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Der Fall Loris Karius
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Nr. 23 / 2.6.2018
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schen. »Normalerweise sind wir
Konferenzteilnehmer im SPIEGEL-Gebäude die Absender, diesmal waren wir
die Empfänger«, sagt SPIEGEL- Jetzt l selber
und
Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, »und wir haben dabei viel gelernt.« Barbara
Hans, Chefredakteurin von SPIEGEL ONLINE, findet: »Die Leserkonferenz war ein lernen chen!
großer Gewinn. Journalisten können es sich schlicht nicht mehr leisten, nur zu senden, ma
wir müssen intensiver zuhören.« Und ein Ergebnis steht schon fest: Für unseren
Verlag war dies nicht die letzte Veranstaltung dieser Art. Seite 72
W
ie man in diesen Tagen erfahren muss, ist das Manche argumentieren, dass doch die Bremer Staats-
deutsche Asylsystem zu einer Art Lotterie anwaltschaft bereits ermittle und der Bundesrechnungshof
geworden. Nicht nur in der Bremer Skandal- das Bamf nun prüfe – wozu brauche es da noch einen
filiale des Bundesamts für Migration und Untersuchungsausschuss? Doch die Frage nach der Verant-
Flüchtlinge (Bamf), wo die Chefin wohl über Jahre Verfah- wortung in einer Affäre kann nur ein Gremium klären: ein
ren manipulieren konnte, ging es drunter und drüber. Es parlamentarischer Untersuchungsausschuss, mit all seinen
mehren sich die Hinweise, dass auch andernorts Beamte Rechten und Möglichkeiten.
viele kleine und womöglich auch große Fehler machten, Er kann Akten aus Ämtern und Ministerien anfordern, bis
und sei es aus Überforderung. hin zur letzten Mail eines Unterabteilungsleiters. Er kann
Manche Dienststellen des Bamf erkannten Flüchtlinge Zeugen vorladen, die zur Wahrheit verpflichtet sind und
großzügig an, während anderswo gnadenlose Entscheider grundsätzlich öffentlich aussagen müssen. Das ist weit mehr,
auf fast jeden Bescheid »abge- als sich ein paar Stunden lang hin-
lehnt« schrieben. Der Eindruck, ter verschlossenen Türen von In-
der entsteht, ist fatal: Statt Recht nenminister Horst Seehofer und
und Ordnung hätten im Bundes- Bamf-Präsidentin Jutta Cordt den
amt für Migration und Flüchtlinge Stand der Dinge darlegen zu las-
vielfach Chaos oder gar Willkür sen, wie es in dieser Woche pas-
geherrscht. siert ist. Zumal dort einige der Ver-
Eine Opposition, die ihre Kon- säumnisse erst eingestanden wur-
trollfunktion ernst nimmt, muss den, nachdem sie zuvor von den
die Zustände im Flüchtlingsamt in Medien enthüllt worden waren.
einem parlamentarischen Unter- Vermutlich wird ein Untersu-
ROBERT GRAHN / EUROLUFTBILD / FUNKE FOTO SERVICE
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Titel
ANTONIO MASIELLO / GETTY IMAGES
La tragedia
Italien In Rom bringen Populisten mit ihrem Anti-Euro-Kurs das europäische
Projekt ernsthaft in Gefahr. Sie treiben ihr Land und Europa nach
dem Griechenland-Drama und dem Brexit-Entscheid in die nächste große Krise.
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Lega-Chef Salvini
Der unangefochtene Sieger der letzten Wochen
D
Premierminister wird wohl der Jurist und
er Mann, der in den Tagen seit nanzminister durchsetzen wollte, der den Universitätsprofessor Giuseppe Conte.
der Wahl zum wichtigsten Poli- Euroaustritt befürwortet hatte. Doch nun Nicht wenige Kommentatoren glauben,
tiker seines Landes und zum versucht Salvini alles, um zu belegen, dass dass Salvini die Krise dieser Woche bewusst
Schreckgespenst Europas gewor- er angeblich nichts gegen den Euro habe. provoziert hat. Wenn es in den kommen-
den ist, will jetzt ein Staatsmann sein. Am Mittwoch fuhr ein Trupp Maler den Monaten doch noch zu Neuwahlen
Matteo Salvini, 45, Anführer der rechts- vor dem Hauptsitz der Lega an der Via kommen sollte, was in dieser so ungleichen
nationalen Lega, hat seit Jahren immer wie- Bellerio in Mailand vor. Jahrelang prangte Koalition nicht unwahrscheinlich ist, dann
der angekündigt, dass Italien unter seiner dort an einer Mauer riesengroß der Schrift- wäre er wohl der Gewinner. Den Gegnern
Führung den Euro verlassen werde, zu- zug »Basta Euro« – Schluss mit dem Euro. der Populisten bleibt nun die Hoffnung,
nächst schien sogar die Regierungsbildung Die Maler strichen die Mauer weiß. Als dass diese sich in einer kurzen, chaotischen
daran zu scheitern, dass Salvini einen Fi- hätte es die Wörter nie gegeben. Regierungszeit schnell selbst entzaubern.
Eine kräftige liberale, moderate oder Höhe schnellen, das Land könnte befürwortet er eine Staatsfinanzierung
linke Opposition gibt es nicht mehr im vor dem Staatsbankrott stehen. Rettung? durch die Zentralbank, die laut EU-Ver-
Land, die traditionellen Parteien, die be- Keine Chance. Dafür ist Italien zu groß. trägen verboten ist. Eine moderate Figur
kannten Politiker der Mitte, viele davon Es ist dieses Horrorszenario, vor dem ist auch er nicht.
haben an Glaubwürdigkeit verloren. Ita- Europa sich seit Jahren fürchtet. Und es Europas Banken leiden schon jetzt unter
lien bietet ein trauriges Bild, es steht für könnte fürchterlich schnell wahr werden. dem Chaos in Rom, weil sie beim Verkauf
das Versagen der Politik, aber auch für die Die ersten Warnzeichen sind schon zu eigener Anleihen Käufern höhere Zinsen
Auswirkungen der Euro-Rettungsversu- sehen: Der Spread, der Zinsabstand zwi- bieten müssen. Auch deutsche Geldinstitute
che, die nicht nur in Italien die Extremisten schen zehnjährigen italienischen und deut- schauen sorgenvoll auf das, was passiert –
gestärkt haben. schen Staatsanleihen, hatte sich zwischen- 91 Milliarden Dollar an Außenständen ver-
Streben die beiden so unterschiedlichen zeitlich fast verdreifacht, die Mailänder zeichnet man in Italien. Nur französische
populistischen Parteien nun, wie befürch- Börse verbuchte Milliardenverluste. Banken müssen mit 311 Milliarden Dollar
tet, einen Austritt aus der Eurozone an, Die Märkte blieben nach der Einigung noch höhere Ausfälle fürchten.
aus der EU gar – oder ist ihren jüngsten auf eine Regierung zunächst gelassen – of- Am bedrohlichsten ist die Situation für
Dementis zu glauben? Und was, wenn sie fenbar ist den Anlegern eine Populisten- Italien selbst: Geschäftsbanken, Zentral-
Ernst machen und mit dreistelligen Mil- regierung doch lieber als Neuwahlen. Und bank, Regierung und Kleinanleger sind
liardenbeträgen ihr Wahlvolk päppeln und es ist gut möglich, dass es bis zur ersten dort enger miteinander verwoben als an-
auf den EU-Stabilitätspakt pfeifen? großen Auseinandersetzung zwischen derswo. 48 Prozent aller staatlichen
Es geht um so viel mehr als um eine Rom und Brüssel ein wenig dauert, etwa Schuldscheine, weit mehr als 1000 Mil-
italienische Sommerposse. Es geht um die bis zu den Haushaltsverhandlungen. liarden Euro, befinden sich im Besitz ita-
Zukunft der drittgrößten Volkswirtschaft Was manch einen ebenfalls beruhigen lienischer Banken, Versicherer und Klein-
der Eurozone und vor allem um das Über- mag, ist die Tatsache, dass drei wichtige sparer. Weitere 20 Prozent sind geparkt
leben des Euro. Denn die verdrängte Eu- Mitglieder der Regierung keine Mitglieder bei der Banca d’Italia.
rokrise könnte schon sehr bald wiederkeh- der beiden Parteien, sondern eher Tech- Und das sind nur die wirtschaftlichen
ren – und diesmal mit einer anderen nokraten sind, so der Stand in der Nacht Herausforderungen, schlimm genug be-
Wucht als damals, vor sechs Jahren, als es zum Freitag. reits. Europa kämpft derzeit an vielen
»nur« um Griechenland ging. Da ist allen voran Premierminister Con- Fronten, im Inneren, aber auch nach au-
Sollten Salvini und Di Maio wie ange- te – aber auch der designierte Außenmi- ßen. Die Gemeinschaft muss ihre Haltung
kündigt mit ihren geplanten Mehrausga- nister Enzo Moavero Milanesi, der schon zu Donald Trump finden, dessen irrlich-
ben die Staatsschulden von mehr als zwei der Expertenregierung von Mario Monti ternde Politik Sicherheit und Wohlstand
Billionen Euro weiter in die Höhe treiben, angehörte. Finanzminister sollte der Wirt- Europas gefährdet. Trump zwingt Europa
dann käme eine schwer aufzuhaltende Spi- schaftsprofessor Giovanni Tria werden – einen Handelskrieg auf, mehr noch, er
rale in Gang: Die Europäische Zentralbank er will nicht den Euro verlassen, hat aller- droht all jene Regeln außer Kraft zu setzen,
würde keine italienischen Staatsanleihen dings schon gefordert, Deutschland solle mit denen die Europäer ihren Platz in der
mehr aufkaufen dürfen, die italienischen austreten, weil sein Handelsüberschuss mit Welt gefunden hatten, den Handel in der
Zinsen an den Märkten würden in die der Eurozone inkompatibel sei. Außerdem WTO, die Sicherheit in der Nato.
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FABIO ITRI / DER SPIEGEL
Fünf-Sterne-Hochburg Priolo Gargallo auf Sizilien: Das Armenhaus des Landes
Doch wie soll die EU in einen Handels- Denn welcher deutsche Konservative die Klimapolitik oder den Umgang mit
krieg ziehen, wenn Italien ins Chaos ab- stimmt schon einem neuen Krisenbudget China.
zugleiten droht? Gerade jetzt, da die EU zu, wenn der erste Anwendungsfall sich Das Aufleben des Nationalismus in Euro-
sich als Gegenmodell zu Trumps Allein- gerade in Echtzeit abspielt? Die EU wollte pa – und ausgerechnet in Italien – ist eine
gängen beweisen könnte, da Japan, Mexi- mit Macron in den Reformmodus starten, schlechte Nachricht für den Kontinent.
ko und die Staaten des südamerikanischen Italien reißt die Gemeinschaft in den Kri- Wenn es je ein großes Ziel der Gemein-
Mercosur Schlange stehen, um in Brüssel senstrudel zurück. schaft gab, dann war es dieses: den natio-
Handelsabkommen abzuschließen, steht Das gilt nicht nur für die Eurozonen- nalen Egoismen die Vision einer trans-
der Union womöglich ein monate-, wenn Reform, sondern für fast alle politischen nationalen Wertegemeinschaft entgegenzu-
nicht jahrelanges Gezerre um eine mög- Großprojekte. Auch die angestrebte Eini- setzen. Was hält Europa zusammen, wenn
liche Rettung Italiens bevor. Und dann ist gung zum Asylrecht, die Entscheidung, ob dieses Fundament erschüttert wird?
da ja noch, ganz nebenbei, der in einem und unter welchen Voraussetzungen EU- Und das in einer Zeit, da Trump und
Dreivierteljahr anstehende Brexit. Mitglieder verpflichtet werden können, Putin das multilaterale Regelwerk, errich-
Nun also Italien, Gründungsstaat der Migranten aufzunehmen, scheint nun wie- tet in jahrelanger Arbeit, einreißen wollen
EU, Stützpfeiler der Nato und drittgrößte der ungewiss zu sein – obwohl sie in Ita- und wieder auf das Recht des Stärkeren
Volkswirtschaft der Eurozone? Taumelt liens ureigenstem Interesse wäre. pochen. Durch die Aufkündigung interna-
dieses Land, kommt die gesamte europäi- In der Italienkrise vermischen sich die tionaler Abkommen und den Bruch völ-
sche Architektur ins Wanken. zwei größten Herausforderungen der EU, kerrechtlicher Regeln; durch Handelskrie-
Es rächt sich, dass die Gemeinschaft die wirtschaftliche Bedrohung der Euro- ge, Eroberung und Annexion. Eine Welt
nach dem knappen Verbleib Griechen- zone sowie die Erosion der gemeinsamen also, in der die EU ein Bollwerk sein müss-
lands im Euro nie die Kraft zu grundsätz- Werte und Normen. Wenn in Italien nun te, ein Hort der Vernunft. Aber diese Rolle
lichen Reformen der Wirtschafts- und Populisten regieren, könnte sich das Land kann eine EU nicht spielen, in der künftig
Währungsunion aufgebracht hat. Und dass künftig in Konfrontation zu Brüssel be- Männer wie Salvini den Ton angeben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die wegen. Etwa, indem es sich in zentralen Um die italienische Krise zu verstehen,
Ideen von Frankreichs Präsident Emma- Fragen mit den Rechtspopulisten in Frank- um zu verstehen, weshalb die Populisten
nuel Macron für Europa nie eine Antwort reich, Österreich oder Finnland solidari- inzwischen einen derartigen Erfolg haben,
gegeben hat. siert oder mit den EU-kritischen Regierun- reicht es nicht, auf Rom zu blicken. Besser,
Die Zeit, Reformen anzugehen, war gen in Ungarn und Polen. man geht dahin, wo Italien fast schon zu
schon immer knapp. Angesichts der italie- Oder es könnte sich auf die Seite von Ende ist, nach Sizilien, in das Armenhaus
nischen Krise scheint sich das Zeitfenster Halb- oder Vollautokraten wie Donald des Landes.
nun zu schließen. Ein Minimalkonsens Trump und Wladimir Putin stellen – und Dort, in einer Kleinstadt südlich des
beim wichtigen EU-Gipfel Ende Juni – die Einheit Europas unterminieren. Zum Ätna, sitzt an diesem Frühsommertag
mehr erwarten selbst Optimisten nicht. Beispiel, wenn es um das Iran-Abkommen Teresa Lauria, 32, und erzählt von ihrer
Gerade die Angst vor einem Kollaps Ita- geht, die von US-Präsident Donald Trump Wut – darüber, dass Italiens Präsident Mat-
liens macht es Angela Merkel noch schwe- verhängten Handelszölle (siehe Seite 58), tarella ihre Partei, die Fünf-Sterne-Bewe-
rer als bisher, auf Macron zuzugehen. die Verlängerung der Russlandsanktionen, gung, zunächst von der Regierung fernhal-
ten wollte. Lauria sagt, da hätten noch Amt gejagt, wegen Korruption und ande- sind und etwas für eine bessere Zukunft
andere Kräfte gewirkt, »Druck aus Europa, rer Vorwürfe. Dazu kommt in Sizilien tun«, sagt sie. »Mit unserer Idee einer mo-
auch aus Deutschland«. noch ein weiteres Problem: die anhaltend difizierten Flat-Tax könnten wir die Wirt-
Lauria engagiert sich seit 2012 für die hohe Arbeitslosigkeit. In ganz Süditalien, schaft im Süden nachhaltig beleben.«
Fünf Sterne. Ihr Vater war Kommunist, dem Mezzogiorno, liegt sie bei 19 Prozent, Den Einfluss Europas auf Italien hält sie
erzählt sie, »wie praktisch alle Arbeiter in im Landesdurchschnitt bei 11 Prozent. für »viel zu groß«, ihr Land werde bevor-
der Stadt«. Jetzt kandidiert sie fürs Bür- Über die Hälfte der Jugendlichen im Sü- mundet, aber es fehle die Solidarität. Als
germeisteramt in Priolo Gargallo, die Wahl den ist arbeitslos. Viele, die studiert haben, Beispiel nennt sie die Flüchtlinge, die
findet am 10. Juni statt. 72 Prozent der wandern ab, um anderswo bessere Bedin- übers Mittelmeer kommen: »Viele Länder
Wähler haben hier bei der Parlamentswahl gungen zu finden und mehr zu verdienen. haben Mauern gebaut, damit schützen sie
im März ihr Kreuz beim M5S gemacht – Die durchschnittliche Wirtschaftsleistung sich, tun aber nichts für uns.« Früher habe
das beste Wahlergebnis der Bewegung in im Süden liegt bei 18 600 Euro, das ist we- sie sich »die EU immer als große Familie
ganz Italien. »Die Euphorie war riesig«, nig mehr als die Hälfte des norditalieni- vorgestellt, doch so ist es nicht«. Kurz ge-
sagt Lauria. schen Durchschnitts von 34 000 Euro. sagt: »Die anderen spielen ein Spiel, bei
Priolo Gargallo liegt inmitten eines ge- Dass der Fünf-Sterne-Bewegung plötz- dem Italien nicht dabei ist.«
waltigen Industriegebiets, wo am Ende der lich ein Wirtschaftswunder gelingen könn- Im Wahlkampf um das Bürgermeister-
Straßen die Schlote der Fabriken aufragen. te, glaubt auch Lauria nicht. »Aber die amt setzt Teresa Lauria auf den direkten
In petrochemischen Anlagen und Stahl- Menschen trauen uns zu, dass wir ehrlich Bürgerkontakt. Am Dienstagabend fährt
werken arbeiteten hier einst 30 000 Men- sie mit einem zum Wahlwerbemobil um-
schen. Heute sind nicht einmal mehr halb gerüsteten Fiat Panda durch die Stadt und
so viele Leute beschäftigt. Wegen der Um- 29,5 Wahlumfrage Italien hält immer wieder an, um mit Passanten
weltgifte in der Luft, im Wasser und im 27,5 vom 28. Mai 2018 zu reden und ihr Programm zu verkünden.
Boden gilt die Gegend um Priolo Gargallo Den lautesten Beifall bekommt sie für
als »Dreieck des Todes«. einen Satz, dessen Wirkung sie anschei-
Damit alle Bewohner wenigstens kos- nend schon kennt: »Wir wollen kein Volk
tenlos sauberes Wasser trinken können, 19,4 von Schnorrern sein!« Lauria sagt: »Nicht
hat die Stadtregierung vor einigen Jahren wir sind Schnorrer, sondern die Politiker,
einen Kiosk im Stadtzentrum aufgestellt, die von uns Bürgern das Geld bekommen,
das »Haus des Wassers«. Jeder Einwohner aber nichts zurückgeben.«
kann dort kostenlos gefiltertes Wasser ab- 3-Prozent-Hürde Aber Italien, das ist eben das Paradoxe,
füllen. Der langjährige Bürgermeister An- 8,0 ist nicht nur Priolo Gargallo mit seinem
tonello Rizza hat sich darauf stolz mit sei- verdreckten Wasser. Sondern auch Mai-
nem Namenszug verewigt. 3,8 2,7 land, die heimliche Hauptstadt des Lan-
Rizza kann den Kiosk allerdings nicht des, die Stadt der Banker, der Haute Cou-
M5S Lega PD FI FdI LeU
mehr aufsuchen, er steht unter Hausarrest. Populisten Rechtspop. Sozialdem. Mitte-rechts Nationalist. Linke ture und des Großbürgertums, mit ihren
Vor einigen Monaten wurde er aus dem Angaben in Prozent; an 100% fehlende: Sonstige; Quelle: SWG edlen Einkaufspassagen und teuer geklei-
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FABIO ITRI / DER SPIEGEL
Di-Maio-Anhänger auf Sizilien: »Nicht wir sind Schnorrer, sondern die Politiker«
deten Menschen. Italien, das ist ein gespal- demokraten Matteo Renzi, angetreten vor das Ergebnis: 59 Prozent der Abstimmen-
tenes Land, wo der Süden dem Maghreb vier Jahren als »Verschrotter«. Smart, rot- den lehnten die Verfassungsänderung ab.
gleicht und der Norden zu den reichsten zig und entschlossen, den Symptomen der Der rasante Absturz Renzis, von mehr
Regionen Europas zählt. italienischen Krankheit rücksichtslos zu als 40 Prozent der Stimmen 2014 auf
So wuchs insgesamt das private Finanz- Leibe zu rücken: der Korruption, der Vet- weniger als 19 Prozent 2018, sucht in der
vermögen der Menschen zwischen Bozen ternwirtschaft, der überbordenden Büro- italienischen Nachkriegsgeschichte seines-
und Palermo zuletzt wieder, es liegt bei kratie und Gerontokratie. Es war, als wäre gleichen. Er war nicht nur ein persönliches
4,3 Billionen Euro. Ein Polster, das dicker in einem lange nicht mehr gelüfteten Zim- Drama für Renzi, sondern zeigt auch, dass
ist als jenes des Durchschnittsdeutschen mer urplötzlich ein Fenster aufgerissen die Italiener den Glauben an ihre Politiker
(siehe Grafik Seite 16). Und doch fühlen worden. Die Italiener atmeten tief durch endgültig verloren haben.
sich viele Italiener ärmer. und belohnten Renzi bei den Europawah- Und da in Italien seit Jahrzehnten die
Was Italiens Bürgern zusetzt, hat wenig len 2014 mit einem Traumergebnis von Helden von gestern die politische Bühne
mit dem Euro zu tun, viel hingegen mit mehr als 40 Prozent. Von da an ging es je- bevölkern, die Ex-Premiers Romano Pro-
dem Schuldendienst für die in den Achtzi- doch bergab. di, Massimo D’Alema oder Pierluigi Ber-
gerjahren angehäuften, mittlerweile auf Anstatt seine anfangs moderaten partei- sani, war die Sehnsucht nach neuem Per-
2386 Milliarden Euro angewachsenen internen Kritiker einzubinden, demütigte sonal groß.
Außenstände des Staats. Den Preis für die Renzi sie. Die zarten Anzeichen einer wirt- Es ist einer von ihnen, Silvio Berlusconi,
Prasserei der Vorgänger zahlen nun vor schaftlichen Erholung im Rezessionsland der den heutigen Populisten den Weg ge-
allem die Jungen und nicht mehr ganz so Italien, nicht zuletzt der EZB-Politik und ebnet hat. »Er hat ab den Neunzigern vor-
Jungen, die sich trotz akademischer Aus- dem starken Euro geschuldet, schrieb er weggenommen, was wir jetzt verstärkt in
bildung oft mit Minijobs und ohne eigene vollmundig sich selbst zu. Und den richti- der Politik erleben – eine simple Sprache,
Wohnung durchschlagen müssen. gen Entschluss, Italien mithilfe einer Ver- die Abkehr vom Berufspolitiker hin zum
Die drastischen Sparmaßnahmen der ver- fassungsänderung schlanker, entschei- Quereinsteiger und das Lob des gemeinen
gangenen Jahre haben vor allem im Bildungs- dungsfähiger und regierbarer zu machen, Mannes als Gegenentwurf zur Elite.« Das
und Gesundheitssystem Schneisen geschla- verband er mit einer verhängnisvollen sagt der Politologe Giovanni Orsina von
gen. Seit 2009 sind die öffentlichen Investi- Drohung: Sollte das Volk beim Referen- der römischen Universität LUISS.
tionen in Italien um ein Drittel gesunken. dum über ein neues Wahlrecht mit Nein Berlusconi selbst, seit Kurzem nicht
So ist es kein Wunder, dass Populisten stimmen, werde er zurücktreten. mehr unter Ämterbann wegen seiner Vor-
wie Di Maio und Salvini nun in Rom das Umringt von seinem mehrheitlich tos- strafe infolge von Steuerhinterziehung,
Sagen haben, die ihren Wählern vor allem kanischen Hofstaat, war Renzi am Ende darf ab sofort wieder mitmischen. Forza
mehr Geld versprachen. Und die mit einem nicht mehr bewusst, wie müde die krisen- Italia allerdings, die Partei des 81 Jahre al-
so simplen wie überzeugenden Verspre- gebeutelten Italiener seiner endlosen ten Vierfachpremiers, ist inzwischen Um-
chen lockten: nicht einfach so weiterzu- Selbstbeweihräucherung waren. Die Re- fragen zufolge auf acht Prozent der Stim-
machen wie bisher. formschritte, die er eingeleitet hatte, tru- men abgesackt. Binnen zehn Jahren hat
Denn es gab ja schon mal einen, der ver- gen zwar Früchte, aber nur langsam. Eine das Berlusconi-Lager mehr als 4,6 Millio-
sprach, Italien aufzuräumen, den Sozial- schallende Ohrfeige beim Referendum war nen Wähler verloren. Die Sozialdemokra-
ten büßten sogar mehr als sechs Millionen Einige seiner Anhänger gingen auf Face- wie man mit Italien umgehen sollte. Das
Wählerstimmen ein. book noch weiter: »Mattarella soll ster- Auswärtige Amt plädiert unter Minister
In ganz Europa sehen sich in diesen Ta- ben«, schrieben sie. Oder: »Luigi, bring Heiko Maas für Zugeständnisse an Italien.
gen die Europagegner von den Vorgängen dieses Stück Scheiße zum Zittern.« Es ist Die harte Haltung Deutschlands vor allem
in Italien bestätigt. In Deutschland applau- eine spürbare Radikalisierung der Sprache, während der Griechenlandkrise habe Eu-
dierte auch die AfD ausgiebig Italiens neu- ohne einen Blick über Italiens Grenzen ropas Populisten erst den Vorwand für das
er Regierung aus Populisten. Das Bündnis hinaus, und eine dramatische Verflachung neue Feindbild Berlin geliefert.
aus der Lega und der Fünf-Sterne-Bewe- des politischen Diskurses, die den Sieges- In Frankreich drängt Emmanuel Ma-
gung sei »sehr erfreulich«, sagte Parteichef zug der populistischen Parteien begleitet cron weiter auf die einzige Lösung, die er
Jörg Meuthen dem SPIEGEL. Daran än- hat. Deren Rattenfängerparolen stoßen für nachhaltig hält: eine grundsätzliche
dert offenbar auch nichts, dass die beiden auf wenig fundierten Widerstand: Im Ge- Reform der EU. Macron steht auch innen-
Parteien genau das wollen, was die AfD burtsland von Dante, Manzoni und Um- politisch unter Druck, dass endlich etwas
unbedingt verhindern will: Schulden ma- berto Eco lesen 60 Prozent der Bevölke- geschieht. Der französische Präsident hat
chen, für die indirekt auch Deutschland rung privat kein einziges Buch mehr. mit seinen Reformreden viel gewagt – und
haftet. Hauptsache, es geht gegen die EU. »Verachtung, Ekel und Wut« lösten die kann im eigenen Land viel verlieren. Mit
Auch in Frankreich lebt Marine Le Pen aktuellen Nachrichten bei ihr aus, sagt die jeder seiner Reden hat er den Einsatz er-
seit dem Sieg der italienischen Populisten deutsche Verlegerin Inge Feltrinelli, Witwe höht, und wenn darauf nun nichts folgt,
richtiggehend auf – ihr Front National be- des Milliardärs und Revolutionärs Gian- könnten sich seine Unterstützer ent-
fand sich seit der Wahlniederlage gegen giacomo Feltrinelli, die seit bald 60 Jah- täuscht abwenden. Macron will nicht we-
Emmanuel Macron im Niedergang. Seit ren in Mailand lebt. La Feltrinelli kritisiert niger als Europa »neu begründen«, so
Macrons Wahl höhnt sie schon, der franzö- die neue Politikergeneration scharf. Di nannte er es in seiner Rede an der Pariser
sische Präsident sei eine »Ausnahmeer- Maio und Salvini hält sie für »Dilettanten«, Universität Sorbonne im September.
scheinung« in einer Welt, die zunehmend die leider beim Volk ankämen. Die Italie- Am Mittwochnachmittag eröffnete er
nationalistisch, also auch antieuropäisch, ner brauchten »Regeln und klare Verhält- die OECD-Ministerkonferenz mit einer
sei. Italien bestätigt sie darin umso mehr. nisse – also mehr Europa, nicht weniger«. weiteren flammenden Rede: »Wir brau-
Mattarellas Veto gegen Salvinis Finanz- Die Europäer stehen nun vor der chen eine effizientere Antwort auf die He-
minister war eine Steilvorlage für Marine schwierigen Aufgabe, auf die neue Regie- rausforderungen unserer Zeit.« Er sprach
Le Pen: »Die EU und die Finanzmärkte rung in Rom zu reagieren. In Berlin fallen nicht direkt die Situation in Italien an, aber
konfiszieren erneut die Demokratie«, twit- Kanzlerin Angela Merkel und Finanzmi- natürlich meinte er auch sie. »Wir befin-
terte die Front-National-Chefin. »Was in nister Olaf Scholz bisher vor allem durch den uns an einem Wendepunkt unserer
Italien passiert, ist ein Putsch, das italieni- Zurückhaltung auf. Sie fürchten, jede ihrer Geschichte.«
sche Volk wird seiner Entscheidung be- Äußerungen könnte als Einmischung in Im Élysée antwortet man auf die
raubt – durch illegitime Institutionen.« inneritalienische Angelegenheiten verstan- Frage, ob all diese Appelle tatsächlich
Und schob gleich eine düstere Warnung den und in antideutsche Polemik umge- etwas bewirken könnten, mit einer
hinterher: Die Verachtung des Wählerwil- münzt werden. Deutschland könne im Mo- Gegenfrage: Was könne man sonst tun?
lens werde Konsequenzen haben, die Wut ment gar nichts tun, heißt es daher ledig- Es ist Macrons Verdienst, weiter auf Re-
der Völker Europas werde wachsen. lich. Mahnungen oder Warnungen, davon formen zu drängen, Lösungsvorschläge
Die Feindbilder Brüssel und Berlin so- ist man überzeugt, brächten eher einen anzubieten. Aber er steht damit ziemlich
wie die Überzeugung, die von den Deut- gegenteiligen Effekt. allein da. Natürlich könne man auf Kon-
schen dominierte Gemeinschaftswährung Doch in der Sache ist die Position ein- frontation gehen oder auch einfach keine
Euro sei die Wurzel aller Übel, ist der Kitt deutig: In der Union und in weiten Teilen Vorschläge mehr einbringen, sagt ein en-
der europäischen Populisten, egal ob der SPD-Fraktion gilt Italien weniger als ger Berater Macrons. »Aber wenn Europa
rechts oder links, er hält auch Lega und Opfer einer von Brüssel diktierten har- keine Stimme mehr hat, dann wird es,
Fünf Sterne zusammen. schen Sparpolitik denn als Land, in dem freundlich formuliert, ausgeschlossen.«
Das Veto von Mattarella galt nur einem über die eigenen Verhältnisse gelebt wird. Zu Italien sagt er: »Wir stellen uns im
Minister und nicht der ganzen Regierung, Allerdings zeigen sich innerhalb der Augenblick viele Fragen.« Was Rom be-
aber in Italien befeuerte es das Misstrauen Bundesregierung erste Risse bei der Frage, treffe, sei derzeit leider »nichts vorher-
gegen die Demokratie umso mehr und sehbar«.
spielte den Populisten in die Hände. Wie- Das Thema Italien spielte auch bei einem
der kommt es nun zum Konflikt zwischen Nettovermögen Abendessen am Mittwoch die Hauptrolle,
nationaler Demokratie und europäischer je Privathaushalt im Jahr 2014 zu dem EU-Haushaltskommissar Günther
Währung, der sich schon in der Griechen- Oettinger eine kleine Gruppe Europaabge-
landkrise gezeigt hat. Salvini sprach von Italien 226400 € ordnete in das Hotel Dollenberg eingeladen
einer Verschwörung und drohte den dafür hatte, etwa eine Stunde vom Straßburger
Verantwortlichen: »Mich stoppt keiner, Parlament entfernt. Auch Theo Waigel war
uns stoppt keiner; ihre kleine antidemo- Deutschland 214300 € zu Gast, der ehemalige Bundesfinanzminis-
kratische Schlacht haben sie heute gewon- ter und einer der Väter des Euro.
nen, den Krieg morgen werden sie ver- Waigel referierte, wie Italien bei der Ein-
lieren.« Staatsverschuldung führung des Euro versprochen habe, sei-
Auch Di Maio gab sich wenig Mühe, je Haushalt im Jahr 2017 nen Schuldenstand zu reduzieren, und wie
seinen Zorn über den Präsidenten zu zü- dann immer wieder nichts geschehen sei.
geln – er unterstellte Mattarella indirekt 87727 € Es sei daher nun an der Zeit, dass der Chef
Hochverrat. Das Land brauche stattdessen der Europäischen Zentralbank, Mario
ein Staatsoberhaupt, das nicht von »den Draghi, den Italienern mal ins Gewissen
Ratingagenturen, den Banken oder den 51623 € rede, so Waigel. »Als Italiener hat er dabei
Interessen der Deutschen« gesteuert eine andere Glaubwürdigkeit als beispiels-
werde. Quellen: EZB, Europäische Kommission weise ein Deutscher.«
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ALESSANDRA BENEDETTI / CORBIS / GETTY IMAGES
DENIS ALLARD / SIPA / ACTION PRESS
Den Italienern ins Gewissen reden, da- fer Liebe verbunden«, aber er akzeptiere Italiener haben keine wirkliche Idee vom
mit hat schon Oettinger schlechte Erfah- nicht länger, dass die EU für alles verant- Staat, sie sind außerdem kurzsichtig, ha-
rungen gemacht. In einem eher harmlosen wortlich sei, was schiefgehe, besonders im ben keine Strategie und riskieren des-
Interview mit der Deutschen Welle hatte Süden. Deutlicher wurde er jedoch nicht. wegen ständig, am Abgrund zu landen.
er die Italiener ermahnt, dass die Wahl »Europa darf den Italienern schon klar- Kurz davor aber stoppen sie.«
von Populisten für die wirtschaftliche Ent- machen, dass ihre Wahlentscheidung Fol- Einer wie Salvini, ein »demagogo
wicklung eines Landes nicht ohne Folgen gen haben könnte – für sie selbst, für den da quattro soldi«, ein billiger Volks-
bleiben werde. »Meine Sorge und meine Euro, für die Politik der EU«, sagte dage- verhetzer, habe bei seinen Landsleuten
Erwartung ist, dass die nächsten Wochen gen der Europaabgeordnete und Italien- leichtes Spiel. »Wer uns Italiener ver-
zeigen, dass die Märkte, dass die Staats- kenner Andreas Schwab von der CDU. stehen will, denke an die Geschichte von
anleihen, dass die Wirtschaftsentwicklung Und der CSU-Europaabgeordnete Mar- Pinocchio, wo das Buttermännchen allen
Italiens so einschneidend sein könnten, kus Ferber verkündete: »Das Worst-Case- Kindern mit Eselsohren das Schlaraf-
dass dies für die Wähler doch ein mög- Szenario wäre, dass Italien wie Griechen- fenland verspricht – aber das ist natürlich
liches Signal ist, nicht Populisten von links land zahlungsunfähig wird, weil es keinen eine Lüge, sie enden als Sklaven, als
und rechts zu wählen.« mehr gibt, der Italien Geld leiht. Dann Esel.«
Ratspräsident Donald Tusk sandte einen müsste die Troika in Rom einmarschieren, Was Politik angeht, finde in Italien im
bösen Tweet, und Kommissionschef Jean- den Haushalt übernehmen, das Finanzmi- darwinschen Sinn eine »negative Auslese«
Claude Juncker teilte mit, er glaube nicht, nisterium übernehmen. Aber wir reden statt. Nicht die Besten, sondern die Gie-
dass Italiens Schicksal in den Händen bei Italien von über zwei Billionen Euro rigsten und Korruptesten würden am Ende
der Finanzmärkte liege. Oettinger sah Schulden. Das würde unsere Möglichkei- Volksvertreter.
sich genötigt, sich für seine Bemerkung ten in Europa sprengen.« Die augenblickliche Lage sei ernst,
zu entschuldigen. Die Grünen fordern nun Europaweit sei ein beunruhigendes Phä- warnt Bolaffi, der Deutschlandkenner und
seinen Rücktritt; Antonio Tajani, der Prä- nomen zu beobachten, sagt Angelo Bolaffi, Philosoph: »Vorsicht, Italien ist ein ge-
sident des Europaparlaments, soll getobt Professor für Philosophie und ehemaliger fährliches Land – wenn man es alleinlässt,
haben. Die Episode zeigt, wie sehr in Brüs- Leiter des italienischen Kulturinstituts in kann es furchtbaren Unsinn anrichten. Ita-
sel die Nerven blank liegen. Berlin: »Je länger die EU zusammen- lien braucht jetzt seine Freunde, vor allem
Offiziell haben sich alle ein Schweige- wächst, desto weiter entfernen sich die in Deutschland.«
gelübde auferlegt. Dem schloss sich auch Menschen voneinander.« Fidesz in Un- Tim Bartz, Fiona Ehlers, Julia Amalia Heyer,
die EU-Außenbeauftragte Federica Moghe- garn, der Front National in Frankreich, die Christiane Hoffmann, Walter Mayr, Juliane
rini an, selbst Italienerin. Zurückhaltung FPÖ in Österreich – in anderen europä- von Mittelstaedt, Peter Müller, Dietmar
sei wichtig, sagte sie bei einer Kommis- ischen Ländern gebe es maximal eine er- Pieper, Christian Reiermann, Mathieu von
Rohr, Britta Sandberg, Christoph Schult
sionssitzung am Dienstag, weil Salvini und folgreiche populistische Partei: »Nur bei
seine Leute nur darauf warteten, sich über uns gibt es zwei, ein ungewöhnlicher Dua-
einen erhobenen Zeigefinger aus Brüssel lismus. Welches gemeinsame Ziel könnten Video
In der Hochburg
aufregen zu können. diese beiden Parteien haben? Mir fällt da der Lega Nord
Wie schwer das ist, zeigte sich am Don- nur der Hass auf Brüssel ein.« spiegel.de/sp232018rechts
nerstag, als Juncker bei einer Veranstaltung Aber Italien habe auch ein grundsätz- oder in der App DER SPIEGEL
in Brüssel sagte, er sei zwar »Italien in tie- liches Problem, so Bolaffi: »Die meisten
I
Milliarden Euro vernichten, mit nicht zu kontrollierenden
n Rom wurde vor gut 60 Jahren der Grundstein für Konsequenzen für das europäische Banken- und Versiche-
die politische Integration Europas gelegt. Heute geht rungssystem und damit für den Wohlstand und die soziale
von Rom ein politisches Risiko aus, das noch mehr Sicherheit der Menschen in Europa. Ein großes Rettungs-
als der Brexit das Potenzial hat, das europäische Pro- paket für die italienische Volkswirtschaft, das auch die ita-
jekt nachhaltig zu beschädigen. Gefährlich an der außer lienischen Banken abzusichern hätte, scheidet ebenfalls
Kontrolle geratenen Situation ist nicht nur die mögliche aus: Europa kann sich eine Rettung der achtgrößten
Rückkehr der Eurokrise mit weitreichenden Konsequen- Volkswirtschaft der Welt schlicht nicht leisten.
zen für Wachstum und Wohlstand, sondern auch die neue Und Mario Draghi? Könnte nicht die EZB mit einem
toxische Atmosphäre des Misstrauens europäischer Län- neuen »Whatever-it-takes« die Eurozone stabilisieren?
der und Bürger untereinander. Viele Italiener sehen in Ich halte das für gefährlich. Es ist nicht die Aufgabe einer
Deutschland und der »teutonischen Austerität« die wahre Zentralbank, politische Krisen zu lösen. Und aus deut-
Ursache für die Krise des Landes. Viele Deutsche sehen in scher Sicht wäre es zynisch, weiter auf die EZB zu setzen,
Italien und der italienischen Schuldenfalle dagegen die wird sie doch gerade in Deutschland scharf dafür kriti-
wahre Bedrohung des Euro und der wirtschaftlichen Sta- siert, dass sie sich für die Eurorettung an die Grenze ihres
bilität in Europa. Derlei Zuspitzungen sind keine gute Mandats gewagt hat.
Ausgangslage für die Bewältigung der Herausforderungen, Italien ist zu groß, um unterzugehen. Aber Italien
die jetzt erkennbar werden. ist auch zu groß, um gerettet zu werden. Deshalb taugen
Italien hat den mit 2,3 Billionen Euro höchsten Vergleiche mit Griechenland nicht. Wer Italien helfen
Schuldenstand und die aktuell wohl niedrigste Wachs- möchte, muss eine neue Rettungsmethode erfinden.
tumsrate in der gesamten Europäischen Union. Jeder Nötig sind politisch klar festgelegte Schritte, um Zug um
dritte junge Italiener ist arbeitslos. Banken kämpfen Zug die wirtschaftliche Stabilität Italiens zu sichern
mit hohen Kreditausfallraten. Anders als andere Krisen- und so den Nährboden für politische Reformen im
länder hat Italien in den frühen Jahren der Währungs- Land zu schaffen, den eine Regierung dann aber auch
union keinen Boom erlebt. Das Pro-Kopf-Einkommen bestellen muss.
stagniert seit 20 Jahren. Und dennoch hat sich Italien Leider fehlt es der Währungsunion an Instrumenten,
in den vergangenen Jahren streng an die EU-Defizit- um ein solches Verfahren klug umzusetzen. Wenn andere
regeln gehalten. Genützt hat es aus italienischer und ich selbst immer wieder darauf hingewiesen haben,
Sicht nichts. Wen überrascht vor diesem Hintergrund der Euro müsse endlich krisenfest gemacht werden, dann
die Implosion des politischen Systems? vor allem deshalb, weil klar war, dass das italienische Pro-
Deutschland wird sich nicht blem früher oder später auftreten würde. Im Januar 2017,
abkoppeln können von den Proble- knapp vier Monate vor seiner Wahl zum Präsidenten, sag-
men in Italien. Gerät die Krise wei- te Emmanuel Macron in seiner Rede in Berlin, der Euro
REGINA SCHMEKEN / SZ PHOTO
ter außer Kontrolle, wird sich eine werde die nächste Krise nicht überstehen, wenn er nicht
zentrale Frage stellen: Was ist zügig generalüberholt würde. Ich glaube, Macron dachte
Deutschland bereit zu tun, um Ita- an Italien, als er diese Sätze sprach.
lien in der Währungsunion zu hal- Noch ist Zeit für eine Reform des Euroraums. Aber sie
ten? Die Sprengkraft dieser Frage ist muss schnell erfolgen, und sie braucht einen starken poli-
enorm. Und leider steht heute schon tischen Willen. Es muss verhindert werden, dass Märkte
fest, dass sie sich nicht mit einfachen in einer Krise gegen den Euro und das vertraglich fest-
Lösungen wird beantworten lassen. gehaltene Prinzip seiner Unwiderruflichkeit spekulieren.
Henrik Enderlein, Italien braucht mehr Wachstum, Zur Debatte sollte gerade nicht eine naive Transferunion
43, ist Professor für um den Schuldenberg abbauen zu stehen, wie sie kürzlich wieder von 154 deutschen Ökono-
politische Ökonomie und können. Italien braucht auch mehr men kritisiert wurde, sondern eine Kombination aus Ele-
designierter Präsident der soziale Gerechtigkeit, gerade zwi- menten, welche die Marktdisziplin zurück in den Euro-
Hertie School of Governance schen dem reichen Norden und dem raum bringen und gleichzeitig mehr Risikoteilung einfüh-
sowie Direktor des abgehängten Süden. Aber die Mittel ren. Im Frühjahr habe ich in einer Gruppe aus sieben
Thinktanks »Jacques Delors zum Erreichen dieser Zwecke sind deutschen und sieben französischen Ökonomen Vorschlä-
Institut« in Berlin. umstritten – in Italien und im Rest ge in diese Richtung formuliert.
A
mit der Folge einer immer größeren Marktpanik, die Ita-
ber alle wissen, dass es Situationen geben kann, lien aus dem Euro drängen könnte. Bei beiden Optionen
in denen Länder Beistand brauchen. Der Euro- steht früher oder später die Mitgliedschaft Italiens im Euro
raum braucht für solche Fälle ein Rückversiche- auf dem Spiel. Aus deutscher Perspektive kann man das
rungssystem, das für den Ernstfall starke Sicher- Dilemma zynisch beantworten, indem man auf den Druck
heitsnetze einzieht. Die Letztabsicherung der Banken- der Märkte und eine Zermürbung der italienischen Be-
union ist ein solches Sicherheitsnetz. Marktteilnehmer völkerung setzt – oder ihm konstruktiv begegnen mit dem
werden nicht gegen Länder, gegen Banken oder den Euro Aufbau eines neuen Vertrauensverhältnisses.
spekulieren, wenn sie sicher sind, dass die Solidaritäts- In Italien zieht ein Sturm herauf, dessen Zerstörungs-
gemeinschaft im Ernstfall hält. Doch genau daran zwei- potenzial groß sein kann. Deutschland und Europa
feln heute viele. sind darauf nicht vorbereitet, weder politisch noch institu-
Nur wenn die Solidaritätsgemeinschaft absolut glaub- tionell. Jeder Lösungsweg für Italien wird kompliziert
würdig ist, werden die Wetten auf den Zerfall des Euro sein und damit angreifbar für populistische Vereinfachun-
aufhören. Dann würden sich endlich neue Freiräume gen überall auf dem Kontinent. Wenn sich Europa
öffnen in der Krisenbewältigung. Europa sollte mit Italien aus Angst vor dem Populismus allerdings davon abhalten
einen Wachstumspakt schließen, der die dringend not- lässt, die richtigen Lösungen zu suchen, dann ist der
wendigen Strukturreformen mit Investitionen kombiniert. Zusammenbruch des Euro unabwendbar. I
19
Deutschland
»Rechts, links, haste nicht gesehen. Ich will nach vorne gucken und sehen, was wir machen können.« ‣ S. 36
Bayern
»Opulentes
Familienfest«
Die SPD hält einen von Söder geplanten
Staatsempfang für verfassungswidrig.
Asylaffäre wie interne Aufklärer rekonstruieren Gesetz entschieden wird oder eher sach-
Warnungen schon 2014 konnten. Die Hinweise der Führungskräf-
te bezogen sich auf »zahlreiche Fälle«, in
fremde Erwägungen eine Rolle spielten«.
Warum niemand die Warnung ernst
In der Affäre um manipulierte Asylver- denen es »Bevorteilungen bei Entschei- nahm, konnte Bamf-Chefin Jutta Cordt
fahren im Bundesamt für Migration und dungen über syrische Asylanträge« gab, im Innenausschuss des Bundestags am
Flüchtlinge (Bamf) gab es mehr Mitwisser in die ein Hildesheimer Anwalt involviert Dienstag nicht beantworten. Seit dem
als bekannt: Bereits im Jahr 2014 sollen war; gegen den Mann ermittelt heute die 9. Mai würden Gespräche mit den Be-
sieben Führungskräfte erfahren haben, Staatsanwaltschaft. Schon damals warnte teiligten geführt. Vielleicht reichten die
dass es in der Bremer Außenstelle des ein Beamter aus dem Flüchtlingsamt, es Anfänge der Affäre noch »weiter als
Amtes massive Unregelmäßigkeiten gab, sei »zu prüfen, ob hier nach Recht und 2014 zurück«, sagte Cordt. GUD , WOW
20
Feinstaub Parteifinanzen
Dreckige Loks AfD scheitert mit Klage
Die Züge der Deutschen Bahn waren gegen Ex-Schatzmeister
im Jahr 2016 für rund ein Fünftel des
Feinstaubs im gesamten deutschen Ver- Im Rechtsstreit mit ihrem ehemali-
kehr verantwortlich. Das ergibt sich aus gen Schatzmeister Norbert Stenzel hat
einer Antwort der Bundesregierung auf die AfD eine juristische Schlappe erlit-
eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion. ten. Wie ein Sprecher des Landgerichts
Grund ist die große Dieselflotte der Gießen bestätigt, hat die 4. Zivilkam-
Bahn; etwa jede dritte Lok des Unterneh- mer bereits im vorigen Jahr eine ent-
mens fährt mit dem Treibstoff. Sie tragen sprechende Klage der Partei abgewie-
erheblich zur Luftverschmutzung in Städ- sen (Aktenzeichen 4 O 434/16). Die
ten bei: Während die Elektrozüge der AfD hatte 2016 behauptet, Stenzel
Bahn vor allem im Fernverkehr unter- habe Parteigelder in Höhe von
wegs sind, fahren die Dieselloks überwie- 21 180,53 Euro erhalten und nicht für
gend im Nah- und Regionalverkehr. »Die parteibezogene Aufwendungen ausge-
Diskussion um schmutzige Diesel-Pkw geben. Der ehemalige Schatzmeister,
ist zum Teil hysterisch«, findet FDP-Poli- der inzwischen aus der AfD ausgetre-
tiker Torsten Herbst. Er fordert mehr ten ist, konnte jedoch Belege für eine
DE-CIX.NET
Gleichzeitig aber besuchen diese Kinder als 130 000 Kindern gut messen. ASE
Soziales gen der Rentenkasse schneller sinken als nen Informationen weitergenutzt wer-
bislang erwartet. Raschere Beitragssatz- den. Der De-Cix-Betreiber wollte juris-
Kein Steuergeld für steigerungen sind die Folge. In einigen tisch gegen die Verpflichtung vorgehen,
Mütterrente Jahren wird der Finanzminister freilich dem BND zu ermöglichen, in großen
ohnehin mehr Steuergeld in die Renten- Mengen Daten aus dem Knoten abzu-
Bundesfinanzminister Olaf Scholz kasse umleiten müssen, weil die Große leiten. Nach Meinung des Leipziger
(SPD) will für die geplanten Nachbesse- Koalition gesetzlich festlegen will, dass Gerichts ist der Betreiber nur ein Ver-
rungen bei der Mütterrente im nächsten der Beitragssatz bis zum Jahr 2025 nicht mittler und kann sich nicht auf den
Jahr keine Steuermittel zur Verfügung über die Marke von 20 Prozent des Brut- Schutz des G-10-Gesetzes berufen.
stellen. Da es sich um keine »prioritäre« tolohns steigen soll. COS, REI »Im Umkehrschluss heißt das, dass wir
Maßnahme handle, bleibe das Vorhaben das Augenmerk auf die Rechte der
in den Eckwerten der Haushaltsaufstel- Betroffenen legen müssen«, so Wetz-
lung »unberücksichtigt«, heißt es in ling. Der Experte weist darauf hin, dass
einem Papier des Finanzressorts. Damit sich die Klage auf die Zeit bis 2016
muss der Aufschlag allein aus Rentenbei- bezieht, bevor das neue BND-Gesetz
trägen bezahlt werden. Die Kosten wer- in Kraft trat. Gegen dieses Gesetz führt
den auf etwa 3,7 Milliarden Euro pro der Betreiber von De-Cix bereits einen
Jahr geschätzt. Sozialexperten und die weiteren Rechtsstreit. Zudem reichte
Deutsche Rentenversicherung Bund hat- die Gesellschaft für Freiheitsrechte im
ten gefordert, das Vorhaben aus Steuer- Januar Verfassungsbeschwerde gegen
mitteln zu finanzieren, da es sich um ver- das BND-Gesetz ein. Der Ex-Präsident
sicherungsfremde Leistungen handle. des BND, Gerhard Schindler, begrüßte
MICHAEL KAPPELER / DPA
Auch in der SPD gab es dafür Sympa- hingegen die Leipziger Entscheidung.
thien. Laut Koalitionsvertrag sollen Müt- Der Zugriff auf den Internetknoten
ter oder Väter mit drei oder mehr Kin- sei für den Dienst »unverzichtbar«.
dern, die vor 1992 geboren wurden, künf- Etwa die Hälfte der nachrichtendienst-
tig höhere Renten erhalten. Durch lichen Erkenntnisse des BND beruhe
Scholz’ Entscheidung dürften die Rückla- Scholz auf Technik. KNO
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Alte Wunden
Regierung Die Kanzlerin wollte das Thema hinter sich lassen,
doch die Flüchtlingspolitik drängt wieder ins Zentrum der
politischen Debatte. Die Sozialdemokraten und Innenminister
Horst Seehofer befeuern die Entwicklung.
E
s kommt nicht oft vor, dass die und Flüchtlinge (Bamf) eine Rolle, die zur-
Kanzlerin den Koalitionspartner zeit den Bundestag beschäftigt. In Bremen
direkt angreift. Selbst in internen wurden möglicherweise jahrelang zu Un-
Runden gibt sich Angela Merkel recht positive Asylbescheide ausgestellt.
normalerweise konziliant. Streit schade Es droht ein Untersuchungsausschuss des
nur dem Ansehen der Regierung und da- Bundestags. Die AfD hat bereits angekün-
mit ihrem eigenen, lautete jahrelang ihr digt, dann die gesamte Flüchtlingspolitik
Glaubenssatz. der Kanzlerin unter die Lupe nehmen zu
Im CDU-Präsidium wich Merkel am wollen.
Montag von ihrer Linie ab. Der Koalitions- Seehofer hat eigentlich auch kein Inte-
vertrag sei von der SPD mitunterzeichnet resse an der Debatte. Aber um sich selbst
worden, sagte sie. Dort stehe ausdrücklich, zu schützen, könnte er versucht sein, mit
dass die Asylverfahren künftig in soge- dem Finger auf die Verantwortlichen von
nannten Anker-Zentren stattfinden sollten. damals zu zeigen. Merkel fürchtet die Nei-
Genau das wolle Innenminister Horst gung ihres Innenministers, sich auf Kosten
Seehofer jetzt umsetzen. Man müsse die anderer zu retten.
Sozialdemokraten daran erinnern, was sie Nicht zu Unrecht, wie sich vor dem
vereinbart hätten. Innenausschuss des Parlaments am Diens-
CDU-Generalsekretärin Annegret tag zeigte. »Ich gehöre zu denen, die in
Kramp-Karrenbauer wurde nach der Sit- den letzten Jahren die Flüchtlingspolitik
zung vor der Presse noch deutlicher. Sie mit am schärfsten kritisiert haben«, sagte
warf der SPD eine Doppelstrategie vor. Seehofer gleich zu Beginn der fünfeinhalb
Die Sozialdemokraten hätten zwar Dinge Stunden langen Sondersitzung. Später füg-
verabredet, wollten sich aber der notwen- te er hinzu: »Viele Probleme, die in der
digen Umsetzung verweigern, sagte sie. Vergangenheit liegen, sind durch politische
Sie hoffe sehr, dass sich die SPD-Führung Entscheidungen verursacht worden, und
ihrer Verantwortung bewusst sei. das müssen wir auch aussprechen.«
Die Appelle von Merkel und Kramp- Merkel will solche Äußerungen von ih-
Karrenbauer galten nicht allein der SPD. rem Innenminister nicht hören. Auch des-
Das Kanzleramt sieht in der Wankelmü- halb sichert sie Seehofer öffentlich ihre
tigkeit des Koalitionspartners nicht das ein- Unterstützung zu. Es sieht aber nicht da-
zige Problem. Merkel treibt eine größere nach aus, als werde sie Seehofer bremsen
Sorge um. Sie fürchtet, dass die Flücht- können.
lingsdebatte der vergangenen Jahre wieder Schuld daran sind nicht nur die Vor-
aufflammt – mit Seehofer als einem der gänge beim Bamf. Mindestens ebenso viel Aussicht stellen, würde die Flüchtlings-
Hauptakteure. Sorgen macht der CDU-Führung der debatte sofort wieder in voller Schärfe ent-
Es wäre ihr politischer Albtraum. Die Er- »Masterplan für Migration«, den Seehofer brennen. Am Ende wurde die Vorstellung
eignisse der Jahre 2015 und 2016 haben in eigentlich in der vergangenen Woche im des »Masterplans« noch einmal um eine
der Union tiefe Spuren hinterlassen. Die Kabinett vorlegen wollte. Weil das nicht Woche verschoben.
Flüchtlingspolitik hätte fast zum Bruch zwi- klappte, wollte er das Papier am kommen- Seehofer kann sich auch andere For-
schen CDU und CSU geführt. Merkels Stel- den Dienstag der Fraktion vorstellen. mulierungen vorstellen. Eine Alternative
lung in der eigenen Partei erodierte. Erst Doch dann intervenierte das Kanzleramt. wäre, bei einem starken Anstieg der
nach dem schlechten Ergebnis beider Par- Merkel ist alarmiert, weil Seehofer erwägt, Flüchtlingszahlen den Bundestag mit der
teien bei der Bundestagswahl verständigten eine Zurückweisung von Flüchtlingen an Frage zu befassen. Er neigt aber trotz Mer-
sich die Schwesterparteien auf eine ge- der deutschen Grenze zu fordern, wenn die kels Widerstand dazu, Zurückweisungen
meinsame Position, einschließlich dem Be- vereinbarte jährliche Spanne von 180 000 anzukündigen. Er ist nicht frei in seinen
kenntnis, dass sich »eine Situation wie die bis 220 000 überschritten werden sollte. Sie Entscheidungen.
des Jahres 2015 nicht wiederholen wird«. hatte sich seinerzeit trotz des Drängens der Fünf Monate vor der bayerischen Land-
Nichts wünscht sich die Kanzlerin weniger, Bundespolizei gegen eine Zurückweisung tagswahl wird der CSU-Chef von den
als die Diskussionen noch einmal zu führen. entschieden. Es war einer der Hauptstreit- eigenen Leuten unter Druck gesetzt. Der
Die Befürchtung, dass es dazu kommen punkte zwischen ihr und der CSU auf dem bayerische Ministerpräsident Markus Sö-
könnte, ist begründet. Merkels Flüchtlings- Höhepunkt der Flüchtlingskrise. der brachte schon Mitte des Monats in
politik spielt beim Skandal um die Bremer Auch die SPD ist gegen dieses Vorha- einem Interview mit der »Bild«-Zeitung
Außenstelle des Bundesamts für Migration ben. Sollte Seehofer Zurückweisungen in wegen steigender Flüchtlingszahlen über
24
KAY NIETFELD / DPA
Merkel-Kontrahent Seehofer*: »Viele Probleme sind durch politische Entscheidungen verursacht worden«
das Mittelmeer wieder die Abweisung von Noch hat Seehofer keine Antwort darauf ge einzurichten, die zu Konflikten inner-
Asylbewerbern an der Grenze ins Ge- gegeben. Bis zur bayerischen Landtagswahl halb und außerhalb der Unterkünfte füh-
spräch. im Oktober wird sie von ihm erwartet. ren könnten. Sollten sich die Heimatländer
»Unkontrollierte Zuwanderung hat schon Seehofers Position ist auch ohne den abgelehnter Asylbewerber weiter weigern,
einmal, 2015, nicht nur die politische Archi- Skandal um das Bamf schwierig genug. Er ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen,
tektur, sondern auch die Sicherheitslage in hatte nach seiner Amtsübernahme voll- könnten diese nicht abgeschoben werden
Deutschland grundlegend verändert«, sagte mundig angekündigt, in den neuen »An- – und würden dann Monate oder gar Jahre
Söder. Wenn die »Anker-Zentren« nicht ker-Zentren« würden die Asylverfahren in den »Anker-Zentren« sitzen.
funktionierten, »wird es an der Grenze Zu- »und die Rückführung gebündelt und be- Die SPD, die das Konzept im Koalitions-
rückweisungen geben müssen«. schleunigt« werden. »Am Ende werden vertrag noch mitgetragen hatte, ließ See-
Seehofer kann sich dem Ansinnen seines die ›Anker-Zentren‹ dazu beitragen, dass hofer in den vergangenen Wochen fast
Parteifreunds kaum entziehen. Er hatte es deutlich weniger Zuwanderung nach schon demonstrativ hängen. Niedersach-
selbst im Bundestagswahlkampf immer wie- Deutschland gibt«, sagte er im April in sens Innenminister Boris Pistorius (SPD)
der gesagt, wer nicht wolle, dass sich die einem SPIEGEL-Gespräch. sagte, man brauche für die »Anker-Zen-
Geschehnisse von 2015 wiederholten, müs- Derzeit ist allerdings noch nicht einmal tren« womöglich eine Grundgesetzände-
se sagen, wie man das sicherstellen könne. klar, ob es die »Anker-Zentren« in größe- rung. Da dafür Zweidrittelmehrheiten in
rer Zahl überhaupt geben wird. Die we- Bundestag und Bundesrat erforderlich sind,
* Mit Bamf-Chefin Jutta Cordt auf dem Weg zur
nigsten Landesregierungen haben ein wäre Seehofers Vorzeigeprojekt erledigt.
Sondersitzung des Innenausschusses am vergangenen Interesse daran, in ihren Städten und Ge- Entsprechend wütend reagiert die CSU.
Dienstag. meinden Lager für über tausend Flüchtlin- »Wenn Teile der SPD jetzt versuchen, die
›Anker-Zentren‹ und damit die Beschleu- waren nicht wir, sondern ausschließlich die und verlangt eine härtere Gangart gegen-
nigung der Asylverfahren zu verhindern Union zuständig – das ist die Lesart in der über Flüchtlingen ohne Bleiberecht. Juso-
und schlechtzureden, werden wir das nicht SPD-Spitze. Den Blick auf die Nürnberger Chef Kevin Kühnert warnt dagegen vor
zulassen«, sagt der Parlamentarische Ge- Behörde zu lenken gilt im Willy-Brandt- einer Anbiederung an die AfD. Manche
schäftsführer der CSU-Landesgruppe, Ste- Haus als relativ risikoarmes Mittel, um den Genossen halten eine Obergrenze für sinn-
fan Müller. »Die SPD spricht hier mit ge- Koalitionspartner zu ärgern. voll, andere für eine Sünde.
spaltener Zunge. Dafür haben die Men- »Unsere Behörden ziehen ihre Existenz- Justizministerin Katarina Barley hatte
schen kein Verständnis. Das sieht man berechtigung und die Akzeptanz für ihre in mühsamen Verhandlungen mit Seehofer
auch an den Umfragen.« Entscheidungen daraus, dass sie rechtstreu durchgesetzt, dass auch Angehörige von
Das Versprechen, die Asylverfahren agieren«, mahnt Pistorius: »Wenn das Ver- ehemaligen Gefährdern Anspruch auf Fa-
weiter zu beschleunigen, wird allerdings trauen in unsere Behörden erschüttert miliennachzug haben sollten. Die CSU
schon durch die Aufarbeitung des Bamf- wird, weil die Selbstreinigungskräfte nicht war dagegen, obwohl das Thema praktisch
Skandals kaum zu halten sein. Allein funktionieren, kann das zu einer Gefahr weitgehend irrelevant ist. Es ging vor al-
18 000 eigentlich schon entschiedene Fälle für den Rechtsstaat werden.« lem um Symbolik. Barley durfte sich kurz
sollen allein in Bremen neu geprüft wer- Pistorius sagte, er wolle von Seehofer als Siegerin fühlen. Dann wurde der ent-
den. Seehofer selbst sagte im Ausschuss, nun vor allem wissen, wie viele Asylmiss- sprechende Passus von der eigenen Frak-
künftig müsse »Qualität vor Schnelligkeit« brauchsfälle es wirklich gegeben habe, wie tion aus dem Gesetzentwurf gestrichen.
gehen. In der Behörde sind so viele Mit- viele Personen beteiligt gewesen seien und Nahles will das Thema Flüchtlinge nun
arbeiter gebunden, dass die Zahl der nicht warum die Warnungen über die Vorfälle zur Chefsache machen. Um die Kakofonie
abgearbeiteten Fälle in den nächsten in Bremen so lange ignoriert worden seien. zu beenden, hat sie kürzlich eine infor-
melle Gruppe eingerichtet, die klären soll,
wie der Kurs der SPD in der Flüchtlings-
politik aussieht. Zu der Gruppe gehören
neben der Parteivorsitzenden unter ande-
ren ihr Generalsekretär Klingbeil, Partei-
vize Ralf Stegner, Vorstandsmitglied Pis-
torius und Sören Link, der Duisburger
Oberbürgermeister. In den kommenden
Tagen will man sich erstmals in Berlin
zusammensetzen. Das Treffen bildet den
Auftakt zu einer Neupositionierung, die
in den kommenden Monaten breiter in der
Partei diskutiert werden soll.
In der Frage des Untersuchungsaus-
schusses kann Merkel nicht auf die SPD
zählen. Viele Abgeordnete finden die Vor-
stellung verlockend, Seehofer und Merkel
OLIVER DIETZE / DPA
27
nicht so schlimm kommen, wenn Trump erst einmal im
René Pfister
Weißen Haus sitzt, aber Merkel gibt sich inzwischen kei-
Apokalypse Merkel
nen Illusionen mehr hin. Trump werde Punkt für Punkt
umsetzen, was er im Wahlkampf versprochen habe. Am
Donnerstag machte er seine Ankündigung wahr und
erhob Strafzölle auf Aluminium und Stahl aus Europa.
Wladimir Putin? Ein Präsident, der einmal voller Be-
Essay Die Kanzlerin blickt voller Sorge auf eine Welt, wunderung für die Leistungskraft des Westens war, aber
irgendwann begriffen hat, dass er die wirtschaftliche Wen-
in der die Säulen der Nachkriegsordnung de in seinem Land niemals schaffen wird und nun ganz
zusammenbrechen. Aber was folgt für sie daraus? auf rohe Gewalt und Repression setzt, in der Ukraine, in
Syrien, in Russland selbst.
China? Der Beweis dafür, dass sich Diktatur und Markt-
A
wirtschaft prima vereinbaren lassen. Europa? Zerstritten,
ls Angela Merkel Mitte April ihre Fraktion im vom Brexit geschwächt, dazu gelähmt von quälend lan-
Bundestag besuchte, sprach sie nicht davon, wie gen Entscheidungsprozeduren.
sie das Rentensystem verändern will, es ging Man kann Merkel nicht vorwerfen, dass sie die Lage
nicht um die Maut oder stinkende Diesel, und sie schönreden würde. Wenn man ihr zuhört, kann einem
schimpfte auch nicht über die CSU. Sie sprach über den angst und bange werden.
Augsburger Religionsfrieden aus dem Jahr 1555. Nur: Was folgt daraus?
Die Kanzlerin macht derzeit häufiger Ausflüge in die Von Karl Marx stammt der Satz, dass Philosophen die
Geschichte, auch als sie vor vier Wochen in der Residenz Welt nur verschieden interpretierten, es aber darauf
des deutschen Botschafters in Washington saß, kam sie ankomme, sie zu verändern. Merkel, so viel lässt sich
zurück auf jenen Vertrag, der nach den blutigen Wirren sagen, gehört eindeutig zur Spezies der Philosophen. Sie
der Reformation eine 60-jährige Phase des Friedens zwi- war noch nie eine Frau der großen Pläne, aber was in
schen Protestanten und Katholiken einleitete. Es schien, ihren späten Jahren immer mehr ins Auge sticht, ist eine
als hätten die Menschen endlich zur Vernunft gefunden, geradezu unheimliche Diskrepanz zwischen der Analyse
aber das war ein Trugbild, wie sich bald herausstellte. der Lage, die düsterer kaum sein könnte – und Merkels
1618 begann ein Krieg, wie ihn der Kontinent noch nie praktischer Politik.
gesehen hatte, und als das Inferno 30 Jahre später endete, Merkel hat im Herbst 2016 offenkundig ernsthaft in
waren weite Teile Deutschlands entvölkert, von vielen Erwägung gezogen, sich aus der Politik zurückzuziehen.
Städten standen nur noch die Ruinen. Leute, mit denen sie damals sprach, erzählen, es habe
Für Merkel ist der Augsburger Religionsfrieden viel fast wehgetan zu sehen, wie kalt und nüchtern Merkel
mehr als ein fernes historisches Datum, es ist, wenn man ihre eigene Lage beurteilte: der Hass, den sie inzwischen
sie recht versteht, eine Mahnung, wie dünn der Firnis provoziere, und den Überdruss, der eine lange Kanzler-
der Zivilisation ist. So wie die Menschen des ausgehenden schaft unweigerlich mit sich bringe, gerade im Zeitalter
16. Jahrhunderts dem Irrtum erlegen sind, der Augs- der ultraschnellen neuen Medien.
burger Friede sei von Dauer, genauso könnten sie heute Wenn Hillary Clinton die Wahl in den USA gewonnen
falsch liegen, wenn sie glauben, die Nachkriegsordnung hätte, wäre Merkel nicht noch einmal angetreten, sagt
mit all seinen Verträgen und Bündnissen sei eine Garantie jemand, der fast täglich mit ihr spricht. Doch so kam es
dafür, dass das Monster des Krieges nicht zurückkehrt. nicht. Barack Obamas ehemaliger Berater Benjamin
»Ob wir aus der Geschichte Rhodes schreibt in seinem Buch über die Jahre im Weißen
gelernt haben, wird sich in den Haus, Merkel habe sich nach dem Sieg Trumps ver-
Wie jeder Chef, nächsten Jahrzehnten zeigen«, pflichtet gefühlt, die freie Weltordnung zu verteidigen.
sagte Merkel in Washington nach Für einen Moment schien es so, als meinte sie es damit
der lange im Amt ist, einem Mittagessen mit Donald wirklich ernst. Mitten im Wahlkampf des Jahres 2017, in
kann Merkel Trump. Wenn man sie in diesen einem Festzelt in Trudering, sagte Merkel einen Satz, der
besonders gut erklären, Wochen auf ihren Reisen begleitet, in seiner Tragweite ungeheuerlich war: Europa müsse
in die USA, nach Peking und sein Schicksal nun selbst in die Hand nehmen. Es war der
was nicht geht. Shenzhen, dann hat man nicht den Abschied von der Nachkriegsordnung, in der sich die
Eindruck, dass Merkel sonderlich Europäer immer dann, wenn es unangenehm wurde, auf
optimistisch ist. Schaut man durch den großen Bruder in Amerika verlassen konnten.
ihre Brille auf die Welt, dann erscheinen am Horizont Aber in Merkels Worten lag schon damals ein merk-
schon die Reiter der Apokalypse. würdiger Unernst, und das lag nicht nur am Truderinger
Merkel hatte schon nach der Finanzkrise des Jahres Bierdunst. Merkels Rede war auch dem Wahlkampf
2008 gehofft, dass es eine Vereinbarung geben würde, um geschuldet, denn in jenen Frühsommertagen dachte die
die Kapitalmärkte zu zähmen, so wie sich die Weltge- SPD daran, Merkel als Pudel Trumps zu karikieren,
meinschaft nach 1948, nach Krieg und Holocaust, auf die ein Plan, den die Kanzlerin sehr geschickt durchkreuzte.
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einigen konn- Inzwischen hat sie die Sätze von Trudering mehrmals
te. Aber daraus wurde nichts, und nun sieht sie, wie über- wiederholt. Doch sie füllt sie nicht mit Leben. Am
all die Pfeiler der Weltordnung wanken. 26. September des vergangenen Jahres, zwei Tage nach
Donald Trump? Ein Mann, der aus ihrer Sicht die histo- der Bundestagswahl, hielt Emmanuel Macron eine
rische Zeitrechnung auf null stellt und alles in Zweifel Rede an der Pariser Sorbonne, in der er einen umfassen-
zieht, was den Westen über Jahrzehnte geeint hat, die den Plan zur Reform Europas vorlegte, und die in dem
Nato, Handelsverträge, die Vereinten Nationen. Viele in Satz gipfelte, Kühnheit sei die einzige Antwort auf die
der deutschen Regierung hatten gehofft, es werde schon Herausforderungen der Gegenwart.
N
verfahren aufhalten muss und wo kein Politiker gezwun-
ur sind Bedenken eben noch kein Plan. Merkel gen ist, sich mühsam den Bürgern zu erklären. In China
ist derzeit umzingelt von Männern, die genau wird durchregiert.
wissen, was sie wollen. Macron möchte Europa Irgendetwas müsse passieren, sagt Merkel voller Sorge,
ein neues Gesicht geben, Trump will die Welt als sie, beeindruckt von der Tatkraft der Pekinger Füh-
den Interessen der USA unterordnen, Putin möchte Russ- rung, nach Berlin zurückreist. Um dann im gleichen
land wieder den hegemonialen Glanz der Sowjetunion Atemzug zu erklären, warum eben leider nichts passieren
verleihen. kann, wegen des Föderalismus, Seehofer, der SPD.
Und Merkel? Im Frühjahr 2015 erschien von dem Poli- Sie führe nicht durch Reden und Appelle, sagt Merkel.
tikwissenschaftler Herfried Münkler ein schmaler Band Sie tut so, als sei es eine deutsche Tugend, ohne viel
mit dem Titel »Die Macht in der Mitte«. In ihm plädiert Geschwätz ans Ziel zu kommen. Dabei ist es in Wahrheit
er dafür, dass Deutschland endlich aus der Nische der so, dass sie die Mühe scheut, mit dem richtigen Wort die
Weltpolitik herausfinden müsse. »Scheitert Deutschland Bürger von Ideen zu überzeugen, die im Moment noch
an den Aufgaben der europäischen Zentralmacht, dann keine Mehrheit haben.
scheitert Europa«, schrieb Münkler. Hätte es Brandts Entspannungspolitik gegeben ohne
Das ist nun die Gefahr. Es war immer Merkels große große Reden? Oder die deutsche Einheit? Es gehört zum
Stärke, in komplizierten Verhandlungen einen Kompro- Merkmal der späten Ära Merkel, dass die Kanzlerin mit
miss zu finden, mit dem am Ende alle leben konnten. ihrer Sprachlosigkeit jene Apathie befördert, die sie selbst
So beruhigte sie erst die Finanz- und dann die Eurokrise. so sehr beklagt. I
29
Deutschland
»Echte Differenzen«
SPIEGEL -Gespräch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die Krise zwischen
den Europäern und US-Präsident Donald Trump, den maroden
Zustand der Bundeswehr und die Frage, wie der Westen mit Russland umgehen soll
Erst vor ein paar Tagen ist Stoltenberg, 59, Auf dieses Ziel können sich weiterhin alle USA funktionieren kann. Die Auswir-
im neuen Nato-Hauptquartier im Brüsseler Bündnispartner verständigen. Wir sind zu- kungen der US-Sanktionen auf europäi-
Nordosten eingezogen. Der Bau ähnelt ei- dem alle gleichermaßen besorgt über Irans sche Firmen werden in jedem Fall groß
nem Großflughafen und kostete mehr als Raketenprogramm und seine Aktivitäten, sein.
eine Milliarde Euro. Er beherbergt mehr die zur Instabilität in der Region führen, SPIEGEL: Kein Land ist von den Bedro-
als 4000 Mitarbeiter und Diplomaten der die Unterstützung von Terrorgruppen bei- hungen, die von Iran ausgehen, stärker be-
29 Nato-Mitgliedsländer. In seinem Büro spielsweise. Die Regierung in den USA troffen als Israel. Würde die Nato Israel
im zweiten Stock empfängt Hausherr Stol- und die anderen Verbündeten sind sich je- im Falle eines Angriffs schützen?
tenberg den SPIEGEL zum ersten Stoltenberg: Israel ist unser Part-
Interview im neuen Gebäude. ner, aber kein Nato-Mitglied. Die
Sicherheitsgarantie des Artikels 5
SPIEGEL: Herr Stoltenberg, Sie wa- gilt nicht für Israel. Die Nato war
ren kürzlich zu Besuch bei US-Prä- und ist beim Nahost-Friedenspro-
sident Donald Trump. Sind die USA zess nicht beteiligt, genauso wenig
noch ein verlässlicher Verbündeter? wie bei den militärischen Auseinan-
Stoltenberg: Die USA stehen zur dersetzungen in der Region. Das
Nato und ihrer Verpflichtung, Euro- ist nicht unsere Aufgabe.
pa zu schützen. Präsident Trump hat SPIEGEL: Welches Signal sendet
in Washington bekräftigt, dass die die Kündigung des Iran-Deals an
USA zur Beistandspflicht des Arti- Nordkorea? Warum sollte Macht-
kels 5 stehen. Die USA schicken haber Kim Jong Un auf Atomwaf-
mehr Soldaten nach Europa, sie la- fen verzichten, wenn er nicht weiß,
gern mehr Material in Osteuropa ein, ob die USA ihn kurz darauf ein-
geben mehr Geld aus. Diese Aktio- fach »plattmachen«, um einmal
nen sagen mehr als tausend Worte. Trumps Worte zu benutzen?
SPIEGEL: Andere Aktionen vermit- Stoltenberg: Ich fände es gut,
teln einen ganz anderen Eindruck. wenn es nun tatsächlich zu einem
Die USA ziehen sich aus dem Iran- Gipfel käme, der in der Substanz
Abkommen zurück und brechen da- Fortschritte brächte. Wir wollen si-
mit, ohne mit der Wimper zu zu- cherstellen, dass Nordkorea sein
cken, einen internationalen Vertrag Atom- und sein Raketenprogramm
unter dem Dach der Vereinten Na- aufgibt. Dafür müssen wir weiter-
EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL
30
THERON J. GODBOLD / U.S. NAVY / SIPA USA / DDP IMAGES
US-Zerstörer bei Nato-Manöver vor Schottland 2017: »Es geht nicht darum, Präsident Trump einen Gefallen zu tun«
USA und Kanada. Erinnern Sie sich: Das lösen, natürlich. Solange dies aber nicht Deutschland wieder mehr Geld für die
einzige Mal, dass die Nato Artikel 5 aus- möglich ist, müssen wir sicherstellen, dass Bundeswehr bereitstellt.
löste, also den gemeinsamen Verteidi- die Nato ihren Kernauftrag weiterhin er- SPIEGEL: Deutschland hat 2 Prozent für
gungsfall, war nach den Terrorangriffen füllen kann: Wir unterstützen uns, und im das Jahr 2024 in Aussicht gestellt und
vom 11. September in den USA. Für die Falle eines Angriffs helfen wir uns gegen- bietet nun 1,5 Prozent im Jahr 2025 an. Ist
USA ist es ein großer Vorteil, so viele seitig. Für Europa ist dieses Versprechen das genug?
Freunde zu haben wie in der Nato. Keine überlebenswichtig. Die Sicherheit Europas Stoltenberg: Das ist jedenfalls ein bedeut-
andere Großmacht genießt international ist abhängig von den USA. samer Sprung. Im vergangenen Jahr hat
vergleichbaren Rückhalt. SPIEGEL: Trump kritisiert, dass die Euro- Deutschland sechs Prozent mehr als im
SPIEGEL: Als Trump im vergangenen Jahr päer zu wenig Geld für ihre Verteidigung Vorjahr ausgegeben, im Vergleich zu 2015
vor dem neuen Nato-Hauptquartier ein ausgeben. Er schimpft vor allem auf die sollen die Verteidigungsausgaben bis 2025
Mahnmal einweihte, unterließ er es, sich Deutschen, die von der Sicherheitsgaran- um 80 Prozent wachsen. Wir brauchen
zur Verteidigungsgarantie des Artikels 5 tie der USA profitierten, ohne ihren fairen dieses Signal aus Deutschland, als größte
zu bekennen. Erwarten Sie, dass der Prä- Anteil zu zahlen. Hat er recht? Volkswirtschaft Europas. Meine Botschaft
sident beim Nato-Gipfel im kommenden Stoltenberg: Wenn wir die Verteidigungs- ist daher, auch in Richtung USA: Deutsch-
Juli ein derartiges Bekenntnis nachholt? ausgaben erhöhen, geht es nicht darum, land bewegt sich in die richtige Richtung.
Stoltenberg: Das hat er bereits. Als ich Präsident Trump einen Gefallen zu tun. Aber das Zweiprozentziel gilt.
ihn in Washington getroffen habe, ließ Prä- Wir haben uns beim Gipfel 2014 gemein- SPIEGEL: Wenn man über die Bundeswehr
sident Trump keinen Zweifel daran, dass sam auf das Zweiprozentziel verständigt, redet, muss man auch über ihre Ausrüs-
die USA zu Artikel 5 stehen – im Gespräch damals war Barack Obama Präsident. Zur tung sprechen. Die deutsche Armee ist in
unter vier Augen, aber auch in aller Öf- Erinnerung, bis Anfang der Neunziger- einem beklagenswerten Zustand. Taugt
fentlichkeit. jahre hat Deutschland mehr als zwei Pro- die Bundeswehr überhaupt noch für Ein-
SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig: Solan- zent des Bruttoinlandsprodukts für die sätze im Rahmen der Nato?
ge der Streit etwa über die Handelspolitik Verteidigung ausgegeben. Wenn die Ver- Stoltenberg: Deutschland liefert einen ent-
nicht auf die militärischen Belange in der teidigungsausgaben sinken, wenn Span- scheidenden Beitrag in der Nato.
Nato übergreift, ist die Sache nur halb so nungen abnehmen, muss man auch in der SPIEGEL: Mit Verlaub: Flugzeuge der
schlimm. Aber was ist mit dem Anspruch Lage sein, sie zu erhöhen, wenn die Span- Bundeswehr können wegen fehlender Er-
der Nato, eine Wertegemeinschaft zu sein? nungen zunehmen. Es ist in unserem In- satzteile nicht starten, die deutsche Pan-
Stoltenberg: Wir müssen ehrlich sein: Es teresse, mehr für Verteidigung auszugeben, zerbrigade aus Munster, die 2019 den Kern
gibt derzeit Differenzen bei vielen wichti- weil neue Gefahren unsere Sicherheit be- der schnellen Eingreiftruppe der Nato bil-
gen politischen Fragen. Damit ist bei einer drohen, sei es ein wieder aggressiver auf- den soll, wird wohl nur einen Bruchteil
Allianz mit 29 Staaten aber immer zu rech- tretendes Russland, sei es der IS-Terror an der zugesagten Panzer bereitstellen, und
nen. Das Beste wäre, diese Differenzen zu unserer Südflanke. Ich begrüße daher, dass von der Nato-Ausbildungsmission von Sol-
»Lieben
daten im Irak ist Deutschland auch alles len mit unserem Nachbarn gute Beziehun-
andere als begeistert … gen. Deswegen haben wir uns am Don-
Stoltenberg: … ich habe Soldaten der nerstag nach Monaten Pause erneut im
Bundeswehr in Litauen getroffen, wo sie Nato-Russland-Rat getroffen. Wir reden
Dank«
in einer Battle Group die Führung über- über die Ukraine, sorgen für Transparenz
nehmen. Egal ob in Afghanistan, im Ko- bei Manövern, die anstehen – diese The-
sovo oder beim Marineeinsatz im Zuge men bleiben auf der Agenda.
der Flüchtlingskrise in der Ägäis – ich SPIEGEL: Ist die Nato im Umgang mit
schätze die hohe Qualität der deutschen Russland wirklich so stark, wie Sie behaup- Lobbyismus Erstmals prüft eine
Militärs. Aber natürlich gibt es Lücken, ten? Im SPIEGEL berichteten wir zuletzt
auch weil die Verteidigungsausgaben viele über ein Geheimpapier, in dem Ihre Mili- Ethikkommission Wechsel
Jahre gekürzt wurden. Und ich finde es tärs große Zweifel äußerten, ob die balti- von Regierungsmitgliedern in die
gut, dass Deutschland so offen damit um- schen Mitglieder im Falle eines russischen Wirtschaft. Die Ex-Minister
geht. Angriffs verteidigt werden könnten.
SPIEGEL: Gerade wegen der engeren Bud- Stoltenberg: Die Nato ist das erfolgreichs-
Gabriel und Zypries müssen vor
gets haben viele EU-Länder nun be- te und stärkste Militärbündnis der Ge- ihren neuen Jobs pausieren.
schlossen, in Verteidigungsfragen stärker schichte, wir sind in der Lage, alle unse-
zusammenzuarbeiten. Sie bündeln ihre re Mitglieder zu schützen. Das heißt aber
Cyberabwehrkräfte und errichten ein
gemeinsames Sanitätskommando. Fürch-
ten Sie, dass innerhalb des Bündnisses eine
Art Mini-Nato heranwächst?
auch, dass wir uns ständig weiterent-
wickeln müssen, wenn neue Gefahren
entstehen. Daher verstärken wir seit eini-
ger Zeit unsere Präsenz in Osteuropa, wie
E ine Woche bevor Brigitte Zypries die
Bundesregierung verließ, veröffent-
lichte das Start-up Masterplan.com
ein Video auf YouTube. Zu sehen ist die
Stoltenberg: Nein. Die Nato fordert seit etwa mit Soldaten der Bundeswehr in damalige Wirtschaftsministerin, wie sie
Jahrzehnten, dass die Europäer mehr für Litauen. Und wir arbeiten an unseren Fä- über die Digitalisierung spricht. Dann folgt
ihre Verteidigung tun. Wir sind froh, dass higkeiten, um im Notfall schnell Nach- ein Werbeblock: »Ich habe mich gefreut
dies nun endlich geschieht. Ich begrüße es, schub dorthin zu bringen. Wir haben die zu sehen, dass Masterplan.com jetzt eine
wenn die EU bei Verteidigungsfragen stär- Nato-Response-Force verdreifacht, unsere Plattform entwickelt hat, auf der man all
ker zusammenarbeiten will. Wir sollten dies lernen kann, und ich muss gestehen,
uns aber keinen Illusionen hingeben: Nach schon nach einer Dreiviertelstunde hatte
dem Brexit werden 80 Prozent der Vertei- ich was dazugelernt.«
digungsausgaben in der Nato von Ländern Es kommt nicht allzu oft vor, dass sich
EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL
außerhalb der EU stammen. Bundesminister so begeistert von einer Fir-
SPIEGEL: In Ihrer Rede auf der Münchner ma zeigen. Noch ungewöhnlicher ist, dass
Sicherheitskonferenz klangen Sie noch sie nur wenige Monate später bei diesem
ganz anders. Sie sprachen von der Gefahr, Unternehmen anheuern wollen. Die So-
dass doppelte Strukturen geschaffen wür- zialdemokratin soll künftig im Beirat von
den und die Bindung über den Atlantik Masterplan.com ihre Erfahrungen aus der
geschwächt zu werden droht. Politik einbringen. Schon im Oktober hat-
Stoltenberg: Mein Eindruck ist, dass die- te sie der Firma einen Besuch abgestattet.
ses Risiko den Beteiligten bewusst ist, und Stoltenberg, SPIEGEL-Redakteur* Damals freute sich Gründer Daniel Schütt
das ist ja schon die halbe Lösung. Unsere »Einer für alle, alle für einen« auf Instagram über den »sehr spannenden
EU-Bündnispartner haben überdies klar- Austausch« mit Zypries. »Lieben Dank für
gemacht, dass es nicht darum geht, die schnelle Eingreiftruppe. Und wir werden deinen Besuch.«
Nato zu kopieren, sondern darum, die eu- beim Nato-Gipfel im Juli darüber disku- In den vergangenen Jahren sorgten
ropäische Säule innerhalb des Bündnisses tieren, wie wir unsere Einsatzbereitschaft Wechsel von Politikern in die Wirtschaft
zu stärken. Frau von der Leyen hat das weiter verbessern können. immer wieder für Schlagzeilen. Gerhard
Problem ganz gut auf den Punkt gebracht. SPIEGEL: Der Nato fehlen Truppen, die Schröder setzte sich im Kanzleramt für die
Bei einem Wettbewerb zwischen der EU sie im Ernstfall schnell verlegen kann … Gaspipeline Nord Stream ein und wurde
und der Nato würde Deutschland in einen Stoltenberg: … deswegen wollen wir mit nach seinem Amtsende in den Aktionärs-
Wettbewerb mit sich selbst eintreten, sagt unseren Bündnispartnern klären, welche ausschuss der Tochterfirma des russischen
sie. Nato und EU müssen sich ergänzen, zusätzlichen Einheiten im Krisenfall rasch Gazprom-Konzerns berufen. Der ehema-
nicht behindern, alles andere wäre absurd. abrufbar sind. Dies dient einer glaubwür- lige Staatsminister Eckart von Klaeden
SPIEGEL: Während sich die Europäer mit digen Abschreckung und nicht dazu, Russ- tauschte seinen Job in der Regierungszen-
Trump streiten, tritt Russland zunehmend land zu provozieren. Dazu kommen Än- trale mit dem Posten des Cheflobbyisten
aggressiv auf. Was setzt die Nato dem Ver- derungen in der Kommandostruktur. Es beim Autobauer Daimler. Stets werfen sol-
halten Russlands entgegen? wird ein neues Atlantikkommando geben, che Seitenwechsel die Frage auf, ob die Poli-
Stoltenberg: Abschreckung und Dialog ge- um Truppen einfacher von Nordamerika tiker mit dem Job für Gefälligkeiten im
hören zusammen. Das habe ich als junger nach Europa zu transportieren. Und wir Amt belohnt werden. Zumindest versil-
Sozialdemokrat in Norwegen von deut- planen ein Hauptquartier für Logistik, das bern sie Kontakte aus der Regierungszeit.
schen Politikern wie Willy Brandt oder in Deutschland entstehen soll. Gerade im In der vergangenen Wahlperiode ent-
Helmut Schmidt gelernt: Solange man Umgang mit einem zunehmend schwieri- schied sich die Große Koalition deswegen,
stark und verlässlich ist, kann man ins Ge- gen Sicherheitsumfeld zeigt sich, was ich das Ministergesetz zu verschärfen. Die
spräch kommen. Wir wollen keinen neuen meine, wenn ich sage: einer für alle, alle neue Regelung wäre »wohl nicht nötig
Kalten Krieg, kein neues Wettrüsten, wir für einen. gewesen, wenn sich manche in der Vergan-
wollen Russland nicht isolieren, wir wol- SPIEGEL: Herr Stoltenberg, wir danken genheit anders verhalten hätten«, sagte da-
Ihnen für dieses Gespräch. mals Innenminister Thomas de Maizière
* Peter Müller im Nato-Hauptquartier in Brüssel. im Deutschen Bundestag.
32
Doch bislang ist nicht erkenn- War das Ethikgremium deswe-
bar, dass das Gesetz eine abschre- gen besonders streng?
ckende Wirkung hat. Seit der Zypries behält sich vor, gegen
Bundestagswahl haben sich be- die Zwangspause beim Verwal-
reits drei politische Schwerge- tungsgericht zu klagen. »Ich
wichte nach lukrativen Tätigkei- muss den Bescheid prüfen,
ten umgesehen: Zypries, der bis- wenn er vorliegt«, sagt die SPD-
herige Außenminister Sigmar Ga- Politikerin. »Falls er mir Tätig-
briel (SPD) und Ex-Innenminis- keiten untersagt, muss ich ent-
ter Thomas de Maizière (CDU). scheiden, ob ich rechtlich gegen
Es geht vor allem um Aufsichts- die Entscheidung der Bundesre-
rats- und Beraterposten in Unter- gierung vorgehe.« Die Karenz-
nehmen und Verbänden. zeit sei ein »Eingriff in die vom
Neu ist, dass Minister und Grundgesetz garantierte Berufs-
Parlamentarische Staatssekre- freiheit«, so die Ex-Ministerin.
täre ihre zukünftigen Tätigkei- Das Gesetz gilt auch für frei-
ten vorab im Kanzleramt mel- berufliche oder ehrenamtliche
den müssen. Sollten durch die Tätigkeiten. Eine Zwangspause
Wechsel »öffentliche Interessen droht nicht nur bei direkten
beeinträchtigt werden«, droht Interessenkonflikten, sondern
den Ex-Ministern eine Zwangs- auch, wenn die geplante Be-
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Deutschland
37
HC PLAMBECK / LAIF
HC PLAMBECK
der »Zerstörung des Systems der gesetz- Stil: Derzeit zählt die Rentenkasse fast weit. »Deutsche gegen ausländische Bei-
lichen Rentenversicherung«. 38 Millionen aktiv Versicherte. Mehr als tragszahler auszuspielen, das widerspricht
Dazu wirft die Ost-AfD mit Fakten um 5 Millionen dieser Beitragszahler haben meinem Gerechtigkeitsempfinden«, sagt
sich, die zwar nie ganz falsch, aber nicht einen ausländischen Pass, die Sozialversi- Parteichef Meuthen. Allerdings kann er kei-
immer ganz richtig sind. Das beginnt mit cherung nennt die Zuwanderer »eine Er- ne Alternative zu Pohls Papier vorweisen.
der Aussage, die »Altparteien« wollten das leichterung«. Auch juristisch ist die Idee Die Bundestagsfraktion, die der Parteivor-
Rentenniveau »perspektivisch auf 43 Pro- heikel, allein europarechtlich dürfte sie stand eilig bat, einen Kompromiss zu er-
zent im Jahr 2030« senken. In keinem Ge- kaum zu halten sein. Ein kalkulierter Eklat. arbeiten, hat noch nicht geliefert. Andere
setz steht das so, der Wert markiert nur Das gilt auch für den Vorschlag einer liberale Gegenentwürfe stammen von Ein-
die absolute Untergrenze. Ganz abgese- neuen Kinderrente, mit dem die AfD ihr zelkämpfern. Vorerst bleibt Meuthen also
hen davon, dass Union und SPD diese traditionelles Familienbild bewirbt. Eltern nur, in seiner Rede auf dem Bundesparteitag
Haltelinie längst für zu niedrig halten. Sie sollen einen festen Rentenaufschlag erhal- Ende Juni für einen liberalen Kurs zu wer-
wollen das Niveau von heute knapp 48 ten, der von der Zahl ihrer Kinder abhängt. ben: »Die AfD darf die Linke nicht links
Prozent bis mindestens 2025 festschreiben. Bei den Beiträgen sollen Väter und Mütter überholen«, warnt er. »Sozialpolitik sollte
Aber die Ost-AfD fordert stets etwas zuvor für jedes Kind entlastet werden. nicht mit dem Füllhorn gemacht werden,
mehr, und wer das Konzept bis zur letzten Die AfD beruft sich auf bekannte Öko- sondern zielgerichtet für Bedürftige.«
Seite liest, fragt sich verwundert, ob es nomen, zerlegt deren Überlegungen aber Auch Alice Weidel fährt einen anderen
nicht in einer Denkfabrik der Linken ent- in populistisch verdaulichere Häppchen. Kurs: Das Sicherungsniveau der Rente
standen ist. Das Rentenniveau? Soll auf Diese Technik zieht sich durch das ganze werde »gern für öffentlichkeitswirksame
50 Prozent angehoben werden. Die geför- Papier. Bei der Kinderrente etwa verwei- Forderungen missbraucht«, sagt sie – eine
derte Privatvorsorge? Ist ein Lobbyerfolg sen die Autoren auf Vorschläge, die der treffende Beschreibung für Pohls Papier.
»des internationalen Finanz- und Versiche- Ökonom Martin Werding vor Jahren für Am liebsten würde Weidel das Modell
rungskapitals« und gehört abgeschafft. das Ifo-Institut vorgelegt hat. Der an- ihrer Schweizer Wahlheimat übernehmen,
Am Ende steht ein wirklichkeitsfremdes erkannte Rentenexperte ist über die Ver- wo die gesetzliche Rente nur eine Säule ist.
Sammelsurium populärer Vorschläge, die einnahmung entsetzt. Seine Ideen seien Den Rest sollten die Bürger bestreiten, so
zwar nicht zusammenpassen, aber den Zu- »aus dem Zusammenhang gerissen«, sagt Weidel, durch kapitalgedeckte Arbeitnehm-
spruch verunsicherter Wähler verheißen. er. Es wäre »bitter«, wenn ausgerechnet erversicherungen oder steuerlich geförderte
Die Kernbotschaft: mehr Geld für alle – die AfD das Thema aufgreifen würde. Geldanlagen. Pohl, der den Osten auf dem
jedenfalls für alle mit deutschem Pass. Bei seinem Konzept sei es stets darum Weg zum »Armenhaus Deutschlands«
So will die Ost-AfD kleine Renten lang- gegangen, die Folgen des demografischen sieht, hält solche Ideen für realitätsblind.
jährig Versicherter aufstocken. Wer min- Wandels zu bewältigen. Werding wollte Der Kampf in der AfD hat erst begon-
destens 35 Jahre in die Rentenkasse ein- Familien besser absichern, zugleich aber nen. Fast 125 Milliarden Euro zusätzlich
gezahlt hat, soll einen steuerfinanzierten am sinkenden Rentenniveau festhalten. würde das Konzept der Ost-AfD die Bei-
Aufschlag auf die Rente erhalten – als Ab- Die Ost-AfD dagegen verspricht ein sattes tragszahler und den Staat von 2045 an kos-
stand zur Grundsicherung. Diese »Staats- Plus beim Niveau – und will von den Las- ten – im Jahr. Es ist eine kaum vorstell-
bürgerrente«, die im Durchschnitt bei ten alternder Gesellschaften nichts wissen. bare Summe. Höhere Steuerzuschüsse,
180 Euro liegen soll, soll allerdings nur Se- Dabei hantiert sie mit einer gewagten argumentiert Pohl, seien doch leicht zu
nioren mit deutscher Staatsangehörigkeit These: Geld sei genug da, man müsse es nur finanzieren. Man könne ja bei den Ausga-
zustehen. Die »persönliche Lebensleis- besser verteilen. Wenn die Löhne mit der ben für Windräder und Flüchtlinge sparen.
tung«, die die AfD angeblich honorieren Arbeitsproduktivität stiegen, würden die Zumindest diese Forderung dürfte bei
will, spricht sie türkischen Kohlekumpeln Versicherten höhere Beitragssätze doch gar den Rechtspopulisten unumstritten sein.
oder polnischen Bauarbeitern damit ab. nicht spüren. Auch den eigenen Parteifreun- Melanie Amann, Cornelia Schmergal
Es wäre eine Diskriminierung in großem den geht Pohls Staatsbürgersozialismus zu
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Faso, Ouelgo Téné, der zwar noch Deutsch sagt er. Er sei immer neugierig auf das
lernt, aber schnell Zugang zu der Figur Fremde, Nichtdeutsche gewesen. Aber es
fand – in Carl Zuckmayers Stück geht es bleibe fremd, und das sei auch gut so.
auch um eine verweigerte Aufenthalts- Sein letzter Theaterbesuch sei in Dessau
genehmigung in Preußen. »Sprich erst mal gewesen, das Anhaltische Theater brachte
Deutsch«, schleuderten Passanten dem AfD-Abgeordneter Tillschneider Jugendliche aus Sachsen-Anhalt und syri-
Schauspieler auf der Straße entgegen. »Dilettantischer Multikulturalismus« sche Flüchtlinge für das Tanz- und Thea-
40
SABINA SABOVIC
Schauspieler Téné als Hauptmann von Köpenick in Altenburg: Menschen aus 26 Nationen im Ensemble
terprojekt »Das Fremde so nah« gemein- noch heranziehen müsste, die ihrem Thea- Thomas Ostermeier, Intendant der
sam auf die Bühne. Tillschneiders Urteil: terverständnis folgen. »Ich kenne keinen Schaubühne in Berlin, setzt in dieser Spiel-
»dilettantischer Multikulturalismus, der Intendanten oder Regisseur in Deutsch- zeit einen Schwerpunkt auf Stücke, die
Jugendlichen nur den Sinn für den Unter- land, der Theater à la AfD machen wür- gesellschaftliche Verunsicherungen und
schied zwischen dem Eigenen und dem de«, sagt Regisseur Lösch. die Hilflosigkeit der Linken thematisieren.
Fremden aberziehen will«. Das habe auf Der AfD-Politiker Tillschneider sucht Die Bühnenfassung von Didier Eribons
»deutschen Bühnen nichts verloren«. sein Theaterheil daher vorerst in Osteuro- Buch »Rückkehr nach Reims« zeigt, wa-
Aber welches Theater will er? Erbau- pa. Als Leitfiguren sieht er Künstler wie rum in einst kommunistischen Hochbur-
ungsstücke fürs biodeutsche Selbstwertge- Attila Vidnyánszky, der das ungarische Na- gen Nordfrankreichs der rechtsextreme
fühl, kulinarisches Guckkastentheater wie tionaltheater in Budapest leitet und den Front National reüssiert.
bei Kleinstaatpotentaten des Barock? autokratischen Ministerpräsidenten Viktor Ostermeier bereitet schon ein weiteres
Die Magdeburger Historikerin Manuela Orbán in kulturellen Angelegenheiten be- Verunsicherungswerk vor: die »Italieni-
Lück hat sich im Auftrag der Heinrich-Böll- rät. Vidnyánszky will, wie er dem Online- sche Nacht« von Ödön von Horváth. Das
Stiftung mit den Kulturkonzepten der AfD theaterforum Nachtkritik.de sagte, Hel- Volksstück, 1931 uraufgeführt, schildert,
beschäftigt. Die Sozialdemokratin ent- dengeschichten erzählen und nicht »im wie blind Sozialdemokraten gegenüber
deckte ein »nationalkonservatives und Schlamm der Wirklichkeit« verharren. dem Nationalsozialismus gewesen sind.
rückwärtsgewandtes Kulturverständnis, Manche Theatermacher haben diesen Zuerst hatten sie die Gefahr für die Re-
das ausschließlich dem Bewahren ver- Kulturkampf angenommen. Florian Lutz, publik belächelt, dann war es zu spät. »Wir
meintlich einheitlicher kultureller Eigen- Intendant der Oper in Halle, spricht vom müssen verhindern, dass immer mehr rech-
heiten des deutschen Volkes dient«. »offenen Visier«, damit müsse man den te Ideologie in die verunsicherte Mitte der
Theater à la AfD, sagt sie, »soll andere Rechten begegnen. Gesellschaft vordringt«, sagt Ostermeier.
Kulturen ausgrenzen und ablehnen und ein Matthias Brenner, Chef des Neuen Das gelinge nur, wenn auch das Theater
vermeintliches Deutschtum heroisieren«. Theaters in der Stadt, eröffnete die Spiel- gesellschaftliche Visionen vermittle. »Es
Klassiker stünden hoch im Kurs, allerdings zeit mit Friedrich Hebbels »Die Nibelun- reicht nicht, nur auf die Rechtspopulisten
nur, wenn sie werkgetreu auf die Bühne gen«, der Siegfried-Saga, dem völkisch- draufzuhauen.«
gebracht würden. Tillschneider nennt das rechten Identifikationsmythos schlechthin. Ostermeiers Kollege Volker Lösch zielt
»Bekenntnis zu Strenge, Form und Stil«. Sogar AfD-Ideengeber Götz Kubitschek ebenfalls auf die verunsicherte Mitte der
Die Stücke, so der AfD-Kulturpolitiker, war neugierig und kam mit Frau und Kin- Gesellschaft. Derzeit arbeitet er an einem
müssten beim Zuschauer »ein gutes Gefühl dern. Die Inszenierung dürfte allerdings Stück über ein Land, in dem die AfD mit-
für die deutsche Geschichte hinterlassen«. nicht so recht in sein Weltbild gepasst regiert. 2019 will er es aufführen, am
Sicher ließen sich Goethes »Götz von haben. Brenner hatte dem Stück den spät- Staatsschauspiel in Dresden.
Berlichingen« oder Kleists »Prinz von romantischen Pathos des 19. Jahrhunderts In Sachsen, wo die AfD mancherorts
Homburg« als deutschnationale Weihe- genommen. »Unsere Kunstwerke«, sagt stärkste politische Kraft ist, werden im sel-
stunde inszenieren, aber würde das den Brenner, »müssen auch mit AfD-Themen ben Jahr Landtagswahlen sein.
Werken gerecht? Wohl kaum. Zumal die zu tun haben, aber wir dürfen sie uns nicht Andreas Wassermann
AfD sich Regisseure und Dramaturgen erst von diesen Trotteln diktieren lassen.«
42
CARSTEN REHDER / DPA
trotzdem gegen ein Verbot, Lebensmittel der Anlage werden die nassen Gärreste Entsorger Refood beschäftigt an 19
inklusive Verpackung zu schreddern. Er noch millimeterfein gesiebt. Standorten rund tausend Mitarbeiter und
schlägt vor, neue Kontrollen einzuführen. 99,999 Prozent der Kunststoffe könnten verarbeitet nach eigenen Angaben etwa
Christoph von Jan hätte nichts dagegen. so herausgefiltert werden, so Betreiber Jan. eine halbe Million Tonnen gewerblicher Le-
Der Agraringenieur betreibt in Geislingen Der Gütesiegelverein BGK hält das für bensmittelabfälle im Jahr. Die Firma gehört
bei Stuttgart eine Biogasanlage, die ver- realistisch. Die Methode ist allerdings auch zum Milliardenkonzern Rethmann, in des-
packte Lebensmittel verarbeitet. In seinem teuer. Eine solche Anlage lohne sich nur sen Besitz auch das Müllunternehmen Re-
Gärprodukt fand ein unabhängiges Labor dort, wo die Böden nährstoffarm seien und mondis ist.
in den vergangenen drei Monaten über- wenig Gülle aus Mastbetrieben vorhanden Refood benutzt in seinen Werken unter
haupt keine messbaren Plastikreste. sei, sagt Jan, dann nehmen die Landwirte anderem Hammermühlen zum Zerschred-
Während Refood seine Anlagen nicht den Dünger aus Gärresten kostenlos an. dern der Lebensmittel und Verpackungen.
zeigen wollte, führt Jan mit Besitzerstolz Anderswo müssen die Betreiber der Diese Geräte zertrümmern bei schnellen
durch die streng riechende Halle von Gasanlagen den Bauern Geld geben, da- Umdrehungen einfach alles in kleinste Tei-
Schradenbiogas. Eine Förderanlage füttert mit diese bereit sind, die Pampe auf ihre le. Einst haben solche Mühlen die Kadaver
drei Maschinen mit den Abfällen. Die erste Äcker zu kippen. Jan befürchtet, dass dem- von Rindern und Schweinen zerhackt, die
zerschneidet verpackten Käse oder Pud- nächst noch mehr Plastik in die Landschaft so zu Tierfutter verarbeitet wurden.
dingbecher exakt zweimal. Die zweite gelangt. Denn in den kommenden Jahren Wegen der Rinderseuche BSE wurde im
trennt die Hüllen ab: Rotierende Paddel läuft bei vielen der Biogasanlagen, die heu- Jahr 2000 dieses Futter verboten. Man
katapultieren das leichte Plastik nach te Mais verstromen, die staatliche För- kann dem Müllkonzern immerhin zugute-
oben, die feuchten organischen Bestand- derung aus. In diesen Altanlagen könnten halten, dass er die Technik wiederverwer-
teile werden durch ein Lochsieb nach au- dann vermehrt billige Lebensmittelabfälle tet hat. Annette Bruhns, Vivien Krüger
ßen gedrückt. Nach der Fermentation in vergoren werden.
sowie um Finanzströme, mit denen Straf- Im BKA heißt es, diese Informationen
Jagd nach taten finanziert würden.
Wenn es gut läuft, glauben die deut-
seien erst vor zwei Wochen eingetroffen.
Schon jetzt hätten die Fahnder Datensätze
schen Kriminalisten, könnten die Daten zu mehr als 120 Staats- und Regierungs-
Schattengeld Ermittlern auf der ganzen Welt helfen,
eine Schattenwelt von Verbrechern in
chefs und weiteren Politikern aus 47 Län-
dern darin gefunden. Die Kanzlei Appleby
Schlips und Kragen auszuleuchten. Die vertritt Kunden wie Nike, Google und
Verbrechen Das BKA besitzt Polizisten nehmen an, dass sich Steuer- Facebook. Die Ermittler glauben, dass die-
Datenbestände der wohl wich- fahnder und Finanzermittler aus aller Welt ses Material besonders ergiebig sein kann,
tigsten Offshore Leaks der Welt. auf die Informationen stürzen werden. die Ermittlungen aber schwierig werden.
Allein die sogenannten Panama Papers Die Swiss Leaks mit Daten der HSBC-
Damit wollen die Deutschen mit Kundendaten der Kanzlei Mossack Fon- Bank in Genf umfassen laut BKA mehr als
global Finanzbetrüger verfolgen. seca in Panama umfassen rund 2,7 Terabyte. 2100 Konten deutscher Personen und Fir-
Anfang dieses Jahres erhielt das BKA eine men. Die Offshore Leaks enthalten Kun-
zweite, bislang unbekannte Lieferung, sie dendaten von Kanzleien auf den Briti-
44
seinen Rechnern zu haben. Abteilungslei-
terin Vogt versucht das mit dem Vertrauen
ins BKA zu erklären. »Wir können profes-
sionell mit den Daten umgehen.«
Sie sagt, es gehe ihr um das organisierte
Verbrechen. »Wir suchen nach Konstruk-
tionen, die dazu dienen, Geld aus Strafta-
ten zu verstecken oder Straftaten zu bege-
hen«, sagt Vogt. Schon nach den ersten
Panama Papers stieß das BKA auf das Off-
Jetzt im
shore-Vermögen eines Briten, das wohl
aus dem vorgetäuschten Handel mit Um-
Handel
weltzertifikaten stammt. Die Ermittler fan-
den Informationen über andere Briten, die
mit Nordkoreanern Konten unterhielten,
um Handelsembargos zu umgehen, und
sie erfuhren etwas über den brasiliani-
schen Bauunternehmer Marcelo Ode-
brecht, der mit seinem Geld Regierungen
in Südamerika gefügig machte.
Abteilungsleiterin Vogt hofft, ihre Trup-
pe noch verstärken zu können. Aufgrund
der Leaks sind in Deutschland bereits neun
Verfahren wegen Untreue, Korruption und
Geldwäsche eingeleitet worden. »Uns geht
es weniger um Einzelfälle, sondern darum,
illegale Strukturen aufzudecken«, so Abtei-
lungsleiterin Vogt.
Es gibt Hinweise auf einen Online-Waf-
fenhändler, auf Firmen, die illegale Sport-
wetten anbieten, und auf mutmaßliche
Steuerbetrüger mit sogenannten Cum-ex-
Deals. Dabei werden Aktienpakete ver-
kauft und kurz darauf zurückgekauft, um
sich die Kapitalertragsteuer mehrfach er-
statten zu lassen. Und das sind nur einige
Verdächtige aus Deutschland.
Vor allem aus den jüngeren Daten er-
hofft sich das BKA Erkenntnisse über
Finanzbetrüger aus den USA. Mit den www.spiegel-geschichte.de
USA und Brasilien liefen bereits Rechts-
hilfeersuchen, die dortigen Behörden seien
sehr interessiert. Mit dem Bundesjustiz-
ministerium und dem Auswärtigen Amt
sei geklärt, wie die Behörden international
zusammenarbeiten könnten. X Auch als App für iPad, Android
»In Europa können wir unsere Daten den sowie für PC/Mac. Hier testen:
Behörden relativ einfach zur Verfügung
stellen. Und genau das tun wir aktuell«, spiegel-geschichte.de/digital
sagt Vogt. Womöglich bereiten die Papiere
aber Behörden und Regierungen nicht nur
Freude. Das BKA stieß auf obskure Konten
von Staatsbürgern der Slowakei, wo im Fe-
bruar der Journalist Ján Kuciak und dessen
Lebensgefährtin erschossen wurden, und
von Malta, wo im Oktober 2017 die Jour-
nalistin Daphne Caruana Galizia mit einer
Autobombe getötet wurde. Beide Journa-
listen hatten über verdächtige Geldflüsse
Lesen Sie in diesem Heft:
in ihren Ländern recherchiert.
Falls es in diesen Ländern Ermittler und Geografie Das Weltbild der alten Griechen
Politiker geben sollte, die unwillig sind,
Hintergründe herauszufinden, können sie
sich zumindest nicht mehr herausreden, Ägypten Was wollte der Feldherr am Nil?
sie hätten diese Informationen nicht.
Andreas Ulrich Mythos Die Verklärung Alexanders
DER SPIEGEL Nr. 23 / 2. 6. 2018 45
Deutschland
Der Kulturballast
Denkmäler Erst wurde der Berliner Bau abgerissen, nun soll auch in Bitterfeld der geschichts-
trächtige DDR-Palast weichen. Ein Trupp von Gegnern will das verhindern.
O
hne Bitterfeld wäre Brigitte Rei- mann, der im Kulturpalast manchmal gegen den Abriss: »Der Kulturpalast steht
mann nie im Tagebau gelandet. selbst als Sänger auftrat, hatte schon zu mit Blick auf denkmalgeschützte Bausub-
Die aufstrebende Ostschriftstel- Zeiten der DDR an etlichen Industriepro- stanz aus der Zeit der DDR – nach der fast
lerin quälte sich 1960 ins DDR- jekten mitbauen dürfen und kaufte der vollständigen Zerstörung des Kulturhauses
Kombinat »Schwarze Pumpe«, um hier Treuhand nach der Wende mehr als ein in Schkopau – mittlerweile einzigartig da
dem Leben der Werktätigen näherzukom- Dutzend Firmen ab. und besitzt eine außergewöhnliche städte-
men. Reimann stand im Auftrag der Partei Preiss-Daimler übernahm den Palast bauliche und landschaftliche Prägekraft.«
einem »Zirkel schreibender Arbeiter« vor. und den angrenzenden Chemiepark gleich Derartige Bauzeugnisse aus der An-
In ihrem Tagebuch aus jener Zeit fällt sie dazu. Doch dann erkrankte der Mäzen an fangszeit der DDR sind im Osten nicht
ein vernichtendes Urteil zur Proletarier- Krebs und verkaufte 2013 sein Bitterfelder weit verbreitet. Unter Denkmalschutz ste-
lyrik: »Schlechte Prosa, in kurze Zeilen Investment. Der neue Eigentümer, die Gel- hen etwa die Karl-Marx-Allee in Berlin
zerhackt, Rhythmikerei ohne Rhythmus, senwasser AG, betreibt die Chemie wei- und Teile des Dresdner Altmarkts – beide
und das alles gibt sich anspruchsvoll.« ter – doch der Palast ist für sie zum Ballast fast zeitgleich mit dem Bitterfelder Palast
Reimanns Leiden nahmen im Kulturpa- geworden. Seit drei Jahren ist das Haus im sozialistischen Klassizismus errichtet.
last des Elektrochemischen Kombinats Bit- geschlossen, jetzt hat Gelsenwasser den 2000 Unterstützer haben bislang gegen
terfeld ihren Lauf. Im April 1959 tagte hier Abriss beantragt. die Demolierung des Palastes unterschrie-
die erste kulturpolitische Konferenz der Dabei gilt der Bau, der 1993 unter ben. Initiiert hat den Protest der Bitter-
DDR – es ging um nichts Geringeres als Schutz gestellt wurde, »als eine der spek- felder Arbeitslosenhilfeverein. Reinhard
um eine sozialistische Kulturrevolution. takulärsten Bauleistungen im Denkmalbe- Waag, einer der Aktivisten, war bis 2003
Mit der Losung »Greif zur Feder, Kumpel« stand des Bundeslandes Sachsen-Anhalt«. sogar Chef des Palastes. Das Gebäude galt
sollten Künstler und Arbeiterklasse ver- Im Denkmalverzeichnis steht, der Palast für die Bürger als zentraler Anlaufpunkt:
schmelzen, linientreue Laien künftig den sei »größtes, eindrucksvollstes und am Es gab zwei Säle für Theater, Betriebs-
Ruhm der Arbeiter-und-Bauern-Macht besten erhaltenes Dokument neoklassizis- veranstaltungen, Jugendweihen, Kinder-
künstlerisch mehren. Als »Bitterfelder tischer Monumentalarchitektur aus der weihnachten. Der Schlagersänger Udo Jür-
Weg« ging das Ansinnen der SED-Spitze DDR-Zeit überhaupt«. Und sei zudem von gens aus dem Westen trat auf und das ört-
in die Geschichte ein. Bedeutung »als Stätte nachstalinistischer liche Mandolinenorchester. Und natürlich
Geblieben ist von der Idee nicht viel. Die Kulturpolitik in der DDR«. gab es auch hier, am Ausgangspunkt des
Künstler mochten nicht in der Produktion Im Inneren gibt es Holzvertäfelungen Bitterfelder Wegs, einen Zirkel schreiben-
versauern, die Kumpel brachten es in ihren und Marmorverkleidungen aus der Erbau- der Arbeiter. »Das Haus hat gelebt«,
Zirkeln nicht zu bedeutenden Literaturprei- ungszeit, eine monumentale Büste von Wil- schwärmt Waag. Bis zu 3500 »Volkskunst-
sen. Und jetzt, fast 60 Jahre nach der ers- helm Pieck, dem ersten und einzigen Prä- schaffende« hätten den Palast genutzt, die
ten Konferenz, geht es dem Kulturpalast sidenten der DDR, selbst originales Mobi- Geschossfläche misst 5500 Quadratmeter.
ans Fundament: Der denkmalgeschützte liar ist noch vorhanden. Das Landesamt Bis zur Wende finanzierte das alles
neoklassizistische Bau soll abgerissen wer- für Denkmalpflege argumentiert vehement der VEB Chemiekombinat Bitterfeld, ein
den. Ein buntes Bündnis versucht, dem Ge- Gigant mit 30 000 Mitarbeitern, der die
mäuer im letzten Moment das Schicksal Region zu einer der dreckigsten und gif-
des Berliner Palasts der Republik zu erspa- tigsten Europas machte.
ren, der 2006 bis 2008 dem Erdboden Gelsenwasser betreibt heute den Che-
gleichgemacht wurde. miepark. Mehr als 300 Firmen sind hier
Der »Kulturpalast Wilhelm Pieck« war angesiedelt, nach Kultur scheint den we-
noch halbwegs sicher durch die Wirren der nigsten der Sinn zu stehen. Seit Waag und
Einheit gekommen. Rund um das Haus seine Aktivisten gegen den Abriss Sturm
auf dem Gelände des ehemaligen Chemie- laufen, schweigt Gelsenwasser lieber.
kombinats Bitterfeld verschwanden maro- Zuvor hatte die Geschäftsführung in der
de Gebäude, kilometerlange Rohrleitun- Lokalpresse verkündet, der Palast sei
gen und Schornsteine, die in allen Farben »wirtschaftlich nicht betreibbar«. 200 000
gequalmt hatten. Allein der Palast blieb Euro verschlinge das ungenutzte Haus
stehen und liegt heute wie ein gestrandetes jährlich, Personalkosten nicht mitgerech-
Raumschiff auf einer grünen Wiese am net. Weil auch das Grundwasser in Bitter-
Rande der Stadt. feld seit der Flutung der alten Tagebaue
1991 war er mal kurz geschlossen, dann steige, müsse das Wasser unter dem Palast
BUNDESARCHIV
kaufte die Stadt den Bau. Ein Förderverein zusätzlich für 300 000 Euro im Jahr abge-
übernahm den Betrieb, später rettete der pumpt werden. Betriebswirtschaftlicher
Westunternehmer Heinz-Jürgen Preiss- Irrsinn also – zumindest unter kapitalisti-
Daimler das Haus. Der erfolgreiche Kauf- schen Bedingungen. Tatsächlich muss
Bitterfelder Konferenz 1959* unterhalb Bitterfelds Grundwasser abge-
* Am Rednerpult der Schriftsteller Erwin Strittmatter. »Ein bitterer Feldweg« pumpt werden, damit Teile der Stadt nicht
46
MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL
Denkmalgeschützter Kulturpalast: Eine der spektakulärsten Bauleistungen Ostdeutschlands
absaufen. Die Kosten dafür übernimmt sei zu viel Konkurrenz in der Nähe. Im Im Bitterfelder Stadtrat hält sich die Eu-
freilich das Land Sachsen-Anhalt. eingemeindeten Wolfen betreibt die Stadt phorie in Grenzen. Schindler hofft auf eine
Die Bitterfelder Arbeitslosen, denen be- noch ein großes Kulturhaus. Deshalb solle Anschubfinanzierung von Gelsenwasser,
reits die Fabrik, die Jobs, das Kino und das der Palast künftig ein »Ort der Kunstpro- damit die Betriebskosten wenigstens für
Theater abhandengekommen sind, wollen duktion und nicht nur ihrer Konsumtion« das erste Jahr gedeckt sind. Im Gegenzug
sich ihren Palast nicht auch noch nehmen sein. Künstler könnten gegen geringe Mie- würde das Unternehmen die Abrisskosten
lassen. Nach Waags Erkenntnissen haben te Ateliers und Proberäume mieten. In den sparen. Zumindest dann, wenn die Ret-
5000 Frauen, Männer und Jugendliche frei- benachbarten Städten Leipzig und Halle tung gelingt.
willige Aufbaustunden geleistet, um den würden schließlich immer mehr Berliner Die Freitreppe des Palasts ist inzwi-
50 Meter hohen Koloss zwischen 1952 und Künstler auf der Suche nach günstigen schen mit Unkraut bewachsen, die Park-
1954 auf das Werksgelände zu stellen. Räumen anlanden. plätze sind verwaist. Der Platz wirkt, als
Inzwischen haben die Widerständler in Eine internationale Kulturszene in Bit- hätte jemand die Zeit angehalten. In der
Matthias Schindler einen Mitstreiter gefun- terfeld? Einer Stadt, in der 31,9 Prozent Nähe steht nur das Haus des Bitterfelder
den. Er ist Vorstand der örtlichen Wohn- der Menschen bei der vergangenen Land- Berufsschulzentrums August von Parseval,
stättengenossenschaft und in linken Krei- tagswahl die AfD gewählt haben und die ein riesiger Bau aus dem Jahr 2000. Auch
sen als Geschäftsführer des klassenkämp- im kollektiven Gedächtnis als »dreckigste der steht größtenteils leer, weil sich im Ge-
ferischen Fachblatts »Neues Deutschland« Stadt Europas« verankert ist? bäude krebserregende Stoffe fanden.
bekannt. Er hat dem Bitterfelder Stadtrat Schindler schreibt ebenso schön wie 1959, als im Kulturpalast der Bitterfelder
ein neunseitiges Konzept mit »Überlegun- entwaffnend, in Bitterfeld »existiert ob- Weg ausgerufen wurde, lauschte der DDR-
gen zur Weiternutzung des Kulturpalastes jektiv kein Umfeld für die Ansiedlung Dichter Kurt Barthel im Saal den neuen
Bitterfeld« übergeben. eines solchen kulturellen Projekts«. Er Ideen. Der Mann, den sie alle nur unter
Schindler rechnet darin vor, dass der Pa- und die Aktivisten glauben trotzdem, der seinem Pseudonym KuBa kannten, hatte
last 45 Prozent mehr Sitze habe als das realsozialistische Hintergrund der Immo- schon damals eine dunkle Vorahnung:
Hallenser Opernhaus in der Nachbarschaft bilie sowie die Lage im Schnittpunkt »Das wird ein bitterer Feldweg werden.«
und der gesamte Bau genauso viele wie zwischen Berlin, Leipzig und Halle böten Steffen Winter
das Anhaltische Theater in Dessau. Das eine Chance.
QUELLE: GOOGLE
»Er weinte« machte im Jahr 2008
Früher war alles schlechter einen Anteil von 0,000 008 Prozent
an allen Wortpaaren der gesamten
Nº 127: Weinende Männer 1947:
0,000 009 Prozent
von Google digitalisierten deutsch-
sprachigen Literatur aus.
1917:
0,000 007 Prozent
1900:
0,000 003 Prozent
1920 1940 1960 1980 2000
Heul doch, Mann! Niemand hat dem Fußballtorwart Loris Karius der vermissten Geliebten oder gefallenen Kameraden hinterher,
(FC Liverpool) seine Tränen übel genommen, nachdem er ver- das Alte Testament ist voller männlicher Tränen, und auch im
gangene Woche im Champions-League-Finale dem Gegner (Real altenglischen »Beowulf«-Heldenepos heult der König. Das Ideal
Madrid) auf geradezu altruistische Weise den Sieg schenkte, mit des emotionslosen Mannes hat zweifellos erheblichen Schaden
zwei sehenswerten Fehlern (siehe Seite 88). Männer dürfen heu- angerichtet, aber seine Zeit läuft ab. Lässt sich dieser Fortschritt
te weinen. Nicht nur im Sport, auch im Kino und in der Politik, irgendwie messen? Schwierig. Die Bundesliga, die jeden Pass
aber im Sport ist es besonders, nun ja, augenscheinlich. Histo- und jeden Rempler zählt, führt leider nicht Buch über die An-
risch betrachtet blieb in dieser maskulinen Domäne lange »für zahl vergossener Tränen (bitte einführen!). Hinweise geben kann
Tränen kein Raum«, wie der Sportsoziologe Bero Rigauer schreibt: der Google Ngram Viewer: Die Kurve oben zeigt die unter-
»Gefragt waren vielmehr sogenannte männliche Tugenden wie schiedliche Häufigkeit der Phrase »Er weinte« in der gesamten
Siegeswille, Disziplin, Härte, begrenztes Mitgefühl, Abwesen- von Google digitalisierten deutschsprachigen Literatur seit 1900,
heit von Empfindungen.« Blickt man noch weiter zurück und also in Hunderttausenden Büchern. So auffällig wie nachvoll-
über das Fußballfeld hinaus, so war das Dogma des »Männer wei- ziehbar ist der heftige Tränenausbruch im und nach dem Zweiten
nen nicht« vielleicht nur ein kurzer Irrweg der Kulturgeschichte: Weltkrieg. Dann, ab Mitte der Siebziger bis heute, schwillt das
Homers Odysseus schluchzte auf seinen Fahrten hemmungslos Heulen der Männer unaufhaltsam an. guido.mingels@spiegel.de
Genuss ausgeholfen, da habe ich gesehen, wie SPIEGEL: Das heißt, der Cocktail schmeckt
Neumann: Ich habe vor ein hält er etwa 45 Minuten, in Saft Halmen Geld verdienen, aber das sehe
paar Jahren in einer Mosterei rund 20 Minuten. ich auch so. UBU
48
Ein Foto und seine Geschichte Aus den »Bekenntnissen eines Arztes«: »Ein Finanzbeam-
ter mit einem entzündeten Ischiasnerv. Durch den Schmerz
rasend geworden, brüllt er den Professor an: ›Ihr seid alle
Der letzte Tag Schurken, ihr Scharlatane! Bringt mich doch endlich um, um
des Schöpfers willen, mehr will ich nicht mehr von euch!‹
An einem lauen Sommerabend hatte er sich schön ins tau-
feuchte Gras gesetzt.«
Warum eine 91-jährige Chirurgin ihre Stelle von Ljowuschkina arbeitete als Rettungsärztin, stieg in den
einem Tag auf den anderen kündigte einmotorigen Doppeldecker Antonow An-2 und flog zu Ein-
sätzen in die Pampa. Unvergesslich: der Bauer, der sich in
der Scheune mit einem Schuss aus dem Gewehr das Leben
D
er ideale Mann? Das ist der »Her- Das klingt gut. Aber was ist das heute über- Dabei muss man an dieser Stelle noch
zenskrieger«, sagt Bjørn Leim- haupt: Männlichkeit? Welche Attribute fal- mal deutlich sagen: #MeToo ist ein Fort-
bach. Der Herzenskrieger lebt len einem da ein? schritt. Eine Befreiung. Männer wie Har-
stark, frei und unabhängig sein Gar nicht so einfach. Kraft? Fürsorglich- vey Weinstein, dem Vergewaltigung und
Männerleben. Er hat eine Verbindung mit keit? Haltung? Mut? Unabhängigkeit? sexuelle Belästigung zur Last gelegt wer-
der eigenen »Kriegerenergie und seiner Aber sind das überhaupt männliche Eigen- den, der vergangene Woche verhaftet wur-
Herzenskraft, um für seine Visionen zu schaften? Oder nur alte Männerklischees? de, in Handschellen abgeführt von einer
kämpfen«. Ist gleichzeitig aber auch kom- Da zu viele Fragen und Zweifel für die Frau, Sergeant Keri Thompson vom New
munikativ und einfühlsam. Ein Misch- Identitätsfindung eher hinderlich sind, York Police Department, werden es in Zu-
wesen also, in dem sich das Beste vom lehrt Leimbach ein Männerbild, das klar kunft hoffentlich schwerer haben.
Mann von gestern mit dem Guten von heu- umrissen und vor allem positiv ist. Und Mit Weinstein, dem Filmproduzenten
te vereint. nicht ganz billig. Wer »Herzenskrieger« aus Hollywood, fing vor einigen Monaten
Leider, und da beginnt nun das Problem werden will, muss knapp 3000 Euro be- alles an. Seitdem wird aber nicht mehr nur
für Leimbach, werde dieses Männerbild zahlen. Dann sitzt man unter anderem im über sexuelle Übergriffe und männlichen
kaum noch gelebt. »Der Mann ist zu weich Wald, ohne Handy und ohne Frauen, ver- Machtmissbrauch diskutiert. Sondern
geworden«, sagt Leimbach. bringt die Tage mit Körperarbeit, Männer- auch über das Mannsein an sich.
Viel Herz. Wenig Krieger. ritualen, Gesprächsrunden, Trancen, Me- Es ist noch nicht lange her, da galt Männ-
»Ich sehe es schon daran, wie die Leute ditation, Tanz und entdeckt dabei sein lichkeit ganz selbstverständlich als positiv.
hier zur Tür reinkommen. Oft kommen ja »maskulines Potenzial«. Und man denkt: Natürlich nicht in all ihren Ausprägungen,
Mann und Frau gemeinsam, weil sie ein Tanz, Meditation, Gesprächsrunden? Das aber Männlichkeit war grundsätzlich erst
Paarproblem haben. Die Frau geht voran, klingt doch total feminin. mal eine Tugend. Heute ist Männlichkeit
selbstbewusst, stolz. Und der Mann? Trot- In seinen Kursen, sagt Leimbach, gebe eher ein Krankheitsbild. Von »toxischer
tet hinterher, Blick nach unten, Hänge- es immer auch den Ausbildungspunkt: Männlichkeit« ist jetzt oft die Rede, von
schultern.« Frauen auf der Straße ansprechen. Flirten. »hegemonialer Männlichkeit«, das Männ-
Bjørn Leimbach hat ein Büro in Düssel- »Ein Riesenproblem. Wenn Männer liche umweht der Vorwurf des Reaktionä-
dorf. Er ist Psychologe, Therapeut sowie heute Frauen ansprechen, sind sie alkoho- ren und wird im gesellschaftlichen Diskurs
nach eigenen Angaben »Deutschlands lisiert, treten in Gruppen auf. Oder sind fast ausschließlich negativ assoziiert mit:
Männercoach Nr. 1«. Und man denkt: Das Migranten. Alle anderen haben die Hosen Egoismus, Gier, Machthunger, Gewalt,
ist ein seltsames und sicher auch seltenes voll. Oder denken: Nein heißt Nein.« Krieg, Sexismus oder dem »alten weißen
Berufsbild – der Männercoach. Wer Aber Moment mal: Nein heißt doch Mann« – der großen Hassfigur der Gegen-
braucht das? Nein! wart.
Aber dann schaut man ins Internet und »Quatsch«, sagt Leimbach. Natürlich Die Abwertung des Männlichen geht da-
stößt auf eine Fülle von Angeboten für dürfe man nicht zum Belästiger werden. bei einher mit der Aufwertung des Weib-
Männer, die Probleme mit ihrem Mann- »Aber Verführung bedeutet auch, dass lichen. Frauen gelten heute als das gute
sein haben. Männerseminare. Männer- man Grenzen missachtet. Ins Risiko geht. Geschlecht. Vernünftig, friedlich, men-
reisen. Schwitzhütten. Maskuline Wallfahr- Und die meisten Frauen wollen nicht selbst schenfreundlich, kommunikativ, sozial, in-
ten. »Initiationswochen ins Mannsein«. verführen, sondern verführt werden.« teger. Das ist natürlich genauso klischee-
Vater-Sohn-Tage. Die männliche Verunsi- Verführen tue der Mann aber immer sel- haft, aber eben der Zeitgeist.
cherung ist längst ein Geschäftsmodell. tener. Aus Angst. Und wegen des »Gender- Man konnte das gut beobachten, als es
Leimbach ist sehr groß, spricht laut und Mainstreaming«, sagt Leimbach. »Der vor ein paar Wochen große Aufregung
trägt Glatze. Manchmal, zur Bekräftigung Mann verweiblicht. Die Frau vermännlicht. gab um ein Foto, das die neue Führungs-
seiner Thesen, schlägt er mit der Hand auf Ich lehre hier das komplette Gegenteil.« riege des Innenministeriums zeigte. Horst
den Tisch. Er wirkt ein bisschen wie ein Leimbach sagt auch: »Im Schlafzimmer Seehofer, umgeben von lauter Männern
Drill-Sergeant. Aber einer, der es ja nur gibt es keine Gleichberechtigung.« in dunklem Anzug. Und keine einzige
gut meint. »Männliche Aggression ist heu- Vor einem halben Jahr hätte man über Frau.
te total verpönt«, sagt Leimbach. »Erst Drill-Sergeant Bjørn Leimbach vermutlich Sofort folgte ein Shitstorm, das Foto galt
recht seit #MeToo. Aber positive Aggres- gedacht: bisschen schräger Ansatz, den er als Beweis für große Rückständigkeit (was
sion ist total wichtig für einen Mann. Also: da hat. Aber vielleicht ist ja was dran. Heu- es ja vielleicht auch tatsächlich ist). Aber:
Entscheidungen treffen, Konflikte offen te, in Zeiten von #MeToo, sitzt man hier, Wäre es andersherum gewesen – nur Frau-
ansprechen, Haltung zeigen. Die Männer zuckt bei jedem zweiten Satz zusammen en und kein einziger Mann –, hätte es ga-
sind heute übertrieben gefühlig und furcht- und spürt, wie sofort das politisch korrekte rantiert als Beweis für große Fortschritt-
bar ängstlich im Umgang mit Frauen.« Alarmsystem anspringt. Denn nicht nur lichkeit gegolten. Die wichtigste Frage hat
Die Männerseminare Leimbachs stehen das Bild von Männlichkeit hat sich verän- dabei niemanden interessiert: Sind das
unter dem Motto: »Männlichkeit. Leben.«. dert. Auch seine Bewertung. überhaupt gute, fähige Leute, die da in
Coach Leimbach
51
Gesellschaft
der Regierung arbeiten? Egal ob Mann er nicht wusste, was er tun sollte. Als ge- Kommt es zu häuslicher Gewalt, ist die
oder Frau. schlagene Frau findet man Zuflucht im Verzweiflung noch größer. Aber auch
Auf SPIEGEL DAILY erschien kürzlich Frauenhaus. Aber als geschlagener Mann? das Schamgefühl. Männer suchen sich in
ein Artikel mit der Überschrift: »Neue fe- Anfangs war das Projekt Männer- solchen Fällen oft erst nach Jahren Hil-
ministische Außenpolitik. Wäre die Welt wohnhilfe natürlich auch ein Experiment. fe. Wenn überhaupt. »Der geschlagene
friedlicher, wenn mehr Frauen die Außen- Kommt da überhaupt jemand? Gibt es Mann – das ist noch immer ein absolutes
politik prägten? Ja!« Natürlich fällt einem Bedarf? Tabu«, sagt Frank Albrecht. »In unserer
sofort Condoleezza Rice ein, Nationale Si- »Wir waren dann vom Start weg ausge- Gesellschaft gilt er nicht als Opfer. Son-
cherheitsberaterin und Außenministerin bucht«, sagt Rosenthal. dern als Verlierer.«
unter George W. Bush, die sehr gern in die Den typischen Gast beschreibt Frank Al- Als Witzfigur.
Kriege in Afghanistan und den Irak zog. brecht so: 42 Jahre alt, Akademiker, zwei Ein Mann kann in der Wohnung für drei
Ganz so einfach ist es also nicht. Trotz- bis drei Kinder. Die Karriere, die Bezie- Monate bleiben. Dafür zahlt er 45 Euro
dem scheint heute zu gelten: hung, die Kinder – das Hamsterrad dreht pro Woche. Das deckt die Kosten, die dem
Macht in den Händen von Män- Verein entstehen. Sie arbeiten alle
nern ist schlecht. ehrenamtlich, von der Stadt hat es
Macht in den Händen von Frau- nie eine Förderung für die Männer-
en ist gut. wohnhilfe gegeben. Keinen einzi-
gen Cent.
Wolfgang Rosenthal kann die Natürlich haben sie es versucht,
aktuelle Gut-böse-Sicht auf die sagt Wolfgang Rosenthal. All die
Geschlechter nur schwer ertragen, Jahre. Aber am Ende scheiterten
sagt er. Dieses schlichte Schwarz- sie immer wieder an einem Män-
Weiß-Bild. Dafür kennt er den nerbild, das wie in Stein gemeißelt
Graubereich zu gut. scheint. In diesem Männerbild ist
In Oldenburg, etwas am Stadt- der Mann allenfalls ein Täter. Aber
rand, steht ein Reihenhaus. An der kein Opfer. Er ist auch nie schwach.
Klingel steht oft kein Name, son- Oder machtlos. Oder diskriminiert.
dern nur »Männersache«. Man Oder einfach nur: hilfsbedürftig. Es
geht ein paar Treppen hoch in den ist im Prinzip das gleiche eindimen-
zweiten Stock und betritt eine sionale Männerbild, das auch die
Wohnung. 75 Quadratmeter, zwei #MeToo-Debatte prägt. Das glei-
Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, che Männerbild, welches seit Ewig-
schlichte Einrichtung. Alles ist sehr keiten in gesellschaftlichen Institu-
ordentlich. Das sei eine der Grund- tionen, in deutschen Ämtern, Ge-
regeln, sagt Wolfgang Rosenthal. richten, in der Kindererziehung, in
Wer hier wohnen will, muss die Filmen oder in der Politik präsent
Bude sauber halten. Der darf keine ist. »Von der Politik kommt bis heu-
Drogen nehmen, muss den Alltag te nur Gegenwehr«, sagt Rosenthal.
allein bewältigen, darf nicht gewalt- »Am Anfang hieß es im Sozialaus-
tätig oder psychisch labil sein. Und schuss der Stadt: Jetzt wollt ihr den
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
52
deshalb glücklicherweise rund 400 Frau- »neuen Väter«, die eine moderne Männer- dern, wie traditionell soll er denn nun bitte
enhäuser. In Sachsen hat voriges Jahr ein rolle verkörpern? sein, der Mann?
Männerhaus eröffnet, staatlich finanziert. Gibt es. Klar. Aber jene Männer, die Franz weiß es auch nicht. Die ganze Ge-
Eine absolute Rarität. heute in städtischen Wohlstandsvierteln schlechterdebatte werde leider »unterkom-
Aber das ist eben der Osten, sagt Wolf- Kinderwagen durch die Straßen schieben plex« und ideologisch geführt, sagt er. Oft
gang Rosenthal. »Die sind dort ideologisch oder Elternzeit nehmen oder Teilzeit ar- werde ein Männerbild angeführt, das mehr
nicht so vorbelastet und haben ein offene- beiten – das ist ein kleiner Ausschnitt der Klischee als Realität sei. Zum Beispiel das
res Männerbild. Im Westen stecken wir Gesellschaft. Der alte »männliche Rollen- Bild vom allseits privilegierten Mann.
noch immer in den Geschlechterkämpfen käfig«, so nennt es Franz, sei noch immer Zwar stehen die Männer noch immer an
der Siebzigerjahre fest.« prägend. der Spitze der Gesellschaft. Aber sie bil-
Nicht nur, weil Männer daran festhiel- deten eben auch den großen Bodensatz,
Will man wissen, woher das männliche ten. Sondern auch Frauen – trotz Femi- sagt Franz.
Rollenbild stammt, das heute so ver- nismus, trotz #MeToo. Nur spreche niemand darüber.
schrien ist, das vehement bekämpft Männer sind häufiger alkohol-
und gleichzeitig am Leben erhalten krank, sind sehr viel häufiger ob-
wird, dann setzt man sich ins Büro dachlos. 75 Prozent der Selbstmor-
von Matthias Franz, Professor für de entfallen auf sie; schon im Teen-
Psychosomatische Medizin und ageralter bringen sich doppelt so
Psychotherapie an der Universität viele Jungen um wie Mädchen.
in Düsseldorf, und fliegt kurz in der Unter 50 Jahren sterben Männer
Zeit zurück. dreimal so häufig wie Frauen an
»Das heutige Dilemma des Man- einem Herzinfarkt. Männer haben
nes ist rund 200 Jahre alt«, sagt eine um 5 Jahre niedrigere Lebens-
Franz. »In der Romantik durften sich erwartung. Beim Unterschicht-
Männer noch weinend in die Arme mann seien es im Vergleich zur
fallen. Mit Beginn der Industrialisie- Oberschichtfrau sogar 15 Jahre,
rung brauchte man dann Männer, sagt Franz.
die zugerichtet sind – Menschenma- »Mal angenommen, es ginge
terial für den Krieg und die Produk- hier um Frauen. Allein: dreimal so
tion. Die Männer verschwanden bis häufig Suizid! Was da los wäre!
zu 16 Stunden in dunklen Industrie- Eine Talkshow würde die nächste
hallen und hatten zu funktionieren. jagen, die Genderlobby würde
Auch die Vaterrolle veränderte sich. heißlaufen, die Politik würde hek-
Vor 100 Jahren gab es den wilhelmi- tisch Präventionsprogramme ver-
nischen Vater: streng, hart, national. abschieden!«
Gefolgt vom nationalsozialistisch- Franz redet seit Jahren über die-
soldatischen Vater, dem Nachkriegs- se Zahlen. Er führte immer wieder
vater, der tot auf den Schlachtfel- Gespräche mit dem Familienminis-
dern des Weltkriegs lag oder see- terium. Kann man da nicht mal was
lisch verstümmelt nach Hause kam. tun? »Aber beim Mann interessiert
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Männer und Väter«. Die Männerlobby sprechen darf: einen Monat lang. Aber wesen, von dem gefordert wird: Ändere
also. Und Dag Schölper, 45 Jahre alt, ist zum Schluss klappt es dann doch. dich!
ihr Geschäftsführer. Und woran arbeiten sie im Ministerium, Aber es wird nie gesagt: Wie eigentlich?
Als in den vergangenen Monaten die an höchster Stelle nun, männermäßig? Oder gefragt: Männer, was wollt ihr? Wie
#MeToo-Debatte losging, als das ganze Frau Greszczuk, die sehr freundlich ist, stellt ihr euch eure Zukunft vor? Lasst uns
Land über das Verhältnis von Männern und sagt, es gebe zurzeit zwei Projekte: »Ge- doch mal reden! Der Mann ist wie ein Pa-
Frauen debattierte, hätte man sich als Mann schlechterreflektierte Arbeit mit männ- tient, dem man ständig traurige Diagnosen
durchaus einen Repräsentanten gewünscht. lichen Flüchtlingen«. Sowie »Männer im stellt, aber nie ernsthaft eine Therapie an-
Jemanden, der in den Talkshows sitzt und Wandel«. Und die hohe Suizidrate bei bietet.
auf kluge Weise für die Männer streitet – Männern und Jungen, die geringere Le- Seit Grönemeyers Song ist der An-
für die anständigen jedenfalls. Dag Schöl- benserwartung, die fehlenden Männer- forderungskatalog an den Mann stetig
per aber saß in keiner Talkshow. Er gab häuser und Beratungsangebote, das ver- gewachsen: Er soll empathiefähig sein.
kein einziges Interview. Er stellte keine For- heerende öffentliche Männerbild? Verständnisvoll. Gefühlig. Im Haushalt
derung und äußerte keine Meinung. ordentlich mitarbeiten. Ein toller
Auf der Homepage des Bundesfo- Vater sein. Aber eben auch immer
rums Männer findet sich kein Hin- noch Karriere machen, die Familie
weis darauf, dass es die Debatte ernähren und gut zuhören können.
überhaupt gibt. Wie kann das sein? Und so ist die Forderung nach dem
»Wir haben natürlich überlegt, »neuen Mann« einerseits völlig
ob wir uns zu der Debatte äußern berechtigt. Und gleichzeitig etwas
oder uns eher zurückhalten«, sagt verlogen.
Schölper. »Unsere Rolle war dann Der Feminismus hat den Frauen
die des solidarischen Zaungastes.« den Weg in die Moderne geebnet.
Vielleicht war das eine zwangs- Vielleicht ist es deshalb an der Zeit
läufige Entscheidung. Das Bundes- für eine Männerbewegung – eine
forum Männer gründete sich 2010 Art Maskulismus, aber im besten
und wird finanziert vom Familien- Sinne. Nicht als plumpe, frauen-
und Frauenministerium. Eine Män- feindliche, antifeministische Gegen-
nerlobby, um die sich die Frauen bewegung. Sondern als echtes
kümmern. Allerdings ist Dag Schöl- Instrument des Fortschritts. Der
per auch nicht zu beneiden. Män- positiven männlichen Selbstermäch-
nerpolitik ist völliges Neuland. tigung. Wann haben sich Männer
Jahrzehntelang gab es, aus guten je ernsthaft mit ihrem Geschlecht
Gründen, ausschließlich Frauen- beschäftigt?
politik. Frauenförderung. Frauen- Eine Männerbewegung muss na-
beauftragte. Frauenquoten. Und türlich mit starkem Gegenwind
jetzt soll man auch die Männer för- rechnen. Politisch und medial. Wur-
dern? Sie emanzipatorisch ernst den in den Siebzigerjahren die Fe-
nehmen? Echte Gleichstellungs- ministinnen als frustrierte, männer-
politik machen? feindliche Wesen diffamiert, so
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
54
Gesellschaft
Luftpost
Ich rief den Zoll nicht an, sondern hoffte halbherzig auf
ein Wunder. Nach ein paar Tagen dachte ich nicht mehr an
das Paket.
Ein paar Wochen später lag wieder ein Wunschzettel mei-
ner Tochter auf dem Tisch, diesmal für ihren Geburtstag. Auf
Homestory Wie es passieren kann, dass man dem Zettel tauchten noch einmal Pawz und Tentree auf. Wir
Sehnsucht nach Amazon bekommt erzählten ihr in Kurzfassung die Geschichte des Weihnachts-
geschenks. Meine Frau und meine Tochter waren dagegen,
dass das Paket im Zollamt blieb.
das Paket seit dem 30. De- de alles jetzt ganz einfach
zember um 17.18 Uhr beim werden. Dann sagte sie, mit
Zoll am Frankfurter Flug- dem pädagogischen Unter-
hafen lag. ton einer Kinderärztin, dass
Ich stellte fest, dass das das Paket vielleicht gar nicht
Formular für Anfragen nur mehr in Frankfurt liege, dass
US-Adressen akzeptierte. es möglicherweise inzwi-
Ich nahm Kontakt mit dem schen nach Amerika zurück-
Absender auf, der Firma geschickt worden sei. Ich
Pawz, die immerhin eine »pawzhelp«-Adresse ins Netz ge- spürte Müdigkeit aufsteigen. Amerika, wieso? Könne sie
stellt hatte, und bat, bei der US-Post nachzufragen, damit etwas Genaueres erkennen? Nein. Es war wohl nur so
die US-Post beim deutschen Zoll nachfragen könnte. Die eine Idee.
Antwort: Das machen wir nicht. Und: »Bitte teilen Sie uns Jedenfalls, sagte sie, müsse der Absender eine Nachfor-
mit, wenn Sie weitere Fragen haben.« schung einleiten. Pawz? Die tun nichts mehr für das Paket,
Ich hatte viele Fragen. Eine davon richtete ich per Mail an sagte ich. Gut, sagte sie, dann können Sie das auch selbst ma-
poststelle.hza-ffm@zoll.bund.de. Ob man mir helfen könne. chen, im Internet. Ich protestierte, von Suchmasken, die nicht
Die Antwort kam von der Deutsche Post DHL Group NL funktionieren, hatte ich genug. Okay, es gebe auch eine Mail-
Internationale Produktion, an die der Zoll meine Mail zur adresse: briefinternational@deutschepost.de. Ich wollte wis-
Beantwortung weitergeleitet habe. Ich möge entweder eine sen, was die Nachforscher in ihren Computern sehen könnten,
offizielle Sendungsrecherche im Internet einleiten oder den was sie nicht sehe. Aber da war das Gespräch zu Ende.
Kundenservice anrufen. Ich rief den Kundenservice an und Im Grunde, dachte ich, bevor ich den Kopf auf die Tisch-
erfuhr, dass nicht die Post zuständig sei, sondern der Zoll. platte sinken ließ, den Kopf wieder hob, eine kurze, ruhige
Aber der Zoll hat mich doch an die Post verwiesen? Ja, das Mail an briefinternational@deutschepost.de schrieb, die auch
machen die gern so. Und jetzt? Rufen Sie den Zoll an. Er kön- nicht geholfen hat, im Grunde gibt es nur eine Lösung: Die
ne nichts versprechen, sagte der Mann von der Post, das Er- Post und der deutsche Zoll und vielleicht auch die ameri-
gebnis hänge davon ab, an wen ich geraten werde. Viel Glück. kanische Post und die Firma Pawz werden von Amazon
Ich gebe zu, dass ich anfing zu denken: Mit Amazon wäre gekauft.
das nicht passiert. Amazon mag ein Internetdiktator sein, Die Firma Pawz hat übrigens inzwischen doch noch ge-
der nur seinen eigenen Gesetzen folgt, aber wenigstens hätte schrieben. Ich hätte doch neulich ein rotes Shirt gekauft. Wie
ich jetzt das rote Longsleeve-Shirt. es mir gefalle. Dietmar Pieper
Kartelle
Krankenversicherung Kassen mit hohen Rücklagen verpflichten, ausgleichs der Kassen angegangen wer-
ihre Zusatzbeiträge zu senken. Diese den. Die Rückkehr zur Parität, mit
Zusatzbeiträge sinken Regelung soll allerdings erst im Januar der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich
erst 2020 2020 in Kraft treten und damit ein Jahr die Beiträge künftig wieder zur Hälfte
später als ursprünglich erwartet. In der teilen, gilt wie geplant schon Anfang 2019.
Die Große Koalition hat sich auf einen SPD und bei den von ihr geführten Minis- Der überarbeitete Referentenentwurf
Kompromiss für ein umstrittenes Gesetz terien hatte es Widerstände gegen Spahns soll zeitnah im Kabinett beraten werden.
geeinigt, mit dem Bundesgesundheits- Projekt gegeben. Experten fürchteten, Im Gegenzug erwägt die Union, ihren
minister Jens Spahn, CDU, für niedrigere klamme Kassen könnten in Finanznöte Widerstand gegen das geplante
Beitragssätze in der gesetzlichen Kranken- geraten. Deswegen soll nun zeitgleich im Brückenteilzeitgesetz einzustellen, das
versicherung sorgen möchte. Spahn will Jahr 2020 auch eine Reform des Finanz- ein Anliegen der SPD ist. COS
Kopenhagen
E-Zigaretten
Tasse Kaffee Frankfurt
am Main
6,24 Skrupellose Vermarktung
Durchschnittspreise
in Dollar 2,82 Die Flüssigkeiten, mit denen E-Ziga-
Zürich
Quelle: UBS-Studie 4,98 retten betankt werden, können für klei-
ne Kinder tödlich sein. Trinken sie die
New York nikotinhaltigen E-Liquids, kann es zu
3,12 Shanghai
Delhi Herzanfällen und Atemstillstand kom-
1,52 4,60 men bis hin zum Koma. Dennoch sty-
57
Wirtschaft
In der Todesspirale
Welthandel Mit seiner Entscheidung, Strafzölle auf Stahl und Aluminium zu verhängen, nötigt
US-Präsident Donald Trump der Europäischen Union einen Handelskrieg auf. Niemand
hat dabei mehr zu verlieren als deutsche Unternehmen, entsprechend alarmiert ist die Politik.
P
eter Altmaier lässt sich in seinen zent. »Rechtswidrig« sei das, schimpft Doch es geht nicht nur um Handels-
Sitz plumpsen, es ist Punkt vier Bundeskanzlerin Angela Merkel. bilanzen und Firmenumsätze. In atembe-
am Donnerstagnachmittag. Der Die unfreundliche Ansage der Amerika- raubender Geschwindigkeit verabschieden
Pilot der Flugbereitschaft drängt ner ist wohl der Auftakt eines Handelskriegs, sich die USA von jener Weltordnung, die
zum Start, und der Bundeswirtschafts- der den Volkswirtschaften der USA und Eu- sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
minister ist froh, dass er möglichst schnell ropas nachhaltig Schaden zufügen könnte. geprägt haben. Freier Welthandel, gemein-
vom Pariser Geschäftsflughafen Le Bour- Es droht eine Dauerfehde von Strafzöllen, same Regeln, und im Notfall schlichtet die
get abheben kann. Gegenmaßnahmen und erneuten Vergel- Welthandelsorganisation WTO – Trump
Zwei Tage lang hat Altmaier in Frank- tungsschlägen. Die EU hat längst Aufschläge zerstört ein Arrangement, das wie ge-
reichs Hauptstadt versucht, doch noch zu auf Whiskey und Motorräder aus den USA macht war für das deutsche Wirtschafts-
verhindern, dass die USA Strafzölle gegen angedroht. Trump wiederum lässt für die- modell, das vom Export lebt.
die EU verhängen. Seit wenigen Minuten sen Fall prüfen, ob er auf europäische Auto- Der Präsident, das weiß man bereits,
weiß er nun offiziell: Es hat nichts genutzt. importe höhere Zölle verhängen könnte. wirft alles über Bord wie lästigen Ballast,
Jetzt heißt es, Ruhe zu bewah- was die USA an der freien Entfal-
ren, zu signalisieren, dass man alles tung ihrer Macht hindert. Vor fast
im Griff habe, um die Märkte nicht einem Jahr traf es den Pariser Kli-
noch weiter zu verunsichern. In der mavertrag, und erst vor wenigen
Luft, irgendwo zwischen Frank- Wochen kehrten die USA dem
reich und Deutschland, sagt Altmai- Atomabkommen mit Iran den Rü-
er: »Seit Dienstagmittag war doch cken. Nun setzt Trump die Axt an
klar, was kommt.« den Wohlstand der Europäer. Stei-
Der CDU-Mann ist dennoch gende Konsumentenpreise könnten
CARSTEN KOALL / POOL / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
nach Paris geflogen, zur jährlichen die Weltwirtschaft abwürgen. So
Konferenz der Organisation für war das meist in der Geschichte.
wirtschaftliche Zusammenarbeit Vor wenigen Jahren verhandel-
und Entwicklung (OECD). Die ten Europäer und Amerikaner
internationale Wirtschaftspolitik über das Freihandelsabkommen
sei »in einer kritischen Lage«, hat TTIP, nun drohen die Partner zu
er dort gesagt, und er hat sich mit gnadenlosen Konkurrenten zu wer-
Wilbur Ross, dem Handelsminister den. Wie es der Zufall will, steht
der USA, getroffen. EU-Kommissionschef Jean-Claude
Fast eine Stunde lang redete er Juncker bei einer Veranstaltung mit
auf Ross ein, den US-Handelsmi- dem Titel »Re-energising Europe –
nister, einen dünnen alten Herrn, Now!« auf einer Bühne in Brüssel,
dem ein kurzer Draht zu Präsident als ihn die Nachricht von Trumps
Donald Trump nachgesagt wird. Kanzlerin Merkel, Präsident Macron Entscheidung ereilt. Er redet über
»Wir haben in den letzten Monaten Es liegt Trotz in der Luft die Erfolge der EU, da reicht ihm
eine freundschaftliche Verbindung ein Mitarbeiter einen Zettel.
aufgebaut«, sagt Altmaier. Die Bilder aus Gerade in Deutschland stehen viele Juncker blickt kurz darauf, dann steckt
Paris waren wichtig. Sie zeigten: Der Mi- Arbeitsplätze auf dem Spiel, entspre- er das Papier weg. »Wie erwartet«, sagt er
nister lässt nichts unversucht, die Ameri- chend besorgt äußern sich führende Poli- und blickt zu den Zuschauern. »Wo war
kaner umzustimmen. Auch wenn die Zei- tiker. »Ich warne davor, dass es zu einer ich?« Erst am Ende seiner Rede geht er
chen aus den USA, dass Trump zur Kraft- weiteren Eskalation kommt«, sagt Nieder- auf den drohenden Handelskrieg ein. »Das
probe mit den Europäern entschlossen sei, sachsens Ministerpräsident Stephan Weil ist ein schlechter Tag für den Welthandel«,
eindeutig waren. (SPD), der auch im Aufsichtsrat von Volks- sagt er. »Die EU kann darauf nicht ohne
Das Gespräch am Mittwoch im Haupt- wagen sitzt. »Die angedrohten Strafzölle Reaktion bleiben. Wir machen exakt das-
quartier der OECD brachte nicht den er- gegen die deutsche Autoindustrie würden selbe wie sie. In den nächsten Stunden
wünschten Durchbruch. Und gerade mal zu drastischen Gegenmaßnahmen der Eu- werden wir Gegenmaßnahmen verkün-
24 Stunden später war es ausgerechnet ropäischen Union führen. Darunter wür- den.« Es liegt Trotz in der Luft.
Ross, der die Entscheidung Trumps ver- den beide Seiten leiden«, so der Sozialde- Die Europäer haben viel einstecken
kündete, nun auch gegen die Europäer mokrat weiter. Wissenschaftler wie der müssen von Trump, jetzt wollen sie auch
Strafzölle zu erheben. Seit 1. Juni zahlen Chef des renommierten Brüsseler Think- mal austeilen, Haltung zeigen, Rückgrat.
europäische Firmen, die Stahl in die USA tanks Bruegel, Guntram Wolff, sehen das Juncker wird Trump Ende kommender
exportieren, auf den Einfuhrpreis 25 Pro- ähnlich: »Dieser zweite Schlag würde Woche beim G-7-Treffen in Kanada sehen,
zent Zoll, bei Aluminium sind es 10 Pro- Deutschland besonders wehtun.« und wenn man so zuhört, was der Kom-
59
Duisburg hat eine klare Mei- auf Harley-Davidson-Motor-
nung. »Ein Irrer« sei dieser räder und Jeans erheben will,
Trump, »ein Psychopath«, der zielen bewusst auf Symbole des
deutsche Arbeitsplätze gefähr- amerikanischen Traums, Le
de. Man kann den Mann ver- Maire will das so.
stehen, schließlich hat die Stahl- Altmaier hält nichts von sol-
industrie auch ohne die Straf- chen Provokationen, er wolle
zölle genug Probleme. Nach die »Todesspirale aus Strafzöl-
Schätzungen der OECD beläuft len« vermeiden, sagt er. Und
sich der weltweite Kapazitäts- auch Ross hatte in seinem State-
überhang in der Stahlerzeu- ment ein Fenster für Gespräche
gung auf 740 Millionen Tonnen. gelassen. Er freue sich darauf,
Verdrängungswettbewerb und »die Verhandlungen mit der Eu-
Preiskampf sind so brutal, dass ropäischen Kommission fortzu-
selbst Vorzeigeunternehmen führen«, sagte der US-Handels-
wie Thyssenkrupp allein keine minister. Ein Hoffnungsschim-
Chance mehr haben. Mühselig mer, Altmaier hält das für den
einigten sich Management Erfolg seiner wochenlangen Be-
und Beschäftigte auf eine Fu- mühungen, wieder einen Ge-
sion mit dem indischen Stahl- sprächsfaden zu den Amerika-
riesen Tata. nern aufzubauen. Insgeheim
61
Wirtschaft
sprechende Informationen über die Zu- den Produkten auf aktuelle Trendproduk-
sammensetzung des Produkts abrufen. te, bei denen Probleme bereits bekannt
Amazon teilt zu der Stichprobe schrift- oder naheliegend seien, wie zuletzt etwa
lich mit: »Die Sicherheit der Kunden hat Zahnbleichmittel oder Gele und Lacke für
oberste Priorität, wir möchten, dass unsere künstliche Fingernägel. »Der Onlinehan-
Kunden jederzeit mit Vertrauen bei Ama- del ist natürlich ein Eintrittskanal für Pro-
zon einkaufen.« Auf die einzelnen Fragen dukte, die es sonst nie auf den deutschen
zu konkreten Produkten geht der Konzern Markt schaffen würden«, sagt Raschke.
nicht ein, obwohl Amazon die Prüfergeb- Einige Wettbewerber wollen das nicht
nisse von Sefiro vorliegen. Im Amazon- hinnehmen. Und so kommt es, dass sich
Statement heißt es, man habe »bereits Unternehmen, die sonst Konkurrenten
einige der angeführten Produkte ent- sind, zusammentun. Die Geschäftsführer
fernt« – aber es wird nicht benannt, wel- der zwei größten deutschen Drogerieket-
che Produkte dies konkret sind und welche ten, dm und Rossmann, Christoph Werner
weiterhin, trotz bekannter Mängel, be- und Raoul Roßmann, und Tina Müller,
stellt werden können. Warum? »Die Unter- Chefin der Parfümeriekette Douglas, hat-
suchung der Produkte läuft noch.« ten die zuvor erwähnte Amazon-Stichpro-
Ganz allgemein erklärt Amazon: »Wir be bei Sefiro in Auftrag gegeben. Die Er-
überprüfen die auf unserer Website gelis- gebnisse schickten sie Mitte Mai in einem
teten Produkte mit Blick auf Sicherheits- Brief nach Berlin. Das vierseitige Schrei-
bedenken, und sofern notwendig entfer- ben ging an die Ministerinnen Katarina
AKG
nen wir ein Produkt und wenden uns an Barley (Justiz und Verbraucherschutz) und
Verkäufer, Hersteller und Behörden, um Julia Klöckner (Ernährung und Landwirt-
mithilfe zusätzlicher Informationen even- schaft) sowie an die Staatsministerin für
Digitalisierung, Dorothee Bär.
»In ihrem Koalitionsvertrag hat sich die
»Ein so großer Player wie Bundesregierung dazu bekannt, ›den Ver-
Amazon darf sich bei so braucherschutz auch in der digitalen Welt
sicherzustellen‹«, schreiben die Händler.
LUCA ZANETTI
gravierenden Vorwürfen Internetverkaufsplattformen wie Ebay
nicht wegducken.« oder Amazon Marketplace böten jedoch
»beste Möglichkeiten, in Deutschland Wa-
ren zu verkaufen, ohne sich um die gelten-
tuelle weitere Maßnahmen zu ergreifen.« den Vorschriften kümmern zu müssen«.
Wie häufig das passiert, wie viele Verbrau- Dann kommen sie zum Kern: Es erschei-
cher sich zuletzt mit konkreten Beschwer- ne ihnen »äußerst befremdlich«, dass
den an den Kundendienst gewandt ha-
ben – darauf gibt Amazon keine Antwort.
»auch das kleinste Geschäft mit aller not-
wendigen Strenge kontrolliert« werde,
Auf Humboldts
»Gerade ein so großer Player wie Ama-
zon darf sich bei so gravierenden Vorwür-
während es »Schwergewichten des Online-
handels ohne Weiteres möglich ist, frei von
Spuren
fen nicht wegducken«, sagt die promovier- jeder staatlichen Aufsicht zu handeln«. Im Jahr 1800 war Alexander von
te Chemikerin Kerstin Etzenbach-Effers Douglas, Rossmann und dm fordern
Humboldt einer der Ersten, die den
von der Verbraucherzentrale in Nordrhein- eine Mithaftung der Plattformanbieter –
Westfalen. »Unzureichende Informatio- und einen Rechtsrahmen auf EU-Ebene, Orinoco erkundeten. Längst ist der
nen bei einer Produktbestellung sind ein »der es den Überwachungsbehörden er- Fluss erforscht. Doch auch heute noch
häufiges Problem im Onlinehandel.« möglicht, neue Vertriebswege des digitalen gibt es abgelegene Siedlungen, fast
Ende Januar hat deshalb das Kammer- Zeitalters ebenso effektiv zu kontrollieren vergessen von der Zivilisation. Hier
gericht Berlin geurteilt, dass auch ein On- wie den stationären Handel«. geht die kolumbianische Fotografin
linelieferservice verpflichtet sei, Kunden Bislang gibt es da offensichtlich noch Lü- Juanita Escobar auf Entdeckungsreise.
vor der Bestellung von Kartoffelchips, Tief- cken. Amazon beispielsweise verpflichtet Unsere Visual Story erzählt, wie
kühlpizzen oder Schokoriegeln im Inter- laut eigenen Angaben zwar alle Verkäufer Humboldt den Strom erlebte, wie die
net über Zutaten und Allergene der ange- dazu, »unsere lokalen Verkaufsbedingun- Menschen heute am und mit dem Fluss
botenen Lebensmittel zu informieren. gen« zu beachten. Wie engmaschig die Ein-
leben und warum eine Reise auf dem
Doch die deutschen Behörden scheinen haltung dieser Regeln jedoch von Amazon
überfordert damit, die Flut der Angebote überprüft wird, weiß niemand. Die Market-
Orinoco noch immer zu einer Expedition
im Netz zu kontrollieren. Hinzu kommt: place-Stichprobe legt zumindest nahe, dass ins Unbekannte werden kann.
Die Kontrolle ist Ländersache. Der Wohn- Amazons interne Kontrollmechanismen
ort des Verbrauchers entscheidet über die das ein oder andere Schlupfloch aufweisen. Sehen Sie die Visual Story im digitalen
Zuständigkeit. »Wir können eigentlich im- Simone Salden SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
mer nur Ausschnitte betrachten«, sagt Mail: simone.salden@spiegel.de
Dennis Raschke. Er leitet die Bund-Län-
der-Kontrollstelle für den Internethandel
beim Bundesamt für Verbraucherschutz Video
So erkennen Sie
und Lebensmittelsicherheit. Das Amt gehe unseriöse Angebote
bei seinen Recherchen daher »risikoorien- spiegel.de/sp232018amazon
tiert« vor, man konzentriere sich neben oder in der App DER SPIEGEL
Recherchen zu akut gesundheitsgefährden- JETZT DIGITAL LESEN
63
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL
Wirtschaftsingenieur Kiesel
»Was wollen die von mir?«
64
Wirtschaft
Das Düsentrieb-Dilemma
Berufe Der Ingenieur ist der Stolz der Nation, er verkörpert das Gütesiegel
»made in Germany«. Doch Abgasskandal und BER-Debakel kratzen am Mythos, Digitalexperten
laufen den Technikern den Rang ab. Die Erfinder müssen sich neu erfinden.
»Ich bin Ingenieur, Herr Doktor«, mit den Anforderungen zurecht, die in der schrieben »vom Glück, Ingenieur zu sein«,
antwortete Hans Castorp mit beschei- Arbeitswelt heute gestellt werden. Wie so ist ein Kapitel überschrieben. Der Beruf
dener Würde. »Ah, Ingenieur …« aber mag es da erst Kiesels älteren Kolle- habe ihm alles gegeben, was ein Mensch
Thomas Mann: »Der Zauberberg« (1924) gen gehen, von denen manche ausgebildet sich wünschen mag: Erfüllung, Anerken-
wurden, als die Lochkarte der gängige Da- nung, Wohlstand. Er könne nur jedem
R
tenträger war? dazu raten, diesen Weg einzuschlagen,
aphael Kiesel würde anecken, Viele von ihnen leben noch in der Welt auch wenn das vielleicht nicht als be-
das war klar, Kiesel war nervös. von Taschenrechner und Millimeterpapier, sonders cool gelte.
Der junge Mann stand am Pult sie haben den Übergang ins 21. Jahrhun- Schulz studierte Ende der Sechzigerjah-
im Hörsaal der Technischen Uni- dert verpasst. Der deutsche Ingenieur, ob re in Clausthal im Harz Eisenhüttenwesen.
versität Berlin, vor ihm die Professoren, erfahren oder neu im Job, bedarf der Rund- Schmerzhaft habe er, der Technikstudent,
die meisten Ingenieur wie er, aber eine Ge- erneuerung. Er ist reif für den Neustart. damals feststellen müssen, »dass Geistes-
neration älter. Kiesel, Jahrgang 1991, bat Dies mag schwer zu glauben sein, da wissenschaftler in Dutschke-Deutschland
um Verständnis für das, was er zu sagen sein Image lange tadellos war, das Anse- deutlich mehr Sex-Appeal verströmten«.
habe. Dann legte er los. hen enorm. Der deutsche Ingenieur gilt Er sei »nicht ganz frei von Neid« gewesen,
Kiesel sprach im März auf einem Kon- als Inbegriff von Präzision und Perfektion. so schreibt er, wenn »die flotten Denker
gress zur Qualität der Ingenieursausbil- Er verkörpert wie kein anderer das Güte- mit den langen Haaren« von Mädchen um-
dung, ein schlanker, junger Mann, der et- siegel »made in Germany«. Er steht für schwärmt worden seien. Stattdessen habe
was vom Rock-’n’-Roller Buddy Holly hat, ausgereifte Produkte, die verlässlich funk- er sich an mathematischen Gleichungen
wenn er über das Horngestell blickt. Er er- tionieren und ewig halten. Deshalb bezah- berauscht und an der Freude, Beständiges
zählte, dass er in Aachen Wirtschaftsinge- len Kunden überall auf der Welt anstands- zu schaffen, das vielen nütze.
nieur mit Fachrichtung Maschinenbau stu- los etwas mehr für den Miele-Wäschetrock- Schulz ist ein Ingenieur alter Schule.
diert habe und nun dort am Fraunhofer- ner oder die Mercedes-S-Klasse als für Ihn begeistert die Arbeit an Dingen – das
Institut arbeite. Und er berichtete, was ihm Konkurrenzprodukte. Digitale ist ihm fremd geblieben. »Ich
einst widerfahren war, als er Kontakt mit Mit seiner Neugier, seiner Hartnäckig- bin eben ein Digital-Oldie«, sagt er frei-
der Unternehmenswelt hatte, erstmals keit und einem schier unerschütterlichen mütig. Da geht es dem Industrieveteranen
überhaupt. Glauben an die Kraft des Fortschritts wie vielen anderen Ingenieuren, auch sol-
Die Leute hätten von »MongoDB« und scheint er zu jedem noch so kniffligen Pro- chen, die jünger sind als er. Sie können
»SQL« geredet, von den Vor- und Nach- blem eine praktikable Lösung zu finden. wenig anfangen mit Themen, die über-
teilen solcher Datenbanksysteme. »Was »Geht ein deutscher Techniker mit ein paar nächste Woche in Hannover die Compu-
wollen die von mir?«, habe er sich gefragt. Konservendosen in den Urwald, kommt termesse Cebit bestimmen: mit künst-
Er hatte an einer Spitzenuni studiert, Zeit er mit einer Lokomotive heraus«, prahlte licher Intelligenz, Datenanalyse oder der
in den USA, in Frankreich, in China ver- einmal der Motorenbauer Felix Wankel Blockchain. Mit der Dynamik, die alles
bracht – und dann so etwas: »Ich fühlte mit imperialer Arroganz. Daran stimmt umkrempelt, können viele kaum Schritt
mich überfordert.« zumindest, dass Technikern hierzulande halten.
Nun rächte sich, dass Computertechno- immer wieder erstaunliche Innovationen Der Ingenieur weiß zwar alles über
logien in seinem Studium keine große Rol- gelungen sind, der Kunststoff-Spreizdübel Maschinen – aber wenig darüber, wie sie
le gespielt hatten. 210 Leistungspunkte zum Beispiel und der Airbag. in der digitalen Wirtschaft funktionieren.
musste er für den Bachelor erbringen, Ekkehard Schulz, 76, früher Vorstands- Er beherrscht die Gesetze der Mechanik
nur 6 davon waren für Informatik vorge- chef von Thyssenkrupp, hat ein Buch ge- aus dem Effeff – doch ihm fehlt vielfach
sehen. Über Mathematik und Mechanik das Verständnis für Algorithmen oder
hatte Kiesel eine Menge erfahren – aber Quellcodes. Er lebt in dem Glauben, er
zu wenig über das, was er so dringend be- Ingenieure in Deutschland, erwerbstätig liefere die beste Qualität und die neuesten
nötigte: Verständnis fürs Digitale. Frauenanteil Technologien – obwohl ihm oft genug
Die Reaktion im Auditorium? Erst Stille. 17,8% Wettbewerber aus Fernost den Rang ab-
Dann, zum Erstaunen Kiesels, Zustim- 14,7 % laufen.
mung. Die Lehrpläne seien reformbedürf- Der deutsche Ingenieur denkt verbreitet
tig, sagte einer. »Unsere ganzen Strukturen noch in den Gewissheiten von gestern, da-
stimmen nicht mehr«, rief ein anderer ins 2005 2014 bei ist er längst mit den Herausforderun-
Plenum. Da passte es irgendwie, dass es
im Hörsaal spürbar kühler wurde: Die Hei-
1,4 Mio. 1,8 Mio. gen von morgen konfrontiert. Das ist das
Dilemma, in dem er gefangen ist.
zung war ausgefallen. Theoretisch lassen sich solche Defizite
Selbst Ingenieure frisch von der Hoch- Quelle: beseitigen. »Dem Ingenieur ist nichts zu
schule kommen offensichtlich nur schwer VDI, 2017 schwer«, heißt es im »Ingenieurlied« von
1871. Doch der Anspruch deckt sich nicht Software entwickelten, mit der sie ver- Damals legten Ingenieure wie Benz das
ganz mit der Wirklichkeit. tuschten, dass dieser Motor mehr Stick- Fundament für das erste Wirtschaftswun-
Rund 1,8 Millionen erwerbstätige Inge- oxide ausstieß, als die verschärften Grenz- der in Deutschland. Sie bauten Unterneh-
nieure gibt es in Deutschland. Gerade mal werte erlaubten. men auf, die zum Teil noch heute eine füh-
jeder vierte besucht innerhalb eines Jahres Mag sein, dass man die Skandale in rende Rolle spielen. Sie haben großen An-
eine Weiterbildung, in anderen Disziplinen Wolfsburg, Berlin oder Köln nicht dem In- teil daran, dass die Deutschen zu solchem
ist es jeder Dritte; nur wenige unterziehen genieur anhängen darf, sondern eher das Wohlstand gelangt sind – und mit welchen
sich der Mühe, Erfahrungen im Ausland zu Handeln von Managern oder auch Politi- Tugenden sie verbunden werden: mit Fleiß,
gewinnen. Dafür aber verdient der Inge- kern zu hinterfragen ist. »Gäbe es dort Zuverlässigkeit, Qualitätsstreben. Inge-
nieur im Schnitt recht gut, zwischen rund mehr technologische Kompetenz, wäre nieure haben dem Land ihren Stempel auf-
65 000 und 70 000 Euro im Jahr. Viele ha- dies hilfreich«, verteidigt Ralph Appel, Di- gedrückt.
ben schon ein reiferes Alter erreicht, jeder rektor des Vereins Deutscher Ingenieure Die Verknüpfung von Wissenschaft und
zweite ist jenseits der 50. Und zu rund (VDI), seine Profession. Ingenieure genös- Wirtschaft sei international einzigartig,
82 Prozent ist er ein Er. Kurzum: Der deut- sen ein ähnlich hohes Ansehen wie Ärzte sagt Helmuth Trischler, Forschungsleiter
sche Ingenieur ist zu provinziell, zu alt, zu oder Pfarrer, sagt er, nach wie vor. des Deutschen Museums. Die Verbindung
männlich, zu analog. Natürlich hört aber auch Appel, dass erkläre, warum aus »made in Germany«
»Sich neu erfinden«, der Spruch ist et- sich manche Mitglieder Sorgen machen diese Erfolgsgeschichte geworden sei.
was abgegriffen, in diesem Fall aber be- um das Image des Berufsstandes. Auch an- Erstmals seit der Eröffnung des Hauses
schreibt er treffend die Herausforderung: derswo in der Welt fragt man sich: Was ist 1925 wird der Bau auf der Isarinsel grund-
Die Erfinder müssen sich neu erfinden. Es los mit »German Engineering«? Ist der In- saniert. Auch die Ausstellung erhält ein
ist höchste Zeit, dass die Düsentriebe eine genieur dabei, seinen Ruf zu verspielen? neues Konzept, und daran wirkt Trischler
neue Raketenstufe zünden. Sonst verlieren mit. Glänzende Maschinen bestaunen zu
sie den Anschluss. Und ihren Nimbus. lassen genüge nicht mehr, sagt er. Der Pro-
Die prägende Vergangenheit
Wenn Ingenieure heute Nachrichten ma- fessor möchte die historischen Ikonen le-
chen, dann nicht selten mit folgenschweren Im Ehrensaal des Deutschen Museums in bendig werden lassen, mit dem Einsatz
Fehlleistungen. München sind die Helden der Technik von Virtual-Reality-Brillen. Die Besucher
‣ In Köln wird der Prozess um den Ein- versammelt, in Marmor gemeißelt oder in sollen spüren, wie es sich anfühlt, das
sturz des Stadtarchivs vor neun Jahren Öl gemalt: Werner von Siemens, Gottlieb Mondauto zu fahren oder den Lilienthal-
geführt. Zu den Angeklagten gehören Daimler, Carl von Linde und gut drei Dut- Gleiter zu fliegen. »Wir stellen quasi ein
Ingenieure, sie sollen, so der Vorwurf, zend weitere Persönlichkeiten. Erhaben digitales Museum neben das reale.«
den Pfusch beim Ausschachten der Bau- blicken sie ins Oval, erfüllt von Ingenieurs- Wenn voraussichtlich 2025 alles fertig
stelle übersehen haben. stolz. ist, wird das Museum kaum wiederzuer-
‣ In Berlin haben zeitweise fast 70 Inge- Ihre Meisterwerke sind im Museum zu kennen sein. Die Veränderung ist nach
nieurbüros am Bau des Flughafens BER besichtigen: Siemens’ Dynamo von 1866, Trischlers Ansicht auch Sinnbild für den
mitgeplant. Das Ergebnis ist ein Desas- mit dem sich erstmals günstig Strom er- Umbruch, den der Ingenieur zu meistern
ter: Die Pannen nehmen kein Ende, die zeugen ließ. Daimlers Einzylinder-Vier- habe. Er könne nicht wie bisher bloß seine
Fertigstellung verzögert sich Jahr um taktmotor von 1885 zum Antrieb von Boo- Technik anbieten und warten, dass ihm
Jahr. Das Projekt ist zum Symbol tech- ten und später Vierrädern: Er markierte die Kunden alles abkauften. Und er müsse
nischen Versagens geworden. den Beginn des Autozeitalters. Oder Lin- die Chancen der Digitalisierung nutzen.
‣ In Wolfsburg hat der Abgasskandal VW des Kältemaschine von 1871, Vorläufer des Dies freilich bedeutet die Abkehr von
in eine Imagekrise gezogen. Mit der Ma- modernen Kühlschranks. vielem, was der Ingenieur an seinem Beruf
nipulation von Emissionswerten haben Ende des 19. Jahrhunderts haben solche so schätzt. Von jeher konzentriert er seine
VW-Ingenieure die gesamte Branche dis- Firmengründer die Weichen dafür gestellt, Kraft und sein Können darauf, fassbare
kreditiert. »Vorsprung durch Technik«, dass Deutschland seine industrielle Prä- Produkte herzustellen, geformt aus Eisen,
der Slogan der Konzerntochter Audi, gung erfuhr. Es war die Zeit der »neuen Stahl oder Beton. Nun werden plötzlich
klingt heute wie Hohn. Industrien«: Chemiegewerbe, Elektrotech- Daten wichtiger als Dinge, wird Software
Die Dieselaffäre zeigt, wie nahe bei- nik, Metallindustrie, später auch Fahrzeug- wertvoller als Hardware, bekommt jeder
einander Genie und Versagen, Lässigkeit bau. Technische Hochschulen wurden er- Gegenstand erst dann einen Wert, wenn
und Nachlässigkeit liegen. Es waren Inge- öffnet, sie versorgten die Unternehmen die Kunden ihn vernetzen. Das allein
nieure, denen es Ende der Achtzigerjahre mit Fachkräften. Der Autopionier Carl schon bedeutet für einen Ingenieur eine
gelungen war, den sprichwörtlich lahmen Benz erinnerte sich begeistert an seine Zeit Zumutung.
Diesel in einen flinken und verbrauchs- am Karlsruher Polytechnikum: »Da wurde Vor allem aber setzt die Digitalisierung
armen Antrieb zu verwandeln. Es waren entworfen, konstruiert, differenziert und ihn unerwarteter Konkurrenz aus. Die
aber auch Ingenieure, die Jahre später eine integriert, dass es eine Freude war.« neuen Wettbewerber sind mit ihrer Daten-
Deutscher Ingenieursgeist
1866 1876 1885 1887
Werner Siemens Carl Linde Gottlieb Daimler erfindet Emil Berliner gelingt die
baut einen Strom- fertigt einen zweirädrigen »Reit- Tonaufzeichnung auf einer
erzeuger nach elektrische wagen« mit Verbrennungs- spiralförmig eingeritzten
dem dynamo- Kältemaschinen motor. Ein halbes Jahr Platte. Das erzeugte
elektrischen mit Ammoniak- später meldet Carl Benz Muster kann vervielfältigt
DAI M LE R AG
Prinzip. Kühlkreislauf. das erste Auto zum und auf einem »Grammo-
Daimler-»Reitwagen« Patent an. phon« abgespielt werden. Berliner, Grammophon
lung, die organisches Bosch, entwickelt zum Warm- und Kalt- aus Zelluloid. Fortan teten Bandstreifen.
SVEN BURGER
Gewebe durchdringt. den Hochspannungs- halten von Getränken gibt es handliche Foto- Ein Rekorder (»Magneto-
Magnetzünder für oder Speisen her. kameras für jedermann. phon K1«) folgt Mitte der
Handaufnahme von 1896 Ottomotoren. Thermos-Behälter Dreißigerjahre.
67
peln, ist für unser Geschäft BMW, Thyssenkrupp, Lufthan-
hochgradig disruptiv.« sa, RWE, Linde, Infineon, Vono-
Beumer will nicht noch ein- via und Daimler. Noch größe-
mal überrumpelt werden. Das ren Einfluss üben Ingenieure
Unternehmen hat sich in der im industriellen Mittelstand
Factory eingemietet, einem aus. Die Abkürzung »Dipl.-
Campus der Start-up-Szene in Ing.« steht oft auf der Visiten-
Berlin-Mitte. Dort sollen Digi- karte von Geschäftsführern im
talexperten Trends aufspüren, Maschinenbau. Und dennoch:
die die Ingenieure in der Zen- Der Einfluss der IT-Experten
trale noch nicht auf dem Schirm wächst in allen Firmen, die viel
haben. mit Technik zu tun haben. Das
ist auch bei Bosch spürbar, wo
die Ingenieurskultur so tief wur-
Ringen um die
zelt wie in kaum einem ande-
Leitkultur
ren Konzern.
Zwischen Beckum und Berlin Zwar verdient Bosch sein
liegen 440 Kilometer – in man- Geld in erster Linie mit dem
cherlei Hinsicht aber trennen Verkauf von Autokomponen-
die Standorte Welten. Hier der ten. Die Hoffnungen ruhen nun
Diplom-Ingenieur, dort der aber darauf, dass neue, digitale
Computer-Nerd, hier der Ar- Geschäftsmodelle ebenso lukra-
beitskittel, dort der Hoodie, hier tiv sein werden. Rund 25 000
der Kaffee, dort der Matetee: Es Software- und IT-Spezialisten
klingt verdächtig stereotyp, aber hat das Unternehmen angeheu-
in der deutschen Betriebswirk- ert. »Wir können sowohl Hard-
lichkeit lassen sich solche Gegen- ware als auch Software«, sagt
Kathodenstrahlröhre wer- optische Vergrößerung. zeuge. zu starten und zu schine, die »Z3«.
den die Signale sichtbar. landen.
J. B R EW
68
Wirtschaft
T-Shirts, stehen die »Hack MC«, die »Mas- nerisch 3,37 Stellen zu Auswahl. Gesucht sie direkt von der Hochschule kommen,
ters of Ceremony«, es sind IoT-Spezialis- wird am Bau, in der Vermessung oder der erst einmal einiges nachzuholen, wie der
ten, sie geben den Teams Hilfestellung. Ja- Gebäudetechnik, aber auch im Maschinen- Jungingenieur Kiesel auf der Berliner Ver-
nette Kothe ist eine von ihnen, eine Frau bau, in der Autoindustrie und der Elektro- anstaltung klargemacht hat.
Anfang dreißig, die bei Bosch Rexroth ar- technik. Also im Grunde überall.
beitet. »Hackathon, das ist wie Flöhe hü- Besonders gefragt sind Ingenieure, die
Ausbildung mit Reformbedarf
ten«, sagt sie, »aber sehr kreative Flöhe.« es verstehen, Digitalprojekte umzusetzen.
Kothe ist so ziemlich das Gegenteil des Wer Technikwissen hat und zugleich IT- Das Studium ist zu Beginn überladen mit
typischen Bosch-Ingenieurs, schon äußer- Kompetenz mitbringt, also das Beste aus Theorie, nicht wenige Studenten brechen
lich: Turnschuhe, T-Shirt, die Haartolle rot zwei Welten vereint, wird umworben wie es in den ersten Semestern ab, oft wird ih-
gefärbt. Lässig lehnt sie an einem Tisch- ein Fußballstar. nen Mathematik zum Verhängnis. Das
kicker mit der Aufschrift »KI-cker«, KI wie Wie begehrt solche Kräfte sind, machen Zahlenverhältnis von Lehrenden zu Stu-
künstliche Intelligenz. Der Automat lernt die Stellenangebote deutlich, die im Febru- dierenden hat sich in den vergangenen Jah-
mit jeder Partie dazu: »Wir trainieren ein ar bei einer Jobmesse für Ingenieure in der ren verschlechtert. Vor allem aber fehlt es
neurales Netz darauf, gegen menschliche Hamburger Handelskammer an den Stell- an Studienangeboten, die den Nachwuchs
Spieler zu kickern«, sagt Kothe. wänden angepinnt waren. Gesucht wurden darauf vorbereiten, was ihn in der Indus-
Dass sie mal leidenschaftlich gern »co- dort IT-Systemarchitekten, Data-Scientists trie 4.0 erwartet. Und was die Betriebe
den« würde, also programmieren, war zu oder Security-Spezialisten, gefragt war, von ihm erwarten.
Schulzeiten nicht absehbar. Kothe besuchte wer einen »sicheren Umgang mit Doors«, Eine digitale Strategie? »Wir haben sie
ein Gymnasium mit musischem Schwer- einer IBM-Software, vorweisen kann oder noch nicht«, räumt Hans-Ulrich Heiß, der
punkt, danach wollte sie etwas »Kenntnisse von C++«, einer Vizepräsident der TU Berlin, während der
Künstlerisches machen. Es kam
Abschlüsse von Frauen Programmiersprache. Tagung in seinem Haus ein: »Sie ist noch
anders. Mit ihrem Abitur hätte in Ingenieurwissenschaften Laut einer VDI-Umfrage un- im Entstehen begriffen.« Heiß steht im
sie fast alles studieren können, an deutschen ter Personalchefs wird sich in Lichthof des Gebäudes, an diesem Ort ver-
sie entschied sich für das Inge- Hochschulen, 2016 den kommenden fünf Jahren lieh 1899 Kaiser Wilhelm II. den techni-
nieurstudium in Dresden: »Ich die Zusammensetzung der Be- schen Hochschulen das Promotionsrecht
wollte die Welt um mich herum legschaften in Technikbetrie- für Ingenieure. Mit diesem Erlass, so Heiß,
erklären können«, sagt sie. ben deutlich verschieben. Den hätten die Ingenieure Augenhöhe mit den
Unter den rund 400 Studie- 22,5 %traditionellen Ingenieur sehen Geisteswissenschaftlern erreicht.
renden, die damals mit ihr das Frauen: 28564 sie auf dem Rückzug, sein An- Heiß ist Informatikprofessor, Spezialist
Männer: 98 374
Studium der Mechatronik und teil sinkt von 61 auf knapp für Datenbanksysteme. Er ist prädestiniert
Elektrotechnik begannen, seien 48 Prozent. Dagegen steigt der dafür, ein Digitalkonzept zu entwerfen,
genau 7 Frauen gewesen. Sie Anteil der IT-Ingenieure von 18 doch die Umsetzung fällt nicht leicht. Es
schaut in die Halle: »Heute sind Quelle: Statistisches Bundesamt auf 28 Prozent. Den idealen beginnt schon damit, dass Studenten im
es schon ein paar mehr«, sagt Kandidaten stellen sich die Per- Hörsaal daran scheitern, Dokumente zu
sie, »immerhin.« Kothe ist gern Vorbild als sonaler so vor: ein Ingenieur, der IT-Kennt- laden: Es fehlt an Hochleistungsroutern.
eine Frau, die diesen Beruf gewählt hat, nisse draufgesattelt hat, dazu ein paar Jahre Die größte Schwierigkeit bestehe aller-
auch wenn sie ungern davon Aufhebens Berufserfahrung, gern auch im Ausland. dings darin, Forschung und Lehre zu erneu-
macht: »Das sollte selbstverständlich sein.« Von solchen Profilen schwärmt jeder ern, sagt der TU-Vizepräsident: »Wir brau-
Ist es aber nicht. Von 1,8 Millionen er- der Personalmanager, die an diesem Vor- chen eine Aktualisierung des Curriculums.«
werbstätigen Ingenieuren sind rund 313000 mittag in der Handelskammer beim »Com- Den Studenten mangele es an wichtigen IT-
Frauen, das entspricht einem Anteil von pany Pitch« ihr Unternehmen präsentie- Kompetenzen, zum Beispiel auf dem Feld
knapp 18 Prozent. In Spitzenpositionen ren. Sie versuchen für »das Produkt Trieb- der Datenanalyse. Wenn man den Lehrplan
sind Ingenieurinnen noch seltener vertre- werk« zu begeistern oder die Faszination hier ergänze, bedeute dies aber zwangsläu-
ten. Eine Hoffnung gibt es: Wenn in eini- zu vermitteln, die von Gurtsystemen oder fig, an anderer Stelle zu streichen, und da-
gen Jahren die Ruhestandswelle rollt und Turbinenschaufelbeschichtungen ausge- bei stößt Heiß regelmäßig auf Widerstand:
Lücken in die Belegschaften reißt, werden hen mag. Alle legen sich ins Zeug. Doch Jeder Kollege wacht eifersüchtig darüber,
die Unternehmen nicht umhinkommen, sie ernten bloß müden Applaus. Entspannt dass seine Disziplin unangetastet bleibt.
weibliche Kräfte zu fördern. sitzen die Fachkräfte auf den Stühlen und Dieser Konflikt lähmt die Hochschulen.
Schon heute schaffen es viele Betriebe lassen sich umwerben. Deshalb sind Reformen hier mühselig
kaum, ihre Stellen zu besetzen. Der Arbeits- Selbst klangvolle Adressen der deut- und langwierig. Vor fast zwei Jahrzehnten
markt kann den Ingenieursbedarf nicht de- schen Industrie müssen sich anstrengen, hat Heiß bereits Erfahrungen damit ge-
cken, die Arbeitslosenquote liegt bei unter Tech-Talente für sich zu gewinnen. Dabei macht. Damals begann der sogenannte
zwei Prozent, jeder Jobsuchende hat rech- haben viele der Nachwuchskräfte, wenn Bologna-Prozess, die europaweite Harmo-
trisch Bilder sehbildern mittels gedrehte Schrauben für eine Plastik- das die Datenmenge
ab und überträgt Schrägspuraufzeich- fest in Bohrlöchern karte mit digital gespeicherter
sie in Gravur- nung zum Patent an. verankern. integriertem Audiodaten drastisch
vorlagen. Schaltkreis an. reduziert.
DPA
Fischer
Bis Du einen
Blog schreibst.
Auf malalayousafzaibbcblog.blogspot.de schreibt
die Friedensnobelpreisträgerin, seit sie 11 ist.
Die ganze Geschichte: handelsblatt.com/handeln
FÜR ALLE,
DIE HANDELN
Medien
K
ommunikation besteht aus Sen- eingestünden und Fehler erklärten, zu- gilt das auch für uns selbst, für jedes Titel-
den und Empfangen, und wenn dem für unsere Leser besser erreichbar bild, für jeden Text.
sie gelingt, dann formulieren die seien. Unser Selbstbild besagt, dass der Dies also ist jenes Selbstbild, das ver-
Absender durchdacht und klar, SPIEGEL von 2018 keine von alten Herren mutlich die meisten SPIEGEL-Menschen
und die Empfänger sind aufmerksam und dominierte Firma mehr sei, sondern Spie- eher stolz als bitter auf die eigene Redak-
hören oder lesen das, was der Absender gelbild einer modernen Gesellschaft. tion und die gesamte Verlagsgruppe bli-
meint. Und werden selbst zu Absendern. Schließlich: Wir glauben, dass wir uns cken lässt. In solch einer Redaktion – falls
Es gibt allerdings, meistens, eine Vorge- selbst so scharf beurteilten, wie wir die sie denn wirklich so ist – würden vermut-
schichte, also jene geglückte oder miss- Regierung oder VW kritisieren. Jeden lich alle Journalisten Deutschlands gern
glückte Kommunikation der Vergangen- Montag, in der großen Konferenz, steht arbeiten. Doch stimmt das alles?
heit, die in der Gegenwart mitschwingt. die Heftkritik an, häufig mit einem Gast- Ist der SPIEGEL so, wie er sich selbst
Und es geht deshalb hin und wieder um kritiker, und da geht es zur Sache. Denn wahrnimmt?
Vorurteile und stets um Erwartungen, um der SPIEGEL will nicht schmusen, er will In Leserbriefen und in den Foren von
Wahrnehmung: das Bild des Gegenübers stets und überall herausfinden, wo warum SPIEGEL ONLINE werden wir bisweilen
und das Selbstbild. welche Fehler gemacht wurden und was scharf attackiert. Zweifellos lauter als frü-
Wenn wir vom SPIEGEL über den SPIE- dann daraus folgen sollte, und natürlich her. In Schreiben, die an mich persönlich
GEL diskutieren, kommen wir meist zu gerichtet sind, geht es mitunter beleidi-
dem Schluss, in den vergangenen Jahren gend zu: »Wir werden dich finden,
habe sich einiges verändert. Wir halten Video Schwachkopf«, solche Sachen schreiben
Und das sagen
uns für offener, für differenzierter als frü- die Leser Leser. Da ist mehr Wut als früher, auch
her, schon rein sprachlich für vielseitiger spiegel.de/sp232018leser
mehr Enttäuschung.
und darum im Urteil für weniger holz- oder in der App DER SPIEGEL »Die Wut der klugen Köpfe«, so nannte
schnittartig; wir glauben, dass wir Zweifel Isabell Hülsen ihre Reportage über Lese-
Analyse
Macrons Show
Er habe Libyen in Richtung Versöhnung geführt, meint Frankreichs Präsident. Schön wär’s.
Womit sich Vermittler von Uno und Europäischer Union seit Jah- an, dass sich die Libyer weigerten, ihre angeblichen Beschlüsse
ren plagen, das schien Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron auch zu unterschreiben, »da sie sich ja gegenseitig nicht anerken-
mal eben so geschafft zu haben: Am Dienstag trafen sich im Ély- nen«, so Macron. In dem unterschriftslosen Acht-Punkte-Fahr-
sée-Palast die vier wichtigsten Akteure aus dem Bürgerkriegs- plan sind entscheidende Fragen gar nicht geregelt, beispielsweise,
land Libyen, darunter aus Ostlibyen der Armeechef Khalifa Haf- über welche Macht ein künftiger Präsident Libyens verfügen
tar und der Parlamentssprecher, aus Westlibyen der Chef der kann, ob es ein Verfassungsreferendum vor der Wahl geben wird
Regierung in Tripolis – alle mehr oder minder verfeindet. Trotz- und vor allem: wie all die Milizen – viele mächtiger als die offi-
dem einigten sie sich angeblich innerhalb weniger Stunden zielle Regierung – zu integrieren wären.
darauf, dass im September ein Verfassungsentwurf verabschiedet Verstimmt sind westliche Diplomaten: Macron hatte die EU
und im Dezember gewählt werden soll. Danach sprachen sie von und die Uno-Mission für Libyen nicht im Detail eingeweiht. Ver-
einem historischen Treffen und einem Ende des Konflikts. schnupft sind auch die Italiener, die mit westlibyschen Milizen
Was zu schön ist, um wahr zu sein, das ist auch selten wahr. verbündet sind – welche die Pipelines für Italiens Ölkonzern Eni
»Die Details müssen nun in Libyen ausgearbeitet werden«, schützen. Deren Befehlshaber waren jedoch nicht nach Paris ein-
sagte Macron. Und die Details sind das Problem. Es fängt damit geladen. Sie hätten die Show sicher vermasselt. Mirco Keilberth
Diplomatie
75
Ausland
V
ier Tage und 15 Stunden bevor mutet. Und der nun wieder zurück nach 70 000 im Jahr 2017 gesunken, so die Zah-
Majid Diallo in sein Dorf im Nor- Hause muss. len der Internationalen Organisation für
den Guineas zurückkehren und 15,9 Millionen Migranten gab es laut Migration (IOM). Das liegt laut IOM aber
den Traum der anderen zerstören der jüngsten Studie der Internationalen auch daran, dass die Migranten nun neue,
wird, bevor er seiner Mutter sagen wird, Arbeitsorganisation in Genf 2014 in Afri- oft noch gefährlichere Routen wählen, auf
dass er ihr kein Haus bauen wird, dass er ka. Durch die EU-Politik sind die Zahlen denen sie nicht erfasst werden. Nur wenig
dem Dorf keine Schule schenken, den derer, die durch Niger nach Norden ziehen, mehr als 7000 Männer und Frauen hat die
Dorfvorsteher nicht beim Aufbau der Man- von 333 000 im Jahr 2016 auf knapp IOM im vergangenen Jahr bei ihrer Rück-
goplantagen unterstützen wird, läuft er
eine ausgestorbene, staubige Straße ent-
lang, zu einem der vielen Busbahnhöfe
Niameys, der Hauptstadt Nigers.
Er schaut in den Himmel, wo die Flug-
hunde kreisen. Fragend. Ein kleiner Mann,
1,68 Meter, schätzt er. 27 Jahre alt. Zurück-
haltend, mit wachen Augen. Eine zerschlis-
sene Trainingsjacke über dem Muskelshirt.
Ein paar Narben wie verirrte Sommer-
sprossen im Gesicht.
Er schiebt sich die Kopfhörer auf die Oh-
ren. Wie Mickymaus sehe er damit aus, ha-
ben die anderen immer gesagt, die noch in
Libyen sind oder tot. Er hatte Glück. Diallo
läuft auf dem Boulevard Mali Bero in Rich-
tung Norden. Auf einer dieser breiten Stra-
ßen Niameys, auf denen nie Stau herrscht,
weil es dafür nicht genug Autos gibt. Niamey,
wo roter Staub den Boden bedeckt. Die
Stadt, durch die fast jeder Migrant in West-
afrika kommt, auf dem Weg in den Norden
Nigers, nach Agadez, dem Drehkreuz, von
dem aus die Schmuggler die Migranten
weiter in die Wüste fahren. Auf den Lade-
flächen ihrer Pick-ups, hinein nach Libyen.
Niamey, die Stadt aber auch, die nun
zur Drehscheibe für die geworden ist, die
aufgegeben haben. Die zurückfahren in
ihre Heimat. Wie Majid Diallo.
Diallo ist, was die Europäische Union
sich wünscht. Ein Migrant, der umkehrt,
bevor er europäischen Boden erreicht hat.
Um mehr wie ihn zu haben, bildet die EU
Sicherheitskräfte in Niger aus, lässt Zäune
bauen, unterstützt dubiose Milizen, die in
Libyen die Küste sichern sollen. Pumpt
Hunderte Millionen Euro in die Sahelzone.
Diallo ist für die EU ein Erfolg.
Ein junger Mann, der loszog, um seiner
Mutter ein Haus, seinem Dorf eine Schule
zu bauen, der früher unter den Akazien
mit einem platten Ball kickte, der dem
Nachbarn zum Spaß die Hennen stahl und
der, weil er zu arm ist, noch immer nicht
heiraten will, da er seinen Kindern nicht
zumuten möchte, was das Leben ihm zu-
77
Beginn von Täglich kommen die Wärter, schießen in
Diallos Rückreise N I G E R die Decke, drohen. Sie geben den Gefan-
SENEGAL MALI
Niamey genen ihre Handys zurück, schlagen die
Diallos Inhaftierten und lassen sie die Familien
Heimatdorf Ouagadougou BURKINA anrufen, damit sie Geld erflehen können.
FASO Zusammengekauert versucht Diallo, das
Boual Labé
alles von sich fernzuhalten.
Marela Seit seiner Jugend hat er das Talent, un-
Conakry GUINEA
BENIN ter dem Radar zu bleiben, abseits zu blei-
ELFENBEIN- ben von Ärger und Tumult. Es hat ihn im-
SIERRA
LEONE KÜSTE TOGO mer gut beschützt. Dann trifft ein Quer-
Nzérékoré Bouaké GHANA schläger den Mann neben ihm in den Kopf.
AFRIKA Diallo hatte von alldem gehört. Aber
Daloa dass es ihm selbst passiert, nein, das hatte
LIBERIA er nicht geglaubt. Keiner glaubt das. Als
Abidjan 250 km er klein war, hat ihm seine Mutter von Gott
erzählt. Wie er allen gegenüber barmher-
zig sei, die sich ihm unterwürfen. Diallo
hatte das lange Zeit beruhigt. Dass alles
fünf Autostunden entfernt. Der Mann be- Im September 2017 hat Diallo das Geld schon geregelt sei. Dass alles Gottes Wille
treibt eine Tankstelle. Er wird Diallo die zusammengespart. Umgerechnet knapp sei. Doch in Libyen verliert er ihn, diesen
Schule zahlen, damit er später sowohl das 2000 Euro. Fast das Dreifache eines durch- Gott, als er merkt, dass für einen Afrikaner
Dorf als auch den Ziehvater unterstützen schnittlichen Jahreseinkommens in Gui- nur selten alles gut wird.
kann. Seit Majid Diallo sieben Jahre alt nea. Das Geld war die ganze Zeit über sein Er beschließt umzukehren. Ein Freund
ist, ist er nicht nur ein Junge, sondern auch Geheimnis, er erzählte seiner Familie schickt ihm die letzten 450 000 CFA-
eine Geldanlage der Familie. nichts davon. »Denn es ist hier so«, sagt Francs, umgerechnet knapp 700 Euro, die
Er geht zur Schule, und mit 15, als Klas- er, »wenn einer etwas hat, wollen alle Diallo in Abidjan deponiert hatte. Er kauft
senbester, bricht er ab. Auf Drängen seines etwas davon haben.« Und so zieht jeder sich mit 350 000 CFA-Francs frei, von dem
Vaters. Der will, dass der Sohn im Senegal jeden wieder hinunter auf das Niveau der Rest bezahlt er die Fahrt nach Niamey.
arbeitet. Seitdem ist er unterwegs. Gemeinschaft. Um drei Uhr nachts verlässt dort der
2006 geht er nach Liberia, arbeitet in Er fährt über Bamako nach Niamey, die Bus nach Abidjan die blau-weiße Rimbo-
einem Gemischtwarenladen, zieht weiter. zerfurchte, von Banditen belagerte Straße Station. »Klar«, sagt Diallo, als vor den
Er hört, in der Elfenbeinküste könne man hinauf in den Norden Nigers, nach Agadez, Fenstern die schlafende Stadt vorbeizieht,
Geld verdienen. Aber auch dort bleibt er wo an den Wänden der Gettos steht: Barca »natürlich habe ich Angst, nach Hause zu
nicht lange. Danach: Benin, Guinea-Bissau, or Barzagh – Barcelona oder sterben. kommen, mit leeren Händen. Aber in Li-
Ghana, Äquatorialguinea. Er verkauft Reis, Wo steht: Better die in the sea than cry byen hatte ich mehr Angst. In Libyen bist
erntet Cashewnüsse, arbeitet als Sicher- in front of your mother – Besser im Meer du nie frei. Viele arbeiten wie Sklaven dort.
heitsmann, betreibt eine Reinigung, bohrt sterben, als vor deiner Mutter zu weinen. Ein Migrant ist nie frei.« Jetzt immerhin
Brunnen. Gelegentlich schickt er Geld in Wo steht: European hell is better than sei er frei.
sein Dorf, nach Télimélé und zum Vater in African paradise – Die europäische Hölle Die Frage ist: wie lange noch?
den Senegal. Doch es reicht nie für alle. ist besser als das afrikanische Paradies. »Im Dorf werden sie mich für einen Feig-
Europa, sagt ein Freund dann in Äqua- Und wo steht: A good son has to help ling halten, einen Versager, sie werden
torialguinea, sei gar nicht so weit. Und his mother – Ein guter Sohn muss seiner lachen. Aber meine Familie wird mich
wenn es dort eines gebe, dann Geld. Mutter helfen. willkommen heißen. Ich werde es dort
In Europa, denkt Diallo, sei alles besser. Er schafft es schließlich bis dorthin, schaffen«, sagt er. »Ich bringe ja auch zwei
Das Klima sei milder, das Leben leichter, wo nur noch das Meer zwischen ihm Weiße mit.«
die Menschen seien rücksichtsvoller. In und Europa liegt. Nach Sabrata, in die
Europa hätten sie Respekt voreinander. libysche Hafenstadt, von der die Schiffe Diallos Reise verändert sich ab diesem
Sicher auch vor einem wie ihm, der sich aufbrechen. Zeitpunkt, an dem wir, das Team vom
aus dem Elend gekämpft hat. Der Wind steht mit zwölf Knoten aus SPIEGEL, mit ihm reisen. Sie wird einfa-
Er habe einen Cousin, sagte damals sein Nordwest gegen das Schlauchboot. In den cher werden, sobald man ihn als unsere
Freund, der habe es nach Italien geschafft. Wellentälern ist Dunkelheit. Auf dem Boot Begleitung ansieht, sie wird billiger, weil
Für 1000 Euro. Und nun habe dieser Cou- sind zu viele Menschen. Wasser spült hi- man ihn seltener ausnehmen wird.
sin dort ein Haus und einen Job. Der nein. Die Angst von 130 Menschen auf Der Bus fährt an Akazien und Eukalyp-
Freund zeigt ihm Fotos. Eine Ikea-Küche, dem Meer wird zu Wut. Über Satelliten- tusbäumen vorbei, unter denen tagsüber
die mondänen Straßen Mailands, Selbst- telefon sagen die Italiener, sie müssten die Händler an morschen Tischen stehen
porträts eines kräftigen, lächelnden Man- weiter nach Norden fahren. Dort, wo die und Mangos verkaufen, Kolanüsse, rostige
nes. Es gibt ihn immer, den einen, der es großen Schiffe außerhalb der Zwölfmeilen- Gaskartuschen und schmutziges Benzin in
geschafft hat. Jeder kennt ihn. Denn die zone kreuzen. Der Senegalese am Außen- alten Whiskeyflaschen. Es ist eng im Bus,
Geschichte der Flucht aus Afrika ist auch bordmotor gibt weiter Gas, es kommt zu der Gang voll mit rotem Staub und Müll.
immer eine Geschichte der Mythen. Rangeleien an Bord. Das Schlauchboot Es riecht nach Schweiß und Urin. Hinter
Die Mythen überdecken die Bilder der li- droht zu kentern. Sie drehen um. So er- Diallo schreit ein kleines Kind, das Gesicht
byschen Sklavenmärkte, wo Männer wie zählt es Diallo. verschmiert von Rotz. Es wird die ganze
einst an der Goldküste aus Käfigen heraus Zurück an Land werden alle verhaftet. Nacht lang schreien.
verkauft werden; sie sind stärker als die Bil- Sie sind nun Gefangene im libyschen Sys- Der Bus fährt vorbei am Bahnhof von
der sinkender Schlauchboote oder von der tem aus Folter und Lösegelderpressung. Niamey. Seit mehr als zwei Jahren steht
Sonne ausgedörrter Leichen im Wüstensand. Wochenlang sitzt Diallo in seiner Zelle. dort ein neuer Zug. Er hat den Bahnhof
Busbahnhof im nigerischen Niamey, Flüchtling Diallo im Buschtaxi und im Schlafsaal* * In der Unterkunft der Internationalen Organisation
»Für ein gutes Leben muss man nach Norden« für Migranten in Niamey.
79
Ausland
der Elfenbeinküste. 18-mal werden alle bitter. Die Leute seien egoistisch. Wer arm erholt wieder los. Arbeitet am Fuß der Ber-
Passagiere aussteigen und ihren Pass zei- ist, werde irgendwann egoistisch. ge. Baut sich etwas auf in Guinea. Er hört
gen und die Soldaten, die wie Wegelagerer Als der Bus sich am frühen Abend durch Julio Iglesias und lächelt.
am Straßenrand kampieren, bezahlen. Ein den Verkehr der Hauptstadt Ouagadougou »Je sais en amour il faut toujours un per-
bis drei Euro pro Person. schlängelt, schlägt der Wind einer Frau vor dant – ich weiß, in der Liebe gibt es immer
Die Migration ist ein Geschäft, an dem Diallo den Vorhang ins Gesicht. Sie rührt einen Verlierer;
jeder verdienen will. sich nicht. 15 Minuten lang. Bis ihr Mann j’ai eu la chance de gagner souvent – ich
»Auf dem Hinweg zahlst du mehr«, sagt den Vorhang festbindet. »Das Dulden ist habe das Glück gehabt, oft zu gewinnen,
Diallo. »Wenn du aufbrichst, um Wohl- die zweite Natur des Reisenden gewor- et j’ignorais que l’on pouvait souffrir au-
stand zu deinen Leuten zu bringen, für dein den«, sagt Diallo. Der Reisende in Afrika tant – aber ich wusste nicht, dass man so
Land, für deinen Kontinent, wollen alle duldet. Nur so kann er es schaffen, indem leiden kann.«
dein Geld. Bis zu 45 Euro pro Checkpoint. er Stolz und Würde unterdrückt. Es ist sein Lieblingslied. »Es ist in der
Oft haben wir den Bus verlassen und uns Morgens um vier erreicht der Bus den Liebe doch wie im Leben«, sagt er.
Motorräder gemietet. Sind Stunden durch Grenzposten Yendene, den Übergang zur Auf der Straße zapfen ein paar Jugend-
die Savanne gefahren, um die Checkpoints Elfenbeinküste. Soldaten liegen um ein liche das Benzin aus einem auf die Seite
zu umgehen. Denn wer nicht zahlen konnte Feuer herum. Ziegen suchen zwischen gekippten Truck ab.
oder wollte, wurde zurückgeschickt. Soli- dem Müll nach Futter.
darität mit Migranten gibt es hier nicht.« Der ehemalige Vorzeigestaat Westafri- Immer wieder lassen Soldaten den Bus
Kaum ist es neun Uhr, kaum steht die kas, das Land des Kakaos, wurde erst zum warten, weil der Fahrer nicht genug Ge-
Sonne höher am Himmel, weicht die Küh- Bürgerkriegsland und ist nun ein Staat der schenke oder Geld dabeihat. In der Elfen-
le einer brutalen Hitze. Die Fahrer machen Meutereien. Die Regierung bekommt die beinküste zahlen nicht die Passagiere, in
vorsorglich die Klimaanlage aus. Aus ehemaligen Rebellen nicht unter Kontrolle, der Elfenbeinküste zahlt der Fahrer. Wenn
Gründen, die nur sie selbst kennen, wird trotz fürstlicher Zahlungen. In der Wirt- nicht, starren die Männer mit den Kalasch-
nikows so lange tatenlos in die Gepäck-
räume, bis der Fahrer doch zahlt.
»Die Soldaten auf der Straße wollen nur
Geld. Nur dafür sind sie da, afrikanische Sol-
daten denken wie Verbrecher«, sagt Diallo.
In Bouaké, der zweitgrößten Stadt der
Elfenbeinküste, ist es ruhig. Keine Schüsse,
keine Kämpfe wie noch vor vier Tagen,
nur der Verkehr, der sich röchelnd durch
die Straßen schiebt. Der Bus hält. Diallo
steigt aus. »Herzlich willkommen, Weiße«,
sagt eine junge Frau mit geflochtenen Haa-
ren und frechem Lächeln.
»Wir sind zwei Schwarze und zwei Wei-
ße«, sagt Diallo. »Warum begrüßt du nur
die Weißen?«
Afrikaner, sagt er, sähen Weiße noch im-
mer als überlegen an. »Europa schaut auf
uns herab, aber wir schauen zu euch hi-
nauf«, sagt er. »Vielleicht bedingt sich das.«
Zwei Stunden später geht es weiter.
An einem bewölkten Mittwochmorgen,
Heimkehrer Diallo, Mutter im Dorf Boual: »Du solltest mir doch ein neues Haus bauen« 41 Stunden nach dem Aufbruch, 71 Stun-
den vor seiner Ankunft, auf einem nach
Diesel stinkenden Busbahnhof im Westen
sie ausschließlich während der Nacht ein- schaftsmetropole Abidjan fürchten die der Elfenbeinküste, sagt Diallo plötzlich:
geschaltet, sodass sie zusätzliche kalte Luft Menschen heute die »Mikroben«: jugend- »Ich muss sie anrufen. Irgendwann muss
in den eisigen Bus blasen kann. Sobald es liche Banden, zugedröhnt, die mit Mache- ich sie anrufen.« Er meint seine Mutter.
heiß wird, stellen sie sie aus. ten, Eisenstangen und Messern bewaffnet Niemand weiß, dass er kommt.
Mal alle 15, dann alle 30 Minuten hält durch die Stadt ziehen. Draußen zieht Daloa vorbei. Eine Stadt,
der Bus. Dann wird kassiert, geschrien, Als die Luft nicht mehr nach Staub, son- die nicht viel mehr ist als wahllos hinge-
gedroht. Kinder kommen aus den Hütten dern nach satter, feuchter Erde riecht und worfene wellblechgedeckte Hütten, zwi-
gestürzt, aus dem Schatten der Zachun- Mangobäume in früher Blüte an den Fens- schen denen sich der Müll sammelt. Diallo
Bäume, stehen stumm vor den Reisenden, tern vorbeiziehen, beginnt Diallo zu träu- sitzt jetzt nicht mehr in einem Bus, son-
die Augen groß und leer, die Gesichter fast men, wie jeder Reisende irgendwann. dern in einem Minibus, er fährt hinaus auf
weiß vor Staub. Wie Geister aus einem In Gedanken, so erzählt er es später, einer dieser Straßen, die sich wie Schluch-
Shakespeare-Drama. Sie tragen, für die kommt er in seinem Dorf an. Die Mutter ten durchs Unterholz ziehen.
Almosen, kleine Plastikeimer um den begrüßt ihn, es wird Fisch aus dem Fluss 2016 ist Diallo schon einmal hier entlang-
Hals. geholt, in dem er sich als Junge wusch. Erd- gefahren. Nach Abidjan, an den Ort, an dem
»Wenn du nichts hast«, sagt Diallo, nüsse werden gerieben und zu Soße ver- er damals sein Glück vermutete. Jemand
»geht es immer ums Geld. Und irgend- kocht. Das Dorf lauscht seinen Abenteu- hatte erzählt, in Abidjan könne man Geld
wann geht es immer um Neid.« Draußen ern, hört, wie er nur knapp überlebte. Sie machen. Er aber machte dort kein Geld.
brennt die Sonne auf die braune, trockene verstehen ihn. Die Onkel begrüßen ihn. Auf den Straßen Westafrikas liegt eine
Savanne. Jeder hier sei allein, sagt Diallo Er bleibt einige Wochen und zieht dann Patina enttäuschter Hoffnungen.
In Niger, erzählt ein Mitreisender im nicht um die Ecke«, sagt einer der Jungs, sie am Morgen verkaufen. An alle diejeni-
Taxi, da hätten die Fulbe, Diallos Stamm, die in dem Raum schlafen. »Dort hausen gen, die eine neue Autobatterie brauchen.
ein Fest, bei dem sie sich mit Stöcken duel- die Vagabunden. Die schlagen euch zusam- Am nächsten Morgen steht Diallo wie-
lierten. »Mein Stamm«, sagt Diallo, »hat men und rauben euch aus.« der vor einem Sammeltaxi. Elf Menschen
zu Hause fast alle Traditionen aufgege- Ein Mann setzt sich zu Diallo und ver- in einem Renault-Nevada-Kombi. 20 Stun-
ben. Der einzige Brauch, den wir heute kauft ihm eine SIM-Karte. Er ist Geolo- den bis Labé im Norden des Landes. Doch
noch haben, ist zu versuchen, Geld aufzu- giestudent. »Das Land hätte alles, um reich das Taxi verschwindet mit allem Gepäck
treiben.« zu sein«, sagt er. »Aber alles, was wir ha- und kehrt erst eine Stunde später zurück.
Einige Stunden später fährt ihn ein ben, sind Korruption und Armut.« »Das ist das Problem hier«, sagt Diallo,
durchgerosteter Nissan zum ivorischen Guinea. Der Boden hier ist voll von »keine Regeln, keine Ordnung. Jeder
Grenzposten. Der fettleibige Boss des Rohstoffen. Es gibt Öl und Diamanten, macht, was er will.«
Grenzübergangs döst in einer Hänge- Gold und Bauxit. Und Erz. Allein die
matte unter einem Mangobaum und Simandou-Berge, so Schätzungen, könn- Am Straßenrand warnen Plakate vor der
brüllt Befehle herüber, dann wird Diallo ten Eisenerz im Wert von 140 Milliarden Wiederkehr von Ebola. Und vor dem ge-
abgefertigt. Dollar enthalten. Mehr als zwei Milliar- fährlichen Weg nach Europa. »Holt mich
Aufpassen solle man, drüben bei den den Tonnen liegen in der Erde. Es gilt als hier raus«, steht über dem Bild eines zu-
Guineern, das seien Banditen. Alle. »Es das größte unerschlossene Vorkommen sammengekauerten Mannes. Die EU hat
gibt so viel Rassismus hier«, sagt Diallo. der Welt. Und dennoch gehört Guinea die Plakate aufhängen lassen.
»Zwischen Stämmen, zwischen Ländern.« mit seinen über zwölf Millionen Einwoh- Als zwölf Stunden später der überlade-
Dann ruft der Boss aus seiner Hänge- nern zu den ärmsten Ländern der Welt. ne Renault in Marela einfährt, ist es bereits
matte: »Afrika ist ein freies Land!« Sein Dank windiger Deals korrupter Regierun- Nacht. Die Dörfer gleichen einander. Im-
Bauch ragt unter dem Unterhemd hervor. gen. So bekam etwa das Unternehmen mer ist die Straße Markt, Treffpunkt und
»Frei für euch. Ihr könnt überallhin. Wo eines israelischen Diamantenhändlers im Stall zugleich. Selten gibt es Strom. Wenn,
kann ich in Europa hin? Nirgendwo.« Jahr 2008 die Erlaubnis, die Simandou- dann aus Solarzellen, die NGOs aufgestellt
Ein schlammiges Rinnsal, das die Piste Vorkommen abzubauen. Offenbar ohne haben. Manchmal gibt es einen Brunnen,
kreuzt, markiert die Grenze. Und dort er- dafür etwas zu zahlen, jedenfalls nicht manchmal nicht. Immer gibt es einen
wachen, tief im Busch, Gefühle, mit denen offiziell. Stand, an dem für Geld die Handys aufge-
Diallo nicht gerechnet hat. Stolz und Freu- Statt Reichtum haben sie in Guinea heu- laden werden können.
de. Er ist zu Hause. te den Highway 10. So genannt, weil er Dann kippt die Stimmung im Wagen.
56 Stunden bevor er seine Mutter in die ungefähr entlang des zehnten Breitengra- Noch sieben Stunden sind es bis Labé,
Arme schließen wird, duscht Diallo aus ei- des verläuft. Er ist die Drogenschmuggel- der Fahrer drückt aufs Gas, doch unter
nem Plastikeimer am Busbahnhof der süd- route südamerikanischer Kartelle durch den Passagieren macht sich Angst breit.
guineischen Stadt Nzérékoré. Für einen Westafrika nach Europa. Es ist die Zeit, zu der die Händler zurück
Euro die Nacht kann er in einem fensterlo- Später in der Nacht hört man die Ratten – nach Labé kommen und mit ihnen,
sen Raum schlafen, den sie um 23.30 Uhr und die Diebe, wie sie Autobatterien aus nachts, die Räuber. Es wird gestritten.
verbarrikadieren. »Geht nicht hinaus und den Wagen klauen. Kleine Jungs werden Schließlich wird in drei von Termiten zer-
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fressenen Hütten bis zum Morgengrauen dann immer schneller. Er springt über kleine
ZDF REPORTAGE gewartet. Felsen. Hühner eilen umher, Tauben schre-
SONNTAG, 3. 6., 18.00 – 18.30 UHR | ZDF Am nächsten Abend, dem letzten, be- cken auf. Dann steht er vor seiner Mutter.
vor er seiner Mutter in die Augen schauen
Alles koscher? Deutsche Juden wird, in denen er nicht weniger als Abso- Sie weint, umarmt den Sohn. »Gott sei
verstehen ihr Land nicht mehr lution erwartet, sitzt Diallo im Hof eines gedankt«, ruft sie. Immer wieder. Sie
85 Jahre nach der Machtergreifung heruntergekommenen Hotels. Er sitzt ne- nimmt ihm den Rucksack ab. Legt ihn in
der Nationalsozialisten geht in ben einem leeren Pool, in den ein steiner- die Hütte, neben die Matte und die Töpfe.
Deutschland wieder ein Gespenst ner Delfin ein Rinnsal speit, unter dem Alles ist gut.
um: Hass auf Juden. Sie werden sich Kinder waschen. Diallo schaut auf sein Sie umarmt ihn. Dann sagt sie leise, ge-
auf offener Straße geschlagen oder Telefon. Dann wählt er. rade so, dass er es hören kann: »Du warst
beschimpft. Die Reportage hat »Ich bin es«, sagt er, »Majid, dein Sohn.« Jahre weg. Schau, wie mein Haus aussieht.
Juden in Deutschland begleitet, Die Mutter schweigt. Dann sagt sie: »Gott Du solltest mir doch ein neues bauen.«
um zu erfahren, wie sie Antisemi- ist groß!« Das Glück hielt zwei Minuten.
tismus erleben. »Ich komme nach Hause, Mutter«, sagt Ich muss es ihr erklären, denkt Diallo.
er, »morgen bin ich da.« Ich muss ihnen von der Reise erzählen.
»Gott ist groß«, sagt sie. Vom Tod, den ich auf dem Meer gesehen
SPIEGEL TV MAGAZIN »Alles wird gut«, sagt er, als er auflegt. habe. Doch da drängen ihn schon die Onkel
SONNTAG, 3. 6., 22.50 – 23.35 UHR | RTL Warum er kommt, dass er nichts mit- weg. Eine Träne läuft ihm die Wange hinab.
bringt, hat er nicht gesagt. Es wird ein Familientreffen für den
Tod im toten Winkel – Tragische Un- »Ich weiß nun, was ich sagen werde: Es Abend einberufen.
fälle durch Rechtsabbieger; Armee- war hart in Libyen. Ich will in meinem Sechs alte Männer sitzen auf einer dün-
hubschrauber und Sturmgewehre – Land leben. Ich werde viel reden müssen nen Strohmatte. Reden über die Ziege, die
Die Militarisierung der Polizei in morgen. Ich werde jeden Schritt der Reise vor ein paar Tagen gerissen worden ist.
den USA; Wo Trinker trinken dürfen – erzählen.« 15 Frauen, die meisten mit Kindern, sitzen
Ein Wohnheim für Alkoholiker. Dann geht er schlafen. Beruhigt. im Hintergrund. Eine LED-Lampe wirft
Fünf Stunden dauert die Fahrt hinauf einen Lichtkegel auf die Gruppe, die vor
nach Boual, in sein Dorf. Straßen gibt es Diallo sitzt wie eine Richterschar.
SPIEGEL GESCHICHTE hier nicht mehr, nur tief zerfurchte Pisten. Diallo beginnt. Er legt sich hinein in seine
DIENSTAG, 5. 6., 20.15 – 22.10 UHR | SKY Einmal die Woche quält sich ein Wagen Erzählung, versucht, sie mitzureißen, die
die Berge hoch, durch die Wälder, wo die Angst aufleben zu lassen. Er erzählt von der
Black Panthers Paviane wohnen, über das Hochplateau, Wüste, von den Verdurstenden, von Krüp-
Mitte der Sechzigerjahre gab auf dem das rotbraune Bauxitgeröll liegt. peln in Libyen, denen sie in die Beine ge-
es in den USA längst noch keine Reiche Berge sind es, auf denen arme Men- schossen haben, von den Sklavenmärkten,
Gleichberechtigung zwischen schen wohnen. vom Meer, vom Gefängnis, vom Warten,
Schwarzen und Weißen. 1966 Diallo schweigt. Einmal sagt er: »Gleich vom Tod. Und von seiner langen Rückreise.
gründete sich die Black Panther wird alles gut.« Er kauft 20 Kilogramm Dann steht seine Mutter auf und geht.
Party, um der Unterdrückung Orangen am Wegesrand. Damit er wenig- »Ich bin wütend«, wird sie später sagen.
ein Ende zu setzen – und sei es stens etwas in den Händen hält. »Er ist losgezogen, mir ein Haus zu bauen,
mit Gewalt. Der Wagen rollt ins Dorf. Die Piste en- und nichts hat er geschafft. Ich bin sehr
det unter einer Akazie. Weiter weg von enttäuscht. Als Verlierer wird er nie eine
Europa kann man nicht sein. Frau finden.«
SPIEGEL TV REPORTAGE Früher haben sie hier Antilopen gejagt, Diallo sitzt vor seinem Onkel. Keiner
DIENSTAG, 5. 6., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 die neben dem Dorf grasten. Heute gibt fragt etwas. Immerhin habe er die ersten
es den Wald nicht mehr, der den Antilopen Weißen ins Dorf gebracht, sagt einer. Er
Schweiß und Tränen – Frauen in Schutz bot. Man hat ihn abgebrannt, weil sei kein gutes Vorbild für die Jüngeren,
der Bundespolizei man dachte, man könne Mais anpflanzen. sagt ein anderer. Zwei Frauen tuscheln lei-
Aber der Boden ist zu steinig, um Land- se, vielleicht sei der Junge auch verflucht.
wirtschaft zu betreiben. Und seit der Wald Dann gehen sie schlafen.
weg ist, sind auch die Brunnen ausgetrock- »Ich fühle mich wie ein Fremder«, sagt
net. Deswegen sollte Diallo Geld für eine Diallo nur. Und doch versteht er sie. Denn
Mangoplantage beschaffen. Mangos wach- so ist es immer gewesen. Die Jungen zie-
sen noch. hen los, um die Alten zu versorgen. Darin
Die runden Hütten liegen versprengt am ist er gescheitert. »Das ist«, sagt er, »mein
Hang. Sechs eckige Häuser gibt es. »Richti- Fehler.«
ge Häuser«, sagen die Dorfbewohner. Weil Der Traum der Migranten ist nicht nur
sie aussehen, wie Häuser in Europa ausse- ihr eigener. Es ist der Traum einer ganzen
hen, zumindest glauben sie das hier. Be- Gemeinschaft, dem sie sich fügen müssen,
SPIEGEL TV
zahlt von Männern, die in Europa oder den für den sie aufbrechen.
USA gearbeitet haben. Am nächsten Mittag packt Diallo seinen
Polizeischülerinnen Alexandra, Eda Es ist ein Dorf, so abgelegen und arm, Rucksack und steigt in den Wagen, der
dass man die Armut nicht sofort sieht, weil wieder hinunter in die Ebene fährt.
Rund ein Drittel aller Polizeischüler der Kontrast fehlt, in dem sie sich spiegeln Diallo fährt nach Conakry, in die Haupt-
in Neustrelitz sind Frauen. Zwei könnte. An einem Hang hinter schulterho- stadt. Geld beschaffen. Irgendwie. Er muss
von ihnen sind Alexandra und Eda. hen, von der Sonne verdorrten Gräsern liegt wieder los. Nach Europa. Denn die Träu-
Ihr Alltag wird von Gebrüll, Gelände- die Hütte der Mutter im Schatten eines Man- me der anderen sind schwer zu erfüllen.
läufen und Liegestützen bestimmt. gobaums. Diallo läuft hinauf. Erst langsam,
»Das Land hat genug men, ist Erdoğans Macht ernsthaft ge-
fährdet.
Das Interview mit dem SPIEGEL wurde
schriftlich geführt, Demirtaş beantwortete
AP
Inhaftierter Demirtaş: »Zweimal am Tag gibt es Essen, ansonsten lese und schreibe ich«
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Ausland
frei. Das Schreiben und das Lesen helfen Demirtaş: Sie sind höflich. Sie halten sich hindern. Das wäre ein weiterer Justiz-
mir dabei, die Haft erträglich zu machen. an die Regeln. skandal.
SPIEGEL: Können Sie uns Ihren Alltag im SPIEGEL: Wer sind die Menschen, die mit SPIEGEL: Über 3000 HDP-Mitglieder sit-
Gefängnis schildern? Ihnen im Gefängnis sitzen? zen im Gefängnis. Ist Ihre Partei überhaupt
Demirtaş: Ich sitze beinahe den gesamten Demirtaş: Es sind gewöhnliche Kriminelle in der Lage, Wahlkampf zu betreiben?
Tag in meiner Zelle. Zweimal am Tag gibt und politische Gefangene, Linke wie Rech- Demirtaş: Der Druck auf meine Partei ist
es Essen, morgens und abends. Ansonsten te. Aber es ist mir verboten, auch nur Sicht- groß. Aber unsere Basis ist nach wie vor
lese und schreibe ich. kontakt zu ihnen aufzunehmen. entschlossen und mutig. Mit der Hilfe von
SPIEGEL: Wie sieht Ihre Zelle aus? SPIEGEL: Sie haben im Februar Ihr Amt Freiwilligen werden wir bestens aufgestellt
Demirtaş: Es ist ein hässlicher, zwei- als Parteichef niedergelegt und wollten die in diese Wahlen gehen.
stöckiger Raum, fünf mal sechs Meter Politik eigentlich ruhen lassen. Nun treten SPIEGEL: Präsident Recep Tayyip Erdoğan
groß. Oben sind die Betten, unten sind Sie aus dem Gefängnis heraus bei der Prä- liegt in den meisten Umfragen vorn. Was
die Toilette und die Dusche. Außerdem sidentschaftswahl an. Warum? gibt Ihnen Hoffnung, dass ein Regierungs-
gibt es einen winzigen Hof, umschlossen Demirtaş: Meine Partei hat mich gebeten wechsel möglich ist?
von hohen Betonwänden und Stachel- zu kandidieren. Und ich habe immer ge- Demirtaş: Das Land hat genug von Erdo-
draht. sagt, dass ich zur Stelle bin, wenn meine ğan. Das ist überall zu spüren. Bei dieser
SPIEGEL: Dürfen Sie Besuch empfangen? Partei und mein Volk mich brauchen. Ich Wahl werden die Menschen sagen: »Es
Demirtaş: Ich darf meine Familie einmal habe den Kampf nie aufgegeben. reicht.«
die Woche für eine Stunde durch eine Glas- SPIEGEL: Wie halten Sie Kontakt zur HDP? SPIEGEL: Der Krieg der Türkei in Afrin
scheibe hindurch sehen. Einmal im Monat Demirtaş: Sporadisch über meine Anwälte. hat den Graben zwischen Türken und
Kurden weiter vertieft. Was ant-
worten Sie jungen Kurden, die
sagen, die Politik ist nicht in der
Lage, unsere Probleme zu lösen?
Demirtaş: Verliert eure Hoff-
nung nicht. Wir werden unseren
Kampf mit friedlichen Mitteln
fortsetzen, so wie wir das immer
getan haben. Das ist unser
Prinzip.
SPIEGEL: Was empfinden Sie an-
gesichts der Schikanen gegen
Ihre Partei? Ohnmacht? Wut?
Verzweiflung?
Demirtaş: Die Regierung ist ver-
zweifelt, nicht wir sind es. Das
zeigt sich an der Art und Weise,
wie sie gegen uns vorgeht. Wir
CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES
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tatsächlich auf der Bühne erschien. Die
Szene war eine Mischung aus Zirkusvor-
stellung und Fernsehshow – und die Art
der Aufführung erklärt vieles.
Die Aktion – noch bizarrer als James
Bonds vorgetäuschter Tod in »Man lebt nur
zweimal« – schlug deshalb so hart ein, weil
die Todesmeldung so viele Menschen scho-
ckiert hatte. Der Verdacht, der russische Ge-
heimdienst habe mal wieder einen Kreml-
gegner umgebracht, lag nahe.
Babtschenko sei an der Schwelle seiner
Wohnung durch drei Schüsse niederge-
streckt worden und auf dem Weg ins Kran-
kenhaus verstorben, hieß es zuerst. Bald
darauf veröffentlichte der ukrainische Ge-
heimdienst eine Phantomzeichnung, die
einen Kaukasier als mutmaßlichen Mörder
zeigte. Seine Auftraggeber seien »in Russ-
land« zu suchen, so der Dienst.
Magische Momente
SPIEGEL: 1999 gewann Stef- SPIEGEL: Hingis brachte die Zuschauer wie ein Kind, dem man das Lieblingsspiel-
fi Graf mit Ihnen als Trai- bei 6:4 und 2:0 gegen sich auf. zeug wegnimmt.
ner zum sechsten und letz- Günthardt: Sie wollte nicht wahrhaben, SPIEGEL: Graf gewann den dritten Satz
ten Mal die French Open. dass ein Ball Aus gegeben wurde. Sie mit 6:2, und Hingis verließ noch vor der
Sie sagte, dass es der wun- diskutierte mit der Schiedsrichterin, zeig- Siegerehrung den Platz.
dervollste Moment ihrer te auf einen Abdruck und bekam sich Günthardt: Sie konnte mit der Situation
Karriere gewesen sei. Warum? überhaupt nicht mehr ein. Das Publikum nicht umgehen. Kinder laufen manchmal
Günthardt: Weil sie mit diesem Erfolg mochte Steffi und pfiff Martina nieder. hilflos in eine Ecke und schmollen – hier
PUBLIC ADDRESS / ULLSTEIN BILD
nicht mehr gerechnet hatte. Nach einer SPIEGEL: Hingis wirkte frustriert. Sie schaute dabei die ganze Welt zu.
Knieoperation 1997 konnte sie acht schlug sogar zweimal von unten auf, um SPIEGEL: Konnte Graf diesen letzten gro-
Monate lang nicht spielen. Es war unklar, Graf aus dem Rhythmus zu bringen. ßen Triumph genießen?
ob sie in die Weltspitze zurückkehrt. Günthardt: Sie handelte aus der Emotion Günthardt: Ja, als sie jung war, folgte Sieg
SPIEGEL: In Paris traf Graf auf Martina heraus. Als sie merkte, dass sie die Kon- auf Sieg. Wenn Siege aber normal sind,
Hingis – ihre damals 18-jährige Nachfolge- trolle über das Spiel verlor, fühlte sie sich werden sie weniger intensiv wahrgenom-
rin als Nummer eins der Welt. men. Rückschläge sind wichtig, denn erst
Günthardt: Es wurde als Duell der Gene- durch sie weiß man zu schätzen, was man
rationen aufgebauscht. Steffi ist schließ- wirklich geleistet hat.
lich elf Jahre älter als Martina, und man- SPIEGEL: Wie haben Sie gefeiert?
che meinten, Steffis Tennis sei unmodern. Günthardt: Als uns der Chauffeur von
SPIEGEL: Welche Szenen des Endspiels der Anlage ins Hotel fuhr, drehten
sind Ihnen in Erinnerung geblieben? wir erst mal sechs Runden um den Tri-
Günthardt: Es war ein extrem enges umphbogen. Einfach so – vor Freude.
IMAGO SPORT
Match. Martina fehlten im zweiten Satz Für Tennis war ausnahmsweise kein
nur wenige Punkte zum Sieg – und dann Platz im Kopf. Wir haben die Nacht in
natürlich diese unglaubliche, energiegela- irgendeinem Laden durchgetanzt.
dene Atmosphäre auf dem Court Central. Hingis, Graf 1999 in Paris Es war wunderbar. PK
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Sport
Kahn, 48, gilt als einer der besten deut- ler nach so einem Fiasko nicht mehr ihr
schen Torhüter der Geschichte. Mit Bayern höchstes Niveau erreicht haben. Anderer-
München gewann er die Champions seits haben wir zum Beispiel Bastian
League und den Weltpokal, mit der Natio- Schweinsteiger gesehen, der im Cham-
nalmannschaft verlor er 2002 das WM- pions-League-Finale 2012 gegen Chelsea
Finale gegen Brasilien. Heute arbeitet den entscheidenden Elfmeter verschossen
Kahn als TV-Experte und Unternehmer, hat. Was wurde damals für eine Häme
seine Firma Goalplay unterstützt weltweit über ihn ausgeschüttet. Ein Jahr später
Torwarttrainer. wurde er Champions-League-Sieger und
2014 Weltmeister, weil er die richtigen
SPIEGEL: Herr Kahn, das Champions- Schlüsse gezogen hat. Ich wünsche Loris
League-Finale vergangene Woche hat Karius, dass es ihm gelingt, ähnlich ge-
Kahn: Das hat schon eine gute Saison ge- SPIEGEL: Letztendlich kann aber nur er Kahn: Manuel ist viel weiter als ich damals.
dauert, bis ich das zu den Akten legen einschätzen, ob er das leisten kann, oder? Er ist sehr erfahren, deshalb ist es durchaus
konnte. Irgendwann habe ich realisiert: Kahn: Er ist überzeugt, dass er das kann. möglich, dass ihm die Spiele in der Vor-
Fußball ist kein Einzelsport, in dem ein Ob er wirklich in den entscheidenden Mo- runde ausreichen, um in der K.-o.-Phase
Spieler für Sieg und Niederlage verant- menten auf allerhöchstem Niveau spielen das optimale Level zu erreichen.
wortlich ist. Wir hätten dieses Finale ja kann, wird sich zeigen. Dort geht es um SPIEGEL: Können Sie nachvollziehen, dass
auch 4:2 gewinnen können. Wer im Fuß- Millimeter, um Sekundenbruchteile, ob Löw sagt: Neuer ist Nummer eins, oder er
ball den einen Schuldigen für eine Nieder- ein Ball im Tor landet oder nicht. Es ist kommt gar nicht mit?
lage sucht, hat das Wesen dieses Sports klar, wenn es nicht funktioniert, dann hat Kahn: Das kann ich nachvollziehen. Denn
nicht verstanden. sich keiner einen Gefallen getan, weder Nummer zwei hieße ja, dass er nicht abso-
SPIEGEL: Die Klubsaison ist nach dem Jogi Löw noch Manuel Neuer. Jeder ist lut fit wäre und immer noch Probleme hat.
Champions-League-Finale vorbei, alles sich dieses Risikos bewusst. Was soll er dann bei einer WM? Dann hätte
richtet sich auf die Weltmeisterschaft. Ma- SPIEGEL: Sie selbst haben sich bei Bayern die weitere Behandlung zu Hause Priorität.
nuel Neuer will nach acht Monaten Ver- das Kreuzband gerissen und standen nach SPIEGEL: Wie ist das wohl gerade für Marc-
letzungspause mit zur WM. Geht das? dreieinhalb Monaten schon wieder im André ter Stegen?
Kahn: Bei keinem anderen Spieler hätte Trainingsspiel zwischen den Pfosten. Kahn: Das ist keine leichte Situation für
man daran gedacht, ihn ohne jede Kahn: Unser damaliger Masseur Fredi Bin- ihn. Er muss so trainieren, als wäre er die
Spielpraxis mitzunehmen. Manuel hat der stand draußen und hat nur den Kopf Nummer eins, muss dann aber mit der Ent-
bei Welt- und Europameisterschaften im- geschüttelt. Das war natürlich viel zu früh täuschung leben, wenn er nicht spielt.
mer Topleistungen gezeigt. Er ist der für so eine Belastung. SPIEGEL: Entscheidet sich an der Torwart-
Kapitän. Er hat sich dieses Vertrauen er- SPIEGEL: Glauben Sie, dass Neuer sich bes- frage das Schicksal der deutschen Mann-
arbeitet. ser einschätzt? schaft bei der WM?
89
Kahn: Es sind starke Veränderungen zu
spüren. Mohammed bin Salman, der Kron-
prinz, möchte seine Vision bis 2030 Schritt
für Schritt umsetzen und das Land wei-
terentwickeln. Dazu gehört auch der Fuß-
ball.
SPIEGEL: Der Sport ist also ein Instrument
der Politik?
Kahn: Den zahlreichen Aktivitäten liegt
ein Masterplan zugrunde, der das Land
unabhängiger vom Öl machen soll. Aber
die Leidenschaft für Fußball ist spürbar.
Beim saudischen Pokalfinale vor drei
Wochen waren 60 000 Zuschauer, da gab
es eine Lasershow, so etwas habe ich
noch nicht gesehen. Die ganze Zuschauer-
Multikulti
haupten. Mit 15 wechselte er in die Nach- ren. Aber er spielt seit Jahren bei Borussia
wuchsakademie Borussia Dortmunds. Dortmund. Draxler trainierte in der letz-
Dort sagte ein Trainer, er werde es niemals ten Saison jeden Tag mit Neymar. Da neh-
in den Profifußball schaffen. Drei Jahre me man schon die »eine oder andere wich-
Nationalelf Wie Joachim Löw später machte Rüdiger sein erstes Bundes- tige Erfahrung« mit, meint Löw.
ligaspiel für den VfB Stuttgart. Es ist schwer zu sagen, mit welchem
im Vorbereitungslager eine 2015 zog er weiter zum AS Rom, er Team der Trainer in Russland auflaufen
Mannschaft aus internationalen wollte sich taktisch verbessen, und nir- wird, aber egal, wie die Zusammenstellung
Spielstilen formt gendwo wird so viel Wert auf Taktik gelegt ausfällt, das Mittelfeld wird sich zusammen-
wie in Italien. »Rom war gut«, sagt Rüdi- setzen aus Spielstilen verschiedener Ligen.
ger, die emotionalen Fans, das Essen, das Draxler spielt in Frankreich, Thomas Mül-
91
Sport
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www.dva.de
Wissenschaft+Technik
»Ich bin sofort losgesprintet, durch alle Zimmer, und habe gerufen: ›Nicht die Tabletten schlucken!‹« ‣ S. 102
Verhaltensforschung
Umwelt Plymouth jetzt nachgewiesen haben: ten Dasein giftig. Studienleiter Andrew
Elektroschrott im Essen Schädliche Substanzen wie Brom, Anti-
mon und Blei schleichen sich in Lebens-
Turner untersuchte mehr als 600 Kunst-
stoffprodukte, die unter anderem mit Klei-
Während es durchaus zu begrüßen ist, mittelverpackungen, weil Kunststoffher- dung und Nahrungsmitteln in Berührung
dass Elektroschrott via Recycling neuen steller aufgearbeiteten Elektroschrott für kommen, und stieß dabei auf die gefähr-
Verwendungen zugeführt wird, sollte er ihre Produkte nutzen. So wirken Stoffe, lichen Substanzen. In früheren Arbeiten
nicht in toxischer Form im Abendbrot lan- die einst nützlich waren – Bromverbin- hatte der Umweltwissenschaftler bereits
den. Doch genau dies geschieht offenbar, dungen etwa mindern die Entflammbar- Kadmium in Trinkgefäßen und Sicher-
wie Wissenschaftler der Universität von keit von Gerätegehäusen –, in ihrem zwei- heitsmängel an Spielwaren entdeckt. CW
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drei Großstädte in drei verschiedenen tungssanitäter und Bestatter können
Ländern gelangen könnte, darunter in die durch die Impfung geschützt werden. Das
Megacity Kinshasa. Im schlimmsten Fall schenkt den Menschen echte Hoffnung –
würde sich das Virus dort unkontrolliert ein riesiger Unterschied zu der tiefen Re-
ausbreiten. Und drittens gibt es in der signation, die während der letzten großen
Demokratischen Republik Kongo rund Ebola-Epidemie in den betroffenen Gebie-
HORST A. FRIEDRICHS
fünf Millionen Vertriebene und Flücht- ten herrschte.
linge, was Aufklärungskampagnen über SPIEGEL: Kann der Ebola-Ausbruch in
Ebola und das Auffinden möglichst aller der Demokratischen Republik Kongo
Kontaktpersonen von Erkrankten sehr trotzdem noch außer Kontrolle geraten?
erschweren könnte. Farrar: In den nächsten zwei bis vier Wo-
SPIEGEL: Der Wellcome Trust hat die Ent- chen werden wir mehr wissen. Wenn die
Medizin wicklung des Ebola-Impfstoffs, der jetzt Zahl der Fälle in den Städten steigt und die
zum Einsatz kommt, mitfinanziert, Sie Infektionsketten unübersichtlich werden,
»Die Impfung schenkt den selbst haben gemeinsam mit anderen den ist das besorgniserregend – wenn das nicht
Menschen Hoffnung« Anstoß für dieses Großvorhaben gegeben. passiert, ist die Chance groß, dass wir den
Zahlt sich das jetzt aus? Ausbruch bald stoppen können. VH
Jeremy Farrar, 56, Direktor des Wellcome Farrar: Absolut, es ist ein
Trust, der zweitgrößten Stiftung der riesiger Schritt nach vorn.
Welt zur Unterstützung der medizinischen Zwar ist die Impfung nur
Forschung, über den aktuellen Ebola- eine Maßnahme von vielen.
Ausbruch in der Demokratischen Republik Genauso wichtig ist es, die
Kongo Kranken zu isolieren und
zu behandeln, die Toten
SPIEGEL: Die Demokratische Republik sicher zu beerdigen und die
Kongo hat in den vergangenen Jahren Kontaktpersonen der In-
mehrere Ebola-Ausbrüche recht schnell fizierten zu finden. Aber
wieder in den Griff bekommen. Was ist statt nur abzuwarten und
diesmal anders? zu sagen, »wir können
Farrar: Mich beunruhigen drei Dinge: nichts für Sie tun«, ist es
erstens, dass das Virus jenem Ebola-Virus uns jetzt möglich, den
Einwurf
Mancherorts versiegten die Brunnen. Auf den Feldern verdorrte ist es an einem anderen kalt – machen Tiefdruckgebiete im
der Weizen. Seit mehr als hundert Jahren gab es in Norddeutsch- westlichen Mittelmeerraum dann Schietwetter. So verzeichnete
land keine solche Dürre. Im Süden dagegen kam es zu heftigen Spanien in diesem Jahr einen total verregneten April – schon
Gewittern und Überschwemmungen. Die Bauern klagten, wie deshalb ist es absurd, die Frühjahrshitze in Deutschland auf den
immer, aber die meisten Menschen genossen den Sommer im Klimawandel zurückzuführen; wer so daherredet, liefert nur
Mai – so geschehen 1992. denjenigen eine Vorlage, die vom Treibhauseffekt nichts wissen
Ein mediterranes Frühjahr haben die Deutschen schon häu- wollen.
figer erlebt und auch in diesem Jahr wieder. Ursache war stets Intellektuell dürftig argumentiert beispielsweise Greenpeace.
eine für diese Jahreszeit besondere Großwetterlage, die sich alle »Die Temperatur im April lag im Schnitt 5 Grad über dem
paar Jahre einstellt. Was sich an dem Phänomen exemplarisch Referenzwert. Es ist Zeit, etwas gegen die Klimaerhitzung zu
zeigt: Für die Temperatur gibt es keine Obergrenze, die verhin- tun«, twitterten die Umweltaktivisten. Der Meteorologe Jörg
dern würde, dass es im Mai schon so heiß wird wie im August. Kachelmann, Kolumnist auf SPIEGEL+, kommentiert das so:
Ist das alles noch normal? Aber sicher. Es kommt nicht auf den »Die Rosstäuscher von Greenpeace vergleichen einen extremen
Kalender an, sondern darauf, woher die Luftmassen jeweils Monat von heute mit dem Durchschnitt von früher und tun so,
stammen. als ob es früher keine Ausreißer gab. Ja, es gibt den Klimawan-
Zum Mai-Sommer kommt es bei uns, wenn sich über Skan- del, aber so ein Unfug schadet der Sache.«
dinavien ein kräftiges Hochdruckgebiet bildet, das sich wochen- Schon vergessen, Greenpeace? Schüler hatten hitzefrei, Frei-
lang nicht von der Stelle rührt. Das Hoch lenkt sodann fort- bäder öffneten vorzeitig, in vielen Geschäften waren Bikinis
während heiße Luft aus dem Südosten nach Mitteleuropa. Und ausverkauft – im hochsommerlichen April 1968, als von globaler
nach der alten Meteorologenregel – ist es an einem Ort warm, Erwärmung noch keine Rede war. Olaf Stampf
BuzzFeed-Video
96
Wissenschaft
V
on der Nummer eins in den USA Echokammer liefern, sollen demnach nur des Faktischen bis heute immer wieder in-
hält er nichts, und er macht der Anfang der Manipulation gewesen frage stellt.
daraus keinen Hehl: »Präsident sein. Was nun angeblich droht, ist die Per- Der US-Präsident hat den idealen Nähr-
Trump ist ein totaler und kom- fektionierung der Lügenmanufaktur. boden für Technologien geschaffen, die
pletter Vollidiot.« »Es ist ein historischer Glücksfall, dass die Wirklichkeit manipulieren. Gleichzei-
Der Mann, der diese Worte sagt, sitzt wir uns bisher auf Videos als Tatsachen- tig wird die »erweiterte Realität« zum
in seinem Büro, rechts hinter sich die ame- beweise verlassen konnten.« So umriss der Trend in den Softwarefirmen des Silicon
rikanische Flagge, und blickt staatstragend Google-Experte für künstliche Intelligenz, Valley. Zumeist kommt die neue, aufge-
in die Kamera. Er sieht exakt aus wie Ba- Ian Goodfellow, die Zeitenwende im No- peppte Wirklichkeit noch ganz unschuldig
rack Obama. Er hat die Stimme Obamas. vember auf einer Tagung des Massachu- daher, etwa mit den Fotofiltern von Apps
Selbst sein Sprachrhythmus gleicht dem setts Institute of Technology. wie Snapchat. Die logische Fortschreibung
des ehemaligen US-Präsidenten. Es muss Und der Technologe Aviv Ovadya vom ist die rundum neu produzierte Illusion,
Obama sein. Center for Social Media Responsibility der die Manipulation der Wirklichkeit.
Doch Barack Obama hat dies nie gesagt, University of Michigan fragt: »Was ge- Im Herbst 2017 tauchte beim Internet-
zumindest nicht öffentlich. schieht, wenn jeder jedes Ereignis überzeu- portal Reddit ein Pornovideo auf. Es zeigt
Wer in diesem Video wirklich spricht, gend simulieren kann, egal ob es stattge- die israelische Schauspielerin Gal Gadot
ist der US-Schauspieler Jordan Peele, ein funden hat oder nicht?« Immer einfacher beim Sex. Allein, die Schauspielerin war
talentierter Obama-Darsteller. Eine Soft- werde es, Audio- und Videoinhalte zu ver- gar nicht aktiv. Ein Reddit-Nutzer mit dem
ware namens FakeApp hat Peeles Mund- fälschen, von dem Szenario »Ein Weltfüh- Pseudonym »deepfakes« hatte Gadots Ge-
partie mit einem Video des echten Obama rer befehligt einen Atomschlag« bis hin zur sicht in den Porno montiert.
verschmolzen. 56 Stunden dauerte die Pro- Der Programmierer nutzte das Maschi-
duktion des kurzen Films. Dann formulier- nenlernsystem TensorFlow für den digita-
ten die geliehenen Lippen auf gruselig au- Ob Angelina Jolie oder len Gesichtstransfer, ein von Google für
thentische Weise Peeles Appell an die Welt. Taylor Swift, sie alle die Forschung freigegebenes Werkzeug
»Wir leben in gefährlichen Zeiten«, der künstlichen Intelligenz (KI).
warnt der falsche Obama im echten. »Es räkeln sich nun ungewollt Heute, nur rund ein halbes Jahr später,
beginnt eine Ära, in der unsere Feinde je- in Hardcore-Filmen. kann jeder mit ein bisschen Mühe Gesich-
den jederzeit alles sagen lassen können, ter in Videos austauschen. Angelina Jolie,
was sie wollen – ohne dass es je wirklich Natalie Portman, Taylor Swift, sie alle
gesagt wurde.« »Simulation der Stimme des eigenen Part- räkeln sich nun ungewollt in Hardcore-Fil-
Das Video, kürzlich veröffentlicht vom ners, der am Telefon nach dem Bankpass- men, mit Körpern, die eigentlich Porno-
Internetmedium BuzzFeed, ist das bislang wort fragt«. darstellerinnen gehören. Hobbyprogram-
überzeugendste Beispiel einer Fake News Eine »Infokalypse« drohe, der Verlust mierer nutzen den Gesichtertausch zudem,
der zweiten Generation. der vertrauten Medien- und Kommunika- um sich selbst, Freunde oder Partner in
Kaum haben sich die Algorithmen so- tionsstrukturen, sagt Ovadya. »Die Werk- Szenen aus Hollywood-Blockbustern zu
zialer Netzwerke wie Facebook oder Twit- zeuge und die Motivation, Falschmeldun- versetzen, das ultimative Geburtstags-
ter als Verstärker von Propaganda und gen in die Welt zu setzen, sind längst vor- geschenk technikversierter Millennials.
Desinformation entpuppt, warnen Exper- handen.« Nun sei die ultimative Eskalation Möglich macht dies die frei im Internet
ten vor dem perfekten digitalen Schwindel: der Schwindelei in Sichtweite: »die Ver- verfügbare Software FakeApp, mit der
der überzeugenden Verfälschung von Ton- zerrung der Realität selbst«. auch BuzzFeed den falschen Obama er-
und Videoaufnahmen. Gut anderthalb Jahre ist es her, dass der zeugt hat. Das Programm erleichtert die
Die Schwarzseher entwerfen ein verstö- Welt erstmals klar wurde, wie das Internet Herstellung der im Netzjargon inzwischen
rendes Bild der kommenden Jahrzehnte. das Geschäft mit Wahrheit und Lüge ver- »Deepfakes« genannten Videos.
Sie skizzieren eine Welt, in der manipu- ändert. Russlands Mühen, die US-Präsi- FakeApp setzt selbst lernende Algorith-
lierte Videos falsche Erinnerungen erzeu- dentschaftswahlen zu beeinflussen, sind men ein, die in der Lage sind, ihre Ergeb-
gen und politische Konflikte oder gar Krie- immer noch nicht gänzlich aufgeklärt. nisse fortlaufend ohne menschlichen Ein-
ge auslösen könnten, kurz: in der man den Doch auf Twitter allein betrieb die Sankt griff zu optimieren. Wird die Software mit
eigenen Augen und Ohren nicht mehr trau- Petersburger Trollfabrik Internet Research Bildern zweier Personen gefüttert, ent-
en kann. Diese Zukunft soll eine ganze Agency 3814 Accounts. Die Propaganda- wickelt sie eigenständig Modelle beider
Palette leicht zu bedienender Software- Tweets erreichten mindestens 1,4 Millio- Gesichter. Dann kann das Programm das
Werkzeuge bereithalten, die es jedermann nen US-Bürger. Gesicht der einen Person auf den Körper
ermöglichen, die Wirklichkeit mit verblüf- 2017 war dann das Jahr, in dem »alter- der anderen montieren.
fender Präzision zu verfälschen. native Fakten« hoffähig wurden, befördert Die Ergebnisse sind bereits verblüffend
Twitter-Bots und Facebook-Trolle, die von Donald Trump, der »Fake News« zum authentisch. Und KI-Forscher lassen kei-
jedem Nutzer seine maßgeschneiderte Kampfbegriff machte und die Beweiskraft nen Zweifel daran, dass es in Zukunft noch
einfacher werden wird, Videos überzeu- sche im Restaurant reservieren oder Fri- Weise eingesetzt werden könnten. Er
gend zu manipulieren. »Man muss sich seurtermine abmachen, selbstständig über fürchtet allein durch künstliche Intelligenz
einfach klar sein, dass Videos wie auch Bil- das Telefon. ausgeführte politische Kampagnen, die
der nichts anderes als Bits sind, die man Sogar lebensecht wirkende Pausen sich nicht mehr von den Graswurzelbewe-
editieren kann«, sagt der Informatiker oder Laute wie »mmmh« fügt Duplex in gungen echter Menschen unterscheiden
Matthias Nießner von der Technischen seine Anrufe ein. Bei der Präsentation lassen. Selbst die direkte »Manipulation
Universität München, »und der Aufwand des Programms spielten die Google-Ent- der Diplomatie« hält Ovadya für möglich,
dafür wird noch geringer werden.« wickler zwei solche Telefonate vor. An etwa indem interessierte Kreise »den Glau-
Nießner ist Professor für Visual Com- keiner Stelle informierte die Software den ben erzeugen, ein Ereignis habe statt-
puting. Der 32-Jährige KI-Experte würde Gesprächspartner darüber, dass sie kein gefunden«.
ein Mehrfaches seines Gehalts in der frei- Mensch ist. Schon ein Film, in dem Angela Merkel
en Wirtschaft verdienen. Doch er bleibt Das Programm löste Begeisterung, etwas Kompromittierendes über den tür-
der öffentlichen Forschung treu, auch weil gleichzeitig jedoch auch Befremden aus. kischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo-
er es wichtig findet, über seine Arbeit Eine Software zu entwickeln, die »vorgibt, ğan sagt, könnte schlimmste diploma-
aufzuklären. menschlich zu sein« und Menschen tische Verheerungen anrichten. Und was
»In der Filmbranche gibt es Videomani- »täuscht«, sei »entsetzlich«, twitterte die erst, wenn ein gefälschtes Video auftauch-
pulationen schon sehr lange«, sagt Nieß- Soziologin Zeynep Tufekci von der Uni- te, in dem Nordkoreas Führer Kim Jong
ner. Ständig würden für Spielfilme wie versity of North Carolina. Das Silicon Val- Un den Abschuss von Nuklearraketen ge-
etwa James Camerons »Avatar« verblüf- ley sei »ethisch verloren«. gen die USA ankündigt? Würde Donald
fend reale Bilder generiert. Der Aufwand Tatsächlich stellt sich die Frage, wie weit Trump mit einem Gegenschlag warten, bis
sei dabei jedoch extrem hoch. die Softwareentwickler bei ihren Täu- sein Stab die Echtheit des Videos zweifels-
»Wir erforschen, wie es auch einfacher schungen gehen dürfen. Denn wenn nicht frei bestätigt?
geht«, sagt Nießner. Zusammen mit seinen mehr echt ist, was echt erscheint, was lässt Was geschieht mit der Gesellschaft,
Kollegen hat er verblüffende Verfahren er- sich dann überhaupt noch glauben? wenn sie von immer perfekteren Fake
sonnen, um Gesichter und inzwischen so- Bislang gelten Audio- und Videoaufnah- News durchsetzt wird? Zwei Szenarien
gar ganze Oberkörper in Videos nach Gut- men den meisten Menschen als authen- seien denkbar, glaubt Ovadya. Und sie
dünken zu manipulieren. tisch, zumindest dann, wenn sie unge- sind gleichermaßen beunruhigend, denn
Wie das funktioniert, zeigt Nießner in schnitten sind oder live gesendet werden. beide gefährden die Demokratie.
seinem Büro an der Fakultät für Informa- Skandale haben immer noch vor allem »Entweder die Menschen werden es
tik in Garching. Auf seinem Computer ruft dann Wucht, wenn O-Töne oder Filmauf- aufgeben, die Nachrichten zu verfolgen«,
er ein Video auf, das den russischen Präsi- nahmen vorliegen. Ab jetzt aber wachsen sagt der Medienexperte. »Realitätsapa-
denten Wladimir Putin bei einer Neujahrs- mit jedem Fake-Video und jeder verfälsch- thie« nennt Ovadya dieses Szenario. Bom-
ansprache zeigt. Gleichzeitig filmt er sich bardiert mit Falschmeldungen, werde die
selbst mit einer einfachen Webcam. Gesellschaft beginnen, Nachrichten und
Dann vollbringt die Software Face2Face »Es ist sehr einfach, Fakten grundsätzlich infrage zu stellen.
ihr Zauberwerk: Lacht Nießner, lacht auch den Leuten etwas als »Oder die Menschen werden, noch
Putin. Zieht Nießner die Augenbrauen mehr als heute schon, nur noch das wahr-
hoch, tut es ihm Putin gleich. Der russische wahr zu verkaufen, nehmen, was ihren Überzeugungen ent-
Präsident ist die Marionette des Informa- das gar nicht wahr ist.« spricht«, so lautet Ovadyas zweite, noch
tikers. beängstigendere Variante. Was, wenn je-
Der Trick funktioniert, weil der Putin der nur noch das glaubt, was er glauben
auf Nießners Bildschirm gar nicht mehr ten Tonaufnahme beim Publikum die will? Dann hätte es die Gesellschaft plötz-
der Präsident aus dem ursprünglichen Zweifel. lich mit mehreren, sich widersprechenden
YouTube-Video ist. Stattdessen wird der Und Zweifel sind die Währung der Wirklichkeiten zu tun.
Original-Putin von einer Putin-Maske Populisten. In den USA ist bereits zu spüren, wie
überdeckt, einem perfekten 3-D-Abbild Noch im Oktober 2016 kam Donald alternative Beschreibungen der Realität
des Präsidenten. Diese Gesichtsmaske Trump nicht umhin, die Echtheit der be- eine Gesellschaft spalten. Das Problem
kann Nießner anschließend mit seiner eige- rühmt gewordenen »Grab-’em-by-the- liegt dabei auch in der Natur des Men-
nen Mimik gleichsam fernsteuern. pussy«-Tonaufnahme einzuräumen und schen: Die Forschung zeigt, dass Erinne-
Noch ist Nießners Putin stumm. Doch sich öffentlich für seine obszönen Bemer- rungen über die Zeit zu Gewissheiten
es wäre ein Leichtes, ihm glaubhaft Worte kungen über Frauen zu entschuldigen. In- werden, ganz gleich, ob sie anfangs noch
in den Mund zu legen. Denn auch Pro- zwischen weist er die Urheberschaft zu- mit Zweifeln behaftet waren oder nicht.
gramme zur Manipulation und Kreation rück: »Wir glauben nicht, dass das meine Für Videos gilt das im Besonderen. Das
von Sprache werden längst entworfen. Stimme war«, wird er zitiert. menschliche Gehirn verfügt nur be-
Die Firma Adobe präsentierte schon Oder Emma González, Überlebende schränkt über Mechanismen, einmal Ge-
2016 die Stimmenanalyse-Software VoCo. des Amoklaufs an der Schule in Parkland sehenes gleichsam ungesehen zu machen.
20 Minuten Sprachmaterial reichen dem im US-Bundesstaat Florida: Die Schülerin »Es ist sehr einfach, den Leuten etwas
Programm angeblich aus, um Charakteris- mit dem Stoppelhaarschnitt wurde zur als wahr zu verkaufen, das gar nicht wahr
tika einer beliebigen Stimme komplett zu Ikone des Protestes gegen die US-Waffen- ist«, sagt Ovadya. Auf gewisse Weise han-
erfassen. Über ein simples Texteingabefeld gesetze. Nun geistert ein kurzes Video dele es sich dabei »um eine Sicherheits-
kann der Nutzer diese Stimme dann alles durch soziale Netzwerke, in dem die lücke des Menschen«. Schon bald würden
sagen lassen, was er will. 18-Jährige die US-Verfassung zerreißt. Ein die KI-Werkzeuge der Wirklichkeitsfäl-
Und auch Internetgigant Google mischt Fake: Im Original zerreißt sie eine Ziel- schung für jedermann nutzbar sein, warnt
bei der Entwicklung von Sprachsystemen scheibe. Unbekannte veränderten das der Technologe. Auf die Gesellschaft kön-
mit. Gerade hat die Firma einen neuen Video, um González zu diskreditieren. ne das »extrem destabilisierend« wirken.
Sprachassistenten vorgestellt. Duplex kann Der Technologe Ovadya erwartet, dass Droht also der Kollaps der Realität? Könn-
mit verblüffend menschlicher Stimme Ti- Fake-Videos künftig weit häufiger auf diese ten Fake News, geboren aus künstlicher In-
Video
Der falsche Obama
spiegel.de/sp232018fake
Schülerin González mit Zielscheibe (Originalvideo), mit US-Verfassung (Fälschung) oder in der App DER SPIEGEL
Was, wenn jeder nur noch das glaubt, was er glauben will?
99
Wissenschaft
eine Woche an Bord der vergleichbare Zwischenfälle? größte propagandistische Erfolg der DDR.
sowjetischen Raumstation Jähn: Nein, wir haben keine brenzlige Si- Jähn: Die Jubelberichterstattung war aber
Saljut 6. Nach seiner Rück- tuation erlebt. Aber der Kommandant keine Musik in meinen Ohren, zum Volks-
kehr wurde der Offizier Wladimir Kowaljonok war trotzdem ein helden wollte ich mich nicht machen lassen.
der DDR-Luftstreitkräfte Typ, der sagte, so wird’s gemacht, auch Es war nie meine Sache, große Reden zu
zum ostdeutschen Star, Straßen und Schu- bei alltäglichen Dingen. Als der Urinbehäl- halten. Im Rampenlicht zu stehen fand ich
len wurden nach ihm benannt. Heute ge- ter entsorgt werden musste, war klar: Das anstrengender als die Reise ins All.
nießt er die Abgeschiedenheit seiner Jagd- ist unsere Aufgabe. SPIEGEL: Wie kamen Sie 1976 zu der Ehre,
hütte im sächsischen Vogtland, die er nach SPIEGEL: Denken Sie noch oft an Ihre Pio- zum Kosmonautentraining ausgesucht zu
seinem Flug von der DDR geschenkt bekam. niertat? werden?
Jähn: Ich bin gezwungen, daran zu den- Jähn: Glück war auch dabei. Eines Mor-
SPIEGEL: Herr Jähn, vor 40 Jahren kreis- ken. Zu meinem Geburtstag erhalte ich gens wurde ich zum Kommandeur be-
ten Sie als erster Deutscher um die Erde. auch nach so langer Zeit noch immer Hun- fohlen. Ich dachte nur: Hast du was aus-
Was können Sie Ihrem Nachfolger Alexan- derte Briefe, viele Menschen wollen ein- gefressen? Da saßen schon viele andere
der Gerst, der in wenigen Tagen zur Inter- fach nur ein Autogramm, manche haben erfahrene Piloten. Keiner von uns wusste,
nationalen Raumstation ISS aufbricht, mit aber auch spezielle Fragen. Erst heute hat worum es ging. Dann wurde uns eröffnet,
auf den Weg geben? mich eine ältere Dame zu einem Brief be- dass die Russen einen von uns ostdeutschen
Jähn: Alexander kenne ich gut, wir haben fragt, der ihrem verstorbenen Mann ge- Fliegern mitnehmen wollten auf eine Welt-
einen persönlichen Draht zueinander.
Aber ich habe ihm keine Ratschläge zu er-
teilen; es ist ja schon sein zweiter Flug ins
All. Seinen Start werde ich wieder von Bai-
konur aus verfolgen – auch wenn das eine
beschwerliche Anreise notwendig macht.
Der kasachische Weltraumbahnhof liegt
ja nicht gerade um die Ecke.
SPIEGEL: Als erster Deutscher überhaupt
wird Alexander Gerst das Kommando auf
der ISS haben. Bisher leiteten fast nur Rus-
sen oder Amerikaner die Missionen.
Jähn: Ja, mit gutem Recht hat sich die Eu-
ropäische Raumfahrtagentur Esa, für die
Gerst startet, diesmal die Führung er-
kämpft. Schließlich haben wir auch viele
Milliarden für die Raumstation bezahlt.
SPIEGEL: Aber ist es nicht ohnehin nur
von symbolischer Bedeutung, wer das
Kommando hat?
Jähn: Keineswegs. Bei einem Notfall,
wenn schnelle Entscheidungen zu treffen
sind, sagt allein der Kommandant, wo es
langgeht – speziell wenn keine Funkver-
bindung zur Bodenstation besteht.
SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel nennen?
Jähn: Ich war 1997 im Flugleitzentrum in
Moskau, als auf der damaligen russischen
Raumstation Mir ein Feuer ausbrach. Der
russische Kommandant reagierte sofort
und gab die nötigen Befehle. Unser deut-
scher Astronaut Reinhold Ewald hat be-
sonnen reagiert und sich gut gehalten.
Nachdem der Brand gelöscht war, sagte
er: »Dann kann ich ja jetzt weitermachen
mit meinen Experimenten.« Nur der Ame-
AP
Video
Sigmund Jähns Reise
ins All
ESA
spiegel.de/sp232018jaehn
oder in der App DER SPIEGEL
Astronaut Gerst vor einer »Sojus«-Rakete: »Belastbar und nervenstark«
101
Wissenschaft
A n diesem Tag bin ich um 5.30 Uhr auf die Station gekom-
men. Eigentlich beginnt die Schicht erst um sechs Uhr,
aber die Station hat 33 Bewohner, und ohne diese zu-
sätzliche halbe Stunde ist die Arbeit nicht zu schaffen, auch
len anderen – sind Verbesserungsvorschläge nicht erwünscht.
Sicherheitslücken wie bei den Medikamenten bleiben deshalb
bestehen.
Die Betäubungsmitteltabletten, die wir selbst heraussuchen,
wenn ich diese Extrazeit nicht bezahlt bekomme. Es gibt immer kommen nicht in eigene Plastikbecher, sondern zu den anderen
nur eine examinierte Pflegekraft pro Schicht; ich bin eine davon. Tabletten dazu.
Ich arbeite Teilzeit und verdiene 1000 Euro netto im Monat. Und dabei ist mir dieser Fehler unterlaufen.
Der Computer war am Vortag ausgefallen. Statt eines über- Ich weiß bis heute nicht genau, wie das passiert ist. Wenn
sichtlichen Pflegeberichts lagen mehrere eng beschriebene Sei- die Morphiumtabletten gut sichtbar in eigene kleine Plastik-
ten auf dem Schreibtisch, auf denen viele Anweisungen für becher gelegt würden oder wenn wir zu zweit gewesen wären,
mich standen, die ich nur schwer entziffern und teilweise auch wenn zum Beispiel die Nachtschicht morgens noch bei den Be-
nicht nachvollziehen konnte. täubungsmitteln mithelfen würde, dann wäre es aufgefallen,
Ich bin sehr penibel, möchte einfach immer alles ganz genau glaube ich. Doch auch diese einfachsten Sicherheitsmaßnah-
machen. Es war also klar: Gleich, während ich die zehn Be- men gibt es nicht.
wohner, für die ich zuständig bin, im Akkord wasche, rasiere, So habe ich überhaupt nichts gemerkt. Im Nachhinein lässt
bürste und anziehe und in der Zeit schon mal Hausarztpraxen sich sagen, dass mir wohl eine hoch dosierte Morphiumtablette
und Sanitätshäuser wegen verschiedener Probleme um Rückruf für den einen Bewohner aus den Fingern geglitten sein muss
bitte, muss ich auch noch telefonisch bei der Kollegin nachfra- und in den Plastikbecher für einen anderen Bewohner hinein-
gen, die die Anweisungen geschrieben hatte. fiel. In diesem Becher waren schon etwa zehn andere Tabletten,
Ich stand also mächtig unter Druck, denn morgens beim sodass eine überzählige nicht auffiel.
Waschen komme ich ohnehin immer schnell in Verzug. Die Erst um 8.15 Uhr hat sich der Bewohner, der die Tablette
Bewohner kennen mich und wissen, dass sie mir erzählen kön- eigentlich hätte bekommen sollen, gemeldet und beschwert,
nen, was ihnen auf der Seele liegt. Ich sei mit dem Herzen da- dass sein Morphium nicht da sei. Auf der Stelle war mir klar,
bei, haben sie mir oft gesagt. dass ein schrecklicher Fehler passiert sein musste! Ich bin so-
Es macht mir etwas aus, wenn sich jemand morgens hinsetzt fort losgesprintet, durch alle Zimmer, und habe gerufen:
und den ganzen Tag nur noch vor sich hin starrt. Dann über- »Nicht die Tabletten schlucken!« Aber manche hatten sie
lege ich, was ich machen kann, um diesen Menschen aufzu- eben doch schon genommen.
muntern. Irgendeine kleine, verrückte Ich rief die Pflegedienstleitung in ihrem
Sache. Manchmal rufe ich auch die An- Büro an, die wohl schon an meiner Stim-
gehörigen an, um einen Streit zu schlich- me merkte, dass es ernst war. Wir über-
ten oder sie dazu zu bewegen, mal wie- legten, was zu tun sei, und ich rief dann
der zu Besuch zu kommen. einen der Hausärzte an. Der meinte, wir
Aber das läuft alles nebenher, die Zeit sollten die Bewohner, die das hoch dosier-
dafür musste ich mir immer sonst woher te Morphium möglicherweise geschluckt
organisieren. Meine Chefin hatte mich hatten, genau im Auge behalten. Die Be-
ohnehin schon auf dem Kieker – ich habe troffenen habe ich dann sofort informiert.
einen Kollegen verteidigt, der zwei Jahre Ein recht korpulenter und sehr lebens-
ARNDT OEHMICHEN / MAURITIUS
vor seiner Rente vom Pfleger zum Pfle- lustiger Mann, dem die hohe Morphium-
gehelfer degradiert wurde, weil ihm seine dosis wahrscheinlich nicht allzu viel hätte
Arbeit ein bisschen langsamer von der anhaben können, hat noch einen Witz
Hand ging. Dabei war er die Seele des gemacht: »Ah, Morphium, dann kriege
ganzen Betriebs. Ich habe gesagt, dass ich wenigstens mal einen ordentlichen
man so mit Menschen nicht umgehen Rausch!« Ich habe nur gedacht: Aber was,
darf. Danach wusste ich: Jetzt bin ich wenn es nicht ihn erwischt hat, sondern
102
ALEXANDRA POLINA / DER SPIEGEL
Pflegekraft Korth: »Das ist das Schrecklichste, was mir je passiert ist – wirklich das Schrecklichste«
jemanden, der dünner ist und kränker? Ich habe allen Mitar- es wahrscheinlich so, dass ich in diesem Beruf nicht mehr
beitern Bescheid gesagt, mich aus der alltäglichen Arbeit he- arbeiten werde. Jedenfalls nicht in diesem Altenheim. Weil
rausgezogen und nur noch aufgepasst. Aber bis zum Ende mei- ich Angst habe, dass mir das wieder passiert – man kann ja
ner Schicht gab es keine Auffälligkeiten. Gern wäre ich länger nichts dagegen tun!
geblieben, aber meine Chefin hat mich nach Hause geschickt.
Gegen vier Uhr nachmittags ging es einem Bewohner dann
plötzlich schlecht. Ich kannte ihn gut und mochte ihn sehr gern.
Er war ein sehr liebenswürdiger und feiner Mann, höflich und
einfühlsam. So richtig alte Schule.
U nd es ist auch schon vorher passiert. Regelmäßig gibt es
kleine Verwechslungen, bei denen zum Glück nicht viel
schiefgeht und die dann sofort unter den Teppich ge-
kehrt werden. Am Ende will es immer keiner gewesen sein.
Ich hatte gerade meine Kolleginnen in der Nachmittags- Das gibt es in vielen Altenheimen: ein Klima der Angst. Fehler
schicht angerufen, um zu fragen, ob alles okay sei. Sie wollten zu vertuschen ist gang und gäbe, jeder deckt jeden, und nach
wissen, ob dieser Mann die Morphiumtablette geschluckt oben wird gebuckelt. So ändert sich nie etwas.
haben könnte, und ich habe sofort gesagt: »Ja!« Für mich war Auch nach meinem furchtbaren Fehler hat sich an den Ab-
klar, dass sie jetzt sofort den Notarzt rufen mussten. läufen auf der Station überhaupt nichts getan, immer noch
Aber sie haben nicht gleich den Rettungswagen gerufen, aus gibt es diese Sicherheitslücken, die tödliche Versehen ermög-
Scheu vor dem Hausarzt dieses Mannes: Der war bekannt für lichen. Deshalb erzähle ich meine Geschichte auch hier im
seine schwierige, aufbrausende Persönlichkeit, und es hatte SPIEGEL: weil ich mir wünsche, dass sich endlich etwas ver-
schon einmal riesigen Ärger gegeben, als er sich übergangen bessert in den Heimen. Es muss einen offenen Umgang mit
fühlte. Also haben die Kolleginnen zunächst versucht, ihn zu Fehlern geben. Sodass man Strategien entwickeln kann, wie
erreichen. sie sich in Zukunft vermeiden lassen.
Als er endlich ankam, war der Mann schon dabei, ins Koma Es gäbe auch viele Möglichkeiten, die Arbeit anders ein-
zu fallen. Der Hausarzt tobte und rief natürlich sofort den Not- zuteilen. Sie könnte mehr Spaß machen, medizinisch pro-
arzt, der dann das Gegenmittel spritzte. Dadurch ist der Mann fessioneller werden und so, dass man nicht mehr so irrsinnig
zwar wieder aufgewacht, aber er musste trotzdem ins Kran- unter Druck gerät. Auch das führt ja dazu, dass Fehler pas-
kenhaus, auf die Intensivstation. Nach zwei Tagen ging es ihm sieren. Aber Vorschläge dazu sind in vielen Heimen uner-
zunächst besser. Aber einen halben Tag später war er dann wünscht.
plötzlich tot; kurz vor seinem 87. Geburtstag ist er gestorben. Ich musste Alarm schlagen; ich hätte mit meinem schlechten
Das ist das Schrecklichste, was mir je passiert ist. Wirklich Gewissen sonst nicht weiterleben können. Aber ich bin mir
das Schrecklichste. Zum Glück glaube ich an ein Leben nach sicher: Wenn ich dem Bewohner, der seine Morphiumtablette
dem Tod, sonst wüsste ich nicht, wie ich damit leben sollte. vermisste, einfach eine neue gegeben und den Kolleginnen
Ich hoffe sehr, dass die Angehörigen des Mannes irgendwie ih- gesagt hätte, die andere sei mir heruntergefallen, wäre mein
ren Frieden mit seinem Tod machen können. Fehler wahrscheinlich nie aufgefallen. Dann wäre der liebens-
Bei der Obduktion wurde zwar festgestellt, dass er wohl würdige alte Herr, der jetzt tot ist, offiziell an »Herzversagen«
nicht unmittelbar am Morphium gestorben ist, und am Ende gestorben. Wie so viele andere.
wurde das Strafverfahren gegen mich eingestellt. Trotzdem ist Aufgezeichnet von Veronika Hackenbroch
Fotografie
Grobkörnige Melancholie
»Ich mag es nicht, wenn ich keine
Kontrolle habe«, hat der Künstler
Anton Corbijn mal gesagt, deshalb
habe er nie Drogen genommen und die
Jahrzehnte gut überstanden, die er in
der Nähe zur Musikbranche verbrachte.
»The Living and the Dead«, die Leben-
den und die Toten, lautet der Titel
einer Corbijn-Ausstellung mit mehr als
hundert Bildern, die nun im Rahmen
der Triennale der Photografie in Ham-
burg zu sehen sein wird (Bucerius
Kunst Forum, 7. Juni bis 6. Januar).
Dieser Titel fasst das Werk des hol-
In Geberlaune
in die Kamera wie ein Abschied: 1980
nahm sich Curtis im Alter von 23 Jah-
ren das Leben. Auch Kurt Cobain, der
Star von Nirvana, beging Selbstmord,
Mehr Macht als Spider-Man hat nur der französische Präsident. einige Monate nachdem Corbijn ein
Video mit der Gruppe gedreht hatte.
Es waren vier Stockwerke. Aber Mamou- Gassama, dass er demnächst französischer Und Oscarpreisträger Philip Sey-
dou Gassama brauchte nicht mal 30 Se- Staatsbürger sein werde. Das ist erfreulich mour Hoffman, der 2014 an einer Über-
kunden, um sich von Balkon zu Balkon für den sympathisch wirkenden Mann. dosis starb, spielte seine letzte Haupt-
hinaufzuschwingen und das kleine Kind zu Eine märchenhafte Geschichte wie diese rolle im Thriller »A Most Wanted Man«
greifen, das zuvor unbeaufsichtigt herum- verfehlt nur selten ihre Wirkung. Aber sie unter der Regie von, genau, Anton
geklettert war und nun außen am Gelän- wirft auch Fragen auf. Dass der französi- Corbijn. Kein Wunder also, dass zu den
der hing. Er brachte es in Sicherheit. Als er sche Präsident wie ein Monarch über das bisher unveröffentlichten Werken in
oben stand und hinunterblickte, habe er Glück einzelner Untertanen richten kann, der Hamburger Ausstellung nun Auf-
angefangen zu zittern, sagte er später. erscheint zumindest anachronistisch. nahmen von Grabmonumenten
Doch zuerst waren da sein Mut und seine Am Mittwoch, vier Tage nachdem Gas- gehören, morbide Eleganz, auch ohne
Entschlossenheit, und glücklicherweise sama dem Kind das Leben gerettet hatte, berühmte Gesichter. Die beruhigende
gab es auch jemanden, der die Szene filmte wurde in Paris ein Flüchtlingscamp ge- Nachricht: Die Rolling Stones, aber
und ins Netz stellte. Nun war Gassama, räumt, 1500 Menschen vorwiegend aus auch die Musiker von Depeche Mode
Spider-Man genannt, ein Held. Afrika lebten dort. Die Bewohner wurden oder U2 sehen auf Corbijns Fotos noch
Keine 48 Stunden später, am vergange- in Unterkünfte außerhalb von Paris ge- recht lebendig aus. MWO
nen Montag, saß der Mann, der aus Mali bracht, dort werden sie überprüft, im April
stammt und seit einem hal- war in Frankreich ein verschärftes Asyl-
ben Jahr ohne Aufenthalts- recht beschlossen worden. Wie viele dieser
genehmigung in Frankreich Menschen verfügen womöglich über den
lebt, im Élysée-Palast dem gleichen Mut, die gleiche Entschlossenheit
Präsidenten gegenüber. wie Gassama? Es ist eine schlichte Wahr-
© ANTON CORBIJN, 2018
Die Fotos von dieser Begeg- heit, dass das Leben ungerecht ist. Wie der
Video
nung lassen einen an den Präsident über solche Zusammenhänge hin-
Die Rettungs- Film »Ziemlich beste Freun- wegging und pompös seine Macht in Szene
aktion
de« denken. Und weil setzte, ist zum Staunen. Gassama nutzte
spiegel.de/ Emmanuel Macron einen die Geberlaune des Staatsoberhaupts und
sp212018kritik
oder in der App ausgeprägten Sinn für bewarb sich gleich noch für die Feuerwehr.
DER SPIEGEL Gesten hat, versicherte er Geht auch klar. Claudia Voigt Corbijn-Foto von Joni Mitchell, 1999
104
Hollywood Am ersten Wochenende spielte »Solo« Nils Minkmar Zur Zeit
Erschlaffen der Macht in Nordamerika 84 Millionen Dollar ein.
Schauspieler Sutherland: »Es wird keine großen charakterlichen Veränderungen mehr geben, man akzeptiert, wer man ist«
106
Kultur
A
ls die Sonne in Asbury Park an Rock liebt und trotzdem nicht Trump Sie wird sich, zum Glück, relativ schnell
der Atlantikküste von New Jersey wählt. an diesem Tag als falsch herausstellen. Je
untergeht, steht Kiefer Suther- 600 bis 700 von ihnen werden an die- mehr man Sutherland bei seiner Arbeit zu-
land auf einem abgesperrten sem Abend Ende Mai kommen, um Kiefer schaut, desto stärker vermittelt sich eine
Stück Parkplatz zwischen seinen beiden Sutherland zu sehen. Countryfans, aber existenzielle Dringlich- und Ernsthaftig-
Tourbussen und beginnt mit dem Auf- auch Jack-Bauer-Fans und Anhänger von keit. Die Band und die Crew sind seine
wärmprogramm. Er trägt zerschlissene President Kirkman, den Sutherland zu- Familie, und er scheint allen (und bald
schwarze Cowboystiefel und hält ein Lasso letzt in der Serie »Designated Survivor« auch dem Reporter) überaus dankbar zu
aus Nylon in der Hand. Ansonsten sieht gespielt hat. sein, dass sie es mit ihm aushalten.
er immer noch aus wie Jack Bauer, jener Kiefer Sutherland, vor allem durch sei- Wenn das hier alles ein Spaß wäre, hätte
ebenso übermenschliche wie gebrochene ne Jack-Bauer-Rolle eines der wiederer- Sutherland sich möglicherweise auch et-
Antiterroragent aus der Serie »24«, den kennbarsten Gesichter der Welt, verdiente, was heiterere Musik ausgesucht, doch was
er 15 Jahre lang verkörpert hat und der da er auch Mitproduzent war, sehr viele er vorträgt, ist das, was man vielleicht
zum ersten Actionhelden der Post-9/11- Millionen mit der Serie, er war für einige Gothic Country nennen könnte, düstere
Ära wurde. Jahre der höchstbezahlte Fernsehschau- Cowboymusik, Sutherlands Vorbilder sind
Sutherland hat seine Assistentin Beth spieler der Geschichte, jetzt ist er 51 Jahre Countryexistenzialisten wie Merle Hag-
angewiesen, zwischen den Bussen hin- alt, er könnte sich in sein Haus in Los An- gard oder Waylon Jennings.
und herzugehen, Beth kennt das schon. geles zurückziehen. Er schreibt alle Songs selbst. Inzwischen
Dann konzentriert sich Sutherland, zielt, »Doch dort«, sagt er, »war ich seit zwei- hat er 25, die ihm gefallen, dafür habe er
wirft die Schlinge des Lassos, lässt sie kurz einhalb Jahren nicht mehr.« aber auch »15 Jahre gebraucht«.
hinter Beth auf den Boden ditschen, sodass Stattdessen hat er sofort nach Ende der Er hat sie überall geschrieben, wo sie
die Schlinge wieder hochspringt und sich Dreharbeiten für »Designated Survivor« ihm einfielen, zum Beispiel bei den Dreh-
von unten um Beths Bein windet. in Toronto seine Band zusammengetrom- arbeiten zur Folter- und Actionserie »24«,
»Vor 25 Jahren, mit Mitte zwanzig«, sagt melt, zwei Tourbusse, in denen man auch ausgerechnet wenn er auf seinen Einsatz
Sutherland und zieht an seiner Zigarette, schlafen kann, gemietet, dazu eine Crew wartete, eine seiner zeitweilig 80 Gitarren
der circa 20. des Tages, »bin ich von Ro- und ist ohne Umweg über sein Zuhause war immer dabei.
deoturnier zu Rodeoturnier gereist, wurde auf Tournee gegangen. Der Nordamerika- Die Lieder sind schlicht, aber haben
immer besser und habe die Dinger irgend- teil der Tour mit 32 Auftritten innerhalb Kraft, und die Geschichten, die er in ihnen
wann auch alle gewonnen.« von sieben Wochen nähert sich jetzt dem erzählt, sagt Sutherland, seien alle tatsäch-
Tatsächlich hatte sich Sutherland nach Ende, es folgen ab kommender Woche lich erlebt, also wahr. »Das ist Zeug aus
einem relativ rasanten Aufstieg zum Star 15 Auftritte in Europa, darunter auch 5 in meinem Leben, es ist der Kram, mit dem
mit den Rebellenfilmen »The Lost Boys«, Deutschland. ich in den letzten Jahrzehnten versucht
»Young Guns« oder »Flatliners« Anfang Geld verdient Sutherland damit nicht. habe klarzukommen.«
der Neunzigerjahre eine Ranch in Monta- Er sagt, immerhin zahle er inzwischen Wenn das stimmt, hat Kiefer Sutherland
na gekauft, wo er sich bald mit der Frage nicht mehr oder zumindest kaum noch ein hartes Leben. Denn die Lieder handeln
konfrontiert sah, was man dort eigentlich drauf. In den USA spielt er tapfer in klei- von den großen Countrythemen, von der
im Sommer macht, wenn die Skisaison nen Klubs, meist in kleinen Städten vor Frau, die weg ist (»Truth in Your Eyes«),
vorbei ist. So kam er zum Rodeo, der Cow- einigen Hundert Menschen, sein bisher und der Flasche Whiskey, die nicht reicht,
boykultur und der Countrymusik. einziges Album, erschienen 2016, hat es über den Verlust hinwegzukommen (»Not
Das Lasso zu werfen ist für ihn bis heute in keine Hitparade geschafft. Enough Whiskey«); es geht um die Bar
wie eine Meditation. Er sagt, es helfe Sutherland schläft mit den anderen im und die Nacht als Fixpunkt des Lebens
ihm gegen die Nervosität. Ein Cowboy Bus, sie fahren meist über Nacht nach dem (»Can’t Stay Away«) und die Hoffnung,
auf einem Asphaltparkplatz. Auftritt, nicht immer gibt es eine Dusche das damit verbundene Leben vielleicht
In zwei Stunden wird er hier in dem und nur selten ein Hotel. Heute ist die Ab- doch irgendwann hinter sich lassen zu kön-
Klub, zu dessen Backstage der Parkplatz fahrtszeit für 1.30 Uhr angesetzt, niemand nen (»Going Home«).
gehört, mit seiner Countryband auftreten. weiß genau, wohin es geht, ein Kaff im Bun- Wer es in den vergangenen Jahrzehnten
Der Klub heißt The Stone Pony, er ist einer desstaat New York, aber Sutherland behält in der Boulevardpresse oder im Internet ver-
der berühmtesten Rockklubs Amerikas. sich vor, den Plan noch einmal umzuwerfen. folgt hat, kann die Schauergeschichten, die
Im Pony, gleich an der Strandprome- Vielleicht bekommt er nach seinem Auftritt Sutherland erzählt, tatsächlich mit den kur-
nade in diesem leicht runtergekommenen so gegen Mitternacht plötzlich Lust, noch sierenden Realitätsfetzen in Einklang brin-
Vergnügungsküstenort knapp zwei Stun- eine Flasche Scotch zu trinken und auszu- gen. Immer mal wieder war von Verhaftun-
den südlich von New York, hat Bruce gehen, dann muss der Bus warten. gen zu lesen, meistens wegen Trunkenheit
Springsteen seine Karriere begonnen. Ein teures Hobby eines Multimillionärs am Steuer, manchmal auch wegen einer
Hier in Asbury Park findet sich auch (ne- also, der seine Musik unter die Menschen Schlägerei. Vor zehn Jahren musste Suther-
ben den Intellektuellen natürlich) die ty- bringt, weil er es eben kann? Das ist die land sogar mal für 48 Tage ins Gefängnis.
pische Springsteen-Klientel, weiße Mittel- Arbeitshypothese, mit der man als Repor- Seine Unterarme sind voll mit Tätowie-
und Unterschicht, die Budweiser trinkt, ter auftaucht. rungen – was ja bei jungen Musikern wie
tegriert jeden und redet mit der noch so Strafe Luchterhand; 18 Euro
9 (11) Peter Wohlleben Das geheime
langweiligen Ehefrau vom Freund des 9 (11) Daniel Kehlmann Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Freundes über die Schule der Kinder. Tyll Rowohlt; 22,95 Euro
Er sei mit sich im Reinen, sagt er dann 10 (15) Michael Wolff
und gießt mir J&B in meinen Plastikbe- 10 (9) Maja Lunde Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro
cher: »Das Schöne an meinem Alter ist: Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro
Während man sich natürlich immer weiter 11 (–) Georg Schmidt Die Reiter
11 (6) Martin Walker der Apokalypse C. H. Beck; 32 Euro
evaluiert, wird es bei einem doch keine
Revanche Diogenes; 24 Euro
großen charakterlichen Veränderungen 12 (16) Yuval Noah Harari
mehr geben, man akzeptiert, wer man ist.« 12 (12) Mariana Leky Was man von hier Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
Er blickt sich um auf der Terrasse im aus sehen kann DuMont; 20 Euro
Backstagebereich. Hinten auf dem Park- 13 (8) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
platz sieht man die Tourbusse in der 13 (10) Laetitia Colombani Mit den Händen sehen Insel; 22,95 Euro
Dunkelheit rangieren. Etwa 20 Leute sind Der Zopf S. Fischer; 20 Euro
noch da. Sein alter Freund mit den be- 14 (10) Hamed Abdel-Samad
14 (13) Bernhard Schlink
freundeten Ehepaaren scheidet aus, die Integration Droemer; 19,99 Euro
Olga Diogenes; 24 Euro
müssen nach Hause. Seine Band – zu
15 (–) Per Mertesacker
müde vom Abend vorher. Der Sänger des 15 (14) Haruki Murakami Die Ermordung des
Commendatore Band II Weltmeister ohne Talent Ullstein; 20 Euro
Support-Act hat sogar jetzt noch Mühe, DuMont; 26 Euro
die Stripperinnen loszuwerden, die er am 16 (–) Herfried Münkler Der Dreißigjährige
Abend vorher alle überschwänglich zum 16 (17) Marc-Uwe Kling
QualityLand Ullstein; 18 Euro
Krieg Rowohlt; 39,95 Euro
Konzert eingeladen hatte. Nein, es hat kei-
nen Sinn. Die Busse rangieren demonstra- 17 (16) Lucinda Riley 17 (17) Elke Heidenreich
tiv wild blinkend vom Parkplatz auf die Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro Alles fließt Corso; 24,90 Euro
Straße. Es ist 1.40 Uhr.
»Hey«, ruft Sutherland, noch bevor er 18 (19) Elena Ferrante Die Geschichte 18 (–) Navid Kermani
zur Erleichterung aller in seinen Bus steigt: des verlorenen Kindes Suhrkamp; 25 Euro Entlang den Gräben C. H. Beck; 24,95 Euro
»Ich weiß, was Sie denken: Schauspieler, 19 (18) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
19 (20) Nina George Die Schönheit
die Musik machen – fuck that.« der Nacht Knaur; 18,99 Euro Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Habe er immer genauso gesehen.
Twitter: @oehmke 20 (18) Éric Vuillard 20 (12) Wolfram Eilenberger
Die Tagesordnung Matthes & Seitz; 18 Euro Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro
109
Kultur
D
as Delphi-Kino in Berlin ist an SPIEGEL: Herr Selge, die Figur François mäßigtes islamisches Regime etabliert. Fran-
diesem Abend im Mai bis auf den aus Michel Houellebecqs Roman »Unter- çois, der an der Sorbonne Literatur unter-
letzten Platz gefüllt. Auf der gro- werfung« entwickelt sich zur zentralen richtet, überlegt, sich damit zu arrangieren,
ßen Leinwand wird ein einziges Rolle Ihrer späten Karriere. Die Theater- weil ihm das Regime Vorteile sichert: Geld,
Mal der Fernsehfilm »Unterwerfung« öf- inszenierung haben Sie mehr als 60-mal Frauen. Ist der Text für Sie eine Satire?
fentlich aufgeführt. Als der Schauspieler gespielt, nun wurde »Unterwerfung« mit Selge: Nein, Houellebecq betreibt ein an-
Edgar Selge nachher auf die Bühne gebe- Ihnen in der Hauptrolle für das Fernsehen spruchsvolleres Spiel. François ist eine sehr
ten wird, schallt ihm stürmischer Applaus verfilmt. Mögen Sie François eigentlich? menschliche Figur, daher auch die große
entgegen. Selge: Sympathisch, unsympathisch, so be- Bereitschaft des Publikums, sich auf ihn
Selge kennt das schon. Nach jeder trachte ich meine Rollen nicht. Ich suche einzulassen. Er ist ambivalent und zerris-
Vorstellung des gleichnamigen Theater- keine Identifikation. Mir geht es darum, sen. Erst mal beobachtet er die politischen
stücks am Hamburger Schauspielhaus parabelhafte Situationen durchzuspielen. Entwicklungen von außen, er springt nicht
ist es das Gleiche: Die Zuschauer jubeln »Unterwerfung« bietet da einigen Stoff, es sofort auf den Zug auf. Er bemerkt den Zer-
und trampeln. Selge trägt an diesem geht um eine Gesellschaft in der Krise, um fall seiner eigenen Person, seiner Identität
Abend eine karierte Hose, ein Jackett, ein Desinteresse an Demokratie, um die und spürt seine Bedürftigkeit nach Aner-
und wie er da oben auf der Bühne steht, Frage nach dem Umgang mit dem eigenen kennung. Er wartet darauf, begehrt zu wer-
könnte er auch François sein, der franzö- Opportunismus. den, als Mann und als Intellektueller. Es
sische Hochschullehrer aus Houellebecqs SPIEGEL: Als Zuschauer hat man den Ein- dauert lange in dem Stück, bis er die Frage
Roman. druck, Sie fühlen sich in dieser Rolle be- stellt: Denken Sie, dass ich jemand bin, der
Die Grenzen zwischen Rolle und sonders wohl. zum Islam konvertieren könnte? Des-
Schauspieler sind unscharf. Dazu trägt Selge: Ich kann mich in der Rolle spiele- wegen ist Houellebecq ein großer Autor,
der Eindruck bei, den der Fernsehfilm risch sehr gut loslassen, das merken die weil seine Figuren keine Kopfgeburten
(»Unterwerfung«, am 6. Juni in der ARD) Zuschauer. Das hat etwas mit meinem Ver- sind, sondern körperlich erlebbar werden.
hinterlässt. Selge begegnet einem darin hältnis zum Autor Michel Houellebecq zu SPIEGEL: Sehen Sie »Unterwerfung« als
auf drei Handlungsebenen: als Edgar tun. Wenn ich ein Buch von ihm aufschla- einen islamfeindlichen Text?
Selge, der auf dem Weg ins Theater ist ge, dann fühle ich mich für die Zeit, wäh- Selge: Es ist ein entlarvender Text. Fran-
und sich auf seinen Auftritt vorbereitet, rend ich ihn lese, entlastet und entspannt. çois’ Ansichten schlagen zunächst mal je-
als Schauspieler, der sich in François ver- Es geht mir gut. Houellebecq beschreibt dem linksliberalen Bürger ins Gesicht. Und
wandelt, und als Filmcharakter François, sich ja selbst als Autor der totalen Erschlaf- weil Houellebecq sich nicht eindeutig zu
der in Paris lebt und in seinem Apparte- fung; der Begriff ist von ihm, es ist ein gro- seinen Texten äußert, lässt er seine Leser
ment mit Blick über die Stadt seine ßes Bekenntnis zu seiner eigenen Müdig- und Zuschauer mit seinen Provokationen
Geliebte empfängt. Der Film von Titus keit. Wenn ich Romane von ihm lese, mer- allein. Warum sind wir so schwach darin,
Selge (einem Neffen Edgar Selges) blendet ke ich, wie sehr ich mich in meinem Leben unsere Werte und unsere Religion zu ver-
zwischen den verschiedenen Ebenen hin anstrenge. Was ich mir für Mühe gebe und teidigen? Wie patriarchalisch ist unsere Ge-
und her. unter welchen Druck ich mich stelle. Auch sellschaft trotz 50 Jahren Gleichberechti-
Zum Gespräch am nächsten Tag er- hier, jetzt, in unserem Gespräch. Wir ha- gung immer noch? Houellebecq entzieht
scheint ein Mann, der ganz er selbst ist. ben knapp 90 Minuten, ich versuche, so sich der schnellen Einvernahme, das ver-
Vormittags hatte er eine kleine Familien- viel wie möglich von meinen Überzeugun- schafft ihm als Autor riesige Freiheit.
feier, nun beantwortet er konzentriert und gen loszuwerden, es tickt eine Uhr, das ist SPIEGEL: Sind Sie ihm mal begegnet?
freundlich alle Fragen. Im März ist Selge anstrengend. Ein Text von Houellebecq Selge: Bisher nicht. Ich spreche kein Fran-
70 geworden, er wirkt alterslos. Wie je- nimmt mir diesen Druck. Das ist seine zösisch, ich rauche nicht, ich trinke nicht.
mand, der neugierig geblieben ist und sich Qualität. SPIEGEL: Sie meinen, Sie bringen nicht
gern auf etwas einlässt. SPIEGEL: »Unterwerfung« spielt im Jahr die richtigen Voraussetzungen mit?
2022 und erzählt, wie in Frankreich ein Selge: Ich glaube, er ist ein großer Selbst-
Das Gespräch führte die Redakteurin Claudia Voigt. Muslim neuer Präsident wird und ein ge- darsteller, und ich bin auch ein Selbstdar-
110
ten. Er zeigt dann die ersten Szenen der
Aufführung und springt im weiteren Ver-
lauf zwischen Theater- und Filmszenen
hin und her. Das ist ein ungewöhnliches
ästhetisches Konzept.
Selge: Während ich im Theater einen
Monolog spiele, habe ich im Film Partner,
dadurch entstehen ganz neue Situationen.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Am besten
funktioniert das für mich in der Auseinan-
dersetzung mit Rediger, dem islamischen
Direktor der Sorbonne. Matthias Brandt
spielt diese Figur überragend gut, er zeigt
eine gewalttätige Verführungskunst in
dieser Rolle. Im Film sieht man einen
François, der als Opfer dieser Verführungs-
kunst ein beschämendes Bild abliefert. Auf
der Bühne war das nicht so klar zu erken-
nen. Wenn ich alle Figuren allein spiele,
kann ich immer nur eine zurzeit spielen.
In den Szenen mit Matthias Brandt ver-
wandle ich mich dagegen in einen Zuhö-
renden und Empfindenden, dabei entsteht
etwas, über das ich nicht nachdenke. Da
spiele ich einfach mit, setze mich der Fan-
tasie meines Partners aus und entdecke
einen anderen Bereich der Figur.
SPIEGEL: Als die Verfilmung vor einigen
Tagen in einem Berliner Kino aufgeführt
wurde, haben Sie nachher auf der Bühne
gesagt, für Sie sei die zentrale Frage des Tex-
tes: Was ist uns unsere Kultur wert? War
das ein Appell für eine deutsche Leitkultur?
Selge: Die Diskussionen über Leitkultur
deprimieren mich, dabei werden so viele
Sprechblasen produziert. Wir problema-
tisieren und besprechen alles, statt uns an
Taten zu messen. Was wir stattdessen brau-
chen, ist eine große Bildungsoffensive: klei-
nere Klassen, intensiver Deutschunterricht
für Ausländer. Das würde uns weiterhelfen
in unserem kulturellen Selbstverständnis
und bei der Integration. Eigentlich könn-
ten wir doch eine großartige Zeit erleben.
FRITZ BECK / DER SPIEGEL
gekommen sind, haben etwas mitgebracht, Selge: So haben wir uns kennengelernt. Er wird auch Anfang Juni zum Münchner
was sie erdet: ihre Religion. Religion ist et- Ich habe als Student »Ein Kinderspiel« in- Gastspiel von »Unterwerfung« kommen.
was, was man einfach mitnehmen kann. Es szeniert, das war am Trinity College in SPIEGEL: Die wievielte Vorstellung wird
ist das eigene Verhältnis zur Schöpfung, zu Dublin. Ich war damals 23 und suchte nach das sein?
sich selbst, zu Gott, Rituale des Gebets, des einem zeitgenössischen Text. Persönlich Selge: Die 63.
Gottesdienstes. Sie sind metaphysisch oft kannte ich Walser damals überhaupt noch SPIEGEL: Werden Sie wieder Lampenfie-
viel geerdeter als wir, ich empfinde das sehr nicht, ich habe ihn einfach angerufen und ber haben?
deutlich. Sie provozieren mich auch da- gefragt: Gibt es da eine Möglichkeit, das Selge: Sicher. Viele Kollegen haben das,
durch. Viele Einwanderer wissen genau, Stück zu inszenieren? Er hat mir jemanden ich rede halt drüber.
woher sie kommen, woran sie glauben, bei an der Uni Manchester genannt, der es SPIEGEL: Es gibt einen Moment in dem
mir ist vieles hohl oder flau. übersetzt hatte. Wenige Wochen später be- Fernsehfilm, der Sie kurz vor dem Auftritt
SPIEGEL: Sie klettern während der Thea- kam ich das Manuskript. Ein Vierperso- zeigt, und man hat den Eindruck, Sie wol-
teraufführung von »Unterwerfung« in ei- nenstück, zwei Kinder, Bruder und len nicht so unbedingt auf die Bühne.
nem riesigen Kreuz herum. Das Kreuz ist Schwester, mit ihren Eltern, im Grunde Selge: Die Schwierigkeit liegt darin, mit
ein Hohlraum, der Mensch darin wirkt ver- eine richtige Abrechnung mit der älteren dem Text sofort ins Jetzt zu kommen.
loren. Eine große Metapher. Bietet das Generation. Vor der Premiere habe ich Nicht das Gefühl zu haben, ich exekutiere
Christentum zu wenig Halt? Walser noch mal angerufen und ihn einge- irgendwas, ich liefere eine Form von Rou-
Selge: Bei der Arbeit an dem Stück ist mir laden. Er hat gesagt: Ich überlege es mir. tine ab, sondern sofort in die Direktheit
noch mal bewusst geworden, dass der ster- Und dann kam er an, mit seiner dicken zu kommen. Dass ich gar nicht mehr nach-
denken kann über den nächsten Satz.
Wenn ich da drin bin und die Sache läuft,
gibt es immer wieder Momente, in denen
ich erschrocken darüber bin, wie selbst-
verständlich der Text einfach kommt.
Dann denke ich manchmal: Wenn der jetzt
nicht mehr kommt? Da zeigt dann das
Lampenfieber ganz kurz mal seine Folter-
werkzeuge. Zum Glück vergehen diese
Momente aber auch schnell wieder.
SPIEGEL: Genießen Sie eine Aufführung,
wenn Sie spüren, dass Ihnen die Direktheit
gelingt?
Selge: Genießen würde ich das nicht nen-
nen. Dafür ist es zu schwierig. Aber ich
bin dann in Fahrt und versuche, den
STEPHANIE KULBACH / NFP / RBB
Stimme des
Orients
Kino Die Künstlerin Shirin
Neshat hat einen Film über
den ersten Popstar der arabischen
Welt gedreht: die
Sängerin Oum Kulthum.
sind sich fremd beweist also nur eines: Mut zur Peinlichkeit.«
Genauso flapsig gesagt: also ab in die Gruft – von
Hegel über Elias bis Habermas!
Selbst der damalige Bundespräsident Roman Herzog
Essay Hinter der Islamdebatte verbirgt sich bestritt in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit
eine ganz andere Frage: die nach der 1994 die Existenz einer deutschen Identität. Er sagte:
»Wer über dieses Thema spricht, von dem werden heute
deutschen Identität. Versuch einer Antwort. mehr Wehklagen als Aussagen erwartet. Aber daran will
ich mich nicht beteiligen, zumal ich immer noch keinen
D
gefunden habe, der mir erklären könnte, was ›nationale
ie Gespensterdebatte schmerzt: »Der Islam Identität‹ eigentlich ist – ›nationale Identität‹, die uns an-
gehört zu Deutschland« oder »Der Islam gehört geblich fehlt und die wir angeblich dringend benötigen.«
nicht zu Deutschland«. Beide Sätze sind schlicht- Als ich Herzog einige Wochen nach seiner Rede auf die-
weg Unsinn. se Aussage ansprach, meinte er nur: »Auf jeden Fall ist die
Beiden Seiten geht es weder grundsätzlich um Deutsch- individuelle Identität eines jeden Einzelnen unbestritten.«
land noch um die Religion der Muslime, sondern um eine Richtig. Aber das ist eben nur die Hälfte der Wirklichkeit.
Auseinandersetzung über die deutsche Identität. Und ich So unterschied der Soziologe Norbert Elias zwar zwi-
fürchte, sie merken es noch nicht einmal. schen Ich-Identität (Individuum) und Wir-Identität (Ge-
Es ist allzu offensichtlich: Wer den Islam zu Deutschland sellschaft), aber sie hängen voneinander ab, und Elias be-
gehörend bezeichnet, will die Gefühle seiner aufgeklärten gründete dies damit, dass Vergangenheit, Gegenwart und
Wähler mobilisieren, weil er hofft, dass sie in ihm einen mo- Zukunft des Kollektivs eine Rolle in der Bildung der indi-
dernen, toleranten Menschen sehen. Ginge es wirklich um viduellen Identität spielen.
den Islam, dann müssten sich die Islamverbände der deut- Die Besonderheiten einer kollektiven Erfahrung, wie
schen Muslime in erster Linie angesprochen fühlen, doch sie etwa die Geschichte des »Dritten Reichs« und der Juden-
nehmen an dieser Debatte gar nicht teil. Der in der Türkei mord, können zu einer besonderen Prägung der Identität
geborene deutsche Autor Feridun Zaimoglu urteilt, diese Ver- eines Deutschen führen. Je nachdem, wie er mit diesem
eine hätten sich »als Heimatvertriebenenverbände konstitu- Teil der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Doch ge-
iert. Sie ergehen sich in Beleidigungsritualen. Wir sind hier rade dieser Teil des kollektiven Bewusstseins kann ebenso
in Deutschland, und das wollen sie nicht realisieren«. zu einer kritischen Störung des Gefühls der Identität mit
Diejenigen, für die der Islam nicht zu Deutschland ge- sich selbst führen, die einen Deutschen trifft. Es darf hier
hört, nutzen Fremdenfeindlichkeit wiederum für ihre poli- kein Missverständnis geben: Wenn von nationaler Iden-
tischen Zwecke. tität gesprochen wird, so bedeutet dies nicht, dass die Kol-
Eines haben beide Positionen gemein, sie wollen Men- lektivität mit einer festgefügten Identität versehen ist.
schen voneinander abgrenzen. Nach dem Motto: Wer die Identitäten – ob individuelle oder kollektive – wandeln
kollektive Identität der Deutschen nicht so interpretiert sich, denn sie sind einem ständigen Lernprozess und
wie ich, der ist ein minderer Mensch. Bist du für/gegen daraus folgenden Veränderungen unterworfen. Insofern
den Islam in Deutschland, bist du – je nachdem – ein gu- ist auch der Begriff Leitkultur falsch, wenn er als statisch,
ter oder ein schlechter Mensch. als unveränderbar benutzt wird.
Das Missverständnis beruht auf einer schlichten Tat- Der bewusste Teil der Identitätsbildung hat für den
sache: Die Deutschen sind sich selbst fremd. Unbewusst Philosophen Jürgen Habermas seine soziale Bedeutung:
hadern sie mit dem Deutschsein. Sie verlagern die Aus- »Erst das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ›demselben‹
einandersetzung um die deutsche Volk macht die Untertanen zu Bürgern eines einzigen
Identität auf den Nebenkriegsschau- politischen Gemeinwesens – zu Mitgliedern, die sich für-
platz »Islam«. Der Islam gehöre zu einander verantwortlich fühlen können.«
Deutschland, sagen die, die sich mo- Eine Gesellschaft hat keine Identität wie ein Gegen-
dern empfinden, und fügen gleich stand oder eine Person, die in deren Einzigartigkeit be-
hinzu, eine deutsche Identität gebe steht. Habermas stellt ethische Bedingungen, Vorausset-
RALF U. HEINRICH / POP-EYE
es nicht. Ein Widerspruch in sich. zungen, die erfüllt werden müssen, damit eine nationale
Was macht denn dann das Deutsch- Identität vernünftig sein und in einer »postnationalen«
sein aus? Gesellschaft Bestand haben kann. Sie zeichnet sich da-
Der Begriff »Identität« ist vielen durch aus, dass sie nicht angewandt werden kann, wie es
Deutschen dann besonders unheim- Rechtsradikale versuchen, indem sie Identität benutzen,
lich, wenn er nicht nur auf eine Per- um andere auszuschließen. Wie eben mit dem Satz, der
son, sondern auf »die Deutschen« Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Ulrich Wickert, als Gesamtheit bezogen wird. Wer sorgsam mit dem Begriff »nationale Identität« um-
1942 in Tokio geboren, war Kann es denn eine »deutsche Iden- gehe, wisse, dass er weder rechts noch links interpretiert
ARD-Korrespondent in Wa- tität« geben? Das würde ja bedeuten, werden dürfe, so der französische Historiker Fernand Brau-
shington und Paris sowie Mo- dass alle Deutschen etwas gemein del, denn er sei »das lebendige Resultat all dessen, was die
derator der »Tagesthemen«. hätten. unendliche Vergangenheit in aufeinanderfolgenden Schich-
ten geduldig deponiert hat – ganz so, wie die unscheinba- hängen soll. Dem widerspricht aber selbst der Bamberger
ren Ablagerungen des Meeres mit der Zeit die mächtigen Erzbischof Ludwig Schick: Das Kreuz sei »kein Identitäts-
Erhebungen der Erdkruste gebildet haben«. zeichen irgendeines Landes oder eines Staates«. Da mag
Viele Deutsche haben aber Angst vor den »mächtigen wiederum der Gottesmann sich irren.
Erhebungen« in der deutschen Identität: die Geschichte Die Aufregung über Söders Vorstoß war groß. Was be-
des »Dritten Reichs«, die Vernichtung von sechs Mil- deutet das Kreuz? Schließlich sind Staat und Kirche in
lionen Menschen in den Konzentrationslagern. Als ich Deutschland getrennt – siehe Grundgesetz! Die Vernunft
dieses Thema kürzlich gegenüber einer 40-jährigen Deut- beruft sich auf den säkularen Staat. Schön und gut. Aber so
schen ansprach, sagte sie, sie habe kein Problem mit der »vernunftmäßig« lässt sich die Wirklichkeit nicht katalogi-
deutschen Identität: »Denn ich habe nur eine europäische sieren. Söder benutzt das Kreuz nicht als Reliquie, sondern
Identität.« Und ihr fiel nicht auf, dass sie mit dieser Aus- als Symbol für die identitätsstiftende Rolle der christlichen
sage aus der deutschen Identität zu fliehen versuchte. Ver- Religion. Und da wirkt es. Denn trotz leerer Kirchen ge-
gebens. Denn im Ausland wird sie niemand als Euro- hört ein bestimmter, über die Jahrhunderte gewachsener
päerin (was ist das?) identifizieren, sondern stets als Deut- Ausdruck christlichen Gedankenguts zum unbewussten
sche. Schon allein durch ihren Akzent. Teil der deutschen Identität. Söders Kreuz wird bei den
nächsten Wahlen in Bayern Erfolg zeitigen. Weil es das Ge-
I
müt trifft. Insoweit hat das Kreuz eine Heimat in Deutsch-
m Privaten reden viele scheinbar aufgeklärte Men- land, nicht der Islam. Das lässt sich genauso wenig leugnen,
schen anders als öffentlich, etwa wenn sie nach Jah- wie dass es Heimat oder eine deutsche Identität gibt.
ren wieder in die Heimat Warum beschäftigen wir
zum Abiturtreffen fahren uns eigentlich im Zusammen-
und erschreckt feststellen, dass hang mit der »Islamdebatte«,
der Ortsteil, in dem sie aufge- die eigentlich eine Flüchtlings-
wachsen sind, inzwischen debatte ist, mit der Frage, was
fremd und wie »Klein-Istan- deutsch ist? Weil sie davon
bul« wirke. Da empfinden sie ablenkt, was sich alles in der
einen Verlust an Heimat. Aber deutschen Identität befindet.
auch dieses Wort gehört zu Das zu vermitteln wäre auch
den deutschen Reizthemen. eine Aufgabe der Schulen.
Würde es sonst so heftig dis- Doch zu meinem Entsetzen
kutiert? Aber Heimat gibt es kann man in vielen Bundes-
und ist auch Teil der Identität. ländern in der Oberstufe Ge-
Wer will leugnen, dass zur schichte abwählen! Dort sollte
117
Kultur
Soko Poser
Zunächst wird hauptsächlich gesprüht,
dann gerappt. Bevor die große Karriere
aber losgehen kann, wird Gzuz 2011 zu
drei Jahren und vier Monaten Haft verur-
teilt, wegen räuberischen Diebstahls. Er
Gangsta-Rap Gzuz ist Mitglied der berüchtigten Hip-Hop-Crew hatte einem Passanten das Handy gestoh-
187 Strassenbande, sein neues Soloalbum frauenfeindlich len und ihn anschließend mit einer abge-
und gewaltverherrlichend. Das macht ihn auf Instagram zum Helden. brochenen Bierflasche bedroht.
Die Strassenbande lässt ihn nicht hän-
gen, sondern zieht mit einer »Free Gzuz«-
118
»Bring deine Alte mit, sie wird im Back- gangenen Jahren ein Eigenleben in euro- schrittmacher.« Bonez hält alles am Laufen,
stage zerfetzt, ganz normal / Danach lan- päischen Fußballstadien entwickelt hat. überlegt sich, was man wie fotografiert,
det dann das Sex-Tape im Netz«, heißt es Was 187 in der Barclaycard Arena machen, lässt auch mal ein Foto viermal machen,
in »¿Was hast du gedacht?«. Da scheint ist ein Heimspiel, das sich der HSV so wün- weil es noch nicht perfekt ist. »Ich weiß,
ein sehr guter Verdrängungsmechanismus schen würde, die Codes folgen denen des wie gute Bilder aussehen, und ich weiß, wie
vorhanden. Fußballs. ich meine Jungs gut aussehen lasse«, sagte
Für ihre Show haben 187 auf der Bühne 187 wirken wie Animateure, nur nicht er dem Hip-Hop-Magazin »Backspin«. Das
die Häuserwände rund um ihr eigenes Tat- wie jene bei den Eltern im All-inclusive-Ur- Paradox ist, dass sich maximale Inszenie-
too-Studio »187 Ink« auf St. Pauli, ihren laub, sondern in cool, versteht sich: Bonez rung und maximale Authentizität nicht aus-
Fanshop, ihre Pilgerstätte, nachbauen las- MC fordert die Leute auf, in die Hocke zu schließen. Das Leben wird live und mit vol-
sen, links daneben das Schild zur Curry- gehen, und die Leute gehen in die Hocke, ler Wucht in die Smartphones der Fans hi-
wurstbude »Imbiss bei Schorsch«. Gzuz ruft »Lasst uns alle mal zusammen neininszeniert, bleibt aber geerdet, weil
Das Tattoo-Studio ist ihr Hauptquartier, schreien«, und zusammen schreien sie alle man weiß, da, in Hamburg, auf der Straße,
da sitzen sie, trinken Wodka aus der Fla- mal. Die Musik, die dazu läuft, wabert da könnte ich jetzt hingehen, und die wären
sche, geben Autogramme, allerdings liegt zwischen Gangsta-Rap und dunklen Trap- da. Die Echtzeitvermittlung hebelt auch die
es nicht auf der etwas ungemütlicheren Beats auf der einen Seite und karibischen abstoßende Gewalt aus. Es sind eben »die
Seite des Kiezes, bei den Zuhältern und Sounds und sonniger Urlaubsstimmung auf Jungs«, deren Leben man kennt, die einen
Kleinkriminellen rund um die Reeperbahn, der anderen, irgendwo zwischen bösem morgens auf Instagram mit zur Tanke neh-
sondern am Rande des Schanzenviertels, Blick und dussligem Grinsen also. men und abends ins Bett bringen.
das schon ziemlich gentrifiziert ist, wo Stu- Fragt man die wartenden Jugendlichen, Als das neue Album von Gzuz jetzt er-
denten und andere nette Leute abends auf was so faszinierend sei an 187 Strassen- schien, hieß es, dass eine neue Stufe der
Brutalität erreicht sei, es gebe »keinen Hu-
mor mehr, keine Ironie, keine Wortspiel-
chen«. Das stimmt nicht, man muss nur
genauer hinschauen. In dem wirklich bru-
talen Video zu »Drück drück« wird an
Schlägereien auf einmal eine Szene ge-
schnitten, in der Gzuz’ Mitrapper LX in
einen Imbiss geht und eine Capri-Sonne
aus dem Kühlschrank klaut. Eine Capri-
Sonne. Das ist genau die Sorte Krimina-
lität, die sich der Durchschnittsjunge im
zu klein gewordenen Kinderzimmer auch
noch zutraut. Da wird er abgeholt.
Sind die kriminell? Ja. Verherrlichen sie
Drogen und Gewalt? Ja. Verachten sie
Frauen? Ja. Feiern das die Fans? Ja. Sind
die Fans alle dumm? Nein. Geraten die
alle auf die schiefe Bahn und bekommen
Probleme? Nein, natürlich nicht.
187 STRASSENBANDE ÜBER FACEBOOK
»Total ernst«
SPIEGEL: Denken Sie darüber nach, was
Sie anders hätten machen können?
Bachmann: Die Vorwürfe treffen mich,
und natürlich mache ich mir dazu Gedan-
ken. Wir werden den Vorwürfen nachge-
Theater Der Intendant Stefan Bachmann, 51, über die Vorwürfe, hen und, falls nötig, die Basis für die ge-
am Schauspiel Köln würden Mitarbeiter gemobbt meinsame Arbeit neu definieren.
SPIEGEL: Sind in der Kunst Sachen erlaubt
– um der Kunst willen –, die im normalen
SPIEGEL: Der SPIEGEL hat in der vorigen zusammenbeißen und unter extrem Leben nicht erlaubt sind?
Woche berichtet, dass am Schauspiel Köln schwierigen Arbeitsbedingungen an einer Bachmann: Natürlich. Das ist Theater.
in den letzten Jahren ungewöhnlich viele Interimsstätte Theater machen, während Das ist Kunst. Was nicht erlaubt ist, sind
Mitarbeiter gegangen sind, Schauspieler, das Schauspielhaus saniert wird. Dann er- sexuelle Übergriffe und Erniedrigungen.
Dramaturgen, Regisseure. Wie erklären fuhren wir, dass sich der Umzug um Jahre Aber es ist ein sensibles Thema. Wenn
Sie sich diese Kündigungen? verschiebt, im Moment ist er für 2023 an- man weiß, dass gewisse Regisseure die
Bachmann: Vorsicht vor schnel- Schauspieler über die Maßen
len kausalen Rückschlüssen. Ich fordern, dann muss man
habe mich mit den Mitarbeitern Schauspieler und Regisseur im
weitestgehend – nicht komplett, Vorfeld zusammenführen und
sonst wäre es nicht zu Ihrem Absprachen treffen. Auf Pro-
Bericht gekommen – im Guten ben passieren aber immer Din-
getrennt. ge, die nicht abgesprochen
SPIEGEL: Nach Recherchen des sind, daraus ergeben sich meis-
SPIEGEL sind Mitarbeiter ge- tens die schönsten Szenen.
gangen, weil die Stimmung so SPIEGEL: Was tun Sie, wenn
schlecht ist. es doch zu Konflikten kommt?
Bachmann: Das habe ich kein Sie sind ja verantwortlich.
einziges Mal gehört. Aber auf Bachmann: Einmal ist das hier
die konkreten Vorwürfe werde vorgekommen, am Anfang
ich nicht eingehen, schon allein meiner Intendanz. Ich habe
um die Persönlichkeit aller Be- mit allen Beteiligten gespro-
troffenen zu schützen. chen, aber es ist in einer sol-
SPIEGEL: Heißt das, am Schau- chen Situation wirklich schwer
spiel Köln gibt es kein Problem? zu beurteilen, wer recht hat
Im SPIEGEL haben mehrere und wer nicht. Ich finde es
Zeugen Mobbingvorwürfe ge- eher bemerkenswert, dass so
gen Ihre Frau, Melanie Kretsch- etwas nicht häufiger vorge-
mann, erhoben, die an Ihrem kommen ist.
Haus als Schauspielerin und Re- SPIEGEL: An vielen Theatern
gisseurin engagiert ist; Sie selbst treten Intendantinnen und
hätten nichts dagegen unter- Intendanten ihre Stelle nur un-
nommen. ter der Bedingung an, dass
Bachmann: Ich wehre mich ge- ihre Lebensgefährten am sel-
gen eine Pauschalverurteilung, ben Theater arbeiten dürfen.
aber ich möchte deutlich sagen, Auch Sie haben Ihre Frau nach
dass ich die Vorwürfe, die im Köln mitgebracht. Man könn-
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
120
Eine einzige Nacht
und auch Abraham Lincoln war sein Leben lang – es sollte
nur noch wenige Jahre dauern, bis er 1865 ermordet wurde –
vom Verlust gezeichnet.
Saunders, der bislang eher als Chronist einer wie selbst-
verständlich dystopischen Gegenwart bekannt war, gelingt
Literaturkritik Im Weißen Haus stirbt ein Kind: in diesem historischen Roman nun das Kunststück, unsere
George Saunders’ Roman »Lincoln im Bardo«. Zeit mit ihren Konflikten in der Vergangenheit zum Klingen
zu bringen und dabei Figuren zu skizzieren, die so schemen-
haft wie klar sind, so zart und verschwindend. Hologramme
GETTY IMAGES
die Gräber hinweg und über die Jahrhunderte.
Die Geschichte spielt im Grunde an einem
einzigen Abend, in einer einzigen Nacht, der
Ort ist ein Friedhof in Washington, die Zeit ist Familie Lincoln mit Sohn Willie (M.): Vom Verlust gezeichnet
1862, der amerikanische Bürgerkrieg. Der spal-
tet das Land bis heute, wie auch die Wahl von
Donald Trump gezeigt hat. Saunders’ Figuren sind Tote, sein kann, wenn sie nicht die Geschichte der Sieger ist, also
Geister, Gestrandete im Zwischenreich, das ist der Bardo, im der Überlebenden, sondern die Geschichte der Toten, der
tibetischen Buddhismus ein Begriff für den Transitraum, eine Verlierer, der anderen.
Wartestellung auf dem Weg von einem ins andere Leben; bei Das ist der zutiefst humane Ansatz von Saunders’ Buch,
Saunders in den Himmel oder in die Hölle. das ist letztlich, wenn man danach sucht, die Botschaft: Wir
Es ist ein Kosmos von Idealisten, Verlierern, Arschlöchern, müssen die Augen schließen, wenn wir sehen wollen, wir
Liebenden, Verlorenen, der hier aufscheint, nicht einfach er- müssen die Toten suchen, wir müssen ihren Worten lauschen,
zählt durch Saunders, sondern meisterhaft inszeniert wie wir müssen ihre Spuren suchen, wenn wir das Leben verste-
eine Collage aus Stimmen, fast eine Art Theaterstück. Die hen wollen und eine Gegenwart, die sich vor uns zerlegt, in
Figuren reden miteinander und übereinander – unterbrochen Bilder, Stimmen zerkleinert, bis zur Unkenntlichkeit. Viele
und durchsetzt wird das Ganze durch die Geschichte von Romane versuchen, aus dem Gewirr der Gegenwart eine
Abraham Lincoln und von der Tragödie seines Sohnes Willie, Ordnung zu schaffen, eine klare Geschichte, Menschen, wie
der im Alter von elf Jahren starb. wir sie kennen – Saunders geht den anderen Weg, sein Metier
Dieses Drama bildet den Kern des Romans. Die Eltern Lin- ist die Verwirrung, sein Vertrauen ist es, dass der Leser ihm
coln feiern eine Party im Weißen Haus, während ihr Sohn folgt, dass er still wird und wach, wie bei einer Meditation.
oben in seinem Bett liegt und vom Fieberwahn geschüttelt Wie wird er also ausgehen, der Kampf um Willies Seele?
wird. Seine Mutter erholte sich nie mehr von diesem Tod, Und spielt das überhaupt eine Rolle? Oder ist der Kampf eh
längst entschieden, und es geht nur darum, die Worte zu fin-
George Saunders: »Lincoln im Bardo«. Aus dem Amerikanischen von Frank den, für die, die zuhören wollen, für die Überlebenden?
Heibert. Luchterhand; 448 Seiten; 25 Euro. Georg Diez
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
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vom 1. Januar 2018
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Nachrufe
Serge Dassault, 93 Thieme schuf auch Brun-
Er war wohl das, was man nen, Stelen und Standbilder,
einen Konservativen nennt. am bekanntesten ist sein
Die 35-Stunden-Woche »Bauarbeiter« von 1968.
hielt er für das »Krebsge- Doch produzierte er auch
schwür« der französischen sehr verlässlich Kleinfor-
Wirtschaft, die Homo-Ehe matiges, neben den Masken
für den Untergang der etwa Gedenktafeln und
Nation. Und auf Waffenlie- Gastgeschenke, die hoch-
ferungen an den libyschen rangige Politiker bei Partei-
Diktator Gaddafi angespro- tagen und Staatsbesuchen
chen, sagte der Rüstungs- überreichten. Die ost-
industrielle Serge Dassault: deutsche Presse lobte ihn,
»Wenn man Material ver- er erhielt Preise und zahl-
kauft, dann dafür, dass es reiche Aufträge. Nach 1989
die Kunden auch benut- wurde es sehr viel ruhiger.
zen.« Der gelernte Inge- Gerhard Thieme starb
nieur war 61 Jahre alt, als er am 27. Mai in Berlin. UK
die Dassault-Gruppe von
seinem Vater übernahm, Alan Bean, 86
Fischer sein Lebensgefährte und Manager, er teilte am Ulbricht; 1993 stellte er die
Dienstag mit, dass der Sänger bereits Mitte Mai an den Fol- Totenmaske seines früheren
gen einer Lungenerkrankung gestorben sei. CLV Professors Cremer her.
heit, sehr direkte, durchaus die Quoten waren hervor- ten. Dazu schrieb Moore:
auch tendenziöse, auf jeden ragend, auch weil Roseanne »Seit einigen Monaten arbeite
Fall unerbittliche Filme über mit provokanten und teils ich an einem geheimen Pro-
die Personen oder Ereignisse geschmacklosen Äußerungen jekt. Ich kenne Roseanne.
zu drehen, die ihn aufregen. polarisierte und Donald Und ich kenne Trump. Und
Das könnte nun Roseanne Trump offen unterstützte. Ein sie werden den Tag bereuen,
Barr, 65, zum Verhängnis rassistischer Tweet ging dem an dem sie mich kennenge-
werden. Die Schauspielerin Sender zu weit, die Serie wur- lernt haben.« XVC
127
»Auf dem Titelbild fehlt der mit Abstand wichtigste Mitarbeiter der
heutigen Kriminalistik: der Computer.«
Wolfgang Quakernack, Detmold (Nordrhein-Westfalen)
gepersonal und Polizisten, es gibt eine men, Präsident Erdoğan im letzten Wahl- Komödie ist, ist unter denkenden Men-
Wohnungsnot wie lange nicht mehr, die kampf in seinem Amtssitz zu besuchen. schen hinreichend bekannt. Nur wissen
auch schon die Mittelklasse bedroht, und Das ist die sogenannte Doppelmoral. die auch, dass Zorn, Wut und Rache hoch-
unsere Infrastruktur zerfällt. Die Armee Klaus Kluth, Leipzig gefährliche Formen einer archaischen
ist ein Sanierungsfall mit schrottreifer Aus- Gegenseitigkeit sind, die sich in natura heu-
rüstung. Dazu kommen zwei Billionen Man wartet gespannt, wie denn der te keiner mehr leisten könnte – es sei denn,
Euro Staatsschulden. Noch Fragen, Herr SPIEGEL reagiert, wenn sich zum Beispiel man will einen echten Bürgerkrieg. Doch
Fischer? ein deutscher Nationalspieler ohne Mi- nun gibt es das Ganze bei Frei.Wild als
Armin Quentmeier, Dortmund grationshintergrund mit Herrn Höcke ab- volkstümliche Simulation zu gehobenen
lichten lässt – Sie schreiben ja: »Jeder deut- Preisen, bei der das Publikum unterfordert
Auch wenn Joschka Fischer 1995 Kanzler sche Staatsbürger kann denken und tun oder veräppelt wird (ähnlich wie Wrest-
Helmut Kohl despektierlich als »drei Zent- und lassen, was er will.« ling, Sexmessen oder Motorsport) durch
ner fleischgewordene Vergangenheit« be- Guido Zander, Brügge (Schl.-Holst.) permanentes Nach-dem-Mund-Reden, das
zeichnete, würde ich Fischer nach diesem sich peinlicherweise als Widerstand zum
SPIEGEL-Gespräch als »sehr geschätzte Ich rate, ein klares Zeichen zu setzen: Mitgrölen inszeniert. Herr Burger kann
vier Zentner fleischgewordene Zukunft« Sollen Özil und Gündoğan für die Nation noch so viel in die Kirche rennen: Mit
heute zum Kanzler wählen. spielen, der sie sich durch ihre Wurzeln Wahrheits- und Nächstenliebe hat das
Klaus Freudenfeld, München verbunden fühlen. nichts zu tun.
Albrecht Hofmann, Nisterberg (Rhld.-Pf.) Bernhard Becker, Duisburg
Die Doppelmoral
Nr. 21/2018 Was ein Auftritt mit dem türki- Vor Mitternacht im Bett
schen Präsidenten über die Fußballer Mesut Nr. 22/2018 Drei Abende mit dem
Özil und İlkay Gündoğan sagt – und die Auf- Musikproduzenten und Politiker Diether Dehm
129
Hohlspiegel Rückspiegel
NEU
Die »Süddeutsche Zeitung« über
minister Jens Spahn (CDU) reagiert.« SPIEGEL+, das neue
digitale Bezahlmodell des SPIEGEL:
im Handel Vielleicht hat nichts und niemand das Eti-
kett »altes Schlachtschiff« so sehr verdient
wie der SPIEGEL. Alles an ihm ist riesig.
Das Gebäude, viele Gehälter, nicht wenige
Egos, der Mythos. Und, mitunter, auch die
Aus der »WAZ« Beharrungskräfte. Wie kriegt man Be-
wegung in so einen Laden? An diesem
Montag hat der SPIEGEL ein neues Be-
Aus der »Stuttgarter Zeitung«: »1988, zahlmodell für alle seine Inhalte gestartet
vor genau 20 Jahren, haben … Konkret beendet der Verlag den Ver-
sich die Fellbacher dann an weißen kauf von einzelnen Texten … Stattdessen
Spargel herangetraut.« gibt es nun eine monatliche Flatrate für
19,99 Euro, die alle digitalen Bezahl-
inhalte abdeckt.
Die »Süddeutsche Zeitung« über
Maßnahmen zum Schutz wandernder
Amphibien: »Für die Kröten sollen Die »Frankfurter Allgemeine Sonntags-
neue Wegweiser aufgestellt werden, zeitung« über ein Gerücht,
damit sie den Durchschlupf finden.« das der US-Autor Bret Easton Ellis
über den SPIEGEL verbreitet:
Nur
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für Print-
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