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BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– Griechenland € 7,– Norwegen NOK 74,– Polen (ISSN00387452) ZL 32,– Slowakei € 6,60 Spanien

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Donald Trump
riskiert den Weltkrieg
»Mach dich bereit, Russland«
Niels Högel – angeklagt
Porträt eines Serientäters

wegen 97-fachen Mordes


und Heimat
die Fakten zur
Debatte um Islam
Berechtigte Sorge,
übertriebene Angst –
Nr. 16 / 14.4.2018
Deutschland € 5,10
OLYMP.COM/SIGNATURE

GERARD BUTLER’S
CHOICE
PHOTO: GREG WILLIAMS
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Investitionen
sicher entscheiden?
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Högel, Egon Erwin Kisch-Preis, » DEIN SPIEGEL« Da brauche ich aktuelle

Es gibt Fakten, die verlässlich für Streit sorgen Geschäftszahlen.


in Deutschland: 20 Prozent aller Menschen,
die im Land leben, sind ausländischer Abstam-

MATTHIAS FERDINAND DÖRING


mung, und es werden mehr werden in den
kommenden Jahren. Die Zahl der Geburten
in Deutschland steigt, auch durch den höheren
Anteil ausländischer Frauen. Deutschland ist
auf dem Weg, ein multiethnisches, multi-
religiöses Land zu werden, und ein großer Teil
der Bevölkerung macht sich deshalb Sorgen.
Die Nation leidet unter Identitätsstress. Wie Elger
die Fronten in der Gesellschaft zurzeit ver-
laufen, was Heimat sein kann, wenn man wütender Deutscher, Migrant in zweiter
Generation oder gerade eingetroffener Flüchtling ist, recherchierte ein großes Team
des Deutschlandressorts. Hauptautorin des Textes ist Katrin Elger, sie besuchte
während der Recherche einen Fliesenhändler in Sigmaringen, der wütend darüber
war, wie sich Flüchtlinge in seiner Nachbarschaft benahmen. Elger: »Er fühlt sich
dort, wo er geboren wurde, längst nicht mehr zu Hause.« Seite 10

Die Zahlen sind so ungeheuerlich, dass man sie nur schwer


BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

glauben kann: Zwischen 200 und 300 Morde soll der Kran-
kenpfleger Niels Högel begangen haben, in zwei Kranken-
häusern, im niedersächsischen Oldenburg und in Delmen-
horst, in der Zeit von 2000 bis 2005. Högel tötete offenbar
aus Geltungssucht, er spritzte Patienten an den Rand des To-
des, um sie dann wiederzubeleben. Scheiterte er, blieb ein
leeres Bett zurück, trauernde Angehörige – und schon früh
ein fürchterlicher Verdacht, der über Jahre der Polizei nicht
Gude gemeldet wurde. Warum in zwei Krankenhäusern, in denen
das Wohl der Patienten das höchste Gut sein sollte, der Ruf
der Kliniken schwerer wog als das Leben von Menschen, beschreibt Hubert Gude
zusammen mit Veronika Hackenbroch und Julia Jüttner ab Seite 46

Feiern konnte am Mittwoch dieser Woche


Markus Feldenkirchen, Autor im Hauptstadt-
büro. Für seine Reportage »Mannomanno-
mann« wurde ihm in der Hamburger Elbphil-
harmonie der renommierte Egon Erwin Kisch-
Preis verliehen. 150 Tage lang begleitete Fel-
GEORG WENDT / DPA

denkirchen den SPD-Kanzlerkandidaten Mar-


tin Schulz im Wahlkampf; erst durch Höhen,
Mit den digitalen DATEV-Lösungen haben Sie jederzeit
dann durch Tiefen. Ihm gelang, so urteilte die
den Überblick über Ihre aktuellen Geschäftszahlen.
Jury, ein meisterhaftes Psychogramm und ein
Lehrstück über die Gesetze des Wahlkampfs. Feldenkirchen, Moderatorin Caren Miosga Und sind direkt mit Ihrem Steuerberater verbunden. So
können Sie anstehende Investitionen sicher entschei-
den. Informieren Sie sich im Internet oder bei
Ihrem Steuerberater.
Deutschland hat jetzt eine neue Regierung, aber was passiert nun
in der Politik? Was wird für den Klimaschutz getan und was gegen
Armut? Fünf Kinder stellen fünf politische Fragen – und »DEIN
Digital-schafft-Perspektive.de
SPIEGEL«, das Nachrichten-Magazin für Kinder, beantwortet sie
in der Titelgeschichte. Es werden auch die neuen Minister und Mi-
nisterinnen von Kanzlerin Angela Merkel vorgestellt, und es wird
erklärt, wie der Zoll nach geschmuggelter Ware sucht. Die neue
Ausgabe von »DEIN SPIEGEL« erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 3


Inhalt
71. Jahrgang | Heft 16 | 14. April 2018

Titel Terrorismus Ein vertraulicher


Bericht stellt 254 Mängel im
Integration Viele Deutsche Umgang mit Anis Amri fest 41
fühlen sich fremd im eigenen
Land – über eine Nation, #MeToo Immer mehr Frauen
die unter Spannung steht . . . 10 beschuldigen in Lübeck den
Die Soziologin Cornelia Ex-Chef des Weißen Rings 42
Koppetsch kritisiert die
kosmopolitische Elite . . . . . . . 19 Ermittlungen Hatte der Amok-
fahrer von Münster noch
Schlimmeres im Sinn? . . . . . . 44
Deutschland
Kriminalität Die Akte
Leitartikel Ein Militärschlag in Niels Högel – der Kranken-
Syrien wäre der falsche Weg 6 pfleger tötete vermutlich
mehr Menschen als
Meinung Im Zweifel links / jeder andere Täter in der
So gesehen: Im Olymp . . . . . . . 8 deutschen Nachkriegs-
geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Grundsteuer-Reform bis 2028
möglich / Lukrativer Daten-
handel durch Kommunen? / Gesellschaft
Rechtsstaatskunde-Unterricht
für Flüchtlingskinder . . . . . . . 20 Früher war alles schlechter:

SPD Finanzminister
Der Rivale Der späte Urknall des Wachs-
tums / Gehören Poké Bowls
Olaf Scholz profiliert sich Olaf Scholz ist der mächtigste Minister im zu Deutschland? . . . . . . . . . . . . 54
als Nebenkanzler . . . . . . . . . . . 24
Die Kommissionitis der neuen Kabinett, und er hat große Ziele. Weil die Union Eine Meldung und ihre
Bundesregierung . . . . . . . . . . . 26 zerstritten ist und Angela Merkel wohl ihre letzte Geschichte Warum ein
Amtszeit absolviert, wittert der Sozialdemokrat lebendiger Rumäne von einem
Diplomatie SPIEGEL-Gespräch seine Chance auf das Kanzleramt. Nur: Hat Gericht für tot erklärt wird 55
mit Außenminister Heiko
Maas über seine harte Linie
er auch die Unterstützung der Genossen? Seite 24 Propaganda Wie der Tod eines
gegenüber Moskau und den palästinensischen Journalisten
Sinn von Militäreinsätzen . . . 28 missbraucht wird . . . . . . . . . . . 56

Sozialdemokratie Lange gegen Ortstermin Zu Besuch in


Nahles – vor dem Parteitag Deutschlands Funklöchern 61
steigt an der Basis schon
AMMAR SAFARJALANI / XINHUA / IMAGO

wieder die Fieberkurve . . . . . 32


Wirtschaft
FDP Das Ende der Männer-
freundschaft zwischen Schnelle Züge sind auch
Wolfgang Kubicki und nicht pünktlicher /
Christian Lindner? . . . . . . . . . . 34 Lauda und Ryanair
brüskieren die EU / Razzia
Zeitgeschichte François Mitter- bei der Barmer . . . . . . . . . . . . . 62
rand soll eine Million Dollar
von Saddam Hussein kassiert Autoindustrie Der neue Volks-
haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 »Schöne Raketen« wagen-Chef Herbert Diess
verdankt seine Macht einem
CSU SPIEGEL-Gespräch mit Donald Trump droht Assad und Putin nach dem Deal mit dem Betriebsrat . . . 64
dem bayerischen Minister- mutmaßlichen Chemiewaffenangriff von Duma
präsidenten Markus Söder Verbraucher Internetportale
über den Streit mit Kanzlerin
via Twitter mit seinen »schönen Raketen«. Kann es bieten verspäteten
Angela Merkel und den im grausamen Chaos des Syrienkriegs zu einem Reisenden Hilfe, nicht alle
Islam in Deutschland . . . . . . . 38 Schlagabtausch der Großmächte kommen? Seite 80 Angebote sind seriös . . . . . . . 67

4 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Digitalwirtschaft Mark Zucker- Wissenschaft
berg bringt die US-Politik
dazu, sich mit Datenschutz Woran man gefährliche Nach-
zu beschäftigen . . . . . . . . . . . . . 68 barn erkennt / Leuchtdioden
gegen Haiangriffe / Einwurf:
Finanzmärkte Für den Nieder- Das Zuckermärchen – wie
gang der Deutschen Bank sich die Lebensmittelindustrie
ist vor allem Aufsichtsratschef selbst feiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

ANDREY NEKRASOV / BARCROFT IMAGES / GETTY IMAGES


Achleitner verantwortlich 70
Fischerei Lecker, gesund und
Soziales Die Pflegereform vielseitig verwendbar: Quallen
der Regierung treibt die sollen die Nutztiere des
Beiträge für Heimbewohner 21. Jahrhunderts werden 100
in die Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Klima Schon früh warnten Shell-
Forscher vor der Erderwär-
Medien mung – doch der Ölkonzern
hielt sein Wissen geheim . . . 104
TV-Sender Die Führungsebene
des WDR ist Vorwürfen Tiere Der groteske Rettungs-
wegen sexueller Belästigung einsatz für Kampfhund Chico,
zu wenig nachgegangen . . . . 74 der seine Besitzer tötete . . . 105
Nutztier aus dem Meer
Netzwelt SPIEGEL-Gespräch
Ausland Lecker und gesund, als Snack oder zum mit dem US-Informatiker
Mittagessen; geeignet auch als Dünger oder in der Pedro Domingos darüber,
Orbáns Wahlsieg macht aus wie künstliche Intelligenz und
Ungarn faktisch einen Ein-
Medizin: Wissenschaftler testen, wie sich soziale Medien die
parteienstaat / Frankreichs Quallen für eine wachsende Weltbevölkerung Demokratie bedrohen . . . . . 106
Ex-Präsident François Hollande nutzbar machen lassen. Seite 100
giftet in einem neuen Buch
gegen seinen Nachfolger . . . . 78 Kultur

Syrien Der eskalierende Greta Gerwigs Film »Lady


Konflikt der Regionalmächte Die Macht der Algorithmen Bird« / Serdar Somuncu insze-
und Trumps möglicher niert Tabori / Veiels tendenziöse
Vergeltungsschlag gegen das Lernende Maschinen erobern die Welt – in der For- »Beuys«-Dokumentation /
Assad-Regime . . . . . . . . . . . . . . 80 schung, sozialen Medien, Kriegen. Der US-Infor- Kolumne: Besser weiß ich es
nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Israel SPIEGEL-Gespräch mit matiker Pedro Domingos erklärt im SPIEGEL-Ge-
dem israelischen Historiker spräch, wie wir davon profitieren und wer im digi- Literatur Die Schwedische Aka-
Tom Segev über die Jahrhun- talen Rüstungswettlauf gewinnen könnte. Seite 106 demie steckt in der schwersten
dertfigur David Ben-Gurion Krise ihrer Geschichte . . . . . 112
und das 70-jährige Bestehen
des jüdischen Staats . . . . . . . . . 84 Museen Kunstmanager
Max Hollein über seinen
Kuba Die Ära der Castros Wechsel nach New York . . . 115
MARTEN DE BOER / GETTY IMAGES EXCLUSIVE

endet – und kaum jemanden


auf der Insel interessiert das 88 Ausstellungen Wie Marianne
Birthler und das Büro Graft
den deutschen Biennale-
Sport Pavillon gestalten wollen 116

Ronaldo triumphiert über Intellektuelle Der Fall


Messi / Magische Momente: Julia Kristeva .............. 120
Ex-Formel-1-Fahrer Mika
Häkkinen über seine Duelle Philosophiekritik Slavoj Žižek
mit Michael Schumacher . . . 93 macht einfach weiter . . . . . . 123
Sanfter Spinner
Unterhaltung Genial oder
genial daneben? Boxlegende Mike Tyson ist eine Boxlegende. Er verprasste Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Mike Tyson geht Millionen, musste in den Knast. Nun geht er mit Impressum, Leserservice . . . 124
auf Deutschlandtour . . . . . . . . 94 Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
seiner Lebensgeschichte auf Deutschlandtour. Ein Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Schmiergelder Wie der DFB Besuch in Las Vegas zeigt: Die Show kann gran- Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
seine Freundschaften pflegte 97 dios werden, aber auch grandios scheitern. Seite 94 Hohlspiegel / Rückspiegel . . 130

Titel-Illustration: RIVE GAUCHE für den SPIEGEL; Foto: Nicholas Kamm / AFP / Getty Images 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Lust am Untergang
Leitartikel Warum militärisches Eingreifen des Westens in Syrien nicht sinnvoll ist

M
ag sein, dass dieser Tweet einmal in die dieses Mal Verbündete. Frankreich, möglicherweise Groß-
Geschichte eingehen wird wie die Kriegserklä- britannien, Saudi-Arabien und Israel stehen an seiner Sei-
rung des deutschen Kaiserreichs vom 1. August te – gegen die Allianz aus Syrien, Russland und Iran.
1914 oder die Emser Depesche von 1870. Als Der Einsatz ist also viel höher, gleichzeitig hat der Wes-
ein Dokument, das die Historiker analysieren, wenn sie ten keinen Einfluss mehr auf den Ausgang des Krieges in
den Weg in die Katastrophe nachzeichnen. Syrien und so gut wie keinen darauf, wie es in dem Land
Aber vielleicht geht ja auch alles noch einmal gut. Viel- danach weitergeht. Trump hatte erst vor wenigen Tagen
leicht wird sich Wladimir Putin nicht provozieren lassen. den Rückzug der US-Truppen aus Syrien angekündigt. Es
Und darin liegt dann auch der ganze Irrsinn dieser Tage: gibt keine Strategie für den Nahen Osten, nicht in Washing-
dass die größte Hoffnung für den Weltfrieden ausgerechnet ton und nicht in Europa. Die Möglichkeiten des Westens
auf dem Kremlherrscher ruht. Dem Mann im Weißen Haus sind zusammengeschrumpft auf diese eine Option: ein Zei-
traut man Besonnenheit nicht chen zu setzen. Das ist kein Kon-
mehr zu. zept, nichts, was die Bezeich-
Zu oft hat Donald Trump ge- nung Politik verdiente.
tan, was aller gelernten Vernunft Kriegsverbrechen, die nicht
fundamental entgegensteht, die geahndet werden, sind das größ-
ultimative Unvernunft, auch te moralische Dilemma der
jetzt wieder: Er hat auf Russlands Außenpolitik. Als Zeitgenossen
Drohungen mit der größtmög- machen wir uns schuldig, wenn
lichen Eskalation reagiert. »Russ- wir nicht eingreifen, wenn ein
land, mach dich bereit«, eine Herrscher sein Volk massakriert.
Kriegsdrohung in 223 Zeichen, Eine Strafaktion gegen Assad
gespenstisch, weil sie zugleich ein und sein Militär wäre angemes-
wenig so klang, als ginge es um sen. Aber in dieser Weltlage sind
das neueste Computerkriegsspiel: die Risiken zu hoch. Der Nutzen
»Schön und neu und ›smart‹!« einer solchen Aktion gegen die
BRENDAN SMIALOWSKI / AFP

Spielen wir eine Runde. Gefahr des Weltenbrands – das


Manche hoffen, dass Trumps steht in keinem Verhältnis.
Unberechenbarkeit einen Sinn Russland profitiert nun davon,
haben könnte, schließlich könnte dass es den Preis in die Höhe ge-
sie den Gegner verwirren und in trieben hat. Trumps Drohungen
die Defensive drängen, aber das sind sogar nützlich für Putin,
ist Unsinn, der vergebliche Ver- innenpolitisch sowieso, aber sie
such, dem Chaos an der Spitze dienen auch Russlands Ansehen
der Supermacht einen Sinn abzugewinnen, weil es so beru- im Westen. Putin hat ein feines Gespür für die Befindlich-
higend wäre, wenn es ihn gäbe. Doch hinter der Bereit- keiten westlicher Gesellschaften. »Wir beteiligen uns nicht
schaft zu eskalieren steht keine höhere Rationalität, son- an Twitter-Diplomatie«, so der Kreml. Plötzlich erscheint
dern die Lust an Zerstörung und Untergang. Wer wüsste Moskau als die Stimme der Vernunft.
das besser als wir Deutschen. Deutschland wird sich nicht an einem militärischen Vor-
So vieles ist anders als vor einem Jahr, als Trump nach gehen in Syrien beteiligen, und das ist richtig so. Aber auch
dem Chemiewaffenangriff auf Chan Scheichun zum ersten schwierig: Nachdem Angela Merkels Regierungen jahrelang
Mal Baschar al-Assads Stellungen attackierte und die Kanz- Deutschlands gewachsene Verantwortung in der Welt
lerin das als »nachvollziehbar« kommentierte. Seitdem beschworen haben, steht das größte und mächtigste Land
sind aus Trumps Umgebung fast alle Stimmen der Mäßi- der EU wieder da, wo es eigentlich nicht mehr stehen woll-
gung verschwunden, fast alle Vernünftigen gefeuert oder te: an der Seitenlinie. Deutschland kommt in diesem Welt-
gegangen, der amerikanische Präsident ist jetzt umgeben geschehen schlicht nicht vor. Die Kanzlerin könnte daher
von Scharfmachern, Skandalen und Niederlagen: den Russ- zumindest diplomatisch aktiv werden, könnte mäßigend auf
land-Ermittlungen, der Stormy-Daniels-Affäre, den jüngs- unseren Verbündeten in Paris einwirken, der seinen guten
ten Wahlniederlagen der Republikaner. Das Verhältnis zu Draht zu Trump zelebriert. Oder zu verhindern versuchen,
Russland ist noch eisiger geworden durch den Fall Skripal dass der US-Präsident an allen Fronten eskaliert: Frank-
und die Ausweisung von Dutzenden Diplomaten, dazu die reichs Unterstützung in Syrien gegen Washingtons Unter-
letzte Runde von US-Sanktionen, die Russlands Börse in stützung für das Atomabkommen mit Iran, das wäre, um
den Keller schickte. Und noch etwas ist anders: Trump hat mit Trump zu sprechen, ein Deal. Christiane Hoffmann

6 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


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Meinung So gesehen

Olymp der
Jakob Augstein Im Zweifel links
Ehemaligen
Der frühere Bundesaußen-
Nimm zwei! minister Sigmar Gabriel
rückt in den elitären Zirkel
»Ich bin zwei Öltanks.« So Nahles wollte Scholz vor Kurzem der Welterklärer auf.
hieß einmal ein Werbeslo- ein Kompliment machen: »Er hat vor
gan, den der Kabarettist allem eine große Leidenschaft«, sagte G Der aussortierte Spitzenpolitiker
Hans Scheibner sich für sie vor der versammelten Berliner ist hierzulande so etwas wie die letz-
eine Firma ausgedacht hat- Presse, »und das ist es, gut zu regie- te Instanz vor Gott. Seine Äußerun-
te, die im Tankgeschäft tätig ren.« Nahles hatte gar nicht gemerkt, gen haben Absolutheitsanspruch.
war. Vielleicht könnte die SPD dass genau darin das große Problem Und er hat im Nachhinein schon vor-
Scheibner mal fragen, ob sie sich bei der SPD-Funktionäre liegt: dass sie vor her immer alles besser gewusst. Die
ihm ein neues Parteimotto ausleihen allem gut regieren wollen. Und das Bürger verehren ihn dafür. Nicht alle
darf: »Ich bin zwei Parteien.« genügt eben nicht. Die Basis spürt das. schaffen es in den erlesenen Zirkel
Die eine SPD ist die Partei der Mit- Daher rührt die Sympathie für eine der Welterklärer, der gleichzeitig den
glieder. Das sind ungefähr 460 000 Frau wie die Flensburger Oberbürger- inoffiziellen Aufsichtsrat Deutsch-
Menschen in Deutschland, die an die meisterin Simone Lange, die der desi- lands bildet. Alter allein genügt
Sozialdemokratie glauben. Die zweite gnierten Parteichefin Nahles das Amt nicht, wie das Beispiel Helmut Kohl
ist die Partei der Funktionäre, ein paar streitig machen will. Oder für den Juso
Dutzend Politmanager, die alles tun, Kevin Kühnert, der den Widerstand
um der Sozialdemokratie den Garaus gegen die Große Koalition anführte.
zu machen. Wer dieses Urteil für zu Beide kämpfen gegen die Hartz-IV-
harsch hält, möge sich folgende Zahlen- Gesetze. Scholz will daran festhalten.
reihe ansehen: 40,9 – 38,5 – 34,2 – Und Nahles weicht aus, wenn sie
23 – 25,7 – 20,5. Das sind die Bundes- danach gefragt wird. Es ist nur ein
tagswahlergebnisse der SPD seit 1998. Symbol. Aber ein wichtiges.
Auch ohne eine Eins in Mathe sieht Die Sozialistin Sahra Wagenknecht
man gleich die Richtung: abwärts. Ent- hat einmal gesagt: »Mir ist völlig
weder man hält das für ein Naturge- schleierhaft, warum die Sozialdemo-
setz, dann ist eh alles egal, oder man kraten nicht verstehen, weshalb sie in zeigte. Ein Laster kann helfen. Hel-
hält es für menschengemacht. Dann den letzten Jahren so viele Wähler ver- mut Schmidt hatte das Rauchen und
muss etwas geschehen. Und nun soll loren haben.« Der traurige Grund: Die hielt nicht allzu viel von Menschen-
ja auch etwas geschehen: Erneuerung Funktionäre der SPD haben vergessen, rechten. Andere haben lukrative
ist das Wort der Stunde. Ein ganzer dass ihre Partei mehr sein muss als eine Beziehungen nach Russland oder zu
Parteitag soll am 22. April der Erneue- Fabrik zur Produktion zuverlässiger wesentlich jüngeren Frauen. Sie alle
rung dienen. Und die Speerspitze des Politikelemente. Am 22. April sollte kennen die Lösungen, die den gera-
Neuen bilden Andrea Nahles, 47, und die Basis sie daran erinnern. de Regierenden verborgen bleiben.
Olaf Scholz, 59. Es ist schwer, sich den Eine gewisse Hybris ist zwingend.
Sarkasmus zu verkneifen. SPD: Jetzt An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Trotz seiner relativen Jugend (58
noch neuer mit Scholzomat? Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Jahre) hat Sigmar Gabriel Chancen
auf schnelle Aufnahme. Die Phase
zwischen Machtverlust, Erleuchtung
Kittihawk und Weisheit dauerte bei ihm 26
Tage. Nun sinniert er über das Elend
der politischen Korrektheit. Er
moniert die »Entfernung vieler Ent-
scheidungsträger« von den »Realitä-
ten« im Land. Er beklagt Privilegien,
die er selbst jahrzehntelang genoss.
Er bekräftigt die üblichen Vorurteile
gegen die Elite. Auf der verbrannten
Erde müssen nun andere laufen. So
gesehen ist es ein bisschen wie bei
allen Trennungen. Wenn es vorbei
ist, kann man plötzlich all die Dinge
sagen, die vorher tabu waren: Dein
Kartoffelsalat schmeckt grauenhaft.
Du hast einen dicken Hintern. Deine
Mutter habe ich nie gemocht.
Nicola Abé

8 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


5 MILLIONEN
MENSCHEN.
53 STÄDTE.
1 METROPOLE.
DIE METROPOLE RUHR IST MEHR ALS NUR EINE STADT.
SIE IST URBANER BALLUNGSRAUM, WIRTSCHAFTLICHES
HERZ EUROPAS, HEIMAT FÜR MILLIONEN – UND NOCH
VIEL MEHR. SIE IST: DIE STADT DER STÄDTE.
MEHR UNTER WWW.METROPOLE.RUHR
HANS BLOSSEY / EUROLUFTBILD.DE / PICTURE ALLIANCE / DPA

Türkische Moschee in Duisburg

10 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Titel

Neue Heimat
Integration Vielen Deutschen wird ihr Land fremd, sie fürchten,
dass Zuwanderung die Republik verändert. Jeder Fünfte,
der hier lebt, hat einen Migrationshintergrund, und die Zahl wird
weiter steigen. Ein Bericht über eine Nation unter Spannung.

M
aike Manz streicht sich mit Fast 40 Prozent der Mütter, die im Ma-
den Händen über den Bauch riahilf ihre Kinder zur Welt bringen, wur-
und hofft, dass die junge Frau den nicht in Deutschland geboren. Har-
im Krankenbett vor ihr zu- burg, wo die Klinik liegt, ist kein reicher
mindest ahnt, was sie ihr damit sagen will. Bezirk Hamburgs, aber auch kein sozialer
»Wir werden gleich den Ultraschall ma- Brennpunkt. In vielen anderen Großstadt-
chen, und dann werden wir entscheiden, kliniken sieht die Statistik ähnlich aus. Ge-
wie es weitergeht«, sagt die Gynäkologin burtshilfe in Deutschland ist dort zu einem
langsam und überdeutlich. multikulturellen Berufsfeld mit besonde-
Die Schwangere kommt aus Guinea- ren Herausforderungen geworden.
Bissau und lebt erst seit neun Monaten in Den jüngsten Auswertungen des Statis-
Deutschland. Ratlos schaut die Westafri- tischen Bundesamts zufolge hatte 2016
kanerin zu, wie die Ärztin ihre Pantomi- fast jedes vierte in Deutschland geborene
me vorführt. Auf ihrem kugelrunden Baby eine ausländische Mutter, Auslände-
Bauch klebt die Sonde eines CTG-Mess- rinnen tragen viel dazu bei, dass die Ge-
geräts, das die Herzfrequenz der Kinder burtenrate steigt. Schon jetzt hat jeder
misst. Sie ist in der 36. Woche mit Zwil- Fünfte hierzulande einen Migrationshin-
lingen schwanger. Außer »Baby« hat sie tergrund.
nichts verstanden. Sie spricht kein Deutschland ist ganz offensichtlich ein
Deutsch. Einwanderungsland, und es verändert sich
Manz guckt Hilfe suchend auf das Dis- rasant. Viele Ökonomen und auch Politi-
play ihres Telefons. Viertel vor fünf. Die ker betonen zwar gern die erfreulichen Sei-
Übersetzerin – eine Verwandte der Pa- ten der Entwicklung – jahrzehntelang
tientin – sollte seit 45 Minuten hier sein. fürchtete man sich vor einer Vergreisung
Schulterzucken. »Andere Kulturen, ande- der Gesellschaft –, doch es gibt eine große
res Zeitverständnis«, sagt Manz, die seit Gruppe, die diese Entwicklung alles ande-
vergangenem Jahr die Geburtsstation der re als erfreulich findet.
Mariahilf Klinik in Hamburg-Harburg Diese Menschen fragen sich, wie ihre
leitet. Heimat wohl in 10, 20 oder 30 Jahren aus-
Bei der Visite und während einer Ge- sehen wird. Und sie haben Zweifel, ob die
burt hat die Chefärztin immer Karteikar- Regierung die Probleme lösen kann, die
ten mit Basisvokabular in Arabisch, Farsi, sich schon jetzt durch die mangelnde Inte-
Russisch, Rumänisch und Türkisch dabei. gration mancher Migranten abzeichnen.
Bei der Auswahl neuer Mitarbeiter achtet Etliche fürchten, dass Bundeskanzlerin
Manz darauf, dass sie mit den neuen An- Angela Merkel (CDU) Deutschland mit
forderungen auf ihrer Station zurechtkom- einer planlosen Einwanderungspolitik in
men. eine düstere Zukunft führt. Eine Politik,
Deshalb ist Sufyan Abdulhadi in den die darin besteht, nicht die gut ausgebil-
vergangenen drei Jahren zu so etwas wie deten Fachkräfte anzuwerben, sondern die
dem Superstar der Klinik aufgestiegen. Migranten als Asylbewerber kommen
Der Libyer begann 2008 seine Facharzt- lässt. Und aufgrund derer meist auch jene
ausbildung in Deutschland. Seit 2014 ar-
beitet er im Mariahilf.
Abdulhadi vermittelt zwischen den
Kulturen. Die arabischen Familien fühlen
Durchschnittliche Kinderzahl
sich bei ihm gut aufgehoben, sie müssen
Frauen ohne Migrationshintergrund 1,2
ihm nicht lange etwas erklären. »Ich habe
hier in den letzten Jahren mehr Arabisch
als Deutsch geredet. Es ist unglaublich Frauen mit Migrationshintergrund 1,4
wichtig für die Frauen, die zu uns kom-
men, dass im wichtigsten Moment ihres davon Frauen, die selbst zugewandert sind 1,6
Lebens ein Arzt in der Nähe ist, der sie Frauen mit Geburtsjahr zwischen 1940 und 2001
versteht.« Quelle: Mikrozensus 2016

11
Titel

irgendwie bleiben können, deren Anträge Zweitsprache Deutsch sich verändert. Und aussprechen, dass das
abgelehnt werden. bitte nicht so weitergehen soll.
Grundschulen, bei denen die Mehrheit der
Die Angst vor einer solchen ungesteu- Merkels Antwort auf Seehofer, der Is-
Kinder zu Hause kaum Deutsch spricht
erten Migration ist nicht neu. Sie machte lam gehöre doch zu Deutschland, sei aller-
schon 2010 Thilo Sarrazins »Deutschland Anteil der Schulen dings auch nicht hilfreich, sagt die Darm-
schafft sich ab« zu einem Bestseller. Als städter Soziologin Cornelia Koppetsch.
Sarrazin seine Thesen über gebärfreudige Berlin 43 % Beide Politiker hätten versucht, in »ihren
muslimische Migrantinnen kundtat, ka- Bremen 41 % politischen Lagern Gemeinschaft« zu stif-
men gerade einmal 40 000 neue Asylbe- ten, aber am Ende beförderten sie »das
Hamburg 22 %
werber pro Jahr. Auf dem Höhepunkt der grassierende Gefühl von Heimatlosigkeit«
Flüchtlingskrise von 2015 erreichten inner- Hessen 14 % (siehe Interview Seite 19).
halb weniger Tage so viele Menschen das Nordrhein-Westfalen 14 % Mit Hingabe führt Deutschland Symbol-
Land. debatten, die hauptsächlich dazu dienen,
Seitdem sind knapp 1,4 Millionen Bayern 11 % sich einem Lager zuzuordnen. Immer wie-
Flüchtlinge in Deutschland angekommen. Schleswig-Holstein 4% der wird über ein Burkaverbot gestritten,
Ein Indiz dafür, wie tief Zorn und Wut obwohl in Deutschland wenige Frauen den
über diese Entwicklung in vielen Die Schulen erheben den Anteil der Kinder mit nicht deutscher Familien-
sprache häufig, indem die Eltern bei der Anmeldung danach gefragt werden.
Vollschleier tragen. Solche Diskussionen
Menschen brodeln, ist die gefährliche Die Angaben sind daher nicht immer exakt vergleichbar. Unter den Schülern sind hauptsächlich Vehikel, mit denen die
mit nicht deutscher Familiensprache können auch Kinder sein, die gut
Kraft der sogenannten Umvolkungs- Deutsch sprechen.
Verbotsbefürworter zum Ausdruck brin-
theorie: Die Bundeskanzlerin plane an- Quelle: SPIEGEL-Anfrage in den Bundesländern gen wollen, dass es jetzt reicht mit der To-
geblich mit anderen sinistren Mächten den leranz.
Austausch der einheimischen Bevölkerung. Die CSU hat den Sorgenvollen nun ver-
Es sei die derzeit beliebteste Verschwö- Deutsche mit Migrationshintergrund füh- sprochen, Deutschland werde christlich-
rungstheorie in Deutschland, sagt der len sich ausgegrenzt und fremd. Und jene, jüdisch geprägt bleiben. Doch zur Wahr-
Tübinger Amerikanistikprofessor Michael die neu als Flüchtlinge hier ankommen, heit gehört auch: Die christlichen Kirchen
Butter. denken bei Heimat vor allem daran, was verlieren seit Jahren Mitglieder. Allein
Sie wurde auch deshalb so populär, weil sie gerade verloren haben. 2016 mussten sie mehr als 350 000 Aus-
Gesellschaft, Politik und Medien manche Innenminister Horst Seehofer (CSU) tritte verkraften.
Entwicklungen nicht offen und sachlich reagierte auf diese Stimmung mit der An- Während vielerorts Kirchen schließen,
diskutierten, manchmal aus Furcht, Frem- sage, der Islam gehöre nicht zu Deutsch- errichten Muslime neue Moscheen – oder
denfeinden in die Hände zu spielen. Statt- land. Der Satz ist Nonsens: Rund 4,7 Mil- sie nutzen dafür leer stehende Gebäude.
dessen ging es in Debattenbeiträgen häu- lionen Muslime leben hierzulande. Viele Im Hamburger Stadtteil Horn lässt das
figer darum, die eigene Weltoffenheit von ihnen sind hier geboren und gut inte- Islamische Zentrum Al-Nour derzeit mit
und Toleranz zur Schau zu stellen. Doch griert. In fast jeder größeren Stadt gibt es Finanzhilfe aus Kuwait sogar eine ehema-
die Hoffnung, die Konflikte, die durch eine Moschee. lige Kirche zur Moschee umbauen. Seit
schlecht gesteuerte Migration entstehen Die Debatte ebbt auch nach Wochen mehr als 16 Jahren steht diese leer. Die
können, würden hinter dem Optimismus noch nicht ab – und ein großer Teil der Gemeindemitglieder sind verstorben,
verschwinden, hat sich nicht erfüllt. Deutschen stimmt Umfragen zufolge ausgetreten oder weggezogen. Es wird
Große Teile des Landes leiden unter Seehofer zu. Warum? Weil der Satz eine hier also keiner verdrängt. Für die
Identitätsstress. Deutsche ohne ausländi- Chiffre ist. Wer sagt »Der Islam gehört Muslime bietet es sich einfach nur an, den
sche Wurzeln haben Angst, dass Zuwan- nicht zu Deutschland«, will sein Unbeha- Leerstand zu nutzen. Trotzdem sehen vie-
derer ihnen ihre Heimat nehmen könnten. gen darüber ausdrücken, wie Deutschland le darin einen Vorgang mit Symbolcha-
rakter.
Auf dem 44 Meter hohen Glockenturm
der Kapernaumkirche, auf dem einst ein
Kreuz thronte, prangt nun in goldenen ara-
bischen Buchstaben das Wort »Allah«.
Noch in diesem Jahr wollen die Muslime
ihre neue spirituelle Heimat beziehen. Im
Moment beten sie in einer ehemaligen
Tiefgarage.
Zunächst hatte ein Investor das Gebäu-
de gekauft. Allerdings zerschlugen sich die
Pläne des Unternehmers, und er verkaufte
die Immobilie 2012 an die Muslime.
Pastor Wolfgang Weißbach nennt die
ehemalige Kirche zärtlich »meine erste
Liebe«. Hier hat der heute 80-Jährige sei-
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

ne Laufbahn als Geistlicher begonnen. Er


ist an diesem Dienstag im April mit zwei
früheren Gemeindemitgliedern, Ellen und
Heinz-Jürgen Kammeyer, gekommen, um
die Baustelle zu besichtigen. Plötzlich wird
der Pastor unruhig. »Da liegt ja der Tauf-
stein«, ruft Weißbach und deutet auf einen
umgekippten weißen Sockel mitten im
Ehepaar Kammeyer, Rentner Weißbach: «Da liegt ja der Taufstein« Schutt hinter dem Bauzaun.

12
Die drei Rentner schauen betreten auf
den Frevel vor ihren Füßen. Mit dem Was-
ser, das in einer Kupferschale auf diesem
Stein stand, hat Weißbach einmal Kinder
getauft. Und neben diesem Stein standen
die Kammeyers 1985 vor dem Altar und
ließen sich trauen.
Die Kammeyers sind Mitglieder der
SPD. Sie würden niemals die AfD wählen.
Obwohl es sich für sie seltsam anfühlt, dass
bald Muslime in ihrer alten Kirche beten
werden, sind sie vor fünf Jahren sogar ge-
gen die »Bürgerbewegung Pro Deutsch-
land« auf die Straße gegangen, um den
Umbau zu verteidigen.
Seit seiner Hochzeit wohnt das Ehepaar
in einer Rotklinkersiedlung einer Genos-
senschaft, hier wurden die zwei Kinder
groß. An den Klingeln sind die Hälfte der
Namen türkisch oder arabisch. Im Wohn-
zimmer hängen noch immer gerahmte Fo-
tos der Kapernaumkirche, wie sie früher
war. Die beiden SPD-Mitglieder bemühen
sich um ein gutes Verhältnis zu ihren Nach-
barn. Trotzdem geht es nicht spurlos an
ihnen vorüber, wie sich ihr Stadtteil ver-
ändert.
»Wenn du in der Minderheit bist, fühlst
du dich fremd«, sagt Heinz-Jürgen Kam-
meyer. Seine Frau nickt. Auf einigen Bus-
linien im Viertel höre sie »mehr Kisuaheli
als Deutsch, da wird vorgedrängelt und
wenig Rücksicht« genommen.
»Es liegt ja nicht nur an der Migration,
dass wir heimatlos werden«, sagt Ellen
Kammeyer. Die sozialen Treffpunkte im
Viertel hätten ihren Sinn eingebüßt. »Was
soll ich denn beim Seniorentreff Skat spie-
len?«, fragt sie. Das sei aus der Zeit gefal-
len, aber für die neuen Alten, wie sich die
Kammeyers sehen, gebe es gesellschaftlich

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


keine Räume.
Ellen Kammeyer ist inzwischen aus der
evangelischen Kirche ausgetreten, aber je-
des Mal, wenn sie an der Baustelle vorbei-
komme, fühle sie einen Stich. Dass in der
Moschee bald Frauen und Männer ge-
trennt beten, ärgert ihren Mann besonders. Muslimin Kayed in Berlin: »Ich habe nie daran gezweifelt, Deutsche zu sein«
»Hier leben türkische Familien, deren
Töchter vermummt werden, sobald sie
ihre Menstruation bekommen«, sagt er. Muslimen berichten oder darüber, dass be- integriert haben, tolerant und weltoffen
Gegen den Islam habe er nichts, aber der reits an Grundschulen muslimische Kinder sind. Auch das führt dazu, dass viele Men-
Umgang mancher Muslime mit Frauen ist Andersdenkende mobben. schen in Deutschland fürchten, ihnen wer-
für ihn »nicht kompatibel« mit dem Häufig entlädt sich die Ablehnung des de ihre Heimat genommen.
Grundgesetz: »Diese Haltung, dass eine Islam in Vandalismus oder Gewalt. Im ver- In Hanan Kayed kommt nach jedem
Frau eine Hure ist, nur weil sie einen Bikini gangenen Jahr gab es laut Bundesinnen- Terroranschlag die Angst wieder hoch. Im-
trägt!« ministerium mindestens 950 Angriffe auf mer dann, wenn wieder ein selbst ernann-
Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge Muslime und Moscheen, dazu zählt Hetze ter Kämpfer des »Islamischen Staats« in
sagt mehr als jeder vierte Deutsche, der im Internet, dazu zählen aber auch Droh- Europa um sich schießt, sticht oder einen
Islam sei etwas, »das einem Angst macht«. briefe oder Nazischmierereien. In beinahe Lkw in eine Menschenmenge steuert.
Die Terrororganisation »Islamischer Staat« allen Fällen sei davon auszugehen, dass Dann will sie sich am liebsten einigeln, ta-
hat es durch ihre Schreckensherrschaft in die Täter aus rechtsextremen Motiven gelang die Wohnung nicht verlassen, bis
Syrien und im Irak und auch durch zahl- handelten. sich die Stimmung beruhigt hat.
reiche Anschläge in Europa geschafft, die Viele Deutsche machen sich wenig Hanan Kayed ist 26 Jahre alt, hat gerade
Furcht vor der Religion wachsen zu lassen. Mühe, zwischen Islam und Islamismus zu die erste juristische Prüfung bestanden,
Zurzeit vergeht kaum ein Tag, an dem die unterscheiden. Muslime stehen unter arbeitet in einer kleinen Organisation, die
Medien nicht über Antisemitismus unter Rechtfertigungsdruck, selbst wenn sie sich Flüchtlinge in WGs vermittelt und ist gläu-

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 13


Titel

bige Muslimin. Am Abend des Ostersonn- tuch Steine in den Weg, die selbstbewusst Gefühl von Vertrautheit dabei eine Rolle.
tags sitzt sie in einem Berliner Café mit Karriere machen wollen. Am Ende bleibt Der Tübinger Kulturwissenschaftler Her-
unverputzten Backsteinwänden, durch- die harte Entscheidung, wer schützens- mann Bausinger schrieb einmal: »Heimat
gesessenen Ledercouches und bunten werter ist. ist das Produkt eines Gefühls der Über-
Metallhockern. Sie trägt einen Blazer, Jurastudentin Kayed träumt weiter da- einstimmung mit der kleinen eigenen Welt.
einen geblümten Schal und ein olivgrünes von, Richterin oder Staatsanwältin zu wer- Wo die Menschen ihrer Umgebung nicht
Kopftuch. Seit acht Jahren lebt sie in den – und sie hofft, dass sie irgendwann mehr sicher sind, wo sie ständig Irritatio-
Berlin, geboren wurde sie als Tochter pa- freier in Deutschland leben kann, als das nen ausgesetzt sind, wird Heimat zer-
lästinensischer Flüchtlinge in Köln. bisher für sie möglich ist. stört.«
»Ich habe nie daran gezweifelt, Deut- Das letzte Mal, dass sie auf offener Stra- Hanan Kayed würde diesen Satz wohl
sche zu sein«, sagt Kayed. ße angegriffen wurde, liegt nur einen Mo- unterschreiben. Der Fliesenhändler Ralf
Nach dem Anschlag auf die französische nat zurück. Sie war auf dem Weg in die Fessler aber auch.
Zeitschrift »Charlie Hebdo« hörte sie in Uni-Bibliothek, als ein Mann sie vor dem Der 48-Jährige steht auf seinem Balkon
der Bahn zum ersten Mal den Satz: »Ihr Bahnhof Friedrichstraße anrempelte, sie und lehnt sich ans Geländer. Von dort aus
Muslime verdient den Tod.« dabei fast zu Boden stieß und beleidigte: hat er einen weitläufigen Blick über das
Ihr Kopftuch bereitet Kayed häufig Pro- »Kopftuchschlampe, elende Moslemhure, schwäbische Sigmaringen, er kann sogar
bleme. Die Jurastudentin will sich für ein verpiss dich aus meinem Land.« Nicht der die Turmspitzen des Hohenzollernschlos-
Referendariat im öffentlichen Dienst be- Mann habe ihr am meisten Angst gemacht, ses sehen, es ist das Wahrzeichen der Stadt.
werben. Sie hat schlechte Chancen, ob- sondern die Passanten, die herumgestan- »Es war mal so schön hier«, sagt der Flie-
wohl sie die erste juristische Prüfung mit den, zugeguckt, nichts getan hätten. Kayed senhändler. Unten im Garten mümmeln
einem Prädikat abgeschlossen hat. »Wenn hat ihr Leben angepasst: Sie verlässt die neben einem Teich zwei Kaninchen in
ich nicht dieses Stück Stoff auf dem Kopf Uni nie nach 21 Uhr, meidet öffentliche ihrem Verschlag an Grashalmen.
tragen würde, würden sie mich mit Hand- Verkehrsmittel, nimmt, wann immer es »Moment, da kommt wieder einer«,
kuss einstellen – so muss ich darum fürch- geht, das Auto. sagt Fessler. Neben der Thujahecke, die
ten, ob mich überhaupt jemand nimmt«, Für den Begriff Heimat gibt es viele De- der Schwabe nach eigener Erzählung zu-
sagt Kayed. finitionen. Jeder hat eine sehr persönliche letzt zurückstutzte, bevor die Flüchtlinge
In Berlin wird gerade hart darum gestrit- Vorstellung davon. Meistens spielt das oben auf dem Berg in die Kaserne ein-
ten, ob das Neutralitätsgesetz, das etwa
Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht
verbietet, unverändert bestehen bleiben
soll. Der rot-rot-grüne Senat erwägt, es ab- Bevölkerung mit Migrationshintergrund
zuschaffen, eine Initiative mit 2000 Unter- Anteil in Prozent
stützern versucht, dies zu verhindern.
Vor wenigen Tagen sorgte die nord-
Personen, die selbst oder
rhein-westfälische CDU-Staatssekretärin bei denen mindestens ein Elternteil
Serap Güler für neuerliche Debatten zum nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft
Thema. »Einem jungen Mädchen ein Kopf- geboren wurde
tuch überzustülpen ist pure Perversion.
Das sexualisiert das Kind. Dagegen müs- Hamburg
sen wir klar Position beziehen«, erklärte in den zehn größten 30,0
sie. Ihr Chef, Integrationsminister Joachim deutschen Städten
Stamp (FDP), erwägt ein Kopftuchverbot Dortmund
für Mädchen unter 14 Jahren, ähnlich wie 33,2 Berlin
es die österreichische Regierung für Kin- 28,0
dergärten und Grundschulen angekündigt Essen
hat. Das Tuch hat Symbolkraft, es verkör- 28,3
pert für viele prominent sichtbar einen be-
drohlichen Islam, deshalb flachen die De- Düsseldorf
batten darum auch nach Jahrzehnten nicht 35,9 Leipzig
ab. Der Osnabrücker Islamwissenschaftler 12,3
Köln
Bülent Ucar spricht von einer »krank-
haften Fixierung« aller Seiten auf das 34,2
Kopftuch. Frankfurt
Diese könnte auch daher rühren, dass am Main
die Fragen darum Deutschland überfor- 45,3
dern. Kaum ein Konflikt zeigt so klar, wie
schwierig es für ein Einwanderungsland
sein kann, die richtigen Regeln vorzu- unter 14 %
geben.
Wer erlaubt, dass Lehrerinnen ein Kopf- 14 bis unter 20 Stuttgart
tuch tragen, nimmt in Kauf, dass junge 20 bis unter 24 40,9
Mädchen zunehmend den Druck ihrer
München
Community spüren, sich verhüllen zu müs- 24 bis unter 28
sen. Autoritätspersonen sind Vorbilder. 39,4
28 bis unter 30
Wer verbietet, dass Frauen wie Hanan Quelle: Destatis,
Kayed als Richterin arbeiten dürfen, legt 30 und mehr Stand: 2016
gerade denjenigen Musliminnen mit Kopf-

14
zogen, wippt ein schwarzer Haarschopf. am Bahnhof und im Park und torkeln Stadt werde einen neuen Gehweg entlang
Es ist ein Afrikaner, der mit Kopfhörern dann wieder bei uns vorbei.« Er mache der Hauptstraße durchsetzen, damit nicht
in den Ohren Richtung Stadt spaziert. die halbe Nacht kein Auge zu. Terror sei alle bei ihm vorbeispazieren. Doch lehnte
»Okay, der war jetzt leise«, sagt Fessler. das. der Gemeinderat das Ansinnen fast ein-
»Das ist nicht der Normalfall.« Früher Der Ärger darüber hat Fessler verbittert. stimmig ab. Man wolle kein »Zeichen für
hätten sie noch manchmal rübergerufen Vor allem als er feststellte, dass niemand Ausgrenzung und Rassismus« setzen, so
»Please be quiet«, bitte seien Sie ruhig. ihm in seiner misslichen Lage helfen woll- eine SPD-Politikerin.
Meistens sei aber nur ein »Fuck you« te. Vor einiger Zeit habe seine Frau den »Klar«, sagt Fessler. »Bei denen läuft ja
oder »I kill you« als Antwort zurückge- Müll wegbringen wollen, als eine Gruppe auch kein einziger Afrikaner am Haus vor-
kommen. Männer sich ihr in den Weg gestellt habe. bei.« Der Fliesenhändler war einmal
Seit 28 Jahren wohnt Fessler in dem Sie hätten ihr ins Gesicht gespuckt. »Wir CDU-Mitglied. 2015 trat er aus Protest
Haus, das einst sein Vater bauen ließ. 2015 hatten Panik, dass sie sich etwas geholt gegen Merkels Flüchtlingspolitik aus.
hat das Land Baden-Württemberg die hat«, sagt Fessler. Seine Tochter sei einmal Bei der letzten Wahl hat er der AfD
ehemalige Graf-Stauffenberg-Kaserne zur auf dem Weg zum Briefkasten im Genital- seine Stimme gegeben. »Ich bin ein Pro-
Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge bereich betatscht worden, Nachbarn hät- testwähler, ein Angst- und Wutbürger«,
umfunktioniert. Sie liegt nur wenige Mi- ten Alarm geschlagen. Wenn der Vater auf sagt er.
nuten Fußweg von Fesslers Haus entfernt, Geschäftsreise ist, übernachten seine Frau Wie Fessler haben sich viele ehemalige
rund 350 Menschen wohnen in der Ein- und seine Tochter im Hotel oder bei der CDU-Wähler von der Partei abgewandt.
richtung, die meisten stammen aus Nigeria, Oma. »Wir haben Angst.« Häufig aus Gründen, die eher mit kultu-
Marokko und Gambia. Wer von dort in Der Unternehmer hat einiges versucht, reller Entfremdung zu tun haben als mit
die Innenstadt will, kommt zwangsläufig um sein Problem zu lösen. Er hat auf ein der Zahl der Zuwanderer. Sie fürchteten
an Fesslers Thujahecke vorbei. Schild mit arabischen Buchstaben »City« Migranten, aber sie fühlten sich auch ab-
Auch am vergangenen Montag um 16 geschrieben, um die Männer aus der gestoßen von einer Leitkultur, die von ih-
Uhr schlendern alle paar Minuten Männer Erstaufnahmestelle eigenmächtig auf nen erwartete, die neuen Deutschen als
die Straße entlang. »Nachts wird es die einen anderen Weg umzuleiten. Allerdings Bereicherung zu sehen.
Hölle«, beschreibt Fessler. »Die kaufen habe ihm das Ordnungsamt die Aktion Das Erbe der 68er, die veränderte Rolle
Alkohol bei Lidl, besaufen sich oder kiffen untersagt. Außerdem hatte er gehofft, die der Frau, die Schwulenbewegung, das Mul-
tikulti-Ideal sind Ideen, die ihnen ihre Hei-
mat genauso fremd erscheinen lassen wie
Minarette und Frauen mit Kopftuch. In
Häufigste Staatsangehörigkeit einer CDU, die mit Merkel in die Mitte
unter Personen, die keine deutsche rückte, und mit einer Verteidigungsminis-
Staatsbürgerschaft besitzen terin, der Bundeswehrkitas am Herzen la-
gen, kam ihnen auch politisch die Heimat
abhanden. Je linker Merkel wurde, desto
weiter wanderte ein Teil der Gesellschaft
italienisch nach rechts.
Die US-Soziologin Arlie Russell Hoch-
niederländisch schild hat in ihrem Buch »Fremd in ihrem
Land« untersucht, warum weiße Arbeiter
österreichisch
im Süden der USA die rechte Tea Party
polnisch und später Trump unterstützten. Das wich-
tigste Argument der Soziologin: Die Men-
rumänisch
schen hatten das Gefühl, dass sie sich ab-
russisch mühten, sich an alle Regeln hielten, wäh-
rend andere, Frauen, Minderheiten, Mi-
syrisch granten, in der Warteschlange zum ameri-
tschechisch kanischen Traum an ihnen vorbeizogen.
Und von denen keiner zu erwarten schien,
türkisch dass sie sich an Vorgaben hielten.
US-amerikanisch
Es gebe inzwischen offenbar globale
Versionen dieser Stimmung, argumentiert
sonstige Hochschild. Das zeigt zum Beispiel die im
Februar von beiden Seiten aufgeregt ge-
führte Debatte um die Essener Tafel, die
zeitweise keine neuen ausländischen Kun-
den mehr mit Lebensmittelspenden ver-
sorgte, weil sich arme Rentner durch
Migranten verdrängt fühlten. Auch wenn
es nur um den Platz in der Ausgabe von
Lebensmitteln ging.
Dass linke Politiker diesen Menschen
immer wieder sagten, ihr Gefühl sei falsch,
Migranten und andere würden ihnen nicht
die Jobs und die Heimat stehlen, habe sie
Quellen: Destatis, AZR in den USA eher noch wütender gemacht,
Stand: 2016 sagt Hochschild. So sei noch der Eindruck

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 15


Titel

hinzugekommen, die Probleme würden Arbeitslosigkeit Migrationshintergrund? Was meinen die


vertuscht. Leute, wenn sie umgangssprachlich sagen,
in der Erwerbsbevölkerung zwischen
Diese Weltsicht hat sich in Deutschland die Zahl der Ausländer steige? Die der
15 und 64 Jahren, in Deutschland
mit Wucht auf Politik und Medien entla- Flüchtlinge? Der südländisch aussehenden
den. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlings- 20 % Menschen? Derer ohne deutschen Pass?
krise unternahm die Grünen-Fraktionsvor- Meistens geht es wild durcheinander,
sitzende Katrin Göring-Eckardt einen Ver- und unter dem Begriff Migrant werden alle
such, Vorurteile abzubauen, der eher spal- 15 subsumiert: eine türkischstämmige Ärztin
tete, statt zu versöhnen. Sie bezeichnete genauso wie ein Nordafrikaner ohne Blei-
die Neuankömmlinge als ein »Geschenk beperspektive, ein osteuropäischer Saison-
für Deutschland«. 10 arbeiter oder ein Kriegsflüchtling aus Sy-
Es war nur ein Geschenk, das viele Men- mit rien. Dabei verbindet sie alle meist wenig.
schen in Deutschland nicht haben wollten. Migrations- Wie gut jeder Einzelne in Deutschland
hintergrund
Und wer wie Fliesenhändler Fessler mit 5 zurechtkommt und wie gut Deutschland
der neuen Realität ein Problem hatte, dem ohne mit ihm klarkommt, unterscheidet sich gra-
war wenig geholfen mit dem Appell, er Migrations- vierend.
hintergrund
möge doch seine Sicht auf die Welt ändern. 0 Malte Küppers, 30, Jeans und Kapuzen-
Fessler spricht nun davon, nach Uruguay pulli, läuft an einem Mittwochvormittag
Quelle:
oder Ungarn auswandern zu wollen. Da 2005 2016 Destatis im April durch Duisburg-Marxloh, vorbei
sehe er eine bessere Zukunft für seine Fa- an Handyläden, Brautmodengeschäften
milie und sich als in Deutschland. stark gesunken sei. Im Februar kamen nur und drei Streifenpolizisten, die auf dem
Dass es mit der Sigmaringer Aufnahme- noch 10 700 Flüchtlinge nach Deutschland, Gehweg herumstehen. Er ist Sozialarbei-
stelle manchmal Probleme gibt, ist be- im November 2015 waren es mehr als ter an der Katholischen Grundschule Hen-
kannt. Während landesweit die registrier- 200 000. riettenstraße in Marxloh, in jenem Stadt-
ten Straftaten durch tatverdächtige Flücht- So wie in Sigmaringen ist es meist nur teil, der in Deutschland als Problemviertel
linge zurückgegangen seien, gebe es im eine Minderheit, die kriminelle Energie schlechthin gilt. 95 Prozent der Schüler,
Landkreis Sigmaringen einen deutlichen hat und die auch in ihren Heimatländern die in der Henriettenstraße lernen, haben
Anstieg, heißt es in der Pressemitteilung nicht zur beliebtesten Klientel gehörte. einen Migrationshintergrund. Mit anderen
der Polizei. Jeder fünfte Tatverdächtige im Viele dieser Menschen werden sich nie- Worten: Von den 200 Grundschülern kom-
Landkreis sei ein Flüchtling. Die Bahn- mals hierzulande integrieren können – men noch 10 aus deutschen Familien.
hofshalle wird mittlerweile um 17.30 Uhr aber trotzdem bleiben. Küppers ist an diesem Morgen unter-
geschlossen statt um 19.15, damit Betrun- Die Bundesregierung hat angekündigt, wegs zu einer rumänischen Familie. Die
kene dort keine Probleme mehr machen mehr Menschen abzuschieben. Doch häu- drei Kinder, erzählt er, würden seit den
können. fig scheitern die Rückführungen, weil die Herbstferien nicht mehr zur Schule kom-
Neff Beser betreibt im Bahnhofsgebäu- Betroffenen abtauchen, Widerstand leis- men. Keiner weiß, warum. Wenig später
de das Alfons X, eine Bar und einen Klub. ten oder plötzlich ärztliche Atteste vorle- steht Küppers vor dem Haus, die Bewoh-
Auf der Terrasse sind seine Umsätze im gen. Knapp 230 000 Ausländer sind der- ner haben ihre Namen mit Edding auf die
vergangenen Sommer um 30 Prozent ein- zeit ausreisepflichtig, mehr als 60 000 von Briefkästen geschrieben. Im Erdgeschoss
gebrochen. Zeitweise hatte er sogar ein ihnen haben nicht einmal eine vorüberge- wohnt die Familie mit den Schulkindern,
Verbot für Flüchtlinge in seinem Laden hende Duldung und müssten das Land Küppers klingelt, klopft an die Tür. Nie-
ausgesprochen, weil sich zu viele Frauen sofort verlassen. mand öffnet.
belästigt gefühlt hatten. Auch in den etablierten Medien prägen »Kann man nichts machen«, sagt der So-
»Eigentlich hat sich die Situation schon die Übeltäter das Bild. Berichte über zialarbeiter und dreht sich um. Rund drei-
wieder gebessert, seitdem eine Gruppe Flüchtlinge, die Frauen vergewaltigen mal pro Woche unternimmt er solche
von Nordafrikanern plötzlich von der Bild- oder gar töten, machen nachhaltiger Ein- Hausbesuche in Marxloh. Bei den Eltern
fläche verschwunden ist, die immer nega- druck als Reportagen über Syrer, die nach von Kindern, die mehr als 20-mal unent-
tiv aufgefallen ist. Man muss das immer kurzer Zeit in Deutschland als Zahntech- schuldigt im Unterricht gefehlt haben,
wieder sagen, damit kein falscher Ein- niker arbeiten, oder über erfolgreiche tür- steht Küppers auf der Matte. Er erklärt,
druck von Flüchtlingen entsteht«, sagt er. kische Unternehmer in der zweiten Gene- dass es in Deutschland eine Schulpflicht
»Es ist nur eine kleine Gruppe, die Ärger ration. gibt, dass man Bußgeld zahlen muss, wenn
macht, aber das halt wirkungsvoll.« Dies führt zu einem weiteren Problem, man sich nicht daran hält, und dass das
Die Sigmaringer Polizei hat acht Mann den Begrifflichkeiten: Migrant, Deutscher, Ordnungsamt kommt, wenn es so weiter-
zur Verstärkung bekommen, was für eine Ausländer oder Migrationshintergrund geht. »Vielen ist unser System Schule
Kleinstadt mit 17 500 Einwohnern eine be- sind in einem Einwanderungsland Ausdrü- fremd«, sagt Küppers. Meistens hat er bei
achtliche Zahl ist. Die Stimmung sei trotz- cke, die nicht mehr gut funktionieren. Ist seinen Visiten Übersetzer dabei.
dem nicht viel besser geworden, sagt Beser. ein Türke in der dritten Generation, der Küppers hat in seinem Büro in der
Der Barbesitzer mit türkischen Wurzeln sogar seinen Namen eingedeutscht aus- Grundschule Platz genommen. Seit sechs
macht die Politik dafür verantwortlich. spricht, Migrant oder Deutscher? Oder bei- Jahren arbeitet er in der Henriettenstraße,
Einmal habe sein Türsteher eingreifen des? Wie viele Generationen nach der Ein- Küppers ist auch Deeskalationstrainer, ein
müssen, weil Asylbewerber vor seinem Lo- wanderung hat man überhaupt noch einen Mann mit einem gelassenen Gemüt. Bis
kal auf eine Polizistin losgegangen waren vor drei Jahren besuchten viele türkische
und sie an den Haaren zu Boden gezogen und einige deutsche Kinder die Schule, fast
hatten. »Man hat uns zu lange das Gefühl Animation alle sprachen Deutsch. Heute kommen die
Wovor haben die Deut-
gegeben, dass man den Randalierern quasi schen am meisten Angst? meisten Schüler aus Bulgarien, Rumänien,
machtlos ausgeliefert ist.« spiegel.de/sp162018heimat
Syrien und dem Irak. Drei Viertel der Erst-
Gegen dieses Gefühl helfe es auch nicht oder in der App DER SPIEGEL klässler verstehen nun kein Deutsch.
mehr viel, dass die Zahl der Flüchtlinge Was das im Alltag bedeutet?

16
Küppers streicht mit der Hand über sei-
nen Vollbart, dann sagt er: »Kaum ein
Kind schafft unsere Grundschule in vier
Jahren, die meisten brauchen fünf oder
sechs. An die normalen Lehrpläne können
wir uns nicht halten, das ist ausgeschlossen.
Wir verständigen uns in den ersten Mona-
ten mit Händen und Füßen, es geht vor al-
lem darum, dass die Kinder so schnell wie
möglich die Sprache lernen. Die Lehrer
besorgen Stifte für die Schüler und bezah-
len sie aus eigener Tasche.«
Seinen Optimismus hat Küppers trotz-
dem nicht verloren. Im Ruhrgebiet, sagt
er, seien die türkischen Gastarbeiter unter

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


Tage zu Kumpels geworden. »Warum soll
das nicht wieder funktionieren?« Er sehe
es als Teil seines Jobs, den Schülern zu hel-
fen, eine neue Heimat zu finden. Es fehle
aber »an sozialer Arbeit, an Lehrern, die
sich trauen, hier anzufangen. Und wenn
sie hier sind, müssen sie gelernt haben, Unternehmer Fessler in Sigmaringen: »Ich bin ein Wut- und Angstbürger«
was man tut, wenn man vor 20 Kinder
tritt, die kein Wort verstehen.«
Wie Küppers beklagen sich bundesweit
Pädagogen und Lehrer über mangelnde
Unterstützung und Verständnis seitens der
Politik. Sie schreiben Brandbriefe, schla-
gen in den Medien Alarm und stellen meist
desillusioniert fest, dass ihre Appelle un-
gehört verhallen.
»Auf die zweite Generation der Zuwan-
derer kommt es an«, sagt der Berliner Be-
völkerungsforscher Reiner Klingholz. »Da
muss Deutschland noch viel besser wer-
den.« Eines der größten Probleme ist, dass
die soziale Durchmischung in den Städten
nur schlecht gelingt. Häufig ist der Zuwan-
dereranteil vor allem an jenen Schulen be-

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


sonders hoch, die ohnehin schon in Pro-
blemvierteln liegen. Rund 70 Prozent der
Kinder mit Migrationshintergrund in
Großstädten besuchten Grundschulen, an
denen mehrheitlich Zuwanderer und sozi-
al benachteiligte Schüler lernen.
Im Generationenvergleich gibt es zwar Sozialarbeiter Küppers in Duisburg: »Kaum ein Kind schafft die Grundschule in vier Jahren«
leichte Verbesserungen, doch bleiben viele
Migrantenkinder weit unter ihren Möglich-
keiten. So liege der Anteil der Türkisch- Das Land wählt seine Arbeitsmigranten oder qualifizieren sich. Die 2015 von
stämmigen mit Hochschulreife in der zwei- sorgfältig aus, sie sind meist gebildet und manchen formulierte Hoffnung, syrische
ten Generation bei 25 Prozent. Bei den können fließend Englisch. 2016 nahm Ka- Flüchtlinge könnten den Fachkräfteman-
Einheimischen betrage er 43 Prozent. nada nur rund 50 000 Flüchtlinge auf. gel in Deutschland quasi im Alleingang be-
»Nach wie vor vererben also viele der Mi- Eine Situation wie in Deutschland, wo seitigen, muss man wohl als Irrtum begrei-
granten ihren geringen Bildungsstand an viele Zuwanderer als Asylbewerber ins fen. Doch eine Debatte, ob der Islam zu
ihre Kinder«, sagt Klingholz. Land kommen, etliche davon schlecht Deutschland gehört oder nicht, wird mit
Viele Bildungsexperten führen immer gebildet oder sogar Analphabeten, hat Sicherheit keinem Syrer einen Job und da-
wieder Kanada als Musterbeispiel an, das Kanada noch nie erlebt. Auch deshalb mit eine Eintrittkarte in die deutsche Ge-
in der vergleichenden Pisa-Studie der wird in Kanada Migration anders wahr- sellschaft ermöglichen.
OECD regelmäßig einen der besten Plätze genommen. Besser wäre es anzuerkennen, dass Zu-
belegt. Dort wirkt sich der soziale Status Die Arbeitsmarktzahlen scheinen eher wanderung nach deutscher Art auch Pro-
kaum auf die schulische Leistung aus. Zu- die Skeptiker zu bestätigen. Inzwischen bleme bringt. Und sich dann anzusehen,
wandererkinder in der zweiten Generation hat mehr als die Hälfte aller erwerbsfähi- wie sich durch Bildung, Aufstiegschancen
erreichen in Kanada teilweise sogar bessere gen Hartz-IV-Bezieher einen Migrations- und Arbeitsplätze viele Probleme über-
Leistungen als einheimische Schüler. Aller- hintergrund. Jeder zehnte Hartz-IV-Emp- winden lassen. Voraussetzungen wie in Ka-
dings bringt der Vergleich nicht viel, weil fänger ist Syrer. Die meisten von ihnen nada sind schon aufgrund der Geografie
Kanadas Einwanderungspolitik sich funda- sind noch nicht in der Lage, ihren Lebens- nicht möglich. Keine Obergrenze kann da-
mental von der deutschen unterscheidet. unterhalt zu verdienen, lernen die Sprache ran etwas ändern. Allerdings muss die

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 17


Titel

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


Hobbyfußballer des TSV Kriegshaber in Augsburg: »Neun Arbeitslose und am Ende der Saison keinen einzigen mehr«

deutsche Regierung den Mut aufbringen, eine Minderheit Ausländer in die Gesell- er Tempo haben, erntet aber mitunter rat-
Zuwanderung stärker zu steuern, das eu- schaft integrieren muss, gibt es längst nicht lose Blicke.
ropäische Asylsystem zu reformieren und mehr.« Ein Kampf der Kulturen sei trotz- Seit dem 10. Spieltag führt der TSV
auch effektivere Wege zu finden, abgelehn- dem nicht zu beobachten. Kriegshaber mit 17 Siegen und nur einer
te Asylbewerber schneller wieder zurück- Integration bedeute strukturelle Teilha- Niederlage überraschend die Tabelle an.
zuschicken. be. »In dem Moment, in dem ich einen Die unterschiedlichen Spielertypen ma-
Jens Schneider vom Institut für Migra- Job in Deutschland habe, ist der in der Re- chen die Mannschaft für den Gegner un-
tionsforschung und Interkulturelle Studien gel so gut bezahlt, dass man sich ein Leben berechenbar. »Wir haben keinen überra-
der Universität Osnabrück gehört zu den davon aufbauen kann.« Arbeit sei ein gro- genden Mann, funktionieren rein als
Optimisten in der Migrationsdebatte. Viel- ßer Gleichmacher, sagt Schneider. »Die So- Mannschaft. Jeder rennt und kämpft für
leicht liegt das an seinem Forschungsthe- zialisation über Arbeit hat schon bei den den anderen«, sagt Trainer Heuberger. Um
ma: Er beschäftigt sich mit Aufstiegschan- Gastarbeitern funktioniert, und sie funk- den Teamgeist zusätzlich zu fördern, gab
cen von Einwandererfamilien in Städten, tioniert auch heute noch.« es am Dienstag statt Training einen ge-
die er »superdivers« nennt und unter de- Auf dem Bolzplatz geht es in Augsburg meinsamen Bierzeltbesuch auf dem Augs-
nen es durchaus Positivbeispiele gibt. ebenfalls superdivers zu. Tabellenführer burger Plärrer, einem Volksfest.
Dazu zählten viele süddeutsche Städte wie bei den Amateuren in der lokalen Kreisliga Kriegshaber ist ein familiär geprägter
Stuttgart oder Augsburg, »wo mehr als die ist derzeit die Multikultimannschaft des Stadtteil im Westen von Augsburg. »Hier
Hälfte der Bevölkerung einen Migrations- TSV Kriegshaber. Die Spieler sind zwi- hilft man sich untereinander«, sagt Heu-
hintergrund hat«. In Augsburg lag der Mi- schen 19 und 43 Jahre alt und kommen aus berger. Er selbst habe »in einer Saison über
grationsanteil 2016 bereits bei 46 Prozent. 16 verschiedenen Nationen: Flüchtlinge 50 Bewerbungsanschreiben mitverfasst«,
Bald sind Menschen ohne Migrationshin- und Asylbewerber aus Syrien, dem Irak erzählt er. »Wir hatten neun Arbeitslose
tergrund dort in der Minderheit. und Gambia kicken mit Spätaussiedlern und am Ende der Saison keinen einzigen
Für viele AfD-Fans ein Angst einflößen- aus Osteuropa und Kindern ehemaliger mehr.«
dendes Szenario – trotzdem ist Augsburg Gastarbeiter, die längst einen deutschen Wenn Deutschland eine Heimat für alle
nicht als sozialer Brennpunkt bekannt. Pass haben. Trainer Michael Heuberger ge- werden soll, brauchte man ein paar Zehn-
»Wegen der vielen Jobs in diesen Regionen hört als gebürtiger Augsburger zur schwä- tausend Heubergers.
funktionierte die Integration so geräusch- bischen Minderheit in der Mannschaft. Matthias Bartsch, Annette Bruhns,
los und reibungslos«, sagt Schneider. Das Auch ein Brasilianer, ein Italiener, ein Ser- Anna Clauß, Lukas Eberle, Katrin Elger,
in vielerlei Formulierungen gekleidete be und ein Kurde sind Teil seines Kaders. Bartholomäus von Laffert, Cordula Meyer,
Mantra von Parteien wie der CSU oder Teamkapitän Selcuk Kus ist Türke. Katja Thimm
der AfD, gute Migranten seien die, die »Mit der Verständigung ist es nicht
nicht da seien, gehe an der Realität vorbei. immer einfach«, sagt Michael Heuberger, ‣ Lesen Sie auch auf Seite 38 das SPIEGEL-
In Augsburg haben 64 Prozent der Ein- ein 57-jähriger Post-Mitarbeiter, der im Gespräch mit dem bayerischen Ministerprä-
wohner unter 18 Jahren einen Migrations- Nebenjob als Trainer arbeitet. Wenn er sidenten Markus Söder.
hintergrund. »Die deutsche Mehrheit, die auf Bayerisch »Jetzt pack mas!« brüllt, will

18
Identitäten Professoren, Pädagogen und Journalisten trügen politischen Lagern Gemeinschaft, deshalb
machen sie es ja auch, aber es ist eine
dazu bei, dass sich Menschen in Deutschland nicht mehr vordergründige Gemeinschaft. Am Ende
zu Hause fühlen, meint die Soziologin Cornelia Koppetsch. bleibt die Botschaft: Jene, die uns regieren,
haben in grundlegenden Fragen keinen

»Starres Weltbild« Konsens, wie das Land aussehen soll. Das


befördert das grassierende Gefühl von Hei-
matlosigkeit. Und das Verhalten der Intel-
lektuellen – der Professoren, Journalisten
Koppetsch, 51, ist Professorin an der Tech- SPIEGEL: Sie sprechen von Pegida, der und Pädagogen – befeuert diesen Trend
nischen Universität Darmstadt und unter- AfD und den Vorwürfen an die sogenann- dann auch noch.
sucht die Ängste der Mittelschicht und den te Lügenpresse? SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Aufstieg der Rechtspopulisten. Koppetsch: All diese Phänomene haben Koppetsch: Diese kosmopolitische Elite
ein gemeinsames Muster: Man erklärt die verhält sich doppelbödig und wirkt da-
SPIEGEL: Frau Koppetsch, viele Deutsche eigene Wahrnehmung möglichst öffentlich- durch verlogen. Sie propagiert Weltoffen-
scheinen sich im eigenen Land nicht mehr keitswirksam zur Wahrheit – grenzt sich heit und fordert eine durchlässige Gesell-
zu Hause zu fühlen. Warum ist das so? also ab, um sich seiner selbst zu vergewis- schaft, in der jeder dieselben Chancen hat,
Koppetsch: Wenn sich die Spielregeln sern und auf diesem Weg die alte Gebor- sie spricht von Gleichheit und Gleichbe-
einer Gesellschaft verändern, meinen viele genheit zurückzuerobern. rechtigung. Aber wenn jemand ihr Welt-
Menschen, ihre Handlungsfähigkeit zu ver- SPIEGEL: Das kommt auch in den etablier- bild nicht teilt, wendet sie sich verständ-
lieren. Sie spüren, dass ihre Ansichten und ten Parteien vor. nislos ab und erhebt sich im Namen einer
Verhaltensmuster nicht mehr zu den neu- Koppetsch: So ist das leider. Wenn Horst höheren Moral. Das lässt sich nach jeder
en Umständen passen, und das nimmt Seehofer erklärt, der Islam gehöre nicht Wahl in den Talkshows beobachten. Wenn
ihnen Vertrauen zu sich selbst und in ihre zu Deutschland, bedient er genau dieses dort von Protestwählern der AfD die Rede
Umgebung. Am Ende fühlen sie sich in Muster. Vernünftig betrachtet ist das ist, klingt es oft, als handelte es sich dabei
ihrem Land nicht mehr ge- um schwer erziehbare Kinder
borgen. oder Psychopathen.
SPIEGEL: Was hat sich denn SPIEGEL: Manche Beiträge von
geändert? AfD-Politikern wirken ja auch
Koppetsch: Zahlreiche Ent- reichlich irre.
wicklungen haben eine grö- Koppetsch: Aber im Kern ist
ßere Zahl von Menschen das Weltbild der vermeintlich
spürbar verstört. Dazu ge- weltoffenen Elite eben häufig
hört, dass Gemeinsinn, Auf- genauso starr wie das der Klein-
richtigkeit, Bescheidenheit bürger, auf die sie herabsieht: Sie
und Prinzipientreue heute ist davon überzeugt, dass allein
weniger zählen als Welt- ihre Werte und ihr Lebensstil all-
gewandtheit, unternehmeri- gemeingültig sein müssten. Auch
sches Geschick und Flexibi- ihr Bedürfnis nach einer Gebor-
WERNER SCHUERING

lität. Das wirkt auf viele genheit stiftenden Heimat ist oft
oberflächlich, und der Ein- ähnlich ausgeprägt. Und da ist
druck entsteht, dass jeder für diese Elite im Vorteil, weil sie
sich allein sorgen muss. sich ihre Heimat selbst erschaf-
SPIEGEL: Können Sie das Forscherin Koppetsch: »Die Elite wirkt verlogen« fen kann.
konkreter an politischen Ent- SPIEGEL: Wie soll das funktio-
wicklungen festmachen? nieren? Wir führen diese ganze
Koppetsch: Viele stoßen sich daran, dass ganze Thema ja komplett unsinnig: Debatte doch nur, weil sich Heimat nicht
Flüchtlinge jede Menge Beistand bekämen, Deutschland ist ein säkularer Staat, es beliebig herstellen lässt.
ohne etwas dafür geleistet zu haben – wäh- herrscht Religionsfreiheit. Aber es geht Koppetsch: Diese schon. Hier geht es um
rend sie selbst sich, wie sie meinen, jeden eben nicht um die Sachebene, sondern die kulturelle Heimat der bessergestellten
Tag mit dem Überleben abmühen. Andere darum, Gefühle zu mobilisieren. Das ist Kosmopoliten. Sie gründet auf Bildung,
fühlen sich durch die Homo-Ehe oder das gefährlich – genauso wie die prompte Hochkultur und auf einem bestimmten
dritte Geschlecht in ihrem Weltbild ange- Antwort der Kanzlerin, er gehöre eben Lebensstil – und der ist zumindest in den
griffen. Die Bundesrepublik war wie die doch dazu. Großstädten fast überall auf der Welt zu
DDR über Jahrzehnte ein von kleinbür- SPIEGEL: Wieso gefährlich? Was hätte sie finden. Trotzdem ist es eine exklusive Hei-
gerlichem Denken geprägtes Land. Aber sonst sagen sollen? mat: Man bleibt in den schönen Stadtvier-
nun scheint eine kosmopolitische Elite lau- Koppetsch: Die Wahrheit. Dass man erst teln wegen der hohen Preise unter sich.
ter seltsame Angebote für alle möglichen noch herausfinden müsse, welche Anteile Man sorgt dafür, dass zumindest in den
Minderheiten zu machen. Das empfinden islamischen Glaubens und Denkens sich Schulen der eigenen Kinder der Lernerfolg
vor allem Angehörige der traditionellen auf Dauer mit unserer Gesellschaft vertra- gut, das Mittagessen gesund und die Päda-
Mittelschicht so. Sie fürchten um ihren gen. Wir wissen ja noch nicht, welche As- gogik wertvoll ist. Und mit alldem sendet
Platz im System – und zwar nicht nur öko- pekte der Islam in all seinen Facetten mit man jenen, die um ihren Platz in der Ge-
nomisch, sondern kulturell. Aus diesem sich bringt. Merkel und Seehofer aber sellschaft fürchten, ein Signal: Hier bei uns,
Gefühl von Heimatlosigkeit erwachsen haben mit emotionalen Botschaften um bei den weltoffenen Weltbürgern, finden
dann all die Kampfansagen an die etablier- Zustimmung für zwei unterschiedliche Leute wie ihr auch keinen Platz. Verloren,
te Gesellschaft. Weltbilder geworben. Das stiftet in ihren Pech gehabt! Interview: Katja Thimm

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 19


Deutschland
Ein Krankenhaus ist eine Umgebung, die das Morden erleichtert. ‣ S. 46

HANS BLOSSEY / VISUM


Historischer Stadtkern von Freudenberg in Nordrhein-Westfalen

Grundsteuer

»Es ist nicht Feierabend«


Deutsche Steuer-Gewerkschaft sieht längere Frist für bessere Immobilienbewertungen.
 Für die Reform der Grundsteuer bleibt deutlich mehr Zeit als nicht fertig wäre«, so Eigenthaler. Zwar darf ab dann die alte
angenommen – notfalls bis 2028. Das Bundesverfassungsgericht Grundsteuer nicht mehr erhoben werden; die Verwaltung könne
hat am Dienstag zwar eine Frist bis Ende 2019 gesetzt, um die aber ihre Bescheide auch rückwirkend erlassen. Letztlich bliebe
Steuer auf Immobilienvermögen auf eine verfassungskonforme Zeit bis 2028, ohne dass es zu endgültigen Steuerausfällen käme.
Grundlage zu stellen, sowie eine Frist bis Ende 2024, um die rund Eigenthaler plädiert dafür, nicht auf eine schnelle Lösung zu
35 Millionen Grundstücke in Deutschland gegebenenfalls neu zu drängen, wie etwa die sogenannte Flächenbesteuerung, die
bewerten. Anders als vielfach berichtet, werde die Grundsteuer Grundstücke mit werthaltigen Gebäuden – zum Beispiel Hoch-
aber nicht ersatzlos wegfallen, wenn es bis Ende 2019 kein neues häuser – deutlich besser stelle als Siedlungen in Randbezirken.
Gesetz gebe, erklärt der Vorsitzende der Deutschen Steuer- Stattdessen sollte eine Neuregelung den Wert einer Immobilie
Gewerkschaft, Thomas Eigenthaler. Vielmehr könnte ein Gesetz ermitteln und berücksichtigen. Fachpolitiker drängen zur Eile:
womöglich auch noch rückwirkend erlassen werden. Zudem müs- Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) fordert, das
se die Neubewertung von Grundstücken nicht bis 2024 überall Gesetz noch 2018 zu verabschieden, damit genug Zeit für die
abgeschlossen sein: »Es ist nicht Feierabend, wenn man bis dahin Grundstücksbewertung bleibe. HIP, MBA

Missbrauch temberg hervor. Demnach lasse sich laut zusammenziehen zu dürfen«. Von einer
Regierungspräsidium »nicht nachvoll- Verurteilung des vorbestraften Pädophi-
Justiz informierte ziehen«, warum »die Information, dass len durch das Amtsgericht Staufen wegen
Jugendamt nicht sich der Lebensgefährte im Haushalt Verstoßes gegen die Führungsaufsicht
des Kindes und seiner Mutter aufhalte«, erfuhr das Jugendamt sogar erst nach des-
 Im Fall des Missbrauchs eines heute dem Jugendamt erst am 3. März 2017 sen Verhaftung. Das Regierungspräsidium
neunjährigen Jungen im badischen Stau- übermittelt worden sei, »obwohl sie der Freiburg stellte keine Rechtsverstöße des
fen bemängelt das Regierungspräsidium Polizei schon länger vorgelegen« habe. Jugendamts fest. Am Donnerstag hat in
Freiburg den Informationsfluss von Poli- Ebenso habe das Jugendamt »verspätet der Stadt am Breisgau der erste Prozess
zei und Justiz an das zuständige Jugend- davon erfahren, dass der Lebensgefährte gegen einen der Männer begonnen, die
amt. Das geht aus einem internen Ver- gerichtlich habe erwirken wollen, mit den Jungen gegen Bezahlung missbraucht
merk der Landesregierung Baden-Würt- der Kindesmutter und damit dem Kind haben sollen. FRI

20
Einwanderung
Rechtsstaatskunde für
Flüchtlingskinder
 Hessens Ministerpräsident Volker
Bouffier (CDU) will an den Schulen
seines Landes sogenannte Rechtsstaats-
klassen für Flüchtlinge einführen. Dort
soll den Kindern nicht nur die deutsche
Sprache, sondern auch das deutsche

UNCREDITED / MILITANT PHOTO / DPA


Rechtssystem und die Werteordnung
des Landes vermittelt werden. Einen
ähnlichen Unterricht gibt es bereits seit
zwei Jahren in Flüchtlingsheimen. »Das
Projekt ist sehr erfolgreich. Deshalb
wollen wir diese Erfahrung nutzen und
in der kommenden Legislaturperiode
den Unterricht ausweiten«, sagt Bouf-
fier. Auch der bayerische Ministerpräsi- Kämpfer des »Islamischen Staats« (Propagandavideo, 2017)
dent Markus Söder hat angekündigt,
einen Wertekundeunterricht für Flücht- Justiz diese Versuche nur über juristische Hilfs-
lingskinder an den Schulen einzufüh- Strafen auch für konstruktionen verfolgt werden kön-
ren. In Bayern und Hessen finden im nen.« Bausback fordert daher die Aus-
Oktober Landtagswahlen statt. RAN erfolglose Terrorhelfer? weitung des einschlägigen Paragrafen
129a Strafgesetzbuch auf Versuche der
 Die Justizminister von Bayern, Hessen Terrorhilfe. Hessens Justizministerin Eva
und Nordrhein-Westfalen fordern eine Kühne-Hörmann (CDU) befürwortet
Ausweitung der Strafbarkeit für Unter- den Vorschlag, weil »jede Art der Unter-
stützer terroristischer Vereinigungen. stützung terroristischer Vereinigungen
Schon ein misslungener Versuch, eine eine Kriegserklärung gegen unseren
Terrororganisation etwa mit Geld oder Rechtsstaat« sei. Auch Amtskollege
M. SKOLIMOWSKA / DPA

Waffen zu versorgen, solle strafbar sein, Peter Biesenbach (CDU) in Düsseldorf


sagt Bayerns Justizminister Winfried plädiert für gesetzliche Härte: »Wer Ter-
Bausback. »Ob Hilfsmittel eine terroris- roristen unterstützen oder finanzieren
tische Vereinigung wirklich erreichen, möchte, gehört ins Gefängnis – unabhän-
hängt häufig vom Zufall ab«, erklärt der gig davon, ob der Versuch erfolgreich
Schülerinnen mit Fluchthintergrund CSU-Politiker. »Es kann nicht sein, dass war oder nicht.« AMA

Datenhandel matisch. Man kann hier nicht einfach es heikler. Wir wissen, dass sich Daten
Ölquellen für Gemeinden? US-amerikanisch sagen: »Drill, baby, mit Zusatzinformationen anreichern
drill!« Also: »Los, bohr nach dem Öl!« lassen, sodass immer das Risiko besteht,
WEICHSELBAUMER / UNI PASSAU

Gerrit Hornung, 42, Profes- SPIEGEL: Schon jetzt kann man doch dass sich scheinbar entpersonalisierte
sor für Öffentliches Recht nach den Informationsfreiheitsgesetzen Daten am Ende repersonalisieren lassen.
und IT-Recht an der Univer- der Länder kommunale Daten abfragen? Es gibt da keine klare Grenze, wann
sität Kassel, über einen an Hornung: Ja, man muss bei personenbe- der Personenbezug wieder eintritt, und
die Kommunen gerichteten zogenen Daten aber ein übergeordnetes auch keine echte datenschutzrechtliche
Appell, ihre Daten gewinn- Interesse nachweisen. Außerdem geht das Lösung, weil die Daten nicht zurückge-
bringend zu verkaufen nur im Einzelfall, nicht flächendeckend. holt werden können. Deshalb mahne ich
Die Kommunen dürfen nicht von sich aus zu großer Zurückhaltung.
SPIEGEL: Der Deutsche Städte- und damit Handel treiben, schon gar nicht zur SPIEGEL: Die Kommunen haben aber
Gemeindebund bezeichnet Daten, die Gewinnerzielung. Die Daten wurden ja durchaus das Recht, sich wirtschaftlich
Kommunen über ihre Bürger haben, zweckgebunden, nämlich zur Verwal- am Datenhandel zu betätigen, oder?
als »Öl des 21. Jahrhunderts«, mit denen tung, erhoben. Man darf sie nicht einfach Hornung: Man kann natürlich sagen, da
sich prima Einnahmen erzielen ließen. kommerziellen Zwecken zuführen ohne die Kommunen Kosten haben, um an die-
Sehen Sie das auch so? entsprechendes Gesetz – jedenfalls nicht se Daten zu kommen, sollen sie auch aus
Hornung: Aus wirtschaftlicher Sicht ja. ohne Zustimmung der Bürger. deren Wert schöpfen können. Allerdings
Viele loggen sich zum Beispiel über Face- SPIEGEL: Und wenn, wie es heißt, nur erfüllen die Kommunen insoweit ja nur
book in weitere Anwendungen ein – nur anonymisierte Daten verkauft werden? ihre Aufgaben und bekommen dafür Steu-
kann die Facebook-Identität ja falsch sein. Hornung: Wenn diese Daten nur einen ereinnahmen. Viel vernünftiger finde ich
Wenn diese nun mit Melderegisterdaten groben Überblick geben, etwa über den deshalb, solche Daten nicht gewinnbrin-
abgeglichen werden könnte, wäre das Wasserverbrauch in einem Viertel, ist gend zu verkaufen, sondern diese dort,
für die Firma und ihre Werbekunden ein dagegen kaum etwas zu sagen. Aber wo es datenschutzrechtlich vertretbar
Informationsgewinn. Aber mit Blick auf schon bei Informationen über bestimmte erscheint, kostenlos bereitzustellen, um
den Datenschutz wäre das hochproble- Gewerbe oder über Bauvorhaben wird Innovationen zu fördern. HIP

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 21


Software
Teure Monokultur
 Bundesministerien und ihre nach-

RICHARD NICOLAS-NELSON
geordneten Behörden werden bis Ende
Mai kommenden Jahres mehr als eine
Viertelmilliarde Euro für Software-
Lizenzen des US-Herstellers Microsoft
Französischer Jet mit Atomrakete (Windows, Word, Excel) ausgeben, um
2015 geschlossene Verträge zu bedie-
nen. Jährlich fließen allein aus Bundes-
Rüstung Schwelle senken. Die Verlockung sei behörden Beträge zwischen 43,5 Mil-
Atomkrieg verhindern groß, bei einer Eskalation auf nukleare lionen Euro (2015) und knapp 74 Mil-
Marschflugkörper zurückzugreifen, lionen Euro (2017) an den US-Konzern.
 Der Nato steht eine Debatte über die weil man glaube, die Situation sei dann Das geht aus einer Antwort auf eine
Abschaffung atomarer Marschflugkörper beherrschbar, erklärt Gower. Anfrage des Linken-Politikers Victor
bevor. Ein Team von Nuklearwaffenex- Unter den Atommächten besitzen Perli an das für den Software-Einkauf
perten um Andrew Weber, unter Barack Frankreich, die USA und Russland diese zuständige Innenministerium hervor.
Obama ranghoher Mitarbeiter im US- Systeme. Auch Pakistan entwickelt eine Dabei fehlen noch Zahlen für das Ver-
Verteidigungsministerium, und den briti- solche Waffe; China und Indien könnten teidigungsressort und das Verkehrs-
schen Konter-Admiral a. D. John Gower folgen. Ein weltweites Verbot würde ministerium, die ihre Microsoft-Lizenz-
sondiert die Bereitschaft europäischer insbesondere die Lage in Europa stabili- gebühren nur teilweise beziffern konn-
Nato-Staaten, sich für ein weltweites Ver- sieren und zudem den nicht europäischen ten. Insgesamt erzielte der Konzern
bot einzusetzen. Marschflugkörper kön- Atomwaffenstaaten den Aufwand für im öffentlichen Sektor europaweit
nen mit konventionellen wie nuklearen Entwicklung und Produktion ersparen. Milliardenumsätze. »Die Abhängigkeit
Sprengköpfen bestückt werden und gel- Großbritannien hat sich schon explizit von einem einzigen Anbieter ist nicht
ten als destabilisierend. Droht ein Atom- gegen atomare Marschflugkörper ausge- nur teuer, sondern eine Gefahr für die
waffenstaat mit dem Einsatz dieser Waf- sprochen, die neutralen Staaten Schweiz IT-Sicherheit«, so Perli, der für die Lin-
fen, kann der Gegner nur spekulieren, und Schweden unterstützen den Vor-
welchen Sprengkopf diese tragen. Auch stoß. Mit der Bundesregierung haben
warnen die Experten, dass die Marsch- Gower und Weber jetzt Gespräche auf-
flugkörper im Kriegsfall die nukleare genommen. KLW

Verkehr

MATTHIAS BALK / DPA


wänden oder schallschluckenden Fens-
Langsamer und leiser tern zu schützen. Tempolimits erlauben
die gültigen Richtlinien in der Regel erst
 Die hessische Landesregierung will mit ab Lärmwerten über 70 Dezibel. »Das
preiswerten Mitteln für weniger Lärm- macht keinen Sinn«, so der hessische Ver-
belastung an Bundesstraßen und Auto- kehrsminister Tarek Al-Wazir (Grüne). Microsoft-Zentrale in München
bahnen sorgen: Künftig sollen auch Tem- Man könne doch »niemandem erklären,
pobeschränkungen möglich sein, wenn warum der Bund ab einem bestimmten ke im Haushaltsausschuss sitzt. Innen-
die Anlieger tagsüber starkem Verkehr Pegelwert eine teure und langwierige minister Horst Seehofer (CSU) müsse
mit Lärmwerten über 67 Dezibel ausge- Lärmsanierung« verordne, während bei der nächsten Vergabe einen offenen
setzt sind. Das fordert Hessen in einem schnell umsetzbare, kostengünstige Tem- Quellcode vorschreiben: »Dann haben
Antrag zur Verkehrsministerkonferenz polimits nicht zulässig seien. »Das sollte auch kleinere Unternehmen eine Chan-
nächste Woche. Bislang ist es bei dieser der Bund im Sinne der lärmgeplagten ce, die Steuerzahler sparen viele Mil-
Belastung nur möglich, die Anlieger mit Anwohnerinnen und Anwohner schleu- lionen, und unsere Daten sind besser
teuren Baumaßnahmen wie Lärmschutz- nigst ändern«, fordert Al-Wazir. MAB geschützt.« ROM, SRÖ

Grüne kritisieren beide, dass die Grünen »den


Ein bisschen Frieden ganz großen Wurf« noch nicht gefunden
haben. Die Friedensbewegten fordern ein
 Die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft »Reboot der Vereinten Nationen« und
Frieden und Internationales fordert ihre eine Stärkung der Staatenkonferenz
Parteichefs Annalena Baerbock und OSZE: »Diplomatie, Rüstungskontrolle
Robert Habeck auf, sich mehr um das und Vertrauensbildung sind Begriffe, die
FRANK RUMPENHORST / DPA

Thema Sicherheitspolitik zu kümmern. wir als Grüne endlich positiv mit Leben
»Friedens- und Sicherheitspolitik muss in füllen sollten.« Am Montag hatten die
der Breite der Partei wieder ein Thema beiden Parteichefs Baerbock und Habeck
werden«, sagt Sprecher Michael Bloss. In ihr Impulspapier zum neuen Grundsatz-
einem Papier, das er mit Co-Sprecherin programm vorgelegt; Sicherheitspolitik
Sara Nanni für die Debatte über das neue spielte darin nur eine untergeordnete
Grundsatzprogramm geschrieben hat, Ostermarsch in Frankfurt am Main Rolle. AKM

22 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


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Frühlingsfrische Silvaner Riesling-Königsklasse


Finessenreich und fein mineralisch: Entdecken Sie die fränkische
Vorzeige-Rebsorte – mit den Verkostungssiegern des neuen Jahrgangs!

Er darf als ur-europäisches Kulturgut gel- LQ&DVWHOOEHL:ãU]EXUJJHSpDQ]W)UDQNHQ


ten und ist doch alles andere als „von ges- ist nach wie vor die Silvaner-Hochburg
tern“: Silvaner. Bereits vor rund 360 Jahren hierzulande: Die Muschelkalk- und Keuper-
wurden die ersten heimischen Rebstöcke böden am Main liefern beste Vorausset-
zungen für erlesene Gewächse mit feiner
Mineralität.
Auch dank einer jungen Winzergenera-
tion, die der edlen Rebsorte größere Auf-
merksamkeit widmete und die Weine be-
sonders sortentypisch ausbaute, stiegen
Qualität und Nachfrage. Heute steht Sil-
vaner für gehobene Trinkkultur und cha-
raktervollen, animierenden Genuss: Besser
haben die Weine nie geschmeckt! Überzeu-
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Deutschland

Der Nebenkanzler
SPD Finanzminister Olaf Scholz will sich mit einem konservativen Sparkurs als Alternative zu
Angela Merkel aufbauen. Die Frage ist nur: Stehen die Sozialdemokraten hinter ihm?

D
ie Villa Borsig in Berlin ist ein gu- in vier Jahren nicht mehr antreten, so kal- lich alle anderen, vor allem als die eigenen
ter Ort, um die Hektik des politi- kuliert Scholz; und auch CSU-Chef See- Parteifreunde. Davon abgesehen präsen-
schen Alltags für ein paar Stun- hofer geht es nach seinem Machtverlust in tiert sich Scholz in so ziemlich allen Be-
den hinter sich zu lassen. Das ele- Bayern darum, sich einen würdigen Ab- langen als perfekter Anti-Gabriel.
gante Gästehaus des Auswärtigen Amts, gang aus der Politik zu verschaffen. Die Wo der einstige SPD-Chef seine Um-
rund eine halbe Stunde nordwestlich des Unionsspitze amtsmüde und zerstritten – gebung unablässig mit neuen Gedanken,
Regierungsviertels, liegt am Ufer des Te- das gibt Scholz die Möglichkeit, sich als Thesenpapieren und Mail-Botschaften
geler Sees. Niemand stört, die Luft ist gut, verlässliche Alternative zu präsentieren, überschwemmte, fragt Scholz lieber noch
die Öffentlichkeit hat keinen Zugang. als Politiker, der für solide Finanzen und dreimal nach, bevor er sich mit einem
Am Samstag vergangener Woche hatte gegen staatlichen Kontrollverlust steht. Als Vorstoß vorwagt. Gabriel polterte gern,
sich die SPD-Spitze in der Abgeschieden- Merkel ohne Flüchtlingskrise, sozusagen. vor allem intern, wenn Parteifreunde ihm
heit versammelt, um die Kabinettsklausur Die Frage ist nur: Verfängt die Strategie zu langsam dachten. Bei Scholz dagegen
in Meseberg vorzubereiten. Alle Minister auch bei jenen Wählern, die nach der lan- verraten allenfalls seine Mundwinkel, dass
und auch die designierte Parteichefin An- gen Regierungsbildung tief enttäuscht sind er einen Vortrag gerade als reichlich über-
drea Nahles waren geladen; doch die Rich- von der etablierten Politik? Und, zweitens, flüssig empfunden hat. So empfiehlt sich
tung gab Vizekanzler Olaf Scholz vor. kann Scholz bei seinem Angriff auf das Scholz in der SPD als kopfgesteuertes
Nach dem Regierungsdurcheinander der Kanzleramt auch auf die Unterstützung Gegenbild zur gescheiterten Ideenmaschi-
vergangenen Wochen, den wirren Debat- der Parteibasis rechnen, bei der er kaum ne Gabriel: verlässlich und verbindlich
ten um Islam und Hartz IV, müsse sich die beliebter ist als die ungeliebte Große Koa- statt sprunghaft und cholerisch.
SPD unbedingt als der seriösere Teil der lition? Bei den Wählern wiederum will Scholz
Regierung profilieren: Ruhig bleiben, Ner- Vor ein paar Wochen steht der neue als solider Kassenwart punkten. Er verfügt
ven bewahren, sachlich arbeiten, mahnte Vizekanzler vor dem Konrad-Adenauer- über das mächtigste Finanzministerium
Scholz und befand: »Lasst uns nicht über Haus in Berlin, es ist kurz nach acht an ei- seit der Wiedervereinigung, weil das Res-
jedes Stöckchen springen.« sort nun auch Vizekanzleramt ist. Und er
Stattdessen sorgte Scholz höchstpersön- hat genau studiert, wie Wolfgang Schäuble
lich dafür, auf dem Kabinettsgipfel dieser Bei den Wählern seinerzeit mit seinem Beharren auf der
Woche gute Laune zu verbreiten. Lange will Scholz mit dem schwarzen Null zeitweise zum populärsten
plauschte er mit CSU-Chef Horst Seehofer Politiker der früheren Regierung geworden
über vergangene Zeiten und die gemein- Beharren auf der war. Nun will sich Scholz als Erbe des
samen Schlachten im Bundesrat. Bis in den schwarzen Null punkten. Amtsvorgängers beweisen.
frühen Morgen saß er beim Rotwein mit Vor ein paar Tagen schickte er deshalb
Angela Merkel zusammen. Demonstrativ seinen obersten Haushälter Werner Gat-
duzte er sich mit seinem Kabinettskollegen nem Morgen Anfang Januar. Auf dem zer zu dessen Staatssekretärskollegen in
Peter Altmaier (CDU). »Teambuilding ge- mühsamen Weg zur Großen Koalition den Ressorts. Den erfahrenen Beamten,
lungen, der Rest kommt jetzt«, sagte er steht mal wieder eine Sondierungsrunde auf den schon sein Vorgänger Wolfgang
zum Abschluss des Treffens und stellte da- an, nach und nach trudeln die Unterhänd- Schäuble gesetzt hatte, holte Scholz von
mit klar: Er versteht es, noch nüchterner ler von Union und SPD ein. Auch Olaf einem kurzen Abstecher in die Wirtschaft
zu formulieren als die notorisch nüchterne Scholz. Bloß kommt der in anderem Auf- zurück. In der Kurzfassung lautete Gatzers
Kanzlerin. zug als gewohnt. Ansage ganz ähnlich wie früher: Trotz
Spätestens seit dem Meseberg-Treffen Statt in Anzug und Krawatte erscheint milliardenschwerer Überschüsse im
dieser Woche steht fest, dass sich Scholz der Sozialdemokrat in Sportklamotten: Bundeshaushalt ist kein Geld da. Eine Ein-
nicht mit dem Posten des Finanzministers schwarze Jogginghose, türkisfarbenes schätzung, die Scholz bei der Meseberg-
in der Großen Koalition zufrieden geben Oberteil, Laufschuhe. Der SPD-Vize hat Klausur fast wortgleich wiederholte.
will. Der Sozialdemokrat hat größere Zie- wohl das Bedürfnis, sich angesichts stun- Mehr als die 46 Milliarden Euro, die
le. In spätestens vier Jahren will er das denlanger Verhandlungen ein bisschen Be- Union und SPD in dieser Legislaturperio-
Kanzleramt erobern – und zwar mit jenem wegung zu verschaffen. Und er ist offenbar de für den Abbau des Solidaritätszuschlags,
politischen Kurs, den er schon als Ham- daran interessiert, dass die vor der CDU- die Erhöhung des Kindergelds oder die
burger Bürgermeister gepflegt hatte: durch Zentrale lungernden Medienvertreter das Förderung des sozialen Wohnungsbaus
die Mitte. mitbekommen. Seht her, ich bin fit, so lau- ausgeben wollen, sei nicht vorhanden,
So hatten es einst auch die Spitzenge- tet das erwünschte Signal – anders übri- mahnte Scholz, zumal zahlreiche Belas-
nossen Frank-Walter Steinmeier und Peer gens als manch anderer Sozialdemokrat. tungen noch nicht berücksichtigt seien. So
Steinbrück versucht – und waren kläglich Einen Sigmar Gabriel im Sportdress hat ist der Bund gezwungen, im nächsten Jahr
gescheitert. Scholz aber ist zuversichtlich, man in Berlin noch nicht erlebt. das steuerfreie Existenzminimum zu er-
dass es diesmal anders laufen könnte. Mit seinem Vorgänger als Vizekanzler höhen. Bis 2021, dem Ende der Legislatur-
Merkel hat in ihrer letzten Amtszeit vor verbindet Scholz zwar die Überzeugung, periode, werde das rund zehn Milliarden
allem die Außenpolitik im Kopf und wird ein besserer Politiker zu sein als so ziem- Euro an Steuerausfällen nach sich ziehen.

24 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Scholz vor Schloss Meseberg: »Lasst uns nicht über jedes Stöckchen springen«

25
Auch die Belastungen aus der laufenden
Tarifrunde für den öffentlichen Dienst
muss Scholz noch aufbringen. Jeder Pro-
zentpunkt, den Bundesbeamte und Solda-
ten künftig mehr verdienen, schlägt für die
Bundeskasse mit 300 Millionen Euro zu
Buche, kalkulieren Scholz’ Experten.
Im nächsten Jahr, so befürchtet er, laufe
der Bund sogar Gefahr, gegen die Vorga-
ben der Schuldenbremse zu verstoßen. Sie
erlaubt dem Finanzminister ein um kon-
junkturelle Mehreinnahmen bereinigtes
Minus von höchstens 11,4 Milliarden Euro.
Diese Größenordnung droht der Bundes-

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


haushalt 2019 fast vollständig auszuschöp-
fen. Die schwarze Null erreicht Scholz
nämlich im Wesentlichen nur deshalb, weil
die gute Konjunktur zusätzliche Steuer-
milliarden in die Kasse spült. Diese Ein-
nahmen müssen aber bei der Berechnung
der Neuverschuldung laut Schuldenbrem- Teilnehmer der Klausur: Wirre Debatten um Islam und Hartz IV
se herausgerechnet werden. Je besser die
Wirtschaft läuft, desto größer wird die Ge-
fahr, dass Scholz die Vorgaben verfehlt. zugleich beklagte er den Scholz-Kurs der beim Wähler zu erarbeiten, ist in der SPD
Die Folge ist paradox: Trotz sprudeln- schwarzen Null. Es dürfe nicht sein, warn- umstritten. Manche Sozialdemokraten fra-
der Steuereinnahmen könnte Olaf Scholz te er, dass deshalb wichtige öffentliche In- gen sich, wie das zum eigentlichen Vorha-
im kommenden Jahr gezwungen sein, im vestitionen unterblieben. ben passt, in der neuen Großen Koalition
Etat zu kürzen. Ein Vorgehen, das vielen Der mächtige Gewerkschaftsboss ist einen anderen Stil zu prägen und stärker
Kabinettskollegen genauso wenig ein- nicht der einzige Kritiker des Finanzminis- auf Abgrenzung zur Union zu setzen. Er
leuchten wird wie den eigenen Leuten. ters. Scholz’ Problem ist, dass er aus Sicht möchte sich nicht »an Gute-Laune-Pres-
Schon in der vergangenen Legislatur- vieler Sozialdemokraten für die alte Ge- sekonferenzen in Meseberg gewöhnen«,
periode empfanden viele Genossen Schäu- nossengarde steht, die mit ihrer Appara- schimpfte Juso-Chef Kevin Kühnert nach
bles Sparpolitik als Zumutung. Und nun tschik-Mentalität die Partei erst in die ver- der Kabinettsklausur.
soll sie unter einem SPD-Minister sogar fahrene Situation gelenkt hat, in der sie Erschwerend kommt hinzu, dass in der
noch verschärft werden? seit geraumer Zeit steckt. SPD das Langzeitgedächtnis in Sachen
Einer der gefährlichsten parteiinternen Das Regierungsgeschick des neuen Vi- Scholz seit Jahren erstaunlich gut funktio-
Kritiker meldete sich bereits in Meseberg zekanzlers wird geschätzt, aber ob sich niert. Seine Zeit als emotionsloser Gene-
zu Wort, der Genosse Reiner Hoffmann, mit dem Hamburger die SPD erneuern ralsekretär unter Gerhard Schröder hängt
Vorsitzender des DGB. Der Arbeitnehmer- lässt, wird in weiten Teilen der Partei be- ihm ebenso nach wie seine ewige Besser-
vertreter lobte in seinem Vortrag wortreich zweifelt. Auch sein Mantra, sich über So- wisserei in inhaltlichen Fragen, seine re-
viele Pläne der Großen Koalition, doch lidität und Verlässlichkeit neues Vertrauen gelmäßigen Liebäugeleien mit der Kanz-

Koalition Weil das Kabinett zerstritten ist, verlagert es wichtige Tisch zur Bekämpfung von Gewalt gegen-
Fragen in mehr als ein Dutzend Kommissionen. über Frauen und Kindern« ist geplant,
eine »Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur

»Schwarz-rote Räteregierung«
Einführung eines Kindergrundrechts« so-
wie eine Kommission »Gleichwertige Le-
bensverhältnisse«.
Um das Thema Digitalisierung küm-
mern sich zwar jetzt schon ein halbes Dut-
 Das Gedächtnis von Politikern kann ver- tes Kommissionsfieber: In den nächsten zend Ministerien, dazu Kanzleramtsminis-
dammt kurz sein, das zeigte gerade wieder Wochen und Monaten werden 15 Arbeits- ter Helge Braun und seit Neuestem auch
Peter Altmaier. Der Wirtschaftsminister gruppen, Konferenzen und Räte mit zu- Dorothee Bär, die den schönen Titel
machte am Dienstag auf dem Weg zur sammen etwa 300 Teilnehmern einberu- Staatsministerin trägt. Nun kommen noch
Kabinettsklausur nach Meseberg einen fen. Das geht aus einem internen Papier Kommissionen zur Daten-Ethik und zum
Zwischenstopp im Süden Berlins, um eine hervor, das in Meseberg diskutiert wurde. Wettbewerbsrecht im Digitalbereich dazu.
Rede auf einem Mobilitätskongress zu hal- Sie sollen Aktionsprogramme, Berichte Über eine »schwarz-rote Räteregierung«
ten. Die Zukunft des Elektroautos müsse und Gutachten für zahlreiche Regierungs- lästern inzwischen Mitglieder der Regie-
man jetzt »umsetzen und planen«, forder- projekte erarbeiten, von der Energiepoli- rung.
te er. Auf keinen Fall dürfe die Regierung tik bis zur Ärztevergütung, von der Rente Die Flut der Räte hängt vor allem damit
»für die nächsten Jahre Kommissionen ein- bis zum Luftverkehr. zusammen, dass sich SPD und Union in vie-
richten«, so der CDU-Mann. Ein »nationaler Bildungsrat« soll darü- len Punkten nicht einigen können. Deshalb
Nur ein paar Stunden später befiel ihn ber beraten, wie sich die Qualität der Aus- wimmelt der Koalitionsvertrag nur so von
und seine Kabinettskollegen ein regelrech- bildung vergleichen lässt. Ein »Runder Kommissionen. Weil nun auch in Meseberg

26 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Deutschland

lerkandidatur oder das G-20-Debakel, das die Erneuerung der Partei und die Wieder-
er im vergangenen Sommer in der Hanse- belebung der Fraktion. So will das Duo
stadt zu verantworten hatte. die SPD wieder auf Augenhöhe mit der
Wie sehr der Führungsanspruch des Fi- Union bringen, obwohl dabei bislang nur
nanzministers in den eigenen Reihen in wenige Fortschritte zu vermelden sind. In
Zweifel gezogen wird, zeigte sich in der fast allen Umfragen liegt die Scholz-Nah-
Hartz-IV-Debatte der vergangenen Wo- les-SPD wie festgefroren unter der 20 Pro-
chen. Nachdem Berlins Regierender Bür- zent-Marke.
germeister Michael Müller für seine Fun- Die Kanzlerin sieht die Ambitionen des
damentalkritik an den Reformen der neuen starken Sozialdemokraten in ihrem
Schröder-Ära (»keine gesellschaftliche Ak- Kabinett mit gemischten Gefühlen. Einer-
zeptanz«) viel Zuspruch aus der Partei be- seits ist sie froh, mit Scholz einen Koali-
kommen hatte, versuchte Scholz, die De- tionspartner zu haben, der ihr inhaltlich
batte mit einem Machtwort auszutreten. und im Politikstil sehr ähnlich ist. Ande-
Doch das brachte nur noch mehr Kriti- rerseits ist sie Machtpolitikerin genug, dem
ker auf den Plan. Erst verlangte der hessi- sozialdemokratischen Rivalen das Ge-
sche SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel, schäft zu erschweren, zum Beispiel mithil-
dass Hartz-IV-Bezieher künftig mehr Ver- fe der eigenen Minister.
mögen besitzen dürfen. Dann brachte So schrieb Wirtschaftsressortchef Peter
auch Arbeitsminister Hubertus Heil mit Altmaier kürzlich einen Brief an seinen
unklaren Interview-Äußerungen in der Duzfreund und Kabinettskollegen Scholz,
»Zeit« eine Anhebung der Hartz-Gelder in dem er mehr Steuergeld für die For-
ins Gespräch. »Ich schaue mir das an, was schungsförderung in Unternehmen ver-
wir bei den Grundsicherungssätzen tun langte – wohl wissend, dass der Mittel-
können«, sagte er. Es schien, als könne sich standsflügel der Sozialdemokraten das
Scholz nicht mal bei den eigenen Kabi- genauso sieht. Und auch Merkel selbst
nettskollegen durchsetzen. stellte klar, dass sie die Themen Haushalt
Noch kann der Finanzminister davon und Finanzen nicht allein dem Koalitions-
ausgehen, mit Andrea Nahles eine Partei- partner überlassen will.
vorsitzende zu bekommen, die ihm voll Nachdem Scholz in Meseberg seinen
vertraut, jedenfalls ist das der Eindruck, Vortrag zur öffentlichen Kassenlage be-
den beide gern vermitteln. Sie kennen sich endet hatte, meldete sich die Kanzlerin zu
seit langer Zeit, in den SPD-Führungsgre- Wort. Wenn es bei den Gesprächen über
mien traten sie in den vergangenen Jahren den Haushalt mal Schwierigkeiten gebe,
oft als Tandem auf. dann sollten die Kabinettsmitglieder das
Doch ob ihr Verhältnis wirklich so stabil doch bitte auch der Regierungszentrale
ist, wird sich spätestens dann erweisen, melden, regte Merkel an. Es sei wichtig,
wenn es um die Frage geht, wer die SPD dass man im Kanzleramt im Bilde sei.
in den nächsten Wahlkampf führen soll. Christoph Hickmann, Veit Medick,
Derzeit gilt die Aufgabenteilung: Er küm- Ralf Neukirch, Christian Reiermann,
mert sich um den Regierungsalltag, sie um Michael Sauga, Cornelia Schmergal

die Kraft für konkrete Beschlüsse fehlte, Fraglich ist allerdings, ob eine derart
wurde das Gremienwesen präzisiert und aufgeblähte Runde noch vernünftige Er-
erweitert. Beispiel Energie: Die Kommis- gebnisse liefern kann. Die Grünen-Par-
sion »Wachstum, Strukturwandel und Be- teichefin Annalena Baerbock sieht in
schäftigung« soll den Ausstieg aus der der Kommissionitis den Versuch, »erns-
Kohleverstromung organisieren und ten und verbindlichen Beschlüssen« aus
gleichzeitig darüber nachdenken, wie dem Weg zu gehen.
neue Jobs in Braunkohlerevieren wie der Das muss sich nun auch Altmaier an-
Lausitz geschaffen werden können. kreiden lassen. Während er noch Stun-
Nur stritten Altmaier und Bundesum- den vor Meseberg versprochen hatte,
weltministerin Svenja Schulze (SPD) die Debatte über die Zukunft der
darüber, wer in der Kommission das Sa- Elektromobilität nicht in eine Kommis-
gen hat. Den Streit der beiden Minister sion abzuschieben, tat er auf der Klau-
lösten die Großkoalitionäre auf ihre Art: sur genau das: Es wurde ein Rat für
Sie blähten die geplante Kohlekommis- »nachhaltige Mobilität« beschlossen.
sion einfach weiter auf, indem auch die Das Kabinett vereinbarte ihn münd-
beiden Ministerien Arbeit und Inneres lich, er tauchte zunächst nicht in der
mit in die Verantwortung geholt wur- internen Regierungsvorlage auf. Und so
den. Statt »Federführung« übernehmen mussten ihn die Ministerialen nach
jetzt alle vier Ressorts die »Steuerung« Rückkehr ihrer Chefs noch schnell mit
der Kommission, so lautet die Sprachre- auf die Liste setzen.
gelung von Meseberg. Michael Sauga, Gerald Traufetter

27
Deutschland

»Syrien ist nicht


Auschwitz«
SPIEGEL-Gespräch Außenminister Heiko Maas, 51, kritisiert Donald Trump, plädiert für eine
härtere Gangart gegenüber Russland und warnt vor einem Auseinanderbrechen der EU.

SPIEGEL: Herr Außenminister, Sie haben Maas: Ich finde es unangemessen, eine di- hindert wurden. Die Staatengemeinschaft
in Ihrer Antrittsrede gesagt, Sie seien rekte Linie von Auschwitz nach Syrien zu kann und darf nicht akzeptieren, dass das
wegen Auschwitz in die Politik gegangen. ziehen. Syrien ist nicht Auschwitz. Die Ver- wichtigste Gremium der Vereinten Natio-
Was meinen Sie damit? brechen der Nazis entziehen sich in ihrer nen handlungsunfähig gemacht wird.
Maas: Ich habe nach Erklärungen gesucht, Grausamkeit jedem Vergleich. SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass der
wie es dazu kommen konnte, dass die Na- SPIEGEL: Warum war es für das ehemalige Krieg in Syrien zu einem weltweiten mili-
zis Deutschland und die ganze Welt in eine Jugoslawien richtig, den Vergleich zu tärischen Konflikt eskaliert?
solche Katastrophe stürzen konnten. Vie- Auschwitz zu ziehen, für Syrien aber nicht? Maas: Trotz aller gegenwärtigen Verbal-
les, was damals geschehen ist, war so grau- Maas: Auschwitz ist mit nichts zu verglei- attacken – so weit wird es nicht kommen.
enhaft, dass ich es einfach nicht verstehen chen. Es ging Joschka Fischer damals le- Es muss nach wie vor das oberste Ziel sein,
konnte. Daraus entstand das tiefe Bedürf- diglich darum, seine Motivation zu begrün- eine politische Lösung des Konflikts zu fin-
nis, selbst einen Beitrag zu leisten, damit den, als allerletzte Reaktion auf einen Völ- den. Dazu befinden wir uns mit unseren
so etwas nie wieder geschieht. Ich habe kermord militärisch zu reagieren. Partnern in sehr enger Abstimmung. Ein
mich dann dafür entschieden, politische SPIEGEL: Hätten Hunderttausende Tote militärischer Beitrag in Syrien stand dabei
Verantwortung zu übernehmen. in Syrien nicht auch Motivation für ein übrigens nicht zur Debatte.
SPIEGEL: Was heißt das für die deutsche Eingreifen sein müssen? SPIEGEL: Warum nicht?
Außenpolitik? Maas: Was wir seit sieben Jahren in Syrien Maas: Das ist in diesem Konflikt nicht die
Maas: Außenpolitik orientiert sich an Wer- erleben, ist entsetzlich. Es sind wiederholt Rolle, die wir in Abstimmung mit unseren
ten und Interessen. Beides lässt sich nicht Partnern einnehmen wollen.
immer leicht in Einklang bringen. Aber SPIEGEL: Wie passt das zu Ihrer Ankündi-
Deutschland hat sich nach dem Zweiten gung, dass Deutschland mehr Verantwor-
Weltkrieg als eine Friedensmacht verstan- »Zum Glück besteht tung übernehmen muss?
den. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass das transatlantische Maas: Eine größere Rolle zu übernehmen
es langfristige Linien in der internationalen Ver hältnis aus mehr als muss nicht bedeuten, dass man sich an
Politik gibt, um den Frieden zu sichern. einem Militärschlag beteiligt. Bei meinem
Diese möchte ich fortführen. 280 Twitter-Zeichen.« Besuch in New York habe ich darauf hin-
SPIEGEL: Joschka Fischer hat 1999 die Be- gewiesen, dass wir in den Vereinten Natio-
teiligung Deutschlands an den Luftschlä- nen mittlerweile der zweitgrößte Financier
gen im Kosovo mit den Worten begründet: Chemiewaffen eingesetzt worden und ha- sind. Wir beteiligen uns an einer Vielzahl
»Nie wieder Auschwitz«. ben unermessliches Leid für unschuldige von Peacekeeping-Missionen. Wir setzen
Maas: Ja, ich hab das damals sehr gut Menschen angerichtet. Unerträglich ist unseren Schwerpunkt auf humanitäre und
nachvollziehen können. auch, dass die Politik bisher nicht in der zivile Aufgaben, aber wir drücken uns auch
SPIEGEL: Würden Sie sich den Satz auch Lage gewesen ist, eine politische Lösung nicht vor militärischer Verantwortung. Al-
heute in Ihrer Rolle als Außenminister zu für diesen Konflikt zu finden. Nur so kann lein in dieser Woche hat das Kabinett wie-
eigen machen? es dauerhaften Frieden geben. Der Einsatz der zwei Bundeswehrmandate verlängert.
Maas: Es kommt darauf an, worauf Sie von Chemiewaffen in Syrien muss ein SPIEGEL: Das klingt nach der alten Ar-
das genau beziehen. Ende haben und kann nicht ohne Konse- beitsteilung: Deutschland zahlt und küm-
SPIEGEL: Soll die Friedensmacht Deutsch- quenzen bleiben. Es geht um eine der grau- mert sich um das Humanitäre. Aber wenn
land militärische Mittel einsetzen, um samsten Massenvernichtungswaffen. Sie es ernst oder moralisch schwierig wird,
einen Massenmord zu verhindern? ist seit Jahrzehnten international geächtet. müssen die Amerikaner und die anderen
Maas: Ich bin kein Pazifist. Ich habe aus Ich habe frühzeitig die französische Initia- Verbündeten ran.
der besonderen deutschen Geschichte die tive unterstützt, dort, wo Chemiewaffen Maas: Nein. Ich kann den Vorwurf, wir
Schlussfolgerung gezogen, dass wir immer genutzt worden sind, auch die Verantwort- würden schwierige Aufgaben nicht über-
alles tun müssen, um bewaffnete Konflikte lichen zur Rechenschaft zu ziehen. nehmen, nicht nachvollziehen. Auch wir
zu vermeiden – es aber leider Momente SPIEGEL: Wer ist eigentlich gefährlicher wissen leider nur zu gut, wie es sich an-
geben kann, in denen als Ultima Ratio mi- für den Weltfrieden, Trump oder Putin? fühlt, wenn deutsche Soldaten im Ausland
litärische Mittel eingesetzt werden müssen. Maas: Verbale Eskalationen sind nie hilf- getötet werden.
SPIEGEL: In Syrien steht der Westen seit reich. Genauso klar ist: Wir haben bei SPIEGEL: Frau Merkel hat im vergangenen
Jahren vor der Frage, ob der Einsatz mili- zahlreichen Abstimmungen erlebt, dass Jahr gesagt, dass man sich auf die USA
tärischer Mittel gerechtfertigt ist. Was ist Resolutionen des Sicherheitsrates zum Sy- »ein Stück weit nicht mehr verlassen
Ihre Haltung? rienkonflikt durch ein russisches Veto ver- kann«. Stimmen Sie dem zu?

28 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL

Chefdiplomat Maas: »Russland agiert leider zunehmend feindselig«

29
Maas: Die USA werden unter Präsident Aber: Russland braucht eben auch uns,
Trump nicht mehr dieselbe Rolle überneh- politisch und nicht zuletzt wirtschaftlich.
men wie in der Vergangenheit. Das ist eine SPIEGEL: Können Sie sich neue Sanktio-
Realität, mit der wir uns auseinanderset- nen vorstellen, wenn Russland weiter es-

STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL


zen müssen. Wer Politik unter dem Motto kaliert?
»America first» betreibt, für den stehen Maas: Wir haben keinerlei Interesse an
internationale Verpflichtungen nun mal einer weiteren Eskalation. Im Übrigen:
nicht an erster Stelle. Wir müssen uns ge- Sanktionen sind kein Selbstzweck oder
meinsam mit anderen Gedanken machen, Drohung, sondern ein politisches Instru-
wie der Rückzug der USA kompensiert ment, das Europa auch gegen Russland
werden kann und wir Aufgaben neu ver- einsetzt, um konkrete Ziele zu erreichen
teilen. Die größte Herausforderung für die Maas, SPIEGEL-Redakteure* – in diesem Fall die Umsetzung der Mins-
deutsche Außenpolitik ist es, die multila- »Ich bin kein Pazifist« ker Vereinbarungen.
terale Weltordnung zu erhalten: die Ver- SPIEGEL: Manche befürworten einen Boy-
einten Nationen, die EU und die Nato. wir uns etwa an der Ausweisung von Di- kott der Fußballweltmeisterschaft in Russ-
SPIEGEL: Die USA sind noch in einem wei- plomaten nach dem Anschlag auf Skripal land, um Moskau zu strafen.
teren Sinn nicht mehr verlässlich: Trump nicht beteiligt hätten, wäre das ein Signal Maas: Grundsätzlich sollten wir immer
ist unberechenbar. der Spaltung des Westens in dieser Frage versuchen, die Dinge politisch voranzu-
Maas: Für mich ist Verlässlichkeit eine der gewesen. Russland konstruktiv einzubin- bringen, bevor wir den Sport instrumen-
wichtigsten politischen Eigenschaften, be- den bleibt eine große Aufgabe der interna- talisieren.
sonders in der Außenpolitik. Darauf blei- tionalen Politik in den kommenden Jahren. SPIEGEL: Werden Sie zur WM fahren?
ben wir – trotz allem – auch im transatlan- SPIEGEL: Ist Russland für Sie Partner oder Maas: Zurzeit planen wir eine solche Rei-
tischen Verhältnis angewiesen. Da wird es eine Bedrohung? se nicht.
nicht leichter, wenn man jeden Tag mit Maas: Russland ist ein sehr schwieriger SPIEGEL: Sie waren schon in Polen, in
überraschenden Tweets konfrontiert wird. Partner geworden. Erstmals seit Ende des Frankreich, Israel, Italien, Irland, Großbri-
SPIEGEL: Sehen Sie die USA noch als ein Zweiten Weltkriegs wurden mitten in Eu- tannien und Jordanien. Wann machen Sie
Land, das westliche Werte vertritt? ropa geächtete chemische Waffen einge- Ihren Antrittsbesuch in Moskau?
Maas: Ja. Zum Glück besteht das transat- setzt, Cyberangriffe scheinen zu einem Maas: Sobald die neue russische Regie-
lantische Verhältnis aus weit mehr als Bestandteil russischer Außenpolitik zu rung gebildet ist. Zunächst planen wir eine
280 Twitter-Zeichen. Und für uns bleibt völ- werden, in einem so schwerwiegenden Reise nach Kiew. Und zusammen mit mei-
lig klar: Wir brauchen die USA. Die großen Konflikt wie in Syrien blockiert Russland nem französischen Amtskollegen Le Drian
internationalen Herausforderungen werden den Uno-Sicherheitsrat – das alles trägt will ich das Normandie-Format, bestehend
wir nur gemeinsam bewältigen. Mit keinem nicht zur Vertrauensbildung bei. aus Deutschland, Frankreich, Russland
Land außerhalb Europas gibt es so enge SPIEGEL: Glauben Sie, dass man Russland und der Ukraine, auf Ministerebene so
menschliche Beziehungen, dieses Band wol- mit einer härteren Tonlage zum Einlenken schnell wie möglich wiederbeleben.
len wir weiter erhalten und pflegen. bewegt? SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, Russ-
SPIEGEL: Sie haben gegenüber Russland Maas: Ich glaube zumindest nicht, dass land wieder in die G7 aufzunehmen, wie
einen auffallend kritischeren Ton angeschla- irgendetwas besser wird, wenn wir den es Steinmeier vorgeschlagen hat?
gen als Ihre beiden Vorgänger Frank-Walter Maas: Das ist im Moment nicht sehr realis-
Steinmeier und Sigmar Gabriel. Warum? tisch. Wir müssen von Russland verlangen,
Maas: Wir müssen uns in der Russland- dass es wieder konstruktive Beiträge in der
politik an den Realitäten orientieren. Russ- »Wir dürfen nicht den internationalen Politik liefert. Als Justizmi-
land hat sich selbst immer mehr in Abgren- Eindruck erwecken, nister war mein Kompass das Grundgesetz,
zung und teilweise Gegnerschaft zum dass es ein Europa der in der internationalen Politik werde ich mich
Westen definiert. Russland agiert leider bei allen Schwierigkeiten für die sogenannte
zunehmend feindselig: der Giftgasan- zwei Klassen gibt.« regelbasierte Ordnung einsetzen.
schlag in Salisbury, die Rolle in Syrien und SPIEGEL: Sehen Sie eine Mitverantwor-
der Ostukraine, Hackerangriffe, auch auf tung des Westens dafür, dass das Verhält-
das Auswärtige Amt. Dennoch: Ich habe Eindruck erwecken, dass wir die schwieri- nis zu Russland so zerrüttet ist? Es gab ja
bei allem, was wir in den letzten Wochen gen Entwicklungen einfach stillschweigend nach dem Ende der Sowjetunion sehr viel
getan haben, auch immer darauf hingewie- akzeptieren. Je komplizierter das Verhält- Willen zur Annäherung, Präsident Boris
sen, dass wir mit Russland im Dialog blei- nis, eine desto klarere Sprache brauchen Jelzin wollte, dass Russland sich nach west-
ben müssen. Wir brauchen Russland, nicht wir. Wir brauchen feste Positionen, die wir lichem Vorbild verändert.
nur wenn wir den Syrienkonflikt lösen wol- mit eindeutigen Angeboten verbinden. Maas: Es gab viele, die nie daran geglaubt
len. Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, SPIEGEL: Ihre beiden Vorgänger hatten an- haben, dass ein Land wie Russland sich zu
dass die meisten unserer Partner mittler- geregt, Sanktionen gegen Russland schritt- einer Demokratie nach westlichem Vor-
weile einen sehr kritischen Blick auf Russ- weise abzubauen, wenn Moskau einen Teil bild entwickelt – das sei mit seiner Kultur
land haben und zum Teil die Möglichkeit der Minsker Verpflichtungen zur Ostukrai- und Tradition nicht vereinbar.
eines Dialogs bezweifeln. In der Vergan- ne erfüllt. SPIEGEL: Sie meinen, Russland sei nicht
genheit waren sie zum Teil bereit, sich von Maas: Es gibt klare Vereinbarungen, die fähig zur Demokratie?
Deutschland mitnehmen zu lassen, heute vorsehen, dass Sanktionen erst abgebaut Maas: Zumindest im Nachhinein scheint
fragen sie: Was hat das gebracht? werden, wenn Russland seine Verpflich- nicht so ganz sicher, inwiefern Wladimir
SPIEGEL: Sie kritisieren Russland, um bei tungen erfüllt. Pacta sunt servanda, daran Putin Russland in diese Richtung entwi-
den westlichen Partnern glaubwürdig zu sollten wir uns halten. Als größten Nach- ckeln wollte.
bleiben? barn Europas brauchen wir Russland. SPIEGEL: Wladimir Putin hat 2001 im
Maas: Wir kritisieren Russland in der Sa- Bundestag gesagt, Russland solle eine mo-
che. Und zur Realität gehört auch: Wenn * Christiane Hoffmann und Christoph Schult in Berlin. derne Marktwirtschaft und Demokratie

30 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Deutschland

werden und suche dafür die Partnerschaft len. Sonst helfen wir antieuropäischen müssen ihnen deutlich machen: Wir wol-
des Westens. Stimmungen in diesen Ländern und ma- len euch, wir brauchen euch. Vieles von
Maas: Es wäre schön, wenn es dabei ge- chen sie auch für Spaltungsversuche von dem, was zwischen uns und den Osteuro-
blieben wäre. Und: Der Westen mag nicht außen immer empfänglicher. päern schiefläuft, spielt sich auf der emo-
immer alles richtig gemacht haben, aber SPIEGEL: Sie wollen die Osteuropäer in tionalen Ebene ab.
am Ende entscheidet Russland natürlich der EU halten, auch wenn sie sich von eu- SPIEGEL: Welchen Stil werden Sie als
ganz allein über seinen Weg. ropäischen Prinzipien distanzieren? Viktor oberster Diplomat Deutschlands pflegen?
SPIEGEL: Die SPD hat eine lange Tradition Orbán will für Ungarn eine »illiberale De- Ihr Vorgänger Sigmar Gabriel ist dafür kri-
des Dialogs mit Russland. Was ist für Sie mokratie« ... tisiert worden, dass er dem türkischen
die Lehre der Ostpolitik Willy Brandts? Maas: Ich habe etwa bei meinem Antritts- Außenminister Tee serviert hat, um den
Maas: Zur Ostpolitik gehört für mich nicht besuch in Warschau offen gesagt: Ich will Journalisten Deniz Yücel aus dem Gefäng-
nur Russland, dazu gehören auch die ost- keine Diskussionen darüber führen müssen, nis freizubekommen. Zu Recht?
europäischen Staaten. Um die müssen wir dass wir Zahlungen aus dem EU-Haushalt Maas: Nein. Das Wesen der Diplomatie
uns mehr kümmern, als das manchmal in in Zukunft auch von Fragen der Rechtsstaat- beschränkt sich doch nicht darauf, sich mit
der Vergangenheit der Fall war. lichkeit abhängig machen. Das Wertefun- den Macrons und Trudeaus dieser Welt
SPIEGEL: Länder wie Polen und Ungarn dament der EU ist nicht verhandelbar. ablichten zu lassen. Es besteht darin, ganz
haben sich von einem Teil der europäi- SPIEGEL: Ist das eine Drohung? besonders auch mit schwierigen Partnern
schen Werte verabschiedet. Was wollen Maas: Nein. Wir müssen deutlich machen, im Gespräch zu bleiben. Ein deutscher
Sie dagegen tun? dass Dinge, die europäischen Werten fun- Außenminister wird sich gerade immer mit
Maas: Die Osterweiterung der Europäi- damental entgegenlaufen, nicht gehen. den Staaten und Politikern auseinander-
schen Union ist zunächst einmal eine Er- Wir brauchen eine klare Linie. setzen müssen, mit denen wir politisch
folgsgeschichte. Wir haben jetzt in Ungarn SPIEGEL: Polen und Ungarn haben auch nicht übereinstimmen.
gesehen, dass man leider mit einem stark eine klare Linie. Ungarn hat bereits ange- SPIEGEL: Herr Außenminister, wir danken
antieuropäischen Wahlkampf mobilisieren kündigt, eine Bestrafung Polens auf jeden Ihnen für dieses Gespräch.
kann. In einer für die Zukunft Europas ent- Fall zu verhindern.
scheidenden Phase wird es darauf ankom- Maas: Das schließt doch nicht aus, dass
men, unsere osteuropäischen Nachbarn in wir in einem engen Kontakt sein müssen. Video
Die Karriere von Heiko
der EU zu halten. Wir dürfen nicht den Nur wenn die Osteuropäer den Eindruck Maas im Zeitraffer
Eindruck erwecken, dass es ein Europa haben, dass wir sie weiter in der EU halten spiegel.de/sp162018maas
der zwei Klassen gibt, in dem einige abge- wollen, werden wir mit ihnen ernsthaft oder in der App DER SPIEGEL
hängt werden und keine Rolle mehr spie- über Veränderungen reden können. Wir

Ein Zuhause für Jamil ANZEIGE

Die Not der Kinder in Syrien bei den Kindern blieben. Die jungen Männer
und Frauen, die ihn ermutigten, sich den an-
findet kein Ende. Eine Million
deren Kindern anzuschließen und mit ihnen
sind verwaist und traumatisiert. zu spielen. Ein Team aus Psychologen und
Das SOS-Kinderdorf Saboura Ärzten war da, um über alles zu sprechen.
bietet Geborgenheit. Seit November 2017 lebt Jamil in dem neu
eröffneten SOS-Kinderdorf Saboura, einer

J
amil* war fünf Jahre alt, als die Kämp- umgebauten Ferienanlage. Obwohl er schon FÜRSORGE SOS-
fe in seiner Nachbarschaft in Damaskus im Übergangsheim darauf vorbereitet wurde, Kinderdorfmütter
immer brutaler wurden. Heute weiß dass er in Saboura wieder Teil einer Familie helfen Kriegswaisen,
wieder Vertrauen
niemand, wer in die Wohnung eingedrungen sein würde, war sein Einzug ein großer Mo- zu fassen
ist und seinen Vater im Schlaf erschossen hat. ment für ihn. Als seine SOS-Kinderdorfmut-
* Name von der Redaktion geändert. Fotos: SOS-Kinderdorf International

Die Mutter erlitt einen Schock, verschwand ter mit seinen sieben SOS-Geschwistern am
und ließ ihr einziges Kind zurück. Der Junge Tor stand und auf ihn wartete, brauchte er
muss eine Zeit lang allein durch die Stadt ein wenig, um seine Schüchternheit abzule- HELFEN SIE
geirrt sein, bis ihn jemand in der Nähe der gen. „Da wusste ich ja noch nicht, wie lieb UNS HELFEN!
Umayyaden-Moschee in Damaskus aufgriff. alle zu mir sein werden“, erinnert sich der
IHRE SPENDE WIRKT
Junge. Zudem haben ihn der große Garten In Syrien bietet SOS-Kinderdorf Hunderten Kin-
Mehr als ein Dach über dem Kopf und die Spielmöglichkeiten überwältigt. dern ein Zuhause und verteilt Hilfsgüter in den
Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf Syrien Jamil geht es gut in seiner neuen SOS-Fami- international zugänglichen Kriegsgebieten.
brachten Jamil in Sicherheit. In einem lie. Nur manchmal überkommt ihn bei dem Spendenkonto SOS-Kinderdorf e.V.
SOS-Übergangsheim bekam er ein Bett und Gedanken an seine Mutter Traurigkeit. Ob IBAN: DE02 7002 0500 0007 8080 05
regelmäßige Mahlzeiten. Das Wichtigste aber sie noch lebt? Diese Frage kann ihm niemand Verwendungszweck „Nothilfe“
waren die Menschen, zu denen er nach und beantworten. Aber solange er Schutz und Nähere Informationen erhalten Sie unter
nach Vertrauen fasste. Die Betreuerinnen, die Hilfe benötigt, ist der Junge an einem gebor- www.sos-kinderdorf.de
jeden Tag kamen und im Wechsel auch nachts genen Platz.
Deutschland

glieder ihr Okay für den Eintritt in die

Von unten nach oben Koalition gaben und der Parteiführung, so


hoffte sie, endlich ein bisschen Ruhe.
Und nun Simone Lange. Keiner erwar-
tet, dass sie Parteivorsitzende wird, aber
Sozialdemokratie Simone Lange gegen Andrea Nahles: Auf ihrer Werbe- sie könnte das Wahlergebnis von Andrea
tour an der Basis macht die Flensburgerin Stimmung gegen Nahles so drücken, dass die Fraktionsvor-
die Parteispitze – und schon steigt wieder die Fieberkurve in der SPD. sitzende reichlich angeschlagen als erste
Frau an die Spitze der SPD aufrücken wür-
de. Bis zu 30 Prozent trauen ihr Genossen

J uliane Frey, 44, hat die Flensburger


Oberbürgermeisterin, die SPD-Chefin
werden will, noch nie getroffen, aber
sie findet sie super. »Simone Lange hat
»ich weiß, wie Benachteiligung aussieht.«
Für ihren Wahlkampf gebe es so gut wie
kein Budget, klagt sie und stellt ihr Team
vor: Nicolas, früher Postbote, ihr Presse-
an der Basis zu, im Parteivorstand wächst
die Nervosität. Ein Ergebnis unter 70 Pro-
zent für Nahles, sagt ein Spitzengenosse,
wäre »eine schwere Hypothek«.
Rückgrat und gibt nicht auf«, sagt Frey. Sie mann, Imke, eine Friseurmeisterin, ihre Ein gutes Dutzend Ortsvereine hat Lan-
sammelte Material über Lange und über- Managerin, Friedhart, ein ehemaliger ge bisher besucht, sie war in Heidelberg
zeugte damit ihren SPD-Ortsvereinsvor- Koch, ihr Fahrer. Seht her, will sie sagen, und Schwäbisch Hall, in Köthen und Neu-
stand im hessischen Niederdorfelden, alles einfache Leute, Arbeiter. brandenburg. Sie habe bewusst Orte aus-
nicht weit von Frankfurt am Main. Der Das ist ihre Erzählung: Sie ist die Frau, gewählt, sagt sie, in die schon länger kein
unterstützt nun die Kandidatur von Simo- die das wahre Leben kennt, der mutige Bundespolitiker mehr gekommen sei.
ne Lange. »Der Politikstil der Parteispitze Underdog, der die Parteispitze herausfor- Gern platziert sie kleine Spitzen gegen
in den vergangenen Wochen hat viel Ver- dert. An der Basis funktioniert das gut. die SPD-Führung. Sie traue sich zu, sagt
trauen bei den Mitgliedern an der Basis »Meine Stimme hat sie«, sagt eine Dele- sie in Hannover, »auch Olaf Scholz zum
zerstört«, sagt der Ortsvereinsvorsitzende gierte beim Rausgehen. Lachen zu bringen«. In Friedland sagt sie
Dirk Bischoff. Noch sind die Sozialdemokraten dabei, über Nahles: »Meine Oma hat immer ge-
Lange tourt gerade durch Deutschland, sich nach ihrer schweren Krise wieder zu sagt, wer schreit, hat unrecht.« Und auf
sie sammelt solchen Frust auf und die berappeln, »ein Scheißjahr« hat es Martin Facebook postet sie, sie wünsche sich eine
Sehnsucht der Basis, mehr gehört zu wer- Schulz genannt: der Irrtum seiner Kandi- Partei, »die auch den Mut hat, die Ideen
den. Sie bekommt Sympathie, Zustim- datur, das schlimme Wahlergebnis, die von Hubertus Heil zu hinterfragen«.
mung, auch Respekt dafür, dass sie das tat- Selbstzerfleischung zwischen Regierung Der Ortsverein Friedland, 140 Mitglie-
sächlich durchzieht, gegen die Favoritin oder Opposition, die fulminante No-Gro- der, hat Lange eingeladen, er unterstützt
Andrea Nahles und Vorstand sowie Präsi- Ko-Tour des Jusos Kevin Kühnert. Gerade ihre Kandidatur. »Es geht um das Signal:
dium der SPD, die Nahles einstimmig no- sechs Wochen ist es her, dass die SPD-Mit- Bindet die Mitglieder mehr ein«, sagt der
miniert haben. Außer der Kampf- stellvertretende Vorsitzende Immo
kandidatur Oskar Lafontaines ge- Rühling, 61, ein Sozialrichter, »wir
gen Rudolf Scharping 1995 in wollen keine Beschlüsse von oben
Mannheim gab es so etwas in der per Akklamation umsetzen.« Lan-
SPD noch nie. ge sei handfest, stehe mitten im Le-
Samstag in Köln, der erste war- ben, Nahles sei Berufspolitikerin.
me Frühlingsabend, trotzdem drän- Sein Ortsverein wünsche sich eine
gen sich knapp hundert Menschen Vorsitzende, die nicht an die Frak-
in einem stickigen Saal im Stadtteil tionsdisziplin gebunden ist.
Ehrenfeld, um Lange zu sehen. Bala Ramani, 41, Chef des SPD-
Kein Stuhl ist frei, vorn sitzen be- Ortsvereins Hannover-Mitte, sagt:
tagte Sozialdemokraten mit weißen »Wir brauchen eine Debatte um die
Haaren, hinten Studenten mit Bü- besten Ideen, nicht nur ein Ja oder
gelflaschenbier. Der Moderator des Nein für einen Kandidaten, sonst
SPD-Ortsvereins legt knallig los: bleiben wir eine alte Partei.« Die
»Liebe Simone, du kandidierst ge- vielen neuen SPD-Mitglieder hät-
gen Andrea Nahles, bist du wahn- ten große Erwartungen, die dürfe
sinnig geworden?« Lange, 41, trägt man nicht enttäuschen.
Jeansjacke und weiße Chucks, sie Mehr als 80 Ortsvereine hätten
sagt: »Was ich tue, ist nicht wahn- sich inzwischen für sie ausgespro-
sinnig, das ist demokratisch.« Und chen, sagt Lange. Die SPD hat 7741
schon hat sie ihren ersten Applaus. Ortsvereine, das wären gut ein Pro-
Anderthalb Stunden lang bleibt zent für Lange. Ohnehin entschei-
Lange stehen, sie ballt die Hände det kein Mitgliedervotum über das
zu Fäusten. »Andrea Nahles sollte höchste Amt in der SPD, sondern
als Parteichefin eingesetzt werden«, 600 Delegierte am 22. April auf
OLIVER KILLIG / DER SPIEGEL

sagt Lange, »ein-ge-setzt«, sie be- dem Parteitag in Wiesbaden.


tont jede Silbe, »wir brauchen eine Wie viele von ihnen stehen für
Kultur in der SPD, in der Mitkandi- die Basis, für Unzufriedenheit, den
daten selbstverständlich werden.« Wunsch nach stärkerer Beteiligung
Lange redet über ihre Kindheit und transparenter Führung? Das ist
in der DDR und über ihre Jahre als die große Unbekannte. Viele Dele-
Polizeikommissarin in Flensburg. Kandidatin Lange in Bautzen gierte sind auch Amts- und Man-
»Ich habe viel gesehen«, sagt sie, »Ich wurde am Anfang nicht für voll genommen« datsträger, die eher die Parteihie-

32
rarchie stützen, aus Hamburg kommen sie hat ihre beiden Töchter dabei, 9 und auf diesem Posten schließlich »mit der
prominente Genossen: der neue Bürger- 11 Jahre alt, sie haben noch Osterferien. Union um Platz eins kämpfen«.
meister Peter Tschentscher, Finanzsenator Es ist die 16. Veranstaltung seit ihrem Wer weiß, vielleicht beerbt Lange erst
Andreas Dressel, Schulsenator Ties Rabe, Start Mitte März, und sie sagt, es mache einmal ihn? Thomas Rother, 58, SPD-
die neue SPD-Vorsitzende Melanie Leon- »große Freude zu sehen, dass die Partei Landtagsabgeordneter in Kiel, ist nicht der
hard. Sie wird für Nahles stimmen: »Wer lebt«. Man könne Nahles nicht per Akkla- Einzige, der Lange für eine denkbare Steg-
hat die Kraft, die Authentizität und die mation bestimmen, »von oben nach un- ner-Nachfolgerin hält. »Sie könnte die Lan-
Härte für dieses Amt? Andrea Nahles. Es ten«, sagt Lange: »Es wird Zeit, dass es despartei zweifelsfrei führen.«
geht um Führungskraft – und die sehe ich von unten nach oben geht.« Applaus, auch Fragt man Lange, welche Unterstützung
bei ihr.« An Langes Gegenkandidatur als die Kandidatin das Godesberger Pro- sie aus der Parteizentrale bekommt, presst
störe sie, sagt Leonhard, dass diese einen gramm infrage stellt, mit dem sich die SPD sie die Lippen aufeinander, dann sagt sie:
Graben aufmache: Die da oben und wir zur Volkspartei wandelte. »Ich wurde am Anfang nicht für voll ge-
da unten. »Das hilft uns bei der Erneue- Lange steht für einen klaren Linkskurs, nommen. Wir haben es uns erarbeitet, dass
rung der Partei nicht weiter.« der Schwerpunkt der SPD-Politik müsse man im Willy-Brandt-Haus jetzt wenigs-
Doch viele Genossen haben nicht ver- wieder bei den sozial Benachteiligten lie- tens mit mir kommuniziert.« Sie verstehe
gessen, dass es der angeschlagene Partei- gen. Sie will über »demokratischen So- ja, »eine solche Kandidatur hat es noch nie
chef Schulz war, der Nahles den Parteivor- zialismus« reden, das Verhältnis der SPD gegeben. Aber der Bundesvorstand hat
sitz antrug, um sich selbst das Auswärtige zur Linkspartei klären. Dafür bekommt jetzt die Aufgabe, einen Prozess mit zwei
Amt zu sichern. Der Vorstand, der alles sie Applaus, auch wenn sie die Agenda Kandidaten zu moderieren. Das macht er

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abgesegnet hatte und Nahles auf umstrit- 2010 kritisiert. Sie fordert ein neues nicht«. Wichtige Informationen würden ihr
tene Weise sogar zur kommissarischen Par- Grundsatzprogramm, ausgearbeitet von vorenthalten, etwa, dass es in Wiesbaden
teichefin machen wollte, blieb schwer be- der Basis. Delegiertenvorbesprechungen mit Nahles
schädigt zurück. Die Stimmen für Lange Erstmals will nun ein prominenter SPD- gebe. Die Treffen seien Sache der Landes-
in Wiesbaden dürften zeigen, wie viel Wut Kreisverband Lange unterstützen: Span- verbände, sagt eine SPD-Sprecherin, die
und Frust in der SPD noch gärt. dau, die Heimat des SPD-Fraktionsvorsit- Kandidatinnen könnten sich auf dem Par-
»Diese ganzen Personalmanöver waren zenden im Berliner Abgeordnetenhaus, teitag »gleichberechtigt« vorstellen, beide
mehr als unglücklich«, sagt Mathias Eilers, Raed Saleh. Der will sich nicht öffentlich bekämen die genau gleiche Redezeit.
50, Bürgermeister der Samtgemeinde gegen Nahles stellen, doch Susanne Pape, Immerhin hat Andrea Nahles inzwi-
Dransfeld und Delegierter, er gehe deshalb seine Vize-Kreisvorsitzende, sagt: »Hier schen mit ihr gesimst, in Berlin wollte man
davon aus, dass Nahles kein besonders gu- bei uns drücken ganz viele Simone die sich auf einen Kaffee treffen. »Klappte
tes Ergebnis bekomme. Überzeugt habe Daumen, wir werden sie nominieren.« aber leider nicht«, sagt Lange. Sie wäre
Lange ihn nicht, aber er finde es gut, »dass Ralf Stegner, ihren Landesvorsitzenden gern mit ihr vor SPD-Mitgliedern auf-
es eine zweite Kandidatin gibt«. in Schleswig-Holstein und SPD-Vize, hat getreten, Nahles habe das nicht gewollt.
Hat Lange, die gebürtige Thüringerin, Lange vor ihrer Entscheidung nicht gefragt. Warum? Lange lächelt: »Weil sie mich
einen Ostbonus? Am Dienstagabend in So bleibt ihm nur zu grummeln und zu jetzt ernst nimmt.«
Bautzen sieht es jedenfalls nicht danach granteln, »jeder hat natürlich das Recht, Matthias Bartsch, Annette Bruhns,
aus. Im großen Saal des Brauhauses sitzen sich zu bewerben, er muss sich aber gut Lukas Eberle, Annette Großbongardt,
gut 30 Genossen, wo Platz für 250 wäre. überlegen, ob es das richtige Amt für ihn Steffen Winter
Lange kommt eine Viertelstunde zu spät, oder sie ist«, sagt Stegner. 2021 müsse man

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 33


Deutschland

Der Riss
ßerlich runderneuerten, intern aber nach
wie vor ziemlich fragilen FDP hätte das
gravierende Folgen.
Etwas seltsam sah es ja immer aus,
wenn Lindner, 39, und Kubicki, 66, ge-
FDP Der Pakt zwischen Christian Lindner und Wolfgang Kubicki hat meinsam auftraten – so wie Anfang des
den Aufstieg der Liberalen erst möglich gemacht. Nun könnten Jahres, am Vorabend des traditionellen li-
sich die beiden wieder entfremden. Ausgerechnet wegen Russland. beralen Dreikönigstreffens in Stuttgart. Da
betrat erst Kubicki den Saal, die Haare
leuchtend weiß, der Anzug dunkel. Es folg-

C hristian Lindner war sauer. Der


FDP-Chef saß gut eine Woche vor
Ostern mit ein paar Vertrauten in
der Parlamentarischen Gesellschaft, gleich
könnte wie die Freundschaft der beiden
Sozialdemokraten: im Zerwürfnis.
Schon seit längerer Zeit zeigen sich Ris-
se zwischen den beiden liberalen Alpha-
te Lindner: Sneakers, Chino-Hose, Cardi-
gan. Es wirkte ein bisschen, als begleite
der gelassene Vater den etwas überdrehten
Sohn zur Verleihung des BWL-Diploms.
gegenüber vom Reichstag. Doch statt mit tieren. Bereits Lindners Entscheidung, das Wie kam es zu diesem Bündnis?
ihnen, wie geplant, die Sitzung des Bun- angestrebte Jamaikabündnis mit Union Am Abend der Bundestagswahl 2013,
desrats vorzubereiten, redete sich Lindner und Grünen platzen zu lassen, hatte ihr in der dunkelsten Stunde der FDP, fanden
erst mal seinen Ärger von der Seele. Das Verhältnis auf die Probe gestellt: Kubicki Kubicki und Lindner zusammen. Ihre
Thema: sein Stellvertreter und Weggefähr- hätte allzu gern regiert. Trotzdem ließ er Partei war aus dem Parlament geflogen,
te Wolfgang Kubicki. es darüber nicht zum Bruch kommen. Die nun beschlossen sie in der Times Bar des
Der hatte gerade wieder eines seiner zahl- Frage ist nun, wie weit er und Lindner im Berliner Hotels Savoy, sich an den Wieder-
reichen Interviews gegeben und gefordert, Konflikt um die Russlandfrage zu gehen aufbau zu machen. »Per Handschlag ver-
die Wirtschaftssanktionen gegen Russland bereit sind. Ist ihnen die Sache so viel wert, sprachen wir einander, dass keiner den
abzubauen. Damit stellte sich Kubicki gegen dass ihr Zweckbündnis darüber zerbre- anderen in den kommenden vier Jahren
einen Beschluss des FDP-Bundesvorstands chen könnte? Für die Machtstatik der äu- öffentlich kritisieren werde«, so beschrieb
– also gegen ihn, Lindner, den Lindner einmal die Geburts-
Parteichef. Zu allem Überfluss stunde dieses Pakts.
war das Ganze auch noch am Der Jüngere wurde Partei-
Tag der Wiederwahl Wladimir chef, der Ältere sein Stellver-
Putins über die Nachrichtena- treter. Das Angebot, unter
genturen gelaufen. Lindner, so Lindner als Generalsekretär zu
berichten es Teilnehmer, zeigte dienen, hatte Kubicki ausge-
sich genervt wie selten. Von Ku- schlagen. Das hätte dann wohl
bicki, daran ließ er keinen Zwei- auch zu seltsam ausgesehen.
fel, war er schwer enttäuscht. Trotz aller Treueschwüre
Lindner und Kubicki, das muss ihnen klar gewesen sein,
war lange Zeit die erstaunlich- dass dies ein Bündnis auf Zeit
ste Zweierallianz der deut- sein würde. Zwar hat Kubicki
schen Politik. Wider alle Wahr- mal gescherzt, Lindner sei so,
scheinlichkeit hatten hier zwei »wie ich vor 30 Jahren war«.
Super-Egos zusammengefun- Tatsächlich aber könnten zwei
den, die normalerweise nie- Politiker kaum unterschied-
manden neben sich und schon licher sein.
gar nicht über sich dulden, de- Christian Lindner macht
nen aber in den vergangenen Politik als Beruf. In jungen Jah-
Jahren etwas gelang, was Män- ren hatte er sich als Unterneh-
nern ihres Schlags nur selten mer versucht und war geschei-
gelingt: die eigenen Beißrefle- tert; der Politik verdankt er
xe zu überwinden. Gemein- alles, was er heute ist. Lindner
sam arbeiteten sie an der gibt gern den Provokateur, ach-
Wiederbelebung der FDP, am tet aber in Wahrheit stets fein
Ende erfolgreich. Hätten Lind- darauf, sich dabei nicht zu weit
ner und Kubicki sich nicht zu- vom Zeitgeist zu entfernen. Er
sammengerauft, säßen die Li- lebt in Berlin-Schöneberg in
beralen wohl kaum wieder im einer Dachgeschosswohnung,
Bundestag. die ihm Jens Spahn von der
Von Freundschaft sprachen CDU vermietet hat.
sie zwar nicht, allenfalls von Wolfgang Kubicki macht
EMMANUELE CONTINI / IMAGO

einer »freundschaftlichen Ver- Politik aus Lust. Er ist als An-


bindung« – anders als das ande- walt vermögend geworden,
re große Männerpaar des politi- Politik ist für ihn eine schöne
schen Betriebs, Sigmar Gabriel Zugabe. Kubicki provoziert
und Martin Schulz. Doch die nicht fein dosiert, sondern bra-
Verbindung zwischen Lindner chial. Zur Entspannung schaut
und Kubicki hielt. Nun aller- er sich Kriegsfilme an. Er lebt
dings besteht die Gefahr, dass Parteifreunde Kubicki, Lindner an der Kieler Bucht in einer
ihre Beziehung ähnlich enden Handschlag in der dunkelsten Stunde der Liberalen Villa mit Ostseeblick.

34
Eitel sind sie beide, und zwar über das nannte er die Sanktionen »Quatsch« – sie
in der Politik übliche Maß hinaus. Das war
es dann allerdings auch schon fast mit den
Gemeinsamkeiten.
wirkten nicht. Zudem müsse man sich
»mal anhören, wo die Russen ihre Ängste
und Sorgen haben«. Die Nato bemühe sich
Steuern?
Trotzdem ging die Sache gut, bis Lind-
ner Ende November die Jamaikasondie-
auch nicht gerade um Vertrauensbildung.
Bereits damals rätselten Lindner und
Lass ich machen.
rungen platzen ließ. Zwar betonten beide, seine Vertrauten über das Motiv. Sprach
gemeinsam entschieden zu haben – doch hier der Populist Kubicki, der wusste, wie
Kubicki ließ keinen Zweifel daran, dass kritisch eine Mehrheit der deutschen Wäh-
er mit der Entscheidung haderte. Für den ler die Konfrontation mit Russland sieht?
Fall, dass die Große Koalition nicht Oder ging es um wirtschaftliche Interessen
zustande käme, schloss er erneute Ver- seiner Kanzlei? Im November spekulierte
handlungen nicht aus. Dem Medienprofi der britische »Guardian« über Verbindun-
musste klar sein, welche Spekulationswel- gen zwischen Kubicki und den Betreibern
le folgen würde. Lindner sah sich ge- der Gaspipeline Nord Stream 2. Kubicki
zwungen, eine Regierungsbeteiligung per wurde intern zur Rede gestellt, dementier-
Präsidiumsbeschluss ein für alle Mal aus- te aber jede Verbindung zu dem Projekt.
zuschließen. Dabei liegen Kubicki und Lindner in-
Mit Mitte 60, zu einem Zeitpunkt also, haltlich gar nicht so weit auseinander.
an dem andere in Rente gehen, wäre Ku- Noch im Wahlkampf hatte der Parteichef
bicki nur zu gern noch einmal bundespoli- dafür geworben, den Zustand der annek-
tisch durchgestartet. Am liebsten wäre er tierten Halbinsel Krim »als dauerhaftes
Fraktionschef geworden, aber auch das Provisorium anzusehen« und den Konflikt
Finanzministerium hätte ihn gereizt. darum »einzukapseln«. Faktisch war das
Lindner hingegen hat Zeit, er kann auch ein Zugeständnis an Russland, entspre-
später noch regieren. Er sah vor allem die chend empört fielen die Reaktionen der
Risiken einer Koalition, die Aussicht auf anderen Parteien aus. Lindner hatte das
schwierige Kompromisse und die Gefahr, einkalkuliert. Auch er kennt ja die Umfra-
einem Amt wie dem des Finanzministers gen zum Thema Russland.
nicht gewachsen zu sein. Um die eigentliche Sachfrage geht es
ihm deshalb gar nicht so sehr. Er stößt sich
daran, dass Kubicki vorsätzlich gegen ei-
Beiden muss immer nen Beschluss des FDP-Vorstands von
klar gewesen sein, Ende Januar verstößt. Darin heißt es: »Die
FDP steht zu den gegen Russland verhäng-
dass dies ein Bündnis ten Sanktionen.« Was Lindner außerdem
auf Zeit sein würde. stört: dass all die Nuancen dieses Beschlus-
ses, die darin enthaltenen Signale der Ent-
spannung, einfach untergehen. Es geht nur
Einen weiteren Risikofaktor sah er in noch um pro oder kontra Russland.
Kubicki. Dessen Mitteilungsdrang war in Offiziell will Lindner das Ganze nicht
der außerparlamentarischen Opposition als Machtkampf verstanden wissen, aber
ein Segen gewesen. In der Regierung aber natürlich ist es genau das. Und er tut nichts
wäre jedes seiner Worte auf die Goldwaa- dafür, den Konflikt vor dem Parteitag Mit-
ge gelegt worden. te Mai zu entschärfen. Im Gegenteil: Er
Doch nach dem Jamaikaaus haderte
Lindner: Die FDP brach in der Stimmung
ein. Aus seiner Sicht wurde der Ausstieg
nur ihm angelastet, während Kubicki sich
will dort einen Beschluss herbeiführen, der
seine Position bestätigt. Der Lindner-Ver-
traute Marco Buschmann, Parlamentari-
scher Geschäftsführer der FDP-Fraktion,
VLH.
einen schlanken Fuß machte. Kurz vor fordert eine offene Auseinandersetzung:
Weihnachten teilte er seinem Vize mit, wie »Es muss möglich sein, strittige Fragen auf
unglücklich er mit der Rollenverteilung sei.
Spätestens da dürften beide realisiert ha-
Parteitagen zu diskutieren.«
Lindner glaubt zwar, dass er auf dem
Wir machen Ihre
ben, dass ihr Pakt an seine Grenzen stößt.
Umso demonstrativer startete Kubicki
Parteitag eine klare Mehrheit sicher hätte.
Er weiß aber nicht, wie es dann weitergin- Steuererklärung.
das neue Jahr mit einer Loyalitätsbekun- ge. Wäre das Verhältnis zu Kubicki wo-
dung: Wer Lindner stürzen wolle, »müsste möglich irreparabel beschädigt? Zumin-
erst mich wegräumen«, tönte er. Es war dest müsste Lindner befürchten, dass ein
ein echter Kubicki durchsetzt mit einer gu- in die Schranken gewiesener Kubicki sich
ten Portion Fallschirmjäger-Pathos. Wer wieder verstärkt als Einzelgänger profilie- www.vlh.de
wollte, konnte darin aber auch eine kleine ren würde.
Perfidie erkennen: Schließlich hatte bis da- Demnächst will Kubicki seine erste be-
hin niemand Lindners Sturz gefordert. deutende Reise als Vizepräsident des
Erst Kubicki machte das zum Thema. Bundestags unternehmen. Ende Mai soll
Nun also Russland. Kubickis Haltung in es nach Moskau gehen.
dieser Frage ist nicht neu. Schon im Ok- Christoph Hickmann, Christoph Schult
tober, während der Jamaikasondierungen,

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 35


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Deutschland

»Unglaublich«
Mitterrands und schlug vor, dessen Kon- während des irakisch-iranischen Kriegs so
kurrenten Giscard zu informieren. Den viele Waffen, dass Experten von »gemein-
französischen Auslandsgeheimdienst hatte samer Kriegführung« durch Bagdad und
bereits der BND in Kenntnis gesetzt. Paris sprechen. Am Ende stammte ein
Zeitgeschichte Ließ sich François BND-Mann Blötz machte sich nach Viertel der irakischen Bestände aus Frank-
dem Gespräch einen Vermerk; er trägt die reich – obwohl Saddam viele Rechnungen
Mitterrand seinen Wahlkampf Tagebuch-Nummer 130/74 und liegt dem nicht bezahlte. Trotzdem bekam er immer
von Saddam Hussein bezahlen? SPIEGEL und dem französischen Online- wieder Nachschub.
Laut dem BND kassierte magazin Mediapart vor. Und obwohl nur Bislang gingen Experten davon aus,
ein kleiner Teil des Dokuments von iraki- dass andere Motive ausschlaggebend wa-
der Franzose eine Million Dollar. schen Spenden handelt, wirft es einen gro- ren: der Wunsch, den iranischen Funda-
ßen Schatten auf Mitterrand. mentalismus zu stoppen, und das Interesse

A ls Dieter Blötz, Vizepräsident des


Bundesnachrichtendienstes (BND),
am 9. Mai 1974 zum wöchentlichen
Rapport im Kanzleramt in Bonn eintraf,
In Frankreich ist Mitterrand – Präsident
von 1981 bis 1995 – längst zum Mythos ge-
worden, und auch diesseits des Rheins ge-
nießt er hohes Ansehen. Er trieb gemeinsam
am irakischen Öl. Die französischen Par-
teien waren sich einig, den Irak zu unter-
stützen. Mögliche Parteispenden spielten
als Erklärung für das Verhalten Mitter-
herrschte dort gedrückte Stimmung. mit Kanzler Helmut Kohl die deutsch-fran- rands bislang keine Rolle.
Der beliebte Kanzler Willy Brandt hatte zösische Aussöhnung voran; er stimmte, Dieser nahm es sogar hin, dass Saddam
zwei Tage zuvor seinen Rücktritt erklärt; wenn auch nach einigem Zögern, der Einheit die irakischen Kurden verfolgte und mit
Brandts Parteireferent war als DDR-Spion zu und zählte zu den Gründern des Euro. Giftgas angriff. Mitterrands Ehefrau Da-
enttarnt worden. Lange sprach Blötz mit Nahm der Franzose illegale Gelder von nielle, eine engagierte prokurdische Akti-
Kanzleramtschef Horst Grabert über die Saddam Hussein an, der 1974 offiziell die vistin, stellte ihren Mann deshalb zur
Spionageaffäre. Nummer zwei des Regimes war, doch bereits Rede: »François, warum tust du das?
Dann wandten sich die beiden Männer in Bagdad dominierte? Er glaube nicht, dass Warum verkaufst du ihm Waffen?« Der
einer »Besonderen Meldung« des BND »es auch nur eine Partei in Frankreich gege- Staatschef entgegnete matt: »Wenn Frank-
vom 2. Mai zu, die in normalen Zeiten ben hat, die nicht von irakischen Zahlungen reich nicht liefert, dann liefert jemand an-
oben auf der Tagesordnung gestanden hät- profitiert hat«, sagt ein ehemaliger Funktio- deres, und Frankreich geht leer aus.«
te. Der BND hatte die Telekommunikation när der Sozialisten über die alten Zeiten. Als Saddam 1990 Kuwait überfiel und
zwischen dem Außenministerium in Bag- Und die Vermutung liegt nahe, dass die der Westen drohte, zu den Waffen zu grei-
dad und der irakischen Botschaft in Paris illegalen Parteispenden ein Grund dafür fen, um das Emirat zu befreien, versuchte
abgefangen und berichtete, dass irakische waren, dass Mitterrand als Präsident den Mitterrand mit immer neuen diplomati-
Diplomaten »eine Million Dollar für Wahl- irakischen Kriegsverbrecher unterstützte schen Initiativen, den Feldzug zu verhin-
kampf an Mitterrand auszahlen« sollten. wie kaum ein anderer westlicher Staats- dern. Bei Mitterrand gebe es in Sachen
Gemeint war François Mitterrand, der und Regierungschef. Saddam eine »schwer verdauliche Doppel-
Sozialist, der zehn Tage später bei den Prä- In der Opposition hatte Mitterrand Rüs- bödigkeit«, befand selbst Willy Brandt, der
sidentschaftswahlen gegen den Liberalen tungsexporte in den Nahen und Mittleren Mitterrand eigentlich schätzte.
Valéry Giscard d’Estaing antreten sollte. Osten noch scharf kritisiert. Kaum war er Der Korruptionsverdacht kann nicht
Der Vorgang sei »unglaublich«, so empör- 1981 in den Élysée-Palast eingezogen, än- überraschen. Bestechung ist ein Marken-
te sich Grabert über die Irak-Connection derte er seine Haltung. Er lieferte Saddam zeichen der Fünften Republik, erst kürz-
lich wurde Ex-Präsident Nicolas Sarkozy
angeklagt, weil er im Verdacht steht, von
Libyens damaligem Diktator Muammar
al-Gaddafi Gelder genommen zu haben.
Auch gegen Mitarbeiter Mitterrands gab
es Korruptionsverfahren, einer seiner Söh-
ne wurde verurteilt.
Immerhin nahm Mitterrand 1991
schließlich doch am Zweiten Golfkrieg teil,
mit dem eine US-geführte Allianz den Ag-
gressor Saddam aus Kuwait vertrieb. Wie
es auf deutscher Seite 1974 weiterging, ist
ungeklärt. Kanzleramtschef Grabert woll-
te Finanzminister Helmut Schmidt, den
angehenden Kanzler, über die BND-Mel-
dung informieren. Es war bekannt, dass
Schmidt mit Giscard, dem Mitterrand-Kon-
kurrenten, befreundet war. Grabert hoffte,
Bonn könne »einen gewissen Nutzen nach
LAZIM ALI / REUTERS

einem möglichen Wahlsieg Giscards aus


dem Vorgang« ziehen – also sich das Wohl-
wollen eines Präsidenten Giscard sichern,
ZUMA / KEYSTONE / IMAGO

indem man ihn über die Machenschaften


seines sozialistischen Widersachers infor-
Politiker Mitterrand 1974, mierte. Ob das geschah, ist offen.
Diktator Saddam 1991 Klaus Wiegrefe
»François, warum tust du das? Mail: klaus.wiegrefe@spiegel.de
Warum verkaufst du ihm Waffen?«

36 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


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Deutschland

lam Hinterhofmoscheen zu überlassen, ist

»Der Islam es wichtig, religiöse Unterweisung mit ei-


genen Lehrkräften zu gestalten, die Tole-
ranz und Religionsfreiheit in den Mittel-
punkt stellen.

ist nicht identitäts- SPIEGEL: Sie haben einen Werteunterricht


in Schulen speziell für Kinder aus Zuwan-
dererfamilien gefordert. Wie muss man
sich das vorstellen?

stiftend und Söder: In diesem Unterricht sollen neben


Deutsch auch das klare Bekenntnis zur Re-
ligionsfreiheit, Toleranz gegenüber ande-
ren Religionen wie dem Judentum und un-

kulturprägend für
sere Werteordnung vermittelt werden.
SPIEGEL: An Berliner Schulen gibt es einen
Ethikunterricht, an dem alle Schüler teil-
nehmen. Warum wollen Sie nur den Kin-
dern von Zuwanderern Werte vermitteln?

unser Land« Söder: Sie, und das ist kein Vorwurf, kom-
men häufig aus Gesellschaftsordnungen,
die teilweise weit entfernt sind von der
unsrigen. Es ist ein großer Sprung, wenn
SPIEGEL-Gespräch Der bayerische Ministerpräsident man aus einer anderen Kultur nach
Deutschland kommt.
Markus Söder, 51, über das Zerwürfnis SPIEGEL: Und wer soll an diesem Unter-
zwischen CDU und CSU und die Frage, ob die Amtszeit richt teilnehmen? Nur Kinder aus musli-
mischen Familien?
von Spitzenpolitikern begrenzt werden sollte Söder: Diejenigen, bei denen es sinnvoll
und notwendig ist. Die Herausforderung
ist die Zuwanderung seit 2015.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, uns er- Worte der Kanzlerin. Für eine gemeinsa- SPIEGEL: Vielleicht täte der einheimischen
innert die politische Situation an das Jahr me Politik fehlt offenbar die Basis. Bevölkerung ein Werteunterricht auch gut.
2015, als die Flüchtlingskrise begann: In Söder: Wir in Bayern haben einen klaren Söder: Mehr Wertekunde ist immer gut.
Berlin regiert eine Große Koalition, die Kurs und aus der Bundestagswahl gelernt. Ich würde mir wünschen, dass wir generell
daran beteiligten Parteien streiten über Zu- Es darf nicht nur bei einer politischen De- mehr über die geistigen Wurzeln des Lan-
wanderung und Islam – und CDU und batte bleiben, sondern es muss auch etwas des nachdenken. Denn wir sollten als Ge-
CSU mischen munter mit. Ist das eine gute geändert werden. Wir gründen eine eigene sellschaft nicht auseinanderfallen und dür-
Ausgangslage für die bayerische Landtags- bayerische Grenzpolizei und ein bayeri- fen keine Parallelwelten zulassen.
wahl im Herbst? sches Landesamt für Asyl. Wir wollen den SPIEGEL: Wer hat die Richtlinienkompe-
Söder: Nicht nur in Deutschland, sondern Rechtsstaat stärken und die Zahl der Ab- tenz in der Flüchtlingspolitik? Angela Mer-
in ganz Europa gibt es die gleiche emotio- schiebungen von abgelehnten Asylbewer- kel oder Horst Seehofer?
nale Seelenlage. Die Menschen sind nach bern deutlich erhöhen. Söder: Das ist jetzt eher was für die »Neue
wie vor verunsichert, welche Folgen die SPIEGEL: Gehört der Islam zu Deutschland? Juristische Wochenschrift« und nicht für
Zuwanderung hat: gesellschaftlich, kultu- Söder: Muslime, die in unserem Land le- den SPIEGEL. Generell gilt: In einer Koa-
rell, aber auch für die Sicherheit im Land. ben und sich zu unseren Werten bekennen, lition müssen die Identitäten der Parteien
Das gilt nicht nur für Wähler der CSU, son- sind Teil unserer Gesellschaft. Solche aber, gewahrt bleiben.
dern für alle Parteien, vor allem auch für die der Meinung sind, wir müssten hier ei- SPIEGEL: Sie müssen im Herbst eine Land-
die der SPD. Alle müssen sich überlegen, nen anderen Staat gründen oder eine an- tagswahl bestehen. Seit Jahrzehnten sind
welche Antwort sie darauf geben. dere Werteordnung vertreten, gehören Sie der erste CSU-Kandidat, der nicht mit
SPIEGEL: Ihr Parteichef Horst Seehofer nicht dazu. dem Ziel antritt, die absolute Mehrheit zu
sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutsch- SPIEGEL: Sie weichen aus. Gehört der Is- gewinnen. Warum so bescheiden? So ken-
land. Die Kanzlerin weist ihn öffentlich lam dazu oder nicht? nen wir Sie gar nicht.
zurecht. Welche Schlüsse sollen die Wäh- Söder: Der Islam ist nicht identitätsstiftend Söder: Statt ständig über Prozente zu re-
ler daraus ziehen? und kulturprägend für unser Land, selbst den, kümmern wir uns um die Sorgen der
Söder: Horst Seehofer hat recht. Auch in wenn er Realität in vielen deutschen Städ- Menschen. Wenn die SPD nach der
einer Koalition muss man offen debattie- ten ist. Natürlich gilt Religionsfreiheit, Bundestagswahl nur über die Frage spricht,
ren. Entscheidend ist, was am Ende poli- aber Deutschland ist christlich-abendlän- was eine Regierungsbildung für sie selbst
tisch daraus wird. Da bin ich optimistisch. disch geprägt, mit jüdischen und humanis- bedeutet, schreckt das viele Bürger ab.
SPIEGEL: Woraus speist sich Ihr Opti- tischen Wurzeln. SPIEGEL: Heißt das, Sie geben die absolute
mismus? Als die Essener Tafel beschlossen SPIEGEL: Was ist der Nutzen dieser Debat- Mehrheit als Wahlziel auf?
hatte, vorübergehend keine Ausländer te? Praktisch folgt aus Ihrer Position nichts. Söder: Das heißt, ich beschäftige mich jetzt
mehr aufzunehmen, hat Angela Merkel Söder: Doch, zum Beispiel, dass wir an nicht mit dem Ergebnis einer Wahl, die erst
das kritisiert. Ihr Landesgruppenchef Ale- den christlichen Feiertagen festhalten und im Herbst ansteht. Für uns ist aber klar: Wir
xander Dobrindt kritisierte daraufhin die keine islamischen Feiertage einführen wol- wollen keine Berliner Verhältnisse in Bayern.
len. Wir wollen in bayerischen Behörden SPIEGEL: Sie haben sich als Ziel gesetzt,
Das Gespräch führten die Redakteure Jan Friedmann, lieber Kreuze aufhängen, statt sie abzu- die AfD klein zu halten. In den letzten
Ralf Neukirch und René Pfister. hängen. Statt den Unterricht über den Is- Umfragen sind die Werte der CSU wieder

38 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


gestiegen, aber die AfD bleibt weitgehend
stabil. Geht Ihre Strategie nicht auf?
Söder: Die AfD ist für alle demokrati-
schen Parteien eine Herausforderung –
nicht nur inhaltlich, sondern auch poli-
tisch-kulturell. Viele AfD-Funktionäre be-
geben sich auf einen Weg, der weit aus
dem demokratischen Spektrum hinaus-
führt. Die Art, mit welch persönlich ver-
letzenden Parolen agitiert wird, dürfen
Demokraten nicht mehr tatenlos hinneh-
men, egal ob sie sich als konservativ, libe-
ral oder links verstehen.
SPIEGEL: Wie wollen Sie dagegen angehen?
Söder: Die AfD ist durch Entscheidungen
der Vergangenheit in Berlin entstanden,
sie muss deswegen inhaltlich auch dort ge-
stellt werden. Das macht Horst Seehofer
konsequent. Die Mehrzahl der Bevölke-
rung hatte in der Flüchtlingskrise den Ein-
druck, dass die Politik ihre Sorgen nicht
ernst nimmt. Viele befürchten bis heute,
dass die Sicherheitslage sich verschlechtert
und der Rechtsstaat brüchig wird. Zudem
sind viele Menschen besorgt, dass sich die
sozialen Leistungen des Staates primär auf
Neubürger konzentrieren und weniger auf
die einheimische Bevölkerung. Und viele
wollen nicht, dass sich die kulturelle Prä-
gung des Landes verändert. Auf diese Sor-
gen muss es eine Antwort geben.
SPIEGEL: Die soll allein aus Berlin kom-
men?
Söder: Bund und Land müssen Hand in
Hand arbeiten. Wir in Bayern leisten un-
seren Teil: Wir gründen nicht nur eine ei-
gene Grenzpolizei und verschärfen die
Grenzüberwachung. Wir haben gerade
auch ein bayerisches Pflegegeld beschlos-
sen. Wir in Bayern kümmern uns damit
um die Sorgen der einheimischen Bevöl-
kerung. Wir haben ein Landesamt für Asyl
gegründet, um bei Abschiebungen noch
konsequenter vorgehen zu können. Wir
werden auch die Zahl der Plätze für Ab-
schiebehaft deutlich erhöhen, weil wir wis-
sen, dass sich viele Ausreisepflichtige mit
Tricks der Heimreise entziehen. Die Be-
völkerung hat für all das kein Verständnis.
SPIEGEL: Angela Merkel hält das Diktum
von Franz Josef Strauß, wonach es rechts
von der Union keine demokratisch legiti-
mierte Partei geben dürfe, für überholt.
Für die CSU gehört dieser Satz zur Iden-
tität. Wie soll da ein gemeinsamer Kampf
gegen die AfD gelingen?
Söder: Ich habe den Eindruck, dass sich
CDU und CSU viel näher sind, als es vor
RODERICK AICHINGER / DER SPIEGEL

der Bundestagswahl der Fall war. Jeder


weiß um seine Verantwortung. Und in der
CDU gibt es auch Diskussionen. Dem, was
Jens Spahn sagt, kann ich in vielem zu-
stimmen.
SPIEGEL: Spahn ist einer der schärfsten
Kritiker der Kanzlerin. Das ist nicht gerade
ein Beleg dafür, dass es rundläuft zwischen
CSU-Politiker Söder: »Die AfD ist durch Entscheidungen in Berlin entstanden« Merkel und der CSU.

39
Söder: In Bayern liegt die Herausforde-
rung jedenfalls nicht links der Mitte. Die
Aufgabe ist die Bündelung des bürger-
lichen Lagers. Mein erklärtes Ziel ist es, li-
beral-konservative Politik zu machen, um
Jetzt im alle bürgerlichen Wähler wieder bei uns
zu versammeln.
Handel SPIEGEL: Braucht Deutschland, braucht
Bayern eine »konservative Revolution«,
wie Ihr Parteifreund Alexander Dobrindt
sie fordert?
Söder: Man braucht ein klares Bekenntnis
und eine klare Haltung. Das Problem ist
nicht, dass man in der Politik Kompromis-
se schließen muss, sondern dass viele Bür-
ger nicht mehr wissen, wie die Grundpo-
sitionen der Parteien sind. Erst kommt Hal-
tung, dann Handlung.
SPIEGEL: Sie haben eine Amtszeitbegren-
zung für den bayerischen Ministerpräsi-
denten gefordert. Wäre eine solche Rege-
lung auch im Bund sinnvoll?
Söder: Ich bin sicher, dass eine Amtszeit-
begrenzung in der Politik enorme demo-
kratische Kräfte freisetzt. Ich glaube auch,
dass man als Politiker unabhängiger ist,
wenn man sich mehr um die Sache küm-
mern kann als um die Frage, wie es mit ei-
nem selber weitergeht. Wir werden eine
entsprechende Verfassungsänderung im
Bayerischen Landtag einbringen. Dann
könnte eine Begrenzung der Amtszeit des
Ministerpräsidenten auf zwei Legislatur-
perioden am 14. Oktober zeitgleich mit
der Landtagswahl per Volksentscheid be-
schlossen werden.
SPIEGEL: Was für Bayern gut ist, müsste
doch auch für den Bund gut sein.
Söder: Dies gilt für Bayern. Wie andere
das halten wollen, müssen sie selber ent-
scheiden. Aber ich halte es für ein starkes
politisches Signal.
SPIEGEL: Sie waren immer ein Gegner der
Ämtertrennung. Nun sind Sie Ministerprä-
sident, aber wollen angeblich nicht mehr
Parteichef werden. Warum?
Söder: Die CSU hat eine sehr gute Auf-
stellung. Wir sind die einzige Partei, die
www.spiegel-geschichte.de nach der Bundestagswahl eine klare Ent-
scheidung getroffen hat: Kontinuität und
Erfahrung in Berlin, Erneuerung und Auf-
bruch in Bayern. Das funktioniert. Wir
spielen Doppelpass. Ich konzentriere mich
auf Bayern.
SPIEGEL: Und sobald Horst Seehofer zu-
rücktritt, würden Sie nicht ausschließen,
dass …
Söder: Ich will nicht Parteivorsitzender
werden.
SPIEGEL: Also auch dann nicht, wenn See-
hofer im kommenden Jahr nicht mehr an-
Weitere Themen: treten will?
Söder: Wir haben einen Parteivorsitzenden,
Manifest Die ersten Kommunisten und er hat er meine volle Rückendeckung.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir dan-
ken Ihnen für dieses Gespräch.
Revolution Russland wird sowjetisch
Hoffnung Der Traum vom besseren System 40
Deutschland

»Grob
Die Episode um die Shisha-Bar findet im Nachhinein gekürzt worden war und
sich in einem 188 Seiten langen Dokument Amri so kein gewerbs- und bandenmäßi-
zu Amri, der später auf der Flucht in Ita- ger Drogenhandel vorzuwerfen war.

lückenhaft«
lien erschossen wurde. Den vertraulichen Die Taskforce stellt nun fest, dass das
Bericht hat eine interne Taskforce namens »Vorenthalten des großen Berichts« durch
»Lupe« erstellt, die der Berliner Polizei- die Beamten ein grober Fehler war; die
präsident im Mai eingesetzt hatte. 14 Be- Staatsanwaltschaft erreichte diese Lang-
Terrorismus Ein vertraulicher amte würden »jeden Stein und jedes Blatt fassung nie. In ihrer Untersuchung kommt
Papier umdrehen und jede Datei sichten«, die Taskforce auch zu dem Ergebnis, dass
Bericht stellt 254 Mängel hatte der Berliner Innenstaatssekretär Amri eine Zeit lang tatsächlich einer
im Umgang mit Anis Amri fest – Torsten Akmann (SPD) versprochen. Dealerbande angehörte.
und bezichtigt die Berliner Die Beamten durchleuchteten alle Er- Auch bei der Überwachung gab es gro-
mittlungsschritte, in mehr als 31 000 Ar- be Schlampereien. In 590 der abgehörten
Polizei vieler schwerer Fehler. beitsstunden. Das Ergebnis ist ein Armuts- Telefongespräche sei von strafbaren Hand-
zeugnis für die verantwortlichen Fahnder. lungen die Rede gewesen, fanden die

D er Mann, der am 11. Juli 2016 vor


einer Berliner Shisha-Bar auf dem
Gehweg lag, kämpfte um sein Le-
ben. Seine Kleidung war blutverschmiert,
Sie ließen Amri zwar über Monate obser-
vieren und seine Telefone überwachen,
versäumten es jedoch laut dem Bericht,
»Vorgänge zusammenzuführen, Ermittlun-
»Lupe«-Ermittler heraus. Es habe klare
Hinweise auf mindestens zehn verschiede-
ne Straftaten Amris gegeben, darunter
zahlreiche Diebstähle, vom iPhone bis
der Täter hatte ihm ein Messer in die Brust gen zu bündeln und auszuweiten sowie zum Fahrrad. Die Amri-Ermittler aber hat-
gerammt, das Ende eines Streits im Dro- zielgerichtet Maßnahmen der Inhaftierung ten jedes vierte Gespräch gar nicht auf
genmilieu. oder der Abschiebung gegen ihn zu initi- Deutsch übersetzen lassen, andere Dialoge
Die Polizisten hätten wegen versuchter ieren«. waren nur unzureichend übersetzt.
Tötung ermitteln, die Mordkommission Die Taskforce stellt 254 Mängel im Um- So entgingen den Ermittlern auch 111
kontaktieren und für die Tatverdächtigen gang mit Amri fest, 32 bezeichnet sie als von 427 Gesprächen, in denen es um Dro-
Haftbefehle vorschlagen können. Doch sie schwer, weil sie sich auf das Ermittlungs- genhandel ging. Sie hätten es womöglich
gingen nur von gefährlicher Körperverlet- ergebnis ausgewirkt hätten. erleichtert, Amri zu inhaftieren. Insgesamt
zung aus und bemühten sich nicht sofort Die harte Kritik der internen Ermittler rügen die Kontrolleure eine »grob lücken-
um einen Haftbefehl für jeden Einzelnen. an ihren Kollegen wird in einer Woche hafte Aktenführung«. Es bringe nichts,
Auch nicht für den 23-jährigen Tunesier bekannt, in der die Berliner Staatsanwalt- zehn Anschlüsse zu überwachen, »wenn
Anis Amri, den ein Zeuge mit einem Ham- schaft die Ermittlungen gegen zwei Beam- es nicht gelingt, die dadurch erlangten Er-
mer bewaffnet gesehen hatte. Das Verfah- te des Landeskriminalamts eingestellt hat: kenntnisse strukturiert auszuwerten«.
ren gegen ihn wurde am 7. Dezember 2016 Es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht, Die Taskforce bemängelt zudem die
vorläufig eingestellt, weil er nicht mehr dass sie Akten im Fall Amri vorsätzlich Observation Amris – genehmigt bis zum
aufzufinden war. manipuliert hätten, um Versagen zu ver- 21. Oktober 2016, aber eingestellt zum
Zwölf Tage später erschoss Amri einen tuschen. 15. Juni. Eine Erklärung dafür fand sich
polnischen Lkw-Fahrer und steuerte des- Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat- nicht. Die Beschatter machten außerdem
sen Fahrzeug auf den Berliner Breitscheid- te Strafanzeige gegen die Beamten gestellt, meist Feierabend, lange bevor Amri die
platz, wo elf Menschen starben. Hätte er nachdem herausgekommen war, dass ein Klubs aufsuchte, in denen er seine Drogen
da längst im Gefängnis sitzen können? Bericht zu den Drogenaktivitäten Amris verkaufte; an den Wochenenden arbeite-
ten sie meist gar nicht.
So ist es nicht verwunderlich, dass sie
kein einziges Mal mitbekamen, wie Amri
mit Cannabis, Speed, Ecstasy oder Kokain
dealte, für das er in den Telefonaten an-
dere Wörter wählte: Heu, Luft, Bonbons
oder einfach nur »die Sache«.
Da die Taskforce die Gespräche Amris
so gründlich ausgewertet hat, werden auch
weitere Details über den Attentäter be-
kannt. So deuten laut dem Bericht mehre-
re Gespräche darauf hin, dass Amri Ge-
walt als legitim empfand und seine Familie
in Tunesien ihn für einen Terroristen hielt.
Konkrete Hinweise auf einen geplanten
Anschlag habe es in den zwischen April
und September 2016 abgehörten Telefo-
naten allerdings nicht gegeben.
Auch über seinen dringenden Wunsch,
eine Frau zu finden, tauschte sich Amri
mit Freunden und Verwandten rege aus:
Er wollte so einen festen Aufenthaltsstatus
ARNE DEDERT / DPA

erhalten, notfalls dank einer Nichtmus-


limin. Es sei besser, eine »Ungläubige« zu
heiraten, als Asyl zu beantragen.
Martin Knobbe, Wolf Wiedmann-Schmidt
Fahndungsfotos von Attentäter Amri 2016: Hinweise auf zehn verschiedene Straftaten

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 41


Deutschland

Die Anständigen und die anderen


#MeToo In der Affäre um den Lübecker Chef des Weißen Rings, der Frauen sexuell
bedrängt haben soll, gibt es ständig neue Verdachtsfälle. Eine Zwischenbilanz nach vier Wochen.

LUTZ ROESSLER
Weißer-Ring-Chef Hardt (mit Schild) bei einem Fackelumzug 2013 in Lübeck: Frauen in Reizwäsche

E
nde Oktober? Anfang November? Auf dem Revier, sagt Diana M., sei der M., auf einem Lübecker Polizeirevier eine
So genau weiß sie das nicht mehr, Polizist aber nur rot angelaufen. Dann Anzeige gegen Hardt zu erstatten. Was an
nur dass es 2016 war, im Herbst, habe er ihr geraten, besser keine Anzeige der Episode dran ist, prüft nun die Staats-
als sie in Lübeck zur Polizei mus- zu machen. Wenn stimme, was sie da er- anwaltschaft – weil die Sache auf dem Re-
ste. Diana M. hatte einen Termin auf dem zähle, dann sei das doch eine Sache unter vier offenbar nicht aufgenommen wurde.
Zweiten Revier. Es hatte eine Schießerei vier Augen gewesen, da stehe Aussage ge- In diesen vier Wochen ist der Landes-
gegeben, auf der Straße, sie hatte das von gen Aussage, da werde Hardt sie mögli- chef des Weißen Rings zurückgetreten, Ex-
ihrem Fenster aus gesehen. cherweise sogar wegen Verleumdung ver- Justizminister Uwe Döring. Es gab eine
Aber weil sie sowieso gerade bei der klagen. Und so bekannt, wie der in Lübeck Sondersitzung im Landtag, das Landeskri-
Polizei als Zeugin aussagte, erzählte sie sei, der Ex-Polizist, Ex-Sprecher der Poli- minalamt hat die Ermittlungen aufgenom-
noch eine andere Geschichte – ihre eigene. zei, gebe das auch einen Riesenrummel. men, der Innenminister Hans-Joachim
Dass sie ein paar Monate zuvor beim Sie solle deshalb besser zum Frauennotruf Grote (CDU) will wissen, wer versagt hat.
Weißen Ring in Lübeck saß, in der Bera- Lübeck gehen, da kenne man sich mit sol- Auch in seinem Ministerium, in dem im
tungsstunde für Opfer von Straftaten, und chen Dingen aus. Juli 2017 eine Alarm-Mail zum Fall Hardt
dann habe der Chef plötzlich seine Hose Aber auch dort, so weiß man heute, versandete. Vier Wochen Lübeck – Zeit
aufgemacht, ihr seinen Penis vors Gesicht brachte man sie von einer Anzeige ab. Ein für eine kritische Zwischenbilanz.
gehalten und gefragt, ob sie sich mal frei- Wortlautprotokoll von Diana M. mit all
mache. Ihre Brüste, und auch weiter unten. den Vorwürfen ließen die Frauenschütze- Die Anständigen
Das will Diana M. also schon 2016 der rinnen monatelang herumliegen. Gut 20 Frauen haben sich inzwischen auf
Polizei gemeldet haben. Ganz offiziell. Lübeck und kein Ende: Vor vier Wochen einer Notfallnummer beim Weißen Ring
Fast anderthalb Jahre bevor jetzt im März haben SPIEGEL und »Lübecker Nachrich- gemeldet, weil Hardt sie belästigt haben
herauskam, dass der Mann vom Weißen ten« aufgedeckt, was viele in der Stadt ver- soll. Es gehört nicht viel Fantasie dazu,
Ring immer wieder Frauen sexuell be- tuschen wollten: dass beim Weißen Ring sich vorzustellen, wie schwer ein Telefon-
drängt haben soll. Und noch etwas wollte Opfer von Verbrechen offenbar noch ein- hörer werden kann, den sie dafür in die
Diana M. damals angeblich auf der Wache mal zu Opfern wurden. Seitdem werden Hand nehmen mussten. Die Frauen stellen
an der Hansestraße: Anzeige gegen jenen immer neue Vorwürfe und Details bekannt. sich ihren Erinnerungen, liefern sich er-
Detlef Hardt erstatten. So wie der gescheiterte Versuch der Diana neut der Ohnmacht aus, die sie erlebt ha-

42
ben. Und müssen sich später noch auf die bringen. Sie ermutigen Frauen, Anzeige Rede davon, dass offenbar Frauen sexuell
Frage gefasst machen, warum man ihnen zu erstatten, mit Journalisten zu reden. bedrängt wurden, nur von irgendwelchen
überhaupt glauben soll, sie hätten das alles Die Helfer schauen zurück, sie kauen »Grenzüberschreitungen«.
doch schon früher sagen können. seit vier Wochen darauf herum, was sie Döring sagt, er habe auch bereits im
Auch Renate Schaller* hat über Jahre hätten ahnen können. Mit dem Wissen Juli 2017 den Bundesverband ins Bild ge-
gezögert, gehadert, mit sich gerungen – von heute erkennen sie Verhaltensmuster, setzt, gleich nachdem Lübecks Polizeichef
weil sie, die Hartz-IV-Empfängerin, doch Alarmzeichen. Da ist zum Beispiel das die Ablösung von Hardt gefordert hatte.
»gegen ihn nicht ankomme«. Am Karfrei- ältere Ehepaar, damals beim Weißen Ring Es war also kein Alleingang, als sich Dö-
tag hat sie es dann doch getan: Strafan- und mit Hardt befreundet. Vor zehn Jah- ring erst mal um die Wahrheit herum-
zeige erstattet, weil Hardt ihr bei einer ren ein Besuch bei Hardt: Der habe plötz- schlich. Die Zentrale des Weißen Rings
Autofahrt die Hand auf den Oberschenkel lich seinen Laptop aufgeklappt und Fotos stand Pate.
gelegt haben soll. vorgeführt: zwei Frauen, die er offenbar Allerdings hat sich die Bundesvorsitzen-
Ob das juristisch viel bringt, ist fraglich. gut kannte, in Reizwäsche und erotischer de, Roswitha Müller-Piepenkötter, inzwi-
Der Übergriff soll 2014 gewesen sein. Erst Pose. Und das zeigte er angeblich einfach schen so demütig für die Presse-Handrei-
seit der Gesetzgeber das Sexualstrafrecht so, bei einem Glas Wein, als wäre es das chung entschuldigt, wie man das sonst nur
im November 2016 novelliert hat, könnte Normalste der Welt. von japanischen Firmenchefs kennt, nach
so eine Hand auf dem Bein als sexuelle Das fand das Ehepaar damals verstörend; selbst verschuldeten Atomkatastrophen.
Belästigung gelten. Aber selbst dann: Wie 2012 trat es aus dem Weißen Ring aus, weil Die Formulierung sei »gerade aus Sicht
sollte das Strafgesetzbuch die Ängste er- Hardt den beiden nicht mehr geheuer war. der Opfer eine schwer erträgliche Ver-
messen, die bei Schaller wieder aufbra- Heute fragt sich das Paar, ob es nicht etwas harmlosung« gewesen, »die wir zutiefst
chen? Bei einer Frau, die sich als Opfer gegen ihn hätte unternehmen müssen. bedauern«.
einer brutalen Vergewaltigung dem Wei- Hardt will zu der Geschichte mit den Fotos Das reicht nicht jedem: Eine Frau – auch
ßen Ring anvertraut hatte? nichts sagen, außer: alles lange her. sie erlebte Hardt als aufdringlich – schrieb
20 Anzeigen liegen inzwischen bei der dem SPIEGEL dazu, »nichts und niemand
Staatsanwaltschaft Lübeck, in 10 Fällen Die Geläuterten wird mich dazu bringen, mich in diesem
hat sie Ermittlungen aufgenommen. Bei Der Weiße Ring hat versagt, nicht nur in Leben an den Weißen Ring wieder zu wen-
älteren, aus der Zeit vor der Novelle, mag Lübeck, sondern auch in der Mainzer Zen- den«. Der Weiße Ring »zieht jetzt eine rie-
am Ende immer noch eine Nötigung übrig trale, aber immerhin gibt er heute zu, dass sige Show ab, um sein Image aufzupolie-
bleiben; der Vorwurf, Hardt habe von er versagt hat. ren. Ohne mich!«
Frauen verlangt, sich anfassen zu lassen, Auch der Landesvorsitzende Uwe Dö- Andererseits kann sich der Weiße Ring
sonst werde er nicht helfen. Schallers Fall ring hat versucht, die Affäre still abzuwi- zugutehalten, dass er heute tut, was nötig
könnte dagegen in der Ablage enden. Kein ckeln, gesichtswahrend für Hardt, für den ist: sich ganz auf die Seite der Opfer zu
Anfangsverdacht auf eine Straftat. Weißen Ring, für sich selbst. Aber Döring stellen. Der Verein hat versprochen, die
Und trotzdem: Ihre Anzeige ist ein ist dann schnell zurückgetreten, statt sich Anwaltskosten für alle Frauen zu über-
Statement, der Versuch, ihre Stimme zu- an seinen Posten zu klammern. nehmen, falls Hardt gegen sie klagen soll-
rückzugewinnen. Ihr Selbstbewusstsein Und die Polizei in Lübeck: Sie hatte te. Das war wichtig, weil Hardt gerade
und ihre Courage. Die Courage braucht schon länger, zu lange Hinweise, dass Frauen zu nahe gerückt sein soll, die kaum
sie noch aus einem anderen Grund: Schon Hardt der falsche Mann in seinem Amt Geld haben, sich keinen Anwalt leisten
bevor die ersten Berichte erschienen, hatte war. Aber im Sommer 2017 hat Polizeichef können.
Hardt Strafanzeige gegen unbekannt er- Norbert Trabs verlangt, dass der Weiße Müller-Piepenkötter hat außerdem öf-
stattet. Wegen falscher Verdächtigung, Ring ihn ablöst. Trabs hat das Innenminis- fentlich mit den richtigen drei Wörtern
übler Nachrede, Verleumdung. Wer sich terium informiert. Und er hat sich, als der um Verzeihung gebeten: »Ich schäme
danach noch traute, Hardt zu belasten, der Fall jetzt an die Öffentlichkeit kam, nicht mich.« So, wie der Weiße Ring in den vier
wusste, dass er es mit dem Staatsanwalt hinter dem Dienstgeheimnis oder sonst Wochen aufgetreten ist, hat er sich eine
zu tun bekommen könnte. etwas Kleingedrucktem verschanzt, son- Chance verdient. Schon deshalb, weil es
Auch deshalb fällt es Frauen schwer zu dern weitgehend transparent erklärt, wer sonst niemanden gibt, der seine Arbeit
reden. Offenbar gab es nie Zeugen, immer was bei der Polizei wusste. macht.
nur Vieraugensituationen, darauf baut Das geschieht sicherlich auch aus Selbst-
auch Hardts Verteidigungslinie, die Frauen schutz – wer mag schon mit einem klebri- Die anderen
würden lügen, er allein sage die Wahrheit. gen Ex-Kollegen untergehen? Aber zu spü- Beim Frauennotruf Lübeck ist es um-
Sie steht und fällt aber damit, wie viele ren ist auch ehrlicher Ekel, dass ein Mann gekehrt. Der Verein, alimentiert von Stadt
Frauen ihn belasten. Je mehr das tun, des- sein Ehrenamt ausgenutzt haben soll. Eine und Land, hatte noch im Januar den Wei-
to schwieriger für ihn. Darum geht es auch tief sitzende Empörung, dass Hardt an- ßen Ring mit einem Brief unter Druck ge-
Schaller, dafür riskiert sie, dass Hardt sie scheinend nicht nur die gute Sache ver- setzt, das Tuch des Schweigens wenigstens
verklagt. Jede Anzeige zählt. Damit man raten hat, sondern auch alle, die ihn unter- ein Zipfelchen zu lupfen. Das Ergebnis war
ihnen glaubt, den Frauen, nicht dem mut- stützten. Die Polizei gehörte in Lübeck die verdruckste Presse-Handreichung.
maßlichen Täter. immer zu den größten Freunden und Hel- Aber seit der Fall Hardt in allen Zeitun-
Zu den Anständigen gehören auch fern des Weißen Rings. gen steht, gehören die Frauenschützerin-
weiterhin die mehr als 3000 Ehrenamt- Die Zentrale des Vereins in Mainz muss nen zu den Wegduckern. Sie verteidigen
lichen des Weißen Rings, die in ihrer Frei- jetzt nicht nur die Scherben des Landes- sich in einem Ton, als wäre jede Kritik an
zeit Menschen in Not helfen. Nun haften verbands aufkehren, sondern auch die ihnen ein Angriff auf die Würde der Frau.
sie mit ihrem Ruf für das, was in Lübeck eigenen. Die Bundesspitze gehörte an- Zwei mutmaßliche Hardt-Opfer werfen der
passiert ist – und für das, was dort ver- fangs selbst zu den Vertuschern. Sie hatte Beratungsstelle vor, ihnen eine Strafanzei-
säumt wurde. Es ist berührend, was eini- dem Landesvorsitzenden Döring aufge- ge gegen Hardt ausgeredet zu haben. Der
ge von ihnen tun, um alles ans Licht zu schrieben, was er sagen sollte, nach der erste Fall reicht ins Jahr 2011 zurück, Hardt
Trennung von Hardt im November. Eine soll einer Frau zwischen die Oberschenkel
* Name geändert. »Presse-Handreichung«. Da war keine gefasst haben – was er bestreitet. Der Frau-

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 43


Deutschland

ennotruf hätte damals darauf bestehen


können, dass Hardt sein Amt aufgibt.
Als der SPIEGEL dem Notruf dazu neun
Fragen stellte, kamen läppische zwei Sätze
Falsch verdrahtet
zurück. Kurz danach stand der Fall von 2011
im Blatt, und die Frau, die damals mit ihrer Ermittlungen Der Amokfahrer von Münster besaß
Anzeige am Frauennotruf gescheitert sein Waffen, hortete Explosionsstoffe und baute Sprengfallen.
will, wollte noch mal reden. Ein klärendes Hatte er noch Schlimmeres im Sinn?
Gespräch mit der Beratungsstelle, über
Fehler, Missverständnisse, über die Art, wie
der Notruf Hardt davonkommen ließ.
Doch der Frauennotruf ließ sie trocken
abprallen. Es gebe einen Vorstandsbe-
schluss, nicht mit ihr zu reden. Sie solle
A ls die Männer des Spezialeinsatz-
kommandos ankamen, erwartete sie
eine Überraschung. Am Wohnungs-
eingang von Jens R. sahen sie ein Schild:
sorgt? Mit religiösem oder politischem Ex-
tremismus hatte R. nichts zu tun. Er war
ein schwer nervenkranker Mann, der nach
einer misslungenen Rückenoperation un-
sich doch woanders beraten lassen. Dem »Tür aufbrechen auf eigene Gefahr«. ter erheblichen körperlichen Einschrän-
SPIEGEL erklärte der Frauennotruf dazu, Die Polizisten sprengten die Tür auf und kungen litt. Jens R. fühlte sich verfolgt, ge-
man könne nicht helfen, wenn es am erkannten, dass das Schild seinen Sinn hat- quält, hintergangen.
gegenseitigen Vertrauen fehle. Das klang te. Am Türrahmen hingen Drähte, Jens R. Er warf seinen Eltern psychische Miss-
beleidigt, als wäre der Frauennotruf das hatte dort vor seiner Amokfahrt in Müns- handlungen vor, unterstellte seinen Be-
Opfer, nicht die Frau. ter eine Sprengfalle angebracht. In der kannten Mordversuche, beschuldigte den
Einer ähnlichen Rechtfertigungsrheto- Wohnung fanden sie Gasflaschen, »Polen- Arzt, der ihn am Rücken operiert hatte,
rik bedient sich Oliver Dedow. Der war in böller« sowie ein Sturmgewehr vom Typ ihn absichtlich zum Krüppel gemacht zu
Lübeck einer von acht Juristen, die der AK-47. haben. Er überwarf sich mit Geschäftspart-
Weiße Ring empfahl, wenn Opfer einen Die Sprengfalle war nicht mit den nern und bezichtigte andere, ihn zu mani-
Anwalt brauchten – nun hat ihn der Verein Gasflaschen verbunden, das Sturmgewehr pulieren. Sogar seine Ex-Freundin – »das
aus der Liste gestrichen. Dedow ist heute zumindest vorläufig funktionsunfähig ge- Liebste, was ich hatte« – hätten sie ihm
Hardts Anwalt, kürzlich hat er jene Straf- macht. Trotzdem fragen sich die Beamten: genommen.
anzeige gegen unbekannt erstattet, die auf Hatte Jens R. neben seiner Amokfahrt Jens R. wuchs im Hochsauerland auf.
Frauen zielt, die Hardt belasten. Dedow noch Schlimmeres im Sinn? Von außen betrachtet hätte es eine glück-
sagt, er sehe kein Problem darin, dass er Mehrere Spuren nähren den Verdacht, liche Kindheit werden können: ein wohl-
früher Opfer beim Weißen Ring betreut dass Jens R. womöglich geplant hatte, sei- habendes Elternhaus, Ausflüge im Wald,
habe und nun den mutmaßlichen Täter nen Freitod noch spektakulärer zu bege- teure Geschenke.
vertrete. Standesrechtlich mag er damit hen – nach dem Vorbild jener Attentäter, Doch das Gegenteil war aus seiner Sicht
recht haben, aber es geht um beides: Stan- die aus Hass und religiöser Verblendung der Fall. In einem 62-seitigen Dokument,
desrecht und Anstand. sich selbst und möglichst viele andere das er vor seiner Tat an Bekannte ver-
Auch eine Ehrenamtliche des Weißen töten. schickte, reiht er Vorwürfe an Vorwürfe.
Rings, inzwischen ausgeschieden, könnte In einer weiteren Wohnung, die dem Vor seinen Geburtstagen habe seine Mut-
sich fragen, warum sie wirklich beim Op- 48-Jährigen im selben Haus in Münster ter ihm regelmäßig gedroht, ihm die Ge-
ferhilfeverein war. Um Verbrechensopfer zu gehört haben soll, fand die Polizei noch schenke zu verweigern. Systematisch habe
schützen oder Detlef Hardt? Die Frau ist eine unbrauchbar gemachte Kalaschnikow, sie ihn von anderen isoliert, der Vater habe
seit Jahren eine enge Freundin. Als der Frau- einen Vorderlader und zwei Handgrana- ihn vor anderen Kindern und vor Erwach-
ennotruf 2012 Hardt einbestellte, um ihm ten-Attrappen. Dazu Chemikalien, aus de- senen bloßgestellt.
Hinweise vorzuhalten, er sei bei betreuten nen sich Sprengsätze bauen lassen: sechs Als er mit Heuschnupfen »weinend auf
Opfern zu weit gegangen, begleitete sie ihn. Behälter mit je 10 Litern einer einschlä- dem Bett lag«, habe sein Vater ihn als Si-
Hardt soll sich in dem Krisengespräch gigen Flüssigkeit, zwei Behälter mit je 20 mulanten beschimpft. Danach »stellte mei-
verpflichtet haben, beim Weißen Ring kei- Litern Benzin, sechs Gasflaschen zu je elf ne Mutter überall frische, Pollen verbrei-
ne Frauen mehr allein zu treffen. Für den Kilogramm, dazu Zündschnüre und Kunst- tende Blumen auf«, schreibt Jens R. »Ich
Frauennotruf sah es wohl so aus, als sitze harze. bekam rot geschwollene, stark juckende
eine Mitarbeiterin des Weißen Rings dabei, Was treibt jemanden um, der sich Uten- Augen, die Nase verstopfte, und ich litt un-
die dafür sorge, dass er sich daran halte. silien wie für einen Terroranschlag be- ter einem schmerzhaften Kratzen im
Doch Hardt traf sich weiter allein mit Frau- Hals.« Ein anderes Mal habe ihm die Mut-
en, und die Ehrenamtliche hielt ihn nicht ter die Fingernägel »bis aufs Fleisch«
auf. Die Frage, ob sie ihm nicht viel zu na- heruntergeschnitten. Er habe Schmerzen
hestand, um unabhängig gewesen zu sein, gehabt und nicht zu anderen Familien ge-
findet sie heute »infam«. So infam wie all hen können, wie er gewollt hätte.
diese Frauen seien. Die würden doch leicht Nach Abitur und Studium machte er
mal die Unwahrheit sagen. sich als Industriedesigner selbstständig –
So sieht das schließlich auch Hardt. In offenbar zunächst mit Erfolg. Ein Patent
einem Schreiben hat er kürzlich anklingen auf eine Lampe brachte ihm wohl gute Ein-
REPRO: TIM FOLTIN / BILD

lassen, er sei hier doch in Wahrheit das nahmen. R. hatte Geld, obwohl nicht ganz
Opfer. Ein Opfer der #MeToo-Bewegung. klar ist, ob es aus dem vermögenden El-
Das Opfer einer Kampagne. Alle gegen ternhaus stammte oder selbst verdient war.
einen, alle gegen ihn. Nur warum, das hat In seinen Aufzeichnungen schreibt er von
er bisher noch nicht erklärt. seinem Porsche. Nach seinem Tod fanden
Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
die Ermittler fünf Autos, darunter einen
Gunther Latsch, Jörg Schmitt Attentäter Jens R. VW-Campingbus Modell California, einen
Utensilien wie für einen Terroranschlag Geländewagen der Marke Land Rover und

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ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES
Tatort in Münster: »Lösung meiner psychischen Blockade«

einen Alfa Romeo Spider Oldtimer – ein Zwei Tage nach der Tat will der Vater ihnen, waren dafür nicht gegeben. In dem
Sammlerobjekt im Schrottzustand. In von Jens R. keine Besucher ins Haus las- Dokument, das bei der Polizei landete,
Münster besaß er zwei Wohnungen, in Pir- sen. Doch er spricht durch die Gegen- drohte er nicht explizit mit Selbstmord.
na und in Heidenau hatte er je eine Woh- sprechanlage an der Tür. Sein Sohn habe Dass er auch andere töten könnte, lässt
nung gemietet. eine schwere Nervenkrankheit mit Be- sich anhand des Schreibens nicht erahnen.
Der Erfolg im Beruf hielt nicht lange. wusstseinsstörungen gehabt. »Ich habe In den Tagen vor seiner Tat, so viel wis-
Schon eine Steuererklärung überforderte ihm noch angeboten, dass wir zusammen sen die Ermittler jetzt, hielt sich Jens R.
ihn. Dazu kamen Zahlungsrückstände von zu einer Psychologin gehen, er sagte: Nein, an seinem Zweitwohnsitz in Ostdeutsch-
Kunden und Steuervorauszahlungen. R. die Psychologin will das nicht«, sagt er. land auf. Und er war in Berlin, um dort
verdiente sein Geld auf einem Markt, auf »Aber die Wahrheit ist: Er wollte das Anzeige gegen jenen Arzt zu erstatten, der
dem es viele selbstständige Designer gibt, nicht.« ihn am Rücken operiert hatte.
die einander im Ringen um Referenzen Jens R. hat die Dokumente mit den Vor- Am Samstag dann ging um 15.27 Uhr
und Auftraggeber mit Dumpingpreisen würfen nicht an seine Eltern geschickt. der erste Notruf bei der Polizei ein. Der
ruinieren. Es ist ein Geschäft, in dem die Aber natürlich wissen sie inzwischen da- erste Streifenwagen war bereits eine Minu-
Großkunden ihre Dienstleister dominieren von. »Das Gegenteil davon ist die Wahr- te später vor Ort. Die Beamten, die zuerst
und bisweilen ausnutzen, Rechnungen ver- heit, wir sind im Dorf bekannt«, sagt Vater den Platz vor der Gaststätte »Großer Kie-
spätet oder nur teilweise zahlen – oder gar R. mit brüchiger Stimme. »Hier weiß jeder, penkerl« erreichten, hörten Schreie, sahen
nicht, wie Jens R. es einem seiner Auftrag- dass das, was er in den Briefen behauptet, Tote und Verletzte. Ein zufällig anwesen-
geber vorwarf. Geldsorgen plagten ihn. niemals passiert ist.« der Notarzt versuchte noch, Jens R. wie-
Auch seine Gesundheit verschlechterte Fest steht, dass Jens R. die 62-seitige derzubeleben.
sich. Nach einem Sturz im Treppenhaus Lebensbilanz im März an Bekannte ver- Doch R. hatte sich mit einer Pistole in
wurde R. am Rücken operiert. Er musste sandte. Er verschickte auch eine Kurzform den Kopf geschossen. Sein Wagen war an
Schmerzmittel nehmen, spürte Teile sei- davon, Röntgenbilder seines Rückens und Metallstangen vor einem Baum zum Ste-
nes Gesäßes nicht mehr und fürchtete Angaben über jene Menschen, die ihm aus hen gekommen. Vom vorderen Teil des
zu stürzen, wenn ihm seine Zehen den seiner Sicht übel mitgespielt hatten. VW führten Drähte nach hinten. Dort be-
Dienst versagten. Er sei stuhl- und harnin- Eines dieser Dokumente landete am fanden sich zwei Kilogramm Polenböller,
kontinent. Zugleich behauptete er, den 29. März um 12.11 Uhr bei der Polizei. 40 richtig verdrahtet, hätte diese Mischung
»Darm mehrfach am Tag mit einem Hand- Minuten später traf eine Streife an seiner eine erhebliche Explosion ausgelöst.
schuh manuell entleeren« zu müssen. Er Wohnung ein, doch R. war nicht zu Hause. Es war wie in seiner Wohnung: R. hielt
habe die Wahl, sich erneut operieren zu Auch an seinem Zweitwohnsitz in Ost- potenziell todbringende Waffen bereit,
lassen, sich danach nicht mehr bücken zu deutschland war er nicht anzutreffen. aber er stellte sie nicht scharf. Der Mann
können. Hätte die Polizei an diesem Tag mit aus Münster war kein islamistischer Ter-
In psychologische oder psychiatrische einem größeren Einsatz das Drama ver- rorist, sondern psychisch krank.
Behandlung, so der Stand der Ermittler, hindern können? Die Ermittler fragen sich Doch auch er riss in seiner Verzweiflung
begab Jens R. sich nie. Stattdessen driftete das bis heute. Sie schrieben Jens R. nicht zwei Menschen mit in den Tod.
er wohl ab. In seinen Aufzeichnungen zur Fahndung aus und versuchten ebenso Jörg Diehl, Lukas Eberle, Peter Maxwill,
spricht er dagegen von der »Lösung mei- wenig, ihn in Gewahrsam zu nehmen. Die Fidelius Schmid
ner psychischen Blockade«. rechtlichen Voraussetzungen, so schien es

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Deutschland

Der Jahrhundertmörder
Kriminalität Der Krankenpfleger Niels Högel tötete mehr Menschen als alle anderen Serientäter
in der Bundesrepublik. Wer ist dieser Mann, der wegen 97-fachen Mordes angeklagt ist?

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Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL 47
Deutschland

»Er arbeitete umsichtig, gewissenhaft ein »Podest«, wie er sagt. Es gab ihm ein 2005, immer und immer wieder tötete?
und selbstständig. In kritischen »gutes Gefühl«. Der selbst vor einem Freund nicht halt-
Situationen handelte er überlegt und Viele Menschen mussten für sein »gutes machte und ihn offenbar nach einem Ver-
sachlich richtig.« Gefühl« sterben. Nicht nur in Delmen- kehrsunfall beinahe ins Jenseits spritzte?
Zeugnis, Klinikum Oldenburg, 2002 horst. Irgendwann räumt Högel ein, dass Sogar in seiner allerletzten Spätschicht
er schon in Oldenburg getötet hatte. Dort tötete Högel wohl noch, dabei hatte ihn

N
hatte er in den Städtischen Kliniken gear- eine Schwester zuvor erwischt. Renate R.,
iels Högel will auspacken. Zehn beitet, bevor er nach Delmenhorst kam. 67, starb am 24. Juni 2005 um 19.05 Uhr.
Jahre und elf Monate lang haben An mehr als 30 seiner Opfer kann er Ärzte und stellvertretende Pflegedienst-
die Ermittler auf diesen Tag ge- sich in der Vernehmung erinnern. An Hero leitung hatten Högel diese eine Schicht
wartet. Sie haben große Schau- van S. zum Beispiel, der im ersten Nacht- weiterarbeiten lassen, da er danach ohne-
bilder vorbereitet: Patientendaten, Befun- dienst starb, nachdem Högels Tochter zur hin in Urlaub ging. Sie hatten darauf ver-
de, Todeszeiten, die Dienste des Kranken- Welt gekommen war. Er habe die »Eupho- zichtet, ihn zu suspendieren, wohl um Auf-
pflegers. Die Notizen sollen Högel helfen, rie« nach der Geburt aufrechterhalten wol- sehen zu vermeiden.
sich an die einzelnen Morde zu erinnern. len, sagt Högel, diese »Hochstimmung«, Es stellen sich also auch Fragen nach
So viele sind es, dass es schwerfällt, den dieses »Glücklichsein«. Dem 84-Jährigen der Mitschuld der Krankenhäuser, der Ärz-
Überblick zu behalten. spritzte er das Medikament Gilurytmal, te, Krankenschwestern und -pfleger. Es
Zwei Kameras zeichnen die Verneh- der Wirkstoff Ajmalin führte zu Herz- gab viele Indizien und Verdachtsmomente.
mung in der Polizeiinspektion Oldenburg kammerflimmern. Der Kreislauf von Hero Aber niemand rief die Polizei. Auf den In-
auf, eine für die Nahaufnahme, die andere van S. kollabierte. Högel versuchte, den tensivstationen in Oldenburg und Delmen-
für die Totale. Im Raum nebenan sitzen schwer kranken Mann zu reanimieren. horst machten die Kollegen makabre
ein medizinischer Gutachter und Beamte Ohne Erfolg. Er starb um 1.32 Uhr. Danach Scherze über den »Todes-Högel«, weil im-
der Sonderkommission »Kardio« vor ei- fuhr Högel zu seiner Frau und dem Neu- mer wieder Patienten starben, wenn er
nem Bildschirm, um auf Ungereimtheiten geborenen nach Hause. Dienst hatte. Laut einer Zeugin hieß es auf
und Widersprüche zu achten. Es habe ein neues Leben begonnen, und der Station: »Da kommen Niels und sein
Um zehn Uhr führt ein Justizbeamter er habe ein Leben beendet, sinniert der schwarzer Schatten« oder »Niels und der
Högel herein und nimmt ihm die Hand- Soko-Chef Schmidt. Eine größere Kluft Sensenmann«.
schellen ab. Högel trägt ein dunkles Hemd könne es nicht geben. »Natürlich nicht«, Wegen des Vorwurfs »Totschlag durch
und weiße Turnschuhe, die schwarzen antwortet Högel. Aber so »tiefgründig« Unterlassen« werden sich im Anschluss an
Haare sind kurz geschnitten. Er setzt sich habe er nicht gedacht. Darum sei es ihm den Högel-Prozess zwei Ärzte und zwei
neben seine Anwältin an einen runden auch nicht gegangen. leitende Pflegekräfte aus Högels Delmen-
Tisch. »Alles, was ich sagen kann, werde horster Zeit vor Gericht verantworten
ich sagen«, verspricht er. Soko-Chef Arne Die Ermittler vernehmen Högel sechs müssen. Zudem wird gegen zwei damals
Schmidt und Oberstaatsanwältin Daniela Tage lang, insgesamt 30 Stunden. Am Ende verantwortliche Ärzte und den ehema-
Schiereck-Bohlmann bieten ihm Wasser kommen sie auf eine ungeheuerliche Zahl: ligen Geschäftsführer des Klinikums in
und Kaffee an. Der Ton ist freundlich. 103. So viele Taten glauben sie dem Kran- Oldenburg ermittelt. Die Mordserie des
So beginnt am 25. Mai 2016 ein Verhör, kenhausmörder sicher zuordnen zu können. Krankenpflegers wird die Justiz wohl noch
an dessen Ende das Geständnis eines Jahr- Der Todespfleger aus Niedersachsen lösch- Jahre beschäftigen.
hundertmörders stehen wird. te demnach mehr Menschenleben aus als Niels Högel kehrt nach seinem Ge-
Högel spricht zögerlich mit ruhiger, tie- jeder bekannte Serienmörder in der Ge- ständnis in seine Zelle auf Station B3 der
fer Stimme. Er beginnt Sätze, unterbricht schichte der Bundesrepublik Deutschland. Justizvollzugsanstalt Oldenburg zurück:
sich, überlegt, spricht weiter. »Das zu ak- Ab Herbst muss sich Högel, heute 41 Jah- 9,9 Quadratmeter, Holzmöbel, Flachbild-
zeptieren, dass das also wirklich vielfach, re alt, vor Gericht verantworten. Damit die fernseher, nicht brennbarer Vorhang, se-
also meistens auf meine Kappe geht«, das Angehörigen seiner vielen Opfer Platz fin- parates WC.
sei so »weit weg von einem selber«. den, wird nicht in einem Gerichtssaal ver- Die grüne Stahltür öffnet sich jeden
Anfangs räumt der Krankenpfleger nur handelt, sondern in den Weser-Ems-Hallen, Morgen um sechs Uhr zur »Lebendkon-
ein, einigen Patienten auf der Intensivsta- wo sonst Stars wie Vanessa Mai auftreten. trolle«. Högel muss sich durch Rufen oder
tion des Klinikums Delmenhorst, das heu- 120 Nebenkläger mit 17 Anwälten haben Winken bemerkbar machen, damit die
te Josef-Hospital heißt, tödlich wirkende sich zu dem Prozess angekündigt. Vollzugsbeamten wissen, dass er lebt. Du-
Mittel gespritzt zu haben. Er tut das, was Die Staatsanwälte werfen Högel vor, schen, Frühstück, Arbeiten in der Werk-
er jahrelang getan hat: zugeben, was sich 97 Menschen heimtückisch und aus nie- statt, eine Stunde Hofgang. Um 20 Uhr
nicht mehr leugnen lässt, alles andere ab- drigen Beweggründen getötet zu haben; schließt sich die Stahltür wieder hinter
streiten. Doch nach und nach bricht er sein wegen sechs Taten ist er bereits zu einer dem Häftling. Das ist der Tagesablauf.
Schweigen. lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die An den Alltag hinter Gittern gewöhnte
Er erzählt, wie er sich immer wieder in Akten der Ermittler, die Untersuchungen sich der Krankenpfleger, der inzwischen
die Zimmer von Patienten geschlichen der Mediziner, die Aussagen der Zeugen seit neun Jahren im Gefängnis sitzt, rasch.
habe, wenn die anderen Schwestern und und die Gutachten zu den Exhumierungen Er besuchte einen »Naikan«-Kurs, eine
Pfleger in der Küche oder im Teeraum füllen Regalwände. Die Beamten der Soko japanische Meditationsform zur Selbster-
gesessen hätten. Seine tödliche Routine: haben auf 67 Friedhöfen 134 Leichen aus- kenntnis, belegte vier Seminare in Musik-
Alarm ausschalten, Herzmittel spritzen gegraben, sogar in Polen und in der Türkei meditation und zwei Schriftsteller-Lehr-
und schnell raus, »in eine ganz andere ließ die Staatsanwaltschaft verstorbene gänge.
Ecke oder Gegend« der Station. Wenn Patienten exhumieren. Rechtsmediziner Ex-Gefangene erzählen, Högel sei be-
ein Herz aufhörte zu schlagen und nach untersuchten die Überreste der Leichen liebt unter den Häftlingen. »Wir haben uns
30 Sekunden der Signalalarm wieder an- auf Spuren von Medikamenten, mit denen kennen- und schätzen gelernt«, sagt Lars
sprang, kam Högel wie zufällig dazu und Högel getötet hatte. T. Er hatte wie Högel Krankenpfleger ge-
übernahm die Reanimation. Darin war er Wer ist dieser Mensch, der fünfeinhalb lernt und saß in Oldenburg eine Strafe
gut. Dafür lobten ihn alle, stellten ihn auf Jahre lang, von Anfang 2000 bis Mitte wegen Internetbetrug ab. T., inzwischen

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Immer wieder aufs Neue: den Schlauch zum Intubieren durch Mund und Kehlkopf bis mitten
in die Luftröhre einführen. Defibrillator aufsetzen. Stromschlag. Wumm.

aus der Haft entlassen, ist so etwas wie Um Strafe geht es jetzt eigentlich nicht Die Reanimationen hätten dem Pfleger
Högels inoffizieller Sprecher. Er besucht mehr. »Wir haben eine Verantwortung einen »Kick« gegeben, weil er sie so gut
ihn im Gefängnis und telefoniert mit ihm. gegenüber jedem einzelnen Opfer«, sagt beherrschte. Die Menschen hinter den
Högel sei durchaus bereit, »sich zu öffnen Arne Schmidt, der Leiter der Soko »Kar- Patienten, die auf der Intensivstation an
und mit Journalisten zu sprechen«, sagt dio«, die inzwischen aufgelöst wurde. Schläuchen und Geräten hingen, habe der
T., aber erst nach dem Mordprozess. Selbst wenn es für Angehörige schwer sei, Angeklagte dabei aus dem Blick verloren,
Anfangs saß Högel nur wegen einer Tat nach zehn Jahren von der Polizei zu hören, trug Karyofilis im Gerichtssaal vor.
im Gefängnis, der aus jener Nacht, als ihn dass ein enger Verwandter mutmaßlich er- Wie man jetzt weiß, erzählte Högel auch
seine Kollegin auf frischer Tat erwischte. mordet worden sei und Gräber hätten ge- dem Gerichtspsychiater nur die halbe
Dieter M., 63, wurde reanimiert und ver- öffnet werden müssen. »Es hilft nichts«, Wahrheit. In krakeliger Handschrift verfass-
starb erst am Folgetag. Högel wurde 2008 sagt Schmidt. »Es geht um die Ermordeten te er im Gefängnis einen Brief an Karyofilis.
wegen »versuchten Mordes« verurteilt und selbst. Sie verdienen Gerechtigkeit.« Ihm sei »klar geworden, dass ich die ganze
musste für siebeneinhalb Jahre ins Gefäng- Zeit über mit einer Riesenlüge gelebt
nis. Dabei war längst klar: Das konnte Niels Högel bestritt die Taten über Jahre habe«, notierte Högel im Juli 2016. »Ich
nicht alles gewesen sein. Angehörige ande- und schwieg vor Gericht. Erst gegen Ende schäme mich sehr.« Es falle ihm immer
rer Opfer forderten weitere Ermittlungen. des zweiten Prozesses, Anfang 2015, ge- schwerer, »mit dieser Last« umzugehen.
Doch es sollte noch Jahre dauern, bis stand er dem Gerichtsgutachter Konstan- »Ich versuche jeden Tag, jeden Abend, mir
der Pfleger erneut vor Gericht stand. tin Karyofilis, häufiger getötet zu haben, Erinnerungen hervorzurufen, aber es ge-
Wegen zweifachen Mordes, zweifachen als ihm vorgeworfen wurde. Högel räumte lingt mir nicht. Am schlimmsten sind die
versuchten Mordes sowie gefährlicher Kör- zunächst rund 30 Todesfälle auf der Inten- Träume. Alle erwarten Aufklärung von mir,
perverletzung verurteilte ihn das Landge- sivstation in Delmenhorst ein, bei denen ich erwarte es ja auch von mir selbst.«
richt Oldenburg im Februar 2015 zu einer er nachgeholfen hatte. Als Karyofilis dem Högel klagt: »Die Menschen denken,
lebenslangen Freiheitsstrafe und stellte die Gericht diese Nachricht mitteilte, war das ich halte aus taktischen Gründen alles zu-
besondere Schwere der Schuld fest. Ein eine Sensation. Die Ermittlungen standen rück.« Und: »Es tut mir sehr weh, wenn
höheres Strafmaß gibt es nicht. wieder ganz am Anfang. ich lesen muss, ich wäre ein Lügner.« An

Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL 49


Deutschland

die Taten im Klinikum Oldenburg habe er Nach dem Realschulabschluss folgte Hö- Zunächst merkte niemand, dass Högel
wirklich keine Erinnerung gehabt. »Die gel dem Vorbild des Vaters, wurde eben- nachgeholfen hatte, bevor er Patienten ge-
Zeit aus Oldenburg war einfach nicht da.« falls Krankenpfleger. Beim WSC Frisia konnt ins Leben zurückholte. Immer wieder
Ob Karyofilis ihm nicht helfen könne, sich spielte Högel Fußball, im Mittelfeld und aufs Neue: den Schlauch zum Intubieren
zu erinnern. im Sturm. Er »war lustig«, heißt es überall. durch Mund und Kehlkopf bis mitten in die
Vielleicht verrät dieser Brief mehr über Er habe Bier getrunken und eine Freundin Luftröhre einführen, Defibrillator aufsetzen.
Högel, als der Verfasser beabsichtigt. Wäh- gehabt. »Ganz normal halt, ein nettes Stromschlag. Wumm. Noch ein Stromschlag.
rend draußen das Entsetzen groß ist, weil Paar«, sagt einer. Wumm. Irgendwann schlägt das Herz dann
immer mehr Taten bekannt werden, sorgt Wenn man Freunde, Mitschüler und wieder im Takt – oder eben nicht.
sich der Serienmörder im Gefängnis da- Lehrer reden hört, deutete nichts darauf Für einen Körper ist jede Reanimation
rum, er könne für einen Lügner gehalten hin, dass aus dem netten Niels ein Mörder eine Qual, ein letzter brutaler Akt, ihn ins
werden. Mitgefühl für die Opfer und deren werden könnte. Es führt kein Weg von Diesseits zurückzuholen, wenn das Leben
Familien äußert er nicht. dem Högel davor zu dem Högel danach. bereits aufgegeben hat.
Wer in Wilhelmshaven nach Niels Hö- Wenn jemand in Oldenburg in den Kran-
gel fragt, hört Geschichten über einen net- Seinen ersten Mord beging der Kranken- kenakten der Toten nach Auffälligkeiten ge-
ten Jungen. »Es ist mir unbegreiflich, wie pfleger laut den Ermittlungen am 7. Febru- sucht hätte, wären ihm vielleicht die vielen
aus diesem unkomplizierten Schüler ein ar 2000, ein halbes Jahr nach seinem Ar- merkwürdigen Kaliumwerte aufgefallen.
Mörder werden konnte«, sagt Högels ehe- beitsantritt in den Städtischen Kliniken Ol- Auf der Hightech-Intensivstation für Herz-
maliger Lehrer Atto Ide. Sechs Jahre lang denburg. Zuerst verabreichte Högel seiner patienten wurden die Blutwerte fortlaufend
begleitete Ide den Jungen auf der IGS Wil- Patientin eine Spritze mit dem Wirkstoff gemessen und dokumentiert. Wohldosiert
helmshaven, einer der ersten Integrierten Lidocain, dann reanimierte er sie. Andert- lässt Kalium das Herz im Rhythmus schla-
Gesamtschulen Niedersachsens. halb Stunden später starb Elisabeth S., gen. Eine Überdosis kann zu einem Herz-
Högels Eltern hatten sich für das beson- eine herzkranke Frau von 77 Jahren, auf stillstand führen. Högel manipulierte den
dere pädagogische Konzept entschieden: der herzchirurgischen Intensivstation. Kaliumspiegel.
ein individueller Lernweg, der sich nach Die Station ist mit Türen aus Milchglas Einige Patienten der Kardio-Intensivsta-
der Entwicklung des einzelnen Schülers verschlossen, Besucher müssen auf einen tion reanimierte er laut den Ermittlungen
richtet. Bis zum Ende der achten Klasse Klingelknopf drücken. Man geht durch der Polizei nicht nur einmal, sondern
erhielten die Schüler damals Lernentwick- einen Vorraum, dann einen Gang an der mehrmals. Bei der Herzpatientin Ursula
lungsberichte, erst dann Zeugnisse mit Zentrale der Station vorbei, bis man in J. löste er am 28. Februar 2001 einen Kol-
Zensuren. Der Lehrer erinnert sich genau einen langen, schmalen Raum gelangt. laps aus, um sie danach wiederzubeleben.
an den schlanken und sportlichen Jungen, Hier finden beim Schichtwechsel die Am 2. März wiederholte der Pfleger die
der mit seinem dunklen, lockigen Haar Übergaben statt, hier saß Niels Högel mit Tortur. Als Högel Anfang März 2001 ein
»irgendwie niedlich« aussah, »ganz anders, seinen Kollegen zusammen. Schwestern weiteres Mal an ihr Bett kam, spritzte er
als er sich vor Gericht darstellte«. und Pfleger berichten von ihren Patienten. ihr Gilurytmal. Den folgenden Kreislauf-
Niels sei weder Außenseiter noch Einzel- Högel sagte oft wenig zu den Kranken, für zusammenbruch überlebte sie trotz
gänger gewesen, habe »immer einen flotten die er verantwortlich war. »Bett eins – al- Wiederbelebungsversuch nicht mehr. In
Spruch auf den Lippen« gehabt, erinnert les okay«, »Bett zwei – ruhige Nacht«. der exhumierten Leiche fanden sich Rück-
sich der Lehrer. »Ich hätte erwartet, dass Die Patienten, erzählen ehemalige Kolle- stände des Wirkstoffs Ajmalin.
jemand, dem Menschenleben nichts wert gen, hätten Högel nicht besonders inte- Mehrere Kollegen schöpften Verdacht.
zu sein scheinen, in der Schule ein auffälli- ressiert. Eine Mitarbeiterin der Intensivstation
ges Kind gewesen sein müsste. Niels sagte der Polizei, sie habe in einer
war das nicht. Ganz und gar nicht.« Nacht, als sechs Patienten zu reani-
Eine Mitschülerin erinnert sich mieren gewesen seien, Högel mit
an den »liebenswerten, lustigen einer Spritze in der Hand am Bett
Kerl«, der durch seine dunklen, bu- eines Patienten getroffen. Auf die
schigen Augenbrauen aus der Masse Frage, welches Medikament er ver-
der Jungen herausstach. »Einige abreichen wolle, habe er geantwor-
Mädchen waren in Niels verliebt«, tet: »Xylocain.« Ein Mittel, mit dem
auch sie habe eine Zeit lang für ihn er laut Anklage immer wieder tötete.
geschwärmt. Eine Krankenschwester, mit der
Eine Geltungssucht, die ihn zu Högel kurzzeitig liiert war, sagte der
der Mordserie getrieben haben soll, Polizei, sie habe ihn nach zwei Vor-
sei damals nicht zu erkennen ge- fällen gefragt, ob er irgendetwas ge-
wesen, sagt Wilfried Sippel, der von macht habe. Sie habe ein ungutes
der Fünften bis zur Zehnten Högels Gefühl gehabt und Högel gebeten,
Klassenlehrer war. »Der Junge war von ihren Patienten wegzubleiben.
gut integriert und anerkannt, Jungs Die Aussagen der Klinikmitar-
wie Mädchen mochten ihn.« Ein beiter in Oldenburg gleichen denen
»angenehm unauffälliger Typ« sei aus Delmenhorst, wo Högel im
er gewesen. Högels Eltern – der Va- Anschluss weitermordete. Viele tu-
ter Krankenpfleger, die Mutter schelten, niemand zeigte ihn an.
Rechtsanwaltsgehilfin – habe er als Warum? Högel selbst formuliert es
sehr sympathisch wahrgenommen, in seiner Befragung so: »Weil dieser
sagt der Lehrer, »ich hatte den Ein- Tatvorwurf oder dieses Geschehen
druck, bei Högels herrsche ein ver- so überdimensional ist, so unglaub-
nünftiges, harmonisches Familien- lich, dass keiner das irgendwie den-
verhältnis«. ken wollte.«

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Der Chefarzt der kardiologischen Patient zu Tode – nachdem Högel
Intensivstation ließ von dem dama- ihn reanimiert hatte.
ligen Stationsleiter eine Strichliste Die Intensivstation liegt im ers-
anfertigen: wer Dienst hatte, wenn ten Stock, 14 Betten in neun Zim-
Menschen reanimiert wurden. Bei mern. Die Kollegen wunderten sich,
den meisten Mitarbeitern fanden dass der ehrgeizige Pfleger hier ar-
sich ein, zwei oder drei Striche. beiten wollte. Högel fügte sich in
Zwei Mitarbeiter waren bei neun Delmenhorst gut ein, er war beliebt,
Wiederbelebungen dabei. Niels Hö- vor allem bei den Ärzten. »Es hat
gel: 18 Striche. Spaß gemacht, mit ihm zusammen-
Als die Ermittler den Chefarzt zuarbeiten«, sagt ein damaliger As-
auf die Liste ansprachen, sagte er, sistenzarzt. Medizinisch kompetent
es habe plausible Erklärungen für sei Niels Högel gewesen und meis-
Högels Anwesenheit gegeben und tens guter Laune. »Er kannte jedes
keine Hinweise, dass er Patienten Gerät in- und auswendig. Alles
bewusst schädige. Laut einer Zeu- klappte bei ihm wie am Schnürchen,
genaussage soll der Chefarzt aber ohne Diskussionen.«
alle Oberärzte auf Högel aufmerk- Nur zwei Dinge seien an ihm ne-
sam gemacht haben: Man solle ein gativ aufgefallen: »Die Patienten
Auge auf ihn haben. Auch die Pfle- hat er nicht wirklich als Menschen
gedienstleiterin und der Stationslei- wahrgenommen, sie waren fast wie
ter seien angesprochen worden. Gegenstände für ihn«, erinnert sich
Dokumente belegen, dass die da- der damalige Assistenzarzt. Einen
malige Führungsspitze des Olden- dicken Patienten nannte er »Wal«.
burger Klinikums sich intensiv mit Die Kranken waschen, ihnen den
dem Verdacht gegen Högel befasst Mund befeuchten, das beschränkte
hat. In einem Vermerk hielt Högels Sta- zu werden. Wahlweise könne er bei vollem er aufs Nötigste. »Und er war geradezu
tionsleiter fest: Er habe mit der Geschäfts- Gehalt zu Hause bleiben, wenn er zum süchtig danach zu reanimieren.«
leitung, dem Personalchef, dem Chefarzt Ende des Jahres kündige. Auf der Intensivstation stehen zwei hell-
der Station sowie der Pflegedienstleitung Högel wählte die Kündigung. Zu diesem blaue Reanimationswagen, einer rechts,
darüber beraten, die Staatsanwaltschaft Zeitpunkt, so glaubt die Staatsanwalt- einer links vor den Patientenzimmern. Da-
einzuschalten. Die Runde sei jedoch zu schaft, hatte er 35 Morde begangen. Die neben auf fahrbaren Edelstahltischen die
dem Schluss gekommen, dass Beweise fehl- Klinik, in der viele mindestens eine böse Defibrillatoren. Högel benutzte die Appa-
ten. »Die Gefährdung der Abteilung, ja Ahnung hatten, schrieb ihm noch ein gutes rate oft und gern. Mit Vorliebe arbeitete
des gesamten Klinikums ist nicht zu ak- Zeugnis. Von der Todesliste und den Ver- er nachts. Wenn sie zur Frühschicht kam
zeptieren aufgrund von Verdachtsmomen- dachtsmomenten sollte die Polizei erst und leere Betten auf dem Flur standen,
ten und vielen Zufällen«, notierte der mehr als zehn Jahre später erfahren. dachte die stellvertretende Stationsleiterin
Stationsleiter. Moralisch trage das Klinikum die »grö- laut ihrer Zeugenaussage: »Oh, was ist
Auch der Betriebsrat befasste sich mit ßere Verantwortung«, sagt der Oldenbur- jetzt passiert, ist Niels wieder da?«
dem Verdacht. Eine Besprechung mit dem ger Polizeipräsident Johann Kühme, »weil Irgendwann sei jedes Mal, jeden Tag je-
damaligen Klinik-Geschäftsführer hatte die Verantwortlichen die Morde in Del- mand gestorben, den Högel versorgt hatte.
den Vorwurf zum Thema, Högel führe menhorst hätten verhindern können«. Dass der Kollege Menschen umbringt –
Notfälle vorsätzlich oder fahrlässig herbei. dieser Verdacht sei von Anfang an da ge-
Der Betriebsrat wandte ein, dass dies auch Ein Krankenhaus, insbesondere eine In- wesen. Eine Intensivschwester bat ihre
versehentlich passiert sein könne. Laut tensivstation, ist eine Umgebung, die das Kollegen, Högel nicht zu ihren Patienten
dem Vermerk antwortete der Klinikchef: Morden erleichtert – und die Aufklärung zu lassen. »Nicht, dass sie morgen nicht
Das halte er für nahezu ausgeschlossen. erschwert: Patienten und Kollegen begeg- mehr da sind.«
Zudem fielen der Klinik hohe Kalium- nen dem Mörder arglos und vertrauens- Im Dezember 2004 wurde der Pfleger
werte bei Patienten auf. Zeugen berichten voll, tödliche Medikamente sind in der beinahe erwischt. Marga G., 56, erlitt
von einer eigens anberaumten Abteilungs- Regel leicht verfügbar. Trotzdem können einen Herzstillstand, musste reanimiert
sitzung mit dem Chefarzt. Die Ursache Kliniken viel tun. Durch etliche Schutz- werden. Die Frau überlebte. Einem Arzt
blieb aber ungeklärt. Högel konnte sich in maßnahmen, sagt die Expertin Beatrice berichtete sie, dass ein Pfleger ihr eine
seiner Vernehmung an das Treffen erin- Yorker von der California State University Spritze gegeben habe. Daraufhin sei es ihr
nern. Er habe damals gedacht: »Die Luft in Los Angeles, ließe sich die Zahl der Se- schlecht gegangen. Sogar »krüdelige« Oh-
wird dünn. Die kommen mir langsam auf rienmorde in Gesundheitseinrichtungen ren waren der Frau aufgefallen; Högel hat
die Schliche.« senken. Die Krankenhäuser könnten zum ein auffälliges Ohr. Der Pfleger sei dann
Die Intensivstation zählte mehr als Beispiel penibel kontrollieren, wie viele noch mal bei ihr gewesen und habe gesagt,
20 Reanimationen an einem einzigen Wo- Packungen welcher Medikamente an wen er dürfe so etwas gar nicht tun, da er dafür
chenende im September 2001. Schließlich ausgegeben werden. ins Gefängnis komme.
musste Högel in die Anästhesie wechseln, Auf der Intensivstation in Delmenhorst, Schon damals hat Marga G. nach ihrer
wo er weniger anrichten konnte. Als es wo Högel im Dezember 2002 seinen Aussage einem Arzt diesen Vorfall mitge-
dort bei einem Patienten zu einem Herz- Dienst begann, waren die Kontrollen be- teilt. Er ist einer der beiden nun angeklag-
stillstand kam, holte er zwei Lernschwes- sonders lax. Niemand reagierte, als plötz- ten Mediziner.
tern dazu, um ihnen zu zeigen, was er lich viel mehr Menschen starben. Es Die Sterberate stieg mit Högels Dienst-
draufhatte. Der Chef der Abteilung drohte dauerte wohl nur wenige Tage, bis Högel beginn rapide an. Zuvor verstarben pro
dem Pfleger in einem Personalgespräch, wieder gemordet haben soll. Schon eine Jahr durchschnittlich 84 Patienten auf der
nur noch abseits der Patienten eingesetzt Woche nach seinem Dienstantritt kam ein Station. In den Jahren 2003 und 2004 gab

Illustrationen: Florian Bayer / DER SPIEGEL 51


es 177 und 170 Todesfälle. Mehr als dop-
pelt so viele Tote – und niemand stellte
Fragen. Wie konnte das sein? Auch der
hohe Verbrauch des selten eingesetzten
Medikaments Gilurytmal machte nieman-
den stutzig. Die Leitung stufte vielmehr
die Anforderungen für die Bestellung in
der Krankenhausapotheke am 13. April
2004 herunter. Das machte es Högel noch
leichter.
»In jedem Krankenhaus wird es für
unmöglich gehalten, dass ein Pfleger oder
ein Arzt tötet«, sagt Karl Beine, Psy-
chiatrieprofessor an der Universität Wit-
ten/Herdecke, der sich viel mit Patienten-
tötungen befasst hat. »So etwas sieht man
im Fernsehen oder liest es in der Zeitung.
Aber es passiert nicht im eigenen Kran-
kenhaus.«
Kliniken seien Schutzräume, sagt Beine.
»Wir treffen dort auf Berufsgruppen, von
denen wir überhaupt nicht erwarten, dass
sie so etwas tun. Das macht uns arglos.«
Zudem sähen die Mordvorgänge aus wie
normale medizinische Handlungen, das
mache sie schwer erkennbar. So schleiche
sich mitunter über Monate und Jahre eine
Atmosphäre ein, »in der das Unglaublichs-
te normal ist«. Ein häufiges Phänomen bei
Tötungsserien sei zudem, »dass alle be-
obachten, sich austauschen, nach oben
weitergeben – und dann versickert es«.
So war es auch in Delmenhorst. Schwes-
tern und Pfleger sprachen über Högel
und die vielen Todesfälle. Aber niemand
sprach ihn offenbar auf den ungeheuer-
lichen Verdacht an.

Wie viele Taten Högel wirklich begangen


hat, wird sich niemals aufklären lassen.
Die Ermittler der Soko »Kardio« identifi-
zierten insgesamt 322 potenzielle Opfer
in den beiden Krankenhäusern. Die Lei-
chen von mehr als hundert Patienten wur-
den feuerbestattet. Das macht eine nach-
trägliche Untersuchung auf Medikamen-
tenrückstände unmöglich. Insgesamt habe
Högel wohl »zwischen 200 und 300 Men-
schen getötet«, vermutet ein Experte, der Vor einem OP-Saal fand eine folgenschwere Besprechung statt.
mit dem Fall betraut war. Viele Opfer seien Högel sollte noch eine letzte Schicht weiterarbeiten.
bei der Reanimation so geschwächt gewe-
sen, »dass der Krankenpfleger wusste, sie
würden niemals überleben«. Manchmal, sagte Högel in seiner langen Er habe immer die Vorstellung gehabt,
Und wenn sie es doch schafften, versuch- Vernehmung, wenn jemand von draußen sagt Högel, »das ist ein anderes Morden,
te es Högel manchmal erneut. »Mein Groß- mit Notarztbegleitung auf die Intensiv- ein Töten im Krankenhaus ist nicht so
vater war bereits einmal von Högel reani- station gekommen und die Situation le- schlimm«.
miert worden«, sagt Christian Marbach, bensbedrohlich gewesen sei, habe er ge- Im Mai 2005 fand der Krankenpfleger
»er hatte große Angst vor ihm. Niemand dacht, »das fällt garantiert sowieso nicht Michael F. zwei leere Ampullen Gilurytmal
hat das damals ernst genommen.« Am 22. auf«. Da könne »man halt noch mal mani- im Zimmer eines verstorbenen Patienten.
September 2003, gegen zwei Uhr in der pulieren«. Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen,
Nacht, kam der Mörder noch einmal. Hö- Soko-Chef Schmidt: »Also Sie haben holte er sie vorsichtig mit einer Zange aus
gel habe seinen Großvater »systematisch das Risiko in Kauf genommen, dass Ihre dem Abwurfbehälter und steckte sie in ein
totgequält«, sagt Marbach, der sich als Reanimation nicht erfolgreich sein wird?« Tütchen, wie in einem Kriminalfilm.
Sprecher einer Opferinitiative engagiert. Högel: »Genau. Am Anfang war es ja »Jetzt wissen wir, was er nimmt«, er-
Ging es dem Pfleger wirklich um den noch so, dass ich alles beherrschen wollte. zählte man sich daraufhin auf der Station.
Erfolg als Lebensretter? Oder verspürte er Aber nachher habe ich es hingenommen, Michael F. überreichte die Ampullen der
einen perversen »Kick« des Tötens? weil es dann so war.« stellvertretenden Stationsleiterin Astrid

52 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Deutschland

W. »Zeitnah« habe sie das Tütchen an Ruhig sitzt er da, ein Mann Ende fünfzig, kümmerte sich Högel rührend um den
ihren Vorgesetzten weitergegeben, sagt die mit hochrotem Kopf und kräftigen Händen. Freund, besuchte ihn im Krankenhaus,
Krankenschwester. Das sei allerdings noch Dann bricht es plötzlich aus ihm heraus. brachte Schokolade mit.
kein Beweis, habe man ihr bedeutet. Wie er damals nach dem Tod seiner Mutter Das verbindet, dachte Corssen später.
Stationsleiter Dirk F. war laut Dienst- den Job verloren und seinen Kummer in Es war klar, dass er Högel nicht im Stich
plänen im Urlaub. Es dauerte 13 Tage, bis Alkohol ertränkt habe, wie sehr sein Sohn lassen würde. Weil der Pfleger keinen Job
die Nachricht bei ihm ankam. Auf der In- gelitten habe, der seine Großmutter geliebt hatte, lieh er ihm 160 Euro und organisier-
tensivstation ging unterdessen das Sterben habe. Während er erzählt, kriecht die Wut te einen Vorstellungstermin als Nachtpor-
weiter: Die 76-jährige Irmgard P. starb am in ihm hoch. Auf Högel und auf die Mitar- tier in einem Delmenhorster Hotel. Doch
22. Mai. Walter M., 67, folgte drei Tage beiter im Krankenhaus. Högel ging nicht hin. »Er fuhr zur Tank-
später. Und am 1. Juni, ein Tag vor seinem »Dann macht der meine Mutter tot, und stelle, kaufte sich eine Flasche Wodka mit
Geburtstag, der 81-jährige Josef Z. die erzählen mir, sie sei an Lungenembolie Cola und ließ sich auf einem Feldweg voll-
So wäre es wohl weitergegangen. Doch gestorben!«, sagt Jürgen R. und ist außer laufen«, erinnert sich Corssen. Es kam
dann kam der 22. Juni 2005. Um 14 Uhr sich. »Was sind das für Menschen? Meine zum Streit. Högel musste ausziehen.
betrat eine Intensivschwester das Kranken- Mutter könnte noch leben, wenn die den Schließlich fuhr Corssen seinen Freund
zimmer des Patienten Dieter M., da stand Högel in Delmenhorst nicht so lange ge- nach Wilhelmshaven, wo er bei seinen
Högel am Bett. Er hatte dem Mann gerade deckt hätten!« Eltern wohnen wollte. Unterwegs pumpte
eine Spritze gegeben, einen Perfusor für Jürgen R. will als Nebenkläger zum Pro- Högel ihn noch einmal an. Diesmal
die Medikamentenzufuhr auf null gestellt, zess gegen die Beschuldigten des Delmen- 120 Euro. »Er bat mich, kurz anzuhalten,
den Alarm deaktiviert. Die Kollegin sah horster Krankenhauses gehen. »Ich kann und kaufte sich einen Funkscanner, um
sofort, dass etwas nicht stimmte. meine Mutter zwar nicht wiederholen«, den Polizeifunk abzuhören.«
Ein Assistenzarzt konnte den 63-Jäh- sagt er, »aber ich will, dass die Verantwort- Bis Mai 2009 lebte Högel bei seinen
rigen reanimieren. Dieter M. starb am Fol- lichen bestraft werden. Alle.« Eltern, arbeitete über eine Zeitarbeitsfir-
getag. Es war nicht mehr feststellbar, ob ma im Altenheim, schließlich wurde ein
der Tod auf Högels Manipulation zurück- Im Juli 2005 wurde Högel wegen versuch- zweites Urteil rechtskräftig. Högel musste
ging oder auf sein Krebsleiden. ten Mordes an Dieter M. vorübergehend ins Gefängnis.
Erneut entdeckte ein Kollege leere Gi- festgenommen. Matthias Corssen glaubte Jahre später rief ein Kripobeamter Cors-
lurytmal-Ampullen. Die Krankenschwes- damals noch an Högels Unschuld. Er hatte sen an und erzählte, dass er wohl auch zu
ter alarmierte die Stationsleitung. Eine den Krankenpfleger bei Einsätzen als Ret- den Opfern des Serienmörders gehöre. Die
Blutprobe des Patienten wurde ins Labor tungssanitäter in Ganderkesee kennenge- Soko »Kardio« hatte tausend verdächtige
geschickt. Am nächsten Morgen informier- lernt, wo Högel nebenbei gejobbt hatte. Krankenwageneinsätze von Högel unter-
te die Stationsleitung die beiden ver- Während des ersten Prozesses nahm sucht und war auf Auffälligkeiten gestoßen.
antwortlichen Oberärzte über den Vorfall sich der Fluggerätebauer Corssen hin und Patienten kamen ohne ersichtlichen Grund
und den schweren Verdacht. Man ver- wieder bei Airbus frei, um an den Verhand- intubiert in den Notaufnahmen an, wo es
einbarte, zunächst das Blutergebnis abzu- lungen teilzunehmen. Nach dem Urteil – ihnen schon bald besser ging.
warten. fünf Jahre Haft – ging Högel in Revision Im Fall Corssen stellte ein medizinisches
Am frühen Nachmittag des 24. Juni und wurde aus dem Gefängnis entlassen. Gutachten fest, der plötzliche Zustand mit
fand vor einem OP-Saal in der Delmen- Corssen nahm ihn bei sich auf. »Atemstillstand und Bewusstlosigkeit« sei
horster Klinik eine folgenschwere Be- Corssen erinnert sich gut daran, wie mit dem Verletzungsbild nicht vereinbar.
sprechung statt. In der sogenannten Gyn- Högel abends im Dunkeln in seinem Wohn- »Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-
Schleuse, wo sich die Mediziner desinfi- zimmer saß und James Blunt hörte: »You’re lichkeit« sei Corssens Kollaps durch die
zieren und Operationskleidung anlegen, beautiful«. Dabei habe er eine Zigarette »nicht indizierte Gabe eines Muskelrela-
trafen sich die beiden Oberärzte und die nach der anderen geraucht. »Ihm fehlten xanz zu erklären«.
inzwischen verstorbene stellvertretende seine Familie und seine Tochter, jammerte Von Amts wegen erstattete die Polizei
Pflegedienstleiterin. Auch die Chefärztin er damals«, erzählt Corssen. Während des Strafanzeige gegen Högel wegen »versuch-
war anwesend. Gerichtsverfahrens hatte sich Högels Frau ten Mordes«. Weil der Todespfleger Cors-
Inzwischen lag das Blutergebnis von von ihm getrennt. Mit ihm über die Tat zu sen erfolgreich reanimierte, ist er laut
Dieter M. vor: Gilurytmal positiv. Högel reden sei unmöglich gewesen, das habe er Staatsanwaltschaft von der Tötungsabsicht
hatte dem Patienten ohne medizinischen sofort abgeblockt und beteuert: An den zurückgetreten. Deshalb gehe es nur um
Grund ein gefährliches Herzmittel ge- Anschuldigungen sei nichts dran. den Tatbestand der »gefährlichen Körper-
spritzt und die Geräte manipuliert. Dass Corssen sich dem Krankenpfleger verletzung«. Die ist verjährt.
Oberarzt K. soll in der Besprechung so verbunden fühlte, lag vielleicht auch da- Nur nicht für Corssen: »Zuerst sagten
jedoch vor Verdachtsäußerungen und ran, dass Högel ihm das Leben gerettet hat- alle, da hast du ja Glück gehabt«, sagt er,
Mobbing gewarnt haben. Laut Anklage te – jedenfalls glaubte Corssen das damals. »und ich glaubte das auch.« Doch irgend-
verabredete die Runde, den Kreis der In- In Ganderkesee hatte Corssen im Juni wann seien immer wieder diese Panik-
formierten klein zu halten. Da Högel am 2004 mit seinem Kleinwagen einen schwe- attacken gekommen, wenn er die Sirene
Tag darauf ohnehin in Urlaub gehen wür- ren Zusammenstoß. Högel saß im Kran- eines Notarztwagens gehört habe. Corssen
de, sollte er noch eine letzte Schicht weiter- kenwagen, der zum Unfallort eilte. »Du durchlebte eine schwere psychische Krise,
arbeiten. So geschah es. Und so musste kannst von Glück sagen, dass wir vor Ort begab sich in Behandlung. »Nichts ist
laut Staatsanwaltschaft auch die 67-jährige waren«, soll Högel nachher gesagt haben, mehr so, wie es mal war«, sagt er. Neulich
Rentnerin Renate R. noch sterben. »und nicht irgendwelche Amateure.« hat er sich eine Platzwunde am Kopf nä-
Renate R. sei wegen eines Oberschen- Corssen, der am Kopf verletzt war, be- hen lassen, ohne Betäubung, weil er keine
kelhalsbruchs operiert worden, nachdem kam plötzlich panische Atemnot und ver- Spritzen mehr ertragen kann.
sie zu Hause über eine Blumenvase gestol- lor das Bewusstsein. Högel intubierte ihn, Hubert Gude, Veronika Hackenbroch,
pert sei, sagt ihr Sohn Jürgen R. Dem Ge- bevor ein Rettungshubschrauber ihn in die Julia Jüttner
bäudemanager fällt es schwer, über den Klinik nach Oldenburg flog, wo es ihm Mail: hubert.gude@spiegel.de
Tod seiner Mutter zu sprechen. bald wieder besser ging. In dieser Zeit

Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL 53


2015: 108 Billionen
Gesellschaft
»Wir werden die Geschichte mit seinem Blut weiterschreiben.« ‣ S. 56

* IN FL ATION SBEREIN IGTER WERT DE S DO L L AR VO N 2 011; Q UE L L E N : O URWO RL DI N DATA .O RG, WE LT BAN K , MADDI SO N
1999: 60 Billionen
Früher war alles schlechter
Nº 120: Weltweites Bruttosozialprodukt

1985: 40 Billionen

Nach Berechnungen
von Wirtschafts-
historikern ent- 1967: 20 Billionen
sprach das globale
Bruttosozialprodukt
im Jahr 1000 n. Chr.
einem Wert von
Jahr 0 500 n. Chr. 210 Mrd. Dollar* 1500 1820: 1 Billion

Und es hat Boom gemacht. Die unverschämt simple Kurve das große Reicherwerden, so hat die Ökonomin Deirdre
oben, bekannt geworden unter dem Namen »GDP since Jesus«, McCloskey das genannt, und sie sieht darin schlicht »die Haupter-
zeigt das Bruttosozialprodukt (»GDP«) der Welt seit dem Jahr kenntnis der Wirtschaftsgeschichte«. Dieser einzigartige Fort-
null, also den Wert aller auf Erden produzierten Güter durch die schrittsschub hat so angenehme Dinge mit sich gebracht
Jahrhunderte. Wirtschaftlich betrachtet lief es in den vergange- wie verdoppelte Lebenserwartung, Fußbodenheizung, geringe
nen 2000 Jahren ziemlich lang ziemlich mau. Die Daten der His- Kindersterblichkeit, Espressomaschine, Sozialstaat, Fünffachimp-
toriker zeigen beispielsweise, dass wir, die heutige Weltbevölke- fung und Demokratie. Nicht zufällig erinnert die Kurve aber an
rung, allein in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts eine das Hockeyschläger-Diagramm, das den Anstieg der globalen
höhere Gesamtwirtschaftsleistung zustande gebracht haben als Temperaturen abbildet und wiederum die Haupterkenntnis der
unsere Vorfahren in den ersten 19 Jahrhunderten zusammen- Klimaforschung symbolisiert. Ob die zwei Kurven weiter so ver-
genommen. Auch pro Kopf gerechnet hat der Weltdurchschnitts- laufen werden und ob sie eher zum Wohlstand für alle oder zur
bewohner heute 10- bis 20-mal mehr Kaufkraft als vor 200 Jah- ökologischen Katastrophe führen, das sind die wichtigsten Fra-
ren, als es losging mit dem Wachstum. »The great enrichment«, gen unserer Zeit. guido.mingels@spiegel.de

Trends SPIEGEL: Aha. grammable – das ist uns wichtig –, weil


Brandes: Ich habe nach dem Abitur ein der Salat so fotogen ist. Die Bilder landen
Gehören Poké Bowls zu halbes Jahr in Honolulu gelebt und dann sofort im Netz und machen Appetit
Deutschland, Herr Brandes? wurde süchtig nach Poké. Als ich zurück- aufs Paradies.
gekommen war, wusste ich: Auch Berlin SPIEGEL: Gehört die Poké Bowl zu
Daniel Brandes, 22, Restaurantbesitzer aus ist jetzt bereit dafür. Eigentlich sollte Deutschland?
Berlin, über Aloha-Flair und fotogenes Essen mein Restaurant »mau loa« heißen, das Brandes: Poké gehört der ganzen Welt.
bedeutet »forever« oder »ewig«, aber Wer Poké isst, der denkt nicht mehr in
SPIEGEL: Herr Brandes, deutsche Groß- mau und Mao sind im Deutschen nicht so Schubladen und Grenzen; er denkt ans
städter sind neuerdings ganz verrückt gut besetzt. Deswegen heißt es jetzt Schaukeln und ans Surfen, an weiße Sand-
nach Poké Bowls. Klingt irgendwie nach einfach Maloa, das klingt fast wie strände, Blumenketten, Sonnenuntergän-
Kinderspielzeug. Aloha. ge und die perfekte Welle. Hawaii steht
Brandes: Es ist aber ein hawaiianisches SPIEGEL: Wer isst bei Ihnen? für Lockerheit und Lebensfreude. Danach
Nationalgericht: roher Fisch, in Scheiben Brandes: Foodies, die sich sehnen wir uns hier, des-
gecuttet, dazu kommen bei uns Reis oder trendbewusst ernähren wol- halb wollen immer mehr
Greens und Mix-ins wie Rote Bete oder len. Blogger und Influencer Deutsche das essen, was
A. SCHELLNEGGER / SZ PHOTO

Edamame sowie verschiedene Flavors, haben immer ihr Smart- Hawaiianer essen.
also Soßen, und Toppings wie Macadamia- phone auf dem Tisch liegen SPIEGEL: Was essen Ha-
nüsse oder auch Premium-Toppings wie und machen Bilder von waiianer eigentlich sonst
Kimchi, Avocado oder Quinoa. Liegt voll ihren Bowls. Poké ist nicht noch so?
im Zeitgeist der New Wave des Clean nur gesundes Fast Food, Brandes: Kālua Pua’a,
Eating. Sushi 2.0! sondern auch enorm insta- Schwein im Erdloch. REL

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So ging es etwa sieben Jahre lang. Reliu kann heute nicht
Eine Meldung und ihre Geschichte
mehr genau sagen, wie alles auseinanderbrach; wann seine
Frau sich in einen anderen, wohlhabenderen Mann verliebte,

Karteileiche wann er in seiner Wut darüber zum Trinker wurde. Vor allem
versteht er selbst nicht, weshalb er irgendwann alle Verbin-
dungen nach Bârlad kappte und auch seine Tochter nie wie-
der besuchte. Er weiß nur noch, dass er sich Jahre später, als
Warum ein Gericht einen lebendigen er das Trinken in den Griff bekommen hatte, zu sehr schämte,
Rumänen für tot erklärte um noch einmal in seine Heimat zurückzukehren.
Constantin Reliu blieb in Istanbul, für insgesamt 25 Jahre.
Er kochte im Restaurant und baute sich langsam ein neues

C onstantin Reliu saß im Gericht von Bârlad, einer mittel-


großen Stadt in Ostrumänien, als darüber entschieden
wurde, ob er für den Rest seines Daseins zu den Le-
benden oder den Toten zählen würde.
Leben auf. Mit dem Geld, das er nun ganz für sich behielt,
mietete er eine kleine Wohnung nahe dem Bosporus. Rumä-
nien, seine Heimat, vermisste er nur dann, wenn er an seine
Tochter dachte. Er rechnete nicht mehr damit, sie oder seine
Es war ein Donnerstagmorgen im März, Reliu, 63, ein run- Frau jemals wiederzusehen. »Etwas in mir wusste«, sagt Reliu,
der Herr mit beigefarbener Jacke und beigefarbener Schie- »ich bin für sie gestorben.« Wie richtig er mit dieser Ahnung
bermütze, hatte sein graues Haar gekämmt, um seinen Hals lag, hätte Constantin Reliu wohl nie erfahren, hätten türkische
hing eine Krawatte. Er wollte einen guten Eindruck machen, Behörden im vergangenen Dezember nicht nach seiner Ar-
vor allem jedoch wollte er dem Staat beweisen, dass er, leib- beitserlaubnis verlangt, nach Papieren, die er nie besessen hat-
haftig, am Leben sei. Der Richter, ein Mann in schwarzer te. Einen Monat später wurde Reliu abgeschoben. Als er im
Robe, blickte ihn an und zog die Au- kalten Bukarest aus einem Flugzeug
genbraue hoch. stieg, so erzählt er es, umstellte ihn
Dann, Reliu faltete flehend seine eine Handvoll Polizisten, »um mich
Hände, fiel das Urteil. Es hieß: Du, über meinen Tod zu informieren«.
Constantin Reliu, bist tot. Seine Familie, so wurde ihm mit-
Eigentlich fühlt sich Constantin geteilt, hatte angenommen, dass er
Reliu im Großen und Ganzen kern- nicht einfach abgetaucht, sondern
gesund. Er ist ein kleiner Mann mit schon 1999 bei einem Erdbeben in
einem großen Bauch, der gern der Türkei ums Leben gekommen
Pflaumenschnaps und Raki trinkt. Er war. Als seine Frau ein zweites Mal
leide an Diabetes, aber ansonsten, heiraten wollte, vor fünf Jahren, hatte
sagt Reliu, »liege ich noch lange ANDREI PUNGOVSCHI / NYT / REDUX / LAIF
sie ihn offiziell für tot erklären lassen.
nicht im Grab«. Er klingt ein wenig Reliu wurde schwindelig. Er sprach
verzweifelt. von einem Fehler, einem Missver-
Die Geschichte von Constantin ständnis. Er erzählte den Polizisten,
Reliu ist die Geschichte eines Mannes, sechs Stunden lang, von seinem gan-
der unsichtbar werden wollte – und zen, komplizierten Leben, und
es eines Tages, zu seinem eigenen schließlich, nachdem sie seine Finger-
Unglück, auch wurde. Seine Ge- abdrücke verglichen hatten, ließen sie
schichte könnte auch im Kopf von ihn passieren. Reliu ging zurück nach
Franz Kafka entstanden sein, aber sie Reliu Bârlad, wo alte Bekannte ihn wie ei-
ist wahr und begann vor 26 Jahren. nen Wiederauferstandenen empfin-
Es war im Sommer 1992, erzählt gen – bis auf zwei. Seine Tochter, er-
Reliu am Telefon, die Revolution in fuhr Reliu, wohne inzwischen in Spa-
Rumänien lag zwei Jahre zurück, er nien und habe selbst drei Kinder. Als
selbst wohnte mit seiner Frau Andra Von der Website Bild.de er sie plötzlich anrief, sagt er, sei sie
in seiner Heimatstadt Bârlad, vier in Ohnmacht gefallen. Sie wolle nichts
Autostunden nördlich von Bukarest. Sie waren gerade frisch mehr mit ihm zu tun haben. Seine Frau, erzählt Reliu, sei nach
verheiratet, gemeinsam hatten sie eine kleine Tochter, Iasmi- Italien gezogen, seine Sterbeurkunde habe sie mitgenommen.
na, als Reliu seine Frau umarmte und ihr sagte, er müsse für Wegen dieser Urkunde war er an jenem Morgen im März
ein paar Jahre fortgehen. vor Gericht gezogen. Er wollte sie annullieren lassen. Aber
Unter Ceaușescu, dem später hingerichteten Diktator, hatte der Richter sagte, die Frist, um Einspruch gegen den eigenen
Reliu für die Geheimpolizei gearbeitet, nicht als Informant, Tod einzulegen, sei abgelaufen. Reliu wohnt jetzt wieder in
nur als Koch in einer Amtskantine. Aber nach dem Ende des dem alten, heruntergekommenen Apartment seiner Familie,
Kommunismus durfte er nicht mehr kochen, nirgendwo, sagt ganz allein. Er kann nicht mehr zurück nach Istanbul, weil
Reliu, gab es Arbeit für einen, der die verhassten Spitzel be- die Türkei ihn lebenslang verbannt hat. Er kann auch nir-
kocht hatte. Um seine Familie zu ernähren, irgendwie an gendwo arbeiten, weil niemand einen Toten einstellt. Er kann
Geld zu kommen, wanderte er aus in die Türkei. nicht wegen seines Diabetes zum Arzt gehen, weil kein Arzt
Sein Bruder betrieb ein Restaurant in Istanbul. Reliu, der einen Verstorbenen behandelt. Er kann nichts tun, wofür er
illegal über die Grenze gekommen war, begann, ohne Ar- eine Identität benötigt, weil es ihn offiziell nicht mehr gibt.
beitserlaubnis, dort zu kochen. Alle sechs Wochen, wenn er Constantin Reliu könnte gegen das Urteil vorgehen, aber
genug gespart hatte, fuhr er im Laderaum eines Lieferwagens, auch ein höheres Gericht räumt einem Dahingegangenen
versteckt zwischen Gemüsekisten, 15 Stunden lang nach Bâr- kaum Chancen ein. Manchmal glaubt Reliu, alles sei seine
lad, zu seiner Familie. Er gab seiner Frau das Geld, küsste gerechte Strafe. Er hat sein Leben aufgegeben, und nun, da
seine Tochter, dann verschwand er wieder im Wagen. er es wieder braucht, ist es vorbei. Claas Relotius

55
Gesellschaft

Yassers Tod
Propaganda Der palästinensische Kameramann Yasser Murtaja wollte mit seinen Bildern
von den Demonstrationen am Gazastreifen die Geschichte mitschreiben.
Die Bilder des toten Yasser Murtaja sind jedoch die stärkste Geschichte. Von Alexander Osang

KHALIL HAMRA / AP

Trauerzug mit dem getöteten Journalisten Murtaja: Die einen brauchen einen Heiligen, die anderen einen Terroristen

56
A
nderthalb Tage bevor Yasser glichen mit dem letzten Toten des Tages auf einem weißen Pferd durchs Camp, im
Murtaja, eingehüllt in eine paläs- ging er leise und ohne eine Botschaft an Himmel fliegen selbst gebastelte kleine
tinensische Flagge, als Märtyrer die Welt zu hinterlassen. Drachen in den Nationalfarben der Paläs-
vom Krankenhaushof getragen Der letzte Tote des Tages heißt Yasser tinenser. Fernsehkorrespondenten stellen
wird, versucht Dr. Alsahbani, seine Inten- Murtaja und ist ein palästinensischer Jour- sich so, dass man die schwarze Rauchwand
sivstation zu räumen. Es ist der Vorabend nalist, der mit einem Kollegen an einer Do- in ihrem Rücken gut sehen kann. Auch die
des zweiten Protestmarsches, und er hat kumentation über die Freitagsmärsche ar- Demonstranten selbst filmen sich mit ihren
es fast geschafft. Die Betten sind frei, die beitete, die bis zum 14. Mai fortgesetzt Handys. Kleinkindern werden für Schnapp-
Station ist bereit für neue Verletzte. Nur werden. Dem Tag, an dem Israel den schüsse palästinensische Fahnen in die
ganz hinten in der Ecke liegt noch jemand. 70. Jahrestag seiner Staatsgründung feiert Hand gedrückt. Jungen im Grundschul-
Ayman Alsahbani ist ein kleiner Mann mit und der für die Palästinenser das Datum alter schreien in Handykameras: Jerusa-
traurigen Augen und einem dünnen Ober- ihrer großen Tragödie bedeutet, Nakba, lem gehört uns!
lippenbärtchen, das man in einem anderen die Vertreibung aus ihrer Heimat. Yasser Es ist, das hört man immer wieder, auch
Gesicht verwegen nennen würde. Er ist ist Gründer und Betreiber einer kleinen ein Krieg der Bilder. Israelische Websites
der Chef der Notaufnahme des Shifa-Hos- Filmproduktionsfirma, die Nachrichten- stellen Fotos, die die blühenden Landschaf-
pitals, des größten Krankenhauses von sender aus aller Welt mit Bildern aus Gaza ten auf ihrer Seite des Zaunes zeigen, den
Gaza. Sein Kittel ist blütenweiß. versorgt, dem geschundenen Landstück, qualmenden Reifen von Gaza gegenüber
Er läuft zum letzten belegten Bett seiner in dem er geboren wurde und sein ganzes und erinnern an die Umweltverschmut-
Intensivstation, auf dem ein bewusstloser Leben verbracht hat. zung. Al-Aqsa TV dagegen, der Fernseh-
Mann liegt, der mit Schläuchen und Dräh- Vor ein paar Wochen hat Yasser Murtaja sender der Hamas, steigt in die schwarzen
ten an verschiedenen Geräten hängt. Al- das Foto einer Drohne, mit der er manch- Rauchwolken wie in ein warmes Bad. Den
sahbani hebt die Bettdecke, man sieht dick mal arbeitet, auf Facebook gestellt. Es war ganzen Tag über laufen hier Bilder von
bandagierte Beine, aus einem Oberschen- eine Luftaufnahme des Hafens von Gaza. der Front.
kel ragt ein Stahlgestell. Dazu schrieb er: »Ich wünschte, ich könn- Ganz vorn stehen die Mutigsten, die
»Die Israelis schießen meist auf die un- te dieses Foto aus der Luft machen und Wütendsten. Manchmal wagt sich einer
teren Extremitäten. Teilweise mit Muni- nicht von der Erde. Mein Name ist Yasser dicht an den Zaun heran und rennt schnell
tion, die alles zerstört«, sagt der Arzt. Er Murtaja. Ich bin 30 Jahre alt. Und ich bin wieder weg. Es erinnert an ein Katz-und-
schaut kurz in die Akte. noch nie gereist.« Maus-Spiel. Der ehemalige Brigadege-
»Der hier ist bereits hirntot«, sagt er. Es klang wie die Nachricht eines sehn- neral Nitzan Nuriel, der lange Zeit Anti-
Er wirft die Akte aufs Bett, schüttelt den süchtigen jungen Mannes, der darauf hofft, terrorberater des israelischen Premier-
Kopf und sagt drei weitere Male »hirntot«. irgendwann die Welt zu sehen. In ein paar ministers war, erklärt die Spielregeln: »Sie
Dann schickt er fünf Fragen hinterher. Wa- Stunden wird es wie ein Vermächtnis klin- machen es, solange sie wollen, denn auf
rum? Warum? Warum?Warum? Warum? gen. Ein Schrei. Eine Botschaft an die Welt. der Seite Gazas spielen Opfer keine
Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Im israelischen Verteidigungsministerium Rolle.«
Mann trauriger schauen kann als dieser wird es wahrscheinlich Leute geben, die Ab und zu fällt eine Gasgranate in die
Arzt. es als Bekennerschreiben lesen. Menge, dann rennen alle durcheinander
Alsahbani ist 48 Jahre alt und seit Yasser wird am frühen Nachmittag ge- und schleppen am Ende mit viel Geschrei
16 Jahren an diesem Krankenhaus beschäf- troffen. Er ist mit seinem Bruder und Männer, die zu viel Gas abbekommen ha-
tigt. Er hat zwei Kinder, die seit einigen einem Kollegen nach Khuzaa gefahren, zu ben, in die Sanitätszelte. Manche werden
Jahren in Odessa leben, weil es dort siche- einem Camp im südlichen Teil des Gaza- erst nach 20 Minuten wieder wach. Ein
rer ist. Er hat sie seitdem nicht gesehen. streifens. Alle drei tragen blaue Schutzwes- Arzt vermutet, es sei Nervengas, weil sich
Er kann nicht reisen. Am vorigen Freitag ten, auf denen »Press« steht. Die Kugel viele übergeben müssen und Krämpfe be-
haben sie hier 40 Verletzte operiert, ob- trifft Yasser in den Bauch. Sie waren etwa kommen. Dennoch hat man lange Zeit die
wohl sie nur 20 Betten auf der Intensiv- 200 Meter vom Zaun entfernt, sagt sein Hoffnung, dass es nicht so blutig wird, wie
station haben. Er weine manchmal am OP- Kollege Rushdi Sarraj. beide Seiten angekündigt haben.
Tisch. Als Arzt empfehle er allen, sich von Yasser habe ihm zugerufen: »Ich bin ge- Lange Zeit scheint der Mann, den Dr.
der Grenze fernzuhalten, sagt er, als Bür- troffen.« Alsahbanis Team am Morgen von den Ge-
ger von Gaza verstehe er die jungen Leute, Rushdi ist sich sicher, dass die Scharf- räten getrennt hat, der einzige Tote dieses
die in ihrem Leben nichts weiter erlebt ha- schützen bewusst auf seinen Freund ge- Tages zu sein.
ben als die Blockade. Er versteht nicht, schossen haben. Irgendwann am frühen Nachmittag fal-
wieso man sie nicht in die Welt lässt. Er Die Demonstranten haben im Verlauf len wieder Schüsse. Warum, weiß man auf
versteht nicht, wie man auf Zivilisten schie- der Woche unzählige alte Reifen in die dieser Seite des Zaunes nicht. Die Motive
ßen kann. Es gibt jede Menge »Warum?« Camps geschleppt, die an der Grenze auf- der Scharfschützen, ihre Strategie, wenn
in seinem Kopf. gebaut wurden. Sie rollen sie so dicht es es denn eine gibt, sind rätselhaft. Israels
Vermutlich kennt er auch ein paar Ant- geht an die Zäune und setzen sie in Brand. Verteidigungsminister sagt, es gebe keine
worten. Im Foyer des Gesundheitsminis- Der Rauch soll den israelischen Scharf- unschuldigen Menschen in Gaza. Das ist
teriums, bei dem man sich die Erlaubnis schützen, die auf Sandwällen hinterm natürlich ein Ansatz. Hier und da erklärt
abholen muss, ihn zu interviewen, hängt Zaun liegen, die Arbeit erschweren. In den ein israelischer Militär, man schieße nur
eine große, blaue Fliese, auf der steht: Von Mittagsstunden ist der Grenzbereich in auf Terroristen.
hier sind es 79,36 Kilometer bis nach Je- schwarzen Rauch gehüllt. In den Camps Yasser Murtaja aber ist Kameramann.
rusalem. herrscht Picknickstimmung, Frauen und Er hat eine blaue Weste an, auf der »Press«
Darum geht es. Im Kern. Kinder essen unter Zeltdächern, die De- steht.
Am nächsten Morgen ist dann auch das monstranten wagen sich weiter als noch Sie tragen ihn in das Rettungszelt, das
letzte Bett frei. Sie lösen den hirntoten vor einer Woche, begleitet von kleinen im Hintergrund des Camps steht. Hier ar-
Mann von den Geräten. Er wurde 30 Jahre Trucks, die frisch gepressten Saft, Nüsse beiten Freiwillige, ein Arzt, ein paar Me-
alt. Er ist der erste Tote dieses Freitags, an und Eis anbieten. Junge Männer rasen auf dizinstudenten und Krankenpfleger. Das
dem neun Menschen sterben werden. Ver- Motorrädern an die Front. Jemand reitet Verbandszeug, das sie benutzen, haben sie

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 57


Gesellschaft

selbst gekauft, sagen sie. Es ist nicht viel. sungen in den Zug ruft, der sich hinter den Sie haben die Omari-Moschee für den
Sie leisten Erste Hilfe. Gasopfern waschen Leichenträgern versammelt hat. Trauergottesdienst ausgesucht. Es ist die
sie die Augen aus, spülen die Gesichter, »Nicht wir tragen dich – du trägst uns, größte und eine der ältesten Moscheen in
bei Schussverletzungen versuchen sie, die Yasser. Wir folgen dir auf deinem endgül- Gaza. Sie legen den Toten ganz nach vorn
Blutung zu stillen, so gut es geht. Bis die tigen Weg«, ruft der Mann. neben die Bühne, auf der der Imam
Ambulanz da ist. Einer der Pfleger trägt Dann kommen die Lieder, manche spricht, direkt unter ein großes Plakat
eine kleine Kamera auf der Stirn. Um zu kämpferischer, manche trauriger. vom Tempelberg in Jerusalem, in dessen
dokumentieren, was passiert, wie er sagt. Eines der traurigen heißt »Testament«: Mitte die goldene Kuppel des Felsendoms
Man kann sich die Notversorgung des Mutter, weine nicht um mich. leuchtet wie die Sonne. Um den Platz
verwundeten Kameramanns inzwischen Ich bin ein Märtyrer drängen die Fotografen. Es ist das perfekte
auf YouTube ansehen. Erinnere dich an mich in deinen Gebe- Motiv. Der Märtyrer auf dem Weg nach
Yasser wird in ein nahe gelegenes Kran- ten für die Freiheit Jerusalem. Die Moschee füllt sich schnell.
kenhaus gefahren. Sein Bruder sitzt mit im Ich habe dich als Märtyrer verlassen. Über den Rücken der Betenden schweben
Krankenwagen, sein Kollege folgt. Sie set- Der Zug bewegt sich zum Haus des Ver- Drohnen mit Kameras, die das Gesicht
zen sich in den Wartesaal. Sie hören Nach- storbenen, wo sich die Familie von ihm des Toten filmen, der jetzt fast ein Hei-
richten von weiteren verletzten Journalis- verabschieden kann. Sie wohnt im Erd- liger ist.
ten. Das Gesundheitsministerium zählt die geschoss einer Baustelle in Gaza City, die Im Kampf um die Bilder liegen sie in
Toten. Zwölf Stunden lang kämpfen die oberen Geschosse sind noch nicht fertig. diesem Moment weit vorn.
Ärzte um Yassers Leben. Eine Weile sieht Der Vater ist verstorben, Yasser war der Irgendwann erscheint, umringt von Si-
es so aus, als könnten sie die Blutung stop- älteste Mann in der Familie. Er hinterlässt cherheitsleuten, Ismail Hanija, Führer der
pen, sagt sein Freund Rushdi, aber die Ku- seine Mutter, seine Frau und einen zwei- Hamas, in der Moschee und küsst den To-
gel hat zu viel im Leib von Yasser zerstört. jährigen Sohn, Abid, sowie drei jüngere ten auf die Stirn.
Er stirbt in der Nacht gegen halb zwei. Er Brüder und eine Schwester. Sie haben alle »Yasser hielt seine Kamera, um die Pfeile
ist der vorläufig letzte Tote des Freitags- zusammengewohnt. Mutter, Schwester in Richtung der Wahrheit über die geknech-
marsches. Die Zahl der Getöteten der Mär- und die Ehefrau von Yasser warten in der teten Menschen des palästinensischen Vol-
sche ist nun auf insgesamt 30 gestiegen. Wohnung. kes zu schießen. Durch den Mord an Yasser
Über 3000 Menschen sind verletzt. Vor dem Haus wird ein Zelt aufgebaut, haben die Israelis vor der ganzen Welt ihr
Sie fahren Yasser noch in der Nacht in dem die dreitägige Trauerfeier stattfin- wahres Gesicht gezeigt. Sie töten mit Vor-
nach Gaza City in die Shifa-Klinik von Dr. den soll. Auf den umliegenden Häusern satz«, sagt Hanija ins Mikrofon. Ein Trau-
Alshabani. Yasser Murtaja benötigt kein erscheint von Zeit zu Zeit ein vermummter erredner, der in diesem Jahr von den USA
Bett auf der Intensivstation. Er kommt als Mann mit Sturmgewehr und feuert eine in die Liste der internationalen Topterro-
toter Mann. Salve in den Himmel über Gaza. Ein paar risten aufgenommen worden ist.
Am Samstagmorgen haben sich im Hof Männer weinen, ein paar Männer schie- Spätestens in diesem Moment beginnt
des Krankenhauses Kollegen versammelt, ßen. Tränen und Trommelfeuer. sich die Legende des toten Kameramannes
Kollegen, die Yasser betrauern, Kollegen, Nach einer Stunde zieht der Trauerzug Yasser Murtaja von dem zu lösen, wofür
die über den Toten berichten, man kann weiter zur Moschee, wo für den Verstorbe- der Mann bislang zu stehen schien. Er
das kaum voneinander trennen. Es gibt nen gebetet wird. Im vorausfahrenden schwebt jetzt. Sein Bild wird unscharf. Die,
ein paar Reden, in denen die Unmensch- Krankenwagen befindet sich der Leichnam, die ihn kannten, sagen, er sei kein Teil
lichkeit der israelischen Aggressoren be- es folgen Lautsprecherwagen. Es gibt jetzt einer politischen Strömung gewesen. Er
klagt, die Freiheit des palästinensischen deutlich mehr Plakate, die den Kamera- habe schon als Junge gefilmt, Tiere, Kinder,
Volkes beschworen und eine Reaktion der mann zeigen. Musik bläst durch die engen den Strand und das Meer, sagt seine
Weltgemeinschaft eingefordert wird. In Straßen. Die Palästinenser haben Hunderte Schwester. Es war seine Leidenschaft. Er
der Leichenhalle im Rücken der Redner Revolutionssongs, immer neuen Stoff, und hat einen Beruf daraus gemacht. Vor sechs
wird der Körper des Kameramannes für viel Gelegenheit, sie zu singen. Sie laufen Jahren hat er mit seinem Schulfreund
seine letze Reise vorbereitet. Er wird in seit Tagen im Radio. Die Stimme des Man- Rushdie Sarraj die Produktionsfirma Ain
eine palästinensische Fahne gehüllt, oben- nes auf dem Lautsprecherberg kippelt in- Media gegründet, für die heute 15 Leute
auf legen sie die blaue Presseweste. Die zwischen heiser. arbeiten. Sie haben für nationale und aus-
Ersten halten bereits kleine Bilder Yassers Unser Freund Yasser hat uns verlassen, ländische Fernsehstationen gefilmt, unter
in die Luft. Er lächelt auf den Fotos. Aber wir sind stark. anderem für die BBC und die englische
»Wir werden die Geschichte mit seinem Es gibt tausend Yassers. Ausgabe von Al Jazeera, sie haben Wer-
Blut weiterschreiben«, ruft einer der Vom Straßenrand schauen Leute in den bung gedreht, für NGOs gearbeitet und
Redner. Zug, manche wirke müde, manche inter- waren an kulturellen Projekten beteiligt,
»Seid vorsichtig dort draußen, aber be- essiert, manche schließen sich an. Der zum Beispiel an denen des chinesischen
richtet weiter vom Schicksal unserer Leu- Trauermarsch verwandelt sich in eine Künstlerstars Ai Weiwei.
te«, ruft ein anderer. mittelgroße Demonstration. Jemand ver- Jetzt aber ist Yasser Murtaja Material
Dann öffnet sich die Tür zur Leichen- breitet die Nachricht, ein enger Freund in einer ideologischen Schlacht, die wahr-
halle. Zehn oder zwölf Männer balancie- Yassers habe sein Baby, das heute geboren scheinlich nur noch wenig mit der Doku-
ren den Toten auf ihren Schultern durch wurde, nach dem Toten benannt. Klingt mentation zu tun hat, die er drehen wollte.
die Menge. Es beginnt Gerangel, um die märchenhaft, aber diese Dinge passieren Drei Tage später wird der israelische
Nähe zum Helden und um die Bilder. Auf jetzt natürlich. Sie müssen passieren. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman
Mauern und Toren stehen Fotografen und behaupten, Yasser Murtaja habe auf der
Kameraleute und schauen von oben in das Payroll der Hamas gestanden, ohne Be-
Gesicht des Märtyrers. Er sieht friedlich Video weise dafür vorlegen zu können. Murtaja
Alexander Osang über
aus, sanft. Auf der Straße wartet bereits seine Recherche habe mit seiner Kameradrohne die israe-
ein Kleintransporter, ein Berg aus Laut- spiegel.de/sp162018gaza
lische Verteidigungslinie ausspionieren
sprechern auf der Pritsche, auf dem ein oder in der App DER SPIEGEL wollen. Auch dafür gibt es bislang keine
Mann mit einem Mikrofon hockt und Lo- Beweise. Lieberman sagt es einfach. Kurz

58 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


die ihr M16-Gewehr über der Schulter tra-
gen wie eine Kuriertasche. Der Friedhof
liegt im Osten der Stadt Gaza, am Rande
einer Plantage von Zitronenbäumen. Ge-
wehrsalven, die Ansprache eines Geist-
lichen, der auf einen Grabstein steigt, um
gesehen zu werden, Fotografen auf den
Schultern anderer Fotografen und über al-
lem zwei Drohnen, die verfolgen, wie
Freunde und Verwandte den Körper des
Märtyrers in der Erde versenken. Eine
Drohne ist schwarz, eine weiß, der Him-
mel milchigblau. Alles Bilder.
Vermutlich kann man sie gerade live auf
Al-Aqsa TV verfolgen.
Vorm Wohnhaus des Verstorbenen wer-
den inzwischen die letzten Arbeiten am
Trauerzelt beendet. Zwei Jungs sprengen
den Sandweg vor dem Zelt mit einem
Wasserschlauch. Ein anderer hängt ein
Losungsband mit dem lächelnden Gesicht
von Yasser Arafat und zwei Fatah-Funk-
tionären auf, und zehn Minuten später,
IBRAHEEM ABU MUSTAFA / REUTERS

nach einer Anweisung, wieder ab. Die


politischen Bewegungen in Gaza sind ver-
feindet. Man weiß nie, wer zu Besuch
kommt. Überall hängen Spruchbänder,
Blumengebinde, Porträts. Ein Kleinlaster
bringt ein Plakat von der Größe einer
Werbetafel, das den toten Fotografen
zeigt, lächelnd neben einem riesigen
Teleobjektiv. Es gibt Wasserknappheit in
Gaza, es gibt eine Arbeitslosenquote von
über 40 Prozent, es gibt einen Mangel an
Arzneimitteln, Lebensmitteln und Benzin,
ständig fällt der Strom aus – aber die Öf-
fentlichkeitsarbeit im Märtyrerwesen
funktioniert einwandfrei.
Bevor die nahen Verwandten vom Fried-
hof eintreffen, steht der palästinensische Mi-
nister für Bauwesen bereits im faltenfreien
blauen Anzug unterm Dach des Trauerzeltes
und spricht in die Kamera eines Fernsehsen-
ders. Er redet von israelischen Aggressoren,
dem geschundenen palästinensischen Volk
und der Weltöffentlichkeit. Er ist zwar nur
der Bauminister, aber in Gaza ist man
schnell beim Großen und Ganzen. Im
SAID KHATIB / AFP

Hintergrund sieht man das Bild des Toten.


Immer mehr Leute erscheinen, um ihr
Beileid zu bekunden. Nachbarn, Freunde,
Funktionäre. Es gibt Kaffee und Feigen
Palästinensische Demonstranten mit Murtaja-Fotos im Gazastreifen und Huhn mit Reis als Leichenschmaus.
»Nicht wir tragen dich – du trägst uns« Die Kollegen von Ain Media stehen an der
Seite, sie haben verweinte Gesichter und
keinen Hunger.
Wenn man mit ihnen spricht, bittet sie
darauf erklärt das US-Außenministerium, essenlage beginnen die Parteien sofort um eine Art Öffentlichkeitsarbeiter vor das
Murtajas Filmproduktionsfirma Ain Me- sein Vermächtnis zu streiten. Die einen Porträt des Toten. Damit das Bild stimmt.
dia habe ein Stipendium über 11 700 Dol- brauchen einen Heiligen, die anderen ei- Moaastem Murtaja ist groß und schlank
lar von der US-Regierung erhalten, aus nen Terroristen. und sieht dem Mann auf dem Plakat hinter
einem Programm, das private Initiativen Und noch ist er gar nicht unter der Erde. ihm ähnlich, er ist der Bruder des Toten.
fördern soll. Sein Freund und Kollege Nach dem Gebet bewegt sich der Trau- Er ist 24 Jahre alt, er ist Mitarbeiter bei
Rushdi erklärt, Yasser habe keine Feinde erzug zu einem Friedhof am Rande der Ain Media und stand nur ein paar Meter
gehabt. Eine konservative Website vermel- Stadt. Sie ziehen an Häuserfassaden vor- neben seinem Bruder, als der getroffen
det, er habe regelmäßige Kontakte zur Ha- bei, die noch vernarbt sind vom letzten wurde. Man sieht ihn auf dem Video, das
mas-Führung unterhalten. Je nach Inter- Gazakrieg. Im Zug laufen junge Männer, den Verwundeten zeigt. Die Kamera

59
Für SPIEGEL-Abonnenten: schwenkt kurz in sein Gesicht. Sein Bruder
scheint irgendetwas zu sagen.

Digital-Upgrade nur € 0,50. »Ja«, sagt Moaastem. »Er hat gesagt:


›Hör auf zu weinen.‹« Aber er kann nicht.
Er steht vor dem riesigen Heldenbild sei-
nes großen Bruders. Yasser strahlt, Moaas-
tem weint. Er ist am Leben.
Rushdie Sarraj, der 2012 mit Yasser die
Firma gegründet hat, trägt immer noch das
hellblaue Hemd von gestern. Man sieht die
verblichenen großen Blutflecken im Stoff.
Jetzt Und auch sein Blick hängt irgendwo in der
4 Wochen Vergangenheit fest. Er redet Sachen, die er
gratis heute wahrscheinlich schon oft gesagt hat.
Dass sie Schulfreunde waren. Dass er Inge-
testen nieurwesen studiert habe und Yasser Wirt-
schaft. Dass immer der Traum blieb, einmal
Filme zu machen. Dass Yasser ein Mann
ohne Feinde war. Dass die Scharfschützen
auf ihn gezielt haben müssen. Dass er, Rush-
di, weitermachen wird. In Yassers Sinne.
Dass sie vor ein paar Tagen noch darüber
gescherzt haben, auf wen es die israelischen
Sniper wohl eher abgesehen hätten.
»Yasser hat gesagt: ›Natürlich auf dich.‹
Ich hab gesagt: ›Quatsch. Sie holen dich‹«,
sagt er. »Es war ein Witz.«
Aber er lacht nicht.
Vor zehn Minuten hat er mit Ai Weiwei
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg telefoniert. Der will Material von Yasser
haben, um irgendetwas daraus zu machen.
Ai Weiwei. Avigdor Lieberman. Die Ha-
mas. Wir. Jeder bedient sich beim Märtyrer.
Vor ein paar Tagen, als Yasser Murtaja
noch ein vielversprechender Kameramann
war, dessen Firma ein amerikanisches Sti-
pendium erwartete, stand der traurige Dr.
Ayman Alsahbani aus der Shifa-Klinik an
seinem Bürofenster und beobachtete, wie
ein paar schreiende Männer den Leichnam
eines anderen Opfers der Gazaproteste über
Ohne Verpflichtung lesen seinen Krankenhaushof trugen. Der Tote
war in ein weißes Tuch gehüllt und wogte
Bereits ab freitags 18 Uhr auf den Schultern der erregten Träger, als
Auch offline lesbar triebe er auf hoher See. Als sie verschwun-
den waren, drehte sich der Doktor vom Fen-
Auf bis zu 5 Geräten ster und sagte: »Wieder ein Märtyrer«.
Es klang, als stellte er eine Diagnose.
Inklusive SPIEGEL DAILY – Die neue digitale Tageszeitung Dann wäre das Märtyrertum eine Krank-
heit. Wohl eher eine schwere Krankheit, et-
was, gegen das man sich nicht wehren kann.
Rushdi Sarraj sagt, dass er zusammen
mit seinen Kollegen weiter an der Doku-
mentation über den Marsch der Freiheit
arbeiten wolle. Sie werden auch an den
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen! nächsten Freitagen wieder hinausgehen.
Der Tod seines Freundes soll jetzt ein we-
Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als sentlicher Teil ihres Filmprojekts werden.
SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt € 4,10 pro Ausgabe. Yasser Murtaja hat die Seiten gewechselt.
Er steht nicht mehr hinter der Kamera, er
Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur ist vor die Kamera getreten. Dort, wo Mär-
nächsterreichbaren Ausgabe kündigen. tyrer hingehören.

‣ Lesen Sie auch auf Seite 84 das SPIEGEL-


Einfach jetzt anfordern: Gespräch mit dem Historiker Tom Segev über
die Gründung Israels vor 70 Jahren.
abo.spiegel.de/upgrade
60
Gesellschaft

Hallo?
Zusammenhang zu einer anderen Karte zu sehen, jener der
Wahlergebnisse der AfD. Bei den Bundestagswahlen ist die
Partei im hiesigen Wahlkreis 164 auf knapp 30 Prozent ge-
kommen. Kein Netz – keine Stimme fürs System, das wäre
die Logik.
Ortstermin Aufzeichnungen aus Deutschlands Sonderbar ist nur, dass der Handyempfang in fast jeder
Funklöchern (1): Der tote Falte des Erzgebirges durchaus möglich ist, nur nicht immer
Winkel in Wildenthal, Westerzgebirge vom selben Anbieter und nicht immer in surffähiger Si-
gnalstärke.
Klaus-Dieter Schimmel nimmt an, dass die Stimmen für

D ie »Hammerschänke« ist an diesem Morgen menschen-


leer, nur ein älterer Herr mit Bikerfrisur sitzt regungs-
los an einem Tisch, hinter sich eine antike Registrier-
kasse der Marke National. Klaus-Dieter Schimmel ist hier
die AfD nichts direkt mit irgendwelchen Sendemasten zu
tun haben: »Da ist ein gewisses Sicherheitsdenken in der
Gegend.« Wegen der Grenze? »Nee, da kommt nichts rüber.«
Wegen der Flüchtlinge? »Die bleiben nicht lang, zu wenig
der Wirt. Ist überhaupt schon geöffnet? »Sind Sie drin? Na los.« Wegen der Arbeitslosigkeit? »Im Gegenteil, wir suchen
also.« Ob man einen Kaffee trinken könnte? »Ja.« Das Wort verzweifelt nach Aushilfen.«
hängt eine Weile folgenlos im Raum. Dann ein Ruf in die Schimmel ist aufgestanden, stützt sich – »Arthrose, nicht
Küche: »Christel!« reparabel« – auf die Registrierkasse National und sieht jetzt
Postgeschichtlich gesehen war die Hammerschänke in sehr nach Puhdys aus. Nein, sagt er: »Wir haben hier
Wildenthal, Westerzgebirge, einmal ganz vorn. Sie ist an der eigentlich alles. Nur kommt keiner und schaut sich’s an. Das
Alten Poststraße gelegen, die früher mal eine Chaussee war ist das Problem. Ich sage nur, der ›Bandonion-Workshop‹ in
und von Leipzig nach Karls- Carlsfeld. Die Wurzelrudi-Er-
bad führte. Es gab Meilen- lebniswelt, unsere Saunaland-
steine und Distanzsäulen, die schaft in Eibenstock, europa-
Wegstunden waren sorgfältig weit bekannt!«
berechnet. Heute heißt Karls- Aber es kommt keiner,
bad Karlovy Vary und liegt weil’s keiner kennt, und das
hinter der tschechischen Gren- muss mit dem Netz zu tun ha-
ze. Nur die Postkutschenzeit, ben, womit sonst?
die hat hier, so sieht das Klaus- In zwei Jahren soll Breit-
Dieter Schimmel, nicht aufge- band kommen. Und bis dahin?
hört. »384 Bits«, sagt er und »Im Nachbardorf haben sie
dann etwas lauter in Richtung die Gemeinschaftsantenne aus
Küche: »Wohl pro Sekunde, DDR-Zeiten ausgemottet, mit
oder, Christel?« den alten Kabeln in Haushalte
Die Hammerschänke liegt verteilt. Es funktioniert. Die
fünf Kilometer vor der haben jetzt guten Anschluss«,
ALEXANDER SMOLTCZYK / DER SPIEGEL

tschechischen Grenze, inmit- sagt Gastwirt Schimmel. Es sei


ten von Gegenden wie im aber auch ein etwas spezielles
Schwarzwaldfilm, nur besser. Dorf, fügt er hinzu, und dass
Die Gemeindehäuser sand- man nur die Straße weiterfah-
gestrahlt wie neu, die Schul- ren solle bis nach – »Morgen-
busse leer, aber pünktlich, die röthe-Rautenkranz, Gemeinde
Naturwanderwege mit Erz- Muldenhammer«, so und nicht
gebirgspyramiden markiert. anders steht es auf dem Orts-
Dennoch würde Klaus-Dieter schild.
Schimmel auch sein Lebens- Museum in Morgenröthe-Rautenkranz Ein Dorf im letzten Winkel,
gefühl mit »384 Bits pro Se- das noch eine Gemeinschafts-
kunde« beschreiben, und er würde das nicht »Entschleuni- antenne hatte und sich mit DDR-Technik aus dem Abseits
gung« nennen. befreit. Aber nicht deswegen liegen am Ortseingang Planeten
»So acht bis zehn Minuten, bis sich der Computer morgens aus Zement herum, balanciert dort ein Kosmonaut auf einer
aufbaut«, sagt er. Erdkugel, daneben ein MiG-Jagdflieger im Original, das
»Und die erste Frage von Gästen mit Kindern ist doch: DDR-Staatswappen am Leitwerk.
Habt ihr WLAN? Haben wir aber nicht, und kriegen wir Morgenröthe-Rautenkranz ist der Geburtsort von Sigmund
nicht.« Schimmel spricht ein ausgeprägtes Erzgebirgisch, Jähn. Dem Kosmonauten, dem Helden der Sowjetunion.
mit ebenso angenehmen wie rätselhaften Lauten. Wer das Dem ersten Deutschen im All. Zu seinen Ehren steht hier im
Ohr dafür nicht hat, dem bleiben ganze Sätze dunkel, kein Wald eine »Raumfahrtausstellung«, mit »Sojus«-Nachbauten
Empfang. und Tonaufnahmen von 1978, die nach 384-Bits-pro-Sekunde
Die Hammerschänke dürfte einer jener Orte sein, die der klingen.
neue Digitalisierungsminister Andreas Scheuer gemeint hat, Sigmund Jähn war der Held schlechthin, hat es aus dem
als er dienstfertig zum Angriff auf die deutschen Funklöcher Erzgebirge bis in den Weltraum geschafft. Sogar Kinderlieder
blies. Wenn es in der Hammerschänke besseres Internet gäbe, sind auf ihn gedichtet worden: »Siggi, Siggi, halt dich fest /
dann könnte man dort die Seite Funkloch-erz.de öffnen, eine Siggi funkt nach Ost und West.«
von Bürgern betriebene Plattform, die auf flächendeckende So war das damals, vor 40 Jahren, aber die Botschaft ist
Funkstille im Erzgebirge schließen lässt. Die Karte ist gespickt geblieben, die Funkbotschaft von Siggi und von ganz Mor-
mit Beschwerdefähnchen in verschiedenen Farben, die zeigen, genröthe-Rautenkranz: Kein Loch ist ohne Ausweg. Im Him-
welches Netz wo nicht funktioniert. Es bietet sich an, einen mel und auf Erden. Alexander Smoltczyk

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 61


Wirtschaft
Die Geschichte eines Managers, der seinen Aufstieg generalstabsmäßig geplant hat ‣ S. 64

HARRY WEBER
Deutsche Bahn

Schnellfahren macht Züge nicht pünktlicher


Ein Versuch, durch höheres Tempo Verspätungen zu vermeiden, scheitert.
 Die Bahn kämpft nach wie vor mit der Pünktlichkeit im weise zurückgekehrt. Bei sehr pünktlicher Fahrt gilt wieder die
Fernverkehr. Im vergangenen Jahr hatte das Unternehmen des- umweltschonende Weisung, den Zug ausrollen zu lassen oder
halb Lokführer angewiesen, Züge so schnell wie möglich und die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nicht auszufahren.
erlaubt über die Gleise zu hetzen. Bei dem Experiment sollten Die aktuell häufigen Verspätungen der Bahn erklären sich
»vorhandene Fahrzeitenreserven« genutzt werden – auch auch durch viele Baustellen auf Gleisen im gesamten Bundes-
dann, wenn der Zug dadurch vor der geplanten Ankunftszeit gebiet sowie Wettereinflüsse. Im Februar verfehlte die Bahn
sein Ziel erreicht. Doch die Auswertung des Versuchs zeigt: ihre Zielmarke von 82 Prozent Pünktlichkeit im Fernverkehr.
Die zügige Fahrweise hat sich nicht positiv auf die Pünktlich- Wie hoch der Bonus von Bahn-Führungskräften ausfällt,
keit ausgewirkt. Der Zeitgewinn, der auf der Strecke erzielt hängt unter anderem davon ab, wie pünktlich die Bahn unter-
wurde, sei vor den großen Knotenbahnhöfen, etwa Hannover wegs ist. Pünktlich ist ein Zug nach konzerninterner Interpre-
oder Frankfurt am Main, wieder aufgezehrt worden, heißt es tation dann, wenn er höchstens sechs Minuten verspätet an
von der Bahn. Man sei nach den Tests zur bewährten Fahr- einem Bahnhof ankommt. MUM

Krankenkassen hatte es eine Razzia in Büros der Kran- erhält. Dabei sollen »berechnungsrelevan-
Barmer unter Verdacht kenkasse in Berlin gegeben. Die Ermitt- te Daten unbefugt verändert und an das
lungen richten sich gegen ehemalige Vor- Bundesversicherungsamt« weitergeleitet
 Die Barmer, Deutschlands zweitgrößte stände der Kassenärztlichen Vereinigung worden sein, so Martin Steltner, Presse-
Krankenkasse, steht im Mittelpunkt (KV) Berlin und zwei Mitarbeiter der Bar- sprecher der Generalstaatsanwaltschaft
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. mer. Der Verdacht lautet auf »Betrug und Berlin. Die Barmer erklärt, man arbeite
Beamte des Landeskriminalamts Berlin Bestechung«. Die KV leiten regelmäßig »eng und vertrauensvoll mit der Staats-
durchsuchten am 6. März im Auftrag der Zahlen über die Erkrankungen der Ver- anwaltschaft Berlin zusammen«, könne
Staatsanwaltschaft die Wuppertaler sicherten der einzelnen Kassen an diese jedoch aufgrund der laufenden Ermittlun-
Hauptverwaltung des Unternehmens und weiter. Die Kassen bearbeiten die Daten gen öffentlich nicht auf konkrete Details
Barmer-Räumlichkeiten in Berlin sowie und übermitteln sie dem Bundesversiche- eingehen. Die Kasse habe »keinerlei
Privatwohnungen von beschuldigten rungsamt, das berechnet, wie viel Geld Anhaltspunkte für ein strafrechtlich rele-
Mitarbeitern. Bereits im Dezember 2016 eine Kasse aus dem Gesundheitsfonds vantes Fehlverhalten«. MOP

62 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Verbraucher gemöglichkeit kommen die Verbraucher Transport
»Die Einsicht war stärker in solchen Fällen leichter auf Augenhöhe. Tanker auf den Müll
SPIEGEL: Um eine Klageindustrie wie in
als die Unternehmenslobby« den USA zu vermeiden, sieht der Ent-  Im ersten Quartal dieses Jahres sind
wurf vor, dass nur Verbraucherverbände laut der britischen Schiffsmaklerfirma
Sven Giegold, 48, auf Wiedergutmachung klagen dürfen. Clarksons weltweit so viele Tanker ver-
Europa-Abgeordneter Halten Sie das für richtig? schrottet worden wie zuletzt 1982. Ein
der Grünen, über das Giegold: Ja, allerdings wird entscheidend Grund: die niedrigen Frachtraten – eine
geplante EU-weite sein, dass nach einer Musterfeststellung Folge der seit 2003 aufgebauten Über-
ULLSTEIN BILD

Recht auf Sammelklage nicht wieder jeder Verbraucher einzeln kapazität, als die Welttankertonnage,
und die Fallstricke der klagen muss. begünstigt durch den wirtschaftlichen
neuen Regelung SPIEGEL: Ist das denkbar? Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens,
Giegold: Ja, bei komplexen Fällen sieht innerhalb weniger Jahre sprunghaft
SPIEGEL: Bessere Klagerechte für Ver- der Entwurf vor, dass jeder Verbraucher anstieg. Zweiter Grund: Der Alteisen-
braucher hat die Regierung, speziell die einzeln nachlegen muss. preis ist hoch. Dritter Grund: Die Flot-
SPD, lange versprochen. Jetzt war die SPIEGEL: Bei einem Fall wie der ten sind alt. Strengere Umweltbestim-
EU-Kommission mit der geplanten euro- Dieselschummelei wäre also nicht viel
päischen Sammelklage schneller, warum? gewonnen?
Giegold: Weil Christdemokraten und Giegold: Es droht zumindest, dass jeder
Liberale diese Regelung über Jahre Betroffene einzeln seinen Schadens-
blockiert haben. Den Widerstand gab es ersatzanspruch durchsetzen muss. Wir
auch in Brüssel, allerdings war dort, Grünen wollen den Begriff der »komple-
anders als in Berlin, irgendwann die xen« Fälle daher extrem eng fassen.
Einsicht ins Notwendige stärker als die SPIEGEL: Der Bundesverband der deut-
Unternehmenslobby. schen Industrie sieht durch Sammel-
SPIEGEL: Was ist der Vorteil an der klagen den Rechtsfrieden bedroht.
geplanten Regelung? Giegold: Es ist die Frage, wer hier wen
Giegold: Die Verbraucher werden regel- bedroht. Unser Rechtssystem lässt kleine
mäßig und in großer Zahl um kleinere Geschädigte praktisch ohne Schutz. Sich
Beträge geschädigt, etwa bei fragwürdi- wehren zu können sorgt für mehr Fair-
gen Finanzdienstleistungen oder bei Rei- ness. Die Industrieverbände interessieren
sebuchungen. Kaum einer geht deshalb sich aber offenbar nicht so sehr für fairen
zu einem Anwalt. Umgekehrt generieren Wettbewerb und engagieren sich lieber
Unternehmen durch solche Methoden auch für solche Unternehmen, die sich
aber hohe Gewinne. Durch die neue Kla- unanständig verhalten. NKL

CHRISTOPH KELLER / VISUM


Luftfahrt lorca eine starke Position und müssen
Ryanair und Lauda womöglich mit Auflagen der EU-Wett-
bewerbshüter rechnen. In der Regel wer-
brüskieren EU-Kommission den die Behörden bei derartigen Vor-
haben schon im Vorfeld informiert oder
 Der österreichische Luftfahrtunterneh- spätestens kurz nach Abschluss des Kauf-
mer Niki Lauda und sein Wunschpartner vertrags. Nicht so im aktuellen Fall. Eine
Michael O’Leary vollziehen den geplan- Laudamotion-Sprecherin versicherte mungen machen es für viele Reeder
ten Zusammenschluss ihrer Fluglinien bereits Ende März, der Antrag werde unattraktiv, ältere Schiffe weiterzu-
Laudamotion und Ryanair, bevor er über- innerhalb der nächsten zehn Tage einge- betreiben. Seit September 2017 ist ein
haupt offiziell genehmigt ist. Am Don- reicht – was jedoch nicht geschah. DID Übereinkommen in Kraft, das den
nerstag verkündeten die beiden ihren Transport von Ballastwasser strenger
gemeinsamen Flugplan nebst Internet- als bisher regelt. So soll verhindert wer-
auftritt mit Wirkung vom 1. Mai. Tickets den, dass Tiere in fremde Lebensräume
für Laudamotion-Trips, etwa von Düssel- eingeschleppt werden. Ballastwasser
dorf nach Palma, sind auf deren eigener wird im Hafen aufgenommen, reist mit
Website nur noch bis Ende April buch- dem Schiff um die Welt und wird im
bar. Danach baut Ryanair die Strecken Zielhafen wieder hinausgepumpt, samt
der ehemaligen Air-Berlin-Tochter Niki den enthaltenen Organismen. Pro
ins eigene Angebot ein. Das Tempo die- Schiff kann die Umrüstung bis zu zwei
ser Kooperation ist jedoch juristisch Millionen Euro kosten. 2020 wird
fragwürdig. Bislang haben die Partner zudem der weltweite Grenzwert für
die avisierte Übernahme von zunächst Schwefel im Schiffssprit von 3,5 auf
HERBERT NEUBAUER / AFP

knapp 25 und später 75 Prozent an Lau- 0,5 Prozent reduziert. »Die Milliarden-
damotion durch Ryanair noch nicht ein- investitionen durch strengere Umwelt-
mal bei der EU-Kommission angemeldet. vorschriften seien«, sagt Ralf Nagel
Das bestätigte eine Sprecherin von EU- vom Verband Deutscher Reeder, »eine
Wettbewerbskommissarin Margrethe enorme Herausforderung für die See-
Vestager. Beide Anbieter haben in Mal- Lauda, O’Leary schifffahrt.« HGO

63
Wirtschaft

Onkel Herbert kommt


Autoindustrie Der neue Volkswagen-Boss Herbert Diess hat sich von einem der
meistgehassten Manager in Wolfsburg zum Hoffnungsträger gewandelt.
Auch die Betriebsräte unterstützen ihn. Aber das ist nur ein Frieden auf Zeit.

E
s war eine seltsame Sitzung des
VW-Konzernvorstands am vergan-
genen Dienstag. Es erschien einer,
der sonst an den Treffen in Wolfs-
burg nicht teilnimmt: der Aufsichtsratsvor-
sitzende Hans Dieter Pötsch. Er verkün-
dete Überraschendes: dass VW-Chef Mat-
thias Müller abgelöst und durch den Chef
der Marke Volkswagen, Herbert Diess, er-
setzt werde. Schweigen. Erstaunte Gesich-
ter. Manch einer hatte geahnt, dass Müller
irgendwann abgelöst werden würde. Ende
des Jahres vielleicht. Aber jetzt, so schnell,
so plötzlich? Erleichterung oder gar Freu-
de wollte niemand offen zeigen. Keiner
gratulierte dem künftigen Konzernboss.
Nur einer agierte, als wäre der Wechsel
an die Spitze des weltgrößten Autokon-
zerns nichts Besonderes. Als wäre dies ein
Tag wie jeder andere in Wolfsburg. Diess
griff zum Handy, telefonierte und verließ
zwischendurch die Sitzung, um Details sei-
ner künftigen Aufgabe zu klären.
Drinnen erklärte der Aufsichtsratsvor-
sitzende Pötsch den Vorständen die Per-
sonalien. Er versuchte, den Rauswurf von
Müller nicht als Rauswurf erscheinen zu
lassen. Was sollte Pötsch auch anderes ma-
chen? Er konnte kaum eingestehen, dass
die wichtigsten Vertreter im VW-Aufsichts-
rat, die Familien Porsche und Piëch,
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan
Weil und die Arbeitnehmer die Notbremse
gezogen hatten.
Die Entscheidung kam überraschend,
auch für Müller selbst. Vor wenigen Wo-
chen noch konnte der Konzernchef bei der
Bilanzvorlage einen Rekordgewinn präsen-
tieren. Müller schien erst einmal sicher.
Außerdem räumten viele Diess nicht die
besten Aussichten auf dessen Nachfolge ein.
Vor einem Jahr noch drohte dem früheren
BMW-Manager selbst der Rauswurf, nach-
dem er sich einen erbitterten Machtkampf
mit dem mächtigen Betriebsrat geliefert hatte.
Was also ist geschehen in dieser Zeit?
N.H. MUELLER / WIRTSCHAFTSWOCHE

Wie konnte Müller, der nach der Enthül-


lung des Dieselskandals im September 2015
die Konzernführung übernommen hatte,
so tief stürzen? Und wie schaffte es Diess,
der noch 2017 auf Betriebsversammlungen
von vielen Tausend VW-Arbeitern aus-
gepfiffen worden war, nun mit Zustimmung
der Arbeitnehmervertreter zum VW-Boss
gewählt zu werden? VW-Vorstandsmitglied Diess 2016: Listiger Manager, der alles vertritt, was ihn weiterbringt

64
Es ist die Geschichte eines Wolfgang Porsche und Hans
Managers, der seinen Abgang Michel Piëch bestellten den
selbst herbeigeführt, und eines VW-Chef zum Rapport nach
anderen, der seinen Aufstieg Salzburg ein. Anwesend war
generalstabsmäßig geplant hat. auch Pötsch, der Aufsichtsrats-
Müller ist ein knorriger Typ, vorsitzende des Konzerns. Die
der gern sagt, was er denkt. Es drei forderten Erklärungen von
kümmert ihn nicht, was andere Müller. Doch der Vorstands-
davon halten. Das zeichnete vorsitzende konnte seine Kurs-
ihn in seiner Zeit als Porsche- wende nicht befriedigend erläu-
Chef aus im VW-Konzern, in tern. Müller wurde ernsthaft
dem Befehl und Gehorsam das ermahnt. So ein Fehler dürfe

HANNELORE FOERSTER
oberste Führungsprinzip war. nicht noch einmal passieren.
Auch deshalb wurde Müller Nach diesem Treffen ging es
zum Nachfolger Martin Win- für Müller nur noch begab. Zu-
terkorns berufen. letzt provozierte er im SPIE-
Seit Müller selbst den Kon- GEL-Gespräch mit Aussagen
zern lenkte, schaffte er sich mit Konzernchef Müller im März: Knorriger Typ, der gern sagt, was er denkt zu seinem Gehalt. Obergren-
seiner Art aber immer neue zen lehne er ab: »Wir hatten so
Probleme. Schon Ende vergan- was bereits einmal in Form der
genen Jahres waren sich die beiden größ- che ihn nicht, er könne sich auch ein ande- DDR«, erklärte er, »da ist auch alles gere-
ten Machtblöcke im Konzern, die Familien res Leben vorstellen. Seine Work-Life-Ba- gelt worden.« Ministerpräsident und Auf-
Porsche und Piëch sowie Betriebsratschef lance sei nicht gerade gut. »Die schönsten sichtsrat Weil rüffelten ihn dafür öffentlich:
Bernd Osterloh einig, dass Müller abgelöst fünf Jahre meines Lebens habe ich hinter Der Vergleich sei »komplett abwegig«.
werden müsse. Es war zu vieles zusam- mir.« Müller wollte seine persönliche Un- Müllers Standing sank immer weiter.
mengekommen. abhängigkeit signalisieren. Vorstandskol- Als der VW-Boss sich einmal beklagte,
Zuerst hatte Müller die wichtigsten Ver- legen verstanden es anders: Dem Konzern- dass der Konzern mit seinen zwölf Marken
treter der Familien, Wolfgang Porsche und chef fehle der nötige Biss. zu komplex und schwer zu führen sei, ant-
Hans Michel Piëch, damit brüskiert, dass Es mangelte Müller auch an Gespür da- wortete ein Aufsichtsrat: »Herr Müller,
er einen Verkauf der Motorradmarke Du- für, wie der VW-Konzern nach dem Die- dann müssen wir uns jemanden suchen,
cati vorbereiten ließ, ohne sich dafür ihr selskandal wieder das Vertrauen seiner der diese Komplexität beherrscht.«
Plazet einzuholen – ein Verstoß gegen die Kunden hätte zurückgewinnen können. Infrage kamen dafür nur zwei Kandida-
Grundregeln der Unternehmensführung. Müller versuchte, den Betrug als das Werk ten: Lkw-Chef Andreas Renschler, dem es
Ein angestellter Manager kann nicht ein- »einer kleinen Gruppe« im Unternehmen gelungen war, die Lastwagenmarken MAN
fach Teile des Konzernvermögens verscher- zu verharmlosen. Einige hätten »Gesetze und Scania geräuschlos zusammenzufüh-
beln. Darüber entscheiden die Eigentümer. falsch interpretiert«. Müller versprach Auf- ren, und Herbert Diess. Ferdinand Piëch
Porsche und Piëch stoppten Müllers Pläne. klärung, erklärte später aber den Untersu- hatte, als er noch Aufsichtsratschef in Wolfs-
Doch der hatte die Lektion offenbar chungsbericht der Anwaltskanzlei Jones burg war, die beiden angeworben und ihnen
nicht verstanden, oder er wollte sie nicht Day zur Geheimsache. Und er zog keine gesagt, bei entsprechender Leistung könn-
verstehen. In Gesprächen mit Journalisten Konsequenzen auf Vorstandsebene. ten sie den Chefposten übernehmen.
sagte er, dass einige der zwölf Konzernmar- Den wegen des Dieselskandals beurlaub- Diess verstand es besonders geschickt,
ken ausgegliedert werden könnten. Be- ten Porsche-Manager Wolfgang Hatz woll- seine Kritiker sagen: hinterlistig, die Fami-
triebsratschef Osterloh und Niedersach- te Müller sogar wieder zurück in den Por- lien Porsche und Piëch auf die Schwächen
sens Ministerpräsident Weil waren sauer, sche-Vorstand holen. Porsche-Betriebsrat Müllers hinzuweisen. So bereitete der VW-
dass der VW-Chef eine so grundlegende Uwe Hück konnte dies gerade noch ver- Markenchef eine enge Abstimmung mit
Veränderung des Konzerns zuvor nicht mit hindern. Mittlerweile sitzt Hatz, der alle Škoda vor, damit die beiden Konzern-
ihnen besprochen hatte. Und Wolfgang Vorwürfe bestreitet, in Untersuchungshaft. schwestern sich nicht gegenseitig Konkur-
Porsche rief Müller erneut zur Ordnung: Glaubwürdige Aufklärung sieht anders aus. renz machten. Diese Arbeitsteilung zu re-
»Aktuell sehe ich keine Notwendigkeit, sich Dass Müller der falsche Mann an der geln wäre Aufgabe des Konzernchefs ge-
von Teilen des Konzerns zu trennen.« Spitze des größten Autokonzerns der Welt wesen. Der Diess-Vorstoß richtete einen
Seine eigentliche Arbeit als Konzern- ist, wurde den Familien Porsche und Piëch Scheinwerfer auf Müllers Versäumnis.
chef, die Abstimmung der Marken Audi, endgültig klar, als der VW-Chef im vergan- Wolfgang Porsche und Hans Michel Piëch
Porsche, Bentley, Bugatti, Lamborghini, genen Herbst die Abschaffung der Diesel- imponierten an Diess vor allem zwei Din-
Volkswagen, Seat und Škoda, vernachläs- subventionen forderte. Mit einem Schlag ge: Er senkte schnell die Kosten, und er
sigte Müller dagegen. So entwickelten hatte Müller alle gegen sich aufgebracht. legte sich mit Betriebsrat Osterloh an, der
Audi, Porsche und VW jeweils eigene Bau- VW-Händler, die Dieselmodelle ohne- nach Überzeugung der Familien über viel
teile wie Kolben oder Batterien. Kosten- hin nur mit hohen Rabatten verkaufen kön- zu viel Macht im Konzern verfügt. Das
vorteile in Milliardenhöhe blieben un- nen, klagten, dass der Konzernchef ihr Ge- hatte Diess dem Kandidaten Renschler
genutzt. Außerdem konkurrierten Volks- schäft weiter erschwert habe. Politiker, die voraus, der die enge Abstimmung mit den
wagen und Škoda munter miteinander, jahrelang Dieselsubventionen verteidigt Betriebsräten suchte.
statt sich abzustimmen. Ein Aufsichtsrat hatten, fühlten sich nun ausgerechnet von Diess klagte, wie sehr ihn die »zentra-
klagte: »Müller entscheidet nichts. Er wird einem Autoboss vorgeführt. Die Chefs von listischen Machtstrukturen« im Betriebsrat
von den Marken nicht ernst genommen.« Daimler und BMW waren sauer, weil die störten. Er wolle Osterloh nicht ständig
Dazu trug auch bei, dass Müller seit sei- deutschen Hersteller sich bis dahin stets ei- um Erlaubnis bitten. »Volkswagen hat nur
ner Berufung immer wieder sagte, er habe nig waren, den Diesel zu verteidigen. Alle eine Zukunft«, sagte Diess, »wenn sich die
sich nicht auf den Posten gedrängt, er brau- rätselten: Was ist bloß in Müller gefahren? Betriebsratsseite stark reformiert.« Die

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 65


Nächste Woche Wirtschaft

im SPIEGEL: »Diess & das«. Galt Diess bei BMW nicht


gerade als Vorreiter der E-Mobilität, hat
Aktienkurs* in Euro er sich bei VW als Fürsprecher des techni-
250 schen Wandels profiliert.
25. September 2015
Matthias Müller wird Während Müller sich ständig mit dem
Vorstandsvorsitzender Dieselbetrug und der Vergangenheitsbe-
200 wältigung beschäftigen musste, präsentier-
te sich Diess bei wohlinszenierten Auftrit-
ten als Mann der Zukunft. Auf der Tech-
150 nologiemesse CES in Las Vegas referierte
er über künstliche Intelligenz. Diess enga-
gierte ehemalige Manager des E-Auto-Pio-
100
niers Tesla, die VW beim Wandel zur
Elektromobilität voranbringen sollen.
*Vorzugsaktie Und er nutzte die Talkshows von May-
Quelle: Thomson Reuters Datastream
50
britt Illner und Anne Will geschickt als
2015 2016 2017 18 Bühne. Diess vertrat zwar die gleichen un-
versöhnlichen Positionen wie Müller. Die-
Umsatz in Mrd. € selkunden in Europa sollten keine Entschä-
230,7 digung erhalten. Doch er ließ immer so et-
213,3 217,3
was wie Reue durchblicken: Mal gab er
Manipulationen zu, mal räumte er eine
Mitverantwortung für die schlechte Luft
in den Städten ein.
Auch damit hatte Diess sich bei den Fa-
milien Porsche und Piëch, den Arbeit-
Gewinn/Verlust in Mrd. € nehmervertretern und Niedersachsens Mi-
11,6 nisterpräsident Weil für die Position an
5,4 der Konzernspitze qualifiziert. Mit dem
Wechsel an der Spitze wollen sie auch die
–1,4 Konzernstruktur ändern.
Das Lastwagengeschäft mit MAN, Sca-
nia und den Volkswagen-Nutzfahrzeugen
Das neue Auseinandersetzung um ein Sparpro- soll als eigenes Unternehmen an die Börse
gramm, das Diess einführen wollte, endete gebracht werden. Der VW-Konzern wird
Gesundheitsmagazin in einem Showdown zwischen dem Be- die Mehrheit der Aktien behalten und al-
im SPIEGEL triebsrat und dem Manager. Der Rauswurf
von Diess schien nur noch eine Frage von
lenfalls 25 Prozent verkaufen. Das würde
sechs bis sieben Milliarden Euro in die Kas-
Tagen. Doch die Familien Porsche und sen spülen. Zudem wird das Pkw-Geschäft
Piëch stärkten Diess den Rücken. Gegen in die Markengruppen Volumen (Volkswa-
deren Willen konnte Diess nicht entlassen gen, Škoda, Seat), Premium (Audi) und
werden. Doch gegen den Widerstand der Super-Premium (Porsche, Bentley, Lam-
Arbeitnehmer konnte er auch nicht zum borghini, Bugatti) aufgeteilt.
Themen der Ausgabe: Konzernchef aufsteigen. Über dieses Gesamtpaket herrscht
Für Diess war es eine Pattsituation, aus Einigkeit im Aufsichtsrat. Auch die Arbeit-
der er sich durch eine erstaunliche Wen- nehmer befürworten es. Osterloh weiß je-
AUSZEIT digkeit befreite. Er suchte die Nähe des doch, dass es mit Diess schon bald wieder
Betriebsrats. Plötzlich lobte er Osterloh Zoff geben kann. Er sieht aber lieber einen
Heiß auf die Sonne – und auf Managementkonferenzen für dessen harten Hund an der Konzernspitze, der
gut geschützt Know-how in Technikfragen und seine Be- etwas bewegt, als einen Nichtentscheider,
reitschaft zu Kompromissen beim Perso- der sich um seine Work-Life-Balance sorgt.
nalabbau. Die wird für Müller künftig unschlagbar
AUFBRUCH Irgendwann schlossen Osterloh und gut ausfallen. Er muss nicht mehr arbeiten,
Diess einen Waffenstillstand. Betriebsrat erhält aber bis zum Vertragsende im Fe-
Körper, Geist, Seele: und Manager verband ein Interesse: die bruar 2020 sein Vorstandsgehalt. Danach
Marke Volkswagen zu stärken – und damit stehen ihm Pensionsansprüche im Wert
So ergänzen sich Natur- ihre jeweilige Hausmacht. Einig waren sie von 30 Millionen Euro zu.
heilkunde und Schul- sich auch darüber, dass im Konzern viel Sein Nachfolger will sofort loslegen.
schneller entschieden werden müsse. Ende Diess hat bereits angekündigt, dass sein
medizin vergangenen Jahres wurde Diess von ein- freundlicher Umgang mit den Betriebsrä-
flussreichen Arbeitnehmervertretern be- ten kein Dauerzustand sei. Er werde sicher
reits halb spöttisch, halb liebevoll »Onkel auch mal wieder sein kämpferisches Ge-
ANTRITT Herbert« genannt. sicht zeigen, scherzte Diess am Rande von
Diess ist kein Visionär, er vertritt aber Presseterminen. Er könne das »an- und
Jetzt richtig Rad fahren – alles, was ihn weiterbringt. Seine Wand- ausknipsen« – je nach Bedarf.
Tipps von Profis lungsfähigkeit hat ihm bei seinen Kollegen Simon Hage, Dietmar Hawranek
einen weiteren Spitznamen eingebracht:

66 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Wirtschaft

nicht der Verfahrensordnung entspricht«, Die söp wird als Verbraucherschlich-


Windige sagt er. Das Kalkül der Einsender: Die söp
soll kostenfrei schlichten, die kommerziel-
tungsstelle von Airlines getragen, aber auch
die Deutsche Bahn, Reedereien und Fern-
len Fluggasthelfer lassen sie für sich ar- busfirmen gehören zu den Mitgliedern. Be-
Helfer beiten und kassieren vom Verbraucher
dennoch happige Bearbeitungsgebühren.
zahlt wird die Schlichtung über eine Fall-
pauschale, die das Verkehrsunternehmen
»Wir sind nicht die kostenlos arbeitende tragen muss. Die söp spricht eine Empfeh-
Verbraucher Wer wegen einer Resterampe, mit der andere sehr viel Geld lung aus, die sich nach der Rechtsprechung
verspäteten Reise eine verdienen.« richtet; der Reisende wie auch das Unter-
Entschädigung fordert, wendet Nicht alle Anbieter arbeiten so, doch nehmen können sie ablehnen – die Schlich-
die Sitten sind rau. Die EU-Kommission tungsquote liegt auf alle Verkehrsmittel an-
sich oft an ein Internetportal. rügte das Vorgehen mancher Firmen: Ge- gewandt bei 76 Prozent. Um seinen Fall
Doch nicht jedes arbeitet seriös. bühren seien intransparent, nicht immer von der söp bearbeiten zu lassen, muss der
könnten Vollmachten vorgelegt werden, Reisende, anders als bei den Digitalporta-

J eden Tag wird Heinz Klewe zuge-


schüttet mit Beschwerden, über Frust
mit Fluggesellschaften und Ärger mit
der Bahn. Mal kam der Flieger einen Tag
das Marketing sei aggressiv.
Am stärksten umkämpft ist das Geschäft
mit verspäteten Flügen. Bis zu 600 Euro
Entschädigung sind gemäß Fluggastrechte-
len, zunächst seine Entschädigung selbst er-
folglos eingefordert haben.
Die Ansprüche gegen Fluggesellschaf-
ten summieren sich in Deutschland auf
später, mal wurde die Bahncard nicht an- verordnung möglich. Vor allem die inzwi- etwa 800 Millionen Euro im Jahr, sie sind
erkannt. Und einmal wollte ein Mann schen insolvente Air Berlin sorgte in der zu einem großen Kostenfaktor geworden,
wegen erlittener Verspätungen zwei Wo- Vergangenheit für zahlreiche Fälle. weshalb sich die Linien schwertun, allzu
chen verlorene Lebenszeit von der Deut- Manches Portal wirft angeblich sieben- freizügig auszuzahlen.
schen Bahn ersetzt haben. Klewes Leute stellige Gewinne jährlich ab; andere haben Viele der beschwerdewilligen Kunden
schickten ihm eine Absage. kaum die Liquidität, Auszahlungen an die schreiben zunächst selbst an die Airlines
Klewe ist Chef der Schlichtungsstelle für Kunden sofort auszuschütten. Die Portal- – ohne Portal und ohne Rechtsanwalt. Die
den öffentlichen Personenverkehr (söp). betreiber gönnen sich untereinander anderen suchen oft im Internet nach Hilfe;
Die gibt es seit 2009, doch kaum einer nichts, es werden gefälschte Forderungen die beliebtesten Suchbegriffe: »Flugver-
kennt sie. Sonst würden sie noch viel mehr eingereicht, um die Konkurrenz zu testen spätung« gefolgt von »Entschädigung«.
Fälle erreichen, 2017 waren es 15 601. oder gar abzumahnen. Mehrere Euro kann es pro Klick kosten,
Stattdessen wenden sich enttäuschte Die Arbeit der söp ist für den Verbrau- für diese Suchwörter Werbung bei Google
Kunden oft an teils windige Portale im cher kostenlos, der Kunde bekommt im zu schalten. »Man muss kratzen, wenn es
Internet, die versprechen, Kunden zuste- besten Fall die ihm zustehende Forderung juckt«, sagt Lars Watermann von EUflight.
hende Verspätungszahlungen einzutrei- überwiesen, ohne dass eine Bearbeitungs- Sei der Ärger erst einmal verflogen, for-
ben. Und diese Portale wiederum haben gebühr einbehalten wird. Bei Onlineporta- derten viele Nutzer nicht mehr die Ent-
die söp für sich entdeckt und spannen sie len werden Provisionen von bis zu 30 Pro- schädigung, die ihnen zustehe.
häufig für ihre Zwecke ein. Der Kunde be- zent der Entschädigungssumme fällig. Man- Manche setzen sogar Bodentruppen ein,
kommt das selten mit. che Anbieter überweisen zwar nach einer die am Flughafen gestrandeten Reisenden
Klewe, 66, hat einen Stapel Forderun- Prüfung der Forderung die fällige Summe Reklame für ein Fluggastportal in die
gen vor sich liegen, alle kommen sie von sofort und tragen das Risiko, ob die Airline Hand drücken sollen. Die meisten Flug-
Internetportalen. »Die gehen heute wie- wirklich zahlt – doch dafür verlangen sie häfen verbieten das; auch Werbung in den
der gebündelt zurück, weil das Vorgehen einen Aufschlag. Terminals darf mancherorts nicht geschal-
tet werden, weil die Flughafenbetreiber
die Airlines nicht verärgern wollen.
Viele Anbieter versuchen, den Streitfall
statt durch teure Volljuristen mithilfe von
Computeralgorithmen prüfen zu lassen.
Sobald die Flugnummer eingegeben ist, er-
mittelt eine Software Wetterdaten oder his-
torische Erfahrungen mit Airline und
Strecke. Aus der Kombination dieser In-
formationen errechnet eine Formel, wie
aussichtsreich die Forderung sein könnte.
»Wir erledigen mit anderthalb Stellen
25 000 Anfragen im Jahr«, sagt Konstantin
Loebner von Wirkaufendeinenflug.de.
Klewe setzt weiterhin auf seine 17 Voll-
juristen, er kann sich seine Fälle nicht aus-
suchen. Schwarzfahrer etwa, die sich zu Un-
recht ertappt fühlen. Oder den Fall einer
Dame im Fernbus auf der Reise von Florenz
nach München, die während einer Pinkel-
pause im Bus eingeschlossen worden war.
ULLSTEIN BILD

Sie bekam den Ticketpreis zurück.


Martin U. Müller
Mail: martin.mueller@spiegel.de
Twitter: @MartinUMueller
Passagiere am Flughafen München: »Man muss kratzen, wenn es juckt«

67
Die Facebook-Krise scheint indes der Ka-

Den Überblick verloren talysator für einen grundsätzlichen Sinnes-


wandel zu sein. Nun stellen amerikanische
Politiker die Fragen, die sie bislang stets
vermieden haben: Wie soll der Staat mit
Digitalwirtschaft Die Anhörung von Facebook-Chef Mark Zuckerberg den digitalen Riesen umgehen, die in rasen-
vor dem Kongress hat gezeigt: Die Internetkonzerne müssen reguliert dem Tempo die Welt verändern, aber dabei
werden, aber die US-Politik weiß nicht, wie – und blickt auf Europa. kaum noch das Steuer festhalten können?
Zuckerberg wurde von den Kongressab-
geordneten deswegen nicht nur als Face-

I m Silicon Valley ist es kein Geheimnis,


dass Mark Zuckerberg seit Jahren für
genau solch einen Moment trainiert
hat: Rhetorikprofis, Psychologen und Ex-
Weit schwieriger zu beantworten ist die
zweite zentrale Frage, die sich durch die
Anhörungen zog und zunehmend Politi-
ker wie Ökonomen umtreibt: Muss die ge-
book-Chef behandelt, sondern als Ver-
treter der Silicon-Valley-Elite. Facebook
müsse beispielhaft zeigen, »wie die ganze
Industrie die Plattformen, die sie kontrol-
perten für Körpersprache arbeiteten un- samte Tech-Industrie strenger reguliert liert, regulieren oder reformieren wird«,
entwegt daran, dem Facebook-Chef eine werden? Braucht es nicht endlich neue Ge- so die Senatorin Dianne Feinstein.
neue Persönlichkeit für besondere öffent- setze, um die gesamte Digitalisierung in Im Silicon Valley beobachten die ande-
liche Auftritte zu verpassen. Aus dem lin- neue Bahnen zu lenken – und ihre gesell- ren Konzerne von Google bis Apple zu-
kischen, verdrucksten, manchmal patzigen schaftlichen Auswirkungen zu steuern? nehmend besorgt, dass die Facebook-Krise
Nerd sollte ein selbstsicherer, wortgewand- Noch vor wenigen Monaten wäre es un- zu einer Generalabrechnung mit den digi-
ter, schwer aus der Ruhe zu bringender denkbar gewesen, dass sich einer der An- talen Geschäftsmodellen führen könnte.
Unternehmensführer werden. führer der Tech-Industrie einem öffent- In den vergangenen Wochen zeigten sich
Das Training hat sich gelohnt: In der lichen Verhör durch Politiker gestellt hätte. erste Absetzbewegungen. Die über viele
vergangenen Woche wurde Zuckerberg Die Konzernriesen aus dem Silicon Valley Jahre geschlossene politisch-ideologische
insgesamt neun Stunden lang von mehre- sind die wertvollsten Unternehmen der Front der Tech-Riesen bröckelt.
ren Dutzend amerikanischen Kongressab- Welt, die Tech-Branche hat sich zur ein- So löschte etwa Elon Musk, der Gründer
geordneten aus drei Ausschüssen live im flussreichsten Industrie des Landes aufge- von Tesla und SpaceX, die Facebook-Seiten
Fernsehen befragt – und sah dabei am schwungen. seiner Unternehmen, um ein Signal zu set-
Ende oft besser aus als die Politiker, die In den vergangen zwei Jahrzehnten war zen. Und Apple-Chef Tim Cook beschrieb
ihn doch auseinandernehmen sollten. Zu- es der Silicon-Valley-Elite gelungen, sich das Geschäftsmodell von Facebook als ab-
ckerberg schien sich in jedem Moment be- dank ihres globalen Erfolgs jede politische zulehnenden Versuch, den Kunden selbst
wusst zu sein, dass es der wichtigste öf- Einmischung vom Leib zu halten. Innova- zum Produkt zu machen – ein Modell, das
fentliche Auftritt seines Lebens sein würde, mit dem von Apple nichts gemein habe und
der nicht nur über die Zukunft seines nicht in einen Topf geworfen werden solle.
Unternehmens entscheiden könnte, son- Führende Politiker »Die Möglichkeit, dass jemand weiß,
dern auch über seine eigene. Und die der zeigten sich ahnungslos welche Seiten du jahrelang besucht hast,
ganzen Technologieindustrie. wer deine Kontakte sind, wer deren Kon-
Facebook steckt seit Monaten in einer im Hinblick auf die Funk- takte sind, welche Dinge man mag oder
sich ständig ausweitenden Krise: Immer tionen digitaler Produkte. nicht mag, und jedes intime Detail deines
neue Skandale erschütterten das soziale Lebens kennt – das sollte meiner Meinung
Netzwerk, von Fake News über Wahlma- nach nicht existieren«, so Cook. Und legte
nipulationen durch russische Agenten bis tion sei nur möglich, wenn es keine hin- dann mit einem direkten Angriff auf Zu-
zum jüngsten Datenskandal. Persönliche dernden Gesetze gebe, behauptete sie. Die ckerberg nach. Auf die Frage, was er denn
Daten von bis zu 87 Millionen Facebook- Anführer von Google, Apple, Facebook tun würde, wenn er sich in der Position
Nutzern waren angeblich von der du- verkauften der Regierung in Washington von Zuckerberg befände, antwortete er:
biosen Politikberatungsfirma Cambridge immer wieder erfolgreich ihr Mantra: Nur »Ich wäre nicht in dieser Situation.«
Analytica missbraucht worden, um die eine gnadenlos schnelle Innovationskultur Auch bei Google geben sich die Mana-
amerikanischen Präsidentschaftswahlen frei von Regulierung verspreche Wachs- ger hinter den Kulissen alle Mühe, sich so-
zu beeinflussen. tum, Erfolg und Arbeitsplätze. weit wie möglich von dem strauchelnden
Aus der Facebook-Krise war zuneh- Doch in den vergangenen Monaten zeig- sozialen Netzwerk fernzuhalten. Face-
mend eine Zuckerberg-Krise geworden. te sich: Die Konzerne erfinden und entwi- books Probleme seien hausgemacht, heißt
Der Gründer des Unternehmens hat bis ckeln so schnell immer mächtigere und es in der Google-Zentrale. Und entspre-
heute weitgehend die alleinige Kontrolle kompliziertere Produkte, dass sie selbst chend dürfe dies nicht zu einer Grundsatz-
und bestimmt die Strategie. Die Fehler, so mitunter den Überblick verlieren, von ih- debatte über schärfere Regulierung für alle
sagte er im Vorfeld der Anhörungen, seien rem eigenen Tempo überfordert werden – digitalen Geschäftsmodelle führen – genau
seine gewesen: »Ich habe Facebook ge- und keine Antworten finden auf die Pro- das allerdings ist nun passiert.
gründet, führe es, und ich bin verantwort- bleme, die sie selbst geschaffen haben. Trotzdem müssen sich die Tech-Konzer-
lich für alles, was hier passiert.« Warum Facebook der Datenmissbrauch ne kaum vor politischen Sofortmaßnah-
Sein Auftritt vor dem Kongress sollte durch Cambridge Analytica nicht aufgefal- men fürchten. Denn auch wenn Washing-
deswegen vor allem zwei Fragen beant- len sei, fragte ein Senator. »Diese Frage ton sich zunehmend gewillt zeigt, seinen
worten: Ist Zuckerberg wirklich noch der habe ich meinem Team auch gestellt«, sag- bisherigen Nichtangriffspakt mit dem Sili-
Richtige, so ein mächtiges Unternehmen te Zuckerberg. Ähnlich antwortete er, als con Valley aufzukündigen, fehlt es bislang
zu führen, mit mehr als zwei Milliarden es darum ging, warum das Unternehmen an klaren Vorstellungen, wie die Konzerne
Nutzern und erheblichem Einfluss auf die Fake News und die Manipulation durch reguliert werden können.
Informationsströme der Welt? Die Börsen russische Agenten nicht gestoppt hätte: Auch dies offenbarte die Anhörung: Die
bejahten dies, der Facebook-Aktienkurs Man habe das nicht kommen sehen und führenden Politiker des Landes, die wo-
stieg nach Zuckerbergs Auftritt deutlich. sei überrascht worden. chenlang Zeit hatten, sich vorzubereiten,

68 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Wirtschaft

OLIVER CONTRERAS / SIPA USA / DDP IMAGES


Vorstandsvorsitzender Zuckerberg bei der Befragung in Washington, D. C.: Antrainierte Fassade

zeigten sich teils verblüffend ahnungslos Auf die Frage eines Abgeordneten, was etwa Senator John Thune von Zuckerberg,
im Hinblick auf die Funktionen digitaler die Europäer mit ihrem Ansatz richtig oder alles dafür zu tun, um einen »Datenschutz-
Produkte und Facebooks Geschäftsgebaren. falsch machten, bezeichnete Zuckerberg Albtraum« zu verhindern.
»Wie erhalten Sie Ihr Geschäftsmodell auf- die bald in Kraft tretenden Regeln als einen Am deutlichsten brachte wohl Senator
recht, wenn Nutzer für Ihren Service nicht »positiven Schritt für das Internet«. Kritik- Richard Durbin aus Illinois den politischen
bezahlen?«, fragte allen Ernstes Senatsprä- punkte fielen ihm spontan nicht ein, darü- Stimmungswandel auf den Punkt. Und es
sident Orrin Hatch, 84. »Senator, wir haben ber müsse er nachdenken. Tags zuvor hatte war der vielleicht einzige Moment, in dem
Anzeigen«, antwortete Zuckerberg. er schon gesagt, es sei eine Diskussion wert, Zuckerbergs antrainierte Fassade Risse zeig-
Nun denken US-Politiker darüber nach, ob die neue EU-Verordnung nicht auch in te. »Wäre es für Sie in Ordnung, hier mit
sich bei den Europäern die eine oder andere den USA angewendet werden sollte. Bisher uns zu teilen, in welchem Hotel Sie gestern
Idee zur Regulierung abzuschauen. Ende ist Facebook offenbar noch nicht vollstän- übernachtet haben?«, fragt Durbin. Nach
Mai treten in der EU neue Datenschutzre- dig auf die neue Verordnung vorbereitet. langer peinlicher Pause sagt Zuckerberg:
geln in Kraft. Sämtliche US-Konzerne sowie Zuckerbergs Notizen für die Anhörungen, »Nein.« Durbin hakt nach: »Wenn Sie ver-
Facebooks Lobbyisten hatten bislang alles die ein AP-Fotograf abgelichtet und veröf- gangene Woche Nachrichten verschickt ha-
versucht, diese zumindest abzuschwächen. fentlich hatte, enthielten die ausdrückliche ben, würden Sie uns die Namen dieser Men-
Denn die EU verlangt, dass Nutzerdaten nur Mahnung: »Nicht sagen, dass wir die Vor- schen mitteilen?«
zu festgelegten Zwecken erhoben und ver- gaben der Verordnung bereits umsetzen«. »Nein, Senator«, antwortet Zuckerberg.
wendet werden dürfen und Anwender dem Dass US-Politiker sich nun ein Beispiel »Das würde ich wahrscheinlich nicht öf-
ausdrücklich zustimmen müssen. Außerdem an Europa nehmen wollen, ist eine erstaun- fentlich machen.«
schafft sie weitreichende Klagemöglichkei- liche Wende. Datenschutz spielt im ame- Marcel Rosenbach, Thomas Schulz
ten für Betroffene – mit hohen Strafandro- rikanischen Wertekanon eine untergeord-
hungen für die Unternehmen: Verstöße kön- nete Rolle. Europäische Versuche, die ame-
nen bis zu vier Prozent ihres weltweiten Jah- rikanischen Onlinekonzerne zu regulieren, ‣ Lesen Sie auch auf Seite 106 das
resumsatzes kosten. Im Fall Facebook wären wurden in Washington bislang scharf als SPIEGEL-Gespräch mit US-Informatiker
demnach im vergangenen Jahr Strafen bis Industriepolitik zum Schutz der EU-Inter- Pedro Domingos.
zu 1,6 Milliarden Dollar möglich gewesen. netwirtschaft kritisiert. Und nun fordert

69
Wirtschaft

Das letzte Aufgebot


An seinem ersten Vorstandschef, Anshu
Jain, hielt er in blinder Treue fest, obwohl
der wie kein Zweiter für Skandale stand
und unbeirrt auf das Investmentbanking
setzte. Erst auf Druck der Finanzaufsicht
Finanzmärkte Unter Paul Achleitner hat die Deutsche Bank einen und als die Lage für Achleitner selbst be-
atemberaubenden Niedergang erlebt. Die Suche nach einem drohlich wurde, opferte er Jain.
neuen Vorstandschef betrieb der Aufsichtsratsboss dilettantisch. An dessen Stelle setzte er John Cryan,
einen spleenigen Briten, der ein Faible für
Excel-Tabellen und Renaissancemusik aus

P aul Achleitners Lieblingsrolle ist


die des ökonomischen Welterklä-
rers, der international die Kontakte
pflegt und daheim als Aufsichtsratschef die
Chef von Goldman Sachs, Allianz-Vor-
stand. Tragischer ist es für die Bank. Die
Rivalen in Europa und Übersee eilen da-
von, sie steckt in der Falle. Noch immer
dem 16. Jahrhundert hat, aber kaum Füh-
rungsqualitäten. 2017 stellte Achleitner
Cryan gegen dessen Willen zwei Stellver-
treter an die Seite: Christian Sewing, Chef
Deutsche Bank fest im Griff hat. An die- leistet sie sich mit Achleitners Segen ein des Privat- und Firmenkundengeschäfts,
sem Selbstbild hält er auch nach sechs Jah- wuchtiges, aber ertragsschwaches Invest- sowie Marcus Schenck, zuständig für das
ren im Amt, nach sechs Jahren Chaos, fest. mentbanking; das Heimatgeschäft leidet Investmentbanking. Cryan war fortan ein
Doch spätestens nach den Ereignissen unter der Sparkassen-Dominanz und dem Chef auf Abruf, sein Verhältnis zu Achleit-
der vergangenen Wochen, den turbulenten ewigem Zickzackkurs, die Vermögensver- ner galt als zerrüttet. Dem schien es egal.
Umständen des Chefwechsels von John waltung hat den Sprung an die Börse fast Spätestens ab Herbst war absehbar, dass
Cryan zu Christian Sewing, lässt sich sa- verpatzt. Viele Mitarbeiter sind in die in- Cryan nicht das Ende seiner Amtszeit
gen: Mit dieser Einschätzung steht Ach- nere Emigration geflüchtet oder haben den 2020 erleben würde; zu erfolglos war er
leitner weitgehend allein da. Das wichtigs- Konzern verlassen. Achleitner ist für die in seinem Bemühen, Kosten zu senken
te Geldhaus des Landes kommt unter ihm Bank zur Hypothek geworden. und Gewinne zu erwirtschaften. Aktionä-
weder personell noch strategisch zur Ruhe, Nichts verdeutlicht das besser als seine re begannen zu grummeln. Flugs nahm
der ungebremste Niedergang trägt vor al- Personalpolitik. Sie ist Kernaufgabe des Achleitner Kontakt auf zu externen Kan-
lem eine Handschrift: die Achleitners. Aufsichtsrats und im besten Fall geprägt didaten, aber halbherzig. Seine Favoriten
Der Traum des 61-Jährigen, die Deut- von Stetigkeit. Achleitner aber wechselt hießen Schenck und Sewing. Sie aber soll-
sche Bank rundzuerneuern, ist gescheitert. im Dreijahresrhythmus die Vorstandschefs ten noch in ihren Ämtern reifen.
Das ist tragisch für den Linzer, der in seiner aus. Er will Geschäftigkeit signalisieren. Einmal mehr wurde Achleitner von der
Karriere vieles war: Berater, Deutschland- Tatsächlich hat er die Kontrolle verloren. Realität eingeholt. Der dritte Jahresverlust

MALTE OSSOWSKI / SVEN SIMON / PICTURE ALLIANCE / DPA

Deutsche-Bank-Vorstandsmitglied Sewing, Aufsichtsratsvorsitzender Achleitner 2017: Chefsuche nach dem Ausschlussprinzip

70
in Folge, eine indirekte Gewinnwarnung
und der holprige Börsengang der Vermö-
gensverwaltung beschleunigten Cryans
DER SPIEGEL live
Ende. Zugleich verlor Schenck den Glau-
ben an die Erneuerungskraft des Konzerns
– und auch daran, selbst Vorstandschef zu
werden, wie von Achleitner avisiert. Groß-
in der Uni
aktionäre hielten ihn für untauglich.
In der Heimat also kündigte sich ein ge-
waltiger Sturm an, doch der Aufsichtsrats-
vorsitzende reiste über die Osterfeiertage
»Mit den Händen sehen«
nach Peru. Während Achleitner mit Fami-
lie durch die Inka-Stadt Machu Picchu
stapfte, zerrissen sich daheim Analysten,
Aktionäre und Journalisten die Mäuler,
wer die Deutsche Bank – in ähnlicher Ver-
fassung wie die peruanische Ruinenstadt
– überhaupt noch führen könne.
Erst als über Ostern ein bitterer Ab-
schiedsbrief seines Zöglings Schenck bei
ihm eintraf, drehte Achleitner bei. In dem
Schreiben rechnet Schenck mit der deut-
schen Finanzaufsicht ab, die Investment-
banking für Teufelszeug halte, sowie dem
Aufsichtsrat, der dem nichts entgegen-
setze. Deshalb müsse er demissionieren,
schlussfolgerte Schenck – und setzte Ach-
leitner damit unter Handlungszwang.
Zurück in der Heimat, präsentierte der
Aufsichtsratschef einem engen Kreis von Der Sportarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Aktionären und Vertrauten drei teils bi-
zarre Alternativen: Entweder man stelle im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteur
Cryan bis zum Ende seines Vertrags einen
Co-Chef zur Seite – wer das sein und wel- Jörg Blech über die Kunst der Diagnose,
ches Problem das lösen könnte, blieb offen.
Oder man hole einen Externen – den er seine Medizin und sein erstaunliches Leben.
allerdings nicht hatte, seinem monatelan-
gem Werben war niemand erlegen. Wes-
halb ernsthaft nur die dritte Variante in-
frage kam: Sewing, den verbliebenen
Kronprinzen, an die Spitze zu hieven –
Chefsuche nach dem Ausschlussprinzip.
Hektisch wurden für den Sonntag nach
Ostern die größtenteils ahnungslosen Auf-
sichtsräte zusammengetrommelt, um den
Vorstand neu zu sortieren. Für eine physi-
sche Zusammenkunft reichte die Zeit nicht, Donnerstag, 26. April 2018, 19 Uhr
der Wechsel an der Spitze des wichtigsten
deutschen Finanzkonzerns sollte per Tele- Klinikum der Universität München
fonschalte abgenickt werden.
Und abermals lief es nicht nach Dreh- Liebig-Hörsaal
buch: Anstatt wie geplant eine Stunde dau-
erte die Konferenzschaltung vier Stunden, Butenandtstraße 13, 81377 München
einzelne Räte machten sich über Achleit-
ners missratene Regie Luft. Immerhin
konnte sich der Netzwerker auf treue Ver- Der Eintritt ist frei. Einlass ab 18.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
bündete wie Ver.di-Chef Frank Bsirske Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich
und E.on-Boss Johannes Teyssen verlas- für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an.
sen, die Kritik abbügelten. Cryan wurde
mit dürren Worten verabschiedet.
Nun also soll es Sewing richten. Der
Westfale ist nach fast 30 Berufsjahren im
Hause beliebt, hat aber in seinem Fachres-
sort kaum nachweisen können, für höhere
Aufgaben gewappnet zu sein. Sein Auf-
stieg ist atemberaubend: Bevor er im Juni
2015 in den Vorstand einzog, wo er zu-

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 71


IN DER SPIEGEL-APP Wirtschaft

Aktienkurs der Deutschen Bank hat das Gremium de facto zusammenge-


in Euro stellt, selbst auf der Arbeitnehmerseite gibt
es kaum kritische Stimmen.
30 Ein starker Aktionär, der Achleitner
1. Juli 2015 kontrollieren oder ihm wenigstens Paroli
John Cryan
wird Vorstands- bieten könnte? Fehlanzeige.
vorsitzender Die größten Aktionäre, zwei Scheichs
20 aus Katar sowie die chinesische HNA
31. Mai 2012
Paul Achleitner Group, stehen hinter ihm und stecken zu-
wird Aufsichts- dem selbst in Schwierigkeiten. Der Fonds-
ratsvorsitzender gigant Blackrock ist über die jüngsten Vol-
10
ten irritiert. Doch wie viele Aktionäre
2012 2017 scheuen die Amerikaner die Revolte, weil
sie nicht Vorstands- und Aufsichtsratschef
0,3 0,7 1,7 gleichzeitig vom Hof jagen wollen.
– 1,4 – 0,7 All das sichert Achleitner die Macht, ist
Gewinn/Verlust aber für die Deutsche Bank ein Drama.
in Milliarden Euro Denn auch ihr selbst fehlt ein Gravitations-
zentrum: Weder hat sie, trotz ihres Na-
Quelle: Thomson
– 6,8 Reuters Datastream
mens, eine geografische Heimat noch
irgendeinen Geschäftsbereich, der so stark
und robust ist, dass sich um ihn herum die
nächst das Rechtsressort übernahm, hatte Bank wiederaufrichten ließe.
er mehr hinter den Kulissen gewerkelt, Achleitner hat das zugelassen. Sein
zumeist ohne den wichtigen direkten Gerede von der Notwendigkeit einer euro-
Kontakt zu Schlüsselkunden. Als er Chef päischen Alternative zur Wall Street klingt
der internen Revision war, übersah seine hohl. Zwar braucht Deutschland solch eine
Abteilung die Geldwäschedeals der Mos- Bank in Zeiten, da Amerika, China und
FRITZ SCHUMANN

kauer Niederlassung. Russland Machtspiele zulasten Europas


Im Privat- und Firmenkundengeschäft betreiben. Aber die Deutsche Bank ist
hatte Sewing als Vorstand vor allem den Donald Trumps Hausbank, in Russland
Zusammenschluss mit der Postbank zu war sie in Geldwäsche verwickelt, ihr größ-
meistern. In Verhandlungen mit dem Be- ter Aktionär kommt aus China. Und als
triebsrat fiel er dabei durch Konzilianz auf; Bank der deutschen Unternehmen hat sie
sogar eine neue Konzernzentrale für die längst keine dominante Position mehr.
Die, die sich in Postbank genehmigte er. Als Chef muss er
hart sein und eisern sparen. Ob ihm das
Die Strategie sei Vorstandssache, sagt
Achleitner. Doch das ist billig und ent-
den Bergen liegt, ob er alten Kollegen wehtun kann?
Sewing hat nur eine Chance: wenn er
spricht nicht seiner Amtsführung. Hinter
das Argument zieht er sich stets zurück,
niederlegen sich von Achleitner emanzipiert. Doch der
hat auch ihm zwei Stellvertreter an die Sei-
sobald die Kritik an ihm zu laut wird. Auf
der Hauptversammlung am 24. Mai wird
te gestellt, die Gründe bleiben nebulös. er sich daher einiges anhören müssen. Die
In Nordjapan praktizieren die Yamabushi
Garth Ritchie, Schencks Co-Chef im In- Aktionärin Riebeck-Brauerei beantragt sei-
eine einst verbotene uralte Religion. Sie hat- vestmentbanking, hatte aus Frust über die ne Abwahl. Achleitner wird sich dennoch
te im 17. Jahrhundert ihre Blütezeit, die Mön- Perspektivlosigkeit schon fast gekündigt, halten. Dass er bis Mandatsende 2022
che berieten Samurai und Generäle und einen Nachfolger aber hatte Achleitner bleibt, ist jedoch nicht gesagt. In den Ge-
wurden als übernatürlich verehrt. Doch ihre nicht parat. So ist der Südafrikaner plötz- sprächen, die er üblicherweise vor der
Bräuche sind gefährdet: In der struktur- lich alleiniger Spartenchef und Sewing- Hauptversammlung mit Aktionären führt,
schwachen Region gibt es immer weniger Vize. Genau wie Rechtsvorstand Karl von werden Investoren abklopfen, ob er bereit
Herbergen für Pilger. Diese sind die einzige Rohr, ein freundliches Konzern-Fossil, das ist, vorzeitig seine Nachfolge zu regeln.
bedeutende Einnahmequelle der Mönche. dank seiner Fachexperten und mit viel Aktionäre klagen oft, es gebe keine
Um ihr Überleben zu sichern, haben die Geld juristische Altfälle abgeräumt hat, Kandidaten. Doch ganz so ist es nicht. Ex-
aber sonst nicht aufgefallen ist. »Das ist Bundesbankchef Axel Weber steht zwar
Yamabushi nun eine neue Zielgruppe aus-
das letzte Aufgebot, danach kommt nichts wohl nicht mehr zur Verfügung. Aber da ist
gemacht: gestresste Großstädter auf der mehr«, sagt ein Großaktionär. zum Beispiel Philipp Hildebrand, 54, Black-
Suche nach einem alternativen Lebensweg. Achleitner lässt derweil nicht erkennen, rocks Vizechef. Er war Präsident der Schwei-
dass ihn die Kritik an seiner Person anficht zerischen Nationalbank, ist bei Aufsicht und
Sehen Sie die Visual Story im digitalen und er an ein vorzeitiges Ende seiner er- Anlegern anerkannt. Es heißt, derzeit finde
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. folglosen Arbeit denkt, berichten Leute, er die Arbeit für Blackrock attraktiver. Er
die in den vergangenen Tagen mit ihm ge- soll aber den Ehrgeiz haben, nochmals an
sprochen haben. Tatsächlich sitzt er fest die Spitze einer großen Institution zu rücken.
im Sattel, was angesichts seiner Bilanz bi- Vorerst gilt jedoch, was einen der zehn
zarr wirkt – aber es lässt sich erklären. größten Aktionäre fast verzweifeln lässt:
Achleitner spielt mit der Ohnmacht der »Wir werden wohl noch lange mit Paul
anderen, er füllt das Machtvakuum. Vom Achleitner zusammenarbeiten.«
schwachen Vorstand und auch vom Auf- Tim Bartz, Martin Hesse
JETZT DIGITAL LESEN sichtsrat hat er nichts zu befürchten. Er

72 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Enttäuschte
Hoffnung
Soziales Die jüngste Reform
sollte für höhere Löhne in der
Pflege sorgen. Ein Nebeneffekt:
Heimkosten explodieren,
Senioren sind überfordert.

I hre Tochter erkennt Edeltraut Gold-


schmidt nur noch an guten Tagen. Ihr
Augenlicht hat sie vor langer Zeit ver-
loren, seit einem Schlaganfall fällt ihr auch

THOMAS DASHUBER / DER SPIEGEL


das Trinken schwer. Im März ist die Dame
aus Zimmer 316 des Caritas-Altenheims
St. Josef 98 Jahre alt geworden. Das Alter
fordert einen hohen Preis. Für Edeltraut
Goldschmidts Seniorenheim gilt das inzwi-
schen leider auch.
Als im Januar 2017 die jüngste Stufe der
Pflegereform in Kraft trat, versprach die Altenheimbewohnerin Goldschmidt, Tochter Cosar: »Grenze der Belastbarkeit«
Bundesregierung, demente und gebrech-
liche Senioren besser versorgen zu lassen
und finanziell zu entlasten. Doch nun zeigt Die Bundesregierung räumt das offen rere Hundert Euro« pro Monat berichtet
sich, dass von einer dauerhaften Erleich- ein. In 37 Prozent der Heime und bei die Interessenvertretung Biva, die von An-
terung keine Rede sein kann. 59 Prozent der ambulanten Pflegedienste fragen Betroffener überhäuft wird.
Kaum ein halbes Jahr nachdem das Ge- habe es zuvor keine Bezahlung nach Tarif Edeltraut Goldschmidts Heim ist für die
setz in Kraft getreten war, teilte das Alten- gegeben, schreibt das Bundesgesundheits- Region nicht einmal besonders teuer, Pfle-
heim St. Josef nahe München mit, dass die ministerium in der Antwort auf eine An- ger erhielten hier auch vor den Entgelt-
Pflege künftig wieder teurer werde. Der frage der Linken-Bundestagsfraktion. Die erhöhungen ordentliche Löhne. Die Kas-
Anteil, den die Bewohner selbst aufbrin- Umstellung auf Tariflöhne könne nun »ein- sen hätten ihre Pauschalen aber nicht an-
gen müssen, werde zum Oktober 2017 um malig zu einem entsprechend steigenden gepasst, heißt es bei der Caritas München.
116 Euro monatlich auf dann 2088 Euro Eigenanteil der Pflegebedürftigen« führen. Auch Goldschmidt lebt daher nun nah
im Doppelzimmer steigen, im Einzelzim- Die Opposition ist entsetzt. »Menschen an dem, was ihre Tochter Eva-Marie Cosar
mer auf rund 2280 Euro. Ohne die Hilfe mit Pflegebedarf und Pflegekräfte dürfen »die Grenze der finanziellen Belastbarkeit«
ihrer Tochter wäre Edeltraut Goldschmidt nicht gegeneinander ausgespielt werden«, nennt. »Ich zahle gern für eine gute Be-
auf das Sozialamt angewiesen. sagt Pia Zimmermann, Pflegeexpertin der treuung meiner Mutter. Dann möchte ich
Ein großer Teil der knapp 780 000 Linken-Bundestagsfraktion. aber auch, dass das Geld in der Pflege an-
Heimbewohner erhielt in den vergange- Laut einer Statistik des Kassenverban- kommt – durch mehr Stellen und durch
nen Wochen unerfreuliche Post. Steigende des vdek mussten Heimbewohner im Ja- höhere Löhne für die Pflegekräfte.«
Ausgaben für die Pflege müssen die Senio- nuar 2017 allein für Pflegeleistungen im Dass ihre Mutter intensiver betreut wür-
ren selbst tragen, weil die gesetzliche Pfle- Bundesdurchschnitt 554,55 Euro monat- de, kann sie nicht feststellen. Cosar ver-
gekasse über eine Pauschale lich aufbringen. Dieser Ei- bringt ihre Nachmittage im Altenheim, um
nur einen Teil der Heimkosten Selbst zu zahlende genanteil ist im Januar 2018 ihrer Mutter mit dem Löffel angedickte
übernimmt. Von einem »gra- auf 593 Euro geklettert. Säfte einzuflößen. »Wenn meine Mutter
vierenden Problem« spricht Pflegekosten Dazu addieren sich die Aus- einen bockigen Tag hat, dauert es sehr
der Biva-Pflegeschutzbund. in Euro pro Monat gaben für Essen und Unter- lang, bis sie den Mund zum Füttern auf-
Ausgerechnet jenes Projekt, Stationäre Pflege, Durchschnitt der
Pflegegrade 2 bis 5; *niedrigster Anteil,
kunft. Im Schnitt berappen macht«, sagt Cosar. Das Zeitbudget der
das für eine bessere Pflege sor- **höchster Anteil; Quelle: vdek die Senioren heute 1772 Pflegerinnen reiche dafür nicht aus.
gen sollte, wird für viele Be- Euro aus eigener Tasche. Mit einem Sofortprogramm will die
dürftige zur finanziellen Last. 1772 1793 Wer überfordert ist, muss Große Koalition nun 8000 zusätzliche
Denn seit der Reform gilt Eigenanteil seine Kinder oder das Sozi- Stellen schaffen, Bewerber sollen mit hö-
eine Regel, die bewirken soll, insgesamt: alamt um Hilfe bitten. »Ein heren Löhnen geködert werden.
dass Pfleger besser bezahlt wer- 1232 Pflege, Essen, weiterer Anstieg treibt im- Ein wenig klüger ist die Politik gewor-
Unterkunft
den. Viele Fachkräfte wurden mer mehr Menschen in die den. Im Koalitionsvertrag haben Union
zuvor mit Gehältern unterhalb 841 Armut«, sagt Ulrike Ma- und SPD festgelegt, dass dieses Mal nicht
des Tariflohns abgespeist. Für 593 scher, Präsidentin des So- etwa die Heimbewohner die Kosten tragen
Heime ist es nun leichter, höhe- zialverbands VdK. sollen, sondern die Sozialkassen. Zahlen
re Löhne zu zahlen: Sie dürfen 214 Vor allem im Osten sind müssten dann alle Beitragszahler.
Mehrausgaben weiterreichen – die Eigenanteile explodiert, Cornelia Schmergal
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an die Heimbewohner. von Steigerungen um »meh-


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73
Medien

kommnisse gab und noch gibt, die die je-

Den Falschen bestraft weiligen Grenzen von Kolleginnen über-


schritten und verletzt haben, und somit
als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
bewertet werden könnten«. Sie habe von
TV-Sender Zwei WDR-Korrespondenten sollen jahrelang Kolleginnen den betreffenden Frauen allerdings kein
sexuell belästigt haben. Die Führungsriege ging dem Verdacht kaum »Mandat« bekommen, ihre Namen zu nen-
nen, weil »die ganze Problematik für die
nach – auch der heutige Fernsehdirektor Jörg Schönenborn nicht. betroffenen Kolleginnen extrem angst-
und schambesetzt ist, und sie weiterhin

P lötzlich zeigen sich die Mächtigen


des WDR reumütig. Er begrüße es
sehr, wenn jetzt Kolleginnen oder
ehemalige Kolleginnen kommen und Hin-
Doch niemand von ihnen nahm sich der
Sache angemessen an. Stattdessen hatten
die Hierarchen, die sich hätten kümmern
sollen, offenbar vor allem eines im Sinn:
Schutz in der Anonymität suchen«.
Es war, ohne Zweifel, eine schwierige
Situation. Einerseits gab es deutliche Hin-
weise auf Fehlverhalten, andererseits bis
weise geben, sagt Intendant Tom Buhrow. alles möglichst weit von sich zu schieben. dahin keine arbeitsrechtlich verwertbaren
Und Chefredakteurin Sonia Mikich denkt Acht Jahre später fliegt dem WDR die Vorwürfe. Dafür aber war es ein Warnsig-
gar darüber nach, wie man »aus alten Ma- Affäre um die Ohren. Ausgelöst durch die nal: Was ist los in einem Betrieb, in dem
chos bessere Menschen« machen kann. #MeToo-Debatte und die dazugehörigen sich mögliche Betroffene sexueller Beläs-
Kein Wunder: Die Führungsspitze muss Enthüllungen trauen sich Frauen, Details tigung nicht aus dem Schutz der Anony-
fürchten, dass die Veröffentlichungen der zu erzählen, gegenüber dem WDR, aber mität trauen? Kann man ihnen nicht bes-
vergangenen Wochen auch für sie Konse- auch gegenüber anderen Medien. seren Schutz bieten?
quenzen hat. Der WDR, das wird allmäh- Hätte einer aus der Führungsspitze da- Diese Fragen schien sich beim WDR da-
lich klar, hat nicht nur ein Problem mit mals die Courage gehabt, sich der Fälle an- mals jedoch kaum einer zu stellen. Auch
dem einen oder anderen Korresponden- zunehmen, wäre dem WDR die aktuelle nicht die damalige Leiterin der WDR-Aus-
ten, der Kolleginnen belästigt haben soll. Affäre zumindest in diesem Ausmaß er- landsredaktion Tina Hassel, sie schob den
Mehrere seiner wichtigsten Hierarchen ha- spart geblieben. Es wäre der Skandal Fall von sich weg.
ben versagt. Das belegen Dokumente, die zweier Mitarbeiter geblieben. Jetzt ist es Der Bericht der Personalrätin wurde ihr
dem SPIEGEL vorliegen. eine Affäre WDR. über die Fernsehdirektorin zugestellt. Has-
Vor einer Woche hatten »Stern« und Der zweite nun bekannt gewordene Fall sel antwortete: »Ich muss … gestehen, dass
Correctiv.org erstmals über den Fall eines kam damals fast beiläufig ins Rollen. Ein mich das sehr ratlos zurücklässt.« Sie
WDR-Korrespondenten berichtet, der Kol- Redakteur, der wegen einer anderen Ge- könne versichern, dass sie solche Vorfälle,
leginnen sexuell belästigt haben soll, dafür schichte mit seinen Vorgesetzten über sollte es dazu gekommen sein, sehr ernst
aber lediglich eine Ermahnung erhielt. Kreuz lag, bat im Februar 2010 die dama- nehme und bei allem mithelfe, was zu
Daraufhin meldeten sich immer weitere einer schnellen und hundertprozentigen
Betroffene. Der Mann, der sich selbst als Aufklärung beitrage. »Andererseits sind
»Alpha-Tier« bezeichnete und sich einmal Was ist los in einem die Andeutungen so vage, dass ich damit
sogar vor einer Kollegin entblößt haben Betrieb, in dem sich mög- konkret leider beim besten Willen nichts
soll, wurde freigestellt. Mehr als ein Jahr anfangen kann.«
nachdem sich Chefredakteurin Mikich mit liche Betroffene nicht aus War Hassel nur ratlos, wie sie schrieb?
den Vorwürfen gegen ihn befasst hatte. der Anonymität trauen? Offenbar nicht. Denn einen Tag später
Dann, Mitte dieser Woche, wurde der musste sich der Reporter, der die Hinweise
Fall eines zweiten Korrespondenten, der gegeben hatte, vor der Personalabteilung
bis heute in der »Tagesschau« zu sehen ist, lige Intendantin Piel um Hilfe – und und vor seiner Chefin Hassel rechtfertigen.
öffentlich. Eine ehemalige Redakteurin erwähnte dabei auch, dass er von Fällen Er kassierte einen Rüffel. Schriftlich. Er
schilderte, wie der Mann immer wieder »sexueller Belästigung« in der Auslands- wurde ermahnt, in Zukunft jegliche Vor-
auf ihre Brüste geschaut und sie bedrängt redaktion erfahren habe. würfe »über angebliche sexuelle Belästi-
habe, mit ihr abends auszugehen. Als sie Der Mann, um den es hier geht, selbst gungen durch einzelne oder mehrere Mit-
nicht darauf einging, sei sie bei ihm in Un- Auslandsreporter des WDR, sei vorsichtig arbeiter/innen« in der Auslandsredaktion
gnade gefallen, so ihr Eindruck. und bedächtig vorgegangen, »auf jeden zu unterlassen.
Mehrere Frauen erhoben Vorwürfe ge- Fall integer«, das bestätigen andere Re- Festgehalten wurde: »Es entspricht nicht
gen diesen Mann, vor acht Jahren schon. dakteure, die ihn kennen und zu der Zeit den Tatsachen, dass sich einzelne oder
Seither wissen die Mächtigen im WDR da- mit ihm in Kontakt waren. Er beriet sich mehrere Mitarbeiter/innen an die im Hau-
von, doch der Beschuldigte machte auch mit Kollegen, wie er vorgehen solle, be- se für solche Fälle zuständigen Ansprech-
danach noch Karriere. Bestraft wurde da- hielt den Namen des Beschuldigten aber partner gewandt haben und Beschwerden
gegen der Mann, der die Hinweise der für sich. Und wandte sich an die Intendan- über sexuelle Belästigung« erhoben hätten.
Frauen an die WDR-Spitze weitergab und tin, um das Problem zu lösen. Einen Tag, nachdem die Personalrätin in
für Aufklärung sorgen wollte. Piel, statt sich selbst zu kümmern, gab einer Mail genau darüber berichtet hatte.
E-Mails und Briefe belegen, dass die die Angelegenheit eine Stufe weiter nach Es ist schwer, sich die Unternehmens-
Senderspitze bereits 2010 informiert war – unten, an Fernsehdirektorin Verena Ku- kultur, in der so etwas möglich ist, anders
und zu wenig unternahm. Die damalige lenkampff. Die bat ihn, Kontakt zwischen als höchst hierarisch und düster vorzustel-
Intendantin Monika Piel, der heutige Fern- den Frauen, die sich ihm anvertraut hatten, len. Die Hinweise auf Belästigung wurden,
sehdirektor Jörg Schönenborn und die und einer Personalrätin herzustellen. Die weil verständlichweise erst einmal ano-
heutige Leiterin des ARD-Hauptstadtstu- sprach dann mit den Frauen. nym, eher achselzuckend abgeheftet –
dios Tina Hassel waren in den Fall invol- In einer E-Mail an Kulenkampff fasste während der Mitarbeiter, der versuchte,
viert. Oder wie es Hassel in einer E-Mail die Personalrätin schließlich ihre Ergeb- auf Missstände hinzuweisen, zu einer An-
selbst formulierte: »die gesamte Hausspit- nisse zusammen. Sie habe den Eindruck, hörung geladen, quasi der Lüge bezichtigt
ze« sei »damit befasst« gewesen. dass es in der Auslandsredaktion »Vor- und getadelt wurde.

74 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


DTS NACHRICHTENAGENTUR

THOMAS KIEROK / ARD


HERBY SACHS / WDR
OLIVER BERG / DPA

Journalisten Schönenborn, Hassel, Ex-Intendantin Piel, Nachfolger Buhrow: »Die gesamte Hausspitze damit befasst«

Der WDR teilt dazu mit, die »damals Der Reporter kämpfte weiter. Er versuch- gelegenheiten einzelner Mitarbeiter nicht
Verantwortlichen« seien »den betreffen- te es ein Jahr später erneut, bei Jörg Schönen- öffentlich äußern. Dabei war es nicht das
den anonymen Hinweisen intensiv und born, damals Chefredakteur. Es war eine erste Mal, dass Schönenborn so unsensibel
sorgfältig nachgegangen«. Die »Anschul- zweiteChancefürdenWDR.Siewurdevertan. vorging. Er war es auch, der jenen WDR-
digungen« hätten sich »weder entkräften Der Auslandsreporter erinnerte Schö- Mann, der sich selbst »Alpha-Tier« nannte,
noch belegen« lassen. Es habe auch für die nenborn an den Bericht über sexuelle Be- auf prestigeträchtige Korrespondentenstel-
damalige direkte Vorgesetzte »keine Mög- lästigung, wollte, dass er ihn liest. Der len schickte. Obwohl Schönenborn die Ge-
lichkeit gegeben, konkrete Maßnahmen Hierarch antwortete ausweichend. Er kön- rüchte über sexuelle Belästigung aus den
zu ergreifen«. ne sich »ehrlicherweise nicht erinnern, ob Neunzigerjahren kannte. Sie seien »in der
Dem Redakteur half es damals auch ich damals den Bericht zur Einsicht be- Chefredaktion unter Jörg Schönenborn seit
nicht mehr viel, dass die Personalrätin et- kommen habe«. Und gab zu: »Es entsprä- 2002 intensiv und ohne Ergebnis geprüft
was später protestierte, weil im Schreiben che den Gepflogenheiten und wäre unge- worden«, teilt der WDR mit. Und Schönen-
der Personalabteilung »eine substanzielle wöhnlich, wenn das nicht passiert wäre.« born sagt: »Ich hätte mir gewünscht, dass
Darstellung« fehle. Die Personalrätin mach- Fast so, als ob solch ein Bericht nichts wäre, ich die Informationen, die uns heute vor-
te darauf aufmerksam, dass der Reporter an das man sich erinnern müsse. liegen, schon damals gehabt hätte. Denn
keineswegs eigenmächtig gehandelt habe, Und dann? Ist Schönenborn alarmiert? mit dem Wissen von heute hätte man da-
sondern von der Fernsehdirektorin beauf- Nimmt er sich der Sache, die ja keine Klei- mals andere Entscheidungen getroffen.«
tragt worden sei. Doch da war er offensicht- nigkeit ist, an und liest den Bericht? »Ob Dabei sind im WDR-Funkhaus erschre-
lich schon als Nestbeschmutzer abgestem- ich dies nachhole«, schrieb Schönenborn ckend wenige überrascht über die Enthül-
pelt worden. in jener Mail, »habe ich für mich noch lungen. »Es war doch allgemeiner Flurfunk,
Die Betroffenen fühlten sich entmutigt. nicht entschieden.« dass der Kollege Frauen nachstellte«, sagt
Eine von ihnen berichtet, dass ihr über die Das Spiel, in dem die Falschen bestraft einer über den mittlerweile freigestellten
Gespräche mit der Personalrätin hinaus werden, geht indes weiter. Ein Jahr später Korrespondenten. Einige erzählen dann
keine Versuche der WDR-Führung be- beförderte Schönenborn den Beschuldig- noch eine Episode, wie jener Kollege bei
kannt seien, ihr Vertrauen und das der an- ten auf eine Korrespondentenstelle. Und einem Oktoberfest des Bayerischen Rund-
deren Frauen zu gewinnen. Etwa über sorgte mit dafür, dass der Reporter, der die funks mit seinem Handy unter den Rock
einen externen Anwalt, der die Vorwürfe Hinweise gab, eine solche nicht bekommt, tanzender Frauen gefilmt und wütend rea-
sammelt. Die Hierarchie habe sich stets als das zeigen die Dokumente. gierte habe, als ihn Kollegen aufforderten,
geschlossener Block präsentiert. Und als Der WDR teilt mit: »Die Unterlagen, die das zu unterlassen.
der Hinweisgeber abgestraft wurde, »sei Ihnen vorliegen, ergeben offensichtlich kein Markus Brauck, Ann-Katrin Müller
jeder Frau klar geworden, hier will nie- vollständiges Bild der Abläufe und Hinter- Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de
mand, dass sich etwas ändert«. gründe.« Man könne sich im Detail zu An-

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žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Ausland
»Wer nicht klaut, wer keine Verwandten in Miami hat und keine Devisen, für den ist Kuba die Hölle.« ‣ S. 88

ABDO HYDER / AFP


Hunger im Jemen Das unterernährte Mädchen in einem Dorf nahe der Küstenstadt Hudaida leidet wie Millio-
nen seiner Landsleute unter dem Bürgerkrieg, der mehr als drei Jahre andauert. Durch Hunger und Epidemien
sterben im Jemen mehr Kinder als durch Waffengewalt. Immerhin wurden vorige Woche auf einer Uno-
Konferenz Hilfen in Höhe von zwei Milliarden Dollar zugesagt. Die nächste internationale Jemenkonferenz
will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in den kommenden Monaten in Paris abhalten.

Kommentar

Ausgehöhlte Demokratie
Nach dem Wahlsieg von Viktor Orbán ist Ungarn faktisch wieder ein Einparteienstaat.

Der gefährlichste Politiker in der EU heißt Viktor Orbán, und Die Europäische Union hat bisher kaum etwas getan. Ein
der Wille, ihm etwas entgegenzusetzen, ist in den europäischen Brüsseler Rechtsstaatlichkeitsverfahren haben nur die Polen am
Hauptstädten gering ausgeprägt. Orbán hatte bereits acht Jahre Hals, weil ihre Gerichtsreform offensichtlich gegen den Grund-
lang Zeit, die ungarische Demokratie auszuhöhlen. Seit er am satz der Gewaltenteilung verstößt. Orbán dagegen provozierte
vergangenen Sonntag überraschend sogar eine Zweidrittelmehr- die EU immer nur so weit, dass sie gerade noch nicht einschritt.
heit im Parlament ergattern konnte, herrscht nun – wie schon Außerdem hat er Freunde, wichtige Freunde. Bei der CSU
vor der Wende von 1989 – wieder eine einzige Partei unange- darf er regelmäßig über seine Anti-Flüchtlings-Politik reden.
fochten: Orbáns Fidesz. Innenminister Horst Seehofer nahm ihn nach der Wahl vor einer
Seine Macht hat sich schleichend ausgebreitet. Fidesz-Leute europäischen »Politik des Hochmuts« in Schutz. Zudem ist
haben nach und nach fast alle wichtigen öffentlichen Positionen Fidesz Mitglied der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament,
besetzt. Die Wirtschaft kontrolliert er über ein Netzwerk Seite an Seite mit Angela Merkels CDU. Man hat von seinen
befreundeter Unternehmer, die er mit staatlichen Aufträgen (und deutschen Freunden kaum Kritik gehört an Orbáns antisemitisch
viel EU-Geld) versorgt. Sein Nationalismus beherrscht eingefärbtem Wahlkampf. Andere Populisten und Möchtegern-
den öffentlichen Diskurs. Wer kann Orbán noch aufhalten? Autokraten in Europa dürften sich ermuntert fühlen. Jan Puhl

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Frankreich
Hollandes Lektionen
 Es ist nicht so, dass man das Erschei-
nen dieses Buchs kaum hätte erwarten
können. Aber jetzt, wo es da ist, schaut
man doch hinein: François Hollande,
der vielleicht glückloseste, vielleicht
pflaumenhafteste aller Präsidenten
Frankreichs, hat einen Epilog auf seine
Amtszeit von 2012 bis 2017 verfasst.

ZUMA PRESS / ACTION PRESS


»Lehren der Macht« heißen die mehr
als 400 Seiten, die der Sozialist sich
und seiner Zeit im »Château« gewid-
met hat. So heißt der Élysée-Palast bei
denen, die dort arbeiten. Er versucht
dabei das Unmögliche: nämlich sich
selbst als doch recht erfolgreiches Lula (M.) auf dem Weg ins Gefängnis
Staatsoberhaupt darzustellen. Und
wenn es mal nicht ganz so rundlief, Brasilien Aktivisten aus allen Teilen des Landes
waren natürlich andere schuld. Wahlkampf aus der Zelle auf, die Veranstaltungen sind live im
Küchenpsychologisch viel interessan- Internet zu sehen. In den kommenden
ter sind allerdings die Auslassungen zu  Die Inhaftierung von Ex-Präsident Wochen werden mehrere lateinamerika-
seinem Nachfolger. Dem widmet er Luiz Inácio Lula da Silva stellt seine nische Präsidenten und Ex-Präsidenten
neben ständigen Seitenhieben (Macron Arbeiterpartei (PT) vor eine ungewöhn- in Curitiba erwartet, die ihre Solidarität
mache keine Politik »für die Reichen, liche Herausforderung: Sie muss einen mit Lula bekunden wollen.
sondern für die Superreichen«) ein eige- Wahlkampf mit einem Spitzenkandida- Richter Sérgio Moro, der Lula inhaftie-
nes Kapitel, vielsagend betitelt mit ten organisieren, der sehr populär ist, ren ließ, blockiert bislang eine Locke-
»Faire confiance«: vertrauen. Darin aber im Gefängnis sitzt. Es ist unwahr- rung der Besuchsregelung für den promi-
erzählt er minutiös, warum Macron scheinlich, dass Lula von der Justiz nenten Häftling. Am Dienstag verbot
ihm eigentlich dankbar sein müsste. die Erlaubnis bekommt, seine Zelle für eine Richterin einer Gruppe von Gouver-
Das Unterkapitel über dessen Minister- politische Auftritte zu verlassen. Die neuren, mit Lula zu sprechen. Im August
werdung 2014 ist überschrieben mit PT hat ihre Zentrale daher vorüberge- will die PT Lula als Präsidentschafts-
»Was er mir schuldet«. Nach der Lektü- hend in die südbrasilianische Stadt Curi- kandidaten für die Wahl im Oktober ein-
re dürfte auch der Letzte verstanden tiba verlegt, wo ihr Idol wegen Korrup- schreiben. Sollte das Oberste Wahl-
haben, wie verbittert Hollande darüber tion und Geldwäsche einsitzt. gericht Brasiliens ihm dann die Kandida-
ist, dass ihm sein einstiger Berater den Vor dem Gefängnis haben seine tur untersagen, kann Lula das Urteil
Rang abgelaufen hat. Während Macron Anhänger ein Camp errichtet, das als anfechten. Im Fall eines Wahlsiegs könn-
ein ums andere Mal mit Napoleon Basislager für den Wahlkampf dient. Täg- te er das Amt wohl nicht antreten, es
gleichgesetzt wird, wurde Hollande lich treten dort Politiker, Künstler und käme zu Neuwahlen. JGL
allenfalls mit einem Pinguin verglichen –
wen würde das nicht kränken?
»Emmanuel ist ein Kind«, ätzte Hol-
lande kürzlich vor Vertrauten. Und Chappatte
während Macron (wenn auch selten)
manche seiner Vorgänger zurate zieht
oder zumindest mal zum Essen einlädt,
etwa Valéry Giscard d’Estaing oder
Nicolas Sarkozy, meidet er seinen frü-
heren Chef. HEY

Fußnote

108000
Euro und ein Jahr Gefängnis sind seit
Anfang des Monats in Saudi-Arabien
die Höchststrafe, wenn ein Ehepartner
das Handy des anderen ausspioniert.
Das Gesetz schützt de facto vor
allem Männer vor Nachforschungen
ihrer Frauen, die Beweise für eheliche
Untreue finden wollen.

79
Ausland

ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES


Der tiefe Morast
Syrien Nach dem mutmaßlichen Chemiewaffenangriff droht die Gewalt weiter zu eskalieren –
auch wegen des angekündigten Vergeltungsschlags von Donald Trump. Das Land
ist zu einem Schlachtfeld der Regionalmächte, Russlands und der ganzen Welt geworden.

A
ufnahmen nach einem Chemie- einem von Aufständischen besetzten Vor- erreicht: US-Präsident Donald Trump hat
waffenangriff sind schwer aus- ort von Damaskus. Zwar gibt es weder für eine militärische Strafaktion in Aussicht ge-
zuhalten: Säuglinge, die nach Luft die Authentizität aller Bilder noch für die stellt, die alles übersteigen soll, was es an
schnappen und von Rettern be- Urheberschaft des Assad-Regimes einen westlichen Interventionen gegen das As-
atmet werden; verzweifelt schreiende Müt- endgültigen Beweis. Und doch hat der An- sad-Regime bisher gab. Auch Großbritan-
ter; Kinder, die mit Wasser abgespritzt wer- griff vom vergangenen Samstag eine Welt- nien und Frankreich wollten sich daran be-
den, um sie von Chemikalien zu befreien; gemeinschaft aufgeschreckt, die dem Krieg teiligen. Wann der Angriff stattfinden sollte
Menschen mit Schaum vor dem Mund. in Syrien ansonsten eher teilnahmslos folgt. und wie groß er wirklich ausfallen würde,
Es sind Aufnahmen, wie sie auch nach Was alle anderen Schreckensnachrichten stand am Donnerstag noch nicht fest.
dem mutmaßlichen Chemiewaffenangriff aus Syrien nicht schafften, haben die grau- Mohammed Adel aus Duma hat von
vor einer Woche in die Welt hinausgesen- envollen Bilder und die Nachricht vom Ein- dem Angriff auf seinen Stadtteil nicht nur
det wurden – aus dem syrischen Duma, satz international geächteter Chemiewaffen Bilder gesehen, er sagt, er habe die Folgen

80
Duma nach Luftschlag, US-Präsident Trump
»Mach dich bereit, Russland«

kaliert der Konflikt, bei dem die Regional-


mächte Iran, Israel und Türkei mitmischen,
sowie Russland und die USA. Dazu könnte
auch der nun angekündigte Militärschlag
beitragen. Im schlimmsten Fall, so fürchten
Beobachter, könnte er eine direkte ameri-
kanisch-russische Konfrontation zur Folge
haben. Um die Syrer selbst scheint es
kaum noch jemandem zu gehen.
Was Trump am Mittwoch per Twitter
verbreitete, klang wie eine Kriegserklä-
rung. »Mach dich bereit, Russland«, tippte
er morgens um kurz vor sieben in sein
Smartphone. Die US-Raketen in Syrien
würden kommen, »schön und neu und
›smart‹«. Es schien, als würde ein Luft-
schlag gegen Assad kurz bevorstehen, eine
Militäraktion, die auch russische Stellun-
gen in Syrien treffen könnte. Dann, einen
halben Tag später, kam Entwarnung aus
dem Weißen Haus. Trumps Sprecherin Sa-
rah Huckabee Sanders sagte, es seien kei-
ne abschließenden Entscheidungen gefal-
len. Am nächsten Morgen schrieb Trump,
die Raketen könnten »sehr bald oder gar
nicht bald« kommen.
Am Donnerstag äußerte sich dann Ver-
teidigungsminister Jim Mattis und versuch-
te, die Erwartungen zu dämpfen, dass es
einen baldigen Angriff geben werde. Er
MARK WILSON / GETTY IMAGES

sagte: »Auf einer strategischen Ebene geht


es darum, wie wir verhindern, dass diese
Sache außer Kontrolle gerät.« Das klang
eher besorgt.
Das Hin und Her zeigt, wie erratisch
die Syrien-Strategie von Trumps Regie-
rung ist. Sein damaliger Außenminister
Rex Tillerson hatte noch im Januar in einer
Rede an der Stanford University fünf Ziele
selbst erlebt. Am Montag kam er als einen der Orte zu erreichen, bot sich ein skizziert, die die USA in Syrien verfolgten.
Flüchtling in al-Bab an, einer Stadt in der Anblick, der selbst uns erschüttert hat: Erstens, so Tillerson, müssten der »Islami-
Provinz Aleppo unter Kontrolle der türki- Männer, Frauen, Kinder, manche tot, an- sche Staat« und al-Qaida nachhaltig be-
schen Militärbesatzung »Schild des Euphra- dere verzweifelt versuchend zu atmen – siegt werden; zweitens solle der Bürger-
tes«. Schon in den Wochen vor dem An- und wir konnten nichts tun.« krieg durch eine diplomatische Lösung in
griff, sagt er, sei das Leben im umkämpften In Duma bei Damaskus, wo das Regime der Uno beendet werden; drittens wollten
Duma furchtbar gewesen, wegen der un- nun Chemiewaffen gegen die Aufständi- die USA den Einfluss Irans zurückdrängen;
ablässigen Bombardierung durch das Re- schen eingesetzt haben soll, hatte sich im viertens sollten syrische Flüchtlinge in ihre
gime und seine russischen Verbündeten. syrischen Konflikt schon in den vergange- Heimat zurückkehren; und fünftens müsse
»Wir haben nur noch in den Kellern ge- nen Wochen ein Wendepunkt angekün- Syrien frei von Massenvernichtungswaffen
lebt. Wann immer jemand rausging, um digt: die Niederlage der Rebellen, die dort sein.
etwas zu essen oder Wasser zu holen, hat seit 2012 ausgeharrt hatten. Nach Homs Trumps eigene Leute haben an dieser
er sich von allen verabschiedet. Man wuss- und Aleppo hätten die Aufständischen da- Strategie mitgearbeitet. Umso erstaun-
te nicht, ob er lebend wiederkäme. Men- mit auch die Vororte von Damaskus ver- licher, dass der Präsident Ende März den
schen starben, die nur die Straße überque- loren. Sie mussten sich größtenteils in die Plan mit zwei Sätzen kurzerhand einriss.
ren wollten.« Dennoch habe er Duma Nordprovinz Idlib zurückziehen. Die wich- Er stand auf einem Podium in Ohio vor
nicht verlassen wollen, es sei seine Heimat. tigen Städte Syriens werden wieder voll- Industriearbeitern und sagte: »Wir werden
Doch nach dem Chemiewaffenangriff sei ständig vom Regime kontrolliert. sehr bald aus Syrien abziehen.« Und: »Sol-
er nun »für immer« weg, wie er sagt. Die Eskalation zwischen den Mächten, len sich andere Leute darum kümmern.«
Nachdem das Gift vom Himmel fiel, sei die in Syrien das Sagen haben, hat kaum In Washington wurde das als Ankündi-
es fast unmöglich gewesen, die Opfer aus noch etwas damit zu tun, womit alles an- gung eines Komplettrückzugs interpretiert,
ihren Häusern zu holen, weil das Bombar- fing. Der Kampf zwischen Präsident Ba- möglichst bald, auf Anordnung des Präsi-
dement danach einfach weitergegangen schar al-Assad und seinen Gegnern ist in denten. Auch davon ruderten Trumps Leu-
sei. »Als wir es endlich geschafft hatten, den Hintergrund getreten. Stattdessen es- te wieder zurück, trotzdem kann von einer

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Präsident Assad bei einem Treffen mit muslimischen Geistlichen: Er will keinen Kompromiss, wenn er auch den ganzen Sieg haben kann

Syrien-Strategie im Moment keine Rede auf das Assad-Regime russische Opfer for- und die Kosten des Wiederaufbaus auf
mehr sein. dere, werde man sowohl Raketen angrei- fremde Schultern verteilt – davon würden
Die meisten Beobachter nahmen an, fen wie auch die Flugzeuge oder Schiffe, vor allem russische sowie iranische Unter-
dass der Vergeltungsschlag umfangreicher von denen sie abgeschossen würden. Mos- nehmen profitieren. Dazu müsste aber
ausfallen würde als jener im April 2017. kaus Militärs gingen aber davon aus, dass erst die internationale Gemeinschaft be-
Damals hatte das Assad-Regime im syri- die Amerikaner sie auch diesmal warnen reit sein, die Rechnung zu zahlen. Und
schen Chan Scheichun Rebellen mit dem würden, wie und wo sie genau angreifen – das geht nicht, solange Assad im Amt ist.
Nervengift Sarin attackiert. Trump, scho- so wie es bereits 2017 geschehen war. Das Doch nicht nur die Opposition, auch As-
ckiert von den Bildern toter Babys, befahl berichtete die Zeitung »Kommersant«. sad selbst unterläuft Moskaus Politik. Er
einen Vergeltungsschlag, der vor allem Falls es nicht zu einer versehentlichen will keinen Kompromiss, wenn er auch
symbolischer Natur war. Die USA griffen Eskalation kommt, werden die US-Schläge den ganzen Sieg haben kann. Und so wird
mit 59 Marschflugkörpern den Flughafen gegen das Regime aber wohl nur geringen Russland, das bereits zweimal den Rück-
Schairat an, von dem der syrische Flieger Einfluss auf die Dynamik des Konflikts im zug aus Syrien verkündet hat, dauerhaft
wohl gestartet war. Der Flughafen war 24 Land haben. Für die Zukunft Syriens sind in diesen Krieg gezogen.
Stunden später wieder voll funktionsfähig. andere Entscheidungen wichtiger. Etwa Iran hat einen sehr viel tief greifenderen
Trumps Problem ist, dass er derzeit die Frage, was aus den US-Stützpunkten Einfluss auf Assad als Russland und rivali-
gegenläufige Impulse miteinander verbin- und Soldaten im Nordosten wird, dort, wo siert zugleich mit ihm. Teheran ist mit dem
den muss. Einerseits will er Assad für den das syrische Öl liegt, worauf das Regime Regime geradezu verwoben: politisch, mi-
Gifteinsatz auch diesmal bestrafen, ande- gern wieder Zugriff haben möchte. Rund litärisch, wirtschaftlich. Sein Ziel ist der
rerseits will er den Eindruck vermeiden, 2000 US-Soldaten sind dort auf kurdi- sogenannte schiitische Halbmond, ein Ein-
sich langfristig militärisch zu engagieren. schem Gebiet stationiert, diese militäri- flussgebiet, das in den Libanon reicht –
Auch gute Beziehungen zu Moskau sind sche Präsenz ist die einzige Trumpfkarte, und Israel bedroht.
ihm nach wie vor wichtig. die die USA im Land haben. Die Türkei schließlich: Sie wollte zu Be-
Syrien ist das erste und bislang einzige Wie es in Syrien weitergeht, entschei- ginn Syrien neu ordnen, nun kämpft Prä-
Beispiel, das Trump veranlasste, Wladimir den aber nicht die Amerikaner, sondern sident Recep Tayyip Erdoğan darum, zu-
Putin namentlich zu kritisieren. Russland hauptsächlich jene, die deutlich mehr Sol- mindest nicht ganz leer auszugehen. Sei-
dürfe sich nicht mit einem »Gas Killing Ani- daten und Milizen in Syrien haben: Russ- nen Plan, Assad zu stürzen und durch Is-
mal« wie Assad verbünden, »der sein Volk land, Iran und die Türkei. lamisten zu ersetzen, hat er längst aufge-
umbringt und Spaß daran findet«, schrieb Vor allem an Russland führt in Syrien geben, auch wenn er das noch nicht zugibt.
Trump am Mittwoch. Vorsichtshalber schick- kein Weg vorbei, es hat sich mit seiner Ihm geht es nun vor allem darum, in Sy-
te er hinterher, dass die Russland-Ermittlun- Intervention 2015 zurück auf die Liste der rien einen Kurdenstaat zu verhindern und
gen in den USA das amerikanisch-russische Weltmächte katapultiert – doch langsam sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet
Verhältnis belasteten, nicht er. Auch hier ver- wird Syrien für Moskau lästig. Zwar wur- Land zu sichern.
sucht er den Einerseits-andererseits-Ansatz, de der Sieg der Assad-Gegner verhindert, Und dann ist da noch Israel: Bisher steht
was die Verwirrung nur noch erhöht. wurde zusätzlich zum eher unbedeuten- es als einer der großen Verlierer da. Lange
Derweil wurde in Moskau trotz der An- den Marinestützpunkt in Tartus die riesige schaute es nur zu, was da im Nachbarland
griffsdrohung aus Washington heitere Luftwaffenbasis Hmeimim in der Nähe er- passierte, denn es schien ihm zugutezu-
Gleichgültigkeit demonstriert. Im Fernseh- richtet. Aber in Moskaus Strategie sollte kommen, dass seine Erzfeinde Assad, Iran
kanal Rossija 24 wurde scherzhaft, aber eigentlich ein zweiter Schritt folgen: mit und die libanesische Hisbollah in einen
ausführlich darüber beraten, welche Pro- militärischen Mitteln eine politische Lö- Krieg gegen die Rebellen verwickelt wa-
dukte man im Bunker dauerhaft einlagern sung zu erwirken, die den Krieg beendet ren. Nun, da diese Phase des Kriegs ihrem
könne. Der Kreml gab sich ruhig. Auf Ende zuzugehen scheint, ist die Ernüchte-
Trumps Twitter-Warnung werde man nicht rung in Israel groß. Die Erzfeinde trium-
mit gleichen Mitteln antworten, sagte Pu- Animation phieren und strotzen nur so vor neuem
Wie Giftgas vernichtet
tins Sprecher Dmitrij Peskow. werden kann Selbstbewusstsein, neuer Waffentechnik
Allerdings hatte Generalstabschef Wa- spiegel.de/sp162018syrien
und Kampferfahrung.
lerij Gerassimow schon im März eine neue oder in der App DER SPIEGEL »Egal, was der Preis dafür ist, wir werden
rote Linie gezogen: Wenn ein US-Angriff Iran nicht erlauben, dauerhaft in Syrien Fuß

82 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Ausland

zu fassen«, sagte Israels Verteidigungs- der man sich nicht mehr befreien kann. lien wie eingesetzt wurden – was einen
minister Avigdor Lieberman am Dienstag. Auch weil er selbst nicht hineingeraten Verdacht erhärten könnte.
»Wir haben keine andere Wahl.« Israel sieht wollte, hatte er es 2013 vermieden, seine Dass in Duma etwas Schreckliches ge-
die Iraner als existenzielle Bedrohung für »rote Linie« für eine Intervention durch- schehen sein muss, lässt sich kaum leug-
sich an. Rund hundert Angriffe hat Israel zusetzen: einen Chemiewaffenangriff. Ob nen. Dutzende Zeugen wie Mohammed
seit 2013 gegen Stellungen in Syrien geflo- diese Weigerung schlau war oder alles Adel berichten von dem, was sie gesehen
gen. Auch Israel wird immer tiefer in den schlimmer gemacht hat, darüber wird bis haben. Vom Brummen der Hubschrauber,
syrischen Krieg hineingezogen. heute erbittert gestritten. bevor der Abwurf erfolgte, von den Leu-
Israel war es anscheinend auch, das kurz Nun ist es wieder ein mutmaßlicher ten, die »Chemiewaffen, Chemiewaffen!«
nach dem Giftangriff vom Samstag als Ers- Chemiewaffenangriff, der das syrische riefen. Vom Chlorgeruch in der Luft. Die
ter militärisch im Nachbarland interve- »quagmire« für alle Beteiligten zu verstär- Rechercheplattform »Bellingcat« hat Auf-
nierte: Auf dem syrischen Luftwaffenstütz- ken droht – ohne dass es für irgendeine nahmen ausgewertet, die vor Ort einen ty-
punkt T-4 zwischen Homs und Palmyra Seite einen klaren Ausweg gibt. pischen gelben Gaskanister zeigen, wie sie
kam es in der Nacht auf Montag zu Explo- Am Samstag wollen nun erst einmal die schon bei früheren Angriffen des Regimes
sionen, bei denen offenbar sieben Iraner internationalen Inspektoren der Organisa- mit chemischen Kampfstoffen zu sehen
getötet wurden, darunter nach iranischen tion für das Verbot von Chemiewaffen waren – seit 2013 hat die Uno-Sonderkom-
Berichten auch ein Drohnenexperte. (OPCW) nach Syrien reisen. Zwar behaup- mission zu Syrien 33 Chemiewaffeneinsät-
Niemand übernahm für den Angriff die tet der französische Präsident Emmanuel ze im Land dokumentiert.
Verantwortung. Doch laut russischem Ver- Macron, über einen »Beweis« zu verfügen, In Duma wurden laut Weltgesundheits-
teidigungsministerium feuerten zwei israe- dass das Regime Chemiewaffen einsetzte. organisation rund 500 Patienten behan-
lische Kampfjets vom libanesischen Luft- Westliche Geheimdienste sollen sogar ver- delt, die Symptome aufwiesen wie nach
raum aus die Raketen ab. sucht haben, Leichen und andere Beweis- einem Giftgasanschlag. 43 Menschen seien
Israel hat sich lange darauf verlassen, mittel aus Duma herauszuschmuggeln. gestorben.
dass Russland in der Lage sei, seine rote Laut dem Sender MSNBC konnten die Warum aber sollte das syrische Regime
Linie in Syrien durchzusetzen – keine un- USA in Urinproben von Opfern Chlorgas chemische Kampstoffe einsetzen, wenn es
mittelbare Bedrohung Israels durch Iran. und ein Nervengift nachweisen. kurz vor dem Sieg steht? Ein Motiv könnte
Doch die Russen können das offenbar Doch die OPCW erwartet eine schwie- gewesen sein, den Abzug der verhassten
nicht, Irans Revolutionswächter agieren in rige Aufgabe. Mehr als eine Woche ist seit Rebellen zu beschleunigen. Duma war die
Syrien zunehmend dreist. Im Februar stell- dem mutmaßlichen Anschlag bereits ver- letzte Enklave, die noch in ihrer Hand ge-
ten sie Tel Aviv eine Falle, die zum Ab- gangen, der mutmaßliche Tatort wurde blieben war. Oder war es Rache? Die in
schuss eines israelischen Jets führte. nicht abgeriegelt, Militärs haben ihn be- Duma herrschende islamistische »Armee
Nach den Angriffen vom Sonntag droh- sucht. Erschwerend kommt hinzu, dass die des Islam« war vergleichsweise kampf-
te Iran den Israelis – und in Tel Aviv internationalen Chemiewaffen-Ermittler stark – und beschoss das nahe Damaskus
nimmt man diese Warnung durchaus ernst. geschwächt sind. Das Mandat des interna- regelmäßig mit Granaten.
Dort befürchtet man, dass nach einem US- tionalen »Joint Investigative Mechanism« Lange hatten die Islamisten einen
Luftschlag auf Syrien die Iraner von dort (JIM) wurde nach russischem Veto vergan- Trumpf in der Hand: Sie hielten angeblich
aus wiederum Israel attackieren könnten. genes Jahr nicht verlängert. Nur der JIM mehrere Tausend Regimeangehörige ge-
Barack Obama hat Russland in Syrien dürfte die Schuldfrage klären; die Ermittler fangen – eine Übertreibung, mit der das
einst ein »quagmire« prophezeit, das heißt der OPCW dürfen zur Verantwortung syrische Regime seinen eigenen Anhän-
wörtlich übersetzt: Morast. Im übertrage- nichts sagen. Sie können nur in mühsamer gern Mut machen wollte, dass längst Ge-
nen Sinn bedeutet es eine Situation, aus Detektivarbeit klären, welche Chemika- fallene und Ermordete vielleicht noch leb-
ten. Als sich herausstellte, dass viele der
vermeintlichen Gefangenen wohl tot wa-
TÜRKEI ren, war die Enttäuschung schmerzhaft
Kamischli
und der Wunsch nach Rache groß – die
Rebellen hatten ihr Pfand verloren.
Afrin Manbidsch
Mohammed Adel, der Mann aus Duma,
Aleppo der in den Norden des Landes geflohen
Rakka ist, will trotzdem noch nicht daran glau-
Eup
Idlib hra ben, dass für seine Seite alles verloren ist.
t
IRAK »Ich hoffe ja immer noch, dass der Westen
Chan
Deir al-Sor helfen wird, Assad abzusetzen, sei es mit
Hmeimim Scheichun militärischem Druck oder durch politische
SYRIEN Verhandlungen«, sagt er. »Und wozu brau-
Mittel- Tartus Homs chen die Russen noch Assad? Sie beherr-
meer schen doch sowieso alles. Wenn der Wes-
Schairat »T-4« Palmyra ten und Russland sich einigen könnten,
LIBANON Assad abzusetzen, wäre das am besten.
Regierung und Verbündete Dann könnten auch die Flüchtlinge, die
Anti-Assad-Rebellengruppen, Vertriebenen innerhalb Syriens wie außer-
Duma
u. a. die ehemalige Nusra-Front halb zurückkehren in ihre Häuser, auf
Damaskus
ihr Land.«
YPG-geführte kurdische Milizen
Christian Esch, Maximilian Popp,
GOLAN vom türkischen Militär oder von Christoph Reuter, Mathieu von Rohr,
JORDANIEN türkeinahen Milizen kontrolliert Raniah Salloum, Christoph Scheuermann
Daraa
Mail: mathieu.von.rohr@spiegel.de
Quelle: syria.liveuamap.com; Stand: 12. April IS-Rückzugsgebiete

83
Ausland

»Ben-Gurion ist der Erfinder


der Idee, dass man den
Konflikt nicht lösen, sondern
nur managen kann«
SPIEGEL-Gespräch Der Historiker Tom Segev über den Staatsgründer David Ben-Gurion,
dessen Erbe heute, im 70. Jahr von Israels Bestehen, so aktuell ist wie nie. Denn er
glaubte nicht an den Frieden – und hoffte, die Palästinenser würden ihr Land einfach vergessen.

D
er israelische Historiker und Au- SPIEGEL: Herr Segev, in Ihrem neuen Segev: Das glaube ich, ja. Es gibt eine
tor Tom Segev, 73, ist einer der Buch haben Sie sich an den Staatsgründer große Sehnsucht nach dem, was ich staats-
besten Erklärer seines Landes, David Ben-Gurion herangewagt. Sie zei- männische Integrität nennen würde. Und
kaum einer hat so viele histori- gen ihn als zerrissenen Menschen, der das hat natürlich mit Benjamin Netanyahu
sche Mythen zertrümmert wie er. In sei- depressive Phasen hat und oft wochenlang und seinen angeblichen Korruptionsaffä-
nem neuen Buch holt er ausgerechnet Is- im Bett liegt. Er lügt und drückt sich vor ren zu tun. Außerdem steht Israel auch
raels größten Helden vom Sockel: David Verantwortung. Waren die Israelis ent- heute noch immer vor denselben Proble-
Ben-Gurion, den ersten Premierminister, täuscht von diesem jämmerlichen Hel- men, die bereits Ben-Gurion beschäftigten.
der vor 70 Jahren, am 14. Mai 1948, die den? SPIEGEL: Aber dann entzaubern Sie ihn
Unabhängigkeit erklärte*. Segev: Jämmerlich würde ich ihn nicht nen- gleich wieder. Wie kamen Sie dazu?
Segev empfängt in seiner Jerusalemer nen. Aber ja, manche waren enttäuscht – Segev: Inzwischen ist Material verfügbar,
Wohnung, er spricht fließend Deutsch; in und andere angenehm überrascht. Ben- das bisher nicht erhältlich war, so kann ich
den Siebzigerjahren arbeitete er als Kor- Gurion war immer eine sehr kontroverse sehr viel Neues über ihn erzählen. Außer-
respondent in Bonn, seine Mutter stammt Figur, er hat ja auch bei Wahlen nie mehr dem schreibt Ben-Gurion Tagebuch, seit
aus Göttingen. Sie eröffnete ein Fotostudio als ein Drittel der Stimmen bekommen. er 14 ist – er schreibt fast jeden Tag, bis er
in Jerusalem und machte 1963 das Porträt, Gleichzeitig ist er heute unglaublich populär mit 87 stirbt. Die früheren Biografen ha-
das nun Segevs Buchcover schmückt. Ben- in Israel. Allein in den sechs Jahren, in de- ben es vor allem als politisches Dokument
Gurion lächelt darauf ein wenig schel- nen ich an dem Buch gearbeitet habe, sind gelesen, aber mich haben auch seine Ängs-
misch, die Haare stehen wild ab. Vier Tage vier andere Biografien über ihn entstanden. te, Gefühle und Krisen interessiert. Denn
später trat er zurück. Das wusste er wohl SPIEGEL: Weil die Menschen sich nach ich glaube, es ist sehr relevant, wenn ein
schon, als das Foto entstand. einem Staatsmann sehnen? Staatsmann einen Beschluss fasst an einem
Tag, an dem er furchtbar deprimiert ist.
Oder nehmen Sie seine vier außerehe-
lichen Affären. Ich räume ihnen Platz ein,
weil ich glaube, dass auch das Private et-
was über einen Politiker aussagt.
SPIEGEL: Ist er Ihnen über all die Jahre
sympathisch geworden?
Segev: Er hat mich sechs Jahre lang wirk-
lich fasziniert, jeden Tag. Trotz allem, was
ich über ihn wusste, war ich oft überrascht.
Ich weiß nicht, ob es sympathische Staats-
männer von diesem Kaliber geben kann,
aber er war definitiv nicht sympathisch.
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

Und er hatte absolut keinen Humor. Das


ist ein großes Problem für einen Biografen.
SPIEGEL: Im Tagebuch schreibt er: »Habe
eine Frau geheiratet«, ohne den Namen
zu nennen. Das ist doch extrem komisch.

* Tom Segev: »David Ben Gurion. Ein Staat um jeden


Preis«. Siedler; 800 Seiten; 35 Euro. Das Buch er-
Autor Segev in seiner Wohnung in Jerusalem: »Ben-Gurion war definitiv nicht sympathisch« scheint am 23. April.

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Palästinenserprotest im Gazastreifen: »Vielleicht steht ein neuer Unabhängigkeitskrieg bevor, vielleicht eine neue Nakba«

Segev: Nein, es ist traurig, weil er seine ral, ich kenne mich damit nicht aus! Aber benden als enttäuschendes »Menschenma-
Frau auch so behandelt hat. Er hat sie einen wenn ihr wollt, kann ich zurücktreten. terial« bezeichnet, das er gar nicht in Israel
Winter lang in Polen sitzen lassen, später SPIEGEL: Er tritt quasi ständig zurück. haben will. Oder über die »primitiven« Ju-
hat er sie in einen Kibbuz in der Negev- Segev: Ja, diese Drohung hat immer funk- den aus den arabischen Ländern spricht.
Wüste geschleppt. Er war sehr oft nicht tioniert. Das wirkte dann so, als ginge es Segev: Es geht ihm um die Nation; es geht
da, er hat sich zumeist nur wenig für sie ihm gar nicht um die Macht, sondern nur ihm darum, das historische Schicksal sei-
interessiert. Er war nicht nett. um die Sache. nes Volkes neu zu gestalten. Den Holo-
SPIEGEL: Wir haben beim Lesen auch SPIEGEL: In seinem zweiten Brief, den er caust betrachtet er daher in erster Linie
manchmal gelacht. aus Palästina an seinen Vater in Polen als ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
Segev: Das ging mir beim Schreiben eben- schreibt, da ist er 20, bittet er ihn, alle Brie- SPIEGEL: Und trotzdem wurde Israel am
so. Ich habe aber gerade gestern von je- fe aufzuheben. Er ist sich seiner histori- 14. Mai 1948, gerade drei Jahre nach dem
mandem gehört, er habe geweint. schen Rolle sehr früh bewusst. Ende des Zweiten Weltkriegs, gegründet.
SPIEGEL: Man kann sicher auch weinen, Segev: Ich habe Ben-Gurion ein einziges Segev: Ja, und wenn man heute auf diesen
er ist fast schon ein tragikomischer Held. Mal getroffen, vor genau 50 Jahren; er war Staat blickt, kann man sagen: Er ist eine
Segev: Ja, vielleicht. Manches, was er tut, damals 81, wir waren Anfang 20 und ar- der größten Erfolgsstorys des 20. Jahrhun-
ist widersprüchlich und schwer zu erklären. beiteten für eine Studentenzeitung. Er hat derts. Wenn Sie sich die internationalen
Er hat oft verrückte Einfälle. So wollte er uns da erzählt, er habe mit drei Jahren ge- Statistiken anschauen, ist Israel oft unter
Nasser in Ägypten stürzen. Oder Albert wusst, dass er nicht in Polen bleiben werde. den Top 15. Das alles wurde unter Ben-
Einstein zum Präsidenten machen. Und, Ich habe die Aufnahme noch, man hört Gurion aus dem Nichts erschaffen. Und ge-
auch das war ein Ergebnis meiner Recher- mich da ungläubig fragen: »Aber Herr Ben- nauso kann es auch wieder verloren gehen.
chen: Ben-Gurion hat im Frühjahr 1947 Gurion, das haben Sie wirklich mit drei Das ist die ständige Angst, die wir Juden
versucht, das britische Mandat um fünf bis Jahren schon gewusst?« Und er sagt: »Ja, in uns tragen. Die Angst vor einem zweiten
zehn Jahre zu verlängern. Dieser Mann, ja, natürlich mit drei Jahren. Alle haben es Holocaust. Ben-Gurion hatte sie. Netanya-
der sein Leben lang von einem jüdischen gewusst, natürlich, das war gar keine Fra- hu hat sie. Wir fürchten immer das Ende.
Staat träumt – einem Staat, der in diesem ge.« Ich dachte damals, dass da ein alter SPIEGEL: Ben-Gurion ist von Anfang an
Moment schon so nah erscheint –, der bittet Mann Unsinn redet. Aber als ich nun re- überzeugt, es könne nie Frieden mit den
plötzlich die Briten, doch nicht aus Palästi- cherchiert habe, habe ich begonnen, das Arabern geben. Wieso?
na abzuziehen. Er tut das, weil seine Streit- zu glauben. Der Zionismus war für ihn der Segev: Das Interessante ist, dass er zu
kräfte noch nicht bereit sind für den Krieg. Kern seiner Identität, sein Lebensinhalt. diesem Schluss nicht etwa 1948 kommt,
Und das ist natürlich hauptsächlich seine SPIEGEL: Gleichzeitig hat man oft das sondern bereits 1919. Er sagt da: Ich kenne
Schuld. Doch wenn man ihn damit kon- Gefühl, die Juden als Menschen seien ihm keinen Araber, der bereit sein wird, uns
frontiert, sagt er nur: Ich bin ja kein Gene- egal. Etwa wenn er die Holocaust-Überle- hier zu akzeptieren. Er träumt daher schon

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SVEN SIMON
Politiker Ben-Gurion mit Enkel 1967: »Er war zutiefst enttäuscht von diesem Land und seiner Gesellschaft«

früh von einem Transfer der arabischen flikt nicht lösen, sondern nur managen Und das ist so interessant, weil er an man-
Bevölkerung, deswegen war er sogar be- kann. Er sagte: Nur wenn Israel stark ist, chen Orten dabei ist und sieht, wie Ko-
reit, die Teilung Palästinas zu akzeptie- wenn die Araber einsehen, dass sie Israel lonnen von Flüchtlingen die Stadt ver-
ren – wenn dieses Land dann möglichst nicht vernichten können, dann werden sie lassen.
frei von Arabern wäre. Alles, was seither akzeptieren, dass wir hier sind. Mit Ägyp- SPIEGEL: Er geht durch das leere Haifa
geschehen ist, kann man als das Resultat ten und Jordanien ist es so gekommen, mit und schreibt danach in sein Tagebuch:
dieser Erkenntnis sehen: dass es mit den den Palästinensern nicht. Ben-Gurion hoff- »Ein fantastischer Anblick.«
Arabern keinen Frieden geben kann. te, die Palästinenser vergessen ihr Land. Segev: Ja. Und dann schreibt er, er verste-
SPIEGEL: Das widerspricht der üblichen SPIEGEL: Es ist anders gekommen. Und he das gar nicht, warum sind die geflohen?
Lesart, Israel habe die Teilung und Frieden so demonstrieren in diesen Tagen Tausen- Ich denke, er schreibt und sagt all das im
gewollt, die Araber hätten das abgelehnt – de Palästinenser im Gazastreifen für die Nachhinein, weil er den zionistischen
und seien somit schuld an den Folgen. Rückkehr nach Israel – in Dörfer, aus de- Traum schöner haben will, als er in Wirk-
Segev: Die Araber haben ja in der Tat die nen einst ihre Urgroßeltern geflohen sind. lichkeit ist. Er will an seine moralische
Teilung abgelehnt und sich geweigert, Is- Segev: Es ist interessant, dass Ben-Gurion Überlegenheit glauben.
rael zu akzeptieren. Für Ben-Gurion war das so unterschätzt hat. Ausgerechnet die- SPIEGEL: Dieses Gefühl der moralischen
das eben ein Teil des Preises; das Leben ser Mann, dessen ganzes Handeln auf dem Überlegenheit spürt man noch heute. In
in einem unabhängigen jüdischen Staat in Nichtvergessen beruht, auf der Idee: Wir den vergangenen zwei Wochen haben is-
Palästina, das bedeutete auch: ein Leben Juden kehren in unser Land zurück. Aber raelische Soldaten rund 30 Demonstran-
ohne Frieden. Allerdings äußerte er sich dann hat er sich eingeredet, dass die Flucht ten im Gazastreifen erschossen. Aber in
öffentlich oft anders als privat. In Inter- der Palästinenser 1947/48 bedeutet, dass Israel rührt sich kaum Protest. Nach dem
views hat er stets gesagt: Ja, natürlich glau- sie geistig und historisch nicht so tief ver- Motto: Es wird schon richtig sein, wenn
be ich an Frieden. Einmal hat er erklärt, bunden sind mit dem Land wie wir Juden. unsere Soldaten Palästinenser erschießen.
warum er das sagen müsse: weil sonst nie- SPIEGEL: Deshalb forciert er auch die Ver- Segev: Leider gibt es nur wenige Israelis,
mand auf der Welt den Zionismus unter- treibung von fast einer Dreiviertelmillion die sich noch für die Palästinenser interes-
stützen würde und weil sonst keine jüdi- Arabern und toleriert Kriegsverbrechen? sieren. Die Unterstützung für Netanyahu
schen Einwanderer zu erwarten seien. Wa- Segev: Ben-Gurion ist natürlich gegen ist sehr breit. Das liegt zum Teil daran, dass
rum sollten sie in ein Land kommen, das Kriegsverbrechen. Er ist dagegen, dass die er es geschafft hat, den sogenannten Frie-
sich in einem ewigen Krieg befinde? Soldaten rauben und vergewaltigen und densprozess einzuschläfern wie einen alten
SPIEGEL: Dass es nie Frieden mit den Ara- morden, das findet er alles fürchterlich. Hund. Es drohen keine territorialen Zuge-
bern geben kann, glaubt Netanyahu auch. Aber oft toleriert er es eben auch, er hat – ständnisse mehr. Er kann der Bevölkerung
Segev: An vielem hat sich bis heute eben wie soll ich es sagen? – er hat Verständnis sagen: Es ist alles unter Kontrolle, es geht
nichts geändert. Ben-Gurion ist quasi der für patriotische Verbrechen. Er redet sich euch gut. Und das stimmt. Die meisten
Erfinder der Idee, dass man diesen Kon- ein, dass die Araber freiwillig weglaufen. Israelis leben heute besser als je zuvor.

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Ausland

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass trotz- rion will die Juden also hier, aber braucht Dreißiger- und Vierzigerjahren befinden.
dem der Hass auf die 38 000 Flüchtlinge sie auch dort. Ein nicht lösbares Dilemma. Die Siedlungspolitik erinnert mich daran.
aus Eritrea und dem Sudan so groß ist? SPIEGEL: Ist denn das heutige Israel der Vielleicht steht ein neuer Unabhängigkeits-
Segev: Weil sie schwarz sind. Es gibt viele Staat, den Ben-Gurion sich vor 70 Jahren krieg bevor, vielleicht eine neue Nakba,
Gastarbeiter in Israel, aus der Ukraine, erträumt hat? eine weitere Vertreibung der Palästinenser;
Thailand oder Rumänien. Gegen die hat Segev: Überhaupt nicht. Ein Großisrael vielleicht waren die ersten 70 Jahre unse-
keiner was. Denn die sind nicht schwarz. ist zwar sein langfristiger Traum, aber er res Staates nur das erste Kapitel. Und das
Ich kann mir diesen Hass nicht anders will nicht so viele Araber im Land haben, zweite Kapitel kommt erst noch.
erklären als mit Rassismus. wie es durch den Sechstagekrieg 1967 SPIEGEL: Eine Frage zu Ben-Gurion haben
SPIEGEL: Sogar Netanyahu hat diesen dann geschehen ist. Er wollte vermeiden, wir noch: Hat er sich eigentlich in diesem
Hass offenbar unterschätzt. Vergangene dass wir in eine Situation kommen, wie Staat wohlgefühlt, den er mitgegründet
Woche hatte er einen Kompromiss mit sie uns jetzt bevorsteht: dass es bald keine hat? Er ist pausenlos gereist, er scheint un-
dem Uno-Flüchtlingshilfswerk erzielt, eine jüdische Mehrheit mehr geben könnte. glaublich ruhelos gewesen zu sein.
Hälfte der Flüchtlinge sollte nach Europa SPIEGEL: Sie glauben, Israel ist bald kein Segev: Das ist interessant, nicht wahr? Ich
und Kanada umgesiedelt werden, die an- jüdischer Staat mehr? glaube, dass er auch deshalb sehr viel
dere Hälfte in Israel bleiben. Es gab einen gereist ist, weil er nicht lange mit seiner
Proteststurm. Verstehen Sie das? Frau zusammen sein konnte. Und natür-
Segev: Netanyahu hatte da ein wirklich lich war er ruhelos. Er ist manchmal mo-
gutes Abkommen ausgehandelt. Aber vier
»Vielleicht waren die ersten natelang im Ausland gewesen. Und es gab
Stunden nachdem er es verkündet hatte, 70 Jahre unseres Staates oft keinen Grund dafür. Ich glaube, er war
musste er es revidieren. Weil die Rechten nur das erste Kapitel. Und in Israel nicht glücklich. Er war eigentlich
in seiner Regierung einen Aufstand mach- zutiefst enttäuscht von diesem Land und
ten. Stattdessen sollen sie nach Ruanda das zweite kommt noch.« seiner Gesellschaft. Die Gesellschaft, die
oder Uganda abgeschoben werden, eine er sich erträumt hatte, das Land, das er
ungeheuerliche Idee. Das bestärkt mich in sich erträumt hatte – sie waren europäisch.
meiner Furcht, dass unsere größte Bedro- Segev: Ich fürchte, dass es eines Tages so Doch die Bevölkerung, die dieses Land
hung nicht der Terror oder Krieg ist. Son- kommen wird. vielleicht hätte aufbauen können, war
dern der Angriff auf die israelische Demo- SPIEGEL: Weil beide Seiten sich von der vernichtet worden, und so kam es, dass
kratie. Israel ist immer weniger demokra- Zweistaatenlösung verabschiedet haben die Zionisten unwillig, aber ohne andere
tisch. In unserer Regierung sitzen Minister, und so zwangsläufig auf einen gemeinsa- Alternative, die Juden in der arabischen
die klingen so wie ungarische oder öster- men Staat zusteuern? Welt entdeckten und ins Land brachten.
reichische Rechtsradikale. Wir haben uns Segev: Beide Seiten steuern nicht, sie wer- SPIEGEL: Wir haben jetzt ein paarmal Ne-
immer gesagt, wir hassen keine Araber, den getrieben. Eine Mehrheit von Israelis tanyahu und Ben-Gurion in einem Atem-
wir kennen überhaupt keinen Hass und und Palästinensern glaubt nicht mehr an zug genannt. Was verbindet die beiden?
keinen Rassismus. Aber natürlich hassen die Zweistaatenlösung, sie glaubt auch Segev: Netanyahu war sehr erfolgreich, als
wir die Araber. Und die Schwarzen. Und nicht an Frieden. Genau wie Ben-Gurion Offizier und Student am MIT, er war ein
wir schämen uns nicht mal mehr dafür. vor fast hundert Jahren. Aber niemand sehr populärer Uno-Botschafter und Poli-
SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, weiß, was kommt, niemand hat eine Al- tiker. Er ist, wie soll ich das sagen, ein sehr
wie Ben-Gurion einmal gefragt wird, was ternative. Ich auch nicht. Aber ich weiß, gelungener Mensch. Aber all das gefährdet
denn eigentlich dieser jüdische Staat sei. dass es heute zu spät ist, über einen Abzug er nun mutmaßlich für Schmuck, Zigarren
Und er hat darauf keine Antwort. Wenn der Siedler zu sprechen. Das ist vorbei. und Champagner, das finde ich rätselhaft.
aber gar nicht ganz klar ist, wer eigentlich SPIEGEL: Die Rechten in der Regierung Aber er ist Ben-Gurion in einigem ähnlich,
zu diesem Staat gehört – dann definiert wollen das Westjordanland annektieren wie dieser hat er wirklich das Gefühl, eine
man sich vielleicht eher über die Ableh- und die Palästinenser zu Bürgern zweiter historische Mission zu erfüllen.
nung und den Hass auf die anderen? Klasse machen. Ist das der nächste Schritt? SPIEGEL: Und Ben-Gurion, war der auch
Segev: Sie haben recht. Die Schwierigkeit, Segev: Ich weiß es nicht, aber ich bin lei- ein gelungener Mensch?
eine gemeinsame Identität zu bilden, das der ziemlich pessimistisch. Ich sehe nicht, Segev: Nein, von seiner Biografie her war
ist unser Drama von Anfang an. Ben-Gu- wo dieser Staat hingeht – und ich sehe es er das viel weniger. Er gehörte nie zur ge-
rion führt eine Bewegung, die sich selber auch deshalb nicht, weil ich mich fürchte, sellschaftlichen Elite. Er kam aus einem
nicht definieren kann. Und das ist für ihn es zu sehen. Wir haben uns in den vergan- sehr einfachen Elternhaus, hatte kein Abi-
besonders schwierig, weil er sich ja als genen Jahren in eine sehr schlechte Rich- tur, kein abgeschlossenes Jurastudium. Ei-
Atheist versteht; er isst Schweinefleisch tung entwickelt, nicht wirtschaftlich und nige meinen, dass er sich deshalb mit Tau-
und arbeitet an religiösen Feiertagen. Aber technologisch, das ist alles schön und er- senden Büchern umgeben hat. Anders als
dann stellt sich die Frage: Was ist denn ein freulich. Aber politisch ist es möglich, dass Netanyahu jedoch machte er sich nichts
nicht religiöser Jude? Ist der überhaupt wir uns jetzt wieder in den israelischen aus Luxus.
ein Jude? Und wie definiert man den? Das SPIEGEL: Misst sich jeder israelische Pre-
ist ein Problem, das den Staat Israel bis mierminister irgendwie an Ben-Gurion?
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

heute verfolgt. Ähnlich widersprüchlich Segev: Auf eine gewisse Weise sicher. Ne-
verhält es sich mit dem Zionismus. Ben- tanyahus großes Ziel ist es, länger zu re-
Gurion will alle Juden nach Israel bringen. gieren als Ben-Gurion. Das wäre in einem
Doch viele sind in Amerika sehr glücklich, Jahr der Fall. Das ist ihm sehr wichtig. Er
die brauchen gar keinen jüdischen Staat! will sagen können, er sei der am längsten
Außerdem wäre Israel ohne ihre Unter- regierende Premierminister Israels gewe-
stützung nicht überlebensfähig. Ben-Gu- sen. Wir werden sehen, ob er das schafft.
SPIEGEL: Herr Segev, wir danken Ihnen
* Mit den Redakteuren Alexander Osang und Juliane Segev beim SPIEGEL-Gespräch* für dieses Gespräch.
von Mittelstaedt in Jerusalem. »Ich bin leider ziemlich pessimistisch«

87
Ausland

Jurassic Park
Kuba Raúl Castro tritt als Präsident zurück, sein Nachfolger wird ein farbloser Apparatschik.
Für die Inselbewohner ändert das wenig. Sie sind damit beschäftigt,
ihren absurden Alltag zu meistern – und reden offener als früher über ihre Sorgen.

W
enn man ein paar Tage durch Zu den letzten Konstanten der Weltpoli- teidigungsministerium. Wie auch Strand-
Kuba geht und allen die Frage tik gehört, dass alle paar Jahre jemand resorts in Varadero und auf Cayo Coco so-
stellt: »Wie geht’s Kuba?«, einen neuen, letzten Sargnagel für Kuba wie die kubanischen Pendants der DDR-
passiert etwas Interessantes. herausholt. Derzeit heißt es: Hurra, der Intershops. Die Revolutionären Streitkräfte
Man steht irgendwann vor einem riesigen »Castrismo« endet! Nach fast 60 Jahren. kontrollieren weite Teile des Fremdenver-
Chor der Unzufriedenen: Verkäufer, Rent- Erst kolonisierten Spanier die Insel, dann kehrs. Auch auf Kuba muss man dem Geld
ner, Zuhälter, Kellner, Studenten, Ärzte, machten die Amerikaner eine Art Offshore- folgen, um zu verstehen, wer das Sagen hat.
Türsteher, Soldaten. Alle sind unzufrieden, Casinobordell daraus, danach übernah- Der mutmaßliche neue Präsident Díaz-
praktisch alle finden, dass sich grundsätz- men die Castros. Canel ist für die Außenwirkung da. Das
lich etwas ändern muss, und erzählen von So viel stimmt: Raúl Castro, der große Gesicht Kubas. Hirn und Faust wechseln
ihren Problemen. Absurden Problemen. kubanische Nichtcharismatiker, legt kom- nicht. Raúl Castro bleibt Chef der Kommu-
Der hinkende Türsteher eines Nacht- mende Woche sein Präsidentenamt nieder. nistischen Partei und Oberbefehlshaber der
klubs hat eine kaputte Hüfte und kommt Mit 86. Nach zehn Jahren, ein paar zarten Streitkräfte. Mindestens noch fünf Jahre.
seit Wochen nicht in seine Wohnung, weil Wirtschaftsreformen und nicht einer guten Simultan wird derzeit an der sozialistischen
jemand die Treppenstufen geklaut hat. Ein Rede. 17 Monate nach dem Tod seines Bru- Verfassung geschraubt, um die »revolu-
Mechaniker erzählt, dass er seit einer Wo- ders Fidel. Die Immobiliengeier in Miami ción« institutionell noch ein wenig fester
che nicht zur Arbeit gegangen ist, weil er und in den spanischen Hotelzentralen ste- einzudrehen. Also: Entwarnung, es bleibt
eine Gummidichtung für die Waschmaschi- hen mal wieder vor dem Running Gag der noch genug Zeit, dem kubanischen Sozia-
ne sucht. Ein junger Mann erzählt, dass er, Weltpolitik: Das Ende des Sozialismus auf lismus beim Sterben zuzusehen.
wie praktisch alle seine Freunde, mit den Kuba naht. Angeblich. Oben thront Raúl, darunter sein Jurassic
Eltern, den Großeltern, der Ehefrau, sei- Gorbatschows Perestroika, Fidels Krank- Park von Politbüro-Recken. Unten tobt
nem Sohn und einem Onkel in einer Woh- heit, Obamas Besuch, Venezuelas Wahn- das karibische Gute-Laune-Paradies für
nung lebt; denn auf Kuba fehlen Hundert- sinn, sie alle kündigten das Ende an, der jährlich vier Millionen Touristen, von de-
tausende Wohnungen. Todgeweihte starb aber nicht. nen viele nicht ahnen, wie schwer es für
Ein anderer will seinen zehn Jahre alten Ändert Raúls Abgang etwas? Kommt er Kubaner ist, in einem unsanierten Sechzi-
Hyundai mit einer halben Million Kilome- nun, der Wandel? gerjahre-Themenpark zu leben.
tern auf dem Tacho verkaufen. Da Privat- Erst mal kommt so gut wie nichts, und Aber da der Wandel selten von oben in
leute sich kaum Neuwagen leisten können, zwar leibhaftig. Sein Name ist Miguel die Welt kommt, sucht man ihn besser von
wird fast nur mit Gebrauchten gehandelt. Díaz-Canel, maximal dröger Graumelier- unten. Man stellt die Frage, »wie es Kuba
Mit einem guten Auto kann man Touristen ter mit Angela-Merkel-Charisma. 57 Jahre geht«, und hat irgendwann das Gefühl, dass
herumfahren, da ist richtig Geld drin. Der alt, derzeit Vizepräsident. Er wird aller der Wandel einem dieser kubanischen Bau-
500 000-Kilometer-Hyundai kostet umge- Wahrscheinlichkeit nach kommenden trupps ähnelt: sachte, langsam, sodass kei-
rechnet 60 000 Euro. Donnerstag vom Parlament zum Nachfol- ner merkt, dass es schon losgegangen ist.
Eine Journalistin, Mitte 20, fleißig und ger Raúls gewählt: Parteisoldat aus Villa Ángel Santiesteban ist ein grandioser
jeden Tag damit hadernd, dass ihre Texte Clara, Elektroingenieur, früher als Refor- Schreiber und mit der Führung ganz offi-
nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, mer geltend, großer Freund der Kunst, wei- ziell überquer. In 15 Sprachen sind seine
sitzt in ihrer winzigen Wohnung und dis- ßer Hemden und sperriger Politbürosätze. Bücher übersetzt worden, das letzte ist
kutiert ernsthaft die Frage, warum sie über- Mittlerweile, sonst hätte man nie von ihm nur in Deutschland erschienen; die Kriti-
haupt noch arbeitet. Ihre Cousine, die gehört, von Raúl Castro als vertrauenswür- ken waren hymnisch. Seit elf Jahren darf
sie als dämlich, aber sehr attraktiv be- dig eingestuft, sprich: ein Hardliner. er auf Kuba nicht mehr veröffentlichen.
schreibt, serviert besoffenen Amerikanern Das alles ist zugleich ziemlich unwichtig, Santiesteban sitzt am Malecón, Havannas
in Habana Vieja Cocktails. An guten Ta- denn es wird erwartet, dass Raúl weiter berühmter Uferpromenade, blättert in der
gen macht sie 30 Euro Trinkgeld, so viel, im Hintergrund wirkt. Die einen sagen, Parteizeitung »Granma« und versucht,
wie die kluge Cousine mit dem Schreiben dass auf der Insel die Kommunistische Par- nicht zu schreien. Ein freundlicher, kräfti-
in zwei Monaten verdient. Die Journalistin tei herrsche. Die anderen, darunter so ger Mann von 51 Jahren, den die Zeit im
kennt ein Restaurant, in dem der Spüler ziemlich jeder Diplomat Havannas, sagen, Gefängnis in einen der leisesten Kubaner
Maschinenbauer, der Koch Agrarökonom, eigentlich herrsche das Militär. verwandelt hat, die man je erlebt hat. Ein
der Kellner Tierarzt und der Eigentümer Dem gehört fast alles, was auf Kuba De- Schreiber, dem die Leser verwehrt werden.
wie so oft irgendein Trottel ist, der einen visen verdient, zum Beispiel weite Teile des Was ist er? Richtig. Verdammt wütend.
Verwandten in Miami hat, der Geld brandneuen »Manzana Kempinski« samt »Kuba ist eine Diktatur«, sagt Santies-
schickt. angeschlossener Luxusmall in bester Stadt- teban, »wer das bezweifelt, hat nie hier
Ganz gleich, wen man spricht, jeder hat lage. Vom grandiosen Dachpool hat der ge- gelebt. Und wenn Díaz-Canel versuchen
ähnliche Sorgen, und anders als früher, als hobene Neckermann-Tourist einen fantas- sollte, irgendetwas daran zu ändern, wird
Fidel Castro noch lebte, redet man auch tischen Verelendungsblick auf Havanna. er verschwinden.« Santiesteban erwartet
darüber. Also: »Wie geht’s Kuba?« Pool, Mall und Hotel unterstehen dem Ver- grundsätzlich nur Niedertracht von der ku-

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CARLOS BARRIA / REUTERS
Fotoikone Che Guevara in einer Schule: Das Ende des Sozialismus auf Kuba naht mal wieder, angeblich

CHIP SOMODEVILLA / GETTY IMAGES

Präsident Castro: Zehn Amtsjahre, ein paar zarte Wirtschaftreformen und nicht eine gute Rede

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Ausland

banischen Politik. Früher, als er noch kom- Worin er recht zu haben scheint, ist das cker importiert. Das Land war mal der größ-
promissbereiter war, gewann er staatliche Gefühl, dass es vielen reicht. Früher senk- te Zuckerproduzent der Welt.
Literaturpreise. Er bekam sogar mal eine ten Kubaner intuitiv die Stimme oder Castillo bekam damals einen roten Lada
Wohnung, weil er zwei prämierte Kurzge- schlossen die Fenster, wenn sie über Fidel von der Partei. An ihm hatte es nicht gele-
schichten zurückzog, die von der Sinnlo- Castro oder die Kommunistische Partei gen. Seine Felder waren im Plan. Er trägt
sigkeit handelten, kubanische Soldaten sprachen. Das ist nun anders. Keiner eine dicke Brille, ein helles Hemd, sitzt in
zum Kämpfen nach Angola zu schicken. macht mehr die Fenster zu. Obwohl Kuba seinem Lada und fragt: »Sie sind Tourist?
Seit er sich nicht mehr selbst zensiert, er- natürlich noch immer ein funktionierender Für 15 Pesos kann ich Ihnen eine schöne
scheinen seine Bücher nicht mehr. Er hat Spitzelstaat ist. Ausgebildet von den Bes- Mulattin besorgen.«
sich mit dem An- und Verkauf von Autos ten: der Stasi. Hat er das wirklich nötig?
über Wasser gehalten. Der deutsche Fi- Aber die Unzufriedenen fürchten sich Castillo ist ein kluger Mann. Er klingt
scher-Verlag hat ihm 10 000 Euro Vor- nicht mehr. Sie sind besser informiert. Wis- etwas wirr, wenn er Englisch spricht, aber
schuss für seinen letzten Erzählband über- sen, was sie früher nur ahnten. sein Spanisch ist das eines gebildeten Wis-
wiesen. Dieses Geld und der Ruhm sind Seit 2016, auch das eine von Raúls Re- senschaftlers. Er hat an den Sozialismus
sein Panzer. »Ich schreibe über Nutten, formen, haben mehr Kubaner Zugang zum geglaubt. Er glaubte an die Kraft der Idee,
Häftlinge und unsere Soldaten, die im An- Internet. Die Preise sind gefallen. Das ver- an die Niedertracht des Imperialismus. Er
golakrieg waren. Menschen, die leiden. ändert die Insel der Ahnungslosen mehr glaubte an das, woran alle optimistischen,
Das hilft nur den Yankees, sagen sie.« als drei Assoziierungsabkommen mit der gebildeten, eher links eingestellten jungen
Sie, das ist die Diktatur, das Castro-Re- EU. Etwa 80 Eurocent kostet die Stunde Menschen in den Sechzigerjahren glaubten.
gime, das laut Santiesteban nur eine Spra- im Internet, noch immer zu teuer für viele, Nicht geglaubt hätte er, wie wichtig der
che versteht: Härte. aber billiger als zuvor. Einige Plätze in Ha- rote Lada werden würde. »Mein Vater gab
»Trump ist der größte Hoffnungsträger vanna haben jetzt Hotspots. Überall sieht das Leben für die Revolution, ich meine
für unser Land«, sagt er dann. Ihm ist es man Kubaner, gesenkter Kopf, gebannt auf Jugend, am Ende fahre ich Taxi«, sagt Cas-
mittlerweile egal, ob Trump verrückt ist, das Handy starrend, wie überall, nur dass tillo. Man könnte anfügen: »Und bietest
ob er die historische Annäherung, die sein sich oft mehrere einen Bildschirm teilen. Mädchen an, weil auch das nicht reicht.«
Vorgänger mit Kuba erreicht hat, wieder Wer kann, ist auf Facebook. Schwer zu Castillo fährt nach Hause, er hat eine
einreißt. »Die Feinde meiner Feinde sind sagen, ob die alten, mächtigen Männer im Wohnung in einem unsanierten Platten-
meine Freunde. Vielen Kubanern reicht es bau – damals ein Privileg für die be-
jetzt einfach.« Und trotzdem weiß er: Mit sonders Treuen. Heute eine Bruchbude,
Kubanern ist kein Umsturz zu machen. Mit genug harter die unter Palmen noch trauriger wirkt.
»Das System ist so, dass für die meisten Währung ist Kuba ein Direkt vor dem Eingang hat er einen Ge-
nur der nächste Tag zählt. Wenn sie heute müsegarten angelegt. Keine zehn Quadrat-
die Arbeit verlieren, weil sie gestern auf Paradies. Aber das ist so meter. Erdbeeren, Kürbisse, Tomaten,
einer Demonstration waren, wer ernährt ziemlich jedes Land. Zwiebeln, Salat. Die Taxi-Einkünfte, die
morgen die Familie? Keiner traut sich.« Provision der Mädchen und der Garten.
Kaum hat er den Satz gesagt, möchte Das ist geblieben nach all den Jahren. Und
Santiesteban ihn erklären: Natürlich geht Revolutionspalast wissen, worauf sie sich der Lada. Seine Alterssicherung. Er wird
kein Kubaner für die umgerechnet 15 bis da eingelassen haben. Twitter, Facebook, ihn verkaufen und davon leben. »Ich bin
20 Euro Monatsgehalt arbeiten. »Kubaner YouTube und was man damit alles anstel- auf den Wahnsinn angewiesen.«
gehen arbeiten, um zu klauen.« Ministeri- len kann. Bisher sind es lediglich 41 Web- Als Castillo kurz darauf an einem Kon-
umsbeamte nehmen Druckerpapier mit, sites, die man von Kuba aus nicht errei- trollposten der Polizei vorbeifährt, bricht
um es an private Restaurants zu verkaufen, chen kann. Es dürften wohl mehr werden, es aus ihm heraus. Er muss den Gurt anle-
die damit Pizzen einwickeln. Der Koch je mehr die Unzufriedenen mitbekommen. gen, der leider kaputt ist und für den nir-
macht die Portionen kleiner, damit er Einer dieser Unzufriedenen heißt nicht gendwo Ersatz zu haben ist. Einen Straf-
abends etwas mitnehmen kann. Die offi- Juan Castillo, aber man sollte ihn schützen, zettel wegen des kaputten Gurtes würde
ziellen Fahrer, die man als Tourist buchen sonst verliert er womöglich die 15 Euro er dennoch bekommen. »Dieses Land ist
kann, um über die Insel gefahren zu wer- Rente, die er bekommt. Er ist 70, seit fünf eine Schande«, sagt Castillo.
den, haben Neuwagen und fahren trotz- Jahren im Ruhestand. Mit den 15 Euro Irgendwann tut einem Kuba fast leid.
dem nur 80. Warum? Sie sparen Benzin, kann er eine Woche überleben. Der Rest Man könnte meinen, die Insel versänke
das sie am Fahrtende für sich abzweigen. muss woanders herkommen. bald im Meer. Die meisten wollen weg.
Das erklärt, warum auf Kubas Landstra- Castillo hat Biologie studiert und für Bleiben will nur der, der Devisen hat. Dol-
ßen regelmäßig nagelneue VW von 60 Jah- das Landwirtschaftsministerium gearbei- lar aus Miami, Euro von den Touristen.
re alten Buicks überholt werden. tet. Er war damals bei der »Gran Zafra« Mit genug harter Währung in der Tasche
»Wer nicht klaut, wer keine Verwandten dabei, der großen Zuckerrohrernte. Jeder ist Kuba ohne Frage ein Paradies. Aber
in Miami hat, wer keinen Kontakt zu Tou- Kubaner kennt die Geschichte. 1970 for- das ist so ziemlich jedes Land.
risten und ihren Devisen hat, für den ist derte Fidel von den Kubanern zehn Mil- Es muss doch jemanden geben, der
Kuba die Hölle«, sagt Santiesteban. lionen Tonnen Zucker, um unter anderem Kuba so verteidigt, wie es ist. Oder wenigs-
Zweimal war er im Gefängnis. Seit sei- die Schulden bei der UdSSR abzuzahlen. tens, wie es versucht zu sein. Fragt man
ner Freilassung 2015 wird er beschattet. Schüler, Hausfrauen, Fabrikarbeiter, Be- Kubaner, ob sie einen richtigen »Fidelis-
Die Bewacher geben sich nicht mal beson- amte, Teile der Armee, sogar Touristen ten« kennen, einen Fidel-Fan also, scher-
dere Mühe, sich zu verstecken. Sie stehen wurden eingespannt, um das aberwitzige zen sie, dass der letzte wahre »Fidelista«
am Ende seiner Straße und greifen sich de- Planziel zu erreichen. vor anderthalb Jahren verstorben sei:
monstrativ mit beiden Händen in den »Kampf bis zum letzten Rohr«, forderte Fidel selbst.
Schritt, wenn Santiesteban sie entdeckt. Fidel und landete bei 8,5 Millionen Tonnen. Nach viel Mühen und ziemlich vielen
Er macht das jetzt auch. Das Experiment wurde nie wiederholt. Ak- Telefonaten trifft man Pedro Salas. Er sitzt
Santiestebans Positionen sind schlüssig, tuell produziert Kuba keine zwei Millionen in Vedado, in dem Haus einer Freundin.
aber möglicherweise nicht mehrheitsfähig. Tonnen. Zwischenzeitlich wurde sogar Zu- Er versucht es mit Aufrichtigkeit. Auch er

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mit geändertem Namen. Graue Haare,
Mitte 60, kluge Augen, schneller, präziser
Redner, der sein Leben beim staatlichen
Fernsehen bestreitet. Ein Berufspropagan-
dist. Und ein sehr angenehmer Mann.
»Ich träume von der klassenlosen Gesell-
schaft, aber die hat Kuba nicht. Kuba hat
eine bekloppte Gesellschaft«, sagt Salas.
Auch er schimpft also. Allerdings nicht
auf die Idee, sondern auf deren Umset-
zung. Salas glaubt noch immer, dass die
Menschen gleich sein sollten, dass das alte
»Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen« gelten sollte,
das marxistische Leistungsprinzip, dessen
Problem darin liegt, dass es keins ist.
»Wir haben das Arbeiten verlernt. Das
Ende der Ausbeutung haben viele als das
Ende der Arbeit missverstanden. Dass der
Arzt nichts kostet, heißt nicht, dass man
Obdachloser in Havanna: Hartes Leben in einem unsanierten Sechzigerjahre-Themenpark als Oma da jeden Tag zum Blutdruckmes-
sen hinmuss, weil man sich langweilt.«
Wenn man ihm erzählt, dass man je-
manden kennt, der seinen Gasherd immer
laufen lasse, weil das Gas fast nichts kos-
tet, aber Streichhölzer schon, nickt Salas
genervt. »Wie viele dieser Geschichten
brauchst du?«
Salas lehnt sich in den Stuhl zurück. Er
wird inzwischen von seinen Freunden auf-
gezogen, weil er nicht aufgeben will. »Es
geht in die falsche Richtung gerade.«
Raúls Reformen hätten die falschen Leu-
te an die Spitze der Nahrungskette gespült.
Mit jeder kleinen Konzession, jeder klei-
nen Lizenz werde es für einfache Arbeiter
und Akademiker, die nicht an Devisen
kommen, schwerer. Gewinner seien die
Trickser, die Goldritter und die Glückspil-
ze, findet Salas, diejenigen, die in diesem
innerkubanischen Kapitalismus-Biotop
ihre Nische gefunden haben. »Es müsste
doch reichen, zur Arbeit zu gehen.«
Schriftsteller Santiesteban: »Kubaner gehen arbeiten, um zu klauen« Er wird immer wütender, je mehr er über
die Kubaner nachdenkt. Er klingt wie ein
Altkommunist aus Hohenschönhausen: Die
Menschen sind schuld, nicht das System.
»Uns geht es doch gut im Vergleich.«
Man müsse sich nur andere Länder an-
schauen. Haiti, gleich nebenan, zum Bei-
spiel, ein Desaster. Haitianer würden viel
für Kubas Schulen und Krankenhäuser ge-
ben. Und natürlich stimmt das. Es spielt
aber keine Rolle. So wie es 1988 in Leipzig
und Dresden keine Rolle spielte, dass es
Albanien noch viel schlechter ging.
Pedro Salas, der überzeugte Fidelist, der
den Sozialismus verteidigt, hat keine Lö-
sung, wie man den »Castrismo« verändern
kann, damit das sozialistische Kuba über-
lebt. »Was soll ich sagen? Meine beiden
Söhne leben in den USA.«
Verstehen Sie Ihre Söhne?
»Ich wollte nicht, dass sie gehen.«
Das war nicht die Frage.
»Natürlich verstehe ich sie.«
Friseursalon: Die Gewinner sind Trickser, Goldritter und Glückspilze

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ğĴŭłŸōĚĒćš Ĵō
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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

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Sport
Er verbringt die Nacht mit so vielen Nutten, Koks und Whiskey, dass er den Tod seiner Tochter vergisst. ‣ S. 94

Messiund Ronaldo Vergleich seit der Saison 2009/2010

La Liga Champions League


Messi Ronaldo
Einsätze 303 289
Einsätze 92 98
Cristiano
Ronaldo
Real Madrid
Tore 324 308 Tore 83 105

IMAGO SPORT /
AGE N CIA E F E
Torvorlagen 143 95 Torvorlagen 25 31
Lionel Messi
FC Barcelona
5 2 2 3
Platzierungen Meisterschaften Meisterschaften Titel Titel

Lionel Messi und Cristiano Ronaldo haben vieles gemeinsam: Champions League gescheitert: Zum dritten Mal hintereinander
die Weltkarriere, Torschützentrophäen, Steuerprobleme. Nur schied der fünfmalige Weltfußballer überraschend schon im Vier-
die internationalen Erfolge gingen in den vergangenen Jahren telfinale aus. Ronaldo, 33, triumphierte mit Real Madrid in den
auseinander. Während Messi, 30, in diesem Jahr mit dem FC Bar- vergangenen beiden Jahren. Er steht nach seinem Tor gegen Ju-
celona wohl wieder spanischer Meister werden wird, ist er in der ventus Turin im Halbfinale, könnte dieses Jahr erneut gewinnen.

in den Neunzigern einige schillernde


Magische Momente Charaktere in der Serie. Heute sind die

»Nur noch gewinnen«


Profis stromlinienförmig. Die Jungs wer-
den sehr früh professionell trainiert, auf
ihre Karriere vorbereitet. Denen geht
Ex-Weltmeister Mika Häkkinen, 49, über das Duell mit Michael Schumacher es nur noch darum, Rennen zu gewinnen.
SPIEGEL: Als Sie anfingen, gab es noch
SPIEGEL: Vor 20 Jahren le Deutsche nicht nur Michael, sondern tödliche Unfälle. Durch Neuerungen wie
begann Ihr Duell mit auch mich angefeuert haben. Wir standen jetzt dem Halo – dem Bügel, der die Fah-
Michael Schumacher. im Mittelpunkt, das hat den Hype noch rer schützen soll – haben viele Fans das
Welche Erinnerungen erhöht. Es war oft nicht leicht, sich aufs Gefühl, die Rennen würden ungefähr-
haben Sie daran? Rennen zu fokussieren. Dieses Jahr könn- licher und damit langweiliger. Wie viel
Häkkinen: Ich gewann die te es ähnlich spannend werden. Risiko braucht die Formel 1?
ersten beiden Rennen der Saison, SPIEGEL: Damals saß halb Deutschland Häkkinen: Mehr als 300 Stundenkilo-
unser McLaren-Mercedes war besser als vor dem Fernseher. Warum hat die Faszi- meter auf der Geraden – der Sport ist
IMAGO

je zuvor. Beim dritten Rennen in Argen- nation für die Formel 1 abgenommen? immer noch sehr gefährlich. Es ist richtig,
tinien war es vom Start an spannend, Häkkinen: Heute haben die Leute mehr das Risiko weiter zu minimieren. Ich kann
Michael kollidierte früh mit meinem Alternativen, der Zuschauer kann online aber auch verstehen, dass es vielen zu
Teamkollegen David Coulthard, der sich alle Sportarten verfolgen. Zudem gab es schnell geht mit dem Fortschritt und der
drehte. Michael gewann das Rennen, Reiz damit verloren geht.
weil seine Boxenstopps einfach besser SPIEGEL: Durch die neue Formel E hat
waren. Dennoch wurde ich am Ende der die Formel 1 eine ökologisch ausgerichtete
Saison Weltmeister. Konkurrenz. Wird sie den Wettbewerb
SPIEGEL: Ein britisch-deutsches Team überleben?
gegen Ferrari mit einem deutschen Fahrer: Häkkinen: Ich habe keine Angst um die
Heute ist es ähnlich. Sebastian Vettel Formel 1, für sie wird es immer einen
ERIC CABANIS / DPA

gewann die ersten beiden Rennen, Lewis Platz geben. Ich sehe die Formel E nicht
Hamilton im Mercedes muss aufholen. als Konkurrenz, auch wenn sie von
Häkkinen: Ferrari gegen Mercedes, das den Herstellern gepusht wird. Die Inno-
sind zwei Legenden des Sports. Die Duel- vationen der Formel E werden auch die
le mit Michael waren besonders, weil vie- Kontrahenten Häkkinen, Schumacher 1998 Formel 1 bereichern. JDO

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 93


L.E. BASKOW

94 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Sport

Schlafender Vulkan
Unterhaltung Mike Tyson kommt mit seiner Show nach Deutschland. Ein Besuch beim ehemaligen
Boxer in Las Vegas zeigt: Der Auftritt kann genial werden oder ein Desaster. Von Juan Moreno

M
ike Tyson ist 51, aber heute klein fürs Schwergewicht, aber so gut, so lich, Iron-Mike, der Champ. Die Fans lie-
ist einer dieser Tage, an de- wild, dass er unbesiegbar schien. Die ersten ben ihn.« Farid nickt zufrieden. Wusste er
nen er sich wie Muhammad 19 Kämpfe seiner Profikarriere gewann er es doch. Er zeigt in den Wohnbereich. Da-
Ali mit 70 bewegt. Ein alter, durch K.o., 12 davon in der ersten Runde. rin steht eine breite weiße Ledercouch,
müder Mann in grauen Jeans und weißen Während Ali aber mit jedem Kampf grö- unweit davon ein schwarzer Flügel. Man
Turnschuhen, der in seinem eigenen Haus ßer wurde, wurde Tyson mit jedem kleiner. blickt auf den Pool, und weil man in
verloren wirkt. Kein guter Tag. Ali stand für den amerikanischen Traum, Nevada ist, auch auf Palmenblätter.
Gestern war es noch schlimmer. Er war Tyson für dessen Verlogenheit. Ali stand Auf dem breiten Hocker vor dem Flügel
beim Zahnarzt, ein Backenzahn musste für Ideale, für Werte, Tyson stand für Nut- sitzen zwei weitere Besucher: Radim
raus. Tyson hasst Zahnärzte. Ihm sind ten und für Koks. Tauchen und Pietro Polidori. Beide sind
im Ring genug Schmerzen zugefügt wor- Dem Jungen aus dem Brownsville-Getto gerade aus Europa eingetroffen, um die
den. Kiki, seine Ehefrau, überzeugte die in New York, wo man als Schwarzer nur in Europatour mit Tyson zu besprechen. Sie
Klinik, Tyson unter Vollnarkose zu setzen. Handschellen oder einer Holzkiste rauskam, beginnt kommende Woche. Tauchen, ein
Heute hat er wieder zur Erleichterung gelang die Flucht mit den Fäusten. Und er kräftiger, gutmütiger Tscheche mit Vollglat-
aller gut gegessen. Rühreier, eine große endete doch nicht besser als seine frühen ze, managt die Tour. Österreich, Deutsch-
Portion Eis, dann drei Teller Pasta mit To- Crackhouse-Kumpel. 1992, gut fünf Jahre land und die Schweiz, zehn Städte in zwölf
matensoße. In genau dieser Reihenfolge. nach dem ersten Weltmeistertitel, wurde er Tagen. Tyson wird auf der Bühne Fragen
»Mike kommt gleich. Er ist groß beantworten. Die Eintrittspreise lie-
in Deutschland, nicht wahr?«, fragt gen zwischen 79 und 809 Euro. Eine
David, den man besser Farid nennt, Stunde Tysons Lebensgeschichte,
seitdem er im Knast zum Islam kon- dazu gibt es einen Handschlag und
vertiert ist. Farid ist ein alter Zel- ein gemeinsames Foto. Allerdings
lenkumpel aus der Zeit, als Tyson nur für die Gäste mit den richtig teu-
wegen Vergewaltigung einsaß und ren Tickets.
mit Mitte zwanzig seine besten Tage Polidori, der gut aussehende Typ
als Boxer schon hinter sich hatte. neben ihm, ist Moderator, er ist Süd-
Farid saß wegen Kokainhandels. Er tiroler. Er spricht ein halbes Dutzend
ist jetzt Mikes privater Assistent. Sprachen und dachte ernsthaft, er und
Farid steht im Eingangsbereich Tyson würden ausgiebig über die
einer dieser Villen, die man aus ame- Show reden. Tyson fand, dass es da
rikanischen Serien kennt. Selbst nicht viel vorzubereiten gebe, und Po-
SKY SPORTS / AFP

wenn man drinsteht, die Kronleuch- lidori merkt gerade, dass er sich die
ter, die Säulen, die geschwungenen Reise vermutlich hätte sparen können.
Marmortreppen sieht, denkt man, Die Bühne ist nicht neu für Tyson.
es sei eine Kulisse. Downtown Las Spike Lee, sein alter Freund, hat auf
Vegas ist 20 Kilometer von hier, und Boxer Holyfield, Tyson 1997: Kranker Spinner Grundlage von Tysons Autobiogra-
weil der Makler, der Tyson das Haus fie »Unbestreitbare Wahrheit« eine
verkauft hat, damit Werbung macht, Soloshow entwickelt. Tyson tourt da-
weiß man, dass es hier sechs Schlafzimmer wegen Vergewaltigung zu sechs Jahren Ge- mit durch die USA. Lees Idee war, Mike
und sechs Bäder plus Gästeklo gibt. 966 fängnis verurteilt, 2003 war er bankrott, Tyson allein vor eine Leinwand mit Bildern
Quadratmeter Wohnfläche. 2007 kam die Entziehungskur. Menschen, seines Lebens zu stellen. Tyson als Kind,
Farid, mit verschränkten Armen, wartet die keine Boxfans sind, muss man nur sagen, das bis heute nicht weiß, wer sein Vater ist.
noch immer auf eine Antwort. Wie groß dass er der Spinner ist, der 1997 Evander Tyson neben Cus D’Amato, dem alten, ge-
ist Tyson heute noch? Holyfield ins Ohr biss, und sie wissen, wer nialen Boxtrainer, der ihn förderte. Tyson
Mike Tyson hätte der größte Boxer aller gemeint ist: der Mann aus den Klatschspal- mit seiner Familie, als geläuterter Mann.
Zeiten werden können. Werden müssen. ten; der aus dem Sportteil, der 300 Millio- Manchmal ist diese Show genial. Tyson
Größer als Ali. Im Boxen klingt das zu Recht nen Dollar in Häuser steckte, die er nicht ist lustig, emotional, glaubhaft, schlagfer-
nach Blasphemie, aber in der kurzen Zeit, brauchte, in Autos, die er nicht fuhr, und in tig. Er beweist, dass er kein Blödmann ist,
in der Tyson das tat, wofür er geboren wor- Frauen, die ihn nicht liebten; ein Mann, auch wenn er sich weite Teile seines Le-
den war, war er einer der Besten, die jemals dem Gott genauso viel Talent fürs Boxen bens wie einer benommen hat. Die Leute
einen Ring betreten hatten. Es war, als ließe wie Dämonen fürs Leben mitgegeben hat. sind begeistert.
man einen abgerichteten Hund von der Lei- Das ist es, was viele in Deutschland von Es gibt aber auch schlechte Shows. An
ne. Tyson war 20 und der jüngste Schwer- Mike Tyson wissen, aber da Farid ein ernst einem Tag wie heute wäre ein Auftritt ver-
gewichtsweltmeister der Geschichte. Seine blickender Kerl mit tiefer Stimme ist und mutlich eine Katastrophe. Der Text muss
Schläge waren hart, er war schnell, beweg- außerdem im Gefängnis saß, erscheint eine ihm dann per Knopf ins Ohr vorgelesen
lich, die Deckung makellos. Eigentlich zu andere Antwort angebrachter: »Ja, natür- werden. Er plappert ihn nach, verliert den

95
tig ist. Es ist der Mike, der mit Anfang vier-
zig erwachsen wurde und sein Leben in
den Griff bekommen hat. Diesen Tyson
gibt es auch. Er ist genauso wahr wie der
alte, und es macht Spaß, ihn kennenzuler-
nen. Es gibt ein paar Interviews im Netz,
da kann man ihn sich anschauen.
Diesem Tyson ist die Familie wichtig.
Er geht zur Therapie, zu Elternabenden,
zum Tennis, wenn seine neunjährige Milan
spielt. Er trinkt keinen Alkohol, trainiert
regelmäßig, isst vegan und hat Pläne. Ein
neues Buch, die »Hangover«-Filme, die
Signierstunden in Las Vegas, bei denen ein
Autogramm 199 Dollar kostet.
Am meisten freut sich Kiki über diesen
Mike. Sie ist gerade in der Küche, eine
tolle Frau, wahrscheinlich der Grund, wa-

UPI / LAIF
rum Mike Tyson noch am Leben ist.
Lakiha Spicer, genannt Kiki, ist Mikes
Familie Tyson*: Kiki ist es zu verdanken, dass er schuldenfrei ist dritte Frau. Sie ist 41, bildhübsch und kennt
Mike, seit sie 16 ist. Sie hatten über Jahre
eine Affäre, oder wie immer man es nennt,
Faden, es ist schrecklich künstlich. Man die enormen Füße auf, Schuhgröße 49. wenn ein besoffener, nach Bordell riechen-
weiß vorher nie, wie es wird. Dann der kahl rasierte Kopf und das Maori- der Typ immer wieder aufkreuzt und man
»So, noch eine Minute, dann geht’s los«, Tattoo im Gesicht, das er sich 2003 stechen ihn wider besseres Wissen nicht zum Teufel
sagt Farid. Ihm gefällt nicht, dass es keine ließ. Es soll bedrohlich wirken, ist es aber schickt. Vermutlich nennt man es Liebe.
abgesprochenen Fragen gibt. Mike Tyson, nicht. Tyson wirkt zurückgenommen, ein Kiki war immer da. 2002 wohnten sie
vor allem aber sein Umfeld, mag keine wenig abwesend. Seine Augen sind die trau- schon einmal für kurze Zeit zusammen.
Überraschungen. Am liebsten ist es ihnen, rigsten, die man seit Langem gesehen hat. Damals verlor Tyson den letzten großen
wenn alles genau geplant ist. Man muss Farid sagt: »Keine Fragen zu seinem Kampf seiner Karriere, am 8. Juni 2002
das verstehen. Es war nie leicht, mit Mike Leben, nichts Privates, nichts über Politik. in Memphis, Tennessee, gegen Lennox
Tyson zu leben, und ist es bis heute nicht. Nur Fragen zur Tour.« Lewis. Zehn Jahre davor hätte Tyson aus
Angenommen, heute wäre nicht nur ein Tourmanager Tauchen, der beim Inter- ihm Hackfleisch gemacht.
eher mäßiger, sondern ein richtig schlechter view dabei sein wollte, schaut auf. Natür- Es dauerte ein paar Jahre und einige
Tag, dann hätte er vorhin beim Essen, als lich war das anders vereinbart. Die Tour Drogenexzesse, bis er wieder anrief. Kiki
das Gespräch auf Exodus kam, nicht nur dreht sich um sein Leben. Nur darum. Es war da. Elf Tage nach Exodus’ Tod heira-
traurig geschaut, er wäre ausgerastet. Exo- ist das Einzige, was Tyson noch bleibt. Sei- teten sie.
dus war Tysons Tochter. Sie wurde nur vier, ne Geschichte. Sie ernährt ihn. Polidori, Seitdem sie da ist, hat er seine Schulden
weil sie sich 2009 am Kabel eines Laufban- der Moderator, wird ihn nach den Drogen, abgezahlt. Irgendwann waren es mal 27
des verhedderte und erstickte. der Entzugsklinik, der verkorksten Jugend Millionen Dollar. Aber Kiki ist es zu ver-
Wenn Tyson an diese Zeit denkt, kann fragen. Wenn man über all das nicht reden danken, dass Tyson von 20-Jährigen auf
es passieren, dass er einen Schrank aus der kann, warum überhaupt ein Interview? der Straße erkannt wird, weil sie ihn aus
Wand reißt oder die Mikrowelle durch die Eigentlich ist es aber auch egal. Tyson dem Kino kennen oder aus der eigenen
Küche schleudert. Oder dass er die 30 Mi- ist schon jede erdenkliche Frage gestellt Comicserie, die man über ihn gemacht hat.
nuten runter in die Stadt fährt und in worden, und er hat jede erdenkliche Ant- Zuletzt hat er sogar einen Werbespot für
einem der alten Stripklubs versackt. Da wort gegeben. Von »Ich bin der letzte ein australisches Unternehmen gedreht.
verbringt er die Nacht mit so vielen Nut- Dreck« über »Manchmal denke ich über Und wie es aussieht, wird der große Scor-
ten, Koks und Whiskey, dass er sogar Exo- Selbstmord nach« bis hin zu »Ich bin der sese sein Leben verfilmen. Jamie Foxx soll
dus vergisst. Las Vegas ist perfekt dafür. Größte, der jemals gelebt hat«. die Hauptrolle spielen.
Mike Tyson, das wird oft vergessen, ist Nerven ihn diese immer gleichen Fragen? Nach zwölf Minuten ist das Interview
ein kranker Mann. Ein trockener Alkoholi- »Es ist schon okay«, sagt Tyson. vorbei. Seine längste Antwort hatte sieben
ker, der zu Rückfällen neigt, ein Ex-Kokain- Wirklich? Wörter. Es ist okay.
junkie und, als wäre das alles nicht genug, »Es ist, was es ist.« Assistent Farid ist froh, dass es vorbei
auch noch manisch-depressiv. Es ist Jahre War er schon mal in Deutschland? ist. Tauchen, der Tourmanager, sieht etwas
her, kurz vor dem Kampf gegen Andrew »In Düsseldorf. Die haben Ärzte dort.« traurig aus. Er kennt Tyson seit acht Jah-
Golota, dass er Reportern entgegenwarf: Tyson war wegen seiner Rückenproble- ren, er weiß, dass es auch anders laufen
»Ich bin auf Zoloft, damit ich euch nicht alle me dort. kann. Und Polidori, der Moderator, sieht
umbringe.« Zoloft ist ein Antidepressivum. Gibt es eine Botschaft, die er weiter- besorgt aus, weil er nicht weiß, was ihn
»Okay«, sagt Tyson leise und setzt sich geben will? während der Show erwartet. Sie alle sind
auf die weiße Couch. Seine Stimme klingt »Ich freue mich auf meine Fans.« Er davon abhängig, wie Tyson in den Tag
tiefer als im Fernsehen. Nicht so piepsig. klingt, als wäre ein Tintenfass in seinem kommt. Sie packen sein Leben in Watte,
Als Erstes fallen seine riesigen Hände und Kopf ausgelaufen. in der Hoffnung, dass er nirgends aneckt.
Sie alle, Farid, Tauchen, der Manager, Manchmal klappt es, manchmal nicht. Sie
* Mike Tyson mit den Kindern Milan, Miguel Leon,
Polidori, der Moderator, sie alle brauchten haben es nicht in der Hand.
Morocco und Ehefrau Lakiha Spicer im März in Ingle- heute eigentlich den anderen Mike – der Niemand hat es.
wood, Kalifornien. die Bombenshow liefert, der wirklich lus-

96 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Sport

tenkonvoluts, das erst jetzt im Nachgang Ausrichters? Die Verantwortlichen des


»Gern den der Sommermärchen-Affäre (SPIEGEL
43/2015) auftaucht.
Fußballverbands wissen angeblich nichts
über den Vorgang, der auch in ihrem Ar-
Der Fall Tonga zeigt, in welchem Aus- chiv liegt. »Die neue Führung des DFB hat
Gefallen tun« maß sich der DFB im Umfeld der Fußball-
WM 2006 dem dubiosen Finanzgebaren
von den in Ihren Fragestellungen beschrie-
benen Vorgängen keine Kenntnis«, heißt
im Weltfußball unterworfen hat. Der win- es auf Anfrage.
Schmiergelder Kredithilfen für zige Inselstaat wollte offenbar ebenso von Eine Antwort, die auch für einen ande-
Tonga, ein Bus für der Entscheidung für Deutschland profi- ren Fall aus der Schublade anrüchiger
Russland: Bislang unbekannte tieren wie andere Länder, die dem DFB DFB-Deals gilt: ein Fax, das Wjatscheslaw
in einem Reigen schmierigen Gebens und Koloskow, der Präsident der Russischen
Akten zeigen, wie der Nehmens verbunden waren. Fußballunion, am 17. April 2000 in die
DFB Freundschaften pflegte. Warum sonst kümmerte sich der DFB- DFB-Zentrale schickte. Betreff: »Financial
Präsident um Schiffskredite? Warum Aid« – Finanzhilfe.
wandte sich Mayer-Vorfelder an Schily – Der Mercedes-Bus der A-National-

I n der Geschichte des Weltfußballs


ist Tonga nur eine Randnotiz. Ganze
55 Länderspiele hat die Nationalmann-
schaft des Südseearchipels bestritten – in
und nicht an die damals für Entwicklungs-
hilfe zuständige Ministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul? »Weil die Tongaer auf
der Fußballschiene mit Dankbarkeit rech-
mannschaft sei kaputt (»has broken
down«), klagte Koloskow, einen neuen
könne sich der Verband nicht leisten. Viel-
leicht wäre es ja dem DFB möglich, bei
40 Jahren. Gewonnen hat sie so gut wie nen konnten«, wie ein Insider meint. seinem Sponsor Mercedes ein »optimales
nie, und wenn, gegen Nachbarn wie die Denn Schily saß im Aufsichtsrat des Or- Modell zum optimalen Preis« zu finden.
Cookinseln oder Amerikanisch-Samoa. ganisationskomitees der WM, und die Fuß- »Wir wären auch dankbar, wenn der DFB
Die Platzierung in der Fifa-Weltrangliste ballfunktionäre des Inselreichs hatten je- einen Teil des Kaufpreises übernehmen
ist entsprechend: null Punkte, Platz 206. nen Mann unterstützt, der im Juli 2000 könnte«, wie Koloskow ungeniert schreibt.
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ist die eine Stimme Mehrheit für den WM- Den Kollegen in der Frankfurter DFB-
ähnlich bedeutungslos – für die Historie Ausrichter Deutschland ermöglicht hatte: Zentrale war der Wunsch des Russen allem
der Seefahrt im Südpazifik. Dennoch gab Charles Dempsey, Präsident des Fußball- Anschein nach Befehl. »Dringende Bear-
es einen Punkt, an dem der Fußballzwerg verbands von Ozeanien. Nach einem Patt beitung« hat einer auf das Fax geschrieben.
Tonga und die Kickerweltmacht DFB zum im vorletzten Wahlgang verließ er flucht- Gleich darunter der Eintrag »Herr Kolo
Wohle des Schiffsverkehrs in der polyne- artig die Fifa-Zentrale in Zürich und ver- (Koloskow –Red.) setzt sich immer wieder
sischen Inselwelt an einem Strang zogen. half Deutschland so zur Mehrheit. vehement für den DFB ein«.
Am 6. Dezember 2004 schrieb der da- Rechneten die Südseeinsulaner deshalb Vor allem in Mayer-Vorfelders Wahl-
malige DFB-Präsident Gerhard Mayer- mit einer Dankeschön-Spende des WM- kampf um einen Platz im Uefa-Exekutiv-
Vorfelder einen Brief an den komitee war der Funktionär der
»Bundesminister des Innern Russischen Fußballunion offen-
Herrn Otto Schily«. Darin ging bar eine Bank.
es um die Frage, ob die Bundes- In einer DFB-internen Aufstel-
regierung »dem Land Tonga« lung mit der Überschrift »Stimm-
die Restschuld eines 20 Jahre zusagen/spezielle Bewerbungs-
alten Darlehens erlassen könne. maßnahmen« aus dem Jahr 2000
Zwei Schiffe hatte der Inselstaat ist Koloskow als eine Art Garant
von dem Geld gekauft. Etwa für die Stimmen von Albanien,
sechs Millionen US-Dollar wa- Armenien, Aserbaidschan, Weiß-
ren noch offen. russland, Moldau und der Ukrai-
Ein Anliegen, offenbar so hei- ne gelistet. Kein Wunder, dass auf
kel, dass Mayer-Vorfelder rheto- seinem Bettelfax gleich gerechnet
rische Manndeckung für gebo- wird: »Neoplan Cityliner, neu,
ten hielt. Er sei sich »darüber im 530 000 + Vito.«
Klaren, dass diese Vorgehens- Über den Cityliner findet sich
weise bei Weitem nicht den üb- in den Akten weiter nichts. In
lichen diplomatischen Gepflo- puncto »Vito« aber meldete DFB-
genheiten entspricht«. Er wolle Generalsekretär Horst R. Schmidt
»aber dem Generalsekretär der den Russen Ende Mai Vollzug.
Tonga Football Association«, Dank der »engen Kontakte mit
der ihn darum gebeten habe, Mercedes-Benz« sei es dem DFB
»gerne den Gefallen tun und gelungen, einen fabrikneuen
Ihnen den Vorgang vorlegen«. Kleinbus mit vielen Extras zu »ei-
Was für eine Konstellation! nem äußerst vorteilhaften Preis«
Zwei Fußballfunktionäre und zu bekommen. »Wir schlagen vor,
MARKUS ULMER / ACTION PRESS

ein Innenminister, der helfen dass der DFB die Kaufsumme


soll, einen Auslandskredit zu vollständig übernimmt.« Eine net-
erlassen. Der Brief und ein te Geste, kurz vor der Wahl des
Schreiben der Tonga Football Uefa-Exekutivkomitees.
Association sind Teil eines Ak- Rafael Buschmann,
Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
* Beim Start der Fifa-Kampagnen für Jörg Schmitt
Schulen und Vereine zur WM 2006. Innenminister Schily 2003*: »Mit Dankbarkeit rechnen«

97
Wissenschaft+Technik
»Die Qualle lag am Meeresstrand, die Sonne hat sie braun gebrannt. Mit einmal war die Qualle – alle!« ‣ S. 100

SIMON NORFOLK / INSTITUTE


Ist das noch die Erde? Diese Frage drängt sich auf angesichts des surrealen Anblicks, den die Insel Sokotra
im nordwestlichen Indischen Ozean bietet. Sie ist bekannt für ihre einzigartige Pflanzenwelt. Die Gewächse
sehen aus, als stammten sie von einem anderen Planeten. Offiziell gehört das scheinbar verlassene
Paradies zur Republik Jemen. Derzeit wächst dort jedoch der Einfluss der Vereinigten Arabischen Emirate.

Einwurf

Die Korrekturen
Hersteller entfernen etwas Zucker aus ihren überzuckerten Produkten und bewerben dies auch noch als Großtat.
Die Natur sorgt für ihre Kinder. Sie lässt Salat, Möhren und Spar- den Kunden. Was das kostet? Nur ein bisschen mehr als die nor-
gel sprießen. Nur beim Ketchup hat sie geschludert. Der ist ihr zu malen Butterkekse. Wie nett! Chapeau, Lebensmittelindustrie:
süß geraten. Herrje! So ein Missgeschick. Wer korrigiert den Feh- erst ganz viel Zucker in ein Produkt kippen – und wieder etwas
ler? Gott sei Dank: Kraft Heinz Ketchup produziert die rote Soße davon rausnehmen, um es gesünder aussehen zu lassen. Das ist
nun auch mit halb so viel Zucker wie bisher. Mit weißer Schrift die große Kunst des Marketings. Sozusagen: schwarzer Gürtel
auf blauem Grund beworben, stehen die Flaschen im Regal wie im Märchenerzählen. Sehr raffiniert.
ein Schlankheitselixier. 100 Gramm Ketchup enthalten nur noch In Großbritannien gibt es jetzt eine Zuckersteuer auf Limona-
11,4 Gramm Zucker. Beim normalen sind es 22,8 Gramm. Lob den – wie schon in Norwegen, Frankreich oder Portugal. In
den Produzenten! Sogar der Preis bleibt der gleiche! Mexiko, wo Diabetes die zweithäufigste Todesursache ist, hat
Auch als die Natur die Butterkekse schuf, war sie zu ver- eine solche Steuer Wirkung gezeigt: Der Verkauf der Limonaden
schwenderisch mit der Süße. Aber der Kekshersteller Leibniz ist laut einer Studie um fast zehn Prozent pro Kopf gesunken.
macht alles wieder gut – und stellt die Kekse auch mit 30 Pro- Die neue Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) aber lehnt
zent weniger Zucker her. Die Kalorienzahl hat sich kaum verän- eine Zuckersteuer ab. Märchen erzählt zu bekommen ist ja auch
dert, aber ein fluffig-leichtes Ambiente auf der Packung lockt was Schönes. Kerstin Kullmann

98 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Psychologie mitglieder oder Freunde. Wenn solche Fußnote

166
»Sie machen mir Angst« Menschen sehr dünnhäutig sind, können
sie aber Nähe als bedrohlich erleben ...
Der Psychologe Thomas SPIEGEL: ... wenn es gefährlich wird, ist
Bock, 64, Leiter der man also selbst schuld?
sozialpsychiatrischen Bock: Es geht um Respekt. Wir haben in
Spezialambulanz für Hamburg in den Jahren 2008 und 2009 Prozent betrug im vorigen Jahr die
Psychosen und Bipolare relativ kurz hintereinander drei Polizei- Steigerungsrate beim Absatz des »Craft
Störungen am Universitäts- einsätze gehabt, bei denen psychisch Collection Copper Fondue Set«; andere
klinikum Hamburg- Kranke ums Leben kamen. Die Kolle- Marken sind sogar ausverkauft. Im
Eppendorf (UKE), über den Umgang mit gen gingen oft zu forsch vor, ließen dem Fachmagazin »International Journal of
psychisch auffälligen und potenziell Betroffenen und sich selbst keine Gastronomy and Food Science« erläu-
gefährlichen Mitbürgern Möglichkeit zum Rückzug. Und dann tert der Psychologe Charles Spence von
eskalierte die Situation. Daraufhin der Oxford University das irritierende
SPIEGEL: Herr Bock, wie schützt man haben wir mit der Polizeispitze Fort- Comeback des fetthaltigen Klassikers in
sich, wenn man den Eindruck hat, der bildungen entwickelt, in denen Betrof- Großbritannien: »Das nostalgische, be-
Nachbar sei befremdlich? fene die Hauptrolle spielen. Wir wollten ruhigende Element des Fondue ist be-
Bock: Befremdlich zu sein ist keine Ei- den Beamten vermitteln: Der psychisch sonders willkommen in einer Zeit wie
genschaft, sondern etwas, das sich zwi- Kranke ist ein Mensch wie andere – der Gegenwart, in der uns die Welt als
schen Menschen abspielt. Ob ich jeman- und keineswegs immer gefährlich. unberechenbarer und gefährlicher Ort
den als befremdlich empfinde, hat auch Das macht gelassener, reduziert Angst erscheint – wie die globale Finanzkrise,
mit mir zu tun. Insofern kann es für bei- und damit Gefahr. Seitdem hat sich so Nordkorea oder der Brexit zeigen.«
de Seiten hilfreich sein, auf den anderen etwas nicht wiederholt.
zuzugehen und ihm einen Vertrauens- SPIEGEL: Wie reagieren Sie, wenn bei
vorschuss zu geben. Doch wenn meine Ihnen in der Klinik jemand auftaucht,
Angst zu groß ist, bin ich gut beraten, den Sie als bedrohlich empfinden? Forensik
vorsichtig zu sein – um mich selbst zu Bock: Es kann hilfreich sein, rechtzeitig
schützen, aber auch den anderen. zu sagen: »Sie machen mir Angst.«
Knochen aus dem Krieg
SPIEGEL: Wie gefährlich sind psychisch Nicht selten trägt das schon dazu bei,  Eine Schenkung an die Gedenkstätte
Auffällige für Fremde? dass der andere antwortet: »Oh, das Buchenwald hat eine aufwendige foren-
Bock: Psychisch Erkrankte sind im wollte ich gar nicht.« Mein Gegenüber sische Untersuchung nach sich gezo-
öffentlichen Raum per se nicht gefährli- ist unter Druck, einsam, aufgeregt. gen – mit überraschendem Ergebnis.
cher als andere Menschen. Wenn über- Wenn der merkt: Ich habe ein Echo, Dem Museum waren Knochen überge-
haupt, dann stellen sie wohl für Vertrau- kann sich die Situation oft schnell wie- ben worden, die mit Schnitzereien ver-
te eine Bedrohung dar, also für Familien- der entspannen. THA sehen sind. Der Verdacht
bestand, dass es sich
dabei um die Überreste
von KZ-Häftlingen han-
Tiere ter aus Leuchtdioden entworfen, mit delte. Buchenwald war in
dem der Boden eines Surfbretts beklebt der Zeit des Naziregimes
Leuchtdioden werden kann. Diese Erfindung macht eines der größten Konzen-
zur Haiabwehr sich eine Schwäche der Haie zunutze, die trationslager auf deut-
der Forscher erst vor wenigen Jahren ent- schem Boden. Zu den vie-
 Surfbretter haben einen Nachteil, der deckt hat: Offenbar sind die Räuber far- len Abscheulichkeiten des
lebensgefährlich sein kann: Von unten benblind – anders als viele andere Lagers gehörte die Entwei-
wirkt ihre Silhouette wie der Umriss Fische. Das Leuchtmuster der LEDs sor- hung der Überreste von
einer Robbe – einer der Lieblingsspeisen ge dafür, so Hart, dass die Haie den Gefangenen. Nun hat der
des Weißen Hais. Aus diesem Grund wer- Umriss des Surfbretts nicht mehr erken- irische Forensiker René
den einer gängigen Theorie zufolge nen würden. Einen Härtetest hat seine Gapert die Knochen für
immer wieder Surfer von den Meeresräu- Erfindung bereits bestanden: Während die Gedenkstätte
bern attackiert. Der Neurophysiologe zweier Badesaisons erprobte der For- Buchenwald analysiert.
Nathan Hart von der Macquarie Univer- scher die LEDs an der Unterseite von Wie sich dabei heraus-
DR RENÉ GAPERT

sity im australischen Sydney will für die- Robbenattrappen – und zwar vor der stellte, stammen die
ses Problem nun eine Lösung gefunden Küste Südafrikas, einem der bevorzug- vermeintlich mensch-
haben, die manchem Wassersportler das ten Reviere des Weißen Hais. Anzahl der lichen Gebeine von
Leben retten könnte. Hart hat ein Mus- Attacken: null. THA zwei Rindern. Über-
dies ergab die Untersu-
chung, dass die Schnitze-
reien höchstwahrscheinlich während
des Ersten Weltkriegs von deutschen
Soldaten angefertigt wurden, die in
einem britischen Kriegsgefangenenla-
ZUMA PRESS / IMAGO

ger interniert waren. Inzwischen wur-


den die verzierten Knochen in Gaperts
Heimat an die Abteilung für Kunst-
Surfbrett nach Haiangriff handwerk des irischen Nationalmu-
seums übergeben. THA

99
Wissenschaft

Leckere Plagegeister

Lungenqualle im Golf von


Neapel. Die Krebse nutzen das
Tier als Transportmittel.
Kommt die Qualle dem
Meeresboden nah, springen
sie auf und lassen
sich ein Stück mittragen.

100 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Fischerei Der Klimawandel führt zu mehr Quallenblüten in den Weltmeeren. Forscher wollen
aus den Glibberwesen die Nutztiere des 21. Jahrhunderts machen – vielseitig
verwendbar als Lebensmittel, aber auch für Dünger, Kosmetika und Medizinprodukte.

BIOSPHOTO / GETTY IMAGES

101
Wissenschaft

A
ls Beilage empfiehlt das Rezept jede zu einem Gallertriesen heranwachsen ab. Nur Biologen können auf die Idee kom-
Kirschtomaten, Basilikum und kann. Keine Meeresregion ist vor ihnen si- men, etwas so Unerfreuliches auf Nütz-
Rucola. »Quallen unter kaltem cher. Im Ballastwasser von Schiffen schip- lichkeit zu testen. Doch siehe da: Quallen-
Wasser abspülen, Tentakel ab- pert ihre Brut um die ganze Welt. schleim eignet sich hervorragend als Na-
trennen, den Körper in dünne Scheiben Die ursprünglich nur im Indischen und nofilter. Kleinste Partikel bleiben in der
schneiden«, heißt es weiter. Dann noch im Pazifischen Ozean heimische Noma- Struktur der Polysaccharide hängen, aus
etwas Sherryessig und Olivenöl dazu – denqualle beispielsweise schaffte es bereits denen der Schleim besteht.
fertig ist der »Quallensalat«. vor Jahren ins Mittelmeer und vermehrt Die Substanz könnte dabei helfen, eines
Kann das schmecken? Quallen für Gour- sich dort immer wieder explosiv. Bis zu der drängendsten Probleme der Industrie-
mets? Antonella Leone glaubt daran. Die 160 000 der Tiere wurden vor Israels Küs- gesellschaft zu mildern: die Verschmut-
Biologin des italienischen Forschungsinsti- te schon pro Quadratkilometer gesichtet. zung der Natur mit Mikroplastik.
tuts für Nahrungsmittelproduktion testet Oder die aus dem Westatlantik einge- Gerade erst kam heraus, dass über die
die Eignung der Tiere als Lebensmittel. schleppte Meerwalnuss, eine Rippenqual- letzten zwei Jahre ein steter Strom winzi-
Fahnenqualle, Spiegelei-Qualle und Lun- le: Sie ließ Ende der Achtzigerjahre im ger Plastikpartikel in die Schlei in Schles-
genqualle sind ihre Versuchsobjekte, im Schwarzen Meer fast die gesamte Sardel- wig-Holstein gerauscht ist. Die Sände des
Fachjargon »gelatinöse Biomasse« ge- lenfischerei kollabieren. Seit 2006 erobert Gewässers sehen nun stellenweise aus wie
nannt. Leones Ziel: Qualle à la carte. die Art auch die Ostsee. Ihr Gesamtge- Konfetti. Die Schleswiger Stadtwerke, Be-
»Eine riesige ungenutzte Ressource« wicht in Europas Gewässern wird inzwi- treiber der verantwortlichen Kläranlage,
seien diese Tiere, schwärmt die Italienerin. schen auf eine Milliarde Tonnen geschätzt. fühlen sich daran ebenso wenig schuldig
Leone und ihre Arbeitsgruppe sind Teil Vor Japan kenterte 2009 sogar ein Traw- wie das Entsorgungsunternehmen ReFood,
von »GoJelly«, einem mit sechs Millionen ler durch die Macht der Gallerte. Die Crew aus dessen angelieferten Abfällen der
Euro dotierten EU-Forschungsprojekt, mit hatte versucht, ein Netz einzuholen, in Kunststoff stammt.
dem die Qualle zum Nutztier des 21. Jahr- dem sich mehrere Exemplare der bis zu Das Problem gibt es allerorten. »Acht
hunderts gemacht werden soll. 200 Kilogramm schweren Nomura-Qualle Millionen Tonnen Plastik landen jährlich
Lecker, gesund, vor allem aber vielseitig verfangen hatten. in den Gewässern«, sagt Javidpour. Wird
verwendbar in Industrie und Landwirt- Quallen verstopfen die Zuläufe von Quallenschleim die winzigen Partikel da-
schaft – so sehen die GoJelly-Forscher das Kraftwerken und Entsalzungsanlagen. Sie von künftig in den Kläranlagen zurückhal-
gemeinhin übel beleumdete Nesseltier. vertreiben Touristen von den Stränden ten? Javidpour setzt darauf. Bald möchte
15 Forschungsstätten aus 8 Ländern arbei- und machen Fischzüchtern Ärger. Im Jahr die Biologin Fischer rekrutieren, um die
ten zusammen, um dessen Potenzial zu 2014 tötete ein Schwarm Leuchtquallen leicht verderbliche Substanz zu sammeln.
ergründen. Für Sushi, Salat und Paella sind rund 300 000 Lachse in einer schottischen »Man hebt die Qualle hoch, dann tropft
die Tiere gut geeignet. Aber auch Dünger, Aquakultur. Die Quallen hatten die Fische der Schleim runter«, erklärt die Biologin
Kosmetika, Mikroplastikfilter, Medizin- mit ihren giftigen Nesselkapseln harpu- die Erntemethode.
produkte und Fischfutter könnten daraus niert. Die Fischer spielen ohnehin eine wich-
gewonnen werden. tige Rolle für das GoJelly-Projekt. In
»Wir haben Quallen bislang vor allem Asien, etwa in China oder Japan, werden
ignoriert«, sagt Projektkoordinatorin Ja- Quallen seit Jahrhunderten gefangen. Ge-
mileh Javidpour vom Geomar Helmholtz- trocknet enden die Tiere in der Suppe oder
Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, »da- im Meeresfrüchtesalat. Auch gesundheit-
bei bilden sie einen idealen Rohstoff, der licher Nutzen wird Quallen nachgesagt,
uns immer wieder direkt vor die Haustür darunter Linderung bei Arthritis.
schwimmt.« Mehr als 750 000 Tonnen jährlich zie-
Quallen sind die Nutznießer der globa- hen Fischer für Asiens Märkte weltweit
len Meereskrise. Als Folge des Klimawan- aus dem Meer. Auch US-Trawler sind an
dels werden die Ozeane wärmer. Zonen dem Geschäft beteiligt. Sie jagen Stomo-
mit Sauerstoffnot weiten sich aus. Und lophus meleagris, eine kanonenkugelför-
mehr Kohlendioxid lässt das Wasser ver- mige Qualle mit bemerkenswerter Frucht-
sauern. barkeit. Zu Tausenden dümpeln die Wesen
Während viele Meeresbewohner unter in manchen Jahren nahe der Oberfläche
diesen Veränderungen leiden, profitieren Quallensalat im Meer. Für die Fischer ein Segen: In
Quallen sogar davon. Auch Überfischung »Frisch, salzig, erinnert an Austern« einer Saison können sie bis zu 10 000 Dol-
und Überdüngung kommen ihnen zugute. lar verdienen – täglich.
Gelangen mehr Nährstoffe in die Ozeane, Viel Sympathie bleibt da nicht. »Die Javidpour hofft, dass Europas Fischer
wächst mehr Nahrung heran. Weil es Qualle lag am Meeresstrand, die Sonne künftig ebenfalls profitieren. Die Tiere
gleichzeitig weniger Fische gibt, bleibt den hat sie braun gebrannt. Mit einmal war die als Lebensmittel zu verkaufen ist dabei
Tieren ein immer größerer Teil vom Plank- Qualle – alle!«, spottete einst der Komiker nur eine Möglichkeit. Die Kieler Firma
tonschmaus. Zudem haben sie weniger Heinz Erhardt. Und wer will es ihm ver- Coastal Research & Management (CRM)
Fressfeinde. übeln. Selbst Geomar-Forscherin Javid- beispielsweise gewinnt aus Quallen Kolla-
Als Folge registrieren Meereskundler pour zitiert den Humoristen – allerdings, gen für die Kosmetikindustrie. Dem Ei-
vielerorts eine Zunahme der stummen um ihm zu widersprechen. Nein! Eben weiß wird hautstraffende Wirkung nach-
Schleimer. Manchmal kommt es gar zur nicht »alle« sei die Qualle. gesagt.
explosiven Vermehrung. Einige Quallen »Ja, die Tiere bestehen zu 98 Prozent Als »Ocean Collagen« wird der Stoff
können bis zu 45 000 Eier produzieren – aus Wasser«, sagt sie. Aber die restlichen bereits vermarktet. Bei der Herstellung
pro Tag. Die Larven setzen sich am Mee- zwei Prozent hätten es in sich. kommt ein weiterer Vorteil zum Tragen:
resgrund fest und wachsen zu sogenannten Ihr Schleim zum Beispiel ist eine faszi- Die wirbellosen Lebensformen im Mixer
Polypen heran. Schließlich entsteht eine nierende Substanz. Geraten die Tiere un- zu zerhäckseln klingt unappetitlich, wird
Vielzahl von Mini-Medusen, von denen ter Stress, sondern sie eine Art Schnodder gemeinhin jedoch als ethisch unbedenklich

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FRED BAVENDAM / PICTURE ALLIANCE / MINDEN PICTURES / DPA
Ohrenquallen vor Westaustralien: Nutznießer des Klimawandels

bewertet. Bislang setzen sich nicht einmal lösen. »Quallen gelten in Europa bislang der Prototyp einer Quallen-Zuchtanlage.
fanatische Tierschützer für sie ein. nicht als Lebensmittel«, sagt sie. Bevor die »Flow2Vortex« nennt Javidpour das runde
Auch medizinische Anwendungen wer- Tiere auf dem EU-Markt verkauft werden Plastikbecken, in dem die Quallen in einer
den erforscht. Quallen-Kollagen sei ideal dürften, müssten sie strenge Qualitätskon- zirkulären Strömung treiben. So wird ver-
für Wundbehandlungen geeignet, sagt Le- trollen durchlaufen. hindert, dass sie an den Wänden kleben
vent Piker von CRM. Außerdem haben er »Was ist eine Premium-Qualle, was bleiben.
und seine Kollegen den Stoff als Substrat nur mindere Qualität?«, fragt Leone. Wie Junge Ohrenquallen dümpeln dort im
genutzt, um menschliche Knorpelzellen können die Tiere zubereitet werden, ohne eigens aus der Kieler Förde heraufgepump-
zu züchten. Bislang dienen vorwiegend gesundheitsschädlich zu sein? Außerdem ten Wasser. Schön sehen sie aus, elegant,
Schweineschwarten oder Rinderknochen geht es der Italienerin darum, die Zuberei- filigran – aber sind sie auch lecker? Wie
als Quelle für Kollagen. »Da finde ich tung und den Geschmack »der mediterra- schmecken sie denn nun, die Wabbel-
Qualle sauberer«, sagt Piker. nen Küche anzupassen«. wesen?
Wer das Tier genau unter die Lupe Quallen, eingelegt wie Oliven, stellt sich »Nach Meer, frisch und salzig; ihr Ge-
nimmt, findet zudem viel Stickstoff und die Forscherin vor, sonnengetrocknet wie schmack erinnert an Austern«, so schildert
Phosphat in dessen Glibber. An der Uni- Tomaten oder eingesalzen wie Kapern. die Italienerin Leone den ungewöhnlichen
versität Kiel wird deshalb erforscht, ob Alsbald will sie ergründen, ob eher dampf- Gaumenkitzel.
sich aus Quallen Dünger für die Landwirt- garen zu lukullischem Genuss führt oder Geomar-Forscherin Javidpour findet
schaft herstellen ließe. Auch an Futter für die Zubereitung in der Mikrowelle. die Textur der Meeresbewohner auffällig.
die Aquakultur denken die GoJelly-For- »Die Erfahrung westlicher Köche mit Getrocknet erzeugten sie ein »knackiges,
scher. Viele beliebte Zuchtfische werden Quallen ist gleich null«, sagt die For- etwas knorpeliges« Mundgefühl.
derzeit mit Wildfisch gefüttert. Fischfutter scherin. Für das Ende des Projekts hat »Im Wesentlichen schmeckt Qualle nach
aus Quallen wäre viel nachhaltiger. sie den EU-Geldgebern ein Kochbuch gar nichts«, räumt die Biologin ein. »Aber
Die Königsdisziplin der GoJelly-Forscher versprochen. mit der passenden Soße kann es richtig
aber besteht darin, die Nesseltiere dem Javidpour und ihre Kollegen entwickeln lecker werden.« Philip Bethge
Menschen schmackhaft zu machen. Exper- derweil eine Software, um Quallenblüten Mail: philip.bethge@spiegel.de
tin Leone hofft, sie als Gesundheitssnack vorherzusagen. Mit zuverlässigen Progno-
zu etablieren. Die Italienerin hat Antioxi- sen könnten sich Fischer rechtzeitig auf
dantien und andere bioaktive Moleküle in die Ernte vorbereiten. Video
So leben Quallen
der Gallerte nachgewiesen. Wenig über- Alternativ denkt die Biologin auch
raschend ist der geringe Kaloriengehalt. schon darüber nach, wie sich die Tiere in spiegel.de/sp162018quallen
Kommt also bald die Quallendiät? Vor industriellem Maßstab züchten ließen. Im oder in der App DER SPIEGEL
allem ein Problem muss Leone zuvor noch Untergeschoss des Geomar in Kiel steht

103
31 Seiten
Schocklektüre
Klima Shell wusste schon
sehr früh über den Treibhaus-
effekt Bescheid. Dennoch
entschied der Ölkonzern, die
globale Erwärmung zu leugnen.

I st der Klimawandel real? Diese Frage

TETRA-IMAGES / BILDAGENTUR-ONLINE
ist mittlerweile leicht zu beantworten:
Neun der zehn weltweit wärmsten
Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnung
fallen in die Zeit seit 2005. Die Durch-
schnittstemperatur auf Erden liegt jetzt
knapp ein Grad Celsius höher als vor ei-
nem Jahrhundert.
Vor mehr als 30 Jahren wollten auch
Manager des niederländisch-britischen Erdölgewinnung in Kanada: Zu spät für Gegenmaßnahmen?
Mineralölriesen Shell wissen, ob der Kli-
mawandel real sei. Zu einer Zeit, als außer-
halb elitärer Forscherzirkel noch kaum Für die Menschheit, so schrieben die bringt, hat sie dieses Wissen nicht davon
jemand über dieses Thema sprach, be- Auguren, bedeute das alles nichts Gutes. abgehalten, weiter in die Erschließung im-
riefen sie sechs konzerneigene Wissen- Die Versorgung mit Trinkwasser und Nah- mer neuer Vorkommen von Öl, Kohle und
schaftler in die »Arbeitsgruppe Treibhaus- rungsmitteln werde wohl schwieriger, der Gas zu investieren. Von allem fossilen
effekt«.  Wohlstand sei in Teilen der Welt bedroht, CO , das seit Beginn der Industrialisierung
²
Das Gremium tauchte tief ein in die ver- manchenorts seien massive Umsiedlungen freigesetzt wurde, ist mehr als die Hälfte
fügbare Literatur und befragte Experten. unvermeidbar. »Solch relativ schnelle und erst nach 1988 in die Atmosphäre gelangt.
Im April 1986 schloss es seine Untersu- dramatische Veränderungen«, so raunten In den USA tat sich Shell 1989 mit
chung ab. Zwei Jahre später legte es intern die Shell-Vordenker, würden »bedeutende Ölmultis wie Chevron, BP und Exxon
einen knappen Bericht vor mit dem Ver- soziale, wirtschaftliche und politische Kon- zusammen, die auch schon recht gut
merk »Vertraulich«. sequenzen« nach sich ziehen. Bescheid wussten über den Klimawandel.
Jetzt ist das bemerkenswerte Werk wie- »Noch«, hoben die Forscher hervor, sei Gemeinsam gründeten sie die Lobbyorga-
der aufgetaucht (einsehbar auf der Inter- eine Erwärmung gar nicht nachweisbar. nisation »Global Climate Coalition«.
netplattform www.climatefiles.com). Der Aber »gegen Ende des Jahrhunderts oder Mit einem Millionenetat schürte der
Shell-Report zum Klimawandel bietet am Anfang des nächsten« werde der An- Verband in der Öffentlichkeit systematisch
31 Seiten Schocklektüre plus Anhang. stieg der mittleren Temperatur weltweit Zweifel am Wahrheitsgehalt der Klimafor-
Hellsichtig und in glasklarer Sprache schil- auffällig werden. schung. Die Wirkung dieser und anderer
dern die Konzernforscher darin ohne ei- Mit dieser Aussage haben sie rück- Desinformationskampagnen hält bis heute
nen Anflug von Zweifel, wie das bei der blickend einen Volltreffer gelandet – mit an. Der Aufstieg des Klimaleugners Do-
Verbrennung von fossilen Energieträgern ihrem nächsten Punkt hoffentlich nicht: nald Trump und der Ausstieg der USA aus
freigesetzte Kohlendioxid die Erde aufhei- »Sobald die globale Erwärmung messbar« dem Pariser Klimaschutzabkommen ge-
zen wird – »nicht zu Lebzeiten der gegen- werde, schrieben die Shell-Experten, hen auch auf das Konto von Shell & Co.
wärtigen Entscheider«, wohl aber zu de- »könnte es bereits zu spät sein, effektive War es das Gewissen der Manager, die
nen ihrer Kinder und Enkel. Gegenmaßnahmen zu ergreifen oder die Geheimstudie im Giftschrank oder viel-
Das sind wir. Situation auch nur zu stabilisieren«. leicht der öffentliche Druck? Im Jahr 1998
Auf den Planeten kämen Veränderun- Ihrem eigenen Konzern rechneten die entschloss sich Shell, den Klimawandel
gen zu, notierten die Autoren schon da- Wissenschaftler vor, an der Krise nicht un- nun doch nicht länger abzustreiten. Der
mals, die größer sein würden als alle an- schuldig zu sein. Von den weltweiten CO - Konzern kündigte seine Mitgliedschaft in
²
deren in den vergangenen 12 000 Jahren. Emissionen des Jahres 1984 gingen immer- der Global Climate Coalition, die sich we-
Eine Vielzahl der Phänomene, die heute hin vier Prozent auf Shell-Öl, Shell-Gas nig später auflöste. 
von Klimaforschern diskutiert und teil- und Shell-Kohle zurück. Dezent mahnten Seit dieser Kehrtwende erkennt Shell
weise auch in der Natur beobachtet wer- die Forscher ihre Manager, sich dem Kli- den von Menschen gemachten Klimawan-
den, hatten die Shell-Forscher bereits auf mawandel zu stellen und das Problem im del als Tatsache ausdrücklich an – und
dem Schirm – den steigenden Meeresspie- Zusammenspiel mit Regierungen und macht trotzdem munter weiter wie zuvor:
gel, den Schwund der Korallenriffe, die internationalen Organisationen konstruk- Noch immer verdient der Konzern sein
Abnahme der polaren Eismassen, die tiv anzupacken. Geld damit, CO in die Welt zu pusten. Al-
²
wachsende Instabilität von Ökosystemen, Doch die Shell-Manager entschieden ternative Energien spielen in seiner Bilanz
die existenzielle Bedrohung für Länder sich anders. bislang kaum eine Rolle.
wie Bangladesch, häufigere Extremwetter- Obwohl sie nunmehr wussten, dass ihre Marco Evers
ereignisse. Branche die Menschheit in die Bredouille

104 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Wissenschaft

Supersüßer
eine falsche Bewegung oder ein Geräusch stützer sehen trotzdem in dem Hund das
ausreichen, um einen Hund zum Ausras- eigentliche Opfer und wollen verhindern,
ten zu bringen. dass die »Todesstrafe« vollstreckt wird.

Killer
Was der angeblich beste Freund des Um den Forderungen Nachdruck zu
Menschen mitunter anrichtet, zeigte sich verleihen, organisierten Tierschützer eine
am vorigen Montag auch im hessischen Demo vor dem Ordnungsamt, außerdem
Bad König. Dort machte sich Staffordshire- versuchten Unbekannte, ins Tierheim
Tiere Mischling Chico biss seine Mischling Kowu über einen Menschen her, einzubrechen – offenbar, um Chico zu
beiden Besitzer tot – doch der noch wehrloser war als die beiden Er- befreien. Zudem wurden sachkundige
wachsenen in Hannover: Er biss dem sie- Menschen übel beschimpft, die eine Ein-
Tierschützer wollen den ben Monate alten Sohn seiner Halter in schläferung des Hundes nicht gänzlich aus-
Hund retten. Die Zuneigung für den Kopf, genauer gesagt in die Fontanelle. schlossen – darunter die Hundetrainerin
den Rüden irritiert. Der Junge starb im Krankenhaus an der Sabine Busch, die mit auffälligen Tieren
Blutung. Doch auch das Schicksal dieses wie Chico arbeitet. Ihre Mailbox sei »voll«
Opfers geht derzeit etwas unter. gewesen mit Sätzen wie diesem, sagt

F ür ältere Hunde, die plötzlich ohne


Halter dastehen, besteht normaler-
weise eine schlechte Vermittlungs-
Die Killer auf vier Pfoten dagegen
werden mit einer Zuneigung be-
dacht, die irritierend ist. Die
Busch: »Heutzutage darf jedes Stück
Fleisch Hundetrainer werden.«
Fanatischer Einsatz für Pit-
chance. Viele von ihnen fristen ihr Dasein
dauerwinselnd in einem Tierheim. Am
Ende landen sie in der Tierkörperbeseiti-
Fälle Chico und Kowu sagen
mehr über die Geistesver-
fassung von Menschen aus
55 bulls und ähnliche Hunde ist
nicht ungewöhnlich. Als Po-
lizisten 2014 in Rüsselsheim
gungsanstalt. als über die von Hunden.
durch Hunde zwei American Stafford-
Beim achtjährigen Mischlingsrüden Chi- Als die Stadt Hannover getötete Menschen shire Terrier erschossen, die
co, der im Tierheim Hannover in Langen- die Einschläferung Chicos von 2000 bis 2015 von zu Hause fortgelaufen
hagen betreut wird, sieht das anders aus. erwog, startete eine Tier- in Deutschland waren und Passanten angrif-
Der Staffordshire-Mix weckt Zuneigung schützerin die Onlinepetition Quelle: Statistisches fen, sorgte das unter Hunde-
Bundesamt
wie ein knopfäugiger Labradorwelpe. »Lasst Chico leben!«. Innerhalb freunden für Entrüstung. An ei-
»Viele Anfragen« seien bei ihm ein- weniger Tage sammelte sie mehr als ner Demo für die »Kampfschmu-
gegangen, berichtet Heiko Schwarzfeld, 280 000 Unterstützer – darunter Men- ser«, wie die Tiere in der Szene genannt
Geschäftsführer des Tierschutzvereins, der schen, die den Hund als »supersüß« und werden, nahmen Hunderte Menschen teil.
die Einrichtung betreibt. Unter anderen »arme Seele« bezeichnen. Die beiden Ge- Unter anderem wurde ein Pappschild mit
zeigte ein Elternpaar Interesse, das einen töteten hätten ihre »gerechte Strafe« be- der Aufschrift »Spielende Kinder erschießt
Spielgefährten für Tochter Miriam sucht. kommen, schrieb eine Frau. man nicht« hochgehalten.
Das Kind würde das Toben mit Chico Klar ist, dass der Mann und seine Mut- Der Druck der Straße zeigt anscheinend
womöglich nicht lange überleben. ter nicht dazu in der Lage waren, einen Wirkung. Die Stadtverwaltung Hannover
Der Staffordshire-Terrier-Mischling, den Hund wie Chico zu halten. Die Stadt prüft nun, ob Chico auf einem Gnadenhof
sich so viele als Mitbewohner wünschen, wusste seit 2011, dass das aggressive Tier weiterleben darf, und will ihn dafür erst
biss Anfang April sein krebskrankes Herr- sein Herrchen mutmaßlich überforderte, einmal medizinisch durchchecken lassen.
chen und dessen Mutter tot – eine schwer- und hätte es längst aus dem Haushalt ent- Der Hund hat eine Schwellung am Maul,
behinderte Frau, die im Rollstuhl saß. Wa- fernen lassen müssen. Hinweise darauf, deren Ursache mithilfe einer teuren Com-
rum er das tat, wird sich nie klären lassen. dass Chico vernachlässigt oder gar gequält putertomografie ermittelt werden soll.
Verhaltensforschern zufolge kann auch wurde, lagen indes keine vor. Seine Unter- Tierheimchef Schwarzfeld geht davon aus,
dass die Stadt bezahlt, doch die lehnt eine
Kostenübernahme derzeit ab.
Einen Maulkorb will man Chico bis
dahin nicht zumuten, der Hund soll nicht
unnötig gereizt werden, schon gar nicht
außerhalb des Tierheims. Stattdessen durf-
te der Killer ohne Maulkorb Gassi gehen,
im Beisein von Journalisten.
Eine derartige »Pietätlosigkeit« verletze
die Gefühle seiner trauernden Mandantin-
nen, teilt Andreas Hüttl, der Anwalt der
drei Töchter der Getöteten, mit. Gegen
eine Einschläferung hätten die Schwestern
»keine Einwände«. Hannovers Oberbür-
germeister Stefan Schostok hat inzwischen
in einem Brief kondoliert, darin aber kein
RAINER DRÖSE / LOCALPIC / IMAGO

Fehlverhalten der Stadt eingeräumt.


Hubert Gude, Guido Kleinhubbert

Animation
Wie gefährlich sind
Kampfhunde?
spiegel.de/sp162018kampfhunde
oder in der App DER SPIEGEL
Staffordshire-Mix Chico beim Gassigang: Druck der Straße

105
Wissenschaft

»Wir überlassen
den Maschinen die Kontrolle,
weil sie so großartig sind«
SPIEGEL-Gespräch Der US-Informatiker Pedro Domingos über den globalen Wettlauf
um die Führung bei der künstlichen Intelligenz, den Vormarsch
der Autokraten und die Gefahr moderner Technologie für die westlichen Demokratien

E
in stiller Flur im Informatik- ren könnte das Rennen entschieden sein. kann mit künstlicher Intelligenz, wie mit
zentrum an der Universität von Russland kommt gut voran, doch wahr- jeder Technologie, Gutes und Schlechtes
Washington in Seattle: Rechts sit- scheinlicher ist, dass China gewinnt. Wir tun. Bislang haben wir uns auf das Gute
zen junge Software-Ingenieure im könnten bald in einer Welt leben, die zwar konzentriert, und davon gibt es sehr viel.
Kunstlicht fensterloser Zimmer an ihren nicht buchstäblich von China kontrolliert Aber ebenso groß sind die Möglichkeiten,
Laptops, links öffnet der Informatik- wird, wohl aber faktisch, weil es die Cyber- diese Technologie zu missbrauchen.
professor Pedro Domingos die Tür zu sei- welt beherrscht. SPIEGEL: Ist es ein Zufall, dass sich gerade
nem Büro, das den Blick auf riesige Bäume SPIEGEL: Warum kommt das der Weltherr- zwei Autokraten wie Xi und Putin so für
auf dem Campus freigibt. schaft gleich? künstliche Intelligenz interessieren?
Domingos, 52, ist mit einem Buch be- Domingos: Künstliche Intelligenz senkt Domingos: Die Menschen in Amerika,
rühmt geworden, das Microsoft-Gründer die Kosten des Wissens, und zwar um Europa und Asien denken ganz unter-
Bill Gates und den früheren Google-Chef riesige Dimensionen. Ein effektives, auf schiedlich über diese Technologie. Im
Eric Schmidt begeistert hat: »The Master lernende Maschinen aufgebautes System Silicon Valley dominiert ein sehr optimis-
Algorithm«, ein Standardwerk über die kann Dinge leisten, die heute eine Million tisches, von libertären Ideen geprägtes
Technologie der künstlichen Intelligenz Menschen leisten, von der Wirtschaft bis Bild. Anders in Europa: Vor Kurzem
(KI). Das 2015 erschienene Erfolgsbuch be- zur Cyberspionage. Stellen Sie sich ein nahm ich an einer Konferenz in Berlin teil
schreibt, wie lernende Maschinen unseren Land vor, das tausendmal so viel Wissen und war wie erschlagen vom Pessimismus,
Alltag verändern, von den sozialen Netz- produziert wie alle anderen. Das ist die der dort herrschte. Auf jeder Sitzung hieß
werken über die Wissenschaft, die Wirt- Herausforderung, vor der wir stehen. es: Oh, da müssen wir uns aber fürchten.
schaft und die Politik bis zur modernen SPIEGEL: Auch Chinas Staatschef Xi Jin- Bis jemand die treffende Frage stellte:
Kriegsführung. ping interessiert sich für künstliche Intelli- Warum heißt diese Konferenz eigentlich
Vor Kurzem hat sich ein dritter Promi- genz. Haben Sie vor den Bildern von sei- »Humanity Disrupted« – also »zerrissene
nenter als Leser von Domingos’ Buch ge- ner Ansprache gewusst, dass Ihr Buch in Menschheit«? Warum nennen wir sie
outet – Chinas Staatschef Xi Jinping. Als seinem Regal steht? nicht »Humanity Enhanced« – also »er-
das Staatsfernsehen seine Neujahrsan- Domingos: Ich habe es nicht gewusst, weiterte, verbesserte Menschheit«? Ja,
sprache ausstrahlte, entdeckten Zuschauer Xi Jinping macht das offenbar immer so. künstliche Intelligenz stellt einen Kul-
neben Marx’ »Kapital« und den »Ausge- Die Bücher in seinem Regal vermitteln turbruch dar. Aber sie bringt uns auch
wählten Werken« von Mao Zedong auch eine Botschaft. Im Falle meines Buchs lau- weiter.
»The Master Algorithm« in Xis Bücher- tet sie: Wir glauben an die künstliche Intel- SPIEGEL: Und China, Russland?
regal. »Das Buch wird viel gelesen in Chi- ligenz. Ich war nicht wirklich überrascht, Domingos: Dort sehen die Regime leider
na«, sagt Domingos. »Wahrscheinlich sind als ich davon erfuhr. Peking sagt, dass nicht das libertäre, sondern das autoritäre
Xi und seine Leute deshalb darauf auf- China auf diesem Feld zur Weltmacht Potenzial. Xi und Putin sagen sich: Was
merksam geworden. Gut möglich, dass es aufsteigen will. können wir mit dieser Technik nicht alles
inzwischen noch populärer ist.« Auch ins SPIEGEL: Was überwog, als Sie Ihr Buch anfangen?
Russische, Japanische, Koreanische und dort sahen – das Gefühl der Bestätigung SPIEGEL: Überlassen wir Europäer den
in viele andere Sprachen ist das Buch über- oder der Beunruhigung? Autokraten dieses Feld?
setzt worden – ins Deutsche noch nicht. Domingos: Es war zugleich aufregend und Domingos: Es gibt viele Anwendungen,
unheimlich. Aufregend, weil sich China so auf lokaler und nationaler Ebene, von der
SPIEGEL: Herr Professor Domingos, Russ- schnell entwickelt und es unzählige Mög- Medizin bis zur Verkehrssteuerung, die in
lands Präsident Wladimir Putin sagt: Wer lichkeiten gibt, wie die Chinesen und der den USA und China längst genutzt wer-
in der Technologie der künstlichen Intelli- Rest der Welt von künstlicher Intelligenz den, viel weniger dagegen in Europa. Ja,
genz die Führung übernimmt, wird die profitieren können. Unheimlich, weil Chi- so gesehen bleibt Europa hinter seinen
Welt beherrschen. Stimmt das? na von einem autoritären Regime regiert Möglichkeiten zurück.
Domingos: Ich stimme ihm zu. Künstliche wird, das fest entschlossen ist, lernende SPIEGEL: Ihr Buch wurde unter anderem
Intelligenz ist eine sehr mächtige Techno- Algorithmen zur Kontrolle seiner Bevöl- ins Russische und Chinesische übersetzt,
logie, und der Rüstungswettlauf auf die- kerung zu nutzen. Und dabei stehen wir aber weder ins Deutsche noch ins Fran-
sem Feld hat längst begonnen. In 20 Jah- erst am Anfang dieser Entwicklung. Man zösische.

106 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


KIN CHEUNG / AP
Roboterkopf aus Hongkong: »Was können wir damit nicht alles anfangen?«

DANIEL BERMAN / DER SPIEGEL

Forscher Domingos: »Künstliche Intelligenz stellt einen Kulturbruch dar«

107
Wissenschaft

Domingos: Mein Agent hat mir von An- rent sein und keine falschen Informationen SPIEGEL: Warum?
fang an gesagt: »Du wirst dieses Buch auf verbreiten. Domingos: Nun, in der Krebsforschung
der ganzen Welt verkaufen, aber nicht in SPIEGEL: Was sollte man nicht regulieren? zum Beispiel halte ich es geradezu für die
Frankreich und Deutschland.« Genau so Domingos: Beispielsweise sollte man nicht ethische Pflicht der Patienten, ihre Daten
ist es gekommen. Mein Agent hatte recht, festlegen, dass Daten ausschließlich dafür zu teilen. Das werden sie aber nicht tun,
als er sagte: »Die Deutschen und Franzo- verwendet werden dürfen, wofür sie ge- wenn sie wie in China Zweifel daran haben
sen mögen diese Dinge nicht.« sammelt wurden. Das klingt zunächst plau- müssen, dass ihre Daten sicher sind. Die
SPIEGEL: Sie warnen selbst davor, dass die sibel – aber wenn die Menschheit diesem Qualität der Daten mag dort also geringer
Technologie in die falschen Hände geraten Prinzip früher gefolgt wäre, hätten wir heu- sein, auch wenn das Volumen größer ist.
könnte. Sind wir nicht zu Recht besorgt? te kein Penicillin und keine Röntgentech- SPIEGEL: Wird der Rüstungswettlauf um
Domingos: Diese Gefahr besteht, und was nik. Zufall, also das Entdecken neuer Din- die künstliche Intelligenz künftig eher zwi-
die Regulierung von künstlicher Intelli- ge in alten Daten, ist für wissenschaftlichen schen Staaten oder zwischen einzelnen
genz betrifft, ist Europa weiter als die USA. Fortschritt unerlässlich. Unternehmen ausgetragen?
Allerdings wird dort zu viel reguliert, ohne SPIEGEL: Haben Sie europäischen Politi- Domingos: Die Welt wird sich in dieser
die Technik zu verstehen. kern das erklärt? Hinsicht völlig verändern, die Grenzen
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Domingos: Ich habe mit vielen Politikern verschieben sich. Wenn ich mit Militärs
Domingos: Die europäische Datenschutz- gesprochen, allerdings weniger mit euro- spreche – ein großer Teil meiner For-
Grundverordnung, die Ende Mai wirksam päischen. Das ist paradox, denn Europa schung wird vom Pentagon finanziert –,
wird, legt zu großen Wert auf die soge- hat hervorragende KI-Experten – nicht so dann haben sie die Hoffnung lange auf-
nannte Erklärbarkeit, also die Frage, wa- viele wie die USA, doch die Qualität ihrer gegeben, dass der Gegner vor der Tür ge-
rum ein Algorithmus so und nicht anders Forschung ist derzeit noch besser als die halten werden kann. In die Cyberwelt ist
entscheidet. Nehmen wir die Krebsfor- ihrer chinesischen Kollegen. Aber China der Gegner längst eingedrungen, sosehr
schung, wo maschinelles Lernen heute holt auf … wir auch versuchen, alle Ritzen abzudich-
schon eine große Rolle spielt. ten. Deshalb geben sich die
Ist es mir lieber, meine Diagno- Chinesen auch solche Mühe,
se basiert auf einem Algorith- einen Überwachungsstaat auf-
mus, der zu 90 Prozent akku- zubauen.
rat, aber im Detail nicht erklär- SPIEGEL: Was hat das mit den
bar ist – oder auf einem, der Internetfirmen zu tun?
nur zu 80 Prozent genau ist, Domingos: Dort ist der Wett-
den ich aber verstehe? Ich wür- lauf am weitesten vorange-
de mich für das genauere Sys- schritten. Bislang agieren die
tem entscheiden. großen KI-Unternehmen weit-
SPIEGEL: Kann man nicht bei- gehend im Stillen, schon aus
des haben, Genauigkeit und Gründen des Wettbewerbs.
Verständlichkeit? Noch arbeiten die größten
Domingos: Die besten lernen- Firmen unabhängig und ganz
den Algorithmen sind neurona- für sich – fünf oder sechs der
len Netzwerken nachgebildet, zehn führenden in den USA,
die von Nervensystemen inspi- zwei oder drei in China. Über
riert sind, wie sie in Tieren und kurz oder lang aber werden
Menschen vorkommen. Diese diese Firmen und die Staaten
Algorithmen sind hochgradig Staatschef Xi bei Neujahrsansprache: »China ist im Vorteil« immer enger zusammenarbei-
akkurat, weil sie auf der Basis ten. Auch da ist China im Vor-
riesiger Datenmengen einen teil, denn die Regierung und
Ausschnitt der Welt besser verstehen als wir. SPIEGEL: … und wird mit seinem autori- die Unternehmen helfen einander dort
Aber sie sind völlig undurchsichtig. Selbst tären Modell am Ende an uns vorbei- hemmungslos – was in den USA so nicht
wir Experten verstehen nicht, wie sie genau ziehen? der Fall ist.
funktionieren. Wir wissen nur, dass sie funk- Domingos: Der frühere Google-Chef Eric SPIEGEL: Welches sind die führenden Fir-
tionieren. Wir sollten deshalb keine Regeln Schmidt sagt voraus, dass China 2025 vorn men?
aufstellen, die nur vollständig erklärbare liegen wird, weil es eine konzertierte Stra- Domingos: Nummer eins ist Google mit
Algorithmen erlauben. Es ist schwierig, die tegie verfolgt. Das ist gut möglich. Ameri- seiner riesigen Zahl von Experten und Ab-
Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen kas Vorteil sind die Grundlagenforschung teilungen, die sich ausschließlich künst-
und die Dinge dabei einfach zu halten. und das sprudelnde Wagniskapital, wel- licher Intelligenz und maschinellem Ler-
SPIEGEL: Wie sollte man künstliche Intel- ches das Wissen von den Universitäten in nen widmen, wie DeepMind und Google
ligenz dann regulieren? die Wirtschaft überträgt. Chinas Vorteil Brain. Auf Platz zwei folgt Microsoft, da-
Domingos: Kein Gesetz wird je detailliert sind die großen Datenmengen, aus denen hinter Facebook und Amazon – in dessen
genug sein, um mit der Komplexität mo- lernende Algorithmen schöpfen können. Logistikzentren Hunderttausende Men-
derner Algorithmen mithalten zu können. Europas Vorteil ist seine Vielfalt. Wenn schen arbeiten, die das Unternehmen
Was man regulieren kann, sind die objek- ich zwischen den Datenpools Europas und wahrscheinlich lieber heute als morgen
tiven Funktionen eines Algorithmus, also Chinas wählen müsste, würde ich mich für durch Roboter ersetzen würde.
etwa das Ziel von Facebook, seine Nutzer Europa entscheiden, denn chinesische Da- SPIEGEL: Und in China?
so lange wie möglich auf der Seite zu hal- ten sind sehr homogen und deshalb auf Domingos: Dort sind der Onlinehändler
ten. Da kann die Aufsichtsbehörde sagen: vielen Feldern redundant. Außerdem ist Alibaba und der Internetriese Tencent die
Okay, ihr wollt Geld verdienen, aber dabei China sehr nachlässig beim Schutz der Pri- Besten – vor allem aber die Suchmaschine
müsst ihr gewisse gesellschaftlich relevante vatsphäre – was zugleich ein Nach- und Baidu, die massiv auf künstliche Intelli-
Regeln einhalten, zum Beispiel transpa- ein Vorteil ist. genz setzt.

108 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


SPIEGEL: Autoritäre Regime, Militärs, SPIEGEL: Und die Gefahr? aber absolut korrupt. In einer offenen Ge-
Spionage und nun, vor wenigen Wochen, Domingos: Die besteht darin, dass soziale sellschaft kann ich als Oberbefehlshaber
der Datenskandal bei Facebook – wie Netzwerke zur Manipulation missbraucht einer Armee meinen Soldaten Befehle er-
kommt es, dass Sie künstliche Intelligenz werden. Wobei wir die Dinge nicht über- teilen, aber in den meisten westlichen Staa-
trotzdem positiv sehen? treiben dürfen. Bislang sind die sozialen ten haben die das Recht, einen schlechten
Domingos: Sehen Sie sich an, wie sehr mo- Netzwerke vor allem daran interessiert, Befehl zu verweigern. Ein Computer tut,
derne Technologie die Welt in den vergan- Werbung zu platzieren. Für Facebook be- was ich ihm sage.
genen 200 Jahren verändert hat. Ja, furcht- trägt der Wert eines Nutzers ungefähr SPIEGEL: Überschätzen wir heute womög-
bare Dinge sind passiert – aber das Ge- 50 Dollar, obwohl er im Jahr vielleicht lich den technischen Fortschritt der künst-
samtergebnis ist überwältigend positiv. Es 50 000 Dollar ausgibt. Mehr hat all dieses lichen Intelligenz? Wo sie uns im Alltag
gibt gute Gründe, zugleich optimistisch maschinelle Lernen bislang nicht erreicht. begegnet, in der Gesichts- und Stimmen-
und pessimistisch zu sein, ja für beides wer- Die Vorstellung, dass man mit künstlicher erkennung, enttäuscht sie uns meistens.
den die Gründe immer triftiger. Ich bleibe Intelligenz Wahlen entscheiden kann, hal- Domingos: Technologie entwickelt sich
vorsichtig optimistisch. te ich derzeit noch für übertrieben. Aber kurzfristig immer langsamer, langfristig
SPIEGEL: Ist der Facebook-Skandal nicht die Technologie schreitet voran. aber viel schneller, als wir erwarten. Die
genau der »große Knall« in der digitalen SPIEGEL: Was ist am Ende gefährlicher an künstliche Intelligenz ist dafür ein Parade-
Welt, vor dem Sie bereits in Ihrem Buch der künstlichen Intelligenz – Datenlecks beispiel. Die KI-Systeme, mit denen wir
gewarnt haben? wie bei Facebook oder der Orwell-Staat, heute im Alltag zu tun haben, sind un-
Domingos: Facebook ging immer schon wie ihn Autokraten bauen wollen? glaublich dumm. Es ist keine Intelligenz
besonders sorglos mit Daten um, setzte Domingos: Wenn autoritäre Staaten bes- in Sprachassistenten wie Alexa oder Siri.
viel aufs Spiel – und korrigierte sich erst sere Algorithmen schreiben als wir in den SPIEGEL: Warum? Ist es wirklich so
dann, wenn es zu weit gegangen war. Es Demokratien, dann haben wir ein Pro- schwer, aus Dutzenden Anfragen ein paar
ist kein Zufall, dass Facebook weniger Ver- blem. Man könnte frei nach Trotzki sagen: einfache Dinge über uns zu lernen?
trauen genießt als die anderen großen Vielleicht interessierst du dich nicht für Domingos: Es ist extrem schwierig. Wir
Internetfirmen, und diese Abrechnung künstliche Intelligenz, aber die künstliche Menschen sind intelligent, deshalb halten
jetzt war abzusehen. Andererseits ist Face- wir Intelligenz für etwas Einfaches. Uns
book heute nicht mehr das, was es vor ein ist nicht bewusst, dass wir die gesamte Ge-
paar Jahren war. Ein Datenabfluss wie an »Wir Menschen fürchten schichte der Evolution in uns tragen. Aber
die Beratungsfirma Cambridge Analytica uns vor dem Aufstand der die technische Entwicklung beschleunigt
würde heute so nicht mehr passieren. sich. Wir haben in den vergangenen 50
SPIEGEL: Wie würden Sie Facebook regu- Maschinen, aber Maschi- Jahren 1000 Meilen zurückgelegt und Er-
lieren? nen haben keinen Willen.« staunliches erreicht. Aber wir haben noch
Domingos: Facebook macht viele fragwür- eine Million Meilen vor uns, und dafür
dige Dinge. Seine Algorithmen zielen da- werden wir nicht mehr so lange brauchen.
rauf ab, die Nutzer möglichst lange an sich Intelligenz interessiert sich für dich. So wie SPIEGEL: »Hinreichend fortschrittliche
zu binden. Das macht auch jede gute Fern- Amerika an Anwälte glaubt, glaubt China künstliche Intelligenz«, schreiben Sie in
sehshow, jeder Roman, jedes Sportereig- an Ingenieure. Einige von Chinas Führern Ihrem Buch, »ist von Gott nicht unter-
nis. Aber Facebook nutzt eben künstliche sind Ingenieure. Für sie ist die Gestaltung scheidbar.« Bitte erklären Sie diesen Satz.
Intelligenz, um die Aufmerksamkeit der einer Gesellschaft ein technisches Problem: Domingos: Das ist die Abwandlung eines
Nutzer zu seinen Gunsten zu maximieren, Wir programmieren eine Maschine so, Gedankens des Science-Fiction-Autors Ar-
und das richtet Schaden an: Menschen dass sie sich so verhält, wie wir das wollen. thur C. Clarke: »Hinreichend fortschritt-
sitzen Fake News auf, sie werden falsch Für solche Politiker ist künstliche Intelli- liche Technologie ist von Magie nicht zu
informiert und polarisiert. Das sind ernste genz sehr verführerisch. unterscheiden.« Was ich damit sagen will:
Probleme. Und das ist der Grund, warum SPIEGEL: Auch die Führer der Sowjet- Wir Menschen fürchten uns vor einem Auf-
die Politik einschreiten und Grenzen set- union hätten gern die Welt beherrscht. stand der Maschinen. Der wird nicht ge-
zen muss. Domingos: Ja, und sie sind der Demo- schehen, Maschinen haben keinen Willen.
SPIEGEL: Können soziale Netzwerke für kratie und dem Kapitalismus unterlegen. Sehr wohl aber ist es möglich, dass wir frei-
eine Demokratie gefährlich werden? Aber stellen Sie sich vor, was sie mit den willig den Maschinen die Kontrolle über-
Domingos: Sie sind zugleich eine Gefahr Algorithmen unserer Zeit hätten anrichten lassen, einfach, weil sie so großartig sind
und eine Chance. Genau genommen steckt können. Computer sind die ultimativen und mehr Daten verarbeiten können als
die Demokratie heute noch im 19. Jahr- Bürokraten. Sie können jedermann zu je- wir. Ist ein Smartphone nicht wie Magie?
hundert fest. Die Kommunikation mit un- der Zeit kontrollieren, sie sind absolut un- SPIEGEL: Es kommt also am Ende darauf
seren Volksvertretern beschränkt sich auf bestechlich – in der Hand eines Korrupten an, wer die Maschinen steuert?
ein paar Bit pro Jahr – lächerlich. Eine Domingos: So ist es. Die Geschichte lehrt,
Möglichkeit, diesen Missstand zu beheben, dass wir verführbar sind und deshalb nur
wäre ein digitales Modell, das die Bürger allzu bereit, künstlicher Intelligenz Ent-
besser in die Entscheidungen ihrer Regie- scheidungen zu überlassen, die wir selbst
rungen einbindet – zum Beispiel, indem treffen sollten. Aber in Wahrheit ist es
DANIEL BERMAN / DER SPIEGEL

man ein digitales Modell des einzelnen nicht die künstliche Intelligenz, die Ent-
Bürgers und seiner politischen Prioritäten scheidungen trifft. Es sind die Leute, die
erstellt, das der Volksvertreter dann zurate die künstliche Intelligenz kontrollieren.
zieht. Das ist mit den Mitteln des maschi- Wer steuert künftig die Algorithmen? Sind
nellen Lernens sehr gut möglich und wird wir das – oder ist es Xi Jinping? Das ist
bereits erprobt. Hier liegt eine Chance. die Frage.
SPIEGEL: Herr Professor Domingos, wir
* Mit den Redakteuren Christoph Scheuermann und Domingos beim SPIEGEL-Gespräch* danken Ihnen für dieses Gespräch.
Bernhard Zand in Seattle. »Die Deutschen mögen diese Dinge nicht«

109
Kultur
Žižeks »Disparitäten« sind die unverhohlene, kichernde Freude am Verwesungsgeruch. ‣ S. 123

UNIVERSAL PICTURES
Ronan, Gerwig bei den Dreharbeiten zu »Lady Bird«

Kino

Verloren in Sacramento
 Selbst auf offener Straße hat sie das Gefühl, gegen Wände zu Greta Gerwig, 34, aus den Problemen der Pubertät eine scharf-
laufen, und den ständig blauen Himmel würde sie gern gegen züngige Komödie und inszeniert die Rebellion ihrer Heldin als
einen New Yorker Wintersturm tauschen. Es ist das Jahr 2002, amüsanten Befreiungskampf. Mit einem zugleich nüchternen
und die 17-jährige Christine will nur noch weg aus ihrer kali- und liebevollen Blick betrachtet sie das Leben in der amerikani-
fornischen Heimatstadt Sacramento. Spielfilme über Teenager- schen Provinz. Erlebnisse und Anekdoten aus ihrer eigenen
tristesse sind für Erwachsene oft nicht leicht zu ertragen. Der Jugend hat die selbst aus Sacramento stammende Gerwig in dem
Blick in stets missgelaunte Weltschmerzgesichter kann aggressiv Film verarbeitet – und in Saoirse Ronan eine Hauptdarstellerin
machen. In ihrem Soloregiedebüt »Lady Bird«, das in diesem gefunden, die ihre pointierten Dialogsätze so glaubwürdig wie
Jahr für fünf Oscars nominiert war, entwickelt die Schauspielerin cool zur Wirkung bringt (Kinostart: 19. April). LOB

Theater Antworten im Theater. Ich will die Zu- SPIEGEL: Spekulieren Sie darauf, dass die
schauer herausfordern, sich zu positionie- Staatsanwaltschaft einschreitet? Der PR-
»Radikale Antworten« ren. Es ist nicht nur ihre Aufgabe, im Effekt wäre enorm.
Der Kabarettist und Regisseur Serdar Foyer zu stehen und Sekt zu trinken. Es Somuncu: Unsinn. Wer verfassungsfeind-
Somuncu, 49, inszeniert am Theater Kon- ist ihre Aufgabe, sich Gedanken zu liche Symbole im Theater nutzen will,
stanz die Farce »Mein Kampf« von machen. muss rechtliche Grenzen wahren. Und das
George Tabori. Die Premiere hat er für SPIEGEL: Rechnen Sie ernsthaft damit, tun wir. Mit der Hakenkreuzidee durch-
den 20. April, Hitlers Geburtstag, an- dass jemand in einem bürgerlichen Stadt- brechen wir die vierte Wand zwischen
gesetzt – nicht seine einzige Provokation. theater das Hakenkreuz wählt? Bühne und Saal. Wir machen das Publi-
Somuncu: Ich hatte gehofft, dass jeder kum zu einem Teil der Inszenierung.
SPIEGEL: Herr Somuncu, wer eine regulä- regulär zahlt und sich einen Davidstern an- SPIEGEL: Die Premiere ist an Hitlers Ge-
re Karte für Ihre Inszenierung kauft, muss heftet, als Geste der Solidarität. Leider burtstag. Wen wollen Sie provozieren?
sich im Saal einen Davidstern anheften. haben wir schon 35 Bestellungen für Gra- Somuncu : Ich sehe das als Statement ge-
Wer ein Hakenkreuz trägt, kommt gratis tiskarten. Entweder die Leute sind wirk- gen Rechtsextreme, die das Datum für
rein. Ist das nicht geschmacklos? lich rechts. Oder sie werfen aus Geiz ihre ihre Zwecke missbrauchen, gegen obskure
Somuncu: Auf radikale Entwicklungen Gesinnung über den Haufen. Das ist er- Feiern von Neonazis. Die sind geschmack-
in der Politik brauchen wir radikale schreckend. los, nicht wir. TOB

110 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Literatur Seine im KZ perfektionierte radikale Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Wiener Blutgier Herzlosigkeit und Blutrunst bescheren

 Der österreichische Schriftsteller


Krutzler im Österreich der Fünfzigerjah-
re eine sensationelle Kriminellenkarrie-
Memphis revisited
David Schalko, in seinem Hauptberuf als re, die auch einigen Naziverbrechern Fast auf den Tag genau ist es
Fernsehregisseur für tolle Produktionen den Tod beschert. Autor Schalko, 45, 50 Jahre her, dass Martin
wie »Aufschneider« und »Altes Geld« hat emsig recherchiert für sein hei- Luther King in dieser Stadt
bekannt, hat einen Historienroman über ter-zynisches Porträt einer Nach- getötet wurde; ich sitze in der
ein paar sagenhaft ruchlose Mordbuben kriegsnation aus sehr kaputten Men- Kirche, wo zu seinen Ehren
und Totschläger geschrieben. Er heißt schen. Er huldigt deutlich Erfolgs- ein Gottesdienst gehalten wird.
»Schwere Knochen« und gibt in einer schriftsteller-Vorbildern wie Jonathan Sie ist nicht voll. Eine Absolven-
eigenwilligen, konsequent durchgehalte- Littell und Wolf Haas. Aber man sollte tin der Juilliard School aus New York
nen Spreiz-Sprache Einblick in die seeli- sich von den zur Schau gestellten litera- singt einen Gospel, ein kleines Ballett von
sche Verrohung des Erzschurken Ferdi- rischen Ambitionen nicht täuschen Schulmädchen hält Schilder hoch, wie
nand Krutzler. Krutzler, zum Junggano- lassen: Der Witz dieses hundsgemeinen sie damals gezeigt wurden, »I am a man«,
ven angelernt in den Dreißigerjahren Buches besteht gerade darin, dass es ich bin ein Mensch. Fast alle hier sind
im Wiener Stadtteil Erdberg, wird mit Menschenverachtung, Sex and Crime afroamerikanisch, auch auf der Kanzel,
einigen Kumpanen ins Konzentrations- auf schamlos direkte Weise präsentiert – wo Jesse Jackson, der ewige zweite Mann
lager Dachau und später nach Maut- als perfekten Schundroman. HÖB der Bürgerrechtsbewegung, zwischen
hausen verfrachtet. Als Kapos halten sie David Schalko: »Schwere Knochen«. Kiepenheuer vielen bejahrten Menschen auf seinen Auf-
die Mordmaschine der Nazis in Gang. & Witsch; 576 Seiten; 24 Euro. tritt wartet. Als er dann spricht, leise und
antipathetisch, erinnert er an die Kämpfe
in dieser Stadt, um Löhne, von denen
man leben kann, um eine Rente für die
Filmpreise Dem SPIEGEL sagt Buchloh nun, Müllmänner, die damals streikten und
Neben der Wahrheit er habe sich gegenüber dem Regisseur Dr. King um Beistand ersuchten. Und der
sachlich, zum Teil selbstkritisch geäußert, kam und wurde erschossen.
 Ende April wird der Deutsche Film- die Aussagen Veiels dazu aber seien Zum großen Jahrestag am 4. April,
preis verliehen, zu den nominierten »falsch« und »beschämend«. Der Film drei Tage nach diesem Gottesdienst, sucht
Dokumentarfilmen gehört »Beuys« von selbst katapultiere »zur rechten Zeit eine man nach Freiwilligen, die die Straßen
Andres Veiel. Es ist eine reine Hommage Kunstfigur des nationalstaatlichen säubern. Es steht nicht gut um Memphis,
an Joseph Beuys, seine abgründigen Sei- Stolzes wieder in eine nebulöse Größe«. das kann sehen, wer am Abend in der
ten werden ignoriert: die Kontakte zu Eine »absolute Geschichtsklitterung«. legendären Beale Street Musik hören will
Altnazis, seine Kandidatur für eine mehr Ohne die Tendenz zur Verherrlichung und sich zwischen Süchtigen, Obdach-
als nationalistische Partei, seine »Born«- des 1986 verstorbenen Künstlers wäre losen, getunten Cadillacs und Fast-Food-
und »Boden«-Rhetorik, seine gar nicht der Film wohl nur schwer realisierbar Stationen verirrt. Die Virtuosen sind
so harmlose Nähe zur Esoterik. gewesen. Die Familie Beuys verweigert immer noch virtuos, aber sie können
Der SPIEGEL benannte die Aus- offenbar die Freigabe von Werkabbil- sich keinen Zahnarzt leisten und manche
lassungen, Regisseur Veiel rechtfertigte dungen, wenn Ungenehmes zu erwarten auch keine Wohnung. Verglichen mit
ist. Etliche Buchautoren Nashville, wo weiße Bürgerkinder ihr
mussten jedenfalls auf Fotos Singer-Songwriter-Glück suchen, ist hier
von Beuys’ Kunst verzichten, der dritte Kreis der Hölle, und er ist
einer von ihnen ist Hans schwarz. Es hat sich nichts geändert.
Peter Riegel. Die Witwe Eva Noch immer sind die Löhne hier die nie-
Beuys untersagte ihm den drigsten im Süden, noch immer ist hier
Abdruck der Bilder und den gewerkschaftsfreies Gelände. In diesen
Einblick in ihr Archiv gleich Ostertagen wurde der 17-jährige Dorian
UTE KLOPHAUS / ZEROONEFILM

mit. 2013 veröffentlichte er Harris in Memphis tot aufgefunden, er


dennoch eine Biografie über hatte eine Dose Bier gestohlen, der Laden-
den Künstler, und Ende besitzer hatte auf ihn geschossen.
April erscheint eine erweiter- Die »Black Lives Matter«-Bewegung
te Fassung: Riegel konnte aber kam in der Kirche nicht vor, wie
in staatlichen Institutionen überhaupt die Zeremonie etwas seltsam
Dokumente sichten, die lan- Abgeschiedenes, Erstarrtes hatte. Auch in
Szene aus Veiel-Film »Beuys« ge gesperrt waren. Darunter diesen Zeiten, deren Fluidität so gern
ein Brief Eva Beuys’ an beschworen wird, hat das Elend einen Ort;
sich in verschiedenen Medien, verwies den damaligen Ministerpräsidenten von da hockt es, unentrinnbar, eine kleine,
mehrfach auf den berühmten deut- Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, böse Totale. Das National Civil Rights
schen, in Harvard lehrenden Kunsthis- aufgesetzt 1993. Erbschaftsteuern waren Museum in Memphis, unlängst renoviert,
toriker Benjamin Buchloh: Selbst der zu bezahlen, andere steuerliche Angele- zeigt die alten Filme einer mächtigen,
habe seine Kritik an Beuys’ Umgang genheiten zu klären, sie hoffte auf sein friedlichen Bewegung, erinnert an die gro-
mit der Vergangenheit zurückgezogen. »persönliches Engagement« – und be- ßen Märsche im Süden. Draußen stehen
Buchloh wurde zum Gütesiegel dafür, tonte, das von ihr betreute Archiv stehe Aktivisten und werben dafür, sich zur
dass alle Einwände überholt seien – einer breiten Öffentlichkeit zur Ver- nächsten Wahl registrieren zu lassen. Auch
obwohl Veiel das aufgezeichnete fügung. Aus dieser Bereitschaft wurde, das ist noch immer schwer.
Gespräch mit ihm dann gar nicht im so Riegel, das Bemühen, kritische An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Film vorkommen ließ. Stimmen zu unterdrücken. UK Nils Minkmar im Wechsel.

111
Kultur

Kampf um die Ehre


Skandale Der Nobelpreis für Literatur ist eine der wichtigsten Auszeichnungen der
Welt. Doch die Schwedische Akademie, die ihn verleiht, steckt tief in
den Folgen einer komplexen Affäre um Machtmissbrauch. Von Georg Diez

D
as Gebäude, in dem einmal die sechs Mitglieder weigerte sich. Daraufhin sagte Östergren nach seinem Rücktritt.
Börse von Stockholm war, ist ein zogen der Historiker und Schriftsteller Peter Sie versuche, sich durch obskure Manö-
zweigeschossiger altrosa Klotz in Englund, der viel gelesene Klas Östergren ver aus der Affäre zu ziehen und verletze
der Mitte der Altstadt. Jeden Don- und Akademieveteran Kjell Espmark, seit dabei nicht nur die Statuten, sondern
nerstag um 17 Uhr treffen sich hier die Mit- 1981 Mitglied, die Konsequenz. vor allem ihre Mission, Genie und Ge-
glieder der Schwedischen Akademie zur »Die Schwedische Akademie hat schon schmack zu fördern, sagte er weiter und
ihrer Sitzung, anderthalb Stunden lang seit einiger Zeit ernsthafte Probleme«, schloss mit einem Zitat von Leonard
beraten und diskutieren sie, über den Lite-
raturnobelpreis und viele andere Preise und
Stipendien, danach gehen sie gemeinsam
essen. Donnerstags gibt es in Schweden
meistens Erbsensuppe und Pfannkuchen.
Heute aber ist alles anders. Heute
herrscht Ausnahmezustand in der Altstadt,
und die Journalisten, die am Seiteneingang
warten, brauchen Sensationen. Die Mitglie-
der der Akademie kommen einzeln und
bahnen sich ihren Weg an den Journalisten
vorbei. Es solle über das Schicksal der Stän-
digen Sekretärin der Akademie abgestimmt
werden, heißt es. Die vielleicht bekannteste
kulturelle Institution der Welt wankt. Am
Abend wird bekannt, dass die Ständige Se-
kretärin, Sara Danius, von allen Ämtern
zurücktritt. Auch die Frau, die in vielem
ihre Kontrahentin war, Katarina Frosten-
son, verlässt die Akademie.
Was ist passiert? Drei Mitglieder haben
am Freitag vor einer Woche ihren Rückzug
bekannt gegeben, wobei die Mitglieder
eigentlich auf Lebenszeit ernannt und
Rücktritte nicht vorgesehen sind. Es geht
um Vorwürfe von sexuellem und finanziel-
lem Fehlverhalten gegen den Ehemann von
Frostenson, der unter anderem Töchter
und Frauen von Mitgliedern der Akademie
jahrelang belästigt haben soll. Es ist ein Be-
ben, das eine zentrale Institution des
schwedischen Kulturlebens erschüttert und
die Welt der Literatur überhaupt. Im
schwedischen Königreich sind die Mitglie-
der der Akademie so etwas wie Aristokra-
ten, sie stehen in symbolischer Hinsicht so-
gar über dem König, so wollte es 1786 der
Gründer der Akademie, König Gustaf III.
Recht ruhig und geordnet und auch ge-
heimnisumwittert ging es deshalb meistens
zu, in den vergangenen 232 Jahren. Aber
heute ist nichts ruhig.
HENRIK MONTGOMERY / AFP

Anlass für den Streit waren interne Er-


mittlungen unter anderem wegen zweifel-
hafter Geldzahlungen. Es gab den Antrag,
Katarina Frostenson, 65, auszuschließen,
die Frau des beschuldigten Jean-Claude Ar-
nault, 71. Eine Mehrheit von acht gegen

112 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Cohen: »I’m leaving the table, I’m out of erlebt habe, schlimmer als alles, was in der eine eigene Realität erschafft. Es ist ein
the game.« Politik passiert«. kulturelles Schauspiel auf mehr als eine
Die Akademie ist damit formal hand- Der Streit, der schon eine Zeit lang Weise, ein Kampf der Worte und der Wel-
lungsunfähig. Laut Statuten müssen min- schwelte, ist also eskaliert, er hat die stillen ten, der hier stattfindet, es ist eine alte Zeit,
destens zwölf Mitglieder aktiv sein. Nach Zimmer lange verlassen und findet nun die gegen eine neue steht, es geht um so
dem Rücktritt von Danius und Frostenson auf der Weltbühne statt. Es geht nicht um etwas wie die Erhabenheit der Literatur,
sind es nur noch elf, zwei weibliche Mit- Gut gegen Böse, es geht nicht um Modern was schon immer eine Illusion war, und
glieder lassen ihre Mitgliedschaft schon gegen Traditionell, meint Weyler. Es geht dennoch, der Nobelpreis hatte eine Aura
länger ruhen. allein um Macht. »Es wäre komisch«, sagt von göttlicher Notwendigkeit, nach der
Einen »totalen Zusammenbruch« nennt er, »wenn es nicht so tragisch wäre.« die gebildete Öffentlichkeit sich so sehr
das, was gerade passiert, der Kultur- Wenn es ein Roman wäre, und so wirkt sehnt, dass jeden Oktober begierig darauf
journalist Björn Wiman von »Dagens es manchmal, dann mischten sich hier Ele- gewartet wird, bis weißer Rauch über Stoc-
Nyheter«, eine »Krise der öffentlichen mente des 18. Jahrhunderts mit denen des kholm aufsteigt.
Sphäre«. Lisa Irenius, Leiterin des Kultur- 21. Jahrhunderts, die Form des Brief- Oder, wie es Katarina Frostenson sagen
teils des »Svenska Dagbladet« spricht romans, in dem Depeschen hin und her würde, die Frau, um die sich der Streit we-
vom Hass unter den Mitgliedern der Aka- gehen und von Intrigen, Sex, Ambition, nigstens teilweise dreht: »Sei in etwas, im
demie. Und der Verleger Svante Weyler Ruhm und Rache die Rede ist, mit einer Gelenk des Kiefers, in der Wange / wo es
sagt, dass diese Debatte »die schlimmste, Öffentlichkeit, in der alles zum Material sticht. Schneegestöber früh, alles wirbelt
schmutzigste und niedrigste ist, die ich je und jeder zum Autor wird und ein Tweet durcheinander / in den Sinnen.«
Frostenson, schreibt Gedichte, Theater-
stücke, Libretti, auf Deutsch erschienen
ihre Lyrikbände »Die in den Landschaften
verschwunden sind« (1999) und »Sprache
und Regen« (2016). Die Schärfe des Streits,
die Beleidigungen, der Hass, all das erklärt
sich eigentlich nur aus der Anspannung,
die im Zuge der #MeToo-Debatte entstan-
den ist.
Die ganze Affäre begann damit, dass im
November 2017 bekannt wurde, dass der
Ehemann von Frostenson, der Fotograf
und Impresario Jean-Claude Arnault, jah-
relang Frauen sexuell belästigt oder miss-
braucht haben soll, zum Teil in Wohnun-
gen, die die Akademie finanzierte.
Es waren damals 18 Frauen, die in der
Zeitung »Dagens Nyheter« berichteten,
wie Arnault seine zentrale Position im
schwedischen Kulturleben ausgenutzt
haben soll. Er betrieb das Forum, ein Kul-
turzentrum, eine Art »Wohnzimmer«, so
nannten es Mitglieder der Schwedischen
Akademie, finanziert weitgehend durch
öffentliche Mittel. Sein Verhalten war das
eines Donald Trump oder Harvey Wein-
stein oder, so scheint es, vieler Männer
mit Macht.
»Er griff mir einfach zwischen die Bei-
ne«, so berichtete die Schriftstellerin Ga-
briella Håkansson von einem Übergriff Ar-
naults im Jahr 2007 auf einer Party, ihr da-
maliger Freund, der Autor Thomas Eng-
ström stand in der Nähe und wurde Zeuge.
»Ein Pussygriff. Es war, als ob er nach
etwas graben würde. Der Angriff kam aus
dem Nichts, wir hatten nicht geflirtet, es
hatte keine Berührung gegeben. Da war
einfach seine Hand in meinem Schritt.«
Håkansson gab Arnault eine Ohrfeige,
der verließ den Raum, und alle, die den
Vorfall beobachtet hatten, schüttelten den
Kopf und sagten, dass Arnault nicht ganz

Festakt der Schwedischen Akademie


in Stockholm 2011
Jeder Sitz trägt eine Nummer

113
bei Verstand sei. Dabei hatte es System: Ar- wie allgemein bekannt, ein enger und alter
nault, so schilderten es die Frauen, benutzte Nun mischt sich auch Freund Jean-Claude Arnaults, gegen den,
seine Macht, um Frauen sexuell zu bedrän- der König ein. Manche das wurde diese Woche bekannt, die Justiz
gen, er zwang sie zum Oralsex, er bezeich- erst einmal nicht wegen Finanzvergehen
nete sie als »Krebsgeschwür«, das ausge- halten das für den ermitteln wird.
merzt werden müsse, nachdem sie ihre größten Witz überhaupt. Er sei »bestürzt über die Rauheit der
sexuelle Beziehung mit ihm beendet hatten. Schlacht«, so drückte Engdahl sich aus
Keine der Frauen ging damals zur Poli- und beschimpfte dann ein Mitglied der
zei, aus den verschiedensten Gründen, die würfe von mehr als 40 Frauen berichtet, Jury dafür, dass sie immer noch stolz ihre
Opfer von sexueller Gewalt so oft davon die ihm einen autoritären und manchmal Moral vor sich her trage – gemeint war
abhalten, sich zu Wort zu melden. Es war diktatorischen Führungsstil vorwarfen. der bisherige Tiefpunkt der Akademie,
die typische Situation von Wissen und Aber der Streit um die Schwedische als Mitglieder ebenfalls ihren Rückzug er-
Nicht-wissen-Wollen. Seit 1997 wurde min- Akademie hat deshalb so eine andere Di- klärt hatten, 1989, als sich die Akademie
destens ein Mitglied der Akademie von mension, weil es um noch mehr geht als weigerte, Salman Rushdie gegen die Fat-
einem Vorfall unterrichtet, Sture Allén, um Sex und Geld. Es geht um die Kriterien wa der Iraner explizit in Schutz zu neh-
der in einer anderen Abstimmung gegen und das Verhalten jener Menschen, die in men. Wie damals hätten sich auch die
den Ausschluss von Frostenson gestimmt vielem, ob man das will oder nicht, der Renegaten von heute »in die Arme der
hatte. Goldstandard der Literatur sind. Es geht Medien« gestürzt, ihre Schweigepflicht
Gegenüber der schwedischen Presse um Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Selbst- gebrochen und damit mehr Schaden an-
spricht Arnault von Hexenjagd und gerechtigkeit, Einsicht und Offenheit, es gerichtet als »die eine oder andere Nobel-
Dummheiten. Es war eben ein »old boys geht um ethische und moralische Kriterien, preisentscheidung, die ein paar Tage zu
network«, so nennt es Björn Wiman, alte die sie selbst bei ihrer Auswahl so oft mit früh bekannt wird«, wie er recht lässig
Freunde, die sich nicht gegenseitig verra- ins Spiel bringen. anfügte.
ten. »Alle sagten damals, als die Sache mit »Es geht um Ehre«, sagt Lisa Irenius, Seine Nachfolgerin, Sara Danius, be-
den 18 Frauen bekannt wurde, es hätten »das ist die Grundlage dieser Akademie, zeichnete er als die schlechteste Ständige
doch alle gewusst«, sagt Wiman. Der die ja eine Art aristokratische Institution Sekretärin in der mehr als 200-jährigen
Schock, wie es die Regel ist bei den #Me- ist.« Mit anderen Worten: Die Reputation Geschichte der Akademie – der zurückge-
Too-Enthüllungen, war gleichzeitig gewal- des Nobelpreises ist grundsätzlich be- tretene Kjell Espmark reagierte darauf, in-
tig und von Zweifeln getragen. Die Wucht droht. dem er sagte: »Das ist das Falscheste und
der Wahrheit war da, die Scham über die Und es hilft dabei nicht, dass sich die Schändlichste, was ich in meinem Leben
Verdrängung wohl auch. Fraktionen in diesem Machtkampf mit gelesen habe. Er hat kein Stückchen Ehre
Gerade in Schweden, das sich als be- Beleidigungen kaum zurückhalten. Be- mehr in seinem Körper.«
sonders emanzipierte Gesellschaft sieht, sonders Horace Engdahl teilt hart aus, ein Der König, so hieß es vergangene Wo-
was in vielem stimmt und in manchem Kritiker und Literaturprofessor, von 1999 che, unterstütze eine Satzungsänderung,
auch nicht. »Ich mag die schwedische bis 2009 selbst Ständiger Sekretär und, wonach ein Ausscheiden von Mitgliedern
Selbstwahrnehmung nicht, immer die Gu- der Akademie möglich sein soll – was dazu
ten zu sein«, sagte vor Jahren Klas Öster- führen könnte, dass die verbliebenen Mit-
gren, dessen Bücher auch auf Deutsch er- glieder sich selbst in der Minderheit als
schienen sind, etwa der Roman »Porträt funktionsfähig erklären und neue Mitglie-
eines Dandys« (2011), der in den Achtzi- der aufnehmen könnten. »Ein Witz« sei
gerjahren spielt und von einem Land er- das, sagt Björn Wiman, der König habe kei-
zählt, das sozialdemokratische Beschei- ne Ahnung und kein Interesse, was Kultur
denheit durch Profitgier und postmoderne oder Literatur angeht. Vor ein paar Jahren
Spielereien ersetzt. war er selbst wegen sexueller Eskapaden
Das speziell Schwedische an der #Me- in den Schlagzeilen.
Too-Debatte war dabei, dass sie in vielem Völlig unklar bleibt bei alldem, mit wel-
offener, ambitionierter, anders geführt chem Grad an Glaubwürdigkeit die Akade-
wurde als in den meisten anderen Ländern. mie in Zukunft ihre Preise und Stipendien
Es waren vor allem die kollektiven Be- und speziell den Nobelpreis vergeben will.
kenntnisse erst von vielen Hunderten »Es wäre das Beste gewesen, wenn die, die
Schauspielerinnen, dann von Hunderten mit Arnault in Verbindung stehen, schon
Rechtsanwältinnen, dann von Frauen in im Dezember zurückgetreten wären«, sagt
vielen anderen Berufsgruppen, die die De- Lisa Irenius. Aber nun ist zu viel Zeit ver-
batte prägten. Es ging mehr um systemi- strichen. Eigentlich, sagt sie, wäre es das
CHARLES HAMMARSTEN / IBL / PICTURE ALLIANCE

sche Missstände als um die Vergehen Ein- Beste, wenn die ganze Akademie aufgelöst
zelner. #MeToo wurde als Chance gesehen, und neu zusammengesetzt würde.
ein gesellschaftliches Gespräch über se- Und Svante Weyler mutmaßt schon, es
xuellen Missbrauch und Ungleichheit zwi- werde in diesem Jahr wohl nur vier echte
schen den Geschlechtern zu führen. Schriftsteller geben, die über den wichtigs-
Auch in Schweden gab es Enthüllungen ten Literaturpreis der Welt entscheiden,
über Einzelne und tragische Ereignisse – die anderen verbleibenden Mitglieder wä-
der Selbstmord des Theaterleiters Benny ren alle Literaturwissenschaftler.
Fredriksson etwa sorgte im März für Be- Einen Vorschlag hat er als Weg aus der
stürzung, er war mit der auch in Deutsch- Krise: »Wenn sie den Preis an Philip Roth
land bekannten Opernsängerin Anne vergeben, dann ist all das hier rasch wieder
Sofie von Otter verheiratet, im Dezember Ehepaar Frostenson, Arnault 2015 vergessen.«
hatte die Zeitung »Aftonbladet« über Vor- Vorwurf des Machtmissbrauchs

114
Kultur

»Die Kraft ist riesig«


in den Zwanzigerjahren, von diesem Jahr-
zehnt der rasanten Industrialisierung, und
sie ermöglicht einen anderen Blick auf die
Gegenwart mit dieser neuen Industrialisie-
rung, die vom Silicon Valley ausgeht. Nicht
Museen Max Hollein, gerade zum Direktor nur in den USA, sondern gerade auch in
des Metropolitan Museum in New York berufen, über Kultur Europa keimt ein verstärkter Nationa-
als Mittel gegen Nationalismus lismus auf, und er macht es noch wichtiger,
sich mit dem Dialog unterschiedlicher
Kulturen und mit der eigenen Ge-
Der Österreicher Hollein, 48, ist schichte auseinanderzusetzen.
Kunsthistoriker und Betriebswirt, be- SPIEGEL: Debattiert wird zurzeit
gann seine Karriere in New York am viel über die Benachteiligung der
Guggenheim-Museum und verhalf Frauen. Die »New York Times«
ab 2001 Frankfurt – als Chef von schrieb über Ihre Berufung, nun er-
schließlich drei Institutionen – zum halte wieder ein weißer Mann den
Ruf einer Kunststadt. 2016 wechselte Topjob.
er nach San Francisco, nun wartet Hollein: Ich hoffe, dass ich mit mei-
wieder New York, genauer: das 1870 ner Herkunft und meiner Ge-
gegründete Metropolitan Museum schlechtszugehörigkeit nicht a
am Central Park. Dieses »Met« lockt priori enttäusche. Die Frage der
mit Schöpfungen aus 5000 Jahren Vielfalt ist virulent, allgemein und
Kulturgeschichte sieben Millionen auch in den Museen, es gibt eine
Besucher im Jahr an. Notwendigkeit, etwas zu verän-
dern. Von Bedeutung ist sicherlich
SPIEGEL: Herr Hollein, das Metro- unsere institutionelle Agenda in
politan Museum gilt als besonders Bezug auf dieses Thema.
schön und besonders wichtig – SPIEGEL: Was heißt das fürs Metro-
aber auch als besonders schwierig politan Museum?
zu führen. Warum wollen Sie dort Hollein: Neben der Zusammenset-
Direktor werden? zung der Kollegenschaft kommt
Hollein: Ich ziehe meine Freude, es darauf an, welche Erzählweisen

PETER PRATO / NYT / REDUX / LAIF


meine Passion daraus, dass eine In- wir zulassen, wenn wir mit un-
stitution wesentlich ist, dass ich in seren Sammlungen arbeiten, wenn
und mit ihr etwas bewegen kann. wir Objekte daraus zeigen. Mu-
Und das Met ist der Bannerträger seen wie das unsere, sogenannte
der enzyklopädischen Museen, die Universalmuseen, wurden im
Ausstellungen sind großartig, zuletzt Geiste der Aufklärung gegründet,
die über Michelangelo oder über weil man die Kultur der Welt
Jerusalem. Das ist allerhöchstes an einem Ort versammeln wollte.
Niveau. Natürlich, jedes Museum ei- Kunstmanager Hollein Im Grunde kannte man lange nur
ner gewissen Größe und Bedeutung »Haltung zeigen« eine Lesungsart, nur eine Sicht
steht unter besonderem Augenmerk, der Dinge, heute brauchen wir
aber das, was gern kolportiert wird, dass Geldes riesig, wir haben eine der besten im Umgang mit Kultur die Vielfalt der
das Museum in einer Krise stecke, kann ich Sammlungen der Welt, einen der besten Perspektiven.
nicht bestätigen. Mitarbeiterstäbe. Künftig will sich das Mu- SPIEGEL: Die Museumswelt scheint vor
SPIEGEL: Über Symptome einer Krise seum noch stärker der modernen und zeit- einem regelrechten Umbruch zu stehen, sie
aber wurde viel geschrieben, und Ihr Vor- genössischen Kunst öffnen, das ist ein beginnt, kritisch auf die eigene Geschichte
gänger trat vor lauter Überforderung wichtiger Moment in seiner Geschichte. zu blicken, auch weil vieles in den kultur-
zurück. Überzogene Budgets, der verscho- SPIEGEL: Wie kann ein Museum in den geschichtlichen Museen in Kolonien zu-
bene 600-Millionen-Dollar-Anbau, Nicht- USA darüber hinaus ein Ort des kritischen sammengeklaubt, oft geraubt wurde. Die
New-Yorker müssen neuerdings Eintritt Denkens, der Debatten sein, und das ohne Museen korrigieren ihr hehres Selbstbild.
bezahlen. die oft konservativ eingestellten Mäzene Suchen sie auch nach einer neuen Identität?
Hollein: Ich habe mich immer für beruf- zu verschrecken, auf die fast alle Kultur- Hollein: Ja, aber das ist eine gute Entwick-
liche Situationen entschieden, die eine einrichtungen angewiesen sind? lung. Museen sind nicht mehr einfach nur
Herausforderung waren. Für die Schirn Hollein: Indem wir die Debatten, die wir Orte, die man aufsucht, sondern sie ent-
Kunsthalle in Frankfurt galt sogar die führen wollen, fundiert und unpolemisch wickeln sich zu handelnden Institutionen.
Schließung als denkbar, bevor ich sie 2001 führen. Ein Museum ist tatsächlich einer SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
übernahm, auch am Frankfurter Städel der wenigen Orte, an denen noch relevan- Hollein: Museen nehmen eine Haltung ein
Museum gab es Herausforderungen – und te Diskussionen, Reflexionen möglich sind. – und müssen diese auch kenntlich machen.
ganz besonders in den Fine Arts Museums SPIEGEL: Aber wie? Wir sind ein Museum, das die Welt ab-
in San Francisco. Andere Museen würden Hollein: In San Francisco bereiten wir ge- bildet, aber wir sind auch für die ganze
aber sicher gern mit dem Metropolitan rade eine Schau über islamische Mode vor, Welt da. Museen genießen mehr als früher
Museum und seinen sogenannten Proble- die daran erinnern wird, dass es bei Klei- noch das Vertrauen der Menschen, das ist
men tauschen. Das Vermögen im Hinter- dung nicht nur um Fragen des Stils und eine große Verantwortung.
grund beträgt mehrere Milliarden Dollar. der Schönheit geht. Eine Ausstellung, die Interview: Ulrike Knöfel
Die Kraft des Hauses ist auch jenseits des schon zu sehen ist, handelt von Amerika

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 115


Kultur

Minenfeld
Ausstellungen Deutschland widmet sich auf der Architekturbiennale in Venedig den
Nachwirkungen der eigenen Teilung, den Errungenschaften, den Ungerechtigkeiten.
Zuständig für den Auftritt: drei Freunde von Brad Pitt und die Politikerin Marianne Birthler.

E
igentlich sitzen sie zusammen, um rungen des Dresdner Schriftstellers Uwe Für den Ausstellungskatalog hat Birthler
über Deutschland zu reden, im Na- Tellkamp zu AfD und Flüchtlingen, wie über ihr eigenes Leben hinter der Mauer
men von Deutschland Außerge- sich der Osten vom Westen gegängelt, zu- geschrieben. Dieser persönliche Zugang
wöhnliches zu planen. rückgesetzt fühlt, wie dünnhäutig und wird denen helfen, die jünger sind, die nicht
Jetzt sprechen sie erst einmal, ausge- misstrauisch beide Teile aufeinander rea- wissen können, wie sich das anfühlte, als es
rechnet, über Bananen. gieren – dass also offenbar ein emotionales plötzlich Landesgrenzen innerhalb des eige-
Ein kleines, durchaus kontrastreiches Minenfeld entstanden ist. In Venedig darf, nen Landes gab. Birthler, 1948 in Ost-Berlin
Team trifft sich an diesem Nachmittag in soll sich nun das internationale Publikum zur Welt gekommen, war 13 Jahre alt, als
Berlin, es besteht aus den drei Chefs des mit diesem Land beschäftigen, das seine die DDR quasi ganz zugesperrt wurde, vor-
Architekturbüros Graft – Lars Krückeberg, Seltsamkeit noch nicht abgelegt hat. her waren Ausflüge in den Westen möglich.
Wolfram Putz und Thomas Willemeit –
und der Politikerin Marianne Birthler.
Graft steht für architektonische Cool-
ness, made in Los Angeles, Berlin und
Peking; Birthler für den kritischen Osten,
denn sie wurde in den Jahren der DDR,
in der Zeit der Wende zu einer Kämpferin,
natürlich ist sie für viele auch die Frau,
die lange die Stasiakten verwaltet hat
und beinahe Bundespräsidentin geworden
wäre.
Nun erst einmal diese kleinen Geschich-
ten, Lars Krückeberg, einer der Architek-
ten, fängt damit an: die Bananen und die
anderen Südfrüchte, die an den Tagen
nach dem Mauerfall verteilt wurden, in
Berlin oder in grenznahen Städten, manch-

PABLO CASTAGNOLA
mal direkt vom Lastwagen hinab, wie be-
schämend es für die gewesen sein muss,
die in der Schlange gestanden haben, ihm
sei das damals sehr schnell klar geworden.
Birthler sagt, und es klingt ein wenig iro- Kuratoren Krückeberg, Willemeit, Birthler, Putz: Zwei Seiten der Geschichte
nisch, das wundere sie nicht, dass er das
so empfunden habe.
Aber sie fand solche Szenen natürlich
auch schrecklich, denn im Grunde sei das
doch damals ein »Weltmoment« gewesen.
Dieser Weltmoment ist jetzt der Aus-
gangspunkt eines gemeinsamen Projekts.
Die vier werden Deutschland auf der
Architekturbiennale in Venedig vertreten.
63 Nationen nehmen daran teil, und ihr
Beitrag – also der deutsche Beitrag – dürf-
te durch historische Schwerkraft und ak-
tuelle Brisanz auffallen. Sie organisieren
im nationalen Pavillon eine Ausstellung,
die von Mauern erzählen wird, von sol-
chen, wie Trump sie auf seinem Kontinent
androht, aber auch und gerade von der
innerdeutschen, die vor fast drei Jahrzehn-
FRIEDHELM DENKELER

ten gefallen ist und noch lange nicht ver-


schwunden sein wird. Man sieht sie nicht
mehr, spürt sie aber noch.
Einst waren die Bananen das Symbol
dafür, dass man sich gegenseitig nicht be-
greift. 2018 zeigt der Streit um die Äuße- Ehemaliger Checkpoint Charlie in Berlin: Geschenk oder gegenseitiges Misstrauen

116 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


»Im Sommer 1961 wurde unsere Welt von Bundespräsidentin von Deutschland, son- lassen und damit in der Nähe dieser be-
einem Tag auf den anderen sehr klein.« dern Kuratorin für Deutschland. sonderen Geschichte. Aber ihnen fehlte,
Nicht jeden in ihrer Republik habe die Die Architekten von Graft, Jahrgang als sie auserkoren wurden, den deutschen
Mauer gestört, denn: »Wer sich nicht be- 1967 und 1968, wuchsen im Westen auf, Pavillon zu übernehmen, die Erfahrung
wegt, spürt keine Ketten.« studierten in Braunschweig. Die Mauer ge- von jemandem, der auf der anderen Seite
Vor fast drei Jahrzehnten wurden diese hörte, als sie jung waren, ebenso zur der Mauer gelebt hatte. Deshalb fragten
Ketten abgenommen, denen, die sie wie Gegenwart ihres Landes – was ihnen viel- sie bei Marianne Birthler an.
Birthler spürten, und den anderen auch. leicht besonders klar wurde, als sie sich Nun sitzen sie zusammen, fallen sich
Birthler war nach der Wende Politikerin öffnete und sich dahinter ein fast fremdes gegenseitig ins Wort, verstehen sich offen-
für das Bündnis 90, ihr Amt als Bildungs- Gebiet auftat, das man besichtigen konnte. sichtlich bestens.
ministerin in Brandenburg legte sie nieder, Ihre Firma Graft gründeten sie 1998 in Was sie vorhaben: Vor gut 28 Jahren
als über die Stasikontakte des SPD-Minis- Los Angeles. Dass Brad Pitt, schon damals fiel die Mauer, nachdem sie 28 Jahre lang
terpräsidenten Manfred Stolpe spekuliert der große Hollywoodstar, sofort ein Fan gestanden hatte, in der Schau sollen
wurde und sie keine sein wollte, die durch ihrer Baukunst wurde, dass er mit ihnen 28 Beispiele einen Eindruck davon geben,
Stillschweigen etwas billigt. Zehn Jahre später eine wohltätige Stiftung gründete wie die Todeslinie heute aussieht. Aus ihr
lang leitete sie die Behörde, die die Stasi- zugunsten der Menschen, die in New Or- war nach dem Rückbau der Anlagen ein
akten verwaltet, war dort Nachfolgerin leans nach Hurrikan »Katrina« ihre Häu- echter, in vielerlei Hinsicht kostbarer Frei-
von Joachim Gauck. Viele – insbesondere ser verloren hatten, trug zu ihrer Bekannt- raum geworden, 1378 Kilometer lang und
die Kanzlerin – hätten sie eben auch gern heit bei. Heute beschäftigen sie an drei auch von einer gewissen Breite; auf der
als seine Nachfolgerin im Schloss Bellevue Standorten 150 Leute. In Berlin haben sie Ostseite war der »Kontrollstreifen« 10 Me-
gesehen. Sie wollte nicht. Nun ist sie keine sich nahe der einstigen Mauer niederge- ter, der »Schutzstreifen« 500 Meter breit.
Die über viele Kilometer unberührte Na-
tur wird in der Ausstellung eine Rolle spie-
len, auch der Iron Curtain Trail, ein Rad-
weg entlang der früheren Grenzlinie.
Ebenso vor Jahrzehnten aufgegebene An-
siedlungen, die sogenannten Wüstungen.
In Berlin selbst herrschte weitgehende
Einigkeit darüber, dass dort der Mauer-
streifen schnell verschwinden müsse und
alles am besten so zugebaut werde, als
wäre nie etwas gewesen – »alle wollten
vergessen«, sagt Graft-Architekt Wille-
meit. Der Senat der Stadt, die wieder
Hauptstadt werden wollte, wünschte sich
Traufhöhen, die denen des 19. Jahrhun-
derts entsprachen, er forderte Stein und
Normalität (der niederländische Stararchi-
tekt Rem Koolhaas sagte Berlin 1991 des-
halb ein kleinbürgerliches, gar reaktionä-
res Stadtbild voraus).
Profitiert habe Berlin dann von impro-
visierter Architektur, von Gedenkstätten,
von atemberaubenden Zwischennutzun-
gen, von Klubs, von solchen Wohn-, Kul-
tur- und Gewerbearealen wie dem Holz-
marktgelände, finden die Kuratoren. Die
Vielfalt, die sich einfach entwickelt habe,
mache Mut, sie habe eine neue Form von
Urbanität hervorgebracht, die Ausstrah-
lung sei enorm und wirke weltweit.
Das also ist das eine Deutschland, das
in Venedig auftritt, das Land, das einen
Todesstreifen zum Leben erweckt. Dann
ist da das andere Deutschland, das immer
noch keine Einheit zu bilden scheint.
Ob und wie das Zusammenwachsen
funktioniert – auf die Frage soll in der
Schau mit Statistiken geantwortet werden.
Birthler sagt, zum Ende der DDR-Zeit
habe die Lebenserwartung der Frauen im
Osten um drei Jahre unter der von Frauen
AXEL SPRINGER SE

im Westen gelegen, heute sei diese Zahl


gleich: »Mir werden einige Jahre ge-
schenkt, wenn Sie so wollen.«
Doch da sind eben auch die Ungleich-
Axel-Springer-Verlagshaus an der Berliner Mauer 1966: Deutsche Seltsamkeiten heiten, man erkennt sie, wenn es um Be-

117
Kultur

sitzverhältnisse geht, um Machtpositionen. Wer heute eine Mauer bauen wolle, sol- oder den Unwillen zum Dialog, zur echten
Im Pavillon werden auch die Berliner Re- le das alles berücksichtigen, finden die vier. Politik«.
gierungsbauten thematisiert, diese große »Unsere Ausstellung«, sagt Architekt Ein Teil ihrer Schau wird sich anderen
architektonische Geste namens »Band des Putz, »ist auch der wackelnde Zeigefinger Spaltungen widmen, der Situation auf
Bundes«. Und an dieser Stelle der Schau in Richtung Trump, eine Aufforderung Zypern, in Nordirland mit seinen Friedens-
werden die Besucher darauf hingewiesen, zum Nachdenken.« mauern, dem Nahostkonflikt, Korea; dazu
wie viele – genauer gesagt: wenige – Sie haben sich viel vorgenommen für die Abschottungspolitik Trumps und eben-
Minister und Staatssekretäre heutzutage eine Architekturausstellung, und sie haben so der EU an ihren Außengrenzen. In Vi-
aus dem Osten des Landes stammen. recht damit. deoclips, die eine »Mauer der Meinungen«
Die Ost-West-Frage sei vergleichbar mit Grenzsperren besitzen keine Ästhetik, ergeben sollen, kommen Leute zu Wort,
der Geschlechterfrage, sagt Birthler. Im- über die es zu sprechen lohnt, aber sie die in der Nähe solcher Mauern leben, die
mer heiße es, die Frauen seien verschie- sind natürlich Architektur, sie markieren einen führen Argumente für diese Grenz-
den, man könne nicht von der Frau spre- irgendwo in der Geografie Räume, sie tun bauten an, andere welche dagegen.
chen. Man könne auch nicht von dem Ost- das mit Beton, Stahl, Stacheldraht, wo- Vieles kommt zur Sprache an diesem
deutschen sprechen. Dennoch behandle möglich auch mit Minen und elektrischer Nachmittag. Die Architekten nennen sich
die Gesellschaft – bei allen Fortschritten – Spannung, und wie jede Architektur sind »Profiteure der Globalisierung«. Hat aber
Frauen anders als Männer, Westdeutsche sie Ausdruck einer bestimmten gesell- die Globalisierung mit dem Fall der deut-
anders als Ostdeutsche. »Es gibt immer schaftlichen, politischen Umwelt; bei ih- schen Mauer erst so richtig begonnen, ist
noch Unterschiede zwischen Ost und nen wird dieser Zusammenhang sogar be- sie nun, angesichts immer neuer Abgren-
West, nur darf man die nicht überstrapa- sonders deutlich. Je nach Sicht der Dinge zungen, am Ende? Wie offen steht einem
diese Welt wirklich noch?
Was für eine Bestandsaufnahme von
Deutschland, von allem! Ihr sei noch deut-
licher geworden, wie eng die Verknüpfung
von innerer und gebauter Welt sei, sagt
Birthler.
Die Graft-Architekten haben auch Pro-
jekte in Berlin, die aber auf der Biennale
nicht erwähnt werden, weil sie das für un-
anständig halten würden. Interessant wäre
es aber schon. Sie haben die Architektur
für Charlie Living entworfen, einen Wohn-
komplex nahe dem ehemaligen Check-
point Charlie, längst ist die Gegend gen-
trifiziert, der Boden teuer. Auch das pas-
siert, wenn aus früherem Niemandsland
riesige »Zukunftsgebiete« werden. Und als
solche vermarktet die Stadt Gegenden in
GREGORY BULL / DPA

ehemaliger Mauernähe.
»Unbuilding Walls« heißt der Beitrag
für Venedig. Der Rückbau der Mauern als
Traum, der wenigstens in Deutschland in
Polizisten vor Prototyp der geplanten USA-Mexiko-Mauer: »Wackelnder Zeigefinger« Erfüllung gegangen ist. Und dass das ein
Geschenk war, sollte eben niemand ver-
gessen.
zieren, denn sonst werden sie leicht in- schützen sie Menschen oder sind Aus- Andere, durchaus auch heikle Mauern
strumentalisiert.« druck der Unmenschlichkeit – und anderes tasten die Kuratoren jetzt doch nicht an.
Denn, daran erinnert sie, 1989 sei es mehr. Der historische deutsche Pavillon auf dem
nicht um einen Konflikt zwischen Ost und Wendy Brown, eine amerikanische Biennale-Gelände in Venedig wurde einst
West gegangen, sondern um einen zwi- Politologin, schreibt, dass Mauern wie von den Nazis kantig umgebaut. Jeder
schen Ost und Ost. Und auch nach dieser einst die innerdeutsche genau die demo- Künstler oder Architekt, der das Gebäude
Revolution seien alle wichtigen Konflikt- kratische Gesellschaft verhinderten, die für die Kunst- oder für die Architektur-
linien nicht zwischen Ost und West ver- sie doch angeblich verteidigen wollten. biennale nutzt, muss mit dem Erbe umge-
laufen, sondern innerhalb des Ostens, Heute gebe es effektivere Methoden, Gren- hen. Viele machen ihre Haltung zu dem
innerhalb des Westens. Da war die Frage, zen zu kontrollieren, als Befestigungen. strammen Gebilde deutlich, oft durch
ob man die Einheit wolle, da waren die Das gelinge besser mit moderner Überwa- kurzfristige Umbauten.
Diskussionen um die Aufarbeitung der chungstechnik, mit Patrouillen. Monumen- Putz, einer der Graft-Chefs, sagt, 20 Jah-
Diktatur, insbesondere der Stasi. Viele Ris- tale Anlagen, wie sie Donald Trump und re lang hätten sie fantasiert, was sie alles
se hätten sich »quer zur Ost-West-Grenze« andere Staatsmänner favorisierten, hätten mit dieser Architektur anstellen würden,
durchs Land gezogen, sagt Birthler. einen anderen Zweck: Sie dienten der blo- sollten sie einmal die Ausschreibung für
»Als Chefin der Stasiunterlagenbehörde ßen Inszenierung von Macht, von angeb- die Biennale gewinnen. Als der Berliner
hatte ich Verbündete ebenso wie Gegner – licher politischer Souveränität. Brown hält Werkbund 2014 um Visionen für eine (rein
und das im Westen wie im Osten.« sie für Kulissen, vergleichbar mit denen hypothetische) Umgestaltung bat, schlu-
Anzunehmen, diese Debatten hätten im Theater. gen sie den Abriss vor.
sich erledigt, sei albern, sagt sie, wie solle Für Birthler und die Architekten von So bleibt auch noch etwas für die Auf-
das gehen? »Die nächsten Generationen Graft sind Mauern vor allem Symbole des rührer von morgen zu tun. Ulrike Knöfel
werden ihre eigenen Fragen dazu stellen.« Scheiterns, sie zeigten »die Unfähigkeit

118 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


KRIEGER,
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
KÜNSTLER UND
Belletristik Sachbuch DRUIDEN –
1 (2) Ferdinand von Schirach 1 (3) Bas Kast Der Ernährungskompass DIE WELT DER
Strafe

KELTEN
Luchterhand; 18 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

2 (1) Paluten / Klaas Kern Freedom. 2 (1) Manfred Lütz


Die Schmahamas-Verschwörung Der Skandal der Skandale Herder; 22 Euro

Community Editions; 12 Euro


3 (5) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Mit den Händen sehen Insel; 22,95 Euro
Der als YouTuber bekannte
Paluten kommentiert 4 (2) Michael Wolff
eigentlich Computerspiele, Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro
hat jetzt aber sein erstes
Buch geschrieben – einen
trashigen Abenteuerroman 5 (4) Markus Feldenkirchen
Die Schulz-Story DVA; 20 Euro
3 (3) Jojo Moyes Mein Herz
in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro
6 (6) Gerald Hüther
Würde Knaus; 20 Euro
4 (4) Maja Lunde
Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro
7 (–) Franz Keller
Vom Einfachen das Beste
5 (5) Maja Lunde Westend; 24 Euro
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
Der ehemalige Spitzenkoch
6 (6) Bernhard Schlink hat die Jagd nach Michelin-
Olga Diogenes; 24 Euro
Sternen aufgegeben, lebt
als Bauer und plädiert für
den einfachen Genuss
7 (12) Laetitia Colombani
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro 8 (7) Wolfram Eilenberger
Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro
8 (7) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist
nur eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro 9 (10) Elke Heidenreich
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9 (9) Elena Ferrante Die Geschichte des
verlorenen Kindes Suhrkamp; 25 Euro 10 (9) Peter Hahne Schluss mit euren
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11 (11) Mariana Leky Was man von
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hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro 12 (8) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
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12 (16) Marc-Uwe Kling
QualityLand Ullstein; 18 Euro 13 (19) Wilhelm Schmid
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13 (15) Elena Ferrante Meine geniale
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Tod und Liebe Hoffmann und Campe; 18 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro

20 (–) Peter Härtling Der Gedankenspieler 20 (–) Ijoma Mangold


Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro Das deutsche Krokodil Rowohlt; 19,95 Euro

119 www.dva.de
Kultur

Kein Entkommen
Dennoch ist der Vorgang von aufkläreri-
schem Nutzen, weil die Texte Julia Kriste-
vas etwas zu diesem Fall, aber auch zu ver-
gleichbaren Situationen zu sagen haben.
Das überhaupt in den Blick zu bekom-
Intellektuelle Julia Kristeva ist eine der berühmtesten Denkerinnen men ist ein Abenteuer für sich, gleicht es
der Welt. Die Debatte um ihre bulgarische doch einem kunstvoll komponierten, sich
Geheimdienstakte verleiht ihrem Werk eine neue Brisanz. aber auch permanent wandelnden und ex-
pandierenden Labyrinth.
Keine Denkerin unserer Zeit hat auf so

I n dem vor anderthalb Jahren erschie-


nenen Interviewband »Je me voyage«
gibt die in Bulgarien geborene franzö-
sische Intellektuelle Julia Kristeva über ihr
sieht in der Akte das Zeugnis eines ganz
gewöhnlichen Vorgangs: Eine im Ausland
lebende Bulgarin versucht, höfliche Bezie-
hungen zu den Vertretern des Regimes zu
vielen Gebieten, in derart unterschied-
lichen Formen und über einen so langen
Zeitraum veröffentlicht. Als in Norwegen
ein Pendant der Geisteswissenschaften
bewegtes Leben Auskunft. An einer Stelle unterhalten, während sie ihnen nur Belang- zum Nobelpreis geschaffen wurde, der
unterbricht sie den Fragesteller, den Psy- losigkeiten erzählt, um ihre in der Heimat Holberg-Preis, verfiel die Jury auf Julia
chiater Samuel Dock, und erklärt, dass sie verbliebene Familie vor Repressalien zu Kristeva als erste Preisträgerin. Kaum eine
immer eine leichte Störung empfinde, bewahren. Nach Aktenlage ein banaler Vor- wissenschaftliche Disziplin und nur weni-
wenn sie abermals einen Preis bekomme gang – typisch für die Verstrickungen vieler ge Kunstformen, zu denen sie nichts zu
oder auch nun von sich sprechen solle: Zeitgenossen, auch vieler Intellektueller sagen hätte. Sie ist eine Romanautorin, die
»Wer ist diese Julia Kristeva, von der die im 20. Jahrhundert. Spannend wird die Sa- mit viel Humor und Präzision die Welt der
Rede ist?« che, wenn man sie zum Werk der Kristeva Pariser Intellektuellen beschreiben kann,
Es ist eine Frage, die sich mit erneuter in Beziehung setzt. Man kann die Frage eine Welt, die sie maßgeblich mitgestaltet.
Brisanz stellt, seit vor einigen Wochen eine nach der konkreten Schuld derzeit nicht Sie ist Psychoanalytikerin, forscht und the-
Akte des bulgarischen Geheimdienstes ge- beantworten, weil Teile der Akte fehlen. rapiert in Paris und New York und navi-
funden und publiziert wurde. giert virtuos durch die Schulen
Dort wurde sie unter dem und Traditionen dieser kom-
Decknamen »Sabina« geführt. plexen Wissenschaft. Sie ist
Die Akte ist umfangreich und eine öffentliche Intellektuelle,
umfasst die Zeit von den Sech- die einem klassischen Bil-
zigerjahren bis in die frühen dungsethos anhängt – und den
Siebziger. Sie enthält Berichte Kanon mit radikal neuen
von Treffen in Paris, bei denen Ideen befragt.
»Sabina« sich wenig engagiert Paradox daran ist, dass sie
zeigte, nur bekannte Informa- wenig tröstliche Botschaften zu
tionen wiederholte. Manche verkünden hat. Das Werk Julia
Treffen ließ sie platzen. In Kristevas liest sich wie die Vor-
der internen Auswertung des bereitung ihrer Studenten und
Dienstes bekommt »Sabina« Leser auf eine schlechte Nach-
als Quelle miserable Noten, sie richt – und insofern ist so eine
erzählt nur, was ohnehin jeder üble Akte von poststalinisti-
weiß. Allerdings ist die Akte schen Geheimdiensten hier
auch nicht vollständig, schrift- kein Fremdkörper. Vielmehr
liche Berichte »Sabinas« feh- bekräftigt ihr eigener Fall den
len. Weil es keine gibt oder Wunsch zu verstehen, warum
weil man sie der Akte entnom- Personen Dinge tun, die ratio-
men hat? Das Rätsel wird grö- nal oder moralisch nicht zu er-
ßer, je mehr man sich mit der klären sind, die nicht zu ihnen
Sache beschäftigt. passen, warum sie manchmal
Der Schriftsteller Ilija Troja- ganz anders handeln, als von
now, der für seinen Roman ihnen erwartet wird – auch von
»Macht und Widerstand« viele ihnen selbst. Das aber ist eine
Jahre lang über solche Akten entscheidende Frage im Werk
geforscht hat, hegt an ihrer Julia Kristevas.
Echtheit keinen Zweifel. Kris- Man kommt sofort auf ihren
teva dementiert jede Zusam- zentralen wissenschaftlichen
M. ROUGEMONT / OPALE / LEEMAGE / LAIF

menarbeit mit den bulgari- Begriff, den der Intertextua-


schen Diensten, und auch das, lität, nach dem sich Textgattun-
so Trojanow in der »Frankfur- gen diverser Provenienz, also
ter Allgemeinen«, passt: »Es Romane, religiöse Texte, Brie-
ist so gut wie nie vorgekom- fe, Flugschriften, aufeinander
men, dass ehemalige Zuträger, beziehen und befragen lassen.
Spione oder Denunzianten Und nun ist es nicht so, dass
ihre Schuld eingestanden ha- die diversen Texte in der Akte
ben.« Die bulgarische Journa- von »Sabina« die Bücher und
listin Koprinka Tchervenkova, Schriftstellerin Kristeva Aufsätze, die Reden und Inter-
eine ehemalige Dissidentin, Wer ist diese Frau, von der alle reden? views Julia Kristevas ungültig

120 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 14. 4., 20.15–21.00 UHR | SKY
Die Hamburg Story – Teil 1:
Tor zur Welt
Hamburg galt wegen des Hafens und
seiner Werften schon zur Kaiserzeit
als ein Zentrum des Welthandels.

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 15. 4., 22.10–23.25 UHR | RTL

Ausgebeutet – Wie ein Bauunter-

DIMITAR DILKOFF / AFP


nehmer aus Niedersachsen ost-
europäische Arbeiter als Billiglöh-
ner nach Deutschland holt; Tot-
gebissen – Der bizarre Streit und
das Behördenversagen im Fall
Auszüge aus »Sabina«-Akte: Ein banaler Vorgang von Hund Chico; Andere Länder,
andere Sitten – Love and Sex in
India; Pleitier und Lügner – Der Ab-
machten, ihre Botschaft widerlegten und Das Motiv der Fremdheit lässt sich bis sturz des Bundesministers a. D.
die Autorin der Hochstapelei überführten. dahin gut erklären – aber was fehlt, ist das Günther Krause
Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Akte sich einstellende Gefühl der Ankunft in
belegt die Arbeitsweise eines Regimes, das der französischen, später in der amerika-
eine junge Frau vor dem Hintergrund einer nischen Gesellschaft. Eine Integration fin- ARTE RE:
manifesten Drohkulisse zu manipulieren det nicht statt, dem ganzen Konzept wird DIENSTAG, 17. 4., 19.40–20.15 UHR | ARTE
sucht. Und sie belegt deren Taktik, aus der Hohn gesprochen. Ihr Leitmotiv ist die Klappt die Inklusion? – Eine
Sache herauszukommen. Fremdheit in einem existenziellen und in- Schule für alle Kinder
Mit Mitte zwanzig war sie eine andere. dividuellen Sinn, dass man sich selbst
Man durfte im kommunistischen Bulgarien fremd bleibt und es immer wieder wird. Die gemeinsame Beschulung
der Sechzigerjahre nicht im Ausland promo- Das passt also für viele Menschen, und es von behinderten und nicht
vieren, in Jugendzeitschriften publizieren passt beklemmend genau auf die Situation behinderten Kindern ist eine
und mit dem Flugzeug nach Paris reisen, einer jungen französischen Wissenschaft-
wenn man Widerstandskämpferin war. Spä- lerin, die auch noch Verbindungen nach
ter, als eine Rückkehr unwahrscheinlich wur- Bulgarien hat, zu ihrem Vater und zu den
de, blieben ihre Eltern immerhin noch in Repräsentanten ihres Heimatlands. Dop-
Bulgarien, sie hoffte auf Besuche und er- pelte Fremdheit, wenn sie mit denen in Pa-
reichte es auch. Ihr Vater konnte im Atlantik ris Bulgarisch spricht. Aber wie spricht sie
baden, später hatte sie Gelegenheit, ihm Prä- denn? Wie spricht sie als Frau mit diesen
sident François Mitterrand vorzustellen, als Männern? Wie spricht überhaupt jeder
JÖRG DANIEL HISSEN

der 1989 in Sofia zum Staatsbesuch weilte. von uns in einer Welt, in der es kommuni-
Das sind Situationen, die nicht jede Bul- kativ dürftig verschleierte Gewalt gibt?
garin inszenieren konnte, und so kann man Kristeva weist immer wieder darauf hin,
zumindest daraus schließen, dass sie dem dass wir nicht nur mit Worten reden, dass
Regime nicht den Kampf angesagt hatte. der Akt des Sprechens eine vorreflexive, Sonderpädagoge, Schülerin
Die Akte gibt da einen unerwünschten Ein- eine körperliche und situative Dimension
blick in den Maschinenraum eines Lebens, hat. Man kann also, während man sich mit große Herausforderung.
dessen Fortgang wir besser kennen als den bulgarischen Zuträgern unterhält, drin- Häufig fühlen sich die Lehrer
Beginn. Keine Widerstandskämpferin also, gend im Sinn behalten, wie man dem ei- damit alleingelassen.
aber auch keine linientreue Kommunistin genen Vater nicht schaden kann, und an
– in Paris holt sie erst einmal Luft, liest und etwas völlig anders denken, etwa dass die-
verliebt sich. Allerdings ist auch dort die se Veranstaltung bald vorbei sein möge. SPIEGEL TV REPORTAGE
politische Lage recht eng. André Malraux, Aber sie lehrt uns auch, dass man aus sol- DIENSTAG, 17. 4., 23.10–00.15 UHR | SAT.1
der gaullistische Kulturminister, sagte: Au- chen biografischen Situationen nicht mit
ßer den Kommunisten und uns gibt es einem Liedchen auf den Lippen heraus- Der Kinderretter – Mütter
nichts. Kristeva und ihre Clique, viele an- kommt und frohgemut ein neues Leben am Ende
dere junge Leute hatten fortan dieses eine beginnen kann, dass der erlebte Horror Florian Fischer ist Sozialarbeiter
Ziel vor Augen, etwas anderes zu schaffen, und selbst der abgewendete Schaden uns beim Jugendamt Braunschweig.
politisch, als die triste Alternative zwi- weiter beschäftigen und begleiten. SPIEGEL TV hat ihn über ein Jahr
schen Konservativen und Kommunisten. Kristeva wurde einmal nach dem großen lang bei seiner Arbeit begleitet,
Sie und eine kleine Delegation Intellek- Unterschied gefragt zwischen ihrer Gruppe erzählt in einer Serie Familienge-
tueller reisten dann nach China, um zu von Intellektuellen, also ihrem Mann schichten jenseits der heilen
schauen, wie es anders gehen könnte als Philippe Sollers, Roland Barthes, Michel Welt. Diesmal geht es um Mütter,
in der Konfrontation der Blöcke. Foucault, Jacques Lacan, und den Existen- die mit ihrer Kraft am Ende sind.

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Aufstieg und Fall des zialisten, also Jean-Paul Sartre und Simone
de Beauvoir. Kristeva brachte ihn auf eine
einprägsame Formel: Wir sagen nicht mehr
Martin Schulz – das Buch zur wie Sartre »die Hölle, das sind die ande-
ren«, sondern, die Hölle ist in uns. Es ist
nicht der Blick, die Attitüde, mit der Dritte
»REPORTAGE DES uns begegnen und auf die wir kaum Ein-
fluss haben, die uns einengt und bedrängt,
sondern wir richten solch einen urteilenden,
JAHRES« staunenden und skeptischen Blick auch auf
uns selbst.
In ihrem Denken gibt es kein heroisches
Individuum, das mit sich im Reinen wäre.
Sie spricht lieber von Prozessen, vergleicht
ihr Leben mit einem Fluss, den seine Quel-
le wenig interessiert. Es muss vorangehen.
Mehr gibt es bei ihr nicht. Man kann auf
dem Kontinent ihres Werks nicht eines
Morgens aufwachen und über sich im Kla-
ren sein oder die Wahrheit sagen, man ist
sich selbst ein Rätsel, sonst ist man einfach
uninteressant. Interesse ist ein Wort, das
sie und ihr Mann Philippe Sollers oft be-
nutzen, sie streben danach, ein interessan-
tes Leben zu führen, eines also, das im la-
teinischen Wortsinn dazwischen ist. Nicht
in dem Sinn, dass man keinen Standpunkt
bezieht oder kein Wertegerüst hat, son-
dern eher in dem, dass man sich selbst
überrascht, sich nicht festlegen und be-
schreiben lässt.
Der Gedanke der Freiheit liegt dem zu-
grunde, aber bei Kristeva ist es eine etwas
verschattete Version, eine permanente Be-
freiung von der Übermacht der Familie,
der Ursprünge oder der Erfahrung des To-
talitarismus. Nicht als einmaliger Vorgang
wie in einem zehnstufigen Hilfsprogramm
»Wie komme ich von den Zigaretten los«,
sondern als permanenter Prozess, den
Zeitgenossen totalitärer Systeme nie ab-
schließen können, weil sie sich selbst zu
misstrauen gelernt haben.
Der Bruch in der Biografie, der Wechsel
320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich der Rollen und Perspektiven, die Fremd-
heit bilden wesentliche Momente in der
Weltwahrnehmung. Kristeva spricht nicht
Nie zuvor lagen in der deutschen Politik der extreme mehr von einem Universum, sondern von
Höhenflug und der krachende Absturz näher beieinander als bei einem Multiversum – je nach Perspektive,
je nach Standort erscheint die Welt völlig
Martin Schulz. Markus Feldenkirchen hat den Kanzlerkandidaten anders, die Grenzüberschreitung ist ihre
und SPD-Vorsitzenden begleitet, so exklusiv und hautnah, bevorzugte Fortbewegungsart. Ein agiler
Schatten begleitet die Protagonistinnen im
wie es in Deutschland bislang nicht möglich gewesen ist. Werk Kristevas, so wie das Glück bei ihr
vor allem eine Erschöpfung ist: »Solange
» Zweifellos eines der wichtigsten politischen ich mich erinnern kann, ist das Glück das
Betrauern von Unglück. Es stellt sich ein,
Bücher der letzten Jahre. Eine unglaublich dichte weil das Unbehagen erschöpft ist. Leute,
und selten zu lesende Nahaufnahme aus dem die angeblich glücklich sind und die das
Maschinenraum der Macht. MARKUS LANZ, ZDF « Unbehagen verdrängt haben, die sind
doch unbedeutend.« »Sabina« ist nicht Ju-
lia Kristeva, aber sie zeugt davon, dass die
eingangs erwähnte, von ihr selbst formu-
lierte Frage offenbleibt, und nichts anderes
behauptet Kristeva – ein ganzes irres, le-
bensrettendes Werk lang. Nils Minkmar

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www.dva.de
Kultur

Der Krake
die Negation die Affirmation in sich trage. Gewalt funktio-
niert nicht mehr als Geburtshelferin einer neuen, besseren
Gesellschaft. Sie ist nur noch ein sinnloser Ausbruch, eine ir-
rationale Demonstration ohne konkreten programmatischen
Philosophiekritik Der fleißige Slavoj Žižek Anspruch.
belehrt uns darüber, weshalb sowohl die Die schockierenden Bilder aus dem verwüsteten Hambur-
ger Schanzenviertel während des G 20 im vergangenen Juli
herrschende Ordnung als auch ihr Umsturz entziehen sich dem Bemühen, eine tiefere Bedeutung oder
die Ungleichheit erhalten würden. Botschaft in ihnen zu suchen. Sie sind anarchistische »Pro-
paganda der Tat«, die der russische Revolutionär Michail
Bakunin forderte, oder in Žižeks dürreren Worten »ein un-

D er slowenische Philosoph und Kulturtheoretiker Slavoj


Žižek gilt als der Rockstar unter den Intellektuellen.
Warum, lässt sich leicht erklären: Sein kritisches Den-
ken reduziert sich auf die Feststellung einer Rebellion, die
besonnener Schritt hin zum Handeln, der sich nicht in Spra-
che oder ins Denken übersetzen lässt«.
Das Schillernde, ja Frivole an Žižek ist, dass er zwar der
blinden Gewalt der »wilden Meute« als Instrument der Eman-
sich ihrer Vergeblichkeit von vornherein bewusst ist. Das re- zipation eine Absage erteilt, sie aber zugleich als »panische
volutionäre Subjekt ist nur noch eine schauspielernde Büh- Reaktion« auf die unheilbare Kluft (oder die »Disparitäten«)
nenfigur, ein lärmender Poseur. Der Ausbruch von Gewalt, zu legitimieren scheint, die das soziale Gefüge durchzieht.
den es symbolisiert, ist folgerichtig nicht strategisches Mittel Die Faszination der Gewalt windet sich wie ein roter Faden
zum höheren Zweck, sondern bloße Manifestation des Zorns. durch das Werk dieses bärtigen Denkers. Sie ist, mit einem
Gerade deshalb beleuchtet Žižek die Widersprüche des Begriff des von ihm verehrten und gedanklich ausgeplünder-
modernen Kapitalismus greller als die meisten anderen Post- ten Hegel, »abstrakte Negativität«, abschreckend und anzie-
marxisten. Die wirtschaftlichen und finanziellen Krisen be- hend in ihrer Doppelgesichtigkeit, und sie stellt eine perma-
legen die Fragilität eines ökonomischen und gesellschaftlichen nente Bedrohung der bestehenden Ordnung dar.
Systems, das gleichwohl unersetzlich scheint. Nirgendwo Die Revolution ist geistig und politisch tot. Geblieben sind
zeichnet sich irgendetwas ab, das noch an das sozialistische, selbstzerstörerische revolutionäre Leidenschaften, die, wie
geschweige denn kommunistische Projekt erinnern könnte, es bei Hegel heißt, bloß noch »als die Ausdünstung eines
das 150 Jahre lang als positive Utopie gelten mochte. faden Gases« über der Geschichte schweben. Žižeks »Dis-
Žižeks Schriften, die er in imponierender Zahl und Ge- paritäten« sind die unverhohlene, kichernde Freude am
schwindigkeit produziert, sagen sehr viel über das ideolo- Verwesungsgeruch. Romain Leick
gisch-politische Dilemma, in dem wir uns befinden. Jeder
Ruf nach mehr Gerechtigkeit stößt sofort auf die Mauer seiner
eigenen Unzulänglichkeit: Zum Herbeiführen von sozialer
Gerechtigkeit braucht es weitaus mehr als die begrenzten
Forderungen, die eine noch so großzügige Sozialpolitik er-
füllen kann. Aber niemand vermag zu sagen, worum es sich
bei diesem »weitaus mehr« genau handelt. Um Gleichheit
jedenfalls nicht, wie Žižek mit verblüffender Offenheit zugibt.
Denn selbst in einer idealen Gesellschaft, in der jeder nach
seinen Fähigkeiten und nach seinen Bedürfnissen leben könn-
te, wären die Antriebskräfte des Menschen, die fortwährend
Ungleichheit erzeugen – Antagonismus, Rivalität, Neid –
nicht aufgehoben.
In seinem neuen Werk »Disparitäten« beschreibt Ži-
žek den globalen Kapitalismus als einen Kraken, der
aus der unfassbaren Tiefe des Meers heraus, allmächtig
und stumpfsinnig, gerissen und blind, mit seinen Ten-
takeln unser Leben steuert und peitscht*. Die alte hege-
lianisch-marxistische Vorstellung von einer verborgenen
Vernunft, die als Weltgeist durch ihre List im Geheimen
die Fäden der Geschichte zieht und Fortschritt bringt,
von Hegel und Marx noch mit einem Maulwurf ver-
glichen, hat sich im furchterregenden Bild des Kraken
restlos aufgelöst.
Es gibt keine klar erkennbare Alternative zu den beste-
PABLO LOBATO / ANNA GOODSON FÜR LITERATUR SPIEGEL

henden Verhältnissen: »Davon zu träumen, wie es anders


sein könnte, ist ein Zeichen gedanklicher Feigheit.« Wahrer
Mut besteht darin, der ganzen Misere in ihrer schieren Aus-
weglosigkeit ins Auge zu sehen. »Denken«, so sagte es der
von Žižek beifällig zitierte Giorgio Agamben, »ist der Mut
der Verzweiflung.«
Der Optimismus des Historischen Materialismus versagt,
wenn die Menschen nicht länger der Täuschung anhängen,
dass das Neue aus der Zerstörung des Alten hervorgehe, dass

* Slavoj Žižek: »Disparitäten«. Aus dem Englischen von Axel Walter. WBG;
504 Seiten; 44 Euro.

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Carl Weiss, 92 cher amtierte er von 1989
Er hielt die Arme vor dem bis 2004. Rürup wurde
Bauch verschränkt, sein 1934 geboren und erlebte
Ton war sachlich, der die Zeit der nationalsozialis-
Bedeutung der Aufgabe war tischen Herrschaft in West-
er sich erkennbar bewusst: falen. Mit 20 nahm
Am 1. April 1963, das ZDF er sein Studium auf: Ge-
war gerade an den Start schichte und Germanistik in
gegangen, moderierte der Freiburg und Göttingen.
Journalist Carl Weiss die Mit seinem Doktorvater,
erste Ausgabe der »heute«- dem Mediävisten Percy

DENNIS STOCK / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS


Nachrichten. Weiss war da Ernst Schramm, führte er
längst ein Veteran im Nach- lange Gespräche über den
richtengeschäft. Seit 1948 Krieg und den National-
hatte er als Zeitungsjourna- sozialismus – Themen, die
list gearbeitet, zunächst in Rürup ein Leben lang
München, später in Köln. begleiten sollten. Er wagte
Anfang der Sechzigerjahre sich auch an die Geschichte
wurde er Presseattaché der Geschichtswissenschaft
der deutschen Botschaft in selbst, nahm die braune
Indien. Weiss war einer Vergangenheit der Zunft in
jener Kosmopoliten, die den Blick, um besser zu
den Deutschen die Welt würdigen, wie eine demo-
erklärten und sie dabei im kratisch gesinnte, moderne
Cecil Taylor, 89 Zweifel lieber über- als Wissenschaft funktionieren
Konzerte von Cecil Taylor waren eigenartige Rituale. Er unterforderten. Für das müsste. Rürup forschte zur
betrat den Raum, ein kleiner, drahtiger Mann mit Dread- ZDF berichtete er aus Süd- Geschichte des Antisemi-
locks, murmelte ein paar unverständliche Verse und tänzel- ostasien über den Vietnam- tismus und hegte ein beson-
te seinem Klavier entgegen. Dann setzte er sich und schlug krieg und als Korrespon- deres Interesse für die
ein paar Tasten an, als würde er herumprobieren. Um Schicksale jüdischer Histori-
ziemlich unvermittelt diese scharf zerklüfteten Klangberge ker, die Deutschland in der
aufzutürmen, für die er berühmt war. Er spielte rasend Nazizeit verlassen mussten.
schnell, für Cluster musste er nicht den Unterarm bemü- In den Sechzigerjahren wur-
hen, das konnte er mit der bloßen Hand. Und auch wenn de er Assistent des Histori-
es kurze Pausen zwischen den Stücken gab, war jeder Auf- kers Thomas Nipperdey,
RICHARD KROLL / DPA
tritt ein langer, kompakter, großartiger, verstörender Trip. folgte ihm an das Friedrich-
Nach vielleicht anderthalb Stunden stand er auf, das Kla- Meinecke-Institut in Berlin.
vier war patschnass, der Künstler war patschnass und das Rürup agierte als Mann des
Publikum glücklich, aber erschöpft. Free Jazz ist der Ausgleichs und der leisen
Begriff, auf den Kritiker Taylors Musik in Ermangelung Töne. Er setzte auf Genauig-
besserer Worte gebracht haben, und falsch war das nie, es keit der Fakten und der
war improvisierte Musik, die sich von den Strukturen der dent aus London, Washing- Argumente und hoffte da-
klassischen Improvisation gelöst hatte. Aber es war auch ton und zuletzt für die rauf, beim Publikum durch
nie ganz richtig. Denn das Entscheidende an Taylors Musik ARD aus Brüssel. Carl Weiss Überzeugung zu wirken.
war ihre Intensität, die Körperlichkeit seines Klangstroms. starb am 3. April in Mün- Als Professor für Neuere
Er spielte das Klavier, als hätte er es mit 88 gestimmten chen. MWO Geschichte an der TU Ber-
Trommeln zu tun. Geboren in New York, studierte Taylor lin engagierte sich Rürup
Harmonielehre und Komposition. Im New York der Fünf- Reinhard Rürup, 83 für eine angemessene
ziger war er gleichzeitig im Zentrum des heroischen Zeit- Ohne ihn wäre dieses Land Erinnerungskultur in der
alters des Jazz und an seinem Rand. Denn seine Musik ist heute ein anderes. Rürup deutschen Hauptstadt, heg-
vom ersten Augenblick an anders, stark von Polyrhythmen hat es verstanden, ambitio- te in diesem Sinne größere
geprägt, geheimnisvoller, unverständlicher. In der Män- nierte Geschichtswissen- Ambitionen für Berlin
nerwelt des New Yorker Jazz war Taylor ein interessanter, schaft mit öffentlicher als die meisten gebürtigen
queerer Vogel. Zusammen mit dem Saxofonisten Jimmy Erinnerungskultur zu ver- Berliner und ihre politi-
Lyons gründete er eine Band, die bis Mitte der Achtziger knüpfen, ohne sich selbst in schen Repräsentanten.
Bestand hatte, bis Lyons starb, und die vor allem in Europa den Vordergrund zu stellen. Reinhard Rürup starb am
Erfolg hatte. 1988 kam Taylor nach West-Berlin, um in der Es gibt von ihm keine Best- 6. April in Berlin. NM
Stadt eine Reihe von Konzerten mit europäischen Musi- seller mit schwindelerregen-
DORIS POKLEKOWSKI / AKG-IMAGES

kern zu spielen, die in einer Elf-CD-Box dokumentiert wur- den Geschichtsüberblicken


den – immer noch eines der erstaunlichsten Dokumente und steilen Thesen, auch
der improvisierten Musik. Tatsächlich war es aber auch ein keine DVD-Schuber. Dafür
zweifelhaftes Glück, ein Cecil-Taylor-Konzert später noch hat er als Direktor der Berli-
einmal als Aufzeichnung zu hören: Die Musik lebte von ner »Topographie des Ter-
seiner physischen Anwesenheit. Von ihrer sichtbaren rors« unzählige Berlinbesu-
Unvorhersehbarkeit. Cecil Taylor starb am 5. April in sei- cher über die deutschen Ver-
nem Haus im New Yorker Bezirk Brooklyn. RAP brechen aufgeklärt. Als sol-

DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018 125


Personalien des Beamten gewertet wurde. Comey ist vor allem deshalb
eine so schillernde Figur des Washingtoner Politzirkus, weil er
sich, wie die »New York Times« schreibt, je nach politischer
Ansicht vom Bösewicht zum Retter oder umgekehrt entwickelt
hat, und schon diese Wortwahl zeigt, wie sehr man Politik in

Bösewicht und Retter Storys denkt. Einerseits hat Comey nach Ansicht vieler Demo-
kraten Hillary Clinton im Wahlkampf enorm geschadet, ande-
rerseits könnte er durch sein Wissen Präsident Trump jetzt
G Ein Nebeneffekt von Donald Trumps Präsidentschaft ist die gefährlich werden. Schon sein Auftritt vor dem Kongress im
Wiederkehr des Buches als Enthüllungsmedium. Nach Michael Juni vergangenen Jahres war ein mediales Großereignis, das
Wolffs »Feuer und Zorn« setzt nun der ehemalige FBI-Direk- man live streamen konnte, dementsprechend groß sind die
tor James Comey, 57, auf den Knalleffekt seines Berichts Erwartungen an sein Buch. Der über zwei Meter große Comey
»A Higher Loyalty«, der am Dienstag in den USA und auch sucht nun also, nachdem er sich eher bedeckt gehalten hatte,
in Deutschland (»Größer als das Amt«) erscheinen wird. Schon die Öffentlichkeit und absolviert im Laufe der Woche eine Pro-
der Titel zeigt, dass Comey versucht, die Autorität über sein motiontour durch alle wichtigen Talkshows und Städte, am
Narrativ zurückzuerobern – Trump hatte von ihm Loyalität Freitag wird er in Chicago eine Lesung geben – Ticketpreise
eingefordert, was von vielen als Eingriff in die Unabhängigkeit bis zu tausend Dollar. XVC

JIM WATSON / AFP

Nichts zu lachen all die Scherze, »die Männer


nicht mehr machen dürfen,
rin, dass Frauen so sehr daran
gewöhnt seien, bewertet zu
G Die Moderatorin und Jour- weil sie sonst bei #MeToo lan- werden, dass sie inzwischen
nalistin Lisa Ortgies, 52, kriti- den und ihren Ruf, ihren Job lieber die Flucht nach vorn
siert weibliche Comedians oder ihre Freunde verlieren«, anträten. »Ich stelle mir vor,
dafür, dass sie »auf der Bühne schreibt Ortgies in ihrem wie Dieter Nuhr oder Mario
das ›Welkfleisch‹ an ihren neuen Buch (»Ich möchte Barth über ihre eigenen Hän-
Oberarmen zum Schaukeln gern in Würde altern, aber gehoden frotzeln. Das wäre
ARNE WEYCHARDT

bringen oder über Brüste wit- doch nicht jetzt«, Kiepenheu- irgendwie unsouverän. Und
zeln, die sich in den Knien er & Witsch). Einen mög- schlichtweg nicht witzig. Son-
verfangen«. Die Komikerin- lichen Grund für den Trend dern undenkbar. Weil – wür-
nen machten in ihren Shows zur Selbstironie sieht sie da- delos.« TOB

126 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Politik im Louvre gangenen Woche durch den
Original-Louvre geführt hat,
G Der französische Prä- sorgte für Spekulationen.
sident Emmanuel Macron Nicht zuletzt die Tatsache,
sieht den Louvre anschei- dass Macron mit dem
nend als einen wirksamen Prinzen »Die Freiheit führt
Ort für Symbol- das Volk« von
politik. Das hat Eugène Delacroix
sich gezeigt, als er ansteuerte und

JEAN BENARD VERNIER / POLARIS / LAIF

GORDONWELTERS.COM / DER SPIEGEL


den Innenhof des ein Foto von sich
einstigen Schlosses und dem Thron-
für seine Rede folger vor dem
nach dem Wahlsieg berühmten
nutzte. Und auch Gemälde auf
die Eröffnung des Twitter postete,
Louvre Abu Dhabi, konnte man
also einer Art als dezentes
Dependance in den Bekenntnis zu
Emiraten, war mehr als liberalen Werten verstehen, Die Augenzeugin
nur eine große Feier und die der Kronprinz in Saudi-
wurde von vielen als
Politikum verstanden. Dass
Macron persönlich den
Arabien gerade vorsichtig
einzuführen beginnt. Das
Gemälde zeigt die barbusige
»Eine riesige Lücke«
Kronprinzen Saudi-Ara- Marianne, die blau-weiß-rote In kaum einem Bundesland betreut ein Erzieher im
biens, Mohammed bin Fahne schwenkend – das Durchschnitt mehr Kinder als in Brandenburg.
Salman, 32, während dessen französische Symbol der Frei- Die Fröbel-Gruppe, der größte Träger von Kinder-
Parisaufenthalts in der ver- heit schlechthin. XVC
tagesstätten im Land, erstattete nun Selbstanzeige
bei der Kita-Aufsicht – die Einrichtungen könnten
den vorgeschriebenen Personalschlüssel nicht einhal-
Teure Melone Zuge seiner Scheidung einen
Großteil seiner alten Film-
ten. Sabine Walkhoff-Reichel, 55, leitet den Kinder-
garten und Hort »Benjamin Blümchen« in Potsdam.
G Den eigenen Keller auszu- requisiten beim Auktions-
misten und Dinge loszuwer- haus Sotheby’s, unter ande-
den, die einen an die Vergan- rem den Brustpanzer aus G »Ein schlechtes Gewissen gehört für uns zum Alltag.
genheit binden, kann durch- »Gladiator« für 152 500 aus- Eltern geben ihre Kinder in unsere Hände, doch um die Klei-
aus befreiend sein. Schön tralische Dollar. Im Juni wird nen wirklich zu fördern, ihnen beizubringen, wie man Schu-
auch, wenn man dafür ziem- sich auch Liza Minnelli, 72, he bindet, oder Vorschüler auf den neuen Lebensabschnitt
lich viel Geld bekommt, weil einiger ihrer angesammelten vorzubereiten, haben wir kaum Zeit. Das macht mich trau-
die eigene Berühmtheit auf Schätze entledigen. Das rig. Wir sind doch eine Bildungseinrichtung, nicht bloß eine
die Aura des vermeintlichen größte Interesse dürfte die Aufbewahrungsstelle wie im Möbelhaus!
Krams abfärbt, der auf die- Melone auf sich ziehen, die Das Problem ist: Das Land Brandenburg zahlt pro Kind und
sem Wege zu regelrechten sie 1972 als Sally Bowles Tag nur für eine Betreuung von höchstens 7,5 Stunden. Dabei
Artefakten aufgewertet wird. im Musical »Cabaret« trug. bleibt rund ein Drittel der Kinder 9 Stunden oder länger bei
So versteigerte erst letzte Unter den mehr als 1900 uns. Da entsteht eine riesige Lücke, die wir nicht füllen können.
Woche Russell Crowe im Objekten befinden sich auch Außerdem ist in unserem Stellenplan nicht eingerechnet, dass
mehrere Fotogra- Erzieher auch mal Urlaub machen oder sich fortbilden. Und
fien von Annie Lei- dann darf bloß keiner krank werden – aber wir betreuen 236
bovitz sowie ein Kinder, irgendetwas geht immer rum. Das ist doch Wahnsinn.
20 000-US-Dollar- Seit 2012, als ich die Leitung hier übernahm, sind fünf
Scheck von Andy meiner Mitarbeiterinnen in einen Burn-out gerutscht. Die
Warhol. Derzeit konnten einfach nicht mehr, obwohl keine älter war als 30.
sind Minnellis wich- Mit der Anzeige wollen wir die Behörden auf unsere Lage
tigste Habseligkei- aufmerksam machen. Hoffentlich ändert sich bald etwas.
ten in einer Ausstel- Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt, dass eine Erzieherin
lung im kaliforni- auf maximal sechs Kinder aufpassen sollte. Davon können
schen Beverly Hills wir hier nur träumen. Wir würden gern mehr Ausflüge ma-
zu sehen. »Mein chen und zusammen mit den Kindern die Gegend und die
Leben ist ein Ge- Sehenswürdigkeiten von Potsdam erkunden. Doch das geht
NBC UNIVERSAL / GETTY IMAGES

schenk wechselnder nicht, dafür fehlen uns Betreuer. Die meisten Eltern können
Freundschaften uns nicht unterstützen. Die müssen ja arbeiten.
und Beziehungen, Wir haben einen großen Garten, was toll ist für die Kinder.
die alle in diesen Die können sich richtig austoben. Doch mit so wenig Per-
Objekten gesam- sonal können wir ihre Sicherheit nicht gewährleisten. Was,
1972 melt sind«, sagte wenn einer über den Zaun klettert und wir es nicht mitbe-
Minnelli dazu. XVC kommen?« Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch

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»Das Leben kann süß sein, auch ohne ständigen Zuckergenuss.«
Ursula Tannert, Reichenschwand (Bayern)

Ab in die Küche! Ich bin sehr lebendig, normalgewichtig An Humanität reiben


und kerngesund, obwohl ich mir seit der
Nr. 15/2018 Süßes Gift – Wie die Zucker- Nr. 14/2018 Leitartikel: Die Politik muss
Kindheit nichts Zuckersüßes verweigert
Lobby uns belügt und verführt die Islamskepsis ernst nehmen
habe. Allerdings ohne Alkohol und Niko-
Ob süßes Gift oder giftiges Süß, die Kenn- tin. Im Mai feiere ich nun meinen 90. Ge- Es hat lange gedauert, bis diese Erkenntnis
zeichnung »zuckerfrei« muss her! Wer burtstag mit der Hausgemeinschaft, im auch dem SPIEGEL gekommen ist.
dann noch zuckert, ist selber schuld, er Haushof koche ich einen ausgiebigen Kes- Klaus-Peter Möritz, Berlin
versalzt sich seine Gesundheit selber. selgulasch und genieße eine zuckersüße
Harald Dupont, Ettringen (Rhld.-Pf.) Geburtstagstorte. Vielen Dank für diesen hoffnungsvollen
Dr. Zoltan Magyar, Karlsruhe Artikel, ich fühle mich verstanden. Ver-
Die Verantwortlichen der Adalbert-Stifter- standen, weil ich etwas abseits der libera-
Schule gehen mit der Einführung eines Ich werde den Artikel zum Anlass nehmen, len Demokratie unterwegs bin, rechts von
»zuckerfreien Vormittags« mit nach- meinen Zuckerkonsum zu reduzieren. Lei- der Mitte, immer wieder versuche, die Din-
ahmenswertem Beispiel voran. Der daraus der fehlte mir nun noch eine Darstellung ge realistisch zu sehen, mich gerne an
resultierende positive Langzeiterfolg für liberaler Humanität reibe – und trotzdem
die Kinder wird messbar sein. nichts Böses will.
Horst Winkler, Herne (NRW) Torsten Deseniss, Lünen (NRW)

OLIVER SCHWARZWALD / DER SPIEGEL


Sie erörtern alle Nachteile des Haushalts- Auf den Ansatz, der die liberale Demokra-
zuckers und berichten über den hohen Zu- tie am meisten fördert, scheint in dieser
ckergehalt von Getränken. Aber niemand Debatte noch niemand gekommen zu sein:
ist verpflichtet, damit seinen Durst zu lö- schlicht darauf hinzuweisen, dass in
schen. Man macht es sich einfach, wenn Deutschland Religionsfreiheit für alle
man Fehlernährungen allein der Lebens- Glaubensrichtungen gilt, sofern andere
mittelindustrie in die Schuhe schiebt. Es Bürger nicht beeinträchtigt werden und
ist ebenfalls niemand verpflichtet, sich von der Primat der Verfassung akzeptiert wird.
Fertigpizzen zu ernähren. Jedem steht frei, der Wirkung von Zuckerersatzstoffen wie Niemandem ist gedient mit einer pauscha-
sein Essen mit Grundnahrungsmitteln Stevia und anderen Süßungsmitteln. Viel- len und romantisierten Anbiederung an
selbst zuzubereiten. Verbesserungsvor- leicht können Sie dazu einen weiteren Bei- einen Islam, der in dieser Einheitlichkeit
schlag: nicht palavern, sondern Schürze trag veröffentlichen. nicht existiert und der von fundamentalis-
um und ab in die Küche! Gunnar Hemmann, Greifswald (Meckl.-Vorp.) tischen Salafisten bis hin zu demokratie-
Juliane Altmannshofer, Eggenfelden (Bayern) verträglichen türkischen Aleviten reicht.
Julia Klöckner, Ministerin für Landwirt- Florian Döring, Karlsruhe
Chapeau für Ihre Titelstory. Zucker ist der schaft und Ernährung, schützt die Herstel-
Teufel für die Menschheit. Vor vier Jahren ler und überträgt die Verantwortung an Der Geist ist nie erloschen
begann ich, in meiner Allgemeinmedizin- den »mündigen« Verbraucher. Das sind
Nr. 14/2018 Der schwarze Kanal:
Praxis Ernährungsfragen zu forcieren. An vor allem Kinder und Jugendliche, die
Die 68er-Falle
manchen Tagen laufe ich mit weißen »No nicht wissen, wie viel Zucker in ihrer Er-
Sugar«- oder »Low Carb«-Shirts durch nährung enthalten ist und was er mit ihnen Eine längst überfällige Abrechnung mit
meine Praxis. Und siehe da: Es funktio- macht. der sogenannten 68er-Bewegung, die bis
niert. Die Volkskrankheiten bekomme ich Paul Korf, Hamburg heute links denkt und rechts lebt.
mit meinen Patienten besser in den Griff. Jörg Werner, Lübeck
Dazu empfehle ich viel Bewegung. Nach Kohlenhydraten, Salz und Kaffee
Dr. med. univ. Johann Wolfgang Kruell, Wegberg (NRW) wird nun eine neue Sündensau durchs Klar, die paar Soziologiestudenten, die ge-
Dorf getrieben. Vielleicht wird sie in zehn gen den Vietnamkrieg protestierten, mach-
Mit Verlaub, da fressen sich die Leute die Jahren wieder erschossen, weil neue Er- ten den Braten nicht fett. Aber diese Be-
Hucke voll – und dann ist es der Zucker kenntnisse das Gegenteil ergeben. Solche wegung war ansteckend und griff auf die
gewesen! Seit Jahrzehnten esse ich täglich Kampagnen verunsichern junge und be- Bevölkerung über. In den Siebzigerjahren
300 g Gemüse, 40 g Fett und 160 g Zucker. sorgte Eltern. Das Kind einer Bekannten kämpften Azubis für vernünftige Ausbil-
Dabei habe ich die Figur eines Skischan- weiß deshalb bis heute nicht, wie Schoko- dungspläne, Frauen für ein Gesetz zum
zenspringers (175 cm/58 kg). Ich treibe kei- lade, Eis und Torte schmecken. Das aber Schutz vor Vergewaltigung in der Ehe (es
nen Sport, habe ein normales Blutbild und gehört doch auch zur Lebensqualität! trat 1997 in Kraft), man stellte überkom-
bin 87 Jahre alt. Ich kenne Leute, die mei- Warum gelten Italiener und Franzosen als mene Lebensstrukturen infrage. Wenn
den Zucker sogar im Kaffee und sind dop- so lebensfreudig? Weil sie es lernen zu heutzutage Azubis etwas lernen, statt den
pelt so schwer! Was also soll die Verteufe- genießen und nicht zu Asketen erzogen Laufburschen zu spielen, Frauen keine
lung des Zuckers? werden. Das richtige Maß macht’s. schriftliche Erlaubnis ihres Ehemannes für
Peter Saalfeld, Grafing bei München Jürgen Keil, Crimmitschau (Sachsen) die Berufstätigkeit brauchen, Paare unver-

128 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


Briefe

heiratet zusammenleben, Väter den Kin- Der revolutionäre Charakter von 68 des sogenannten Sozialismus zu überwin-
derwagen schieben, ohne als Weichei aus- war Mythos, Phantasmagorie und Wahr- den, um in Würde und Selbstverantwor-
gelacht zu werden – dann hat es alles mit heit zugleich. Die künstlerisch-politische tung in einem demokratischen Staat leben
den Protesten dieser Zeit zu tun. Avantgarde in den reichen Industrienatio- zu können. Immer wieder wird die Auto-
Margot Rybka, Köln nen verwandelte Campus und Straße zu nomie bei der Willensbildung und die Ei-
einem kämpferisch-agitatorischen Sehn- genverantwortlichkeit mündiger Bürgerin-
Wer die 68er auf Apo, Kommune 1 und suchtsort für einen friedlicheren, gerech-
Benno Ohnesorg reduziert, sieht nur die teren und emanzipatorischen Gegenent-

JOANNA NOTTEBROOK / DER SPIEGEL


medienwirksame Ebene. Der Gedanke der wurf zum herrschenden Establishment.
Bewegung der Endsechziger war einfach die Aber allen liberalen Errungenschaften
Auflehnung der Jugendlichen gegen eine fest- zum Trotz blieb das Gros der Menschen
gefahrene Struktur in allen Bereichen: Eltern, in den späten Sechziger- und Siebzigerjah-
Schule, Ausbildung, Studium, Beruf. Neu ren resistent gegen den Versuch einer Um-
war, dass sie das öffentlich zeigten und damit, gestaltung der Gesellschaft.
erstmals in der Bundesrepublik, von ihren Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW)
demokratischen Rechten Gebrauch machten.
Dieser »Geist« ist nie wieder ganz erloschen, Am Ende des Lebensbogens Krebspatient Brennecke
wie heutige Bürgerrechtsbewegungen zei-
Nr. 14/2018 Schwerstkranke verzweifeln an
gen. Die in den Medien und der Historie auf- nen und Bürger öffentlich beschworen.
den Gesetzen zur Sterbehilfe
gebauschte »Studentenbewegung der 68er« Aber in einer alle Menschen existenziell
baute nur auf dieser Grundstimmung auf. Im Mai 2016 bekam ich die Diagnose: Alz- betreffenden Angelegenheit – nämlich hu-
Uwe Wolf, Weinheim (Bad.-Württ.) heimer durch eine Genmutation. Nun, fast man sterben zu dürfen – entmündigt der
zwei Jahre später, geht es in den Zustand, Staat aufgeklärte Menschen.
Agitatorischer Sehnsuchtsort dass ich in ein Pflegeheim muss. Kein Staat, Dr. Diethard Mai, Merzhausen (Bad.-Württ.)
keine Organisation dieser Welt hat das
Nr. 14/2018 Die Tochter der RAF-Terroristin
Recht, mir vorzuschreiben oder zu verbie- Es geht um das Recht auf Hilfe beim
Ulrike Meinhof berichtet im SPIEGEL-Ge-
spräch von ihrer schwierigen Kindheit ten, dass ich mich selbst töte. Das bestim- selbstbestimmten Sterben nicht nur für
me nur ich. Es ist eine menschenverachten- Schwerstkranke, sondern auch für Alte
Meine Hochachtung für Frau Röhl und die de Denkweise, jemandem den Suizid zu oder Lebensmüde. Es ist menschenverach-
Perspektive, die sie mit diesem Interview verbieten. Ich habe vorgesorgt und werde tend, den Sterbewunsch zu ignorieren und
auf das Phänomen der 68er im Allgemei- mich friedlich töten durch ein Medikament, hilfsbereite Ärzte über das Strafrecht zu
nen und der Roten Armee Fraktion im Be- das ich im Darknet gekauft habe. Das ist kriminalisieren, statt sie von der Kranken-
sonderen eröffnet. Als 1962 Geborener ein Grundrecht jedes Menschen. kasse zu bezahlen. Es bleibt zu hoffen,
habe ich die Akteure der RAF als Verirrte Name und Wohnort sind der Redaktion bekannt dass der Bundestag nach dem Urteil des
wahrgenommen, die als Antizionisten und Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig
Fans von Massenmördern wie Ho Chi Tiere lässt man aus Mitleid einschläfern, erneut über die Sterbehilfe entscheidet.
Minh eine marxistische Revolution entfa- wenn ihr Leben nur noch leiden heißt. In Oder dass das Bundesverfassungsgericht
chen wollten, welche im aufstrebenden Deutschland verweigern die Politiker den fordert, das Verbotsgesetz von 2015 zu
Wohlstandsdeutschland der Nachkriegs- Menschen die Wohltat einer Selbstein- überarbeiten.
zeit nie eine Chance hatte. Dieser Wohl- schläferung. Otfried Klein, Bonn
stand und die hedonistische Kultur der Gerd S. Ullmann, Alfter (NRW)
Hippie-Bewegung haben unserer Demo- Zum Schluss heulen beide
kratisierung mehr gedient als die Links- Wir Ärzte sollten uns unbedingt davor
Nr. 14/2018 Russland ist nicht das Opfer
hüten, sei es auch auf Verlangen von Men- des Westens, es ist ein Aggressor
schen und mit Zustimmung der Politik, Le-
ben aktiv zu verkürzen – wir sollten aber Der Blick des Autors ist ein Blick durch
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

auch wieder den Mut besitzen, Leiden am eine Schießscharte: verengt. Die größten
Ende eines Lebensbogens, mit den Mög- Aggressoren USA und Großbritannien
lichkeiten der modernen Medizin, nicht werden als die Guten dargestellt. Eine völ-
unnötig zu verlängern und unsere Mitmen- lig verzerrte Darstellung.
schen gehen zu lassen. Günter Mantoan, Sundern (NRW)
Uwe Wojts, Facharzt, Weiterstadt (Hessen)
Keine Beweise, dann eben nach dem Mot-
Röhl (M.) beim SPIEGEL-Gespräch Als Hospiz-Mitarbeiterin stieß ich auf das to: Den Russen ist das zuzutrauen. Schnell
Buch »Sterbefasten« von Christiane zur wird vergessen, wie wichtig das Ende des
faschisten der 68er-Bewegung, deren Ide- Nieden. Nachdem ich diese Art des selbst- Kalten Krieges für die Welt war. Und wie
alisierung mit diesem Interview hoffentlich bestimmten Sterbens auch in der Praxis soll das weitergehen? Nimmst du mir mei-
ihr Ende gefunden hat. miterleben konnte, werde ich mich gege- ne Schippe weg, nehme ich deine. Zum
Volkhard Ziegler, Witten (NRW) benenfalls ebenso für diesen würdevollen Schluss ist sogar der Sandkasten leer, und
Weg entscheiden, wenn mir mein Leben es heulen beide.
Ein wunderbares Interview. Tolle Fragen, unerträglich werden sollte – schon heute Rüdiger Lüttge, Altlandsberg (Brandenb.)
kluges Nachfragen und eine Zeitzeugin, ein beruhigender Gedanke!
die es sprachlich versiert versteht, Emo- Ute Gebhardt, Einbeck (Nieders.)
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
tionales auf den Punkt zu bringen. Für (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
mich einer der erhellendsten Artikel zum Generationen von Deutschen haben dafür sowie digital zu veröffentlichen und unter
überpräsenten 68er-Thema. gekämpft, den Feudalismus, den Nazi- www.spiegel.de zu archivieren.
Martin Weiß, Berlin terror und die Entmündigungstendenzen

129
Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate

Aus der »Sächsischen Zeitung«


Jetzt im Die »Welt« zum SPIEGEL-Gespräch
mit Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) »Ich orientiere

Aus dem »Weekend Magazin


Handel mich an Strauß« (Nr. 14/2018):

Vorarlberg«: »Bis heute verkörpert In einem Interview mit dem SPIEGEL mal-
Asma al-Assad das sympathische te er den Deutschen die beste aller Welten
Gesicht der syrischen Diktatur.« aus – eine Zukunft nahezu ohne Ab-
schwung: »Die deutsche Wirtschaft kann
in den nächsten Jahren weiter um 2 bis 2,5
Prozent pro Jahr wachsen. Ich halte es für
möglich, dass wir diesen Wachstumspfad
noch für mindestens 15 bis 20 Jahre fort-
setzen können«, sagte Altmaier … Es ist
Kochanleitung auf einer Reispackung schon erstaunlich, wie wenig Widerhall
diese Äußerung in der Öffentlichkeit fand.
Der Bundeswirtschaftsminister verkündet
Aus der »Chamer Zeitung«: »Forscher quasi das Ende der Konjunkturzyklen …
haben herausgefunden, dass die Zwei Jahrzehnte, in denen Deutschlands
Käfer bei der Suche nach einem Heim Wirtschaft stärker wachsen soll, als es
einen Fabel für Alkohol haben.« ihrem Wachstumspotenzial entspricht.
Wann hat es das zuletzt gegeben? Um es
kurz zu machen: im wiedervereinigten
Deutschland noch nie. In der »alten«
Bundesrepublik? Ebenfalls nie.

Aus der »Süddeutschen Zeitung« Der »Tagesspiegel« zur SPIEGEL-


Reportage »Tod in Berlin« (Nr. 12/2018):

Aus der »Emder Zeitung«: »Schnittlauch Kürzlich veröffentlichte der SPIEGEL die
ist auch ein Hingucker im Bett.« www.spiegel-geschichte.de Geschichte einer Partygängerin, die im
Technoclub Berghain zwei Pillen Ecstasy
nahm und an den Folgen verstarb. Seit-
dem wird wieder vermehrt diskutiert, wie
X Auch als App für iPad, Android viel Intransparenz den Clubs zugestanden
Schaufensterwerbung in Schwäbisch Hall werden darf und muss … Auch Lutz Leich-
sowie für PC/Mac. Hier testen: senring, Sprecher bei der Berliner Club-
spiegel-geschichte.de/digital commission, kennt dieses Dilemma. Sein
Aus dem »Gäuboten«: »In Deckenpfronn Verein dient als Schnittstelle zwischen
sind Planungen für ein neues Friedhof- Clubbetreibern und der Öffentlichkeit. Es
konzept in vollem Gange. Die Aufenthalts- sei wichtig, dass die Clubs sich auch
qualität soll dadurch erhöht werden.« weiterhin in einer Grauzone bewegen kön-
nen. Es dürfe nicht alles durchreguliert
werden, »sonst sehen die Clubs alle
Lesen Sie dazu: irgendwann von innen wie eine Bank
aus«.
Alltag
Das Leben im Schloss Die »Frankfurter Allgemeine Sonntags-
zeitung« zitiert den SPIEGEL-
Bericht »Der unheimliche Ort Berlin«
Diplomatie (Nr. 21/1987) über den mythischen
Berliner Bezirk Kreuzberg:
Angabe der Tragfähigkeit vor einer Der bizarre Kampf um
Brücke in Marpingen Der Ton war rauh, auch unter den Beset-
die Ehre zern und ihren verschiedenen Fraktionen.
»Keiner ist keinem grün in der Waldemar-
Aus der »Märkischen Allgemeinen«: straße. Wer in der 31 wohlgelitten ist, ist
»TuS Dallmin – Lindenberger SV 2:3 (0:1). Hofzeremoniell in der 33 ein Schwein und in der 35 ein
In diesem Kellerduell begann die Auf- Faschist. Und umgekehrt«, schrieb die
holjagd der Dallminer zu spät. Die Linden- Politik mit Glamour SPIEGEL-Autorin Marie-Luise Scherer in
berger legten früh vor und lagen nach einer einfühlsamen Milieustudie aus den
gut einer Woche mit drei Treffern vorn.« achtziger Jahren.

130 DER SPIEGEL Nr. 16 / 14. 4. 2018


l
Preview am 23. Apri
i
Kinostart am 3. Ma

Die Preview-Aktion wird am Montag,


dem 23.04.2018, stattfinden. Für
zwei kostenlose Kinokarten können
Sie sich ab sofort online registrieren:
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Am Mittwoch, dem 18.04.2018,
werden Sie per E-Mail informiert, ob
Sie bei der Preview dabei sind.
Achtung: Die Tickets sind nicht über-
tragbar. Missbrauch wird zur Anzeige
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Köln Cinedom
Im Mediapark 1
Beginn: 20.00 Uhr
7 TAGE IN ENTEBBE München
27. Juni 1976 – eine Gruppe palästinensischer und deutscher Terroristen kapert die Air- Kino Münchner Freiheit
France-Maschine 139 auf ihrem Flug von Tel Aviv nach Paris und erzwingt eine Lan- Leopoldstraße 82
dung in Entebbe, Uganda. Die israelischen Geiseln an Bord sollen gegen palästinensi- Beginn: 20.00 Uhr
sche Gefangene ausgetauscht werden. Mit einem Ultimatum von nur einer Woche muss
die Regierung in Israel eine schwerwiegende Entscheidung treffen – durchbricht sie ih- Nürnberg Cinecittà
re bisherige Maxime, mit Terroristen nicht zu verhandeln? Es folgen 7 Tage in Entebbe, Gewerbemuseumsplatz 3
Beginn: 20.00 Uhr
die sowohl die Politiker als auch die Kidnapper ans Äußerste bringen ...
7 TAGE IN ENTEBBE beruht auf den wahren Ereignissen der „Operation Entebbe“, die Stuttgart
die Befreiung der Geiseln von Mitgliedern der linksextremen Roten Zelle und der Volks- Metropol
front zur Befreiung Palästinas zum Ziel hatte. Inszeniert wurde der Thriller von dem Bolzstraße 10
Regisseur José Padilha („Narcos“, „Robocop“), in dem die Golden Globe®-nominierten Beginn: 20.00 Uhr
Schauspieler Daniel Brühl und Rosamund Pike die Hauptrollen übernahmen. 7 TAGE
IN ENTEBBE feierte seine umjubelte Weltpremiere auf der 68. Berlinale und wurde mit
dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet. www.7tageinentebbe-derfilm.de
/eOne.de
Warum hatte man früher eigentlich
Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man heute


zeitgemäß Geld ansparen kann, schon

• Schrittweise: Mit einem Fondssparplan kann man bereits


ab 25,– Euro im Monat für große oder kleine Wünsche ansparen
• Flexibel: Sie können Ihren Sparbetrag jederzeit senken, erhöhen oder aussetzen.
Und wenn Sie Ihr Geld benötigen sollten, erhalten Sie es bewertungstäglich zurück*
• Aussichtsreich: Nutzen auch Sie die Ertragschancen der Finanzmärkte, die wir stets für
Sie im Blick haben. Bitte beachten Sie das Risiko marktbedingter Kursschwankungen

Seit nunmehr 60 Jahren ist es unser Anspruch, das Vermögen unserer Anleger zu vermehren.
Lassen auch Sie sich zu den Möglichkeiten beraten. Bei Ihrer Volksbank Raiffeisenbank
oder besuchen Sie uns auf www.sparstrumpf.de.

Geld anlegen klargemacht

*Dies bedeutet, dass an jedem Tag, an dem an der Börse gehandelt wird, Ihre Anteile zurückgegeben werden können. Beachten Sie dabei:
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass am Ende der Ansparphase weniger Vermögen zur Verfügung steht, als insgesamt eingezahlt wurde.
Bei Anlagen in offene Immobilienfonds sind gesetzliche Fristen zu beachten. Weitere Informationen, die Verkaufsprospekte und die wesentlichen
Anlegerinformationen erhalten Sie kostenlos in deutscher Sprache bei allen Volks- und Raiffeisenbanken oder direkt bei Union Investment Service
Bank AG, Weißfrauenstraße 7, 60311 Frankfurt am Main, unter www.union-investment.de oder telefonisch unter 069 58998-6060.
Stand: 13. April 2017.

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