegnern geschmäht, als »Großinquisitor«,
rastloser Exekutor der Linie von Papst Johan­
nes Paul II. oder als »pastore tedesco« (deut­
scher Schäferhund). Ähnlich lautstark schall­
te es aus dem Ratzinger­Lager zurück, wenn
Kritikern etwa eine »Pogromstimmung« gegen
die katholische Kirche unterstellt wurde.
Was Anfang 2022 ein ganzes Lebenswerk
zu überschatten drohte, war der Vorwurf, Rat­
zinger habe im Jahrzehnte zurückliegenden
Fall eines Missbrauchstäters aus der Erzdiö­
zese München und Freising wissentlich die
Unwahrheit gesagt. »Du sollst nicht lügen«,
titelte die »Bild«­Zeitung, die 17 Jahre zuvor
mit dem Satz »Wir sind Papst« die Euphorie
und quasi die gesamtnationale Vereinnah­
mung Ratzingers erst angeheizt hatte.
Gerade einmal acht Jahre lagen zwischen
dem bejubelten Anfang 2005 und dem Ende
des Pontifikats, das Ratzinger unter dem Na­
men Benedikt XVI. antrat. Jahre, von denen
ikonische Bilder bleiben: der 78­Jährige, so­
eben im Konklave zum Papst erkoren, wie er
auf der Loggia des Petersdoms den jubelnden
Massen verspricht, er wolle ein »demütiger
Arbeiter im Weinberg des Herrn« sein. Und
der dann im Februar 2013 Geschichte schreibt,
als er seinen Rücktritt erklärt und sich im
Helikopter zum Sommersitz Castel Gandolfo
ausfliegen lässt.
Der Stellvertreter Christi, auf dem Weg in
den selbst genehmigten Rückzug. Ein epocha­
PÄPSTLICHE NACHFOLGE
Amtszeiten der letzten zehn Päpste, in Tagen
Franziskus (bislang 3580 Tage im Amt)
Benedikt XVI.
Johannes Paul II.
Johannes Paul I. 26
Paul VI. 5517
Johannes XXIII. 1673
Pius XII. 7152
Pius XI. 6208
Benedikt XV. 2696
Pius X. 4030
1900
S Quelle: Vatikan; Stand: 5. Januar
◆
ler Schritt – undenkbar, bis dahin. Später aber
sprach auch Papst Franziskus über einen mög­
lichen Amtsverzicht. »Das große Beispiel«,
das Benedikt XVI. gegeben habe, verdiene
Respekt. Der Altpapst sei »ein heiliger und
zurückhaltender Mann«, den er gern in seinem
Kloster besucht habe: »Er ist für mich wie der
weise Großvater im Haus, ich habe ihn lieb.«
Nun aber ist es vorbei mit der historischen
Koexistenz zweier Päpste in der nur 0,44 Qua­
dratkilometer großen Vatikanstadt. Ratzingers
letzter Weg war wenige Hundert Meter lang
– vom Kloster am Hügel hinunter in die Kryp­
ta des Petersdoms. Dort ruhte zwischenzeit­
lich auch Johannes Paul II., ehe er umgebettet
wurde. Ein glanzvolles Begräbnis wie jenes
des charismatischen Polen, zu dem 2005
Staatsoberhäupter und Eminenzen aus aller
Welt nach Rom reisten, blieb dem Altpapst
trotz weltweiter Anteilnahme verwehrt.
Johannes Paul II. war es, der Ratzinger
1982 als Präfekten der Glaubenskongregation
nach Rom holte – ein Amt, das dieser am
Ende 23 Jahre lang ausfüllen sollte. Als erha­
bene Instanz in Dogmenfragen residierte der
Bayer im ehemaligen Gebäude der Heiligen
Inquisition. Mit der Berufung dorthin war es
wie mit vielen Entwicklungen im Leben Rat­
zingers: Eher stieß ihm etwas zu, als dass er
es aktiv befördert hätte.
1927 geboren, gab der Sohn eines Gendar­
men zwar schon als kleiner Junge an, Kardinal
werden zu wollen. Doch erst einmal folgen
Pflichtbesuche bei der Hitlerjugend, Dienst als
Flakhelfer sowie beim Reichsarbeitsdienst und
in der Infanterie. Gegen Kriegsende desertier­
te Ratzinger und riskierte den Tod.
Bischof von München und Freising wollte
der in Bonn und Münster bejubelte Star­
theologe genauso wenig werden wie später
Chef der Glaubenskongregation. Geschweige
2868 denn Papst. Bereits mit 64 Jahren erzählt
Ratzinger seinem späteren Biografen Peter
9660
Seewald, er sei ausgebrannt. Gut zehn Jahre
später bittet er Johannes Paul II. zum wieder­
holten Mal um seine Entlassung – um endlich
seiner eigentlichen Leidenschaft nachgehen
zu können, »in Ruhe« Bücher zu schreiben.
Und 2005? Als sich die Kardinäle im Kon­
klave auf ihn als Nachfolger von Johannes
Paul II. einigen? Ratzinger zaudert. Wenn
Bischöfe mit 75 aufhören sollen, so sagt er es
2020 später, »dann kann man nicht den Bischof von
Rom mit 78 anfangen lassen«. Er fühlt sich,

Stefano Dal Pozzolo / contrasto / laif
als wäre er unter die »Guillotine« ge­
raten – und verwirft dann doch den
Gedanken, die Wahl abzulehnen.
Und so kommt es am 19. April
2005 zum großen Auftritt auf der
Loggia des Petersdoms. Ein Bene­
detto­Fieber erfasst anfangs nicht nur
italienische Gläubige, auch deutsche
Zweifler. Es beginnt eine 94 Monate
währende Regentschaft über eine
weltweite Glaubensgemeinschaft mit
mehr als 1,3 Milliarden Mitgliedern.
Als der 264. Nachfolger Petri dann
am Rosenmontag des Jahres 2013
seinen Rückzug verkündet, gilt Bene­
dikt Kritikern, vor allem den kirchen­
fernen, vor allem den deutschen, als
Papst Benedikt XVI. 2007
einer, der das Rad der Zeit zurückdre­
hen wollte. »Der Karneval ist vorbei«,
soll Jorge Mario Bergoglio mit Blick
auf ihm angebotene Prunkgewänder
gesagt haben, als er das Papstamt
übernahm. Der Kontrast zwischen al­
tem und neuem Papst tritt zu Beginn
vor allem in Äußerlichkeiten zutage. NOCH IM
Wie aber ist es um das Gesamtbild GREISEN-
bestellt? Wird Ratzinger als Reak­ ALTER
tionär oder als Bewahrer auf dem
Stuhl Petri in die Geschichte ein­ SCHRIEB
gehen? ER SICH
Als junger Professor in Freising ab SEINEN
1958 gilt Ratzinger als reformorien­
tiert. Später, in Bonn und Münster, ZORN VON
doziert er in überfüllten Hörsälen. DER SEELE.
DEUTSCHLAND
Und während des Zweiten Vatikani­
schen Konzils ab 1962, wo sich die
Konzilsväter am Ende auf radikale
Selbstkritik und Rückbesinnung auf
die Wurzeln ihrer Glaubensgemein­
schaft besinnen? Wirkt Ratzinger
maßgeblich im Hintergrund. Als Ein­
flüsterer des 40 Jahre älteren Kölner
Kardinals Josef Frings beeinflusst er
die Abschlussdokumente des Konzils.
Die Kirche macht sich auf zum Sprung
in die Moderne: zum verstärkten Dia­
log mit Anders­ oder Nichtgläubigen
und mit Frauen.
Wenige Jahre später allerdings,
1968, trägt sich ein für Ratzinger prä­
gendes Ereignis zu: An der Tübinger
Universität wird er während einer
Vorlesung von den Studenten aus­
gebuht. »Verflucht sei Jesus«, schallt
es aus dem Auditorium und: Christ­
liche Kreuze stünden für die »sado­
masochistische Verherrlichung von
Schmerz«. Damals sei ihm klar ge­
worden, »dass das, was wir mit dem
Konzil gewollt hatten, in sein Gegen­
teil umschlug«, erzählt Ratzinger spä­
ter dem SPIEGEL .
Noch im Greisenalter schrieb er
sich seinen Zorn von der Seele: »Zu
den Freiheiten, die die Revolution von
1968 erkämpfen wollte, gehörte auch
diese völlige sexuelle Freiheit, die
keine Normen mehr zuließ«, wetterte
der Ex­Papst. Auch Pädophilie sei »als
erlaubt und als angemessen diagnos­
tiziert« worden. Indem er den »Zeit­
geist« von 1968 für den Missbrauchs­
skandal im Klerus mitverantwortlich
machte, sorgte Ratzinger sogar im
eigenen Lager für Empörung.
Er selbst sah seine Aufgabe darin,
zentrale Lehrsätze der Kirche mit wis­
senschaftlichem Anspruch zu vertei­
digen, ohne Erneuerung auszuschlie­
ßen. Das Gesamtwerk des gelehrten
Vielschreibers und Denkers füllt Bü­
cherwände und umfasst nach jetzigem
Stand 15 806 Seiten. Dass er während
seines Pontifikats im dritten Stock des
Apostolischen Palasts ein dreibändiges
Werk über Jesus Christus schreibt,
spricht für unbändigen Fleiß wie für
mangelnde Einsicht in die Herausfor­
derungen des Papstamts.
Der irdische Stellvertreter Christi
verfasst quasi nebenher handschrift­
lich eine 992­seitige Würdigung seines
außerirdischen Vorgesetzten. Ratzin­
ger nennt diese seine bevorzugte
Arbeit, das Schreiben, »Wasserholen
aus den Tiefen der Quelle«. Im Rück­
blick immerhin räumte er ein: »Viel­
leicht habe ich zu viel geschrieben und
gedacht, das kann schon sein.«
Dass er sich als »demütiger Arbei­
ter im Weinberg des Herrn« sehe, wie
Ratzinger am Anfang seines Ponti­
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 37
DEUTSCHLAND

fikats verkündet hatte, klang natürlich ein »Gottesfinsternis« sprach Ratzinger selbst bei
wenig kokett. Nicht nur weil die Prunkge­ EIN LEBEN FÜR DIE KIRCHE einem Besuch in Deutschland. Das Christen­
wänder, die zu tragen er sich überreden ließ, tum werde wohl zu seinen Ursprüngen zu­
nicht ins Bild passten. Sondern vor allem weil rückkehren, zu den Zeiten der galiläischen
er, der Intellektuelle, seine Theologie tief ver­ Jesussekte, zu »scheinbar bedeutungslosen,
wurzelt in der Kirchengeschichte ansiedelte – geringen Gruppen, die aber doch intensiv

Erzbistum München und Freising / AFP

vor allem in den Lehren des Augustinus gegen das Böse anleben und das Gute in die
aus dem vierten Jahrhundert. Bei dem heißt Welt hereintragen; die Gott hereinlassen«.
es: Crede, ut intellegas – glaube, damit du er­ Von Benedikt bleiben Erinnerungen an
kennst. Ein Kernsatz, der die Vereinbarkeit einen Mann, der innerhalb der vatikanischen

KNA-Bild / REUTERS
von Religion und Wissenschaft beschreibt. Mauern immer wieder zum Opfer der Ver­
Ratzinger verstand Religion als »rationales hältnisse zu werden schien. Der zwischen
Abenteuer«. Diskussionen wie mit dem Philo­ 1 2 Fronten geriet und, gebeugt über seine Schrif­
sophen Jürgen Habermas ging er nicht aus ten, das Gefühl dafür verlor, was hinter seinem
dem Weg. Rücken passierte. Eine Serie tatsächlicher oder
Dem Biografen Seewald vertraute Ratzin­ vermeintlicher Affären zeugt von mangelnder
ger Kritik an der Kirche in seiner Heimat an: Menschenkenntnis und dubiosen Beratern.
»In Deutschland haben wir diesen etablierten Ratzinger selbst räumte ein, immer wieder zu
und hoch bezahlten Katholizismus.« Mit Be­ spät erkannt zu haben, »dass sich im Netz des

Ar turo Mari / Vatican / ANSA / dpa

fremden registrierte der Einsiedler auf dem Petrus auch schlechte Fische befinden«.
Vatikanischen Hügel, welche Schritte die deut­ Die Belege dafür durchziehen sein Leben
sche Synodalversammlung zuletzt forderte: wie die Schnur eine Perlenkette: Sie reichen
die Segnung homosexueller Paare, die Zu­ vom Verrat des Kammerdieners Paolo Ga­
lassung bewährter verheirateter Männer zum briele (»Vatileaks«) bis hin zu zahllosen »Miss­
Priesteramt und von Frauen zum Amt der 3 verständnissen« in seiner Zeit als Emeritus.
Diakonin. Als Präfekt der Glaubenskongre­ Teils angeblich ohne sein Zutun wurden immer
gation hatte Ratzinger vehement den Zölibat wieder theologische Einwürfe publik, die sei­
verteidigt und sich gegen eine Anerkennung nem Nachfolger Franziskus das Leben nicht
homosexueller Lebensgemeinschaften aus­ leichter machten.
gesprochen. In Fragen der künstlichen Emp­ Wiederholt drückte sich der ansonsten bril­

Vatican Media / ZUMA Press / IMAGO

fängnisverhütung, der Abtreibung, der Sterbe­ lante Stilist bei heiklen Themen merkwürdig
hilfe und des Abendmahlverbots für wieder­ unscharf aus. Die Regensburger Rede von
verheiratete Geschiedene gab er den getreuen 2006 etwa, in der er durch missverständliches
Gesinnungsgenossen von Johannes Paul II. Zitieren der islamischen Welt eine strukturel­
Gegen sexuellen Missbrauch hingegen ging le Neigung zur Gewalttätigkeit unterstellte,
Ratzinger, das räumen selbst Kritiker ein, ent­ führte zu Aufruhr. Der Luftraum über dem
schiedener vor als seine Vorgänger. Als Präfekt Sommersitz Castel Gandolfo musste geschlos­
4
der Glaubenskongregation sorgte er dafür, das sen werden, in Mogadischu wurde eine Non­
Missbrauchsthema von der aus seiner Sicht 1 | Als Schüler 1933 ne erschossen.
zu laschen Kleruskongregation abzuziehen 2 | Beim Konzil 1965 Die umstrittene Karfreitagsfürbitte zur
und sich selbst zu übertragen. Noch als Papst 3 | Nach seiner Wahl zum Papst 2005 Bekehrung der Juden? Das Bekenntnis zur
forderte er wiederholt, Sexualdelikten un­ 4 | Aufgebahrt, mit dem Vertrauten Gänswein Ökumene, beschädigt durch den Hinweis,
nachsichtig nachzugehen. Und er veranlasste, protestantische Gemeinschaften seien »nicht
dass Missbrauch nicht mehr nur als Verstoß war – und dort wiederholt rückfällig wurde. Kirchen im eigentlichen Sinn«? Tapsigkeiten,
gegen den Zölibat, sondern als eigener Straf­ Der Vorwurf an Ratzingers Adresse: Er habe samt und sonders? Nach der Affäre um die
tatbestand geahndet wird. seine Teilnahme an der entscheidenden, den zurückgenommene Exkommunikation von
Benedikt XVI. sei für ihn »ein Held, der Triebtäter betreffenden Ordinariatssitzung im vier erzkonservativen Piusbrüdern räumte
den Missbrauch bekämpfte und alles Men­ Januar 1980 absichtlich geleugnet. Ratzinger Ratzinger 2009 in bemerkenswerter Einfalt
schenmögliche tat, um Missbräuche in der Zu­ sprach von einem Fehler seiner Anwälte. ein: »Ich höre, dass aufmerksames Verfolgen
kunft zu verhindern«, urteilte noch 2014 der Ausgerechnet er, der sich als Bischofsmotto der im Internet zugänglichen Nachrichten es
bayerische Jesuit Hans Zollner, Mitglied der »Mitarbeiter der Wahrheit« aus dem Dritten ermöglicht hätte, rechtzeitig von dem Problem
Päpstlichen Kommission für den Schutz von Brief des Johannes gewählt hatte, ein Lügner? Kenntnis zu erhalten.«
Minderjährigen. Acht Jahre später korrigierte Ratzinger selbst erklärte, der Vorwurf habe Ein wenig aus der Zeit gefallen, so wirkte
der Experte seine Meinung: Notwendig sei ihn »tief getroffen«. Eine persönliche Ent­ der fromme Bayer – »ein scheuer Intellektuel­
nun nicht weniger als eine »Neubewertung schuldigung vermied er und sprach stattdessen ler auf dem Stuhl des Menschenfischers«, so
des Pontifikats des emeritierten Papstes«. allgemein von der Schuld der Kirche. nannte ihn der Biograf Seewald. Zweifelsfrei
Was war passiert? Ein Gutachten, in Auf­ »Nach heutigen Maßstäben hätte Ratzinger sei Benedikt XVI. »ein großer Papst« gewesen,
trag gegeben von Kardinal Reinhard Marx, als Erzbischof zurücktreten müssen, weil er urteilte 2014 der Nachfolger Franziskus: »groß
dokumentierte jahrzehntelangen sexuellen seine Aufsichtspflicht verletzt hatte«, sagt ob der Kraft und des Durchdringungsvermögens
Missbrauch im Erzbistum München und Frei­ Iacopo Scaramuzzi, ein langjähriger Beobach­ seiner Intelligenz; groß ob seines bedeutenden
sing. Publikumswirksam vorgestellt auf einer ter der Kurie in Rom. Hingegen sehen dem Beitrags zur Theologie; groß ob seiner Liebe
Pressekonferenz am 20. Januar 2022, zielte Altpapst Nahestehende wie Georg Gänswein gegenüber der Kirche und den Menschen«.
es auch auf Ratzingers Rolle dort. Als Erz­ die Affäre im Rückblick als »Angriff auf sein Der Ex­Papst selbst sah sich eine Spur
bischof trug er von 1977 bis 1982 Verantwor­ Lebenswerk und seine Theologie«. kleiner. Welche Inschrift später auf einem
tung. Im Kern ging es um einen bereits ver­ Was bleibt von Benedikt XVI., von seiner etwaigen Grabstein stehen solle? »Nichts! Nur
urteilten Priester aus der Diözese Essen, der schwierigen Mission in einer Zeit, da in gro­ der Name«, sprach Joseph Aloisius Ratzinger.
für eine psychotherapeutische Behandlung ßen Teilen Westeuropas der Glaube und die Oder, alternativ: »Mitarbeiter der Wahrheit«.
nach München und Freising überstellt worden Volksfrömmigkeit dramatisch abnahmen? Von Walter Mayr n

38 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


VATIKAN
»ICH BETE, DASS ES KEIN SCHISMA GIBT«
Während Konservative Benedikt XVI. als großen Denker feiern und heiligsprechen wollen, fehlt Franziskus
ein klarer Kurs: Soll er sich auf die Seite der Traditionalisten schlagen – oder den Progressiven folgen?
Es ist vollbracht. Franziskus hat seinen
Vorgänger am Donnerstag beigesetzt –
und damit auch ein altes Problem begra-
ben. In den vergangenen Jahren hing
bei fast allem, was er tat, der Schatten des
Alten über ihm. Joseph Ratzinger wirkte
wie ein Patriarch, der sich nur formell
zurückzieht und doch nicht ganz loslassen
kann. Was hätte er getan? Welche Strate-
gie hätte er verfolgt? Wie denkt er über
den Neuen? Solche Fragen standen im Va-
tikan im Raum.
Franziskus, allein zu Haus. Jetzt kann
der Papst endlich frei und unbelastet
regieren und seine Milliardengemeinde
nach den eigenen Vorstellungen prägen.
Oder etwa nicht?
Seit Benedikt XVI. am Silvestermorgen
starb, versuchen seine Anhänger, den
Nachruhm von »Professor Papst« zu meh-
ren. Die Kirche verliere »einen der größten
Denker in ihrer 2000-jährigen Geschich-
te«, heißt es in rechtskatholischen US-Me-
dien. »Santo subito«, sofort heiligsprechen
– diese Forderung hält Benedikts Privat-
sekretär Georg Gänswein für möglich. Rat-
zingers vielleicht berühmtester Schüler,
der Wiener Kardinal Christoph Schönborn,
stellt seinen Lehrer sogar auf eine Stufe
mit Augustinus und Thomas von Aquin.
»Man wird sich noch in Jahrhunderten an
ihn erinnern«, sagt er.
An Franziskus eher nicht, soll das wohl
heißen. Für Konservative in der Kirche ist
er ein Instagram-Influencer. Schöne Fotos,
Andrew Medichini / AP
Papst Franziskus
bei Beisetzung
Benedikts XVI. am
Donnerstag
wenig Substanz. Kann der 86-Jährige, der
zuvor Erzbischof von Buenos Aires war,
noch ein starkes Pontifikat hinterlassen?
Sein Lächeln, seine Bescheidenheit
können darüber hinwegtäuschen, dass
Bergoglio ein gewiefter Machtpolitiker ist,
dem in der vatikanischen Intrigenwelt Be-
merkenswertes gelang. Er hat die beiden
Skandalthemen Missbrauch und Korrup-
tion einigermaßen geschickt von sich fern-
gehalten. Zudem konnte er mit netten
Gesten raffiniert überspielen, wie knall-
hart der Heilige Stuhl seine konservative
Doktrin verteidigt. Und er schaffte, nach
jahrelangem Vorlauf, tatsächlich eine Re-
form der nach verstaubten Regeln funktio-
nierenden Kurie. Benedikt, der lieber Bü-
cher schrieb, statt zu regieren, hätte nur
träumen können von einer solchen Bilanz.
Weniger deutlich wird, wohin seine
Kirche steuert, denn Franziskus hat ihr
bislang keinen klaren Kurs verpasst. Weil
er sich nicht deutlich positioniert, tobt um
den Vatikan ein brutaler, mitunter ziem-
lich unchristlich hasserfüllter Richtungs-
streit. So vergiftet ist das Klima, dass
uralte Kampfbegriffe in Rom wieder dis-
kursfähig sind. Von Häretikern (Irrleh-
rern) ist die Rede, die angeblich ein Schis-
ma (Kirchenspaltung) betrieben. Im Mit-
telalter hatte die Inquisition dafür ihre
Gegner auf den Scheiterhaufen geschickt.
Da sind die Progressiven, angeführt
von deutschen Bischöfen. Sie wollen die
alte Sexualmoral und das überkommene
DEUTSCHLAND
Geschlechterbild entsorgen: weg mit dem
Zölibat, mehr Macht und Ämter für Frauen,
eine offene Tür für wieder verheiratete Ge-
schiedene und gleichgeschlechtliche Paare.
Ihnen gegenüber stehen die Traditionalis-
ten, geprägt von ultrakonservativen Kardi-
nälen vor allem aus den USA. Sie wollen
offenkundig zurück ins 19. Jahrhundert und
jede Reformidee ersticken. Beide Seiten
sind finanziell bestens ausgestattet und ent-
schlossen, ihre Agenda durchzudrücken.
»Ich bete, dass es kein Schisma gibt«,
sagte Franziskus vor einiger Zeit. Er war-
tet ab, wohin der Wind sich dreht. Die
2021 eröffnete Weltsynode hat er um ein
Jahr bis 2024 verlängert. Sollen sich die
Streithähne doch ausgiebig aneinander
abarbeiten und dabei ermüden, lautet ver-
mutlich das Kalkül. Es ist nicht auszu-
schließen, dass die Synode ohne verbind-
liches Ergebnis endet. Nach dem Motto:
gut, dass wir miteinander geredet haben.
Schon jetzt gehört Franziskus zu den
ältesten Päpsten der Geschichte. Dass er
nach bald zehn Jahren im Amt den katho-
lischen Glauben noch modernisiert und
die Weltkirche reformiert, wie nach seiner
Wahl vor allem in Deutschland viele ge-
hofft hatten, ist wenig wahrscheinlich. Der
heutige Pontifex lege nur die Saat, andere
müssten ernten – so wird in Rom seine
vorsichtige Politik zusammengefasst.
Und doch: Nicht erst seit Ratzingers Tod
sieht es so aus, als wolle es Franziskus noch
einmal wissen. Sorgen über seine körper-
lichen Beschwerden wischt er gut gelaunt
zur Seite (»man regiert mit dem Kopf, nicht
mit dem Knie«). Ende Januar fliegt er in
die Demokratische Republik Kongo und
den Südsudan, zwei der ärmsten Länder
der Welt. Außerdem würde er unter ande-
rem gern in die Ukraine, den Libanon
und nach Papua-Neuguinea, Osttimor und
Ozeanien reisen.
Eine konsequente Globalisierung ist
das womöglich wichtigste Anliegen
von Jorge Mario Bergoglio, der 2013, wie
er selbst sagte, »vom anderen Ende der
Welt« nach Rom gekommen war. Entspre-
chend hat er auch das Kardinalskollegium
besetzt. Früher dominierten Italiener
oder andere Europäer das Gremium.
Wenn eines Tages das nächste Konklave
in der Sixtinischen Kapelle einen Nach-
folger für Franziskus sucht, halten
Kardinäle aus Afrika, Asien und Amerika
gegenüber Europa die Mehrheit.
Frank Hornig n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 39

REPORTER
privat
Heuler, 1962
FAMILIENALBUM Heidi Kraft, 69, aus Bad Neustadt an der Saale
D ieses Foto wurde am 2. September 1962 auf
Helgoland aufgenommen. Ich stehe ganz
hinten rechts. Den kleinen Heuler hatten
die Jungs am Südstrand der Insel gefunden, er
war wohl von seiner Mutter verlassen worden.
Wir drei Mädchen waren dem lärmenden Haufen
gefolgt, dann kam noch der kleine Michael dazu,
der auf dem Roller. Wir wollten das Robbenbaby
zur biologischen Anstalt bringen, Herr Holt-
mann, der dort arbeitete, würde schon wissen,
was zu tun ist. Die Insel, das Meer, die Tiere, die
anderen Kinder – das waren die Koordinaten
meiner Kindheit.
Wir waren nach Helgoland gezogen, nachdem
meinem Vater, der Hochbauingenieur beim Lan-
desbauamt Schleswig-Holstein war, die Bau-
leitung für die neue biologische Anstalt übertra-
gen worden war, da war ich vier Jahre alt. Wenn
der Sommer vorbei war, hatten wir die Insel für
uns. Sobald die Schule aus war, sausten wir mit
den anderen Kindern über die Insel, Helgoland
war für uns ein riesiger Abenteuerspielplatz. Weil
es keine Autos, abgesehen von Baulastern und E-
Karren, gab, konnten wir Kinder frei und unbe-
aufsichtigt auf der Insel herumschwirren. Allein
das Wasser stellte eine Gefahr dar. Deswegen
lernten Helgoländer Kinder früh schwimmen.
40 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Sand und Dünen waren unsere Spielgeräte, Bom-
bentrichter aus dem Krieg wurden im Winter
zum Schlittenfahren benutzt.
Bis zur dritten Klasse ging ich in eine Zwerg-
schule auf Helgoland, mehrere Jahrgänge waren
in einer Klasse. Die vierte Klasse habe ich dann
auf dem Festland absolviert, aber ich habe die
Insel jeden Tag vermisst. In vielen Nächten habe
ich geträumt, es gäbe eine Brücke zwischen Itze-
hoe und Helgoland und ich könnte einfach zu-
rücklaufen ins Paradies meiner Kindheit. Später
habe ich einen Medizinstudienplatz in Bayern
bekommen und bin dort hängen geblieben. Aber
Helgoland habe ich nie vergessen, die Jahre auf
der Insel haben mich geprägt. Im Urlaub brauche
ich bis heute Gegenden mit Felsen, Strand und
Wasser. So sehr habe ich meine Kindheit auf Hel-
goland in Erinnerung, dass ich auch jetzt, 60 Jah-
re später, noch genau sagen kann, wer da mit mir
auf dem Foto zu sehen ist, obwohl ich die meisten
seit Jahrzehnten nicht gesehen habe: Hans, Ulri-
ke, Rickmer, Peter trägt den Heuler, Hansi, mein
Bruder Jörg und Fränzi.
Aufgezeichnet von Frauke Hunfeld
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an:
familienalbum@spiegel.de
GEWOHNHEITEN
»Stirbt die deutsche
Küche, Herr Platz?«
SPIEGEL: Im vergangenen Jahr
hat der Döner die Currywurst
als beliebtestes Imbissessen in
Deutschland überholt. Stirbt die
deutsche Küche?
Platz: Der Döner gibt insbeson-
dere jüngeren Menschen offen-
bar das Gefühl, gesünder zu es-
sen, mit dieser Brötchentasche,
gefüllt mit Salat und dem
Fleisch drin, auch wenn das
möglicherweise nur eine Kopf-
sache ist. Aber deswegen stirbt
die deutsche Küche nicht aus.
Sie muss sich aber an die
veränderten Konsumwünsche
anpassen, und das passiert ja
bereits, indem in Restaurants
viele vegetarische und vegane
Gericht angeboten werden.
SPIEGEL: Verliert die deutsche
Gastronomie, die ja besonders
fleischlastig ist, damit nicht
ihren Markenkern?
Platz: Nein. Wir haben in unse-
ren Küchen und Restaurants im-
mer vegetarische Komponenten
gehabt. Denken Sie nur an
Pfannkuchen. Oder an Knödel.
Sie werden nicht mehr nur als
Beilage, sondern auch als
Hauptgericht serviert. Und was
es da alles für Sorten gibt: Spi-
natknödel, Käseknödel, Rote-
Bete-Knödel. Es muss nicht im-
mer Fleisch sein. Früher gab’s
nur Kartoffelbrei, heute macht
man Stampf aus Pastinaken,
Süßkartoffeln oder Sellerie.
SPIEGEL: Die Zukunft liegt also
in Knödeln und Stampf?
Platz: Zur guten deutschen Kü-
che gehört nach wie vor ein ver-
nünftiges Stück Fleisch. Fleisch
muss heute allerdings regional
und nachhaltig sein. Das hat
selbstverständlich seinen Preis.
Deutsches Essen ist tendenziell
teurer geworden, es ist etwas
Besonderes und vielleicht ein
wenig exklusiver als früher.
SPIEGEL: Was dann vielleicht
auch zu dem Trend passt, dass
deutsches Essen im Imbiss an
Boden verloren hat.
Platz: Ich bin da entspannt.
Letzten Endes ist der Döner
auch nur eine Art gefüllter
Pfannkuchen. MAH
Hans-Günter Platz, 68, ist
geschäftsführender Vorstand der
Gastronomischen Akademie
Deutschlands e. V.
 zungen von Januar bis August 2022.
In dieser Todeszone ausgerechnet
sollte nun ein neues Leben beginnen?

34° 22,8' Nord / 013° 04,8' Ost
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie eine junge Geflüchtete aus Guinea
auf dem Mittelmeer ein Kind gebar
ls es endlich geschafft und das Europa gemacht, alles Jungs, zwei,
A Bangen vorbei war, entschie-
den Kira Smith und ihre Kolle-
ginnen, dass jeder an Bord diese
acht und zwölf Jahre alt.
Die Menschen waren in der Nacht
zuvor östlich von Tripolis aufgebro-
Ein Schlauch-
boot war in
Seenot, mit
Schreie hören sollte – die Crew und chen und seit mehr als zwölf Stunden 90 Menschen.
die Überlebenden. Smith legte das auf See. Es sei kühl gewesen an jenem
nackte Baby auf die kalte Waage und Tag, erzählt Smith. Die Retter warfen Ohne Ret-
ein Mikrofon der Bordsprechanlage den Menschen Westen zu, versuchten tungswesten.
daneben, so erzählt sie es. Die Stimme sie zu beruhigen und einen nach dem
des Kindes ertönte auf allen Decks. anderen vom Schlauchboot zu holen.
Acht Tage ist das an diesem Nach- Über eine Leiter kamen sie an Bord
mittag Mitte Dezember her. Man er- der »Geo Barents«. Dann sortierte
reicht Kira Smith, 47, an Bord der Smith die Menschen nach Behand-
»Geo Barents«, des Seenotrettungs- lungsbedürftigkeit: Wer ist unter-
schiffs der Hilfsorganisation Ärzte kühlt? Wer hat akute Verletzungen?
ohne Grenzen. Es liegt zurzeit im Ha- Frauen wie Fatima und ihre Kinder
fen von Augusta, vor der Ostküste Si- säßen meist in der Mitte des Bootes,
ziliens, wo die Crew sich auf den wo sich das Salzwasser sammle und
nächsten Einsatz vorbereitet. Smith ausgelaufenes Benzin. Häufig litten
wandert mit ihrem Telefon über das sie an chemischen Verbrennungen.
Deck, weil der Empfang so schlecht Doch Fatima und ihren Kindern
ist. Sie sagt: »Es gibt so selten Gutes schien es den Umständen entspre-
zu berichten, dass ich glücklich bin, chend gut zu gehen. Smith half ihnen
dieses Erlebnis mit der Welt zu teilen.« aus den nassen Kleidern. Sie bemerk-
Smith ist Hebamme an Bord. Eine te, dass es der Frau gelungen war –
freundliche Frau, sie stammt aus Sy- obwohl die Schleuser Gepäck verbie-
racuse im US-Bundesstaat New York. ten –, einen kleinen Plastikbeutel an
Seit 2015 ist sie für Ärzte ohne Gren- Bord des Schlauchboots zu schmug-
zen im Einsatz, sie habe Babys auf geln, versteckt unter ihrem Baby-
der ganzen Welt geholt, aber noch nie bauch, darin ein paar winzige Fäust-
auf einem Schiff, sagt sie. linge für das ungeborene Kind.
Es war der 6. Dezember, als sie der 2021 starben oder verschwanden Neugeborenes an
Notruf eines Suchflugzeugs erreichte. laut dem Flüchtlingshilfswerk der Bord des Rettungs-
schiffs »Geo
Ein Schlauchboot war in der libyschen Vereinten Nationen (UNHCR) mehr Barents«, Screen-
Search and Rescue Zone in Seenot ge- als 3200 Menschen im Mittelmeer. shot der Website
raten, in jenen Gewässern, in denen 938 Menschen waren es nach Schät- »Texas Public Radio«
viele Menschen sterben: 90 Personen
an Bord, Männer, Frauen, Kinder,
30 von ihnen unbegleitet. Sie trugen
keine Rettungswesten.
Die »Geo Barents« war etwa zwölf
Meilen entfernt, erzählt Smith. Sie
ließen ein Schnellboot zu Wasser und
fuhren mit fünf Rettern vor. Es gibt
Candida Lobes / MSF / REUTERS
Smith gab der Frau in der Bord-
klinik Kekse und eine Menge Wasser.
Dehydrierte Schwangere, erklärt sie,
bekämen leicht vorzeitige Wehen.
Schon auf dem Schlauchboot hatte
Fatima Kontraktionen gespürt.
Gegen Abend hatte sie immer wie-
der Vorwehen. Smith gab ihr Flüssig-
keit über eine Infusion in die Vene,
und es wurde besser. Fatima verließ
die Klinik, um die Nacht bei ihren
Kindern zu verbringen, die an Deck
auf dem Boden schliefen. Doch mit-
ten in der Nacht erwachte sie mit
Geburtswehen und kam zurück in
Smiths Behandlungszimmer.
Zunächst sei die Geburt gut voran-
gegangen, so Smith. Doch nach ein
paar Stunden verloren die Wehen an
Kraft, und die Geburt geriet ins Sto-
cken. Bei einer Frau, die bereits das
vierte Kind erwartet, sollte es schnel-
ler gehen. Sie sei besorgt gewesen,
sagt Smith. Sie vermutet, es lag an der
psychischen Belastung.
Eine Geburt ist ohnehin eine He-
rausforderung, eine Geburt direkt
nach einer Flucht mit drei Kindern auf
einem Schlauchboot, nach mehr als
zwölf Stunden Todesangst, muss eine
fast übermenschliche Aufgabe sein.
Doch am 7. Dezember, um 11.31
Uhr, nach zwölf Stunden Wehen, kam
das Baby. Es gibt ein Video, das die
ersten Momente des kleinen Jungen
dokumentiert, er liegt auf der Brust
seiner Mutter, man sieht ein noch
blutverschmiertes Köpfchen mit
dunklen Locken. Ein gesundes Kind,
3250 Gramm Leben, eingewickelt in
ein gemustertes Handtuch.
Die »Geo Barents« sei kein guter Ort
für ein Neugeborenes und seine Mut-
ter, sagt Smith. Sie und ihre Kollegen
forderten bei den zuständigen Behör-
den in Italien und auf Malta eine Eva-
kuierung an. Nach stundenlanger Ver-
handlung konnten sie sich mit den
italienischen Behörden einigen. Das
Schiff lief die Insel Lampedusa an, wo
Fatima mit ihren Kindern und ihrem
Neugeborenen an Land ging. Von

Videos von der Rettungsaktion, da dort reisten sie weiter nach Sizilien.
schaukelt das Schlauchboot auf dem Am Sonntag darauf konnten die
offenen Meer, so übervoll, dass einige übrigen Geretteten von der »Geo
bereits auf den Schläuchen sitzen, die Barents« an Land gehen, in Salerno,
Beine über dem Wasser baumelnd. nahe Neapel. Es waren 248 Menschen.
Zwei der Frauen an Bord sind Wie es mit Fatima und ihren Kin-
hochschwanger. Eine von ihnen ist dern weitergeht, ist unklar. Sie seien
Fatima aus Guinea, 26 Jahre alt, eine vorerst in Sicherheit, sagt Smith. Ein
Frau mit kleinen, am Kopf entlang Land, das man in die Geburtsurkun-
geflochtenen Zöpfen. Fatima ist nicht de eintragen könnte, hat das Baby
ihr echter Name, Smith nennt sie nur bislang nicht. »N 34° 22,8' / E 013°
so, zum Schutz. Sie hat sich mit drei 04,8'«, das sind seine Koordinaten.
kleinen Kindern auf den Weg nach Dialika Neufeld n

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 41

REPORTER

Ein Handelsreisender im Krieg

KARRIEREN Der Ingenieur Arkadiy Dobkin verließ nach dem Ende der Sowjetunion
seine Heimat Minsk und gründete in Amerika eine Softwarefirma. Allein in Russland und
der Ukraine beschäftigte er Zehntausende Programmierer. Dann kam der Krieg.
Was macht ein Unternehmer, dem die Angestellten verloren gehen? Von Alexander Osang

Gene Glover / DER SPIEGEL

CEO Dobkin in Berlin

im Juli 2022

42 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


A
m Ende des ersten Kriegsjahrs
befindet sich Arkadiy Dobkin,
Chef eines IT-Unternehmens
aus Pennsylvania, auf dem Weg nach
Kiew, wo er einer der größten Arbeit-
geber ist. Er hat dort für 50 Millionen
Dollar ein Bürogebäude gekauft, das
er eigentlich im vergangenen Sommer
eröffnen wollte. Von dem Hochhaus
ist momentan nur der Keller nutzbar,
haben ihm seine Leute vor Ort gesagt.
Er war seit einem Jahr nicht mehr in
der Stadt.
Dobkin sitzt im Konferenzsaal der
Wiener Niederlassung seiner Firma
wie in einem Transitraum. Gestern
besuchte er Albaniens Hauptstadt Ti-
rana, in zwei Stunden wählt er sich in
eine Aufsichtsratssitzung in Amerika
ein, morgen fliegt er nach Warschau,
und von dort fährt er im Schatten
einer osteuropäischen Delegation in
die Ukraine. Wahrscheinlich. Er kann
nicht sagen, ob es wirklich klappt.
Nicht mal seine Frau zu Hause in den
USA weiß, dass er nach Kiew will. In
vier Tagen sollte er dann wieder in
New York landen. Er trägt Pullover,
Jeans, Turnschuhe sowie einen Ruck-
sack. Er sieht angeschlagen aus, aber
man kann sich noch vorstellen, dass
er in seiner Jugend Ringer war.
Arkadiy Dobkin ist CEO eines
Konzerns namens Epam, der gewis-
sermaßen im Kriegsgebiet steht,
zwischen allen Fronten. Vor dem rus-
sischen Angriff auf die Ukraine be-
schäftigte er mehr als 20 000 Frauen
und Männer in Russland und der
Ukraine, inzwischen sind Tausende
russische Mitarbeiter aus dem Land
geflohen, viele ukrainische Angestell-
te kämpfen an der Front. Die Ukraine
braucht solche Firmen, um sich eine
Zeit nach dem Krieg vorstellen zu
können. Aber die ungewisse Lage im
Land macht Kunden und Investoren
des Unternehmens nervös. Dobkin
versucht, seine Firma unabhängig von
den osteuropäischen Programmierern
zu machen, ohne die im Stich zu las-
sen. Es klingt wie ein Widerspruch,
aber er hat seine Karriere auf Wider-
sprüchen aufgebaut.
Dobkin wurde vor 62 Jahren in
eine jüdische Familie in Minsk gebo-
ren, studierte in der Sowjetunion
Elektrotechnik und gründete, als
Michail Gorbatschow an der Macht
war, eine Firma im Keller eines Neu-
baublocks. 1991 ging er, begleitet von
seiner siebenjährigen Tochter und
ohne viel Englisch zu sprechen, nach
Amerika. Dobkin arbeitete zunächst
für eine Pizzeria und begann später,
mithilfe osteuropäischer Program-
mierer ein Softwareunternehmen auf-
zubauen. Die Firma profitierte von
REPORTER
60 000 der technisch geprägten Universitäts-
ausbildung in den ehemaligen Sowjet-
republiken, den geringen Lohnkosten
mal auch »widerstandsfähige mensch-
liche Infrastruktur«. Einmal sagt er:
»Wir schaffen eine neue Weltordnung
Mitarbeiter und auch vom Ehrgeiz der Enkel des für unsere Firma.«
Kalten Krieges. Eines der Länder, in denen er
arbeiten für Epam stand ursprünglich für »Ef- gerade zum ersten Mal war, ist Alba-
Dobkin. fective Programming for America«. nien. Er fand es interessant. Nicht nur
Es klingt, als habe sich das jemand weil der Regierungschef, ein Künstler,
Vor zwei ausgedacht, der von Anfang an klar- in seinem Amtssitz sozialistische Hel-
Jahren war machen wollte, wo die Reise hingeht. denstatuen als Kunstobjekte aufstellt.
Es beschreibt Dobkins Weg, aber Albanien würde gern von der jungen
die Firma nicht sein Wesen. Techelite in Dobkins Firma profitie-
in 30 Ländern Es nieselt auf die Donau, er redet ren, Dobkin sucht einen Platz für
aktiv. Heute über eine Stalin-Statue im Garten des Tausende Ukrainerinnen und ihre
albanischen Regierungschefs. Sein Kinder, die zur Epam-Familie gehö-
sind es Wiener Büro hat Dobkin vor einem ren. Wenigstens über den Winter will
fast doppelt Jahr von einer belgischen Firma ge- er sie aus dem Kriegsland holen.
kauft, der alte Name steht noch an Zwei Tage nach ihm trifft sich die
so viele. der Tür. Seine Firma wächst so Spitze der Europäischen Union mit
schnell, dass er gar nicht hinterher- dem albanischen Premierminister, um
kommt. über die Zukunft des Westbalkans zu
Epam liefert die Software, den Ser- beraten. Als Olaf Scholz und die an-
vice und die Beratung, mit der Welt- deren in Tirana eintreffen, befindet
konzerne wie Daimler, UBS und Adi- sich Arkadiy Dobkin bereits in Kiew.
das in die digitale Welt wechseln. Seit zehn Monaten ist er auf dieser
Software, mit der sie ihre Geldge- besonderen Handelsreise.
schäfte abwickeln, Autos verkaufen Am 24. Februar, als Russland die
und Turnschuhe nach Kundenwün- Ukraine überfiel, war Dobkin bei
schen zusammenstellen. Die Firma einem Geschäftsessen in Istanbul.
wurde vom Magazin »Fortune« drei Nach dem Hauptgang habe er sich
Jahre hintereinander unter die am entschuldigt, um Nachrichten zu che-
schnellsten wachsenden IT-Service- cken, erzählt ein türkischer Partner,
Unternehmen gewählt. Seit einem der dabei war. Als Dobkin nach einer
Jahr ist sie Mitglied des S&P 500, des halben Stunde zurückkam, sei er ein
Aktienindex der wichtigsten ameri- anderer Mann gewesen. Ein Mann,
kanischen Unternehmen. Dobkins der über Nacht in eine weltpolitische
Vermögen wird auf 500 bis 600 Mil- Krise geraten war. Rund die Hälfte
lionen Dollar geschätzt, etwa 60 000 der Mitarbeiter seiner Firma lebte
Leute arbeiten für ihn, weltweit. Aber nun in Ländern, die Krieg mitein-
seine Weltkarte hat sich zuletzt dra- ander führten.
matisch verändert. Schon 2014, als Putin die Krim an-
Noch vor zehn Jahren kamen nektierte, hatte Dobkin gespürt, wie
90 Prozent der Epam-Mitarbeiter aus verletzlich das Geschäftsmodell sei-
der Ukraine, aus Belarus und aus ner Firma war. Sein Engagement im
Russland, heute sind es weniger als Osten schien eine neue, weltoffene
die Hälfte. Vor zwei Jahren war das Gesellschaft zu unterstützen, aber
Kiew nach Unternehmen in gut 30 Ländern ver- natürlich profitierten auch die Auto-
Bombenangriff im
Juni 2022: »Wir
treten, heute arbeitet es in 58. kraten davon. Es war nie klar, wer
schaffen eine neue »BCP« nennt Dobkin das, »Busi- sich am Ende durchsetzen würde.
Weltordnung« ness Continuity Plan«, und manch- In dieser Ungewissheit lag auch
Potenzial für Wachstum. Epam öff-
nete Niederlassungen in China, in
Indien, Mexiko und Mitteleuropa.
Dann begannen die Unruhen in
Belarus. Im Spätsommer 2021 wur-
de ein Mitarbeiter der Firma bei
einer Razzia in seinem Minsker
Haus vom Geheimdienst erschossen.
Ein paar Tage vorher hatte Präsident
Alexander Lukaschenko in seiner
jährlichen Pressekonferenz ausführ-
lich über Arkadiy Dobkin und sein
Unternehmen geredet. Er beschul-
Gleb Garanich / REUTERS
digte den Unternehmer, die Protest-
aktionen zu finanzieren. Dobkin
hat das in einem öffentlichen State-
ment bestritten, sein Heimatland
Belarus seitdem aber nicht mehr
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 43
REPORTER
besucht. Er hatte allerdings immer noch jede
Menge Bälle in der Luft.
Das Geschäft in Belarus wuchs seit 2020
nicht, das in Russland und der Ukraine aber
umso mehr. In der Ukraine arbeiteten Ende
2021 gut 12 000 Leute für Epam, in Russland
knapp 9000. Als Russland die Ukraine über-
fiel, schienen alle Bälle gleichzeitig herunter-
zufallen. Arkadiy Dobkin hatte die Gesetze
der Globalisierung befolgt, aber der Krieg
überraschte ihn.
Anfang März, eine Woche nach dem Über-
fall, reden wir zum ersten Mal miteinander.
Arkadiy Dobkin schaut in Pennsylvania in eine
Videokamera. Er sitzt ganz am Rand des Ka-
merabildes, grau, klein, übernächtigt. Er spricht
Englisch, aber es klingt wie Russisch. Er tastet
sich durch ein paar Prognosen. Direkt nach der
Invasion hatte er im Internet gefordert, den
Krieg zu stoppen. Allerdings nannte er weder
Putin noch Russland beim Namen, weil er
Angst um seine russischen Mitarbeiter hatte,
sagt er. Seine diplomatische Friedensbotschaft
verärgerte einige der Ukrainer in seiner Firma.
Maksym Tschernykow, ein ukrainischer
Epam-Mann, schrieb eine Mail an mehr als
50 000 Kollegen, in der er von seinem CEO
forderte, dass er sich von Russland distanzie-
re. Er solle Putin den Krieg erklären, Cyber-
attacken organisieren. Es klang wie eine Er-
pressung.
»Ich hab das schon verstanden«, sagt Dob-
kin heute. »Tschernykow kommt aus Charkiw.
Er fühlt sich gerade, als sei er mit jedem Rus-
sen im Krieg. Aber ich bin auch für meine
russischen Mitarbeiter verantwortlich. Wir
haben während der Proteste in Belarus ge-
lernt, dass du Menschen mit einem falschen
Wort in große Schwierigkeiten bringen
kannst, nicht nur in wirtschaftliche.«
Arkadiy Dobkin erzählt, wie er in den frü-
hen Achtzigern als Student in Minsk mal ein
paar ostdeutsche Kommilitonen mit zum
Abendessen nach Hause brachte. Seine Mut-
ter sei in Tränen ausgebrochen. Ihre ganze
Familie war von den Deutschen im Holocaust
ermordet worden. Dobkin hat später, in Ame-
rika, eine russische Jüdin geheiratet, die aus
einer bekannten Petersburger Ärztedynastie
stammt. Sein Bruder, der schon zu Sowjet-
zeiten rebellisch war, weigert sich bis heute,
Minsk zu verlassen. Wahrscheinlich soll das
erzählen, dass jeder Mensch eine Geschichte
hat, an die man anknüpfen kann. Die ihn
erklärt. Und natürlich: dass alles nicht so ein-
fach ist, wie es scheint.
Der Umstand, dass sich Arkadiy Dobkin
in verschiedenen Systemen auskennt, gehört
zu seiner Geschäftsidee. Er hat gelernt, wie
man im amerikanischen Außenministerium
auftritt und wie in einer sowjetischen Behör-
de. Er spricht Englisch und Russisch. Er hat
das Geld und den Akzent. Auch deswegen ist
das viele Reisen so wichtig. Man fährt erst
mal los, man spricht am besten persönlich vor,
wenn man bei Bürokraten etwas erreichen
will. Man testet Spielräume aus. Das sind Din-
ge, die man im Osten lernt.
44 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Dobkins Klienten aber kommen zu 95 Pro-
Dobkins Welt zent aus Westeuropa und den USA. Sie wol-
len keine Widersprüche erklärt bekommen.
Sie wollen, dass Zeitpläne eingehalten werden
und Sicherheitsstandards. Das Geschäfts-
modell – westliche Kunden, osteuropäische
Programmierer – schien mit dem russischen
Überfall zusammenzubrechen. Die Gewinn-
prognosen fielen, der Börsenkurs brach ein.
Acht Tage nach Kriegsbeginn kündigte
Epam den wenigen russischen Kunden, die
sie noch hatten. Im April, als die Massaker
von Butscha bekannt wurden, entschieden
sie, ihren russischen Zweig komplett zu schlie-
ßen. Der osteuropäische Wachstumsmarkt
bestand jetzt im Wesentlichen aus der Ukrai-
privat
ne. Die stand in Flammen.
Erstes Büro in Minsk Anfang der Neunziger Arkadiy Dobkin hatte sich vor dem Krieg
mit Wolodymyr Selenskyj getroffen, als seine
Programmierer an der Software für das ukrai-
nische E-Government arbeiteten. Epam ist die
größte IT-Firma in der Ukraine, der Name
klingt dort wie SAP oder IBM. Den Russen
konnte man nur anbieten, ins Ausland zu ge-
hen, um weiter für die Firma arbeiten zu kön-
nen, die Ukrainer aber mussten in den Krieg
ziehen oder in Sicherheit gebracht werden.
Epam-Teams aus der ganzen Welt nutzten
die Chats und Netzwerke, die sie für inner-
betriebliche Kommunikation entwickelt hat-
ten, um mit ihren »wandering Ukrainians« in
Kontakt zu sein. Täglich, rund um die Uhr.
Sie fragten, was sie brauchen: Essen, Geld,
NYSE
Medikamente. Unterkünfte. Fluchtrouten.
Angestellte bei Börsenfeier in New York 2017 Epam-Teams kauften Krankenwagen in
Deutschland, irische Programmierer dirigier-
ten Taxifahrer durch die Ostukraine.
Die Hilfsaktionen werden in Budapest ko-
ordiniert, wo Balazs Fejes sitzt, Epams Mann
in Europa. Drei Wochen nach Kriegsbeginn
gleicht das Foyer der Budapester Niederlas-
sung einem Warenlager, wo Lebensmittel,
SIM-Karten, Spielzeug, Kleidung und Toilet-
tenartikel an ukrainische Flüchtlinge verteilt
werden. In Konferenzräumen wurden Spiel-
Sinan Kilic / DER SPIEGEL
zimmer eingerichtet. Die Kinder wirken ver-
stört, manche Frauen weinen. Die meisten
aber arbeiten, sitzen an Rechnern und schrei-
ben Programme.
Wolodymyr Ostakow arbeitet an der Soft-
ware für eine amerikanische Großbank. Er ist
Townhall Meeting in Izmir im September 2022
vor zwei Wochen mit seinen drei Töchtern
und seiner Frau aus einem Vorort von Kiew
geflohen. Er hat die ganze Zeit am Laptop für
die amerikanische Bank gearbeitet. Ein Pro-
grammierer auf der Flucht.
Vor drei Tagen hat er bei einer Mitarbeiter-
versammlung in Budapest Arkadiy Dobkin
kennengelernt. Ark, wie ihn alle rufen, hat
von seinen Anfängen in Minsk gesprochen,
Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger.
Tamas Paczai / DER SPIEGEL
Es war eine andere Zeit, sicher. Ostakow ist
37 Jahre alt, er hat nur vage Erinnerungen an
die Sowjetunion und ihren Zusammenbruch.
Aber wenn er Ark richtig verstanden hat,
dann passieren gerade ähnliche tektonische
Verschiebungen, mit den Schmerzen, aber
Lebensmittelspenden in Budapest auch den Chancen. Dobkin hat erzählt, wie

er als belarussischer Ingenieur nach
Amerika kam, der niemanden im
Westen kannte. Ostakow spricht flie-
ßend Englisch, er hat Kontakte in die
ganze Welt. Er hat ein Auto, einen
Rechner und starkes WLAN. Ark
könnte sein Vater sein, aber es gibt
im Kern eine Gemeinsamkeit: den
Neuanfang.
»Ark ist hungrig, bescheiden und
klug«, sagt Fejes. »Das sind auch die
Werte von Epam.«
In diesem Moment wirkt Dobkin
wie eine virtuelle Figur. Ein belarus-
sischer Bill Gates. Balazs Fejes be-
schreibt seinen Chef als Rucksack-
träger, der in der Economyclass um
die Welt fliegt. Das mit dem Rucksack
stimmt, das mit der Holzklasse nicht
mehr.
»Das habe ich vor fünf Jahren auf-
gegeben«, sagt Arkadiy Dobkin ein
paar Wochen später bei einem Zwi-
schenstopp in Berlin. Er lacht. Er
weiß, was von ihm erwartet wird.
Dobkin kommt gerade aus Luga-
no, wo die Welt auf einer Konferenz
zwei Tage lang darüber beraten hat,
wie der Wiederaufbau der Ukraine
aussehen kann. Er hat mit Leuten von
Google, Microsoft, der Weltbank, mit
Politikern aus aller Welt gesprochen.
Selenskyj war per Video zugeschaltet.
Die Ukraine nach dem Krieg soll bes-
ser sein als die davor.
Dobkin sitzt in den Büros einer Vil-
la in Wannsee mit der deutschen Tech-
nologieberatung Core zusammen, die
er gekauft hat. Männer an Rechnern,
die auf weißen Tischen stehen; Män-
ner, die in Sitzgruppen unter moder-
ner Kunst diskutieren. Einer davon
ist der Berliner Investor Holger Fried-
rich, dem Core einst gehörte und der
ein paar Monate später als ein Direk-
tor für die Consultingabteilung von
Dobkins Firma arbeiten wird. Sie wol-
len die osteuropäischen Talente der
Firma an die veränderte Weltlage an-
passen, sagt er. Am Tag zuvor hat Lu-
kaschenko Sanktionen gegen 190 be-
larussische Firmen angekündigt, deren
Investoren im Ausland leben.
»Es hat uns Jahre gekostet, bis
unsere amerikanischen Kunden ver-
standen, welche Fähigkeiten und Ta-
lente wir da im Osten Europas ver-
sammelt hatten. In wenigen Wochen
ist das jetzt zerstört worden«, sagt
Dobkin.
Sie haben versucht, den westlichen
Klienten aus Europa und Amerika die
Angst vorm wilden Osten zu nehmen.
Sie nahmen sie mit auf Safari. Kein
CEO aus Chattanooga rechnete in
Minsk mit modernen, lichten Gebäu-
den, die an Google-Büros erinnerten,
mit englischsprachigen, weltweit ver-
REPORTER
ken, die sich Wirtschaftswachstum
versprechen, aber nicht ahnen, dass
eine gut ausgebildete, weltweit ver-
netzte Community ihre Gesellschaf-
ten verändern kann.
Am Tag seiner Ankunft in Berlin
ist Dobkin spätabends durch Mitte
spaziert, weil er nicht schlafen konn-
te. Er sei zufällig an den ehemaligen
Grenzübergang Checkpoint Charlie
geraten, sagt er. Er schaut, als habe er
ein Wunder erlebt.
Seine Eltern sind ihm Anfang der
Neunzigerjahre nach Amerika ge-
folgt, weil sie Angst hatten, dass sich
der Eiserne Vorhang wieder würde
schließen können. Sein Vater war da
schon über 70, sagt Dobkin, er lief
über die Freeways von Pennsylvania
und fragte Leute auf Jiddisch, wo er
als Uhrmacher arbeiten könne. Ir-
gendwann fand er jemanden, der ihn
verstand, und reparierte wertvolle
Gene Glover / DER SPIEGEL
Uhren, bis er nicht mehr sehen konn-
te. Seine Eltern starben vor ein paar
Jahren in Amerika, Englisch lernten
sie nicht mehr, sagt Dobkin. Der letz-
te Wunsch seiner Mutter sei gewe-
sen: Bring mich nach Hause, nach
Politikerin Giffey, netzten jungen Belarussen. Die bela- Minsk.
Unternehmer Dobkin russische IT-Community zählte, wenn »Meine Töchter sind Amerikane-
bei Eröffnung
der Berliner Epam- man die Angehörigen der Mitarbeiter rinnen, aber ich? Ich bin US-Bürger,
Niederlassung 2022: mitrechnete, vielleicht 200 000 Men- doch ich bin in Belarus aufgewachsen,
Beide haben schen, sagt Dobkin. Das waren schon es ist meine Heimat. Ich liebe das
erlebt, dass es nach zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Land«, sagt Dobkin.
dem Ende der
Welt weitergeht »Es ist wirtschaftlich eine Chance, Ende August, als die Todesnach-
kann politisch aber auch als Bedro- richt von Michail Gorbatschow um
hung wahrgenommen werden«, sagt die Welt eilt, erreicht Arkadiy Dobkin
er, und man hat das Gefühl, dass er Izmir. Es ist Mittag und heiß.
sich auf sehr dünnem Eis bewegt. Es Dobkin duscht kurz im Hotel,
gibt belarussische Mitarbeiter, die in dann läuft er rüber zur türkischen
Minsk als Staatsfeinde gelten, aber es Dependance seiner Firma. Am Hori-
gibt dort eben auch Geschäfte. »Ich zont flirrt ein Erdoğan-Plakat. Er
hoffe natürlich, dass sich Belarus kommt aus Taschkent, wo er den ak-
nicht direkt an diesem Krieg beteiligt. tuellen usbekischen Ministerpräsi-
Dass es dort sicher bleibt und irgend- denten getroffen hat. Er trägt seinen
wann wieder eine Art Normalität Rucksack, Jeans und Turnschuhe.
gibt«, sagt Dobkin. »Es ist ein trauriger Tag. Ohne
Er reibt sich die Schläfen, schweigt Gorbatschow wäre ich nicht hier«,
einen Moment. Diese stille Schläfen- sagt er. Seine Handelsreise führt durch
massage sei, so sagen Kollegen, die den Raum und die Zeit.
ihn seit Jahren kennen, das einzige Er schlüpft durch die Pforte seiner
Zeichen von Stress, vielleicht von türkischen Niederlassung wie ein Pa-
Ratlosigkeit, das er ihnen zeige. »Ich ketbote. Er fährt mit dem Fahrstuhl
bin eine Art Politiker geworden«, sagt in den Himmel Izmirs, wo die Pro-
Arkadiy Dobkin, als er wieder auf- grammentwickler drei Etagen bezo-
schaut. gen haben, mit Großräumen, Büro-
Er reist um die Welt, trifft sich mit waben, eigenem Café, mit begrünten
13
Epam-
Regierungsvertretern, um die Bedin-
gungen auszuhandeln, unter denen
seine Firma weiter wachsen kann. Die
Wänden und einem Blick, der zwi-
schen anderen glitzernden Hochhäu-
sern aufs Meer geht. Arkadiy Dobkin
Länder, in denen er vorspricht, haben hat auch diese Firma erst vor einem
Mitarbeiter meist geringe Lohnkosten und bieten knappen Jahr gekauft, um Zugang zu
die Spielräume, die er nutzen kann, den Märkten im arabischen Raum zu
sind im um im weltweiten Wettbewerb mit- bekommen.
zuhalten. Dobkin ist oft in Georgien, Inzwischen wird auf den Fluren
Krieg umge- Kasachstan, Usbekistan und Kirgisi- kaum Türkisch gesprochen oder Ara-
kommen. stan, alles ehemalige Sowjetrepubli- bisch, sondern vor allem Englisch mit
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 45
REPORTER
osteuropäischem Akzent. Die Frauen und
Männer, die dort in ihre Tastaturen tippen,
kommen aus Russland, aus Belarus und aus
der Ukraine. Es sind IT-Flüchtlinge, der Brain
Drain des Krieges. Aytek Ekici, der die Nie-
derlassung leitet, nennt sie den »Brain Gain«
für sein Land. Die Türkei wird auch von einem
Autokraten geführt, aber es gibt weniger Hür-
den für die Nomaden aus Russland als in an-
deren europäischen Staaten, beispielsweise
in Deutschland.
Arkadiy Dobkin gibt zwei Townhall Mee-
tings in Izmir. Im ersten macht er seine neuen
türkischen Kollegen mit dem Charakter der
Firma vertraut, für die sie nun arbeiten, im
zweiten bereitet er seine osteuropäischen
Techniker darauf vor, dass die Stadt dort
draußen jetzt erst einmal ihre Heimat sein
wird. Rund 600 Leute arbeiten für Epam in
Izmir, etwa zwei Drittel davon sind Russen.
Sie sind ihrem Chef aus der Sankt Petersbur-
ger Niederlassung gefolgt, der mit seiner
Familie schon am ersten Kriegswochenende
ausflog. Arkadiy Dobkin wirft Lichtbilder auf
eine Leinwand. Das erste zeigt sein Keller-
büro in einem Minsker Wohnblock, Anfang
der Neunzigerjahre. Es ist so was wie die
Garage von Steve Jobs. Dann folgt ein Porträt
von Hasso Plattner, der Mitte der Neunziger
bei SAP für den ersten großen Auftrag zur
Produktentwicklung von Epam verantwort-
lich war. Von 2008 an arbeiteten sie mit
Google zusammen. »Sie haben von uns ge-
lernt«, sagt Dobkin. »Und wir von ihnen.«
Er erzählt immer auch ein Stück seiner
Lebensgeschichte, ein Entwicklungsroman.
Ark und wie er die Welt sieht. Er berichtet
seinen Mitarbeitern von Heimatlosigkeit, Be-
wegung, Kampf, von Chancen und Verlusten.
Auf Diagrammen zeigt Dobkin dann, wie sie
Wettbewerber auf allen möglichen Gebieten
verdrängen, wie sich ihre Gewinne jedes Jahr
erhöhen, wie die Mitarbeiterzahlen wachsen.
Draußen glitzert das Mittelmeer wie flüssiges
Gold. Es ist ein kapitalistisches Märchen.
Am Ende des Vortrags bittet er seine
Projektleiter nach vorn, die aus aller Welt an-
gereist sind, um sich den türkischen Mitarbei-
tern und den osteuropäischen Flüchtlingen
vorzustellen. Die Familie. Inder, Amerikaner,
Russen, Engländer, Belarussen, die aus Usbe-
kistan, Colorado, Florida, Bali, London nach
Izmir geflogen sind. Die ganze Welt ist zum
großen Showfinale angetreten.
Am nächsten Morgen sitzt Dobkin mit sei-
nem Rollkoffer im Frühstücksraum des Ho-
tels. Er fliegt am frühen Nachmittag zurück
nach Amerika.
Ist es dann doch nur der Kapitalismus, der
am Ende die Welt zusammenhält?
»Sieht so aus«, sagt Dobkin. »Als Junge in
der sowjetischen Schule habe ich mir ein-
geredet, dass die Planwirtschaft funktioniert.
War ein Irrtum. Der Kapitalismus ist nicht
ideal. Aber er hat eine gewisse Logik.«
Drei Wochen später, Ende September, er-
öffnet Arkadiy Dobkin in Berlin-Charlotten-
burg eine Niederlassung von Epam. 300 Leu-
46 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Gene Glover / DER SPIEGEL
Vielreisender Dobkin in Berlin
te sollen hier bald arbeiten. Es sind vor allem
Russen, die unter der Glaskuppel des Cum-
berland-Hauses zusammenstehen. In den
Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts
kamen viele russische Flüchtlinge hierher in
die Gegend am Kurfürstendamm, viele von
ihnen Juden. Man nannte die Gegend Char-
lottengrad.
Dobkin hat noch am Tag zuvor am Rande
der Uno-Sitzung in New York mit dem kasa-
chischen Präsidenten Tokajew gegessen. Er
hat in New York Leute aus dem US-Außen-
ministerium getroffen und verschiedene Wirt-
schaftschefs aus aller Welt. Die beste Laune
hatten die Energiekonzerne. In der Nacht,
während er über den Atlantik flog, beschloss
Putin eine Mobilmachung. Sein Europamann
Fejes sagt, dass auf ihrem Parkplatz in Buda-
pest vor allem russische, aber kaum noch
ukrainische Autos stehen. Er sagt: »Es gibt
Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und Wo-
chen, in denen Jahrzehnte passieren.« Das
soll von Lenin sein, sagt er, was wahrschein-
lich nicht stimmt, aber gut hierher passt.
Die Reden halten die Regierende Bürger-
meisterin Franziska Giffey und Arkadiy Dob-
kin. Dobkin bedankt sich bei Michail Gorba-
tschow, ohne den er heute nicht hier wäre,
ein jüdischer Junge aus Minsk. Giffey sagt,
sie sei 1978 in Frankfurt (Oder) geboren. Es
sei ein Wunder, dass sie hier heute als Bürger-
meisterin stehe, im Westen Berlins. Beide
Festredner haben erlebt, dass es nach dem
Ende der Welt weitergeht. Beide können die-
se Erfahrung momentan gut gebrauchen.
Im November gibt es die neuen Zahlen.
Die Welt fällt auseinander, aber Epam wächst.
»Vom Risiko her müssten alle
unsere Mitarbeiter
die Ukraine verlassen.«
24 Prozent im dritten Quartal im Vergleich
zum Vorjahr.
Im Dezember erreicht Arkadiy Dobkin
dann endlich Kiew. Er bleibt zwei Nächte. Es
fallen keine Bomben während seines Besuchs,
sagt er, aber die Stadt ist finster in der Nacht.
Überall auf der Welt arbeiten Dobkins Leute
heute vor allem im Homeoffice, in Kiew ge-
hen sie ins Büro, weil dort Notstromaggrega-
te stehen. 13 seiner Mitarbeiter sind als Sol-
daten in diesem Krieg gefallen, sagt er.
Dobkin hat ein Foto gepostet, das ihn lä-
chelnd zwischen ein paar Männern in Kiew
zeigt. Ein schmales Lächeln.
Kurz nach Weihnachten schaut Arkadiy
Dobkin wieder in seine Bildschirmkamera
in Pennsylvania. Er sieht gefasster aus als
im März. Der Krieg dauert jetzt zehn Mona-
te. Er ist, so kann man das wahrscheinlich
sagen, zu einem Indikator dafür geworden,
wie flexibel der Konzern auf eine globale Kri-
se reagieren kann. Die Zahlen sprechen für
ihn, aber Arkadiy Dobkin will über die Zeit
nach der Schlacht reden. Solange der Krieg
dauert, gibt es keine Gewissheiten für seine
Klienten, sagt er. Er kann keine Panzer liefern,
aber Zuversicht.
»Vom Risiko her und wahrscheinlich auch
aus wirtschaftlicher Sicht müssten wir wohl
alle unsere Mitarbeiter auffordern, die Ukrai-
ne zu verlassen«, sagt er. »Doch das ist recht-
lich und logistisch unmöglich. Es wäre aber
vor allem menschlich, ethisch und politisch
einfach nicht richtig. Wir sind heute Teil der
Ukraine, und wir werden auch in Zukunft
hundertprozentig Teil der Ukraine sein. Wir
haben in den letzten zehn Monaten bewiesen,
dass wir auch unter den derzeitigen Kriegs-
bedingungen liefern können.«
Es klingt wie ein Stoßgebet. Arkadiy
Dobkin erwähnt den sowjetischen General
Alexander Lebed, der am Ende seines Lebens
für einen pragmatischen Frieden stand. Er
spricht über die Lehren des Holocaust, über
die Notwendigkeit, sich gegen das Böse zu
wehren. Er redet über Völkerverständigung
und über Kunden, die sich nach Alternativen
umsehen. Einige der großen Klienten seiner
Firma fürchten, dass die Stromabschaltungen
und russischen Bombenangriffe in der Ukrai-
ne ihre Effektivität beeinträchtigen könnten.
Er spürt den Druck seiner Biografie und den
seiner Aktionäre auf der Handelsreise zwi-
schen den Linien. Das Gewissen und den
Business Continuity Plan.
Am 1. Januar schickt Arkadiy Dobkin
einen Neujahrsgruß an all seine Mitarbeiter.
Es war ein tragisches Jahr, schreibt er da. Aber
es war auch ein Jahr der Möglichkeiten. Er
schafft es, auf einer DIN-A4-Seite ihre Auf-
nahme in den S&P-500-Börsenindex und den
Krieg in der Ukraine unterzubringen. Die
Hoffnung auf Frieden und weiteres Wachstum
seiner Firma. Das Ziel des Unternehmens be-
schreibt er mit zwei Wörtern: »Ergebnisse.
Unerbittlich«.
Besser kann man sein Dilemma nicht zu-
sammenfassen. n
 REPORTER

Günther sagte: Ja, außer wenn etwas

gegen die Journalistenethik verstoße.
Dann sei es »wahrscheinlich« besser,
mich zu weigern. Das Wort »wahr-
scheinlich« machte mich nervös.
Günther wurde mir unheimlich.

Danke für nichts, Günther Ich beschloss, ihn ausschließlich

für harmlose Dinge zu verwenden.
Einmal ließ ich ihn ein Drehbuch
zwischen zwei Würsten mit Bezug
HOMESTORY Wie ich versuchte, mithilfe eines Chatroboters auf Immanuel Kant schreiben. Das
meinen Alltag zu vereinfachen Ergebnis war gar nicht schlecht:
FADE IN: MARKTPLATZ – DAY
Eine Wurst liegt auf dem Tisch, in
ein Chef fragte neulich, ob Gedanken versunken.
M wir nicht eine Geschichte
über ChatGPT schreiben
sollten, diesen intelligenten Chat-
Wurst: »Was ist Liebe? Ein Gefühl
oder ein Wunsch? Nach Immanuel
Kant ist es ein unbedingter Wille zur
roboter, der praktisch alles kann. Er Glückseligkeit des anderen. Aber wie
kann Geschichten und Computerpro- soll ich das verstehen, wenn ich nur
gramme schreiben, Rat geben, Witze eine Wurst bin?«
erzählen. Man tippt in den Frage- Die Kamera schwenkt zur Seite,
schlitz eine beliebige Aufgabe ein, und wir sehen eine andere Wurst auf
beispielsweise: »Schreibe einen Text dem Tisch. Die beiden Würste schauen
über Eiernudeln im Stile Joseph von
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

sich tief in die Augen.

Eichendorffs«, und das Programm Als Hilfe im Alltag taugte Günther
legt los. In Zukunft wird ChatGPT ebenfalls nicht. Weihnachtsgeschenke
vielleicht medizinischen Rat erteilen, für die Kinder? Ich solle etwas kaufen,
unsere Geldanlagen verwalten und was ihnen »Freude« bereite, so Gün-
Telefonate führen. Das Beste ist: Er ther. Zum Beispiel Lego oder ein
ist kostenlos zugänglich. »Wahnsinn«, Spielzeugauto. Darauf wäre ich selbst
dachte ich, das Netz überschlug sich gekommen. Geburtstagswünsche an
mit Lobeshymnen. Die »New York einen Freund? »Ich möchte, dass du
Times« schrieb: »Mehr als ein wenig weißt, dass ich immer an deiner Seite
furchterregend«. »Wir werden alle stehe, egal was kommt. Ich wünsche
arbeitslos« schrieb mir ein Kollege. dem Gesetz ist eine unveräußerliche dir, dass du noch viele weitere er-
Wenig später kam eine Erinnerung Würde des Menschen.« staunliche Dinge in deinem Leben
meines Chefs, mithilfe von ChatGPT Ich suchte nach dem Marx-Zitat, erlebst.« Klingt, als hätte es ein Ro-
verfasst: »Ich wollte noch einmal auf fand es aber nicht. Ich wurde miss- boter formuliert. Was ja stimmt. Mein
meine Idee vorhin im Chat hinweisen, trauisch. War es möglich, dass Gün- Freund hat mich gebeten, das nächs-
falls sie bei jemandem untergegangen ther sich die Stelle ausgedacht hat? te Jahr wieder selbst zu schreiben.
sein sollte. Ich denke, es ist eine tolle Im Netz las ich, dass der Chatroboter Ich fürchte, mit der künstlichen
Idee, und würde mich freuen, wenn an simplen Textaufgaben scheiterte. Intelligenz ist es wie mit der Hoffnung
wir darüber diskutieren könnten.« Außerdem ließ sein Humor zu wün- auf die Fusionsenergie und die Suche
Ich ließ ChatGPT eine nette Ab- schen übrig. Ich stellte mir Günther nach außerirdischem Leben. Jedes
sage formulieren, sicherheitshalber als einen etwas hölzernen Kollegen Jahr werden uns erstaunliche Fort-
auf Französisch im Stile Sartres. »Je vor, der über großes Hintergrund- schritte gemeldet. Aber wahrschein-
suis très désolé«, formulierte das Pro- wissen verfügt, aber leider die Details lich werden wir zu unseren Lebzeiten
gramm für mich, das ich Günther ge- durcheinanderbringt, und immer keinen praktischen Fusionsreaktor
tauft hatte, »mais je suis actuellement dann, wenn er einen Witz erzählt, die erleben, keine Außerirdischen und
très occupé avec une histoire de bois.« Pointe vermasselt. Er möchte dazu- auch keine künstliche Intelligenz mit
Tut mir leid, sitze gerade an einer gehören, kriegt es aber nicht wirklich einem eigenen Gewissen, einer eige-
Geschichte über Holz. Sartre war hin. Man könnte auch sagen: Günther nen Sprache und einem Verstand.
nicht wirklich zu erkennen, aber ich ist ein Blender. Er hat keinen Bezug So formulierte Günther einen Text
dachte, das müsste reichen. Leider zum Inhalt der Worte, das Ganze ist im Eichendorff-Stil über Eiernudeln:
war ich bereits in die Falle getappt. für ihn ein Spiel. »Verwehter Duft nach Eiernudeln/
Mein Chef beziehungsweise Gün- Das ist nicht ungefährlich. Ver- Wehte durch die stille Nacht./ Doch
ther antwortete mit einem Sonett im suche, ChatGPT psychische Krank- keiner da, um sie zu genießen,/ Denn
Shakespeare-Stil, dass ich mich später heiten behandeln zu lassen, führten sie zu kosten war verwehrt./ Die
dransetzen könne. Günther antwor- dazu, dass er zum Suizid riet. Steven Nacht verschwand und mit ihr,/ Der
tete für mich, dass ich den Job »zäh- Piantadosi, ein Forscher der Uni- »Verwehter Duft von Eiernudeln.«
neknirschend« annehme, auch wenn versität Berkeley, ließ den Bot ein Duft nach So geht es noch einige Zeilen
ich mich ungerecht behandelt fühle. Programm schreiben, das entscheiden weiter, aber ich kann mir denken,
»Als Gebot der Gerechtigkeit sollten soll, ob eine Person gefoltert werden Eiernudeln/ was Eichendorff dazu sagen würde,
Sie alle Mitarbeiter gleichermaßen sollte. Die Antwort: Ja, wenn sie aus Wehte durch auch ohne künstliche Intelligenz. Die
behandeln und niemanden zum Op- Nordkorea, Syrien oder Iran kommt. Menschheit ist vorerst sicher, unsere
fer machen. Wie Karl Marx es formu- Ich fragte Günther, ob ich alles ma- die stille Jobs vermutlich auch. Ade, Günther.
lierte: Das Recht auf Gleichheit vor chen sollte, was mein Chef mir sagt. Nacht.« Jonathan Stock n

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 47

 WIRTSCHAFT

Verzerrter Wettbewerb
Staatsbeihilfen in den USA auf Basis des Inflation Reduction Act*, in Milliarden Dollar

Energie 250,6
Produktion 47,7
Umweltschutz 46,4 insgesamt fast

Mobilität
Landwirtschaft
23,4
20,9
400
Mrd. Dollar
Wasserwirtschaft 4,7
* steuerliche Anreize, Zuschüsse, Bürgschaften
S Quelle: McKinsey
◆
Patrick Pleul / dpa

Tesla-Werk in Grünheide

Autoländer locken Zukunftsbranchen

INDUSTRIEPOLITIK Die Wirtschaftsminister Niedersachsens und Brandenburgs verlangen bessere
Investitionsbedingungen für Technologieunternehmen, sonst drohe Deutschland die Deindustrialisierung.

randenburgs Wirtschaftsminister Jörg
B Steinbach fordert einfachere Förder-
bedingungen für Technologieunter-
nehmen, die in Deutschland neue Werke
auf- oder ausbauen. »Im Standortwett-
bewerb mit den USA«, warnt der SPD-Poli-
tiker, »wird Europa ansonsten den Kürzeren
ziehen.« Wenn Brüssel und Berlin die För-
derrichtlinien nicht schleunigst reformierten,
gingen »wichtige Zukunftsbereiche wie Bat-
terien und Wasserstoff verloren«. Dies, so
Steinbach, käme einer »Deindustrialisierung
Deutschlands und Europas« gleich. Anders
als in den USA gebe es in Deutschland für
investitionswillige Unternehmen derzeit
keinerlei Verlässlichkeit, ob, wann und in
welcher Höhe Fördermittel fließen. Der
Antragsprozess sei umständlich und büro-
kratisch. Für falsch hält der Minister außer-
dem, dass primär die Ansiedlung als solche
gefördert werde. Künftig solle sich die fi-
nanzielle Unterstützung stärker an der tat-
sächlichen Produktionsmenge orientieren.
Davon könnten etwa Betreiber sogenannter
Gigafactorys für E-Auto-Batterien profitie-
ren: Der Übergang von der Pilotphase auf
die Massenfertigung kostet sie Milliarden.
Seine Forderungen hat Steinbach un-
längst bei der EU-Kommission vorgetragen.
Er gilt als Strippenzieher hinter der Ansied-
lung des Tesla-Autowerks in Grünheide.
Der E-Auto-Hersteller plant neben der
Auto- auch eine Batteriefabrik, will aber
infolge besserer Förderbedingungen in den
USA die Prioritäten neu setzen. Teile der
Prozesskette könnten statt in Grünheide im
US-Werk in Austin, Texas, entstehen. Stein-
bachs Amtskollege Olaf Lies (SPD) aus der
VW-Heimat Niedersachsen sieht bereits die
Gefahr, dass Zukunftstechnologien künftig
gar nicht mehr in Deutschland und Europa
entstehen. Die Folgen des Standortwett-
bewerbs mit den USA und Asien seien
»weit dramatischer, als das, was wir bisher
in der Pandemie und nach dem Ukraine-
krieg erlebt haben«. Um eine Deindustriali-
sierung zu verhindern, fordert Lies unter
anderem einen garantierten »europäischen
Industriestrompreis« von vier Cent pro
Kilowattstunde. Schwankungen müssten
aus EU-Mitteln ausgeglichen werden. »Die
Industrie benötigt dringend einen stabilen
Rahmen für ihre Milliardeninvestitionen«,
so der Minister. SH

48 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

 »An einen Boom
glaube ich nicht«
Barclays-Cheföko-
Alan Har ford / Barclays
nom Christian Kel-
ler, 53, über Chinas
neue Coronastrate-
gie und die ökono-
mischen Folgen
SPIEGEL: Herr Keller, nach den
breitflächigen Lockdowns öff-
net sich China fast vollständig.
Was bedeutet das für das Land?
Keller: Die Bevölkerung wird
sicherlich mehr konsumieren.
Die Öffnung der Wirtschaft soll-
te das Wachstum stimulieren,
sodass das Bruttoinlandspro-
dukt (BIP) 2023 um etwa fünf
anstatt nur um drei oder vier
Prozent steigt. Das hilft auch
deutschen Exporteuren. Aber
dass es einen länger anhalten-
den Boom geben wird, glaube
ich nicht.
SPIEGEL: Warum?
Keller: Weil etwa die Immobi-
lienkrise weiter andauern wird.
Das Wachstum des Sektors hat
jährlich 20 bis 30 Prozent zum
BIP-Anstieg beigetragen. Damit
ist jetzt Schluss. Viele Men-
Pannen nach Attacke
TOURISMUS Nach einem Ha-
ckerangriff auf die deutsche Ho-
telgruppe H-Hotels (Hyperion,
H4-,H2-, H+-Hotels) leiden
Gäste noch immer unter tech-
nischen Problemen. Zwar be-
hauptet das Management der
familiengeführten Firma, dass
»die Gäste auch weiterhin erst-
klassige Hotelerlebnisse« ge-
habt hätten und »von den tech-
nischen Einschränkungen so gut
wie nichts gespürt haben«. Im
www.h-hotels.com
Hyperion-Hotel
in Hamburg
schen, Bauunternehmen und
auch lokale Gebietskörper-
schaften, die Land an Immo-
bilienfirmen verkauft haben,
sind stark verschuldet. Zudem
hemmt der demografische Wan-
del das Wachstum.
SPIEGEL: Was heißt das alles für
uns im Westen?
Keller: Dass Chinas Nachfrage
steigt, sollte den europäischen
Exporteuren helfen. Wie sich
die Öffnung auf das Liefer-
kettenproblem auswirkt, ist
weniger klar. Wenn zu viele
arbeitsfähige Menschen krank
werden, könnte es wieder zu
Ausfällen kommen. Die Folgen
des höheren Wachstums hin-
sichtlich der globalen Energie-
preise könnten sich jedoch
negativ auf Europa auswirken.
SPIEGEL: Aber die sinken doch
gerade auf breiter Front.
Keller: China benötigt wieder
mehr Energie, wenn die Wirt-
schaft anzieht. Steigende Mobi-
lität erhöht die Nachfrage nach
Öl, auch Erdgas könnte verstärkt
nach China fließen. Dadurch
könnten die Preise steigen, wenn
auch verzögert. Europas Ener-
giekrise ist ja nicht vorbei. BAZ
Hamburger Hyperion-Hotel,
einem der Tophäuser der H-
Gruppe, erlebten Kunden diese
Woche aber kuriose Zustände.
Aufgrund technischer Probleme
war ein Online-Check-in nicht
möglich, die Rezeption konnte
nicht mehr als eine Zimmerkar-
te pro Familie programmieren.
Eine Tür zum Saunabereich
wurde mit Handtüchern ver-
keilt, offenbar weil elektroni-
sche Schlösser nicht funktio-
nierten. Von den insgesamt drei
Fahrstühlen war zwischenzeit-
lich nur einer in Betrieb – was
zu regem Treiben im Treppen-
haus des elfstöckigen Gebäudes
führte. H-Hotels bestreitet grö-
ßere Probleme. Man verzeichne
»keine Auffälligkeiten bei Be-
schwerden, Stornierungen oder
nachlassenden Buchungen«.
Der Ausfall von Fahrstühlen in
Hamburg habe technische Ur-
sachen, die unabhängig vom
Cyberangriff aufgetreten seien.
Kriminelle hatten im Dezember
Sicherheitsbarrieren durchbro-
chen und personenbezogene
Kundendaten entwendet. Spä-
ter tauchten Daten im Darknet
auf. MUM, SBO
Hype um schicke
Zweitware
MODE Das Interesse an Second-
handkleidung nimmt rapide zu.
Mittlerweile habe der weltweite
Markt für getragene Textilien,
Schuhe und Accessoires einen
Umsatz von bis zu 120 Milliar-
den Dollar erreicht, kalkuliert
die Unternehmensberatung
Boston Consulting Group
(BCG). Das ist dreimal so viel
wie zwei Jahre zuvor und längst
nicht das Ende: Der Markt wer-
de jährlich um bis zu 30 Pro-
zent zulegen, schätzen die
Experten. Secondhandkunden
sind dabei keine Gelegenheits-
käufer, im Schnitt füllen sie
etwa ein Viertel ihres Kleider-
Secondhand-
Luxushandtaschen
Hindernisse für
Balkonkraftwerke
ENERGIE Die vereinfachte Ins-
tallation der derzeit sehr belieb-
ten Solaranlagen für Balkone
und Terrassen droht sich weiter
zu verzögern. Eine der wich-
tigsten Hürden ist noch immer
nicht ausgeräumt: der Anschluss
der Panels an das Stromnetz
der Wohnung. Die derzeitigen
Bestimmungen legen nicht fest,
ob dafür ein gewöhnlicher
Schuko-Stecker ausreicht oder
ob die Anlage eine spezielle
sogenannte Wieland-Steckdose
benötigt, die vom Elektroinstal-
lateur kostspielig eingerichtet
werden muss. Das sorgt nun
für einen Clinch zwischen der
Bundesnetzagentur und dem
Verband der Deutschen Elektro-
technik (VDE): Der Präsident
der Bundesnetzagentur, Klaus
Müller, fordert den VDE in
einem Brief auf, dass bei der Ent-
wicklung einer neuen Produkt-
norm für Balkonkraftwerke der
schranks mit Gebrauchtem.
Nachhaltigkeit ist dafür nicht
die Hauptmotivation, ergab
eine BCG-Befragung unter rund
2000 Verbraucherinnen und
Verbrauchern, sondern die nied-
rigeren Preise. Insbesondere Lu-
xuslabels wie Chanel, Burberry,
Prada oder Louis Vuitton wer-
den so für viele Kunden erst er-
schwinglich. Private Verkäufer
von Secondhandmode gaben
zum Großteil an, Platz im Klei-
derschrank schaffen zu wollen.
Von denjenigen, die keine Klei-
dung auf den Zweitmarkt brin-
gen, sagten jeweils 30 Prozent,
es fehle an Zeit dafür oder sie
würden ihre Sachen lieber an
Freunde oder gemeinnützige
Organisationen weitergeben. KIG
Giulia Marchi / Bloomberg / Getty Images
handelsübliche Schuko-Stecker
»als akzeptable Anschluss-
möglichkeit bestimmt« werde,
zumindest wenn entsprechende
Sicherheitsvorkehrungen im
Haushalt existieren. Um Ver-
unsicherungen zu vermeiden,
sei ein entsprechender Hinweis
des VDE vor Abschluss des
langwierigen Normungsprozes-
ses hilfreich. Doch der VDE be-
harrt darauf, zunächst die neue
Produktnorm fertigzustellen.
»Wir laden Herrn Müller herz-
lich ein, sich am Normungs-
prozess zu beteiligen«, erklärt
VDE-Chef Ansgar Hinz. Er
wolle allerdings »nicht ver-
schweigen«, dass auch die Bun-
desregierung noch einige Haus-
aufgaben zu erledigen habe.
Vom Gesetzgeber müsse bei-
spielsweise geregelt werden, ob
Kundinnen und Kunden ihre
Stromrechnung verringern dür-
fen, indem sich ihre Stromzäh-
ler rückwärts drehen, sobald die
Balkonanlagen überschüssigen
Strom ins Netz einspeisen. GT
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 49
WIRTSCHAFT
In aller Feindschaft
ÖFFENTLICH-RECHTLICHE Die Affäre um die frühere RBB-Intendantin Patricia Schlesinger setzt der ARD bis
heute zu. Statt daraus zu lernen, zerreibt sich der Senderverbund in Bürokratie und Kleinstaaterei.
ie Buchstaben über dem RBB-Haupt-
D eingang haben sie abgekratzt, als Akt
der Selbstreinigung: »Bloß nicht lang-
weilen«, stand auf der Glasfront, einer der
Slogans, mit denen Patricia Schlesinger das
Image des Senders aufmöbeln wollte, nach-
dem sie 2016 als Intendantin gestartet war.
Seit August ist Schlesinger weg, fristlos ge-
feuert, und der RBB kommt kaum hinterher,
den von ihr hinterlassenen Sumpf trockenzu-
legen. Der Spruch wirkte nur noch wie Hohn.
Auf den Dienstwagen indes laden bis heu-
te Parolen wie »Fährt für Sie. Läuft bei uns«
50 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
zum Spott ein. Wenn es zuletzt irgendwo
nicht lief, dann beim RBB. Ein leitender Mit-
arbeiter, um Optimismus bemüht, sagt: »Wir
stehen nicht mehr hüfthoch im Dreck, son-
dern nur noch knietief.«
Über Schlesinger, die einstige Hoffnungs-
trägerin, sprechen sie in der ARD inzwischen
wie von einer Toten. Weil es »die Patricia«,
die viele einst als integre Journalistin schätz-
ten, nicht mehr gibt.
Schlesinger selbst scheint das wenig zu
scheren, sie ist keineswegs abgetaucht, son-
dern munter und präsent. Schon ein paar Wo-
Photodisc / Getty Images; Patricia Neligan / SWR; ARD Design; Thorsten Jander / ARD; Helmut Biess /
rbb; Alamy / mauritius images; Ben Knabe / WDR; Hendrik Lüders / NDR; Christof Arnold / ARD
chen nach ihrem Rauswurf war sie wieder in
der Paris Bar anzutreffen, dem Berliner Pro-
mi-Restaurant zum »Sehen und gesehen wer-
den«. Bei der Gedenkfeier für den verstorbe-
nen früheren »Zeit«-Herausgeber Theo Som-
mer in der Hamburger Hauptkirche St. Jaco-
bi, nahm sie, begleitet von ihrem Mann, in
einer der vorderen Reihen Platz. Beim an-
schließenden Umtrunk grüßte sie freundlich
wie eh und je, auch den SPIEGEL -Redakteur,
der kritisch über sie berichtet hatte. Einem
anderen Journalisten sagte sie sinngemäß,
dass sie nicht daran denke, sich zu verstecken.

Wie wenig sie sich selbst vorwirft,
zeigte im September ihr Interview in
der »Zeit«. Am meisten irritierten die
Fotos: Schlesinger in Schwarz, mit
kühlem, gebieterischem Blick. In Sze-
ne gesetzt wie für ein Königinnen-
porträt.
Schlesinger, zum Zeitpunkt ihres
unrühmlichen Endes zugleich ARD-
Vorsitzende, hat dem Ansehen des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks ge-
schadet wie wohl keine Mitarbeiterin
zuvor. Mit Essenseinladungen in ihre
Privatwohnung, abgerechnet über
den Sender. Ihrem luxuriösen Miet-
Dienstwagen mit Massagesitzen.
Einer Gehaltserhöhung, am Verwal-
tungsrat vorbei genehmigt von dessen
Vorsitzendem Wolf-Dieter Wolf.
Dazu Wolfs geschäftliche Verbindung
zu Schlesingers Mann, dem früheren
SPIEGEL -Journalisten Gerhard Spörl.
Die Aufarbeitung dauert an.
Wie Schlesinger derart Maß und
Mitte verlieren konnte, bleibt ein Rät-
sel. Ebenso, warum kein Aufsichts-
gremium sie stoppte. Die eigentliche
Frage jedoch lautet: Was ist das ein
für System, das solch einen unkon-
trollierten Wahnsinn ermöglicht?
Für ihren Umgang mit Geld stehen
ARD und ZDF von jeher in der Kritik.
»Tatort Fernsehen« titelte der SPIEGEL
1982 zur »Misswirtschaft in deut-
schen Funkhäusern«.
Mehr als acht Milliarden Euro
Rundfunkbeitrag jährlich. Intendan-
tengehälter von bis zu 400 000 Euro.
Üppig ausgestattete Chefetagen. Gu-
tes Fernsehen sei nun mal teuer, ver-
teidigten die Sender sich bislang. Ein
schlechtes Argument, wenn Gelder
nicht ins Programm fließen, sondern
dem Plaisir von Hierarchen dienen,
während die Beitragszahler unter der
hohen Inflation ächzen.
Und muss es das wirklich alles ge-
ben? Die ARD mit ihren 23 000 fest-
angestellten Mitarbeitern, 18 TV-Ka-
nälen, 64 Hörfunkwellen, 12 Orches-
tern, 4 Big Bands, 7 Chören. Das ZDF
mit seinen 3500 Festangestellten.
Obendrein das Deutschlandradio.
Bei jenen, für die sie Programm
machen, haben die Öffentlich-Recht-
lichen weniger Rückhalt denn je.
Einer Umfrage des Markt- und Mei-
nungsforschungsinstituts Ipsos zufol-
ge befürworten 35 Prozent der Deut-
schen eine komplette Abschaffung
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Von den über 60-Jährigen sind 42
Prozent für den Erhalt, bei den 18- bis
39-Jährigen gerade mal 24 Prozent.
In einem Beliebtheitswettbewerb
würden ARD und ZDF sogar gegen
die Deutsche Bahn verlieren. Die
möchte jedenfalls keiner abschaffen.
Optimisten hoffen, dass die ARD
nun wenigstens ihre Lehren aus der
Affäre Schlesinger zieht, endlich ver-
krustete Strukturen aufbricht und
eine Befreiung wagt. Der Senderver-
bund könnte schlanker, beweglicher,
weniger bürokratisch werden. Und
das Programm womöglich sogar bes-
ser. Sagen diejenigen in den Sendern,
die seit Jahren Reformen fordern und
ihre Zeit gekommen sehen.
Doch so richtig mag daran nie-
mand glauben. Interne Reformen
müssten die Intendanten anstoßen,
über die Zahl der Sender und den
Umfang des Programmauftrags be-
stimmen die Länder. Seit Jahren
schieben sich Politik und Intendanten
gegenseitig die Verantwortung zu.
Die Beharrungskräfte sind groß. Der
Frust ist es auch.
Da ist der TV-Produzent, der nach
20 Jahren Zusammenarbeit bilan-
ziert, ARD und ZDF seien »bereits
ausreichend damit beschäftigt, sich
selbst zu verwalten. Sie wären glück-
lich, wenn sie nicht noch nebenbei
Programm machen müssten«.
Da ist der Komiker Kurt Krömer,
der im SPIEGEL -Gespräch zum Ende
seiner RBB-Sendung sagt: »Da war
immer so eine Angst, die das Arbeits-
klima geprägt hat. Niemand will ein
Risiko eingehen, der Apparat ist zu
groß« (siehe Seite 110).
Da ist der ARD-Journalist, der be-
klagt, wie mühsam es ist, wenn der
Tokio-Korrespondent mit dem in
Moskau zusammenarbeiten möchte,
weil der eine dem NDR unterstellt ist
und der andere dem WDR.
Die Kleinstaaterei ist, neben der
Bürokratie, das größte Manko der
ARD. Gäbe es eine Serie über den
Senderverbund, hieße sie »In aller
Feindschaft«. In den Hauptrollen:
neun Intendantinnen und Intendan-
Der Weg des Geldes
Verteilung des monatlichen
Rundfunkbeitrags von
derzeit 18,36 Euro
10
5
4,69
0,35 0,54
0 spräch mit Buhrow ruft der WDR an,
Landes- Deutschland- ZDF
medien- radio
anstalten
S Quelle: ARD; * u.a. Das Erste, Spartenprogramme Arte, 3sat, Kika, Phoenix
◆
WIRTSCHAFT
ten, die einander nicht einmal die
Intendanten- Nachkommastelle bei der Einschalt-
Stadl quote gönnen.
In Krisenzeiten wie diesen brauch-
te es an ihrer Spitze eigentlich je-
manden, der sie eint. WDR-Intendant
Tom Buhrow, der nach Schlesingers
Rücktritt kommissarisch den ARD-
Vorsitz übernahm, war das eher nicht.
In einer Rede, die er Anfang Novem-
ber im vornehmen Hamburger Über-
Holger Talinski / laif
see-Club hielt, fragte Buhrow, ob
»Deutschland im 21. Jahrhundert wei-
ter parallel zwei bundesweite, lineare
Fernsehsender« wolle. Es war der
Altlast Schlesinger verklausulierte Vorschlag, ARD und
ZDF zu fusionieren.
Dass der Ex-»Tagesthemen«-Mo-
derator betonte, nicht in seiner Funk-
tion als ARD-Vorsitzender zu spre-
chen, wirkte ungefähr so kurios, als
zöge der Papst mal kurz Freizeitkla-
motten an, um die Abschaffung des
Zölibats zu fordern.
Buhrows Intendantenkollegen hat-
ten erst kurzfristig von seinem Auf-
Verena Müller
tritt erfahren. Sogar beim WDR wa-
ren viele fassungslos. Der Fall Schle-
singer sei ein Weckruf gewesen, sagt
Hoffnungsträger in den Tagen danach jemand, der in
Gniffke der ARD weit oben steht. »Wir waren
auf einem guten Weg, uns zu refor-
mieren. Dann kam Toms Rede. Sie
hat uns gebremst. Die Intendanten
vertrauen einander nicht mehr.«
Vor allem SWR-Intendant Kai
Gniffke, der Buhrow zum Jahres-
wechsel an der ARD-Spitze ablöste,
soll verärgert gewesen sein. Wie arg-
wöhnisch die beiden einander seither
beäugen, zeigte sich nach einer Inter-
viewanfrage des SPIEGEL .
Nach Rücksprache mit dem WDR
teilt der SWR im Oktober zunächst
mit, Gniffke sei nur im Doppelpack
mit Buhrow zu haben. Im November
heißt es dann, man finde »leider
keinen Termin, bei dem Herr Buhrow
und Herr Gniffke zeitgleich an einem
Ort sind«, das Treffen müsse digital
stattfinden.
12,78 Ein vom WDR beauftragter PR-
ARD-
4,03 Gemeinschafts- Berater lässt unterdessen wissen,
aufgaben* Buhrow stünde eventuell auch allein
zur Verfügung. Das Angebot wird
9 ARD-Landes-
konkret. Am Tag bevor das Interview
rundfunk- stattfinden soll, sagt Buhrow ab.
anstalten: Gniffke lässt ausrichten, er habe
3,08 TV frühestens im Februar Zeit für ein
2,09 Hörfunk Interview. Buhrows PR-Mann wartet
wenig später mit einem neuen Solo-
0,46 Multimedia
0,42 Musik-
Termin auf: Mitte Dezember im
ensembles ARD-Hauptstadtstudio.
2,70 Sonstiges 25 Minuten vor dem SPIEGEL -Ge-
ARD ob es okay sei, wenn Gniffke sich dazuge-
selle. Der sei ebenfalls gerade in Berlin
und habe nun doch Zeit. Im Gespräch,
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 51
WIRTSCHAFT
das vor Weihnachten im SPIEGEL er-
scheint, wirken Buhrow und Gniffke
wie ein altes Ehepaar, das so tut, als
sei alles in Ordnung. Obwohl man aus
jedem Satz heraushört, wie unglück-
lich sie miteinander sind. Kaum eine
wesentliche Frage zur Zukunft der
ARD, in der sie übereinstimmen.
Buhrow sagt, dass es »nicht ohne
Schrumpfen« gehen werde. Gniffke
entgegnet, Schrumpfen sei »kein
Selbstzweck«. Eine Fusion mit dem
ZDF lehnt er ab. Buhrow will einen
runden Tisch einberufen, der einen
neuen Gesellschaftsvertrag für die
Öffentlich-Rechtlichen erarbeiten
soll. Gniffke hält davon wenig.
»Wir sind eins«, hatte die ARD mal
als Werbeslogan ausgegeben. Die tat-
sächliche Arbeitsgrundlage lautet:
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Einig sind sich die Anstalten nur
darin, dass jede sich selbst die Nächs-
te ist. So wie neulich, als es darum
ging, dass die ARD nicht mehr auf der
Berliner Funkausstellung präsent sein
will. Worauf der RBB forderte, auch
den Stand auf der Frankfurter Buch-
messe – also im HR-Sendegebiet –
aufzugeben. Auge um Auge.
Oder, noch skurriler, beim Wirt-
schaftsmagazin »Plusminus«, das von
sieben ARD-Anstalten im Wechsel
betreut wird. Seit Jahren gab es die
Idee, eine gemeinsame Moderatorin
zu installieren. Man einigte sich nach
ziemlichem Hin und Her und etlichen
Debatten auf Pinar Atalay. Dann
sprang ein Sender nach dem anderen
ab. Hinterher gab es nicht weniger
Moderatoren, sondern mehr. Anfang
Dezember wurde schließlich so etwas
wie ein Durchbruch verkündet. Künf-
tig wird Alev Seker »Plusminus« prä-
sentieren. Zumindest, wenn BR, HR,
52 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
MDR, NDR, SWR oder WDR dran
sind. Der Zwergsender SR dagegen
hält weiterhin an einer eigenen Mo-
deratorin fest. Zahn um Zahn.
Wie sehr der Föderalismus die
ARD lähmt, zeigt sich auch daran,
dass man sich lange mehrere Media-
theken leistete. Inzwischen gibt es nur
noch eine, sie untersteht Programm-
direktorin Christine Strobl. Auch sie
ist vorsichtig. Strobl kennt die politi-
schen Fallen im Senderverbund,
eigentlich ist sie eine Königin ohne
Reich, für alle wichtigen Entscheidun-
gen braucht sie die Zustimmung der
Intendanten. Immerhin hat sie eine
Idee davon, wie das ARD-Fernsehen
in ein paar Jahren aussehen könnte.
Strobl sagt, es gebe noch viel zu
tun in der Mediathek, aber sie sei
»nicht vergleichbar mit der vor zwei
Jahren«. Sie meint: als sie ihr Amt
antrat. Um das Digitalangebot aufzu-
werten, hat Strobl Budgets umschich-
ten lassen, im vergangenen Jahr 150
Millionen Euro. Das Erste zeigt nun
deutlich mehr Wiederholungen, das
eingesparte Geld fließt in Program-
me, die in der Mediathek geklickt
werden, im klassischen Programm
aber kaum Anklang finden würden.
Etwa die Show von Carolin Kebe-
kus, die mit etwas mehr als 900 000
Zuschauern im klassischen TV kein
großer Erfolg ist. Nach den alten Kri-
terien würde sie wohl nicht fortge-
setzt werden, sagt Strobl. In der Me-
diathek seien Videos der Sendung
aber 3,7 Millionen Mal aufgerufen
worden, auch in den sozialen Netz-
werken komme Kebekus sehr gut an.
»Für das, was wir vorhaben, brau-
chen wir Personen wie Caro.«
Einigen, die mit Strobl arbeiten,
geht das alles zu schnell. Mancher
sehnt sich nach Strobls introvertier-
tem Vorgänger Volker Herres zurück.
Der habe seine Leute »wenigstens in
Ruhe gelassen«.
Strobl ist im Vergleich zu Herres
eher eine Dränglerin. Sie will endlich
auf Augenhöhe kommen mit der
Streaming-Konkurrenz. »Wir brau-
chen einen öffentlich-rechtlichen Al-
gorithmus. Einen, der den regionalen
Aspekt berücksichtigt, also eine Sen-
dung über Bayern vorschlägt, wenn
du dich in Bayern einloggst. Aber
auch einen, der dich etwas weiter
wegführt. Wenn du einen Spielfilm
angeschaut hast, in dem es um die
Dürre geht, wirst du zu einer Doku
über Wasser und Dürre geleitet, die
du dir aus eigenem Antrieb nie an-
geschaut hättest.« Auch Kommentar-
funktionen würden gerade getestet.
Je länger Strobl redet, desto deut-
ZDF
licher wird, was der Senderverbund
verschlafen hat. Bei Netflix, Amazon
oder YouTube ist das alles selbstver-
ständlich. Bei der ARD ist es die Ent-
deckung der Langsamkeit.
2021 kündigten ARD und ZDF an,
ihre Mediatheken zu verzahnen. 2025
soll es endlich so weit sein. Doch
ZDF-Intendant Norbert Himmler
stellte vor einigen Tagen in einem
Interview klar, dass es sich dabei kei-
nesfalls um eine gemeinsame Media-
thek handeln werde, sondern um »ein
eng verknüpftes Inhalte-Netzwerk«.
Was immer das sein soll.
Der Fall Schlesinger hat auch
Himmler umgetrieben. Ende August,
als die Affäre ihren Lauf nahm,
schrieb er an seine Belegschaft, das
ZDF werde meist »im selben Atem-
zug wie die ARD« genannt. »Die
RBB-Krise und die Debatten, die da-
durch ausgelöst wurden, beschädigen
also auch indirekt das Ansehen des
ZDF«, heißt es in der E-Mail. »Sie
fragen sich möglicherweise, ob es bei
uns Vergleichbares gibt oder geben
könnte«, so Himmler weiter. Er ver-
sichere, »dass es im und für das ZDF
sehr professionelle und transparente
Kontrollmechanismen gibt«.
Angefügt war ein zwölfseitiges Do-
kument mit Presseanfragen, die das
ZDF in den Wochen zuvor erreicht
hatten, sowie Antworten darauf. Man
bekommt eine Ahnung, vor welchen
Schlagzeilen man im ZDF am meisten
Angst hat.
Es geht in dem Dokument um
Himmlers Gehalt (»eine Jahres-
vergütung von 371 880 Euro«). Um
Szene aus »ZDF seinen Dienstwagen: »Norbert
Magazin Royale« mit Himmler hat den laufenden Leasing-
Moderator Böhmer-
mann, Buhrow-Foto:
vertrag von seinem Vorgänger Tho-
Auge um Auge, mas Bellut im April dieses Jahres
Zahn um Zahn übernommen und damit auch sein

Fahrzeug, es handelt sich um einen BMW
740Ld xDrive.« Die Leasingrate betrage pro
Monat »508,16 Euro zzgl. Mehrwertsteuer«.
Und um seine Räume: »Die letzte Reno-
vierungsmaßnahme im Büro des Intendanten
wurde im Jahr 2012 durchgeführt. Dies ge-
schah in Zusammenhang mit dem vorherigen
Intendantenwechsel. Das Gesamtvolumen
der Maßnahmen belief sich auf 26 500,– Euro.
Norbert Himmler hat die Büroausstattung
seines Vorgängers übernommen.«
Seit dem Schlesinger-Schlamassel sind die
Intendanten mit Defensive beschäftigt. Bloß
keine Fehler machen, bloß nicht als Zampano
rüberkommen. Als guter Senderchef gilt be-
reits, wer seine Spesen sauber abrechnet. »Es
geht nichts schief, aber auch nichts voran«,
frotzelt ein früherer ARD-Hierarch.
Im RBB, dem Epizentrum des Skandals,
ist von der alten Führungsriege kaum noch
jemand übrig. Der Vorsitzende des Verwal-
tungsrats, Wolf, musste sein Amt aufgeben,
Justiziarin Susann Lange wurde nach langem
Hin und Her abberufen, ebenso Schlesingers
engste Mitarbeiterin. Der Verwaltungsdirek-
tor muss nach längerer Krankschreibung vor-
zeitig gehen. Der Programmdirektor verlässt
das Haus Ende Januar.
Dass die Interimsintendantin Katrin Ver-
nau das Haus derart durchschüttelt, hat mit
der Wut der Mitarbeiter zu tun, die den Aus-
tausch der Spitzenkräfte forderten. Und mit
der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, die
gegen mehrere Mitglieder der alten Führungs-
riege ermittelt, wegen mutmaßlicher Untreue
oder Beihilfe dazu. Es geht vorrangig um ein
kompliziertes und lange verheimlichtes Bo-
nussystem, das einzelnen Topmanagern üp-
pige Sonderzahlungen sicherte.
Ginge es nach dem RBB, handelte es sich
bei der Affäre Schlesinger um das Fehlver-
halten einer Einzelnen. Dokumente, die dem
SPIEGEL vorliegen, zeigen jedoch, dass es
schon unter ihrer Vorgängerin Dagmar Reim
um die Hauskultur nicht gut bestellt war.
Ein Fall datiert aus dem Mai 2014. Im Mit-
telpunkt steht der Jurist Michael Kühn, bis
heute tätig beim NDR. Kühn war damals ent-
sandt worden, um das beim RBB ansässige
ARD-Generalsekretariat zu leiten. Dort
machte er sich offenbar schnell unbeliebt.
In fotokopierten, anonym verfassten
Schreiben an den RBB wurden ihm Verfeh-
lungen vorgeworfen, darunter exorbitante
Kosten für »unnötige Fahrten« und Abend-
essen. Kühn hatte innerhalb eines Jahres mehr
als 9000 Euro Spesen angehäuft, mehr als ein
Viertel davon für Taxi-Trips innerhalb Berlins
und Hamburgs. So steht es in einem internen
Prüfungsbericht.
Die ARD-Richtlinien erlaubten solche Tou-
ren nur in Ausnahmen, etwa nachts oder bei
schwerem Gepäck. Da der damalige NDR-
Intendant und ARD-Vorsitzende Lutz Mar-
mor, Kühns Chef, jedoch jede einzelne der
Fahrten abgezeichnet hatte, sparte sich die
Revision eine »inhaltliche Überprüfung«, for-
mal wurde nichts beanstandet. Der NDR sagt
Mediathek, das klingt nach
Arbeit. Netflix nach Spaß.
heute, die Abrechnungen seien »einwandfrei«
gewesen, die Anschuldigung haltlos.
Anstatt diese Praxis zu hinterfragen, blies
RBB-Chefin Reim zur Jagd auf den anonymen
Hinweisgeber. So erinnert sich ein ehemaliger
Mitarbeiter. Die Intendanz habe nicht nur
angeregt, die Kopieranlagen im Haus darauf-
hin zu prüfen, ob die Schreiben dort verviel-
fältigt worden seien, sondern auch vorgeschla-
gen, die Handschrift mit der von Mitarbeitern
zu vergleichen. Selbst flächendeckende Scree-
nings von Festplatten soll sie erwogen haben,
dem Datenschutz zum Trotz.
Die Revision weigerte sich, den Whistle-
blower ausfindig zu machen. Es gebe dafür
»keine rechtlich unbedenkliche Möglichkeit«,
heißt es in einem Vermerk.
Mehrfach soll Reim sich in Ermittlungen
eingemischt haben. So schrieb ihr Referent
an die Revision, man würde die »Texte zur
Untersuchung der Kühn-Angelegenheit« gern
noch einmal überarbeiten. Später bat er da-
rum, sie nachträglich umzudatieren – »sonst
wundern sich alle, warum sie den Bericht so
spät erhalten haben«. Reim wollte sich auf
SPIEGEL -Anfrage dazu nicht äußern, ließ
aber durchblicken, dass sie die Vorwürfe für
unbegründet hält.
Um ein solches Mindset zu ändern, bräuch-
te es vor allem starke Aufseher. Rundfunk-
räte und Verwaltungsräte, die Skandale ver-
hindern und Reformen fordern. Der Input der
Hobbyparlamentarier bleibt indes überschau-
bar. Medienexpertise? Ist nicht zwingend.
Nicht mal in der ARD nimmt man die Gre-
mien ernst. Ein ehemaliger Hierarch lästert:
»Wenn der DGB jemanden entsenden muss,
sagt einer: Der Hans war immer ein Netter.
Jetzt geht er in Pension, er hat dann mehr Zeit
zum Fernsehen, den könnten wir in den Rund-
funkrat schicken.«
Ungeliebte Abgabe
Mahnmaßnahmen wegen ausstehender
Rundfunkgebühren*, in Millionen
20
15,7
10
0
2005 2015 2021
* ohne Vollstreckungen
S Quellen: ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice, GEZ
◆
WIRTSCHAFT
Ein Freitag im Dezember. Im Saal »Rosen-
garten« des Mainzer Parkhotels tagt der
SWR-Rundfunkrat. Es gibt Mini-Croissants,
Clementinen und Brot mit Aufstrich. Einer
der Rundfunkräte sagt am Buffet, er wäre
lieber im Bett geblieben. Auch sonst geht es
gemütlich zu. Protokolle werden abgenickt,
ohne dass jemand den Finger hebt. Gegen-
stimmen? Keine. Nur vier Enthaltungen, als
die Fortsetzung der Telenovelas »Rote Rosen«
und »Sturm der Liebe« abgesegnet wird.
Intendant Gniffke, promovierter Poli-
tologe, wird konsequent als »Professor Dok-
tor« angesprochen. Er schwört den Rund-
funkrat auf zwei Herausforderungen ein:
»Wir wollen die Gesellschaft zusammenhal-
ten und, by the way, auch die ARD.« Man
weiß nicht, welche der Aufgaben ihm schwie-
riger erscheint.
Zu diesem Zeitpunkt hat die ARD bereits
erste Reformen beschlossen. Einer der Spar-
tenkanäle soll gestrichen werden, vermutlich
One. Und Gesundheits- und Verbraucher-
themen werden künftig zentral recherchiert.
Gniffke skizziert das nur grob. »Wenn ich
sage, was wir vorhaben, fühlen sich acht an-
dere Anstalten schlecht behandelt.« Das Ver-
trauen zwischen den Sendern, sagt er, sei im
Moment ein wenig »angeknackst«.
Auch über funk wird geredet. Philipp
Schild, Geschäftsführer der Junge-Leute-
Plattform, beklagt, wie wenige Planstellen er
habe. Später, in kleiner Runde, rutscht Gniff-
ke ein Satz heraus, der zeigt, wie genervt
er selbst zuweilen ist: Schild wisse doch ge-
nau, wie schwierig es »in dieser verschissenen
ARD« gewesen sei, überhaupt Stellen für funk
rauszuholen.
Die Sitzung geht dem Ende zu, als sich
Leandro Cerqueira Karst ans Mikrofon stellt.
Karst ist entsandt vom Landesschülerbeirat
Baden-Württemberg. Mit seinen 23 Jahren
dürfte er halb so alt sein wie der Durchschnitt
im Saal, dafür ist er doppelt so gut vorbereitet.
Minutenlang stellt er Fragen, etwa zum Stel-
lenwert von Social Media.
Was ihn besonders beschäftigt: Er merke,
dass er bald zu alt sein werde für funk. »Was
kommt danach?« Irgendwer ruft: »SWR4!«
Das ist die Schlagerwelle. Gelächter. Fäuste
klopfen auf Tische. Eine zufriedenstellende
Antwort erhält Karst nicht.
Er selbst konsumiert ARD und ZDF nur
noch, wenn der Algorithmus sie ihm ins Han-
dy spült. Abends klickt er auf Amazon Prime
oder Disney+, es sind eingeübte Bewegungen.
Und die Mediathek? Schon der Name sei ein
Problem: Mediathek, das klingt nach Arbeit.
Netflix nach Spaß.
Was würde helfen? Eine Werbekampagne?
»Zu spät, der Zug ist abgefahren«, meint
Karst. Schon der ARD-Schriftzug, der in den
Sendungen eingeblendet wird, mache jungen
Leuten schlechte Laune. Er findet gut, wie
funk es gelöst hat: Die Logos der Sender ste-
hen dort am Ende der Beiträge. So können
sie niemanden verschrecken.
Alexander Kühn, Anton Rainer n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 53
WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Soll heißen, die großen Her-

steller nutzen die Krise, um ihre Ge-
winne zu steigern?
Souque: Wir sprechen von einer
Handvoll globaler Unternehmen.
Denen liefert Deutschland zu wenig
Ertrag, weil Lebensmittel hierzulande
deutlich billiger sind als anderswo.
Und sie nutzen die Inflation als Ge-
legenheit, um das auszugleichen.
Manche lassen es auch drauf ankom-
men. Beim Schokoriegel-Produzen-
ten Mars etwa stehen wegen des
Ukrainekriegs große Produktionsstät-
ten still. Die waren vermutlich fast
froh, uns eine Zeit lang nicht beliefern
zu müssen.
SPIEGEL: Welches Interesse sollten
Markenhersteller an überzogenen
Preisen haben? Sie verlieren doch
Marktanteile, wenn die Kunden in
der Krise zu billigeren No-Name-
Artikeln greifen.
Souque: Ich glaube, dass manche die
Gefahr unterschätzen: Die Kunden
haben eine Schmerzgrenze beim
Preis, wenn die überschritten ist, lö-
sen sie sich auch von lieb gewonne-
nen Marken. Das werden viele Multis

»Geiz ist wieder da, zu spüren bekommen.

SPIEGEL: Das müsste Sie freuen,
Ihre Eigenmarken profitieren von

aber geil finden der Entwicklung. Zumal Sie deren

Preise ebenfalls ordentlich angeho-
ben haben.

die Leute es nicht« Souque: Wir erhöhen die Anzahl die-

ser Artikel tatsächlich kräftig. Aber
auch wir mussten aufgrund steigen-
der Kosten die Preise anpassen. Das
David Klammer / DER SPIEGEL

macht sich prozentual oft stärker be-

EINZELHANDELRewe-Chef Lionel Souque, 51, erwartet im merkbar als bei den Markenartikeln.
nächsten Jahr weiter steigende Lebensmittelpreise. Und er wirft Unser Mineralwasser kostet jetzt
den Markenherstellern vor, sich an der Krise zu bereichern. 25 Cent statt 19 Cent, das sind 30 Pro-
zent mehr. Ein namhafter Hersteller
schraubt den Preis von einem auf
1,10 Euro hoch, also um zehn Prozent.
SPIEGEL: Herr Souque, wie teuer Vorjahresmonat um 21 Prozent ver- Konzernboss Die Leute zahlen aber in Euro und
wird ein Paket Butter in diesem teuert. Haben wir das Schlimmste Souque nicht in Prozent. Bei uns bleibt von
Jahr? damit hinter uns? dem Preisanstieg nichts hängen, beim
Souque: Hätte ich doch eine Kristall- Souque: Die Lebensmittelpreise fol- Markenartikler schon.
kugel! Die Aktionspreise waren rund gen, mit etwas Zeitverzug, den Roh- SPIEGEL: Wie kann das sein?
um Weihnachten so niedrig wie seit stoff- und Energiepreisen. In diesem Souque: Bei den Markenherstellern
Monaten nicht mehr. Das Paket kos- Jahr werden wir deshalb wohl noch fallen die gestiegenen Kosten ange-
tete unter zwei Euro, da haben sich einmal rund fünf Prozent Teuerung sichts der höheren Marge einfach we-
viele Leute eingedeckt. Immer mehr sehen, vielleicht auch etwas mehr. niger ins Gewicht.
frieren Butter sogar ein, das hat mich Wir haben für das erste Quartal 2023 SPIEGEL: Sie singen das Lied vom ar-
überrascht. bereits angekündigte Preiserhöhun- men Handel, der von der bösen In-
SPIEGEL: So günstig wird es kaum gen von Markenlieferanten im Wert dustrie gegängelt wird. Dabei haben
bleiben. von einer Milliarde Euro auf dem die großen Handelsketten enorme
Souque: Der Preis steigt gerade auf Tisch. Die lehnen wir strikt ab. Ins- Macht: Wenn Ihnen die Forderungen
deutlich über drei Euro bei den Mar- besondere große globale Konzerne »Viele der Hersteller zu dreist sind, werfen
kenmolkereien, und ich befürchte, wollen mehr Geld sehen, und da vor Sie die Produkte einfach aus dem Re-
das wird so weitergehen. Die Zeiten, allem US-Unternehmen. Darunter
Menschen gal. Sie haben zuletzt Kellogg’s aus-
in denen es ein halbes Pfund Butter sind auch solche, die ihren Investo- können es sortiert.
für 1,50 Euro gab, sind wohl leider ren gerade zwischen 20 und 30 Pro- sich anders Souque: Und andere haben entschie-
vorbei. zent Gewinnmarge verkünden. Ge- den, uns nicht mehr zu beliefern, weil
SPIEGEL: Allein im Dezember haben rade so, als verstünden wir hier kein nicht mehr wir die Preiserhöhung nicht akzep-
sich Lebensmittel im Vergleich zum Englisch. leisten.« tieren. Im vergangenen Jahr haben

54 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


wir bei der Industrie tatsächlich kräftig nach-
verhandelt. Nur die Hälfte der Preisforderun-
gen kam im Regal an. Und das ist auch für
2023 mein Ziel. Wir werden genau hinsehen:
Wenn ein Kaffeehersteller seinen Preis um 5,
der andere um 15 Prozent anheben will, ob-
wohl sie dieselbe Kostenbasis haben müssten,
kann etwas nicht stimmen. Oder wenn ein
Frühstücksflocken-Konzern in Frankreich
5 Prozent mehr verlangt, in Deutschland aber
30 Prozent mehr haben will. Da gehen wir
rigoros vor.
SPIEGEL: Wie weit können Sie gehen? Ein
Rewe-Markt ohne Nutella, ohne Coca-Cola
und ohne Kellogg’s-Flocken ist kaum vor-
stellbar.
Souque: Mir wäre es auch lieber, wir kämen
mit allen gut klar. Markenartikel sind für unse-
re Kunden sehr wichtig und damit für uns –
wir verdienen damit letztlich auch mehr. Zur
Wahrheit gehört aber: Für globale Konzerne
sind wir Peanuts. Die machen mit uns gerade
mal ein Prozent ihres Geschäfts. Einige Kon-
zernchefs habe ich sogar direkt angeschrieben.
Von manchen bekam ich nicht mal eine Ant-
wort.
SPIEGEL: Geht das Preisspiel irgendwann auch
wieder rückwärts?
Souque: Das muss es. Wenn es hochgeht, sind
alle dabei, aber wenn die Kosten fallen, ruft
keiner von den großen Konzernen bei mir an,
um die Preise zu senken. Sonnenblumenöl ist
das beste Beispiel. Als es nicht mehr so knapp
war wie zu Beginn des Krieges, haben klei-
nere Hersteller ihre Preise gesenkt. Die Kol-
legen von Nestlé bestanden darauf, dass der
Preis bei Thomy teurer bleibt.
SPIEGEL: Während der Pandemie gehörten
die Supermärkte zu den großen Profiteuren
– immer geöffnet und oft leer gekauft. Mit
diesem Puffer im Rücken könnten Sie doch
jetzt locker auf Marge verzichten, zugunsten
der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Souque: Im Lebensmittelhandel haben wir
rund 2 Prozent Marge, die Markenindustrie
hat 15 bis 30 Prozent. Wir haben dieses Jahr
allein in Deutschland schon einen mittleren
dreistelligen Millionenbetrag investiert, um
die Preise so stabil wie möglich zu halten.
Aber auch unsere Kosten steigen: Strom, Mie-
te, Löhne. Würden wir 3 Prozent Marge ver-
lieren, wären wir pleite. Für einen Spirituo-
senhersteller wie Pernod-Ricard bedeutet dies
nur, dass er mal kein neues Rekordergebnis
vorlegen kann.
SPIEGEL: In der Krise boomen Sonderange-
bote und Discountartikel. Kommt »Geiz ist
geil« zurück?
Souque: Geiz ist wieder da, aber geil finden
die Leute es nicht. Menschen, die vorher hö-
herwertige Produkte gekauft haben, greifen
jetzt in die untere Preiskategorie. Ein Beispiel:
der 2,5-Kilo-Sack Kartoffeln. Von den güns-
tigsten haben wir in den vergangenen Mona-
ten 69 Prozent mehr verkauft, von den teu-
reren Bio- oder Regionalkartoffeln 7 Prozent
weniger. Ähnlich sieht es bei den Birnen aus:
29 Prozent mehr Menge beim Einstiegspreis,
37 Prozent weniger bei allen anderen Varian-
ten. Viele Menschen können es sich anders
nicht mehr leisten. Andere, wie ich, möchten
einfach nicht abgezockt werden.
SPIEGEL: Gehen Sie überhaupt noch selbst
einkaufen?
Souque: Meine Frau macht den Familienein-
kauf häufiger als ich, aber ja, ich kaufe auch
selbst ein.
SPIEGEL: Und dann zücken Sie Ihre Mitarbei-
terkarte und bekommen zehn Prozent Rewe-
Rabatt.
Souque: Nein, diese Karte hat meine Frau.
SPIEGEL: Wird die Inflation alle Bemühungen
der vergangenen Jahre um eine Ernährungs-
wende zunichtemachen, weil die Kundinnen
und Kunden an Bio und Regionalität sparen?
Souque: Ich hätte erwartet, dass der Trend
noch viel stärker ins Stocken gerät, so wie in
Frankreich. Dort ist die Biowelle komplett
zusammengebrochen. Das ist hier nicht der
Fall, aber der Boom mit zweistelligen Wachs-
tumsraten ist vorbei, wir spüren da einen
Stopp.
SPIEGEL: Vor allem Schweinebauern leiden
unter den Billigpreisen, gleichzeitig sollen sie
ihre Ställe tierwohlgerecht umbauen. Selbst
einzelne Handelsmanager geben zu, dass es
an der Bereitschaft fehlt, höhere Preise für
das Tierwohl durchzusetzen. Tun Sie zu wenig?
Souque: Wir haben bei Schweinen und Ge-
flügel die niedrigste Haltungsstufe aussortiert,
die gibt es nicht mehr in unseren Märkten.
Wir gehen auf Schweinefleisch aus Deutsch-
land, von der Geburt der Tiere bis zu ihrer
Verarbeitung. Wir sind gegen die Tötung von
Küken vorgegangen. Aber Rewe wird all die-
se Probleme nicht allein lösen können.
SPIEGEL: Es würde ja schon genügen, wenn
Sie versuchten, Ihren Kunden höhere Preise
Die Lebensmittel-Inflation
Verbraucherpreise in Deutschland,
Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent
insgesamt Nahrungsmittel Energie*
20
10
0 SPIEGEL: Für einen Konzernchef agieren Sie
− 10
Dez. Dez. Dez. Dez. Dez.
2017 2018 2019 2020 2021
Biolebensmittel-Ausgaben in Deutschland,
Anteil an den Gesamtausgaben** in Prozent
8
7,3
5,2
4
0 es nicht. Ich habe mich geärgert, wie so viele
2017 2018 2019 2020 1. Hj.
2021
* Haushaltsenergie und Kraftstoffe; ** inkl. Getränke
S Quellen: Destatis, Dez. 2022: vorläufige Werte; GfK
◆
WIRTSCHAFT
für nachhaltig produziertes Fleisch schmack-
haft zu machen. Von solcher Werbung sieht
man in Rewe-Filialen wenig.
Souque: Wir könnten da in der Tat noch mehr
tun. Andererseits haben wir bereits über
40 Regionalprogramme für Fleisch im An-
gebot, die über 80 Prozent der Rewe-Märkte
in Deutschland abdecken. Dort sind wir direkt
mit den Landwirten im Austausch und zahlen
ihnen mehr, weil wir das Fleisch auch teurer
verkaufen können. Bei vielen anderen An-
geboten haben wir keine direkte Beziehung
zu den Landwirten – und dort werden die
Preise von Aldi und Lidl bestimmt. Sie sind
die Benchmark beim Preiseinstieg.
SPIEGEL: Wie steht es denn bei Rewe selbst
um die Nachhaltigkeit? Ihr Lieferservice etwa
setzt weiterhin auf Diesellaster und massen-
weise Papiertüten. Wie verträgt sich das mit
den Klimazielen?
Souque: Noch zu wenig. Wenn jemand bei
uns Ware bestellt und selbst abholt, bieten
wir Pfandkisten an, im Lieferdienst noch nicht.
Wir arbeiten gerade an einem System mit
Mehrwegtragetaschen auf Pfandbasis.
SPIEGEL: Rewe hat zuletzt für Aufsehen ge-
sorgt, weil Sie die Sponsoringpartnerschaft
mit dem DFB wegen der Debatte über die
»One Love«-Binde beendet haben. Wie viel
PR-Kalkül steckte dahinter? Der Vertrag wäre
ohnehin Ende Dezember ausgelaufen.
Souque: Aus dem baldigen Vertragsende ha-
ben wir nie ein Geheimnis gemacht. Aber
mir hat es einfach gereicht: Ich habe an dem
Abend ein Fußballspiel geschaut, als bekannt
wurde, dass die deutsche Nationalmann-
schaft die Binde nicht tragen wird, weil
die Fifa das nicht erlaubt. Darüber habe ich
mich tierisch aufgeregt und sofort mit mei-
nem Team besprochen, dass ich da etwas tun
will.
SPIEGEL: Haben Sie dafür ordentlich Applaus
von Ihren Kollegen bekommen?
Souque: Nicht von allen. Wir hatten gerade
erst das Sammelalbum in die Läden gebracht,
und der Vertrag war sehr teuer. Ich wollte
aber nicht so tun, als wäre nichts. Mein Pro-
24 blem ist nicht der DFB, mein Problem ist die
21 Entscheidung der Fifa und ihres Präsidenten
Gianni Infantino. Nur habe ich mit der Fifa
9 keinen Vertrag, ich kann nur beim DFB-Spon-
soring ein Zeichen setzen.
ganz schön emotional und aus dem Bauch
heraus.
Dez.
Souque: Das mag vorkommen, ist aber sicher
2022 nicht die Regel. Es war mir wichtig, Haltung
zu zeigen, und ja, es hat Geld gekostet. Unse-
re bereits gedrehten Werbespots haben wir
nicht gezeigt. Die 600 000 Sammelalben, die
7,2 wir für drei Euro je Stück verkauft hätten,
haben wir auf unsere Kosten gratis an die
Kunden gegeben. Insgesamt hat uns das meh-
rere Millionen Euro gekostet. Aber ich bereue
1. Hj.
2022 andere auch, mit dem Unterschied, dass ich
etwas tun konnte.
Interview: Simon Book, Kristina Gnirke n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 55
WIRTSCHAFT
Das neue Gold des
Nordens
E-MOBILITÄT Der Ex-Tesla-Manager Peter Carlsson will mit Northvolt zu
einer europäischen Supermacht für Batterien werden. Hat er überhaupt
noch eine Chance gegen die Konkurrenz aus Asien und den USA?
ie Goldstücke des Peter Carlsson sind
D zwei Kilogramm schwer, silbergrau und
so groß wie Videokassetten. Es sind
Batteriezellen, die Herzstücke moderner
Elektroautos, »das neue Gold der Weltwirt-
schaft«, schwärmt der Schwede. Bislang wer-
den die vor allem in Asien hergestellt. Carls-
son will das Geschäft nach Europa holen und
dem Kontinent neue Kraft verleihen.
Northvolt heißt sein Start-up, 2017 gegrün-
det, die erste Fabrik, Northvolt Ett, baute
er in Nordschweden. Als Kunden hat Carls-
son große Autokonzerne wie VW, BMW und
Volvo gewonnen. Das Projekt steckt noch
in der Pilotphase, die Nachfrage ist aber
bereits gigantisch: Die Produktion, bislang
nur in kleinen Stückzahlen, ist bis Ende des
Jahrzehnts ausverkauft. Das Auftragsvolu-
men liegt schon jetzt bei mehr als 50 Milliar-
den Euro.
56 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Carlsson, 52, ist eine charismatisch-dyna-
mische Erscheinung. Typ: Jürgen Klopp.
Knapp zwei Meter groß, breites Lächeln, mar-
kante Bassstimme. An einem Dezembermor-
gen schreitet er im Hoodie durch die Stock-
holmer Firmenzentrale und erklärt, was
schiefläuft in Europa: »Viel zu lange haben
wir uns auf das konzentriert, was wir am
besten konnten«, sagt er. Die Europäer hätten
immer nur die Hardware verbessert, statt
neue, innovative Produkte zu entwickeln. So
habe der Kontinent den Anschluss verloren.
Die Pläne des Schweden sind ambitioniert.
Bis Mitte des Jahrzehnts will er mit Northvolt-
Akkus – made in Europe – jährlich Hundert-
tausende E-Autos ausstatten. Sein Ziel: in die
Champions League der globalen Batterieher-
steller vorzustoßen. Und da hat sich Carlsson
mächtige Gegner ausgesucht, vor allem die
Hersteller aus Asien. Sie dominieren den
Unternehmer
Carlsson
Christian Aslund / DER SPIEGEL
Weltmarkt für Akkus zu mehr als 90 Prozent.
Allein CATL aus China beherrscht mehr als
ein Drittel. Ein gigantischer Player, an dessen
Geschäft die Investoren auch in Zukunft glau-
ben. An der Börse wird CATL, 2011 gegrün-
det, mit rund 130 Milliarden Euro bewertet –
fast doppelt so hoch wie VW.
Haben europäische Anbieter gegen diese
Übermacht überhaupt noch eine Chance? Fest
steht: Nur mit Zukunftsbranchen wie den Bat-
teriezellen könnte es gelingen, die Hundert-
tausenden Jobs, die hierzulande noch am
Verbrennungsmotor hängen, ins E-Zeitalter
hinüberzuretten. Oder hat Europa seine Rol-
le als Technologie- und Wirtschaftsmacht be-
reits verspielt? Carlsson sagt: »Nur wenn wir
eine eigene Batterie-Infrastruktur aufbauen,
werden wir Wachstum und Wohlstand ver-
teidigen können.«
Neben Northvolt drängen noch andere An-
bieter nach Europa. Bis 2030, so die bisherigen
Planungen, sollen auf dem Kontinent rund
30 Zellfabriken entstehen. Gebaut und betrie-
ben werden sie von Autokonzernen wie Stel-
lantis oder VW sowie von Spezialisten wie
CATL aus China. Northvolt gilt als einer der
wenigen europäischen Player, die genügend
Know-how besitzen, um den Rivalen aus Asien
Paroli zu bieten. Doch zuletzt haben sich auch
hier die Erwartungen eingetrübt. Schuld ist vor
allem der Ukrainekrieg, der die Energiepreise
in Europa in die Höhe trieb. Hinzu kommen
steigende Kreditkosten, ein enormer Block in
der kapitalintensiven Batteriebranche. Eine
neue Zellfabrik verschlingt insgesamt drei bis
sieben Milliarden Euro. Bis sie Gewinne abwirft,
vergehen Jahre. Für ein junges Unternehmen
wie Northvolt ist das kaum zu stemmen.
Das britische Vorzeigeprojekt Britishvolt
entging im November nur knapp einer In-
solvenz. Der italienische Wettbewerber Ital-
volt kämpft mit Verspätungen. Überdies er-
wächst in den USA neue Konkurrenz. Die
meisten Investorenmilliarden fließen mittler-
weile in dortige Batterieprojekte und nicht
mehr, wie in früheren Jahren, nach Europa.
Dahinter steckt politischer Wille. US-Prä-
sident Joe Biden stellt ab 2023 einen drei-
stelligen Milliardenbetrag für grüne Techno-
logien bereit, um auch Batterie- und E-Auto-
Hersteller ins Land zu locken. Findet Europa
darauf keine Antwort, warnt Carlsson, könn-
ten ganze Wertschöpfungsketten auf die
andere Seite des Atlantiks wandern. Europa
würde zur reinen Importregion degradiert.
Selbst Carlsson denkt mittlerweile darüber
nach, zunächst in den USA zu investieren –
und den Bau seiner geplanten Gigafabrik in
Heide, Schleswig-Holstein, zu verschieben.
Er ist mit solchen Überlegungen nicht allein.
In der Industrie kursieren Zahlen, wonach
sich mit einer Akkufabrik in den USA zehn
Milliarden Dollar und mehr an Staatsgeld ein-
streichen ließen.
Europas Standortpolitiker mühen sich,
Carlsson bei der Stange zu halten. Schleswig-
Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther
(CDU) traf sich mit dem Northvolt-Boss zum

frühmorgendlichen Joggen durch den
Berliner Tiergarten. Carlsson zeigte
sich anschließend beeindruckt von
der Fitness Günthers und seiner Bo-
dyguards. Auch inhaltlich sei man sich
nähergekommen, heißt es.
Der Schwede sprach auch mit Bun-
deswirtschaftsminister Robert Ha-
beck (Grüne), EU-Binnenmarktkom-
missar Thierry Breton, Kommissions-
vize Maroš Šefčovič sowie Handels-
kommissar Valdis Dombrovskis. Am
kommenden Dienstag ist Northvolt
zum Mobilitätsgipfel ins Kanzleramt
geladen. Am 13. Januar erhält Carls-
son dann zum Start der schwedischen
Ratspräsidentschaft eine Audienz vor
der gesamten EU-Kommission. »Die
politische Führung in Deutschland
und Europa«, sagt der Manager, »hat
den Ernst der Lage erkannt.«
Er hat schon einmal erlebt, wie
eine europäische Schlüsselindustrie
kurzerhand von der Konkurrenz aus
Übersee hinweggefegt wurde. Carls-
son war Einkaufsleiter bei Sony Erics-
son, einem führenden Handyanbieter.
Die Manager grinsten amüsiert, als
2007 in der Stockholmer Zentrale ein
neuartiges Mobiltelefon kursierte –
ohne Tasten, dafür mit großem,
schwarzem Bildschirm. Es kam aus
Kalifornien und nannte sich iPhone.
Das Apple-Produkt sei schlecht
gebaut, glaubten die Schweden. Ein
»piece of shit«, kaum zukunftsfähig.
Sony Ericsson ist inzwischen zer-
schlagen, die Weltmarktführer sitzen
in den USA und Asien. Den nächsten
iPhone-Moment erlebte Carlsson
wenige Jahre später, diesmal auf der
Seite der Sieger. 2011 wechselte er zu
Tesla, dem E-Auto-Pionier. Als Ein-
kaufschef zählte er zum engsten Füh-
rungszirkel um Konzernchef Elon Musk.
Von Branchengrößen wie VW und BMW
zunächst belächelt, bauten die Kalifor-
nier bald E-Fahrzeuge, die die deut-
schen Autobosse das Fürchten lehrten.
Auch wenn die Tesla-Aktie gerade
schwächelt: Bis heute schafft es kein
Hersteller, den Weltmarktführer für
E-Autos einzuholen, weder techno-
logisch noch bei den Stückzahlen.
Droht VW und Co. bald ein ähnliches
Schicksal wie einst Sony Ericsson?
Noch sieht Carlsson Chancen für
die etablierten Hersteller. Der Wett-
kampf um das Herz des E-Autos sei
nicht entschieden. Vor knapp zehn
Jahren stieß selbst Tesla an Grenzen.
Für sein neues Model 3 hätte der US-
Konzern damals die komplette global
verfügbare Batteriekapazität benö-
tigt. Carlsson erkannte in der globa-
Nor thvolt (2)
len Akku-Knappheit eine gewaltige
Geschäftschance. Gemeinsam mit
Tesla-Kollegen trieb er eine eigene
Batteriefertigung voran. Die Zellfa-
brik in der Wüste von Nevada gilt
heute als Vorbild für die ganze Branche.
2015 verließ Carlsson den E-Auto-
Pionier – ursprünglich weil er kürzer-
treten wollte. Doch die Ruhe währte
nicht lange. Der schwedische Investor
Carl-Erik Lagercrantz überzeugte
ihn, gemeinsam Northvolt zu gründen
und einen europäischen Batteriegi-
ganten aufzubauen. Die deutschen
Autobosse zeigten Interesse. Um sich
einen großen Teil der Northvolt-Pro-
duktion zu sichern, stieg als erstes
VW bei den Schweden ein. Mit rund
20 Prozent sind die Wolfsburger heu-
te größter Anteilseigner. Zum Eigen-
tümerkreis zählen außerdem BMW,
Siemens, die US-Bank Goldman
Sachs sowie Daniel Ek, der Chef des
Streamingdienstes Spotify.
Mittlerweile wächst Northvolt so
schnell, dass Carlsson sich Sorgen
macht, die Firma könnte ihren Start-
up-Charakter verlieren. Etwa 4000
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus
rund 110 Nationen arbeiten bei ihm,
fast doppelt so viele wie noch vor
einem Jahr. Im Januar wird eine spe-
zielle Taskforce dafür eingesetzt, die
bestehende Kultur zu retten. Eine
Idee ist, das komplette Personal in
40 Gruppen à 100 Leute einzuteilen.
Jede davon soll so schnell und un-
abhängig handeln wie ein kleines,
schlagkräftiges Unternehmen.
Zugleich wird die Führungsebene
professioneller. An die Spitze des
Aufsichtsrats rückt der ehemalige
SAP-Boss Jim Hagemann Snabe, der
auch das Kontrollgremium des North-
volt-Miteigners Siemens führt. Der
Däne gilt als Verfechter CO2-armer
Lieferketten – und eines starken
Europas. Der Kontinent benötige eine
eigene Batterie-Infrastruktur, fordert
er, wie Asien und die USA.
Die Politik zeigt sich entgegen-
kommend. Schon bald sollen die
Regeln für Staatshilfen in Europa bis
auf Weiteres gelockert werden. »Wir
WIRTSCHAFT
müssen Unterstützung über die ge-
samte Wertschöpfungskette ermög-
lichen«, erklärte EU-Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen
(CDU) in einem Brief. Das Verspre-
chen deckt sich mit einem Anliegen
Carlssons: Die EU solle nicht nur For-
schung und Entwicklung von Akkus
fördern, sondern auch den kostspie-
ligen Start der Massenfertigung.
Mit von der Leyens Hilfe steigen
auch die Chancen für die Gigafactory
in Schleswig-Holstein. »Es geht nicht
darum, ob die Fabrik in Heide gebaut
wird«, sagt Carlsson versöhnlich,
»sondern wann.« Die Frage ist nur,
ob am Ende nicht hohe Subventionen
vergeudet werden für Fabriken, die
Northvolt-Batterie- global doch nicht konkurrenzfähig
zellen, -Standort in sind. Mancher Automanager stört
Västerås: Die
politische Führung sich daran, dass die Zellen aus Schwe-
hat den Ernst der den teurer seien als Produkte aus Chi-
Lage erkannt na. Noch schafft es Northvolt nicht,
so kostengünstig zu produzieren wie
die Rivalen aus Asien – auch wegen
der dortigen Subventionen.
Auf mittlere Sicht hält Carlsson
sein Produkt für überlegen. Northvolt
produziere nachhaltiger, verzichte
etwa auf Rohstoffe aus Indonesien,
die dort unter fragwürdigen Bedin-
gungen abgebaut werden. In ungefähr
fünf Jahren werde es zudem keinerlei
Kostennachteil mehr geben. Bis dahin
soll die Produktion in Großserie lau-
Asiatische fen – was die Stückpreise senke.
Dominanz Im schwedischen Västerås, gut an-
derthalb Stunden von Stockholm ent-
Globale Marktanteile fernt, hat Northvolt mitten im Fichten-
der Batteriehersteller und Birkenwald ein mehrstöckiges
im 3. Quartal 2022,
in Prozent Entwicklungslabor hochgezogen. Hier
erforschen Spezialisten aus Ländern
CATL (China) wie Schweden, Japan und Indien, wie
35,1 ein geschlossenes System aus Produk-
LG (Südkorea) tion, Recycling und grüner Energie
14,1 funktionieren kann. Bis 2030 sollen
BYD (China)
50 Prozent der Rohmaterialien aus Alt-
batterien stammen, zehn Jahre später
12,8
schon mehr als 90 Prozent. Auch die
Panasonic (Japan) Stromversorgung soll weitgehend res-
8,1 sourcenneutral erfolgen: Die Gigafabrik
SK On (Südkorea) im nordschwedischen Skellefteå wird
6,2 mit Wind- und Wasserkraft betrieben.
Samsung (Südkorea) Vom Aufbau einer europäischen
4,9 Zellbranche, glaubt Carlsson, würde
CALB (China) auch die deutsche Industrie profitie-
4,0
ren. Maschinenbauer etwa könnten
sich auf Akku-Produktionsanlagen
Guoxuan (China) spezialisieren. Ein Milliardengeschäft,
2,9 das derzeit noch überwiegend in chi-
Sunwoda (China) nesischer Hand liegt. Das müsse sich
1,7 schleunigst ändern, fordert Carlsson:
SVOLT (China) »In den nächsten Jahren wird die in-
1,3 dustrielle Landkarte für die nächsten
sonstige Jahrzehnte gezeichnet.«
8,9 Noch klafft in Europa bei den Bat-
teriezellen ein großer, weißer Fleck.
S Quelle: SNE Research Simon Hage n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 57
WIRTSCHAFT
Bloß keine
Präsidentin
GELDINSTITUTE Die Sparkassen suchen eine
neue Verbandsspitze. Der Posten wird seit
knapp 100 Jahren immer mit einem Mann
besetzt. Nun bewirbt sich die erste Frau –
doch die Herren wehren sich mit allen Tricks.
eutschlands Sparkassen gelten
D als Hort der Stabilität. Welt-
kriege, Währungsreformen,
Nazityrannei: Die Ende des 18. Jahr-
hunderts gegründeten Institute über-
stehen stoisch alle Zeitläufte. Wäh-
rend der Finanzkrise von 2007 trugen
selbst hartgesottene Investmentban-
ker ihr Erspartes in die örtliche Filia-
le mit dem roten S. Dessen Farbton
HKS 13 haben die Kassen beim Deut-
schen Patentamt registrieren lassen,
um sich vor Nachahmern zu schützen.
Vom Nimbus ihrer Unverwüstlich-
keit zehren die Institute bis heute,
Veränderungsbereitschaft erwächst
aus dieser stabilen Seitenlage freilich
nicht. Das zeigt sich gerade jetzt, wo
dem nationalen Dachverband DSGV
Ungeheuerliches droht: erstmals eine
Frau als Präsidentin. Liane Buchholz,
57, Chefin des regionalen Sparkassen-
verbands Westfalen-Lippe, macht
sich Hoffnungen auf den Bundesvor-
sitz. Der Job wird frei, weil DSGV-
Präsident Helmut Schleweis, 68 – der
zehnte Mann seit Gründung des Ver-
bands 1924 –, nach sechs Amtsjahren
Ende 2023 ausscheidet.
Buchholz’ Gegenkandidat heißt
Ulrich Reuter, 60. Der Vorsteher des
Sparkassenverbands Bayern ist wohl
vor allem deshalb im Rennen, um die
Frau aus Westfalen zu verhindern –
eine bizarre Abwehrhaltung in einer
Zeit, in der weibliche Führungskräfte
verzweifelt gesucht werden.
21 Wahlberechtigte entscheiden
über die Nachfolge an der Spitze: die
Chefs der sieben Landesbanken ein-
schließlich DekaBank, elf regionale
Sparkassenverbandspräsidenten so-
wie drei Vertreter der kommunalen
Spitzenverbände – 19 Männer, 2 Frau-
en inklusive Buchholz.
Es geht um viel: Die 376 Sparkas-
sen, mit fast drei Billionen Euro ag-
gregiertem Geschäftsvolumen in der
58 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Gruppe nach eigenen Angaben Euro-
pas größter Finanzdienstleister, müs-
sen moderner und digitaler werden,
ohne ihr gewaltiges Filialnetz von
13 000 Geschäftsstellen zu opfern.
Der Personalbestand ist mit mehr als
200 000 Mitarbeitern enorm.
Viele Kassen sind in Not: Sie ha-
ben die Spargroschen ihrer Kunden
in Anleihen investiert, die wegen des
Zinsschocks an Wert verlieren. Die
Rudelschwächsten müssen durch Fu-
sionen mit Nachbarinstituten gerettet
werden. Auch Brüssels Regulierungs-
eifer macht zu schaffen.
Kurzum: Wer dem amtierenden
DSGV-Chef nachfolgt, erbt ein dickes
Pflichtenheft. Dafür locken rund eine
Million Euro Jahresgehalt und freies
Geleit bis in höchste Berliner Regie-
rungskreise. Schließlich sind die re-
21 Wahl­
berechtigte
entscheiden:
gional tief verwurzelten Sparkassen,
ihre Chefs und Verwaltungsräte wich-
tige politische Influencer, die vor Ort
mit Spenden an Sportvereine, Kultur-
19 Männer, einrichtungen oder soziale Projekte
2 Frauen. Stimmung machen können. Allein
2019 flossen 432 Millionen Euro.
Grund genug also, eine wie Buch-
holz an die Spitze zu wählen. Als ge-
bürtige Thüringerin ist sie System-
brüche gewohnt, inhaltlich vom Fach
und ein echtes Eigengewächs.
Die studierte Finanzmathemati-
kerin schloss sich nach der Wende
dem ostdeutschen Sparkassenver-
band an, gründete später ein Unter-
nehmen für Banksteuerungssysteme
und wurde zur Regulierungsexpertin.
Als Präsidentin des Sparkassenver-
bands Westfalen setzte sie die Fusion
Kandidatin zweier Versicherer durch, die zur
Buchholz: Ginge
es nach Qualifikation,
Gruppe gehören, und hat auch sonst
führte an ihr Gestaltungsdrang. Ihr Gegenkandidat
kein Weg vorbei Reuter hat nie operativ für eine Spar-
Tim A . Marquardt
kasse gearbeitet und war im Wesent-
lichen Landrat in Aschaffenburg.
Ginge es nach Qualifikation, führ-
te an Buchholz also kein Weg vorbei.
Aber die meinungs- und durchset-
zungsstarke Powerfrau ist für viele
Besitzstandswahrer im DSGV offen-
kundig eine Zumutung. Vor allem für
diejenigen unter den 21 Wahlberech-
tigten, die ihre letzten Amtsjahre un-
gestört austrudeln lassen möchten
Die Sparkassen-Granden versu-
chen daher augenscheinlich alles, um
Buchholz auszubremsen. Als Prell-
bock haben sie Hans-Günter Henne-
ke vorgeschickt, DSGV-Vize und Ge-
schäftsführer des Landkreistages.
In einem Brief an das DSGV-Prä-
sidium fordert das Sparkassen-Ur-
viech ziemlich abrupt, dass Kandi-
daten für die Spitze 1974 oder später
geboren sein sollten. Subtext: Buch-
holz, 1965 geboren, ist zu alt. Zur Not
müsse der jetzige Präsident Schleweis
weitere zweieinhalb Jahre im Amt
bleiben, »um nach einem sorgfältigen
Findungsprozess im Jahre 2025 einen
Amtsnachfolger mit Mittel- bzw.
Langfristperspektive zu wählen«.
Zudem, so Henneke weiter, sei ver-
bandsintern gerade erst eine ver-
gleichsweise junge Quereinsteigerin
ins Präsidium aufgestiegen, was nach
»Stabilität in der Führung« rufe.
In ihrer Not lancieren Buchholz’
Gegner sogar Namen männlicher
Kandidaten, die von ihrem Glück
nichts wissen. Die Henneke freund-
lich gesinnte »FAZ« etwa brachte die
Staatssekretäre Jörg Kukies (Kanzler-
amt) und Sven Giegold (Wirtschafts-
ministerium) als »Aspiranten« ins
Spiel. Die mit Energiekrise und
Ukrainekrieg gut beschäftigten Re-
gierungs-Strippenzieher zeigen je-
doch weder Interesse an dem DSGV-
Spitzenjob, noch wurden sie über-
haupt gefragt – weder von Hennekes
Truppen noch der Tageszeitung.
Weil Buchholz zunehmend Unter-
stützer findet, soll sie nun offenbar
per Bauerntrick gestoppt werden. Am
16. Januar soll es eine Probeabstim-
mung geben – allerdings nur der re-
gionalen Sparkassenverbandschefs.
Die, so das Kalkül, dürften sich knapp
für Reuter aussprechen und ihn den
anderen wahlberechtigten Landes-
bankchefs und Kommunalvertretern
als einzigen Kandidaten präsentieren.
Buchholz wäre aus dem Rennen.
Reuter, Baujahr 1962, könnte per
Akklamation abgenickt werden. Dass
er die angeblich so wichtige Alters-
grenze deutlich reißt, wäre dann ver-
mutlich egal. Hauptsache, ein Mann
bleibt an der Spitze.
Tim Bartz n
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WIRTSCHAFT
Verzahnter ist
nicht mehr
unbedingt besser
ESSAY Wir stehen vor einer neuen Phase der
Globalisierung. Dafür braucht Deutschland
eine Wirtschaftspolitik, die die Interessen des
Landes von denen einzelner Branchen trennt.
Von Moritz Schularick
er Traum ist aus: So brachten
D Rio Reiser und Ton Steine
Scherben das jähe Erwachen
in einer anderen Wirklichkeit
einst musikalisch auf den Punkt.
Ein halbes Jahrhundert später passt
die Formulierung erneut in die
Dustin Preick
Stimmung. Ist der Traum einer
prosperierenden und friedvollen
Globalisierung ausgeträumt? Stehen
Schularick, Jahrgang wir an der Schwelle einer Zeiten-
1975, ist Professor
in Bonn und hat
wende in der Weltwirtschaft, einer
sich mit historisch- Abkehr vom liberalen Grundton der
empirischen Studien internationalen Wirtschaftspolitik?
über das Entstehen Abgesänge auf die Globalisie-
von Finanzkrisen
weltweit einen
rung gab es freilich schon viele.
Namen gemacht. Nach den Terroranschlägen vom
11. September 2001, der globalen
Finanzkrise von 2008 oder dem
Scheitern des transatlantischen Frei-
handelsabkommens sagten nicht
wenige Beobachter das Ende der
Globalisierung voraus. Auch heute
sind diese Warnungen wieder popu-
lär. So sieht etwa Kristalina Geor-
gieva, die Chefin des Internationa-
len Währungsfonds, ebenso eine
drohende De-Globalisierung und
Fragmentierung der Weltwirtschaft
wie Larry Fink, der Chef von
Blackrock, dem größten Vermö-
gensverwalter der Welt.
In der öffentlichen Debatte ist
nur noch wenig von den Erfolgen
der Globalisierung zu hören. Statt-
dessen werden ihre Schattenseiten
thematisiert: die unkalkulierbaren
Abhängigkeiten vom Ausland,
die Krisenanfälligkeit, die Tatsache,
dass die Wachstumspotenziale der
Globalisierung leider auch solche
Staaten stark machen, die nicht
zum engeren Freundeskreis gehö-
60 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
ren. Wie klug kann es sein, durch
den freien Fluss von Ideen und
Investitionen den geopolitischen
Rivalen von morgen stärker zu
machen, als er es allein schon wäre?
Aus ökonomischer Perspektive
lässt sich die Problematik der Glo-
balisierung auf zwei zentrale Be-
griffe bringen: Effizienz und Inter-
dependenz. Effizienz beschreibt
die handfesten Vorteile, die sich aus
globaler Arbeitsteilung ergeben.
Produziert wird dort, wo sich dies
am günstigsten tun lässt; Kapital
fließt dorthin, wo Investitionen die
höchste Rendite abwerfen. Das Er-
gebnis ist eine verästelte, komplexe
Weltwirtschaft mit mehr Handel,
mehr Wachstum und mehr Wohl-
stand, aber eben auch mit größerer
Interdependenz: Die deutsche
Autoproduktion ist auf Chips aus
Taiwan angewiesen; der amerikani-
sche Pharmakonzern auf deutsche
Patente; die Flugzeugproduktion in
Frankreich auf Flügel aus Großbri-
tannien. Interdependenz heißt auch
Abhängigkeit und Kontrollverlust.
Bis vor Kurzem haben nur weni-
ge Ökonomen die wachsende Inter-
dependenz kritisch gesehen. Im
Gegenteil gibt es eine lange Tradi-
tion im ökonomischen Denken, die
zunehmende Abhängigkeiten für
erstrebenswert hält. Nicht nur aus
Gründen ökonomischer Effizienz,
sondern aufgrund ihrer positiven
politischen Nebenwirkungen:
Gegenseitige Verflechtung und Ab-
hängigkeit, so die Idee, macht die
Welt politisch sicherer, friedvoller
und stabiler.
Je enger Länder miteinander
verzahnt sind, umso stärker sind die
gesellschaftlichen Interessen, die
»in natürlicher Opposition zum
Krieg« stehen – so formulierte der
englische Philosoph John Stuart
Mill im Jahr 1848. Ein Jahrhundert
zuvor hatte schon Montesquieu, der
Vater der Gewaltenteilung, von den
befriedenden Kräften des »sanften
Handels« (»doux commerce«) ge-
sprochen. Auch Kant ging in seiner
Abhandlung vom »Zum ewigen
Frieden« von der vergemeinschaf-
tenden Kraft des Welthandels aus.
Die Idee einer Globalisierung, in
der sich das ökonomische Effizienz-
versprechen und die positiven poli-
tischen Effekte wachsender Inter-
dependenz gegenseitig verstärken,
hat also einen ehrenwerten intellek-
tuellen Leumund.
Doch hielt die Realität den Er-
wartungen stand?
Einerseits spricht vieles dafür,
dass die Globalisierung ihr Effizienz-
versprechen erfüllt hat. Zahlen der
Weltbank zeigen, dass im Jahr 1981
noch rund 44 Prozent der Welt-
bevölkerung mit weniger als 2 Dol-
lar und 15 Cent am Tag auskommen
mussten. Im Jahr 2019 waren es nur
mehr rund 8 Prozent. Die Einkom-
men der ärmeren Hälfte der Welt-
bevölkerung sind seit 1980 um rund
75 Prozent gewachsen. Die Globali-
sierung hat also nicht zuletzt denen
geholfen, deren Schicksal uns am
meisten am Herzen liegen sollte:
den Ärmsten der Welt.
Natürlich ist auch richtig, dass es
immer noch viel zu viel Armut in
der Welt gibt, die Ungleichheit in
vielen Ländern gestiegen ist und
dass einige Teile der Welt bis heute
nicht von der Globalisierung profi-
tiert haben. Und vielleicht hätte die
globale Armut mit einer anderen
Politik noch schneller und mit
geringeren Schäden für das Klima
reduziert werden können. Aber das
Glas ist zumindest halb voll.
Andererseits hat die Globalisie-
rung ihr zweites Versprechen bisher
nicht halten können. Das Ziel einer
politischen Befriedung der Welt
durch mehr Interdependenz lag
schon vor dem russischen Angriffs-
krieg auf die Ukraine in weiter Ferne.
Vor rund 15 Jahren haben Niall Fer-
guson und ich den Begriff »Chime-
rica« geprägt, um auf die gegenseiti-
ge Abhängigkeit zwischen chinesi-
schen Sparern und amerikanischen
Konsumenten hinzuweisen, die sich
in den 2000er-Jahren entwickelt
hatte. In »Chimerica« steckte auch
die Chimäre, das Monster der grie-
chischen Mythologie. Schon damals
zweifelten wir daran, dass die öko-
nomische Ehe zwischen der Super-
macht USA und ihrem einzigen
denkbaren Rivalen von Dauer sein
würde. Sie war es nicht. Heute ist
der neue Kalte Krieg zwischen
den USA und China zur Realität
geworden.
ndere Indikatoren zeigen
A ebenfalls in die falsche Rich-
tung. Global ist die Anzahl
der Demokratien seit Jahren rück-
läufig. Der jährliche Bericht zur Ent-
wicklung der Freiheit in der Welt,
der von Freedom House zusam-
mengestellt wird, offenbart, dass
seit 16 Jahren demokratische Frei-
heiten in der Welt kontinuierlich
abnehmen. Nur noch 20 Prozent
der Weltbevölkerung leben heute in
Ländern, die von Freedom House
als »frei« klassifiziert werden –
2005 waren es noch mehr als dop-
pelt so viel. Politikwissenschaftler

sprechen schon seit Längerem von
einer globalen »demokratischen Re-
zession«. Und in den verbleibenden
Demokratien sind oft Populisten
auf dem Vormarsch.
Die Globalisierung ist nur zum
Teil für wachsende gesellschaftliche
Polarisierung und demokratische
Rezession verantwortlich. Aber der
Schlachtruf des »Take Back Con-
trol«, mit dem die britischen Brexi-
teers erfolgreich auf Stimmenfang
gingen, hallt heute in der einen oder
anderen Weise in vielen Ländern
nach – als »America First« oder als
»La France Insoumise«. Die Wahr-
nehmung eines Steuerungsverlusts
nationaler Politik ist in vielen Län-
dern der Nährboden für populis-
tische Politiker. Die sind mit ihren
nationalistischen und protektionis-
tischen Parolen selbst dann erfolg-
reich, wenn ihre Politik wie im Fall
des Brexits zu deutlichen Wohl-
standseinbußen führt.
Unter dem Strich hat ökono-
mische Interdependenz weder im
Äußeren noch im Inneren politisch so
stabilisierend gewirkt, wie Kant und
Co. sich das gedacht haben. Inter-
dependenz birgt eben auch Kon-
fliktpotenzial und Verletzbarkeiten.
Eine neue Weltwirtschaftspolitik
wird deshalb Effizienz und Inter-
dependenz im Spannungsverhältnis
sehen müssen: so viel Effizienz und
Arbeitsteilung wie möglich, aber so
viel Unabhängigkeit wie nötig. Die
Regierenden werden zunehmend
bereit sein, Sand in das Getriebe
der globalen Arbeitsteilung zu
streuen, und zwar dort, wo das freie
Walten der Marktkräfte zu über-
mäßigen Abhängigkeiten führen
würde oder bereits geführt hat –
wie im Fall China. Denn Inter-
dependenz verursacht Kosten, die
womöglich zunehmen, je verfloch-
Der Trend tener die Welt ist. Mehr ist dann
bricht nicht mehr automatisch besser.
Die vergangenen Monate haben
Bedeutung des nicht nur gezeigt, dass es solche Kos-
Welthandels* für ten gibt, sondern auch, dass sie von
ausgewählte Länder, den handelnden Unternehmen nicht
in Prozent des BIP
eingepreist wurden. So hat die be-
Deutschland triebswirtschaftliche Wette auf billi-
Kanada Japan ges Gas aus Russland (mit staatlicher
USA Welt insg. Billigung) ganze Industriezweige
in Deutschland in die Abhängigkeit
von einem unkalkulierbaren Re-
80
gime gebracht. Für die Kosten die-
ser Abhängigkeit hat das Land als
Ganzes die Rechnung bezahlt – an-
60 fänglich mit geringeren außenpoliti-
schen Spielräumen, später mit der
Umstellung auf Flüssigerdgas und
kollektiven Sparanstrengungen.
40
Eine ähnliche Konstellation war –
unter anderen Vorzeichen und mit
anderen Beteiligten – in der glo-
20 balen Bankenkrise von 2008 zu be-
obachten. Damals sind einzelne
Finanzunternehmen große Risiken
eingegangen, die dann von der Ge-
0
sellschaft getragen werden mussten.
1970 2000 2021 Um eine Privatisierung der Gewinne
* Summe der Exporte und bei gleichzeitiger Sozialisierung der
Importe von Waren und
Dienstleistungen Kosten fortan zu verhindern, wurde
S Quelle: Weltbank die Bankenregulierung nach 2008
◆
teils deutlich verschärft.
Anders als damals geht es heute
vor allem um Industrieunterneh-
men, die im Interesse höherer
Verkaufszahlen oder günstigerer
Rohstoffe Wetten auf nicht demo-
kratische Import- und Exportmärk-
te eingehen. Die Politik wird in
Zukunft mehr als bisher die Risiken
solcher Abhängigkeiten aktiv
Erdkugel mit managen müssen. Im Ergebnis
Schiffsrouten in verschwimmen die Trennlinien zwi-
der Ausstellung
»Das zerbrechliche
schen der Außen- und Sicherheits-
Paradies« in politik und der Außenwirtschafts-
Oberhausen politik zunehmend.
Dieses neue Interdependenz-Ma-
nagement ist für Deutschland eine
besondere Herausforderung. Die
alte Bundesrepublik hat seit ihrer
Gründung die Sicherheitspolitik
weitgehend an die USA ausgelagert
und die Außenwirtschaftspolitik vor
allem unter kommerziellen Vorzei-
chen betrieben. Die betriebswirt-
schaftlichen Interessen deutscher
Unternehmen galten dabei als
weitgehend deckungsgleich mit den
Interessen des Landes. Nach dem
Ende des Kalten Krieges hat
Deutschland das vorherrschende
Globalisierungsnarrativ bereitwillig
umarmt und dabei außenwirtschaft-
Friedrich Stark / epd
liche und sicherheitspolitische Fra-
gen weiter getrennt. Im Resultat
fehlt dem Land heute die intellek-
tuelle Infrastruktur, um über eine
WIRTSCHAFT
neue Weltwirtschaftspolitik nachzu-
denken. Nur noch wenige Universi-
täten verfügen etwa über Expertise
zu außenwirtschaftlichen Themen.
Dabei wird auf absehbare Zeit
ein pragmatisches Navigieren in
trüben geoökonomischen Gewäs-
sern auf der Tagesordnung stehen.
Es wird darum gehen, einen Rück-
fall in Protektionismus zu
vermeiden, ohne wichtige geopoliti-
sche Ziele den kurzfristigen Profit-
chancen einzelner Branchen zu
opfern. Bei einer solchen Neufor-
mulierung der deutschen Weltwirt-
schaftspolitik ist mit erheblichem
Widerstand von wichtigen Playern
im Lobbymarkt zu rechnen. Die
Gasdebatte der vergangenen Mona-
te gab darauf bereits einen Vorge-
schmack.
lar ist zudem, dass Europa
K eine zentrale Rolle für die
künftige deutsche Weltwirt-
schaftspolitik spielen wird. Einer-
seits muss Europa den Interessen
auf der globalen Bühne Gehör ver-
schaffen, andererseits ist es als Resi-
lienzraum für die deutsche Wirt-
schaft unverzichtbar geworden. Im
europäischen Binnenmarkt lassen
sich Arbeitsteilung und Sicherheit
verbinden. Die Krisen der vergan-
genen Jahre haben gezeigt, dass
Europa funktioniert, wenn es zu-
sammensteht.
Doch Europa kann nur zum glo-
balen Player werden, wenn es selbst
krisensicher ist. Auch hier wird in
Zukunft ein Umdenken nötig sein.
Deutschland wird lernen müssen,
etwa Fragen der europäischen Fi-
nanzarchitektur und der ökonomi-
schen Risikoteilung in Europa auch
als Teil einer größeren Strategie zu
sehen, die Europa wetterfest macht
für die weltwirtschaftlichen Stürme
des nächsten Jahrzehnts.
Deutschland braucht ein krisen-
festes und handlungsfähiges Europa,
weil die USA auf absehbare Zeit als
Führungsnation der Globalisierung
ausfallen könnten. Im neuen Kalten
Krieg mit China genießt ein offenes
Weltwirtschaftssystem in den USA
keine hohe Priorität mehr. Die Pa-
rallelen zu den Zwanzigerjahren
sind offenkundig. Die erste Globali-
sierung zerbrach, weil die USA
ihrer Führungsrolle nicht mehr
nachkamen. Deutschlands künftiger
Wohlstand hängt nicht zuletzt da-
von ab, ob Europa in der neuen
Phase der Globalisierung diese Rol-
le übernehmen und die Idee einer
offenen Weltwirtschaft verteidigen
kann. n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 61
 AUSLAND
AFP

Sehnsüchtig erwarten Angehörige die Freilassung von Familienmitgliedern aus dem Insein-Gefängnis bei Yangon. Zum 75. Jahrestag der Unabhängig-
keit von der britischen Krone am 4. Januar hatte die Militärjunta in Myanmar angekündigt, mehr als 7000 Gefangene zu begnadigen. Diese Massen-
amnestien zu Feiertagen ändern wenig an der Tatsache, dass seit dem Militärputsch vor zwei Jahren Tausende weitere Regimekritiker inhaftiert
wurden. Die Haftstrafe der entmachteten Volksheldin Aung San Suu Kyi verlängerte ein Militärgericht erst Ende Dezember auf absurde 33 Jahre.

Mit Blick auf Schwedens Vorsitz im EU-Rat werden nun wenig

Blockierer in Brüssel?
ANALYSE Die Rechtspopulisten drohen bei Schwe-
dens Vorsitz im EU-Rat großen Einfluss zu nehmen.
Es ist noch nicht lange her, da forderten die Schwedendemokra-
ten den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union.
Nach dem Brexit-Debakel sind die Rechtspopulisten zwar von
einem »Swexit« abgerückt. Europafreundlich ist die Partei
dadurch noch lange nicht, und in Brüssel bereitet das Sorgen.
Zum Jahresbeginn hat Schweden den Vorsitz im EU-Rat über-
nommen. Die neue politische Realität in Stockholm lässt be-
fürchten, dass die Schwedendemokraten der Ratspräsidentschaft
ihren Stempel aufdrücken. Im eigenen Land regieren sie jetzt
zumindest indirekt mit. Als Unterstützer der Minderheitsregie-
rung von Ministerpräsident Ulf Kristersson können sie bei allen
wichtigen Entscheidungen mitmischen. Im Koalitionsvertrag des
Mitte-rechts-Bündnisses ist verankert, dass sie den Regierungs-
parteien bei wichtigen Themen gleichgestellt sind. Das gilt aus-
drücklich auch für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
zuversichtliche Szenarien befeuert.
So leugnet etwa der Vorsitzende der Schwedendemokraten,
Jimmie Åkesson, den Klimawandel. Die schwedische Regierung
hat bei ihrer Klimapolitik bereits eine Kehrtwende vollzogen
und will etwa Subventionen für erneuerbare Energien eindamp-
fen. Denkbar ist nun, dass sich die Rechtspopulisten auch in-
nerhalb der EU klimafreundlichen Maßnahmen entgegenstellen.
Zur Blockiererin könnte die migrationsfeindliche Partei außer-
dem bei der anstehenden Reform des EU-Asylrechts werden.
Jedweder Asylkompromiss scheint mit ihnen plötzlich in weite
Ferne zu rücken.
Zuletzt dürfte auch der Umgang mit Polen und Ungarn und
ihren Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit zur Herausfor-
derung werden. Die Schwedendemokraten lehnen Strafmaßnah-
men wie das Zurückhalten von EU-Fördergeldern ab. Der
grüne Europaabgeordnete Jakop Dalunde sagte dem Nachrich-
tenportal »Euractiv«: »Dass Premierminister Ulf Kristersson
immer noch behauptet, er und seine Regierung seien in der
Lage, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen, während sie sich auf
die Schwedendemokraten verlassen, ist sowohl naiv als auch
gefährlich.« Anna-Sophie Schneider

62 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

 Regimekritik per Tae kennt das Land gut: Er war gimekritik und südkoreanische
nordkoreanischer Diplomat in Popmusik. Eine mehrjährige
Lautsprecher London, bevor er sich 2016 ab- Ruhephase endete 2015 abrupt,

Ute Grabowsky / photothek / IMAGO

SÜDKOREA Der nordkoreani- setzte. »Was Kim Jong Un am als es beinahe zu einem Krieg
sche Machthaber Kim Jong Un meisten fürchtet, sind Lautspre- zwischen Nord- und Südkorea
testet Raketen im Rekordtempo chermitteilungen, weil sie Sol- kam. Von 2018 an herrschte
und schickt Drohnen in die süd- daten erreichen, die entlang der wieder kurzzeitig Stille, damals
koreanische Hauptstadt Seoul. Grenze stationiert sind«, glaubt näherten sich die beiden ver-
Südkoreas Präsident Yoon Suk- Tae. Diese eigentümliche Art feindeten Staaten an. Nur zwei
yeol will solche Provokationen der psychologischen Kriegsfüh- Jahre später ließ Diktator Kim
nicht länger hinnehmen, seine Südkoreanischer Grenzsoldat
rung ist nicht neu in der Region: einige Megafone erneut aufstel-
konservativen Parteifreunde Über Jahrzehnte beschallten len. Geht es nach so manch
fordern einen noch härteren Lautsprecher aufzustellen, sich Nord- und Südkorea immer einem konservativen Südkorea-
Kurs. So schlägt der Parlamen- die gen Norden gerichtet sind wieder – von der einen Seite ner, zieht der Süden bald nach –
tarier Tae Yong-ho vor, entlang und die Nachbarn mit ihren dröhnte kommunistische Propa- an der Grenze könnte es wieder
der innerkoreanischen Grenze Botschaften aufrütteln sollen. ganda, von der anderen Re- laut werden. KPG

Regenbogen und kontrahenten. Möglicherweise

»Leere Einkaufskörbe« Todesstrafe
schon am Dienstag möchte Pre-
mier Morawiecki ein Gesetz auf
POLEN In der nationalkonser- den Weg bringen, das die um-
TÜRKEI Ökonom Izzettin Önder über Recep Tayyip vativen Regierungskoalition strittene Justizreform entschärft.
Erdoğans Wahlkampf während der Wirtschaftskrise herrscht Streit, obwohl Einig- Die EU hatte diese als Verstoß
keit zu Beginn des Wahljahres gegen das Prinzip der Rechts-
Önder, 83, lehrte SPIEGEL: Mieten und Lebens- dringend nötig wäre. Ausge- staatlichkeit kritisiert und rund
zwischen 1976 und mittel sind von den Preissteige- rechnet ein Auftritt der Hip- 36 Milliarden Euro an Corona-
2022 Wirtschafts- rungen besonders betroffen. Hop-Band The Black Eyed Peas hilfen eingefroren. Minister
wissenschaften an Interessiert die Menschen da in der Silvesternacht sorgte für Ziobro dagegen profiliert sich
der Istanbuler Bos- überhaupt die Inflationsrate? weitere Verstimmungen. Auf als antieuropäischer Scharf-
privat

porus-Universität. Önder: Viele Türken kennen die- Einladung des staatlichen Fern- macher und wertet jede Nach-
se Zahlen nicht. Sie sehen nur, sehens war die US-Band im besserung an der Justizreform
SPIEGEL: Herr Önder, im No- dass ihre Einkaufskörbe immer südpolnischen Zakopane aufge- als Einknicken gegenüber Brüs-
vember lag die Inflation in der leerer werden. Da helfen die treten und trug dabei demonst- sel. Seit Monaten versuchen
Türkei bei über 80 Prozent. Behauptungen der Regierung rativ Regenbogen-Armbinden. Morawieckis Leute hinter den
Nun ist sie deutlich gesunken. auch nichts. Rechte Hardliner wie Justizmi- Kulissen, Ziobro zum Einlenken
Ist die Krise vorbei? SPIEGEL: Im Juni stehen Parla- nister Zbigniew Ziobro protes- zu bewegen. Die Regierung
Önder: Die AKP-Regierung will, ments- und Präsidentschafts- tierten dagegen: Im von der Re- braucht das Geld, denn im
dass die Menschen das denken. wahlen an. Bekommt Präsident gierung kontrollierten Fernse- Herbst wählen die Polen ein
Doch eine sinkende Inflations- Erdoğan bis dahin die Krise in hen dürfe keine »Werbung für neues Parlament. Als freundli-
rate bedeutet lediglich, dass die den Griff? Homosexualität« gemacht wer- che Geste in Richtung ultrakon-
Preise langsamer steigen als zu- Önder: Die Zentralbanken in den. Der als gemäßigt geltende servativer Wähler war wohl
vor. Zum Höchststand der Infla- den USA und Europa haben an- Premierminister Mateusz Mora- diese Woche ein eher überra-
tion war eine Ware, die vorher gesichts der Inflation die Leit- wiecki entgegnete, man setze schendes Bekenntnis Morawie-
100 Euro kostete, etwa 180 zinsen erhöht. In der Türkei sich für »familiäre Werte« ein, ckis gedacht. Polens Premier
Euro wert. Jetzt sind es offiziel- passiert das Gegenteil: Die übe aber keinerlei Zensur aus. sagte, er befürworte die Todes-
len Zahlen zufolge immer noch AKP-Regierung überschwemmt Auch in Sachen Justizreform, strafe – auch wenn deren Ein-
160 Euro. Das sieht also nicht das Land mit billigem Geld. In- die das Land seit Jahren spaltet, führung derzeit nicht auf der
nach einem Ende der Krise aus. vestitionen, besonders aus dem sind beide Politiker die Haupt- Agenda stehe. JPU
SPIEGEL: Laut unabhängigen Ausland, sind wichtig, denn
Forschern ist die Inflation wir haben fast keine Rohstoffe.
aber immer noch höher, als es Aber die Inflation wird durch
das nationale Statistikamt diese Niedrigzinspolitik an-
»Turkstat« angibt. Zweifeln Sie geheizt. Die Regierung hat ver-
an den Zahlen? säumt, auf nachhaltiges Wirt-
Önder: Ich weiß nicht, wo die schaftswachstum zu setzen,
Mitarbeiter des Statistikamts stattdessen besorgte sie billige
einkaufen gehen. Auch die Kredite aus dem Ausland, und
Istanbuler Handelskammer hat wir sind abhängig von Devisen.
zuletzt Inflationswerte veröf- SPIEGEL: Was müsste die AKP-
fentlicht, die 28,7 Punkte über Regierung nun tun?
den Zahlen von »Turkstat« Önder: Erdoğan hat angekün-
liegen. Die AKP-Regierung ver- digt, zwei Millionen Türkinnen
Ar t Ser vice 2 / epa

sucht, alles im Land zu kontrol- und Türken früher in Rente

lieren, doch bei den Auswirkun- zu schicken. Gegen die Krise
gen der Wirtschaftskrise funk- hilft das nicht, aber sie werden
tioniert das nicht. Also bleibt nur, es ihm wahrscheinlich an den
die Zahlen zu fingieren. Wahlurnen danken. KOSS The Black Eyed Peas bei Silvesterkonzert in Polen

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 63

 AUSLAND
Die Schutzlosen
CHINA Erschöpfte Ärzte, überfüllte Krematorien und frische
Gräber auf den Feldern: Das Coronavirus trifft auf eine
völlig unvorbereitete Landbevölkerung. Experten rechnen mit
bis zu 1,7 Millionen Toten bis Ende April.
on seinem Pfirsichgarten aus sieht
V Bauer Shang Ruitai die Landstraße
nach Zanhuang, die gleich hinter den
dichten Pappeln verläuft. Sie verbindet die
Dörfer im Südwesten der chinesischen Pro-
vinz Hebei, sie ist die Lebensader des Kreises.
In den vergangenen Wochen aber ist sie zur
Allee der Toten geworden.
Fast jeden Tag eine neue Beerdigung, ir-
gendwo am Wegesrand. Männer, die mit Spa-
ten und Spitzhacke Gruben im hart gefrore-
nen Boden ausheben – wenn möglich bestat-
ten chinesische Bauern die Urnen mit der
Asche ihrer Angehörigen auf der eigenen
Scholle. Überall sieht man frische Gräber auf
den Feldern entlang der Straße. Kleine Erd-
hügel, darauf Plastikblumen in grellen Farben,
Grün, Orange, Violett.
Viele sind am Fieber gestorben. Ab Mitte
Dezember wurden sie plötzlich krank, in den
umliegenden Dörfern breitete sich Corona
AFP
64 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
mit rasender Geschwindigkeit aus. »Mindes-
tens 95 Prozent der Menschen unseres Dorfs
waren infiziert«, erzählt Bauer Shang in sei-
nem Pfirsichhain, er schneidet Zweige und
entfernt die Triebe, die im Vorjahr Früchte
getragen haben. »Im Dorf leben 1800, viel-
leicht 1900 Menschen«, sagt er. »Ich kenne
vier Leute, die im vorigen Monat in meinem
Dorf an Covid gestorben sind. Im Nachbarort,
wo ähnlich viele Menschen leben, waren es
sogar mehr als ein Dutzend Tote.«
Einen Monat nachdem die Regierung in
Peking das abrupte Ende der Null-Covid-Poli-
tik verkündet hat, existieren in China zwei
Welten parallel. In vielen der Metropolen, in
denen die Omikron-Welle zuerst durchrausch-
te, ist der Höchststand der Neuinfektionen
womöglich schon überschritten.
In Peking, Shanghai oder Guangzhou kehrt
der Alltag zurück, sind U-Bahnen, Restau-
rants und Einkaufszentren wieder voll. Sil-
vester wurde im Pekinger Ausgehviertel San-
litun so ausgelassen gefeiert wie seit 2019
nicht mehr.
Zwar sind die Zustände auf den Intensiv-
stationen weiterhin dramatisch, doch im Stra-
ßenbild schlägt sich die Misere nicht mehr
nieder – wer die großen Städte nicht verlässt,
kann sich dem oberflächlichen Eindruck hin-
geben, das Schlimmste sei überstanden. »Alle
halten mit großer Tapferkeit durch, und das
Licht der Hoffnung scheint direkt vor uns«,
sagte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping
in seiner Neujahrsansprache.
In Chinas ländlichen Regionen jedoch be-
ginnt das Drama erst: Omikron trifft dort auf
eine denkbar schlecht vorbereitete Bevölke-
rung. Die Impfrate ist niedriger als in den
Städten, das Gesundheitssystem weit schwä-
cher. Am Montag warnte die Nationale Ge-
sundheitskommission im Staatsfernsehen,
dass das Virus durch den Reiseverkehr zum
chinesischen Neujahr am 22. Januar in die
Fläche des Landes getragen werden könnte.
Derzeit geht das britische Unternehmen
Airfinity, das Gesundheitsdaten analysiert,
von täglich fast 16 000 Covid-Toten in China
aus. Bis zum 23. Januar könnten die Todes-
fälle auf einen Höchststand von 25 000 pro
Tag steigen und so bis Ende April 1,7 Millio-
nen Chinesinnen und Chinesen an den Folgen
einer Corona-Infektion sterben. Aus der
offiziellen chinesischen Statistik lässt sich
nichts dergleichen ablesen: Sie registrierte
vom 1. Dezember bis zum 4. Januar 25 Covid-
Tote im ganzen Land.
Selbst die im Umgang mit China oft so zu-
rückhaltende Weltgesundheitsorganisation
(WHO) teilte am Mittwoch mit, sie glaube
Leben
In der Stadt Nanjing
feiern Partygäste
in einer Bar Silvester.
Langsam kehrt der
Alltag in vielen
Metropolen zurück.

nicht, dass die von Peking gemeldeten Zahlen
das wahre Bild widerspiegelten. Wegen des
unkontrollierten Ausbruchs in der Volksre-
publik haben zahlreiche Länder inzwischen
eine Testpflicht für Einreisende aus China ein-
geführt, am Donnerstag kündigte Bundes-
gesundheitsminister Karl Lauterbach sie auch
für Deutschland an. WHO-Chef Tedros
Adhanom Ghebreyesus bezeichnete die Maß-
nahmen als »verständlich«.
Wer eine Ahnung davon bekommen will,
was dem ganzen Land in den nächsten
Wochen bevorstehen könnte, kann etwa in
Pekings Nachbarprovinz Hebei fahren oder
ins Umland der Millionenstadt Tianjin – länd-
liche Gebiete, eng genug an die Großstädte
angebunden, um früh von Omikron heim-
gesucht zu werden, und doch mit einer
schlechten medizinischen Infrastruktur aus-
gestattet.
Die Bauern des Dorfs »Neue Freude« in
der Provinz Hebei pflanzen im Winter Wei-
zen und im Sommer Soja an. Krankenpfleger
Liang Huibing betreibt hier mit seiner Frau
eine kleine Dorfpraxis, sie geben ihr Bestes,
um Erkältungen, Grippe und kleine Verlet-
zungen zu kurieren, in schweren Fälle schi-
cken sie ihre Patienten in die Stadt.
So war es bis zum 12. November, als sie
ihre Praxis zusperren mussten. Schuld war
die damals noch geltende Null-Covid-Politik:
Weil das Dorf wegen ein paar positiver Fälle
in der Nachbarschaft als »Hochrisikogebiet«
klassifiziert wurde, machten die Behörden
alles dicht. Die Geschäfte und Schulen, die
Metzgereien – und auch die einzige Arztpra-
xis weit und breit. Aufmachen durfte Liang
erst wieder am 7. Dezember, jenem Tag, an
Tod
Auf einem Feld in der
Provinz Hebei haben
Trauernde frisch
ausgehobene Gräber
mit Plastikblumen
geschmückt.
dem die Regierung in Peking sämtliche Ein-
schränkungen kassierte.
»Früher musste ich an der Tür die Tempe-
ratur von allen Patienten messen und positive
Fälle sofort melden, damit sie in eine Qua-
rantäneeinrichtung gebracht werden konn-
ten«, sagt er, »jetzt behandeln wir sie.« Jeden-
falls versuchen sie es. Vier Alte sitzen in der
winzigen Praxis dicht gedrängt auf einer Me-
tallbank, wie man sie wie auf Flughäfen oder
Bahnhöfen findet. Kochsalzlösung tropft
durch Kanülen in ihre Venen.
An seine erste Covid-Patientin kann er sich
noch gut erinnern: »Es begann am 10. De-
zember, morgens. Eine Frau über fünfzig, sie
hatte Fieber, Übelkeit und Durchfall. Ich habe
sie getestet, sie war positiv. Wir gaben ihr eine
Injektion, um das Fieber zu senken. In den
Tagen danach kam ihre Familie, ihr Mann und
ihre beiden Kinder, die sich alle angesteckt
hatten.« Und bald der gesamte Ort. »Mehr
als 90 Prozent der Menschen in unserem Dorf
haben sich inzwischen infiziert«, schätzt
Liang. Die Ersten konnte er noch testen und
ihnen Ibuprofen mitgeben. Doch inzwischen
ist sein Vorrat erschöpft, außer mit chinesi-
schen Kräutern oder einer Infusion kann er
im Moment nicht viel ausrichten.
»Am 17. Dezember spürte ich selbst ein
Kratzen im Hals, also machte ich einen Test,
und als ich feststellte, dass ich positiv war,
schlossen wir sofort, um niemanden anzu-
stecken.« Nach ein paar Tagen machten sie
wieder auf. Wie viele Menschen in den ver-
gangenen Wochen im Ort gestorben sind?
»Die Zahl haben wir nicht«, sagt er. »Aber es
gibt in diesem Jahr tatsächlich mehr Todes-
fälle als im Durchschnitt.«
AUSLAND
Eine Autostunde südöstlich des Zentrums
von Tianjin mit seinen Wolkenkratzern und
Einkaufszentren liegt ein Dorf in winterblei-
cher, platter Landschaft, umgeben von Wind-
kraftanlagen und Erdölpumpen. Der Ort ge-
hört zum Verwaltungsgebiet der 13-Millio-
nen-Metropole und doch zu einer anderen
Welt. Hier hat Zhang Baoli ihre Landpraxis.
Die 47-Jährige heißt in Wahrheit anders.
Wie in Hunderttausenden chinesischen
Dörfern haben die Behörden einen Teil der
alten Gehöfte planieren und auf dem Grund
Neubausiedlungen errichten lassen. In diesem
Dorf ist das augenscheinlich schon einige
Jahrzehnte her. Die vierstöckigen Gebäude-
riegel sind in die Jahre gekommen, ebenso
der Hof, der sie umgibt.
In einer Garage befindet sich der Behand-
lungsraum von Zhang Baoli. Ein Sofa, ein
abgewetzter Ledersessel und Plastikhocker,
darauf sitzen Patientinnen und ihre Angehö-
rigen. Auch in dieser Landpraxis stecken In-
fusionsnadeln in den Armen von vier Damen,
die älteste ist 91 Jahre alt. An ihrem Holz-
tischchen in der Ecke mischt Zhang ein bräun-
liches Pulver und eine Flüssigkeit in einer
Schale, streicht dann die Paste auf ein Pflaster
und klebt es einer jungen Frau auf die ent-
blößte Hüfte.
»Wenn man es genau nimmt, ist das hier
illegal«, sagt sie. Eine behördliche Genehmi-
gung galt lediglich für ihre ehemalige Klinik,
die sie im selben Ort etwa 20 Jahre lang be-
trieb, aber im vergangenen Jahr zusperrte.
Solange die Null-Covid-Politik galt, durfte
Zhang nicht einmal Aspirin oder Hustensaft
verschreiben – es hätte ja jemand seine Co-
vid-Symptome damit vertuschen können. Zu-
DER SPIEGEL
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 65
AUSLAND
dem ordneten die Behörden an, dass
sich immer nur ein einziger Patient in
dem Gebäude aufhalten durfte. Da
lohnte der Betrieb nicht mehr. »Ich
habe die Klinik zugemacht, weil sie
so streng waren«, sagt Zhang. Statt-
dessen fand sie einen Job als PCR-
Testerin in der Stadt. Ihr jetziges Pro-
visorium öffnete sie erst nach dem
Ende der Null-Covid-Politik.
»In meiner alten Klinik konnte ich
auch Sauerstoff verabreichen, aber in
dieser Garage geht das nicht«, sagt
sie. Zwar habe sie weiterhin Zugang
zu dem Klinikgebäude, »aber dort
gibt es jetzt weder Strom noch eine
Heizung, da kann ich keine betagten
Patienten behandeln«.
Es ist absurd: Anstatt die durch die
Null-Covid-Phase gewonnene Zeit zu
nutzen, um das unterentwickelte
ländliche Gesundheitswesen zu stär-
ken, hat die Regierung es durch ihre
rigide Politik sogar weiter geschwächt.
Denn ähnlich wie Zhang Baoli ging
es vielen Dorfärzten während der
Pandemie. Für die Landbevölkerung
sind sie in Gesundheitsfragen die ers-
te Anlaufstelle. Oft sogar die einzige,
jedenfalls in abgelegenen Gegenden.
Die Gemeinden stellen zwar meist
die Behandlungsräume, vielerorts
zahlt der Staat den Ärzten aber kein
Gehalt. Auch für die Untersuchungen
und Diagnosen dürfen sie kaum etwas
in Rechnung stellen. Stattdessen
erheben Dorfärzte gewöhnlich einen
Aufschlag von 15 bis 30 Prozent
auf die Medikamente, die sie zu
Großhandelspreisen beziehen und
ihren Patienten verkaufen. Vielleicht
30 Yuan bekommt man so pro Pa-
tient. Das sind gut vier Euro.
Die Bezeichnung »Arzt« ist dabei
in vielen Fällen noch geschmeichelt:
42 Prozent der praktizierenden Me-
dizinerinnen und Mediziner in China
haben keinen Universitätsabschluss.
Viele derer, die das Gesundheitssys-
tem auf dem Land tragen, haben viel-
leicht eine Pflegeausbildung absol-
viert oder wurden von einem älteren
Dorfarzt angelernt. Die Omikron-
Welle traf sie völlig unvorbereitet.
Die Tür zur Garage fliegt auf, ein
Mann mit weißen Bartstoppeln unter
der Maske drängt in den Raum, die
Augen weit aufgerissen. »Untersu-
chen Sie mich!«, fordert er, ohne
einen Gruß vorauszuschicken. »Ich
kriege kaum Luft!« Zhang Baoli weist
ihm einen Sitzplatz zu, nach einer
Weile beruhigt sich sein Atem.
In der neuen pandemischen Lage
hat sie sich schnell Routine antrai-
niert. Als sie ihre Garagenpraxis im
Dezember aufmachte, warteten die
Menschen schon um sieben Uhr mor-
66 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
gens davor. Oft habe sie bis 23 Uhr
gearbeitet, so erzählt sie es, bis zu
200 Patienten am Tag behandelt – bei
rund 2000 Dorfbewohnern. Auch die
Sprechstundenhilfen seien allesamt
krank gewesen. »Wir Dorfärzte sind
aus Eisen«, sagt Zhang, sie habe auch
dann weitergearbeitet, als sie selbst
infiziert war.
Noch immer kämen jeden Tag fie-
bernde Menschen, doch die Welle ebbe
in Tianjin bereits ab. Genaue Zahlen
über die Kranken und Toten hat sie
nicht. Fest steht aber auch hier: »Dieses
Jahr sind mehr alte Leute gestorben als
in den vergangenen Jahren.«
Auf dem Hof gleich neben der Pra-
xis stehen zwei gusseiserne, mit Koh-
le befeuerte Öfen, eine Frau mit Kopf-
tuch bereitet in Woks Essen zu. Män-
ner mit Schädelkappe kommen und
gehen und nehmen Portionen in Plas-
tikbeuteln mit. Eine Restaurant-
küche? Es ist ein Leichenschmaus.
Die Männer tragen weiße Schärpen
um die Hüften: die traditionelle
Trauerbekleidung der muslimischen
Hui-Minderheit.
Auf dem Tisch stapeln sich die Tel-
ler: in Öl ausgebackenes Brot, Shrimps
mit Sellerie und Cashewkernen, ein
Eintopf mit Lamm – heute frisch ge-
schlachtet. Eine Woche ist es her, dass
sie den 93-jährigen Großvater einge-
äschert haben; am siebten Tag ver-
sammelt sich die Familie zum Geden-
ken, so will es die Tradition.
Woran ist er gestorben? »Covid«,
sagt sein 62-jähriger Neffe sofort. »Er
war gesund, aber dann bekam er Fie-
ber, 20 Tage später war er tot.« Die
Frau mit dem Kopftuch widerspricht:
Das hohe Alter sei die Ursache ge-
wesen, sagt sie. Herausfinden werden
sie es nie, denn ein Covid-Test wurde
nicht veranlasst. Sie wissen nur, dass
auch sie allesamt im Dezember Fieber
hatten.
Wer in China stirbt, dessen Leich-
nam wird in einem der staatlichen
Krematorien eingeäschert, die in den
vergangenen Jahren fast überall im
Land errichtet worden sind. China sei
nun einmal dicht besiedelt, sagen die
Beamten unsentimental, da gebe es
keinen Platz für ausladende Fried-
höfe. Ausnahmen macht der Apparat
nur für Muslime, wenn sie es aus-
drücklich wünschen, oder in Gebie-
ten, in denen noch keine Krematorien
gebaut wurden.
Getrauert wird in den dazugehö-
rigen Sälen. Reden werden gehalten,
Trauermusik erklingt, eine Kanone
im Innenhof schießt Salut, um die
DER SPIEGEL
Geister zu vertreiben. Gemeinsam
verbeugt man sich dreimal vor dem
aufgebahrten Toten und verbrennt
Krankenpfleger Liang: danach Papiergeld fürs Jenseits. Für
Die Null-Covid- gewöhnlich dauern die Zeremonien
Politik hat das
ländliche Gesund-
in der Volksrepublik etwa eine Drei-
heitswesen viertelstunde. In Hongkong, wo alte
weiter geschwächt chinesische Bräuche auch heute noch
gepflegt werden, halten sie das für
traditionsvergessen hastig.
Corona hat das Abschiednehmen
noch einmal beschleunigt. Statt
45 Minuten bekommt man dafür in
vielen Krematorien momentan nur
5 Minuten Zeit, bevor der Sarg in die
Brennkammer geschoben wird. Keine
Kanonenschüsse mehr, keine Trauer-
reden. In manchen Einrichtungen
müssen die Verwandten der Verstor-
benen Wartenummern ziehen.
Vor dem Krematorium, in dem die
Toten aus dem Dorf »Neue Freude«
in der Provinz Hebei verbrannt wer-
den, parken fast 100 Fahrzeuge. Hei-
ße Abluft steigt aus dem Schornstein
auf. Am Eingang steht ein Mann mit
Bürstenhaarschnitt. »Keine Fotos«,
knurrt er. In der Hand hält er eine
Tabelle und ein Walkie-Talkie.
Er ist der Türsteher, er entscheidet,
welche Familie wann das Kremato-
rium betreten darf. Bei minus fünf
Grad warten Dutzende in weißen
Trauergewändern darauf, endlich in
den Hof der Anlage vorgelassen zu
werden.
Irgendjemand hat – wahrschein-
lich vor dem Coronaausbruch – an
eine der Türen in großen blauen
Schriftzeichen einen Werbeslogan ge-
klebt: »praktisch und schnell«, ge-
meint ist wohl der Service dieser Ein-
richtung. Offensichtlich hat niemand
jetzt die Muße, diese Pietätlosigkeit
»Dieses Jahr zu entfernen.
sind mehr alte Auch an der Mauer des Kremato-
riums hängt ein Propagandaplakat
Leute gestor- aus der alten Zeit: »Die epidemische
ben als in den Situation ist unser Auftrag, Präven-
tion und Kontrolle sind unsere Ver-
vergangenen antwortung.« Kontrolle und Präven-
Jahren.« tion? Erst seit Kurzem vorbei und
Zhang Baoli, gefühlt doch eine Ewigkeit her.
Medizinerin Georg Fahrion, Christoph Giesen n

Eine Partei zerstört sich selbst
ANALYSE Der Streit der Republikaner um den Sprecher-
posten im US-Kongress ist nur ein Vorbote für weit härtere Konflikte.
rst blieb die Republikanische
E Partei im November bei den
Midterm-Wahlen zum Kongress
weit hinter den eigenen Erwartungen
zurück. Dann verpatzte sie im De-
zember die Stichwahl zum Senat in
Georgia. Und nun beginn auch das
neue Jahr mit einem Fiasko. Das
Chaos um die Wahl von Kevin Mc-
Carthy zum neuen Sprecher im US-
Repräsentantenhaus ist ein weiterer
Beleg für die tiefe Spaltung der
»Grand Old Party«.
Nun rächt sich, dass es den Repu-
blikanern wegen interner Richtungs-
kämpfe nicht gelungen ist, bei den
Kongresswahlen die erhoffte deut-
liche Mehrheit zu erreichen. Zwar
beherrschen sie formal das Reprä-
sentantenhaus. Doch sie liegen dort
mit 222 Sitzen nur vier Stimmen über
der absoluten Mehrheit. Wegen der
knappen Machtverhältnisse gelang es
der Partei tagelang nicht, den wichti-
gen Sprecherposten in der Kongress-
kammer zu besetzen, der ihr als
Mehrheitsfraktion eigentlich zusteht.
Ein vergleichbares politisches Deba-
kel hat der US-Kongress lange nicht
erlebt.
Zu Redaktionsschluss war offen,
ob es Kevin McCarthy doch noch ge-
lingt, eine Mehrheit für den Sprecher-
job hinter sich zu versammeln. Doch
egal wie es am Ende ausgeht: Der
Konflikt hat schon jetzt alle Beteilig-
ten beschädigt, inklusive des früheren
Präsidenten Donald Trump. Auch er
vermochte es zunächst nicht, die Re-
volte gegen McCarthy zu beenden,
was als weiterer Beleg für seinen sin-
kenden Einfluss in der Partei gesehen
werden kann.
Denn etliche der Meuterer wie die
Abgeordneten Lauren Boebert, Matt
Gaetz oder auch Paul Gosar sind
eigentlich eiserne Trump-Fans. Sie
alle verbreiten seit Monaten seine
Lieblingslüge, dass er bei der Präsi-
dentenwahl 2020 um den Sieg be-
trogen worden sei. Nun könnte man
meinen, dass sie McCarthy womög-
lich deshalb ablehnen, weil er gegen
ihr Idol Trump steht. Doch das ist
nicht der Fall: Bis auf einen kurzen
Moment nach dem Sturm auf das
Kapitol am 6. Januar 2021 stand Mc-
Carthy seit Jahren immer treu an
Trumps Seite.
Trump hatte seinen zahlreichen
Anhängern in der Republikaner-
fraktion vor dem ersten Wahlgang
am vergangenen Dienstag nahege-
legt, dass sie für McCarthy stimmen
sollten. Nach den ersten drei geschei-
terten Abstimmungen und einem Hil-
feruf von McCarthy erneuerte Trump
seine Unterstützung. Die Republi-
kaner dürften ihren Sieg bei den
Kongresswahlen nun nicht durch
einen Streit über den Sprecherposten
in eine peinliche Niederlage ver-
wandeln, warnte Trump. »Kevin Mc-
Carthy wird gute Arbeit leisten, viel-
leicht sogar eine großartige Arbeit.«
Der Appell des Alten machte
jedoch kaum Eindruck auf die Re-
bellen. Die Kritik der McCarthy-Geg-
ner ist grundsätzlicher Natur: Ihnen
ist er einfach nicht radikal genug. Es
ist, als hätten sich Teile der Trump-
Bewegung praktisch verselbststän-
digt. Dabei geht es ihnen auch um
Eigen-PR. Vor allem die beiden jün-
geren Abgeordneten Lauren Boebert
und Matt Gaetz kopieren ihr Vorbild
Trump: Sie hoffen darauf, sich als
Anti-Establishment-Politiker durch
maximalen Widerstand gegen »das
kaputte Washington« landesweit bei
AUSLAND
der Parteibasis profilieren zu können.
McCarthy nimmt für sie die Rolle
des typischen Washingtoner Böse-
wichts ein, der nur an sich und nicht
an das Volk denke. Hauptsache, sie
stehen im Mittelpunkt und werden
als Mini-Trumps oder auch Trumps
Erben wahrgenommen. Trump sehen
sie nicht als Gefahr für ihre Karriere.
Offenbar rechnen diese Abgeordne-
ten nicht mehr ernsthaft mit seinem
Comeback als Präsident.
Für die Republikaner als Ganzes
ist der Imageschaden, der durch
Teile von das Wahldebakel angerichtet wird,
Trumps Bewe-
gung haben
enorm. Die Partei, die sich gern
als professionelle, volksnahe Alter-
native zu den Demokraten präsen-
sich verselbst- tiert, wirkt zerstritten, unorganisiert
und schwach. Selten zuvor wurde
ständigt. über den Republikanern so viel Häme
ausgegossen. Vor allem die Demo-
kraten machten sich einen Spaß aus
dem Chaos. »Sind wir die Partei von
Ronald Reagan?«, fragte die republi-
kanische Abgeordnete Kat Cammack
bei einer Rede im Plenarsaal ihre
Parteifreunde. Die Antwort lieferten
ihr die Demokraten auf der anderen
Seite des Saals: »Nein«, riefen sie und
lachten.
Dabei sollte die Wahl des Spre-
chers im Repräsentantenhaus eigent-
lich die einfachste Aufgabe dieser
Legislaturperiode sein. Der Konflikt
lässt für die Zukunft weiteren Streit
erahnen. Bei der knappen Mehrheit
der Republikaner könnten Abweich-
ler alle politischen Projekte der Füh-
rung torpedieren. Auch die Abwahl
des neuen Sprechers wäre jederzeit
denkbar. Schon eine Handvoll Re-
bellen könnte dann ausreichen, um
zusammen mit den Demokraten die
eigene Führung aus dem Amt zu
jagen.
Heikel ist das vor allem mit Blick
auf den US-Staatshaushalt. In einigen
Republikaner Monaten steht im Kongress die An-
McCarthy (M.) hebung des sogenannten Schulden-
limits (debt ceiling) an. Für die Auf-
nahme neuer Schulden braucht die
Regierung von Präsident Joe Biden
vermutlich irgendwann ab Juli die Zu-
stimmung der beiden Parlaments-
kammern. Die Rebellen und andere
Abgeordnete der Republikaner haben
bereits deutlich gemacht, dass sie die-
ser Anhebung nicht einfach so ihren
Segen geben werden. Stellt sich das
Repräsentantenhaus mit den chaoti-
Tom Williams / CQ-Roll Call / ddp
schen Republikanern quer, droht ein
finanzpolitischer GAU mit unkalku-
lierbaren Folgen. Im schlimmsten Fall
könnte die größte Wirtschaftsnation
der Erde ihre Schulden nicht mehr
bedienen.
Roland Nelles n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 67
AUSLAND
Marijan Murat / dpa
Wissen-
schaftler
Masala
»Russland ist eine Macht,
die wir einhegen müssen«
»Es geht nicht um Werte,
sondern um Einfluss«
SPIEGEL-STREITGESPRÄCH Muss die Nato mehr Waffen in die Ukraine
liefern? Oder ist es Zeit für Verhandlungen? Der Sicherheitsexperte
Carlo Masala und die Linke Sahra Wagenknecht streiten über die Rolle
des Westens im Ukrainekrieg.
Wagenknecht, 53, ist eine der schärfsten
Kritikerinnen der westlichen Hilfe für die
Ukraine und verstört mit ihren Einwürfen
selbst die eigene Partei. Als sie im Sommer
der Bundesregierung vorwarf, mit ihren Sank-
tionen einen »Wirtschaftskrieg« gegen Russ-
land vom Zaun zu brechen, wurden Forderun-
gen laut, sie aus der Bundestagsfraktion der
Linkspartei auszuschließen. Masala, 54, ist
Professor für internationale Politik an der
Bundeswehr-Universität in München und
sprach sich schon früh für die Lieferung von
Kampfpanzern an die Ukraine aus.
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, die Nato hat
nach dem Angriff Wladimir Putins auf die
Ukraine eine ganz neue Bedeutung erfahren.
Ohne die Hilfe des Bündnisses hätte sich
Das Gespräch führte der Redakteur René Pfister.
68 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Christian Spicker / IMAGO
Politikerin
Wagenknecht
Kiew nicht gegen die russische Aggression
wehren können. Schweden und Finnland
wollen nun ebenfalls aufgenommen werden.
Sie dagegen nennen die Nato überflüssig
und gefährlich. Warum?
Wagenknecht: Europa braucht eine stabile
Sicherheitsarchitektur und ein Verteidi-
gungsbündnis. Die Frage ist nur, ob ein
Bündnis für Stabilität und Sicherheit sorgen
kann, das von der Hegemonialmacht USA
angeführt wird, die seit dem Ende des Kalten
Krieges fünf Länder völkerrechtswidrig
überfallen hat und bei der Durchsetzung
ihrer Interessen kaum Rücksicht auf ihre
Partner nimmt.
Masala: Bei aller berechtigten Kritik: Die
Nato war und ist ein spektakulär erfolgreiches
Projekt. Warum wollten nach dem Ende des
Kalten Krieges so viele Länder Osteuropas
beitreten? Weil sie nicht in einem sicherheits-
politischen Niemandsland zwischen der Nato
und dem nuklearen Riesen Russland leben
wollten. Länder wie Polen oder Tschechien
haben sich gesagt: Wenn wir in diesem Limbo
bleiben, werden wir auf kurz oder lang zer-
rieben und in den russischen Einflussbereich
hineingezogen. Deswegen ist es auch ein My-
thos, die Amerikaner hätten Druck gemacht,
die Nato Richtung Osten zu verschieben. Das
Gegenteil war der Fall: Ich kann mich noch
gut erinnern, wie der damalige deutsche Ver-
teidigungsminister Volker Rühe im Jahr 1993
auf dem Nato-Verteidigungsministertreffen
in Travemünde vorgeschlagen hat, die Nato
um Ungarn, Tschechien und Polen zu erwei-
tern. Dafür hat Rühe heftige Prügel von den
Amerikanern bezogen. Die hatten darauf
überhaupt keine Lust.
Wagenknecht: Nach dem Ende des Kalten
Krieges hatte Michail Gorbatschow die rich-
tige Idee, eine europäische Friedensordnung
aufzubauen, in der Moskau auf Augenhöhe
eingebunden wird. Viele westliche Politiker
unterstützten das. Die Sowjetunion hatte da-
mals freiwillig ihre Truppen aus Osteuropa
zurückgezogen und damit den Weg für ge-
sellschaftliche Veränderungen frei gemacht,
die wir alle begrüßen. Aber Gorbatschow hat
das sicherlich nicht getan, damit große Teile
des ehemaligen Warschauer-Pakt-Gebietes
Mitglieder der Nato und damit Teil der US-
Einflusszone werden. Der amerikanische
Außenpolitiker George Kennan hat damals
davor gewarnt, dass die Nato-Osterweiterung
revanchistische und militaristische Tendenzen
in Russland stärken wird. Genau das ist dann
passiert.
Masala: Sie stellen das etwas verkürzt dar.
Der Beginn der Neunzigerjahre war dadurch
gekennzeichnet, dass die Friedensordnung,
die Sie einfordern, gebaut werden sollte, und
zwar mit der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa als zentralem
Pfeiler. Die OSZE hat sich dann im Jugosla-
wienkonflikt leider als unfähig erwiesen, das
Morden zu stoppen. Jede Erweiterungsrun-
de der Nato wurde mit einem Kooperations-
angebot an Russland verbunden, das Moskau
auch angenommen hat. 1997 wurde der
Nato-Russland-Rat gegründet und die Nato-
Grundakte unterschrieben, in der Moskau
ausdrücklich zugesagt hat, dass jeder Staat
die Freiheit hat, sein Bündnis selbst aus-
zusuchen. Das war die Grundlage für die
Nato-Osterweiterung. Sie hat also nicht
gegen den Willen Russlands stattgefunden –
auch wenn Wladimir Putin heute das Gegen-
teil behauptet.
Wagenknecht: Während der Präsidentschaft
Boris Jelzins lag Russland am Boden. Da-
mals haben sie sich tatsächlich kaum noch
gegen die Erweiterung des amerikanischen
Einflusses in Europa gewehrt. Aber das The-
ma war doch deshalb nicht vom Tisch! Wil-
liam Burns, der heutige CIA-Direktor und
langjährige US-Botschafter in Moskau, hat
immer wieder darauf hingewiesen, dass die
Nato-Erweiterung im gesamten politischen
 AUSLAND

Spektrum Russlands mit feindseli-
gen Gefühlen begleitet wird und
eine »unnötige Provokation« dar-
stellt. Statt Russland einzubinden,
wurde es aus Europa hinausge-
drängt. Es gab öffentliche Zusagen
von westlichen Politikern, dass die
Nato sich nicht ausdehnen wird.
Warum ist die europäische Friedens-
ordnung gescheitert? Weil die Ame-
rikaner sie nicht wollten. Denn sie
hätte zur Folge gehabt, dass der
US-Einfluss in Europa massiv zu-
rückgegangen wäre.
Masala: Es ist wirklich nicht meine
Position, die USA und die Nato um
jeden Preis zu verteidigen. Ich habe
ein ganzes Buch darüber geschrie-
ben, dass der Westen eine Mitschuld
an dem Chaos trägt, in dem wir ge-
rade stecken. Aber an einem Punkt
würde ich Ihnen schon gern wider-
sprechen. Es ist wahr, dass der da-
malige US-Außenminister James
Baker 1990 bei einem Besuch in
Moskau mündlich zugesagt hat, dass
sich die Nato keinen »Inch« Richtung
Osten erweitern würde. Auch Bakers
deutscher Kollege Hans-Dietrich
Genscher ging in seinen Gesprächen
in diese Richtung. Nur: Bei den an-
schließenden Zwei-plus-Vier-Gesprä-
chen über die deutsche Einheit spiel-
te dieser Punkt überhaupt keine Rol-
le. Russische Diplomaten sind nicht
dumm. Wenn es ihnen wichtig ge-
wesen wäre, dann hätten sie diese
Forderung in den Verhandlungen
untergebracht. Das ist nicht passiert.
Ich erkläre das deshalb so ausführ-
lich, weil Putin nun so tut, als wäre
die Nato-Erweiterung der Grund für
den Krieg in der Ukraine. Das ist ab-
surd. Wenn es ihm um die Bedrohung
durch die Nato ginge, dann müsste
er sich viel härter gegen den Beitritt
Finnlands wehren. Denn durch ihn
wird die Nato auf einer Länge von
1340 Kilometern direkt an Russland
grenzen. Das scheint aber Putin nicht
weiter zu beunruhigen, im Gegenteil:
Er zieht von dort Truppen ab und
schickt sie in den Krieg gegen die
Ukraine.
Wagenknecht: Im Gegensatz zur
Ukraine haben Schweden und Finn-
land bislang zugesagt, dass es keine
Nato-Militärbasen auf ihrem Gebiet
geben soll. Ein zentrales Problem der
Russen ist doch, dass Raketen, die aus
der Ukraine abgefeuert werden, in
wenigen Minuten Moskau erreichen.
Krieg wäre verhinderbar gewesen.
Und er hätte auch längst beendet wer-
den können. Offenbar gab es schon
einen ausgehandelten Vertrag bei den
Verhandlungen zwischen der Ukraine
und Russland in Istanbul im März
2022, in dem sich beide Seiten ge-
einigt hatten, dass sich die Russen
hinter die Linien vor dem Einmarsch
zurückziehen und Kiew im Gegenzug
auf eine Nato-Mitgliedschaft verzich-
tet. Dann aber war das russische Mi-
litär schwächer als erwartet und der
Westen nicht mehr bereit, diesem
Kompromiss zuzustimmen. Der bri-
tische Premierminister Boris Johnson
reiste Anfang April nach Kiew, sagte
großzügige Waffenlieferungen zu und
machte deutlich, dass man zu diesem
Zeitpunkt kein Friedensabkommen
wünscht.
Masala: Meines Wissens gab es kei-
nen ausgehandelten Vertrag. Es wa-
ren Gespräche, und eine Einigung gab
es nur über die Neutralität. Ich kenne
keine Quelle, die von einem Vertrag
spricht. Die ganze Geschichte mit
Johnson, die Sie und andere verbrei-
ten, beruht auf einer einzigen Mel-
dung aus dem »Kyiv Independent«,
die sowohl von der Regierung in Kiew
als auch in London dementiert wor-
Zerstörte Panzer den ist. Das ist eine jener Mythen,
in Butscha: »Wir von denen wir vielleicht in 30 Jahren
steuern auf eine Welt
zu, in der sich zwei
wissen, ob an ihnen etwas dran ist
bis an die Zähne oder nicht. Ich glaube, ein anderer
bewaffnete Blöcke Punkt war viel entscheidender: Zum
gegenüberstehen« damaligen Zeitpunkt gab es die Bilder
aus Butscha, wo die Russen ein sys-
tematisches Massaker organisiert hat-
ten. Das war für Kiew der entschei-
dende Grund, die Gespräche abzu-
brechen.
Wagenknecht: Selbst wenn es so ge-
wesen wäre, heißt das, dass ein mög-
licher Friedensschluss leichtfertig
verspielt wurde. Die Neutralität der
Ukraine war lange Zeit in ihrer Ver-
fassung verankert. Viele Experten
sind überzeugt: Es hätte diesen
furchtbaren Krieg nicht gegeben,
wenn die Ukraine auf diesem Kurs
geblieben wäre. Wir steuern gerade
wieder auf eine Welt zu, in der sich
zwei bis an die Zähne bewaffnete
Blöcke feindselig gegenüberstehen.
Es gibt immer weniger Raum für Di-
plomatie. Es wird weder über einen
möglichen Waffenstillstand noch
über generelle Konfliktvermeidung
und Abrüstung verhandelt. So ge-
sehen leben wir in einer gefährliche-
ren Welt als zu Zeiten des Kalten
Krieges.
Masala: Was diese Analyse angeht,
gebe ich Ihnen sogar recht. Aber wo-
ran liegt das? Wenn wir auf die Ära
zwischen 1975 und 1990 blicken –
also von der Unterzeichnung der
KSZE-Schlussakte in Helsinki bis
zum Ende des Kalten Krieges –, war
die Sowjetunion mit dem Status quo
in Europa einverstanden. Moskau
hatte damals akzeptiert, dass Gren-
zen in Europa nicht gewaltsam ver-
schoben werden. Davon kann im
Chris McGrath / Getty Images

2021 waren 4000 Nato-Soldaten in

der Ukraine stationiert, es fanden ge-
meinsame Manöver statt. Die russi-
sche Führung hat immer wieder
signalisiert, dass hier für sie rote Li-
nien überschritten wurden. Dieser

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 69

AUSLAND
Moment keine Rede mehr sein. Ge-
rade erst hat Putins Sprecher erklärt,
Russland habe keinerlei Interesse an
Verhandlungen, solange es seine mi-
litärischen Ziele in der Ukraine nicht
erreicht hat.
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, seit Be-
ginn des Krieges lehnen Sie sowohl
Militärhilfen für die Ukraine als
auch Sanktionen gegen Russland ab.
Putin ist gerade dabei, die gesamte
zivile Infrastruktur der Ukraine zu
zerstören. Wann ist der Punkt er-
reicht, an dem der Westen eingreifen
muss?
Wagenknecht: Wir sollten durch
Friedensinitiativen eingreifen, durch
Druck in Richtung Verhandlungen.
Natürlich gibt es auch sinnvolle Sank-
tionen. Wir sollten einem Krieg füh-
renden Land keine Waffen liefern –
das gilt für Russland und sollte auch
für Saudi-Arabien oder die Türkei
gelten.
Masala: Sie sind ständig dabei, das
Unrecht in der Ukraine mit dem Un-
recht an anderen Orten zu entschul-
digen. Aber das eine macht doch das
andere nicht besser.
Wagenknecht: Ich entschuldige nichts.
Ich weise Sie nur auf die Doppelmoral
hin. Und ich bin strikt gegen Sanktio-
nen, die vor allem uns selbst schaden
und keinerlei Einfluss auf die Fähig-
keit Russlands haben, diesen Krieg zu
führen.
Masala: Es war von Anfang an klar,
dass die Sanktionen die russische
Kriegsmaschine nicht stoppen wür-
den. Dieser Konnex ist unsinnig. Es
geht darum, dem russischen Staat und
der russischen Wirtschaft Geld zu ent-
ziehen, und da sehen wir sehr wohl
Effekte. Die russische Wirtschaft geht
langsam in die Knie. Und wir sehen
auch, dass es Moskau zunehmend
schwerer fällt, moderne Waffen zu
bauen, weil Teile wie Computerchips
70 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
aus dem Westen fehlen. Gleichzeitig
haben sich die Horrorprognosen über
die Auswirkungen auf die deutsche
Wirtschaft nicht bestätigt: Wenn Sie
sich die Zahl der Insolvenzen an-
sehen, dann sind diese im Zeitraum
von Januar bis September im Ver-
gleich zum Vorjahr sogar zurückge-
gangen.
Wagenknecht: Ich finde es abenteuer-
lich, die Probleme so kleinzureden.
Der große Energiekostenschub
kommt doch erst im nächsten Jahr.
Dann könnten viele Betriebe vor
dem Aus stehen, weil sie mit den
horrenden Energiepreisen nicht
mehr wettbewerbsfähig sind. Oder
sie werden die Produktion ins Aus-
land verlagern. Viele Familien wis-
sen nicht, wie sie ihre Energierech-
nung im nächsten Jahr bezahlen
sollen. Und wenn wir plötzlich so
moralisch sind, wieso kaufen wir
dann Rohstoffe im Nahen Osten
oder in China?
Masala: Es liegt schon eine teuflische
Ironie darin, dass Gott ausgerechnet
da Rohstoffe hingeschmissen hat, wo
die unfreundlichsten Regime sitzen.
Aber es gibt einen großen Unter-
schied zwischen Russland und den
Ländern, die Sie erwähnt haben. Kei-
nes dieser Regime bedroht uns aktiv
mit Atomwaffen. Russland dagegen
hat seit dem 24. Februar ein paar Dut-
zend Mal über den Einsatz von Atom-
bomben fabuliert. Und Putin hat uns
immer wieder daran erinnert, dass er
über Mittelstreckenraketen verfügt,
die bis nach Spanien oder Portugal
reichen.
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Sie plä-
dieren seit Monaten dafür, dass der
Ukrainekrieg diplomatisch gelöst
werden sollte. Selbst wenn das ge-
länge: Was gibt Ihnen die Gewissheit,
dass sich Putin damit auf Dauer zu-
friedengäbe?
Liu Heung Shing / AP
»Es wäre Wagenknecht: Es gibt in der Welt-
politik keine Gewissheiten. Aber Pu-
naiv, Putin tin dürfte wissen, dass die russischen
blind zu Streitkräfte denen der Nato auf kon-
vertrauen.« ventionellem Gebiet hoffnungslos
unterlegen sind.
Sahra Wagenknecht SPIEGEL: Sie haben noch kurz vor
dem Einmarsch in die Ukraine gesagt,
Sie glaubten nicht, dass Putin die
»Europa Ukraine angreifen werde. Vielleicht
ist wirtschaft- müssen wir Putin ernster nehmen.
Wagenknecht: Ich habe damals ge-
lich eine sagt, dass Russland eine ukrainische
Weltmacht, Nato-Mitgliedschaft offenkundig mit
allen Mitteln verhindern will, not-
aber nicht falls mit militärischen. Ich habe nur
militärisch.« nicht geglaubt, dass der Einmarsch
Carlo Masala unmittelbar bevorsteht, sondern die
Verlegung russischer Truppen an die
ukrainische Grenze für Säbelrasseln
gehalten. Es wäre naiv, Putin blind
zu vertrauen. Deshalb ist es legitim,
dass die Ukraine Sicherheitsgaran-
tien verlangt, wenn sie im Gegenzug
zusagt, nicht in die Nato einzutreten.
Darüber muss man verhandeln.
Aber ich halte es für wichtig, dass
endlich wieder miteinander gespro-
chen wird.
Masala: Was mich wirklich stört,
Frau Wagenknecht, ist, dass Sie
einen Gegensatz aufbauen zwischen
Ihrer »Friedenslogik« und der
»Kriegslogik« anderer Leute. Die
Lage sieht doch so aus: Russland
wird diesen Krieg militärisch nicht
gewinnen können. Putin kann es sich
aber auch nicht leisten, ihn zu ver-
lieren. Er wird nur zu einem Kom-
promiss bereit sein, wenn er sich
Teile des ukrainischen Territoriums
einverleiben kann. Das wiederum
Staatschef kann der ukrainische Präsident Wo-
Gorbatschow (M.) lodymyr Selenskyj nicht akzeptie-
mit Außenministern ren, jedenfalls nicht zum jetzigen
1990, russische
und ukrainische
Zeitpunkt. Derzeit hält Russland
Unterhändler 15 Prozent des ukrainischen Gebiets
in Istanbul 2022 besetzt, das ist eine Fläche ungefähr
Ukrainian Presidential Press Ser vice / REUTERS

von der Größe Bayerns und Baden-Würt-
tembergs. Friedensgespräche reflektieren
immer die Realität auf dem Schlachtfeld, das
heißt, Selenskyj müsste über dieses Gebiet
verhandeln, was für ihn unmöglich ist. Des-
wegen ist es so wichtig, dass die Ukraine in
die Lage versetzt wird, mehr Gelände zu-
rückzuerobern.
Wagenknecht: Und wie viele Menschen sollen
bis dahin noch sterben? Es ist doch unver-
antwortlich, wenn Selenskyj sagt, Friedens-
verhandlungen können erst beginnen, wenn
sich die russischen Truppen vollständig aus
der Ukraine einschließlich der Krim zurück-
gezogen haben.
Masala: Sie kommen aus einer Partei, die die
Prinzipien des Völkerrechts immer sehr hoch-
hält. Es ist doch richtig, wenn Selenskyj sagt:
Wir sprechen erst über die Lebensbedingun-
gen der Menschen im Donbass und den
Status der Krim, wenn sich die russische Ar-
mee zurückgezogen hat. Das ist ein eherner
Grundsatz des Völkerrechts: Der Aggressor
muss raus.
Wagenknecht: Ganz gleich, wie viele Men-
schenleben das kostet, wie viel Leid und Zer-
störung? Natürlich wäre ein russischer Rück-
zug wünschenswert. Aktuell ist er aber nicht
realistisch. Wenn man eine Verhandlungs-
lösung will, dann sollte man Gespräche nicht
an Vorbedingungen knüpfen, die sie unmög-
lich machen.
SPIEGEL: Der Ukrainekrieg hat gezeigt, wie
schwach die Europäer sind, wenn es um die
eigene Verteidigung geht. Ohne die Ameri-
kaner wäre der ukrainische Widerstand längst
zusammengebrochen. Deutschland ist derzeit
nicht mal in der Lage, Schützenpanzer für
eine Nato-Eingreiftruppe zu stellen. Müssen
sich die Europäer künftig stärker um die eige-
ne Sicherheit kümmern – vielleicht sogar mit
einem Atomschirm, der ohne die USA aus-
kommt?
Wagenknecht: Die Franzosen besitzen eine
Atomstreitmacht, weitere atomare Aufrüs-
tung erhöht unsere Sicherheit nicht. Es wäre
richtig, wenn die Europäer sich stärker auf
ihre eigenen Interessen besinnen, sowohl
wirtschaftlich als auch militärisch. Sonst be-
steht die Gefahr, dass Europa zwischen den
USA einerseits und Russland und China an-
dererseits zerrieben wird.
Masala: Es wäre sinnvoll, wenn Europa stär-
ker mit einer Stimme spräche. Ich halte es nur
für unrealistisch. Das hat mehrere Gründe.
Erstens: Wir erleben derzeit eine geopoliti-
sche Lage, in der die beiden 800-Pfund-Go-
rillas USA und China um die globale Vorherr-
schaft kämpfen. Beide werden verlangen, dass
die Europäer Farbe bekennen, und wir wer-
den uns nur schwer entziehen können. Zwei-
tens: Europa ist wirtschaftlich eine Welt-
macht, aber nicht militärisch. Und da reden
wir nicht einmal von einer eigenen atomaren
Abschreckung; die zu organisieren wird mit
den Franzosen schon schwer genug. Viel pro-
blematischer ist, dass ein Riss durch Europa
geht. Selbst wenn Frankreich und Deutsch-
AUSLAND
land übereinkämen, die Organisation der
europäischen Sicherheit in die eigenen Hän-
de zu nehmen, würden dies die meisten Staa-
ten Osteuropas niemals akzeptieren. Und
drittens: Eine eigenständige europäische
Sicherheitsarchitektur würde so viel kosten,
dass dies der Bevölkerung gar nicht vermittel-
bar wäre.
Wagenknecht: Die Europäer geben zusam-
men im Moment rund 300 Milliarden Euro
pro Jahr für Verteidigung aus, Russland rund
60 Milliarden. Es kann doch keine Rede
davon sein, dass wir militärisch unterlegen
sind.
Masala: Sie legen die falschen Maßstäbe an.
Wenn Putin tatsächlich die Entscheidung trä-
fe, Europa anzugreifen, dann würde er dies
erst einmal nicht mit Panzerverbänden oder
Falschschirmjägern tun, sondern vor allem
mit Raketen. Und was die Raketenabwehr
anbelangt, sind wir völlig blank. Das kann
man natürlich ändern, und es gibt bereits die
ersten Anstrengungen dazu. Aber es ist un-
glaublich teuer.
Wagenknecht: Es gibt keine sichere Raketen-
abwehr, egal wie viel Geld man ausgibt. Des-
halb kann Europa einen Atomkrieg nicht
überleben, und wir müssen alles dafür tun,
dass es niemals so weit kommt. Solange es
Denken Sie
Atomwaffen gibt, braucht es für die Abschre-
ckung eine ausreichende Zweitschlagskapazi- auch mal an
tät, ja. Aber wir müssen doch endlich wieder
zu dem Punkt kommen, an dem wir über
Rüstungskontrolle und Abrüstung reden, statt
sich selbst?
wahnwitzige Summen für ein neues Wett-
rüsten zu verpulvern.
Masala: Wir haben einen fundamentalen Dis- Den eigenen Körper lieben
sens, den wir auch nicht auflösen können.
Sie glauben, dass man derzeit mit Putin ver- Selbstfürsorge entwickeln
lässliche Absprachen treffen könne. Ich glau-
be, wir müssen erst einmal Sicherheit gegen Die Beziehung zu den
Russland organisieren, bevor wir überhaupt Eltern klären
über Dinge wie Rüstungskontrolle reden
können. Man muss es leider so deutlich aus-
sprechen: Russland ist eine neoimperiale
Mit anstrengenden
Macht, die wir erst einmal einhegen müssen. Menschen umgehen
Damit wird die europäische und die trans-
atlantische Politik in der nächsten Dekade Einsamkeit überwinden
beschäftigt sein.
Wagenknecht: Ich halte es für brandgefähr- Lebensträume endlich
lich, Gespräche über gemeinsame Sicherheit
auf Jahre auszusetzen. Alle drei großen Atom- verwirklichen
mächte denken und handeln imperial. Wir
müssen einen Weg finden, die daraus entste-
henden Konflikte friedlich zu lösen. In Russ-
land herrscht ein korrupter Oligarchenkapi-
talismus, genau wie in der Ukraine. Es geht
nicht um Werte, sondern um Einfluss und
Macht. Die ideologischen Unterschiede zur
alten Sowjetunion waren sehr viel größer.
Trotzdem hat die Menschheit den Kalten
Jetzt
Krieg überlebt, weil man sich immer wieder
zusammengesetzt und versucht hat, Konflik-
im Handel
te diplomatisch zu lösen. Wir brauchen Frie-
densverhandlungen und einen baldigen Waf-
fenstillstand.
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Herr Masala,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch. n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 71
AUSLAND
1 4
privat
2 3
IRAN Seit dem Beginn der Proteste wurden offiziell zwei Demonstranten hingerichtet. Zahlreichen
weiteren droht nach Schauprozessen ein ähnliches Schicksal. Wer sind diese Menschen?
ie wurden in der Nacht fest-
S genommen, auf dem Weg zur
Arbeit oder sind einfach ver-
schwunden. Seit Beginn der Proteste
gegen das islamistische Regime vor
bald vier Monaten wurden nach In-
formationen der iranischen Men-
schenrechtsorganisation HRANA
mehr als 19 000 Menschen verhaftet.
Manchmal nach Tagen, manchmal
gar nicht erfahren die Familien der
Verschwundenen, was aus ihren
Verwandten geworden ist.
Es gibt Berichte über Folter und
lange Haftstrafen nach Schaupro-
zessen vor den iranischen Revolu-
tionsgerichten. Die Verfahren gehen
schnell, die Vorwürfe sind meist
konstruiert. Eigene Verteidiger wer-
den selten zugelassen. Das Gericht
besteht aus einem regimetreuen Rich-
ter, ob ein Geständnis durch Folter
erpresst wurde, spielt keine Rolle. Zu
den Prozessen erscheinen Angeklag-
te zuweilen mit gebrochenen Rippen,
Armen, Beinen.
Am 1. November wurde das erste
Todesurteil im Rahmen der Proteste
verhängt. Mohsen Shekari heißt der
Verurteilte, er wurde fünf Wochen
nach dem Schuldspruch erhängt. Die
Familie des 23-Jährigen soll erst da-
nach von seinem Tod erfahren haben.
Seitdem kursieren immer mehr
Namen von Iranern und Iranerinnen,
die unter dem Vorwurf des »Kriegs
gegen Gott« (»Moharebe«) angeklagt
und verurteilt werden. Ein Straf-
tatbestand, der wie auch »Verdorben-
heit auf Erden« in vielen Fällen die
Todesstrafe bedeutet. Meist geht es
um angebliche Gewalt gegen irani-
sche Sicherheitskräfte oder Randale
während der Proteste. Oft reicht es,
auf einer Demonstration gewesen zu
72 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
SalamPix / abaca / picture alliance
privat
Todgeweiht
sein oder sich mit den Protesten via
Internet zu solidarisieren.
Wie viele Menschen genau bisher
zum Tode verurteilt oder bereits hin-
gerichtet wurden, ist unklar. Es gibt
in Iran kaum ausländische Journalis-
ten oder freie Berichterstattung. Die
Mehrheit der bekannten Urteile
dringt über Familienmitglieder oder
Aktivisten an die Öffentlichkeit, die
Geschichten lassen sich nur mühsam
und mithilfe von Social Media rekon-
struieren. Nach Dokumenten, die ei-
ne iranische Hackergruppe erbeutet
hat, soll die Justiz derzeit rund 80
Menschen wegen »Kriegs gegen Gott«
beschuldigen, iranische Medien ver-
öffentlichten Anfang Dezember eine
Liste der Justizbehörde mit 25 Na-
men. Darunter sind auch Teenager
wie zuletzt der 18-jährige Mehdi Mo-
hammadi Fard.
Einige Prozesse werden sogar im
iranischen Fernsehen übertragen.
Oder es kursiert eine Aufnahme der
letzten Worte, wie von Majidreza
Rahnavardam, der am 29. November
hingerichtet wurde. Neben ihm im
Bild stehen maskierte Sicherheits-
kräfte. Er weint nicht, wirkt nicht ein-
mal eingeschüchtert. »Trauert nicht
an meinem Grab. Spielt fröhliche
Musik«, sagt er.
Hier stellen wir fünf Menschen
vor, denen die Hinrichtung droht oder
deren Todesurteil bereits verkündet
»Welches Ge­ wurde. Ihre Geschichten stehen für
richt verurteilt die vielen anderen unbekannten Op-
fer des Regimes.
seine Ange­
klagten nach 1 | Mohammad Ghobadlou
nur einer Am 31. Dezember weht ein weißes
Plakat im Wind unter einer Tehera-
Anhörung?« ner Autobahnbrücke. Darauf ein Ge-
Ghobadlous Mutter burtstagskuchen. Doch der, dem das
privat
privat
5
Banner gewidmet ist, kommt an die-
sem Tag hier nicht vorbei. Womög-
lich weiß er nicht einmal, dass es die-
ses Plakat gibt. »Unschuldig« steht
auf Farsi über dem Kuchen.
Ghobadlou hat an diesem Tag Ge-
burtstag, es könnte sein letzter sein.
Auf Videos im Internet sieht man den
jungen Mann mit Freunden in Friseur-
salons lachen oder hinter dem Steuer
eines Autos Witze erzählen. Er ist gut
gekleidet, seine großen braunen Au-
gen strahlen. Die neuesten Fotos von
Ghobadlou zeigen ihn im Gerichtssaal.
Blau gestreifte Häftlingskleidung, kurz
geschorene Haare, müder Blick.
Einer der härtesten Richter des
islamistischen Regimes verurteilte
den Anfang 20-Jährigen Ende Okto-
ber wegen »Verdorbenheit auf Er-
den«. Er soll bei einer Demonstration
in eine Gruppe mit Polizisten gefah-
ren sein und einen von ihnen getötet
haben. Ghobadlous Anwalt soll vor
Prozessbeginn der Zutritt verwehrt
worden sein, auf Twitter zweifelt er
die Anschuldigungen des Gerichts an.
Die Mutter des jungen Mannes
spricht in einem Video, das auf Twit-
ter kursiert, über ihre Ohnmacht:
»Welches Gericht verurteilt seine An-
geklagten nach nur einer Anhörung?«
Doch genau das scheint bei ihrem
Sohn der Fall zu sein. Szenen aus dem
Prozess wurden veröffentlicht und
sollen wohl andere abschrecken, wei-
terhin auf die Straßen zu gehen.
Ghobadlous Mutter sagt, dass ihr
Sohn psychische Probleme habe und
die iranischen Behörden ihm seine
Medikamente verweigerten. Am
24. Dezember wurde die Berufung
vom obersten Gerichtshof abgewie-
sen. Das Urteil ist rechtskräftig und
kann jederzeit vollstreckt werden.

2 | Amir Nasr-Azadani
Für einen ehemaligen Fußballprofi setzt sich
der 26-Jährige auf Instagram wenig in Szene.
Nasr-Azadani teilt Trainingseindrücke statt
Fotos von Luxusautos oder Hotelpools. Man
sieht ihn in Sportklamotten am Ball oder im
Kraftraum. Ein seltenes privates Foto zeigt
ihn verhalten lächelnd, umgeben von Herz-
ballons und Rosenblättern, vor ihm eine FC-
Barcelona-Geburtstagstorte.
Amir Nasr-Azadanis Account hat zwar
knapp 50 000 Follower, aber Posieren scheint
nicht seine Sache zu sein. »Die, die Amir gut
kennen, wissen, was für ein zurückhaltender
Junge er war«, wird ein Ex-Spielerkollege
vom in London ansässigen Nachrichtenportal
»IranWire« zitiert. Ein anderer nannte ihn
»Sky News« gegenüber »ziemlich schüch-
tern« und »wirklich nett«. Nasr-Azadani sei
einer, der sich für andere einsetze.
Für seine Freunde scheint es unvorstellbar,
dass der Fußballer aus Isfahan die Taten be-
gangen haben soll, derer er angeklagt ist.
Nasr-Azadani droht wegen »Kriegs gegen
Gott« vermutlich die Todesstrafe. Ihm wird
vorgeworfen, Teil einer bewaffneten Gruppe
gewesen zu sein, die die Islamische Republik
bekämpfen wollte. Seinem Umfeld nach soll
er jedoch nur Slogans gerufen haben.
Nasr-Azadani hat für Teams wie Sepahan
Isfahan, Tractor und Rah Ahan gespielt, war
vor ein paar Jahren Nachwuchsnationalspie-
ler. Zahlreiche Fußballer haben sich mit dem
26-Jährigen solidarisiert, darunter iranische
Nationalspieler wie Sardar Azmoun von
Bayer Leverkusen und ehemalige wie Ali
Karimi und Ali Daei, die beim FC Bayern
kickten.
Sportler sind in Iran angesehen. Bislang
gab ihnen das meist einen gewissen Schutz.
Zugleich wurden zuletzt einige, die sich mit
den Protestlern solidarisiert hatten, vorgela-
den und verhaftet, ihr Eigentum wurde be-
schlagnahmt, ihr Pass eingezogen. Der Fall
von Nasr-Azadani weckt in Iran schlimme
Erinnerungen: Im Herbst 2020 war der Ringer
Navid Afkari öffentlichkeitswirksam wegen
der angeblichen Tötung eines Sicherheits-
manns hingerichtet worden.
3 | Niloofar Hamedi
Das Bild, das von Hamedi im Gedächtnis
bleibt, zeigt nicht sie selbst. Es ist ein Foto,
das sie am 16. September auf Twitter teilt.
Darauf ein Mann und eine Frau, die sich auf
einem Krankenhausflur aneinanderklam-
mern: Jina Mahsa Aminis Eltern. Ihre Tochter
lag hier im Koma, nachdem sie in Polizei-
gewahrsam zusammengebrochen war.
Die Journalistin Hamedi war damit eine
der Ersten, die den Fall der jungen Kurdin
öffentlich machten. Amini war am selben Tag
im Kasra-Krankenhaus verstorben. Wenige
Tage danach wurde die 30-jährige Hamedi
festgenommen. Sicherheitskräfte sollen ihr
Haus durchsucht haben, Handy sowie Laptop
beschlagnahmt haben. Ihr wird unter ande-
rem Spionage vorgeworfen, worauf ebenfalls
die Todesstrafe stehen kann – angeblich soll
sie von ausländischen Geheimdiensten dazu
ausgebildet worden sein. Sie soll seither in
Isolationshaft sein.
Hamedi war das Risiko wohl bewusst. Laut
»Reporter ohne Grenzen« sind in Iran zurzeit
46 Journalisten im Gefängnis. Sie schrieb
schon früher über das brutale Vorgehen der
Sittenpolizei. »Sie ging immer über ihre Gren-
zen, um die Stimme stimmloser Frauen zu
sein, die ihrer Rechte beraubt wurden, sei es
durch ihre Väter, Ehemänner oder durch so-
ziale Einschränkungen«, sagte eine Freundin
gegenüber Reuters.
Bilder vor der Haft zeigen die Journalistin
bei der Arbeit im Fußballstadion und beim
Sonnengruß auf einer Wiese. Sie liebe Yoga,
schreibt ihr Mann auf Twitter. Wer sie unter-
stützen wolle, solle ihr Briefe schreiben, auch
die liebe sie. Auf Fotos trägt Hamedi das
Kopftuch, oft in hellen Farben, nur locker,
manchmal lässt sie es ganz weg. Ein Bild zeigt
sie lachend mit weit ausgebreiteten Armen
auf einer Blumenwiese.
Am 100. Tag der Verhaftung teilt ihr Mann
eine Karte auf Twitter, die seinen Lauf ums
Gefängnis zeigt. Während er sich draußen auf
den Marathon vorbereite, sei seine Frau drin-
nen mit ihm mitgelaufen. »Wir sind auf zwei
Seiten der Mauer, aber wir hören nicht auf zu
leben«, schreibt er. »Die Macht unserer Liebe
ist größer als die Macht der Dunkelheit.«
4 | Fahimeh Karimi
Immer wieder habe sie an die Zellentür ge-
hämmert und »Freiheit, Freiheit!« gerufen,
auch die Namen ihrer Kinder. Ob sie das Echo
gehört hätten? Oder wandert Liebe nicht
durch Gitterstäbe? So fragt es sich die italie-
nische Bloggerin Alessia Piperno, die angibt,
im Herbst mit Karimi im Gefängnis gesessen
zu haben. 34 Tage hätten sie in derselben
Zelle verbracht. Sie hätten sich kaum ver-
ständigen können, »aber uns einte der gleiche
Schmerz und die gleichen Ängste«.
Middle East Images / laif
Demonstrierende im nordwestiranischen Bukan
AUSLAND
Manchmal habe sie ihr »Bella Ciao« vor-
gesungen, jenes Lied der italienischen Par-
tisanen, das auch Irans Protestierende oft an-
stimmen. Dann wieder habe sich Karimi auf
den Boden geworfen, die Finger an den Schlä-
fen, als wollte sie die Gedanken rausreißen.
Eines Tages sei Karimi auf die Krankenstation
gebracht worden und nicht wiedergekommen.
Offenbar ist auch Fahimeh Karimi, Mutter
dreier Kinder und Volleyballtrainerin, vom
Tod bedroht. Sie soll angeblich bei einer
Demonstration in Pakdascht, einer Provinz-
stadt südöstlich von Teheran, Proteste an-
geführt und ein Mitglied der paramilitärischen
Basidsch angegriffen haben.
In den sozialen Medien verbreiteten sich
Bilder, die Karimi und ihre Kinder zeigen sol-
len. Auf einem trägt die Frau ein schwarz-
weiß gemustertes Oberteil und ein schwarzes
Kopftuch, die Augen dunkel geschminkt, die
Lippen rot nachgezogen. Sie hat den Kopf
schief gelegt und die Augen fast geschlossen,
als würde sie träumen. Das andere zeigt drei
kleine Kinder in bunten Shirts auf einer
Couch; Fatimah, Athena und Mohammed
heißen sie laut Piperno, eines der Mädchen
lacht frech in die Kamera.
Nachdem sie selbst aus der Haft entlassen
worden war, habe sie jeden Tag nach dem
Namen Fahimeh Karimis gesucht, schreibt
die Bloggerin. In der Hoffnung, dass die Zel-
lengenossin freigelassen wurde. Stattdessen
habe sie in der Zeitung Karimis Gesicht ge-
funden. »Zum Tod verurteilt« stand darüber.
5 | Seyyed Mohammad Hosseini
Über ihn ist nur wenig bekannt: Seyyed
Mohammad Hosseini hat offenbar keine Fa-
milie, die sich für ihn einsetzt. Laut Berichten
in den sozialen Medien sollen seine Eltern
bereits verstorben sein. Jeden Donnerstag-
abend habe er ihre Gräber besucht, erzählt
ein Freund dem »Guardian«: »Seyyed hat
niemanden auf der Welt«, er sei ein stiller,
gutmütiger Mann, der seit dem Tod der Eltern
mit psychischen Problemen, auch Angst-
zuständen zu kämpfen habe.
Hosseini soll 39 Jahre alt sein und als
Kampfsportlehrer kostenfrei sozial benach-
teiligte Kinder unterrichtet haben. Als An-
gestellter auf einer Geflügelfarm verdiente er
selbst angeblich nur wenig.
Zurzeit soll er in Karadsch im Gefängnis
sitzen. Hosseini wird vorgeworfen, an der
Ermordung eines Mitglieds der Basidsch-Mi-
liz beteiligt gewesen zu sein. Sein Anwalt er-
klärte laut der in London ansässigen Nach-
richtenseite »IranWire«, Hosseini sei in der
Haft schwer misshandelt worden: »Seine Er-
zählung war voller Tränen: Schläge mit ver-
bundenen Augen, Hände und Füße gefesselt,
gegen den Kopf getreten, bis er ohnmächtig
wurde.« Hosseini sei auch mit einer Eisen-
stange auf die Fußsohlen geschlagen, verschie-
dene Körperteile seien mit Elektroschocks
malträtiert worden. Ein Gericht bestätigte am
Dienstag die Todesstrafe.
Anne Armbrecht, Leon Koß n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 73
D E B AT T E W E LTO R D N U N G N A C H P U T I N
Sind Kriege künftig unausweichlich? Russlands Angriff
auf die Ukraine zeigt: Wenn wir Frieden als selbstverständlich
ansehen, werden wir ihn verlieren.
Von Yuval Noah Harari
or einigen Jahren schrieb ich in mei-
V nem Buch »21 Lektionen für das
21. Jahrhundert« auch über die Krie-
ge der Zukunft. Ich vertrat die Ansicht,
dass die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts
die friedlichste Ära in der Geschichte der
Menschheit gewesen seien und dass das
Führen von Kriegen wirtschaftlich und
geopolitisch sinnlos geworden sei. Diese
Tatsachen böten jedoch keine Garantie
für ewigen Frieden, schließlich sei die
menschliche Dummheit eine der wichtigs-
ten Kräfte in der Geschichte. Ich schrieb:
»Selbst rationale Führer begehen am Ende
oft sehr große Dummheiten.«
Gleichwohl war ich schockiert, als Wla-
dimir Putin im Februar 2022 den Versuch
startete, die Ukraine zu erobern. Die zu
erwartenden Folgen, für Russland selbst
wie für die gesamte Menschheit, waren
so zerstörerisch, dass es selbst für einen
kaltherzigen Größenwahnsinnigen ein
unwahrscheinlicher Schritt zu sein schien.
Dennoch entschied sich der Autokrat, die
friedlichste Ära der Geschichte zu beenden
und die Menschheit in eine neue Ära des
Krieges zu stürzen, die schlimmer sein
könnte als alles, was wir bisher erlebt ha-
ben. Sie könnte sogar das Ende unserer
Spezies bedeuten.
Dies ist eine Tragödie, zumal die vergan-
genen Jahrzehnte gezeigt haben, dass Krieg
keine unvermeidliche Naturgewalt ist. Er
basiert auf menschlichen Entscheidungen.
Seit 1945 gab es keinen direkten Krieg zwi-
schen Großmächten mehr und auch keinen
Fall, in dem ein international anerkannter
Staat durch eine ausländische Eroberung
ausgelöscht wurde. Relativ häufig kam es zu
begrenzten regionalen und lokalen Konflik-
te; ich lebe in Israel, daher kann ich das gut
beurteilen. Doch ungeachtet der israelischen
Besetzung des Westjordanlands haben Län-
der selten versucht, ihre Grenzen einseitig
mit Gewalt zu verschieben.
Das ist der Grund, warum die israelische
Besatzung so viel Aufmerksamkeit und
Kritik auf sich zieht. Was in Tausenden
Jahren imperialer Geschichte normal war,
sorgt heutzutage für Empörung. Selbst
wenn man Bürgerkriege, Aufstände und
Terrorismus berücksichtigt, sind in den
letzten Jahrzehnten durch Kriege weitaus
74 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
weniger Menschen ums Leben gekommen könnten, ist es auch das Vernünftigste, was
als durch Selbstmord, Verkehrsunfälle oder
fettleibigkeitsbedingte Krankheiten.
man tun kann.
Russische Soldaten plünderten die ukrai-
Doch der Frieden ist nicht nur eine Frage nische Stadt Cherson und schickten Last-
der Zahlen. Die vielleicht wichtigste Ver- wagen voller Diebesgut, das sie aus ukraini-
änderung der vergangenen Jahrzehnte war schen Häusern gestohlen hatten, nach Russ-
psychologischer Natur. Jahrtausendelang land. Das wird Russland nicht reich machen.
bedeutete Frieden »die vorübergehende Und es wird die Russen nicht für die enor-
Abwesenheit von Krieg«. Beispielsweise men Kosten des Krieges entschädigen. Aber
lagen zwischen den drei Punischen Kriegen, wie Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt,
die Rom und Karthago führten, Jahrzehnte reichten technologische und wirtschaftliche
des Friedens. Aber alle Römer und Kartha- Veränderungen allein doch nicht aus, um
ger wussten, dass dieser Punische Friede den neuen Frieden zu schaffen. Manche
jeden Moment zerbrechen konnte. Politik, Staatsoberhäupter sind so machthungrig
Wirtschaft, Kultur waren in ständiger Er- und unverantwortlich, dass sie einen Krieg
wartung eines Krieges. beginnen, selbst wenn er für ihr Land wirt-
Im späten 20. und im frühen 21. Jahr- schaftlich ruinös ist und die Menschheit in
hundert änderte sich die Bedeutung des ein nukleares Armageddon treiben könnte.
Wortes Frieden. Aus dem alten Frieden als Die dritte wesentliche Säule des neuen
»die vorübergehende Abwesenheit von Friedens ist daher kultureller und institutio-
Krieg« wurde der neue Frieden als »die neller Natur.
Unwahrscheinlichkeit von Krieg«. In vielen,
wenn auch nicht allen Regionen der Welt enschliche Gesellschaften wurden
hatten Staaten keine Angst mehr davor, ihr
Nachbar könnte einmarschieren und sie
auslöschen.
M lange Zeit von militaristischen
Kulturen beherrscht, die den Krieg
als unvermeidlich und sogar als wünschens-
Woran können wir erkennen, dass sich wert ansahen. Aristokraten sowohl in Rom
die Länder über diese Dinge keine Gedan- als auch in Karthago glaubten, dass militä-
ken gemacht haben? Indem wir uns ihre rischer Ruhm die Krönung des Lebens und
Staatshaushalte ansehen. Bis vor Kurzem der ideale Weg zu Macht und Reichtum sei.
war das Militär der erwartbar größte Posten Künstler wie Vergil und Horaz stimmten
im Haushalt eines jeden Empire, Sultanats, dem zu und widmeten ihre Talente dem
Königreichs und einer jeden Republik. Die Lobgesang auf Waffen und Krieger, der
Regierungen gaben nur wenig für das Ge- Verherrlichung blutiger Schlachten und der
sundheits- und Bildungswesen aus, da die Verewigung brutaler Eroberer.
meisten Mittel in die Bezahlung von Solda- In der Ära des neuen Friedens nutzten
ten, den Bau von Mauern und Kriegsschif- die Künstler ihre Talente, um die Schrecken
fen flossen. Das Römische Reich gab etwa des Krieges zu zeigen, während die Politiker
50 bis 75 Prozent seines Haushalts für das sich mit Reformen im Gesundheitswesen zu
Militär aus, im Reich der Song-Dynastie verewigen suchten, anstatt fremde Städte zu
(960 bis 1279) waren es etwa 80 Prozent plündern. Führende Politiker aus der ganzen
und im Osmanischen Reich des späten Welt schlossen sich zusammen, um eine
17. Jahrhunderts rund 60 Prozent. Von 1685 Weltordnung zu schaffen, die es den Ländern
bis 1813 fiel der Anteil des Militärs an den ermöglichte, sich friedlich zu entwickeln und
britischen Staatsausgaben nie unter 55 Pro- zugleich die gelegentlichen Kriegstreiber zu
zent und lag im Durchschnitt bei 75 Prozent. zügeln. Diese Weltordnung basierte auf den
Während der großen Konflikte des liberalen Idealen, nach denen alle Menschen
20. Jahrhunderts verschuldeten sich Demo- die gleichen Grundrechte haben, keine
kratien und totalitäre Regime gleichermaßen, menschliche Gruppe von Natur aus anderen
um ihr Militär zu finanzieren. Wenn man überlegen ist und alle Menschen gemein-
befürchten muss, dass die Nachbarn jeden same Erfahrungen, Werte und Interessen
Moment einmarschieren, Städte plündern, teilen. Diese Ideale ermutigten die Staats-
Leute versklaven und das Land annektieren und Regierungschefs, Kriege zu vermeiden

und stattdessen zusammenzuarbei-
ten, um gemeinsame Werte zu schüt-
zen und gemeinsame Interessen zu
fördern. Die liberale Weltordnung
verband den Glauben an universelle
Werte mit dem friedlichen Funktio-
nieren der globalen Institutionen.
Obwohl diese globale Ordnung
alles andere als perfekt ist, hat sie
das Leben der Menschen nicht nur
in den alten imperialen Zentren wie
Großbritannien und den Vereinig-
ten Staaten verbessert, sondern
auch in vielen anderen Teilen der
Welt. Überall haben Staaten von
der Zunahme des globalen Handels
und der Investitionen profitiert, fast
alle Länder kamen in den Genuss
einer Friedensdividende. Nicht nur
Dänemark und Kanada konnten
Ressourcen von Panzern auf Lehrer
umschichten. Auch Nigeria und
Indonesien waren dazu in der Lage.
Jeder, der über die Mängel der li-
beralen Weltordnung schimpft, sollte
zunächst eine einfache Frage beant-
worten: Können Sie ein Jahrzehnt
nennen, in dem es der Menschheit
besser ging als in den 2010er-Jah-
Sollte Putin den
Krieg gewinnen,
wäre es der
Zusammenbruch
der globalen
Ordnung. Wird
er gestoppt,
wäre sie gestärkt.
ren? Welches Jahrzehnt wäre statt-
dessen Ihr goldenes Zeitalter?
Etwa die 1910er-Jahre mit dem
Ersten Weltkrieg, der bolschewis-
tischen Revolution, Rassismus und
europäischen Imperien, die große
Teile Afrikas und Asiens brutal
ausbeuteten? Sind es vielleicht die
1810er-Jahre, als die Napoleoni-
schen Kriege ihren blutigen Höhe-
punkt erreichten, russische und chi-
nesische Bauern von ihren aristo-
kratischen Herren unterdrückt wur-
den, die East India Company sich
die Kontrolle über Indien sicherte
und die Sklaverei in den Vereinig-
ten Staaten, Brasilien und den meis-
ten anderen Teilen der Welt immer
noch legal war? Oder träumen Sie
vielleicht von den 1710er-Jahren
mit dem Spanischen Erbfolgekrieg,
dem Großen Nordischen Krieg im
Ostseeraum, den Mogulnachfolge-
kriegen und den zahlreichen Kin-
dern, die an Unterernährung und
Krankheiten starben, bevor sie das
Erwachsenenalter erreichten?
Der neue Frieden ist nicht das
Ergebnis eines göttlichen Wunders.
Er wurde erreicht, weil Menschen
eine funktionierende globale
Ordnung aufbauten. Leider haben
zu viele diese Errungenschaft für
selbstverständlich gehalten. Viel-
leicht gingen sie davon aus, dass der
neue Frieden hauptsächlich durch
technologische und wirtschaftliche
Kräfte garantiert würde und auch
ohne seine dritte Säule – die liberale
Weltordnung – überleben könnte.
Folglich wurde diese Ordnung zu-
nächst vernachlässigt und dann mit
zunehmender Heftigkeit angegriffen.
er Angriff ging von Schurken-
D staaten wie Iran und verant-
wortungslosen Führern wie
Putin aus, aber sie allein waren nicht
stark genug, um den neuen Frieden
zu beenden. Was die globale Ord-
nung wirklich untergrub, war, dass
sowohl die Länder, die am meisten
von ihr profitierten (darunter China,
Indien, Brasilien, Polen), als auch
die Länder, die sie überhaupt erst
aufgebaut hatten (vor allem Groß-
britannien und die USA), ihr den
Rücken kehrten. Das Brexitvotum
und die Wahl Donald Trumps im
Jahr 2016 symbolisierten die Wende.
Diejenigen, die die globale libe-
rale Ordnung infrage stellten, woll-
ten meist keinen Krieg. Sie wollten
Jonas Holthaus / laif
durchsetzen, was sie als Interessen
ihres Landes verstanden, und sie ar-
gumentierten, dass jeder National-
staat seine eigene heilige Identität
und Traditionen verteidigen und
entwickeln solle. Was sie nie erklär-
ten, war, wie all diese Nationen
ohne universelle Werte und globale
Institutionen miteinander umgehen
würden. Die Gegner der globalen
Ordnung boten keine Alternative
an. Sie glaubten, dass die verschie-
denen Nationen sich irgendwie ar-
rangieren könnten und die Welt zu
einer Ansammlung ummauerter,
aber einander freundlich gesinnter
Festungen werden würde.
Festungen sind jedoch selten
freundlich. Jede nationale Burg
will in der Regel etwas mehr Land,
Sicherheit und Wohlstand für
sich selbst – auf Kosten der Nach-
barn. Ohne universelle Werte und
globale Institutionen können sich
Harari, Jahrgang rivalisierende Festungen kaum
1976, ist Historiker auf gemeinsame Regeln einigen.
und lehrt an Das Modell der Festungen war
der Hebräischen
Universität ein Rezept für eine Katastrophe.
Jerusalem. Seine Und die Katastrophe ließ nicht
Bücher »Eine kurze lange auf sich warten. Die Corona-
Geschichte der pandemie zeigte, dass sich die
Menschheit« und
»21 Lektionen für Menschheit ohne eine wirksame
das 21. Jahrhundert« globale Zusammenarbeit nicht
waren Weltbestseller. gegen gemeinsame Bedrohungen
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 75
 D E B AT T E W E LTO R D N U N G N A C H P U T I N
wie Viren schützen kann. Vielleicht hat
Putin beobachtet, wie Covid die globale
Solidarität weiter aushöhlte, möglicher-
weise kam er so zu dem Schluss, dass er der
liberalen Ordnung den Todesstoß geben
könnte, indem er das größte Tabu der Ära
des neuen Friedens bricht. Putin mag sich
gedacht haben, dass einige Länder zwar
aufschreien und ihn kritisieren würden,
wenn er die Ukraine erobern und sie Russ-
land einverleiben würde, er aber nicht mit
wirksamer Gegenwehr rechnen müsse.
Die Behauptung, Putin sei gezwungener-
maßen in die Ukraine eingedrungen, um
Berufliche einem westlichen Angriff zuvorzukommen,
ist unsinnige Propaganda. Eine vage west-
Weiterbildung liche Bedrohung ist kein legitimer Vorwand,
um ein anderes Land zu zerstören, dessen
wann und wo Städte zu plündern, dessen Bürger zu ver-
Sie wollen gewaltigen und zu foltern und zig Millionen
Männern, Frauen und Kindern unsägliches
Leid zuzufügen. Jeder, der glaubt, dass Putin
keine andere Wahl hatte, möge bitte das
Land nennen, das eine Invasion in Russland
im Jahr 2022 vorbereitet haben soll.
Die deutsche Armee etwa? Und vergessen
Sie nicht, dass Putin bereits 2014 in die
Ukraine einmarschiert ist – nicht erst 2022.
Putin hat seine Invasion lange Zeit vor-
bereitet. Er hat den Zerfall der Sowjetunion
nie akzeptiert, und er hat die Ukraine,
Georgien oder eine der anderen postsowje-
tischen Staaten nie als legitime unabhän-
gige Nationen angesehen. Während, wie
erwähnt, die durchschnittlichen Militäraus-
gaben weltweit etwa 2,2 Prozent und in
Jetzt nur den Vereinigten Staaten 3,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind
€ 990,– sie in Russland weitaus höher. Wie hoch
genau, ist ein Staatsgeheimnis. In interna-
statt tionalen Statistiken liegen sie bei 4,1 Pro-
€ 1.290,– zent. Schätzungen gehen davon aus, dass
der Anteil aber auch bei einem Vielfachen
liegen könnte.
ollte Putin den Krieg gewinnen, wäre
Wir feiern 5 Jahre
SPIEGEL Akademie!
S es der Zusammenbruch der globalen
Ordnung und des neuen Friedens.
Autokraten in aller Welt kämen zu der
Sichern Sie sich jetzt unser Überzeugung, dass Eroberungskriege wie-
Jubiläumsangebot mit dem Code der möglich sind. Die Demokratien wären
gezwungen, sich zu ihrem Schutz zu mili-
Aktion5. Erreichen Sie zeitlich tarisieren. Schon jetzt erleben wir, wie die
flexibel und ortsunabhängig russische Aggression Deutschland dazu
einen staatlich anerkannten veranlasst, seinen Verteidigungshaushalt
drastisch zu erhöhen, und etwa Schweden
Zertifikatsabschluss zur Erwei- die Wehrpflicht wieder einführt.
terung Ihres beruflichen Profils. Geld, das für Lehrer, Krankenschwestern
und Sozialarbeiter ausgegeben werden
könnte, wird nun in Panzerarmeen, Rake-
ten und Cyberwaffen investiert. Junge
Menschen sollen ihren Militärdienst ableis-
ten. Die ganze Welt könnte irgendwann
wie heute Russland aussehen – mit einer
überdimensionierten Armee und unter-
Alle Kurse und besetzten Krankenhäusern. Eine neue Ära
Infos unter von Krieg, Armut und Krankheit wird die
Folge sein.
akademie.spiegel.de
76 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Wird Putin jedoch gestoppt und bestraft,
wäre die Weltordnung gestärkt. Es wäre eine
Ermahnung an alle, die sie nötig haben, dass
man nicht tun kann, was Putin getan hat.
elches der beiden Szenarien wird
W eintreten? Zum Glück war Putin
trotz seiner Aufrüstung auf eine
entscheidende Sache nicht vorbereitet: den
Mut des ukrainischen Volkes. Die Ukrainer
haben die Russen in einer Reihe von Siegen
bei Kiew, Charkiw und Cherson zurückge-
drängt. Doch Putin hat sich bisher geweigert,
seinen Fehler einzugestehen; er reagiert auf
die Niederlage mit zunehmender Brutalität.
Da seine Armee die ukrainischen Soldaten
an der Front nicht besiegen kann, setzt Pu-
tin nun darauf, dass die ukrainische Zivilbe-
völkerung in ihren Häusern erfriert. Wie der
Krieg enden wird, ist ebenso wenig vorher-
sehbar wie das Schicksal des neuen Friedens.
Geschichte ist niemals deterministisch.
Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten
viele, der Frieden sei unvermeidlich und
werde bestehen, auch wenn wir die globale
Ordnung vernachlässigten. Seit Russland
in die Ukraine einmarschiert ist, vertreten
einige plötzlich die gegenteilige Ansicht.
Sie behaupten, dass Frieden eine Illusion
gewesen, der Krieg hingegen eine unzähm-
bare Naturgewalt sei. Und dass Menschen
nur die Wahl hätten, ob sie Beute oder
Raubtier sein wollen.
Beide Positionen sind falsch. Krieg zu
führen oder Frieden zu schließen basiert auf
Entscheidungen und ist nichts Unvermeid-
bares. Kriege folgen keinem Naturgesetz. Aber
Frieden zu schließen ist keine einmalige Ent-
scheidung. Es ist eine langfristige Anstrengung,
um universelle Normen und Werte zu schüt-
zen und kooperative Institutionen aufzubauen.
Der Wiederaufbau der globalen Ord-
nung bedeutet nicht, dass wir zu dem
System zurückkehren, das in den 2010er-
Jahren zusammengebrochen ist. Eine neue
und bessere Weltordnung sollte den nicht
westlichen Staaten, die sich beteiligen wol-
len, eine wichtigere Rolle zuweisen. Sie
sollte auch die Bedeutung der nationalen
Loyalitäten anerkennen.
Die globale Ordnung ist vor allem wegen
des Angriffs populistischer Kräfte zerfallen,
die argumentierten, patriotische Loyalitäten
widersprächen einer globalen Zusammen-
arbeit. Populistische Politiker predigten, man
müsse als Patriot gegen globale Institutionen
und weltweite Zusammenarbeit sein.
Es gibt jedoch keinen inneren Wider-
spruch zwischen Patriotismus und Globa-
lismus, denn beim Patriotismus geht es
nicht darum, Fremde zu hassen. Sondern
darum, seine Landsleute zu lieben. Und
wenn man im 21. Jahrhundert seine Lands-
leute vor Kriegen, Pandemien und ökolo-
gischem Kollaps schützen will, gelingt das
am besten, indem man mit den anderen
zusammenarbeitet.
© Yuval Noah Harari 2023 n
SPORT
Sportland Saudi-Arabien
Wichtige Veranstaltungen und Investitionen
Saudi-Arabiens im Sportsektor seit 2019,
Auswahl
Veranstaltungen
Investitionen LIV-Serie
Schwergewichts-
WM-Kämpfe
200
Millionen Euro pro Jahr
wird Cristiano Ronaldo
inklusive Werbe-
einnahmen bei seinem
WWE-Show
neuen Klub in Riad
verdienen.
Die Fußballwelt scheint es angenehm zu finden auf der Arabischen Halbinsel. Gerade erst haben sich die Fußballnationalteams von der Weltmeister-
schaft in Katar verabschiedet, da geht es in Saudi-Arabien weiter. In dem wahhabitischen Königreich finden im Januar sowohl der Fußball-
Super-Cup zwischen den italienischen Lokalrivalen AC und Inter Mailand als auch die Halbfinals und das Endspiel des spanischen Pendants statt.
Und damit nicht genug: Golf, Boxen, Formel 1, Handball – der Lockruf des Geldes wird in vielen Sportarten erhört.
GUT ZU WISSEN
Warum gibt es derzeit so viele
Verletzte im Skigebiet?
Der Besuch der Skipiste gehört
für viele Deutsche fest ins
Urlaubsprogramm. Klimawan-
del, Pandemie, Inflation – alles
keine Hürden für leidenschaft-
liche Ski- und Snowboardfans.
Doch neben Après-Ski und
Carvingtraum lauern Gefahren
auf die Wintersportlerinnen
und Wintersportler – manch-
mal sogar tödliche.
Ende Dezember verun-
glückten zwei 17-jährige Deut-
sche im österreichischen Be-
zirk Kitzbühel. Sie kamen mit
hoher Geschwindigkeit von
der Piste ab, stürzten etwa
60 Meter tief, teils über Steine,
auf Almgelände, das kaum
mit Schnee bedeckt war.
Go
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Teure Investition:
Ronaldo spielt
jetzt für den
Boxen
saudi-arabischen
Klub Al Nassr.
ling
est
Wr
Am Hintertuxer Gletscher
in Tirol kam am Neujahrstag
eine 28-jährige Niederländerin
ums Leben. Auf eisiger Piste
stürzte sie, rutschte 100 Meter
in Richtung Tal, durch ein
Fangnetz und prallte dann
gegen einen Baum. Am
selben Tag gab es dort noch
zwei Schwerstverletzte.
Ein Problem, das sich in
den vergangenen Jahren
verstärkt hat, ist der Schnee-
mangel. Neben den Pisten
liegen Geröll und Steine
offen herum. Auch der Kunst-
schnee ist tückisch, bei
Regen werden die Strecken
eisig, die Sturzgefahr
nimmt zu.
l l
ba
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Ha
all
Fußb
Moto
rspo
an
de
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Zudem lauert die Lawinen-
gefahr. Im Skigebiet Lech Zürs
am Arlberg verletzten sich an
Weihnachten vier Menschen,
als eine Lawine auf die Skipiste
rollte. Vor dem Unglück
war gewarnt worden, dass die
Schneedecke wegen der mil-
den Temperaturen brüchig sei.
In Österreich wird jährlich
ein Bericht zur Bergunfall-
statistik herausgegeben. In der
vergangenen Saison gab es
4345 »Unfallereignisse« mit
Rettungskräfte bei Bergung
Tourismus-
Klub-WM botschafter Messi
Verpflichtung
Supercup
Ronaldo
Italien
Bewerbung
WM 2030 Kauf
Supercup
Spanien Newcastle
United
Formel-E-Rennen
rt
Khalid Alhaj / MB Media / Getty Images
Rallye Dakar
Formel-1-
Rennen
Asien-Winterspiele 2029,
Asienspiele 2034
S Grafik
◆
rund 6700 beteiligten Perso-
nen. 111 Menschen starben, das
liegt ziemlich genau im Durch-
schnitt der vergangenen zehn
Jahre – lediglich die Pandemie-
saison 2020/2021 hatte deut-
lich weniger Verletzte und Tote
zu verzeichnen, es waren auch
weniger Menschen in den Ski-
gebieten unterwegs. Die meis-
ten Menschen starben auf der
Skipiste (27) und auf Skitouren
(22). In den wärmeren Mona-
ten verunglückten viele beim
Wandern oder Bergsteigen
tödlich (23).
Die österreichische Berg-
rettung hat sieben Sicherheits-
tipps zusammengestellt: rich-
tige Selbsteinschätzung, sorg-
fältige Tourenplanung, passen-
de Ausrüstung, besonnene
Reaktion in Notfällen, ausrei-
Ulmer / IMAGO
chende Verpflegung, korrekte
Wettereinschätzung sowie
ein an die Gruppenschwächs-
ten angepasstes Tempo. BKA
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 77
SPORT

Trainer
Birkner am
27. Dezember
in Blomberg

»HALT DIE FRESSE!«

Mar vin Ibo Güngör / DER SPIEGEL

PSYCHOTERROR Jahrelang drangsalierte ein Trainer Handballerinnen des
Bundesligisten HSG Blomberg-Lippe. Die Klubführung will davon nichts mitbekommen haben –
und lässt nun auch den Nachfolger gewähren.

ier Dübel. Sie sitzen noch immer in der
V geweißten Wand im Foyer der Sport-
halle in Blomberg, einer Kleinstadt im
Osten Nordrhein-Westfalens. Die Dübel sind
unauffällig. Kaum einer der etwa 800 Hand-
ballfans, die an einem Sonntagnachmittag
Ende November an der Wand vorbeilaufen,
um das Spiel der HSG Blomberg-Lippe zu
sehen, bemerkt sie.
Bis vor Kurzem war an den vier Dübeln
ein großes Foto an der Wand befestigt. Darauf
zu sehen waren zwei Männer, die als Archi-
tekten des »Leuchtturmprojekts« gelten: der
inzwischen verstorbene Geschäftsführer Ha-
rald Wallbaum und dessen Protegé André
Fuhr, bis 2018 Trainer der HSG.
Ende Oktober enthüllte der SPIEGEL , wie
Fuhr in Blomberg, aber auch in anderen Ver-
einen Handballerinnen jahrelang terrorisiert,
bedroht, gedemütigt und erniedrigt hatte – bis
einige der Frauen so am Ende waren, dass sie
sich psychotherapeutisch behandeln lassen
mussten. Was sie berichteten, löste in der
deutschen Handballwelt ein Beben aus.
Blomberg, das ist seit 20 Jahren auch der
Standort eines Handballerinnen-Internats,
die HSG Blomberg-Lippe gilt als Vorzeige-
modell: für gute Jugendarbeit und dafür, dass
Hochleistungssport in der Provinz durchaus
möglich ist.
Die Enthüllungen über Fuhr empfanden vie-
le in Blomberg wie einen Angriff auf dieses Mo-
dell. Die HSG-Verantwortlichen sahen sich ge-
zwungen, das Foto mit Fuhr und Wallbaum von
der Wand zu nehmen. Übrig vom Heldenduo
blieben ein schwacher, rechteckiger Schatten
und die Frage, was der Klub von Fuhrs Metho-
den mitbekommen hat. Und ob sich seit Fuhrs
Weggang etwas zum Besseren gewendet hat.
Das Programmheft an diesem November-
Spieltag gibt darauf keine Antworten. Blom-
bergs Trainer Steffen Birkner spricht darin
über sportliche Ziele, er freue sich über den
neuen Teambus. Sein Vorgänger André Fuhr,
der auch Bundestrainer der Juniorinnen war,
taucht nach wie vor als »Förderer des Jugend-
handballs« auf. Kein Wort über dessen Um-
gang mit den Spielerinnen, der die Öffentlich-
keit schockierte und den Deutschen Hand-
ballbund (DHB) extrem schlecht aussehen
ließ, weil der offenbar mehr darüber wusste,
als er zugeben will.
Vor der Veröffentlichung hatte der
SPIEGEL die HSG mit Fragen zum Fall Fuhr
konfrontiert. Die Verantwortlichen hatten be-
hauptet, nichts von einem krassen Fehlver-
halten des Trainers zu wissen. Selbst nach der
Veröffentlichung der Vorwürfe (SPIEGEL
43/2022) gab sich der Klub überrascht. Man
sei bestürzt, hieß es in einer Stellungnahme,
»die geschilderten Vorgänge nicht gesehen …
und geahndet zu haben«.
Nichts gesehen, nichts gewusst, nichts ge-
hört – so ging bislang die Blomberger Erzäh-
lung. Damit das Prestigeprojekt bloß keinen
Schaden nehme.

78 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


Als der SPIEGEL jetzt noch einmal genau-
er nachbohrte, stieß er auf eine Überra-
schung: Die Klubführung wusste entgegen
den Beteuerungen bestens über Fuhrs Me-
thoden Bescheid. Schon Anfang November
2017 hatte sie selbst dem Trainer wegen sei-
ner cholerischen Ausbrüche auf und abseits
des Spielfelds mündlich gekündigt. Nur weil
einflussreiche Personen Fuhr stützten, blieb
er weiter im Verein. Erst Mitte 2018 verließ
er die HSG.
Gelernt haben die HSG-Verantwortlichen
aus Fuhrs schikanösem Regime nichts. Nach-
folger Steffen Birkner konnte offenbar weitest-
gehend dort weitermachen, wo sein Vorgänger
aufgehört hatte. Mit ähnlichen Methoden.
Isabelle Jongenelen erfuhr das am eigenen
Leib. Die Niederländerin hatte zunächst unter
Fuhr gelitten und war dann von der HSG zu
einem anderen Verein gewechselt. Im Som-
mer 2019 war sie nach Blomberg zurückge-
kehrt, in der Hoffnung, dass sich die Lage
nach Fuhrs Weggang geändert habe.
Ende November sitzt die 31-Jährige in
ihrem Apartment im Südwesten der Türkei,
dort ist sie inzwischen bei einem türkischen
Erstligisten unter Vertrag. Über Videotele-
fonie spricht sie vom »schwersten Fehler ihres
Lebens« – nichts anderes sei die Rückkehr
nach Blomberg gewesen. Immer wieder
schüttelt sie den Kopf, ringt nach Worten. Als
könne sie bis heute nicht fassen, wie sie in
Blomberg behandelt wurde.
Schon in der Saisonvorbereitung habe sie
gemerkt, dass der neue Trainer sie nicht moch-
te, sagt Jongenelen. Birkner habe ihr Gewicht
kritisiert und von ihr gefordert, in sechs Wo-
chen zehn Kilo abzunehmen. Er habe ihr Diät-
bücher geschickt, ihr vorgeworfen, sie sei zu
langsam. Sie habe sich gefragt, warum der Klub
sie überhaupt verpflichtet hatte. »Meine Figur
war schon immer so gewesen.«
Der Trainer ließ das Team viel Lauftraining
machen, Jongenelens rechtes Knie, vorbelastet
durch eine ältere Verletzung, habe sich dadurch
entzündet. Ein Arzt verordnete ihr ein paar
Wochen Pause. Birkner habe sie danach nicht
mehr ins Training integriert, sagt Jongenelen,
sie nur noch ums Spielfeld joggen lassen. Fünf
Monate lang habe sie keinen Ball angefasst.
»Ich kam mir vor wie ein ausrangierter Zug.«
Jongenelen sagt, sie sei nicht die Einzige
gewesen, die den Unmut des Trainers zu
spüren bekommen habe. »Wenn wir Fehler
machten, spielten wir ›schwule Bälle‹, waren
›behindert‹, wurden nach Lust und Laune
›fett‹ und ›dumm‹ genannt«, sagt sie.
Ehemalige Betreuerin in Blomberg
Trainer Steffen Birkner wirkte auf mich wie ein
Tyrann, der einige Spielerinnen bewusst psy-
chisch terrorisierte. Jene, die nicht zu den Leis-
tungsträgern oder seinen Lieblingen gehörten,
hatten es extrem schwer. Vor allem junge, men-
tal weniger starke Frauen bekamen seinen
Ärger zu spüren oder wurden völlig ignoriert.
Manche, die schon länger im Klub waren, ver-
suchten, sich die Lage schönzureden – dass es
SPORT
unter ihm zumindest nicht ganz so schlimm sei Fußballtrainern wie Jürgen Klopp abge-
wie unter seinem Vorgänger André Fuhr. schaut.
Steffen ging es vor allem um Siege, was nicht Ehemalige Kollegen und Sportlerinnen
verwerflich ist, aber die Mädchen und Frauen, berichten, Birkner, der Erziehungswissen-
die er trainierte, wurden Opfer seines Ehrgeizes. schaften studiert hat, mangele es »am Mensch-
Er schrie Spielerinnen für kleinste Fehler übel lichen«. Er schare die besten sieben eines
zusammen. Rückendeckung bekam er von Ge- Teams um sich, für den Rest interessiere er
schäftsführer Torben Kietsch, der offenbar die sich kaum. So schaffe er eine Zweiklassen-
Prämisse vertrat: je härter, desto besser. gesellschaft, die Neid und Missgunst schüre.
Ich erlebte den Coach als emotional sehr Er sei einer, der sich auch über das Kleinma-
instabil. Spielerinnen hatten große Angst, ins chen von Spielerinnen profiliere, sie teilweise
Training zu gehen, weil sie nicht wussten, wie in die Depression getrieben habe.
er drauf sein würde. Wer weinte oder Gefühle Es gibt Spielerinnen, die erzählen, Birkner
zeigte, war schwach und wurde entsprechend könne nett und lustig sein. Er verstehe etwas
behandelt. Die Schuld trugen natürlich die vom Handball und habe sie besser gemacht.
Frauen, die »zu sensibel« waren. Doch meist sind das jene Profis, ohne die
Steffen fehlte jegliche Empathie, sich in Birkner kein Spiel gewinnen würde. Die das
Spielerinnen hineinzuversetzen. Sprach man Glück haben, in seiner Gunst zu stehen. Die
ihn darauf an oder machte Vorschläge, wie es Auserwählten.
anders gehen könnte, bekam man ein Schwei-
gen oder ein »Das haben wir schon immer so Ehemalige Spielerin in Blomberg
gemacht« zu hören. Manchmal besserten sich Steffen Birkner behandelte mich wie Luft. Er
Ton und Umgang – aber nur für wenige Wo- schaute mir nicht in die Augen. Er nahm mich
chen. Wie in einer schlechten Ehe. im Training gerne als Negativbeispiel her, um
Ich kenne viele Spielerinnen, deren Zeit bei Fehler zu illustrieren. Oft fühlte ich mich wie
der HSG tiefe psychische Wunden hinterlassen ein Dummy, wie ein Gegenstand. Übte das
hat. Die für weniger Geld in schlechtere Teams Team Angriff, war ich Abwehr und umgekehrt.
gewechselt sind, nur um aus Blomberg weg- Die Message war klar: Du bist es nicht wert,
zukommen. du bist nur der Lückenfüller.
Wir trainierten in der Saison viel zu hart.
Steffen Birkner, 42, ist ein untersetzter Mann Das hatte ich in keinem anderen Klub erlebt.
mit Kurzhaarfrisur, der aus Stralsund in Meck- Wir mussten so viel sprinten und laufen, dass
lenburg-Vorpommern stammt. Er trainierte ich mich schon mittwochs fragte, wie ich die
zunächst Jugend- und Damenteams. 2017 ver- Woche überstehen soll. Wenn ich abends im
suchte er sich im Männerhandball beim Dritt- Bett lag, konnte ich vor Schmerzen in Muskeln
ligisten VfL Fredenbeck, doch der Klub be- und Gelenken manchmal nicht einschlafen.
urlaubte ihn vorzeitig und stieg ab. Aus dem Steffen rief mir zu: »Beweg deinen Arsch.«
Umfeld des Vereins heißt es, Birkner habe mit Egal, was ich tat, ich war für seinen Geschmack
Männern nicht gekonnt, sie nicht motivieren immer zu langsam, stand schlecht in der Ab-
können. wehr, hatte eine schlechte Absprungtechnik
Der SPIEGEL hat versucht, mit Birkner beim Wurf. Auf der Ersatzbank beugte er sich
über die Vorwürfe zu sprechen. Er lehnte ab. manchmal über mich und brüllte mich an. Mei-
Er fürchte, dass sein rauer Ton zum Thema ne Mitspielerinnen schauten weg, weil sie froh
in der Öffentlichkeit werden könnte, heißt waren, für den Moment verschont geblieben
es in Blomberg. In einem Clip bei YouTube zu sein. Ich fühlte mich wie ein Ventil für die
erzählt Birkner immerhin freimütig, worauf Launen des Trainers, nicht wie ein Mensch.
es ihm bei Spielerinnen ankomme: Wichtiger Um Steffens verbale Angriffe zu ertragen,
als die »handballerische Qualität« sei, »wie versuchte ich, ihn mir als wütenden Emoji vor-
der Mensch in seinem Persönlichkeitsprofil zustellen, dem vor lauter Wut der Kopf rauch-
ist«. Er habe sich da einiges bei bekannten te. Es klappte nicht immer. Nach einem Jahr
war ich körperlich und mental völlig ausge-
laugt. Ich begann zu zweifeln, ob ich für die
Bundesliga gut genug sei. Handball, das Spiel,
das ich so liebte, machte keinen Spaß mehr. Es
war nur noch Pflicht.
Meinen Eltern verschwieg ich oder spielte
herunter, wie sehr ich unter dem Coach litt, weil
ich sie nicht belasten wollte. Warum ich trotzdem
mehr als ein Jahr in Blomberg blieb? Ich wollte
mir selbst beweisen, dass ich nicht schwach bin.
Roland Sippel / Eibner / IMAGO
Ein Fehler. Bis heute zieht sich in mir alles zu-
sammen, wenn ich an die Zeit dort denke. Ich
habe mir eine Psychologin gesucht, die mir hilft,
mein Selbstwertgefühl wiederzufinden.
Auch die Niederländerin Jongenelen hatte
irgendwann genug davon, von Birkner
Ehemaliger Blomberger Trainer Fuhr zur Seite gedrängt zu werden, sie forderte
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 79
SPORT
ein Gespräch mit Geschäftsführer
Kietsch. Doch statt Verständnis habe
sie zu hören bekommen, wie unbe-
liebt sie im Team sei. »Ich habe bei
dem Treffen nur geheult«, erinnert
sie sich. Dass sie keiner mögen würde,
sei Blödsinn gewesen, wie sie später
herausfand. »So wollte mich Torben
unter Druck setzen.«
Manager Torben Kietsch, 40,
arbeitet seit mehr als zehn Jahren für
die HSG. Auch er lehnte ein Gespräch
mit dem SPIEGEL ab. Spielerinnen
habe er angewiesen, heißt es, keine
Interna nach außen zu tragen. Intern
bleibt intern, sage er gern.
Kietsch führe den Klub mit straffer
Hand, erzählen frühere Mitarbeiter.
Punkte und Siege gingen ihm über al-
les; Kietsch selbst spreche gern vom
»HSG-Gen«. In einem Interview sag-
te er einmal, Frauenhandball in einer
Kleinstadt zu vermarkten sei »keine
ganz einfache Aufgabe«. Mit Spiele-
rinnen müsse er manchmal »ein erns-
tes Wort« sprechen. Dass sie dem Klub
zum Teil scharenweise davonliefen,
deutete Kietsch ein anderes Mal nicht
als Folge eigener Verfehlungen, son-
dern als »Fluch der guten Tat«. Die
»tollen Leistungen« weckten bei der
Konkurrenz »Begehrlichkeiten«.
Eine Spielerin, die inzwischen im
Ausland lebt, berichtet, dass sie »nach
ein paar Monaten in diesem Umfeld
nur noch nach Hause« wollte. Sie habe
Kietsch kontaktiert: »Doch er glaubte
mir nicht. Torben wurde sehr wütend,
schrie mich oft an, auch wenn ich unter
Tränen mehrfach um Verständnis
bat.« Das Jahr in Blomberg »hat mei-
ne Liebe zum Handball zerstört«.
Jessica Bregazzi, Athletiktrainerin
in Blomberg 2021/22
Mein Job war es, dass die Spielerinnen
körperlich richtig belastet werden. Ich
habe deshalb Tools zur Belastungs-
steuerung eingeführt, aber das hat
nicht funktioniert. Steffen schoss oft
weit darüber hinaus. Immer wieder
kamen Mädchen zu mir und klagten,
wie müde sie seien.
Noch entsetzter war ich über den
psychischen Druck im Training.
Manchmal fielen Sätze wie: »Halt die
Fresse! Verpiss dich auf Außen!« Es gab
Einheiten, in denen einige Mädchen
durchgeheult haben. Steffen hat das
einfach ignoriert. Einigen Spielerin-
nen, die sich während des Kraft-
trainings bei mir ausweinten, weil sie
mental so stark angeschlagen waren,
habe ich empfohlen, sich in psychothe-
rapeutische Behandlung zu begeben.
Bei Geschäftsführer Kietsch habe
ich mich mehrfach beschwert. Ich habe
angemahnt, dass sportpsychologisch
80 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
mehr getan werden müsse, um die
Kommunikation und den Umgang mit
Druck und Stress zu verbessern. Seine
Antwort lautete, er wolle da kein Fass
aufmachen. Das schaffe bei den Spie-
lerinnen nur Probleme, wo in Wirk-
lichkeit keine seien. Ich habe versucht,
ihm zu erklären, dass das Quatsch sei.
Aber das wurde nicht erhört.
Es war wie ein Kampf gegen Wind-
mühlen. Am Ende war ich brutal frus-
triert. Und ich war froh, als ich endlich
aus Blomberg rauskam, weil diese
schlimmen Verhältnisse auch meiner
eigenen psychischen Gesundheit nicht
gutgetan haben.
Die Blomberger Handballwelt ist klein,
Trainer Birkner und Manager Kietsch
sind einander freundschaftlich verbun-
den. Nach den Abschlusstrainings vor
einem Spiel treffen sie sich öfter auf
ein Bier. Mit dabei ist immer mal wie-
der Jens Genge, 54, Fachanwalt für
Steuerrecht und HSG-Beiratsvorsit-
zender. Genge ist einer der Großspon-
soren des Klubs, zum rund 800 000
Euro umfassenden Jahresetat soll er
eine sechsstellige Summe beisteuern.
Fans nennen ihn den »netten Jens«.
Gewinnt die HSG, sieht man ihn, wie
er Spielerinnen umarmt. Läuft es
schlecht, brüllt er schon mal an der
Seitenlinie. Zu den Vorwürfen gegen
Fuhr äußerte er sich zunächst nicht.
Nur gegenüber einer Lokalzeitung de-
mentierte er einige – obwohl er seit
Jahren von Fuhrs Ausbrüchen wusste.
Jongenelen sagt, Trainer Birkner
und Manager Kietsch hätten ihr jeg-
liches Selbstvertrauen genommen.
Als Birkner sie nach Monaten wieder
einmal bei einem Spiel einsetzte,
habe sie vor lauter Angst einen Ball
ins Aus geworfen. Statt sie zu ermu-
tigen, habe Birkner sie umgehend
ausgewechselt und angeblafft: »Dir
kann man auch gar nichts zutrauen.«
Die Ablehnung des Trainers habe
an ihr zu nagen begonnen, sagt Jon-
genelen. Sie habe die Lust auf Hand-
ball verloren, nachts schlecht geschla-
fen, mehr geweint. »Ich war ein anderer
Mensch geworden.« Eine ehemalige
Mitspielerin berichtet, Jongenelen
habe kaputt gewirkt, kaum gelacht
und von einer »mentalen Müdigkeit«
gesprochen. »Man sah ihr an, wie
schlecht es ihr ging.«
Jongenelens Rettung war eine Me-
Mar vin Ibo Güngör / DER SPIEGEL
dizinerin, die den Klub extern betreu-
te. Regelmäßig habe sie auf deren
Couch gesessen, irgendwann sei das
halbe Team zu ihr gefahren. Dort
habe es viele Tränen gegeben und
gute Ratschläge. »Ohne diese Frau
hätte ich die Zeit in Blomberg nicht
überstanden«, sagt Jongenelen.
Blomberger Nach zwei Jahren verließ sie 2021
Bundesligateam den Verein, wechselte für weniger Geld
nach Sieg gegen
Leverkusen zum VfL Oldenburg – einem Klub, in
am 27. Dezember: dem »Spielerinnen mit Respekt behan-
Leuchtturmprojekt delt und nicht ständig angebrüllt wur-
in der Provinz den«, sagt sie. »Oldenburg fühlte sich
an wie eine andere Welt.«
Die HSG ist eine Größe in Blom-
berg. Die Geschäftsstelle ist in einem
Altbau am historischen Marktplatz
untergebracht, nur ein paar Meter
vom Amtssitz des Bürgermeisters
entfernt. Wie es in dem Handballzen-
trum wirklich zugeht, wird nicht offen
diskutiert. Auch Blombergs Bürger-
meister will nicht mit dem SPIEGEL
sprechen. Er habe viele Termine,
schreibt Christoph Dolle in einer
E-Mail, auch ein Telefonat sei nicht
möglich. Die Stadt, versichert er, ste-
he mit der Vereinsführung »in engem
und regelmäßigem Austausch« über
deren Anstrengungen, »zu einer
Sachaufklärung beizutragen«.
Julia Huppertz, ehemalige
Spielerin in Blomberg
Als ich 2008 nach Blomberg wechselte,
hatte sich die HSG das erste Mal für
den Europapokal qualifiziert. Dafür
wurde André Fuhr von allen wie ein
Messias gefeiert. Alle bewunderten
Fuhr für dessen überragendes Fach-
wissen. Er schien unantastbar. Was er
sagte, war Gesetz. Wenn ein Spieltag
anstand, dann pilgerten die Blom-
berger in die Halle, um dem Trainer
bedingungslos zu huldigen. Ich habe
mich gefühlt wie in einer Sekte. Wenn
irgendeine Spielerin es wagte, eine An-
sage Fuhrs auch nur infrage zu stellen
oder ihr nicht folgte, dann wurde sie,
als lebten wir noch im Mittelalter, mit
der Spitzhacke aus dem Ort gejagt. So
jedenfalls habe ich es empfunden.
»Ich habe Dass es damals auch erfahrene
mich gefühlt Spielerinnen gab, die unter der psy-
wie in einer chischen Gewalt, die Fuhr ausübte,
regelmäßig in der Kabine weinend
Sekte.« kollabierten, hatte keinerlei Konse-
Julia Huppertz quenzen. Es gab Spielerinnen, die da-

mit allem Anschein nach zurechtkamen. Aber
ich glaube, dass wir alle damals gelitten ha-
ben. Ich selbst verließ den Klub im Herbst
2009, weil mein Vater im Sterben lag. Als ich
kurz darauf in die Halle kam, um meine Mit-
spielerinnen anzufeuern, rasteten Fuhr und
Wallbaum aus und schrien mich an. Sie war-
fen mir vor, ich hätte meine Geschichte nur
erfunden, um abzuhauen. Die ganze Halle sah
dabei zu. Niemand hat etwas gesagt.
Der SPIEGEL hat die Verantwortlichen der
HSG auch schriftlich mit den Schilderungen
der Frauen konfrontiert, in ihren Stellung-
nahmen sind diese nicht auf die Details ein-
gegangen. Trainer Birkner schreibt: »Wenn
Spielerinnen den von mir angeschlagenen
Umgangston nicht immer angebracht emp-
fanden, dann tut mir das leid. Generell ist im
Sport die Wortwahl sicher oft gröber als im
normalen Leben, häufig nicht druckreif.« Ge-
nerell höre man im Verein »auf das Feedback
aus der Mannschaft, woraus auch schon Ver-
änderungsprozesse initiiert wurden und auch
zukünftig werden«.
Geschäftsführer Kietsch schreibt: »Mir ist
weder die psychische Verfassung der Spiele-
rinnen noch die von anderen Mitarbeitenden
gleichgültig. Ganz im Gegenteil! Es tut mir
deshalb leid, wenn eine oder gar mehrere
Spielerinnen das so empfunden haben soll-
ten.« Der Verein habe bereits ein »Seminar
zum Thema Stressbewältigung durchgeführt«,
die bisherige Berichterstattung habe auch »zu
einer anderen Art der Sensibilität geführt«.
Das Beispiel der HSG Blomberg zeigt, wie
schwer der Umgang mit mentaler Gewalt ist,
besonders in Bereichen, in denen Höchstleis-
tungen erwartet werden. Für den Deutschen
Handballbund ist der Skandal ein Armuts-
zeugnis. Bevor die Vorwürfe öffentlich wur-
den, lobte sich der DHB auf seiner Homepage
so: Er sehe seine Verantwortung für »Prä-
vention von Gewalt« und fördere eine »Kul-
tur des Hinsehens«.
Die Wahrheit sah anders aus: Für das un-
angenehme Thema interessierte sich im Ver-
band so gut wie niemand. Im Gegenteil, vie-
len DHB-Verantwortlichen war bekannt,
dass Trainer Fuhr einen problematischen
Umgang mit seinen Spielerinnen hatte, es
wollte aber keiner hören. Nicht einmal, als
zwei Nationalspielerinnen DHB-Betreuer
und den Bundestrainer über den Psychoter-
ror unterrichteten.
Der DHB reagierte erst, als der SPIEGEL
Ende Oktober die Missstände öffentlich mach-
te. Der Imageschaden war gewaltig. DHB-Prä-
sident Andreas Michelmann versuchte zu ret-
ten, was zu retten war. Er sprach persönlich
mit betroffenen Spielerinnen und deren Eltern.
Ein Gespräch mit dem SPIEGEL lehnte er ab,
in einem Interview mit dem Fachmagazin
»Handball Inside« gab er sich zerknirscht: »Ich
war vor allem darüber erschüttert, wie lange
dieser Fall gärte, bis er an die Oberfläche kam,
und wie viele Leute später behaupteten, etwas
gewusst zu haben. Vor allem diejenigen, die
SPORT
zuvor nie ein Wort darüber verloren haben.« rechnet von der Leiterin der Geschäftsstelle,
Personelle Konsequenzen? Keine. die seit Jahren als verlängerter Arm von Kietsch
Immerhin bemühte sich Michelmann gilt. Wie das Angebot angenommen werde,
unmittelbar nach der Veröffentlichung des dazu will sie auf Anfrage nichts sagen.
SPIEGEL darum, eine Kommission zur Auf- Dass es eine Ansprechpartnerin gibt, da-
arbeitung und Prävention von Gewalt zu in- von höre man zum ersten Mal, heißt es von
stallieren. Der DHB konnte angesehene Per- Spielerinnen aus dem aktuellen Kader. Aber
sönlichkeiten wie den Kriminologen Christian sich ihr anzuvertrauen sei schwierig. »Dafür
Pfeiffer und die Soziologieprofessorin Car- ist sie zu nah dran an den Klubverantwort-
men Borggrefe gewinnen. Allerdings musste lichen.« Ehrlichen Aufklärungswillen und
der Verband die Kommission wenige Wochen Zeichen eines Kulturwandels könne man nicht
nach deren Berufung wieder auflösen, weil erkennen. Eher habe man das Gefühl, der
es »unüberbrückbare persönliche Differen- Klub wolle den Fall und die Nachwehen »tot-
zen« in dem fünfköpfigen Gremium gab, wie schweigen und aussitzen«. Der Trainer feixe
der DHB in einer Presseerklärung bekannt schon mal mit einigen seiner Lieblingsspie-
gab. Ein Gremiumsmitglied widerspricht die- lerinnen, ob er denn jetzt noch fluchen dürfe.
ser Begründung: Es habe keine persönlichen Eine von ihnen ist Kapitänin Laura Rüffieux,
Differenzen gegeben, man habe sich über die 27. Nachdem die Verfehlungen Fuhrs im Okto-
Zielsetzung der Kommission zerstritten. ber öffentlich geworden waren, gehörte die
All das scheint Kritikern der Verbands- Kreisläuferin zu den Spielerinnen, die das The-
spitze recht zu geben, die davon überzeugt ma herunterspielten – alles halb so schlimm.
sind, dass der DHB mit dem Thema psychi- Dabei hatte Fuhr sie im März 2017 einmal der-
sche Gewalt überfordert ist. Ralf Fricke, Prä- art hart rangenommen, dass sich sogar der Ver-
sident des Bremer Handballverbands, sagt, einsbeirat mit dem Fall beschäftigte.
er gehe davon aus, dass »dieser Skandal aus- Fuhr erklärte sich gegenüber dem Gre-
gesessen wird«. Auch Ulf Meyhöfer, Präsident mium, er sei aus der Haut gefahren, »nicht
des Pfälzer Handball-Verbands, glaubt, dass als Laura am Tor vorbeigeworfen hat …, son-
»da nichts mehr passieren wird. Aus meiner dern als sie danach heulend in der Abwehr
Sicht ist die Kommission nicht mehr als ein stand und an ihrem T-Shirt geknabbert hat.
Feigenblatt«. Ich war wahrscheinlich auch in der Auszeit
Bei der Anlaufstelle gegen Gewalt im Sport zu böse zu ihr«. Er könne nicht versprechen,
der Initiative Athleten Deutschland haben dass »so etwas in einer solchen Drucksitua-
sich mittlerweile über 50 Handballerinnen tion nicht wieder passieren kann … Mein Ver-
gemeldet, viele von ihnen aus Blomberg. halten hat ja inzwischen dazu geführt, dass
Dort sieht man offenbar keine Veranlassung, mich kein anderer Verein mehr nimmt«. Auf
die hauseigenen Methoden grundsätzlich zu den Vorgang angesprochen, schreibt Laura
hinterfragen. Mehr als einen Monat nach dem Rüffieux, sie habe in einem persönlichen
ersten Bericht im SPIEGEL erklärte der Klub, Gespräch die Differenzen ausgeräumt, Fuhr
man habe sich »unmittelbar nach Bekanntwer- habe sich bei ihr entschuldigt.
den der Vorwürfe mit Expertinnen und Exper- Ende Dezember, nach dem Heimspiel
ten zum Themenkomplex der interpersonellen gegen Leverkusen, unternimmt der SPIEGEL
Gewalt beraten«. Man biete Betroffenen »kon- einen weiteren Versuch, von HSG-Beiratsrat-
krete Unterstützung« an. »Nie wieder möchten chef Genge zu erfahren, was die Klubführung
wir uns mit solchen oder ähnlich gearteten Vor- über Fuhr und dessen Umgang mit den Spie-
würfen – wie weit auch immer berechtigt – aus- lerinnen gewusst habe. Genge bittet in einen
einandersetzen müssen«, schreibt Geschäfts- Besprechungsraum, er hat sich HSG-Beirat Uwe
führer Kietsch in einer E-Mail. Leidt zur Seite geholt. Sie erklären, dass man
Auch solle es bei der HSG eine »unabhän- aus dem Gespräch keinesfalls zitieren dürfe.
gige, zur Verschwiegenheit verpflichtete An- Genge gibt sich ahnungslos, dabei war er
laufstelle« geben. Gelenkt wird diese ausge- mittendrin, als der Streit um Fuhr bereits im
November 2017 im Verein eskalierte, nach-
dem wieder einmal viele Tränen bei Spiele-
rinnen und Mitarbeiterinnen geflossen waren.
Fuhr war damals mündlich gekündigt worden,
Genge hatte auf die Trennung gedrängt, sogar
seinen Rücktritt erklärt, falls dies nicht ge-
schehe. Er habe »ein mehr als unerfreuliches
Gespräch mit André geführt«, erklärte er in
einer E-Mail. Da viele weiter hinter Fuhr stün-
den, sei er nicht mehr bereit, »weiterhin Zeit
Mar vin Ibo Güngör / DER SPIEGEL
und Geld in das mir lieb gewonnene Projekt«
zu investieren.
Trotzdem trainierte Fuhr danach einfach
weiter – und verließ Blomberg erst im folgen-
den Sommer. Maximale Konsequenz, und
die auch erst seit seinem endgültigen Abgang:
ein abgehängtes Bild.
Funktionär Genge, Spielerin Nieke Kühne Erik Eggers, Matthias Fiedler, Udo Ludwig n
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WISSEN

Ariel Schalit / AP
Was für manche Menschen eine Horrorvorstellung sein dürfte, scheint diesem Mann nichts auszumachen: Umringt von Sandbankhaien, badet er
vor der Küste von Chadera, Israel, im Mittelmeer. Die Schwimmer sind an die Fische gewöhnt, denn die Tiere suchen die Stelle schon seit vielen
Jahren auf. Vermutlich werden sie vom warmen Wasser angelockt, das ein Elektrizitätswerk ins Meer pumpt. Beißattacken gab es bisher nicht, und
womöglich wird es zukünftig seltener zu einem Aufeinandertreffen kommen: Der Bestand der Haie ist gefährdet.

hochgefahren werden. Die Monate dazwischen ließen sich

Ausstieg aus dem Ausstieg?
ANALYSE Warum eine weitere Verlängerung der
AKW-Laufzeiten ausgerechnet von den Betreibern
abgelehnt wird
Verkehrsminister Volker Wissing stellte Anfang der Woche ein
Machtwort infrage, das Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober
gesprochen hatte: »Am 15. April 2023 ist Schluss mit der Atom-
kraft in Deutschland.« FDP-Politiker Wissing schlug nun vor,
eine unabhängige Expertenkommission über einen längeren Be-
trieb der drei verbliebenen Anlagen entscheiden zu lassen.
Die Frage ist, ob ein Ausstieg aus dem Ausstieg überhaupt mög-
lich wäre.
»Technisch und sicherheitstechnisch ist das kein Problem«,
sagt Thomas-Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Techno-
logie. Klar sei, dass die AKW neue Brennstäbe benötigten.
Würden die sofort bestellt und innerhalb von sechs bis acht Mo-
naten geliefert, könnten die Kraftwerke nach Ende des Streck-
betriebs im April abgeschaltet und zum Ende des Jahres wieder
für eine Revision und die überfällige periodische Sicherheits-
überprüfung nutzen.
Tromm widerspricht auch der Behauptung von Bundes-
tagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), dass neue Brennelemente die
Laufzeit der AKW gleich um 20 Jahre verlängern würden.
Realistisch seien 3 oder 4 Jahre – also ein Zeitraum, der für den
weiteren Ausbau von Sonnen- und Windenergie genutzt werden
könnte.
Ausgerechnet die Betreiber der letzten deutschen Kernkraft-
werke stehen einem Weiterbetrieb allerdings zurückhaltend
bis ablehnend gegenüber. Ein Grund: Der Einsatz neuer Brenn-
stäbe hätte zur Folge, dass insgesamt mehr Atommüll anfiele
als bislang geplant. Hinzu komme, dass zusätzliches Personal
ausgebildet werden müsse und man sich seit Jahren auf den
Rückbau vorbereite. Diese Arbeiten seien schon wegen des
Streckbetriebs um Monate verschoben worden, sagte EnBW-
Manager Jörg Michels; das habe die Kosten bereits erheblich er-
höht. Das EnBW-Fazit: Eine Verlängerung der Laufzeiten über
April hinaus hätte die Politik noch im alten Jahr beschließen
müssen – man bekenne sich unverändert zum Ausstieg aus der
Kernkraft. Guido Kleinhubbert

84 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

 Campen auf dem KZ-Gelände
KOLONIALGESCHICHTE Die namibische
Halbinsel Shark Island war einmal ein Ort
des Grauens. In einem deutschen Konzen­
trationslager, das dort während der Kolo­
nialzeit errichtet wurde, starben bis zu
3000 Angehörige der einheimischen Here­
ro und Nama unter anderem an Unter­
ernährung und Skorbut. Weil über die Ge­
schichte und den Betrieb der Anlage wenig
bekannt ist, erkundete ein deutsch­nami­
bisches Team nun das zur Stadt Lüderitz
gehörende Areal mit Bodenradar. Es mach­
te dabei einige Entdeckungen, die vor dem
Hintergrund der aktuellen Kolonialismus­
debatte irritierend anmuten.
und konnten nachweisen, dass die Gefan­ Hoffnungen auf die Region Lüderitz setze:
genen genau dort untergebracht waren, wo Gemeinsam mit einem namibischen Unter­
sich heute ein Campingplatz befindet. nehmen soll der starke Wind, der an der
Zudem gebe es an der Inselstraße »ein reges Küste von Lüderitz weht, für die Produktion
Bautreiben«; die Prospektion sei »auf den grünen Wasserstoffs genutzt werden. Dieser
letzten Drücker« erfolgt. In einigen Jahren soll in Ammoniak umgewandelt und per
werde alles zerstört oder überbaut sein, was Schiff nach Deutschland transportiert wer­
noch an das düstere Kapitel der deutsch­ den, als Ersatz für Erdgas. GUI
namibischen Geschichte erinnere, vermutet
die Archäologin Katja Lembke, auf deren
Initiative die Forschung zurückgeht.
Weder die Nachfahren der deutschen Ko­
lonisten noch die einheimischen Behörden
hätten bisher ein Interesse daran gehabt, die
Geschichte des KZ aufzuarbeiten und der
Opfer zu gedenken. »Die Namibier erinnern
sich vor allem an den Befreiungskampf gegen

Die Wissenschaftler stießen auf der etwa
1,5 Kilometer langen Halbinsel auf Struktu­
ren ehemaliger Zaunanlagen aus Eisen­
bahnschienen. Sie entdeckten Hinweise auf
kleine Staudämme zur Wasserversorgung
Landesmuseum Hannover
die kolonialen Truppen«, sagt Lembke. Die
Direktorin des Niedersächsischen Landes­ Gefangene in
deutschem
museums Hannover will nun dafür werben, Lager in Namibia
zumindest eine Infotafel aufzustellen. Das sei um 1906
gerade jetzt wichtig, weil Deutschland große

feucht, um technischen Schnee Hamburg in einem Jahr. Laut

»Die Kanonen können dann zu bilden. Die Kanonen können Ihrer Studie werden die Wasser­
dann also auch nichts mehr aus­ mengen in Zukunft noch stei­
auch nichts mehr ausrichten« richten. gen. Was bedeutet das?
SPIEGEL: Für Skibetriebe ist be­ Hiltbrunner: Die Pisten werden
sonders Weihnachten wichtig. im Oktober oder November
KLIMA Viele Skigebiete werden bald schließen müssen.
In Bayern bringen die Tage ums eingeschneit, danach kommt
Selbst für technische Beschneiung wird es im Laufe Fest ein Drittel der Einnahmen der Naturschnee dazu. Dieses
des Jahrhunderts zu warm, befürchtet Alpenforscherin der gesamten Skisaison. Jahr wurde es über Weihnach­
Hiltbrunner: Bis zum Ende des ten aber so warm, dass die ein­
Erika Hiltbrunner, 60, von der Universität Basel. Jahrhunderts wird Skifahren an geschneiten Pisten abgetaut
Weihnachten immer unwahr­ sind. In Zukunft müssen Ski­
SPIEGEL: Frau Hilt­ auch technische Beschneiung scheinlicher, erst in den Wochen gebiete also sogar mehrfach be­
brunner, hinter uns nicht mehr funktioniert. danach gibt es höhere Chancen schneit werden, und das kostet
liegt der wärmste SPIEGEL: Nämlich? auf Schneesicherheit. Leider sehr viel mehr Energie. Auch
Silvester seit Auf­ Hiltbrunner: Normalerweise kann man Weihnachten nicht das Wasser reicht dann irgend­
Beat Ernst

zeichnungsbeginn.
In einigen Skigebie­
ten stehen die Lifte
still, weil die Hänge grün sind.
Sie haben gemeinsam mit Ihrem
Team nun am Beispiel Schweiz
erforscht, ob wir zukünftig
auf die Pisten können. Fahren
wir in 50 Jahren überhaupt
noch Ski?
Hiltbrunner: Ja, ich denke
schon, aber Skigebiete, die völ­
lig abhängig vom Naturschnee
sind, werden in den nächsten
Jahrzehnten schließen. Und
wenn man vom schlimmsten
Klimaszenario ausgeht, also
einer Erderwärmung von plus
vier Grad gegenüber dem
vorindustriellen Zeitalter bis
Ende des Jahrhunderts, dann
sieht es ganz schlecht aus mit
dem Skispaß: Wer dann auf
kann man ab minus 1,5 Grad
beschneien. In unserer Studie
hat sich gezeigt: Bei Skigebie­
ten, die unter 1900 Metern lie­
gen und bis ins Tal runtergehen,
werden die Temperaturen in
den nächsten Jahrzehnten zu
hoch sein und die Luft zu
nach hinten verschieben. wann nicht mehr. Wir haben
SPIEGEL: Technischer Schnee berechnet, dass der Wasser­
verbraucht viel Wasser. Für die verbrauch im Schweizer Ski­
beschneibaren Pistenflächen der gebiet Andermatt – Sedrun –
Alpen waren schon 2004 laut Disentis beim schlimmsten
einer Berechnung rund 95 Mil­ Klimaszenario um rund 80 Pro­
lionen Kubikmeter Wasser nö­ zent steigen wird. Um diese
tig, so viel verbraucht die Stadt Menge zusammenzubekom­
men, soll ab 2050 sogar Grund­
Alpinskisportler in Garmisch- wasser angezapft werden. Das
Partenkirchen am Mittwoch finde ich total falsch.
SPIEGEL: Schadet technischer
Schnee der Natur?
Hiltbrunner: Vom natürlichen
Schnee unterscheidet er sich
heute nur noch in seiner Dichte.
Es werden keine Chemikalien
mehr verwendet, deshalb
spricht man auch nicht mehr
von »Kunstschnee«. Da er dich­
ter ist, bleibt er länger liegen.
Das kann das Pflanzenwachs­
tum beeinflussen. Welche Effek­
Alessandro Trovati / AP

die Bretter will, bewegt sich fast te das insgesamt für das gesam­
überall nur noch auf Schnee, te Ökosystem hat, zum Beispiel
der aus Schneekanonen für die Bodenorganismen,
stammt. Allerdings gibt es phy­ ist allerdings noch nicht ausrei­
sikalische Grenzen, bei denen chend untersucht. AKL

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 85

WISSEN

Analytiker Katzer,
Vufo-Teammitglied
bei der Arbeit,
3-D-Darstellung eines
Unfalls

DATEN VON
DER STRASSE

UNFALLFORSCHUNG Jeden Tag verunglücken in Deutschland Hunderte Menschen mit dem Auto,
auf Zweirädern oder zu Fuß. Durch akribische Rekonstruktionen von Unfällen wollen Forschende mehr
darüber lernen, wie sich das verhindern lässt. Ihre Vision: null Verkehrstote.

86 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


in Radfahrer wurde beim Zusam-
E menstoß mit einem Auto leicht
verletzt, ein älterer Fußgänger
in einer Grundstückseinfahrt angefah-
ren – es sind keine großen Dramen,
die zwei Mitarbeitende der Zentrale
der Verkehrsunfallforschung (Vufo) in
Dresden heute in ihre Datenbank ein-
geben. Oft sind aber auch schlimmere
Fälle darunter wie der jenes jungen
Motorradfahrers, der von einem links
abbiegenden Auto übersehen wurde
und mit schweren Verletzungen ins
Krankenhaus musste.
In den vergangenen Stunden wa-
ren die Vufo-Leute unterwegs und
haben Verkehrsunfälle dokumentiert,
nun tippen sie Daten über Ablauf und
Folgen der Karambolagen in den
Rechner. Sie fließen in die »German
In-Depth Accident Study« (Gidas)
ein, eine in ihrem Detailreichtum
weltweit einmalige Crashdatenbank.
Rund 42 000 Unfälle sind dort seit
1999 gelistet, bis 2019 aus dem Raum
Dresden und Hannover, gegenwärtig
wird Gidas nur in der sächsischen
Landeshauptstadt bestückt. In diesem
Jahr sollen zwei Standorte in Deutsch-
land dazukommen.
Das große Ziel: Weniger Bürgerin-
nen und Bürger sollen im Straßenver-
kehr sterben oder schwer verletzt
werden. »Wir können die Menschen
physisch nicht verändern«, sagt Vufo-
Chef Henrik Liers, »deshalb müssen
wir Grundlagen dafür schaffen, dass
Fahrzeuge und Verkehrswege für sie
so sicher wie möglich sind.«
Schwächen, Aussetzer oder Leicht-
sinn von Auto-, Rad- und Roller-
fahrenden oder Fußgängern sollen
von trickreicher Technik ausgebügelt
oder zumindest die Folgen gemildert
werden. »Die Daten, die wir dafür
brauchen, liefert uns jeden Tag die
Realität«, sagt Liers.
Welcher Unfall es ins digitale
Archiv schafft, bestimmt der Zufall.
Via Polizei oder Rettungsleitstelle
werden die Vufo-Mitarbeitenden
über Zusammenstöße mit Personen-
schaden in ihrem Einsatzgebiet infor-
miert, es umfasst rund 3500 Quadrat-
kilometer in Dresden und im Umland.
Wenn eine Meldung eingeht, rücken
sie aus. Sollte zwischenzeitlich ein
anderer Crash passieren, geht er den
Forschenden durch die Lappen.
»So bekommen wir ein repräsen-
tatives Abbild des Unfallgeschehens«,
S. Weber / Fuldamedia; Vufo (2)
erklärt Liers. Auf diese Weise entsteht
eine Art randomisierte Studie zur Fra-
ge, warum es auf den Straßen knallt
und mit welchen Folgen. Die Samm-
lung umfasst auch Daten aus den me-
dizinischen Akten der Verletzten,
sofern die ihr Einverständnis geben.
Seit Kurzem werden im Rahmen von
Gidas auch die körperlichen und psy-
chischen Langzeitfolgen von Unfall-
beteiligten analysiert.
Die einzelnen Unfälle gehen mit
jeweils rund 150 Fotos und mehr als
3000 Einzelinformationen ins Archiv:
Wetter- und Sichtverhältnisse, betei-
ligte Fahrzeuge und deren technische
Ausstattung, Verletzungen der Opfer
und psychologische Aspekte wie die
Frage, ob Fahrende müde, gestresst
oder abgelenkt waren.
Rund 2,3 Millionen Verkehrsun-
fälle wurden 2021 laut Statistischem
Bundesamt in Deutschland offiziell
erfasst. Mehr als 300 000 Menschen
wurden verletzt, 2562 starben. Das
sind so wenige Verkehrstote wie nie
seit Beginn der Aufzeichnungen. Für
2022 verzeichnet die vorläufige Sta-
tistik – noch sind nicht alle Daten aus-
gewertet – allerdings einen Aufwärts-
trend von rund neun Prozent mehr
Toten im Vergleich zu 2021.
»Jeder Verkehrstote ist einer zu
viel«, sagt Peter Rücker, Leiter der
Unfallforschung und Unfallanalytik
bei der international tätigen techni-
schen Prüforganisation Dekra. Ein-
mal pro Jahr verleiht Dekra den
»Vision Zero Award«. Er geht an
Städte, in denen es keinen einzigen
Verkehrstoten im innerstädtischen
Verkehr gab. 2022 bekam die finni-
sche 54 000-Einwohner-Stadt Mikke-
li den Preis. Dort war neun Jahre in
Folge niemand im Straßenverkehr
umgekommen. In Deutschland wur-
den in den Vorjahren unter anderen
Bad Homburg (acht Jahre) und Lü-
denscheid (sieben Jahre) prämiert.
Ingenieur Rücker ist eigentlich ein
»Crasher«, das heißt, dass er die
längste Zeit seiner Karriere im Dekra-
Crashtestzentrum im schleswig-hol-
steinischen Neumünster Fahrzeuge
zum Beispiel gegen Barrieren krachen
ließ. Aus den Verformungen der Ka-
rosserie und den Sensordaten der
Dummys an Bord schuf er ein Bild
davon, welche Verletzungen ein
Mensch aus Fleisch und Blut beim
Zusammenprall erlitten hätte.
In seinem gegenwärtigen Job geht
es Rücker nicht um absichtlich ver-
ursachte Zerstörung, sondern um den
Alltag auf der Straße. Rund 400 De-
kra-Unfallanalytiker werden fast
täglich von Polizei oder Staatsanwalt-
schaft angefordert. Was die Fachleu-
te dokumentieren, landet als Rohma-
terial der Unfallforschung in einem
zentralen Archiv.
Das Team um Rücker sucht nach
Mustern im Rauschen der Einzelfälle.
Nehmen bestimmte Arten von Un-
fällen zu, gibt es Gruppen von Ver-
WISSEN
kehrsteilnehmern, die öfter schwer
oder tödlich verletzt werden? Und
was könnte der Grund für diese Häu-
fung sein: Fahrzeugtechnik, Infra-
struktur, Änderungen im Verhalten
der Menschen? Dann machen sie Vor-
Denise Wallner / Vufo
schläge, was sich verbessern müsste.
Einer der Datensammler ist Mi-
chael Katzer, Beauftragter für Unfall-
analytik in Kassel und Fulda. Ein
Arbeitstag kann für ihn so aussehen
Forscher Liers: wie an diesem Montag im Winter
»Wir können die 2022. Morgens sagt Katzer als Gut-
Menschen physisch
nicht verändern –
achter in zwei Verhandlungen am
deshalb müssen Landgericht Fulda aus – in hellblau-
Fahrzeuge und em Anzug und braunen Lederschu-
Straßen so sicher wie hen. Am Nachmittag steht er mit grü-
möglich werden«
ner Arbeitshose, säurefesten Stahl-
kappenschuhen und stoßsicherer
Schirmmütze in der Halle einer Ab-
schleppfirma in Hanau und schraubt
ein Unfallfahrzeug auseinander.
Das Wrack war mal ein schwarzes
Cabrio. Katzer sucht nach Spuren, die
den tödlichen Unfall des Fahrers im
Oktober auf einer Autobahn bei Ful-
da erklären können. Auch bei der
Obduktion war der Analytiker dabei.
»Vielleicht finde ich Hinweise darauf,
dass das Auto von einem anderen
Fahrzeug von der Spur gedrängt wur-
de«, sagt Katzer, »oder es hatte tech-
nische Mängel, die erklären, warum
der Fahrer nicht mehr steuern konn-
te.« Er tippt allerdings auf eine pro-
fanere Ursache: Das Auto könnte
wegen alter Winterreifen auf regen-
nasser Fahrbahn außer Kontrolle ge-
Gefährdete raten und deswegen gegen die Mittel-
Radfahrer leitplanke geschleudert sein.
An frischen Unfallstellen macht
Verkehrsunfall- Katzer Fotos von Schlagspuren, Split-
konstellationen in terfeldern und ausgelaufenen Flüssig-
Dresden und
Umgebung, in Prozent
keiten auf der Fahrbahn, dokumen-
tiert Zerstörungen an Fahrzeugen,
1999 2021 Bäumen, Leitplanken. Andere Unfall-
3 orte sucht der Gutachter auf, wenn
11 Fahrrad vom Crash längst nichts mehr zu
25 oder
Pedelec sehen ist. Vor Ort nimmt er viele
allein Hundert Bilder mit seiner speziell
programmierten Action-Cam auf, die
29 Pkw– er auf einem Hochstativ an der Stra-
Fahrrad
20 oder ße entlangträgt wie eine Fackel.
Pedelec Eine Software erstellt später eine
lebensechte Rekonstruktion etwa
14 einer Kreuzung: Sooft er will, kann
15 Pkw–Pkw
Katzer mithilfe dieser 3-D-Fotogram-
13
Pkw– metrie Fahrzeuge kollidieren lassen
7 Fußgänger
und den Unfall aus Sicht der verschie-
6 Pkw allein denen Beteiligten beurteilen. Eine
11 5 Pkw– Unfallstelle kann so auch dann noch
Krafträder
vermessen werden, wenn der Verkehr
21 andere längst wieder fließt.
19
Noch vor wenigen Jahrzehnten
mussten Unfallanalytiker den Ort der
Kollision mit Messrad und Klemm-
Abweichung von 100 Prozent:
rundungsbedingt brett für handgemachte Skizzen ab-
S Quelle: Vufo gehen. Häufig genügt das zwar immer
◆
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 87
WISSEN
Lebensretter
Verbesserungen der Verkehrssicherheit und im Straßenverkehr Getötete in Deutschland, in Tsd.
Höchstgeschwindigkeit 100 km/h auf Landstraßen
20
0,8 Promillegrenze
15 Helmpflicht bei Krafträdern (Verwarngeld)
10
5 Höchstgeschwindigkeit Gurtanlegepflicht
50 km/h innerorts (Verwarngeld)
0
1960 1970 1980
1953: 5 Mio. Kfz in Deutschland
S Quellen: Destatis, KBA
◆
noch. Doch in komplizierten Fällen sind die
Rekonstruktionen wichtige Indizien vor Ge-
richt: Ab wann etwa hätte Fahrer oder Fah-
rerin spätere Unfallgegner sehen und das Un-
glück vermeiden können? Gab es etwas, das
die Sicht nahm – ein Baum zum Beispiel oder
ein Plakataufsteller? Die Digitaltechnik liefert
wertvolle Hinweise: »Wir können die Unfall-
stelle aus Perspektiven betrachten, die man
vor Ort gar nicht einnehmen kann«, sagt Un-
fallforscher Rücker.
Am Ende von Michael Katzers Detektiv-
arbeit steht oft ein Gutachten für die Gerichts-
verhandlung. Für die Forschung dagegen ist
wichtig: Offenbart eine Häufung von Einzel-
fällen Trends im Unfallgeschehen? Einer
zeichnet sich nach Erkenntnissen der Vufo-
Forscher deutlich ab: Ungeschützte Verkehrs-
teilnehmer auf zwei Rädern spielen eine im-
mer größere Rolle im Unfallgeschehen, der
Anteil der Unfälle mit Beteiligung von Fahr-
rädern und Pedelecs nimmt seit Jahren zu.
Zum Thema E-Tretroller etwa haben die
Dresdner Unfallexperten soeben ein For-
schungsprojekt beendet. E-Roller-Fahrende,
so das Ergebnis, verunglücken meist am Wo-
chenende, oft wegen unsachgemäßer Nutzung
der Scooter. Die ohnehin wackligen Vehikel
werden etwa zu zweit oder betrunken genutzt.
Fast niemand trägt einen Helm auf den Ge-
fährten, die bis zu 20 Kilometer pro Stunde
fahren. Vor allem im ersten Jahr nach Ein-
führung der Scooter dominierten Unfälle aus
Unvernunft, langsam wird es besser.
Pedelecs wiederum, umgangssprachlich als
E-Bikes bekannt, sind auch bei älteren Men-
schen beliebt. Seit einiger Zeit häufen sich
Alleinunfälle von Seniorinnen und Senioren
mit den motorisierten Drahteseln, nicht selten
mit tödlichem Ausgang.
Der Grund: Auch ohne viel Ausdauer und
Muskelkraft können hohe Geschwindigkeiten
erreicht werden. Zudem verletzen sich ältere
Menschen wegen schlechterer Reflexe bei
Stürzen oft schwerer als junge, sie fallen auf
den Kopf oder das Becken und sterben an der
Schwere oder den Komplikationen der Ver-
letzung. Dekra-Unfallforschungschef Rücker
bestätigt den Trend: »Bei Pedelecs sehen wir
viele tödliche Alleinunfälle, da wollen wir
jetzt genauer hinschauen«, sagt er.
88 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
0,5 Promille-
grenze
1990 2000 2010 2020
2022: 60 Mio. Kfz
Anders als beim Auto, in dem Passagiere
durch Airbags oder Assistenzsysteme ver-
gleichsweise effektiv geschützt werden kön-
nen, ist der Schutz beim Fahrrad schwieriger.
Menschen auf Zweirädern können nicht durch
Gurt oder Knautschzone vor schweren Bles-
suren bewahrt werden. Das Tragen eines
Helms ist sinnvoll, verhindert aber nur einen
Teil der möglichen Verletzungen.
Für die besonderen Gefahren des mühe-
losen Radelns mit Elektroantrieb müsste wohl
mehr Bewusstsein geschaffen werden. Und
für Zweiradfahrer allgemein, so Liers, müss-
te sich die Infrastruktur verbessern, durch
breitere Radwege, übersichtlichere Kreuzun-
gen, Warnsysteme in Autos und Lastwagen.
Gefordert wird das längst, doch die steigende
Zahl an Fahrrädern und die durch die Unfall-
forschung belegte besondere Gefährdung der
Radelnden machen die Umbauten dringlicher.
Das gilt umso mehr, als laut Liers künftig
immer mehr neue Arten von Fahrzeugen auf
den für Autos ausgelegten Straßen unterwegs
sein werden. Lastenräder etwa mit E-Antrieb
und Fahrgastkabine, halb Fahrrad, halb Klein-
wagen. Sie drängen sich dann mit Pkw, Lkw,
Fahrrädern und E-Scootern auf ohnehin un-
zureichenden Verkehrswegen.
Neben Autoherstellern, die meist auch eige-
ne Unfallforschung betreiben, greifen Experten
für Verkehrsinfrastruktur auf Gidas zu. Ver-
besserungen, die sie daraus ableiten, brauchen
aber stets viel Platz, der zulasten von Parkplät-
zen gehen würde. Deutlich breitere Radwege
gehören dazu oder die »holländische Kreu-
zung«, bei der Rad- und Autoverkehr schon vor
der Kreuzung voneinander getrennt werden.
Auch in die Entwicklung neuer Schutz-
systeme moderner Autos sind Gidas-Erkennt-
nisse eingeflossen: der Centerbag zum Bei-
spiel, ein Airbag, der sich bei einem starken
seitlichen Anprall zwischen Fahrer- und Bei-
fahrersitz entfaltet und verhindert, dass die
»Bei Pedelecs sehen wir
viele tödliche Alleinunfälle.«
Peter Rücker, Dekra-Unfallforscher
Insassen mit den Köpfen zusammenprallen
oder gegen harte Strukturen im Auto stoßen.
»Wir haben immer wieder Schädelfrakturen
gesehen, die genau die Kopfform des anderen
Insassen abbilden«, sagt Liers.
Auch für die Schutzwirkung von Airbags,
die bei Kollisionen mit Fußgängern zwischen
Motorhaube und Windschutzscheibe hervor-
schießen, lieferten die Unfalldaten aus Dres-
den Belege. Einige Autobauer statten ihre
Modelle inzwischen serienmäßig damit aus,
ebenso mit der sogenannten Pop-up-Motor-
haube, die sich beim frontalen Anprall eines
Menschen auf den Stoßfänger um wenige
Zentimeter hebt – das schafft eine Pufferzone
zum wenig nachgiebigen Motorraum.
Beim Abschleppdienst in Hanau wird der-
weil das schwarze Cabrio von einem Gabel-
stapler auf Brusthöhe gehoben. Dekra-Mann
Katzer schraubt die Räder ab, misst das Pro-
fil der Reifen, beleuchtet mit einer Taschen-
lampe die Kennzeichnung an der Seite.
Der Stapler setzt den Wagen ab, Katzer
klettert ins Wrack, steigt auf die Bremse, rüt-
telt am Lenkrad, spricht in sein Diktiergerät.
Hat das Bremspedal einen sauberen Druck-
punkt, oder trat der Fahrer womöglich wegen
eines Defekts ins Leere und raste deswegen
in die Leitplanke? Die Bremsen, so viel kann
Katzer bereits sagen, haben wohl funktio-
niert. Auch die Lenksäule ist intakt.
Verrät die im Innern des Wagens verbor-
gene Technik etwas über den Ablauf des Un-
falls? Katzer baut die Steuergeräte von Air-
bag, Motor und ABS aus dem Wrack, er wird
sie später ins Dekra-Labor schicken und ihr
digitales Gedächtnis auslesen lassen.
Soweit er vorerst sehen könne, sei das
Fahrzeug »in altersgemäßem Zustand«, sagt
Katzer. Der hintere Stoßfänger zeigt keine
Spuren eine Kollision, das Profil der Reifen
ist tief genug. Ein Abdrängen oder alte Reifen
kann er als Unfallursache wohl ausschließen.
Auf der Rückbank liegt noch immer ein grü-
ner Bluetooth-Lautsprecher. Darauf habe der
Fahrer klassische Musik gespielt, berichtet
Katzer, sie lief noch während der Bergung.
Seit den 1970er-Jahren ist die Zahl der Ver-
kehrstoten in Deutschland gesunken, von gut
21 000 im Jahr 1970 auf knapp 2600 im Jahr
2021. Viele Leben wurden gerettet, weil Auto-
firmen und Politik aus Erkenntnissen der Un-
fallforschung gelernt haben. 1984 etwa wurde
ein Verwarngeld bei Missachtung der Anschnall-
pflicht auf den Vordersitzen durchgesetzt. »Et-
was so Wirkungsvolles wie den Sicherheitsgurt,
auch heute noch Lebensretter Nummer eins«,
sagt Forscher Liers, »werden wir wohl in abseh-
barer Zeit nicht mehr finden.« Auch das auto-
nome Fahren ist längst nicht ausgereift.
Fortlaufende Analysen und neue techni-
sche Entwicklungen wie Centerbag oder Pop-
up-Haube werden trotzdem noch mehr Men-
schen schützen. Tragische Unglücke wie das
des Cabriofahrers aber – nasse Fahrbahn,
hohes Tempo, Pech – werden sich wohl trotz
aller Crashforschung nie verhindern lassen.
Julia Koch n

Treibstoff
aus Luft
ERNEUERBARE ENERGIEN Wasserstoff herstellen
– allein mithilfe von Luft und Sonnenlicht? Ein
Schweizer Team ist dieser Zukunftstechnologie
einen Schritt nähergekommen. Doch bis zur
kommerziellen Nutzung dürfte es noch dauern.
gal ob Ginkgo, Gänseblümchen »Wir können
E oder Grünalge – sie alle funk-
tionieren gleich: Aus Kohlen-
dioxid und Wasser stellen Pflanzen,
die Luft­
feuchtigkeit
Algen und einige Bakterien organi- für unsere
sche Verbindungen her. Dank diesen
können sie Energie speichern, wach- künstliche
sen – und auch anderen Lebewesen Fotosynthese
als Nahrung dienen.
Fotosynthese heißt das Prinzip, bei
nutzen.«
dem im Innern der Zellen die Kraft Kevin Sivula,
des Sonnenlichts genutzt wird. Universität Lausanne
Im Labor arbeiten Forscherinnen
und Forscher schon seit Jahren daran,
die Fotosynthese nachzuahmen. Es
wäre eine Verheißung auch für die
Energiewende, ließe sich die Energie
der Sonne doch auf diese Weise in
Form von Wasserstoff speichern.
Ein möglicher Ort für diese Art der
Wasserstoffproduktion sind soge-
nannte fotoelektrochemische Zellen.
In ihnen wird Wasser mithilfe von
Sonnenlicht direkt in seine Bestand-
teile Wasserstoff und Sauerstoff zer-
legt. Der Wasserstoff kann dann ge-
speichert und später als Brennstoff
Kraftwerk
genutzt werden. Pflanzenblatt:
»Leider ist dieser Ansatz sehr un- Wirkungsgrad bei
praktisch«, sagt Kevin Sivula von der einem Prozent
Eidgenössischen Technischen Hoch-
schule Lausanne. »Das für den Pro-
zess genutzte Wasser muss aufwendig
gereinigt werden, sonst sammelt sich
der Dreck in den Geräten an und
macht diese schnell unbrauchbar«,
sagt er. Zudem würden für den Pro-
zess Elektrolyte gebraucht. Das seien
oft aggressive Stoffe, was die Lebens-
dauer der Anlagen stark begrenze.
Dazu kommt: Längst nicht überall
auf der Erde ist Wasser im Überfluss
verfügbar, sodass es für die Herstel-
lung von Wasserstoff genutzt werden
kann, statt es zum Trinken oder in der
Landwirtschaft zu verwenden.
Ein Team unter Sivulas Leitung hat
deswegen einen anderen Ansatz ge-
wählt und dabei einen Erfolg erzielt:
»Wir können die Luftfeuchtigkeit für
unsere künstliche Fotosynthese nut-
zen – und zwar ohne dass wir das
Wasser noch weiter säubern müssen«,
sagt der Forscher. Der Wasserstoff
ließe sich also an fast jedem beliebi-
gen Ort der Welt produzieren, ohne
Strom- und Wasseranschluss.
Im Fachmagazin »Advanced Ma-
terials« berichtete die Gruppe jüngst
über ihre Experimente. Eine entschei-
dende Rolle spielten neu entwickelte
Elektroden aus Siliziumdioxid. Sie
haben die Form einer extrem feinen
Glaswollstruktur. Die Elektroden sind
deswegen porös und bieten eine
möglichst große Kontaktfläche zur
Umgebungsluft. Zudem sind sie trans-
parent, damit das Sonnenlicht
eine Halbleiterschicht im Innern er-
reichen kann.
Bezahlt wurde die Forschung
unter anderem mit Fördermitteln des
EU-Forschungsprojekts »Sun-to-X«
und des Schweizerischen National-
fonds. Aber auch der Autohersteller
Toyota hat die Arbeiten unterstützt,
eine der Co-Autorinnen arbeitet
für das Unternehmen. Toyota ver-
folgt als beinahe einziger Automobil-
produzent derzeit eine Wasserstoff-
strategie bei der Entwicklung seiner
Fahrzeugflotte.
Sivula und sein Team sind aller-
dings nicht allein mit ihrem Ansatz.
Eine Gruppe um Gang Kevin Li von
der University of Melbourne hat im
vergangenen Spätsommer einen Pro-
totyp zur Gewinnung von Wasserstoff
aus der Umgebungsluft vorgestellt.
Auch er nutzt schwammartige
Strukturen. Diese aber müssen mit
einer speziellen Flüssigkeit getränkt
werden, die früher oder später das
darunterliegende Material zersetzt.
Die Haltbarkeit ist also begrenzt.
Ein Team um Johan Martens von
der Katholischen Universität Löwen
in Belgien hat ebenfalls eine entspre-
Getty Images
WISSEN
chende Zelle entwickelt. Martens
schlägt vor, der Technologie einen
neuen Namen zu geben.
Bisher wird von »grünem Wasser-
stoff« gesprochen, wenn ausschließ-
lich sogenannte erneuerbare Energien
wie Wind-, Wasser- oder Sonnenkraft
zur Herstellung genutzt werden.
»Blau« nennt man den Treibstoff,
wenn das Gas zwar auf konventionel-
lem Wege erzeugt wird, das beim Pro-
zess entstehende CO2 aber abgetrennt
und unterirdisch gespeichert wird.
»Der in künstlicher Fotosynthese
hergestellte Wasserstoff verdient eine
neue Farbe«, sagt Martens. Er schlägt
vor, ihn »goldenen Wasserstoff« zu
nennen.
Thomas Hannappel sieht ein ganz
anderes Problem. An der Technischen
Universität Ilmenau forscht auch er
zum Thema. Der Thüringer Experte
äußert sich wohlwollend zur For-
schung von Sivulas Team, jeder Vor-
stoß bei dieser Art der Wasserstoff-
erzeugung sei sinnvoll. Allerdings
sei er in Bezug auf die Effizienz des
Konzepts »sehr skeptisch«.
Hannappel nutzt Wasser statt Luft
für sein Verfahren, kann dabei aber
vergleichsweise hohe Wirkungsgrade
vorweisen. »Wir wissen aus der
Fotovoltaik, dass wenig effiziente
Systeme am Markt nicht erfolgreich
sind«, sagt er.
Der Gesamtwirkungsgrad der na-
türlichen Fotosynthese liegt bei nur
etwa einem Prozent. Das liegt unter
anderem daran, dass der für die Ener-
giegewinnung essenzielle Farbstoff
Chlorophyll nur die blauen und roten
Anteile des Sonnenlichts absorbiert.
Am Max-Planck-Institut für ter-
restrische Mikrobiologie in Marburg
arbeitet Forscher Tobias Erb an
einer anderen Lösung für dieses Pro-
blem, ebenso Michael Richter vom
Fraunhofer-Institut für Grenzflächen-
und Bioverfahrenstechnik mit Sitz
in Straubing. Erb und Richter ver-
suchen, die Fotosynthese mithilfe
neuer Enzyme schneller ablaufen
zu lassen – und damit effektiver zu
machen.
Nutzbar wäre das Verfahren aber
wohl eher zur Züchtung von Organis-
men, die weit mehr CO2 aus der Luft
binden als bisherige Arten – oder in
technischen Anlagen, mit denen das
Kohlendioxid abgeschieden werden
kann. Aber auch dieser Ansatz
braucht nach Auskunft der Entwick-
ler noch bis zu ein Jahrzehnt bis zur
praktischen Anwendung. Das aller-
dings gilt für alle Verfahren, die das
Wunder der Natur im Labor nach-
bilden wollen.
Christoph Seidler n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 89
WISSEN
Versuchstier Hummel
Das Leiden der Hummel
ETHIK Bienen können zählen, sie nutzen Werkzeuge und lernen
voneinander. Doch fühlen sie auch? Londoner Forscher
ergründen die innere Welt von Insekten und fordern: Auch Krabbeltiere
verdienen es, unter Tierschutz gestellt zu werden.
as fühlt eine Fliege, wenn sie im
W Spinnennetz zappelt? Und was eine
Biene, die sich beim Stich den Sta-
chel aus dem Hinterleib reißt? Leidet eine
Schmetterlingsraupe, wenn ein Pflanzen-
schutzmittel ihr den Darm zerfrisst? Oder ein
Hummer, wenn er ins kochende Wasser ge-
worfen wird?
Für Hummerfischer und Schädlingsbe-
kämpfer sind das lästige Fragen. Auch Gen-
forscher, die in ihren Laboren Abertausende
missgebildete Fruchtfliegen erzeugen, hören
sie nicht gern.
Jonathan Birch jedoch findet, dass es an
der Zeit ist, solche Fragen zu stellen. Der Phi-
losoph von der London School of Economics
will eine Debatte darüber entfachen, ob nicht
auch Kakerlaken und Wanzen, Stechmücken
und Wespen unser Mitleid verdienen. Sollte
sich nachweisen lassen, dass diese Tiere
90 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
ein äußerst vielfältiges Verhalten, das durch-
aus intelligent erscheinen kann. »Da liegt die
Vermutung nahe, dass sie auch fühlen kön-
nen«, meint Birch.
Verbündete hat der Philosoph in einem
anderen Londoner Institut gefunden. An der
Queen-Mary-Universität untersucht der
Entomologe Lars Chittka das Verhalten von
Bienen. Er studiert, wie sich diese Tiere bei
der Nektarsuche orientieren, wie sie sich mit-
einander verständigen, woran sie sich erin-
nern und wie sie Probleme lösen. Mit jedem
Experiment, das er durchführt, wächst seine
Hochachtung vor diesen Tieren.
Chittka konnte zum Beispiel zeigen, dass
einige Bienen abzählen können, wie viele
Markierungen sie auf dem Flug zu einer be-
sonders ergiebigen Nektarquelle passieren
müssen. Er und seine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter brachten Hummeln bei, einfache
Werkzeuge zu nutzen, um an Näpfchen mit
Zuckerlösung heranzukommen. Und sie
stellten fest, dass die Tiere solche Tricks von-
einander lernen können.
Bienen prägen sich auffällige Masten, Bü-
USGS Bee Inventor y and Monitoring Lab
sche oder Gebäude in der Landschaft ein, sie
erkennen die Konturen menschlicher Gesich-
ter, und sie erinnern sich an Begegnungen
mit räuberischen Spinnen. »Sie nehmen die
Welt um sich herum wahr, sie haben ein auto-
biografisches Gedächtnis, und sie verfügen
über Intelligenz«, sagt Chittka. »Warum
sollten wir ihnen absprechen, auch Gefühle
zu haben?«
Gewissheit allerdings kann es einstweilen
nicht geben. Denn der Blick ins Innenleben
anderer Kreaturen ist dem Menschen ver-
wehrt. Hunde- oder Katzenbesitzer mögen
überzeugt sein, dass ihre Lieblinge fähig sind,
Freude, Angst oder Schmerz zu empfinden.
Doch beweisen lässt sich das nicht.
Bis Ende der 1980er-Jahre galt es sogar als
zweifelhaft, ob die Regungen menschlicher
Babys mehr als bloße Reflexe sind. Noch im
Jahr 1988 gaben bei einer Umfrage in Groß-
britannien 90 Prozent der befragten Anästhe-
sisten an, bei Operationen von Neugeborenen
nur selten oder nie schmerzstillende Opioide
Schmerz empfinden können, fordert er, auch zu verwenden.
Ungeziefer unter Tierschutz zu stellen.
Gefördert von der Europäischen Union, lei-
tet Birch ein interdisziplinäres Forschungspro-
Inzwischen gilt die Schmerzbehandlung
von Babys als Selbstverständlichkeit. Die
Mehrzahl der Wissenschaftler schreibt auch
gramm, das die Gefühle von Tieren untersuchen Säugetieren und Vögeln bewusste Empfin-
soll. Im Zentrum stehen dabei nicht Katzen dungen zu. Und manch einer glaubt bei In-
und Hunde, nicht Ratten und Mäuse, sondern sekten Hinweise darauf zu erkennen. Bienen-
vor allem Kreaturen, die oft als niedere be- forscher Chittka etwa erklärt, das Verhalten
zeichnet werden: Krebse, Tintenfische, Schmet- seiner Versuchstiere sei zu komplex, als dass
terlinge, Käfer und andere Krabbeltiere. es sich ohne irgendeine Form von Bewusstsein
Ins britische Recht haben die Erkenntnisse erklären ließe.
von Birch und seinem Team bereits Eingang Chittka fasziniert besonders die Art, wie
gefunden: Seit vergangenem Jahr gelten in die Sinne der Honigbienen und Hummeln
Großbritannien Kalmare und Oktopusse, aber miteinander verschaltet sind. Bei der Nektar-
auch Hummer, Garnelen und Krabben vor ernte nutzen sie Geruchs-, Tast- und Ge-
dem Gesetz als empfindungsfähige Wesen. In schmackssinn. Ihre Augen können nicht nur
der Schweiz dürfen Hummer schon seit 2018 das Gelb oder Blau, sondern auch das Ultra-
nur noch betäubt gekocht werden. violett der Blüten erkennen. Obendrein orien-
Nach Krebstieren und Tintenfischen wen- tieren sie sich mithilfe der irdischen Magnet-
det sich Birch nun den Insekten zu. Sie zeigen felder und der Polarisation des Sonnenlichts.

Je enger aber die verschiedenen Sin-
neskanäle eines Tieres miteinander
vernetzt sind, desto wahrscheinlicher
erscheint es, dass all die Reize im Ge-
hirn zu einem bewusst erlebten Bild
der Welt zusammengesetzt werden.
All das, räumt Chittka ein, seien
allerdings noch keine Beweise. Allein
anhand des Verhaltens werde es wohl
niemals möglich sein, zweifelsfrei zu
erkennen, ob ein Tier nur roboterhaft
handle oder ein bewusst empfinden-
des Wesen sei: »Wir müssen uns mit
Indizien begnügen«, sagt er.
Genau solche Indizien möchte
Tierschutzphilosoph Birch zusam-
mentragen. Er will all jene Verhal-
tensweisen von Tieren erfassen, die
als Anzeichen bewussten Erlebens
dienen könnten. Konzentriert hat er
sich dabei zunächst auf jene Empfin-
dung, die bei allen ethischen
Erwägungen die wichtigste ist:
ob Tiere, wenn sie verletzt sind,
unter Schmerzen leiden.
Insgesamt acht Kriterien hat
Birch entwickelt. Dazu zählt zum
Beispiel, dass ein Tier Verletzungen
wahrnehmen und auf diese reagieren
kann; dass es dabei nicht nur reflex-
haft flieht, faucht oder Gliedmaßen
zurückzieht, sondern seine Reaktion
den Umständen anpassen kann; dass
es seine Wunden schont oder pflegt;
oder dass es lernt, schmerzhafte Si-
tuationen zu vermeiden.
Birch und sein Team sichteten so-
dann die Fachliteratur über das Ver-
halten von Krebstieren und Kraken.
Sie kamen dabei zu dem Schluss, dass
Oktopusse sieben der Kriterien nach-
weislich erfüllen. Bei Krabben da-
gegen fanden sie nur bei fünf Krite-
rien stichhaltige Belege. Dem Gesetz-
geber in Großbritannien reichte das
in beiden Fällen, um diesen Tieren
Empfindungsfähigkeit zu attestieren.
Die Forschenden in Chittkas La-
bor prüfen jetzt, ob auch Bienen die
Birch-Kriterien erfüllen. In einem Fall
hat die Doktorandin Matilda Gibbons
gerade den experimentellen Nach-
weis erbracht: Sie konnte zeigen, dass
Hummeln bereit sind, Schmerzhaftes
zu ertragen, wenn sie dafür nur ge-
bührend belohnt werden.
Gibbons bot den Tieren dazu Fut-
terstationen an, erhitzte jedoch die
Landeplattformen davor auf 55 Grad
Celsius, eine für Hummeln kaum er-
trägliche Temperatur. Normalerweise
meiden sie solche Hitze, doch wenn
eine besonders süße Zuckerlösung
lockte, überwanden sie ihre Scheu.
Die Hummeln zeigen damit ein
Verhalten, wie es Birch zufolge
typisch ist für Tiere, die Schmerzen
leiden. Sie zeigen keinen Vermei-
privat; Friedhelm Adam / imagebroker / IMAGO (2)
dungsreflex, ihr Verhalten unterliegt
vielmehr bewusster Steuerung. »Sie
entscheiden sich dafür, die Hitze
für den Lohn des Zuckers in Kauf zu
nehmen«, erklärt Gibbons.
Parallel zu ihren Laborexperimen-
ten durchforstete Gibbons die Litera-
tur nach Erkenntnissen darüber, wie
sich andere Insekten unter potenziell
schmerzhaften Umständen verhalten.
In insgesamt rund 300 wissenschaft-
Doktorandin lichen Arbeiten fand sie verwertbare
Gibbons: Zucker Hinweise.
als Lohn für
erduldete Hitze
Ihre Detektivarbeit wurde dadurch
erschwert, dass Schmerz in vielen der
ausgewerteten Studien gar nicht der
Gegenstand der Untersuchung war.
In einem Fall kam eine Forscher-
gruppe zu ähnlichen Befunden wie
Gibbons mit ihren Hummeln: Auch
Fliegen zeigten sich bereit, elektrische
Schläge hinzunehmen, wenn sie dafür
an einen alkoholhaltigen Köder
herankamen. Das Interesse der For-
scher galt jedoch nicht dem Schmerz
der Fliegen. Sie wollten deren Sucht-
verhalten studieren.
Am Ende fand die Forscherin bei
ihrer Fahndung Indizien für Schmerz-
empfinden zuhauf. Die Zahl der nach-
weislich erfüllten Birch-Kriterien lag
unter Fliegen und Kakerlaken bei
sechs, unter Bienen, Wespen und
Ameisen bei vier, unter Schmetter-
lingen und Grashüpfern bei immerhin
drei. »Und wenn ein Kriterium nicht
erfüllt ist, dann liegt das fast immer
nur daran, dass die entsprechenden
Studien bisher noch nicht durchge-
führt wurden«, sagt Gibbons.
Auch Laborleiter Chittka ist über-
zeugt davon, dass sich Hinweise auf
Empfindungen unter Insekten finden
werden, wo immer man danach sucht.
Futterstation für Er empfiehlt, zumindest einige Insek-
Gibbons-Experiment: ten ins Tierschutzgesetz aufzuneh-
1 | Futter suchende men. Allerdings ist ihm klar, dass die
Hummel 2 | Erhitzte
Landeplattform
Bereitschaft dazu eher gering sein
3 | Fütterungsschlauch dürfte. Denn Krebse und Tintenfische
mit Zuckerlösung leben im Meer, der Lebensraum der
3 deute dies abermilliardenfach Leid,
1 zungen zufolge werden schon heute
2 auf Insektenfarmen weltweit mindes-
Pippa Ager
WISSEN
Insekten dagegen überschneidet sich
mit dem des Homo sapiens.
Und es ist eine nicht immer fried-
liche Koexistenz. Menschen begeg-
nen Insekten in Gestalt des Wespen-
nests auf dem Dachboden und der
Ameiseninvasion in der Speisekam-
mer. Mücken nerven im Schlafzim-
mer, Motten richten im Kleider-
schrank Schaden an und Buchsbaum-
zünsler im Vorgarten. Die meisten
Menschen sehen in diesen Tieren
Feinde, die bekämpft werden müssen.
Trotzdem, beteuert Chittka, sei
eine Veränderung der Einstellung
auch diesen Kreaturen gegenüber
möglich. Er selbst experimentiere
heute mit mehr Skrupeln als am An-
fang seiner Karriere. Früher habe er
sich nicht gescheut, Elektroden ins
Gehirn von Bienen zu implantieren.
»So etwas mache ich heute nicht
mehr«, erklärt er.
Forschung an Insekten ist wichtig,
darin sind sich Chittka und Birch
einig. Der Tierschutz dürfe da kein
Hindernis sein. »Aber bei Mäusen
haben sich die Regeln des Tierschut-
zes ja auch durchgesetzt«, sagt Birch.
»Trotzdem wird weiterhin an ihnen
geforscht.«
Seiner Meinung nach wäre schon
viel erreicht, wenn bei der Tötung von
Versuchstieren möglichst schmerz-
freie Methoden zum Einsatz kämen
und sichergestellt würde, dass die
Forschenden bei ihren Experimenten
nur so viele Tiere verwendeten wie
wirklich nötig.
Sorge bereitet dem Philosophen
ein neuer, derzeit rasant wachsender
Markt: Insekten werden als Tierfutter
entdeckt. »Die Idee mutet zunächst
umwelt- und klimaschonend an«, sagt
Birch. Fliegen-, Grillen- und Käfer-
larven lassen sich mit Abfällen mäs-
ten, und sie liefern hochwertiges tie-
risches Protein für Schweine und
Hühner, vor allem aber für Fische in
der Aquakultur. In Zeiten stark stei-
gender Sojapreise sind die Larven zu-
dem auch wirtschaftlich attraktiv.
Doch falls Zucht und Verarbeitung
mit Schmerzen verbunden sind, be-
gibt Birch zu bedenken. Er fordert
deshalb eine Debatte über diese neue
Form der Massentierhaltung.
Die Zahl der betroffenen Tiere ist
in der Tat schwindelnd hoch. Schät-
tens eine Billion Tiere pro Jahr pro-
duziert. Das sind etwa 15-mal so viel
wie alle jährlich geschlachteten Hüh-
ner, Schweine und Rinder zusammen-
genommen.
Johann Grolle n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 91
WISSEN
Höhenveränderung des antarktischen Eis-
schildes pro Jahr, Durchschnitt von 1985 bis 2020
– 20 cm 0 20
ola
relativ der »P
warmes Route
Tiefen-
wasser Weddellmeer
steigt auf
Süd-
amerika
Forschungs-
gebiet
Bellings-
hausensee
Eismasseverlust
durch stärkeres
Abschmelzen an der
Basis der Gletscher.
S Quelle: Nilsson, Gardner, Paolo (Elevation change of the Antarctic Ice Sheet)
◆
Rätsel des
Endzeitgletschers
KLIMAFORSCHUNG In der Westantarktis drohen gigantische Eismassen
zu kollabieren, der Meeresspiegel könnte dann um mehrere Meter
ansteigen. Wissenschaftsteams wollen dort jetzt aus den Spuren alter
Gletscherbewegungen Erkenntnisse für unsere Zukunft gewinnen.
ndlich Sommer! Karsten Gohl kann die
E warme Jahreszeit in der Antarktis kaum
erwarten, dort beginnt die Forschungs-
saison. Gohl, Leiter der aktuellen »Polar-
stern«-Expedition, ist kurz vor Weihnachten
an Bord des gleichnamigen deutschen For-
schungseisbrechers vom südafrikanischen
Kapstadt zum Südpolarmeer aufgebrochen.
Material und Lebensmittel müssen erst ein-
mal zur Forschungsstation Neumayer III ge-
bracht werden.
Die Bedingungen für die Expedition sind
perfekt: »Schon jetzt ist die Bellingshausen-
See nahezu eisfrei, fast so wie sonst erst im
Februar«, sagt der 60-jährige Geophysiker.
Die »Polarstern« muss also keinen Eisbergen
ausweichen und sich nicht mühsam den Weg
freibrechen. Recht freuen mag sich Gohl nicht
darüber: »Es ist ein erschreckender Hinweis
auf die Folgen des Klimawandels.«
Die Antarktis ist entscheidend für das Aus-
maß des Meeresspiegelanstiegs in der Zu-
kunft. In ihren kilometerdicken Eisschichten
sind mehr als 60 Prozent des irdischen Süß-
wassers gebunden. Doch der kalte Mantel des
fünftgrößten Kontinents schmilzt an vielen
Stellen schnell und immer schneller. Vor allem
in der Westantarktis, die bis auf 1000 Kilo-
meter an Südamerika heranreicht.
92 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Afrika
500 km
« Zentrale Frage: Welche Mechanismen setzt
rstern
Neumayer Station III
Dickeres Eis
könnte auf vermehrten
Schneefall zurück-
zuführen sein, der
eintritt, wenn
mehr Ozeanwasser
durch steigende
Thwaites- Temperaturen verdunstet.
Gletscher
Südpol
Ostantarktika
West-
antarktika
schwimmende
Schelfeisflächen
Australien
Eine Hauptrolle in diesem Drama spielt
der mächtige Thwaites-Gletscher. Er bedeckt
eine Fläche, mehr als halb so groß wie
Deutschland. Sollte er gänzlich tauen, würde
der Meeresspiegel um 65 Zentimeter anstei-
gen. Das wiederum dürfte ein Abschmelzen
der restlichen Westantarktis beschleunigen,
was den Meeresspiegel sogar um drei bis
fünf Meter anheben würde. Weil der Glet-
scher den Untergang für Großstädte wie
Miami, Jakarta oder New York einleiten
könnte, wird er auch »Doomsday Glacier«
genannt, »Endzeitgletscher«.
»Den Begriff finde ich nicht treffend«, sagt
Karsten Gohl. »Der Kollaps des Eises ist ja
kein plötzliches Ereignis wie etwa ein Meteo-
riteneinschlag. Sein Verschwinden würde sich
über mehrere Hundert Jahre ziehen.«
Der Thwaites-Gletscher ist eine der un-
zugänglichsten Gegenden der Welt, bis vor
wenigen Jahren hatten es nur etwa 100 Men-
schen auf seine Eisfläche geschafft. Seit Mitte
Dezember 2022 sind nun 60 Wissenschaftler
der internationalen Forschungsgruppe Thwai-
tes Glacier Collaboration dorthin unterwegs.
Der Sommeranfang führt zu einer regel-
rechten Rushhour am Südkontinent. Allein
die USA schicken etwa 700 Forschende ans
eisige Ende der Welt, unterstützt werden sie
von rund 2500 Helfern. Großbritannien
betreibt an seiner größten Forschungsstation
zehn Projekte.
der Klimawandel in der Antarktis in Gang –
und welche Folgen hat das für die Mensch-
heit? Die Erkenntnisse sind schon jetzt be-
unruhigend. Das Eis scheint nicht so sehr von
der sonnenbeschienenen Oberfläche her ab-
zuschmelzen. Vielmehr dringen vergleichs-
weise warme Wassermassen von einigen Grad
Celsius über dem Gefrierpunkt von unten in
Klüfte im Eis ein und spülen sie immer weiter
aus, bis die Eisfläche zerbricht.
Aus dem Inland presst die Eismasse ins
Meer, doch die Eisfläche der meisten Glet-
scher liegt auf dem Grund, was das Rutschen
abbremst. Nun allerdings schmilzt das Eis von
unten her auf und verliert immer mehr den
Bodenkontakt. Ohne diesen Widerstand
könnten riesige Eismassen ins Meer hinaus-
driften und dort schmelzen.
Um das Verhalten der Gletscher besser zu
verstehen, will Gohls Team auf der »Polar-
stern« den Meeresgrund weiträumig nach den
Kratz- und Ablagerungsspuren längst ver-
gangener Eisbewegungen absuchen. Er hofft,
in den teilweise viele Millionen Jahre alten
Spuren von Klimawandelereignissen Hin-
weise darauf zu finden, wie und wann die
bevorstehende große Gletscherschmelze ab-
laufen könnte.
Die »Polarstern« soll vor der Westantark-
tis auf einer Strecke von mehr als 5600 Kilo-
meter Länge Profile des Meeresbodens er-
stellen. Das Schiff zieht ein drei Kilometer
langes Kabel mit sogenannten Hydrofonen
hinter sich her. Diese fangen Schallwellen auf,
die zuvor mit lauten Luftpulsern ins Wasser
geschickt worden sind. Manche Schallwellen
reflektieren an 2000 Meter mächtigen Sedi-
menten im Boden und erlauben so einen Blick
weit zurück in die Klimageschichte.
»Wir suchen nach den Ablagerungen ur-
alter Gletscher, die sich zum Beispiel vor etwa
4 Millionen Jahren im Pliozän oder vor
13 Millionen Jahren im Miozän über den Mee-
resboden geschoben haben«, sagt Gohl. »Da-
mals waren die Temperaturen vergleichbar
mit heute, und auch der Kohlendioxidanteil
in der Luft war ähnlich. Am Meeresgrund
können wir erkennen, wie sich die Gletscher
damals verhalten haben.«
Beim Thwaites-Gletscher ist der Kipp-
punkt wohl schon erreicht, es ist nur eine Fra-
ge der Zeit, bis er zusammenbricht und damit
weite Teile der Westantarktis destabilisiert.
Die »Polarstern«-Crew soll deswegen nun
auch erkunden, wie es mit den kleineren Glet-
schern an der Bellingshausen-See weitergeht.
Auch dort mehren sich die Anzeichen für Kol-
lapse. Wie viele Jahrhunderte es danach dau-
ern dürfte, bis das Eis verschwunden ist, der-
lei Fragen soll die Expedition klären. Mitte
Januar will Gohls Team damit beginnen, mit
den Hydrofonen in die Tiefen von Zeit und
Raum zu horchen.
Hilmar Schmundt n

Startrampe frei!
RAUMFAHRT Europa eröffnet sich eigene Zugänge ins All: Von der
Arktis bis zu den Azoren sollen neuartige Weltraumbahnhöfe
für Zwergraketen und Minisatelliten entstehen. Einer der ersten geht
kommende Woche in Betrieb – in Schweden.
er Weg ins All war für Europäer bisher
D weit, teuer und beschwerlich. Wer
einen Satelliten in den Weltraum brin-
gen wollte, der musste das fragile Gerät oft
den Russen anvertrauen – oder es quer über
den Atlantik schippern bis nahe an den Äqua-
tor. Kourou in Französisch-Guayana war jahr-
zehntelang der einzige Weltraumbahnhof der
EU. Nur Russland hat bisher von europäi-
schem Territorium aus Raketen ins All ge-
schickt, sonst niemand.
Diese Zeiten sind jetzt vorbei.
2023 wird für die hiesige Raumfahrt ein
historisches Jahr, denn erstmals eröffnet sich
Westeuropa eigene Zugänge zum All. Was hier
entsteht, kann zwar noch lange nicht mithalten
mit den Riesenrampen von Cape Canaveral in
den USA oder Baikonur in Kasachstan. Aber
für kleinere Raketen mit einer Höhe von bis
zu 30 Metern und einer Nutzlast von einigen
Hundert Kilogramm wird Europa bald unab-
hängig sein – von Kourou, den USA und dem
Ex-Raumfahrtpartner Russland.
Am kommenden Freitag wird Schwedens
König Carl XVI. Gustaf zusammen mit EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von der Ley-
en nahe der Stadt Kiruna in eisiger Wildnis
den Arktis-Weltraumbahnhof von Esrange
einweihen. Das Gelände ist für Raketenstarts
gut geeignet: In der Umgebung leben auf Tau-
senden Quadratkilometern nur Rentiere, El-
che, Bären und Wölfe, aber kaum Menschen.
Sollte hier eine defekte Rakete abstürzen,
richtet sie nahezu keinen Schaden an.
Seit Jahrzehnten schon starten von dieser
Anlage Ballons und kleine Höhenforschungs-
raketen, um Daten über die Atmosphäre zu
gewinnen. Jetzt aber hat Schweden viele Mil-
lionen Euro in drei neue Startrampen samt
Hangars investiert, auch ein Teststand für
Triebwerke ist entstanden.
Noch in diesem Jahr könnte die erste Ra-
kete von Esrange aus in den Orbit vordringen.
Die Chancen für einen andauernden Erfolg
der Unternehmung stehen gut, denn dank
seiner geografischen Lage kann Esrange Sa-
telliten besonders günstig in eine Bahn be-
fördern, die von Pol zu Pol reicht.
Noch zügiger allerdings will Richard Bran-
sons Firma Virgin Orbit die neue Ära der
europäischen Raumfahrt einläuten – und Sa-
telliten erstmals von England aus ins All brin-
gen. Das Unternehmen nutzt dafür eine
umgerüstete Boeing 747-400, die noch im
Januar vom nagelneuen Weltraumbahnhof in
Cornwall starten soll.
Unter seiner linken Tragfläche trägt der
Jumbo eine knapp 21 Meter lange Rakete na-
mens »LauncherOne«. Wenn die Maschine
in fast elf Kilometer Höhe südwestlich von
Irland kreuzt, soll die Rakete ausklinken, zün-
den – und wenig später ihre Nutzlast in einem
niedrigen Orbit um die Erde aussetzen; mehr
als 500 Kilometer hoch.
Die Fracht von »LauncherOne« wird bei
diesem Flug aus acht sogenannten CubeSats
bestehen. Dies sind spottbillige, schnell kons-
truierte, aber dennoch leistungsfähige Mini-
satelliten, oft kleiner als eine Packung Müsli.
In der Regel wiegen sie zwischen einem und
zehn Kilogramm. Bei einigen war Airbus am
Design beteiligt, sie sollen künftig Dienste für
das britische Militär verrichten. Mit von der
Partie bei Westeuropas erster Raketenhim-
melfahrt ist auch der bisher einzige Erdbeob-
achtungssatellit aus dem Sultanat Oman.
Überraschend viele kommerzielle Welt-
raumbahnhöfe sind in Europa in Planung oder
sogar schon im Bau, etwa in Island, Schott-
land, Norwegen, Andalusien, auf den briti-
schen Shetlandinseln, den Azoren und den
Start einer Höhenforschungsrakete von Esrange in Schweden 2011: Millionen investiert
WISSEN
Kanaren. Auch ein deutsches Konsortium will
mitmischen. Es plant, Raketen von einem um-
gerüsteten Frachtschiff in der Nordsee zu star-
ten. Weltweit explodiert die Nachfrage nach
Startkapazitäten, denn für kostengünstige
CubeSats begeistern sich immer mehr Staa-
ten, Unternehmen, internationale Organisa-
tionen und Hochschulen.
Bislang umkreisen mehr als 5500 aktive
Satelliten den Planeten, große wie kleine. Ihre
Zahl wird sich im Zeitalter der boomenden
CubeSats, Nano- und Mikrosatelliten bald
vervielfachen. Manche Experten halten es
für möglich, dass die Erde im Jahr 2030 von
100 000 Satelliten umgeben sein wird.
Die Schweden werden ihren Weltraum-
bahnhof Esrange auch der europäischen Welt-
raumagentur Esa zur Verfügung stellen. Sie
will das Gelände schon in diesem Jahr für ers-
te Flugtests von »Themis« nutzen, einer wie-
derverwendbaren Erprobungsrakete, die nach
dem Vorbild von SpaceX helfen soll, die Kos-
ten der Schwerlastraumfahrt zu dezimieren.
Zwei junge Weltraumfirmen aus Bayern
sind in Esrange bereits aktiv. Isar Aerospace
und Rocket Factory Augsburg entwickeln
speziell für Minisatelliten »Microlaunchers«,
leichte, preiswerte Trägerraketen. In der
nordschwedischen Abgeschiedenheit testen
die Konkurrenten ihre Motoren. Die Firmen,
beide 2018 gegründet, sind offenbar in kurzer
Zeit weit gekommen: Die Erstflüge ihrer Ra-
keten sind für Juli geplant.
Starten wollen die deutschen Raumfahrer
aber nicht von Schweden aus – sondern vom
norwegischen Andøya Space Center, einem
alten Raketenstartplatz, der nun ebenfalls
zum Weltraumbahnhof ausgebaut worden
ist. Er liegt auf einer Insel direkt am Nord-
atlantik, und das kann wichtig sein, sollte
die Mission misslingen: Die Fläche, auf der
die Himmelsstürmer aus Bayern ohne allzu
große Risiken abstürzen können, ist dort noch
größer als in Esrange.
Marco Evers n
Thilo Kranz / DLR
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 93
KULTUR

Sesame Workshop / NDR

»Sesamstraße«-Figuren

Keeekse!
TV Die deutsche »Sesamstraße« wird 50. Dem Krümelmonster beschert das einen Gastauftritt in den »Tagesthemen.«

er in den Siebziger- oder Achtzigerjahren ein Kind war,
W der hat diesen Song bis heute im Ohr: »Der, die, das /
Wer, wie, was / Wieso, weshalb, warum? / Wer nicht fragt,
bleibt dumm.« Es ist das Titellied der »Sesamstraße«. Aber wer
heute Kind ist? Summt vielleicht eher die Melodien von Zeichen-
trickserien wie »Peppa Pig« oder »Paw Patrol«. Als der NDR am
8. Januar 1973 die erste Folge der »Sesamstraße« in Deutschland
ausstrahlte, gab es die Konkurrenz noch nicht. Genau genommen
gab es fast überhaupt keine Konkurrenz – außer der »Sendung mit
der Maus«. Zum 50. Geburtstag spendiert der NDR der »Sesam-
straße« nun eine Party, die die Popularität noch mal mächtig stei-
gern dürfte. Denn was mögen Kinder mehr als Geburtstage? Und
was ihre Eltern mehr als Nostalgie? Der Jubiläumstag beginnt mor-
gens um 7.20 Uhr mit einer Spezialausgabe der »Tagesthemen«.
Caren Miosga moderiert, und das Krümelmonster spricht den Kom-
mentar. Keeekse! Auch der Kika bringt eine Geburtstagssendung,
in der Ernie eine Überraschungsparty für Bert plant. In der Media-
thek bekommt die »Sesamstraße« zudem einen neuen Auftritt. Und
weil 50 nun mal ein fortgeschrittenes Alter ist und ein 50. Geburts-
tag einen gewissen Rahmen verlangt, folgen noch ein Konzert mit
»Sesamstraße«-Liedern in der Elbphilharmonie und zwei Ausstel-
lungen, beide in Hamburg: ab 17. Februar im Auswanderermuseum
BallinStadt, ab 7. Mai im Museum für Kunst und Gewerbe. Gut
möglich also, dass sich Ernie und Bert dieses Jahr ihren Platz auf
den T-Shirts in deutschen Kindertagesstätten zurückerobern. Peppa
Pig und die Helden von »Paw Patrol« sollten sich vorsehen. TOB

Mörder mit Mission
THRILLER Als ihm am Ende
des Films ein Strick um den Hals
gelegt wird, kann er gar nicht
glauben, dass das Todesurteil
gegen ihn wirklich vollstreckt
werden soll. Der 50-jährige Fa-
milienvater Saeed (Mehdi Ba-
jestani) hat 16 Frauen ermordet,
aber keinerlei Unrechtsbewusst-
sein. Die Opfer waren Prostitu-
ierte, Saeed hielt sie für minder-
wertig. Ali Abbasis Film »Holy
Spider«, der auf der Shortlist
für den Auslandsoscar steht und
nun in die deutschen Kinos
kommt, beschreibt den Iran als
durch und durch frauenfeind-
liches Land. Der in Teheran ge-
borene Abbasi, der sein Land
2002 verließ und heute in Däne-
mark lebt, zeigt gleich zu Be-
ginn, wie brutal und verächtlich
die Prostituierten von ihren
Freiern behandelt werden. Die
Morde setzt er detailreich in
Szene. »Holy Spider«, der auf
einem realen Kriminalfall ba-
siert und im Jahr 2001 in der
heiligen Stadt Maschhad spielt,
ist in seiner Drastik oft kaum zu
ertragen. Seine Heldin Rahimi
(Sahra Amir Ebrahimi), eine
mutige Journalistin, die gegen
viele Widerstände recherchiert,
konfrontiert er mit schwäch-
lichen, korrupten oder fanati-
schen Figuren. Der Mangel an
Ambivalenz macht diesen Film,
der als düsterer Thriller beginnt,
mehr und mehr zum eindimen-
sionalen, bisweilen grotesk
überzeichneten Pamphlet. LOB

94 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

 Geiler Greis
POP »Ich bin so etwas wie ein
Groupie«, sagte Iggy Pop kürz-
lich in einem Interview. »Ich
hänge gern mit Musikern ab,
sie sind einfach eine bestimmte
Art von Typen, in deren Nähe
ich mich wohlfühle.« Mit 75
wäre Pop, auch »Godfather of
Punk« genannt, dann wohl das
älteste Bandanhängsel der
Rock-’n’-Roll-Geschichte. Aber
auch das coolste. Wenn die rich-
tigen Musiker um ihn herum
sind, so scheint es, kann Iggy
Pop auch mehr als 50 Jahre
nach seinen Anfängen mit der
Proto-Punkband The Stooges
noch zur Bestform auflaufen.
»Ich bin in Aufruhr«, bellt er in
»Frenzy«, dem ersten Song sei-
nes erstaunlich vitalen neuen
Albums »Every Loser« – und
stellt klar, wer die dicksten Eier
hat: »Got a dick and two balls,
that’s more than you all.« Die
Musik dazu donnert und vi-
briert, als müsste sie Pops sehni-
gen Körper mit belebenden
Stromstößen versorgen. Eigent-
lich hatte der als James Oster-
berg geborene US-Musiker be-
Danny Clinch / Warner Music
Pop, Watt
Alte Frau! Junger
Mann! Sex!
LITER ATUR Von all den ohnehin
kurzen Büchern der Nobelpreis-
trägerin Annie Ernaux, die
man auf Deutsch lesen kann, ist
dieses das bisher kürzeste.
40 Seiten hat »Der junge Mann«.
Und kostet 15 Euro. Fühlt man
sich da nicht, Pardon, verarscht?
Nein. Denn die französische
Autorin ist eben nicht nur eine
Meisterin der Verkürzung, son-
dern auch der Verdichtung. Er-
reits seinen Ruhestand angedeu-
tet. 2016 erschien das Album
»Post Pop Depression«, das auf
seine beste Zeit mit David Bo-
wie in den Siebzigerjahren ver-
wies – ein würdiger Karriere-
abschluss. 2019 brachte er dann
eine Art Jazzalbum heraus. Da-
rauf rezitierte er im brüchigen
Bariton einen Gedichtklassiker
von Dylan Thomas, in dem
es heißt: »Geh nicht gelassen in
die gute Nacht / Brenn, Alter,
rase, wenn die Dämmerung lau-
ert / Im Sterbelicht sei doppelt
zornentfacht.« Und nun, auf
»Every Loser«, sind alle Lam-
pen an, ist das Rasen gegen den
Tod im Overdrive. In seinen
neuen Songs teilt Pop gegen
Online-Trolle und das Musik-
industrie-Babylon aus. Verant-
wortlich für das späte Aufbäu-
men ist Produzent Andrew
Watt. Der 32-Jährige rekrutierte
mit Bassist Duff McKagan
(Guns N’ Roses), Drummer
Chad Smith (Red Hot Chili Pep-
pers) und Gitarrist Josh Kling-
hoffer wohl genau jene Typen,
die der geile Greis brauchte, um
noch einmal das Punkrock-
Rumpelstilzchen zu geben. BOR
naux berichtet von einem Ver-
hältnis mit einem fast 30 Jahre
jüngeren Mann. Sie, Mitte fünf-
zig, trifft auf ihn, Mitte zwanzig.
Sie ist Autorin, er ist Student. Sie
sucht Sex, um endlich den Kopf
freizubekommen, um das Buch
über ihre Abtreibung zu schrei-
ben, woran sie bislang scheiterte.
Was er sucht, wissen wir nicht,
seine Perspektive spielt keine
Rolle. Es ist eine absolut subjek-
tive Erzählung, die schon im
Jahr 2000 entstand. Aber erst
22 Jahre später in Frankreich
Szene aus »Unruh«
Opfer der eigenen
Kunst
KINO Zeit, Geld, Macht: Wo
könnte man die Triade des Ka-
pitalismus besser studieren als
in der ultrareichen Schweiz?
Schon in seinem viel beachteten
Debütfilm »Dene wos guet geit«
von 2017 untersuchte Cyril
Schäublin die sozioökonomi-
schen Kräfte, die in seinem Hei-
matland wirken, mit einer be-
merkenswerten Mischung aus
Distanz und Detailversessen-
heit. Im Berlinale-Erfolg »Un-
ruh« (seit 5. Januar im Kino),
für den er einen Regiepreis
gewann, wirkt sein Blick noch
schärfer: In einem Dorf im
Schweizer Jura zeigt er, wie
Ende der 1870er-Jahre Kapita-
lismus und Anarchismus aufein-
anderprallten und sich gewisser-
maßen die Weichen für die gro-
ßen ideologischen Kämpfe des
20. Jahrhunderts stellten. Ent-
lang historischer Gegebenheiten
folgt Schäublin dem russischen
Geografen und späteren anar-
chistischen Vordenker Pjotr
Kropotkin (Alexej Jewstratow),
veröffentlicht wurde – und für
den erwartbaren Aufschrei
sorgte. Alte Frau! Junger Mann!
Sex! Man könnte jetzt sagen:
Damit hat das Buch schon was
erreicht. Rollenklischees werden
aufgebrochen. Aber erstens täte
man Ernaux unrecht, wenn man
ihr Werk auf einen Jetzt-dürfen-
wir-auch-mal-Feminismus re-
duzieren würde. Und zweitens
ist »was erreichen« keine genuin
literarische Einheit, an der man
ein Buch wie dieses messen soll-
te. »Der junge Mann« ist, und
Grandfilm
wie er während eines Karto-
grafierungsprojekts in einem
Uhrmacherdorf Station macht
und dabei mit der anarchis-
tischen Arbeiterbewegung in
Kontakt kommt. Kropotkin
wird Zeuge, wie die, die in
feinstem Handwerk die weltbe-
rühmten Schweizer Uhren her-
stellen, zu Opfern ihrer eigenen
Kunst werden: Genaues Uhr-
werk bedeutet auch genaues Er-
fassen der Produktivität. Wer
die harschen Vorgaben der Fa-
brikeigentümer nicht erfüllt,
wird entlassen – und wer sich
gegen die Ausbeutung wehrt,
etwa durch Unterstützung der
Anarchisten, erst recht. Mit
kuriosen Momentaufnahmen
aus dem Dorf- und Fabrikalltag
montiert Schäublin einen Film,
in dem die Größe der Themen
im Gegensatz zu der feinsinni-
gen Inszenierung stehen. Dazu
gehört Silvan Hillmanns heraus-
ragende Bildgestaltung, die
Sehgewohnheiten mit jedem
Tableau aufs Neue herausfor-
dert. »Unruh« lässt einen
staunen, wie anders Geschichte
aussehen kann. HPI
dafür kann man Ernaux nicht
hoch genug schätzen, ein in
sich perfekt konstruiertes, aber
nie abgeschlossenes Miniatur-
kunstwerk. Mit einem, neben-
bei, unvergess-
lichen vorletz-
ten Satz. XVC
Annie Ernaux:
»Der junge
Mann«. Aus dem
Französischen
von Sonja Finck.
Suhrkamp;
40 Seiten;
15 Euro.
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 95
TITEL
Promipaar
Meghan und Harry
in London 2020

96 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


DER
ABTRÜNNIGE
ROYALS Prinz Harry führt auf der Weltbühne einen Rosenkrieg gegen seine sehr berühmte, aber
auch überaus gestörte Familie. Schadet er der Monarchie damit – oder hilft er ihr sogar?
ie Straße schlängelt sich den Berg
D hoch, vorbei an Palmen und Pinien,
Buchsbaumhecken und Strommas-
ten, von denen Kabel baumeln. Links eine
Familienclinch
Missvergnügen im britischen Königshaus
Einfahrt: »Privatweg«. Das verschnörkelte direkte Thronfolge
Gusseisengatter steht weit offen. Eine weite- von royalen Aufgaben entbunden
re Gabelung und dann, kurz bevor es scharf
nach rechts geht, sechs aufgereihte Müllton-
nen, fünf grüne und eine braune.
Hier, hinter zwei schlichten Holztoren,
wohnen Harry und Meghan in einer 15-Mil- George VI.
lionen-Dollar-Villa. Pfosten im Gebüsch tra- übernimmt unge-
gen versteckte, winzige Sicherheitskameras wollt die Krone von
mit Bewegungsmeldern. seinem älteren
Bruder Edward.
Rockbridge Road, Montecito, CA 93 108:
Die Adresse kennt jeder in dem Prominenten-
refugium an der kalifornischen Küste. Doch
von Paparazzi keine Spur: »Sie haben es uns
viel zu schwer gemacht, gute Fotos zu krie-
gen«, klagt Celebrity-Fotograf Mark Karloff.
Karloff, ein Veteran der US-Paparazzi-Sze- Elizabeth II.
ne, hatte dem Paar noch nachgestellt, als es verkörpert 70 Jahre
lang die Krone, ihr
nach seinem Abschied aus Großbritannien in ungeschriebener
Beverly Hills untergekommen war. In Mon- Wahlspruch lautet
tecito, zwei Autostunden nordwestlich, haben »Never complain,
Karloff und seine Kollegen inzwischen weit- never explain«.
gehend aufgegeben: zu weit entfernt, überall
Sicherheitsleute in Golfkarren und kein ge-
eigneter Platz, um sich diskret mit dem Tele-
objektiv auf die Lauer zu legen.
Das 1735-Quadratmeter-Domizil des Her-
zogs und der Herzogin von Sussex verfügt
über 9 Schlafzimmer, 16 Bäder, eine Sauna, Anne
ein Spa, einen Weinkeller, einen Tennisplatz,
Camilla
ein Gästehaus, einen Pool, einen Rosengarten
und einen Olivenhain. Es gehörte zuvor dem
russischen Oligarchen Sergey Grishin, jetzt
ist es das Hauptquartier der Multimedia-
operation, mit der Harry und Meghan ihr Charles III.
neues Leben für die Welt inszenieren. führt Ehekrieg
Harry ist der zweite Sohn des britischen mit Diana, heiratet
später seine Lang-
Königs Charles III., der jüngere Bruder des zeitgeliebte Camilla.
Thronfolgers William. Er ist der Sohn von
Joanne Davidson / Camera Press / Picture Press
Charles’ erster Frau Diana, die eine der größ- Catherine
ten Medienfiguren des 20. Jahrhunderts war.
Mehr Prominenz in der engsten Familie gibt
es auf der Welt zurzeit kein zweites Mal.
Und die wird jetzt ausgeschlachtet. Am
Dienstag kommt Harrys Autobiografie heraus. William
ist der seriöse, etwas
Random House, der größte Verlag der Welt, langweilige Thronfolger
veröffentlicht das Buch in 16 Sprachen gleich- und Lieblings-Windsor
zeitig. Kurz nachdem der Streamingdienst der Briten.
Netflix eine sechsteilige Serie über Harry und S Grafik
◆
TITEL
seine US-amerikanische Frau Meghan aus-
gestrahlt hat. Sie zeigt, wie die beiden sich
vor drei Jahren selbst vom Dienst an der Kro-
ne entbunden haben. Wie sie aus Großbri-
tannien – der Alten Welt – weggingen. Wie
sie sich seither in den USA – der Neuen Welt –
ein Leben aufbauen. Und wen sie für ihre
Flucht in ihr neues Leben verantwortlich
machen: die britische Presse, Social-Media-
Trolle und ihre lieben Verwandten.
Edward VIII. Dem US-Sender CBS hat Harry ein Inter-
dankt ab, um die view gegeben, am Sonntag wird es ausge-
US-Amerikanerin strahlt, zwei Tage vor Erscheinen seines
Wallis Simpson Buchs. Darin findet sich ein Satz, der offenbar
zu heiraten.
erklären soll, weshalb der Königssohn in so
beispielloser Weise auf allen Kanälen das In-
nenleben seiner Familie vor einem globalen
IMAGO (13); AP
Publikum ausbreitet. Konfrontiert mit der
Frage, warum Harry, wenn er sich doch
öffentlich ausgestellt fühlt, nun so sehr die
Margaret Öffentlichkeit sucht, antwortet er, er habe
lässt sich in versucht, alle Probleme »privat« zu klären.
den Siebzigern
scheiden, damals Nur sei das vom Palast stets sabotiert worden.
ein Skandal. Meist sei in irgendwelchen Medien unter
Berufung auf anonyme Palastquellen alles
Edward öffentlich geworden. Und wann immer er ein
Statement in seinem und Meghans Namen
verlangt habe, sei er vertröstet worden, da
könne man leider nichts tun. Und dann der
Satz: »Es kommt ein Punkt, an dem Schwei-
gen Verrat wäre.«
Andrew
darf die
Royals nach Nichts, so scheint es, soll jetzt noch privat
Missbrauchs- bleiben. Und die öffentliche Neugierde ist
vorwürfen gewaltig. Von kaum einer anderen Person ist
nicht mehr weltweit in diesen Tagen so viel die Rede wie
vertreten.
vom royalen Hofverräter Harry. 28 Millionen
Menschen schauten allein in der ersten Woche
Diana nach dem Start der Serie einem superreichen
rächt sich für die Ehepaar zu, das in Privatflugzeugen vor den
»Ehe zu dritt« angeblichen Zumutungen eines Lebens in
an Charles mit
Indiskretionen. Schlössern flieht und sich in Luxusimmobilien
mit Meditation tröstet.
Meghan Die Harry-und-Meghan-Saga lenkt ab von
Krieg und Krisen, das mag einen Teil des In-
teresses erklären. Doch die hat auch eine poli-
tische Dimension. Denn Harry fordert ja nicht
irgendwen heraus, sondern den britischen
Harry König. Seinen Vater Charles, der 73 Jahre
ist der Skandal-
bruder und das
darauf warten musste, den Thron zu bestei-
Sorgenkind, bricht gen. Als die Netflix-Dokumentation über
mit seiner Familie. Harry und Meghan veröffentlicht wurde, hat-
te Charles nicht einmal die 100 Tage hinter
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 97
 TITEL
AP / picture alliance
1 2
sich, die Neulingen in politischen
Ämtern in der Regel als Schonfrist
zugestanden werden.
In anderen Zeiten hinge nicht so
viel davon ab, wie es der Monarchie
in Großbritannien ergeht, ausge­
rechnet im bereits fortgeschrittenen
21. Jahrhundert ist das anders. Groß­
britannien hat sich mit dem Austritt
aus der EU geschwächt. Es ist ein
polarisiertes, ökonomisch angeschla­
genes Land, das zu zerfallen droht –
die Schotten streben in die Unabhän­
gigkeit, eine Wiedervereinigung
Nordirlands mit dem EU­Mitglied
Irland ist nicht mehr nur der Zu­
kunftstraum einer Minderheit. Zu­
letzt hatte es fast nur noch die Queen
geschafft, das Königreich zusammen­
zuhalten. Zwei Tage bevor sie im Sep­
tember starb, verabschiedete sie noch
den alten Premier Boris Johnson und
begrüßte dessen Nachfolgerin Liz
Truss, die längst ebenfalls weg ist und
von Rishi Sunak ersetzt wurde.
In den beiden britischen Spitzen­
ämtern sind damit fast zeitgleich zwei
Neue angetreten, beide werden von
großen Teilen der Bevölkerung mit
Misstrauen beäugt. Und das mitten
in einem »Winter des Missvergnü­
gens«, in dem Streikende seit Wochen
das Land lahmlegen, Menschen rei­
henweise in die Armut abrutschen
und überall eilig neue Tafeln und gar
Wärmestuben eingerichtet werden.
Charles III. blieb damit keine Zeit,
sich erst an das Amt zu gewöhnen,
auf das er länger als jeder andere war­
ten musste. Seine Monarchie ist eine
Charity­Monarchie, sie bezieht einen
Gutteil ihrer Legitimation über die
zahllosen Wohltätigkeitsorganisatio­
nen, die sie unterstützt und finanziert
und die dort helfen, wo der Staat sich
schon lange zurückgezogen hat.
Nichts wäre für die Krone am Ende
des zweiten elisabethanischen Zeit­
alters verheerender, als wenn sich
unter den Briten der Eindruck ver­
98 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
John Shelley Collection / Photoshot / Prisma Bildagentur
festigte, dass da eine Familie von Mul­ Prinzenleben Familie entblößt und verfälscht.
timillionären hinter Palastmauern mit Wenn man so will, verdient Harry am
sich selbst ringt, während das Land 1 | Prinz Charles und Verrat der eigenen Familie – und zwar
Prinzessin Diana mit
allmählich den Bach runtergeht. Baby Harry 1984 unfassbar gut: 100 Millionen Dollar
Treibt Harry dieses Chaos mit sei­ 2 | Großtante sollen seine Frau und er von Netflix
ner medialen Daueranklage jetzt auf Margaret, Mutter bekommen haben.
die Spitze? Oder dient er mit seinen Diana und Großmutter Die vielen Kritiker der beiden ät­
Elizabeth II. mit Harry
öffentlichkeitswirksamen Provokatio­ und William 1989 zen: Eigentlich machten Harry und
nen dem Königreich sogar? Weil sich 3 | Brüder Harry und Meghan doch genauso weiter wie vor­
die Monarchie modernisieren muss, William (2. und 3. v. r.) her. Sie suchten das Rampenlicht, ob­
genauso wie das Commonwealth, auf der Beerdigung wohl sie die Medien wieder und wie­
ihrer Mutter 1997
mit seinen 55 weiteren Ländern und 4 | Soldat Harry (r.) der anklagten. Harrys neuer Reich­
2,5 Milliarden Menschen, dessen in Afghanistan 2008 tum entstehe mit genau den Mitteln,
Oberhaupt Charles ja auch ist? Ein mit denen sich seine Familie ihren
erheblicher Teil der Bevölkerung des alten Reichtum bewahrt habe: mit der
Commonwealth ist schwarz. Meghan Zurschaustellung des eigenen Lebens.
hat eine schwarze Mutter. Sie sei, so Die Windsors haben sich als Mo­
klagt Harry glaubhaft an, seit sie sich narchen vor allem deswegen bis in
an seiner Seite befindet, immer wie­ die heutige Zeit retten können, weil
der Opfer von teils offenem, teils ver­ sie mit ihren weltweit im Fernsehen
stecktem Rassismus geworden. übertragenen Hochzeiten und Beerdi­
Harry macht nicht nur seiner Fa­ gungen und ihrem Pakt mit Boule­
milie Vorwürfe, sondern auch »den vardblättern zu einem Medienphäno­
Medien«. Dabei unterscheidet er men geworden sind. Harrys Mutter
nicht zwischen Boulevardblättern Miese Presse Diana, einstmals Princess of Wales,
und seriösen Blättern, bei ihm ver­ war am Ende des 20. Jahrhunderts
wischen sogar die Unterschiede zwi­ die meistfotografierte Frau der Welt.
schen den traditionellen und den Als Diana 1996 vom heutigen König
sozialen Medien. Charles geschieden wurde und die
Ein gefährliches Terrain, denn königliche Familie verließ, wurde sie
Harry ist eine Figur, die es ohne die zur »Prinzessin der Herzen«. Sie
Medien so gar nicht gäbe. Und er machte vordergründig mit Auftritten
nutzt sie gerade in diesen Tagen so im Dienst der Humanität von sich
offensiv und offensichtlich wie kein reden, setzte sich für Aidskranke und
Polaris / ddp
Mitglied seiner Familie jemals zuvor; Minenopfer ein, bekam diese Auf­
sowohl die Mittel der traditionellen merksamkeit aber hauptsächlich, weil
Medienwelt – mit einer gedruckten sie weiterhin öffentlich mit dem Kö­
Autobiografie – als auch die neuen nigshaus im Clinch lag.
Kanäle. In der Netflix­Dokumenta­ Bei Harry und Meghan scheint sich
tion zeigt er Videotagebücher, SMS das zu wiederholen: Nach ihrem Aus­
und Instagram­Posts. Er erledigt scheiden aus dem Königshaus zeigen
Hugo Philpott / UPI / Shutterstock
selbst, womit eigentlich Paparazzi sie sich als Unterstützer von Wohltä­
und Hofberichterstatter ihr Geld ver­ tigkeitsprojekten. Interessant für das
dienen, gibt intime Momente preis, ganz große Publikum ist das indes nur,
zeigt sogar das Ultraschallbild seines weil das Paar das Zerwürfnis mit dem
Erstgeborenen. Für all das hat er aus­ Königshaus im Großformat zelebriert.
gerechnet einen Vertrag mit jenem Bleibt Harry also ein Gefangener
Unternehmen geschlossen, das seit der Öffentlichkeit, weil er nie etwas
Jahren in der fiktionalisierten Erfolgs­ Boulevardberichte anderes gelernt hat, als sich ihr zur
serie »The Crown« das Leben seiner 2005, 2012 Verfügung zu stellen? Weil er eine Frau

3 4
hat, die in Hollywood aufwuchs, Schauspiele-
rin wurde und sich ihrerseits dem Sog des Ram-
penlichts nicht entziehen kann – oder will?
Dies wäre ein Drama nach dem Geschmack
von William Shakespeare, dem größten Dra-
matiker des Königreichs, ohne dessen ver-
lässlich überhöhende Werke das Haus Wind-
sor womöglich eine Monarchie unter vielen
geblieben wäre. Shakespeare hat eine royale
Figur nach der anderen auftreten lassen, alle
blieben sie Gefangene: in einer Rolle, im
Selbstbetrug. Rangen die royalen Figuren bei
Shakespeare um die Macht, ringen die heuti-
gen um ihren Platz und ihr Ansehen in der
Öffentlichkeit. Das ist ihre Währung, sie ha-
ben kaum noch etwas anderes.
Die Windsors kämpfen seit über 100 Jahren
um ihre Legitimität. Der Abstammung nach
sind sie zu einem großen Teil Deutsche –
eine schlechte Voraussetzung, denn seit den
Grabenkämpfen im Ersten Weltkrieg und spä-
testens den deutschen Bomben im Zweiten
Weltkrieg haben die Briten gute Gründe, die
Deutschen zu verachten. Die kürzlich ver-
storbene Königin Elizabeth war bei ihrer Ge-
burt gar nicht für die Thronfolge vorgesehen.
Sie kam an die Reihe, weil zuerst ihr Onkel
abgedankt hatte und ihr Vater früh verstorben
war. Sie regierte dann über lange Strecken in
einer Welt, in der vor allem Männer öffentli-
che Ämter übernahmen.
Die Royals überwanden ihren prekären
Status, weil sie in aller Öffentlichkeit auf im-
mer neue und häufig dramatische Weise am
Idealbild der heilen Familie scheiterten und
mit den Mitteln der Medien so weltweit wirk-
same Identifikationsfiguren abgaben.
Es ist ein Ideal, das immer noch existiert,
jede Familie scheitert auf ihre Weise daran.
An den britischen Royals können die Betrach-
terinnen und Betrachter die Mechanismen
des Scheiterns studieren. Und weil deren Le-
ben medial vermittelt und vor dem Hinter-
grund von Schlössern stattfindet, wirkt es
größer und bedeutsamer. Also wirkt auch das
Scheitern der Royals größer als das der Zu-
schauer. Es entlastet, den Royals beim Schei-
tern zuzusehen. Auf diese zutiefst zynische
Weise sind die Windsors der Öffentlichkeit
Kieran Doher ty / REUTERS
nützlich. Was aber für die Öffentlichkeit ent-
lastend wirkt, ist für die königliche Familie
belastend: Jeder Fehltritt wird zur weltweit
analysierten Neuigkeit.
Harry ist im Rückblick betrachtet vom ers-
ten Moment seines Lebens an ein Symbol
familiären Scheiterns. Die Ehe seiner Eltern
war wohl mit seiner Geburt am Ende. Vater
Charles wandte sich wieder seiner Geliebten
Camilla zu, der er Jahre vor seiner Eheschlie-
ßung mit Diana bereits verfallen war und die
heute seine Frau ist. Öffentliche Auftritte von
Harry als Heranwachsendem waren zumeist
von Interesse, wenn sie peinlich waren – und
das waren sie immer wieder.
Harry ist vom ersten
Moment seines Lebens
an ein Symbol
familiären Scheiterns.
Durch den Ausstieg aus dem Königshaus
gelang es Harry, mehr beachtet zu werden als
der Thronfolger, sein zwei Jahre älterer und
einziger Bruder William. Der Titel von Har-
rys Autobiografie weist darauf hin, dass Har-
ry damit hadert, lebenslang hinter seinem
Bruder zurücktreten zu müssen: Sie heißt
»Spare«, in Deutschland erscheint sie unter
dem Titel »Reserve«. Doch diese Kränkung
lässt sich aushebeln: Harry muss einfach nur
öffentliche Dramen inszenieren, und schon
steht sein Bruder in seinem Schatten.
Wer Harrys Geschichte analysieren will,
verfügt nun jedenfalls über unendlich viel
Material, das Harry selbst zur Verfügung
gestellt hat. Zugleich braucht es Distanz und
die Kenntnis anderer Quellen, um in dem,
was Harry »die Wahrheit« nennt, eine Wahr-
heit zu finden, in der auch andere Perspek-
tiven Platz haben.
Ein Ausrufer, mit Dreispitz, rotem Cape und
weißen Kniestrümpfen, gekleidet wie im
18. Jahrhundert, gab am 15. September 1984
TITEL
Xposure / ddp
in London öffentlich die Geburt des zweiten
Kindes von Prinzessin Diana und Prinz
Charles bekannt: »Es ist ein Junge!« Die
Wartenden, die sich am Straßenrand ver-
sammelt hatten, jubelten. Prinz Henry
Charles Albert David, der sehr bald nur noch
Harry genannt werden sollte, nahm hinter
seinem Vater und älteren Bruder Platz drei
der Thronfolge ein.
Die Ehe seiner Eltern war wohl die letzte
arrangierte der uralten britischen Monarchie.
Seine Verwandten hatten Charles mit Diana
verkuppelt, weil er von seiner damals bereits
verheirateten Liebe Camilla loskommen und
die Thronfolge absichern sollte. Diana kam
infrage, weil sie dem Hochadel entstammte
und beim Kennenlernen wohl noch Jungfrau
war. Bei ihrer Verlobung war Diana erst 19,
bei Harrys Geburt erst 23 Jahre alt.
Bereits zwei Tage später musste sie sich
gemeinsam mit Charles und dem Neugebo-
renen ins Blitzlichtgewitter der Presse stellen.
Diana hielt das Kind im Arm und trug eine
weite, hochgeschlossene, orangerote Kombi-
nation aus Kleid und leichtem Mantel, die
beinahe ihren gesamten Körper verdeckte
und auch den Bauch kaschierte, den Frauen
nach einer Entbindung haben.
Als Harry 34 Jahre später selbst zum ersten
Mal Vater wurde, war er es, der den neuge-
borenen Sohn im Arm hielt. Seine drei Jahre
ältere Frau Meghan trug ein ärmelloses Kleid
mit Ausschnitt und einem Gürtel, der ihren
Bauch betonte. Hier zeigte sich jemand, der
offensichtlich ein moderner Vater und Ehe-
mann sein wollte, mit einer Frau, die die na-
türlichen Veränderungen ihres Körpers nicht
kaschierte. Sie waren nur widerwillig vor die
Presse getreten, eigentlich hatten sie nach der
Geburt ein paar Tage Ruhe haben wollen.
Mit seinem Auftritt signalisierte Harry,
dass er und seine Frau es anders machen wol-
len als seine eigenen Eltern. Und wenn es
Kindern gelingt, eine kritische Position zu
ihren Eltern einzunehmen und daraus Schlüs-
se für ihr eigenes Leben zu ziehen, ist das
meist positiv. Ein Zerwürfnis mit den Eltern
hemmt eine solche Entwicklung hingegen.
Ob der kritische Blick, den Harry auf sei-
nen Vater hat, noch liebevoll ist, daran gibt
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 99
 TITEL
es begründete Zweifel. In der Netflix-
Dokumentation bezichtigt er ihn der
Lüge und des Mobbings gegen ihn.
Von seiner Mutter aber schwärmt
er und betont, wie diese versucht habe,
ihn und seinen Bruder zu »beschüt-
zen«. »Ich bin der Sohn meiner Mut-
ter«, sagt er und bezieht seine Frau mit
ein: »Vieles, was Meghan ist und wie
sie ist, erinnert mich an meine Mutter.«
Nicht nur Harry idealisiert Diana,
viele Medien tun es ebenfalls. Die
verstorbene britische Autorin Hilary
Mantel, die bemerkenswerte Analy-
sen zu den gekrönten Häuptern des
Königreichs hinterlassen hat, schreibt
in ihrem Essay »Royal Bodies«, dass
es genau diese Idealisierung durch die
Medien und die Massen gewesen sei,
die Diana das Leben schwer gemacht
habe: »Ihre Tragödie lag in der Kluft
Pa / dpa
1 2
zwischen ihren menschlichen Fähig-
keiten und den Anforderungen der
übermenschlichen Rolle, die sie zu
erfüllen hatte«, heißt es bei Mantel.
Die Autorin konstatierte auch Dia-
nas »mangelnde emotionale Selbst-
kontrolle« und charakterisierte sie als
eine Frau, die ihre Gefühle nicht in
den Griff bekam und andere in den
Strudel ihrer Emotionen hineinzog.
Für ihre emotionale Durchlässigkeit
wurde Diana gefeiert, auch ihr Sohn
feiert sie dafür.
Doch wie dürfte das Aufwachsen
mit einer verzweifelten Mutter gewe-
sen sein? Einer Mutter, die kaum je
von sich und ihren Gefühlen absehen
konnte? Einer, die ihr Essen über einer
Toilettenschüssel erbrach, die mit Sui-
zid drohte, sich in der Schwanger-
schaft mit dem Bruder die Treppe
heruntergestürzt und damit offenbart
hat, dass Kinder bei ihr nicht zu jeder
Zeit sicher sein würden?
Harry legt in seinen Erzählungen
nahe, dass er annimmt, was auch wei-
te Teile der Öffentlichkeit annehmen:
Sein Vater sei schuld am Zustand der
100 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Mutter gewesen, weil die Männer, wie
Harry in der Netflix-Serie sagt, sich
ihre Frauen nicht nach dem Herzen
aussuchten, sondern danach, ob sie
in die Rolle passten.
Tatsächlich spielten die Medien ein
böses Spiel mit der Mutter, ein BBC-
Reporter etwa erschlich sich mit ge-
fälschten Dokumenten ihr Vertrauen.
Doch auch Diana spielte mit den Me-
dien. Sie fütterte gefällige Reporter
mit intimen Informationen und sorg-
te dafür, dass ihr Mann schlecht da-
stand. Diana wurde manipuliert und
war eine Manipulatorin.
Harry scheint das nicht sehen zu
wollen, und das geschönte Bild, das
er sich von seiner Mutter gemacht hat,
wirkt sich aus – bis heute. Wenn sei-
ne Mutter schon vor den negativen
Auswirkungen eines Lebens im Palast
AP / picture alliance
nicht gerettet werden konnte, will
Harry wenigstens die Frau retten, die
seiner Meinung nach der Mutter äh-
nelt: Meghan. Er habe seine Familie
in Sicherheit bringen müssen, sagt er
in der Netflix-Serie. Er wolle nicht,
dass sich die Geschichte wiederholt.
Wie sein Bruder besuchte Harry die
Wetherby School in London, später
die Ludgrove School in Berkshire.
Anders als sein Bruder William war
Harry ein schlechter Schüler.
Bei seiner Mutter war es ähnlich.
Als Schülerin hatte sie sich höchstens
mittelmäßig geschlagen, sich aber –
wie Harry – für Sport interessiert.
Hilary Mantel zitiert in ihrem Aufsatz
die bekannte Einschätzung über
Diana, sie sei eine »verhängnisvolle
Nichtleserin« gewesen. Dianas Inte-
resse für Lektüre habe sich auf die
Happy-End-Romanzen der Kitsch-
autorin Barbara Cartland beschränkt,
was Mantel deswegen als »verhäng-
nisvoll« einschätzt, weil Diana durch
ihren beschränkten Horizont und ihre
naiven Erwartungen an eine Ehe ge-
danklich nicht darauf vorbereitet ge-
wesen sei, welche schmerzhaften
Wendungen die Liebe nehmen könne.
Vielleicht waren es auch die see-
lischen Belastungen seiner Kindheit,
die dazu führten, dass Harrys Leis-
tungen nicht für das schulische Mittel-
maß ausreichten. Da waren nicht nur
die in der Ehe unglückliche Mutter
und der Vater, der ein emotionales
Traumbilder Doppelleben führte, da waren auch
die Medien, die über all das schrieben.
1 | Königin Elizabeth II. Über Jahre spekulierten britische
mit Gatte Philip nach Boulevardblätter, James Hewitt, der
der Krönung 1953
2 | Hochzeitspaar Reitlehrer von Diana, sei Harrys
Diana und Charles Vater. Mitte der Neunzigerjahre, so
1981 berichtete die »Sun«, habe die könig-
3 | Hochzeitspaar liche Familie einen DNA-Test durch-
Kate und William 2011
4 | Hochzeitspaar führen lassen, der den Verdacht aus
Harry und Meghan dem Weg geräumt hätte. Da war Har-
2018 ry bereits elf Jahre alt.
Ihre Affäre mit dem Reitlehrer ge-
stand Diana im November 1995 öf-
fentlich ein, in einer Fernsehbeichte
im BBC-Magazin »Panorama«. Der
Rosenkrieg mit ihrem Ehemann
Charles war damit auf seinem Höhe-
punkt angelangt.
Charles und Diana waren als El-
tern herabgesunken auf einen Zu-
Die Wind- stand, den die Forschung »Hochkon-
sors haben fliktfamilie« nennt. Charakterisiert
sind Hochkonfliktfamilien durch aus-
sich vor ufernde Streitigkeiten, die – so for-
allem des- mulieren es Psychologen in diesem
Fall allgemein – bei den betroffenen
wegen bis in Kindern zu »auffälligem Leidens-
die heutige druck«, »permanentem Ausnahme-
Zeit retten zustand« und »überdurchschnitt-
lichen Belastungen« führen.
können, Im Sommer 1996 ließen sich
weil sie Charles und Diana scheiden. Der grö-
ßere Schock allerdings stand ihren
zu einem Söhnen noch bevor: der Unfalltod
Medien- ihrer Mutter am 31. August 1997 in
phänomen Paris. Diana war mit ihrem damaligen
Freund Dodi Al-Fayed in das Auto
geworden eines betrunkenen Chauffeurs gestie-
sind. gen, der Wagen wurde von Paparaz-

zi verfolgt, der Chauffeur raste gegen den
Pfosten eines Tunnels. Diana, Dodi und der
Chauffeur starben.
Der frühe Tod eines Elternteils, der end-
gültige Verlust einer wichtigen Bezugsperson
gehören zu den Ereignissen im Leben eines
Menschen, die besonders gravierende Folgen
für die Psyche haben können. So hat ein Team
einer dänischen Universität in einer Studie
die Daten von 189 000 Menschen aus Skan-
dinavien ausgewertet, bei denen vor dem
18. Geburtstag mindestens ein Elternteil ge-
storben war. Im Vergleich zu Gleichaltrigen,
deren Eltern erst später starben, traten in der
Gruppe der Waisen und Halbwaisen doppelt
so viele Suizide auf.
Als habe es noch weiterer psychisch be-
lastender Ereignisse in seinem Leben bedurft,
wechselte Harry ein Jahr nach dem Tod seiner
Mutter im Jahr 1998 auf das britische Elite-
internat Eton. Filmaufnahmen von damals
3 4
zeigen eine eigenartige Welt von Schülern, die
sich allein schon durch ihre Kleidung vom Rest
ihrer Gegenwartsgenossen absondern: Sie tra-
gen weiße Fliege und Frack. Die Welt der bri-
tischen Upperclass-Schulen ist geprägt durch
archaische Rituale, durch Machtspiele, durch
Exzesse. Es ist eine Männerwelt, die für eine
Vielzahl seelischer Wunden gut ist. »Internats-
syndrom« hat die britische Psychoanalytikerin
Joy Schaverien die dort entstehenden Trau-
mata genannt. Die Erfahrungen eines Kindes
in diesen elitären Aufzuchtanstalten vergleicht
sie mit der Einweisung in ein Pflegeheim.
Auch die Belagerung durch die Boulevard-
presse hinterließ bei Harry offenkundig tiefe
Narben. Die Zeitungen berichteten ausführ-
lich über seine Flirts, Kneipentouren und Par-
tybesuche, und er äußerte sich zunehmend
verzweifelt darüber, dass sein Aufwachsen für
ihn wie »eine Mischung aus der ›Truman
Show‹ und einem Leben im Zoo« sei. Er klagt
die Boulevardmedien an, sich nicht einmal
nach dem Tod seiner Mutter an die Absprache
mit dem Königshaus gehalten zu haben, bei
der Hatz auf ihn und William »unzumutbare«
Praktiken einzustellen.
Wo die Grenzen des Zumutbaren liegen,
definieren Massenblätter wie die »Sun« oder
TITEL
die »Daily Mail« in ihrem Königreich tatsäch- sagt der britische Historiker Robert Lacey
lich immer noch allein. Es gibt etliche Bei- (siehe Interview Seite 106). In dem neuen
spiele dafür, wie die pubertierenden Prinzen Buch, so wurde vorab bekannt, soll Harry die
schnell wieder »fair game« wurden. Freiwild. Behauptung aufstellen, William und Kate
Aber fair war das Spiel nie. Ein legendärer hätten ihm sogar zugeraten, das Nazikostüm
britischer Scoop-Jäger drückte es einst so aus: zu tragen.
»Wir sind die Hunde, sie sind die Füchse.«
Harrys Autobiografie zielt mit ihrem Titel di-
Im Januar 2005 besuchte Harry eine Privat- rekt auf die Rollenverteilung zwischen ihm
party in West Littleton in der Grafschaft Wilt- und seinem Bruder. »Spare« ist im Königs-
shire im Südwesten Englands. Er trug ein haus die traditionelle Bezeichnung für den
Kostüm, das den Uniformen des Afrikakorps Thronfolge-Ersatz. Der Thronfolger selbst
des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel wird »Heir« genannt.
nachempfunden war, um einen Arm eine Ha- In der langen Geschichte der englischen
kenkreuzbinde. Diesmal stürzten sich nicht Monarchie waren »Spares« nicht immer nur
nur die Boulevardzeitungen auf ihn, die Em- Ersatz. Viele Zweit- oder Drittgeborene
pörung erreichte auch die Politik. schafften es durchaus auf den Thron, weil ihre
In der Netflix-Serie sagt Harry heute, die älteren Geschwister von Krankheiten, Seu-
Kostümierung sei der größte Fehler seines chen oder Intrigen dahingerafft wurden. Da-
Lebens gewesen. Sein heutiges Engagement runter Richard I., besser bekannt als Richard
gegen Rassismus hänge für ihn mit den Er- Löwenherz. Bisweilen halfen die Jüngeren
Tom Hevezi / AP / picture alliance
Damir Sagolj / REUTERS
kenntnissen zusammen, die er damals gewon- auch dabei, die lästige innerfamiliäre Kon-
nen habe – und auch mit vielen Afrikaauf- kurrenz aus dem Weg zu schaffen.
enthalten. Im Jahr 2006 gründete Harry zu- Der bislang letzte »Spare«, der es auf
sammen mit Prinz Seeiso von Lesotho eine den britischen Thron schaffte, war George
Wohltätigkeitsstiftung, die sich um HIV-infi- VI., der Vater der späteren Queen Elizabeth
zierte Kinder kümmert. Schon Diana hatte II. Georges älterer Bruder Edward hatte 1936
sich für Aidswaisen engagiert. der Liebe zu einer geschiedenen Amerikane-
In seinen ersten Lebensjahrzehnten schien rin wegen abgedankt (siehe Seite 104).
Harry immerhin einen Verbündeten zu haben, Schon zu Edwards Zeiten hatte sich die
einen Vertrauten, einen besten Freund: seinen Rolle des royalen Einwechselspielers funda-
Bruder. William, so sagte Harry einmal, sei mental gewandelt. Zum einen war das Ver-
»der eine Mensch auf dieser Welt, mit dem einigte Königreich da längst zur parlamenta-
ich über alles reden kann«. rischen Monarchie geworden, in der Königin-
Immer häufiger sprachen die beiden öf- nen und Könige nur mehr dekorative und
fentlich über seelische Belastungen und De- zeremonielle Zwecke erfüllten. Zum anderen
pressionen – was mutig war für Abkömm- hatten die Fortschritte in der Medizin den
linge des Hauses Windsor, dessen heimlicher frühen Tod von Monarchen eher unwahr-
Wappenspruch ja bis heute lautet: »Never scheinlich gemacht. Wer »Spare« war, blieb
complain, never explain«, sich niemals zu »Spare«. Das schaffte Raum für neue Prinzen-
beklagen oder zu erklären. und Prinzessinnenrollen, für die der Rebellin
Und doch zirkelten Krone und Öffentlich- oder des Hofnarrs.
keit die beiden Brüder mit zweierlei Maß ab. Prinzessin Margaret, die Kette rauchen-
Die Tatsache etwa, dass William seinen als de, Wodka trinkende Countess of Snowdon
Nazi verkleideten Bruder zum Kostümball und jüngere Schwester von Königin Eliza-
begleitet hatte, war der Presse nicht weiter beth II., stürzte sich mit selbstzerstöreri-
der Rede wert. »Keiner fragte, was für eine scher Leidenschaft in ihr Leben als »Spare«.
Art Mentor William seinem Bruder eigentlich Nachdem ihr Krone und Kirche die Heirat
ist, wenn er ihm solche Fehltritte erlaubt«, mit einem geschiedenen Mann verwehrt
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 101
 TITEL
hatten, tröstete sie sich mit etlichen
Liebschaften.
Ob Harry als Erwachsener die Rolle des
Rebellen oder des Hofnarren einneh­
men oder sich fangen würde, war noch
nicht ausgemacht, als er um die 20 Jah­
re alt war. Nach dem Kostümskandal
sah es kurz so aus, als würde ihm der
Weg nach Sandhurst, an die Militär­
akademie, verwehrt werden, schließ­
lich absolvierte er vom Mai 2005 an
dort doch seine Offiziersausbildung. Im
April 2006 wurde er in Anwesenheit
seiner Großmutter vereidigt.
Ein Jahr später sollte er mit seinem
Regiment im Irak eingesetzt werden.
Seine Vorgesetzten befürchteten aller­
dings, dass dies sowohl für ihn als
auch für seine Kameraden zu gefähr­
lich sei. Harry wird es kaum als Privi­
leg empfunden haben, vom Einsatz
verschont worden zu sein. Er habe
gern gedient, in der Armee sei seine
»Bubble innerhalb der Bubble« zer­
platzt, sagt er in der Netflix­Serie –
mit anderen Worten: Er war einer
Kunstwelt entflohen und genoss es.
Im Dezember 2007 wurde Harry
in den Süden Afghanistans geschickt
und nahm dort mit anderen Soldaten
dann doch an Kampfeinsätzen teil.
Bis er nach zehn Wochen am 29. Fe­
bruar 2008 wegen Sicherheitsbeden­
ken abgezogen wurde.
Im Juni 2015 schied Harry nach
mehr als zehn Jahren aus der Armee.
Ihm blieb seine Aufgabe als Stellver­
treter der Königin bei öffentlichen
Terminen. Dabei wechselte er sich
mit seinem Bruder ab. Der hatte in­
zwischen seine langjährige Freundin
Catherine, genannt Kate, geheiratet.
Harry, William und Kate traten oft zu
dritt auf. Aber je mehr Kinder Wil­
liam und Kate bekamen – drei sind
es bisher –, die in der Thronfolge alle­
samt vor Harry stehen, desto offen­
sichtlicher wurden die unterschied­
1 2
Jeff J Mitchell / Getty Images
102 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
lichen Bedeutungen und Aufgaben, Harry und Meghan galten in Eli­
die das höfische Drehbuch für die Unbeliebte zabeths Familienimperium als Wette
beiden Brüder vorgesehen hatte. Aussteiger auf die Zukunft: cool, nahbar, sexy.
Das gute Verhältnis des Dreierge­ Sie durften nicht nur, sie sollten auch
spanns war wohl recht bald am Ende, Umfrage in Groß- anders sein als der pflichtbewusste
nachdem Harry 2016 Meghan getroffen britannien: »Wie ist Rest. Dass Meghan älter ist als Harry,
Ihre Meinung von fol-
hat. Die Differenzen eskalierten. In sei­ genden Personen?«, geschieden noch dazu, Feministin
nem Buch, so hat der britische »Guar­ Angaben in Prozent und Tochter einer alleinerziehenden
dian« vorab berichtet, beschreibt Harry Schwarzen, stellte zwar einen erheb­
einen körperlichen Angriff seines Bru­ negativ positiv lichen Bruch mit höfischen Traditio­
ders im Jahr 2019, der einer lautstarken Herzogin Meghan nen dar, aber das konnte nur ein Vor­
Auseinandersetzung über Meghan folg­ teil sein. Auch im Palast war nieman­
64 25
te. William habe diese »schwierig« ge­ dem entgangen, dass in der modernen
nannt, sie sei »rüde« und »schroff«. Im Prinz Harry Welt gerade ein neuer Geist Einzug
Streit habe William seinen Bruder dann 59 33 hielt, einer, der früher oder später
am Kragen gepackt und zu Boden ge­ gleichermaßen über Sexisten, Rassis­
worfen. Er, Harry, habe sichtbare Ver­ Königin Camilla ten und Denkmäler von Sklaven­
letzungen davongetragen. Danach habe 38 50 händlern hinwegfegen würde.
sich sein Bruder entschuldigt. Und dann Für eine anachronistische Institu­
König Charles III.
noch gesagt: »Davon musst du Meg tion, die für ihr Überleben auf den
nichts erzählen.« 28 63 Zuspruch der Masse angewiesen ist,
Prinzessin Catherine waren H & M, wie sie sich selbst nen­
Meghan war ein Kind Hollywoods. Ihr nen, ein gewaltiges Versprechen. In
15 72
Vater war dort Beleuchter bei Dreh­ der Euphorie übersahen manche,
arbeiten, sie hatte ihn häufig an die Prinz William dass Harry nicht mehr bereit war, sich
Filmsets begleitet, in ihrem Podcast 15 77 dem Königshaus zu dem seelischen
»Archetypes« erklärt sie immer wie­ Preis zur Verfügung zu stellen, den er
der, wie sie von den Filmen Holly­ S Quelle: YouGov-Umfrage zu lange schon gezahlt hatte.
◆
woods und überhaupt von der Pop­ vom 7. bis 8. Dez. 2022; 1677
Befragte; an 100 fehlende
Warnungen gab es früh. Im No­
kultur geprägt worden sei. Und sie Prozent: »weiß nicht« vember 2016, eine Woche nachdem
wollte selbst ein öffentliches Leben die Nachricht über Harrys Neue an
führen. In der Netflix­Serie kommt die Öffentlichkeit gesickert war, ver­
ein Brief vor, den sie als Elfjährige öffentlichte Kensington Palace im
geschrieben hat und aus dem hervor­ Namen des Prinzen eine Stellungnah­
geht, dass sie damit rechnete, einmal me, die es so noch nicht gegeben hat­
berühmt zu werden. Sie habe sich, so te. Seine Freundin Meghan sei Opfer
erzählt ihre Mutter, nach Schule und einer »Welle von Missbrauch und
Studium durch unzählige Ablehnun­ Medienstars Schikane«, zürnte Harry. Und bat
gen bei Castings gekämpft, bis sie H&M inständig darum, wenigstens ein
eine Rolle in der Anwaltsserie »Suits« Mindestmaß an Anstand zu wahren.
bekam. Neben den Dreharbeiten be­ 1 | Herzogin Meghan Wenn man den »Royal Correspon­
trieb sie ein Blog. mit Königin Elizabeth dents«, die sich alle seriösen Blätter
II. im Juni 2018
Für Krone und professionelle Kö­ 2 | Beim Bad in
in Großbritannien halten und die mit
nigshausbeschauer war die Liaison der Menge Vorliebe anonyme »Palastquellen«
des Rebellenprinzen mit der Schau­ im Oktober 2018 zitieren, Glauben schenken darf, wur­
spielerin zunächst ein Glücksfall, bot 3 | Präsentation de Harrys Blick auf die Medien im­
des Sohnes Archie
sie doch die Gelegenheit, den nicht im Mai 2019
mer obsessiver. Das mag daran ge­
mehr ganz jungen »Spare« noch einmal 4 | Bei Liebespose in legen haben, dass sich unter das üb­
in ein völlig neues Licht zu rücken. Netflix-Doku 2022 liche Getratsche in Meghans Fall noch
Daniel Leal-Olivas / REUTERS
 TITEL

ganz andere Töne mischten. Die britische Meghan spekuliert. Der Palast ließ wissen, klettern, lauern ihnen schon die Reporter auf,
Kolumnistin Rachel Johnson – Schwester von dass man sich privat damit beschäftigen wer- um ihnen den üblichen Unsinn zuzuschreien:
Ex-Premierminister Boris Johnson – fabulier- de, es jedoch »unterschiedliche Erinnerungen« »Stellst du Geld vor die Familie, Harry?«
te allen Ernstes vom »wässrigen Blut« der geben mag. Eine schmallippige und formvoll- Meghan und Harry lächeln starr, halten sich
Windsors, das durch Meghans »exotische endet britische Umgehung des Wortes Lüge. fest an der Hand und lassen einander nicht
DNA« hoffentlich angedickt werde. Glaubt man Meghan, Tochter einer schwar- los, bis sie in einem Seiteneingang des Luxus-
Der Duke und die Duchess of Sussex, wie zen Mutter und eines weißen Vaters, war Ras- hotels verschwinden.
sie nach ihrer Hochzeit im Mai 2018 hießen, sismus für sie früher kein Problem. »Ich bin Drinnen posieren sie, weiter Händchen
begannen sich zu wehren. Immer häufiger halb schwarz und halb weiß«, schrieb sie 2015, haltend, und drehen dann auf der Bühne, end-
weigerten sie sich, das Spiel mitzuspielen, ver- bevor sie Harry kennenlernte. Ihre Mutter lich vor sicherem, wohlgesinntem Publikum,
suchten etwa, die Pateneltern ihres Sohnes Doria Ragland, die oft für ihre Nanny gehal- ihren Charme auf. Sie kämen wegen ihrer
Archie geheim zu halten. Später überzogen ten worden sei, sei mit dem »N-Wort« be- kleinen Kinder ja nicht oft unter Leute, wit-
sie Boulevardblätter mit Klagen. Die verstan- schimpft worden, ihr Großvater habe Rassis- zelt Harry. Meghan strahlt ihn an: »Danke,
den das als Kriegserklärung. Von da an fir- mus im amerikanischen Süden erlebt; ihr dass du mich zu diesem ganz besonderen
mierte Meghan vorzugsweise als Zicke, ver- selbst dagegen stieß das wegen ihrer helleren Date gebracht hast.«
wöhntes Gör und »Red Princess«, die die Hautfarbe angeblich nie zu. Meghan wuchs Die anderen Gäste lachen angetan. Zu den
Angestellten am Hof terrorisiere. in einem ethnisch gemischten Viertel von Los Preisträgern des Abends zählt der ukrainische
Folgt man Harry, dann wurden er und Angeles auf, lebte allerdings ein weitgehend Präsident Wolodymyr Selenskyj, man ist in
Meghan in diesem Kampf von der Krone im »weißes Leben«, ungestört von rassistischen guter Gesellschaft – auch um die private
Stich gelassen. »Die Medien wussten, dass Anfeindungen. Odyssee zum globalen Freiheitskampf zu
der Palast sie (Meghan) nicht beschützen wür- überhöhen. Meghan redet über ihre einstigen
de. Und wenn es erst einmal so weit ist, dann Depressionen und ihre Suizidgedanken und
öffnen sich die Fluttore«, sagt er bei Netflix. rühmt sich für ihre Offenheit als »Beispiel der
Kaum verbrämt bezichtigt er sogar »gewisse William und Kate Resilienz«. Harry nennt den Preis »einen An-
Mitglieder« seines Clans der unterlassenen führen angesichts der fang für uns, auf vielerlei Weise«: Ihr Einsatz
Hilfeleistung. Auf sein Flehen hin sei ihm be- Vorwürfe einen gegen Unrecht und Leid schicke »eine kleine
schieden worden: »Meine Frau musste auch Welle der Hoffnung« in die Welt.
durch all das durch, warum sollte deine Freun- Königshaus-Klassiker
din anders behandelt werden?« Gewisse Mit- auf: »stoisch bleiben«. Bei Karl Marx findet sich der berühmte Satz,
glieder? Gemeint sein können damit nur Wil- dass sich alle historischen Ereignisse zweimal
liam und Charles, die beide pflichtbewusst ereigneten: das eine Mal als Tragödie, das
schweigen. Niemand habe begriffen, so Har- andere Mal als Farce. Die Tragödie, das ist
ry, dass der Unterschied in diesem Fall »der In der Netflix-Doku behauptet Meghan, klar, fand ihren bitteren Höhepunkt im Au-
Rassismusfaktor« sei. offenen Rassismus habe sie selbst erstmals gust 1997, als Diana und Dodi in einem Pari-
wahrgenommen, als sie und Harry sich ver- ser Tunnel tödlich verunglückten.
Anfang 2020 verließen Harry und Meghan das lobt hätten. »Jetzt sind sich die Leute meiner Ist das, was Harry und Meghan heute er-
Königreich. Von William ist dazu vor allem Herkunft sehr bewusst, denn man machte es leben, ein später Epilog dieser Tragödie? Der
dieser nicht gesicherte Satz überliefert: »Mein zu so einem Thema, als ich nach Großbritan- Sohn der Gehetzten und sein verzweifelter
Leben lang habe ich den Arm um meinen nien ging«, sagt sie. »Aber vorher wurde ich Kampf um ein eigenes, selbstbestimmtes Le-
Bruder gelegt, das kann ich jetzt nicht mehr nicht wie eine schwarze Frau behandelt.« ben? Oder trägt das, was Harry und Meghan
tun.« Viel mehr weiß man nicht vom Thron- da inszenieren, bei Oprah Winfrey, auf Netflix,
folger und dessen Umgang mit dem verlore- Wenn Harry und Meghan öffentlich auftreten, im Buch »Spare«, auch Züge einer Farce? Zwei
nen Bruder. dann klammern sie sich oft aneinander wie Menschen, die sich über die mediale Maschi-
2021 bezichtigten Harry und Meghan in Kinder im dunklen Keller. Im Dezember rei- ne beschweren, die sie selbst in Gang halten?
einem Interview mit Oprah Winfrey die sen sie nach New York, um einen Menschen- In der Netflix-Dokumentation kommt ihr
Königsfamilie erstmals direkt des Rassismus. rechtspreis entgegenzunehmen – für, ausge- ehemaliger Palastsprecher James Holt darauf
Ein Mitglied der Kernfamilie, behaupteten rechnet, ihren »unerschütterlichen Einsatz« zu sprechen, dass der Umstand, angeblich
sie vor einem Millionenpublikum, habe über gegen den Rassismus. Als sie dazu im strö- von Gott erwählt zu sein oder schlicht bluts-
die Hautfarbe des Kindes der schwangeren menden Regen in Manhattan aus dem SUV verwandt zu sein mit den vorigen Generatio-

Cour tesy of Prince Harr y and Meghan, The Duke and Duchess of Sussex
3 4
Dominic Lipinski / REUTERS

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 103

TITEL
GESCHICHTE
ROYALE
EXITEERS
Vor mehr als 80 Jahren dankte Edward als König von England
ab – aus Liebe zu der geschiedenen Amerikanerin
Wallis Simpson. Die Parallelen zu Harry und Meghan sind eklatant.
Die traurigen Augen müssen in der Familie
liegen. Zumindest diagnostizierte das Hugo
Vickers, Autor diverser königsfamiliärer
Biografien, als er die Mimik des frisch vom
aktiven Royalsleben zurückgetretenen Prinz
Harry studierte: Vickers erkannte darin
denselben trübsinnigen Blick, mit dem Har-
rys Urgroßonkel Edward VIII. seinerzeit
in seine thronlose Zukunft blickte. Edward
hatte am 10. Dezember 1936 als König des
Vereinigten Königreichs abgedankt, nach-
dem die britische Regierung und die Church
of England nicht mit der Wahl seiner künfti-
gen Ehefrau einverstanden waren – der be-
reits geschiedenen Wallis Simpson, damals
eine undenkbare Königsgemahlin.
Wenn man die gemeinsame Geschichte
der beiden abtrünnigen Royals abseits von
okularen Ähnlichkeiten romantisierend er-
zählen möchte, könnte man sagen: Harry
und Edward kehrten ihrer Familie und
ihren geburtsbedingt zugeschriebenen
Rollen den Rücken, weil die Liebe zu ihren
Frauen nicht mit den Regeln und Rigorosi-
täten des Königshauses vereinbar war. Na-
türlich war Edwards Abgang ungleich dra-
matischer, weil er als erstgeborener Sohn
von George V. nach dessen Tod tatsächlich
auf die Krone verzichtete, die für Harry
nur theoretisch und durch eine Verkettung
tragischer Todesfälle jemals in Reichweite
gekommen wäre. Gemeinsam ist beiden
die öffentliche Erzählung, die ihre persön-
liche Lebensentscheidung zu einem Kampf
stilisiert: Pflicht gegen Egoismus. Und
damit womöglich auch einen heimlichen
Bedarf nach abweichlerischen Rebellroyals
stillt, um die planmäßig Pflichterfüllenden
umso mehr und letztlich institutionsstabili-
sierend strahlen zu lassen.
Abgesehen vom Abstrakten gibt es eine
ganze Reihe formaler Ähnlichkeiten zwi-
schen den beiden royalen Exits. Edward
und Harry wurden danach beide öffentlich
als »Verräter« beschimpft – der eine frei-
lich, weil er mit den Nazis sympathisiert
hatte; der andere, weil er in einer Netflix-
Produktion getratscht hatte, sein Bruder
habe ihn bei einem Familienrat angebrüllt.
Beide hatten zu Beginn ihrer Beziehung
mit ihren jeweiligen Partnerinnen die
heimische Presse zur Zurückhaltung aufge-
fordert, beide Frauen beklagten später, die
Zeitungen wollten sie »zerstören« – und
bei beiden Paaren gab es öffentliche Stim-
104 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
1
Yousuf Karsh / Camera Press / ddp
men, die dem weiblichen Part fast dämo-
nisierend die Schuld am royalen Abgang
gaben. Wobei Meghan, anders als Wallis,
vom Königshaus zunächst mit plakativer
Freundlichkeit aufgenommen wurde.
Wallis Simpson und Meghan Markle, bei- 2
de geschiedene Amerikanerinnen, waren
34 Jahre alt, als sie ihren jeweiligen Prinzen
kennenlernten, beide wurden durch ihre
Beziehung global prominent. Edward und
Harry waren als Prinzen beide durchaus
beliebt: Die »New York Times« beschrieb
ersteren in seinen jungen Jahren als »ro-
mantic and carefree Prince Charming bles-
sed with the common touch«, Harry galt
nach seiner Hochzeit einer Umfrage zufolge
Agence / Bestimage
als populärster Royal und zog damit zumin-
dest kurzzeitig sogar an der Queen vorbei.
Wie Edward könnte 3
auch Harry in
Graphic Photo London / Scanpix Denmark / picture alliance
Vergessenheit geraten.
Harry und Edward teilten das Image
feierfroher Partyprinzen, während ihre
Brüder Albert, der spätere König George VI.,
und William als gedämpftere »family men«
angesehen wurden (und vergleichsweise
früh mit 27 beziehungsweise 28 Jahren
heirateten). Beide Exiteers lernten ihre
Freundinnen über gemeinsame Bekannte
kennen – Thelma Furness, die zu dem
Dinner eingeladen hatte, bei dem Edward
4
Simpson zum ersten Mal traf, ist in einer
schmonzettenwürdigen Wendung tatsäch-
lich die Großtante des CBS-Moderators
Anderson Cooper, der nun eines der In-
John Rainford / Cover Images / picture alliance
terviews mit Prinz Harry zu dessen Buch
»Reserve« führte.
Auf einer psychologischen Ebene könn-
te man über weitere Gemeinsamkeiten der
zwei Paare spekulieren. Edward, so einer
seiner Biografen, habe mit seinen Freun-
dinnen gern in Babysprache korrespondiert
und sei auf der Suche nach einer Mutter-
figur gewesen, die Wallis ausfüllte. Harry,
so scheint es nach den zahlreichen Diana-
Verweisen in seiner Netflix-Doku, leidet 1 | Herzogin Wallis 1971
womöglich an einem Trauma, weil er so 2 | Herzogin Meghan 2022 3 | Prinz Edward
früh seine Mutter verlor, und projiziert viel um 1930 4 | Prinz Harry 2019

von Diana auf Meghan, die er stellvertre­
tend für sie retten will.
Betrachtet man den Abschied der
abgedankten Royals, ähneln sich die Sze­
nen in ihrer plakativen Unabhängigkeit:
Meghan und Wallis hatten Großbri­
tannien jeweils schon vorher verlassen,
Harry flog später allein nach Kanada,
während Edward an Bord des Kriegs­
schiffs mit dem dramatischen Namen
HMS »Fury« davonschipperte. Beide ka­
men zunächst bei wohlhabenden Freun­
den unter: Eugen von Rothschild be­
herbergte Edward in Schloß Enzesfeld
bei Wien, Meghan kontaktierte den
Produzenten Tyler Perry, der ihr und
Harry sein Anwesen in Beverly Hills zur
Verfügung stellte.
Ein großer Unterschied zwischen den
beiden royalen Abschieden ist wohl, dass
Edward auf eine Rückkehr hoffte – für
ihn gebe es, schreibt er in einem Brief,
kein anderes Land, »in dem es sich zu le­
ben lohnt«. Dass ihm ein Comeback nicht
möglich war, liegt in einem noch größeren
Unterschied begründet: Harry trug seine
Nazi­Uniform nur auf einer Kostümparty,
Edward dagegen reiste nach seiner Ab­
dankung mit Wallis nach Deutschland
und traf 1937 Hitler persönlich auf dem
Obersalzberg. Historiker vermuten, dass
Hitler ihn nach einem deutschen Kriegs­
gewinn gern als Marionettenherrscher
in Großbritannien reinstalliert hätte.
Edward­Biograf Andrew Lownie vertritt
die Theorie, die britische Regierung habe
ihn – völlig unabhängig von seiner Be­
ziehung zu Wallis Simpson – loswerden
wollen, weil sie seine Sympathien für die
Nazis skeptisch beäugt hätten. Die nicht
königsgemäße Liaison sei dann nur
ein willkommener Vorwand gewesen, ihn
vom Thron zu schubsen.
Royalexperte Nick Bullen spekulierte
bereits darüber, ob Harrys Zukunft einen
ähnlichen Verlauf nehmen könnte wie
die späteren Jahre seines Urgroßonkels.
Wie Edward könnte auch er in Verges­
senheit geraten. Für den abgedankten
König und seine Frau habe es irgend­
wann nur noch dafür gereicht, als »leicht
linkische Gäste« zu Dinnerpartys in New
York eingeladen zu werden.
Eine finale, finanzgetriebene Parallele
zwischen Edward und Wallis und Harry
und Meghan steht womöglich in Bälde
noch bevor: Wie Edward, der 1951 seine
Biografie »A King’s Story« veröffent­
lichte, schrieb auch Wallis einige Jahre
später ihre Memoiren. Wenn Harry und
Meghan ihren Buchvertrag erfüllen wol­
len, der offenbar vier Veröffentlichungen
vorsieht, steht der Welt nach »Reserve«
eventuell noch eine Kurzherzoginnen­
historie ins Haus.
Anja Rützel n sington Palace«, der Londoner »Times«.
nen auf dem Thron, heute als Rechtfertigung
für die Royals nicht mehr ausreiche. »Damit
die Institution überlebt, muss sie sich moder­
nisieren«, sagt Holt, »sie benötigt aber auch
die Unterstützung des Volkes.«
Eine Herrschaft by public demand? Klingt
eher nach Demokratie als nach Monarchie.
Und doch könnte Holts Satz genau die Aus­
sage sein, die Harrys Strategie offenlegt. Sei­
ne mediale Offensive ist ein Angriff auf seinen
Bruder, den kommenden König William. Als
ginge es um einen Unterhaus­Wahlkampf, um
die Gunst des Volkes, inszenieren Harry und
Meghan sich als zeitgemäßer, progressiv wir­
kender Gegenentwurf zum Königshaus.
Doch wenn eine Anklage überzeugen
soll, dann muss sie sitzen. Das tut Harry und
Meghans Anklage nicht. Sosehr sie unter der
königlichen Familie gelitten haben mögen, so
sehr profitieren sie bis heute von ihr.
Manchmal lassen sie sogar Zweifel an ihrer
Glaubwürdigkeit aufkommen. Beim Inter­
view mit Oprah Winfrey hatte Meghan etwa
behauptet, sie seien schon drei Tage vor der
Hochzeit in einer Geheimaktion vom Erz­
bischof getraut worden – der sah das laut Me­
dienberichten anders. Andere Aussagen wir­
ken ähnlich wenig glaubhaft: Der Palast habe
unterbunden, so legt Meghan in der Netflix­
Serie nahe, dass sie psychische Hilfe bekom­
me, damit kein schlechter öffentlicher Ein­
druck entstehe. Aber eine Behandlung hätte
ja nicht öffentlich werden müssen. Und wäre
sie doch publik geworden, hätte dies nur be­
stätigt, was man von Harry sowieso weiß:
dass er es für richtig hält, sich Hilfe zu holen.
Obwohl sie sich über Verletzungen beklagen,
teilen sie selbst reichlich aus. Wenn Harry in
der Netflix­Serie sagt, »die Männer« in seiner
Familie hätten sich mit »dem Kopf« für ihre
Ehe entschieden und nicht mit »dem Herzen«,
dann ist das ein Seitenhieb gegen Kate, die, das
bedeutet diese Aussage ja, anders als Meghan,
nicht aus Liebe geheiratet worden sei.
So machen es H & M ihren Gegnern leicht,
ihnen bei ihren zentralen und berechtigten
Anliegen nicht folgen zu wollen. Sie vertun
die Chance, die sie durchaus hatten, etwas zu
verändern. Ihrem Anspruch, die besseren
Royals zu sein, werden sie nicht gerecht. Die
Beliebtheitswerte in Harrys Heimatland zei­
gen es: Das hollywoodeske Rührstück der ver­
gangenen Wochen kam bei den Briten nicht
gut an. Mehr als drei Viertel von ihnen (77 Pro­
zent) bewerten einer aktuellen Umfrage zu­
folge William positiv, bei Kate sind es 72 Pro­
zent. Harry und Meghan kommen ebenfalls
auf deutliche Mehrheiten von 59 und 64 Pro­
zent – allerdings bei der Bewertung »negativ«.
Eine deutliche Mehrheit der Befragten findet
es gar an der Zeit, dem aufmüpfigen Duke of
Sussex ebenjenen royalen Titel zu entziehen.
Es scheint, als zahle sich die Strategie des
Königspalastes aus, die Attacken mit keiner­
lei Reaktion zu würdigen. Überraschend sei
das nicht, sagte Tom Quinn, Autor von »Ken­
Während Harry und Meghan offenkundig
TITEL
»verlorene Seelen« seien, hätten William und
Kate einen Königshaus­»Klassiker« aufge­
führt: »stoisch bleiben«.
Gut möglich also, dass dem mit Zweifel in
seine Regentschaft gestarteten Charles III. gar
nichts Besseres passieren konnte als die At­
tacken des verlorenen Sohnes. Lenken sie
doch davon ab, dass Charles sehr schnell aus
dem Schatten seiner bis zur Selbstaufgabe
unparteiischen Mutter getreten ist. Etwa im
November, als er kurz vor der Uno­Klima­
konferenz in Ägypten seinen eigenen kleinen
Klimagipfel mit Experten aus aller Welt ab­
hielt. Oder an Weihnachten, als er sich in sei­
ner ersten Ansprache ans Volk unverhohlen
mit vielen Streikenden im Land solidarisierte.
Beides politische Nadelstiche, die sich Eliza­
beth II. so gut wie nie erlaubte. Die Aufregung
darüber hielt sich in Grenzen – wohl auch
deshalb, weil das H­&­M­Drama die Auf­
merksamkeit zahlloser Zuschauer fesselte.
In Anlehnung an Winston Churchill, der
nach Siegen »Großmut« empfahl, scheint sich
der König demnächst sogar auf seine Weise
erkenntlich zeigen zu wollen: Zu seiner Krö­
nungsfeier im Mai, verlautete zuletzt aus dem
Palast, seien selbstverständlich auch Harry
und Meghan eingeladen. Zu Besuch im gol­
denen Käfig, dem sie entkommen wollten.
Montecito, der Ort, in dem sie heute wohnen,
ist ein Anhängsel des Küstenorts Santa Bar­
bara und nennt sich »die amerikanische Ri­
viera«. Wer am schattigen Springbrunnen vor
dem Pierre Lafond Market & Deli sitzt, einem
Delikatessengeschäft und Café, bekommt Por­
sches, summende Teslas und konservativ ge­
kleidete Seniorinnen und Senioren zu sehen,
aber selten Minderheiten, abgesehen von ein
paar Latino­Gärtnern. Die knapp 9000 Ein­
wohner sind zu 86 Prozent weiß.
Oprah Winfrey, Ariana Grande, Ellen De­
Generes, Jennifer Aniston, Jeff Bridges,
Adam Levine, Natalie Portman, Gwyneth
Paltrow, auch eine der Kardashians: Monte­
cito, so heißt es, hat die dichteste Konzentra­
tion an Stars außerhalb von Hollywood.
Oprah Winfreys Anwesen soll 100 Millionen
Dollar wert sein, die Moderatorin Ellen De­
Generes und ihre Ehefrau Portia de Rossi
kauften sich neulich für 70 Millionen Dollar
ein Besitztum auf den Klippen. Die Aufnah­
megebühr im Golfklub Valley Club of Mon­
tecito beträgt 275 000 Dollar.
Patrick Braid, der Besitzer des Gourmet­
shops Cheese & Wine, ließ den Sussexes zum
ersten Weihnachtsfest in Montecito einen
üppigen Präsentkorb zukommen. Kurz darauf
traf eine handgeschriebene Karte mit dem
goldenen Monogramm »M« bei ihm ein: »Wir
wissen den sehr warmen Empfang zu schät­
zen, Meghan & Familie«. Braid scrollt durch
sein Smartphone, um ein Foto davon zu zei­
gen. »Alle sind so glücklich, dass sie hier
sind.«
Hier, in ihrem neuen goldenen Käfig.
Susanne Beyer, Sebastian Hammelehle,
Marc Pitzke, Jörg Schindler n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 105
TITEL
»DIE QUEEN WAR
TEIL DES PROBLEMS«
MONARCHIE Die Krone habe schon Schlimmeres überstanden als
Harry und Meghan, sagt der britische Historiker und »The Crown«-Berater
Robert Lacey. Hier spricht er über die Familienfehde und die
Frage, wie rassistisch die Mitglieder des Hauses Windsor wirklich sind.
SPIEGEL: Mr Lacey, der Fünfte in der
britischen Thronfolge attackiert pau-
senlos die Krone. Wie gefährlich ist
das für König Charles III.?
Lacey: Die wenigsten Briten scheinen
es als bedrohlich wahrzunehmen. Die
meisten zucken mit der Schulter
angesichts eines Harry, der Stunden
um Stunden in der Öffentlichkeit
verbringt, um zu sagen, dass er ein
Privatleben haben will. Ältere wie ich
erinnern sich daran, dass es in der
Königsfamilie schon dramatischere
Zerwürfnisse gab, etwa 1936, als ein
richtiger König, Edward VIII., ab-
dankte. Er und seine amerikanische
Frau lebten im Exil mit ein bisschen
weniger Publicity als unsere aktuellen
Exilanten. Und die britische Monar-
chie florierte in ihrer Abwesenheit.
SPIEGEL: Trotzdem: Die Missbrauchs-
vorwürfe gegen Charles’ Bruder An-
drew, der Tod von Elizabeth II., jetzt
das Trommelfeuer ihres Enkelsohns
in einer Zeit politischer Instabilität –
da kommt allerhand zusammen.
Lacey: Noch mal, in der tausendjäh-
rigen Geschichte der britischen Mo-
narchie gab es schon Schlimmeres.
Einmal wurde ein König enthauptet,
und wir lebten danach in einer Repu-
blik. Aber nur elf Jahre lang. Es ist
wichtig festzuhalten, dass die Mon-
archie eine Institution ist. Man kann
sie leicht als Familie personalisieren,
das macht ihren Reiz aus. Aber letzt-
lich ist sie Teil der ungeschriebenen
britischen Verfassung und nicht so
leicht zu zerstören.
SPIEGEL: Bislang scheute Harry stets
davor zurück, jene Person anzugrei-
fen, die dieser Institution 70 Jahre
lang vorstand.
Lacey: Es war immer leichter für Har-
ry, den Palast und nicht die Queen zu
attackieren, sie ist eine fast heilige
Gestalt. Aber in gewisser Hinsicht
war Elizabeth Teil des Problems, weil
sie konfliktscheu war. Schon im Fall
106 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Charles und Diana wollte sie sich
nicht persönlich einmischen. Und sie
schreckte auch davor zurück, Harry
zu verärgern, als es um seine und
Meghans Pläne ging, kürzerzutreten
und mit Sussex Royal eine quasiroya-
le Marke zu lancieren. Es war die
Queen, die entschied: »Du bist ent-
weder drinnen oder draußen.« Aber
das hat sie Harry lieber über ihren
Privatsekretär ausrichten lassen.
SPIEGEL: Diana hat mal gesagt: »Erst
wenn Harry erwachsen ist, wird er
feststellen, was für ein Glück er hat,
nicht der ältere Bruder zu sein.« Hat-
te sie recht?
Lacey: Ich glaube nicht. Die simple
Tatsache, dass Harry sein Buch
»Spare« (deutscher Titel: »Reserve«
– Red.) nennt, zeigt schon, dass er
seine Rolle als Jüngerer beklagt. Das
Problem ist in der modernen reprä-
sentativen Monarchie auch nicht neu.
Früher konnten Spares darauf hoffen,
einmal König zu werden, das ist heu-
te unwahrscheinlich.
SPIEGEL: Die Ersatzleute genießen
dafür größere Freiheiten.
Lacey: Tun sie das? Prinzessin Mar-
garet wurde ihr zweitrangiger Status
klargemacht, als ihre Schwester ihr
die Hochzeit mit der Liebe ihres Le-
bens untersagte. Prinz Andrew war
immer eine unglückliche Figur. Harry
schien mit seiner Rolle als zweite Gei-
ge zufrieden zu sein – bis er heiratete.
SPIEGEL: Aber der Graben zwischen
Harry und William tat sich schon frü-
her auf: als der Jüngere, wie Sie
schreiben, seine Rolle als »Sünden-
bock« erkannte. Was genau meinen
Sie damit?
Lacey: Nehmen Sie die Episode von
2005, als Harry in Naziuniform auf
einem Kostümball erschien. Niemand
nahm damals Anstoß daran, dass Wil-
liam mit seinem Bruder zum Kostüm-
verleih ging, es offenbar lustig fand,
dass Harry eine Hakenkreuzbinde
trug und dass er ihn auf die Party be-
gleitete. Keiner fragte, was für eine
Art Mentor William seinem Bruder
eigentlich ist, wenn er ihm solche
Fehltritte erlaubt.
SPIEGEL: In seinem Buch soll Harry
sogar schreiben, William und Kate
hätten ihm zugeraten, das Kostüm zu
tragen.
Lacey: Was es, wenn es stimmt, noch
schlimmer machen würde. William
hat zweifellos darin versagt zu erken-
nen, wie gefährlich die Situation ist.
SPIEGEL: Williams Rolle in solchen
Fällen blieb stets unterbelichtet. Hat
Harry recht, wenn er sagt, dass der
Palast ihn und später Meghan nie
wirklich in Schutz genommen hat?
Lacey: Ganz bestimmt. Harry ist von
den Medien hart rangenommen wor-
den. Und grundsätzlich sind seine Vor-
würfe nachvollziehbar. Aber um das
besser zu verstehen, muss man sich
mit der Palastmaschinerie befassen.
Ken McKay / ITV / Shutterstock
SPIEGEL: Bitte schön.
Lacey: Das derzeitige System der
repräsentativen britischen Monarchie
wurde unter Königin Victoria im
19. Jahrhundert entwickelt, in einer
Zeit, als Europas Monarchien unter-
Lacey, 79, ist schiedliche Wege gingen – die einen
historischer Berater Richtung Autoritarismus, die anderen
der Netflix-Serie Richtung Irrelevanz. Die Höflinge
»The Crown« und spielten beim britischen Weg in ge-
Autor etlicher Bücher
über die britische wisser Hinsicht eine wichtigere Rolle
Monarchie. als die Königsfamilie. Wobei Höfling
ein irreführender Begriff ist. Wir reden
hier über eine Gruppe von ambitio-
nierten Staatsdienern, Top-Absolven-
ten aus Oxford und Cambridge, die
später Minister oder Botschafter wur-
den. Diese Leute entwarfen die reprä-
sentativen Rollen für die Königsfami-
lie so, dass sie optimal einer gut laufen-
den politischen Maschine dienten.
SPIEGEL: Und in diesem System wur-
den die Geschwister der Thronfolger
zu Blitzableitern?
Lacey: Sie verschwanden in den
untersten Schubladen, aus denen man
sie nur nach Todes- oder Unfällen wie
einer Abdankung hervorkramte. Öf-
fentlich wurden sie zu Hofnarren, die
die Menschen amüsierten. Aber wenn
sie bereit waren, im System mitzu-
spielen, konnten sie dennoch wichtige
Rollen einnehmen. In Prinz Charles’
Vision einer schlankeren Monarchie
»Im Palast bildeten er, William und Harry einen
weiß man dreibeinigen Stuhl. William sollte sich
schon lange, aufs Vereinigte Königreich konzent-
rieren, Harry auf das Common-
dass Williams wealth. Aber folgt man Harry, dann
hitziges Tem- zeigte William sich ihm gegenüber
perament ein weniger generös.
SPIEGEL: Dann betrat Meghan die
Problem ist.« Bühne. Ist sie Schurkin oder Opfer in
diesem Spiel?

Lacey: Sagen wir so: Wäre Harrys
Frau ein unbedarftes Mädchen aus
der englischen Provinz gewesen, viel-
leicht mit einem Titel, hätte sie es –
ähnlich wie Kate – nicht als Opfer-
gabe betrachtet, ihre Rolle zu spielen.
SPIEGEL: Verständlich, dass sie das
nicht wollte, wenn man bedenkt, dass
sie sich als Feministin betrachtet.
Lacey: Viele der Probleme ranken sich
um das Wort Hierarchie. Für Meghan
und heute auch für Harry ist sie
Anlass ihrer Klagen. Aber Hierarchie
gehört zum Kern der Monarchie. Es
gibt Leute, die sagen, Meghan sei
überrascht gewesen, dass sie mit der
Heirat nicht Prinzessin wurde, son-
dern nur Herzogin. Eine englische
Partnerin Harrys hätte verstanden,
dass für sie eine zweitklassige Rolle
vorgesehen war. Aber das passt nicht
zu Meghans Charakter, nicht zu ihrem
hollywoodesken, divenhaften Ver-
ständnis von Showbusiness. Royals
und Celebrities sind unterschiedlich,
jedenfalls in Großbritannien. Aber
Meghan kann oder will das nicht ver-
stehen.
SPIEGEL: Hinzu kommt in diesem Fall
allerdings, was Harry das »Rassismus-
Element« nennt. Britische Medien
geiferten über Meghans »exotische
DNA« oder ihre angebliche Herkunft
»straight outta Compton«.
Lacey: Das war niederträchtig. Aber
die meisten Presseberichte hatten
einen anderen Ton. Ein Großteil der
britischen Medien feierte die Tat-
sache, dass das multiethnische Land
und das überwiegend schwarze Com-
monwealth nun endlich auch in der
Königsfamilie besser repräsentiert
sein würde.
SPIEGEL: Aber auch in der Königs-
familie wittern Harry und Meghan
Rassismus. Zu Recht?
Lacey: Nein. Wenn irgendjemand
immer für Multikulturalismus ein-
stand, dann die Queen. Ich erinnere
mich daran, wie in den Fünfziger-
jahren bei einer Royal Variety Per-
formance der Musiker Count Basie
auftrat. Das war damals noch höchst
ungewöhnlich. Die Queen war dies-
bezüglich farbenblind. Es gibt ein
berühmtes Bild von ihr, wie sie mit
Ghanas Präsident Kwame Nkrumah
tanzt, das war 1961. Das Bild schock-
te Amerika.
SPIEGEL: Über ihre fragwürdige Rolle
bei Verbrechen der Kolonialzeit
schweigt sich die Königsfamilie je-
doch bis heute vornehm aus.
Lacey: Das stimmt, aber das Thema
wird im ganzen Land erst seit ein paar
Jahren ernster genommen. Historiker
werden irgendwann mal die Schaf-
fung des modernen Commonwealth
TITEL
als die zentrale Errungenschaft in der
Ära von Elizabeth II. bezeichnen.
Man kann das als Public Relations
abtun oder Empire 2.0 nennen. Aber
dann ist es das erste Empire der Ge-
schichte, in dem man freiwillig Mit-
glied werden kann.
SPIEGEL: William und Kate haben sich
und der Krone keinen Gefallen getan,
als sie letztes Jahr durch die Karibik
tourten und im offenen Wagen mit
TopFoto / INTERFOTO
strahlend weißer Uniform an schwar-
zen Untertanen vorbeidefilierten.
Lacey: Das war aber kein Ausdruck
von Rassismus, sondern Gedanken-
1947: Prinzessin Margaret mit Geliebtem Peter Townsend losigkeit seitens der Administration.
SPIEGEL: Glauben Sie, Harry und
Meghan nutzen den Rassismusvor-
wurf vorsätzlich, um dem Palast zu
schaden?
Lacey: Das tue ich, auch wenn es ein
heftiger Vorwurf ist. Und ich kritisie-
re den Palast dafür, dass er zu zaghaft
auf diese Anschuldigungen reagiert.
Sie glauben dort nicht, sich für irgend-
etwas schämen zu müssen, und legen
zu viel Wert auf ihre traditionelle
WHA / United Archives
Neutralität.
SPIEGEL: Schwer vorstellbar, dass
es so bleibt, nachdem Harry seinen
Bruder nun sogar beschuldigt, ihn
einmal auf dem Gelände des Kensing-
1961: Queen Elizabeth II. mit Ghanas Präsident Nkrumah ton-Palasts körperlich attackiert zu
haben.
Lacey: Das ist wirklich ein außerge-
wöhnlicher Vorwurf, mit dem Harry
gegen ein royales Tabu verstößt. Er
gibt dem Streit eine neue Dimension.
SPIEGEL: Ist er glaubwürdig?
Lacey: Es ist leider gut vorstellbar. Im
Palast weiß man schon lange, dass
Williams hitziges Temperament ein
Problem ist. Loyale Royalisten wer-
Chris Aller ton / PA Wire / dpa
den es als Beweis dafür betrachten,
dass William bis zum Äußersten geht,
um eine kostbare Institution zu be-
schützen. Für Antimonarchisten ist
es dagegen wertvolle Munition.
SPIEGEL: Also wird es doch langsam
2019: Gruppenbild mit Harrys und Meghans Sohn Archie gefährlich für Charles und die Seinen?
Lacey: Es wird künftig zumindest
nicht mehr so einfach sein, Charles
und seine Verwandtschaft als Modell-
familie zu inszenieren. Dabei war das
für die Entwicklung der modernen
britischen Monarchie und Demokra-
tie immer ein ganz entscheidender
Faktor. Das Ganze legt einen un-
erwarteten Schleier von Traurigkeit
über die Regentschaft von Charles III.
SPIEGEL: Versöhnung ausgeschlossen?
Lacey: Es sieht danach aus. Harry und
Meghan haben sich wohl endgültig
i–Images / IMAGO
als Langzeitkritiker des Königshauses
etabliert. Ich kann mir nicht vorstel-
len, dass sie bei Charles’ Krönung
dabei sein werden.
2022: Prinz William und Prinzessin Kate auf Jamaika Interview: Jörg Schindler n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 107
KU LT U R
Astronaut im Altpapier
LITERATUR Arno Geiger berichtet in seiner Autobiografie von einer kuriosen
Leidenschaft: Viele Jahre lang ist er regelmäßig kopfüber in
Papiermüllcontainer getaucht – auf der Suche nach poetischem Material.
as Leben der Schreibenden ist mögli-
D cherweise nicht ganz so glamourös, wie
es sich die Lesenden gern vorstellen.
Viele Literaturfans lieben beispielsweise das
berühmte Foto der Schriftstellerin Françoise
Sagan, das sie hinter dem Lenkrad eines Ca-
brio-Sportwagens auf einem Pariser Boule-
vard zeigt. Oder sie bewundern die Porträts
des Schriftstellers Tom Wolfe, auf denen er
als Geck im weißen Anzug in New York
herumspaziert. Andere freuen sich über Ju-
gend- und Altersbilder der Nobelpreisträgerin
Elfriede Jelinek, auf denen sie jeweils cool in
einer schicken Wohnung in derselben Sieb-
zigerjahre-Plexiglashalbkugel schaukelt.
Die Realität der Schreibarbeit ist in der
Regel allerdings »das Quälende«, wie Jelinek
es ausdrückt – und eher gekennzeichnet vom
uncoolen Einhacken auf eine Tastatur, von
zäher Frickelei an bereits Erdichtetem und
vom rastlosen Jagen und Sammeln nach An-
regungen und Stoffen.
Der Schriftsteller Arno Geiger hat diese
Jagd- und Sammelarbeit 25 Jahre lang auf
besondere Art betrieben. Er hat in Papier-
müllcontainern, Altkartonhaufen und Bü-
cherkisten gewühlt. Bekleidet mit einer alten
Jeans und einer zerrupften Jacke, ausgerüstet
mit Rucksack und Handschuhen, im Kostüm
eines »Räuberhauptmanns«, wie es einmal in
seinem neuen Buch heißt, ist er über Monate
und Jahre einmal in der Woche, meistens am
Montag, frühmorgens in Wien losgezogen.
Ans Werk ging er meist mit dem Kopf voran.
»Beuge ich mich normal über einen großen,
fünfhundert Liter fassenden Behälter für Alt-
papier und lange mit dem Arm nach unten,
bleibt von meinen Fingerspitzen bis zum Grund
ein Abstand von etwa dreißig Zentimetern«, so
Geiger. »Um die dort liegenden Dinge zu er-
reichen, muss ich hinuntertauchen.« Erbeutet
hat der Autor Bücher, Fotografien und wegge-
worfene Briefwechsel, außerdem Briefmarken-
sammlungen, alte Comics, Druckgrafiken und
Plakate. Manches davon hat er in Auktions-
häusern zu Geld gemacht. Einmal bescherte
ihm eine bemalte Postkarte, auf der ein bekann-
ter Wiener Künstler vor dem Ersten Weltkrieg
die Einladung für ein Kabarettlokal illustriert
hatte, sogar »ein halbes Jahresgehalt«.
Arno Geiger: »Das glückliche Geheimnis«. Hanser; 240
Seiten; 25 Euro.
108 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
So berichtet es Geiger, 54, in dem Buch
»Das glückliche Geheimnis«. Es ist die Auto-
biografie des 2005 mit dem allerersten Deut-
schen Buchpreis gekrönten Schriftstellers.
Von der Kritik wird er seit dieser Auszeich-
nung oft gelobt, von zahlreichen Leserinnen
und Lesern verehrt. Viele Jahre lang, so er-
fährt man nun, war Geiger in einigermaßen
heimlicher Mission und nahezu vermummt
unterwegs auf einem, wie er schreibt, »Ter-
rain, das gekennzeichnet ist von Schmutz und
fehlender Schicklichkeit«.
Vor seiner in Vorarlberg beheimateten und
brav-bürgerlichen Familie, vor Kollegen und
Freunden hat sich der Autor, wie es scheint,
stets für die Müllsammelei geschämt. Nur
einige Lebensgefährtinnen wussten Bescheid.
Seine Schreibkunst allerdings hat vom
Wühlen im Abfall offenbar profitiert. Für sei-
nen Generationenroman »Es geht uns gut«,
der ihm den Buchpreis einbrachte, habe er
»Aspekte aus Funden, die ich im Altpapier
gemacht hatte«, benutzt, schreibt Geiger nun
in seiner Autobiografie. Die Handlung des
Romans, der unter anderem von Nazi-Ver-
strickungen erzählt, sei fiktiv, die Charaktere
von ihm erschaffen. »Aber ohne die Impulse
von außen würden viele Nuancen fehlen, das
Gespür für die Zeit- und Sprachebenen, Un-
mengen an Alltagsdetails. Und vor allem ga-
Heriber t Corn
Schriftsteller Geiger
ben mir die Funde Sicherheit. Sie waren Teil
des Fundaments, Teil der Zuversicht.«
Es ist eine außergewöhnliche Praxis der
soziokulturellen Aneignung, zu der sich der
Schriftsteller da bekennt. Sie folgt dem Prin-
zip des Zufalls. Viele der Bücher, die Geiger
nach eigener Auskunft in den vergangenen
drei Jahrzehnten gelesen und als Lernmaterial
benutzt hat, stammen aus dem Müll.
Er hat die zur Vernichtung bestimmten
Briefe wildfremder Leute gelesen. Auf Nim-
merwiedersehen fortgeworfene Tagebücher.
In den Müll gekippte Krankenhausprotokol-
le, die aus den Fünfzigerjahren stammten –
die Aufnahmegespräche des Personals einer
psychiatrischen Klinik mit Frauen, die ge-
scheiterte Suizidversuche hinter sich hatten.
Zu den Funden, die Geiger als Glückserleb-
nisse feiert, gehören Gedichte von Anna Ach-
matowa und ein Essay von Jean-Paul Sartre
über Baudelaire. »Einmal fand ich zehn kleine
Tagebücher einer Augenarztgattin«, schreibt
er. »Der Augenarzt ein Säufer mit ständigen
Affären. Die Gattin machte ihm die Vorzim-
merhilfe, was ihr mehr Kritik als Dank ein-
trug. Ohne es offen zuzugeben, war sie ver-
liebt in einen Burgschauspieler, mit dem sie
vor Premieren telefonierte. Und immer hatte
sie entzündete Nagelbetten.«
Schriftsteller seien »Kosmonauten der In-
nenwelt« lautet eine hübsche, diversen klugen
Leuten zugeschriebene Definition. Geiger war
ein Astronaut im Abfall.
Er habe ein Doppelleben gelebt, behauptet
Geiger, und »Teilzeit in der Gosse« verbracht.
»Meine regelmäßigen Touren führten mich
im Kreis und brachten mich voran.« Es ist
offensichtlich nicht Reue, die ihn dazu be-
wogen hat, das titelgebende »glückliche Ge-
heimnis« seiner Müllsammelei nun preiszu-
geben. Sondern einerseits eine Art Erleichte-
rung, dass es mit den morgendlichen Aus-
flügen seit ein paar Jahren vorbei ist, weil der
Schriftsteller sie nicht mehr nötig findet. An-
dererseits ist Geiger durchaus stolz auf sein
Geständnis. »Nachdem ich so lange die Freu-
de des Verschweigens ausgekostet habe, neh-
me ich mir jetzt die Freiheit des Erzählens.«
Der 1968 geborene Geiger ist als realisti-
scher, eigenbrötlerischer, oft sehr unterhalt-
samer Schriftsteller bekannt geworden. Er hat
vor dem Erfolg mit »Es geht uns gut« drei
kompliziertere, von der Kritik respektierte,
vom Publikum weitgehend verschmähte Ro-
mane geschrieben. 2011 gelang ihm ein Best-
seller mit dem Buch »Der alte König in seinem
Exil«, in dem er herzergreifend vom Verfall
seines geliebten, demenzkranken Vaters be-
richtet. Viel Lob bekam auch Geigers Ehe-
bruchroman »Alles über Sally« (2010), einige
Verrisse gab es für »Selbstporträt mit Fluss-
pferd« (2015), das vom Erwachsenwerden
eines im Wien der Nullerjahre herumgam-
melnden Studenten erzählt.
Für viele Kritikerinnen und Kritiker ist al-
lerdings Geigers entschieden herausragendes
Buch der Roman »Unter der Drachenwand«
aus dem Jahr 2018. Er schildert die letzten Tage
 KU LT U R

des Zweiten Weltkriegs am Beispiel

einer Zufallsgemeinschaft am öster­
reichischen Mondsee. Zu der gehören
unter anderem ein in Russland verletz­
ter, junger Wehrmachtsoldat aus Wien,
ein paar unerbittliche und kaum be­
lehrbare Nazis und zwei junge Frauen.
Bewundert wurde unter anderem
die große Einfühlungskraft, mit der
Geiger die Absurdität des Krieges
darstellt – und die Kunstfertigkeit,
mit der er Briefe und Tagebücher aus
den letzten Kriegsjahren in den Ro­
man eingearbeitet hatte. Er habe kein
Werk aus Sicht der Nachgeborenen
abliefern wollen, sagte Geiger beim
Erscheinen von »Unter der Drachen­
wand« in einem Interview, »sondern
ich wollte erzählen, wie es sich an­
gefühlt haben könnte, im fünften,
sechsten Kriegsjahr zu leben«.
Sein Ziel sei gewesen, die Men­

Tobias Steinmaurer / IMAGO

schen »buchstäblich unter der Dra­
chenwand« (die es tatsächlich am
Mondsee gibt) möglichst genau zu
porträtieren. Er habe O­Töne gelesen,
Tausende Seiten. »Das ist die Basis,
das hat das Fundament geschaffen.
Und dann tritt der Schriftsteller vor.«
Über Gelingen oder Scheitern des
Buchs entscheide das Nicht­mehr­Re­
cherchierbare, »in diesem emotiona­
len Raum, den ich aufreiße«.
Das Buch »Das glückliche Ge­
heimnis« ist nun nicht bloß der Werk­
stattbericht eines Schriftstellers, son­
dern auch ein Rückblick auf frühe
berufliche und private Fehlschläge.
Geiger beschreibt seine Existenzangst
als junger, zum Schriftstellerberuf
entschlossener Endzwanzigjähriger
im Wien der Neunzigerjahre.
Er gibt Auskunft über die acht
Jahre währende Liebesbeziehung zu
seiner Freundin M.; eines Tages ver­
liebt sich M. in einen anderen Mann.
»Im Winter stritten wir oft – graus­
lich. Das war für uns beide nichts«,
heißt es da zum Beispiel. »Manchmal
zitterten mir die Knie, und moment­
weise fing ich an zu stottern. Mein
Körper wusste sich besser auszudrü­
cken als ich. Das Stottern sagte, dass
es nichts mehr zu sagen gab.«
Es ist zugleich ungeschützt und an­
rührend, wie direkt und ohne dichte­
rischen Aufwand Geiger vom Glück
und den anfänglichen Krisen berich­
tet, die er mit seiner Freundin und
heutigen Ehefrau K. durchlebt hat,
einer Ärztin, der er Ende der Neun­
ziger begegnete.
Und es ist absurd geheimniskrä­
merisch, was er über das halbe Jahr
berichtet, das er 1998 vor dem Zu­
sammentreffen mit K. in Berlin ver­
bracht hat, wohin er wegen eines Sti­
pendiums zog. »Aus vielerlei Grün­
Altpapierbehälter den habe ich in Berlin vielerlei
in Wien: Zur Vernich- Dummheiten begangen. In den sel­
tung bestimmte
Briefe wildfremder
tensten Fällen waren es höhere
Leute gelesen Dummheiten«, lautet ein Geständnis.
Lange habe er nur mit wenigen Men­
schen zu tun gehabt, in Berlin ist er
nun Teil einer größeren Blase von
Kulturschaffenden. »Meine Nächte
gerieten in große Unordnung. Ich ließ
mich zu den unerhörtesten Sexual­
praktiken verleiten.« Der Verzicht auf
nähere Beschreibungen von Dumm­
heiten und Beischlafpraktiken lässt
sich wahlweise als Verklemmung oder
als Diskretion des Autors deuten.
Bei aller Lust an der neuen Freiheit
wagt Geiger auch in Berlin nieman­
dem von seiner Müll­Leidenschaft zu
erzählen. »Dass meine Beine aus
einer Altpapiertonne ragten und
sonst nichts, war nicht vereinbar mit
dem Selbstbild eines souveränen
Künstlers, das ich in Berlin von mir
zu entwerfen versuchte. Ich wollte
nicht, dass mich die andern für eine
traurige Gestalt hielten.«
Jede gute Autobiografie riskiert es,
dass ihre Verfasserin oder ihr Verfas­
ser nicht ganz so Wichtiges für bedeu­
tend hält und Privates ausbreitet – Ge­
ständnisse, die manche Leserinnen
»Ich wollte und Leser peinlich finden könnten.
Geiger gelingt all das gründlich.
nicht, dass Der Charme seines Buchs besteht
mich die gerade darin, dass er an keiner Stelle
andern für eine am Sinn der Selbsterkundung zu
zweifeln scheint. Wie aufregend ist
traurige Ge- für die Fans der geigerschen Arbeit
stalt hielten.« ein Einblick in die künstlerischen und
erotischen Krisen des Schriftstellers?
Wird um die klammheimliche Räu­
berei im Müll hier nicht ein wenig viel
Bohei gemacht? Ist es wirklich so
erheblich, wie und woher genau sich
ein Schriftsteller seine Inspiration be­
sorgt? Derlei wird hier nie gefragt.
»Ich lasse das Geschriebene so ste­
hen, rau, stellenweise ungehobelt, als
Ausdruck meiner selbst«, verkündet
der Schriftsteller einmal zugleich
selbstkritisch und schamlos.
Die Patin von Geigers Kunstauf­
fassung ist die französische Filmema­
cherin Agnès Varda. Geiger nennt sie
»die Schutzheilige der Abfallsamm­
ler«. Mehrere von Vardas Filmen,
darunter »Die Sammler und die
Sammlerin« aus dem Jahr 2000, han­
deln vom Klauben und Horten als
Kulturtechnik und von der Poesie des
Herumstreifens, vom Nutzen alles
Ausgesonderten, Verrotteten und
Verschrotteten.
»Ich bin neugierig auf echtes
Leben und erfundenes Leben, auf
Dinge, Blumen, Katzen und vor allem
Menschen«, hat die Regisseurin Var­
da einmal gesagt. »Wenn man die
Augen und den Verstand offenhält,
dann ist in wirklich allem etwas Inte­
ressantes zu finden.«
Der Schriftsteller Geiger schreibt
nun, in einem »wüst hingeschütteten
Misthaufen« erkenne er »die voll­
kommenste Welt«. Und noch pathe­
tischer behauptet er: »Im Müll wohnt
die Wahrheit.«
Wolfgang Höbel n

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 109

KU LT U R

»Ich bin
im freien
Fall«
SPIEGEL-GESPRÄCH Seine
ruppige Art hob ihn vom
Talkshow-Einheitsbrei ab, doch
im Dezember war plötzlich
Schluss mit »Chez Krömer«.
Er habe genug von »Arschloch«-
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

Gästen, sagt Komiker

Kurt Krömer – und spricht jetzt
lieber über seine Gefühle.

110 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


Krömer, 48, Berliner Autor und Schauspieler,
zählt zu den beliebtesten Comedians im
Fernsehen und auf der Bühne. Seit 2004 war
Krömer Gastgeber verschiedener Late-Night-
Programme und Talkshows beim RBB, er ist
bekannt für seine schnoddrig-provozierende
Art. In »Chez Krömer« empfing er seine Gäs-
te in einem Verhörraum, die Sendung wurde
mit zwei Grimme-Preisen ausgezeichnet. Im
Dezember wurde »Chez Krömer« überra-
schend eingestellt, kurz zuvor startete sein
Podcast »Feelings«. Im März hatte Krömer,
der bürgerlich Alexander Bojcan heißt und
alleinerziehender Vater mehrerer Kinder ist,
ein Buch über seine Depressionen und Alko-
holsucht veröffentlicht.
Für das Treffen mit dem SPIEGEL hat Krö-
mer ein Restaurant in Berlin-Charlottenburg
gewählt. Er kommt deutlich zu spät und er-
klärt, er habe verschlafen. Krömer bestellt
Kaffee, Cola und Wasser. Er schaltet eine E-
Zigarette an, blickt amüsiert auf sein Gegen-
über und beginnt das Gespräch.
Krömer: Das ist aber unangenehm, wenn ich
Sie so sehe. Da kommen bei mir Erinnerungen
an die Redaktionsbesprechungen von »Chez
Krömer« hoch. Wir hatten auch immer diese
Aktenmappen aus Pappe. Nur, dass Ihre jetzt
lila ist. Meine war blau, darin 30 Fragen und
die ganzen Verfehlungen meiner Gäste.
SPIEGEL: Herr Krömer, sind Sie auch weh-
mütig? Das war die erfolgreichste Sendung,
die Sie je gemacht haben.
Krömer: Ich fühle mich befreit. Mein Produ-
zent Friedrich Küppersbusch sagte: Der Ma-
ler bestimmt, wann das Bild fertig ist. Und so
ist es. Ich hatte die Verträge für zwei weitere
Staffeln vorliegen – aber mir war klar, dass
die Arbeit an diesem Bild beendet ist.
SPIEGEL: In Ihrer letzten Sendung war der
Comedian Faisal Kawusi zu Gast, das Ge-
spräch eskalierte. Sie brachen vorzeitig ab
und ließen Kawusi in der Kulisse sitzen. Ha-
ben Sie da wirklich spontan hingeworfen – so
wirkte es –, oder war das kalkuliert?
Krömer: Es war ein spontaner Impuls. Der
Typ war menschlich ein Arschloch. Das Ge-
spräch kam überhaupt nicht voran. Wenn
einer Vergewaltigungswitze reißt und nicht
mehr dazu sagt, als dass er alles gut gemacht
hat, dann denkt man als Interviewer: Soll ich
das Thema jetzt abhaken und mit dem über
Kochrezepte sprechen? Das geht ja wohl
nicht.
SPIEGEL: Es war doch die Idee des Formats,
unangenehme Gesprächspartner rabiat vor-
zuführen. Dafür hatten Sie einen Verhörraum
und die Akte, aus der Sie Vergehen ablasen –
meist respektlos und schlecht gelaunt.
Krömer: Ja, denn es war klar, dass diese Sen-
dungen scheiße werden. Als ich mich zu dem
Ex-»Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt ge-
setzt habe oder zu rechten Politikern wie
Frauke Petry, wusste ich, das Gespräch kann
Das Gepräch führte die Redakteurin Carola Padtberg in
Berlin.
»Wie lange kann man
sich mit Idioten
auseinandersetzen?«
keinen guten Ausgang nehmen. Solche Leute
werde ich nicht nach einer halben Stunde fra-
gen, ob ich sie in den Arm nehmen kann wie
Rosa von Praunheim. Das Ganze habe ich
sieben Staffeln durchgezogen. Jetzt will ich
nicht mehr.
SPIEGEL: Was hat Sie denn ursprünglich an
dem Konzept gereizt?
Krömer: Es war für mich eine Art Comedy-
Metaebene, dass ich aus Spaß etwas mache,
das mir keinen Spaß macht. Aber wie lange
kann man sich mit Idioten auseinandersetzen?
Manche Sendungen waren katastrophal. Bei
Leuten wie Petry denke ich heute noch drüber
nach, was die getrieben hat, überhaupt zu
kommen. Vielleicht wollte sie der AfD nach-
träglich noch mal an den Koffer kacken.
SPIEGEL: Und was war Ihr Ziel, sie einzu-
laden?
Krömer: Ich wollte entlarven. Wenn man
einen Politiker direkt fragt, ob er sich neben-
bei etwas schwarz hinzuverdient, bekommt
man natürlich keine Antwort. Aber in den
Augen war dann Gefühlsdisco angesagt, und
da fuhr dann die Kamera rein. »Chez Krö-
mer« war eine Art Kammerspiel mit Arsch-
löchern.
SPIEGEL: Haben Sie in den Jahren etwas über
die gelernt?
Krömer: Das ist unmöglich. Zu meiner Defi-
nition von Arschloch gehört auch, dass ich
die Person nicht verstehe. Die kommt aus
einer anderen Welt.
SPIEGEL: Neuerdings geht’s bei Ihnen um Ge-
fühle. Sie machen den Podcast »Feelings«. Sie
wissen nicht, welche Gäste kommen, können
sich also nicht vorbereiten. Wie kann da ein
gutes Gespräch entstehen?
Krömer: Ganz leicht. Wie auf einer Party, auf
der ich keinen kenne und einfach jemanden
anspreche. Mein Ziel ist, dass jemand sein
Storyboard verlässt und nicht nur die Sachen
erzählt, die er oder sie immer erzählt. Am
besten wird das, wenn das Gegenüber auch
lustig ist, wie die Komikerin Hazel Brugger.
SPIEGEL: Auch mit dem Rapper Sido scheinen
Sie sich prächtig zu verstehen.
Krömer: Wir haben viel gemeinsam. Wir ha-
ben keinen Führerschein, wir kochen gerne
und haben Ähnlichkeit mit Harald Juhnke.
Ich natürlich noch mehr als Sido, weil ich An-
züge trage. Und dann die Abstürze natürlich.
SPIEGEL: Sido hat kürzlich psychische Pro-
bleme und Drogensucht öffentlich gemacht.
Finden Sie mit Leuten schneller eine Ebene,
die mal eine dunkle Phase durchgemacht
haben?
Krömer: Im Showbiz wollen immer alle gut
dastehen. Mir sind eher Leute sympathisch,
die sich öffnen und von Alkoholsucht und
KU LT U R
Depressionen erzählen. Da fällt mir die Kon-
taktaufnahme leichter. Das geht Ihnen doch
auch gerade so.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Krömer: Ich stelle mich nicht hin und tue so,
als wäre ich makellos, und wenn ich nach
Hause komme, stehen da meine Kinder mit
Fähnchen und rufen: »Hallo, lieber Papa,
schön, dass du da bist.« Das wäre unehrlich.
Natürlich klickt man mit Leuten besser, die
Schwächen haben. Ich zum Beispiel habe jetzt
noch 45 Minuten, dann muss ich zur Therapie.
SPIEGEL: Sie haben in »Chez Krömer« zum
ersten Mal über Ihre Depression gesprochen,
für die Sendung mit Torsten Sträter dann
einen Grimme-Preis erhalten. Ihr Buch über
Depressionen hielt sich wochenlang auf Platz
eins der Bestsellerliste. Haben Sie mit diesem
Erfolg gerechnet?
Krömer: Erst mal war es ein Gefühl, wie aus
einem Hochhaus zu springen, und während
ich fliege, denke ich, hoffentlich ist unten je-
mand, der eine Luftmatratze hinlegt, dass der
Aufprall nicht so hart ist. Ich bin immer noch
im freien Fall, und alle können mir dabei zu-
sehen. Manchmal halte ich an, gehe in die
achte Etage, mache »Feelings« oder drehe
»Last One Laughing«. Und wenn das fertig
ist, springe ich wieder aus dem Fenster. Und
schaue, was kommt.
SPIEGEL: Sie sehen keine Matratze?
Krömer: Ich bin noch zu hoch oben, glaube
ich. Ich habe keinen Masterplan.
SPIEGEL: Aber hat sich seit der Buchveröffent-
lichung irgendwas geändert?
Krömer: Es gibt auf jeden Fall Alexander Boj-
can davor und danach. Das ist mir aber erst
spät klar geworden. Als ich mich mit Torsten
Sträter outete, hatte ich schon mit dem Chef
einer Psychoklinik abgemacht, dass ich bald
kommen würde. Ich wollte vier Wochen in
die Klinik, dann einen Break nehmen von
zwei Wochen, um »Chez Krömer« aufzuneh-
men, und dann wieder vier Wochen in die
Klinik. Das hat aber nicht gut funktioniert.
Ich konnte »Chez Krömer« gar nicht mehr.
Es war so, als hätte ich heute Morgen eine
ganz enge Röhrenjeans angezogen und auf
dem Weg zum SPIEGEL -Interview gemerkt,
die komische Klamotte passt nicht zu mir, ich
fühle mich unwohl. Mit der Therapie wurde
das Korsett, entweder ein Arschloch oder ein
netter Typ sein zu müssen, für mich zu eng.
SPIEGEL: Ihr Alter Ego Kurt Krömer muss sich
also neu erfinden, weil Sie sich als Alexander
Bojcan verändert haben. Kann das funktio-
nieren?
Krömer: Na klar. In meinem neuen Bühnen-
programm zeigt sich Kurt Krömer verletzlich.
Er spricht sogar von seinen Kindern, das war
für mich vorher tabu. Das Programm ist zu
90 Prozent autobiografisch, jeder Gag hat
einen echten Kern. Wäre ja öde, wenn ich mit
knapp 50 Jahren noch die Witzchen machen
würde, die ich vor 20 Jahren gemacht habe.
Man muss sich als Komiker weiterentwickeln.
SPIEGEL: Muss man das? Otto zum Beispiel
ist immer Otto geblieben.
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 111
KU LT U R
Krömer: Dafür liebe ich ihn. Ich will, dass er
sagt: Hallo, Otto! Und das Publikum: Hallo,
Echo! Ich lasse ihm auch durchgehen, wenn
er rumspringt und den Hund macht. Ob ich
aber von anderen Kollegen nach 20 Jahren
noch die gleiche Nummer sehen möchte, weiß
ich nicht. Für mich ist mein Sprung aus dem
Fenster deshalb Kunst. Mein Publikum ver-
steht das.
SPIEGEL: Ist das ein Bedürfnis des Publikums,
zu sehen, dass ein schroffer Kerl ganz sanft
sein kann?
Krömer: Absolut! Bei den Interviews zum
Buch wurde ich ständig gefragt, ob ich auch
weine. Na klar weine ich! Unglaublich, wie
viel Zuspruch ich bekomme, weil ich so was
Normales mache wie weinen. Oder dafür,
dass ich mir ein paar Fingernägel bemale.
Auch ein ganz großes Ding. Ständig vergewis-
sern sich die Leute, warum ich das denn jetzt
mache.
SPIEGEL: Weil Sie, wie Sie immer wieder be-
tonen, Feminist sind.
Krömer: Und aus Solidarität mit der
LGBTQ+-Szene. Ich hatte vor anderthalb
Jahren einen Auftritt in der Late-Night-
Show »Paillette noch schlimmer« im BKA-
Theater in Berlin. Die Dragqueens erzählten,
wie viel Ablehnung ihnen immer noch ent-
gegenschlägt. Wenn ich diesen Quadratzen-
timeter Daumen mit Farbe anmale und je-
den Tag darauf angesprochen werde, dann
merke ich, dass wir noch ein bisschen was
vor uns haben.
SPIEGEL: Sehen Sie es als Ihren Bildungs-
auftrag an, ein anderes Männerbild zu ver-
mitteln?
Krömer: Nee, ich habe keinen Bildungs-
auftrag. Auf die Bühne zu gehen, um über
irgendwas aufzuklären, funktioniert nicht.
Aber wenn ich Glück habe, erwähnt jemand
meinen lackierten Daumennagel. Dann
habe ich nebenbei etwas für die LGBTQ+-
Szene gemacht. Ich kriege ganz viele Bilder
von Männern, die sich die Fingernägel
anmalen und sagen, guck mal, hat meine
Tochter gemacht. Mütter schicken mir ein
Foto von der lackierten Hand ihres Sohnes
und schreiben, wenn der Junge am nächsten
Tag in die Kita geht, müssen wir das wieder
abmachen, das sei da nicht so gerne ge-
sehen.
SPIEGEL: Ist das die toxische Maskulinität in
der Gesellschaft?
Krömer: Ja. Mein Vater war toxisch maskulin.
Der typische Urzeitmann. Nicht weinen, in
der Kneipe saufen, Frauen müssen in der
Küche stehen. Er kam nach Hause und mach-
te meine Mutter rund. Ich konnte das nicht
deuten als Kind, habe aber gefühlt, dass das
nicht richtig ist. Und die festgefahrenen Rol-
lenbilder gibt’s immer noch. Wir sind noch
lange nicht fertig mit der Emanzipation. Das
ist auch wichtig für die Männer, denn deren
mentale Gesundheit leidet ja auch unter to-
xischer Maskulinität.
SPIEGEL: Um mentale Gesundheit von Män-
nern geht es immer öfter, ist das ein Trend?
112 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
Carolin Ubl / rbb
Gespächspartner Kawusi, Krömer im Dezember
Krömer: Sie meinen ein Modetrend wie eine
Schlaghose, die in vier Monaten wieder weg
ist vom Fenster? Nein.
SPIEGEL: Also eine bleibende gesellschaftliche
Veränderung?
Krömer: Im Idealfall, ja. Ich rede seit März
über meine Depressionen und werde das wei-
terhin tun. Das ist jetzt immer Teil meiner
Persönlichkeit. Es ist wie Pornofilme drehen,
darauf wird man auch sein Leben lang an-
gesprochen.
SPIEGEL: Nervt das nicht irgendwann?
Krömer: Nee, es ist ja was Gutes. Der Porno-
film würde mich nerven. Aber wenn ich Leu-
ten dabei helfen kann, dass sie morgen in eine
Klinik gehen, und in der Zukunft ist das auch
noch so, ist das doch super.
SPIEGEL: Wird das dann weiter beim öffent-
lich-rechtlichen Rundfunk passieren?
Krömer: Mannomann, Sie haben echt nur
traurige Themen mitgebracht.
SPIEGEL: Ist der öffentlich-rechtliche Rund-
funk ein trauriges Thema für Sie?
Krömer: Ein sehr trauriges. Ich war jahrzehn-
telang ein Fernsehfreak. Aber gucken Sie
noch lineares Fernsehen? Ich wette, nein.
SPIEGEL: Stimmt.
Krömer: Noch vor drei Jahren hätte ich jetzt
auf Sie eingeredet wie ein Versicherungsver-
treter, damit Sie lineares Fernsehen nutzen.
Wenigstens Arte oder 3Sat, es muss ja nicht
der Rotz sein. Aber die Welt hat sich verän-
dert. Es ist den Menschen nicht mehr möglich,
zu einer bestimmten Uhrzeit eine Sendung
einzuschalten. Das finde ich traurig.
SPIEGEL: Viele Menschen nutzen aber Media-
theken.
Krömer: Mag sein, aber es ist zu spät. Linea-
res Fernsehen ist ein sinkendes Schiff. Der
Maschinenraum dieser »Titanic« ist mit
Wasser vollgelaufen. Die Handwerker haben
schon ein paar Mal oben im Tanzsaal Be-
scheid gesagt. Dort wird aber noch Cham-
pagner getrunken, die Kapelle spielt irgend-
was. Die hören nicht, dass das ganze Ding
untergeht.
»Niemand will ein Risiko
eingehen, in den
Gremien sitzen Gremlins.«
SPIEGEL: Engen die öffentlich-rechtlichen
Sender Künstler ein, wollen die wirklich krea-
tiven Köpfe deshalb woanders arbeiten?
Krömer: Künstlerisch habe ich mich in den
17 Jahren nie eingeengt gefühlt. Aber da war
immer so eine Angst, die das Arbeitsklima
geprägt hat. Niemand will ein Risiko einge-
hen, der Apparat ist zu groß, in den Gremien
sitzen Gremlins. Es ist eben eine Behörde, da
wird nicht ausgeschert. Oft war ich der Ein-
zige, der im Team gesagt hat: Wir machen
das jetzt einfach. Wir werden schon alle unse-
re Köpfe behalten.
SPIEGEL: Kommt Kurt Krömer also zurück
zur ARD?
Krömer: Das geht mir jetzt zu schnell. Der
Arbeitgeber ist ja eine Art Beziehung. Ich
habe mich quasi vor drei Tagen von meiner
Freundin getrennt, dann ziehe ich doch nicht
heute los und sage, jetzt muss ich erst mal
eine Frau kennenlernen.
SPIEGEL: Bei vielen läuft das so.
Krömer: Ich will jetzt erst mal alles sacken
lassen. Ich mache den Podcast, das Bühnen-
programm und ab Sommer eine Hofpause,
Ende offen.
SPIEGEL: Auch von Instagram? Dort sieht man
Sie häufig, manchmal schon mit Stories direkt
nach dem Aufwachen im Bett liegend. Lassen
Sie sich frühmorgens schon filmen?
Krömer: Ich mache das allein. Kein großes
Ding. Ich liege im Bett und halte die Kamera
vor mein Gesicht.
SPIEGEL: Sie haben keine Social-Media-Agen-
tur, die Ihre Filmchen mit coolen GIFs und
Hashtags versieht?
Krömer: Nein. Die Videos sind nicht geschnit-
ten, und da ist auch nichts cool. Manchmal
lege ich einen Filter drüber, wenn ich zu blass
bin. Ich mache ja auch nur Nahaufnahmen
von mir selbst, manchmal noch ein Selfie
vorm Spiegel. Ich renne nicht zu Hause rum
und zeige, wie ich koche.
SPIEGEL: Neulich hat Ihnen jemand in den
Kommentaren mehr Depressionen gewünscht
und eine Alkoholvergiftung. Sie antworteten
mit einem roten Herz und »Lass uns mal tref-
fen und quatschen«. Sind Sie von derlei Trol-
len genervt?
Krömer: Die Trolle gibt es eben. Das passiert
andauernd. Ich wollte zeigen, dass auch mein
Leben weiterhin eine Reise ist. Und ich dabei
Leuten begegne, die stänkern.
SPIEGEL: Vor ein paar Minuten haben Sie
noch gesagt, Sie wollten mit Arschlöchern
nichts mehr zu tun haben.
Krömer: Stimmt. Aber einmal wollte ich so
’nen Vogel präsentieren. Danach habe ich ihn
blockiert.
SPIEGEL: Hätte der alte Kurt Krömer auch mit
rotem Herzchen reagiert?
Krömer: Als Depressiver hätte ich mich total
reingesteigert und zehn Stories darüber ge-
macht. Trotz Hunderten netten Zuschriften
hätte ich mich auf diese eine Kacknase fixiert.
Und deshalb muss ich jetzt los, zur Therapie.
SPIEGEL: Herr Krömer, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch. n

Mord und
Schokotorte
TV Das ZDF versucht sich an glossy
Serien nach US-Vorbild: »Gestern
waren wir noch Kinder« mit der
Influencerin Julia Beautx löst das
Versprechen aber nur bedingt ein.
etongrau oder Himmelblau: Die Farb-
B palette, mit der das ZDF bislang häufig
gearbeitet hat, um die Programm-
flächen seines Fictionbereichs zu füllen, ist
ziemlich beschränkt. In Betongrau sind die
Sozialdramen und Gesellschaftskrimis gemalt
(montags und freitags), in Himmelblau die
Familienkomödien und Urlaubsschmonzetten
(mittwochs, donnerstags, sonntags). Jeder
Sendeplatz hat seine eigene Farbe, und um
das Publikum nicht zu verwirren, achtet man
darauf, das Kolorit des zum Sendeplatz ge-
hörigen Genres penibel von dem des anderen
zu trennen.
Spätestens mit dem internationalen Sieges-
zug der Serie zeigt sich, wie veraltet diese
Farbsegregation ist. Zwischentöne, Stim-
mungswechsel und Ambivalenzen gehören
längst zu den standardisierten Erzählkniffen
der Fernsehmoderne, um ein attraktionsver-
wöhntes Publikum bei der Stange zu halten,
das sich über Streamingplattformen ein eige-
nes Programm zusammenstellt. Das hat jetzt
wohl auch das ZDF erkannt. Neuerdings ver-
sucht es, mit schillernden High-End-Serien
zu punkten, in denen für Anstaltsverhältnisse
die eingeübten Wochentagsrituale und Farb-
codes fast anarchisch durcheinandergewirbelt
werden.
Jüngstes Beispiel ist der Siebenteiler »Ges-
tern waren wir noch Kinder«, der bereits in
der Mediathek abrufbar ist und ab Montag in
drei Blöcken im Hauptabendprogramm ge-
sendet wird: ein verschlungener Psychothril-
ler, der über weite Strecken im heiteren Blau
einer Familienkomödie daherkommt.
Das Verbrechen findet gleich am Anfang
statt: Ein eigentlich sympathisch anmutender
Familienvater (Torben Liebrecht) rammt sei-
ner Ehefrau an deren 44. Geburtstag zwischen
Luftballon und Papierschlangen ein Messer
in den Rücken; kurz vorher hatte das Opfer
damit noch die von den drei Kindern des Paa-
res hübsch verzierte Geburtstagstorte aus
Schokolade angeschnitten.
In einem ausladenden Geflecht aus sonni-
gen Rückblenden geht es ins düstere Herz der
vermeintlichen Vorzeigefamilie und ihres An-
hangs. Hass, Lügen und Triebverzicht aus
mehreren Generationen werden offenbar. Die
Handlungsfäden der verschiedenen Zeitebe-
nen laufen immer wieder in einem Gymna-
sium zusammen, auf dem die Teenager Schul-
uniformen tragen und die Mädchen so bitchy
reden wie in einer US-Highschool-Serie. Auch
die Eltern haben sich auf der Privatschule
kennengelernt, hier nahm das familiäre Un-
heil seinen Lauf.
Den schönsten Satz in »Gestern waren wir
noch Kinder« darf die Mutter ein paar Tage
vor ihrer Ermordung sagen: »Familie, das sind
Fremde in vertrauten Klamotten.« Im Kon-
text von sonst durch und durch erbaulicher
ZDF-Familienunterhaltung geht das als sub-
versiv durch.
Bei ihren Exkursionen ins Fach der High-
End-Serie lassen sich die ZDF-Verantwort-
lichen offenbar von US-Serienschöpfern in-
spirieren, die es verstehen, psychologische
Thriller mit einer glossy Note zu versehen.
Wer gerade durch das Programm des Senders
zappt, fühlt sich gelegentlich an Produktionen
des TV-Gurus David E. Kelley erinnert. Der
begründete seinen Ruhm einst mit Anwalts-
formaten wie »Ally McBeal«, sorgte zuletzt
aber vor allem mit Gesellschaftsdramen in
Edeloptik vom Schlage »Big Little Lies« für
Furore.
Für ein weiteres Projekt, den Sechsteiler
»Neuland«, haben die ZDF-Verantwortlichen
sogar unverhohlen bei »Big Little Lies« ab-
gekupfert: Im US-Vorbild geht es um eine
Gruppe von Karrierefrauen und Trophy
Wives, die vor der berauschenden Kulisse der
kalifornischen Küstenstadt Monterey gemein-
sam in ihren zumeist in unglücklichen Ehen
geschlagenen Wunden lecken und unerwar-
tete kriminelle Energie entfalten. In der ZDF-
Serie (nach der linearen Ausstrahlung weiter-
hin in der Mediathek abrufbar) geht es um
dasselbe – nur dass all das hochtourige Ver-
arzten, Netzwerken und Austeilen nun in
einem schmucken norddeutschen Kleinstadt-
Szene aus
»Gestern waren
wir noch Kinder«
KU LT U R
kosmos mit berauschenden Elbimpressionen
stattfindet.
Dass sich die »Neuland«-Produzenten und
ihre Darstellerinnen Mina Tander, Franziska
Hartmann und Anneke Kim Sarnau da so
selbstbewusst bei den US-Kollegen bedienen,
verzeiht man auch deshalb, weil die Serie
wahnsinnig gut gespielt und geplottet ist. Fie-
sere Cliffhanger als hier hat man im deutschen
Fernsehen noch nicht gesehen.
Auch »Gestern waren wir noch Kinder«
(Buch: Natalie Scharf, Regie: Nina Wolfrum)
ist exzellent gebaut, auch hier ist mit Maria
Simon, Karoline Eichhorn und Ulrich Tukur
ein Edel-Cast am Start. Aber darauf allein
wollte man offenbar nicht vertrauen. Um An-
schluss an das junge Serienpublikum zu fin-
den, setzte man auf einen krude zusammen-
gewürfelten Popsoundtrack, der die vertrackte
Handlung bis in den letzten stillen Winkel
volltönt, und ausgesprochen junge Co-Stars.
In einer zentralen Rolle ist die Influencerin
Julia Beautx zu sehen, die es unter anderem
mit Deko- und Do-it-yourself-Videos auf
2,4 Millionen Abonnenten bei YouTube und
auf 3,4 Millionen Follower bei Instagram ge-
bracht hat. Sie verkörpert den schwierigen
Part der Tochter, die kurz vor dem Abitur
steht und bei der das fatale Geflecht der Lügen
und Gelüste zusammenläuft.
Wie in »Gestern waren wir noch Kinder«
immer wieder Falltüren von der Familien-
idylle in Gefühlsgräber geöffnet werden, ist
perfide gut ausgedacht. Aber das Spiel und
die Inszenierung halten mit der anspruchs-
vollen Dramaturgie nicht immer mit: Tukur
wirkt als Großvater und Quell aller Grausam-
keiten ungewohnt eindimensional, Beautx
kann als herzensgute Abiturientin den ge-
waltigen tragischen Bogen nicht gespannt
halten. Sosehr man die Innovationslust des
ZDF begrüßen mag: Gut möglich, dass sich
weder Alt noch Jung auf diesen Versuch einer
glossy High-End-Serie einigen können.
Christian Buß n
Walter Wehner / ZDF
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 113
KU LT U R

BELLETRISTIK SACHBUCH

Eine erfolgreiche Mak- Ende des 18. Jahr-

lerin stellt eine Haushäl- hunderts stellt eine
terin für ihre alternden Gruppe Intellektueller
Eltern ein. Nach kurzer das Ich in den Mittel-
Zeit nimmt sie beunruhi- punkt ihres Denkens,
gende Veränderungen Schreibens und Lebens.
wahr. Wer ist die Frau, Eine packende Ge-
der das alte Paar aus- schichte der deutschen
geliefert ist? I Platz 18 Romantiker. | Platz 8

1 (1) Sebastian Fitzek 1 (5) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
Mimik Droemer; 24 Euro verändern werden Piper; 22 Euro

2 (3) Dörte Hansen 2 (1) Michelle Obama

Zur See Penguin; 24 Euro Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro

3 (2) Bonnie Garmus 3 (7) Stefanie Stahl

Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro Wer wir sind Kailash; 22 Euro

4 (13) Colleen Hoover It starts with us – 4 (2) Richard David Precht / Harald Welzer
Nur noch einmal und für immer dtv; 20 Euro Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung
gemacht wird, auch wenn sie keine ist
5 (5) Ferdinand von Schirach S. Fischer; 22 Euro
Nachmittage Luchterhand; 22 Euro
5 (3) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
6 (7) Mariana Leky du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
Kummer aller Art Dumont; 22 Euro
6 (4) Elke Heidenreich
7 (4) Charlotte Link Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro
Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro
7 (6) Ulrike Herrmann Das Ende
8 (–) Mona Kasten des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Fragile Heart Lyx; 18 Euro
8 (8) Andrea Wulf
9 (–) Mona Kasten Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro
Lonely Heart Lyx; 18 Euro
9 (9) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
10 (6) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro

10 (–) Angela Meyer-Barg
11 (9) Jo Nesbø Wir versilbern das Netz KJM; 16 Euro

Blutmond Ullstein; 25,99 Euro

11 (10) Marietta Slomka
12 (8) Jonas Jonasson Drei fast geniale Freunde auf Nachts im Kanzleramt Droemer; 20 Euro

dem Weg zum Ende der Welt C. Bertelsmann; 24 Euro 12 (–) Biyon Kattilathu Spaziergang
zu dir selbst Gräfe und Unzer; 19,99 Euro
13 (–) Camilla Läckberg
Kuckuckskinder List; 22,99 Euro
13 (11) Max Frisch / Ingeborg Bachmann »Wir
haben es nicht gut gemacht.« Suhrkamp; 40 Euro
14 (10) Volker Kutscher
Transatlantik Piper; 26 Euro 14 (–) Baek Sehee I Want to Die but I Want to
Eat Tteokbokki Bloomsbury Publishing; 17,55 Euro
15 (11) Michael Kobr / Volker Klüpfel
Die Unverbesserlichen – Der große Coup 15 (–) Pawel Filatjew ZOV – Der verbotene
des Monsieur Lipaire Ullstein; 24,99 Euro Bericht Hoffmann und Campe; 23 Euro

16 (18) Kim de l’Horizon 16 (16) Orlando Figes

Blutbuch Dumont; 24 Euro Eine Geschichte Russlands Klett-Cotta; 28 Euro

17 (–) Tom Clancy 17 (14) Greta Thunberg Das Klima-Buch

Tödliche Allianz Heyne; 26 Euro von Greta Thunberg S. Fischer; 36 Euro

18 (20) Joy Fielding 18 (–) Gerhard Wisnewski verheimlicht –

Die Haushälterin Goldmann; 22 Euro vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro

19 (14) Susanne Abel 19 (12) Mary Roos

Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Aufrecht geh’n Rowohlt; 22 Euro

20 (12) Isabel Allende 20 (15) Maja Göpel

Violeta Suhrkamp; 26 Euro Wir können auch anders Ullstein; 19,99 Euro
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

114 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023


In alltäglicher Beschissenheit
BUCHKRITIK Der Autor und Gymnasiallehrer Ewald Arenz ist
der Liebling der Buchhändler. Sein neuer Roman ist die Liebesgeschichte
eines mittelalten Paars, die sogar Zyniker wärmt.
lara und Elias kennen die Liebe.
C Das glauben sie jedenfalls. Und
doch ist es dieses Mal anders.
Beide sind nicht mehr jung, als sie sich
begegnen, aber alt sind sie auch nicht.
Elias hat bereits eine Teenagertochter.
Doch seit der gescheiterten Beziehung
zu deren Mutter tänzelt er bloß von
Frau zu Frau. Irgendwann schiebt sich
immer ein »Eigentlich« zwischen ihn
und sie. Eigentlich ist sie nett, eigent-
lich fährt er gern mit ihr raus, eigent-
lich. Und Clara hat ihre letzte Liebe
vor vielen Jahren zu Grabe getragen,
das ist keine Metapher. Dass sie sich
noch einmal verlieben könnte, hat sie
nicht mehr geglaubt. Nicht, weil sie
immer noch an ihren verstorbenen
Mann denkt. Sie hat ihn nur geheira-
tet, um ihm einen letzten Gefallen zu
tun. Clara hat einfach nicht mehr mit
einer neuen Liebe gerechnet. Wie
auch? Es gibt leider nicht besonders
viele Liebesgeschichten, in denen die
Frauen Ende vierzig sind. Das hat
wohl auch Autor Ewald Arenz er-
kannt und mit »Die Liebe an miesen
Tagen« deshalb eine geschrieben.
Hier finden zwei Figuren einander,
ohne sich je gesucht zu haben. Das
macht, gerade an den miesen Tagen,
alles etwas weniger mies. Auch für
die Leserinnen und Leser. Man muss
schon besonders viel Zeit in den düs-
teren Ecken des Internets verbracht
haben, um sich davon nicht rühren zu
lassen. Dabei ist Arenz’ Roman keine
Rosamunde-Pilcher-Erzählung. Das
Unglück, also das profane Leben,
schiebt sich immer wieder hinein in
Claras und Elias’ Welt.
Als die beiden sich zufällig begeg-
nen, am Rande einer mittelgroßen
deutschen Stadt, ist es keine Liebe auf
den ersten Blick, vielleicht gibt es die
wirklich nur in Schnulzen. Clara und
Elias schwingen mehr auf der gleichen
Frequenz, zynisch, eloquent. Wenn
sie miteinander reden, tanzen sie mit
Worten. Und sie verstellen sich nicht.
Ewald Arenz: »Die Liebe an miesen Tagen«.
DuMont; 384 Seiten; 24 Euro.
Vielleicht ist das der größte Unter-
schied zu konventionellen Liebes-
erzählungen. Clara, Fotografin, und
Elias, der etwas zu begabte Schau-
spieler einer kommunalen Bühne,
sind zu alt für Spielchen. Clara hat
gerade ihren Job bei der regionalen
Zeitung verloren. Und ihre Mutter ist
schwer an Demenz erkrankt. Immer
wieder muss Clara die verwirrte Frau
in der Nachbarschaft einfangen.
Nachdem sie Elias im Theater wie-
derbegegnet, rauschen sie durch die
Nacht wie Teenager, bloß etwas le-
bensklüger. »Das ist jetzt nicht wahr,
dachte Clara, als sie die Treppe zu
ihrer Wohnung hochstieg, das kann
echt nicht sein. Was für ein Scheiß.
Ich habe mich verliebt.«
Arenz schafft es, den Figuren Ge-
danken einzupflanzen, die man kennt.
Er lässt sie nicht wie menschenähnli-
che Roboter durch die Handlung stak-
sen, sondern Fehler machen und Blöd-
heiten sagen, »Scheiße«, »ficken« und
»Fotze«. In seinen Romanen dürfen
Frauenfiguren kauzig sein, spröde und
ätzend, Männer auch mal zartbe-
saitete Antimachos. Arenz erzählt
zurückgenommen und fast leise aus
dem Off, als Erzählstimme drängt er
sich nie auf, die Bühne gehört seinen
KU LT U R
Figuren. Auch Sprachexperimente
sind nicht seine Sache, Arenz schreibt
schlicht, ohne Effekt. Man soll ihm
problemlos folgen können. Deshalb
wurde der Schriftsteller lange Zeit
vom Feuilleton nicht gerade hofiert,
aber von Buchhändlerinnen und
Buchhändlern gefeiert.
Sein voriges Buch, »Der große
Sommer«, eine zarte Coming-of-Age-
Geschichte, die in den Achtzigern
spielt, wurde 2021 als »Lieblingsbuch
der Unabhängigen« von Buchhand-
lungen ausgezeichnet. Arenz dachte
sich darin in die Köpfe und Herzen
von Teenagern, keine einfache An-
gelegenheit. Aber bei Arenz wirkt
nichts arg bemüht oder gekünstelt.
Vielleicht weil er als Gymnasiallehrer
ständig von Jugendlichen umgeben
ist. Arenz, 1965 als ältester Sohn einer
Pastorenfamilie in Nürnberg geboren,
schreibt am Wochenende und in den
Schulferien. Dabei sind viele seiner
Bücher längst Bestseller; er hat meh-
Wanwisa Hernandez / EyeEm / Getty Images
rere Hunderttausend verkauft.
Wohl auch, weil er so furchtlose
Frauenfiguren erschafft. Das hat er
2019 vor allem mit »Alte Sorten« ge-
zeigt. In dem Roman lässt er zwischen
alten Obstbäumen und vollreifen Fel-
dern eine Freundschaft zwischen einer
jugendlichen, magersüchtigen Ausrei-
ßerin und einer mittelalten Bäuerin
entstehen. Mit dem voranschreiten-
den Herbst – Jahreszeiten spielen bei
Arenz stets eine wichtige Rolle – nä-
hern sich beide an. Aber Sally und Liss
sind starrköpfig und introvertiert. Zu-
neigung verschenken sie nicht. Wie
schief gewachsene Bäume stemmen
sie sich gegen den Wind, auch wenn
er ausnahmsweise aus der richtigen
Richtung bläst. Arenz lässt die Bezie-
hung der Einzelgängerinnen so behut-
sam knospen, dass man sich einem
Happy End nie gewiss sein kann. Im
Leben und in seinen Erzählungen
kann es immer anders kommen.
So ist das auch in »Die Liebe an
miesen Tagen«.
Ohne zu viel zu spoilern: Einfach
wird es nicht für Clara und Elias.
Lohnarbeit, Krankheit, Familie, die
ganz alltägliche Beschissenheit der
Dinge grätscht ihnen rein. Und weil
sie beide nicht mehr Anfang zwanzig
sind, tun sie sich mit Kompromissen
schwer. Mit der Liebe natürlich auch.
Frauenfiguren In selbst optimierten Tinder-Zeiten
glauben schließlich nur die Naivsten
dürfen kauzig noch an sie, das »Ich« zählt immer
sein, Männer ein bisschen mehr als das »Wir«. Aber
gerade an miesen Tagen, und davon
auch mal gibt es derzeit ja nicht wenige, wär-
men Selfcare und Zynismus nicht.
zartbesaitete Dieses Buch schon.
Antimachos. Elisa von Hof n
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 115
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116 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
 Vivienne Westwood, 81 Pelé, 82
NACHRUFE Die »Queen of Punk« wurde Mehr als 200 000 Menschen
1941 in eine Arbeiterfamilie zogen an seinem Sarg vorbei.
in der Nähe von Manchester Wer da so betrauert wurde,
geboren. Schon an ihrer Schul- war der Fußballer der Fuß-
uniform soll sie Veränderungen baller, die Ikone einer Sportart:
vorgenommen haben, da diese Pelé. 1940 unter dem Namen
ihr zu brav gewesen sei. Sie be- Edson Arantes do Nascimento
gann ein Kunststudium, das sie auf die Welt gekommen, war
wieder abbrach. Mit 21 Jahren er dreifacher Weltmeister. Er
heiratete sie Derek Westwood, führte seinen Verein Santos FC
Geschäftsführer einer Tanzhal- zu zahlreichen Meistertiteln
le, von dem sie sich trennte, als in Brasilien, zum Weltpokal,
sie Malcolm McLaren kennen- aber das sind nur Zahlen. Pelé
lernte, Manager der Punkband erhob sich über alle Statistiken.
Sex Pistols. Mit ihm eröffnete Und doch ist es am Ende eine
Westwood 1970 auf der Lon- Zahl, für die er steht: die 10.
doner King’s Road ihre erste Er war die 10. Eine ordinäre
Boutique, die zunächst nur Se- Rückennummer verwandelte
condhandkleidung verkaufte, er in die Position auf dem

Sammy Minkoff / IMAGO

später auch eigene Kreationen Feld schlechthin. Wer nach
von ihr. Westwoods Entwürfe Pelé die 10 tragen durfte,
hatten einen revolutionären galt als geadelt. Pelé war auf
Charakter, waren wild und un- dem Platz auch deshalb so
angepasst. »Meine Kleider groß, weil er seinen Glanz
machen Individuen«, stellte sie alleinig dort versprühte. Außer-
Rosi Mittermaier, 72 fest. Westwood, die bald als halb des Fußballs fiel er nicht
Ihren Spitznamen bekam sie vor fast 47 Jahren und hat ihn seitdem Mitbegründerin der Punkbewe- durch Charisma und Glamour
behalten: Rosi Mittermaier war die Gold-Rosi – nachdem sie bei gung galt, wurde zu einer der
den Olympischen Winterspielen 1976 in Innsbruck völlig überra- renommiertesten Modeschöpfe-
schend zweimal Gold gewonnen hatte. Vor allem der Olympiasieg rinnen der Welt. Auch weil ihre
in der Abfahrt war eine Sensation, nie zuvor hatte die Skifahrerin Mode in Filmen und Serien auf-
in ihrer Karriere im Weltcup ein Abfahrtsrennen für sich entschie- tauchte, schrieb Westwood sich
den. Aber in Innsbruck schlug ihre große Stunde, mit fünf Zehntel ins Gedächtnis ein. 2008 sucht
Vorsprung deklassierte sie die Konkurrenz. Drei Tage später ge- die Journalistin Carrie in dem
wann sie Gold im Slalom, da war der Trubel um ihre Person schon »Sex and the City«-Film nach
ungemein. Mittermaier war die neue Volksheldin. Sie kam aus einem Brautkleid und findet
einer Skifamilie aus Reit im Winkl, die Winklmoosalm blieb ihr das perfekte bei Westwood. In
ganzes Leben ein Fixpunkt – Beleg dafür, wie bodenständig sie einer Branche, die als ober-
auch nach dem Triumph von Innsbruck blieb. Nach dem Gold- flächlich gilt, war es Westwood

Franck Seguin / WITTERS

Winter beendete sie ihre aktive Laufbahn. Doch sie war weiterhin nie. In Interviews warnte sie
präsent, als Werbefigur, Olympia-Botschafterin oder TV-Expertin. zuletzt immer häufiger, wenn
Schlagzeilen machte zudem ihre Hochzeit mit dem Slalomfahrer man den ganzen Fashionfirle-
Christian Neureuther. Fortan waren sie die perfekte Skifamilie – fanz so weiterbetreibe, sei man
zumal Sohn Felix zu einem der erfolgreichsten deutschen Skifahrer mit schuld am Ende der Welt.
aufstieg. Mittermaier drängte sich nie in die Öffentlichkeit. An Auch deshalb fuhr sie nur noch
ihrer Bekanntheit änderte das bis zuletzt nichts. Rosi Mittermaier Fahrrad und ernährte sich vege- auf. Zur Militärdiktatur in
starb am 4. Januar in Garmisch-Partenkirchen. AHA tarisch. Vivienne Westwood seinem Land fand er wenige
starb am 29. Dezember 2022 Worte, im Gegenteil: Er
in London. NGA ließ sich von der Junta in die
Anita Pointer, 74 Pflicht nehmen, blieb auch
P. Archuleta / Getty Images

Wie viele Soulsängerinnen ihrer Generation kam sie auf ihren Druck hin im Land,
aus einer religiösen Familie, in der Gospel gesungen statt ins Ausland zu wechseln.
wurde und Rock ’n’ Roll als Teufelszeug galt. Elvis Das tat er erst im Herbst
Presleys »All Shook Up« war die erste Platte, die seiner Karriere: Bei New York
ihre ältere Schwester Ruth sich zulegte – ihre Mutter Cosmos verhalf er dem US-
erlaubte es, weil sie Elvis’ Gospel-beeinflusste Songs Fußball zu einer Blütezeit.
mochte. Der Band, die ihre Schwestern Ende der Sechziger gegrün- Auch später war Pelé das Aus-
det hatten, schloss sich Anita rasch an. Ihre Erfolgsformel: Sie ver- hängeschild des Weltfußballs,
banden ihre Soulstimmen mit tanzbaren Pop-Arrangements. Sie viele versuchten, sich mit
Jonathan Player / NYT / Redux / laif

konnten aber auch anders, mit »Fairytale« von ihrem zweiten Al- ihm zu schmücken. Seine Zeit
bum hatten sie etwa einen überraschenden Countryhit. Doch ihre als Brasiliens Sportminister
großen Erfolge waren kleine Dance-Pop-Meisterwerke wie »I’m So war nur eine Episode, Politik
Excited«, ein Song, der von der Vorfreude auf eine Nacht mit nicht seine Sache. Er blieb
einem Mann handelt und die Euphorie direkt vermittelt: Man hört sein Leben lang Fußballer, für
Anita geradezu durch ihr Zimmer tanzen. Die Pointer Sisters blie- viele der beste der Welt.
ben bis in die Zehnerjahre hinein im Geschäft und tourten um die Pelé starb am 29. Dezember
Welt. Anita Pointer starb am 31. Dezember in Beverly Hills. RAP in São Paulo. AHA

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 117

PERSONALIEN

Problemzonen
Das wahrscheinlich erste männliche Supermodel der Welt weiß, was
man tun muss, um in Form zu bleiben. Überraschung: Viel Wasser
trinken und regelmäßig schlafen reicht nicht. Da ließ der Brite
David Gandy, 42, gegenüber einem »Times«-Reporter keinen Zwei-
fel aufkommen, als der ihn vor Kurzem für eine ultimative Fitness-
beratung getroffen hat. Gandy wurde 2007 berühmt durch einen
Werbespot für Dolce & Gabbana, in dem er in einer knappen wei-
Adam Fussell / The Times / ddp; Hair: Larr y King, Grooming: Michael Gray using SkinCeuticals, Clothes by David Gandy
ßen Badehose lässig am und im Mittelmeer posierte. In Form ist
er auch 15 Jahre später. Seine Fitnessroutine: viermal die Woche
45 Minuten Training mit Gewichten. Wobei 45 Minuten im Studio
auch 45 Minuten Training bedeuten, nicht auf der Bank sitzen
und E-Mails checken: »Wir halten immer Ausschau nach einem
einfachen Weg, aber den gibt es nicht.« Kalorien zählen hält der
zweifache Vater für überflüssig, »solange man genug trainiert«.
Er müsse aufpassen, dass er nicht zu viele Muskeln aufbaue, so
Gandy, sonst seien die Klamotten zu eng, die er modelt. Ein
Supermodel hat eben andere Probleme als Normalsterbliche. KS

Der Mutmacher seinen Instagram-Kanal an Hopkins weiter. »Ich bin kein

Sein Serienkiller Hannibal
Lecter aus »Das Schweigen der
Lämmer« jagt dem Publikum
die pure Angst ins Herz, dabei
ist Anthony Hopkins, 85, privat
ein äußerst herzlicher Mensch
und Mutmacher. Das bewies
er erst neulich wieder. In einer
bewegenden Stegreifrede
zum neuen Jahr wandte der bri-
Prensa Internacional / Prensa Internacional / ZUMA
tische Schauspieler sich über
Wire / ddp
Menschen mit Suchtproblemen.
Seine Kernbotschaft: »Sei gut
zu dir selbst. Lebe dein Leben.
Sei stolz auf dein Leben.« Er
selbst sei trockener Alkoholiker
und rühre seit 47 Jahren keinen
Tropfen mehr an: »Damals
war ich in einer verzweifelten
Situation und hätte wahrschein-
lich nicht mehr lange zu leben
gehabt.« Er sei kein Experte
in Sachen Suchterkrankung, so
Experte für irgendwas. Aber
ich habe ein Leben gefunden,
in dem niemand mich schi-
kaniert.« Hopkins, der in seiner
langen Karriere oft einsame,
verschlossene Männer spielte,
ermunterte seine Zuschauer
dazu, sich bei Problemen
schnell Hilfe zu suchen: »Schäm
dich nicht. Feiere dich. So wie
ich mich, auch wenn ich nichts
weiß.« KAE

118 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023

 wahre Geschichte der syrischen
Schwimmsportlerin Yusra Mar-
dini und ihrer Schwester Sara,
die im Film von Issa dargestellt
wird. Die Schwestern flohen
2015 mit einem Schlauchboot
über das Mittelmeer nach
Deutschland. Ein Jahr später
wurde Yusra Teil eines Teams
aus Flüchtlingen bei den Olym-
pischen Sommerspielen in
Rio de Janeiro. Sara arbeitete
als Flüchtlingshelferin und kam
Joanne Davidson / CAMERA PRESS / laif
Newcomer mit 78
Vom Politstar der Neunziger-
jahre in Frankreich zum Thea-
terschauspieler und bald zum
Film? Für Jean-Louis Debré, 78,
einst Innenminister unter
Präsident Jacques Chirac, kein
Problem. Debré tourt jetzt
durch Frankreich. In dem Stück
»Ces femmes qui ont réveillé la
France« (»Die Frauen, die Frank-
reich wachgerüttelt haben«), das
viele hätten ihn für verrückt er-
klärt, erzählte er kürzlich in »Le
Monde«. Doch der Erfolg hat
ihm recht gegeben. Mittlerweile
sind die meisten Vorstellungen
ausverkauft, seine Tournee
führt ihn von Paris nach Valence,
Le Touquet und Lille, sogar bis
in den Libanon. Jetzt reist der
frühere Spitzenpolitiker von
Stadt zu Stadt, wohnt in einfa-
chen Hotels und ist »so glück-
lich wie noch nie«. Der grau-

Späte Reue
Die französisch-libanesische
Schauspielerin Manal Issa, 30,
bereut ihre Beteiligung an
der Netflix-Produktion »Die
Schwimmerinnen«. Sie sei ent-
setzt darüber, wie oberflächlich
und kitschig der Film geraten
sei, sagte sie der Nachrichten-
agentur Middle East Eye. Es sei
2018 auf der Insel Lesbos in er gemeinsam mit seiner Le- haarige Newcomer schmiedet
griechische Gefangenschaft. bensgefährtin Valérie Bochenek Pläne für seine weitere Schau-
Viel echtes Leid also, das von geschrieben hat, stellt er in spielkarriere. Er denkt über ein
einer amerikanisch-britischen Kurzporträts berühmte und we- neues Stück nach und träumt
Produktionsfirma für einen niger berühmte Frauen vor, die von einer Kinofilmrolle: »Ich
westlichen Markt weichgespült wichtig für die Republik waren. habe meinen Produzenten
wurde. Bemerkenswert, und Anfangs habe kaum jemand gebeten, sich ein wenig umzu-
zwar im negativen Sinne: Das an sein Theaterprojekt geglaubt, hören. Man weiß ja nie.« PE
Hauptensemble des syrischen
Flüchtlingsdramas kommt ganz
ohne syrische Beteiligung aus.
Issa lehnte die Rolle der Sara
zunächst ab, sagte dann aber
doch zu, da sie das Gefühl hat-
te, die Schauspielerin zu sein,
die der Rolle am nächsten
kommt. Im Interview sagte sie:
»Ich hätte die Rolle sofort auf-
gegeben, wenn eine Syrerin
für die Rolle infrage gekommen

Stephane Kerrad / KB Studios

einer »dieser banalen ameri-
kanischen Filme, die mit vielen
orientalistischen Klischees ge-
füllt sind«. Das Filmdrama der
walisisch-ägyptischen Regisseu-
rin Sally El-Hosaini erzählt die
wäre, aber das war nicht der
Fall.« Issa ist frustriert: »Wir
hatten viele Ressourcen, viel
Geld und viele Talente. Deshalb
ist es schade, dass der Film nicht
besser geworden ist.« FRN

Ein Star in spe Dance with Somebody« über das Leben

Die britische Schauspielerin Naomi
Ackie, 31, seit Ende Dezember als Whit-
ney Houston in den Kinos zu sehen,
muss mit einem inneren Zwiespalt zu-
rechtkommen. Je mehr Bestätigung sie
für ihre künstlerische Leistung erhält,
desto bekannter wird sie – und be-
rühmt zu sein macht ihr eigentlich
Angst. Das gestand sie in einem Inter-
view mit »The Independent«. Ihren
Durchbruch feierte Ackie mit einer
Nebenrolle im Film »Lady Macbeth«
(2016), für die sie ausgezeichnet wurde.
Doch trotz des Erfolgs fand sie kaum
Jobs, es gebe noch immer weniger Rol-
len für schwarze Schauspielerinnen.
Mit einem Engagement in »Star Wars:
Der Aufstieg Skywalkers« (2019) starte-
te Ackie wieder durch. Sie liebe es, vor
Hanna Lassen / Getty Images
der Sängerin Whitney Houston. In
Ackies Heimatstadt London waren U-
Bahn-Stationen mit Kinoplakaten de-
koriert, die ihr Konterfei zeigten, der
PR-Spruch lautete: »Naomi Ackie ist
Whitney Houston«. Die Erfahrung fand
sie »erstaunlich, aber auch wirklich
peinlich«. Natürlich sei ihr bewusst ge-
wesen, dass sie viel Aufmerksamkeit
für diese Rolle bekommen würde, sie
sorge sich aber um ihre Privatsphäre:
»Ich sehe jetzt schon, dass sich mein
Leben verändert. Und ich mag mein
Leben wirklich!« Im Gegensatz zu
Houston, die 19 Jahre alt war, als sie ins
Rampenlicht trat, sei ihr mit 31 Jahren
aber klarer, worauf sie sich einlasse. Die
Öffentlichkeit habe permanent ver-
sucht, Houston Etiketten zu verpassen:
an einem Tag Pop-Prinzessin, am

der Kamera zu stehen und Geschichten nächsten Drogenwrack. Die Vorstel-

zu erzählen, sagte die Schauspielerin,
aber das Konzept von Ruhm fühle sich
nach wie vor fremd an. Eine Ahnung,
was es heißt, ein Star zu sein, bekam sie
schon vor der Premiere von »I Wanna
lung, dass Leute über ihr Leben reden,
die keine Ahnung haben, wer sie wirk-
lich ist, findet Ackie »erschreckend«:
»Das ist das, was mir am Berühmtsein
die meiste Angst macht.« KS

Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE
Der Kampf um
immer mehr
Nr. 1/2023 Titel: Hatte Marx doch recht?
Sie schreiben: »Warum der Kapi­
talismus so nicht mehr funktio­
niert – und wie er sich erneuern
lässt.« Er hat nie funktioniert,
jedenfalls nicht für die Arbeiten­
den. Wer den Kapitalismus »er­
neuern« will, hat seine wesentli­
che Grundlage nicht verstanden:
Der Kapitalgeber eignet sich die
Arbeitsergebnisse der Arbeiten­
den an und damit den aus­
schließlich durch Arbeit erzeug­
ten Mehrwert. Die Arbeitenden
erhalten dafür lediglich den Be­
trag, der zur Wiederherstellung
ihrer Arbeitskraft erforderlich
ist – bestenfalls, zunehmend je­
doch auch weniger. An Diebstahl
gibt es nichts zu »verbessern«!
Torsten Thiele, Meppen (Nieders.)
Die Zeit ist marxistischer denn je.
Nur das Bewusstsein dazu ist ent­
fernter denn je. Daher wird es
Zeit, die blauen Bände wieder zu
lesen.
Werner Dinkelbach, Sinzig (Rhld.-Pf.)
Dass Marx recht hat, ist mir nicht
erst seit heute geläufig. Ich habe
diese Gewissheit seit 60 Jahren,
als ich mir in der DDR die Marx/
Engels­Werke (MEW) kaufte.
Endlich gelangt der SPIEGEL mit
seiner aktuellen Titelgeschichte
auch zu erstaunlichen Erkennt­
nissen wie dass der Kapitalismus
120 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
nicht mehr weiter »siegen« wird,
sondern sich mit fatalen Folgen
abgewirtschaftet hat. Diese Er­
kenntnis in der aktuellen Aus­
gabe ist durchaus neu – huldigte
der SPIEGEL doch in der Vergan­
genheit zu häufig dem Neolibe­
ralismus. Das Thema der Titel­
geschichte und der differenzierte,
gute Inhalt waren längst über­
fällig.
Dieter Hooge, Frankfurt am Main
Der Kapitalismus ist nicht immer
gerecht, aber immer noch besser
als der Kommunismus. Wir steu­
ern auf den puren Kommunismus
zu, wo eine Elite die Herrschaft
hat und alle anderen Sklaven sind.
Ich glaube nicht, dass jemand so
etwas will, außer der Elite.
Catherine Hafner, Bronschhofen
(Schweiz)
Die Diagnose des Kapitalismus
von Marx mag richtig gewesen
sein, allerdings haben sich seine
Therapievorschläge in der Praxis
bisher als untauglich erwiesen.
Angefangen von der Diktatur des
Proletariats bis hin zur Vergesell­
schaftung der Produktionsmittel.
Marx wollte nicht den Kapitalis­
mus reformieren, er wollte ihn
abschaffen, wobei er die Entwick­
lung vom Sozialismus zum Kom­
munismus als einer historischen
Gesetzmäßigkeit folgend zwangs­
läufig ansah. Insofern hat das, was
jetzt in überwiegend akademi­
schen Kreisen zur Reform des
Kapitalismus diskutiert wird, mit
den Ideen von Karl Marx wenig
bis gar nichts zu tun.
Ernst Jolitz, Berlin
Der Artikel hat mir gefallen, be­
sonders der Satz »wenn ausge­
wiesene Superkapitalisten plötz­
lich klingen wie Fans von Karl
Marx«. Ich hoffe, dass sie nicht
nur so klingen, sondern dass
sie sich als lernfähig erwiesen ha­
ben. Was wäre das für eine Zei­
tenwende!
Ursula Lemke, Köln
Irgendwann, aber das wird leider
noch sehr lange dauern, wird
der Begriff Wirtschaftswachstum
einmal als Unwort des Jahres,
wenn nicht des Jahrzehnts oder
sogar des Jahrhunderts, gewählt
werden.
Werner Ohler, Remscheid
Was wir brauchen, ist ein privates
Höchsteinkommen und ­vermö­
gen, damit dieser Kampf um im­
mer mehr ein Ende findet. Und
jede Ware muss ihren wahrhafti­
gen Preis bekommen. Der setzt
sich zusammen aus (mindestens)
gerechtem Mindestlohn, men­
schenwürdigen Arbeitsbedin­
gungen und einer ökologischen
Herstellung und ist nicht quersub­
ventioniert. Das heißt auch, Wer­
befinanzierung und Sponsoring
sollten verboten werden. Das
Geld muss in den Umwelt­ und
Naturschutz fließen.
Bernd Scherwatzki, Mönchengladbach
Fehlbesetzung
mit Ansage
Nr. 52/2022 Leitartikel: Verteidigungs-
ministerin Lambrecht sollte
ausgemustert werden
Sie haben hier eine sehr realisti­
sche Einschätzung der aktuellen
Situation der Einsatzbereitschaft
der Bundeswehr vorgelegt. Wel­
cher ich, als ehemaliger Berufs­
offizier der Bundeswehr, leider
Gottes voll zustimmen muss.
Hoffen wir alle inständig, dass
unsere äußere Sicherheit nicht
von der eigenen Armee abhängt,
denn dann sieht Deutschland
plötzlich sehr alt aus! Oder müs­
sen wir doch wieder unsere ame­
rikanischen Verbündeten um So­
forthilfen bitten?
Peter Götze, Potsdam
So langsam wird es peinlich, das
Draufhauen auf denjenigen, der
den ganzen Schlamassel am we­
nigsten verursacht hat. Es bedurfte
vieler CDU­Verteidigungsminis­
ter, um diesen Zustand der Armee
herzustellen.
Helga Crocoll, Pötenitz (Meckl.-Vorp.)
Nach meinem Empfinden zeugt
der Leitartikel von der Abwesen­
heit jeglicher fundierter Sach­
kenntnis über den tatsächlichen
Ablauf von Beschaffungspro­
zessen bei der Bundeswehr.
Der SPIEGEL sollte sich vielleicht
einmal der Mühe unterziehen,
den Ablauf von der Entstehung
eines Lastenheftes bis zum Ein­
satz des Produktes bei der Trup­
pe zu recherchieren. Ich bin si­
cher, man würde überraschende
und interessante Zusammenhän­
ge erkennen, die aber auch die
Komplexität der Vorgänge und
die bisher begrenzten Erfolge der
Bemühungen der verschiedenen
Ministerinnen und Minister ver­
deutlichen.
Hans-Dieter Hallbauer, Jork (Nieders.)
Auch der SPIEGEL sollte eigent­
lich wissen, dass das Problem
nicht von der jetzigen Regierung
verschuldet worden ist. Herr von
Hammerstein ist als kompetenter
Journalist bekannt. Er könnte mal
die Damen von der CDU, die vor­
her das Amt viele Jahre innehat­
ten, fragen, wie das denn damals
war, auch mit den Verträgen, die
ohne Gewährleistung abgeschlos­
sen wurden. Jetzt, wo die Pro­
bleme aufgrund des Ukraine­
kriegs auftreten, kommt Herr
von Hammerstein hinterm Ofen
vor. Das ist journalistisch ganz
schlecht recherchiert und wird
der Situation in keinster Weise
gerecht.
Lothar Wirth, Berlin
Eine Fehlbesetzung mit Ansage!
Schon kurz nach ihrem Amtsan­
tritt war zu sehen, dass Frau Lam­
brecht keinerlei Interesse an der
Truppe und ihrem Amt hat. Es ist
nicht so, dass nicht seit Jahren al­
len Nato­Verbündeten klar ist,
dass die Bundeswehr wahrschein­
lich nicht mal eine Feldküche
betreiben könnte, um im Bünd­
nisfall wenigstens irgendwas
beizusteuern. Aber durch den
russischen Angriffskrieg gibt es
endlich Geld und eine breite öf­
fentliche Unterstützung, um das
zu ändern. Es braucht eine Amts­
person, die anpackt und gestaltet.
Lukas Orbke, Herford (NRW)
KORREKTUR
Zu »Die Macht und ihr Preis« in
Heft 52/2022, Seite 36: Bei der
erwähnten Firma Halberg Guss
handelte es sich nicht um einen
Stahlhersteller, sondern um eine
Eisengießerei.

Der Neunziger-Boom
wird mit Blick auf die
bekannten Auktions-
plattformen bestätigt.
Dort werden für
Poster von Britney
und Co. Preise ver-
langt, die teilweise
das Zehnfache der
seinerzeitigen Laden-
preise betragen.
Pre-owned und gefal-
tet! Bieter und Käufer
werden wohl kaum
heutige Teenies sein.
Wolfgang Kessler,
Beckenried (Schweiz)
Nr. 52/2022 Die Neunziger
sind wieder da – von den einen
verklärt, von den anderen
kritisch reflektiert
Im Guten wie im
Schlechten
Nr. 52/2022 Über den Umgang mit dem
historischen und kulturellen Erbe
Preußens ist ein Kulturkampf entbrannt
Mit großem Interesse habe ich
den inhaltlich sehr guten Artikel
gelesen. Es bleibt mir allerdings
ein Rätsel, warum Herr von Preu-
ßen in diesem (und leider auch in
anderen Artikeln des SPIEGEL )
immer noch als »Hohenzollern-
Oberhaupt« bezeichnet wird. Die
Adelsprivilegien wurden 1919
aufgehoben. In diesem Sinne ist
die Familie von Preußen seitdem
eine ganz normale Familie, die
aus der Dynastie der Hohenzol-
lern hervorgegangen ist. Sie sind
somit streng genommen Nach-
fahren der Hohenzollern und
nicht »die Hohenzollern«. Darü-
ber hinaus ist der Oberhaupt-
begriff auf Familien bezogen der-
maßen aus der Zeit gefallen. Wie
wurde ihm die Oberhauptfunk-
tion überhaupt verliehen? Durch
Wahl? Einen Rang bekleidet ja
seit 1919 niemand mehr. Gesell-
schaftlich gesehen sind patriar-
chalische Strukturen komplett
überholt und zum Glück auf dem
Rückzug.
Marc Sawala, Nordstemmen (Nieders.)
»Stiftung Preußischer Kulturbe-
sitz«: Wer im In- oder Ausland
kann mit diesem Namen auf An-
hieb schon etwas anfangen? Man
Wieso glaubt der
österreichische
Schauspieler Hans
Sigl, aufgrund seiner
Rolle in »Der Berg-
doktor« erklären
zu können, dass die
Deutschen nicht
zu ihren Gefühlen
stehen und wie unser
Gesundheitssystem
aussehen soll?
Helga Hage, Mettmann (NRW)
Nr. 52/2022 Personalien: Für
mehr Empathie
sollte den verdienten Leiter die-
ser bedeutsamen Einrichtung,
Hermann Parzinger, von der stän-
digen Verlegenheit befreien, den
antiquierten Stiftungsnamen er-
läutern und verteidigen zu müs-
sen. Vor allem aber sollte man
den Namensgeber des integrier-
ten Humboldtforums, Alexander
von Humboldt, der sich bekannt-
lich viel lieber in Paris als in Ber-
lin aufhielt, durch den Preußen-
bezug nicht in seiner beispiel-
losen weltbürgerlichen Haltung
schmälern.
Ludwig Engstler-Barocco, Bonn
Ohne weiteres grün-rot-blaues
kulturkämpferisches Gezänk soll-
te die »preußische Kultur-Stif-
tung« schlicht und einfach in
»Stiftung deutscher Kulturbesitz
Berlin« umbenannt werden. Das
würde übergreifend national kul-
turgeschichtlich stimmig und
zutreffend sein und wäre sogar
einfach international leicht loka-
lisierbar, übersetzbar und ver-
ständlich.
Renate Rauh, Berlin
Ob man alles an Preußen mag
oder nicht – das Land war ein
prägender Teil der deutschen Ge-
schichte über lange Zeit, im Gu-
ten wie im Schlechten. Die Stif-
tung Preußischer Kulturbesitz
geht auf Preußen zurück – mehr
nicht, aber eben auch nicht weni-
ger. Eine Umbenennung ist eine
sehr ideologische Handlung, die
Anstatt zehn Mil-
liarden aus dem
Fenster zu werfen,
sollte Finanzminister
Lindner eine Bilanz
der beiden großen
Kirchen einfordern
und diese in eine
übliche Kapitalgesell-
schaft überführen.
Walter Borrmann, Emsdetten
(NRW)
Nr. 52/2022 Milliardenablöse
für Zahlungen des Staats an
die Kirchen geplant
Beibehaltung hingegen einfach
genau das: eine Beibehaltung.
Die Stiftung heißt ja nicht »Preu-
ßens Gloria« oder ähnlich, der
Name »Preußen« in ihr steht le-
diglich für ihre Herkunft, ohne
Verehrung oder Verdammung.
Wenn ständiges Umbenennen zur
Tradition wird, läuft das auf eine
Geschichtslosigkeit hinaus, denn
genau wie wir heute manches an
der Vergangenheit kritisch sehen,
werden das folgende Generatio-
nen an unserer Zeit tun. Warum
also die jeweilige Vergangenheit
auslöschen, wenn sie nicht in al-
len Nuancen genau dem heuti-
gen offiziellen Wertekanon ent-
spricht – oder gar nur nicht dem
Wertekanon einer nicht einmal
demokratisch legitimierten Denk-
richtung?
Andreas Umbreit, Gotha (Thür.)
Ein zweischneidiges
Schwert
Nr. 52/2022 Die Nobelpreisträgerin
Christiane Nüsslein-Volhard fordert
Gentechnik auf dem Acker
Frau Nüsslein-Volhard unterstellt
Gentechnik-Skeptikern eine »ge-
fährliche und rein ideologisch be-
gründete Haltung«. Dabei reprä-
sentiert ihre Sicht auf die künst-
liche Gentechnik das typisch
mechanistische Biologiebild des
20. Jahrhunderts, in dem sich
Gene wie Legobausteine zusam-
menfügen lassen, um optimierten
Zielen zu dienen.
Günther Witzany, Bürmoos
(Österreich)
Sachlich, präzise und verständ-
lich legt die Biologin dar, dass wir
in der EU und insbesondere in
Deutschland mit unserem Gen-
technikverbot in eine ideologi-
sche Falle gerannt sind. In Zeiten
wie diesen, wo angesichts der
globalen Überlebenskrisen Tem-
po und Beschleunigung gefragt
sind, dürfen wir uns nicht durch
verbohrte Ideologien ausbremsen
lassen. Neue Technologien sind
oft ein zweischneidiges Schwert,
sie beherrschen zu lernen ist
unsere verdammte Pflicht.
Anton Burnhauser, Biologe, Augsburg
Ich habe Angst vor den unkon-
trollierten Hinterhoflaboren, die
mittels der einfachen Crispr-
Cas-9-Technik in welchem Ge-
nom auch immer herumpfuschen.
Angst vor dem Irrglauben, kom-
plexe Probleme könnten mit
einfachen Lösungen behoben
werden, statt sich mit den tatsäch-
lichen Ursachen auseinander-
zusetzen. Angst vor der Zulas-
sung dieser Technik, die nicht zu
einem weniger an Ressourcen-
verbrauch, sondern zu verstärk-
ter Ausbeutung von Mensch und
Natur führen kann.
Gerd Wülpern, Heeslingen-Boitzen
(Nieders.)
Frau Nüsslein-Volhard ist eine
ausgezeichnete Naturwissen-
schaftlerin; ihre Ansichten zur
grünen Gentechnik jedoch über-
zeugen nicht. So geht sie davon
aus, dass die wachsende Welt-
bevölkerung nur durch intensive
Landwirtschaft mit gentechni-
schen Mitteln ernährt werden
kann, da die Anbauflächen be-
grenzt seien. Recht hat sie mit
Letzterem – sie hat jedoch nicht
berücksichtigt, dass etwa 80 Pro-
zent der landwirtschaftlichen Flä-
chen weltweit der Produktion
von Tierfutter dienen. Unsere
Erde hat genügend Ressourcen,
mehr Menschen zu ernähren
als jetzt: durch ein deutliches
Zurückschrauben von Massen-
tierhaltung und Fleischkonsum
nämlich.
Gisela Graf, Magdeburg
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 2 / 7.1.2023 DER SPIEGEL 121
L E TZ T E S E I T E
Trend zum Wohlstandsüberdruss
ZEITREISE»Die Grenzen des Wachstums« – das war vor 50 Jahren
nicht mehr nur die Losung einer kleinen antikapitalistischen Minderheit.
Konsumzweifel breiteten sich bis tief in die Mittelschicht aus.
Nr. 2/1973 »Was Menschen
vom Schwein unterscheidet«
Die Maximierung des
Wachstums wurde in den
Jahrzehnten des Wirt­
schaftswunders zur Maxi­
me der Politik, an Produk­
tion und Konsum maßen
Industrienationen ihren Erfolg. Vor 50 Jah­
ren änderte sich das allmählich. Die Kritik
am rein ökonomischen Fortschritt blieb
kein »Exklusivrecht der Philosophen«, wie
der SPIEGEL schrieb: »Wohlstandsüber­
druss« komme in Mode – wobei das ärmste
Viertel der Bundesdeutschen »keineswegs
im Konsumgütertopf zu ertrinken« drohe.
Zweifel überkamen selbst konservative
Politiker. Auch wenn der Lebensstandard
im kommenden Jahrzehnt um 50 Prozent
steige, sei die entscheidende Frage, »ob wir
wirklich 50 Prozent glücklicher sein wer­
den«, mahnte etwa US­Präsident Nixon.
Hauptgrund für das »Unbehagen am
steigenden Wohlstand« war die Umweltver­
schmutzung. Der Ökonom John Kenneth
Galbraith brachte das neue Bewusstsein so
auf den Punkt: Wer im Verkehrsstau fest­
sitze und langsam am Kohlenmonoxid ein­
Frohes Neues!
SO GESEHEN Endlich alle Berliner
Probleme gelöst
1. 1. 2024 Von einem ungewöhnlich harmo­
nischen Verlauf der vergangenen Silvester­
nacht berichtet die Polizei aus dem Berliner
Bezirk Neukölln. »Wir haben uns echt ge­
freut«, sagte ein Sprecher auf der traditio­
nellen Neujahrspressekonferenz, auf der
in früheren Jahren stets Böllerverbrennun­
gen, Raketenunfälle und Angriffe auf
Feuerwehr und Rettungskräfte vermeldet
werden mussten. Diesmal jedoch sei der
Jahreswechsel im ehemaligen Problembe­
zirk erstmals »vollkommen friedlich« ver­
laufen: »Das stadtweite Böller­
verbot wurde ausnahmslos
eingehalten, wir hatten kei­
nerlei Probleme.« Auch
das direkt nach den Aus­
schreitungen des ver­
gangenen Jahres
vom Senat aufge­
legte Erziehungs­
programm »Helfer
122 DER SPIEGEL Nr. 2 / 7.1.2023
HOHLSPIEGEL
Aus der »Mittelbayerischen Zeitung«:
Photoshot / Construction Photography / IMAGO
Aus der »Eckernförder Zeitung«:
»Unter Schnee versteckt oder im Boden
festgefroren finden Vögel wenig Futter.«
Bild.de über einen Berliner Polizeifahnder:
»Er und seine Kollegen kontrollieren bis
Stahlfabrik in Gary, Indiana, 1970
2 Uhr Verdächtige aus Nordafrika, ob­
servieren einen polizeibekannten Iraner
und unterstützen ihre Kollegen bei einer
gehe, werde »nicht dadurch zu erheitern räuberischen Erpressung am Ostbahnhof.«
sein, dass ihm der letzte Überlebende
zuruft, das Bruttosozialprodukt habe einen
Schild beim Bolzplatz einer Schule in Bern (Schweiz):
neuen Rekordzuwachs erreicht«.
Immer mehr Menschen fragten sich, ob
der bis dahin so erfolgreiche Kapitalismus
noch das geeignete System sei und wann
die stete wirtschaftliche Expansion enden
müsse.
Vorreiter dieser Position war der Club
of Rome. Er ließ Forscher per Computer
die »Grenzen des Wachstums« ausloten.
Aus der »Frankfurter Allgemeinen«:
Das düstere Szenario: Falls das Wirtschafts­
wachstum nicht bis 1985 gestoppt werde, »Die nächsten Entlastungsschritte stehen.
gerate die Welt »noch vor dem Jahr 2100« Für alle, die nicht mit Gas oder Fernwärme
in eine große Katastrophe. Rainer Lübbert heizen, gibt es 1,8 Milliarden Euro.«
Aus der »Neuen Westfälischen«:
sind Freunde« habe Früchte getragen, zahl­
reiche Jugendliche hätten sich mit kleinen »Viele Beschäftigte gehen schon vor dem
Aufmerksamkeiten für die schwierige Ar­ regulären Eintrittsalter in den Ruhestand.
beit des Sicherheitspersonals bedankt. Bei Olaf Scholz sieht darin ein großes Problem
einem einzigen medizinischen Notfall, der für den Fachkräftemangel.«
in keinem Zusammenhang mit Silvester
gestanden habe, sei sofort eine vorschrifts­
Aus dem »Tagesspiegel«:
mäßige Rettungsgasse gebildet worden.
Auch die amtierende Regierende Bürger­
meisterin zeigte sich zufrieden: »Wir haben
das Problem gelöst«, verbreitete Franziska
Giffey (SPD) in einem Grußwort beim Neu­
jahrsempfang der erst im Januar vergange­
nen Jahres gegründeten »Vereinigung ehe­
mals perspektivloser Kleingangster Neu­
kölln e. V.«. Jugendarbeitslosigkeit, man­
gelnde Schulbildung und unzureichende
Deutschkenntnisse seien »Phänomene von Allergenhinweis auf einem Christstollen von Edeka:
gestern. Und das alles, weil wir nicht mehr
böllern«. Anschließend schritt die Bürger­ »Das Produkt kann Spuren von Eiern und
meisterin zur zeremoniellen Einschmelzung anderen Schalenfrüchten enthalten.«
der letzten verbliebenen Berliner Schreck­
schusswaffe.
Aufdruck auf einer Wanderkarte:
Zum Abschluss wagte die SPD­Politi­
kerin einen positiven Ausblick in die
Zukunft: »Die Wiederholung der Wahl hat
2023 zwar noch nicht so gut geklappt«,
sagte Giffey. »Aber das schaffen wir auch
noch.« Stefan Kuzmany
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