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Donald Trump
riskiert den Weltkrieg
»Mach dich bereit, Russland«
Niels Högel – angeklagt
Porträt eines Serientäters
GERARD BUTLER’S
CHOICE
PHOTO: GREG WILLIAMS
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Investitionen
sicher entscheiden?
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Högel, Egon Erwin Kisch-Preis, » DEIN SPIEGEL« Da brauche ich aktuelle
glauben kann: Zwischen 200 und 300 Morde soll der Kran-
kenpfleger Niels Högel begangen haben, in zwei Kranken-
häusern, im niedersächsischen Oldenburg und in Delmen-
horst, in der Zeit von 2000 bis 2005. Högel tötete offenbar
aus Geltungssucht, er spritzte Patienten an den Rand des To-
des, um sie dann wiederzubeleben. Scheiterte er, blieb ein
leeres Bett zurück, trauernde Angehörige – und schon früh
ein fürchterlicher Verdacht, der über Jahre der Polizei nicht
Gude gemeldet wurde. Warum in zwei Krankenhäusern, in denen
das Wohl der Patienten das höchste Gut sein sollte, der Ruf
der Kliniken schwerer wog als das Leben von Menschen, beschreibt Hubert Gude
zusammen mit Veronika Hackenbroch und Julia Jüttner ab Seite 46
SPD Finanzminister
Der Rivale Der späte Urknall des Wachs-
tums / Gehören Poké Bowls
Olaf Scholz profiliert sich Olaf Scholz ist der mächtigste Minister im zu Deutschland? . . . . . . . . . . . . 54
als Nebenkanzler . . . . . . . . . . . 24
Die Kommissionitis der neuen Kabinett, und er hat große Ziele. Weil die Union Eine Meldung und ihre
Bundesregierung . . . . . . . . . . . 26 zerstritten ist und Angela Merkel wohl ihre letzte Geschichte Warum ein
Amtszeit absolviert, wittert der Sozialdemokrat lebendiger Rumäne von einem
Diplomatie SPIEGEL-Gespräch seine Chance auf das Kanzleramt. Nur: Hat Gericht für tot erklärt wird 55
mit Außenminister Heiko
Maas über seine harte Linie
er auch die Unterstützung der Genossen? Seite 24 Propaganda Wie der Tod eines
gegenüber Moskau und den palästinensischen Journalisten
Sinn von Militäreinsätzen . . . 28 missbraucht wird . . . . . . . . . . . 56
Titel-Illustration: RIVE GAUCHE für den SPIEGEL; Foto: Nicholas Kamm / AFP / Getty Images 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Lust am Untergang
Leitartikel Warum militärisches Eingreifen des Westens in Syrien nicht sinnvoll ist
M
ag sein, dass dieser Tweet einmal in die dieses Mal Verbündete. Frankreich, möglicherweise Groß-
Geschichte eingehen wird wie die Kriegserklä- britannien, Saudi-Arabien und Israel stehen an seiner Sei-
rung des deutschen Kaiserreichs vom 1. August te – gegen die Allianz aus Syrien, Russland und Iran.
1914 oder die Emser Depesche von 1870. Als Der Einsatz ist also viel höher, gleichzeitig hat der Wes-
ein Dokument, das die Historiker analysieren, wenn sie ten keinen Einfluss mehr auf den Ausgang des Krieges in
den Weg in die Katastrophe nachzeichnen. Syrien und so gut wie keinen darauf, wie es in dem Land
Aber vielleicht geht ja auch alles noch einmal gut. Viel- danach weitergeht. Trump hatte erst vor wenigen Tagen
leicht wird sich Wladimir Putin nicht provozieren lassen. den Rückzug der US-Truppen aus Syrien angekündigt. Es
Und darin liegt dann auch der ganze Irrsinn dieser Tage: gibt keine Strategie für den Nahen Osten, nicht in Washing-
dass die größte Hoffnung für den Weltfrieden ausgerechnet ton und nicht in Europa. Die Möglichkeiten des Westens
auf dem Kremlherrscher ruht. Dem Mann im Weißen Haus sind zusammengeschrumpft auf diese eine Option: ein Zei-
traut man Besonnenheit nicht chen zu setzen. Das ist kein Kon-
mehr zu. zept, nichts, was die Bezeich-
Zu oft hat Donald Trump ge- nung Politik verdiente.
tan, was aller gelernten Vernunft Kriegsverbrechen, die nicht
fundamental entgegensteht, die geahndet werden, sind das größ-
ultimative Unvernunft, auch te moralische Dilemma der
jetzt wieder: Er hat auf Russlands Außenpolitik. Als Zeitgenossen
Drohungen mit der größtmög- machen wir uns schuldig, wenn
lichen Eskalation reagiert. »Russ- wir nicht eingreifen, wenn ein
land, mach dich bereit«, eine Herrscher sein Volk massakriert.
Kriegsdrohung in 223 Zeichen, Eine Strafaktion gegen Assad
gespenstisch, weil sie zugleich ein und sein Militär wäre angemes-
wenig so klang, als ginge es um sen. Aber in dieser Weltlage sind
das neueste Computerkriegsspiel: die Risiken zu hoch. Der Nutzen
»Schön und neu und ›smart‹!« einer solchen Aktion gegen die
BRENDAN SMIALOWSKI / AFP
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Jakob Augstein Im Zweifel links
Ehemaligen
Der frühere Bundesaußen-
Nimm zwei! minister Sigmar Gabriel
rückt in den elitären Zirkel
»Ich bin zwei Öltanks.« So Nahles wollte Scholz vor Kurzem der Welterklärer auf.
hieß einmal ein Werbeslo- ein Kompliment machen: »Er hat vor
gan, den der Kabarettist allem eine große Leidenschaft«, sagte G Der aussortierte Spitzenpolitiker
Hans Scheibner sich für sie vor der versammelten Berliner ist hierzulande so etwas wie die letz-
eine Firma ausgedacht hat- Presse, »und das ist es, gut zu regie- te Instanz vor Gott. Seine Äußerun-
te, die im Tankgeschäft tätig ren.« Nahles hatte gar nicht gemerkt, gen haben Absolutheitsanspruch.
war. Vielleicht könnte die SPD dass genau darin das große Problem Und er hat im Nachhinein schon vor-
Scheibner mal fragen, ob sie sich bei der SPD-Funktionäre liegt: dass sie vor her immer alles besser gewusst. Die
ihm ein neues Parteimotto ausleihen allem gut regieren wollen. Und das Bürger verehren ihn dafür. Nicht alle
darf: »Ich bin zwei Parteien.« genügt eben nicht. Die Basis spürt das. schaffen es in den erlesenen Zirkel
Die eine SPD ist die Partei der Mit- Daher rührt die Sympathie für eine der Welterklärer, der gleichzeitig den
glieder. Das sind ungefähr 460 000 Frau wie die Flensburger Oberbürger- inoffiziellen Aufsichtsrat Deutsch-
Menschen in Deutschland, die an die meisterin Simone Lange, die der desi- lands bildet. Alter allein genügt
Sozialdemokratie glauben. Die zweite gnierten Parteichefin Nahles das Amt nicht, wie das Beispiel Helmut Kohl
ist die Partei der Funktionäre, ein paar streitig machen will. Oder für den Juso
Dutzend Politmanager, die alles tun, Kevin Kühnert, der den Widerstand
um der Sozialdemokratie den Garaus gegen die Große Koalition anführte.
zu machen. Wer dieses Urteil für zu Beide kämpfen gegen die Hartz-IV-
harsch hält, möge sich folgende Zahlen- Gesetze. Scholz will daran festhalten.
reihe ansehen: 40,9 – 38,5 – 34,2 – Und Nahles weicht aus, wenn sie
23 – 25,7 – 20,5. Das sind die Bundes- danach gefragt wird. Es ist nur ein
tagswahlergebnisse der SPD seit 1998. Symbol. Aber ein wichtiges.
Auch ohne eine Eins in Mathe sieht Die Sozialistin Sahra Wagenknecht
man gleich die Richtung: abwärts. Ent- hat einmal gesagt: »Mir ist völlig
weder man hält das für ein Naturge- schleierhaft, warum die Sozialdemo-
setz, dann ist eh alles egal, oder man kraten nicht verstehen, weshalb sie in zeigte. Ein Laster kann helfen. Hel-
hält es für menschengemacht. Dann den letzten Jahren so viele Wähler ver- mut Schmidt hatte das Rauchen und
muss etwas geschehen. Und nun soll loren haben.« Der traurige Grund: Die hielt nicht allzu viel von Menschen-
ja auch etwas geschehen: Erneuerung Funktionäre der SPD haben vergessen, rechten. Andere haben lukrative
ist das Wort der Stunde. Ein ganzer dass ihre Partei mehr sein muss als eine Beziehungen nach Russland oder zu
Parteitag soll am 22. April der Erneue- Fabrik zur Produktion zuverlässiger wesentlich jüngeren Frauen. Sie alle
rung dienen. Und die Speerspitze des Politikelemente. Am 22. April sollte kennen die Lösungen, die den gera-
Neuen bilden Andrea Nahles, 47, und die Basis sie daran erinnern. de Regierenden verborgen bleiben.
Olaf Scholz, 59. Es ist schwer, sich den Eine gewisse Hybris ist zwingend.
Sarkasmus zu verkneifen. SPD: Jetzt An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Trotz seiner relativen Jugend (58
noch neuer mit Scholzomat? Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Jahre) hat Sigmar Gabriel Chancen
auf schnelle Aufnahme. Die Phase
zwischen Machtverlust, Erleuchtung
Kittihawk und Weisheit dauerte bei ihm 26
Tage. Nun sinniert er über das Elend
der politischen Korrektheit. Er
moniert die »Entfernung vieler Ent-
scheidungsträger« von den »Realitä-
ten« im Land. Er beklagt Privilegien,
die er selbst jahrzehntelang genoss.
Er bekräftigt die üblichen Vorurteile
gegen die Elite. Auf der verbrannten
Erde müssen nun andere laufen. So
gesehen ist es ein bisschen wie bei
allen Trennungen. Wenn es vorbei
ist, kann man plötzlich all die Dinge
sagen, die vorher tabu waren: Dein
Kartoffelsalat schmeckt grauenhaft.
Du hast einen dicken Hintern. Deine
Mutter habe ich nie gemocht.
Nicola Abé
Neue Heimat
Integration Vielen Deutschen wird ihr Land fremd, sie fürchten,
dass Zuwanderung die Republik verändert. Jeder Fünfte,
der hier lebt, hat einen Migrationshintergrund, und die Zahl wird
weiter steigen. Ein Bericht über eine Nation unter Spannung.
M
aike Manz streicht sich mit Fast 40 Prozent der Mütter, die im Ma-
den Händen über den Bauch riahilf ihre Kinder zur Welt bringen, wur-
und hofft, dass die junge Frau den nicht in Deutschland geboren. Har-
im Krankenbett vor ihr zu- burg, wo die Klinik liegt, ist kein reicher
mindest ahnt, was sie ihr damit sagen will. Bezirk Hamburgs, aber auch kein sozialer
»Wir werden gleich den Ultraschall ma- Brennpunkt. In vielen anderen Großstadt-
chen, und dann werden wir entscheiden, kliniken sieht die Statistik ähnlich aus. Ge-
wie es weitergeht«, sagt die Gynäkologin burtshilfe in Deutschland ist dort zu einem
langsam und überdeutlich. multikulturellen Berufsfeld mit besonde-
Die Schwangere kommt aus Guinea- ren Herausforderungen geworden.
Bissau und lebt erst seit neun Monaten in Den jüngsten Auswertungen des Statis-
Deutschland. Ratlos schaut die Westafri- tischen Bundesamts zufolge hatte 2016
kanerin zu, wie die Ärztin ihre Pantomi- fast jedes vierte in Deutschland geborene
me vorführt. Auf ihrem kugelrunden Baby eine ausländische Mutter, Auslände-
Bauch klebt die Sonde eines CTG-Mess- rinnen tragen viel dazu bei, dass die Ge-
geräts, das die Herzfrequenz der Kinder burtenrate steigt. Schon jetzt hat jeder
misst. Sie ist in der 36. Woche mit Zwil- Fünfte hierzulande einen Migrationshin-
lingen schwanger. Außer »Baby« hat sie tergrund.
nichts verstanden. Sie spricht kein Deutschland ist ganz offensichtlich ein
Deutsch. Einwanderungsland, und es verändert sich
Manz guckt Hilfe suchend auf das Dis- rasant. Viele Ökonomen und auch Politi-
play ihres Telefons. Viertel vor fünf. Die ker betonen zwar gern die erfreulichen Sei-
Übersetzerin – eine Verwandte der Pa- ten der Entwicklung – jahrzehntelang
tientin – sollte seit 45 Minuten hier sein. fürchtete man sich vor einer Vergreisung
Schulterzucken. »Andere Kulturen, ande- der Gesellschaft –, doch es gibt eine große
res Zeitverständnis«, sagt Manz, die seit Gruppe, die diese Entwicklung alles ande-
vergangenem Jahr die Geburtsstation der re als erfreulich findet.
Mariahilf Klinik in Hamburg-Harburg Diese Menschen fragen sich, wie ihre
leitet. Heimat wohl in 10, 20 oder 30 Jahren aus-
Bei der Visite und während einer Ge- sehen wird. Und sie haben Zweifel, ob die
burt hat die Chefärztin immer Karteikar- Regierung die Probleme lösen kann, die
ten mit Basisvokabular in Arabisch, Farsi, sich schon jetzt durch die mangelnde Inte-
Russisch, Rumänisch und Türkisch dabei. gration mancher Migranten abzeichnen.
Bei der Auswahl neuer Mitarbeiter achtet Etliche fürchten, dass Bundeskanzlerin
Manz darauf, dass sie mit den neuen An- Angela Merkel (CDU) Deutschland mit
forderungen auf ihrer Station zurechtkom- einer planlosen Einwanderungspolitik in
men. eine düstere Zukunft führt. Eine Politik,
Deshalb ist Sufyan Abdulhadi in den die darin besteht, nicht die gut ausgebil-
vergangenen drei Jahren zu so etwas wie deten Fachkräfte anzuwerben, sondern die
dem Superstar der Klinik aufgestiegen. Migranten als Asylbewerber kommen
Der Libyer begann 2008 seine Facharzt- lässt. Und aufgrund derer meist auch jene
ausbildung in Deutschland. Seit 2014 ar-
beitet er im Mariahilf.
Abdulhadi vermittelt zwischen den
Kulturen. Die arabischen Familien fühlen
Durchschnittliche Kinderzahl
sich bei ihm gut aufgehoben, sie müssen
Frauen ohne Migrationshintergrund 1,2
ihm nicht lange etwas erklären. »Ich habe
hier in den letzten Jahren mehr Arabisch
als Deutsch geredet. Es ist unglaublich Frauen mit Migrationshintergrund 1,4
wichtig für die Frauen, die zu uns kom-
men, dass im wichtigsten Moment ihres davon Frauen, die selbst zugewandert sind 1,6
Lebens ein Arzt in der Nähe ist, der sie Frauen mit Geburtsjahr zwischen 1940 und 2001
versteht.« Quelle: Mikrozensus 2016
11
Titel
irgendwie bleiben können, deren Anträge Zweitsprache Deutsch sich verändert. Und aussprechen, dass das
abgelehnt werden. bitte nicht so weitergehen soll.
Grundschulen, bei denen die Mehrheit der
Die Angst vor einer solchen ungesteu- Merkels Antwort auf Seehofer, der Is-
Kinder zu Hause kaum Deutsch spricht
erten Migration ist nicht neu. Sie machte lam gehöre doch zu Deutschland, sei aller-
schon 2010 Thilo Sarrazins »Deutschland Anteil der Schulen dings auch nicht hilfreich, sagt die Darm-
schafft sich ab« zu einem Bestseller. Als städter Soziologin Cornelia Koppetsch.
Sarrazin seine Thesen über gebärfreudige Berlin 43 % Beide Politiker hätten versucht, in »ihren
muslimische Migrantinnen kundtat, ka- Bremen 41 % politischen Lagern Gemeinschaft« zu stif-
men gerade einmal 40 000 neue Asylbe- ten, aber am Ende beförderten sie »das
Hamburg 22 %
werber pro Jahr. Auf dem Höhepunkt der grassierende Gefühl von Heimatlosigkeit«
Flüchtlingskrise von 2015 erreichten inner- Hessen 14 % (siehe Interview Seite 19).
halb weniger Tage so viele Menschen das Nordrhein-Westfalen 14 % Mit Hingabe führt Deutschland Symbol-
Land. debatten, die hauptsächlich dazu dienen,
Seitdem sind knapp 1,4 Millionen Bayern 11 % sich einem Lager zuzuordnen. Immer wie-
Flüchtlinge in Deutschland angekommen. Schleswig-Holstein 4% der wird über ein Burkaverbot gestritten,
Ein Indiz dafür, wie tief Zorn und Wut obwohl in Deutschland wenige Frauen den
über diese Entwicklung in vielen Die Schulen erheben den Anteil der Kinder mit nicht deutscher Familien-
sprache häufig, indem die Eltern bei der Anmeldung danach gefragt werden.
Vollschleier tragen. Solche Diskussionen
Menschen brodeln, ist die gefährliche Die Angaben sind daher nicht immer exakt vergleichbar. Unter den Schülern sind hauptsächlich Vehikel, mit denen die
mit nicht deutscher Familiensprache können auch Kinder sein, die gut
Kraft der sogenannten Umvolkungs- Deutsch sprechen.
Verbotsbefürworter zum Ausdruck brin-
theorie: Die Bundeskanzlerin plane an- Quelle: SPIEGEL-Anfrage in den Bundesländern gen wollen, dass es jetzt reicht mit der To-
geblich mit anderen sinistren Mächten den leranz.
Austausch der einheimischen Bevölkerung. Die CSU hat den Sorgenvollen nun ver-
Es sei die derzeit beliebteste Verschwö- Deutsche mit Migrationshintergrund füh- sprochen, Deutschland werde christlich-
rungstheorie in Deutschland, sagt der len sich ausgegrenzt und fremd. Und jene, jüdisch geprägt bleiben. Doch zur Wahr-
Tübinger Amerikanistikprofessor Michael die neu als Flüchtlinge hier ankommen, heit gehört auch: Die christlichen Kirchen
Butter. denken bei Heimat vor allem daran, was verlieren seit Jahren Mitglieder. Allein
Sie wurde auch deshalb so populär, weil sie gerade verloren haben. 2016 mussten sie mehr als 350 000 Aus-
Gesellschaft, Politik und Medien manche Innenminister Horst Seehofer (CSU) tritte verkraften.
Entwicklungen nicht offen und sachlich reagierte auf diese Stimmung mit der An- Während vielerorts Kirchen schließen,
diskutierten, manchmal aus Furcht, Frem- sage, der Islam gehöre nicht zu Deutsch- errichten Muslime neue Moscheen – oder
denfeinden in die Hände zu spielen. Statt- land. Der Satz ist Nonsens: Rund 4,7 Mil- sie nutzen dafür leer stehende Gebäude.
dessen ging es in Debattenbeiträgen häu- lionen Muslime leben hierzulande. Viele Im Hamburger Stadtteil Horn lässt das
figer darum, die eigene Weltoffenheit von ihnen sind hier geboren und gut inte- Islamische Zentrum Al-Nour derzeit mit
und Toleranz zur Schau zu stellen. Doch griert. In fast jeder größeren Stadt gibt es Finanzhilfe aus Kuwait sogar eine ehema-
die Hoffnung, die Konflikte, die durch eine Moschee. lige Kirche zur Moschee umbauen. Seit
schlecht gesteuerte Migration entstehen Die Debatte ebbt auch nach Wochen mehr als 16 Jahren steht diese leer. Die
können, würden hinter dem Optimismus noch nicht ab – und ein großer Teil der Gemeindemitglieder sind verstorben,
verschwinden, hat sich nicht erfüllt. Deutschen stimmt Umfragen zufolge ausgetreten oder weggezogen. Es wird
Große Teile des Landes leiden unter Seehofer zu. Warum? Weil der Satz eine hier also keiner verdrängt. Für die
Identitätsstress. Deutsche ohne ausländi- Chiffre ist. Wer sagt »Der Islam gehört Muslime bietet es sich einfach nur an, den
sche Wurzeln haben Angst, dass Zuwan- nicht zu Deutschland«, will sein Unbeha- Leerstand zu nutzen. Trotzdem sehen vie-
derer ihnen ihre Heimat nehmen könnten. gen darüber ausdrücken, wie Deutschland le darin einen Vorgang mit Symbolcha-
rakter.
Auf dem 44 Meter hohen Glockenturm
der Kapernaumkirche, auf dem einst ein
Kreuz thronte, prangt nun in goldenen ara-
bischen Buchstaben das Wort »Allah«.
Noch in diesem Jahr wollen die Muslime
ihre neue spirituelle Heimat beziehen. Im
Moment beten sie in einer ehemaligen
Tiefgarage.
Zunächst hatte ein Investor das Gebäu-
de gekauft. Allerdings zerschlugen sich die
Pläne des Unternehmers, und er verkaufte
die Immobilie 2012 an die Muslime.
Pastor Wolfgang Weißbach nennt die
ehemalige Kirche zärtlich »meine erste
Liebe«. Hier hat der heute 80-Jährige sei-
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
12
Die drei Rentner schauen betreten auf
den Frevel vor ihren Füßen. Mit dem Was-
ser, das in einer Kupferschale auf diesem
Stein stand, hat Weißbach einmal Kinder
getauft. Und neben diesem Stein standen
die Kammeyers 1985 vor dem Altar und
ließen sich trauen.
Die Kammeyers sind Mitglieder der
SPD. Sie würden niemals die AfD wählen.
Obwohl es sich für sie seltsam anfühlt, dass
bald Muslime in ihrer alten Kirche beten
werden, sind sie vor fünf Jahren sogar ge-
gen die »Bürgerbewegung Pro Deutsch-
land« auf die Straße gegangen, um den
Umbau zu verteidigen.
Seit seiner Hochzeit wohnt das Ehepaar
in einer Rotklinkersiedlung einer Genos-
senschaft, hier wurden die zwei Kinder
groß. An den Klingeln sind die Hälfte der
Namen türkisch oder arabisch. Im Wohn-
zimmer hängen noch immer gerahmte Fo-
tos der Kapernaumkirche, wie sie früher
war. Die beiden SPD-Mitglieder bemühen
sich um ein gutes Verhältnis zu ihren Nach-
barn. Trotzdem geht es nicht spurlos an
ihnen vorüber, wie sich ihr Stadtteil ver-
ändert.
»Wenn du in der Minderheit bist, fühlst
du dich fremd«, sagt Heinz-Jürgen Kam-
meyer. Seine Frau nickt. Auf einigen Bus-
linien im Viertel höre sie »mehr Kisuaheli
als Deutsch, da wird vorgedrängelt und
wenig Rücksicht« genommen.
»Es liegt ja nicht nur an der Migration,
dass wir heimatlos werden«, sagt Ellen
Kammeyer. Die sozialen Treffpunkte im
Viertel hätten ihren Sinn eingebüßt. »Was
soll ich denn beim Seniorentreff Skat spie-
len?«, fragt sie. Das sei aus der Zeit gefal-
len, aber für die neuen Alten, wie sich die
Kammeyers sehen, gebe es gesellschaftlich
bige Muslimin. Am Abend des Ostersonn- tuch Steine in den Weg, die selbstbewusst Gefühl von Vertrautheit dabei eine Rolle.
tags sitzt sie in einem Berliner Café mit Karriere machen wollen. Am Ende bleibt Der Tübinger Kulturwissenschaftler Her-
unverputzten Backsteinwänden, durch- die harte Entscheidung, wer schützens- mann Bausinger schrieb einmal: »Heimat
gesessenen Ledercouches und bunten werter ist. ist das Produkt eines Gefühls der Über-
Metallhockern. Sie trägt einen Blazer, Jurastudentin Kayed träumt weiter da- einstimmung mit der kleinen eigenen Welt.
einen geblümten Schal und ein olivgrünes von, Richterin oder Staatsanwältin zu wer- Wo die Menschen ihrer Umgebung nicht
Kopftuch. Seit acht Jahren lebt sie in den – und sie hofft, dass sie irgendwann mehr sicher sind, wo sie ständig Irritatio-
Berlin, geboren wurde sie als Tochter pa- freier in Deutschland leben kann, als das nen ausgesetzt sind, wird Heimat zer-
lästinensischer Flüchtlinge in Köln. bisher für sie möglich ist. stört.«
»Ich habe nie daran gezweifelt, Deut- Das letzte Mal, dass sie auf offener Stra- Hanan Kayed würde diesen Satz wohl
sche zu sein«, sagt Kayed. ße angegriffen wurde, liegt nur einen Mo- unterschreiben. Der Fliesenhändler Ralf
Nach dem Anschlag auf die französische nat zurück. Sie war auf dem Weg in die Fessler aber auch.
Zeitschrift »Charlie Hebdo« hörte sie in Uni-Bibliothek, als ein Mann sie vor dem Der 48-Jährige steht auf seinem Balkon
der Bahn zum ersten Mal den Satz: »Ihr Bahnhof Friedrichstraße anrempelte, sie und lehnt sich ans Geländer. Von dort aus
Muslime verdient den Tod.« dabei fast zu Boden stieß und beleidigte: hat er einen weitläufigen Blick über das
Ihr Kopftuch bereitet Kayed häufig Pro- »Kopftuchschlampe, elende Moslemhure, schwäbische Sigmaringen, er kann sogar
bleme. Die Jurastudentin will sich für ein verpiss dich aus meinem Land.« Nicht der die Turmspitzen des Hohenzollernschlos-
Referendariat im öffentlichen Dienst be- Mann habe ihr am meisten Angst gemacht, ses sehen, es ist das Wahrzeichen der Stadt.
werben. Sie hat schlechte Chancen, ob- sondern die Passanten, die herumgestan- »Es war mal so schön hier«, sagt der Flie-
wohl sie die erste juristische Prüfung mit den, zugeguckt, nichts getan hätten. Kayed senhändler. Unten im Garten mümmeln
einem Prädikat abgeschlossen hat. »Wenn hat ihr Leben angepasst: Sie verlässt die neben einem Teich zwei Kaninchen in
ich nicht dieses Stück Stoff auf dem Kopf Uni nie nach 21 Uhr, meidet öffentliche ihrem Verschlag an Grashalmen.
tragen würde, würden sie mich mit Hand- Verkehrsmittel, nimmt, wann immer es »Moment, da kommt wieder einer«,
kuss einstellen – so muss ich darum fürch- geht, das Auto. sagt Fessler. Neben der Thujahecke, die
ten, ob mich überhaupt jemand nimmt«, Für den Begriff Heimat gibt es viele De- der Schwabe nach eigener Erzählung zu-
sagt Kayed. finitionen. Jeder hat eine sehr persönliche letzt zurückstutzte, bevor die Flüchtlinge
In Berlin wird gerade hart darum gestrit- Vorstellung davon. Meistens spielt das oben auf dem Berg in die Kaserne ein-
ten, ob das Neutralitätsgesetz, das etwa
Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht
verbietet, unverändert bestehen bleiben
soll. Der rot-rot-grüne Senat erwägt, es ab- Bevölkerung mit Migrationshintergrund
zuschaffen, eine Initiative mit 2000 Unter- Anteil in Prozent
stützern versucht, dies zu verhindern.
Vor wenigen Tagen sorgte die nord-
Personen, die selbst oder
rhein-westfälische CDU-Staatssekretärin bei denen mindestens ein Elternteil
Serap Güler für neuerliche Debatten zum nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft
Thema. »Einem jungen Mädchen ein Kopf- geboren wurde
tuch überzustülpen ist pure Perversion.
Das sexualisiert das Kind. Dagegen müs- Hamburg
sen wir klar Position beziehen«, erklärte in den zehn größten 30,0
sie. Ihr Chef, Integrationsminister Joachim deutschen Städten
Stamp (FDP), erwägt ein Kopftuchverbot Dortmund
für Mädchen unter 14 Jahren, ähnlich wie 33,2 Berlin
es die österreichische Regierung für Kin- 28,0
dergärten und Grundschulen angekündigt Essen
hat. Das Tuch hat Symbolkraft, es verkör- 28,3
pert für viele prominent sichtbar einen be-
drohlichen Islam, deshalb flachen die De- Düsseldorf
batten darum auch nach Jahrzehnten nicht 35,9 Leipzig
ab. Der Osnabrücker Islamwissenschaftler 12,3
Köln
Bülent Ucar spricht von einer »krank-
haften Fixierung« aller Seiten auf das 34,2
Kopftuch. Frankfurt
Diese könnte auch daher rühren, dass am Main
die Fragen darum Deutschland überfor- 45,3
dern. Kaum ein Konflikt zeigt so klar, wie
schwierig es für ein Einwanderungsland
sein kann, die richtigen Regeln vorzu- unter 14 %
geben.
Wer erlaubt, dass Lehrerinnen ein Kopf- 14 bis unter 20 Stuttgart
tuch tragen, nimmt in Kauf, dass junge 20 bis unter 24 40,9
Mädchen zunehmend den Druck ihrer
München
Community spüren, sich verhüllen zu müs- 24 bis unter 28
sen. Autoritätspersonen sind Vorbilder. 39,4
28 bis unter 30
Wer verbietet, dass Frauen wie Hanan Quelle: Destatis,
Kayed als Richterin arbeiten dürfen, legt 30 und mehr Stand: 2016
gerade denjenigen Musliminnen mit Kopf-
14
zogen, wippt ein schwarzer Haarschopf. am Bahnhof und im Park und torkeln Stadt werde einen neuen Gehweg entlang
Es ist ein Afrikaner, der mit Kopfhörern dann wieder bei uns vorbei.« Er mache der Hauptstraße durchsetzen, damit nicht
in den Ohren Richtung Stadt spaziert. die halbe Nacht kein Auge zu. Terror sei alle bei ihm vorbeispazieren. Doch lehnte
»Okay, der war jetzt leise«, sagt Fessler. das. der Gemeinderat das Ansinnen fast ein-
»Das ist nicht der Normalfall.« Früher Der Ärger darüber hat Fessler verbittert. stimmig ab. Man wolle kein »Zeichen für
hätten sie noch manchmal rübergerufen Vor allem als er feststellte, dass niemand Ausgrenzung und Rassismus« setzen, so
»Please be quiet«, bitte seien Sie ruhig. ihm in seiner misslichen Lage helfen woll- eine SPD-Politikerin.
Meistens sei aber nur ein »Fuck you« te. Vor einiger Zeit habe seine Frau den »Klar«, sagt Fessler. »Bei denen läuft ja
oder »I kill you« als Antwort zurückge- Müll wegbringen wollen, als eine Gruppe auch kein einziger Afrikaner am Haus vor-
kommen. Männer sich ihr in den Weg gestellt habe. bei.« Der Fliesenhändler war einmal
Seit 28 Jahren wohnt Fessler in dem Sie hätten ihr ins Gesicht gespuckt. »Wir CDU-Mitglied. 2015 trat er aus Protest
Haus, das einst sein Vater bauen ließ. 2015 hatten Panik, dass sie sich etwas geholt gegen Merkels Flüchtlingspolitik aus.
hat das Land Baden-Württemberg die hat«, sagt Fessler. Seine Tochter sei einmal Bei der letzten Wahl hat er der AfD
ehemalige Graf-Stauffenberg-Kaserne zur auf dem Weg zum Briefkasten im Genital- seine Stimme gegeben. »Ich bin ein Pro-
Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge bereich betatscht worden, Nachbarn hät- testwähler, ein Angst- und Wutbürger«,
umfunktioniert. Sie liegt nur wenige Mi- ten Alarm geschlagen. Wenn der Vater auf sagt er.
nuten Fußweg von Fesslers Haus entfernt, Geschäftsreise ist, übernachten seine Frau Wie Fessler haben sich viele ehemalige
rund 350 Menschen wohnen in der Ein- und seine Tochter im Hotel oder bei der CDU-Wähler von der Partei abgewandt.
richtung, die meisten stammen aus Nigeria, Oma. »Wir haben Angst.« Häufig aus Gründen, die eher mit kultu-
Marokko und Gambia. Wer von dort in Der Unternehmer hat einiges versucht, reller Entfremdung zu tun haben als mit
die Innenstadt will, kommt zwangsläufig um sein Problem zu lösen. Er hat auf ein der Zahl der Zuwanderer. Sie fürchteten
an Fesslers Thujahecke vorbei. Schild mit arabischen Buchstaben »City« Migranten, aber sie fühlten sich auch ab-
Auch am vergangenen Montag um 16 geschrieben, um die Männer aus der gestoßen von einer Leitkultur, die von ih-
Uhr schlendern alle paar Minuten Männer Erstaufnahmestelle eigenmächtig auf nen erwartete, die neuen Deutschen als
die Straße entlang. »Nachts wird es die einen anderen Weg umzuleiten. Allerdings Bereicherung zu sehen.
Hölle«, beschreibt Fessler. »Die kaufen habe ihm das Ordnungsamt die Aktion Das Erbe der 68er, die veränderte Rolle
Alkohol bei Lidl, besaufen sich oder kiffen untersagt. Außerdem hatte er gehofft, die der Frau, die Schwulenbewegung, das Mul-
tikulti-Ideal sind Ideen, die ihnen ihre Hei-
mat genauso fremd erscheinen lassen wie
Minarette und Frauen mit Kopftuch. In
Häufigste Staatsangehörigkeit einer CDU, die mit Merkel in die Mitte
unter Personen, die keine deutsche rückte, und mit einer Verteidigungsminis-
Staatsbürgerschaft besitzen terin, der Bundeswehrkitas am Herzen la-
gen, kam ihnen auch politisch die Heimat
abhanden. Je linker Merkel wurde, desto
weiter wanderte ein Teil der Gesellschaft
italienisch nach rechts.
Die US-Soziologin Arlie Russell Hoch-
niederländisch schild hat in ihrem Buch »Fremd in ihrem
Land« untersucht, warum weiße Arbeiter
österreichisch
im Süden der USA die rechte Tea Party
polnisch und später Trump unterstützten. Das wich-
tigste Argument der Soziologin: Die Men-
rumänisch
schen hatten das Gefühl, dass sie sich ab-
russisch mühten, sich an alle Regeln hielten, wäh-
rend andere, Frauen, Minderheiten, Mi-
syrisch granten, in der Warteschlange zum ameri-
tschechisch kanischen Traum an ihnen vorbeizogen.
Und von denen keiner zu erwarten schien,
türkisch dass sie sich an Vorgaben hielten.
US-amerikanisch
Es gebe inzwischen offenbar globale
Versionen dieser Stimmung, argumentiert
sonstige Hochschild. Das zeigt zum Beispiel die im
Februar von beiden Seiten aufgeregt ge-
führte Debatte um die Essener Tafel, die
zeitweise keine neuen ausländischen Kun-
den mehr mit Lebensmittelspenden ver-
sorgte, weil sich arme Rentner durch
Migranten verdrängt fühlten. Auch wenn
es nur um den Platz in der Ausgabe von
Lebensmitteln ging.
Dass linke Politiker diesen Menschen
immer wieder sagten, ihr Gefühl sei falsch,
Migranten und andere würden ihnen nicht
die Jobs und die Heimat stehlen, habe sie
Quellen: Destatis, AZR in den USA eher noch wütender gemacht,
Stand: 2016 sagt Hochschild. So sei noch der Eindruck
16
Küppers streicht mit der Hand über sei-
nen Vollbart, dann sagt er: »Kaum ein
Kind schafft unsere Grundschule in vier
Jahren, die meisten brauchen fünf oder
sechs. An die normalen Lehrpläne können
wir uns nicht halten, das ist ausgeschlossen.
Wir verständigen uns in den ersten Mona-
ten mit Händen und Füßen, es geht vor al-
lem darum, dass die Kinder so schnell wie
möglich die Sprache lernen. Die Lehrer
besorgen Stifte für die Schüler und bezah-
len sie aus eigener Tasche.«
Seinen Optimismus hat Küppers trotz-
dem nicht verloren. Im Ruhrgebiet, sagt
er, seien die türkischen Gastarbeiter unter
deutsche Regierung den Mut aufbringen, eine Minderheit Ausländer in die Gesell- er Tempo haben, erntet aber mitunter rat-
Zuwanderung stärker zu steuern, das eu- schaft integrieren muss, gibt es längst nicht lose Blicke.
ropäische Asylsystem zu reformieren und mehr.« Ein Kampf der Kulturen sei trotz- Seit dem 10. Spieltag führt der TSV
auch effektivere Wege zu finden, abgelehn- dem nicht zu beobachten. Kriegshaber mit 17 Siegen und nur einer
te Asylbewerber schneller wieder zurück- Integration bedeute strukturelle Teilha- Niederlage überraschend die Tabelle an.
zuschicken. be. »In dem Moment, in dem ich einen Die unterschiedlichen Spielertypen ma-
Jens Schneider vom Institut für Migra- Job in Deutschland habe, ist der in der Re- chen die Mannschaft für den Gegner un-
tionsforschung und Interkulturelle Studien gel so gut bezahlt, dass man sich ein Leben berechenbar. »Wir haben keinen überra-
der Universität Osnabrück gehört zu den davon aufbauen kann.« Arbeit sei ein gro- genden Mann, funktionieren rein als
Optimisten in der Migrationsdebatte. Viel- ßer Gleichmacher, sagt Schneider. »Die So- Mannschaft. Jeder rennt und kämpft für
leicht liegt das an seinem Forschungsthe- zialisation über Arbeit hat schon bei den den anderen«, sagt Trainer Heuberger. Um
ma: Er beschäftigt sich mit Aufstiegschan- Gastarbeitern funktioniert, und sie funk- den Teamgeist zusätzlich zu fördern, gab
cen von Einwandererfamilien in Städten, tioniert auch heute noch.« es am Dienstag statt Training einen ge-
die er »superdivers« nennt und unter de- Auf dem Bolzplatz geht es in Augsburg meinsamen Bierzeltbesuch auf dem Augs-
nen es durchaus Positivbeispiele gibt. ebenfalls superdivers zu. Tabellenführer burger Plärrer, einem Volksfest.
Dazu zählten viele süddeutsche Städte wie bei den Amateuren in der lokalen Kreisliga Kriegshaber ist ein familiär geprägter
Stuttgart oder Augsburg, »wo mehr als die ist derzeit die Multikultimannschaft des Stadtteil im Westen von Augsburg. »Hier
Hälfte der Bevölkerung einen Migrations- TSV Kriegshaber. Die Spieler sind zwi- hilft man sich untereinander«, sagt Heu-
hintergrund hat«. In Augsburg lag der Mi- schen 19 und 43 Jahre alt und kommen aus berger. Er selbst habe »in einer Saison über
grationsanteil 2016 bereits bei 46 Prozent. 16 verschiedenen Nationen: Flüchtlinge 50 Bewerbungsanschreiben mitverfasst«,
Bald sind Menschen ohne Migrationshin- und Asylbewerber aus Syrien, dem Irak erzählt er. »Wir hatten neun Arbeitslose
tergrund dort in der Minderheit. und Gambia kicken mit Spätaussiedlern und am Ende der Saison keinen einzigen
Für viele AfD-Fans ein Angst einflößen- aus Osteuropa und Kindern ehemaliger mehr.«
dendes Szenario – trotzdem ist Augsburg Gastarbeiter, die längst einen deutschen Wenn Deutschland eine Heimat für alle
nicht als sozialer Brennpunkt bekannt. Pass haben. Trainer Michael Heuberger ge- werden soll, brauchte man ein paar Zehn-
»Wegen der vielen Jobs in diesen Regionen hört als gebürtiger Augsburger zur schwä- tausend Heubergers.
funktionierte die Integration so geräusch- bischen Minderheit in der Mannschaft. Matthias Bartsch, Annette Bruhns,
los und reibungslos«, sagt Schneider. Das Auch ein Brasilianer, ein Italiener, ein Ser- Anna Clauß, Lukas Eberle, Katrin Elger,
in vielerlei Formulierungen gekleidete be und ein Kurde sind Teil seines Kaders. Bartholomäus von Laffert, Cordula Meyer,
Mantra von Parteien wie der CSU oder Teamkapitän Selcuk Kus ist Türke. Katja Thimm
der AfD, gute Migranten seien die, die »Mit der Verständigung ist es nicht
nicht da seien, gehe an der Realität vorbei. immer einfach«, sagt Michael Heuberger, ‣ Lesen Sie auch auf Seite 38 das SPIEGEL-
In Augsburg haben 64 Prozent der Ein- ein 57-jähriger Post-Mitarbeiter, der im Gespräch mit dem bayerischen Ministerprä-
wohner unter 18 Jahren einen Migrations- Nebenjob als Trainer arbeitet. Wenn er sidenten Markus Söder.
hintergrund. »Die deutsche Mehrheit, die auf Bayerisch »Jetzt pack mas!« brüllt, will
18
Identitäten Professoren, Pädagogen und Journalisten trügen politischen Lagern Gemeinschaft, deshalb
machen sie es ja auch, aber es ist eine
dazu bei, dass sich Menschen in Deutschland nicht mehr vordergründige Gemeinschaft. Am Ende
zu Hause fühlen, meint die Soziologin Cornelia Koppetsch. bleibt die Botschaft: Jene, die uns regieren,
haben in grundlegenden Fragen keinen
lität. Das wirkt auf viele genheit stiftenden Heimat ist oft
oberflächlich, und der Ein- ähnlich ausgeprägt. Und da ist
druck entsteht, dass jeder für diese Elite im Vorteil, weil sie
sich allein sorgen muss. sich ihre Heimat selbst erschaf-
SPIEGEL: Können Sie das Forscherin Koppetsch: »Die Elite wirkt verlogen« fen kann.
konkreter an politischen Ent- SPIEGEL: Wie soll das funktio-
wicklungen festmachen? nieren? Wir führen diese ganze
Koppetsch: Viele stoßen sich daran, dass ganze Thema ja komplett unsinnig: Debatte doch nur, weil sich Heimat nicht
Flüchtlinge jede Menge Beistand bekämen, Deutschland ist ein säkularer Staat, es beliebig herstellen lässt.
ohne etwas dafür geleistet zu haben – wäh- herrscht Religionsfreiheit. Aber es geht Koppetsch: Diese schon. Hier geht es um
rend sie selbst sich, wie sie meinen, jeden eben nicht um die Sachebene, sondern die kulturelle Heimat der bessergestellten
Tag mit dem Überleben abmühen. Andere darum, Gefühle zu mobilisieren. Das ist Kosmopoliten. Sie gründet auf Bildung,
fühlen sich durch die Homo-Ehe oder das gefährlich – genauso wie die prompte Hochkultur und auf einem bestimmten
dritte Geschlecht in ihrem Weltbild ange- Antwort der Kanzlerin, er gehöre eben Lebensstil – und der ist zumindest in den
griffen. Die Bundesrepublik war wie die doch dazu. Großstädten fast überall auf der Welt zu
DDR über Jahrzehnte ein von kleinbür- SPIEGEL: Wieso gefährlich? Was hätte sie finden. Trotzdem ist es eine exklusive Hei-
gerlichem Denken geprägtes Land. Aber sonst sagen sollen? mat: Man bleibt in den schönen Stadtvier-
nun scheint eine kosmopolitische Elite lau- Koppetsch: Die Wahrheit. Dass man erst teln wegen der hohen Preise unter sich.
ter seltsame Angebote für alle möglichen noch herausfinden müsse, welche Anteile Man sorgt dafür, dass zumindest in den
Minderheiten zu machen. Das empfinden islamischen Glaubens und Denkens sich Schulen der eigenen Kinder der Lernerfolg
vor allem Angehörige der traditionellen auf Dauer mit unserer Gesellschaft vertra- gut, das Mittagessen gesund und die Päda-
Mittelschicht so. Sie fürchten um ihren gen. Wir wissen ja noch nicht, welche As- gogik wertvoll ist. Und mit alldem sendet
Platz im System – und zwar nicht nur öko- pekte der Islam in all seinen Facetten mit man jenen, die um ihren Platz in der Ge-
nomisch, sondern kulturell. Aus diesem sich bringt. Merkel und Seehofer aber sellschaft fürchten, ein Signal: Hier bei uns,
Gefühl von Heimatlosigkeit erwachsen haben mit emotionalen Botschaften um bei den weltoffenen Weltbürgern, finden
dann all die Kampfansagen an die etablier- Zustimmung für zwei unterschiedliche Leute wie ihr auch keinen Platz. Verloren,
te Gesellschaft. Weltbilder geworben. Das stiftet in ihren Pech gehabt! Interview: Katja Thimm
Grundsteuer
Missbrauch temberg hervor. Demnach lasse sich laut zusammenziehen zu dürfen«. Von einer
Regierungspräsidium »nicht nachvoll- Verurteilung des vorbestraften Pädophi-
Justiz informierte ziehen«, warum »die Information, dass len durch das Amtsgericht Staufen wegen
Jugendamt nicht sich der Lebensgefährte im Haushalt Verstoßes gegen die Führungsaufsicht
des Kindes und seiner Mutter aufhalte«, erfuhr das Jugendamt sogar erst nach des-
Im Fall des Missbrauchs eines heute dem Jugendamt erst am 3. März 2017 sen Verhaftung. Das Regierungspräsidium
neunjährigen Jungen im badischen Stau- übermittelt worden sei, »obwohl sie der Freiburg stellte keine Rechtsverstöße des
fen bemängelt das Regierungspräsidium Polizei schon länger vorgelegen« habe. Jugendamts fest. Am Donnerstag hat in
Freiburg den Informationsfluss von Poli- Ebenso habe das Jugendamt »verspätet der Stadt am Breisgau der erste Prozess
zei und Justiz an das zuständige Jugend- davon erfahren, dass der Lebensgefährte gegen einen der Männer begonnen, die
amt. Das geht aus einem internen Ver- gerichtlich habe erwirken wollen, mit den Jungen gegen Bezahlung missbraucht
merk der Landesregierung Baden-Würt- der Kindesmutter und damit dem Kind haben sollen. FRI
20
Einwanderung
Rechtsstaatskunde für
Flüchtlingskinder
Hessens Ministerpräsident Volker
Bouffier (CDU) will an den Schulen
seines Landes sogenannte Rechtsstaats-
klassen für Flüchtlinge einführen. Dort
soll den Kindern nicht nur die deutsche
Sprache, sondern auch das deutsche
Datenhandel matisch. Man kann hier nicht einfach es heikler. Wir wissen, dass sich Daten
Ölquellen für Gemeinden? US-amerikanisch sagen: »Drill, baby, mit Zusatzinformationen anreichern
drill!« Also: »Los, bohr nach dem Öl!« lassen, sodass immer das Risiko besteht,
WEICHSELBAUMER / UNI PASSAU
Gerrit Hornung, 42, Profes- SPIEGEL: Schon jetzt kann man doch dass sich scheinbar entpersonalisierte
sor für Öffentliches Recht nach den Informationsfreiheitsgesetzen Daten am Ende repersonalisieren lassen.
und IT-Recht an der Univer- der Länder kommunale Daten abfragen? Es gibt da keine klare Grenze, wann
sität Kassel, über einen an Hornung: Ja, man muss bei personenbe- der Personenbezug wieder eintritt, und
die Kommunen gerichteten zogenen Daten aber ein übergeordnetes auch keine echte datenschutzrechtliche
Appell, ihre Daten gewinn- Interesse nachweisen. Außerdem geht das Lösung, weil die Daten nicht zurückge-
bringend zu verkaufen nur im Einzelfall, nicht flächendeckend. holt werden können. Deshalb mahne ich
Die Kommunen dürfen nicht von sich aus zu großer Zurückhaltung.
SPIEGEL: Der Deutsche Städte- und damit Handel treiben, schon gar nicht zur SPIEGEL: Die Kommunen haben aber
Gemeindebund bezeichnet Daten, die Gewinnerzielung. Die Daten wurden ja durchaus das Recht, sich wirtschaftlich
Kommunen über ihre Bürger haben, zweckgebunden, nämlich zur Verwal- am Datenhandel zu betätigen, oder?
als »Öl des 21. Jahrhunderts«, mit denen tung, erhoben. Man darf sie nicht einfach Hornung: Man kann natürlich sagen, da
sich prima Einnahmen erzielen ließen. kommerziellen Zwecken zuführen ohne die Kommunen Kosten haben, um an die-
Sehen Sie das auch so? entsprechendes Gesetz – jedenfalls nicht se Daten zu kommen, sollen sie auch aus
Hornung: Aus wirtschaftlicher Sicht ja. ohne Zustimmung der Bürger. deren Wert schöpfen können. Allerdings
Viele loggen sich zum Beispiel über Face- SPIEGEL: Und wenn, wie es heißt, nur erfüllen die Kommunen insoweit ja nur
book in weitere Anwendungen ein – nur anonymisierte Daten verkauft werden? ihre Aufgaben und bekommen dafür Steu-
kann die Facebook-Identität ja falsch sein. Hornung: Wenn diese Daten nur einen ereinnahmen. Viel vernünftiger finde ich
Wenn diese nun mit Melderegisterdaten groben Überblick geben, etwa über den deshalb, solche Daten nicht gewinnbrin-
abgeglichen werden könnte, wäre das Wasserverbrauch in einem Viertel, ist gend zu verkaufen, sondern diese dort,
für die Firma und ihre Werbekunden ein dagegen kaum etwas zu sagen. Aber wo es datenschutzrechtlich vertretbar
Informationsgewinn. Aber mit Blick auf schon bei Informationen über bestimmte erscheint, kostenlos bereitzustellen, um
den Datenschutz wäre das hochproble- Gewerbe oder über Bauvorhaben wird Innovationen zu fördern. HIP
RICHARD NICOLAS-NELSON
geordneten Behörden werden bis Ende
Mai kommenden Jahres mehr als eine
Viertelmilliarde Euro für Software-
Lizenzen des US-Herstellers Microsoft
Französischer Jet mit Atomrakete (Windows, Word, Excel) ausgeben, um
2015 geschlossene Verträge zu bedie-
nen. Jährlich fließen allein aus Bundes-
Rüstung Schwelle senken. Die Verlockung sei behörden Beträge zwischen 43,5 Mil-
Atomkrieg verhindern groß, bei einer Eskalation auf nukleare lionen Euro (2015) und knapp 74 Mil-
Marschflugkörper zurückzugreifen, lionen Euro (2017) an den US-Konzern.
Der Nato steht eine Debatte über die weil man glaube, die Situation sei dann Das geht aus einer Antwort auf eine
Abschaffung atomarer Marschflugkörper beherrschbar, erklärt Gower. Anfrage des Linken-Politikers Victor
bevor. Ein Team von Nuklearwaffenex- Unter den Atommächten besitzen Perli an das für den Software-Einkauf
perten um Andrew Weber, unter Barack Frankreich, die USA und Russland diese zuständige Innenministerium hervor.
Obama ranghoher Mitarbeiter im US- Systeme. Auch Pakistan entwickelt eine Dabei fehlen noch Zahlen für das Ver-
Verteidigungsministerium, und den briti- solche Waffe; China und Indien könnten teidigungsressort und das Verkehrs-
schen Konter-Admiral a. D. John Gower folgen. Ein weltweites Verbot würde ministerium, die ihre Microsoft-Lizenz-
sondiert die Bereitschaft europäischer insbesondere die Lage in Europa stabili- gebühren nur teilweise beziffern konn-
Nato-Staaten, sich für ein weltweites Ver- sieren und zudem den nicht europäischen ten. Insgesamt erzielte der Konzern
bot einzusetzen. Marschflugkörper kön- Atomwaffenstaaten den Aufwand für im öffentlichen Sektor europaweit
nen mit konventionellen wie nuklearen Entwicklung und Produktion ersparen. Milliardenumsätze. »Die Abhängigkeit
Sprengköpfen bestückt werden und gel- Großbritannien hat sich schon explizit von einem einzigen Anbieter ist nicht
ten als destabilisierend. Droht ein Atom- gegen atomare Marschflugkörper ausge- nur teuer, sondern eine Gefahr für die
waffenstaat mit dem Einsatz dieser Waf- sprochen, die neutralen Staaten Schweiz IT-Sicherheit«, so Perli, der für die Lin-
fen, kann der Gegner nur spekulieren, und Schweden unterstützen den Vor-
welchen Sprengkopf diese tragen. Auch stoß. Mit der Bundesregierung haben
warnen die Experten, dass die Marsch- Gower und Weber jetzt Gespräche auf-
flugkörper im Kriegsfall die nukleare genommen. KLW
Verkehr
Thema Sicherheitspolitik zu kümmern. wir als Grüne endlich positiv mit Leben
»Friedens- und Sicherheitspolitik muss in füllen sollten.« Am Montag hatten die
der Breite der Partei wieder ein Thema beiden Parteichefs Baerbock und Habeck
werden«, sagt Sprecher Michael Bloss. In ihr Impulspapier zum neuen Grundsatz-
einem Papier, das er mit Co-Sprecherin programm vorgelegt; Sicherheitspolitik
Sara Nanni für die Debatte über das neue spielte darin nur eine untergeordnete
Grundsatzprogramm geschrieben hat, Ostermarsch in Frankfurt am Main Rolle. AKM
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Deutschland
Der Nebenkanzler
SPD Finanzminister Olaf Scholz will sich mit einem konservativen Sparkurs als Alternative zu
Angela Merkel aufbauen. Die Frage ist nur: Stehen die Sozialdemokraten hinter ihm?
D
ie Villa Borsig in Berlin ist ein gu- in vier Jahren nicht mehr antreten, so kal- lich alle anderen, vor allem als die eigenen
ter Ort, um die Hektik des politi- kuliert Scholz; und auch CSU-Chef See- Parteifreunde. Davon abgesehen präsen-
schen Alltags für ein paar Stun- hofer geht es nach seinem Machtverlust in tiert sich Scholz in so ziemlich allen Be-
den hinter sich zu lassen. Das ele- Bayern darum, sich einen würdigen Ab- langen als perfekter Anti-Gabriel.
gante Gästehaus des Auswärtigen Amts, gang aus der Politik zu verschaffen. Die Wo der einstige SPD-Chef seine Um-
rund eine halbe Stunde nordwestlich des Unionsspitze amtsmüde und zerstritten – gebung unablässig mit neuen Gedanken,
Regierungsviertels, liegt am Ufer des Te- das gibt Scholz die Möglichkeit, sich als Thesenpapieren und Mail-Botschaften
geler Sees. Niemand stört, die Luft ist gut, verlässliche Alternative zu präsentieren, überschwemmte, fragt Scholz lieber noch
die Öffentlichkeit hat keinen Zugang. als Politiker, der für solide Finanzen und dreimal nach, bevor er sich mit einem
Am Samstag vergangener Woche hatte gegen staatlichen Kontrollverlust steht. Als Vorstoß vorwagt. Gabriel polterte gern,
sich die SPD-Spitze in der Abgeschieden- Merkel ohne Flüchtlingskrise, sozusagen. vor allem intern, wenn Parteifreunde ihm
heit versammelt, um die Kabinettsklausur Die Frage ist nur: Verfängt die Strategie zu langsam dachten. Bei Scholz dagegen
in Meseberg vorzubereiten. Alle Minister auch bei jenen Wählern, die nach der lan- verraten allenfalls seine Mundwinkel, dass
und auch die designierte Parteichefin An- gen Regierungsbildung tief enttäuscht sind er einen Vortrag gerade als reichlich über-
drea Nahles waren geladen; doch die Rich- von der etablierten Politik? Und, zweitens, flüssig empfunden hat. So empfiehlt sich
tung gab Vizekanzler Olaf Scholz vor. kann Scholz bei seinem Angriff auf das Scholz in der SPD als kopfgesteuertes
Nach dem Regierungsdurcheinander der Kanzleramt auch auf die Unterstützung Gegenbild zur gescheiterten Ideenmaschi-
vergangenen Wochen, den wirren Debat- der Parteibasis rechnen, bei der er kaum ne Gabriel: verlässlich und verbindlich
ten um Islam und Hartz IV, müsse sich die beliebter ist als die ungeliebte Große Koa- statt sprunghaft und cholerisch.
SPD unbedingt als der seriösere Teil der lition? Bei den Wählern wiederum will Scholz
Regierung profilieren: Ruhig bleiben, Ner- Vor ein paar Wochen steht der neue als solider Kassenwart punkten. Er verfügt
ven bewahren, sachlich arbeiten, mahnte Vizekanzler vor dem Konrad-Adenauer- über das mächtigste Finanzministerium
Scholz und befand: »Lasst uns nicht über Haus in Berlin, es ist kurz nach acht an ei- seit der Wiedervereinigung, weil das Res-
jedes Stöckchen springen.« sort nun auch Vizekanzleramt ist. Und er
Stattdessen sorgte Scholz höchstpersön- hat genau studiert, wie Wolfgang Schäuble
lich dafür, auf dem Kabinettsgipfel dieser Bei den Wählern seinerzeit mit seinem Beharren auf der
Woche gute Laune zu verbreiten. Lange will Scholz mit dem schwarzen Null zeitweise zum populärsten
plauschte er mit CSU-Chef Horst Seehofer Politiker der früheren Regierung geworden
über vergangene Zeiten und die gemein- Beharren auf der war. Nun will sich Scholz als Erbe des
samen Schlachten im Bundesrat. Bis in den schwarzen Null punkten. Amtsvorgängers beweisen.
frühen Morgen saß er beim Rotwein mit Vor ein paar Tagen schickte er deshalb
Angela Merkel zusammen. Demonstrativ seinen obersten Haushälter Werner Gat-
duzte er sich mit seinem Kabinettskollegen nem Morgen Anfang Januar. Auf dem zer zu dessen Staatssekretärskollegen in
Peter Altmaier (CDU). »Teambuilding ge- mühsamen Weg zur Großen Koalition den Ressorts. Den erfahrenen Beamten,
lungen, der Rest kommt jetzt«, sagte er steht mal wieder eine Sondierungsrunde auf den schon sein Vorgänger Wolfgang
zum Abschluss des Treffens und stellte da- an, nach und nach trudeln die Unterhänd- Schäuble gesetzt hatte, holte Scholz von
mit klar: Er versteht es, noch nüchterner ler von Union und SPD ein. Auch Olaf einem kurzen Abstecher in die Wirtschaft
zu formulieren als die notorisch nüchterne Scholz. Bloß kommt der in anderem Auf- zurück. In der Kurzfassung lautete Gatzers
Kanzlerin. zug als gewohnt. Ansage ganz ähnlich wie früher: Trotz
Spätestens seit dem Meseberg-Treffen Statt in Anzug und Krawatte erscheint milliardenschwerer Überschüsse im
dieser Woche steht fest, dass sich Scholz der Sozialdemokrat in Sportklamotten: Bundeshaushalt ist kein Geld da. Eine Ein-
nicht mit dem Posten des Finanzministers schwarze Jogginghose, türkisfarbenes schätzung, die Scholz bei der Meseberg-
in der Großen Koalition zufrieden geben Oberteil, Laufschuhe. Der SPD-Vize hat Klausur fast wortgleich wiederholte.
will. Der Sozialdemokrat hat größere Zie- wohl das Bedürfnis, sich angesichts stun- Mehr als die 46 Milliarden Euro, die
le. In spätestens vier Jahren will er das denlanger Verhandlungen ein bisschen Be- Union und SPD in dieser Legislaturperio-
Kanzleramt erobern – und zwar mit jenem wegung zu verschaffen. Und er ist offenbar de für den Abbau des Solidaritätszuschlags,
politischen Kurs, den er schon als Ham- daran interessiert, dass die vor der CDU- die Erhöhung des Kindergelds oder die
burger Bürgermeister gepflegt hatte: durch Zentrale lungernden Medienvertreter das Förderung des sozialen Wohnungsbaus
die Mitte. mitbekommen. Seht her, ich bin fit, so lau- ausgeben wollen, sei nicht vorhanden,
So hatten es einst auch die Spitzenge- tet das erwünschte Signal – anders übri- mahnte Scholz, zumal zahlreiche Belas-
nossen Frank-Walter Steinmeier und Peer gens als manch anderer Sozialdemokrat. tungen noch nicht berücksichtigt seien. So
Steinbrück versucht – und waren kläglich Einen Sigmar Gabriel im Sportdress hat ist der Bund gezwungen, im nächsten Jahr
gescheitert. Scholz aber ist zuversichtlich, man in Berlin noch nicht erlebt. das steuerfreie Existenzminimum zu er-
dass es diesmal anders laufen könnte. Mit seinem Vorgänger als Vizekanzler höhen. Bis 2021, dem Ende der Legislatur-
Merkel hat in ihrer letzten Amtszeit vor verbindet Scholz zwar die Überzeugung, periode, werde das rund zehn Milliarden
allem die Außenpolitik im Kopf und wird ein besserer Politiker zu sein als so ziem- Euro an Steuerausfällen nach sich ziehen.
Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Scholz vor Schloss Meseberg: »Lasst uns nicht über jedes Stöckchen springen«
25
Auch die Belastungen aus der laufenden
Tarifrunde für den öffentlichen Dienst
muss Scholz noch aufbringen. Jeder Pro-
zentpunkt, den Bundesbeamte und Solda-
ten künftig mehr verdienen, schlägt für die
Bundeskasse mit 300 Millionen Euro zu
Buche, kalkulieren Scholz’ Experten.
Im nächsten Jahr, so befürchtet er, laufe
der Bund sogar Gefahr, gegen die Vorga-
ben der Schuldenbremse zu verstoßen. Sie
erlaubt dem Finanzminister ein um kon-
junkturelle Mehreinnahmen bereinigtes
Minus von höchstens 11,4 Milliarden Euro.
Diese Größenordnung droht der Bundes-
Koalition Weil das Kabinett zerstritten ist, verlagert es wichtige Tisch zur Bekämpfung von Gewalt gegen-
Fragen in mehr als ein Dutzend Kommissionen. über Frauen und Kindern« ist geplant,
eine »Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
»Schwarz-rote Räteregierung«
Einführung eines Kindergrundrechts« so-
wie eine Kommission »Gleichwertige Le-
bensverhältnisse«.
Um das Thema Digitalisierung küm-
mern sich zwar jetzt schon ein halbes Dut-
Das Gedächtnis von Politikern kann ver- tes Kommissionsfieber: In den nächsten zend Ministerien, dazu Kanzleramtsminis-
dammt kurz sein, das zeigte gerade wieder Wochen und Monaten werden 15 Arbeits- ter Helge Braun und seit Neuestem auch
Peter Altmaier. Der Wirtschaftsminister gruppen, Konferenzen und Räte mit zu- Dorothee Bär, die den schönen Titel
machte am Dienstag auf dem Weg zur sammen etwa 300 Teilnehmern einberu- Staatsministerin trägt. Nun kommen noch
Kabinettsklausur nach Meseberg einen fen. Das geht aus einem internen Papier Kommissionen zur Daten-Ethik und zum
Zwischenstopp im Süden Berlins, um eine hervor, das in Meseberg diskutiert wurde. Wettbewerbsrecht im Digitalbereich dazu.
Rede auf einem Mobilitätskongress zu hal- Sie sollen Aktionsprogramme, Berichte Über eine »schwarz-rote Räteregierung«
ten. Die Zukunft des Elektroautos müsse und Gutachten für zahlreiche Regierungs- lästern inzwischen Mitglieder der Regie-
man jetzt »umsetzen und planen«, forder- projekte erarbeiten, von der Energiepoli- rung.
te er. Auf keinen Fall dürfe die Regierung tik bis zur Ärztevergütung, von der Rente Die Flut der Räte hängt vor allem damit
»für die nächsten Jahre Kommissionen ein- bis zum Luftverkehr. zusammen, dass sich SPD und Union in vie-
richten«, so der CDU-Mann. Ein »nationaler Bildungsrat« soll darü- len Punkten nicht einigen können. Deshalb
Nur ein paar Stunden später befiel ihn ber beraten, wie sich die Qualität der Aus- wimmelt der Koalitionsvertrag nur so von
und seine Kabinettskollegen ein regelrech- bildung vergleichen lässt. Ein »Runder Kommissionen. Weil nun auch in Meseberg
lerkandidatur oder das G-20-Debakel, das die Erneuerung der Partei und die Wieder-
er im vergangenen Sommer in der Hanse- belebung der Fraktion. So will das Duo
stadt zu verantworten hatte. die SPD wieder auf Augenhöhe mit der
Wie sehr der Führungsanspruch des Fi- Union bringen, obwohl dabei bislang nur
nanzministers in den eigenen Reihen in wenige Fortschritte zu vermelden sind. In
Zweifel gezogen wird, zeigte sich in der fast allen Umfragen liegt die Scholz-Nah-
Hartz-IV-Debatte der vergangenen Wo- les-SPD wie festgefroren unter der 20 Pro-
chen. Nachdem Berlins Regierender Bür- zent-Marke.
germeister Michael Müller für seine Fun- Die Kanzlerin sieht die Ambitionen des
damentalkritik an den Reformen der neuen starken Sozialdemokraten in ihrem
Schröder-Ära (»keine gesellschaftliche Ak- Kabinett mit gemischten Gefühlen. Einer-
zeptanz«) viel Zuspruch aus der Partei be- seits ist sie froh, mit Scholz einen Koali-
kommen hatte, versuchte Scholz, die De- tionspartner zu haben, der ihr inhaltlich
batte mit einem Machtwort auszutreten. und im Politikstil sehr ähnlich ist. Ande-
Doch das brachte nur noch mehr Kriti- rerseits ist sie Machtpolitikerin genug, dem
ker auf den Plan. Erst verlangte der hessi- sozialdemokratischen Rivalen das Ge-
sche SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel, schäft zu erschweren, zum Beispiel mithil-
dass Hartz-IV-Bezieher künftig mehr Ver- fe der eigenen Minister.
mögen besitzen dürfen. Dann brachte So schrieb Wirtschaftsressortchef Peter
auch Arbeitsminister Hubertus Heil mit Altmaier kürzlich einen Brief an seinen
unklaren Interview-Äußerungen in der Duzfreund und Kabinettskollegen Scholz,
»Zeit« eine Anhebung der Hartz-Gelder in dem er mehr Steuergeld für die For-
ins Gespräch. »Ich schaue mir das an, was schungsförderung in Unternehmen ver-
wir bei den Grundsicherungssätzen tun langte – wohl wissend, dass der Mittel-
können«, sagte er. Es schien, als könne sich standsflügel der Sozialdemokraten das
Scholz nicht mal bei den eigenen Kabi- genauso sieht. Und auch Merkel selbst
nettskollegen durchsetzen. stellte klar, dass sie die Themen Haushalt
Noch kann der Finanzminister davon und Finanzen nicht allein dem Koalitions-
ausgehen, mit Andrea Nahles eine Partei- partner überlassen will.
vorsitzende zu bekommen, die ihm voll Nachdem Scholz in Meseberg seinen
vertraut, jedenfalls ist das der Eindruck, Vortrag zur öffentlichen Kassenlage be-
den beide gern vermitteln. Sie kennen sich endet hatte, meldete sich die Kanzlerin zu
seit langer Zeit, in den SPD-Führungsgre- Wort. Wenn es bei den Gesprächen über
mien traten sie in den vergangenen Jahren den Haushalt mal Schwierigkeiten gebe,
oft als Tandem auf. dann sollten die Kabinettsmitglieder das
Doch ob ihr Verhältnis wirklich so stabil doch bitte auch der Regierungszentrale
ist, wird sich spätestens dann erweisen, melden, regte Merkel an. Es sei wichtig,
wenn es um die Frage geht, wer die SPD dass man im Kanzleramt im Bilde sei.
in den nächsten Wahlkampf führen soll. Christoph Hickmann, Veit Medick,
Derzeit gilt die Aufgabenteilung: Er küm- Ralf Neukirch, Christian Reiermann,
mert sich um den Regierungsalltag, sie um Michael Sauga, Cornelia Schmergal
die Kraft für konkrete Beschlüsse fehlte, Fraglich ist allerdings, ob eine derart
wurde das Gremienwesen präzisiert und aufgeblähte Runde noch vernünftige Er-
erweitert. Beispiel Energie: Die Kommis- gebnisse liefern kann. Die Grünen-Par-
sion »Wachstum, Strukturwandel und Be- teichefin Annalena Baerbock sieht in
schäftigung« soll den Ausstieg aus der der Kommissionitis den Versuch, »erns-
Kohleverstromung organisieren und ten und verbindlichen Beschlüssen« aus
gleichzeitig darüber nachdenken, wie dem Weg zu gehen.
neue Jobs in Braunkohlerevieren wie der Das muss sich nun auch Altmaier an-
Lausitz geschaffen werden können. kreiden lassen. Während er noch Stun-
Nur stritten Altmaier und Bundesum- den vor Meseberg versprochen hatte,
weltministerin Svenja Schulze (SPD) die Debatte über die Zukunft der
darüber, wer in der Kommission das Sa- Elektromobilität nicht in eine Kommis-
gen hat. Den Streit der beiden Minister sion abzuschieben, tat er auf der Klau-
lösten die Großkoalitionäre auf ihre Art: sur genau das: Es wurde ein Rat für
Sie blähten die geplante Kohlekommis- »nachhaltige Mobilität« beschlossen.
sion einfach weiter auf, indem auch die Das Kabinett vereinbarte ihn münd-
beiden Ministerien Arbeit und Inneres lich, er tauchte zunächst nicht in der
mit in die Verantwortung geholt wur- internen Regierungsvorlage auf. Und so
den. Statt »Federführung« übernehmen mussten ihn die Ministerialen nach
jetzt alle vier Ressorts die »Steuerung« Rückkehr ihrer Chefs noch schnell mit
der Kommission, so lautet die Sprachre- auf die Liste setzen.
gelung von Meseberg. Michael Sauga, Gerald Traufetter
27
Deutschland
SPIEGEL: Herr Außenminister, Sie haben Maas: Ich finde es unangemessen, eine di- hindert wurden. Die Staatengemeinschaft
in Ihrer Antrittsrede gesagt, Sie seien rekte Linie von Auschwitz nach Syrien zu kann und darf nicht akzeptieren, dass das
wegen Auschwitz in die Politik gegangen. ziehen. Syrien ist nicht Auschwitz. Die Ver- wichtigste Gremium der Vereinten Natio-
Was meinen Sie damit? brechen der Nazis entziehen sich in ihrer nen handlungsunfähig gemacht wird.
Maas: Ich habe nach Erklärungen gesucht, Grausamkeit jedem Vergleich. SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass der
wie es dazu kommen konnte, dass die Na- SPIEGEL: Warum war es für das ehemalige Krieg in Syrien zu einem weltweiten mili-
zis Deutschland und die ganze Welt in eine Jugoslawien richtig, den Vergleich zu tärischen Konflikt eskaliert?
solche Katastrophe stürzen konnten. Vie- Auschwitz zu ziehen, für Syrien aber nicht? Maas: Trotz aller gegenwärtigen Verbal-
les, was damals geschehen ist, war so grau- Maas: Auschwitz ist mit nichts zu verglei- attacken – so weit wird es nicht kommen.
enhaft, dass ich es einfach nicht verstehen chen. Es ging Joschka Fischer damals le- Es muss nach wie vor das oberste Ziel sein,
konnte. Daraus entstand das tiefe Bedürf- diglich darum, seine Motivation zu begrün- eine politische Lösung des Konflikts zu fin-
nis, selbst einen Beitrag zu leisten, damit den, als allerletzte Reaktion auf einen Völ- den. Dazu befinden wir uns mit unseren
so etwas nie wieder geschieht. Ich habe kermord militärisch zu reagieren. Partnern in sehr enger Abstimmung. Ein
mich dann dafür entschieden, politische SPIEGEL: Hätten Hunderttausende Tote militärischer Beitrag in Syrien stand dabei
Verantwortung zu übernehmen. in Syrien nicht auch Motivation für ein übrigens nicht zur Debatte.
SPIEGEL: Was heißt das für die deutsche Eingreifen sein müssen? SPIEGEL: Warum nicht?
Außenpolitik? Maas: Was wir seit sieben Jahren in Syrien Maas: Das ist in diesem Konflikt nicht die
Maas: Außenpolitik orientiert sich an Wer- erleben, ist entsetzlich. Es sind wiederholt Rolle, die wir in Abstimmung mit unseren
ten und Interessen. Beides lässt sich nicht Partnern einnehmen wollen.
immer leicht in Einklang bringen. Aber SPIEGEL: Wie passt das zu Ihrer Ankündi-
Deutschland hat sich nach dem Zweiten gung, dass Deutschland mehr Verantwor-
Weltkrieg als eine Friedensmacht verstan- »Zum Glück besteht tung übernehmen muss?
den. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass das transatlantische Maas: Eine größere Rolle zu übernehmen
es langfristige Linien in der internationalen Ver hältnis aus mehr als muss nicht bedeuten, dass man sich an
Politik gibt, um den Frieden zu sichern. einem Militärschlag beteiligt. Bei meinem
Diese möchte ich fortführen. 280 Twitter-Zeichen.« Besuch in New York habe ich darauf hin-
SPIEGEL: Joschka Fischer hat 1999 die Be- gewiesen, dass wir in den Vereinten Natio-
teiligung Deutschlands an den Luftschlä- nen mittlerweile der zweitgrößte Financier
gen im Kosovo mit den Worten begründet: Chemiewaffen eingesetzt worden und ha- sind. Wir beteiligen uns an einer Vielzahl
»Nie wieder Auschwitz«. ben unermessliches Leid für unschuldige von Peacekeeping-Missionen. Wir setzen
Maas: Ja, ich hab das damals sehr gut Menschen angerichtet. Unerträglich ist unseren Schwerpunkt auf humanitäre und
nachvollziehen können. auch, dass die Politik bisher nicht in der zivile Aufgaben, aber wir drücken uns auch
SPIEGEL: Würden Sie sich den Satz auch Lage gewesen ist, eine politische Lösung nicht vor militärischer Verantwortung. Al-
heute in Ihrer Rolle als Außenminister zu für diesen Konflikt zu finden. Nur so kann lein in dieser Woche hat das Kabinett wie-
eigen machen? es dauerhaften Frieden geben. Der Einsatz der zwei Bundeswehrmandate verlängert.
Maas: Es kommt darauf an, worauf Sie von Chemiewaffen in Syrien muss ein SPIEGEL: Das klingt nach der alten Ar-
das genau beziehen. Ende haben und kann nicht ohne Konse- beitsteilung: Deutschland zahlt und küm-
SPIEGEL: Soll die Friedensmacht Deutsch- quenzen bleiben. Es geht um eine der grau- mert sich um das Humanitäre. Aber wenn
land militärische Mittel einsetzen, um samsten Massenvernichtungswaffen. Sie es ernst oder moralisch schwierig wird,
einen Massenmord zu verhindern? ist seit Jahrzehnten international geächtet. müssen die Amerikaner und die anderen
Maas: Ich bin kein Pazifist. Ich habe aus Ich habe frühzeitig die französische Initia- Verbündeten ran.
der besonderen deutschen Geschichte die tive unterstützt, dort, wo Chemiewaffen Maas: Nein. Ich kann den Vorwurf, wir
Schlussfolgerung gezogen, dass wir immer genutzt worden sind, auch die Verantwort- würden schwierige Aufgaben nicht über-
alles tun müssen, um bewaffnete Konflikte lichen zur Rechenschaft zu ziehen. nehmen, nicht nachvollziehen. Auch wir
zu vermeiden – es aber leider Momente SPIEGEL: Wer ist eigentlich gefährlicher wissen leider nur zu gut, wie es sich an-
geben kann, in denen als Ultima Ratio mi- für den Weltfrieden, Trump oder Putin? fühlt, wenn deutsche Soldaten im Ausland
litärische Mittel eingesetzt werden müssen. Maas: Verbale Eskalationen sind nie hilf- getötet werden.
SPIEGEL: In Syrien steht der Westen seit reich. Genauso klar ist: Wir haben bei SPIEGEL: Frau Merkel hat im vergangenen
Jahren vor der Frage, ob der Einsatz mili- zahlreichen Abstimmungen erlebt, dass Jahr gesagt, dass man sich auf die USA
tärischer Mittel gerechtfertigt ist. Was ist Resolutionen des Sicherheitsrates zum Sy- »ein Stück weit nicht mehr verlassen
Ihre Haltung? rienkonflikt durch ein russisches Veto ver- kann«. Stimmen Sie dem zu?
29
Maas: Die USA werden unter Präsident Aber: Russland braucht eben auch uns,
Trump nicht mehr dieselbe Rolle überneh- politisch und nicht zuletzt wirtschaftlich.
men wie in der Vergangenheit. Das ist eine SPIEGEL: Können Sie sich neue Sanktio-
Realität, mit der wir uns auseinanderset- nen vorstellen, wenn Russland weiter es-
werden und suche dafür die Partnerschaft len. Sonst helfen wir antieuropäischen müssen ihnen deutlich machen: Wir wol-
des Westens. Stimmungen in diesen Ländern und ma- len euch, wir brauchen euch. Vieles von
Maas: Es wäre schön, wenn es dabei ge- chen sie auch für Spaltungsversuche von dem, was zwischen uns und den Osteuro-
blieben wäre. Und: Der Westen mag nicht außen immer empfänglicher. päern schiefläuft, spielt sich auf der emo-
immer alles richtig gemacht haben, aber SPIEGEL: Sie wollen die Osteuropäer in tionalen Ebene ab.
am Ende entscheidet Russland natürlich der EU halten, auch wenn sie sich von eu- SPIEGEL: Welchen Stil werden Sie als
ganz allein über seinen Weg. ropäischen Prinzipien distanzieren? Viktor oberster Diplomat Deutschlands pflegen?
SPIEGEL: Die SPD hat eine lange Tradition Orbán will für Ungarn eine »illiberale De- Ihr Vorgänger Sigmar Gabriel ist dafür kri-
des Dialogs mit Russland. Was ist für Sie mokratie« ... tisiert worden, dass er dem türkischen
die Lehre der Ostpolitik Willy Brandts? Maas: Ich habe etwa bei meinem Antritts- Außenminister Tee serviert hat, um den
Maas: Zur Ostpolitik gehört für mich nicht besuch in Warschau offen gesagt: Ich will Journalisten Deniz Yücel aus dem Gefäng-
nur Russland, dazu gehören auch die ost- keine Diskussionen darüber führen müssen, nis freizubekommen. Zu Recht?
europäischen Staaten. Um die müssen wir dass wir Zahlungen aus dem EU-Haushalt Maas: Nein. Das Wesen der Diplomatie
uns mehr kümmern, als das manchmal in in Zukunft auch von Fragen der Rechtsstaat- beschränkt sich doch nicht darauf, sich mit
der Vergangenheit der Fall war. lichkeit abhängig machen. Das Wertefun- den Macrons und Trudeaus dieser Welt
SPIEGEL: Länder wie Polen und Ungarn dament der EU ist nicht verhandelbar. ablichten zu lassen. Es besteht darin, ganz
haben sich von einem Teil der europäi- SPIEGEL: Ist das eine Drohung? besonders auch mit schwierigen Partnern
schen Werte verabschiedet. Was wollen Maas: Nein. Wir müssen deutlich machen, im Gespräch zu bleiben. Ein deutscher
Sie dagegen tun? dass Dinge, die europäischen Werten fun- Außenminister wird sich gerade immer mit
Maas: Die Osterweiterung der Europäi- damental entgegenlaufen, nicht gehen. den Staaten und Politikern auseinander-
schen Union ist zunächst einmal eine Er- Wir brauchen eine klare Linie. setzen müssen, mit denen wir politisch
folgsgeschichte. Wir haben jetzt in Ungarn SPIEGEL: Polen und Ungarn haben auch nicht übereinstimmen.
gesehen, dass man leider mit einem stark eine klare Linie. Ungarn hat bereits ange- SPIEGEL: Herr Außenminister, wir danken
antieuropäischen Wahlkampf mobilisieren kündigt, eine Bestrafung Polens auf jeden Ihnen für dieses Gespräch.
kann. In einer für die Zukunft Europas ent- Fall zu verhindern.
scheidenden Phase wird es darauf ankom- Maas: Das schließt doch nicht aus, dass
men, unsere osteuropäischen Nachbarn in wir in einem engen Kontakt sein müssen. Video
Die Karriere von Heiko
der EU zu halten. Wir dürfen nicht den Nur wenn die Osteuropäer den Eindruck Maas im Zeitraffer
Eindruck erwecken, dass es ein Europa haben, dass wir sie weiter in der EU halten spiegel.de/sp162018maas
der zwei Klassen gibt, in dem einige abge- wollen, werden wir mit ihnen ernsthaft oder in der App DER SPIEGEL
hängt werden und keine Rolle mehr spie- über Veränderungen reden können. Wir
Die Not der Kinder in Syrien bei den Kindern blieben. Die jungen Männer
und Frauen, die ihn ermutigten, sich den an-
findet kein Ende. Eine Million
deren Kindern anzuschließen und mit ihnen
sind verwaist und traumatisiert. zu spielen. Ein Team aus Psychologen und
Das SOS-Kinderdorf Saboura Ärzten war da, um über alles zu sprechen.
bietet Geborgenheit. Seit November 2017 lebt Jamil in dem neu
eröffneten SOS-Kinderdorf Saboura, einer
J
amil* war fünf Jahre alt, als die Kämp- umgebauten Ferienanlage. Obwohl er schon FÜRSORGE SOS-
fe in seiner Nachbarschaft in Damaskus im Übergangsheim darauf vorbereitet wurde, Kinderdorfmütter
immer brutaler wurden. Heute weiß dass er in Saboura wieder Teil einer Familie helfen Kriegswaisen,
wieder Vertrauen
niemand, wer in die Wohnung eingedrungen sein würde, war sein Einzug ein großer Mo- zu fassen
ist und seinen Vater im Schlaf erschossen hat. ment für ihn. Als seine SOS-Kinderdorfmut-
* Name von der Redaktion geändert. Fotos: SOS-Kinderdorf International
Die Mutter erlitt einen Schock, verschwand ter mit seinen sieben SOS-Geschwistern am
und ließ ihr einziges Kind zurück. Der Junge Tor stand und auf ihn wartete, brauchte er
muss eine Zeit lang allein durch die Stadt ein wenig, um seine Schüchternheit abzule- HELFEN SIE
geirrt sein, bis ihn jemand in der Nähe der gen. „Da wusste ich ja noch nicht, wie lieb UNS HELFEN!
Umayyaden-Moschee in Damaskus aufgriff. alle zu mir sein werden“, erinnert sich der
IHRE SPENDE WIRKT
Junge. Zudem haben ihn der große Garten In Syrien bietet SOS-Kinderdorf Hunderten Kin-
Mehr als ein Dach über dem Kopf und die Spielmöglichkeiten überwältigt. dern ein Zuhause und verteilt Hilfsgüter in den
Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf Syrien Jamil geht es gut in seiner neuen SOS-Fami- international zugänglichen Kriegsgebieten.
brachten Jamil in Sicherheit. In einem lie. Nur manchmal überkommt ihn bei dem Spendenkonto SOS-Kinderdorf e.V.
SOS-Übergangsheim bekam er ein Bett und Gedanken an seine Mutter Traurigkeit. Ob IBAN: DE02 7002 0500 0007 8080 05
regelmäßige Mahlzeiten. Das Wichtigste aber sie noch lebt? Diese Frage kann ihm niemand Verwendungszweck „Nothilfe“
waren die Menschen, zu denen er nach und beantworten. Aber solange er Schutz und Nähere Informationen erhalten Sie unter
nach Vertrauen fasste. Die Betreuerinnen, die Hilfe benötigt, ist der Junge an einem gebor- www.sos-kinderdorf.de
jeden Tag kamen und im Wechsel auch nachts genen Platz.
Deutschland
32
rarchie stützen, aus Hamburg kommen sie hat ihre beiden Töchter dabei, 9 und auf diesem Posten schließlich »mit der
prominente Genossen: der neue Bürger- 11 Jahre alt, sie haben noch Osterferien. Union um Platz eins kämpfen«.
meister Peter Tschentscher, Finanzsenator Es ist die 16. Veranstaltung seit ihrem Wer weiß, vielleicht beerbt Lange erst
Andreas Dressel, Schulsenator Ties Rabe, Start Mitte März, und sie sagt, es mache einmal ihn? Thomas Rother, 58, SPD-
die neue SPD-Vorsitzende Melanie Leon- »große Freude zu sehen, dass die Partei Landtagsabgeordneter in Kiel, ist nicht der
hard. Sie wird für Nahles stimmen: »Wer lebt«. Man könne Nahles nicht per Akkla- Einzige, der Lange für eine denkbare Steg-
hat die Kraft, die Authentizität und die mation bestimmen, »von oben nach un- ner-Nachfolgerin hält. »Sie könnte die Lan-
Härte für dieses Amt? Andrea Nahles. Es ten«, sagt Lange: »Es wird Zeit, dass es despartei zweifelsfrei führen.«
geht um Führungskraft – und die sehe ich von unten nach oben geht.« Applaus, auch Fragt man Lange, welche Unterstützung
bei ihr.« An Langes Gegenkandidatur als die Kandidatin das Godesberger Pro- sie aus der Parteizentrale bekommt, presst
störe sie, sagt Leonhard, dass diese einen gramm infrage stellt, mit dem sich die SPD sie die Lippen aufeinander, dann sagt sie:
Graben aufmache: Die da oben und wir zur Volkspartei wandelte. »Ich wurde am Anfang nicht für voll ge-
da unten. »Das hilft uns bei der Erneue- Lange steht für einen klaren Linkskurs, nommen. Wir haben es uns erarbeitet, dass
rung der Partei nicht weiter.« der Schwerpunkt der SPD-Politik müsse man im Willy-Brandt-Haus jetzt wenigs-
Doch viele Genossen haben nicht ver- wieder bei den sozial Benachteiligten lie- tens mit mir kommuniziert.« Sie verstehe
gessen, dass es der angeschlagene Partei- gen. Sie will über »demokratischen So- ja, »eine solche Kandidatur hat es noch nie
chef Schulz war, der Nahles den Parteivor- zialismus« reden, das Verhältnis der SPD gegeben. Aber der Bundesvorstand hat
sitz antrug, um sich selbst das Auswärtige zur Linkspartei klären. Dafür bekommt jetzt die Aufgabe, einen Prozess mit zwei
Amt zu sichern. Der Vorstand, der alles sie Applaus, auch wenn sie die Agenda Kandidaten zu moderieren. Das macht er
3,90 €*
* An deutschen Börsenplätzen sowie im außerbörslichen Handel (außer Eurex und CFD-Handel). Ggf. anfallende fremde Kosten und börsenplatzabhängige Entgelte sowie Telefon-, Fax- und
Briefzuschläge für die Ordererteilung werden zusätzlich berechnet. Nach Ablauf des Vergünstigungszeitraumes von 12 Monaten handeln Sie ab 9,90 Euro. Nur für comdirect Depotneukunden.
comdirect bank AG, Pascalkehre 15, 25451 Quickborn, info@comdirect.de
abgesegnet hatte und Nahles auf umstrit- 2010 kritisiert. Sie fordert ein neues nicht«. Wichtige Informationen würden ihr
tene Weise sogar zur kommissarischen Par- Grundsatzprogramm, ausgearbeitet von vorenthalten, etwa, dass es in Wiesbaden
teichefin machen wollte, blieb schwer be- der Basis. Delegiertenvorbesprechungen mit Nahles
schädigt zurück. Die Stimmen für Lange Erstmals will nun ein prominenter SPD- gebe. Die Treffen seien Sache der Landes-
in Wiesbaden dürften zeigen, wie viel Wut Kreisverband Lange unterstützen: Span- verbände, sagt eine SPD-Sprecherin, die
und Frust in der SPD noch gärt. dau, die Heimat des SPD-Fraktionsvorsit- Kandidatinnen könnten sich auf dem Par-
»Diese ganzen Personalmanöver waren zenden im Berliner Abgeordnetenhaus, teitag »gleichberechtigt« vorstellen, beide
mehr als unglücklich«, sagt Mathias Eilers, Raed Saleh. Der will sich nicht öffentlich bekämen die genau gleiche Redezeit.
50, Bürgermeister der Samtgemeinde gegen Nahles stellen, doch Susanne Pape, Immerhin hat Andrea Nahles inzwi-
Dransfeld und Delegierter, er gehe deshalb seine Vize-Kreisvorsitzende, sagt: »Hier schen mit ihr gesimst, in Berlin wollte man
davon aus, dass Nahles kein besonders gu- bei uns drücken ganz viele Simone die sich auf einen Kaffee treffen. »Klappte
tes Ergebnis bekomme. Überzeugt habe Daumen, wir werden sie nominieren.« aber leider nicht«, sagt Lange. Sie wäre
Lange ihn nicht, aber er finde es gut, »dass Ralf Stegner, ihren Landesvorsitzenden gern mit ihr vor SPD-Mitgliedern auf-
es eine zweite Kandidatin gibt«. in Schleswig-Holstein und SPD-Vize, hat getreten, Nahles habe das nicht gewollt.
Hat Lange, die gebürtige Thüringerin, Lange vor ihrer Entscheidung nicht gefragt. Warum? Lange lächelt: »Weil sie mich
einen Ostbonus? Am Dienstagabend in So bleibt ihm nur zu grummeln und zu jetzt ernst nimmt.«
Bautzen sieht es jedenfalls nicht danach granteln, »jeder hat natürlich das Recht, Matthias Bartsch, Annette Bruhns,
aus. Im großen Saal des Brauhauses sitzen sich zu bewerben, er muss sich aber gut Lukas Eberle, Annette Großbongardt,
gut 30 Genossen, wo Platz für 250 wäre. überlegen, ob es das richtige Amt für ihn Steffen Winter
Lange kommt eine Viertelstunde zu spät, oder sie ist«, sagt Stegner. 2021 müsse man
Der Riss
ßerlich runderneuerten, intern aber nach
wie vor ziemlich fragilen FDP hätte das
gravierende Folgen.
Etwas seltsam sah es ja immer aus,
wenn Lindner, 39, und Kubicki, 66, ge-
FDP Der Pakt zwischen Christian Lindner und Wolfgang Kubicki hat meinsam auftraten – so wie Anfang des
den Aufstieg der Liberalen erst möglich gemacht. Nun könnten Jahres, am Vorabend des traditionellen li-
sich die beiden wieder entfremden. Ausgerechnet wegen Russland. beralen Dreikönigstreffens in Stuttgart. Da
betrat erst Kubicki den Saal, die Haare
leuchtend weiß, der Anzug dunkel. Es folg-
34
Eitel sind sie beide, und zwar über das nannte er die Sanktionen »Quatsch« – sie
in der Politik übliche Maß hinaus. Das war
es dann allerdings auch schon fast mit den
Gemeinsamkeiten.
wirkten nicht. Zudem müsse man sich
»mal anhören, wo die Russen ihre Ängste
und Sorgen haben«. Die Nato bemühe sich
Steuern?
Trotzdem ging die Sache gut, bis Lind-
ner Ende November die Jamaikasondie-
auch nicht gerade um Vertrauensbildung.
Bereits damals rätselten Lindner und
Lass ich machen.
rungen platzen ließ. Zwar betonten beide, seine Vertrauten über das Motiv. Sprach
gemeinsam entschieden zu haben – doch hier der Populist Kubicki, der wusste, wie
Kubicki ließ keinen Zweifel daran, dass kritisch eine Mehrheit der deutschen Wäh-
er mit der Entscheidung haderte. Für den ler die Konfrontation mit Russland sieht?
Fall, dass die Große Koalition nicht Oder ging es um wirtschaftliche Interessen
zustande käme, schloss er erneute Ver- seiner Kanzlei? Im November spekulierte
handlungen nicht aus. Dem Medienprofi der britische »Guardian« über Verbindun-
musste klar sein, welche Spekulationswel- gen zwischen Kubicki und den Betreibern
le folgen würde. Lindner sah sich ge- der Gaspipeline Nord Stream 2. Kubicki
zwungen, eine Regierungsbeteiligung per wurde intern zur Rede gestellt, dementier-
Präsidiumsbeschluss ein für alle Mal aus- te aber jede Verbindung zu dem Projekt.
zuschließen. Dabei liegen Kubicki und Lindner in-
Mit Mitte 60, zu einem Zeitpunkt also, haltlich gar nicht so weit auseinander.
an dem andere in Rente gehen, wäre Ku- Noch im Wahlkampf hatte der Parteichef
bicki nur zu gern noch einmal bundespoli- dafür geworben, den Zustand der annek-
tisch durchgestartet. Am liebsten wäre er tierten Halbinsel Krim »als dauerhaftes
Fraktionschef geworden, aber auch das Provisorium anzusehen« und den Konflikt
Finanzministerium hätte ihn gereizt. darum »einzukapseln«. Faktisch war das
Lindner hingegen hat Zeit, er kann auch ein Zugeständnis an Russland, entspre-
später noch regieren. Er sah vor allem die chend empört fielen die Reaktionen der
Risiken einer Koalition, die Aussicht auf anderen Parteien aus. Lindner hatte das
schwierige Kompromisse und die Gefahr, einkalkuliert. Auch er kennt ja die Umfra-
einem Amt wie dem des Finanzministers gen zum Thema Russland.
nicht gewachsen zu sein. Um die eigentliche Sachfrage geht es
ihm deshalb gar nicht so sehr. Er stößt sich
daran, dass Kubicki vorsätzlich gegen ei-
Beiden muss immer nen Beschluss des FDP-Vorstands von
klar gewesen sein, Ende Januar verstößt. Darin heißt es: »Die
FDP steht zu den gegen Russland verhäng-
dass dies ein Bündnis ten Sanktionen.« Was Lindner außerdem
auf Zeit sein würde. stört: dass all die Nuancen dieses Beschlus-
ses, die darin enthaltenen Signale der Ent-
spannung, einfach untergehen. Es geht nur
Einen weiteren Risikofaktor sah er in noch um pro oder kontra Russland.
Kubicki. Dessen Mitteilungsdrang war in Offiziell will Lindner das Ganze nicht
der außerparlamentarischen Opposition als Machtkampf verstanden wissen, aber
ein Segen gewesen. In der Regierung aber natürlich ist es genau das. Und er tut nichts
wäre jedes seiner Worte auf die Goldwaa- dafür, den Konflikt vor dem Parteitag Mit-
ge gelegt worden. te Mai zu entschärfen. Im Gegenteil: Er
Doch nach dem Jamaikaaus haderte
Lindner: Die FDP brach in der Stimmung
ein. Aus seiner Sicht wurde der Ausstieg
nur ihm angelastet, während Kubicki sich
will dort einen Beschluss herbeiführen, der
seine Position bestätigt. Der Lindner-Ver-
traute Marco Buschmann, Parlamentari-
scher Geschäftsführer der FDP-Fraktion,
VLH.
einen schlanken Fuß machte. Kurz vor fordert eine offene Auseinandersetzung:
Weihnachten teilte er seinem Vize mit, wie »Es muss möglich sein, strittige Fragen auf
unglücklich er mit der Rollenverteilung sei.
Spätestens da dürften beide realisiert ha-
Parteitagen zu diskutieren.«
Lindner glaubt zwar, dass er auf dem
Wir machen Ihre
ben, dass ihr Pakt an seine Grenzen stößt.
Umso demonstrativer startete Kubicki
Parteitag eine klare Mehrheit sicher hätte.
Er weiß aber nicht, wie es dann weitergin- Steuererklärung.
das neue Jahr mit einer Loyalitätsbekun- ge. Wäre das Verhältnis zu Kubicki wo-
dung: Wer Lindner stürzen wolle, »müsste möglich irreparabel beschädigt? Zumin-
erst mich wegräumen«, tönte er. Es war dest müsste Lindner befürchten, dass ein
ein echter Kubicki durchsetzt mit einer gu- in die Schranken gewiesener Kubicki sich
ten Portion Fallschirmjäger-Pathos. Wer wieder verstärkt als Einzelgänger profilie- www.vlh.de
wollte, konnte darin aber auch eine kleine ren würde.
Perfidie erkennen: Schließlich hatte bis da- Demnächst will Kubicki seine erste be-
hin niemand Lindners Sturz gefordert. deutende Reise als Vizepräsident des
Erst Kubicki machte das zum Thema. Bundestags unternehmen. Ende Mai soll
Nun also Russland. Kubickis Haltung in es nach Moskau gehen.
dieser Frage ist nicht neu. Schon im Ok- Christoph Hickmann, Christoph Schult
tober, während der Jamaikasondierungen,
»Unglaublich«
Mitterrands und schlug vor, dessen Kon- während des irakisch-iranischen Kriegs so
kurrenten Giscard zu informieren. Den viele Waffen, dass Experten von »gemein-
französischen Auslandsgeheimdienst hatte samer Kriegführung« durch Bagdad und
bereits der BND in Kenntnis gesetzt. Paris sprechen. Am Ende stammte ein
Zeitgeschichte Ließ sich François BND-Mann Blötz machte sich nach Viertel der irakischen Bestände aus Frank-
dem Gespräch einen Vermerk; er trägt die reich – obwohl Saddam viele Rechnungen
Mitterrand seinen Wahlkampf Tagebuch-Nummer 130/74 und liegt dem nicht bezahlte. Trotzdem bekam er immer
von Saddam Hussein bezahlen? SPIEGEL und dem französischen Online- wieder Nachschub.
Laut dem BND kassierte magazin Mediapart vor. Und obwohl nur Bislang gingen Experten davon aus,
ein kleiner Teil des Dokuments von iraki- dass andere Motive ausschlaggebend wa-
der Franzose eine Million Dollar. schen Spenden handelt, wirft es einen gro- ren: der Wunsch, den iranischen Funda-
ßen Schatten auf Mitterrand. mentalismus zu stoppen, und das Interesse
kulturprägend für
sere Werteordnung vermittelt werden.
SPIEGEL: An Berliner Schulen gibt es einen
Ethikunterricht, an dem alle Schüler teil-
nehmen. Warum wollen Sie nur den Kin-
dern von Zuwanderern Werte vermitteln?
unser Land« Söder: Sie, und das ist kein Vorwurf, kom-
men häufig aus Gesellschaftsordnungen,
die teilweise weit entfernt sind von der
unsrigen. Es ist ein großer Sprung, wenn
SPIEGEL-Gespräch Der bayerische Ministerpräsident man aus einer anderen Kultur nach
Deutschland kommt.
Markus Söder, 51, über das Zerwürfnis SPIEGEL: Und wer soll an diesem Unter-
zwischen CDU und CSU und die Frage, ob die Amtszeit richt teilnehmen? Nur Kinder aus musli-
mischen Familien?
von Spitzenpolitikern begrenzt werden sollte Söder: Diejenigen, bei denen es sinnvoll
und notwendig ist. Die Herausforderung
ist die Zuwanderung seit 2015.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, uns er- Worte der Kanzlerin. Für eine gemeinsa- SPIEGEL: Vielleicht täte der einheimischen
innert die politische Situation an das Jahr me Politik fehlt offenbar die Basis. Bevölkerung ein Werteunterricht auch gut.
2015, als die Flüchtlingskrise begann: In Söder: Wir in Bayern haben einen klaren Söder: Mehr Wertekunde ist immer gut.
Berlin regiert eine Große Koalition, die Kurs und aus der Bundestagswahl gelernt. Ich würde mir wünschen, dass wir generell
daran beteiligten Parteien streiten über Zu- Es darf nicht nur bei einer politischen De- mehr über die geistigen Wurzeln des Lan-
wanderung und Islam – und CDU und batte bleiben, sondern es muss auch etwas des nachdenken. Denn wir sollten als Ge-
CSU mischen munter mit. Ist das eine gute geändert werden. Wir gründen eine eigene sellschaft nicht auseinanderfallen und dür-
Ausgangslage für die bayerische Landtags- bayerische Grenzpolizei und ein bayeri- fen keine Parallelwelten zulassen.
wahl im Herbst? sches Landesamt für Asyl. Wir wollen den SPIEGEL: Wer hat die Richtlinienkompe-
Söder: Nicht nur in Deutschland, sondern Rechtsstaat stärken und die Zahl der Ab- tenz in der Flüchtlingspolitik? Angela Mer-
in ganz Europa gibt es die gleiche emotio- schiebungen von abgelehnten Asylbewer- kel oder Horst Seehofer?
nale Seelenlage. Die Menschen sind nach bern deutlich erhöhen. Söder: Das ist jetzt eher was für die »Neue
wie vor verunsichert, welche Folgen die SPIEGEL: Gehört der Islam zu Deutschland? Juristische Wochenschrift« und nicht für
Zuwanderung hat: gesellschaftlich, kultu- Söder: Muslime, die in unserem Land le- den SPIEGEL. Generell gilt: In einer Koa-
rell, aber auch für die Sicherheit im Land. ben und sich zu unseren Werten bekennen, lition müssen die Identitäten der Parteien
Das gilt nicht nur für Wähler der CSU, son- sind Teil unserer Gesellschaft. Solche aber, gewahrt bleiben.
dern für alle Parteien, vor allem auch für die der Meinung sind, wir müssten hier ei- SPIEGEL: Sie müssen im Herbst eine Land-
die der SPD. Alle müssen sich überlegen, nen anderen Staat gründen oder eine an- tagswahl bestehen. Seit Jahrzehnten sind
welche Antwort sie darauf geben. dere Werteordnung vertreten, gehören Sie der erste CSU-Kandidat, der nicht mit
SPIEGEL: Ihr Parteichef Horst Seehofer nicht dazu. dem Ziel antritt, die absolute Mehrheit zu
sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutsch- SPIEGEL: Sie weichen aus. Gehört der Is- gewinnen. Warum so bescheiden? So ken-
land. Die Kanzlerin weist ihn öffentlich lam dazu oder nicht? nen wir Sie gar nicht.
zurecht. Welche Schlüsse sollen die Wäh- Söder: Der Islam ist nicht identitätsstiftend Söder: Statt ständig über Prozente zu re-
ler daraus ziehen? und kulturprägend für unser Land, selbst den, kümmern wir uns um die Sorgen der
Söder: Horst Seehofer hat recht. Auch in wenn er Realität in vielen deutschen Städ- Menschen. Wenn die SPD nach der
einer Koalition muss man offen debattie- ten ist. Natürlich gilt Religionsfreiheit, Bundestagswahl nur über die Frage spricht,
ren. Entscheidend ist, was am Ende poli- aber Deutschland ist christlich-abendlän- was eine Regierungsbildung für sie selbst
tisch daraus wird. Da bin ich optimistisch. disch geprägt, mit jüdischen und humanis- bedeutet, schreckt das viele Bürger ab.
SPIEGEL: Woraus speist sich Ihr Opti- tischen Wurzeln. SPIEGEL: Heißt das, Sie geben die absolute
mismus? Als die Essener Tafel beschlossen SPIEGEL: Was ist der Nutzen dieser Debat- Mehrheit als Wahlziel auf?
hatte, vorübergehend keine Ausländer te? Praktisch folgt aus Ihrer Position nichts. Söder: Das heißt, ich beschäftige mich jetzt
mehr aufzunehmen, hat Angela Merkel Söder: Doch, zum Beispiel, dass wir an nicht mit dem Ergebnis einer Wahl, die erst
das kritisiert. Ihr Landesgruppenchef Ale- den christlichen Feiertagen festhalten und im Herbst ansteht. Für uns ist aber klar: Wir
xander Dobrindt kritisierte daraufhin die keine islamischen Feiertage einführen wol- wollen keine Berliner Verhältnisse in Bayern.
len. Wir wollen in bayerischen Behörden SPIEGEL: Sie haben sich als Ziel gesetzt,
Das Gespräch führten die Redakteure Jan Friedmann, lieber Kreuze aufhängen, statt sie abzu- die AfD klein zu halten. In den letzten
Ralf Neukirch und René Pfister. hängen. Statt den Unterricht über den Is- Umfragen sind die Werte der CSU wieder
39
Söder: In Bayern liegt die Herausforde-
rung jedenfalls nicht links der Mitte. Die
Aufgabe ist die Bündelung des bürger-
lichen Lagers. Mein erklärtes Ziel ist es, li-
beral-konservative Politik zu machen, um
Jetzt im alle bürgerlichen Wähler wieder bei uns
zu versammeln.
Handel SPIEGEL: Braucht Deutschland, braucht
Bayern eine »konservative Revolution«,
wie Ihr Parteifreund Alexander Dobrindt
sie fordert?
Söder: Man braucht ein klares Bekenntnis
und eine klare Haltung. Das Problem ist
nicht, dass man in der Politik Kompromis-
se schließen muss, sondern dass viele Bür-
ger nicht mehr wissen, wie die Grundpo-
sitionen der Parteien sind. Erst kommt Hal-
tung, dann Handlung.
SPIEGEL: Sie haben eine Amtszeitbegren-
zung für den bayerischen Ministerpräsi-
denten gefordert. Wäre eine solche Rege-
lung auch im Bund sinnvoll?
Söder: Ich bin sicher, dass eine Amtszeit-
begrenzung in der Politik enorme demo-
kratische Kräfte freisetzt. Ich glaube auch,
dass man als Politiker unabhängiger ist,
wenn man sich mehr um die Sache küm-
mern kann als um die Frage, wie es mit ei-
nem selber weitergeht. Wir werden eine
entsprechende Verfassungsänderung im
Bayerischen Landtag einbringen. Dann
könnte eine Begrenzung der Amtszeit des
Ministerpräsidenten auf zwei Legislatur-
perioden am 14. Oktober zeitgleich mit
der Landtagswahl per Volksentscheid be-
schlossen werden.
SPIEGEL: Was für Bayern gut ist, müsste
doch auch für den Bund gut sein.
Söder: Dies gilt für Bayern. Wie andere
das halten wollen, müssen sie selber ent-
scheiden. Aber ich halte es für ein starkes
politisches Signal.
SPIEGEL: Sie waren immer ein Gegner der
Ämtertrennung. Nun sind Sie Ministerprä-
sident, aber wollen angeblich nicht mehr
Parteichef werden. Warum?
Söder: Die CSU hat eine sehr gute Auf-
stellung. Wir sind die einzige Partei, die
www.spiegel-geschichte.de nach der Bundestagswahl eine klare Ent-
scheidung getroffen hat: Kontinuität und
Erfahrung in Berlin, Erneuerung und Auf-
bruch in Bayern. Das funktioniert. Wir
spielen Doppelpass. Ich konzentriere mich
auf Bayern.
SPIEGEL: Und sobald Horst Seehofer zu-
rücktritt, würden Sie nicht ausschließen,
dass …
Söder: Ich will nicht Parteivorsitzender
werden.
SPIEGEL: Also auch dann nicht, wenn See-
hofer im kommenden Jahr nicht mehr an-
Weitere Themen: treten will?
Söder: Wir haben einen Parteivorsitzenden,
Manifest Die ersten Kommunisten und er hat er meine volle Rückendeckung.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir dan-
ken Ihnen für dieses Gespräch.
Revolution Russland wird sowjetisch
Hoffnung Der Traum vom besseren System 40
Deutschland
»Grob
Die Episode um die Shisha-Bar findet im Nachhinein gekürzt worden war und
sich in einem 188 Seiten langen Dokument Amri so kein gewerbs- und bandenmäßi-
zu Amri, der später auf der Flucht in Ita- ger Drogenhandel vorzuwerfen war.
lückenhaft«
lien erschossen wurde. Den vertraulichen Die Taskforce stellt nun fest, dass das
Bericht hat eine interne Taskforce namens »Vorenthalten des großen Berichts« durch
»Lupe« erstellt, die der Berliner Polizei- die Beamten ein grober Fehler war; die
präsident im Mai eingesetzt hatte. 14 Be- Staatsanwaltschaft erreichte diese Lang-
Terrorismus Ein vertraulicher amte würden »jeden Stein und jedes Blatt fassung nie. In ihrer Untersuchung kommt
Papier umdrehen und jede Datei sichten«, die Taskforce auch zu dem Ergebnis, dass
Bericht stellt 254 Mängel hatte der Berliner Innenstaatssekretär Amri eine Zeit lang tatsächlich einer
im Umgang mit Anis Amri fest – Torsten Akmann (SPD) versprochen. Dealerbande angehörte.
und bezichtigt die Berliner Die Beamten durchleuchteten alle Er- Auch bei der Überwachung gab es gro-
mittlungsschritte, in mehr als 31 000 Ar- be Schlampereien. In 590 der abgehörten
Polizei vieler schwerer Fehler. beitsstunden. Das Ergebnis ist ein Armuts- Telefongespräche sei von strafbaren Hand-
zeugnis für die verantwortlichen Fahnder. lungen die Rede gewesen, fanden die
LUTZ ROESSLER
Weißer-Ring-Chef Hardt (mit Schild) bei einem Fackelumzug 2013 in Lübeck: Frauen in Reizwäsche
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nde Oktober? Anfang November? Auf dem Revier, sagt Diana M., sei der M., auf einem Lübecker Polizeirevier eine
So genau weiß sie das nicht mehr, Polizist aber nur rot angelaufen. Dann Anzeige gegen Hardt zu erstatten. Was an
nur dass es 2016 war, im Herbst, habe er ihr geraten, besser keine Anzeige der Episode dran ist, prüft nun die Staats-
als sie in Lübeck zur Polizei mus- zu machen. Wenn stimme, was sie da er- anwaltschaft – weil die Sache auf dem Re-
ste. Diana M. hatte einen Termin auf dem zähle, dann sei das doch eine Sache unter vier offenbar nicht aufgenommen wurde.
Zweiten Revier. Es hatte eine Schießerei vier Augen gewesen, da stehe Aussage ge- In diesen vier Wochen ist der Landes-
gegeben, auf der Straße, sie hatte das von gen Aussage, da werde Hardt sie mögli- chef des Weißen Rings zurückgetreten, Ex-
ihrem Fenster aus gesehen. cherweise sogar wegen Verleumdung ver- Justizminister Uwe Döring. Es gab eine
Aber weil sie sowieso gerade bei der klagen. Und so bekannt, wie der in Lübeck Sondersitzung im Landtag, das Landeskri-
Polizei als Zeugin aussagte, erzählte sie sei, der Ex-Polizist, Ex-Sprecher der Poli- minalamt hat die Ermittlungen aufgenom-
noch eine andere Geschichte – ihre eigene. zei, gebe das auch einen Riesenrummel. men, der Innenminister Hans-Joachim
Dass sie ein paar Monate zuvor beim Sie solle deshalb besser zum Frauennotruf Grote (CDU) will wissen, wer versagt hat.
Weißen Ring in Lübeck saß, in der Bera- Lübeck gehen, da kenne man sich mit sol- Auch in seinem Ministerium, in dem im
tungsstunde für Opfer von Straftaten, und chen Dingen aus. Juli 2017 eine Alarm-Mail zum Fall Hardt
dann habe der Chef plötzlich seine Hose Aber auch dort, so weiß man heute, versandete. Vier Wochen Lübeck – Zeit
aufgemacht, ihr seinen Penis vors Gesicht brachte man sie von einer Anzeige ab. Ein für eine kritische Zwischenbilanz.
gehalten und gefragt, ob sie sich mal frei- Wortlautprotokoll von Diana M. mit all
mache. Ihre Brüste, und auch weiter unten. den Vorwürfen ließen die Frauenschütze- Die Anständigen
Das will Diana M. also schon 2016 der rinnen monatelang herumliegen. Gut 20 Frauen haben sich inzwischen auf
Polizei gemeldet haben. Ganz offiziell. Lübeck und kein Ende: Vor vier Wochen einer Notfallnummer beim Weißen Ring
Fast anderthalb Jahre bevor jetzt im März haben SPIEGEL und »Lübecker Nachrich- gemeldet, weil Hardt sie belästigt haben
herauskam, dass der Mann vom Weißen ten« aufgedeckt, was viele in der Stadt ver- soll. Es gehört nicht viel Fantasie dazu,
Ring immer wieder Frauen sexuell be- tuschen wollten: dass beim Weißen Ring sich vorzustellen, wie schwer ein Telefon-
drängt haben soll. Und noch etwas wollte Opfer von Verbrechen offenbar noch ein- hörer werden kann, den sie dafür in die
Diana M. damals angeblich auf der Wache mal zu Opfern wurden. Seitdem werden Hand nehmen mussten. Die Frauen stellen
an der Hansestraße: Anzeige gegen jenen immer neue Vorwürfe und Details bekannt. sich ihren Erinnerungen, liefern sich er-
Detlef Hardt erstatten. So wie der gescheiterte Versuch der Diana neut der Ohnmacht aus, die sie erlebt ha-
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ben. Und müssen sich später noch auf die bringen. Sie ermutigen Frauen, Anzeige Rede davon, dass offenbar Frauen sexuell
Frage gefasst machen, warum man ihnen zu erstatten, mit Journalisten zu reden. bedrängt wurden, nur von irgendwelchen
überhaupt glauben soll, sie hätten das alles Die Helfer schauen zurück, sie kauen »Grenzüberschreitungen«.
doch schon früher sagen können. seit vier Wochen darauf herum, was sie Döring sagt, er habe auch bereits im
Auch Renate Schaller* hat über Jahre hätten ahnen können. Mit dem Wissen Juli 2017 den Bundesverband ins Bild ge-
gezögert, gehadert, mit sich gerungen – von heute erkennen sie Verhaltensmuster, setzt, gleich nachdem Lübecks Polizeichef
weil sie, die Hartz-IV-Empfängerin, doch Alarmzeichen. Da ist zum Beispiel das die Ablösung von Hardt gefordert hatte.
»gegen ihn nicht ankomme«. Am Karfrei- ältere Ehepaar, damals beim Weißen Ring Es war also kein Alleingang, als sich Dö-
tag hat sie es dann doch getan: Strafan- und mit Hardt befreundet. Vor zehn Jah- ring erst mal um die Wahrheit herum-
zeige erstattet, weil Hardt ihr bei einer ren ein Besuch bei Hardt: Der habe plötz- schlich. Die Zentrale des Weißen Rings
Autofahrt die Hand auf den Oberschenkel lich seinen Laptop aufgeklappt und Fotos stand Pate.
gelegt haben soll. vorgeführt: zwei Frauen, die er offenbar Allerdings hat sich die Bundesvorsitzen-
Ob das juristisch viel bringt, ist fraglich. gut kannte, in Reizwäsche und erotischer de, Roswitha Müller-Piepenkötter, inzwi-
Der Übergriff soll 2014 gewesen sein. Erst Pose. Und das zeigte er angeblich einfach schen so demütig für die Presse-Handrei-
seit der Gesetzgeber das Sexualstrafrecht so, bei einem Glas Wein, als wäre es das chung entschuldigt, wie man das sonst nur
im November 2016 novelliert hat, könnte Normalste der Welt. von japanischen Firmenchefs kennt, nach
so eine Hand auf dem Bein als sexuelle Das fand das Ehepaar damals verstörend; selbst verschuldeten Atomkatastrophen.
Belästigung gelten. Aber selbst dann: Wie 2012 trat es aus dem Weißen Ring aus, weil Die Formulierung sei »gerade aus Sicht
sollte das Strafgesetzbuch die Ängste er- Hardt den beiden nicht mehr geheuer war. der Opfer eine schwer erträgliche Ver-
messen, die bei Schaller wieder aufbra- Heute fragt sich das Paar, ob es nicht etwas harmlosung« gewesen, »die wir zutiefst
chen? Bei einer Frau, die sich als Opfer gegen ihn hätte unternehmen müssen. bedauern«.
einer brutalen Vergewaltigung dem Wei- Hardt will zu der Geschichte mit den Fotos Das reicht nicht jedem: Eine Frau – auch
ßen Ring anvertraut hatte? nichts sagen, außer: alles lange her. sie erlebte Hardt als aufdringlich – schrieb
20 Anzeigen liegen inzwischen bei der dem SPIEGEL dazu, »nichts und niemand
Staatsanwaltschaft Lübeck, in 10 Fällen Die Geläuterten wird mich dazu bringen, mich in diesem
hat sie Ermittlungen aufgenommen. Bei Der Weiße Ring hat versagt, nicht nur in Leben an den Weißen Ring wieder zu wen-
älteren, aus der Zeit vor der Novelle, mag Lübeck, sondern auch in der Mainzer Zen- den«. Der Weiße Ring »zieht jetzt eine rie-
am Ende immer noch eine Nötigung übrig trale, aber immerhin gibt er heute zu, dass sige Show ab, um sein Image aufzupolie-
bleiben; der Vorwurf, Hardt habe von er versagt hat. ren. Ohne mich!«
Frauen verlangt, sich anfassen zu lassen, Auch der Landesvorsitzende Uwe Dö- Andererseits kann sich der Weiße Ring
sonst werde er nicht helfen. Schallers Fall ring hat versucht, die Affäre still abzuwi- zugutehalten, dass er heute tut, was nötig
könnte dagegen in der Ablage enden. Kein ckeln, gesichtswahrend für Hardt, für den ist: sich ganz auf die Seite der Opfer zu
Anfangsverdacht auf eine Straftat. Weißen Ring, für sich selbst. Aber Döring stellen. Der Verein hat versprochen, die
Und trotzdem: Ihre Anzeige ist ein ist dann schnell zurückgetreten, statt sich Anwaltskosten für alle Frauen zu über-
Statement, der Versuch, ihre Stimme zu- an seinen Posten zu klammern. nehmen, falls Hardt gegen sie klagen soll-
rückzugewinnen. Ihr Selbstbewusstsein Und die Polizei in Lübeck: Sie hatte te. Das war wichtig, weil Hardt gerade
und ihre Courage. Die Courage braucht schon länger, zu lange Hinweise, dass Frauen zu nahe gerückt sein soll, die kaum
sie noch aus einem anderen Grund: Schon Hardt der falsche Mann in seinem Amt Geld haben, sich keinen Anwalt leisten
bevor die ersten Berichte erschienen, hatte war. Aber im Sommer 2017 hat Polizeichef können.
Hardt Strafanzeige gegen unbekannt er- Norbert Trabs verlangt, dass der Weiße Müller-Piepenkötter hat außerdem öf-
stattet. Wegen falscher Verdächtigung, Ring ihn ablöst. Trabs hat das Innenminis- fentlich mit den richtigen drei Wörtern
übler Nachrede, Verleumdung. Wer sich terium informiert. Und er hat sich, als der um Verzeihung gebeten: »Ich schäme
danach noch traute, Hardt zu belasten, der Fall jetzt an die Öffentlichkeit kam, nicht mich.« So, wie der Weiße Ring in den vier
wusste, dass er es mit dem Staatsanwalt hinter dem Dienstgeheimnis oder sonst Wochen aufgetreten ist, hat er sich eine
zu tun bekommen könnte. etwas Kleingedrucktem verschanzt, son- Chance verdient. Schon deshalb, weil es
Auch deshalb fällt es Frauen schwer zu dern weitgehend transparent erklärt, wer sonst niemanden gibt, der seine Arbeit
reden. Offenbar gab es nie Zeugen, immer was bei der Polizei wusste. macht.
nur Vieraugensituationen, darauf baut Das geschieht sicherlich auch aus Selbst-
auch Hardts Verteidigungslinie, die Frauen schutz – wer mag schon mit einem klebri- Die anderen
würden lügen, er allein sage die Wahrheit. gen Ex-Kollegen untergehen? Aber zu spü- Beim Frauennotruf Lübeck ist es um-
Sie steht und fällt aber damit, wie viele ren ist auch ehrlicher Ekel, dass ein Mann gekehrt. Der Verein, alimentiert von Stadt
Frauen ihn belasten. Je mehr das tun, des- sein Ehrenamt ausgenutzt haben soll. Eine und Land, hatte noch im Januar den Wei-
to schwieriger für ihn. Darum geht es auch tief sitzende Empörung, dass Hardt an- ßen Ring mit einem Brief unter Druck ge-
Schaller, dafür riskiert sie, dass Hardt sie scheinend nicht nur die gute Sache ver- setzt, das Tuch des Schweigens wenigstens
verklagt. Jede Anzeige zählt. Damit man raten hat, sondern auch alle, die ihn unter- ein Zipfelchen zu lupfen. Das Ergebnis war
ihnen glaubt, den Frauen, nicht dem mut- stützten. Die Polizei gehörte in Lübeck die verdruckste Presse-Handreichung.
maßlichen Täter. immer zu den größten Freunden und Hel- Aber seit der Fall Hardt in allen Zeitun-
Zu den Anständigen gehören auch fern des Weißen Rings. gen steht, gehören die Frauenschützerin-
weiterhin die mehr als 3000 Ehrenamt- Die Zentrale des Vereins in Mainz muss nen zu den Wegduckern. Sie verteidigen
lichen des Weißen Rings, die in ihrer Frei- jetzt nicht nur die Scherben des Landes- sich in einem Ton, als wäre jede Kritik an
zeit Menschen in Not helfen. Nun haften verbands aufkehren, sondern auch die ihnen ein Angriff auf die Würde der Frau.
sie mit ihrem Ruf für das, was in Lübeck eigenen. Die Bundesspitze gehörte an- Zwei mutmaßliche Hardt-Opfer werfen der
passiert ist – und für das, was dort ver- fangs selbst zu den Vertuschern. Sie hatte Beratungsstelle vor, ihnen eine Strafanzei-
säumt wurde. Es ist berührend, was eini- dem Landesvorsitzenden Döring aufge- ge gegen Hardt ausgeredet zu haben. Der
ge von ihnen tun, um alles ans Licht zu schrieben, was er sagen sollte, nach der erste Fall reicht ins Jahr 2011 zurück, Hardt
Trennung von Hardt im November. Eine soll einer Frau zwischen die Oberschenkel
* Name geändert. »Presse-Handreichung«. Da war keine gefasst haben – was er bestreitet. Der Frau-
lassen, er sei hier doch in Wahrheit das nahmen. R. hatte Geld, obwohl nicht ganz
Opfer. Ein Opfer der #MeToo-Bewegung. klar ist, ob es aus dem vermögenden El-
Das Opfer einer Kampagne. Alle gegen ternhaus stammte oder selbst verdient war.
einen, alle gegen ihn. Nur warum, das hat In seinen Aufzeichnungen schreibt er von
er bisher noch nicht erklärt. seinem Porsche. Nach seinem Tod fanden
Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
die Ermittler fünf Autos, darunter einen
Gunther Latsch, Jörg Schmitt Attentäter Jens R. VW-Campingbus Modell California, einen
Utensilien wie für einen Terroranschlag Geländewagen der Marke Land Rover und
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ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES
Tatort in Münster: »Lösung meiner psychischen Blockade«
einen Alfa Romeo Spider Oldtimer – ein Zwei Tage nach der Tat will der Vater ihnen, waren dafür nicht gegeben. In dem
Sammlerobjekt im Schrottzustand. In von Jens R. keine Besucher ins Haus las- Dokument, das bei der Polizei landete,
Münster besaß er zwei Wohnungen, in Pir- sen. Doch er spricht durch die Gegen- drohte er nicht explizit mit Selbstmord.
na und in Heidenau hatte er je eine Woh- sprechanlage an der Tür. Sein Sohn habe Dass er auch andere töten könnte, lässt
nung gemietet. eine schwere Nervenkrankheit mit Be- sich anhand des Schreibens nicht erahnen.
Der Erfolg im Beruf hielt nicht lange. wusstseinsstörungen gehabt. »Ich habe In den Tagen vor seiner Tat, so viel wis-
Schon eine Steuererklärung überforderte ihm noch angeboten, dass wir zusammen sen die Ermittler jetzt, hielt sich Jens R.
ihn. Dazu kamen Zahlungsrückstände von zu einer Psychologin gehen, er sagte: Nein, an seinem Zweitwohnsitz in Ostdeutsch-
Kunden und Steuervorauszahlungen. R. die Psychologin will das nicht«, sagt er. land auf. Und er war in Berlin, um dort
verdiente sein Geld auf einem Markt, auf »Aber die Wahrheit ist: Er wollte das Anzeige gegen jenen Arzt zu erstatten, der
dem es viele selbstständige Designer gibt, nicht.« ihn am Rücken operiert hatte.
die einander im Ringen um Referenzen Jens R. hat die Dokumente mit den Vor- Am Samstag dann ging um 15.27 Uhr
und Auftraggeber mit Dumpingpreisen würfen nicht an seine Eltern geschickt. der erste Notruf bei der Polizei ein. Der
ruinieren. Es ist ein Geschäft, in dem die Aber natürlich wissen sie inzwischen da- erste Streifenwagen war bereits eine Minu-
Großkunden ihre Dienstleister dominieren von. »Das Gegenteil davon ist die Wahr- te später vor Ort. Die Beamten, die zuerst
und bisweilen ausnutzen, Rechnungen ver- heit, wir sind im Dorf bekannt«, sagt Vater den Platz vor der Gaststätte »Großer Kie-
spätet oder nur teilweise zahlen – oder gar R. mit brüchiger Stimme. »Hier weiß jeder, penkerl« erreichten, hörten Schreie, sahen
nicht, wie Jens R. es einem seiner Auftrag- dass das, was er in den Briefen behauptet, Tote und Verletzte. Ein zufällig anwesen-
geber vorwarf. Geldsorgen plagten ihn. niemals passiert ist.« der Notarzt versuchte noch, Jens R. wie-
Auch seine Gesundheit verschlechterte Fest steht, dass Jens R. die 62-seitige derzubeleben.
sich. Nach einem Sturz im Treppenhaus Lebensbilanz im März an Bekannte ver- Doch R. hatte sich mit einer Pistole in
wurde R. am Rücken operiert. Er musste sandte. Er verschickte auch eine Kurzform den Kopf geschossen. Sein Wagen war an
Schmerzmittel nehmen, spürte Teile sei- davon, Röntgenbilder seines Rückens und Metallstangen vor einem Baum zum Ste-
nes Gesäßes nicht mehr und fürchtete Angaben über jene Menschen, die ihm aus hen gekommen. Vom vorderen Teil des
zu stürzen, wenn ihm seine Zehen den seiner Sicht übel mitgespielt hatten. VW führten Drähte nach hinten. Dort be-
Dienst versagten. Er sei stuhl- und harnin- Eines dieser Dokumente landete am fanden sich zwei Kilogramm Polenböller,
kontinent. Zugleich behauptete er, den 29. März um 12.11 Uhr bei der Polizei. 40 richtig verdrahtet, hätte diese Mischung
»Darm mehrfach am Tag mit einem Hand- Minuten später traf eine Streife an seiner eine erhebliche Explosion ausgelöst.
schuh manuell entleeren« zu müssen. Er Wohnung ein, doch R. war nicht zu Hause. Es war wie in seiner Wohnung: R. hielt
habe die Wahl, sich erneut operieren zu Auch an seinem Zweitwohnsitz in Ost- potenziell todbringende Waffen bereit,
lassen, sich danach nicht mehr bücken zu deutschland war er nicht anzutreffen. aber er stellte sie nicht scharf. Der Mann
können. Hätte die Polizei an diesem Tag mit aus Münster war kein islamistischer Ter-
In psychologische oder psychiatrische einem größeren Einsatz das Drama ver- rorist, sondern psychisch krank.
Behandlung, so der Stand der Ermittler, hindern können? Die Ermittler fragen sich Doch auch er riss in seiner Verzweiflung
begab Jens R. sich nie. Stattdessen driftete das bis heute. Sie schrieben Jens R. nicht zwei Menschen mit in den Tod.
er wohl ab. In seinen Aufzeichnungen zur Fahndung aus und versuchten ebenso Jörg Diehl, Lukas Eberle, Peter Maxwill,
spricht er dagegen von der »Lösung mei- wenig, ihn in Gewahrsam zu nehmen. Die Fidelius Schmid
ner psychischen Blockade«. rechtlichen Voraussetzungen, so schien es
Der Jahrhundertmörder
Kriminalität Der Krankenpfleger Niels Högel tötete mehr Menschen als alle anderen Serientäter
in der Bundesrepublik. Wer ist dieser Mann, der wegen 97-fachen Mordes angeklagt ist?
»Er arbeitete umsichtig, gewissenhaft ein »Podest«, wie er sagt. Es gab ihm ein 2005, immer und immer wieder tötete?
und selbstständig. In kritischen »gutes Gefühl«. Der selbst vor einem Freund nicht halt-
Situationen handelte er überlegt und Viele Menschen mussten für sein »gutes machte und ihn offenbar nach einem Ver-
sachlich richtig.« Gefühl« sterben. Nicht nur in Delmen- kehrsunfall beinahe ins Jenseits spritzte?
Zeugnis, Klinikum Oldenburg, 2002 horst. Irgendwann räumt Högel ein, dass Sogar in seiner allerletzten Spätschicht
er schon in Oldenburg getötet hatte. Dort tötete Högel wohl noch, dabei hatte ihn
N
hatte er in den Städtischen Kliniken gear- eine Schwester zuvor erwischt. Renate R.,
iels Högel will auspacken. Zehn beitet, bevor er nach Delmenhorst kam. 67, starb am 24. Juni 2005 um 19.05 Uhr.
Jahre und elf Monate lang haben An mehr als 30 seiner Opfer kann er Ärzte und stellvertretende Pflegedienst-
die Ermittler auf diesen Tag ge- sich in der Vernehmung erinnern. An Hero leitung hatten Högel diese eine Schicht
wartet. Sie haben große Schau- van S. zum Beispiel, der im ersten Nacht- weiterarbeiten lassen, da er danach ohne-
bilder vorbereitet: Patientendaten, Befun- dienst starb, nachdem Högels Tochter zur hin in Urlaub ging. Sie hatten darauf ver-
de, Todeszeiten, die Dienste des Kranken- Welt gekommen war. Er habe die »Eupho- zichtet, ihn zu suspendieren, wohl um Auf-
pflegers. Die Notizen sollen Högel helfen, rie« nach der Geburt aufrechterhalten wol- sehen zu vermeiden.
sich an die einzelnen Morde zu erinnern. len, sagt Högel, diese »Hochstimmung«, Es stellen sich also auch Fragen nach
So viele sind es, dass es schwerfällt, den dieses »Glücklichsein«. Dem 84-Jährigen der Mitschuld der Krankenhäuser, der Ärz-
Überblick zu behalten. spritzte er das Medikament Gilurytmal, te, Krankenschwestern und -pfleger. Es
Zwei Kameras zeichnen die Verneh- der Wirkstoff Ajmalin führte zu Herz- gab viele Indizien und Verdachtsmomente.
mung in der Polizeiinspektion Oldenburg kammerflimmern. Der Kreislauf von Hero Aber niemand rief die Polizei. Auf den In-
auf, eine für die Nahaufnahme, die andere van S. kollabierte. Högel versuchte, den tensivstationen in Oldenburg und Delmen-
für die Totale. Im Raum nebenan sitzen schwer kranken Mann zu reanimieren. horst machten die Kollegen makabre
ein medizinischer Gutachter und Beamte Ohne Erfolg. Er starb um 1.32 Uhr. Danach Scherze über den »Todes-Högel«, weil im-
der Sonderkommission »Kardio« vor ei- fuhr Högel zu seiner Frau und dem Neu- mer wieder Patienten starben, wenn er
nem Bildschirm, um auf Ungereimtheiten geborenen nach Hause. Dienst hatte. Laut einer Zeugin hieß es auf
und Widersprüche zu achten. Es habe ein neues Leben begonnen, und der Station: »Da kommen Niels und sein
Um zehn Uhr führt ein Justizbeamter er habe ein Leben beendet, sinniert der schwarzer Schatten« oder »Niels und der
Högel herein und nimmt ihm die Hand- Soko-Chef Schmidt. Eine größere Kluft Sensenmann«.
schellen ab. Högel trägt ein dunkles Hemd könne es nicht geben. »Natürlich nicht«, Wegen des Vorwurfs »Totschlag durch
und weiße Turnschuhe, die schwarzen antwortet Högel. Aber so »tiefgründig« Unterlassen« werden sich im Anschluss an
Haare sind kurz geschnitten. Er setzt sich habe er nicht gedacht. Darum sei es ihm den Högel-Prozess zwei Ärzte und zwei
neben seine Anwältin an einen runden auch nicht gegangen. leitende Pflegekräfte aus Högels Delmen-
Tisch. »Alles, was ich sagen kann, werde horster Zeit vor Gericht verantworten
ich sagen«, verspricht er. Soko-Chef Arne Die Ermittler vernehmen Högel sechs müssen. Zudem wird gegen zwei damals
Schmidt und Oberstaatsanwältin Daniela Tage lang, insgesamt 30 Stunden. Am Ende verantwortliche Ärzte und den ehema-
Schiereck-Bohlmann bieten ihm Wasser kommen sie auf eine ungeheuerliche Zahl: ligen Geschäftsführer des Klinikums in
und Kaffee an. Der Ton ist freundlich. 103. So viele Taten glauben sie dem Kran- Oldenburg ermittelt. Die Mordserie des
So beginnt am 25. Mai 2016 ein Verhör, kenhausmörder sicher zuordnen zu können. Krankenpflegers wird die Justiz wohl noch
an dessen Ende das Geständnis eines Jahr- Der Todespfleger aus Niedersachsen lösch- Jahre beschäftigen.
hundertmörders stehen wird. te demnach mehr Menschenleben aus als Niels Högel kehrt nach seinem Ge-
Högel spricht zögerlich mit ruhiger, tie- jeder bekannte Serienmörder in der Ge- ständnis in seine Zelle auf Station B3 der
fer Stimme. Er beginnt Sätze, unterbricht schichte der Bundesrepublik Deutschland. Justizvollzugsanstalt Oldenburg zurück:
sich, überlegt, spricht weiter. »Das zu ak- Ab Herbst muss sich Högel, heute 41 Jah- 9,9 Quadratmeter, Holzmöbel, Flachbild-
zeptieren, dass das also wirklich vielfach, re alt, vor Gericht verantworten. Damit die fernseher, nicht brennbarer Vorhang, se-
also meistens auf meine Kappe geht«, das Angehörigen seiner vielen Opfer Platz fin- parates WC.
sei so »weit weg von einem selber«. den, wird nicht in einem Gerichtssaal ver- Die grüne Stahltür öffnet sich jeden
Anfangs räumt der Krankenpfleger nur handelt, sondern in den Weser-Ems-Hallen, Morgen um sechs Uhr zur »Lebendkon-
ein, einigen Patienten auf der Intensivsta- wo sonst Stars wie Vanessa Mai auftreten. trolle«. Högel muss sich durch Rufen oder
tion des Klinikums Delmenhorst, das heu- 120 Nebenkläger mit 17 Anwälten haben Winken bemerkbar machen, damit die
te Josef-Hospital heißt, tödlich wirkende sich zu dem Prozess angekündigt. Vollzugsbeamten wissen, dass er lebt. Du-
Mittel gespritzt zu haben. Er tut das, was Die Staatsanwälte werfen Högel vor, schen, Frühstück, Arbeiten in der Werk-
er jahrelang getan hat: zugeben, was sich 97 Menschen heimtückisch und aus nie- statt, eine Stunde Hofgang. Um 20 Uhr
nicht mehr leugnen lässt, alles andere ab- drigen Beweggründen getötet zu haben; schließt sich die Stahltür wieder hinter
streiten. Doch nach und nach bricht er sein wegen sechs Taten ist er bereits zu einer dem Häftling. Das ist der Tagesablauf.
Schweigen. lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die An den Alltag hinter Gittern gewöhnte
Er erzählt, wie er sich immer wieder in Akten der Ermittler, die Untersuchungen sich der Krankenpfleger, der inzwischen
die Zimmer von Patienten geschlichen der Mediziner, die Aussagen der Zeugen seit neun Jahren im Gefängnis sitzt, rasch.
habe, wenn die anderen Schwestern und und die Gutachten zu den Exhumierungen Er besuchte einen »Naikan«-Kurs, eine
Pfleger in der Küche oder im Teeraum füllen Regalwände. Die Beamten der Soko japanische Meditationsform zur Selbster-
gesessen hätten. Seine tödliche Routine: haben auf 67 Friedhöfen 134 Leichen aus- kenntnis, belegte vier Seminare in Musik-
Alarm ausschalten, Herzmittel spritzen gegraben, sogar in Polen und in der Türkei meditation und zwei Schriftsteller-Lehr-
und schnell raus, »in eine ganz andere ließ die Staatsanwaltschaft verstorbene gänge.
Ecke oder Gegend« der Station. Wenn Patienten exhumieren. Rechtsmediziner Ex-Gefangene erzählen, Högel sei be-
ein Herz aufhörte zu schlagen und nach untersuchten die Überreste der Leichen liebt unter den Häftlingen. »Wir haben uns
30 Sekunden der Signalalarm wieder an- auf Spuren von Medikamenten, mit denen kennen- und schätzen gelernt«, sagt Lars
sprang, kam Högel wie zufällig dazu und Högel getötet hatte. T. Er hatte wie Högel Krankenpfleger ge-
übernahm die Reanimation. Darin war er Wer ist dieser Mensch, der fünfeinhalb lernt und saß in Oldenburg eine Strafe
gut. Dafür lobten ihn alle, stellten ihn auf Jahre lang, von Anfang 2000 bis Mitte wegen Internetbetrug ab. T., inzwischen
aus der Haft entlassen, ist so etwas wie Um Strafe geht es jetzt eigentlich nicht Die Reanimationen hätten dem Pfleger
Högels inoffizieller Sprecher. Er besucht mehr. »Wir haben eine Verantwortung einen »Kick« gegeben, weil er sie so gut
ihn im Gefängnis und telefoniert mit ihm. gegenüber jedem einzelnen Opfer«, sagt beherrschte. Die Menschen hinter den
Högel sei durchaus bereit, »sich zu öffnen Arne Schmidt, der Leiter der Soko »Kar- Patienten, die auf der Intensivstation an
und mit Journalisten zu sprechen«, sagt dio«, die inzwischen aufgelöst wurde. Schläuchen und Geräten hingen, habe der
T., aber erst nach dem Mordprozess. Selbst wenn es für Angehörige schwer sei, Angeklagte dabei aus dem Blick verloren,
Anfangs saß Högel nur wegen einer Tat nach zehn Jahren von der Polizei zu hören, trug Karyofilis im Gerichtssaal vor.
im Gefängnis, der aus jener Nacht, als ihn dass ein enger Verwandter mutmaßlich er- Wie man jetzt weiß, erzählte Högel auch
seine Kollegin auf frischer Tat erwischte. mordet worden sei und Gräber hätten ge- dem Gerichtspsychiater nur die halbe
Dieter M., 63, wurde reanimiert und ver- öffnet werden müssen. »Es hilft nichts«, Wahrheit. In krakeliger Handschrift verfass-
starb erst am Folgetag. Högel wurde 2008 sagt Schmidt. »Es geht um die Ermordeten te er im Gefängnis einen Brief an Karyofilis.
wegen »versuchten Mordes« verurteilt und selbst. Sie verdienen Gerechtigkeit.« Ihm sei »klar geworden, dass ich die ganze
musste für siebeneinhalb Jahre ins Gefäng- Zeit über mit einer Riesenlüge gelebt
nis. Dabei war längst klar: Das konnte Niels Högel bestritt die Taten über Jahre habe«, notierte Högel im Juli 2016. »Ich
nicht alles gewesen sein. Angehörige ande- und schwieg vor Gericht. Erst gegen Ende schäme mich sehr.« Es falle ihm immer
rer Opfer forderten weitere Ermittlungen. des zweiten Prozesses, Anfang 2015, ge- schwerer, »mit dieser Last« umzugehen.
Doch es sollte noch Jahre dauern, bis stand er dem Gerichtsgutachter Konstan- »Ich versuche jeden Tag, jeden Abend, mir
der Pfleger erneut vor Gericht stand. tin Karyofilis, häufiger getötet zu haben, Erinnerungen hervorzurufen, aber es ge-
Wegen zweifachen Mordes, zweifachen als ihm vorgeworfen wurde. Högel räumte lingt mir nicht. Am schlimmsten sind die
versuchten Mordes sowie gefährlicher Kör- zunächst rund 30 Todesfälle auf der Inten- Träume. Alle erwarten Aufklärung von mir,
perverletzung verurteilte ihn das Landge- sivstation in Delmenhorst ein, bei denen ich erwarte es ja auch von mir selbst.«
richt Oldenburg im Februar 2015 zu einer er nachgeholfen hatte. Als Karyofilis dem Högel klagt: »Die Menschen denken,
lebenslangen Freiheitsstrafe und stellte die Gericht diese Nachricht mitteilte, war das ich halte aus taktischen Gründen alles zu-
besondere Schwere der Schuld fest. Ein eine Sensation. Die Ermittlungen standen rück.« Und: »Es tut mir sehr weh, wenn
höheres Strafmaß gibt es nicht. wieder ganz am Anfang. ich lesen muss, ich wäre ein Lügner.« An
die Taten im Klinikum Oldenburg habe er Nach dem Realschulabschluss folgte Hö- Zunächst merkte niemand, dass Högel
wirklich keine Erinnerung gehabt. »Die gel dem Vorbild des Vaters, wurde eben- nachgeholfen hatte, bevor er Patienten ge-
Zeit aus Oldenburg war einfach nicht da.« falls Krankenpfleger. Beim WSC Frisia konnt ins Leben zurückholte. Immer wieder
Ob Karyofilis ihm nicht helfen könne, sich spielte Högel Fußball, im Mittelfeld und aufs Neue: den Schlauch zum Intubieren
zu erinnern. im Sturm. Er »war lustig«, heißt es überall. durch Mund und Kehlkopf bis mitten in die
Vielleicht verrät dieser Brief mehr über Er habe Bier getrunken und eine Freundin Luftröhre einführen, Defibrillator aufsetzen.
Högel, als der Verfasser beabsichtigt. Wäh- gehabt. »Ganz normal halt, ein nettes Stromschlag. Wumm. Noch ein Stromschlag.
rend draußen das Entsetzen groß ist, weil Paar«, sagt einer. Wumm. Irgendwann schlägt das Herz dann
immer mehr Taten bekannt werden, sorgt Wenn man Freunde, Mitschüler und wieder im Takt – oder eben nicht.
sich der Serienmörder im Gefängnis da- Lehrer reden hört, deutete nichts darauf Für einen Körper ist jede Reanimation
rum, er könne für einen Lügner gehalten hin, dass aus dem netten Niels ein Mörder eine Qual, ein letzter brutaler Akt, ihn ins
werden. Mitgefühl für die Opfer und deren werden könnte. Es führt kein Weg von Diesseits zurückzuholen, wenn das Leben
Familien äußert er nicht. dem Högel davor zu dem Högel danach. bereits aufgegeben hat.
Wer in Wilhelmshaven nach Niels Hö- Wenn jemand in Oldenburg in den Kran-
gel fragt, hört Geschichten über einen net- Seinen ersten Mord beging der Kranken- kenakten der Toten nach Auffälligkeiten ge-
ten Jungen. »Es ist mir unbegreiflich, wie pfleger laut den Ermittlungen am 7. Febru- sucht hätte, wären ihm vielleicht die vielen
aus diesem unkomplizierten Schüler ein ar 2000, ein halbes Jahr nach seinem Ar- merkwürdigen Kaliumwerte aufgefallen.
Mörder werden konnte«, sagt Högels ehe- beitsantritt in den Städtischen Kliniken Ol- Auf der Hightech-Intensivstation für Herz-
maliger Lehrer Atto Ide. Sechs Jahre lang denburg. Zuerst verabreichte Högel seiner patienten wurden die Blutwerte fortlaufend
begleitete Ide den Jungen auf der IGS Wil- Patientin eine Spritze mit dem Wirkstoff gemessen und dokumentiert. Wohldosiert
helmshaven, einer der ersten Integrierten Lidocain, dann reanimierte er sie. Andert- lässt Kalium das Herz im Rhythmus schla-
Gesamtschulen Niedersachsens. halb Stunden später starb Elisabeth S., gen. Eine Überdosis kann zu einem Herz-
Högels Eltern hatten sich für das beson- eine herzkranke Frau von 77 Jahren, auf stillstand führen. Högel manipulierte den
dere pädagogische Konzept entschieden: der herzchirurgischen Intensivstation. Kaliumspiegel.
ein individueller Lernweg, der sich nach Die Station ist mit Türen aus Milchglas Einige Patienten der Kardio-Intensivsta-
der Entwicklung des einzelnen Schülers verschlossen, Besucher müssen auf einen tion reanimierte er laut den Ermittlungen
richtet. Bis zum Ende der achten Klasse Klingelknopf drücken. Man geht durch der Polizei nicht nur einmal, sondern
erhielten die Schüler damals Lernentwick- einen Vorraum, dann einen Gang an der mehrmals. Bei der Herzpatientin Ursula
lungsberichte, erst dann Zeugnisse mit Zentrale der Station vorbei, bis man in J. löste er am 28. Februar 2001 einen Kol-
Zensuren. Der Lehrer erinnert sich genau einen langen, schmalen Raum gelangt. laps aus, um sie danach wiederzubeleben.
an den schlanken und sportlichen Jungen, Hier finden beim Schichtwechsel die Am 2. März wiederholte der Pfleger die
der mit seinem dunklen, lockigen Haar Übergaben statt, hier saß Niels Högel mit Tortur. Als Högel Anfang März 2001 ein
»irgendwie niedlich« aussah, »ganz anders, seinen Kollegen zusammen. Schwestern weiteres Mal an ihr Bett kam, spritzte er
als er sich vor Gericht darstellte«. und Pfleger berichten von ihren Patienten. ihr Gilurytmal. Den folgenden Kreislauf-
Niels sei weder Außenseiter noch Einzel- Högel sagte oft wenig zu den Kranken, für zusammenbruch überlebte sie trotz
gänger gewesen, habe »immer einen flotten die er verantwortlich war. »Bett eins – al- Wiederbelebungsversuch nicht mehr. In
Spruch auf den Lippen« gehabt, erinnert les okay«, »Bett zwei – ruhige Nacht«. der exhumierten Leiche fanden sich Rück-
sich der Lehrer. »Ich hätte erwartet, dass Die Patienten, erzählen ehemalige Kolle- stände des Wirkstoffs Ajmalin.
jemand, dem Menschenleben nichts wert gen, hätten Högel nicht besonders inte- Mehrere Kollegen schöpften Verdacht.
zu sein scheinen, in der Schule ein auffälli- ressiert. Eine Mitarbeiterin der Intensivstation
ges Kind gewesen sein müsste. Niels sagte der Polizei, sie habe in einer
war das nicht. Ganz und gar nicht.« Nacht, als sechs Patienten zu reani-
Eine Mitschülerin erinnert sich mieren gewesen seien, Högel mit
an den »liebenswerten, lustigen einer Spritze in der Hand am Bett
Kerl«, der durch seine dunklen, bu- eines Patienten getroffen. Auf die
schigen Augenbrauen aus der Masse Frage, welches Medikament er ver-
der Jungen herausstach. »Einige abreichen wolle, habe er geantwor-
Mädchen waren in Niels verliebt«, tet: »Xylocain.« Ein Mittel, mit dem
auch sie habe eine Zeit lang für ihn er laut Anklage immer wieder tötete.
geschwärmt. Eine Krankenschwester, mit der
Eine Geltungssucht, die ihn zu Högel kurzzeitig liiert war, sagte der
der Mordserie getrieben haben soll, Polizei, sie habe ihn nach zwei Vor-
sei damals nicht zu erkennen ge- fällen gefragt, ob er irgendetwas ge-
wesen, sagt Wilfried Sippel, der von macht habe. Sie habe ein ungutes
der Fünften bis zur Zehnten Högels Gefühl gehabt und Högel gebeten,
Klassenlehrer war. »Der Junge war von ihren Patienten wegzubleiben.
gut integriert und anerkannt, Jungs Die Aussagen der Klinikmitar-
wie Mädchen mochten ihn.« Ein beiter in Oldenburg gleichen denen
»angenehm unauffälliger Typ« sei aus Delmenhorst, wo Högel im
er gewesen. Högels Eltern – der Va- Anschluss weitermordete. Viele tu-
ter Krankenpfleger, die Mutter schelten, niemand zeigte ihn an.
Rechtsanwaltsgehilfin – habe er als Warum? Högel selbst formuliert es
sehr sympathisch wahrgenommen, in seiner Befragung so: »Weil dieser
sagt der Lehrer, »ich hatte den Ein- Tatvorwurf oder dieses Geschehen
druck, bei Högels herrsche ein ver- so überdimensional ist, so unglaub-
nünftiges, harmonisches Familien- lich, dass keiner das irgendwie den-
verhältnis«. ken wollte.«
W. »Zeitnah« habe sie das Tütchen an Ruhig sitzt er da, ein Mann Ende fünfzig, kümmerte sich Högel rührend um den
ihren Vorgesetzten weitergegeben, sagt die mit hochrotem Kopf und kräftigen Händen. Freund, besuchte ihn im Krankenhaus,
Krankenschwester. Das sei allerdings noch Dann bricht es plötzlich aus ihm heraus. brachte Schokolade mit.
kein Beweis, habe man ihr bedeutet. Wie er damals nach dem Tod seiner Mutter Das verbindet, dachte Corssen später.
Stationsleiter Dirk F. war laut Dienst- den Job verloren und seinen Kummer in Es war klar, dass er Högel nicht im Stich
plänen im Urlaub. Es dauerte 13 Tage, bis Alkohol ertränkt habe, wie sehr sein Sohn lassen würde. Weil der Pfleger keinen Job
die Nachricht bei ihm ankam. Auf der In- gelitten habe, der seine Großmutter geliebt hatte, lieh er ihm 160 Euro und organisier-
tensivstation ging unterdessen das Sterben habe. Während er erzählt, kriecht die Wut te einen Vorstellungstermin als Nachtpor-
weiter: Die 76-jährige Irmgard P. starb am in ihm hoch. Auf Högel und auf die Mitar- tier in einem Delmenhorster Hotel. Doch
22. Mai. Walter M., 67, folgte drei Tage beiter im Krankenhaus. Högel ging nicht hin. »Er fuhr zur Tank-
später. Und am 1. Juni, ein Tag vor seinem »Dann macht der meine Mutter tot, und stelle, kaufte sich eine Flasche Wodka mit
Geburtstag, der 81-jährige Josef Z. die erzählen mir, sie sei an Lungenembolie Cola und ließ sich auf einem Feldweg voll-
So wäre es wohl weitergegangen. Doch gestorben!«, sagt Jürgen R. und ist außer laufen«, erinnert sich Corssen. Es kam
dann kam der 22. Juni 2005. Um 14 Uhr sich. »Was sind das für Menschen? Meine zum Streit. Högel musste ausziehen.
betrat eine Intensivschwester das Kranken- Mutter könnte noch leben, wenn die den Schließlich fuhr Corssen seinen Freund
zimmer des Patienten Dieter M., da stand Högel in Delmenhorst nicht so lange ge- nach Wilhelmshaven, wo er bei seinen
Högel am Bett. Er hatte dem Mann gerade deckt hätten!« Eltern wohnen wollte. Unterwegs pumpte
eine Spritze gegeben, einen Perfusor für Jürgen R. will als Nebenkläger zum Pro- Högel ihn noch einmal an. Diesmal
die Medikamentenzufuhr auf null gestellt, zess gegen die Beschuldigten des Delmen- 120 Euro. »Er bat mich, kurz anzuhalten,
den Alarm deaktiviert. Die Kollegin sah horster Krankenhauses gehen. »Ich kann und kaufte sich einen Funkscanner, um
sofort, dass etwas nicht stimmte. meine Mutter zwar nicht wiederholen«, den Polizeifunk abzuhören.«
Ein Assistenzarzt konnte den 63-Jäh- sagt er, »aber ich will, dass die Verantwort- Bis Mai 2009 lebte Högel bei seinen
rigen reanimieren. Dieter M. starb am Fol- lichen bestraft werden. Alle.« Eltern, arbeitete über eine Zeitarbeitsfir-
getag. Es war nicht mehr feststellbar, ob ma im Altenheim, schließlich wurde ein
der Tod auf Högels Manipulation zurück- Im Juli 2005 wurde Högel wegen versuch- zweites Urteil rechtskräftig. Högel musste
ging oder auf sein Krebsleiden. ten Mordes an Dieter M. vorübergehend ins Gefängnis.
Erneut entdeckte ein Kollege leere Gi- festgenommen. Matthias Corssen glaubte Jahre später rief ein Kripobeamter Cors-
lurytmal-Ampullen. Die Krankenschwes- damals noch an Högels Unschuld. Er hatte sen an und erzählte, dass er wohl auch zu
ter alarmierte die Stationsleitung. Eine den Krankenpfleger bei Einsätzen als Ret- den Opfern des Serienmörders gehöre. Die
Blutprobe des Patienten wurde ins Labor tungssanitäter in Ganderkesee kennenge- Soko »Kardio« hatte tausend verdächtige
geschickt. Am nächsten Morgen informier- lernt, wo Högel nebenbei gejobbt hatte. Krankenwageneinsätze von Högel unter-
te die Stationsleitung die beiden ver- Während des ersten Prozesses nahm sucht und war auf Auffälligkeiten gestoßen.
antwortlichen Oberärzte über den Vorfall sich der Fluggerätebauer Corssen hin und Patienten kamen ohne ersichtlichen Grund
und den schweren Verdacht. Man ver- wieder bei Airbus frei, um an den Verhand- intubiert in den Notaufnahmen an, wo es
einbarte, zunächst das Blutergebnis abzu- lungen teilzunehmen. Nach dem Urteil – ihnen schon bald besser ging.
warten. fünf Jahre Haft – ging Högel in Revision Im Fall Corssen stellte ein medizinisches
Am frühen Nachmittag des 24. Juni und wurde aus dem Gefängnis entlassen. Gutachten fest, der plötzliche Zustand mit
fand vor einem OP-Saal in der Delmen- Corssen nahm ihn bei sich auf. »Atemstillstand und Bewusstlosigkeit« sei
horster Klinik eine folgenschwere Be- Corssen erinnert sich gut daran, wie mit dem Verletzungsbild nicht vereinbar.
sprechung statt. In der sogenannten Gyn- Högel abends im Dunkeln in seinem Wohn- »Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-
Schleuse, wo sich die Mediziner desinfi- zimmer saß und James Blunt hörte: »You’re lichkeit« sei Corssens Kollaps durch die
zieren und Operationskleidung anlegen, beautiful«. Dabei habe er eine Zigarette »nicht indizierte Gabe eines Muskelrela-
trafen sich die beiden Oberärzte und die nach der anderen geraucht. »Ihm fehlten xanz zu erklären«.
inzwischen verstorbene stellvertretende seine Familie und seine Tochter, jammerte Von Amts wegen erstattete die Polizei
Pflegedienstleiterin. Auch die Chefärztin er damals«, erzählt Corssen. Während des Strafanzeige gegen Högel wegen »versuch-
war anwesend. Gerichtsverfahrens hatte sich Högels Frau ten Mordes«. Weil der Todespfleger Cors-
Inzwischen lag das Blutergebnis von von ihm getrennt. Mit ihm über die Tat zu sen erfolgreich reanimierte, ist er laut
Dieter M. vor: Gilurytmal positiv. Högel reden sei unmöglich gewesen, das habe er Staatsanwaltschaft von der Tötungsabsicht
hatte dem Patienten ohne medizinischen sofort abgeblockt und beteuert: An den zurückgetreten. Deshalb gehe es nur um
Grund ein gefährliches Herzmittel ge- Anschuldigungen sei nichts dran. den Tatbestand der »gefährlichen Körper-
spritzt und die Geräte manipuliert. Dass Corssen sich dem Krankenpfleger verletzung«. Die ist verjährt.
Oberarzt K. soll in der Besprechung so verbunden fühlte, lag vielleicht auch da- Nur nicht für Corssen: »Zuerst sagten
jedoch vor Verdachtsäußerungen und ran, dass Högel ihm das Leben gerettet hat- alle, da hast du ja Glück gehabt«, sagt er,
Mobbing gewarnt haben. Laut Anklage te – jedenfalls glaubte Corssen das damals. »und ich glaubte das auch.« Doch irgend-
verabredete die Runde, den Kreis der In- In Ganderkesee hatte Corssen im Juni wann seien immer wieder diese Panik-
formierten klein zu halten. Da Högel am 2004 mit seinem Kleinwagen einen schwe- attacken gekommen, wenn er die Sirene
Tag darauf ohnehin in Urlaub gehen wür- ren Zusammenstoß. Högel saß im Kran- eines Notarztwagens gehört habe. Corssen
de, sollte er noch eine letzte Schicht weiter- kenwagen, der zum Unfallort eilte. »Du durchlebte eine schwere psychische Krise,
arbeiten. So geschah es. Und so musste kannst von Glück sagen, dass wir vor Ort begab sich in Behandlung. »Nichts ist
laut Staatsanwaltschaft auch die 67-jährige waren«, soll Högel nachher gesagt haben, mehr so, wie es mal war«, sagt er. Neulich
Rentnerin Renate R. noch sterben. »und nicht irgendwelche Amateure.« hat er sich eine Platzwunde am Kopf nä-
Renate R. sei wegen eines Oberschen- Corssen, der am Kopf verletzt war, be- hen lassen, ohne Betäubung, weil er keine
kelhalsbruchs operiert worden, nachdem kam plötzlich panische Atemnot und ver- Spritzen mehr ertragen kann.
sie zu Hause über eine Blumenvase gestol- lor das Bewusstsein. Högel intubierte ihn, Hubert Gude, Veronika Hackenbroch,
pert sei, sagt ihr Sohn Jürgen R. Dem Ge- bevor ein Rettungshubschrauber ihn in die Julia Jüttner
bäudemanager fällt es schwer, über den Klinik nach Oldenburg flog, wo es ihm Mail: hubert.gude@spiegel.de
Tod seiner Mutter zu sprechen. bald wieder besser ging. In dieser Zeit
* IN FL ATION SBEREIN IGTER WERT DE S DO L L AR VO N 2 011; Q UE L L E N : O URWO RL DI N DATA .O RG, WE LT BAN K , MADDI SO N
1999: 60 Billionen
Früher war alles schlechter
Nº 120: Weltweites Bruttosozialprodukt
1985: 40 Billionen
Nach Berechnungen
von Wirtschafts-
historikern ent- 1967: 20 Billionen
sprach das globale
Bruttosozialprodukt
im Jahr 1000 n. Chr.
einem Wert von
Jahr 0 500 n. Chr. 210 Mrd. Dollar* 1500 1820: 1 Billion
Und es hat Boom gemacht. Die unverschämt simple Kurve das große Reicherwerden, so hat die Ökonomin Deirdre
oben, bekannt geworden unter dem Namen »GDP since Jesus«, McCloskey das genannt, und sie sieht darin schlicht »die Haupter-
zeigt das Bruttosozialprodukt (»GDP«) der Welt seit dem Jahr kenntnis der Wirtschaftsgeschichte«. Dieser einzigartige Fort-
null, also den Wert aller auf Erden produzierten Güter durch die schrittsschub hat so angenehme Dinge mit sich gebracht
Jahrhunderte. Wirtschaftlich betrachtet lief es in den vergange- wie verdoppelte Lebenserwartung, Fußbodenheizung, geringe
nen 2000 Jahren ziemlich lang ziemlich mau. Die Daten der His- Kindersterblichkeit, Espressomaschine, Sozialstaat, Fünffachimp-
toriker zeigen beispielsweise, dass wir, die heutige Weltbevölke- fung und Demokratie. Nicht zufällig erinnert die Kurve aber an
rung, allein in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts eine das Hockeyschläger-Diagramm, das den Anstieg der globalen
höhere Gesamtwirtschaftsleistung zustande gebracht haben als Temperaturen abbildet und wiederum die Haupterkenntnis der
unsere Vorfahren in den ersten 19 Jahrhunderten zusammen- Klimaforschung symbolisiert. Ob die zwei Kurven weiter so ver-
genommen. Auch pro Kopf gerechnet hat der Weltdurchschnitts- laufen werden und ob sie eher zum Wohlstand für alle oder zur
bewohner heute 10- bis 20-mal mehr Kaufkraft als vor 200 Jah- ökologischen Katastrophe führen, das sind die wichtigsten Fra-
ren, als es losging mit dem Wachstum. »The great enrichment«, gen unserer Zeit. guido.mingels@spiegel.de
Edamame sowie verschiedene Flavors, haben immer ihr Smart- Hawaiianer essen.
also Soßen, und Toppings wie Macadamia- phone auf dem Tisch liegen SPIEGEL: Was essen Ha-
nüsse oder auch Premium-Toppings wie und machen Bilder von waiianer eigentlich sonst
Kimchi, Avocado oder Quinoa. Liegt voll ihren Bowls. Poké ist nicht noch so?
im Zeitgeist der New Wave des Clean nur gesundes Fast Food, Brandes: Kālua Pua’a,
Eating. Sushi 2.0! sondern auch enorm insta- Schwein im Erdloch. REL
Karteileiche wann er in seiner Wut darüber zum Trinker wurde. Vor allem
versteht er selbst nicht, weshalb er irgendwann alle Verbin-
dungen nach Bârlad kappte und auch seine Tochter nie wie-
der besuchte. Er weiß nur noch, dass er sich Jahre später, als
Warum ein Gericht einen lebendigen er das Trinken in den Griff bekommen hatte, zu sehr schämte,
Rumänen für tot erklärte um noch einmal in seine Heimat zurückzukehren.
Constantin Reliu blieb in Istanbul, für insgesamt 25 Jahre.
Er kochte im Restaurant und baute sich langsam ein neues
55
Gesellschaft
Yassers Tod
Propaganda Der palästinensische Kameramann Yasser Murtaja wollte mit seinen Bildern
von den Demonstrationen am Gazastreifen die Geschichte mitschreiben.
Die Bilder des toten Yasser Murtaja sind jedoch die stärkste Geschichte. Von Alexander Osang
KHALIL HAMRA / AP
Trauerzug mit dem getöteten Journalisten Murtaja: Die einen brauchen einen Heiligen, die anderen einen Terroristen
56
A
nderthalb Tage bevor Yasser glichen mit dem letzten Toten des Tages auf einem weißen Pferd durchs Camp, im
Murtaja, eingehüllt in eine paläs- ging er leise und ohne eine Botschaft an Himmel fliegen selbst gebastelte kleine
tinensische Flagge, als Märtyrer die Welt zu hinterlassen. Drachen in den Nationalfarben der Paläs-
vom Krankenhaushof getragen Der letzte Tote des Tages heißt Yasser tinenser. Fernsehkorrespondenten stellen
wird, versucht Dr. Alsahbani, seine Inten- Murtaja und ist ein palästinensischer Jour- sich so, dass man die schwarze Rauchwand
sivstation zu räumen. Es ist der Vorabend nalist, der mit einem Kollegen an einer Do- in ihrem Rücken gut sehen kann. Auch die
des zweiten Protestmarsches, und er hat kumentation über die Freitagsmärsche ar- Demonstranten selbst filmen sich mit ihren
es fast geschafft. Die Betten sind frei, die beitete, die bis zum 14. Mai fortgesetzt Handys. Kleinkindern werden für Schnapp-
Station ist bereit für neue Verletzte. Nur werden. Dem Tag, an dem Israel den schüsse palästinensische Fahnen in die
ganz hinten in der Ecke liegt noch jemand. 70. Jahrestag seiner Staatsgründung feiert Hand gedrückt. Jungen im Grundschul-
Ayman Alsahbani ist ein kleiner Mann mit und der für die Palästinenser das Datum alter schreien in Handykameras: Jerusa-
traurigen Augen und einem dünnen Ober- ihrer großen Tragödie bedeutet, Nakba, lem gehört uns!
lippenbärtchen, das man in einem anderen die Vertreibung aus ihrer Heimat. Yasser Es ist, das hört man immer wieder, auch
Gesicht verwegen nennen würde. Er ist ist Gründer und Betreiber einer kleinen ein Krieg der Bilder. Israelische Websites
der Chef der Notaufnahme des Shifa-Hos- Filmproduktionsfirma, die Nachrichten- stellen Fotos, die die blühenden Landschaf-
pitals, des größten Krankenhauses von sender aus aller Welt mit Bildern aus Gaza ten auf ihrer Seite des Zaunes zeigen, den
Gaza. Sein Kittel ist blütenweiß. versorgt, dem geschundenen Landstück, qualmenden Reifen von Gaza gegenüber
Er läuft zum letzten belegten Bett seiner in dem er geboren wurde und sein ganzes und erinnern an die Umweltverschmut-
Intensivstation, auf dem ein bewusstloser Leben verbracht hat. zung. Al-Aqsa TV dagegen, der Fernseh-
Mann liegt, der mit Schläuchen und Dräh- Vor ein paar Wochen hat Yasser Murtaja sender der Hamas, steigt in die schwarzen
ten an verschiedenen Geräten hängt. Al- das Foto einer Drohne, mit der er manch- Rauchwolken wie in ein warmes Bad. Den
sahbani hebt die Bettdecke, man sieht dick mal arbeitet, auf Facebook gestellt. Es war ganzen Tag über laufen hier Bilder von
bandagierte Beine, aus einem Oberschen- eine Luftaufnahme des Hafens von Gaza. der Front.
kel ragt ein Stahlgestell. Dazu schrieb er: »Ich wünschte, ich könn- Ganz vorn stehen die Mutigsten, die
»Die Israelis schießen meist auf die un- te dieses Foto aus der Luft machen und Wütendsten. Manchmal wagt sich einer
teren Extremitäten. Teilweise mit Muni- nicht von der Erde. Mein Name ist Yasser dicht an den Zaun heran und rennt schnell
tion, die alles zerstört«, sagt der Arzt. Er Murtaja. Ich bin 30 Jahre alt. Und ich bin wieder weg. Es erinnert an ein Katz-und-
schaut kurz in die Akte. noch nie gereist.« Maus-Spiel. Der ehemalige Brigadege-
»Der hier ist bereits hirntot«, sagt er. Es klang wie die Nachricht eines sehn- neral Nitzan Nuriel, der lange Zeit Anti-
Er wirft die Akte aufs Bett, schüttelt den süchtigen jungen Mannes, der darauf hofft, terrorberater des israelischen Premier-
Kopf und sagt drei weitere Male »hirntot«. irgendwann die Welt zu sehen. In ein paar ministers war, erklärt die Spielregeln: »Sie
Dann schickt er fünf Fragen hinterher. Wa- Stunden wird es wie ein Vermächtnis klin- machen es, solange sie wollen, denn auf
rum? Warum? Warum?Warum? Warum? gen. Ein Schrei. Eine Botschaft an die Welt. der Seite Gazas spielen Opfer keine
Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Im israelischen Verteidigungsministerium Rolle.«
Mann trauriger schauen kann als dieser wird es wahrscheinlich Leute geben, die Ab und zu fällt eine Gasgranate in die
Arzt. es als Bekennerschreiben lesen. Menge, dann rennen alle durcheinander
Alsahbani ist 48 Jahre alt und seit Yasser wird am frühen Nachmittag ge- und schleppen am Ende mit viel Geschrei
16 Jahren an diesem Krankenhaus beschäf- troffen. Er ist mit seinem Bruder und Männer, die zu viel Gas abbekommen ha-
tigt. Er hat zwei Kinder, die seit einigen einem Kollegen nach Khuzaa gefahren, zu ben, in die Sanitätszelte. Manche werden
Jahren in Odessa leben, weil es dort siche- einem Camp im südlichen Teil des Gaza- erst nach 20 Minuten wieder wach. Ein
rer ist. Er hat sie seitdem nicht gesehen. streifens. Alle drei tragen blaue Schutzwes- Arzt vermutet, es sei Nervengas, weil sich
Er kann nicht reisen. Am vorigen Freitag ten, auf denen »Press« steht. Die Kugel viele übergeben müssen und Krämpfe be-
haben sie hier 40 Verletzte operiert, ob- trifft Yasser in den Bauch. Sie waren etwa kommen. Dennoch hat man lange Zeit die
wohl sie nur 20 Betten auf der Intensiv- 200 Meter vom Zaun entfernt, sagt sein Hoffnung, dass es nicht so blutig wird, wie
station haben. Er weine manchmal am OP- Kollege Rushdi Sarraj. beide Seiten angekündigt haben.
Tisch. Als Arzt empfehle er allen, sich von Yasser habe ihm zugerufen: »Ich bin ge- Lange Zeit scheint der Mann, den Dr.
der Grenze fernzuhalten, sagt er, als Bür- troffen.« Alsahbanis Team am Morgen von den Ge-
ger von Gaza verstehe er die jungen Leute, Rushdi ist sich sicher, dass die Scharf- räten getrennt hat, der einzige Tote dieses
die in ihrem Leben nichts weiter erlebt ha- schützen bewusst auf seinen Freund ge- Tages zu sein.
ben als die Blockade. Er versteht nicht, schossen haben. Irgendwann am frühen Nachmittag fal-
wieso man sie nicht in die Welt lässt. Er Die Demonstranten haben im Verlauf len wieder Schüsse. Warum, weiß man auf
versteht nicht, wie man auf Zivilisten schie- der Woche unzählige alte Reifen in die dieser Seite des Zaunes nicht. Die Motive
ßen kann. Es gibt jede Menge »Warum?« Camps geschleppt, die an der Grenze auf- der Scharfschützen, ihre Strategie, wenn
in seinem Kopf. gebaut wurden. Sie rollen sie so dicht es es denn eine gibt, sind rätselhaft. Israels
Vermutlich kennt er auch ein paar Ant- geht an die Zäune und setzen sie in Brand. Verteidigungsminister sagt, es gebe keine
worten. Im Foyer des Gesundheitsminis- Der Rauch soll den israelischen Scharf- unschuldigen Menschen in Gaza. Das ist
teriums, bei dem man sich die Erlaubnis schützen, die auf Sandwällen hinterm natürlich ein Ansatz. Hier und da erklärt
abholen muss, ihn zu interviewen, hängt Zaun liegen, die Arbeit erschweren. In den ein israelischer Militär, man schieße nur
eine große, blaue Fliese, auf der steht: Von Mittagsstunden ist der Grenzbereich in auf Terroristen.
hier sind es 79,36 Kilometer bis nach Je- schwarzen Rauch gehüllt. In den Camps Yasser Murtaja aber ist Kameramann.
rusalem. herrscht Picknickstimmung, Frauen und Er hat eine blaue Weste an, auf der »Press«
Darum geht es. Im Kern. Kinder essen unter Zeltdächern, die De- steht.
Am nächsten Morgen ist dann auch das monstranten wagen sich weiter als noch Sie tragen ihn in das Rettungszelt, das
letzte Bett frei. Sie lösen den hirntoten vor einer Woche, begleitet von kleinen im Hintergrund des Camps steht. Hier ar-
Mann von den Geräten. Er wurde 30 Jahre Trucks, die frisch gepressten Saft, Nüsse beiten Freiwillige, ein Arzt, ein paar Me-
alt. Er ist der erste Tote dieses Freitags, an und Eis anbieten. Junge Männer rasen auf dizinstudenten und Krankenpfleger. Das
dem neun Menschen sterben werden. Ver- Motorrädern an die Front. Jemand reitet Verbandszeug, das sie benutzen, haben sie
selbst gekauft, sagen sie. Es ist nicht viel. sungen in den Zug ruft, der sich hinter den Sie haben die Omari-Moschee für den
Sie leisten Erste Hilfe. Gasopfern waschen Leichenträgern versammelt hat. Trauergottesdienst ausgesucht. Es ist die
sie die Augen aus, spülen die Gesichter, »Nicht wir tragen dich – du trägst uns, größte und eine der ältesten Moscheen in
bei Schussverletzungen versuchen sie, die Yasser. Wir folgen dir auf deinem endgül- Gaza. Sie legen den Toten ganz nach vorn
Blutung zu stillen, so gut es geht. Bis die tigen Weg«, ruft der Mann. neben die Bühne, auf der der Imam
Ambulanz da ist. Einer der Pfleger trägt Dann kommen die Lieder, manche spricht, direkt unter ein großes Plakat
eine kleine Kamera auf der Stirn. Um zu kämpferischer, manche trauriger. vom Tempelberg in Jerusalem, in dessen
dokumentieren, was passiert, wie er sagt. Eines der traurigen heißt »Testament«: Mitte die goldene Kuppel des Felsendoms
Man kann sich die Notversorgung des Mutter, weine nicht um mich. leuchtet wie die Sonne. Um den Platz
verwundeten Kameramanns inzwischen Ich bin ein Märtyrer drängen die Fotografen. Es ist das perfekte
auf YouTube ansehen. Erinnere dich an mich in deinen Gebe- Motiv. Der Märtyrer auf dem Weg nach
Yasser wird in ein nahe gelegenes Kran- ten für die Freiheit Jerusalem. Die Moschee füllt sich schnell.
kenhaus gefahren. Sein Bruder sitzt mit im Ich habe dich als Märtyrer verlassen. Über den Rücken der Betenden schweben
Krankenwagen, sein Kollege folgt. Sie set- Der Zug bewegt sich zum Haus des Ver- Drohnen mit Kameras, die das Gesicht
zen sich in den Wartesaal. Sie hören Nach- storbenen, wo sich die Familie von ihm des Toten filmen, der jetzt fast ein Hei-
richten von weiteren verletzten Journalis- verabschieden kann. Sie wohnt im Erd- liger ist.
ten. Das Gesundheitsministerium zählt die geschoss einer Baustelle in Gaza City, die Im Kampf um die Bilder liegen sie in
Toten. Zwölf Stunden lang kämpfen die oberen Geschosse sind noch nicht fertig. diesem Moment weit vorn.
Ärzte um Yassers Leben. Eine Weile sieht Der Vater ist verstorben, Yasser war der Irgendwann erscheint, umringt von Si-
es so aus, als könnten sie die Blutung stop- älteste Mann in der Familie. Er hinterlässt cherheitsleuten, Ismail Hanija, Führer der
pen, sagt sein Freund Rushdi, aber die Ku- seine Mutter, seine Frau und einen zwei- Hamas, in der Moschee und küsst den To-
gel hat zu viel im Leib von Yasser zerstört. jährigen Sohn, Abid, sowie drei jüngere ten auf die Stirn.
Er stirbt in der Nacht gegen halb zwei. Er Brüder und eine Schwester. Sie haben alle »Yasser hielt seine Kamera, um die Pfeile
ist der vorläufig letzte Tote des Freitags- zusammengewohnt. Mutter, Schwester in Richtung der Wahrheit über die geknech-
marsches. Die Zahl der Getöteten der Mär- und die Ehefrau von Yasser warten in der teten Menschen des palästinensischen Vol-
sche ist nun auf insgesamt 30 gestiegen. Wohnung. kes zu schießen. Durch den Mord an Yasser
Über 3000 Menschen sind verletzt. Vor dem Haus wird ein Zelt aufgebaut, haben die Israelis vor der ganzen Welt ihr
Sie fahren Yasser noch in der Nacht in dem die dreitägige Trauerfeier stattfin- wahres Gesicht gezeigt. Sie töten mit Vor-
nach Gaza City in die Shifa-Klinik von Dr. den soll. Auf den umliegenden Häusern satz«, sagt Hanija ins Mikrofon. Ein Trau-
Alshabani. Yasser Murtaja benötigt kein erscheint von Zeit zu Zeit ein vermummter erredner, der in diesem Jahr von den USA
Bett auf der Intensivstation. Er kommt als Mann mit Sturmgewehr und feuert eine in die Liste der internationalen Topterro-
toter Mann. Salve in den Himmel über Gaza. Ein paar risten aufgenommen worden ist.
Am Samstagmorgen haben sich im Hof Männer weinen, ein paar Männer schie- Spätestens in diesem Moment beginnt
des Krankenhauses Kollegen versammelt, ßen. Tränen und Trommelfeuer. sich die Legende des toten Kameramannes
Kollegen, die Yasser betrauern, Kollegen, Nach einer Stunde zieht der Trauerzug Yasser Murtaja von dem zu lösen, wofür
die über den Toten berichten, man kann weiter zur Moschee, wo für den Verstorbe- der Mann bislang zu stehen schien. Er
das kaum voneinander trennen. Es gibt nen gebetet wird. Im vorausfahrenden schwebt jetzt. Sein Bild wird unscharf. Die,
ein paar Reden, in denen die Unmensch- Krankenwagen befindet sich der Leichnam, die ihn kannten, sagen, er sei kein Teil
lichkeit der israelischen Aggressoren be- es folgen Lautsprecherwagen. Es gibt jetzt einer politischen Strömung gewesen. Er
klagt, die Freiheit des palästinensischen deutlich mehr Plakate, die den Kamera- habe schon als Junge gefilmt, Tiere, Kinder,
Volkes beschworen und eine Reaktion der mann zeigen. Musik bläst durch die engen den Strand und das Meer, sagt seine
Weltgemeinschaft eingefordert wird. In Straßen. Die Palästinenser haben Hunderte Schwester. Es war seine Leidenschaft. Er
der Leichenhalle im Rücken der Redner Revolutionssongs, immer neuen Stoff, und hat einen Beruf daraus gemacht. Vor sechs
wird der Körper des Kameramannes für viel Gelegenheit, sie zu singen. Sie laufen Jahren hat er mit seinem Schulfreund
seine letze Reise vorbereitet. Er wird in seit Tagen im Radio. Die Stimme des Man- Rushdie Sarraj die Produktionsfirma Ain
eine palästinensische Fahne gehüllt, oben- nes auf dem Lautsprecherberg kippelt in- Media gegründet, für die heute 15 Leute
auf legen sie die blaue Presseweste. Die zwischen heiser. arbeiten. Sie haben für nationale und aus-
Ersten halten bereits kleine Bilder Yassers Unser Freund Yasser hat uns verlassen, ländische Fernsehstationen gefilmt, unter
in die Luft. Er lächelt auf den Fotos. Aber wir sind stark. anderem für die BBC und die englische
»Wir werden die Geschichte mit seinem Es gibt tausend Yassers. Ausgabe von Al Jazeera, sie haben Wer-
Blut weiterschreiben«, ruft einer der Vom Straßenrand schauen Leute in den bung gedreht, für NGOs gearbeitet und
Redner. Zug, manche wirke müde, manche inter- waren an kulturellen Projekten beteiligt,
»Seid vorsichtig dort draußen, aber be- essiert, manche schließen sich an. Der zum Beispiel an denen des chinesischen
richtet weiter vom Schicksal unserer Leu- Trauermarsch verwandelt sich in eine Künstlerstars Ai Weiwei.
te«, ruft ein anderer. mittelgroße Demonstration. Jemand ver- Jetzt aber ist Yasser Murtaja Material
Dann öffnet sich die Tür zur Leichen- breitet die Nachricht, ein enger Freund in einer ideologischen Schlacht, die wahr-
halle. Zehn oder zwölf Männer balancie- Yassers habe sein Baby, das heute geboren scheinlich nur noch wenig mit der Doku-
ren den Toten auf ihren Schultern durch wurde, nach dem Toten benannt. Klingt mentation zu tun hat, die er drehen wollte.
die Menge. Es beginnt Gerangel, um die märchenhaft, aber diese Dinge passieren Drei Tage später wird der israelische
Nähe zum Helden und um die Bilder. Auf jetzt natürlich. Sie müssen passieren. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman
Mauern und Toren stehen Fotografen und behaupten, Yasser Murtaja habe auf der
Kameraleute und schauen von oben in das Payroll der Hamas gestanden, ohne Be-
Gesicht des Märtyrers. Er sieht friedlich Video weise dafür vorlegen zu können. Murtaja
Alexander Osang über
aus, sanft. Auf der Straße wartet bereits seine Recherche habe mit seiner Kameradrohne die israe-
ein Kleintransporter, ein Berg aus Laut- spiegel.de/sp162018gaza
lische Verteidigungslinie ausspionieren
sprechern auf der Pritsche, auf dem ein oder in der App DER SPIEGEL wollen. Auch dafür gibt es bislang keine
Mann mit einem Mikrofon hockt und Lo- Beweise. Lieberman sagt es einfach. Kurz
59
Für SPIEGEL-Abonnenten: schwenkt kurz in sein Gesicht. Sein Bruder
scheint irgendetwas zu sagen.
Hallo?
Zusammenhang zu einer anderen Karte zu sehen, jener der
Wahlergebnisse der AfD. Bei den Bundestagswahlen ist die
Partei im hiesigen Wahlkreis 164 auf knapp 30 Prozent ge-
kommen. Kein Netz – keine Stimme fürs System, das wäre
die Logik.
Ortstermin Aufzeichnungen aus Deutschlands Sonderbar ist nur, dass der Handyempfang in fast jeder
Funklöchern (1): Der tote Falte des Erzgebirges durchaus möglich ist, nur nicht immer
Winkel in Wildenthal, Westerzgebirge vom selben Anbieter und nicht immer in surffähiger Si-
gnalstärke.
Klaus-Dieter Schimmel nimmt an, dass die Stimmen für
HARRY WEBER
Deutsche Bahn
Krankenkassen hatte es eine Razzia in Büros der Kran- erhält. Dabei sollen »berechnungsrelevan-
Barmer unter Verdacht kenkasse in Berlin gegeben. Die Ermitt- te Daten unbefugt verändert und an das
lungen richten sich gegen ehemalige Vor- Bundesversicherungsamt« weitergeleitet
Die Barmer, Deutschlands zweitgrößte stände der Kassenärztlichen Vereinigung worden sein, so Martin Steltner, Presse-
Krankenkasse, steht im Mittelpunkt (KV) Berlin und zwei Mitarbeiter der Bar- sprecher der Generalstaatsanwaltschaft
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. mer. Der Verdacht lautet auf »Betrug und Berlin. Die Barmer erklärt, man arbeite
Beamte des Landeskriminalamts Berlin Bestechung«. Die KV leiten regelmäßig »eng und vertrauensvoll mit der Staats-
durchsuchten am 6. März im Auftrag der Zahlen über die Erkrankungen der Ver- anwaltschaft Berlin zusammen«, könne
Staatsanwaltschaft die Wuppertaler sicherten der einzelnen Kassen an diese jedoch aufgrund der laufenden Ermittlun-
Hauptverwaltung des Unternehmens und weiter. Die Kassen bearbeiten die Daten gen öffentlich nicht auf konkrete Details
Barmer-Räumlichkeiten in Berlin sowie und übermitteln sie dem Bundesversiche- eingehen. Die Kasse habe »keinerlei
Privatwohnungen von beschuldigten rungsamt, das berechnet, wie viel Geld Anhaltspunkte für ein strafrechtlich rele-
Mitarbeitern. Bereits im Dezember 2016 eine Kasse aus dem Gesundheitsfonds vantes Fehlverhalten«. MOP
Recht auf Sammelklage nicht wieder jeder Verbraucher einzeln kapazität, als die Welttankertonnage,
und die Fallstricke der klagen muss. begünstigt durch den wirtschaftlichen
neuen Regelung SPIEGEL: Ist das denkbar? Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens,
Giegold: Ja, bei komplexen Fällen sieht innerhalb weniger Jahre sprunghaft
SPIEGEL: Bessere Klagerechte für Ver- der Entwurf vor, dass jeder Verbraucher anstieg. Zweiter Grund: Der Alteisen-
braucher hat die Regierung, speziell die einzeln nachlegen muss. preis ist hoch. Dritter Grund: Die Flot-
SPD, lange versprochen. Jetzt war die SPIEGEL: Bei einem Fall wie der ten sind alt. Strengere Umweltbestim-
EU-Kommission mit der geplanten euro- Dieselschummelei wäre also nicht viel
päischen Sammelklage schneller, warum? gewonnen?
Giegold: Weil Christdemokraten und Giegold: Es droht zumindest, dass jeder
Liberale diese Regelung über Jahre Betroffene einzeln seinen Schadens-
blockiert haben. Den Widerstand gab es ersatzanspruch durchsetzen muss. Wir
auch in Brüssel, allerdings war dort, Grünen wollen den Begriff der »komple-
anders als in Berlin, irgendwann die xen« Fälle daher extrem eng fassen.
Einsicht ins Notwendige stärker als die SPIEGEL: Der Bundesverband der deut-
Unternehmenslobby. schen Industrie sieht durch Sammel-
SPIEGEL: Was ist der Vorteil an der klagen den Rechtsfrieden bedroht.
geplanten Regelung? Giegold: Es ist die Frage, wer hier wen
Giegold: Die Verbraucher werden regel- bedroht. Unser Rechtssystem lässt kleine
mäßig und in großer Zahl um kleinere Geschädigte praktisch ohne Schutz. Sich
Beträge geschädigt, etwa bei fragwürdi- wehren zu können sorgt für mehr Fair-
gen Finanzdienstleistungen oder bei Rei- ness. Die Industrieverbände interessieren
sebuchungen. Kaum einer geht deshalb sich aber offenbar nicht so sehr für fairen
zu einem Anwalt. Umgekehrt generieren Wettbewerb und engagieren sich lieber
Unternehmen durch solche Methoden auch für solche Unternehmen, die sich
aber hohe Gewinne. Durch die neue Kla- unanständig verhalten. NKL
knapp 25 und später 75 Prozent an Lau- 0,5 Prozent reduziert. »Die Milliarden-
damotion durch Ryanair noch nicht ein- investitionen durch strengere Umwelt-
mal bei der EU-Kommission angemeldet. vorschriften seien«, sagt Ralf Nagel
Das bestätigte eine Sprecherin von EU- vom Verband Deutscher Reeder, »eine
Wettbewerbskommissarin Margrethe enorme Herausforderung für die See-
Vestager. Beide Anbieter haben in Mal- Lauda, O’Leary schifffahrt.« HGO
63
Wirtschaft
E
s war eine seltsame Sitzung des
VW-Konzernvorstands am vergan-
genen Dienstag. Es erschien einer,
der sonst an den Treffen in Wolfs-
burg nicht teilnimmt: der Aufsichtsratsvor-
sitzende Hans Dieter Pötsch. Er verkün-
dete Überraschendes: dass VW-Chef Mat-
thias Müller abgelöst und durch den Chef
der Marke Volkswagen, Herbert Diess, er-
setzt werde. Schweigen. Erstaunte Gesich-
ter. Manch einer hatte geahnt, dass Müller
irgendwann abgelöst werden würde. Ende
des Jahres vielleicht. Aber jetzt, so schnell,
so plötzlich? Erleichterung oder gar Freu-
de wollte niemand offen zeigen. Keiner
gratulierte dem künftigen Konzernboss.
Nur einer agierte, als wäre der Wechsel
an die Spitze des weltgrößten Autokon-
zerns nichts Besonderes. Als wäre dies ein
Tag wie jeder andere in Wolfsburg. Diess
griff zum Handy, telefonierte und verließ
zwischendurch die Sitzung, um Details sei-
ner künftigen Aufgabe zu klären.
Drinnen erklärte der Aufsichtsratsvor-
sitzende Pötsch den Vorständen die Per-
sonalien. Er versuchte, den Rauswurf von
Müller nicht als Rauswurf erscheinen zu
lassen. Was sollte Pötsch auch anderes ma-
chen? Er konnte kaum eingestehen, dass
die wichtigsten Vertreter im VW-Aufsichts-
rat, die Familien Porsche und Piëch,
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan
Weil und die Arbeitnehmer die Notbremse
gezogen hatten.
Die Entscheidung kam überraschend,
auch für Müller selbst. Vor wenigen Wo-
chen noch konnte der Konzernchef bei der
Bilanzvorlage einen Rekordgewinn präsen-
tieren. Müller schien erst einmal sicher.
Außerdem räumten viele Diess nicht die
besten Aussichten auf dessen Nachfolge ein.
Vor einem Jahr noch drohte dem früheren
BMW-Manager selbst der Rauswurf, nach-
dem er sich einen erbitterten Machtkampf
mit dem mächtigen Betriebsrat geliefert hatte.
Was also ist geschehen in dieser Zeit?
N.H. MUELLER / WIRTSCHAFTSWOCHE
64
Es ist die Geschichte eines Wolfgang Porsche und Hans
Managers, der seinen Abgang Michel Piëch bestellten den
selbst herbeigeführt, und eines VW-Chef zum Rapport nach
anderen, der seinen Aufstieg Salzburg ein. Anwesend war
generalstabsmäßig geplant hat. auch Pötsch, der Aufsichtsrats-
Müller ist ein knorriger Typ, vorsitzende des Konzerns. Die
der gern sagt, was er denkt. Es drei forderten Erklärungen von
kümmert ihn nicht, was andere Müller. Doch der Vorstands-
davon halten. Das zeichnete vorsitzende konnte seine Kurs-
ihn in seiner Zeit als Porsche- wende nicht befriedigend erläu-
Chef aus im VW-Konzern, in tern. Müller wurde ernsthaft
dem Befehl und Gehorsam das ermahnt. So ein Fehler dürfe
HANNELORE FOERSTER
oberste Führungsprinzip war. nicht noch einmal passieren.
Auch deshalb wurde Müller Nach diesem Treffen ging es
zum Nachfolger Martin Win- für Müller nur noch begab. Zu-
terkorns berufen. letzt provozierte er im SPIE-
Seit Müller selbst den Kon- GEL-Gespräch mit Aussagen
zern lenkte, schaffte er sich mit Konzernchef Müller im März: Knorriger Typ, der gern sagt, was er denkt zu seinem Gehalt. Obergren-
seiner Art aber immer neue zen lehne er ab: »Wir hatten so
Probleme. Schon Ende vergan- was bereits einmal in Form der
genen Jahres waren sich die beiden größ- che ihn nicht, er könne sich auch ein ande- DDR«, erklärte er, »da ist auch alles gere-
ten Machtblöcke im Konzern, die Familien res Leben vorstellen. Seine Work-Life-Ba- gelt worden.« Ministerpräsident und Auf-
Porsche und Piëch sowie Betriebsratschef lance sei nicht gerade gut. »Die schönsten sichtsrat Weil rüffelten ihn dafür öffentlich:
Bernd Osterloh einig, dass Müller abgelöst fünf Jahre meines Lebens habe ich hinter Der Vergleich sei »komplett abwegig«.
werden müsse. Es war zu vieles zusam- mir.« Müller wollte seine persönliche Un- Müllers Standing sank immer weiter.
mengekommen. abhängigkeit signalisieren. Vorstandskol- Als der VW-Boss sich einmal beklagte,
Zuerst hatte Müller die wichtigsten Ver- legen verstanden es anders: Dem Konzern- dass der Konzern mit seinen zwölf Marken
treter der Familien, Wolfgang Porsche und chef fehle der nötige Biss. zu komplex und schwer zu führen sei, ant-
Hans Michel Piëch, damit brüskiert, dass Es mangelte Müller auch an Gespür da- wortete ein Aufsichtsrat: »Herr Müller,
er einen Verkauf der Motorradmarke Du- für, wie der VW-Konzern nach dem Die- dann müssen wir uns jemanden suchen,
cati vorbereiten ließ, ohne sich dafür ihr selskandal wieder das Vertrauen seiner der diese Komplexität beherrscht.«
Plazet einzuholen – ein Verstoß gegen die Kunden hätte zurückgewinnen können. Infrage kamen dafür nur zwei Kandida-
Grundregeln der Unternehmensführung. Müller versuchte, den Betrug als das Werk ten: Lkw-Chef Andreas Renschler, dem es
Ein angestellter Manager kann nicht ein- »einer kleinen Gruppe« im Unternehmen gelungen war, die Lastwagenmarken MAN
fach Teile des Konzernvermögens verscher- zu verharmlosen. Einige hätten »Gesetze und Scania geräuschlos zusammenzufüh-
beln. Darüber entscheiden die Eigentümer. falsch interpretiert«. Müller versprach Auf- ren, und Herbert Diess. Ferdinand Piëch
Porsche und Piëch stoppten Müllers Pläne. klärung, erklärte später aber den Untersu- hatte, als er noch Aufsichtsratschef in Wolfs-
Doch der hatte die Lektion offenbar chungsbericht der Anwaltskanzlei Jones burg war, die beiden angeworben und ihnen
nicht verstanden, oder er wollte sie nicht Day zur Geheimsache. Und er zog keine gesagt, bei entsprechender Leistung könn-
verstehen. In Gesprächen mit Journalisten Konsequenzen auf Vorstandsebene. ten sie den Chefposten übernehmen.
sagte er, dass einige der zwölf Konzernmar- Den wegen des Dieselskandals beurlaub- Diess verstand es besonders geschickt,
ken ausgegliedert werden könnten. Be- ten Porsche-Manager Wolfgang Hatz woll- seine Kritiker sagen: hinterlistig, die Fami-
triebsratschef Osterloh und Niedersach- te Müller sogar wieder zurück in den Por- lien Porsche und Piëch auf die Schwächen
sens Ministerpräsident Weil waren sauer, sche-Vorstand holen. Porsche-Betriebsrat Müllers hinzuweisen. So bereitete der VW-
dass der VW-Chef eine so grundlegende Uwe Hück konnte dies gerade noch ver- Markenchef eine enge Abstimmung mit
Veränderung des Konzerns zuvor nicht mit hindern. Mittlerweile sitzt Hatz, der alle Škoda vor, damit die beiden Konzern-
ihnen besprochen hatte. Und Wolfgang Vorwürfe bestreitet, in Untersuchungshaft. schwestern sich nicht gegenseitig Konkur-
Porsche rief Müller erneut zur Ordnung: Glaubwürdige Aufklärung sieht anders aus. renz machten. Diese Arbeitsteilung zu re-
»Aktuell sehe ich keine Notwendigkeit, sich Dass Müller der falsche Mann an der geln wäre Aufgabe des Konzernchefs ge-
von Teilen des Konzerns zu trennen.« Spitze des größten Autokonzerns der Welt wesen. Der Diess-Vorstoß richtete einen
Seine eigentliche Arbeit als Konzern- ist, wurde den Familien Porsche und Piëch Scheinwerfer auf Müllers Versäumnis.
chef, die Abstimmung der Marken Audi, endgültig klar, als der VW-Chef im vergan- Wolfgang Porsche und Hans Michel Piëch
Porsche, Bentley, Bugatti, Lamborghini, genen Herbst die Abschaffung der Diesel- imponierten an Diess vor allem zwei Din-
Volkswagen, Seat und Škoda, vernachläs- subventionen forderte. Mit einem Schlag ge: Er senkte schnell die Kosten, und er
sigte Müller dagegen. So entwickelten hatte Müller alle gegen sich aufgebracht. legte sich mit Betriebsrat Osterloh an, der
Audi, Porsche und VW jeweils eigene Bau- VW-Händler, die Dieselmodelle ohne- nach Überzeugung der Familien über viel
teile wie Kolben oder Batterien. Kosten- hin nur mit hohen Rabatten verkaufen kön- zu viel Macht im Konzern verfügt. Das
vorteile in Milliardenhöhe blieben un- nen, klagten, dass der Konzernchef ihr Ge- hatte Diess dem Kandidaten Renschler
genutzt. Außerdem konkurrierten Volks- schäft weiter erschwert habe. Politiker, die voraus, der die enge Abstimmung mit den
wagen und Škoda munter miteinander, jahrelang Dieselsubventionen verteidigt Betriebsräten suchte.
statt sich abzustimmen. Ein Aufsichtsrat hatten, fühlten sich nun ausgerechnet von Diess klagte, wie sehr ihn die »zentra-
klagte: »Müller entscheidet nichts. Er wird einem Autoboss vorgeführt. Die Chefs von listischen Machtstrukturen« im Betriebsrat
von den Marken nicht ernst genommen.« Daimler und BMW waren sauer, weil die störten. Er wolle Osterloh nicht ständig
Dazu trug auch bei, dass Müller seit sei- deutschen Hersteller sich bis dahin stets ei- um Erlaubnis bitten. »Volkswagen hat nur
ner Berufung immer wieder sagte, er habe nig waren, den Diesel zu verteidigen. Alle eine Zukunft«, sagte Diess, »wenn sich die
sich nicht auf den Posten gedrängt, er brau- rätselten: Was ist bloß in Müller gefahren? Betriebsratsseite stark reformiert.« Die
67
Die Facebook-Krise scheint indes der Ka-
zeigten sich teils verblüffend ahnungslos Auf die Frage eines Abgeordneten, was etwa Senator John Thune von Zuckerberg,
im Hinblick auf die Funktionen digitaler die Europäer mit ihrem Ansatz richtig oder alles dafür zu tun, um einen »Datenschutz-
Produkte und Facebooks Geschäftsgebaren. falsch machten, bezeichnete Zuckerberg Albtraum« zu verhindern.
»Wie erhalten Sie Ihr Geschäftsmodell auf- die bald in Kraft tretenden Regeln als einen Am deutlichsten brachte wohl Senator
recht, wenn Nutzer für Ihren Service nicht »positiven Schritt für das Internet«. Kritik- Richard Durbin aus Illinois den politischen
bezahlen?«, fragte allen Ernstes Senatsprä- punkte fielen ihm spontan nicht ein, darü- Stimmungswandel auf den Punkt. Und es
sident Orrin Hatch, 84. »Senator, wir haben ber müsse er nachdenken. Tags zuvor hatte war der vielleicht einzige Moment, in dem
Anzeigen«, antwortete Zuckerberg. er schon gesagt, es sei eine Diskussion wert, Zuckerbergs antrainierte Fassade Risse zeig-
Nun denken US-Politiker darüber nach, ob die neue EU-Verordnung nicht auch in te. »Wäre es für Sie in Ordnung, hier mit
sich bei den Europäern die eine oder andere den USA angewendet werden sollte. Bisher uns zu teilen, in welchem Hotel Sie gestern
Idee zur Regulierung abzuschauen. Ende ist Facebook offenbar noch nicht vollstän- übernachtet haben?«, fragt Durbin. Nach
Mai treten in der EU neue Datenschutzre- dig auf die neue Verordnung vorbereitet. langer peinlicher Pause sagt Zuckerberg:
geln in Kraft. Sämtliche US-Konzerne sowie Zuckerbergs Notizen für die Anhörungen, »Nein.« Durbin hakt nach: »Wenn Sie ver-
Facebooks Lobbyisten hatten bislang alles die ein AP-Fotograf abgelichtet und veröf- gangene Woche Nachrichten verschickt ha-
versucht, diese zumindest abzuschwächen. fentlich hatte, enthielten die ausdrückliche ben, würden Sie uns die Namen dieser Men-
Denn die EU verlangt, dass Nutzerdaten nur Mahnung: »Nicht sagen, dass wir die Vor- schen mitteilen?«
zu festgelegten Zwecken erhoben und ver- gaben der Verordnung bereits umsetzen«. »Nein, Senator«, antwortet Zuckerberg.
wendet werden dürfen und Anwender dem Dass US-Politiker sich nun ein Beispiel »Das würde ich wahrscheinlich nicht öf-
ausdrücklich zustimmen müssen. Außerdem an Europa nehmen wollen, ist eine erstaun- fentlich machen.«
schafft sie weitreichende Klagemöglichkei- liche Wende. Datenschutz spielt im ame- Marcel Rosenbach, Thomas Schulz
ten für Betroffene – mit hohen Strafandro- rikanischen Wertekanon eine untergeord-
hungen für die Unternehmen: Verstöße kön- nete Rolle. Europäische Versuche, die ame-
nen bis zu vier Prozent ihres weltweiten Jah- rikanischen Onlinekonzerne zu regulieren, ‣ Lesen Sie auch auf Seite 106 das
resumsatzes kosten. Im Fall Facebook wären wurden in Washington bislang scharf als SPIEGEL-Gespräch mit US-Informatiker
demnach im vergangenen Jahr Strafen bis Industriepolitik zum Schutz der EU-Inter- Pedro Domingos.
zu 1,6 Milliarden Dollar möglich gewesen. netwirtschaft kritisiert. Und nun fordert
69
Wirtschaft
70
in Folge, eine indirekte Gewinnwarnung
und der holprige Börsengang der Vermö-
gensverwaltung beschleunigten Cryans
DER SPIEGEL live
Ende. Zugleich verlor Schenck den Glau-
ben an die Erneuerungskraft des Konzerns
– und auch daran, selbst Vorstandschef zu
werden, wie von Achleitner avisiert. Groß-
in der Uni
aktionäre hielten ihn für untauglich.
In der Heimat also kündigte sich ein ge-
waltiger Sturm an, doch der Aufsichtsrats-
vorsitzende reiste über die Osterfeiertage
»Mit den Händen sehen«
nach Peru. Während Achleitner mit Fami-
lie durch die Inka-Stadt Machu Picchu
stapfte, zerrissen sich daheim Analysten,
Aktionäre und Journalisten die Mäuler,
wer die Deutsche Bank – in ähnlicher Ver-
fassung wie die peruanische Ruinenstadt
– überhaupt noch führen könne.
Erst als über Ostern ein bitterer Ab-
schiedsbrief seines Zöglings Schenck bei
ihm eintraf, drehte Achleitner bei. In dem
Schreiben rechnet Schenck mit der deut-
schen Finanzaufsicht ab, die Investment-
banking für Teufelszeug halte, sowie dem
Aufsichtsrat, der dem nichts entgegen-
setze. Deshalb müsse er demissionieren,
schlussfolgerte Schenck – und setzte Ach-
leitner damit unter Handlungszwang.
Zurück in der Heimat, präsentierte der
Aufsichtsratschef einem engen Kreis von Der Sportarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Aktionären und Vertrauten drei teils bi-
zarre Alternativen: Entweder man stelle im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteur
Cryan bis zum Ende seines Vertrags einen
Co-Chef zur Seite – wer das sein und wel- Jörg Blech über die Kunst der Diagnose,
ches Problem das lösen könnte, blieb offen.
Oder man hole einen Externen – den er seine Medizin und sein erstaunliches Leben.
allerdings nicht hatte, seinem monatelan-
gem Werben war niemand erlegen. Wes-
halb ernsthaft nur die dritte Variante in-
frage kam: Sewing, den verbliebenen
Kronprinzen, an die Spitze zu hieven –
Chefsuche nach dem Ausschlussprinzip.
Hektisch wurden für den Sonntag nach
Ostern die größtenteils ahnungslosen Auf-
sichtsräte zusammengetrommelt, um den
Vorstand neu zu sortieren. Für eine physi-
sche Zusammenkunft reichte die Zeit nicht, Donnerstag, 26. April 2018, 19 Uhr
der Wechsel an der Spitze des wichtigsten
deutschen Finanzkonzerns sollte per Tele- Klinikum der Universität München
fonschalte abgenickt werden.
Und abermals lief es nicht nach Dreh- Liebig-Hörsaal
buch: Anstatt wie geplant eine Stunde dau-
erte die Konferenzschaltung vier Stunden, Butenandtstraße 13, 81377 München
einzelne Räte machten sich über Achleit-
ners missratene Regie Luft. Immerhin
konnte sich der Netzwerker auf treue Ver- Der Eintritt ist frei. Einlass ab 18.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
bündete wie Ver.di-Chef Frank Bsirske Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich
und E.on-Boss Johannes Teyssen verlas- für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an.
sen, die Kritik abbügelten. Cryan wurde
mit dürren Worten verabschiedet.
Nun also soll es Sewing richten. Der
Westfale ist nach fast 30 Berufsjahren im
Hause beliebt, hat aber in seinem Fachres-
sort kaum nachweisen können, für höhere
Aufgaben gewappnet zu sein. Sein Auf-
stieg ist atemberaubend: Bevor er im Juni
2015 in den Vorstand einzog, wo er zu-
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73
Medien
Journalisten Schönenborn, Hassel, Ex-Intendantin Piel, Nachfolger Buhrow: »Die gesamte Hausspitze damit befasst«
Der WDR teilt dazu mit, die »damals Der Reporter kämpfte weiter. Er versuch- gelegenheiten einzelner Mitarbeiter nicht
Verantwortlichen« seien »den betreffen- te es ein Jahr später erneut, bei Jörg Schönen- öffentlich äußern. Dabei war es nicht das
den anonymen Hinweisen intensiv und born, damals Chefredakteur. Es war eine erste Mal, dass Schönenborn so unsensibel
sorgfältig nachgegangen«. Die »Anschul- zweiteChancefürdenWDR.Siewurdevertan. vorging. Er war es auch, der jenen WDR-
digungen« hätten sich »weder entkräften Der Auslandsreporter erinnerte Schö- Mann, der sich selbst »Alpha-Tier« nannte,
noch belegen« lassen. Es habe auch für die nenborn an den Bericht über sexuelle Be- auf prestigeträchtige Korrespondentenstel-
damalige direkte Vorgesetzte »keine Mög- lästigung, wollte, dass er ihn liest. Der len schickte. Obwohl Schönenborn die Ge-
lichkeit gegeben, konkrete Maßnahmen Hierarch antwortete ausweichend. Er kön- rüchte über sexuelle Belästigung aus den
zu ergreifen«. ne sich »ehrlicherweise nicht erinnern, ob Neunzigerjahren kannte. Sie seien »in der
Dem Redakteur half es damals auch ich damals den Bericht zur Einsicht be- Chefredaktion unter Jörg Schönenborn seit
nicht mehr viel, dass die Personalrätin et- kommen habe«. Und gab zu: »Es entsprä- 2002 intensiv und ohne Ergebnis geprüft
was später protestierte, weil im Schreiben che den Gepflogenheiten und wäre unge- worden«, teilt der WDR mit. Und Schönen-
der Personalabteilung »eine substanzielle wöhnlich, wenn das nicht passiert wäre.« born sagt: »Ich hätte mir gewünscht, dass
Darstellung« fehle. Die Personalrätin mach- Fast so, als ob solch ein Bericht nichts wäre, ich die Informationen, die uns heute vor-
te darauf aufmerksam, dass der Reporter an das man sich erinnern müsse. liegen, schon damals gehabt hätte. Denn
keineswegs eigenmächtig gehandelt habe, Und dann? Ist Schönenborn alarmiert? mit dem Wissen von heute hätte man da-
sondern von der Fernsehdirektorin beauf- Nimmt er sich der Sache, die ja keine Klei- mals andere Entscheidungen getroffen.«
tragt worden sei. Doch da war er offensicht- nigkeit ist, an und liest den Bericht? »Ob Dabei sind im WDR-Funkhaus erschre-
lich schon als Nestbeschmutzer abgestem- ich dies nachhole«, schrieb Schönenborn ckend wenige überrascht über die Enthül-
pelt worden. in jener Mail, »habe ich für mich noch lungen. »Es war doch allgemeiner Flurfunk,
Die Betroffenen fühlten sich entmutigt. nicht entschieden.« dass der Kollege Frauen nachstellte«, sagt
Eine von ihnen berichtet, dass ihr über die Das Spiel, in dem die Falschen bestraft einer über den mittlerweile freigestellten
Gespräche mit der Personalrätin hinaus werden, geht indes weiter. Ein Jahr später Korrespondenten. Einige erzählen dann
keine Versuche der WDR-Führung be- beförderte Schönenborn den Beschuldig- noch eine Episode, wie jener Kollege bei
kannt seien, ihr Vertrauen und das der an- ten auf eine Korrespondentenstelle. Und einem Oktoberfest des Bayerischen Rund-
deren Frauen zu gewinnen. Etwa über sorgte mit dafür, dass der Reporter, der die funks mit seinem Handy unter den Rock
einen externen Anwalt, der die Vorwürfe Hinweise gab, eine solche nicht bekommt, tanzender Frauen gefilmt und wütend rea-
sammelt. Die Hierarchie habe sich stets als das zeigen die Dokumente. gierte habe, als ihn Kollegen aufforderten,
geschlossener Block präsentiert. Und als Der WDR teilt mit: »Die Unterlagen, die das zu unterlassen.
der Hinweisgeber abgestraft wurde, »sei Ihnen vorliegen, ergeben offensichtlich kein Markus Brauck, Ann-Katrin Müller
jeder Frau klar geworden, hier will nie- vollständiges Bild der Abläufe und Hinter- Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de
mand, dass sich etwas ändert«. gründe.« Man könne sich im Detail zu An-
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Ausland
»Wer nicht klaut, wer keine Verwandten in Miami hat und keine Devisen, für den ist Kuba die Hölle.« ‣ S. 88
Kommentar
Ausgehöhlte Demokratie
Nach dem Wahlsieg von Viktor Orbán ist Ungarn faktisch wieder ein Einparteienstaat.
Der gefährlichste Politiker in der EU heißt Viktor Orbán, und Die Europäische Union hat bisher kaum etwas getan. Ein
der Wille, ihm etwas entgegenzusetzen, ist in den europäischen Brüsseler Rechtsstaatlichkeitsverfahren haben nur die Polen am
Hauptstädten gering ausgeprägt. Orbán hatte bereits acht Jahre Hals, weil ihre Gerichtsreform offensichtlich gegen den Grund-
lang Zeit, die ungarische Demokratie auszuhöhlen. Seit er am satz der Gewaltenteilung verstößt. Orbán dagegen provozierte
vergangenen Sonntag überraschend sogar eine Zweidrittelmehr- die EU immer nur so weit, dass sie gerade noch nicht einschritt.
heit im Parlament ergattern konnte, herrscht nun – wie schon Außerdem hat er Freunde, wichtige Freunde. Bei der CSU
vor der Wende von 1989 – wieder eine einzige Partei unange- darf er regelmäßig über seine Anti-Flüchtlings-Politik reden.
fochten: Orbáns Fidesz. Innenminister Horst Seehofer nahm ihn nach der Wahl vor einer
Seine Macht hat sich schleichend ausgebreitet. Fidesz-Leute europäischen »Politik des Hochmuts« in Schutz. Zudem ist
haben nach und nach fast alle wichtigen öffentlichen Positionen Fidesz Mitglied der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament,
besetzt. Die Wirtschaft kontrolliert er über ein Netzwerk Seite an Seite mit Angela Merkels CDU. Man hat von seinen
befreundeter Unternehmer, die er mit staatlichen Aufträgen (und deutschen Freunden kaum Kritik gehört an Orbáns antisemitisch
viel EU-Geld) versorgt. Sein Nationalismus beherrscht eingefärbtem Wahlkampf. Andere Populisten und Möchtegern-
den öffentlichen Diskurs. Wer kann Orbán noch aufhalten? Autokraten in Europa dürften sich ermuntert fühlen. Jan Puhl
Fußnote
108000
Euro und ein Jahr Gefängnis sind seit
Anfang des Monats in Saudi-Arabien
die Höchststrafe, wenn ein Ehepartner
das Handy des anderen ausspioniert.
Das Gesetz schützt de facto vor
allem Männer vor Nachforschungen
ihrer Frauen, die Beweise für eheliche
Untreue finden wollen.
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Ausland
A
ufnahmen nach einem Chemie- einem von Aufständischen besetzten Vor- erreicht: US-Präsident Donald Trump hat
waffenangriff sind schwer aus- ort von Damaskus. Zwar gibt es weder für eine militärische Strafaktion in Aussicht ge-
zuhalten: Säuglinge, die nach Luft die Authentizität aller Bilder noch für die stellt, die alles übersteigen soll, was es an
schnappen und von Rettern be- Urheberschaft des Assad-Regimes einen westlichen Interventionen gegen das As-
atmet werden; verzweifelt schreiende Müt- endgültigen Beweis. Und doch hat der An- sad-Regime bisher gab. Auch Großbritan-
ter; Kinder, die mit Wasser abgespritzt wer- griff vom vergangenen Samstag eine Welt- nien und Frankreich wollten sich daran be-
den, um sie von Chemikalien zu befreien; gemeinschaft aufgeschreckt, die dem Krieg teiligen. Wann der Angriff stattfinden sollte
Menschen mit Schaum vor dem Mund. in Syrien ansonsten eher teilnahmslos folgt. und wie groß er wirklich ausfallen würde,
Es sind Aufnahmen, wie sie auch nach Was alle anderen Schreckensnachrichten stand am Donnerstag noch nicht fest.
dem mutmaßlichen Chemiewaffenangriff aus Syrien nicht schafften, haben die grau- Mohammed Adel aus Duma hat von
vor einer Woche in die Welt hinausgesen- envollen Bilder und die Nachricht vom Ein- dem Angriff auf seinen Stadtteil nicht nur
det wurden – aus dem syrischen Duma, satz international geächteter Chemiewaffen Bilder gesehen, er sagt, er habe die Folgen
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Duma nach Luftschlag, US-Präsident Trump
»Mach dich bereit, Russland«
Syrien-Strategie im Moment keine Rede auf das Assad-Regime russische Opfer for- und die Kosten des Wiederaufbaus auf
mehr sein. dere, werde man sowohl Raketen angrei- fremde Schultern verteilt – davon würden
Die meisten Beobachter nahmen an, fen wie auch die Flugzeuge oder Schiffe, vor allem russische sowie iranische Unter-
dass der Vergeltungsschlag umfangreicher von denen sie abgeschossen würden. Mos- nehmen profitieren. Dazu müsste aber
ausfallen würde als jener im April 2017. kaus Militärs gingen aber davon aus, dass erst die internationale Gemeinschaft be-
Damals hatte das Assad-Regime im syri- die Amerikaner sie auch diesmal warnen reit sein, die Rechnung zu zahlen. Und
schen Chan Scheichun Rebellen mit dem würden, wie und wo sie genau angreifen – das geht nicht, solange Assad im Amt ist.
Nervengift Sarin attackiert. Trump, scho- so wie es bereits 2017 geschehen war. Das Doch nicht nur die Opposition, auch As-
ckiert von den Bildern toter Babys, befahl berichtete die Zeitung »Kommersant«. sad selbst unterläuft Moskaus Politik. Er
einen Vergeltungsschlag, der vor allem Falls es nicht zu einer versehentlichen will keinen Kompromiss, wenn er auch
symbolischer Natur war. Die USA griffen Eskalation kommt, werden die US-Schläge den ganzen Sieg haben kann. Und so wird
mit 59 Marschflugkörpern den Flughafen gegen das Regime aber wohl nur geringen Russland, das bereits zweimal den Rück-
Schairat an, von dem der syrische Flieger Einfluss auf die Dynamik des Konflikts im zug aus Syrien verkündet hat, dauerhaft
wohl gestartet war. Der Flughafen war 24 Land haben. Für die Zukunft Syriens sind in diesen Krieg gezogen.
Stunden später wieder voll funktionsfähig. andere Entscheidungen wichtiger. Etwa Iran hat einen sehr viel tief greifenderen
Trumps Problem ist, dass er derzeit die Frage, was aus den US-Stützpunkten Einfluss auf Assad als Russland und rivali-
gegenläufige Impulse miteinander verbin- und Soldaten im Nordosten wird, dort, wo siert zugleich mit ihm. Teheran ist mit dem
den muss. Einerseits will er Assad für den das syrische Öl liegt, worauf das Regime Regime geradezu verwoben: politisch, mi-
Gifteinsatz auch diesmal bestrafen, ande- gern wieder Zugriff haben möchte. Rund litärisch, wirtschaftlich. Sein Ziel ist der
rerseits will er den Eindruck vermeiden, 2000 US-Soldaten sind dort auf kurdi- sogenannte schiitische Halbmond, ein Ein-
sich langfristig militärisch zu engagieren. schem Gebiet stationiert, diese militäri- flussgebiet, das in den Libanon reicht –
Auch gute Beziehungen zu Moskau sind sche Präsenz ist die einzige Trumpfkarte, und Israel bedroht.
ihm nach wie vor wichtig. die die USA im Land haben. Die Türkei schließlich: Sie wollte zu Be-
Syrien ist das erste und bislang einzige Wie es in Syrien weitergeht, entschei- ginn Syrien neu ordnen, nun kämpft Prä-
Beispiel, das Trump veranlasste, Wladimir den aber nicht die Amerikaner, sondern sident Recep Tayyip Erdoğan darum, zu-
Putin namentlich zu kritisieren. Russland hauptsächlich jene, die deutlich mehr Sol- mindest nicht ganz leer auszugehen. Sei-
dürfe sich nicht mit einem »Gas Killing Ani- daten und Milizen in Syrien haben: Russ- nen Plan, Assad zu stürzen und durch Is-
mal« wie Assad verbünden, »der sein Volk land, Iran und die Türkei. lamisten zu ersetzen, hat er längst aufge-
umbringt und Spaß daran findet«, schrieb Vor allem an Russland führt in Syrien geben, auch wenn er das noch nicht zugibt.
Trump am Mittwoch. Vorsichtshalber schick- kein Weg vorbei, es hat sich mit seiner Ihm geht es nun vor allem darum, in Sy-
te er hinterher, dass die Russland-Ermittlun- Intervention 2015 zurück auf die Liste der rien einen Kurdenstaat zu verhindern und
gen in den USA das amerikanisch-russische Weltmächte katapultiert – doch langsam sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet
Verhältnis belasteten, nicht er. Auch hier ver- wird Syrien für Moskau lästig. Zwar wur- Land zu sichern.
sucht er den Einerseits-andererseits-Ansatz, de der Sieg der Assad-Gegner verhindert, Und dann ist da noch Israel: Bisher steht
was die Verwirrung nur noch erhöht. wurde zusätzlich zum eher unbedeuten- es als einer der großen Verlierer da. Lange
Derweil wurde in Moskau trotz der An- den Marinestützpunkt in Tartus die riesige schaute es nur zu, was da im Nachbarland
griffsdrohung aus Washington heitere Luftwaffenbasis Hmeimim in der Nähe er- passierte, denn es schien ihm zugutezu-
Gleichgültigkeit demonstriert. Im Fernseh- richtet. Aber in Moskaus Strategie sollte kommen, dass seine Erzfeinde Assad, Iran
kanal Rossija 24 wurde scherzhaft, aber eigentlich ein zweiter Schritt folgen: mit und die libanesische Hisbollah in einen
ausführlich darüber beraten, welche Pro- militärischen Mitteln eine politische Lö- Krieg gegen die Rebellen verwickelt wa-
dukte man im Bunker dauerhaft einlagern sung zu erwirken, die den Krieg beendet ren. Nun, da diese Phase des Kriegs ihrem
könne. Der Kreml gab sich ruhig. Auf Ende zuzugehen scheint, ist die Ernüchte-
Trumps Twitter-Warnung werde man nicht rung in Israel groß. Die Erzfeinde trium-
mit gleichen Mitteln antworten, sagte Pu- Animation phieren und strotzen nur so vor neuem
Wie Giftgas vernichtet
tins Sprecher Dmitrij Peskow. werden kann Selbstbewusstsein, neuer Waffentechnik
Allerdings hatte Generalstabschef Wa- spiegel.de/sp162018syrien
und Kampferfahrung.
lerij Gerassimow schon im März eine neue oder in der App DER SPIEGEL »Egal, was der Preis dafür ist, wir werden
rote Linie gezogen: Wenn ein US-Angriff Iran nicht erlauben, dauerhaft in Syrien Fuß
zu fassen«, sagte Israels Verteidigungs- der man sich nicht mehr befreien kann. lien wie eingesetzt wurden – was einen
minister Avigdor Lieberman am Dienstag. Auch weil er selbst nicht hineingeraten Verdacht erhärten könnte.
»Wir haben keine andere Wahl.« Israel sieht wollte, hatte er es 2013 vermieden, seine Dass in Duma etwas Schreckliches ge-
die Iraner als existenzielle Bedrohung für »rote Linie« für eine Intervention durch- schehen sein muss, lässt sich kaum leug-
sich an. Rund hundert Angriffe hat Israel zusetzen: einen Chemiewaffenangriff. Ob nen. Dutzende Zeugen wie Mohammed
seit 2013 gegen Stellungen in Syrien geflo- diese Weigerung schlau war oder alles Adel berichten von dem, was sie gesehen
gen. Auch Israel wird immer tiefer in den schlimmer gemacht hat, darüber wird bis haben. Vom Brummen der Hubschrauber,
syrischen Krieg hineingezogen. heute erbittert gestritten. bevor der Abwurf erfolgte, von den Leu-
Israel war es anscheinend auch, das kurz Nun ist es wieder ein mutmaßlicher ten, die »Chemiewaffen, Chemiewaffen!«
nach dem Giftangriff vom Samstag als Ers- Chemiewaffenangriff, der das syrische riefen. Vom Chlorgeruch in der Luft. Die
ter militärisch im Nachbarland interve- »quagmire« für alle Beteiligten zu verstär- Rechercheplattform »Bellingcat« hat Auf-
nierte: Auf dem syrischen Luftwaffenstütz- ken droht – ohne dass es für irgendeine nahmen ausgewertet, die vor Ort einen ty-
punkt T-4 zwischen Homs und Palmyra Seite einen klaren Ausweg gibt. pischen gelben Gaskanister zeigen, wie sie
kam es in der Nacht auf Montag zu Explo- Am Samstag wollen nun erst einmal die schon bei früheren Angriffen des Regimes
sionen, bei denen offenbar sieben Iraner internationalen Inspektoren der Organisa- mit chemischen Kampfstoffen zu sehen
getötet wurden, darunter nach iranischen tion für das Verbot von Chemiewaffen waren – seit 2013 hat die Uno-Sonderkom-
Berichten auch ein Drohnenexperte. (OPCW) nach Syrien reisen. Zwar behaup- mission zu Syrien 33 Chemiewaffeneinsät-
Niemand übernahm für den Angriff die tet der französische Präsident Emmanuel ze im Land dokumentiert.
Verantwortung. Doch laut russischem Ver- Macron, über einen »Beweis« zu verfügen, In Duma wurden laut Weltgesundheits-
teidigungsministerium feuerten zwei israe- dass das Regime Chemiewaffen einsetzte. organisation rund 500 Patienten behan-
lische Kampfjets vom libanesischen Luft- Westliche Geheimdienste sollen sogar ver- delt, die Symptome aufwiesen wie nach
raum aus die Raketen ab. sucht haben, Leichen und andere Beweis- einem Giftgasanschlag. 43 Menschen seien
Israel hat sich lange darauf verlassen, mittel aus Duma herauszuschmuggeln. gestorben.
dass Russland in der Lage sei, seine rote Laut dem Sender MSNBC konnten die Warum aber sollte das syrische Regime
Linie in Syrien durchzusetzen – keine un- USA in Urinproben von Opfern Chlorgas chemische Kampstoffe einsetzen, wenn es
mittelbare Bedrohung Israels durch Iran. und ein Nervengift nachweisen. kurz vor dem Sieg steht? Ein Motiv könnte
Doch die Russen können das offenbar Doch die OPCW erwartet eine schwie- gewesen sein, den Abzug der verhassten
nicht, Irans Revolutionswächter agieren in rige Aufgabe. Mehr als eine Woche ist seit Rebellen zu beschleunigen. Duma war die
Syrien zunehmend dreist. Im Februar stell- dem mutmaßlichen Anschlag bereits ver- letzte Enklave, die noch in ihrer Hand ge-
ten sie Tel Aviv eine Falle, die zum Ab- gangen, der mutmaßliche Tatort wurde blieben war. Oder war es Rache? Die in
schuss eines israelischen Jets führte. nicht abgeriegelt, Militärs haben ihn be- Duma herrschende islamistische »Armee
Nach den Angriffen vom Sonntag droh- sucht. Erschwerend kommt hinzu, dass die des Islam« war vergleichsweise kampf-
te Iran den Israelis – und in Tel Aviv internationalen Chemiewaffen-Ermittler stark – und beschoss das nahe Damaskus
nimmt man diese Warnung durchaus ernst. geschwächt sind. Das Mandat des interna- regelmäßig mit Granaten.
Dort befürchtet man, dass nach einem US- tionalen »Joint Investigative Mechanism« Lange hatten die Islamisten einen
Luftschlag auf Syrien die Iraner von dort (JIM) wurde nach russischem Veto vergan- Trumpf in der Hand: Sie hielten angeblich
aus wiederum Israel attackieren könnten. genes Jahr nicht verlängert. Nur der JIM mehrere Tausend Regimeangehörige ge-
Barack Obama hat Russland in Syrien dürfte die Schuldfrage klären; die Ermittler fangen – eine Übertreibung, mit der das
einst ein »quagmire« prophezeit, das heißt der OPCW dürfen zur Verantwortung syrische Regime seinen eigenen Anhän-
wörtlich übersetzt: Morast. Im übertrage- nichts sagen. Sie können nur in mühsamer gern Mut machen wollte, dass längst Ge-
nen Sinn bedeutet es eine Situation, aus Detektivarbeit klären, welche Chemika- fallene und Ermordete vielleicht noch leb-
ten. Als sich herausstellte, dass viele der
vermeintlichen Gefangenen wohl tot wa-
TÜRKEI ren, war die Enttäuschung schmerzhaft
Kamischli
und der Wunsch nach Rache groß – die
Rebellen hatten ihr Pfand verloren.
Afrin Manbidsch
Mohammed Adel, der Mann aus Duma,
Aleppo der in den Norden des Landes geflohen
Rakka ist, will trotzdem noch nicht daran glau-
Eup
Idlib hra ben, dass für seine Seite alles verloren ist.
t
IRAK »Ich hoffe ja immer noch, dass der Westen
Chan
Deir al-Sor helfen wird, Assad abzusetzen, sei es mit
Hmeimim Scheichun militärischem Druck oder durch politische
SYRIEN Verhandlungen«, sagt er. »Und wozu brau-
Mittel- Tartus Homs chen die Russen noch Assad? Sie beherr-
meer schen doch sowieso alles. Wenn der Wes-
Schairat »T-4« Palmyra ten und Russland sich einigen könnten,
LIBANON Assad abzusetzen, wäre das am besten.
Regierung und Verbündete Dann könnten auch die Flüchtlinge, die
Anti-Assad-Rebellengruppen, Vertriebenen innerhalb Syriens wie außer-
Duma
u. a. die ehemalige Nusra-Front halb zurückkehren in ihre Häuser, auf
Damaskus
ihr Land.«
YPG-geführte kurdische Milizen
Christian Esch, Maximilian Popp,
GOLAN vom türkischen Militär oder von Christoph Reuter, Mathieu von Rohr,
JORDANIEN türkeinahen Milizen kontrolliert Raniah Salloum, Christoph Scheuermann
Daraa
Mail: mathieu.von.rohr@spiegel.de
Quelle: syria.liveuamap.com; Stand: 12. April IS-Rückzugsgebiete
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Ausland
D
er israelische Historiker und Au- SPIEGEL: Herr Segev, in Ihrem neuen Segev: Das glaube ich, ja. Es gibt eine
tor Tom Segev, 73, ist einer der Buch haben Sie sich an den Staatsgründer große Sehnsucht nach dem, was ich staats-
besten Erklärer seines Landes, David Ben-Gurion herangewagt. Sie zei- männische Integrität nennen würde. Und
kaum einer hat so viele histori- gen ihn als zerrissenen Menschen, der das hat natürlich mit Benjamin Netanyahu
sche Mythen zertrümmert wie er. In sei- depressive Phasen hat und oft wochenlang und seinen angeblichen Korruptionsaffä-
nem neuen Buch holt er ausgerechnet Is- im Bett liegt. Er lügt und drückt sich vor ren zu tun. Außerdem steht Israel auch
raels größten Helden vom Sockel: David Verantwortung. Waren die Israelis ent- heute noch immer vor denselben Proble-
Ben-Gurion, den ersten Premierminister, täuscht von diesem jämmerlichen Hel- men, die bereits Ben-Gurion beschäftigten.
der vor 70 Jahren, am 14. Mai 1948, die den? SPIEGEL: Aber dann entzaubern Sie ihn
Unabhängigkeit erklärte*. Segev: Jämmerlich würde ich ihn nicht nen- gleich wieder. Wie kamen Sie dazu?
Segev empfängt in seiner Jerusalemer nen. Aber ja, manche waren enttäuscht – Segev: Inzwischen ist Material verfügbar,
Wohnung, er spricht fließend Deutsch; in und andere angenehm überrascht. Ben- das bisher nicht erhältlich war, so kann ich
den Siebzigerjahren arbeitete er als Kor- Gurion war immer eine sehr kontroverse sehr viel Neues über ihn erzählen. Außer-
respondent in Bonn, seine Mutter stammt Figur, er hat ja auch bei Wahlen nie mehr dem schreibt Ben-Gurion Tagebuch, seit
aus Göttingen. Sie eröffnete ein Fotostudio als ein Drittel der Stimmen bekommen. er 14 ist – er schreibt fast jeden Tag, bis er
in Jerusalem und machte 1963 das Porträt, Gleichzeitig ist er heute unglaublich populär mit 87 stirbt. Die früheren Biografen ha-
das nun Segevs Buchcover schmückt. Ben- in Israel. Allein in den sechs Jahren, in de- ben es vor allem als politisches Dokument
Gurion lächelt darauf ein wenig schel- nen ich an dem Buch gearbeitet habe, sind gelesen, aber mich haben auch seine Ängs-
misch, die Haare stehen wild ab. Vier Tage vier andere Biografien über ihn entstanden. te, Gefühle und Krisen interessiert. Denn
später trat er zurück. Das wusste er wohl SPIEGEL: Weil die Menschen sich nach ich glaube, es ist sehr relevant, wenn ein
schon, als das Foto entstand. einem Staatsmann sehnen? Staatsmann einen Beschluss fasst an einem
Tag, an dem er furchtbar deprimiert ist.
Oder nehmen Sie seine vier außerehe-
lichen Affären. Ich räume ihnen Platz ein,
weil ich glaube, dass auch das Private et-
was über einen Politiker aussagt.
SPIEGEL: Ist er Ihnen über all die Jahre
sympathisch geworden?
Segev: Er hat mich sechs Jahre lang wirk-
lich fasziniert, jeden Tag. Trotz allem, was
ich über ihn wusste, war ich oft überrascht.
Ich weiß nicht, ob es sympathische Staats-
männer von diesem Kaliber geben kann,
aber er war definitiv nicht sympathisch.
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
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ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Palästinenserprotest im Gazastreifen: »Vielleicht steht ein neuer Unabhängigkeitskrieg bevor, vielleicht eine neue Nakba«
Segev: Nein, es ist traurig, weil er seine ral, ich kenne mich damit nicht aus! Aber benden als enttäuschendes »Menschenma-
Frau auch so behandelt hat. Er hat sie einen wenn ihr wollt, kann ich zurücktreten. terial« bezeichnet, das er gar nicht in Israel
Winter lang in Polen sitzen lassen, später SPIEGEL: Er tritt quasi ständig zurück. haben will. Oder über die »primitiven« Ju-
hat er sie in einen Kibbuz in der Negev- Segev: Ja, diese Drohung hat immer funk- den aus den arabischen Ländern spricht.
Wüste geschleppt. Er war sehr oft nicht tioniert. Das wirkte dann so, als ginge es Segev: Es geht ihm um die Nation; es geht
da, er hat sich zumeist nur wenig für sie ihm gar nicht um die Macht, sondern nur ihm darum, das historische Schicksal sei-
interessiert. Er war nicht nett. um die Sache. nes Volkes neu zu gestalten. Den Holo-
SPIEGEL: Wir haben beim Lesen auch SPIEGEL: In seinem zweiten Brief, den er caust betrachtet er daher in erster Linie
manchmal gelacht. aus Palästina an seinen Vater in Polen als ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
Segev: Das ging mir beim Schreiben eben- schreibt, da ist er 20, bittet er ihn, alle Brie- SPIEGEL: Und trotzdem wurde Israel am
so. Ich habe aber gerade gestern von je- fe aufzuheben. Er ist sich seiner histori- 14. Mai 1948, gerade drei Jahre nach dem
mandem gehört, er habe geweint. schen Rolle sehr früh bewusst. Ende des Zweiten Weltkriegs, gegründet.
SPIEGEL: Man kann sicher auch weinen, Segev: Ich habe Ben-Gurion ein einziges Segev: Ja, und wenn man heute auf diesen
er ist fast schon ein tragikomischer Held. Mal getroffen, vor genau 50 Jahren; er war Staat blickt, kann man sagen: Er ist eine
Segev: Ja, vielleicht. Manches, was er tut, damals 81, wir waren Anfang 20 und ar- der größten Erfolgsstorys des 20. Jahrhun-
ist widersprüchlich und schwer zu erklären. beiteten für eine Studentenzeitung. Er hat derts. Wenn Sie sich die internationalen
Er hat oft verrückte Einfälle. So wollte er uns da erzählt, er habe mit drei Jahren ge- Statistiken anschauen, ist Israel oft unter
Nasser in Ägypten stürzen. Oder Albert wusst, dass er nicht in Polen bleiben werde. den Top 15. Das alles wurde unter Ben-
Einstein zum Präsidenten machen. Und, Ich habe die Aufnahme noch, man hört Gurion aus dem Nichts erschaffen. Und ge-
auch das war ein Ergebnis meiner Recher- mich da ungläubig fragen: »Aber Herr Ben- nauso kann es auch wieder verloren gehen.
chen: Ben-Gurion hat im Frühjahr 1947 Gurion, das haben Sie wirklich mit drei Das ist die ständige Angst, die wir Juden
versucht, das britische Mandat um fünf bis Jahren schon gewusst?« Und er sagt: »Ja, in uns tragen. Die Angst vor einem zweiten
zehn Jahre zu verlängern. Dieser Mann, ja, natürlich mit drei Jahren. Alle haben es Holocaust. Ben-Gurion hatte sie. Netanya-
der sein Leben lang von einem jüdischen gewusst, natürlich, das war gar keine Fra- hu hat sie. Wir fürchten immer das Ende.
Staat träumt – einem Staat, der in diesem ge.« Ich dachte damals, dass da ein alter SPIEGEL: Ben-Gurion ist von Anfang an
Moment schon so nah erscheint –, der bittet Mann Unsinn redet. Aber als ich nun re- überzeugt, es könne nie Frieden mit den
plötzlich die Briten, doch nicht aus Palästi- cherchiert habe, habe ich begonnen, das Arabern geben. Wieso?
na abzuziehen. Er tut das, weil seine Streit- zu glauben. Der Zionismus war für ihn der Segev: Das Interessante ist, dass er zu
kräfte noch nicht bereit sind für den Krieg. Kern seiner Identität, sein Lebensinhalt. diesem Schluss nicht etwa 1948 kommt,
Und das ist natürlich hauptsächlich seine SPIEGEL: Gleichzeitig hat man oft das sondern bereits 1919. Er sagt da: Ich kenne
Schuld. Doch wenn man ihn damit kon- Gefühl, die Juden als Menschen seien ihm keinen Araber, der bereit sein wird, uns
frontiert, sagt er nur: Ich bin ja kein Gene- egal. Etwa wenn er die Holocaust-Überle- hier zu akzeptieren. Er träumt daher schon
früh von einem Transfer der arabischen flikt nicht lösen, sondern nur managen Und das ist so interessant, weil er an man-
Bevölkerung, deswegen war er sogar be- kann. Er sagte: Nur wenn Israel stark ist, chen Orten dabei ist und sieht, wie Ko-
reit, die Teilung Palästinas zu akzeptie- wenn die Araber einsehen, dass sie Israel lonnen von Flüchtlingen die Stadt ver-
ren – wenn dieses Land dann möglichst nicht vernichten können, dann werden sie lassen.
frei von Arabern wäre. Alles, was seither akzeptieren, dass wir hier sind. Mit Ägyp- SPIEGEL: Er geht durch das leere Haifa
geschehen ist, kann man als das Resultat ten und Jordanien ist es so gekommen, mit und schreibt danach in sein Tagebuch:
dieser Erkenntnis sehen: dass es mit den den Palästinensern nicht. Ben-Gurion hoff- »Ein fantastischer Anblick.«
Arabern keinen Frieden geben kann. te, die Palästinenser vergessen ihr Land. Segev: Ja. Und dann schreibt er, er verste-
SPIEGEL: Das widerspricht der üblichen SPIEGEL: Es ist anders gekommen. Und he das gar nicht, warum sind die geflohen?
Lesart, Israel habe die Teilung und Frieden so demonstrieren in diesen Tagen Tausen- Ich denke, er schreibt und sagt all das im
gewollt, die Araber hätten das abgelehnt – de Palästinenser im Gazastreifen für die Nachhinein, weil er den zionistischen
und seien somit schuld an den Folgen. Rückkehr nach Israel – in Dörfer, aus de- Traum schöner haben will, als er in Wirk-
Segev: Die Araber haben ja in der Tat die nen einst ihre Urgroßeltern geflohen sind. lichkeit ist. Er will an seine moralische
Teilung abgelehnt und sich geweigert, Is- Segev: Es ist interessant, dass Ben-Gurion Überlegenheit glauben.
rael zu akzeptieren. Für Ben-Gurion war das so unterschätzt hat. Ausgerechnet die- SPIEGEL: Dieses Gefühl der moralischen
das eben ein Teil des Preises; das Leben ser Mann, dessen ganzes Handeln auf dem Überlegenheit spürt man noch heute. In
in einem unabhängigen jüdischen Staat in Nichtvergessen beruht, auf der Idee: Wir den vergangenen zwei Wochen haben is-
Palästina, das bedeutete auch: ein Leben Juden kehren in unser Land zurück. Aber raelische Soldaten rund 30 Demonstran-
ohne Frieden. Allerdings äußerte er sich dann hat er sich eingeredet, dass die Flucht ten im Gazastreifen erschossen. Aber in
öffentlich oft anders als privat. In Inter- der Palästinenser 1947/48 bedeutet, dass Israel rührt sich kaum Protest. Nach dem
views hat er stets gesagt: Ja, natürlich glau- sie geistig und historisch nicht so tief ver- Motto: Es wird schon richtig sein, wenn
be ich an Frieden. Einmal hat er erklärt, bunden sind mit dem Land wie wir Juden. unsere Soldaten Palästinenser erschießen.
warum er das sagen müsse: weil sonst nie- SPIEGEL: Deshalb forciert er auch die Ver- Segev: Leider gibt es nur wenige Israelis,
mand auf der Welt den Zionismus unter- treibung von fast einer Dreiviertelmillion die sich noch für die Palästinenser interes-
stützen würde und weil sonst keine jüdi- Arabern und toleriert Kriegsverbrechen? sieren. Die Unterstützung für Netanyahu
schen Einwanderer zu erwarten seien. Wa- Segev: Ben-Gurion ist natürlich gegen ist sehr breit. Das liegt zum Teil daran, dass
rum sollten sie in ein Land kommen, das Kriegsverbrechen. Er ist dagegen, dass die er es geschafft hat, den sogenannten Frie-
sich in einem ewigen Krieg befinde? Soldaten rauben und vergewaltigen und densprozess einzuschläfern wie einen alten
SPIEGEL: Dass es nie Frieden mit den Ara- morden, das findet er alles fürchterlich. Hund. Es drohen keine territorialen Zuge-
bern geben kann, glaubt Netanyahu auch. Aber oft toleriert er es eben auch, er hat – ständnisse mehr. Er kann der Bevölkerung
Segev: An vielem hat sich bis heute eben wie soll ich es sagen? – er hat Verständnis sagen: Es ist alles unter Kontrolle, es geht
nichts geändert. Ben-Gurion ist quasi der für patriotische Verbrechen. Er redet sich euch gut. Und das stimmt. Die meisten
Erfinder der Idee, dass man diesen Kon- ein, dass die Araber freiwillig weglaufen. Israelis leben heute besser als je zuvor.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass trotz- rion will die Juden also hier, aber braucht Dreißiger- und Vierzigerjahren befinden.
dem der Hass auf die 38 000 Flüchtlinge sie auch dort. Ein nicht lösbares Dilemma. Die Siedlungspolitik erinnert mich daran.
aus Eritrea und dem Sudan so groß ist? SPIEGEL: Ist denn das heutige Israel der Vielleicht steht ein neuer Unabhängigkeits-
Segev: Weil sie schwarz sind. Es gibt viele Staat, den Ben-Gurion sich vor 70 Jahren krieg bevor, vielleicht eine neue Nakba,
Gastarbeiter in Israel, aus der Ukraine, erträumt hat? eine weitere Vertreibung der Palästinenser;
Thailand oder Rumänien. Gegen die hat Segev: Überhaupt nicht. Ein Großisrael vielleicht waren die ersten 70 Jahre unse-
keiner was. Denn die sind nicht schwarz. ist zwar sein langfristiger Traum, aber er res Staates nur das erste Kapitel. Und das
Ich kann mir diesen Hass nicht anders will nicht so viele Araber im Land haben, zweite Kapitel kommt erst noch.
erklären als mit Rassismus. wie es durch den Sechstagekrieg 1967 SPIEGEL: Eine Frage zu Ben-Gurion haben
SPIEGEL: Sogar Netanyahu hat diesen dann geschehen ist. Er wollte vermeiden, wir noch: Hat er sich eigentlich in diesem
Hass offenbar unterschätzt. Vergangene dass wir in eine Situation kommen, wie Staat wohlgefühlt, den er mitgegründet
Woche hatte er einen Kompromiss mit sie uns jetzt bevorsteht: dass es bald keine hat? Er ist pausenlos gereist, er scheint un-
dem Uno-Flüchtlingshilfswerk erzielt, eine jüdische Mehrheit mehr geben könnte. glaublich ruhelos gewesen zu sein.
Hälfte der Flüchtlinge sollte nach Europa SPIEGEL: Sie glauben, Israel ist bald kein Segev: Das ist interessant, nicht wahr? Ich
und Kanada umgesiedelt werden, die an- jüdischer Staat mehr? glaube, dass er auch deshalb sehr viel
dere Hälfte in Israel bleiben. Es gab einen gereist ist, weil er nicht lange mit seiner
Proteststurm. Verstehen Sie das? Frau zusammen sein konnte. Und natür-
Segev: Netanyahu hatte da ein wirklich lich war er ruhelos. Er ist manchmal mo-
gutes Abkommen ausgehandelt. Aber vier
»Vielleicht waren die ersten natelang im Ausland gewesen. Und es gab
Stunden nachdem er es verkündet hatte, 70 Jahre unseres Staates oft keinen Grund dafür. Ich glaube, er war
musste er es revidieren. Weil die Rechten nur das erste Kapitel. Und in Israel nicht glücklich. Er war eigentlich
in seiner Regierung einen Aufstand mach- zutiefst enttäuscht von diesem Land und
ten. Stattdessen sollen sie nach Ruanda das zweite kommt noch.« seiner Gesellschaft. Die Gesellschaft, die
oder Uganda abgeschoben werden, eine er sich erträumt hatte, das Land, das er
ungeheuerliche Idee. Das bestärkt mich in sich erträumt hatte – sie waren europäisch.
meiner Furcht, dass unsere größte Bedro- Segev: Ich fürchte, dass es eines Tages so Doch die Bevölkerung, die dieses Land
hung nicht der Terror oder Krieg ist. Son- kommen wird. vielleicht hätte aufbauen können, war
dern der Angriff auf die israelische Demo- SPIEGEL: Weil beide Seiten sich von der vernichtet worden, und so kam es, dass
kratie. Israel ist immer weniger demokra- Zweistaatenlösung verabschiedet haben die Zionisten unwillig, aber ohne andere
tisch. In unserer Regierung sitzen Minister, und so zwangsläufig auf einen gemeinsa- Alternative, die Juden in der arabischen
die klingen so wie ungarische oder öster- men Staat zusteuern? Welt entdeckten und ins Land brachten.
reichische Rechtsradikale. Wir haben uns Segev: Beide Seiten steuern nicht, sie wer- SPIEGEL: Wir haben jetzt ein paarmal Ne-
immer gesagt, wir hassen keine Araber, den getrieben. Eine Mehrheit von Israelis tanyahu und Ben-Gurion in einem Atem-
wir kennen überhaupt keinen Hass und und Palästinensern glaubt nicht mehr an zug genannt. Was verbindet die beiden?
keinen Rassismus. Aber natürlich hassen die Zweistaatenlösung, sie glaubt auch Segev: Netanyahu war sehr erfolgreich, als
wir die Araber. Und die Schwarzen. Und nicht an Frieden. Genau wie Ben-Gurion Offizier und Student am MIT, er war ein
wir schämen uns nicht mal mehr dafür. vor fast hundert Jahren. Aber niemand sehr populärer Uno-Botschafter und Poli-
SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, weiß, was kommt, niemand hat eine Al- tiker. Er ist, wie soll ich das sagen, ein sehr
wie Ben-Gurion einmal gefragt wird, was ternative. Ich auch nicht. Aber ich weiß, gelungener Mensch. Aber all das gefährdet
denn eigentlich dieser jüdische Staat sei. dass es heute zu spät ist, über einen Abzug er nun mutmaßlich für Schmuck, Zigarren
Und er hat darauf keine Antwort. Wenn der Siedler zu sprechen. Das ist vorbei. und Champagner, das finde ich rätselhaft.
aber gar nicht ganz klar ist, wer eigentlich SPIEGEL: Die Rechten in der Regierung Aber er ist Ben-Gurion in einigem ähnlich,
zu diesem Staat gehört – dann definiert wollen das Westjordanland annektieren wie dieser hat er wirklich das Gefühl, eine
man sich vielleicht eher über die Ableh- und die Palästinenser zu Bürgern zweiter historische Mission zu erfüllen.
nung und den Hass auf die anderen? Klasse machen. Ist das der nächste Schritt? SPIEGEL: Und Ben-Gurion, war der auch
Segev: Sie haben recht. Die Schwierigkeit, Segev: Ich weiß es nicht, aber ich bin lei- ein gelungener Mensch?
eine gemeinsame Identität zu bilden, das der ziemlich pessimistisch. Ich sehe nicht, Segev: Nein, von seiner Biografie her war
ist unser Drama von Anfang an. Ben-Gu- wo dieser Staat hingeht – und ich sehe es er das viel weniger. Er gehörte nie zur ge-
rion führt eine Bewegung, die sich selber auch deshalb nicht, weil ich mich fürchte, sellschaftlichen Elite. Er kam aus einem
nicht definieren kann. Und das ist für ihn es zu sehen. Wir haben uns in den vergan- sehr einfachen Elternhaus, hatte kein Abi-
besonders schwierig, weil er sich ja als genen Jahren in eine sehr schlechte Rich- tur, kein abgeschlossenes Jurastudium. Ei-
Atheist versteht; er isst Schweinefleisch tung entwickelt, nicht wirtschaftlich und nige meinen, dass er sich deshalb mit Tau-
und arbeitet an religiösen Feiertagen. Aber technologisch, das ist alles schön und er- senden Büchern umgeben hat. Anders als
dann stellt sich die Frage: Was ist denn ein freulich. Aber politisch ist es möglich, dass Netanyahu jedoch machte er sich nichts
nicht religiöser Jude? Ist der überhaupt wir uns jetzt wieder in den israelischen aus Luxus.
ein Jude? Und wie definiert man den? Das SPIEGEL: Misst sich jeder israelische Pre-
ist ein Problem, das den Staat Israel bis mierminister irgendwie an Ben-Gurion?
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
heute verfolgt. Ähnlich widersprüchlich Segev: Auf eine gewisse Weise sicher. Ne-
verhält es sich mit dem Zionismus. Ben- tanyahus großes Ziel ist es, länger zu re-
Gurion will alle Juden nach Israel bringen. gieren als Ben-Gurion. Das wäre in einem
Doch viele sind in Amerika sehr glücklich, Jahr der Fall. Das ist ihm sehr wichtig. Er
die brauchen gar keinen jüdischen Staat! will sagen können, er sei der am längsten
Außerdem wäre Israel ohne ihre Unter- regierende Premierminister Israels gewe-
stützung nicht überlebensfähig. Ben-Gu- sen. Wir werden sehen, ob er das schafft.
SPIEGEL: Herr Segev, wir danken Ihnen
* Mit den Redakteuren Alexander Osang und Juliane Segev beim SPIEGEL-Gespräch* für dieses Gespräch.
von Mittelstaedt in Jerusalem. »Ich bin leider ziemlich pessimistisch«
87
Ausland
Jurassic Park
Kuba Raúl Castro tritt als Präsident zurück, sein Nachfolger wird ein farbloser Apparatschik.
Für die Inselbewohner ändert das wenig. Sie sind damit beschäftigt,
ihren absurden Alltag zu meistern – und reden offener als früher über ihre Sorgen.
W
enn man ein paar Tage durch Zu den letzten Konstanten der Weltpoli- teidigungsministerium. Wie auch Strand-
Kuba geht und allen die Frage tik gehört, dass alle paar Jahre jemand resorts in Varadero und auf Cayo Coco so-
stellt: »Wie geht’s Kuba?«, einen neuen, letzten Sargnagel für Kuba wie die kubanischen Pendants der DDR-
passiert etwas Interessantes. herausholt. Derzeit heißt es: Hurra, der Intershops. Die Revolutionären Streitkräfte
Man steht irgendwann vor einem riesigen »Castrismo« endet! Nach fast 60 Jahren. kontrollieren weite Teile des Fremdenver-
Chor der Unzufriedenen: Verkäufer, Rent- Erst kolonisierten Spanier die Insel, dann kehrs. Auch auf Kuba muss man dem Geld
ner, Zuhälter, Kellner, Studenten, Ärzte, machten die Amerikaner eine Art Offshore- folgen, um zu verstehen, wer das Sagen hat.
Türsteher, Soldaten. Alle sind unzufrieden, Casinobordell daraus, danach übernah- Der mutmaßliche neue Präsident Díaz-
praktisch alle finden, dass sich grundsätz- men die Castros. Canel ist für die Außenwirkung da. Das
lich etwas ändern muss, und erzählen von So viel stimmt: Raúl Castro, der große Gesicht Kubas. Hirn und Faust wechseln
ihren Problemen. Absurden Problemen. kubanische Nichtcharismatiker, legt kom- nicht. Raúl Castro bleibt Chef der Kommu-
Der hinkende Türsteher eines Nacht- mende Woche sein Präsidentenamt nieder. nistischen Partei und Oberbefehlshaber der
klubs hat eine kaputte Hüfte und kommt Mit 86. Nach zehn Jahren, ein paar zarten Streitkräfte. Mindestens noch fünf Jahre.
seit Wochen nicht in seine Wohnung, weil Wirtschaftsreformen und nicht einer guten Simultan wird derzeit an der sozialistischen
jemand die Treppenstufen geklaut hat. Ein Rede. 17 Monate nach dem Tod seines Bru- Verfassung geschraubt, um die »revolu-
Mechaniker erzählt, dass er seit einer Wo- ders Fidel. Die Immobiliengeier in Miami ción« institutionell noch ein wenig fester
che nicht zur Arbeit gegangen ist, weil er und in den spanischen Hotelzentralen ste- einzudrehen. Also: Entwarnung, es bleibt
eine Gummidichtung für die Waschmaschi- hen mal wieder vor dem Running Gag der noch genug Zeit, dem kubanischen Sozia-
ne sucht. Ein junger Mann erzählt, dass er, Weltpolitik: Das Ende des Sozialismus auf lismus beim Sterben zuzusehen.
wie praktisch alle seine Freunde, mit den Kuba naht. Angeblich. Oben thront Raúl, darunter sein Jurassic
Eltern, den Großeltern, der Ehefrau, sei- Gorbatschows Perestroika, Fidels Krank- Park von Politbüro-Recken. Unten tobt
nem Sohn und einem Onkel in einer Woh- heit, Obamas Besuch, Venezuelas Wahn- das karibische Gute-Laune-Paradies für
nung lebt; denn auf Kuba fehlen Hundert- sinn, sie alle kündigten das Ende an, der jährlich vier Millionen Touristen, von de-
tausende Wohnungen. Todgeweihte starb aber nicht. nen viele nicht ahnen, wie schwer es für
Ein anderer will seinen zehn Jahre alten Ändert Raúls Abgang etwas? Kommt er Kubaner ist, in einem unsanierten Sechzi-
Hyundai mit einer halben Million Kilome- nun, der Wandel? gerjahre-Themenpark zu leben.
tern auf dem Tacho verkaufen. Da Privat- Erst mal kommt so gut wie nichts, und Aber da der Wandel selten von oben in
leute sich kaum Neuwagen leisten können, zwar leibhaftig. Sein Name ist Miguel die Welt kommt, sucht man ihn besser von
wird fast nur mit Gebrauchten gehandelt. Díaz-Canel, maximal dröger Graumelier- unten. Man stellt die Frage, »wie es Kuba
Mit einem guten Auto kann man Touristen ter mit Angela-Merkel-Charisma. 57 Jahre geht«, und hat irgendwann das Gefühl, dass
herumfahren, da ist richtig Geld drin. Der alt, derzeit Vizepräsident. Er wird aller der Wandel einem dieser kubanischen Bau-
500 000-Kilometer-Hyundai kostet umge- Wahrscheinlichkeit nach kommenden trupps ähnelt: sachte, langsam, sodass kei-
rechnet 60 000 Euro. Donnerstag vom Parlament zum Nachfol- ner merkt, dass es schon losgegangen ist.
Eine Journalistin, Mitte 20, fleißig und ger Raúls gewählt: Parteisoldat aus Villa Ángel Santiesteban ist ein grandioser
jeden Tag damit hadernd, dass ihre Texte Clara, Elektroingenieur, früher als Refor- Schreiber und mit der Führung ganz offi-
nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, mer geltend, großer Freund der Kunst, wei- ziell überquer. In 15 Sprachen sind seine
sitzt in ihrer winzigen Wohnung und dis- ßer Hemden und sperriger Politbürosätze. Bücher übersetzt worden, das letzte ist
kutiert ernsthaft die Frage, warum sie über- Mittlerweile, sonst hätte man nie von ihm nur in Deutschland erschienen; die Kriti-
haupt noch arbeitet. Ihre Cousine, die gehört, von Raúl Castro als vertrauenswür- ken waren hymnisch. Seit elf Jahren darf
sie als dämlich, aber sehr attraktiv be- dig eingestuft, sprich: ein Hardliner. er auf Kuba nicht mehr veröffentlichen.
schreibt, serviert besoffenen Amerikanern Das alles ist zugleich ziemlich unwichtig, Santiesteban sitzt am Malecón, Havannas
in Habana Vieja Cocktails. An guten Ta- denn es wird erwartet, dass Raúl weiter berühmter Uferpromenade, blättert in der
gen macht sie 30 Euro Trinkgeld, so viel, im Hintergrund wirkt. Die einen sagen, Parteizeitung »Granma« und versucht,
wie die kluge Cousine mit dem Schreiben dass auf der Insel die Kommunistische Par- nicht zu schreien. Ein freundlicher, kräfti-
in zwei Monaten verdient. Die Journalistin tei herrsche. Die anderen, darunter so ger Mann von 51 Jahren, den die Zeit im
kennt ein Restaurant, in dem der Spüler ziemlich jeder Diplomat Havannas, sagen, Gefängnis in einen der leisesten Kubaner
Maschinenbauer, der Koch Agrarökonom, eigentlich herrsche das Militär. verwandelt hat, die man je erlebt hat. Ein
der Kellner Tierarzt und der Eigentümer Dem gehört fast alles, was auf Kuba De- Schreiber, dem die Leser verwehrt werden.
wie so oft irgendein Trottel ist, der einen visen verdient, zum Beispiel weite Teile des Was ist er? Richtig. Verdammt wütend.
Verwandten in Miami hat, der Geld brandneuen »Manzana Kempinski« samt »Kuba ist eine Diktatur«, sagt Santies-
schickt. angeschlossener Luxusmall in bester Stadt- teban, »wer das bezweifelt, hat nie hier
Ganz gleich, wen man spricht, jeder hat lage. Vom grandiosen Dachpool hat der ge- gelebt. Und wenn Díaz-Canel versuchen
ähnliche Sorgen, und anders als früher, als hobene Neckermann-Tourist einen fantas- sollte, irgendetwas daran zu ändern, wird
Fidel Castro noch lebte, redet man auch tischen Verelendungsblick auf Havanna. er verschwinden.« Santiesteban erwartet
darüber. Also: »Wie geht’s Kuba?« Pool, Mall und Hotel unterstehen dem Ver- grundsätzlich nur Niedertracht von der ku-
Präsident Castro: Zehn Amtsjahre, ein paar zarte Wirtschaftreformen und nicht eine gute Rede
89
Ausland
banischen Politik. Früher, als er noch kom- Worin er recht zu haben scheint, ist das cker importiert. Das Land war mal der größ-
promissbereiter war, gewann er staatliche Gefühl, dass es vielen reicht. Früher senk- te Zuckerproduzent der Welt.
Literaturpreise. Er bekam sogar mal eine ten Kubaner intuitiv die Stimme oder Castillo bekam damals einen roten Lada
Wohnung, weil er zwei prämierte Kurzge- schlossen die Fenster, wenn sie über Fidel von der Partei. An ihm hatte es nicht gele-
schichten zurückzog, die von der Sinnlo- Castro oder die Kommunistische Partei gen. Seine Felder waren im Plan. Er trägt
sigkeit handelten, kubanische Soldaten sprachen. Das ist nun anders. Keiner eine dicke Brille, ein helles Hemd, sitzt in
zum Kämpfen nach Angola zu schicken. macht mehr die Fenster zu. Obwohl Kuba seinem Lada und fragt: »Sie sind Tourist?
Seit er sich nicht mehr selbst zensiert, er- natürlich noch immer ein funktionierender Für 15 Pesos kann ich Ihnen eine schöne
scheinen seine Bücher nicht mehr. Er hat Spitzelstaat ist. Ausgebildet von den Bes- Mulattin besorgen.«
sich mit dem An- und Verkauf von Autos ten: der Stasi. Hat er das wirklich nötig?
über Wasser gehalten. Der deutsche Fi- Aber die Unzufriedenen fürchten sich Castillo ist ein kluger Mann. Er klingt
scher-Verlag hat ihm 10 000 Euro Vor- nicht mehr. Sie sind besser informiert. Wis- etwas wirr, wenn er Englisch spricht, aber
schuss für seinen letzten Erzählband über- sen, was sie früher nur ahnten. sein Spanisch ist das eines gebildeten Wis-
wiesen. Dieses Geld und der Ruhm sind Seit 2016, auch das eine von Raúls Re- senschaftlers. Er hat an den Sozialismus
sein Panzer. »Ich schreibe über Nutten, formen, haben mehr Kubaner Zugang zum geglaubt. Er glaubte an die Kraft der Idee,
Häftlinge und unsere Soldaten, die im An- Internet. Die Preise sind gefallen. Das ver- an die Niedertracht des Imperialismus. Er
golakrieg waren. Menschen, die leiden. ändert die Insel der Ahnungslosen mehr glaubte an das, woran alle optimistischen,
Das hilft nur den Yankees, sagen sie.« als drei Assoziierungsabkommen mit der gebildeten, eher links eingestellten jungen
Sie, das ist die Diktatur, das Castro-Re- EU. Etwa 80 Eurocent kostet die Stunde Menschen in den Sechzigerjahren glaubten.
gime, das laut Santiesteban nur eine Spra- im Internet, noch immer zu teuer für viele, Nicht geglaubt hätte er, wie wichtig der
che versteht: Härte. aber billiger als zuvor. Einige Plätze in Ha- rote Lada werden würde. »Mein Vater gab
»Trump ist der größte Hoffnungsträger vanna haben jetzt Hotspots. Überall sieht das Leben für die Revolution, ich meine
für unser Land«, sagt er dann. Ihm ist es man Kubaner, gesenkter Kopf, gebannt auf Jugend, am Ende fahre ich Taxi«, sagt Cas-
mittlerweile egal, ob Trump verrückt ist, das Handy starrend, wie überall, nur dass tillo. Man könnte anfügen: »Und bietest
ob er die historische Annäherung, die sein sich oft mehrere einen Bildschirm teilen. Mädchen an, weil auch das nicht reicht.«
Vorgänger mit Kuba erreicht hat, wieder Wer kann, ist auf Facebook. Schwer zu Castillo fährt nach Hause, er hat eine
einreißt. »Die Feinde meiner Feinde sind sagen, ob die alten, mächtigen Männer im Wohnung in einem unsanierten Platten-
meine Freunde. Vielen Kubanern reicht es bau – damals ein Privileg für die be-
jetzt einfach.« Und trotzdem weiß er: Mit sonders Treuen. Heute eine Bruchbude,
Kubanern ist kein Umsturz zu machen. Mit genug harter die unter Palmen noch trauriger wirkt.
»Das System ist so, dass für die meisten Währung ist Kuba ein Direkt vor dem Eingang hat er einen Ge-
nur der nächste Tag zählt. Wenn sie heute müsegarten angelegt. Keine zehn Quadrat-
die Arbeit verlieren, weil sie gestern auf Paradies. Aber das ist so meter. Erdbeeren, Kürbisse, Tomaten,
einer Demonstration waren, wer ernährt ziemlich jedes Land. Zwiebeln, Salat. Die Taxi-Einkünfte, die
morgen die Familie? Keiner traut sich.« Provision der Mädchen und der Garten.
Kaum hat er den Satz gesagt, möchte Das ist geblieben nach all den Jahren. Und
Santiesteban ihn erklären: Natürlich geht Revolutionspalast wissen, worauf sie sich der Lada. Seine Alterssicherung. Er wird
kein Kubaner für die umgerechnet 15 bis da eingelassen haben. Twitter, Facebook, ihn verkaufen und davon leben. »Ich bin
20 Euro Monatsgehalt arbeiten. »Kubaner YouTube und was man damit alles anstel- auf den Wahnsinn angewiesen.«
gehen arbeiten, um zu klauen.« Ministeri- len kann. Bisher sind es lediglich 41 Web- Als Castillo kurz darauf an einem Kon-
umsbeamte nehmen Druckerpapier mit, sites, die man von Kuba aus nicht errei- trollposten der Polizei vorbeifährt, bricht
um es an private Restaurants zu verkaufen, chen kann. Es dürften wohl mehr werden, es aus ihm heraus. Er muss den Gurt anle-
die damit Pizzen einwickeln. Der Koch je mehr die Unzufriedenen mitbekommen. gen, der leider kaputt ist und für den nir-
macht die Portionen kleiner, damit er Einer dieser Unzufriedenen heißt nicht gendwo Ersatz zu haben ist. Einen Straf-
abends etwas mitnehmen kann. Die offi- Juan Castillo, aber man sollte ihn schützen, zettel wegen des kaputten Gurtes würde
ziellen Fahrer, die man als Tourist buchen sonst verliert er womöglich die 15 Euro er dennoch bekommen. »Dieses Land ist
kann, um über die Insel gefahren zu wer- Rente, die er bekommt. Er ist 70, seit fünf eine Schande«, sagt Castillo.
den, haben Neuwagen und fahren trotz- Jahren im Ruhestand. Mit den 15 Euro Irgendwann tut einem Kuba fast leid.
dem nur 80. Warum? Sie sparen Benzin, kann er eine Woche überleben. Der Rest Man könnte meinen, die Insel versänke
das sie am Fahrtende für sich abzweigen. muss woanders herkommen. bald im Meer. Die meisten wollen weg.
Das erklärt, warum auf Kubas Landstra- Castillo hat Biologie studiert und für Bleiben will nur der, der Devisen hat. Dol-
ßen regelmäßig nagelneue VW von 60 Jah- das Landwirtschaftsministerium gearbei- lar aus Miami, Euro von den Touristen.
re alten Buicks überholt werden. tet. Er war damals bei der »Gran Zafra« Mit genug harter Währung in der Tasche
»Wer nicht klaut, wer keine Verwandten dabei, der großen Zuckerrohrernte. Jeder ist Kuba ohne Frage ein Paradies. Aber
in Miami hat, wer keinen Kontakt zu Tou- Kubaner kennt die Geschichte. 1970 for- das ist so ziemlich jedes Land.
risten und ihren Devisen hat, für den ist derte Fidel von den Kubanern zehn Mil- Es muss doch jemanden geben, der
Kuba die Hölle«, sagt Santiesteban. lionen Tonnen Zucker, um unter anderem Kuba so verteidigt, wie es ist. Oder wenigs-
Zweimal war er im Gefängnis. Seit sei- die Schulden bei der UdSSR abzuzahlen. tens, wie es versucht zu sein. Fragt man
ner Freilassung 2015 wird er beschattet. Schüler, Hausfrauen, Fabrikarbeiter, Be- Kubaner, ob sie einen richtigen »Fidelis-
Die Bewacher geben sich nicht mal beson- amte, Teile der Armee, sogar Touristen ten« kennen, einen Fidel-Fan also, scher-
dere Mühe, sich zu verstecken. Sie stehen wurden eingespannt, um das aberwitzige zen sie, dass der letzte wahre »Fidelista«
am Ende seiner Straße und greifen sich de- Planziel zu erreichen. vor anderthalb Jahren verstorben sei:
monstrativ mit beiden Händen in den »Kampf bis zum letzten Rohr«, forderte Fidel selbst.
Schritt, wenn Santiesteban sie entdeckt. Fidel und landete bei 8,5 Millionen Tonnen. Nach viel Mühen und ziemlich vielen
Er macht das jetzt auch. Das Experiment wurde nie wiederholt. Ak- Telefonaten trifft man Pedro Salas. Er sitzt
Santiestebans Positionen sind schlüssig, tuell produziert Kuba keine zwei Millionen in Vedado, in dem Haus einer Freundin.
aber möglicherweise nicht mehrheitsfähig. Tonnen. Zwischenzeitlich wurde sogar Zu- Er versucht es mit Aufrichtigkeit. Auch er
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Sport
Er verbringt die Nacht mit so vielen Nutten, Koks und Whiskey, dass er den Tod seiner Tochter vergisst. ‣ S. 94
IMAGO SPORT /
AGE N CIA E F E
Torvorlagen 143 95 Torvorlagen 25 31
Lionel Messi
FC Barcelona
5 2 2 3
Platzierungen Meisterschaften Meisterschaften Titel Titel
Lionel Messi und Cristiano Ronaldo haben vieles gemeinsam: Champions League gescheitert: Zum dritten Mal hintereinander
die Weltkarriere, Torschützentrophäen, Steuerprobleme. Nur schied der fünfmalige Weltfußballer überraschend schon im Vier-
die internationalen Erfolge gingen in den vergangenen Jahren telfinale aus. Ronaldo, 33, triumphierte mit Real Madrid in den
auseinander. Während Messi, 30, in diesem Jahr mit dem FC Bar- vergangenen beiden Jahren. Er steht nach seinem Tor gegen Ju-
celona wohl wieder spanischer Meister werden wird, ist er in der ventus Turin im Halbfinale, könnte dieses Jahr erneut gewinnen.
je zuvor. Beim dritten Rennen in Argen- nation für die Formel 1 abgenommen? immer noch sehr gefährlich. Es ist richtig,
tinien war es vom Start an spannend, Häkkinen: Heute haben die Leute mehr das Risiko weiter zu minimieren. Ich kann
Michael kollidierte früh mit meinem Alternativen, der Zuschauer kann online aber auch verstehen, dass es vielen zu
Teamkollegen David Coulthard, der sich alle Sportarten verfolgen. Zudem gab es schnell geht mit dem Fortschritt und der
drehte. Michael gewann das Rennen, Reiz damit verloren geht.
weil seine Boxenstopps einfach besser SPIEGEL: Durch die neue Formel E hat
waren. Dennoch wurde ich am Ende der die Formel 1 eine ökologisch ausgerichtete
Saison Weltmeister. Konkurrenz. Wird sie den Wettbewerb
SPIEGEL: Ein britisch-deutsches Team überleben?
gegen Ferrari mit einem deutschen Fahrer: Häkkinen: Ich habe keine Angst um die
Heute ist es ähnlich. Sebastian Vettel Formel 1, für sie wird es immer einen
ERIC CABANIS / DPA
gewann die ersten beiden Rennen, Lewis Platz geben. Ich sehe die Formel E nicht
Hamilton im Mercedes muss aufholen. als Konkurrenz, auch wenn sie von
Häkkinen: Ferrari gegen Mercedes, das den Herstellern gepusht wird. Die Inno-
sind zwei Legenden des Sports. Die Duel- vationen der Formel E werden auch die
le mit Michael waren besonders, weil vie- Kontrahenten Häkkinen, Schumacher 1998 Formel 1 bereichern. JDO
Schlafender Vulkan
Unterhaltung Mike Tyson kommt mit seiner Show nach Deutschland. Ein Besuch beim ehemaligen
Boxer in Las Vegas zeigt: Der Auftritt kann genial werden oder ein Desaster. Von Juan Moreno
M
ike Tyson ist 51, aber heute klein fürs Schwergewicht, aber so gut, so lich, Iron-Mike, der Champ. Die Fans lie-
ist einer dieser Tage, an de- wild, dass er unbesiegbar schien. Die ersten ben ihn.« Farid nickt zufrieden. Wusste er
nen er sich wie Muhammad 19 Kämpfe seiner Profikarriere gewann er es doch. Er zeigt in den Wohnbereich. Da-
Ali mit 70 bewegt. Ein alter, durch K.o., 12 davon in der ersten Runde. rin steht eine breite weiße Ledercouch,
müder Mann in grauen Jeans und weißen Während Ali aber mit jedem Kampf grö- unweit davon ein schwarzer Flügel. Man
Turnschuhen, der in seinem eigenen Haus ßer wurde, wurde Tyson mit jedem kleiner. blickt auf den Pool, und weil man in
verloren wirkt. Kein guter Tag. Ali stand für den amerikanischen Traum, Nevada ist, auch auf Palmenblätter.
Gestern war es noch schlimmer. Er war Tyson für dessen Verlogenheit. Ali stand Auf dem breiten Hocker vor dem Flügel
beim Zahnarzt, ein Backenzahn musste für Ideale, für Werte, Tyson stand für Nut- sitzen zwei weitere Besucher: Radim
raus. Tyson hasst Zahnärzte. Ihm sind ten und für Koks. Tauchen und Pietro Polidori. Beide sind
im Ring genug Schmerzen zugefügt wor- Dem Jungen aus dem Brownsville-Getto gerade aus Europa eingetroffen, um die
den. Kiki, seine Ehefrau, überzeugte die in New York, wo man als Schwarzer nur in Europatour mit Tyson zu besprechen. Sie
Klinik, Tyson unter Vollnarkose zu setzen. Handschellen oder einer Holzkiste rauskam, beginnt kommende Woche. Tauchen, ein
Heute hat er wieder zur Erleichterung gelang die Flucht mit den Fäusten. Und er kräftiger, gutmütiger Tscheche mit Vollglat-
aller gut gegessen. Rühreier, eine große endete doch nicht besser als seine frühen ze, managt die Tour. Österreich, Deutsch-
Portion Eis, dann drei Teller Pasta mit To- Crackhouse-Kumpel. 1992, gut fünf Jahre land und die Schweiz, zehn Städte in zwölf
matensoße. In genau dieser Reihenfolge. nach dem ersten Weltmeistertitel, wurde er Tagen. Tyson wird auf der Bühne Fragen
»Mike kommt gleich. Er ist groß beantworten. Die Eintrittspreise lie-
in Deutschland, nicht wahr?«, fragt gen zwischen 79 und 809 Euro. Eine
David, den man besser Farid nennt, Stunde Tysons Lebensgeschichte,
seitdem er im Knast zum Islam kon- dazu gibt es einen Handschlag und
vertiert ist. Farid ist ein alter Zel- ein gemeinsames Foto. Allerdings
lenkumpel aus der Zeit, als Tyson nur für die Gäste mit den richtig teu-
wegen Vergewaltigung einsaß und ren Tickets.
mit Mitte zwanzig seine besten Tage Polidori, der gut aussehende Typ
als Boxer schon hinter sich hatte. neben ihm, ist Moderator, er ist Süd-
Farid saß wegen Kokainhandels. Er tiroler. Er spricht ein halbes Dutzend
ist jetzt Mikes privater Assistent. Sprachen und dachte ernsthaft, er und
Farid steht im Eingangsbereich Tyson würden ausgiebig über die
einer dieser Villen, die man aus ame- Show reden. Tyson fand, dass es da
rikanischen Serien kennt. Selbst nicht viel vorzubereiten gebe, und Po-
SKY SPORTS / AFP
wenn man drinsteht, die Kronleuch- lidori merkt gerade, dass er sich die
ter, die Säulen, die geschwungenen Reise vermutlich hätte sparen können.
Marmortreppen sieht, denkt man, Die Bühne ist nicht neu für Tyson.
es sei eine Kulisse. Downtown Las Spike Lee, sein alter Freund, hat auf
Vegas ist 20 Kilometer von hier, und Boxer Holyfield, Tyson 1997: Kranker Spinner Grundlage von Tysons Autobiogra-
weil der Makler, der Tyson das Haus fie »Unbestreitbare Wahrheit« eine
verkauft hat, damit Werbung macht, Soloshow entwickelt. Tyson tourt da-
weiß man, dass es hier sechs Schlafzimmer wegen Vergewaltigung zu sechs Jahren Ge- mit durch die USA. Lees Idee war, Mike
und sechs Bäder plus Gästeklo gibt. 966 fängnis verurteilt, 2003 war er bankrott, Tyson allein vor eine Leinwand mit Bildern
Quadratmeter Wohnfläche. 2007 kam die Entziehungskur. Menschen, seines Lebens zu stellen. Tyson als Kind,
Farid, mit verschränkten Armen, wartet die keine Boxfans sind, muss man nur sagen, das bis heute nicht weiß, wer sein Vater ist.
noch immer auf eine Antwort. Wie groß dass er der Spinner ist, der 1997 Evander Tyson neben Cus D’Amato, dem alten, ge-
ist Tyson heute noch? Holyfield ins Ohr biss, und sie wissen, wer nialen Boxtrainer, der ihn förderte. Tyson
Mike Tyson hätte der größte Boxer aller gemeint ist: der Mann aus den Klatschspal- mit seiner Familie, als geläuterter Mann.
Zeiten werden können. Werden müssen. ten; der aus dem Sportteil, der 300 Millio- Manchmal ist diese Show genial. Tyson
Größer als Ali. Im Boxen klingt das zu Recht nen Dollar in Häuser steckte, die er nicht ist lustig, emotional, glaubhaft, schlagfer-
nach Blasphemie, aber in der kurzen Zeit, brauchte, in Autos, die er nicht fuhr, und in tig. Er beweist, dass er kein Blödmann ist,
in der Tyson das tat, wofür er geboren wor- Frauen, die ihn nicht liebten; ein Mann, auch wenn er sich weite Teile seines Le-
den war, war er einer der Besten, die jemals dem Gott genauso viel Talent fürs Boxen bens wie einer benommen hat. Die Leute
einen Ring betreten hatten. Es war, als ließe wie Dämonen fürs Leben mitgegeben hat. sind begeistert.
man einen abgerichteten Hund von der Lei- Das ist es, was viele in Deutschland von Es gibt aber auch schlechte Shows. An
ne. Tyson war 20 und der jüngste Schwer- Mike Tyson wissen, aber da Farid ein ernst einem Tag wie heute wäre ein Auftritt ver-
gewichtsweltmeister der Geschichte. Seine blickender Kerl mit tiefer Stimme ist und mutlich eine Katastrophe. Der Text muss
Schläge waren hart, er war schnell, beweg- außerdem im Gefängnis saß, erscheint eine ihm dann per Knopf ins Ohr vorgelesen
lich, die Deckung makellos. Eigentlich zu andere Antwort angebrachter: »Ja, natür- werden. Er plappert ihn nach, verliert den
95
tig ist. Es ist der Mike, der mit Anfang vier-
zig erwachsen wurde und sein Leben in
den Griff bekommen hat. Diesen Tyson
gibt es auch. Er ist genauso wahr wie der
alte, und es macht Spaß, ihn kennenzuler-
nen. Es gibt ein paar Interviews im Netz,
da kann man ihn sich anschauen.
Diesem Tyson ist die Familie wichtig.
Er geht zur Therapie, zu Elternabenden,
zum Tennis, wenn seine neunjährige Milan
spielt. Er trinkt keinen Alkohol, trainiert
regelmäßig, isst vegan und hat Pläne. Ein
neues Buch, die »Hangover«-Filme, die
Signierstunden in Las Vegas, bei denen ein
Autogramm 199 Dollar kostet.
Am meisten freut sich Kiki über diesen
Mike. Sie ist gerade in der Küche, eine
tolle Frau, wahrscheinlich der Grund, wa-
UPI / LAIF
rum Mike Tyson noch am Leben ist.
Lakiha Spicer, genannt Kiki, ist Mikes
Familie Tyson*: Kiki ist es zu verdanken, dass er schuldenfrei ist dritte Frau. Sie ist 41, bildhübsch und kennt
Mike, seit sie 16 ist. Sie hatten über Jahre
eine Affäre, oder wie immer man es nennt,
Faden, es ist schrecklich künstlich. Man die enormen Füße auf, Schuhgröße 49. wenn ein besoffener, nach Bordell riechen-
weiß vorher nie, wie es wird. Dann der kahl rasierte Kopf und das Maori- der Typ immer wieder aufkreuzt und man
»So, noch eine Minute, dann geht’s los«, Tattoo im Gesicht, das er sich 2003 stechen ihn wider besseres Wissen nicht zum Teufel
sagt Farid. Ihm gefällt nicht, dass es keine ließ. Es soll bedrohlich wirken, ist es aber schickt. Vermutlich nennt man es Liebe.
abgesprochenen Fragen gibt. Mike Tyson, nicht. Tyson wirkt zurückgenommen, ein Kiki war immer da. 2002 wohnten sie
vor allem aber sein Umfeld, mag keine wenig abwesend. Seine Augen sind die trau- schon einmal für kurze Zeit zusammen.
Überraschungen. Am liebsten ist es ihnen, rigsten, die man seit Langem gesehen hat. Damals verlor Tyson den letzten großen
wenn alles genau geplant ist. Man muss Farid sagt: »Keine Fragen zu seinem Kampf seiner Karriere, am 8. Juni 2002
das verstehen. Es war nie leicht, mit Mike Leben, nichts Privates, nichts über Politik. in Memphis, Tennessee, gegen Lennox
Tyson zu leben, und ist es bis heute nicht. Nur Fragen zur Tour.« Lewis. Zehn Jahre davor hätte Tyson aus
Angenommen, heute wäre nicht nur ein Tourmanager Tauchen, der beim Inter- ihm Hackfleisch gemacht.
eher mäßiger, sondern ein richtig schlechter view dabei sein wollte, schaut auf. Natür- Es dauerte ein paar Jahre und einige
Tag, dann hätte er vorhin beim Essen, als lich war das anders vereinbart. Die Tour Drogenexzesse, bis er wieder anrief. Kiki
das Gespräch auf Exodus kam, nicht nur dreht sich um sein Leben. Nur darum. Es war da. Elf Tage nach Exodus’ Tod heira-
traurig geschaut, er wäre ausgerastet. Exo- ist das Einzige, was Tyson noch bleibt. Sei- teten sie.
dus war Tysons Tochter. Sie wurde nur vier, ne Geschichte. Sie ernährt ihn. Polidori, Seitdem sie da ist, hat er seine Schulden
weil sie sich 2009 am Kabel eines Laufban- der Moderator, wird ihn nach den Drogen, abgezahlt. Irgendwann waren es mal 27
des verhedderte und erstickte. der Entzugsklinik, der verkorksten Jugend Millionen Dollar. Aber Kiki ist es zu ver-
Wenn Tyson an diese Zeit denkt, kann fragen. Wenn man über all das nicht reden danken, dass Tyson von 20-Jährigen auf
es passieren, dass er einen Schrank aus der kann, warum überhaupt ein Interview? der Straße erkannt wird, weil sie ihn aus
Wand reißt oder die Mikrowelle durch die Eigentlich ist es aber auch egal. Tyson dem Kino kennen oder aus der eigenen
Küche schleudert. Oder dass er die 30 Mi- ist schon jede erdenkliche Frage gestellt Comicserie, die man über ihn gemacht hat.
nuten runter in die Stadt fährt und in worden, und er hat jede erdenkliche Ant- Zuletzt hat er sogar einen Werbespot für
einem der alten Stripklubs versackt. Da wort gegeben. Von »Ich bin der letzte ein australisches Unternehmen gedreht.
verbringt er die Nacht mit so vielen Nut- Dreck« über »Manchmal denke ich über Und wie es aussieht, wird der große Scor-
ten, Koks und Whiskey, dass er sogar Exo- Selbstmord nach« bis hin zu »Ich bin der sese sein Leben verfilmen. Jamie Foxx soll
dus vergisst. Las Vegas ist perfekt dafür. Größte, der jemals gelebt hat«. die Hauptrolle spielen.
Mike Tyson, das wird oft vergessen, ist Nerven ihn diese immer gleichen Fragen? Nach zwölf Minuten ist das Interview
ein kranker Mann. Ein trockener Alkoholi- »Es ist schon okay«, sagt Tyson. vorbei. Seine längste Antwort hatte sieben
ker, der zu Rückfällen neigt, ein Ex-Kokain- Wirklich? Wörter. Es ist okay.
junkie und, als wäre das alles nicht genug, »Es ist, was es ist.« Assistent Farid ist froh, dass es vorbei
auch noch manisch-depressiv. Es ist Jahre War er schon mal in Deutschland? ist. Tauchen, der Tourmanager, sieht etwas
her, kurz vor dem Kampf gegen Andrew »In Düsseldorf. Die haben Ärzte dort.« traurig aus. Er kennt Tyson seit acht Jah-
Golota, dass er Reportern entgegenwarf: Tyson war wegen seiner Rückenproble- ren, er weiß, dass es auch anders laufen
»Ich bin auf Zoloft, damit ich euch nicht alle me dort. kann. Und Polidori, der Moderator, sieht
umbringe.« Zoloft ist ein Antidepressivum. Gibt es eine Botschaft, die er weiter- besorgt aus, weil er nicht weiß, was ihn
»Okay«, sagt Tyson leise und setzt sich geben will? während der Show erwartet. Sie alle sind
auf die weiße Couch. Seine Stimme klingt »Ich freue mich auf meine Fans.« Er davon abhängig, wie Tyson in den Tag
tiefer als im Fernsehen. Nicht so piepsig. klingt, als wäre ein Tintenfass in seinem kommt. Sie packen sein Leben in Watte,
Als Erstes fallen seine riesigen Hände und Kopf ausgelaufen. in der Hoffnung, dass er nirgends aneckt.
Sie alle, Farid, Tauchen, der Manager, Manchmal klappt es, manchmal nicht. Sie
* Mike Tyson mit den Kindern Milan, Miguel Leon,
Polidori, der Moderator, sie alle brauchten haben es nicht in der Hand.
Morocco und Ehefrau Lakiha Spicer im März in Ingle- heute eigentlich den anderen Mike – der Niemand hat es.
wood, Kalifornien. die Bombenshow liefert, der wirklich lus-
97
Wissenschaft+Technik
»Die Qualle lag am Meeresstrand, die Sonne hat sie braun gebrannt. Mit einmal war die Qualle – alle!« ‣ S. 100
Einwurf
Die Korrekturen
Hersteller entfernen etwas Zucker aus ihren überzuckerten Produkten und bewerben dies auch noch als Großtat.
Die Natur sorgt für ihre Kinder. Sie lässt Salat, Möhren und Spar- den Kunden. Was das kostet? Nur ein bisschen mehr als die nor-
gel sprießen. Nur beim Ketchup hat sie geschludert. Der ist ihr zu malen Butterkekse. Wie nett! Chapeau, Lebensmittelindustrie:
süß geraten. Herrje! So ein Missgeschick. Wer korrigiert den Feh- erst ganz viel Zucker in ein Produkt kippen – und wieder etwas
ler? Gott sei Dank: Kraft Heinz Ketchup produziert die rote Soße davon rausnehmen, um es gesünder aussehen zu lassen. Das ist
nun auch mit halb so viel Zucker wie bisher. Mit weißer Schrift die große Kunst des Marketings. Sozusagen: schwarzer Gürtel
auf blauem Grund beworben, stehen die Flaschen im Regal wie im Märchenerzählen. Sehr raffiniert.
ein Schlankheitselixier. 100 Gramm Ketchup enthalten nur noch In Großbritannien gibt es jetzt eine Zuckersteuer auf Limona-
11,4 Gramm Zucker. Beim normalen sind es 22,8 Gramm. Lob den – wie schon in Norwegen, Frankreich oder Portugal. In
den Produzenten! Sogar der Preis bleibt der gleiche! Mexiko, wo Diabetes die zweithäufigste Todesursache ist, hat
Auch als die Natur die Butterkekse schuf, war sie zu ver- eine solche Steuer Wirkung gezeigt: Der Verkauf der Limonaden
schwenderisch mit der Süße. Aber der Kekshersteller Leibniz ist laut einer Studie um fast zehn Prozent pro Kopf gesunken.
macht alles wieder gut – und stellt die Kekse auch mit 30 Pro- Die neue Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) aber lehnt
zent weniger Zucker her. Die Kalorienzahl hat sich kaum verän- eine Zuckersteuer ab. Märchen erzählt zu bekommen ist ja auch
dert, aber ein fluffig-leichtes Ambiente auf der Packung lockt was Schönes. Kerstin Kullmann
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»Sie machen mir Angst« Menschen sehr dünnhäutig sind, können
sie aber Nähe als bedrohlich erleben ...
Der Psychologe Thomas SPIEGEL: ... wenn es gefährlich wird, ist
Bock, 64, Leiter der man also selbst schuld?
sozialpsychiatrischen Bock: Es geht um Respekt. Wir haben in
Spezialambulanz für Hamburg in den Jahren 2008 und 2009 Prozent betrug im vorigen Jahr die
Psychosen und Bipolare relativ kurz hintereinander drei Polizei- Steigerungsrate beim Absatz des »Craft
Störungen am Universitäts- einsätze gehabt, bei denen psychisch Collection Copper Fondue Set«; andere
klinikum Hamburg- Kranke ums Leben kamen. Die Kolle- Marken sind sogar ausverkauft. Im
Eppendorf (UKE), über den Umgang mit gen gingen oft zu forsch vor, ließen dem Fachmagazin »International Journal of
psychisch auffälligen und potenziell Betroffenen und sich selbst keine Gastronomy and Food Science« erläu-
gefährlichen Mitbürgern Möglichkeit zum Rückzug. Und dann tert der Psychologe Charles Spence von
eskalierte die Situation. Daraufhin der Oxford University das irritierende
SPIEGEL: Herr Bock, wie schützt man haben wir mit der Polizeispitze Fort- Comeback des fetthaltigen Klassikers in
sich, wenn man den Eindruck hat, der bildungen entwickelt, in denen Betrof- Großbritannien: »Das nostalgische, be-
Nachbar sei befremdlich? fene die Hauptrolle spielen. Wir wollten ruhigende Element des Fondue ist be-
Bock: Befremdlich zu sein ist keine Ei- den Beamten vermitteln: Der psychisch sonders willkommen in einer Zeit wie
genschaft, sondern etwas, das sich zwi- Kranke ist ein Mensch wie andere – der Gegenwart, in der uns die Welt als
schen Menschen abspielt. Ob ich jeman- und keineswegs immer gefährlich. unberechenbarer und gefährlicher Ort
den als befremdlich empfinde, hat auch Das macht gelassener, reduziert Angst erscheint – wie die globale Finanzkrise,
mit mir zu tun. Insofern kann es für bei- und damit Gefahr. Seitdem hat sich so Nordkorea oder der Brexit zeigen.«
de Seiten hilfreich sein, auf den anderen etwas nicht wiederholt.
zuzugehen und ihm einen Vertrauens- SPIEGEL: Wie reagieren Sie, wenn bei
vorschuss zu geben. Doch wenn meine Ihnen in der Klinik jemand auftaucht,
Angst zu groß ist, bin ich gut beraten, den Sie als bedrohlich empfinden? Forensik
vorsichtig zu sein – um mich selbst zu Bock: Es kann hilfreich sein, rechtzeitig
schützen, aber auch den anderen. zu sagen: »Sie machen mir Angst.«
Knochen aus dem Krieg
SPIEGEL: Wie gefährlich sind psychisch Nicht selten trägt das schon dazu bei, Eine Schenkung an die Gedenkstätte
Auffällige für Fremde? dass der andere antwortet: »Oh, das Buchenwald hat eine aufwendige foren-
Bock: Psychisch Erkrankte sind im wollte ich gar nicht.« Mein Gegenüber sische Untersuchung nach sich gezo-
öffentlichen Raum per se nicht gefährli- ist unter Druck, einsam, aufgeregt. gen – mit überraschendem Ergebnis.
cher als andere Menschen. Wenn über- Wenn der merkt: Ich habe ein Echo, Dem Museum waren Knochen überge-
haupt, dann stellen sie wohl für Vertrau- kann sich die Situation oft schnell wie- ben worden, die mit Schnitzereien ver-
te eine Bedrohung dar, also für Familien- der entspannen. THA sehen sind. Der Verdacht
bestand, dass es sich
dabei um die Überreste
von KZ-Häftlingen han-
Tiere ter aus Leuchtdioden entworfen, mit delte. Buchenwald war in
dem der Boden eines Surfbretts beklebt der Zeit des Naziregimes
Leuchtdioden werden kann. Diese Erfindung macht eines der größten Konzen-
zur Haiabwehr sich eine Schwäche der Haie zunutze, die trationslager auf deut-
der Forscher erst vor wenigen Jahren ent- schem Boden. Zu den vie-
Surfbretter haben einen Nachteil, der deckt hat: Offenbar sind die Räuber far- len Abscheulichkeiten des
lebensgefährlich sein kann: Von unten benblind – anders als viele andere Lagers gehörte die Entwei-
wirkt ihre Silhouette wie der Umriss Fische. Das Leuchtmuster der LEDs sor- hung der Überreste von
einer Robbe – einer der Lieblingsspeisen ge dafür, so Hart, dass die Haie den Gefangenen. Nun hat der
des Weißen Hais. Aus diesem Grund wer- Umriss des Surfbretts nicht mehr erken- irische Forensiker René
den einer gängigen Theorie zufolge nen würden. Einen Härtetest hat seine Gapert die Knochen für
immer wieder Surfer von den Meeresräu- Erfindung bereits bestanden: Während die Gedenkstätte
bern attackiert. Der Neurophysiologe zweier Badesaisons erprobte der For- Buchenwald analysiert.
Nathan Hart von der Macquarie Univer- scher die LEDs an der Unterseite von Wie sich dabei heraus-
DR RENÉ GAPERT
sity im australischen Sydney will für die- Robbenattrappen – und zwar vor der stellte, stammen die
ses Problem nun eine Lösung gefunden Küste Südafrikas, einem der bevorzug- vermeintlich mensch-
haben, die manchem Wassersportler das ten Reviere des Weißen Hais. Anzahl der lichen Gebeine von
Leben retten könnte. Hart hat ein Mus- Attacken: null. THA zwei Rindern. Über-
dies ergab die Untersu-
chung, dass die Schnitze-
reien höchstwahrscheinlich während
des Ersten Weltkriegs von deutschen
Soldaten angefertigt wurden, die in
einem britischen Kriegsgefangenenla-
ZUMA PRESS / IMAGO
99
Wissenschaft
Leckere Plagegeister
101
Wissenschaft
A
ls Beilage empfiehlt das Rezept jede zu einem Gallertriesen heranwachsen ab. Nur Biologen können auf die Idee kom-
Kirschtomaten, Basilikum und kann. Keine Meeresregion ist vor ihnen si- men, etwas so Unerfreuliches auf Nütz-
Rucola. »Quallen unter kaltem cher. Im Ballastwasser von Schiffen schip- lichkeit zu testen. Doch siehe da: Quallen-
Wasser abspülen, Tentakel ab- pert ihre Brut um die ganze Welt. schleim eignet sich hervorragend als Na-
trennen, den Körper in dünne Scheiben Die ursprünglich nur im Indischen und nofilter. Kleinste Partikel bleiben in der
schneiden«, heißt es weiter. Dann noch im Pazifischen Ozean heimische Noma- Struktur der Polysaccharide hängen, aus
etwas Sherryessig und Olivenöl dazu – denqualle beispielsweise schaffte es bereits denen der Schleim besteht.
fertig ist der »Quallensalat«. vor Jahren ins Mittelmeer und vermehrt Die Substanz könnte dabei helfen, eines
Kann das schmecken? Quallen für Gour- sich dort immer wieder explosiv. Bis zu der drängendsten Probleme der Industrie-
mets? Antonella Leone glaubt daran. Die 160 000 der Tiere wurden vor Israels Küs- gesellschaft zu mildern: die Verschmut-
Biologin des italienischen Forschungsinsti- te schon pro Quadratkilometer gesichtet. zung der Natur mit Mikroplastik.
tuts für Nahrungsmittelproduktion testet Oder die aus dem Westatlantik einge- Gerade erst kam heraus, dass über die
die Eignung der Tiere als Lebensmittel. schleppte Meerwalnuss, eine Rippenqual- letzten zwei Jahre ein steter Strom winzi-
Fahnenqualle, Spiegelei-Qualle und Lun- le: Sie ließ Ende der Achtzigerjahre im ger Plastikpartikel in die Schlei in Schles-
genqualle sind ihre Versuchsobjekte, im Schwarzen Meer fast die gesamte Sardel- wig-Holstein gerauscht ist. Die Sände des
Fachjargon »gelatinöse Biomasse« ge- lenfischerei kollabieren. Seit 2006 erobert Gewässers sehen nun stellenweise aus wie
nannt. Leones Ziel: Qualle à la carte. die Art auch die Ostsee. Ihr Gesamtge- Konfetti. Die Schleswiger Stadtwerke, Be-
»Eine riesige ungenutzte Ressource« wicht in Europas Gewässern wird inzwi- treiber der verantwortlichen Kläranlage,
seien diese Tiere, schwärmt die Italienerin. schen auf eine Milliarde Tonnen geschätzt. fühlen sich daran ebenso wenig schuldig
Leone und ihre Arbeitsgruppe sind Teil Vor Japan kenterte 2009 sogar ein Traw- wie das Entsorgungsunternehmen ReFood,
von »GoJelly«, einem mit sechs Millionen ler durch die Macht der Gallerte. Die Crew aus dessen angelieferten Abfällen der
Euro dotierten EU-Forschungsprojekt, mit hatte versucht, ein Netz einzuholen, in Kunststoff stammt.
dem die Qualle zum Nutztier des 21. Jahr- dem sich mehrere Exemplare der bis zu Das Problem gibt es allerorten. »Acht
hunderts gemacht werden soll. 200 Kilogramm schweren Nomura-Qualle Millionen Tonnen Plastik landen jährlich
Lecker, gesund, vor allem aber vielseitig verfangen hatten. in den Gewässern«, sagt Javidpour. Wird
verwendbar in Industrie und Landwirt- Quallen verstopfen die Zuläufe von Quallenschleim die winzigen Partikel da-
schaft – so sehen die GoJelly-Forscher das Kraftwerken und Entsalzungsanlagen. Sie von künftig in den Kläranlagen zurückhal-
gemeinhin übel beleumdete Nesseltier. vertreiben Touristen von den Stränden ten? Javidpour setzt darauf. Bald möchte
15 Forschungsstätten aus 8 Ländern arbei- und machen Fischzüchtern Ärger. Im Jahr die Biologin Fischer rekrutieren, um die
ten zusammen, um dessen Potenzial zu 2014 tötete ein Schwarm Leuchtquallen leicht verderbliche Substanz zu sammeln.
ergründen. Für Sushi, Salat und Paella sind rund 300 000 Lachse in einer schottischen »Man hebt die Qualle hoch, dann tropft
die Tiere gut geeignet. Aber auch Dünger, Aquakultur. Die Quallen hatten die Fische der Schleim runter«, erklärt die Biologin
Kosmetika, Mikroplastikfilter, Medizin- mit ihren giftigen Nesselkapseln harpu- die Erntemethode.
produkte und Fischfutter könnten daraus niert. Die Fischer spielen ohnehin eine wich-
gewonnen werden. tige Rolle für das GoJelly-Projekt. In
»Wir haben Quallen bislang vor allem Asien, etwa in China oder Japan, werden
ignoriert«, sagt Projektkoordinatorin Ja- Quallen seit Jahrhunderten gefangen. Ge-
mileh Javidpour vom Geomar Helmholtz- trocknet enden die Tiere in der Suppe oder
Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, »da- im Meeresfrüchtesalat. Auch gesundheit-
bei bilden sie einen idealen Rohstoff, der licher Nutzen wird Quallen nachgesagt,
uns immer wieder direkt vor die Haustür darunter Linderung bei Arthritis.
schwimmt.« Mehr als 750 000 Tonnen jährlich zie-
Quallen sind die Nutznießer der globa- hen Fischer für Asiens Märkte weltweit
len Meereskrise. Als Folge des Klimawan- aus dem Meer. Auch US-Trawler sind an
dels werden die Ozeane wärmer. Zonen dem Geschäft beteiligt. Sie jagen Stomo-
mit Sauerstoffnot weiten sich aus. Und lophus meleagris, eine kanonenkugelför-
mehr Kohlendioxid lässt das Wasser ver- mige Qualle mit bemerkenswerter Frucht-
sauern. barkeit. Zu Tausenden dümpeln die Wesen
Während viele Meeresbewohner unter in manchen Jahren nahe der Oberfläche
diesen Veränderungen leiden, profitieren Quallensalat im Meer. Für die Fischer ein Segen: In
Quallen sogar davon. Auch Überfischung »Frisch, salzig, erinnert an Austern« einer Saison können sie bis zu 10 000 Dol-
und Überdüngung kommen ihnen zugute. lar verdienen – täglich.
Gelangen mehr Nährstoffe in die Ozeane, Viel Sympathie bleibt da nicht. »Die Javidpour hofft, dass Europas Fischer
wächst mehr Nahrung heran. Weil es Qualle lag am Meeresstrand, die Sonne künftig ebenfalls profitieren. Die Tiere
gleichzeitig weniger Fische gibt, bleibt den hat sie braun gebrannt. Mit einmal war die als Lebensmittel zu verkaufen ist dabei
Tieren ein immer größerer Teil vom Plank- Qualle – alle!«, spottete einst der Komiker nur eine Möglichkeit. Die Kieler Firma
tonschmaus. Zudem haben sie weniger Heinz Erhardt. Und wer will es ihm ver- Coastal Research & Management (CRM)
Fressfeinde. übeln. Selbst Geomar-Forscherin Javid- beispielsweise gewinnt aus Quallen Kolla-
Als Folge registrieren Meereskundler pour zitiert den Humoristen – allerdings, gen für die Kosmetikindustrie. Dem Ei-
vielerorts eine Zunahme der stummen um ihm zu widersprechen. Nein! Eben weiß wird hautstraffende Wirkung nach-
Schleimer. Manchmal kommt es gar zur nicht »alle« sei die Qualle. gesagt.
explosiven Vermehrung. Einige Quallen »Ja, die Tiere bestehen zu 98 Prozent Als »Ocean Collagen« wird der Stoff
können bis zu 45 000 Eier produzieren – aus Wasser«, sagt sie. Aber die restlichen bereits vermarktet. Bei der Herstellung
pro Tag. Die Larven setzen sich am Mee- zwei Prozent hätten es in sich. kommt ein weiterer Vorteil zum Tragen:
resgrund fest und wachsen zu sogenannten Ihr Schleim zum Beispiel ist eine faszi- Die wirbellosen Lebensformen im Mixer
Polypen heran. Schließlich entsteht eine nierende Substanz. Geraten die Tiere un- zu zerhäckseln klingt unappetitlich, wird
Vielzahl von Mini-Medusen, von denen ter Stress, sondern sie eine Art Schnodder gemeinhin jedoch als ethisch unbedenklich
bewertet. Bislang setzen sich nicht einmal lösen. »Quallen gelten in Europa bislang der Prototyp einer Quallen-Zuchtanlage.
fanatische Tierschützer für sie ein. nicht als Lebensmittel«, sagt sie. Bevor die »Flow2Vortex« nennt Javidpour das runde
Auch medizinische Anwendungen wer- Tiere auf dem EU-Markt verkauft werden Plastikbecken, in dem die Quallen in einer
den erforscht. Quallen-Kollagen sei ideal dürften, müssten sie strenge Qualitätskon- zirkulären Strömung treiben. So wird ver-
für Wundbehandlungen geeignet, sagt Le- trollen durchlaufen. hindert, dass sie an den Wänden kleben
vent Piker von CRM. Außerdem haben er »Was ist eine Premium-Qualle, was bleiben.
und seine Kollegen den Stoff als Substrat nur mindere Qualität?«, fragt Leone. Wie Junge Ohrenquallen dümpeln dort im
genutzt, um menschliche Knorpelzellen können die Tiere zubereitet werden, ohne eigens aus der Kieler Förde heraufgepump-
zu züchten. Bislang dienen vorwiegend gesundheitsschädlich zu sein? Außerdem ten Wasser. Schön sehen sie aus, elegant,
Schweineschwarten oder Rinderknochen geht es der Italienerin darum, die Zuberei- filigran – aber sind sie auch lecker? Wie
als Quelle für Kollagen. »Da finde ich tung und den Geschmack »der mediterra- schmecken sie denn nun, die Wabbel-
Qualle sauberer«, sagt Piker. nen Küche anzupassen«. wesen?
Wer das Tier genau unter die Lupe Quallen, eingelegt wie Oliven, stellt sich »Nach Meer, frisch und salzig; ihr Ge-
nimmt, findet zudem viel Stickstoff und die Forscherin vor, sonnengetrocknet wie schmack erinnert an Austern«, so schildert
Phosphat in dessen Glibber. An der Uni- Tomaten oder eingesalzen wie Kapern. die Italienerin Leone den ungewöhnlichen
versität Kiel wird deshalb erforscht, ob Alsbald will sie ergründen, ob eher dampf- Gaumenkitzel.
sich aus Quallen Dünger für die Landwirt- garen zu lukullischem Genuss führt oder Geomar-Forscherin Javidpour findet
schaft herstellen ließe. Auch an Futter für die Zubereitung in der Mikrowelle. die Textur der Meeresbewohner auffällig.
die Aquakultur denken die GoJelly-For- »Die Erfahrung westlicher Köche mit Getrocknet erzeugten sie ein »knackiges,
scher. Viele beliebte Zuchtfische werden Quallen ist gleich null«, sagt die For- etwas knorpeliges« Mundgefühl.
derzeit mit Wildfisch gefüttert. Fischfutter scherin. Für das Ende des Projekts hat »Im Wesentlichen schmeckt Qualle nach
aus Quallen wäre viel nachhaltiger. sie den EU-Geldgebern ein Kochbuch gar nichts«, räumt die Biologin ein. »Aber
Die Königsdisziplin der GoJelly-Forscher versprochen. mit der passenden Soße kann es richtig
aber besteht darin, die Nesseltiere dem Javidpour und ihre Kollegen entwickeln lecker werden.« Philip Bethge
Menschen schmackhaft zu machen. Exper- derweil eine Software, um Quallenblüten Mail: philip.bethge@spiegel.de
tin Leone hofft, sie als Gesundheitssnack vorherzusagen. Mit zuverlässigen Progno-
zu etablieren. Die Italienerin hat Antioxi- sen könnten sich Fischer rechtzeitig auf
dantien und andere bioaktive Moleküle in die Ernte vorbereiten. Video
So leben Quallen
der Gallerte nachgewiesen. Wenig über- Alternativ denkt die Biologin auch
raschend ist der geringe Kaloriengehalt. schon darüber nach, wie sich die Tiere in spiegel.de/sp162018quallen
Kommt also bald die Quallendiät? Vor industriellem Maßstab züchten ließen. Im oder in der App DER SPIEGEL
allem ein Problem muss Leone zuvor noch Untergeschoss des Geomar in Kiel steht
103
31 Seiten
Schocklektüre
Klima Shell wusste schon
sehr früh über den Treibhaus-
effekt Bescheid. Dennoch
entschied der Ölkonzern, die
globale Erwärmung zu leugnen.
TETRA-IMAGES / BILDAGENTUR-ONLINE
ist mittlerweile leicht zu beantworten:
Neun der zehn weltweit wärmsten
Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnung
fallen in die Zeit seit 2005. Die Durch-
schnittstemperatur auf Erden liegt jetzt
knapp ein Grad Celsius höher als vor ei-
nem Jahrhundert.
Vor mehr als 30 Jahren wollten auch
Manager des niederländisch-britischen Erdölgewinnung in Kanada: Zu spät für Gegenmaßnahmen?
Mineralölriesen Shell wissen, ob der Kli-
mawandel real sei. Zu einer Zeit, als außer-
halb elitärer Forscherzirkel noch kaum Für die Menschheit, so schrieben die bringt, hat sie dieses Wissen nicht davon
jemand über dieses Thema sprach, be- Auguren, bedeute das alles nichts Gutes. abgehalten, weiter in die Erschließung im-
riefen sie sechs konzerneigene Wissen- Die Versorgung mit Trinkwasser und Nah- mer neuer Vorkommen von Öl, Kohle und
schaftler in die »Arbeitsgruppe Treibhaus- rungsmitteln werde wohl schwieriger, der Gas zu investieren. Von allem fossilen
effekt«. Wohlstand sei in Teilen der Welt bedroht, CO , das seit Beginn der Industrialisierung
²
Das Gremium tauchte tief ein in die ver- manchenorts seien massive Umsiedlungen freigesetzt wurde, ist mehr als die Hälfte
fügbare Literatur und befragte Experten. unvermeidbar. »Solch relativ schnelle und erst nach 1988 in die Atmosphäre gelangt.
Im April 1986 schloss es seine Untersu- dramatische Veränderungen«, so raunten In den USA tat sich Shell 1989 mit
chung ab. Zwei Jahre später legte es intern die Shell-Vordenker, würden »bedeutende Ölmultis wie Chevron, BP und Exxon
einen knappen Bericht vor mit dem Ver- soziale, wirtschaftliche und politische Kon- zusammen, die auch schon recht gut
merk »Vertraulich«. sequenzen« nach sich ziehen. Bescheid wussten über den Klimawandel.
Jetzt ist das bemerkenswerte Werk wie- »Noch«, hoben die Forscher hervor, sei Gemeinsam gründeten sie die Lobbyorga-
der aufgetaucht (einsehbar auf der Inter- eine Erwärmung gar nicht nachweisbar. nisation »Global Climate Coalition«.
netplattform www.climatefiles.com). Der Aber »gegen Ende des Jahrhunderts oder Mit einem Millionenetat schürte der
Shell-Report zum Klimawandel bietet am Anfang des nächsten« werde der An- Verband in der Öffentlichkeit systematisch
31 Seiten Schocklektüre plus Anhang. stieg der mittleren Temperatur weltweit Zweifel am Wahrheitsgehalt der Klimafor-
Hellsichtig und in glasklarer Sprache schil- auffällig werden. schung. Die Wirkung dieser und anderer
dern die Konzernforscher darin ohne ei- Mit dieser Aussage haben sie rück- Desinformationskampagnen hält bis heute
nen Anflug von Zweifel, wie das bei der blickend einen Volltreffer gelandet – mit an. Der Aufstieg des Klimaleugners Do-
Verbrennung von fossilen Energieträgern ihrem nächsten Punkt hoffentlich nicht: nald Trump und der Ausstieg der USA aus
freigesetzte Kohlendioxid die Erde aufhei- »Sobald die globale Erwärmung messbar« dem Pariser Klimaschutzabkommen ge-
zen wird – »nicht zu Lebzeiten der gegen- werde, schrieben die Shell-Experten, hen auch auf das Konto von Shell & Co.
wärtigen Entscheider«, wohl aber zu de- »könnte es bereits zu spät sein, effektive War es das Gewissen der Manager, die
nen ihrer Kinder und Enkel. Gegenmaßnahmen zu ergreifen oder die Geheimstudie im Giftschrank oder viel-
Das sind wir. Situation auch nur zu stabilisieren«. leicht der öffentliche Druck? Im Jahr 1998
Auf den Planeten kämen Veränderun- Ihrem eigenen Konzern rechneten die entschloss sich Shell, den Klimawandel
gen zu, notierten die Autoren schon da- Wissenschaftler vor, an der Krise nicht un- nun doch nicht länger abzustreiten. Der
mals, die größer sein würden als alle an- schuldig zu sein. Von den weltweiten CO - Konzern kündigte seine Mitgliedschaft in
²
deren in den vergangenen 12 000 Jahren. Emissionen des Jahres 1984 gingen immer- der Global Climate Coalition, die sich we-
Eine Vielzahl der Phänomene, die heute hin vier Prozent auf Shell-Öl, Shell-Gas nig später auflöste.
von Klimaforschern diskutiert und teil- und Shell-Kohle zurück. Dezent mahnten Seit dieser Kehrtwende erkennt Shell
weise auch in der Natur beobachtet wer- die Forscher ihre Manager, sich dem Kli- den von Menschen gemachten Klimawan-
den, hatten die Shell-Forscher bereits auf mawandel zu stellen und das Problem im del als Tatsache ausdrücklich an – und
dem Schirm – den steigenden Meeresspie- Zusammenspiel mit Regierungen und macht trotzdem munter weiter wie zuvor:
gel, den Schwund der Korallenriffe, die internationalen Organisationen konstruk- Noch immer verdient der Konzern sein
Abnahme der polaren Eismassen, die tiv anzupacken. Geld damit, CO in die Welt zu pusten. Al-
²
wachsende Instabilität von Ökosystemen, Doch die Shell-Manager entschieden ternative Energien spielen in seiner Bilanz
die existenzielle Bedrohung für Länder sich anders. bislang kaum eine Rolle.
wie Bangladesch, häufigere Extremwetter- Obwohl sie nunmehr wussten, dass ihre Marco Evers
ereignisse. Branche die Menschheit in die Bredouille
Supersüßer
eine falsche Bewegung oder ein Geräusch stützer sehen trotzdem in dem Hund das
ausreichen, um einen Hund zum Ausras- eigentliche Opfer und wollen verhindern,
ten zu bringen. dass die »Todesstrafe« vollstreckt wird.
Killer
Was der angeblich beste Freund des Um den Forderungen Nachdruck zu
Menschen mitunter anrichtet, zeigte sich verleihen, organisierten Tierschützer eine
am vorigen Montag auch im hessischen Demo vor dem Ordnungsamt, außerdem
Bad König. Dort machte sich Staffordshire- versuchten Unbekannte, ins Tierheim
Tiere Mischling Chico biss seine Mischling Kowu über einen Menschen her, einzubrechen – offenbar, um Chico zu
beiden Besitzer tot – doch der noch wehrloser war als die beiden Er- befreien. Zudem wurden sachkundige
wachsenen in Hannover: Er biss dem sie- Menschen übel beschimpft, die eine Ein-
Tierschützer wollen den ben Monate alten Sohn seiner Halter in schläferung des Hundes nicht gänzlich aus-
Hund retten. Die Zuneigung für den Kopf, genauer gesagt in die Fontanelle. schlossen – darunter die Hundetrainerin
den Rüden irritiert. Der Junge starb im Krankenhaus an der Sabine Busch, die mit auffälligen Tieren
Blutung. Doch auch das Schicksal dieses wie Chico arbeitet. Ihre Mailbox sei »voll«
Opfers geht derzeit etwas unter. gewesen mit Sätzen wie diesem, sagt
Animation
Wie gefährlich sind
Kampfhunde?
spiegel.de/sp162018kampfhunde
oder in der App DER SPIEGEL
Staffordshire-Mix Chico beim Gassigang: Druck der Straße
105
Wissenschaft
»Wir überlassen
den Maschinen die Kontrolle,
weil sie so großartig sind«
SPIEGEL-Gespräch Der US-Informatiker Pedro Domingos über den globalen Wettlauf
um die Führung bei der künstlichen Intelligenz, den Vormarsch
der Autokraten und die Gefahr moderner Technologie für die westlichen Demokratien
E
in stiller Flur im Informatik- ren könnte das Rennen entschieden sein. kann mit künstlicher Intelligenz, wie mit
zentrum an der Universität von Russland kommt gut voran, doch wahr- jeder Technologie, Gutes und Schlechtes
Washington in Seattle: Rechts sit- scheinlicher ist, dass China gewinnt. Wir tun. Bislang haben wir uns auf das Gute
zen junge Software-Ingenieure im könnten bald in einer Welt leben, die zwar konzentriert, und davon gibt es sehr viel.
Kunstlicht fensterloser Zimmer an ihren nicht buchstäblich von China kontrolliert Aber ebenso groß sind die Möglichkeiten,
Laptops, links öffnet der Informatik- wird, wohl aber faktisch, weil es die Cyber- diese Technologie zu missbrauchen.
professor Pedro Domingos die Tür zu sei- welt beherrscht. SPIEGEL: Ist es ein Zufall, dass sich gerade
nem Büro, das den Blick auf riesige Bäume SPIEGEL: Warum kommt das der Weltherr- zwei Autokraten wie Xi und Putin so für
auf dem Campus freigibt. schaft gleich? künstliche Intelligenz interessieren?
Domingos, 52, ist mit einem Buch be- Domingos: Künstliche Intelligenz senkt Domingos: Die Menschen in Amerika,
rühmt geworden, das Microsoft-Gründer die Kosten des Wissens, und zwar um Europa und Asien denken ganz unter-
Bill Gates und den früheren Google-Chef riesige Dimensionen. Ein effektives, auf schiedlich über diese Technologie. Im
Eric Schmidt begeistert hat: »The Master lernende Maschinen aufgebautes System Silicon Valley dominiert ein sehr optimis-
Algorithm«, ein Standardwerk über die kann Dinge leisten, die heute eine Million tisches, von libertären Ideen geprägtes
Technologie der künstlichen Intelligenz Menschen leisten, von der Wirtschaft bis Bild. Anders in Europa: Vor Kurzem
(KI). Das 2015 erschienene Erfolgsbuch be- zur Cyberspionage. Stellen Sie sich ein nahm ich an einer Konferenz in Berlin teil
schreibt, wie lernende Maschinen unseren Land vor, das tausendmal so viel Wissen und war wie erschlagen vom Pessimismus,
Alltag verändern, von den sozialen Netz- produziert wie alle anderen. Das ist die der dort herrschte. Auf jeder Sitzung hieß
werken über die Wissenschaft, die Wirt- Herausforderung, vor der wir stehen. es: Oh, da müssen wir uns aber fürchten.
schaft und die Politik bis zur modernen SPIEGEL: Auch Chinas Staatschef Xi Jin- Bis jemand die treffende Frage stellte:
Kriegsführung. ping interessiert sich für künstliche Intelli- Warum heißt diese Konferenz eigentlich
Vor Kurzem hat sich ein dritter Promi- genz. Haben Sie vor den Bildern von sei- »Humanity Disrupted« – also »zerrissene
nenter als Leser von Domingos’ Buch ge- ner Ansprache gewusst, dass Ihr Buch in Menschheit«? Warum nennen wir sie
outet – Chinas Staatschef Xi Jinping. Als seinem Regal steht? nicht »Humanity Enhanced« – also »er-
das Staatsfernsehen seine Neujahrsan- Domingos: Ich habe es nicht gewusst, weiterte, verbesserte Menschheit«? Ja,
sprache ausstrahlte, entdeckten Zuschauer Xi Jinping macht das offenbar immer so. künstliche Intelligenz stellt einen Kul-
neben Marx’ »Kapital« und den »Ausge- Die Bücher in seinem Regal vermitteln turbruch dar. Aber sie bringt uns auch
wählten Werken« von Mao Zedong auch eine Botschaft. Im Falle meines Buchs lau- weiter.
»The Master Algorithm« in Xis Bücher- tet sie: Wir glauben an die künstliche Intel- SPIEGEL: Und China, Russland?
regal. »Das Buch wird viel gelesen in Chi- ligenz. Ich war nicht wirklich überrascht, Domingos: Dort sehen die Regime leider
na«, sagt Domingos. »Wahrscheinlich sind als ich davon erfuhr. Peking sagt, dass nicht das libertäre, sondern das autoritäre
Xi und seine Leute deshalb darauf auf- China auf diesem Feld zur Weltmacht Potenzial. Xi und Putin sagen sich: Was
merksam geworden. Gut möglich, dass es aufsteigen will. können wir mit dieser Technik nicht alles
inzwischen noch populärer ist.« Auch ins SPIEGEL: Was überwog, als Sie Ihr Buch anfangen?
Russische, Japanische, Koreanische und dort sahen – das Gefühl der Bestätigung SPIEGEL: Überlassen wir Europäer den
in viele andere Sprachen ist das Buch über- oder der Beunruhigung? Autokraten dieses Feld?
setzt worden – ins Deutsche noch nicht. Domingos: Es war zugleich aufregend und Domingos: Es gibt viele Anwendungen,
unheimlich. Aufregend, weil sich China so auf lokaler und nationaler Ebene, von der
SPIEGEL: Herr Professor Domingos, Russ- schnell entwickelt und es unzählige Mög- Medizin bis zur Verkehrssteuerung, die in
lands Präsident Wladimir Putin sagt: Wer lichkeiten gibt, wie die Chinesen und der den USA und China längst genutzt wer-
in der Technologie der künstlichen Intelli- Rest der Welt von künstlicher Intelligenz den, viel weniger dagegen in Europa. Ja,
genz die Führung übernimmt, wird die profitieren können. Unheimlich, weil Chi- so gesehen bleibt Europa hinter seinen
Welt beherrschen. Stimmt das? na von einem autoritären Regime regiert Möglichkeiten zurück.
Domingos: Ich stimme ihm zu. Künstliche wird, das fest entschlossen ist, lernende SPIEGEL: Ihr Buch wurde unter anderem
Intelligenz ist eine sehr mächtige Techno- Algorithmen zur Kontrolle seiner Bevöl- ins Russische und Chinesische übersetzt,
logie, und der Rüstungswettlauf auf die- kerung zu nutzen. Und dabei stehen wir aber weder ins Deutsche noch ins Fran-
sem Feld hat längst begonnen. In 20 Jah- erst am Anfang dieser Entwicklung. Man zösische.
107
Wissenschaft
Domingos: Mein Agent hat mir von An- rent sein und keine falschen Informationen SPIEGEL: Warum?
fang an gesagt: »Du wirst dieses Buch auf verbreiten. Domingos: Nun, in der Krebsforschung
der ganzen Welt verkaufen, aber nicht in SPIEGEL: Was sollte man nicht regulieren? zum Beispiel halte ich es geradezu für die
Frankreich und Deutschland.« Genau so Domingos: Beispielsweise sollte man nicht ethische Pflicht der Patienten, ihre Daten
ist es gekommen. Mein Agent hatte recht, festlegen, dass Daten ausschließlich dafür zu teilen. Das werden sie aber nicht tun,
als er sagte: »Die Deutschen und Franzo- verwendet werden dürfen, wofür sie ge- wenn sie wie in China Zweifel daran haben
sen mögen diese Dinge nicht.« sammelt wurden. Das klingt zunächst plau- müssen, dass ihre Daten sicher sind. Die
SPIEGEL: Sie warnen selbst davor, dass die sibel – aber wenn die Menschheit diesem Qualität der Daten mag dort also geringer
Technologie in die falschen Hände geraten Prinzip früher gefolgt wäre, hätten wir heu- sein, auch wenn das Volumen größer ist.
könnte. Sind wir nicht zu Recht besorgt? te kein Penicillin und keine Röntgentech- SPIEGEL: Wird der Rüstungswettlauf um
Domingos: Diese Gefahr besteht, und was nik. Zufall, also das Entdecken neuer Din- die künstliche Intelligenz künftig eher zwi-
die Regulierung von künstlicher Intelli- ge in alten Daten, ist für wissenschaftlichen schen Staaten oder zwischen einzelnen
genz betrifft, ist Europa weiter als die USA. Fortschritt unerlässlich. Unternehmen ausgetragen?
Allerdings wird dort zu viel reguliert, ohne SPIEGEL: Haben Sie europäischen Politi- Domingos: Die Welt wird sich in dieser
die Technik zu verstehen. kern das erklärt? Hinsicht völlig verändern, die Grenzen
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Domingos: Ich habe mit vielen Politikern verschieben sich. Wenn ich mit Militärs
Domingos: Die europäische Datenschutz- gesprochen, allerdings weniger mit euro- spreche – ein großer Teil meiner For-
Grundverordnung, die Ende Mai wirksam päischen. Das ist paradox, denn Europa schung wird vom Pentagon finanziert –,
wird, legt zu großen Wert auf die soge- hat hervorragende KI-Experten – nicht so dann haben sie die Hoffnung lange auf-
nannte Erklärbarkeit, also die Frage, wa- viele wie die USA, doch die Qualität ihrer gegeben, dass der Gegner vor der Tür ge-
rum ein Algorithmus so und nicht anders Forschung ist derzeit noch besser als die halten werden kann. In die Cyberwelt ist
entscheidet. Nehmen wir die Krebsfor- ihrer chinesischen Kollegen. Aber China der Gegner längst eingedrungen, sosehr
schung, wo maschinelles Lernen heute holt auf … wir auch versuchen, alle Ritzen abzudich-
schon eine große Rolle spielt. ten. Deshalb geben sich die
Ist es mir lieber, meine Diagno- Chinesen auch solche Mühe,
se basiert auf einem Algorith- einen Überwachungsstaat auf-
mus, der zu 90 Prozent akku- zubauen.
rat, aber im Detail nicht erklär- SPIEGEL: Was hat das mit den
bar ist – oder auf einem, der Internetfirmen zu tun?
nur zu 80 Prozent genau ist, Domingos: Dort ist der Wett-
den ich aber verstehe? Ich wür- lauf am weitesten vorange-
de mich für das genauere Sys- schritten. Bislang agieren die
tem entscheiden. großen KI-Unternehmen weit-
SPIEGEL: Kann man nicht bei- gehend im Stillen, schon aus
des haben, Genauigkeit und Gründen des Wettbewerbs.
Verständlichkeit? Noch arbeiten die größten
Domingos: Die besten lernen- Firmen unabhängig und ganz
den Algorithmen sind neurona- für sich – fünf oder sechs der
len Netzwerken nachgebildet, zehn führenden in den USA,
die von Nervensystemen inspi- zwei oder drei in China. Über
riert sind, wie sie in Tieren und kurz oder lang aber werden
Menschen vorkommen. Diese diese Firmen und die Staaten
Algorithmen sind hochgradig Staatschef Xi bei Neujahrsansprache: »China ist im Vorteil« immer enger zusammenarbei-
akkurat, weil sie auf der Basis ten. Auch da ist China im Vor-
riesiger Datenmengen einen teil, denn die Regierung und
Ausschnitt der Welt besser verstehen als wir. SPIEGEL: … und wird mit seinem autori- die Unternehmen helfen einander dort
Aber sie sind völlig undurchsichtig. Selbst tären Modell am Ende an uns vorbei- hemmungslos – was in den USA so nicht
wir Experten verstehen nicht, wie sie genau ziehen? der Fall ist.
funktionieren. Wir wissen nur, dass sie funk- Domingos: Der frühere Google-Chef Eric SPIEGEL: Welches sind die führenden Fir-
tionieren. Wir sollten deshalb keine Regeln Schmidt sagt voraus, dass China 2025 vorn men?
aufstellen, die nur vollständig erklärbare liegen wird, weil es eine konzertierte Stra- Domingos: Nummer eins ist Google mit
Algorithmen erlauben. Es ist schwierig, die tegie verfolgt. Das ist gut möglich. Ameri- seiner riesigen Zahl von Experten und Ab-
Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen kas Vorteil sind die Grundlagenforschung teilungen, die sich ausschließlich künst-
und die Dinge dabei einfach zu halten. und das sprudelnde Wagniskapital, wel- licher Intelligenz und maschinellem Ler-
SPIEGEL: Wie sollte man künstliche Intel- ches das Wissen von den Universitäten in nen widmen, wie DeepMind und Google
ligenz dann regulieren? die Wirtschaft überträgt. Chinas Vorteil Brain. Auf Platz zwei folgt Microsoft, da-
Domingos: Kein Gesetz wird je detailliert sind die großen Datenmengen, aus denen hinter Facebook und Amazon – in dessen
genug sein, um mit der Komplexität mo- lernende Algorithmen schöpfen können. Logistikzentren Hunderttausende Men-
derner Algorithmen mithalten zu können. Europas Vorteil ist seine Vielfalt. Wenn schen arbeiten, die das Unternehmen
Was man regulieren kann, sind die objek- ich zwischen den Datenpools Europas und wahrscheinlich lieber heute als morgen
tiven Funktionen eines Algorithmus, also Chinas wählen müsste, würde ich mich für durch Roboter ersetzen würde.
etwa das Ziel von Facebook, seine Nutzer Europa entscheiden, denn chinesische Da- SPIEGEL: Und in China?
so lange wie möglich auf der Seite zu hal- ten sind sehr homogen und deshalb auf Domingos: Dort sind der Onlinehändler
ten. Da kann die Aufsichtsbehörde sagen: vielen Feldern redundant. Außerdem ist Alibaba und der Internetriese Tencent die
Okay, ihr wollt Geld verdienen, aber dabei China sehr nachlässig beim Schutz der Pri- Besten – vor allem aber die Suchmaschine
müsst ihr gewisse gesellschaftlich relevante vatsphäre – was zugleich ein Nach- und Baidu, die massiv auf künstliche Intelli-
Regeln einhalten, zum Beispiel transpa- ein Vorteil ist. genz setzt.
man ein digitales Modell des einzelnen nicht die künstliche Intelligenz, die Ent-
Bürgers und seiner politischen Prioritäten scheidungen trifft. Es sind die Leute, die
erstellt, das der Volksvertreter dann zurate die künstliche Intelligenz kontrollieren.
zieht. Das ist mit den Mitteln des maschi- Wer steuert künftig die Algorithmen? Sind
nellen Lernens sehr gut möglich und wird wir das – oder ist es Xi Jinping? Das ist
bereits erprobt. Hier liegt eine Chance. die Frage.
SPIEGEL: Herr Professor Domingos, wir
* Mit den Redakteuren Christoph Scheuermann und Domingos beim SPIEGEL-Gespräch* danken Ihnen für dieses Gespräch.
Bernhard Zand in Seattle. »Die Deutschen mögen diese Dinge nicht«
109
Kultur
Žižeks »Disparitäten« sind die unverhohlene, kichernde Freude am Verwesungsgeruch. ‣ S. 123
UNIVERSAL PICTURES
Ronan, Gerwig bei den Dreharbeiten zu »Lady Bird«
Kino
Verloren in Sacramento
Selbst auf offener Straße hat sie das Gefühl, gegen Wände zu Greta Gerwig, 34, aus den Problemen der Pubertät eine scharf-
laufen, und den ständig blauen Himmel würde sie gern gegen züngige Komödie und inszeniert die Rebellion ihrer Heldin als
einen New Yorker Wintersturm tauschen. Es ist das Jahr 2002, amüsanten Befreiungskampf. Mit einem zugleich nüchternen
und die 17-jährige Christine will nur noch weg aus ihrer kali- und liebevollen Blick betrachtet sie das Leben in der amerikani-
fornischen Heimatstadt Sacramento. Spielfilme über Teenager- schen Provinz. Erlebnisse und Anekdoten aus ihrer eigenen
tristesse sind für Erwachsene oft nicht leicht zu ertragen. Der Jugend hat die selbst aus Sacramento stammende Gerwig in dem
Blick in stets missgelaunte Weltschmerzgesichter kann aggressiv Film verarbeitet – und in Saoirse Ronan eine Hauptdarstellerin
machen. In ihrem Soloregiedebüt »Lady Bird«, das in diesem gefunden, die ihre pointierten Dialogsätze so glaubwürdig wie
Jahr für fünf Oscars nominiert war, entwickelt die Schauspielerin cool zur Wirkung bringt (Kinostart: 19. April). LOB
Theater Antworten im Theater. Ich will die Zu- SPIEGEL: Spekulieren Sie darauf, dass die
schauer herausfordern, sich zu positionie- Staatsanwaltschaft einschreitet? Der PR-
»Radikale Antworten« ren. Es ist nicht nur ihre Aufgabe, im Effekt wäre enorm.
Der Kabarettist und Regisseur Serdar Foyer zu stehen und Sekt zu trinken. Es Somuncu: Unsinn. Wer verfassungsfeind-
Somuncu, 49, inszeniert am Theater Kon- ist ihre Aufgabe, sich Gedanken zu liche Symbole im Theater nutzen will,
stanz die Farce »Mein Kampf« von machen. muss rechtliche Grenzen wahren. Und das
George Tabori. Die Premiere hat er für SPIEGEL: Rechnen Sie ernsthaft damit, tun wir. Mit der Hakenkreuzidee durch-
den 20. April, Hitlers Geburtstag, an- dass jemand in einem bürgerlichen Stadt- brechen wir die vierte Wand zwischen
gesetzt – nicht seine einzige Provokation. theater das Hakenkreuz wählt? Bühne und Saal. Wir machen das Publi-
Somuncu: Ich hatte gehofft, dass jeder kum zu einem Teil der Inszenierung.
SPIEGEL: Herr Somuncu, wer eine regulä- regulär zahlt und sich einen Davidstern an- SPIEGEL: Die Premiere ist an Hitlers Ge-
re Karte für Ihre Inszenierung kauft, muss heftet, als Geste der Solidarität. Leider burtstag. Wen wollen Sie provozieren?
sich im Saal einen Davidstern anheften. haben wir schon 35 Bestellungen für Gra- Somuncu : Ich sehe das als Statement ge-
Wer ein Hakenkreuz trägt, kommt gratis tiskarten. Entweder die Leute sind wirk- gen Rechtsextreme, die das Datum für
rein. Ist das nicht geschmacklos? lich rechts. Oder sie werfen aus Geiz ihre ihre Zwecke missbrauchen, gegen obskure
Somuncu: Auf radikale Entwicklungen Gesinnung über den Haufen. Das ist er- Feiern von Neonazis. Die sind geschmack-
in der Politik brauchen wir radikale schreckend. los, nicht wir. TOB
111
Kultur
D
as Gebäude, in dem einmal die sechs Mitglieder weigerte sich. Daraufhin sagte Östergren nach seinem Rücktritt.
Börse von Stockholm war, ist ein zogen der Historiker und Schriftsteller Peter Sie versuche, sich durch obskure Manö-
zweigeschossiger altrosa Klotz in Englund, der viel gelesene Klas Östergren ver aus der Affäre zu ziehen und verletze
der Mitte der Altstadt. Jeden Don- und Akademieveteran Kjell Espmark, seit dabei nicht nur die Statuten, sondern
nerstag um 17 Uhr treffen sich hier die Mit- 1981 Mitglied, die Konsequenz. vor allem ihre Mission, Genie und Ge-
glieder der Schwedischen Akademie zur »Die Schwedische Akademie hat schon schmack zu fördern, sagte er weiter und
ihrer Sitzung, anderthalb Stunden lang seit einiger Zeit ernsthafte Probleme«, schloss mit einem Zitat von Leonard
beraten und diskutieren sie, über den Lite-
raturnobelpreis und viele andere Preise und
Stipendien, danach gehen sie gemeinsam
essen. Donnerstags gibt es in Schweden
meistens Erbsensuppe und Pfannkuchen.
Heute aber ist alles anders. Heute
herrscht Ausnahmezustand in der Altstadt,
und die Journalisten, die am Seiteneingang
warten, brauchen Sensationen. Die Mitglie-
der der Akademie kommen einzeln und
bahnen sich ihren Weg an den Journalisten
vorbei. Es solle über das Schicksal der Stän-
digen Sekretärin der Akademie abgestimmt
werden, heißt es. Die vielleicht bekannteste
kulturelle Institution der Welt wankt. Am
Abend wird bekannt, dass die Ständige Se-
kretärin, Sara Danius, von allen Ämtern
zurücktritt. Auch die Frau, die in vielem
ihre Kontrahentin war, Katarina Frosten-
son, verlässt die Akademie.
Was ist passiert? Drei Mitglieder haben
am Freitag vor einer Woche ihren Rückzug
bekannt gegeben, wobei die Mitglieder
eigentlich auf Lebenszeit ernannt und
Rücktritte nicht vorgesehen sind. Es geht
um Vorwürfe von sexuellem und finanziel-
lem Fehlverhalten gegen den Ehemann von
Frostenson, der unter anderem Töchter
und Frauen von Mitgliedern der Akademie
jahrelang belästigt haben soll. Es ist ein Be-
ben, das eine zentrale Institution des
schwedischen Kulturlebens erschüttert und
die Welt der Literatur überhaupt. Im
schwedischen Königreich sind die Mitglie-
der der Akademie so etwas wie Aristokra-
ten, sie stehen in symbolischer Hinsicht so-
gar über dem König, so wollte es 1786 der
Gründer der Akademie, König Gustaf III.
Recht ruhig und geordnet und auch ge-
heimnisumwittert ging es deshalb meistens
zu, in den vergangenen 232 Jahren. Aber
heute ist nichts ruhig.
HENRIK MONTGOMERY / AFP
113
bei Verstand sei. Dabei hatte es System: Ar- wie allgemein bekannt, ein enger und alter
nault, so schilderten es die Frauen, benutzte Nun mischt sich auch Freund Jean-Claude Arnaults, gegen den,
seine Macht, um Frauen sexuell zu bedrän- der König ein. Manche das wurde diese Woche bekannt, die Justiz
gen, er zwang sie zum Oralsex, er bezeich- erst einmal nicht wegen Finanzvergehen
nete sie als »Krebsgeschwür«, das ausge- halten das für den ermitteln wird.
merzt werden müsse, nachdem sie ihre größten Witz überhaupt. Er sei »bestürzt über die Rauheit der
sexuelle Beziehung mit ihm beendet hatten. Schlacht«, so drückte Engdahl sich aus
Keine der Frauen ging damals zur Poli- und beschimpfte dann ein Mitglied der
zei, aus den verschiedensten Gründen, die würfe von mehr als 40 Frauen berichtet, Jury dafür, dass sie immer noch stolz ihre
Opfer von sexueller Gewalt so oft davon die ihm einen autoritären und manchmal Moral vor sich her trage – gemeint war
abhalten, sich zu Wort zu melden. Es war diktatorischen Führungsstil vorwarfen. der bisherige Tiefpunkt der Akademie,
die typische Situation von Wissen und Aber der Streit um die Schwedische als Mitglieder ebenfalls ihren Rückzug er-
Nicht-wissen-Wollen. Seit 1997 wurde min- Akademie hat deshalb so eine andere Di- klärt hatten, 1989, als sich die Akademie
destens ein Mitglied der Akademie von mension, weil es um noch mehr geht als weigerte, Salman Rushdie gegen die Fat-
einem Vorfall unterrichtet, Sture Allén, um Sex und Geld. Es geht um die Kriterien wa der Iraner explizit in Schutz zu neh-
der in einer anderen Abstimmung gegen und das Verhalten jener Menschen, die in men. Wie damals hätten sich auch die
den Ausschluss von Frostenson gestimmt vielem, ob man das will oder nicht, der Renegaten von heute »in die Arme der
hatte. Goldstandard der Literatur sind. Es geht Medien« gestürzt, ihre Schweigepflicht
Gegenüber der schwedischen Presse um Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Selbst- gebrochen und damit mehr Schaden an-
spricht Arnault von Hexenjagd und gerechtigkeit, Einsicht und Offenheit, es gerichtet als »die eine oder andere Nobel-
Dummheiten. Es war eben ein »old boys geht um ethische und moralische Kriterien, preisentscheidung, die ein paar Tage zu
network«, so nennt es Björn Wiman, alte die sie selbst bei ihrer Auswahl so oft mit früh bekannt wird«, wie er recht lässig
Freunde, die sich nicht gegenseitig verra- ins Spiel bringen. anfügte.
ten. »Alle sagten damals, als die Sache mit »Es geht um Ehre«, sagt Lisa Irenius, Seine Nachfolgerin, Sara Danius, be-
den 18 Frauen bekannt wurde, es hätten »das ist die Grundlage dieser Akademie, zeichnete er als die schlechteste Ständige
doch alle gewusst«, sagt Wiman. Der die ja eine Art aristokratische Institution Sekretärin in der mehr als 200-jährigen
Schock, wie es die Regel ist bei den #Me- ist.« Mit anderen Worten: Die Reputation Geschichte der Akademie – der zurückge-
Too-Enthüllungen, war gleichzeitig gewal- des Nobelpreises ist grundsätzlich be- tretene Kjell Espmark reagierte darauf, in-
tig und von Zweifeln getragen. Die Wucht droht. dem er sagte: »Das ist das Falscheste und
der Wahrheit war da, die Scham über die Und es hilft dabei nicht, dass sich die Schändlichste, was ich in meinem Leben
Verdrängung wohl auch. Fraktionen in diesem Machtkampf mit gelesen habe. Er hat kein Stückchen Ehre
Gerade in Schweden, das sich als be- Beleidigungen kaum zurückhalten. Be- mehr in seinem Körper.«
sonders emanzipierte Gesellschaft sieht, sonders Horace Engdahl teilt hart aus, ein Der König, so hieß es vergangene Wo-
was in vielem stimmt und in manchem Kritiker und Literaturprofessor, von 1999 che, unterstütze eine Satzungsänderung,
auch nicht. »Ich mag die schwedische bis 2009 selbst Ständiger Sekretär und, wonach ein Ausscheiden von Mitgliedern
Selbstwahrnehmung nicht, immer die Gu- der Akademie möglich sein soll – was dazu
ten zu sein«, sagte vor Jahren Klas Öster- führen könnte, dass die verbliebenen Mit-
gren, dessen Bücher auch auf Deutsch er- glieder sich selbst in der Minderheit als
schienen sind, etwa der Roman »Porträt funktionsfähig erklären und neue Mitglie-
eines Dandys« (2011), der in den Achtzi- der aufnehmen könnten. »Ein Witz« sei
gerjahren spielt und von einem Land er- das, sagt Björn Wiman, der König habe kei-
zählt, das sozialdemokratische Beschei- ne Ahnung und kein Interesse, was Kultur
denheit durch Profitgier und postmoderne oder Literatur angeht. Vor ein paar Jahren
Spielereien ersetzt. war er selbst wegen sexueller Eskapaden
Das speziell Schwedische an der #Me- in den Schlagzeilen.
Too-Debatte war dabei, dass sie in vielem Völlig unklar bleibt bei alldem, mit wel-
offener, ambitionierter, anders geführt chem Grad an Glaubwürdigkeit die Akade-
wurde als in den meisten anderen Ländern. mie in Zukunft ihre Preise und Stipendien
Es waren vor allem die kollektiven Be- und speziell den Nobelpreis vergeben will.
kenntnisse erst von vielen Hunderten »Es wäre das Beste gewesen, wenn die, die
Schauspielerinnen, dann von Hunderten mit Arnault in Verbindung stehen, schon
Rechtsanwältinnen, dann von Frauen in im Dezember zurückgetreten wären«, sagt
vielen anderen Berufsgruppen, die die De- Lisa Irenius. Aber nun ist zu viel Zeit ver-
batte prägten. Es ging mehr um systemi- strichen. Eigentlich, sagt sie, wäre es das
CHARLES HAMMARSTEN / IBL / PICTURE ALLIANCE
sche Missstände als um die Vergehen Ein- Beste, wenn die ganze Akademie aufgelöst
zelner. #MeToo wurde als Chance gesehen, und neu zusammengesetzt würde.
ein gesellschaftliches Gespräch über se- Und Svante Weyler mutmaßt schon, es
xuellen Missbrauch und Ungleichheit zwi- werde in diesem Jahr wohl nur vier echte
schen den Geschlechtern zu führen. Schriftsteller geben, die über den wichtigs-
Auch in Schweden gab es Enthüllungen ten Literaturpreis der Welt entscheiden,
über Einzelne und tragische Ereignisse – die anderen verbleibenden Mitglieder wä-
der Selbstmord des Theaterleiters Benny ren alle Literaturwissenschaftler.
Fredriksson etwa sorgte im März für Be- Einen Vorschlag hat er als Weg aus der
stürzung, er war mit der auch in Deutsch- Krise: »Wenn sie den Preis an Philip Roth
land bekannten Opernsängerin Anne vergeben, dann ist all das hier rasch wieder
Sofie von Otter verheiratet, im Dezember Ehepaar Frostenson, Arnault 2015 vergessen.«
hatte die Zeitung »Aftonbladet« über Vor- Vorwurf des Machtmissbrauchs
114
Kultur
Minenfeld
Ausstellungen Deutschland widmet sich auf der Architekturbiennale in Venedig den
Nachwirkungen der eigenen Teilung, den Errungenschaften, den Ungerechtigkeiten.
Zuständig für den Auftritt: drei Freunde von Brad Pitt und die Politikerin Marianne Birthler.
E
igentlich sitzen sie zusammen, um rungen des Dresdner Schriftstellers Uwe Für den Ausstellungskatalog hat Birthler
über Deutschland zu reden, im Na- Tellkamp zu AfD und Flüchtlingen, wie über ihr eigenes Leben hinter der Mauer
men von Deutschland Außerge- sich der Osten vom Westen gegängelt, zu- geschrieben. Dieser persönliche Zugang
wöhnliches zu planen. rückgesetzt fühlt, wie dünnhäutig und wird denen helfen, die jünger sind, die nicht
Jetzt sprechen sie erst einmal, ausge- misstrauisch beide Teile aufeinander rea- wissen können, wie sich das anfühlte, als es
rechnet, über Bananen. gieren – dass also offenbar ein emotionales plötzlich Landesgrenzen innerhalb des eige-
Ein kleines, durchaus kontrastreiches Minenfeld entstanden ist. In Venedig darf, nen Landes gab. Birthler, 1948 in Ost-Berlin
Team trifft sich an diesem Nachmittag in soll sich nun das internationale Publikum zur Welt gekommen, war 13 Jahre alt, als
Berlin, es besteht aus den drei Chefs des mit diesem Land beschäftigen, das seine die DDR quasi ganz zugesperrt wurde, vor-
Architekturbüros Graft – Lars Krückeberg, Seltsamkeit noch nicht abgelegt hat. her waren Ausflüge in den Westen möglich.
Wolfram Putz und Thomas Willemeit –
und der Politikerin Marianne Birthler.
Graft steht für architektonische Cool-
ness, made in Los Angeles, Berlin und
Peking; Birthler für den kritischen Osten,
denn sie wurde in den Jahren der DDR,
in der Zeit der Wende zu einer Kämpferin,
natürlich ist sie für viele auch die Frau,
die lange die Stasiakten verwaltet hat
und beinahe Bundespräsidentin geworden
wäre.
Nun erst einmal diese kleinen Geschich-
ten, Lars Krückeberg, einer der Architek-
ten, fängt damit an: die Bananen und die
anderen Südfrüchte, die an den Tagen
nach dem Mauerfall verteilt wurden, in
Berlin oder in grenznahen Städten, manch-
PABLO CASTAGNOLA
mal direkt vom Lastwagen hinab, wie be-
schämend es für die gewesen sein muss,
die in der Schlange gestanden haben, ihm
sei das damals sehr schnell klar geworden.
Birthler sagt, und es klingt ein wenig iro- Kuratoren Krückeberg, Willemeit, Birthler, Putz: Zwei Seiten der Geschichte
nisch, das wundere sie nicht, dass er das
so empfunden habe.
Aber sie fand solche Szenen natürlich
auch schrecklich, denn im Grunde sei das
doch damals ein »Weltmoment« gewesen.
Dieser Weltmoment ist jetzt der Aus-
gangspunkt eines gemeinsamen Projekts.
Die vier werden Deutschland auf der
Architekturbiennale in Venedig vertreten.
63 Nationen nehmen daran teil, und ihr
Beitrag – also der deutsche Beitrag – dürf-
te durch historische Schwerkraft und ak-
tuelle Brisanz auffallen. Sie organisieren
im nationalen Pavillon eine Ausstellung,
die von Mauern erzählen wird, von sol-
chen, wie Trump sie auf seinem Kontinent
androht, aber auch und gerade von der
innerdeutschen, die vor fast drei Jahrzehn-
FRIEDHELM DENKELER
117
Kultur
sitzverhältnisse geht, um Machtpositionen. Wer heute eine Mauer bauen wolle, sol- oder den Unwillen zum Dialog, zur echten
Im Pavillon werden auch die Berliner Re- le das alles berücksichtigen, finden die vier. Politik«.
gierungsbauten thematisiert, diese große »Unsere Ausstellung«, sagt Architekt Ein Teil ihrer Schau wird sich anderen
architektonische Geste namens »Band des Putz, »ist auch der wackelnde Zeigefinger Spaltungen widmen, der Situation auf
Bundes«. Und an dieser Stelle der Schau in Richtung Trump, eine Aufforderung Zypern, in Nordirland mit seinen Friedens-
werden die Besucher darauf hingewiesen, zum Nachdenken.« mauern, dem Nahostkonflikt, Korea; dazu
wie viele – genauer gesagt: wenige – Sie haben sich viel vorgenommen für die Abschottungspolitik Trumps und eben-
Minister und Staatssekretäre heutzutage eine Architekturausstellung, und sie haben so der EU an ihren Außengrenzen. In Vi-
aus dem Osten des Landes stammen. recht damit. deoclips, die eine »Mauer der Meinungen«
Die Ost-West-Frage sei vergleichbar mit Grenzsperren besitzen keine Ästhetik, ergeben sollen, kommen Leute zu Wort,
der Geschlechterfrage, sagt Birthler. Im- über die es zu sprechen lohnt, aber sie die in der Nähe solcher Mauern leben, die
mer heiße es, die Frauen seien verschie- sind natürlich Architektur, sie markieren einen führen Argumente für diese Grenz-
den, man könne nicht von der Frau spre- irgendwo in der Geografie Räume, sie tun bauten an, andere welche dagegen.
chen. Man könne auch nicht von dem Ost- das mit Beton, Stahl, Stacheldraht, wo- Vieles kommt zur Sprache an diesem
deutschen sprechen. Dennoch behandle möglich auch mit Minen und elektrischer Nachmittag. Die Architekten nennen sich
die Gesellschaft – bei allen Fortschritten – Spannung, und wie jede Architektur sind »Profiteure der Globalisierung«. Hat aber
Frauen anders als Männer, Westdeutsche sie Ausdruck einer bestimmten gesell- die Globalisierung mit dem Fall der deut-
anders als Ostdeutsche. »Es gibt immer schaftlichen, politischen Umwelt; bei ih- schen Mauer erst so richtig begonnen, ist
noch Unterschiede zwischen Ost und nen wird dieser Zusammenhang sogar be- sie nun, angesichts immer neuer Abgren-
West, nur darf man die nicht überstrapa- sonders deutlich. Je nach Sicht der Dinge zungen, am Ende? Wie offen steht einem
diese Welt wirklich noch?
Was für eine Bestandsaufnahme von
Deutschland, von allem! Ihr sei noch deut-
licher geworden, wie eng die Verknüpfung
von innerer und gebauter Welt sei, sagt
Birthler.
Die Graft-Architekten haben auch Pro-
jekte in Berlin, die aber auf der Biennale
nicht erwähnt werden, weil sie das für un-
anständig halten würden. Interessant wäre
es aber schon. Sie haben die Architektur
für Charlie Living entworfen, einen Wohn-
komplex nahe dem ehemaligen Check-
point Charlie, längst ist die Gegend gen-
trifiziert, der Boden teuer. Auch das pas-
siert, wenn aus früherem Niemandsland
riesige »Zukunftsgebiete« werden. Und als
solche vermarktet die Stadt Gegenden in
GREGORY BULL / DPA
ehemaliger Mauernähe.
»Unbuilding Walls« heißt der Beitrag
für Venedig. Der Rückbau der Mauern als
Traum, der wenigstens in Deutschland in
Polizisten vor Prototyp der geplanten USA-Mexiko-Mauer: »Wackelnder Zeigefinger« Erfüllung gegangen ist. Und dass das ein
Geschenk war, sollte eben niemand ver-
gessen.
zieren, denn sonst werden sie leicht in- schützen sie Menschen oder sind Aus- Andere, durchaus auch heikle Mauern
strumentalisiert.« druck der Unmenschlichkeit – und anderes tasten die Kuratoren jetzt doch nicht an.
Denn, daran erinnert sie, 1989 sei es mehr. Der historische deutsche Pavillon auf dem
nicht um einen Konflikt zwischen Ost und Wendy Brown, eine amerikanische Biennale-Gelände in Venedig wurde einst
West gegangen, sondern um einen zwi- Politologin, schreibt, dass Mauern wie von den Nazis kantig umgebaut. Jeder
schen Ost und Ost. Und auch nach dieser einst die innerdeutsche genau die demo- Künstler oder Architekt, der das Gebäude
Revolution seien alle wichtigen Konflikt- kratische Gesellschaft verhinderten, die für die Kunst- oder für die Architektur-
linien nicht zwischen Ost und West ver- sie doch angeblich verteidigen wollten. biennale nutzt, muss mit dem Erbe umge-
laufen, sondern innerhalb des Ostens, Heute gebe es effektivere Methoden, Gren- hen. Viele machen ihre Haltung zu dem
innerhalb des Westens. Da war die Frage, zen zu kontrollieren, als Befestigungen. strammen Gebilde deutlich, oft durch
ob man die Einheit wolle, da waren die Das gelinge besser mit moderner Überwa- kurzfristige Umbauten.
Diskussionen um die Aufarbeitung der chungstechnik, mit Patrouillen. Monumen- Putz, einer der Graft-Chefs, sagt, 20 Jah-
Diktatur, insbesondere der Stasi. Viele Ris- tale Anlagen, wie sie Donald Trump und re lang hätten sie fantasiert, was sie alles
se hätten sich »quer zur Ost-West-Grenze« andere Staatsmänner favorisierten, hätten mit dieser Architektur anstellen würden,
durchs Land gezogen, sagt Birthler. einen anderen Zweck: Sie dienten der blo- sollten sie einmal die Ausschreibung für
»Als Chefin der Stasiunterlagenbehörde ßen Inszenierung von Macht, von angeb- die Biennale gewinnen. Als der Berliner
hatte ich Verbündete ebenso wie Gegner – licher politischer Souveränität. Brown hält Werkbund 2014 um Visionen für eine (rein
und das im Westen wie im Osten.« sie für Kulissen, vergleichbar mit denen hypothetische) Umgestaltung bat, schlu-
Anzunehmen, diese Debatten hätten im Theater. gen sie den Abriss vor.
sich erledigt, sei albern, sagt sie, wie solle Für Birthler und die Architekten von So bleibt auch noch etwas für die Auf-
das gehen? »Die nächsten Generationen Graft sind Mauern vor allem Symbole des rührer von morgen zu tun. Ulrike Knöfel
werden ihre eigenen Fragen dazu stellen.« Scheiterns, sie zeigten »die Unfähigkeit
KELTEN
Luchterhand; 18 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro
19 (–) Hardy Krüger Ein Buch von 19 (20) Yuval Noah Harari
Tod und Liebe Hoffmann und Campe; 18 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
119 www.dva.de
Kultur
Kein Entkommen
Dennoch ist der Vorgang von aufkläreri-
schem Nutzen, weil die Texte Julia Kriste-
vas etwas zu diesem Fall, aber auch zu ver-
gleichbaren Situationen zu sagen haben.
Das überhaupt in den Blick zu bekom-
Intellektuelle Julia Kristeva ist eine der berühmtesten Denkerinnen men ist ein Abenteuer für sich, gleicht es
der Welt. Die Debatte um ihre bulgarische doch einem kunstvoll komponierten, sich
Geheimdienstakte verleiht ihrem Werk eine neue Brisanz. aber auch permanent wandelnden und ex-
pandierenden Labyrinth.
Keine Denkerin unserer Zeit hat auf so
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 15. 4., 22.10–23.25 UHR | RTL
der 1989 in Sofia zum Staatsbesuch weilte. von uns in einer Welt, in der es kommuni-
Das sind Situationen, die nicht jede Bul- kativ dürftig verschleierte Gewalt gibt?
garin inszenieren konnte, und so kann man Kristeva weist immer wieder darauf hin,
zumindest daraus schließen, dass sie dem dass wir nicht nur mit Worten reden, dass
Regime nicht den Kampf angesagt hatte. der Akt des Sprechens eine vorreflexive, Sonderpädagoge, Schülerin
Die Akte gibt da einen unerwünschten Ein- eine körperliche und situative Dimension
blick in den Maschinenraum eines Lebens, hat. Man kann also, während man sich mit große Herausforderung.
dessen Fortgang wir besser kennen als den bulgarischen Zuträgern unterhält, drin- Häufig fühlen sich die Lehrer
Beginn. Keine Widerstandskämpferin also, gend im Sinn behalten, wie man dem ei- damit alleingelassen.
aber auch keine linientreue Kommunistin genen Vater nicht schaden kann, und an
– in Paris holt sie erst einmal Luft, liest und etwas völlig anders denken, etwa dass die-
verliebt sich. Allerdings ist auch dort die se Veranstaltung bald vorbei sein möge. SPIEGEL TV REPORTAGE
politische Lage recht eng. André Malraux, Aber sie lehrt uns auch, dass man aus sol- DIENSTAG, 17. 4., 23.10–00.15 UHR | SAT.1
der gaullistische Kulturminister, sagte: Au- chen biografischen Situationen nicht mit
ßer den Kommunisten und uns gibt es einem Liedchen auf den Lippen heraus- Der Kinderretter – Mütter
nichts. Kristeva und ihre Clique, viele an- kommt und frohgemut ein neues Leben am Ende
dere junge Leute hatten fortan dieses eine beginnen kann, dass der erlebte Horror Florian Fischer ist Sozialarbeiter
Ziel vor Augen, etwas anderes zu schaffen, und selbst der abgewendete Schaden uns beim Jugendamt Braunschweig.
politisch, als die triste Alternative zwi- weiter beschäftigen und begleiten. SPIEGEL TV hat ihn über ein Jahr
schen Konservativen und Kommunisten. Kristeva wurde einmal nach dem großen lang bei seiner Arbeit begleitet,
Sie und eine kleine Delegation Intellek- Unterschied gefragt zwischen ihrer Gruppe erzählt in einer Serie Familienge-
tueller reisten dann nach China, um zu von Intellektuellen, also ihrem Mann schichten jenseits der heilen
schauen, wie es anders gehen könnte als Philippe Sollers, Roland Barthes, Michel Welt. Diesmal geht es um Mütter,
in der Konfrontation der Blöcke. Foucault, Jacques Lacan, und den Existen- die mit ihrer Kraft am Ende sind.
121
Aufstieg und Fall des zialisten, also Jean-Paul Sartre und Simone
de Beauvoir. Kristeva brachte ihn auf eine
einprägsame Formel: Wir sagen nicht mehr
Martin Schulz – das Buch zur wie Sartre »die Hölle, das sind die ande-
ren«, sondern, die Hölle ist in uns. Es ist
nicht der Blick, die Attitüde, mit der Dritte
»REPORTAGE DES uns begegnen und auf die wir kaum Ein-
fluss haben, die uns einengt und bedrängt,
sondern wir richten solch einen urteilenden,
JAHRES« staunenden und skeptischen Blick auch auf
uns selbst.
In ihrem Denken gibt es kein heroisches
Individuum, das mit sich im Reinen wäre.
Sie spricht lieber von Prozessen, vergleicht
ihr Leben mit einem Fluss, den seine Quel-
le wenig interessiert. Es muss vorangehen.
Mehr gibt es bei ihr nicht. Man kann auf
dem Kontinent ihres Werks nicht eines
Morgens aufwachen und über sich im Kla-
ren sein oder die Wahrheit sagen, man ist
sich selbst ein Rätsel, sonst ist man einfach
uninteressant. Interesse ist ein Wort, das
sie und ihr Mann Philippe Sollers oft be-
nutzen, sie streben danach, ein interessan-
tes Leben zu führen, eines also, das im la-
teinischen Wortsinn dazwischen ist. Nicht
in dem Sinn, dass man keinen Standpunkt
bezieht oder kein Wertegerüst hat, son-
dern eher in dem, dass man sich selbst
überrascht, sich nicht festlegen und be-
schreiben lässt.
Der Gedanke der Freiheit liegt dem zu-
grunde, aber bei Kristeva ist es eine etwas
verschattete Version, eine permanente Be-
freiung von der Übermacht der Familie,
der Ursprünge oder der Erfahrung des To-
talitarismus. Nicht als einmaliger Vorgang
wie in einem zehnstufigen Hilfsprogramm
»Wie komme ich von den Zigaretten los«,
sondern als permanenter Prozess, den
Zeitgenossen totalitärer Systeme nie ab-
schließen können, weil sie sich selbst zu
misstrauen gelernt haben.
Der Bruch in der Biografie, der Wechsel
320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich der Rollen und Perspektiven, die Fremd-
heit bilden wesentliche Momente in der
Weltwahrnehmung. Kristeva spricht nicht
Nie zuvor lagen in der deutschen Politik der extreme mehr von einem Universum, sondern von
Höhenflug und der krachende Absturz näher beieinander als bei einem Multiversum – je nach Perspektive,
je nach Standort erscheint die Welt völlig
Martin Schulz. Markus Feldenkirchen hat den Kanzlerkandidaten anders, die Grenzüberschreitung ist ihre
und SPD-Vorsitzenden begleitet, so exklusiv und hautnah, bevorzugte Fortbewegungsart. Ein agiler
Schatten begleitet die Protagonistinnen im
wie es in Deutschland bislang nicht möglich gewesen ist. Werk Kristevas, so wie das Glück bei ihr
vor allem eine Erschöpfung ist: »Solange
» Zweifellos eines der wichtigsten politischen ich mich erinnern kann, ist das Glück das
Betrauern von Unglück. Es stellt sich ein,
Bücher der letzten Jahre. Eine unglaublich dichte weil das Unbehagen erschöpft ist. Leute,
und selten zu lesende Nahaufnahme aus dem die angeblich glücklich sind und die das
Maschinenraum der Macht. MARKUS LANZ, ZDF « Unbehagen verdrängt haben, die sind
doch unbedeutend.« »Sabina« ist nicht Ju-
lia Kristeva, aber sie zeugt davon, dass die
eingangs erwähnte, von ihr selbst formu-
lierte Frage offenbleibt, und nichts anderes
behauptet Kristeva – ein ganzes irres, le-
bensrettendes Werk lang. Nils Minkmar
122
www.dva.de
Kultur
Der Krake
die Negation die Affirmation in sich trage. Gewalt funktio-
niert nicht mehr als Geburtshelferin einer neuen, besseren
Gesellschaft. Sie ist nur noch ein sinnloser Ausbruch, eine ir-
rationale Demonstration ohne konkreten programmatischen
Philosophiekritik Der fleißige Slavoj Žižek Anspruch.
belehrt uns darüber, weshalb sowohl die Die schockierenden Bilder aus dem verwüsteten Hambur-
ger Schanzenviertel während des G 20 im vergangenen Juli
herrschende Ordnung als auch ihr Umsturz entziehen sich dem Bemühen, eine tiefere Bedeutung oder
die Ungleichheit erhalten würden. Botschaft in ihnen zu suchen. Sie sind anarchistische »Pro-
paganda der Tat«, die der russische Revolutionär Michail
Bakunin forderte, oder in Žižeks dürreren Worten »ein un-
* Slavoj Žižek: »Disparitäten«. Aus dem Englischen von Axel Walter. WBG;
504 Seiten; 44 Euro.
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Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias
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Nachrufe
Carl Weiss, 92 cher amtierte er von 1989
Er hielt die Arme vor dem bis 2004. Rürup wurde
Bauch verschränkt, sein 1934 geboren und erlebte
Ton war sachlich, der die Zeit der nationalsozialis-
Bedeutung der Aufgabe war tischen Herrschaft in West-
er sich erkennbar bewusst: falen. Mit 20 nahm
Am 1. April 1963, das ZDF er sein Studium auf: Ge-
war gerade an den Start schichte und Germanistik in
gegangen, moderierte der Freiburg und Göttingen.
Journalist Carl Weiss die Mit seinem Doktorvater,
erste Ausgabe der »heute«- dem Mediävisten Percy
Bösewicht und Retter Storys denkt. Einerseits hat Comey nach Ansicht vieler Demo-
kraten Hillary Clinton im Wahlkampf enorm geschadet, ande-
rerseits könnte er durch sein Wissen Präsident Trump jetzt
G Ein Nebeneffekt von Donald Trumps Präsidentschaft ist die gefährlich werden. Schon sein Auftritt vor dem Kongress im
Wiederkehr des Buches als Enthüllungsmedium. Nach Michael Juni vergangenen Jahres war ein mediales Großereignis, das
Wolffs »Feuer und Zorn« setzt nun der ehemalige FBI-Direk- man live streamen konnte, dementsprechend groß sind die
tor James Comey, 57, auf den Knalleffekt seines Berichts Erwartungen an sein Buch. Der über zwei Meter große Comey
»A Higher Loyalty«, der am Dienstag in den USA und auch sucht nun also, nachdem er sich eher bedeckt gehalten hatte,
in Deutschland (»Größer als das Amt«) erscheinen wird. Schon die Öffentlichkeit und absolviert im Laufe der Woche eine Pro-
der Titel zeigt, dass Comey versucht, die Autorität über sein motiontour durch alle wichtigen Talkshows und Städte, am
Narrativ zurückzuerobern – Trump hatte von ihm Loyalität Freitag wird er in Chicago eine Lesung geben – Ticketpreise
eingefordert, was von vielen als Eingriff in die Unabhängigkeit bis zu tausend Dollar. XVC
bringen oder über Brüste wit- doch nicht jetzt«, Kiepenheu- irgendwie unsouverän. Und
zeln, die sich in den Knien er & Witsch). Einen mög- schlichtweg nicht witzig. Son-
verfangen«. Die Komikerin- lichen Grund für den Trend dern undenkbar. Weil – wür-
nen machten in ihren Shows zur Selbstironie sieht sie da- delos.« TOB
schenk wechselnder nicht, dafür fehlen uns Betreuer. Die meisten Eltern können
Freundschaften uns nicht unterstützen. Die müssen ja arbeiten.
und Beziehungen, Wir haben einen großen Garten, was toll ist für die Kinder.
die alle in diesen Die können sich richtig austoben. Doch mit so wenig Per-
Objekten gesam- sonal können wir ihre Sicherheit nicht gewährleisten. Was,
1972 melt sind«, sagte wenn einer über den Zaun klettert und wir es nicht mitbe-
Minnelli dazu. XVC kommen?« Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch
127
»Das Leben kann süß sein, auch ohne ständigen Zuckergenuss.«
Ursula Tannert, Reichenschwand (Bayern)
heiratet zusammenleben, Väter den Kin- Der revolutionäre Charakter von 68 des sogenannten Sozialismus zu überwin-
derwagen schieben, ohne als Weichei aus- war Mythos, Phantasmagorie und Wahr- den, um in Würde und Selbstverantwor-
gelacht zu werden – dann hat es alles mit heit zugleich. Die künstlerisch-politische tung in einem demokratischen Staat leben
den Protesten dieser Zeit zu tun. Avantgarde in den reichen Industrienatio- zu können. Immer wieder wird die Auto-
Margot Rybka, Köln nen verwandelte Campus und Straße zu nomie bei der Willensbildung und die Ei-
einem kämpferisch-agitatorischen Sehn- genverantwortlichkeit mündiger Bürgerin-
Wer die 68er auf Apo, Kommune 1 und suchtsort für einen friedlicheren, gerech-
Benno Ohnesorg reduziert, sieht nur die teren und emanzipatorischen Gegenent-
auch wieder den Mut besitzen, Leiden am eine Schießscharte: verengt. Die größten
Ende eines Lebensbogens, mit den Mög- Aggressoren USA und Großbritannien
lichkeiten der modernen Medizin, nicht werden als die Guten dargestellt. Eine völ-
unnötig zu verlängern und unsere Mitmen- lig verzerrte Darstellung.
schen gehen zu lassen. Günter Mantoan, Sundern (NRW)
Uwe Wojts, Facharzt, Weiterstadt (Hessen)
Keine Beweise, dann eben nach dem Mot-
Röhl (M.) beim SPIEGEL-Gespräch Als Hospiz-Mitarbeiterin stieß ich auf das to: Den Russen ist das zuzutrauen. Schnell
Buch »Sterbefasten« von Christiane zur wird vergessen, wie wichtig das Ende des
faschisten der 68er-Bewegung, deren Ide- Nieden. Nachdem ich diese Art des selbst- Kalten Krieges für die Welt war. Und wie
alisierung mit diesem Interview hoffentlich bestimmten Sterbens auch in der Praxis soll das weitergehen? Nimmst du mir mei-
ihr Ende gefunden hat. miterleben konnte, werde ich mich gege- ne Schippe weg, nehme ich deine. Zum
Volkhard Ziegler, Witten (NRW) benenfalls ebenso für diesen würdevollen Schluss ist sogar der Sandkasten leer, und
Weg entscheiden, wenn mir mein Leben es heulen beide.
Ein wunderbares Interview. Tolle Fragen, unerträglich werden sollte – schon heute Rüdiger Lüttge, Altlandsberg (Brandenb.)
kluges Nachfragen und eine Zeitzeugin, ein beruhigender Gedanke!
die es sprachlich versiert versteht, Emo- Ute Gebhardt, Einbeck (Nieders.)
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
tionales auf den Punkt zu bringen. Für (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
mich einer der erhellendsten Artikel zum Generationen von Deutschen haben dafür sowie digital zu veröffentlichen und unter
überpräsenten 68er-Thema. gekämpft, den Feudalismus, den Nazi- www.spiegel.de zu archivieren.
Martin Weiß, Berlin terror und die Entmündigungstendenzen
129
Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Vorarlberg«: »Bis heute verkörpert In einem Interview mit dem SPIEGEL mal-
Asma al-Assad das sympathische te er den Deutschen die beste aller Welten
Gesicht der syrischen Diktatur.« aus – eine Zukunft nahezu ohne Ab-
schwung: »Die deutsche Wirtschaft kann
in den nächsten Jahren weiter um 2 bis 2,5
Prozent pro Jahr wachsen. Ich halte es für
möglich, dass wir diesen Wachstumspfad
noch für mindestens 15 bis 20 Jahre fort-
setzen können«, sagte Altmaier … Es ist
Kochanleitung auf einer Reispackung schon erstaunlich, wie wenig Widerhall
diese Äußerung in der Öffentlichkeit fand.
Der Bundeswirtschaftsminister verkündet
Aus der »Chamer Zeitung«: »Forscher quasi das Ende der Konjunkturzyklen …
haben herausgefunden, dass die Zwei Jahrzehnte, in denen Deutschlands
Käfer bei der Suche nach einem Heim Wirtschaft stärker wachsen soll, als es
einen Fabel für Alkohol haben.« ihrem Wachstumspotenzial entspricht.
Wann hat es das zuletzt gegeben? Um es
kurz zu machen: im wiedervereinigten
Deutschland noch nie. In der »alten«
Bundesrepublik? Ebenfalls nie.
Aus der »Emder Zeitung«: »Schnittlauch Kürzlich veröffentlichte der SPIEGEL die
ist auch ein Hingucker im Bett.« www.spiegel-geschichte.de Geschichte einer Partygängerin, die im
Technoclub Berghain zwei Pillen Ecstasy
nahm und an den Folgen verstarb. Seit-
dem wird wieder vermehrt diskutiert, wie
X Auch als App für iPad, Android viel Intransparenz den Clubs zugestanden
Schaufensterwerbung in Schwäbisch Hall werden darf und muss … Auch Lutz Leich-
sowie für PC/Mac. Hier testen: senring, Sprecher bei der Berliner Club-
spiegel-geschichte.de/digital commission, kennt dieses Dilemma. Sein
Aus dem »Gäuboten«: »In Deckenpfronn Verein dient als Schnittstelle zwischen
sind Planungen für ein neues Friedhof- Clubbetreibern und der Öffentlichkeit. Es
konzept in vollem Gange. Die Aufenthalts- sei wichtig, dass die Clubs sich auch
qualität soll dadurch erhöht werden.« weiterhin in einer Grauzone bewegen kön-
nen. Es dürfe nicht alles durchreguliert
werden, »sonst sehen die Clubs alle
Lesen Sie dazu: irgendwann von innen wie eine Bank
aus«.
Alltag
Das Leben im Schloss Die »Frankfurter Allgemeine Sonntags-
zeitung« zitiert den SPIEGEL-
Bericht »Der unheimliche Ort Berlin«
Diplomatie (Nr. 21/1987) über den mythischen
Berliner Bezirk Kreuzberg:
Angabe der Tragfähigkeit vor einer Der bizarre Kampf um
Brücke in Marpingen Der Ton war rauh, auch unter den Beset-
die Ehre zern und ihren verschiedenen Fraktionen.
»Keiner ist keinem grün in der Waldemar-
Aus der »Märkischen Allgemeinen«: straße. Wer in der 31 wohlgelitten ist, ist
»TuS Dallmin – Lindenberger SV 2:3 (0:1). Hofzeremoniell in der 33 ein Schwein und in der 35 ein
In diesem Kellerduell begann die Auf- Faschist. Und umgekehrt«, schrieb die
holjagd der Dallminer zu spät. Die Linden- Politik mit Glamour SPIEGEL-Autorin Marie-Luise Scherer in
berger legten früh vor und lagen nach einer einfühlsamen Milieustudie aus den
gut einer Woche mit drei Treffern vorn.« achtziger Jahren.
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7 TAGE IN ENTEBBE München
27. Juni 1976 – eine Gruppe palästinensischer und deutscher Terroristen kapert die Air- Kino Münchner Freiheit
France-Maschine 139 auf ihrem Flug von Tel Aviv nach Paris und erzwingt eine Lan- Leopoldstraße 82
dung in Entebbe, Uganda. Die israelischen Geiseln an Bord sollen gegen palästinensi- Beginn: 20.00 Uhr
sche Gefangene ausgetauscht werden. Mit einem Ultimatum von nur einer Woche muss
die Regierung in Israel eine schwerwiegende Entscheidung treffen – durchbricht sie ih- Nürnberg Cinecittà
re bisherige Maxime, mit Terroristen nicht zu verhandeln? Es folgen 7 Tage in Entebbe, Gewerbemuseumsplatz 3
Beginn: 20.00 Uhr
die sowohl die Politiker als auch die Kidnapper ans Äußerste bringen ...
7 TAGE IN ENTEBBE beruht auf den wahren Ereignissen der „Operation Entebbe“, die Stuttgart
die Befreiung der Geiseln von Mitgliedern der linksextremen Roten Zelle und der Volks- Metropol
front zur Befreiung Palästinas zum Ziel hatte. Inszeniert wurde der Thriller von dem Bolzstraße 10
Regisseur José Padilha („Narcos“, „Robocop“), in dem die Golden Globe®-nominierten Beginn: 20.00 Uhr
Schauspieler Daniel Brühl und Rosamund Pike die Hauptrollen übernahmen. 7 TAGE
IN ENTEBBE feierte seine umjubelte Weltpremiere auf der 68. Berlinale und wurde mit
dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet. www.7tageinentebbe-derfilm.de
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Stand: 13. April 2017.