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Kalter Währungskrieg
Die US-Regierung schwächt den
Dollar und bedroht Deutschland
Freiheit der Kunst?
Politische Korrektheit
Untergräbt #MeToo die
Der Preis der Macht
Selfies verschicken
Gefährliches Sexting
Wenn Teenager riskante
Nr. 7 / 10.2.2018
Deutschland €5,10
Mehr gemeinsam
als gedacht.
Von der Kochleidenschaft bis zum Lieblingssport – wir haben
mehr gemeinsam, als wir glauben. Entdecke auch du, wie gut
ein vielfältiges Miteinander für alle ist. #wirgemeinsam
A ngela Merkel nackt; die Kanzlerin in der Mausefalle der SPD; mit einem
muffeligen Schulz im Ehebett; von der roten Parteinelke betört: Vier ver-
schiedene Titelbilder karikieren in dieser Woche das erstaunliche Entgegenkom-
men der CDU gegenüber der SPD bei den GroKo-Verhandlungen. Der britische
Zeichner Nishant Choksi hat die Illustrationen für den SPIEGEL angefertigt. Die
Varianten kommen in bunter Mischung an den Kiosk. An die Abonnenten wer-
den sie nach dem Zufallsprinzip verschickt. Hier sehen Sie alle Titel.
pischen Winterspielen in
Pyeongchang berichten will, 144 Seiten · 16,99 € · ISBN 978-3-522-30481-8
muss sich auf Temperaturen
von bis zu minus 20 Grad
vorbereiten. Die Redakteure Kinder bekommen vieles aus den Nachrichten
Peter Ahrens, Marcus Krä- mit, aber die Hintergründe bleiben für sie oft
mer, Thilo Neumann und unverständlich. In diesem Buch erfahren sie,
Christoph Winterbach reis- in welcher Demokratie sie leben, warum es
ten entsprechend gerüstet SPIEGEL-Team in Pyeongchang Parteien gibt, wieso Wahlen geheim sind und
nach Südkorea, in ein Land, was sie selbst tun können.
in dem kaum Schnee liegt und die Menschen wenig Sinn für den tradi- Lisa Duhm, Redakteurin von „Dein SPIEGEL“,
tionsreichen Wintersport haben. Internationale Zuschauer werden es wohl beantwortet immer wieder politische Zusam-
kaum in die sanften Hügel von Pyeongchang schaffen, allzu viele Hotelzimmer menhänge für Kinder. Mit anschaulichen Fotos
gibt es nicht. Überschattet werden die Spiele zudem vom Dopingstreit um die von Jan von Holleben, der die Bilder in Work-
russischen Athleten. „Es herrscht eine seltsame Atmosphäre“, sagt Winterbach. shops mit Kindern erarbeitet hat.
Für Deutschland allerdings könnte das Spektakel ein Erfolg werden. Die
Biathleten, die Nordischen Kombinierer und die Rodler gehören zur Weltspitze.
Aljona Sawtschenko und Bruno Massot kämpfen um Gold im Eiskunstlauf.
Thilo Neumann hat sie porträtiert. Zusammen mit Winterbach beschreibt er
zudem die Probleme und Sorgen, die die Athleten aus Nischensportarten bei
Olympia umtreiben. Seiten 92, 95
FERDINAND OSTROP / AP
ILLUSTRATION: JAN FEINDT / DER SPIEGEL
DUNCAN ELLIOTT / DER SPIEGEL
Titel Ausland
Regierung Wie sich Kanzlerin Merkel Warum viele Polen das Holocaust-Gesetz
bei den Koalitionsverhandlungen über ihrer Regierung begrüßen / Zahlreiche IS-
den Tisch ziehen ließ 10 Kämpfer konnten in die Türkei entkommen 74
SPD Parteivize Olaf Scholz verteidigt die USA „Moderne Autokraten sind da, um zu
schwarze Null 14 stehlen“, sagt der Autor David Frum im
Tabak Die Große Koalition erfüllte SPIEGEL-Gespräch über die Trumpokratie 76
die Wünsche der Zigarettenlobby 18
Affären Eine Deutsche spielt eine Rolle bei
Essay Warum der frühere SPIEGEL-Autor
den Russlandermittlungen gegen Mitglieder
Cordt Schnibben in die SPD eintrat 20
von Donald Trumps Wahlkampfteam 78
Europa Gegen die Reformpläne der
Großen Koalition regt sich Widerstand 22 Ukraine Petro Poroschenko sollte das Land
reformieren – aber will er das wirklich? 82
Deutschland Analyse Der Brexit wird Großbritannien
enorm schaden, aber seine Anhänger feiern
Leitartikel Der penible Koalitionsvertrag ihn als nationale Wiedergeburt 85
versteht doch die bedrohliche Welt nicht 6
Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen: Migration Ein von Deutschland aufgebautes
r
Mit elegante
Die Prioritäten des Christian Lindner 8 Arbeitsamt in Ghana soll die Fluchtwelle
nach Europa bremsen 86 ra ff e
Toll Collect berechnete zu viel / Gla s k a
Europaparlament gegen Macron /
Polizisten besonders belastbar 24 Sport
Immobilien Die Mieten in den deutschen Deutschland muss seinen Platz als Winter-
Ballungszentren explodieren, aber in der sportland Nummer eins verteidigen /
Politik spielt das Problem kaum eine Rolle 28 Magische Momente: Boblegende Wolfgang
Der Bund verkauft seine Grundstücke Hoppe über das Glück des Fahnenträgers 91
meist an Privatinvestoren – Kommunen
haben wenig Chancen 31 Olympia Wie deutsche
Athleten die Strahlkraft der
Afghanistan Deutsche und Amerikaner Spiele nutzen 92
ringen um die richtige Strategie im Kampf
gegen die Taliban 32 Die Mission Gold
Polemik Beim politischen Aschermittwoch der Eiskunstläuferin Aljona
triumphieren die CSU-Männer, weil Sawtschenko 95
Ilse Aigner ihre Chancen nicht nutzte 36
Migration Die Härtefall-Regelung Wissenschaft
hilft nicht den Flüchtlingen, sondern
dem deutschen Gewissen 38 Die Begrünung von Gewerbegebieten /
Hygieniker fordert häufigere Kontrollen
Legenden Helmut Kohls Witwe lässt ihren von Trinkwasser / Kommentar: Die
Mann als „unsterbliche Person“ preisen 40 Bundesdrogenbeauftragte verhindert
AfD Parteifunktionäre wollen enger mit einen besseren Jugendschutz 98
Rechtsextremen kooperieren 42
Anthropologie Evolutionsforscher
Chancen Die Bilanz der blinden
versuchen, das Rätsel zu lösen, warum
Ex-Skiläuferin Verena Bentele nach vier
der Mensch so gern tanzt 100
Jahren im Berliner Politbetrieb 46
Mode Politiker von Union und SPD plädieren Umwelt Unbekannte zerstören Nistplätze
für ein Gesetz gegen Magermodels 50 geschützter Arten – sie wollen den Bau von
Windrädern beschleunigen 104
Gesellschaft Pädagogik Wie das „aktive Lernen“
funktioniert 106
Früher war alles schlechter: Hygiene /
Werbekampagne für Flüchtlinge als
Arbeitskräfte 52 Kultur
Ein Video und seine Geschichte Hamburger Obama als Bildband / Ibsen neu gedichtet /
Angler fängt 32-Kilo-Karpfen 53 Kolumne: Zur Zeit 108
Digitales Leben „Sexting“, das Verschicken
von Nacktselfies per Handy, kann zur Politische Korrektheit Über Kunst wird
persönlichen Katastrophe führen, wenn die wieder heftig gestritten – Zeichen
Bilder öffentlich werden – der Fall Anna 54 eines Aufbruchs oder neuer Prüderie? 110
Kolumne Leitkultur 59 Essay Die Krise der Konservativen 118 Vom Hersteller
des Testsiegers.
Berlinale Streit um die Zukunft des
Wirtschaft Filmfestivals 120
Elektroautos sind klimafreundlicher als Hollywood Das Märchen „Shape of Water“ 121
ihr Ruf / Bilfinger trennt sich von Altlasten / Popkritik Timberlake enttäuscht 123
Im TUI-Jet nach Guantanamo 60
Öko-TEST Jahrbuch
Welthandel Der schwache Dollar wird Essen,Trinken und
zur Gefahr für die Wirtschaft – und zum Bestseller 117 Genießen 2005
www.sodastream.de
DER SPIEGEL 7 / 2018 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
M
anchmal ist die Wahrheit grau, komplex und den- Und trotzdem? Und trotzdem: Es gibt eine zweite, hö-
noch aufregend. Die werdende Regierung von here Ebene. Dieser Vertrag würde einem Deutschland ge-
Union und SPD wurde von der „Bild“-Zeitung recht, das von der Welt unberührt wäre; oder einer Welt,
sofort verdammt und von wenigen eher individualistischen die stillstände. Bei einer Veranstaltung im Hamburger
Kommentatoren sofort bejubelt, und beide Urteile waren SPIEGEL-Haus sagte „heute-journal“-Moderator Claus
vorschnell. Was also wird sie bewirken, was anrichten, Kleber am Dienstag, die Berliner Verhandlungen erinner-
was wird aus Deutschland werden? ten ihn an einen Streit um Liegestühle auf dem Deck der
Der 177-seitige Koalitionsvertrag ist nicht katastrophal „Titanic“; und das traf es.
schlecht, sondern ein so gründlicher wie detaillierter Maß- Eigentlich wissen es alle. Vielleicht hat diese Lautstärke,
nahmenkatalog. Er erklärt Bildung und Digitalisierung zu die permanente Nervosität ja mit diesem Wissen zu tun,
Prioritäten und entwickelt Pläne für beides: Glasfaser- auch die Wut der CDU auf die eigene Kanzlerin, auch
technik wird gefördert, ein Rechtsanspruch auf schnelles eine SPD, die nicht einmal innehalten kann, um einen
Internet kommt (wenn auch erst 2025); mehr als zehn Mil- Verhandlungserfolg zu feiern, sondern sofort wieder un-
liarden Euro sollen in Forschungseinrichtungen, Unis, glücklich sein möchte. Berlin überdreht. Einige Journalis-
Schulen und Kitas gehen. ten überdrehen. Permanente
Sprachlich macht das gewich- Zuspitzungen, sofort gekon-
tige Schriftstück erwartungs- tert, verhindern Gedanken.
gemäß geringfügige Freude: Etwas Großes und Unsiche-
„Wir werden mit dem Auf- res nähert sich. Die Welt ver-
stiegsfortbildungsförderungs- ändert sich, radikal und ra-
gesetz (Aufstiegs-BAföG) fi- sant. Die USA verabschieden
nanzielle Hürden für den be- sich aus ihrer Weltmachtrolle
ruflichen Aufstieg abbauen und von Europa; China steigt
mit dem Ziel einer weiteren auf. Künstliche Intelligenz,
deutlichen Verbesserung beim Klimawandel und Migration
Unterhaltszuschuss, Erfolgs- machen aus den Gesellschaf-
bonus und bei der Familien- ten, die wir kannten, neue.
HAYOUNG JEON / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
¹ Kraftstoffverbrauch: 5,1–4,8 l/100 km (innerorts), 3,9–3,8 l/100 km (außerorts), 4,3–4,2 l/100 km (kombiniert), CO2-Emissionen (kombiniert): 99–97 g/km. Energieeffizienz-
klasse B. Die angegebenen Werte wurden nach dem jeweils vorgeschriebenen Messverfahren (§ 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung)
ermittelt. ² Unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers, zzgl. lokaler Überführungskosten. Andere Motorisierungs- und Ausstattungsvarianten gegen Aufpreis
möglich. ³ Ein Leasingbeispiel der Mercedes-Benz Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart. Stand 01.02.2018. Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher,
besteht nach Vertragsschluss ein gesetzliches Widerrufsrecht nach § 495 BGB. Das Angebot gilt vom 01.01. bis zum 31.03.2018 (Auftragseingang), sofern die berechnete
Lieferung bis zum 30.06.2018 erfolgt. Nur solange der Vorrat reicht und nur bei teilnehmenden smart Händlern. Abbildung zeigt Sonderausstattung.
Winterschlussverkauf
Regierung Angela Merkel hat einen hohen Preis gezahlt, um noch ein wenig Kanzlerin
bleiben zu können. Ihre Partei begehrt auf, Rachepläne werden entworfen,
ihre Lage ist prekärer denn je. Die SPD bereitet sich derweil auf die Zeit nach ihr vor.
E
s ist Mittwochmittag, Punkt 12.30 fin auf den letzten Metern herausholen misse“ gegeben. Schmerzen hatte Merkel
Uhr, als Angela Merkel nach geschla- konnte. schon vor Beginn der letzten Verhand-
gener Schlacht vor ihr Team tritt. Merkel setzt sich ans Kopfende und lungsnacht angekündigt. Dass sie so heftig
Die große Runde der rund 50 Unionspoli- stellt das Ergebnis der Verhandlungen vor. für ihre Partei sein würden, hatte keiner
tiker, die gerade acht Tage lang mit der Sie erläutert die wichtigsten Inhalte des aus der Runde erwartet.
SPD verhandelt hat, hat sich im Vorstands- 177 Seiten dicken Vertrags und spricht von Als Merkel bei der Verteilung der Mi-
zimmer des Konrad-Adenauer-Hauses ver- Erfolgen. Allerdings, räumt sie irgendwann nisterien angelangt ist, herrscht betretenes
sammelt. Sie sind gespannt, was ihre Che- ein, habe es auch „schmerzhafte Kompro- Schweigen. Die meisten können nicht
10 DER SPIEGEL 7 / 2018
AXEL SCHMIDT / REUTERS
fassen, dass das Finanzministerium, das auch leben. Aber die Ressortverteilung sogar noch langsamer. Die Republik erleb-
Schlüsselressort einer jeden Regierung, sei „wirklich bitter“. Er könne dem Werk te Wochen des Stillstands, Tage der Träg-
tatsächlich an die Sozialdemokraten ge- daher nicht zustimmen. Später wird Lin- heit, an denen es so aussah, als würde das
gangen ist. Und zumindest die CDU-Mit- nemann noch deutlicher: Die Ressortauf- wirtschaftlich stärkste Land Europas par-
glieder im Raum wollen nicht glauben, teilung gehe „mitten ins Mark der CDU“. tout keine Regierung bekommen.
dass man auch noch das Innenministerium Merkel zuckt nach Linnemanns Vortrag, Weil nicht klar war, ob sich neben den
abtreten musste, in diesem Fall an die den sie mit missmutiger Miene verfolgt, Grünen noch jemand finden würde, der
Schwesterpartei CSU und deren Vorsitzen- nur mit den Schultern – und geht mit kei- bereit ist, mit Angela Merkel zu regieren.
den Horst Seehofer. Viele erkennen plötz- nem Wort auf die Kritik ein. Sie weiß in Und dann verhakte man sich in einer Zeit,
lich, dass Merkel einen enorm hohen diesem Moment noch nicht, dass Linne- in der die Welt über die Zurechnungs-
Preis gezahlt hat, um Kanzlerin bleiben mann für viele in ihrer Partei spricht – und fähigkeit von Donald Trump und Kim Jong
zu können. dass sich die politische Lage im Lande nach Un oder den unaufhaltsamen Aufstieg Chi-
Irgendwann meldet sich der Vorsitzende dieser Nacht verändert hat. Auch ihre nas redet, über die sachgrundlose Befris-
der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, eigene. tung von Arbeitsverhältnissen in Deutsch-
Carsten Linnemann, zu Wort und spricht Auch so ist Politik in Deutschland. Der land.
aus, was viele im Saal denken. Er wisse, alte Satz von Günter Grass, wonach der Aber dann geht plötzlich alles rasend
dass es in einer Koalition Kompromisse Fortschritt eine Schnecke ist, traf auf die schnell. Zunächst verständigen sich CDU,
geben müsse, sagt er. Mit dem inhaltlichen Zeit nach der Bundestagswahl nicht zu. Er CSU und SPD in besagter Nacht doch noch
Teil der Vereinbarung könne er zur Not war in diesen inzwischen fast 140 Tagen auf einen Koalitionsvertrag. Kurz darauf
DER SPIEGEL 7 / 2018 11
Titel
verkündet die SPD mal eben einen Wech- SPD-Führung, sondern auch das der Kanz- Und den Preis für ein solches umso höher
sel ihrer Führungsspitze und macht Andrea lerin. treibt. „Mittlerweile gilt wohl“, sagt der
Nahles zur zweitmächtigsten Frau der Re- Es verschiebt sich gerade viel in der langjährige Bundestagsabgeordnete Wolf-
publik. Und dann zeigt sich, dass selbst in deutschen Politik, und Merkel weiß, dass gang Bosbach, „je schlechter die SPD bei
der klinisch tot wirkenden CDU noch et- diese Verschiebungen nicht zu ihrem Wahlen abschneidet, desto lauter murrt
was Restleben steckt und Teile der Partei Vorteil sind. Alle Parteien haben einen deren Basis – desto mehr müssen CDU
zum Protest gegen Angela Merkels Politik Erneuerungs- oder Verjüngungsprozess und CSU bei Verhandlungen nachgeben,
aufrufen. durchlaufen, die FDP, die Grünen, die damit die SPD zufrieden ist. Wie klein will
Die Zugeständnisse, die Merkel den Schwesterpartei CSU – und nun eben auch sich die Union denn noch machen?“
Genossen gemacht hat, sind so groß, dass die SPD. Nur in der CDU bleibt vorerst Die Selbstverzwergung begann am
man sich fragen kann, wer eigentlich als alles, wie es war. Die 63-jährige Merkel Dienstagabend vor der letzten entschei-
stärkste Kraft aus der Bundestagswahl am führt die Partei nun schon seit fast 18 Jah- denden Verhandlungsrunde. Um halb
24. September hervorgegangen ist: die ren, 12 davon als Kanzlerin. Und der 68- neun Uhr versammeln sich Angela Merkel,
Union oder die SPD? jährige Fraktionschef Volker Kauder dient Horst Seehofer und Martin Schulz im Büro
Nicht nur, dass die Sozialdemokraten ihr ebenfalls seit 12 Jahren in ein und der- der CDU-Chefin im Konrad-Adenauer-
viele ihrer Forderungen im Koalitionsver- selben Funktion. Nun mag das Bedürfnis Haus, um zu klären, welche Partei welches
trag unterbringen konnten. Sie sicherten nach Erneuerung in konservativen Partei- Ministerium erhält. Schulz stellt stolze For-
sich zudem drei Schlüsselministerien: ne- en naturgemäß gedrosselt sein. Aber es derungen: Die SPD wolle das Finanz-, das
ben dem Ministerium für Arbeit und So- wächst selbst in der CDU, weil nicht weni- Außen- sowie das Arbeits- und Sozialmi-
ziales auch das Außenamt und das Finanz- ge den Eindruck haben, dass Merkel für nisterium haben. Sechs Ministerien, darun-
ministerium, das viele Jahre eisern von den persönlichen Machterhalt zu viele ter drei große, das ist sein Ziel.
CDU-Mann Wolfgang Schäuble geführt Posten und Positionen preisgegeben habe. „Das ist inakzeptabel“, sagt Seehofer. Er
worden war. Es wirkt, als habe Merkel das „Puuuh! Wir haben wenigstens noch das will das Finanzministerium für sich und
letzte Tafelsilber ihrer Partei verscherbeln Kanzleramt!“, twitterte der CDU-Bundes- seine Partei reklamieren. Dort saßen auch
müssen, um sich eine weitere Amtszeit zu tagsabgeordnete Olav Gutting nach Be- schon die CSU-Vorsitzenden Franz Josef
sichern. Wie im Winterschlussverkauf. kanntwerden der Verhandlungsresultate Strauß und Theo Waigel. Es geht hin und
Die Kanzlerin glaubte, diese Zugeständ- sarkastisch. Die Wut in der CDU über das her, immer mit den gleichen Argumenten.
nisse machen zu müssen, um die SPD von schwache Verhandlungsergebnis ist groß, Wenn die CSU das Finanzministerium
einer weiteren Großen Koalition zu über- nicht nur bei einfachen Mitgliedern, son- nicht bekomme, müsse es das Arbeits- und
zeugen, der vierten in der Geschichte der dern auch bei hochrangigen Funktions- Sozialministerium sein, sagt Seehofer.
Bundesrepublik und bereits der dritten un- trägern. „Die Sozialdemokraten haben für „Das kriegst du auf keinen Fall“, sagt
ter ihrer Führung. Sie wusste, dass sie es sich eine Menge rausgeholt“, konstatierte Schulz. „Wenn wir auf das Arbeitsminis-
sich nicht erlauben konnte, nach den chao- Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Da- terium verzichten, wäre das so, als ob die
tischen Jamaikasondierungen einen weite- niel Günther. Union aufs Innenministerium verzichtet.“
ren Versuch einer Regierungsbildung schei- Dass die politische Landschaft in Dann doch das Finanzministerium, sagt
tern zu lassen. Deutschland in diesen Wochen so ausge- Seehofer. „Das müssen wir haben. Wir
Als Druckmittel wirkte auch der ständig zehrt, verunsichert und nervös wie selten können in der Regierung nicht nur den
von den Verhandlungsführern der SPD wirkt, liegt nicht nur an den Folgen von Kaffee servieren“, sagt Schulz. Sein Druck-
vorgebrachte Hinweis auf den eigenen Mit- Angela Merkels kontroverser Flüchtlings- mittel ist das anstehende Mitgliedervotum:
gliederentscheid. Rund 464 000 SPD-Mit- politik. Es liegt auch daran, dass die CDU „Wir kriegen den Vertrag sonst nicht
glieder werden bald über den Koalitions- sich programmatisch so sehr der Sozialde- durch.“ Angela Merkel folgt den Verhand-
vertrag abstimmen können. In ihren Hän- mokratie angenähert hat, dass diese aller- lungen teilweise wie eine Zuschauerin
den liegt nun nicht nur das Schicksal der gisch auf ein weiteres Bündnis reagiert. beim Pingpong.
Die Stunden vergehen. Während die
drei Chefs beisammensitzen, steckt im Vor-
standsbüro Verteidigungsministerin Ursula
Gesundheit von der Leyen ihre Jacke unter den Kopf
Für Arbeitnehmer werden die Krankenkassenbeiträge im kommenden Jahr um bis zu und macht auf dem Boden ein Nickerchen.
0,5 Prozentpunkte sinken. Gutverdiener können mit einer Entlastung von mehr als Gesundheitsminister Hermann Gröhe rollt
200 Euro im Jahr rechnen, weil sich die Arbeitgeber ab 2019 wieder zur Hälfte an den sich in einem leeren Mitarbeiterbüro auf
Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung betei- einer Couch zusammen. Der CSU wird
ligen müssen. Für Unternehmen wird das teuer, sie langsam klar, dass das Finanzministerium
werden mit etwa sechs Milliarden Euro jährlich belastet. Beiträge zur gesetzlichen nicht zu haben ist.
Allerdings könnten die Entlastungen für die Beschäftig- Krankenversicherung, Merkel und Seehofer schlagen Schulz
ten nur von kurzer Dauer sein. Union und SPD haben in Prozent schließlich vor, die Ressortverteilung nach
sich auf viele Ausgaben verständigt, die die Beiträge Arbeitnehmer dem Reißverschlussverfahren zu klären,
bald wieder in die Höhe treiben dürften. So wollen sie (Durchschnitt) 8,3 das den Parteien erlaubt, abwechselnd ein
mehr Geld ausgeben, um die Pflege in Krankenhäusern Ministerium zu wählen. Das ist das übliche
auszubauen und überflüssige Klinikbetten abzubauen. Verfahren. Die SPD dürfe zwei Ministerien
Dagegen ist von dem Versprechen, die Ungleichbehand-
7,9 2019:
Parität auf einmal wählen, versucht Seehofer
geplant
lung von privat und gesetzlich Versicherten zu beenden, Schulz zu ködern. Aber der bleibt hart.
kaum etwas geblieben. Über eine bundesweit einheit- „Das wollen wir nicht. Wir wollen eine
liche Nummer sollen Kassenpatienten schneller Arzt- 7,0 7,3 Paketlösung.“ Schulz tritt in dieser Nacht
termine bekommen, und eine Kommission wird darüber so klar und entschieden auf wie all die
beraten, ob sich die Honorare von Privat- und Kassen- Arbeitgeber Monate zuvor nicht.
patienten angleichen lassen. Wie eine Lösung am Ende Es ist inzwischen nach Mitternacht, als
aussehen könnte, ist derzeit völlig offen. 2008 2018 Seehofer seinen Leuten erklärt, wenn es
SPD-Unterhändler während der Koalitionsgespräche*: „In der Regierung nicht nur den Kaffee servieren“
kein großes Ministerium für ihn persönlich Zuständigkeiten, für Bau und Heimat zum fragen, über die die Parteien tagelang ge-
gebe, werde er eben nicht nach Berlin Beispiel, das wäre was. Mit diesem Vor- stritten haben, sind plötzlich kein Problem
gehen. Wenn er, der Vorsitzende, selbst schlag geht Seehofer zu Merkel. mehr: Ärztehonorare, sachgrundlose Be-
nicht in der Regierung sei, könne die CSU Sie müsse sich mit ihren Leuten beraten, fristung – in knapp einer Stunde wird ge-
leichter auf ein großes Ministerium ver- antwortet sie. Dann zieht sie Volker Kau- löst, worüber zuvor nächtelang gestritten
zichten. „Das ist nicht akzeptabel“, ent- der, Peter Altmaier und den hessischen worden war. Zuerst informieren die Par-
gegnet Dobrindt. Ministerpräsidenten Volker Bouffier hinzu. teichefs ihre eigenen Leute, dann treffen
Um ein Uhr nachts ruft Merkel die Ver- Es werde nicht leicht sein, das den eigenen zum letzten Mal rund 90 Verhandler aller
handler erneut zusammen. Ob man wirk- Leuten zu erklären, warnt Bouffier. Aber drei Parteien zusammen. Bei CSU und
lich den Bürgern erklären wolle, dass die ein Scheitern könne man auch nicht erklä- SPD ist die Stimmung gelöst, bei der CDU
Große Koalition gescheitert sei, weil man ren, sagt die Kanzlerin. Altmaier schlägt eher nicht.
sich nicht auf eine Ressortverteilung habe vor, die Zuständigkeit für Digitales aus In den Stunden und Tagen, die folgen,
einigen können, fragt sie. Das werde einen dem Verkehrsministerium der CSU in das bilden sich Zellen des Widerstands gegen
massiven Ansehensverlust für beide Volks- Wirtschaftsministerium zur CDU zu holen. das magere Ergebnis – und das im tradi-
parteien bedeuten. Man vereinbart, weiter Dann könnte man sagen, ein zentrales tionell duldsamen Kosmos der CDU. Wie
nach einer Lösung zu suchen. Und allen Zukunftsthema liege nun bei der CDU. bei den Sozialdemokraten begehrt zuerst
ist klar: Wer zuerst zuckt, verliert. Merkel geht mit diesem Vorschlag zu die Parteijugend auf. Die Junge Union
Wieder getrennte Beratungen der drei Seehofer. Komme nicht infrage, antwortet Bremen zeigt sich „sehr enttäuscht“: „Wir
Parteien. Nachdenken. Schweigen. Um der. Die CSU werde keine Zuständigkeiten fordern die CDU auf, nun schnellstmöglich
vier Uhr morgens ist auf allen Seiten von abgeben. eine Minderheitsregierung zu bilden, ge-
einer „Totalblockade“ die Rede. Schulz Schließlich gibt Merkel nach, der SPD gebenenfalls auch mit der FDP.“ Die Junge
greift zum Handy, ruft die Kanzlerin an wie der CSU. Sie erkennt, dass ihre Ver- Union Berlin klagt, die SPD habe sich mit
und fragt, ob es sinnvoll sei, wenn er noch handlungspartner entschiedener sind als dem Erpressungspotenzial des Mitglieder-
einmal unter vier Augen mit Seehofer sie selbst. Dass sie die Verhandlungen eher entscheids offenbar voll und ganz durch-
spreche. „Machen Sie mal“, sagt Merkel. scheitern lassen würden. Merkel war in gesetzt. Insgesamt gelte: „Von einem Auf-
Schulz und Seehofer treffen sich im Büro ihrer Karriere noch nie bereit, für politi- bruch keine Spur!"
des erkrankten CDU-Generalsekretärs Pe- sche Ziele oder Anliegen ihr Hauptziel zu In Dresden will die örtliche CDU am 16.
ter Tauber. „Lass uns das nicht an Ministe- gefährden: die Sicherung ihrer eigenen Februar sogar ihr eigenes Mini-Mitglieder-
rien scheitern lassen“, sagt Schulz. „Das Macht. So ist es jetzt wieder. votum abhalten. Dass der Vertrag bei die-
können wir niemandem erklären.“ Aber Um 8.30 Uhr, zwölf Stunden nach der ser lokalen Abstimmung durchfallen wird,
es passiert wieder nichts. Zwei Stunden ersten Besprechung, treffen sich die drei ist wahrscheinlich – und das nicht nur, weil
später, es ist jetzt 6.30 Uhr, hat Alexander Parteichefs wieder in Merkels Büro. „Ich die ostdeutschen Landesverbände bei der
Dobrindt im Kreise der CSU-Teams eine gehe ins Innenministerium“, erklärt See- Postenvergabe leer ausgehen.
neue Idee: „Und wenn wir das Innenmi- hofer. Schulz stimmt sofort zu. Die Sach- Es gärt überall in der CDU. In der Bun-
nisterium nehmen?“ Seehofer überlegt. Im destagsfraktion ist die Stimmung am ver-
Prinzip sei das okay, aber er will weitere * Am 5. Februar im Willy-Brandt-Haus. gangenen Mittwoch düster. Ein erfahrener
DER SPIEGEL 7 / 2018 13
„Wir stehen für solide Finanzen“
SPD Olaf Scholz, 59, sieht den Koalitionsdeal als Erfolg, an der schwarzen Null will er festhalten.
SPIEGEL: Herr Scholz, der Koalitionsver- Regierung für unser Land und für Scholz: Ja, das gilt auch für uns. Die
trag ist unter Dach und Fach. Wie zu- Europa erreichen kann. Sozialdemokraten stehen für solide
versichtlich sind Sie, dass die SPD-Mit- SPIEGEL: Andrea Nahles soll künftig die Finanzen. Mit einer erfolgreichen Wirt-
glieder zustimmen? SPD führen. Viele Sozialdemokraten schaftspolitik steigen auch die finan-
Scholz: Sehr zuversichtlich. Das ist ein finden, dass sie trotz ihrer 47 Jahre ziellen Spielräume.
guter Vertrag, der vielen Bürgerinnen schon zu sehr zum Establishment der SPIEGEL: Im Koalitionsvertrag sind rund
und Bürgern Vorteile bringt. Ganz Partei gehört. Steht Nahles wirklich für 46 Milliarden Euro Spielraum vorgese-
wichtig ist, dass wir damit den sozialen eine Erneuerung? hen. Die Ausgabenwünsche liegen
Zusammenhalt stärken, für uns als Scholz: Natürlich. Andrea Nahles aber deutlich höher. Wie wollen Sie
SPD ist dieses Thema wichtig. Deswe- ist eine kämpferische und dynamische damit umgehen?
gen habe ich die Hoffnung, dass Frau. Sie ist genau die Richtige, um Scholz: Viele Vorhaben werden aus
unsere Mitglieder am Ende zustimmen die Erneuerung der SPD voranzu- dem normalen Haushalt finanziert, da-
werden. treiben. Viele in unserer Partei setzen für stehen in den nächsten vier Jahren
SPIEGEL: Nach den Sondierungen klang ihre Hoffnungen auf sie. Ich auch. im Bundeshaushalt 1,4 Billionen Euro
das noch ganz anders. Da haben viele SPIEGEL: Sie gelten als Vertrauter der zur Verfügung. Das ist sehr viel Geld.
Sozialdemokraten geklagt, die SPD designierten Parteichefin, obwohl Sie Ansonsten sind wir auf zusätzliches
habe zu wenig herausgeholt. Wachstum und daraus ent-
Was haben Sie erreicht? springende Steuermehrein-
Scholz: Das unbefristete Ar- nahmen angewiesen. Bei al-
beitsverhältnis wird wieder len zusätzlichen Wünschen
zur Regel. Wir schränken müssen wir genau schauen,
sachgrundlose Befristungen was wir uns leisten können
drastisch ein und schaffen und was nicht. Für mich ist
endlose Kettenbefristungen wichtig, dass wir Spielräume
ab. Für Beschäftigte und Ar- auch nutzen, um den sozia-
beitgeber soll wieder der len Zusammenhalt zu stär-
gleiche Beitragssatz bei der ken. Also mehr Geld für den
Krankenversicherung gelten. sozialen Wohnungsbau, für
Das Rückkehrrecht in Voll- den Einstieg in gebühren-
zeit wurde vereinbart, außer- freie Kitas oder den Ganz-
dem der Rechtsanspruch tagsschulausbau. Das sind
auf Ganztagsbetreuung in große Aufgaben. Unser Land
Grundschulen. In die Zu- profitiert, wenn wir sie be-
kunft der Bildung wird mit wältigen.
großer Entschiedenheit in- SPIEGEL: Martin Schulz hat
KAY NIETFELD / DPA
A
ls die Agrarexperten von Union nen Passus. Die SPD ergab sich. Der schwarz-roten Koalitionsvertrags arbeitet,
und SPD zu später Stunde Satz wurde gelöscht, auch im Koali- stellt sich am Ende vor allem eine Frage –
ihren Tagungsraum im Paul- tionsvertrag taucht er nicht mehr auf. wie hat die SPD das Kunststück vollbracht,
Löbe-Haus verließen, da waren sie gu- Wer mit „ganz oben“ gemeint war, ihre Verhandlungserfolge in den vergan-
ter Dinge. Die großen Streitpunkte wollte niemand in der Runde offen sa- genen Wochen derart kleinzureden?
hatten sie am Mittwoch vergangener gen, aber die Verhandler hegen kei- Das Steuerkonzept der Koalitionäre ent-
Woche ausgeräumt, an ihre Partei- nen Zweifel: Der Wirtschaftsflügel der lastet vor allem jene Klein- und Durch-
und Fraktionsspitzen mailten Teilneh- Union opponiert gegen das Projekt, schnittsverdiener, denen sich die Partei seit
mer einen ersten Entwurf des Ver- und Fraktionschef Volker Kauder hat je besonders verpflichtet fühlt. Unterneh-
handlungsstands. „Alles gut“, meldete es schon einmal ausgebremst. men dagegen werden zur Kasse gebeten;
ein Unterhändler per SMS. Erst in der vorigen Legislaturperiode so müssen sie künftig auch den Kranken-
Selbst eine der heikelsten Fragen hatte sich das Kabinett der Großen versicherungs-Zusatzbeitrag hälftig mit-
wähnten die Politiker geklärt. „Wir Koalition auf einen Gesetzentwurf ge- zahlen, den die Beschäftigten bislang ent-
werden das Tabakaußenwerbeverbot einigt, der Tabakwerbung an Außen- richten mussten. Zudem sollen befristete
umsetzen“, so hatte es die Runde in flächen ab 2020 verbieten sollte. Doch Arbeitsverträge auf Druck der SPD einge-
ihrem Papier notiert. Niemand hatte das Gesetz wurde nie beschlossen, schränkt, die Leiharbeit überprüft werden.
widersprochen, auch die Experten weil es von der Tagesordnung des Par- Was da vereinbart wurde, sagt Oliver
der Arbeitsgruppe Gesundheit signali- laments verschwand. „Leider gibt es in Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeit-
sierten Zustimmung. Der kurze Satz der Unionsfraktion derzeit noch Wi- geberverbands Gesamtmetall, sei „noch
derstände“, hatte sich der scheußlicher als erwartet“.
damalige SPD-Fraktions- Fast in jedem Politikbereich stimmte die
chef Thomas Oppermann Union SPD-Projekten zu, die sie bis vor
in einem Brief an die Bun- Kurzem noch bekämpft hatte. Eine Grund-
desärztekammer empört. rente für Geringverdiener? War in der
Es war Unionsfraktions- vergangenen Amtsperiode an der Union
chef Kauder, der damals gescheitert. Eine Altersvorsorgepflicht für
interveniert hatte. Auch Selbstständige? Galt Unionspolitikern als
heute argumentiert er in- Anschlag auf die Eigenverantwortung. Ein
tern, die Union dürfe sich staatlich organisierter Beschäftigungssek-
nicht als Verbotspartei in- tor für Langzeitarbeitslose? Wurde als
szenieren. Kommunalpoli- unfinanzierbar abgelehnt. Seit Mittwoch
ULLSTEIN BILD
tiker wiederum sträuben ist klar: Was gestern noch unmöglich war,
sich gegen das Verbot, könnte bald offizielle Regierungslinie sein.
weil sie um die Häuschen Dass die nächste Regierung versucht, die
Tabakwerbung auf Rügen an ihren Bushaltestellen jahrelang gewachsene Kluft zwischen Arm
„Leider gibt es Widerstände“ fürchten, die in vielen und Reich zumindest ein wenig zu ver-
Städten mit Werbung fi- ringern, gehört gewiss zu den positiven
hätte eine jahrelange Peinlichkeit be- nanziert werden. Die Tabaklobby Elementen des Koalitionsvertrags. Vernünf-
endet. nimmt beide Thesen dankbar auf. tig ist auch, dass sie mehr Geld für Straßen,
Deutschland ist der einzige Mitglied- Brüskiert sind nun gleich drei pro- Schulen oder Kitaplätze ausgeben will.
staat in der EU, in dem es der Tabak- minente Fraktionskollegen Kauders: Das Problem ist nur: Um Deutschland
industrie noch gestattet ist, für Zigaret- Bundeslandwirtschaftsminister Chris- moderner zu machen, fehlt es in vielen
ten an Hauswänden oder Litfaßsäulen tian Schmidt (CSU), die Drogenbeauf- Bereichen nicht am Geld, sondern an Re-
zu werben. Schon vor 14 Jahren hatte tragte Marlene Mortler (CSU) und formen. Beim Klimaschutz haben Union
sich die Bundesrepublik in einem inter- Gesundheitsminister Hermann Gröhe und SPD schon in der vergangenen Legis-
nationalen Abkommen verpflichtet, (CDU) hatten beharrlich für das Ver- laturperiode ihre Ziele verfehlt, weil sie
bis 2010 ein umfassendes Tabakwerbe- bot gekämpft. Noch vor gut einem es nicht wagten, in großem Stil Kohlekraft-
verbot einzuführen. Doch Druck aus Jahr hatten sie an ihre Kollegen ge- werke zu schließen. Nun soll eine Kom-
der Industrie hat das bis heute verhin- schrieben: „Jedes Jahr sterben in mission das Thema bearbeiten.
dert. Und nun hat es den Anschein, als Deutschland etwa 121 000 Menschen Die Frage, wie im alternden Deutsch-
hätten die Lobbyisten wieder ganze an den Folgen des Rauchens.“ Der Zu- land die Renten auskömmlich und die Bei-
Arbeit geleistet. sammenhang von Werbung und träge bezahlbar gehalten werden können,
Als sich die Landwirtschaftsexper- Krankheitshäufigkeit sei „wissen- soll ebenfalls in eine Kommission abge-
ten am folgenden Tag erneut trafen, schaftlich eindeutig bewiesen“. schoben werden. Oliver Ehrentraut, Sozial-
zeigten sich Politiker der Union zer- Geblieben ist von den großen Plä- experte der Basler Prognos AG, wirft
knirscht. Der Satz zum Werbeverbot nen im Koalitionsvertrag nur ein dür- den Verhandlern vor, die Bürger „orien-
könne doch nicht bleiben, teilten sie res Sätzchen. „Wir werden Drogen- tierungslos“ zurückzulassen. Käme es zu
der überrumpelten Runde mit. „Ganz missbrauch weiterhin bekämpfen und einer dauerhaften Festschreibung von Bei-
oben“ gebe es Widerstände, im Papier dabei auch unsere Maßnahmen zur trägen und Rentenniveau über 2025 hinaus,
zeigten diese sich später in einem Tabak- und Alkoholprävention gezielt wie es die SPD fordert, sei das auf Dauer
schwarzen Balken über dem umstritte- ergänzen.“ Cornelia Schmergal nicht finanzierbar. „Die Belastungen für
den Steuerzahler nähmen massiv zu, und
18 DER SPIEGEL 7 / 2018
Titel
R . Z E N S E N / I M AG O, C. E S S L E R / ACT I O N P R E S S , I . K J E R / P H OTOT H E K . N E T, C. B I L A N /
EPA -EFE / R EX / SH UT TER STO CK, S. DA R MER / DAV I DS, JEO N / EPA -EFE / R EX / SH UT TER -
STO CK, C. KOA LL / G ET T Y I MAG ES, DPA , F. BÜH / ACTI O N P R ESS, M. P O P OW / 3 60-
Wer übernimmt
welchen Posten?
Mutmaßliche Kabinettsriege
B E R L I N , H . B R E D E H O R ST / P O L A R I S / L A I F, R . Z E N S E N / I M AG O
bei Zustandekommen der
Großen Koalition
Martin Schulz Helge Braun
SPD, Außen- CDU, Kanzleramt
ministerium Peter Altmaier
Olaf Scholz CDU, Wirtschaft
SPD, Finanzen und Energie
Eva Högl
SPD, Arbeit Ursula von der Leyen
und Soziales CDU, Verteidigung
Katarina Barley
SPD, Familie, Senioren, Annette Widmann-Mauz
Frauen und Jugend CDU, Gesundheit
die Nachhaltigkeit der Rentenversicherung Stattdessen werden nun etliche Arbeits- die CDU zu sozialdemokratisieren. Ihre
würde ausgehöhlt“, schreibt Ehrentraut in gruppen tagen: Es soll eine E-Government- Annahme war, dass sich ihre Macht so am
einem Dossier zum Vertrag. Agentur geben, einen Digitalrat und eine leichtesten absichern lasse – und sie war
Am meisten aber enttäuschen die Pas- Daten-Ethikkommission sowie regionale richtig. Nun aber hat sie dieses Politikprin-
sagen zur digitalen Zukunft des Landes, „Open Government Labore“. zip so weit ausgereizt, dass sie vor allem
obwohl die Parteien dem Thema sogar Nachdem die letzte Regierung ihren von Unzufriedenen und Schlechtgelaunten
den größten Platz widmen. Kein anderer wenig ambitionierten Plan verfehlte, bis umgeben ist, egal ob es sich dabei um So-
Begriff taucht im Vertrag häufiger auf als 2018 zumindest jedem Haushalt eine zial- oder Christdemokraten handelt.
„digital“. Und nirgends sonst müsste so 50-Megabit-Verbindung zu gewährleisten, Auch das ist eine Bilanz.
viel geschehen. Bei der Schnelligkeit des soll es nun einen Rechtsanspruch auf Melanie Amann, Markus Feldenkirchen,
Internets liegt Deutschland hinter Ländern schnelle Onlineverbindungen für jeden Veit Medick, Ralf Neukirch, Marcel Rosenbach,
wie Ungarn und Rumänien zurück. Bürger geben. Der Wermutstropfen: Die Michael Sauga, Cornelia Schmergal, Anne Seith
Union und SPD konnten sich nicht mal Garantie soll erst im Jahr 2025 eingelöst Lesen Sie auch
auf eine Federführung einigen. Wie in der werden, in der nächsten Legislaturperiode Seite 28 Explodierende Mieten in Ballungs-
letzten Amtszeit sind die Kompetenzen also, wenn wohl nur noch wenige Mitglie- zentren
zwischen Wirtschafts-, Innen- und Ver- der des aktuellen Kabinetts im Amt sein Seite 38 Die Härtefallregelung beim Familien-
kehrsministerium verteilt, ein eigenes Di- werden. nachzug funktioniert nicht
gitalressort im Kabinett wird es nicht ge- Angela Merkel war einst angetreten, um Seite 65 Kassenärzte-Chef Andreas Gassen
ben, nicht einmal den angedachten Digi- Deutschland zu modernisieren. Dann wur- über die Zweiklassenmedizin
tal-Staatsminister im Kanzleramt. de sie Bundeskanzlerin und begann damit, Seite 118 Essay über das Elend der CDU
Liebe Genossinnen, liebe Genossen, lieber Kevin, Als Nichtmitglied war ich in den vergangenen 50 Jahren
seit voriger Woche bin ich Mitglied der Sozialdemokrati- nur zweimal glücklich mit meiner Regierung: als Willy
schen Partei Deutschlands. Eurer Google-Anzeige „Jetzt Brandts sozialliberale Koalition die Ostpolitik auf den
SPD-Mitglied werden – stimme mit über die nächste Re- Weg brachte. Und 1998, als Gerhard Schröders rot-grüne
gierung Deutschlands ab“ konnte ich nicht widerstehen. Regierung den Mann aus dem Kanzler-Bungalow kippte,
Weltanschaulich und programmatisch stehe ich irgendwo der in 16 Jahren zur Karikatur geworden war.
zwischen Grünen, Linken und Sozialdemokraten, aber In jener Nacht, ich war damals als Journalist unterwegs
die Versuchung, nun mitzudebattieren und mitzuentschei- in Bonn, glaubte ich, die Aufbruchstimmung der Sechzi-
den darüber, wohin Deutschland treibt, ist groß genug. gerjahre spüren zu können. Mehr Demokratie wagen,
Ausschlaggebend war der letzte Parteitag vor drei Wo- neue Gesellschaft, Liberalität, Toleranz, Zukunft, Gerech-
chen, dessen Debatten für mich überraschend konkret tigkeit, neue Mitte, dritter Weg, Innovation, Atomausstieg
und konfrontativ waren. Lieber Kevin, Dein Beitrag und – die Parolen von damals mischten sich mit den Luftballons
die Kampagne der Jusos wurden zu Recht von vielen Me- des rot-grünen Projekts.
dien gelobt, auch die folgenden Talkshow-Auftritte waren Schon die Neujahrsansprache des Kanzlers drei Monate
so, dass ich mir wünsche, mit vielen Kevins in meiner später schaute ich mir allerdings wieder mit diesem skep-
neuen Partei zu diskutieren. Ich muss Dich allerdings ent- tischen Lächeln an, das zu Silvester gehört wie „Dinner
täuschen: Ich bin nicht eingetreten, um gegen die Große for One“.
Koalition zu stimmen. Und 2003 war das Land dann so verschuldet und so vol-
Ich kann Eure Sehnsucht verstehen, einer Partei anzu- ler Arbeitsloser, dass nur noch die Notbremse half, die
gehören, die nicht unter die 20-Prozent-Hürde rutscht. „Agenda 2010“, das Zukunftsprojekt, unter dem die Kevins
Und ihr glaubt, deshalb müsse man sich in der Opposition der SPD bis heute leiden.
erneuern. Wenn man nicht gerade Minister ist oder Staats- Liest man sich das Papier durch, mit dem die Jusos
sekretär, ist es wohl nicht sehr verlockend, Mitglied einer ihre Ablehnung einer Großen Koalition und ihren Weg
Regierungspartei zu sein. Man muss seinen Freunden und in die „Erneuerung der Partei“ begründen, dann wird
Kollegen jeden Tag erklären, warum da in Berlin Mautge- deutlich, dass sich diese Erneuerung in einem Satz zu-
bühren zugestimmt wird, irgendwelche Panzerdeals wie- sammenfassen lässt: „Weg mit der Agenda 2010, Schluss
der durchgewinkt oder Steuern nicht gesenkt werden. mit Hartz IV!“
Eine Woche nach meinem Aufnahmeantrag rief mich Richtig ist: Die Reform des Arbeitsmarktes und des So-
eine Genossin aus der örtlichen Parteileitung an. Sie wollte zialsystems wurde 2003 handstreichartig, ohne Wählervo-
mal hören, warum ich eintrete, und mal abklopfen, ob tum, ohne Mitgliederentscheid, durchgezogen, weil sie
ich so ein Trittbrettfahrer der Demokratie bin, mal so auf- nur so durchzusetzen war. Sie trieb mehr als 200 000 Mit-
springen, abstimmen, und dann wieder abspringen. Ich glieder aus der Partei, sie ließ bei den folgenden Wahlen
konnte sie beruhigen, als Ex-Redakteur des SPIEGEL im die Zahl der Wähler schmelzen. Sie kostete Vertrauen bei
Ruhestand, erklärte ich ihr, fühle ich mich nun frei, in den einstigen Stammwählern. Sie senkte die Arbeitslo-
einer Partei mitzumischen. Aus einem Interview mit Ber- senzahlen. Sie senkte die Reallöhne. Sie sanierte die Bun-
nie Sanders hatte ich mir den schönen Satz herausgepickt: desrepublik.
Demokratie sei nicht wie Football. „Demokratie ist kein Das „Agenda-Schisma“, so fordern die Jusos in ihrem
Zuschauersport.“ Papier, müsse beseitigt werden durch einen „radikalen
Die Genossin erzählte mir, dass unter den neuen Mit- Bruch mit der programmatischen Grundausrichtung der
gliedern zwei Drittel in meinem Alter seien und ein Drittel letzten 20 Jahre“. Auch auf meiner ersten Parteiversamm-
im Juso-Alter. 54 Prozent der SPD-Mitglieder sind über 60 lung – in Hamburg heißen die Ortsvereine „Distrikt“ –
Jahre alt, 7,5 Prozent unter 31. Meine Leitungsgenossin am Dienstag ging es genau darum: sich abzuwenden vom
hielt den hohen Anteil Älterer unter den neuen Mitgliedern Neoliberalismus der Schröder-Müntefering-Ära.
für eine gute Nachricht, daraus schloss ich, dass sie wohl Die deutsche Sozialdemokratie, solange ich sie von au-
für den Koalitionseintritt ist. Sie sei auch im Paritätischen ßen betrachtete, schwankte zwischen Keynesianismus und
Wohlfahrtsverband aktiv, der Sozialhilfevereinigung, die Neoliberalismus. In den goldenen späten Sechzigern und
war mir in den letzten Tagen aufgefallen durch heftige Kri- frühen Siebzigern, in der Hoch-Zeit von „Globalsteue-
tik an den Verhandlungsergebnissen in Sozialfragen – das rung“ und „Konzertierter Aktion“, als Willy Brandt, Karl
ist der Spagat, dem man als Parteimitglied ausgesetzt ist. Schiller und Helmut Schmidt die SPD glauben machten,
auch im Kapitalismus könne der Staat wie in einer Plan- Täglich bekomme ich nun Mails, vom SPD-Parteivor-
wirtschaft die Wirtschaftsentwicklung wie von Zauber- stand aus Berlin, vom Verhandlungsteam, vom Generalse-
hand zu Wachstum führen und vor Krisen bewahren, ver- kretär, von der SPD Hamburg, vom Kreis Hamburg-Nord,
trauten Sozialdemokraten dem Keynesianismus. Üppige vom Administrator, von der SPD-Mitglieder-Betreuung,
Staatsausgaben seien das perfekte Mittel, wenn die Märkte vom Distrikt. Die SPD möchte mich rundum versorgen,
verrücktspielten. vor allem mit Informationen über die Erfolge, die der
Als Mitte der Siebziger gleichzeitig Staatsverschuldung CDU und der CSU abgerungen wurden; und mit Details
und Arbeitslosigkeit stark zunahmen, verlor die Sozial- darüber, in welcher Facebook-Gruppe und welchem Dis-
demokratie den Spielraum für Sozialpolitik, verlor ihre trikt ich mich einschalten kann. Im Hagel der Informatio-
Theorie und die Orientierung. Der Neoliberalismus er- nen lande ich dann prompt im falschen Distrikt, lerne
oberte von Margaret Thatchers Großbritannien aus also demnächst noch mal auf einem ganz anderen Mit-
Europa. Der Staat sollte den Marktkräften keine Fesseln gliederabend neue Genossen kennen (freue mich darauf).
anlegen, der Freihandel werde Wohlstand für viele brin- Ein Parteibuch kann ich noch nicht bekommen, sie sind
gen, vom ungebremsten Streben des Einzelnen nach Wohl- vergriffen, 24 339 neue Mitglieder in fünf Wochen sind zu
stand könne die Gesellschaft mehr profitieren als von der viel für eine Partei, die sich daran gewöhnt hatte, immer
Allgegenwart staatlicher Fürsorge. kleiner zu werden.
Der „Dritte Weg“ von Tony Blair und Gerhard Schröder „Die Abstimmungsunterlagen für das Mitgliedervotum
war die sozialdemokratische Antwort auf den Neolibera- werden in den nächsten Tagen verschickt“, heißt es in der
lismus; die SPD verpasste ihm eine wortgewaltige Hülle letzten Mail. „Ausländer dürfen über deutsche Regierung
und eine Agenda, die Steuersenkungen und Niedriglohn abstimmen“, titelt die „Bild“ alarmierend und treibt so
sozial begründeten. die Einwände gegen die Mitgliederbefragung auf ein eher
Wenn Kevin und die Jusos gegen die GroKo rebellieren, karnevalistisches Niveau. Wie eine Partei die innerpar-
dann geht es ihnen um mehr als um die Angst, in der teiliche Meinungsbildung betreibt, durch einen Parteitag
Umarmung von Angela Merkel zur Splitterpartei zu (wie die CDU) oder die Mitgliederbefragung, ist das eine;
schrumpfen. Es geht um den alten Streit der Linken über wie gewählte Abgeordnete eine Regierung bestimmen, das
Reform und Rebellion oder, wie Martin Schulz sagt: „Was andere.
ist wichtiger, die Leuchtkraft unserer Resolutionen oder Bin ich jetzt schon zu sehr SPD-Mitglied, wenn ich die
die Verbesserung der Lebensbelange der Menschen?“ Mitgliederbefragung als beispielhafte Aktion sehe, um
Die Kevins der SPD, und das merke ich schnell in mei- mehr Demokratie zu wagen? Als Chance, die zur Simu-
nem neuen Distrikt, sind nicht nur bei den Jusos. Vor den lation von Demokratie erstarrte Parteienroutine auf-
Sondierungen hat sich dieser Distrikt mit Mehrheit gegen zubrechen?
Sondierungen mit der CDU ausgesprochen. Die So- Und bin ich bereits auf dem Weg zum Parteitakti-
zialdemokraten, die an diesem Abend über die ker, wenn ich mir ausmale, dass die SPD nach
Mitgliederbefragung debattieren, beantworten
die Koalitionsfrage unterschiedlich, aber sie 463 723
SPD–Mitglieder ins-
zwei Jahren Koalition im Stil der CSU polternd
in Opposition zur Regierungsarbeit geht, um
sind sich einig in der Sehnsucht nach einer größer aus der Großen Koalition herauszu-
SPD, die man mit Fortschritt identifiziert, mit gesamt stimmberechtigt kommen, als sie hineingegangen ist?
Gerechtigkeit, mit Vertrauen und nicht mit Für die Zustimmung zur Großen Koalition
seit Jahresbeginn sprechen aus meiner Sicht fünf Argumente:
der Agenda 2010. Allerdings ist ihr Vertrauen
in die eigene Parteiführung geringer als das
Vertrauen so mancher SPD-Wähler, es hat ge-
24 339
Neueintritte
einige der Reformen und Vorhaben, die im
Koalitionsvertrag stehen; die Chance für die So-
litten in den Jahren ihres ergebnislosen Kampfes zialdemokraten, in den sechs Ministerien neue
um eine Korrektur der Parteilinie. politische Entwicklungen anzustoßen; eine Regierung
Diese Mitglieder hier, im Schnitt deutlich jünger als der zu haben, der man zutraut, auf viele Herausforderungen
Parteidurchschnitt, debattieren programmatisch jenseits und Krisen gute Lösungen zu finden, die durch keinen
des Koalitionsvertrags, sie sorgt vor allem die Digitalisie- Koalitionsvertrag der Welt vorgedacht werden können.
rung und deren Folgen für die Gesellschaft. Könnte sich Vor allem aber: Die Alternative zur Großen Koalition
die SPD als Partei der Digitalisierung so positionieren, wäre im Moment eine Geisterbahnfahrt zum Wohle aller
wie sie mal die Partei der kleinen Leute war, die Partei Populisten. Schließlich: Erneuern kann sich die SPD besser
für mehr Demokratie und mehr Bildung oder die Partei aus einer Position der Stärke als der Schwäche.
der Ostpolitik? Also ein schmetterndes Ja bei der Mitgliederbefragung?
Das Problem: Für die meisten Deutschen hat Digitali- Da melden sich die Zweifel eines neuen Parteidemokraten,
sierung den Klang von: Ich – weiß – nicht – genau – was da habe ich den Salat: Kann man für eine Regierung stim-
– das – ist – aber – es – ist – schrecklich. Wer ein wenig men, der auch jener Mann angehört, der im Brustton ver-
mehr weiß, denkt sich: Oh, das killt Arbeitsplätze, spaltet kündet hat, nie einer Merkel-Regierung angehören zu wol-
die Gesellschaft, vereinzelt Menschen, erlaubt ihre Über- len? Der in Merkel eine „Machtpolitikerin“ sieht, „von
wachung. der man Fairness nicht erwarten kann“? Deren Politikstil
Im Koalitionsvertrag, der mir wie allen Mitgliedern am „ein Anschlag auf die Demokratie“ sei?
Dienstag um 15.35 Uhr vom SPD-Generalsekretär Lars Sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen nicht wichtiger
Klingbeil per Mail zugeschickt wurde, beschäftigen sich als Spiegelstriche in einem Koalitionsvertrag? Einerseits.
13 Seiten mit der Digitalisierung, als Unterpunkt in einem Andererseits: Ist die SPD nicht wichtiger als Martin
der 14 Kapitel. Nach flüchtiger Lektüre muss man sagen: Schulz?
Es überwiegt die Betonung der Chancen. Wenn die Vor- Bis Ende Februar habe ich noch Zeit, dann muss sich
haben und Versprechungen konsequenter umgesetzt wer- den Brief an den Parteivorstand abschicken.
den als die Vorhaben im Koalitionsvertrag von 2013, wird Mail: Cordt.Schnibben@spiegel.de
Deutschland tatsächlich ein (kleines) Digitalland. Twitter: @schnibben
E
uropa, so lautet die Antwort, wenn Stabilitätspakt im Europakapitel Erwäh- alitionsvertrag finden sich dazu ein paar
Spitzenpolitiker von Union und SPD nung fand. wohlwollende, aber vieldeutige Sätze, zu-
nach dem wichtigsten Thema ihres Einen Vorgeschmack auf die bevorste- gleich machen die Unionsvertreter der neu-
neuen Koalitionsvertrags gefragt werden. henden Debatten bekam die Kanzlerin en Regierung kein Hehl aus ihren Vorbe-
Viel Geld soll es geben für länderübergrei- zuletzt, als sie sich in der Unionsfraktion halten. Noch habe ihm niemand erklären
fende Investitionen sowie gemeinsame For- kritische Fragen zur künftigen parlamenta- können, für welchen Fall so ein Budget
schungs- und Bildungsprogramme, so steht rischen Kontrolle des Eurorettungsschirms überhaupt nötig sei, sagte Merkels Vertrau-
es auf den Seiten sechs bis zehn ihres ESM gefallen lassen musste. ter Peter Altmaier zuletzt in Brüssel. Etli-
Bündnisvertrags – und gute Worte oben- Erschwerend kommt hinzu, dass Merkel che EU-Staaten sehen das ähnlich.
drein. Die Staatengemeinschaft, heißt es, bei den künftigen Auseinandersetzungen Bleiben die vollmundigen Ankündigun-
sei „der Garant für eine Zukunft in Frie- auf einen wichtigen Verbündeten verzich- gen in der Arbeits- und Sozialpolitik. So
den, Sicherheit und Wohlstand“. ten muss. Bislang galt Wolfgang Schäuble will die Koalition die EU beim Kampf ge-
Kein Wunder, dass der neue Sound aus vielen Skeptikern in der Union als Ge- gen die Jugendarbeitslosigkeit unterstützen;
Berlin in Brüssel bestens ankommt. Kom- währsmann dafür, dass die Gelder deut- dumm nur, dass der Europäische Rech-
missionschef Jean-Claude Juncker ließ so- scher Steuerzahler in Brüssel nicht ver- nungshof zuletzt ausgerechnet die entspre-
gar streuen, er habe den Unterhändlern schleudert würden. Diese Autorität muss chenden Programme als weitgehend wir-
an der einen oder anderen Stelle mit Rat sich Scholz als künftiger Ressortchef erst kungslos rügte. Auch beim Sozialen könn-
und Tat beiseitegestanden. noch erarbeiten. Der Argwohn ist groß, so- ten sich die Versprechen als Luftnummern
Andernorts dagegen herrscht Skepsis. gar an der Spitze der Unionsfraktion: „Es entpuppen. Zwar stellen die Koalitionäre
In vielen europäischen Hauptstädten gibt ist ein Fehler, der SPD das Finanzministe- ein soziales Europa mit „gleichem Lohn
es wenig Bereitschaft, mehr Macht nach rium zu überlassen“, sagt Vizechef Georg für gleiche Arbeit“ in Aussicht, allerdings
Brüssel zu verlagern. Und im konservati- Nüßlein (CSU). „Gerade mit Blick auf die hat die EU auf diesem Gebiet bislang kaum
ven Flügel der Unionsfraktion stärkt Mer- Stabilitätskultur in Europa werden wir etwas zu sagen.
kels Niederlage bei der Ressortverteilung dem neuen Finanzminister genau auf die So wächst die Gefahr, dass sich die Gro-
den Widerstandsgeist. Finger schauen.“ ße Koalition in ideologischen Debatten
Keinesfalls, so heißt es dort, werde man Transferunion, Eurobonds – die Schlag- verirrt, anstatt rasch ein eigenes Konzept
den neuen SPD-Ministern Martin Schulz wörter aus den Tagen des Ringens um die für die notwendige Reform der Eurozone
(Außen) und Olaf Scholz (Finanzen) einen Rettungspakete könnten die Debatte schon vorzulegen. Eigentlich sollen bereits beim
allzu Brüssel-freundlichen Kurs durchge- bald wieder prägen, auch deshalb, weil mit Gipfel im Juni erste Entscheidungen fallen,
hen lassen. CSU-Landesgruppenchef Ale- AfD und FDP inzwischen knapp 25 Pro- ansonsten, so die Sorge in Brüssel, könnte
xander Dobrindt zum Beispiel sorgte in zent der Abgeordneten im Bundestag Mer- es knapp werden vor der nächsten Europa-
letzter Minute schon mal dafür, dass der kels Europapolitik in unterschiedlichen wahl. Peter Müller
Lkw-Maut
Pädo-Kriminalität 1969 hatte das Berliner Ju- sind nun enttäuscht, wie we- er die Untersuchung der Vor-
Betroffene von gendamt Straßenkinder in nig ihnen geholfen wurde. gänge mit einer parlamenta-
Senat enttäuscht die Obhut von Pädosexuellen
vermittelt, begleitet hatte
„Mich entsetzt, dass Frau
Scheeres scheinbar kein drän-
rischen Initiative vorantrei-
ben und „einen Sonderermitt-
Die FDP-Fraktion im Berli- dies der Psychologe Helmut gendes Interesse daran hat, ler installieren“. Die Senats-
ner Abgeordnetenhaus for- Kentler, der Pädophilie öf- die damaligen Vorgänge verwaltung betont, dass sie
dert weitere Aufklärung über fentlich verherrlichte. Betrof- lückenlos aufzuklären“, sagt die Aufklärung vorantreibe
das sogenannte Kentler-Expe- fene wandten sich vergange- der familienpolitische Spre- und den beiden Betroffenen
riment durch die Berliner nes Jahr an die Senatorin für cher der FDP-Fraktion, Paul jemanden an die Seite gestellt
Senatsverwaltung und mehr Bildung, Jugend und Familie, Fresdorf. Sollte die Senatsver- habe, der ihnen bei Behör-
Hilfe für die Betroffenen. Ab Sandra Scheeres (SPD), und waltung nicht handeln, will denkontakten helfen soll. akm
24 DER SPIEGEL 7 / 2018 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Psychologie standfähigkeit gegen belas-
Harte Polizisten tende Situationen wachsen
lasse. Stattdessen scheine das
Polizisten sind widerstands- Image des Polizeiberufs von
fähiger gegen Stress und ha- vornherein robuste Bewerber
ben mehr Selbstvertrauen anzuziehen. Anspruchsvoller
als der Bevölkerungsdurch- Sport bessere die Werte,
schnitt. Zu diesem Ergebnis starrer Schichtdienst senke
kommen zwei empirische sie, so die Studie. Dagegen
Studien der Deutschen Hoch- spiele keine Rolle, ob die
schule der Polizei in Münster, Person verheiratet sei, Kinder
bei der insgesamt fast 400 Be- habe, Frau oder Mann sei.
werber, angehende und erfah- Trotz der guten Ergebnisse
rene Polizisten befragt wur- beklagen die Autoren der
Berg hätte sich „ein klares mium erhofft sich davon Ein-
Bekenntnis zum transparen- blicke in Amris Umfeld. Der
ten Staat gewünscht, auch um Präsident des Abgeordneten-
verlorenes Vertrauen in staat- hauses hat es allerdings abge-
liche Stellen wieder aufzu- lehnt, den Tunesier im Parla-
bauen“. SPD-Unterhändler ment zu befragen. Der Aus-
Ulrich Kelber macht die CSU schuss wird ihn nun wohl im
verantwortlich. Deren Wider- Gefängnis besuchen. Das
stand sei „erstaunlich“ gewe- Bundeskriminalamt hat ihn
sen. Am 22. Februar kann er bereits vernommen. Amri
beweisen, dass er für ein Re- habe eine „radikale Sichtwei-
gister ist. Dann wollen Linke se“ gehabt und gewusst,
und Grüne einen entspre- dass er unter Terrorismusver-
chenden Gesetzentwurf ins dacht stehe, berichtete D.
Parlament einbringen. sve, rom Fahrscheinkontrolle den Beamten. wow
Europawahl aus, dass das den meisten AfD stoppen“. Der AfD-Politiker
Parlament gegen Staats- und Regierungschefs „Die Merkelnutte aus Bayern war sich seines
Macron klar sei. Der EU-Abgeordne-
te und Verfassungsexperte lässt jeden rein“ unflätigen Tons bewusst:
„Wer sich über die Sprach-
Das Europäische Parlament Jo Leinen (SPD) appelliert an Eine bislang unveröffentlichte wahl in diesem Mailing auf-
will, dass bei der nächsten den französischen Präsiden- E-Mail vom Januar 2016 regt: einfach abmelden.“ Es
Europawahl 2019 erneut Spit- ten: „Da Macron ein demo- bringt den AfD-Politiker handle sich um die „einzige
zenkandidaten für das Amt kratisches und souveränes Peter Boehringer in Erklä- angemessene Sprache ... ge-
des Kommissionspräsidenten Europa fordert, setze ich da- rungsnot. Der neue Vorsitzen- gen Merkel“. „Die Alternati-
antreten. Es stellt sich damit rauf, dass er die Aufstellung de des Haushaltsaus- ve zum Nicht-Wider-
gegen Frankreichs Präsiden- von Spitzenkandidaten ak- schusses im Bundestag stand gegen diese
D
er Brief kam einen Tag vor Heilig- bisher. Das deutsche Mietrecht gibt das Doch auch für Normalverdiener werden
abend. Sein Inhalt traf Marco Sino- bislang her: Modernisierungskosten kön- die Mieten in deutschen Ballungszentren
radzki „wie ein Schlag ins Gesicht“, nen bis zu elf Prozent auf die Jahresmiete zunehmend unerschwinglich. In Berlin
erzählt der 41-jährige Berliner. Denn unter umgelegt werden, die Steigerungen sind müssen Wohnungssuchende mittlerweile
dem harmlos klingenden Betreff „Vorbe- oft drastisch – in Sinoradzkis Fall sogar so für eine 60- bis 80-Quadratmeter-Woh-
reitung von Modernisierungs- und Instand- drastisch, dass er wohl ausziehen muss, nung im Schnitt 76 Prozent mehr bezahlen
setzungsmaßnahmen“ kündigte die Haus- wenn es wirklich so weit kommt. als 2008, in München werden inzwischen
verwaltung ihm und seinen Nachbarn mo- Der Berliner ist wegen schwerer Krank- schon 15 Euro Nettokaltmiete pro Qua-
natelange Bauarbeiten an, für die eine heiten Frührentner und lebt von der dratmeter bei Neuvermietung fällig (siehe
„vollständige Räumung“ der Wohnung not- Grundsicherung. Seine Wohnung zahlt das Grafik).
wendig sei. Sozialamt, „1200 Euro werden die dort Sozialverbände warnen, dass die stei-
Außerdem, so erfuhren die Bewohner, aber niemals akzeptieren“, befürchtet er. genden Wohnkosten ein Armutsrisiko dar-
werde sich die Miete nach der General- Vielen seiner Nachbarn geht es kaum stellen. Über eine Million Haushalte in den
überholung erhöhen. Eine 75-Quadratme- besser. Der etwas triste, graue Gebäude- Großstädten haben schon jetzt nach Ab-
ter-Wohnung wie die von Sinoradzki wird komplex im Berliner Stadtzentrum wurde zug der Miete weniger Geld zum Leben,
dann voraussichtlich warm rund 1200 Euro in den Siebzigerjahren als Sozialbau er- als wenn sie den Hartz-IV-Regelsatz bekä-
pro Monat kosten, über 440 Euro mehr als richtet, hier hat niemand viel Geld. men. Die Obdachlosigkeit steigt.
28 DER SPIEGEL 7 / 2018
Deutschland
„Das Thema Wohnen hat die Spreng- Als zweite Sonderregel gilt: Wenn die ist er wieder zu Hause – wenn alles gut
kraft, eine der großen sozialen Fragen der Miete nach den Maßstäben der Mietpreis- geht.
heutigen Zeit zu werden“, fasst es Michael bremse schon beim Vormieter zu hoch war, Brandt hat eine gut bezahlte Stelle in
Müller (SPD), der Regierende Bürgermeis- darf sie auch in Zukunft weiter kassiert der Festnetzplanung bei einem großen Te-
ter von Berlin, zusammen. werden. lekommunikationsunternehmen, eine be-
Umso verwunderlicher ist, dass das The- In dem neuen Koalitionsvertrag haben zahlbare Wohnung in der bayerischen Lan-
ma in den am Mittwoch abgeschlossenen Müller und seine Genossen den Unions- deshauptstadt findet er für seine Freundin
Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, vertretern nun abgerungen, dass der Woh- und sich aber trotzdem nicht.
SPD und CSU keine zentrale Rolle spielte. nungseigentümer künftig diese Vormiete Man müsse sich das mal vorstellen, sagt
SPD-Chef Martin Schulz und die Frak- tatsächlich auch offenlegen soll. Das ist er: Eine Bahncard 100 für fast 4300 Euro
tionsvorsitzende Andrea Nahles stritten nämlich bislang nicht der Fall. zuzüglich zu seinen Mietkosten in Nürn-
lieber lautstark über Themen wie die sach- Für Müller ist das ein Verhandlungser- berg komme billiger als eine Wohnung in
grundlose Befristung von Arbeitsverträgen. folg, für Mieterverbände eine Minimalre- München, „da kann doch etwas nicht
Die Frage des Mietwohnungsmarkts form. „Ich habe das Gefühl, dass die Gro- stimmen“.
blieb den Fachpolitikern überlassen, zu de- Ko noch keinen Eindruck hat, was wirklich Im Vergleich zu dem Rentnerehepaar
nen auch SPD-Mann Müller gehörte. Das in den Ballungszentren los ist“, sagt etwa Rosalie und Werner Maeder, 77 und 80,
Ergebnis der Verhandlungen feiert er nun Reiner Wild, der seit mehr als 35 Jahren hat es Brandt aber noch gut getroffen,
stoisch als „tragfähigen Kompromiss“. beim Berliner Mieterverein arbeitet und denn die Maeders stehen demnächst auf
Allerdings wird das, was da steht, die Zeiten wie diese noch nie erlebt hat. der Straße. Mitte Februar müssen sie ihre
Situation kaum entschärfen. Denn nicht nur Gering-, sondern auch Wohnung verlassen: Der Eigentümer hat
Zu den besseren Resultaten der Ver- Normalverdiener haben zunehmend Pro- Eigenbedarf angemeldet.
handlungen gehört, dass die Modernisie- bleme, die steigenden Mieten zu stemmen. Eine neue Bleibe haben die Rentner, die
rungsumlage – unter der der Berliner Früh- Wenn sie überhaupt eine Wohnung finden. beide gehbehindert sind, bis heute nicht
rentner Sinoradzki und seine Nachbarn so Bei Besichtigungsterminen in Großstädten gefunden. Dabei haben sie wegen ihrer ge-
leiden – reformiert werden soll: Künftig ist es normal, dass Hunderte Interessenten ringen Einkünfte sogar einen Berechti-
sollen nur noch acht Prozent der Kosten kommen. gungsschein für eine Sozialwohnung be-
pro Jahr auf die Mieter umgelegt werden Johannes Brandt, 25, steht deshalb kommen. „Der hat uns aber noch nichts
dürfen – und höchstens drei Euro pro Qua- gerade jeden Tag um halb fünf Uhr mor- gebracht“, sagt Rosalie Maeder verzweifelt.
dratmeter binnen sechs Jahren. Für eine gens auf, um zwei Stunden mit dem ICE Allein in Stuttgart stehen rund 4200
Wohnung in der Größe, wie sie Sinoradzki von Nürnberg zu seiner Arbeit nach Haushalte auf einer Warteliste für die öf-
hat, dürfte die Miete demnach nur um 225 München zu fahren. Abends um 20.30 Uhr fentlich geförderten Wohnungen, 2011 wa-
und nicht um 440 Euro steigen. ren es noch etwa 2800.
Doch auch Mietsteigerungen von drei Mietpreissteigerung In anderen Großstädten sieht es nicht
Euro pro Quadratmeter sind happig. viel besser aus: Die Zahl der verfügbaren
Wenn aber ein Problem so unterschied- bei Neuvermietung, Veränderung 2017 Sozialwohnungen ist in den vergangenen
lich angegangen wird wie in diesem Be- gegenüber 2008, in Prozent Euro je Jahren drastisch gesunken, obwohl die
reich, sind mehr als lauwarme Kompro- Quadratmeter* Zahl der Anspruchsberechtigten steigt.
misse eben nicht drin. Während die SPD 2017 Im neuen Koalitionsvertrag haben SPD
vor allem auf strengere Regeln für den und Union nun vereinbart, bis 2021 zwei
wild gewordenen Mietwohnungsmarkt Berlin +76 9,07 Milliarden Euro für den sozialen Woh-
setzt, gilt die Union vielen Sozialdemo- nungsbau zuzuschießen.
Wolfsburg +63 7,95
kraten als verlängerter Arm der Eigentü- Ob diese Gelder ihre Wirkung erzielen,
merlobby, weil sie von Verboten relativ München +43 15,06 ist aber längst nicht gesichert. Denn bei
wenig hält. dem Thema offenbarte sich in der Vergan-
Schon in der vergangenen Legislaturpe- Stuttgart +41 11,39 genheit eines der zentralen Probleme be-
riode führte das zu allenfalls halbherzigen Nürnberg +38 8,78 sonders deutlich, die eine Lösung der deut-
Versuchen, dem Problem beizukommen. schen Wohnmisere so schwierig machen:
Eindrücklichstes Beispiel ist die Mietpreis- Leipzig +35 6,18 die mangelnde Zusammenarbeit von Bund,
bremse, die die Große Koalition auf Drän- Bremen +35 7,60 Ländern und Kommunen.
gen der SPD 2015 in Kraft setzte. Seit der Föderalismusreform 2006 ist der
Das Prinzip ist simpel: Bei Neuvermie- Frankfurt a. M. +35 12,23 soziale Wohnungsbau allein Sache der Län-
tungen soll der Preis einer Wohnung die der. Seither zahlt der Bund regelmäßig
Dresden +34 6,85
ortsübliche Miete nicht um mehr als zehn jährliche Zuschüsse, die regulär 2019 aus-
Prozent übersteigen, Maßstab ist der ört- Dortmund +33 6,48 laufen. Diese Überbrückungsgelder flossen
liche Mietspiegel. allerdings teilweise in ganz andere Berei-
Man kann über solche Instrumente treff- Münster +31 9,20 che. Sachsen und das Saarland etwa bau-
lich streiten, etwa mit dem Argument, dass Hamburg +30 10,25 ten in manchen Jahren keine einzige neue
sie den dringend nötigen Neubau bremsen, Sozialwohnung, obwohl sie Millionen vom
weil sie Investoren abschrecken. Wenig Köln +30 10,00 Bund erhielten.
sinnvoll ist es allerdings, von vornherein Bonn +29 8,87 Als die letzte Große Koalition die Mittel
so viele Ausnahmeregeln in das Gesetz hi- für den Bereich 2016 außerdem deutlich
neinzuschreiben, dass es gar nicht wirken Düsseldorf +28 9,61 aufstockte, reagierte Bayern mit einer Hal-
kann. Genau dafür sorgte die Union. bierung der eigenen Wohnraumförderung.
Essen +17 6,74
So gilt die Mietpreisbremse beispielswei- Künftige Bundeszuschüsse sollen des-
se nicht für Wohnungen, die umfassend * Nettokaltmiete, inserierte Angebotspreise für Wohnungen halb nur zweckgebunden vergeben wer-
modernisiert oder nach dem Oktober 2014 (60 bis 80 Quadratmeter) den. Dafür ist allerdings womöglich eine
Quelle: IDN Immodaten GmbH, empirica-systeme.de
zum ersten Mal vermietet wurden. Grundgesetzänderung nötig – für die sich
DER SPIEGEL 7 / 2018 29
Deutschland
eine künftige Regierung eine Zweidrittel- derem Bundesminister für „Raumordnung, burger Programm der SPD wird das The-
mehrheit im Bundestag besorgen müsste Bauwesen und Städtebau“. Heute fordert ma weitgehend abgehakt mit dem Satz:
und noch dazu die Zustimmung der Län- der SPD-Politiker eine Neuorientierung „Wohnraum darf nicht zum Spekulations-
der im Bundesrat. Streit scheint da pro- der Politik. „Eine künftige Bundesregie- objekt werden.“
grammiert. rung muss sich Gedanken über eine grund- „Warum schweigen Gesellschaft und
Denn auch der soziale Wohnungsbau ist legende Neuordnung des Bodenrechts ma- Politik bisher, obwohl diese unglaublichen
vor allem eine Herzensangelegenheit der chen“, sagt er. Denn Grund und Boden sei leistungslosen Gewinne der Bodenwertstei-
SPD und durchaus umstritten. Studien zei- keine „je nach Bedarf produzierbare Ware, gerung zum größten Teil den ohnehin Hoch-
gen beispielsweise, dass die Fehlbelegungs- sondern eine Grundvoraussetzung mensch- vermögenden zuwachsen?“, fragt Vogel.
rate solcher Wohnungen hoch ist – weil licher Existenz“. Deshalb müsse der Staat Der Berliner Bürgermeister Müller ver-
das Einkommen vieler Mieter nach dem die Interessen der Allgemeinheit „in viel weist darauf, dass im neuen Koalitionsver-
Einzug steigt, aber nie überprüft wird. stärkerem Maß zur Geltung bringen als trag immerhin eine Art Spekulationsteuer
„Solche Instrumente schaffen keinen bei anderen Gütern“. vorgesehen ist: Über eine Reform der
Quadratmeter neuen Wohnraum“, sagt der Der neue Koalitionsvertrag unternehme Grundsteuern soll den Kommunen die
Augsburger Oberbürgermeister und CSU- „Detailschritte, die ich durchaus zu würdi- Möglichkeit gegeben werden, unbebautes
Vizechef Kurt Gribl, der den Koalitions- gen weiß“, sagt Vogel: „Aber er beschäf- Land höher zu besteuern als bebautes.
vertrag mit SPD-Mann Müller und weite- tigt sich mit Symptomen, nicht mit der Ur- Doch auch Müller glaubt, dass das nur
ren Gesandten ausgehandelt hat. sache des Problems.“ ein Anfang sein kann. „Ich hoffe, dass auf
Die Union hat deshalb in das Papier Seine Argumente sind nicht neu. In den Grundlage des Koalitionsvertrags noch viel
auch Steueranreize für den Mietwohnungs- Siebzigerjahren war die Forderung nach mehr möglich ist“, sagt er. Allerdings liegt
bau und ein neues Baukindergeld hinein- einer Bodenrechtsreform SPD-Parteitags- es in der Natur solcher Verträge, dass sie
verhandelt: 1200 Euro soll es demnach pro beschluss, weil die Bodenpreise schon da- eher das Maximum als das Minimum an
Jahr und Kind beim Bau eines Eigenheims mals beängstigend stiegen. Die Sozialde- Errungenschaften in der kommenden Le-
geben – zehn Jahre lang. mokraten forderten deshalb Bau- und Mo- gislaturperiode skizzieren.
Doch solch üppige Subven- Die Hoffnung von SPD-
tionen ergeben im Moment Urgestein Vogel liegt auf
wenig Sinn. einer Enquetekommission
Denn es fehlt weder an wil- für das Thema, die laut
ligen Investoren noch an Koalitionsvertrag eingesetzt
Häuslebauern. Es fehlt – da- wird – einer Arbeitsgruppe
ran zweifelt mittlerweile ei- also, die grundsätzliche Lö-
gentlich kaum einer mehr, sungsvorschläge erarbeiten
der sich mit dem Thema be- soll.
fasst – in erster Linie an Bau- Höchste Zeit wäre es,
land. Die steigenden Grund- denn viele Mieter fühlen sich
stückspreise sind der zentrale im Stich gelassen. „Was ist
Grund, warum die Mieten das für eine Politik in diesem
und das Bauen derart teuer Lande, die solche Zustände
geworden sind. duldet?“, sagt etwa ein 80-
CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL
CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL
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Unrühmliche
ner Areal verkaufen ließ. Städtische Woh- auch, wenn die Städte Bundesareale für
nungsbaugesellschaften boten bis zu 18 Sozialwohnungsbau erwerben wollen.
Millionen Euro, sie wollten preiswerte Praktisch aber hat sich an der profit-
Rolle
Wohnungen errichten. Die dem Ministeri- orientierten Politik des Bundes wenig ge-
um unterstellte Bundesanstalt für Immo- ändert. Erst im Sommer 2017 erklärte das
bilienaufgaben (BImA) jedoch gab für 36 Bundesfinanzministerium auf Anfrage der
Millionen Euro einem Privatinvestor den Linken-Bundestagsfraktion, dass seit Ende
Immobilien II Der Bund verkauft Zuschlag. Im linken Kreuzberg stellten sich 2015 gerade mal acht Grundstücke für den
Bürger schon auf weitere Luxusbauten ein. Sozialwohnungsbau „verbilligt“ an Kommu-
seine Grundstücke bislang Kurz nach Vertragsschluss stimmte der nen verkauft wurden. 1,4 Milliarden Euro
meist zum Höchstpreis – Haushaltsausschuss des Bundestags dem hat die BImA insgesamt in den vergange-
Geschäft zu. Schließlich hatte die BImA nen vier Jahren mit Immobiliengeschäften
statt sie den Städten verbilligt nur ihren gesetzlichen Auftrag erfüllt, mög- erzielt. „Mit seiner Liegenschaftspolitik
zu überlassen. lichst viel Kapital aus der Immobilie für zum Höchstgebot spielt der Bund eine un-
den Bund herauszuschlagen. rühmliche Rolle als Preistreiber bei Grund-
E
inst residierte die preußische Armee Aber dann blockierte der Bundesrat den stücken und Mieten“, sagt Caren Lay, woh-
am heutigen Berliner Mehringdamm, Deal. Die Regierung war alarmiert. Am nungspolitische Sprecherin der Linken.
mit ihrem 1. Garde-Dragoner-Regi- 8. September 2015 bat Finanzstaatssekretär Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz-
ment „Königin Viktoria“. Die Kaserne Michael Meister den hessischen Minister- Ahnen sagt, die BImA solle nicht verges-
stand mitten in Kreuzberg, es gab Stallun- präsidenten Volker Bouffier (CDU) um sen, „dass sie eine gesellschaftliche Funk-
gen und Exerzierplätze, Mannschaftsquar- Hilfe. Der Grundstücksverkauf trage „in tion hat“ und kein „börsennotiertes Spe-
tiere, Wohnungen für die Offiziere. erheblichem Umfang zur Sicherung der kulationsunternehmen“ sei. Es sei nicht
Heute steht auf dem Kasernenhof ein Einnahmen der öffentlichen Haushalte von „ihr Job, auf Teufel komm raus das Ver-
Biosupermarkt, aus den Ställen ertönt kein Bund und Ländern“ bei, schrieb Meister mögen des Bundes zu versilbern“. Die
Gewieher, sondern Hip-Hop und House dem damaligen Bundesratsvorsitzenden. BImA sei nicht zuständig „für Profit, son-
vom Musikklub „Gretchen“. Große Teile Die Länderkammer lehnte dennoch ab. dern öffentlichen Mehrwert“. Der gesetz-
des Geländes liegen brach. Zum ersten Mal stoppte sie damit den liche Auftrag der BImA, sagt hingegen
Dabei soll es nicht bleiben. Der Wohn- Verkauf einer Bundesimmobilie zum Gehb, sei „eine Veräußerung zum vollem
raum in Berlin wird knapp, Immobilienprei- Höchstpreis, wie man aus Senatskreisen Wert, also zum Marktpreis“. Andere Zwe-
se steigen, und es gibt nicht mehr viele bun- hört. Für BImA-Chef Jürgen Gehb war cke als die „wirtschaftliche Verwertung“
deseigene Grundstücke, auf denen Hunder- das ein Schock. Die Hauptstadt habe den sehe das Gesetz nicht vor.
te neue Apartments entstehen können. Bundesrat dazu „angestiftet“, ihr „das Um Investoren abzuschrecken, erklärte
Fast alle Parteien wollen wieder preis- Dragoner Areal für billiges Geld zum der Berliner Senat im Juli 2016 das Drago-
werten Wohnraum schaffen, und der Schaden des Bundes zuzuschustern“, sag- ner Areal zum Sanierungsgebiet. Damit
Bund soll dabei künftig kräftig mithelfen. te er kürzlich. wolle die Stadt, so die Begründung, „die
Union und SPD haben sich im Koalitions- Bis heute verwaltet die BImA für den sozialorientierte Wohnraumversorgung“
vertrag darauf verständigt, Ländern und Bund mehr als 37 000 Wohnungen und langfristig sichern. Die BImA sprach von
Kommunen bundeseigene Grundstücke zu 480 000 Hektar Grundstücksfläche. Für den Willkür und reichte im April 2017 Klage
„vergünstigten Konditionen“ abzugeben – Bundeshaushalt machte es einen großen beim Berliner Oberverwaltungsgericht ein.
„rechtssicher und im beschleunigten Ver- Unterschied, ob sie ihre Immobilien an Mittlerweile aber bemühen sich Berlin
fahren“. einen Meistbietenden verkauft oder ver- und der Bund um eine pragmatische
So weit die Theorie. Die Geschichte des billigt an Kommunen abgibt. Lösung: Berlin bekommt das begehrte
Dragoner Areals zeigt, wie der Bund aus Pro- Mit seinen Grundstücken könnte der Dragoner-Gelände im Tausch gegen pro-
fitsucht lange eine soziale Wohnungspolitik Staat die Wohnungsnot zumindest etwas minente Kulturimmobilien aus dem Lan-
torpediert hat. Bisher hat er Immobilien lindern. Bereits 2015, als bundesweit Un- desbesitz, darunter die Ausstellungshalle
meist zum Höchstpreis veräußert. Kommu- terkünfte für Flüchtlinge gesucht wurden, Martin-Gropius-Bau, das Haus der Kultu-
nen kamen in der Regel nur zum Zug, wenn wies die Bundesregierung ihre Immobilien- ren der Welt und das Jüdische Museum.
sie die geforderten Marktpreise zahlten. verwalter an, den Kommunen bevorzugt Sie sind zwar Millionen wert. In Wahr-
In Berlin begann das Drama 2014, als Grundstücke und Gebäude anzubieten. heit aber unverkäuflich.
das Bundesfinanzministerium das Drago- Ähnliche Privilegien gelten prinzipiell Andreas Wassermann
Plastikrosen in Zellophan
Afghanistan Sie nennen es „strategisches Patt“. Im 17. Jahr am Hindukusch
will der Westen nur noch eines: die Macht der Taliban eindämmen. Bundeswehr
und US-Streitkräfte operieren dabei in zwei Welten.
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urze Sicherheitsbelehrung. Wenn deswehr ohne eigenes Lagebild, weil sie wehr und den US-Streitkräften in Afgha-
es knallt, und es hat erst neulich auf ein Minimum zusammengeschrumpft nistan unterwegs ist, erlebt Soldaten, die
wieder geknallt, als die Taliban mit ist, das kaum noch vertretbar erscheint. in zwei Welten operieren, die unterschied-
ihren Raketen fast den Hubschrauber- Das Mandat ist auf 980 Soldaten be- licher kaum sein könnten.
landeplatz getroffen hätten, wenn es also schränkt und folgt damit einer ähnlichen
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knallt, dann sofort zum nächsten Bunker Logik wie die 1,39 Euro für E-10 an der er Oberst hat in Kunduz 113 Solda-
laufen und abwarten. Wobei Bunker ein Tankstelle. Bisher durfte es nicht vierstel- ten unter sich, 48 davon sind Deut-
großes Wort ist für die grauen Betonklötze, lig werden, das wäre politisch zu gefähr- sche. Sie sollen die 20. Division der
die überall im Lager herumstehen und aus- lich gewesen. Der Einsatz, der ohnehin afghanischen Armee bei den Operationen
sehen wie ein umgekipptes eckiges U. Im zu einer reinen Ausbildungsmission ge- gegen die Taliban beraten. Weil die Bun-
Innern zwei Bierbänke, ein paar Wasser- schrumpft ist, soll so klein und risikoarm deswehr schon 2013 offiziell aus Kunduz
flaschen und vor den offenen Seiten je- wie möglich bleiben. Die Wähler mögen abgezogen wurde, darf nun auf keinen Fall
weils ein kleiner Betonklotz als Splitter- ihn nicht. der Eindruck entstehen, die Deutschen sei-
schutz. Okay? Das reicht, um gegenüber der Nato en insgeheim wieder zurückgekehrt.
Der General nickt, seine Begleiter ni- Bündnistreue zu beweisen, und es reicht, Alle paar Wochen werden die Bundes-
cken, alles okay. Na dann kann es ja los- um nach den USA und Italien immer noch wehrsoldaten also wieder nach Masar ver-
gehen. Der Oberst, der aus Sicherheits- der drittgrößte Truppensteller in Afghanis- legt, um die politische Fiktion aufrechtzu-
gründen anonym bleiben muss, baut sich tan zu sein und damit Anspruch auf die erhalten, dass es sich bei dem Einsatz um
vor der großen Wandkarte auf, seine Hand Führung eines der wichtigen Regional- eine „mobile Beratung“ handelt. Für die
fährt über die Plastikfolie mit den militäri- kommandos erheben zu können. Afghanen wechseln damit ständig die An-
schen Symbolen, es ist ein wirres Bild. Die Von Demokratisierung, Menschenrech- sprechpartner, das macht es schwer, ein
Lage in der nordafghanischen Provinz ten, Rechtsstaat oder Mädchenschulen ist Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Kunduz scheint unübersichtlich zu sein. längst keine Rede mehr. Jetzt wären die Camp Pamir ist ein riesiges afghanisches
Jörg Vollmer kennt das Terrain, der Ge- Interventionsstaaten schon froh, wenn das Militärlager, das mit Mauern, Stacheldraht
neral hat zwei Einsätze als Kommandeur Land nicht kippen würde. Das wäre der und Wachtürmen gegen Angriffe geschützt
des Regionalkommandos Nord hinter sich, Albtraum: ein gescheiterter Staat und Mil- ist. Als die beiden russischen Hubschrau-
inzwischen ist er Inspekteur des Heeres lionen Flüchtlinge. „Insgesamt konnte und ber mit Vollmer und seinen Begleitern lan-
und damit Chef von 60 000 Soldaten. Voll- wird das strategische Patt in Afghanistan den, werden sie von schwer bewaffneten
mer ist am Morgen mit seinem schwer be- vermutlich gehalten“, heißt es in einem deutschen Soldaten empfangen. Militär-
waffneten Tross in zwei zivilen russischen vertraulichen Lagebericht der Bundes- fahrzeuge blockieren die Straßen, obwohl
Miethubschraubern die 90 Minuten von wehr, „maßgeblich dafür bleibt aber die sich der Landeplatz und das deutsche
Masar-i-Scharif nach Kunduz geflogen. Es fortgesetzte internationale Unterstüt- Camp innerhalb des gut geschützten afgha-
ging nicht anders, die Bundeswehrhelikop- zung.“ An dieser Einschätzung ändert nischen Lagers befinden.
ter waren mal wieder kaputt. auch die blutige Anschlagsserie der ver- Eine Kolonne weißer Pick-up-Trucks
Der Oberst vor der Wandkarte macht es gangenen Wochen nichts. bringt den General die wenigen Hundert
kurz. Hier ist Camp Pamir mit dem Haupt- Ein „strategisches Patt“ ist das kleinste Meter zu den Deutschen, auf den Ladeflä-
quartier der 20. Division und den deutschen politische Ziel, das sich formulieren lässt, chen stehen jeweils zwei Soldaten, das Ge-
Militärberatern, da sind die Stellungen der aber vielleicht ist es gerade deshalb rea- wehr im Anschlag. Am deutschen Check-
afghanischen Armee, und dort liegen die listisch. Es bedeutet, dass die Zentralregie- point wird jedes Auto mit einem Unterbo-
Taliban. Seine Hand zeigt auf kleine Fünf- rung in Kabul nie so stark sein wird, dass denspiegel auf Sprengsätze abgesucht, erst
ecke aus rosa Pappe, die mit Nadeln auf sie das Land wirklich unter Kontrolle be- dann darf es die hohen Mauern mit dem
die Karte geheftet sind. Jeder Zettel ist sau- kommt, und dass die Taliban und die Kämp- messerscharfen Nato-Draht passieren.
ber mit einer Zahl beschriftet, 571, 326, 438. fer des IS nie so übermächtig werden dür- Der Oberst und seine Leute haben sich
Als Vollmer nachfragt, muss der Oberst fen, dass sie die Regierung stürzen können. in ihrem Hochsicherheitsgefängnis halb-
grinsen. Tja, sagt er, die Afghanen liebten Die Amerikaner tragen die Hauptlast, wegs eingerichtet. Sie leben von Einmann-
es eben, exakte Zahlen ihrer Gegner zu dieses Minimalziel umzusetzen. Erst mit packungen, die in der Mikrowelle heiß ge-
melden. Der General nickt. Er weiß, was sehr großem Abstand folgen die Deut- macht werden. Das Cevapcici mit Reis aus
von den Zahlen zu halten ist, aber was soll schen. Wer einige Tage mit der Bundes- der Aludose erfreut sich einer gewissen
er machen? Die Bundeswehr hat keine Beliebtheit.
eigenen Erkenntnisse, sie ist auf die afgha- Die Soldaten dürfen das Lager nicht ver-
nischen Angaben angewiesen. „In Wahr- lassen, dafür fehlen die Personenschützer.
heit haben wir keine Ahnung, was hier Die Deutschen haben Den Gouverneur in der Stadt kann der
wirklich passiert“, hatte ein Stabsoffizier sich in ihrem Oberst also nicht besuchen. Wenn er Glück
beim Briefing am Tag zuvor in Camp Mar- hat, setzt der sich ins Auto und kommt zu
mal in Masar gestanden.
Hochsicherheitsgefängnis ihm ins Lager. Wenn er den afghanischen
So also ist die Lage: Im 17. Jahr ihres halbwegs eingerichtet. Divisionskommandeur sprechen will, muss
Einsatzes am Hindukusch operiert die Bun- er nur die Straße überqueren, aber auch
32 DER SPIEGEL 7 / 2018
ANDREW RENNEISEN / GETTY IMAGES
KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN / DER SPIEGEL
„die Regierung in Kabul hat uns immer Ähnlich aggressiv schickte Nicholson kritische Situation, lösen sie und sind
wieder alleingelassen.“ Jede Nacht würden seine Truppen in den Kampf gegen die Ta- schon wieder weg.“
seine Leute in den Dörfern von plündern- liban. Bei mehr als 1600 Bodenopera- Zwölf Wochen lang absolvieren die af-
den und mordenden Taliban heimgesucht. tionen waren amerikanische Spezialein- ghanischen Rekruten einen Schnelllehr-
Je länger der Provinzpolitiker redet, des- heiten an den Einsätzen ihrer afghanischen gang. Für Einsätze im Schutz der Dunkel-
to ernster wird Nicholson. Der Afghane Kameraden beteiligt, 181-mal forderten sie heit werden sie mit Nachtsichtgeräten trai-
berichtet, wie nachts Kinder entführt wer- Luftschläge an, 220 Taliban-Kämpfer wur- niert. Töten statt getötet zu werden, sagt
den. „Selbst wenn wir das Lösegeld zahlen, den getötet. Oft traf es die berüchtigten Miller, das sei das Erfolgsrezept.
bekommen wir unsere Söhne und Töchter Schattengouverneure, die auf Anweisung Millers Spezialauftrag ist gleichzeitig das
mit abgeschlagenem Kopf zurück“, sagt er, der islamistischen Ratgebergremien in Eingeständnis, dass die bisherige Strate-
„seit dem Abzug der internationalen Sol- Pakistan, der Shuras, in der afghanischen gie der Amerikaner und der Nato geschei-
daten hilft uns niemand.“ Provinz eine Parallelregierung aufgebaut tert ist. Jahrelang wollte man eine riesige,
„Wir lassen Kunduz nie mehr allein“, haben. konventionelle Armee aufbauen, mehr als
verspricht der General. Zusammen mit der Die Nicholson-Strategie ähnelt den hef- 200 000 Männer wurden eingekleidet und
afghanischen Armee werde man die Tali- tigsten Zeiten des Afghanistankriegs. Da- trainiert. Nachhaltig war das nicht.
ban so lange bekämpfen, bis sie zu Frie- mals, vor etwa sieben Jahren, hatte die Die Verluste der Armee sind gewaltig,
densverhandlungen bereit seien: „Jeder Nato mehr als 100 000 Soldaten am Hindu- in Gefechten, aber auch durch Deserteure.
Taliban, der nicht verhandeln will, wird kusch stationiert. Jede Nacht machten sie Jedes Jahr verlieren die afghanischen Streit-
früher oder später von uns getötet.“ Jagd auf die Taliban-Führer, die in einer kräfte so fast ein Drittel ihrer Soldaten. Je-
Es sind keine leeren Worte. Vor sechs streng geheimen Todesliste („Joint Priority des Jahr müssten fast 80 000 neue rekrutiert
Monaten haben die Amerikaner ihre Stra- Effects List“) aufgeführt waren. werden, ein völlig unrealistisches Ziel.
tegie geändert. Seitdem jagen sie Bei den Kommandos sei die Ab-
wieder Taliban und versuchen, mit gangsrate viel niedriger, sagt Miller
Luftangriffen deren Führer zu töten. deutsches Feldlager in der Kantine des Camps: „Die Män-
Für Nicholson ist das ein Déjà-vu. Region Nord ner hier sind Brüder, sie kämpfen zu-
der Nato-Mission
Bei seinem ersten Einsatz in Ostaf- „Resolute sammen, sie sterben zusammen, des-
ghanistan ging er nach der gleichen Support“ Masar-i- Kunduz wegen verlässt kaum einer die Ein-
Methode vor. Man dürfe den Gegner Scharif heit.“ Zumal die Amerikaner dafür
nicht schlafen lassen, verkündete er. Bagram sorgen, dass die Kommandosoldaten
Und positionierte seine 5000 Män- Herat Kabul regelmäßig bezahlt werden.
ner entlang der pakistanischen Gren- AFGHANISTAN Doch Afghanistan ist Afghanistan,
ze. Jede Nacht machten sie Jagd auf Aktuelle und so hat sich jeder Hoffnungs-
die Taliban. Die Mission im Koren- Bedrohungslage schimmer am Ende immer als trüge-
gal-Tal zählt zu den verlustreichsten hoch risch herausgestellt. Der Kontrollver-
der westlichen Afghanistanmission. Kandahar lust der afghanischen Armee und die
erheblich
Trotzdem geben die Taliban dort mittel Verschärfung der Bedrohungslage
bis heute den Ton an. Der General PROVINZ seien „seit dem Jahr 2014 insbeson-
HELMAND 250 km gering
war es auch, der den afghanischen dere in den ländlichen Gebieten wei-
Quelle: Bundeswehr
Präsidenten von der neuen Strate- ter fortgeschritten“, heißt es in dem
gie überzeugte. Am Ende räumte vertraulichen Jahresbericht der Bun-
Ashraf Ghani den Amerikanern weitgehen- Mit ständigen Luftschlägen und Atta- deswehr: „Derzeit kontrollieren oder be-
de Rechte für Luftschläge ein. Bis dahin cken gegen die Anführer sollten die Tali- einflussen die Taliban circa 38 Prozent der
durfte die U. S. Air Force nur zuschlagen, ban so lange in die Enge getrieben werden, Distrikte Afghanistans, der IS kommt auf
wenn US-Truppen in Bedrängnis gerieten, bis sie sich am Ende auf einen Deal mit circa 2 Prozent.“
inzwischen kann sie auch offensiv werden, der afghanischen Regierung einlassen wür- Aber: „Insgesamt sind die Taliban ihrem
den Kommandos am Boden den Weg frei- den. Die Strategie ging nicht auf. Niemand strategischen Ziel, der Errichtung eines
schießen und Taliban-Führer attackieren. konnte die Taliban an den Verhandlungs- Emirates, nicht nähergekommen. Das stra-
Der Deal mit Ghani, den Nicholson tisch bomben. tegische Patt zwischen afghanischer Armee
mehrmals in der Woche in seinem Palast Nicholson weist auf die Unterschiede zu und Taliban wurde gehalten und gefestigt.“
besucht, verschafft ihm die nötige Bewe- damals hin. „Heute sind es Afghanen, die Von einem Friedensprozess allerdings kön-
gungsfreiheit. Ghanis Vorgänger Hamid in der ersten Feuerlinie stehen“, sagt er, ne auch keine Rede sein. Er sei zum jetzi-
Karzai hatte nach fast jedem Luftschlag „wir unterstützen unsere Partner nur gen Zeitpunkt vermutlich „keine öffentlich
die internationalen Truppen an den Pran- noch.“ Ihm geht es nicht mehr darum, eine zu diskutierende Option“.
ger gestellt, doch der jetzige Präsident riesige afghanische Armee aufzustellen. Das sind schlechte Nachrichten für Ni-
trägt die neue US-Strategie mit. Selbst bei Stattdessen will er etwa 20 000 Kommando- cholson, und es sind schlechte Nachrichten
Fehlschlägen hält er sich zurück, und seine soldaten trainieren, sie besser ausbilden für die Bundeswehr. Der endlose Einsatz
Leute regeln die Kompensationszahlungen und bezahlen und so eine schlagkräftige wird wohl ein endloser bleiben. Die Fol-
dezent im Hintergrund. Truppe gegen den Terror aufbauen. gerung, die die Deutschen am Schluss ihres
Nach internen Zahlen der US-Streitkräf- Der Mann, der für Nicholson die Turbo- Berichts ziehen, ist jedenfalls eindeutig:
te gab Nicholson von Juni bis November ausbildung der afghanischen Kommando- „keine Reduzierung der Kräfte zur Erfül-
2017 das Okay für 420 Bodenoperationen einheiten organisiert, spricht fließend lung des Auftrags absehbar“.
und 214 Luftschläge gegen den afghani- Deutsch. Colonel Joseph Miller steht auf Matthias Gebauer, Konstantin von Hammerstein
schen Ableger des „Islamischen Staates“. einem Berg südlich von Kabul, in der Fer-
174 IS-Kämpfer wurden dabei getötet, viele ne liegt die Hauptstadt im Smog. „Die US- Video: „Den Totalabsturz
davon beim Abwurf der größten konven- Armee hat vor Jahren erkannt, dass Kom- Afghanistans verhindern“
tionellen Bombe, die von der Air Force mandos am effektivsten sind“, bellt er ge- spiegel.de/sp072018afghanistan
jemals eingesetzt wurde. gen den Wind, „sie gehen schnell in eine oder in der App DER SPIEGEL
Heiter im Abgang
Die Zeit war reif für eine bayerische Ministerpräsidentin. Ilse Aigner war es leider nicht.
D
as „Fest der Demokratie“, wie CSU-General- „die Ilse“, war es nicht. Das ist ärgerlich. Weniger für
sekretär Andreas Scheuer den politischen Aigner als für all die anderen Frauen in der CSU, die
Aschermittwoch gern nennt, findet in Bayern auch gern nach oben gewollt hätten, denen aber nicht
auch dieses Jahr ohne Frauen auf der Rednerliste statt. der rote Teppich ausgerollt wurde.
Am Mittwoch wird Markus Söder seinen Witz über Es war einmal, vor ziemlich exakt fünf Jahren, da
die Grünen, die lieber Kantinenessen statt Bahnhöfe heimste Aigner auf dem politischen Aschermittwoch
videoüberwachen wollten, wiederholen. Horst See- der CSU in Passau den donnerndsten Applaus ein. Der
hofer wird versuchen, länger zu reden als Markus Gastgeber Manfred Weber hatte lediglich die damalige
Söder. Und der Generalsekretär wird am Mikrofon Bundesministerin im Publikum begrüßt. Aigner war
sehr laut werden müssen, damit die Zuhörer die neben Edmund Stoiber und Horst Seehofer zum Baye-
Aufmerksamkeit vom schäumenden Maßkrug weg rischen Defiliermarsch in die Halle eingezogen, wäh-
auf ihn richten. rend Söder auf der harten Bierbank im Takt klatschen
Auch Ilse Aigner, die bayerische Wirtschaftsminis- musste wie ein aufgezogenes Spielzeugäffchen.
terin, wird sprechen. Allerdings nicht in Passau vor Ihren ersten kapitalen Fehler machte Aigner 2013,
rund 4000 grölenden Teilnehmern am größten Stamm- als sie aus Berlin wie eine Kronprinzessin nach Mün-
tisch Bayerns. Sondern chen zurückkehrte. Sie begnügte sich mit dem Wirt-
158 Kilometer entfernt schaftsressort – und musste fortan die unpopuläre Ener-
im Trachtenheim Hitten- giewende verkaufen. Söder, den belächelten Konkurren-
kirchen. Eigentlich nie- ten, hätte sie trotzdem leicht bezwingen können. Der
mand außer dem Naviga- bedeutendste CSU-Verband Oberbayern stand hinter
tionsgerät ihres Dienst- ihr. Seehofer, dessen Stellvertreterin sie ist, unterstützte
wagens weiß, wo das ist. sie. Aber Aigner fehlte der Biss. Sie pflegte einfach wei-
Ihr Rückzug ins Trach- ter ihr nettes Image. Lächeln statt Zähne zeigen.
tenheim ist ein schönes
E
Sinnbild für die Zukunft inmal verhaspelte sie sich bei der Haushaltsrede,
von Frauen in der CSU. die sie für den erkrankten Ministerpräsidenten
Die GroKo-Verhandlun- halten musste, an der wichtigsten Stelle. Sie sagte:
gen hat dieselbe Boygroup „Die Zeiten werden heiter, äh, härter.“ Ihr Scheitern
MICHAEL TINNEFELD / AGENCY PEOPLE IMAGE
angeführt, die nun auch in ist eine Warnung an alle Frauen, die in Männerdomä-
Passau die Party schmeißt. nen nach oben kommen wollen und meinen, mit Fleiß
Die Fraktionschefin in und geräuschloser Effizienz punkten zu können. Mar-
Berlin heißt nicht mehr kus Söder sind die Sympathien nie zugeflogen. Dafür
Gerda Hasselfeldt, son- beherrschte er die Kunst des Schienbeintretens – und
dern Alexander Dobrindt. präsentiert sich erst, da er oben angekommen ist, als
Ministerin Aigner Und die Spitze des Frei- Kümmerer. Aigner hat das Spiel um die Macht immer
beim Deutschen Filmball staats erobern Frauen nach abgelehnt. Es darf sie nicht wundern, dass sie es ver-
wie vor nur dann, wenn sie loren hat. Es ärgere sie, sagte Aigner vor zwei Jahren,
den richtigen Vornamen dass die Nachfolgefrage politische Inhalte überlagern
tragen: Nach Karin Stoiber und Karin Seehofer wird im würde. Sie wolle nicht so werden wie Söder. „Ich will
März Karin Söder First Lady von Bayern. Teamarbeit für unser Land.“
Aigner, die alle in der Partei „die Ilse“ nennen, ist Dieser Wunsch, immerhin, ist in Erfüllung gegangen.
trotz ihrer Popularität krachend gescheitert, Seehofer Am Aschermittwoch werden Seehofer und Söder gern
im Amt des Ministerpräsidenten zu beerben. Sie selbst erläutern, wie die künftige Teamarbeit aussehen wird.
findet das nicht tragisch. Kurz nach der Nominierung Vielleicht ist Aigner wirklich so naiv zu glauben, ihre
von Markus Söder als Spitzenkandidat für die Landtags- Zeit werde noch kommen. Doch ihr Lauern darauf,
wahl im kommenden Herbst trank sie in der Landtags- dass die zwei bayerischen Löwen sich im Landtags-
gaststätte ein Glas Sekt und demonstrierte wie immer wahlkampf gegenseitig wegbeißen, wird vergebens sein.
Heiterkeit. Die Zeit sei „vielleicht noch nicht so weit Die Partei hat Aigner längst abgeschrieben. Neulich
für eine Frau an der Spitze“. Was für ein Unsinn. sagte einer ihrer Mitarbeiter scherzhaft über seine Che-
Der Freistaat hat die höchste Frauenerwerbsquote in fin: „Gute Mädchen kommen in den Himmel.“
den alten Bundesländern und die meisten Männer, die Aber sicher nicht in die Staatskanzlei.
in Elternzeit gehen. Bayern gehörte zu den ersten deut- Nächsten Monat wird Seehofers gescheiterter Kron-
schen Ländern, in denen 1919 das aktive und passive prinzessin ein Preis vom Verein der Regensburger
Frauenwahlrecht angewandt wurde. Die erste Bundes- Königstreuen verliehen. Die Auszeichnung soll ihr der
tagsvizepräsidentin war mit Maria Probst eine Frau aus Mann übergeben, der dieses Jahr zu Fasching als
der CSU. Aigner hätte die erste Ministerpräsidentin Prinzregent Luitpold von Bayern auftrat: Markus Söder.
Bayerns werden können. Die Zeit war reif. Nur sie, Ilse Aigner, so viel steht fest, wird lächeln. Anna Clauß
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ermöglicht es Flüchtlingen in
Härtefällen, ihre Familien
nachzuholen. In der Praxis greift
sie fast nie.
NAJEM AL-KHALAF
I
m vergangenen Sommer bekam Samer
Balo von seinen Ärzten in Goslar eine
schlechte Nachricht: Er leidet unter Handyfoto der zurückgelassenen Familie Balo in Jordanien: Ein Wiedersehen ist kaum machbar
Schilddrüsenkrebs. Nach dem Verlust der
Heimat und der Flucht 2015 aus Jordanien Alwasiti ihnen aber nicht machen. „Die Kinder Albträume hätten, nachts einnäss-
über die Balkanroute nach Deutschland – Chancen auf diesem Weg sind meistens ten und unter der Trennung von ihrem Va-
ohne seine Frau und die vier Söhne – war schlecht.“ ter litten“. Auch diese „ohne Weiteres
das ein harter Schicksalsschlag für den Ähnliches berichten auch die Anwälte nachvollziehbaren Probleme lassen sich
49-jährigen Syrer. von Jumen, einer Berliner Menschenrechts- auf die Lebensverhältnisse in Damaskus
Ein halbes Jahr zuvor erst hatte er er- organisation. „Diese scheinbar wunderbare zurückführen und sind nicht geeignet, eine
fahren, dass die Behörden ihm und seiner Lösung ist in der Praxis für die meisten besondere Dringlichkeit zu begründen“.
volljährigen Tochter Sara, die ihn begleitet Geflüchteten kaum zu erreichen“, sagt Ge- Jumen ist es immerhin im November ge-
hatte, nur sogenannten subsidiären Schutz schäftsführerin Adriana Kessler. Denn drin- lungen, die Familienzusammenführung für
gewähren würden. Diesen Status bekom- gende humanitäre Gründe kann ein Fami- einen 16-Jährigen aus dem syrischen Daraa
men etwa Bürgerkriegsflüchtlinge, die lienangehöriger nur dann geltend machen, zu erreichen, der bis vor Kurzem in einer
nicht individuell verfolgt sind, denen in wenn er sich in einer Sondersituation be- betreuten Wohneinrichtung für Jugend-
der Heimat aber trotzdem Gefahr droht. findet, die ihn von vergleichbaren Auslän- liche in Deutschland lebte. Die Richter sa-
Doch damit hat Balo keinen Anspruch da- dern abhebt. Da es aber vielen Syrern sehr hen das Kindeswohl als „erheblich und
rauf, seine Frau und die vier Jungs nach- schlecht geht, ist das nahezu unmöglich. akut gefährdet“ an, solange die Familie
zuholen. Hätte er Flüchtlingsschutz bekom- Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Bran- getrennt sei.
men, wäre er dazu berechtigt gewesen. denburg hat sich in den vergangenen Mo- Der Jugendliche litt einem psychologi-
Gerade erst haben Union und SPD ent- naten mit mehreren Fällen dazu befasst. So schen Attest zufolge unter einer posttrau-
schieden, dass dies grundsätzlich auch wei- hatten etwa die Eltern eines in Deutschland matischen Belastungsstörung und Depres-
terhin so bleibt. Ab August sollen dann lebenden Syrers argumentiert, sie seien in sionen. Schuldgefühle plagten ihn, weil er
aber pro Monat 1000 Familienangehörige „akuter Lebensgefahr“, weil ihr Schwieger- die Familie zurückgelassen habe. Mit dem
ein Visum erhalten. Mehrere Zehntausend sohn, ein Menschenrechtsaktivist, 2011 vom Urteil entschied das Gericht erstmals, dass
warten schätzungsweise darauf, nachzu- syrischen Geheimdienst ermordet worden bei Härtefällen nicht nur die Situation der-
kommen. Gesicherte Zahlen gibt es nicht. sei. Das Gericht bewertete das Szenario als jenigen relevant sein kann, die nachkom-
Wie die Glücklichen Monat für Monat „spekulativ“. Es sei nicht zu erkennen, dass men wollen, sondern auch die Verfassung
ausgewählt werden sollen, ist nicht be- es das Regime auch auf die weitere Ver- der Betroffenen in Deutschland. „Das müs-
kannt. Viele Juristen halten den Beschluss wandtschaft abgesehen habe. sen die Behörden nun berücksichtigen,
für fragwürdig, Menschenrechtler sind In einem anderen Fall formulierte das was neue Chancen eröffnet“, sagt Kessler.
aufgebracht. Der Koalitionsvertrag weist Gericht: „Finanzielle Schwierigkeiten, un- Ob das Urteil auch für Samer Balo mit
deshalb auf die bestehende Härtefallrege- regelmäßiger Schulbesuch und unregelmä- seinen 49 Jahren hilfreich sein kann, ist
lung hin. Diese ermöglicht zusätzlich eine ßige Versorgung mit Strom und Wasser“ nicht klar. Denn die Richter zielten vor al-
Einreise aus „dringenden humanitären reichten nicht aus, um die Kinder eines Sy- lem auf das Kindeswohl des 16-Jährigen
Gründen“. rers als Härtefälle zu bezeichnen. Entspre- in Deutschland ab.
Doch was tröstlich klingen mag, ist vor chendes gelte für das Argument, „dass die Ein Wiedersehen in Jordanien ist für die
allem gut fürs deutsche Gewissen. Betrof- Balos kaum machbar, weil der kranke Va-
fenen hilft es in der Praxis nur selten. Die ter kein Einreisevisum für das Land besitzt.
Behörden stellten im vergangenen Jahr „Er hat Angst, dass er seine Frau und seine
weniger als hundert solcher Visa aus. Söhne nie wiedersehen wird“, sagt Karim
Auch Balos Familie hat im Juli einen Alwasiti von Pro Asyl.
Antrag gestellt, nachdem sie vom Krebs- Was für den Menschenrechtler ohne
leiden des Vaters erfuhr. Pro Asyl betreut Zweifel ein Härtefall ist, könnten deutsche
den Fall. Dem Hilfsverein zufolge hat das Behörden und Richter anders bewerten.
Auswärtige Amt bis heute nicht über das Schätzungen zufolge hat der syrische Bür-
NAJEM AL-KHALAF
Gesuch entschieden. „Das ist meist kein gerkrieg bisher fast 500 000 Menschen das
gutes Zeichen“, sagt Karim Alwasiti von Leben gekostet. Ohne Vater aufzuwachsen
Pro Asyl. Ende Februar darf die Familie ist für viele Kinder dort kein Einzelschick-
nun zwar an der deutschen Botschaft in Vater Balo, Tochter Sara in Deutschland sal. In manchen Landstrichen ist es normal.
Amman vorsprechen. Hoffnung kann Harter Schicksalsschlag Katrin Elger
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Deutschland
M
aike Kohl-Richter, 53, drängt nicht Vom Bemühen um Objektivität ist darin Rechtsstaat und Wohlstand sich über die
in die Öffentlichkeit; selten gibt nichts zu spüren. Die Christdemokratin Revolution auf der Straße erkämpfen“ lie-
die Witwe Helmut Kohls Inter- verweist vielmehr auf den „Kampf um die ßen. Für die offenbar obrigkeitsgläubige
views. Dann allerdings erhebt sie An- Deutungshoheit“. Ob als Mensch, Kanzler Kohl-Ehefrau ist eine solche Sicht ein „Irr-
spruch auf die „zentrale Rolle“ beim Ge- der Einheit oder Vater des Euro – der his- tum“. Der Arabische Frühling habe das ja
denken an den Altkanzler. Schließlich torische Rang und die Qualitäten Kohls bewiesen, lautet ihr krudes Argument.
habe dieser sie zur „legitimen Alleinerbin werden teilweise bis ins Groteske über- Nach der Lesart Kohl-Richters hatte ihr
und Ansprechpartnerin“ bestimmt, wenn steigert. Mann nicht nur wesentlich zum Ende der
es um sein Lebenswerk gehe, erklärte sie Wörtlich heißt es im Schriftsatz: „Hel- DDR beigetragen, sondern er hatte auch
kürzlich im „Stern“. Nur: Was bedeutet mut Kohl ist nur als lebendige natürliche „entscheidenden Anteil“ daran, dass in
das? Person verstorben, aber als absolute Per- Osteuropa Freiheit, Demokratie und
Gut sieben Monate sind seit dem Able- son der Zeitgeschichte ist er unsterblich.“ Rechtsstaat „auf der Basis des christlich-
ben des CDU-Granden vergangen, und im- Auf die Wiedervereinigung hat Kohl abendländischen Menschenbildes“ Einzug
mer noch ist unklar, wie sich seine zweite demzufolge bereits viele Jahre vor dem hielten. Polen, Tschechen oder Rumänen
Ehefrau das Gedenken an Kohl vorstellt. Mauerfall „politisch hingearbeitet“. Dabei werden diese These mit Erstaunen lesen,
Ihr gehören der umfangreiche Nachlass räumte der Altkanzler in seinen Memoiren schließlich haben sie ihre kommunistischen
und das Haus in Oggersheim, das zu einem offen ein, er habe „lange Zeit“ nicht ge- Regime aus eigener Kraft gestürzt.
historischen Ort geworden Ein anderes Beispiel für
ist. Als Zeitzeugin kann sie die seltsame Sicht der Wit-
aus den letzten Jahren des we findet sich in Passagen
Verstorbenen berichten wie über die europäische Inte-
kein anderer. Kohl-Forscher gration. Kohl-Richter hat
werden schwerlich an ihr in den Neunzigerjahren in
vorbeikommen. der Wirtschaftsabteilung des
Aber hält sie unabhängi- Kanzleramts gearbeitet und
ge Aufklärung aus – etwa ist dort ihrem späteren
im Rahmen einer Bundes- Mann begegnet. Der weitere
stiftung, wie sie der Bundes- Zusammenschluss Europas
tag für Kohls Vorgänger Hel- war das wichtigste Thema.
mut Schmidt beschlossen Ernsthaft behauptet die
hat? Oder geht es ihr nur da- promovierte Volkswirtin
rum, den Ruhm ihres Man- nun, junge Menschen heute
nes zu mehren? Liebevolle würden es „ganz wesentlich
Nähe verträgt sich schließ- mit Helmut Kohl und sei-
lich selten mit kritischer nem Lebenswerk verbin-
Distanz. den“, dass sie in der EU rei-
Rückschlüsse auf die Ge- sen, mit dem Euro bezahlen,
dankenwelt der verschwie- innerhalb Europas studieren
genen Witwe, die ihren Bun- und arbeiten könnten.
galow mit etlichen groß- Dabei endete die Kanzler-
formatigen Kohl-Porträts schaft Kohls, der unbestrit-
dekoriert hat, ergeben sich ten viel für Europa erreicht
nun erstmals aus einem hat, 1998. Schwer zu glau-
Rechtsstreit Kohl-Richters ben, dass Italiener, Franzo-
gegen zwei Journalisten und sen oder Niederländer unter
einen Verlag. Zwar hat ihr dreißig in Dankbarkeit des
Anwalt Thomas Hermes die Pfälzers gedenken. Es wäre
Schriftsätze unterzeichnet. bemerkenswert, wenn viele
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A
und Humor“. m Ende jeder Tagesordnung steht der Verfassungsschutzbeobachtung nicht
Damit stellt sich allerdings die Frage, der Punkt „Verschiedenes“. Hier möglich. Allerdings muss und darf man
warum er zu Lebzeiten weder mit seinen verbergen sich oft die wirklich bri- fragen, wie sich die Beobachtung rechtfer-
Söhnen noch mit langjährigen Wegbeglei- santen Punkte einer Sitzung – so war es tigt. Vor allem sind Zweifel an den politi-
tern und Rivalen wie Heiner Geißler, Nor- auch auf dem Parteitag der AfD Sachsen schen Motiven angebracht.“
bert Blüm oder Richard von Weizsäcker am vergangenen Wochenende. Der Bun- Die „Patriotische Plattform“, wo sich
Frieden schloss, sondern in seinen „Erin- destagsabgeordnete Detlev Spangenberg der rechte Rand der AfD formiert, verkün-
nerungen“ und auch sonst noch ordentlich brachte den Vorschlag ein, die Partei fak- dete längst: „Wir sind identitär!“
nachkartete. tisch für Rechtsextreme zu öffnen. Die AfD Besonders eng sind die Verbindungen
Nicht einmal zur Spendenaffäre findet möge die Liste der Organisationen überar- in Mecklenburg-Vorpommern: In Rostock
sich ein Hauch von Kritik, obwohl diese beiten, forderte Spangenberg, mit denen befindet sich die Deutschlandzentrale der
bis heute einen großen Schatten auf die Parteimitglieder nicht kooperieren dürfen. Identitären, geführt von Daniel Fiß. Wie
Kanzlerschaft wirft, weil Kohl mit illegalen Auf der „Unvereinbarkeitsliste“ stehen viele IB-Leute ist Fiß trotz seiner 24 Jahre
Zuwendungen den demokratischen Mei- extremistische Gruppen und Parteien, die schon ein Veteran rechtsextremer Grup-
nungsbildungsprozess zu manipulieren in Verfassungsschutzberichten auftauchen. pen, in seinem Fall der NPD-Jugend „Jun-
suchte. Kohl-Richter wertet das Bestreben, Spangenberg wollte einige streichen, und ge Nationaldemokraten“, wo er einst als
die Vorgänge aufzuklären, als Versuch, ih- zuerst nannte er die „Identitäre Bewegung Schulungsbeauftragter fungierte.
ren Gatten „als Person zu kriminalisieren, Deutschland e. V.“. Fiß, Student der Politikwissenschaft, ist
um auf diese Weise seine 16-jährige Kanz- Die rechtsextreme Organisation propa- ein höflicher Mann, der schnell auf Anfra-
lerschaft zu diskreditieren“. giert eine Welt möglichst getrennter, ho- gen reagiert. Beim Treffen in einem Bahn-
Wer sich eine unabhängige Kohl-For- mogener Volksgruppen, sie agitiert gegen hofscafé in Rostock gibt er geduldig Aus-
schung wünscht, kann nur hoffen, dass die Zuwanderung als „ethnokulturellen Selbst- kunft, erklärt seine NPD-Phase mit jugend-
Witwe bewusst übertreibt, um vor Gericht mord“ und fordert die „Remigration“ mög- licher Verirrung. „Letztlich konnte ich den
zu überzeugen. In ihrem Rechtsstreit geht lichst vieler „Asylforderer“. Seit 2016 wird offenen Antisemitismus und das Huldigen
es schließlich um Millionen. die Bewegung, die sich jugendlich, trendig der NS-Zeit nicht mehr mittragen.“
Der Journalist Heribert Schwan – einst und gewaltlos gibt, vom Bundesamt für Und die AfD? „Es gibt persönliche Kon-
Ghostwriter Kohls – hatte diesen in den Verfassungsschutz beobachtet. Der AfD- takte von IB und Junger Alternative“, sagt
Jahren 2001 und 2002 über 600 Stunden Bundesvorstand und die Parteijugend Jun- Fiß, „aber keine formale Kooperation oder
lang interviewt. Die Aufnahmen dienten ge Alternative (JA) haben deshalb Koope- strategische Absprachen.“ Er habe „über
als Basis für Kohls Memoiren. Doch 2014 rationsverbote verhängt. zwei Ecken Kontakt zu einigen Landesvor-
machte Schwan zusammen mit einem Kol- Nur mit Mühe gelang es Parteifreunden, ständen“, aber man plaudere über Alltäg-
legen daraus dann ein eigenes Buch, das Spangenberg zur Rücknahme des Antrags liches, einen politischen Austausch gebe
zum Bestseller wurde. Kohl klagte noch zu überreden. Doch die AfD hätte ihn ruhig es nicht. Und nein, auch Dienstleistungen
zu Lebzeiten dagegen. Autoren und Verlag durchwinken können. Wenn es um die jun- für AfD-Politiker habe er nie erbracht.
wurden wegen Verletzung des Persönlich- gen Rechten geht, ist der Unvereinbarkeits- Merkwürdig ist nur, dass Chatprotokolle
keitsrechts zu einer Million Euro Entschä- beschluss nicht das Papier wert, auf dem er mit dem AfD-Mann Holger Arppe, die dem
digung verurteilt. steht. Bundesweit pflegen AfD-Leute und SPIEGEL vorliegen, anderes zeigen: „Moin
Beide Seiten haben Berufung eingelegt; Identitäre seit Jahren einen engen Aus-
Die einen hoffen auf eine Abwehr der Kla- tausch, demonstrieren gemeinsam, beraten
ge, weil Kohl verstorben ist. Kohl-Richter einander, verbreiten wechselseitig ihre Ver-
hingegen verlangt fünf Millionen Euro. In- lautbarungen. Die Kontakte reichen längst
zwischen hat sie auch den SPIEGEL ver- bis in die Landesvorstände. Letztlich dürfte
klagt, weil dieser ebenfalls aus den Ton- nur die Beobachtung durch den Verfas-
bändern zitierte. sungsschutz die AfD-Führung davon abhal-
Am kommenden Donnerstag wird nun ten, die Kontaktsperre aufzugeben.
vor dem Oberlandesgericht Köln verhandelt. Erste Funktionäre fordern nun ganz
Sollte Kohl-Richter sich danach ernst- offen, das Embargo aufzuweichen. „Die IB
haft für eine seriöse Aufarbeitung der befürwortet die Wahrung der nationalen
Kohl-Ära interessieren, könnte sie sich an Identität und die Remigration illegaler Mig-
einer anderen Kanzlergattin orientieren: ranten – das kann ich nicht anstößig fin-
der Witwe Willy Brandts, der in den frü- den“, sagt André Poggenburg, Landeschef
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
hen Siebzigerjahren regiert hatte. der AfD Sachsen-Anhalt. „Wo sich die
Auch Brigitte Seebacher vertritt eine Positionen von AfD und IB überschneiden,
Sicht auf ihren verstorbenen Mann, die sollten wir uns solidarisch mit den jungen
viele nicht teilen. Dennoch öffnete sie des- Leuten erklären.“ Es gehe primär darum,
sen Nachlass für die Forschung. Wie sie überhaupt „ins Gespräch zu kommen“.
Willy Brandt sieht, kann man trotzdem Auch Ralf Özkara, Landeschef Baden-
nachlesen. Sie hat eine Biografie über ihn Württembergs, zeigt sich offen für Kon- AfD-Mann Poggenburg
geschrieben. Klaus Wiegrefe takte. „Eine Zusammenarbeit ist aufgrund „Wahrung der nationalen Identität“
Aufmarsch der Identitären Bewegung in Berlin 2017: Enge Zusammenarbeit trotz offiziellen Kooperationsverbots
Holger“, schrieb Fiß 2016, und informierte sich stärker auf die IB zu konzentieren. Er Nun ist die Netzallianz transparent
Arppe über Kontakte zu einem Reporter. sei aber „in Niedersachsen stark mit AfD- geworden: Ein Twitter-Konto namens Alt-
„Der macht wohl gerade ne Story, inwieweit Mitgliedern vernetzt. Das wird halten“. rightLeak veröffentlichte vergangene Wo-
IB und AfD zusammenarbeiten und hatte Auch in Berlin, Hessen und Sachsen-An- che Inhalte des Hetzforums „Reconquista
mich da viel ausgefragt. Ich habe die orga- halt gibt es Überschneidungen, die höchs- Germanica“, auf dem ein Mitglied vor der
nisatorische Verbindung und persönliche tens gestoppt werden, wenn sie auffällig Bundestagswahl schon mal schwadronierte,
Kontakte grundsätzlich verneint, da dies werden. In Niedersachsen kämpft derzeit Grüne „abzuschlachten“ (SPIEGEL 37/2017).
vor der Wahl vielleicht nicht so günstig Lars Steinke, JA-Landeschef und IB-Un- „Reconquista“ ist ein IB-Schlachtruf, der auf
wäre. Falls der bei euch auch nochmal nach- terstützer, gegen seinen Ausschluss. die christliche Rückeroberung der iberischen
fragt, wollte ich nur Bescheid geben, dass Viele AfDler sehen den Austausch mit Halbinsel im Mittelalter anspielt. Ein „Vip“
da keine Widersprüchlichkeiten entstehen.“ den Extremisten als strategisch wichtig: im Forum, das vorige Woche zweimal vom
Die Protokolle zeigen, dass Fiß seit 2015 „Wir brauchen auch im rechten Spektrum Netz genommen wurde, war der österrei-
enge Kontakte mit Arppe pflegte und viele Milieustrukturen mit der AfD in der Mitte chische IB-Aktivist Martin Sellner.
Parteifreunde im Bilde waren. Die Männer und allerlei anderen Gruppierungen (IB, Tausende „patriotische“ Forumsmitglie-
tauschten Strategiepapiere aus, besuchten Burschenschaften) drumherum“, schrieb der mühten sich hier, die etablierten Partei-
gemeinsam politische Stammtische. Fiß ein AfDler Ende 2016 im Chat. „Nur so er- en, deren Mitglieder sie als „Köterrasse“ dif-
stellte IB-Leute als Ordner für AfD-Termi- langen wir die Lufthoheit in Deutschland.“ famierten, „kaputtzuschießen und der AfD
ne ab, im Gegenzug durfte er Lesezirkel Die Identitären suchen schon länger neue einen größeren Stimmenanteil zuzuschus-
in Arppes Rostocker Galerie abhalten. Kanäle für ihre Aktivitäten. So beteiligen tern“ – wenig überraschend war neben dem
Gegen Arppe läuft nun ein Parteiaus- sie sich etwa an den fremdenfeindlichen gelb-schwarzen Logo der Identitären das
schlussverfahren, aus der Fraktion in Schwe- Demonstrationen des Vereins „Zukunft Blau-Rot der AfD die dominierende Farbe
rin trat er aus. Doch Fiß braucht ihn nicht Heimat“ in Cottbus. Ein anderes Vehikel auf dem Server. Hier mischten sich Anhän-
mehr: Seine Kontakte reichen schon bis in ist der Verein „Ein Prozent“ in Sachsen, ger beider Gruppen ganz selbstverständlich.
die Landesspitze. Im Juli 2017 meldete er der sich als Sammelbecken „besorgter Bür- Einer der Aktivisten im Forum war Yan-
die Internetseite von Landeschef Dennis ger“ inszeniert. Unter dem Dach von „Ein nick Noé, AfD-Chef in Leverkusen und
Augustin an – ein klarer Vertrauensbeweis. Prozent“ können Identitäre unter neutra- Gründer des rechten Magazins „Arcadi“,
Identitäre halfen in Augustins Verband lem Namen operieren, so gelang oft der das wie ein Propagandablatt für Identitäre
im Bundestagswahlkampf bei der Plakatie- Schulterschluss mit AfD-Leuten. wirkt. Noé lehnte eine Stellungnahme zu
rung, enthüllte das rechte Watchblog End- Besonders eng läuft die Kooperation der seinen Aktivitäten im Forum ab.
station Rechts. Zuvor unterstützten sie den rechten Gesinnungsgenossen dort, wo sie Die AfD wird dem Thema nicht mehr
Landtagswahlkampf in Sachsen-Anhalt, sich unbeobachtet wähnen – in abgeschie- lange ausweichen können: Anfang März
wie Fiß im Chat sagte: AfD-Kandidaten hät- denen Netzforen. Dort planen Identitäre ist eine Klausurtagung des Vorstands mit
ten „ihre Wahlkampagne maßgeblich … und AfD-Jungvolk den „Infokrieg“ gegen den Spitzen der Länder geplant. Dann dürf-
von vielen IB Leuten machen lassen“. „Systemlinge“ und „degenerierte Abfall- te die Haltung zur IB auf der Tagesordnung
Die Chats verdeutlichen den regen Aus- menschen“. Sie versuchen, soziale Medien stehen. „Wenn es nicht jemand anderes
tausch zwischen Partei und Bewegung. 2015 zu manipulieren, eigene Themen zu setzen anbringt“, kündigt André Poggenburg an,
meldete der damalige AfD-Landesschatz- und Gegner mit massenhaften Hasskom- „werde ich das gerne tun.“
meister, ein Mitstreiter sei ausgetreten, um mentaren und „Dislikes“ fertigzumachen. Melanie Amann, Sven Becker, Marcel Rosenbach
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* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
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D
as Anziehen, das beschäftigt die
hat sie bei Besprechungen meist einen werk antippen sollte. Bloß: wo tippen? Ei- Ein Problem für sie sind schweigsame
Kopfhörer im Ohr. Die Texte werden so ne Sprachansage gab es nicht. „In meinem Menschen. „Viele haben nicht auf dem
rasend schnell gesprochen, dass nur ein ge- Leben ist das eine echte Zeitverschwen- Schirm, dass sie etwas sagen müssen, da-
übtes Ohr sie erfasst. dung“, klagte Bentele. Da klatschten alle. mit ich auf sie aufmerksam werde“, sagt
Die Vernissage, die sie abends eröffnen Sie wolle „Barrieren in den Köpfen ab- Bentele. „Es gibt tatsächlich Leute, die ni-
wird, hat sie sich vorher beschreiben las- bauen“, erklärte sie, als sie die neue Auf- cken mir zu, um mich zu begrüßen.“
sen. „Ich habe sie mir schon mal angese- gabe übernahm. An einigen Stellen sei ihr Selbst wenn Bentele anwesend ist, wen-
hen“, sagt sie. Sie hat die Kerzen berührt, das auch gelungen, glaubt sie. Aber noch den sich manche an ihre Mitarbeiter: Wie
die behinderte Künstler hergestellt haben, immer passiert es, dass ihr jemand in einer hätte Frau Bentele das gern? „Ich weiß,
und die Mosaike. „Die Ausstellungsstücke Sitzung ein Papier in die Hand drückt. Und keinen Blickkontakt zu haben kann man-
sind toll geworden“, wird Bentele später wenn einer das zum dritten oder vierten che Menschen verunsichern“, sagt Bentele,
in ihrer Rede sagen. Viele Behinderte sind Mal macht, ärgert es sie. „aber ich möchte einfach direkt angespro-
gekommen, es ist ein barrierefreier Abend, Dabei sei es eigentlich ganz leicht, und chen werden.“
es ist so, wie es sein sollte. Rollstuhlfahrer meist klappe es auch, sagt sie. Sie braucht Auch Überfürsorge kann ausgrenzen,
finden problemlos Platz, Gebärdendolmet- die Unterlagen vorher per E-Mail oder in das erlebt sie mitunter. Wenn man ihr et-
scher übersetzen das Programm für Ge- der Sitzung auf einem Stick. Den steckt was nicht zutraut, ohne sie zu fragen: „Na,
hörlose, und für Blinde beschreibt eine sie dann in ihren Rechner, den sie immer Frau Bentele, wir gehen mal lieber nicht
Sprecherin live über Kopfhörer, was auf dabeihat. Lesen kann sie Texte im Com- auf die Rolltreppe.“ Dabei sei das kein Pro-
der Bühne passiert. puter mithilfe der Braillezeile, einer Art blem für sie. Auch Bahnhöfe seien für sie
„Wer noch Unterstützung braucht, bitte Tastatur, die die Buchstaben in Blinden- eher einfach zu bewältigen: „Der Aufbau
die Hand heben“, sagt Bentele und fügt schrift überträgt. ist meist sehr klar.“ An den Bahnsteigkan-
hinzu: „Ich sehe das natürlich nicht, aber Donnerstagmittag, Jurysitzung zum In- ten gibt es taktile Linien, die ließen sich
andere.“ Sie will offen mit ihren Grenzen klusionspreis für die Wirtschaft. Er zeich- mit dem Stock gut ertasten. Schwieriger
umgehen. So scherzt sie auch sind Flughäfen, da braucht sie
gern mal damit, dass sie es eben eine Begleitung, um das richtige
nicht sehe, „wenn mir ein Typ Gate zu finden.
nett zuzwinkert“. Damit Schwer- Im Amt hat sie einen Fahrer,
hörige ihre Rede und die Lieder der sie zu Terminen bringt, doch
des jüdischen Re’ut-Chores gut abends geht sie auch manchmal
verstehen, werden die Tonsigna- zu Fuß nach Hause und nimmt
le über eine Induktionsschleife die U-Bahn. Auf der Straße gibt
an Hörgeräte übermittelt. es viele Hindernisse, sie stieß
Im politischen Betrieb ist das schon gegen Laternenpfähle
alles noch immer keineswegs und Baustellenabsperrungen,
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA
MARCO-URBAN.DE
tele hat vor allem einen Satz von sönliche Assistenz, die für ein
ihm in Erinnerung: Der Staat kön- selbstbestimmtes Leben zentral
ne nicht alle Nachteile ausgleichen. wäre.“
Kerstin Griese (SPD), Vorsitzen- Sozialdemokratin Bentele im Bundestag 2017 Einfluss hat die Behinderten-
de des Sozialausschusses, hat Ben- Chance für die ganze Gesellschaft beauftragte, die zum Sozialminis-
tele oft erlebt. „Sie ist ein Gewinn terium gehört, nur begrenzt: Sie
für die Politik“, sagt Griese, sie habe in ih- gesetz, mangelhaft. Und der Unionspoli- wird gehört, beteiligt, sie kann fordern,
rem Amt eine „große Ausstrahlung und tiker Uwe Schummer spricht zwar von mehr nicht. In der Rolle zwischen Re-
Vorbildfunktion“, sei kompetent und kom- einer „Bereicherung“, aber auch sein gierung und Behindertenverbänden füh-
munikationsstark. Durch Bentele habe sie Fraktionskollege Hubert Hüppe, vor Ben- le sie sich manchmal wie eine „Tomate
selbst viel gelernt: „Ich nehme viele Dinge tele Behindertenbeauftragter, habe einiges in einem Sandwich“, klagte Verena Ben-
jetzt ganz anders wahr, versuche zu sehen, durchgesetzt. Als die SPD-Abgeordnete tele im Mai 2016, als sich Rollstuhlfahrer
wie sich die Welt für Behinderte darstellt.“ Elfi Scho-Antwerpes im Bundestag lobte, aus Protest gegen den Entwurf zum Teil-
Verena Bentele, der blinde Skistar, der die „zwölffache Olympiasiegerin“ Bentele habegesetz am Reichstagsufer angekettet
in die Politik kam, könnte ein Glücksfall sei ein Vorbild für Kinder und Jugend- hatten. Verbandsvertreter wie Ilja Seifert
sein in diesem Job. Doch so einfach ist es liche, korrigierte Hüppe: „Paralympics!“ beklagen, das Amt sei zu schwach, es
in der Politik nicht. Nicht alle sind so be- Wie die ganze Regierung ist Bentele nur gehöre als Querschnittsaufgabe ins Kanz-
geistert wie die SPD-Abgeordnete Griese. noch geschäftsführend im Amt. Der oder leramt.
Natürlich sei es gut, wenn Betroffene die Behindertenbeauftragte wird vom So- Abends im Kleisthaus sind all die Be-
politische Ämter ausübten, aber Behinde- zialminister vorgeschlagen. schwernisse weit weg. Der Kantor Daniel
rung allein sei ja noch keine Qualifikation, Genannt wird die Berliner SPD-Politi- Kempin singt jüdische Lieder zur Gitarre.
sagt Ilja Seifert, Vorsitzender des Allge- kerin Eva Högl, doch noch steht nicht fest, Die Audiosprecherin sagt: „Der Chor er-
meinen Behindertenverbands in Deutsch- wer das Arbeits- und Sozialministerium hebt sich und stellt sich auf, am vorderen
land. Seit einem Badeunfall sitzt er im Roll- übernimmt, und damit ist auch die künf- Bühnenrand steht auf einem Podest ein
stuhl. Er war 16 Jahre lang Bundestagsab- tige Besetzung im Amt des Beauftragten Chanukkaleuchter aus Kunststoff, er hat
geordneter der Linken. Verena Bentele sei offen. So wie es derzeit aussieht, macht acht Arme.“ Auch Verena Bentele hat den
„eine starke Persönlichkeit“, die im Amt Bentele nicht weiter, denn sie hat sich ent- Kopfhörer auf. So also erlebt sie das Pro-
gewachsen sei, sagt Seifert. „Sie hat sich schlossen, als Präsidentin des Sozialver- gramm? Oder doch ganz anders?
großteils befreit von der Vormundschaft bands VdK zu kandidieren, der bayerische An diesem Abend wird Verena Bentele
des Sozialministeriums, ist eigenständiger Landesverbandsvorstand hat sie als Nach- mit ihren Gästen in inklusiven Teams noch
und regierungskritischer geworden.“ Doch: folgerin von Ulrike Mascher nominiert. Kreisel spielen und Krapfen essen. Ein wirk-
„Sie war nicht in der politischen Behinder- Eine „spannende Herausforderung“, fin- lich schöner Abend, sagt sie danach, auch
tenbewegung verwurzelt und deshalb nicht det Bentele, dort könne sie mit ihrem Wis- viele Nichtbehinderte seien gekommen.
ausreichend vernetzt.“ sen und ihren Erfahrungen „in allen Fel- Was rät sie der Politik? Bei der Auswahl
Die grüne Bundestagsabgeordnete Co- dern der Sozialpolitik wirken“. für Posten und Funktionen mehr auf Kom-
rinna Rüffer kritisiert, trotz Bentele seien In die Koalitionsgespräche speiste Ben- petenz zu setzen als auf Proporz, sagt sie,
zwei bedeutsame Gesetzesprojekte, das tele noch Themen ein, die ihr wichtig sind, und: „Sie sollte sich mehr als Mannschafts-
Teilhabegesetz und das Gleichstellungs- wie private Anbieter zu verpflichten, Pro- sport verstehen.“ Annette Großbongardt
Wahn und
Wirklichkeit
Mode Die Debatte über „Germa-
ny’s next Topmodel“ erreicht die
Politik. Experten von Union
und SPD befürworten gesetzliche
Vorgaben gegen Magermodels.
F
ür Kera Rachel Cook war das Leben
Lotterieveranstalter ist die Aktion Mensch e. V., widersprechen. Die Lotteriebestimmungen erhalten
Heinemannstr. 36, 53175 Bonn, AG Mainz, VR 902, Sie auf telefonische Anforderung (Tel.: 0228 2092-400)
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Allzu sauber ist ungesund. Kriebelmücken und Nierenwürmer, her hat nicht nur eine „Privatisierung des Exkrements“ statt-
Milben und Schnabelkerfen, Gnitzen aller Art, Lungenwurm gefunden, sondern ein allgemeine Desodorisierung und Säu-
und Pärchenegel. Wie eng und vertraut lebte es sich doch mit berung von Stadt und Sprache. Seit 1840, so Corbin, werde
all diesen Parasiten des Menschen zusammen, sogar in den der Hygieniker als Held gefeiert. Die Geruchs- und Schmutz-
Metropolen der Zivilisation. „Wie ein Mensch es hier aushält, toleranz hat in einem Maße nachgelassen, dass die Medizin
in diesem dreckigen Schlupfwinkel aller nur denkbaren Laster den Parasiten schon wieder hinterhertrauert. Man spricht von
und Übel, inmitten einer von tausend fauligen Dämpfen ver- „Epidemien der Absenz“: Ohne üppige Darmflora, Völker-
gifteten Luft, zwischen Schlachtereien, Totenäckern, Hospitä- scharen von Mikroorganismen, ohne Wurmerkrankungen wür-
lern, Abzugsrinnen, Urinbächen, Kothaufen …“ Das notiert den häufiger Allergien auftreten und Autoimmunkrankheiten.
ein Zeitgenosse in Paris um das Jahr 1785. Der Sozialhistori- Wer etwa im Dreck und im Gestank eines Bauernhofs auf-
ker Alain Corbin führt den Ausbruch der Französischen Revo- wachse, so Schweizer Forscher, erkranke weniger (diesen Satz
lution nicht zuletzt auf den unerträglichen Dreck zurück. Seit- bitte von Kindern fernhalten). alexander.smoltczyk@spiegel.de
fahrt in einem Schlauchboot men. Da sage ich manchen: nen deutschen Bewer-
als Lektion in „Teamfähigkeit“ Du bist so weit gelaufen, hast ber wie für einen
zu verstehen scheint mir gar es bis hierher geschafft, hast Plakat der Kampagne „Employ Refugees“ Flüchtling. red
I
n Frankreich, sagt Klaus Brix, haben manche Fische wie er. Er denke ständig an Verbesserungen, Köder zum
eigene Namen. Sie sind so groß oder so schön oder so Beispiel, da wolle er mal was zeigen. Er steht auf und
schwer zu fangen, dass sie von sehnsüchtigen Anglern geht ins Schlafzimmer. Aus seinem Kleiderschrank zieht
getauft werden. „Riffelschweif“ heißen sie dann oder er schnaufend eine Maschine hervor. Sie wiegt 50 Kilo
„Halbmond“, manchmal auch „die Hure“. Die meisten und sieht aus wie ein Raketenantrieb. Ein Jahr lang hat
Angler fangen diese Fische nie. Karpfen sind schlau und er daran gearbeitet. Die Maschine, sagt er, sei sein Ge-
scheu und werden alt. Sie verstecken sich gern am Grund, heimnis. Sie stellt Köder her, Karpfenköder aus Eiern und
sie kämpfen zäh, sie lernen dazu. Sojamehl und Duftstoffen wie Vanille oder Schellfisch. Er
Aber er sei auch zäh, sagt Brix. Und er habe auch viel hat hier mal drei Tage lang 200 Kilogramm Köder abge-
gekämpft. Und ihn haben sie auch getauft. „Der Karpfen- dreht, bis die Nachbarn kamen und sich über den Geruch
könig“ heißt er. Er hat sich diesen Namen unter anderem beschwerten. Brix sagte ihnen, er backe Plätzchen.
mit einem Video verdient, das den schönen Titel trägt: Ein Karpfen über zehn Kilo ist ein mächtiger Fisch, ein
„32 Kilo Schuppenkarpfen“. Während Brix davon erzählt, Karpfen über zwanzig Kilo selten wie ein Diamant. Die
sitzt er still auf seinem Sofa im Osten Hamburgs, nur alte „Benson“, berühmtester Karpfen Englands, den man
manchmal dreht er den Kopf und schaut in den Nebel dort als Fisch des Volkes verehrte, wog fast 30 Kilogramm.
draußen. Karpfen sind im Irgendwann hörte Brix von
Winter träge. einem Fisch in Frankreich,
Er war neun Jahre alt, der über 30 Kilo wiegen sol-
als er seine Hausaufgaben le. Ein Ungetüm von einem
schwänzte und die Männer Fisch. Ein Monster. „Die Kö-
am Osterbekkanal beobach- nigin“ nannte er den Fisch.
tete, wie sie schweigend am Unmöglich zu fangen, hieß
Ufer saßen, als ob sie ein Ge- es. Brix fuhr hin.
heimnis teilten. Irgendetwas Acht Tage lang saß er am
beeindruckte ihn daran, er Ufer des französischen Sees
kann nicht genau sagen, was. und kämpfte. Er studierte
Vielleicht war es dieses War- den See Tag und Nacht. Er
ten auf ein großes Ereignis, probierte alle Tricks, suchte
das selten eintrat. Die Mög- die Gewässerkanten ab, lote-
lichkeit, dass etwas passie- te die Krautfelder aus. Er
ren könnte, etwas Besonde- holte seine besten Köder he-
res vielleicht. „Das Ungewis- raus, die mit dem Krabben-
se“, sagt Brix. Der Junge aroma. Die Königin biss
suchte nachts Tauwürmer Brix mit Karpfen nicht an. Irgendwann gab
im Park und verkaufte sie Brix auf. Er fuhr nach Hause.
für einen Pfennig das Stück als Köder. Nach tausend Wür- Mit etwa 50 Jahren beschloss Brix, nur noch zu angeln.
mern hatte er seine erste Angel zusammen. Er wartete Aber sein Chef ließ ihn nicht gehen. Er kannte alle Ma-
jetzt auch. schinen, einige hatte er erfunden. Er werde noch ge-
Brix sagt, er habe die Fischnase. Es gibt Menschen, die braucht, um sie zu reparieren, sagte sein Chef. Brix dachte
kaufen sich die teuerste Ausrüstung, stehen wochenlang nach. Wie konnte er sich seine Freiheit fangen? Er über-
am Ufer, machen alles nach Vorschrift, aber fangen nie legte sich zu Hause einen Köder: den Bauplan für eine
etwas. Brix macht das anders. Er denke wie der Karpfen, bessere Maschine, die seiner Firma viel Geld sparen würde.
sagt er, er wisse, wie er den See lesen müsse. Schaut, wo Dann sagte er seinem Chef, wenn sie den Plan haben
die Seerosenfelder sind, die versunkenen Bäume, die zit- wollten, müssten sie ihn gehen lassen. Am nächsten Tag
ternden Schilfhalme, die Sandbänke und Muschelfelder hatte Brix seine Freiheit.
und Scharkanten. Dort warten sie auf ihn. Charakterfische, Er saß zu Hause und träumte von der Königin. Er fand,
sagt Brix. Ausnahmefische. so könne die Geschichte nicht ausgehen. Er lud seinen
Der junge Brix wurde Maschinenbauingenieur und kon- Wagen voll und fuhr zurück an den See. Er versuchte
struierte in einem großen Betrieb Maschinen für den Bau nichts Neues, er versuchte es einfach nur noch mal. Und
von Messwandlern. Am Abend fuhr er mit der S-Bahn die Königin biss an. In dem Video „32 Kilo Schuppen-
raus an den Fluss und ging zu Fuß am Ufer durch die karpfen“ sieht man, wie Brix mit ihr kämpft, mit beiden
Nacht, bis er es glucksen hörte, dann machte er Feuer Händen die Angel umklammert hält, die ihn fast ins Was-
und warf seine Angel aus. Tagsüber arbeitete er wieder ser reißt, wie er gebeugt, ganz langsam, die Leine einholt,
an den Messwandlermaschinen und dachte über Fische damit sie nicht reißt. Er hebt den Fisch mit seiner ganzen
nach. Sein Leben gefiel ihm nur zur Hälfte. Er wollte Kraft hoch. Er schaut ihn an. Dann lässt er ihn zurück in
mehr, also schickte sein Chef ihn um die Welt. Brasilien. die Freiheit. Ein schöner Fisch, sagt Brix, wunderbare
Mexiko. Australien. Shanghai. Er sah nichts, sagt er, nur Schuppen. Jonathan Stock
gen, sie trägt Fleecejacke und Hausschuhe. Den Begriff „Sexting“, eine Mischung aus eine Untersuchung, für die sie 160 Berufs-
Als Anna zehn war, hat sie ihr ein Handy „Sex“ und „Texting“, definiert Wikipedia schüler und Gymnasiasten zwischen 16 und
erlaubt, „es hat ja heute jeder so ein Ding“. als „private Kommunikation über sexuelle 19 Jahren befragt hatten: Damals gaben nur
Das Nacktfoto ihrer Tochter hat sie noch Themen per Mobile Messaging“ – wobei zehn Jugendliche an, Nacktbilder von sich
nie gesehen. Will sie auch nicht. das Problem beginnt, wenn diese Kommu- verschickt oder ins Internet gestellt zu haben,
Als die Beziehung zwischen Anna und nikation nicht mehr privat bleibt. Es geht gut sechs Prozent. Drei Jahre später hatte
ihrem Freund vier Wochen später zu Ende um Texte, Bilder oder auch Videos, um laut einer Untersuchung an der Universität
ist, schickt der Junge das Bild einer Be- freizügige Botschaften, die per Handy ver- Bielefeld bereits mehr als jeder vierte Schüler
kannten weiter. Die lässt es einem Kumpel schickt werden. In Deutschland gibt es zu zwischen 14 und 17 mindestens einmal ein
zukommen. Der sendet es an ein paar Mit- diesem relativ neuen Phänomen erst we- erotisches Foto oder Video von sich gesendet
schüler. Die leiten es weiter. Kurz vor den nige Studien, doch die vorhandenen Un- (28 Prozent), jeder zweite Schüler eines emp-
Sommerferien erreicht das Bild Annas tersuchungen lassen den Schluss zu, dass fangen (55 Prozent). Die Autorin interviewte
Schule. Sexting unter Jugendlichen bereits weit 254 Jugendliche, auch das ist eine schmale
verbreitet ist. Datenbasis, weshalb man die Resultate eher
Hi. Und je aktueller die Studie, desto höher als Trendmeldungen lesen muss, weniger als
Huhu. die Zahlen. 2013, vor fünf Jahren, veröffent- exakte Werte. Bei einer anonymen Online-
Was machst du? lichten Mitarbeiter des Instituts für Sexual- befragung in den USA antwortete jeder zwei-
Nichts, gehe gleich duschen. forschung und Forensische Psychiatrie der te Teilnehmer, als Teenager mit dem Partner
Würdest du mir vorher ein Foto schicken? Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf sexuell explizite Nachrichten getauscht zu
haben, mal ohne Foto, mal mit.
Meist folgen diese Bilder einer ähnli-
chen Ästhetik, wirken wie vom selben
Regisseur inszeniert: ein nackter oder halb
nackter Teenager im Bad oder im Kinder-
zimmer, jedenfalls in einem abschließ-
baren Raum, im Hintergrund zufälliger
Alltag, ein Schrank, eine Badewanne, ein
Bett. Alles von schräg oben ins Bild ge-
rückt, aus der Perspektive, zu der ein
ausgestreckter Arm mit dem Handy eben
zwingt. Oder man sieht das frontal ab-
fotografierte Spiegelbild samt dem
Smartphone in der Hand.
Sexting muss nicht grundsätzlich zum
Problem werden, nicht jedenfalls, wenn
die Beteiligten damit einverstanden sind
und die Fotos unter ihnen bleiben, was
meistens der Fall ist. Man könne Sexting
als eine „durchaus normale Form des ero-
tischen Austauschs im Handyzeitalter“ be-
greifen, sagt die Psychologin Nicola Döring
von der Technischen Universität Ilmenau.
Man muss es vielleicht sogar als eine durch-
aus unvermeidliche Form des zeitgemäßen
Paarungsverhaltens sehen, wie es sie ver-
mutlich jedes neue Medium mit sich brach-
te: Die Schrift führte zur Briefromanze,
das Telefon zum Telefonsex, die Videoka-
mera zu „Sex, Lügen und Video“. Aller-
dings ist beim Sexting die Missbrauchsge-
fahr wesentlich höher. Ein Klick, und das
Privateste ist öffentlich.
Wie oft es zum Missbrauch kommt, wie
oft solche Bilder oder Videos bei Adressa-
ten landen, für die sie nicht gedacht waren,
weiß niemand genau. Die Folgen können
schwerwiegend sein. Im Februar vergange-
nen Jahres nahm sich ein 14-jähriger Junge
in den Niederlanden das Leben. Er sprang
vom Balkon, nachdem eine frühere Mit-
schülerin sein Nacktbild auf Instagram
hochgeladen hatte. In seiner letzten E-Mail
schrieb er seiner aktuellen Freundin: „Ich
JAN FEINDT / DER SPIEGEL
gemacht?
Nach den Sommerferien beginnt die
siebte Klasse, es wird ein qualvolles Schul-
jahr für Anna. Die Pausen verbringt sie
aus Scham nicht mehr auf dem Hof, sie
lungert allein im Flur herum. Zu Hause
verlässt sie kaum noch ihr Zimmer, sie
wird immer schweigsamer, hört den gan-
zen Tag Musik, vermeidet den Kontakt zur
Mutter und zum Stiefvater, denen sie alles Catarina Katzer leitet das Institut für Cyber- „Selfie-Manie“ entwickelt. Je mehr Likes,
verschweigt. Ihre Noten werden schlechter, psychologie und Medienethik in Köln, sie un- desto größer das Selbstwertgefühl. Sie
bald ist die Versetzung gefährdet. tersucht, wie digitale Kommunikation unser schätzt, dass jeder dritte Teenager sextet.
„War mir völlig egal. Ich habe mir kom- Verhalten beeinflusst: Wo liegt die Grenze Forscher sprechen vom „Privacy-Para-
plett andere Gedanken gemacht. Wie soll zwischen Privatem und Öffentlichem? Wa- dox“, der Privatsphärenfalle im Digitalen.
das weitergehen? Was soll ich tun, wenn rum können gerade Teenager diese Grenze Allein mit sich und dem Computer, hat der
mich die Leute auf der Straße erkennen oft schlecht erkennen? Katzer nennt ein paar Nutzer das Gefühl, er sei unbeobachtet.
und ansprechen?“ Zahlen: 92 Prozent der 12- und 13-Jährigen Die Hemmschwelle sinkt. Ein Schüler, der
Erst sieben Monate nachdem sie das besitzen ein Smartphone, und ab 14 herrscht ein Nacktfoto von sich verschickt, denkt
Foto gemacht hat, nimmt Anna all ihren in Deutschland quasi Vollausstattung. Kein nicht daran, dass ihn damit möglicherweise
Mut zusammen und erzählt der Mutter, Gerät nutzen Kinder und Jugendliche öfter, mehr Menschen hüllenlos sehen werden,
was passiert ist. Bald darauf wird der Vor- um online zu gehen, im Schnitt sind sie mehr als wenn er splitternackt ins Klassenzim-
fall auch offiziell zum Thema an der Schu- als drei Stunden pro Tag im Netz. „Die Pu- mer liefe. Ein Viertel der 14- bis 17-Jährigen,
le, zwei Lehrer holen Anna aus dem Un- bertät wird im Digitalen gelebt“, sagt Katzer, die sexten, senden Bilder an eine Person,
terricht, um mit ihr über das Nacktfoto zu „und das Digitale verschärft die Pubertät.“ die sie nur aus dem Internet kennen.
reden. Anna denkt, sie wollten mit ihr be- Als ob die Zeit, in der das Begehren und „Bewunderung und Bestätigung sind vor
sprechen, was man tun könne, damit sie das Begehrt-werden-Wollen erwachen, allem für Mädchen wichtig“, sagt Catarina
nicht länger gemobbt werde. Aber die Leh- nicht schon analog schwer genug wäre. Frü- Katzer. „Sie möchten sich begehrenswert
56 DER SPIEGEL 7 / 2018
Gesellschaft
und sexy fühlen und auch so wahrgenom- „Nee, du bist was Besonderes.“ noch in der Schule den Umgang mit digi-
men werden.“ Darum schicken Mädchen „Wieso denn?“ talen Medien. Als Nächstes fragt Artmann,
häufiger Bilder als Jungen. „Mag dich. Komm schon, bitte, bitte, bit- warum man sein Kind erst dann mit einem
Schüler leiten die Fotos aus Spaß weiter, te, Smiley, bitte, bitte, bitte, Smiley.“ scharfen Taschenmesser schnitzen lasse,
aus Langeweile oder Rache. Oder um anzu- Elena dreht den Zuschauern den Rücken wenn es den Umgang damit beherrsche,
geben: Bei Jungs gelten Nacktbilder auf dem zu. Sie deutet an, wie sie ihr Sweatshirt es aber mit dem Handy von Anfang an al-
Handy als Trophäe. Weil sie, die Täter, nicht hebt und ein Foto von ihren Brüsten macht. lein hantieren lasse. „Obwohl es das ge-
direkt miterleben, wie das Opfer auf Mob- „Nein!“, ruft ein Mädchen im Publikum. fährlichere Gerät ist.“ Jedes Mal herrsche
bing und Hetze reagiert, empfinden sie kei- Eine Reihe dahinter beugt sich ein Schüler betretenes Schweigen.
ne Empathie. In einer österreichischen Stu- grinsend zum Nachbarn und flüstert ihm Auf der Bühne steht Elena, das Mauer-
die waren vier von fünf Befragten der Mei- etwas zu. blümchen, und sagt: „Warum ich das ge-
nung, wer ein Nacktfoto von sich verschicke, Elena schickt Leo das Bild, und der leitet macht habe? Keine Ahnung. Hab mich
müsse in Kauf nehmen, dass man es ver- es an sein komplettes Adressbuch weiter. halt gefreut, dass auch mal jemand auf
breite. Die Täter legitimieren ihr Verhalten, Aus den Lautsprechern in der Aula erklin- mich guckt. Und wenn’s nur auf die Titten
indem sie dem Opfer die Schuld geben. „Im gen die Wörter „Hashtag Tittchen“. Die ist.“
Netz sieht man keine Tränen“, sagt Katzer. Schüler lachen, die Schülerinnen nicht. Leo sagt: „Wie’s mir geht? Ich bin jetzt
mit Kiara zusammen. Läuft.“ Kiara setzt
sich auf seinen Schoß, sie sagt: „Ich häng
auch nicht mehr mit Elena ab. Voll die
Bitch!“ Sie nimmt Leos Handy, spielt
damit rum. „Warum hast du mich eigent-
lich noch nie nach ’nem Nacktfoto ge-
fragt? Bin ich hässlich? Du Spast! Du Fick-
fehler!“
Seit 1990 gibt es das Tourneetheater Co-
mic On! aus Köln. Das Ensemble will Kin-
der und Jugendliche aufmerksam machen
auf Risiken, die es in ihrer Lebenswelt gibt.
Angefangen hat es mit einer Vorstellung
über einen Neonazi, dann folgten Ecstasy
und Aids, Übergewicht und Fremdenfeind-
lichkeit. Die aktuelle Produktion über Sex-
ting läuft 90-mal im Jahr, in ganz Deutsch-
land. Die Theatergruppe ist noch vor kei-
ner Klasse aufgetreten, in der niemand mit
Sexting in Berührung gekommen ist.
Nein. Sorry.
Wenn du zu schüchtern bist, schick eins
in Unterwäsche. Nicht nackt.
JAN FEINDT / DER SPIEGEL
N
eulich habe ich gelesen, dass die SPD das deutsche der auch viel Zeit mit ihrem Ehemann Oskar verbringt.
Essen gesünder machen will. Weniger Fett. Weni- Ich bin mal mit Sigmar Gabriel in einer kleinen, schnittigen
ger Zucker. Weniger Salz. Es waren die Tage, als Regierungsmaschine geflogen. Es gab gutes Essen, aber
die SPD in der Mitte durchzureißen schien, aber das wurde Gabriel pickte nur ärgerlich in seinem Salat herum. Kein
von der Fraktion beschlossen. Steak für Gabriel, keine Wurst für Schröder. Und jetzt:
Die Welt brannte, die deutsche Sozialdemokratie dachte kein Salz für Schulz. Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
über Salz nach. Auf zum letzten Gefecht. die stets man noch zum Hungern zwingt.
Es erinnert mich an den Sommer ’89 in Ostberlin. Da- Als Kind dachte ich: Es geht bergauf. Feudalismus, Ka-
mals war ich Jungredakteur der „Berliner Zeitung“. Es pitalismus, Sozialismus, Kommunismus. Heute weiß ich:
gab jede Menge Versammlungen. In meiner Erinnerung Es geht immer wieder von vorn los. Die große Koalitions-
wurde kaum noch geschrieben und redigiert, sondern verhandlung bildet meine Vorstellung von Politik am bes-
vor allem versammelt. Vielleicht auch, um durchzuzäh- ten ab. Wir hüpfen auf der Stelle. Wir drehen uns im
len, wer eigentlich noch da war. Draußen rannten die Kreis. Deswegen hätte ich Claudia Pechstein als Trägerin
Leute in Scharen aus dem Land, der deutschen Fahne als beste
manchmal war auch ein Redak- Besetzung für die Olympischen
teur der Zeitung dabei, drinnen Spiele empfunden. Pechstein
aber gab es Politinformationen ist Eisschnellläuferin, ein Sport,
zu den wirklich wichtigen Fra- bei dem man endlose Runden
gen. Einmal lud ein stellvertre- dreht, um am Ende erschöpft
tender Chefredakteur in den am Anfang anzukommen. Sie
Konferenzraum, um uns darü- hat das als Pionier in Ostberlin
ber zu informieren, wie schäd- gelernt und dann später im Ka-
lich Salz sein könne. Der Mann pitalismus weitergemacht. Sie
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
war einer der hellsten Köpfe gilt als störrisch, eckig, beharr-
der Zeitung, er sprach Latein lich und erfolgreich. Sie dreht
und fuhr einen Mazda. Wir ihre Runden, unbeirrt wie die
nannten ihn den Doktor. Jetzt deutsche Sozialdemokratie.
sagte er: „Salz bindet das Was- Vorige Woche war ich in einer
ser im Körper, Kollegen.“ Er Ausstellung im Kunstmuseum
esse weniger, auch seine Frau von Tel Aviv. Es wurden sowje-
probiere es. Sie fühlten sich be- Konservatives Essen: Saumagen tische Fotografien aus den Zwan-
reits besser. ziger-, Dreißiger- und Vierziger-
Die Genossen fühlen sich besser. Darum geht es, glau- jahren gezeigt, wunderbare, schwarz-weiße Bilder vom
be ich. Aufbau des Sozialismus. Dazu lief in Endlosschleife der
Der Doktor der SPD heißt Ursula Schulte. Sie war Haus- Klassiker „Oktober“ des sowjetischen Regisseurs Sergej
frau und sitzt heute im Bundestag. Sie ist Ernährungs- Eisenstein. Er beginnt im Februar 1917 mit dem Sturz des
politikerin. Ich stelle mir vor, wie sich alle in der Fraktion Zarendenkmals und jubelnden Arbeitern. Er beschreibt,
auf die Fingernägel sahen, weil keinem mehr einfiel, wie wenn man so will, die Anfänge linker Politik.
es jetzt weitergehen sollte. Es war ja alles gesagt, zum Fa- Der Saal war schon fast leer, das Museum schloss, der
miliennachzug, zur Linken, zu Glyphosat, da meldete sich Sabbat begann. Auf einem Stuhl in der Ecke saß die Mu-
Ursula Schulte. seumswärterin, eine ältere, blonde Frau mit russischem
Martin Schulz sagte: „Uschi?“ Gesicht. Sie war vor 15 Jahren aus Moskau nach Israel ge-
Ursula Schulte sagte: „Zucker, Salz und Fett verur- flohen. Jetzt sah sie hier unaufhörlich, wie Lenin auf dem
sachen Krankheiten.“ Finnischen Bahnhof von Petrograd ankam. Der endlose
Am nächsten Tag zitierte sie die „Bild“-Zeitung damit. Auftritt des Messias.
Auf Seite eins. Je dramatischer die Lage wird, desto bana- Ich habe sie gefragt, wie sie das finde.
ler wird die Rede. Erich Mielke gelang sein berühmtester Auf der Leinwand fordern die Revolutionäre: „Schluss
Satz, als er die Schlinge um den Hals trug: „Ich liebe doch mit der Übergangsregierung!“ Ein ewiger Satz der Linken.
alle.“ Lindner von der FDP sagte neulich, als das Land Ich dachte an zu Hause. Die Museumswärterin sah mit il-
auseinanderzufallen drohte, in der „Anne Will“-Talkshow: lusionslosem Blick auf die Leinwand, in die feurigen Au-
„Es geht um die große Richtung.“ gen der bärtigen Revolutionäre.
Neben Lindner saßen noch Altmaier von der CDU in Sie sagte nur: „Oh. Oh.“ Besser hätte es auch Martin
der Runde und Schulz von den Sozialdemokraten. Alle Schulz nicht sagen können.
Umwelt
Klimafreundliche Elektroautos
Fahrzeuge mit alternativem Antrieb sind besser als ihr Ruf.
Elektroautos sind klimafreundlicher als Wagen mit Ver- dern die Batterien aufgeladen werden. In Deutschland
brennungsmotoren, auch wenn Studien oft das Gegenteil werden dabei größere Mengen Treibhausgas produziert als
behaupten. Das geht aus einer Untersuchung des For- in Norwegen oder Frankreich. Doch auch hierzulande
schungsinstituts International Council on Clean Trans- erweist sich die neue Antriebsform unterm Strich als über-
portation (ICCT) hervor, das elf Forschungsarbeiten legen. Laut der ICCT-Studie hat das Elektroauto spä-
zu dem Thema analysiert hat. Demnach sparen die strom- testens nach drei Jahren den Diesel oder den Benziner in
betriebenen Fahrzeuge über einen Lebenszyklus von seiner Klimabilanz überholt. „Dieser Vorsprung wird sich
150 000 Kilometern zwischen 28 und 72 Prozent des Treib- noch weiter vergrößern, wenn die Batterieproduktion
hausgases Kohlendioxid ein. Die Bandbreite ist so groß, und die Stromquellen grüner werden“, sagt der Deutsch-
weil auch der unterschiedliche CO2-Ausstoß bei der Pro- land-Chef von ICCT, Peter Mock. Seine Organisation
duktion der Batterien von E-Autos einkalkuliert werden war maßgeblich an der Aufdeckung der Abgasmanipula-
muss. Außerdem ist zu berücksichtigen, in welchen Län- tionen von VW beteiligt. gt
BayernLB LB-Vorstand und wäre dort ler scheidet aus. Ihn selbst
Aufsichtsrat kommt auch gern Chef geworden, kann Dreesen nicht beerben,
vom FC Bayern was ihm jedoch verwehrt
blieb. Zuvor hatte er Füh-
andernfalls müsste er seinen
Hauptjob als Finanzchef
Den Vize- und Finanzchef rungspositionen bei der Hy- beim Rekordmeister Bayern
des FC Bayern München, Jan- poVereinsbank und beim München aufgeben. Stattdes-
Christian Dreesen, zieht es Deutschlandableger der sen soll er in dem Gremium
zurück an seine alte Wir- Schweizer Großbank UBS eines der Mandate der
kungsstätte, die Bayerische bekleidet. Im zweiten Anlauf Sparkassen übernehmen, zu
Landesbank. Allerdings soll scheint Dreesen nun doch denen er enge Kontakte
Dreesen dort nicht in den noch einen Topjob der pflegt. Sie halten 25 Prozent
SVEN SIMON / IMAGO
MATT ALLISON
gen Vorstandschefs Roland neue Märkte erschließen.
Koch und dessen Vorgänger – Doch die meisten von ihnen,
auch wenn ihn das unter dem etwa der indische Ableger
Strich Geld kostet. Kurz nach Neo Structo, kamen nur
seinem Einstieg bei dem ehe- selten aus den roten Zahlen Luftfahrt schen Nummer N748MA un-
maligen Baukonzern im Jahr heraus. Mit anderen Unter- Im TUI-Jet nach terwegs und fliegt unter ande-
nehmen – etwa dem Leittech-
nikspezialisten Mauell – han- Guantanamo rem den US-Marinestütz-
punkt Guantanamo Bay auf
delte sich Bilfinger sogar Kor- Der Reiseveranstalter TUI Kuba mit dem berüchtigten
ruptionsvorwürfe ein. Damit nimmt Imageprobleme in gleichnamigen Gefangenenla-
ist nun Schluss. Kochs aktuel- Kauf, um die eigenen Maschi- ger an. Hintergrund ist ein
ler Nachfolger, der ehemalige nen auch im Winter besser Vertrag von Miami Air mit
Linde-Vorstand Tom Blades, auszulasten. Das zeigt das der US-Regierung, der den
hat bis Ende Januar bereits Beispiel einer Boeing 737, die Transport von Beamten und
FRANK RUMPENHORST / PICTURE ALLIANCE / DPA
zehn der Verlustbringer ver- der Konzern von November leitenden Mitarbeitern des
kauft. Weitere drei sollen bis bis April an die US-Charter- US-Militärs wie Offizieren
zum Sommer folgen. Als fluggesellschaft Miami Air In- vorsieht. Ein TUI-Sprecher
Preis kassierte Bilfinger im- ternational vermietet hat. versichert, „ein kurzfristiges
merhin noch einen niedrigen Die Maschine mit dem bishe- Verleihen von Flugzeugen“
zweistelligen Millionenbe- rigen Kennzeichen D-ATUK sei in der Ferienflugbranche
trag. Dem stehen jedoch be- und dem TUI-Smiley an der „gängige Praxis“. Einfache
trächtliche Abschreibungen Heckflosse wird normalerwei- Truppenangehörige oder
gegenüber, weil die angeb- se zu Ferienzielen wie Mallor- Häftlinge dürften in der Ma-
lichen Perlen einst viel zu ca oder Ibiza eingesetzt. Nun schine allerdings nicht trans-
Bilfinger-Mitarbeiter teuer erworben wurden. did ist sie mit der amerikani- portiert werden. did
Kalter Währungskrieg
Welthandel Die US-Wirtschaft boomt. Trotzdem befeuert Präsident Donald Trump die
Konjunktur weiter und redet einem schwachen Dollar das Wort. Damit bringt er
Europas Aufschwung sowie deutsche Exporte in Gefahr – und die EZB gegen sich auf.
S
eit 15 Jahren lässt Rolf Philipp in Philipps wichtigste Kunden, Airbus und bei ist der Anstieg des Euro, der vor etwas
Übersee am Chiemsee „Knochen für Boeing, verkaufen einen Großteil ihrer über einem Jahr begonnen hat, im Prinzip
Flugzeuge“ bauen. So nennt der Flugzeuge gegen Dollar und wälzen das eine gute Nachricht, dokumentiert er doch,
Gründer und Chef von Aircraft Philipp Währungsrisiko ab, indem sie auch ihre wie sehr sich die jahrelang schwache Kon-
jene Aluminium- und Titanteile für die Zulieferer in Dollar bezahlen. Ihre Markt- junktur des Kontinents erholt hat.
Luft- und Raumfahrtindustrie, die seine macht erlaubt es ihnen. Fällt der Kurs der Hinzu kommt, dass der Wille zur Zu-
Firma mit 250 Mitarbeitern in Oberbayern US-Währung, sinkt auch der Gewinn von sammenarbeit, zumindest in Europas Kern-
und am zweiten deutschen Standort Karls- Aircraft Philipp. Denn die Kosten entste- ländern, nach dem Brexit-Votum der Bri-
ruhe herstellt. Das Geschäft läuft gut, über hen überwiegend in Euro. ten zugenommen hat – vor allem dank des
60 Millionen Euro hat das Familienunter- „Wir haben in Deutschland einen tech- neuen französischen Staatspräsidenten.
nehmen zuletzt umgesetzt. nologischen Vorsprung, aber wenn der „Seit der Wahl von Emmanuel Macron ist
Doch seit einiger Zeit erschwert die Ent- Dollar wie ein Hammer auf uns fällt, dann die Euro-Skepsis weg. Die großen Investo-
wicklung in Übersee Philipp das Leben, nützt das nichts“, sagt Philipp. Läge der ren sind nach Europa zurückgekehrt, weil
genauer gesagt: in den Vereinigten Staaten, Kurs dauerhaft bei 1,35 Dollar oder höher, sie sehen, dass es wieder läuft“, sagt David
wo der amerikanische Dollar binnen acht dann würde es für Kunden immer attrakti- Folkerts-Landau, der Chefvolkswirt der
Monaten mehr als zehn Prozent seines ver, im Dollarraum einzukaufen. Deutschen Bank.
Wertes verloren hat. Zuletzt war ein Euro Je mehr die Gemeinschaftswährung an Doch die selbst gemachte Eurostärke ist
1,23 Dollar wert, noch vor einem Jahr hatte Wert gewinnt, desto schwieriger wird es nur die eine, erfreuliche Seite der Medaille.
Aircraft Philipp von Kursen unter 1,10 Dol- für europäische Exporteure wie Philipp, Die andere ist die America-First-Politik
lar profitiert. ihre Waren im Dollarraum abzusetzen. Da- von Donald Trump: Sein unverhohlenes
62 DER SPIEGEL 7 / 2018
Wirtschaft
Interesse an einem schwachen Dollar so- vom Währungskrieg geisterte plötzlich Der zweite Teil des Trumpschen
wie sein brisanter Cocktail aus Angebots- durch den Graubündner Wintersportort. Programms macht jedoch die Stoßrichtung
und Nachfragepolitik – Steuern senken, „Es dürfte kein Zweifel mehr bestehen, klar: In derselben Woche, in der sein
Vorschriften abschaffen, im Ausland ge- dass die US-Regierung nicht nur einen kal- Finanzminister den Dollar schwachredete,
parkte Vermögen repatriieren. Damit geht ten Währungskrieg führt, sondern auch im verhängte die US-Regierung Importzölle
der Präsident enorm ins Risiko. Begriff ist, ihn zu gewinnen“, kommentiert auf Waschmaschinen und Solarzellen. Die
Obwohl die amerikanische Wirtschaft Joachim Fels, Chefökonom der Fondsge- Kombination aus einem niedrigeren Wech-
bereits seit Jahren boomt und sich mit sellschaft Pimco, das Geschehen. Trumps selkurs und protektionistischen Maßnah-
einer Erwerbslosenquote von 4,1 Prozent Politik gefährdet die Erholung in Europa. men soll amerikanischen Unternehmen im
der Vollbeschäftigung nähert, befeuert Die Krisenpolitiker in der Europäischen Wettbewerb mit dem Rest der Welt einen
Trump den Aufschwung weiter – und ris- Zentralbank (EZB) sind daher ziemlich Vorteil verschaffen.
kiert eine Überhitzung, die für die gesamte verärgert. Aber auch ziemlich machtlos. „Die Regierung mag im Moment eindeu-
Weltwirtschaft zur Gefahr werden kann. Mit seiner Konjunkturpolitik ohne Rück- tig einen schwachen Dollar, weil die Infla-
Oberflächlich scheint alles gut. In Ame- sicht auf die Handelspartner – Ökonomen tion moderat ist und ein schwacher Dollar
rika, Europa und Asien wird im Gleich- sprechen von „Beggar-thy-Neighbour- es für das verarbeitende Gewerbe leichter
schritt mehr produziert, konsumiert und Politik“ – knüpft der Präsident an eine alte macht zu wachsen“, sagt der Ökonom
investiert. Gerade hat der Internationale amerikanische Tradition an. Anfang der Barry Eichengreen von der University of
Währungsfonds seine Prognose für das 1970er-Jahre war es Finanzminister John California, Berkeley.
Wachstum in der Welt auf je 3,9 Prozent Connally, der ein für damalige Verhältnisse Die spendierfreudige Fiskalpolitik drückt
in den Jahren 2018 und 2019 angehoben. gewaltiges Budgetdefizit von 40 Milliarden den Kurs der Währung ebenfalls. Wenn
Doch wie schnell aus Euphorie Panik Dollar in Aussicht stellte, als „fiskalischen Steuern sinken und der Staat die Ausgaben
werden kann, war zu Beginn vergangener Stimulus“ rechtfertigte und seine ob der erhöht, verfügen Haushalte über mehr
Woche zu sehen, als an den Börsen plötz- Dollarschwäche besorgten Amtskollegen Geld. Sie fragen mehr Waren aus dem Aus-
lich die Angst vor ausufernden Staatsschul- aus Europa mit einem inzwischen legen- land nach, kaufen dafür Devisen und
den, Inflation und Zinserhöhungen umging dären Bonmot abkanzelte: „Der Dollar ist schwächen damit ihre eigene Währung. Im
und die Wall Street den größten Punkte- unsere Währung, aber euer Problem.“ Inland treibt die höhere Nachfrage die Prei-
verlust ihrer Geschichte verzeichnete. Lloyd Bentsen, Finanzminister unter se, erst recht, wenn billige Einfuhren mit
Auch wenn der Kursrutsch an den Bör- dem Demokraten Bill Clinton, ließ 1993 Zöllen belegt werden, sodass die Kaufkraft
sen prozentual weniger dramatisch ausfiel, die Japaner wissen, dass er sich dringend des Dollar sinkt.
dürfte er Trump mächtig geärgert haben. einen stärkeren Yen wünsche, um den ho- Es sei denn, die Notenbank hält mit hö-
Den schwächeren Dollar dagegen hat seine hen Exportüberschuss des asiatischen Han- heren Zinsen dagegen. Das würde Anleger
Regierung regelrecht herbeigeredet. So delspartners einzudämmen. aus dem Ausland anlocken, die auf der Su-
will sie Exporte fördern, die Importe dros- Heute hat Donald Trump die amerika- che nach höheren Renditen sind, und den
seln und das Leistungsbilanzdefizit verrin- nische Tradition, Politik auf Kosten der Dollar stärken – aber auch den Auf-
gern – eines der zentralen Versprechen des Nachbarn zu machen, mit der America- schwung gefährden. Die Lage in der Wirt-
Wahlkämpfers Trump. First-Doktrin zum Programm erhoben. schaft und an den Finanzmärkten ist so
Auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum Trumps wirtschaftspolitische Agenda angespannt, dass Trumps Politik einem
ließ der Commander-in-Chief seinen sieht einerseits vor, die Konjunktur durch Zündeln am Pulverfass gleicht.
Finanzminister Steven Mnuchin verkün- Steuersenkungen und öffentliche Investi- Seine Politik könnte das über Jahre be-
den, dass ein schwacher Dollar ganz im tionen in die Infrastruktur anzukurbeln. hutsam gehegte Krisenmanagement der
Sinne der US-Wirtschaft sei. Zwar klang Das hilft amerikanischen Konzernen, auch Zentralbanken in Amerika und Europa
Trump selbst kurze Zeit später wieder et- der Rest der Welt könnte zunächst profi- über den Haufen werfen und die Noten-
was versöhnlicher, aber der Geist war aus tieren, wenn die US-Wirtschaft stärker banken zu einem rasanten Kurswechsel
der Flasche, die verbale Intervention wirk- wächst und Firmen aus Europa oder Asien zwingen. „Es ist nicht der richtige Zeit-
te: Der Dollar fiel rapide, das böse Wort mehr Aufträge erhalten. punkt für ein derartiges fiskalpolitisches
Wert eines Euro in US-Dollar US-Leitzins und US-Staatsanleihen US-Aktienindex Dow Jones
1,25 in Prozent in Punkten
Leitzins 26000
Rendite zehnjähriger Staatsanleihen 26000
25000
2,5 23 860
1,5
Programm“, sagt einer der einflussreichs- Avenue, nur vier Blocks vom Weißen Haus dem Ziel, die Inflation nahe an die Richt-
ten Zentralbanker der Welt. entfernt, gespürt haben: Just zu seinem marke von zwei Prozent zu bringen, jetzt
Der aktuelle Boom hängt wie wohl kein Arbeitsbeginn brachen weltweit die Ak- fürchten sie um die Früchte ihrer Arbeit.
Aufschwung zuvor an der Politik des billi- tienmärkte ein. Dem Notenbanker könnte „Wir sind zuversichtlich und zugleich
gen Geldes in den zehn Jahren seit Aus- Ähnliches blühen wie seinen Vorgängern wachsam. Zuversichtlich, weil unsere Geld-
bruch der Finanzkrise. Sie hat nicht nur Alan Greenspan und Ben Bernanke: politik wirkt und der Aufschwung robuster
die Konjunktur wieder in Gang gebracht, Greenspan, kaum zwei Monate im Amt, geworden ist, das bringt uns unserem
sondern auch die Aktien- und Immobilien- musste 1987 mit dem größten Börsencrash Ziel näher“, sagt EZB-Chefvolkswirt Peter
preise nach oben getrieben. Für Firmen- seit 1929 fertigwerden, Bernanke ab 2007 Praet. „Aber es gibt eine Reihe von inter-
übernahmen werden Mondpreise bezahlt die Folgen der Immobilienkrise mitsamt nationalen Risiken, und die beobachten
wie zuletzt 2007 vor der Finanzkrise. gewaltiger Rezession abfedern. wir genau.“
Der Kurssturz vom Montag hat auch of- Schon im März, wenn die Fed erstmals Als großes Risiko gilt im EZB-Rat ein
fenbart, dass Banken und Hedgefonds an unter Powell eine Zinsentscheidung treffen zu schwacher Dollar. Jahrelang haben
den Finanzmärkten wieder mit riskanten muss, könnte Powell gezwungen sein, den Europas Notenbanker den Leitzins unter
Wetten hantieren, die wie Brandbeschleu- Märkten zu signalisieren, ob er 2018 öfter null gehalten und in großem Stil Staats-
niger wirken, wenn die Stimmung an den die Zinsen anheben wird als die bislang und Unternehmensanleihen aufgekauft,
Börsen einmal umschlägt. Milliardenschwe- prognostizierten drei Mal. um die Konjunktur anzukurbeln. Auch
re sogenannte Exchange-Traded Notes „Das Inflationsrisiko in den USA steigt, wenn die EZB immer betont hat, keine
(ETN), die auf geringe Kursschwankungen die Zinsen an den Anleihemärkten sind Wechselkurspolitik zu betreiben, setzte
wetten, wurden im Zuge der Turbulenzen viel zu niedrig“, glaubt Folkerts-Landau, auch sie die Währung als ökonomische
zu Wochenbeginn schlagartig wertlos und der Powell als unabhängigen Geist schätzt. Waffe ein: Eine – gewollte – Begleiterschei-
verstärkten den Abwärtstrend. Am Don- „Er ist sehr pragmatisch und dürfte nicht nung ihrer Politik war ein niedriger Euro-
nerstag setzte sich die Talfahrt fort. einfach das tun, was andere wollen.“ kurs, noch vor einem Jahr näherte er sich
Jetzt grassiert die Angst, dass die schöns- Trump hat wohl angesichts der hohen der Parität von einem Dollar.
te aller Welten für Unternehmen, Regie- Staatsverschuldung an höheren Zinsen Der rasche Euroanstieg seither kam den
rungen und Spekulanten enden könnte; ebenso wenig Interesse wie an einem star- EZB-Lenkern ohnehin ungelegen, deshalb
eine Welt, in der wegen der Nullzinsen ken Dollar. Seine Steuerreform, so schät- reagierten sie ungewöhnlich schroff auf die
Schulden fast kein Problem waren, Inves- zen Experten, könnte das Haushaltsdefizit amerikanische Verbalintervention zulasten
titionen unfassbar billig und Geldanlagen binnen zehn Jahren um weitere 1,5 Billio- des Dollar. „Ein Währungskrieg ist das Letz-
aller Art scheinbar risikolos. nen Dollar vergrößern. te, was die Welt jetzt braucht“, schimpfte
Diese brisante Lage macht Jerome Powell Ob Trump sich durchsetzt oder Powell Praets Ratskollege Benoît Cœuré beim
zur vielleicht spannendsten Personalie im kraftvoll gegensteuert, ist auch für Europa Weltwirtschaftsforum in Davos. Und EZB-
Washington dieser Tage. Seine von Trump von großer Bedeutung. Bleiben die Zinsen Chef Mario Draghi erklärte Anfang der Wo-
weggelobte Vorgängerin Janet Yellen hat in den USA niedrig und hält Trump an sei- che vor dem Europaparlament in Straßburg,
dem neuen Chef der amerikanischen Zen- ner Politik des schwachen Dollar fest, be- durch die starken Kursschwankungen des
tralbank Federal Reserve (Fed) eine fast kommen die Europäer ein Problem. Euro entstehe „neuer Gegenwind“.
unlösbare Aufgabe hinterlassen. Im EZB-Turm im Frankfurter Ostend ist „In einem Währungskrieg ist es so:
Was auf ihn zukommt, dürfte Powell die Stimmung deshalb geladen wie lange Wenn man nicht auf einen Vorstoß rea-
schon an seinem ersten Tag in der gewal- nicht mehr. Die Mitglieder des mächtigen giert, wie Amerika ihn jetzt gemacht hat,
tigen Fed-Zentrale an der Constitution Zentralbankrats wähnten sich kurz vor dann wird der Angreifer ermutigt, weiter-
zumachen“, erklärt Ulrich Kater, Chef-
volkswirt der DekaBank. „Deshalb musste
die EZB schnell und scharf reagieren, und
das hat sie getan.“
Noch ist es nur ein Krieg der Worte,
doch dabei dürfte es nicht bleiben.
„Ein starker Euro könnte vor allem in
den Peripherieländern das Wachstum
bremsen“, sagt Deutsche-Bank-Chefvolks-
wirt Folkerts-Landau. „Die EZB könnte
sich daher gezwungen sehen, den Ausstieg
aus der ultralockeren Geldpolitik zu ver-
zögern, wenn der Dollar weiter fällt.“
US-Ökonom Eichengreen hält das Spiel
der Trump-Regierung mit dem Wechsel-
kurs noch aus einem anderen Grund für
MICHAEL NAGLE / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
terschiedlich. Es gibt Fälle, in denen Mas- das etwa zwei Milliarden Euro kosten.
sagen aus medizinischer Sicht sinnvoll sein Aber das ist nicht unser erstes Ziel. Als
können, zum Beispiel bei Spastiken oder ersten Schritt könnten wir dafür sorgen,
schmerzenden Muskelerkrankungen. Bei dass der Erstkontakt des Patienten mit
einem Privatversicherten schreibt man ein dem Arzt immer bezahlt wird. Das wären
Rezept über 20 Massagen auf, und fertig. weniger als 500 Millionen Euro.
Bei einem gesetzlich Versicherten muss SPIEGEL: Ist es nicht zu platt, wenn ausge-
ein Arzt zwangsläufig darauf achten, ob rechnet die Ärztelobby nach mehr Millio-
er mit einer Verordnung sein Budget über- nen für die Mediziner ruft?
schreitet – und damit auch für die Behand- Gassen: Das ist einfach nur ehrlich. Wenn
lung aller anderen Patienten keine Leis- die Politik von uns verlangt, dass wir Pa-
tungen mehr verordnen kann, ohne in tienten schneller Termine anbieten sollen
einen Regress zu laufen. Zudem wird ja als bisher und dass Versicherte mehr Leis-
auch ein Teil der Arztbesuche durch die tungen in Anspruch nehmen sollen, dann
Honorarbudgetierung gar nicht bezahlt. muss sie dafür auch Geld auf den Tisch le-
SPIEGEL: Demnach ist ein Kassenpatient gen. Alles andere wäre unlauter. Auch den
doch ein Versicherter zweiter Klasse. Umfrage zu Wartezeiten Patienten gegenüber.
Gassen: Das stimmt so pauschal nicht. Die für einen Termin beim Facharzt*, SPIEGEL: Die Politik wirft den Ärzten vor,
gesetzlichen Kassen übernehmen viele Angaben in Prozent dass sie die Terminvergabe boykottieren,
Leistungen wie Reha-Kuren oder Haus- weil die Terminservicestellen oft nicht er-
haltshilfen, von denen viele Privatversi- gesetzlich privat reichbar sind. Eine bundesweite Service-
versichert versichert
cherte nur träumen können. Aber im Pra- nummer soll das Problem lösen, so steht
xisalltag führen die starren Budgets tat- es jetzt im Koalitionsvertrag.
sächlich dazu, dass ein Arzt genau rechnen keine Gassen: Die Nachfrage ist einfach sehr ge-
muss, was er verordnen und wie viele Wartezeit 16 19 ring. Die Menschen wollen nämlich meist
Patienten er sich leisten kann. nicht von irgendeinem Arzt behandelt
SPIEGEL: Gibt es neue Behandlungen, die werden, sondern von ihrem Wunscharzt.
den Versicherten von AOK, Barmer und ein Tag 4 7 Wenn sie zu Dr. Müller wollen, dann hilft
Co. aus Kostengründen vollkommen vor- es ihnen nicht, wenn wir ihnen einen Ter-
enthalten werden? min bei Dr. Meier anbieten. Die ganze
Gassen: Nichts, was lebensnotwendig wäre. 2 bis Idee der Servicestellen war ein politischer
Wenn es ernst wird, sind gesetzlich Versi- 3 Tage 6 10 Flop.
cherte genauso gut versorgt wie Privatver- SPIEGEL: Die angehenden Koalitionäre
sicherte. Aber natürlich gibt es einige Un- wollen eine Kommission einrichten, um
terschiede, bei ganz neuen Medikamenten bis eine die Honorare der Ärzte zu reformieren.
Woche 12 20
oder Behandlungsmethoden. Private Ver- Spricht überhaupt irgendetwas dagegen,
sicherer beispielsweise zahlen in der Regel die Bezahlung der Ärzte für die Behand-
eine Haarwurzelentfernung per Laser, bis 3 lung von gesetzlich und privat Versicher-
wenn die ärztlich verordnet ist. Bei den Wochen 22 20 ten völlig anzugleichen?
gesetzlichen Kassen ist das erst seit kurzer Gassen: Ja, ganz einfach: Selbst wenn die
Zeit für wenige Patienten möglich. Aber Ärzte sich in der Summe nicht schlechter-
eine Wurzelentfernung per heißer Nadel über 3 stellen sollen, wären die Folgen regional
ist eine Tortur. Wochen 30 17 höchst unterschiedlich verteilt. Im Osten
SPIEGEL: Und wie könnte man das Gesund- leben vergleichsweise wenige Privatversi-
heitssystem aus Ihrer Sicht gerechter ma- cherte. Dort würden die niedergelassenen
* Versichertenumfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung;
chen? 1978 Befragte von Mai bis Juni 2017; an 100 Prozent fehlende: sonstige Ärzte bei einer Angleichung der Honorare
Gassen: Ganz einfach: Man sollte die Bud- überproportional profitieren. In vielen
gets in der gesetzlichen Krankenversiche- verstehen, wenn Kollegen in einer ähn- Gegenden im Westen dagegen würden
rung aufheben. lichen Situation dreimal überlegen, ob Ärzte unter teils massiven Einbußen lei-
SPIEGEL: Das würde bedeuten, dass Ärzte sie noch die letzten Patienten annehmen, den. Kein Patient würde dadurch besser
unbegrenzt verordnen dürfen. Damit ma- die um fünf vor fünf vor der Praxistür versorgt werden. Außerdem lassen sich die
chen Sie sich und allen niedergelassenen warten, wenn das Budget schon ausge- Prinzipien von gesetzlicher und privater
Medizinern nur selbst ein Geschenk. schöpft ist. Krankenversicherung nicht ohne Weiteres
Gassen: Im Gegenteil, heute sind wir die, SPIEGEL: Haben Sie am Quartalsende schon zusammenführen.
die Geschenke machen. Wir wollen ein- mal Patienten abgewiesen, weil Ihr Budget SPIEGEL: Mal ehrlich. Würden Sie engen
fach nur, dass jeder Besuch eines Patienten ausgeschöpft war? Freunden guten Gewissens raten, sich ge-
honoriert wird, dass vor allem bei jeder Gassen: Nein. Die Patienten können für setzlich zu versichern?
Erstkonsultation die Grundpauschale für diese Problematik ja nichts, zahlen ihren Gassen: Auf jeden Fall. Ich halte die gesetz-
jeden Patienten gezahlt wird. vollen Krankenkassenbeitrag und gehen liche Versicherung langfristig sogar für das
SPIEGEL: Ist das derzeit nicht so? wohl davon aus, dass der Arzt für ihre Be- überlegene System. In der PKV gibt es viel
Gassen: Nein. Ich kann da aus meiner handlung auch ein Honorar erhält. Aber Reformbedarf. Rein medizinisch ist die
eigenen Praxis berichten. Pro Quartal be- jeder Arzt stellt sich natürlich die Frage, Versorgung hier allerdings nicht besser.
handeln wir knapp 4000 gesetzlich versi- wie es sein kann, dass man für die Behand- Man kann das mit der Businessclass bei
cherte Patienten. Davon wurden uns im lung nicht mehr bezahlt wird. Flügen vergleichen: Man kann schneller
vergangenen Jahr aber nur 3500 Abrech- SPIEGEL: Was würde Ihr Vorschlag kosten? einsteigen und Champagner trinken. Aber
nungsscheine vergütet, 500 Patienten be- Gassen: Wenn wir die Budgetdeckel in ans Ziel kommt man mit Economy genau-
handeln wir quasi unentgeltlich. Ich kann einem Schritt komplett aufheben, würde so sicher. Interview: Cornelia Schmergal
würde. Dieter von Holtzbrinck war über ner Zeit beim „Handelsblatt“ Redakteur
E
r hatte sich früh festgelegt. Andere und damit für lange Zeit auch das Vertrau- rührungsängste als vielleicht die meisten
feierten Martin Schulz gerade als en des Verlegers errungen, der das „Han- deutschen Pressemanager. So wie es keine
neuen Heilsbringer der SPD – da delsblatt“, wie er intern sagte, endlich so Zeitungskrise gebe, sagte Steingart, gebe
keilte „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor hatte, wie er es sich wünschte. es auch keine sinkenden Werbeerträge.
Steingart bereits gegen ihn. Nicht politisch, Ob es wirklich die paar kantigen For- Die Werbung suche sich nur andere Wege.
sondern persönlich. mulierungen über Martin Schulz waren, Und auf diesen Wegen sollte das „Han-
Er polterte gegen den „im Volk weithin delsblatt“ dabei sein.
unbekannten Mann – der die Zulassung Die Grenze von redaktionellen Inhalten
zum Abitur nicht schaffte, wenig später und kommerziellen Verlagsinteressen
zum Trinker wurde, bevor er als granteln- schien jedenfalls flexibel. Das „Handels-
der Abstinenzler für 22 Jahre im Brüsseler blatt“ suchte die Nähe von Unternehmen,
Europaparlament verschwand“. Er hielt über die es berichtete, manches Mal mehr
Schulz für dumm, und er schrieb das auch. als nötig. Konzerne traten als Sponsoren
Nur etwas eleganter. Wer als Kanzlerkan- auf, Topmanager brachten Glanz auf „Han-
didat gegen Angela Merkel antrete, müsse delsblatt“-Veranstaltungen, das hauseigene
„eine Dachstube mit Innenausbau vorwei- Research Institute bot ökonomische Exper-
sen können“. tise auch Unternehmen an.
Gegen diese Ausfälle nahm sogar die Am augenfälligsten war das Verwischen
„FAZ“ den SPD-Mann in Schutz. Steingart der Grenzen im Fall General Electric (GE),
denke über das Abitur offenbar, „es gehöre den das Magazin „Wirtschaftsjournalist“
zum Gehirn oder hinterlasse besondere 2013 beschrieb. Der US-Konzern buchte
Spuren im Denken“, ätzte das Blatt. Werbepakete und bekam redaktionelle
Steingart schrieb solche Dinge im „Mor- Präsenz: GE-Chef Jeffrey Immelt durfte
ning Briefing“, das er alltäglich per E-Mail etwa auf der Website des „Handelsblatts“
an über 500 000 Abonnenten verschickte. in einem Artikel Werbung machen. Bei
LENA BÖHM / IMAGETRUST
Wer es regelmäßig las, wusste: Wen er liebt, Steingarts „Deutschland Dinner“ war Im-
den liebt er lange. Wen er hasst, der hat melt als „Ehrengast“ geladen. Das „Han-
nichts zu lachen. Es soll Leser gegeben ha- delsblatt“ sah keinen Interessenkonflikt.
ben, die nach diesen morgendlichen Scharf- Ging es am Ende um diese Dinge? Um
richtereien süchtig waren. Steingart selbst, teure Projekte wie die „Global Edition“,
so viel ist sicher, genoss die Perspektive „Handelsblatt“-Herausgeber Steingart die bis zuletzt offenbar Verluste einfuhr –
des Urteilenden, bisweilen Aburteilenden. Erst einmal ausgehämt die Dieter von Holtzbrinck aber klaglos
Nun hat es sich für Steingart selbst erst hinnahm, weil er den Elan Steingarts
einmal ausgehämt. Am Donnerstag be- die Steingart den Chefposten kosteten, ist schätzte. Ziemlich lange habe der Altver-
sprach sich Steingarts Chef, der Verleger zumindest fragwürdig. Noch umstrittener leger seinen umtriebigen Ziehsohn vertei-
Dieter von Holtzbrinck, mit seinem inners- nämlich, vielleicht noch angreifbarer war digt, heißt es. Eigentlich habe er auch die
ten Zirkel. Bald war klar: Steingart muss er in seiner Rolle als Geschäftsführer. „Morning Briefings“ gemocht. Doch um
gehen. Anlass war die letzte Salve, die er Denn: Wie erfolgreich war er wirklich? Holtzbrinck herum war die Zahl der Freun-
gegen Schulz losgelassen hatte: ein paar Nach außen hin wirbelte Steingart per- de Steingarts nicht eben groß. Mancher Ma-
fiese Sätze darüber, wie Schulz sich das manent, schuf neue digitale Produkte wie nager des Hauses hätte sich weniger öf-
Außenministerium von Sigmar Gabriel ge- die englischsprachige „Global Edition“, fentliche Selbstdarstellung Steingarts ge-
griffen hatte. (Gabriel, man kann das ah- Leserevents und Konferenzen, ließ Dut- wünscht und dafür mehr ökonomischen
nen, kam in den „Morning Briefings“ deut- zende Redakteure anlässlich der Brexit- Erfolg.
lich besser weg als im Rest der deutschen Berichterstattung nach London fliegen Zwei Dinge jedenfalls sind über Dieter
Presse, aber das nur nebenbei.) oder zur US-Wahl nach Washington, von Holtzbrinck bekannt: dass er sich in
Steingart fabulierte von einem „perfek- schrieb Bücher, moderierte und unterteilte redaktionelle Inhalte nicht einmischt. Und
ten Mord“, den Schulz an Gabriel begehe, die Welt in Freunde und Feinde. Auch die dass er der SPD nicht nahesteht.
und malte sowohl die Tötung wie auch die Manager der deutschen Konzerne teilt Vielleicht kamen Steingarts Entgleisun-
verlogenen Tränen des Täters mit dem Steingart gern in Stars und Verlierer ein. gen zu Martin Schulz für Dieter von Holtz-
breiten Pinsel aus. Grautöne gibt es selten. Die einen sind brinck gerade zur richtigen Zeit.
Er konnte da nicht ahnen, dass dies wohl eben von morgen, die anderen von gestern. Markus Brauck, Isabell Hülsen,
sein letztes „Morning Briefing“ werden Sich selbst ordnet Steingart, der vor sei- Veit Medick, Martin U. Müller
F
reitagabend, 20 Uhr, Primetime in der Drohne, die sich ihre eigene Flugbahn Gang, ihrer einzigartigen Weise, sich zu
Chinas Staatsfernsehen. Im ersten suchte, mit dem Computer, der Gedichte bewegen.
Programm beginnt eine große Unter- schrieb, mit dem Basketball-Roboter, der Zuerst ist nur das körnige Bild einer
haltungsshow, die seit Monaten Millionen aus allen Lagen so präzise Körbe warf, wie Überwachungskamera zu sehen: Ein
vor den Bildschirm lockt: „Ji zhi guo ren“, es keiner der Kandidaten schaffte. Mann, den Kopf unter einer Mütze ver-
wörtlich: „Maschinenweisheit gegen den Der Star dieses Abends aber ist Huang steckt, huscht über einen Hinterhof. Dann
Menschen“. Yongzhen, 34, der ein Start-up namens kommt er mit sieben anderen, exakt gleich
Die Sendung ist eine Mischung aus „Wet- Watrix führt, das sich auf eine spezielle gekleideten Männern auf die Bühne, sie
ten, dass..?“ und einer Wissenschaftsshow: Anwendung künstlicher Intelligenz kon- drehen eine Runde. Wer von den acht war
Vier Kandidaten, darunter ein Informatik- zentriert hat. Seine Software kann Men- es, der vorher über das Studiogelände lief?
professor, treten gegen die neueste Erfin- schen identifizieren – nicht anhand ihres Die Kandidaten versagen, Watrix iden-
dung eines chinesischen Start-ups an. Meis- Gesichts, ihrer Stimme oder ihres Finger- tifiziert ihn sofort: Es war Kapuzenmann
tens gewinnt die Maschine. So war es mit abdrucks. Sie erkennt sie allein an ihrem Nummer 7. Erwischt. Applaus.
68 DER SPIEGEL 7 / 2018
Wirtschaft
Tencent-Zentrale in Shenzhen
„Kraftwerke der Innovation“
Marktes und der Einfallsreichtum seiner pole Shenzhen richtet die Regierung Tech-
Forscher, die China diesen digitalen Boom nologiezentren ein, bietet Konzernen at-
bescheren. Es ist das Zusammenspiel von traktive Grundstücke, Start-ups günstige
mindestens fünf Faktoren, die sich gegen- Mieten an und fördert den Zuzug von Ta-
seitig verstärken und das Land internatio- lenten.
nal wettbewerbsfähig machen: der massive, Vor einem Jahr zog der Software-Inge-
steuernde Eingriff des Staates; die über nieur Zhou Liuyang, 30, nach Shenzhen
Jahre aufgetürmten Vermögen seiner gro- und gründete Webot, ein Start-up, das
Europäische Zuschauer mag es inner- ßen Unternehmen; der Eifer, mit dem Re- Sprachassistenten für Versicherungen ent-
lich frösteln, wenn die Kamera den Iden- gierung und Unternehmen Daten sammeln wickelt. Er hatte in Hongkong promoviert
tifizierten ins Visier nimmt. Doch das chi- und verarbeiten; die Stärke von Chinas und zunächst überlegt, seine Firma dort
nesische Publikum ist hingerissen. Was verarbeitender Industrie – und eine Bevöl- aufzubauen. „Das Leben ist sehr einfach
Science-Fiction-Filme wie „Mission Im- kerung, die neue Technologien mit einer in Hongkong, das Essen großartig“, sagt
possible“ nur vorhersagen – Chinas Inge- Euphorie begrüßt, die im Westen wachsen- er. „Aber ich wollte mehr.“
nieure können das heute schon: „Gait- der Skepsis weicht. Zum Beispiel wollte er wegen der teuren
Recognition“, Gang-Erkennung, ein neues Daten, mit denen seine Firma arbeitet, den
Überwachungsinstrument, das selbst aus Zugang zu den Büros mit einem Fingerab-
50 Meter Entfernung funktioniert und
I. Der Staat druckverfahren sichern. „Um das zu tun,
gegen das keine Vermummung hilft. Wa- Als Chinas Präsident Xi Jinping Anfang muss man in Hongkong seine Mitarbeiter
trix arbeitet bereits mit den Sicherheitsbe- Januar seine Neujahrsansprache hielt, fiel abstimmen lassen. Das kann sehr lange
hörden zusammen. Als Erstes werden Chi- den Zuschauern eine kleine Veränderung dauern – und am Ende doch scheitern,
nas Atomkraftwerke mit seiner Software auf. Im sorgfältig arrangierten Bücherregal, wenn mehr als die Hälfte der Leute das
ausgestattet. vor dem die Rede aufgezeichnet wurde, vielleicht nicht wollen.“
Die Zuversicht der Chinesen angesichts standen wie üblich das „Kommunistische In Shenzhen hat ein Gründer freie Hand,
ihrer Digitalwirtschaft ist derzeit grenzen- Manifest“ und Marx’ „Kapital“, daneben wenn es um verschärfte Sicherheit geht.
los. Ob künstliche Intelligenz (KI), virtu- aber auch zwei neue, überraschend aktu- „Außerdem läuft alles schneller hier: Ich
elle Realität (VR), Online-Shopping, mo- elle Titel: „The Master Algorithm“ des US- brauchte genau eine Woche, um meine Fir-
bile Zahlmodelle oder Finanzdienstleistun- Informatikers Pedro Domingos sowie ma zu registrieren, alles online. In Hong-
gen – das Reich der Mitte sieht sich auf „Augmented. Life in the Smart Lane“ des kong hätte ich von Amt zu Amt laufen
DER SPIEGEL 7 / 2018 69
Wirtschaft
V. Der Spirit
Der Chang’an Boulevard, Pekings impe-
riale Ost-West-Achse, ist eine der teuers-
ten Adressen Chinas. In einem Hochhaus
gegenüber dem Gebäude des chinesi-
schen Staatsfernsehens hat Liu Cheng-
cheng, 29, gerade vier Büroetagen gemie-
tet. Es ist sein 8. Standort in Peking, der
XINHUA / IMAGO
30. in China.
Liu, kurz „CC“ genannt, betreibt ein
Unternehmen, das man als Chinas „Tech-
crunch“ bezeichnen könnte, das US-Nach- Kundin beim Bezahlen per Smartphone: Chatten, bestellen, bezahlen
richtenportal für die IT-Branche. Aber die-
sen Vergleich mag er nicht mehr, und da Inzwischen hat er 700 Mitarbeiter an- Chengcheng, „aber nicht für die etablier-
hat er einen Punkt. gestellt und seine Firma in drei Bereiche ten Börsenunternehmen, deren Aktienkur-
Als ihn der SPIEGEL vor vier Jahren aufgespalten: Der erste berichtet nach wie se man auf einem großen Terminal ver-
zum ersten Mal traf, hatte Liu seinen Stu- vor über Chinas Start-up-Szene. Der zwei- folgt, sondern eine App, die genauso
dentenblog „36Kr“ über Chinas Soft- und te ist eine mobile Datenbank, auf der sich schnell ist wie die Start-ups, denen wir
Hardwarefirmen gerade zu einer Plattform Investoren über 600 000 chinesische IT- folgen.“
ausgebaut, auf der sich Gründer und In- Firmen informieren können. Der dritte Bereich, „Kr Space“ genannt,
vestoren fanden (SPIEGEL 7/2014). Er hatte „Ich möchte in China einen Wirtschafts- vermietet Büros und Arbeitsplätze – ähn-
50 Mitarbeiter. dienst wie Bloomberg schaffen“, sagt Liu lich wie „WeWork“, Amerikas Kurzzeit-
1882
1986
Hang Loose!
So entspannt grüßen
1962
1998
vermieter für kleine Unternehmen. Diesen aus der er selbst stammt. Sie haben ein gehen, wenn die Firma das Wort ,Yachting‘
Vergleich mag Liu. sechs Monate altes Baby. „Seit wir uns im Namen trägt. … Vor allem Jachtbesit-
„China hat mehr kleine und mittelstän- auf den Börsengang vorbereiten, habe ich zer lockt der EU-Zwerg mit Sonderange-
dische Internetunternehmer als die USA kein Privatleben mehr“, sagt Liu, „meine boten – bei der Mehrwertsteuer.“
und Europa zusammen“, sagt er. „Die Frau organisiert alles für mich. Sie sucht
meisten von ihnen sitzen immer noch in mir sogar jeden Morgen raus, was ich an- Hierzu stelle ich fest:
ihren privaten Wohnungen. Wer hat in ziehen soll.“
China schon eine Garage?“ Die Nachfrage Vor vier Jahren hatte er gerade noch die Der in dieser Veröffentlichung zum Aus-
sei stark, Alibaba und Chinas Uber-Pen- Zeit gefunden, den Führerschein zu ma- druck kommende Verdacht ist falsch. Die
dant Didi haben in seinen „Kr Space“ in- chen. Auf die Frage, was für ein Auto er Cloverleaf Yachting Ltd. wurde nicht ge-
vestiert. Nächstes Jahr will er mit der Fir- sich denn kaufen wolle, antwortete er da- gründet, um Mehrwertsteuer zu sparen.
ma in New York an die Börse gehen. mals: „Ein blaues.“ Der beschriebene Mehrwertsteuervorteil
Nicht nur die Größe und das Wachstum Inzwischen hat er ein Auto, einen blau- auf Malta kommt bei der Jacht der Clo-
des chinesischen IT-Sektors würden im en Tesla. „Ich komme nur leider nie dazu, verleaf Yachting Ltd. nicht zum Tragen.
Westen immer noch unterschätzt, sagt Liu, ihn zu fahren. Dafür müsste ich mir Urlaub
auch der Umstand, wie mobil Chinas In- nehmen. Aber wenn ich in China bin, gibt Hamburg, den 18.8.2017
ternet inzwischen sei. „Viele Volkswirt- es keinen Urlaub.“ Bernhard Zand Johannes B. Kerner
schaften des Westens sind im Grunde im-
mer noch E-Mail-basiert“, sagt er. „Das Anmerkung der Redaktion:
gibt es in China nicht mehr. Meine Gene- Der SPIEGEL hätte die Möglichkeit dieses
ration macht alles auf dem Mobiltelefon. Gegendarstellung Mehrwertsteuervorteils nicht in Bezug auf
Ich verwalte sogar mein ganzes Portfolio Herrn Kerner erwähnt, wenn dieser schon
auf dem Handy.“ In DER SPIEGEL vom 20.05.2017 heißt es zu den vor der Veröffentlichung gestellten
Es ist zwölf Uhr, Liu Chengchengs As- in einem Artikel mit der Überschrift Fragen und nicht erst vor Gericht mitge-
sistentin hat per App ein paar Lunchpakete „Wenn kein Postmann klingelt“ auf Seite teilt hätte, dass die Cloverleaf Yachting
bestellt. Bevor das Essen kommt, stellt sie 64: Ltd. für den Kauf des als „Commercial
ihm aber eine Thermosflasche mit Hühner- Yacht“ geführten Bootes wie auch nach
suppe hin. Die hat seine Frau eingepackt. „… Johannes B. Kerner und seine Clover- deutschem Recht keine Mehrwertsteuer
Chengcheng hat vor zwei Jahren gehei- leaf Yachting Ltd. … Es gibt zumindest ein zahlen musste, weil es sich nicht um einen
ratet, eine junge Frau aus der Provinzstadt, paar naheliegende Gründe, nach Malta zu Ersterwerb handelte.
2027
Analyse
Polnischer Frust
Warum das Holocaust-Gesetz die Gefühlslage vieler Bürger trifft
Wieder hat Polen weltweit eine katastrophale Presse – wegen Nation „zu retten“. Das ist typisch für die Nationalisten: Sie
des „Holocaust-Gesetzes“ der nationalkonservativen Regie- fühlen sich den lebenden und den toten Polen in einer Schick-
rung. Es verbietet nicht nur, die deutschen Vernichtungslager salsgemeinschaft verbunden. Dass es darunter auch Täter
auf polnischem Boden als „polnische“ Lager zu bezeichnen, gab, stört diese Identifikation und ist für sie schwer erträglich.
sondern es soll auch Äußerungen unterbinden, die Polen eine Verständlich ist auch, dass Polen sich über den Begriff „pol-
Mitverantwortung an Naziverbrechen zuschreiben – und da nische Todeslager“ ärgern, den auch Barack Obama schon acht-
wird es problematisch. Es gab durchaus Polen, die jüdische los verwendet hat. Viele Bürger schließen daraus, die Welt
Nachbarn an die Gestapo verraten haben oder die Pogrome glaube tatsächlich an eine polnische Mitschuld, wo die Mehr-
veranstaltet haben wie in Jedwabne 1941, wo sie rund 350 Ju- zahl der Polen doch unter den Deutschen gelitten hat. Ver-
den ermordeten. Aber Polen haben auch unzählige Juden ge- breitet ist das Gefühl, die Welt wisse nicht, was das Land im
rettet, keine Nation stellt mehr „Gerechte unter den Völkern“ Lauf der Geschichte durchgemacht habe, und schätze es nicht
in Yad Vashem als die Polen. so, wie es das verdient hätte. Mit dem neuen Gesetz will
Jarosław Kaczyński, der Chef der rechten Partei PiS, ist kein Kaczyński seine Landsleute erlösen – doch Geschichtsbilder
Antisemit, aber ein glühender Nationalist. Er beteuert, ihm formen sich nur in freier Debatte, nicht unter Androhung von
gehe es mit dem neuen Gesetz nicht darum, die Vergehen pol- Strafe. International hat die Regierung das Gegenteil dessen
nischer Täter zu leugnen, sondern darum, den Ruf Polens als bewirkt, was sie erreichen wollte. Jan Puhl
AP
nicht: Die USA beharren da- Geschwister Kim ter gefragt?“, will er wissen.
„Natürlich nicht“, antworte
ich. Sittenwidrigkeiten sol-
cher Art waren bis vor Kur-
Syrien und andere Ausländer der zem ein klarer Fall für die
Was macht mittleren IS-Führungsebene „Haia“, die Religionspolizei,
eigentlich der IS? an Kontrollen der türkischen
Grenzschützer vorbeige-
die auch in Privathäuser ein-
drang. Dazu sind die bärtigen
Zwar hat der „Islamische bracht. Jene aber, die weiter- Moralwächter allerdings seit
Staat“ fast sein gesamtes Ter- kämpfen wollten, konnten knapp zwei Jahren nicht
ritorium verloren, doch konn- unbehelligt von Assads Ar- mehr berechtigt. Gerne hätte
ten viele Kämpfer und Fami- mee nach Westen fahren. An ich als Münchnerin bayerisch
lien entkommen: in syrische der Grenze der Provinzen gekocht: Schweinebraten mit
Wüstengebiete nahe der ira- Idlib und Hama nahmen Hun- Knödeln und Salat. Aber
kischen Grenze oder in die derte IS-Männer mehrere das geht leider nicht. Es gibt
Türkei. Aber manche kämp- Dörfer ein – unter anderem Halal-Rouladen, ohne Speck,
fen bereits anderswo im Land von dem ehemaligen al-Qai- Traubensaft statt Wein, dazu
weiter. Mitte Oktober ließ da-Verbündeten „Haiat Tah- alkoholfreies Holsten-Bier.
Fußnote ausgerechnet der Verbündete rir al-Scham“. Ein Augen- Einer meiner Gäste, ein ge-
39
der USA, die „Syrian Demo- zeuge sagt: „Die erste Welle bildeter Saudi-Araber aus
cratic Forces“, knapp 4000 IS- kam am 28. Oktober abends.“ der Ostprovinz, bittet um
Kämpfer und Angehörige aus Es seien IS-Kämpfer auf Pick- „Special Tea“. Ich biete grü-
Millionen Rakka entkommen, um nicht ups gewesen. Einen Monat nen Tee und frische Minze.
Baht, umgerechnet eine weitere Kräfte beim Kampf später seien weitere 700 ge- Ein landeskundiger Gast be-
Million Euro, sind die um die Stadt zu verlieren. Für kommen, die seither gegen lehrt mich jedoch unauffällig,
25 Luxusuhren wert, die fünfstellige Dollarbeträge pro Rebellen kämpften, nicht ge- der Herr frage vermutlich
der thailändische Vertei- Kopf wurden Saudi-Araber gen Assads Truppen. cre verklausuliert nach Alkohol.
digungsminister Prawit Über den verfügen hier
Wongsuwan im Laufe Rückzugsgebiete des „Islamischen Staates“ nämlich oft Ausländer mit
seiner Amtszeit getragen TÜRKEI
guten Verbindungen zu west-
100 km
hat. Die Preziosen seien lichen Botschaften. Ich leider
„eine Leihgabe von Freun- nicht. Wie sich herausstellte,
SYRIEN
den“, gab er an. Die regie- Aleppo suchte mein Gast aber tat-
rende Militärjunta hatte Rakka IRAK sächlich nur eine bestimmte
Idlib
eigentlich angekündigt, Sorte der deutschen Firma
scharf gegen Korruption Deir al-Sor TeeGschwendner, die hier in
Hama
vorzugehen. Auf den ausgesuchten Shoppingmalls
Uhrenskandal folgten Homs erhältlich ist.
deshalb Straßenproteste Quelle: syria.liveuamap.com,
Susanne Koelbl berichtet an dieser
8. Februar 2018
und Spott im Internet. Stelle bis März aus Saudi-Arabien.
E
s ist Januar 2021, und Donald Trump
steht nach einer erfolgreichen Wie-
derwahl vor seiner zweiten Vereidi-
gung als Präsident – mit diesem Szenario
begann David Frum einen Essay, den die
Zeitschrift „The Atlantic“ vor knapp einem
Jahr druckte. Frum ist Mitglied der Repu-
blikaner, arbeitete einst für das „Wall
Street Journal“ und beriet George W. Bush
in Wirtschaftsfragen. Es war eine Dystopie,
die er damals skizzierte: ein Präsident, der
Schulden macht, um künstlich das Wirt-
schaftswachstum anzuheizen; ein Familien-
clan im Weißen Haus, der sich bereichert;
und ein Volk, das längst zu zynisch ist,
um gegen einen Autokraten aufzustehen.
Im Frühjahr 2017 klang all das noch alar-
mistisch.
Inzwischen mehren sich die Hinweise
darauf, dass Frum nicht komplett falschlag.
Trump wirbt gerade für ein Infrastruktur-
programm von 1,5 Billionen Dollar, das
Arbeitsplätze schaffen und dazu dienen
soll, seine Anhänger noch stärker an ihn
zu binden. Gleichzeitig sind Trumps Ge-
schäfte eng mit dem Regierungshandeln
verflochten, in seinem Hotel in Washing-
ton steigen Diplomaten aus aller Welt ab,
um dem Präsidenten zu gefallen. Und
Trumps Hetze gegen die Presse und das
FBI zeigt, wie wenig er für demokratische
Institutionen übrighat.
Aus Frums Essay wurde ein Buch, das
gerade auf Englisch erschienen ist: „Trum-
pocracy: The Corruption of the American
Republic“.
SPIEGEL: Was sie antreibt, ist nicht Ideolo- SPIEGEL: Aber auch andere Präsidenten ha- Kongress, von Senatoren bestätigt werden,
gie, sondern Gier. ben Normen verletzt, Gerald Ford veröf- obwohl die Senatoren genau wissen, dass
Frum: Richtig, und dabei verletzen sie die fentlichte seine Steuererklärungen nur teil- die Bewerber zuvor vertrauliche Gesprä-
demokratischen Institutionen so wenig weise. Franklin D. Roosevelt und John F. che mit Trump geführt haben. Ein Teil der
wie möglich. Der Schaden geschieht eher Kennedy holten Familienmitglieder in die Trumpokratie besteht in der passiven Hal-
schrittweise, er ist nie vollständig, nie total. Regierung. Was ist an Trump so besonders? tung des republikanisch geführten Senats,
Meine zweite These war, dass Trump dann Frum: Das moderne Präsidentenamt hat während der Präsident die Strafverfolgung
Erfolg haben wird, wenn er mit anderen sich durch die beiden Weltkriege und den politisiert. Trump ist so mächtig, wie die
kooperiert. Insofern ist der Begriff Auto- Kalten Krieg gewandelt. Der Nationale Si- Institutionen es zulassen. Insofern ist die
krat etwas irreführend, weil er ja eine Ein- cherheitsrat und die CIA entstanden da- Lage heute schlechter als vor einem Jahr.
Mann-Herrschaft voraussetzt. Jeder mo- mals, und der Präsident bekam besondere SPIEGEL: Wie hat Trump das geschafft?
derne Autokrat ist in Institutionen einge- Befugnisse – wenn eine sowjetische Atom- Frum: Er hat einen Pakt mit den Republika-
bunden. Trump ist charismatisch, aber rakete innerhalb von Minuten in den USA nern im Kongress geschlossen. Historisch
nicht im Sinne Max Webers. Seine Herr- einschlagen kann, muss der Oberbefehls- war es so, dass der Präsident eine Agenda
schaft ist eine bürokratische. haber schnell reagieren können. Um das hatte und der Kongress mit allen möglichen
SPIEGEL: Trotz der Attacken Donald zu kompensieren, haben wir das Amt mit Einwänden seiner Mitglieder gegen diese
Trumps gegen Presse, Justiz, Geheim- mehr Regeln und Normen versehen. Noch Agenda klarkommen musste. In der Trum-
dienste und Strafverfolgungsbehörden mal zum FBI: Als das letzte Mal ein Direk- pokratie funktioniert es umgekehrt: Paul
sind doch sämtliche Institutionen überaus tor entlassen wurde, unter Bill Clinton, Ryan, der Parlamentssprecher der Konser-
lebendig. Widerspricht das nicht Ihrer ging es um Vorwürfe der Veruntreuung. Es vativen, hat Pläne. Und so sagen die Repu-
These? gab eine Untersuchung, der Mann durfte blikaner zu Trump: Wir bieten dir Rücken-
Frum: Es stimmt, dass vor allem deckung, wenn du unsere Gesetze
die Justiz sehr veränderungsre- unterschreibst.
sistent ist. Selbst in den schlimms- SPIEGEL: Wie erklären Sie, dass
ten autoritären Zeiten unserer Trump so unpopulär ist, obwohl
jüngeren Geschichte, in den Jah- die Wirtschaft doch stark ist?
ren nach dem Ersten Weltkrieg Frum: Eine der großen Geschich-
zum Beispiel, konnte man sich ten dieses Jahres wird sein, dass
PAT BYRNES / THE NEW YORKER COLLECTION / THE CARTOON BANK
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Donald Trump Berlin, der immer noch nicht vom Kon-
der amerikanischen Demokratie irrepara- gress bestätigt ist.
blen Schaden zufügen kann? SPIEGEL: Was schlagen Sie vor, um die de-
Frum: Vor allem in der Außenpolitik scheint mokratischen Institutionen zu stärken?
Frum: Am wichtigsten ist bürgerliches En-
T
reffpunkt Berlin: Ina Kirsch sitzt im fort“ spielt die Deutsche eine wichtige Rol- schen Regierung gemacht haben könnte.
Café Einstein; im ersten Stock, weil le für den Kernpunkt der Anklage: dass Um Dinge also, die den Präsidenten das
hier meistens nicht viel los ist. Sie hat nämlich Manafort, verdeckt und deshalb Amt kosten könnten.
den Platz in der Ecke genommen, und ihr illegal, in den USA Lobbyarbeit gemacht Der Sonderermittler hält die Deutsche
Blick sagt, was sie schon am Telefon gesagt haben soll; für die ukrainische Regierung, für Manaforts Handlangerin beim gut ge-
hatte: dass sie dieses Treffen nicht wolle. bevor er ins Team von Trump einstieg. tarnten Lobbying in den USA. Sie soll ihm
Ein „Bringen-wir-es-hinter-uns“-Gesicht. Gleichzeitig besetzt Ina bis 2014 geholfen haben,
Kirsch ist knapp 50, sie trägt Rollkragen- Kirsch damit aber auch eine den Ruf des ukrainischen
pulli, Jackett, Hose, Halbschuhe, alles in Nebenrolle in einem Kö- Regimes aufzupolieren. Ein
Schwarz. Als wollte sie lieber unsichtbar nigsdrama – dem Kampf schmutziger Job, der Mana-
sein, wenigstens unscheinbar. Was vermut- ums Weiße Haus. Denn die fort Millionen gebracht ha-
lich jeder gern wäre, der wie sie plötzlich Anklage ist nur ein Aus- ben soll. In der Anklage-
ins Räderwerk einer Weltaffäre gerät. In schnitt aus einem größeren schrift fällt der Name
die Ermittlungen zu den Russlandkontak- Bild. Sie soll Manafort so Ina Kirsch nicht. Aber sie
ten von Donald Trumps Team. unter Druck setzen, dass er ist immer da gemeint,
US-Sonderermittler Robert Mueller hat über andere Vorgänge aus- wo der Name des „Euro-
im Oktober eine Anklage gegen den frü- packt. Da geht es um die pean Centre for a Modern
heren Wahlkampfchef des Präsidenten ein- Frage, ob das Trump-Team Ukraine“ auftaucht. Kirsch
gereicht. Auf den 31 Seiten „Vereinigte im Wahlkampf gemein- Politikberaterin Kirsch hat das Centre in Brüssel ab
Staaten von Amerika gegen Paul J. Mana- same Sache mit der russi- 2011 geführt, einen Verein,
78 DER SPIEGEL 7 / 2018
ALEX WONG / AFP
Sonderermittler Mueller: Ein Brüsseler Verein als Tarnung für PR-Kampagnen des ukrainischen Regimes in den USA
angeblich unabhängig und mit einem no- auf der Landkarte ein paar Millimeter von dafür mit Russland oder dem Westen ver-
blen Ziel: die Ukraine stärker an den Wes- China entfernt. Ihre Mutter arbeitete dort bünden würde, war lange unklar. Jedenfalls
ten zu binden. bei einer Zeitung, ihr Vater war ein gro- kämpfte der Westen um ihn. Der Frak-
Doch früh stand das Centre im Verdacht, ßer Name in der DDR. Rainer Kirsch, Ly- tionschef der EU-Sozialdemokraten, Mar-
ein Tarnverein für den korrupten Präsiden- riker und Schriftsteller. Er war aus der tin Schulz, schloss damals einen Vertrag
ten Wiktor Janukowytsch und seine Partei SED geflogen, hatte sich auch geweigert, mit der Janukowytsch-Partei ab, versprach
zu sein. Und so wie Sonderermittler Muel- mit der Stasi zusammenzuarbeiten. Nach Spitzentreffen und Unterstützung.
ler das sieht, versteckte sich hinter der Fas- der Wende war er zehn Monate lang der Der entscheidende Schritt, an dem auch
sade des Vereins auch Paul Manafort, der letzte Präsident des DDR-Schriftsteller- Ina Kirsch arbeitete, sollte aber das Asso-
für Janukowytsch arbeitete. Das lässt Ina verbandes. ziierungsabkommen mit der EU werden.
Kirsch heute wie die Frau aussehen, die Seine Tochter Ina wuchs in der DDR auf. Ein Vertrag, der die Ukraine endgültig zum
bereitwillig mitspielte. 1987 beging sie Republikflucht, kam von Westen herüberziehen sollte. Wie die Sa-
Oder war es doch anders? Wird sie mit einer Englandreise nicht zurück; da war sie che ausging, ist heute Geschichte: 2013 ver-
Muellers Anklage in ein falsches Licht ge- noch keine 20. Nach dem Mauerfall klinkte weigerte Janukowytsch die Unterschrift
rückt, wie sie beteuert? Kirsch bestellt sich sie sich bei der SPD ein. Sie ging für die nach langem Hin und Her, was zur Mai-
einen Milchkaffee, an dem sie lustlos nippt. Friedrich-Ebert-Stiftung nach Moskau, dan-Revolte und seinem Sturz führte.
Der einzige Grund, warum sie gekommen dann als Mitarbeiterin der Sozialdemokra- 2011 war das aber noch nicht absehbar.
ist: den Reportern klarzumachen, dass es ten im EU-Parlament nach Brüssel. Kirsch schied als Fraktionsmitarbeiterin
keinen Grund gibt, über sie zu schreiben. Die EU-Sozialdemokraten arbeiteten aus und gründete das „European Centre
Weil sie nie für Manafort gearbeitet habe. 2010 an einem Pakt mit der ukrainischen for a Modern Ukraine“. Jenen mysteriö-
Nie Anweisungen, nie Aufträge von ihm be- „Partei der Regionen“, die auch den Präsi- sen Verein, den Ex-FBI-Chef Mueller für
kommen haben will. Und eine Sprechpuppe denten stellte, Wiktor Janukowytsch. Ein eine Strohpuppe des Regimes hält. Für
der ukrainischen Regierung sei sie schon mal schwieriger Partner: Der Mann entpuppte diese Sichtweise spricht: Die Idee stamm-
gar nicht gewesen. „Das ist schlicht falsch.“ sich als Raffke, der sich nach oben durch- te von einem Janukowytsch-Vertrauten,
Dann sagt sie noch: „Im Nachhinein ist man geboxt hatte und exklusive Autos, exotische dem späteren Außenminister Leonid Ko-
immer schlauer.“ Ina Kirsch, die Naive, die Tiere und exorbitante Geldsummen hortete. schara. Er gehörte zu den Vereinsgrün-
ausgenutzt wurde, ohne es zu merken? Gleichzeitig war er so eitel, dass er auch dern, Kirsch übernahm die Geschäfte. Of-
Kirsch spricht fließend Russisch, sie ist als Politiker bewundert werden wollte und fiziell sollte das Centre mit der herrschen-
in Chabarowsk geboren, ganz im Osten, nach Prestige gierte. Ob Janukowytsch sich den Clique nichts zu tun haben. Es habe
DER SPIEGEL 7 / 2018 79
Ausland
kein Geld, keine Anweisungen gegeben, zu schildern. Es ist die Geschichte einer Firmen offenbar auch noch andere Aufträge
sagt Kirsch. Frau, die dafür gebrannt hat und am Ende für Manafort über genau dieselben Verträge
Bei Sonderermittler Mueller liest sich sogar noch eigenes Geld verbrannt hat, da- laufen ließen. „Der mit uns vereinbarte Leis-
das anders. In seinen Augen war der Ver- mit die Ukraine eine bessere Zukunft hat, tungsumfang war viel geringer als die Tä-
ein nur ein „Sprachrohr“ für Januko- im Westen, in der EU. Und gleichzeitig die tigkeiten, die Podesta und Mercury offenbar
wytsch und die herrschende Partei; das Geschichte von Leuten wie Manafort, den in Abstimmung mit Paul Manafort erledigt
Centre habe unter der „Befehlsgewalt“ der Kirsch einen „Goldgräber“ nennt. Der haben.“ Kirsch behauptet, sie habe nie eine
Regierung gestanden. Entscheidender habe die Ukraine und auch sie nur benutzt. Abrechnung von Podesta oder Mercury er-
Strippenzieher: Manafort. Den Verein Wenn ihre Geschichte stimmt, dann läge halten. Keine Arbeitsberichte. Sie wisse
habe er genutzt, um auch in Amerika seine Mueller, zumindest was ihre Rolle betrifft, beim besten Willen nicht, was da alles in ih-
zahlenden Kunden glänzen zu lassen. falsch. Aber stimmt sie? rem Namen gelaufen sein soll.
Der Lobbyist und spätere Trump-Bera- Kirsch gibt zu, dass sie Manafort dreimal Aber merkwürdig: Wie wurden Podesta
ter hatte schon seit den Achtzigerjahren getroffen hat. Sie spricht von Widerstän- und Mercury dann bezahlt? Wenn Kirsch
für korrupte Diktatoren gearbeitet, die viel den in den USA gegen den Versuch, die nie eine Rechnung von den PR-Firmen be-
Geld dafür zahlten, dass man ihnen das Ukraine in den Westen zu ziehen. Also kam – wer, dachte sie, würde dafür auf-
Blut von den Händen wusch. Er hatte sich habe das Centre 2012 beschlossen, auch kommen? Ihr Brüsseler Verein habe Spon-
mit Ferdinand Marcos auf den Philippinen dort ein wenig Lobbyarbeit zu machen. soren gehabt, erklärt sie. Die hätten nicht
und Mobutu Sese Seko im damaligen Zaire Manafort habe ihr den Tipp gegeben, dafür ans Centre gezahlt, sondern gleich an die
eingelassen; nun verkaufte er Januko- Podesta und Mercury anzuheuern. Des- PR-Agenturen in Amerika. Welche Spon-
wytsch als seriösen Politiker, im Kampf ge- halb habe sie die Verträge mit den Firmen soren? Europäische Firmen. Welche Fir-
gen die Rivalin Julija Tymoschenko. abgeschlossen, für kleinere Aufträge in men? Das dürfe sie nicht sagen.
Laut Anklage benutzte Manafort das Amerika. Etwa einen englischsprachigen Damit hat sie nun ein Problem: nicht
Centre dabei als Deckmantel. Wer in den Newsletter des Centres zu verteilen. Sie nur, weil der Verdacht bleibt, das Geld sei
USA Lobbyarbeit für eine ausländische Re- habe aber nicht geahnt, dass die beiden PR- doch vom Janukowytsch-Regime gekom-
gierung machen will, muss das anmelden. men. US-Ermittler Mueller dürfte auch in-
Das heißt, man muss auch die Auftraggeber teressieren, dass Kirsch vor ihren beiden
nennen und Zahlungen offenlegen. Das pass- Verträgen mit Podesta und Mercury noch
te Manafort wohl nicht. Außerdem sollen er einen dritten Vertrag geschlossen hatte.
und sein Partner für ihre Arbeit insgesamt Mit einer Briefkastenfirma auf Zypern.
mehr als 75 Millionen Dollar kassiert haben. Eine Kopie davon liegt in der Ukraine. Die
Die wollten sie vermutlich an der US-Steuer Firma hieß Marziola und war eine Art
vorbeischleusen. Das Geld landete bei ihren Sammelbüchse: Sie sollte für den Verein
CHIP SOMODEVILLA / AFP
Briefkastenfirmen auf Zypern und in der das Geld der Sponsoren bündeln und nach
Karibik. Seitenweise listet die Anklage auf, Amerika schicken. Muellers Anklage legt
wie von dort riesige Summen an Antiquitä- offen, wer nach seiner Erkenntnis hinter
tenhändler, Edelboutiquen und Autohäuser Lobbyist Manafort Marziola stand: ausgerechnet Manafort.
in den USA flossen, von denen sich Mana- Und das will Kirsch nicht gemerkt ha-
fort sein Luxusleben ausstatten ließ. ben? Will auch nie nachgebohrt haben, mit
So wie Mueller es heute umreißt, lief Die Akte Manafort wem sie es bei der Marziola zu tun hatte?
die Sache mit dem Centre dann so: Mana- Das ukrainische Lobbynetzwerk Nein, dass die Marziola Manafort gehörte,
fort hatte das Sagen, hielt sich aber im Hin- laut US-Sonderermittler Robert Mueller habe sie erst in der Anklage gelesen. Von
tergrund; und Ina Kirsch unterschrieb Ver- Manafort will Kirsch heute nichts mehr
träge mit zwei der teuersten PR-Firmen in Janukowytsch-Regime wissen: „Der Missbrauch unseres Engage-
Washington, Podesta und Mercury. Darin Ukraine ments für persönliche Interessen Einzelner
stand, dass Kirschs Verein die PR-Profis ist eine große Enttäuschung.“
bezahlt. Auch das war für Muellers Ermitt- Zahlungen Weder Manafort noch die Lobbyisten
lerteam nur Tarnung. In Wirklichkeit soll kontrolliert von Podesta und Mercury reagierten auf
das Geld von den Manafort-Firmen gekom- Briefkastenfirmen Fragen des SPIEGEL. Manafort hat inzwi-
men sein. Dafür sprechen schon die Zah- Zypern/Karibik schen Sonderermittler Mueller verklagt
len: Der Verein soll im Jahr nur auf rund und behauptet, dass das Firmengeflecht
10 000 Euro Einnahmen gekommen sein;
ca. 2 Mio. $ ca. 12 Mio. $ auf Zypern und in der Karibik den US-Be-
für luxuriösen
Podesta und Mercury kassierten laut An- Lebensstil hörden schon seit Jahren bekannt sei.
klage aber mehr als zwei Millionen Dollar. Nach vier Stunden steht Ina Kirsch im
Die Frau in Schwarz tut sich zunächst Café auf, sie hat genug gesagt und findet,
schwer mit einer Erklärung. Die Stimme Ina Kirsch Paul Manafort dass jedes Wort über sie ohnehin zu viel ist.
European Treffen Politikberater,
kalt und beherrscht, der Blick misstrauisch, Man soll bitte nicht schreiben, wo sie wohnt,
Centre for a 2016 Wahl-
hakt sie immer wieder ein, wenn ihr eine Modern Ukraine kampfchef von und kein Wort über ihren Mann – „was hat
Frage nicht zu passen scheint. Sie versucht, Donald Trump mein Mann damit zu tun?“ Nun, zum Bei-
die Kontrolle über eine Geschichte zu be- spiel, dass auch der einen kurzen Draht zum
halten, die ihr längst entglitten ist. Sie müs- offizielle heimliche Janukowytsch-Umfeld hatte. Die Frau in
se Verschwiegenheitsklauseln in den Ver- Verträge Aufträge Schwarz hofft nur, dass kein Anruf von
trägen mit Podesta und Mercury beachten, Muellers Team kommt und sie wieder un-
sagt sie – dabei sind die Klauseln schon sichtbar werden kann. Sie hätte das alles
vor mehr als einem Jahr ausgelaufen. Podesta/Mercury gern hinter sich. Möglichst schnell, möglichst
Später, nach dem Treffen in Berlin, wird Politik-Beratungsfirmen leise. Ohne weitere Treffen. Ohne weitere
sie drei eng beschriebene Seiten brauchen, Pro-Janukowytsch-Lobbyarbeit Fragen. Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
um dem SPIEGEL noch mal ihre Version im US-Kongress und in US-Medien Gunther Latsch, Jörg Schmitt
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Petro Incognito
Ukraine Vier Jahre nach dem Maidan ist die Enttäuschung über Präsident Petro Poroschenko
groß. Will er das Land überhaupt reformieren – oder geht es ihm nur ums Geldverdienen?
W
arum nur ein Leben führen, nezker Clan entmachtet. Das Land suchte die eigentlich Kiew helfen wollten, die Kor-
wenn man sich zwei leisten einen Neuanfang. Poroschenko wollte es ruption zu bekämpfen, müssen feststellen:
kann? Das wird sich Petro Poro- nach Westen führen, sein Geschäftsimpe- In Kiew wollen sie das gar nicht.
schenko gedacht haben, als er Anfang des rium verkaufen, er versprach Transparenz Vier Jahre nach dem Sturz von Januko-
Jahres in den Urlaub flog. Während das und Reformen und ein schnelles Ende des wytsch ist kein einziger hochrangiger Be-
ukrainische Fernsehen den Präsidenten Krieges im Donbass. Vier Jahre später amter wegen Korruption verurteilt worden.
zeigte, wie er mit Frau und Kindern das schwelt der Krieg weiter, die Reformen sto- Und jener Mann, der dem US-Vizepräsiden-
orthodoxe Weihnachtsfest beging, machten cken, die Einkommen sind drastisch gesun- ten damals „solide“ schien, hat nichts Bes-
die Poroschenkos in Wahrheit Urlaub auf ken. Und seinen Süßwarenkonzern Roshen seres zu tun, als die neue Antikorruptions-
den Malediven. Ein Privatjet hatte sie dort- hat Poroschenko auch nicht verkauft. polizei NABU zu beschädigen, die mithilfe
hin gebracht, es war eigens eine Insel ge- Der Westen, der die Proteste auf dem des amerikanischen FBI aufgebaut wurde.
mietet. Und weil niemand davon erfahren Maidan begrüßt hatte, ist von Poroschenko Er ließ eine verdeckte Antikorruptionser-
sollte, war der Präsident unter falschem ebenfalls enttäuscht, weil er den Kampf mittlerin festnehmen, im Parlament verglich
Namen unterwegs: Petro Incognito. gegen die Korruption höchst widerwillig er die auf westlichen Druck geschaffene Be-
Die Geschichte von Mr Incognitos Spritz- führt. Joe Biden, der ehemalige US-Vize- hörde mit Lenins Geheimpolizei.
tour hat in Kiew Unmut erregt. Was ist das präsident, schilderte folgende Szene: Er Poroschenko sah derweil zu. Will er die
eigentlich für ein Präsident, der mal eben habe Poroschenko 2016 mit dem Streichen Reformen nicht? Und wenn das so ist: Was
abtaucht? Und der für eine Woche Urlaub einer US-Kreditgarantie von einer Milliar- will er stattdessen? Man kriegt auf diese
eine halbe Million Dollar ausgibt, während de Dollar gedroht, damit die Ukrainer end- Frage unterschiedliche Antworten, je nach-
sein Land in Armut versinkt? Genau vier lich den völlig diskreditierten General- dem, wen man fragt.
Jahre liegt die Euromaidan-Revolution in staatsanwalt Wiktor Schokin auswechsel- Poroschenko wolle Geld, alles andere
Kiew nun zurück, und weder Poroschenkos ten. „Ich sagte: Ich bin noch sechs Stunden zähle für ihn nicht – so formuliert es Mi-
Bürger noch seine Partner im Ausland wis- in der Stadt“, so Biden. „Wenn der Gene- cheil Saakaschwili, Ex-Präsident von
sen, mit wem sie es zu tun haben: mit ei- ralstaatsanwalt bis dahin nicht gefeuert ist, Georgien und ukrainischer Politiker ohne
nem Präsidenten, der ernsthafte Reformen kriegt ihr das Geld nicht. Well, son of a Pass. Er kennt Poroschenko aus Studien-
umsetzen will, so wie er es nach seiner bitch – er wurde gefeuert, und es kam je- zeiten, sie haben beide am Kiewer Institut
Wahl im Mai 2014 versprach? Oder mit ei- mand ins Amt, der damals solide war.“ für Internationale Beziehungen studiert;
nem Geschäftsmann, der sein Amt vor al- Biden erzählte das vor dem Publikum das war gegen Ende der Sowjetzeit. Poro-
lem zur Bereicherung nutzt? eines Thinktanks in Washington, es wurde schenko, Sohn eines Werkdirektors aus
„Auf neue Weise leben“, mit diesem Slo- gelacht wie über einen guten Witz. Dabei Bendery in Moldawien, interessierte sich
gan war der Milliardär einst angetreten. ist die Geschichte traurig, sie handelt von fürs Geschäftemachen. „Er hatte viel Geld,
Der Spruch passte zur Stimmung; der bis- einer doppelten Enttäuschung: Die Ukrai- und er wählte auch seine Freunde danach
herige Präsident Wiktor Janukowytsch war ner sehen sich von Washington entmün- aus, ob sie Geld hatten. Deshalb kann ich
nach Russland geflohen, sein korrupter Do- digt. Und die Amerikaner und Europäer, nicht sagen, dass ich dazugehörte“, sagt
Saakaschwili heute.
Ihre Wege trennten sich, aber sie hielten
Kontakt. Poroschenko baute seinen Scho-
koladenkonzern auf, und nebenbei betrieb
er Politik. So war es üblich in der Ukraine,
der junge Nationalstaat verwandelte sich
mehr und mehr in ein Joint Venture von
Milliardären. Und daran änderte auch die
prowestliche Orange Revolution 2004
nichts, die Poroschenko mit seinem eige-
nen Fernsehkanal unterstützt hatte.
Saakaschwili dagegen, der 2004 nach
einer ähnlichen friedlichen Revolution
Staatschef in Georgien wurde, entwickelte
sich zum Radikalreformer. Deshalb bot
ihm Poroschenko ein Jahrzehnt später an,
beim Neuanfang in der Ukraine zu helfen.
Als Gouverneur sollte Saakaschwili in der
VALENTYN OGIRENKO / REUTERS
Geldströmen gegangen. Damals erst habe kandidierte er für den „Block Petro Poro- einträgliche Posten, die Kononenko an dem
er verstanden, was Poroschenko antreibe: schenko“. Dessen Namensgeber kannte er Minister vorbei besetzen wollte. Kononen-
„Seine Idee heißt: Geld. Reformen sind für damals schon 13 Jahre lang, von seiner Ar- ko gilt als der Mann, der nach Poroschenkos
ihn bloß PR. Geld dagegen ist real.“ beit als Reporter. „Verglichen mit den an- Geschäftsinteressen schaut. Der Präsident
Heute sind die beiden verfeindet. Saa- deren Politikern wirkte er vernünftiger, mo- ließ den alten Freund nicht fallen.
kaschwili hat eine Antikorruptionsbewe- derner, gebildeter.“ Poroschenko war reich, Der Präsident sei im Sternzeichen „hab-
gung gegründet und fordert Poroschenkos aber er hatte sich nicht auf Kosten des Staa- gierige Waage“ geboren, so hat es die Jour-
Absetzung. Seine Anhänger blockieren seit tes bereichert wie andere Oligarchen. Scho- nalistin Julija Mostowaja in einem Leitarti-
Oktober die Straße vor dem Parlament mit koladenproduzent – das klang harmlos. kel formuliert. Er wäge ständig seinen Vor-
einer Zeltstadt. Es ist eine Art Mini-Maidan. Poroschenko war prowestlich, er hatte teil ab, anstatt strategische Entscheidungen
Aber die Kiewer haben keine Lust auf eine die Maidan-Proteste von Anfang an unter- zu treffen. Vielleicht ist Poroschenkos Ge-
neue Revolution. Sie sind damit beschäftigt, stützt. Und er war mutig: Im Dezember 2013 schäftssinn das kleinere Problem. Das grö-
über die Runden zu kommen. Poroschenko stellte er sich gewalttätigen Protestierern ßere ist, dass er keinen Plan hat.
wiederum hat Saakaschwili nicht nur das entgegen. Dass er anders als die schrille Kon- Ihor Hryniw muss täglich an der Zelt-
Amt, sondern auch den Pass entzogen. kurrentin Julija Tymoschenko stets den Aus- stadt vorbei, wenn er in die Rada will oder
War es naiv, ausgerechnet von einem gleich suchte, galt als Vorteil. Ihm traute in sein Abgeordnetenbüro. Hryniw ist so
Milliardär zu erwarten, er könne die Kor- man zu, das Land zusammenzuhalten, das etwas wie Poroschenkos Spindoktor, er hat
ruption in der Ukraine bekämpfen? Noch 2014 vom Nachbarn Russland zerlegt wurde. die Wahlkampagne 2014 entworfen: Der
dazu von einem, der selbst unter dem kor- Poroschenko hatte gute Beziehungen zum Spruch „Auf neue Weise leben“ stammt
rupten Präsident Janukowytsch kurze Zeit Westen und zum Osten. Er war befreundet von ihm und auch die Idee, dass Poro-
als Wirtschaftsminister gedient hatte? mit dem russischen Botschafter, aber er schenko den Verkauf seines Schokoladen-
„Die Gesellschaft hat sich in ihm ge- sprach auch fließend Englisch. konzerns versprechen sollte. Poroschenko
täuscht, und ich mich auch“, sagt Serhij Die Enttäuschung kam schleichend, und siegte im ersten Wahlgang.
Leschtschenko knapp. Er ist 37 Jahre alt sie hatte viele Gründe. Es war nicht Poro- In seinem Büro sitzt Hryniw zwischen
und zwei Meter lang, trägt eine runde schenkos Schuld, dass es für den Krieg im zwei großen Fotos: links eines von der
Hornbrille und sieht aus, wie man sich Donbass keine schnelle Lösung gab und Orange Revolution, an der hängt noch heu-
den jungen, westlichen Kiewer vorstellt. dass die Wirtschaft darunter litt. Es war te sein Herz. Rechts eines vom Euromai-
Leschtschenko ist Parlamentsabgeordneter auch nicht seine Schuld, dass die Struktu- dan, der gefällt ihm im Rückblick weniger
und Investigativjournalist, keiner kann im ren erst einmal die alten blieben. Im Par- gut. Wenn es Poroschenko bloß ums Geld
Fernsehen so gut wie er erklären, wie die lament saßen, wie zuvor, vor allem Ge- ginge, fragt Hryniw, warum habe er dann
Korruption im Land funktioniert. Aller- schäftemacher. Leschtschenko nennt die bei den beiden Aufständen so früh und of-
dings, sagt er, laden ihn die großen Sender Rada „Europas größten Business-Klub“. fen Partei für die Protestierer ergriffen?
nicht mehr ein, seit er den Präsidenten an- Spätestens im Februar 2016 offenbarte Geschäftsleute warteten doch eher ab und
greift. „Anstatt Reformen durchzuführen, Poroschenko seine Prioritäten. Damals stieß handelten aus dem Hintergrund. „Poro-
hat Poroschenko seine Macht konsolidiert einer der ausländischen Reformer, der als schenko dagegen hat gezeigt, dass er seine
und sich bereichert“, sagt er. Wirtschaftsminister in der Regierung saß, Komfortzone verlässt“, sagt Hryniw.
Leschtschenko hat das nicht erwartet. mit Ihor Kononenko zusammen, Poroschen- Für die Wahl 2014 hatte Hryniw unter-
Als er nach dem Maidan in die Politik ging, kos Freund aus Armeezeiten. Es ging um sucht, wie Poroschenko auf die Wähler
DER SPIEGEL 7 / 2018 83
Für SPIEGEL-Abonnenten:
Digital-Upgrade nur € 0,50. wirkte. Dafür hatte er gefragt, mit welchem
Fahrzeug sie den Kandidaten assoziierten.
Das Ergebnis von Poroschenko: ein Trak-
tor. Das hat Hryniw gefallen. „Die Leute
haben radikalere Taten von Poroschenko
erwartet. Aber gekauft haben sie damals
ein Nutzfahrzeug, kein revolutionäres
Gadget!“ Heute reden die Bürger anders
Jetzt über Poroschenko – sie vergleichen ihn mit
einem Auto, das sich kaum mehr bewegt.
4 Wochen Poroschenko, sagt Hryniw, ist zu sehr
gratis Geschäftsmann geblieben – vor allem was
seine Art angeht, Entscheidungen zu tref-
testen fen und Ziele zu setzen. Er müsste den
Ukrainern erklären, wohin er das Land
führen will. Aber er kann das nicht. Er
denkt in viel zu kleinen Schritten. Statt-
dessen ist er damit beschäftigt, seine Macht
zu konsolidieren. Und da sind die neuen
Antikorruptionsbehörden eine Gefahr.
Nach der unabhängigen Spezialpolizei
NABU und der Spezialstaatsanwaltschaft
soll ein Spezialgericht für schwere Korrup-
tionsfälle geschaffen werden, so will es der
Westen, und so hat es Kiew versprochen.
Die Sondergerichtsbarkeit wäre dann kom-
plett. Es könnte endlich verurteilt werden,
nicht nur ermittelt. Aber Poroschenko hat
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg
die Einführung erfolgreich hinausgezögert.
Er hat Angst, dass ihm die Kontrolle über
die Justiz entgleitet. Dabei ist er schon jetzt,
verglichen mit seinen Vorgängern, ein
schwacher Präsident. Nicht einmal den In-
nenminister hat er im Griff.
Nicht nur Poroschenko, die gesamte Eli-
te fürchtet die neuen Institutionen. Er-
schrocken schauen sie ins Nachbarland Ru-
mänien, wo ähnliche Reformen zu aufse-
henerregenden Verurteilungen geführt
haben. In Kiew haben sie zu spät verstan-
Ohne Verpflichtung lesen den, worauf sie sich eingelassen haben.
Es ist nicht so, dass es unter Poroschenko
Bereits ab freitags 18 Uhr
keine Reformen gäbe. Parlamentarier müs-
Auch offline lesbar sen ihr Vermögen im Internet offenlegen,
die Staatsfinanzen wurden dezentralisiert,
Auf bis zu 5 Geräten marode Banken geschlossen und die Armee
neu aufgebaut. Aber es geht viel zu langsam
Inklusive SPIEGEL DAILY – Die neue digitale Tageszeitung voran. Und vor der Präsidentschaftswahl im
nächsten Jahr, in der Poroschenkos wichtigs-
te Gegnerin Julija Tymoschenko heißen dürf-
te, ist an weitere Reformen nicht zu denken.
Je weniger jedoch reformiert wird, desto
patriotischer ist die Rhetorik im Kampf ge-
gen Russland und die Separatisten und des-
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen! to öfter sieht man den Präsidenten im Tarn-
anzug und als Oberkommandierenden.
Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als Aber wer weiß, vielleicht fällt Poroschen-
ko bis zur Wahl 2019 auch noch ein, was
SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt € 4,10 pro Ausgabe. er als Präsident eigentlich mit seinem Amt
Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur und mit seinem Land anfangen will.
nächsterreichbaren Ausgabe kündigen. Christian Esch
Twitter: @Moskwitsch
Die Freibeuter
Analyse Raus, raus, raus: Die britischen Brexit-Hardliner treiben Theresa May und ihr
Land immer näher an den Abgrund – kein Preis ist ihnen dafür zu hoch.
F
ür den Valentinstag kommende Woche hat sich Boris rung. Verschwörungstheorien und Dolchstoßlegenden: Das
Johnson etwas furchtbar Nettes ausgedacht. Wie kennt man in dieser Schlichtheit eigentlich nur von Donald
man hört, will der britische Außenminister eine güt- Trump. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
liche Rede zum Brexit halten und damit EU-Freunde und Und May? Beeilte sich, das peinliche Papier als „vor-
-Feinde im Land wieder versöhnen. Es ist eine Idee, auf läufige Interpretation“ zu schmähen. Die Regierungschefin
die nur jemand wie Johnson mit seinem galaktischen Ego ist ganz offensichtlich zu schwach, den Brexiteers die Stirn
kommen kann. Es ist, als diente sich der Marder an, Streit zu bieten. Die haben May gerade erst wieder mit ihrem
im Kaninchenstall zu schlichten. Sturz gedroht, um sie – Überraschung! – durch Johnson
Johnson und seine Vasallen haben zuletzt in Sachen zu ersetzen, sollte sie den Brüsseler Bürokraten auch nur
Brexit unverhohlen klargemacht, dass die Zeit für Zuge- einen Fußbreit zu weit entgegenkommen.
ständnisse vorbei ist. Im Dezember, als Regierungschefin Die Freiheitskämpfer um den Außenminister haben sich
Theresa May einen wackligen Kompromiss mit der Rest- behaglich eingerichtet in ihrer Vorstellung von einem „glo-
EU schloss, um sich in die nächste Phase der Verhandlun- balen Großbritannien“, das endlich wieder um den Globus
gen zu hangeln, schwiegen die Brexiteers noch aus takti- segeln kann, sobald der Brüsseler Anker gelichtet ist. Sie
schen Gründen. Für einen Moment schien es, als hätten laben sich an der Erzählung von einer großen Nation, die
sich besonnenere Stimmen in der Regierung durchgesetzt, sich verzwergte, indem sie einem Klub von 27 Krämer-
die Großbritannien nach der Scheidung eng an die EU seelen beitrat. Und auf die die Welt mit all ihren Schätzen
binden wollen. Der Weg dorthin blieb jedoch offen. und Abenteuern wartet. Dass die Welt bislang dankend
Jetzt aber hat das Endspiel um abwinkt; dass Dutzende über die
den Ausstieg begonnen, und May EU bestehende Handelsverträge
wird sehr bald etwas tun müssen, sich nicht ohne Weiteres ersetzen
was sie verabscheut: klare Ent- lassen; dass die Insel wirtschaft-
scheidungen treffen. Deswegen er- lich darben wird, es sei denn, sie
höhen die EU-Hasser in ihrer Par- machte aus sich selbst eine Art
tei den Druck auf sie fast täglich. Cayman Islands XXL: All das sind
Und immer offensichtlicher wird, für die Brexiteers nur alternative
worum es ihnen dabei geht: um Fakten, von denen sie sich den
eine nationale Wiedererweckung. Traum einer souveränen Zukunft
Egal zu welchem Preis. nicht trüben lassen wollen. Und
Fast vergessen scheint, dass die weil sie im Parlament über ausrei-
Briten im Sommer 2016 nur da- chend Mitstreiter verfügen, könn-
rüber abgestimmt haben, ob das ten sie ihre Premierministerin je-
WOLFGANG AMMER
W
enn der Wind in diesen Tagen tion and Reintegration“, so steht es drau- Hohn und Spott. Verstoßen von Familien,
den Staub aus der Sahara Rich- ßen an der Fassade, und in der Tat könnte die zur Finanzierung der Flucht häufig ihr
tung Süden wirbelt, schimmert man meinen, dass sich in diesen Räumen Hab und Gut aufbrachten, ziehen sie ziel-
die Sonne auf der Glasfassade in mattem Wege nach Europa auftäten. Aber das ist los durch die Städte, frustriert, gebrand-
Glanz. Im Erdgeschoss des siebenstöckigen es nicht, im Gegenteil. Was Tette anbietet, markt als Verlierer, nicht selten traumati-
Geschäftsgebäudes schluckt eine Klima- sind Ausbildungs- und Arbeitsplätze in siert durch die Erlebnisse der Reise.
anlage den Lärm der Independence Ave- Ghana. Es geht um die, die bleiben wollen, Für die ghanaische Regierung bedeuten
nue, über die sich der Verkehr ins Zentrum und um Rückkehrer aus dem Ausland. diese jungen Männer ein unberechenbares
der ghanaischen Hauptstadt Accra schiebt. Ein paar Tage zuvor, in seiner Eröff- Potenzial. Den Aufprall ihrer Rückkehr ab-
Die Wände sind jetzt grau gestrichen. Die nungsrede, hatte Tette gesagt, es sei nicht zufedern ist eine Frage des inneren Frie-
neuen Büromöbel sind aus schlichtem so, dass es in Ghana keine Perspektiven dens. Und man kann auch fragen, was es
schwarzem Holz, und im Wartebereich vor gebe. Anders als in Deutschland gebe es mit einer Gesellschaft macht, wenn inner-
den Beratungszimmern liegen auf einem nur niemanden, der sie den jungen Leuten halb weniger Jahre schätzungsweise eine
Ständer ein paar Infoblättchen, die noch zeige. „Every German who leaves school, halbe Million Menschen ihre Heimat ver-
nach Druckerschwärze riechen. goes to the Arbeitsamt“, rief er – und der lassen, weil sie dort keine Zukunft sehen.
Vier Stühle stehen dort. Für den Anfang, deutsche Bundespräsident nickte mit eben- Selbst wenn Ghana oft als Musterbei-
glaubt Tette, müsste das genug sein. so staatstragender Miene wie der ghanai- spiel einer stabilen afrikanischen Demo-
David Tette, der aus einem armen Dorf sche Arbeitsminister Ignatius Baffour Awu- kratie beschrieben wurde, ist das Land
im Osten Ghanas stammt und jetzt so etwas ah, der kurz zuvor mit feierlicher Geste dem Kreislauf immer wiederkehrender Kri-
wie der Chef des ersten deutschen Arbeits- ein gelbes Band durchschnitten hatte. sen nie entkommen. Infolge weltweit kol-
amtes südlich der Sahara ist, hat alles dafür Ein Arbeitsamt für Afrika also. labierender Rohstoffpreise schrumpften
getan, um seinen Landsleuten den Eindruck Es ist ein Experiment, das an einer Weg- die Exporterlöse zuletzt um mehr als 15
einer seriösen deutschen Behörde zu ver- gabelung entsteht, an der sich deutsche Prozent. Nana Akufo-Addo, ein Jurist, der
mitteln. An einem Morgen im Dezember, und ghanaische Interessen treffen. seit Januar 2017 Präsident von Ghana ist,
kurz nach der Eröffnung, steht Tette in sei- Es ist, aus deutscher Sicht, ein Echo auf hat kürzlich in einer viel beachteten Wut-
nem fensterlosen Büro und kramt in einem mehrere traumatische Flüchtlingssommer, rede erklärt, dass sein Land nicht länger
Regal nach einer Packung Jacobs Krönung, in denen das Land damit begann, langsam abhängig sein dürfe von der Großzügigkeit
von der er sich, wie er sagt, zurzeit haupt- seine Grenzen zu verschieben. In Libyen europäischer Steuerzahler. All die Hilfen
sächlich ernährt; ein kleiner, helfen deutsche Polizisten hätten nichts gebracht, sagte er, und auch
55-jähriger Mann mit akku- beim Aufbau einer Küsten- künftig würden sie nichts bringen.
rat gestutztem Schnauzer, wache. In Niger lassen sie Was Akufo-Addo fordert, ist eine zweite
Karojackett und Bügelfalten- AFRIKA Zäune in den Wüstensand Unabhängigkeit, 60 Jahre nach der ersten.
hose, der sich nie hätte träu- rammen. Im Sudan wollen Deshalb will er in Schulen und Universitä-
GHANA ten investieren. Deshalb entstehen jetzt
men lassen, einmal im Mit- sie Grenztruppen ausrüsten.
telpunkt der Aufmerksam- Diese Maßnahmen, die den überall im Land Gewächshäuser, die die
keit zu stehen. Accra Strom der Menschen immer Agrarproduktion erhöhen sollen. Deshalb
Tettes Blick fällt auf ein früher stauen sollen, werden gibt es nun das Programm „One District,
Foto, das ihn mit stolzem Lä- flankiert von einer Politik, One Factory“, dessen Ziel es ist, Rohstoffe
cheln neben dem Bundes- die tief im Inneren des afri- schon in Ghana weiterzuverarbeiten.
präsidenten Frank-Walter kanischen Kontinents soge- Tausende Stellen will Akufo-Addo schaf-
Steinmeier zeigt, als plötz- nannte Fluchtursachen be- fen, aber das Problem ist, dass Job und
lich einer seiner beiden Jobberater in der kämpfen soll. Zu diesem Zweck eröffnete Mensch zusammenfinden müssen.
Tür erscheint und ihm zuruft, dass da ge- im März das erste Migrationszentrum in Offiziell gibt es zwar 46 über das Land
rade ein junger Mann war, der sich auf Tunis, im September dann in Casablanca, verstreute „Public Employment Centres“,
eine Stelle bei einer Offshore-Ölfirma in auf Accra folgte im Januar Dakar; allesamt aber dort hängen nur ein paar leere
Deutschland bewerben möchte. Tette fasst finanziert aus Bundesmitteln, organisiert Schwarze Bretter. Eine zentrale Daten-
sich an den Kopf. „Offshore?“, ruft er. „In von der Deutschen Gesellschaft für Inter- bank für offene Stellen gibt es nicht. In
Deutschland?“ So geht es jetzt also los. nationale Zusammenarbeit (GIZ). „Wir diesem Punkt, so sieht es aus, könnten die
Gestern standen 13 Mitarbeiter von der müssen Argumente liefern, warum es für Deutschen mit ihrem Arbeitsamt durchaus
Telefonfirma aus dem dritten Stock bei ihm die Menschen sinnvoller ist, einen Beitrag nützlich sein.
auf der Matte und wollten wissen, ob Tette in ihrem Heimatland zu leisten“, erklärte Das ist also die Versuchsanordnung.
einen Job in Deutschland für sie habe. Heu- Steinmeier am Rande der Eröffnung. Die Frage ist, was es bedeutet, wenn
te früh kam dann ein Hausmeister mit Na- 4098 Ghanaer leben derzeit ohne Bleibe- zwei Kulturen aufeinandertreffen. Was
men Freewill, der angab, eine Stelle als recht in Deutschland, statt auszureisen, kommt dabei heraus, wenn deutsche Bü-
„Top Manager/Operations Executive“ zu verschwinden viele irgendwann in der Il- rokratie auf ghanaische Wirklichkeit trifft?
suchen, nach Möglichkeit im Ausland. legalität. Der Rückweg in die Heimat Und, wichtiger noch, nehmen die Ghanaer
Tette guckt ein bisschen ratlos. scheint ihnen versperrt. Auf gescheiterte das Angebot der Deutschen überhaupt an?
„Vielleicht liegt es am Schild“, sagt er. Migranten, die mit leeren Händen aus An jenem Morgen in seinem Büro sagt
„Ghanaian-German Centre for Jobs, Migra- Europa zurückkommen, warten in Ghana Tette, dass sich für die nächsten Tage der
Beratungszimmer im Jobcenter: Graue Wände, schwarzes Mobiliar, ein paar Infoblättchen – alles wie in Deutschland
jekt, in dem sie junge Leute darin unterrich- „Ich ging davon aus“, sagt Jude, „dass
ten, wie man Elektroschrott wiederverwer- Yeboah es schon wissen würde.“
tet. Andererseits, meint er, sei heute früh Schwer zu sagen, ob Jude konkreter hät-
ein Chief, ein lokaler Clanchef, im Büro ge- te werden können. Ob ein Fragebogen aus-
wesen, der IT-Kurse anbietet. Seine Schüler reicht, um ein Leben zu erfassen wie das
schlafen in einem Heim. Warum nicht so von Jude. Der erste Rückkehrer, so sieht
was, wenn aus den All Stars nichts wird? es aus, ist jedenfalls kein Mann, der sich
Auf rund 600 Stellen, schätzt Yeboah, dauerhaft reintegrieren will. Die Frage ist,
könne er bislang zurückgreifen. Sie haben was das für die Zukunft des Arbeitsamtes
Agrartrainings im Angebot, wo man ler- bedeutet.
nen kann, wie Reis und Zuckerrohr ge- Tette sagt, er sei sich des Problems be-
pflanzt werden, und sie kooperieren mit wusst. Von einem Psychologen, der sich
Magische Momente
TOBIAS HASE / DPA
SPIEGEL: Bei der Eröffnungs- punkt meiner Karriere wer- zwei meinen Einsatz als staut. In meiner langen Kar-
feier in Pyeongchang führte den könnte. Fahnenträger rechtfertigen riere habe ich so viele Tro-
Eric Frenzel die deutschen SPIEGEL: Und, wurde es ein konnte. phäen gewonnen – meine
Athleten ins Stadion. Eine Höhepunkt? SPIEGEL: Hängen Ihre insge- Wohnung wäre gar nicht
gute Wahl? Hoppe: Absolut. Medaillen samt sechs olympischen Me- groß genug, um die alle aus-
Hoppe: Er hat es sicher ver- kann man viele gewinnen, daillen zu Hause an der zustellen.
dient, auch wenn ich Claudia aber mit der Flagge in der Wand? SPIEGEL: Haben Sie in Albert-
Pechstein gewählt hätte. Hand lief ich in die Ge- Hoppe: Meine Medaillen sind ville zünftig gefeiert?
Wir kennen uns gut, aber bei schichtsbücher des Sports. alle in einem Alukoffer ver- Hoppe: Nein. Wir fuhren mit
dieser Entscheidung geht es Ich fand diesen Moment unserem Lkw und den Bobs
ja nicht um persönliche noch etwas größer als meine gleich weiter zum Weltcup-
Sympathien. Olympiasiege von Sarajevo. Finale nach St. Moritz. Und
SPIEGEL: Sie hatten 1992 bei SPIEGEL: Heute halten die in unserem abgelegenen Ho-
den Spielen in Albertville Sportler mit ihren Handys tel in La Plagne gab es nicht
die Ehre. den Moment für die Ewig- mal Sekt.
Hoppe: Das kam völlig über- keit fest. SPIEGEL: Sandra Kiriasis, die
raschend. Einen Tag vor der Hoppe: Ich habe kein einziges Sie 2006 als Trainer zum
Zeremonie sagte mir der Foto von der Feier. Die Tech- Olympiasieg führten, hat
Bundestrainer, dass man nik war noch nicht so weit. nun als Trainerin den ersten
mich als ersten gesamtdeut- Handys waren damals leider Damen-Bob aus Jamaika fit
schen Fahnenträger ausge- fast so groß wie ein Akten- gemacht. Finden Sie das gut?
wählt habe. koffer, und einen Videorekor- Hoppe: Deutsche Trainer ge-
SPIEGEL: Sagten Sie spontan der besaßen wir noch nicht. ben seit Jahrzehnten ihr
zu? SPIEGEL: Aber eine Silberme- Know-how an die Konkur-
Hoppe: Selbstverständlich. daille haben Sie mitgebracht. renz weiter. Ich finde das
IMAGO SPORT
Ich überlegte kurz, ob mich Hoppe: Gott sei Dank. Uns bedenklich, wenngleich ich
die Aufgabe in der Wett- fehlten zwar zwei Hunderts- natürlich verstehe, dass man
kampfvorbereitung stören tel zum Gold, aber ich war irgendwie seinen Lebensun-
würde oder ob es ein Höhe- glücklich, dass ich mit Platz Hoppe 1992 terhalt bestreiten muss. pk
gekrönt werden.
Im Schatten des übermächtigen Fußballs
investieren Deutschlands Spitzensportler
viel für das Projekt Olympia. Oft gegen
jede Menge Widerstände. Der Wintersport
ist eine Mehrklassengesellschaft: Es gibt
die Biathlonstars und die Abfahrtasse, es
gibt Athleten wie Mittermüller, die auch
Spaß haben wollen, und es gibt die Starter
anderer Sportarten, die neben den Medail-
len um ein knappes Gut kämpfen: Auf-
merksamkeit. Shorttrackerin Seidel (3.v.l.) beim Training in Pyeongchang: „Warum tust du dir das überhaupt an?“
E
iskunstlauf ist gnadenlos. Spitzenläu-
fer verbringen Jahrzehnte mit har-
tem Training in zugigen Eishallen.
Geht es schließlich um Medaillen, müssen
die Athleten die Sprünge und Pirouetten
in einer Zeitspanne präsentieren, die nicht
länger dauert als das Hartkochen von Ei-
ern. Misslingt eine Hebung oder wird ein
Sprung nicht auf der millimeterbreiten
Kufe gelandet, war die Schinderei umsonst.
Nur Perfektion ist gut genug.
Für Aljona Sawtschenko ist das Streben
nach dieser Perfektion eine Lebensaufga-
be. Die ersten Schlittschuhe bekam sie
zum dritten Geburtstag, ein Geschenk der
Eltern im ukrainischen Obuchiw, einem
Städtchen südlich von Kiew. Seit über
30 Jahren hält der Sport sie nun gefangen,
er hat sie nach Deutschland geführt, zum
Star gemacht. „Mein Herz gehört dem Eis-
kunstlauf“, sagt sie. Eine fast manische Ar-
beitsweise wurde ihr nachgesagt, „die Al-
jona konnte in der Eishalle übernachten“,
sagte ihr ehemaliger Partner Robin Szol-
kowy. Mit dem Chemnitzer holte
Sawtschenko fünf Weltmeistertitel, zusam-
men bildeten sie mehr als ein Jahrzehnt
lang das Traumpaar ihrer Sportart.
Doch das Duo blieb unvollendet: Bei
Olympia 2006, inmitten der Aufregung um
die Stasi-Vergangenheit ihres damaligen
Trainers Ingo Steuer, wurden sie Sechste;
2010 und 2014 fuhren sie als Goldkandidaten
zu den Spielen, beide Male reichte es nur
zur Bronzemedaille, nach Stürzen in der
Kür. Schon Silber wäre „hässlich“ gewesen,
sagte Sawtschenko nach der Enttäuschung
von Sotschi vor vier Jahren. Die Medaille
lagert sie heute in einer Kiste im Keller.
Wenige Wochen nach dem Debakel
brach sie mit Szolkowy, sie trennten sich
im Streit. Bei der Weltmeisterschaft in Ja-
pan, ihrem letzten gemeinsamen Wett-
kampf, habe man sich an der Eisbahn ge-
troffen, das Programm gelaufen, kurz für
die Kameras gelächelt, bevor jeder wieder
seiner Wege ging, erinnert sich Szolkowy.
Die Leistung beeinflusste das nicht: Noch
einmal wurden sie Weltmeister. Kurz da-
rauf war Schluss, eine Aussprache zwi-
RAUCHENSTEINER / PICTURE ALLIANCE
kümmert an diesem Nachmittag. Im Trai- das Gefühl, seit zehn Jahren zusammen- Massot sagt, das sei nicht der wahre Grund
ningsareal der Gangneung Ice Arena, zulaufen“, sagt Massot. gewesen. Politik, nichts, worüber er mehr
unter nackten Lüftungsrohren und einer Die beiden kannten sich: Seit 2011 hatte sagen möchte, die Entscheidung sei wenige
schmucklosen Digitaluhr, bereitet sich Massot mit seiner vorigen Partnerin zeit- Wochen vor Sotschi getroffen worden.
Sawtschenko auf ihre fünften Winterspiele weise in Chemnitz trainiert, stand zusam- Massot hatte sich da schon die olympi-
vor. Ein Stockwerk höher findet kom- men mit Sawtschenko und Szolkowy auf schen Ringe auf den rechten Oberarm ste-
menden Mittwoch und Donnerstag vor bis dem Eis. „Ich habe Robin damals eine Ab- chen lassen, ein Freund hatte ihm die Tä-
zu 12 000 Zuschauern das Paarlauffinale sprungtechnik gezeigt“, erinnert sich Mas- towierung geschenkt. Vier Jahre trug er
statt. sot. Für ihn selbst sei die Übung einfach seinen geplatzten Traum auf der Haut,
An Sawtschenkos Seite: Bruno Massot, gewesen, Szolkowy habe kämpfen müssen. ohne Reue: „Ich wusste, dass ich es eines
ihr neuer Partner, ein gebürtiger Franzose, „Ich war nicht sonderlich überrascht, dass Tages schaffen werde.“
das Gegenstück zum eher schmächtigen Aljona mich gewählt hat.“ Aber: Er selbst Kurz nach ihrem gemeinsamen Start
Robin Szolkowy. Massot überragt sie um war damals sportlich nur Mittelmaß. kappte Aljona Sawtschenko auch die
31 Zentimeter, hebt sie scheinbar mühelos Kurz vor Sawtschenkos Entscheidung zweite Verbindung ihres alten Lebens:
kopfüber meterhoch über das Eis. hatte er bei der Weltmeisterschaft Platz 15 Zusammen mit Bruno Massot verabschie-
Für einen erneuten Anlauf auf Olympia- belegt, sein bestes Ergebnis bei den wich- dete sie sich von Trainer Ingo Steuer, der
gold hat Sawtschenko ihr Leben neu aus- tigsten internationalen Wettkämpfen war die beiden zusammengeführt hatte. „Der
gerichtet. „Mit Bruno kann ich viel errei- ein fünfter Rang bei einem Grand Prix ge- muss irgendjemand was ins Gehirn ge-
chen, mit ihm komme ich vielleicht ein wesen. pflanzt haben“, ließ sich Steuer kurz da-
kleines Stückchen weiter“, sagt Sawtschen- In Südkorea erlebt Massot seine Olym- rauf zitieren.
ko über den 1,84 Meter großen Läufer aus piapremiere. Bereits für Sotschi hatte Die Arbeit mit Steuer war den beiden
der Normandie. 2014, bei der Suche nach er sich qualifiziert, mit Darja Popowa, zu kostspielig, er hätte privat finanziert
einem neuen Partner für den nächsten einer Russin, die für Olympia einen fran- werden müssen – die Deutsche Eislauf-Uni-
Olympiazyklus, habe sie sich Videos von zösischen Pass beantragt hatte. Doch be on (DEU) hatte den einstigen IM „Torsten“
ihm angeschaut, sich gedanklich neben ihn vor die Wettkämpfe begannen, wurden nach Aufdeckung seiner Stasi-Geschichte
auf das Eis projiziert. Ihr Fazit: Aus dem Popowa/Massot von der Startliste gestri- im Jahr 2006 von der Gehaltsliste genom-
kann man was machen. Der Praxistest be- chen. Bei ihrer Einbürgerung habe es Pro- men, um nicht die Förderung durch den
stätigte sie. „Nach einer Woche hatten wir bleme gegeben, so die offizielle Version. Bund zu verlieren.
Kommentar
Umwelt händlern wollen Sie den Ar- sich. Da kommt man um das
„Ein Schritt zurück tenreichtum fördern? Anlegen ökologisch wertvol-
Berthold: Wenn wir schon im-
ins Paradies“ mer mehr Natur für Gewerbe-
ler Flächen gar nicht herum.
In den Wohngebieten domi-
Der Ornitholo- flächen verbrauchen, dann nieren leider die kahlen Psy-
ge Peter Bert- können wir diese wenigstens chopathengärten mit Roll-
hold, 78, über gut gestalten: abwechslungs- rasen. Die Gewerbegebiete
GEISLER-FOTOPRESS / PA
seine Idee, Ge- reich strukturiert, mit Höhlen, werden von der öffentlichen
werbegebiete Verstecken und Nistgelegen- Hand gesteuert, da gibt es
in Inseln des heiten. Vielen Tieren wäre so ganz andere Möglichkeiten.
Naturschutzes ein künstlich angelegter Le- SPIEGEL: Wäre es nicht besser,
zu verwandeln bensraum vielleicht sogar lie- mehr wertvolle Naturflächen
ber als die offene Natur ne- unter Schutz zu stellen?
SPIEGEL: Herr Berthold, die benan. Und ganz sicher lieber Berthold: Nein. Es gibt schon
Stadt Überlingen am Boden- als die Monokulturen der viele Naturschutzgebiete, die
see will auf Ihre Anregung Landwirtschaft. Auf unseren kaum den Namen verdienen.
hin ein grünes Gewerbege- Maisfeldern halten es nur Teilweise werden sie noch
biet schaffen. Was dürfen wir noch die dazugehörigen landwirtschaftlich genutzt,
uns darunter vorstellen? Schädlinge wie etwa der Mais- und überall laufen Spazier-
Fußnote Berthold: Dort würden die Flä- wurzelbohrer aus. Am Feld- gänger, Hunde und Naturfo-
8848
chen nur so weit versiegelt rand finden Sie vielleicht tografen herum. Die Flächen
oder gekiest, wie es nötig ist. noch ein Wildstiefmütterchen, sind meist zu klein, und sie
Stattdessen denke ich an Blu- das die Spritzmittel überlebt liegen zu weit auseinander.
menwiesen, die nur selten ge- hat, und einen Laufkäfer – Was nützt ein Stück Trocken-
Meter – das gilt bislang mäht werden, an Hecken und mehr ist da nicht. Im Ver- rasen, auf dem zwei seltene
als offizielle Höhe des Blühstreifen. Imker dürften gleich wäre ein begrüntes Ge- Enziane und eine Orchidee
Mount Everest. Chine- dort ihre Bienenstöcke auf- werbegebiet geradezu ein wachsen, wenn der nächste
sische Forscher maßen stellen. Zwischen den Nutz- Schritt zurück ins Paradies. Trockenrasen 80 Kilometer
aber auch schon mal flächen wäre Platz für kleine SPIEGEL: Glauben Sie, dass entfernt ist? Wie soll da je ein
8844 Meter, Teams aus Biotope und vielleicht einen Kommunalpolitiker sich da- Austausch stattfinden? Das
anderen Ländern kamen Teich. Auch die Fassaden und von überzeugen lassen? sind verlorene Inseln.
auf noch andere Werte – Dächer könnte man begrü- Berthold: Die können sich mit SPIEGEL: Gewerbegebiete gibt
wohl auch, weil der Gipfel nen, dazu ringsum Sträucher solchen Projekten profilieren. es dafür dicht an dicht. Spe-
sich infolge von Erdbe- und Bäume pflanzen. So ent- Die Politik gerät ja ohnehin kulieren Sie auf Nachahmer
wegungen zuweilen hebt stünde ein Zuhause für viele unter Druck. Nicht nur, dass anderswo?
oder senkt. Der Dauerdis- Vögel und Insekten, die in die Insekten uns wegsterben, Berthold: Ja. Ich hoffe, dass
put reizt nun offenbar der ausgeräumten Nutzland- auch die Vögel verschwinden. in zehn Jahren keine Gewer-
den Nationalstolz Nepals. schaft keines mehr finden. Wir zählen nur noch ein begebiete mehr genehmigt
Das arme Land plant erst- SPIEGEL: Ausgerechnet zwi- Fünftel der Bestände, die wir werden, wenn sie nicht eine
mals eine Expedition, schen Lagerhallen, Wertstoff- vor 200 Jahren hatten, und ökologische Mindestgüte
um selbst nachzumessen. höfen und Gebrauchtwagen- der Rückgang beschleunigt aufweisen. mdw
Göttlicher Groove
Anthropologie Der Mensch ist ein Tänzer. Doch warum nur? Forscher beginnen, das
rauschhafte Verhalten zu enträtseln. Experimente zeigen: Die rhythmische
Bewegung zu Musik verführt und verbindet – und kann sogar Kranken helfen.
E
s ist ein Fest der Körper, eine Ode halt und Kooperation. „Es ist leicht zu er- Der US-Neurowissenschaftler Aniruddh
an die Ästhetik, getanzter Sex und kennen, wie kulturübergreifend wichtig Patel hat Snowball erforscht. Patel beschäf-
getanzte Leidenschaft. der Tanz für den Menschen ist“, sagt Wis- tigt sich mit der Fähigkeit des Menschen,
Wenn das argentinische Tangoduo Ger- senschaftler Fitch. Rhythmen wahrzunehmen. Als er im In-
man Cornejo und Gisela Galeassi die Büh- Im Kern ist Tanz die Fähigkeit des Ge- ternet auf den Kakadu stieß, sei ihm „die
ne betritt, ist das knisternde Verführung hirns, einen Rhythmus zu erkennen und Kinnlade runtergefallen“, erinnert sich der
und athletische Präzision zugleich. Der diesen dann in Bewegungen umzusetzen. Forscher.
Beat des Elektro-Tango vereint das Paar Die Koordination unterschiedlicher Hirn- Patel hatte schon zuvor vermutet, dass
im Tanz. Kurz darauf kommen Break- regionen ist dafür erforderlich. Während Rhythmuswahrnehmung etwas mit dem
dancer auf die Bühne. Ihre trainierten Kör- des Hörvorgangs muss zunächst der Beat Vermögen zu tun haben könnte, Geräu-
per strahlen Kraft und Virilität aus. Das herausgefiltert werden. Ist ein Rhythmus sche nachzuahmen. Menschen sind zu die-
Publikum springt auf, applaudiert, ist hin- erkannt und im Gehirn zentral verarbeitet ser „vokalen Imitation“ befähigt – und Pa-
gerissen. worden, feuern für Bewegung verantwort- pageien auch.
„Break the Tango“ heißt die Show, die liche Neuronen. Snowball bestätigt also Patels Hypothe-
derzeit durch Europa tourt, ein Feuerwerk Ob dann allerdings nur der Fuß im Takt se. Auch gut ein Dutzend anderer Papa-
aus Erotik, Virtuosität, Athletik. Es ist Tan- wippt oder sich der ganze Körper zum geien sind inzwischen beim Headbangen
zen in seiner schönsten Form, furios und Cha-Cha-Cha aufschwingt, hängt von wil- erwischt worden. Hunde oder Katzen zum
sinnlich. Auch an diesem Abend im Ham- lentlichen Entscheidungen in der Groß- Beispiel sind dagegen nicht in der Lage,
burger Kampnagel-Theater sind die Zu- hirnrinde ab (siehe Grafik Seite 102). einen Takt zu halten – auch wenn ihre Be-
schauer begeistert von der Mischung aus Schon bei Neugeborenen löst Rhythmus sitzer häufig das Gegenteil behaupten.
Streetdance und argentinischem Tango. eine starke Resonanz aus. Hirnstrommes- „Tanz erfordert ein Gehirn, das für die
Der Mensch ist ein Tänzer. Zwar fühlt sungen haben enthüllt, dass Babys den Nachahmung komplexer Laute verdrahtet
sich nicht jeder gleichermaßen dazu beru- nächsten Beat einer Musik regelrecht er- ist“, glaubt Patel.
fen. Doch seit es den Menschen gibt, wird warten. Mit etwa zehn Monaten – noch Um diese Hypothese zu testen, untersu-
getanzt – für Fruchtbarkeit und gutes Wet- bevor viele von ihnen sprechen oder sin- chen die Forscher immer mehr Tierarten.
ter, für Jagd- und Kriegsglück, für ein lan- gen können – fangen Kinder spontan an, Auf dem Gelände der Seehundstation Pie-
ges Leben und aus schierer Lust an der zu Musik zu tanzen, haben Forscher der terburen an der niederländischen Nordsee-
Bewegung. Berliner Charité festgestellt. küste planschen drei junge Kegelrobben
Tanzen verführt Menschen und verbin- „Wir müssen uns zähmen, um uns nicht in einem Schwimmbecken. Ihr Heulen ist
det sie miteinander. Wer sich der Musik zu einem starken Rhythmus zu bewegen“, herzerwärmend. Die Anlage ist eine Auf-
hingibt, kann das Glück des Gleichklangs sagt der Mediziner Joachim Richter, der fangstation für verletzte oder verwaiste
von Rhythmus und Bewegung erleben, die an der Studie beteiligt war. Tanzen, sagt Nordsee-Robben.
innige Nähe synchronisierter Körper, die Richter, scheint dem Menschen in die Wie- Andrea Ravignani stellt sich an den Be-
weltvergessene Ekstase im Takt wummern- ge gelegt. Doch noch rätselt die Wissen- ckenrand, ein Mikrofon in der Hand. Der
der Bässe. Und gut für die Gesundheit ist schaft: Warum fährt uns der Rhythmus in Kognitionsforscher von der Freien Univer-
Tanzen sogar auch; es vermag chronische die Glieder? Woher stammt das eigentüm- sität Brüssel will wissen, ob und wie die
Schmerzen, Bewegungsstörungen und De- liche Verhalten? Robben, die ebenfalls zur vokalen Imita-
pressionen zu lindern. Ein Gelbhaubenkakadu brachte die For- tion befähigt sind, ihre Laute aufeinander
Typisch menschlich erscheint die Fähig- scher auf eine heiße Spur. abstimmen. „Wie gut hören die Tiere auf-
keit, beschwingt im Dreivierteltakt des Snowball heißt das schneeweiße Ge- einander?“, fragt Ravignani, „können sie
Walzers zu wirbeln oder dem Wiegeschritt schöpf. Auf YouTube ist der Vogel ein Star ihr Heulen synchronisieren?“ Das wäre
der Rumba zu folgen. Und Forscher fragen mit Millionen Klicks. Der Kakadu kann der erste Schritt zum Rhythmusempfinden.
sich: Warum nur tanzt der Mensch? Ist die richtig abrocken. In Videos groovt er zu Ist die Fähigkeit zum Tanz also ein
Liebe zum Rhythmus ein evolutionärer Queen und den Backstreet Boys und glücklicher Zufall der Evolution, eng ver-
Zufall, oder war sie sogar notwendig für steppt zu deutscher Blasmusik. Im Takt knüpft mit der Fähigkeit zu Lautmalerei
den Siegeszug des Homo sapiens? Und hebt Snowball dabei abwechselnd seine und Sprache? Ravignani ist zurückhaltend.
was für ein Gehirn ist nötig, um dem Beat Beine und wippt gleichzeitig frenetisch mit In seiner Karriere hat er schon ein
zu folgen? dem Kopf. Schlagzeug für Schimpansen gebaut (muss
Die Bewegung im Takt von Trommeln extrem stabil sein) und ein Drum-Pad für
oder Musik, so zeigt sich, ist tief im Seehunde (wird mit der Schnauze bedient).
Menschsein verankert. „Tanz und Rhyth- Der Verhaltensforscher Doch die Forschungsergebnisse sind bis-
mus gehören zum Menschen wie die baute ein Schlagzeug für lang nicht eindeutig.
Sprache oder der aufrechte Gang“, sagt Auch eine Kalifornische Seelöwin na-
der Kognitionsforscher Tecumseh Fitch
Schimpansen und ein mens Ronan bereitet den Tanzforschern
von der Universität Wien. Das merkwür- Drum-Pad für Seehunde. noch Kopfzerbrechen. Wie Kakadu Snow-
dige Verhalten fördere Liebe, Zusammen- ball wurde sie durch ein YouTube-Video
mischen den „putu“, einen Kriegstanz. macht. Bei Parkinsonkranken etwa kann
Männer mit massigem Körper stampfen Tanzen die Bewegungsfähigkeit verbes-
mit den Füßen den kraftvollen Rhythmus, sern. Schmerzpatienten schenkt der Tanz
in den Händen die ‘U’u, die traditionelle Linderung. Auch Traumapatienten, Autis-
Kriegerkeule der Marquesaner. Viele der ten, Demente und Depressive lassen sich
Tänzer sind tätowiert. Schweiß glänzt auf so behandeln.
ihren muskulösen Oberkörpern. Die Frau- Dies alles ist möglich, weil Rhythmus
en sitzen zwischen ihnen und setzen mit und Tanz auf heilsame Weise Körper und
hohen Stimmen Kontrapunkte zum mono- Geist zusammenzuführen scheinen. Wie
tonen Beat. sich das anfühlt, lässt sich bei einem
„Früher hatten diese Tänze eher rituelle Workshop des österreichischen Musikers
Bedeutung“, erläutert der Ethnologe Mi- und Komponisten Reinhard Flatischler
chael Koch, der die Kultur der Marquesa- erahnen.
ner seit vielen Jahren erforscht. Bei Hoch- Dumpf hallt an diesem Februarmorgen
zeiten oder Trauerfeiern habe Tanz eine der Klang einer brasilianischen Basstrom-
wichtige soziale Funktion gehabt, auch um mel durch den Joseph Haydn-Saal der Uni-
in einer schriftlosen Kultur „Erinnerungen versität für Musik und darstellende Kunst
zu beleben und Gegenwärtigem Ausdruck in Wien. Mit stoischem Gleichmut schlägt
zu verleihen“. Heute dagegen gehe es eher Assistentin Katharina Loibner den „Sur-
um Identitätssuche und Wiederbelebung do“. Neben ihr steht Flatischler, den „Be-
von Traditionen. „Ein Volk, das nicht mehr rimbau“ in der Hand, ein Saiteninstrument
tanzt, ist tot – so würden es die Einheimi- mit sirrendem Ton, dessen eine Saite ähn-
schen formulieren“, sagt Koch. lich wie eine Trommel angeschlagen wird.
„Tanzen wirkt wie sozialer Klebstoff“, Etwa 75 Seminarteilnehmer haben zwei
bestätigt auch Neurowissenschaftler Fitch. Kreise um die beiden Musiker gebildet.
Sich gemeinsam im Rhythmus zu bewegen Flatischler dirigiert die Menge. „Taketina“
fördere, „was Menschen einzigartig macht: nennt er seine Methode, eine Mischung
in einer Gruppe gemeinsam zu handeln“. aus Rhythmusmeditation und musikali-
Auf diese Weise könnte Tanzen die Ent- scher Selbstfindung, die er zum Beispiel
wicklung von Zivilisationen begünstigt für Musiker, Schauspieler und Manager an-
oder vielleicht sogar die Menschwerdung bietet. Auch einige Kliniken und therapeu-
selbst befördert haben. Allianzen schmie- tische Praxen arbeiten mit der Technik.
den, sich für den Krieg und für die Jagd Flatischler will „Leerräume“ im Kopf
stählen – all das geht besser im Tanz. Von schaffen, um so „kreative Ressourcen“ frei-
jeher putschen sich Menschen auf diese zulegen. Eine „tiefe Rhythmuserfahrung“
Weise gegenseitig auf. verspricht er den Teilnehmern.
Jahrtausendealte Versammlungsorte, an Zu archaisch anmutenden Rhythmen
denen die Überreste prähistorischer Mu- geht es zunächst im Seitwärtsschritt im
sikinstrumente gefunden wurden, zeugen Kreis. Bald kommt rhythmisches Hände-
von ausgiebigen Steinzeitfeten. In Isturitz klatschen hinzu, schließlich monotoner Ge-
etwa, einer weitläufigen Höhle in den fran- sang, „Ta-Ke-Ti-Na“, vier Silben mit rei-
zösischen Pyrenäen, bargen Ausgräber nem Klang, ohne Bedeutung.
20 000 bis 35 000 Jahre alte Knochenflöten. Komplexe Rhythmen laufen schließlich
So wirkmächtig kann die Kombination durcheinander. Was macht die Stimme,
aus Bewegung und Musik erlebt werden, was machen die Hände, was die Füße?
dass sich manche Menschen dadurch sogar Überforderung stellt sich ein, die nur durch
bis ins Transzendente befördert fühlen. inneres Loslassen zu meistern ist. „Desta-
Die Anhänger des muslimischen Mevle- bilisierung“ nennt Flatischler das. Dann
vi-Ordens beispielsweise praktizieren bis passiert Erstaunliches: Der Kopf wird frei.
heute den Wirbeltanz. Ihr Drehen gilt als Der Körper bewegt sich wie von selbst, im
eine Form des Gebets, die den Tänzer Gott Einklang mit der Gruppe.
FOTOS: NICK DOLDING / GETTY IMAGES
Das Kettensägen-Massaker
Umwelt Unbekannte zerstören in großer Zahl die Horste von Rotmilanen und Schreiadlern.
Naturschützer vermuten: Die Täter wollen damit den Bau von Windrädern beschleunigen.
A
ls die Vogelkundler den Wald bei
Blesewitz besuchen, ist nichts mehr,
wie es war. Wo eigentlich Rotmi-
lane, Schreiadler und Mäusebussarde in
den Baumkronen nisten, ist alles kaputt.
Die Brutplätze südwestlich von Anklam
sind zerstört. Jemand hat die Bäume ein-
fach gefällt.
Das vorpommersche Kettensägen-Mas-
saker soll sicherstellen, dass keiner der
dort heimischen Greifvögel mehr sein Zu-
hause findet. Im vorigen März entdeckten
Mitglieder vom Naturschutzbund Deutsch-
land (Nabu) die Schäden bei einem Kon-
trollgang.
Zwar sind die Täter bis heute unbekannt,
doch Naturschützer hegen einen Verdacht:
Es könnte sich um Bürger handeln, die
wirtschaftlichen Nutzen aus einer ge-
planten Windenergieanlage ziehen wollen.
Das Phänomen im Landkreis Vorpom-
mern-Greifswald ist nicht neu. Seit 2015
haben die Behörden 10 Fälle mit insgesamt
35 zerstörten oder beseitigten Horsten re-
gistriert. Alle befanden sich im Schutz- und
Prüfradius eines Windenergieprojekts.
Ähnlich läuft es vielerorts: Die Täter
kommen bei Tag oder bei Nacht, hinter-
lassen meist Spuren – und werden trotz-
dem fast nie erwischt. Manche Tiere wer-
den vergiftet, erschossen oder durch Lärm
vertrieben. Andere verlieren ihren Horst,
weil Unbekannte den Baum mit Steigeisen
erklettern und den Brutplatz von Hand
zerstören – oder wie bei Anklam mit der
Kettensäge anrücken. Fast immer liegen
die Tatorte in auffälliger Nähe zu soge-
nannten Windeignungsgebieten.
Bundesweit zählt allein der Nabu seit
2010 mehr als 60 Fälle, mit einzelnen oder
mehreren zerstörten oder verschwunde-
nen Horsten. Lars Lachmann, Vogelschutz-
experte beim Nabu, beobachtet eine stei-
gende Tendenz – der Grund seien geän-
derte Schutzbestimmungen. „Früher
hatten die Tiere keinen Einfluss auf die
Planung und den Bau von Windparks.“
Heute blockierten die Vögel den Bau. Also
müssten sie aus Sicht mancher Leute ver-
schwinden.
Experten gehen von einer hohen Dun-
THOMAS LOBENWEIN / DER SPIEGEL
BLICKWINKEL / IMAGO
eingestellt. Rotoren und verlieren DIENSTAG, 13. 2., 20.15 – 21.05 UHR | SKY
Seit 2015 sammeln sie im Sturzflug ihre Ge- Despot Housewives –
mit ihrer „Erfassungs- sundheit oder ihr Leben. Die Verfluchten
und Dokumentations- Das Thema beschäf-
stelle Greifvogelverfol- Zielobjekt Rotmilan tigt auch die Industrie. Sie stiegen zu Kaiserinnen auf und
gung und Artenschutz- Vergiftet, erschossen, vertrieben „Eine Methode ist, an- glaubten, sie blieben es auf ewig.
kriminalität“ (Edgar) dere Futteranlaufstellen
bundesweit Fälle. Nach ihren Erkenntnis- zu errichten, damit der Rotmilan nicht zu
sen liegt die Aufklärungsquote unter zehn den Anlagen fliegt“, sagt Geschäftsführer SPIEGEL TV REPORTAGE
Prozent. Wolfram Axthelm vom Bundesverband DIENSTAG, 13. 2., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1
Zu den betroffenen Arten gehört der Windenergie. Dieses Verfahren komme be-
Rotmilan. Der Vogel, leicht zu erkennen reits erfolgreich zum Einsatz. Die Einbrecherjäger – Notruf aus
an seinem rostroten Gefieder, hat eine Sein Verband ist wegen der Horstzer- dem Schrank
Spannweite von bis zu 1,95 Meter. Am störungen besorgt. Axthelm sagt, dass die Als der 16-jährige Jakob Einbruchs-
Himmel ist der Rotmilan kaum zu überse- Behörden endlich aktiver gegen Täter vor- geräusche hört, versteckt er sich
hen, wenn er über dünn besiedelte Land- gehen müssten. „Die Staatsanwaltschaften im Schrank, ruft die Polizei. Die Tä-
striche gleitet. Majestätisch zieht er seine entfalten zu wenig Ermittlungsdruck, es ter sind schon in seinem Zimmer,
Kreise, bevor er zum Sturzflug ansetzt und scheint bei dem Thema an Engagement zu
Mäuse, Feldhamster oder kleinere Vögel fehlen.“ Wer Nistplätze geschützter Arten
greift. Mehr als die Hälfte der geschätzten zerstört, begeht eine Straftat, den Tätern
25 000 Brutpaare ist in Deutschland behei- drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis.
matet – viele in Mecklenburg-Vorpommern. Naturschützer aus Mecklenburg-Vor-
Etliche Rotmilane nisten rund um das pommern sprechen von einem „nahezu
Schloss Zinzow und den zugehörigen eng- mafiösen Schweigen“ in vielen Orten.
lischen Landschaftspark bei Anklam. Jo- „Wenn man nichts gesehen oder gehört ha-
hanna Vielhaber, die das Gut mit ihrem ben will, deckt man einander oder liefert
Mann und dessen Familie bewirtschaftet, abenteuerliche Erklärungen und Lügen.“
beobachtet die Vögel seit Langem, karto- Dabei genießen die Brutreviere der Rot-
grafiert ihre Standorte und meldet sie der milane in dem Bundesland Bestandsschutz:
Naturschutzbehörde. Wenn die Horste und damit oft die Vögel
Vor gut einem Jahr konnte die Biologin verschwinden, ist erst nach Ablauf einer
einen Horst bei einem Spaziergang plötz- dreijährigen Frist der Weg für Windener-
SPIEGEL TV
lich nicht mehr in den Baumkronen aus- gieanlagen frei. „Die Menschen müssten
machen. „Er stand mitten in einem ge- begreifen, dass sie von getöteten oder ver-
planten Windeignungsgebiet“, erzählt triebenen Tieren keinen Profit haben“, Soko-Castle-Leiterin Alexandra Klein
Vielhaber. Man habe noch Reifenspuren sagt Nabu-Experte Lachmann.
erkennen können, ergänzt ihr Mann. Sie Er sieht vor allem Politiker in der Pflicht, als die Retter eintreffen. Die Soko
erstatteten Anzeige. Die Polizei stellte fest, Gesetze zu schaffen, und verweist auf die Castle übernimmt. Eine unge-
dass der Baum mit großer Forsttechnik Notwendigkeit eines erweiterten Bestands- wöhnliche Nahaufnahme moderner
entfernt wurde, doch die Täter wurden schutzes. Dieser müsse auch greifen, wenn Polizeiarbeit.
nicht gefasst. Horste während der Planung einer Wind-
Zu viele Menschen seien in der Region kraftanlage verschwinden.
wirtschaftlich verflochten mit oder abhän- „Bisher werden die Tiere und ihre Plätze ARTE RE:
gig von der Windenergie, beklagt Vielha- beseitigt, sie tauchen nicht mehr in Gut- DONNERSTAG, 15. 2., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
ber. „Wir sind nicht gegen Windenergie“, achten auf, und schon steht der Genehmi-
sagt sie. Es gehe der Familie allein um den gung nichts mehr im Weg.“ Da die Planung Weniger ist mehr – Vom Glück,
Naturschutz und das empfindliche lokale vier bis fünf Jahre dauern könne, sei die anders zu wirtschaften
Ökosystem. Der Rotmilan habe zwar auch Methode, vor der Prüfung die Vögel zu be- Ein Erwachsener in Deutschland be-
natürliche Feinde, doch das größte Risiko seitigen, bislang lukrativ. „Hier reichen die sitzt durchschnittlich 95 Kleidungs-
für den Vogel sei der Mensch. bisherigen Richtlinien längst nicht aus.“ stücke – Strümpfe und Unterwäsche
Gefahr droht zudem von anderer Seite. Wolfram Axthelm will nicht warten, bis nicht mitgerechnet. Rund 40 Pro-
Rund um Windräder ist der Boden wärmer, der Gesetzgeber handelt. Mit seinem Bun- zent davon werden kaum oder nie
daher siedeln sich verstärkt Mäuse dort desverband Windenergie will er nun selbst getragen. Der Film zeigt Menschen,
an, eine wichtige und einfache Futterquelle Vogelkiller ermitteln: „Wir überlegen, bun- die umdenken. Sie konsumieren
für die Vögel. desweit Belohnungen zur Ergreifung der bewusster, gestalten ihre Gemeinde
Sind sie auf der Jagd, richten sie ihre Au- Täter auszuloben.“ Maik Baumgärtner nachhaltiger oder gründen eine so-
gen permanent auf den Boden. Die Beute Mail: maik.baumgaertner@spiegel.de ziale Initiative.
DER SPIEGEL 7 / 2018 105
WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL
Lernrevolutionär Wieman: „Die Vorlesung ist eine Tradition aus dem Mittelalter – damals galten auch Zaubersprüche als Allheilmittel“
Der Fehlerengel
Pädagogik So wird jeder zum Genie: Der amerikanische Physiknobelpreisträger Carl Wieman
feiert große Erfolge mit einer Ausbildungsmethode, die auf „aktives Lernen“ setzt.
E
in sonniger Dienstagmorgen auf dem Wieman, ein zupackender Lehrmeister mit „Aktives Lernen“ heißt diese Methode
weitläufigen Campus der kaliforni- Wanderstiefeln, kurzärmligem Hemd und heute: Studenten machen lassen, korrigie-
schen Stanford University bei San einer Uralt-Quarzuhr am Handgelenk: ren, weitermachen lassen, wieder korrigie-
Francisco. Entspanntes Büffeln unter Pal- „Doch das ist Quatsch. Mit dem richtigen ren, eine Art Autodidaktentum, aber unter
men. Nur in einem Seminarraum im Un- Unterricht kann jeder in jedem Fach riesi- Anleitung eines Mentors – quasi nach dem
tergeschoss geht es hoch her: Zwölf Stu- ge Fortschritte machen.“ Vorbild von Papa Mozart.
denten palavern in kleinen Grüppchen, Niemand werde als Genie geboren, ist In der Tat zeigen aktuelle Studien, dass
streiten und lachen miteinander. Wieman überzeugt – nicht einmal ein (fast) jeder (fast) alles lernen kann. So be-
Willkommen im Seminar des Physik- Wolfgang Amadeus Mozart. Genial sei vor sagte eine Lehrmeinung früher, dass das
nobelpreisträgers Carl Wieman! Mit einer allem sein Vater Leopold gewesen, ein mit- absolute Gehör eine angeborene Sonder-
ungewöhnlichen Methode bringt er heute telmäßiger Geiger, aber ausgebuffter Mu- begabung sei. Nur einer von 1000 Men-
zwölf Studenten aus Fachbereichen wie sikpädagoge, der eines der ersten Bücher schen verfügt über die Fähigkeit, die Höhe
Geologie, Mathe und Medizin bei, wie zur Musikerziehung für die Violine schrieb. eines gehörten Tons exakt zu bestimmen.
sie Studenten später besser unterrichten Er ließ Wolferl schon komponieren, als die- Doch im Jahr 2014 zeigte eine japani-
können. ser ein kleiner Junge war – und schaute sche Wissenschaftlerin mit einem Experi-
„Viele glauben, sie seien für Naturwis- ihm permanent über die Schulter, um je- ment, dass auch alle anderen das absolute
senschaften einfach nicht begabt“, sagt den kleinsten Fehler zu verbessern. Voilà. Gehör erlernen können. Sie rekrutierte
106 DER SPIEGEL 7 / 2018
Wissenschaft
24 normale Kinder, zwischen zwei und Dass der berühmte Physiker so viel vom Doch Wieman blieb hungrig und neu-
sechs Jahren alt. Dann trainierten Musik- aktiv angeleiteten Lernen hält, kommt gierig. Nach der Nobelpreisehrung stellte
lehrer mit ihnen, Tonhöhen zu erkennen, nicht von ungefähr. Schon als Kind war er er seine Physikkarriere zurück und wid-
pro Tag ein paar Minuten. Manche Kinder ein eigenwilliger Selbermacher – notge- mete sich fortan seinem Lebensthema: Ler-
brauchten nur wenige Monate, andere drungen. Wieman wuchs in den Wäldern nen lernen. Mit seinem Nobelpreisgeld
über ein Jahr. Am Ende aber hatten alle, Oregons auf. Sein Vater arbeitete in einem startete er eine Bildungsinitiative, baute
die das Programm durchzogen, das Abso- Sägewerk, einen Fernseher gab es nicht die Curricula von 235 universitären Kursen
lute Gehör. im Haus, so verschlang Carl stapelweise um und ließ die Lernerfolge von unabhän-
Derlei faszinierende Geschichten gibt Bücher aus der Leihbibliothek. gigen Bildungsforschern testen.
es inzwischen zuhauf. Der Entwicklungs- Mit einem Bruder tüftelte er an kompli- Nebenher überprüfte er etliche weitere
psychologe Anders Ericsson von der Flori- zierten Spielzeugen. Als er in die 8. Klasse reformpädagogische Ideen, die als Erfolg
da State University sorgte beispielsweise kam, zog die Familie um, er freundete sich versprechend galten: charismatische Pro-
für Aufsehen, als er ebenfalls mit einem mit dem Sohn eines Mathematikprofessors fessoren? Kommen bei Studenten gut an,
Experiment den Kult um angeblich begna- sorgen für Unterhaltung – bringen aber we-
dete Gedächtniskünstler entzauberte. Die Verbesserte Lernleistungen nig Lernerfolg. Kleinstgruppen? Kein mess-
meisten Menschen können sich in ihrem mit der Unterrichtsmethode „Aktives Lernen“ barer Vorteil. Unterricht mit Smartboards
Kurzzeitgedächtnis nur rund sieben belie- und Handys? Digitalschnickschnack lenke
bige Zahlen merken, die ihnen vorgelesen Die eher ab, hat er herausgefunden: „Auch das
wurden. Ericsson dagegen brachte einem Biologie Durchfallquote Mitschreiben per Hand stört beim aktiven
sank um Mitdenken, das Mitschreiben am Notebook
Studenten durch intensives Training bei,
sich bis zu 82 beliebige Zahlen zu merken. Informatik 12 aber ist noch störender.“
Wichtig bei der Methode des aktiven Prozentpunkte Gut dagegen schneiden spielerische
Mathematik von durchschnittlich Techniken ab, etwa interaktive Abstim-
Lernens ist der richtige Umgang mit Feh- 33,8% auf 21,8%
lern oder falschen Vorstellungen. „Viele mungen („Clicker“ genannt), bei denen
Menschen glauben, dass Sommer und Win- Chemie die Studenten einfache Ja-Nein-Fragen be-
ter dadurch entstehen, dass die Erde mal antworten müssen, wie man es von Quiz-
näher an der Sonne ist und mal weiter Ingenieurs- shows kennt. Die häufige Rückmeldung
weg“, berichtet ein Geologiestudent beim wissenschaften von Studenten erlaubt den Lehrenden, den
heutigen Seminar. Lernfortschritt besser einzuschätzen.
Wieman ist begeistert, er liebt solche Geologie Am besten aber, so zeigte sich, sind die
Irrtümer. Er ist überzeugt, dass Fehler wert- Ergebnisse beim aktiven Lernen. Die von
voll sind – je abwegiger, desto besser. Denn Psychologie Wieman propagierte Methode hat inzwi-
er sieht Fehler nicht als Niederlage, son- schen auch deutsche Universitäten er-
dern als Chance, daran zu wachsen. Physik reicht. „Aber Deutschland ist in Bildungs-
Bei ihm im Seminar muss jeder Student fragen eher konservativ“, klagt die Physi-
ständig für sich allein neue Aufgaben be- 0 +0,5 +1,0 kerin Cynthia Heiner, die unter Wieman
Effektstärke
arbeiten. Die Lösungen werden dann ge- gearbeitet hat und heute an der FU Berlin
meinsam im Kreis mit allen anderen Stu- Quelle: Scott Freeman u.a.: „Active learning increases student
performance in science, engineering, and mathematics“
lehrt. „Hierzulande gelten Fehler eher als
denten diskutiert – angeleitet von Wieman, Tabu und Makel, nicht als Anreiz zum Bes-
der als oberster Fehlersucher und Korrek- an, der mit den Kindern nachmittags auf sermachen.“
tor fungiert. Selbst Unsinn feiert er noch spielerische Weise Geometrieprobleme lös- „Doch in den letzten Jahren hat sich viel
als Erfolg. Bei ihm wird der Fehlerteufel te. Außerdem lernte Carl Wieman Schach getan an deutschen Unis, vor allem an
zum Fehlerengel. und wurde durch fortwährendes Üben so Fachhochschulen“, sagt Peter Riegler, Do-
Den größten Fehler hat er indes in den gut darin, dass er bald auf Turnieren antrat. zent an der Ostfalia-Hochschule in Wol-
Köpfen der Professoren ausgemacht – weil „Aber im reifen Alter von 16 Jahren gab fenbüttel, wegen seiner Lehrkünste zum
sie an einer so rückständigen Lehrmethode ich diese Karriere auf“, sagt er. Professor des Jahres 2011 gekürt. „Grob
wie der Vorlesung festhalten. Schließlich schrieb er sich als Physikstu- geschätzt wird das aktive Lernen hierzu-
Er verweist auf eine aktuelle Vergleichs- dent am MIT bei Boston ein, doch seine lande wohl bereits in einem von hundert
studie unter Leitung des amerikanischen wahre Leidenschaft blieben damals Tennis Seminaren eingesetzt.“
Bildungsforschers Scott Freeman. Dem- und Squash: „Ich habe gegen ein paar der Und was war der größte Fehler, dem
nach schneiden durchschnittliche Studen- besten Spieler des Landes verloren, sogar Wieman selbst aufgesessen ist? Sein Glau-
ten, die bislang einer Vorlesung gelauscht gegen einen späteren US-Meister.“ be an die Vernunft, antwortet er: „Ich
haben, durch aktives Lernen besser ab als Die Vorlesungen in Optik oder Atom- dachte, dass eindeutige Forschungsergeb-
68 Prozent ihrer Kommilitonen. Außerdem physik dagegen schwänzte er oft. Lieber nisse die meisten meiner Kollegen über-
sinkt die Durchfallquote um rund ein Drit- bildete er sich im Labor fort, durch Aus- zeugen werden.“
tel (siehe Grafik). probieren und Scheitern und Weiter- Doch das war nicht der Fall. Zu seiner
„Handelte es sich um eine medizinische machen. Mit dieser zupackenden Lerntech- Überraschung kam der größte Widerstand
Studie, müsste man traditionelle Vorle- nik schaffte er es bis in den Olymp seines ausgerechnet von den Meistern der Zahlen:
sungen sofort abbrechen, weil es nicht Fachs. Mathematiker waren oft am zögerlichsten,
zu verantworten wäre, Patienten einer Im Jahr 1995 gelang es ihm mit seinem auf Vorlesungen zu verzichten.
solch untauglichen Therapie auszusetzen“, Team, eine 70 Jahre alte Vorhersage von Hilmar Schmundt
schimpft Wieman. „Die Vorlesung ist eine Albert Einstein zu bestätigen: dass stark Twitter: @hilmarschmundt
jahrhundertealte Tradition aus dem Mit- heruntergekühlte Materie eines bestimm-
telalter – aber damals galten teils auch ten Typs in einen neuartigen Aggregatzu- Rubrik: Forscher
Aderlass und Zaubersprüche als Allheil- stand übergeht, weder flüssig noch fest Carl Wieman über das Lernen
mittel. Beides hat sich als weitgehend un- oder gasförmig – das legendäre Bose-Ein- spiegel.de/sp072018lernen
wirksam erwiesen.“ stein-Kondensat. oder in der App DER SPIEGEL
Zeitgeschichte ten während der Arbeit im Oval Office und bei privaten
Glamouröse Nostalgie Momenten mit seiner Familie. Oder bei jenen Terminen, die
Obama „OTR“ nannte, „off the record“-Begegnungen mit
Mehr als 600 Bilder machte der Fotograf Pete Souza jeden Tag amerikanischen Bürgern. Nach dem Amtsantritt von Donald
von seinem Chef, acht Jahre lang. Knapp zwei Millionen Fotos Trump verließ Souza das Weiße Haus, er sichtete sein
sind so innerhalb von acht Jahren entstanden, eine Chronik der Archiv. Mehr als 300 Aufnahmen hat er jetzt für einen präch-
jüngsten amerikanischen Geschichte und zugleich Polit-PR vom tigen Fotoband ausgewählt: Obama – Bilder einer Ära dürfte
Feinsten. Denn Souzas Boss war US-Präsident Barack Obama. viele Betrachter nostalgisch stimmen. So lässig und glamourös
Als offizieller Fotograf des Weißen Hauses reiste Souza mit ihm konnte einst ein US-Präsident rüberkommen (Prestel Verlag;
durch Amerika und um die Welt; er beobachtete den Präsiden- 352 Seiten; 42 Euro; erscheint am 19. Februar). mwo
Sie sagte es, als finde sie das ganz süß, aber sachgrundlos.
Renner, Gil Birmingham An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
Erweiterte
Kampfzone
Politische Korrektheit In Manchester verschwindet ein
Gemälde, in Berlin ein Gedicht. Kevin Spacey
wird aus einem Film herausgeschnitten – und immer geht
es dabei um Sexualität. Bedroht die Debatte
um das Geschlechterverhältnis die Freiheit der Kunst?
E
s gibt auf dieser Welt ein Bild, das oder mythologisches Alibi abgebildet,
alle Fragen stellt und keine Antwort durchaus verherrlicht und auch noch got-
gibt. Auf geheimnisvolle Weise hat teslästerlich überhöht, eine unglaubliche
es mit allen Menschen zu tun, also auch Provokation – die allerdings bis heute fort-
mit Catherine Deneuve und mit Harvey wirkt. „Der Ursprung der Welt“ darf im
Weinstein, mit #MeToo-Aktivistinnen und Februar 2018 noch immer als so gefährlich
Herrn Dr. Wedel, mit den Asta-Leuten der und als so gefährdet gelten, dass das Mu-
Alice-Salomon-Hochschule, mit Kuratoren seum einen Bediensteten eigens zu seiner
in Manchester und mit Kevin Spacey, der Überwachung abstellt. Mit Bilderstürmern
nicht mehr zu sehen ist in Ridley Scotts und anderen Zensoren ist jederzeit zu rech-
neuem Film „Alles Geld der Welt“, ob- nen und neuerdings auch mit Bilderstür-
wohl er darin doch mitgespielt hat. merinnen und Zensorinnen. Facebook hat
Das Bild hängt, Öl auf Leinwand, 46 mal den „Ursprung der Welt“ gelöscht, ein Pa-
55 Zentimeter groß, in einem kleinen Saal riser Lehrer führt nun einen Prozess des-
des Pariser Musée d’Orsay. Sein Maler, wegen, im März soll das Urteil fallen.
Gustave Courbet, nannte es „L’Origine du Wenn es nicht um Moral und Anstand,
monde“, das heißt „Der Ursprung der Pornografie und Jugendschutz geht, dann
Welt“, und das Gemälde zeigt, in vollen- um die Frau als Objekt und als Opfer, um
detem Naturalismus, den Unterleib einer die pornografische Zerstückelung des weib-
Frau, ein entblößtes weibliches Geschlecht. lichen Körpers, um Männerfantasien, um
Vor dem Gemälde spielen sich tagtäglich maskulin dominierte Machtverhältnisse.
viele kleine Szenen ab, die zur großen Aber müsste es nicht mindestens ebenso
menschlichen Komödie gehören. Auch die- laut darum gehen, was Kunst darf und dür-
se Woche, als der Winter mit tanzendem fen muss und wer das zu bestimmen hat?
Schnee nach Paris kam, war es nicht an- Hat die Kunstfreiheit Grenzen? Und wer-
ders. Da waren die Besucher, die zum aller- den die von Berliner Studenten definiert?
ersten Mal vor das Bild gerieten und zwi- Oder von wem? Führen unser neues Leben
schen zwei Wimpernschlägen um Fassung in der digitalen Empörungsdemokratie und ein Bild abgehängt wird, wie in Manches-
rangen. Da waren junge Frauen aus aller das Veröden in selbst geschaffenen Blasen ter, in der Art Gallery, einem klassizis-
Herren Länder, die vor dem Bild in fröhli- dazu, dass Toleranzschwellen sinken? Dass, tischen Kunsttempel aus dem 19. Jahr-
ches Gelächter ausbrachen, oder war da was früher einfach ignoriert oder abgetan hundert, jener Zeit, als die Kunst für das
auch eine kleine, kichernde Angst? Es gab wurde, heute als unerträglich gilt und zum Schöne, für das Edle stand, keinen Ärger
wie stets die jungen Männer, die so taten, Verschwinden gebracht werden muss? machte, sondern ihre Betrachter zu erbau-
als hätten sie das Gemälde wirklich fast Das sind Stichworte der aktuellen De- en hatte. Saal Nummer zehn im ersten
überhaupt nicht bemerkt, es gab die Lie- batte. Wer sich hinstellt vor Courbets un- Obergeschoss ist dem viktorianischen
bespaare, die sich im Angesicht der pracht- glaubliches Gemälde, lernt binnen weni- Schönheitsideal gewidmet, gegenüber der
vollen behaarten Vulva noch ein wenig tie- gen Momenten des Betrachtens, dass die Tür hängt im aufwendig verzierten Rah-
fer in die Augen schauten. Es gab Men- Frontverläufe zu gerade, die Argumente men das Gemälde, über das seit vergange-
schen, in deren Augen echte Panik stand, zu clean, die Gewissheiten gerade viel zu ner Woche weltweit geredet wird. Eben
und dann spazierten wieder ruhige alte groß sind. Wer aber über das Verhältnis weil es nicht mehr da war.
Damen vorbei, hoben kurz den Blick und von Männern und Frauen reden will, kann Die Dielen knarzen auf dem Weg dort-
gingen lächelnd davon. über Sexualität, Eros, Leidenschaften, hin, als wären sie eine Alarmanlage, die
Courbets Werk, entstanden 1866, gilt auch die dunklen, nicht schweigen. Dort Botschaft, je nach Sichtweise: „Vorsicht,
Kunsthistorikern als ein entscheidender beginnt, in jedem Menschen, unkartiertes Kunst!“, „Vorsicht, Zensur!“, „Vorsicht, Se-
Schritt auf dem Weg in die Moderne. Das Gelände, also die Domäne der Kunst, die xualität!“. Das Bild heißt „Hylas und die
Bild stellt eine radikale Geste schöpferi- nicht nach Korrektheit fragt und die Welt Nymphen“, gemalt hat es 1896 ein Mann
scher Freiheit dar, einen Bruch: Hier wur- zum Beben bringen kann – und sei es, weil namens John William Waterhouse, ein so-
de ein Geschlechtsorgan ohne historisches die Kunst plötzlich verschwunden ist, weil genannter Präraffaelit, das ist eine etwas
in Vergessenheit geratene englische Kunst- ist der Täter, nicht die Nymphe das Opfer. „Traurig.“
richtung des 19. Jahrhunderts. Waterhouse Es ist umgekehrt. Vielleicht die erste Poin- „Befreit die Nippel.“
zeigt sieben sehr junge Frauen in einem te dieser Geschichte. Eine zweite könnte „Das ist Zensur.“
mit Seerosen bedeckten Tümpel. Lange sein, dass Hylas der jugendliche Geliebte „Der Feminismus schnappt über. Ich
Haare, sinnlicher Blick, ein bisschen sieht des Herakles war, man könnte das Pädo- schäme mich, Feministin zu sein.“
jede so aus, als hätte man Uschi Obermaier philie nennen. Aber was wäre dann die Nur wenige vertreten eine andere An-
in ein Gemälde des 19. Jahrhunderts ver- Nymphe? Eine Frau, die einen Jungen aus sicht.
bannt. Eine Männerfantasie. Womöglich. den Fängen eines Pädophilen befreit? Es „Danke für das Anstoßen einer offenen
Und dann ist da dieser Knabe am Rande gibt so viele Lesarten, für die Literatur, Diskussion, 100 Jahre später, wir haben
des Teichs, Hylas. Er kniet, streckt seinen und auch für ein Gemälde. noch einen langen Weg zu gehen (trauri-
Arm aus. Es ist eine Szene aus der grie- Aber wer kennt diesen mythologischen gerweise).“
chischen Mythologie. Gustav Schwab hat Plot heute noch? „#MeToo.“
sie, auch im 19. Jahrhundert, in seinen „Sa- Unter dem Bild und auch auf dem Bo- Da ist er, der Hashtag, der so viel ausge-
gen des klassischen Altertums“ ins Deut- den kleben gelbe Post-it-Zettel, es sind löst hat seit dem vergangenen Herbst, das
sche übertragen: „Wie er sich nun eben weit mehr als hundert, auf denen die Motto einer Revolte gegen die Raubtier-
mit dem Kruge nach dem Wasserspiegel Museumsbesucher ihre Meinung notiert männer, einer Revolte, die dazu geführt
neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quel- haben. hat, dass Schauspielerinnen in Hollywood
les. Von seiner Schönheit betört, schlang „Hände weg von diesem Gemälde.“ den Filmproduzenten Harvey Weinstein
sie den linken Arm um ihn, mit der Rech- „Welcher Scheiß. Waterhouse’ Hylas & als Vergewaltiger anklagten und Schauspie-
ten ergriff sie seinen Ellenbogen und zog Nymphen abgenommen für diesen Un- lerinnen in Deutschland den Fernsehregis-
ihn so hinunter in die Tiefe.“ Nicht Hylas sinn.“ seur Dieter Wedel – beide bestreiten die
DER SPIEGEL 7 / 2018 111
Kultur
Vorwürfe. Das Motto, das dazu geführt nicht mit einem Schlag, sondern, wie sich Alice-Salomon-Hochschule, und darum,
hat, dass Frauen sich wehren, dass sie den nun zeigt, langsam und gewaltig. Bei Mul- ob dieses Gedicht übermalt werden soll,
Mund aufmachen, reden über männlich vey ging es unter anderem um die Filme weil es eben den männlichen Blick feiere.
dominierte Machtstrukturen, über se- Alfred Hitchcocks, um die Kamera, die Es wurde viel diskutiert und gestritten,
xualisierte Unterdrückungsmechanismen. den Blickwinkel des Mannes einnimmt, selbst die Leser des sonst verlässlich lyrik-
Doch dieses Reden hat praktische Folgen, um die Frauen, dargestellt von sehr blon- fernen Boulevardblatts „Berliner Kurier“
weil es ja nicht nur darum geht, was war, den, sehr grazilen Schauspielerinnen wie kennen nun ein Beispiel der eher spröden
sondern auch darum, was nicht mehr sein Kim Novak, Tippi Hedren oder Grace Kel- konkreten Poesie der Fünfzigerjahre, al-
soll. Es ist ein Umbruch, zumindest, viel- ly, vom Mann begehrte Objekte, oder, wie lerdings nur weil der „Kurier“ es als „Sex-
leicht gar eine Revolution. Mulvey schrieb: „Insbesondere in ‚Vertigo‘, Gedicht“ verkaufte. Ende Januar hat der
Doch kein Umbruch, keine Revolution aber auch in ‚Marnie‘ und ‚Das Fenster Akademische Senat der Hochschule ent-
der Weltgeschichte kam ohne Bildersturm zum Hof‘ ist der Blick für die Handlung schieden: Das Gedicht soll weg.
aus. Nicht die Reformation, als Anhänger zentral, er oszilliert zwischen Voyeurismus Verschwindet da ein Kunstwerk? Oder
von Luther, Calvin oder Zwingli in den und fetischistischer Faszination.“ Kein reicht es, dass man dieses Gedicht ja wei-
Kirchen wüteten, die Gemälde und Heili- ganz unwesentlicher Hinweis, es ist ja bei terhin nachlesen kann, in Büchern, im In-
genfiguren zerstörten und dabei Kunst- Hitchcock nicht so, dass die Frauen seine ternet, zwischenzeitlich sogar auf der LED-
schätze vernichteten, Gemälde und Schnit- Gefangenen wären, es ist eher so, dass die Leuchttafel am Dach des Berliner Axel-
zereien, als gälte es, Brennholz für das Faszination ihres Anblicks ihn gefangen Springer-Verlags, der mit seinem Hausblatt
Fegefeuer zu besorgen. Und dann erst die nimmt. Wer wäre dann Subjekt und wer „Bild“ sonst nicht gerade als Verfechter
Französische Revolution: Allein in Notre- Objekt? des Feinsinnigen bekannt ist, aber kaum
einen Kulturkampf scheut.
Und von einem Kulturkampf kann man
„Wir leben in einer Zeit der Verbote, des Tabuisierens und durchaus sprechen. Der Mainzer Histori-
ker Andreas Rödder, der sich mit der „Kul-
des teilweise übersteigerten Moralisierens.“ tur des Regenbogens“, wie er sie nennt,
der Emanzipationsbewegung im Zeichen
Dame zertrümmerten im Jahr 1793 die Pa- Mit Laura Mulveys Formel vom männli- der Antidiskriminierung, befasst hat, sieht
riser Aufständischen 90 der 109 Statuen chen Blick lassen sich nicht nur Filme ana- hier die „Talibanisierung des Regenbo-
der Kathedrale, aus den Bruchstücken bau- lysieren, sie gilt auch in der Kunst, in Man- gens“: „Diversität, die nur eine Meinung
te man eine Latrine. Vor einer Büste des chester lässt sie sich ebenfalls anwenden, gelten lässt, wird zur Ideologie.“ Kultur-
Jakobiners Marat errichteten die Revolu- auch auf John William Waterhouse’ Bild staatsministerin Monika Grütters zeigte
tionäre einen Scheiterhaufen mit Bildern von Hylas und den Nymphen im Sumpf sich „fassungslos“ angesichts der Berliner
aus den königlichen Sammlungen. So ähn- des Begehrens. Clare Gannaway, die Ku- Entscheidung: „Wir sind eines der wenigen
lich ging es weiter, bis ins 20. Jahrhundert ratorin des Museums, hat indirekt Bezug Länder der Welt, die die Kunstfreiheit in
hinein, bis zur Ausstellung „Entartete auf Mulveys Formel genommen, nachdem der Verfassung festgeschrieben haben.“
Kunst“ des Jahres 1937, als die Nazis die Waterhouse’ Gemälde von der Museums- Wo käme man nun hin, meint sie, wenn
Werke der Moderne verhöhnten; bis zu wand verschwunden war; Gannaway teilte kleine Gruppen für sich in Anspruch näh-
den kulturellen Säuberungen im Stalinis- mit, eine Präsentation, in der die männli- men, dies oder das müsse weg? „In diesem
mus und während Maos chinesischer Kul- chen Künstler den weiblichen Körper als Fall verbunden mit dem Totschlagargu-
turrevolution. passiv dekorativ oder als eine Femme fa- ment, das im Moment Konjunktur hat: ‚Ich
Von derartigem Terror sind die westli- tale zeigten, sei überholt. fühle mich sexuell belästigt.‘ Wenn nach
chen Gesellschaften des frühen 21. Jahr- Hysterie machte sich breit in den Me- diesem Maßstab Kunst eliminiert werden
hunderts denkbar weit entfernt – und doch dien, sie lässt sich nur damit erklären, dass dürfte, wie sähen dann unsere Museen und
hallt die Erinnerung daran nach, als sei sie das Museum in Manchester mit seiner Ak- Städte aus?“
ein schlecht bewältigtes Trauma. Ein ent- tion eine unterschwellige Angst vor einem Grütters und Rödder stehen auf der kon-
sprechendes Reizwort, eine kleine Erinne- neuen Bildersturm geschürt hat – diesmal servativen Seite, doch der „Guardian“, das
rung genügen, und schon läuft der Film unter feministischen Vorzeichen. Plakativ Blatt, das linke britische Intellektuelle
wieder ab im kollektiven Gedächtnis, er- zugespitzt lautet die Frage: Bedroht die beim Frühstück lesen, sah die Folgen der
lebt die Menschheit, oder zumindest ihr politische Korrektheit nun womöglich die Aktion in Manchester ähnlich, als er die
kunstsinniger Teil, den Schrecken aufs Freiheit der Kunst? Frage stellte: „Ist Picasso der Nächste?“
Neue. Aber ist dieser Schrecken eingebil- „Ja“, sagt Marion Ackermann, Direkto- Wenn es nur um Picasso ginge. Die Mu-
det oder wirklich auch da? rin der Dresdner Kunstsammlungen. „Wir seen sind voll mit Werken des männlichen
Ganz sicher jedenfalls gibt es Anzeichen leben weltweit in einer Zeit der Verbote, Blicks. Er zieht sich durch alle Epochen,
einer Bewegung, die über #MeToo hinaus- Tabuisierungen und des teilweise überstei- lässt sich zurückdatieren bis etwa 30 000
geht und doch davon Auftrieb bekam, gerten Moralisierens. Kunst war und ist Jahre vor unserer Zeit: die „Venus von Wil-
einer Bewegung, der es nicht nur um die eben nicht nur gut, sondern auch unbe- lendorf“, eines der ältesten Kunstwerke
Herrschaft von Männern geht, sondern quem, provokant.“ Wenn Kunstwerke ein der Menschheit – männlicher Blick. In der
auch um den „männlichen Blick“ und da- Frauenbild zum Ausdruck brächten, das Renaissance: Botticellis „Geburt der Ve-
mit auch um die Kunstwerke, die davon im Widerspruch zu gesellschaftlichen Nor- nus“ – männlicher Blick. Im Barock: Ru-
geprägt sind, um eine ästhetische Neube- men stehe, sei die Pflicht des Museums bens’ „Raub der Sabinerinnen“ – männli-
wertung und Neuordnung der Museen, zur Vermittlung umso größer. cher Blick. In der Moderne und Post-
vielleicht auch um eine ästhetische Revolte, In Deutschland dreht sich die Debatte moderne: Egon Schieles „Schwarzhaariges
eine Revolution. um politische Korrektheit und die Freiheit Mädchen mit hochgeschlagenem Rock“ –
Die britische Filmwissenschaftlerin Lau- der Kunst seit September um ein Gedicht, sehr männlicher Blick. Man könnte fast
ra Mulvey hat die Formulierung vom das auf den ersten Blick gar nicht sonder- meinen, ohne den männlichen Blick wäre
männlichen Blick erfunden, schon 1973, lich provokant ist, um Eugen Gomringers die Kunstgeschichte erst gar nicht entstan-
sie hat Kulturgeschichte geschrieben damit, „Avenidas“ auf der Fassade der Berliner den. Doch, Verzeihung, Spott allein hilft
112 DER SPIEGEL 7 / 2018
DUNCAN ELLIOTT / DER SPIEGEL
„Hylas und die Nymphen“ in Manchester,
Gomringer-Gedicht in Berlin,
Balthus-Gemälde „Thérèse, träumend“
nicht weiter – Frauen hatten keine Chance, sal interveniert, wie immer, wenn es da- weil man darauf das Höschen des porträ-
die Geschichte der Kunst ist eine Geschich- rum geht, Epoche zu machen – und ist das, tierten Mädchens sehen kann, gilt ihm nun
te der Unterdrückung der Frau. was da gerade in Berlin, Manchester oder der Vorwurf, es verkläre „in diesem aktu-
Vielleicht aber hilft ein bisschen Ab- im Schneideraum von Ridley Scott gesche- ellen Klima den Voyeurismus und die Se-
stand von der lodernden Debatte. Die Ber- hen ist, etwa nicht epochal, zumindest ein xualisierung von Kindern“. Bereits 2014
liner Historikerin Ute Frevert meint, wenn bisschen? Der männliche Blick jedenfalls, hatte das Essener Folkwang-Museum eine
man alle Kunstwerke, die unsere heutigen im Museumsbesucher mit dem iPad hat er Ausstellung mit Polaroids von Balthus ab-
Sensibilitäten störten, aus den Museen ent- seine Verkörperung gefunden. gesagt, weil es sich damit nach deutschem
fernte, seien die bald leer – und doch sei Im Januar schließlich lud Sonia Boyce Recht strafbar gemacht hätte. Ab Septem-
es nötig, über Kunstwerke öffentlich zu zu einer Performance ins Museum ein. ber ist in Basel eine große Balthus-Retro-
diskutieren, eigene Lesarten vorzubringen. Zwei Mitarbeiter der Manchester Art Gal- spektive geplant, ob sie wirklich stattfindet,
Der Leipziger Kunsthistoriker Wolfgang lery nahmen Waterhouse’ Bild von der ist fraglich angesichts eines Künstlers, dem
Ullrich sagt, wer Werke der Kunstgeschich- Wand, luden es auf einen Wagen und fuh- immer wieder der Vorwurf gemacht wird,
te „zu stark nur nach Maßstäben und Mo- ren es weg. Es sei nicht ihre Entscheidung er stilisiere die Pädophilie. Aber was wäre
ralstandards der Gegenwart“ beurteile, gewesen, sondern die der Menschen im Kunst, wenn sie sich nicht auch mit den
verkenne, dass das Museum ein ganz be- Museum, sagt Boyce. Auch den Entschluss, Seiten des Begehrens auseinandersetzen
sonderer Raum sei, in dem alles, was his- wann das Bild wieder aufgehängt wird, hät- würde, die unsere Gesellschaft juristisch,
torisch einmal eine Rolle spielte, konser- te sie gern dem Personal überlassen. Doch politisch oder moralisch sanktioniert? Max
viert werden könne (und solle), egal was dann brandeten die Proteste über das Mu- Hollein, früher Städel-Chef, heute Muse-
man heute darüber denke. seum herein, die Vorwürfe von „kulturel- umsdirektor in San Francisco, erinnert da-
Was aber hat Sonia Boyce, die Künstle- lem Marxismus“, „Puritanismus“, „Vikto- ran, dass die Altersgrenze für sexuelle Be-
rin, die den Anstoß gab, sich mit John Wil- rianismus“, auch wenn es begrifflich ein ziehungen in Kalifornien bis 1889 bei zehn
liam Waterhouse zu beschäftigen, mit ihrer bisschen durcheinanderging – die Chefin Jahren lag, in Delaware sogar bei sieben.
Aktion vorgehabt? Immerhin ist sie Mit- des Museums sei nach den Protesten „Was für uns heute nicht nur moralisch,
glied der Royal Academy of Arts, wie gut schnell nervös geworden. Jetzt hängt das sondern auch rechtlich ausgeschlossen ist,
hundert Jahre vor ihr Waterhouse auch. Bild schon nach sieben Tagen wieder. war vor hundert Jahren noch ganz anders
Sie lehrt als Professorin, eines ihrer For- Täglich würden in Museen Bilder auf- normiert.“ Die Vorstellung, dass jeder
schungsgebiete ist „Schwarze Künstler und gehängt, abgehängt, umgehängt, die Ent- Künstler ein nach heutigen Maßstäben mo-
die Moderne“. Im März hat sie eine Aus- scheidung träfen Kuratoren hinter ver- ralisch einwandfreies Leben geführt haben
stellung in der Manchester Art Gallery, und schlossenen Türen, meint Boyce. „Spricht müsse, damit wir seine Werke akzeptieren
wie schon andere Künstler vor ihr soll sie da auch jemand von Zensur?“ könnten, sei „vollkommen abwegig“.
sich da mit dem Bestand des Museums aus- Was sie verkennt, ist, dass es in Man- Trotzdem wurde in Hamburg eine Aus-
einandersetzen. Die Kuratoren des Muse- chester nicht nur darum ging, ein Bild an- stellung, in der die Deichtorhallen ab
ums nennen diese Reihe „Take over“, zu derswohin zu räumen. Waterhouse ist nur Herbst die Fotografien des Amerikaners
Deutsch: „Übernahme“ – oder sollte man der jüngste Fall in einer Reihe von Fällen, Bruce Weber zeigen wollten, vorerst „auf
eher „Machtübernahme“ sagen? Um sich in denen Bilder unter Verdacht geraten Eis gelegt“, wie es in einem Statement
darauf vorzubereiten, spazierte Boyce im sind. Anlässlich der Biennale im New Yor- kühl heißt. Im Januar hatte die „New York
vergangenen September durch die Räume ker Whitney Museum hatte es im März Times“ einen Bericht veröffentlicht, in
des Museums, an ihrer Seite Mitarbeiter 2017 Wortgefechte wegen Dana Schutz’ Ge- dem 15 Models dem Fotografen sexuelle
des Hauses, auch das technische Personal. mälde „Open Casket“ gegeben – weil die Belästigung vorwerfen.
Irgendwann standen da plötzlich 30 Leute. Künstlerin weiß ist, der auf dem Bild ge- Wenn die Vorwürfe stimmen – das muss
man in diesen Tagen trotz des naheliegen-
den moralischen Bedürfnisses, zu den Op-
„Die Vorstellung, dass jeder Künstler ein einwandfreies fern zu halten, immer dazusagen –, dürfte
Bruce Weber sich strafbar gemacht haben;
Leben geführt haben muss, ist vollkommen abwegig.“ wenn die Vorwürfe stimmen, wäre, wer
sich als Model in seine Nähe begibt, ge-
Boyce war erstaunt, wie groß das Interesse zeigte tote Junge aber schwarz; er hieß Em- warnt; wenn die Vorwürfe stimmen, hätte,
war, über die Bilder zu sprechen. „Manches mett Till und ist bis heute eine Symbolfigur wer Weber beauftragt, sich mit der Frage
wird sehr kritisch gesehen, doch all diese für die US-amerikanische Bürgerrechtsbe- auseinanderzusetzen, ob er damit ein
Leute, die doch immerhin im selben Muse- wegung, in den Fünfzigern von weißen Ras- System deckt und finanziert, in dem ein
um arbeiten, haben sich nie darüber unter- sisten gefoltert und ermordet. Die schwarze Mann seine Macht nutzt, um andere zu
halten.“ Auch um Waterhouse’ Bild ging britische Künstlerin Hannah Black verlang- missbrauchen; könnte man hoffen, dass
es, manche Kollegen, so Boyce, hätten es te, das Bild zu zerstören: „Es ist nicht ak- die Enthüllungen ein offeneres Klima för-
am liebsten ins Depot verbannt, sie hielten zeptabel, dass eine Weiße das Leid eines derten, dass sie das Ende der machistisch
es für eine Art pädophilen Softporno. Schwarzen in Spaß und Profit verwandelt.“ geprägten Machtkonglomerate beschleu-
Und dann geschah es. Sonia Boyce erin- Die Schriftstellerin Zadie Smith, selbst nigten. Aber ist damit auch die Kunst die-
nert sich, wie ein Besucher den Saal betrat, schwarz, selbst Britin, wandte sich öffent- ses Mannes – schlimmes, aber zeitgemäß
ein Mann mittleren Alters, er habe ein iPad lich gegen Black, verglich sie mit Nazis und wirkendes Wort – unzeigbar?
dabeigehabt, er habe den Nymphen von zensurwütigen Evangelikalen. Die Chefs der Deichtorhallen meinen
John William Waterhouse auf die gemalten Der nächste Kunststreit brach ein paar offenbar: fürs Erste, ja. Da es in der ge-
Brüste gestarrt, sie mit seinem iPad gefilmt Monate später aus: In einer Onlinepetition genwärtigen Debatte keine Trennung zwi-
und dabei geschnauft. Ein anderer Besu- forderten gut 10 000 empörte Bürger, dass schen Künstler und Werk gebe, sei „eine
cher habe den Schnaufenden mit dem iPad „Thérèse, träumend“, ein Gemälde des freie Betrachtung nicht mehr möglich“.
empört angesprochen. Künstlers Balthus, aus dem New Yorker Müsste man nicht vielmehr umgekehrt
Fast zu schön, diese Geschichte. Als Metropolitan Museum of Art verschwin- argumentieren? Gerade weil in der aktu-
habe der Weltgeist eingegriffen, das Schick- den solle. Das Bild ist 80 Jahre alt, doch ellen Debatte die Trennung zwischen
114 DER SPIEGEL 7 / 2018
Künstler und Werk verschwimmt, wäre es
angebracht, sich mit Bruce Weber auch an-
hand seiner Arbeit zu befassen. Denn ne-
ben der Diskussion um den männlichen
Blick läuft noch eine zweite Auseinander-
setzung: Es geht um die Frage, inwiefern
Kunstwerke noch tragbar sind, wenn der
Künstler gefehlt hat oder zumindest einer
Verfehlung verdächtigt ist.
Sie betrifft die Fernsehserien von Dieter
Wedel, die Filme von Woody Allen, von
Roman Polanski. Auch die von Quentin
Tarantino, dem die Schauspielerin Uma
Thurman kürzlich vorwarf, sie beim Dreh
in Lebensgefahr gebracht zu haben. Sie
betrifft im Theater die Inszenierungen von
Matthias Hartmann, dem 60, zum Teil ehe-
malige, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Wiener Burgtheaters in einem offenen
Brief nachsagten, in seiner Zeit als Inten-
ULLSTEIN BILD
dant eine „Atmosphäre der Angst“ ge-
schaffen zu haben.
Ganz besonders betrifft sie die Serien
und Filme mit Kevin Spacey – weil sie hier
„Unschuld“-Inszenierung in Berlin, Dana-Schutz-Gemälde „Open Casket“ konkrete Folgen hat: Der Schauspieler Spa-
in New York, Szene mit Kevin Spacey aus „Alles Geld der Welt“ cey ist derzeit eine solche Unperson, dass
verschiedene Produzenten und Regisseure
beschlossen haben, ihn aus ihren aktuellen
Produktionen zu entfernen.
Als sich im Oktober ein Schauspieler
meldete, der behauptete, Spacey habe ihn
in den Achtzigerjahren als Minderjährigen
missbraucht, als sich nach diesem Vorwurf
viele andere Schauspieler meldeten, die
beschrieben, dass Spacey bis in die heutige
Zeit hinein beim Dreh oder am Theater
Männer aus dem Team belästigt habe, ent-
schied sich der Streamingdienst Netflix
schnell: Spaceys Rolle in der Serie „House
of Cards“, immerhin die Hauptrolle, wur-
NATAN DVIR / POLARIS / STUDIO X
Belletristik Sachbuch
2 (–) Elena Ferrante Die Geschichte des 2 (3) Axel Hacke Über den Anstand
verlorenen Kindes in schwierigen Zeiten und die Frage,
Suhrkamp; 25 Euro wie wir miteinander umgehen
E
ben redeten noch alle über die Selbstquälerei, ja viel- tungslosigkeit und vermeintlicher Intellektualität eine Art
leicht gar Selbstzerstörung der SPD. Merkels Kon- britischer Dobrindt. Wem Johnson zu sehr Politclown war,
zessionen an die Partei und der gefühlte Sieg in den konnte sich bei Michael Gove rückversichern, dass das mit
Koalitionsverhandlungen haben die Sozialdemokraten ihre dem Brexit eine vernünftige Idee sei. Gove ist ein Tory-
existenziellen Sorgen erst einmal vergessen lassen. Tatsache Technokrat, der im britischen Fernsehen verlautbarte: „Die-
ist ohnehin, dass die meisten Wähler immer noch einiger- ses Land hat genug von Experten.“ Offenbar konnte nur
maßen wissen, für welche Werte die SPD einsteht; der Vor- ein anerkannter Experte den Bürgern glaubhaft machen,
wurf, sie habe ihre Ideale verraten, setzt voraus, dass man dass es mit der Expertise nicht so weit her sei.
eine Vorstellung dieser Ideale hat. In den USA wurde Donald
Das ist bei Konservativen und Trump nicht als Anführer einer
Christdemokraten heute bei Wei- spontanen Protestbasisbewegung
tem nicht so – ein Problem, das von weißen Wutbürgern aus dem
sich mit wohl vier weiteren Jahren Rust Belt zum Präsidenten ge-
sozialdemokratischer Herrschaft wählt. Trump war der Kandidat
unter einer CDU-Kanzlerin noch einer sehr etablierten Partei, die
einmal verschärfen dürfte. Dieses bis heute hinter ihm steht, wenn’s
Problem, dass ihre Prinzipien so darauf ankommt. Auch er brauch-
gut wie unkenntlich geworden te prominente konservative Ge-
sind, darf man nicht Alexander währsleute: Leute wie Rudy Giu-
Dobrindt mit seinem frivolen liani, früher New Yorker Bür-
Schwadronieren von der „konser- germeister, und Newt Gingrich,
vativen Revolution“ überlassen. der nicht nur Sprecher des Reprä-
Wenn „Passt scho“-Konservative sentantenhauses war, sondern
keine eigenen Prinzipien – und auch Collegeprofessor für Ge-
damit auch im Zweifelsfall keine schichte. Ein solcher Mann erklär-
Grenzen – mehr kennen, profitie- te den Zuschauern von CNN im
ren die Rechtspopulisten. Die Ori- Sommer 2016, sie sollten nicht
entierungslosigkeit der sogenann- den Statistiken vertrauen, son-
ten Mainstream-Parteien und der dern ihrem Bauchgefühl.
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
die Sanktionen gegen die Wiener Regierung erließen. Nation im Besonderen zu zerstören – wer hätte gedacht,
Am Ende der ersten Koalitionsperiode stand Schüssel dass so etwas heute in der EU möglich ist?
mit seinem Rezept „Destruktion durch Inklusion“ als ein Mancher CSU-Politiker sagt im privaten Gespräch, wie
genialer Machiavelli der Mitte da – die FPÖ hatte sich widerlich er das alles finde. Aber Orbáns Partei Fidesz ist
als zerstritten, inkompetent und sogar korrupt entlarvt. halt in der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch
Nur: Ein paar Jahre später waren sie wieder da, mit neu- CDU und CSU gehören (anders als die Regierungspartei
em Personal und alter, nun auch von der Mitte voll legi- in Warschau, wo man sich mit Kritik nicht zurückzuhalten
timierter Fremdenfeindlichkeit – und in Umfragen stärker braucht). Zwar droht die EVP mehr oder weniger deutlich
denn je. mit Ausschluss von Fidesz aus der Parteifamilie. Aber
Österreich wurde zum Labor für eine leicht andere, letztlich passiert nichts, denn ein Ausschluss könnte ihre
diesmal scheinbar todsichere Strategie: „Elimination Stellung als größte Gruppierung im Europäischen Parla-
durch Imitation“. Der Versuch von Sebastian Kurz, ment gefährden. Zumal der ungarische Premier weiß, wie
stramm rechte Rhetorik zu kopieren, war 2017 kurzfristig er seine Protektoren durch nette Deals für Audi und Mer-
erfolgreich. Nur: Egal wie schnell man den Rechtspopu- cedes in Ungarn bei der Stange halten kann.
listen hinterherläuft, einholen wird man sie nie. Sie wer- Waren Christdemokraten und Konservative früher
den ihre Forderungen stets verschärfen – und hämisch bessere Menschen? Wohl kaum. Aber sie wussten besser,
anmerken, dass man doch bitte nicht für die Kopie op- wofür sie einzustehen hatten. Es war auch einfacher, sich
tieren solle, wenn auch das Ori- als skeptische, im Zweifelsfall das
ginal auf dem Wahlzettel stehe. Bewährte bewahrende Kritiker
Marine Le Pen hat das gegen von rationalistischen Weltverbes-
Nicolas Sarkozy bewiesen; viel- serungsplänen darzustellen – das
leicht steht der CSU, die sich im Urmotiv des Konservatismus seit
Moment als eine der Gewinne- der Französischen Revolution.
rinnen bei den GroKo-Verhand- Vor 1989 hatte man das Kontrast-
lungen sieht, eine ähnliche Er- bild des Kommunismus – es wird
nüchterung noch bevor. heute oft vergessen, dass die
Christdemokraten sowohl in
O
pportunismus wird oft da- Deutschland als auch in Italien
mit gerechtfertigt, dass als antikommunistische Partei
man dringend scheinbar par excellence agierten. Somit
objektive „Repräsentationslücken“ war das Ende der Sowjetunion
füllen müsse. Dabei fordert er vielleicht nicht für die Linke, son-
einen Preis für die demokratische dern für die Rechte ein Unglück –
politische Kultur als Ganzes. ihr ging der Feind verloren.
Durch Anbiederung an die Popu- Christdemokraten waren aller-
listen hat sich das Spektrum in dings nicht nur Scharfmacher im
Ländern wie Dänemark und den Kalten Krieg. Sie verdächtigten
Niederlanden in den vergan- den souveränen Nationalstaat
genen Jahrzehnten stetig nach stets, eine homogene national-
INGA KJER / PHOTOTHEK
N
ach dem Gottesdienst kam die Pre- Besonders überzeugt klingt er dabei nicht. In Wahrheit braucht eher Cannes eine
digt. Dieter Kosslick, der Chef der Kosslick ist länger im Amt als Angela Revolution. Seit Jahren laden dort die
Berliner Filmfestspiele, hielt einen Merkel, seit Frühjahr 2001. Im Mai wird er immer gleichen altehrwürdigen Autoren-
Vortrag über das neunte Gebot aus dem 70 Jahre alt, 2019 läuft sein Vertrag aus, filmer ihre Werke ab, Überraschungen: fast
Alten Testament, „Du sollst nicht begeh- vorher soll noch seine Autobiografie er- keine, im Zweifel kommt Woody Allen.
ren deines Nächsten Haus“. Eigentlich, scheinen. Die Suche nach einem Nachfol- Perfekt ist Cannes vor allem darin, das
witzelte Kosslick damals, im April vergan- ger – oder einer Nachfolgerin – hat begon- Protokoll am Hof von Versailles in der Zeit
genen Jahres, würde er ja lieber über ein nen, ein zähes Prozedere, begleitet von des Absolutismus nachzustellen. Versnob-
anderes Gebot reden, „Du sollst nicht be- Intrigen und schrillen Tönen. te Wärter bestimmen, welcher Besucher
gehren deines Nächsten Frau“. Wenn die- Noch ist Kosslick Herr im Haus, er darf welchen Saal durch welche Tür betreten
sen Grundsatz immer alle befolgt hätten, die Gäste auf dem roten Teppich vor dem darf. Das Volk muss in Cannes – und in
sagte Kosslick, würde es allerdings viele Berlinale-Palast am Potsdamer Platz be- Venedig – ganz draußen bleiben, praktisch
Filme überhaupt nicht geben. grüßen. Am Donnerstag beginnt das Fes- keine Chance auf Tickets. Sollen die Leute
Aber auch gegen das neunte Gebot wird tival, zum Auftakt läuft Wes Andersons doch Kuchen essen und zu Hause Serien
bisweilen verstoßen, wie Kosslick in der Animationsfilm „Isle of Dogs“. Die gute gucken!
Zwischenzeit selbst erlebt hat. Es ist sein Nachricht, für Kino- und Hundefreunde Ein Festival mit elitärem Dünkel, das
eigenes Haus, das von anderen begehrt gleichermaßen: „Isle of Dogs“ ist nicht die passt nicht zu Berlin. Doch offenbar hatten
wird: sein Job als Direktor der Berlinale. Fortsetzung von „Nobody Wants the nicht alle Unterzeichner der Erklärung be-
„Jeder ist ersetzbar“, sagt Kosslick ein Night“, dem Eröffnungsfilm von 2015. Ju- griffen, was die Initiatoren um den Filme-
paar Tage vor dem Beginn des Festivals. liette Binoche spielte darin eine Polarfor- macher Christoph Hochhäusler damit be-
120 DER SPIEGEL 7 / 2018
zweckten: eine Abrechnung mit Kosslick. schon geführt, sagt Grütters, „es waren ei- Oder lieber eine Doppelspitze, aus einem
Als Intrigant ist Hochhäusler talentierter nige interessante Kandidaten dabei“. künstlerischen und einem organisatori-
denn als Regisseur. Doch der Shitstorm, den fast jeder Be- schen Leiter? Ganz neu ist diese Idee nicht,
Mittlerweile ist vielen Unterzeichnern werber erwarten muss, schreckt viele ab. schon Grütters’ Vorvorvorvorgänger Mi-
die Erklärung peinlich, einige haben das Ein Nachfolger für Kosslick, der über alle chael Naumann hatte solche Pläne, im Jahr
Kosslick-Bashing öffentlich kritisiert, da- Zweifel erhaben wäre, ist nicht in Sicht. 2000 – vor der Berufung Dieter Kosslicks.
runter Dominik Graf und Andreas Dresen. Um die Branche zu befrieden, lud Grüt- Am Ende, sagt Grütters, war sich die Ex-
Dennoch ist das Klima vergiftet. ters Ende Januar einige Filmemacher und pertenrunde nur in einem Punkt einig: „dass
Das spürt auch Kulturstaatsministerin Fachleute ins Kanzleramt ein, „zum Ge- man den nächsten Berlinale-Chef nicht
Monika Grütters (CDU), die maßgeblich dankenaustausch“ über die Zukunft der über eine Stellenanzeige suchen kann“.
über die Kosslick-Nachfolge entscheidet. Festivals. Soll es überhaupt bei einer Per- Bis Ende Juni soll eine Entscheidung
Mehr als ein Dutzend Gespräche habe sie son an der Spitze der Berlinale bleiben? fallen. Martin Wolf
Wasser ist wie die Liebe ihr Personal. Mexikaner, die in den USA
leben, bekommen das oft zu spüren. Wer
den Dreck wegmacht, wird oft selbst wie
Dreck behandelt.“
Hollywood Der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro wurde Armes Mexiko. So fern von Gott und
mit seinem Fantasyfilm „Shape of Water“ für 13 Oscars so nah an den USA. Del Toros Filme sind
nominiert. Die berückend schöne Geschichte ist überraschend politisch. geprägt von dem Gefühl, von oben herab
behandelt zu werden. Nur geduldet zu
sein. Ein Fremder zu sein.
G
uillermo del Toro redet gern über der US-Regierung arbeitet. Mit ihrer afro- Del Toro kam 1964 in Guadalajara zur
Filme. Aber ins Schwärmen amerikanischen Kollegin Zelda (Octavia Welt, im Westen Mexikos. Schon mit acht
kommt er, wenn er davon erzählt, Spencer) wischt sie das Blut auf, das For- Jahren hielt er eine Super-8-Kamera in
wie aufregend es ist, in die Kanalisation scher und Militärs dort vergießen. Die den Händen. Er studierte Film, gründete
zu steigen und durch Abwässer zu waten. Männer halten ein echsenartiges Wesen eine Firma für Spezialeffekte und nannte
Schon als Junge kletterte er mit einer Ta- gefangen, das am Amazonas gefunden sie Necropia. Als Regisseur drehte er Kurz-
schenlampe hinab in die Dunkelheit, vor wurde. Sie ketten es an, untersuchen es, filme, Episoden für eine mexikanische TV-
der die anderen Kinder Angst hatten. quälen es mit Elektroschocks. Heimlich Serie und 1997 seine erste Hollywoodpro-
Wenn der Regisseur heute nach Paris füttert Elisa dieses Wesen, spielt ihm Mu- duktion, den Horrorfilm „Mimic“.
kommt, nach Prag oder Wien, führt sein sik vor und gewinnt sein Vertrauen. Wort- Tod und Gewalt waren für den Regis-
Weg noch immer in die Gedärme der los entwickeln die beiden eine gemeinsa- seur schon früh Alltag. Als Kind erlebte
Metropolen. „Andere Menschen schauen me Sprache und verlieben sich ineinander. er mit, wie Menschen auf der Straße er-
sich Kirchen an“, sagt der Mexikaner und Putzfrauen oder Zimmermädchen seien schossen wurden. Mehrfach hielt ihm je-
lacht. „Ich interessiere mich für die Ab- großartige Figuren, sagt del Toro mit dröh- mand eine Waffe an den Kopf. 1998 wurde
wasserkanäle.“ Unser Dreck ist ein Nähr- nender Stimme. „Sie sind die Spione des sein Vater entführt. Del Toros Familie
boden seiner Fantasie. Alltags. Kaum etwas entgeht ihnen. Reiche brachte das Lösegeld auf, nach 72 Tagen
„Die Vorstellung, dass sich unter uns
eine eigene Welt auftun kann, in der
fremdartige, geheimnisvolle, wunderbare
Wesen leben, ist eine Metapher für unsere
Gesellschaft“, sagt er. „Es gibt oben und
unten. Es gibt Reiche und Arme, Mächtige
und Machtlose. Ich fühle mich mehr zu
denen hingezogen, die ganz unten sind.“
Del Toros Fantasy-Märchen „Shape of
Water – Das Flüstern des Wassers“, das
nun in die deutschen Kinos kommt, ist in
diesem Jahr für 13 Oscars nominiert und
gilt als Favorit bei der Verleihung, die am
4. März im Dolby Theatre von Los Ange-
les stattfinden wird.
Im September vergangenen Jahres ge-
wann del Toro mit seinem Film bei den
Festspielen von Venedig den Goldenen
TWENTIETH CENTURY FOX
A
ls Justin Timberlake kürzlich zum dritten Mal – eine Folge der #MeToo-Debatte, ist Protagonist im derzeit
und damit öfter als jeder andere Musiker – bei der laufenden Kinofilm „Wonder Wheel“, bei dem Woody
Halbzeitshow des Super Bowl auftrat und über Allen Regie führte – einer, um den es auch bei #MeToo
Hundert Millionen Menschen ihm zusahen, glich sein Auf- geht, ihm wird sexueller Missbrauch vorgeworfen (SPIEGEL
tritt dem Dienst nach Vorschrift unzufriedener Angestell- 3/2018). Timberlake schwieg zur Causa Allen.
ter des öffentlichen Dienstes. Es war gerade genug, damit Es ist nicht die einzige hitzige Situation, die er mit
man nicht direkt umschaltete oder einschlief. Schweigen zu meistern hofft: Beim zweiten seiner Super-
Timberlake, einst Teenieschwarm, später Sexsymbol, Bowl-Auftritte vor 14 Jahren hatte er gemeinsam mit Janet
heute 37 und zehnfacher Grammy-Gewinner, tanzte sich Jackson auf der Bühne gestanden. Während seines Songs
durch ein Best-of-Medley seiner Hits, spielte ein kon- „Rock Your Body“ entblößte Timberlake, wie er sagte,
trovers diskutiertes, blutleeres Duett mit
einer Projektion der 2016 verstorbenen Pop-
ikone Prince – und wirkte mit dieser Perfor-
mance seltsam rückwärtsgewandt.
Dabei kann er es besser. Timberlake war
ein Innovator. Seine Musik klang rich-
tungsweisend, Songs wie „SexyBack“ er-
frischten das Genre und zierten jede selbst
gebrannte CD.
Nun legt er das vierte Album vor. Ange-
kündigt hat er es als „persönlich“, es sei in-
spiriert von seiner Heimat, Tennessee, und
seiner Familie, der Schauspielerin Jessica
Biel und dem gemeinsamen zweijährigen
Sohn Silas. Es heißt „Man of the Woods“,
doch leider mehr im Sinne von Hinterwäld-
ler – die Sache ist recht gestrig.
Es fehlen schlicht die zeitgemäßen Hits,
die man von einem Überflieger wie Tim-
SONY MUSIC
berlake kennt und erwartet. Es ist, als sei
ihm auf seinem neuen Album die Inspira-
tion, die Magie, ja die Puste ausgegangen: Sänger Timberlake: Landfluchtfantasien und Pseudoweisheiten
Die einen Stücke durchzieht ein Sound, der
nach verstaubtem Gitarrenlehrer-Funk klingt („Sauce“, unabsichtlich Jacksons rechte Brust, für das prüde Ame-
„Morning Light“), die anderen ein ziemlich altbackener rika damals ein Schock – die Konsequenzen hatten die
und austauschbarer Countryschmalz („Flannel“, „Say Partner des Duetts auf sehr unterschiedliche Weise zu
Something“). bewältigen. „Nipplegate“ führte nicht dazu, dass Timber-
Der Mangel an Hits wäre andererseits vollkommen ver- lakes Karriere litt, im Gegenteil. Vielmehr boykottierten
zeihlich, würde „Man of the Woods“ tatsächlich das Ver- in der Folge Fernseh- und Radiosender Jacksons Musik.
sprechen einhalten, dass es besonders persönlich sei, dass Vor Timberlakes jüngstem Auftritt beim Super Bowl
hier kreativer Mut herrsche, dass man etwas Neues vom entstand das Hashtag #JanetJacksonAppreciationDay,
augenscheinlich gereiften Timberlake lerne, der neuer- hier verneigten sich Twitter-Nutzer vor der Musikerin.
dings Flanellhemden trägt. Er verliert sich in Landflucht- Timberlake schwieg nun auch zur Causa Jackson.
fantasien und skandiert Pseudoweisheiten wie „Das Gras Es wirkt, als wäre er überzeugt von dem, was er in
ist am grünsten, wenn du bei mir bist“ oder „Ruhm ist einem seiner Songs auf „Man of the Woods“, „Say Some-
eine Lüge“. Selbst im letzten Stück, „Young Man“, in dem thing“, singt: „Manchmal ist die beste Art, etwas zu sagen,
Timberlake sich an seinen Sohn wendet, wächst der Text überhaupt nichts zu sagen.“ Nichts wirklich Neues zu
nicht über ein von banalen Weisheiten bekanntes „Wenn sagen, das ist Justin Timberlake beim Super Bowl und
du unten bist, steh wieder auf“-Niveau hinaus. Zum Ende mit seinem neuen Album gelungen. Jurek Skrobala
von „Man of the Woods“, nach 16 Songs in 66 Minuten, Twitter: @skrobala
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FACEBOOK facebook.com/derspiegel Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.
kehrer –, die Moses in Schwarz-Weiß unsterblich gemacht losen Kriegseinsatzes von sie-
hat, sind durch ihre Menschlichkeit verbunden. Fotografie- ben Jungen, die in den letzten
ren war für ihn ein Prozess, definiert durch das Miteinander Tagen des Zweiten Weltkriegs
von Künstler und Porträtiertem, ein Geben und Nehmen, eine unwichtige Brücke ver-
immer von Neugier und Respekt geprägt. In einem Gedicht teidigen sollten. Sechs der 16-
wünschte sich Moses: „Ich möchte gern im Stehen sterben / Jährigen sterben, die Brücke
und gleich darauf zur Buche werden“; seine Erben bat wird gesprengt. Das Buch
er, das Gießen nicht zu vergessen. Stefan Moses starb am wurde in mehr als 20 Spra-
3. Februar in München. ks chen übersetzt und durch die
DER SPIEGEL 7 / 2018 125
Worte
und Taten
Sie gilt als eine der am besten
bezahlten Schauspielerinnen
der Welt, auch die Liste ihrer
Auszeichnungen und Nomi-
nierungen ist eindrucksvoll.
Jennifer Lawrence, 27, könnte
mal Ferien machen oder sich
ganz und gar auf die nächste
Rolle konzentrieren, an An-
fragen dürfte es nicht man-
geln. Doch die US-Amerika-
nerin engagiert sich lieber als
Mitglied der Non-Profit-Or-
ganisation Represent.us, die
gegen Korruption in der
Politik kämpft. Vergangenen
Samstag hielt Lawrence bei
der politischen Show „Un-
rigged Live!“ eine flammen-
de Rede: Die Regierung sei
dafür da, den Bürgern zu die-
nen, die mit ihren Steuergel-
dern die Politiker finanzieren.
Es sei Zeit, Ideologien und
Parteigrenzen zu überwin-
den, Zeit, sich zusammenzu-
raufen und die US-amerika-
nische Demokratie in Ord-
nung zu bringen. Aus ihrer
kritischen Haltung zur Regie-
E-Sport habe es in den Koali- und der Entwicklungsstand- schuss Digitale Agenda, be-
tionsvertrag geschafft, ver- ort Deutschland wird deut- wertet das Engagement kri-
kündete die Unterhändlerin lich gestärkt“, sagt Bär. Diese tisch: „Es sollte nicht Aufga-
für den Bereich Digitales. Die Aufwertung des E-Sports, in be der Bundesregierung sein,
Fränkin sitzt seit Jahren der dem längst auch Profis zo- Lobbyforderungen der Com-
Jury des Computerspielprei- cken, ermöglicht unter ande- puterspielbranche in dieser
ses vor – sie kam nach eige- rem den Zugang zu staat- Form zu unterstützen.“ rom
genau wie er selbst, Pink in die 4. Liga aufgestiegen. Football wird in Deutschland
Floyd noch nie leiden kön- allerdings noch eine Weile brauchen, um sich zu etablie-
nen. Aber es habe alles so gut ren. Bis hier mal 67 000 Menschen zu einem Spiel kom-
gepasst, als er mit dem Jour- men, kann es noch dauern.“ Aufgezeichnet von Imre Balzer
Vor dem Kollaps Teilenteignung gleich. Marktrestriktionen Rente krummlegen, um die Schulden für
in einer freien Marktwirtschaft zulasten ei- das teure Eigenheim abzutragen. Dann
Nr. 6/2018 Teurer Traum – Kaufen oder mieten? Was ner Seite zu schaffen hat genau die Folgen, darf renoviert oder altengerecht umgebaut
wo schlau ist
die wir heute auf dem Wohnungsmarkt se- werden. Kommen später ein, zwei langjäh-
Wichtiger Grundsatz beim Immobilien- hen: Zu wenige Wohnungen und zu hohe rige schwere Pflegefälle in der Familie hin-
kauf sollte sein, dass man das Objekt im Preise. Dass ein Vermieter beispielsweise zu und reicht die immer weiter sinkende
Alter entweder selbst weiternutzen kann die allgemeine Preissteigerung – sprich In- Angestelltenrente mit Zuschuss der Pfle-
oder es sich gut verkaufen lässt. Dabei flation – nicht nachträglich auf die Mieten geversicherung für das Heim nicht aus,
muss auch einkalkuliert werden, dass man umlegen darf, ist eine von den vielen ein- werden zuerst die Ersparnisse der ehemals
von der allgemeinen Wertsteigerung nur seitigen Benachteiligungen der Vermieter, fleißigen Bürger und dann deren Immobi-
profitiert, wenn man regelmäßig investiert. die langfristig zu Verwerfungen auf dem lie verwertet, um Schaden von der Allge-
Nicht selten wird nach 20 Jahren noch mal Wohnungsmarkt führen. Es gibt sonst kei- meinheit fernzuhalten. Vom Eigenheim
kräftig nachfinanziert, um neue Bäder, nen Wirtschaftszweig, dem es gesetzlich wird nichts übrig bleiben.
eine neue Heizung oder bessere Wärme- verboten ist, allgemeine Preiserhöhungen Peter Wawrzinek, Ratingen (NRW)
dämmung zu bezahlen. Früher wurden vie- später auf die Verbraucherseite umzulegen.
le Eigenheime schnell abbezahlt, weil Real- Niels-Uwe Genzmer, Bad Nauheim (Hessen) Keine Kanonenboot-Politik
löhne und Mieten deutlich stiegen. Das ist
heute kaum noch zu erzielen. Für meine „Teuer“ ist relativ – in ärmeren Ländern Nr. 5/2018 Leitartikel: Deutschland braucht eine
Außenpolitik, die seiner Größe entspricht
Familie und mich ist jedenfalls klar: Bei als Deutschland haben wir eine deutlich
uns im Sauerland ist ein echter Wertzu- höhere Eigentumsrate von 80 Prozent der Ein hervorragender Leitartikel. Leider gibt
wachs nicht zu erreichen, daher ist unsere Haushalte. Aber für die vielen Menschen es in Berlin zu viele Bedenkenträger gegen
große und bezahlbare Mietwohnung keine mit stagnierendem Einkommen ist es ohne eine kraftvolle Außenpolitik.
schlechte Lösung. Erbschaft praktisch unmöglich, überhaupt Heinz Rätsch, Seehausen (Bayern)
Markus Klümper, Kierspe (NRW) das notwendige Eigenkapital aufzubauen.
Und welche Bank wird bei einem unbe- Wir, die noch lebenden Augenzeugen der
Der Bauboom hat die Nachfrage so weit gründet befristeten Arbeitsvertrag das Ri- grauenhaften letzten Gefechte des Zweiten
erhöht, dass die Bauwirtschaft sie nicht siko einer Finanzierung eingehen? Das Per- Weltkriegs in Berlin, sind entsetzt, zusehen
mehr befriedigen kann. Leider fehlt den zu müssen, wie mit deutschen Waffen
Firmen zunehmend zuverlässiges, gut aus- schon jahrelang Menschen getötet werden.
gebildetes Personal. Die Not führt sogar Wir haben uns zum Abiturabschluss 1955
dazu, dass Auftrag- und Arbeitgeber in der geschworen, gegen jeden Bau von Kriegs-
Bauindustrie Fehlverhalten und Mängel waffen in Deutschland zu protestieren. Als
nicht mehr offen ansprechen dürfen, wol- Journalist habe ich dies immer getan –
len sie ihre Auftragnehmer und Mitarbeiter ohne Erfolg. Die deutschen Regierungen
nicht an die reichlich vorhandene Kon- schlugen mit dem Argument „Arbeitsplät-
kurrenz verlieren. Ich bin seit 34 Jahren ze“ jeden Widerstand nieder und ließen
WESTEND61 / IMAGO
als Architekt tätig. Ich habe noch nie eine die deutschen Konzerne wieder Kriegswaf-
solche Ohnmacht im Umgang mit diesen fen bauen. Jetzt werden sogar schon ganze
Missständen erlebt. Auftraggeber sind zu Waffenfabriken ins Ausland verkauft. Alle
Bittstellern geworden. Es ist keine Selten- deutschen Politiker, die das ermöglicht ha-
heit, dass Firmen während der Ausführung Wohnareal in Dortmund ben und es weiterhin ermöglichen, sind
ihre Arbeit abbrechen, weil berechtigte schuldig!
Kritik an ihrer Arbeit geübt wurde. Bau- verse ist, dass heute ein Kauf mit unter Karl-Heinz Darweger, Baden-Baden
zeiten verlängern sich um bis zu hundert zwei Prozent Zinsen im Jahr häufig preis-
Prozent, mit ihnen die Kosten. Wenn die werter ist als die Miete, aber wachsende Den Leitartikel fand ich katastrophal. Es
Nachfrage sich nicht bald dem Angebot Teile der Bevölkerung durch Arbeit allein ist eine Verharmlosung von Waffenliefe-
anpasst, steht die Bauwirtschaft vor dem nie „an die Fleischtöpfe kommen“. Mein rungen an Despoten – egal ob sie nun in
Kollaps. Vater konnte in den Fünfziger- und Sech- der Nato sind oder nicht. Seit ich politisch
Dipl.-Ing. Olav Seidel, Architekt, Bohmte (Nieders.) zigerjahren als einfacher Arbeiter noch denken kann, lese ich den SPIEGEL, aber
zwei Doppelhäuser kaufen, sodass meine so einen Zynismus habe ich noch nicht ge-
Wer sagt eigentlich, dass Unternehmen Mutter im Alter ein ausreichendes Einkom- lesen.
nicht umdenken und aufs Land ziehen kön- men hatte. Heute kaum mehr vorstellbar! Ullrich Barmeyer, Berlin
nen? Wer braucht gestresste und finanziell Volker Ollesch, Ahaus (NRW)
gebeutelte Mitarbeiter? Es gilt, den „goldenen Mittelweg“ zu fin-
Claudia Breitenberger-Cerny, Uettingen (Bayern) Den leistungswilligen Erwerbstätigen und den, zwischen weltfremdem Pazifismus
Familien mittleren Alters wird nach wie und nicht nur teurem, sondern auch schäd-
Als Vermieter kann ich Ihnen nur sagen, vor das Eigenheim als privater Rentenbau- lichem Militarismus. Wehrhaft muss auch
dass Vermieten keinen Spaß macht, weder stein vorgegaukelt. Diese Illusion hilft je- ein freiheitlicher Rechtsstaat sein, aber er
in finanzieller Hinsicht noch von der recht- doch oft nur den Sozialämtern, denn es braucht keine Kanonenboot-Politik.
lichen Seite her. Vermieten kommt einer wird passieren, dass Erwerber sich bis zur Dr. Dietrich Schmidt, Stuttgart
Schön verquirlter Smoothie werden können – Infrastruktur, Digitalisie- notwendig. Es hat mich traurig gemacht,
rung, soziale Gerechtigkeit –, wirken beide dass im Dickicht der medialen Beiträge
Nr. 6/2018 SPIEGEL-Gespräch mit den neuen Grünen- Vorsitzenden erschreckend schwach und nicht mal der SPIEGEL es schafft, sich in
Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck
diffus. Ich hätte mehr erwartet. Warum die Studentenschaft der Hochschule hinein-
über die Frage, wie links die Partei noch sein darf
sollte man denn jetzt grün wählen? zuversetzen, die dem Gedicht täglich
Ein SPIEGEL-Interview in bester Tradition. Dr. Jens Köhler, Mutterstadt (Rhld.-Pf.) mehrmals ausgesetzt ist.
Die beiden neuen Grünen-Vorsitzenden Liza Olenderek, Berlin
Habeck und Baerbock zerlegen sich selbst Die neue Führung der Grünen hat die He-
durch ihr eitles und inhaltsleeres Ge- rausforderungen der Zukunft noch nicht In dieser Causa empfiehlt sich dringend
schwätz: Steuern komme auch von beisteu- begriffen. Die Bedeutung einer starken, eine kritische Aufarbeitung des Werks von
ern, dann seien die netten Superreichen florierenden Wirtschaft, Voraussetzung für Erich Kästner, der sich bereits 1929 popu-
auch bereit zu zahlen; Bewegung sei alles eine wirksame Klima- und Sozialpolitik, listisch derselben Worte bediente im „Mo-
in der Politik und so weiter. wird nicht gesehen. Hier sind Kretsch- nolog des Blinden“, welchen er perfide un-
Hans A. Bloss, Ettlingen (Bad.-Württ.) mann, Palmer und auch Özdemir schon terschwellig sexistisch bedauern lässt, dass
weiter. er „Sonne, Blumen, Frau und Stadt“ als
Was ich aus dem Interview lerne? Rein gar Dr. Gerhard Angerer, Karlsruhe Kriegsblinder nicht mehr bewundern kann.
nichts, bis auf die Tatsache, dass Frau Beiden Autoren kann man nur zugutehal-
Baerbock von Václav Havel tief beein- Wie 1929 Erich Kästner ten, dass sie jeweils ein Jahrzehnt nach
druckt ist. Und dass Herr Habeck von einer Nr. 5/2018 Bizarrer Streit um ein angeblich überlebten Weltkriegen noch keinen Blick
sexistisches Gedicht in Berlin für das Wichtige im Leben haben konnten,
wie es heute Studierenden und staatlich
Nicht immer ist alles frauenfeindlich … alimentierten Frauenbeauftragten ver-
sondern nur Wörter, die wunderbar klin- gönnt ist.
gen und zusammenpassen. Avenidas … Martin Harnack, Berlin
flores … mujeres.
Anna Blom, Hamburg Als Uroma, die trotz lieben Ehemanns
HANNES JUNG / DER SPIEGEL
zu Heft 45/2017, Seite 10: „Sein Spielplatz“ Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Präsident Trump hat die Büste von Martin Luther King nach seinem Amtsantritt im (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Weißen Haus bei der Neudekoration des Oval Office nicht beiseitegeräumt. Sie steht sowie digital zu veröffentlichen und unter
weiter auf dem Platz, den sie unter Obama erhalten hatte. www.spiegel.de zu archivieren.
Zitate
Die „Neue Zürcher Zeitung“ über den
SPIEGEL-Newsletter „Die Lage“
Jetzt im (23. Januar) und den französischen
Regierungschef Emmanuel Macron:
Erstaunlich
kräftig.
Württembergische Weingärtner-Zentralgenossenschaft e. G.
Raiffeisenstraße 2 · 71696 Möglingen · Telefon 0 7141 4866-0 · www.wzg-weine.de · info@wzg-weine.de