BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 Norwegen NOK 86,– Polen (ISSN00387452) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien

2) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Printed in

Dänemark dkr 57,95 Frankreich € 6,80 Italien € 6,80 Österreich € 6,00 Portugal (cont) € 6,80 Slowenien € 6,50 Spanien/Kanaren € 7,00 Ungarn Ft 2670,- Germany

Computerspiele

Jugendliche süchtig
So machen »Fortnite« und Co.
Tische fallen
Paralleluniversen
Wenn Tassen durch
Aufbruch, Umbruch, Crash-Angst:

Walser, Biller, Zeh

Wie golden wird das kommende Jahrzehnt?

über morgen denkt

Was unsere Dichterzunft
Nr. 1 / 28.12.2019
Deutschland € 5,30
Gibt der Work-Life-Balance einen Raum.
Die neue V-Klasse mit großzügigem, flexiblem Innenraum. #MakeYourMove
 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, illegale Einwanderer, Ungarn

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch be-

Wie man
Ziele setzt
H. MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL
ginnt nicht nur ein neues Jahr, sondern auch
IRIS CARSTENSEN / DER SPIEGEL

ein neues Jahrzehnt, die Zwanzigerjahre. Es

ist ein Name, der Erinnerungen weckt an an-
geblich goldene Zeiten, an wilde Nächte, an und erreicht
den Tanz auf dem Vulkan. Was werden die
neuen Zwanziger den Deutschen bringen?
Welche Veränderungen, welche Zumutungen
SPIEGEL-Gespräch im
hält dieses Jahrzehnt für uns bereit? Ein Team
Jung Weidermann um SPIEGEL-Redakteur Alexander Jung stellt
Bucerius Kunst Forum
in der Titelgeschichte elf Prognosen zum Le-
ben in einem Deutschland auf, das rasant altern, intensiv um Arbeitskräfte werben
wird und in dem die digitale Technik sowie die Rückkehr der Inflation den Alltag ver-
ändern werden. Ergänzt wird der Titel durch einen Essay und durch eine Umfrage
von SPIEGEL-Autor Volker Weidermann, der deutschsprachige Schriftsteller nach
ihren Visionen für die Zukunft befragt hat. Weidermann hatte dabei auch ein altes
rororo-Taschenbuch im Sinn, 1961 erschienen, es trägt den Titel »Die Alternative oder
Brauchen wir eine neue Regierung?«. Der damals 34-jährige Martin Walser hatte
den Band herausgegeben. Als Weidermann den inzwischen 92-Jährigen nun um einen
neuen Text bat und dabei an das alte Bändchen erinnerte, machte sich Walser sogleich
in seinem Haus am Bodensee auf die Suche. Und meldete wenig später per Mail,
dass er es leider nicht mehr finden könne. Aber er hat – wie viele andere Autorinnen
und Autoren – einen neuen Text geschickt. Zukunft, so scheint es, ist für Walser nun
Abschiednehmen. »Lösche das Licht in dir, mach der Schwärze Platz, den Wörtern
kündige, sie haben nichts genützt«, hatte er noch dazugeschrieben. Seite 52, 64, 112 Erst setzt man sich ein Ziel – aber dann
erreicht man es doch nicht. Diese frustrierende
Erfahrung machen alle Menschen irgendwann.
Mal sind die Vorhaben zu aufwendig oder zu
Als SPIEGEL-Redakteurin Katrin Kuntz das erste unkonkret, mal fehlt es an der Willenskraft.
Mal durch die Straßen von Canton in Mississippi fuhr, Doch es gibt aus der psychologischen Forschung
war sie erstaunt, wie leer die Viertel wirkten, in denen abgeleitete Techniken, die dabei helfen,
Einwanderer aus Lateinamerika leben: Kaum jemand realistische Ziele zu identifizieren und diese
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

wagte sich auf die Straße. Der Grund war eine Razzia zu erreichen. Über die Bedeutung von Selbst-
der Migrationspolizei, die größte, die jemals inner- steuerung und Zukunftsorientierung sowohl für
halb eines Bundesstaats stattgefunden hat, 680 illegal jeden einzelnen Menschen als auch für die
eingewanderte Arbeiter wurden festgenommen. »Sie Gesellschaft diskutiert SPIEGEL-Redakteurin
hatten sich sicher gefühlt«, sagt Kuntz, »immerhin Marianne Wellershoff mit Gabriele Oettingen,
wurden die meisten seit zehn Jahren im Land gedul- Professorin für Psychologie in Hamburg und
det, weil sie Jobs erledigen, die kaum jemand machen Kuntz in Canton New York.
will.« Kuntz traf während ihrer Recherchen auch den
Einsatzleiter der US-Einwanderungsbehörde, der die Schuld für die aktuelle Situation Montag, 6. Januar 2020,
bei den Abgeordneten und Senatoren in Washington sieht: »Der Kongress hatte jahr-
zehntelang Zeit, die Einwanderungsgesetze zu ändern. Nichts ist passiert. Jetzt tue 20 Uhr, Bucerius Kunst Forum,
ich nur das, was man von mir verlangt.« Seite 86 Alter Wall 12, 20457 Hamburg

Viktor Orbán hat Ungarn in ein Labor des Populismus verwandelt, aus einer post-
sozialistischen Gesellschaft soll wieder ein Volk werden, eines nach seinem Geschmack.
Die SPIEGEL-Redakteure Timofey Neshitov und Jan Puhl beobachteten ein Jahr
lang in der Stadt Szombathely, was einem Lokal-
politiker passiert, wenn er sich vom System Orbán
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen
abwendet. Der abtrünnige Vizebürgermeister
AKOS STILLER / DER SPIEGEL

bekannten Vor verkaufsstellen erhältlich.

»Man kann gegen Orbán eine Lokalwahl gewin-
Neshitov, Hende
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Miklos Molnár sagt, er sei kaltgestellt worden wie
Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am
im Kommunismus. Nach langem Zögern sprach
Veranstaltungstag zum Besuch der Ausstellung
auch Orbáns Mann in Szombathely, Ex-Verteidi-
»AMERIKA! DISNEY, ROCKWELL, POLLOCK, WARHOL«
gungsminister Csaba Hende, mit dem SPIEGEL.
(19.10.2019 bis 12.1.2020)
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
nen«, sagt Neshitov, »aber Orbán scheint auch sol-
19.00 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
che Niederlagen einkalkuliert zu haben.« Seite 42
geöffnet. Änderungen vorbehalten.
Bildnachweise: Kai Bublitz
3 Bildnachweis: Unsplash
Elektrisiert
das neue Jahr.
Wir wünschen Ihnen ein energiegeladenes neues Jahr
mit dem ersten rein elektrischen Sportback von Audi.
audi.de/e-tron

Audi Vorsprung durch Technik


Titel
Zukunft Gold oder grau:
Wie wird das neue Jahrzehnt
für Deutschland? . . . . . . . . . . . 52
Essay Volker Kutscher,
Autor hinter der TV-Serie
»Babylon Berlin«, hält
Vergleiche zwischen den alten
und den neuen Zwanzigern
für gefährlich . . . . . . . . . . . . . . . 64
Deutschland
Leitartikel 2020 muss
zur Zeitenwende in der
Klimapolitik werden . . . . . . . . . 8
Meinung Der gesunde Men-
schenverstand / So gesehen:
Todsicher zum Lottogewinn 10
Die Geschichten hinter den
Geschichten: Ein Interview,
das unser Denken darüber
änderte, welche Fragen man
Todkranken stellen darf /
Ein Protagonist einer Reportage
bittet um Hilfe – wie soll
unsere Kollegin damit
umgehen? / Wo AfD-Politiker
in Berlin gern essen gehen . . . 12
SPD Die unbekannten
Strippenzieher der Partei ...
Karrieren Tilman Kuban,
Chef der Jungen Union, macht
auf brachiale Art und Weise
Politik, hat aber wenig Erfolg
damit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Strategien Die Linkspartei
in der Krise – soll
sie fürs Klima kämpfen
oder für die Arbeiter? . . . . . . . 26
Europa EU-Kommissionspräsi-
dentin Ursula von der Leyen
erklärt im SPIEGEL-Gespräch,
warum der Brexit nicht nur
Nachteile hat . . . . . . . . . . . . . . . 28
Polizei Sollen Behörden
die Nationalität von
Tatverdächtigen nennen? . . . 32
6 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Inhalt
73. Jahrgang | Heft 1 | 28. Dezember 2019
Sucht Die unterschätzten
Gefahren von Computer-
spielen für Jugendliche . . . . . 34
Zeitgeschichte Ein Neben-
kläger hat mit großer Geste
einem KZ-Wachmann
vergeben – doch seine
Geschichte stimmt nicht . . . . 38
SUWIN PUENGSAMRONG / ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Reporter
Die Geschichten hinter den
Geschichten: Priesterseminar
und Mops-Pfändung . . . . . . . . 40
Machtspiele Kann man in
Ungarn noch gegen Viktor
Orbán kämpfen? . . . . . . . . . . . . 42
Mein Fall Respekt für den
Killer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Was Deutschland Wirtschaft
bis 2030 erwartet
Die Geschichten hinter den
James Dean lebt wieder, Algorithmen helfen Geschichten: Wie der YouTuber
gegen Krebs, der Arbeiter wird zum Rezo in den SPIEGEL kam /
Ein verurteilter Pflegedienst-
König, und Deutschland geht in Rente. Der betreiber entschuldigt sich bei
Crash? Kommt vielleicht. Eine seinen Mitarbeitern . . . . . . . . 50
Prognose für das neue Jahrzehnt. Seite 52
Handel Für den Investor
René Benko wird die Fusion
20 von Karstadt und Galeria
Kaufhof teurer als geplant 68
Start-ups Der unheimliche
Erfolg der chinesischen
Video-App TikTok bei west-
lichen Kindern und
Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . 70
ACTION PRESS
Veganindustrie Die frag-
würdigen Inhalte fleischloser
Burger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Die Kinder-Droge Gesundheit Das neue digitale
Netz weist schon vor
Computerspiele wie »Fortnite« (Foto) sind im All- dem Start schwere Sicherheits-
tag vieler Kinder und Jugendlicher allgegenwärtig. lücken auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Die Industrie bietet einige Spiele gratis an und
Immobilien Der Ökonom
nutzt Tricks, denen Minderjährige schlecht wider- Moritz Schularick über
stehen können. Psychiatrische Behandlungsmög- die soziale Ungerechtigkeit
lichkeiten für Abhängige gibt es nur wenige. Seite 34 im Wohnungsmarkt . . . . . . . . 76
 Ausland Archäologie Ein Bamberger
Forscher sucht nach
Die Geschichten hinter den Ursprüngen der Musik
den Geschichten: Die und baut mittelalterliche
Folgen der Ibiza-Affäre / Instrumente nach . . . . . . . . . . 106
Bei den Rebellen von

GEPA PICTURES/ CH. KELEMEN

Khartum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Sportmedizin Wie man sich
vor Kletterunfällen schützt –
Russland Wie Präsident Tipps vom Profi . . . . . . . . . . . 108
Wladimir Putin an einer neuen
Weltordnung arbeitet . . . . . . . 80
Kultur
Iran Mit maximaler Härte
reagiert das Regime Die Geschichten hinter den
auf Proteste . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Fast perfekt gedopt Geschichten: Shitstorm
um Ralf König / Rapper
USA Die größten Razzien Der Erfurter Mark Schmidt baute ein internationales Capital Bra unerreichbar /
gegen Schwarzarbeiter Dopingsystem auf. Athleten wie den österrei- Verschenkte Bücher von
in der Geschichte Jonathan Safran Foer . . . . . . 110
eines Bundesstaats werden
chischen Langläufer Max Hauke (Foto) versorgte er
zum Symbol für Donald mit Eigenblut. Die Anklage gegen den Mediziner Zeitgeist Haben Sie eine
Trumps Einwanderungs- gibt Einblick in die Betrugspraktiken. Seite 94 Zukunftsvision? Eine Umfrage
politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 unter deutschsprachigen
Schriftstellern . . . . . . . . . . . . . 112

Sport Hollywood Renée Zellweger

Wer mietet, verliert spielt den tragischen Filmstar
Die Geschichten hinter den Judy Garland . . . . . . . . . . . . . . 116
Geschichten: Warum wir eine Der Ökonom Moritz Schularick sieht im
Exklusivstory zum DFB Immobilienboom die Gefahr sozialer Spaltung: Genuss Der Stuttgarter Sterne-
versemmelten / Der nützliche koch Vincent Klink ist ein
Tipp eines Lesers an Dirk
Die obere Hälfte der Deutschen ist um etwa Philosoph des Essens . . . . . . 118
Nowitzki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 drei Billionen Euro reicher geworden. Die untere
Hälfte geht so gut wie leer aus. Seite 76 Kino Eine neue Version von
Doping Das weltweite »3 Engel für Charlie« . . . . . . 120
Netzwerk eines Erfurter
Mediziners . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 ANZEIGE Filmkritik Die Dokumentation
»Birth of the Cool« erzählt
Nationalelf Katerstimmung bei das Leben des Trompeters
deutschen Fußballfans . . . . . . 98 Warum ist Sparen bei jungen Miles Davis . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Menschen so angesagt?

Wissenschaft

Die Geschichten hinter den

Geschichten: Warum die
TV-Bilder von der Mondlan-
dung aus Australien kamen / 85 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland
Verhaltensforscherin fordert sparen laut einer Studie von RaboDirect regelmäßig.
Freiheit für Hauskatzen / So möchten sie sich Wünsche erfüllen (88 Prozent) und
Übertriebene Warnung vor finanziell unabhängig werden (67 Prozent). Wer beim
der E-Zigarette . . . . . . . . . . . . 100 Sparen zudem Gutes tun möchte, ist bei RaboDirect SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 37
richtig: Im Rahmen von „Banking for Food“ investieren Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Kosmologie SPIEGEL- wir weltweit in Projekte für Lebensmittelsicherheit und Impressum, Leserservice . . . 124
Gespräch mit dem Astro- gegen Lebensmittelverschwendung. Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
physiker Sean Carroll Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
über die Existenz www.rabodirect.de Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
von Paralleluniversen . . . . . 102 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfotos [M]: Ellen von Unwerth / Trunk Archive; M. Edge / NYT / laif; C. Jaspersen / dpa; R. Peters / Imago; M. Segerer / ddp; Hosoya Schaefer Architects; Getty Images (10) 7
 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Politisches Tischfeuerwerk
Leitartikel Im neuen Jahr braucht es endlich eine mutige Klimapolitik –
unsere Nachbarn im Norden zeigen, wie es geht.

A
m 12. Dezember 2015 verabredeten sich Delegierte gem und tatsächlichem Handeln, desto massiver drängt sie
aus 195 Ländern, die Welt zu täuschen. Sie trafen auf die Tagesordnung. Zugleich spricht wenig dafür, dass
sich in einem Konferenzzentrum nahe Paris, um »Fridays for Future« noch einmal wächst. Für 2020 ist das
das erste weltweite Klimaschutzabkommen zu eine schlechte Nachricht. Denn was ist von einer Regierung
beschließen. Doch heute, vier Jahre später, ist klar, dass die zu erwarten, die nicht einmal unter Idealbedingungen –
Hauptverantwortlichen niemals wirklich vorhatten, sich an erheblicher Druck von der Straße, Wahlerfolge der poli-
das Abkommen zu halten. Wie sonst ist zu erklären, dass tischen Konkurrenz, erdrückende Beweise der Klimawis-
die Emissionen seit der als historisch gefeierten Konferenz senschaft und hohe gesellschaftliche Akzeptanz für poli-
gestiegen sind, anstatt zu sinken? Dass der CO -Gehalt in tische Maßnahmen – in der Lage ist, adäquat zu handeln?
²
der Atmosphäre 2019 den höchsten Wert der Menschheits- Im nächsten Herbst lädt Großbritannien nach Glasgow
geschichte erreichte? Dass sich die Klimakrise in den ver- zur wichtigsten Klimakonferenz seit 2015. Weil bisher
gangenen 1477 Tagen also noch kaum ein Land auf Kurs ist,
verschärft hat? müssen die Anstrengungen
Auch die Bundesregierung der Weltgemeinschaft ver-
hat sich für den Weg des kalku- doppelt werden, um die Klima-
lierten Vertragsbruchs entschie- ziele von Paris zu erreichen.
den. Dabei waren die politi- Wie viel Führungsstärke
schen Rahmenbedingungen für ist von dieser GroKo zu er-
die Verabschiedung einer ambi- warten? Fast hofft man, der
tionierten Agenda, auch wenn kommende Sommer möge
das zynisch klingt, zuletzt so nicht kühl und regnerisch aus-
günstig wie nie zuvor: Starke fallen – ließe doch dann auch
Zunahme bei der Vernichtung noch die Aufmerksamkeit für
des brasilianischen Regenwalds, die Klimakrise nach.
rapide schmelzende Gletscher Es heißt oft, Klimaschutz
und Dutzende deutsche Städte, brauche eine neue Erzählung,
die den Klimanotstand aus- keine des Verzichts, sondern
riefen – all das konkurrierte in eine der Chancen. Wirklich
den Medien um Aufmerksam- nötig ist 2020 aber eine neue
CRISTINA QUICLER / AFP

keit. Im niedersächsischen Lin- Politik. Eine, die sich nicht erst

gen wurde im Juli mit 42,6 Grad
Celsius ein neuer deutscher
Temperaturrekord gemessen. Aktivistin Greta Thunberg
2019 war auch das Jahr, in dem
es einem 16-jährigen Mädchen
gelang, die erste internationale
Klimabewegung zu formen. In Deutschland folgten viele
ihrem Beispiel, allein an einem Tag im September gingen
bis zu 1,4 Millionen Menschen auf die Straße.
Wer 2019 um die Klimakrise herumkommen wollte,
musste eine erhebliche Verdrängungsleistung aufbieten –
ein Kraftakt, der der Bundesregierung gelang. Die deutschen
Klimaziele für 2020: aufgegeben. Ausbau der erneuerba-
ren Energien: abgewürgt. Das Klimapaket: nach Meinung
namhafter Wissenschaftler ein Dokument des Scheiterns.
Auch die Nachbesserungen ändern daran nichts. Bei der
Vorstellung dieses klimapolitischen Tischfeuerwerks gab
die Bundeskanzlerin offen zu, in welch engen Grenzen die
Große Koalition gedacht hat: »Politik ist das, was möglich
ist.« Der Satz ist Ausweis einer Haltung, der politischer
Gestaltungswille abhandengekommen ist.
Aber die Klimakrise wird Politik und Gesellschaft nicht
mehr loslassen. Je größer die Lücke zwischen notwendi-
von Minderjährigen schubsen
lassen muss, um sich mit
dem wichtigsten Thema unse-
rer Zeit zu befassen. Eine,
die Chancen ergreift, das Land
nach vorn zu bringen. Sie
müsste die Windkraft fördern, die umstrittene Abstands-
regel überprüfen, die Ökostromumlage optimieren –
und vor allem in Forschung investieren, etwa zur Wasser-
stofftechnologie.
Ein Blick nach Dänemark zeigt, dass man für mutige
Klimakonzepte nicht mal das politische Handwerk neu
erfinden muss. In einem überparteilichen Konsens haben
unsere Nachbarn vor ein paar Wochen verabredet, ihre
Emissionen binnen zehn Jahren um 70 Prozent im Ver-
gleich zu 1990 zu senken. Auf einer künstlichen Insel vor
der Küste soll bald, umgeben von einem der weltweit
größten Windparks, Wasserstoff hergestellt werden. Eine
Zukunftstechnologie. Und die Bundesregierung? Wollte
sich in der letzten Kabinettssitzung in diesem Jahr eigent-
lich mit der lang erwarteten Wasserstoffstrategie befassen,
doch am Ende gelangte der Passus gar nicht erst auf die
Tagesordnung. Kurt Stukenberg

8 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

 Elektro.
Was sonst?
Die neue Generation smart EQ fortwo, fortwo cabrio
und forfour. Jetzt bestellbar in deinem smart center.
» All electric, now!

Wir sind 100 % elektrisch. Steig ein.

www.smart.com

smart EQ fortwo mit 4,6 kW- und optionalem
22 kW-Bordlader: Stromverbrauch (kom-
biniert) in kWh/100 km: 16,5–14,0. CO₂-
Emissionen (kombiniert) in g/km: 0.
smart EQ fortwo cabrio mit 4,6 kW- und op-
tionalem 22 kW-Bordlader: Stromverbrauch
(kombiniert) in kWh/100 km: 16,8–14,2.
CO₂-Emissionen (kombiniert) in g/km: 0.
smart EQ forfour mit 4,6 kW- und optio-
nalem 22 kW-Bordlader: Stromverbrauch
(kombiniert) in kWh/100 km: 17,3–14,6.
CO₂-Emissionen (kombiniert) in g/km: 0.
Der Stromverbrauch wurde auf der Grundlage
der VO 692/2008/EG ermittelt. Der Strom-
verbrauch ist abhängig von der Fahrzeug-
konfiguration.
Anbieter: Mercedes-Benz AG,
Mercedesstraße 120, 70372 Stuttgart
 Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Unterwürfige Wichte
Man kann vor der Kom-
munistischen Partei Chi-
nas nur den Hut ziehen.
Immer wieder führt sie
der Welt vor Augen, was
das kapitalistische Prinzip,
das Streben nach Profit, aus
Menschen macht: unterwürfige Wichte,
die ihre Prinzipien vergessen, sobald
die den Gewinn gefährden. Sie macht
das eindrücklicher, als es Marx, Lenin
oder Mao je gelungen ist.
Nehmen wir nur den Fall des Fuß-
ballklubs FC Arsenal, der sich
jüngst für einen Tweet seines Spielers
Mesut Özil entschuldigte, um seine
Geschäfte in China nicht zu gefährden.
Bei der Identifikation von Unrechts-
regimen war Özil bislang nicht als
Experte aufgefallen. Mit seinem Tweet,
der die Verfolgung der Uiguren in
China anprangerte, lag er hingegen
richtig. China hält Hunderttausende
Uiguren in Lagern gefangen, der
Umgang gleicht einem kulturellen
Völkermord.
Menschenrechte, Demokratie und
Meinungsfreiheit sind westlichen
Unternehmen zunehmend schnuppe,
wenn diese Werte das Geschäft in der
Volksrepublik gefährden. Daimler ent-
schuldigte sich untertänigst, weil der
10
Konzern auf einem Instagram-Kanal
den von Peking als Staatsfeind geächte-
ten Dalai-Lama mit einem Kalender-
spruch zitiert hatte. Die Lufthansa kor-
rigierte sich brav, nachdem sie es ge-
wagt hatte, auf ihren Websites die von
China unabhängige Insel Taiwan als
eigenes Land zu führen. Die Mode-
firma Versace kroch wegen eines
T-Shirts zu Kreuze, dessen Aufdruck
der Diktatur nicht genehm war.
Ähnlich unterwürfig reagierten auch
Coach, Givenchy, Zara, Gap, Swa-
rowski, Calvin Klein, Asics oder Apple.
Wer sich so vor einer Diktatur ver-
biegt, darf sich nicht wundern, wenn
irgendwann das Rückgrat bricht.
Vielleicht muss man dem Pekinger
Sanktionsregime ein Anreizmodell ent-
gegensetzen. Für das nächste Jahr habe
ich mir deshalb vorgenommen: Das
erste Unternehmen, das keinen Kotau
vor Peking macht, weil es die Verdiens-
te des Dalai-Lama gewürdigt, die
Demonstranten in Hongkong unter-
stützt oder die Verfolgung der Uiguren
angeprangert hat, werde ich mit
Großeinkäufen würdigen. Selbst wenn
es sich um Heizdecken handelt.
An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacher im Wechsel.
So gesehen
Jackpot!
Todsicher zum Lottogewinn
G Plötzlicher Reichtum wird teurer:
Nach den Plänen des Deutschen
Lotto- und Totoblocks soll der Preis
für ein Tippfeld der klassischen
Lotto-Variante »6 aus 49« ab Herbst
2020 um 20 Cent auf 1,20 Euro
steigen. Im Gegenzug wird das
beliebte Glücksspiel allerdings noch
lukrativer: Der Jackpot wird nicht
mehr spätestens nach der 13. Zie-
hung ausgeschüttet, sondern darf
künftig auf bis zu 45 Millionen Euro
wachsen.
Lohnt sich das Mitspielen? Es
kommt auf die Strategie an. Wenn Sie
nur 1,20 Euro einsetzen, haben Sie
eine Chance von 0,00000072 Pro-
zent auf den Hauptgewinn. Das ist
bei einem gefüllten Jackpot in etwa
so wahrscheinlich, als hätte ein belie-
biger Einwohner Russlands
45 Millionen für Sie, den Sie aller-
dings auf Anhieb finden müssten,
ohne seinen Namen oder Aufent-
haltsort zu kennen. Sie springen also
irgendwo über Russland mit dem
Fallschirm ab und sprechen den erst-
besten Russen an, der Ihnen begeg-
net. Aber selbst wenn Sie den Richti-
gen erwischen, rückt der Ihr Geld
auch heraus? Und bekommen Sie
die Millionen ungeschoren durch den
Zoll? Unwahrscheinlich.
Viel bessere Gewinnaussichten
haben Sie mit etwas höherem Einsatz.
Nehmen Sie einfach einen Kredit
in Höhe des Jackpots auf, und füllen
Sie mit dem Geld 37,5 Millionen
Tippfelder aus. Mit einer phänome-
nalen Wahrscheinlichkeit von über
26 Prozent landen Sie den Haupt-
gewinn und können den Kredit zu-
rückzahlen. Spätestens beim vierten
Mal müsste es todsicher klappen.
Sie sind dann zwar höchstwahrschein-
lich hoch verschuldet. Aber immerhin
endlich Lottogewinner. Herzlichen
Glückwunsch! Stefan Kuzmany
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Du entscheidest,
was man dir anbietet.
Pass deine Werbepräferenzen an.
Jetzt auswählen auf facebook.com/privacy
Deutschland
Was danach geschah Wenn ein Text recherchiert, geschrieben und in Druck gegangen ist, haben die SPIEGEL-
Journalisten ihre Arbeit eigentlich erledigt – auf den folgenden Seiten und den Meldungsseiten aller Ressorts
berichten sie über ihre Geschichten hinter den Geschichten. Sie erzählen, wie Leser auf ihre Artikel reagierten,
was aus den Menschen wurde, über die sie schrieben, und welche Begebenheiten in der Recherche sie nicht
mehr losgelassen haben. Vor einem Jahr machte der SPIEGEL öffentlich, dass einer seiner Reporter, Claas Relotius,
viele Reportagen zum Teil oder ganz erfunden hatte, manche Leser begegneten den Artikeln mit mehr Skepsis.
Hier berichten Redakteurinnen und Redakteure von konkreten, besonderen Ereignissen des Jahres, von Selbst-
zweifeln, von enttäuschten Informanten, von Hassmails und von Fragen, auf die sie keine Antworten fanden.

SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL

Die Gedanken werden klar
Nr. 43/2019 »Die Menschen haben wieder ein Bedürfnis nach Grenzen« – Redakteurin Susanne Beyer wanderte
mit den Politikern Sigmar Gabriel und Reiner Haseloff entlang der alten deutsch-deutschen Grenze.

G Manchmal, wenn ich wie-
der in irgendeinem ewig glei-
chen Büro Platz genommen
hatte, um ein Gespräch zu füh-
ren, dachte ich an ein Foto,
das SPIEGEL-Gründer Rudolf
Augstein zeigt: Es war das
Jahr 1966 im September,
neben ihm lief der Philosoph
Martin Heidegger mit einem
Rucksack; die beiden wander-
ten. Aus dem, was sie sich
dabei zu sagen hatten, wurde
ein herausragendes SPIEGEL-
Gespräch.
Im Frühsommer hatte ich
einen Wanderweg entdeckt,
der im Harz entlang der alten
Grenze zwischen Ost und
West verläuft. Und der
30. Jahrestag des Mauerfalls
näherte sich.
Mein Kollege Nils Minkmar
überredete den SPD-Politiker
Sigmar Gabriel, der in Goslar,
auf der Westseite des Harzes,
aufgewachsen war, ich über-
redete Reiner Haseloff, CDU-
Politiker und Ministerpräsi-
dent von Sachsen-Anhalt,
einem Bundesland, das vom
Osten her an den Weg an-
grenzt, zu einer Wanderung.
Sprechen wollten wir über die
Fehler der Einheit.
Als wir uns an einem leuch-
tenden Oktobersonntag trafen,
lag das Attentat auf eine Syna-
goge in Halle ein paar Tage
zurück. Der Ministerpräsident
kam erschöpft und voller
Sorgen an, das Laufen löste die
Sorgen nicht, aber klärte die
Gedanken.
In einem Grenzmuseum
lag eine Kalaschnikow, beide
erinnerten sich an Geschichten
ihrer Mütter vom Krieg. Von
einem Höhenzug aus blickten
wir auf den Brocken, der zu
DDR-Zeiten auf der einen Seite
der Grenze gelegen hatte, und
auf den Wurmberg gegenüber.
Wir verliefen uns, Sigmar
Gabriel, der Berufspolitiker,
der wenige Tage zuvor auf sein
Bundestagsmandat verzichtet
hatte, war die Ordnung der
Sitzungssäle und der Inter-
views im Minutentakt wohl
noch zu sehr gewöhnt: Er
drohte mit Abbruch der Wan-
derung – er müsse pünktlich
zum Kaffeetrinken mit den
Schwiegereltern kommen –
was so aufschlussreich war wie
das stoische Weiterstapfen
seines ostdeutschen Kollegen,
der ein langes Leben außer-
halb der Politik hinter sich hat
und sich auf das Experiment
besser einlassen konnte als
der Westdeutsche. Das Wan-
dern legt Gedanken frei – und
mitunter auch den Charakter
des Wanderers.

12 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Ein Mann macht
blau
Nr. 37/2019 »Bescheuert, echt« –
Nach einem Report über türki-
sche Hochzeitskorsos in Deutsch-
land meldete sich ein Anwalt
mit einer Abmahnung bei
den Redakteuren Katrin Elger
und Lukas Eberle.
G Es kommt vor, dass uns
Menschen, denen unsere Arti-
kel nicht gefallen, auf Unter-
lassung verklagen. Doch nur
selten bekommen wir so kurio-
se Abmahnungen wie nach
Mit Herzblut und
Tipp-Ex
Charlotte Klein ist Redakteurin SPIEGEL-Lektüre an die
für Audience Development und Schreibmaschine setzt. Wie alt
liest jede Woche Hunderte Brie-
fe von Lesern. Auf einen Schrei- sein Beruf?
ber freut sie sich besonders.
G Ich kenne sie alle. Die
Begeisterten, die Empörten,
die Hinweisgeber und die, die
drohen – meist mit einer Abo-
Kündigung, manchmal auch
mit Gewalt. Es kommen Ein-
zeiler und 20-seitige Aufsätze,
Gedichte und Karikaturen,
handgeschrieben oder getippt,
per Postkarte, Fax, Brief oder
E-Mail.
Wenn ich sie lese und einige
zum Abdruck auswähle, ver-
suche ich, allen Richtungen
Gehör zu geben. Aber ich habe dem Lieblingsleser meine
einen Liebling. Er schreibt zu-
verlässig jede Woche, oft auch
drei- oder viermal. Immer ein
weißes DIN-A4-Blatt, Schreib- weh: Ich bin nicht seine
maschinenlettern, manchmal
ausgebessert mit Tipp-Ex und
Kugelschreiber. Darauf nie
mehr als drei, vier Zeilen – sie
sind jedes Mal perfekt.
Jeden seiner Kommentare
könnte man ungekürzt, unredi-
giert, ja ungelesen drucken,
anders als viele andere. Für
mich ist er der beste Leserbrief-
schreiber der Welt. Weil wir
möglichst viele Leser zu Wort
kommen lassen wollen, ver-
öffentlichen wir seine Zuschrif-
ten nur alle paar Monate.
Trotzdem schreibt er weiter,
diesem Text. Im September
berichteten wir über türkische
Hochzeiten in Deutschland,
manche Gäste blockieren
dabei Autobahnen oder bal-
lern mit Schreckschusspistolen ren Artikel zu bebildern.
in die Luft. Es gehört bei die-
sen Feiern oft dazu, sich von
professionellen Filmemachern
begleiten zu lassen und später 7500 Euro Schmerzensgeld
Videos von den Hochzeiten
ins Netz zu stellen.
In einem YouTube-Video
stießen wir auf einen engagier- Arbeitsstelle bekommen. »Die
ten Hochzeitsgast. Bei einer
Trauung in Hamburg stand er
mit anderen Gästen in dunklen »fällt in den Zeitraum, in dem
Anzügen vor dem Brautwagen, unser Mandant krankgeschrie-
jede Woche, seit 36 Jahren.
Manchmal fantasiere ich
darüber, warum er sich Woche
für Woche nach gründlicher
ist er, wie sieht er aus, was ist
Die Wahrheit ist – ich will
das gar nicht wissen. Ich stelle
ihn mir so klug vor, so gebildet,
so wortgewaltig, dass ich
eigentlich nur enttäuscht wer-
den könnte. Einmal hat eine
Kollegin ihn angerufen, sie
wollte einen Artikel über den
eifrigsten Leserbriefschreiber
verfassen, aber er hat abge-
lehnt. Sich in den Mittelpunkt
zu stellen ist nicht so sein Ding,
nehme ich an. Wenn ich jetzt
seinen Namen nennen würde,
würde ihn das vielleicht ver-
schrecken, deshalb bringe ich
Hochachtung bloß in Gedan-
ken entgegen.
Eines jedoch tut mir etwas
Einzige. Er schreibt auch dem
»Stern«.
Redakteurin Klein
in einer Hand schwenkte er
eine türkische Flagge, in der
ben war.« Seine Glaubwürdig-
keit unter den Kollegen habe
anderen hielt er eine brennen-
de Bengalfackel. Wir nutzten
»großen Schaden« genommen.
Außerdem hätten wir ihn nicht
einen Filmschnipsel, um unse- um Erlaubnis gefragt, das
Foto abzudrucken – was wir
Nach der Veröffentlichung tatsächlich nicht getan haben.
bekamen wir Post vom Anwalt Wir haben das Bild in der
des Feiernden. Der forderte Onlineversion des Artikels
dann durch ein anderes ersetzt,
vom SPIEGEL, ein Grund: auf dem er nicht zu sehen
Der Mann hat durch unseren ist. Die geforderten 7500 Euro
Artikel wohl Ärger an seiner Schmerzensgeld hat der
SPIEGEL allerdings nicht
von Ihnen beschriebene Hoch- bezahlt. Auf YouTube ist der
zeit«, teilte uns der Anwalt mit, Mann nach wie vor in dem
Hochzeitsvideo zu sehen – das
scheint ihn weniger zu stören.
HERMANN BREDEHORST
Björn Höcke, Redakteurin Müller
Eier im Glas
Ann-Katrin Müller ist seit diesem Jahr für die Berichterstattung
über die AfD zuständig und hat seitdem die bevorzugten Restau-
rants von Politikern der Partei kennengelernt.
G Seit Februar berichte ich über die AfD und nahm an, darben
zu müssen: Mal ein Wasser, ab und an ein belegtes Brötchen
bei einem Hintergrundtermin, mehr würde es bestimmt nicht
geben. Schließlich betonen AfD-Politiker ständig, sie gehörten
nicht zum »Establishment« – und wollten es auch nicht. Tat-
sächlich fing die Zeit der Schlemmerei in teuren Restaurants in
Berlin-Mitte erst an.
Ich hatte zuvor über die Grünen berichtet, da gab es meist
ganz gutes Essen, oft regional und biologisch angebaut, und
nein, nicht immer vegetarisch. Wegen der AfD gehe ich nun
seit Monaten in Restaurants in Berlin-Mitte, deren weiße Tisch-
decken »Establishment« schreien. Gern schlagen AfD-Politiker
BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL
auch ein nicht unbekanntes Kaffeehaus Unter den Linden vor,
wo es von Politikern der »etablierten Parteien« nur so wim-
melt. Dort verspeisen sie genüsslich »Eier im Glas« und Wiener
Schnitzel, gern auch auf Kosten des SPIEGEL. Oder sie wollen
in ein nobles Weinrestaurant unweit des Bundestags. Wasser
predigen, Wein trinken, auf keine Partei passt der Spruch so gut
wie auf die AfD. Nur wenn AfD-Politiker nicht mit am Tisch
sitzen, ist es so gekommen, wie ich es mir vorgestellt hatte:
Beim Parteitag kostete ein kleiner Becher Wasser vier Euro.
13
Der Hüter des »30 Euro nur«
Nr. 30/2019 »Abdull versus
Präteritums Europa« – Katrin Elger schil-
derte, wie ein abgeschobener
Bildungsredakteurin Miriam Olbrisch über einen Lehrer marokkanischer Krimineller
wieder nach Europa kommen
a. D., der ihren Sprachgebrauch interessiert verfolgt
wollte. Seit zwei Jahren hält
sie Kontakt zu ihm. Sollte sie
G Angefangen hat es vor ungefähr zwei Jahren. Da bekam ihn unterstützen?
ich zum ersten Mal Post von Herrn Lange. Er hatte die Seiten,
auf denen meine Texte gedruckt sind, aus dem SPIEGEL G Es ist erst ein paar Tage her,
herausgetrennt und sie korrigiert, blauer Kugelschreiber auf dass Abdull mir zuletzt über
weißem Papier, immerhin kein Rotstift. Dazu ein kurzer Gruß Facebook schrieb. »Bitte Hilfe
und ein Stempel mit Name, Anschrift und Telefonnummer. mir ich bin Auf die Straße seit
Herr Lange, mittlerweile 85 Jahre alt, ist promovierter Lin- 3 monate Hilfe mir bitte.«
guist, 24 Jahre lang hat er Deutsch, Französisch und Latein Fast wöchentlich fragt er nach
an einem Gymnasium in Baden-Württemberg unterrichtet. Geld. »hab Nichts zu essen
Er versteht etwas von Grammatik, so viel ist klar. Ich schreibe ich brauch 30 Euro nur.«
häufig über Schulpolitik. Dass sich Herr Lange ausgerechnet Ich berichte häufig über
meine Artikel heraussucht, liegt wohl am Thema. Migration und Flüchtlinge.
Vielen Menschen, über die
ich schreibe, geht es schlecht,
und sie brauchten finanzielle
Unterstützung. Doch ich bin
Journalistin und keine Mitar-
beiterin einer Hilfsorganisa-
tion. Meine Aufgabe ist es,
Schicksale sichtbar zu machen
und Missstände öffentlich.
Ich versuche, das von Anfang
an deutlich zu machen. Man-
che meiner Gesprächspart-
ner haben trotzdem falsche
Erwartungen. Ich finde es
nicht leicht, damit umzuge-
hen. Natürlich berühren mich
SPIEGEL-Artikel mit Korrekturen (Ausriss) ihre Geschichten, vor allem
wenn ich sie gut kennen-
Wenn Herr Lange die ersten Sätze dieses Textes liest, wird er gelernt habe – so wie Abdull.
vermutlich nur verständnislos den Kopf schütteln. Perfekt, Prä- Seitdem ich ihn 2017 im
teritum, Plusquamperfekt, alle Vergangenheitsformen wild Gefängnis im rheinland-pfälzi-
durcheinander. In den Augen von Herrn Lange ein Unding. schen Wittlich zum ersten
Das Präteritum, sagt er, ist das Tempus der Geschichtenerzäh- Mal zu einem Gespräch traf,
ler. »In einer Zeitung hat es nichts zu suchen. Sie schreiben sind wir in Kontakt. Sein Asyl-
Berichte – und keine Geschichten.« antrag wurde abgelehnt, er
In loser Folge erhielt ich Post von ihm, mal alle paar Wochen, wurde abgeschoben, kam
manchmal vergingen Monate. Einmal, vor ungefähr einem Jahr, wenige Wochen später wieder
wählte ich seine Nummer. Ich wollte wissen, wer dieser enga- illegal nach Europa, wurde
gierte Grammatik-Verfechter ist. Durch den Telefonhörer klang wieder abgeschoben. Im Juni
die Stimme eines freundlichen alten Herrn, der überrascht traf ich ihn gemeinsam mit
war vom Anruf aus Hamburg. Er erzählte von seiner Liebe zur einem Fotografen im marok-
deutschen Sprache. Über den fahrlässigen Umgang mit den kanischen Fnideq, wo er
Vergangenheitsformen hat er Aufsätze für Fachzeitschriften gerade seine nächste illegale
verfasst. Zum Abschied sagte er: »Schön, dass Sie angerufen Reise nach Deutschland
haben. Ich schicke Ihnen mal wieder was.« Doch dann: Stille. plante. Darum ging es in dem
Bis dann kurz vor Weihnachten doch wieder ein Umschlag Artikel über ihn.
von Herrn Lange im Postfach lag, Kugelschreiber auf SPIEGEL- Abdull organisierte uns
Seiten, als wäre nichts gewesen. Nur dass er diesmal nicht einen Mietwagen, wir fuhren
nur mich bedacht, sondern auch den Leitartikel meines Chefs gemeinsam quer durchs Land
zur Pisa-Studie korrigiert hat. Ein vorweihnachtlicher Anruf in nach Fes, wo er in ärmlichen
Baden-Württemberg: »Schön, dass Sie uns geschrieben haben. Verhältnissen aufgewachsen
Ich hatte mir schon Sorgen gemacht um Sie.« »Ich war tatsäch- war. Wenn wir von der Polizei
lich eine Weile krank dieses Jahr«, sagte Herr Lange. »Aber angehalten wurden, handelte
wissen Sie was? Im Krankenhaus habe ich viel Zeit mit dem Abdull mit viel Einsatz für
SPIEGEL verbracht. Da kommt bald noch was!« uns den Preis herunter. Wir
14
JULIAN BUSCH
Abdull, Redakteurin Elger
mussten dann wegen zu
schnellen Fahrens (mir schien,
wir waren langsamer unter-
wegs als alle anderen) nur 10
statt 50 Euro zahlen. Auch
Bußgelder für angebliche Feh-
ler in den Papieren des Miet-
wagenbesitzers beliefen sich
am Ende auf 10 statt 40 Euro.
Wenn der Fotograf die Tasche
mit seiner Ausrüstung zu sorg-
los am Straßenrand stehen
ließ, trug Abdull sie ihm nach,
aus Sorge, jemand könnte sie
stehlen.
In den vielen Stunden im
Auto erzählte er uns, was
in seinem Leben alles schief-
gelaufen war. Wir bekamen
eine Idee davon, wie er auf
die schiefe Bahn geraten war.
Der Artikel endete mit
Abdulls Worten: »Und auf
jedenfall wir sehen uns. Ich
komme Euch besuchen.«
Beim SPIEGEL in Hamburg
tauchte er nicht auf. Er mel-
dete sich ein paar Wochen
nach Erscheinen des Textes
aus Wiesbaden, ich sollte ihm
zwei Exemplare des SPIEGEL
mit dem Artikel über ihn
schicken. Der Text kam
damals gut an, ein Kuratorium
aus SPIEGEL-Lesern wählte
ihn als einen der relevantes-
ten des Jahres aus. Abdulls
Offenheit hatte das erst mög-
lich gemacht, meine Anfragen
hatte er immer verlässlich
beantwortet.
Ende September wurde er
aus Spanien wieder nach
Marokko abgeschoben, seit-
dem schickt er Hilferufe. Ich
weiß immer noch nicht, wie ich
damit umgehen soll. Breche ich
irgendwann den Kontakt ab?
Oder schicke ich ihm Geld?
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Die Angst
genommen
Nr. 25/2019 »Es ist in Ordnung,
dass ich sterbe« – Christoph
Schult und Severin Weiland
über ein Gespräch mit dem
krebskranken FDP-Politiker
Jimmy Schulz
G Interviews mit Todkranken
zu führen gehört nicht zu den
Kernkompetenzen eines
Hauptstadtjournalisten. Wir
sind darauf trainiert, Politiker
mit ihren Widersprüchen zu
konfrontieren. Wir wollen
auch etwa starke, relevante
Zitate, die wir an die Nach-
richtenagenturen weitergeben
können. Wir wollen wissen,
was Politiker im Schilde füh-
ren. Oft streichen die Politiker
die wirklich interessanten
Sätze wieder heraus, wenn wir
ihnen den Wortlaut eines
Gesprächs noch einmal vorle-
gen, zur sogenannten Autori-
sierung. Es ist ein mühseliges
Vom Bier zum
Mobbing
Nr. 41/2019 »Barocke Pro-
zeduren« – Im Juni hielt
Felix Bohr eine Laudatio auf
Volkhard Knigge, den Leiter
der KZ-Gedenkstätte
Buchenwald. Nur vier Monate
später berichtete er über
Mobbingvorwürfe gegen den
renommierten Historiker.
G Ich bin nicht nur Journa-
list, sondern auch Historiker.
Anfang Juni hielt ich für
den SPIEGEL eine Laudatio
auf Volkhard Knigge, den
Leiter der KZ-Gedenkstätte
Buchenwald. Unter Histori-
kern ist Knigge eine Ikone,
vielen gilt er als »Gedenk-
stättenpapst«, und Buchen-
wald ist der bedeutendste
deutsche Erinnerungsort für
die Naziverbrechen. Durch
sein Engagement gegen die
AfD wurde Knigge auch über
die Fachgrenzen hinaus
bekannt.
Ich fuhr also zur Verlei-
hung des Hildegard Hamm-
Geschäft, wir haben uns
daran gewöhnt.
Bei unserem Interview mit
dem an Krebs erkrankten
FDP-Politiker Jimmy Schulz
war alles anders. Auf der Jour-
nalistenschule lernt man, alle
naheliegenden Fragen zu stel-
len. Also schrieben wir auf,
was uns in den Kopf kam. Es
wurden fast hundert Fragen.
Auf der Journalistenschule
lernt man, dass es keine dum-
men Fragen gibt. Doch wir
fühlten uns unwohl mit etli-
chen dieser Fragen, die sich
darum drehten, dass Schulz
nicht mehr lange zu leben hat-
te. Würde er sie als unpas-
send empfinden?
Jimmy Schulz war keine
Frage unangenehm, im Gegen-
teil, er schien sich zu freuen,
so offen wie möglich zu ant-
worten. Er hatte über seinen
bevorstehenden Tod so lange
nachgedacht, dass er jeden
Satz mit Überzeugung sagte.
Bis auf einige wenige Sätze,
in denen es unter anderem
Brücher-Preises, in einen Ort
nahe Hannover. Es fiel mir
nicht schwer, lobende Worte
für Knigge zu finden. Nach der
Veranstaltung saßen wir noch
zusammen auf der Terrasse
des Hotels und tranken Bier.
Es war ein netter Abend.
Wenn mir damals jemand
erzählt hätte, dass ich vier
Monate später einen Artikel
über Mobbingvorwürfe gegen
Knigge in Buchenwald 2015
SONJA OCH
Schulz im Mai
um seine Beerdigung ging, gab Auch für uns hatte das Ge-
er das Interview frei, auch spräch etwas Therapeutisches.
jenen Satz, den wir schließlich Schulz hat uns die Angst ge-
als Überschrift auswählten: nommen, Fragen zu stellen,
»Es ist in Ordnung, dass ich die viele lieber ausklammern –
sterbe.« die nach dem Ende des Le-
Wir hatten den Eindruck, bens. Jimmy Schulz starb am
dass das Interview ihm ein 25. November, sechs Monate
Gefühl von Befreiung gab. nach unserem Gespräch.
Knigge veröffentlichen würde,
hätte ich ihn ausgelacht. Aber
Führungskräfte stundenlang
Rede und Antwort stehen
nur wenige Wochen nach
der Veranstaltung traten Mit-
müssten.
Die Informanten schilder-
arbeiter der KZ-Gedenkstätte ten so große Angst vor Knigge,
Buchenwald an mich heran. dass sie mich nur auf abgele-
Sie berichteten mir in Einzel- genen Autobahnraststätten
heiten, wie Knigge seine treffen wollten. Dort zeigten
Belegschaft schikaniere. Sie sie mir zahlreiche Dokumen-
erzählten von heftigen te, die das Verhalten des
Wutausbrüchen und tribunal- Gedenkstättenleiters belegen
artigen Sitzungen, in denen sollten. Ich recherchierte
wochenlang, um die Vorwürfe
zu überprüfen.
Als der Artikel schließlich
veröffentlicht wurde, war es,
als hätte ich in ein Wespen-
nest gestochen. Es gab eine
Sondersitzung im Thüringer
Landtag. Andere Medien-
berichte bekräftigten die
Mobbingvorwürfe. Ich bekam
Mails, in denen mir gedankt
wurde. Knigge stritt alles ab.
Kommendes Frühjahr geht
der Gedenkstättenleiter in
JACOB SCHRÖTER / IMAGO
Pension. Dann werden sicher
wieder einige Lobreden auf
ihn gehalten. Ich vermute,
dass dann nicht allen Lauda-
toren die Worte so leicht über
die Lippen kommen werden
wie mir damals.
15
 Was nahegeht
Nr. 5/2019 »Das zerrissene
Band« – Annette Großbon-
gardt über das Unrecht von
DDR-Behörden, die Kinder
missliebiger Bürger an linien-
treue Adoptiveltern gaben
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
G Von manchen Menschen,
über die ich geschrieben habe,
höre ich nie wieder etwas.
Doch ihr Schicksal beschäftigt
mich weiter, sie tauchen ab
und an in meinen Gedanken
auf: die Frau, die erleben
Das Kühlschrank-Rätsel musste, wie ihr Ex-Mann auf
sie schoss und dann ihren
Sohn und einen Schwieger-
Nr. 1/2019 »Zwei Welten« – eine Reportage von Laura sohn tötete, frühere Messdie-
Backes über einen in seine Heimat zurückgekehrten ner, die mir schilderten, wie
Asylbewerber ihr Pfarrer sie als Kind miss-
braucht hatte. Für Wochen
G Vor gut einem Jahr verbrachte ich eine knappe Woche in oder Monate spürt man
Gambia, einem kleinen Land in Westafrika. Sarjo Darboe, jetzt Schicksalen nach, erfährt von
Anfang zwanzig, war mit 16 von dort nach Europa aufgebro- Not und Verzweiflung. Man
chen, hatte mehr als zwei Jahre in Esslingen in Baden-Württem- fühlt mit, muss aber professio-
berg gelebt und dann im Frühjahr 2018 beschlossen, freiwillig nelle Distanz wahren – ein
in seine Heimat zurückzukehren und Bauer zu werden. Balanceakt. Manchmal werde
In Deutschland hatte er sich mit einem Ehepaar angefreun- ich um Rat gefragt, was ich
det, das in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Die beiden beschlos- denn tun würde. Kann ich
sen, Darboe zu besuchen, sie wollten die Heimat ihres Freun- das? Darf ich das? Die Nähe,
des kennenlernen, ihre erste Reise nach Afrika. Sie ließen mich die bei solch einer intensiven
daran teilhaben. Sie übernachteten im Haus von Darboes Recherche entsteht, soll ja
Bruder, trafen seine Frau und seine Familie und halfen ihm bei nicht zu groß werden. »Sie
der Feldarbeit. Die Deutschen und der Gambier wollten offen- sind eine liebe Frau«, schrieb
sichtlich nur das Beste füreinander. Trotzdem gab es Verständi- mir eine Interviewpartnerin
gungsprobleme, Englisch ist in Gambia die offizielle Sprache, einmal, das hört man selten
klingt aber anders als in Großbritannien und Amerika. Und als Journalistin. Es hat mich
wieso Darboe gewisse Entscheidungen traf, verstand das Ehe- seltsam berührt: Hatte ich
paar auch nicht immer. mich zu emotional gezeigt?
Ich schrieb einen Text über das, was ich beobachtet hatte. Im August, sieben Monate
Die guten Absichten, die Missverständnisse. Es kamen mehr nach dem Artikel über die
Leserbriefe als sonst. Einige der Schreiber beschimpften Dar- DDR-Zwangsadoptionen,
boe für seine Existenz und die Deutschen dafür, dass sie halfen. bekam ich eine Nachricht von
Andere bedankten sich für die differenzierte Betrachtung und Uwe Mai – dem Mann, der im
schilderten eigene Erfahrungen. Aber in den meisten E-Mails Alter von sechs Jahren seinen
ging es um einen Kühlschrank. Eltern entrissen, in ein Heim
Ich hatte geschrieben, Darboe habe in seinem Haus »keinen gesteckt und dann Adoptiv-
Kühlschrank, keine ordentliche Küche«. Doch auf einem eltern übergeben worden war.
Foto der beiden Deutschen mit Darboe in einem Wohnzimmer Nun war er, zum ersten Mal
sah man im Hintergrund einen zwei Meter hohen modernen seit 1961, zu seinem Eltern-
Kühlschrank stehen. haus nach Calbe an der Saale
Zwei Wochen vor der Veröffentlichung meiner Reportage gefahren. Ich freute mich,
hatte sich herausgestellt, dass mein Ex-Kollege Claas Relotius dass er mir davon berichtete.
über Jahre viele seiner Texte mehr oder weniger komplett Doch das Haus gibt es nicht
erfunden hatte. Das veranlasste einen Leser, folgende giftige mehr, Mai stand vor einem
Zeilen zu schreiben: »Wer hat denn da das Bild, ohne Kenntnis mit Unkraut überwucherten
von Frau Backes, eingeschmuggelt, ohne es zu retuschieren? Abrissgrundstück.
Eine passende Ausrede wird sicherlich nachgeliefert.« Er hat inzwischen das Grab
Was soll ich sagen? Ja, ich habe eine Erklärung: Weder bei seines geliebten kleinen Bru-
Darboe noch in der Unterkunft der Deutschen gab es einen ders besucht, von dem er im
funktionierenden Kühlschrank. Der Kühlschrank auf dem Heim getrennt worden war
Foto befindet sich im Haus von Darboes Mutter, 30 Minuten und den er nie mehr wiederge-
entfernt. Er wird nur an besonderen Tagen angestellt, weil sehen hat. Und er weiß nun,
der Strom zu teuer ist. dass seine Mutter mit ihm
16
schwanger war, als sie 1954
wegen Gefangenenbefreiung
inhaftiert wurde. Er erfuhr,
dass er im Gefängnis zur Welt
gekommen war. »Die Suche
nach der eigenen Identität ist
gleich spannend und nieder-
schmetternd«, schrieb er mir.
Er hat seine Stasiakte bean-
tragt und die seiner Mutter,
die 1988 in Bonn starb. Ich
möchte wissen, wie es weiter-
geht, aber nur selten kann ich
solche Fälle weiter begleiten.
Manchmal habe ich ein
schlechtes Gewissen, wenn
ich an die Protagonisten den-
ke, die ich hinter mir lasse,
wie ein trauriger Kommissar,
der seine Ermittlungen nicht
zu Ende führen kann.
Manche Begegnungen ver-
folgen mich jahrzehntelang.
Neulich habe ich nachge-
schaut, was aus Perla Ovitz
geworden ist, der Tochter
einer rumänischen Artisten-
familie von Kleinwüchsigen,
die nach Auschwitz deportiert
und dort zum Opfer von per-
versen Menschenversuchen
des Lagerarztes Josef Menge-
le worden war. »Meine sieben
Zwerge« soll er die Familien-
mitglieder genannt haben.
Ovitz überlebte das Grauen,
1999 habe ich sie in Israel
interviewt (»Komm zu Men-
gele«, SPIEGEL 42/1999).
Nun fand ich heraus, dass sie
bereits 2001 gestorben ist.
Einmal hatte ich sie noch
angerufen. Dann habe ich
mich nie mehr um sie geküm-
mert.
NORA KLEIN
Mai um 1963
Schuld ohne
Sühne
SPIEGEL ONLINE vom 26. Sep-
tember »Für eine Verurteilung
reicht es nicht« – Gunther
Latsch über eine Frau, die den
Glauben an die Justiz verlor
G Für Wiebke Riegel war der
Freispruch eine Strafe. Seit 2017
hatte sie gelitten, sich ausgelie-
fert gefühlt, weil der Mann vom
Weißen Ring, der Opfer von
Straftaten unterstützen sollte,
ihr nur dann helfen wollte,
wenn sie »lieb und nett« zu ihm
sei, »mit Anfassen«, wie sie mir
und meinem Kollegen Jürgen
Dahlkamp 2018 erzählte.
Und nun, Ende September
2019, hatte das Amtsgericht
Lübeck Detlef Hardt vom Vor-
wurf des Exhibitionismus frei-
gesprochen. Obwohl mehrere
Frauen in der Verhandlung
geschildert hatten, wie der Lei-
ter der Lübecker Filiale der
Opferschutzorganisation sie
belästigt hatte. »Durchaus
glaubhaft«, wie die Richterin
einräumte.
Als Riegel mich kurz nach
der Urteilsverkündung anrief,
zitterte ihre Stimme wie bei
unserem ersten Treffen in der
Kanzlei ihres Anwalts. Wie
damals fiel es mir schwer zu
unterscheiden, ob es Wut oder
Enttäuschung war, die ihre
Der blaue
Schimmer
Nr. 3/2019 »Inventur des
Brauchtums« – Redakteur
Christopher Piltz über einen
kleinen Fehler und die
Gefahr absoluter Aussagen
G Journalisten neigen zu Super-
lativen und absoluten Aussagen.
Ich gehöre leider manchmal
auch dazu. Ich mache das nicht
aus Kalkül, oft geschieht es
unbewusst. Zum Glück gibt es
Menschen, die mich bremsen:
die SPIEGEL-Dokumentare.
Als ich in diesem Jahr in
einem Artikel über Mückenpla-
gen am Oberrhein schrieb:
»Ohne die Mückenjäger wären
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Riegel
Stimme brechen ließ. Nur dass telefoniert. Manchmal bin ich
mir diesmal nichts einfiel, um
ihr Mut zu machen. »Wir glau- ihr Zuversicht zu geben, wenn
ben Ihnen und werden der
Sache nachgehen«, hatten wir
ihr damals versprochen.
Am Tag nach Erscheinen
des ersten Artikels »Der Mann in nur 6 von mehr als 20 Fällen
an ihrer Seite« (SPIEGEL
12/2018) trat der gesamte Lan-
desvorstand des Weißen Rings sie zu trösten versucht, mit dem erwiesen, indem Sie verhindert
zurück. Er hatte die Vorwürfe
seit Jahren gekannt, aber nicht Rechtsstaats langsam mahlen,
gehandelt. In den Wochen
danach meldeten sich mehr als
zwei Dutzend Frauen bei Poli-
zei und Staatsanwaltschaft in
Lübeck und erstatteten Straf-
anzeige gegen Hardt, weil er
auch sie sexuell belästigt habe. habe ich es mir schon damals
Die ganze Zeit hielt ich Kon-
takt zu Riegel. Meist haben wir
etliche Gebiete nicht bewohn-
bar«, drängten sie darauf, den
Satz in »kaum bewohnbar« zu
ändern. In einem anderen Text
über die Berichte von Lebens-
mittelkontrolleuren schrieb
ich: »Viele Menschen wissen
nichts von ihrem Recht.« Wir
änderten es in: »Viele Men-
schen wissen wohl nichts von
ihrem Recht.« Die Dokumen-
tare dimmen die Absolutheit
meiner Aussagen. Doch wir
haben etwas übersehen.
Anfang des Jahres erschien
mein Artikel über das Immate-
rielle Weltkulturerbe. Im Text
ging es um das Ringen der
Deutschen mit ihrer Kultur.
Und um den Blaudruck, eine
besondere Drucktechnik. Seit
Jahrhunderten werden mit ihr
sicher war, ob die wegen Betrug
vorbestrafte Zeugin der Ankla-
ge uneingeschränkt glaubwürdig
war. Und so folgte sie einem
alten Rechtsgrundsatz: im
Zweifel für den Angeklagten.
»Leider sind Recht und
Gerechtigkeit manchmal weit
auseinander«, habe ich zu
Wiebke Riegel gesagt und ihr
abgeraten, vor dem Wohnhaus
von Detlef Hardt spontan zu
demonstrieren. Danach war
Funkstille. An einem Tag im
Oktober rief sie wieder an, bes-
MARIA FECK
tens gelaunt. Bianca Biewer, die
Bundesvorsitzende des Weißen
Rings, hatte ihr geschrieben:
»Sie und wir wissen, dass sein
Handeln grenzüberschreitend,
auch nach Lübeck gefahren, um distanzlos, verletzend und ver-
werflich war« und der Frei-
die Dinge aus ihrer Sicht falsch spruch »sicherlich schmerzlich«.
liefen. Etwa als die Staatsanwalt- Biewer bedankte sich: »Dank
schaft viele Verfahren einstellte, Ihrer Hilfe und Ihrem Mut zur
weil sie verjährt waren, oder als Offenbarung konnte seinem
Tun ein Ende gesetzt werden.
Anklage erhoben wurde und Sie haben damit vielen anderen
ihrer nicht dabei war. Ich habe Frauen einen großen Dienst
Argument, dass die Mühlen des haben, dass ihnen ebensolches
Leid zugefügt wird.« Den Brief,
dafür aber um so gründlicher. sagte Riegel, werde sie rahmen
Als das Amtsgericht Lübeck und in ihrem Wohnzimmer an
nur eine der Anklagen zur die Wand hängen.
Hauptverhandlung zuließ, habe Am Tag vor Heiligabend wur-
ich ihr gesagt: »besser eine de bekannt, dass die Berufung
Anklage als keine«. Geglaubt der Staatsanwaltschaft erfolg-
reich war. Der Prozess wird nun
nicht mehr. Dann kam der Frei- vor dem Landgericht Lübeck
spruch. Weil die Richterin nicht neu aufgerollt.
Muster auf Stoffe gefärbt. Das
Thema war komplex, aber frei
Zusammenhang mit Blau-
druck gesucht. Dafür war Fär-
von großen Tücken, dachte ich. berwaid allem Anschein nach
Das war der erste Fehler. nicht geeignet. Die Eindeutig-
Der zweite stand auf Seite keit in meinem Satz wurde
drei des Artikels. Ich schilder- mir zum Verhängnis. Korrekt
te, dass man in Europa bis zum hätte der Satz lauten müssen:
17. Jahrhundert Stoffe rot oder »Eine natürliche Quelle für
grün färbte. Und schrieb: Blau, mit dem der Blaudruck
»Eine natürliche Quelle für möglich gewesen wäre, gab
Blau gab es nicht.« es nicht.« Ein Leser schickte
Wenige Stunden nachdem mir Wochen später Textschnip-
der Artikel veröffentlicht war, sel und Fotos vom Färberwaid
erreichte mich die erste zu, eine Collage der Korrekt-
Beschwerde per Leserbrief. Etli- heit. Dazu hatte er getrocknete
che folgten. Der Fehler: Es gab Blätter gelegt; sie schimmern
sehr wohl in Europa eine Pflan- bläulich. Und in einen weite-
ze, die blauen Farbstoff enthielt, ren Umschlag Samen getan.
das Färberwaid. Im Hochmittel- Bis heute liegen die Blätter auf
alter bauten vor allem Bauern meinem Schreibtisch.
aus Thüringen das Waid an. Ich Es war die wohl schönste
hatte nach Farbstoffen im Zuschrift des Jahres.
17
Rassismus im Postfach tiker in der Bundestagsfrak-
tion kaltgestellt hatte.
Viele Sozialdemokraten
Redakteur Jean-Pierre Ziegler über seinen Umgang mit hielten uns vor, dieser Text
Pöbeleien und Herabsetzungen sei ein Beispiel dafür, dass der
»Hauptstadtjournalismus«
G Im September habe ich über eine Studie geschrieben, die sich nur noch Haltungsnoten ver-
mit Polizisten beschäftigte, die im Dienst Gewalt angewandt hat- gebe, also Stil und Auftritt
ten. Danach schrieb mir ein Leser, der sich Franz nannte, per bewerte, sich aber nicht um
Mail: »Wo kommst du weg? Kopf her siehste aus wie Pakistan.« politische Inhalte kümmere.
Ich komme nicht aus Pakistan, sondern aus München. Und ich Über diesen Vorwurf haben
bin schwarz. wir in der Redaktion lange
Meist lösche ich solche Nachrichten. Es ist sinnlos, sich lange diskutiert.
mit dem alltäglichen Rassismus im Postfach aufzuhalten. Denn Es ist unsere Aufgabe,

HC PLAMBECK
was soll ich einem Philipp antworten, der schreibt: »vergessen sie auch über die Auftritte einer
mal ihren cappuccino-teint und versetzen sie sich in die lage der Parteichefin zu schreiben –
deutschen.« Oder einem Michael, der sich per Mail empört: »und besonders wenn sie Irritatio-
dann ein NEGER! Man kann es sich nicht ausdenken.« Diese Nahles nen in der eigenen Partei
Hassbotschaften gehören zum Berufsrisiko, ich bekomme sie auslösen, also ihre Autorität
öfters. Besonders wenn ich über Kriminalfälle berichte, in denen
die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben.
Die Humba- schwächen und damit auch
politisch relevant sind. Aller-
Einmal schrieb mir ein Leser mit dem Betreff: »Negroide Perfi-
dität«. Schwarze seien eine minderwertige Rasse, hieß es in der
Unwucht dings erschien der Artikel,
kurz nachdem Nahles ein
Mail sinngemäß, seine genauen Worte will ich hier nicht wieder- Nr. 12/2019 »Humba humba zentrales politisches Papier
geben. Diese Nachricht wollte ich nicht einfach löschen. Ich habe tätäräää« – Christoph Hick- veröffentlicht hatte – das
Anzeige erstattet. Lange hörte ich nichts von der Staatsanwalt- mann und Veit Medick über neue SPD-Sozialstaatskon-
schaft. Ein halbes Jahr später erreichte mich die Mail einer Ham- ein Porträt von Andrea Nahles zept, mit dem es ihr gelang,
burger Journalistin. Sie habe Fragen zu dem heutigen Gerichts- und wie beißend man Politiker nach Jahren des Streits den
termin. Ich war perplex. Niemand hatte mich informiert. Ich kritisieren darf Konflikt um die Reformen
wusste nichts über eine Verhandlung. der Agenda 2010 erst einmal
Ich fand heraus, dass der Leser eine Geldstrafe bezahlen sollte, G Von den vielen Geschichten, zu beenden. Im Nachhinein
sich dagegen aber gewehrt hatte und daher in Hamburg vor die wir in diesem Jahr über ist das wohl die größte Leis-
Gericht erscheinen musste. Mein Fall stand anonymisiert auf die SPD geschrieben haben, tung ihrer kurzen Zeit an der
einer Pressevorschau, die ich nicht bekommen hatte. brachte uns keine so viel Kri- Parteispitze.
Eine zweite Hamburger Zeitung meldete sich. Das Medien- tik aus der Partei ein wie die- Dies haben wir im SPIEGEL
interesse war mir unangenehm. Ich wollte keine große Sache aus se: »Humba humba tätäräää« zu wenig gewürdigt, auch
der Hassnachricht machen. Ich schickte den Journalisten ein paar war das Stück betitelt, in dem in dem kritisierten Text kam
dürre Zeilen. Ein Verhalten, das ich bei anderen gern kritisiere. wir beschrieben, wie ver- der Aspekt nur am Rand
Im Nachhinein denke ich: Die Kollegen hätten mehr verdient. schämt, irritiert und verstört vor. Dadurch entstand eine
Die Richterin verurteilte den Leser zu einer Geldstrafe von viele Genossen auf einen Auf- Unwucht: Wir haben Nahles’
30 Tagessätzen zu je zehn Euro. Die »Hamburger Morgenpost« tritt ihrer damaligen Vorsitzen- Auftreten überbetont, ihre
zitierte sie mit den Worten: »Das, was Sie geschrieben haben, ist den Andrea Nahles zur Karne- inhaltliche Leistung insgesamt
schlichtweg unerträglich.« Ich werde auch in Zukunft nicht zim- valszeit reagiert hatten. nicht genügend berücksichtigt.
perlich sein, das passt nicht zu meinem Selbstverständnis als Jour- Außerdem ging es darum, Insofern ließ sich über diesen
nalist. Aber alles hinnehmen werde ich auch nicht. wie Nahles einen internen Kri- Text tatsächlich streiten.

»Abgemeldet« scher Rechtsextremist aus der

Moskauer Hooliganszene, war
damals nicht der Neonazi, son-
dern seine Mutter. Auf unsere
SPIEGEL ONLINE am 14. Februar Anfang der Nullerjahre mit sei- Frage, ob die Familie jüdisch sei,
»Der Neonazi-Krieger« – ner Familie nach Deutschland antwortete sie: »Ich bin eine rus-
Ansgar Siemens und Roman gezogen und hatte sich zu einer sische Frau« und Denis sei gera-
Lehberger über einen russi- Schlüsselfigur in der rechten de in der Ukraine. Eine Woche
schen Rechtsradikalen, der sich Kampfsportwelt entwickelt. nach unserem Bericht auf
nach Veröffentlichung ihrer Bevor wir klingelten, hatten SPIEGEL ONLINE erkundigten
Recherchen nicht mehr in wir bei Behörden und bei Leu- sich die Behörden an der Adres-
Deutschland aufhalten darf ten, die ihn kannten, zur Bio- se in Köln nach Kapustin. Er wur-
ESPEN RASMUSSEN / VG / VISUM

grafie des Russen recherchiert de von Amts wegen abgemeldet.

G Ein bisschen mulmig war uns
schon, als wir vor der Woh-
nungstür standen. Der Mann,
der hier in Köln-Chorweiler
gemeldet war, galt als einer der
brutalsten Neonazi-Schläger in
Europa. Denis Nikitin, russi-
und herausgefunden, dass
Denis Nikitin eigentlich Denis
Kapustin hieß. Er war im ju-
gendlichen Alter als angeblich
jüdischer Kontingentflüchtling
nach Deutschland gekommen.
Nikitin Die Tür in Chorweiler öffnete
Kurz darauf erlosch sein Aufent-
haltstitel. Die Kölner Oberbür-
germeisterin verhängte eine Ein-
reisesperre gegen Kapustin alias
Nikitin. Zehn Jahre lang darf der
Neonazi Deutschland nicht mehr
betreten.

18 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Das Elektroauto für Deutschland:
Der neue Renault ZOE
Eine Generation weiter

Jetzt ab 109,– € mtl.

bei einer Leasingsonderzahlung von 1.880,– € zzgl. mtl. Batteriemiete1

Renault ZOE LIFE R110 Z.E. 40 (41-kWh-Batterie): Fahrzeugpreis 2 inkl. 4.480 € Elektrobonus: 3 17.420,– €. Bei Leasing: Leasingsonderzahlung
1.880,– €, 36 Monate Laufzeit (36 Raten à 109,– €), Gesamtlaufleistung 22.500 km, eff. Jahreszins 0,99 %, Sollzinssatz (gebunden) 0,99 %, Gesamt-
betrag 5.804,– € zzgl. Überführungskosten. Ein Kilometer-Leasingangebot für Privatkunden der Renault Leasing, Geschäftsbereich der RCI Banque
S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Angebot gilt nur bei gleichzeitigem Abschluss eines Mietvertrags für die Antriebs-
batterie mit der Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Bei allen teil-
nehmenden Renault Partnern. Gültig für Privatkunden mit Mitgliedschaft beim ADAC mit Kaufvertragsdatum bis zum 30.04.2020.

Renault ZOE LIFE R110 Z.E. 40 (41-kWh-Batterie), Elektro, 80 kW: Stromverbrauch kombiniert (kWh/100 km): 17,2; CO2 -Emissionen kombiniert:
0 g/km; Energieeffizienzklasse: A+ (Werte gemäß gesetzl. Messverfahren). Renault ZOE: Stromverbrauch kombiniert (kWh/100 km): 17,7–17,2;
CO2 -Emissionen kombiniert: 0–0 g/km; Energieeffizienzklasse: A+–A+ (Werte gemäß gesetzl. Messverfahren).
1
Zzgl. eines monatlichen Mietzinses von 74,– € bei einer Jahresfahrleistung von 7.500 km. Der monatliche Mietzins deckt die Bereitstellungskosten
für die Batterie sowie die Renault Z.E. Assistance ab. 2 Abbildung zeigt Renault ZOE INTENS mit Sonderausstattung. 3 Inklusive 4.480 € Elektrobonus,
ohne Antriebsbatterie. Der Elektrobonus enthält 2.000 € staatlichen Umweltbonus sowie 2.380 € Renault Elektrobonus gemäß den Förderrichtlinien
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zum Absatz von elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Der Elektrobonus enthält auch die Förde-
rung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle für den Einbau eines akustischen Warnsystems (AVAS) bei neuen Elektrofahrzeugen in
Höhe von 100 €, www.bafa.de. Der staatliche Umweltbonus und die AVAS-Förderung sind bereits in die Leasingsonderzahlung und den Gesamt
betrag einkalkuliert. Die Auszahlung erfolgt erst nach positivem Bescheid des von Ihnen gestellten Antrags. Ein Rechtsanspruch besteht nicht.
Nicht mit anderen Aktionen kombinierbar. Angebot gültig bis zum 30.04.2020. Renault Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl.
 Heimliche Helden
SPD Ein wildes Jahr liegt hinter der Partei. Eine Vorsitzende stürzte, neue
wurden gewählt, große Namen standen im Fokus. In Wahrheit wurde
der Umbruch aber auch von fünf Menschen geprägt, die kaum jemand kennt.
Von Christoph Hickmann und Veit Medick

Michael Groß, 63, Wiebke Esdar, 35, Sascha Raabe, 51,

Haushälter Bildungspolitikerin Entwicklungsexperte
Er forderte per Brief eine Sie stützte im Rennen um den Er sagte Nahles ins Gesicht,
Sondersitzung. Andrea Nahles SPD-Vorsitz ein eher dass sie für die SPD ein Problem
verlor anschließend die Nerven. unbekanntes Duo. Es gewann. sei. Viele folgten ihm.

FUNKE FOTO SERVICES, WERNER SCHÜRING, DPA, MARCO URBAN, GETTY IMAGES [BEARBEITUNG: DER SPIEGEL]

Johann Saathoff, 52, Energiepolitiker Florian Post, 38, Wirtschaftsexperte

Er setzte zu Jahresanfang eine Strategieklausur an. Er rebellierte monatelang offen gegen die Führung.
Es war eine Kampfansage an die Parteispitze. Erst als es zum Bruch kam, gab er Ruhe.

20

E
s wird jetzt knifflig, Michael Groß
weiß, dass diese Frage kommen
muss. Es geht nicht anders, nicht
nach diesem Jahr und dem, was
er dazu beigetragen hat. Also: Hat er, Mi-
chael Groß, SPD-Bundestagsabgeordne-
ter aus dem Wahlkreis Recklinghausen II,
in diesem Jahr den Lauf der sozialdemo-
kratischen Geschichte beschleunigt?
Groß denkt nicht lange nach, er sagt:
»Beschleunigt, ja.«
Und verändert?
»Pffff.« Groß atmet aus. »Das kriegt ja
Dimensionen.« Pause. »Ich würde sagen,
ich hab ’nen Stein ins Wasser geworfen.«
Am Tag nach der Europawahl im Mai,
bei der seine Partei auf 15,8 Prozent abge-
stürzt war, schrieb Groß, Sprecher der
SPD-Abgeordneten aus dem Ruhrgebiet,
einen Brief, in dem er eine Sondersitzung
der Fraktion forderte: Es müsse »klarge-
stellt werden, ob die SPD-Bundestagsfrak-
tion hinter ihrer Vorsitzenden steht oder
nicht«. Also hinter Andrea Nahles.
Was folgte: eine Fraktionssitzung, in
der viele Abgeordnete regelrecht über
Nahles herfielen. Nach Groß’ Brief hatte
sie eigentlich in die Offensive gehen, die
Vertrauensfrage stellen und ihre erst für
September geplante Wiederwahl vorzie-
hen wollen. Doch vier Tage nach dieser
denkwürdigen Sitzung, eine knappe Wo-
che nach dem Brief von Michael Groß, gab
Andrea Nahles auf. Sie trat zurück.
Es war ein wildes, spektakuläres Jahr
in der deutschen Politik, vor allem in der
SPD. Eine Vorsitzende trat ab, zwei neue
wurden gewählt, dazwischen lagen Mo-
nate, in denen die Partei um sich selbst
kreiste. Am Ende verlor der Vizekanzler
und mit ihm das gesamte Establishment
den Mitgliederentscheid gegen einen
früheren Landesminister und eine Bun-
destagsabgeordnete, die bis dahin höchs-
tens Eingeweihten ein Begriff war. Die
SPD neigte schon immer zum Drama,
aber in diesem Jahr hat sie sich selbst
übertroffen.
Die Protagonisten dieses Dramas hei-
ßen Andrea Nahles, Olaf Scholz, Saskia
Esken, Norbert Walter-Borjans. Aber an
manchen Stellen waren sie in Wahrheit
nicht die maßgeblichen Akteure.
Politik wirkt oft wie das Geschäft eini-
ger weniger mächtiger Personen, die plan-
voll handeln. Doch tatsächlich ist Politik
komplexer. Es gibt Spieler, die man weder
auf den ersten noch auf den zweiten Blick
entdeckt, es gibt Zufälle und Irrtümer, und
häufig entsteht aus der Planlosigkeit die
entscheidende Dynamik.
Das verrückte Jahr der SPD, es hätte
auch anders verlaufen können, wenn fünf
nicht so bekannte Sozialdemokraten in
entscheidenden Momenten anders gehan-
delt hätten, Menschen wie der Abgeord-
nete Michael Groß mit seinem Brief.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
Deutschland
Der SPIEGEL hat sie am Ende dieses
Jahres besucht. Wie schätzen sie ihren
Beitrag ein, ihre Rolle? Würden sie wie-
der so handeln?
Der Ungeduldige
Johann Saathoff, 52, wartet an einem No-
vembermittag im Restaurant »Die Eins«,
gleich gegenüber dem Bundestag. Er hat
schlechte Laune, sein Wahlkreis in Ost-
friesland ist in Aufruhr. Wegen der Krise
bei Enercon, dem größten deutschen Her-
steller von Windenergieanlagen, stehen
dort Existenzen auf dem Spiel. Es fällt
Saathoff gerade nicht leicht, über die SPD
zu sprechen, aber er lässt sich darauf ein.
Bei Saathoff beginnt im Herbst 2018
alles damit, dass er sich ärgert. Er ist Vor-
sitzender der niedersächsischen Landes-
gruppe in der SPD-Bundestagsfraktion
und außerdem der Erststimmenkönig in
seiner Partei. Den Wahlkreis Aurich-Em-
den holte er 2017 mit fast 50 Prozent.
Saathoff weiß, dass man, um erfolgreich
zu sein, in der Zeitung stehen, in den
Medien vorkommen muss. Und da fehlt
ihm etwas, rund um den Jahreswechsel
2018/2019.
»Mir ging schon länger das kommunika-
tive und mediale Vakuum der SPD in den
ersten zwei Wochen des Jahres auf den
Geist«, sagt er im Rückblick. Anfang Ja-
nuar habe die SPD alljährlich eine Leer-
stelle gehabt. »Während sich die CSU-Lan-
desgruppe zur Klausur traf und die FDP
zum Dreikönigstreffen, waren wir prak-
tisch nie wahrnehmbar.«
Stattdessen: Krisenmodus. Nahles steht
noch nicht einmal ein Jahr an der SPD-
Spitze, ist aber schon schwer angeschlagen.
Die Umfragen sind unverändert mies, die
Stimmung ist miserabel. Trotzdem ist
nichts geplant, keine Klausur, kein Termin,
der wenigstens mal ein paar hübsche Bil-
der ins Fernsehen bringen würde.
Also wird Saathoff selbst tätig. Mit
Achim Post, dem Chef der nordrhein-west-
fälischen SPD-Bundestagsabgeordneten,
setzt er für Anfang Januar in Osnabrück
eine Klausur beider Landesgruppen an. Es
ist eine Machtdemonstration, mitten in
Nahles’ schwerer Krise.
Während sich die Partei- und Fraktions-
chefin in ihre Wagenburg begeben hat, ta-
gen die Abgeordneten aus NRW und Nie-
dersachsen öffentlich. Journalisten dürfen
mit im Saal sitzen, dadurch wird der Ter-
min in Osnabrück zum Medienereignis.
Und über allem schwebt die Frage: Gibt
es eine Verschwörung gegen Nahles?
In Osnabrück ist die Stimmung eindeu-
tig: Die Chefin ist hier maximal noch ge-
duldet. Wohl auch um Saathoff und Post
nicht vollends die Bühne zu überlassen,
hat Nahles zwischenzeitlich selbst eine
Klausur der Bundestagsfraktion angesetzt.
Auch zu Saathoffs Klausur macht sie einen
Abstecher, ihr Auftritt ist jedoch der einzi-
ge Tagesordnungspunkt hinter verschlos-
senen Türen. Ihre Autorität erodiert. Hän-
gen bleibt: Sie traut sich nicht.
Der Ostfriese Johann Saathoff setzt mit
seinen Abgeordneten den Ton für das, was
folgen soll. Wäre das Jahr ohne diese Klau-
sur anders verlaufen?
Saathoff zögert kurz. »Ich glaube nicht«,
sagt er dann. »Nein, die Grundstimmung
in der Fraktion war tief negativ.«
Der Quälgeist
Ein Treffen im Bundestag. Florian Post,
38, lehnt sich zurück, er soll jetzt noch mal
durchspielen, was er so angerichtet hat in
diesem Jahr. »Da waren schon einige Häm-
mer dabei«, sagt der bayerische Abgeord-
nete und Namensvetter des Parteifreundes
aus NRW.
Diese eine Nummer etwa, Anfang des
Jahres, wann war das noch genau? Post
zückt sein Handy, googelt drei Begriffe:
Post, Nahles, Untergang. Richtig, Februar
2019, eine Meldung bei »Focus Online«.
Post liest laut vor. »Die Leute sagen es
mir reihenweise: So kann es mit uns und
Andrea Nahles nicht weitergehen«, so hat
ihn das Portal damals zitiert. »Ein stures
Weiter-so, gerade auch personell, wäre ein
Festhalten an der Parole ›Mit Hurra in den
Untergang‹.« Post blickt auf, ein Grinsen
kann er sich nicht verkneifen: »Da waren
sie alle entsetzt.«
Post sitzt normalerweise in den hin-
teren Reihen der Fraktion, aber 2019 ist
sein Jahr gewesen. Bis zu Nahles’ Rück-
tritt vergeht kaum eine Woche, ohne dass
Post sich in einer Tonart an der Partei-
chefin abarbeitet, die es in sich hat. Mal
hält er Nahles Versagen vor, dann wirft er
ihr vor, die SPD in »Geiselhaft« zu neh-
men. Seine Brutalität verstört viele in der
Fraktion, aber weil er nie locker lässt, ent-
wickelt sich seine Kritik zu einem Grund-
rauschen.
Heute sagt Post: »Es war absolut richtig,
damals den Finger in die Wunde zu legen.
Nahles’ Rücktritt war erforderlich.« Sie
habe nur Leute um sich gehabt, die ihr ge-
horchten, aber niemals widersprachen.
»Deswegen hat sie auch nicht gemerkt,
dass sich da was verändert in der SPD.«
Verändert hatte sich etwas Entscheiden-
des, es kam nur in Berlin-Mitte lange nicht
an: Diese Partei, die viele Jahre hingenom-
men und mitgetragen hatte, was die Spitze
ihr vorsetzte, war dazu nicht mehr bereit.
Mit seinen Zitaten wurde Florian Post
zum Liebling vieler Journalisten, auch
der SPIEGEL berichtete wiederholt über
seine Attacken. Das lag daran, dass da
endlich einer aussprach, was viele andere
nur im kleinen Kreis erzählten. Es gab
Phasen, da war der Wirtschaftspolitiker
21

vor den Kameras gefragter als die Partei-
führung.
Würde er wieder so agieren?
In einem solchen Fall jederzeit, sagt
Post. »Es gibt Leute, die finden mich gut.
Und es gibt welche, die finden mich furcht-
bar.« Alle wollten doch Politiker mit Ecken
und Kanten. »Hier sitzt einer.«
Der Auslöser
Ein Restaurant im Regierungsviertel. Am
Tisch sitzt Michael Groß, Abgeordneter
aus Marl, der Mann, der mit seinem Brief
mit dafür sorgte, dass Nahles im Juni die
Nerven verlor und zurücktrat.
Groß, 63, ist ein ruhiger, freundlicher
Mann. Er hat nicht die breitbeinige Art,
die manchen Ruhrgebietsgenossen eigen
ist, im Gespräch wirkt er fast schüchtern.
Alles zieht jetzt noch einmal an ihm
vorbei: die verlorene Europawahl, die
Schmach bei der Bürgerschaftswahl in Bre-
men, bei der die Genossen erstmals nach
dem Krieg nicht stärkste Partei werden,
der Frust an der Basis. Die ganzen schlim-
men ersten Monate dieses Jahres 2019.
»Ich habe den Brief geschrieben, weil
die Situation vor allem bei uns im Ruhrge-
biet dramatisch war und ist. Viele Städte
sind finanziell handlungsunfähig, die Ar-
beitslosenzahlen sind hoch, und wir haben
mit der AfD zu kämpfen, manchmal sind
wir hier nur noch zweit- oder drittstärkste
Kraft«, sagt Groß. »Der Druck auf uns war
gewaltig: Ihr müsst was machen, habe ich
im Wahlkreis immer wieder gehört.«
Er selbst, sagt Groß, kenne doch solche
Situationen als Chef, nicht ganz oben, aber
doch als Vorsitzender des SPD-Stadtver-
bands. »Wenn wir mal nicht gut abge-
schnitten haben, dann habe ich das intern
diskutiert und drei Fragen gestellt. Erstens:
22. Februar
18 %
10. Februar
SPD Abkehr von Hartz IV:
Die SPD beschließt
ein neues
10. Januar 2019 »Sozialstaatspapier«.
15 %
zum Vergleich Ergebnis der
Bundestagswahl Sept. 2017:
20,5 %
vom Fraktionsvorsitz zurück.
Kaum Lichtblicke
»Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?«
Quelle: Infratest dimap; mindestens 1000 Befragte;
Schwankungsbreite zwischen 1,4 und 3,1 Prozent
22
Deutschland
Was haben wir falsch gemacht? Zweitens:
Was müssen wir besser machen? Drittens:
Steht ihr noch hinter mir? Und dann, wenn
klar war, dass meine Leute noch hinter mir
stehen, hab ich einen Plan vorgestellt, ein
Konzept, wie es weitergeht.«
Von Nahles sei nichts gekommen.
Aber würde er den Brief noch mal
schreiben? Michael Groß sagt: »Ich halte
den Brief weiterhin für richtig. Ich fand
den Umgang mit unseren Wahlergebnissen
dermaßen oberflächlich, das war einfach
nicht angemessen. Und deswegen bin ich
mit mir völlig im Reinen.«
Der Klartexter
Sascha Raabe sitzt in seinem Bundestags-
büro, es ist Mitte November, auf einem
Aktenschrank liegt ein Schal von Eintracht
Frankfurt, vor einem Foto, auf dem Raabe
den DFB-Pokal in der Hand hält. Mittler-
weile geht es der Eintracht auch nicht
mehr so gut, aber wenigstens spielt sie
noch erste Liga. Und die SPD?
Eher nicht mehr, das frustriert Raabe.
Die Frage an ihn: Würde er Nahles noch
mal derart direkt sagen, dass es vorbei ist?
Der 51-Jährige denkt kurz nach. »In der
damaligen Situation waren es ehrliche, of-
fene, geradlinige Worte, die unter Partei-
freunden auch möglich sein müssen«, sagt
er. »Ich sehe keinen Grund, warum ich das
in dieser Situation nicht wieder so sagen
sollte, geradlinig und ehrlich.«
Raabe spricht über den 29. Mai. Die Ab-
geordneten der SPD-Fraktion treffen sich
um kurz nach vier zur Sitzung. Seit Wo-
chen kursieren Putschgerüchte, Michael
Groß hat seinen Brief geschrieben, nun
sucht Nahles die Offensive: Sie hat ange-
kündigt, ihre Wiederwahl rasch vorziehen
zu wollen. Sie sucht den Showdown.
26. Mai
historisch schlechtes 1. September
Europawahlergebnis Landtagswahlergebnisse
15,8% Brandenburg: 26,2 %
Die SPD verliert Sachsen: 7,7%
11,5 Prozentpunkte.
3./4. Juni
Andrea Nahles tritt
zuerst vom Parteivorsitz,
einen Tag später auch
6. Juni
12 %
Die Debatte beginnt gar nicht schlecht
für Nahles. Das liegt daran, dass sich als
einer der Ersten der bayerische Abgeord-
nete Florian Post zu Wort meldet, Nahles’
Nemesis. Er habe, sagt Post, im Europa-
wahlkampf mit vielen Menschen gespro-
chen. »Kein Einziger hat die Meinung aus-
gedrückt, dass es mit dir an der Spitze gut
läuft.« Post fordert Nahles zum Rücktritt
auf. Das nützt ihr. Von Post erwartet nie-
mand etwas anderes, ein paar Redner füh-
len sich berufen, Nahles zu verteidigen.
Dann, gegen Viertel vor fünf, ergreift
Sascha Raabe das Wort, Abgeordneter aus
Hanau. Die SPD, sagt er, habe nach außen
vor allem zwei Gesichter: Andrea Nahles
und Olaf Scholz – und er erlebe in seinem
Wahlkreis, »so leid es mir auch tut«, dass
die beiden dort nicht ankämen.
Raabe wendet sich an Finanzminister
Olaf Scholz: »Du wirst wahrgenommen
als kaltherziger Technokrat.«
Dann wendet er sich an Nahles: »Ich
mag dich von Herzen gern, und ich werde
immer sagen, dass du ’ne tolle Arbeitsmi-
nisterin warst, ’ne tolle Fraktionsvorsitzen-
de. Aber es ist halt deine Tragik, dass du
das nicht verkauft bekommst.«
Was Raabe da sagt: Mit den beiden wird
die SPD untergehen, ein Neustart muss
her. Und so verläuft dann auch der Rest
der Sitzung. Viele Abgeordnete äußern
sich ähnlich, die Lage ist eindeutig: Die
Fraktion rückt von der Chefin ab.
Hätte sich die Stimmung in der Frak-
tionssitzung auch ohne die Wortmeldung
von Sascha Raabe so klar entladen?
Zurück ins Bundestagsbüro, Raabe win-
det sich, er hat offensichtlich Sorge, dass
es wirken könnte, als überhöhte er im
Rückblick die eigene Rolle. Klar ist trotz-
dem: Er hat dem Verlauf dieser Debatte
Ende Mai eine Wendung gegeben.
27. Oktober
Landtagswahlergebnis
Thüringen: 8,2 %
13. Dez.
14 %
5. Sept. 18. Okt.
14 % 14 %
5. Dez.
13 %
6. Dezember
Saskia Esken und
Norbert Walter-Borjans
übernehmen den
Parteivorsitz.

Neues SPD-Führungsduo Walter-Borjans, Esken: Am Küchentisch geübt
Ihm ist etwas wichtig. »Ich hab ja nie
gesagt: Andrea Nahles soll sofort zurück-
treten. Und wenn es jetzt im Nachhinein
heißt, sie sei unfair gemobbt worden, muss
ich sagen: Von meiner Seite aus ganz si-
cher nicht«, sagt Raabe.
Ob ihm etwas leidtut?
»Auf der menschlichen Ebene, da tat
mir das bei Andrea schon auch sehr leid.
Mit ihr habe ich nie Streit gehabt, sie hat
sich immer für meine Themen eingesetzt.«
Zu Scholz sagt er nichts.
Die Guerillakämpferin
Wilhelmstraße 65, ein unscheinbares Bun-
destagsgebäude. Im zweiten Stock liegt
das Büro von Wiebke Esdar, 35, eines
dieser kleinen Zimmer für neu gewählte
Abgeordnete. Esdar kam erst 2017 ins
Parlament, aber im letzten Kapitel dieses
sozialdemokratischen Jahres hat sie eine
entscheidende Rolle gespielt.
Nach der Niederlage bei der Europa-
wahl und dem Nahles-Sturz, so erzählt es
Esdar, wird ihr klar, dass ein Bruch her-
muss, wenn die Partei sich wieder aufrich-
ten will, programmatisch, strategisch, sti-
listisch. Die Bielefelderin will nicht zugu-
cken, wie andere über das Schicksal der
SPD entscheiden. Sie schreitet ein, ohne
dass an der Spitze jemand Notiz davon
nimmt. »Außerhalb Berlins habe ich schon
eine Wechselstimmung gespürt«, sagt sie.
Am 29. August, einem Donnerstag, trifft
sich im Konferenzraum eines Essener Hotels
eine kleine, vertrauliche Runde. Am Tisch
sitzen Esdar, ihr Partner Veith Lemmen, er
ist stellvertretender Vorsitzender der nord-
rhein-westfälischen SPD, außerdem ihr Mit-
arbeiter Frederick Cordes – zusammen mit
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
STEFAN BONESS / IPON
Die eine ist Bundestagsabgeordnete, der an-
dere war mal Finanzminister in NRW. Fünf
Figuren, die im Rennen um den Parteivorsitz
niemand auf der Rechnung hat.
Ziel des Geheimtreffens ist, die Kandi-
datur von Esken und Walter-Borjans für
den Parteivorsitz festzumachen. Sie wol-
len als Gegenentwurf zu Olaf Scholz an-
treten, er steht in den Augen der Gruppe
für viele Probleme der SPD: die ständige
Unterordnung unter die Rationalität des
Regierens, die Angst vor Neuem.
Die Gruppe bastelt seit Längerem an
der Kandidatur, nun geht es um letzte Vor-
bereitungen, es werden Ideen für die Kam-
pagne diskutiert, auch ein Slogan für den
Wahlkampf entsteht: Standhaft.Sozial.De-
mokratisch. Zwei Politiker mit einem ei-
genen Kopf, das ist der Plan.
Am Tag nach dem Treffen werden Wal-
ter-Borjans und Esken offiziell vom NRW-
Landesverband nominiert. Drei Monate
später sind sie Vorsitzende, durch die SPD
geht das nächste Beben.
»Das war ziemlich kurzfristig aufgesetzt
damals«, sagt Esdar. Man habe kaum Zeit
zur Vorbereitung gehabt. Am heimischen
Küchentisch übten Esdar und Lemmen mit
den beiden Kandidaten für die Regional-
konferenzen. Sie trichterten dem Duo ein,
dass ihre Botschaften besser funktionieren
würden, wenn sie auch in Tweets passten.
Aus Esdars Sicht ist es auch dieses Ex-
perimentelle, das Improvisierte, das die
beiden siegen ließ. Wie viele andere junge
Sozialdemokraten steht sie für eine Gene-
ration, die mit den immergleichen Insze-
nierungen nichts mehr anfangen kann, die
mit den Regeln des Berliner Betriebs bre-
chen will. Esdar glaubt, die Partei habe
nur dann eine Chance, wenn sie aus Zwän-
gen ausschert und wieder unverwechsel-
bar wird. Auch wenn das bedeutet, erst
mal in die Opposition zu gehen.
Es war ein fürchterliches Jahr für die
SPD. Es gingen ja nicht nur die Wahlen in
Europa und Bremen schief. In Sachsen ka-
men die Genossen noch auf 7,7 Prozent,
in Thüringen auf 8,2. Und wenn man dem
fast einhelligen Medienecho glauben darf,
dann ist die Partei mit ihrem neuen Duo
endgültig dem Untergang geweiht.
Die fünf Menschen, die dieses SPD-Jahr
aus dem Hintergrund mitgeprägt haben,
müssen sich fragen lassen, ob sie irgendet-
was zum Besseren gewendet haben.
Johann Saathoff hat darauf eine ostfrie-
sisch knappe Antwort. Er sagt, die Atmo-
sphäre in der Fraktion sei nun eine andere.
»Jetzt gibt’s ne konstruktive Stimmung.«
Florian Post sagt, Nahles’ Rückzug habe
sich gelohnt. »Das war ja so, als wenn Sie
in einen stickigen Raum kommen und
dann erst mal das Fenster aufmachen.«
Auf den neuen Fraktionschef Rolf Mütze-
nich hält Post große Stücke. »Der ist viel
integrativer, kooperativer«, findet er.
Michael Groß sieht die Lage differenziert.
Die Fraktion sieht auch er gut aufgestellt,
was die Partei angeht, ist er vorsichtig. »Auch
da ist die Lage jetzt etwas besser«, sagt er.
»Aber damit sie wieder gut wird, müssen wir
uns endlich wieder um die kümmern, die in
diesem Land den Laden zusammenhalten,
vor allem die Arbeiter und Angestellten.«
Sascha Raabe schwärmt regelrecht. Er
sei stolz auf seine Partei, sagt er. »Die SPD
hat sich entgegen vielen Vorhersagen nicht
zerlegt: Stattdessen haben wir auf unse-
rem Parteitag gezeigt, dass wir konstruktiv
und gut zusammenarbeiten.«
Wiebke Esdar denkt in ihrem Bundes-
tagsbüro eine Weile über das Wort Links-
schwenk nach, das nun überall kursiert.
Esdar mag es nicht. »Das greift zu kurz«,
sagt sie. »Die Agenda 2010 war ein
Schwenk ins Neoliberale, jetzt bewegen
wir uns in der Sozialpolitik wieder in die
Mitte.« Und ja, mit der Abkehr von der
schwarzen Null und dem Ruf nach der Ver-
mögensteuer verfolge man jetzt endlich
auch wieder linke Projekte. Wiebke Esdar
schaut optimistisch in die Zukunft.
Am Ende dieses Jahres sind sie also
doch alle ganz zufrieden oder behaupten
es zumindest. Es gibt jetzt einen Frak-
tionsvorsitzenden, der respektiert, gar ge-
mocht wird. Und es gibt zwei Parteichefs,
von denen zwar noch niemand weiß, was
sie zuwege bringen werden, die aber, an-
ders als Andrea Nahles, auch noch keinen
festzementierten Ruf haben, gegen den sie
mühsam ankämpfen müssen.
Vielleicht wird man über 2019 einmal
sagen, dass die SPD ein solches Jahr lieber
nicht noch einmal erleben sollte, aber da-
mals wenigstens etwas Neues begann.
Twitter: @chhickmann, @vmedick
23
 Der Mann mit dem Hammer
Karrieren Tilman Kuban ist furios als Chef der Jungen Union gestartet, seitdem geht für ihn nur
noch wenig voran. Ist sein brachialer Ansatz, Politik zu machen,
überhaupt noch zeitgemäß? Von Florian Gathmann und Christoph Hickmann

NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL

JU-Vorsitzender Kuban am Brandenburger Tor: »Ohne uns ist kein Wahlkampf zu machen«

N
eulich hat Tilman Kuban einen
Hammer bekommen. Es war
beim Bundestreffen der Schüler
Union, Kuban trat dort als Gast-
redner auf, und der Vorsitzende überreich-
te ihm hinterher das Werkzeug. »Du
bist einer, der gern mal auf den Tisch
haut«, sagte er. In einem Fernsehbeitrag
über die Veranstaltung sieht man Kuban
strahlen.
Einer, der auf den Tisch haut. So will er
gern gesehen werden. Er tut einiges dafür.
Tilman Kuban, 32, ist seit März Vorsit-
zender der Jungen Union, kurz JU. Im
Sturm übernahm er damals die Nachwuchs-
organisation von CDU und CSU, gegen den
favorisierten Kandidaten. Kuban schrie
in seiner Rede beim außerordentlichen
Deutschlandtag, dem Bundestreffen der JU,
mehr, als dass er sprach, es war ein Bierzelt-
auftritt, wie ihn die deutsche Politik länger
nicht gesehen hatte. Und er machte nach
seiner Wahl genau da weiter.
Wenige Tage nach dem Deutschlandtag
beklagte er, unter dem Vorsitz von Angela
Merkel habe die CDU eine »Gleichschal-
tung erlebt«. Als die Partei bei der Euro-
pawahl im Mai schlecht abgeschnitten hat-
te, legte er sich mit der Parteizentrale an.
Im Oktober stellte Kuban im CDU-Bun-
desvorstand die Führungsfrage, im Beisein
der Chefin, Annegret Kramp-Karrenbauer.
Kuban, das sehen seine Bewunderer aus
der Schüler Union schon richtig, macht
Politik mit dem Hammer. Das reicht für
eine ordentliche Medienpräsenz, jeder
Schlag ein paar Schlagzeilen, aber die
Frage ist, ob es darüber hinaus eigentlich
für irgendetwas reicht. Ob Kuban mit
seiner Methode in der Sache etwas erreicht
hat – oder ob da, worauf einiges hindeutet,
außer Hammerschlägen nicht viel war.
Man könnte sogar die Frage stellen,
ob sein Politikansatz in eine Zeit passt,
in der sich junge Menschen so stark für
Politik und ihre Folgen interessieren wie
lange nicht. Erreicht man sie mit dem
Hammer?

24

Ein Abend Ende November, die JU Ber-
lin hat Kuban und Juso-Chef Kevin Küh-
nert zu einem Streitgespräch eingeladen.
In der privaten Quadriga-Hochschule wird
Kuban mit den Worten vorgestellt, er habe
sich, obwohl erst wenige Monate im Amt,
»schon einen verdammt großen Namen ge-
macht«. Kuban trägt, wie fast immer, ein
weißes Hemd mit hochgekrempelten Är-
meln, dazu schwarze Sneakers. Bei der Vor-
stellung lächelt er.
Läuft doch eigentlich. Oder?
Auf dem jüngsten Deutschlandtag tra-
ten in Saarbrücken wieder fast alle rele-
vanten Köpfe von CDU und CSU auf. Die
JU ist mit rund 105 000 Mitgliedern der
nach eigenen Angaben »größte politische
Jugendverband in Deutschland und
Europa«. Bei Wahlen verlassen sich die
Unionsparteien nach wie vor auf ihren
Nachwuchs. »Ohne uns ist kein Wahl-
kampf zu machen«, sagt Kuban.
So weit die logistische Leistungsschau.
Politik ist das noch nicht.
In seiner Rede auf dem Deutschlandtag
der Jungen Union im März rief Kuban, die
Linken im Land wollten »lieber für die
Schultoilette des 3. bis 312. Geschlechts
kämpfen« als für die Zukunft Deutschlands.
Er schrie, auf »Deutschlands Straßen«
herrschten Recht und Gesetz »und nicht
die Schariapolizei und schon gar nicht die
linke Intoleranzpolizei«. Und er rief: »Stel-
len wir uns den linken Spinnern und Toyo-
ta-Heinis von der Umwelthilfe entgegen!«
Es wirkte, als wäre da die Abrissbirne
der Ära Merkel ans Rednerpult getreten.
Politische Jugendorganisationen sind
meist extremer als die Mutterparteien. Die
Jusos sind linker als die SPD, die Grüne
Jugend will Weltfrieden und Klima schnel-
ler retten als die Grünen. Und die Junge
Union feiert Kuban für solche Auftritte.
Auf dem CDU-Parteitag in Leipzig vor
einigen Wochen sagte er: »Wir dürfen es
auch nicht zulassen, dass im Görlitzer Park
Fußballturniere mit nordafrikanischen
Drogendealern veranstaltet werden.«
Er bezog sich auf eine Veranstaltung,
die Anwohner in Berlin-Kreuzberg mitor-
ganisiert hatten. Sie richtete sich auch an
Flüchtlinge aus Afrika, die sich im Görlit-
zer Park aufhalten. Weil ein Teil von ihnen
mit Drogen handelt, war das Turnier in
die Schlagzeilen geraten. »Ich sage es ganz
deutlich: Mit solchen Leuten macht man
keine Nachbarschaftsfeste, die schickt man
nach Hause oder in den Knast – aber
nichts anderes!«, rief Kuban.
Was beim Nachwuchs der Union gut an-
kommt, stößt viele andere junge Leute
eher ab. Gerade mal 14 Prozent der unter
30-Jährigen gaben CDU und CSU bei der
Europawahl die Stimme, damit waren sie
bei den Jungen gerade noch doppelt so
stark wie die Satiregruppierung Die Partei.
Bei der Bundestagswahl 2017 hatte die
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Deutschland
Union in dieser Altersgruppe noch 25 Pro-
zent erreicht. Mehrheitlich wählt die Ju-
gend neuerdings lieber grün.
Es wäre die Aufgabe von Kuban, sich
diesem Trend entgegenzustemmen, ihn zu-
mindest abzumildern. Die JU müsste der
Brückenkopf zur jungen Generation sein.
Aber Kuban betätigte sich bei seinem ers-
ten Auftritt auf großer Bühne lieber als
Sprengmeister, der noch die letzten Brü-
cken abbrach – und hat seitdem wenig ge-
tan, um sie wieder aufzubauen.
Wenn man Tilman Kuban fragt, wie die
Jugend zu erreichen, wie sie zurück-
zugewinnen ist, spricht er über bessere
Onlinekommunikation und die »Mitglie-
der der JU als Multiplikatoren vor Ort«.
Aber er sagt auch: »Indem man die Jugend
vor allem ernst nimmt.« Und: »Da hat die
CDU Fehler gemacht.«
Nur die CDU?
Hinter vorgehaltener Hand klagen viele
Spitzenpolitiker der Union über ihren
Nachwuchs – und deren Vorsitzenden.
Aber offen sagen will das kaum jemand,
Womöglich würden
heutzutage mehr junge
Leute Vater Kuban
wählen als seinen Sohn.
erst recht nicht, seitdem Kuban auf die
Analyse der CDU-Zentrale nach der Eu-
ropawahl, mit dem Eindruck des »Rechts-
rucks« habe die JU vor allem jüngere
Wähler verschreckt, mit einem wütenden
Gegenangriff reagierte. Das Konrad-Ade-
nauer-Haus habe »völlig versagt« und
solle »lieber vor der eigenen Haustür
kehren«, polterte Kuban. Zurückschlagen
kann er. Aber wo sind seine eigenen Punk-
te, jenseits der Hammerschläge?
Seine vehemente Reaktion auf die Ana-
lyse der Parteizentrale könnte auch damit
zu tun gehabt haben, dass die Europawahl
Kubans Karriereplanung über den Haufen
warf. Wegen des miserablen Ergebnisses
zogen deutlich weniger Abgeordnete von
CDU und CSU in das Straßburger Parla-
ment ein – betroffen davon war auch der
Kandidat Kuban, der sich auf einem siche-
ren Listenplatz gewähnt hatte.
Kuban lebt also weiterhin von seinem
Job als Jurist bei den Unternehmerverbän-
den Niedersachsen, den er wegen des JU-
Vorsitzes reduziert hat. Das Mandat im
Stadtrat von Barsinghausen bleibt fürs Ers-
te sein einziges.
Ein Nachmittag Anfang Dezember, Ku-
ban muss gleich den nächsten Zug Rich-
tung Hannover erwischen, am Abend tagt
der Aufsichtsrat der Stadtwerke Barsing-
hausen, deshalb findet das Treffen in der
Nähe des Berliner Hauptbahnhofs statt.
Man sieht ihm die vergangenen Monate
an, Kuban ist permanent unterwegs zwi-
schen Barsinghausen, Hannover, Berlin
und dem Rest der Republik, unlängst mel-
dete er sich vom Balkan, auch da absol-
vierte er politische Termine.
Jeder geht mit Stress anders um. Kuban
hat wieder an Gewicht zugelegt. »Mir wür-
de es natürlich manchmal guttun, wenn es
ein bisschen weniger Kuchen gäbe«, sagte
er in seiner Rede auf dem CDU-Bundes-
parteitag, er lachte dabei.
In solchen Momenten erinnert er manch-
mal an Michel aus Lönneberga, den blon-
den Jungen, der nur Unsinn im Kopf hat.
In schlechteren Momenten erinnert er
eher an Augustus Glupsch, den nicht über-
mäßig sympathischen deutschen Jungen
aus »Charlie und die Schokoladenfabrik«.
Was Kuban hat, das ist Mut, auch im
politischen Sinn. Er sagt, anders als man-
che Vorgänger, der ersten Reihe seiner Par-
tei auch ins Gesicht, was ihm nicht passt.
Widerspruchsgeist ist keine ausgeprägte
Tugend in der Union, da sticht er heraus.
Und das war schon so, bevor er in die
Politik ging.
Beim TSV Kirchdorf in Barsinghausen
hat Kuban selbst Fußball gespielt, mäßig
erfolgreich, und er hat dort, erfolgreich,
Kinder- und Jugendmannschaften trainiert,
vom Aufstieg der C-Jugend schwärmen sie
noch heute. Tille nennen sie ihn hier. Der
Tille, erzählt einer, habe keine Auseinan-
dersetzung mit dem Schiedsrichter ge-
scheut. Einmal, beim Bezirkshallenturnier,
habe er eine Geldbuße von 50 Euro kas-
siert, weil er sich so aufgeregt habe.
Kuban fehlt jede Schnöseligkeit. Man
kann sich den Fan von Hannover 96 sofort
in der Nordkurve im Stadion vorstellen,
Bier und Bratwurst in der Hand und mit
Begeisterung dabei. Auch das ist eine Stär-
ke. Kuban ist ein Bauchpolitiker, er erin-
nert auch von der Statur ein bisschen an
den jungen Sigmar Gabriel.
Gabriel kommt ebenfalls aus Nieder-
sachsen. Aber wo genau kommt Kuban
her? Was hat ihn geprägt?
Berthold Kuban, 62, ist Rechtsanwalt,
Vorsitzender des Sportrings Barsinghau-
sen und Vater dreier Söhne, der älteste ist
Tilman. Kuban senior war mal Vorsitzen-
der der Ortsgruppe des Bundes für Um-
welt und Naturschutz und zwölf Jahre lang
Stadtelternratsvorsitzender. Er betont,
dass er in keiner Partei sei. Als junger
Mensch habe er gegen Franz Josef Strauß
demonstriert und »die Ostpolitik von Wil-
ly Brandt genau richtig« gefunden.
Sein Abitur hat Vater Kuban auf dem
zweiten Bildungsweg gemacht und mit
28 das Jurastudium begonnen, daher habe
er sich viel um Tilman und dessen jünge-
ren Bruder gekümmert, als die beiden
klein waren. Für das Einkommen der Fa-
milie war damals vorrangig die Mutter zu-
25

ständig, die als Volkswirtin bei einer Ver-
sicherung arbeitet. Sie engagiert sich bei
»Barsinghausen ist bunt«, einem Bündnis
gegen Rechtsextremismus. Nein, sagt einer
beim TSV Kirchdorf, die Kubans seien
»keine CDU-Familie«.
Man kann es auch so sehen: Womöglich
würden heutzutage mehr junge Leute Va-
ter Kuban wählen als seinen Sohn.
Berthold Kuban sagt: »Wir waren selbst
überrascht, als er zur Jungen Union ging.«
Aber das sei damals eine »junge Truppe«
gewesen, die sich vom Sport gekannt habe.
»Die haben sich für einen Nachtzug nach
Barsinghausen eingesetzt, haben Pflanz-
aktionen in einem Neubaugebiet gemacht
und sich auch bei Aktionen für die Bar-
singhäuser Tafel engagiert. Das war eigent-
lich mehr bürgerschaftliches Engagement.«
Und in der Politik? »Tilman war nie der
überragende Fußballer, da gab es in unserer
Familie bessere«, sagt Berthold Kuban.
»Aber er konnte schon immer ein Team
zusammenstellen.« Sein Sohn Tilman habe
einen Blick für die jungen Spieler gehabt,
für deren Talente. »Genauso sehe ich das
persönlich in der Politik. Er ist vielleicht
Kuban-Verbündeter Merz (r.)*
Von der JU frenetisch bejubelt
nicht der überragende Jurist oder intel-
lektuelle Denker, aber er kann organisieren,
etwas auf die Beine stellen. Und er ist ein
Stratege, der zur rechten Zeit das Richtige
sagen und damit auch begeistern kann.«
Mal »die feine Klinge des Floretts«, mal
»das scharfe Schwert«, so sagt es Vater Ku-
ban. Das Florett sah man zuletzt eher sel-
tener. So richtig weit kam er mit dem
Schwert allerdings auch nicht.
Zum Parteitag in Leipzig hatte unter an-
derem die JU einen Antrag zur Grundrente
eingebracht, der die Hürden deutlich er-
höht hätte. Die SPD hätte das als Provo-
kation auffassen müssen, der Kompromiss
wäre gefährdet gewesen, doch am Ende
wurde der Antrag so entschärft, dass er
ohne Debatte angenommen wurde. Nichts
war es mit der Palastrevolte, über die man
im Vorfeld spekuliert hatte. Und mit ihrem
* Beim CDU-Parteitag in Leipzig am 22. November.
26
Deutschland
Antrag, die nächste Unions-Kanzler-
kandidatur per Urwahl zu vergeben, gin-
gen Kuban und seine Leute unter – knapp
80 Prozent der Delegierten stimmten
gegen ihren und ähnliche Vorschläge. Fried-
rich Merz, den die JU in Saarbrücken fre-
netisch bejubelt hatte, ordnete sich in Leip-
zig brav der Vorsitzenden Kramp-Karren-
bauer unter. Die Urwahl ist vom Tisch. Auf
die Hammerschläge folgte: nichts.
Es sei nun »Zeit für junge Köpfe«, hat
Kuban kürzlich gesagt, seine Truppe nennt
er »die modernste, die digitalste, die zu-
kunftsfortschrittlichste Jugendorganisation
der Welt«. Aber warum hat die JU dann
zuletzt ausgerechnet auf Merz, 64, ge-
setzt? Immerhin stünde auch Bundesge-
sundheitsminister Jens Spahn bereit, der
mit seinen 39 Jahren nur vier Jahre über
der JU-Altersgrenze liegt.
Sollte die Große Koalition demnächst
doch auseinanderbrechen, käme es wohl
rasch zur Neuwahl. Dann wäre nicht nur
die Frage der Kanzlerkandidatur zu klären.
Auch Kuban könnte dann wieder antreten,
diesmal für den Bundestag. Er hält sich be-
deckt. »Aus meiner Sicht kann man eine
politische Karriere nur schwer
planen«, sagt er. »Deshalb treffe
ich Entscheidungen, wenn sie an-
stehen, und bin vor allem froh,
dass ich eine gewisse berufliche
Unabhängigkeit habe.«
Tatsächlich allerdings laufen
in den CDU-Landesverbänden
NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL
längst Gespräche darüber, wer
im Falle von Neuwahlen wo kan-
didieren würde.
Das Problem für den JU-
Vorsitzenden: Kubans Heimat-
stadt Barsinghausen wird von ei-
ner Parteifreundin im Parlament
vertreten, die dort wohl auch
bleiben will. Möglich wäre, dass
er in dem benachbarten Hanno-
veraner Wahlkreis für die CDU antritt,
der seit dem Wechsel Ursula von der
Leyens an die Spitze der EU-Kommission
verwaist ist. Allerdings gibt es wohl auch
andere Interessenten – und der Wahlkreis
wurde seit 1949 von der SPD gewonnen.
Bliebe noch die Landesliste, doch da sind
die vorderen Plätze traditionell um-
kämpft.
Eigentlich dürfte es gar keine Frage sein,
dass der Chef der Jungen Union einen si-
cheren Platz bekommt, Kubans Vorgänger
Philipp Mißfelder und Paul Ziemiak saßen
im Bundestag. Und vielleicht klappt es ja
für Kuban genauso.
Vielleicht ist es aber auch so, dass sich
selbst in der Niedersachsen-CDU mittler-
weile viele Leute fragen, ob sich mit der
Hammermethode eigentlich noch Wahlen
gewinnen lassen. Mal abgesehen von Wah-
len bei der Jungen Union.
Ohne
Daseinsgrund
Strategien Die Linke hat ein
hartes Jahr hinter und eine große
Frage vor sich: Welche Partei
will sie sein? Über die richtige
Antwort wird heftig gestritten.
A n einem Freitagabend im Dezem-
ber sitzen einige Dutzend Mit-
glieder der Linken im Kellerraum
eines Neuköllner Cafés, einige auf Stüh-
len, einige auf dem Boden. Eine neue Strö-
mung gründet sich an diesem Wochen-
ende, die Bewegungslinke. Sie ist gegen
die »Parlamentarisierung« der Partei, was
in der am wenigsten radikalen Interpreta-
tion so klingt: »Fraktionen müssen sich
als Dienstleister für Bewegungen und Par-
tei verstehen.« So sagt es Janine Wissler,
Linken-Fraktionsvorsitzende im hessi-
schen Landtag und mögliche Kandidatin
für den Parteivorsitz, der im kommenden
Juni neu gewählt wird.
Das Treffen in Neukölln ist einer von
vielen Versuchen, eine Partei neu zu defi-
nieren, die nicht mehr recht weiß, wer sie
ist, wozu und für wen. Von der Schwäche
der SPD hat die Linke in diesem Jahr
kaum profitiert. Bei den Landtagswahlen
in Sachsen und Brandenburg holte sie nur
10,4 beziehungsweise 10,7 Prozent. In
Thüringen konnte sie ihr Ergebnis im Ver-
gleich zur Wahl vor fünf Jahren zwar ver-
bessern, vor allem wegen der Beliebtheit
des linken Ministerpräsidenten Bodo Ra-
melow, was aber nichts daran ändert, dass
die Ergebnisse aus Brandenburg und Sach-
sen grundsätzliche Fragen aufwerfen.
Die Linke verliert schon länger Mitglie-
der im Osten, jetzt verliert sie auch Wah-
len. Sie hat ihren Status als Volkspartei in
der Fläche eingebüßt und damit in gewis-
ser Weise auch ihren Daseinsgrund.
In dieser Situation nun werden sehr
unterschiedliche Vorschläge zur Rettung
formuliert. Teilweise widersprechen sie
einander offen. Die Gräben zwischen den
Lagern ziehen sich mitten durch die Füh-
rungsriege.
Der Eindruck eines zunehmenden Be-
deutungsverlustes der Partei hat sich über
viele Monate aufgebaut. Mit nachgehol-
tem, latent schuldbewusstem Interesse hat
Westdeutschland 2019 nach Ostdeutsch-
land geschaut. Die drei Landtagswahlen,
der 30. Jahrestag der friedlichen Revolu-
tion und große AfD-Erfolge warfen die Fra-
ge auf, welche Fehler man im innerdeut-
schen Umgang gemacht habe.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Wer, wenn nicht die Linke, hät-
te dazu beitragen können, sie zu
beantworten? Sie, die Nachfolge-
rin einer diktaturtragenden Partei,
hatte es geschafft, sich als neue
gesamtdeutsche Organisation zu
erfinden. Aus dieser Erfahrung
hätte sie schöpfen können. Doch
sie hatte dem Land nicht mehr zu
sagen, als ein wenig Kritik an der
Treuhand zu üben.
»Es stimmt, dass es da einen
Umbruch gibt«, sagt Bernd Rie-
xinger. Der amtierende Parteichef
sitzt auf dem Sofa in seinem Ab-
geordnetenbüro und wirkt nicht
übermäßig beunruhigt. Im Wes-
ten wachse die Linke, sagt Riexin-
ger, da sei sie weniger staatstra-
gend und viel jünger. Da erschlie-
ße sie neue Milieus, Akademiker,
aber auch Krankenschwestern,
Erzieher, Amazon-Mitarbeiter. Da
baue sie eine Basis auf.
»In den Neunzigern war unsere
Hauptaufgabe, Lobby für den Os-
ten zu sein«, sagt Katja Kipping,
die mit Riexinger seit fast acht
Jahren die Partei führt. »Dann
wurde die Linke das antineolibe-
rale Abwehrprojekt gegen Hartz
IV. Beides ist weiter wichtig, es
muss jetzt aber um ein modernes
sozialistisches Zukunftsprojekt er-
gänzt werden.«
Die beiden Parteivorsitzenden haben
bei allen Unterschieden im Detail Ähnli-
ches im Sinn: die Verbindung von Sozial-
staat und Klimaschutz, nicht den Wider-
spruch. Dazu entschiedenen Antirassis-
mus, selbstbewussten Feminismus, kein
Werben um jeden Preis um Ex-Wähler, Ar-
beiter, Arbeitslose, Nichtwähler. Zudem
die Idee, die Partei verstehe sich als Ergän-
zung der sozialen Bewegungen.
Dann ist es mit der Einigkeit aber schon
vorbei. Zwar haben auch Dietmar Bartsch,
der Fraktionsvorsitzende, und Jan Korte,
der Parlamentarische Geschäftsführer, kla-
re Vorstellungen davon, was Sinn und
Zweck der Linken ist. Die unterscheiden
sich aber erheblich von denen der Partei-
chefs: sich offensiv um den Osten küm-
mern, auch um die alte Kernwählerschaft,
Arbeitslose, Malocher. »Die Linke muss
zuallererst über soziale
Sicherheit und Zusammen- Linke Basis
halt reden«, sagt Bartsch. Mitglieder der Partei
Also weniger über Klima- Die Linke
schutz. So ähnlich sieht es 2009
auch Sahra Wagenknecht, 78046
die bisherige Fraktionsvor-
sitzende.
Auf eine Formel ge-
bracht: Die einen wollen
sich neuen Milieus zuwen- 2013
den, weil die Partei sonst 63757
Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali
Profiteurin eines Lagerkampfs
kaum einer wählt. Die anderen wollen sich
der alten Wählerschaft zuwenden, weil es
sonst keiner tut. An Ideen für die neue
Zeit mangelt es also nicht. Ende Februar
steht eine Strategiekonferenz an. Im Juni
wird die Parteispitze neu gewählt, Kipping
und Riexinger sollen laut Satzung nicht
mehr antreten. Es gibt die Möglichkeit ei-
ner Zäsur, eines Neubeginns. Es besteht
aber auch die Gefahr, dass sich die Partei
in Grabenkämpfen zermürbt.
In Partei und Fraktion liegen Konflikte
übereinander und quer, inhaltliche und
persönliche, unsortiert, wechselwirkend.
»Die Fraktion ist total zerrissen«, sagt ein
Abgeordneter. Was viel mit der Parteispit-
ze einerseits und den bisherigen Fraktions-
vorsitzenden andererseits zu tun hat.
Zwischen Bartsch und Wagenknecht
hält eine Allianz, die »Hufeisen« genannt
wird. Bartsch kommt aus
der ostdeutschen, pragmati-
schen, Wagenknecht aus
der westdeutschen, radika-
leren Linken, beide Seiten
sind jedoch verbunden.
Mittlerweile gibt es ein
zweites Bündnis in der
Fraktion, zwischen den Par-
teichefs, Trotzkisten und
Sept. 2019 der neu gegründeten Bewe-
61 055 gungslinken. Man könnte
von zwei ineinander verkeilten
Hufeisen sprechen.
Am 12. November kam es zur
vorerst jüngsten Auseinanderset-
zung zwischen den Lagern. Caren
Lay, eine profilierte Abgeordnete,
bewarb sich als Fraktionschefin
neben Dietmar Bartsch. Sie ver-
lor gegen Amira Mohamed Ali,
die erst seit zwei Jahren im Bun-
destag sitzt, aber von Bartschs
und Wagenknechts Lager unter-
stützt wurde. Zwei Posten im
Fraktionsvorstand wurden bis
Jahresende gar nicht besetzt. Bei-
de Seiten geben sich gegenseitig
die Schuld.
Damit blockiert sich die Partei
selbst, die in ihrem Krisenjahr so-
gar einige Erfolge feierte. In Bre-
men ist sie zum ersten Mal in
Westdeutschland an einer Regie-
rung beteiligt. In Berlin hat sie mit
dem Mietendeckel große Auf-
merksamkeit und viel Zuspruch
STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL
bekommen. Und am letzten
Sonntag im Oktober feierte die
Linke in Erfurt ihren größten
Wahlerfolg: 31 Prozent in Thürin-
gen, zum ersten Mal stärkste
Kraft bei einer Landtagswahl.
Auf der Wahlparty in einem
Kulturzentrum ist der Star des
Abends zunächst nicht da. Bodo
Ramelow, der bürgerliche Linke,
ist unterwegs. Die Landesvorsitzende
Susanne Hennig-Wellsow hält die Stel-
lung, eine Parteilinke. Die Arbeitsteilung
zwischen beiden funktioniere trotz politi-
scher Unterschiede perfekt, heißt es. »Die
sind ständig im Austausch, untereinander,
aber auch mit uns«, sagt Bundesgeschäfts-
führer Jörg Schindler.
Von einem solchen Modell könne die
Bundestagsfraktion lernen, sagte deren
frisch gewählte Vorsitzende Amira Mo-
hamed Ali auf dem Landesparteitag in
Thüringen Mitte Dezember. Ob sie in der
Lage sein wird, die Partei zusammen-
zubringen, weiß sie wahrscheinlich nicht
einmal selbst. Bei einer Pressekonferenz
vor der Fraktionssitzung ist ihr die Un-
sicherheit anzumerken. Und doch könnte
gerade sie, die unerfahrene Profiteurin
eines Lagerkampfs, helfen, die Lager zu
versöhnen.
Fragt man nach, welchen Eindruck sie
mache, stößt man immerhin auf ratlose
Neugier. Abgeordnete, die sie gewählt ha-
ben, bezeichnen sie als ausgleichend. Bun-
desgeschäftsführer Schindler sagt, er glau-
be ihr, dass sie mehr Austausch wolle. Und
Bernd Riexinger, der sich für ihre Konkur-
rentin eingesetzt hat, sagt etwas zögernd,
er erkenne Bereitschaft, die Kommunika-
tion zu verbessern. Jonas Schaible
27
 »Das Brexit-Drama
ist eine bittere Lektion
für die Populisten«
SPIEGEL-Gespräch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über ihre Kritik
an Donald Trump, eine radikale Klimapolitik und
den Umgang mit Quertreibern in der europäischen Gemeinschaft

PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

Christdemokratin von der Leyen: »In mir steckt vor allem eine Europäerin«

28

Von der Leyen, 61, setzt sich in einen der
Ledersessel in ihrem Büro in der Vertretung
der EU-Kommission am Pariser Platz in
Berlin. Ein alter Holzschreibtisch steht in
dem Raum, einst arbeitete Walter Hallstein
daran, der erste Deutsche, der das Amt des
Kommissionspräsidenten innegehabt hat.
Zu Hallsteins Zeiten lebte von der Leyen
als Schülerin in Brüssel. Nun kehrt sie in
die EU-Hauptstadt zurück, nachdem die
Staats- und Regierungschefs sie im Juni
überraschend als Kommissionspräsidentin
ausgewählt hatten. Nach Problemen bei
der Besetzung ihrer Kommission trat die
ehemalige Bundesfamilien-, Arbeits- und
Verteidigungsministerin ihr Amt am 1. De-
zember an, einen Monat später als geplant.
SPIEGEL: Frau Präsidentin, als Sie 2011
mit dem SPIEGEL in einem großen Inter-
view über die EU diskutierten, machten
Sie sich für die »Vereinigten Staaten von
Europa« stark. Ist das nun Ihr Ziel als
Kommissionspräsidentin?
Von der Leyen: Die »Vereinigten Staaten
von Europa«, das ist ein Projekt für meine
Kinder. Der Weg dorthin ist lang, alle Mit-
gliedsstaaten müssen bereit sein, bei dieser
tieferen Integration mitzumachen. In mei-
ner Generation geht es erst mal darum, Eu-
ropa stark zu positionieren. Ich möchte die
Führungsrolle beispielsweise in der Klima-
politik oder der Digitalisierung ausbauen.
SPIEGEL: Sie sagen, Europa müsse in der
Welt selbstbewusster auftreten, Ihre Kom-
mission nennen Sie »geopolitisch«. Was
wollen Sie erreichen?
Von der Leyen: Europa steht als wirtschaft-
liche Kraft gut da. Und wir gelten weltweit
als Verfechter der Rechtsstaatlichkeit.
Aber es gibt auch Augenblicke, in denen
Europa kraftvoll handeln können muss
und schnell. Dafür müssen wir uns besser
aufstellen. Vor sechs Jahren drohte Mali
unter dem Terror zusammenzubrechen.
Damals war in Europa der politische Wille
da, etwas zu tun. Doch es fehlten Struktu-
ren. Wenn die Franzosen nicht beherzt ein-
gegriffen hätten, wäre Mali als stabilisie-
render Faktor in der Sahelzone gekippt.
SPIEGEL: Wo ordnen Sie Europa geopoli-
tisch ein? Platz drei nach den USA und
China?
Von der Leyen: Für mich ist das keine ver-
tikale Ordnung. Ich bin der Überzeugung,
dass wir mit den Amerikanern grundsätz-
lich auf der gleichen Seite des Tisches sit-
zen, obwohl wir intern um manche Punkte
ringen.
SPIEGEL: In den nächsten Wochen wollen
Sie Donald Trump treffen. Sie haben ihn
als Verteidigungsministerin ein ums ande-
re Mal harsch kritisiert, für seine Äußerun-
gen zur Nato etwa, aber auch wegen seiner
Nähe zum russischen Präsidenten Wladi-
mir Putin. Werden Sie in dieser Tonlage
weitermachen?
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
Deutschland
Von der Leyen: Das war zu Beginn seiner
Amtszeit, da hat sich inzwischen vieles
verändert. Seine damalige Äußerung, die
Nato sei obsolet, hat dazu geführt, dass in
Europa das nötige Momentum entstanden
ist, die Nato zu modernisieren und die eu-
ropäische Verteidigungsunion auf den Weg
zu bringen. Den Osteuropäern wurde klar,
dass wir auch innerhalb der EU militäri-
sche Strukturen aufbauen müssen.
SPIEGEL: Es gibt ja verschiedene Wege,
wie man Trump gegenübertreten kann. Ihr
Vorgänger, Jean-Claude Juncker, verschaff-
te sich auf seine kumpelige Art Respekt.
Wie ist Ihre Strategie?
Von der Leyen: Ich gehe offen in das Ge-
spräch, vieles ergibt sich bei ersten Treffen
intuitiv. Ich kenne die Amerikaner gut. Ich
war als Schülerin dort und habe später
mehrere Jahre dort gelebt, zwei meiner
Kinder sind amerikanische Staatsbürger.
Insofern habe ich auch ein Gespür für die
besonderen Perspektiven Amerikas und
der Amerikaner.
SPIEGEL: Trump zieht sich aus dem Pari-
ser Klimaabkommen zurück, in der Han-
delspolitik geht er auf Konfrontationskurs
mit Europa. Zwischen den USA und
der EU läuft es aber auch darüber hinaus
kaum rund: Die USA wollen das Iran-
abkommen zerstören, Europa will es
erhalten. Die USA haben wegen Nord
Stream 2, der Gaspipeline von Russland
nach Deutschland, Sanktionen verhängt.
Welches Streitthema werden Sie mit Trump
als Erstes bereden?
Von der Leyen: Mir wird daran gelegen
sein, erst mal zu beschreiben, wie gut die
alltäglichen Beziehungen zwischen Ame-
rikanern und Europäern eigentlich sind.
Es gibt Millionen Freundschaften und Ban-
de, privat, in der Wissenschaft, in der Wirt-
schaft und kulturell. Wir verteidigen ge-
meinsam die Demokratie. Das ist keine
Selbstverständlichkeit in der heutigen
Welt. Viele Städte und Regionen der USA
und auch der Bundesstaat Kalifornien en-
gagieren sich weiter im Rahmen des Pari-
ser Klimaabkommens. Natürlich liegen
strittige Fragen der Wirtschafts- und Han-
delsbeziehungen auf dem Tisch, aber das
ist nur ein Ausschnitt.
SPIEGEL: Die USA drohen mit Strafzöllen
auf deutsche Autos. Zu Ihrem großen Vor-
haben, dem europäischen Klimadeal, ge-
hört eine CO2-Grenzsteuer, mit der Sie eu-
ropäische Unternehmen schützen wollen.
Setzen Sie damit nicht wie Trump die Han-
delspolitik als Kampfinstrument ein?
»Wir stehen vor einer
gewaltigen Aufgabe,
aber es gibt eine neue
Dynamik.«
Von der Leyen: Es ist völlig normal, dass
Europa und die USA ihre Interessen ver-
treten. Hinter der CO2-Grenzsteuer steckt
ein einfacher Gedanke: Zum Beispiel ar-
beiten wir in Europa daran, dass Stahl in
wenigen Jahren CO2-frei produziert wer-
den kann. Dann haben wir ein sauberes
Produkt, von dem das Weltklima profitiert
und das wahrscheinlich etwas teurer sein
wird. Es kann nicht sein, dass der europäi-
sche Markt parallel mit billigem, vielleicht
staatlich subventioniertem Stahl aus China
überschwemmt wird, der schmutzig her-
gestellt worden ist. Um faire Wettbewerbs-
bedingungen herzustellen, braucht es ent-
weder eine CO2-Grenzsteuer, oder China
führt auch den Zertifikatehandel ein, was
noch besser wäre.
SPIEGEL: Der US-Botschafter in Deutsch-
land, Richard Grenell, behauptet, mit den
Sanktionen gegen die Pipeline stünden
die USA an der Seite von 15 europäischen
Ländern, dem Europäischen Parlament
und der Europäischen Kommission. Hat
er recht?
Von der Leyen: Richtig ist, dass das Pipe-
lineprojekt auch eine politische Dimension
hat und die EU-Kommission mit ihren Mit-
teln die Interessen der östlichen Mitglieds-
staaten schützt. Auf einem anderen Blatt
steht, dass die EU-Kommission entschie-
den Sanktionen gegen europäische Unter-
nehmen, die sich im Einklang mit der
Rechtsordnung in Projekten engagieren,
ablehnt.
SPIEGEL: Ein anderer Konflikt mit den
USA ist Huawei. Washington fordert, dass
die EU-Länder den chinesischen Mobil-
funkanbieter beim Ausbau der 5G-Netze
nicht zum Zug kommen lassen. Sie wollen
demnächst Vorschläge dazu unterbreiten.
Wie sehen die aus?
Von der Leyen: Wir haben aus allen Mit-
gliedstaaten Überlegungen gesammelt,
um zu einer gemeinsamen europäischen
Position zu kommen. Die 5G- und 6G-
Infrastruktur ist eine kritische Schlüssel-
technologie für sichere Datenflüsse in
Europa, für unsere Wirtschaft, für Ver-
waltungen bis in den privaten Bereich.
Wir widmen uns nicht einzelnen Unter-
nehmen, sondern wir wollen als EU
grundsätzliche Standards entwickeln.
Einer dieser Standards muss sein, dass die
Unternehmen, die uns diese hochsensi-
blen Technologien liefern, unabhängig
sind und nicht von ihren Regierungen
gezwungen werden können, Daten wei-
terzuleiten.
SPIEGEL: Damit wäre Huawei aus dem
Rennen. Es gibt in China ein Geheim-
dienstgesetz, aus dem sich eine solche Ver-
pflichtung herauslesen lässt.
Von der Leyen: Über dieses Thema müs-
sen wir intensiv reden. Wenn es das Risiko
gibt, dass Daten von Bürgern oder Unter-
nehmen aufgrund dieses Gesetzes abge-
29
zapft werden könnten, dann können wir
das nicht hinnehmen.
SPIEGEL: Sie fordern, dass Europa in der
Welt selbstbewusster auftritt. Aber jetzt
verliert die EU erst mal einen starken Part-
ner. Mit den Briten verlässt nicht nur eine
große Volkswirtschaft die EU, sondern
auch eines der beiden europäischen stän-
digen Mitglieder im Uno-Sicherheitsrat
und eine der beiden europäischen Atom-
mächte. Wie sehr schwächt der Brexit die
EU außen- und sicherheitspolitisch?
Von der Leyen: Gerade in der Außen- und
Sicherheitspolitik werden die Folgen des
Brexit weniger gravierend sein. Anders als
auf anderen Feldern hatten die Briten sich
in der gemeinsamen Sicherheitspolitik
sehr zurückgehalten und manchen Fort-
schritt innerhalb der EU blockiert. Die Eu-
ropäische Verteidigungsunion konnte des-
wegen überhaupt erst nach dem Brexit-
Referendum starten. Beide Seiten streben
jetzt aber eine enge Zusammenarbeit an.
SPIEGEL: Die britische Regierung will bis
Ende 2020 die künftigen Beziehungen zur
EU umfassend regeln. Schaffen Sie das?
Von der Leyen: Das macht mir großen Sor-
gen, denn die Zeit ist extrem kurz für die
Masse der Fragen, die verhandelt werden
müssen. Es geht ja nicht nur um die Han-
delspolitik, sondern auch um Sicherheits-
fragen oder Fischereirechte, um nur weni-
ge Beispiele zu nennen. Deswegen wollen
wir zunächst über die Themen reden, bei
denen ohne Abkommen der größte Scha-
den droht, weil es keine internationalen
Regeln gibt, die im Falle eines harten Bre-
xit greifen würden.
SPIEGEL: Das Versprechen der Brexiteers
ist ja, dass Großbritannien ohne die EU
besser dasteht als in der Gemeinschaft.
Wenn der Brexit ein Erfolg würde, könnte
er zum Vorbild für Populisten in anderen
EU-Staaten werden.
Von der Leyen: Nicht unzählige Verspre-
chen, sondern die Wirklichkeit zählt. Das
Brexit-Drama ist jetzt schon eine bittere
Lektion für all die Populisten, die über
einen EU-Austritt fabuliert haben. Einer
nach dem anderen haben sie den zunächst
lauthals geforderten »Grexit«, den »Dexit«
oder den »Frexit« klammheimlich begra-
ben. Die Weltlage in den vergangenen fünf
Jahren hat gezeigt, dass es für kein Land
hilfreich ist, allein dazustehen. Für die EU
muss es jetzt weitergehen. Der Brexit hat
viel politische Kraft gekostet. Denken Sie
nur an die vielen Nächte im Europäischen
Rat, in denen über den Brexit und nicht
über wichtige Themen wie das Klima, Mi-
gration oder die Vertiefung des Binnen-
marktes diskutiert wurde.
SPIEGEL: Ihr eigenes Projekt, mit dem
Europa neue Stärke zeigen soll, ist Ihr
* Mit den Redakteuren Markus Becker, Peter Müller
und Martin Knobbe in Berlin.
30
»Es ist das Recht der
Opposition, in alle Rich-
tungen zu stochern, am
Ende zählt das Ergebnis.«
Klimaplan, der »Green Deal«. Wie wollen
Sie es schaffen, 27 EU-Mitglieder dafür zu
begeistern?
Von der Leyen: Wir stehen vor einer ge-
waltigen Aufgabe, aber es gibt auch eine
neue Dynamik. Am Tag nachdem ich mei-
nen Green Deal vorgestellt habe, beende-
ten die Staats- und Regierungschefs ihre
monatelangen Diskussionen und einigten
sich auf das Ziel, die EU bis zum Jahr 2050
klimaneutral zu machen.
SPIEGEL: Polen bestand auf einer Aus-
nahme.
Von der Leyen: Polen braucht unter Um-
ständen mehr Zeit, stellt das Ziel der Kli-
maneutralität selbst aber nicht infrage.
Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung
in Europa will, dass die Politik etwas gegen
die globale Erwärmung tut.
SPIEGEL: Was, wenn die Bürger aber ihre
Lebensweise nicht umstellen wollen? Sie
kennen die Meldungen, wonach die Deut-
schen mehr fliegen als je zuvor. Auch die
Zahl der Zulassungen von SUVs steigt je-
des Jahr.
Von der Leyen: Wir werden die Probleme
nicht lösen, indem wir Fliegen unmöglich
machen oder Autofahren verbieten. Unser
Weg ist es, in neue, saubere Energien zu
investieren. Die Luftfahrtindustrie forscht
etwa intensiv an wasserstoffbasierten An-
trieben. Den CO2-frei produzierten Stahl
habe ich schon erwähnt. Ich möchte, dass
Europa solche Produkte und Techniken in
die Welt exportiert, und nicht, dass andere
Mächte uns eines Tages erst zum Handeln
zwingen oder die Innovationstreiber sind.
SPIEGEL: Ein Liter Benzin kostet an deut-
schen Tankstellen rund 1,40 Euro. In
Frankreich begannen die Proteste der
Gelbwesten bei einem Benzinpreis von
1,80 Euro. Wo liegt die Grenze dessen,
was man den Bürgern für den Klimaschutz
zumuten kann?
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Von der Leyen beim SPIEGEL-Gespräch*
»Wir sollten nicht erbarmungslos sein.«
Von der Leyen: Es ist klar, dass man die
Kosten für mehr Klimaschutz nicht einfach
eins zu eins umwälzen kann. Der soziale
Ausgleich ist ein Kernstück des European
Green Deal und muss Hand in Hand gehen
mit Investitionen in eine saubere Zukunft.
Wenn wir in Gebäudeisolierung investie-
ren, dann sinken für die Mieter Heiz-
kosten, auch wenn Energie künftig mehr
kostet. Für die großen Kohleregionen pla-
nen wir einen milliardenschweren Fonds,
der den Unternehmen und Menschen den
Umstieg erleichtert.
SPIEGEL: Wenn man Ihnen so zuhört,
könnte man meinen, es spräche eine Grü-
ne. Wie viel CDU steckt noch in der neuen
Kommissionspräsidentin?
Von der Leyen: In mir steckt vor allem
eine Europäerin. Aber natürlich stehe ich
für die Politik, die ich in der Vergangenheit
bereits gemacht habe. Wenn die Bevölke-
rung weiter ist als die Parteien, dann ist es
an der Zeit, die eigenen Konzepte zu über-
prüfen. Das war früher in der Familien-
politik so, das findet nun beim Klima-
schutz statt.
SPIEGEL: Es gibt Themen wie die Mi-
gration, bei denen die EU total zerstritten
ist. Es gibt Regierungschefs wie Viktor
Orbán, der gern finanziell von der EU
profitiert, aber sonst gegen fast alles ist,
wofür Europa steht. Ihr politisches Vor-
bild Wolfgang Schäuble hat einmal vom
Europa der verschiedenen Geschwindig-
keiten gesprochen. Müssen wirklich im-
mer alle bei allem mitmachen? Oder wäre
es nicht sinnvoll, einen wie Orbán abzu-
koppeln und das Einstimmigkeitsprinzip
aufzugeben?
Von der Leyen: Davon halte ich nichts. Die
Europäische Union ist deswegen der viel-
fältigste und lebenswerteste Ort auf dem
Globus, weil es ihr immer wieder gelingt,
unterschiedliche Interessen und kulturelle
Strömungen in eine gemeinsame Bewe-
gung zu übersetzen. Wir sollten nicht
so erbarmungslos mit uns selbst sein. Die
Union ist in den vergangenen Jahren an
sich selbst gewachsen, und das meine ich
nicht nur wirtschaftlich. Schauen Sie sich
beispielsweise die Datenschutzgrundver-
ordnung an. Damit haben wir für die gan-
ze Welt einen neuen Standard gesetzt im
Sinne einer Digitalisierung, die vom Men-
schen her denkt und die Rechte des Ein-
zelnen achtet. Das ist der Weg: miteinan-
der ringen, aber zusammenbleiben. Euro-
pa müht sich, schafft aber im Ergebnis
einen fairen Ausgleich, während in den
USA häufig einseitig der Markt und in Chi-
na der Staat dominiert.
SPIEGEL: So aber findet die EU für die
existenziellen Probleme doch keine Lö-
sungen. Ungarn und andere osteuropäi-
sche Länder lehnen es schlicht ab, sich
dazu zu verpflichten, im Notfall eine grö-
ßere Zahl an Migranten aufzunehmen.

Von der Leyen: Es stockte zuletzt, aber
Migration ist auch ein Thema, das Europa
noch Jahrzehnte beschäftigen wird. Wir
werden das Problem nicht lösen, indem
wir versuchen, einzelne EU-Mitgliedstaa-
ten mit Brachialgewalt zu etwas zu zwin-
gen. Ich habe in den vergangenen Mona-
ten mit vielen Staats- und Regierungschefs
gesprochen, und mein Eindruck ist: Alle
wollen raus aus dieser Blockadesituation.
Ich will im Frühling ein umfassendes Paket
zur Migration vorlegen. Dabei geht es
insbesondere um die Reform des Dublin-
Systems und die Organisation der Asyl-
verfahren auf EU-Ebene. Das System von
Dublin, wonach die Staaten, in denen
Flüchtlinge ankommen, allein für Asyl-
verfahren und Unterkunft zuständig sind,
ist einfach unfair für besonders exponierte
Länder wie Italien, Spanien oder Grie-
chenland.
SPIEGEL: Die Bilder aus Griechenland, die
überfüllten Flüchtlingslager, bei all dem
gibt Europa ein beschämendes Bild ab.
Diese Menschen können nicht warten, bis
Sie und die EU-Mitglieder sich auf ein Ge-
samtkonzept einigen.
Von der Leyen: Die Kommission ist mit
der griechischen Regierung in Kontakt. Da
geht es um akute Hilfe, und die leisten wir.
SPIEGEL: Was halten Sie von dem Vor-
schlag von Grünenchef Robert Habeck,
Deutschland solle vor allem die Kinder
aus den griechischen Lagern holen?
Von der Leyen: Als Präsidentin der Euro-
päischen Kommission kann ich mich nicht
in die deutsche Politik einmischen. Mir ist
wichtig, dass Europa eine nachhaltige Lö-
sung erreicht, die den Schutz unserer Gren-
zen mit einer menschlichen Migrations-
politik vereint. Das muss die Handschrift
Europas sein.
SPIEGEL: In Berlin holt Sie gerade Ihre
Vergangenheit als Bundesverteidigungsmi-
nisterin ein. Ein Untersuchungsausschuss
beschäftigt sich mit der Berateraffäre. Nun
wurde bekannt, dass Daten auf einem Ih-
rer damaligen Diensthandys gelöscht wur-
den. Die Grünen stellten Strafanzeige. Ha-
ben Sie da etwas zu verbergen?
Von der Leyen: Nein. Ich habe beide
Handys, die ich als Verteidigungsministe-
rin verwendet habe, im Ministerium abge-
geben. Die Frage, was mit ihnen passiert
ist, müssen Sie dort stellen. Die Geräte ge-
hören dem Ministerium und mussten des-
halb auch dort abgegeben werden.
SPIEGEL: Warum zwei Handys?
Von der Leyen: Das eine Handy hatte ich
aktiv nicht mehr genutzt, nachdem An-
fang des Jahres die Nummern von Politi-
kern im Netz veröffentlicht wurden, da-
runter war auch meine. Das zweite habe
ich deswegen im Januar dieses Jahres be-
kommen. Auch dieses habe ich dann, nach-
dem ich nach Brüssel gewechselt bin, ans
Ministerium zurückgegeben.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
Deutschland
SPIEGEL: Dort wurde es dann einfach ge-
löscht, als hätte ein Bundeswehr-Haupt-
mann sein Smartphone zurückgegeben?
Von der Leyen: Das weiß ich auch nur aus
der Zeitung. Ich bin seit dem 17. Juli nicht
mehr im Verteidigungsministerium gewesen.
SPIEGEL: Was ist dem Untersuchungsaus-
schuss durch die Löschaktion denn verlo-
ren gegangen? Haben Sie aktiv mit SMS
kommuniziert?
Von der Leyen: Meines Erachtens geht gar
nichts verloren, denn SMS sind für die
schnelle Kommunikation geeignet. Doku-
mente und Strategien aber werden in Bun-
desministerien woanders entwickelt und
anders versandt.
SPIEGEL: Mitglieder des Untersuchungs-
ausschusses bemängeln, dass Ihr ehemali-
ges Ministerium kaum an der Aufklärung
interessiert zu sein scheint. Mal ist von
geschwärzten Akten die Rede, mal waren
Papiere nicht mehr auffindbar. Finden Sie
Treibhaus Europa
CO2-Emission pro Kopf in den größten EU-Ländern,
2018, in Tonnen Kohlendioxidäquivalent
Deutschland
Polen
Spanien 6,0
Italien 5,8
Großbritannien 5,6
Frankreich 5,0
zum Vergleich:
EU 28
Quelle: Europäische Komission
nicht, dass dies ein verdächtiges Bild ab-
gibt?
Von der Leyen: Das Ministerium hatte
schon vorher eingeräumt, dass in zu vielen
Fällen Vorschriften des Vergaberechts ver-
letzt wurden, und für die Zukunft Sicher-
heitsschleifen und Kontrollmechanismen
eingeführt. Es ist das gute Recht des Parla-
ments, das selbst noch mal untersuchen zu
wollen. Der Untersuchungsausschuss hat da-
für vom Ministerium Hunderttausende Sei-
ten Aktenmaterial erhalten und in zehn Mo-
naten Dutzende Zeugen gehört. Jetzt warten
wir doch mal das Ergebnis dieser Untersu-
chungen ab. Es ist selbstverständlich das
Recht der Opposition, in alle Richtungen zu
stochern und allerlei Mutmaßungen anzu-
stellen, aber am Ende zählt das Ergebnis.
SPIEGEL: In Brüssel gelten Sie als Kom-
missionspräsidentin von Angela Merkels
Gnaden, in Berlin dagegen hat man eher
das Gefühl, Sie seien eng mit Frankreichs
Präsidenten Emmanuel Macron verban-
delt, der Ihnen letztlich Ihren Posten ver-
schafft hat. Sind Sie eine Kommissions-
präsidentin von Macrons Gnaden?
Von der Leyen: Ach was. Das Schöne in
den letzten Wochen war, dass ich mir im
Europaparlament meine eigene Mehrheit
erarbeitet habe. Im Juli war ich noch mit
einer hauchdünnen Mehrheit von neun
Stimmen gewählt worden. Danach habe
ich begonnen, viel und direkt mit den Ab-
geordneten zu reden, viele Stunden lang,
habe keinerlei Interviews gegeben ...
SPIEGEL: ... Sie haben sich regelrecht ein-
gebunkert ...
Von der Leyen: ... aber dieses Fokussieren
auf die interne Arbeit und das Parlament
hat sich gelohnt. Wir haben in dieser Zeit
diese Kommission aufgestellt und das Ar-
beitsprogramm verfeinert, mit dem Ergeb-
nis, dass ich nun nach vier Monaten über
eine breite Mehrheit für mein Team ver-
füge. Parallel habe ich mir das Vertrauen
der Staats- und Regierungschefs erarbeitet,
sonst hätten sie sich nicht hinter dem Ziel
der Klimaneutralität versammelt.
SPIEGEL: Mit Verlaub, Ihr Programm
liest sich, als hätte Macron den Stift ge-
führt: Klimaschutz, europäi-
scher Mindestlohn, Arbeitslo-
9,1 senrückversicherung.
Von der Leyen: Nun mal lang-
8,8
sam. Den Klimaschutz unter-
schreiben 26 weitere EU-Län-
der. Und, bei aller Liebe, ich habe in
Deutschland den ersten Mindestlohn in
der Pflege eingeführt. Die Arbeitslosen-
rückversicherung wiederum ist vom Prin-
zip her nichts anderes als die Kurzarbeit,
mit der wir in Deutschland erfolgreich
durch die harte Zeit nach der Finanzkrise
6,8 2008 gekommen sind. Ich habe als Arbeits-
ministerin gute Erfahrungen mit dem In-
strument gemacht.
SPIEGEL: Stärke kann die EU nach außen
nur zeigen, wenn sie im Innern mit sich im
Reinen ist. Das Gegenteil ist der Fall, selbst
wenn es um Grundwerte wie Presse- und
Forschungsfreiheit geht. Polen und Ungarn
haben da eher autokratische Vorstellungen.
Wie lange wollen Sie noch zuschauen?
Von der Leyen: In keinem der Fälle schau-
en wir zu, auch in den Fällen Polen und
Ungarn ist unsere Ansage sehr klar: Eines
der Grundfundamente unserer Europäi-
schen Union ist die Rechtsstaatlichkeit,
und wir nutzen die Verfahren, die wir da-
für haben, wenn diese Dinge in die falsche
Richtung laufen. Am Ende spricht der Eu-
ropäische Gerichtshof Recht. Was ich an
unseren Mitgliedsländern schätze: Sie ak-
zeptieren das, zähneknirschend zwar und
manchmal mit der Faust in der Tasche,
aber sie akzeptieren es, wenn der Rechts-
staat spricht. Auch das ist ein Grund, auf
Europa stolz zu sein.
SPIEGEL: Frau Präsidentin, wir danken Ih-
nen für dieses Gespräch.
31

Menschenmenge auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht 2015: Schnell heißt es, die Regierung vertusche Kriminalität von Migranten
Chor der Empörten
Polizei Unter dem Druck einer aufgeregten Öffentlichkeit ringen
Behörden damit, ob sie die Nationalität von
Tatverdächtigen nennen sollen. Das Vorgehen grenzt an Willkür.
F ür Thilo Cablitz wird es manchmal per-
sönlich, wenn der Mob im Netz rast.
Der 41-Jährige ist Pressesprecher der
Berliner Polizei. Er hat dunkle Haut, sein
Vater stammt aus dem Sudan. Öfter sah sich
Cablitz auf Facebook an den Pranger gestellt.
Einmal war sein Bild in eine Falschmel-
dung montiert worden: Er verschweige, dass
150 Araber und Türken Polizisten attackiert
hätten, wurde darin suggeriert. »Das sollte
wohl heißen: ›Seht her, einer von denen
deckt seine Landsleute und verrät seine Kol-
leginnen und Kollegen‹«, so Cablitz.
Wenn es um die Herkunft mutmaßlicher
Straftäter geht, schlägt dem Polizeirat Ca-
blitz und seinen Kollegen mittlerweile oft
blanke Wut entgegen. »Lügenpressestel-
le«, dieses Wort ist Cablitz schon mehrfach
untergekommen, sagt er.
32
Die Hetzer regen sich darüber auf, dass
die Berliner Polizei die Staatsangehörig-
keit von Verdächtigen in ihren Mitteilun-
gen nur selten nennt, nur unter einer Be-
dingung: Die Nationalität muss entschei-
dend dafür sein, dass die Öffentlichkeit
den Fall verstehen kann. Wenn Türken
und Kurden sich aus politischen Gründen
schlagen zum Beispiel. Aber nicht, wenn
ein Algerier in der Bahn ausrastet.
Ist das Zensur oder ein Zeichen von Ver-
antwortung? Haben die Bürger ein Recht
darauf, dass der Staat ihnen die Herkunft
von Verdächtigen mitteilt? Oder bedient
das Wissen darum nur Vorurteile gegen
Minderheiten?
Es sind Streitfragen, die das Land nicht
loslassen. Sie haben sich zu einer fiebrigen
Dauererregung verdichtet, die sich nach
MARKUS BOEHM / DPA
einer schweren Gewalttat in dem immer-
gleichen Reflex entlädt: Woher stammt
der mutmaßliche Täter?
Genüsslich und mit politischem Kalkül
treiben AfD-Vertreter dabei die Behörden
vor sich her. »Es sollte selbstverständlich
sein«, sagte AfD-Fraktionschef Alexander
Gauland, »dass bei Straftaten immer die
Nationalität der Tatverdächtigen genannt
wird.« Und er setzte hinzu: »Auch wenn
dadurch unbequeme Wahrheiten ans Licht
kommen.«
Das Misstrauen, die Polizei könnte et-
was verschweigen, bestimmt seit Jahren
die Debatte. Der Wendepunkt scheint die
Kölner Silvesternacht 2015 gewesen zu
sein. Damals wurden im Zentrum der Stadt
mehr als 600 Frauen mutmaßliche Opfer
sexueller Übergriffe. Die Polizei teilte nicht
unmittelbar nach den Ereignissen mit, dass
die meisten Tatverdächtigen aus Nordafri-
ka stammten. So gerieten die Beamten in
den Verdacht, die Attacken verharmlosen
zu wollen. Die damalige Opposition von
CDU und FDP nährte dieses Narrativ über
Monate. Das war ein Grund für ihren
Wahlsieg bei der Landtagswahl 2017.
Von der Nacht in Köln geblieben ist der
empörte Chor im Netz. Er verlangt, dass
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

nach schweren Verbrechen die Herkunfts-
länder der Verdächtigen genannt werden.
Wenn die Beamten das nicht tun, heißt es
schnell, die Regierung, womöglich sogar
die Kanzlerin persönlich, vertusche Krimi-
nalität von Migranten.
Es ist eine schwierige Entscheidung: Die
eine Seite argumentiert, Transparenz ent-
ziehe Geraune den Nährboden. Man müs-
se den Bürgern zutrauen, die Informatio-
nen einordnen zu können. Die anderen
sagen, das Vorgehen schüre Vorurteile, ein
Verbrechen sei ja keine Frage der Natio-
nalität.
Die Behörden von Flensburg bis Gar-
misch-Partenkirchen gehen jedenfalls sehr
unterschiedlich mit dem Problem um (sie-
he Grafik), die Staatsmacht agiert unein-
heitlich, manchmal fast willkürlich. Und
sie kann den Bürgern nicht vermitteln, wa-
rum sie mal so vorgeht und dann wieder
ganz anders.
Nicht selten verläuft die Grenze, wie in
Sachsen, sogar zwischen einzelnen Städ-
ten. Die Polizei in Dresden etwa teilt die
Nationalität in ihren Meldungen immer
mit, die Kollegen in Leipzig nennen sie
grundsätzlich nicht.
Ein Ende des Chaos ist nicht in Sicht.
In Nordrhein-Westfalen hat Innenminis-
ter Herbert Reul (CDU) große Probleme,
eine einheitliche Linie durchzusetzen. Ein
Erlass sollte regeln, dass die Polizei stets
die Nationalität von Tatverdächtigen
nennt. Denn Reul sehe »ein steigendes
Misstrauen gegenüber staatlichen Institu-
tionen«, teilt sein Sprecher mit. Doch der
Justiz- und der Integrationsminister sind
nicht begeistert von Reuls Idee. Nach ei-
nem Kompromiss wird noch gesucht.
Auch die Landesregierungen können
sich nicht einigen. Auf der jüngsten Innen-
ministerkonferenz scheiterte ein Vorstoß
aus Mecklenburg-Vorpommern, der die
Sache bundeseinheitlich regeln sollte. »Kri-
minalität hat nichts mit Herkunft zu tun«,
sagte Berlins Innensenator Andreas Geisel
(SPD). »Nur wenn es für das Verständnis
einer Straftat sinnvoll ist, macht die Nen-
nung der Nationalität Sinn.«
Im ebenfalls SPD-regierten Hamburg
sitzt im Polizeipräsidium ein Mann, der es
genau andersherum macht. Polizeispre-
cher Timo Zill steht für eine klare Kom-
munikation der Polizei, einer grundsätz-
lichen Entscheidung folgend.
Seine Behörde verlautbarte die Natio-
nalität schon regelmäßig, als die AfD noch
keine große Rolle spielte: In Pressemit-
teilungen erwähnt die Polizei stets die
Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen.
Jede. Immer. Hamburg ist in dieser Hin-
sicht so offen wie kein anderes Bundes-
land. Manche würden sagen: so extrem.
Die Hamburger Linie zeigt sich auch in
einer SPIEGEL-Analyse, die sämtliche
9591 Polizeimeldungen untersucht hat,
Deutschland
die in der ersten Dezemberhälfte auf der fern die Faktenbasis«, sagt er. Was ein
Seite Presseportal.de erschienen sind. Journalist davon verwende, müsse er
Dort stellen Polizeibehörden aus elf Bun- selbst verantworten. Aber die Polizei in-
desländern ihre Mitteilungen nahezu voll- formiert längst nicht mehr nur Medien,
ständig ein. sondern über Facebook und Twitter un-
In 323 Meldungen, das sind gut drei Pro- mittelbar die Öffentlichkeit.
zent, nannte die Polizei die Staatsangehö- Es ist eine Dynamik, die Medien offen-
rigkeit von Tatverdächtigen. Auf den ers- bar unter Druck setzt. Bis 2017 sah der
ten Plätzen: Deutsche (116), Polen (68), Pressekodex vor, dass Journalisten die
Rumänen (46), Niederländer (38) und Tür- Nationalität nur nennen sollten, wenn »für
ken (20). In Hamburg tauchte in 52 Pro- das Verständnis des berichteten Vorgangs
zent sämtlicher Meldungen die Staatsan- ein begründbarer Sachbezug« bestand.
gehörigkeit von Verdächtigen auf. Die üb- Seither reicht »ein begründetes öffent-
rigen Meldungen befassen sich etwa mit liches Interesse«.
Demonstrationen oder Verkehrsbehinde- Das lässt sich im Zweifel für jede schwe-
rungen. Nach Hamburg folgte Hessen – re Straftat herleiten. Und vermutlich ist
das in sechs Prozent der Fälle die Natio- das Interesse dann besonders groß, wenn
nalität nannte. es sich um ausländische Verdächtige han-
Sprecher Zill legt Wert darauf, dass er delt, wie Kriminalfälle aus der jüngeren
ein Angebot für Medien mache. »Wir lie- Vergangenheit zeigen: Wäre etwa der
Mord im rheinland-pfälzischen Kandel,
wo die 15-jährige Mia von ihrem Ex-
Freund erstochen wurde, so breit disku-
tiert worden, wäre der Täter kein Flücht-
BERND VON JUTRCZENKA / PICTURE ALLIANCE / DPA
ling gewesen?
Fest steht: Längst ist die Nationalität
von Gewalttätern zum Teil der Nachricht
geworden, oft macht sie die Nachricht so-
gar erst aus.
In einer im Dezember erschienenen
Studie hat der Hamburger Forscher
Thomas Hestermann von der Fachhoch-
schule Macromedia herausgefunden: In
Polizeisprecher Cablitz vier Wochen im ersten Drittel 2019
wurden ausländische Tatverdächtige in
41 Prozent der Zeitungsbeiträge über
Gewaltkriminalität explizit genannt. Deut-
Durcheinander sche nur in 3 Prozent. Die Polizei-
Nationalität von Tatverdächtigen statistik 2018, die Hestermann dagegen-
in Pressemitteilungen der Polizei hält, zählt jedoch 31 Prozent Ausländer
Q Nationalität wird immer genannt und 69 Prozent Deutsche als Tatver-
Q Nationalität wird in der Regel genannt dächtige.
Q Bei begründetem öffentlichem Interesse Wie lässt sich diese Unwucht beseiti-
Q Wenn für Verständnis des Falls nötig gen? Thomas Bliesener, Leiter des Krimi-
Q Nicht einheitlich nologischen Forschungsinstituts Nieder-
Umfrage des SPIEGEL bei Innen-
ministerien und der Polizei; Die Bundes- sachsen, plädiert dafür, dass die Polizei
polizei nennt immer die Nationalität jede Staatsangehörigkeit nennt. »Es be-
steht sonst die Gefahr«, so Bliesener, »dass
Schleswig- eine deutsche Herkunft zu selten erwähnt
Holstein wird.«
Mecklenburg-
Vorpommern Fraglich bleibt, ob das Misstrauen gegen
Hamburg die Behörden dann schwindet. In Mün-
Bremen Brandenburg chen platzte jüngst einem Social-Media-
Niedersachsen
Mitarbeiter der Pressestelle der Kragen.
Berlin Ein Deutscher hatte einen Polizisten mit
Sachsen- einem Messer schwer verletzt. Eine AfD-
Nordrhein- Anhalt
Westfalen Politikerin twitterte: »Bislang gibt es nur
Sachsen die Herkunftsangabe ›Deutscher‹, aber
Thüringen keinen Vornamen. Weiß die Polizei Nähe-
Hessen
res?« Der Polizist schrieb: »Ja, wissen wir.
Rheinland-
Pfalz Sie würden weinen, wenn Sie den Vor-
namen lesen würden.«
Saar- Es ist ein urdeutsch klingender Name.
land
Baden- Bayern Lukas Eberle, Jan Friedmann, Philipp Seibt,
Württem- Ansgar Siemens, Jean-Pierre Ziegler
berg
Mail: ansgar.siemens@spiegel.de
33
 Deutschland
»Wie ein
Heroin-Junkie«
Sucht Die Gefahren von Computerspielen werden
unterschätzt: Vor allem junge Spieler können den Tricks der
Industrie schlecht widerstehen und werden schnell abhängig.
E
wig hatte er seine Eltern mit dem
Wunsch genervt. Endlich kam der
Weihnachtsabend. Als Ben sein
neues Tablet in Händen hielt,
weinte er vor Glück. Bens Mutter war da-
mals, vor drei Jahren, weniger ergriffen.
Sie nahm sich vor, streng zu kontrollieren,
was ihr Sohn damit täte. Den Code, mit
dem sich das Gerät entsperren ließ, behielt
sie für sich, er war ja erst zehn. So musste
Ben um Erlaubnis fragen, wenn er das Tab-
let nutzen wollte. Sie dachte, damit ließe
sich die Zeit begrenzen, die er im Internet
verbringe.
Heute wissen die Eltern, ein Akademi-
kerpaar aus Berlin, das anonym bleiben
will, wie naiv das war. Alle Kontrollen,
Ratschläge und Verbote haben nichts ge-
holfen. »Die wirkliche Gefahr ging nicht
von Schmuddelseiten aus«, sagt die Mutter.
Zum Verhängnis seien ihrem Sohn viel-
mehr Computerspiele wie »Fortnite« ge-
worden. Sein Vater sagt: »Ben wurde
schleichend spielsüchtig.«
Der Junge fand schon bald heraus, wie
er den Sperrcode umgehen konnte, um
heimlich zu spielen. Später legte er sich
einen Gast-Account an, spielte unbemerkt
nachts oder bei Freunden, schwänzte
schließlich die Schule, um im Media-Markt
zu zocken. Er stahl Geld, um heimlich ein
gebrauchtes Handy und Guthabenkarten
zu kaufen.
»Wie ein Heroin-Junkie hat er alles ge-
macht, um an seinen Stoff zu kommen,
diese Spiele«, sagt die Mutter. Ben habe
gelogen, betrogen, gestohlen und sie sogar
bedroht, als sie ihm später seine Playsta-
tion wegnehmen wollten. Zwischendurch
durchlitt Ben dunkle Phasen, in denen er
von Selbstmord sprach. »Wir waren hilf-
los«, sagt sein Vater.
Computerspiele gehören zum Alltag
sehr vieler junger Menschen. Die meisten
Kinder und Jugendlichen kommen damit
klar. Andere aber werden vor dem Bild-
schirm im Kinderzimmer zu Abhängigen.
Manche Kinder rasten regelrecht aus,
wenn jemand sie am Spielen hindern will.
In Berlin ging ein Jugendlicher mit einem
Hammer auf seine Eltern los, die ihm seine
34
Playstation entzogen. In Nordrhein-West-
falen weckte ein süchtiger Teenager nachts
so lange immer wieder seine kleine
Schwester, einen nur wenige Monate alten
Säugling, bis die Eltern ihn ins Internet lie-
ßen. In Hamburg zertrümmerte ein 15-Jäh-
riger die Wohnungseinrichtung. Diese Fäl-
le schildern die Therapeuten.
»Den Eltern bleibt zuweilen nichts an-
deres übrig, als die Polizei zu rufen und
die Kinder in der Psychiatrie vorzustellen«,
sagt Jakob Florack, Oberarzt am Berliner
Klinikum im Friedrichshain, der solch
schwere Fälle stationär behandelt. Der Me-
diziner kümmert sich inzwischen auch um
Ben. Dem geht es nach einer dreimonati-
gen Therapie und einem Schulwechsel bes-
ser. »Bis er sein Suchtproblem überwun-
den hat, dürfte es aber noch Jahre dauern«,
sagt sein Vater.
270 000 Kinder und Jugendliche mit
»internetbezogenen Störungen« gebe es
in Deutschland, warnte Anfang November
die Drogenbeauftragte der Bundes- spielt werden können. Ein Internetzugang
regierung, Daniela Ludwig. Die Zahl habe genügt. Das lasse die Zahl der Abhängigen
sich innerhalb von acht Jahren verdoppelt. ebenfalls steigen, glauben Suchtforscher.
Schätzungsweise 7,1 Prozent der 12- bis 17- Sie gehen davon aus: Ist ein Suchtmittel
jährigen Mädchen und 4,5 Prozent der leicht verfügbar, verbreitet sich die Sucht.
gleichaltrigen Jungen seien betroffen. Für In dieser Hinsicht unterschieden sich man-
Mädchen würden eher soziale Medien che Spiele nicht von Alkohol oder Tabak,
zum Problem, für Jungen Spiele. so die Experten.
Die Sucht ist die Schattenseite einer Hinzu kommt: Die Unternehmen ver-
erfolgreichen Industrie. Fast drei Viertel suchen Fans zum Geldausgeben innerhalb
aller Jugendlichen in Deutschland spielen dieser Spiele zu animieren, zu sogenann-
regelmäßig Computerspiele wie »Fortnite«, ten In-Game-Käufen. Die Spieler sollen
»Fifa« oder »Minecraft«. Das ergab eine zusätzliche Ausrüstungsgegenstände wie
Umfrage des Instituts Forsa, die das Deut- Waffen oder Kostüme für ihre virtuellen
sche Zentrum für Suchtfragen des Kinder- Spielfiguren erwerben.
und Jugendalters (DZSKJ) und die Kran- Damit sich ihre Investitionen lohnen,
kenkasse DAK im März veröffentlichten. müssen sich Spieler möglichst lange und
Im Schnitt spielen die Jugendlichen mehr oft in der virtuellen Welt aufhalten. Ent-
als zwei Stunden am Tag, an den Wochen- wickler versuchen deshalb, die emotionale
enden und in den Ferien weit über drei Bindung der Spieler an Spiele zu erhöhen.
Stunden. Jeder sechste der regelmäßigen Sie wollen die Kinder daran hindern auf-
Spieler zeige zumindest ein riskantes zuhören. Die Firmen setzen dazu auch auf
Spielverhalten, sagt DZSKJ-Leiter Rainer Strategien und Psychotricks, die aus klas-
Thomasius. sischen Glücksspielen bekannt sind. Der
Die Geschäftsmodelle der Spielekonzer- Fachverband Medienabhängigkeit, dem
ne verschärfen das Problem. Manche Spie- Suchtfachleute aus ganz Deutschland an-
le sind kostenlos im Netz verfügbar – und gehören, warnt deshalb: Die Unterneh-
so konzipiert, dass sie praktisch endlos ge- men verstünden »es zunehmend, ihre Kun-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019

Teilnehmer der »Fortnite«-Weltmeisterschaft in New York am 27. Juli: Möglichst lange, möglichst oft in der virtuellen Welt
den langfristig – sowohl bezogen auf die
Spieldauer als auch auf das Spiel selbst –
zu binden«.
Verhaltensforscher wissen, dass sich
eine gewünschte Handlung besonders gut
im Gehirn einprägt, wenn sie belohnt wird,
das aber nur unregelmäßig. Intermittieren-
de Verstärkung nennen sie das. Häufig
werden Spiele deshalb so angelegt, dass
die Nutzer anfangs schnelle Erfolge erzie-
len und Belohnungen erhalten. Später wer-
den diese reduziert und unvorhersehbar.
Und kaum haben die Spieler ein Ziel er-
reicht, erhalten sie eine neue Aufgabe. Das
dient nur einem Zweck: sie bei der Stange
zu halten.
Je mehr Freunde der Jungen und Mäd-
chen spielen, umso größer ist der Sog, es
selbst auch zu probieren. Weil heute in
vielen Spielen Teams gebildet werden, die
online vernetzt sind, kann selbst eine
kurze Pause zum Problem werden. Wer
aufhört, gerät zum Spielverderber und
muss sich gegenüber seinen Mitstreitern
erklären.
Gut geplant werben zudem Influencer
für Spiele, Firmen helfen, entsprechende
Communitys zu gründen, und unterstüt-
zen E-Sport-Events, auf denen Profis ihr
Können in Wettkämpfen unter Beweis stel-
len. Preisgelder in Millionenhöhe schaffen
Aufmerksamkeit.
Doch auch Profis sind nicht davor gefeit,
ihren Spielen stärker zu verfallen, als es
gesund ist. »Es gibt E-Sportler, die sich in
regelmäßigen Abständen testen lassen,
wie weit sie durch das Zocken abhängig
geworden sind«, sagt der psychologische
Teures Vergnügen
Durchschnittliche Ausgaben im letzten
halben Jahr für:
Anschaffung von Computerspielen
Jungen
Mädchen 75€
Anschaffung von Extras in Computerspielen
Jungen 55€
Mädchen 33€
Quelle: forsa für DAK-Gesundheit 2019, repräsentative Befragung
von 1000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren
JOHANNES EISELE / AFP
Leiter der Mainzer Ambulanz für Spiel-
sucht, Klaus Wölfling. Manche müssten
dann Auszeiten nehmen.
Kein Spiel war in den vergangenen
Monaten bei Kindern und Jugendlichen
so erfolgreich wie »Fortnite« des US-Un-
ternehmens Epic Games. Weltweit mehr
als 250 Millionen Menschen haben es
kostenlos heruntergeladen. Darin treten
100 Teilnehmer auf einer virtuellen Insel
gegeneinander an. Obwohl es ein Überle-
benskampf ist, fließt kein Blut. Bonbon-
farben und eine comicartige Anmutung
der Spielfiguren dominieren.
»Fortnite« hat das System der In-Game-
Käufe perfektioniert. Die Spieler erwer-
ben bereitwillig Ausrüstungsgegenstände
und Kostüme für ihre Spielfiguren ebenso
95€
wie Pässe, mit denen Wettkämpfe für
einen bestimmten Zeitraum freigeschaltet
werden können. Angeblich setzte die Fir-
ma zeitweise 300 Millionen US-Dollar pro
Monat mit dem Spiel um.
Der Erfolg ist auch der französischen
Psychologin Celia Hodent zu verdanken.
Sie leitete bis vor zwei Jahren den Bereich
»User Experience« bei Epic Games. Vor
zwei Jahren hat sie ein Buch unter dem
35
Titel »The Gamer’s Brain« veröffentlicht,
das Hirn des Spielers.
Hodent macht keinen Hehl daraus, wie
wichtig Neurowissenschaften und kogniti-
ve Psychologie in der Spieleentwicklung
sind. »Es geht darum, die Leute zufrieden-
zustellen«, sagt sie. »Wenn sie zufrieden
sind, werden sie aus eigenem Antrieb zu-
rückkommen.« Wichtig sei es, die Nutzer-
daten auszuwerten, um zu sehen, wo und
weshalb Spieler das Spiel beendeten. Dort
müsse dann der Ablauf geändert werden.
Die Expertin, die inzwischen in Los An-
geles Spieleentwickler unterrichtet und be-
rät, plädiert aber für ethische Grenzen. So
könne man gerade Kinder unter Druck set-
zen. Etwa indem niedliche Spielfiguren zu
weinen begönnen, »wenn man keine Aus-
rüstung für sie kauft«, so Hodent. »Damit
würde eine Grenze überschritten.«
Hodents Schilderungen könnten für ih-
ren früheren Arbeitgeber zum Problem
werden. Sie werden in einem Gerichtsver-
fahren gegen Epic Games im kanadischen
Montreal angeführt. Im Oktober haben
dort die Eltern zweier spielsüchtiger Kin-
der, 10 und 15 Jahre alt, Klage gegen die
»Fortnite«-Entwickler eingereicht. Der
Vorwurf: Die Firma habe von vornherein
beabsichtigt, ein Spiel zu entwickeln, das
»Kinder so süchtig wie möglich« mache.
Allerdings habe es Epic Games versäumt,
die Eltern zu warnen.
Während sich die Spieleindustrie stän-
dig neue Produkte ausdenkt, bleibt eine
andere Frage weitgehend ungeklärt: wie
man diejenigen schützt, die für Computer-
spielsucht anfällig, und diejenigen behan-
delt, die ihr verfallen sind.
Erst im Jahr 2013 haben Experten in
den USA Kriterien für die Diagnose Com-
puterspielsucht vorgeschlagen. Die Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) beriet
vier Jahre lang und wertete Daten aus. Im
Mai hat sie auch formell beschlossen, die
Diagnose »Gaming Disorder«, Spiel-Stö-
rung, als Krankheitsbild anzuerkennen.
In Deutschland werden aber erst Leit-
linien dafür entwickelt. »Das Versorgungs-
system ist noch nicht auf den Ansturm aus-
gerichtet«, sagt Christian Groß vom Fach-
verband Medienabhängigkeit. In manchen
Regionen gebe es weder ambulante noch
stationäre psychiatrische Behandlungs-
möglichkeiten.
Hilfesuchende wie die Eltern von Ben
haben selbst in Ballungsgebieten Mühe,
Unterstützung zu finden. »Wir haben viel
herumtelefoniert und Bekannte um Rat
gefragt«, sagt die Mutter. Sie seien froh ge-
wesen, dass ihr Sohn in Berlin-Friedrichs-
hain behandelt werden konnte – nachdem
er drei Monate lang auf einen freien Platz
warten musste.
Immerhin unterhalten viele Städte und
Gemeinden ambulante Suchtberatungs-
stellen und richten Sprechstunden für Me-
36
Mediziner Florack
Schwere Fälle stationär behandeln
dienabhängige ein. Oft sind sie die ersten
Anlaufstellen für besorgte Eltern und de-
ren Kinder – doch eine spezielle Ausbil-
dung und einheitliche Standards, wie den
Jugendlichen am besten geholfen werden
kann, existieren nicht. Deshalb gibt es dort
häufig kaum mehr als Erziehungstipps.
Forscher und Therapeuten fordern staat-
liche Verbote besonders suchtfördernder
Mechanismen oder zumindest Warnhin-
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
weise. So müsse das Suchtgefährdungs-
risiko etwa bei der Alterseinstufung von
Computerspielen berücksichtigt werden,
meint zum Beispiel die Deutsche Gesell-
schaft für Suchtforschung. Wenn das Spiel-
design ein starkes Suchtpotenzial erwarten
lasse, sollten Spiele frühestens ab 16 Jah-
ren freigegeben werden.
Spiel mit Suchtfaktor Die Unterhaltungssoftware Selbstkon-
trolle (USK), zuständig für die Altersfrei-
Top 5 der genutzten Computerspiele in Deutschland gabe bei Computerspielen, hat »Fortnite«
in Prozent der Befragten* in diesem Sommer für Spieler ab 12 Jahren
erlaubt. Ab diesem Alter könnten Kinder
»Fortnite« 19
es »bedenkenlos« spielen, weil sie die
»FIFA« 9 Handlung als Fiktion erkennen würden
und das Spiel von »humorvollen Brechun-
»Minecraft« 5 gen« durchzogen sei. In der USK-Prüfung
geht es um Gewalt- und Sexdarstellungen,
»Die Sims« 5 der Suchtaspekt spielt keine Rolle. Bislang
*Kinder und Jugendliche, die
mindestens einmal wöchentlich
fehlten »valide Kriterien, um diese pau-
»Tom Clancy’s 3
Computerspiele nutzen schal in der Altersprüfung berücksichtigen
Rainbow Six:
Siege« zu können«, sagt USK-Geschäftsführerin
Elisabeth Secker.
Ihr Vorgänger bei der USK war Felix
Falk, heute Geschäftsführer des Compu-
Durchschnittliche Spieldauer pro Wochentag terspielverbands Game. Er findet, die
in Minuten WHO sei mit der Anerkennung von Com-
puterspielsucht als Krankheit »vorschnell
Jungen 149 gewesen«, und rät dazu, »nicht so hektisch,
sondern wissenschaftlich fundiert« auf das
Mädchen 117 Thema zu schauen. Der Lobbyist bestrei-
tet, dass die Spiele suchtverstärkende Me-
chanismen enthielten. Von Warnhinwei-
sen hält er nichts: »Sie schreiben ja auch
Auswirkungen des Spielverhaltens nicht auf eine spannende Serie: ›Vorsicht,
in Prozent es kann passieren, dass Sie alle Folgen in
einer Nacht ansehen wollen.‹«
Es haben im vergangenen Jahr… Der Lübecker Suchtexperte Hans-Jür-
29 %
Spiele gespielt, um nicht an gen Rumpf hingegen, der an den WHO-
unangenehme Dinge denken Beratungen mitgewirkt hat, kritisiert diese
zu müssen. Haltung: »Es ist die Strategie der Spiele-
industrie zu negieren, dass es eine Sucht
14 %
gibt.« Rumpf ist leitender Psychologe an
Streit mit anderen durch
ihr Spielverhalten gehabt. der Klinik für Psychiatrie und Psycho-
therapie des Universitätsklinikums Lü-
beck. »Das erinnert mich an die Tabak-
14 %
industrie, die auch immer abgestritten hat,
schon mal stundenlang
an nichts anderes denken dass Rauchen süchtig macht.«
können als an den Moment, In besonders schweren Fällen versucht
in dem sie wieder spielen das DZSKJ am Universitätsklinikum Ham-
können. burg-Eppendorf (UKE) zu helfen. Es un-
Quelle: forsa für DAK-Gesundheit 2019, repräsentative Befragung
terhält die bundesweit einzige Tagesklinik
von 1000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren für spielsüchtige Jugendliche. Jonas, 15,
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
 Deutschland
Programm
der seinen wahren Namen nicht nennen
will, ein sportlicher Typ, der älter aussieht,
ist einer von acht Patienten, die dort für
jeweils drei Monate behandelt werden.
Seit er hier sei, sagt er, sei eine »riesige
Last« von ihm abgefallen, »vorher hatten
wir in der Familie ständig Stress«.
70 Stunden in der Woche habe er ge-
spielt, berichtet Jan. »In den Ferien waren
es auch mal 100.« Selbst in der Schule
habe er nur an Computerspiele gedacht.
Teilweise habe er sogar während des Un-
terrichts auf einem Tablet gespielt. »Die
meisten Lehrer interessierte das nicht, so-
lange ich nicht den Unterricht gestört
habe.« Die Noten seien natürlich schlech-

ter geworden, er habe auch immer öfter
geschwänzt.
Schließlich wusste sich seine Mutter,
eine alleinerziehende Schichtarbeiterin,
nicht anders zu helfen, als den WLAN-
Router mit zur Arbeit zu nehmen. »Da
habe ich ein Loch in meine Zimmertür
getreten und mit einem Messer auf den
Esstisch eingestochen«, sagt Jan.
DZSKJ-Chef Rainer Thomasius ist über-
zeugt: »Dauerspielen allein macht nicht
süchtig.« Hinter einer Computerspielsucht
ständen meist zusätzliche psychische Be-
lastungen. Das Zocken könne Versagens-
ängste, Mobbing oder belastende Erfah-
rungen in der Familie betäuben. Oder es
würden Einsamkeit, Misserfolge, soziale
Ängstlichkeit oder eine Depression kom-
pensiert. Klar sei: Die Spieler fühlten sich
im virtuellen Spiel geborgener als in der
realen Welt.
Unter dem Motto »Lebenslust statt On-
line-Flucht« geht es in der Eppendorfer
Klinik darum, Interesse an realen Tätig-
keiten zu entwickeln und Selbstvertrauen
SPIEGEL TV
»Klimahelden«: Windräder als Beispiel nachhaltiger Energieerzeugung
SPIEGEL GESCHICHTE PLAN B
SONNTAG, 29.12., 14.20 – 16.10 UHR, SKY MONTAG, 30. 12., 19.25 – 20.15 UHR, ZDF
I am Ali Klimahelden
Der Boxer Muhammad Ali, einer der Wie wir die Welt noch
größten Athleten aller Zeiten, führte retten können
über viele Jahre hinweg Audio- Noch nie hat die Klimakrise so viel
tagebücher, die sehr persönliche Aufmerksamkeit bekommen wie in
Einblicke in das Leben des Mannes diesem Jahr. Könnte 2019 das Jahr
hinter der Legende geben. In der der Klimawende gewesen sein?
Dokumentation kommen neben »Plan b« zeigt Menschen, die neue
engen Freunden auch seine Tochter, Wege gehen, um die Welt mit vielen
sein Bruder und seine Ex-Frau zu kleinen Schritten zu verbessern, und
Wort. Außerdem wurden Boxstars befragt Forscher, welche Maßnah-
wie Mike Tyson, George Foreman men Wirtschaft und Politik ergreifen
und Gene Kilroy interviewt. müssen, um die schlimmsten Folgen
des Klimawandels zu verhindern.
C. JANSEN / UNIVERSAL STUDIOS

aufzubauen. So lernen die Patienten, ein SPIEGEL TV

Musikinstrument zu spielen, und treiben
Sport. Lehrer der Klinikschule helfen, die
Lücken im Unterrichtsstoff zu schließen.
Besonders wichtig aber sei, dass die Ju-
gendlichen lernten, ihre Computerspiel-
zeit einzuschränken, sagt Thomasius. Voll-
ständige Abstinenz könne nicht das Ziel
sein. Ein Leben ohne Computer sei prak-
tisch nicht möglich.
Die Chance, seine Sucht mit einer The-
rapie in den Griff zu bekommen, sei aber
deutlich höher als bei harten Drogen, sagt
Thomasius. Vier von fünf Patienten gelin-
ge es, ihre Abhängigkeit dauerhaft zu kon-
trollieren.
Während in der Klinik striktes Spielver-
bot herrscht, darf sich Jan am Abend an
den Bildschirm setzen. Er muss nur Buch
über seine Spielzeiten führen und sich an
die vereinbarten Grenzen halten. »Ich bin
MONTAG, 30. 12., 23.15 – 23.50 UHR, RTL
Mehr PS als der
Rest der Welt
Ob ein Bentley mit Panzerketten oder
ein Batmobil mit Raketen – russi-
Sportler Ali 1986 in London sche Autoposer und -tuner erschaf-
fen eine verrückte Welt für sich.
SPIEGEL TV WISSEN
SONNTAG, 29. 12., 21.45 – 22.30 UHR, SKY
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Ramsch oder Rarität
Das Highlight der großen Herbst-
auktion im Auktionshaus Eppli ist ein
weißes Cabriolet mit Faltdach, Bau-
jahr 1914. Wird Auktionator Ferdi-
nand Eppli die erhofften 62 000 Euro
SPIEGEL TV

jetzt bei 23,5 Stunden pro Woche«, sagt er für das Cabrio einstreichen können?
stolz, »nur 30 Minuten mehr als erlaubt.« Für Buick-Liebhaber und Oldtimer-
Michael Fröhlingsdorf fans ein echtes Schnäppchen. Umgebauter Bentley
Mail: michael.froehlingsdorf@spiegel.de

37
 Deutschland
Reise zur Wahrheit
Zeitgeschichte Mit großer Geste hat ein Nebenkläger einem
ehemaligen Wachmann des KZ Stutthof im Prozess vergeben.
Schade nur, dass seine Geschichte nicht stimmt.
A m 12. November gab es im gut be-
setzten Saal 300 des Hamburger
Landgerichts eine Szene, die dann
um die Welt ging. Es war der siebte Tag
des Strafprozesses gegen den ehemaligen
KZ-Wachmann Bruno D., inzwischen 93
Jahre alt. Ihm wird vorgeworfen, sich 1944
und 1945 während seiner Dienstzeit im
Konzentrationslager Stutthof bei Danzig
der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht
zu haben. Es geht um 5230 Fälle.
An diesem Tag trat Moshe Peter Loth
in den Zeugenstand. Der 76-Jährige aus
Port Charlotte in Florida hatte sich als
Stutthof-Überlebender der Klage ange-
schlossen und sollte als Zeuge aussagen.
Am Ende seiner Ausführungen wandte
sich Loth, wie mehrere Anwesende berich-
ten, an die Zuschauer, die den Prozess
im Saal verfolgten: »Watch out everyone,
I will forgive him now« – alle aufpassen,
ich werde ihm jetzt vergeben. Er fragte die
Vorsitzende Richterin, ob er vortreten dür-
fe, und beugte sich zum Angeklagten im
Rollstuhl hinab.
Und dann dies: Loth, das Opfer, umarm-
te D., den mutmaßlichen Täter. Beide, so
erklärte Loth später gegenüber Journalis-
ten, hätten dabei geweint.
Seine Botschaft »Heilung durch Verge-
bung« machte weltweit Schlagzeilen. Die
britische »Daily Mail« berichtete ebenso wie
die »Jerusalem Post« und »Times of Israel«
Angeklagter D.: »Herzzerreißende Szenen«
38
über die »Geste der Versöhnung« (»taz«),
im »heute-journal« war von einer »bewe-
genden Szene« die Rede. Auch die lokalen
Zeitungen schrieben über »herzzerreißende
Szenen« (»Hamburger Morgenpost«) und
die »berührende Überraschung« (»Ham-
burger Abendblatt«).
Doch das alles ist zu schön, um wahr zu
sein. Loths Lebensgeschichte ist nicht so
verlaufen, wie er sie erzählt. Nach SPIEGEL-
Recherchen war er weder als Säugling in
Stutthof, noch war seine Familie jüdischer
Herkunft. Anders als er behauptet, ist
womöglich auch keiner seiner Vorfahren
in einem Konzentrationslager gestorben.
Loth unterliegt, so muss man vermuten,
offenbar einem Irrtum.
Die Vorsitzende Richterin hatte den
Zeugen vor der dramatischen Szene gebe-
ten, von seiner Geschichte zu erzählen.
Als seine Mutter mit ihm schwanger ge-
wesen sei, sagte Loth, sei sie in Stutthof
inhaftiert worden. Dann sei sie in eine
psychiatrische Klinik verlegt worden, dort
habe sie ihn geboren. Anschließend sei sie
wieder nach Stutthof gekommen, gemein-
sam mit ihm als wenige Monate altem
Säugling. 1945 seien sie beide in einen De-
portationszug gesteckt worden. Seine Mut-
ter habe ihn in diesem Chaos einer Polin
übergeben, später sei er in Waisenhäusern
untergebracht und von sowjetischen Sol-
daten missbraucht worden.
DANIEL BOCKWOLDT / DPA
Loth hat schon viele Vorträge über sein
Leben gehalten. Bislang bestand das Pu-
blikum aus Schülern, Studenten und evan-
gelikalen Christen in den USA und in Eu-
ropa. Er hat auch ein Buch herausgegeben.
»Peace by piece« heißt es und schildert
eine »Geschichte von Überleben und Ver-
gebung«. Loth rechnet sich zur »Genera-
tion jüngster Holocaust-Überlebender«.
Vorträge stellte er unter den Titel »Reise
zur Wahrheit«.
Auf dieser Reise befindet er sich offen-
bar seit 1999. Nach dem Tod seiner Mutter
Helene will er erfahren haben, dass sie in
einem Konzentrationslager inhaftiert ge-
wesen sei. Seither geht er offenbar davon
aus, dass sie Jüdin war. Genau wie eine
Tante und seine Großmutter Anna. Für
Letztere legte er 2001 ein Gedenkblatt in
Yad Vashem an. Darin schrieb er, sie sei in
der Gaskammer ermordet worden.
Andere Verwandte, so erzählt es Loth,
seien Nazis gewesen. Sein Großvater Otto
habe seine jüdische Frau und die beiden
Töchter an die Nazis verraten, woraufhin
sie in das KZ Stutthof gesteckt worden sei-
en; seinen Sohn Gustav habe er an die
Front geschickt. Das alles habe der Groß-
vater, eine lokale Nazi-Größe, getan, um
erneut heiraten zu können. Allerdings wei-
chen Loths Erzählungen zuweilen von-
einander ab. So ist Gustav manchmal auch
SS-Offizier gewesen und hat der Lagerwa-
che in Stutthof angehört.
In seinen Memoiren berichtet Loth,
dass er 2002 nach Europa gereist sei, um
mehr über seine Familie zu erfahren. Er
sei auch nach Stutthof gefahren, habe aber
das Archiv der Gedenkstätte schließlich
doch nicht aufgesucht. Loth schildert in
den Memoiren, wie seine Frau ihn ge-
drängt habe, sich die Akten anzuschauen,
um Klarheit zu erhalten. Doch dann habe
er Gottes Stimme vernommen. Sie habe
ihn davon abgehalten, das Schicksal seiner
Mutter zu erforschen, sondern ihm gesagt,
er solle den Tätern ihre Grausamkeit ver-
zeihen. Nur so könne er sich von seiner ei-
genen Schuld befreien. Also habe er in der
Gedenkstätte niedergekniet und den Kom-
mandanten des Lagers vergeben.
Das ist zweifellos eine bewegende Le-
bensgeschichte. Allerdings hält sie in we-
sentlichen Teilen einer Überprüfung nicht
stand. SPIEGEL-Recherchen in diversen
Archiven ergeben ein anderes Bild von Pe-
ter Oswald Loth – so sein ursprünglicher
Name – und seiner Familie.
Großvater Otto Loth lebte demnach
als Stellmachermeister in der kleinen Ge-
meinde Fürstenwerder nahe Danzig. Mit
seiner Frau Anna hatte er drei Kinder.
Helene, die Älteste, ist Peter Loths Mutter.
Sie und ihr jüngerer Bruder Gustav sind
in Dortmund geboren, wo die Eltern 1920
auch geheiratet haben, wie Dokumente
des Standesamts Dortmund belegen.
 Aus diesen Papieren sowie aus Kirchen-
bucheinträgen und Unterlagen der Stan-
desämter lässt sich ersehen, dass alle Fa-
milienmitglieder evangelisch waren. Nichts
deutet auf eine jüdische Herkunft hin.
Nach einigen Jahren kehrten die Loths ins
Danziger Umland zurück, wo ihre Fami-
lien seit mehreren Generationen lebten.
Dort wurde die zweite Tochter geboren.
Der Großvater und sein Sohn Gustav führ-
ten den Familienbetrieb, es gab zwei An-
gestellte und seit 1939 einen Kriegsgefan-
genen zur Zwangsarbeit im Haushalt.
Von 1940 an arbeitete Gustav in einem
Danziger Stellmacherbetrieb, 1941 mel-
dete er sich zur Waffen-SS. Gustav ge-
hörte zunächst zum SS-Ersatz-Bataillon
Nord, dann zum SS-Gebirgsjäger-Regi-
ment 7 an der finnischen Front und er-
reichte den Dienstgrad Rottenführer, wie
Dokumente zeigen. Das ist nicht in Über-
einstimmung zu bringen mit Peter Loths
Erzählungen vor Gericht: Mit einer jüdi-
schen Mutter hätte er kaum zur Waffen-
SS gehören können.
Am 30. August 1943 starb Großmutter
Anna, allerdings wohl nicht in Stutthof
oder einem anderen KZ, sondern in Fürs-
tenwerder, wie ein Nachtrag auf ihrer Hei-
ratsurkunde zeigt. Das widerspricht Loths
Angabe in Yad Vashem, seine Großmutter
sei in einer Gaskammer ermordet worden.
Im selben Jahr passierte etwas, das den
Kern der Legende von Peter Oswald Loth
ausmacht. Seine Mutter kam in Haft – zu-
nächst in Danzig und dann, am 1. März
1943, tatsächlich als Häftling 20038 im
Konzentrationslager Stutthof.
Als Haftgrund wurde im Einlieferungs-
buch »Erziehungshaft« notiert, als Natio-
nalität »R.D.«, Reichsdeutsche. Erzie-
hungshaft war eine durch die Gestapo an-
geordnete Disziplinarmaßnahme, meist
verhängt für kleinere Verfehlungen von
»arbeitsunlustigen Elementen«, wie die Bü-
rokratie des Nationalsozialismus es aus-
drückte. Die Strafe richtete sich in erster
Linie gegen Zwangsarbeiter, aber zuweilen
auch gegen Reichsdeutsche und hatte das
Ziel, durch Abschreckung die Arbeitsmo-
ral aufrechtzuerhalten.
Dafür gab es eigene Einrichtungen, Ar-
beitserziehungslager genannt. Häftlinge
aus dem Raum Danzig kamen jedoch ins
KZ Stutthof. Für gewöhnlich wurden Er-
ziehungshäftlinge dort etwa zwei Monate
lang gefangen gehalten. Helene Loth war
zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung bereits
im dritten Monat schwanger, wie auch der
ärztliche Untersuchungsbericht aus dem
Krankenbau des Lagers festhielt. Bereits
nach vier Wochen, am 1. April 1943, wur-
de sie entlassen.
Peter Oswald Loth kam am 2. Septem-
ber 1943, keine 20 Kilometer von Stutthof
entfernt, zur Welt, in Tiegenhof, der Kreis-
stadt des Großen Werders. Vor Gericht er-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
CHRISTIAN CHARISIUS / AFP
Zeuge Loth
Säugling aus dem KZ?
wähnte er eine »psychiatrische Klinik« in
dieser Stadt und sagte, dass er dort als
Säugling Experimenten ausgesetzt worden
sei. In der historischen Forschung ist über
Experimente im Krankenhaus von Tiegen-
hof bei Danzig nichts bekannt.
Wie kommt Loth darauf, dort als Säug-
ling für Experimente missbraucht worden
zu sein? Vielleicht hat er von einer Klinik
gleichen Namens gehört: Tiegenhof nahe
Posen, heute Poznań, etwa 250 Kilometer
südlich. Hier übernahmen die Deutschen
nach dem Überfall auf Polen eine Nerven-
heilanstalt, die Teil des »Euthanasie«-Pro-
gramms T4 wurde. Tausende Menschen
wurden dort ermordet.
Loth ließ ausrichten,
er habe »sein gesamtes
Leben lang seine
wahre Identität gesucht«.
Und wie wahrscheinlich ist es, dass sei-
ne Mutter nach dem angeblichen Anstalts-
aufenthalt tatsächlich erneut in Stutthof
inhaftiert wurde, diesmal gemeinsam mit
ihrem gerade geborenen Sohn? Während
die Haft in Stutthof vor der Geburt ordent-
lich dokumentiert wurde, finden sich zu
einer möglichen zweiten Haft keinerlei Do-
kumente. Diese zweite Haft in Stutthof
hat es vermutlich nie gegeben; wenn doch,
müsste sie aus ganz anderen Gründen an-
geordnet worden sein, als von Loth be-
hauptet: Seine Mutter kann dort nicht als
Jüdin, die sie gar nicht war, festgehalten
worden sein.
Während Loth 1945 in die Obhut einer
Polin kam, schaffte es seine Mutter in die
amerikanische Besatzungszone. Erst 1959
gelang es Loth, seiner Mutter nach West-
deutschland zu folgen und mit ihr in die
USA auszuwandern. Weil Loths Mutter ei-
nen schwarzen GI geheiratet hatte, habe
die Familie, so erzählt es Loth in seinen
Memoiren, unter Rassismus gelitten. Der
Ku-Klux-Klan habe die Familie bedroht,
auch die schwarze Community sei ihm mit
Ablehnung begegnet. Einem ehemaligen
Klanmitglied habe er ebenfalls öffentlich
verziehen.
Später verlor Loth offenbar den Kon-
takt zu seiner Familie. Erst 1999 hätte sich
seine Halbschwester bei ihm gemeldet und
ihm vom Tod der Mutter berichtet. Das
Rote Kreuz habe ihm auf Anfrage im Som-
mer 2000 bestätigt, dass seine Mutter in
Stutthof inhaftiert gewesen sei. Das bezog
sich allerdings auf den vierwöchigen Auf-
enthalt vor seiner Geburt. Vielleicht un-
terlag Loth dem Irrtum, dass seine Mutter
Jüdin gewesen sein müsse, wenn sie doch
in Stutthof inhaftiert worden war?
Loth war zu diesem Zeitpunkt evange-
likaler Christ, glaubte aber von nun an, jü-
dische Wurzeln zu haben. 2015 bekannte
er sich zum Judentum und nannte sich fort-
an Moshe Peter Loth. Seine Anwälte ga-
ben schon vor Gericht zu bedenken, dass
die Erinnerungen ihres Mandanten im Al-
ter von fünf Jahren einsetzten und Schil-
derungen früherer Ereignisse vor allem auf
Hörensagen basierten.
Als der SPIEGEL ihn mit den Zweifeln
an seinen Erzählungen konfrontierte, ließ
Loth über seine Anwälte ausrichten, er
habe »sein gesamtes Leben lang seine wah-
re Identität gesucht«. In diesem Zusam-
menhang, so sein Anwalt, »standen ihm
oft nur mündliche Berichte zur Verfü-
gung«. Deshalb könne »nicht alles durch
Dokumente belegt werden. Viele Fragen
sind leider bis heute nicht beantwortet.
Die Überprüfung der ihm vorliegenden In-
formationen ist schwer«.
Weiter heißt es: »Bisher gab es für ihn
keinen Anlass, an diesen Berichten zu
zweifeln.« Dies gelte auch für Erkenntnis-
se in Bezug auf seine jüdischen Wurzeln –
eine »Annahme, der auch nicht die pro-
testantische Konfession der Mutter und
des Onkels« entgegenstehe.
Bezüglich Loths Behauptung, seine
Großmutter sei in der Gaskammer er-
mordet worden und er ein Opfer medizi-
nischer Experimente, schreibt sein An-
walt: »Als Herr Loth vor ca. 15 Jahren
die Angaben gegenüber der Gedenkstätte
Yad Vashem gemacht hat, ging er davon
aus, dass seine Großmutter in der Gas-
kammer ermordet worden ist. Mittlerwei-
le ist ihm bekannt, dass seine Großmutter
am 10.08.1943 in Fürstenwerder/Danzig
erschossen worden ist. Die Angaben ge-
genüber der Gedenkstätte Yad Vashem
wird Herr Loth zeitnah korrigieren … In
Bezug auf die Behauptung, dass man
mit ihm als Säugling in Tiegenhof mögli-
cherweise Experimente gemacht habe,
verweist Herr Loth auf Narben am Hin-
terkopf, deren Herkunft er sich nicht er-
klären kann.« Moritz Gerlach
39
Reporter
Auf Distanz
Nr. 41/2019 »Bezugsgruppe Oktopus« – Die Aktivisten von »Extinction Rebellion«
protestieren gegen den Klimawandel. Wie wird man heute eigentlich Rebell?
G Ende September gingen in
Deutschland 1,4 Millionen
Menschen auf die Straße, um
für eine andere Klimapolitik
zu demonstrieren. In jener
Woche bereitete sich in Ham-
burg eine Gruppe der inter-
nationalen Klimaaktivisten
von »Extinction Rebellion«
(»XR«) – darunter eine Ruhe-
ständlerin, ein Erzieher, eine
Ärztin – auf eine ganz beson-
dere Form des Protests vor:
Um die Regierung zum Han-
deln zu bewegen, plante die
»Bezugsgruppe Oktopus«
zusammen mit Tausenden
Mitgliedern aus Deutschland,
die Hauptstadt Berlin lahm-
Ein Hundeleben
Nr. 30/2019 »Ein deutscher
Mops« – Die Stadt Ahlen ließ
einen Hund pfänden.
Im Juli berichtete der SPIEGEL
über die Mopshündin Edda,
die von einem Mitarbeiter der
40
Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick
zulegen, Straßen, Brücken,
Verkehrsknotenpunkte zu blo-
ckieren, mit Mitteln des zivi-
len Ungehorsams, so nannten
sie das. Die Erwartungen
waren groß. Tatsächlich
gelang es ihnen dann Anfang
Oktober, unter anderem den
Potsdamer Platz zu besetzen.
Die Medien berichteten, die
Aktionen bekamen viel Auf-
merksamkeit. Doch dann kam
der Rückschlag: Im November
gab einer der Gründer von
»XR«, der Brite Roger Hallam,
mehrere Interviews, in denen
er den Holocaust relativierte
und dessen Einzigartigkeit
bestritt. Einmal bezeichnete
Stadt Ahlen gepfändet und
über Ebay Kleinanzeigen ver-
kauft worden war. Der Vollstre- und in Wilma umbenannt hatte,
ckungsbeamte berief sich auf
einen Paragrafen der Zivilpro- densersatz verklagt. Der Voll-
zessordnung, wonach Haustiere streckungsbeamte hatte in der
in Ausnahmefällen pfändbar
sind. Mittlerweile beschäftigt »kerngesund«. Wilma leidet
sich das Landgericht Münster
Schön bunt
Nr. 9/2019 »Dein Nachbar,
der Nazi« – Im Dortmunder
Stadtteil Dorstfeld lebt
eine Zelle von Neonazis nahe-
zu unbehelligt.
G Es war auch ein bisschen
Symbolpolitik, als Anfang
September Polizisten in Dort-
mund ausrückten, um für meh-
rere Stunden die Rückwand
eines Hauses im Westen der
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
Stadt zu bewachen. Die Wand
steht im Viertel Dorstfeld, man
kann sie mit guten Gründen als
berühmteste und zugleich
berüchtigtste Hauswand Dort-
munds bezeichnen. Rechts-
extremisten haben auf ihr
unübersehbar ihren Anspruch
auf das Stadtviertel geltend
gemacht, mit einem riesigen
Graffito. »Nazikiez« stand auf
der Wand und mehrmals in gro-
ßen weißen Blockbuchstaben
das Wort Nazi, und das über
er Genozide als »fast normale Jahre – die Neonazis wohnen in
Ereignisse«. »Das hat uns zwei Häusern gegenüber. Für
schlagartig den zuvor gewon- die Stadt Dortmund war die
nenen Mut geraubt«, sagt Wand peinlich. Das dauerhafte
Jan Volkert Ulrich aus der Entfernen misslang, weil der
Hamburger Gruppe. »Für uns Eigentümer des Hauses und die
alle war klar, dass das unmög- Stadt Dortmund sich weder
liche Äußerungen waren, die auf eine Vorgehensweise noch
nicht unseren Werten entspre- darauf einigen konnten, wer die
chen.« »Extinction Rebellion Aktion bezahlt. Vor vier Mona-
Deutschland« hat sich dann ten gelang nun endlich eine
rasch und öffentlich von Hal- Einigung, auf Initiative eines
lam distanziert. »Mittlerweile Dorstfelder Vereins: Künstler
sind wir so weit, dass wir übersprühten die Wand mit
wieder nach vorn blicken dem Slogan »Our colors are
können«, sagt Ulrich. Sie tref- beautiful«. Die Polizei fährt seit-
fen sich weiter fast jeden dem vermehrt Streife in der
Montag. Und planen neue Straße. Bislang hat niemand die
Aktionen. Dialika Neufeld Wand angetastet. Uwe Buse
mit der Sache. Denn Michaela
Jordan, die den Mops gekauft
und musste mehrmals operiert
werden. Jordan fordert bis zu
20000 Euro, unter anderem für
hat die Stadt Ahlen auf Scha- die medizinische Versorgung
ihres Tieres. Ein Gutachter muss
nun über Eddas Gesundheits-
Anzeige behauptet, das Tier sei zustand urteilen, das ist das
Ergebnis des ersten Prozesster-
aber an einer Augenkrankheit mins im November. Max Polonyi
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Eucharistiefeier in Münster
Schatten des Zweifels
Nr. 34/2019 »Im Geisterhaus« – Wer will heute noch Priester wer-
den? Besuch im bischöflichen Seminar Borromaeum in Münster
G Nachdem die Reportage
über das Leben im Priester-
seminar Borromaeum erschie-
nen war, erhielt der Priester-
anwärter Maximilian Heu-
velmann eine Nachricht aus
Innsbruck. Sie kam vom
Theologieprofessor Christian
Bauer, bei dem Heuvelmann
während eines obligatori-
schen Semesters außerhalb
des Seminars studiert hatte.
Bauer hatte den SPIEGEL-
Artikel gelesen, in dem Heu-
velmann Kritik an der Pries-
terausbildung in Deutschland
übt. Heuvelmann zitierte
Michel Foucaults Ȇberwa-
chen und Strafen«, sein Zim-
mer verglich er mit einer Zel-
le. Im Priesterseminar, sagte
er, werde versucht, die Kandi-
daten gleichzuschalten. Bauer
schlug Heuvelmann vor, zu
diesem Thema einen Essay
zu schreiben. Im Oktober
wurde er auf Feinschwarz.net
veröffentlicht, einem theolo-
gischen Feuilleton. Daraufhin
warf ihm Wolfgang Lehner,
der Leiter des Priestersemi-
nars in München, vor, in sei-
LARS BERG
nem Beitrag machtfreie Räu-
me zu fordern – die aller-
dings seien »hochgefährlich«,
weil flache Hierarchien Miss-
brauch begünstigen würden.
Am 19. November teilte Ma-
ximilian Heuvelmann seinen
Seminaristenkollegen in
Münster dann mit, dass er die
Priesterausbildung abbrechen
und nach Innsbruck gehen
werde, um bei Bauer zu pro-
movieren. Die anderen Kandi-
daten, berichtet er, hätten ihm
hinterher applaudiert. »Das
hat mich sehr gerührt«, sagt
er. »Ich denke, sie wollten mir
signalisieren: Wir bewundern
deinen Mut, aber du wirst uns
auch fehlen.« Der Entschluss,
sagt Heuvelmann, habe nichts
mit den Reaktionen auf sei-
nen Text zu tun. Er habe viel-
mehr das Gefühl gewonnen,
»noch einmal neu beginnen«
zu müssen. Glückwünsche
erhielt Heuvelmann von
seinem Bruder, der sich nie
damit habe anfreunden kön-
nen, dass Heuvelmann aus-
gerechnet Priester werden
wollte. Maik Großekathöfer
Schnaps für alle Eisenberg, um die 30 Leute,
natürlich war die Stimmung
Nr. 43/2019 »Jenseits von erst mal unten. Ich habe dann
Schlöben« – In der thürin- die Sektflaschen geholt und
gischen SPD-Diaspora macht eine kleine Ansprache gehal-
ein Briefträger Wahlkampf. ten: Wir hatten einen guten
Wahlkampf, habe ich gesagt,
G Vor der Landtagswahl in wir sind durch den Kreis gezo-
Thüringen im Oktober porträ- gen und haben den Leuten
tierte der SPIEGEL den SPD- zugehört, zum Trauern haben
Kandidaten Moritz Kalthoff, wir keine Zeit. Wir machen
der im Wahlkreis Saale-Holz- weiter. Wir hatten 6,5 Prozent
landkreis II antrat. Der Aus- im Saale-Holzlandkreis II bei
gang der Wahl war für Kalthoff den Zweitstimmen und 6,6
enttäuschend: »Die Schnaps- bei den Erststimmen, also zehn
gläser standen bereit am Wahl- Stimmen mehr für mich als
abend, und wir haben sie auch Direktkandidaten, da sagt man
gebraucht: Um die acht Pro- sich dann: Es war nicht um-
zent für die SPD in Thüringen sonst. Übrigens bin ich sehr
bei der Landtagswahl, wir zufrieden mit dem, was bei der
hatten mit so etwas gerechnet, Wahl zur Parteispitze heraus-
aber es war nicht schön. Der kam. Diese Hysterie jetzt, die
Kräuterlikör war von meiner freut mich: Wie jetzt, die
Mutter, aus Kräutern in ihrem Sozialdemokratie macht auf
Garten, sie war überraschend links? Mir macht das Mut.
aus dem Sauerland angereist. Und wenn die Genossen es
Wir saßen also vor dem Moni- wollen, trete ich in fünf Jahren
tor im Vereinsheim des TSV wieder an.« Barbara Supp
Späte Genugtuung wurde begnadigt. Er wuchs
dann trotzdem ohne Eltern
Nr. 6/2019 »Gefangen« – Der auf: Seine Mutter saß im
Sohn zweier spanischer Gefängnis, seinen Vater hatte
Kommunisten hasst den Dikta- Franco hinrichten lassen.
tor Franco noch immer. Alexis Mesón Doña ist heute
81 Jahre alt. Er hasst Franco
G Alexis Mesón Doña ist der immer noch, auch mehr als
Sohn der letzten Kommunis- vier Jahrzehnte nach dessen
tin, die der spanische Dikta- Tod. In der SPIEGEL-Ge-
tor Francisco Franco zum schichte ging es unter ande-
Tode verurteilen ließ. 1947 rem um seinen Blick auf die
war das, Alexis war damals heftigte Debatte, die Spanien
neun Jahre alt. Er schrieb zuletzt gespalten hat: Sollten
einen Brief an Eva Perón, die Francos Überreste aus dem
Frau des argentinischen Präsi- Mausoleum nahe Madrid
denten Juan Perón; Argen- exhumiert werden, so wie es
tinien war einer der wenigen die Regierung des linken
Verbündeten des franquisti- Ministerpräsidenten Pedro
schen Spanien. Eva Perón hat- Sánchez plante? El Caudillo
te offenbar Mitleid mit dem de España por la Gracia de
Jungen, sie setzte sich für die Dios, wie Franco sich titulie-
Kommunistenfamilie aus dem ren ließ, der Führer Spaniens
Madrider Arbeiterviertel von Gottes Gnaden, hat
Lavapiés ein, Alexis’ Mutter immer noch viele Verehrer.
Acht Monate nach Erschei-
nen des Artikels wurde sein
Leichnam dann tatsächlich
ANGEL GRACIA / DER SPIEGEL
umgebettet. »Esta noche ¡a
descorchar el champán!!«,
schrieb Alexis Mesón Doña
in einer Mail: Er wünsche
sich, dass auch in Hamburg
die Champagnerkorken
Mesón fliegen. Timofey Neshitov
41
 Reporter

Im Labor
des Populisten
Machtspiele Der Autokrat Viktor Orbán will aus den Ungarn ein Volk nach seinem
Geschmack formen. In der glücklichsten Stadt des Landes hat er
Gegner – können sie gegen ihn gewinnen? Von Timofey Neshitov und Jan Puhl

42 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Z
wei Monate nachdem er Viktor Or- jetischer Tristesse. In Szombathely leben
bán verraten hat, sitzt Vizebürger- laut einer Umfrage die glücklichsten Men-
meister Miklós Molnár in seinem schen Ungarns. Sie sind zufrieden mit ih-
Büro im Rathaus von Szombathely ren Löhnen, ihren Familien, ihrer Gesund-
und lässt die Jalousien herunter. Hier will heit. Sie sind immer glücklicher geworden,
er erzählen, was mit einem geschieht, der seit Viktor Orbán an der Macht ist.
sich gegen das System Orbán wehrt, in einer Miklós Molnár meint, Viktor Orbán füh-
kleinen Stadt im Westen von Ungarn, man re das Land in den Abgrund.
ist von hier aus schneller in Wien als in Molnár ist ein Mann mit Boxernase und
Budapest. federndem Gang, einer, der seinen Arm in
Szombathely, ausgesprochen Sombatäj, die Luft wirft, wenn er einen Gedanken un-
mit lang gezogenem ä, eine dieser Städte terstreicht. Seine Sekretärin serviert Kaffee
in der Mitte Europas, gegründet als römi- und Honig, Molnár zieht die Augenbrauen
sches Militärlager, erstarrt in post- sow- zusammen und sagt: »Ich will nicht auf der
Anklagebank landen, wenn in Budapest ei-
nes Tages jemand anders regiert.«
Fast ein Jahrzehnt lang war er Teil des
Systems Orbán, im vergangenen Januar
lief er über zur Opposition, zu Orbáns
Gegnern. Sein Name geriet landesweit in
die Schlagzeilen. Viktor Orbán ist Gehor-
sam gewohnt, auch in der Provinz. Mit
56 Jahren ist er einer der erfolgreichsten
Rechtspopulisten Europas. Ein »Trump be-
fore Trump«, wie ihn Trumps Ex-Berater
Stephen Bannon einst nannte. Ein Vorbild
für die polnische Regierung, für Rassem-
blement National in Frankreich, die Lega
in Italien, die AfD in Deutschland.
Ungarn hat knapp zehn Millionen Ein-
wohner, weniger als Bayern. Orbán hat
das Land in ein Labor des Populismus ver-
wandelt, unter dem Dach der EU, mit EU-
Geld: Aus einer Gesellschaft soll hier ein
Volk werden. Ein christliches Volk, das
sich im 21. Jahrhundert mit Zäunen gegen
Flüchtlinge wehrt.
Orbán nennt sein Experiment »illibera-
le Demokratie«. Es ist seine Antwort auf
Merkel und Macron. Europa brauche star-
ke Nationalstaaten, sagt er, starke Führer.
Was es bedeutet, der Gegner solch eines
Führers zu sein, zeigt das Leben des Lo-
kalpolitikers Molnár im Jahr 2019, dem
Jahr seiner Abkehr.
Miklós Molnár, 57, ist in einem Dorf
nahe Szombathely aufgewachsen. Er war
acht Jahre lang Ministrant, sein Vater lei-
tete die Dorfkolchose, einen genossen-
schaftlichen Landwirtschaftsbetrieb. Mol-
nár schaffte es an die Universität, promo-
vierte in Wirtschaftswissenschaften, mit
27 war er Chef einer Textilfabrik in Szom-
bathely, 1200 Beschäftigte. Er brachte die
Firma an die Börse, flog um die Welt, bald
MARTIN FEJER / EST+OSTPHOTOGRAPHY
wurden Anzüge aus Szombathely in
Deutschland getragen, in England, in den
USA.
Es war eine Zeit, in der Molnár große
Hoffnungen in Viktor Orbán setzte.
Kurz vor der Wende sah er den damals
noch unbekannten Orbán das erste Mal
im Fernsehen, der hielt auf dem Helden-
Anti-Orbán-Demonstration in Budapest
»Papa macht sich Sorgen«
platz in Budapest eine Rede. Orbán trug
seine Haare lang, drückte das Kreuz durch,
forderte den Abzug der sowjetischen Trup-
pen und eine Rückkehr Ungarns nach Euro-
pa. Es war eine Rede, die aus einem Jura-
absolventen über Nacht einen Politstar
machte.
Orbáns Partei Fidesz, Fiatal Demokra-
ták Szövetsége, Bund Junger Demokraten,
versprach den Aufbruch in die liberale De-
mokratie. In einem Wahlspot von 1990
sah Molnár einen bärtigen Viktor Orbán
und eine Orange. Die Orange rollte los
und brachte Dominosteine zu Fall, die in
Gestalt eines Sowjetsterns aufgestellt wa-
ren, dazu erklang »Listen To Your Heart«
von Roxette. Höre auf dein Herz. Orange
ist seitdem die Farbe der Partei. Mit 26 Jah-
ren wurde Orbán ins Parlament gewählt.
Ungarn wurde zum Vorzeigestaat im
ehemaligen Ostblock. Nach einer unbluti-
gen Wende lernten ungarische Richter, Jour-
nalisten, Regisseure, die im Sozialismus auf-
gewachsen waren, in Freiheit zu leben.
Miklós Molnár wählte Fidesz. 1998 wur-
de Orbán zum ersten Mal Ministerpräsi-
dent, mit 35 Jahren. Molnár hatte damals
genug von der Welt gesehen, wollte sich
um seine Heimatstadt kümmern. Szomba-
thely hatte Schulden, die Straßen hatten
Löcher, manchen fehlten Laternen.
Molnár kann Bilanzen lesen, kann gut
mit Managern, er kandidierte für den
Stadtrat, wurde zuständig für Wirtschaft
und Finanzen. Molnár mag es, unabhängig
zu sein, Orbáns Partei trat er nie bei.
Der Stadtrat in Szombathely hat 21 Sit-
ze, in Molnárs letzter Amtszeit saßen auf
10 davon Fidesz-Abgeordnete, auf 10 Op-
positionelle. Auf dem verbleibenden Stuhl
saß Molnár. Straßenbeleuchtung, Gewer-
besteuer, Kita-Umbau, Molnár stimmte im
Rathaus immer mit Fidesz. Er wurde,
wenn man so will, der Königsmacher von
Szombathely.
Das Rathaus ist ein kantiger, aschfahler
Betonquader gegenüber der Säule der Hei-
ligen Dreifaltigkeit. In Szombathely sind
die barocken Fassaden gestrichen, die
Fahrradstreifen breit und sauber, es gibt
eine Autobahn nach Budapest, Arbeitslose
gibt es kaum. Im »World Happiness Re-
port« der Vereinten Nationen ist Ungarn
unter Orbán von Platz 110 auf Platz 62 ge-
stiegen.
Auch er, der Vizebürgermeister, habe
dazu beigetragen, sagt Molnár, dass es den
Menschen in seiner Stadt gut geht. Men-
schen, die aber am Ende des Tages nicht
ihm dankten, sondern dem starken Mann
in Budapest. Miklós Molnár ist kein Rebell,
der sich vor einen Panzer legen würde.
Eher einer, der vom Panzer abgesprungen
ist und darüber redet, warum die anderen
in die falsche Richtung lenken.
Die Verwandlung von Orbán, dem Frei-
heitskämpfer, zu Orbán, dem Autokraten,
43

sei schleichend verlaufen, sagt Molnár. An-
ders als Boris Johnson in Großbritannien,
anders als Donald Trump in den USA,
musste sich Orbán nie gegen historisch ge-
wachsene demokratische Institutionen
durchsetzen. Hinter dem Eisernen Vor-
hang hatten sich die Ungarn danach ge-
sehnt, wieder Ungarn sein zu dürfen, kein
sowjetisches Brudervolk mehr. Die liberale
Demokratie des Westens, die man in Un-
garn imitierte, ließ wenig Nationalstolz zu.
Die Nationen sollten in Europa aufgehen.
Bei ihrer Sehnsucht hat Viktor Orbán seine
Landsleute gepackt.
Im Herbst 2015 sah Miklós Molnár, ein
gläubiger Christ, mit an, wie Orbán einen
Zaun gegen Flüchtlinge bauen ließ. Er sah,
wie eine Fernsehreporterin am Grenzüber-
gang Flüchtlingskinder trat.
Molnár sah, wie Pacht- und Bauaufträge
an Fidesz-nahe Unternehmer flossen. Als
Orbán beschloss, dass Szombathely ein
neues Stadion bekommen sollte, ging der
Auftrag an den Schwiegersohn des zweit-
reichsten Mannes in Ungarn, Dollarmilli-
ardär, von Beruf Installateur, ein Schul-
freund Orbáns. Molnár verlangte nach
einer Machbarkeitsstudie. Er sah sie nie.
Derselbe Schwiegersohn bekam den Zu-
schlag für die Sanierung des Wasserturms
aus der K.-u.-k.-Zeit, mit EU-Geld.
Auch Vetternwirtschaft ist Wirtschaft,
lernte Molnár unter Orbán.
Die ungarische Wirtschaft wuchs im
vergangenen Jahr um 4,6 Prozent. Die
deutsche um 0,5 Prozent. Da Orbán keine
Migranten ins Land lässt, auch keine Ar-
»Guten Tag«, sagte der Roboter. »Wir möchten Sie
informieren, dass Miklós Molnár ein Verräter ist.«
beitsmigranten, könnte der Aufschwung
jedoch bald vorbei sein. Deshalb hat Or-
bán ein Gesetz durchs Parlament gebracht,
dass Unternehmen erlaubt, ihren Mit-
arbeitern bis zu 400 Überstunden im Jahr
abzuverlangen.
Molnár wollte im Stadtrat über dieses
Gesetz reden. Die Fidesz-Fraktion blieb
zu Hause.
Er möge keinen »politischen Zirkus«
veranstalten, mahnte ihn der Bürgermeis-
ter. »Das Thema beschäftigt die Men-
schen«, sagte Molnár laut Sitzungs-
protokoll vor der leeren Fidesz-Bank, »das
ist inakzeptabel.« Er verließ grußlos den
Saal.
Bis zu jenem Tag war der wirtschaftli-
che Rat von Miklós Molnár im Rathaus
von Szombathely immer gefragt gewesen.
Nun sah er, was geschah, wenn er Beschlüs-
se aus Budapest anzweifelte.
Bereits am nächsten Tag titelte das Fi-
desz-Blatt, die einzige Lokalzeitung der
44
Reporter
Stadt: »Miklós Molnár hat das rechte La-
ger verraten.« Das Blatt liegt an Schulen
aus. Molnár hat drei Kinder im Schulalter.
Einmal klingelte Molnárs Telefon, am
anderen Ende der Leitung war ein Tele-
fonroboter, der anruft, wenn Orbáns Partei
seinem Volk wieder einmal etwas mitteilen
will.
»Guten Tag«, sagte der Roboter. »Wir
möchten Sie informieren, dass Miklós Mol-
nár ein Verräter ist.«
In Szombathely leben etwa 80 000
Menschen. 27 000 von ihnen bekamen die-
sen Anruf, ausgewählt per Zufallsgenera-
tor. Molnár war einer von ihnen.
Der Mann, der nach eigenen Angaben
die Steuereinnahmen von Szombathely
verdoppelt hatte. Der deutsche Autozulie-
ferer an die Stadt gebunden, der die Pa-
pierfabrik, den größten Luftverschmutzer
der Stadt, gezwungen hatte, Filter zu in-
stallieren – es interessierte niemanden
mehr. Das System Orbán hatte Miklós
Molnár aussortiert.
Als Kommunalpolitiker, das wusste Mol-
nár, legt man sich nicht mit Viktor Orbán
an. Auch nicht mit dem Bürgermeister.
Bürgermeister haben in Ungarn wenig zu
sagen. Die Entscheidung, wer in einer grö-
ßeren Stadt als Fidesz-Bürgermeister an-
tritt, fällt in Budapest, die Vorschläge kom-
men von Parteichefs vor Ort. Der Bürger-
meister von Szombathely, Molnárs Chef,
war Rettungsarzt, bevor er in die Politik
geholt wurde. »Ich glaube«, sagte der Mann
einst, »die Politik prägt das Leben von
Menschen und ist eine wichtige Sache.«
»Der kann super Hände schütteln«, sagt
Molnár über ihn.
Die Fidesz-Zentrale in Szombathely
liegt im Erdgeschoss eines Plattenbaus un-
weit des Franziskanerklosters. In dem
Frühjahr vor der Europawahl im Mai läuft
man hier vorbei an Plakaten, von denen
George Soros und Jean-Claude Juncker
grinsen. Juncker ist zu dem Zeitpunkt Prä-
sident der Europäischen Kommission, So-
ros ist ein Milliardär und Jude. Auf dem
Plakat der Spruch: »Ihr habt das Recht zu
wissen, was Brüssel vorhat.«
Brüssel und Soros wollten Ungarn mit
Flüchtlingen überschwemmen, schrieb Or-
bán in Briefen, die er an jeden Haushalt
in Ungarn zustellen ließ. Im staatlichen
Rundfunk redete er von »Bevölkerungs-
austausch« und meinte, dass die christ-
lichen Völker Europas nach einem gehei-
men Plan durch muslimische Einwanderer
verdrängt werden. Die Verschwörungs-
theorie vom großen »Bevölkerungsaus-
tausch« erklärte auch der Attentäter von
Christchurch, Neuseeland, der 50 Men-
schen hinrichtete, in seinem Manifest.
Orbán gründete Fidesz zu einer Zeit,
als es galt, den Kommunismus abzuschüt-
teln; die ungarische, milde Variante davon,
genannt Gulaschkommunismus. Heute
zählt Orbán zu seinen demokratischen
Freiheiten vor allem die Freiheit zu bestim-
men, was Demokratie überhaupt ist.
In der Fidesz-Zentrale in Szombathely
sind die Decken niedrig, im Regal steht eine
Flasche Jägermeister. Ein stämmiger, freund-
licher Herr schwärmt von seinem Besuch in
Hamburg, Jahre her schon, dann sagt er,
hier sei leider keiner, der Auskunft erteilen
könne, man solle das Rathaus aufsuchen.
Im Rathaus läuft an diesem Nachmittag
im März Miklós Molnár über den Flur und
sagt: »Sie haben mein Gehalt um 70 Pro-
zent gekürzt!« Seine Sekretärin läuft hin-
terher, Tränen in den Augen, sie wurde
entlassen. Die beiden klopfen an Türen,
drücken auf Fahrstuhlknöpfe. Im Rathaus
von Szombathely ist niemand, der ihnen
helfen kann.
Molnárs Gegner in diesem Kampf sitzt
in Budapest. Er war lange Jahre sein Weg-
gefährte. Csaba Hende, 59 Jahre alt, Fi-
desz-Chef von Szombathely, Vizesprecher
des Parlaments, der ehemalige Verteidi-
gungsminister Ungarns.
In Csaba Hendes Büro im Parlament
stehen zwei Fahnen, so schreibt es das Pro-
tokoll vor. Die ungarische hat er hinter sei-
nen Schreibtisch gestellt, die EU-Fahne ist
verdeckt von einem Fenstervorhang.
Als Csaba Hende jung war, angehender
Anwalt in Szombathely, wollte er, dass der
Eiserne Vorhang verschwindet, der Euro-
pa teilte. Im Sommer 2015 aber bauten
Hendes Soldaten, er war zu der Zeit Or-
báns Verteidigungsminister, den Stachel-
drahtzaun an der Grenze zu Serbien. Vier
Meter hoch.
»Die sowjetische Mauer wurde gegen
uns gebaut«, sagt Hende heute. »Dieser
Zaun ist dazu da, um uns zu schützen.«
Csaba Hende ist ein Mann mit leiser
Stimme. Wäre Szombathely ein Kasperle-
theater, wäre Csaba Hende der Meister
der Marionetten. Und Molnár eine Puppe,
die beginnt, von allein zu tanzen.
Im Mai, wenige Tage vor der Europa-
wahl, sitzt Miklós Molnár in seinem Büro
im Rathaus. Inzwischen macht er seinen
Kaffee selbst. Er zeigt die Fidesz-Zeitung,
sie liegt auf dem Tisch, der Titel ist eine
Fotocollage, sie zeigt ihn in der Uniform
eines sowjetischen Generals. Die Hetz-
kampagne gegen ihn in der Stadt geht seit
Monaten weiter. Molnár versucht inzwi-
schen zurückzuschlagen, nennt Viktor
Orbán ironisch Papa, er sagt: »Papa macht
sich Sorgen um Szombathely.«
Molnár leakt Rathausinterna an eine op-
positionelle Internetplattform und nennt
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 sie »Schlafzimmergeheimnisse«. Es sind
Dinge, über die er selbst jahrelang ge-
schwiegen hat.
Er sticht durch, dass ein Fidesz-Stadtrat,
dem eine Reitschule gehört, Steuergeld
kassierte, um eine berittene Bürgerwehr
zu unterhalten – die dann keine einzige
Patrouille ritt. Dass zwei Brüder, die auf
keiner Fidesz-Party fehlen, im Stadtzen-
trum ein Café pachteten – für das andere
Unternehmer hätten das Dreifache zahlen

FOTOS: AKOS STILLER / DER SPIEGEL

müssen. Dass das neue Stadion eine finan-
zielle Katastrophe ist.
Seit seinem Amtsantritt hat Viktor Or-
bán Dutzende Stadien in Ungarn bauen
lassen, er selbst spielte früher in der Vier-
ten Liga. Auch in dem Ort seiner Kindheit
ließ er ein Stadion errichten, dort leben
weniger als 2000 Menschen.
Das Stadion in Szombathely hat fast
9000 Plätze. Es kommen selten mehr als
3000 Fans, zwei Jahre nach dem Bau stieg
der Szombathelyi Haladás in die Zweite
Liga ab. Fast eine Million Euro Steuergeld
muss jährlich fließen, damit es den Verein
weiterhin gibt.
In einem Plattenbau gegenüber dem
Stadion, im achten Stock mit Balkon, woh-
nen seit 30 Jahren Tibor und Marta, ein
Rentnerpaar, er einst Bauarbeiter, sie Ho-
telangestellte. Sie haben ihre Wohnung
mit Wasserfalltapeten dekoriert, auf der
Couch liegt eine Tigerdecke, auf den
Schränken stehen leere Whiskyflaschen.
Tibor trägt einen Sportanzug. Seit Jahren
kümmert sich Miklós Molnár um Men-
schen wie sie. Seit Jahren wählen sie Fi-
desz. Sie klagen noch heute über ihre Ju-
gend im toten Winkel des Ostblocks. Sie
sind Viktor Orbán dankbar, weil er die So-
zialisten von der Macht weghält.
Es regnet, Tibor zeigt vom Balkon aus
auf das nasse Stadion, das wie ein Stück
platt gedrücktes Baiser unter ihm liegt. »Ein
hübsches Stadion«, sagt er, »nur wenn die
Sonne scheint, reflektiert das Dach Licht,
man kann sich hier im Wohnzimmer nicht
mehr aufhalten, so grell wird es.« An son-
nigen Tagen ziehen sie sich ins Schlafzim-
mer zurück und sehen fern. Einige Nach-
barn haben sich im Rathaus über das grelle
Licht beschwert, Marta und Tibor nicht. Sie
beschweren sich nicht über Viktor Orbán.
Bei der Shell-Tankstelle an der Kiskar-
Straße arbeitet László Hőber, ein Mann
mit Ringen unter den Augen, 37 Jahre
alt. Er trägt das rot-gelbe Firmenfleece,
»Shell V-Power«, zapft Kaffee, verkauft
Plüschtiere, Gartenerde, Damenbinden,
macht sich Sorgen um das ungarische
Volk. Hőber hockt an einem Plastiktisch
neben der Kasse, ihm ist es nicht wichtig,

Lokalpolitiker Molnár vor dem Rathaus, Stadion

von Szombathely, Rentner Tibor
Nun kommen Schlafzimmergeheimnisse ans Licht

45

was Miklós Molnár über Orbáns Vettern-
wirtschaft sagt. Auch die Sozialisten hät-
ten geklaut, sagt er.
»Familie ist das Wichtigste«, sagt László
Hőber, Vater einer Tochter, sein erstes
Kind starb kurz nach der Geburt. Die
Deutschen wollten keine Kinder mehr, das
habe er im Fernsehen gesehen, die Ungarn
aber, das habe ihm eine Hebamme erzählt,
kriegen immer mehr Kinder. Die Heb-
amme komme jede Woche zum Tanken.
In Orbáns Ungarn werden Mütter mit
mindestens vier Kindern lebenslänglich
von der Einkommensteuer befreit, Groß-
eltern, die ihre Enkel betreuen, können
Geld vom Staat beantragen. Orbán schützt
die Familie, auch vor den Fremden, von
denen der Tankwart in Szombathely jetzt
wieder spricht. Kunden aus Österreich hät-
ten ihm erzählt, sagt er, in ihren Städten
gebe es No-go-Areas für Einheimische, we-
gen der Migranten. »Vor den Grenzen war-
ten Millionen. Es kommen noch zig Mil-
lionen, Hunderte Millionen.«
In den Gaststätten von Szombathely
läuft der Fernseher, man sieht Flüchtlinge
in Dauerschleife: Flüchtlinge, die laufen,
Flüchtlinge, die sich prügeln, Flüchtlinge
in Zeitlupe, Flüchtlinge mit Merkel. Bilder
von 2015, aktuell serviert.
Nach der EU-Quotenregelung hätte Un-
garn 1260 Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Nach Szombathely wären 200 gekommen.
Gekommen ist nur die Angst vor ihnen.
Bei der Europawahl im Mai holte Or-
báns Partei 52,56 Prozent der Stimmen.
Kann man sein Machtexperiment noch
aufhalten? Einen wirksamen EU-Mecha-
nismus dagegen scheint es nicht zu ge-
ben. Können es Menschen wie Miklós
Molnár?
46
Orbán-Feindbilder auf Hetzplakat in Szombathely*
»Ihr habt das Recht zu wissen, was Brüssel vorhat«
Dann kommt Csaba Hende auf die
Bühne. »Am Himmel über Szombathely
stauen sich Sturmwolken«, sagt er, sollte
der Sozi an die Macht kommen, würde er
Flüchtlinge nach Szombathely holen.
»Wie nennen wir eine solche Person?«,
fragt Hende das Publikum.
»Verräter«, sagt jemand.
»Ich kann euch nicht hören, lauter!«
»V-e-r-r-ä-t-e-r!«
Der Kandidat probt Lokalpolitik – Hen-
de verbreitet Angst. Eigentlich kann nichts
AKOS STILLER / DER SPIEGEL
mehr schiefgehen.
Bis wenige Tage vor der Wahl im Netz
ein Sexvideo auftaucht. Die Aufnahmen
zeigen einen von Orbáns Bürgermeistern
bei einer Orgie mit Prostituierten auf einer
Jacht in der Adria.
In Szombathely redet kaum einer mehr
über Flüchtlinge. Im ganzen Land reden
die konservativen Fidesz-Anhänger jetzt
Molnárs Abkehr von Orbán hat der Op- über die Sexorgien eines Familienvaters.
position in Szombathely Mut gemacht. In der Wahlkampfzentrale, einer ehe-
Die Sozialisten, die Grünen, die Ultrarech- maligen Husarenkaserne, trinken Fidesz-
ten, die proeuropäische Bewegung Mo- Anhänger den Energydrink Hell, ein un-
mentum; alles, was nicht Fidesz ist, hat garisches Produkt, für das im Fernsehen
sich zusammengeschlossen, um Fidesz zu Bruce Willis wirbt.
schwächen. Sie haben für die landesweiten An diesem Wahlsonntag lässt Csaba
Kommunalwahlen einen gemeinsamen Hende 11 000 Fidesz-Wähler anrufen, sie
Kandidaten, er ist Immobilienunterneh- sollen von ihrer Couch aufstehen und wäh-
mer, 43 Jahre alt, vergleicht sich selbst mit len gehen.
einer Nebenfigur aus »Game of Thrones«: Bereits bei der ersten Hochrechnung
Manke Rayder, der im Land des ewigen lehnt sich ein Mann in Khakishorts an die
Winters verfeindete Wildlinge im Kampf Wand und flüstert: »Katastrophe«.
gegen den gemeinsamen Feind vereint. Draußen, unter dem Vollmond, zieht
Miklós Molnár trifft sich mit ihm. Sollte eine Frau an ihrer Zigarette und sagt: »Soll
der Kandidat gewählt werden, will er wie- er doch gewinnen, der Sozi! Viktor wird
der Wirtschaft und Finanzen in Szomba- ihm den Geldhahn zudrehen.«
thely verantworten. In elf Städten gewinnt an diesem Tag
Das Wahlprogramm des Immobilien- die Opposition. In Szombathely feiern sie
unternehmers besteht hauptsächlich aus ihren historischen Sieg gegen Viktor Or-
einer App, mit der die Einwohner Szom- bán in einer viel zu kleinen Kneipe.
bathelys Schlaglöcher und überfüllte Müll- Csaba Hende fährt noch in der Wahl-
eimer melden sollen. nacht nach Budapest, am nächsten Tag pos-
Im August füllt sich Szombathely mit tet er eine orange eingefärbte Karte Ungarns.
Gladiatoren, Trommlern, Feuerschluckern, Fidesz bleibt auch nach dieser Wahl die
es ist Zeit des historischen Karnevals. Der stärkste Partei in Ungarn. Sie hat im Ver-
Fidesz-Bürgermeister trägt eine weiße gleich zur letzten Kommunalwahl sogar
Toga mit purpurgoldenem Saum. Er ist zugelegt: von 51,41 Prozent auf 54,45 Pro-
67, es sind seine letzten Monate im Amt. zent der Stimmen. Auf dem Land wählen
Csaba Hende hat bereits seinen Nachfol- Menschen weiterhin überwiegend Fidesz.
ger bestimmt: einen 34 Jahre alten Notar Bereits einen Monat nach der Wahl be-
aus der Bezirksverwaltung. Hende will kei- kommen Miklós Molnár und seine Mit-
ne Schlagzeilen mehr, es soll wieder Ruhe streiter einen ersten Vorgeschmack auf
einkehren in Szombathely. das Leben nach ihrem Sieg über Viktor
Der junge Fidesz-Kandidat steht Ende Orbán.
September auf der Bühne eines Kulturzen- Unter dem Fidesz-Bürgermeister hatte
trums und verspricht mehr Fahrradstrei- das Stadtmuseum Fördergeld aus Buda-
fen, mehr Parkplätze, Mülltrennung. pest beantragt, 30 Millionen Forint für das
Jahr 2020.
* Milliardär George Soros und der damalige EU-Kom- Es werden 2 Millionen überwiesen.
missionspräsident Jean-Claude Juncker.
 Reporter

A
m 2. Mai 1998, einem Samstag, nahm die Polizei im »Er hat damit signalisiert, dass er grundsätzlich bereit sei aus-
Bahnhof von Kempten im Allgäu einen Mann fest, zusagen«, sagt Wirth.
der sich als Aldo Valeone auswies. Das Dokument, Am nächsten Morgen sahen sich die beiden Männer im
das stellte sich rasch heraus, war gefälscht. Finger- Gefängnis Stadelheim wieder. Für Wirth ging es um einen
abdrücke brachten seine wahre Identität zutage: Giorgio Ermittlungserfolg, für Basile um ein neues Leben.
Basile, geboren 1960 in Corigliano Calabro in Kalabrien, auf- Um Basiles Zuverlässigkeit zu überprüfen, erklärte Wirth,
gewachsen in Mülheim an der Ruhr. 1986 zu neun Jahren brauche er ein Kapitaldelikt. Am besten einen Mord.
und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, weil er an der Basile gestand. Es war ein Spiel, aber mit Regeln. »Ich
Ermordung eines Diskothekenbesitzers in Duisburg beteiligt muss ihn ernst nehmen, und ich muss sicherstellen, dass er
war. Am 9. September 1991 war mich ernst nimmt«, sagt Wirth.
Basile nach Italien abgeschoben »In dieser Preisklasse komme
worden, eine Reststrafe von ich mit Bluffen nicht weiter.«
mehr als drei Jahren war offen. Einmal äußerte Basile einen
In Deutschland bestand ein Wunsch: ob es möglich wäre,
Haftbefehl wegen des Besitzes ihn vor dem Weihnachtsfest
von Falschgeld. nach Italien auszuliefern? Er
Was die deutschen Fahnder werde sich bemühen, antworte-
an jenem Samstag von ihren ita- te Wirth, könne aber eine Zu-
lienischen Kollegen erfuhren, sage nicht geben. Für den Fall,
elektrisierte sie: Gegen Basile dass es nicht klappte, bot er an,
wurde wegen Drogenhandel und Heiligabend bei Basile in der
Erpressung ermittelt. Außerdem Zelle zu verbringen.
bestand der Verdacht, er gehöre »Wir haben die Chancen und
der Mafia an. Risiken abgewogen, in die er
Ernst Wirth, damals Kriminal- sich begibt, wenn er kooperiert«,
hauptkommissar, war im Baye- sagt Wirth. »Ich habe ihm das
rischen Landeskriminalamt der Gefühl gegeben, dass ich die
Mafiaexperte. Am Montagmor- Risiken kenne.«
gen fuhr er nach Kempten. Ihm war klar, dass Basile
Der Mann, der ihm im Ge- eine Entscheidung von solcher

fängnis gegenübertrat, war 1,65
Meter groß und kräftig, er trug
eine Brille. Wirth achtete auf
Details. Wie begrüßte ihn der
LKA
Tragweite nicht allein treffen
konnte. Wirth telefonierte mit
Mein Fall den italienischen Kollegen und
kurz darauf mit Basiles Ehefrau.

Der Kronzeuge
andere? Wie drückte er sich Anderthalb Tage später traf sie
aus? Hielt er Augenkontakt? in München ein. Es gab ein kur-
»Hellwach, ausgefuchst, hochin- zes Vorgespräch, Wirth appel-
telligent – und durch und durch lierte »an ihre besondere Ver-
kriminell«, das war Wirths ers- antwortung«. Dann führte er
ter Eindruck. Sein erster Gedan- sie in Basiles Büro und ließ sie
ke: »Mit dem muss ich ein Ge- Giorgio Basile war als Mafiakiller am mit ihrem Mann allein.
schäft machen.« Tod von mindestens 34 Menschen »Ich packe aus«, sagte Basile,
Ermittlungen gegen die Ma- beteiligt. Als er in Bayern festgenom- als Wirth eine halbe Stunde
fia sind mühsam. Wer gegen später sein Büro wieder betrat.
die Omertà, das Schweigegebot men wird, versucht ein Kommissar, 78 Tage lang wurde Basile ver-
der Mafia, verstößt, wird aus ihn für einen Deal zu gewinnen. nommen, von deutschen und
der Organisation ausgestoßen von italienischen Beamten, täg-
und mit dem Tode bedroht. Ei- lich von 9 bis 16 Uhr. Basile
nen Mafioso dazu zu bringen, gestand Wirth gegenüber, an
gegen Clanmitglieder auszusagen, ist für die Polizei oft wert- 34 Morden und anderen Tötungsdelikten beteiligt gewesen zu
voller als eine bloße Verurteilung. sein, außerdem offenbarte er die Strukturen des Carelli-Clans
Wirth ließ Basile in sein Büro bringen. Als er den Job über- aus Corigliano Calabro in Deutschland und in Italien, dessen
nahm, hatte er dort Bilder zweier von der Cosa Nostra er- Geschäfte und weitere Verbrechen, von denen er wusste.
mordeter Richter aufgehängt. Hinter dem Schreibtisch hingen In Italien wurde Basile in das Schutzprogramm für aussa-
Carabinieri-Kalender, auf dem Aktenschrank stand eine Es- gewillige Mafiamitglieder aufgenommen. Mehr als 50 Mafiosi
pressomaschine. Das italienische Ambiente sollte die Ge- wurden aufgrund seiner Aussage zu Freiheitsstrafen verurteilt.
sprächspartner verunsichern. Heute lebt Giorgio Basile, inzwischen 59 Jahre alt, mit
Wirth ließ Basile die Handschellen abnehmen und bot ihm einer neuen Identität irgendwo in Italien. Ernst Wirth ist
einen Stuhl an. Respekt war wichtig, das hatte er in zahlrei- nach seiner Pensionierung in München geblieben. Ab und
chen Kronzeugengesprächen gelernt. »Ich bin mir bewusst, an telefonieren sie miteinander. Andreas Ulrich
in welch schwierige Situation Sie sich begeben, wenn Sie die-
sen Weg gehen«, sagte er. Ernst Wirth,
»Ich bin müde«, antwortete Basile. Wirth versprach: Er 64, vernahm als Ermittler bei der
werde alles unternehmen, um die Sicherheit von Basiles »Operativen Fahndung« im Bayerischen
Familie zu garantieren. Landeskriminalamt rund 50 Mafiosi,
Er bot an, den Italiener nach München verlegen zu lassen. später leitete er die technische Überwachung.
Dort könne man sich weiter unterhalten. Basile akzeptierte. Seit vier Jahren ist er im Ruhestand.

DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019 47

Frohes Prämienjahr
Sichern Sie sich eine Prämie für einen neuen SPIEGEL-Leser.

Kärcher-Hochdruckreiniger K2 iPad Wi-Fi 10,2" 32 GB Spacegrau

Modell »Full Control Home« mit Druckregulierung. Ideal Mit 10,2"-Retina-Display, Face ID/Touch ID und bis
für größere Flächen rund ums Haus. Ohne Zuzahlung. 10 Stunden Batterielaufzeit. Zuzahlung: € 249,–.

Teasi ONE4 Outdoor-Navi Artemide Tolomeo Micro Tavolo

Für Rad, Wandern, Ski und Boot. Mit 3-D-Kompass, Zeitlos schöne Alu-Tischleuchte, in alle Richtungen
Reiseführer und 8,8-cm-Display. Ohne Zuzahlung. verstellbar. Länge: ca. 73 cm. Zuzahlung: € 29,–.
 Wagenfeld-Tischleuchte WG 24 JBL Flip 5 Bluetooth-Lautsprecher
Aus vernickeltem Metall, Klarglas und Opal- Robust und wasserdicht. Bis zu 12 Stunden Spielzeit.
glas. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung: € 179,–. Maße: 181 × 69 × 74 mm. Ohne Zuzahlung.

Bis zum
6. 1. 2020

€ 120,– Prämie Thule Revolve 55-cm-Bordtrolley

Bei Bestellung bis 6. 1. 2020 erhalten Sie Hartschalen-Handgepäckkoffer mit TSA-Schlössern.
€ 120,– als Prämie. Schnell sichern! In Schwarz. Maße: 55 × 35 × 23 cm. Ohne Zuzahlung.

 
w
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile • Wertvolle Wunschprämie für den Werber.
Frau
• Der Werber muss selbst kein SPIEGEL-Leser sein.
Herr
• Zum Vorzugspreis: statt € 5,30 nur € 5,10 je Ausgabe inkl. Lieferung. Name, Vorname
• Auf Wunsch das Digital-Upgrade für nur € 0,70 je Ausgabe inkl.
SPIEGEL-E-Books.
Straße, Hausnr. Geburtsdatum

Wunschprämie Kärcher-Hochdruckreiniger (5742) Wagenfeld (5786) Zzlg. € 179,– PLZ Ort

iPad 10,2" (5843) Zzlg. € 249,– JBL Flip 5 Lautsprecher (5847)
Teasi ONE4 (5776) Thule-Bordtrolley (5775) Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206
Artemide Tolomeo (4265) Zzlg. € 29,– Telefon (für eventuelle Rückfragen) E-Mail (für eventuelle Rückfragen)
€ 120,– Prämie (5010) bis 6.1.2020. Mein Konto für die Überweisung:
Gleich mitbestellen! Ja, ich möchte zusätzlich das Digital-Upgrade für nur € 0,70
DE pro Ausgabe beziehen statt für € 4,99 im Einzelkauf. SD20-015
IBAN Ja, ich wünsche unverbindliche Angebote des SPIEGEL-Verlags und der manager magazin Verlagsgesellschaft
(zu Zeitschriften, Büchern, Abonnements, Onlineprodukten und Veranstaltungen) per Telefon und/oder E-Mail. Mein
Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen.
Anschrift des Werbers: Der neue Abonnent liest den SPIEGEL für zunächst 52 Ausgaben für zurzeit € 5,10 pro Ausgabe statt € 5,30 im Einzelkauf,
das Digital-Upgrade zusätzlich für € 0,70 pro Ausgabe. Das Abonnement verlängert sich automatisch und ist dann jederzeit
Frau zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar.
Herr
Name, Vorname Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* vierteljährlich € 66,30, Digital-Upgrade halbjährlich € 18,20
Die Mandatsrefe-
DE renz wird separat
mitgeteilt.
Straße, Hausnr. IBAN
SP20-101-WT127
PLZ Ort Datum Unterschrift des neuen Lesers

Coupon ausfüllen und senden an:

DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg 040 3007-2700 abo.spiegel.de/p20
Der Werber erhält die Prämie ca. vier Wochen nach Zahlungseingang des Abonnementbetrags. Der Vorzugspreis von € 0,70 für das Digital-Upgrade gilt nur in Verbindung mit einem laufenden Bezug der Printausgabe, enthalten sind € 0,60 für das E-Paper.
Alle Preise inklusive MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Hinweise zu AGB, Datenschutz und Widerrufsrecht: www.spiegel.de/agb. SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon: 040 3007-2700,
E-Mail: aboservice@spiegel.de
* SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige den Verlag, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb
von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Wirtschaft
Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick
Berichte aus einem Krisengebiet
Nr. 38/2019 »Fehler im System« – Die Modernisierung der IT in Ministerien und
Behörden klingt nach einem sperrigen Thema. Dahinter verbirgt sich ein Milliarden-
desaster für die Steuerzahler, wie Marcel Rosenbach und Kristina Gnirke herausfanden.
G Seit Jahren berichten wir
über Digitalisierungsprojekte
der öffentlichen Hand. Was
wir herausfinden, ist fast aus-
nahmslos ernüchternd. Egal
ob elektronische Gesundheits-
karte, De-Mail, E-Personal-
ausweis oder das immer wie-
der erneuerte Versprechen,
die Bürgerämter und deren
Service online zugänglich zu
machen: Alles wird viel teu-
rer, dauert länger. Das gilt
auch für ein Vorhaben, das
wir 2019 mit einer Serie von
Texten begleitet haben: das
Mammutprojekt der soge-
nannten IT-Konsolidierung
Bund. Beamte und Verwal-
tungsangestellte der Bundes-
behörden und fast aller Minis-
terien sollen endlich einheit-
liche Rechnerarbeitsplätze
bekommen und mit eAkte
und eRechnung weitgehend
papierlos arbeiten. Zudem
soll der Wildwuchs aus rund
hundert Rechenzentren
50
Windhorsts Coup
Nr. 27/2019 »1. FC Wind-
horst« – Im Sommer stieg der
umstrittene Investor Lars
Windhorst bei Hertha BSC ein.
Wir trafen ihn zuvor.
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
zurechtgestutzt werden. Doch ladung der Organisation
das 2015 gestartete, milliar- »Tech4Germany«. Die Initiati-
denschwere Projekt lief voll- ve schickt junge IT-Talente für
kommen aus dem Ruder. zehn Wochen in Ministerien,
Einer der vielen Beteiligten um diese bei der Digitalisie-
wandte sich zunächst mit rung zu unterstützen. An
einem anonymen Schreiben einem Abend im Oktober prä-
an den SPIEGEL. Es folgten sentierten die Digital Natives
mehrere Treffen, über Mona- ihre Ergebnisse. Für das
te. Anhand unzähliger Doku- Außenministerium entwickel-
mente schilderte der Hin- ten sie eine Anwendung, mit
weisgeber das Ausmaß des der Diplomaten ihre Umzüge
Desasters und dessen Auswir- effizienter planen können, was
kungen. Nach der Veröffent- Zeit und Geld sparen sowie
lichung erreichten uns viele Nerven schonen kann. Der
weitere Hinweise von Bera- Bund will die selbst ernannte mando.«
tern, Politikern und Mitarbei- »IT-Taskforce« weiter unter- Henning Jauernig, Isabell Hülsen
tern der beteiligten IT-Firmen. stützen. Im Herbst entschied
Ex-Berater, die hohe Tages- das Kabinett außerdem, die
ENGLER / NORDPHOTO / IMAGO IMAGES
sätze abgerechnet hatten, mel- Modernisierung der Bundes-
deten sich, weil sie als Bürger IT neu zu organisieren. Über-
und Steuerzahler ein schlech- zeugend ist auch der neue
tes Gewissen plagte: Es gebe Plan nicht, der Rechnungshof
seit Monaten null Projektfort- fordert schon eine Neuord-
schritt. Einige wiesen uns auf nung der Neuordnung. Der
weitere IT-Brandherde hin. Stoff für weitere Recherchen
Zu den ermutigenden aus dem Krisengebiet der Bun-
Reaktionen gehörte eine Ein- des-IT geht uns also nicht aus. Klinsmann, Windhorst
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 »Krass derber Boost«
Nr. 23/2019 Redakteur Alexander Kühn traf Rezo für die Titel-
geschichte »Kinder der Apokalypse«. Kühn überzeugte den
YouTuber, seine Kritik an den Medien im SPIEGEL zu formulieren
(»Kopieren ist kein Journalismus«).
NICK HARWART
Rezo
G Rezo liest keine Bücher.
Das erzählte er mir, als ich ihn
Ende Mai zum Interview traf,
mitten im Hype um sein Anti-
CDU-Video. Auch gedruckte
Zeitungen und Zeitschriften
kommen in seinem Alltag
nicht vor, Rezo lebt im und
vom Internet. Dass der
SPIEGEL ihn auf die Titelseite
der Printausgabe hievte, habe
er jedoch als »krass derben
Boost« empfunden, sagte er
mir später. Wir hielten Kon-
takt. Er, Ende zwanzig, You-
Tube-Star. Ich, der Mann von
den alten Medien. Rezo blickt
auf meine Zunft wie ein Eth-
nologe auf ein fernes Volk:
respektvoll, aber befremdet.
Das wurde mir klar, als er
mich eines Abends anrief, es
war Ende August. Er hatte
sich über die Nachrichten-
agentur dpa geärgert. Sie hat-
te falsch über ihn berichtet,
viele Medien hatten die Mel-
dung übernommen, auch wir.
Rezo bat mich nachzuschau-
en, ob dpa den Redaktionen
Pflege und Betrug
Nr. 40/2019 »Der Feind an
meinem Bett« – Personal-
mangel ist eines der größten
Probleme in der Pflege und
Nährboden für Kriminalität.
G
Ein Auftrag aus
dem Kanzleramt
Nr. 49/2018 »Raus aus
Absurdistan« – Eine SPIEGEL-
Geschichte gab den Startschuss
für das wichtigste Gesetz
schon die Korrekturmeldung der Bundesregierung in diesem
geschickt habe, die er ihr Jahr: das Klimapaket.
abgerungen hatte. Zwischen
uns entspann sich ein G
Gespräch, das grundsätzlich
wurde. Ich fragte ihn, ob er
seine Sicht auf die Medien
aufschreiben wolle, in der
nächsten SPIEGEL-Ausgabe.
Für ihn war es ein Experi-
ment, er hatte nie einen jour-
nalistischen Text verfasst. Für
mich fühlte es sich an, als hät-
te ich einen Atheisten einge-
laden, in der Kirche zu predi-
gen. Rezo lieferte einen Essay
ab, der Wucht hatte, aber
viel zu lang war. Das Internet
kennt keine Platzbeschrän-
kung, ein gedrucktes Magazin
schon. Ich schlug Kürzungen
vor. Heraus kamen zwei
SPIEGEL-Seiten, auf denen er
von den Medien eine andere
Fehlerkultur einforderte und
erklärte, warum ihn Erfahrun-
gen wie jene mit der dpa
»abfucken«. Der Essay endete Michael Sauga
versöhnlich: »Peace«. Die
Reaktionen der Leser gingen
von »sprachlich pubertär«
bis »großartig«. Ähnlich sah
es in der Redaktion aus. Rezo
selbst war zufrieden. Der
nach eigener Aussage »mathe-
DAVID KLAMMER / LAIF
matisch denkende Mensch«
hatte ausgerechnet, wie viel
Zeit er für den Beitrag ver-
wendet hatte, inklusive Vor-
und Nachbereitung. »Acht
Stunden. Ist für mich okay.« Demonstranten im Tagebau Garzweiler
15 000 Euro Gehalt kassierte.
Kristina Gnirke, Isabell Hülsen
51
 Titel

Dekade des Umbruchs

52 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Lufttaxi über Dallas (Simulation)

Zukunft Im kommenden Jahrzehnt werden sich Deutschland und die Welt wohl stärker
verändern als je zuvor. Einige Trends lassen sich vorhersehen,
die Rentnerwelle zum Beispiel, andere nur erahnen, etwa die Gefahr von Cyberattacken.
Elf Prognosen für die Zeit bis 2030.
WENN.COM

53

ie Zwanziger. Schon vor einem Jahrhun-
dert war es eine Dekade, die Deutschland
durchrüttelte, ja zerriss zwischen Extre-
men, zwischen Anarchie und Monarchie,
zwischen Euphorie und Absturz.
Die Bürger waren verängstigt, der Staat
geschwächt. Antonio Gramsci, der Mit-
begründer der Kommunistischen Partei
Italiens, soll die Zeit zwischen den Welt-
kriegen gar als »Zeit der Monster« cha-
rakterisiert haben. »Die alte Welt liegt im
Sterben, die neue ist noch nicht geboren.«
Was werden die neuen Zwanziger mit
den Deutschen machen? Werden sie ver-
loren zurückbleiben, eine verunsicherte
Nation, taumelnd wie vor hundert Jahren?
Die Bank of America hat die globalen
Themen der Dekade beleuchtet, eines
wird aus der Lektüre klar – für die
Deutschen wird es ungemütlich. In den
»2020s« werden laut dieser Analyse gleich
mehrere Entwicklungen ihre Scheitel-
punkte erreichen, es beginnt die »Decade
of Peak«: Die Analysten rechnen damit,
dass die Globalisierung ihren Höhepunkt
findet, dass Öl, Jugend, Autos, ja dass
materielle Dinge überhaupt an histori-
sche Hochs gelangen – und es von da an
bergab geht.
»Peak Globalization«, »Peak Oil«, »Peak
Youth«, »Peak Cars«, »Peak Stuff«, heißt
das im Slang der Analysten, und es sind
beunruhigende Aussichten für ein Land,
in dem Autoproduktion, Maschinenbau
und Elektrotechnik Leitbranchen sind und
jeder vierte Arbeitsplatz vom Außenhan-
del abhängt.
Die Bank of America warnt auch vor
einer globalen Rezession und davor, dass
sich der Handelskrieg zwischen den USA
und China zu einem Technikkrieg steigern
kann: ein Wettrüsten der Supermächte um
die Vorherrschaft bei der künstlichen In-
telligenz und im Netz, das zum »Splinter-
net« werde, aufgeteilt in Einflusszonen:
Alibaba, Baidu und Tencent gegen Face-
book, Apple, Alphabet, Netflix, Google.
FOTO: ART-4-ART / GETTY IMAGES
»Made in China« gegen »America first«:
Deutschland taucht in diesem Szenario
nicht mal als Zulieferer auf, geschweige
denn als geoökonomische Macht. Der Ein-
fluss der Deutschen schwindet, »Export-
weltmeister«, das war einmal. So was
kratzt an der Seele.
54
Wiederholen sich also die Zwanziger
als neues Frustjahrzehnt der Deutschen?
Auch damals endete eine Periode be-
schleunigter Globalisierung. »Alles scheint
schon einmal da gewesen zu sein«, schreibt
der Schriftsteller Volker Kutscher, nach
dessen Roman »Der nasse Fisch« die TV-
Serie »Babylon Berlin« verfilmt wurde, im
SPIEGEL-Essay zur Frage: »Werden die
neuen Zwanziger wie die alten Zwanzi-
ger?« (siehe Seite 64).
Es geht um viel für Deutschland. Um
die Grundlagen des Wohlstands, seinen
Platz in der Welt, womöglich um die Wi-
derstandsfähigkeit seiner Demokratie.
Kann Deutschland noch Schritt halten mit
dem irren Tempo an Innovation, das die
USA und China vorlegen werden? Kann
es mithalten mit deren wachsender öko-
nomischer Dominanz? Wie geht Deutsch-
Arbeit und
Ruhestand
Prognosen
+ 3,0
für 2030 Millionen
Rentner
ELN UR AM IKISHIYEV / DDP
– 3,8
Quellen:
Millionen
Prognos, Renten- Erwerbsfähige
versicherungsbericht
land damit um, dass es immer älter wird,
zugleich aber das Althergebrachte immer
kürzer Bestand hat?
Christian Böllhoff ist Geschäftsführer
der Beratungsfirma Prognos. Studien aus
seinem Haus helfen Unternehmen oder
Organisationen einzuschätzen, wie sich
die Dinge entwickeln. Vor zehn Jahren,
als die Konjunktur mit der Finanzkrise ab-
schmierte, hatte Böllhoff ein Szenario pa-
rat, wie sich die Wirtschaft aus der Rezes-
sion herausexportieren könnte – genau
das passierte. »Das nächste Jahrzehnt«,
sagt Böllhoff, »ist geprägt von den zwei
großen D«: der Digitalisierung und, noch
wichtiger, der Demografie.
Auf dem Besprechungstisch in Böllhoffs
Berliner Büro liegt neben einer Schale mit
Lebkuchen ein Exemplar des »Deutsch-
land-Reports«, es ist der 14. seit 1964: ein
Handbuch für die Zukunft der Republik.
Auf 254 Seiten verarbeiten die Prognos-
Forscher in ihren Modellen eine Vielzahl
an Variablen, sie skizzieren auf der Basis
plausibler Annahmen ein Bild davon, wie
sich das Land entwickelt. Der SPIEGEL
hat den Report auswerten können, zahl-
reiche weitere Quellen herangezogen und
viele Experten befragt, um eine Idee von
der Zeit bis 2030 zu entwickeln.
Und so wird das Land aussehen: Zum
Ende der Dekade werden die Deutschen
deutlich älter sein als heute, Männer im
Schnitt gut 45 Jahre, Frauen fast 49 Jahre.
Dann wird fast jeder vierte über 67 sein:
19 Millionen. Was das bedeutet und wie
dramatisch dies ist, sieht man an zwei an-
deren Zahlen: Es wird gut drei Millionen
Rentner mehr geben als heute, die Zahl
der Pflegebedürftigen steigt um 600 000
auf 4,1 Millionen.
Die Zwanziger werden das Jahrzehnt,
in dem die Demografie die Strukturen des
Sozialstaats durchschüttelt. Nicht nur die
Zahl der Rentner wächst enorm. Zugleich
gibt es weniger Menschen in Deutschland,
die zwischen 20 und 64 Jahre alt sind,
die Erwerbsfähigen also, die Wohlstand
schaffen und Steuern zahlen. Ihre Zahl
schrumpft innerhalb von zehn Jahren um
3,8 Millionen. Dieser Verlust ist – rein
statistisch – nur vergleichbar mit der De-
zimierung einiger Weltkriegsjahrgänge.
Laut »Deutschland-Report« werden
von 2020 bis 2030 die Ausgaben für Ren-
ten-, Pflege-, Arbeitslosen- und Kranken-
versicherung von 679 Milliarden um fast
die Hälfte auf 996 Milliarden Euro wach-
sen, das ist eine zusätzliche Last von jähr-
lich gut 30 Milliarden Euro. Der Beitrags-
satz für die Sozialkassen lässt sich nicht
mehr unter 40 Prozent vom Bruttoverdienst
halten, er klettert auf mehr als 45 Prozent.
Ob die politischen Talkshows in den
kommenden zehn Jahren immer noch
»hart aber fair«, »Anne Will« oder »May-
brit Illner« heißen, ist ungewiss. Aber es
bedarf wenig Fantasie, sich auszumalen,
dass dort demnächst um die Rente mit
70 gestritten wird, um Arbeitskosten, Ur-
laubsansprüche und die Frage, wie wett-
bewerbsfähig Deutschland noch ist. Kurz:
Die Standortdebatte der Neunzigerjahre
beginnt von Neuem – spätestens wenn die
Konjunktur einbricht und die Unterneh-
men alle Ausgabenposten überprüfen.
Die Debatte wird sich diesmal indes
weniger mit Lohnnebenkosten oder dem
angeblichen Jobexport ins Ausland be-
schäftigen. In den Zwanzigerjahren steht
Größeres auf dem Spiel, eine Gerechtig-
keitsfrage: wie die Lasten zwischen den
Generationen verteilt werden.
Wie die Deutschen damit zurechtkom-
men, liegt nicht allein in ihrer Hand. Ihre
Zukunft hängt davon ab, wie sich die Welt-
wirtschaft entwickelt.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Titel

Auch hier droht Ungemach. Der Glaube
daran, dass auf Wohlstand nur immer
mehr Wohlstand für immer mehr Men-
schen folgt, hat sich seit der Finanzkrise
erschöpft. Die Klimakrise ist ungelöst.
Zwar könnte mit einem »Green New Deal«
ein mächtiger Leitgedanke für die neue
Dekade entstehen, doch die Idee entfaltet
bislang keine globale Strahlkraft. Und
Deutschland zögert voranzugehen; traut
sich nicht und ist vielleicht auch nicht
mächtig genug.
Niemand weiß, welche Katastrophen
im Laufe des neuen Jahrzehnts Deutsch-
land heimsuchen werden – Hitzewellen,
Hochwasser, Terroranschläge. Ziemlich
sicher ist nur, wie die Dekade zu Ende
gehen wird. In zehn Jahren, am 13. April
2029, wird der Asteroid »Apophis«, zu
Deutsch: »Gott des Chaos«, auf die Erde
zurasen. Es ist ein Spektakel, wie es sich
in Deutschland nur einmal im Jahrtausend
ereignet. Der Kleinplanet, rund 300 Me-
ter Durchmesser, wird mit bloßem Auge
zu sehen sein.
Ein Aufschlag würde eine Explosion
auslösen, so zerstörerisch wie ein Erd-
beben der Stärke 8,0. Doch nach heutigem
Wissensstand wird er in 29 470 Kilometer
Entfernung vorbeirauschen. Und wir wer-
den noch einmal davongekommen sein.
nicht mehr schließen. Die Folgen sind viel-
fältig – und überwiegend belastend. Auf je-
den, der 2030 ins Erwerbsleben startet,
könnten dann annähernd zwei kommen, die
ausscheiden. Und es wird mehr Menschen
mit Gesundheitsproblemen geben, die Aus-
gaben für Gesundheit, Rente und Pflege wer-
31 000
2030*
den steigen. Für Ökonom Werding ist dies
»ein klares Zeichen dafür, dass die Sozial-
finanzen langfristig nicht tragfähig sind«.
Vor allem aber fehlen die Impulsgeber
für künftigen Wohlstand: Gemeint sind
Konsumenten, die im Beruf stehen, eine
Familie gründen, die Geld ausgeben, für
Wohnung oder Kinder. Aber auch Firmen-
gründer, die innovative Geschäftsideen
verfolgen: Solche Start-up-Unternehmer
beginnen üblicherweise Ende zwanzig,
Anfang dreißig – und nicht erst, wenn sie
alt und weise sind.
Immer mehr Bürger gehen in Rente,
immer weniger gehen zur Arbeit: In den
Verlängerter Lebensabend
Einwohner Deutschlands,
die 100 Jahre und älter sind
Quelle: Statistisches Bundesamt; *Prognose

GESELLSCHAFT

Her mit den

17 000 2020
Zuwanderern

GET T Y IMAGES
Wer heute schon einen Eindruck vom Le-
ben im Jahre 2030 haben möchte, kann
ihn in Harzgerode gewinnen, einer Klein-
stadt im Unterharz, mit Fachwerkrathaus,
Fürstenschloss – und vielen älteren Men-
schen. Es gibt einen Seniorenklub und eine
Osteoporose-Selbsthilfegruppe, die Alten-
heime heißen »Goldener Herbst« oder
»Seniorenpark Waldblick«. Und ist einmal
ein Gehweg zu erneuern, wird der Bord-
stein so abgeflacht, dass sich Rollatoren
leicht über die Straße schieben lassen.
In Harzgerode leben knapp 8000 Bür-
ger, sie sind im Schnitt 51,6 Jahre alt, gut
sieben Jahre älter als der Durchschnitts-
deutsche. Im vorigen Jahr wurden in
der Gemeinde 46 Kinder geboren – bei
159 Sterbefällen.
Harzgerode nimmt vorweg, was Deutsch-
land bevorsteht. 2030 werden rund 19 Mil-
lionen Bürger 67 Jahre oder älter sein, rund
2,8 Millionen mehr als 2020. Deutschland
wird zur Altenrepublik. »Der Prozess lässt
sich nicht mehr abwenden«, sagt der Bo-
chumer Ökonom Martin Werding, Experte
für die Folgen des demografischen Wandels.
Selbst starke Einwanderung oder ein
stetiges Geburtenhoch könnten die Lücke

55

Zwanzigerjahren wird Deutschland an Dy-
namik einbüßen, da zu viele Ältere Wohl-
stand verzehren und zu wenige Jüngere
Wohlstand vermehren. Marcus Weise,
Bürgermeister von Harzgerode, versucht,
diese Entwicklung in seiner Stadt zu stop-
pen, er selbst ist 32 Jahre alt.
Nur wenige aus seinem Abiturjahrgang
seien in Harzgerode geblieben. »Wir ha-
ben viele Menschen verloren«, sagt er,
»nun kümmern wir uns darum, sie zurück-
zuholen.« Der Bürgermeister will es jun-
gen Familien leicht machen, Fuß zu fassen.
Auf einem Internetportal finden sie,
was sie suchen: Jobangebote, Kitaplätze,
Wohnungen. Wer ein Haus baut oder sa-
niert, dem spendiert die Gemeinde 2000
Euro Baukindergeld; bislang hat Weise
insgesamt 40 000 Euro dafür ausgegeben.
Tatsächlich ist es gelungen, den Trend
zu drehen. Es ziehen wieder mehr Ein-
wohner nach Harzgerode als fortgehen,
2017 waren es 20 mehr, im vorigen Jahr
schon 50. Das Beispiel zeigt: Die Folgen
der Demografie lassen sich zwar nicht
rückgängig machen, aber zumindest ab-
mildern – wenn man sich anstrengt.
Und die Weichen richtig stellt: Nötig
sei ein kontinuierlicher Strom an Zuwan-
derern, sagt Ökonom Werding. »Deutsch-
land sollte sich international besser als Ein-
wanderungsland vermarkten.« Ähnlich
wichtig sei es, dass mehr Frauen voll er-
werbstätig werden. Bislang arbeiten Frau-
en in Westdeutschland im Schnitt 30 Stun-
den pro Woche, in Ostdeutschland sind
es fünf Stunden mehr.
Da hat der Westen immer noch Nach-
holbedarf.
INDUSTRIE
»Traut euch,
euch zu bewegen«
Das Berufsbild »Foresight Manager« ist
noch relativ unbekannt, Björn Theis nennt
sich so, er kümmert sich um die Zukunft,
präziser: die Zukünfte. »Es gibt nicht die
eine Zukunft«, sagt er.
Theis arbeitet beim Essener Chemiekon-
zern Evonik, dort versucht er herauszufin-
den, was auf die Branche zukommt. Er hat
fünf Szenarien formuliert, »digitale Cham-
pions«, »chinesischer Traum«, »trügerische
Ruhe«, »turbulente Zeiten« und »Nachhal-
tigkeits-Paradigma«. Innovationsideen aus
dem Konzern werden darauf überprüft, wie
gut sie in diese Zukunftsbilder passen. Ein
Projekt namens »Tissue Engineering« wur-
de so angestoßen, es geht um Materialien,
die helfen sollen, Zellen zu kultivieren und
Gewebe herzustellen, eine künstliche Haut.
Das hat wenig damit zu tun, womit Evo-
nik bislang sein Geld verdient, mit Auto-
56
Titel
lacken oder Kunststoffen, soll es auch gar
nicht, denn das Unternehmen braucht
ganz neue Wachstumsfelder. Da geht es
Evonik ähnlich wie anderen Konzernen,
ihnen steht ein schwieriger Wandel bevor.
»Der Turnaround wird brutal«, sagt der
Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar.
Jahrelang lieferte die deutsche Wirt-
schaft, was die Welt benötigte. Turboglo-
balisierung und Chinaboom sicherten ihr
traumhafte Zuwachsraten. Jetzt lahmt der
Welthandel, China hat eine eigene High-
techwirtschaft etabliert, Amerika setzt in
der digitalen Datenökonomie Maßstäbe,
igelt sich sonst aber ein. Der deutschen In-
dustrie fällt es schwer, sich auf diese neue
Zeit einzulassen, diagnostiziert Straubhaar,
sie stecke tief in einer Strukturkrise: »Das
alte deutsche Industriemodell ist am Ende,
unwiderruflich und unumkehrbar.«
Begehrte
Spezialisten 2030:
Fachkräftemangel
in Deutschland, in Mio. 4,9
Quelle: Korn Ferry 2018, Prognose
2020:
1,4
IMAGO STOCK
Vielerorts ist der Abstieg zu beobach-
ten, Deutschland verliert in der Welt an
Einfluss, die Konzerne an Gewicht: Thys-
senKrupp? Am Abgrund. Siemens? Prak-
tisch zerschlagen. Bayer? Gelähmt vom
Monsanto-Desaster. Die Deutsche Bank?
Abgestiegen in die Regionalliga. Der Nie-
dergang wäre zu verkraften, wenn Neues
nachwüchse. Doch seit SAP ist kein Kon-
zern mehr auf Weltniveau aufgestiegen –
und die Gründung liegt 47 Jahre zurück.
In der Liste der größten Volkswirtschaf-
ten wird Deutschland nach einer briti-
schen Studie von Platz fünf bis 2030 auf
den zehnten Platz abrutschen. An die Spit-
ze rücken China und Indien, nun gefolgt
von den USA. Selbst Ägypten wird mit
Platz sieben noch vor Deutschland stehen.
Dies ist eine schmerzhafte Erfahrung
für den Ex-Exportweltmeister. Bisherige
Erfolgsbranchen fallen im Wettbewerb zu-
rück, vor allem der Autosektor: Prognos
warnt im »Deutschland-Report« vor einem
»Klumpenrisiko« für die Volkswirtschaft.
Noch kennt kaum jemand hierzulande
Nio, Byton, Chery: Chinas Elektroauto-
hersteller sind womöglich die Toyotas der
neuen Zwanzigerjahre. Sie wollen den glo-
balen Automarkt aufrollen, ähnlich wie
vor einem halben Jahrhundert die Japaner.
Nun könnte Deutschland vom An-
spruch abrücken, Lieferant der Welt zu
sein, und sich den Inlandsmärkten wid-
men: Gesundheit, Freizeit, Konsum. Öko-
nom Straubhaar hält eine solche Wende
für unrealistisch und unnötig. Im Prinzip
habe Deutschland beste Voraussetzungen,
in der digitalen Weltwirtschaft eine erfolg-
reiche Rolle zu spielen: mit seinem stabilen
Regierungssystem, der hohen Innovations-
kraft, dem guten Bildungssystem.
Dazu aber müsste sich die Unterneh-
menswelt grundlegend modernisieren.
Wenn heute statt Maschinen Algorithmen
die Arbeit leisteten und statt Containern
Datenströme um den Globus gingen, dürfe
Deutschland nicht an alten Strukturen fest-
halten: »Meine Botschaft lautet: Traut
euch, euch zu bewegen, dann steht Deutsch-
land vor guten Zwanzigerjahren.«
JOBS
Arbeiter werden
Könige
In der Stadtverwaltung von Neu-Ulm
sind rund 70 Stellen vakant. Bauingenieu-
re, Sozialpädagogen, Sachbearbeiter: Al-
les wird gesucht. »Der Arbeitsmarkt ist
leer gefegt«, so Oberbürgermeister Ge-
rold Noerenberg.
Die Arbeitslosenquote liegt in Neu-Ulm
bei 2,2 Prozent, es herrscht Vollbeschäfti-
gung. Schreibt die Verwaltung eine Stelle
aus, meldet sich zuweilen kein einziger
Bewerber. Manche Bauprojekte kann die
Stadt nur noch stemmen, wenn sie externe
Büros beauftragt. »Früher hieß die Frage:
Woher nehmen wir das Geld?«, sagt Noe-
renberg, »heute haben wir Geld. Aber wo
kriegen wir das Personal her?«
Mit solchen Engpässen kämpfen öffent-
liche Arbeitgeber besonders, weil sie oft
schlechter zahlen als die freie Wirtschaft.
Bund, Länder und Kommunen suchen ak-
tuell 185 000 Mitarbeiter, und die Lage
wird sich noch drastisch verschärfen. Bis
2030 soll die Personallücke laut einer Stu-
die der Unternehmensberater von McKin-
sey auf 730 000 Stellen wachsen.
Arbeitnehmern in Deutschland stehen
goldene Zwanzigerjahre bevor: Sie sind
begehrt und werden umschwärmt, mit ho-
hen Gehältern und der Möglichkeit, die
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Arbeit ihren Lebensumständen anzupas-
sen. »2019 war das letzte Jahr, in dem das
Arbeitskräftepotenzial noch einmal kräf-
tig wuchs«, sagt Enzo Weber vom Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB). Im Laufe der Dekade wird der Pool
an Arbeitskräften immer stärker schrump-
fen, weil die Babyboomer in Rente gehen.
In dem Maß wird die Personalnot steigen.
Das Dilemma: Weniger Menschen wer-
den dann mehr erwirtschaften müssen,
sonst geraten Wachstum und Wohlstand
in Gefahr. Den Betrieben bleibt nur der
Ausweg, statt die Quantität künftig eher
die Qualität der Arbeit zu steigern. Wo
bisher zwei angelernte Arbeiter eine Ma-
schine bestücken, werden das künftig zwei
Roboter tun – betreut von einem qualifi-
zierten, besser bezahlten Facharbeiter.
Das gilt umso mehr, da die Digitali-
sierung im kommenden Jahrzehnt die
Arbeitswelt umfassend verändern wird.
Viele Routinetätigkeiten werden automa-
tisiert – nicht nur in der Fabrik, auch im
Büro. Die deutschen Banken werden bis
2030 schätzungsweise fast die Hälfte ihrer
Filialen schließen. Auch in der öffent-
lichen Verwaltung wird rationalisiert.
»Die Anträge, die der Bürger heute noch
an unseren Schreibtischen abgibt, stellt
Tesla-Chef Musk mit Elektro-Pick-up in Hawthorne, Kalifornien, am 21. November: Deutsche Erfolgsbranchen fallen zurück
er dann per Internet«, sagt der Neu-Ul-
mer OB.
Einige Berufe werden verschwinden,
andere neu entstehen. Selbst bei beschleu-
nigter Digitalisierung werden bis 2030
nach IAB-Prognose in Deutschland unge-
fähr so viele Jobs wegfallen wie geschaf-
fen: ungefähr 2,7 Millionen.
Zudem werden sich Berufsbilder wan-
deln, Mitarbeiter müssen ständig dazuler-
nen. Der Staat sollte hier umfassend finan-
ziell fördern und beraten, sagt IAB-Mann
Weber. Die Weiterbildung umzusetzen sei
aber vor allem Sache der Betriebe.
Wie ein solches Modell aussehen kann,
zeigt Siemens in Tübingen. Anfang 2017
stand das Getriebemotorenwerk mit 600
Mitarbeitern vor dem Aus, die Produktion
rechnete sich nicht, Siemens wollte sie
nach Tschechien verlagern. Der Betriebs-
rat regte ein Konzept an, wie das Werk
modernisiert werden könnte. Das kostet
Stellen, hilft aber, den Standort zu sichern.
Tübingen gilt heute als digitales Vorzei-
gewerk. Rund 13 Millionen Euro hat der
Konzern investiert, davon 750 000 Euro
in die Weiterbildung. Ein ehemaliger La-
ckierermeister arbeitet jetzt als Simula-
tionsexperte. Für ihn hat sich nicht nur
die Arbeit verändert: Er verdient mehr.
MEDIZIN
Algorithmen
gegen den Krebs
Alle zwei Jahre treten Wissenschaftsteams
aus aller Welt gegeneinander an und fin-
den heraus, wie sie am besten die Struktur
von Proteinen ermitteln können. Proteine
sind die Grundbausteine der Biologie für
unsere Muskeln und Organe. Was Protei-
ne genau machen, hängt mit ihrer jewei-
ligen Form bis in jedes einzelne Atom
zusammen.
Entsprechend versuchen Forscher schon
lange, genau zu verstehen, wie sich Pro-
teine bis ins kleinste Detail zusammen-
setzen, damit sie mehr über den mensch-
lichen Körper verstehen.
Die Fortschritte waren klein, im vergan-
genen Jahr hat sich das geändert. Google
nahm erstmals an dem Wettbewerb teil.
Und gewann aus dem Stand. Eine künstli-
che Intelligenz, gefüttert mit genetischen
Daten, konnte die Struktur von Proteinen
deutlich besser modellieren als alle Wis-
senschaftler.
Solche Durchbrüche häufen sich. Gen-
therapien kann eine Form der Erblindung
Y FREDERIC J. BROWN / AFP / GETTY IMAGES
57
aufhalten. Im Labor gezüchtete Immun-
zellen bekämpfen Tumoren. Von künstli-
cher Intelligenz unterstützte Systeme er-
kennen manchen Hautkrebs, prognosti-
zieren Nierenversagen und entdecken
Herzprobleme teils früher als der Arzt.
Der Fortschritt basiert vor allem auf
der Bioinformatik: Biologie und digita-
le Technologie wachsen zusammen. Je-
den Tag wird es leichter, riesige Daten-
mengen auszuwerten, die bislang un-
zugänglich oder zu kompliziert waren:
Erbgutinformationen, Proteinstrukturen,
Blutwerte.
Es entwickelt sich eine Datenmedizin,
angetrieben von künstlicher Intelligenz.
Diese Revolution wird in den Zwanzi-
gerjahren Fahrt aufnehmen und bis 2030
die Medizin in vielen Aspekten verändern,
mit innovativen Diagnosetechniken und
gentechnischen Therapeutika. Auch mit
einem neuen Verhältnis zum Arzt, der sich
in vielen Schritten von Algorithmen bera-
ten lassen wird. Er wird häufig der Maschi-
ne die Arbeit überlassen können, etwa das
Auswerten von Röntgenaufnahmen. Da-
durch kann er sich mehr Zeit für den Pa-
tienten nehmen, so lautet zumindest das
Versprechen.
Im Zentrum dieser Entwicklung steht
die Diagnose und Therapie von Krebs.
Viele Formen der Krankheit sind heute
schon behandelbar, manche heilbar, so-
lange sie früh genug erkannt werden. Erst
wenn die Patienten bereits im fortgeschrit-
tenen Stadium in die Klinik kommen,
steigt die Sterblichkeitsrate deutlich an.
Im Blut lassen sich Hinweise auf Krebs
früher feststellen als durch andere kör-
perliche Anzeichen. Mitunter lassen sich
Verdachtsmomente für die Erkrankung
finden, wenn der Patient sich noch kern-
gesund fühlt.
Solche Bluttests werden zum zentralen
Instrument der Krebsfrüherkennung. Ent-
decken die neuen Verfahren auch nur 20
Prozent aller Tumoren so früh, dass sie
behandelt werden können, hätte dies ei-
nen größeren Effekt als viele Therapien,
die in späteren Stadien zum Einsatz
kommen, sagt der Amerikaner Bert Vo-
gelstein, einer der führenden Onkologen
der Welt.
Vogelstein hat für seine Krebsforschung
viele Preise gewonnen, auch er konzen-
triert sich auf Bluttests. Viel wichtiger,
als alle Tumoren zu finden, sagen die
Forscher, sei es, fehlerhafte Ergebnisse zu
vermeiden, also Krebs zu diagnostizieren,
obwohl keine Erkrankung vorliegt. Das
würde zu Überbehandlungen führen und
Patienten emotional schwer belasten. In
vielen Studien sollen die neuen Früher-
kennungsinstrumente weiter verbessert
werden, bevor sie zum Einsatz kommen.
Bis 2030, so hoffen die Forscher, sei man
so weit.
58
ENERGIE dem neuen »Haus der Zukünfte« in Berlin,
listet auf 22 Seiten haarklein 66 Projekte
Angst vor der auf, darunter der »Ausbau von Radwegen«
oder »Humusaufbau im Ackerland«. Es ist
Dunkelflaute eine Liste beliebiger, zuweilen sogar frag-
würdiger Maßnahmen.
An Silvester 2022 könnte ein konflikt- Ein Beispiel: Die Höhe der Kfz-Steuer
reiches Kapitel bundesdeutscher Geschich- soll sich künftig bei Neuwagen nicht mehr
te zu Ende gehen. Dann sollen die drei nach dem Hubraum richten, sondern nur
letzten Atommeiler abgeschaltet sein, 65 noch nach der Menge der CO2-Emissio-
Jahre nach Inbetriebnahme des ersten For- nen. Egal bliebe, ob ein Auto viel gefahren
schungsreaktors in Garching. Und manche wird oder in der Garage steht. Besser wäre
werden gespannt aufs Wetter schauen. es gewesen, als Anreiz zum CO2-Vermei-
Wird es danach kalt, grau und windstill den die Mineralölsteuer zu erhöhen. Doch
zugleich, und bleibt es über zwei Wochen wer in Berlin traut sich, etwas derart Un-
so, könnte diese Dunkelflaute dem Ener- populäres durchzusetzen?
giesystem Grenzen aufzeigen. Die Unter- Dem Programm fehlt die Systematik.
nehmensberater von McKinsey unken, es Vor allem wird die Chance versäumt, ei-
könne düster werden, wenn Atomkraft nen einheitlichen und spürbaren CO2-
und Kohle als Energielieferanten wegfallen Preis für alle Sektoren durchzusetzen: im
Verkehr, beim Heizen, für Gebäude, in der
Industrie oder der Landwirtschaft.
Zwar ist die Große Koalition von ihrer
Ursprungsidee abgerückt, den Zertifikate-
handel für Verkehr und Wärme bei nur
65 €*
zehn Euro je Tonne zu beginnen. Nun soll
der Einstiegspreis für 2021 bei 25 Euro lie-
130 € **
gen, dann bis 2025 schrittweise auf 55
Euro steigen und danach sich zwischen 55
und 65 Euro bewegen. Doch auch der kor-
rigierte Fahrplan ist weniger ambitioniert,
Mehr Kohle als die Wissenschaft fordert. Die Forscher
für CO2 vom Potsdam-Institut für Klimafolgenfor-
Preis für eine Tonne schung schlagen zum Einstieg 50 Euro vor,
emittiertes bis Ende des Jahrzehnts sollte das Niveau
Kohlendioxid, bei 130 Euro liegen.
2030 Wie eine wirkliche Energiewende aus-
sehen könnte, haben Wissenschaftler der
PAU L L A N G RO C K / Z E N I T / L A I F
* Höchstbetrag laut
Klimapakt der Bundes- Initiative »Energiesysteme der Zukunft«
regierung (ESYS) skizziert. Deutschland werde in Zu-
** Berechnung:
Potsdam-
kunft deutlich mehr Strom benötigen: für
Institut für Autos, die batteriebetrieben sind, für Häu-
Klimafolgen-
forschung ser, die mit Wärmepumpen beheizt wer-
den, oder auch für Stahlwerke, die kein
Kohlendioxid mehr ausstoßen sollen.
Dazu müsse das Land laut ESYS-Schät-
zung bis 2050 fünf- bis siebenmal so viele
und nicht genügend Ersatz da sei. Es sei Sonnen- und Windstromanlagen wie heu-
»vor allem mit Blick auf 2023 akuter Hand- te errichten und die Netze ausbauen. Und
lungsbedarf geboten«, schreiben sie in ei- es werde doppelt so viele Gaskraftwerke
ner Studie. Geschehe nichts, könnten von wie heute benötigen, um die Versorgung
Mitte des Jahrzehnts an »erste Engpässe zu sichern: auch dann, wenn eine Dunkel-
auftreten, die sich bis 2030 verschärfen«. flaute das Land lahmzulegen droht.
Schon im vorigen Sommer kam es im Netz
zu kritischen Situationen.
Seit Jahren verfolgen die Berater, wie U N T E R H A LT U N G
es um die Energiewende steht, ihre jüngste
Studie klingt beunruhigend. Deutschland
drohe nicht nur ein Versorgungsproblem,
James Dean
es verfehle auch den Großteil seiner Kli- lebt wieder
maziele. Gehe es so zäh weiter wie bisher,
werde der für 2030 geplante Emissions- Wenn Lukas Majoski seine schwarze Da-
rückgang erst 16 Jahre später erreicht. tenbrille absetzt, kommen ihm seine Glied-
Untätigkeit kann man der Bundesregie- maßen manchmal fremd vor. Dann be-
rung indes nicht vorwerfen. Ihr Klimapa- rührt er sein Knie mit der rechten Hand-
ket für die nächsten zehn Jahre, im Herbst fläche und ist sich für ein paar Sekunden
passenderweise im Futurium vorgestellt, unsicher, was er da gerade fühlt.
 Titel

Ist es die Hand eines uniformierten Sol-
daten, die eben noch mit Schrotflinten
auf Zombiehorden schoss? Oder ist es
doch seine eigene? »In der virtuellen Rea-
lität fühlst du alles«, sagt Majoski: das
Adrenalin, das Gewicht der Waffe, den
neuen Körper – und die fremden Glieder
nach dem Kampf. Für Majoski sind sie ein
Beweis dafür, dass er seine Sache gut
macht.
Auf einer 100-Quadratmeter-Fläche in
Berlin-Mitte erschafft der 23-Jährige vir-
tuelle Freizeitparks in Form von antiken
Tempeln und Schützengräben. Ausgestat-
tet mit Sensoren, Kopfhörern, Plastikwaf-
fen und PC-Rucksäcken bewegen sich
Gruppen von bis zu vier Spielern durch
den leeren Raum. Das Mobiliar entsteht
in der VR-Brille, ein rund 50-minütiger
Ausflug in eine fremde Realität.
In den nächsten Jahren will Majoski
in ganz Deutschland derartige »Arenen«
aufbauen. »Das ist die Zukunft«, sagt er.
»Echte und virtuelle Welt werden ver-
sie schon immer eine personalisierte Play-
list, Fernsehen schon immer eine Abfolge
von automatisch startenden Clips, und
Nachrichten waren schon immer eine per-
sönlich zusammengestellte Timeline.
Was wirklich populär ist, wissen nur
die Unternehmen selbst. Netflix ver-
öffentlicht keine Quoten und Spotify
keine Singlecharts, in ihre Statis-
tiken haben nur die Firmen selbst
Einsicht. Zugleich haben sie das
größte Interesse daran, ihre
Zahlen zu verheimlichen oder
gleich ganz zu verfälschen.
Neue soziale Netzwerke
kommen in den nächsten
zehn Jahren aus China.
Dort achten automati-
sierte Zensoren darauf,
dass die Unterhaltung
federleicht und unpoli-
tisch bleibt.
Wenn die vergan- Saubere Luft
genen zehn Jahre E-Autos in Deutschland,
Prognose

M A RT I N M E I N E R S
schmelzen.« als Zeit der großen
Und diese Zukunft hat schon begonnen. Content-Explosion
Im kommenden Jahr wird ein 1955 ver- in Erinnerung blei-
storbener Schauspieler die Hauptrolle in ben, so werden die 2030:
einem Kriegsfilm spielen, posthum gecas- nächsten zehn Jah-
tet und als Hologramm reanimiert. Er
habe lange nach einem geeigneten Darstel-
ler gesucht, sagte Regisseur Anton Ernst,
»dann entschieden wir uns für James
re die Dekade der
Kuratoren. Derzeit
stellt YouTube pro
Minute 500 Stun-
10 000 000
Dean«. Bis 2029, prognostiziert das US- den neues Video-
Portal »Vulture«, könnten Bette Davis material ins Netz,
und Humphrey Bogart ebenfalls digital in wenigen Jahren
auferstehen. wird sich die Zahl
Algorithmen und künstliche Intelligenz verdoppeln.
erschaffen synthetische Inhalte, nicht nur Was uns belustigt,
Filmdarsteller, auch Charthits oder Bücher. zum Weinen bringt
Die Zuschauer, Hörer, Leser werden sich oder auf die Straße,
daran gewöhnen, nicht hundertprozentig entscheidet die unsicht-
zu wissen, ob sie gerade ein Mensch oder bare Hand des Kurators,
eine Maschine unterhält. Vielleicht wird geführt von Google, dem
es uns egal sein. mächtigsten Unternehmen
Die Digitalisierung verändert das We- der Welt.
sen der Unterhaltung, in welchem Tempo,
zeigt der Blick zurück: Vor zehn Jahren VERKEHR
gab es weder Instagram noch Snapchat.
Spotify öffnete hierzulande 2012 den
Zugang zum nahezu kompletten Musikka-
Ende der
talog. Netflix und Amazon Prime Video Stauquälerei
starteten vor fünf Jahren in Deutschland.
Die Zahl der Smartphonenutzer lag bei Walter Casazza ist Chef der Augsburger
8,4 Millionen, heute sind es 57 Millionen. Stadtwerke. Die Frage, wie man am besten
Zur Mitte der Dekade werden 55 Pro- von A nach B kommt, ist sein Lebensthema.
zent der Westeuropäer einen 5G-Handy- Sein Vater war Straßenbahnfahrer in
vertrag besitzen, prognostiziert der Mo- Innsbruck, er selbst studierte Elektrotech-
bilfunkriese Ericsson. Das Downloadvolu- nik in Graz und promovierte zum The-
men soll dann im Schnitt auf 36 Gigabyte ma »Anschlussoptimierung in Fahrplan-
pro Nutzer und Monat steigen, das ent- netzen«. Jetzt will Casazza den öffentli-
spricht rund zehn Spielfilmen in HD-Qua- chen Verkehr in Augsburg von Grund auf
lität. Solche Datenströme wollen gefüllt reformieren. Im November führte er dort 2020:
werden – und natürlich aufbereitet. Deutschlands erste Mobilitätsflatrate ein.
Im Jahr 2029 wird eine Generation er-
wachsen, die das Internet nicht ohne ord-
nende Algorithmen kennt. Musik war für

DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

An einem weißen Aktenschrank in sei-
nem Büro klebt eine Karte Augsburgs,
durchzogen von blauen Linien, dem Bus- 220 000 59

E-Sport-Wettkampf in Malmö: »Echte und virtuelle Welt werden verschmelzen«
und Bahnnetz. Sie führen bis in die Rand-
gebiete, doch Casazza genügt das nicht.
»Wir wollen den öffentlichen Verkehr so
stark ergänzen, dass die Menschen kein ei-
genes Auto mehr brauchen«, sagt er.
Für 79 Euro pro Monat können Fahr-
gäste in Augsburg neuerdings unbegrenzt
Bus, Straßenbahn und Leihrad fahren, au-
ßerdem sind für bis zu 15 Stunden Autos
der städtischen Carsharing-Flotte verfüg-
bar. Alles lässt sich per App auswählen
und bezahlen, der Wechsel zwischen den
Verkehrsmitteln soll vereinfacht, das eige-
ne Fahrzeug überflüssig werden.
Es ist ein erster Versuch, eine Insellö-
sung in einer von 2058 Städten in Deutsch-
land. Doch die Augsburger Initiative zeigt,
wie radikal sich das Denken der Verkehrs-
planer ändert. Fast alle größeren Kommu-
nen kämpfen mit überfüllten Straßen, Luft-
verschmutzung und Parkplatznot. Einige
wollen deshalb ihre Zentren vom Autover-
kehr befreien.
Die Unternehmensberater von McKin-
sey sprechen vom »zweiten Wendepunkt«
in der Mobilität, der bis zum Jahr 2030
erreicht werde. Die Veränderungen sind
der Prognose zufolge ähnlich tiefgreifend
60
Titel
wie vor hundert Jahren, als das individuell
genutzte Automobil die Städte eroberte.
Bis 2030 werden sich flächendeckend Mo-
bilitätsdienste und autonome Fahrzeuge
durchsetzen.
Mehr als die Hälfte ihrer Milliardenum-
sätze, so McKinsey, werde die Auto- und
Mobilitätsbranche dann in solchen Ge-
schäftsfeldern erwirtschaften. Bisher ma-
chen neue Fahrdienste weniger als zwei
Prozent der Gesamterlöse aus.
Großstädte im Ausland haben bereits
damit begonnen, das Auto aus den Innen-
städten zu verbannen. In London wird
eine Citymaut von bis zu 28 Euro pro Tag
erhoben, in Amsterdam kostet Straßenpar-
ken pro Stunde 7,50 Euro, in Oslo wurden
etwa 700 Parkplätze ersatzlos gestrichen,
an Werktagen darf niemand länger als
zwei Stunden im Zentrum parken.
Deutsche Städte agierten bislang eher
träge, doch das ändert sich. In Hannover,
Stammsitz der VW-Sparte der Nutzfahr-
zeuge und des Zulieferers Continental,
plant Oberbürgermeister Belit Onay (Grü-
ne) ein autofreies Zentrum. Auch Stuttgart,
Heimat von Bosch, Daimler und Porsche,
will die City bis 2030 von Autos befreien.
PETTER ARVIDSON / IMAGO IMAGES
»Der öffentliche Parkraum wird seine
Legitimation verlieren«, sagt der Verkehrs-
forscher Andreas Knie vom Wissenschafts-
zentrum Berlin. »In der Stadt der Zukunft
wird es keinen Platz für private Verkehrs-
mittel mehr geben«. Die einzigen Autos,
die 2030 noch durch die Städte rollen, wer-
den aus seiner Sicht die Fahrzeuge von
Handwerkern, Ärzten oder Lieferanten
sein. Hinzu kommen Busse, Taxis und
neue Fahrdienste. Ein ausgebauter öffent-
licher Verkehr, verknüpft mit modernen
Mobilitätsdiensten, werde die Städter
»von Haustür zu Haustür« bringen.
Solche Pläne gibt es auch in Augsburg,
Stadtwerkechef Casazza will die letzten
Lücken in seinem Verkehrsplan bald schlie-
ßen. Er denkt an den Einsatz von Elektro-
Bikes und -Rollern oder einen neuen Ruf-
taxi-Service (»Ride-Pooling«), der je nach
Nachfrage flexible Routen fährt. Casazza
will Autofahrer dauerhaft zum Umsteigen
motivieren.
Ein Anreiz: Vom 1. Januar an bieten die
Stadtwerke innerhalb der Cityzone Bus-
und Tramfahrten zum Nulltarif an. Vom
Hauptbahnhof in die Innenstadt etwa fährt
man in Augsburg künftig kostenlos.
 D E M O K R AT I E
Ein Kanzler
von der AfD?
Zu Beginn der Achtzigerjahre war es un-
vorstellbar, dass am Ende des Jahrzehnts
der Eiserne Vorhang fallen würde. Zu Be-
ginn der Nullerjahre war es unvorstellbar,
dass Terroristen das World Trade Center
zum Einsturz bringen könnten. Zu Beginn
der Zehnerjahre war es unvorstellbar, dass
Donald Trump zum Präsidenten der Ver-
einigten Staaten gewählt werden würde
und die Briten die EU verlassen könnten.
In mindestens drei von vier Fällen ver-
liefen die vergangenen Jahrzehnte über-
raschend. Das heißt, wer die großen poli-
tischen Themen der kommenden Zwanzi-
gerjahre vorhersagen möchte, müsste nach
dem Unvorstellbaren suchen. Ein Bürger-
krieg in den USA. Ein Bundeskanzler von
der AfD. Oder noch wilder: die Vereinig-
ten Staaten von Europa als Ökodiktatur
unter der Führung von Greta Thunberg.
Man kann herumfantasieren, und man
kann halbwegs realistisch spekulieren, in-
dem man die politischen Linien der Zeh-
nerjahre weiterzieht. Letzteres soll hier
passieren.
Am Ende des kommenden Jahrzehnts
könnte der Begriff »Westen« seinen Glanz
eingebüßt haben. Vielleicht wird er vor al-
lem historisch konnotiert sein: Früher, als
noch der Westen die Welt dominierte ...
Denn der Westen wird weiter unter
Stress gesetzt, von innen wie von außen.
Die liberalen Demokratien, die dessen
Kern bilden, müssen den Klimawandel be-
wältigen, und da sie zu spät und zu
schwach begonnen haben, werden sie ihre
Politik forcieren müssen.
Daher werden die Bürger sowohl den
Klimawandel als auch die Lasten der Kli-
mapolitik stärker zu spüren bekommen.
Die Frage wird sein, wie bereit sie sind,
diese Lasten zu tragen. Die Rechtspopu-
listen werden ihnen erzählen, dass dies
überflüssig, dass der Klimawandel wenig
mit dem Menschen zu tun habe. Es könnte
sein, dass viele das gern hören.
Der Klimawandel wird zugleich neue
Flüchtlingsströme auslösen, was ebenfalls
die AfD begünstigt. Damit werden die li-
beralen Demokratien zu kämpfen haben:
einerseits mehr Flüchtlinge durch den Kli-
mawandel, andererseits mehr Widerstand
gegen eine Klimapolitik, die das Leben
teurer macht. Es ist also wenig wahrschein-
lich, dass die Rechtspopulisten aus den Par-
lamenten verschwinden werden, eher wer-
den sie ihre Stimmenanteile vergrößern.
Dies schwächt auch den Zusammenhalt
zwischen den Staaten des Westens. Er ist
eine Wertegemeinschaft, geteilte Überzeu-
gungen halten ihn im Wesentlichen zusam-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
men – Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat,
Gewaltenteilung, Menschenrechte. Sie
sind das Fundament der westlichen Bünd-
nisse, eindeutig bei der Europäischen
Union, leicht eingeschränkt bei der Nato.
Schon jetzt sind Polen oder Ungarn
nicht mehr ganz und gar Teil dieser Wer-
tegemeinschaft. Donald Trump sowieso
nicht. Würde Matteo Salvini Minister-
präsident in Rom werden, könnte sogar
Italien die Wertegemeinschaft verlassen.
Die EU wäre tief gespalten und könnte
nicht mehr als ein Bündnis des Westens
gezählt werden.
Traurige Aussichten. Zumal das kom-
mende Jahrzehnt noch mehr als das
vergangene ein Jahrzehnt Chinas wer-
den dürfte. Das Land wird wohl noch
selbstbewusster Politik machen, auch
Weltpolitik.
Internet
der Dinge
Anzahl vernetzter
Geräte, weltweit 500
Quelle: Cisco;
*Prognose
Mrd.
2020:
30
WO L F G A N G R AT TAY / R E U T E R S
Mrd.
Wer wissen will, was kommen könnte,
sollte 2500 Jahre zurückschauen. Damals
scharte das vergleichsweise demokratische
Athen im Attischen Seebund andere Klein-
staaten um sich und exportierte seine De-
mokratievorstellungen. Das autoritär re-
gierte Sparta verbündete sich hingegen
eher mit ähnlich verfassten Gemeinwesen.
So könnte auch eine Konstellation der
Zwanzigerjahre aussehen. Im alten Grie-
chenland endete sie im Peloponnesischen
Krieg 404 vor Christus mit einer Nieder-
lage Athens.
Einen großen Krieg wird es wohl nicht
geben. China hat smartere Methoden, den
Westen zu schwächen oder zu beeinflus-
sen. Es wird weiterhin versuchen, strate-
gisch wichtige Unternehmen zu kaufen
oder Drehscheiben zu übernehmen wie
den Hafen von Piräus. Es wird weiterhin
versuchen, die schwächeren Staaten in
Europa wirtschaftlich von sich abhängig
zu machen – Griechenland, Ungarn, Nord-
mazedonien, Albanien.
Es sei denn, es finden sich hierzulande
Politiker, die sich kümmern, auch um die
soziale Gerechtigkeit, damit die Gesell-
schaften nicht auseinanderfallen. Selbst im
Westen sind die Bürger nicht mehr selbst-
verständlich liberale Demokraten, sie müs-
sen umworben werden durch ausgleichen-
de Politik.
Da die USA auch nach Trump nicht
mehr die westliche Führungsmacht im al-
ten Sinne sein werden, muss die EU en-
ger zusammenrücken und sich in die Lage
versetzen, sich selbst zu verteidigen. Wahr-
scheinlich muss man dafür mit einem
liberalen Kerneuropa beginnen, das die
anderen Staaten nach und nach einbindet,
soweit sie die geforderten Standards er-
füllen. So könnte es klappen, Europa zu
stärken, ohne sich allein auf Greta Thun-
berg zu verlassen.
2030:*
COMPUTER
Der Chip
im Gehirn
Facebook investiert so viel in neue Tech-
nologien, dass es nicht weiter auffällt,
wenn der Silicon-Valley-Riese mal wieder
ein Start-up kauft. Im September war es
anders. Facebook zahlte mehr als 500 Mil-
lionen Dollar für eine fast unbekannte Fir-
ma aus New York namens CTRL-labs. Die
Gründer forschen daran, wie Mensch und
Maschine direkt über Gehirnwellen mitei-
nander kommunizieren können. Ein Coup.
Es ist nicht der erste Ausflug von Face-
book in die Welt einer völlig neuen Mensch-
Maschine-Interaktion. Die Konzerninge-
nieure kooperieren schon länger mit Neu-
rologen, um einen Weg zu finden, mit
Lichtsignalen – etwa Laser oder LED –
neuronale Signale zu lesen, die von der
Hirnrinde ausgehen.
Sie haben das Ziel, Sprachsignale aus
dem Gehirn zu erkennen, die mit einer
Geschwindigkeit von hundert Wörtern pro
Minute direkt in Text umgewandelt wer-
den. »Wir wollen diese Signale auffangen,
kurz bevor man sie ausspricht, sodass man
sie nicht mehr laut sagen muss«, so Mark
Chevillet, einer der Forscher.
Für die Neurowissenschaft wäre dies
ein Meilenstein für das Verständnis der
Gehirnfunktionen, das sich therapeutisch
einsetzen ließe, etwa für Querschnitts-
gelähmte. Für Facebook wäre es ein riesi-
ges Geschäftsfeld, eine neue Methode der
Kommunikation.
Facebook ist mit solchen Ideen nicht al-
lein. Kommunikation ist der Kern des In-
61
ternets, alle Anwendungen basieren da-
rauf, wie Informationen digital ausge-
tauscht werden: zwischen Menschen, aber
auch zwischen Maschinen. Im kommen-
den Jahrzehnt werden die großen Tech-
Konzerne massiv investieren, diese Kom-
munikation noch direkter und effektiver
zu machen. Und auf diese Weise neue An-
wendungen schaffen, die das Smartphone
alt aussehen lassen können.
Elon Musk etwa gründete Neuralink, er
investierte rund hundert Millionen Dollar.
Das Projekt verfolgt das Ziel, ein Gehirn-
modem zu bauen, um Mensch und Ma-
schine miteinander zu verbinden. Selbst
mit dem Computer zu sprechen sei zu lang-
sam und ungenau, argumentiert Musk, der
einzig richtige Weg sei die direkte Verdrah-
tung, ein Implantat im Gehirn. Nur so kön-
ne sich der Mensch mit der künstlichen
Intelligenz vereinen und dadurch die eige-
ne steigern, nur so ließe sich ein klügerer,
effizienterer und auch körperlich besserer
Menschen schaffen. Erste Tests mit dem
Gehirnchip sollen schon 2020 beginnen.
Das klingt futuristisch, aber Mensch und
Maschine verstehen sich schon heute er-
staunlich gut. Maschinenassistenten wie
Amazons Alexa reagieren auf Sprachbe-
fehle. Als Nächstes wird die Unterhaltung
folgen, ein direktes Hin-und-her mit der
Maschine. Alexa soll schon in der ersten
Hälfte der Zwanzigerjahre zu einer Art all-
gegenwärtigem Begleiter werden.
Die Maschine soll die Wünsche ihres
Nutzers erkennen. Wer Kinokarten be-
stellt, wird gefragt, ob er ein Taxi braucht
und eine Restaurantreservierung. So er-
klärt es Amazons Alexa-Chefwissenschaft-
ler Rohit Prasad. Die Dauerkommunika-
tion soll das Leben ihrer Nutzer organi-
sieren – oder es orchestrieren.
Aber je mehr die Maschinen untereinan-
der und mit den Menschen vernetzt sind,
desto größer werden auch die Gefahren,
wenn Menschen dieses Netz sabotieren.
Cybercrime und Hackerangriffe werden
aller Voraussicht nach deutlich zunehmen.
Der Abwehrkampf wird teuer, aber unver-
meidlich. Im Herbst vergab das Pentagon
einen Auftrag über zehn Milliarden Dollar
an Microsoft, damit der Konzern künftig
die Daten des US-Verteidigungsministe-
riums sichert.
IMMOBILIEN
Immer enger,
immer teurer
Der Kleine Grasbrook ist eine verlotterte
Insel im Hamburger Hafen. Früher stand
hier mal das Überseezentrum, einst größ-
ter Sammel- und Verteilerschuppen der
Welt. Jetzt wuchert das Gestrüpp, am Ufer
62
wartet ein Angler darauf, dass ein Zander
anbeißt.
Wie es auf der Elbinsel bald aussehen
soll, hat der Angler vor Augen, wenn er
über den Fluss nach Norden schaut. Dort
drehen sich hohe Kräne, sie stehen neben
Rohbau-Gerippen. Auch auf dem Kleinen
Grasbrook wird in den Zwanzigerjahren
gebaut, 3000 Wohnungen sollen es wer-
den, ein ganzes Stadtviertel entsteht.
In Hamburg wird es enger, jährlich kom-
men etwa 20 000 Bürger dazu. 2030 könn-
te die Zwei-Millionen-Marke geknackt
sein, schätzt der Senat der Stadt. Aktuell
sind es rund 1,8 Millionen Einwohner.
In den sieben größten Städten Deutsch-
lands – Hamburg steht hinter Berlin auf
Platz zwei – werden bis Ende des Jahr-
zehnts eine Million Menschen mehr leben
Wohnungsnot
Bedarf an zusätzlichen Wohnungen 2030:
1 000 000
davon
340 000
in den sieben größten Städten
Hamburg
Berlin
Düsseldorf
Köln
Schätzung:
Frankfurt a. M. Schularick u. a.,
Universität Bonn
Stuttgart
München
als heute. Aber 340 000 Wohnungen feh-
len, so die Prognose eines Teams um den
Ökonomen Moritz Schularick (siehe Inter-
view Seite 76). In ganz Deutschland ergebe
sich bis 2030 eine Lücke von einer Million
Wohnungen, wenn weiter so wenig wie bis-
her gebaut werde. Der Wissenschaftler be-
fürchtet, dass sich die Wohnungsnot zu-
spitzt, das Konfliktpotenzial wächst.
Das Profil der Bewohner wird sich laut
dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
Raumforschung (BBSR) in den nächsten
zehn Jahren deutlich verändern. Sie wer-
den älter, die Haushalte umfassen zudem
weniger Mitglieder als früher. Drüber hi-
naus schrumpft die Zahl der Drei- oder
Mehrpersonenhaushalte, dagegen wächst
die Zahl der Wohnungen, in denen nur
eine Person lebt. Wenn ein Partner stirbt,
zieht die Witwe oder der Witwer nicht un-
bedingt um und verkleinert sich. Das be-
deutet: Der Durchschnittsdeutsche wird
auf mehr Quadratmetern wohnen.
Das BBSR prognostiziert auch, dass sich
die regionalen Unterschiede in Deutsch-
land verstärken. »Wohnungsleerstände
werden künftig zunehmen, vor allem in
schrumpfenden ländlichen Räumen und
in strukturschwachen Städten und Ge-
meinden«, so die Forscher.
Anders in den Metropolen: Solange die
Nachfrage schneller als das Angebot steigt
und die Zinsen niedrig bleiben, wird sich
am Preisanstieg dort nicht viel ändern. Das
Internetportal Immowelt.de hat für die
14 größten Städte Deutschlands die Preis-
entwicklung bis 2030 geschätzt. Spitzen-
reiter ist Hannover, dort soll der Kaufpreis
für eine Eigentumswohnung um 62 Pro-
zent steigen. Selbst in München, Deutsch-
lands teuerster Stadt, wo 2018 der Qua-
dratmeter in Schnitt bereits 7110 Euro kos-
tete, soll es weitere 60 Prozent aufwärts
gehen: auf ein Niveau von 11 380 Euro.
Deutschland steht vor einem Dilemma.
In den Städten wird es immer enger und
voller, die Älteren leben in zu großen Woh-
nungen. Abseits der Metropolen gäbe es
genügend Platz – nur dort wollen die we-
nigsten hin.
Immerhin sind die Mieten bislang nicht
so stark gestiegen wie die Kaufpreise.
Neue Mietverträge haben sich in zehn Jah-
ren im Schnitt um 20 Prozent verteuert,
die Preise für Eigentumswohnungen hin-
gegen sind um 74 Prozent in die Höhe
geschossen. Das kann bedeuten, dass die
Eigentümer Nachholbedarf haben – keine
beruhigende Perspektive für Mieter.
K A P I TA L M Ä R K T E
Rückkehr
der Inflation
An der Schwelle zum neuen Jahrzehnt rät-
seln Finanzexperten, was die Weltwirt-
schaft in den Zwanzigern aus der Bahn wer-
fen könnte; ein weiteres Aufheizen der
amerikanisch-chinesischen Rivalität und
der ökonomische Zusammenbruch Italiens
(und damit der Eurozone) werden oft ge-
nannt. Solche Szenarien sind Futter für
die derzeit so beliebten Crashpropheten,
aber letztlich hochspekulativ.
Besser kalkulieren lässt sich, was aus
den bereits sichtbaren tektonischen Ver-
schiebungen langfristig folgt. Aus De-Glo-
balisierung, Kapitalismuskritik, Schulden-
bergen, aus der Alterung der Gesellschaft,
der Rückkehr des Staates als Investor, dem
Aufstieg von Populisten. Und da ja immer
alles mit allem zusammenhängt, prognos-
tizieren erste Ökonomen bereits, was die
finanzpolitische Folge all dessen sein wird:
die Rückkehr der Inflation.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Händler an Chicagoer Börse nach Lehman-Pleite am 15. September 2008: Bedrohliches Szenario
Noch ist die Welt eine andere. Es wird
global mehr gespart als investiert, Infla-
tionsraten und Zinsen sind ultraniedrig.
Doch ein Bündel an Faktoren spricht dafür,
dass sich das in der nächsten Dekade än-
dern wird. So wird es erstmals in der Ge-
schichte der Menschheit absehbar mehr
Menschen über 65 Jahre als Kinder unter
5 Jahren geben; auch China altert rapide.
Die voraussichtliche Konsequenz: Die
Löhne werden steigen, weil die Verhand-
lungsmacht derer, die noch arbeiten, steigt.
Zudem könnte der Rückgang der Glo-
balisierung die Preise nach oben treiben.
Die internationale Arbeitsteilung war jahr-
zehntelang verantwortlich dafür, dass die
Inflationsraten niedrig blieben. Dieser
Trend verlangsamt sich. Der Welthandel
wuchs 2019 schwächer als das globale
Bruttoinlandsprodukt (BIP) – was bedeu-
tet, dass die Mehrproduktion größtenteils
im Herkunftsland blieb. Ein Phänomen,
das gewöhnlich nur während einer Re-
zession auftaucht, die es aber gerade nicht
gibt. Augenfälligstes Beispiel dafür ist die
Wachstumslokomotive USA. Das Land
Titel
wird erstmals seit 170 Jahren eine Dekade
ohne Wirtschaftskrise beenden.
Immer mehr Staaten betreiben natio-
nale Industriepolitik und schützen ihre
»Champions« vor Übernahmen durch aus-
ländische Konkurrenten – allen voran die
USA und China. Dank Automatisierung
und künstlicher Intelligenz nimmt zudem
die Abhängigkeit von Niedriglohnländern
ab; die Produktion kehrt dorthin zurück,
wo die Verbraucher sind. Viele Regierun-
gen sind bereit, soziale Wohltaten und
Ausgabenprogramme unters Wahlvolk zu
bringen, um die Härten der Globalisie-
rung abzumildern – ein Ansatz, der rechte
wie linke Politiker eint. Dabei sind die
öffentlichen Schulden bereits auf Rekord-
höhen, wie die Deutsche Bank heraus-
streicht. Im Verhältnis zum BIP liegen sie
weltweit bei 319 Prozent.
Schuldenmachen war lange problemlos,
weil die Kapitalmarktzinsen extrem nied-
rig sind. Steigen sie aus den beschriebe-
nen Gründen, kann es brenzlig werden.
So fürchten die Volkswirte der Bank of
America unter anderem, dass in den Zwan-
JOHN GRESS / REUTERS
zigerjahren die Anleiheblase platzen könn-
te, sobald »die Ära der niedrigsten Zinsen
in den vergangenen 5000 Jahren im kom-
menden Jahrzehnt zu Ende geht«.
Das ist ein bedrohliches Szenario. Wenn
die Zinsen von Anleihen steigen, fallen de-
ren Kurse – und wer viele Anleihen hält,
muss den Wert der Papiere in der Bilanz
nach unten korrigieren. Das betrifft allen
voran die Versicherer und Pensionskassen
mit ihren billionenschweren Anlagen.
Bevor es so weit kommt, könnten An-
leihebesitzer die Flucht ergreifen. Sie könn-
ten ihre leidenden Bestände verkaufen,
was deren Wert weiter nach unten drücken
und die Kapitalmarktzinsen nach oben
treiben würde. Die Konsequenz wäre ein
Crash am Anleihemarkt mit verheerenden
Folgen für die Weltwirtschaft. Das wäre
wieder Stoff für Crashpropheten – wenn
auch für ganz andere als die heutigen.
Tim Bartz, Florian Diekmann, Simon Hage,
Alexander Jung, Dirk Kurbjuweit,
Anton Rainer, Cornelia Schmergal,
Thomas Schulz, Robin Wille
63
Volker Kutscher
Als die
Vergangenheit
noch Zukunft war
Essay Ein Versuch über gestern und heute, Weimar
und Berlin und die Wiederholbarkeit der Geschichte
D
ie Zwanziger sind zurück. Eine Dekade feiert
Wiederauferstehung. Charlestonpartys mit mehr
oder weniger strengem Dresscode haben Kon-
junktur, Varietéabende, Stummfilmvorstellungen,
Stadtführungen – das Geschäft mit der Vergangenheit
brummt, die nostalgische Zuwendung zu einem Jahr-
zehnt, das fasziniert wie kaum ein anderes. Warum? Viel-
leicht, weil die Zwanziger so viele Verheißungen brachten
und dann so tragisch endeten, so abrupt, so brutal, so
blutig. Und daher mit einem gewissen Grusel verbunden
sind, einem Grusel, wie er sich auch beim Lesen von
Kriminalromanen einstellt: einer Republik beim Sterben
und ihren Mördern beim Morden zuzusehen. Und das
alles aus sicherem Abstand heraus, denn wir leben heute
doch in einer stabilen Demokratie, oder?
Oder eben auch nicht. Die Unsicherheiten nehmen zu
und damit auch die Fragen: Werden die neuen Zwanziger
wie die alten Zwanziger? Wird sich Geschichte wieder-
holen? Das Erstarken der extremen Rechten, die seit Jah-
ren schwelende und längst nicht überwundene Wirtschafts-
krise, die Unberechenbarkeit, was die Zukunft wohl
bringen mag – das alles scheint schon einmal da gewesen
zu sein. Doch Geschichte wiederholt sich nicht, mögen
die Parallelen auch zahlreich sein.
Die Umwälzungen von 1989 nach dem Fall des Eiser-
nen Vorhangs haben unsere Welt ähnlich stark durch-
gerüttelt wie die von 1918 nach dem
verlorenen Krieg; die Zeiten sind
wieder unübersichtlicher und schnell-
lebiger geworden, die Zukunft un-
bestimmter, und das schürt Ängste.
Rechtspopulistische Politiker bieten
einfache Rezepte für komplexe
Probleme an, schüren den Hass auf
Minderheiten und stoßen damit
auf große Resonanz, die liberale
Demokratie genießt in weiten Krei-
sen keine Wertschätzung mehr.
Das mag auch ein Grund dafür sein,
dass die heutigen Zeiten nicht
Kutscher, 58, ist bekannt weniger vergnügungssüchtig sind,
für Kriminalromane um als die Zwanziger es waren: In
die Figur des Kommissars Zeiten von Ungewissheit und Pessi-
Gereon Rath. Der erste mismus blüht der Eskapismus.
Band diente als Vorlage Die Zwanziger. Ein einziges Wort
für den TV-Serien-Erfolg reicht, und schon wirft der innere
»Babylon Berlin«. Projektor Bilder an die Wand: Frauen
64
mit Bubikopf, Männer mit Fedorahut, Revuegirls, Neon-
reklamen, die sich im nassen Asphalt der Großstadt spie-
geln. Aber auch: bettelnde Kriegskrüppel, Waschkörbe
voller Banknoten, Schlangen vor den Arbeitsämtern,
Straßenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten.
Und mit den Bildern kommen die Schlagworte: die
Goldenen Zwanziger, die wilden Zwanziger, der Tanz auf
dem Vulkan.
Die Zeitgenossen, die das Jahrzehnt erlebten, hätten
für solche Attribute ein müdes Lächeln übrig gehabt. Die
Zwanziger waren nicht nur golden, sie waren nicht nur
wild. Und ein Tanz auf dem Vulkan? Aus heutiger Sicht
vielleicht, aber die Menschen damals wussten nichts
von dem Vulkan, auf dem sie tanzten. Sie wussten nichts
von der Wirtschaftskrise, mit der ihr Jahrzehnt enden
würde, sie ahnten nichts vom Ende der Republik, und
noch weniger ahnten sie, dass ausgerechnet die Nazis das
Machtvakuum füllen und die Demokratie durch eine bar-
barische Diktatur ersetzen würden, mit der sich Deutsch-
land für Jahre außerhalb der zivilisierten Welt stellen
sollte und Millionen Tote zu verantworten haben würde.
Die wenigen, die es sich überhaupt leisten konnten mit-
zutanzen – die also über genügend Kleingeld verfügten
oder sich aushalten ließen, als Gigolo, als kunstseidenes
Mädchen –, die tanzten nicht, weil sie wussten, was kam;
sie tanzten, weil sie dies eben nicht wussten, weil sie das
Elend und die Unsicherheit ihrer Gegenwart wegtanzen
wollten, weil sie den allgegenwärtigen verlorenen Krieg
vergessen wollten, weil sie ihrem Alltag und den Sorgen
um eine vor allem als ungewiss empfundene Zukunft für
eine Weile entkommen wollten.
Die Epoche ist uns in vielen Aspekten total nah und
dann auch wieder unendlich fern. In den Zwanzigern
brach sich das moderne Leben mit all seinen Annehm-
lichkeiten Bahn, mit den technischen Errungenschaften,
die den Alltag leichter machten: Waschmaschine, Kühl-
schrank, Telefon, Automobil, Radio, Staubsauger, Platten-
spieler. Längst nicht für jeden erschwinglich, aber bereits
dabei, in den Alltag einzudringen und diesen zu ver-
ändern. Worte wie »Freizeit« und »Wochenende« tauchten
im Duden und im Bewusstsein der Menschen auf und
verlangten, mit Inhalt gefüllt zu werden. Die Zwanziger
reichen, was das Weltverständnis des modernen Men-
schen angeht, weit in die Gegenwart hinein.
Anderes hingegen ist uns mindestens so weit entfernt
wie das Mittelalter. Das unbeschreibliche Elend der
armen Leute zum Beispiel – nicht nur derer, die arbeitslos
waren, auch derer, die Arbeit hatten. Oder der in Fleisch
und Blut übergegangene Militarismus, der wie so vieles
das Kaiserreich überlebt hatte. Patriotismus war Main-
stream, sogar Sozialdemokraten zeigten vaterländische
Gesinnung – was sie nicht davor bewahrte, in den
Augen der extremen Rechten für immer vaterlandslose
Gesellen zu bleiben.
Wer die Epoche verstehen will, sollte sich in die Men-
schen hineinversetzen, die sie erlebt haben. Was der
Fiktion besser gelingt als der Geschichtswissenschaft –
weil sie mit dem Mittel der Empathie arbeitet: Die Romane
der Neuen Sachlichkeit, die Bücher von Irmgard Keun,
Gabriele Tergit, Alfred Döblin, Erich Kästner, Hans Fallada,
sie können mehr zum Verständnis beitragen als die harten
Fakten der Historiker. Weil diese Romane aus ihrer Zeit
herausschauen, weil sie noch nicht wissen, wie tragisch
die Zwanziger enden sollten.
Für die Menschen damals war nicht die kommende
Katastrophe die prägende (wie auch?), sondern die, die
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Titel
Festgesellschaft in den Zwanzigerjahren
man gerade überstanden hatte: der Weltkrieg, von dem
niemand ahnte, dass man ihn in wenigen Jahren würde
nummerieren müssen.
Die alten Zwanziger wurden aus der Krise geboren, aus
einem verlorenen Krieg und einer auf halbem Wege ste-
cken gebliebenen Revolution. Das dominierende Lebens-
gefühl der ersten Jahre? Angst und Misstrauen, der Ver-
lust jeglicher Gewissheit. Das Kaiserreich, das alte, mor-
sche, ist in jenen Jahren weg, und die wenigsten trauern
ihm nach – aber ist das, was ihm folgt, die Republik, das
Richtige? Oder nicht eher das, was in Russland passiert,
die Sowjetrepublik? Oder das, was Mussolini und seine
Faschisten in Italien versuchen? Das, was die Völkischen
rund um diesen Hitler in Deutschland predigen?
J
eglicher Fesseln entledigt, explodiert das Nacht-
leben, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Technik
treiben enorme Blüten, Gesellschaft und Sexualität
erfahren eine noch nie da gewesene Liberalisierung.
Von all den vielen Umwälzungen jedoch, die die Zwan-
zigerjahre den Deutschen bringen, ist eine die entschei-
dende: die parlamentarische Demokratie. Weil ohne sie
die vielen anderen gar nicht denkbar wären.
Die Menschen aber misstrauen der Republik, die sich erst
noch zu bewähren hat, sie misstrauen dem Ausland,
das nach dem verlorenen Krieg immer noch als feindlich
empfunden wird und als Besatzungsmacht an Rhein
und Ruhr präsent ist, und schon bald können sie – nach der
galoppierenden Inflation – nicht einmal mehr dem eigenen
Fotos: Getty Images, Waechter/ CARO, ULLSTEIN BILD
Sparbuch trauen. Alles ist entwertet, das Geld wie die
moralischen und politischen Gewissheiten. Nichts ist mehr
sicher, aber vieles ist möglich, die Deutschen genießen
mehr Freiheiten als jemals zuvor, eine Tatsache, die viele
eher ängstigt als erfreut. Frauen erhalten 1918 erstmals das
Wahlrecht; Berufsfelder, die ihnen früher versperrt waren,
stehen ihnen jetzt offen. Die Kurzhaarmode, die die alten
Zöpfe des Kaiserreichs abschneidet, spiegelt dieses neue
Selbstbewusstsein. Es gehört Mut dazu, als Frau in den
Zwanzigern ein selbstbestimmtes und emanzipiertes Leben
zu führen, die theoretischen Freiheiten auch in der Praxis
zu leben, aber es ist möglich, zumal in den großen Städten.
Die Zwanziger sind vor allem ein Berliner Jahrzehnt.
Im Fahrwasser der neuen Freiheiten blüht das Nachtleben
wie in keiner anderen Metropole. Außerdem ist es (ver-
glichen mit Paris oder London) billig in Berlin, das lockt
Vergnügungstouristen von überallher in die Reichshaupt-
stadt. Noch so eine Parallele zur heutigen Zeit.
Die Hauptstadt ist das Experimentierfeld für die
Moderne. Kunst und Kultur toben sich in einer unbändi-
gen Lust am Neuen aus; Brecht, Piscator und Reinhardt
revolutionieren das Theater; Behrens, Mendelsohn und
Mies van der Rohe die Architektur; Babelsberg erhebt
den Film zu einer Kunstform; in Malerei und Literatur
drückt die Neue Sachlichkeit der Zeit ihren Stempel auf.
Mag der Grundstock für all dies schon vor dem Krieg
gelegt worden sein – ausbrechen kann die Moderne erst
jetzt, befreit von den alten Fesseln.
Nach den schwierigen Anfangsjahren mit ihren politi-
schen Morden, den Putschversuchen hat die Weimarer
65
 Titel
Republik ihre guten Jahre. Die
Stresemann-Jahre, denen die
Zwanziger das Attribut »golden«
verdanken. Mithilfe ameri-
kanischen Geldes geht es eine
Weile wirtschaftlich bergauf,
dieser Aufschwung stabilisiert
die Republik.
Es scheint, als bewege sich
Deutschland endlich in ruhige-
rem Fahrwasser. Die Menschen
haben, wenn auch noch von
einem Rest Misstrauen befallen,
ihren Frieden geschlossen mit der
Demokratie. Sie erscheint ihnen Szene aus »Babylon Berlin«
wider Erwarten das zu ermög-
lichen, nach dem sie sich sehnen: Geschichte lässt uns die
ein normales, ruhiges Leben –
genug zu essen, ein Dach über Gegenwart klarer sehen.
dem Kopf, eine Familie.
Und dann kommt die Welt-
wirtschaftskrise, kommt die
Deflation, kommt die Massenarbeitslosigkeit, ist das Ende
der ersten deutschen Republik mit dem Ende der Dekade
so gut wie eingeläutet. Auch nach 1929 hätte noch vieles
anders kommen können, die Mehrheit der Menschen
in Deutschland aber wendet sich erst von der Demokratie
ab und legt dann ihren Wunsch nach einem normalen,
ruhigen Leben ausgerechnet in die Hände der Nazis.
Und so bekam sie ihn erfüllt: mit jener monströs ekligen
Mischung aus Spießertraum und Jägerzaun, Uniform und
Stacheldraht, für die das NS-Regime nun einmal steht.
Das schlimmstmögliche Ende einer hoffnungsvollen Epo-
che, für die (zu wenigen) Deutschen, die sich eine andere
Zukunft erträumt hatten.
Dass es so kommen würde, war nicht vorherbestimmt.
Und dieses Ende war auch nicht unausweichlich. Es war
aufhaltsam, um ein schönes Brecht-Wort zu benutzen.
Was mich am meisten daran stört, wenn heutzutage all-
zu plumpe Vergleiche mit den Zwanzigern angestellt
werden: Dieses Raunen hat etwas zutiefst Fatalistisches
und Resignatives. Als wäre es ohnehin zu spät, als wäre
die Bundesrepublik nun eben auf demselben Weg wie vor
90 Jahren die Weimarer Republik.
U
nd das ist Blödsinn. Geschichte wiederholt sich
nicht. Das mag eine Binsenweisheit sein, gleich-
wohl ist es eine, die man nicht oft genug wieder-
holen kann. Wir leben nicht in Weimarer Verhält-
nissen. Allein wirtschaftlich geht es der deutschen Gesell-
schaft des Jahres 2019 unvorstellbar viel besser als der des
Jahres 1929. Unter welch elenden Bedingungen eine Arbei-
terfamilie damals hausen musste – ganz zu schweigen von
den Arbeitslosen –, ist für uns heute kaum noch vorstellbar.
Wenn in den Zwanzigerjahren von Krise geredet wur-
de, geschah dies meist, um die Republik zu diskreditieren.
Wir sollten aufpassen, dass wir mit unserem Gerede heu-
te, mit dem Reden von Weimarer Verhältnissen, nicht das
heraufbeschwören, was es eigentlich zu verhindern gilt.
Natürlich leben wir in schwierigen Zeiten. Demokratie,
Freiheit, Rechtsstaat sind bedroht. Nicht nur von rechts,
auch von Islamisten, von Autokraten in aller Welt, von
einem entfesselten Kapitalismus (der, wie das Beispiel
China zeigt, keinen demokratischen Rechtsstaat braucht,
um zu gedeihen) und wer weiß, von was sonst noch.
66
Wer die Zwanzigerjahre ledig-
lich von ihrem Ende her sieht,
der sieht sie falsch. So brutal die-
se verheißungsvolle Dekade
abgewürgt wurde, so weit reicht
ihr Vermächtnis in die Gegen-
wart. Die bundesdeutsche
Demokratie wäre nicht vorstell-
bar ohne ihren Vorläufer in den
Zwanzigern. Wenn also Verglei-
che mit Weimar unbedingt sein
müssen, sollten wir daran den-
ARD / SKY
ken, an die Errungenschaften.
Und sollten sie verteidigen, mit
Zähnen und Klauen, wenn es
sein muss. Und nicht wie das
Kaninchen vor der Schlange sit-
zen und mit dem Geraune von
Weimarer Verhältnissen den
Untergang heraufbeschwören.
Geschichte wiederholt sich
nicht, aber sie lässt uns die
Gegenwart klarer sehen. Wenn uns die Zwanzigerjahre
und das Scheitern der ersten deutschen Republik eines
lehren, dann, wie fragil solch eine Demokratie doch ist.
Auch die bundesdeutsche, vermeintlich so stabile.
Viele Dinge, die wir heute als selbstverständlich hin-
nehmen – unsere Demokratie und die damit verbunde-
nen Freiheiten, den Rechtsstaat und die damit verbunde-
ne Sicherheit vor Willkür –, all das sind, und das dürfen
wir nie vergessen, keine Selbstverständlichkeiten, son-
dern Errungenschaften, errungen von Menschen in der
Vergangenheit, die dafür gekämpft und dies nicht selten
mit ihrem Leben bezahlt haben.
Auch im »Dritten Reich«. Viele Widerstandskämpfer,
die den Naziterror überlebten, haben fest daran geglaubt,
ihre Leiden seien nicht umsonst gewesen, haben gedacht,
der Faschismus habe sich im »Dritten Reich« selbst diskre-
ditiert, auf dass nach diesen katastrophalen Erfahrungen
nie wieder ein vernünftig denkender Mensch auf die Idee
kommen könne, dies sei die ideale Form menschlichen
Zusammenlebens. Sie werden eines Schlechteren belehrt.
Die grassierende Geschichtsvergessenheit unserer Tage
lässt Unsagbares wieder gesagt, Undenkbares wieder
gedacht werden. In einer Partei wie der AfD, ursprünglich
als neoliberale Anti-Euro-Partei gestartet, haben rechts-
extreme Politiker und Politikerinnen immer mehr Einfluss
gewonnen und Gedanken und Worte reanimiert, die man
längst auf dem Müllhaufen der Geschichte wähnte. Und
diese Partei wird trotz (oder wegen?) der Rassisten und
Faschisten in ihren Reihen in die deutschen Parlamente
gewählt, mit wachsenden Stimmenanteilen.
Weimarer Verhältnisse also auch in den Parlamenten,
im Sinne von: keine stabilen Mehrheiten mehr, viel mehr
Parteien als noch vor wenigen Jahren, Regierungsbildun-
gen werden immer schwieriger und vertrackter.
Na und?
Dass es schwieriger wird, dass man sich in der Politik
(und im Alltag) mit Rassisten auseinandersetzen muss,
bedeutet nicht gleich das Ende der Demokratie. Geschich-
te wiederholt sich nicht, und das ist gut so. Die Zukunft ist
offen. Es liegt an uns allen, wie sie aussehen wird.
Die Weimarer Republik trug ihr Scheitern nicht von
Anfang an in sich, sie musste nicht zwangsläufig in die
Nazidiktatur münden. Dass sie es dennoch tat, sollte uns
zu denken geben. I
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Egal, wie Sie ihn tragen,
Hauptsache, Sie haben ihn:

Den Organspendeausweis!
Informieren, entscheiden, ausfüllen.

www.organspende-info.de
 Wirtschaft

»Projekt Focus«
Handel Der österreichische Immobilienmogul René Benko will Karstadt und Kaufhof fusionieren
und zeigen, dass ihm die Rettung der siechen Unternehmen gelingt. Doch seine Pläne sind
Hunderte Millionen Euro teurer als gedacht – und haben mit Kaufhäusern nicht mehr viel zu tun.

R
ené Benko ist gerade auf Deutsch-
landtour. Es ist eine Reise durch
sein neues Reich, die Waren-
häuser von Karstadt und Galeria
Kaufhof, die dem Österreicher seit diesem
Sommer komplett gehören. Er war in Es-
sen, Düsseldorf und Köln, in Frankfurt am
Main und in München. Er fragte nach der
Mitarbeiterzahl, nach Umsatz und Rendite
und erkundigte sich bei Verkäuferinnen,
ob die Arbeit Spaß mache. In Aachen, wo
Mitarbeiter aus Angst vor der Zukunft ge-
rade ihre Jobs kündigen, lobte Benko die
»schöne Filiale« und deren »Potenzial«.
Benko interessiert sich, zeigt Verständ-
nis. Darin ist er geübt. Er gibt seinem
Gegenüber das Gefühl, für ihn der Wich-
tigste zu sein. Benkos Ver-
mögen wird auf knapp fünf
Milliarden Euro geschätzt, Absteigender Ast
erwirtschaftet durch den Umsatzentwicklung,
in Milliarden Euro
Handel mit Immobilien. Er
trägt eine wuchtige Uhr,
manchmal begleiten ihn 3,1
Leibwächter. Dennoch haf-
tet ihm nichts Protziges an.
Er wirkt nahbar, fast jungen-
haft. Erst nach einer Weile
merkt man, dass viel von
dem Lob, das er äußert,
Selbstlob ist. So wie Anfang
November in Berlin.
Vor 200 Unternehmern
sprach Benko dort über sei-
ne Fantasie für Karstadt und
Kaufhof, es klang wie ein
Glaubensbekenntnis. »Wir 2010
glauben zu 1000 Prozent an
die Zukunft der Innenstäd-
te«, sagte er. »Wir glauben 3,3
an die Zukunft des stationä-
ren Handels in Innenstädten,
wir glauben auch an die
Zukunft der Warenhäuser.«
Und: »Was wir machen, ma-
chen wir groß.«
Benko redete über die Galeria Kaufhof
rund 140 Jahre Geschichte
der beiden Unternehmen
und dann vor allem über
sich, wie er Karstadt und
Kaufhof vor der Insolvenz
rettete. Im Januar will er die
beiden Kaufhausketten zur 2010
Galeria Karstadt Kaufhof Quelle: EHI Retail Institute
verschmelzen, einem Konzern mit 254 Fi-
lialen und 25 600 Mitarbeitern.
Was Benko vorhat, ist in der Tat groß.
Größer jedenfalls als das Budget, das er
eingeplant hatte. Rund 300 Millionen Euro
habe er investieren wollen, berichten Ein-
geweihte. Bis Ende kommenden Jahres wird
er weit mehr ausgeben müssen: 700 Millio-
nen Euro. Und das nur, um das Geschäft
am Laufen zu halten. Weitergehende Inves-
titionen sind da nicht einmal eingepreist.
Es ist nicht nur die gebeutelte Kaufhof-
Kette, die Probleme bereitet. Die Firma Kar-
stadt, an der Firmenchef Stephan Fanderl,
einer von Benkos besten Männern, seit im-
merhin fünf Jahren herumsaniert, schreibt
unerwartet hohe Verluste, wie vertrauliche
Firmenunterlagen belegen.
Mit seinem Sparprogramm, in-
tern »Projekt Focus« genannt,
kann Fanderl die Kosten gar
nicht so schnell drücken, wie
der Umsatz sinkt. Für 2020
erwartet das Management für
die verschmolzene Galeria
Karstadt Kaufhof ein Minus
von 111 Millionen Euro. Hat
2,1 sich Benko überschätzt?
Auch Peter Zysik ist zur-
Karstadt zeit auf Deutschlandtour.
Der Gesamtbetriebsratschef
hat in den vergangenen Mo-
naten 64 Kaufhof-Filialen
– 32,3 % besucht. Auf seinen Reisen
gegenüber
2010 sieht er Mitarbeiter weinen.
Weil sie Angst haben vor
2018 dem, was sie erwartet. Dabei
arbeiten sie schon jetzt viel
mehr als früher, weil sie we-
niger Leute sind. 2600 Jobs
sind weggefallen, allein beim
bisherigen Kaufhof.
2,5 Zysik ist seit 36 Jahren da-
bei. Früher als Radioverkäu-
fer, später als Betriebsrat. Sei-
ne Frau hat er bei Kaufhof
kennengelernt. Es waren gute
Jahre. Man fühlte sich bei
Kaufhof wertgeschätzt, und
man wusste, wo der Gegner
– 24,2 % stand. Karstadt war der ein-
gegenüber
2010 zig ernst zu nehmende Ri-
vale. Dass die beiden nun ge-
2018 meinsame Sache machen sol-
len, wirkt auf Zysik, als wolle
man Borussia Dortmund und Schalke in
einer Spielgemeinschaft zwangsvereinen.
Jahrzehntelang galt: Kaufhof war im-
mer etwas schicker als Karstadt, auch wirt-
schaftlich erfolgreicher. Bis vor drei Jahren,
als der kanadische Konzern HBC Kaufhof
übernahm. Der brachte in Deutschland un-
bekannte US-Marken in die Läden und fi-
nanzierte die Übernahme zum Teil, indem
er Kaufhof überzogene Mieten für die Fi-
lialen abverlangte. Es war das Ende einer
Erfolgsgeschichte. Das Ende von Kaufhof.
Anfang des Jahres wurden die Mitarbei-
ter der Kölner Zentrale im Regen auf den
Innenhof gerufen. Der neue Konzernchef
Fanderl eröffnete ihnen – trocken unter
einem Dach stehend –, dass der Standort
in wenigen Monaten dichtgemacht werde.
Karstadts Stammsitz in Essen werde die
neue Konzernzentrale. Immerhin soll es
dort ein kleines Kaufhof-Museum geben.
Fanderl genießt das Vertrauen des
42-jährigen René Benko. Der hat in nur
20 Jahren Österreichs größtes Immobilien-
imperium geschaffen: die Signa Holding.
Er kauft vernachlässigte Häuser, motzt sie
auf und holt finanzstarke Mieter herein.
So hat er es schon mit Dachböden ge-
macht, die er in jungen Jahren Hauseigen-
tümern abschwatzte und zu teuren Pent-
house-Wohnungen umbaute. Für Nostal-
gie ist in Benkos Projekten kein Platz. Das
erfahren nun auch die Mitarbeiter von
Kaufhof, denen nach und nach das Kon-
zept von Karstadt übergestülpt wird.
Der Service leidet. Wer online bestellte
Ware in den Filialen abholen will, kann
sie dort nicht mehr wie zuvor bezahlen,
das lässt das neue Computersystem nicht
zu. Die Bewertungen im neuen, gemein-
samen Onlineshop Galeria.de sind desa-
strös. Von Benkos Wunschvorstellungen
ist das alles weit entfernt.
Er schwärmt davon, Onlineshop und Lä-
den zu verbinden. Im Idealfall könnte das
so aussehen: Der Kunde, der sich im La-
den einen Pulli ansehen will, wird von sei-
nem Smartphone zum passenden Regal
geführt. Bezahlt werden muss nicht mehr
an der Kasse, sondern über eine App. Wer
an einer Filiale vorbeigeht, bekommt Ra-
battaktionen aufs Handy gespielt.
Benkos Schwärmereien hält Gerrit Hei-
nemann für Quatsch. »Das ist Gesichts-
wahrung. Mehr auch nicht«, sagt der Wirt-

68

Investor Benko mit Ehefrau im KaDeWe in Berlin: »Was wir machen, machen wir groß«
schaftswissenschaftler und ehemalige
Kaufhof-Manager. »Allein für nennens-
werte Onlineumsätze brauchte es weit grö-
ßere Investitionen. Wenn sie das richtig
machen wollten, müssten sie eher eine Mil-
liardensumme in die Hand nehmen.«
Galeria Karstadt Kaufhof plant mit weit
weniger. Erst einmal muss der neue Kon-
zern aus den roten Zahlen. Insgesamt sol-
len dafür 378 Millionen Euro eingespart
werden, indem Zentralen, Logistik, Ein-
kauf und Verkauf zusammen-
gelegt werden. Allein die Mit-
arbeiter sollten 50 Millionen
Kauf
22 %
Euro zu den Einsparungen
beisteuern, so der ursprüng-
liche Plan, etwa durch Ver-
zicht auf Urlaubs- und Weih- der Karstadt- und
nachtsgeld. Bei Verhandlun- Kaufhof-Kunden
gen mit der Gewerkschaft wanderten
Ver.di konnte Konzernchef allein 2018 in den
Fanderl im Dezember jedoch Onlinehandel ab.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Karstadt machte 2017 zwar den ersten Ge-
winn seit zwölf Jahren, rutschte dann je-
doch wieder in die roten Zahlen.
Dieses Jahr lag der Verlust bei 78 Mil-
lionen Euro. In einem Aufsichtsratspapier
heißt es, »die belastende Marktentwick-
lung« schlage sich »in unerwarteten Um-
satzrückgängen« nieder. Die Filialen und
das Onlinegeschäft verdienten nach vor-
läufigen Berechnungen operativ nur 29 Mil-
lionen Euro, das ist nicht einmal halb so
viel wie geplant. Das magere Plus wurde
unter anderem von Beraterkosten und Ab-
schreibungen wieder aufgefressen.
Bei Kaufhof sieht es noch schlimmer aus.
Zwischen Februar und September 2019
musste Benko dort 204 Millionen Euro zu-
schießen, damit das Unternehmen über-
lebt. Ein Nettoverlust von 194 Millionen
Euro war aufgelaufen. In dem internen Be-
richt ist die Rede von »bestandsgefährden-
den Dimensionen«. Schuld daran war auch
hier das operative Geschäft in den Filialen,
das aufs Gesamtjahr hochgerechnet noch
vier Millionen Euro Gewinn abwarf, zwei
Drittel weniger als im Jahr zuvor.
Klar ist damit: Die Fusion allein wird
beiden Häusern nicht helfen. »Aus zwei
Kranken wird noch kein Gesunder«, sagt
Ex-Manager Heinemann.
Doch Benko und seine Leute haben
schon eine Strategie für den Großkonzern.
Bei seinem Auftritt in Berlin sprach Benko
noch vage von »neuen Geschäftsmodel-
DANIEL HINZ / AGENCY PEOPLE IMAGE
len«, von einem »gewissen Erlebnis, das
im stationären Handel mehr und mehr ge-
boten werden muss«. Tatsächlich sind sei-
ne Ideen längst konkreter.
Schon jetzt vermieten Karstadt und
Kaufhof Flächen an Aldi, dm, Apollo Op-
tik oder die französische Kosmetikkette
Sephora. Künftig sollen weitere Händler
in die Häuser einziehen. Im Karstadt-Ge-
bäude am Berliner Kurfürstendamm sollen
Coworking-Arbeitsplätze und eine Kita
nur rund 24 Millionen Euro durchsetzen. entstehen. Das garantiert Einnahmen
Ein kleiner Sieg für die Angestellten. Ihre ohne hohe eigene Kosten, denn die Mitar-
Wut auf Eigentümer Benko wächst den- beiter dort wären nicht mehr bei Karstadt
noch. Dass er mit einem Partner im März und Kaufhof angestellt.
134 Millionen Euro ausgab, um das Chrys- Was Benko vorschwebt, ist nicht das Wa-
ler-Building in New York zu kaufen, kam renhaus der Zukunft, sondern das Shop-
bei ihnen nicht gut an. pingcenter der Gegenwart, bloß ein biss-
Ohne Benko aber, das gehört zur Wahr- chen aufgepeppt. Von Karstadt und Kauf-
heit, gäbe es Kaufhof gar nicht mehr. Das hof bliebe kaum mehr als die Hülle übrig.
sagt selbst Zysik. Für Karstadt gilt dasselbe. Für Benko ist es egal, woher seine Einnah-
Der einstige Mutterkonzern Arcandor hat- men kommen. Solange seine Immobilien
te die Kaufhauskette mit in vermietet sind, werfen sie Geld ab. Die Mit-
per Klick die Insolvenz gerissen. Kunst-
mäzen Nicolas Berggruen
arbeiter hingegen fragen sich, was aus ihnen
wird, wenn vom eigenen Verkaufsgeschäft
übernahm Karstadt 2010 für kaum noch etwas übrig bleibt.
einen Euro, investierte aber Benko versteht die Aufregung nicht. Bei
kaum. Die Sanierung misslang. seinem Auftritt in Berlin erzählte er stolz,
Daraufhin stieg Benko ein, dass es ihm und seinen Leuten »extrem
mit großen Ambitionen. Ob gut gelingt, die Mitarbeiter von der Zu-
die Karstadt-Sanierung aber kunft zu begeistern«.
zur Blaupause für Kaufhof Kristina Gnirke, Alexander Kühn
taugt, bezweifeln Experten.
69
 SHIHO FUKADA / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
Maskottchen bei einer TikTok-Veranstaltung in Tokio: Broschüren für besorgte Eltern

Schwierige Pubertät
Start-ups Die Video-App TikTok ist der neue Star unter den sozialen Medien. Die Nutzerzahlen
sind riesig, die Probleme auch. Bis zum Börsengang muss die Firma schnell erwachsen werden.

A
n einem Dezemberabend in
Hamburg will TikTok beweisen,
dass es schon richtig seriös ist.
Die Video-App aus China, von
der Menschen über 30 kaum mehr als den
Namen kennen, hat zu einem »Digital
Wellbeing«-Event geladen, zu einem
Abend für digitales Wohlbefinden. Es gibt
Sekt, Häppchen und Broschüren für be-
sorgte Eltern. Sprecherinnen erzählen mit
großen Augen vom »kulturellen Verständ-
nis«, das TikTok für seine Nutzer in aller
Welt habe. Ein an die Wand projiziertes
Video zeigt glückliche Menschen in glück-
lichen Posen. Alles ist auf eine Botschaft aus-
gerichtet: Schaut her, wir sind harmlos!
Blickt man lediglich auf die Zahlen, hät-
te TikTok ein solches Schauspiel gar nicht
nötig. 2019 war für die chinesische App
ein Rekordjahr: Sagenhafte 800 Millionen
Menschen benutzen TikTok mittlerweile
im Monat, davon 5,5 Millionen in Deutsch-
land. TikTok wächst schneller als jedes
andere soziale Netzwerk. Bei Kindern und
Jugendlichen ist keine App cooler. TikTok
hat mehr aktive Nutzer pro Monat als
Twitter und Snapchat zusammen.
Und seine chinesische Mutterfirma,
ByteDance, gilt mit 78 Milliarden
Dollar als das höchstbewertete
Start-up weltweit.
Der Erfolg ist schwer zu erklä-
25 Münzen
ren. TikTok macht aus der Banalität
des Alltags ein Massenmedium, unter-
legt mit Musik und bunten Effekten. Wer
TikTok startet, wischt sich durch 15-Sekun-
den-Videos von tanzenden Teenagern,
durch Pausenhof- und Pärchensketche.
Hier empfiehlt ein bibeltreuer Christ Jesus
als Einschlafhilfe, dort nimmt eine junge
Frau vor einer Kakerlake Reißaus. Einer
der erfolgreichsten Clips des Jahres 2019
zeigt, wie ein Swimmingpool aufgeschnit-
ten wird und ausläuft.
TikTok ist manchmal peinlich, manch-
mal unterhaltsam, oft verführerisch, oft
auch langweilig. Das nächste Video
ist immer nur einen Wisch entfernt.
Und die Menge der Clips schier
unendlich.
Während auf der Plattform die
gute Laune regiert, wurde es jen-
seits der Handyscreens für TikTok
in den vergangenen Monaten ungemüt-
lich. Für das Image des Netzwerks war das
Jahr katastrophal.
Amerikanische Behörden haben eine
Sicherheitsprüfung der App eingeleitet, an-
geblich aus Sorge, dass China TikTok zu
Spionagezwecken missbrauchen könne. In

70 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019


Indien wurde die App für mehrere Tage
gesperrt, wegen des Verdachts auf Förde-
rung sittenwidriger Inhalte. Die US-Han-
delsaufsicht FTC verdonnerte die von Tik-
Tok aufgekaufte Vorgänger-App Musical.ly
zu einer 5,7-Millionen-Dollar-Strafzah-
lung, weil diese illegal persönliche Daten
von Kindern unter 13 Jahren gesammelt
hatte.
Es gab Zensurvorwürfe und den Ver-
dacht, dass Menschen mit Behinderungen
in der App diskriminiert, ihre Videos sys-
tematisch versteckt werden. Und in
Deutschland warnte die Bundes-
prüfstelle für jugendgefährdende
Medien kürzlich vor »Missbrauchs-
motivierten«, die durch die »se-
xualisierte Selbstdarstellung« jun-
ger Nutzerinnen und Nutzer ange- 5 Münzen
lockt werden.
TikTok, so scheint es, ist nicht bloß ein
Medium für die Pubertät, die Firma selbst
tut sich schwer mit dem Erwachsenwerden.
Auf dem TikTok-Event in Hamburg
heißt es auf der Bühne, man sei in den ver-
gangenen Wochen »sehr stark durch die
Medien gegangen«. Das ist diplomatisch
für: Wir stehen gerade mitten im Shitstorm
– schön, dass ihr trotzdem da seid.
Für das Unternehmen kommt die Auf-
regung zu einem denkbar schlechten Zeit-
punkt. Im nächsten Jahr will die Mutter-
firma ByteDance an die Börse gehen,
schlechte Nachrichten schaden da nur. In-
vestoren fragen sich zudem, wie TikTok
je in einem Maße Geld verdienen will, das
zu seiner Größe passt.
Beides, der öffentliche Ärger und die
Frage nach dem Profit, hängen bei TikTok
eng zusammen. 2017 kaufte ByteDance
die Musik-App Musical.ly, um sie ein Jahr
später mit TikTok zu fusionieren. Die neue
App sollte groß werden, Nutzer anziehen,
sexy sein und authentischer als die eta-
blierten Netzwerke. Und so unkompliziert,
dass selbst Kinder damit klarkommen. Da-
bei half, dass zwei Drittel der Musical.ly-
Nutzer Teenager waren.
Offiziell ist TikTok erst für Nutzer ab
13 Jahren gedacht. Doch Videos gucken
kann man auch ganz ohne Anmeldung
und Altersangabe. Laut einer Umfrage
nutzt in Deutschland bereits rund ein
Viertel der 10- bis 13-Jährigen die App.
Das Unternehmen steckt in einem Di-
lemma: Aus Minderjährigen Kapital zu
schlagen ist schwer, sie haben meist keine
eigene Kreditkarte und sind für die Werbe-
industrie nur bedingt interessant. Stattdes-
sen sorgt die Zielgruppe ständig für neuen
Ärger mit Jugendschützern. TikTok will
und muss also schleunigst an die Erwach-
senen heran, in »werberelevante Ziel-
gruppen« vorstoßen, Anzeigenkunden an-
locken.
Zwar betreibt ByteDance in seiner Hei-
mat bereits mehrere erfolgreiche Apps,
Wirtschaft
darunter das chinesische TikTok-Pendant
Douyin und den populären Nachrichten-
aggregator Jinri Toutiao. Diese sorgten für
den Großteil des Umsatzes von geschätzt
über sieben Milliarden Dollar im ersten
Halbjahr 2019, das meiste stammt aus Wer-
bung. Das Geschäft im Westen aber trägt
bisher kaum Geld ein.
Wer wissen will, wie die Stars aussehen,
mit denen TikTok künftig Geld verdienen
will, kann Florian Freudenberg besuchen,
einen Rewe-Filialleiter aus der Nähe von
Hannover. Freudenberg, 31, ist auf
TikTok unter dem Namen »flo-
cos_life« bekannt und erreicht als
solcher ein Millionenpublikum.
Mit seinen Clips, einem Mix aus
mittellustigen Blödeleien und op-
tischen Tricks, hat er in einem Jahr
rund 400 000 Follower gesammelt.
Manche Videos nimmt Freudenberg in
seiner Rewe-Filiale auf. In einem Clip stellt
er seine lächelnden Mitarbeiter vor, dreht
sich auf seinem Bürostuhl im Kreis und be-
zeichnet sich als »bekloppten Marktleiter«.
Alles sympathisch selbstironisch und ma-
ximal bedeutungslos. Der Clip wurde
mehr als 670 000-mal angeschaut und er-
hielt über 100 000 Likes.
TikToker wie er sind, so absurd das klingt,
für die Plattform eine große Hoffnung. Denn
Freudenberg ist so unpolitisch, dass kein Är-
ger droht, das mögen potenzielle Werbekun-
den. Er sieht wesentlich jünger aus, als er
ist – das wiederum macht ihn für das junge
bis sehr junge TikTok-Publikum nahbar. Ne-
ben anderen TikTokern und Rewe-Mitarbei-
Neue Nummer eins
Top-Social-Media-Apps* weltweit,
jährliche Downloadzahlen in Millionen
800
711
600 659
Facebook
423
400
265
200 Instagram
Quelle: Sensor Tower
Snapchat
TikTok
0 *ohne Messaging-Apps
2014 2015 2016 2017 2018 2019
tern, erzählt Freudenberg, meldeten sich bei
ihm auch Kinder zwischen 9 und 14, die »pri-
vat mal telefonieren« oder »privat mal Vi-
deochats machen« wollen. »So was mache
ich gar nicht«, sagt Freudenberg.
Er hat auf der Plattform auch schon
Livestreams gemacht – und dabei erfahren,
wie TikTok mit ihm und er mit TikTok auf
eher fragwürdige Weise verdient. So feier-
te der Marktleiter vor der Handykamera
in seinen 31. Geburtstag hinein, um Mit-
ternacht waren immerhin noch gut 150 Zu-
schauer dabei. Um diese Art von Auftrit-
ten zu befeuern, hat TikTok ein Geschenk-
system eingebaut, das für die Zuschauer
zur Kostenfalle werden kann.
Wer zuguckt, kann seinem Star Emojis
schenken, die während des Videostreams
über den Bildschirm flimmern. Die Emojis
heißen »Panda«, »Love Bang« oder »Dra-
ma Queen« und kosten zwischen acht
Cent für einen »Panda« bis zu stolzen
rund 80 Euro für eine »Drama Queen«.
Bezahlt wird mit virtuellen »Münzen«,
die es in den App Stores von Google und
Apple zu kaufen gibt, beide verdienen da-
ran 30 Prozent. Bei Stars wie Freudenberg
kommt am Ende offenbar rund die Hälfte
des ursprünglichen Kaufwerts an – den
Rest kassiert TikTok.
Warum aber kaufen Teenager teure
Emojis, wenn sie die Livevideos auch um-
sonst sehen können? TikTok belohnt sie
mit Aufmerksamkeit. Wer zahlt, wird mit
etwas Glück im Livevideo namentlich er-
wähnt. Die Schweizer Influencerin Mi-
chelle Melody etwa, selbst erst 17 Jahre
alt, ermuntert ihre Fans unverblümt zum
Geld-Ausgeben: »Bei 100 Pandas folge ich
zurück«, sagt sie, oder: »Bei der ›Drama
Queen‹ kriegt ihr meine Handynummer.
Bei zwei ›Drama Queens‹ kommt ihr in
meine Bio, und bei fünf habt ihr ’nen
Wunsch frei.«
Geschäftstüchtige Influencer nutzen das
System als Einnahmequelle, und TikTok
verdient mit. Rewe-Manager Freudenberg
betonte in einem seiner Streams, er »zockt
niemanden ab hier, wie alle anderen«. Aus-
stellen lässt sich die Funktion nicht.
Dass das Geschenkesystem nach Abzo-
cke von Minderjährigen aussieht, hat Tik-
Tok inzwischen selbst erkannt. Kurz vor
Weihnachten hat die App ihre Richtlinien
für virtuelle Geschenke weltweit ange-
passt. Wer die Bezahl-Emojis verschicken
und empfangen will, muss nun mindestens
18 Jahre alt sein. Die Altersangabe ist al-
lerdings schwer zu kontrollieren, und das
Problem bleibt bestehen. Was TikToker
als Gegenleistung für die Emojis anbieten,
ist nur für Minderjährige spannend.
Ihr Schmuddelimage will die App nun
durch weitere Maßnahmen abstreifen. Tik-
Tok empfiehlt Kindern beispielsweise,
nicht öffentliche Accounts einzurichten
und ihr Profil so einzustellen, dass Fremde
71

sie nicht kontaktieren können. Zudem ver-
öffentlicht TikTok eigene »Sicherheits-
videos«, eine Art Knigge. Das soll die Platt-
form sauberer machen.
Skandale wie jener um die TikTokerin
Feroza Aziz kommen da höchst ungelegen.
Die 17-jährige Amerikanerin hatte im
November einen Clip veröffentlicht, der
als Schminktipp getarnt war, aber kritische
Kommentare zum repressiven Umgang
Chinas mit der Minderheit der Uiguren
enthielt. TikTok sperrte die Nutzerin eine
Zeit lang aus ihrem Account aus, auch das
Video war offline. Nach einem öffent-
lichen Aufschrei erklärte TikTok, die Lö-
schung sei versehentlich erfolgt.
TikTok-Chef Alex Zhu versicherte in ei-
nem Interview mit der »New York Times«,
es gebe keine Löschungen im Sinne der
chinesischen Staatsräson. Selbst wenn
Staatschef Xi Jinping persönlich bei ihm
anklopfen würde, »ich würde Nein sagen«.
Doch der Vorwurf der Zensur klebt an der
Firma. Im Heimatmarkt China, wo derzeit
500 der 800 Millionen TikTok-Nutzer le-
ben, mag das keine Rolle spielen – im Rest
der Welt schon. Weil politische Inhalte im
Zweifel Ärger bereiten, ist Zhu bemüht,
die App als harmlose Entertainmentplatt-
form zu positionieren. TikTok werde vor
allem als Abspielort für Tanzeinlagen,
schräge Videos, Memes und Modetipps ge-
nutzt, »aber nicht so sehr für politische
Diskussionen«, sagt er in dem Interview.
Dass sich Ärger damit dauerhaft vermei-
den lässt, glaubt Alex Stamos nicht. Der
Amerikaner hat viel Erfahrung mit digita-
len Skandalen, er war Sicherheitschef von
Facebook, als der Datenskandal um Cam-
bridge Analytica losbrach. TikTok, so kom-
mentierte Stamos kürzlich, kämpfe sich
gerade im Eiltempo durch all jene Proble-
me, mit denen sich etablierte soziale Me-
dien in diesem Jahrzehnt schon herum-
ByteDance-Chef Zhang Yiming, Apple-Boss Tim Cook: Vorwurf der Zensur
72
Wirtschaft
geschlagen haben. Dem Ärger um Privat-
sphäre und Sicherheit würden oft Vorwür-
fe rund um »Menschenhandel« oder »se-
xuelle Erpressung« folgen. Wenn Stamos’
Prognose stimmt, stünden TikTok die
schlimmsten Schlagzeilen noch bevor.
Fürs Erste aber versucht das Unterneh-
men, die Zahl negativer Berichte zu mini-
mieren, um potenzielle Werbekunden
nicht zu vergraulen. Etablierte Marken ver- gitalchef des BVB, sagt, man sei bewusst
sucht es mit der Aussicht zu locken, dass
bei TikTok vielleicht nicht der Kunde von
heute, dafür aber der Konsument von mor-
gen unterwegs sei.
Entsprechend experimentell sind die
Werbeformate. Große Hoffnung setzen
die Betreiber der App auf sogenannte
Challenges. Die Werbevideos, die als
gewöhnliche TikTok-Clips daher-
kommen, fordern Nutzer auf, lus-
tige Aufgaben zu erledigen und
sich dabei zu filmen.
Der Versandhändler und Tik-
Tok-Anzeigenkunde Otto hielt die 5000 Münzen kauf von Fanartikeln. In China und
Zuschauer im Sommer dazu an, sich
»zum Otto zu machen«. Und vor Weih-
nachten sollten sich Nutzer »hart freuen«
und mit der Kamera festhalten, wie sehr
sie sich für irgendwelche Produkte aus
dem Otto-Katalog begeistern – was tat-
sächlich Hunderte TikToker auch taten.
Man konnte Jugendlichen dabei zu-
schauen, wie sie entzückt durchs Wohn-
zimmer hüpften, während im Video Otto-
Produkte wie ein »USB-Ventilator« oder
»Rotwein-Salami« eingeblendet wurden.
Die Albernheit dieser Veranstaltungen lässt lar gerettet werden konnte, ist die Börse
sich schwer beschreiben, man muss sich
das ansehen. Mit der Beteiligung an der
ersten Werbeaktion soll der Versandhaus-
konzern »hochzufrieden« gewesen sein.
Für Händler, Modefirmen und andere
Konsumhersteller ist TikTok auch ein Ver-
such, eine Generation zu erreichen, die
IMAGINECHINA / AP / PICTURE ALLIANCE
noch nicht an Amazon verloren ist. Die
Unterwäschemarke Sloggi lässt mittlerwei-
le deutsche TikTok-Stars wie »Jennyand-
Marco« für sich werben. Das frisch verhei-
ratete Paar hat 1,3 Millionen Follower und
tanzt in Unterwäsche durch die Werbe-
videos. Selbst Fußballvereine wie der FC
Bayern oder Borussia Dortmund (BVB)
bandeln mit TikTok an. Simon Mayr, Di-
früh auf die Plattform gegangen, um dort
Follower zu gewinnen, die vielleicht »nicht
von vornherein Dortmund-Fans sind, de-
nen aber unsere Inhalte gefallen«.
Der BVB verdient mit TikTok bereits
Geld, die App ist seit April offizieller Part-
ner des Vereins. Den Chinesen ist die Ko-
operation eine mittlere sechsstellige
Summe im Jahr wert. In Zukunft
hofft der BVB auf größere Umsät-
ze, etwa mit Videos, in denen sich
die Sponsoren des Vereins präsen-
tieren dürfen, oder über den Ver-
den USA experimentiert TikTok der-
zeit mit einer Shoppingfunktion, also mit
E-Commerce.
Ob all das ausreicht, um die Anleger da-
von zu überzeugen, dass TikTok nicht bloß
groß ist, sondern auch ein tragfähiges Ge-
schäftsmodell hat, wird sich beim Börsen-
gang zeigen. Seit dem spektakulären Crash
des Büroraumvermieters WeWork, der
seine Erstnotierung vor ein paar Monaten
absagen musste und von seinem Haupt-
investor SoftBank mit 9,5 Milliarden Dol-
misstrauisch geworden gegenüber allzu
hochbewerteten Tech-Start-ups.
SoftBank gehört auch zu den Haupt-
geldgebern von ByteDance. Die Sorge,
dass mit der TikTok-Mutter gleich das
nächste Softbank-Einhorn vor dem Bör-
sengang aus dem Tritt gerät, ist gewaltig.
Für Seth Wallis-Jones, Analyst beim briti-
schen Marktforschungsunternehmen IHS
Markit, ist TikTok allerdings »ein anderer
Fall als WeWork«, denn in China erwirt-
schafte ByteDance schon hohe Erlöse. Für
ihn ist die zentrale Frage, ob TikTok seine
enorme Nutzerzahl langfristig wird halten
können. Was das Netzwerk derzeit stark
macht, ist zugleich seine größte Schwäche:
Der angebotene Inhalt ist flüchtig, die Mar-
kentreue beim jungen Publikum gering.
»Eine konkurrierende App könnte TikTok
leicht ersetzen«, sagt Wallis-Jones.
Für ein solches Schicksal gibt es bereits
ein Vorbild: Vine, ein mit TikTok vergleich-
barer Dienst, den Twitter vor einigen Jah-
ren gekauft hat. In kürzester Zeit brachte
er es auf Hunderte Millionen Nutzer. Heu-
te ist Vine tot. Twitter wusste nicht, wie
man damit Geld verdienen sollte.
Markus Böhm, Guido Mingels,
Anton Rainer
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Pseudo-
Bulette
Veganindustrie Fleischersatz-
gerichte liegen im Trend. Doch
wirklich gesund scheinen sie
nicht zu sein, mitunter enthalten
sie sogar üble Zusatzstoffe.
A ls sich Matthias Riedl vor einigen
Wochen durch Fleischersatzburger
testete, wurde ihm von Bissen zu
Bissen mulmiger. »Bild« hatte den Ernäh-
rungsmediziner aus Hamburg um sein Ur-
teil gebeten. Den Wonder Burger von Aldi
vertrug Riedl noch ganz gut. Beim Next
Level Burger von Lidl störte ihn der Ge-
schmack »aus der Retorte«. Und das Pattie
der US-Firma Beyond Meat bezeichnete
er gar als den »absoluten Horror«.
Zu viel Fett, dazu ungesundes, raffiniertes
Kokosöl. »Der ging in den Mülleimer«,
erinnert sich Riedl.
Den Boom der Pseudobuletten, die wie
Fleisch aussehen und schmecken, ohne
welches zu enthalten, scheinen solche Vor-
behalte nicht stoppen zu können. Zwi-
schen 2010 und 2018 hat sich der Umsatz
mit derlei Fleischimitaten hierzulande gut
vervierfacht, auf 180 Millionen Euro. Bis
2030 könnte der Anteil der Fleischalter-
nativen weltweit auf 28 Prozent des ge-
samten Fleischmarkts anwachsen, schätzt
die Unternehmensberatung A. T. Kearney.
Firmen wie das Start-up Beyond Meat, in
das Microsoft-Gründer Bill Gates und
Schauspieler Leonardo DiCaprio investier-
ten, waren zwischenzeitlich mehr wert als
der deutsche Onlinehändler Zalando.
Doch bedeutet der Hype tatsächlich
auch einen kulinarischen Paradigmen-
wechsel? Studien belegen eine bessere
Ökobilanz der Veggieburger gegenüber
Fleischprodukten. Die Inhaltsstoffe indes
trüben die Bilanz merklich ein.
»Das sind Produkte aus dem Chemie-
labor«, sagt Mediziner Riedl. Ihren Ge-
schmack erhielten sie durch Salz, Zucker,
Fett und Aroma. »Der Nimbus der pflanz-
lichen Ernährung trügt.« Schon bei den Erb-
sen, oft die Basis der Burger, sehe es kritisch
aus. Die Erbsenproteine würden isoliert
und dadurch ihrer wertvollen Ballaststoffe
und sekundärer Pflanzenrohstoffe beraubt.
»Das ist Astronautennahrung, als Bulette
kaschiert und nicht wirklich gesund.«
Eine echte Fleischlosgesinnung wie sie
manchen Grünkernbratling-Produzenten
der Ökoanfangsjahre auszeichnete, kann
der Konsument bei den neuen Produkten
nicht mehr erwarten: Aldi etwa lässt sei-
Veggieburger: »Produkte aus dem Chemielabor«
ne Veggieburger von einer bayerischen
Metzgerei produzieren. Beyond Meat ent-
wickelt Produkte für die Fastfoodkette
Kentucky Fried Chicken und nutzt als
deutschen Vertriebspartner den Hähn-
chenkonzern PHW (»Wiesenhof«). Lidls
Next Level Burger fertigt ein früherer
Manager des Geflügelproduzenten Heide-
mark, der allerdings bei der regionalen
Rohstoffbeschaffung recht weit zu sein
scheint: Im kommenden Jahr soll sogar
das Soja in Deutschland angebaut werden.
Um den typischen Fleischgeschmack zu
simulieren, setzen die Hersteller jede Men-
ge Ingredienzien ein: Rund zwei Dutzend
Inhaltsstoffe führt allein Beyond Meat auf
der Verpackungsrückseite seiner Patties
auf. Nicht genannt, aber legalerweise un-
ter »Aromen« versteckt, ist auch der Ge-
schmacksstoff Grillin, der für die rauchige
Note im Burger sorgt. Das ergab eine Ana-
lyse, die das Bad Kreuznacher Labor
Dr. Haase-Aschoff für den SPIEGEL durch-
führte. Das Problem: Anders als in
den USA wäre die getestete Grillin-Vari-
ante, ein thermisch oxidiertes Sonnenblu-
menöl, laut EU-Basisverordnung zur
Lebensmittelsicherheit »eigentlich nicht
Fleischfrei 275,9
Geschäftszahlen von Beyond Meat,
weltweit, in Millionen Dollar
Umsatz
Gewinn/Verlust
Quelle: Bloomberg
87,9
32,6
16,2
3,0
2016 2017 2018 2019
Prognose
– 25,2 – 30,4 – 29,9
OBS / LIDL
verkehrsfähig«, sagt Gutachter Klaus
Haase-Aschoff. Der Lebensmittelchemiker
verweist auf die europäische Lebensmit-
telagentur EFSA: Bereits 2017 hatte die
Agentur gewarnt, die Produktdaten des
amerikanischen Grillin-Herstellers reich-
ten nicht aus, um das gentoxische Risiko
des Stoffs zu beurteilen.
So absurd es klingt: Trotz dieser Beden-
ken ist das Aroma in der EU weiter erlaubt.
Ein Sprecher der EU-Generaldirektion Ge-
sundheit und Lebensmittelsicherheit ver-
weist auf eine Übergangsfrist bis zum April.
Für Haase-Aschoff klingt das grotesk.
Sowohl die EU-Lebensmittel- als auch die
Aromenverordnung legten klar fest, dass
ein Stoff, der nicht sicher sei, nicht ver-
kehrsfähig sei. »Eine wissenschaftliche
Evidenz gibt es für dieses Verhalten der
EU-Kommission nicht.«
Mehr als 2500 Stoffe sind in der EU
für Lebensmittelaromen zugelassen. Viele
Aromen seien ein »Cocktail aus einigen
hundert Bestandteilen«, sagt der Biologe
Christian Niemeyer, Leiter des Zusatzstoff-
museums in Hamburg. Bei Grillin habe
die EFSA acht Inhaltsstoffe als nicht ein-
schätzbar eingestuft. »Der Verdacht, dass
solche Bestandteile gentoxisch und poten-
ziell krebserregend sind, besteht bei rauch-
artigen Aromen immer.«
Aromenhersteller wie der US-Riese Red
Arrow haben bereits Alternativen zu Gril-
lin entwickelt. Ob Beyond Meat noch im-
mer Grillin in seinen Buletten verarbeitet,
wollte die Firma nicht verraten. Auch sonst
hielten sich die Amerikaner bedeckt. Wo-
her genau die Rohstoffe wie Erbsen stam-
men? Man besorge sie »heimisch und in-
ternational« kam als Antwort.
Haase-Aschoff hält die Sicherheit von
Grillin für ungeklärt. Die Bestandteile ver-
hielten sich nicht neutral, sie reagierten
bei Erhitzung. Keiner wisse, was dabei pas-
siere. Da laufe gerade »ein ziemlich großer
Feldversuch«. Nils Klawitter
73
 Wirtschaft
Der Karten-Trick
Gesundheit Die elektronische Patientenakte soll bald kommen und
supersicher sein. Doch Hacker verschafften sich Zugangsschlüssel
zum Datennetz – dazu brauchte es keine besonderen IT-Kenntnisse.
A ls der Augenarzt Thomas Damms
den Käseladen in der Lüneburger
Innenstadt betritt, erwartet ihn die
Inhaberin schon. »Sie haben Post für mich,
habe ich gehört«, sagt Damms, zwei Kun-
den blicken neugierig herüber. Martina
Hensel, die Besitzerin des Ladens, reicht
zwei Briefe über den Tresen.
Im ersten: eine Chipkarte, der soge-
nannte elektronische Heilberufeausweis.
Mit ihm kann sich Damms als Arzt aus-
weisen, etwa in der Apotheke, wo er damit
an rezeptpflichtige Medikamente käme.
Oder digital, im Gesundheitsnetz, das ge-
rade entsteht. Im zweiten Brief befinden
sich die dazugehörigen PIN- und PUK-
Nummern für die Karte.
Doch nicht Arzt Damms hat die Dokumen-
te beantragt, sondern Journalistinnen von
SPIEGEL und NDR, unter seinem Namen
und mit seinem Wissen. Das Experiment be-
weist: Der Zugang zu dem angeblich siche-
ren Netzwerk für Ärzte, Kliniken und Kran-
kenkassen ist auch für Unbefugte möglich.
Die sensible Post ließ das Recherche-
team nämlich nicht in Damms Lüneburger
Augenarztpraxis schicken, sondern an
Hensels Käsegeschäft. Ein paar Tricks
machten es möglich, an das wichtige Do-
kument zu gelangen.
Mit dem Arztausweis sollen Mediziner
künftig Zugang zu Daten in dem neuen
Gesundheitsnetzwerk bekommen, der so-
genannten Telematikinfrastruktur (TI).
Ärzte, Kliniken, Apotheken und Kassen
sollen über das verschlüsselte Netzwerk
auf die elektronische Patientenakte von
Versicherten zugreifen können, mit Ein-
verständnis des Patienten. Und unter Be-
achtung höchster Sicherheitsstandards.
Doch Damms Daten, die für die Bean-
tragung eines Arztausweises nötig sind,
Neue Datenwelten
Wie Telematik Ärzte, Krankenkassen
und Patienten miteinander verbindet
Konnektor
Lesegerät
am Empfang von Praxis,
Klinik oder Apotheke
Praxis- Zugang nur mit …
verwaltungs-
system
74
waren frei im Internet zugänglich – und
reichten aus, um den Antrag in seinem Na-
men zu stellen und die Post an eine belie-
bige Adresse senden zu lassen.
Das Experiment von SPIEGEL und NDR
sowie Recherchen der IT-Sicherheitsexper-
ten des Chaos Computer Clubs (CCC) zei-
gen: Das digitalisierte Gesundheitswesen
hat schwerwiegende Sicherheitslücken.
Rund 140 000 Praxen in Deutschland
müssen an die TI angeschlossen werden,
mindestens 70 Prozent sind es bereits. Hin-
zu kommen Apotheken und Kranken-
Die Daten für die
Beantragung des
Arztausweises waren frei
im Internet zugänglich.
häuser. Es ist eines der größten Digital-
projekte der Republik. Jede Praxis braucht
für den Zugang einen sogenannten Kon-
nektor, ein Spezialgerät, das eine Verbin-
dung mit dem gesicherten Netzwerk her-
stellt. Das System wurde unter Aufsicht
des Bundesamts für Sicherheit in der In-
formationstechnik (BSI) entwickelt. Die
Berliner Firma Gematik, zuständig für Auf-
bau und Sicherheit der TI, wirbt mit dem
Slogan: »Wir vernetzen das Gesundheits-
wesen. Sicher.«
Jahrelang wurde an dem Großprojekt
getüftelt. Anfang 2021 soll die elektroni-
sche Patientenakte nun endlich kommen.
»Ich werde bei dem Thema Gematik und
elektronische Patientenakte mehr Ge-
schwindigkeit reinbringen«, hatte Bundes-
gesundheitsminister Jens Spahn Anfang
des Jahres bei einer Ärzteveranstaltung
Verschlüsselte Verbindung
soll ein vom Internet abgeschirmtes
Netz garantieren
… elektronischer Gesundheitskarte…
Chipkarte mit Personendaten und
Lichtbild: ermöglicht die Freigabe
von Patientendaten.
angekündigt, »das werden wir machen –
Hacker hin oder her.«
Klar, dass der markige Spruch Hacker
des CCC auf den Plan rief, unter anderem
Martin Tschirsich. Der Sicherheitsberater
sucht beruflich nach Schwachstellen in IT-
Systemen – manchmal auch dann, wenn
er nicht darum gebeten wurde. Die Sicher-
heit von Gesundheitsdaten interessiert ihn
besonders. Er hat untersucht, wie gut der
Zugang zur TI geschützt ist.
Eigentlich sollen drei verschiedene Chip-
karten dafür sorgen, dass nur hinein-
kommt, wer hinein darf. Neben dem elek-
tronischen Ausweis für den Arzt gibt es
einen zweiten für die Praxis und einen drit-
ten für den Patienten, die sogenannte elek-
tronische Gesundheitskarte. Je nach Infor-
mationen, auf die zugegriffen werden soll,
werden unterschiedliche Kombinationen
der Karten benötigt.
Tschirsich wollte wissen, wie leicht es
ist, an alle drei Karten zu gelangen. Damit
er nichts Strafbares unternehmen musste,
suchte er sicherheitshalber einen Arzt, der
freiwillig mitmachte, Christian Brodowski.
Der niedergelassene Anästhesist aus Essen
ist ebenfalls CCC-Mitglied.
Tschirsichs Team beantragte für Bro-
dowski einen neuen Arztausweis, mit des-
sen Einverständnis. Das geht über einen
zugelassenen Anbieter, in diesem Fall die
Firma Medisign. »Wir haben einfach den
günstigsten Anbieter gewählt«, sagt Tschir-
sich. »Aber die grundlegenden Probleme
bei der Ausgabe der Karten treten keines-
wegs nur bei dieser einen Firma auf.«
Über das Onlineantragsportal ließ sich
ein Arztausweis bestellen; dafür waren
zwar einige Angaben nötig, persönlich er-
scheinen musste Brodowski aber nicht.
Tschirsich konnte sich für ihn über ein Ver-
fahren namens »Bankident« ausweisen: Da-
für reicht es im Prinzip, dass sich der Arzt
irgendwann einmal bei seiner Bank ausge-
wiesen hat. Im Antrag wurde nach einer
Passnummer gefragt. Da Brodowski inzwi-
schen einen neuen Reisepass hatte, gab
Tschirsich einfach diese Nummer ein, statt
der hinterlegten. Eine Nummer, die weder
die Bank noch die Ärztekammer kennen
konnten. »Die Daten werden also offenbar
»Telematik- Krankenkasse
infrastruktur«
… und Praxisausweis
oder Heilberufeausweis
Die Karten enthalten einen
Schlüssel, mit dem ein Zu-
gang, z.B. zu Notfalldaten
möglich sein soll.
Fotos: Philipp Reiss für den SPIEGEL
gar nicht abgeglichen, wir hätten wohl auch
eine fremde Passnummer nehmen kön-
nen«, sagt Tschirsich. Die CCC-Mitglieder
ließen den Ausweis für Brodowski an eine
Adresse ihrer Wahl schicken.
Der elektronische Praxisausweis ließ
sich nach Angaben der Sicherheitsfach-
leute noch leichter erschleichen. Mit Bro-
dowskis Einverständnis beantragte das
Team in seinem Namen eine zusätzliche
Chipkarte für die Gemeinschaftspraxis.
Die Daten, die dafür anzugeben waren,
konnte Tschirsich ganz ohne die Hilfe des
Arztes recherchieren. Abgefragt wurden
etwa Name und Geburtsdatum des Antrag-
stellers und die Betriebsstättennummer
der Praxis, zu finden etwa auf Rezepten.
Verschickt wurde der Ausweis per Ein-
schreiben, die Geheimzahlen kamen zeit-
versetzt per normaler Post an. »Jeder Be-
steller kann die Lieferadresse frei wählen«,
räumt die zuständige Kassenärztliche Ver-
einigung Nord ein, »dies muss nicht die
Praxisanschrift, sondern kann auch eine
Privatadresse sein.«
Nun fehlte nur noch eine Gesundheits-
karte. Dass man sich die offenbar leicht
an eine alternative Adresse schicken lassen
kann, war dem CCC-Team bereits be-
kannt. Der IT-Experte André Zilch hat das
schon vor vier Jahren bewiesen. Diesmal
gelang es ihm erneut. Bei der AOK Hessen
ließ er die Adresse eines befreundeten Ver-
sicherten per E-Mail ändern – die Kran-
kenkasse verlangte einen eingescannten
Brief mit Unterschrift, verschickt per ein-
facher Mail. Zilch setzte ein Schreiben auf,
fügte in das Dokument elektronisch eine
ausgedachte Unterschrift ein und schickte
es ab. Wenig später kam die Karte bei der
Wunschadresse an.
Das sei nur »unter Aufbringung krimi-
neller Energie möglich«, verteidigt sich die
AOK Hessen, von »einem mühelosen un-
berechtigten Zugriff kann deshalb nicht
die Rede sein«.
Die Sicherheitsexperten haben über die
gefundenen Schwachstellen einen gut 30-
seitigen Bericht verfasst. Fazit: Das System
hat ein grundlegendes Problem, solange
Antragsteller und Lieferadresse nicht zu-
verlässig überprüft werden.
Für so einen Angriff brauchte es aller-
dings einigen Aufwand. Im Fall von Augen-
arzt Damms kam eine grobe digitale Nach-
lässigkeit des Anbieters hinzu, die die Sache
deutlich erleichterte. Unter anderem fand
Tschirsich auf dem Antragsportal für Arzt-
ausweise eine ganze Sammlung bereits aus-
gefüllter Anträge, für jeden frei einzusehen.
In dem Datenleck fanden sich Namen,
Adressen, Kontoverbindungen und Aus-
weisnummern sowie alles, was es sonst
noch braucht, um einen Arztausweis zu
beantragen. Allein an einem Tag im Okto-
ber waren dort Daten von 168 Ärzten zu
finden, die offenbar in den beiden Wochen
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Augenarzt Damms, Geschäftsfrau Hensel
»An jede x-beliebige Adresse verschickt«
davor ihren Antrag gestellt hatten. Laut
Tschirsich spricht einiges dafür, dass auch
in der Zeit davor die Anträge der jeweils
letzten beiden Wochen sichtbar waren.
Der CCC meldete Medisign diese Lücke
sofort. Die Firma reagierte prompt. »Das
war zwar eine katastrophale Sicherheits-
lücke«, sagt CCC-Sprecher Linus Neu-
mann, »aber die Reaktion darauf war vor-
bildlich. Die haben sofort geantwortet und
das Leck schnellstmöglich geschlossen.«
Medisign kam nach eigenen Angaben auch
seinen Meldepflichten nach. Zudem seien
die Antragsdaten regelmäßig im Abstand
von vier Tagen gelöscht worden.
Dass Damms von dem Datenleck be-
troffen war, erfuhr er aus einem Brief von
Medisign: Es habe eine »Konfigurations-
lücke in unserem Antragsportal« gegeben,
hieß es in dem Schreiben nebulös. Es sei
nicht auszuschließen, dass »nicht finalisier-
te Antragsformulare« öffentlich zugäng-
lich gewesen seien. Kurzum, er müsse
einen neuen Antrag stellen.
Das erledigten NDR und SPIEGEL in sei-
nem Namen. 20 Tage später kam die Karte,
wie im Onlineantrag gewünscht, in Hensels
Käseladen an. Weil das Geschäft keinen
Briefkasten hat, wurden die Briefe, wie so
oft, einfach auf die Ladentheke gelegt.
Damms findet es unmöglich, dass die
Karte »per normaler Post an jede x-belie-
bige Adresse verschickt wird«, sagt er. Die
zuständige Ärztekammer Niedersachsen
schreibt dazu, die Privat- und Dienstan-
schrift müssten nicht mit den Antragsdaten
übereinstimmen. Allerdings werde man
das nach dem Vorfall »mit der Bundesärz-
tekammer zu besprechen haben«. Dass
der Versuch der Sicherheitsforscher und
Journalisten erfolgreich gewesen sei, sei
»äußerst bedenklich«.
Die Ärztekammer hatte sich laut Damms
sogar zwischendurch einmal telefonisch
gemeldet, um zu fragen, ob er einen zwei-
ten Arztausweis beantragt habe. Konse-
quenzen hatte der Kontrollanruf aber of-
fenbar keine.
Medisign schreibt, man habe unter an-
derem das Identifizierungsverfahren Ban-
kident sofort außer Betrieb genommen.
»Betroffene Karten werden wir vorsichts-
halber sperren.« Die aufgeführten Schwach-
stellen würden nun im Detail geprüft. Die
Gematik findet die Sicherheitsmängel
»nicht hinnehmbar«. Da aber noch keine
Behandlungsdaten gespeichert würden,
bestehe derzeit keine Gefahr für die Si-
cherheit der Patientendaten. Man begrüße
die Aufklärung und wolle die Sicherheit
gemeinsam mit dem CCC optimieren.
Allein mit dem Praxisausweis könne ein
Angreifer ohnehin »nichts anfangen«,
wendet die Kassenärztliche Vereinigung
Nordrhein ein. Denn zusätzlich zur Karte
würden noch ein Kartenlesegerät und ein
Konnektor benötigt. Diese würden nur an
Ärzte und Psychotherapeuten »über eine
sichere Lieferkette ausgegeben«.
Kurz danach kam bei Tschirsichs Team
ein Konnektor an. Das Hackerteam habe
sich einfach im Internet ein Gerät auf den
Namen einer Praxis bestellt und an eine
Adresse ihrer Wahl schicken lassen. Kurz
vor Weihnachten wurde es vom Paket-
dienst bei der Sekretärin abgegeben. Un-
terschreiben musste sie nichts.
Judith Horchert, Jasmin Klofta
75
 Wirtschaft
»Die untere Hälfte geht
so gut wie leer aus«
Immobilien Jetzt noch ein Haus kaufen? Der Ökonom Moritz Schularick
sieht keine Crashgefahr, aber ein Gerechtigkeitsproblem.
Reicher wurden vor allem die oberen zehn Prozent: um 1,5 Billionen Euro.
Schularick, geboren
W. SCHUERING / DER SPIEGEL
1975 in Berlin, ist der
neue Star der Wirt-
schaftswissenschaf-
ten in Deutschland.
Der Bonner Profes-
sor hat sich mit his-
torisch-empirischen
Studien über Immobilienpreise und das
Entstehen von Finanzkrisen weltweit einen
Namen gemacht.
SPIEGEL: Herr Schularick, Deutschland er-
lebt seit zehn Jahren einen Immobilien-
boom. Waren Sie so schlau und sind ein-
gestiegen?
Schularick: Ich habe 2011 in Berlin-Mitte
etwas gekauft.
SPIEGEL: Gutes Timing! Half Ihnen dabei
Ihr ökonomischer Sachverstand?
Schularick: Nein, ich sag mal, Kohorten-
glück.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Schularick: Damals war ich Mitte dreißig,
also genau in dem Alter, in dem man sich
typischerweise eine Wohnung oder ein
Haus kauft. Ich hatte meinen ersten aka-
demischen Job als Juniorprofessor, die
Preise waren noch relativ niedrig. Es ist
wirklich nicht mein Verdienst, dass der
Quadratmeter in Berlin-Mitte inzwischen
so viel wertvoller geworden ist.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Preise wei-
ter klettern?
Schularick: Es spricht jedenfalls wenig für
einen Crash. Die Nachfrage nach Wohn-
raum ist real, zumindest in den Metro-
polen. Ich glaube auch nicht, dass die Zin-
sen stark steigen werden. Mit neuen
Wohnimmobilien lassen sich immer noch
Mietrenditen von zwei bis drei Prozent
erzielen, mehr als mit Staatsanleihen mög-
lich ist.
SPIEGEL: Mag sein, aber die Preise sind
vielerorts bereits extrem gestiegen. Man-
che Käufer zahlen mehr als 30-mal so viel
für ein Objekt, wie sie damit jährlich an
Mieteinnahmen erzielen.
Schularick: Das ist teuer. Alarmierend
wird es aber erst, wenn wir zugleich eine
starke Ausweitung der Kredite beobach-
ten. Das ist nicht zu erkennen, es gibt noch
keine spekulative Blase. Was die Ameri-
76
kaner, Iren oder Spanier vor gut zehn Jah-
ren erlebt haben, passiert heute hier nicht.
SPIEGEL: Sind die Banken vorsichtiger ge-
worden?
Schularick: Nicht unbedingt. Wir beob-
achten, dass viele Haushalte ihr Portfolio
umschichten und aus Bankeinlagen in Im-
mobilien gehen. Immobilien sind eine at-
traktive Anlage, vor allem wenn sie selbst
genutzt werden. Wenn ich an einem Ort
leben will, den ich mag, wo meine Freunde
wohnen und wo ich so lange bleiben möch-
te, wie ich will, dann gibt es keine bessere
Investition. Ich erkläre meinen Bachelor-
Studierenden immer: »Wenn Ihr Ziel ist,
jeden Morgen ein Glas Milch zu trinken,
dann ist der beste Vermögenswert, den Sie
sich kaufen können, eine Kuh …«
SPIEGEL: … vor allem wenn die Kuh –
oder eben die Wohnung – ständig wert-
voller wird ...
Schularick: … und die Zinsen niedrig blei-
ben. In dem Maße, wie die Zinsen in den
vergangenen Jahren gefallen sind, ist die
Attraktivität riskanterer Anlageformen ge-
stiegen. Wer damals das Glück hatte, Im-
mobilien oder Aktien zu besitzen oder zu
erwerben, der verzeichnet heute enorme
Bewertungsgewinne.
SPIEGEL: Wer sind diese Glücklichen?
Schularick: Es sind die reichsten zehn Pro-
zent der deutschen Bevölkerung. Der Wert
ihrer Immobilien ist nach unserer Schät-
zung zwischen 2011 und 2018 inflationsbe-
Geschrumpftes Angebot
Fertiggestellte Wohnungen in Deutschland,
in Tausend
700
2018:
300
287
Quelle: Statistisches Bundesamt; ab 1991 Gesamtdeutschland
1950 1970 1990 2010
reinigt um bis zu 1,5 Billionen Euro gestie-
gen. Die nächsten 40 Prozent haben den
Rest eingestrichen, ungefähr genauso viel.
Die obere Hälfte der Deutschen ist also mit
ihren Häusern und Wohnungen um nahezu
drei Billionen Euro reicher geworden. Haus-
halte in der oberen Mittelschicht haben ihr
Vermögen dadurch im Schnitt um etwa die
Hälfte auf rund 350 000 Euro gesteigert.
SPIEGEL: Wer sind die reichsten zehn Pro-
zent, und wo leben sie?
Schularick: Es sind meist ältere Bürger,
viele Unternehmer, auch Ärzte, Rechts-
anwälte. Von den 1,5 Billionen Euro Ver-
mögensgewinn der oberen zehn Prozent
entfällt mehr als die Hälfte auf Bayern und
Baden-Württemberg.
SPIEGEL: Unverdientes Glück?
Schularick: Das kann man so sagen. Die
Eigentümer mögen sich ja noch ange-
strengt haben, die Ausstattung von Haus
oder Wohnung zu verbessern, aber die Bo-
denpreisgewinne seitdem wurden ihnen
leistungslos zuteil.
SPIEGEL: Die Erträge sind sogar steuerfrei,
wenn die Eigentümer erst nach zehn Jah-
ren verkaufen.
Schularick: Da kann man nur mit dem
Kopf schütteln. Die Politik sollte dies re-
formieren. Diese Erträge müssen genauso
besteuert werden wie jene aus anderen
Kapitalanlagen.
SPIEGEL: Und der Verlierer des Immobi-
lienbooms ist die andere Hälfte der Bevöl-
kerung?
Schularick: Ja, zumindest relativ. Es sind
die Bürger, die keine Immobilien besitzen:
Sie gehen so gut wie leer aus, zahlen aber
höhere Mieten. Die Mieter mit geringem
Einkommen in den Metropolen sind die
großen Verlierer. Am Vermögenszuwachs
haben sie nicht partizipiert. Ihre Erspar-
nisse werfen kaum Zinsen ab, sie sind heu-
te real sogar weniger wert.
SPIEGEL: Und sie müssen oft auch Miet-
erhöhungen verkraften.
Schularick: Gerade dort, wo einkom-
mensschwache Bürger leben, sind die Mie-
ten am stärksten gestiegen: in alten Arbei-
terquartieren, die schick geworden sind
und in die Wohlhabende zugezogen sind.
Geringverdiener geben im Schnitt mittler-
weile fast 40 Prozent des Einkommens für
Wohnen aus.
SPIEGEL: In den USA und Großbritannien
sind rund zwei Drittel der Einwohner Ei-
gentümer eines Hauses oder einer Woh-
nung. Was hält die Deutschen davon ab,
Immobilien zu kaufen?
Schularick: Das hat mit der Geschichte
zu tun. Im Zweiten Weltkrieg wurde in
den Großstädten viel zerstört. Die Politik
entschied sich, schnell bezahlbaren Miet-
wohnraum zu schaffen, auch für Millionen
Flüchtlinge.
SPIEGEL: Seit dem Krieg sind fast 75 Jahre
vergangen, genug Zeit, um in den Immo-

Neubauwohnungen in Berlin-Moabit: »Der beste Vermögenswert ist eine Kuh«
bilienmarkt einzusteigen. Sind die deut-
schen Anleger risikoscheu?
Schularick: Bei Aktiengeschäften sind sie
sogar noch vorsichtiger, abgesehen von
den reichsten zehn Prozent hält kaum ein
Bürger Aktien. Wir sind auffallend schlech-
te Investoren. Es gibt diese Geschichte
aus Michael Lewis’ Finanzkrisenbestseller
»The Big Short« über den Düsseldorfer
Banker, dem man das letzte Schrottpapier
andrehen konnte, solange man ihm sugge-
rierte, dass es eine scheinbar risikolose An-
leihe war und keine Aktie. Das sagt viel
darüber aus, wie sehr es uns an Finanzkul-
tur mangelt.
SPIEGEL: Das »Stupid German Money«,
das »dumme deutsche Geld«, ist im angel-
sächsischen Raum ein stehender Begriff.
Was fehlt uns da?
Schularick: In der Nazizeit ist ein Teil der
Finanzelite vertrieben oder ermordet
worden. Außerdem spielen im deutschen
Finanzsystem Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken eine besondere Rolle. Die
Struktur hat zwar Stabilität erzeugt, aber
sie hat den Standort auch geschwächt. Eine
Sparkasse ist von der ganzen Denkweise
her wahrscheinlich nicht der beste Aus-
landsinvestor. Wir sind zwar Weltmeister
beim Kapitalexport, bekommen aber nur
miserable Renditen.
SPIEGEL: Das deutsche Finanzsystem ist
mitverantwortlich dafür, dass vergleichs-
weise wenige Bürger vom Aktien- und Im-
mobilienboom profitiert haben?
Schularick: Hätten wir das Geld so clever
angelegt wie die Norweger mit ihrem
Staatsfonds, wären wir jedenfalls in den
vergangenen zehn Jahren um ungefähr
zwei Billionen Euro reicher geworden. Das
entspricht in etwa der gesamten deutschen
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Schularick: Die Politik muss dem Woh-
nungsbau absolute Priorität geben. Wir
sollten wie in den Sechzigerjahren wieder
neue Stadtviertel bauen. Es müssen ja kei-
ne Trabantensiedlungen wie Neuperlach
in München oder Gropiusstadt in Berlin
dabei herauskommen. Wir können es dies-
mal besser machen.
SPIEGEL: Wo in den Metropolen gibt es
für solche Projekte überhaupt noch geeig-
nete Flächen?
Schularick: Wer über den Flughafen Tegel
nach Berlin kommt, fliegt über Rübenfel-
der. Warum entsteht dort kein neues Vier-
OLAF SCHUELKE / CARO / ULLSTEIN BILD
tel? Es fehlt nicht an Flächen, sondern am
politischen Willen, am Mut, sich hinzustel-
len und zu sagen, wir brauchen ein neues
Viertel für 50 000 Bewohner. Wir brau-
chen spannende Ideen für neue Stadtteile,
das ist noch nicht angekommen in der
Politik. Der Bund zeigt wenig Interesse da-
ran, weil er vor Jahren die Wohnungsbau-
kompetenz an die Länder abgegeben hat.
SPIEGEL: Sollte die nächste Bundesregie-
rung ein eigenes Wohnungsbauministeri-
um einrichten?
Staatsverschuldung. Wer in den letzten Schularick: Es wäre ein richtiger Schritt.
Jahren sein Geld auf dem Sparbuch liegen Das Haus müsste aber auch für Infrastruk-
gelassen hat, ist der Gelackmeierte. Daher turausbau zuständig sein, beides hängt mit-
kommt auch eine Menge Unmut. einander zusammen.
SPIEGEL: Vielen Bürgern in den Metro- SPIEGEL: Bietet die Politik schlüssige Ant-
polen fehlt überhaupt das Geld, nicht nur worten auf die Wohnungsfrage?
für Wohneigentum, auch für die Miete. Schularick: Ich kann da nichts erkennen.
Eine Krankenpflegerin oder ein Polizist Alle Parteien sind in gewisser Weise zer-
etwa in München können sich dort kaum rissen zwischen den Interessen der Eigen-
mehr eine Wohnung leisten. tümer und der Mieter. Und zerrissen zwi-
Schularick: Das ist die Schattenseite des schen den Interessen der Bewohner einer
Immobilienbooms. Die sozialen Aus- Stadt und derjenigen, die zuziehen wollen.
wirkungen sind in der Tat sehr negativ, SPIEGEL: Wird die Nachfrage nach Wohn-
wenn als Folge die Kinder der Kranken- raum in den kommenden Jahren weiter
pflegerin zum Beispiel nicht mehr mit den wachsen?
Kindern des Arztes zur Schule gehen. Schularick: Ändert sich nichts, wird sich
Dann findet eine Segregation nach Ein- der Wohnungsmangel zuspitzen. Deutsch-
kommen statt. land muss deutlich mehr bauen, um die
SPIEGEL: In München haben Unterneh- Bedarfslücke zu schließen. Wir schätzen,
men sogar Probleme, im mittleren Ma- dass im Jahr 2030 bundesweit in einem
nagement Stellen zu besetzen, weil der mittleren Szenario ungefähr eine Million
Wohnraum kaum bezahlbar ist. Wohnungen fehlen werden, davon etwa
Schularick: Viele gut bezahlte Arbeitsplät- 340 000 in den sieben großen Städten. Wir
ze bleiben deshalb vakant. Für die USA brauchten dort jährlich knapp 60 000 Neu-
wird geschätzt, dass dadurch ein halbes bauten, fast doppelt so viele, wie aktuell
Prozent Wachstum verloren geht. gebaut werden.
SPIEGEL: In Berlin versucht der Senat mit SPIEGEL: Was würde eine solche Offensive
dem Mietendeckel die Preissteigerungen kosten?
zu bremsen. Ist das zielführend? Schularick: Die Finanzierungsbedingun-
Schularick: Ich sehe solche Instrumente gen an den Kapitalmärkten sind derzeit
kritisch. Man kann mit dem Mietendeckel so günstig, dass es unverständlich wäre,
vielleicht temporär eine Schieflage im wenn die öffentliche Hand nicht Geld für
Markt auffangen, aber eine langfristige den Wohnungsbau in die Hand nehmen
Strategie ist das nicht. Und ich finde es würde. Wir rechnen mit etwa 16 Milliar-
geradezu absurd, wenn jetzt der Senat den Euro jährlich, die nötig wären, um
einige Häuser zufällig aufkauft, um den die Lücke zu schließen. Das ist eine wirk-
Bewohnern dort stabile Mieten zu ver- lich geringe Summe, wenn man bedenkt,
schaffen. Warum gerade diese Objekte, an- welches soziale Konfliktpotenzial in dem
dere aber nicht? So kann man doch nicht Thema steckt.
Politik machen. Interview: Alexander Jung, Robin Wille
SPIEGEL: Wie denn?
77

Ausland
Darf man Genugtuung empfinden?
Nr. 21/2019 »Joschi, mach das jetzt klar« – Redakteur Walter Mayr gehörte zu einem
sechsköpfigen SPIEGEL-Team, das die Ibiza-Affäre um Österreichs Vize Strache enthüllte.
 Bekommt man als Journa-
list Material wie die Ibiza-
Videos in die Finger, stellt
sich zuerst die Frage: Kann
das alles stimmen? Kann es
sein, dass sich zwei österrei-
chische Spitzenpolitiker in
Freizeitkleidung vor laufen-
der Kamera auf einer Balea-
ren-Insel um Kopf und Kra-
gen reden? Zweite Frage: Was
passiert, wenn das Material
veröffentlicht wird, und wer
hätte daran Interesse?
Als mein Kollege Martin
Knobbe und ich 2018 erst-
mals einzelne Aufnahmen des
feuchtfröhlichen Treffens auf
Ibiza sahen, stand eines für
mich sofort fest: Die beiden
Männer, die da einer angeb-
lichen russischen Oligarchen-
nichte gegen Wahlkampfhilfe
weitreichende Investitions-
möglichkeiten in Aussicht
stellten, waren keine Doubles.
78
Die Geschichten hinter den
Geschichten – der besondere Rückblick
In den Videos saßen der FPÖ-
Vorsitzende Heinz-Christian
Strache und sein Mitstreiter
Johann Gudenus vor mir – so,
wie ich sie als Korrespondent
kennengelernt hatte.
Was folgte, waren monate-
lange Recherchen, koordi-
niert zwischen SPIEGEL und
»Süddeutscher Zeitung«.
Forensiker überprüften das
Material auf Echtheit, wir
befragten Schlüsselfiguren
und konfrontierten die betrof-
fenen Politiker mit den Vor-
würfen. Gelegenheit zur Stel-
lungnahme erhielten sie zeitig
vor Redaktionsschluss. Bis
zum 17. Mai abends drang
nichts an die Öffentlichkeit.
Um 18 Uhr gingen auf den
Websites von SPIEGEL und
»Süddeutscher Zeitung« Aus-
schnitte aus den Videos
online. Kurz danach tagten
bereits die Krisenstäbe der
Das Duell
Nr. 28/2019 »Heldin und Hass-
figur« – Korrespondent Frank
Hornig hatte seine erste Arbeits-
woche in Italien, als die Migra-
tionskrise auf dem Mittelmeer
einen Höhepunkt erreichte.
An einem geheimen Ort konnte
er die Kapitänin des Rettungs-
schiffs »Sea-Watch 3«, Carola
Rackete, zum Interview treffen.
 Als ich Carola Rackete am
4. Juli auf Sizilien traf, war sie
erst kurze Zeit wieder frei. Die
italienische Justiz hatte sie tage-
lang im Hausarrest festgehal-
ten. Rackete hatte fast nichts
von der Außenwelt mitbekom-
men und schweigen müssen –
während Italiens damaliger
Innenminister Matteo Salvini
die »reiche deutsche Kommu-
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
nistin« fortwährend beschimpft
und lange Gefängnisstrafen
für sie gefordert hatte. Der
SPIEGEL machte ihr erstes
Interview in Freiheit zur Titel-
geschichte. Rackete erzählte,
wie sie im Mittelmeer 53 Flücht-
linge vor dem Ertrinken geret-
tet hatte und diese wochenlang
nicht nach Europa bringen
durfte, bis sie in der Nacht zum
29. Juni gegen das ausdrück-
liche Verbot italienischer
Behörden verstieß und mit
ihrem Schiff in den Hafen von
Lampedusa einlief.
FPÖ und der Kanzlerpartei Die zuvor unbekannte Kapi-
ÖVP unter Sebastian Kurz. tänin wurde international, je
Am Vormittag darauf trat nach Standpunkt, zur Ikone
Strache als Vizeregierungs- einer humanen Flüchtlingspoli-
chef zurück. Gut eine Woche tik – oder zur Hassfigur. In
später wurden Kurz und seine Deutschland spendeten Men-
Koalition durch ein Miss- schen einen Millionenbetrag
trauensvotum abgewählt. zu ihrer Unterstützung. In Ita-
Darf der Rücktritt einer lien nutzte Salvini die 31-Jähri-
Regierung die an der Enthül- ge weiter als Spielball seiner
lung beteiligten Journalisten Politik, was zunächst seinen
mit Genugtuung erfüllen? Umfragewerten half. Wenig
Nur insofern, als die Öffent- später fühlte sich der Lega-
lichkeit ein Anrecht hat zu Chef stark genug, die eigene
erfahren, welche Sorte Politi- Koalition aufzukündigen und,
ker sie gerade regiert. Dass in seinen Worten, nach der
Strache und Gudenus auf Ibi- »ganzen Macht« zu greifen.
za eine Falle gestellt worden Das ging schief, statt Neuwah-
war, dass sie unter Vorspiege- len durchzusetzen, landete Sal-
lung falscher Tatsachen in vini in der Opposition.
eine verwanzte Villa gelockt Doch das Duell zwischen
worden waren, mindert nicht Aktivistin und Rechtspopulist
die Botschaft – sie waren wirkt nach. Immer wieder atta-
bereit, zum Wohl der eigenen ckiert Salvini die neue Regie-
Partei österreichisches rung, wenn Rettungsschiffe
Tafelsilber zu verscherbeln. Flüchtlinge ins Land bringen.
DER SPIEGEL Nr.1 / 28. 12. 2019

»Mad Max« in
Bagdad
Nr. 47/2019 »Die Tuk-Tuk-
Revolte« – Reporter Christoph
Reuter besuchte im November
Bagdad. Damals waren die
Proteste gegen die korrupte
Regierung besonders heftig.
stadt gerollt: auf drei Seiten
ummantelt mit Metallplatten;
vorn, wo einmal die Wind-
schutzschreibe gewesen war,
verkleidet mit Maschendraht
und dem Rippengitter eines
Kühlschranks. Sein Fahrer
stellte sich als Abu Tiba vor.
Ein ehemaliger Kämpfer schii-
tischer Milizen, der die Seiten

DANIEL ETTER / DER SPIEGEL

 Tuk-Tuks sind dreirädrige,
aus Indien importierte Auto-
rikschas, laut und klapprig.
Vielen Irakern gelten sie als
Symbole des wirtschaftlichen
Niedergangs – Billigtransport-
mittel in einem Ölland, wo
sich immer weniger Menschen
ein Auto leisten können. Als
im Oktober Proteste ausbre-
chen, ändert sich plötzlich das
Bild mit einem Schlag. Hun-
derttausende liefern sich in
Bagdad und weiteren Städten
Straßenschlachten mit Sicher-
heitskräften. Es ist Wut auf
die allgegenwärtige Korrup-
tion und die maßlose Gier der
Mächtigen, die sie treibt. Die
Tuk-Tuk-Fahrer sind ihre Hel-
den: Mit den wendigen Ge-
fährten retten sie Verwundete
von den vordersten Linien.
Ein Tuk-Tuk fiel mir beson-
ders auf. Es sah aus, als wäre
es aus dem Endzeitfilm »Mad
Max« in die irakische Haupt-
gewechselt hatte. Er sagte:
»Ich will einmal in meinem
Leben etwas Richtiges tun!«
Doch weil er statt Taxi lieber
todesmutig Rettungseinsätze
fuhr, fehlte der Familie Geld.
Abu Tibas Tochter lag im
Krankenhaus, und das Tuk-
Tuk war noch nicht einmal
abbezahlt.
Bei den Anführern der
Nach dem SPIEGEL-Artikel
über ihn meldeten sich drei
Revolution
Leserinnen: Sie würden gern Nr. 20/2019 »Keimzelle der Revolution« – Der Sudan war für
für Krankenhausrechnung und Journalisten immer ein extrem schwer zugängliches Land. Das
Rikscha-Raten aufkommen. änderte sich im Frühjahr. Redakteurin Katrin Kuntz fuhr nach
Über Umwege wurden 1500 Khartum und porträtierte ein Volk in Aufruhr gegen die Diktatur.
Euro nach Bagdad geschafft.
Abu Tiba, der in der Zwi-  Nach 30 Jahren haben die
schenzeit eine Schusswunde Bürger des Sudan im April
am linken Arm und einen 2019 den Diktator Omar al-
Streifschuss an der rechten Baschir gestürzt. Wie konnte
Hand davongetragen hatte, das gelingen? Kurz nachdem
war fassungslos: »Wieso tun der Fotograf Daniel Etter und
die das für mich? Die kennen ich Anfang Mai in Khartum
mich doch gar nicht. Sind das gelandet sind, fahren wir zum
wirklich Privatmenschen, Protestcamp ins Zentrum, wo
die mir, die uns helfen wol- sich auch nach dem Sturz
len?« Ja. Baschirs jeden Tag Tausende
Demonstranten versammeln.
Hier proben sie Sprechchöre,
diskutieren, entwerfen eine
Zukunft für ihr Land. Auch
die Männer und Frauen aus
dem Arbeiterviertel Burri
haben ein Zelt aufgeschlagen.
Sie waren es, die den Protest
ins Zentrum trugen.
Mohammed Abbas, 29, der
mit seinen fünf Freunden eine
Widerstandszelle anführte,
erzählt uns, wie sein Komitee
den Hauptorganisatoren der
großen Märsche half, auf der
Straße den nötigen Druck zu
erzeugen. Abbas’ Untergrund-
zelle hatte einen Sicherheits-
chef. Einen Plakatbeauftrag-
ten. Einen Einheizer für Pro-
testlieder. Einen Frontkämp-
fer, der Tränengasgranaten
ERIN TRIEB / DER SPIEGEL
Demonstranten in Khartum
gut organisiert. Immer mehr
Bürger wagten sich auf die
Straße, schlossen sich an.
Abbas nimmt uns mit durch
sein Khartum. Wir sprechen
mit jungen Frauen, Lehrern,
Ärzten, die wie er voller Hoff-
nung sind. Wir passieren Check-
points, an denen die beigefar-
ben gekleideten, bewaffneten
Männer der Rapid Support
Forces herumlungern, die
jahrelang im Namen Baschirs
mordend durch das Land gezo-
gen sind. Abbas zeigt auf die
Dächer, wo sich während der
Proteste Scharfschützen posi-
tioniert hatten. Die Stimmung
ist aufgeheizt. Aber Abbas
lässt sich nicht beirren. »Jetzt
werden wir frei«, sagt er. Kurz
nachdem wir das Land ver-
lassen haben, schlagen Sicher-
heitskräfte den Protest brutal
nieder. Mehr als hundert Men-
schen sterben, Hunderte wer-
den verletzt. Die Übersetzerin
können wir nicht mehr errei-
chen. Wochen später schreibt
sie von der Einigung, von dem
Souveränen Rat, der etwa zur
Hälfte aus Militärs, zur Hälfte
aus Zivilisten besteht. Der Rat

zurückwarf, wenn die Sicher- soll bis 2022 regieren – dann

heitskräfte feuerten. Und
einen Verhandler, der versuch-
te, mit Gegnern zu sprechen.
Nie zuvor hatten sich
Abu Tiba in Bagdad Demonstranten im Sudan so
folgen Wahlen. Zumindest
hofft das auch Abbas. Aber er
weiß, dass man sich nicht zu
früh freuen sollte im Sudan,
nach 30 Jahren Diktatur.

79

Im Feld des Gegners
Russland Seit 20 Jahren bestimmt Wladimir Putin Moskaus Außenpolitik. Und die war
selten so skrupellos wie heute. Was bezweckt der Präsident mit dieser Härte?
K
urz vor Weihnachten hielt Russ-
lands Präsident Wladimir Putin
in Moskau seine jährliche Presse-
konferenz ab. Es ist ein altver-
trautes Ritual und erinnert eher an ein Fan-
klub-Treffen, so harmlos fallen die Fragen
aus. Eine lautete: »Darf man Wladimir
Wladimirowitsch Putin jetzt schon eine
historische Persönlichkeit nennen?«
Das war dann doch eine unerwartet
knifflige Frage, denn natürlich hält sich Pu-
tin für eine historische Persönlichkeit, aber
offen sagen kann er das schlecht. Darauf
könne er nicht antworten, sagte er, und
hielt dann doch einen langen Exkurs über
die nun, unter ihm, erreichte Stabilität.
Es ist genau 20 Jahre her, dass der da-
malige Präsident Boris Jelzin in der Silves-
ternacht zurücktrat und seinen Premier
Wladimir Putin zum Nachfolger erklärte.
Putin hat Russland seither verändert und
ebenso Russlands Auftritt in der Welt.
Dabei ist seine Außenpolitik eine ande-
re, als er vor 20 Jahren versprochen hatte.
In seiner Wahlwerbung hatte er »den Vor-
rang innerer Ziele« verkündet: »Wenn
unsere Bürger von diesem oder jenem in-
ternationalen Projekt nicht profitieren,
dann hat es keinen Sinn, sich dort einzu-
mischen – egal wie groß und schön diese
Projekte klingen.«
Heute tut Putin das Gegenteil. Statt inne-
ren Zielen den Vorrang zu geben, scheint
er auf der Weltkarte ständig neue Flecken
zu suchen, wo er die russische Fahne his-
sen kann. Er lässt seine Soldaten in Syrien
kämpfen. Russische Söldner sind oder wa-
ren im Sudan und in Libyen, in Mosambik
und in Zentralafrika im Einsatz. Russlands
Geheimdienste haben ihre Spuren im US-
Wahlkampf hinterlassen.
Putin hat nicht mehr das Wohlergehen
seiner Bürger vor Augen, sondern die
Größe Russlands. Es ist, als hätte er seinen
Ehrgeiz vom Inland auf das Ausland ver-
legt. Seine Außenpolitik ist konfrontativ,
ambitioniert, skrupellos – und nicht erfolg-
los. Doch hat er auch eine Strategie?
Die Kränkung
Es gibt eine Erzählung, die erklären soll,
warum Russland heute so und nicht anders
in der Welt auftritt. Sie hat mit Russlands
Verhältnis zum Westen zu tun. Putin er-
zählt sie gern, ebenso seine Beamten und
viele in der russischen Elite. Es ist die Er-
80
Ausland
zählung von der großen Kränkung. »Wir
wollten zu euch gehören«, so kann man
sie zusammenfassen, »aber ihr habt uns
zurückgestoßen.«
Man hat den gekränkten Putin zum
ersten Mal 2007 gesehen, als er auf der
Münchner Sicherheitskonferenz einen
Wutausbruch inszenierte und die Politik
des Westens als rücksichtslos, leichtsinnig,
überheblich, wortbrüchig geißelte. Der
Schock war groß. Die Welt musste sich an
diesen neuen Putin erst noch gewöhnen.
Die Geschichte von der Kränkung ist
beides: Wahrheit und Propaganda. Das
macht es so schwierig, mit ihr umzugehen.
Nicht nur Putin, viele Russen fühlen sich
enttäuscht vom Westen. Er hat, so ihr Vor-
wurf, das Ende der Sowjetunion als Russ-
lands Niederlage verstanden, das Land
wie einen geschwächten Feind behandelt,
nicht wie einen Partner. Er hat die Nato
erweitert, Moskaus Interessen auf dem
Balkan missachtet, ihm die Ukraine und
Georgien abspenstig gemacht. Nicht nur
Putin, selbst der greise Michail Gorba-
tschow klingt manchmal wie ein gekränk-
ter Mann.
Aber der Kreml hat die Geschichte von
der großen Kränkung so oft wiederholt,
dass Dichtung und Wahrheit nicht mehr
zu trennen sind. Man kann sich im Ver-
letztsein gut einrichten: Wenn Russland
das ewige Opfer eines missgünstigen Wes-
tens ist, kann man ihm sein Handeln nicht
mehr vorwerfen.
»Alle Länder sind kränkbar. Aber Russ-
land gehört zu den kränkbarsten«, sagt
Andrej Kortunow, Chef des regierungs-
nahen Russian International Affairs
Council (Riac). »Wir erinnern uns gut an
alle gebrochenen Versprechen des Wes-
tens – ob er sie tatsächlich abgegeben hat
oder nicht.«
Dass es für Putin auch persönlich ver-
letzend war, wie die Sowjetunion zerfiel,
das hat er selbst beschrieben. Als junger
KGB-Offizier musste er in Dresden im
Herbst 1989 sein Büro vor Demonstranten
schützen, während die von ihm angefor-
derte Unterstützung ausblieb – »Moskau
antwortet nicht«, beschied man ihm.
Er zog daraus die Lehre, dass der Staat
nie Schwäche zeigen darf. Wenn es eine
Ideologie namens Putinismus gäbe, wä-
re dies ihr erster Grundsatz – und das
oberste außenpolitische Ziel hieße Sou-
veränität.
Ein souveräner Staat lässt sich nicht von
anderen hereinreden – nicht von den Ver-
einigten Staaten und nicht von all jenen,
die Putin als Handlanger des Westens be-
trachtet: Internationaler Währungsfonds,
Wahlbeobachter, Internetkonzerne, Nicht-
regierungsorganisationen.
Putin habe den Blick eines Geheim-
dienstlers auf die Außenwelt, sagt Riac-
Chef Kortunow. »Trump kommt aus dem
Immobilienhandel, deshalb sieht er überall
Business-Chancen. Putin kommt aus der
Auslandsspionage, er sieht Bedrohungen
und Verschwörungen.«
Wer mit Putins Augen auf die Welt
schaut, wird nur wenige wirklich souverä-
ne Staaten erkennen. Die meisten sind zu
klein und zu schwach, um ihre Interessen
zu verteidigen. Andere – wie Deutschland
– sind nicht willens, das zu tun.
Umso wichtiger ist es für Putin, dass die
wenigen starken Staaten ihre Einfluss-
Sphären definieren. Die prowestlichen Eu-
romaidan-Proteste in Kiew 2013/14 waren
für Putin nicht Ausdruck innerer Unzufrie-
denheit, sondern Folge äußerer Einmi-
schung. Der Angriff richtete sich nicht ge-
gen die Ukraine, sondern gegen Russland
mit seiner Einflusssphäre. »Russland konn-
te nicht weiter zurückweichen«, rechtfer-
tigte er die Annexion der Krim.
Damals brach er nicht nur Völkerrecht,
er brach auch mit seinem alten, vorsichtig
abwägenden Ich. Auf die Krim folgte das
Abenteuer im Donbass, der gefährliche
Versuch einer Spaltung der Ukraine. Am
Ende hatte Putin zwar Russland vergrö-
ßert, aber Russlands Einflusssphäre ver-
kleinert. Die Ukraine gehört nicht mehr
dazu.
Der Gegenangriff
Im März 2009 schenkte US-Außenminis-
terin Hillary Clinton ihrem russischen
Amtskollegen Sergej Lawrow einen rot-
gelben Startknopf mit der Aufschrift
»Reset«, auf Englisch und Russisch. Man
wolle einen Neustart im gegenseitigen Ver-
hältnis, hieß das. Allerdings hatten die US-
Diplomaten das Wort falsch übersetzt, auf
Russisch stand dort »Überlast«.
Es war ein Versuch Washingtons, das
Verhältnis zu Russland grundlegend zu
verbessern – und er ging gründlich schief.
Putin hielt die Außenpolitik von Barack
Obama für hochideologisch und gefähr-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 ROMAN MAKHMUTOV / REDUX / LAIF

Präsident Putin: Blick eines Geheimdienstlers auf die Welt

81
 Ausland
lich. Obama begrüßte die Rebellionen in an?« Auch in Europa versucht Moskau,
der arabischen Welt. Seine Ministerin Hil- russlandfreundliche Kräfte zu stärken.
lary Clinton unterstützte Straßenproteste Dass diese Kräfte zugleich EU-skeptisch
in Moskau. In Libyen wurde Diktator Mu- sind, ist kein Zufall: EU-Gegner sind Sou-
ammar al-Gaddafi aus dem Amt gebombt. veränisten, das verbindet sie mit Putin.
Man brauchte aus Putins Sicht nur die Und es ist auch kein Zufall, dass sie oft
Punkte zu verbinden, um zu sehen: Die Rechtspopulisten sind. Putins Russland
Vereinigten Staaten scherten sich nicht um positioniert sich als Bastion gegen den
Souveränität, sie wollten die Welt nach ih- westlichen Liberalismus, gegen ein angeb-
rem Ebenbild gestalten. liches Übermaß an Emanzipation und In-
Der Neustart war gescheitert, noch be- dividualismus – gegen »Gayropa«, wie es
vor mit der Ukrainekrise das ganz große in Russland verächtlich heißt.
Zerwürfnis mit dem Westen begann und Moskau unterstützte die französischen
Russland mit Sanktionen belegt wurde. Rechtspopulisten um Marine Le Pen und
Und so ging Putin dazu über, den Kon- die italienischen um Matteo Salvini, wie
flikt ins Feld des Gegners zu tragen. Russi- ein abgehörtes Gespräch eines Salvini-Ver-
sche Geheimdienste mischten sich 2016 trauten in Moskau nahelegt.
in den US-Präsidentschaftswahlkampf ein.
Moskaus Sympathien waren kein Geheim- Wende nach Osten
nis: Der dezidiert russlandfreundliche Do-
nald Trump trat gegen Clinton an, die man Diesen Dezember hatte Chinas Präsident
in schlechter Erinnerung hatte. Aber Putin Xi Jinping Gelegenheit, sein spärliches
unterschätzte, wie empfindlich die US- Russischvokabular einzusetzen. Es war bei
Öffentlichkeit auf jeden Verdacht einer der feierlichen Eröffnung der Gaspipeline
Einmischung reagieren würde. »Kraft Sibiriens«, die über 3000 Kilometer
»Die offizielle Linie ist: Wir haben uns Gas an die russisch-chinesische Grenze
nie eingemischt und werden es nie tun. bringen wird. Xi und Putin waren per Vi-
Aber dann gibt es sozusagen noch eine deo zugeschaltet, um den Befehl zum Start
Fußnote, die sagt: Ihr habt euch bei uns zu geben. »Pojechali«, »Los!«, sagte Xi
schon seit Gorbatschows Zeiten einge- auf Russisch, so wie einst Jurij Gagarin vor
mischt und Chaos gesät. Jetzt lernt mal, seinem Flug ins All.
dass ihr selbst auch nicht geschützt seid«, »Kraft Sibiriens« ist ein Jahrhundert-
sagt Kortunow. projekt – 55 Milliarden Dollar soll der Bau
Diese Doppeldeutigkeit ist typisch für kosten, 400 Milliarden Dollar das russi-
Putins Haltung gegenüber dem Westen. sche Erdgas, das mehr als 30 Jahre lang
»Psychologisch ist Außenpolitik für Putin, durch die Röhre fließen wird.
wenigstens hin und wieder, wie eine ›Spez- Putin besiegelte es im Mai 2014 in
Operazija‹, eine Geheimdienstoperation. Shanghai, als der Westen mit Sanktionen
Da ist alles erlaubt – Desinformation, Ver- drohte. Von einer epochalen »Wende nach
schweigen«, sagt Kortunow. »Aber wo Osten« sprachen damals Kommentatoren.
hört die Geheimdienstoperation auf, und Und tatsächlich rückte Moskau immer nä-
wo fangen partnerschaftliche Beziehungen her an Peking. Im Oktober verblüffte der
Russland…
… stimmt Vorgehen in Ukraine
Syrien mit der Türkei
RUSSL AND
ab, liefert ihr S-400-
Flugabwehrsysteme. Moskau
… nimmt Gasleitung
nach China in Betrieb,
Libyen
baut ein Frühwarnsystem
…pflegt enges gegen ballistische
Sudan
Bündnis mit Iran. Raketen auf.
Syrien
Zentral- Südsudan
afrikanische
Republik
Putins Außenpolitik
Mosambik
militärische Konflikte Eurasische Wirtschaftsunion
paramilitärische Einsätze mögliche Erweiterungskandidaten
der »Gruppe Wagner« Freihandelsabkommen
Länder mit russischen
Militärstützpunkten
82
Kremlchef die Welt mit der Ankündigung,
man werde China beim Aufbau eines Früh-
warnsystems gegen ballistische Raketen
helfen.
Die Annäherung war nicht einfach. »Pu-
tin kennt sich mit China nicht gut aus. Des-
halb hat er ein bisschen Angst, oder sagen
wir es so: Er sieht Risiken«, sagt Alexander
Gabujew, Chinaexperte am Carnegie-
Zentrum in Moskau. In Russland fürchtete
man, chinesische Migranten würden Sibi-
rien besiedeln. Das stellte sich als falsch
heraus. Andere Ängste – etwa vor Chinas
Dominanz in Zentralasien – waren berech-
tigt. Aber statt gekränkt zu sein, fand Mos-
kau sich damit ab.
Putin und Xi haben vieles gemeinsam,
und im Sommer nannte Xi den Russen sei-
nen »besten Freund«. »Putin und Xi sind
Altersgenossen«, sagt Gabujew. »Ihre Vä-
ter haben im Krieg gekämpft. Ihre Jugend
war nicht einfach. Sie haben Töchter im
selben Alter. Beide sind Nationalisten, die
ihr Land ›great again‹ machen wollen und
skeptisch auf die USA schauen.«
Emmanuel Macron hat unterstellt, Pu-
tin sei es unwohl bei der Annäherung
an China. »Ich glaube nicht eine Sekun-
de, dass es Putins Strategie ist, Chinas Va-
sall zu sein«, sagte der französische Präsi-
dent. Europa solle Russland deshalb eine
Partnerschaft anbieten. Es klang wie: Ihr
habt euch nach Osten gewendet, jetzt
wendet euch zurück nach Westen, bevor
es zu spät ist.
Aber Russland fühlt sich nicht als Vasall
Chinas. Es hat kein Bündnis, das es zum
Beistand verpflichten würde. Und selbst
wenn sämtliche westlichen Sanktionen
aufgehoben würden, Russlands langfristi-
ge Interessen würden das Land weiterhin
an China binden.
Da ist die lange gemeinsame Grenze,
die eine Sicherheitskooperation erzwingt.
Da ist der Handel zwischen Rohstoff-
exporteur und Rohstoffimporteur. Und
dann ist da die Ähnlichkeit der politischen
Systeme.
Was wie Russlands »Wende nach Os-
ten« oder nach China aussah, das war eher
eine »Wende zu sich selbst«, so formuliert
es der Moskauer Carnegie-Chef Dmitrij
Trenin.
Waffen, Know-how, Söldner
»Armija Rossii«, der offizielle Shop der
russischen Streitkräfte, bietet seit Langem
eine eigene Syrienkollektion. Die T-Shirts
zeigen etwa einen russischen Soldaten vor
den Ruinen Palmyras oder ein Peace-Zei-
chen in Form eines Militärjets, sandfarben
hinterlegt.
Wenig hat das Selbstbild Russlands so
verändert wie der Syrieneinsatz, den Putin
2015 begann. Mit Baschar al-Assad ver-
dankt ein brutaler Diktator Russland sein

Opfer eines Luftangriffs in der syrischen Provinz Idlib im August: Erfolg mit brutaler Gewalt
Überleben. Aber von Skrupeln ist in Mos-
kau nichts zu spüren. Die Intervention in
Syrien steht hier für eine erfolgreiche
Politik, die brutale Gewalt und emsige Di-
plomatie verknüpft – und mit begrenzten
Mitteln maximalen Erfolg erzielt.
Auch Riac-Chef Kortunow war über-
rascht, wie professionell der Kreml in Sy-
rien vorging, anders als zuvor in der Ukrai-
ne. »Es ging ursprünglich nicht darum, den
Westen zu ersetzen, sondern sein Verhal-
ten zu ändern: Ihr habt den Irak und Li-
byen zerstört, jetzt wollt ihr auch noch
Syrien zerstören. Wir zeigen euch, wie
man solche Probleme löst.«
Je mehr aber Washington sich in Syrien
zurückhielt, desto mehr stieg Russlands
Gewicht. Putins Schützling Assad kontrol-
liert wieder große Teile des Staatsgebiets.
Syrien war nur der Anfang einer global
aktiveren Außenpolitik. Im Oktober hielt
Putin in Sotschi einen Afrikagipfel ab,
43 Staaten waren mit ihren Staats- oder
Regierungschefs vertreten. Zum ersten
Mal seit Sowjetzeiten zeigte Russland,
dass es in Afrika mitbestimmen will.
Nach außen hin sieht es aus, als wollte
Putin an das sowjetische Imperium an-
knüpfen. In Wahrheit ist Russland weder
willens noch fähig, die nötigen Ressourcen
aufzubringen.
Stattdessen ist Moskau zum Nothelfer
und Dienstleister für Despoten geworden.
In Venezuela hilft Putin dem angeschlage-
nen Autokraten Nicolás Maduro, im Su-
dan stützte er Diktator Omar al-Baschir.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Anders als zu Sowjetzeiten hat Moskau
keine Ideologie zu bieten, dafür Waffen,
militärisches Know-how, Söldner. Dabei
ist Russland nur in Syrien hohe Risiken
eingegangen. Überall sonst ist sein Einsatz
niedrig. Moskau verhält sich wie ein Casi-
nospieler, der kleine Spielmarken auf mög-
lichst viele Felder setzt.
Der russische Staat tritt selbst oft gar
nicht in Erscheinung. Der Petersburger
Geschäftsmann Jewgenij Prigoschin, ur-
sprünglich Caterer für die Armee, kontrol-
liert mittlerweile ein Firmenkonglomerat,
das Söldnerdienste, Politikberatung und
Desinformationskampagnen anbietet und
sich mit Geld oder Rohstoffen bezahlen
lässt. Private Militärunternehmen sind in
Russland eigentlich verboten. Aber für Pri-
goschin und seine »Gruppe Wagner« gilt
das nicht. Als Verteidigungsminister Sergej
Schoigu 2018 in Moskau den libyschen
Warlord Khalifa Haftar empfing, saß Pri-
goschin mit am Tisch.
Das Verwischen der Grenze zwischen
Staat und Privatwirtschaft hat für den
Kreml Vorteile: Er kann sich von fragwür-
digen Aktionen distanzieren und Kosten
senken.
Die neue Weltordnung
Im Herbst eröffnete Putin ein Denkmal
für den russischen Ex-Premier und Außen-
politiker Jewgenij Primakow. Im Westen
ist Primakow dafür bekannt, dass er 1999
bei einer Washington-Reise sein Flugzeug
ABDULLAH HAMMAM / AFP
umdrehen ließ, um gegen die Bombardie-
rung Jugoslawiens durch die Nato zu pro-
testieren. »Dank ihm kehrte die Achtung
für unser Land in die internationale Di-
plomatie zurück«, sagte Putin. Primakow
habe für das Konzept der »Multipolari-
tät« gekämpft.
Man muss sich die »multipolare« Welt-
ordnung, die Putin vorschwebt, als exklu-
siven Klub vorstellen – wie eine Art Tafel-
runde, an der zehn bis zwölf Mächte sitzen
und völlig ebenbürtig die Geschicke der
Welt entscheiden. Aber eine neue Welt-
ordnung zu schaffen, nachdem die alte zer-
fallen ist, das überspannt Russlands Kräfte.
Carnegie-Chef Trenin schreibt: »Was für
Russland zählt, ist nicht die Weltordnung
an sich, sondern Russlands Platz darin.«
Und dieser Platz hat sich tatsächlich
geändert. Russland hat an Einfluss und
Selbstbewusstsein gewonnen. Die USA
dagegen haben an Autorität verloren, die
EU ist mit sich selbst beschäftigt, der Nato
hat Präsident Macron gerade den »Hirn-
tod« diagnostiziert. Vielleicht endet damit
endlich auch die Zeit, da Russland sich
ständig von einem starken Westen ge-
kränkt fühlt.
Der russische Politologe Wladimir Fro-
low formuliert es so: »In Moskau hat man
derzeit den Eindruck, man müsse nur
noch ein bisschen am Ufer sitzen bleiben
und warten, bis der Leichnam der Nato
vorbeischwimmt.« Christian Esch
Twitter: @Moskwitsch
83

Düstere
Aussichten
Iran Die Proteste haben das
Regime verunsichert. Das
Nuklearabkommen steht vor
dem Aus – und im Januar
droht die nächste Eskalation.
D ie Petition ist eine einzige große An-
klage gegen das iranische Regime.
»Wie geht Ihr mit der Bevölkerung
um?«, fragen die Verfasser. »Viel Blut un-
schuldiger junger Menschen« sei vergossen
worden. »Wollt Ihr die Menschen weiter-
hin mit Gewalt daran hindern, ihre ele-
mentaren Rechte wahrzunehmen?«
Mehr als 35 000 Menschen haben bis-
lang die Onlinepetition unterzeichnet, die
der Oscarpreisträger Asghar Farhadi und
der Berlinalegewinner Jafar Panahi mit an-
deren Filmemachern und Künstlern unter-
stützt hatten. Das Schreiben ist eine wei-
tere Aktion gegen die Machthaber des Lan-
des, nach einer Welle von Protesten, die
Iran Mitte November überrollte.
Überall im Land gingen Zehntausende
auf die Straße, um gegen eine Regierung
zu protestieren, die unfähig ist, ihnen Ar-
beit und Brot zu geben. Es waren die
schwersten Unruhen seit Gründung der
Islamischen Republik vor 40 Jahren.
Das Regime reagierte brutal, die
Proteste wurden mit Gewalt nieder-
geschlagen, es gab vermutlich Hun-
derte Tote. Wer gehofft hatte, der
Druck von innen würde die Macht-
haber in der Islamischen Republik
zu Kompromissen im Streit mit den
USA bewegen, sollte sich täuschen.
Auf Donald Trumps Kampagne
des »maximalen Drucks« antwor-
tet Iran mit maximalem Wider-
stand. Versuche des französischen
Präsidenten Emmanuel Macron,
zwischen Trump und den Iranern
zu vermitteln, scheiterten. »Die
Unruhen haben es noch schwerer
gemacht«, sich aufeinander zuzu-
bewegen, heißt es im Auswärtigen
Amt in Berlin.
In Washington sehen sich die
Hardliner in ihrer Strategie bestä-
tigt. Der US-Sonderbeauftragte für
Iran, Brian Hook, zeigte sich »sehr
erfreut über die Proteste«. Außen-
minister Mike Pompeo nannte sie
»ein direktes Resultat des wirt-
schaftlichen Zusammenbruchs« in-
folge der US-Sanktionen. Dass
darunter vor allem die iranische Be-
84
Ausland
völkerung leidet, stört die Strategen in Wa-
shington nicht. »Manchmal werden die
Dinge schlimmer, bevor sie besser wer-
den«, sagt der im US-Außenministerium
für die Region zuständige David Schenker.
Zugleich schwinden die Aussichten für
die Europäer, das Atomabkommen mit
Iran aufrechtzuerhalten. Anderthalb Jah-
re nachdem Trump aus der Vereinbarung
ausgestiegen ist, steht der Deal, der ira-
nische Nuklearwaffen verhindern soll, vor
dem Aus.
Den Weg der Eskalation geht das Re-
gime in Teheran bislang schrittweise. Alle
zwei Monate weitet Iran seine Verstöße
gegen das Atomabkommen aus. Die Euro-
päer versuchen, das zu ignorieren. »Die
iranische Regierung bestraft Europa für et-
was, das die USA tun«, heißt es in Berlin.
Inzwischen hat Iran unter anderem die
erlaubte Gesamtmenge an angereichertem
Uran überschritten, leistungsfähigere Zen-
trifugen in Betrieb genommen und die
Urananreicherung in der unterirdischen
Anlage in Fordo wieder aufgenommen.
Diplomaten in Paris erwarten die nächs-
te Eskalation durch Teheran Anfang Ja-
nuar. Das könnten Einschränkungen für
Besuche der Internationalen Atomenergie-
behörde IAEA in den iranischen Atom-
anlagen sein. Oder eine größere und höher
angereicherte Menge Uran. Damit würde
sich die »breakout time« weiter verkürzen,
also die Zeit, die Iran brauchen würde, um
genug waffenfähiges Material für eine Nu-
klearbombe herzustellen.
Berlin und Paris bereiten sich auf Ge-
genmaßnahmen vor. Man sei in der »Vor-
Revolutionsführer Ali Khamenei: »Blut vergossen«
phase« zum Auslösen des »Dispute Re-
solution Mechanism«, der im Nuklear-
abkommen für Streitfälle vereinbart ist,
heißt es aus dem Auswärtigen Amt.
Der Mechanismus sieht vor, dass eine
gemeinsame Kommission Streitpunkte
ausräumt. Wenn keine Einigung erzielt
wird, kann die Sache an den Uno-Sicher-
heitsrat verwiesen werden, der die Sank-
tionen gegen Iran wieder einsetzt. Die
Europäer versichern, dass der Weg zum
Sicherheitsrat nicht vorgezeichnet sei.
»Sollten wir diesen Mechanismus auslö-
sen, dann in der Absicht, das Atom-
abkommen zu erhalten und Raum für
Verhandlungen zu schaffen«, sagt ein
französischer Diplomat. Tatsächlich aber
würden die Europäer damit eine weitere
Eskalationsspirale in Gang setzen. Der
wahrscheinliche Ausgang: das Ende des
Abkommens.
Denn die Iraner fordern im Gegenzug
für die Einhaltung des Abkommens wirt-
schaftliche Vorteile: den Zugang zum in-
ternationalen Finanzsystem und die Mög-
lichkeit, Öl zu exportieren.
Das aber leisten die Europäer nicht. Die
Handelsgesellschaft Instex, die Deutsch-
land, Frankreich und Großbritannien ge-
gründet haben, um Geschäfte mit Iran
trotz der US-Sanktionen zu ermöglichen,
ist viel zu schwach, um die desolate Wirt-
schaft aufzupäppeln.
Sollte das Atomabkommen scheitern,
könnte das für die Region und darüber
hinaus katastrophale Folgen haben. Denn
Teheran droht damit, auch den Atom-
waffensperrvertrag zu kündigen, mit dem
sich die Nichtnuklearmächte ver-
pflichten, nicht nach Atomwaffen
zu streben. Vor allem die Hardliner
in Teheran bereiten die iranische
Öffentlichkeit auf einen Ausstieg
aus diesem Abkommen vor. Das
Argument: Es habe für Iran nur
Nachteile, man solle lieber »von
Nordkorea lernen«, das den Ver-
trag 2003 verlassen hat.
Sollte Iran vom Vertrag tatsäch-
lich zurücktreten, könnten sich
auch andere Länder nicht mehr an
die Selbstbeschränkung gebunden
fühlen. Saudi-Arabien, Ägypten
und die Türkei könnten beginnen,
Atomwaffen zu entwickeln.
Immerhin: Anfang Dezember
tauschten Washington und Teheran
als Zeichen guten Willens zwei Ge-
fangene aus. In den USA kam der
iranische Stammzellenforscher Ma-
soud Soleimani frei, in Iran der ame-
rikanische Historiker Xiyue Wang.
Nicht mehr als ein Hoffnungsschim-
ACTION PRESS
mer, aber immerhin.
Christiane Hoffmann,
Susanne Koelbl, Britta Sandberg
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
DIE NEUE DIGITTA
ALE WELLTT DES
MANAGER MAGAZINS
Einmal anmelden, überall nutzen –

1 Monat
gratis!

Zugriff auf exklusive Die digitale Ausgabe des Jeden Abend mehr Überblick:
premium-Inhalte manager magazins – bereits am Tag vor Der Newsletter für kompaktes Wissen
auf manager-magazin.de Erscheinen der gedruckten Ausgabe. zu den Wir tschaftsthemen des Tages.

Ja, ich möchte manager magazin premium 1 Monat gra

r tis testen!
abo.manager-magazin.de/premium
 SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

Guatemaltekin Augustín mit Tochter Estrella in Canton, Mississippi: »Jetzt wohnt die Angst bei uns«

86

Heimsuchung
USA Seit Jahrzehnten schuften illegal Eingewanderte in Mississippis Hühnerfabriken. Bei der
größten Razzia, die es je in einem Bundesstaat gab, nahmen die Behörden 680 Schwarzarbeiter fest.
Sie verdeutlicht, was Präsident Donald Trump unter Migrationspolitik versteht. Von Katrin Kuntz
E
s war frühmorgens am 7. August,
gegen 6.30 Uhr, ein heller Som-
mermorgen in Mississippi, als
Rosa Augustíns Traum von Ame-
rika zerplatzte. Sie hatte an diesem Tag
gezögert, zur Arbeit zu gehen. Am Vor-
abend hatte sie Bauchschmerzen gehabt.
Als hätte sie etwas geahnt.
Bevor Augustín ihr Haus verlässt, so er-
zählt sie es später, verabschiedet sie sich
von ihrer Tochter, die ihren ersten Schul-
tag als Zweitklässlerin haben wird.
Pünktlich um 5.45 Uhr betritt sie das
Gelände von Peco Foods, einer Hühner-
fabrik am Stadtrand von Canton. Die
Schlote des Flachbaus qualmen
auch an diesem Morgen, berich-
tet Augustín später, Laster karren
Tausende Hühner heran.
Peco Foods betreibt, als einer
der größten Geflügelproduzen-
ten in den USA, fünf Firmen in
Mississippi. Jedes Jahr werden
im ärmsten Bundesstaat rund
700 Millionen Brathähnchen ver-
arbeitet. 25 000 Arbeiter sorgen
für einen Umsatz von mehr als
2 Milliarden US-Dollar im Jahr.
Augustín arbeitet seit 14 Jah-
ren in dem Betrieb. Sie hat seit
ihrer Flucht aus Guatemala hier
Karriere gemacht und bedient
einen Computer, der Hähnchen- Polizisten bei Einsatz gegen Migranten: Historischer Erfolg für ICE
schenkel wiegt. Vor ihr sortieren
Kolleginnen Schenkel am Band.
Niemand in ihrem Team hat eine gültige
Arbeitserlaubnis, sie alle sind Latinas und
haben vor Jahren die Vereinigten Staaten
über die südliche Grenze illegal betreten.
Das habe die Firma gewusst, sagt Augustín.
Als Augustín gegen 6.20 Uhr ihren
Computer gestartet hat, hört sie ein Brum-
men. Sie versteht nicht, dass es Hubschrau-
ber sind. »ICE!!!«, schreit eine Kollegin,
»ICE!!!« Augustín schaut sich verwundert
um. »Ich dachte, dass die Kollegin frisches
Eis braucht«, erinnert sie sich später.
Die Beamten der US-Einwanderungsbe-
hörde ICE, kurz für »Immigration and Cus-
toms Enforcement«, umstellen das Gelän-
de. Sekunden später stürmen Männer mit
gezückten Waffen herein, erzählt Augustín.
Einige Arbeiter versuchen zu fliehen.
Zwei Männer verstecken sich in einem
Kühlschrank, andere Arbeiter kauern sich
unter Kisten. Rosa Augustín sagt, sie sei
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Ausland
wie versteinert gewesen. Die Aufforderun-
gen der Beamten dringen wie aus weiter
Ferne zu ihr. Wenig später legt man ihr
Handschellen an.
Rosa Augustín wird unfreiwillig Teil eines
historischen Erfolgs für ICE. 680 Menschen,
die ohne Papiere in sieben Hühnerfabriken
des Bundesstaats arbeiteten, gehen der Ein-
wanderungsbehörde ins Netz. Rund 600 Be-
amte haben an einem Tag sieben Städte durch-
kämmt. In Canton verhaften sie etwa 130
Arbeiter. Im nahen Morton sind es 342. In
Carthage erwischen sie rund 100 Menschen.
Die Razzia am 7. August 2019 in Missis-
sippi war die größte Arbeitsplatzdurch-
suchung gegen illegal Eingewanderte, die
es in der Geschichte der USA je in einem
einzelnen Bundesstaat gab. Nie zuvor seit
Gründung der Einwanderungsbehörde
nach den Anschlägen vom 11. September
2001 war ICE an einem Ort so erfolgreich.
Es ist ein Triumph für US-Präsident
Donald Trump. Seit Beginn seiner Amts-
zeit setzt er sein Wahlversprechen um und
macht Jagd auf Migranten, die ohne Pa-
piere im Land leben. Während der Mauer-
bau an der Außengrenze nur schleppend
vorankommt, lässt der US-Präsident im
Landesinneren Städte und Fabriken durch-
forsten. Die Zahl der Razzien stieg im
ersten Jahr nach seinem Amtsantritt um
300 Prozent.
Es hatte schon eine ähnlich massive Raz-
zia 2008 unter George W. Bush gegeben.
Damals durchsuchte ICE einen Schlacht-
hof in Iowa und nahm 400 Menschen fest.
Barack Obama, dem Aktivisten wegen der
rund drei Millionen Abschiebungen in sei-
ner Amtszeit den Spitznamen »Chef-Ab-
schieber« verliehen, hielt wenig von Mas-
senrazzien. Trump hat dieses Spektakel
wiederbelebt.
Und so gingen im August 2019 von
Mississippi aus Bilder um die Welt von
zahlreichen verschüchterten Latinos in
Handfesseln, die in Reisebusse verfrachtet
werden. Es sah aus, als ginge von diesen
Arbeitern ein Sicherheitsrisiko aus.
Trump hat bisher weniger Einwanderer
abschieben lassen als die Amtsinhaber vor
ihm, aber es gibt in der Vorgehensweise
einen Unterschied: Seine Vorgän-
ger konzentrierten sich auf die
Abschiebung von Neuankömm-
lingen – doch unter Trump gelan-
gen ohnehin immer weniger Men-
US IMMIGRATION AND CUSTOMS ENFORCEMENT / AFP
schen ins Land. Der Präsident
lässt nun jene abschieben, die
zum Teil seit Jahrzehnten im
Land leben. Das ist das Neue.
Drei Monate später steht die
Kleinstadt Canton noch unter
Schock. Der Bürgermeister, der
am 7. August vor Ort war, spricht
von einer »Invasion«. Behörden-
leiter schütteln den Kopf, weil
niemand sie über den Einsatz
informiert hat. Für die Latinos
in Mississippis Gemeinden fühlt
sich die Aktion wie eine Heim-
suchung an.
Kinder, die im August aus der Schule ka-
men und weder Mutter noch Vater vorfan-
den, wurden von Freiwilligen zu einer Sam-
melstelle in einem Fitnesscenter gebracht.
Nach der Razzia gab es verzweifelte Väter,
die nicht wussten, wie man ein Baby wi-
ckelt. Mütter, die mit Neugeborenen allein
in ihrer Wohnung saßen. Da war ein junger
Mann, der die vier Kinder seiner Nach-
barin aufnahm. Eine 21-Jährige, die nach
Guatemala abgeschoben wurde, obwohl
ihre beiden Kinder weiter in Canton leben.
Die Stadt Canton, einst bekannt gewor-
den durch ihre Baumwollindustrie, hat
rund 13 000 Einwohner, aber sie wirkt
Ende November wie ausgestorben. Viel
war hier schon vorher nicht los, leere
Schaufenster zeugen von einer ehemaligen
Videothek, einer Bar, einem Friseursalon.
Wer von den Latinos noch da ist, versteckt
sich jetzt drinnen. Rosa Augustín, 36, ist
87

eine Frau mit weichen Zügen und rauen
Händen. Sie trägt einen Rock, die Haare
zusammengebunden. Die Geschehnisse
wühlen sie auf, aber ihre Stimme klingt
selbstbewusst. Im Vorgarten ihres Hauses
nahe der Fabrik steht ein löchriges Tram-
polin, eine Katze streicht über die verfal-
lene Veranda.
Drinnen leuchten die Wände in Rot.
Augustín hat Fotos ihrer achtjährigen Toch-
ter und ihres achtzehnjährigen Sohnes auf-
gehängt. Augustín und ihr Mann haben
das Haus von ihrem Lohn gekauft. »Jetzt
wohnt die Angst bei uns«, sagt sie.
Die Hälfte ihrer Nachbarschaft sei ver-
schwunden – entweder verhaftet oder auf
der Suche nach Arbeit in einen anderen
Bundesstaat gezogen. Drei Monate hat
Augustín nach der Razzia in Haft gesessen.
Ihr Ehemann hat sie mithilfe eines Pastors
für 7000 US-Dollar Kaution ausgelöst.
Das Geld hatten wohlhabende Amerika-
ner gespendet. Jetzt wartet sie auf ihr Asyl-
verfahren, das sehr wahrscheinlich mit
einer Abschiebung enden wird.
»Was soll ich ohne meine Kinder in Gua-
temala, wo ich niemanden mehr kenne?«,
fragt Augustín leise. »Ich habe 14 Jahre
lang in Canton gearbeitet und nie ein Ver-
brechen begangen.« Ihre Tochter ist hier
geboren, sie ist US-Staatsbürgerin. »In
Guatemala müsste ich sie in vielem ein-
schränken: in ihrer Bildung, ihrem Essen
und ihrer Art zu denken.« Hastig zieht Au-
gustín das Schulzeugnis des Mädchens her-
vor, Bestnoten darauf. Dann weint sie.
Von den 680 festgenommenen Arbei-
tern ließ ICE innerhalb von 24 Stunden
rund 300 aus »humanitären Gründen«
wieder gehen – etwa weil ihre Kinder al-
lein zu Hause ausharrten. Einige bekamen
eine elektronische Fußfessel um, mit der
Mahnung, den Bundesstaat nicht zu ver-
lassen. Etwa 200 Migranten sitzen noch
in Haft. Etliche wurden schon abgescho-
ben. Einige, weil man ihnen eine mehrfa-
che illegale Einreise nachweisen konnte.
Andere, weil sie in Haft ein Papier zur an-
geblich »freiwilligen Abschiebung« unter-
schrieben haben sollen.
Gegründet 1776 durch Nachfahren eu-
ropäischer Einwanderer, waren die USA
immer ein Land, das Migranten Chancen
bot. Auch Präsident Trump konnte Billig-
löhnern einst etwas abgewinnen.
Etwa als er auf der Baustelle eines Lu-
xushotels in Washington, D. C., illegal ein-
gewanderte Maurer aus Mittelamerika an-
heuerte. In seinem Golfklub beim Resort
Mar-a-Lago und in seinem Weingut arbei-
teten bis dieses Jahr Arbeiter aus Zentral-
amerika, die keine Papiere besaßen. Diese
Arbeiter bauten über Jahre Brunnen und
Wasserfälle, Gehwege und Steinwälle.
Obwohl Trump 2016 feststellte, dass es
»sehr, sehr schwer« sei, gute Leute für die
Servicebranche zu finden, malte er die
88
Ausland
Ermittlungsleiter Miles: 24 000 Arbeitsstunden, 22 Terabyte Daten
Migranten im Laufe seines Wahlkampfs
als existenzielle Gefahr für die Vereinigten
Staaten, er stellte den amerikanischen
Traum auf den Kopf. Bezeichnete er sie
zunächst als Kriminelle, Dealer und Ver-
gewaltiger, folgte schließlich sein berühm-
testes Versprechen: Der Bau einer »gro-
ßen, großen Mauer« an der Grenze zu Me-
xiko. Zusätzlich nahm er die geschätzt
rund elf Millionen Migranten ins Visier,
die sich illegal in den USA aufhalten sollen.
Sofort nach seinem Amtsantritt weitete
er die Handhabe der Einwanderungsbe-
hörde aus, die nun auch jene verfolgen soll,
die seit Jahrzehnten ohne Aufenthaltsge-
Im Wahlkampf 2016 hat
Trump versprochen,
zwei bis drei Millionen
abzuschieben.
nehmigung in den USA leben. Trump ver-
schärfte auch die Haftbedingungen.
Im Jahr 2018 begann er, für einige Mo-
nate Familien zu trennen, die gemeinsam
die Grenze überschritten hatten, und ließ
Kinder über das Land verteilt in Lager
sperren. Er drohte den rund 200 Gemein-
den und Städten Budgetkürzungen an, die
Einwanderern ohne Papiere Schutz ver-
sprechen, den »sanctuary cities«. Wer an
der Südgrenze des Landes ankommt, soll
seinen Asylantrag prinzipiell nur noch auf
mexikanischem Boden stellen dürfen.
Nicht alle Vorhaben erzielen den ge-
wünschten Effekt. Viele davon bleiben vor
Gericht stecken. Aus Lateinamerika ma-
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
chen sich weiter Menschen auf, zu Fuß,
Hunderte Einwanderer bilden gleichzeitig
sogenannte Karawanen.
Im Juli 2019 kündigt Trump große Raz-
zien unter dem Namen »Operation Border
Resolve« an. ICE soll jene Migranten auf-
spüren, die sich trotz Abschiebebescheid
noch im Land verstecken. Im Visier sind
mehr als 2000 Menschen in rund ein Dut-
zend Städten: in New York, Los Angeles,
Chicago. Trumps Pläne verbreiten sich, be-
vor es losgeht. Am Ende nimmt ICE
35 Migranten fest. Im Wahlkampf 2016
hat Trump versprochen, zwei bis drei Mil-
lionen abzuschieben.
Er brauchte einen Erfolg, er brauchte
die Aktion in Mississippi.
Als Augustíns Tochter am 7. August von
der Schule nach Hause kommt, fragt sie
nach ihrer Mutter. »Sie bleibt heute län-
ger«, antwortet der Vater, er war der Raz-
zia mit Glück entkommen.
Rosa Augustín sitzt zu der Zeit mit ge-
fesselten Händen in einem Bus, der sie
auf ein Militärgelände nahe Mississippis
Hauptstadt Jackson bringt. Dort treffen
immer mehr Busse ein, gefüllt mit Arbei-
tern aus den anderen sechs Fabriken. Es
sei mit gefesselten Händen sehr schwer
gewesen, sich auf die Toilette zu setzen,
sagt sie. Die Aufseher hätten sie ausgelacht.
Am Abend wird sie in eine Haftanstalt
im benachbarten Bundesstaat Louisiana
gebracht. Die Arbeiterinnen aus Mississip-
pi, zu denen Augustín gehört, treffen auf
Frauen aus Honduras, El Salvador und
Guatemala, die gerade erst über die Gren-
ze gekommen sind. Augustín muss einen
orangefarbenen Overall anziehen. Man
sperrt sie in eine Zelle. »Es fühlte sich an,

Einwanderer bei Gottesdienst in Canton: »Die Aufpasser sind so begierig wie nie«
als würden die 14 Jahre gelöscht, die ich
in den USA verbracht habe«, sagt sie.
Die Beamten geben ihr ein Papier mit
Nummern von Gratisanwälten, die sie aber
nie erreichen kann. Zu Mittag gibt es Reis
und abgelaufene Milch. Dazwischen liest
sie die Bibel. An Tag drei, so erzählt Augus-
tín, habe sie ihre Tochter anrufen können.
»Ich werde eine Zeit lang nicht nach Hause
kommen, mein Kind«, habe sie gesagt. Da-
nach habe sie geweint, »wie ein Baby, das
man in der Wüste ausgesetzt hat«.
Drei Monate nach der Razzia lebt Au-
gustíns Familie jetzt von Spenden. Am
Vortag hat sie bei der Kirche Nudeln ab-
geholt, ein Hühnchen und Gemüse. Sie
traf auf andere Frauen aus der Fabrik, ei-
nige trugen Fußfesseln. »Die Situation tut
weh«, sagt Augustín. »Wir sind wie Vögel
im Nest, die auf Futter warten.« Ihr Mann
repariert Rohre bei einem Nachbarn, um
Geld ranzuschaffen. Augustín sagt: »Für
eine Arbeit würden wir alles geben.«
Ein Job in einer Hühnerfabrik kann ge-
sundheitsgefährdend sein. Eine Studie von
2015 zeigt auf, dass Arbeiter in der Fleisch-
und Fischindustrie, die beim Ausnehmen
der Tiere mehr als 15 000-mal am Tag die
gleichen Bewegungen machen, 20-mal häu-
figer ein Karpaltunnelsyndrom entwickeln
als Beschäftigte in anderen Branchen. Die
Kombination aus Geschwindigkeit und
scharfen Messern führt dazu, dass Arbeiter
regelmäßig Finger oder Hände verlieren.
Auch Peco Foods soll immer wieder Ar-
beitsstandards verletzt haben. Als Rosa
Augustín 2005 begann, schickte man sie
in den Kühlraum, hier packte sie Hühn-
chen ein. Nach Jahren wechselte sie in
die Abteilung »Zerteilen« und zerschnitt
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
95 Hühnerbrüste pro Minute. Bei ihrer
dritten Station löste sie Fett von Hühner-
körpern, die an einer Stange an ihr vor-
beirauschten. »Ich durfte in acht Stunden
einmal zur Toilette«, erzählt sie. Am lin-
ken Arm entwickelte sie einen chronischen
Schmerz. Aber soweit Rosa Augustín sich
erinnern kann, hat sie noch nie geklagt.
Schwarzarbeiter sind moderne Sklaven
der Hühnerbarone. In der Politik ist das
Problem seit Langem bekannt. Der Su-
preme Court setzte im Jahr 2002 in einer
5:4-Entscheidung fest, dass Arbeiter ohne
Papiere das Recht hätten, sich über die
Verletzung von Arbeitsstandards zu be-
schweren – dass Firmen solche Querulan-
ten aber nicht weiter beschäftigen müssen.
Für die Arbeiter verbesserte sich nichts.
Konservative Politiker versuchen, im tief
republikanischen Mississippi seit Jahren
die Einwanderungsgesetze zu verschärfen.
Gesperrt hat sich stets die Hühnerindus-
trie. Das »National Chicken Council«, die
Handelsorganisation der Branche, hat seit
1990 rund 3,5 Millionen US-Dollar an
politische Kandidaten gespendet, seit 2010
vor allem an Republikaner. Das System
der Geflügelverarbeitung würde zusam-
menbrechen ohne die Billigarbeiter.
Doch während Trump Misstrauen ge-
genüber Migranten schürt, scheint er sich
für die Rolle der Firmen weniger zu inte-
ressieren. Keine der sieben Hühnerfabri-
ken aus Mississippi wurde bisher belangt.
Der Mann, der die ersten Latinos in Mis-
sissippis Hühnerfabriken lockte, empfängt
in seinem Büro in einer Bank in Morton,
eine Stunde von Augustíns Haus entfernt.
Tito Echiburu ist 75 Jahre alt, ein freund-
licher Herr im Anzug, der in seiner Heimat
Chile einmal Profitennisspieler war. Echi-
buru kam in den Siebzigern mit einem Sti-
pendium nach Mississippi, studierte Wirt-
schaft und lernte John Rogers kennen, des-
sen Vater Rogers Poultry gegründet hatte,
eine der ersten Hühnerfabriken hier. In den
Achtzigerjahren aßen die Amerikaner im-
mer mehr Hühnchen; die Bänder liefen in
Dauerbetrieb. Es fehlten nur Arbeiter. Echi-
buru, der bald Finanzaufseher der Fabrik
wurde, hatte ein Problem.
Damals sah sein Chef eine Sendung
über arbeitslose Latinos in Miami. Kurz
darauf schickte er Echiburu rüber, um sie
nach Mississippi zu lotsen – mit Erfolg.
»Jede Woche brachte ich 45 Kubaner.« Die
Firma kutschierte sie in Greyhound-Bus-
sen nach Morton, bot ihnen verfallene
Wohnungen an. So entstand Anfang der
Neunziger das »Spanische Projekt«.
Die Kubaner hatten zwar alle Papiere,
aber Mississippi war ihnen zuwider. »Man
durfte hier kein Bier über die Straße tra-
gen«, sagt Echiburu entschuldigend. Alles
sei »etwas rassistisch« gewesen. »Die Ku-
baner wollten einen anderen Lebensstil.«
Seine rekrutierten Arbeiter liefen weg.
»Das Projekt öffnete aber die Tore für
Latinos aus anderen Gegenden«, sagt er.
Busse kamen bald von selbst an. Die
Latinogemeinde um die Fabriken wuchs
innerhalb eines Jahrzehnts um 1000 Pro-
zent. Mexikaner und Guatemalteken über-
nahmen die Jobs, die sonst keiner wollte.
Auch Rosa Augustín folgte aus Guatema-
la dem Weg, den Hunderte Familien aus
San Marcos bereits gegangen waren. Als
sie vor 14 Jahren durch den Rio Grande
in die USA schwamm, floh sie vor einem
Vater, der zu viel trank. In ihrem Dorf, in
der Nähe der Großstadt San Marcos, habe
sie keine Arbeit gefunden. Als der Vater
ihres ersten Sohnes begann, sie zu schika-
nieren, kehrte sie Guatemala mit 18 Jahren
den Rücken. »Alle im Dorf sagten, die
USA seien das Land der Möglichkeiten.«
Ihr jetziger Ehemann, den sie aus Gua-
temala kannte, holte sie an der Grenze ab.
Sie stiegen in einen Bus nach Canton. Au-
gustín traf jede Menge Bekannte aus dem
Dorf wieder. Am Morgen nach ihrer An-
kunft brachte sie jemand zu einem Trai-
lerpark neben der Fabrik von Peco Foods.
Ein Mann verkaufte ihr für 160 Dollar ge-
fälschte Papiere: »Das ist dein Dokument
mit deinem Namen und deiner Nummer.«
Zwei Tage später fing sie in der Hühner-
fabrik an. »Niemand stellte Fragen.«
Im Jahr 1986 hat der US-Kongress ein
Gesetz verabschiedet, das es für Firmen il-
legal macht, »wissentlich« Arbeiter ohne
Papiere anzustellen. Das Gesetz erfordert,
dass Arbeiter ein sogenanntes I-9-Formular
ausfüllen und unter Eid erklären, dass sie
in den USA arbeiten dürfen. Aber wenn Fir-
men falsche Dokumente erhalten, können
sie sich unwissend geben und sich aus der
89

Verantwortung ziehen. Die Einführung von
»E-Verify« sollte das ändern. E-Verify ist ein
elektronisches System, das die Angaben ei-
nes Arbeiters mit den Daten der Sozialver-
sicherungs- und Sicherheitsbehörden ab-
gleicht. Seit 2008 gehört Mississippi zu den
sechs US-Bundesstaaten, in denen alle Ar-
beitgeber verpflichtet sind, E-Verify zu nut-
zen. Auch das verhindert Missbrauch nicht.
Der ICE-Beamte, der den Einsatz in
Mississippi geleitet hat, heißt Jere T. Miles.
Sein Büro liegt im 23. Stock eines verglas-
ten Hochhauses in New Orleans, Bundes-
staat Louisiana, vier Fahrtstunden von
Canton entfernt. Miles ist ein großer,
freundlicher Mann mit Bauch und dröh-
nender Stimme. Auf dem Weg zu ihm pas-
siert man ein Trump-Porträt, wie es übli-
cherweise in US-Behörden hängt.
Von seiner Razzia spricht Miles in Re-
korden: 18 Monate dauerten die Vorberei-
tungen, 24 000 Arbeitsstunden flossen in
die Ermittlungen. 15 Durchsuchungsbefehle
hatte Miles in der Hand, die auf telefonisch
eingegangenen Tipps aufbauten. Schließ-
lich habe es genug Indizien für Schwarz-
arbeit gegeben. Der Generalstaatsanwalt
gab das Okay zur Durchsuchung. Bei dem
Einsatz konfiszierten Miles’ Leute 850 000
Dokumente und 61 Speichermedien mit
22 Terabyte Daten.
»Jedes Mal, wenn wir uns auf Schwarz-
arbeiter konzentrieren, werden ihre Me-
thoden zur Arbeitsbeschaffung ausge-
klügelter.« Vor Jahren hätten Firmen die
Arbeiter unter dem Tisch bezahlt. Heute
drehe sich alles um falsche Identitäten.
Natürlich handle es sich bei den Verhaf-
teten nicht um Leute, »die mit einer Knar-
re in der Hand herumrennen«. Aber wenn
Illegale die Sozialversicherungsnummern
von US-Bürgern verwendeten, entstehe
denen ein finanzieller Schaden.
»Wer sich in den USA aufhält, ohne le-
gal eingereist zu sein, begeht ein Verbre-
chen«, sagt Miles. Insofern sei die Razzia
ein Erfolg. Jetzt wolle man den Firmen
nachweisen, dass sie Komplizen gewesen
seien. Das sei schwieriger. Miles weiß, dass
unter Trump die Razzien zugenommen
haben, aber weniger Firmen juristisch
belangt werden. Der Fall brauche Zeit.
Die Migranten, sagt Miles, hätten so-
wieso kaum zur Wirtschaft beigetragen.
Historisch gesehen, hätten sie den Afro-
amerikanern die Jobs weggenommen,
weil diese versucht hätten, sich in Gewerk-
schaften zu organisieren, was den Firmen
nicht gepasst habe. »Es gibt in Mississippi
genügend Arbeiter, die diese Jobs machen
würden, wenn man sie anständig behan-
delte.« Außerdem sendeten Migranten
einen Großteil ihres Lohns in den Süden.
Hat sich unter Trump etwas für ihn ge-
ändert? »Philosophisch ja.«
»Wenn wir früher rausgingen, haben
wir oft weggeschaut«, sagt Miles. »Wenn
90
Ausland
Manager Echiburu
»Jede Woche 45 Kubaner«
wir jetzt nach Flüchtigen suchen und dabei
Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung
finden, verhaften wir sie.«
Miles sieht es so: »Wir müssen den Pull-
Faktor zerstören und Firmen davon abhal-
ten, Zehntausende anzulocken.« Je mehr
ICE sich um diese Massen kümmern müs-
se, desto weniger könne man gefährliche
Individuen verfolgen. »Solange es einen
wirtschaftlichen Anreiz gibt, werden
Schmuggler aber alle möglichen Leute
über die Grenze bringen.«
Er habe jede Menge Diskussionen mit
seiner Frau, sagt Miles. Sie sei Mexikane-
rin und mit seiner Arbeit nicht immer zu-
frieden. Dafür könne er aber nichts. Jahr-
zehntelang habe der Kongress die Mög-
lichkeit gehabt, die Einwanderungsgesetze
Aus der Traum?
Einwanderer ohne gültige Papiere in den USA,
Gesamtzahl in Millionen,
aufgeteilt nach 12,2
Aufenthaltsdauer
Quelle: Pew
Research Center
bis 5 Jahre
mehr als 5,
bis 10 Jahre
5,7
länger als
10 Jahre
1995 2007
zu ändern. Nichts sei passiert. »Jetzt tue
ich nur das, was man von mir verlangt.«
Die Zahl der aus den USA abgeschobe-
nen Menschen, die wegen eines Verbre-
chens verurteilt worden sind, ist im Jahr
2017 auf den niedrigsten Stand seit 2008
gefallen. Lokale Behörden weigern sich zu-
nehmend, mit der Einwanderungsbehörde
zu kooperieren. ICE-Beamte haben Mühe,
in Städten einzelne Straftäter zu finden.
Trump muss die Zahl der Abschiebun-
gen aber hochhalten, um seine Wähler zu
befriedigen. Weil das demokratisch kon-
trollierte Repräsentantenhaus nicht genü-
gend Mittel freigibt, um die Zahl der ICE-
Beamten zu erhöhen, muss er mit dem
Wirkung erzielen, was er hat. Dabei hilft
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
eine Razzia wie die von Mississippi.
Sie bietet nicht nur ein Spektakel, son-
dern verbreitet die Botschaft, dass auch
der harmloseste Migrant sich unter Trump
nicht mehr sicher fühlen kann. Und: Sol-
che Aktionen garantieren, dass ICE eine
große Anzahl Menschen ohne Papiere an
einem vorhersehbaren Ort antrifft.
Politisch halten Experten Massenrazzien
für ineffizient. Die aufgewendeten Ressour-
cen stünden in keinem Verhältnis zur Zahl
der Festgenommenen, sagt der Analyst
Randy Capps vom liberalen »Migration
Policy Institute« in Washington. Dass sol-
che Razzien Migranten davon abhalten, in
die USA zu kommen? Unwahrscheinlich –
gerade wenn sie aus dem bitterarmen Zen-
tralamerika fliehen. »Die Razzien verbrei-
ten vor allem Angst«, sagt Capps.
An einem Novemberabend in Canton
kniet Rosa Augustín in einer Kirche unweit
der Hühnerfabrik. Der Pfarrer hat die la-
teinamerikanische Gemeinde eingeladen,
um gemeinsam zu beten. Augustín, ihr
Mann und ihre Tochter verharren auf den
Knien, versunken in Gedanken.
Um sie herum drängen sich Dutzende
Guatemalteken, die sich in Canton verste-
cken und überlegen, ob ein anderer Bun-
desstaat mehr Sicherheit biete, während
ihr Sehnsuchtsland sich ihnen verschließt.
Der Pfarrer, ein warmherziger Mann, der
selbst ein Asylverfahren hinter sich hat, ruft
zwei Frauen nach vorn, die nach der Razzia
ohne ihre Ehemänner zurückgeblieben sind.
10,5 Er segnet sie, hebt die Arme. Gebete füllen
10 den Raum. Einige Menschen weinen still,
andere schreien ihren Schmerz heraus.
»Fahrt vorsichtig«, mahnt der Pfarrer,
als der Gottesdienst endet. »Die Polizei
dreht ihre Runden jetzt überall. Die Auf-
6 passer sind so begierig wie nie.«
Rosa Augustín verlässt die Kirche mit
Tränen in den Augen. Ihr Mann geht mit
gesenktem Haupt. Nur Estrella, die Toch-
ter, springt fröhlich umher. »Bleib bei uns«,
2 ruft ihre Mutter besorgt in die Nacht. Dann
steigen die drei in ihr Auto. Sie wollen
abwarten, was weiter geschieht.
2017
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Mit SPIEGEL+ nutzen
Sie die ganze digitale Welt
des SPIEGEL.
Jeden Tag besser informiert: Sie erhalten vollen Zugriff auf alle Inhalte von SPIEGEL+ auf
SPIEGEL ONLINE, entdecken in dem SPIEGEL+-Newsletter besondere Leseempfehlungen
aus der Redaktion und lesen die digitale Ausgabe des SPIEGEL schon freitags ab 18 Uhr.

Jetzt gratis testen:

abo.spiegel.de/plus
1 Monat
SPIEGEL+
gratis
Sport
Voll versemmelt
SPIEGEL ONLINE vom 2. April Nach mehreren Berichten über die Zustände im Deutschen
Fußball-Bund trat dessen Präsident Reinhard Grindel zurück. Anlass war ein Beitrag
über eine geschenkte Uhr. Warum der SPIEGEL in diesem Fall nur zweiter Sieger war.
G Jeder Beruf eröffnet Werk-
tätigen seine Chancen, gran-
dios zu versagen. Als Tätowie- DFB-Pressestelle als so etwas damit sogar angegeben haben
rer kann man »Nadine« statt
»Janine« sticheln, als Arzt das Fragen, die dort immer
falsche Bein amputieren, als
Verleger ein Buchmanuskript
ablehnen, weil »Harry Potter«
für ein Kinderbuch viel zu lang
ist. Als Journalist kann man
einen Scoop versemmeln. In
unserem Fall den Scoop, dass
sich DFB-Präsident Reinhard
Grindel eine Luxusuhr von
einem ukrainischen Oligar-
chen hatte schenken lassen.
Als das im April durch eine
Meldung in der »Bild«-Zeitung
herauskam – in der »Bild«-
Zeitung, nicht im SPIEGEL –,
musste Grindel unmittelbar
danach zurücktreten.
Seit der Berichterstattung
über das Sommermärchen, die
bis heute ungeklärte Millionen-
92
Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick
zahlung vor der Fußball-WM
2006, gilt der SPIEGEL in der angenommen und im DFB
wie der Gottseibeiuns. Unsere soll, hatten wir schon ein hal-
mal wieder eingehen und
beantwortet werden sollen,
sind berüchtigt.
Wenn es um Neuigkeiten
aus dem DFB geht, sollen die te das bestätigen. Sonderbar.
zuerst im SPIEGEL stehen.
Das ist unser Ziel. Man kann uns absichtlich eine Falschinfor- te sie ihre Topmeldung online:
aber auch scheitern.
Grindel
dem DFB hörten wir, dass Grin-
del unter dem Druck der Ent-
hüllung schon in den nächsten
Tagen zurücktreten müsse. Im
Übrigen gebe es auch noch eine
krumme Sache mit einer Uhr.
Wir blieben bei unserer
Linie; keiner sollte sich diskret
im Verband nach der Uhr
erkundigen. Stattdessen ris-
kierten wir am Montag, dem
1. April, abends um 19.10 Uhr
einen Schuss ins Blaue, mit
einer offiziellen schriftlichen
Anfrage an Grindel zu der Uhr.
An diesem Abend wurde in
Dortmund die »Hall of Fame«
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
im Deutschen Fußballmuseum
eröffnet, ein Pflichttermin
für Grindel, trotz der sich
hochschaukelnden Krise. Was
danach passierte, ist Hören-
sagen aus dem DFB, wird auf
Anfrage von Grindel nicht
kommentiert und von »Bild«
mit dem Hinweis bestritten,
man habe selbst recherchiert:
Grindel, so geht die Geschich-
te, habe vor seinem Auftritt in
der Maske gesessen, Alfred
Draxler, »Bild«-Urgestein,
habe ihn zufällig gesehen und
gefragt, wie es ihm gehe, und
Dass Grindel die Protzuhr Grindel darauf: Wie solle es
ihm schon gehen, jetzt sei auch
noch eine Anfrage zu seiner
Uhr gekommen. Welche Uhr?
bes Jahr vor der Berichterstat- Die ihm der Oligarch
tung der »Bild«-Zeitung geschenkt habe.
gehört. Wir trauten der Sache Wir haben dafür keine zwei-
aber nicht. Keiner unserer te Quelle, aber wenn es so
Bekannten aus dem DFB konn- war, hatte die »Bild«-Zeitung
schnelle Reflexe. Noch vor Mit-
Wir vermuteten deshalb, dass ternacht, um 22.47 Uhr, schick-
mation zugespielt worden war, »Skandal um geschenkte Luxus-
damit wir Quellen im Verband uhr«. Am nächsten Tag trat
bitten, der Sache nachzugehen. Grindel zurück. Dass wir zehn
Es sah für uns nach einer Falle Tage später als Erste berichten
aus, um diese Quellen zu ent- konnten, welches Modell sich
tarnen. Also ließen wir die Fin- Grindel hatte schenken lassen
REVIERFOTO / IMAGO IMAGES
ger davon. und dass die Uhr vermutlich
Wir kamen auch so weiter: viel teurer war als von ihm
Ende März meldeten wir exklu- behauptet, war das Ergebnis
siv, dass Grindel 78 000 Euro einer aufwendigeren Recher-
von einer Verbandstochter kas- che. Den Scoop aber hatten wir
siert hatte, sorgsam verheim- versemmelt. Jürgen Dahlkamp,
licht vor der Öffentlichkeit. Aus Gunther Latsch, Jörg Schmitt
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Nowitzki nach letztem NBA-Heimspiel am 9. April in Dallas
Ein Liter für 23 Euro
Nr. 15 und Nr. 44/2019 NBA-Star Dirk Nowitzki sprach nach seinem
Karriereende über seine Arthrose im Fuß. Ein Leser hatte
daraufhin einen besonderen Tipp an Redakteurin Antje Windmann.
G Sie nennen ihn »Flamingo
Shot«. Diesen Wurf, bei dem
er mit einem Bein vom Korb
wegspringt, der eine Abwehr
fast unmöglich macht. Es ist
nur eines von vielen sportli-
chen Vermächtnissen, die Dirk
Nowitzki, 41, zugeschrieben
werden. Nach 21 Jahren auf
dem Parkett der amerikani-
schen Basketball-Profiliga
beendete der gebürtige Würz-
burger seine Karriere. Der
SPIEGEL traf ihn kurz vor sei-
nem letzten Spiel im März in
Miami und im Herbst in Frank-
furt. Nowitzki zeigte sich dabei
ungewohnt offen, erzählte
über alte und neue Freiheiten,
was ihm bei der Erziehung sei-
ner drei Kinder wichtig ist,
offenbarte aber auch die Fol-
gen seiner Knöchelverletzung.
»Ich habe Arthrose im Fuß.
Deshalb kann ich auch nicht so
aktiv sein, wie ich mir das vor-
gestellt hatte. Das macht mir
ein bisschen Sorgen.«
Ein Leser aus Wilhelmsha-
ven, Gerhard Weiß, 79 Jahre
alt, schrieb daraufhin einen
rührenden Brief an die Redak-
tion. Auch er habe Arthrose
Wie ein Gutsherr
Nr. 41 und 46/2019 Kein
Verein wird so geliebt und
gehasst wie der FC Bayern
München. Das bekommen
auch die Autoren zu spüren,
die über den Klub berichten.
G Sport löst Emotionen aus,
große Gefühle, Fußball weckt
Leidenschaft und der FC Bay-
ern München? Die pure Erre-
gung zwischen tiefer Liebe und DDR-Vorzeigeverein Dynamo
abgründigem Hass. Der
SPIEGEL hat sich 2019 einige
Male mit dem Rekordmeister
beschäftigt. In längeren Stü-
TONY GUTIERREZ / DPA
cken ging es mal um Gerd
Müller und die Geschichte des
Klubs, mal um den Rückzug
von Vereinspräsident Uli Hoe-
neß. Und nach jedem Beitrag
war klar: Es würde Haue
geben für die Autoren. »Drei
No-Names pinkeln dem besten SPIEGEL nun schon zum drit-
Fußballmanager ans Bein –
habt ihr das nötig?«, fragte ein
Leser aus Bergamo nach dem
Hoeneß-Beitrag. Der Text sei
viel zu positiv, meinte ein ande- »plumpem, vergeltungssüchti-
rer, da Hoeneß »im Umgang
»vom Motorradfahren, insge-
samt 3 Maschinen, 154000
km, einmal einen Winter
durchgefahren«, aber er habe
Gipfelsturm
die Krankheit heilen können. Nr. 29/2019  »Am Limit« –
Vor 20 Jahren, bei einem Manchmal klingt es für Leser
Besuch in Neuharlingersiel, unglaublich, was sie in der
habe ihm eine Bekannte, eine Zeitung lesen, auch wenn es
Dame namens Hildegard, gera- stimmt.
ten, es mit Lebertran zu versu-
chen, der würde die Gelenke G Diesen Sommer meldete
schmieren. Fortan habe er sich ein Leser beim SPIEGEL,
jeden Tag einen Esslöffel einge- der nicht glauben mochte, was
nommen. Nach drei bis vier er im Sportteil gelesen hatte.
Wochen waren die Schmerzen In einem Artikel über die
weg. »Ich darf nicht aussetzen, Arbeit der Bergwacht in Gar-
sonst kommt der Schmerz wie- misch-Partenkirchen hatte ein
der«, schreibt Weiß, »die Ärz- Redakteur eine ungewöhnliche
teschaft hat keinen Überblick, Begegnung auf der Zugspitze
die hätte das nicht empfohlen.« geschildert. Er war mit einem
Den Lebertran bezieht Weiß Bergführer früh am Morgen
aus der Apotheke, teilte er am auf den höchsten Berg
Telefon mit. Ein Liter koste Deutschlands gefahren, um
zwar 23 Euro, aber damit kom- vom Gipfel aus auf den Jubi-
me man lange hin. läumsgrat zu steigen, der
In seinem Brief bedankte hinüber zur Alpspitze führt.
sich Weiß mehrfach bei Hilde- Beim Einstieg kam den Män-
gard. Seine letzten Zeilen lau- nern ein Bergsteiger in Lauf-
ten: »Bitte, können Sie meine schuhen entgegen. Er war bei
Mitteilung Herrn Nowitzki ver- Dunkelheit in Garmisch aufge-
mitteln, und stellen Sie mich brochen, um, wie er meinte,
als Berichterstatter vor.« Hier- vor der Arbeit noch schnell die
mit erledigt. Zugspitze zu besteigen.
mit anderen meist ziemlich
egoitisch vorging. Eher wie ein
Gutsherr!!!«
Interessant an den Leser-
reaktionen ist die geopsycho-
logische Dimension: Im Osten
wird der FCB eher abgelehnt.
»Schon lange spottet man im
Osten über ›Dynamo Mün-
chen‹«, schreibt ein Leser aus
dem sächsischen Markklee-
berg, »die frappierenden Ähn-
lichkeiten zum ehemaligen
Berlin sind unübersehbar
betreffs eines Filzes zur Poli-
tik.« Und aus dem Süden
kommen – natürlich – die lei-
denschaftlichen Verteidiger.
Wir Redakteure aus Hamburg,
der Stadt der fußballerischen
Zweitklassigkeit, haben nicht
viel entgegenzusetzen. »Dem
FC Bayern mächtig zu scha-
den – das versucht der
ten Mal – ohne Erfolg«,
schreibt ein Mann aus Sie-
gertsbrunn, südöstlich von
München, das rieche nach
gem Neid«. Udo Ludwig
Kann doch nicht wahr sein!,
dachte sich der kritische
Leser – und begründete sein
Misstrauen an der Echtheit der
Szene mit dem Hinweis auf die
Fälschungen des Reporters
Claas Relotius.
Ist aber genau so passiert.
Der Bergläufer war durchs
Höllental gejoggt, über den
Gletscher gelaufen und hoch
zum Gipfel gestiegen. In weni-
ger als vier Stunden. Er stellte
einen Bericht über seine Tour
ins Internet. Der Redakteur
kontaktierte den Alpinisten
später, traf sich mit ihm und
führte ein Interview. Die Rea-
lität ist eben oft spannender
als jede Fiktion. Gerhard Pfeil
SVEN HOPPE / DPA
Besucher auf Zugspitze
93
 Eine Metzge re i
rgte
ar k Schmidt verso ,
E rf u rter S p ortm ed iz in er M
igen , w ie er das gemacht hat
Doping D er
igenblut. Ermit
tlungen ze
w el tw ei t m it E
Sportler nte.
ar en u n d w as er damit verdie
seine Helfer w
GEPA / IMAGO IMAGES

wer
Skilangläufer Hauke im Januar 2017

94

D
as Bild hat sich eingebrannt. Es
zeigt den österreichischen Ski-
langläufer Max Hauke, wie er auf
einem senfgelben Sofa sitzt, im
linken Arm eine Nadel, daneben ein Beu-
tel voller Blut. Das Bild wurde am 27. Fe-
bruar in der Villa Edeltraud zum See im
österreichischen Seefeld, Apartment Num-
mer fünf, aufgenommen. Im Waschbecken
des Zimmers lagen zwei weitere Blutbeu-
tel zum Auftauen, auch sie bestimmt für
Sportlervenen.
Er wurde in flagranti erwischt. Die
Polizei nahm den damals 26-jährigen Hau-
ke und drei weitere Personen in Seefeld
fest. Fast zeitgleich kam es zu einem Zu-
griff in Erfurt. Aus einer Hausarztpraxis
im Norden der Stadt führten Ermittler ei-
nen Mann mit schütterem Haar, dunkel-
blauer Jacke, verspiegelter Sonnenbrille.
Es ist Mark Schmidt, 41, Sportmedizi-
ner. Er soll der Kopf eines internationalen
Dopingnetzwerks sein, neben Hauke sol-
len mindestens 22 weitere Sportler aus
acht Ländern zu seinen Kunden zählen.
Vor gut zwei Wochen hat die Staats-
anwaltschaft München I Anklage gegen
Schmidt sowie vier weitere Beschuldigte
erhoben, sie müssen sich wohl ab Mitte
nächsten Jahres vor dem Landgericht we-
gen des Verdachts von Dopingpraktiken
verantworten. Für den Arzt kommt der
Vorwurf der gefährlichen Körperverlet-
zung dazu.
Weit mehr als hundertmal sollen sie
Athleten Blut entnommen und wieder zu-
rückgeführt haben, um sie schneller und
ausdauernder zu machen. Zudem soll der
Arzt sie mit Wachstumshormonen ver-
sorgt haben. Die meisten seiner Kunden
waren Winter- oder Radsportler.
Immer wieder sind in den
vergangenen Monaten Na-
men publik geworden. Orte, Ein netter Typ, der sehr von sic
an denen sie gedopt haben,
auf Raststätten, Parkplät-
zen, in Hotelzimmern. Erst
jetzt wird klar, wie das Sys-
tem um Schmidt funktionierte.
Aber es bleiben Fragen offen: Was sind
Schmidts wahre Motive, der von sich be-
hauptet, das Wohl seiner Sportler habe für
ihn höchste Priorität gehabt? Und wie
passt das zusammen mit illegalen Substan-
zen, zerstochenen Armen, rotem Urin?
Die Ermittler kamen Schmidt durch
eine TV-Dokumentation auf die Spur, da-
rin berichtete der österreichische Skilang-
läufer Johannes Dürr im Januar freiwillig
über Eigenblutdoping, es ging um die Jah-
re 2013 und 2014.
Noch am Tag der Ausstrahlung leitete
die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Mün-
chen ein Ermittlungsverfahren ein. Bei sei-
ner Vernehmung nennt Dürr, 32, den Na-
men seines Dopingarztes: Mark Schmidt.
Die Ermittler überwachen die Telefone des
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Sport
Mediziners, observieren ihn. Es wird be-
kannt, dass Schmidt zum Zeitpunkt der
Nordischen Skiweltmeisterschaften 2019
in Seefeld ein Apartment in der Stadt an-
gemietet hat, in dem vier Athleten gedopt
werden sollen. Die Ermittler erwirken
Haftbefehle, zudem Durchsuchungen für
sieben Objekte in Erfurt.
Im Rahmen der »Operation Aderlass«
wird Max Hauke in Seefeld überführt,
gefilmt von einem Polizeibeamten, die
Aufnahmen gelangen an die Öffentlichkeit.
In Erfurt wird Schmidt in Handschellen
abgeführt.
Im Netz kursieren noch andere Bilder
von Mark Schmidt. Sie zeigen ihn in kur-
zen Hosen und Flipflops in seiner Erfurter
Praxis. Er führte sie zusammen mit seiner
Mutter, unter anderem wurden dort
Mediziner Schmidt (l.) bei seiner
Festnahme am 27. Februar in Erfurt
SASCHA FROMM / THÜRINGER ALLGEME / FUNKE FOTO SERVICES
h überzeugt ist – ihm vermittelt worden, sagte
schräger Vogel, aber guter Arzt
Athleten des Landessportbunds unter-
sucht. Seine Mutter gab später an, von den
Dopingaktivitäten nichts mitbekommen
zu haben.
Wegbegleiter sagen über Schmidt, er sei
als Jugendlicher ein talentierter Skifahrer hafen entfernt. Zudem organisierte er
gewesen. Ein netter Typ, der sehr von sich
überzeugt sei, später insbesondere von sei- zu Hause, an Raststätten. Diskret und un-
ner Ausbildung und seiner Qualifikation
als Mediziner – ohne dass er viel publiziert furt, in Spezialkühlschränken bei etwa
hat. Schräger Vogel, aber guter Arzt, der
immer das Gefühl gehabt habe, das Leben
sei ungerecht. Einer, der ihn seit Langem
kennt, vermutet, dass Schmidt genauso
gedacht habe wie Jan Ullrich, nach dem
Motto: Was ist schon dabei, es bescheißen
doch alle.
Nach seiner Festnahme wird Schmidt
sagen, er habe benachteiligte Sportler
unterstützen wollen, die nicht auf ein
»russisches System« zurückgreifen konn-
ten. Dort wurde jahrelang im großen
Stil betrogen, offenbar in staatlichem
Auftrag.
Immer wieder flogen in der Vergangen-
heit Dopingnetzwerke auf: die Machen-
schaften Freiburger Universitätsmediziner,
die bis 2007 das deutsche Team Telekom
zu Siegen spritzten. Der Skandal um den
spanischen Gynäkologen Eufemiano
Fuentes, der Radstars wie Ullrich illegal
behandelte. Die Beispiele sind vielfältig
und zahlreich. Studien legen nahe, dass
Doping einen Großteil des Profisports be-
trifft.
Schmidt wurde mehrfach vernommen.
Viele Sportler hätten ihn nur unter dem
Namen »David« oder »David Novak« ge-
kannt, sagt er. Nur drei Skilangläufer, der
Ertappte Hauke sowie dessen Kollegen
Dominik Baldauf und Dürr, hätten ge-
wusst, wie er wirklich heißt.
Schmidt erklärt, er habe die »Rein-raus-
Methode« praktiziert. Vor einer Saison
habe er den Sportlern Erythrozyten, die
für den Sauerstofftransport verantwort-
lichen roten Blutkörperchen, entnom-
men und eingefroren. Kurz vor Wett-
kämpfen führte er ihnen Blut zu, steigerte
so den Hämatokritwert der Sportler,
machte sie leistungsfähiger. Nach den
Rennen nahm er ihnen die gleiche Menge
Blut wieder ab, damit sie bei Dopingtests
nicht aufflogen.
Was relativ simpel klingt, ist eine logis-
tische Herausforderung. Schmidt soll sie
im Wesentlichen mit vier Helfern gemeis-
tert haben: seinem Vater Ansgard, einer
gelernten Krankenschwester, einem Ret-
tungssanitäter und dem Inhaber einer Bau-
firma. Sie alle kommen aus
dem Raum Erfurt.
Die meisten Sportler seien
Mark Schmidt in einer Ver-
nehmung aus. Von anderen
Klienten, von Kontaktperso-
nen, zum Teil aus dem Ausland. Damit
seine Kunden nicht nach Erfurt reisen
mussten, hatte Schmidt in Rüsselsheim
eine Wohnung angemietet, keine 15 Mi-
nuten Fahrzeit vom Frankfurter Flug-
Treffen an Wettkampforten, bei Sportlern
auffällig. Die Blutbeutel lagerten in Er-
minus 80 Grad Celsius.
Bei seinen ersten Vernehmungen gibt
Schmidt an, dass keine deutschen Sportler
seinen Blutservice in Anspruch genom-
men hätten. Später korrigiert er: Er habe
doch einen behandelt. Einen Eisschnell-
läufer, Olympiateilnehmer, Schmidt be-
zeichnet ihn als Freund. Drei weitere
Deutsche stehen noch unter Dopingver-
95

Mountainbikerin Kollmann-Forstner 2016
Schmidt testete ein neuartige
s Präparat: getrocknete
Blutkörperchen – das ging sc
hief.
dacht. Zu seinen Kunden zählten laut
Anklage Radprofis wie der Österreicher
Stefan Denifl, die Mountainbike-Europa-
meisterin Christina Kollmann-Forstner,
Skilangläufer wie der mehrmalige est-
nische Meister Algo Kärp.
In der Erfurter Bluttankstelle bekamen
die Doper Decknamen, die auf den einge-
lagerten Blutbeuteln vermerkt wurden:
»Einstein«. »TripleX«. »Franzose«. Die
meisten Sportler sind inzwischen gesperrt
und in abgetrennten Verfahren selbst an-
geklagt.
Ein Tarnname lautete »Lucky Luke«.
Dahinter verbirgt sich der Mann, der
Schmidts System ans Licht brachte: Johan-
nes Dürr. Wie sich wenige Wochen nach
Schmidts Festnahme rausstellte, hat Dürr
die Rolle des reumütigen Dopers nur ge-
spielt. In Wahrheit war er noch Schmidt-
Kunde, ließ sich bis mindestens Ende 2018
sein jahrelang eingelagertes Blut zurück-
injizieren.
Schmidt sagt laut Anklage, Dürr habe
ihm den Spezialkühlschrank verkauft, den
die Ermittler Ende Februar in Erfurt sicher-
stellten.
Bei seinen Vernehmungen soll sich
Mark Schmidt kooperativ und in Teilen
geständig gezeigt haben. Er sagte, er
habe weder gewerbsmäßig gehandelt,
noch sei es ihm ums Geld gegangen.
Die Gesundheit der Sportler sei das Wich-
tigste gewesen, er sei durch und durch
Mediziner – es ist eine gängige Ausrede
96
ARMIN M. KÜSTENBRÜCK
von Ärzten, die beim Dopen erwischt
werden.
Schmidt wurde schon einmal mit il-
legalen Methoden in Verbindung ge-
bracht. 2008 flog der österreichische Rad-
profi Bernhard Kohl mit Blutdoping auf.
Kohl fuhr für das deutsche Team Gerol-
steiner, Schmidt war einer der Mann-
schaftsärzte. Kohl beschuldigte den
Mediziner der Mitwisserschaft, dagegen
klagte Schmidt erfolgreich auf Unter-
lassung.
Gegenüber den Ermittlern erklärte
Schmidt, dass er auch wegen der Kohl-
Geschichte sein geheimes Dopinggeschäft
gestartet habe – sein Ruf sei eh ruiniert
gewesen. Betrug aus Trotz, so Schmidts
Version.
Von Ende 2011 an habe er sich nach und
nach die erforderlichen Geräte angeschafft.
Einige Maschinen, darunter eine Blutzen-
trifuge Modell ACP 215, habe er Stefan
Matschiner für 50 000 Euro abgekauft, in
bar. Es war ein Deal unter Bekannten, der
Österreicher Matschiner hatte zuvor Kohl
mit Dopingmitteln versorgt.
Von den Sportlern soll Schmidt 5000
Euro als Grundbetrag bekommen haben,
darin seien die wesentlichen Kosten für
jeweils zwei bis drei Entnahmen und Rück-
führungen enthalten gewesen. Die einzel-
nen Posten habe er in einem grauen
Schnellhefter aufgelistet. Nicht immer
sei nur Geld geflossen, von einem Mitar-
beiter eines Skiherstellers habe er auch
mal eine Skiausrüstung als Gegenleistung
bekommen.
Für Siege zahlten die Sportler mehr. Als
Radfahrer Denifl eine Etappe der Spanien-
Rundfahrt gewann, stellte Schmidt ihm
12 000 bis 13 000 Euro in Rechnung.
In Schmidts Wohnung fanden die Ermitt-
ler Clenbuterol, ein Kälbermastmittel, es
steht auf der Dopingliste. Das nehme nur
er selbst, sagt Schmidt. Zum Abnehmen.
Zwei Dutzend Athleten aus ganz
Europa zu betreuen, das schaffte Schmidt
nur mit einem Team. Der Bauunterneh-
mer war laut Schmidt am längsten für ihn
tätig, wohl seit 2014. Er habe ihn kennen-
gelernt, als der die Wohnung seiner Groß-
mutter auflöste, sagte Schmidt in einer Ver-
nehmung. Schmidt bezeichnet ihn als
Freund. An ihm selbst habe der das Ste-
chen geübt. Er habe das super gemacht,
nicht mal einen Bluterguss habe er gehabt,
schilderte Schmidt in einer Vernehmung.
Von dem Geschäftsmann hatte Schmidt
seit 2014 einen Lagerraum für monatlich
150 Euro angemietet. Über Jahre de-
ponierte er dort seine Dopingutensilien.
Der Unternehmer fuhr für Schmidt die
Maschinen hin und her, holte für ihn ver-
botene Substanzen aus Slowenien und
transportierte alle notwendigen Materia-
lien für die Blutpanscherei zur Nordischen
Ski-WM in Skandinavien.
Ein finnischer Zöllner soll laut Ankla-
geschrift im Gepäck des Helfers Blutbeutel
gefunden haben und mit 500 Euro von
ihm bestochen worden sein. Im Frühjahr
2018 sei er ausgestiegen. Seit März sitzt
er in Haft und schweigt zu den Vorwürfen.
Eine Krankenschwester half seit Dezem-
ber 2017 bei Schmidt aus. Die 49-Jährige
lernte ihn Ende 2011 kennen, über den kas-
senärztlichen Notdienst. Sie ist alleinerzie-
hende Mutter von drei Kindern.
Anhand ihrer Vernehmungen lässt sich
nachvollziehen, wie Schmidt es schaffte,
Leute ausnutzen und zu manipulieren.
Der Arzt hatte ihr Jahre zuvor bei einem
Umzug geholfen, ihr Geld geliehen. Dafür
hatte er zunächst nichts gewollt. 2017 habe
er sie dann bei einem Weihnachtsmarkt-
besuch gefragt, ob sie ihm einen Gefallen
tun könne. Es gehe um etwas Medizi-
nisches, Sportler, Kurierfahrten. Sie sollte
einen Rucksack nach Toblach, Südtirol,
fahren. Darin enthalten: Blutbeutel. Sie
willigte ein. Später habe er sie aufge-
fordert, auch die Nadeln zu setzen. Sie
habe das nicht gewollt, Schmidt habe sie
aber dazu überredet. Als sie ihm vorhielt,
das sei illegal, habe er sie ausgelacht. Die
Athleten seien im Bilde, außerdem sei es
doch deren eigenes Blut.
Nicht mal Handschuhe und Tupfer hätte
er ihr mitgegeben. Deshalb hätten sie an-
schließend gestritten. Sie könne doch Klo-
papier verwenden, soll er ihr entgegnet
haben.

Meist begannen die Reisen zu den
Sportlern damit, dass auf die Helferin
ein fertig beladenes Auto wartete, das vor sein Vater die Athleten gestochen habe,
Schmidts Praxis geparkt war. Teilweise sei- sei kompletter Unsinn, sagte hingegen
en die notwendigen Materialien und be-
schrifteten Kisten von Schmidts Vater, der gar nicht stechen, er zittere.
direkt neben der Praxis wohnt, verstaut
worden.
Die Krankenschwester will die Athleten
nur unter deren Tarnnamen kennen. Sie
habe sich nicht für Sport interessiert. Im- wendet, habe dreimal stechen müssen. Ein
mer wieder habe sie aussteigen wollen,
doch dann packte Schmidt sie auf der Ge-
fühlsebene. Wenn sie ihm nicht helfe, so
Schmidt, habe er keine Zeit, seinen klei-
nen Sohn zu sehen. Von dessen Mutter
lebte er getrennt.
Die Arme der Athleten seien manchmal
so zerstochen und rot gewesen, dass sie
sich geweigert habe hineinzustechen, sagte
die gelernte Pflegekraft in einer Verneh-
mung. Dann hätte es Ärger gegeben mit
Schmidt.
Sie habe sich aus Geldsorgen auf all das
eingelassen. Schmidt zahlte 200 Euro für
jeden Tag, an dem Blut geflossen sei, nicht
an Reisetagen.
Als sie einmal überstürzt für Schmidt
nach Schweden fliegen musste, habe sie
ihren Führerschein vergessen und deshalb
den Mietwagen nicht abholen können.
Schmidt habe ihr Honorar halbiert.
Der Krankenpfleger, 41, war
nur wenige Monate lang für
Im Waschbecken lagen no
Schmidt tätig. Nach seinem ers-
ten Einsatz habe er sich von
dem Mediziner krankschrei-
ben lassen, sagte er aus, da er
sich schlecht gefühlt habe.
Unklar ist noch die Rolle von Mark
Schmidts Vater Ansgard – vor allem aber,
was den Rechtsanwalt im Ruhestand über-
haupt motiviert hat, sich in die Niederun-
gen des Sportbetrugs zu begeben.
Ansgard Schmidt, 67, war bis zu seiner
Verrentung vor zwei Jahren Sozius einer
der renommiertesten Kanzleien Erfurts,
Spilker und Collegen. Deren Chef war
früher in der Bundesrepublik Leicht-
athletik-Bundestrainer und trat zurück,
weil herausgekommen war, dass er seine
Läuferinnen gedopt hatte. Kollege
Schmidt galt als ruhiger, unscheinbarer,
nicht gerade kommunikativer Mann, ein
Naturtyp, der auf Berge stieg, Ski fuhr
und paddelte.
Seit Mai vergangenen Jahres war Ans-
gard Schmidt in die Logistik des Doping-
rings eingespannt. Er transportierte das
Equipment, lagerte Blutbeutel und eine
Auftaumaschine auf seinem Grundstück,
besorgte Trockeneis zur Kühlung.
Gegenüber den Ermittlern sagte er, er
habe anfangs nicht recht gewusst, was sein sichergestellt und zehn Athleten zugeord-
Sohn treibe. Dann habe der ihn irgend-
wann eingeweiht. Er habe helfen wollen
und irgendwann selbst spritzen geübt, an
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Sport
einem Schlauch, dann an seinen eigenen
Armen und an denen seines Sohnes. Dass
Mark Schmidt den Ermittlern, er könne
Zeugen berichten indes, dass der Vater
einige Male Sportler eigenhändig behan-
delt habe. Allerdings sei dies ziemlich übel
ausgegangen, er habe zu dicke Nadeln ver-
Athlet nannte es eine Metzgerei. Ansgard
YOUTUBE
ch zw ei we
Bl ut beutel zum Auftauen.
ZOLLFAHNDUNGSAMT MÜNCHEN
WM-Teilnehmer Hauke beim Doping
am 27. Februar in Seefeld, Beweis-
mittel in Erfurter Kühlschrank
Schmidt bestätigte den Vorgang, er habe
sich breitschlagen lassen, es habe aber Pro-
bleme gegeben. Deshalb habe der Athlet
am Ende selbst versucht, sich das Blut zu-
zuführen. Auch Ansgard Schmidt wurde
am 27. Februar bei der Ski-WM in Seefeld
verhaftet.
Die letzten Beweise für das illegale
Geschäft sind jene 45 Blutbeutel, die
am 27. Februar in Erfurter Kühlschränken
net werden konnten, darunter »Hugo« –
der Tarnname der Mountainbikefahrerin
Christina Kollmann-Forstner.
An ihr lässt sich am besten illustrieren,
dass es Mark Schmidt wohl nicht immer
nur um die Gesundheit seiner Sportler
ging, wie er selbst angibt.
Im September 2017 testete Schmidt ein
neuartiges Präparat an Kollmann-Forstner:
getrocknete rote Blutkörperchen in Plätt-
chenform, bezogen aus Kroatien in einer
Dose mit rotem Deckel, ohne Beipackzet-
tel. Ob und wie die Substanz wirkt, welche
Risiken es gibt – Schmidt schien es nicht
zu wissen.
Dennoch verabreichte er Kollmann-
Forstner den Stoff. Das Experiment ging
schief. Der Puls der Athletin habe sich
verdoppelt, sie habe das Gefühl gehabt,
ihre Hände und Füße stürben ab; ihr Urin
färbte sich rotbraun. Schmidt sagt, er
habe das Präparat danach nicht mehr ver-
wendet.
Auch auf Langstreckenflügen setzte
Schmidt die Sportler hohen Gesundheits-
gefahren aus. Bis zu einem Liter Blut zu-
sätzlich schmuggelten sie in ihrem Körper,
so wie andere Leute Koks im Darm.
Mehrere Sportler bekamen vor der
Abreise zu den Olympischen Winter-
spielen in Südkorea im Jahr 2018 noch
zwei Beutel mit roten Blutkörperchen in-
jiziert. Ein unkalkulierbares Risiko, trotz
gleichzeitiger Gabe von Clexane, einer
Thromboseprophylaxe. In Pyeongchang
wartete dann ein Schmidt-Helfer
und zapfte den überschüssigen
ite re
Liter wieder ab.
Wofür das alles?
Was es den Sportlern gebracht
hat, ist schwer einzuschätzen. Gro-
ße Erfolge feierten die meisten trotz Blut-
panscherei nicht.
Für Schmidt scheint das finanzielle Plus
gering in Relation zu seinen Einnahmen
als niedergelassener Mediziner, in einer
Vernehmung bezifferte er sie auf rund
13 000 Euro im Monat. Die Staatsanwalt-
schaft geht davon aus, dass Schmidt zu-
dem mit dem Doping in etwa fünf Jahren
mindestens 175 000 Euro erwirtschaftete.
Dem stehen hohe Kosten gegenüber, um
das System am Laufen zu halten.
Schmidt besitzt in der Erfurter Innen-
stadt einen mehrstöckigen Altbau, in der
Nähe des Doms. Auf das rot gestrichene,
dreigeschossige Haus läuft ein Kredit in
Höhe von 400 000 Euro. Er sagt, es sei
ihm nicht ums Geld gegangen. Er habe da-
rin aber einen Weg gesehen, schöne Ur-
laube zu machen.
Schmidt droht eine Gefängnisstrafe von
bis zu zehn Jahren. Seine Helfer könnten
mit Bewährungsstrafen davonkommen.
Ansgard Schmidt, die Krankenschwester
und der Krankenpfleger sind nach jeweils
mehrmonatiger Untersuchungshaft inzwi-
schen wieder auf freiem Fuß.
Thilo Neumann, Antje Windmann
97
 Sport
Können wir noch Fußball?
Nationalelf Bundestrainer Joachim Löw steht vor seiner größten
Aufgabe. Ihm fehlen Stars, und neue Talente sind kaum
in Sicht. Bei der EM könnte es die zweite Blamage in Folge geben.
F ans der Nationalmannschaft erwar-
tet im neuen Jahr ein kleines Som-
mermärchen. Bei der Europameis-
terschaft, die im Juni und Juli in zwölf
Städten in Europa und Aserbaidschan aus-
getragen wird, darf das Team von Bundes-
trainer Joachim Löw, 59, alle Vorrunden-
partien in München absolvieren.
Während die Schweizer etwa bei dem
paneuropäischen Turnier für ihre Gruppen-
spiele zwischen Baku und Rom pendeln
müssen, hat die Auswahl des Deutschen
Fußball-Bundes (DFB) dreimal Heimrecht.
Ein klarer Vorteil.
Die Freude hält sich dennoch in Gren-
zen. Löw hadert, weil die Gegner ziemlich
stark sind: Weltmeister Frankreich, Euro-
pameister Portugal, der Dritte steht noch
nicht fest, vielleicht Island oder Bulgarien.
Es geht die Angst um, Löws Team kön-
ne nach der peinlichen Weltmeisterschaft
2018 in Russland abermals bei
einem großen Turnier bereits
in der Vorrunde ausscheiden,
das wäre bei einer halben
Heim-EM eine Blamage.
Die Fußballfans haben ein
bewegtes Jahrzehnt hinter
sich, eine wilde Berg-und-Tal-
Fahrt. 2014 feierte man noch
den Gewinn des WM-Titels in
Brasilien. Inzwischen gehört
die Nationalelf nicht mehr zu
den Topteams in Europas.
Es fehlen besonders die
Weltklassestars. Im Dezember
wurde bei einer Gala in Paris
Lionel Messi zum sechsten
Mal zum besten Fußballer der
Welt gekürt. Bei der Wahl kam
kein einziger DFB-Spieler un-
ter die ersten 20.
Auch die Bundesligaklubs
hecheln der internationalen
Konkurrenz hinterher. Selbst
der FC Bayern, 2013 Gewin-
ner der Champions League,
hält mit Spitzenvereinen aus
Madrid, Barcelona oder Man-
chester kaum noch mit.
Im Land des viermaligen
Weltmeisters haben sich Selbst-
zweifel breitgemacht. Können
wir noch Fußball?
Dietmar Hamann, ein ehe-
maliger Nationalspieler, der als
TV-Experte für den Sender
98
Sky arbeitet, sagt, der deutsche Fußball
befinde sich in einem Stadium des »Wie-
deraufbaus«.
Hamann, der für den FC Bayern spielte
und 2005 mit dem FC Liverpool die
Champions League gewann, ist viel un-
terwegs, trifft wichtige Leute aus der Fuß-
ballbranche. Sie berichten ihm vom
Mangel an Talenten in den Nachwuchs-
akademien. Es sei keine neue goldene
Spielergeneration in Sicht wie jene, die
vor gut fünf Jahren in Rio de Janeiro
das Finale gewann. Die größten Talente
sollen aktuell in Frankreich und England
heranwachsen. Hamann sagt: »Ich glaube,
wir müssen uns ein Stück weit neu er-
finden.«
Wenn man in den Büros heutiger Fuß-
ballmanager darüber spricht, wie es sein
kann, dass sich hiesige Klubs international
nicht mehr durchsetzen können, kommt
DFB-Auswahlspieler in Frankfurt: Leere Arsenale
immer zunächst das Argument, die Kon-
kurrenz aus anderen Ländern verfüge
über mehr Geld. Damit könne sie auf dem
überhitzten Transfermarkt gute Spieler
einkaufen. Vor allem gegen die Investo-
renklubs aus England, Frankreich und
Italien, die Hunderte Millionen einsetzen,
um Erfolge zu erzwingen, sei kein Kraut
gewachsen.
Übersehen wird dabei allerdings, dass
es den Vereinen in Deutschland auch ohne
die Geldspritzen der Scheichs ziemlich gut
geht. Die Tickets für die Stadien verkaufen
sich gut. Mehr als sechs Milliarden Euro
kassierten die Vereine seit 2010 durch die
TV-Vermarktung der Bundesliga. Die Tri-
kotverkäufe in den Fanshops sind unver-
ändert hoch, obwohl manche Modelle
inzwischen mehr als hundert Euro kosten.
Der Personaletat von Borussia Mön-
chengladbach, bis kurz vor Weihnachten
noch Tabellenführer der Bundesliga, liegt
bei mehr als 80 Millionen Euro und damit
weit über dem, was – zum Beispiel – öster-
reichische Erstligisten zur Verfügung ha-
ben. Aber im September verlor die Borus-
sia ein Heimspiel in der Europa League
gegen den Wolfsberger AC mit sage und
schreibe 0:4. Kurz vor Weihnachten folgte
ein 1:2 gegen Başakşehir aus Istanbul, auch
nicht gerade eine Fußballgroßmacht. Mön-
chengladbach flog damit be-
reits in der Gruppenphase aus
dem Europapokal.
Jedes Jahr gibt es in Hessen
einen Neujahrsempfang der
Deutschen Fußball Liga (DFL).
An den Stehtischen prosten
sich die Entscheidungsträger
der Klubs zu. Einmal stieg
DFL-Chef Christian Seifert auf
die Bühne und hielt eine Rede,
in der er die Vereinsvertreter
rüffelte. Sie müssten sich mehr
anstrengen. Die Bundesliga
müsse in internationalen Wett-
bewerben besser abschneiden,
ansonsten werde sie Renom-
mee einbüßen, und das sei
schlecht fürs Geschäft. Die
Männer an den Tischen war-
fen Seifert ein paar beleidigte
Blicke zu.
Der DFB ist der größte na-
tionale Sportfachverband der
Welt. In Deutschland gibt es
mehr Fußballspieler als in je-
FOTO HUEBNER / PICTURE ALLIANCE / DPA
dem anderen Land Europas.
Die Bundesliga ist, was die Um-
satzzahlen betrifft, die Num-
mer zwei hinter der Premier
League in England, gleichauf
mit der Liga in Spanien. Aber
schöpfen die Klubs dieses Po-
tenzial aus? Arbeiten sie wirk-
lich so professionell, wie sie es
gern darstellen?
 Das vergangene Fußballjahrzehnt war
geprägt vom Siechtum der Traditionsver-
eine. Der Hamburger SV stieg nach Jahren
der Misswirtschaft und der Fehlplanung
im Frühjahr 2018 in die zweite Liga ab. Im
Jahr darauf erwischte es den VfB Stuttgart.
Der 1. FC Köln schaffte vorige Saison den
Wiederaufstieg in die Bundesliga, steckt
aber nach der Hinrunde schon wieder im
Abstiegssumpf.
Hertha BSC gilt seit der Wende als schla-
fender Fußballriese. Der Klub aus der
Hauptstadt hat ein großes Einzugsgebiet,
eine treue Anhängerschaft – bleibt aber
konstant unter seinen Möglichkeiten.
Eigentlich wollte die Hertha diese Sai-
son den Sprung auf die Europapokalplätze
schaffen mit dem Geld des Investors Lars
Windhorst, der in den nächsten Jahren
Millionen in den Verein pumpen will. Es
gebe dafür »keine Beschränkungen«, sagte
er. Bislang geht der Plan nicht auf. Die Ber-
liner kämpfen gegen den Abstieg.
Ende November warf Manager Michael
Preetz den Trainer Ante Čović raus. Wie
man das eben so macht, wenn es nicht
läuft. Es übernahm ein Promi, Jürgen
Klinsmann. Der Schwabe war ein toller
Stürmer. Ob er ein guter Coach ist, weiß
niemand. Als Bundestrainer führte Klins-
mann die Nationalmannschaft bei der
Heim-WM 2006 auf Rang drei. Es folgte
ein unglückliches Gastspiel beim FC Bay-
ern. Zuletzt arbeitete Klinsmann als Fuß-
balllehrer der US-Nationalmannschaft, die
an der Qualifikation für die WM 2018
scheiterte.
Bei seinem ersten Hertha-Heimspiel
filmte Klinsmann mit dem Handy die Stim-
mung auf den Rängen im Berliner Olym-
piastadion wie ein Tourist. Er hat ein paar
neue Assistenztrainer installiert sowie
einen Performance-Manager. Die Hertha
befinde sich in einem »Prozess«, erläuterte
er sein Vorgehen.
In den vergangenen zehn Jahren tausch-
ten die Vereine der ersten Bundesliga
insgesamt 164-mal den Trainer aus. Die
Hertha kam in diesem Zeitraum auf
11 Wechsel, der Hamburger SV sogar auf
18. Aktuell gibt es nur einen Bundesliga-
trainer, der länger als fünf Jahre im Amt
ist: Christian Streich, 54, beim SC Freiburg.
Friedhelm Funkel, 66, ist der älteste
Fußballlehrer im deutschen Profifußball
und – immerhin – bald seit vier Jahren
Coach bei Fortuna Düsseldorf. Der Rhein-
länder gehört zu den wenigen Menschen
im Fußballgeschäft, die kein Blatt vor den
Mund nehmen.
Der ehemalige Profi sagt, der Umgang
der Profiklubs mit Trainern sei »respekt-
los« und spiegele die Missstände in der
Bundesliga wider. Es gebe keine Beson-
nenheit mehr, keine Weitsicht. Wenn der
Ball in drei Spielen hintereinander nicht
ins Tor wolle, würden die heutigen Sport-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
1 1
2 2 2 2
3 3
5 5
Europa-
meister
Der Absturz
Platzierung der deutschen
Nationalmannschaft in der
Fifa-Weltrangliste
1992 1994 1996 1998
direktoren bereits von Panik erfasst. Wenn
sich die Verantwortlichen zudem noch von
den Medien treiben ließen, sei man als
Coach »nicht mehr Herr der Lage«, sagt
Funkel.
Es gibt kaum Trainer in der Bundesliga,
die nicht schon einen Rauswurf in ihrer
Vita haben. Für die Reputation der zum
Teil noch jungen Fußballlehrer sei dies ver-
heerend, sagt Ex-Profi Hamann.
Wenn es auf der Position des Trainers
keine Kontinuität gibt, wirkt sich dies auf
viele Bereiche in einem Verein aus. Es ent-
stehen keine Automatismen im Betreuer-
stab. Es wird schwierig, eine stringente
Transferpolitik zu betreiben, weil jeder
neue Coach seine Vorlieben hat. Es ist kaum
möglich, ein Spielsystem zu etablieren.
Auch die Nachwuchsarbeit leidet. Der
FC Bayern hat vor mehr als zwei Jahren
seine neue Talentakademie eröffnet, mit
acht Spielfeldern, einem eigenen kleinen
Stadion und einem Internat für bis zu
60 Spieler. Die Anlage verschlingt jährlich
mehrere Millionen Euro Betriebskosten,
ohne dass bislang ein Fußballer den
Sprung in die Stammelf geschafft hätte.
Ein Grund dafür: Keiner der Bayern-
Cheftrainer der vergangenen Jahre inte-
ressierte sich für die Ausbildung von
Talenten. Viel zu selten wurden Nach-
wuchsspieler vom Campus zum Training
der Profis beordert, um sie auf den harten
Alltag im Berufsfußball vorzubereiten.
Die Talentförderung ist in den nächsten
Jahren das Megathema für die Profiklubs.
Fußballer, die Erfolg garantieren, sind teu-
er, für die meisten Bundesligaklubs sogar
kaum erschwinglich. Selbst der FC Bayern
muss im Zeitalter dreistelliger Millionen-
ablösesummen Wege finden, sein Personal
künftig wenigstens zum Teil selbst aus-
zubilden, um dem Geschacher auf dem
Transfermarkt zu entgehen.
Die Aufgabe könnte kaum größer sein.
Denn natürlich fahnden sämtliche inter-
nationale Spitzenklubs mit Scharen von
Scouts weltweit nach Talenten.
Und wenn man einen vielversprechen-
den Spieler gefunden hat, fängt die Arbeit
erst an. Denn: Wie veredelt man den jun-
gen Ballkünstler? Wie macht man aus
1 1
2 2
3 3
4 4
5
6 6 Welt-
meister
11
12 12
15
16 WM-Vorrundenaus 16
19 EM-Vorrundenaus
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
einem technisch starken Mittelfeldspieler
den neuen Toni Kroos?
Der DFB hat sich um solche Fragen lan-
ge kaum gekümmert. In früheren Jahren
waren die Nachwuchsleistungszentren der
Klubs gut gefüllt. Die Besten der Besten –
Spieler wie Jérôme Boateng, Manuel Neu-
er, Mesut Özil, Mats Hummels, Thomas
Müller – reüssierten in der Bundesliga, hol-
ten später den WM-Titel.
Inzwischen jedoch sind die Arsenale
leer, weil Fehler bei der Grundausbildung
der Spieler gemacht wurden. Jugendtrai-
ner legten mehr Wert auf stupides Einstu-
dieren von Laufwegen statt auf Kreativität
und Spontaneität. Athletik war mehr wert
als technische Fertigkeiten am Ball. So ent-
standen Lücken, die Löw bei der EM nicht
wird stopfen können. Innenverteidiger mit
internationalem Format fehlen ebenso wie
fulminante Mittelstürmer.
Der DFB will jetzt gegensteuern. Des-
halb wurde eine Art Ausbildungsinitiative
ausgerufen. In Frankfurt am Main entsteht
gerade die DFB-Akademie.
Kurz vor Weihnachten veranstaltete der
Verband nahe dem Frankfurter Osthafen
ein sogenanntes Leadership Festival, zu
dem Vertreter aller Bundesligavereine ein-
geladen waren. DFB-Direktor Oliver Bier-
hoff trat auf die Bühne und sagte: »Wir
wollen zurück an die Weltspitze.«
Doch außer dem Manager von Ein-
tracht Frankfurt, Fredi Bobic, waren gar
keine Leader aus der Fußballbranche an-
gereist, sondern nur Trainer und Marke-
tingleute aus der zweiten und dritten Rei-
he. Selbst der Bundestrainer hatte sich den
Termin gespart.
Profifußball ist ein komplizierter Kos-
mos. Eine Männergesellschaft. Man lässt
sich nicht gern reinreden, schon gar nicht
belehren. Doch wer Kritiker nicht ernst
nimmt, verliert erst recht den Anschluss.
Dietmar Hamann wünscht sich, dass in
Deutschland in Zukunft wieder mehr Wert
auf Kicker gelegt wird, die versuchen, den
Gegner auszuspielen, statt ihn einfach zu
überrennen.
Weniger Powerfußball. Mehr Kunst.
Gerhard Pfeil
99
Wissenschaft+Technik
Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick
Tödlicher Wahn
Wie die beste Ausstiegshilfe für Tabaksüchtige in Verruf kam
G War 2019 das Jahr, in dem
die E-Zigarette endgültig
kaputt geredet wurde? Gut
möglich. Den Händlern
schwinden die Umsätze
dahin, und immer mehr Deut-
sche hängen dem Irrglauben
an, das Dampfen sei mindes-
tens genauso schlimm wie das
Rauchen von Tabak – auch
wenn medizinische Studien
das Gegenteil zeigen. Nur
fünf Prozent der Raucher zie-
hen überhaupt noch in Er-
wägung, mithilfe der E-Ziga-
rette den Ausstieg aus ihrer
lebensgefährlichen Sucht zu
versuchen. Das ist so, als wür-
den Fallschirmspringer vom
Ziehen der Reißleine Abstand
nehmen, weil das zu Haut-
reizungen an der Hand füh-
ren könnte.
Dass es so weit kam, ist ein
Debakel der Aufklärung. Zu
verantworten haben es vor
allem wir Medien mit unserer
Obsession für schlechte
100
Nachrichten. Seit Monaten
herrscht Daueralarm wegen
der Lungenkranken in den
USA. 52 Menschen sind nach
letztem Stand verstorben.
Das lieferte gruselselige
Schlagzeilen, aber meist fehl-
te offenbar die Zeit für die
abwägende Analyse. Schon
seit Anfang November ist
klar, was die Erkrankungen
verursacht hat. Die US-
Gesundheitsbehörde CDC
machte eine Substanz
namens Vitamin-E-Acetat
dingfest. Drogenhändler nut-
zen sie zum Panschen des
Cannabiswirkstoffs. Die meis-
ten Opfer haben also dubiose
E-Joints durchgezogen. Mit
dem herkömmlichen Ge-
brauch von E-Zigaretten hat
das nichts zu tun.
Das bedeutet: Entwarnung.
Aber erinnert sich jemand
an Berichte, die den Fehl-
alarm zurücknahmen und das
Dampfen als beste Ausstiegs-
Alles
Geisterfahrer
Fanpost:  Schreibt SPIEGEL-
Redakteur Marco Evers über
das Klima, so hagelt es Kritik
von seinem treuesten Leser.
G Auf »Dr. K.« ist Verlass.
Zehn Beiträge zum Klimawan-
del habe ich 2019 veröffent-
licht – und als läge er auf der
Lauer, schickt mir der Inge-
nieur aus Bayern sofort Repli-
ken wie: »ein kindischer Arti-
kel«. Oder: »Sie sollten es
SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL
wirklich bleiben lassen und
sich ein leichteres Gebiet
suchen.« Ganz egal, worum es
geht, ob nun ein neuer Bericht
des Weltklimarats vorliegt
oder eine bahnbrechende Stu-
die im Fachblatt »Nature«: Dr.
K. weiß alles besser – und wie.
Klimawandel? »Ein psychoti-
sches Hirngespinst«. CO²?
»Hat keinen Einfluss auf die
Klimaentwicklung.« Globale
Erwärmung? »Ideologische
hilfe für Raucher rehabili- Hetze.« Ist das lustig, ärgerlich
tierten? Die klarstellten, dass oder irritierend? Für mich ist
nicht »die E-Zigarette« an es das alles zugleich. Hier stellt
den fatalen Lungenschäden sich ein Nonkonformist gegen
schuld war, sondern zumeist den Konsens in der Klimawis-
leichtsinniges Kiffen, kurz: senschaft und zunehmend der
Drogenmissbrauch? Eben. Gesellschaft insgesamt – nach
In den Onlineforen der dem Motto: Alles Geisterfah-
Dampfer – großteils ehema- rer! Hier verteidigt jemand das
lige Raucher, die den Umstieg Recht auf eigene Meinung und
geschafft haben – wächst auf eigene Fakten. Und hier
die Verzweiflung über den hofft jemand, mit Dauerfeuer
Alarmismus der Medien. Wer die künftige Berichterstattung
in der breiten Öffentlichkeit zu beeinflussen. Lieber Dr. K.:
nach sachlicher Einordnung Ihrer Post im Jahr 2020
von Nutzen und Risiko such- sehe ich frohgemut entgegen.
te, hatte leider meist wenig
Auswahl.
Dabei ist es ganz einfach:
Bislang ist, soweit absehbar,
niemand durch das Dampfen
von Liquids aus dem Fach-
MARIO HOPPMANN / AFP
handel zu Tode gekommen.
An der Tabaksucht dagegen
werden auch 2020 wieder,
wie jedes Jahr, acht Millionen
Menschen sterben.
Manfred Dworschak Eisbär in der Arktis

Dinn (r.) in Bodenstation Honeysuckle Creek 1969
»Unbesungene Helden«
Michael Dinn, 86, war 1969 maßgeblich an der Liveübertra-
gung der Mondlandung beteiligt. Der britisch-australische
Raumfahrtingenieur kümmerte sich damals als stellvertretender
Leiter der Bodenstation Honeysuckle Creek in Australien um
den Empfang und die Weiterleitung der Fernsehbilder vom Erd-
trabanten. Zu »Die Zukunft war gestern« in Nr. 28/2019 schrieb
er dem SPIEGEL einen Leserbrief.
SPIE GEL: Herr Dinn, danke
für Ihre Zuschrift zu unserer
zugehörigen Multimediastory
»Fly Me to the Moon«. Wie
sind Sie darauf gestoßen?
Dinn: Durch einen Google-
Alert, der mich über Berichte
zum »Apollo«-Jubiläum
auf dem Laufenden hält. Der
SPIEGEL-Artikel war fan-
tastisch, mit viel Liebe zum
Detail.
SPIEGEL: Wie kam es, dass
Sie im Juli 1969 einer der
Ersten waren, der die Live-
bilder vom Mond sehen
konnte?
Dinn: Ich hatte einfach Glück.
Die Kommunikation lief über
drei Bodenstationen: in den
USA, in Spanien und in Aus-
tralien. Eigentlich sollten
nicht wir den Videoempfang
übernehmen. Aber dann
änderte sich der Ablauf. Ur-
sprünglich sollten die Astro-
nauten erst schlafen, bevor
sie den Mond betreten. Aber
sie verzichteten auf den
Schlaf, dadurch lief der Aus-
stieg über unsere Station.
SPIEGEL: Waren Sie nervös,
weil die Liveübertragung
von einer halben Milliarde
Menschen verfolgt wurde?
Dinn: Nein, die Fernsehüber-
tragung interessierte mich
eigentlich nicht. US-Präsident
Kennedy hatte ja nur das Ziel
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
vorgegeben, »einen Men-
schen zum Mond und sicher
wieder zurück zur Erde zu
bringen« – von einer TV-Live-
übertragung hatte er nichts
gesagt. Anfangs gab es Aufre-
gung, weil die Bilder auf dem
Kopf standen. Wäre nervig
gewesen, wenn die Leute die
Mondlandung mit verdrehtem
Hals hätten sehen müssen.
SPIEGEL: Wie haben Sie die
Livebilder von Australien
nach Houston gefunkt?
Dinn: Wir mussten die Live-
übertragung zunächst über
eine Richtfunkstrecke nach
Canberra senden, dann weiter
nach Sydney, von dort aus per
Satellit in die USA. Das war
eine Riesenarbeit für ein Heer
aus Technikern, mitten im aust-
ralischen Winter. Man sagt ja
immer: Die Leute im Kontroll-
raum in Houston waren die
unbesungenen Helden der
Mondlandung. Dann waren die
Leute in den anderen Bodensta-
tionen die unbesungenen Hel-
den der unbesungenen Helden.
SPIEGEL: Was halten Sie von
den US-Plänen, 2024 wieder
zum Mond zu fliegen?
Dinn: Mein Bauchgefühl sagt
mir: Eine Mondlandung bis
2024 ist eher unwahrschein-
lich. Seit »Apollo« ist sehr viel
Erfahrung verloren gegangen.
Interview: Hilmar Schmundt
Freiheit für
die Stubentiger
Nr. 49/2019 »Guerilla im Vor-
garten« – Tierverhaltensthera-
peutin Heidi Bernauer-Münz
über die im SPIEGEL beschrie-
bene Forderung von Umwelt-
rechtlern, Hauskatzen nicht
mehr nach draußen zu lassen,
um bedrohte Vogelarten zu
schützen
 Katzen lauern ihrer Beute
auf, das ist ihre übliche Jagd-
taktik. Mäuse lassen sich so
fangen, Vögel eher selten.
Vögel sind bedroht durch gro-
ße Fensterscheiben, durch den
Verlust von Nistplätzen und
Futterquellen. Der Einfluss
von Katzen auf den Arten-
schwund hingegen ist gering.
Müssten Katzen ausschließ-
lich im Haus gehalten werden,
würde das aber für viele gro-
ßen Stress bedeuten. Als Ver-
haltenstherapeutin habe ich
schon viele Katzen behandelt.
Die massivsten Probleme
machen fast immer Tiere, die
ausschließlich drinnen leben.
Sie zerkratzen Möbel, markie-
ren ihr – viel zu kleines –
Revier mit Urin oder Kot,
lecken sich kahl; manche grei-
fen sogar ihre Besitzer an.
Und wenn das Füttern für sie
das einzige Highlight des
Tages ist, werden sie dick und
antriebslos. Dass Katzen viel
Freiheit brauchen, liegt an der
Weise, auf die sie zum Haus-
tier wurden: Sie haben sich
sozusagen selbst gezähmt.
Katze mit Beute
Die Getreidespeicher der
ersten sesshaften Menschen
waren ein Paradies für Mäuse,
und das lockte wiederum
wilde Katzen an. Jene Exem-
plare, die die Nähe des Men-
schen besonders gut ertragen
konnten, waren im Vorteil
bei diesem Prozess der Selbst-
domestizierung. Er bedeutet
aber auch, dass heutige Stu-
bentiger im Verhalten immer
noch ihren frei lebenden Vor-
fahren gleichen; sie lieben
ihre relative Unabhängigkeit
und brauchen Aufgaben: ein
Revier, das regelmäßig abge-
laufen und kontrolliert wer-
den muss zum Beispiel, voller
Artgenossen, die begrüßt oder
auf Abstand gehalten werden.
Eine Freigängerkatze kann
auch besser auf Veränderun-
gen in ihrem Umfeld reagie-
ren – wenn etwa ein weiteres
Haustier einzieht oder ein
Kind geboren wird. Für man-
che Katzen bedeutet so etwas
großen Stress – dem sie aus-
weichen, indem sie länger
draußen bleiben oder gar beim
Nachbarn einziehen. Eine
Katze, die nur im Haus lebt,
kann ihr natürliches Verhalten
kaum ausleben, sie braucht
Ersatz für die Abenteuer in
freier Wildbahn.
Trotz aller Risiken sollten
unsere wundervollen, immer
noch ein bisschen wilden
Katzen also wenn möglich
Ausgang genießen dürfen.
Ein erfülltes Leben beugt
Verhaltensproblemen und
Krankheiten vor. Freiheit für
die Stubentiger!
PICTURE-ALLIANCE / DPA
101
 Krebsnebel im Sternbild Stier

NASA / ESA / ASU / J. HESTER

»Alles, was geschehen kann,

wird auch geschehen«
SPIEGEL-Gespräch Der amerikanische Kosmologe Sean Carroll spricht über seine vielen Ich
in Paralleluniversen. Er hält es für möglich, dass Tassen durch
Tische fallen, und erklärt, warum der Raum wahrscheinlich nur eine Illusion ist.
102

Carroll, 53, forscht am kalifornischen Cal-
tech-Institut zu den fundamentalen Geset-
zen von Raum und Zeit. In seinem neuen
Buch beschreibt der Professor für theore-
tische Physik, wie das Universum einst aus
einer Welle hervorging und sich immer wei-
ter aufspaltet in Myriaden neuer Welten*.
SPIEGEL: Herr Carroll, Sie behaupten, un-
ser Universum sei nur eines unter vielen.
Führen wir dieses Gespräch im selben
Augenblick etwa mehr als einmal?
Carroll: Ja, ganz bestimmt. Allein seit Sie
vor einigen Minuten in mein Büro gekom-
men sind, hat sich unser Universum in un-
zählbar viele Kopien aufgespalten. Und in
jedem dieser Universen sitzen sich ein
Sean Carroll und ein Reporter gegenüber
und sprechen über Physik.
SPIEGEL: Wie viele Kopien? Hunderte?
Millionen?
Carroll: Ach was, Millionen. Viel mehr!
Eine Zahl so groß, dass wir sie gar nicht
begreifen können.
SPIEGEL: Stelle ich Ihnen in allen Univer-
sen die gleichen Fragen? Und geben Sie
überall die gleichen Antworten?
Carroll: Die meisten Welten ähneln sich
bis ins Detail. Sie würden keinen Unter-
schied bemerken. In manchen aber haben
sich ein paar Atome in meinem Gehirn ge-
gen mich verschworen, einige Nervenzel-
len umprogrammiert, und ich erzähle Ih-
nen etwas völlig anderes als hier. Da halte
ich die Idee von vielen Welten vielleicht
für ausgemachten Blödsinn.
SPIEGEL: Und in Universen, die sich frü-
her von unserem abgetrennt haben, sind
Sie der Präsident der Vereinigten Staaten?
Oder sitzen als Mörder im Gefängnis?
Carroll: Ja, vermutlich. Irgendwo bin ich
auch Papst oder fliege als Astronaut zum
Mars. Und dann gibt es noch die wirklich
merkwürdigen Universen, in denen magi-
sche Dinge passieren.
SPIEGEL: Was genau meinen Sie damit?
Carroll: Nun, Atome haben wundersame
Eigenschaften. Das gilt auch für alles, was
aus Atomen gemacht ist. Jedes Mal, wenn
ich eine Tasse auf meinem Tisch abstelle,
besteht eine geringe Chance, dass sie hin-
durchfällt, einfach so. Es ist extrem un-
wahrscheinlich, aber physikalisch möglich.
Und alles, was geschehen kann, wird nach
der Vielweltentheorie in einem der Myria-
den von Universen auch geschehen.
SPIEGEL: Was bringt Sie auf die verrückte
Idee, dass ständig neue parallele Univer-
sen entstehen?
Carroll: Jetzt muss ich ein bisschen aus-
holen …
SPIEGEL: Ja, bitte.
* Sean Carroll: »Something Deeply Hidden. Quantum
Worlds and the Emergence of Spacetime«. Dutton;
368 Seiten.
Das Gespräch führte Redakteur Martin Schlak im
kalifornischen Pasadena.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
Wissenschaft
Carroll: Wir müssen über das größte Di-
lemma der modernen Physik sprechen: die
Quantenphysik. Sie beschreibt Atome und
ihre Bausteine präziser als jede Theorie,
und niemand zweifelt an ihrem Erfolg.
Ohne sie hätten wir keine Atomuhren er-
funden und keine Leuchtdioden, keinen
Magnetresonanztomografen und keinen
Computer. Aber wehe, Sie fragen, warum
die Gleichungen funktionieren. Darauf be-
kommen Sie keine Antwort. Ein amerika-
nischer Physiker beschrieb es einmal so:
»Halt die Klappe und rechne!«
SPIEGEL: Wo genau liegt das Problem?
Carroll: Stellen Sie sich vor, Sie schießen
Elektronen durch zwei Spalten und stellen
dahinter einen Beobachtungsschirm auf.
Sie haben keine Ahnung, ob das jeweilige
Teilchen durch den linken oder durch den
rechten Spalt fliegt. Das Irre ist: Auf dem
Schirm sehen Sie nicht zwei Streifen auf-
tauchen, sondern ein kompliziertes Muster
(siehe Grafik Seite 104).
SPIEGEL: Wie ist das zu erklären?
Carroll: Ganz einfach. Die Elektronen ver-
halten sich gar nicht wie Teilchen, sondern
wie Wellen, die sich mal auslöschen und
mal verstärken und dadurch ein sogenann-
tes Interferenzbild entstehen lassen. Es ist
in gewisser Weise so, dass die Elektronen
gleichzeitig durch den linken und durch
den rechten Spalt fliegen.
SPIEGEL: Sehr anschaulich ist das nicht.
Carroll: Da haben Sie recht. Aber es wird
noch merkwürdiger. Im nächsten Versuch
stellen Sie einen kleinen Detektor an den
Spalten auf und messen bei jedem einzel-
nen Elektron nach, wo es hindurchfliegt.
Und was sehen Sie jetzt auf dem Schirm?
Nur noch zwei Striche, das Streifenmuster
ist wie durch Zauberei verschwunden!
BRAD TORCHIA / DER SPIEGEL
Physiker Carroll
»Irgendwo bin ich Papst«
Nun verhalten sich die Elektronen plötz-
lich doch so, als wären sie Teilchen. Bloß
weil Sie mit dem Messgerät hingeschaut
haben.
SPIEGEL: Wie kann das sein? Warum sollte
sich die Natur anders verhalten, wenn wir
sie beobachten?
Carroll: Eben dies ist das große Rätsel,
über das wir schon länger als ein Jahrhun-
dert nachgrübeln. Die meisten Physiker
haben sich einfach damit abgefunden.
SPIEGEL: Und die Vielweltentheorie kann
dieses Problem lösen?
Carroll: Ja. Sie müssen es sich so vorstel-
len: In dem Moment, in dem Sie messen,
überlagert sich die Elektronenwelle mit
der Welle der Detektoratome – mit der
faszinierenden Folge, dass sich das Univer-
sum aufspaltet, verdoppelt. In dem einen
Universum fliegt das Elektron durch den
linken Spalt und wird dort gesichtet, in
dem anderen durch den rechten.
SPIEGEL: Sie beseitigen also das Problem,
dass Dinge mal als Welle und mal als Teil-
chen erscheinen, indem Sie eine unvor-
stellbar große Zahl von Universen anneh-
men. Ist der Preis nicht ein wenig zu hoch?
Carroll: Moment mal. Ich gebe diese Uni-
versen ja nicht als Zutat in die Theorie
hinein. Sie entstehen wie von selbst, wenn
ich die Gleichungen löse. Es ist doch so:
Aus den meisten Theorien folgen Dinge,
die wir nicht beobachten können, und das
macht sie nicht schlechter. Albert Einsteins
Relativitätstheorie legt etwa nahe, dass
eine Milliarde Lichtjahre von uns entfernt
ein Planet um einen Stern kreist. Ich werde
diesen Planeten niemals sehen und seine
Bahn niemals messen können. Das heißt
aber nicht, dass er nicht existiert.
SPIEGEL: Sehr viele Anhänger scheint die
Vielweltentheorie bislang jedenfalls nicht
zu haben.
Carroll: Da täuschen Sie sich. Sie ist be-
sonders unter Kosmologen verbreitet und
wird beständig weiterentwickelt. Je länger
die theoretische Physik in einer Sackgasse
steckt, desto mehr Anhänger werden es.
SPIEGEL: Wo sollen all die anderen Uni-
versen denn sein?
Carroll: Wissen Sie, in unserer Erfahrung
sind die Dinge immer an irgendeinem Ort.
Aber wenn sich Universen vervielfachen,
dann spaltet sich der Raum selbst auf. Es
ist ähnlich wie mit der Frage, wo sich ei-
gentlich unser eigenes Universum befindet.
Sie ergibt keinen Sinn.
SPIEGEL: Wird sich diese Vielweltentheo-
rie jemals überprüfen lassen?
Carroll: Wir könnten sie zumindest wider-
legen. Das ist alles, was Sie von einer guten
Theorie in der Physik erwarten dürfen. Da-
für reicht es zum Beispiel zu zeigen, dass
Elektronen sich auch dann wie Teilchen
verhalten können, wenn niemand hin-
schaut und eine Messung vornimmt. Sol-
che Experimente finden tatsächlich statt.
103

SPIEGEL: Wenn Sie fündig werden, was
dann?
Carroll: Dann muss ich die Idee von den
vielen Universen aufgeben. Aber es gibt
im Moment keinerlei Anzeichen dafür.
SPIEGEL: Ich frage mich, was die Multi-
versen für mein Leben bedeuten. Wenn
sowieso alles geschieht, was geschehen
kann, ist es dann nicht vollkommen egal,
wie wir uns in unserem Leben entscheiden?
Carroll: Das sehe ich anders, und ich gebe
Ihnen ein Beispiel. Ich spiele gern Poker,
da müssen Sie ständig Entscheidungen tref-
fen. Gehen Sie mit? Steigen Sie aus? Letz-
tens bekam ich zwei Damen auf die Hand,
ein gutes Blatt. Ich stieg hoch ein, meine
Mitspieler gingen mit. Dann kam die dritte
Dame, ich habe nachgelegt. Ich war mir
sicher, die anderen würden bluffen.
SPIEGEL: Wie ging es aus?
Carroll: Ich war um 400 Dollar ärmer.
SPIEGEL: Und in irgendeinem Paralleluni-
versum freut sich derweil ein anderer Sean
Carroll über einen satten Gewinn …
Carroll: Ja, richtig. Aber worauf ich hinaus-
will: Nicht meine Entscheidung, wie viel
Geld ich setze, spaltet das Universum auf.
Die Welten mit den Gewinner-Seans ha-
ben sich viel früher gebildet, etwa beim
Mischen der Karten. Die Multiversen ge-
ben mir keine Entschuldigung an die Hand,
unvorsichtig oder unmoralisch zu handeln.
SPIEGEL: Waren Sie neidisch auf die Ge-
winner-Seans?
Carroll: Nein, warum sollte ich. Diese
Menschen sind nicht mehr »ich«. Sie den-
ken von sich, dass sie auch Sean Carroll
heißen, und glauben vermutlich, sie wären
besonders gewiefte Pokerspieler. Ich teile
mit ihnen eine Vergangenheit, aber fortan
leben wir in getrennten Universen.
SPIEGEL: Für immer? Können sich zwei
Welten nicht wieder vereinen?
Carroll: Nun, kein physikalisches Gesetz
verbietet es. Es ist es ja rein theoretisch
möglich, dass sich Kaffee und Milch in ei-
ner Tasse spontan wieder trennen. Oder
dass ich aus dem Fenster springe und sich
die Luftmoleküle durch Zufall genau so
anordnen, dass ich scheinbar fliegen kann.
Aber wir reden hier nicht über Wahr-
scheinlichkeiten von einem Zehntelpro-
zent. Das alles geschieht so selten, dass es
in der gesamten Geschichte unseres Uni-
versums noch nicht vorgekommen ist.
SPIEGEL: Wie würde es aussehen, wenn
zwei Paralleluniversen verschmelzen?
Carroll: Oh, dann müssten die Moleküle
der Luft, die Nervenzellen in unseren Ge-
hirnen, ja alle Teilchen in beiden Univer-
sen in exakt den gleichen Zustand geraten.
In den Geschichtsbüchern der Universen
stünde dasselbe, und jeder Mensch besäße
dieselben Erinnerungen wie sein Zwilling.
SPIEGEL: Ich kann also niemals auf ein an-
deres Ich treffen? Keine Reisen in fremde
Universen antreten?
104
Wissenschaft
Carroll: Nein, ausgeschlossen.
SPIEGEL: Wenn Ihre Theorie sich gar nicht
auf unser Leben auswirkt, wozu ist sie
gut?
Carroll: Ich glaube, wenn wir in der Phy-
sik einen wirklichen Fortschritt erzielen
wollen, dann müssen wir das Fundament
der Quantenphysik freilegen. Das ist so,
wie wenn Sie ein Haus bauen möchten.
Das Erdgeschoss können Sie auch auf
einem unebenen Untergrund errichten.
Aber sobald Sie hoch hinaus streben,
schaffen Sie das nur mit einem soliden
Fundament.
SPIEGEL: Wie hoch wollen Sie hinaus?
Carroll: Unser Problem ist, dass die Quan-
tenphysik zwar die Atome, nicht aber die
Gravitationskraft beschreibt. Und Ein-
steins Relativitätstheorie erklärt die Gra-
vitation, aber sie versagt auf atomarer Ebe-
ne. Nur wenn wir beide Theorien zusam-
Welle oder Teilchen?
Deutung des Doppelspalt-
experiments
1 »dort«, »nah« und »fern« – in Wahrheit
Werden Elektronen auf zwei nah beieinander-
liegende Spalten geschossen, entsteht auf einem
dahinter angebrachten Beobachtungsschirm ein
sogenanntes Interferenzmuster. Der Beobachter
weiß nicht, durch welchen Spalt die Elektronen
jeweils fliegen. Die Teilchen verhalten sich wie
Wellen, die sich gegenseitig beeinflussen.
LIN
KS
2
Misst man mit einem Detektor, welchen Weg
ein Elektron nimmt, sind nur zwei Striche zu
sehen. Die Elektronen verhalten sich jetzt
offenbar wie Teilchen.
Verfechter der Vielweltentheorie
erklären das abweichende Verhalten damit, dass sich
das Universum im Moment des Messens aufspaltet.
In der einen Welt wird das Elektron am linken
Spalt gemessen, in der anderen am rechten.
menbringen, können wir die Extreme des
Universums verstehen – schwarze Löcher,
den Beginn der Welt und ihr Ende.
SPIEGEL: Wie finden wir eine Theorie von
allem?
Carroll: Jetzt verlassen wir das Feld, auf
dem sich Physiker sicher bewegen. Aber
wenn Sie mich fragen, müssen wir die Viel-
weltentheorie endlich ernst nehmen. Sie
geht im Kern davon aus, dass sich alles
allein mittels einer Welle beschreiben lässt:
der Mensch, die Erde, die Sterne, ja das
gesamte Universum.
SPIEGEL: Am Anfang war also eine Welle?
Carroll: Ganz genau.
SPIEGEL: Wie soll aus einer Welle alles
andere entstehen?
Carroll: Das wissen wir noch nicht. Wir
können Atome als Wellen beschreiben,
aber keine makroskopischen Gebilde aus
unzählbar vielen Atomen, keine Autos,
Hunde, Menschen oder Planetensysteme.
Allerdings wissen wir eines: Wellen
schwingen, vereinfacht gesagt, verschie-
den, je nachdem wie der Raum um sie
herum beschaffen ist. Meine Idee ist, dass
wir diesen Zusammenhang umdrehen.
Und zwar so: Wenn eine Welle auf eine
bestimmte Art schwingt, dann führt das
zu einer Verformung des Raums.
SPIEGEL: Was bedeutet das?
Carroll: Das hieße, der Raum mit seinen
drei Dimensionen ist bloß eine für uns
begreifbare Weise, wie wir über diese
Universumswelle sprechen. »Hier« und
ist dies alles eine Illusion. Wenn wir vor-
dringen bis auf die unterste Ebene der
Naturgesetze, dann verschwindet der
Raum aus den Gleichungen.
SPIEGEL: Wir haben uns an die Idee vom
Urknall gewöhnt und an die Relativität
der Zeit. Und nun sagen Sie, dass nicht
einmal der Raum selbst existiert?
Carroll: Ja, zumindest nicht fundamental.
Wir glauben, die Welt müsste sich überall
so verhalten, wie wir sie kennen. Aber das
ist falsch. An den Grenzen von Raum und
Zeit verlässt den Menschen seine Intuition.
Das ist nicht überraschend, er hat diese
Grenzregionen ja nie besucht.
SPIEGEL: Werden wir mit unserem be-
schränkten menschlichen Hirn jemals zur
Weltformel vordringen?
Carroll: Da bin ich zuversichtlich. Wir
sind in den vergangenen 120 Jahren mit
unseren Messinstrumenten von den Ato-
men bis zu den Quarks vorgestoßen und
von der Milchstraße in ferne Galaxien. Es
wäre befremdlich, wenn es nicht so wei-
terginge. In einem anderen Universum ha-
ben klügere Wissenschaftler die wahren
Gesetze der Physik sicher längst nieder-
geschrieben.
SPIEGEL: Herr Carroll, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
Flexibel bleiben.
Lesen Sie den SPIEGEL,
solange Sie möchten.
Frei Haus. Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
4 % sparen. Für nur € 5,10 pro Ausgabe statt € 5,30 im Einzelkauf
Ohne Risiko. Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
Vergünstigte Tickets. Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen auf www.spiegel-live.de

Einfach jetzt anfordern:

abo.spiegel.de/flexibel
oder telefonisch unter 040 3007-2700
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)

Keine
Mindest-
laufzeit

»Wilder Garten«
Archäologie Ein Bamberger Forscher ergründet die Anfänge der Musik und baut
längst vergessene Instrumente nach. Schon im Mittelalter
schufen begabte Handwerker erstaunlich ausgereifte Klangwerkzeuge.
A
m Anfang war die Stille. Dann
plumpste irgendwo ein Stein ins
Wasser. Und im Kopf eines frü-
hen Vorfahren an der Schwelle
zum Menschsein entwickelte sich eine fol-
genschwere Geräuschexplosion. In diesem
Moment kam die Musik in die Welt.
So könnte es sich nach Ansicht jenes
Mannes zugetragen haben, der wie kaum
ein anderer den Wurzeln der Klänge nach-
spürt. Andreas Spindler, 55, ist ein musi-
kalisches Multitalent, er beherrscht rund
40 Instrumente – die meisten davon hat
er selbst gebaut. Es sind Klangwerkzeuge
aus fernen Zeiten, uralte Musikinstrumen-
te, die heute kaum noch jemand kennt:
darunter die mittelalterliche Drehleier, den
Zinken (ein uraltes Blasinstrument) oder
die Cister (ein Zupfinstrument).
Auf einem ehemaligen fürstbischöf-
lichen Jagdschloss bei Bamberg, das seiner
Familie gehört, widmet sich der gelernte
Instrumentenbauer dem exotischen Fach
der Musikarchäologie. Wie hörte es sich
an, wenn in den gotischen Kirchen des Mit-
telalters die schweren Orgeln zum Gottes-
dienst wummerten? Welchen Sound er-
zeugten Stadtmusikanten, die einst mit
Krummhörnern, Sackpfeifen und Schal-
meien bei Volksfesten aufspielten?
»Ich will dem originalen Klang so nah
wie möglich kommen«, erklärt Spindler.
Doch wie bildet man den Sound eines Zeit-
alters nach, aus dem es keine Tonaufnah-
men und nur wenige schriftliche Zeugnisse
gibt?
Historikern gilt das Mittelalter als
»Dunkle Epoche« in der Geschichtsschrei-
bung, denn spätere Verheerungen wie
etwa der Dreißigjährige Krieg (1618 bis
1648) zerstörten viele Informationen aus
dieser Zeit; Bibliotheken und Archive gin-
gen in Flammen auf. Erforscher früher
Musik haben es dabei besonders schwer.
Aus der Zeit vor dem 11. Jahrhundert exis-
tieren nur wenige schriftliche Überliefe-
rungen, die den Melodienreichtum jener
Zeit dokumentieren könnten. Erst um
1030 entwickelte der Benediktinermönch
und Lehrer von Chorknaben, Guido von
Arezzo, ein System zur Aufzeichnung
von Musik, das der heutigen Notenschrift
ähnelt.
Anekdotisch überliefert ist, wie verstö-
rend die Einführung neuer Formen der
Musik auf die Menschen des Mittelalters
106
Wissenschaft
wirkte. So flüchteten an Weihnachten des drähte herzustellen und konnten diese
Jahres 1198 verschreckte Gottesdienst- womöglich in Instrumenten verarbeiten.
besucher aus der Pariser Kathedrale von Vermutlich brachten Kreuzzügler gegen
Notre-Dame, als vier Sänger eine mehr- Anfang des 12. Jahrhunderts neben etli-
stimmige Komposition von der Sängerkan- chen Melodien aus der muslimisch gepräg-
zel schmetterten. ten Ferne auch die handwerklichen Tech-
Zweifellos ermöglichte die Notenschrift niken mit, um erstaunlich kunstvolle
kompliziertere Kompositionen; doch sie Klangwerkzeuge zu bauen. Spindler: »Es
schränkte zumindest anfangs auch den ist eine merkwürdige Vorstellung zu
kreativen Prozess ein. Spindler ist über- glauben, im Mittelalter hätte es nur simple
zeugt davon, dass das Aufkommen der No- Kindergarteninstrumente gegeben.«
tation die Fähigkeit zur Improvisation mit- Schon die Herstellung eines Krumm-
telalterlicher Musiker verkümmern ließ. horns aus Ahorn etwa erfordere höchste
»Als es noch keine Noten gab, war die handwerkliche Fähigkeiten. Stimme die
Musikszene wie ein wilder aufblühender Biegung und Bohrung des Instruments
nicht, könne sich im Hohlraum das typische
Klangbild nicht entfalten. Und das wäre ge-
rade im Falle des Krummhorns verheerend,
denn damit, so der Klangforscher, habe es
etwas Besonderes auf sich. Er vertritt die
Hypothese, dass die Schöpfer dieses Instru-
ments die schnarrenden Töne von Raben
nachahmen wollten, die in der Mythologie
vieler Völker als magische Vögel galten.
Bezüge zur Tierwelt lassen sich in der
BILDARCHIV HANSMANN / INTERFOTO
Geschichte der Musikinstrumente ohne-
hin immer wieder finden. So stießen
Ausgräber in steinzeitlichen Höhlen auf
kleine Flöten aus Tierknochen, die mehr
als 35 000 Jahre alt sind.
Umstritten ist allerdings, wie den Blas-
instrumenten einst Töne entlockt wurden:
Bliesen die Paläomusikanten direkt in die
Mittelalterliche obere Spalte des Knochens, wie einige
Instrumentendarstellung* Archäologen glauben? Spindler hingegen
Ursprung in Arabien? vermutet aufgrund eigener Experimente,
dass zu den Steinzeitflöten gefertigte
Mundstücke gehörten, die jedoch längst
Garten«, sagt der Experte. »Danach erin- verrottet sind.
nerte sie eher an sorgsam eingehegte Ro- In mehreren Tests hat er versucht, dem
senbeete.« längst verklungenen Höhlensound auf die
Spindler geht aufgrund seiner Nachfor- Spur zu kommen. »Ohne Mundstück war
schungen davon aus, dass die Wurzeln der es ein ohrenbetäubender Krach«, berichtet
europäischen Musiktradition weit vor dem er. »Mit Mundstück tönte die Flöte in voll-
Aufkommen der Noten liegen und womög- endeter Harmonie.«
lich ihren Ursprung in Arabien haben. Ohnehin traut er den Instrumenten-
»Die Menschen dort waren uns um 500 bauern früherer Epochen weit mehr zu,
Jahre voraus«, sagt er. Untersuchungen an als es ihnen Historiker nach seiner Mei-
den wenigen erhalten gebliebenen Instru- nung bisher zugestanden haben. Mit ver-
menten aus dem Orient hätten gezeigt, gleichsweise einfachen Mitteln hätten sie
dass Techniken wie »Löten und Leimen« erstaunlich ausgefeilte Musikgeräte ge-
dort weit früher verbreitet gewesen seien. schaffen.
Bereits die alten Ägypter waren nach Im 8. Jahrhundert etwa bauten hoch-
seiner Einschätzung in der Lage, Gold- begabte Handwerker komplexe Blasinstru-
mente, deren Herstellung eine millimeter-
* Aus den »Cantigas de Santa Maria«, um 1280. genaue Bohrung im Innern erfordert –

Klangforscher Spindler: »So nah wie möglich am originalen Sound«
»und das ohne elektrischen Strom, mit
einer einfachen Wippdrehbank«.
Historiker und Ausstellungsmacher er-
bitten inzwischen Spindlers Hilfe, wenn ge-
klärt werden soll, wie manch lange ver-
schollenes Instrument überhaupt gespielt
wurde. Doch obwohl bedeutend besser aus-
gestattet als seine Vorgänger aus dem Mit-
telalter, muss er sich erst mühevoll aneig-
nen, wie man beispielsweise einen soge-
nannten stillen Zinken nachbaut und wie
man diesem Blasinstrument Töne entlockt.
Manch altes Instrument, das ausnahms-
weise die Jahrhunderte in irgendeinem
Archiv überdauert hat, lässt Spindler mit-
hilfe eines Magnetresonanztomografen
scannen, um den inneren Aufbau zu ver-
stehen. Der befreundete Passauer Profes-
sor Tomas Sauer hat dafür eigens eine Soft-
ware entwickelt, die den störenden Einfluss
von Metallelementen wie Drahtsaiten,
Druckknöpfen oder Nägeln eliminiert.
In den meisten Fällen jedoch muss
selbst der Fachmann die früheren Instru-
mente von Grund auf rekonstruieren.
Zwei erhaltene Sammlungen mit mittel-
alterlichem Liedgut liefern ihm dazu wich-
tige Hinweise: die Handschriften »Canti-
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28.12. 2019
gas de Santa Maria«, entstanden im Laufe
des 13. Jahrhunderts auf der Iberischen
Halbinsel, sowie der »Codex Manesse«,
zu Beginn des 14. Jahrhunderts vermutlich
in Zürich aufgeschrieben. Beide Werke
sind aufwendig bebildert mit Musikanten
und ihren Instrumenten.
Spindler kam auf die Idee, die alten Il-
lustrationen als Bauanleitung zu nutzen.
»Es ist wirklich verblüffend, alle Propor-
tionen stimmen«, sagt Spindler. »Bei den
Blasinstrumenten wurden sogar die Ab-
stände zwischen den Löchern exakt wie-
dergegeben.«
Seinen einmaligen Status als Experte
für historische Instrumente verdankt er
seinen Grenzgängen zwischen den Fach-
gebieten. »Viele Historiker kennen die
Theorie, haben aber nur wenig Ahnung
von den Instrumenten«, sagt Spindler.
Spindler kam auf
die Idee, Illustrationen in
alten Liederbüchern als
Bauanleitung zu nutzen.
SONJA OCH / DER SPIEGEL
»Die meisten Musiker wiederum interes-
sieren sich nicht für die Theorie dahinter.«
Seine Mutter, eine Musiklehrerin, sorgte
dafür, dass ihr Sohn schon mit vier Jahren
die Blockflöte passabel spielen konnte.
Sein Vater, ein inzwischen emeritierter
Musikprofessor, steuerte den theoreti-
schen Überbau bei.
Sein Fachwissen hat Spindler inzwi-
schen weithin bekannt gemacht. Viele
professionelle Musiker lassen sich von ihm
uralte Instrumente nachbauen. Für die
Mittelalterrocker der Band Subway to Sal-
ly beispielsweise schuf er ein kostbares
Unikat: eine Schalmei, wie sie schon vor
tausend Jahren gespielt wurde.
Und für die jüngste Hollywood-Adap-
tion des grimmschen Märchens »Schnee-
wittchen« baute Spindler extra eine mit-
telalterliche Fidel.
Als er dann den fertigen Film sah, er-
lebte der Klangforscher einen kurzen
Schreckmoment: Einer der Zwerge, der
für Schneewittchen kämpfte und starb,
wird im Feuer bestattet – und seine ein-
zigartige Teufelsfidel gleich mit.
Frank Thadeusz
107
 Wissenschaft

PAVEL BLAZEK
Athlet Ondra in der Route »Silence« 2017: Bizarre Verdrehungen, gelegentliche Überkopfpassagen, fledermausartiges Abhängen

Tanz mit dem Tod

Sportmedizin Klettern ist Modesport geworden, Bouldern boomt. Doch wer falsch trainiert, kann
sich schwer verletzen. Unterwegs an der Kletterwand mit dem tschechischen Profi Adam Ondra.

P
lötzlich gellt ein Schrei durch die
Halle, ohrenbetäubend, lang ge-
zogen: »Aaaaaah!« Aber kaum
jemand achtet darauf, alle ma-
chen einfach weiter, Kinder, Eltern, Trai-
ner. Sie sind gewöhnt an Adam Ondra und
seinen »Power Scream«, wie er ihn nennt:
An schwierigen Passagen brüllt der Athlet
gern laut, um auszuatmen und seine letz-
ten Kräfte zu mobilisieren. So auch an die-
sem Herbsttag im Kletterzentrum Duro
in seiner tschechischen Heimatstadt Brno
(Brünn).
Ondra, ein schlaksiger Lockenkopf mit
zerschundenen Händen und mächtigen
Unterarmen, gilt als der vielleicht beste
Sportkletterer der Gegenwart, seit er 2017
»Silence« durchstieg, die wohl härteste
Route der Welt an der Decke der halb ein-
gestürzten Hanshelleren-Höhle, mit wei-
tem Blick über die Küstenlandschaft Nor-
wegens. Ondra bewertet die Route mit
dem Schwierigkeitsgrad 9c. Die meisten
Profis sind stolz, wenn sie eine 9a schaffen.
Bis heute ist es keinem Konkurrenten ge-
lungen, Ondras 9c zu wiederholen.
Vier Jahre lang kämpfte Ondra immer
wieder mit den unfassbar winzigen Griffen
in der Höhlendecke. Nach vielen Wochen
Spezialtraining, auch mithilfe eines eigens
angereisten Physiotherapeuten, gelang
ihm der Durchstieg. Sein Trick: eine Reihe
bizarrer Verdrehungen und Verkantungen,
gelegentliche Überkopfpassagen, fleder-
mausartiges Abhängen. Seine Schreie hall-
ten weit durch die Berge.
Doch seit einigen Monaten trainiert der
Meister eine andere Disziplin, das Speed-
klettern, eine Art Vertikalsprint: 15 Meter,
20 Griffe, 11 Tritte. »Speed ist eigentlich
ein Witz«, schimpft Ondra, aber er muss
mitmachen. Denn diese Disziplin gehört
bei den Olympischen Spielen in Tokio
dazu, wo das Klettern im August 2020
erstmalig vertreten sein wird. Zum Verti-

108 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

kalsprint gesellen sich Wettbewerbe im
klassischen Vorstiegsklettern mit Seil und
im trickreichen Bouldern an kleineren
Wänden.
Das Problem: Ondra, Mehrfachwelt-
meister und Weltcupsieger in Bouldern
und Vorstieg, ist zu lahm beim Sprint in
der Wand. Die besten Speedkletterer flit-
zen da in weniger als sechs Sekunden hoch.
Ondra braucht rund sieben. »Mein Ziel ist
es«, sagt er, »nicht Letzter zu werden.«
Ondra ist nicht der Einzige, der sich mit
dem Olympiamodus herumschlägt. Unfall-
chirurgen warnten schon 2017 in der
»Sportärztezeitung«: »Eine Trainingsum-
stellung hinsichtlich des neuen Dreikampfs
stellt sich für die aktuell spezialisierten
Athleten als äußerst schwierig dar.« Au-
ßerdem drängten immer jüngere Athleten
an die Weltspitze, aber das Training sei
oft zu hart für sie.
»Ich beobachte vermehrt Verletzun-
gen«, sagt der Unfallchirurg Volker Schöffl.
Er leitet die Sektion Sportorthopädie
am Klinikum Bamberg und betreut die
deutsche Kletternationalmannschaft me-
dizinisch.
Betroffen sind nicht nur Profis. Denn
auch das Amateurklettern boomt, der Zu-
lauf zu den etwa 500 deutschen Kletter-
hallen ist gigantisch, seit 1989 ist ihre Zahl
in Deutschland um den Faktor 25 gewach-
sen. Der Deutsche Alpenverein konnte al-
lein seit den Nullerjahren seine Mitglieder-
zahl verdoppeln. Mehr als eine halbe
Million Deutsche hangeln an Wänden mit
bunten Griffen herum.
Der Sport lockt mit Unterdisziplinen
wie dem klassischen Felsklettern, Indoor-
klettern in der Halle, Eisklettern an gefro-
renen Wasserfällen. Vor allem das Boul-
dern ist im Trend: das Turnen an Wänden,
so niedrig, dass man kein Seil braucht.
»Bouldern ist trügerisch einfach, die
meisten denken, sie könnten ohne viel
Vorbereitung loslegen«, sagt Schöffl. Doch
das täusche.
Zumal die Bewegungen immer mehr
Akrobatik erfordern. So sind derzeit
Sprünge in Mode, sogenannte Double Dy-
nos, früher als effekthascherische Stunts
verpönt unter Kletterern. Dabei gilt es, mit
beiden Händen voran durch die Luft zu
hechten, bevor man sich wild baumelnd
wieder fängt, oft an einem einzigen Griff.
»Viele Kletterer wissen nicht, wie man
sich korrekt abfängt«, sagt Schöffl. Der Ef-
fekt: Immer mehr Patienten kommen zu
ihm mit kaputten Schultern, geschwollenen
Knöcheln oder einer schmerzenden Len-
denwirbelsäule. »Das schonende Absprin-
gen muss gelernt sein, wenn man richtig
abfedern will«, sagt Schöffl. Schon ein Ab-
rutschen aus einem Meter Höhe könne aus-
reichen, um das Handgelenk zu verletzen.
Gemeinsam mit australischen Kollegen
hat der Sportmediziner mehr als 34000 Ver-
letzungen von Kletterern ausgewertet, die
in den USA zwischen 2008 und 2016 in
Notfallambulanzen betreut wurden. Die
meisten Brüche traten an den Knöcheln
auf (27 Prozent).
Das klingt nicht gut. Aber dennoch, sagt
Schöffl, sei »Klettern insgesamt ein sehr
sicherer Sport«. Er klettert selbst, seine
Frau auch. »Die Unfallstatistiken legen
nahe, dass etliche Sportarten weitaus ge-
fährlicher sind.«
Das Verletzungsrisiko einer Sportart
wird in der Zahl der Verletzungen gemes-
sen, die ein Mensch im Schnitt erleidet,
wenn er ihn 1000 Stunden lang ausübt.
Besonders hart scheint Amateur-Rugby
zu sein: Die Spieler verletzen sich dem-
nach alle vier Stunden, Profis im Som-
mer immerhin alle sieben Stunden. Auch
Eishockey, Fußball, Handball und Tri-
athlon lassen die Sportler nicht unge-
schoren.
»Das Gefährlichste
beim Klettern ist
doch die Anfahrt mit
dem Auto.«
Dagegen ziehen sich Hallenkletterer
nur, fast homöopathisch, unter 0,1 Verlet-
zungen pro 1000 Stunden zu. Das wäre
statistisch rund hundertmal sicherer als
Basketball. Aber nun könnten die neuen,
riskanteren Bewegungsmuster dazu füh-
ren, dass Kletterer sich häufiger wehtun,
irgendwann vielleicht sogar so oft wie Fuß-
baller, fürchten Ärzte wie Schöffl. Und:
Der starke Zulauf durch Ungeübte erhöht
die Zahl der Blessuren. Man spricht dabei
auch vom »Newbie Syndrome«.
Filme wie »Free Solo« lassen die lässige
Aura des neuen Trendsports strahlen. In
der Dokumentation, die dieses Jahr einen
Oscar gewann, durchsteigt der Kletterer
Alex Honnold eine gut 900 Meter hohe
Felswand im Yosemite Valley.
Die Schlüsselstelle nennt sich »Boulder
Problem«: eine absurd glatte Querung, die
sich nur durch einen beherzten Tritt fast
auf Schulterhöhe überwinden lässt oder
durch einen Sprung mit beiden Händen in
der Luft. Ein winziger Missgriff, und der
Kletterer stürzt in die Tiefe. Denn er geht
»Free Solo«, was bedeutet: Honnold ist
allein, ohne Seil, ohne Partner. Es ist ein
Tanz mit dem Tod.
»Der Film vermittelt ein völlig falsches
Bild«, ärgert sich Schöffl. »Seit Jahren
kämpfe ich dafür, dass Klettern von Kran-
kenkassen nicht mehr zu Unrecht als
Hochrisikosport eingestuft wird, und dann
bestätigt der Rummel um ›Free Solo‹ doch
wieder all diese verqueren Vorurteile von
wegen, Kletterer seien lebensmüde.«
Auch Adam Ondra ist kein Fan von
»Free Solo«. Der Film ist ihm zu reißerisch,
er erkennt seinen stillen, bescheidenen
Freund Alex Honnold darin kaum wieder.
»Das Gefährlichste beim Klettern ist doch
die Anfahrt mit dem Auto«, sagt Ondra.
Wenn man ihn schreiend und bau-
melnd einen Überhang durchsteigen
sieht, würde man kaum vermuten, dass
Ondra geradezu als Vorbild fürs schonen-
de Klettern gilt. Gerade die akrobatischen
Kopfüberbaumeleien erfüllen eine eher
überraschende Funktion: Sie erlauben
ihm, zwischendurch die Hände vom Fels
zu nehmen, die Arme auszuschütteln und
sich zu erholen. Ähnliches gilt auch im
Großen – durch behutsames, geduldiges
Training schützt er sich langfristig vor
Verletzungen.
Geholfen hat es Ondra, dass er schon
mit vier Jahren zu kraxeln begann; seine
Eltern nahmen ihn einfach mit, wenn sie
mit Freunden eine halbe Stunde nördlich
von Brno in die Wände stiegen. Mit 6 Jah-
ren nahm er bereits an einem Wettbewerb
teil, mit 13 spielte er in der internationalen
Liga mit und durchstieg eine Route im
Schwierigkeitsgrad 9a, mit 19 kletterte er
mit »The Change« die damals wohl här-
teste Route der Welt: 9b+.
Im Gegensatz zu vielen Freunden und
Konkurrenten verzichtete er, bis er 16 war,
sogar auf ruppigen Kraftsport wie etwa
das freie Baumeln am »Campus Board«,
einem Trainingsbrett. Seinen ersten pro-
fessionellen Trainer bekam er erst mit
20 Jahren. Kletteranfängern rät er, sich
vorsichtig an den Sport heranzutasten und
nicht zu früh mit den akrobatischen Sprün-
gen zu beginnen.
Es gelte, erst einmal ein Gefühl für die
Griffe zu bekommen, für jenen exquisiten
Moment, wenn die Finger nicht mehr
halten und der Körper ins Nichts rutscht.
Paradoxerweise rät er auch: Anfänger
sollten zunächst mit Seil klettern, denn
auch wenn das Bouldern in Bodennähe
einfacher wirke – der Absprung erfordere
viel Körperkontrolle und Konzentration.
Jahrelang blieb er mit derlei Methoden
verletzungsfrei. Doch diesen Sommer hat-
te er erstmals Probleme mit dem linken
Handgelenk, vielleicht eine Überlastungs-
erscheinung durch die Vorbereitung auf
die Olympischen Spiele in Tokio.
Und gerade sind Ondras Schultern ver-
spannt – vielleicht eine Folge des unge-
liebten Speedtrainings? Er zieht sich für
20 Minuten in seinen Campingbus auf
dem Parkplatz zurück. Zeit für Yoga.
Schließlich geht es zurück an die Speed-
wand, 15 Meter hoch, 20 Griffe, 11 Tritte –
in acht Sekunden, ein schlechter Witz,
es ist, als schickte man einen Balletttänzer
zum Sackhüpfen. Noch mal: Achtung, fer-
tig, los – »aaaaaah!«. Hilmar Schmundt
109
Kultur Die Geschichten hinter den Geschichten – der besondere Rückblick

SEBASTIAN RETHER / DER SPIEGEL

Auf Abwegen zum Erfolg
Nr. 6/2019 »Fünf Rote, fünf Weiße« – Dramatisch sinkende Besucherzahlen im Jahr 2018 bedrohten die Existenz
deutscher Kinobesitzer. Das brachte einige von ihnen auf Ideen.

 Mit Einfallsreichtum und ungewöhnlichen Programmideen
versuchten die Lichtspielhäuser, sich zu retten. Das zeichnete
sich bereits Anfang dieses Jahres ab, als der SPIEGEL genauer
hinschaute, auf einer Reise durch die deutsche Kinolandschaft.
Die Oli-Lichtspiele in Magdeburg etwa gaben im Sommer Motor-
radfahrern aus ganz Deutschland die Gelegenheit, mit ihren
Maschinen in den Kinosaal zu fahren und sich einen Film ihrer
Wahl anzusehen – inzwischen schon eine Tradition in dem Haus.
Grundsätzlich zeigt sich, dass Kinos mehr und mehr Orte für
Events werden, an denen nicht nur Filme laufen, sondern auch
Opern und Fußballspiele gezeigt werden. Der Trend zum Luxus-
kino, das dem Besucher hohen Sitzkomfort und Champagner am
Platz bietet, setzt sich fort. Der Betreiber der Astor Film Lounges,
der unter anderem Kinos in der Hamburger HafenCity und am
Berliner Ku’damm hat, sagt, mit diesem Konzept hätten sie »vie-
le Menschen für den Besuch im Kino« zurückgewinnen können.
Allerdings habe auch die »Software« gestimmt: Publikumswirk-
same Filme wie »Bohemian Rhapsody« über Freddie Mercury
von der Band Queen oder die Hape-Kerkeling-Adaption »Der
Junge muss an die frische Luft« füllten die Säle. Lars-Olav Beier

Sehr teure Liebe teuer wie ursprünglich behaup-

Nr. 7/2019 »Berlin ist so ange-
nehm mangelhaft« – Wer das
SPIEGEL-Gespräch mit Jacques
Herzog gelesen hat, konnte den
Finanzskandal um das neue
Berliner Museum der Moderne
kommen sehen.
tet. Es soll die Steuerzahler
450 Millionen Euro statt der
vom Bundestag zuerst geneh-
migten 200 Millionen Euro
kosten. Ein Skandal, der Ärger
war groß – und erwartbar. Der
Entwurf stammt von den Base-
ler Stararchitekten Jacques
noch mehr kosten werde, ant- Hamburg, der wegen mehrfa-
wortete er auffallend verhalten: cher Kostenexplosionen in
»Man kann die konkreten Zah- die Geschichtsbücher einging:
len noch nicht nennen, bevor »Das war der größte Fehler in
nicht die Planungen abgeschlos- Hamburg, dass da schon Sum-
sen sind.« Er erinnerte an den men genannt wurden, als es
Bau der Elbphilharmonie in noch nicht einmal ein Projekt,
sondern nur eine Idee gab.«
Damit ein Gebäude zur Ikone
HERZOG & DE MEURON

Herzog und Pierre de Meuron. werde, sagte er, müsse es ge-

 Die bittere Nachricht wurde
Mitte November kurz vorm ers-
ten Spatenstich verkündet: Das
neue Museum der Moderne in
Berlin wird mehr als doppelt so
Herzog äußerte sich bereits im
Februar im SPIEGEL zu dem
Berliner Projekt. Auf die Frage,
ob der Bau statt 200 Millionen
Euro nicht 400 Millionen oder
liebt werden. In Hamburg wur-
de aus Verdruss bei vielen
tatsächlich Zuneigung. Ob das
auch in Berlin möglich ist, muss
Museumsentwurf sich noch zeigen. Ulrike Knöfel

110 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019


Kognitives Problem
Nr. 37/2019 »Die perfekte
Krise« – Der Schriftsteller
Jonathan Safran Foer sprach
auch über seine Inkonsequenz.
Das funktionierte super.
 Im September begann der
Herbst des Klimas. Greta
Thunberg war nach Amerika
gekommen und demonstrierte,
während der New Yorker
Schriftsteller Jonathan Safran
Foer ein Buch herausbrachte
mit dem erst mal seltsamen
Titel »Wir sind das Klima«. Es
war ein ungewöhnlicher Bei-
trag, einer, der nicht zuvor-
derst die Gründe und Folgen
der Klimakatastrophe in
den Blick nahm, sondern die
Schlüsse, die wir aus der dro-
henden Gefahr ziehen – und
warum diese meist falsch sind.
Der Klimawandel, so Foer,
sei nicht nur ein naturwissen-
schaftliches, sondern vor allem
ein kognitives Problem des
Menschen. Wir wissen, die
Katastrophe wird kommen,
doch kaum einer tut genügend,
um sie abzuwenden – Foer
nach eigenen Angaben einge-
schlossen. Dass der Autor
in Umweltschutzfragen eher
nachlässig ist, war auch auf
dem Foto zu sehen, das ihn
beim SPIEGEL-Gespräch zeig-
te: mit einem Plastikbecher
Eiskaffee inklusive Kunststoff-
trinkhalm vor sich. Und eine
derartige Inkonsequenz leisten
sich ja die meisten, deswegen
ist Foers Buch der bislang viel-
leicht wichtigste Beitrag zum
Klimaproblem. So sah das
offenbar der Drogeriekönig
Dirk Roßmann und verkünde-
te im November in der TV-
Sendung »Maischberger«, er
verschenke 25 000 Exemplare
von Foers Buch, man könne
sich online melden. Alle
Bücher waren noch in dersel-
ben Nacht vergeben. Dies
könnte ein gutes Zeichen sein.
Es könnte natürlich aber auch
nur für die Umsonstkultur
sprechen. Philipp Oehmke

Live und gesagt worden war, Balovat-

sky würde vielleicht dort woh-
unerreichbar nen. Während der Warterei
schaute er Capital Bra beim
Der Rapper Capital Bra wollte Musikmachen zu: Der Rapper
partout nicht mit dem SPIEGEL postete live aus seiner Woh-
reden, zugänglicher zeigte er nung. Möglicherweise nur

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

sich gegenüber einigen Schul- wenige Meter entfernt. Doch
kindern. nichts ging.
Ein paar Tage später ist ein
 Als Journalist hat man anderer Redakteur bei einem
naturgemäß mit den wichtigen Schulfest. Sein achtjähriger
Figuren des öffentlichen Le- Sohn verschwindet mit eini-
bens zu tun. Die Kanzlerin, gen Klassenkameraden für
Barack Obama, der Siemens- 20 Minuten – und taucht tri- König
Chef, Lady Gaga – mit allen umphierend wieder auf:
konnten Kollegen des SPIEGEL »Papa, rate mal, wen wir gera-
schon reden. Was sollte also de kennengelernt haben?
Aus Ernst wird nen Notizblock auf dem Tisch
für einen Rowohlt-Titel zu
das Problem sein, den Berli- Capital Bra!« Die Mutter
ner Straßenrapper Capital Bra eines anderen Jungen kannte
wieder Spaß PC und Queer und LGBTQ*
und #MeToo und all diesen
zu treffen? Bra, 25, der mit jemanden, der in einem Fri- Nr. 21/2019 »Alter schwuler Themen.« Im Zentrum stehen
bürgerlichem Namen Vladis- seurladen neben der Schule weißer Mann« – Die Kritik soll das Kölner Comicpaar
lav Balovatsky heißt, ist einer arbeitet, Balovatsky war dort, von Genderaktivisten irritierte Konrad Stubenburg und Paul
der erfolgreichsten Popstars um sich rasieren zu lassen, den Comiczeichner Ralf König. Niemöser, dem König schon
Deutschlands, sein Album blitzschnell sprach sich das Heute ist er inspiriert. mehrere Erfolgsbücher ge-
»CB6«, das im April erschien, über die sozialen Medien widmet hat. Die Geschichte
war wochenlang in der Album- herum, und die Kinder rann-  Ausgerechnet Ralf König, skizziert er wie folgt: »Ich las-
verkaufsliste, und jedes ein- ten hin. Die Beschäftigung eine Ikone der deutschen se Paul, den kleinen Macho,
zelne Stück schaffte es zudem mit den Göttern des Pop ist Schwulenbewegung, geriet nach Berlin in LGBTQ*-
in die Singlecharts. Außer- manchmal auch eine Übung 2019 in den Fokus queerer Kreise geraten, wo er in jeden
dem war er in diverse Skan- in Demut. Tobias Rapp Aktivisten. Ihr Vorwurf: queeren Fettnapf tritt, der
dale verwickelt – es gab also Königs Figurendarstellungen ihm im Weg steht. Ich kann
Material für ein Gespräch. seien diskriminierend, vor das ja nur aus meiner eigenen
Doch die Sache gestaltete sich allem ein Wandbild von ihm Perspektive des ›alten weißen
schwierig. Der Konzern, der in Brüssel sei rassistisch, trans- schwulen Mannes‹ erzählen,
seine Musik vertreibt, erklärte phob, dickenfeindlich. König der die Entwicklung in Köln
sich für nicht zuständig. Seine verstand seine alte linke ’ne ganze Weile verschnarcht
eigene Firma: unerreichbar. schwule Welt nicht mehr. hat und sich jetzt die Augen
Auch Kontakte zu diversen »Wer als Humorist anfängt, reibt. Konrad holt eine 30 Jah-
Promotern brachten kein Er- vorsichtig zu sein, kann gleich re alte Geschichte ein, ihm
gebnis. Direkte Anfragen aufhören mit dem Humor«, wird Begrabschung eines Min-
über die sozialen Netzwerke: sagte er im Mai dem SPIEGEL. derjährigen vorgeworfen.
PHONG LE / SONY MUSIC

Schweigen. Genauso wenig
halfen persönliche Verbindun-
gen zu anderen Künstlern und
Musikern. Schließlich harrte
ein Kollege einen Tag lang vor
einem Haus aus, von dem ihm
Aus Spaß war Ernst gewor-
den. Nun plant König, der
nächstes Jahr 60 wird, die auf-
geregte Debatte künstlerisch
umzusetzen. »Ich sammle
Capital Bra Stoff und hab tatsächlich ei-
Also Internetpranger, Shit-
storm etc.« König hofft, dass
der Comic im Herbst 2020 in
den Läden steht, der Arbeits-
titel: »Das geht ja wohl GAR
nicht!« Tobias Becker

111

»Was wäre super?«
Zeitgeist Die Menschheit fürchtet mal wieder ihr eigenes Ende, kaum ein Politiker hat
noch eine Zukunftsvision. Kann die Literatur helfen? Eine Umfrage.
W
ir leben in zukunftslosen Zei-
ten. Die Gesellschaft drängt
sich in Panik an der Abbruch-
kante der Welt, und keiner
weiß, wohin oder woher Rettung kom-
men könnte. Wohlmeinende Zukunfts-
freunde, so scheint es, finden schon in
der Erhaltung des Bestehenden ihre strah-
lendste Utopie. Die Bäume. Die Demo-
kratie. Die Europäische Union. Erhalten.
Erhalten, irgendwie. Vereint im Abwehr-
kampf gegen die Gefahren der Zukunft.
Die Utopisten von heute sind im Herzen
konservativ. Genügt das, um eine Gesell-
schaft zusammenzuhalten? Ist dieses dün-
ne Band nicht einer der Gründe für die
große Gereiztheit, die unsere Welt erfasst
hat? Für die blitzartige Bereitschaft, dem
Opponenten augenblicklich eine Keule
über den Kopf zu ziehen, wenn er einen
Widerspruch andeutet?
Wer soll denn da helfen, wenn nicht die
Leute, die sich sozusagen beruflich mit
anderen Welten beschäftigen? Die Fiktio-
nären, die Dichter, die Möglichkeitsmen-
schen? Denen am Anfang ihres Schreibens
die tatsächliche Welt nicht genügte und
die sich deshalb schreibend in jene andere
flüchteten. Diese überhaupt erst erschufen.
Parallel zur Wirklichkeit.
Der SPIEGEL hat bei deutschsprachigen
Schriftstellerinnen und Schriftstellern nach-
gefragt, was ihre Zukunftsvisionen sind. Le-
sen Sie hier eine Auswahl der Antworten.
Die Beiträge aller Schriftsteller finden
Sie in voller Länge auf SPIEGEL PLUS. Ne-
ben den hier veröffentlichten auch die von
Dietmar Dath, Karen Duve, Theresia En-
zensberger, Berit Glanz, Sten Nadolny, Lu-
kas Rietzschel, Sasha Marianna Salzmann
und Alexander Schimmelbusch.
Alina Bronsky
»Die Aussicht auf Apokalypse kann
befreiend sein«
»Ich glaube, wir alle sollten erst einmal
weniger jammern. Niemand schuldet uns
etwas, am wenigsten die Zukunft. Die Aus-
sicht auf eine Apokalypse kann ja auch
ganz befreiend sein. In dem Moment, in
dem man seine Anspruchshaltung und
Mutlosigkeit wegen mangelnder Aussich-
ten aufgibt, könnte eine Zukunft beginnen,
die tatsächlich interessant ist.«
112
Kultur
Bronsky, 1978 in Jekaterinburg geboren,
veröffentlichte zuletzt den Roman »Der
Zopf meiner Großmutter«.
Sibylle Lewitscharoff
»Das Grandiose und Einzigartige
im Blick halten«
»Dass die Literatur je einen großen, ge-
sellschaftstragenden Einfluss auf direk-
tem Wege gehabt hätte, möchte ich be-
zweifeln. Auf längere Sicht besitzt sie
diesen zwar schon: Die Literatur sollte
den Menschen und die ihn umgebenden
Verhältnisse erkunden, aber nicht, indem
sie wohlfeile Zerstörungsorgien besingt
und damit in die Weltuntergangsstim-
mung einschwingt, sondern im Gegenteil
auch das Grandiose und Einzigartige des
Menschen im Blick hält.
Natürlich sind wir alle keine mustergül-
tigen Wesen, aber es muss in Romanen
und Gedichten etwas geben, das an unser
Herz rührt, an die Tragik des Sterbens
rührt, aber gerade darum das Leben in sei-
ner unglaublichen Fülle und Frische feiert.
Die Literatur kann das auf einzigartige
Weise, weil sie nicht an Parolen und ans
politische Kalkül gebunden ist.«
Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren,
veröffentlichte zuletzt den Roman »Von
oben«.
Jagoda Marinić
»Dieser Welt fern«
»Ich möchte nicht als Erbin Europas enden.
Ich möchte in diesem Europa mehr errei-
chen. Meine Eltern sind aus einem Land
ausgewandert, das es nicht mehr gibt, aus
Jugoslawien. Das Untergehen von Län-
dern und Ideen ist für mich nicht nur
Theorie. Dem Untergang sind Ideen und
Theorien und Erzählungen über die ei-
genen Nationen vorausgegangen. Daher
glaube ich, dass die Erzähler einen zen-
tralen Stellenwert einnehmen für den Lauf
der Geschichte. In diesem Sinn kann Li-
teratur ein sich ständig erneuerndes Ge-
dächtnis sein. Für die meisten ist allein
die Idee, es gäbe ein europäisches Wir, ein
Zuviel an Zukunft; sie beharren auf ihren
Nationalstaaten. Daher sind die Schriftstel-
ler auch utopische Historiker, sie erfinden
die Möglichkeiten des Morgen. Der Zusam-
menhalt ist durch eine Erzählung leichter
zu erreichen als durch eine Debatte, die nur
Für und Wider kennt.
Literatur kann die Freiheit vorerzählen,
die in Menschen liegt und für die Gesell-
schaften Räume schaffen müssen. Es ist ge-
nau der Vorwurf der Weltferne, der den
Künstlern gemacht wird, sie macht ihr
Gewicht für den Diskurs aus: Nur wer die-
ser Welt fern ist, kann sich in einer neuen
einrichten.«
Marinić, 1977 in Waiblingen geboren, ver-
öffentlichte zuletzt das Debattenbuch »She-
roes. Neue Held*innen braucht das Land«.
Norbert Scheuer
»Mannigfaltige Geschichten«
»Der Literat sollte nichts zur Zukunft bei-
tragen wollen, sondern er sollte einfach
nur diejenigen Geschichten erzählen, die
er erzählen muss, alles andere würde ihn
nur dogmatisch werden lassen. Er würde,
wenn er mehr als nur seine Erzählung im
Auge hätte, die Welt nicht mehr so be-
schreiben, wie sie ihm wirklich erscheint,
und damit wäre auch er nur ein Reproduk-
tionsorgan des Bestehenden.
Gerade die vielen verschiedenen sub-
jektiven Sichten auf unsere Lebensver-
hältnisse, die mannigfaltigen Geschichten,
die wir uns in der Literatur erzählen, sind
ein Spiegel, den eine Gesellschaft sich
immer wieder vorhalten muss und von
dem ausgehend Veränderungen entste-
hen können.«
Scheuer, 1951 in Prüm in der Eifel geboren,
veröffentlichte zuletzt den Roman »Winter-
bienen«. Er stand auf der Shortlist für den
Deutschen Buchpreis.
Jackie Thomae
»Zeit für eine Bildungskampagne«
»Es wäre Zeit für eine weltweite Aktion,
bei der man sich einig ist. Wie damals bei
der globalen Impfkampagne der WHO,
die zur Ausrottung der Pocken führte.
Ginge Ähnliches nicht auch mit der Al-
phabetisierung? Die Komplettvernetzung
der Welt wird noch viel zu wenig für
Bildung genutzt. Technisch könnten wir
die Leute, die in abgeschiedenen Gegen-
den wohnen oder kein Geld für Schulen
haben, längst online unterrichten. Sogar
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
THOMAS LOHNES / GETTY IMAGES

WOLFGANG STAHR / LAIF

WOLFGANG STAHR / LAIF

STAR-MEDIA / DDP

Literaturschaffende Thomae, Strauß, Biller, Marinić: Die Fiktionären, die Dichter, die Möglichkeitsmenschen

113

RAINER UNKEL
Schriftsteller Berg, Glavinic, Zeh: »Ob Bäume oder Demokratie, es ergibt Sinn, sie zu verteidigen«
einzeln. An ein Smartphone zu kommen
ist mittlerweile an vielen Orten einfacher
als an Bücher. Aber Bücher bleiben ein
Tor zur Welt.«
Thomae, 1972 in Halle an der Saale ge-
boren, veröffentlichte zuletzt den Roman
»Brüder«. Sie stand im Herbst auf der Short-
list für den Deutschen Buchpreis.
Sibylle Berg
»Kakerlaken sind auch Menschen«
»Das Erfreuliche ist: Es wird immer eine
Zukunft geben. Und sie wird für gewisse
Teile des Lebens auf der Erde angenehm
sein. Eventuell nur für Kakerlaken, aber
das sind auch Menschen.«
Berg, 1962 in Weimar geboren, veröffent-
lichte zuletzt den Roman »GRM«. Sie ist
Kolumnistin auf SPIEGEL ONLINE.
Emma Braslavsky
»Religion als einzige halbwegs real
existierende Utopie«
»Die reine literarische Utopie und Dys-
topie haben aus meiner Sicht ausgedient,
denn sie fokussieren bloß auf radikale
und unterkomplexe Weise auf das, was
wir in Zukunft gewinnen oder verlieren
können. Zudem wird der Mensch in den
Utopien durchweg idealisiert, worin wohl
der Hauptgrund liegt, warum viele Mani-
feste und gesellschaftliche Modelle noch
nicht realisiert worden sind. Übrigens: Die
einzige noch halbwegs real existierende
(Staats-)Utopie ist die Religion. Der Grund
dafür könnte darin liegen, dass sie Platz
für Sünder lässt.«
Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, veröf-
fentlichte zuletzt den Roman »Die Nacht
war bleich, die Lichter blinkten«.
114
Kultur
INGO PERTRAMER / PAGE SEVEN
Clemens Setz
»Völlig pervers und ungezogen«
»Bei einem Buch sind immer alle Zeit-
ebenen zugleich vorhanden, und wir se-
hen das Schicksal der Figuren so, wie etwa
ein vierdimensionales Wesen unser Erden-
leben betrachten würde, zeitenthoben und
mit unerhörter Fairness. Man kann, anders
als im Leben, zurückblättern, sprunghaft
lernen, neu kombinieren. Man kann sogar
völlig pervers und ungezogen mit dem
Text umgehen. An einem erzählten Buch
lässt sich also Bewältigbarkeit trainieren,
an der Wirklichkeit nicht.«
Setz, 1982 in Graz geboren, veröffentlichte
zuletzt den Erzählungsband »Der Trost
runder Dinge«.
Botho Strauß
»Das Wichtigste kam
unvorhergesehen«
»Kaum etwas von den großen Weltverän-
derungen kommt in den vielen Zukunfts-
entwürfen des 20. Jahrhunderts vor: keine
Antibabypille, nicht die Vergreisung der
westeuropäischen Bevölkerung, keine deut-
sche Wiedervereinigung, keine digitale
Revolution. Das Wichtigste kam unvor-
hergesehen.
Zukunft, das Bevorstehende ist nur sel-
ten die Erfüllung dessen, was sich seit Lan-
gem anbahnt oder ersehnt wird. Die Ge-
schichtsschreibung der Herleitungen ist in-
zwischen eine fragwürdige Methode. Man
möge sich einmal versuchen an einer Ge-
schichtsschreibung der Emergenzen und
Inkonsequenzen. Man möge das Disrupti-
ve unterscheiden vom Sichentwickelnden,
möge jenes Geschehen entdecken in der
Geschichte, das ohne Vorlauf und Vorbe-
reitung passiert.
HERMANN BREDEHORST
Der Emergenzler – der keinen Tropfen
Kontinuität mehr zu sich nimmt – wird Zu-
kunft nicht mehr so nennen. Für ihn wird
das Niedagewesene geboren aus einer Zel-
le der ewigen Wiederkehr. Er weiß, dass
›Nichts Neues unter der Sonne‹ nur absolut
klingt, es aber nicht ist. Dass plötzliches
Auftauchen von Neuem, nicht vorausseh-
bar, ebenso unter der Sonne geschieht.
Intelligent sind die Maschinen. Der
Mensch könnte darauf verzichten, es zu
sein. Es gibt reichere Geistesgaben.«
Strauß, 1944 in Naumburg geboren, ver-
öffentlichte im Oktober den Prosaband
»Zu oft umsonst gelächelt«.
Thomas Glavinic
»Blockchain wird die Welt verändern«
»Im Gegensatz zu den meisten meiner Be-
kannten, die sowieso nur glauben, dass
morgen eben morgen ist und nächstes Jahr
eben nächstes Jahr und sich nie etwas ver-
ändern wird, bin ich davon überzeugt,
dass sich unsere Welt durch die Block-
chaintechnologie radikal verändern wird.
Eigentlich bin ich seit 16 Monaten weit
mehr Kryptowährungs- und Blockchain-
analyst als Schriftsteller, aber darüber
wollte ich schon lange gern mal schreiben.
Aber nur, wenn ich viel Platz kriege. Und
viel Geld.«
Glavinic, 1972 in Graz geboren, veröffent-
lichte zuletzt »Der Jonas-Komplex«.
Juli Zeh
»Literatur kann niemals prognostisch
wirken«
»Was Politik betrifft, glaube ich: Wenn man
etwas Gutes hat, egal ob Bäume oder De-
mokratie, ergibt es Sinn, das zu bewahren
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 KARL SCHÖNDORFER / PICTURE ALLIANCE / DPA

GERHARD LEBER / IMAGO

SLAVICA
Autoren Setz, Menasse, Walser: »Man kann zurückblättern, sprunghaft lernen, neu kombinieren«

und gegebenenfalls zu verteidigen. Das oder von seiner Familie, seiner Geschich- Randt, 1983 in Frankfurt am Main geboren,
mag spießig anmuten, es ändert aber nichts te, seiner sozialen und kulturellen Gruppe veröffentlicht im März den Roman »Alle-
an der schlichten Logik dieser Annahme. dazu gemacht wurde. Die Vision heißt gro Pastell«.
Menschen, die aus Langeweile, sogenann- ›Frieden‹. Und Frieden heißt, dass man
ter Politikverdrossenheit, dekadenter Un- sich nicht umbringt, bestiehlt, unter-
zufriedenheit oder präpotenter Freude an drückt – und das heißt wiederum, dass Eva Menasse
revolutionärem Gehabe Dinge beschädi- man jedes Individuum in Frieden lässt, »Uns zu verführen, das Böse zu
gen, von denen sie selbst profitieren, sind dass man es nicht in eine Uniform von mögen«
keine Visionäre, sondern Vandalen. Ideologie presst – so wie es die linken »Literatur ist ein Möglichkeitsraum. Sie
Was Literatur betrifft, glaube ich: Sie Politeschatologen wollen, so wie es rechte hat die – in unserer heutigen Welt schon
kann niemals prognostisch wirken. Der Apokalyptiker wollen. Ich glaube, dass bald nirgends mehr erlaubte – Möglichkeit,
Unterschied zwischen Prognose und Vi- gute und sehr gute Schriftsteller eins da- ambivalent zu sein. Das heißt, das Böse
sion ist eher graduell. Prognose: was kom- für tun können, um ihre Zukunftsvision zu zeigen, ja mehr noch, es sogar zu
men wird. Vision: was kommen könnte ›Frieden‹ unter die Leser und Leute zu verstehen. Uns zu verführen, das Böse, die
oder sollte. Für Prognose und Vision ist bringen: Sie müssen über das Leben, die Bösen zu mögen. Und damit darauf zu
die Zukunft ein konkreter Gestaltungs- Menschen, die Politik immer nur die kommen, dass wir selbst teilweise böse
raum. Für Literatur sind Zukunft, Gegen- Wahrheit schreiben und nichts als die sind oder sein könnten.«
wart und Vergangenheit eher grammati- Wahrheit, und das ist natürlich verrück- Menasse, 1970 in Wien geboren, veröffent-
sche Formen. terweise genau das Gegenteil von opti- lichte zuletzt »Der Holocaust vor Gericht.
Da Literatur im Normalfall fiktional mistischer, engagierter, antifaschistischer Der Prozess um David Irving«.
arbeitet und Zukunft wie Vergangenheit Literatur.«
menschliche Alltagsfiktionen sind, hebt Biller, 1960 in Prag geboren, veröffentlicht
sich der Zeitbegriff in der Literatur im Februar »Sieben Versuche zu lieben. Martin Walser
vollkommen auf. Literatur handelt vom Familiengeschichten«. »Sehnsucht, das ist meistens eine
Menschlichen, wie es sich uns gerade jetzt Himmelsrichtung«
darstellt. Das gilt auch für Utopien und »Wahrscheinlich ist die Leere, die ich
Dystopien. Leif Randt jetzt spüre, das Beste, was es gibt: Frei-
Thomas Morus wollte in ›Utopia‹ nicht »Eigentlich sollte das ja Fun sein – heit.
erzählen, wie toll es einmal werden könn- sich etwas auszudenken« Ich stürze natürlich von selbst. Wie
te. Er wollte die Missstände seiner Zeit »Die kursierenden Vorstellungen von Zu- jeder rufe ich im Sturz: Gott sei Dank.
kritisieren.« kunft sind oft deprimierend. Immer War- So überlebt er.
Zeh, 1974 in Bonn geboren, veröffentlichte nungen, immer Stress, immer schlechtes Sehnsucht, das ist meistens eine Him-
zuletzt das Sachbuch »Neujahr«. Gewissen. melsrichtung.
Eigentlich sollte das ja Fun sein – sich Wenn schon Wettbewerb, dann im
etwas auszudenken, das man sich wünscht. Armsein.
Maxim Biller Utopie als extrem naheliegende Sache. Wäre es so schlimm, wenn die Bäume
»Das Gegenteil von antifaschistischer Man überlegt sich etwas, das einem ge- uns überlebten?«
Literatur« fallen würde. Es scheint nur so, als ob Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee
»Ich finde, es gibt nur eine einzige Vision, Menschen sich nicht fragen: ›Was wäre geboren, veröffentlichte zuletzt die Legende
die man als Schriftsteller – so wie jeder super?‹, sondern: ›Wie kann alles mög- »Mädchenleben«.
Mensch – haben kann, wenn man nicht lichst lange noch so bleiben, wie ich es Gesammelt von Volker Weidermann
als Sadist schon zur Welt gekommen ist kenne?‹ Falsche Demut.«

115

Unter dem Regenbogen
Hollywood Die Schauspielerin Renée Zellweger wurde durch die »Bridget Jones«-Filme ein Star. Dann nahm
sie für sechs Jahre eine Auszeit. Und triumphiert nun in einem Drama in der Rolle der Judy Garland.
M it hängenden Schultern sitzt sie
in der Garderobe und zieht ner-
vös an einer Zigarette. Judy Gar-
land, einst als Filmstar und Sängerin ge-
feiert, nun aber von Alkohol und Drogen
gezeichnet, bereitet sich auf einen Auftritt
vor. Sie hat Angst, auf die Bühne zu gehen.
Angst, dass ihre fragile Stimme versagt.
Dann tritt sie hinaus, schaut in den Saal
und fängt an zu singen. Plötzlich scheint
es, als würde sie all die Energie, all das
Leben, das noch in ihrem zarten, ausge-
mergelten Körper steckt, hineinpressen
in einen ihrer berühmtesten Songs: »By
Myself«, eine Hymne weiblicher Selbst-
behauptung.
Diese Szene des Films »Judy« (Kino-
start: 2. Januar), in dem die Titelheldin
frenetisch bejubelt wird, ist auch ein gro-
ßes Comeback für ihre Darstellerin Renée
Zellweger. Die gebürtige Texanerin, die
durch die »Bridget Jones«-Filme zum
Star wurde und sich 2010 eine sechs Jahre
lange Auszeit von Hollywood nahm, er-
hielt für »Judy« eine Golden-Globe-
Nominierung, und sie gilt auch als Oscar-
kandidatin.
»Dieser Auftritt war der Moment, als
Judy Garlands Unsicherheit und Zweifel
in Trotz und Kraft umschlugen«, sagt
Zellweger. Anfang Oktober sitzt sie in
einem Londoner Hotelzimmer,
betont lässig, in einer ausge-
waschenen Jeans und einem wei-
ßen Rollkragenpullover. »Judys
Kampf war heroisch, inspirie-
rend. Die Geschichte von jeman-
dem, der nicht aufgibt.«
Judy Garland kam als Teen-
ager zum Film, wurde 1939 mit
dem Kinoklassiker »Der Zau-
berer von Oz« und dem Song
»Over the Rainbow« zum Su-
perstar – litt aber zeitlebens unter
den Zwängen des frühen Ruhms
und der Regeln Hollywoods.
Renée Zellweger wiederum,
Tochter einer norwegischen
Krankenschwester und eines
Schweizer Ingenieurs, gelang
2001 mit der Bestselleradap-
tion »Bridget Jones« der Durch-
bruch, vorher hatte sie nur
kleinere Rollen. Die pummelige,
tollpatschige Heldin, die Zell-
weger darin verkörpert, wurde
zum Idol. Sängerin Garland um 1960: Zwänge des frühen Ruhms
116
Kultur
Endlich mal eine Heldin, die nicht
dem gängigen Schönheitsideal entsprach,
die sich dem Schlankheitswahn wider-
setzte. Bridget Jones war eine ziemlich
ungewöhnliche Identifikationsfigur in
einem Hollywood, dass seine Filme
bis dahin meist auf ein männliches Pu-
blikum und dessen Vorlieben zugeschnit-
ten hatte.
Fortan waren Zellwegers Aussehen und
ihr Körper in den Medien und den sozialen
Netzwerken ein ständiges Thema. Es ging
etwa darum, dass sie wohl mehr als
zehn Kilogramm zugenommen hatte, um
Bridget Jones spielen zu können, und sich
für andere Rollen wieder runterhungerte.
Um dann für die nächste »Bridget Jones«-
Folge wieder zuzunehmen.
»In Hollywood musst du lernen, dich
von den Vorstellungen frei zu machen, die
andere von dir haben«, sagt sie heute. »Du
musst ein starkes Selbstbild entwickeln.«
Doch das sei eben nicht einfach.
»Judy«, von dem britischen Regisseur
Rupert Goold inszeniert, erzählt Garlands
Leben vom Ende her, ihrer letzten Kon-
zerttour im Großbritannien der späten
Sechzigerjahre. Der Film zeigt Schlüssel-
erlebnisse aus der Jugend des Stars, der
1969 mit 47 Jahren an einer Überdosis
Schlafmittel starb.
In einer Szene posiert Garland als Teen-
ager für Publicity-Aufnahmen vor einer
riesigen Geburtstagstorte, darf aber kein
Stück davon essen, weil sie unter einer
strikten Diät steht. Um sie für die langen
Drehtage wach zu halten, gibt man ihr Auf-
putschmittel. Damit sie schlafen kann, be-
kommt sie Barbiturate.
»Wenn man als junge Schauspielerin
gedrillt und manipuliert wird, beschädigt
das die Seele«, sagt Zellweger. »Denn die
Message lautet: Du bist nur ein Rohstoff.
Wir formen dich. Und wenn du es nicht
schaffst, dich selbst zu verleugnen, bist du
einfach nicht gut genug.« Als Zellweger
»Bridget Jones« drehte, war sie zwar schon
über 30. Und doch habe sie eine Zeit ge-
braucht, um zu erkennen, dass sie nicht
auf die falschen Leute hören und nicht
versuchen sollte, einem bestimmten Image
zu entsprechen.
2004, bei einem Interview mit dem
SPIEGEL, das anlässlich des zweiten »Brid-
get Jones«-Films in Berlin stattfand, wirkte
sie fahrig, spielte nervös mit ihren Haaren,
schaute zu Boden und kauerte vornüber-
gebeugt auf ihrem Stuhl. Sie wirkte wie
eine 35-Jährige, die ein Mädchen spielt.
Heute gibt sie sich im Gespräch cool
und selbstbewusst, denkt lange nach, be-
vor sie antwortet. Sie vermittelt den Ein-
druck einer in sich ruhenden Frau
und erzählt, dass sie eine eigene
Produktionsgesellschaft gegrün-
det habe, um Stoffe zu entwi-
ckeln, nicht nur für sich, sondern
auch für andere Schauspieler.
Zwei Interviews, zwei Versio-
nen einer Person, wie sie unter-
schiedlicher kaum sein könnten.
Mit Gagen von angeblich 10 Mil-
lionen bis 15 Millionen Dollar pro
Film gehörte sie Mitte der Nuller-
jahre zu den bestbezahlten Schau-
spielerinnen Hollywoods und
konnte sich ihre Rollen aussu-
chen. Doch dann floppten ihre Fil-
me, Zellweger litt an Depressio-
HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES
nen und entschloss sich, eine Aus-
zeit zu nehmen.
»Das war dringend nötig, es
ging mir nicht gut, ich war nicht
gesund«, sagt sie heute. »Meine
Stagnation hat mich selbst ge-
langweilt. Ich musste raus aus
dem Chaos, zu dem mein Leben
geworden war.« Sie zog sich von

Darstellerin Zellweger in »Judy«: Vom Leben gebeugt, aber nie gebrochen
der Schauspielerei zurück, pendelte zwi-
schen ihrer Heimat in Austin und ihrer
Farm in Connecticut und besuchte Kurse
auf der Uni.
Als sie sich 2014 nach ihrer längeren
Abwesenheit wieder in der Öffentlichkeit
zeigte und dabei anders auszusehen
schien als zuvor, meldeten sich diverse
selbst ernannte Schönheitsexperten zu
Wort und gaben ihre Einschätzungen ab,
wie Zellwegers Gesicht angeblich umope-
riert worden sei.
Die Art und Weise, wie Studiobosse
und Produzenten zu Garlands Zeiten mit
Schauspielerinnen umgingen, seien Fälle
von »Missbrauch« gewesen, so Zellweger.
Nein sei ein Wort, das Frauen stärker ma-
che, sagt sie und greift damit eine der The-
sen der #MeToo-Bewegung auf. Doch wie
setzt man sich gegen Übergriffe einer ano-
nymen Öffentlichkeit zur Wehr? In einem
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Essay in der Huffington Post reagierte Zell-
weger auf die würdelose Debatte um ihr
Äußeres und forderte ihr Recht auf Privat-
sphäre. Einer Öffentlichkeit, die sie nur
in der Rolle von Bridget Jones sehen und
keine anderen Bilder akzeptieren will,
stemmt sich Zellweger verzweifelt mit all
ihrem schauspielerischen Können entgegen.
Das war so, als sie im Sommer in der
Netflix-Serie »What/If« zu sehen war, als
durchtriebene Spekulantin und Femme
fatale. Diese Figur war das komplette
Gegenteil von Bridget Jones, Zellweger
schien manchmal Sharon Stone in »Basic
Instinct« vergessen machen zu wollen. Die
Kritiken: überwiegend mies.
Nun also Judy Garland, die Zellweger
als lustigen und traurigen Clown spielt, der
mit linkischen Bewegungen durch sein
Leben stakst und selbst im Vollrausch noch
Sätze von verblüffender Geistesschärfe
EONE GERMANY
formuliert. Vom Leben gebeugt, aber nie
gebrochen.
Sie habe sich viel Archivmaterial von
Garland angesehen, erzählt sie. Doch das
seien überwiegend Bilder von öffentlichen
Auftritten gewesen, da wisse man ja nie
so genau, was echt sei und was gespielt.
Sie habe versucht, die »Essenz« von Gar-
land zu finden.
»Dieses Schlusskapitel von Garlands
Leben, ihr trauriger Tod, wurde in vielen
Büchern als tragisches Ende beschrieben«,
sagt Zellweger. »Diese dicke, schwere De-
cke, die auf ihren letzten Tagen lag, woll-
ten wir herunterziehen und zeigen, wie
viel Leben noch darunter steckte.«
Vielleicht hat sich Zellweger diese Sätze
vorher lange überlegt. Aber sie spricht sie
so, als hätte sie sie gerade aus dem Ärmel
geschüttelt. Lars-Olav Beier
117

Wachtel mit Linsengemüse in der Wielandshöhe: Beweis einer Weltanschauung
Über dem ganzen Elend
Genuss Der Sternekoch und Autor Vincent Klink betreibt das Restaurant
Wielandshöhe in Stuttgart. Er ist ein Philosoph des Essens.
D er Weg zum Restaurant von Vincent
Klink führt aus der Innenstadt von
Stuttgart hinaus, eine lange Straße
hoch, bis deren linke Seite nur noch von
Gärten gesäumt scheint. Dann lässt sich
ein flacher, heller Bau ausmachen, dessen
Größe zunächst kaum einzuschätzen ist,
so diskret ist er an den Hang gesetzt. Man
hat von hier aus einen panoptischen Blick
über die baden-württembergische Landes-
hauptstadt. Oder, wie Vincent Klink es
nennt, »das ganze Elend«.
Unten wütet die ewige Bahnhofsbau-
stelle, hier oben ist es ruhig und hell. Wenn
man nach einer langen Reise dort an-
kommt, wird man vom Chef mit dem Satz
empfangen: »Es kommt mir vor, als hätte
ich Sie aus hoher See gerettet.« So fühlt
118
ANNETTE SANDNER
es sich tatsächlich an – hier oben, zwischen
den Blumenarrangements seiner Frau Eli-
sabeth, befindet man sich in einer Arche
der Lebenskunst.
Die Wielandshöhe ist eines der besten
deutschen Restaurants, und doch war
Klink lange ein Außenseiter, dem Künstler
wie Tomi Ungerer, Publizisten wie Wiglaf
Droste und Poeten wie Peter Rühmkorf
näherstanden als die politischen und wirt-
schaftlichen Eliten von Stuttgart.
Seit einigen Jahren hat sich das geändert.
Stuttgart ist heute die inoffizielle Haupt-
stadt von Schwarz-Grün, und Klink war
Vorreiter einer Küche, die konsequent Bio-
produkte und regionale Produktion nutzt.
Er hat den Bauernverband schon mal eine
»Verbrecherorganisation« genannt, die kon-
ventionelle Tierhaltung hält er für Massen-
tierquälerei. Zwar gehören der Ministerprä-
sident Winfried Kretschmann oder andere
Politiker nicht zu seinen Stammkunden,
aber eine gedankliche Nähe besteht schon.
2014 erhielt er den Verdienstorden des Lan-
des Baden-Württemberg.
Andere Köche haben ihren Erfolg ge-
nutzt, um eine Marke aus sich zu machen,
da ist Klink vorsichtiger. Sollen die ande-
ren doch berühmter, umtriebiger und rei-
cher sein. Viele Jahre lang, sagt er, habe
er mehr für das Essen ausgegeben als ein-
genommen. Das ganze Erbe habe er in
sein gastronomisches Zuschussgeschäft in-
vestiert. Aber bei Klink nur die Gastrono-
mie zu suchen, heißt ohnehin, die Fülle
und Komplexität von Person und Werk zu
verkennen.
Die Wielandshöhe ist noch etwas anderes
als nur ein Restaurant, nämlich der prakti-
sche Beweis einer Weltanschauung, die in
einem speziellen Verhältnis zur Umwelt, zur
Wirtschaft und zur Heimat begründet ist.
Klink predigt in seinem Haus wie der Meis-
ter einer selbst ausgedachten Lebenskunst,
die politisch ist und in den Künsten ebenso
zu Hause wie in der traditionellen Hauswirt-
schaft. Er hat das gastronomische Europa
im Blick, ohne dabei die süddeutsche Hei-
mat zu unterschätzen. Und sein Medium
sind nicht allein Speisen auf den Tellern, son-
dern ebenso die Geschichten dazu.
Zum Abendessen soll es Zander geben –
»der hat heute Morgen noch gezappelt!«,
sagt Klink –, aber nicht der Fisch ist das
Thema, sondern der Fischer. Ein promo-
vierter Mann sei das, der mit einem Team
nur in gewissen Ecken des Altrheins arbei-
te. Das Motto der Wielandhöhe ist: »the
only things frozen are our fishermen«, tief-
gefroren sind hier nur die Fischer.
Klinks Universum ist voll mit Menschen,
die nach einem früheren Beruf zur Koch-
kunst gefunden haben oder die Wissen-
schaft, Kunst und das Kochen irgendwie
kombinieren, als wäre das Leben weit und
offen genug für mehrere Freuden. In der
Küche steht eine ausgebildete Architektin
und kümmert sich um die Nachspeisen.
Eine andere Köchin fing bei ihm an,
nachdem sie ihren früheren Beruf als Pfar-
rerin aufgegeben hatte. Lieber wollte sie
in einer Küchengemeinschaft arbeiten, spe-
zialisierte sich auf Fische und verwirklichte
nach der Ausbildung bei Vincent Klink
ihren Traum, in einem Restaurant in Mar-
seille zu arbeiten. Ein Kellner kommt aus
Afghanistan, ein anderer aus Italien. Über
die Website des Restaurants kann man sich
bewerben, es sind selten die geraden Wege,
die zu Klink führen.
Genauso ist es mit den Gerichten. Da
er Tiere, Obst oder Gemüse respektvoll ver-
* Vincent Klink: »Ein Bauch lustwandelt durch Wien«.
Ullstein; 384 Seiten; 24 Euro.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
 Kultur
werten möchte, also ganz und gar, wird
so wenig wie möglich weggeworfen. Wenn
etwas misslingt, wird etwas anderes da-
raus hergestellt. Die traditionelle schwä-
bische Küche ist einfach – ihre Speisen
sind auch die Hits seiner Küche. Ein ein-
faches Schweinekotelett von einem beson-
deren Tier, die Metzelsuppe, das Wurzel-
gemüse.
In der Küche der Wielandshöhe herrscht
eine konzentrierte Stimmung, aber es ist,
im Gegensatz zu vielen anderen Arbeits-
plätzen in der Spitzengastronomie, leise.
»Hören Sie!«, sagt Klink – um darauf auf-
2001 wollte Klink kein
Chef mehr sein – er verlor
den Stern. Nun macht
er die Ansagen wieder.
merksam zu machen, dass eben nichts zu
hören ist. Er möchte keine »Testosteron-
paraden« und legt Wert auf einen zivilen
Umgangston, gebrüllt wird nicht. Aber
man täusche sich nicht, Klink ist, was das
Handwerk, den Betrieb angeht, durch und
durch konservativ. Biologische Produk-
tion, artgerechte Haltung, kurze Anfahrts-
wege – soweit es geht, soll alles selbst ge-
macht werden. In einer Ecke wird das Brot
gebacken.
Einen Stern im Guide Michelin hat die
Wielandshöhe seit 1998. Im Jahr 2001 fiel
er weg. Klink hatte seine Organisation ge-
ändert, versuchte, nicht mehr den Chef
zu geben, und probierte es mit einer ko-
operativen Führungsstruktur, in der sich
jeder selbst beschäftigte. Chaos in der
VERENA MÜLLER / DER SPIEGEL
Gastgeber Klink
Etwas über die Welt erzählen
»E I N E S DE R
Küche war die Folge, und er verlor den
Stern.
Seitdem machte der Chef die Ansagen
BESTEN
wieder selbst. Er zahlt besser als die Kon-
kurrenz, und einmal im Jahr dürfen alle
WIRTSCHAFTS -
Beschäftigten mit einem finanziellen Zu-
schuss vom Chef nach Paris – allerdings BÜCHER DER
fährt er nicht mit, damit sie auch mal über
ihn lästern können. Der Stimmung scheint
das alles gut zu bekommen. Bei der Füh-
JÜNGEREN ZEIT.. «
rung durch den Keller und die Vorrats- und MANAG E R MAG A Z I N
Kühlkammern – alles selbst eingelegt, ein-
gemacht, kein Logo nirgends – entdeckt
Klink zu seiner eigenen Überraschung in
einer der Kammern einen großen Bottich
zwischen den Gläsern und Kisten. Seine
Köchinnen und Köche haben ein Weih-
nachtsbier angesetzt mit wildem Hopfen,
den sie gesammelt haben.
Und weil Klink der Welt etwas mitzu-
teilen hat, schreibt er auch: das Tagebuch
auf der Homepage der Wielandshöhe,
aber auch Bücher. Gerade ist »Ein Bauch
lustwandelt durch Wien« erschienen, ein
Buch, für das er eine hybride Form des
Erzählens gefunden hat*. Es ist zum einen
ein Reisebericht, mit seiner Frau und ihm
in den Hauptrollen. Beschrieben werden
Szenen einer Gastronomenehe mit Marot-
ten, die ziemlich komisch wirken. Weiter-
hin ist es auch ein Reise- und Restaurant-
führer, der mitunter vor Lokalen warnt,
deren Blumenkästen vor dem Haus lange
nicht mehr gegossen wurden – an Details
erkennt man, was auch drinnen los ist.
Aber dann ist es eben auch ein Koch-
buch, Klassiker der Wiener Küche zum
Selbstkochen dekonstruiert. Klink ist ein
4 0 0 Seiten · Deut sch von K arlheinz Dürr
Philosoph, der die Geschichten über das Gebunden mit S U · € 24,0 0 ( D )
Essen nutzt, um etwas über die Welt zu Auc h a l s E - B o o k e r h ä l t lic h
erzählen.
Wenn man all diese Bezüge sortiert, die
Geschichten bedenkt, gerät man schnell Sie galt als der weibliche Steve Jobs.
an die großen Fragen, nach dem seltsamen
Geiz der Deutschen beim Essen etwa, Mit ihrem milliardenschweren
nach der Umweltzerstörung durch die St ar t-up Ther anos wollte Eliz abeth
industrielle Landwirtschaft, nach vielen
anderen großen Themen.
Holmes die Medizinindustrie
Aber eine Grenze wird nicht überschrit- revolutionieren : Ein einziger Tropfen
ten: die der guten Gastgeberei. Einmal sei sollte reichen, um B lutbilder zu
ein Mann in kurzen Hosen ins Restaurant-
gekommen, erinnert sich Klink, man habe erstellen. Doch die Technologie
die haarigen, stacheligen Beine gesehen. hinter den schicken Appar aturen hat
Der Koch sprach ihn auf seine Kleidung
an. Der Gast wollte das Problem nicht se- nie funkkttionier t . Pulit zer- Preistr äger
hen, also schlug ihm Klink einen Kompro- John Carreyrou kam diesem giganti-
miss vor: Er solle das nächste Mal einfach
in einer Pyjamahose kommen.
schen Betrug auf die Spur und er z ählt
In solchen Situationen sieht er sich nie in seinem mehr fach ausgezeichneten
einfach nur als den, der das letzte Wort Bestseller die packende Geschichte
behält, sondern nimmt auch immer die
andere Perspektive ein, von Leuten, die seiner Enthüllung.
selten oder nie essen gehen und nun bei
ihm landen. »Es gibt«, sagt er, als wäre es
sein Lebensmotto, »keinen fehlerfreien
Tag.« Nils Minkmar
119 www.dva.de

Schauspielerinnen Stewart, Balinska, Scott in »3 Engel für Charlie«: Waffenarsenal als Teil der Garderobe
Feministische Föhnfrisuren
Kino »Drei Engel für Charlie« war eine Fernsehserie, in der Frauen Bösewichter jagten. Nun kommt
der Stoff in einer neuen Version ins Kino – gewandelt haben sich vor allem die Männer.
D
er Film läuft erst wenige Minu-
ten – eine blonde Frau mit viel
rosa Make-up und eine Kämpfe-
rin mit dunklen Locken haben
bereits ein Hotelzimmer zerlegt, mit akro-
batischem Körpereinsatz mehrere Männer
außer Gefecht gesetzt, sie sind in einen
fliegenden Hubschrauber gesprungen – da
ist auf der Kinoleinwand die Hamburger
Binnenalster zu sehen. Hamburg?
Eine Kameraeinstellung zeigt den Jung-
fernstieg, die Alsterfontäne und friedliche
Spaziergänger. Nichts gegen Hamburg, es
ist eine hübsche Stadt, aber wie konnte
ausgerechnet Hamburg zur Kulisse von
»3 Engel für Charlie« werden?
Für jeden, der die Serie in den späten
Siebzigern geschaut hat, ist das ein Kultur-
schock. Damals waren die drei Heldinnen
selbstverständlich im fernen Los Angeles
zu Hause, in einer amerikanischen Traum-
welt. Sie waren ein glamouröses Privatde-
tektivteam, fuhren Motorrad, kämpften mit
120
Kultur
Verbrechern und trugen wippende Föhn-
frisuren. Kalifornisches Licht, Villen, Pools,
Strand, dort, wo die Engel lebten, schien es
immer warm zu sein, alle waren gut drauf.
In Deutschland lief die Serie damals
mittwochabends um zwanzig nach neun;
die Fernseher waren in vielen Haushalten
noch klein und quadratisch, es konnte ei-
nem sogar passieren, dass man als 13-Jäh-
rige »Drei Engel für Charlie« auf einem
Schwarz-Weiß-Gerät mit Zimmerantenne
irgendwo in einem Hamburger Vorort sah.
Am nächsten Tag stand Latein in der Früh-
stunde auf dem Plan.
Die Serie war so erfolgreich, dass zwi-
schen 1976 und 1981 fünf Staffeln mit
110 Folgen gedreht wurden. 2000 kam
dann der erste Kinofilm (mit Cameron
Diaz, Drew Barrymore und Lucy Liu), eine
Fortsetzung folgte 2003. Auch der neue
Film ist, wie die Regisseurin, Drehbuch-
autorin und Produzentin Elizabeth Banks
schreibt, keine Neuerfindung, sondern eine
SONY PICTURES
»Wiederbelebung« des Stoffs. Er kommt
am 2. Januar in die deutschen Kinos.
Es ging bei »Drei Engel für Charlie« nie
wirklich um die Handlung: Irgendwelche
Fälle wurden irgendwie gelöst. Die Serie
stand von Anfang an für Spaß, Leichtigkeit
und Style, und immer schwang das Thema
der weiblichen Selbstermächtigung mit.
Hier waren Frauen die Detektivinnen,
nicht Männer. Sie bekämpften das Verbre-
chen und legten den Bösen die Handschel-
len an. Allerdings muss diese Konstellation
in den Siebzigerjahren, trotz der mächti-
gen Frauenbewegung jener Jahre, noch so
ungewöhnlich gewesen sein, dass man ih-
nen vorsichtshalber gleich zwei Bosse zur
Seite gab: Bosley, eine Art männlichen Be-
gleiter, der bei jedem Fall dabei war, und
Charlie. Er war der Oberboss der Engel
und Inhaber der Charles Townsend Agen-
cy, er meldete sich nur über Lautsprecher
und erteilte ihnen Aufträge, ansonsten
blieb er unsichtbar.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Remake-Darstellerinnen 2000, Originalengel 1976*: Spektakulärer Sexismus
Aus der Sicht eines weiblichen Teenagers
war der Clou der Serie aber ohnehin die
Ausstattung: die Kleider, die Frisuren, der
Schmuck und die Accessoires, die Drehorte.
Selbst, was die Engel aßen und tranken, war
toll. Einmal nippen sie an einem Shake aus
Obst und Gemüse, damals ein Getränk aus
der Zukunft–heute nennt man es Smoothie.
Im neuen Film sind »3 Engel für Char-
lie« also in Norddeutschland angekom-
men. Der Grund dafür ist schnell zu er-
kennen: die Elbphilharmonie. Sie hat Hol-
lywoodformat, und sie dient als Firmensitz
von »Calisto«, einem Unternehmen, das
eine handliche und nachhaltige Energie-
quelle entwickelt hat. Der Prototyp ist al-
lerdings nicht ausgereift, er kann auch als
tödliche Waffe eingesetzt werden. Was zu
den erwartbaren Verwicklungen führt.
Für die Regisseurin Banks muss dieser
Film eine Herzensangelegenheit gewesen
sein, sie hat nicht nur hinter der Kamera
mehrere Jobs übernommen, sondern spielt
in ihrem eigenen Film auch den ersten
weiblichen Chef der drei Engel. Nachdem
der männliche Vorgänger in Rente ge-
schickt wurde, übernimmt Banks als »Boz«
die Führung und formt aus Elena, Sabina
und Jane eine 3-Engel-Einheit. Denn in-
zwischen – das ist eine der neuen Ideen
dieses Films – ist die Charles Townsend
Agency ein globales Unternehmen mit
IMAGO IMAGES
Agentinnen überall auf der Welt. Die Engel
sind stärker, lauter, kompromissloser, zahl-
reicher. Ein Actionspektakel, das unter
dem Eindruck von #MeToo entstanden ist.
Die Protagonistinnen werden von Kris-
ten Stewart, Ella Balinska und Naomi
Scott gespielt: Sabina, die Unerschrockene;
Jane, die Kämpferin; Elena, die Schlaue.
Eine Verfolgungsjagd führt sie quer durch
Europa – Hamburg, Berlin, Istanbul, Cha-
monix – es gibt einen Showdown in einer
Kiesgrube und eine endgültige Abrech-
nung mit den Bösewichten auf einer gigan-
tischen Bling-Bling-Party.
Das Interessante an der Neuauflage ist
aber etwas anderes: Welchen Weg die
Frauenbilder seit den späten Siebzigern
zurückgelegt haben – und wie sich die Idee
weiblicher Heldinnen gewandelt hat.
In der allerersten Folge in den Siebzi-
gerjahren fuhr eine der drei Frauen auf
dem Motorrad vor. »Hey, Mister«, rief ihr
jemand zu, ihr Haar, ihr Gesicht waren un-
ter einem Helm verborgen. Dann zog sie
sich den Helm vom Kopf und warf effekt-
voll ihre braune Haarpracht nach hinten.
Eine Schlüsselszene, die später in den Vor-
spann übernommen und auch in den Kino
* Links: Drew Barrymore, Cameron Diaz, Lucy Liu;
rechts: Farrah Fawcett-Majors, Kate Jackson, Jaclyn
Smith.
WALT DISNEY TELEVISION / GETTY IMAGES
filmen zitiert wurde. Eine Frau auf einem
Motorrad war damals eine Frau, die sich
in die Welt der Männer vorwagte.
Darum geht es, die ganzen frühen Jahre
über. Die Serie schlug Funken daraus, wie
die Privatdetektivinnen mit den Klischees
von Weiblichkeit spielten. Sie hantierten
mit Waffen und Walkie-Talkies – die Stufe
der technischen Entwicklung ist sehr amü-
sant, es kommt auch eine Spritze mit
Wahrheitsserum zum Einsatz –, sie kämpf-
ten und besiegten Männer mit Karate-
schlägen.
Gleichzeitig ist der verklemmte Sexis-
mus, der den Hintergrund bildet, aus heu-
tiger Sicht spektakulär. Unentwegt flöteten
und flirteten die Engel. Um an Informatio-
nen zu kommen, zogen sie den Ausschnitt
tiefer, knutschten oder gaben sich als »Häs-
chen« aus. Ganz selbstverständlich kommt
in einer Szene ein Mann aufs Hotelzimmer,
drückt eine der drei an die Wand und will
Sex. Übergriffe galten als Avancen, und
weibliche Sexiness wurde als Mittel zum
Zweck eingesetzt. Einmal gehen die drei
mit Taschenlampen auf Verfolgungsjagd
und verlaufen sich dann im Dunkeln. Zum
Glück hat jemand den Sheriff gerufen, der
die Situation rettet! Denn ohne Männer
geht es nicht – nicht ohne Charlie, ihren
angehimmelten Boss, und nicht ohne den
guten, starken, hilfreichen Kerl, eine Rolle,
121
 die in jeder Folge auftaucht. Auch wenn
es Frauen waren, die ermittelten, wer der
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Böse ist, sollten sich die zuschauenden
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Männer nicht ausgeschlossen fühlen.
Dieser Blick prägt auch die beiden älte-
Belletristik Sachbuch ren Kinofilme, die um die Jahrtausend-
wende entstanden. Da wurde aus dem
1 (1) Sebastian Fitzek 1 (2) Stephen Hawking Kurze Antworten Stoff großes Kino, ein riesiger Spaß. Die
Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro drei Engel sind hier gut gelaunte Gören,
die in Ledercorsagen oder mit verschmier-
2 (2) Lucinda Riley 2 (4) Edward Snowden tem Lippenstift auftreten, Cameron Diaz
Die Sonnenschwester Goldmann; 22 Euro Permanent Record S. Fischer; 22 Euro
legt eine entfesselte Tanzszene in Slip
3 (3) Saša Stanišić 3 (3) Thomas Pletzinger The Great Nowitzki und T-Shirt ohne BH hin – es knallt, zischt
Herkunft Luchterhand; 22 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro und explodiert, alles ist bunt und über-
dreht. Amüsanter Nonsens. Der Kampf
4 (1) Marc Friedrich / Matthias Weik
4 (4) Jussi Adler-Olsen Der größte Crash aller Zeiten der Geschlechter muss um die Jahrtau-
Opfer 2117 dtv; 24 Euro Eichborn; 20 Euro sendwende Pause gemacht haben, oder er
war zumindest nicht mehr als eine alberne
5 (5) Delia Owens Der Gesang 5 (5) Peter Wohlleben Das geheime Band Rauferei.
der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro zwischen Mensch und Natur Banks will in dem neuen Kinofilm nun
Ludwig; 22 Euro
6 (6) Jojo Moyes Wie ein Leuchten alles: Feminismus, Spaß und Ironie. Dass
in tiefer Nacht Wunderlich; 24 Euro 6 (7) Michelle Obama die Zielgruppe dafür überschaubar ist, fiel
Becoming Goldmann; 26 Euro in Hollywood erstaunlicherweise nieman-
7 (8) Ian McEwan dem auf. Zumindest nicht, bevor die vielen
Die Kakerlake Diogenes; 19 Euro
7 (6) Jonathan Safran Foer Wir sind
das Klima! Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Millionen Dollar des Filmbudgets in die
8 (10) Ildikó von Kürthy
Luft gejagt wurden. In den USA floppte der
8 (8) Bas Kast Der Ernährungskompass Film spektakulär. Offensichtlich gibt es der-
Es wird Zeit Wunderlich; 20 Euro
C. Bertelsmann; 20 Euro zeit nicht viele Zuschauerinnen, die Gen-
9 (7) Volker Klüpfel / Michael Kobr 9 (9) Torsten Sträter dertheorie und eine Feier des Konsumismus
Draußen Ullstein; 19,99 Euro Es ist nie zu spät, gleichermaßen unterhaltsam finden.
unpünktlich zu sein Dabei hatte Banks einige lustige und in-
10 (11) Maja Lunde telligente Ideen: Als die drei Kämpferin-
Ullstein; 16 Euro
Die Letzten ihrer Art btb; 22 Euro
nen sich in einer großen Garderobe einen
11 (9) Matthias Brandt Der Comedian aus dem Ruhr- neuen Look zusammenstellen sollen, ge-
Blackbird Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro pott verspricht eine Samm- hört auch ein Waffenarsenal zum Angebot.
lung der »besten Geschichten, Kleider, Schmuck, Schuhe, Knarren – im
Nummern, Glossen« aus
12 (12) Ursula Poznanski den vergangenen drei Jahren. Grunde dient alles demselben Zweck: An-
Erebos 2 Loewe; 19,95 Euro griff und Verteidigung. Eine der besten
10 (11) Richard David Precht Szenen spielt in Berlin, dort erwartet sie
13 (13) Eugen Ruge
Metropol Rowohlt; 24 Euro Sei du selbst Goldmann; 24 Euro ihr Guru, der zugleich Ernährungsberater,
Physiotherapeut, Zuhörer, Heiler und Sty-
14 (18) Jo Nesbø 11 (10) Doris Dörrie list ist. Ein Berufsfeld, das auch im realen
Leben, schreiben, atmen Diogenes; 18 Euro
Leben Zukunft haben könnte.
Messer Ullstein; 24 Euro
12 (16) Hubertus Meyer-Burckhardt Das Problem besteht aber darin, dass
15 (14) Cecelia Ahern Postscript. Diese ganze Scheiße mit der Zeit dieser Guru die einzige positive männliche
Was ich dir noch sagen möchte Gräfe und Unzer; 19,99 Euro Figur ist. Alle übrigen Männer sind Weich-
Fischer Krüger; 20 Euro eier, Trottel oder Idioten, aggressive
13 (15) Michael Palin
Erebus mare; 28 Euro Schwachköpfe oder beleidigte weiße Rent-
ner. Sie verlieren jede Verfolgungsjagd,
Eine überraschende Fort- 14 (–) Vincent Klink
setzung des Welterfolgs sie sind zu blöd, Gefahren realistisch ein-
»P. S. Ich liebe Dich« – und
Ein Bauch lustwandelt durch Wien zuschätzen, und sie können nicht mal
ein Beweis, dass Herz- Ullstein; 24 Euro
tanzen.
Schmerz nicht hirnlos
sein muss. 15 (12) Hans-Joachim Watzke / Michael Horeni Nach vier Jahrzehnten ist der Mann in
Echte Liebe C. Bertelsmann; 20 Euro dieser Serie zur Witzfigur verkommen,
während sich die drei Engel zu psycholo-
16 (17) Stephen King 16 (13) Max Otte
Weltsystemcrash gischen Charakteren entwickelt haben. Bei
Das Institut Heyne; 26 Euro Finanzbuch; 24,99 Euro
aller Sympathie für feministisch geprägte
17 (15) Rebecca Gablé 17 (14) Sascha Lobo Sichtweisen ist das ein bisschen schlicht.
Teufelskrone Lübbe; 28 Euro
Realitätsschock Und wenn man die Forderung des Films
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
trotz der abstrusen Action ernst nimmt –
18 (16) Axel Hacke 18 (20) Harald Lesch Was hat das Universum alle Macht den Frauen –, kann man nur
Wozu wir da sind Kunstmann; 20 Euro
mit mir zu tun? C. Bertelsmann; 18 Euro auf eine weitere Fortsetzung hoffen. Viel-
19 (19) Isabel Allende leicht ist die Zeit dann reif für Teamwork.
19 (17) Jens Bisky Für Frauen und Männer, die auf Augen-
Dieser weite Weg Suhrkamp; 24 Euro Berlin Rowohlt Berlin; 38 Euro
höhe miteinander kämpfen – womöglich
20 (–) Dörte Hansen 20 (–) Navid Kermani sogar kooperieren. Claudia Voigt
Mittagsstunde Penguin; 22 Euro Morgen ist da C. H. Beck; 26 Euro

122 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

 Kultur
Lasst mich in Ruhe,
ich muss spielen
Filmkritik Schnörkellos, aber konventionell:
»Miles Davis – Birth of the Cool«
erzählt das Leben des genialen Trompeters.
Kinostart: 2. Januar
D er Jazztrompeter Miles Davis ist 18 Jahre alt, als er
1944 seine Heimatstadt Saint Louis verlässt und nach
New York zieht. Er kommt aus gutem Haus, sein Vater
gehört zur schmalen schwarzen Oberschicht von Missouri,
er ist ein wohlhabender Zahnarzt. Und so zieht den jungen
Miles nicht nur die Jazzszene nach New York, er will auch
an der Juilliard School studieren, der besten Musikhochschule
der Stadt. Das macht er eine Weile, geht tagsüber zum Un-
terricht und treibt sich nachts in den
Klubs der 52. Straße herum, wo ge-
rade der Modern Jazz erfunden
wird. Eines Tages erklärt eine Leh-
rerin in der Musikgeschichtsklasse,
der Blues sei Ausdruck des Leidens
der schwarzen Amerikaner, die
traurig seien, weil sie seit Genera-
tionen gezwungen würden, Baum-
wolle zu pflücken. Vielleicht möch-
te sie nett sein oder ihre Schüler auf
den politisch korrekten Weg brin-
gen. Miles allerdings steht auf,
herrscht sie an, sie würde lügen,
und verlässt den Klassenraum, um
nie wiederzukommen.
So erzählt es die Kulturwissen-
schaftlerin Farah Jasmine Griffin in
»Miles Davis – Birth of the Cool«,
einem neuen Dokumentarfilm des
Regisseurs Stanley Nelson über das
Leben des Trompeters. Und so ähn-
lich erzählt es auch Davis selbst in
seiner Autobiografie. Sollte die Ge-
schichte nicht stimmen, dann ist sie
zumindest gut erfunden. Es ist eine
Schlüsselszene im Leben dieses
Mannes. Szene aus »Birth of the Cool«
Wer Künstler werden wolle, das Der einsame, schnurgerade Ton
versteht Davis im Klassenraum,
darf sich niemals zum Opfer machen lassen – und niemals
zum Teil einer Gruppe. Er muss auf seiner Einzigartigkeit
bestehen, darauf, dass nur er zähle und nichts anderes. Um
das als schwarzer Mann durchziehen zu können, fror er sein
Gefühlsleben ein – und wurde cool.
Darum geht es im Leben von Miles Davis, einem Mann,
der nicht nur den Jazz mehrmals revolutioniert hat, sondern
dessen Einfluss sich bis heute auch durch scheinbar jazzferne
Genres wie Hip-Hop und Techno zieht. Und der dabei in
den Fünfziger- und Sechzigerjahren, der heroischen Epoche
des amerikanischen Nachkriegsmodernismus, einen neuen
Künstlertypus erfand. Natürlich war er nicht allein damit,
Hunderte Musiker setzten sich damals über die rassistischen
Vorgaben hinweg, wie schwarze Musik zu sein und zu klingen
habe. Sie alle weigerten sich, weiter die Tanzmusikdienst-
leister einer weißen Gesellschaft zu sein, und versuchten
die große europäische Musik mit den afroamerikanischen
Rhythmen und dem Blues zu einem neuen Soundtrack
schwarzen Selbstbewusstseins zu verbinden. Aber niemand
war so erfolgreich damit, so sichtbar und so unversöhnlich
wie Davis.
Er wollte alles und bekam es auch. Die intellektuelle
Sophistication der Orchestermusik. Die Energie der schwar-
zen Klubs. Das große Geld. Die schönsten Frauen. Die
schnellsten Autos. Die besten Anzüge. Jede Menge Drogen.
Die Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft – und die Mög-
lichkeit, all dem den Rücken zuzudrehen, wie er es immer
wieder auf der Bühne tat, um zu sagen: Lasst mich in Ruhe,
ich habe Wichtigeres zu tun. Ich muss spielen.
Stanley Nelson erzählt die Geschichte dieses Mannes so
schlüssig wie konventionell. Mit vielen Filmschnipseln und
Fotos, die noch nie zu sehen waren. Viele wichtige Musiker,
mit denen Davis gespielt hat und die noch am Leben sind,
kommen zu Wort, etwa Herbie Hancock, Wayne Shorter
und Jimmy Heath. Seine erste Frau Frances, eine Tänzerin,
erzählt von ihrer Ehe. Miles und Frances waren ein Gla-
mourpaar der frühen Sechzigerjahre, die Bilder, wie sie aus
Davis’ weißem Ferrari steigen, er-
schienen auf den Gesellschafts-
seiten der Zeitungen. Davis setzte
durch, dass Frances’ Gesicht meh-
rere seiner Plattencover zierte, eine
Revolution, bis dahin waren meis-
tens weiße Frauen auf Jazzplatten
zu sehen gewesen. Sie verließ ihn
Mitte der Sechziger, weil er sie
schlug.
In den USA ist der Regisseur
Nelson dafür kritisiert worden, zu
wenig aus seinem Material zu ma-
chen. Sich nicht genug auf die
Musik einzulassen, jedes Stück nur
für kurze Zeit anzuspielen, als wäre
dem Zuschauer nicht zuzutrauen,
sich länger zu konzentrieren. Da ist
etwas dran.
Doch der Effekt der rasch in-
einandergeblendeten Musik hat
auch etwas Überraschendes. Wenn
die kunstvollen Songs seines ersten
großen Quintetts übergehen in die
SONY MUSIC
kühlen Stücke mit Orchesterbe-
gleitung, die Davis mit dem Arran-
geur Gil Evans aufnahm, oder der
freie Jazz seines zweiten Quintetts
in das elektrisch verstärkte Voo-
doo-Geblubber der frühen Sieb-
ziger fließt – dann ändert sich die Musik zwar deutlich,
aber der Ton der Trompete bleibt immer gleich. Dieser
feine, einsame, ohne Vibrato schnurgerade im Raum ste-
hende Miles-Davis-Ton: Er ist von Anfang an da. Und
bleibt. Auch dann noch, als Davis in den Achtzigern Pop-
songs covert.
Denn was ist Coolness? Doch nicht das Wissen darüber,
was man gerade für eine Sonnenbrille trägt oder wo man ge-
rade essen geht. Es ist die Kunst der Selbstbeherrschung –
und die Gabe, der Welt eine vollendete, vereiste Oberfläche
zu zeigen, durch die die tiefen Gefühle von Wut, Leidenschaft,
Verletzlichkeit, Angst und Melancholie eben immer noch
durchschimmern.
Dem hat Miles Davis einen Klang gegeben. Das ist seitdem
niemandem mehr so vollendet gelungen. Tobias Rapp
123

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de
Impressum
HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923–2002)
CHEFREDAKTION Steffen Klusmann (V.i.S.d.P.),
Dr. Barbara Hans, Clemens Höges
BLATTMACHER Thorsten Dörting, Juliane von
Mittelstaedt, Oliver Trenkamp
NACHRICHTENCHEF Stefan Weigel
MANAGING EDITOR Susanne Amann, Birger
Menke, Jörn Sucher
CREATIVE DIRECTOR Judith Mohr, Nils
Küppers (stellv.)
CHEF VOM DIENST Print: Anke Jensen, Thomas
Schäfer, Gesine Block (stellv.)
Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann;
Melanie Ahlemeier, Lisa Erdmann, Björn Hengst,
Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski, Kristina Läsker,
Jonas Leppin, Florian Merkel, Daniel Raecke,
Janko Tietz
REDAKTIONELLE ENTWICKLUNG Matthias
Streitz; Christina Elmer, Friederike Freiburg, Christian
Goedecke, Bente Kirschstein, Ole Reißmann,
Dr. Susanne Weingarten
SPIEGEL+ Jule Lutteroth, Alexander Neubacher
REPORTER Ullrich Fichtner
HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit
Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer,
Martin Knobbe, Philipp Wittrock. Wolf Wiedmann-
Schmidt (Teamleitung Innere Sicherheit). Redaktion:
Nicola Abé, Maik Baumgärtner, Florian Gathmann,
Kevin Hagen, Julia Amalia Heyer, Valerie Höhne,
Veit Medick, Marius Mestermann, Ann-Katrin Müller,
Ralf Neukirch, Anna Reimann, Sven Röbel, Lydia
Rosenfelder, Jonas Schaible, Christoph Schult, Christian
Teevs, Severin Weiland. Autoren, Reporter: Susanne
Beyer, Markus Feldenkirchen, Matthias Gebauer,
Konstantin von Hammerstein, Christoph Hickmann,
Christiane Hoffmann
Politik Hamburg: Benjamin Schulz (Nachrichtenchef);
Milena Hassenkamp, Max Holscher, Alwin Schröder
DEUTSCHLAND/PANORAMA Leitung: Jörg
Diehl, Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Dr. Markus
Verbeet, Simone Salden (stellv.). Redaktion: Laura
Backes, Birte Bredow, Annette Bruhns, Katrin Elger,
Sarah Heidi Engel, Silke Fokken, Michael Fröhlingsdorf,
Hubert Gude, Armin Himmelrath, Charlotte Klein,
Annette Langer, Gunther Latsch, Roman Lehberger,
Timo Lehmann, Benjamin Maack, Peter Maxwill,
Miriam Olbrisch, Christopher Piltz, Alexander Preker,
Ansgar Siemens, Andreas Ulrich, Jens Witte, Michael
Wulzinger, Jean-Pierre Ziegler. Autoren, Reporter:
Jürgen Dahlkamp, Annette Großbongardt, Julia
Jüttner, Beate Lakotta, Katja Thimm, Alfred Wein-
zierl, Dr. Klaus Wiegrefe
Berlin: Sven Becker, Andreas Wassermann. Autor:
Stefan Berg
WIRTSCHAFT/NETZWELT Leitung: Markus
Brauck, Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt),
Isabell Hülsen, Stefan Kaiser (stellv.). Redaktion:
Andreas Albert, Benjamin Bidder, Markus Böhm,
Florian Diekmann, Kristina Gnirke, Simon Hage,
Henning Jauernig, Alexander Jung, Dr. Matthias
Kaufmann, Nils Klawitter, Matthias Kremp (Team-
leitung Netzwelt), Alexander Kühn, Maria Marquart,
Martin U. Müller, Sonja Peteranderl, Anton Rainer,
Jörg Schmitt, Stefan Schultz, Robin Wille. Autoren,
Reporter: Armin Mahler, Michaela Schießl
Berlin: Christian Reiermann (Teamleitung); Patrick
Beuth, Markus Dettmer, Michael Kröger, Cornelia
Schmergal, Anne Seith, Gerald Traufetter. Autoren:
David Böcking, Marcel Rosenbach, Michael Sauga
AUSLAND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta
Kollenbroich (stellv.), Dr. Dominik Peters (stellv.),
Maximilian Popp (stellv.), Christoph Scheuermann
(stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Lena Greiner (Team-
leitung Globale Gesellschaft), Katrin Kuntz, Steffen
Lüdke, Katharina Graça Peters, Jan Puhl, Dr. Isabella
Reichert, Alexandra Rojkov, Raniah Salloum, Anna-
Sophie Schneider, Samiha Shafy, Vanessa Steinmetz,
Maria Stöhr, Raphael Thelen, Christoph Titz, Helene
Zuber. Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Susanne
Koelbl, Dietmar Pieper, Christoph Reuter
Berlin: Aleksandar Sarovic, Christoph Sydow
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Rafaela
von Bredow, Michail Hengstenberg, Olaf Stampf,
Kurt Stukenberg (stellv.). Redaktion: Dr. Philip
Bethge, Manfred Dworschak, Marco Evers, Christian
Frahm, Johann Grolle, Dr. Veronika Hackenbroch,
Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Julia Köppe,
Kerstin Kullmann, Julia Merlot, Emil Nefzger, Jörg
Römer, Hilmar Schmundt, Nils-Viktor Sorge (Team-
leitung Mobilität), Frank Thadeusz, Christian Wüst.
Autoren, Reporter: Jörg Blech, Christoph Seidler
KULTUR Leitung: Sebastian Hammelehle, Eva Thöne,
Felix Bayer (stellv.), Tobias Rapp (stellv.). Redaktion:
Tobias Becker, Lars-Olav Beier, Christian Buß,
Ulrike Knöfel, Carola Padtberg, Hannah Pilarczyk,
Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, Martin Wolf,
Takis Würger. Autoren, Reporter: Andreas Borcholte,
Dr. Martin Doerry, Lothar Gorris, Wolfgang Höbel,
Dr. Nils Minkmar, Elke Schmitter, Volker Weider-
mann
REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Hauke Goos
(stellv.). Redaktion: Maik Großekathöfer, Barbara
Hardinghaus, Felix Hutt, Timofey Neshitov, Dialika
Neufeld, Jonathan Stock. Autoren, Reporter: Uwe
Buse, Marc Hujer, Alexander Smoltczyk, Barbara
Supp
USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.),
660 Howard Street, Buffalo, NY 14206. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205-0155,
e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net
124
SPORT Leitung: Udo Ludwig, Lukas Rilke, Jörn
Meyn (stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, Jan Göbel,
Benjamin Knaack, Marcus Krämer, Danial Montazeri,
Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Windmann,
Christoph Winterbach
INVESTIGATION Rafael Buschmann, Philipp Seibt,
Dokumentation: Nicola Naber
Koordination SPIEGEL TV: Thomas Heise
MEINUNG UND DEBATTE Lothar Gorris, Stefan
Kuzmany
LEBEN Leitung: Anke Dürr, Frauke Lüpke-Narberhaus.
Redaktion: Irene Berres, Antje Blinda (Teamleitung
Reise), Markus Deggerich, Lisa Duhm, Detlef Hacke,
Kristin Haug, Maren Keller, Heike Klovert, Nike
Laurenz, Dr. Heike Le Ker (Teamleitung Gesundheit),
Eva Lehnen, Philipp Löwe, Bettina Musall, Sandra
Schulz, Julia Stanek, Verena Töpper, Nina Weber.
Autoren: Enrico Ippolito, Marianne Wellershoff
GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-
Maria Schnurr. Redaktion: Solveig Grothe, Christoph
Gunkel, Dr. Katja Iken, Uwe Klußmann, Dr. Danny
Kringiel, Joachim Mohr, Frank Patalong, Dr. Johannes
Saltzwedel
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Kathrin
Breer (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia
Beckschebe, Alexandra Klaußner, Marco Wedig
SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht,
Gartred Alfeis, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,
Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse,
Katharina Lüken, Stefan Moos, Sandra Pietsch,
Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Sandra Waege
PRODUKTION Petra Thormann, Reinhard Wilms;
Kathrin Beyer, Michele Bruno, Sonja Friedmann,
Linda Grimmecke, Petra Gronau, Ursula Overbeck,
Britta Romberg, Martina Treumann, Rebecca von
Hoff, Katrin Zabel
BILDREDAKTION Leitung: Michaela Herold,
Martin Trilk, Claudia Jeczawitz (stellv.), Mareile Mack
(stellv.); Claudia Apel, Tinka Dietz, Sabine Döttling,
Torsten Feldstein, Philine Gebhardt, Thorsten Gerke,
Christina Gransow, Andrea Huss, Ines Kaffka,
Rosa Kaiser, Petra Konopka, Matthias Krug, Theresa
Lettner, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi, Peer
Peters, Jens Ressing, Oliver Schmitt, Ireneus Schubial,
Erik Seemann, Maxim Sergienko, Anke Wellnitz,
Mascha Zuder
Mail: bildred@spiegel.de
SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184
LAYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde Wurst;
Michael Abke, Lynn Dohrmann, Claudia Franke,
Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa
Hundertmark, Louise Jessen, Annika Loebel, Leon
Lothschütz, Barbara Rödiger
TITELBILD Teamleitung: Katja Kollmann, Johannes
Unselt; Suze Barrett, Iris Kuhlmann
INFOGRAFIK Cornelia Baumermann, Ferdinand
Kuchlmayr; Ludger Bollen, Thomas Hammer,
Max Heber, Anna-Lena Kornfeld, Gernot Matzke,
Cornelia Pfauter, Michael Walter
INTERACTIVE Teamleitung: Hanz Sayami; Guido
Grigat, Frank Kalinowski, Chris Kurt, Aida Marquez
Gonzales, Michael Niestedt, Dawood Ohdah
DESIGN/UX Teamleitung: Alexander Trempler;
Katja Braun, Anna van Hove
MULTIMEDIA Dr. Jens Radü, Olaf Heuser (stellv.);
Alexander Epp, Birgit Großekathöfer, Roman Höfner,
Marco Kasang, Elisabeth Kolb, Bernhard Riedmann
KORREKTORAT Sebastian Hofer
TEXTPRODUCING Leitung: Helke Grusdas, Stefan
Schütt (stellv.); Christoph Brüggemeier, Angela
Ölscher, Gesche Sager, Katharina Seebacher, Holger
Uhlig, Valérie Wagner
DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly;
Holger Dambeck, Patrick Stotz, Achim Tack
SOCIAL MEDIA UND LESERDIALOG Leitung:
Ayla Mayer, Angela Gruber (stellv.). Redaktion:
Kai Bonte (Forum), Veronique Brüggemann, Dennis
Deuermeier, Ariane Fries (Teamleitung Community),
Eva Horn, Lina Moreno, Johanna Röhr, Robert
Schlösser, Mara Veigel
SEO Leitung: Maximilian Rau. Bastian Midasch,
Charlene Optensteinen, Insa Winter
SNAPCHAT Leitung: Christian Neeb. Redaktion:
Sarah Angerstein, Sebastian Bremer, Fabian Domeyer,
Petra Maier, Jonathan Miske
BENTO Leitung: Viktoria Bolmer, Julia Rieke.
Franziska Bulban (Teamleitung), Helene Flachsenberg
(Teamleitung), Katharina Hölter (Teamleitung),
Korinna Kurze, Sebastian Maas, Jan Petter, Maximili-
an Senff, Carolina Torres, Thembi Wolf, Hanna Zobel.
Reporter: Marc Röhlig. Video: Hannah Doll, Inken
Dworak, Sarah Klößer, Hoai Phuong Tran Thi
VIDEO Leitung: Frauke Böger, Anne Martin (stellv.).
Redaktion: Benjamin Braden, Sven Christian (Leitung
Technik), Janita Hämäläinen, Martin Jäschke, Heike
Janssen, Carolin Katschak, Eckhard Klein, Fabian
Pieper, Thies Schnack, Charlotte Schönberger, Leonie
Voss, Katharina Zingerle
CHEF VOM DIENST BEWEGTBILD Bernd Czaya,
Dirk Schulze, Martin Sümening
AUDIO Leitung: Sandra Sperber, Yasemin Yüksel.
Redaktion: Lenne Kaffka, Matthias Kirsch, Christina
Pohl, Sabine Schaper, Sebastian Spallek
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
REDAKTIONSVERTRETUNGEN
DEUTSCHLAND
BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin;
Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. 030 886688-100;
Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft
Tel. 030 886688-200
DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0
DÜSSELDORF Frank Dohmen, Lukas Eberle,
Fidelius Schmid, Jägerhofstraße 19–20,
40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Tim
Bartz, Dr. Felix Bohr, An der Welle 5, 60322 Frankfurt
am Main, Tel. 069 9712680
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36,
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737
MÜNCHEN Anna Clauß, Dinah Deckstein,
Jan Friedmann, Martin Hesse, Thomas Schulz,
Rosental 10, 80331 München, Tel. 089 4545950
REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND
ACCRA Anne Backhaus, anne.backhaus@spiegel.de
BANGALORE Laura Höflinger,
laura.hoeflinger@spiegel.de
BOSTON Martin Schlak, Tel. +1 929 2172432
BRÜSSEL Peter Müller (Büroleitung),
Markus Becker, Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Tel. +32 2 2306108, rv_Bruessel@spiegel.de
KAPSTADT Fritz Schaap, P.O. Box 15107,
Vlaeberg 8018, Cape Town, South Africa,
fritz.schaap.extern@spiegel.de
LONDON Jörg Schindler, joerg.schindler@spiegel.de
MEXIKO-STADT Jens Glüsing,
Tel. +52 55 56630526
MOSKAU Christian Esch, Christina Hebel,
Glasowskij Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau,
Tel. +7 495 22849-61
NEW YORK Philipp Oehmke, Marc Pitzke,
233 Broadway, Suite 1460, New York, NY 10279,
Tel. +1 212 2217583, rv.newyork@spiegel.de
PARIS Britta Sandberg, 137 Rue Vieille du Temple,
75003 Paris, Tel. +33 1 58625120
PEKING Georg Fahrion, Bernhard Zand,
Tel. +86 10 65323541
ROM Frank Hornig, Largo Chigi 9, 00187 Rom,
Tel. +39 06 6797522
SAN FRANCISCO Guido Mingels,
Tel. +1 212 2217583, rv.newyork@spiegel.de
SYDNEY Johannes Korge, Anna-Lena Roth
TEL AVIV Alexander Osang, Tel. +972 3 6835339
WARSCHAU Tel. +48 22 6179295
WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister,
1202 National Press Building, Washington, D.C. 20045,
Tel. +1 202 3475222
WIEN Hasnain Kazim, hasnain.kazim@spiegel.de,
Walter Mayr, walter.mayr@spiegel.de
STÄNDIGE FREIE AUTOREN Georg Blume, Arno
Frank, Giorgos Christides, Jochen-Martin Gutsch,
Dr. Claus Hecking, Juan Moreno, Wiebke Ramm,
Anja Rützel
DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Dr. Susmita Arp, Eva
Bräth, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Almut
Cieschinger, Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg,
Catrin Fandja, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,
Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt
Hunger, Stefanie Jockers, Michael Jürgens, Tobias
Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Ines
Köster, Anna Kovac, Mara Küpper, Peter Lakemeier,
Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Rainer Lübbert, Sonja
Maaß, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff,
Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot,
Claudia Niesen, Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papado-
poulos, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel,
Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko
Scharlow, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-
Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann-Eckert,
Ulla Siegenthaler, Meike Stapf, Tuisko Steinhoff,
Dr. Claudia Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor,
Andrea Tholl, Nina Ulrich, Peter Wahle, Peter
Wetter, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt,
Anika Zeller, Malte Zeller
NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los
Angeles Times/Washington Post, New York Times,
Reuters, sid
SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN GMBH
& CO. KG
Anzeigen: André Pätzold
Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 73 vom 1. Januar 2019
Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
Vertrieb: Christoph Hauschild
Herstellung: Silke Kassuba
Druck:
Mohn Media
Gütersloh
GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass
INTERNET www.spiegel.de
TWITTER @derspiegel
FACEBOOK facebook.com/derspiegel
Service
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
Mail: leserbriefe@spiegel.de
Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir
auch gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de
Hinweise für Informanten
Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und
Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen
folgende Wege zur Verfügung:
Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
20457 Hamburg
Telefon: 040 3007-0, Stichwort »Investigativ«
Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung,
wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine
PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können.
Der dazugehörende Fingerprint lautet:
6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
Redaktioneller Leserservice
Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Mail: leserservice@spiegel.de
Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken
Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit
schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Für Deutschland, Österreich, Schweiz:
Mail: syndication@spiegel.de, Telefon: 040 3007-3540
Fax: 040 3007-2966
Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing
Mail: julie.ho@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-5118
Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre
sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und
SPIEGEL WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel
versandkostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt
werden.
Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
Telefon: 069 9551240
Abonnementspreise
Inland: 52 Ausgaben € 265,20
Studenten Inland: 52 Ausgaben € 187,20
Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise
Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Mail: aboservice@spiegel.de


Abonnementsbestellung
bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Ich bestelle den SPIEGEL
❏ für € 5,10 pro gedruckte Ausgabe
❏ für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
E-Paper beträgt € 0,60) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.
Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar.
Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt
nur in Deutschland.
Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Straße, Hausnummer oder Postfach
PLZ, Ort
Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu
AGB, Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
www.spiegel.de/agb
Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)
 Nachrufe
Claudine Auger, 78 abergläubische Geste, um
Englisch sprach sie mit star- ihre Rückkehr abzusichern.
kem Akzent, schwimmen Claudine Auger starb am
konnte sie exzellent. Und 18. Dezember in Paris. KS
so kam es, dass die französi-
sche Schauspielerin in der Emanuel Ungaro, 86
Rolle, die ihr den Durch- Kleider zeichnen und ande-
bruch brachte, synchroni- re nähen lassen, diese Form
siert wurde, die anspruchs- der Arbeitsteilung war ihm
vollen Unterwasserszenen bis zum Schluss nicht geheu-
meisterte sie lässig: Clau- er. Er schuf seine Kleider lie-
dine Auger spielte Domino, ber am lebenden Objekt,
das Bond-Girl in »Feuer-
ball« (1965), dem der
berühmte Agent Gift aus

WERNER SCHULZE / IMAGO

dem Fuß saugen musste –
Sean Connery tat es hinge-

SHUTTERSTOCK EDITORIAL
bungsvoll. Auger, Tochter
aus bürgerlichem Haus,
hatte ihr Handwerk am
Konservatorium in Paris
gelernt, sie sah blendend
Roland Matthes, 69 aus, mit 17 so strahlend
Er war der Ästhet unter den Schwimmern. Sein Stil brachte schön, dass sie zur »Miss
ihm vier Olympiasiege ein, drei Welt- und fünf Europameis- World France« gekürt wur- drapierte, schnitt und nähte
tertitel. Bis heute ist der gebürtige Thüringer der erfolg- de. Ihr schauspielerisches um eine geduldige Frau
reichste Rückenschwimmer der Geschichte, von 1967 bis Können bewies sie in unter- herum, bis es passte. Und
1974 blieb er bei allen wichtigen Wettkämpfen seiner Spezial- schiedlichen Filmgenres, währenddessen wurde Beet-
disziplin unbesiegt. Dabei empfand Roland Matthes an- schon vor Bond spielte sie hoven gehört. Ein Kleid
fangs keine Freude beim Schwimmen. In die Hallenbäder mit Alain Delon und Romy vom ersten bis zum letzten
trieb es ihn, weil er dort warm duschen konnte: Daheim Schneider, nach Bond folg- Arbeitsgang selbst zu schaf-
gab es nur ein Waschbecken mit kaltem Wasser. Für die ten über 50 Spielfilme: fen hatte Emanuel Ungaro
DDR war Matthes eine Galionsfigur, auch weil er bei den Thriller, Komödien, Dra- in der Schneiderwerkstatt
Olympischen Spielen von Mexiko 1968, bei denen DDR- men, Science-Fiction, Hor- seines Vaters Cosimo
Athleten erstmals als eigene Mannschaft antraten, zweimal ror – sie ließ nichts aus. In gelernt. Der war vor Musso-
Gold gewann. Seine kurze Ehe mit Kornelia Ender, dem Europa war Auger eine lini aus Italien nach Frank-
anderen Superstar des DDR-Schwimmens, trug zur Legen- gefragte Darstellerin an der reich geflüchtet. In Aix-en-
de bei. Matthes forcierte die Trennung – zum Unwillen der Seite von Stars wie Jean Provence wurde Ungaro
SED-Führung. Danach galt er als unzuverlässig, erzählte Marais oder Marcello 1933 geboren. Mit 15 Jahren
er später. Nach der Wende ging der studierte Mediziner in Mastroianni, und auch fürs erkrankte er an Tuberkulo-
den Westen, wo er zunächst als Teamarzt der Fechter in Fernsehen arbeitete sie viel. se und musste jahrelang das
Tauberbischofsheim arbeitete und danach eine eigene In Hollywood kam sie nie Krankenbett hüten. Wenn
orthopädische Praxis im Fränkischen betrieb. Dopingvor- recht an, dabei liebte sie die er gesund werden sollte,
würfe, die nach dem Mauerfall den DDR-Sport flächen- USA, besonders Südkalifor- wollte er es in Paris mit der
deckend erreichten, wies er immer zurück. Trotzdem sah Mode versuchen. Weder
sich auch Matthes 1990 Anfeindungen als Privilegierter kannte er dort jemanden,
der DDR ausgesetzt. Geehrt wurde er später dennoch: In noch hatte er Geld, Kontak-
Erfurt ist eine Schwimmhalle nach ihm benannt. Roland te oder irgendetwas vor-
Matthes starb am 20. Dezember in Wertheim. AHA zuweisen. Er wurde den-
noch Schneider beim stren-
gen Cristóbal Balenciaga
Hermann L. Gremliza, 79 und folgte dessen Gestus
Ohne ihn wäre der SPIEGEL nicht so, wie er heute ist. 1971 einer konsequenten Erneue-
war Hermann L. Gremliza einer der Anführer eines Auf- rung der Damenmode.
stands der Redakteure gegen Herausgeber Rudolf Augstein, Ungaro machte sich Mitte
ZUMA PRESS / IMAGO

man wollte mehr Mitbestimmung. Woraufhin die Mitarbei- der Sechzigerjahre einen
ter die Hälfte der Anteile am Verlag erhielten – und Grem- Namen, hatte später sein
liza den SPIEGEL verlassen musste. Von 1974 bis zu seinem eigenes Modehaus, an dem
Tod gab er dann die linksradikale Zeitschrift »konkret« sich 1996 die italienische
heraus; er erzählte, er sei der Ghostwriter für Günter Wall- Firma Ferragamo beteiligte.
raffs Enthüllungsbuch »Der Aufmacher« über die Machen- 2005 schied er aus der nach
schaften der »Bild«-Zeitung gewesen. Gremliza liebte den nien hatte es ihr angetan. ihm benannten Firma aus
österreichischen Satiriker Karl Kraus und glaubte wie er, Am Ende jeden Besuchs in und lebte seitdem als Priva-
dass sich die Wahrheit über die Gegenwart im falschen Santa Monica, erzählte sie tier. Emanuel Ungaro starb
Deutsch der Mächtigen offenbare. Hermann L. Gremliza einmal, werfe sie eine Mün- am 21. Dezember 2019 in
starb am 20. Dezember in Hamburg. RAP ze in den Pazifik – eine Paris. NM

DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019 125

 Personalien

Geraune über
die Gage
G Sie ist zierlich, sie ist blond – und sie
hat es satt, unterschätzt zu werden. Die Hol-
lywoodschauspielerin Reese Wither spoon,
43, regiert heute über ein selbst geschaffenes
Medienimperium, in dem sie Projekte
umsetzt, die ihr und anderen Frauen inte-
ressante Jobs einbringen – und gute Ho-
norare. Sie ist Chefin der 2016 gegründeten
Firma Hello Sunshine und produziert Filme,
Serien und Podcasts. Witherspoon konnte
in diesem Jahr in die Riege jener Serien-
schauspieler aufrücken, die eine Million Dol-
lar pro Folge kassieren. Für ihre Arbeit bei
der Serie »The Morning Show« von Apple
TV+, an der sie als Schauspielerin und Pro-

NILS JORGENSEN / I-IMAGES / POLARIS / LAIF

duzentin beteiligt ist, sollen sie und ihre Kol-
legin Jennifer Aniston sogar je zwei Millio-
nen Dollar pro Folge bekommen. Auf
Geraune über die Höhe der Gage reagiert
die dreifache Mutter Witherspoon gereizt:
»Da klingt Missgunst durch, als ob wir es
nicht wert wären.« Die Firmen seien clever:
»Und wenn sie so viel zahlen, dann haben
sie einen Grund dafür«, sagte Witherspoon
dem »Hollywood Reporter«. KS

Großes Geschenk zur Kritik bot. In Deutschland

G Wenn der Architekt
Meinhard von Gerkan am
3. Januar seinen 85. Geburts-
tag feiert, wird viel von sei-
nen sensationellen Erfolgen
und ebenso von seinen sensa-
tionellen Misserfolgen die
Rede sein. 1965 gründete er
mit seinem Kollegen Volkwin
entwickelte sich vor allem
der Flughafen Berlin Branden-
burg zur Desasterbaustelle.
Die für 2011 in Aussicht
gestellte Inbetriebnahme fiel
GREGOR FISCHER / DPA
aus. 2012 wurde den Architek-
ten die Planung entzogen –
was nichts besser machte.
2020 könnte das Jahr sein, in
dem die Eröffnung tatsäch-
lich stattfindet. Er wünsche
sich, sagte Gerkan jetzt zum
SPIEGEL, »dass die architek-
tonische Qualität trotz allem
Anerkennung findet«. Auf
die Frage, an welchen seiner
entworfene sechseckige Anla-
ge vor wenigen Monaten
unter Denkmalschutz gestellt
wurde, sei »wie eine Heilig-
sprechung«. Und der Archi-
tekt vergisst nicht zu erwäh-
nen, wie funktionstüchtig
Tegel sei. Dort werde »ein
Vielfaches der Passagiere«
abgefertigt, für die der Flug-
hafen einst ausgelegt worden

Marg in Hamburg das Büro Bauten er am meisten hänge, sei. Als zweites ihm besonders
GMP. Das wurde immer nennt er an erster Stelle einen wichtiges Bauwerk nennt
größer, immer internationaler, anderen Berliner Flughafen, er eine Villa, die er 2006 nicht
wobei die enorme Präsenz und zwar Tegel. Dass die von weit von seiner Geburtsstadt
etwa in China auch Anlass GMP in den Sechzigerjahren Riga errichtet hat. UK

126 DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

Böser Zauber? angebot mehr bekommen.
Der Website The Daily Beast
G Der in Kairo geborene sagte er: »Ich will die Leute
kanadische Schauspieler wissen lassen, dass man
Mena Massoud, 28, ver- nicht automatisch auf Rosen
steht die Welt nicht mehr: gebettet ist, wenn man so
Als Titelheld der Disney-Pro- etwas wie ›Aladdin‹ gemacht
duktion »Aladdin« begeister- hat.« Alle Welt denke, er
te er im Frühling 2019 Kriti- könne sich vor lukrativen
ker und Zuschauer, der Fami- Angeboten kaum retten,
lienfilm spielte mehr als eine aber davon sei er weit ent-
Milliarde Dollar ein – aber fernt. Er werde nicht einmal
Massoud hat seit der Premie- zum Vorsprechen eingela-
re im Mai kein einziges Job- den. Die Situation erklärt
sich Massoud mit seiner
Unbekanntheit, viele Men-
schen hätten ihn in »Alad-
din« zum ersten Mal gese- Der Augenzeuge
hen, dabei arbeite er schon
seit zehn Jahren als Schau-
spieler. Die Hauptrolle in
einem Familienfilm zu spie-
»An den Feinwurzeln«
len sei offenbar nicht karriere- Fabian Sievers, 47, gehört zu den ersten Bauern,
PHILIP CHEUNG / NYT / REDUX / LAIF

förderlich. Arbeitslos ist der die den Trüffelanbau in Deutschland wiederentdeckt

junge Mann aber nicht: haben. Auf seiner Plantage in Niedersachsen kul-
Er hat eine Hauptrolle in der
tiviert er die Edelpilze. In diesem Jahr hat er zum ers-
Serie »Reprisal« für den
Streamingdienst Hulu – den ten Mal welche geerntet.
Vertrag konnte er abschlie-
ßen, bevor »Aladdin« in die G »Vor sieben Jahren habe ich die ersten Bäume auf meiner
Kinos kam. KS Trüffelplantage gepflanzt, davor wuchs dort Winterroggen.
In diesem Herbst habe ich den ersten Fruchtkörper entdeckt.
Das war ein Gefühl kindlicher Freude. Oft dauert es zehn
Jahre oder länger, bis die Knollen erscheinen, meine Planta-
te sie einen BH für Frauen ge besteht aber erst seit sieben Jahren. Dass es so schnell
Ohne Pelz und auf den Markt, die sich klappen würde, hätte ich nicht gedacht. Der Standort ist
Leder einer Mastektomie hatten offenbar hervorragend geeignet.
unterziehen müssen. Im Meine Begeisterung für Trüffeln begann vor acht Jahren.
G Nachhaltigkeit, Umwelt- Oktober dieses Jahres folgte Damals wollte ich Pilzsachverständiger werden und nahm
und Tierschutz sind Themen, ein zweites Modell. Die an vielen mykologischen Seminaren teil. In einem davon
die Stella McCartney, 48, Designerin, Vollprofi in Mar- ging es um Mykorrhiza-Pilze, zu denen die Trüffeln zählen.
umtreiben. Die britische ketingfragen, hat ihre Spen- Als ich sie kennenlernte, war es um mich geschehen. Mykor-
Modemacherin ist seit Sep- de nicht auf ihrem Insta- rhiza klingt grauenhaft, erklärt sich aber leicht: Mykos ist
tember Beraterin für Nach- gram-Account erwähnt. der Pilz, Rhiza ist die Wurzel. Trüffeln wachsen an den Fein-
haltigkeit im Luxuskonzern Ihre Motivation: 1998 starb wurzeln von Bäumen und gehen mit diesen eine Symbiose
LVMH. Sie war eine der ers- ihre Mutter im Alter von ein. Um Trüffeln kultivieren zu können, muss man geeignete
ten High-Fashion-Vertre- 56 Jahren an Brustkrebs. KS Bäume pflanzen – etwa Eichen oder Haselnusssträucher.
terinnen, die auf Pelz Deren Wurzeln werden vor dem Pflanzen mit dem Pilz
und Leder in ihren Kol- beimpft. Meine Plantage im Leinebergland ist einen Hektar
lektionen verzichteten; groß, auf ihr stehen etwa 1000 Bäume, von denen rund 750
ihr Geschäftshaus in Lon- auf diese Weise mykorrhiziert sind.
don wurde unter Beach- Bei meiner Arbeit hilft mir meine Trüffelhündin Woopee.
tung strenger Umweltauf- Weil Trüffeln unter der Erde wachsen, braucht jeder Bauer
lagen ausgestattet. Dass ein Tier, das die Fruchtkörper riechen kann. Die Pilze ver-
die Tochter des Musikers strömen ein intensives Aroma, das Füchse, Schweine oder
SEAN ZANNI / PATRICK MCMULLAN / GETTY IMAGES

Paul und der Fotografin eben Hunde nach ihnen graben lässt. Hierzulande wird erst
Linda McCartney sich seit weniger als 15 Jahren Trüffelanbau betrieben. Dabei war
auch für Frauen einsetzt, Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg eine Trüffelexport-
die an Brustkrebs nation. Die Ware wurde sogar an das französische Königs-
erkrankt sind, ist weni- haus geliefert. Heute importiert Deutschland tonnenweise
ger bekannt. Gerade Trüffeln. Der Preis schwankt, die Bauern erhalten 400 bis
spendete Stella McCart- 1000 Euro pro Kilogramm.
ney 200 Spezial-BH Ich esse besonders gern Wintertrüffeln, sie schmecken mir
an die Brustkrebsstation besser als die wertvolleren Burgundertrüffeln. Aber für eine
eines Krankenhauses in ordentliche Waldpilzpfanne würde ich alle Trüffeln stehen
Bath. Schon 2018 brach- lassen.« Aufgezeichnet von Janne Kieselbach

127
 »Ihr Artikel über die Bibel war sehr aufschlussreich.
Wie wäre es, wenn Sie sich auch einmal dem Koran in
ähnlicher Weise widmen würden?«
Peter Dziadek, Herdecke (Nordrhein-Westfalen)
Luthers Fehlübersetzung
Nr. 52/2019 Die Helden der Bibel – Wie viel
Wahrheit steckt in den Geschichten von
David und Goliat, Salomo und Mose?
Der SPIEGEL ist wohl das erste Nachrich-
ten-Magazin und Dietmar Pieper der erste
Journalist, die, mit dem Archäologen
Yosef Garfinkel an der Seite, die Begriffe
Bibel und Fake News in ein Verhältnis zu-
einander stellen, wie es wissenschaftliche
Verantwortung und investigativer Journa-
lismus gebieten.
Dr. Gerhard Birk, Chemnitz
Weiter so, alles Gute, auch für 2020! Aber
Eure Cover, vor allem das zur Ausgabe 52,
und auch, wenn es um andere, geschichts-
trächtige und/oder religionsmotivierte Auf-
machergeschichten geht, erinnern biswei-
len an jene triefende »Erwachet«- respek-
tive »Kehret um«-Bilder gewisser Erwe-
ckungsheftchen. Das könnt Ihr besser.
Henning Orth, Hannover
Ob die Damen und Herren Forscher glau-
ben oder nicht – die Wahrheit kommt nur
durch die Bibel ans Licht! Wie treffend for-
muliert Paulus diese menschlichen Er-
kenntnisse wie folgt: »Ich will zunichte-
machten die Weisheit der Weisen, und den
Verstand der Verständigen will ich verwer-
fen«, spricht Gott der Herr. Wo sind die
Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo
sind die Weisen dieser Welt?
Patrick Rompf, Kirchen (Rhld.-Pf.)
Es ist eine tiefe Einsicht, dass historische
Texte wie die Bibel, das Buch der Bücher,
aus den Erzählungen in der Region durch
mündliche Überlieferung und spätere Auf-
zeichnungen, vielfache Abschriften und
Übersetzungen in viele Sprachen dennoch
eine in vielen Details präzise Wiedergabe
historischen Geschehens liefern. Zusätzlich
Das Jahr in Likes
Themen der erfolgreichsten
Veröffentlichungen auf der
Facebook-Seite »DER SPIEGEL«
nach Nutzerreaktionen (Auswahl)
Kumulierte Anzahl aller
Nutzerreaktionen 2000
pro Tag
Januar Februar
128
fließen die Absicht und das Bemühen ein,
die aktuelle politische Doktrin mit histori-
schen Argumenten zu stützen. Der libane-
sische Sprachwissenschaftler Kamal Salibi
hat in seinem Buch »Die Bibel kam aus
dem Lande Asir« durch sprachliche Analy-
se festgestellt, dass viele Passagen der Bibel
sich auf das Gebiet und die Stämme im Asir-
gebirge östlich des Roten Meeres beziehen.
So sind die in der Bibelübersetzung Luthers
ERICH LESSING / AKG
David mit Goliat-Kopf (Caravaggio-Bild)
genannten Lahmen und Blinden offenbar
eine Fehlübersetzung für die damals kaum
bekannten Stämme der Beni Saar.
Dr. Wolf Beyer, München
Bodenhaftung verloren?
Nr. 51/2019 So gesehen: Wie Kleinanleger
künftig bluten
Den durchschnittlichen Kleinsparer, der
eine Million Euro anlegen kann, den soll-
ten Sie mir doch bitte mal zeigen. Un-
bestritten ist, dass diese neue Steuer ins-
besondere für die private Altersvorsorge
kontraproduktiv ist.
Jürgen Holm, Hamburg
Lieber Herr Kuzmany, ich weiß zwar nicht,
wie hoch Ihr monatliches Einkommen ist,
aber es muss beträchtlich sein, wenn Sie
Sparer mit Aktien im Wert von einer Mil-
lion Euro als Kleinsparer bezeichnen. Die
15. März
Anschlag von Christchurch
17. Mai
Titel der Österreich-Ausgabe
und »Fridays for Future«- des SPIEGEL zur Ibiza-Affäre
Proteste und Tabaksteuererhöhung
16. Februar
Tod von Bruno Ganz
März April
meisten Sparer, Angestellten, Arbeiter
werden nie so viel verdienen, dass sie ne-
benbei Aktien mit diesem Wert kaufen
können. Ich frage mich wirklich, ob Sie
und Ihre Redaktion noch eine gewisse Bo-
denhaftung besitzen oder ob sie die Ver-
bindung zu den »kleinen Leuten« endgül-
tig verloren haben.
Lars Büchel, Winterthur (Schweiz)
Wortprotokoll im RAF-Verfahren
Nr.51/2019 Juristen und Politiker plädieren für
Ton- oder Videoaufnahmen im Gerichtssaal
Ob die Hauptverhandlung wörtlich proto-
kolliert werden soll, muss vom Ergebnis
her geprüft werden – was soll erreicht wer-
den? Das im Artikel genannte Ziel, »den
Strafprozess transparenter zu machen«,
rechtfertigt keine Gesetzesänderung.
Wenn die Bundesrechtsanwaltskammer
das Wortprotokoll fordert, dann doch nur,
um damit eine Rechtsmittelausweitung zu
erreichen. Ist das Wortprotokoll erst ein-
geführt, wird sich bald jeder Revisionsfüh-
rer ausführlich mit seinem Inhalt befassen.
Ob das dann oft oder selten zum Erfolg
führt, bleibt sich gleich – lesen muss man
es immer, das dauert. Im RAF-Verfahren
gegen Baader und andere in Stammheim
hatten wir das Wortprotokoll. Ich kann
mich nicht erinnern, dass meine ausführli-
chen Aufzeichnungen dem Wortprotokoll
widersprochen oder der Ergänzung be-
durft hätten. Wie die Revisionsbegründung
ausgesehen hätte, weiß man nicht, weil sich
die Angeklagten vorher umbrachten.
Dr. Eberhard Foth, Richter im Stammheim-Prozess
gegen RAF-Mitglieder, Waldbronn (Bad.-Württ.)
Der Bericht über das Für und Wider von
Tonbandaufnahmen in deutschen Ge-
richtssälen beschreibt die Rechtswirklich-
keit zutreffend. Immer wieder kommt es
vor, dass Verteidiger und Richter sich un-
2. Juli
Glyphosat-Verbot
in Österreich und
Freilassung von
6000
Carola Rackete
4000
Mai Juni
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019

terschiedlich zum Inhalt einer Zeugenaus-
sage äußern. Dieses Dilemma ließe sich
vermeiden, wenn der Gesetzgeber den
Weg für die Zulassung von Tonbandauf-
nahmen frei machen würde. Dann wäre
der Streit über eine unterschiedliche Inter-
pretation einer Zeugenaussage vom Tisch.
Nicht zu befürworten ist indes das Gestat-
ten von Videoaufnahmen im Gerichtssaal.
Das Gefühl eines Zeugen, Objekt von Auf-
nahmen zu sein, die unter Umständen sei-
ne Emotionen und Gefühlsausbrüche do-
kumentieren, lässt eine unbefangene Aus-
sage des Zeugen nicht mehr zu.
Dr. Claus Rabe, Vorsitzender Richter
am Landgericht i. R., Hamburg
Blind für die Macht der Presse
Nr. 51/2019 Geld, protzige Autos, Posten –
wie sich die Funktionäre der
Frankfurter Awo selbst versorgten
Dieser Artikel entlarvt die ganze »Wohl-
fahrt«-Vetternwirtschaft und ohrfeigt in
diesem Zusammenhang die vielen Ehren-
amtlichen! Warum wird diese Einrichtung
eigentlich finanziell derart verführerisch
ausgestattet? Da sind Langfinger doch vor-
programmiert! Mein Vorschlag wäre, die
Millionen an bedürftige Arbeiter »wohltä-
tig« und direkt weiterzuleiten und diesen
Selbstbedienungsladen aufzulösen.
Dagmar Breitkreutz, Kiel
Awo-Zentrale in Frankfurt am Main
Nicht die Gehaltsaffären sind das eigent-
lich Skandalöse, sondern etwas viel Bana-
leres: die Borniertheit zu glauben, so et-
was – wahrscheinlich ja über Jahrzehnte
kultiviert – komme nicht ans Tageslicht.
Mit sehr beschränktem Horizont waren
die Beteiligten offenbar auch blind für die
Macht der Presse.
Christoph Schönberger, Aachen
5. Juli
SPIEGEL-Titel mit
8000 Carola Rackete
Juli August
Briefe
Atomenergie viel zu langsam
Nr. 51/2019 Start-ups in den USA arbeiten
an der Renaissance der Atomkraft, um die
Erde vor dem CO -GAU zu bewahren
² von Technikfeindlichkeit leiten lassen, son-
Hoffentlich ist dies der Auftakt zu einer
offenen, sachlichen und fairen Diskussion
über die Nutzung der Atomenergie in den
deutschen Medien und der deutschen Poli-
tik. Wohin Dogmatik und Besserwisserei
führen können und was das die Gesell-
schaft kosten kann, haben uns die Merkel-
Jahre überdeutlich vor Augen geführt.
Dass Deutschland heute als »CO -Sünder«
²
in der Schmuddelecke steht und sich für
die Nichteinhaltung der vereinbarten Re-
duktionsziele verantworten muss und
gleichzeitig mit die höchsten Strompreise
in Europa hat, ist zum großen Teil dem
überhasteten und paranoiden Beschluss
zum Atomausstieg geschuldet.
Dr. Gerhard Stolzenberg, Dorsten (NRW)
Ich fühlte mich an das Buch von James
Lovelock, Urgestein der grünen Bewe-
gung, aus dem Jahr 2006 erinnert. In die-
sem Buch mit dem Titel »Gaias Rache« ap-
pelliert er an seine grünen Freunde, ihren
naiven Glauben an die erneuerbare Ener-
gie zu überdenken und ihre Starrköpfig-
keit gegenüber der Atomenergie aufzuge-
ben. Wörtlich sagt er: »Die Zivilisation ist
in unmittelbarer Gefahr, und sie muss sich
jetzt der Atomkraft bedienen.«
Dietherr Fülle, Geislingen (Bad.-Württ.)
Die Faktenlage zum Status der Atomindus-
trie weltweit fehlt in Ihrem Artikel, siehe
»World Nuclear Industry Status Report
2019« des renommierten kritischen Beob-
achters Mycle Schneider und seines Teams.
MICHAEL FAUST
Sein Fazit: Atomenergie ist mit durch-
schnittlich zehnjähriger Bauzeit (ohne Pla-
nungsphase) viel zu langsam, um die Kli-
makrise zumindest zu bremsen. Dazu blei-
ben uns nur noch 10 bis 15 Jahre Zeit, so
der IPCC. Erneuerbare Energien sind viel
schneller einsetzbar. Die Debatte um Atom-
kraft als Klimaretter lenkt meines Erachtens
ab von den wirklichen Herausforderungen,
denen sich Politik und Industrie angesichts
des Klimawandels stellen müssen.
Angelika Claußen, Vizepräsidentin der
IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des
Atomkrieges) für Europa, Bielefeld
7. August 28. August 20. November
Höhere Mehrwert- Trump will Regen- Glyphosat-Verbot
steuer auf Fleisch wälder Alaskas zur in Österreich
Abholzung freigeben (Artikel vom 2. Juli)
4000
September Oktober
Sicherheit gewährleisten heißt unter ande-
rem, offen alle Risiken zu benennen und
nach Alternativen zu suchen. Dabei sollten
wir uns weder von Technikeuphorie noch
dern wissenschaftlich-nüchterne Distanz
SHUTTERSTOCK
»Fridays for Future«-Demonstranten
wahren. Der Artikel ist offenbar von ei-
nem anderen Interesse geleitet und blen-
det entscheidende Aspekte aus. Als ein
Beispiel sei genannt: Der Ausstieg aus der
Nutzung der Atomkraft war eine Voraus-
setzung für die 2017 begonnene Suche
nach einem sicheren Ort für die Hinterlas-
senschaften der Atomtechnologie. Die
Atommüllmengen sind begrenzt. Endlage-
rung wird nicht länger als ein Garant für
den Weiterbetrieb einer Technologie ge-
sehen, die die Gesellschaft tief gespalten
hat. Diese alten Narben aufzubrechen blo-
ckiert jedenfalls die Suche nach drängen-
den Antworten auf Sicherheitsfragen un-
serer Zeit, statt sie voranzubringen.
Wolfram König, Präsident des Bundesamts für
kerntechnische Entsorgungssicherheit, Berlin
Wer über Atomkraft nicht sprechen will –
der soll über den Klimanotstand schweigen.
Markus Klein, Högsdorf (Schl.-Holst.)
Jetzt springt Ihr auch noch auf den Zug
auf, der die Atomenergie wieder salonfä-
hig machen will. Atomkraft birgt unkalku-
lierbare Risiken und ein ungelöstes Ent-
sorgungsproblem. Jeder Geldbetrag, der
hier investiert wird, ist ein verlorener bei
der Umstellung der kompletten Energie-
versorgung auf erneuerbare Energien.
Martin Plumeyer, Bubenreuth (Bayern)
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
sowie digital zu veröffentlichen und unter
www.spiegel.de zu archivieren.
2. Dezember
Dürfen Katzen in den
8000 Niederlanden bald nicht
mehr frei herumlaufen?
6000
November Dezember
129
 Hohlspiegel
Aus dem »Donaukurier«:
»Der Pkw musste abgeschleppt werden.
Für die Absicherung und Bergung des
Fracks war die FFW Stammham mit
10 Mann an der Unfallstelle eingesetzt.«
Aus dem Bonner »General-Anzeiger«
zum Thema Friedhofsgebühren
Aus der »Schwäbischen Zeitung«:
»Außerdem soll es in der Justizvollzugs-
anstalt zu einer verbalen Auseinander-
setzung (Faustschlag ins Gesicht) mit
einem Mitgefangenen gekommen sein.«
Auslage in einer Buchhandlung in
München
Aus der »Apotheken-Umschau« über die
Burg Eisenhardt: »In der alten Kapelle
gibt es ein Rittergrab. Im Mittelalter
diente es als Salzlager. Schon
Martin Luther hat sich hier wohlgefühlt.«
Aus den »Kieler Nachrichten«
zum Thema Nahverkehr
Aus »Post von Wagner« in der
»Bild«-Zeitung: »Menschen laufen mit
Masken vor ihrer Nase, Menschen
müssen mit Atemnot versorgt werden.«
Fotohinweis in einer Mail von
Amazon, in der Kunden standardmäßig
darüber informiert werden, wo
eine Sendung abgegeben wurde
130
Rückspiegel
Zitate
Fit für die Der »Kölner Stadt-Anzeiger«
zitiert die SPIEGEL-Geschichte »Schwur
am See« (Nr. 37/1967) über ein
digitale Treffen des CDU-Kanzlers Kiesinger mit
seinem Generalsekretär Heck und
Zukunft den SPD-Granden Brandt und Wehner
in der Nähe seines Urlaubsorts:
mit dem neuen Der SPIEGEL ließ sich am 4. September
1967 in einer süffisanten Story über den
E-Learning-Kurs Zustand der Großen Koalition … das
Datenschutz- eigentlich geheime Treffen der Spitzen-
politiker aus Union und SPD natürlich
beauftragte/r nicht entgehen. Zu den Details, mit denen
das Hamburger Nachrichten-Magazin auf-
wartete, gehören jene Badehosen, die der
Jetzt als sparsam bekannte Schwabe Kiesinger
2 Wochen in ungewohnter Spendierlaune für SPD-
kostenlos Chef Brandt und dessen Stellvertreter Her-
bert Wehner hatte besorgen lassen … Er-
testen gebnis der Shopping-Tour waren eine dun-
kelblaue Hose zu 12,90 Mark für Brandt
und eine weinrote für Wehner zu 8,50
Mark … Eigentlich mochte der leutselige
Kiesinger das Bad in der Menge, doch als
sich das »Quartett soignierter Herren«
zum Planschen traf (SPIEGEL), wollte man
unter sich bleiben und suchte Abkühlung
im stillen, 22 Grad warmen Schleinsee.
Die dpa über den SPIEGEL-Bericht
»Verräterische Tattoos« (Nr. 52/2019):
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)
zeigt sich zuversichtlich, dass Russland bei
den Ermittlungen zum Mord an einem
Georgier in Berlin doch noch kooperieren
wird. »Es gibt die begründete Hoffnung auf
eine Unterstützung unserer Ermittlungen
und auf belastbare Hinweise von der rus-
sischen Seite«, sagte er dem SPIEGEL. Es
gebe bereits erste Zeichen, dass die Russen
Die SPIEGEL AKADEMIE die Blockadehaltung gegenüber den deut-
bietet: schen Ermittlern aufgäben. »Unsere Behör-
den nutzen ihre verlässlichen Kanäle zu
+ ein vielfältiges Kursangebot den russischen Partnern.« Details wollte
Seehofer nicht nennen.
+ individuelles, flexibles E-Learning
+ persönliche und fachliche »Die Welt« zum SPIEGEL-Bericht
Betreuung »Stumpfer Meißel« über die
Samwer-Brüder, die massiv in städtische
+ Praxis-Tutorials mit Gebäude investieren (Nr. 51/2019):
SPIEGEL-Experten
+ Abschlusszertifikate auf Angesichts niedriger Zinsen und fehlender
Hochschulniveau Ideen für andere Investitionen tummeln
sich inzwischen sogar Investoren aus der
Alle Kurse und Infos unter digitalen Wirtschaft am aufgeheizten Im-
www.spiegel-akademie.de mobilienmarkt. Wie Recherchen des ZDF-
Magazins »Frontal 21« und des SPIEGEL
ergaben, haben die Gründungsinvestoren
des Internetkaufhauses Zalando und des
Start-up-Inkubators Rocket Internet über
ein kompliziertes Firmengeflecht allein im
Zentrum Berlins Häuser im Wert von min-
destens 150 Millionen Euro gekauft.
DER SPIEGEL Nr. 1 / 28. 12. 2019
Jetzt den SPIEGEL testen
und Prämie sichern
6 × DER SPIEGEL für nur € 23,90 + Wunschprämie

25 %
sparen
+ Prämie

10 € DriversChoice-Gutschein 10 € Amazon.de Gutschein

Der Tankgutschein ist deutschlandweit Für Bücher, CDs, DVDs, Spiele,
bei über 8500 Tankstellen gültig. Technikartikel und vieles mehr.

Einfach jetzt anfordern: abo.spiegel.de/6x

oder telefonisch unter 040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP20-026)
Begegnen Sie Menschen
und ihrer Kultur

Kataloge: 00 800 /24 01 24 01

www.studiosus.com Intensiverleben