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DasErste.de

Nervöse Republik
Ein Jahr Deutschland
MITTWOCH 19. APRIL
22∶45 Uhr
Ich will mein
Das deutsche Nachrichten-Magazin Haus so gestalten
wie mein Leben. Frei.
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Frankreich, Ronaldo, Trump

S o groß ist die Angst des Menschen vor dem Tod, dass jede Weltreligion einen
eigenen Trost dagegen ersonnen hat. An Ostern feiert die Christenheit den
ihren: Am dritten Tage nach der Kreuzigung, so berichten es die Evangelien,
war das Grab des Gekreuzigten leer. Jesus war auferstanden und hatte den Tod
überwunden. In der modernen Welt der Wissenschaft ist für solche Wunder-
geschichten kein Platz, die Sehnsucht, dem Tod zu entrinnen, lebt jedoch fort.
„In versteckter Form findet sich der Traum vom ewigen Leben auch in der heu-
tigen Bioforschung“, sagt US-Korrespondent Johann Grolle. In Amerikas Labors
und Instituten ist er vielen Spielarten dieses Traumes begegnet. „Besonders aus-
Mein Haus. Meine Welt.
geprägt findet sich der Glaube an den Sieg über den Tod unter den Nerds des
Silicon Valley“, sagt er. Seite 12

N
eun Tage vor der ersten Wahlrunde in
Frankreich zeichnet sich ein enges
Rennen um die Präsidentschaft ab – und
eine Zitterpartie für Europa. Rechts- und
SIMON FICHTNER / DER SPIEGEL

linksextreme Kandidaten trommeln für den


Frexit, das Lager der Gemäßigten schrumpft.
Ein Gefühl von Revolution liegt in der Luft,
jedenfalls das Ende der Herrschaft der eta-
blierten Parteien. Korrespondentin Julia
Amalia Heyer und der in Paris lebende Re-
Fichtner, Heyer in Paris porter Ullrich Fichtner schildern nicht nur Frei geplante Architektenhäuser
einen wilden Wahlkampf, sondern eine
Systemkrise. Sie schreiben, Frankreich sei kaum fähig, für die Wahl des neuen für individuelle Wohnwünsche.
Präsidenten ein einigermaßen seriöses Kandidatenfeld zu stellen: Das bedeute,
„dass etwas faul ist im Staate“. Seite 84
So einzigartig wie Sie selbst.
Weil Sie wissen, was Sie wollen.
D er Portugiese Cristiano Ronaldo ist einer der größten, wenn nicht der größte
Star im Fußball. Ein Vorzeigeathlet mit skandalfreiem Privatleben – dachte
man zumindest. Aber nun sind Dokumente aufgetaucht, die den Verdacht nahe-
Und es sich wert sind.
weberhaus.de
legen, er habe 2009 in Las Vegas eine Frau vergewaltigt. Die Unterlagen stammen
aus einem Datensatz, den die Enthüllungsplattform Football Leaks Sportredakteur
Rafael Buschmann zuspielte. Er stieß gemeinsam mit Gerhard Pfeil, Christoph
Henrichs, Antje Windmann und Michael Wulzinger unter anderem auf einen
Brief des mutmaßlichen Opfers, der sich liest wie eine Anklage. In Las Vegas
trafen Windmann und Buschmann die Frau, die eine Art Schweigeabkommen
unterschrieben hat, für das Ronaldo eine sechsstellige Summe zahlte. „Die ver-
meintliche Tat sollte gelöscht werden“, sagt Buschmann. Seite 72

F ast 100 Tage ist US-Präsident Donald


Trump im Amt, und noch immer liefert
er kein klares Bild, wer er wirklich ist und
was für Politik er machen möchte. Und so
schwankt auch das kulturelle Establishment
des Landes zwischen Gelassenheit und Wohnmedizinisch empfohlen.
Alarmismus. SPIEGEL-Autor Lothar Gorris Ausgezeichnete Raumluftqualität –
hat die Schriftsteller Tom Wolfe und John
JÜRGEN FRANK / DER SPIEGEL

in jedem WeberHaus.
Grisham sowie den Yale-Historiker Timo-
thy Snyder getroffen, um ihre Sicht auf
Trump zu erfahren. „Jede Demokratie
kann scheitern“, sagt Snyder, ein Experte
für osteuropäische Geschichte. „Auch die
amerikanische.“ Seite 118 Snyder, Gorris

DER SPIEGEL 16 / 2017 5


Staatskrise
Frankreich Gut eine Woche vor den Präsident-
schaftswahlen schwanken die Umfragewerte ähnlich
wie vor dem Brexit und der Wahl Donald Trumps.
Es ist nicht mehr auszuschließen, dass zwei Europa-
feinde, der linksradikale Mélenchon oder die rechts-
extreme Le Pen, in den Élysée einziehen. Seite 84

VINCENT NGUYEN / RIVA PRESS / LAIF


BRIAN SNYDER / REUTERS

GUIDO KIRCHNER / DPA

Ein Phantom Die guten Trumps Zielobjekt Fußball


Unternehmer Kaum einer kennt ihn, und USA Sie sind Nutznießer von Vettern- Anschläge Erstmals musste in Deutschland
wer ihn kennt, darf nichts sagen: Dieter wirtschaft und haben von Politik keine ein Champions-League-Spiel wegen eines
Schwarz, Gründer von Lidl und Kaufland, Ahnung. Doch Ivanka Trump und ihr Angriffs auf Fußballer verschoben werden.
meidet die Öffentlichkeit. Aber in seiner Ehemann Jared Kushner verkörpern für Die sichtbaren Folgen der Sprengsätze
Heimatstadt Heilbronn ist der Multimilliar- manche Amerikaner eine Hoffnung: dass gegen den Bus von Borussia Dortmund
där allgegenwärtig – und seine Macht sie auf den unberechenbaren Präsidenten waren eher gering – aber die Detonationen
spürbar. Seite 60 einen mäßigenden Einfluss haben. Seite 98 hatten enorme Symbolkraft. Seite 28

6 Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Foto [M] DeAgostini / Getty Images; Foto Balken: Jerome Sessini / Magnum Photos / Agentur Focus
In diesem Heft

Titel Sport
Zukunft Nicht nur religiöse Menschen Welche Sportarten das frei empfangbare
träumen von der Unsterblichkeit, Fernsehen zeigen muss / Magische

VALERY SHARIFULIN / TASS / ACTION PRESS


auch Wissenschaftler wollen den Tod Momente: Olaf Thon über seinen größten
besiegen 12 Erfolg mit Schalke 04 71
Religion SPIEGEL-Gespräch mit Bischof Fußball Die dunkle Seite des Cristiano
Heinrich Bedford-Strohm über Ronaldo 72
Allmachtsfantasien im Silicon Valley 19
Essay Warum die Endlichkeit seines Lebens Affären Korruption im westfälischen
den Menschen erst zum Menschen macht 22 Fußballverband 79

Deutschland Ausland
Leitartikel Warum es wichtig ist, dem Terror Konkurrenz für Irans Präsidenten Rohani /
zu trotzen, auch für Fußballstars 8 Proteste gegen Ungarns Hochschulgesetz 82 Alexej Nawalny
Meinung Kolumne: Im Zweifel links / Frankreich Eine Woche vor den Präsident-
So gesehen: Welche Parteien Er ist gerade aus der Haft ent-
schaftswahlen scheint deren Ausgang
geschlossen in den Wahlkampf ziehen offener als je zuvor 84
lassen, jetzt wirbt Russlands
und welche nicht 10 Oppositionsführer wieder
Analyse Was bedeutet die Wende in
Sechs Bundesländer müssen Abi-Aufgaben für seine Präsidentschaftskan-
ändern / Zahl der Einbrüche sinkt / der Außenpolitik von US-Präsident Trump? 91
didatur 2018. Im SPIEGEL-
Berlin-Attentäter bekam Befehl vom IS 24 Russland SPIEGEL-Gespräch mit dem
Oppositionellen Alexej Nawalny über seine Gespräch erklärt Nawalny,
Anschläge Sprengsätze gegen den
Lieblingssport der Deutschen 28 Inhaftierung und die Proteste gegen warum der Kreml ihn nicht
Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer die Regierung 92 ignorieren kann. Seite 92
von Borussia Dortmund, über die Venezuela Die politische Krise und
Entscheidung, trotz des Anschlags der Hunger treiben viele Menschen in
Fußball zu spielen 30 die Flucht 96
NRW SPD-Innenminister Ralf Jäger USA Das unheimlich mächtige Ehepaar
kämpft mit Pleiten und Pannen 32 Ivanka Trump und Jared Kushner 98
Populismus Der Überlebenskampf von
AfD-Chefin Frauke Petry 34

PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL


Debatte Warum mehr Geld für Verteidigung
Wissenschaft
notwendig ist 38 „Größerer Schaden als Nutzen“ – eine
CSU Die bayerische Wirtschaftsministerin Ärztin warnt davor, vorschnell zum Arzt zu
Ilse Aigner im SPIEGEL-Gespräch gehen / „Potenziell gefährlich“: Asteroid
über Machos in der Politik 40 zischt nah an der Erde vorbei 104
Kommentar Die CDU muss sich auf Verkehr Inflation der Oldtimer 106
die Zeit nach Angela Merkel vorbereiten 43
Essay DFG-Präsident Peter Strohschneider
Asien Die Kanzlerin versucht, begrüßt den „March for Science“ und warnt
ein Bündnis mit Peking gegen Trump die Wissenschaftler, sich zu überschätzen 109 Ilse Aigner
zu schließen 44
Gewalt Auch Männer werden in Meeresbiologie Wie eine winzige Mikrobe Sie ist bayerische Wirtschafts-
Partnerschaften zum Opfer, vor Jahrmillionen den Planeten Erde ministerin und wird als
erstmals gibt es Schutzwohnungen 46 bewohnbar machte 110
mögliche Nachfolgerin von
Referendum Ein Streitgespräch in der Familie Sportgeräte Das Rennrad soll endlich Horst Seehofer gehandelt. Im
über Präsident Erdoğan – ein Deutschtürke Scheibenbremsen bekommen – aber nicht
alle sind dafür 114
SPIEGEL-Gespräch sagt sie,
aus Berlin diskutiert mit seinem Schwager,
der in einer türkischen Kleinstadt lebt 48
Frauen würden in der Politik
noch immer nach anderen
Kultur Maßstäben beurteilt. Seite 40
Gesellschaft
Der Historiker Andreas Wirsching über
Früher war alles schlechter: Vereins- Hitlers Giftgasstrategie / Disney-Chef als
sterben in Deutschland / Was ist Hoffnungsträger der Demokraten? /
schwierig am Frühling, Herr Herold? 50 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 116
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum
Zeitgeist John Grisham, Timothy Snyder,
ein Engländer 33 Versuche Tom Wolfe – US-amerikanische
für seinen Führerschein brauchte 51
Autoren und die Frage, wie es weitergehen
Schicksale Eine Berlinerin sucht im Irak nach soll mit Trump als Präsident 118
den Spuren ihres verstorbenen Mannes 52
Kolumne Leitkultur Kunst Reformations-Ausstellung gerät
FRANCISCO LEONG / AFP

57
zum Aufgalopp der Egos 126
Wirtschaft Nationalsozialismus Der sonderbare Fall
des SS-Richters Konrad Morgen 128
Bahn setzt verstärkt auf extralange
ICE-Züge / Kai Diekmann berät Uber / Filmkritik „The Founder“, die Geschichte
Boom der Logistikimmobilien 58 des McDonald’s-Gründers Ray Kroc 130
Unternehmer Wie der geheimnisvolle Cristiano Ronaldo
Lidl-Gründer Dieter Schwarz Bestseller 124
seine Heimatstadt Heilbronn beherrscht 60 Er wird von seinen Fans ver-
Interview mit Lidl-Chef Klaus Gehrig Impressum, Leserservice 132
ehrt und von Kindern geliebt.
über Härte im Discountgeschäft 65 Nachrufe 133 Das Privatleben des Fuß-
Betriebsrenten Die geplante Reform schafft Personalien 134 ballstars ist weitgehend un-
neue Probleme 68
Luftfahrt Das rabiate Vorgehen gegen
Briefe 136 bekannt. Vor Jahren schloss
einen United-Airlines-Passagier Hohlspiegel / Rückspiegel 138 er einen Deal mit einer
ist ein Einzelfall, Überbuchungen aber Frau, die behauptete, er habe
sind an der Tagesordnung 70 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ sie vergewaltigt. Seite 72

DER SPIEGEL 16 / 2017 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Das Gesellschafts-Spiel
Widerstand gegen den Terror ist ein Projekt für alle – auch für den Fußball.

F
rieden zu den Festen ist den Deutschen nicht ver- gute, eine passende Antwort. Was immer Terroristen tun,
gönnt: ein Anschlag zu Weihnachten, ein Anschlag ob nun islamistische, rechts- oder linksextremistische, die
zu Ostern, erst ein Weihnachtsmarkt in Berlin, jetzt Gesellschaft macht weiter mit ihrer Normalität, lässt sich
der Mannschaftsbus von Borussia Dortmund. Dazwischen nicht beirren, bei aller Trauer, trotz der Ängste und Sor-
lagen die Anschläge in London, Sankt Petersburg und gen. Das ist weitgehend Konsens.
Stockholm. Es scheint, als suche der Terror Europa in im- Es ist natürlich besonders hart weiterzumachen, wenn
mer dichterer Folge heim. Er lässt sich nicht ausschalten, man selbst Opfer eines Anschlags war, wie die Spieler von
die Gesellschaften müssen die Bomben aushalten, müssen Dortmund. Aber andere haben das auch geschafft. Nach
einen Weg finden, damit umzugehen. dem weit schlimmeren Anschlag auf die Satirezeitschrift
Der Dortmunder Weg war: kurz Luft holen, dann wei- „Charlie Hebdo“ arbeiteten die Überlebenden sofort an
termachen, nicht innehalten. Das Hinspiel im Viertelfinale der nächsten Ausgabe weiter. Oder waren die Fußballer zu
der Champions League gegen AS Monaco wurde nur um jung für diese Zumutung? Von den Zwanzigjährigen haben
einen Tag verschoben. Dies wird nun scharf kritisiert, die Gesellschaften immer den meisten Mut und größten
auch vom Trainer und von einigen Spielern. Sie hätten Einsatz erwartet, und jetzt ging es, zum Glück, nicht darum,
lieber mehr Zeit gehabt, um die- in den Krieg zu ziehen, sondern
ses traumatische Erlebnis zu ein hochgradig abgesichertes
verarbeiten. Wenn Betroffene Spiel zu spielen.
so reden, fällt es schwer zu wi- Fußball ist nicht die Fortset-
dersprechen. Und doch muss zung des Krieges mit anderen
Widerspruch sein. Denn hier Mitteln, aber Fußballspieler ha-
verknüpfen sich zwei große ben eine zivile Verantwortung
Fragen, die alle betreffen: die für die Gesellschaft, weil ihr
Rolle des Fußballs in der Gesell- Sport eine emotionale Heimat
schaft und der Umgang mit für zig Millionen ist. Die Bin-
dem Terror. dung an einen Klub, an eine
Das Spiel war eine Zumutung Nationalmannschaft erzeugt Zu-
für die Dortmunder Spieler, kei- gehörigkeit, gibt Halt. An den
ne Frage. Aber sie sind für die Spieltagen findet die Nation
Gesellschaft nicht nur Indivi- als Erregungsgemeinschaft eine
duen, sondern auch Repräsen- gemeinsame Basis, und Sport-
tanten, und deshalb gibt es zwei patriotismus ist eine zumeist
Ebenen für dieses Thema, die harmlose Form, internationale
PATRIK STOLLARZ / AFP

individuelle und die kollektive. Rivalitäten auszuleben.


Niemand sollte nach einem Nicht alle Spitzenspieler wer-
solchen Anschlag spielen müs- den ihrer herausragenden Rolle
sen, wenn er nicht will, wenn gerecht. Die Superstars Messi
er nicht kann. Rückzug ist we- Bild des beim Anschlag verletzten Spielers Bartra im Stadion oder Ronaldo zahlen höchst un-
der feige noch verantwortungs- willig Steuern. Und wer mit ei-
los, sondern verständlich. Individuelle Absagen wären da- nem goldenen Lamborghini durch Dortmund brettert wie
her völlig in Ordnung gewesen. der Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang, zeigt, dass er von
Für das gesamte Spiel und die beiden Vereine gilt etwas dieser Stadt nichts verstanden hat, nichts verstehen will.
anderes. Hier geht es um den kollektiven Aspekt, die Meist reicht es den Fans, wenn die Spieler die Liebe mit
Rolle des Fußballs in den Zeiten des Terrors. Bei Redak- Toren und Siegen zurückzahlen. Aber sie sollten auch poli-
tionsschluss war noch nicht klar, was den oder die Atten- tisch-gesellschaftlich Vorbild sein, wenn es darauf ankommt.
täter von Dortmund angetrieben hat. Aber das Spiel wur- Am Mittwochabend, beim Nachholtermin, war das Sta-
de angesetzt unter dem Eindruck, der Anschlag könne dion in Dortmund voll. Die Fans wollten, dass es weiter-
Terror sein, es war damit eine Antwort auf den Terrorver- geht. Sie waren nicht besonders still, nicht besonders pa-
dacht. Terror hat immer zum Ziel, den Alltag mit Ängsten thetisch, es war alles weitgehend normal. Und die Spieler
zu spicken, die Normalität zu unterbrechen oder abzu- auf dem Rasen gehörten einmal wirklich dazu, waren Teil
schaffen. Wenn Attentätern das gelingt, haben sie einen des gesellschaftlichen Projekts Beharrung.
Sieg davongetragen. Zum nationalen Erinnerungsschatz zählen bislang
Es ist schwer, sich gegen den Terror zu wehren. Es gibt nur die großen Siege und die tragischen Niederlagen deut-
einen Luftkrieg gegen den IS, es gibt die innere Sicher- scher Mannschaften. Doch dieses Spiel wird aus einem
heitsarchitektur der Staaten, es gibt aber auch eine Ant- so banalen wie großartigen Grund erinnert werden: Es
wort der Gesellschaften, und die heißt: Beharrung. Eine fand statt. Dirk Kurbjuweit

8 DER SPIEGEL 16 / 2017


T HE
ALOHA WAY
HAWAII SPRING/SUMMER 2017
Meinung
Jakob Augstein Im Zweifel links

Urbi et orbi
Letzte Meldung aus Rom: Aber keine Sorge: Die katholische Kirche
Der Papst betreibt jetzt ist nur eine so alte menschliche Institution, Vorteil CLP
einen Waschsalon. Ob- weil sie, um zu überleben, stets zu Anpas- So gesehen Warum die
dachlose und Bedürf- sung fähig war. Es wird der Tag kommen,
tige können ihre Klei- da Frauen Priesterinnen werden. Wer, wenn Liberalen sehr gut für den
dung und ihre Decken nicht Franziskus, sollte diesen Prozess be- Wahlkampf gerüstet sind
zur Reinigung nach schleunigen? Als zentraler Erfolgsfaktor
Trastevere bringen. Ei- Am Ostersonntag wird er den Segen „Urbi im Wahlkampf gilt die Ge-
nen päpstlichen Friseur- et orbi“ sprechen, für die Stadt und den Welt- schlossenheit. Die Bürger
salon für Obdachlose gibt es bereits. Finden kreis. Wer immer ihn sieht oder hört und merken, wenn eine Partei
Sie das lustig oder selbstverständlich? Es ist guten Willens ist, dem wird unter den übli- nicht mit sich im Reinen
beides nicht. Papst Franziskus revolutioniert chen Bedingungen ein Ablass aller zeitlichen ist. So gesehen sind derzeit
seit vier Jahren seine Kirche. Er soll nur Sündenstrafen gewährt. Die größten Sünder nur SPD und CLP gut auf-
nicht nachlassen. aber sind diesem Papst die Reichen. Nie- gestellt. Bei den übrigen Par-
Die roten Schuhe waren damals ein Zei- mand hat den Kapitalismus klarer kritisiert teien hapert’s.
chen. Benedikt, der Deutsche, trug sie. Es als dieser Jorge Mario Bergoglio, der sich Beginnen wir mit der soge-
passte zum intellektuellen Ästheten aus dem als Papst den Namen des kommunistischsten nannten Union. Selbst wenn
Norden, dass man ihm nachsagte, das Schuh- aller Heiligen gegeben hat. Er spricht von Angela Merkel und Horst
werk stamme gar von Prada. In Wahrheit der „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht Seehofer die Schauspielkunst
waren die feinen, kleinen Schuhe hand- und ohne ein wirklich menschliches Ziel“. von Meryl Streep besäßen,
gefertigt von einem Schuhmacher aus dem Er klagt an: „Der Mensch an sich wird wie ließe sich kaum kaschieren,
Piemont. Franziskus, der einen anderen Weg ein Konsumgut betrachtet, das man gebrau- wie sehr sie sich verachten.
nimmt, braucht festeres Schuhwerk. Er ist chen und dann wegwerfen kann.“ Er sagt Leider operieren beide schau-
ein Handwerker, ein Baumeister. Er hat die ganz einfach: „Diese Wirtschaft tötet.“ spielerisch eher auf Karl-
Vatikanbank reformiert, eine Kommission Für solchen „christlichen Kommunismus“, Dall-Niveau. Im Vergleich zu
für den Schutz von Minderjährigen vor se- wie der italienische Schriftsteller Alberto den beiden hatten sich Hel-
xualisierter Gewalt eingerichtet, und er Moravia ihn nannte, hat man in Deutschland mut Kohl und Franz Josef
nimmt die Ökumene endlich ernst: Er betei- allerdings nie sehr viel Sinn gehabt. Hier Strauß jedenfalls echt lieb.
ligt sich an Reformationsfeierlichkeiten und vergessen die Katholiken oft, dass sie Chris- Bei den Grünen finden der
ist der erste Papst, der mit dem orthodoxen ten sein sollen. linke Flügel und der Angela-
Patriarchen von Moskau zusammentrifft. Wer an Ostern die Gelegenheit zur Um- Merkel-Gebetskreis um
In der Geschichte seiner Kirche ist Fran- kehr ergreifen will, muss nicht nach Rom Winfried Kretschmann der-
ziskus ein Zinnenstürmer. Aber von allen reisen. Der Segen hat seine Gültigkeit auch weil kaum noch Gemeinsam-
Zinnen scheut er doch noch die höchste: die über Radio (seit 1967), Fernsehen (1985) und keiten, weshalb die „grüne
Frauenordination. Die Argumente der Kir- Internet (1995). Er hat die Kraft, buchstäblich Volkspartei“ (Kretschmann)
che gegen die Weihe von Frauen, zum Bei- durch jede Ritze zu dringen. Hoffentlich. noch an der Fünfprozent-
spiel jenes, wonach Priester männlich sein hürde scheitern könnte. Bei
müssen, weil sie ja an Christi statt handelten, An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, der Linken steht das Talk-
sind die Argumente von Taschenspielern. Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. showpärchen Wagentaine
mit seiner nationalistischen
Variante von Sozialismus
jenen Genossen gegenüber,
Kittihawk die noch wissen, dass die
linke Bewegung internatio-
nale Wurzeln hat. Und die
AfD macht dieser Tage einen
ähnlich geschlossenen Ein-
druck wie die sehr späte Pira-
tenpartei.
Als Einheit präsentieren
sich hingegen die Sozialde-
mokraten, die nun schon seit
elf Wochen Ostern feiern,
ein Fest der Auferstehung.
Noch geschlossener wirkt da
nur die FDP-Nachfolgeorga-
nisation CLP (Christian-Lind-
ner-Partei), was daran liegen
könnte, dass Ein-Mann-Par-
teien es immer schon leichter
hatten, mit sich im Reinen zu
sein. Markus Feldenkirchen

10 DER SPIEGEL 16 / 2017


Titel

Alchemie
des ewigen Lebens
Zukunft Mit Blutextrakten, Wunderpillen und Tinkturen
versuchen Forscher, das Alter zu überlisten.
Zugrunde liegt ein Traum, der so alt ist wie die Menschheit:
den Tod zu besiegen und Unsterblichkeit zu
erlangen. Besonders anfällig sind Internetmilliardäre.

PASCAL DELOCHE / GODONG / PICTURE ALLIANCE / DPA


MURRAY BALLARD

Körperkonservierungstanks im Cryonics Institute*: Ein leichtes Schaudern

S
eit je fällt es dem Menschen schwer, Leibarztes in anderer Gestalt wiedergebo- zu verhindern, dass die Mäuse die Naht
den Tod zu akzeptieren. Wie uner- ren: Aufs Neue haben sich Wissenschaftler aufreißen, werden je ein Vorder- und ein
träglich muss es da erst erscheinen, daran gemacht, im Blut nach dem Jugend- Hinterbein zusammengeschnallt.
dass auch der Stellvertreter Jesu Christi elixier zu suchen. Im Verlauf der Wundheilung wachsen
sterblich ist. Gibt es keinen Weg, den Tod Heute werden nicht mehr Kinder, son- die Äderchen beider Mäuse zusammen.
zu überwinden?, fragte sich der Legende dern Versuchstiere für solch blutige Expe- Fortan strömt das Blut, gepumpt von zwei
nach im Jahr 1492 der Leibarzt von Papst rimente herangezogen. Als Erfolg verspre- Herzen, durch den Doppelkörper. Die ver-
Innozenz VIII., als dieser von schwerer chend gilt vor allem ein Verfahren namens wachsenen Tiere fressen zusammen, sie
Krankheit gezeichnet im Bett lag. Parabiose. Die Forscher nähen dabei junge schlafen zusammen, und sie humpeln zu-
Der Mediziner besann sich auf eine Leh- und alte Mäuse aneinander. sammen durch den Käfig.
re, der zufolge dem Saft in den Adern eine Vor der Operation werden die Tiere wo- Die Wissenschaftler aber gehen vor al-
geheime Lebenskraft innewohne. Drei chenlang aneinander gewöhnt, der Eingriff lem einer Frage nach: Altern sie nun auch
zehnjährige Knaben ließ er zur Ader und selbst geschieht unter sterilen Bedingun- zusammen?
reichte deren Blut dem siechen Innozenz. gen. Der Mäusechirurg entfernt bei beiden Gerontologen interessieren sich für pa-
Keiner der drei Jungen überlebte die Pro- Tieren eine dünne Hautschicht und tackert rabiotische Mäuse, seitdem sie entdeckt
zedur; der Papst starb wenig später. die zwei Stellen sodann zusammen. Um haben, dass junge Tiere dabei auf ältere
Mehr als ein halbes Jahrtausend ist seit wie eine Verjüngungskur wirken: Das ju-
jenem vergeblichen Versuch verstrichen, * Die Aufnahme auf dieser Seite sowie die Bilder auf
gendliche Blut, das durch ihre Adern pulst,
den Tod zu überlisten. Nun hat es den Seite 15 und 18 (jeweils unten) entstammen dem Fotoband lässt ihr Fell glänzender, ihre Muskeln straf-
Anschein, als sei die Idee des päpstlichen „Prospect of Immortality“ von Murray Ballard. fer, ihr Herz kräftiger werden – ja sogar
12 DER SPIEGEL 16 / 2017
Verklärung Christi (Gemälde von Raffael, 1520): Woher kommt die Besessenheit, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen?

das Lernvermögen steigert sich plötzlich Menlo Park bereits mit den ersten Tests scher Tony Wyss-Corey, einer der Grün-
wieder auf jugendfrisches Niveau. Im Blut begonnen: Sie appliziert 18 Alzheimer- der der Firma Alkahest. Denn war nicht
junger Mäuse scheint folglich ein Wunder- kranken das Blutplasma junger Spender, auch in der Legende des Grafen Dracula
mittel zu schwimmen, das die Lebensuhr in der Hoffnung, dass so ihr Gedächtnis das Blut junger Frauen ein Lebenselixier
rückwärts laufen lässt. Es ist wenig erstaun- wiederkehrt. Mit dem Ziel, in einer Studie der Untoten?
lich, dass dies die Forscher in Verzückung mögliche Anti-Aging-Wirkungen zu unter- Es macht die Sache nicht appetitlicher,
versetzt. suchen, bietet ein Start-up mit dem ver- dass Forscher des Kölner Max-Planck-
Schon glauben einige Wissenschaftler, heißungsvollen Namen Ambrosia sogar Instituts für die Biologie des Alterns nun
die Jungbrunnenessenz im Blut identifi- Gesunden eine solche Blutplasmakur an. auch jugendfrischen Exkrementen die
ziert zu haben. Alternsforscher an der Har- Allerdings verlangt das Unternehmen da- Kraft der Verjüngung zuschreiben. Sie füt-
vard-Universität haben einen Wachstums- für 8000 Dollar, was zu einer hitzigen De- terten Fische mit dem Kot jüngerer Art-
faktor namens GDF 11 in Verdacht, ihre batte in der Gemeinde der Alternsforscher genossen. Die Lebensspanne der Tiere ver-
Kollegen an der Universität von Kalifor- geführt hat. längerte sich daraufhin um verblüffende
nien in Berkeley dagegen schreiben dem Die müssen sich ohnehin um ihr 40 Prozent. Das Jugendstimulans, so
Liebeshormon Oxytocin die verjüngende Image sorgen. Jugendliches Blut, Liebes- vermuten die Wissenschaftler, entstamme
Wirkung zu. hormone, gruselige Mäuseexperimente – den im Darm der Jungfische siedelnden
Noch ist weitgehend unklar, was sich all das klingt, als wäre es der Fantasie Bakterien.
während der wundersamen Wandlung eines Alchemisten entsprungen. „Die Dass in Blut oder Kot womöglich Ver-
im Mäusekörper tut. Dennoch hat die Leute auf den Konferenzen munkeln jüngungskraft schlummert, mag die bi-
Biotech-Firma Alkahest im kalifornischen schon von Vampiren“, sagt Alternsfor- zarrste Verheißung der Alternsforscher
DER SPIEGEL 16 / 2017 13
Titel

sein; doch ist sie beileibe nicht die rauf häuften, dass das Medikament ihnen dem Tod ein Schnippchen zu schlagen –
einzige. Viele Ansätze werden in den La- auch Schutz vor Herzinfarkten, Schlagan- und damit letztlich einen Kampf aufzuneh-
bors verfolgt, und wie die Parabiose, so fällen, Demenzerkrankungen und sogar men, den der Mensch wohl nie wird ge-
rufen auch andere ein leichtes Schaudern vor Krebs zu gewähren scheint, will Barzi- winnen können?
hervor. lai es nun als Mittel gegen das Alter an Gewiss, vordergründig gelten die Bemü-
So sind die Nacktmulle zu großen Stars sich testen. hungen der Wissenschaftler dem Versuch,
des Forschungszweigs geworden: hässliche Er muss dafür radikal mit Gepflogen- die Gebrechen des Alters zu lindern; und
Kreaturen mit plumpem Leib, schrumpeli- heiten der Arzneimittelentwicklung bre- dies ist zweifellos ein Feld, auf dem sich
ger Haut und zwei monströsen Nagezäh- chen. Denn normalerweise wird in einer Erfolge erzielen lassen. Tatsächlich aber
nen. Die Wissenschaftler interessieren sich klinischen Studie stets nur die Wirksam- geht es vielen um mehr: In den meisten
für diese Ungeheuer, weil sie bis zu 30 Jah- keit eines Mittels gegen ein wohldefinier- Projekten der Alternsforscher kommt
re alt werden können – und damit rund tes Leiden untersucht. Barzilai aber will mehr oder weniger explizit die Sehnsucht
zehnmal so alt wie Maus, Hamster oder feststellen, ob Metformin die Gesundheit zum Ausdruck, das Alter an sich besiegen
andere Nagetiere. Als wären sie schon vor der Probanden insgesamt aufrechterhält. zu können.
ihrem Exitus in den Hades hinabgestiegen, Sein Kollege Jay Olshansky von der Uni- Die einen bekennen sich ganz offen zu
scheinen die Nacktmulle, fast blind in der versität von Illinois in Chicago ist be- diesem Ziel. Besonders lautstark und radi-
Finsternis ihrer unterirdischen Bauten, geistert. Das Leben pharmakologisch zu kal tut sich hier der britische Bioinforma-
dem Ziel urlangen Lebens erstaunlich verlängern sei in den Bereich des Mach- tiker Aubrey de Grey hervor, ein exzen-
nahe gekommen zu sein. baren gerückt: „Es ist plausibel, es ist mög- trischer Visionär von hagerer Gestalt mit
Dieses Ziel versuchen die Forscher nun lich“, sagt Olshansky. „Und es wäre die langem Zauselbart und rotbraunem Zopf
auch bei anderen Spezies zu erreichen. bedeutendste medizinische Intervention im Nacken. Ungeniert verkündet er, der
Schon haben sie das Leben von Fruchtflie- der Moderne.“ erste Mensch, der seinen 1000. Geburtstag
gen, Zebrafischen und Labormäusen mit- Anderen geht selbst das noch nicht erleben werde, sei vermutlich heute schon
hilfe von Hormonen, Genspritzen und an- schnell genug. Sie wollen die langwierige geboren.
deren Tricks beträchtlich verlängert. Bei Bei anderen tritt der Traum vom ewigen
Fadenwürmern gelang es ihnen sogar, die Leben versteckter zutage – indem sie das
Lebensspanne gentechnisch zu verzehn- Als der Mensch Alter zur behandelbaren Krankheit erklä-
fachen. ren. Das Altern beginnt in ihrer Vorstel-
Das besondere Interesse der Wissen- seiner Endlich- lung, wenn das erste Härchen ergraut und
schaftler aber gilt der Spezies Mensch. Er- die erste Runzel gebildet ist. Es ist dies der
kenntnisse versprechen sie sich hier vor keit gewärtig Anfang eines Prozesses, der Teil des
allem von jenen Fällen, in denen der Al- menschlichen Lebens ist und irgendwann
ternsprozess von der Norm abweicht. So wurde, suchte unweigerlich in den Tod mündet. Wer
altern Kinder mit der sogenannten Proge- meint, diesen Prozess stoppen zu können,
rie im Eiltempo. Schon als Teenager weist er diesen der verspricht implizit ewige Jugend und
ihr Körper viele der Symptome des Grei- die Überwindung des Todes.
senalters auf. Noch erstaunlicher ist die Gedanken mit Deutlich macht dies eine Rechnung des
Krankheitsgeschichte jener fünf Mädchen, Hedgefonds-Managers Joon Yun aus dem
die der britische Gerontologe Richard Jenseits- kalifornischen Silicon Valley, der einen
Walker untersucht. Ein Erbleiden führt bei Eine-Million-Dollar-Preis ausgelobt hat für
ihnen dazu, dass sich ihr Körper dem Al- fantasien zu das Erreichen des Ziels, „den Code des Le-
bens zu knacken und das Altern zu hei-
ternsprozess verweigert. Selbst als Zehn-
jährige sehen sie noch aus wie Babys, auch betäuben. len“: Bei einem gesunden 25-Jährigen, so
geistig verharren sie auf Kleinkindniveau. rechnet Yun vor, liege die Wahrscheinlich-
Walker glaubt deshalb, dass ihr Genom Zulassungsprozedur der Arzneimittelbe- keit, dass er vor seinem 26. Geburtstag
das Geheimnis ewiger Jugend enthalten hörde FDA umgehen. So flog Elizabeth stirbt, bei etwa 0,1 Prozent. Wenn es nun
könnte. Parrish, die Chefin der in Seattle ansässi- gelänge, die Sterblichkeit auf diesem Ni-
In der Gerontologie geht es aber längst gen Biotech-Firma Bioviva, nach Kolum- veau zu stabilisieren, würden Menschen
um mehr als Kuriositäten. Das Ziel sind bien, um sich dort ohne Zustimmung der im Schnitt an die 1000 Jahre alt werden.
vielmehr handfeste Interventionen. Und FDA selbst die von ihrer Firma entwickelte Es ist kein Zufall, dass diese Überlegung
diese scheinen plötzlich in Reichweite zu Genspritze gegen das Alter setzen zu las- im Silicon Valley geboren wurde. Denn
kommen. Was jahrelang bloße Grund- sen. Der Biologe Leonard Guarente vom nirgendwo grassiert die Sehnsucht, Un-
lagenforschung war, steht unvermittelt an Massachusetts Institute of Technology ent- sterblichkeit zu erlangen, so sehr wie in
der Schwelle zur klinischen Praxis: Eine schied sich unterdes, seine Pille gegen das der von Technikeuphorie beherrschten
Vorhut von Wissenschaftlern hat den Sieg Altern nicht als Medikament, sondern kalifornischen IT-Branche. Google-Mit-
über den Tod ins Visier genommen. als Nahrungsergänzungsmittel auf den gründer Sergey Brin hob 2013 einen Bio-
Demnächst soll die erste klinische Studie Markt zu bringen. Seit vorigem Jahr bietet tech-Ableger namens Calico aus der
starten, deren Ziel die Verlängerung des die Firma mit dem Heil versprechenden Taufe, dessen Ziel eine Therapie des Al-
menschlichen Lebens ist. Das Team des Namen Elysium Health „Basis“-Kapseln terns ist. Calicos Versprechen, den Men-
New Yorker Alternsforschers Nir Barzilai zum Preis von 50 Dollar pro Monatsdosis schen ein „gesünderes und längeres Le-
will rund 3000 gesunden Männern und an – mit dem ausdrücklichen Segen von ben“ zu schenken, nimmt sich noch gera-
Frauen im Alter zwischen 65 und 79 Jah- sechs Nobelpreisträgern, wie das Unter- dezu bescheiden aus.
ren Metformin-Pillen verabreichen. nehmen werbewirksam auf seiner Website Larry Ellison, der Gründer von Oracle,
Medizinern ist der Wirkstoff vertraut, verkündet. verkündete, dass der Tod ihn „sehr wü-
denn schon seit Jahrzehnten ist er eines Warum nur überbieten sich die Forscher tend“ mache – und spendete fast eine hal-
der gebräuchlichen Diabetesmittel. Weil mit ihren oftmals unhaltbaren Heilsver- be Milliarde Dollar für die Unsterblich-
sich bei Zuckerkranken die Hinweise da- sprechen? Woher kommt die Besessenheit, keitsforschung, um seinem Ärger Luft zu

14 DER SPIEGEL 16 / 2017


machen. Der deutschstämmige PayPal-Mit-
gründer Peter Thiel, der dank einer Paläo-
diät und einem sorgfältig ausgetüftelten
Regime von Wachstumshormonen 120 zu
werden hofft, hält mit seinen großzügigen
Millionenspritzen die Stiftung des Anti-
Altern-Propheten de Grey am Leben.
Es scheint, als fördere die Erfahrung,
dass in der virtuellen Welt der Computer
dem Möglichen keine Grenzen gesetzt
sind, den Glauben daran, dass auch das
reale Leben grenzenlos sei. „Wenn Sie Ihre
Milliarden in einem Industriezweig ge-
macht haben, der auf der präzisen Kon-
trolle von Nullen und Einsen beruht, wa-
rum sollten Sie dann nicht glauben, diese
Kontrolle auch auf Atome und Moleküle
ausdehnen zu können?“, meint der Tech-
nikhistoriker Patrick McCray von der Uni-
versität von Kalifornien in Santa Barbara.
So kommt es, dass gerade Zukunfts-
macher Brin, Ellison, Thiel und viele an-
dere IT-Milliardäre besonders anfällig für
einen Traum sind, der vermutlich so alt
wie die Menschheit ist.
Zwar vermag niemand mit Gewissheit

TOM PILSTON / PANOS / VISUM


zu sagen, wann sich im Homo sapiens erst-
mals das Bedürfnis oder gar die Zuversicht
regte, dem Tod entrinnen zu können. Doch
spricht vieles dafür, dass diese Hoffnung
dem Bewusstsein des Todes selbst ent-
sprang: Kaum dass der Mensch seiner ei-
Anti-Aging-Prophet de Grey: Der erste Mensch, der 1000 wird, ist heute schon geboren genen Endlichkeit gewärtig wurde, suchte
er diesen unerträglichen Gedanken mit
Jenseitsfantasien zu betäuben.
Und der Mensch war dieses Trostes of-
fenbar zutiefst bedürftig. Warum sonst soll-
te jede Kultur dieser Welt ihre eigene
Variante ewigen Lebens ersonnen haben –
obwohl dies doch aller menschlichen
Erfahrung widerspricht?
Die Details unterscheiden sich: Muslime
lassen die Seelen der Verstorbenen eine
Reise in die Glückseligkeit antreten;
Buddhisten schlüpfen nach dem Tod ein-
fach in neue Körper; Christen werden ins
Reich Gottes aufgenommen, um dann zum
Tag des Jüngsten Gerichts, gekleidet in ih-
ren alten Körper, wiederaufzuerstehen.
Den Religionen aber ist gemein, dass sie
die augenscheinliche Tatsache verleugnen,
dass das Leben mit dem Tod endet.
Menschen haben viel Aufwand betrie-
ben, um die Illusion vom Widerruf des To-
des aufrechtzuerhalten. Monumentale Py-
ramiden in Ägypten und Mexiko haben
sie mit der Kraft ihrer Hände aufgetürmt,
unzählige Totentempel und -städte errich-
tet – und all dies nur, um den Glauben da-
ran zu stärken, dass ein Fortbestehen nach
dem Tode möglich sei. Ein erheblicher Teil
allen kulturellen Schaffens gilt diesem
größten menschlichen Selbstbetrug.
MURRAY BALLARD

Da erscheint es nur folgerichtig, dass


auch das älteste überlieferte Stück der
Menschheitsliteratur diesem Thema gewid-
Lagerhalle beim russischen Kryonikanbieter KrioRus: Kein Platz fürs Jenseits met ist. Das mehr als 4000 Jahre alte Gilga-
DER SPIEGEL 16 / 2017 15
Titel

mesch-Epos schildert, wie der machtvolle Zukunft eine Heilung meines Krebses ge-
König Gilgamesch in Verzweiflung verfällt, ben wird und sie mich aufwecken werden“.
als sein Freund Enkidu an einer Krankheit Ewige Jugend Wahrscheinlicher allerdings ist, dass sie
stirbt. Nie mehr kann er fortan vergessen, der eisigen Gruft niemals entkommt. Denn
dass auch ihn dieses Schicksal erwartet. muss nicht vieles spricht dafür, dass das Alter prinzipiell
Bis ans Ende der Welt reist er, um von sei- unheilbar ist und die Unsterblichkeit ein blo-
nem Urahn Uta-napischti das Geheimnis erst erfunden ßer Traum bleiben wird. Zudem verkennt,
der Unsterblichkeit zu erfahren. Der je- wer das Alter abschaffen will, dass es sich
doch überzeugt Gilgamesch, dass er nicht werden. Es dabei um eine der großen Errungenschaften
einmal den kleinen Bruder des Todes, den in der Geschichte des Lebens handelt.
Schlaf, zu bezwingen vermag. gibt sie längst, Ewige Jugend muss nicht erst erfunden
Die Aufklärung bedeutete eine Zäsur werden. In der Natur gibt es sie längst, und
im Verhältnis des Menschen zum Tod. und das das seit Milliarden Jahren. Unsterblichkeit
Erstmals bewährte sich ein Welterklä- ist gleichsam der Urzustand, in dem das
rungsmodell, das ohne Götter und über- seit Milliarden Leben geboren wurde. Denn primitive Ein-
natürliche Kräfte auskam. Die moderne zeller bringen, wenn sie sich teilen, immer
Wissenschaft begreift den Menschen als Jahren. aufs Neue Nachkommen hervor, die eben-
Organismus, der im Tod sein Ende fin- so jung und frisch sind wie sie selbst.
det. Für ein Jenseits ist in diesem Weltbild Sogar mit der Entstehung der ersten viel-
kein Platz. ausgetauscht. Durch das schnelle Abküh- zelligen Wesen war noch nicht automatisch
Doch nun zeigt sich: Auch die vermeint- len auf tiefe Temperaturen verglasen Or- die Erfindung des Alterns verbunden. Das
lich so rational denkenden Wissenschaftler gane und Gewebe, statt scharfkantige Kris- zeigt ein Langzeitexperiment am Max-
sind oftmals nicht bereit, ganz auf Unsterb- talle zu bilden, welche unweigerlich die Planck-Institut für demografische For-
lichkeitsfantasien zu verzichten – nur dass Zellen zerstören würden. schung in Rostock. Seit zehn Jahren um-
sie, weil das Jenseits für sie abgeschafft ist, Aber natürlich ist es nicht das Leben im hegen die Wissenschaftler dort in Aqua-
gezwungen sind, den Traum vom ewigen ewigen Eis, wonach die Kunden der Kryo- rien Süßwasserpolypen („Hydra“), knapp
Leben ins Diesseits zu verpflanzen. Zwei niker streben. Wer sich gegen Vorauszah- einen Zentimeter lange, stecknadeldünne
unterschiedliche Visionen halten die Hoff- lung von 28 000 Dollar in flüssigen Stick- Tierchen mit transparenten Tentakeln. Im
nung wach, dass die Unsterblichkeit auf stoff versenken lässt, der hofft auf spätere Laufe der Zeit hat der Stammpolyp Hy-
Erden möglich sein könnte. Wiederauferstehung. Dereinst, so sagt es dra 1 mehr als 30 000 Nachkommen durch
Die eine wird besonders von Computer- der mit Cryonics Institute oder Alcor ab- ungeschlechtliche Vermehrung hervorge-
visionären propagiert. Sie finden sich mit geschlossene Vertrag, werde der Körper bracht. Das Schicksal von 1800 von ihnen
der Vergänglichkeit des Körpers ab und aufgetaut, um ein zweites, diesmal hoffent- haben die Forscher detailliert verfolgt.
setzen stattdessen darauf, das geistige Ich lich dauerhaftes Leben anzutreten. Voraus- Insbesondere haben Biodemograf Ralf
von seiner sterblichen Hülle zu befreien. setzung dafür ist, dass die Wissenschaft bis Schaible und seine Mitarbeiter sorgfältig
Die Grundidee: Es gelte, den Inhalt des dahin das Ärgernis des Alterns aus der alle Todesfälle protokolliert. Was er dabei
Gehirns auszulesen und im Computer Welt geschafft hat. herausfand: Die Sterblichkeit blieb über
hochzuladen. Das „Mind uploading“ Erst Mitte November wurde der Fall ei- all die Jahre hin unverändert. „Hydra al-
kommt dem Aufstieg der Seele in den di- ner 14-jährigen Britin bekannt, deren Kör- tert nicht“, konstatiert Schaible.
gitalen Himmel gleich. per nunmehr im Kältetank schwimmt. Vor Erst höhere Lebensformen schlossen je-
Googles Cheffuturist Ray Kurzweil hat Gericht hatte sie sich das Recht erstritten, nen Generationsvertrag ab, der sich Alter
sogar ausgerechnet, wie lange es noch dau- sich nach ihrem Krebstod einfrieren zu las- nennt: Die Älteren treten seither nach ei-
ern wird, bis die Technik des Hirnhoch- sen, in der vagen Hoffnung, „dass es in ner von biologischen Prozessen vorausbe-
ladens ausgereift ist. Das Ergebnis gibt stimmten Lebensspanne ab, um den Jün-
dem heute 69-Jährigen durchaus Hoffnung, geren Platz zu machen. Würde der Mensch
selbst noch die Wiederauferstehung im diesen Kontrakt aufkündigen, käme es
Computer zu erleben. Seiner Hochrech- bald zum Krieg der Generationen: Die Ju-
nung zufolge müsste Kurzweil bis zum gend würde rebellieren gegen die Allge-
Jahr 2045 durchhalten; er wäre dann 97. genwart der unsterblichen Greise.
Die zweite Variante angeblich wissen- Klüger ist es da, sich mit der Unabän-
schaftlich begründeter Unsterblichkeit be- derlichkeit der eigenen Sterblichkeit zu
steht in der Vorstellung, den Körper dau- versöhnen. Über Jahrhunderte hin mahn-
erhaft gegen den Verfall zu wappnen. Und ten Philosophen, dass nur derjenige Glück
weil der einfachste Weg, biologisches Ge- auf Erden werde erlangen können, der
webe zu konservieren, darin besteht, es Frieden schließe mit dem Tod, statt ihn zu
einzufrieren, bieten die sogenannten Kryo- verleugnen oder gegen ihn aufzubegehren.
niker ihrer Kundschaft an, sie unmittelbar Ein solcher Frieden, so lehrte Epikur
nach dem Tod in flüssigem Stickstoff zu schon im dritten vorchristlichen Jahrhun-
verwahren. dert, sei durchaus möglich. Denn letztlich
204 Körper lagern bereits in den Kühl- verliere der Tod für jene allen Schrecken,
tanks der beiden amerikanischen Kryonik- die begriffen, dass er für uns Menschen
firmen Cryonics Institute und Alcor, wei- gar nicht existiere: „Solange wir da sind,
tere werden beim russischen Anbieter ist er nicht da, und wenn er da ist, sind
KrioRus verwahrt. Blut und Gewebsflüs- wir nicht mehr.“ Erst diese Erkenntnis ma-
sigkeit wurden bei den „Patienten“, wie che das „vergängliche Leben köstlich“.
Leichname hier heißen, durch ein Gemisch Gut 1800 Jahre später mahnte Michel
aus Äthylenglykol und Dimethylsulfoxid Psychologin Carstensen: Hornhaut der Seele de Montaigne die Menschen, sich dem Tod
16 DER SPIEGEL 16 / 2017
EINFRIEREN
Kryonik
Nach dem Tod wird
der Körper in flüssigem
Stickstoff verwahrt.
Aufgetaut wird er erst
in einer Zukunft, in
der es kein Altern
mehr gibt.
ERINNERN DIGITALISIEREN
Vorgetäuschte Zeitreise Mind-Uploading
Experimente zeigen: Wenn alte Wenn es gelänge, das Gehirn
Menschen einige Tage in einer vollständig im Computer zu simulieren,
Umgebung verbringen, die der- wäre die Trennung des Bewusstseins vom
jenigen ihrer Jugendzeit gleicht, Körper möglich. Software-Updates könnten
wird ihr Körper kräftiger, die Intelligenz steigern; das Ich würde
ihre Sinne werden geschärft. zum Teil des Internets.

TRANSFUNDIEREN
Parabiose
Jugendfrisches Blut
Die Suche nach kann verjüngen. Bei
Mäusen zeigt sich:
dem Jungbrunnen Werden zwei unter-
Ideen, wie sich das Leben schiedlich alte Körper
verlängern lassen könnte gekoppelt, kommt
es zu einer
ESSEN Verjüngung des
Nahrungsergänzungsmittel älteren Tieres.
Zwei Kapseln am Morgen versprechen
die Erhöhung eines Koenzyms, das
zahlreiche Prozesse in den Zellen am
Laufen hält.
SPRITZEN
Gentechnik
Forscher vermuten einen Schlüssel
zu ewiger Jugend im Genom.
Die Lebensspanne von
Fadenwürmern lässt sich
mittels Gentechnik bereits
SCHLUCKEN verzehnfachen.
Anti-Aging-Pillen
Der Wirkstoff Metformin,
der als Mittel gegen
Diabetes bewährt ist,
scheint auch vor Herz-
infarkten, Schlaganfällen,
Demenz und Krebs zu schützen.

zu stellen. Allzu sehr neige das Volk dazu, ihr würdet mich unablässig verfluchen, Wie aber lässt sich dieser unterschwelli-
ihn zu verleugnen: „Die Menschen, sie dass ich ihn euch vorenthalten habe.“ gen Angst begegnen? Wie kann man sie
kommen, sie gehen, sie schlendern, sie tan- Was indes weder Epikur noch Montaigne besänftigen oder zähmen? Es ist schwierig,
zen – und vom Tod hat keiner etwas ge- wussten: dass verborgen im Innern des Einfluss aufs Unterbewusste zu nehmen,
hört.“ Tatsächlich aber helfe es nichts, Menschen das Unterbewusste regiert. Man gerade weil es bewussten Interventionen
„wenn wir den Blick ohne Unterlass wie mag sich noch so sehr mühen, dem Tod nicht zugänglich ist. Solomon empfiehlt,
in Feindesland hierhin und dorthin wen- mit vernünftigen Argumenten seinen das Selbstwertgefühl zu stärken, weil das
den“. Der Tod hänge „stets über uns wie Schrecken zu nehmen, die unbewussten den wirksamsten Schutz vor Anfechtun-
des Tantalus Felsen“. Ängste wird man so nicht beschwichtigen gen und Ängsten des Unterbewussten bie-
Folglich komme es darauf an, dem Tod können. „Tief unter der Oberfläche des Be- te. Bei vielen Menschen ist jedoch das Ich
mutig entgegenzutreten: „Pflegen wir Um- wusstseins rumort ständig diese Panik“, sehr fragil. Außerdem kann selbst eine ge-
gang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, sagt Sheldon Solomon. hörige Portion Selbstbestätigung die unbe-
bedenken wir nichts so oft wie ihn!“, ruft Mit einer Serie raffinierter Experimente wusste Todesangst allenfalls lindern, be-
Montaigne seinen Lesern zu. Nur wer ge- hat der Psychologe vom Skidmore College siegen kann sie sie nicht.
lernt habe zu sterben, sei fähig, das Leben in Saratoga Springs das heimliche Wirken Doch die Psychologen haben auch Trost
zu genießen. der Angst vor dem Tod sichtbar gemacht. zu bieten: Die Natur, so fanden sie heraus,
Die Unsterblichkeit hingegen sei keines- Wieder und wieder zeigte sich dabei: scheint die Seele mit einer Art Hornhaut
wegs erstrebenswert. Montaigne graust vor Wenn Menschen auch nur beiläufig an die ausgestattet zu haben, die Schutz vor der
der Vorstellung, dass das Leben nie ein eigene Sterblichkeit erinnert werden, ver- Todesangst bietet. Diesen Schluss lassen be-
Ende nähme. Saturn, den Gott der Zeit ändert dies die Art ihres Handelns. Sie hal- sonders die Befunde der Alternsforscherin
und der Dauer, lässt er deshalb zu den ten mehr an ihrem eigenen Wertesystem Laura Carstensen von der Stanford-Univer-
Menschen sagen: „Hättet ihr nicht den Tod, fest und grenzen Fremde verstärkt aus. sität zu. Sie verfolgte, wie sich die allge-
DER SPIEGEL 16 / 2017 17
Titel

meine Lebenszufriedenheit von Menschen


im Verlauf ihres Lebens wandelt. Zu ihrer
Verblüffung stellte sie fest: Sie nimmt zu.
Zwar lässt die Kraft nach, die Glieder wer-
den mürbe, und die alltäglichen Verrichtun-
gen kosten mehr Zeit; doch all das macht
die Menschen offenbar nicht verzagter, son-
dern im Gegenteil, ihr Lebensmut wächst.
Carstensen hat auch eine Erklärung für
dieses Phänomen. Intuitiv schätze jeder
Mensch die Zeit ab, die ihm auf Erden noch
bleibe. Und je knapper diese bemessen ist,
desto mehr wende sich seine Aufmerksam-
keit der Gegenwart zu, glaubt die Forsche-
rin. Statt sich Sorgen um die Zukunft zu
machen, leben die Älteren im Hier und
Jetzt. Sie interessieren sich nur noch für die
engsten Freunde und Verwandten, während
die Jungen sich voller Beklommenheit da-
ran machen, neue Beziehungen zu knüpfen.
Insofern scheint es, als werde gerade das
Wissen um die eigene Endlichkeit, das die
Jungen so peinigt, für die Alten zum Trost.
Es kommt also auf die innere Einstellung
an, und dies gilt nicht nur für das Verhält-
nis zum Tod, sondern auch für dasjenige
zum Altern. Als Beleg dafür mag ein klas-
sisches Experiment gelten, das Ellen Lan-

THE TRUSTEES OF THE BRITISH MUSEUM / BPK


ger bereits vor 35 Jahren durchgeführt hat.
Die Psychologin der Harvard-Universi-
tät lud acht alte Männer in ein ehemaliges
Kloster im US-Bundesstaat New Hamp-
shire ein. Der Trip wurde für die über Sieb-
zigjährigen zur Zeitreise. Langer hatte für
sie eine Welt eingerichtet, in der alle Spu-
ren der letzten 20 Jahre getilgt waren: Kei-
nes der Möbel war jüngeren Datums, an
Assyrische Tontafel mit Gilgamesch-Epos: Reise ans Ende der Welt den Wänden hingen nur alte Fotos. Im
Fernsehen liefen Schwarz-Weiß-Serien aus
den Fünfzigerjahren, die ausliegenden
Zeitschriften befassten sich mit Castros Re-
volution und den ersten Satelliten im All.
Auch hatte Langer ihre Probanden ange-
halten, sich vorzustellen, dass sie wirklich
in die Vergangenheit zurückversetzt seien.
Fünf Tage verbrachten die Männer in
dieser künstlich geschaffenen Zeitinsel.
Dann wurden sie genauestens von der For-
scherin untersucht. Die Ergebnisse waren
frappierend: Es zeigte sich, dass diese we-
nigen Tage gereicht hatten, die Greise mar-
kant zu verändern. Ihr Griff war kräftiger,
ihr Gang aufrechter, ihr Gehör schärfer ge-
worden. Sie sahen genauer, und auch ihr
Gedächtnis funktionierte wieder besser.
Ewiges Leben, demnächst für alle? Ein
Traum für Gläubige und auch für Forscher –
es wird wohl ein Traum bleiben. Ein wenig
Jugend aber, so scheint es, lässt sich allein
durch den Glauben an sie erlangen.
Johann Grolle
Mail: johann.grolle@spiegel.de
MURRAY BALLARD

Animation: Altern
in Deutschland
spiegel.de/sp162017leben
Vorbereitung einer Kryokonservierung bei Alcor: Menschlicher Selbstbetrug oder in der App DER SPIEGEL

18 DER SPIEGEL 16 / 2017


„Wir dürfen nicht Gott spielen“
SPIEGEL-Gespräch Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, kritisiert
Versuche, Alter und Tod abzuschaffen – und warnt vor Allmachtsfantasien im Silicon Valley.

Bedford-Strohm, 57, wuchs in einem evangeli-


schen Pfarrhaus in Bayern auf. Als Theologie-
professor lehrte er Sozialethik an der Univer-
sität Bamberg. 2011 wurde er bayerischer
Landesbischof, 2014 Ratsvorsitzender der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

SPIEGEL: Herr Ratsvorsitzender, was genau


passiert, wenn ein Mensch stirbt?
Bedford-Strohm: Niemand war tot, ist zu-
rückgekommen und kann uns sagen, wie
es eigentlich ist. Wir können uns davon
nur Bilder machen. Eines davon steht in
der Offenbarung des Johannes: Gott wird
abwischen alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein, noch
Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird
mehr sein.
SPIEGEL: Jesus sitzt auf dem Himmelsthron,
die Englein schwirren umher, und dann
wird gerichtet über die Lebenden und die
Toten – glauben Sie das wirklich?
Bedford-Strohm: Das sind doch wunderbare
Gemälde der Kunstgeschichte! Was ich
aber fest glaube: Am Ende kommt die
Wahrheit über unser Leben auf den Tisch,
und zwar mit ihren hellen und dunklen
Seiten. Wir müssen Rechenschaft ablegen.
SPIEGEL: Und dann werden wir von Gott
konkret gefragt: Warum hast du damals
den Bettler abgewiesen? Wieso hast du
deine Frau verlassen?
Bedford-Strohm: Ich werde dann einsehen,
wo ich, vielleicht ohne es zu merken, un-
recht getan habe. Es wird dann ein Gefühl
ungeheurer Scham geben. Aber diese Er-
kenntnis der Wahrheit über mein Leben,
durch die muss ich hindurch, bevor ich bei
Gott geborgen sein kann.
SPIEGEL: Wird man im Paradies auch seine
Familie und die Freunde treffen?
Bedford-Strohm: Da halte ich es mit dem
protestantischen Schweizer Theologen
Karl Barth, der mal gefragt worden sein
soll: „Herr Professor, werden wir droben
unsere Lieben wiedersehen?“ Und dann
hat er gesagt: „Ja, aber die anderen auch.“
Das ist ein wichtiger Hinweis: Wir können
ja nicht die Kontrolle über das überneh-
men, was nach dem Tod passiert. Es liegt
in Gottes Hand.
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Wie viel hat das ewige Leben mit


der diesseitigen Existenz zu tun? Essen wir
dann auch erst mal gebratenen Fisch wie
Jesus nach der Auferstehung?
Bedford-Strohm: Wir werden verwandelt
werden. Wir können uns jetzt nicht genau
vorstellen, wie wir aussehen. Es ist wie
beim Samenkorn: Das Alte stirbt, und Bischof Bedford-Strohm am Berliner EKD-Sitz: „Am Ende kommt die Wahrheit auf den Tisch“

DER SPIEGEL 16 / 2017 19


Titel

etwas Neues wächst. So hat es nicht da oben irgendwo sitzt


Paulus geschrieben. Das finde und richtet, sondern das Leid,
ich ein sehr schönes Bild. die Verzweiflung am eigenen
SPIEGEL: Mit Verlaub, die Auf- Leib erfahren hat. Daran erin-
erstehung ist doch ein naiver nern wir Karfreitag.
Kinderglaube. SPIEGEL: Himmel und Hölle wa-
Bedford-Strohm: Wer durchs ren in früheren Zeiten ein gro-
Feuer der kantschen Philoso- ßes Thema. Heute spielen sol-
phie gegangen ist, weiß: Als che Vorstellungen keine große
Mensch können wir Gott nicht Rolle mehr, jedenfalls nicht in
erkennen, wie er ist, sondern der westlichen Gesellschaft …
ihn nur mit unseren menschli- Bedford-Strohm: … was ich be-
chen Kategorien beschreiben. dauere. Wir sollten neu, wenn
Darum ist es philosophisch ab- auch anders, davon sprechen
solut nachvollziehbar zu sa- lernen.
gen, wir können Gott nicht SPIEGEL: Würden Sie den Men-
herleiten. Was wir aber kön- schen nicht eher entgegen-
nen, ist Gottes Wort zu ver- kommen, wenn Sie das Jen-
trauen. Das ist der angemes- seits mal beiseiteließen? Wenn
sene Zugang. Sie die Leute einfach nur da-
SPIEGEL: Es geht nicht nur um bei unterstützten, ein ethisch
Philosophie. Ihr Glaube hält gutes Leben zu führen?
den exakten Naturwissen- Bedford-Strohm: Christlicher
schaften schon lange nicht Glaube lässt sich nie und nim-
mehr stand. mer auf Ethik reduzieren. Die
Bedford-Strohm: Wenn ich jetzt Gegenwart und das Jenseits
meine Frau mitgebracht hätte, Gottes lassen sich nicht aus-
dann würde ich sie Ihnen ja einanderreißen. Die Art, wie
auch nicht vorstellen, indem wir hier und jetzt leben, hängt
ich sage: gestatten, meine doch mit unserem Glauben

AKG-IMAGES
Frau, 65 Prozent Sauerstoff, 20 ans ewige Leben zusammen.
Prozent Kohlenstoff, 10 Pro- Der Glaube gibt Kraft zum gu-
zent Wasserstoff, 3 Prozent Künstlicher Mensch im Film*: „Das hielte ich für Sünde“ ten Leben, und er gibt Orien-
Stickstoff. tierung für das Hier und Jetzt.
SPIEGEL: Wir würden uns Sorgen um Ihre SPIEGEL: Was macht Sie eigentlich so sicher, SPIEGEL: Wir haben einen anderen Ein-
Ehe machen. dass Ihre christlichen Ewigkeitsbilder die druck: Die Kirchen verlieren im Westen
Bedford-Strohm: Mit Recht! Weil Sie genau richtigen sind – und nicht die der Buddhis- an Bindekraft, weil sie weiterhin vom Pa-
wissen, dass in einem solchen Zusammen- ten oder Muslime? radies träumen – während die Menschen
hang die Frage der chemischen Zusam- Bedford-Strohm: Weil ich an den Gott glau- lieber an der Unsterblichkeit im Diesseits
mensetzung meiner Frau schlicht und ein- be, der sich in einem Menschen gezeigt arbeiten, ohne Umweg über den Himmel.
fach keine Rolle spielt. In unseren Bezie- hat, der am Kreuz mit einem Schrei der Bedford-Strohm: Was Sie über die Arbeit an
hungen geht es um Liebe, Emotionen, Verzweiflung gestorben ist. Das ist für der Unsterblichkeit im Diesseits sagen, ist
nicht um Kohlenstoff und Wasser. mich einmalig und nicht in anderen Reli- richtig beobachtet. Wir haben ein Pro-
SPIEGEL: Was wollen Sie damit sagen? gionen zu finden. Deswegen bin ich wirk- blem, unsere Endlichkeit anzunehmen. Ich
Bedford-Strohm: Wer nur glaubt, was er em- lich von Herzen überzeugt von der Wahr- habe als Professor eine Kindervorlesung
pirisch messen kann, um den würde ich heit der christlichen Tradition. Ich finde übers Sterben gehalten und die Kinder ge-
mir wirklich Sorgen machen: Wesentliche es absolut faszinierend, dass dieser Gott fragt, wer schon mal eine Leiche gesehen
Dimensionen des Lebens, die den Reich- habe. Nur zwei haben sich gemeldet. Einer
tum unserer Existenz ausmachen, würden hatte eine Moorleiche im Museum gese-
ihm verloren gehen. hen, ein anderer kam aus Kasachstan, wo
SPIEGEL: Die meisten Kulturen haben Ideen
zur Unsterblichkeit entwickelt. Schon das
„Wer nur Tote noch aufgebahrt werden. Wir haben
den Tod aus dem Alltag verdrängt und
legt nahe, dass es sich um Ausflüchte
handelt, tröstliche Visionen, um über den
glaubt, was müssen neu lernen, ihn wieder in unser
Leben zu integrieren.
Schrecken des Todes hinwegzukommen.
Bedford-Strohm: Das Wort Ausflüchte ist
er empirisch SPIEGEL: Transhumanisten wie Julian Hux-
ley haben schon vor 60 Jahren den Ge-
schon wieder eine Wertung. Aber weil es
tröstet, muss es nicht falsch sein. Sie gehen
messen danken formuliert, dass der Mensch seine
menschliche Natur überwinden müsse.
davon aus, dass es die Wahrheit gibt, die kann, um Anders gesagt: Das lästige Altern und Ster-
man beweisen kann. Dass Sie intellektuell ben gehören abgeschafft.
auf sicherem Grund sind, wenn Sie sagen, den würde ich Bedford-Strohm: Die Überwindung von Leid
dass da nichts kommt. Und alle anderen ist natürlich wunderbar. Man kann der
müssen sich rechtfertigen. Das genau ist mir wirklich Medizin nicht dankbar genug sein, wenn
aus meiner Sicht falsch, denn die Wahr- sie Leben menschenwürdig verlängert. Wir
heitsfrage im Hinblick auf das Nichts ist Sorgen machen.“ dürfen aber nicht krampfhaft an einer
genauso offen wie im Hinblick auf das Le-
ben nach dem Tod. * Boris Karloff in „Frankenstein“ (1931).

20 DER SPIEGEL 16 / 2017


Existenz festhalten, die immer endlich ist dürfen nicht Gott spielen, sonst landen wir
und bleiben wird. im Unheil wie beim Turmbau zu Babel.
SPIEGEL: Aber wo ziehen Sie die Grenze? SPIEGEL: Wie hat es Jesus denn angestellt,
Bedford-Strohm: Das ist eine grundsätzliche als er Lazarus von den Toten aufweckte?

WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL


Frage, die jeder, der zum Beispiel Krebs Bedford-Strohm: Diese Geschichte ist so
im Endstadium hat, für sich selbst beant- prominent, weil anschaulich beschrieben
worten muss: Wie lange kämpfe ich, und wird, wie er mit Leichentüchern bekleidet
wann nehme ich meine Endlichkeit an? aus dem Grab aufersteht. Die Erzählung
Man sollte da von außen keine schönen fasziniert Menschen immer wieder aufs
Reden halten. Aber als Pfarrer weiß ich Neue, weil sie zeigt, dass Jesus den Tod
aus der Begleitung von Sterbenden und zu überwinden vermag. Der Tod hat nicht
ihren Angehörigen, dass Menschen sehr Bedford-Strohm beim SPIEGEL-Gespräch* das letzte Wort. Darum geht es. Einen
gute Erfahrungen machen, wenn sie Ja „Gefahren rechtzeitig diskutieren“ Anspruch auf Plausibilität im Sinne heu-
zum Sterben sagen und bewusst Abschied tigen biochemischen oder naturwissen-
nehmen. rausgefordert, wenn Wissenschaftler eine schaftlichen Wissens erhebt die Erzählung
SPIEGEL: Und wenn es eine Pille gegen das Pille für die Ewigkeit suchen? nicht.
Altern gäbe, wie Wissenschaftler nun ver- Bedford-Strohm: Jedenfalls gibt es da eine SPIEGEL: Nehmen Sie Wissenschaftler, die
sprechen? Wenn wir unser Leben fast end- Einstellung, die die Selbstbegrenzung des das Altern und Sterben überwinden wol-
los verlängern könnten? Menschen, die mit dem Glauben an Gott len, überhaupt als Konkurrenz wahr?
Bedford-Strohm: Ich kann mir nur schwer verbunden ist, ignoriert. Bedford-Strohm: Man kann sich schon fra-
vorstellen, wie die Welt aussähe, wenn wir SPIEGEL: Sie drücken sich um unsere Frage. gen, ob sich hinter dem Denken mancher
das Altern derart verschieben könnten. Hat die Kirche etwa den Begriff Sünde ab- Internetgurus nicht ein religiöser Anspruch
Wie würden wir dann zusammenleben? geschafft? versteckt. Nämlich wenn sie das Überwin-
Ab welchem Durchschnittsalter würde Bedford-Strohm: Das Problem mit diesem den der Endlichkeit mit religiösem Pathos
eine Gesellschaft nicht mehr funktionie- Wort ist, dass es moralistisch geprägt ist. Ich verkünden. Dann sind es zumindest kon-
ren? Das ist nichts, was man hier am möchte nicht, dass hier isoliert steht: Wis- kurrierende Weltanschauungen, das würde
Schreibtisch, schon gar nicht qua theolo- senschaftler, die an Ewigkeitsformeln for- ich schon sagen.
gischer Autorität, irgendwie verkünden schen, sind Sünder. Wir sollten auch defi- SPIEGEL: Religionen haben mit ihren Jen-
kann. Aber die Gefahren müssen wir nieren, was Sünde heißt: nämlich die Selbst- seitsbildern Forschungen zum ewigen Le-
rechtzeitig diskutieren. abschneidung des Menschen von Gott. ben doch erst verursacht und beflügelt.
SPIEGEL: Was hätten Sie denn dagegen, SPIEGEL: Im Silicon Valley tritt, wenn wir Stimmen Sie zu, dass Sie und die Kirche
wenn Sie 200 Jahre alt werden könnten? auch mal bildlich sprechen dürfen, Google gegenüber dem wissenschaftlichen Den-
Bedford-Strohm: Das sind naturwissenschaft- an die Stelle Gottes. Forscher wollen das Ge- ken momentan in der Defensive sind?
liche Versprechungen, die ohnehin nicht hirn durch eine digitale Kopie im Computer Bedford-Strohm: Ich wage mal zu behaup-
in Erfüllung gehen werden. In der Debatte verewigen. Fänden Sie das nicht reizvoll – ten, dass Sie kaum jemanden finden wer-
ums therapeutische Klonen hat man uns alle Ihre Gedanken auf ewig abrufbar? den, der aus den Versprechungen des Sili-
um die Jahrtausendwende auch schon mal Bedford-Strohm: Definitiv nicht. con Valley irgendeinen Trost für seine per-
gezüchtete Ersatzorgane für die nahe Zu- SPIEGEL: Und wenn wir noch Ihre Emotio- sönliche Lebenssituation gewinnt. Ein
kunft versprochen. Ich habe sie noch nicht nen mit reinpacken, alles auf einem Chip? Mensch, der konfrontiert ist mit der End-
gesehen. Bedford-Strohm: Biografien entwickeln sich, lichkeit, braucht Sprache für seine Abgrün-
SPIEGEL: Und wenn die Ewigkeitsformel und sie sind von ihren Beziehungen zu an- digkeitsgefühle, für seine Verzweiflung.
doch eines Tages gefunden wird? deren Menschen geprägt. Solche Compu- Wenn wir als Kirche dann bei den Men-
Bedford-Strohm: In der Schöpfungsgeschich- terparks wären der Versuch, eine Kopie schen sind, erfahren sie Zukunft. Und
te gibt es dazu etwas Weises. Am Ende anzufertigen von etwas, das nur im Origi- nicht durch irgendwelche Allmachtsfan-
werden Adam und Eva aus dem Garten nal lebt. tasien im Silicon Valley.
Eden vertrieben und die Cherubim vors SPIEGEL: Vor Kurzem sorgte eine Frau für SPIEGEL: Sollte die Wissenschaft eines Tages
Paradies gestellt – sie sollen den Eingang Aufsehen, die ihren verstorbenen Freund den Unsterblichkeitscode finden, wäre das
bewachen. Warum? Weil im Paradies nicht als Chatroboter quasi wieder zum Leben dann das Ende der Religion?
nur der Baum der Erkenntnis steht, son- erweckt. Bedford-Strohm: Das Leben wird uns ge-
dern auch der Baum des Lebens. Offen- Bedford-Strohm: Grauenhaft. Das hielte ich schenkt, wir haben darüber keine Kontrol-
sichtlich schützen die Cherubim Adam und tatsächlich für Sünde, dass der Mensch le. Versuche, sich selbst der Grundlagen
Eva davor, auch noch von diesem Baum versucht, einen anderen Menschen zu er- des Lebens zu bemächtigen, gehören in
zu essen und so unsterblich zu werden. schaffen, nach seinem Bilde. Er würde sich die Schranken gewiesen.
SPIEGEL: So ein Pech. an die Stelle Gottes setzen, indem er sich SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig: Würden
Bedford-Strohm: Im Gegenteil. Das ist ein selbst zum Schöpfer von Leben macht. Sie ab einer bestimmten Grenze für ein
Akt der Liebe Gottes. Unsterblich zu sein SPIEGEL: Einen anderen Ewigkeitsversuch Forschungsverbot plädieren – bis hierhin
ist für mich keine gute Vorstellung. hat der Psychologieprofessor James Bed- und nicht weiter?
SPIEGEL: Wenn Bioniker, Genetiker, Infor- ford schon vor 50 Jahren unternommen, Bedford-Strohm: Allerdings. Beim Klonen
matiker versuchen, die Schöpfung zu ver- als er seinen Leichnam einfrieren ließ. In haben wir ein solches Verbot ja schon er-
bessern – ist das für Sie Gotteslästerung? der Hoffnung auf ein neues Leben, wenn reicht. Es stimmt nicht, dass die Wissen-
Bedford-Strohm: Wenn wir die Perfektion die Medizin es eines Tages erlaubt. schaft sowieso macht, was sie will. Wir
des Menschen anstreben, hat das Auswir- Bedford-Strohm: Das alles sind doch nur brauchen zivilgesellschaftliche Diskus-
kungen darauf, wie wir mit Menschen um- Symptome für den verzweifelten Versuch, sionen über die Ziele und Methoden der
gehen, die schwach sind, die leiden. Wir vor der Endlichkeit davonzurennen. Wir Forschung, und diese Diskussionen müssen
verlieren dann unsere Barmherzigkeit. Konsequenzen haben.
SPIEGEL: Nutzen Sie doch mal Ihre Autori- * Mit den Redakteuren Frank Hornig und Jörg Schindler SPIEGEL: Herr Ratsvorsitzender, wir danken
tät als Bischof. Ist es Sünde, wird Gott he- im EKD-Büro in Berlin. Ihnen für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 16 / 2017 21
QUINT & LOX / VARIO IMAGES

ITAR-TASS / DPA
Daguerreotypie eines toten Säuglings, um 1860, Leiche Lenins: Als ruhte er bloß

Verdammte Ewigkeit
Essay Warum wir den Tod brauchen, um unser Leben gut zu leben
Von Nils Minkmar

W
ir sind weit gekommen. Schon sind die ersten setzt werden könnte. Half der Magnetismus bei der Kon-
Kinder mit drei biologischen Elternteilen gebo- taktaufnahme mit bestimmten Seelen oder hielt diese
ren worden. Mit wenigen Gesten können wir Kraft länger lebendig? Als Daguerreotypien im 19. Jahr-
Bilder von Toten aufrufen, können Michael Jackson oder hundert in Gebrauch kamen, ließen trauernde Eltern Por-
Amy Winehouse singend und tanzend bewundern, jünger träts ihrer verstorbenen Kinder anfertigen, im Stile der
und frischer als wir selbst. Bluttransfusionen, Kernspinto- ersten Familienporträts. Als könnte eine Abbildung der
mografien, Organtransplantationen, all das sind Praktiken, Leiche die Trauer lindern.
die zur Routine jedes Uniklinikums gehören. Vom Sofa Davor war man bereits in der Lage, durch Stromstöße
aus bestellen wir Waren aus China und erlauben uns einen die Leichen oder Gliedmaßen von Tieren zu Bewegungen
mittleren Wutanfall, wenn sie nicht binnen kürzester Frist zu reizen. Mary Shelley hat das im Sommer 1816 weiter-
unbeschädigt zur Wohnungstür gebracht werden. Wir hal- gedacht; ihr „Frankenstein“ ist bis heute nicht als Buch
ten es für eine Zumutung, wenn im Zug keine Internet- über geglückte Experimente bekannt, sondern als früher
verbindung zustande kommt oder im Wald ein Funkloch Horrorroman: weil das Herumdoktern an Kadavern, das
klafft. Bald gehorchen uns Geschwader von Drohnen, um Zusammenfügen hybrider Wesen und die elektrische Sti-
Brötchen vom Bäcker zu holen, die Katze vom Baum mulation von organischem Gewebe sich nicht beherrschen
oder rund um die Uhr über den Kindern zu schweben. lassen. Seit Frankenstein wissen wir: Solche Versuche ver-
Wir überwinden Grenzen, die für alle Menschen, die ändern auch den, der sie unternimmt.
vor uns diesen Planeten bewohnten, so unabänderlich

N
schienen wie der Lauf der Sterne und der Wechsel der icht immer wurde das in der Moderne so wach-
Jahreszeiten. Über Jahrhunderte hätten auch vernünftige träumend und romantisch zögernd beschrieben
Vorfahren für solche Phänomene nur einen einzigen Be- wie bei Mary Shelley. Ganz im Gegenteil: Radikal
griff verwendet: Zauberei. Wir nennen es Alltag. moderne Bewegungen nutzten einen emphatischen Toten-
Warum also sollten wir die wenigen Grenzen akzeptie- kult, um die Gesellschaft fundamental zu erschüttern und
ren, die uns noch einengen? Warum kombinieren wir das deutlich zu machen, um das Versprechen – oder wie
nicht unsere gewaltige Rechenpower mit virtuosem Ge- wir heute wissen: die Drohung – eines neuen Menschen
nom-Editieren und überwinden noch die letzte Grenze, so zu demonstrieren, dass es auch noch der Letzte kapiert.
den Tod? Er steht jedem vor Augen. Manchmal bedrohlich Ein Symbol dieser Versuche ist noch zu besichtigen:
nahe, dann wieder undeutlich fern, verborgen im Nebel der balsamierte Leichnam des Gründers der Sowjetunion,
dessen, was wir alles nicht wissen. Wer grübelt, wenn er Lenin. Er ruht bis heute in seinem Mausoleum an der
einer Beerdigung beiwohnt, nicht über das Rätsel des To- Mauer des Kreml. Ganze Generationen von Wissenschaft-
des? Und wie oft möchte man sich nicht fügen, sondern lern waren seit seinem Tod 1924 damit beschäftigt, seinem
ballt die Faust in der Tasche, vor Wut. Aussehen eine gegenwärtige, wie lebendige Qualität zu
Der Himmel, also die Vorstellung eines erlösten Lebens verleihen. Die Struktur des Körpers sollte beibehalten
in göttlicher Obhut, hat keine Konjunktur mehr – das werden, das Fettgewebe wurde nach und nach ersetzt, die
Paradies scheint nur noch in der Werbung zu existieren. Haut immer wieder mit einer speziellen Lösung getränkt.
Und wenn einer sich danach sehnt, dann oft genug im Den Sowjetführern, insbesondere Stalin, ging es darum,
Kontext einer furchtbaren irdischen Tat, um mit spekta- dass Lenin seine Gestalt bewahre, seinen Teint und den
kulären Verbrechen eine Art Eintrittskarte zu kaufen. Eindruck von Frische – als ruhte er bloß.
Man hat schon immer mit dem Tod gehadert. Jede neue Auch Ho Chi Minh, Kim Il Sung und Kim Jong Il wurden
Apparatur, jedes neue Verfahren wurde auch mal darauf solchen Behandlungen unterzogen – wie könnte man deut-
getestet, wie es in Bezug auf das Drama des Todes einge- licher zeigen, dass große Männer die Geschichte in völlig

22 DER SPIEGEL 16 / 2017


Titel

neue Bahnen lenken können, als mit der Ausstellung ihrer Über was würde man unter tausendjährigen Quasi-
stets frischen Leichname? Und wie mächtig müssen dann Mumien reden, die noch einmal tausend Jahre Langeweile
erst die Ideen, Lehren und Prinzipien der Toten sein? Die vor sich haben? Wie freut man sich über das fünfhun-
Symbolik solch einer Inszenierung transportiert, wie jede dertste eigene Kind, und was empfindet man beim Jawort
Grenzverschiebung zwischen Diesseits und Jenseits, im- der dreihundertsten Ehe? In Wahrheit werfen uns solche
mer auch eine höchst irdische, eine politische Botschaft. Gedankenspiele schnell auf das zurück, wovon sie abzu-
lenken suchen. Wir sind Wesen, die nach einer Perfektion

J
eder stirbt – diese Erkenntnis ist nicht nur der Beginn streben, die uns nicht gegeben ist. Darum versuchen jedes
aller Philosophie, sie steht auch am Ursprung von Fa- Jahr Sportler, sich als Ironmen und -women zu beweisen,
milie, Gesellschaft und der Kultur. Dass wir auf eine als wäre nicht die verführerische Weichheit und Wärme
gewisse Art zu leben haben, dass es wichtig ist, für Kinder unserer organischen Materie unser hervorstechendstes
und Partner zu sorgen, Vorsorge zu treffen, Schutz zu or- Merkmal. Darum optimieren sich gesunde und glückliche
ganisieren, dass wir Werte entwickeln und uns nach ihnen Menschen immer weiter, halten Diät, kaufen Wunder-
richten werden – all diese Überlegungen werden nur im cremes, buchen Trainingsstunden und Seminare – es geht
Wissen um den stets möglichen eigenen Tod zu Verbind- immer noch besser. Und selbst wer schon reich, berühmt
lichkeiten. Erst die Möglichkeit des Todes, der Schrecken, und den ganzen Tag von Lobhudlern umgeben ist, könnte
der uns in die Glieder fährt, wenn jemand plötzlich stirbt, versuchen, sich wie in Don DeLillos Meisterwerk „Null K“
verwandelt unsere vagen Tagträume darüber, wie man le- tiefkühlen zu lassen, um sich vor irdischer Vergänglichkeit
ben soll, in eine To-do-Liste. Die Brutalität und Anarchie zu schützen – das perfekte Leben endet als Tiefkühlware.
des Todes führt dialektisch zur Erfindung von Institutio- Die erhoffte Befreiung von den letzten irdischen Gren-
nen, zur Formulierung von Werten – so werden wir zu so- zen wird nicht gelingen, denn die Dauer des Lebens ver-
zialen Wesen, die vorsorgen, die Geschichten erzählen ändert nicht seine Qualität, nicht, wie wir es empfinden.
und Rituale erfinden, um zu trauern, sich zu erinnern. Das Alter, die Zahl der schon gelebten und die unbekannte
Die bürgerliche Gesellschaft ist so entstanden. Einer Zahl der noch zu lebenden Jahre sind nur wenige unter
der zentralen Texte dazu stammt von Herodot. Sein vielen Faktoren, die die Conditio humana bestimmen.
Protagonist ist der Vater der athenischen Verfassung, der Wer es sich auf der Erde in siebzig Jahren nicht nett macht,
weise Solon. Der noch heute sprichwörtliche Krösus hatte dem werden auch achthundert weitere Jahre voller Nach-
ihn durch seine Paläste und Gärten führen lassen und ihm barschaftsklagen, Ehezwist und Meckern über seine un-
in frühem Donald-Trump-Stil sein ganzes Bling-Bling prä- zulänglichen Kollegen nicht weiterhelfen.
sentiert. Dann stellte er dem berühmten Gesetzesmacher

S
eine Frage, die diesen in die Bredouille brachte: Ob er, elbst als attraktive Alte mit XXL-Lebenserwartung
Solon, der so weit gereist sei, einen Menschen getroffen werden wir uns im Dunkeln mit dem Zeh am Bett
habe, der unter allen anderen der glücklichste war? Krösus stoßen und vor Liebeskummer weinen. Wir werden
fragte das, bemerkt Herodot, in der Absicht, selbst als auch dann noch vielfältig beschränkt und von schwanken-
der glücklichste genannt zu werden. der Klarheit sein. Das Ende des Lebens mag in weiter Fer-
Solon, und das war nun die Bredouille, war einerseits ne sein, aber das Rätsel bleibt ungelöst, der Schock der
der Gast des Krösus, wurde verwöhnt und wollte sich an- Geburt unberührt. Was mache ich hier? – die existenzia-
dererseits aber nicht einschleimen. Er dachte nach und listische Grundfrage – wird auch dann nicht weniger drän-
gab eine sachliche Antwort: Er nannte Tellos, einen Bürger gend, wenn man die Lebensdauer einer Riesenschildkröte
Athens. In heutigen Begriffen einen Nobody – der noch erwarten darf. Daran, dass wir Mängelwesen sind und auf
dazu nicht mehr am Leben war. Macht, Geld und Ruhm Erden irgendwie nur halb zu Hause, dass wir Kleidung,
waren es nicht, die diesen Tellos auszeichneten, aber was Nahrung, Wasser und Gesellschaft brauchen, dass wir im-
dann? Krösus staunt, zwischen amüsiert und eifersüchtig, mer nur die Hälfte verstehen und mindestens so viel zer-
und hakt nach. Solon entwirft dann in wenigen Sätzen stören, wie wir errichten, wird nichts besser, wenn wir
das bis heute wirksame Programm bürgerlicher Tugenden open end leben. Nach wie vor werden sich Menschen die
samt passendem sozialem Glücksbegriff: Tellos lebte in Haare raufen wegen der Zumutungen dieses seltsamen
der Blüte seiner Stadt, hatte eine Frau, ein Auskommen, Lebens. Genau in der Verzweiflung über erneutes Miss-
gelungene Kinder. Besonders aber wurde das Leben des lingen – wieder entlassen, wieder verlassen, wieder ver-
Tellos durch den Tod: Er griff in eine Schlacht dergestalt loren – sind wir nah an der Ewigkeit: Der Ärger über die
ein, dass seine Heimat, Athen, den Sieg davontrug. Dabei irdische Beschränktheit und unsere ganz private Bescheu-
kam er ums Leben, und die Stadt bestattete ihn auf öf- ertheit vereint uns Menschen durch alle Zeiten.
fentliche Kosten und ließ ihm große Ehre zuteilwerden. Es ist mitnichten so, dass der Tod die einzige Grenze
Damit skizziert Solon das bürgerliche Ideal der Mäßigung, wäre, die wir vor uns haben. Dafür gibt es genug zu for-
das zu Geld und Macht des Despoten eine Alternative schen, zu organisieren, zu verbessern, denn Kinder sterben
entwirft. Der Tod wird genutzt, um dem Leben einen so- noch an Hunger, an längst bekannten, nur unzulänglich
zialen Sinn zu geben. behandelten Infektionen und ganz gewöhnlichen Kriegen
Die Vorstellung des medizinisch ermöglichten ewigen und Verbrechen. Und auch wenn die medizinische Spit-
Lebens ist das umgekehrte Projekt: den Menschen in eine zenforschung, die sich einer effizienteren Bekämpfung
permanente Gegenwart zu befördern. Es ist der paradoxe von Krebs und anderen lobenswerten Zielen widmet, im
Wunsch danach, den Menschen von der einen Qualität Namen eines fortschrittsoptimistischen Humanismus un-
zu befreien, die uns erst zu Menschen macht, nämlich bedingt zu unterstützen ist, bleibt ein Ziel ebenso wichtig:
dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Ein Wesen, das das Leben, in das man, ohne danach verlangen zu können,
nie endet, wäre kein Mensch mehr, denn die Unvollkom- geboren wurde, zu seinem eigenen zu machen. Es wirklich
menheit, die Zerbrechlichkeit, die historische Bedingtheit zu leben und sich – so gut es geht – daran zu freuen. Denn
sind unsere konstitutiven Merkmale. Dass wir Grenzen in solcher Lebensfreude, in Euphorie und Zufriedenheit,
erfahren, ist der Kern menschlicher Erfahrung. findet wiederum der Tod seine Grenze. I

DER SPIEGEL 16 / 2017 23


JOHANNES SIMON / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO
Abi-Prüflinge im bayerischen Gröbenzell

Schule

Länder müssen Abituraufgaben ändern


Tresorknacker legen Schwachstellen des neuen Prüfsystems offen.
Ein Einbruch in einer Stuttgarter Schule führt dazu, dass Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB),
mindestens sechs Bundesländer Teile der schriftlichen Abi- dieses dann die anderen Bundesländer. Das IQB entwickelt
turprüfungen in Mathematik und Englisch austauschen die Aufgaben, die die Länder aus einem gemeinsamen Pool
müssen. Neben Baden-Württemberg sind Hamburg, Bayern, entnehmen können. Gleich im ersten Jahr des länderüber-
Brandenburg und Thüringen betroffen. Berlin muss rund greifenden Abiturs legt der Einbruch die Schwachstellen des
10 000 Aufgabenhefte für die Grund- und Leistungskursprü- Systems offen. „Es ist von großer Bedeutung, dass die Auf-
fungen in Mathematik einstampfen. Unbekannte waren in gaben bis zum Beginn der Prüfungen nicht bekannt werden“,
ein Gymnasium im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf einge- sagt ein Sprecher der Kultusministerkonferenz. „Dafür tra-
drungen. Sie knackten einen Tresor und öffneten einen ver- gen die Länder die Verantwortung.“ Als Ersatz verwendet
siegelten Umschlag mit den Prüfungsaufgaben. Das Kultus- die Mehrzahl der betroffenen Ministerien nun landeseigene
ministerium in Baden-Württemberg informierte das Berliner Aufgaben – wie vor der Einführung des Pools. fri, olb

Kriminalität von knapp 10 Prozent im Ver- zentbereich ab, knapp 10 Pro- Zudem hat der Staat die För-
Zehn Prozent gleich zum Vorjahr. Damals zent waren es in Baden-Würt- derung des Einbruchschutzes
wurden 167 000 Wohnungs- temberg. Deutlich gestiegene ausgebaut. Gleichwohl liegt
weniger Einbrüche einbruchdiebstähle gezählt. Einbruchszahlen meldeten die Zahl der Einbrüche nach
Zum ersten Mal seit zehn Besonders stark sanken die dagegen Sachsen-Anhalt und wie vor deutlich höher als
Jahren ist die Zahl der ange- Zahlen in Nordrhein-Westfa- Sachsen. Vielerorts wurden vor zehn Jahren: 2006 wurde
zeigten Wohnungseinbrüche len, dort meldete das Landes- in den vergangenen Jahren nur rund 106 000-mal einge-
in Deutschland zurückgegan- kriminalamt einen Rückgang Sonderkommissionen zur brochen. Auch die Aufklä-
gen. Nach unveröffentlichten um 15,7 Prozent auf knapp Einbruchsbekämpfung ge- rungsquote ist bei Wohnungs-
Zahlen der Polizeilichen Kri- 52 600 Fälle. Auch in Ham- gründet oder Computer- einbrüchen immer noch
minalstatistik wurde im Jahr burg, im Saarland und in Hes- programme angeschafft, die niedrig, sie liegt im Bundes-
2016 rund 151 000-mal einge- sen nahm die Zahl der Ein- Prognosen über Tatort- durchschnitt unter 20 Pro-
brochen, das ist ein Rückgang brüche im zweistelligen Pro- Schwerpunkte ermöglichen. zent. mab, wow

24 DER SPIEGEL 16 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Bundeswehr I Bildung
Zugeständnis an Schulz-Plan würde
Heckler & Koch Milliarden kosten
Das Verteidigungsministe- Die Absicht des SPD-Kanzler-
rium macht bei einem wichti- kandidaten Martin Schulz,
gen Beschaffungsprojekt er- im Falle eines Wahlsiegs die
neut Zugeständnisse an die staatlichen Bildungsangebote
Rüstungsindustrie: Das neue, von Gebühren zu befreien,

DANIEL KARMANN / DPA


18 000 Euro teure Maschinen- könnte bis zu fünf Milliarden
gewehr der Bundeswehr Euro pro Jahr kosten. Dieser
braucht nicht so präzise zu Betrag werde wohl fällig,
schießen wie ursprünglich wenn Eltern und Studenten
verlangt. Das Ministerium nicht mehr für Kitas und
hat den Liefervertrag des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg Unis zahlen müssten und
MG5 im Dezember kurzer- auch Berufsausbildungskurse
hand geändert. Demnach dür- Flüchtlinge Arbeit des Bamf erledigen. und Meisterprüfungen für
fen nach einem Rohrwechsel Gerichte kritisieren Verfahren zögen sich oft Azubis und Handwerker kos-
die Einschläge bei Einzelfeu- unnötig in die Länge, weil tenlos wären, heißt es in der
er doppelt so stark vom ange- Bundesamt Anfragen von Verwaltungs- Parteispitze. Da der SPD-
peilten Ziel abweichen wie Die oft unzureichende Arbeit richtern trotz mehrfacher Chef auch mehr Sozialarbei-
vorgesehen. Das Ministerium des Bundesamts für Migra- Erinnerungen unbeantwortet ter in Schulen und einen
bekommt für die Vertrags- tion und Flüchtlinge (Bamf) blieben. Justizstaatssekretäre Rechtsanspruch auf Ganz-
änderung einen Preisnachlass wird zunehmend zur Belas- kritisierten auch, dass die tagsbetreuung angekündigt
von dem Waffenfabrikanten tung für die Verwaltungsge- Prozessreferate der Behörde hat, könne es noch teurer
aus Oberndorf am Neckar. richte. Dies wurde bei einem noch immer nicht genügend werden. Ungeklärt ist außer-
Die Kosten für die Lieferung Treffen der Justizstaatssekre- zusätzliches Personal hätten, dem, wer die Kosten über-
von zunächst gut 7000 Ge- täre von Bund und Ländern obwohl seit Langem mit nähme, wenn die Gebühren
wehren, die sich um zwei Jah- Ende März in Mainz kriti- einer Prozessflut gerechnet wirklich entfielen. Es handelt
re verzögert hat, sind aber siert. Wohl um die Zahl der werden musste. Allein Nord- sich größtenteils um Ange-
wegen technischer Änderun- erledigten Verfahren in die rhein-Westfalen hat 59 zu- bote der Kommunen und
gen um 5,7 Millionen Euro Höhe zu treiben, würden sätzliche Richterstellen ge- Länder. Vermutlich müsste
auf 131 Millionen Euro ge- Fluchtursachen nur unzurei- schaffen, um die vielen Asyl- sich der Bund stärker als
stiegen. Als Verteidigungs- chend geprüft. Die Richter verfahren zügig bearbeiten bislang an den Kosten betei-
ministerin Ursula von der müssten in solchen Fällen die zu können. bas ligen. böl
Leyen (CDU) vor zwei Jah-
ren das Sturmgewehr G36
von Heckler & Koch wegen
Präzisionsmängeln ausmuster- EU-Parlament es in einem Beschluss des deutsche Regelung Anfang
te, versprach sie, die Indus- CDU für Sperrklausel Bundesfachausschusses Euro- 2014 für nichtig erklärt, weil
trie künftig unerbittlich zur papolitik, der ins Programm diese gegen die Chancen-
Einhaltung von Qualitätszusa- Die CDU will bei Wahlen der Partei für die Bundestags- gleichheit der Parteien ver-
gen zu verpflichten. „Offen- zum Europäischen Parlament wahl eingehen soll. Statt auf stoße. Die CDU fordert zu-
sichtlich hat das Ministerium die Drei-Prozent-Hürde wie- nationaler Ebene müsse eine dem, dass die deutsche Spra-
nicht viel aus der G36-Affäre der einführen. Auf diese Wei- Mindest-Sperrklausel europa- che in der EU gleichrangig
gelernt“, kritisiert der Grü- se solle ein transparentes und weit festgeschrieben werden. mit dem Englischen und dem
nen-Verteidigungsexperte handlungsfähiges Parlament Das Bundesverfassungsge- Französischen behandelt wer-
Tobias Lindner. gt, mgb sichergestellt werden, heißt richt in Karlsruhe hatte eine den soll. ran

Bundeswehr II ter. Vor allem in drei Berei-


Deutsche Hilfe chen soll nun eine enge Ko-
operation geprüft werden:
für Tunesien bei den Tauchern, der Mari-
Die Marine will stärker mit neakademie und der Tauch-
CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE / DPA

Tunesien zusammenarbeiten. medizin. Gedacht ist an eine


Das hat der deutsche Vize- gemeinsame Ausbildung und
admiral Andreas Krause bei den Austausch von Offizie-
einem Besuch in dem nord- ren. Experten der Marine sol-
afrikanischen Krisenstaat ver- len nach Nordafrika reisen,
einbart. Der Inspekteur der um die Zusammenarbeit vor-
Marine folgte der Einladung zubereiten. Tunesien beteiligt
des Befehlshabers der tunesi- sich bereits jetzt an dem so-
schen Seestreitkräfte und traf genannten Nato-Mittelmeer-
auch den Verteidigungsminis- Marinespezialkräfte der Bundeswehr Dialog. ham

DER SPIEGEL 16 / 2017 25


Deutschland

Cannabis besitzen rund tausend Pa-


Starke Nachfrage tienten eine Sondergenehmi-
gung zum Erwerb von Can-
erwartet nabis zu medizinischen Zwe-
Die neue Cannabisagentur cken, ihr Jahresverbrauch
des Bundes rechnet mit lag nach BfArM-Angaben
einem rasanten Anstieg der bei insgesamt 365 Kilo-
Nachfrage nach Medizinal- gramm. Derzeit wird dieser
hanf. In den Jahren 2021 und Medizinalhanf importiert.
2022 will sie im staatlichen Von 2019 an soll er auch in
Auftrag je 2000 Kilogramm Deutschland geerntet wer-
Cannabis in Deutschland an- den. Die Cannabisagentur
bauen lassen, wie aus Unter- soll den Anbau steuern. cos
lagen zum Vergabeverfahren
hervorgeht, die das Bundes-

DAVID MCNEW / REUTERS


institut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM)
erstellt hat. Rechnerisch ent-
spricht die Jahresmenge dem
Amri Durchschnittsverbrauch von
fast 5500 Patienten. Bislang Cannabispflanze

Terrorismus ganisation für „externe Ope-


Einsatzbefehl von rationen“ erhalten haben.
Reichsbürger
Der Generalbundesanwalt einem Schreiben des Minis-
ganz oben (GBA) und das Bundeskrimi- Ministerium schützt teriums vom vergangenen
Anis Amri, der Attentäter nalamt prüfen den Hinweis. Mittwoch. Dies gelte etwa
vom Weihnachtsmarkt am Der Name des IS-Kaders ist Mitarbeiter für „Verunglimpfungen spe-
Berliner Breitscheidplatz, den deutschen Behörden aus Weil die Zahl der Beschwer- ziell in digitalen Medien“.
wurde offenbar von der Füh- anderen Verfahren gegen als den, Klagen und Angriffe Die selbst ernannten Reichs-
rungsebene des „Islamischen Flüchtlinge getarnte, mut- von sogenannten Reichsbür- bürger erkennen die Bundes-
Staats“ (IS) gesteuert. Dies maßliche IS-Terroristen be- gern auf Behörden und republik nicht an, senden
geht aus einem Hinweis der kannt. Die Deutschen schät- Beamte wächst, hat das Bun- Schreiben voller Unfug an
Vereinigten Arabischen Emi- zen die Quelle des Hinweises desinnenministerium den Ämter und überziehen Mit-
rate an deutsche Sicherheits- aus dem Sicherheitsapparat Rechtsschutz für seine Be- arbeiter mit unbegründeten
behörden vom 8. Januar her- der Emirate als zuverlässig diensteten ausgeweitet. „Die Klagen. Ihr Ziel ist es, die
vor. Demnach soll Amri sei- ein. Kontakt zum IS soll Fürsorgepflicht des Dienst- Behörden lahmzulegen. Mit-
nen Einsatzbefehl von einem Amri laut GBA ab spätestens herrn kann gebieten, Kosten unter werden Beamte gefilmt
Kader mit dem Kampfnamen 10. November 2016 gehabt für einen Rechtsschutz zu und die Mitschnitte ins Inter-
Abu Baraa al-Iraki der IS-Or- haben. jdl, fis übernehmen“, heißt es in net gestellt. aul

Zeitgeschichte ging um die Lage in Berlin. bauen. Verteidigungsminister warnten vor militärisch an-
Keine Hilfe für Zwei Wochen zuvor, am Franz Josef Strauß (CSU) geblich weit überlegenen
13. August, hatte die DDR und Bundeswehr-General- Sowjets. Foertsch schlug ins-
DDR-Revoluzzer begonnen, eine Mauer zu inspekteur Friedrich Foertsch gesamt 14 „Maßnahmen“
Wäre es nach dem Bau der vor, Punkt 5 lautete: „Ableh-
Mauer zu einem Aufstand in nung einer militärischen In-
der DDR gekommen, hätte tervention bei einem Auf-
die Bundesregierung nicht stand in der SBZ (gemeint:
militärisch eingegriffen. Das DDR –Red.), da ein grösserer
belegt das bislang unbekann- und militärisch unterstüt-
te Protokoll einer „streng zungswürdiger Aufstand im
geheimen“ Sitzung des Bun- sowjetischen Aufmarschge-
desverteidigungsrats, dem biet nicht möglich ist.“ Ein
Vorläufer des Bundessicher- Eingreifen sei nur gerechtfer-
heitsrats. Aus dem Papier, tigt, wenn die Menschen im
das im Bundesarchiv in Ko- gesamten Ostblock rebellier-
AP / SÜDDEUTSCHER VERLAG

blenz liegt, geht hervor, dass ten und zudem alle Nato-
sich Kanzler Konrad Aden- Mitglieder entschlossen sei-
auer mit insgesamt 20 Minis- en, „diese Stunde militärisch
tern, Staatssekretären, füh- zu nutzen“ – also de facto
renden Militärs und Beamten nie. Laut dem Protokoll
am 30. August 1961 in seinem stimmte Adenauer ausdrück-
Haus in Rhöndorf traf. Es Adenauer 1961 in Westberlin lich zu. klw

26 DER SPIEGEL 16 / 2017


HEUTZUTAGE HABEN ES TEENAGER
DOCH EINFACH VIEL ZU GUT.
DER NEUE SEAT LEON ST.

MIT NULL ANZAHLUNG1 UND NULL ZINSEN1.


Einen guten Draht zu seinen Kindern zu haben ist heute einfacher denn je. Denn dank seiner modernen Technologie ermöglicht Ihnen der neue SEAT Leon ST,
jederzeit mit Ihren Liebsten in Verbindung zu bleiben – und alles Wichtige mit ihnen zu teilen. Zum Beispiel mit der Full Link-Technologie2. Damit integrieren Sie
Ihr Smartphone in das Fahrzeug und bedienen kompatible Apps mit dem neuen 8"-Farb-Touchscreen2. So bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Und auch sonst
macht er Ihnen das Leben leichter: Mit dem schlüssellosen Schließ- und Startsystem „KESSY“ 2 öffnen Sie die Türen, ohne den Schlüssel in die Hand nehmen zu
müssen. Vom geräumigen Innenraum bis zu den zahlreichen familienfreundlichen Ausstattungshighlights – der neue SEAT Leon ST ist der fahrende Beweis
dafür, dass gerade jetzt eine gute Zeit ist, Eltern zu sein.

SEAT Leon ST Kraftstoffverbrauch: kombiniert 7,2–4,1 l/100 km; CNG (Erdgas): kombiniert 3,6 kg/100 km; CO2-Emissionen: kombiniert 164–96 g/km.
CO2-Effizienzklassen: D–A+.
1
Ein Finanzierungsangebot der SEAT Bank, Zweigniederlassung der Volkswagen Bank GmbH, Gifhorner Straße 57, 38112 Braunschweig,
für Privatkunden und Finanzierungsverträge mit 12–60 Monaten Laufzeit. Gültig für SEAT Leon Neuwagen. Bonität vorausgesetzt.
2
Optional ab Ausstattungsvariante Style.
Abbildung zeigt Sonderausstattung. AUCH ÜBER: SEAT.DE
Deutschland

Weitermachen
Anschläge Das Sprengstoffattentat auf den Bus von
Borussia Dortmund hatte eine hohe Symbolkraft. Einige
Spieler fühlten sich gezwungen, am nächsten Tag Fußball
zu spielen, obwohl ihnen nicht danach zumute war.

D
er Mannschaftsbus von Borussia denschaft, auf die sich die Gesellschaft
Dortmund hat 480 PS und 33 Sitz- auch in den Zeiten einigen kann, in denen
plätze. Alle sind mit Leder bezo- sie sonst über vieles uneins ist. Ein Angriff
gen. Es gibt einen Kühlschrank, WLAN, auf dieses Bindeglied berührt deshalb die
eine Satelliten-TV-Anlage. Ganz vorn sit- gesamte Gemeinschaft.
zen die Trainer. Auch wenn es in Dortmund nur zwei
Am vorigen Dienstag fährt der Bus Verletzte gab, so entfacht der Sprengstoff
abends um Viertel nach sieben am Mann- eine gesellschaftliche Wirkung, die weit
schaftshotel des BVB in Dortmund-Höchs- über den BVB, den Fußball und seine Fans
ten ab. Das Team macht sich auf den Weg hinausgeht. Terroranschläge gelten selten
in Richtung Signal Iduna Park, die Arena, einzelnen Menschen. Die Täter suchen
in der das Champions-League-Spiel gegen fast immer symbolisch aufgeladene Ziele.
Monaco ausgetragen werden soll. Das können weltbekannte Gebäude sein.
Es ist dieselbe Strecke, die der BVB-Bus Das kann ein Fest zum Nationalfeier-
seit Jahren nimmt. Sie dauert gewöhnlich tag sein. Ein Weihnachtsmarkt. Auch
20 Minuten. Diesmal endet die Fahrt frü- Redaktionen oder Rockkonzerte sind
her, nach wenigen Sekunden. Symbole. Weil sie für Meinungsfreiheit
Als der Bus auf die Wittbräucker Straße stehen oder für den Lebensstil des libera-
fährt, explodieren drei Sprengsätze. Sie len Westens.
waren hinter einer Hecke abgelegt. Durch Bis Redaktionsschluss war völlig unklar,
die Detonation wird der Mannschaftsbus wer den Anschlag auf den Mannschaftsbus
schwer beschädigt. Die Sprengsätze, die verübt hat, aber eines steht fest: Das An-
eine Schlagkraft von mehr als 100 Metern schlagsziel hat große symbolische Bedeu-
haben, sind mit Metallstiften bestückt. tung.
Glassplitter und Metallteile der Bombe flie- Die Suche nach den Tätern gestaltete
gen durch den Bus. Ein Metallstift bohrt sich für die Ermittler zunächst frustrierend.
sich in die Kopfstütze eines Bussitzes. Bei den kurz nach dem Anschlag identifi-
Wohl nur wenige Zentimeter neben dem zierten Tatverdächtigen fanden sich kei- zu tun hatte. Er war ins Visier der Behörden
Kopf eines Spielers. nerlei Belege, dass sie an der Attacke be- geraten, weil der Bundesnachrichtendienst
Die Sportler reagieren instinktiv. Sie du- teiligt gewesen sein könnten. Die Woh- Erkenntnisse über seine Tätigkeit beim „Is-
cken sich in ihren Sitzreihen weg. Manche nung des ersten Verdächtigen Abdullah lamischen Staat“ (IS) im Irak hatte. Zudem
werfen sich auf den Boden. Einer ruft dem al-Z. hatte die Polizei ohnehin nur durch- hatte seine Frau Angaben über ihn gemacht,
Busfahrer zu: „Fahr weiter, fahr weiter!“ sucht, weil er einen Regenschirm des Dort- nachdem er sie geschlagen hatte. Zuletzt
Der Mittelfeldspieler Nuri Şahin guckt munder Mannschaftshotels „L’Arrivée“ bei hatte der Verfassungsschutz – ein paar Tage
in das Gesicht seines Sitznachbarn Marcel vor dem Anschlag von Dortmund – ein Te-
Schmelzer. Später wird Şahin erzählen: Wie gehen geschulte Sport- lefongespräch belauscht, in dem ein Ge-
„Ich werde Schmelles Gesichtsausdruck nie sprächspartner des Irakers gesagt haben soll:
mehr im Leben vergessen. Wir haben so Gladiatoren mit Bomben, mit „Der Sprengsatz ist fertig.“
etwas schon oft im Fernsehen gesehen, es Dass al-O. jetzt in Haft sitzt, hat also
war immer weit weg. Und jetzt haben wir Terror, mit Todesangst um? nur damit zu tun, dass die Bundesanwalt-
das am eigenen Leib erfahren.“ Marc Bar- schaft ihm die Mitgliedschaft in einer ter-
tra, Dortmunds Innenverteidiger, wird sich hatte. „Weiß ich doch nicht, woher ich roristischen Vereinigung vorwirft. Er habe
durch eine zersplitterte Fensterscheibe am den gottverdammten Schirm habe“, von dem Anschlag über Facebook erfah-
Arm und an der Hand verletzt, er muss schmetterte der Mann den Ermittlern in ren, sagte er den Fahndern: „Ich bin Fan
operiert werden. seiner Vernehmung entgegen. Ihn und ei- des FC Barcelona, ich interessiere mich
Das geplante Spiel wird abgesagt, es fol- nen seiner Brüder rechnen die Behörden nicht so sehr für Dortmund.“
gen Sondersendungen im Fernsehen, die dem islamistischen Spektrum zu. Er soll Damit begann die Puzzlearbeit der
„Bild“-Zeitung berichtet am nächsten Tag bereits im Sommer 2013 vorgehabt haben, Fahnder von vorn. Fest stand bis Donners-
auf vier Seiten, die Kanzlerin meldet sich sich in Syrien einer islamistischen Gruppe tagabend wenig: Jemand mit Sachverstand
zu Wort. anzuschließen. muss die Sprengsätze mit Tötungsabsicht
Dass Fußball mehr ist als nur ein Spiel, Der zweite Tatverdächtige, der in Wup- gebaut haben. Sie funktionierten, zeit-
weiß in Deutschland jedes Kind, jeder Poli- pertal wohnende Iraker Abdul Beset al-O., gleich. Das ist nicht immer der Fall. Im In-
tiker, und inzwischen wissen es auch die ist zwar inzwischen in Untersuchungshaft – neren der Bomben waren bis zu zehn Zen-
Feinde dieses Landes. Fußball ist eine Lei- aber nicht, weil er etwas mit dem Anschlag timeter lange Metallstifte verstaut – hätten
28 DER SPIEGEL 16 / 2017
SASCHA SCHUERMANN / AFP
Polizisten vor dem BVB-Stadion beim Spiel gegen Monaco am Mittwoch: Puzzlearbeit der Fahnder

sie Menschen getroffen, es hätte zu schwe- Während die Ermittler überwiegend im Foto, das die Spieler und Betreuer der
ren Verletzungen und Toten kommen kön- Dunkeln tappen, muss das Berufsleben der Mannschaft neben dem Bus am Straßen-
nen. Vermindert wurde die Explosion wo- Fußballer weitergehen, als wäre nichts ge- rand stehend zeigt. Man sieht leere Ge-
möglich nur durch die Hecke, hinter der schehen. Matthias Ginter, 23, der im hin- sichter, nachdenkliche Gesichter. Man
sie gezündet wurde. teren Teil des BVB-Busses saß, hat zum sieht Ginter mit hochgeschlagener Kapuze.
Auf den am Tatort aufgefundenen Be- dritten Mal den Moment der Angst erlebt. Er tippt etwas in sein Handy.
kennerschreiben fanden sich keine Finger- Ginter ist ein deutscher Nationalspieler. Auch Thomas Tuchel, der Dortmunder
abdrücke. Analysten der Sicherheitsbehör- Er stand an dem Tag der Anschläge von Trainer, ist auf dem Bild zu sehen. Er wirkt
den fiel auf, dass sich die Verfasser eines Paris auf dem Rasen des Stade de France, wie aus der Welt gerissen.
Vokabulars aus gleich drei Extremistenströ- als davor Bomben explodierten. Er saß in Knapp 24 Stunden nachdem das Foto
mungen bedienten: von Links- und Rechts- dem Mannschaftsbus der Nationalmann- entstand, spielte der BVB gegen Monaco.
extremen und von Islamisten. Das hieß für schaft, der einige Tage später auf dem Weg Champions-League-Viertelfinale. Stadion
sie nur, dass der Täter noch nicht einmal zum Stadion in Hannover war. Irgend- ausverkauft. Große Emotionen. Bundes-
zwingend ein Extremist sein musste. wann kam die Anweisung, man müsse um- innenminister Thomas de Maizière sitzt
Der Hoffnungsschimmer der Ermittler kehren. Terroralarm. auf der Tribüne. Deutschland schaut zu.
besteht darin, dass sie am Tatort nicht nur Ginter ist seit fünf Jahren Profi. Er wur- Es geht einfach weiter. Fußballer sind ge-
den verwendeten Zünder fanden. Es fan- de 2014 in Brasilien Weltmeister. Er ver- drillt, in Drucksituationen zu funktio-
den sich auch Teile eines Empfangsmoduls. dient sehr gutes Geld in Dortmund. Er ist nieren. Aber kann man nach einem At-
Das weist darauf hin, dass der Sprengsatz keiner, der viel redet. Ein zäher Typ. Ro- tentat schlicht so weitermachen, sogar ei-
per Handy ferngezündet wurde – und legt bust. Einer, mit dem man eine Schlacht nen Tag später spielen, als wäre nichts ge-
damit die Vermutung nahe, dass der Täter auf dem Fußballplatz gewinnen kann. schehen?
ein Mobiltelefon verwendete. Doch auch Aber wie gehen junge Fußballprofis, ge- Als der Psychiater Mazda Adli, 47, Chef-
das muss nicht zwingend zum Ziel führen. schulte Sport-Gladiatoren, die jedes Wo- arzt der Fliedner Klinik in Berlin, davon
In Ermittlungsverfahren können sich bin- chenende in vollen Stadien um den Sieg erfuhr, dass das Spiel gleich am folgenden
nen Stunden heiße Spuren als nutzlos er- kämpfen, mit so was um – mit Bomben, Tag ausgetragen werden sollte, da hat er
weisen und andere völlig unverhoffte Hin- mit Terror, mit Todesangst? Nach dem An- gedacht: „Das ist eine ganz schön gewalti-
weise zum Erfolg führen. schlag auf den Bus des BVB entstand ein ge Aufgabe für die Spieler. Es geht nicht

DER SPIEGEL 16 / 2017 29


„Es geht um viel mehr“
Interview Hans-Joachim Watzke, 57, Geschäftsführer von Borussia Dortmund, über den Umgang
mit seinen Spielern nach dem Anschlag
SPIEGEL: Herr Watzke, ein Anschlag auf
den Mannschaftsbus eines Bundesligis-
ten – war ein solches Szenario für Sie je
vorstellbar?
Watzke: Nein, aber der Fußball hat eine
große Bedeutung auf der ganzen Welt –
deshalb ist klar, dass er auch im Fokus
von Terroristen steht.
SPIEGEL: Waren Sie nach dem Spiel ge-
gen den AS Monaco bei der Mann-
schaft?
Watzke: Ja, natürlich. Ich war sofort in
der Kabine und habe jeden Spieler in
den Arm genommen. Ich habe mich da-
für bedankt, was jeder Einzelne unter
diesen extremen emotionalen Belastun-
gen für den Klub und auch für unsere
demokratische Freiheit geleistet hat.
SPIEGEL: Wie war die Atmosphäre in der
Kabine?
Watzke: Sehr bedrückend. Es war eine
Herkulesaufgabe, der sich unsere Mann-
schaft gestellt hatte. Sie hat es außerge-
wöhnlich gut gemacht. Als wir die Di-
mension des Anschlags erkannt hatten,
da wussten wir, dass es jetzt in erster Li-
nie nicht mehr um unsere Erfolgschan-
cen in der Champions League gehen
würde, sondern um viel mehr.
SPIEGEL: Sie saßen nicht mit im Bus. Wie

ODD ANDERSEN / AFP


haben Sie von dem Anschlag erfahren?
Watzke: Ich war schon im Stadion, als
mich Christian Hockenjos (der Direktor
für Organisation des BVB – Red.) infor-
mierte. Die Uefa hat dann sofort eine BVB-Geschäftsführer Watzke: „Jeden Spieler in den Arm genommen“
Krisensitzung einberufen. Das größte
Problem war, dass wir schnell Entschei- viele Entscheidungen, insbesondere im nicht in der Lage fühlt zu spielen, dann
dungen treffen mussten, ohne wirklich Sinne der Sicherheit, treffen. Die aller- kann er das dem Trainer sagen. Und ich
die Ausmaße des Attentats zu kennen. erste Entscheidung war aber: Wir kön- habe auch gesagt: Von uns hätte es
Wir wussten zwar, dass in irgendeiner nen heute auf gar keinen Fall spielen. vollstes Verständnis gegeben und jede
Weise ein Sprengkörper auf den Bus ge- Diese Position habe ich mit Vehemenz Form der Unterstützung. Jede!
flogen war, aber wir kannten keine vertreten. SPIEGEL: Kann man in einer solchen Si-
Details. Auch nicht zur Verletzung von SPIEGEL: Gab es von der Uefa Druck, das tuation den Fokus überhaupt aufs
Marc Bartra. Spiel zeitnah nachzuholen? Sportliche legen?
SPIEGEL: Wie schwierig war es für Sie, Watzke: Wenn man versucht, der Uefa Watzke: Ich habe den Spielern gesagt,
dass Sie nicht direkt vor Ort sein den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist dass es nicht um Resultate geht, son-
konnten? das nicht korrekt. Am Ende des Tages dern um mehr: um unsere Freiheit, um
Watzke: Ich bin per SMS fortlaufend gab es – insbesondere mit Blick auf den die Demokratie. Ich war glücklich, dass
über die Situation am Bus informiert äußerst engen Spielkalender – einfach wir gespielt haben und das Zeichen set-
worden und wusste daher auch, dass bis nur die Möglichkeit, das Spiel am Mitt- zen konnten, dass wir uns dem Terror
auf Marc niemand verletzt war. Die woch nachzuholen. nicht beugen.
Spieler waren in Sicherheit. Trotzdem SPIEGEL: Gibt es bezüglich der Neuanset- SPIEGEL: BVB-Trainer Thomas Tuchel
war es wirklich eine der extremsten Si- zung des Spiels Unstimmigkeiten zwi- hat die Uefa für die schnelle Neuanset-
tuationen, die ich in meinem Leben er- schen Ihnen und der Mannschaft? zung offen kritisiert.
lebt habe. Watzke: Zwischen mir und den Spielern Watzke: Man muss den unmittelbar Be-
SPIEGEL: Wie viel Zeit hatten Sie und ganz sicher nicht. Die Spieler haben je- troffenen einfach zugestehen, dass in
der Krisenstab für die Beratungen? des Recht zu sagen, dass sie unter einer solchen Stresssituation und nach
Watzke: Wenig. Wir hatten die Zuschau- Schock standen. Ich habe der Mann- einem solchen Spiel Emotionales ge-
er im Anmarsch und teilweise auch schaft schon am Mittwochmorgen vor äußert wird. Da sollte man nicht jedes
schon im Stadion. Wir mussten schnell dem Spiel klargemacht: Wenn einer sich Wort auf die Goldwaage legen.

30 DER SPIEGEL 16 / 2017


Deutschland

SPIEGEL: Stand zur Debatte, das Spiel


ganz abzusagen?
Watzke: Dann wäre es gegen uns ge- mehr nur ums Spiel, sondern die Welt
wertet worden. Ich habe kurz über- schaut mit ganz anderen Augen zu.“
legt, ob wir uns nicht ganz aus dem Adli sagt, Psychiater hätten die Augen-
Wettbewerb verabschieden sollen. zeugen von Terroranschlägen befragt und
Aber dann wäre es für die Täter ein dabei herausgefunden, dass „die Verarbei-
Sieg gewesen. tungskapazität zwischen den Menschen
SPIEGEL: Der Borusse Matthias Ginter extrem unterschiedlich“ sei. Es spräche
ist nach dem Anschlag in Paris und aber einiges für die Entscheidung, das
der Länderspielabsage von Hannover Spiel sofort nachzuholen: „Es ist gut, sich

SASCHA SCHUERMANN / AFP


nun schon zum dritten Mal in eine durch den Anschlag nicht komplett aus der
Situation mit einem möglichen terro- Tagesordnung bringen zu lassen. Es hat
ristischen Hintergrund geraten. Wie für die Menschen und Fans etwas Beruhi-
steckt ein junger Mensch so etwas gendes, wenn sie sehen: Die machen wei-
weg? ter“ – auch wenn sich bei einigen Spielern
Watzke: Da ist jeder anders. Die Spie- mögliche Folgen wie Flashbacks oder
ler haben die Möglichkeit, den An- Schlafstörungen erst mit zeitlicher Verzö- Minister de Maizière in Dortmund
schlag auch psychologisch mit Exper- gerung zeigen könnten. Dann habe man Wie ein Staatsakt
ten aufzuarbeiten, und bekommen es mit einer posttraumatischen Belastungs-
jede Hilfestellung von uns. störung zu tun. überzeugt, dass sie das wegstecken“. Es
SPIEGEL: Wie viel Glück hatte Ihre Der Psychiater Manfred Lütz, 63, Chef- klang wie eine Aufforderung.
Mannschaft, dass nicht noch mehr arzt am Alexianer-Krankenhaus in Köln, Kein Borussen-Spieler, der im Bus ge-
passiert ist? verweist auf die hohe symbolische Bedeu- sessen hatte, kritisiert das Verhalten der
Watzke: Nach dem Anschlag waren tung des Fußballspiels. Sich der Situation Klubführung offen. Aber einige haben
wir im Dauerstress, viele Menschen zu stellen, das sei grundsätzlich nicht mit ihrem Umfeld, mit ihren Beratern
konnten nicht mehr schlafen und falsch. Papst Johannes Paul II., der im Mai gesprochen, manche dieser Agenten wa-
mussten im Minutenrhythmus Ent- 1981 auf dem Petersplatz in Rom nieder- ren auch am Donnerstag noch bei ihren
scheidungen treffen. Wenn es ruhiger geschossen wurde, habe danach Audien- Klienten.
wird, werden wir alles sorgfältig ana- zen wieder dort abgehalten. Einige Spieler, die auch nach der nach-
lysieren. Grundsätzlich glaube ich Viele Menschen kommen mit so einem geholten Partie noch wie unter Schock
aber: Wir hatten Glück, dass nicht Anschlag gut zurecht, Fußballer sind jung wirkten, sehen sich offenbar benutzt von
mehr passiert ist – gerade wenn man und deshalb eher nicht so stressanfällig. Uefa-Funktionären, die einen reibungslo-
sieht, wie professionell dieser An- Aber sie werden sich daran gewöhnen müs- sen Wettbewerbsablauf sicherstellen woll-
schlag durchgeführt wurde. sen, Ziele von Anschlägen zu werden. Hel- ten. Und von der Spitze des eigenen Ver-
SPIEGEL: Gab es im Rahmen des Spiels mut Spahn, einst Sicherheitschef des Deut- eins, die sich um des lieben Friedens willen
am Mittwoch die Sorge, dass ein wei- schen Fußball-Bundes, startet Anfang Mai nicht gegen die Uefa-Pläne einer schnellen
terer Anschlag passieren könnte? als Sicherheitsdirektor des Weltverbands Durchführung gestellt hätten. Und sich
Watzke: Die Zusammenarbeit zwi- Fifa. „Wenn mich vor einer Woche jemand vielleicht auch in der Rolle der Antiter-
schen Verein, Polizei und Sicherheits- gefragt hätte, ob ich mir so etwas vorstel- rorkämpfer im Dienste der Gesellschaft
behörden war überragend. Wir hatten len kann, da hätte ich ‚Nein‘ gesagt“, er- hätten präsentieren wollen.
das Gefühl, dass alles für unsere Si- klärt Spahn, „bei meinen Risikobewertun- „Die Spieler fühlten sich als Betroffene
cherheit getan wird und auch alle gen hatte ich einen Anschlag auf einen alleingelassen und sich zum Objekt degra-
kommunikativ an einem Strang zie- Mannschaftsbus nicht auf der Agenda. Da- diert“, sagt der Freund eines der Bus-
hen. Ich habe am Mittwoch mit Bun- her war ich zwar nicht geschockt, aber insassen. Vielleicht hätten die BVB-Offi-
desinnenminister Thomas de Maiziè- schon mehr als überrascht.“ ziellen die Tragweite unterschätzt, als sie
re gesprochen, Bundeskanzlerin An- Denn es sei klar, dass der Sport beson- den Anschlag in einer ersten Stellungnah-
gela Merkel hat mich angerufen. Ich ders im Fokus von Terroristen stünde. Die me am Dienstag als „Vorfall“ verniedlich-
habe eine große Solidarität mit uns Berichterstattung sei exorbitant groß, ideal ten. Aber es kam im Nachhinein in der
gespürt. Außerdem deuten die Beken- für Terroristen: „Sie wollen unsere frei- Mannschaft nicht so gut an.
nerschreiben darauf hin, dass man heitlich-demokratische Grundordnung im Junge Profis wie der Nationalspieler Ju-
nicht explizit Borussia Dortmund Kern treffen und damit maximale Auf- lian Weigl, 21, hatten am Mittwochabend
schaden wollte. Es war vielmehr ein merksamkeit erzielen.“ im Anschluss an die nachgeholte Partie
Anschlag auf die Bundesrepublik Haben Fußballprofis eine gesellschaftli- Tränen in den Augen, einige waren aufge-
Deutschland. che Verpflichtung, sich den Gefahren zu wühlt. Ein Teamkamerad erzählte, wie er
SPIEGEL: Werden Sie Ihre Sicherheits- stellen? Sah die Dortmunder Vereinsfüh- nachts vor dem Spiel immer wieder auf-
konzepte verändern? rung die Spieler in irgendeiner Bringschuld gewacht sei, immer wieder den Knall der
Watzke: Wir werden alles auf den Prüf- im Kampf gegen den Terror? detonierten Sprengsätze im Ohr.
stand stellen und nach einer intensi- Zumindest kam es einigen Akteuren so Auch Trainer Thomas Tuchel sei schwer
ven Analyse womöglich Veränderun- vor, als sie die Rede des Vereinspräsiden- angeschlagen gewesen, er hatte unterhalb
gen vornehmen. Aber alles hat seine ten Reinhard Rauball vom Dienstagabend einer Stelle im Bus gesessen, an der die
Grenzen. Und wir können auch nicht im Stadion noch einmal hörten. Der Liga- Scheibe einen Einschlag aufwies. Vor dem
jeden Spieltag das Hotel wechseln – verbandschef und frühere SPD-Landesmi- Spiel am Mittwoch hatte Tuchel im Sender
zumal in Zeiten der sozialen Medien nister hatte nur 75 Minuten nach dem An- Sky die Uefa dafür kritisiert, dass der
sowieso alles transparent ist. Und das griff auf den Dortmunder Mannschaftsbus Verband der Mannschaft nicht mehr Zeit
Hotel von zehn Panzerwagen umstel- die Spielverlegung auf den Mittwoch be- gegeben habe, die Erlebnisse zu verar-
len zu lassen geht auch nicht. gründet: Natürlich sei das „für die Spieler beiten.
Interview: Rafael Buschmann, Tim Röhn jetzt eine extrem schwierige Situation. In der Uefa-Zentrale in Nyon am Genfer
Aber sie sind Profis, und ich bin davon See schaltete sich Aleksander Čeferin, der

DER SPIEGEL 16 / 2017 31


Deutschland

Uefa-Präsident, in die Diskussion ein. Er


soll nur eine zentrale Forderung gestellt
haben, heißt es in Nyon: Dass keines der
beiden Teams unter Druck gesetzt wird zu
spielen. Zwischenzeitlich sei auch erwogen
worden, die Partie in Monaco auszutragen,
dann habe man sich aber doch entschie-
den, den Spielplan einzuhalten.
Tuchel und andere Businsassen seien am
nächsten Tag noch „im emotionalen Aus-
nahmezustand“ gewesen, sagt ein Berater.
Torwart Roman Bürki weinte nach dem
Spiel, Abwehrspieler Sokratis sagte, man
werde „behandelt wie Tiere“.
Manche Dortmunder Akteure sahen
sich als Staffage im Antiterroraufmarsch
der Politik. CDU-Mann de Maizière saß
im Stadion neben BVB-Geschäftsführer
Hans-Joachim Watzke. Hannelore Kraft,
die NRW-Wahlkämpferin der SPD, bei ih-

RALPH SONDERMANN
rem Parteifreund Rauball, in der Nähe
Reinhard Grindel, der DFB-Präsident und
ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete.
Das gefiel wohl den Fußballfunktionären.
Sie waren bedeutend, als wären sie Teil Landespolitiker Jäger: „Bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen“
eines Staatsakts.
Selbst der Besuch beim verletzten Spieler
Bartra im Knappschaftskrankenhaus, wo
der Spanier operiert worden war, geriet zur
öffentlichen Zeremonie. Watzke enterte die
Klinik mit dem Pressechef des Klubs durch
Haste Scheiße am Fuß
das Spalier der Kameraleute. Auch Trainer NRW Innenminister Jäger galt als Hoffnungsträger der SPD. Nach dem
Tuchel war bei dem Opfer im Krankenhaus. Anschlag in Dortmund und Pannen im Fall Anis Amri steht
Er nahm den Hintereingang.
Was wird nach diesem Attentat passie- er unter Druck – und hält Hannelore Kraft so aus der Schusslinie.
ren? Ganz sicher wird die Debatte weiter-

A
gehen, wie prominente Sportler und große m Tag nach dem Anschlag gab es seinem Berliner Anschlag in Nordrhein-
Veranstaltungen besser geschützt werden einen ganz anderen Ralf Jäger: Westfalen gelebt hatte. Und so gibt es
können. Ähnlich wie nach dem Anschlag Der Innenminister von Nordrhein- im Landtagswahlkampf für die Opposi-
auf den Berliner Weihnachtsmarkt wird es Westfalen war ruhig und leise. In einem tion seit Monaten vor allem ein Thema:
dabei auch um Kleinigkeiten gehen, etwa holzvertäfelten Raum in seinem Ministe- Jäger. „Haste Scheiße am Fuß, haste Schei-
wie man die Sicherheit von Mannschafts- rium trat er vor die Presse, um etwas zu ße am Fuß“, sagte der Fußballer Andreas
bussen verbessern kann. dem Angriff auf die Profis von Borussia Brehme einst frustriert. Der Satz be-
Der BVB-Bus hat ein spezielles Brems- Dortmund zu sagen. Die Behörden in schreibt die aktuelle Lage des Ministers
und Stabilisationssystem. Er hat eine NRW würden den Generalbundesanwalt ganz gut.
Rauchmeldeanlage. Er hatte aber kein Pan- „nach Kräften unterstützen“, sagte der Positive Berichterstattung hatte Jäger
zerglas. Die Ausstattung mit Panzerglas ist Sozialdemokrat, „besonnen“. zum letzten Mal, als er vor einigen Wo-
in Bussen verboten, weil die Insassen die Er hielt ein längs gefaltetes Blatt Papier chen eine Kampagne zu Verkehrskontrol-
Fenster im Falle eines Unfalls mit einem in den Händen, als klammere er sich da- len startete. Das lief einen Tag lang im
Hammer einschlagen müssen, um ins Freie ran. Die Ringe unter seinen Augen waren Radio rauf und runter. Aber eben nur
zu gelangen; die Türen sowie die Dachluke noch tiefer als sonst. Die Schultern hingen. einen Tag.
allein reichen angesichts der Größe des „Wir werden uns dem Hass und dem Ter- Einst wurde Jäger bis zum Kronprinzen
Gefährts nicht als Fluchtwege aus. ror, egal aus welcher Richtung er kommt, von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
„Natürlich“, sagt Manuel Hiermeyer, nicht beugen“, sagte Jäger. Wort für Wort (SPD) hochgeredet, jetzt gilt er als Belas-
Sprecher des Busherstellers MAN, „wird könnte das eine markige Kampfansage tung. Kraft hat trotzdem an ihm festge-
man sich nun gemeinsam mit dem Verein sein. Aber es klang nicht so. Es klang halten.
Gedanken machen müssen, was dieser An- kleinlaut. Die Opposition aus CDU und FDP
schlag im Blick auf die Sicherheit bedeu- Es sind die großen Themen seiner zetert deswegen, zumindest öffentlich.
tet.“ Man wird einen Weg finden, wie man Amtszeit, die dieser Tage vor Jäger liegen Tatsächlich aber bietet er auch ein will-
den Bus in eine rollende Festung verwan- wie ein Scherbenhaufen. Die Sicherheit kommenes Ziel. „Eigentlich ist es inzwi-
deln kann. Man wird diese Lücke stopfen. bei Fußballspielen – sie war dem Fußball- schen mit Jäger viel schöner, als es ohne
Und dann hoffen, dass sich nicht bald eine fan Jäger immer ein wichtiges Anliegen. ihn wäre“, gluckst ein Innenpolitiker der
neue auftut. Und der Kampf gegen den Extremismus CDU.
von links, rechts oder von Islamisten so- Als Kraft Jäger vor sieben Jahren zum
Jörg Blech, Rafael Buschmann, Jörg Diehl,
Sebastian Hammelehle, Martin Knobbe, wieso. Innenminister machte, da wählte sie einen
Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, In seine Amtszeit fallen Pannen und Hoffnungsträger aus dem sozialdemokra-
Tim Röhn, Fidelius Schmid, Nico Schmidt Affären wie jene um Anis Amri, der vor tischen Herzen Nordrhein-Westfalens. Sie

32 DER SPIEGEL 16 / 2017


wollte einen, der die Bodenständigkeit, die Fußballschläger kippten einen Einsatz-
ihr selbst so wichtig ist, verkörpert. Und wagen der Polizei um, 49 Beamte wurden Meine Branche: speziell.
sie suchte einen, der überzeugend den har- verletzt. Was tat Jäger? Er sprach unge-
ten Hund geben konnte. rührt von einem „erfolgreichen Polizei- Meine kaufmännischen Prozesse:
Jäger lieferte beides. Rockern wollte er einsatz“.
die „Kutten ausziehen“, Rechten „auf die So behandelt er auch seine beiden aktu-
Springerstiefel steigen“, den Sumpf aus- ellen Problemthemen: die Pannen im Fall individuell.
trocknen. Noch heute hört man Jäger an, des Attentäters Anis Amri; und die Affäre
woher er kommt. Er spricht das kehlige um den von der Arbeit freigestellten Poli- Mit Software von DATEV.
Idiom des Ruhrpotts, selbst wenn er sich zeigewerkschaftler Rainer Wendt, der wei-
vor dem Landtag staatstragend gibt. ter ein Teilzeitgehalt vom Staat kassierte.
Er muss sich nicht verstellen, damit man Rein gar nichts hätten seine Behörden bei
ihm die einfachen Wurzeln abnimmt. Er, Amri versäumt, findet Jäger. Man sei sogar
der nach der Schule in der Stahlarbeiter- „bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ ge-
Kneipe seiner Mutter arbeitete. Der Groß- gangen. Und bei Wendt sowieso nicht; das
und Außenhandelskaufmann lernte, sein habe ja die Vorgängerregierung so einge-
Pädagogikstudium abbrach und in die stielt.
Politik wechselte. Der Innenminister hat sich in eine Wa-
Heute wird er in einem dicken Dienst- genburg zurückgezogen. Jeden Angriff
wagen gefahren, ist Herr über Tausende quittiert er mit einer Gegenattacke. Das
Mitarbeiter. Doch der rotschöpfige Ruhr- zeigt eine Panne seiner Pressestelle. Sie
pott-Proll, der ist immer noch da. Dazu verschickte vor einer Landtagsdebatte zur
gehört eine Eigenschaft, die man diesem Gewalt in Fußballstadien versehentlich sei-
Milieu gern zuschreibt: die Sturheit. ne Antworten auf Redebeiträge von Op-
Es gibt mehrere Varianten, wie man als positionsabgeordneten – die noch gar
Minister mit Pannen und brenzligen The- nichts gesagt hatten.
men umgehen kann. Man kann die theo- Jäger konterte trotzdem schon: „Herr
retische Existenz von Fehlern einräumen, (Abgeordneter der CDU), reißerischer ging
Aufklärung versprechen und mit ein paar es nicht, oder?“, stand dort. Oder: „Sie
Placebo-Reformen daherkommen. Oder verfallen hier in bekannte Muster, Schelte
man setzt sich an die Spitze der Aufklä- an der Polizei, Schelte an den Vereinen,
rung und feuert einen Untergebenen. Oder Schelte am Innenministerium.“
man behauptet: Alles richtig gemacht, kei- Als die Panne herauskam, sagte Jäger
ne Ahnung, wieso Opposition und Medien kühl, die Redebeiträge der Opposition sei-
so rumzicken. en „vorhersehbar“ gewesen. Er habe „nur
Die erste Methode hat Bundesinnen- noch nicht gewusst, wer es sagt“.
minister Thomas de Maizière (CDU) nach „Jäger ist seit Amtsbeginn in einer
dem Anschlag am Berliner Breitscheid- ständigen Verteidigungshaltung“, sagt ein
platz erkennen lassen. Jäger bevorzugt die CDU-Abgeordneter, „aber man muss ihm
beiden anderen. auch Respekt zollen: Wie der das so an
Als Silvester 2015 am Kölner Haupt- sich abprallen lässt, seit über einem Jahr,
bahnhof Hunderte Frauen von arabisch das kann nicht jeder.“
Am Donnerstag, zwei Tage nach dem
Der Minister hat Anschlag und einen Tag nach dem Nach-
holspiel Dortmund gegen Monaco, stapfte
sich in eine Wagenburg er schon wieder selbstbewusst in den In-
nenausschuss des Landtags. „Hömma“,
zurückgezogen. sagte er beim Reingehen, „das war aber
gestern Pech, zwei irreguläre Gegentore.“
oder nordafrikanisch aussehenden Män- Er hatte den Rücken wieder durchge- Wenn es um Ihre Branche geht, dann sind Sie Experte.
nern sexuell belästigt wurden, versprach drückt, ein selbstbewusstes Lächeln im
Auch für Ihre Lohn- und Gehaltsabrechnung oder für die
Jäger schnell Aufklärung. Sein Ministe- Gesicht.
rium ließ eiligst einen Bericht erstellen. Aus Sicht der Opposition ist der Stur- Finanzbuchführung gibt es ausgewiesene Spezialisten:
Ergebnis: Die Kölner Polizei hatte den kopf Jäger zum Problemfall für Hanne- Ihr Steuerberater und die kaufmännische Software von
Einsatz verbockt. Den Polizeipräsidenten lore Kraft geworden. Demnach hat sie DATEV gestalten individuelle Unternehmensprozesse
der Stadt hatte Jäger bereits Tage zuvor nur den richtigen Zeitpunkt verpasst, um einfach und zuverlässig.
entlassen. ihn loszuwerden. Andere sehen es so:
Im Untersuchungsausschuss fand die Weil sich alle ständig an Jäger abar-
Opposition allerdings weitere Defizite, an- beiteten, kam es zu keiner richtigen De- Mehr Infos unter 0800 1001116
gebliche Vertuschungsversuche und Un- batte über Krafts Bilanz als Regierungs-
gereimtheiten. Nun verlegte Jäger sich auf chefin. oder auf www.datev.de/meinebranche
Strategie drei: Alles richtig gemacht. Was In vier Wochen wird in Nordrhein-West-
wollt ihr? falen gewählt. Die Flure des Landtags sind
Das kann er. Als 2014 in Köln eine voller Gerüchte, wer nach der Wahl in wel-
Demonstration unter dem Motto „Hoo- cher Koalition welches Amt übernehmen
ligans gegen Salafisten“ aus dem Ruder könnte. Jägers Name fällt auch. Aber nicht
lief, gab es einen Aufschrei. Rechte und als Innenminister. Fidelius Schmid

DER SPIEGEL 16 / 2017 33


Deutschland

Wahlkämpferin Petry

Alternative für Petry


Populismus Keine zwei Jahre nach ihrer Wahl in die AfD-Führung steht
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

Frauke Petrys Macht auf der Kippe. Ihre Gegner hintertreiben ihre Spitzenkandidatur
für die Bundestagswahl, allen voran der Rechtsausleger Björn Höcke.

34 DER SPIEGEL 16 / 2017


D
ie Verschwörer trafen sich am Mon- gie“, den bürgerlich-sauberen Weg, fragt Petry knapp. „Wo der rumschwirrt, weiß
tag zur Mittagszeit in einem Hotel Petry darin. Oder wollt ihr die „fundamen- ich nicht.“
am Marktplatz von Goslar. Ein hal- taloppositionelle“ Gruppe um Höcke und Meuthen stand unübersehbar nur weni-
bes Dutzend AfD-Männer saßen im Sepa- Gauland? Petry fordert nun plötzlich rote ge Meter entfernt in einem blauen Zelt bei
ree und überlegten, wie die Frau zu ent- Linien im Grundsatzprogramm der Partei: der Bühne und las betont konzentriert in
machten sei, die sie einst selbst mit ver- Die AfD solle dem Rassismus ebenso ab- seinem Redemanuskript. Nordrhein-West-
einten Kräften in das höchste Parteiamt schwören wie „antisemitischen, völkischen falen ist für ihn politisches Feindesland,
bugsiert hatten: Frauke Petry. und nationalistischen Ideologien“. Eigent- hier ist Petry-Territorium, denn hier regiert
Der Initiator des Geheimtreffens, Armin lich Selbstverständlichkeiten. Doch als Lu- ihr Gatte Pretzell die AfD.
Paul Hampel, ehemaliger Journalist und cke einst versuchte, diese durchzusetzen, Und so wurde es für Meuthen an diesem
Mitglied im Bundesvorstand der AfD, hat- war das der Anfang von seinem Ende in Samstag immer wieder unbequem. Kaum
te Vertreter aller Parteilager zusammenge- der AfD. betrat Meuthen die Bühne, pfiff ihn der
führt: Rechtsausleger wie Alexander Gau- Nun könnte Petry ein ähnliches Schick- Moderator zurück: „Das machen wir jetzt
land genauso wie den bürgerlich-konser- sal bevorstehen. „Ein Lucke war genug!“, noch mal!“ Für jeden Redner sei zum Ein-
vativen Ralf Özkara, Unternehmer und posten die rechten AfDler auf Facebook. lauf eine Musik vorgesehen, wurde Meu-
neuer AfD-Chef in Baden-Württemberg. Das Delegiertentreffen in Köln könnte then belehrt, die möge er abwarten. Das
Besonderes Gewicht hatte in dem Kreis zum Wendepunkt in Petrys Karriere wer- Publikum, inklusive Petry, lachte amüsiert.
aber das Wort des Mannes, den Petry aus den. In weniger als zwei Jahren hat sie es Aus den Lautsprechern dröhnte sodann
der AfD werfen will: Thüringens AfD-Chef geschafft, ihren enormen Sympathiebonus der Marsch „Preußens Gloria“. Meuthen
Björn Höcke. weitgehend aufzuzehren. Mit einer Serie stapfte dazu wie ein lustloser Tanzbär auf
Vereint wurde die Runde durch eine kleiner und großer strategischer Fehler ver- die Bühne. Der Wind wehte ihm sein
Überzeugung: Es geht nicht mehr mit Pe- wandelte sie sogar loyale Anhänger und Manuskript vom Pult, was ein weiteres Lä-
try. Über die hochschwangere Parteichefin enge Mitarbeiter in Gegner. cheln auf Petrys Gesicht zauberte. Als
habe man gar nicht viele Worte verlieren nächster Redner sprang dann – ganz ohne
müssen, erzählt ein Teilnehmer. Die Her- Musik – Pretzell auf die Bühne, der Meu-
ren seien längst mit ihr durch. Sie trieb thens ausgestreckte Hand ignorierte. Erst
eher die Frage um, wie man Petry im Bun- als Meuthen leise „Marcus!“ rief, schlug
destagswahlkampf an den Rand drängen Pretzell ein.
kann. Deshalb soll auf dem bevorstehen- Es sind solche kleinen Fiesheiten, mit
den Parteitag am kommenden Wochen- denen Petry und Pretzell Parteifreunde är-
ende ein Spitzenteam gebildet werden, in gern. Seit Petrys Aufstieg an die Parteispit-
dem Petry eingemauert wird – als eine un- ze hat sich das Paar zunehmend abgeschot-
ter vielen. tet. Jeder profilierte Parteifreund, der sich
Früher saß Frauke Petry selbst in sol- nicht unterwirft, wird misstrauisch beäugt.
chen geheimen Zirkeln und dirigierte die „Frauke Petry hat nicht verstanden, wie
Parteitruppen im AfD-internen Macht- Politik funktioniert, sie sieht die Partei als
kampf. Jetzt gehen viele frühere Mitstrei- Solonummer“, urteilt Parteifreund Armin
ter von der Fahne, arbeiten gegen sie, und Paul Hampel. „Kompetenz empfindet sie
ausgerechnet ihr Rivale Höcke ist an ent- als Bedrohung.“ Petry wolle Konflikte
scheidender Position beteiligt. Wie konnte Anti-Petry-Post nicht ausdiskutieren, sondern echte und
es so weit kommen? Sympathiebonus aufgezehrt vermeintliche Gegner gleich „loswerden“.
Die Bundesvorsitzende ist immer noch Der Großteil des Bundesvorstands und
die prominenteste Figur der AfD, das bür- Zum Beispiel ihren gutmütigen Kochef die Mehrheit der Landesvorsitzenden sind
gerliche und talkshowtaugliche Gesicht der Jörg Meuthen, einen der wenigen verblie- von Petry abgerückt. Mal ging es um fun-
Partei. Die Basis hatte sie zunächst als zu- benen Wirtschaftsprofessoren in der AfD. damentale Streitpunkte wie die Bündnisse
gängliche und kompromissbereite Alterna- Meuthen sollte nach dem Sturz Luckes das von Petry und Pretzell mit europäischen
tive zum rechthaberischen Parteigründer bürgerliche Antlitz der Partei sein. Er war Rechtsextremen wie Marine Le Pen, die
Bernd Lucke kennengelernt. Das ebnete Petry zutiefst dankbar, dass sie ihm – ei- sie auf eigene Faust schlossen. Sehr oft wa-
ihr den Weg an die Spitze. nem bis dahin unbekannten Parteifunktio- ren es aber auch kleinere Dinge: Als Petry
Doch nun ist ein neuer Machtkampf ent- när – den Weg an die Spitze der AfD er- etwa jüngst ihren „Zukunftsantrag“ zum
brannt: Es geht um die Ausrichtung der möglichte. Parteitag vorstellte, der die AfD auf bür-
Partei, aber auch um den Führungsstil der Doch wie zerrüttet das Verhältnis der gerlichen Kurs zwingen soll, tauchte in der
Vorsitzenden, die keinen Widerspruch dul- beiden inzwischen ist, zeigte sich am ver- finalen Version ein Frontalangriff auf den
det und die sich mit ihrem Ehemann, dem gangenen Samstag in Essen. Schlagermu- Parteivize Alexander Gauland auf – ohne
nordrhein-westfälischen Parteichef Marcus sik wummerte über den Marktplatz im Absprache mit allen Unterzeichnern. Ge-
Pretzell, immer mehr einigelt. Stadtteil Altenessen, rund 450 Bürger wa- nervt zogen einige Landeschefs daraufhin
Petry gibt sich vor dem Parteitag als An- ren zum Wahlkampfauftakt der AfD in ihre Unterstützung zurück.
führerin jenes gemäßigten Flügels, der Nordrhein-Westfalen gekommen. Petry stößt aber nicht nur Parteifreunde
Rechtsextreme wie Höcke aus der Partei Es sollte der erste gemeinsame Auftritt vor den Kopf, sondern auch die eigenen
drängen will. Das ist nicht ohne Ironie, von Petry und Meuthen seit Wochen wer- Mitarbeiter wie Michael Klonovsky, einen
schließlich hat Petry einst selbst mithilfe den, doch „gemeinsam“ war an diesem ehemaligen „Focus“-Redakteur. Wie der
der Rechten Lucke gestürzt. Aber Petry Samstag nichts: Schon bei ihrer Ankunft SPIEGEL vergangene Woche berichtete,
ist flexibel, auch deshalb hat sie es so weit ging Petry grußlos an Meuthen vorbei. Lie- stand Klonovsky nicht nur bei Petry als
gebracht. ber ließ sie sich mit Fans fotografieren, lä- Medienberater unter Vertrag, sondern
Für den Parteitag hat sie einen Antrag chelte routiniert in Handykameras. Ein Be- auch bei dem EU-Abgeordneten Pretzell,
vorbereitet, der die AfD vor die Wahl sucher fragte: „Ist der Herr Doktor Meu- um das Gesamthonorar von 10 000 Euro
stellt. Wollt ihr eine „realpolitische Strate- then schon da?“ – „Jaja, der ist da“, sagte im Monat gemeinsam aufzubringen. Doch
DER SPIEGEL 16 / 2017 35
Deutschland

die EU-Parlamentsverwaltung stellte sich glieder wollten „keine Diskussionen mehr


quer, also zahlte Pretzell seinen Anteil mo- über Personen, sie wollen endlich über
natelang nicht, weder Gehalt noch Sozial- Inhalte reden“, verkündet Höcke, in An-
versicherungsbeiträge. zug und Krawatte vor einer Deutschland-
Nun zieht der einstige Vertraute vor das fahne sitzend.
Arbeitsgericht, sogar eine Strafanzeige ge- Auf dem Parteitag in Köln will Höcke
gen Pretzell liegt vor. Die AfD sieht stau- nicht auftreten. Doch als Königsmacher
nend zu, wie der Streit eskaliert. Pretzell wird er sehr wohl im Hotel Maritim prä-
warf Klonovsky Erpressung vor und raunte sent sein: Wer ins Spitzenteam will, darf
über dessen Eheprobleme; Klonovsky re- kein Höcke-Gegner sein. Die Vorbereitung
vanchierte sich am Donnerstag mit einer für den Parteitag fällt leichter als beim
langen Suada auf seiner Facebook-Seite: Sturz Luckes im Jahr 2015 – in Köln stim-
„Pretzell ist eine Hochstaplerfigur, ein un- men Delegierte ab, keine einfachen Par-
seriöser Mensch mit krankhaftem Drang teimitglieder, die unberechenbar sind.
zur Intrige und zum Schüren von Konflik- Beim Geheimtreffen in Goslar war sich
ten, ein Hasardeur, der Verträge für unver- die Runde schnell einig: Gauland ist für
bindlich und Versprechen für elastische das Spitzenteam gesetzt. Das sagt er ganz
Floskeln hält“, schrieb er. „Eine Partei, die offen: „Wenn es die Partei will, stehe ich
in einer solchen Situation eine vom Kon- für ein Spitzenteam selbstverständlich zur

SASCHA FROMM / FUNKE FOTO S. / ACTION PRESS


fliktautomaten Marcus Pretzell gesteuerte Verfügung.“ Eine Wunschpartnerin Gau-
Frauke Petry als Spitzenkandidatin ausruft, lands ist Alice Weidel, eine junge west-
wäre verraten und verkauft.“ deutsche Ökonomin. Sie sitzt im AfD-Bun-
Ähnlich gefährlich ist für Petry und Pret- desvorstand und wäre ein liberales Gegen-
zell der Streit mit Matthias Moosdorf. Der stück zum rechtskonservativen AfD-Vize
Cellist eines renommierten Streichquar- Gauland. Zwar war Weidel eine treibende
tetts hatte im Frühjahr 2016 Kontakt zur Kraft des Höcke-Ausschlussverfahrens,
AfD-Vorsitzenden gesucht, fasziniert von doch die Aussicht auf ein Spitzenamt in
ihrer „Schnelligkeit und Intelligenz“. Petry der künftigen AfD-Fraktion scheint flexi-
könne „zwei Spielzüge im Voraus planen“, bel zu machen. Weidel und Gauland hät-
schwärmte Moosdorf Vertrauten vor. AfD-Mann Höcke ten ihre Kooperation schon diskret son-
Schnell stieg er zu Petrys engem Berater Stärker denn je diert, heißt es, und bei den skeptischen Pa-
auf, organisierte sogar die standesamtliche trioten in Goslar habe Gauland vehement
Trauung mit Pretzell im Leipziger Mendels- Immer mehr geraten Petry und Pretzell für sie geworben. Allerdings ist unklar, ob
sohn-Haus. Nun ist die Harmonie dahin. In an der AfD-Basis in Verdacht, die Partei Weidel die Unterstützung des rechten Par-
zwei Beschwerdebriefen an die AfD-Spitze als Vehikel eigener Machtgelüste zu miss- teiflügels am Ende bekommt.
beklagte Moosdorf seine „Kaltstellung“ und brauchen. Da wundert es wenig, dass der Petrys Gegner wollen die Chefin nicht
enthüllte pikante Details: über die Kontakte Rechtsideologe Höcke ein Comeback feiern aus der Partei drängen wie einst Bernd Lu-
etwa, die er dem AfD-Paar in höchste rus- kann. Nach seiner Dresdner Rede und dem cke, und Petry ist sich ihrer Bedeutung für
sische Kreise vermittelt habe, zu Putins Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Denk- die AfD sehr wohl bewusst. „Sie brauchen
Chefberater Igor Lewitin und Sergej Tscher- mal der Schande“ stand der Thüringer kurz- mich als maßgebliche Repräsentantin in
jomin, dem Moskauer Beauftragten für in- zeitig auf der Kippe; sogar enge Weggefähr- der Öffentlichkeit“, verkündete sie der Ba-
ternationale Beziehungen. ten wie der rechtsnationale Verleger Götz sis schon 2016 auf dem Parteitag von Stutt-
Die Russen wollten Petry möglichst un- Kubitschek distanzierten sich von seinen gart. So könnte es in Köln zum Showdown
auffällig treffen, am liebsten wie zufällig Aussagen. Heute ist Höcke stärker denn je. kommen. Erst kürzlich kokettierte sie im
auf dem Dresdner Semperopernball. Dafür „Hätte Petry nur eine Rüge oder Ämter- „Tagesspiegel“ mit Rücktrittsgedanken.
will Moosdorf eigens VIP-Karten für je sperre gegen Höcke forciert, wäre er jetzt Petry wird sich nicht so einfach von der
3660 Euro besorgt haben, Ballgarderobe, wohl marginalisiert“, sagt ein AfD-Landes- Bühne schieben lassen. Sie weiß, dass ihr
einen Friseur, einen Tanzlehrer. Aber Pe- chef. „Aber nein, es musste partout der Abgang als weiterer Rechtsruck gewertet
try und Pretzell ließen den Abend platzen: Parteiausschluss sein.“ würde. Auf Bitte des SPIEGEL wertete das
„Am 1. Februar gegen 22 Uhr erfolgte ein Dass Petry nun die AfD von Höcke und Institut für Demoskopie Allensbach Um-
Anruf, dass Dr. Petry den Ball absagen jeglicher rechten Ideologie reinigen will, fragedaten von AfD-Anhängern vom Som-
würde und ihr Ehemann M. Pretzell alle halten viele AfD-Funktionäre für reines mer 2015 aus.
Kontakte übernehmen würde“, klagte Machtspiel. Habe Petry nicht selbst gefor- In dieser Phase dümpelte die Rechtspar-
Moosdorf in seinem Brief an Parteifreunde. dert, das Wort „völkisch“ zu rehabilitieren, tei schon einmal wegen Luckes Abgang
Die russischen Politiker ließen sich zwar fragen sie. Wetterte sie nicht selbst in einer im Umfragetief. Aus den Daten wagt Al-
breitschlagen, das AfD-Paar dann „zufäl- Rede zur deutschen Einheit im vergange- lensbach-Meinungsforscher Thomas Peter-
lig“ in einem Dresdner Nobelhotel zu tref- nen Jahr gegen Flüchtlinge als „Lumpen- sen die Schätzung: „Würde die AfD die
fen. Jedoch: „Der hinterlassene Eindruck proletariat der afroarabischen Welt“, und letzten halbwegs gemäßigten Vertreter
war kein guter“, notierte Moosdorf. erteilte nicht sie einem „bunten“ Deutsch- verlieren und würden sich die Rechtsradi-
Nur mit Mühe ließ sich ein geheimer land eine Absage: „Bunt ist auch ein Kom- kalen gänzlich durchsetzen, könnte die
Gegenbesuch des AfD-Paares in Moskau posthaufen“? Partei ein Drittel ihrer derzeitigen Anhän-
organisieren, abermals ohne Abstimmung Je härter Petry gegen Höcke austeilt, ger verlieren.“ Es ist unklar, ob sie bei der
mit dem Bundesvorstand und obwohl die desto demütiger gibt der sich. „Ich selbst Bundestagswahl so über die Fünfprozent-
Russen „Pretzell gar nicht dabei haben“ bin in den letzten Tagen, Wochen und Mo- hürde käme. Petrys letzter Trumpf ist die
wollten. „Aber Frau Dr. Petry akzeptiert naten hart angegriffen worden“, säuselt Angst ihrer Gegner vor dem Wähler.
keine anderweitige Beratung mehr“, Höcke in einer Videobotschaft an die Basis, Melanie Amann, Martin Pfaffenzeller,
seufzte Moosdorf. „leider auch von Parteifreunden.“ Die Mit- Severin Weiland

36 DER SPIEGEL 16 / 2017


Deutschland

Rüsten gegen den Krieg


Debatte Die Bundeswehr wird ohne deutlich mehr Geld ihre Aufgaben nicht
erfüllen können. Von Konstantin von Hammerstein

E
in kleines Ratespiel. Die Bundeswehr hat 225 Kampf- Tempo, mit dem sich der weltpolitische Temperatursturz
panzer, weitere 100 sollen in den nächsten Jahren vollzog, riss alle Parameter der deutschen Verteidigungs-
dazukommen. Der „Leopard 2“ wiegt in seiner neu- politik mit sich. Der Glaube, man habe bei einer Verschär-
esten Version 64 Tonnen und muss über längere Strecken fung der sicherheitspolitischen Situation genügend Zeit,
mit schweren Sattelschleppern verlegt werden. Die die eigenen Streitkräfte wieder auf einen höheren Level
Logistikspezialisten der Truppe haben berechnet, dass sie zu heben, erwies sich als naiv.
97 dieser Schwerlasttransporter benötigen, wenn die Pan- Die Lage ist seitdem nicht besser geworden. An ihrer
zer voll einsatzfähig sein sollen. Nun die Frage: Wie viele Ostflanke hat es die Nato mit einem Gegenspieler zu tun,
gibt es tatsächlich bei der Bundeswehr? der militärische Gewalt als legitimes Mittel seiner Außen-
Falsch. Es sind 9. politik betrachtet, der keine Hemmungen hat, sich mit
Noch eine Frage: Erfüllt es den Tatbestand der „Auf- einem Pariaregime wie dem syrischen zu verbünden, und
rüstung“, wenn die Streitkräfte zusätzliche Sattelschlepper der mit allen Mitteln versucht, die Stabilität der westlichen
beschaffen, um ihre „Leopard 2“ auch einsetzen zu kön- Demokratien zu erschüttern. An ihrer Südflanke steht das
nen, deren Zahl seit Ende des Kalten Krie- Bündnis einem Ring von Staaten gegen-
ges übrigens um fast 2000 geschrumpft ist? über, die im besten Fall labil und im
Der Wehrbeauftragte hat den Fall eines schlechtesten gescheitert sind. Dass Afrika
Gebirgsjägerbataillons beschrieben, dem der Hinterhof Europas ist und viele Afri-
planmäßig 522 Nachtsichtgeräte zustan- kaner von einem Leben in Europa träu-
den. Tatsächlich gab es nur 96, von denen men, wissen Franzosen und Spanier schon
allerdings 76 an andere Einheiten abgege- lange. Seit der Flüchtlingskrise realisieren
ben werden mussten. Blieben noch 20, von es auch die Deutschen.
denen 17 beschädigt waren. Rüstet die

S
Bundeswehr auf, wenn sie einen hohen oldaten sind nicht die Antwort auf
zweistelligen Millionenbetrag in neue diese Probleme. Sie müssen politisch
Nachtsichtgeräte investiert? Die Rüstungsdebatte gelöst werden, doch gleichzeitig sind
Die Antwort ist wichtig, denn das A- Würde Deutschland sich an Streitkräfte ein wichtiges Instrument der
Wort hat wieder Konjunktur, A wie Auf- das Zwei-Prozent-Ziel der Nato Außenpolitik. Sie können durch Abschre-
rüstung. Außenminister Sigmar Gabriel halten, müsste der Verteidi- ckung Kriege verhindern und Konflikt-
kombiniert es gern mit dem Zusatz „Spi- gungsetat fast verdoppelt gebiete militärisch so stabilisieren, dass
rale“, dann ist es wahlkampfkompatibel. werden. US-Präsident Donald die Politik Zeit gewinnt. Wenn sie denn
Bei einer SPD-Veranstaltung warnte er vor Trump übt starken Druck aus, einsatzfähig sind.
Kurzem, in der Mitte Europas drohe ein Verteidigungsministerin von Bei der Bundeswehr kann davon nicht
„Militärbulle“ zu entstehen. der Leyen hat das Ziel jüngst die Rede sein. Mit großer Mühe bewältigt
Mit der Realität hat das nichts zu tun. bekräftigt. Aber ist es zeit- die Truppe derzeit ihre – relativ kleinen –
In den vergangenen 25 Jahren ist die Bun- gemäß, mehr Geld für Waffen Auslandseinsätze. Die Großverbände aber,
deswehr systematisch geschrumpft wor- auszugeben? Der SPIEGEL die für klassische Landes- und Bündnis-
den. Das war politisch vernünftig, denn begleitet die Diskussion mit verteidigung notwendig sind, stehen nur
nach dem Ende des Kalten Krieges brauch- kontroversen Beiträgen. noch auf dem Papier. Unter dem Zwang,
te niemand mehr eine Armee mit über die Verschuldung in den Griff zu bekom-
einer halben Million Soldaten in der Mitte men, hat der Staat in den vergangenen
Europas. Die Streitkräfte wurden kleiner. Landes- und Jahren die öffentliche Infrastruktur verkommen lassen.
Bündnisverteidigung spielten keine Rolle mehr, entschei- Bei Autobahnbrücken oder Schulen ist das offensichtlich,
dend waren nur noch die Auslandseinsätze. Sie bestimm- bei der Bundeswehr spielt sich das Elend versteckt hinter
ten den Bedarf an Personal, Material und Munition. Kasernenzäunen ab.
An der Ostflanke der Nato herrschte nach dem Fall des Ihre Lkw stammen aus den Siebziger- und Achtziger-
Eisernen Vorhangs Frieden, und wenn sich die sicherheits- jahren und müssen für 2,7 Milliarden Euro ersetzt werden.
politische Lage einmal ändern würde, hätte man genügend Die alten Funkanlagen sollen in den kommenden Jahren
Zeit, die Armee wieder auszubauen. Dachte man. Die Fi- für 5,5 Milliarden gegen neue Geräte ausgetauscht werden,
nanzkrise verschärfte den Schrumpfungsprozess noch. weil die Truppe sonst weder mit den eigenen Einheiten
CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg noch mit den Verbündeten kommunizieren kann. Milliar-
ließ sich 2010 für die „einmalige Chance“ feiern, bis 2014 den müssen in die digitale Erneuerung der Streitkräfte in-
noch einmal 8,3 Milliarden Euro aus dem Verteidigungs- vestiert werden, weil sich zukünftige Konflikte stark im
haushalt zu quetschen. Von dieser „Neuausrichtung“ hat Cyberraum abspielen werden.
sich die Bundeswehr bis heute nicht erholt. Es geht eher um Renovierung und Modernisierung als
Dann veränderten sich die Rahmenbedingungen. Es ka- um Aufrüstung. Auch die wird teuer, doch die sicherheits-
men die Ukrainekrise 2014, die russische Annexion der politische Lage erfordert eine Bundeswehr, die wieder
Krim, der Vormarsch des IS im Irak und in Syrien. Das voll einsatzfähig ist. I

38 DER SPIEGEL 16 / 2017


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Deutschland

„Das ist unterirdisch“


SPIEGEL-Gespräch Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner wehrt sich gegen
Gerüchte über ihr Privatleben und die Machokultur in der Politik.

Aigner, 52, ist seit dreieinhalb Jahren bayeri-


sche Wirtschaftsministerin und seit 32 Jah-
ren Mitglied der CSU. Aigner ist eine der
wenigen Frauen, die es in der Partei nach
ganz oben geschafft haben. Die CSU ist nach
der AfD die Partei mit dem geringsten Frau-
enanteil. 2015 waren nur 20 Prozent der
Mitglieder weiblich. Ein Gespräch über Hah-
nenkämpfe unter Männern und die Frage, ob
man es sich als Frau erlauben kann, allein-
stehend zu sein.

SPIEGEL: Frau Aigner, was unterscheidet


Frauen und Männer in der Politik?
Aigner: Eine Sache müssen wir vorab klä-
ren. Es gibt nicht „die Männer“ und „die
Frauen“. Wir sind ja alle Individuen. Was
wir hier besprechen sind natürlich Gene-
ralisierungen. Einverstanden?
SPIEGEL: Natürlich.
Aigner: Ich glaube, dass Frauen ganzheit-
licher rangehen. Sie sehen nicht nur ihr
Fachgebiet, sie sehen, was links und rechts
davon passiert. Sie denken vom Ende her:
Wie kann man eine Lösung erzielen?
SPIEGEL: Männern geht es ums Prinzip?
Aigner: Männer sagen: Hier bin ich, das ist
meine Meinung, davon rücke ich kein
Stück ab. Frauen suchen den Kompromiss.
SPIEGEL: Männer sind also besser für den
Wahlkampf, Frauen besser fürs Regieren?
Aigner: Da ist was dran. Männer verkaufen
sich besser, weil sie selbstbewusster ihre
Meinung äußern.
SPIEGEL: Nach so vielen Jahren in der CSU,
hat man da die Männer verstanden?
Aigner: Ich bin schon vor der Politik in ei-
ner Männerwelt aufgewachsen. Meine El-
tern hatten einen Elektrobetrieb, da liefen
überall Monteure rum. Ich bin Radio- und
Fernsehtechnikerin, da war ich als Frau al-
lein und als Elektrotechnikerin in der Hub-
schrauberentwicklung später auch. In der
Politik kam aber eine neue Komponente
dazu. Es ging plötzlich um die Frage: Wer
gewinnt? Wer kann seine Positionen am
besten durchsetzen? Das ist ein Männer-
ding: Es geht um die einzelne Schlacht,
und die muss immer gewonnen werden.
Darauf blicke ich manchmal doch stau-
nend, noch immer.
PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Bei der CSU haben bislang meis-


tens Männer die Schlachten gewonnen.
Was machen die Frauen falsch?
Aigner: Manchmal steht man sich als Frau
selbst im Weg. Man sagt Dinge nicht so

Das Gespräch führten die Redakteure Ralf Neukirch und


Britta Stuff in München. CSU-Politikerin Aigner: „Eine alleinstehende Frau ist für viele das Schlimmste“

40 DER SPIEGEL 16 / 2017


deutlich, weil man sich fragt: Zerschlage ich
zu viel Porzellan? Deshalb wirkt man dann
zum vierten Mal verheiratet, man kann
schwul, lesbisch, irgendwas sein, aber al-
Steuern?
im Zweifelsfall eher schwächer. Aber wenn
Frauen auftreten wie Männer, kommt das
leinstehend, das geht nicht, da ist was faul.
SPIEGEL: Müssen Sie sich Sprüche anhören?
Lass ich machen.
auch nicht gut an, denken Sie an Margaret Aigner: Ich krieg viele nette Angebote, Fan-
Thatcher. Die war erfolgreich, wurde aber post und so weiter. Das ist auch sehr schön.
extrem brutal angegriffen. Es ist schwierig Aber ganz ehrlich, es hat sich bei mir einfach
für eine Frau, sich auf der einen Seite durch- nicht ergeben, ich bin da echt entspannt.
zusetzen und auf der anderen Seite nicht SPIEGEL: Warum ist es ein Problem, wenn
zu hart – oder man könnte auch sagen: nicht eine Politikerin alleinstehend ist?
zu männlich – zu wirken. Aigner: Vielleicht fehlt das Verständnis,
SPIEGEL: Warum sollten Frauen nicht hart dass man auch ganz gut alleine durch sein
wirken dürfen? Leben kommen kann. Dass man nieman-
Aigner: Den meisten Frauen ist es wichtiger, den braucht, der einen versorgt. Vielleicht
gemocht zu werden. Harte Frauen stehen ertragen das manche Männer nicht. Ich
viel mehr in der Kritik als harte Männer. weiß es nicht. Ich bin quasi mit meinem
SPIEGEL: Denken Sie manchmal in CSU-Sit- Beruf verheiratet. Meine Tage beginnen
zungen, wenn der Raum voll mit Männern früh und gehen bis spät in den Abend. Am
ist: ach du lieber Himmel? Wochenende bin ich auch oft auf Veran-
Aigner: In der Politik sind die Männer meis- staltungen. Da ist auch die Frage, ob man
tens in der Überzahl, nicht nur in der CSU. überhaupt jemanden kennenlernt, der sich
Klar, ich sitz da manchmal und denke: Es zu einem hintraut. Dann müsste es noch
ist eigentlich schon alles gesagt, aber noch ein Mann sein, der akzeptiert, dass ich eine
nicht von jedem, streng nach Valentin. eigenständige Person bin. Erfolgreiche
Männer glauben, dass sie in jedem Fall Männer haben oft immer noch gern Frau-
auch das Wort erheben müssen, Frauen en, die sich nach ihrem Terminplan richten.
schweigen da eher. Das geht bei mir eben nicht. Aber ich bin
SPIEGEL: Ist es ein politischer Nachteil für zufrieden, wie es ist.
Sie, eine Frau zu sein? SPIEGEL: Was ist das verletzendste Gerücht,
Aigner: An manche Position wäre ich als dass Sie über sich gehört haben?
Mann nicht gekommen. Als ich in den Lan- Aigner: Weil ich alleinstehend bin, wird mir
desvorstand kam, war gerade eine Frau mitunter unterstellt, heimlich lesbisch zu
ausgefallen. Man konnte auf diese Position sein. Das ist vollkommen absurd. Und es
keinen Mann setzen, das ist immer sehr regt mich auf. Also: Ich bin es nicht! Aber
fein ausziseliert, mit Regionalproporz und wenn es jemand ist, ist das auch kein
allem. Und dann hab ich da gestanden. Ich Grund, jemanden zu diskreditieren. Das
habe aber auch das Gegenteil erlebt. ist mehr als schäbig. Das Privatleben an-
SPIEGEL: Wann war das? derer politisch zu instrumentalisieren ist
Aigner: 1992 habe ich mich in der CSU als für mich grundsätzlich unterirdisch.
Kandidatin für das Bürgermeisteramt in SPIEGEL: Eine Ministerin erzählte uns: Als
meinem Heimatort Feldkirchen-Wester- sie neu im Bundestag war, musste sie sich
ham beworben. Ich lebe da übrigens noch an ihrer Tasche festkrallen, weil immer ein
immer, das ist meine Heimat, meine Basis. Mann die Tasche für sie tragen wollte. Ken-
Aber damals haben manche in der Partei nen Sie das? Dass man sich gegen den
offen oder versteckt argumentiert, dass ich
ja in ungeklärten Familienverhältnissen
lebe und deshalb nicht Bürgermeisterin
werden kann. Ich war 27 Jahre alt und
Charme der Männer wehren muss?
Aigner: Mir hat noch niemand die Tasche
aus der Hand gerissen. Ich habe eine posi-
tive Einstellung zur Galanterie. Wenn ein
VLH.
nicht verheiratet. Es hätte ja sein können, Mann so freundlich ist, mir den Koffer zu
dass ich bald Kinder will und dann das tragen oder mir die Tür aufzumachen,
Amt nicht mehr ausüben kann – das war
die Argumentation, leider auch von Frau-
dann freue ich mich. Ich halte diese Um-
gangsformen für gerechtfertigt. Mir sagte
Wir machen Ihre
en. Das wäre einem Mann nie passiert. Die
Frage der Kindererziehung, der Vereinbar-
einmal ein Unternehmer: Emanzipation,
alles gut und recht, aber lasst’s euch auch Steuererklärung.
keit mit der Arbeit, wird auch heute noch mal helfen. Ich sage: Recht hat er.
ausschließlich Frauen gestellt. SPIEGEL: Wir haben ein Bild mitgebracht.
SPIEGEL: Sie leben immer noch in „unge- Es ist das Plakat zum politischen Ascher-
klärten Familienverhältnissen“. Glauben mittwoch der CSU in diesem Jahr. Sechs
Sie, dass das ein Hindernis wäre, wenn Sie Männer. Keine Frau. www.vlh.de
Ministerpräsidentin werden wollten? Aigner: Das Gegenbild kennen Sie auch?
Aigner: Abgesehen davon, dass das derzeit SPIEGEL: Nein.
keine Frage ist, für die bayerische Bevölke- Aigner: Das haben wir dann nachgestellt.
rung wäre es wohl kein Problem. Für man- Vorne ich, dahinter Dorothee Bär, Gerda
chen Parteifreund schon. Offenbar ist eine Hasselfeldt. Wir haben reagiert.
alleinstehende Frau für viele noch immer SPIEGEL: Nur, dass Ihr Bild ein Spaß ist und
das Schlimmste, ein vollkommen inakzep- das andere die echte Ankündigung der
tabler Zustand. Man kann geschieden sein, CSU für die Veranstaltung.
DER SPIEGEL 16 / 2017 41
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Deutschland

DER SPIEGEL live


Aigner: Man kann das Bild logisch erklären. Die Frisur und was man anzieht steht bei
in der Uni Ich bin nicht drauf, weil ich für die Bun- Frauen immer weit mehr im Vordergrund
destagswahl nicht zur Verfügung stehe und als bei Männern. Obwohl mir da auch ei-
keine Rede gehalten habe. Der eine wird niges zur Garderobe einfallen würde.
Aufklärung vielleicht für den Bundestag kandidieren, SPIEGEL: Hören Sie manchmal Fragen, die
der andere ist Generalsekretär, der Dritte einem Mann nie gestellt werden würden?
in Zeiten der Lüge ist Bundesminister. Aber klar, als ich dann Aigner: Klar. Dass immer noch die Frage
bei der Veranstaltung war, dachte ich auch: gestellt wird, ob eine Frau ein politisches

Dr. Norbert Röttgen MdB


Wäre schöner gewesen, wenn da auch eine Spitzenamt „kann“, ist schon eine Unver-
Frau geredet hätte. schämtheit. Als ich 2008 Bundeslandwirt-
SPIEGEL: Auf einer Skala von 1 bis 100: Wie schaftsministerin wurde, hat man ernsthaft
viel Testosteron-Punkte geben Sie dem gefragt: Kann die das? Ich hatte in der Tat
Bild? mit Landwirtschaft vorher nicht viel zu
Aigner: (zögert) tun. Aber Horst Seehofer hatte auch keine
SPIEGEL: 100? Erfahrung mit der Landwirtschaft, bevor
Aigner: Da ich alle Männer kenne, würde er Minister wurde. Ihn hat aber keiner ge-
ich sagen: definitiv nicht 100 (lacht). fragt, ob er das kann.
SPIEGEL: Auf dem Bild fehlt jemand, der ei- SPIEGEL: Haben Sie manchmal das Gefühl,
Norbert Röttgen (CDU-Politiker) im gentlich dabei sein müsste: Finanzminister Frauen machen es anderen Frauen beson-
Gespräch mit Philosophieprofessor Markus Söder, der gerade mit Horst See- ders schwer?
Michael Reder und der Studentin hofer um die Macht in der CSU ringt. Wür- Aigner: Die Frage, wie erfolgreiche Frauen
de es den Hahnenkampf Söder–Seehofer das mit der Kindererziehung auf die Reihe
Marie Türcke. Moderation: in dieser Form zwischen Frauen geben? bringen, habe ich im Wesentlichen von
SPIEGEL-Redakteur Dietmar Pieper Aigner: Dass Markus Söder nicht dabei war, Frauen gehört. Denken Sie an die ehema-
ist logisch zu erklären. Er will ja auch nicht lige Familienministerin Kristina Schröder.
Montag, 24. April 2017, 19 Uhr für die Bundestagswahl kandidieren. Ich Die wurde als Mutter von kleinen Kindern
glaube nicht, dass es so einen Hahnen- eher von anderen Frauen angefeindet und
Hochschule für Philosophie München kampf zwischen Frauen geben würde. Sind gefragt, ob das geht: ein solcher Job mit
ja auch keine Hähne (lacht). Es gibt einen kleinen Kindern. Dass man immer den je-
schönen Spruch: Die Henne weiß auch, weiligen eigenen Lebensentwurf als den
dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, besten, einzig richtigen sieht und alles, was
Was die Populisten muss aber nicht jeden Morgen krähen.
SPIEGEL: Es gibt auch Frauen, die Macht-
die anderen machen, nicht akzeptiert – das
tun Frauen weitaus mehr als Männer. Ich
so gefährlich macht kämpfe ausgetragen und gewonnen haben. finde: Jede Frau muss den eigenen, für sie
Zum Beispiel Angela Merkel. passenden Weg finden und sollte nicht von
Institut für Zeitgeschichte

Aigner: Das stimmt. Aber Angela Merkel der anderen Seite diskreditiert werden.
hat oft hartnäckig und erfolgreich für die SPIEGEL: Sind Sie Feministin?
Sache gekämpft. Zum Beispiel hat sie in Aigner: Ich bin eine selbstbewusste Frau.
der EU nach der Finanzkrise vieles durch- Aber ich will mich nicht immer mit soge-
gesetzt, was vorher für unmöglich gehalten nannten Frauenthemen beschäftigen, das
wurde. Das aber nicht durch Ankündigun- wäre mir zu einseitig. Gleichberechtigung
gen, sondern durch Verhandlungen mit ist wichtig, aber mir wird manchmal zu
großer Sach- und Detailkenntnis. verbissen darum gekämpft. Ich bin keine
SPIEGEL: Die FDP-Politikerin Irmgard Emanze.
Schwaetzer hat öffentlich geweint, als SPIEGEL: Zum Schluss eine Unverschämt-
Prof. Andreas Wirsching, Direktor des Klaus Kinkel Außenminister wurde – und heit: Ist Bayern bereit für eine Minister-
nicht sie. Sie sagte später, dass man es sich präsidentin?
Instituts für Zeitgeschichte München- als Frau nicht erlauben könne, in der Öf- Aigner: Ich wusste, dass Sie das fragen. Und
Berlin, im Gespräch mit SPIEGEL-Autor fentlichkeit zu weinen. Mussten Sie sich dann fragt auch noch die Frau von Ihnen
Martin Doerry mal zusammenreißen? beiden. Also zunächst: Diese Frage stellt
Aigner: Ich weine nicht wegen Politik. sich gerade nicht. Aber ich sehe trotzdem
Donnerstag, 27. April 2017, 19 Uhr SPIEGEL: Sie können sich nicht vorstellen, überhaupt keinen Grund, warum das in
dass Markus Söder Ihnen die Tränen in Bayern nicht funktionieren sollte. Wir sind
Zeppelin Universität, Friedrichshafen die Augen treibt? deutlich fortschrittlicher, als manche viel-
Aigner: Definitiv nicht. leicht glauben. Wir haben in Bayern die
SPIEGEL: Was darf man sich als Frau in der höchste Frauenerwerbsquote in den alten
Politik nicht erlauben? Bundesländern, wir haben die meisten
www.spiegel-live.de und
Aigner: Sie dürfen nicht ungepflegt oder Männer, die in Elternzeit gehen. Es gibt
www.facebook.com/derspiegel/events
Eintritt frei. Änderungen vorbehalten. zerzaust in der Gegend rumrennen. Ma- also keinen Grund, warum ausgerechnet
thilde Berghofer-Weichner, die erste Frau die Politik hinterherhinken sollte.
in einem bayerischen Kabinett, eine wirk- SPIEGEL: Frau Aigner, wir danken Ihnen für
Veranstaltungen von
lich gescheite Frau, wurde irgendwann we- dieses Gespräch.
gen ihrer Frisur kritisiert. Da hat sie eiskalt
gesagt: Eigentlich sollte Sie interessieren, Video: llse Aigners
was in meinem Kopf ist, und nicht, was auf Karriere
meinem Kopf ist. Das fand ich sehr tref- spiegel.de/sp162017aigner
fend. Wir sind da heute nicht viel weiter. oder in der App DER SPIEGEL

42 DER SPIEGEL 16 / 2017


Kommentar

Die Unterwerfung
Die CDU muss sich von Angela Merkel emanzipieren.

S
chon oft hat Angela Merkel davon profitiert, dass
ihre Gegner sie missverstehen. Als sie in dieser
Woche ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier zum
Chefautor des CDU-Wahlprogramms kürte, hob sofort
ein Chor der Empörung an. Von einer Unverfrorenheit
sprach die FDP. SPD-Fraktionschef Thomas Opper-
mann beklagte eine „unzulässige Verquickung“ von
Partei- und Regierungsarbeit.
Die Frage ist nur: welche Verquickung? Die kann
es ja nur geben, wenn es neben dem Kanzleramt noch
eine halbwegs selbstständige Parteizentrale gibt;
einen Apparat, der dazu dient, den Willen der Mitglie-
der aufzunehmen und weiterzutragen an diejenigen,

STOCKI / FACE TO FACE


die für die CDU in der Regierung sitzen. Davon aber
kann im zwölften Jahr der Kanzlerschaft Merkel kaum
die Rede sein. Nicht die CDU bestimmt die Regie-
rungspolitik mit, Merkel bestimmt die CDU. Le parti,
c’est moi.
Natürlich, es gibt immer noch das Konrad-Adenauer- Parteifreunde Merkel, Altmaier
Haus mit seinen 150 Mitarbeitern. Wer die Website
der Partei besucht, der findet dort, neben fröhlich Merkel hat die Partei verändert wie niemand zuvor.
lachenden Menschen, die Sätze: „Ich schreibe Zukunft. Erst vorsichtig und behutsam, dann immer drängender
Meine Idee für Deutschland.“ Nach wie vor lädt Merkel und eigenmächtiger. Sie hat früher als die meisten ver-
jedes Jahr zu einem Parteitag mit tausend Delegierten. standen, dass die CDU sich wandeln muss, wenn sie
Mitarbeit ist dort hochwillkommen, Engagement er- Wähler jenseits der alten Milieus ansprechen will, junge
wünscht – solange alles auf Merkels Linie bleibt. Als Frauen und Großstädter, die wenig anfangen konnten
sich der CDU-Parteitag im vergangenen Dezember in mit der Pantoffel-CDU des Helmut Kohl. Es gab Ge-
Essen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aussprach, murre, als Merkel die Homo-Ehe akzeptierte, es gab
erklärte Merkel der staunenden Partei, dass sie sich Gemaule, als sie die Wehrpflicht aussetzte. Einen Auf-
nicht an den Beschluss gebunden fühle. Seither weiß stand gab es nie. Das verlieh Merkel Selbstbewusstsein.
die CDU, was die Chefin von innerparteilicher Demo-

N
kratie hält. atürlich wusste Merkel, wie viel Widerstand
So gesehen wäre es konsequent, wenn Merkel statt ihre Flüchtlingspolitik in der CDU auslösen wür-
des Adenauer-Hauses eine Eventagentur engagieren de. Doch sie ignorierte das. Als sich die Partei
würde, die ihr Parteitage und Wahlkampfkundgebun- Ende 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise –
gen organisiert. Als die Meldung die Runde machte, in Karlsruhe versammelte, spendeten ihr dieselben De-
dass Altmaier das CDU-Wahlpro- legierten stehende Ovationen, die sich noch kurz zuvor
gramm verfassen werde, hieß auf den Fluren der Messehalle bitter über ihren Kurs
Es wäre konsequent, es, nun sei Generalsekretär Peter beklagt hatten. Es war ein unwürdiges Schauspiel.
wenn Merkel für Tauber „entmachtet“. Die Psychologie kennt das Phänomen der Ersatzhand-
den Wahlkampf statt ständnis. Aber auch das war ein Missver-
Der brave Tauber hatte
lung. Weil sich kaum einer in der CDU an Merkel heran-
wagt, wird umso lustvoller über den unglücklichen Ge-
des Adenauer- nie die Absicht, der Chefin zu wi- neralsekretär Tauber gelästert. Wolfgang Schäuble gilt
Hauses eine Event- dersprechen. Die Programmarbeit als Lichtgestalt, weil sich mit ihm die Fantasie verbindet,
agentur engagierte. wurde ihm nicht abgenommen,
weil die Gefahr bestand, dass er
dass er Merkel eines Tages doch vom Thron stoßen
könnte. Dabei hat sich Schäuble schon in der Spätphase
auf eigene Ideen kommt. Es ist Kohls nicht getraut, die Machtfrage zu stellen.
für Merkel einfach bequemer, sich mit Altmaier abzu- Wenn die CDU eine Volkspartei bleiben will, muss
sprechen, der mit ihr auf einer Etage im Kanzleramt sie sich von Merkel emanzipieren. Merkel hat sich die
arbeitet. Außerdem verfügt Altmaier über die nötige CDU unterworfen. Was bleibt übrig, wenn sie geht?
Autorität für die schwierigen Gespräche mit der CSU. Merkel hat die Partei vom rechten Rand gelöst, aber
Nun hat die CDU nie mit der Leidenschaft der SPD dabei entstand eine miefige rechte Partei, die sich nun
Programmdebatten geführt. Seit Adenauers Zeiten inte- anschickt, in den Bundestag einzuziehen. Die Kunst
ressiert sich die Partei nicht für ihr Geschwätz von ges- wird darin bestehen, die CDU als Partei der Mitte zu
tern, sondern für die Macht. Das ist auch ein Grund da- erhalten und gleichzeitig die extremen Rechten zu
für, warum die CDU 48 Jahre lang das Land führte und bekämpfen. Dazu war Merkel bisher nicht in der Lage.
die SPD nur 20. Allerdings wussten die meisten Kanzler, Deshalb muss das Nachdenken über die Zeit nach ihr
was sie ihrer CDU zumuten konnten – und was nicht. jetzt beginnen. René Pfister

DER SPIEGEL 16 / 2017 43


den Chinesen in die Arme zu werfen“, sagt
Sebastian Heilmann, Direktor des Merca-
tor-Instituts für Chinastudien in Berlin.
Bei aller punktuellen Übereinstimmung
der Interessen sind Deutschland und China
vor allem in Handelsfragen harte Konkur-
renten. Derzeit deutet wenig darauf hin,
dass der gemeinsame Widerstand gegen
Trumps Politik an den grundsätzlichen Ge-
gensätzen zwischen Berlin und Peking et-
was ändern könnte.
Zwar fürchten die beiden Regierungen,
dass Importzölle der USA ihrer Wirtschaft
schaden könnten. Das macht sie aber noch
nicht zu Verbündeten. Im Gegenteil: Sollte
Trump die US-Wirtschaft tatsächlich durch

ETIENNE OLIVEAU / REUTERS


Zölle oder andere Einfuhrbeschränkungen
abschotten, würde das die Rivalität der
beiden Exportriesen nur verstärken.
Für Deutschland ist China ein giganti-
scher Markt, der auf Technologie spezia-
lisierten deutschen Firmen beste Absatz-
Gesprächspartner Merkel, Xi*: Pendeldiplomatie zwischen Peking und Washington möglichkeiten bietet. China hingegen hat
kein Interesse daran, die Hochtechnologie
ausländischen Firmen zu überlassen. Pe-

Verkehrte Welt
king ist an deutschem Know-how interes-
siert, um es selbst zu nutzen und auf den
Weltmärkten verkaufen zu können.
Bei der Durchsetzung ihrer Ziele sind
Asien Seit US-Präsident Trump Deutschland und China mit die Chinesen nicht zimperlich. Die Regie-
rung zwingt ausländische Konzerne, Ge-
Handelskriegen droht, suchen die beiden Staaten nach Gemeinsam- meinschaftsunternehmen mit heimischen
keiten. Das Problem ist nur: Es gibt zu vieles, was sie trennt. Firmen zu bilden. So kommen die staatlich
gesteuerten Unternehmen in der Volks-

C
hinesische Diplomaten genossen in in vielen Fragen gegensätzliche Positionen republik an deutsches Wissen.
Berlin bislang nicht den allerbesten vertreten, versuchen eine Annäherung. Bestes Beispiel dafür ist der Hochge-
Ruf. Mal wagten sie bei Vertrags- Kanzlerin Angela Merkel telefoniert erst schwindigkeitszug von Siemens, der zu-
verhandlungen keine Zugeständnisse zu mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jin- nächst in einem Gemeinschaftsunterneh-
machen, ohne in Peking um Erlaubnis zu ping, bevor sie zum Antrittsbesuch nach men produziert wurde. Mittlerweile bauen
fragen. Mal drängten sie auf Änderungen Washington reist. Wirtschaftsministerin die Chinesen eigene, den Siemens-Zügen
in letzter Sekunde. Zypries wählt dieselbe Reihenfolge und auffallend ähnliche Schienenfahrzeuge
Umso erstaunter waren Bundeswirt- reist erst nach China und dann in die USA. und exportieren sie in viele Länder.
schaftsministerin Brigitte Zypries und ihr Und Vizekanzler Sigmar Gabriel sagt mit Vermehrt kaufen in letzter Zeit chinesi-
Staatssekretär Matthias Machnig, als sie Blick auf Trumps protektionistische Han- sche Konzerne auch direkt deutsche Fir-
vergangene Woche auf einem G-20-Gipfel delspolitik: „Wenn ein Fenster sich schließt, men auf, bevorzugt mittelständische Ma-
der Digitalminister in Düsseldorf auf ihre öffnet sich ein anderes.“ schinenbauer aus Schlüsselindustrien wie
Amtskollegen aus der Volksrepublik trafen. Auch China bemüht sich auffallend um der Robotik oder der Elektronik.
Den Übergang ins Onlinezeitalter müsse verbesserte Beziehungen zur deutschen Hinter den Investoren steht nicht selten
man unbedingt regeln, und zwar gemein- Seite. Seit Wochen beobachten Deutsche der chinesische Staat als Geldgeber, ent-
sam, bot der chinesische Industrieminister in Peking eine Charmeoffensive der Chi- sprechend hoch sind die Kaufsummen. Al-
Miao Wei an. Und sein deutscher Ge- nesen. Diplomaten und Unternehmer wer- lein im letzten Jahr steckten chinesische
sprächspartner Machnig befand: „Mit de- den von hohen Funktionären zur Seite ge- Finanziers mehr Geld in Firmenkäufe als
nen konnte man gut zusammenarbeiten.“ nommen und gefragt, was man tun könne, in den vergangenen zehn Jahren zusam-
Die Ursache für die ungewohnten um ihnen zu helfen. men. Auch hier droht der deutschen In-
Freundlichkeiten ist jedoch weder in Berlin „Die Wahl von Donald Trump hat die dustrie massiver Aderlass gen Osten – aus
noch in Peking zu finden, sondern in Wa- Dynamik im chinesisch-europäischen Made in Germany wird Made in China.
shington. Seit Donald Trump ins Weiße Verhältnis verbessert“, sagt Cui Hongjian, Das Wirtschaftsministerium lässt gerade
Haus eingezogen ist, herrscht in der inter- Direktor der Europaabteilung des Pekinger klären, welche rechtlichen Möglichkeiten
nationalen Politik verkehrte Welt: Die Instituts für Internationale Studien. Deutschland hat, die chinesische Einkaufs-
Amerikaner, jahrzehntelange Verbündete „Europa und China teilen ihren zuver- tour zu bremsen. Ein Gutachten soll in die-
Deutschlands im Kampf um Freihandel sichtlichen Blick auf Globalisierung und sen Wochen fertig werden. Parallel dazu
und eine regelbasierte Weltpolitik, irrlich- internationale Zusammenarbeit.“ Wird drängt das Ministerium die für den inter-
tern. Wenn zwischendurch ein Kurs zu er- die Weltpolitik bald von einer Achse Pe- nationalen Handel zuständige EU-Kom-
kennen ist, dann geht es in Richtung Pro- king–Berlin beeinflusst? mission, ein Kontrollinstrument für solche
tektionismus. Deutschland und China, die Experten sehen dafür durchaus Chan- Firmendeals zu schaffen.
cen, zugleich aber warnen sie vor zu hohen An den Begehrlichkeiten chinesischer
* Beim G-20-Gipfel in Hangzhou im September 2016. Erwartungen. „Es wäre falsch, sich jetzt Industriepolitiker hat sich durch den Amts-

44 DER SPIEGEL 16 / 2017


Deutschland

antritt Trumps nichts geändert. Bei einer China holt auf aufgeben, so würde Deutschland sich ge-
jüngsten Umfrage der deutschen Außen- gen China stellen.
handelskammer in China erklärten fast Bruttoinlandsprodukt USA 19,8 Chinakenner warnen die Bundesregie-
30 Prozent der befragten deutschen Unter- in Billionen Dollar* rung denn auch vor Naivität. „Wir dürfen
nehmen, ihre rechtliche Lage habe sich nicht vergessen, dass wir mit China mehr
weiter verschlechtert. 15 China 13,1 Streitigkeiten haben als mit den USA“, sagt
Die Bundesregierung appelliert nun Handelsexperte Gabriel Felbermayr vom
an die chinesische Staatsführung, ihrer 10 Ifo-Institut in München und warnt: „Auch
Charmeoffensive konkrete Taten folgen die Chinesen werden für den gemeinsa-
zu lassen. „Wir nehmen Staatspräsident Xi men Kampf gegen die USA einen Preis
beim Wort und begrüßen, dass er sich für 5 Deutschland 3,7 fordern.“ Ähnlich sieht es Mercator-Exper-
den Abbau von Marktbeschränkungen te Heilmann: „Ohne Druck wird sich an
* in Preisen von 2016
und Benachteiligungen ausländischer Un- der Benachteiligung der deutschen Indus-
ternehmen einsetzen will“, sagt Zypries. 2000 2017 trie nichts ändern.“ Der Bundesregierung
Prognose
Möglichkeiten gäbe es genug, zwischen empfiehlt er eine Pendeldiplomatie: „Man
den vermeintlichen Welthandelspartnern Leistungsbilanzüberschuss sollte die Politik Trumps nutzen, um Zu-
Deutschland und China schwelen zahlrei- gegenüber den USA, 2016, in Milliarden Dollar geständnisse Pekings zu erreichen. Umge-
che Konflikte. kehrt kann man in einigen Feldern auf die
So will die Regierung in Peking die Auto- China 334 amerikanische Politik einwirken.“
konzerne zwingen, einen bestimmten An- Tatsächlich gibt es neben der Handels-
teil Elektrofahrzeuge zu verkaufen. Der Deutsch- politik Bereiche, in denen Berlin und Pe-
Gesetzentwurf sieht vor, dass die Herstel- land 64 Quellen: IWF, BEA king gemeinsam versuchen könnten, die
ler ihre Forschung und Entwicklung dafür amerikanische Politik zu beeinflussen.
in China offenlegen müssen – ein Trick, Dazu gehört vor allem der Kampf gegen
um sich das Know-how der Deutschen zu Hauptgründe, warum ein geplantes Inves- den Klimawandel. Während Trump die
sichern. China gibt sich gesprächsbereit, titionsschutzabkommen zwischen der EU Rückkehr zur Verbrennung von Kohle fei-
aber auf konkrete Änderungen am Ent- und China nicht vorankommt. „Es geht ert, hat China erste Schritte zur Abkehr
wurfstext wartet Berlin bislang vergebens. uns um faire Regeln“, sagt Zypries: von fossilen Brennstoffen eingeleitet. Auch
Es ist nicht der einzige Streitpunkt. „Marktwirtschaftliche Investitionen müs- Trumps Geringschätzung der Vereinten
Deutschlands Stahlkonzerne leiden unter sen auch marktwirtschaftlich motiviert Nationen stößt sowohl in Deutschland als
einer Schwemme billiger Bleche aus der und getragen sein.“ auch in China auf Widerstand. Hier wäre
Volksrepublik, die mit staatlichen Subven- Auch außenpolitisch gibt es mehr Diffe- eine Allianz gegen die USA denkbar.
tionen hergestellt werden. Bislang sind die renzen als Gemeinsamkeiten. Aus den Mehr als eine punktuelle Zusammen-
Proteste dagegen fruchtlos. Konflikten an der europäischen Peripherie arbeit aber ist unrealistisch. Eine gemein-
Im Gegenzug verweigert die EU den hält sich Peking heraus. Dafür treten die same Front gegen eine mögliche amerika-
Chinesen den Status einer Marktwirtschaft, Chinesen in ihrer Nachbarschaft umso ent- nische Isolationspolitik wird es zwischen
obwohl ihnen das Brüssel schon vor Jahren schiedener auf. Merkel hat bei ihrem letz- Deutschland und China nicht geben.
in Aussicht gestellt hatte. Lenken die Eu- ten Pekingbesuch im vergangenen Juni Was die beiden Länder auf jeden Fall
ropäer ein, könnten sie nur noch deutlich ihre Besorgnis über das Expansionsstreben verbindet, ist indes eine neue, gemeinsame
eingeschränkt Strafzölle verhängen. Chinas im Südchinesischen Meer ausge- Hoffnung: dass Donald Trump seinen Kurs
Und auch beim Joint-Venture-Zwang in drückt. Sollten die Amerikaner ihre Rolle bald grundsätzlich ändert.
China bewegt sich wenig. Er ist einer der als Ordnungsmacht in Ostasien tatsächlich Ralf Neukirch, Gerald Traufetter, Bernhard Zand

Was dich bewegt. Reportagen aus Europa.


Montag bis Freitag 19:45 auf ARTE und jederzeit im Netz.
@arteRe /REbyARTE arte.tv/re
„Gefühlt wie ein Bettnässer“
Gewalt Auch Männer werden in Partnerschaften misshandelt, Tendenz steigend.
In Sachsen und Thüringen gibt es erstmals Schutzwohnungen für die Opfer.

S
ie hatten sich im Chat an der Single-
börse von Freenet kennengelernt.
Schon beim ersten Treffen brach sie
in Tränen aus. Ihr gewalttätiger Mann miss-
handle sie. Sie habe Angst zu sterben. „Ich
fand sie nicht sonderlich attraktiv“, erin-
nert sich Maik*. Aber er habe Mitleid ge-
habt. Sie aktivierte, so sagt er, sein Helfer-
syndrom. Er zog zu ihr.
Maik war Anfang dreißig. 1,94 Meter
groß, 109 Kilogramm schwer und Ge-
schäftsführer eines kleinen Betriebs in
Sachsen. Ein gestandener Mann. Die Frau
ein wenig älter, 1,75 Meter groß. Nichts an
ihr war Furcht einflößend. Doch in den
sieben Jahren ihrer Beziehung habe sie
aus ihm ein Wrack gemacht, sagt Maik,
körperlich und seelisch. Habe ihn geschla-
gen und getreten. Er verlor seinen Job. Zu-
rück blieben ein zertrümmertes Leben und
tiefe Scham. „Ich habe mich gefühlt wie
ein Bettnässer.“
Gewalt in Partnerschaften ist ein großes
Problem, meist ist von Männern die Rede,
die ihre Frauen schlagen, bedrohen oder
vergewaltigen. Statistiken des Bundeskri-
minalamts (BKA) besagen, dass 81,8 Pro-
zent der Opfer von Partnerschaftsgewalt
Frauen sind. Doch das Dunkelfeld ist
enorm. Schätzungen zufolge werden viele
der häuslichen Exzesse nicht angezeigt.
Vor allem Männer scheuten aus Angst vor
Spott und Häme den Gang zur Polizei-
wache.
Während sich die Wissenschaft über das
Phänomen noch nicht einig ist und eine
dünne Datenbasis beklagt, zeichnet sich
doch ein Trend ab. Das BKA zählt seit Jah-
ren immer mehr Übergriffe auf Männer
von weiblichen oder männlichen Partnern
und Expartnern. 2012 registrierte die Poli-
zei annähernd 20 000 Opfer, 2015 waren es
bereits fast 23 200. In Sachsen wurden ge-
rade zwei Männerschutzwohnungen ein-
gerichtet.
Im thüringischen Gera betreibt der
Verein Gleichmaß mit Spenden eine
solche Unterkunft. Derzeit sind dort drei
Männer untergebracht, so Projektchef
Tristan Rosenkranz. Zwei seien von
ihren Frauen körperlich bedroht worden,
einer mit einem Messer. Zudem beklagten
SVEN DOERING / DER SPIEGEL

sie eine „ökonomische Kontrollgewalt“


durch ihre Frauen. Ein Mann wurde
von seiner Partnerin gestalkt. Zehn wei-
tere Männer stünden bereits auf der War-
teliste.

* Name geändert. Gewaltopfer Maik: „Irgendwann tat es gar nicht mehr weh“

46 DER SPIEGEL 16 / 2017


Deutschland

Die Zahl der Opferberatungen in Sach- Problemen allein fertig wird und sich je- erheblich häufiger schwere und lebensbe-
sen hat sich innerhalb von acht Jahren derzeit und selbstverständlich ohne Hilfe drohliche Gewalt. Frauen als Täterinnen
verdoppelt. Es gibt dort eine „Sensibili- von außen wehren kann“. Es werde er- reagierten mit ihrer Gewalt häufiger, als
sierungskampagne“ mit einem eigenen wartet, dass ein Mann nicht leide – „oder das bei Männern der Fall ist, auf einen An-
Internetauftritt für misshandelte Männer: zumindest sein Leiden nicht zeigt“. griff ihres Partners.
Gib-dich-nicht-geschlagen.de. Maik beherrschte dieses Versteckspiel Sieben Jahre lang lebte Maik in der Be-
Auch Schleswig-Holstein hat wegen der offenbar perfekt. Den Arbeitskollegen ziehung, die er, wie er sagt, als „eine ein-
zunehmenden Gewalt ein Modellprojekt tischte er die tollsten Geschichten auf, wo zige Tortur“ erlebte. Irgendwann reifte der
Männerberatung in Kiel, Flensburg und denn die blauen Flecken nun wieder her- Entschluss: Es ist genug. Auf dem Weg von
Elmshorn gestartet. Sie habe damit gerech- stammten. Er war der Chef, wie konnte er der Firma nach Hause schaltete er das
net, dass sich Männer melden würden, die da zugeben, ein Problem mit seiner Frau Handy aus und fuhr in ein Hotel. Sie fand
über Missbrauch in der Kindheit reden zu haben? Er hatte Angst, sich lächerlich ihn, tobte. Er zog in eine Wohnung, auch
wollten, sagt eine der Beraterinnen in Kiel. zu machen. Zu Hause versuchte er, die da habe sie plötzlich vor der Tür gestanden
Doch tatsächlich hätten sich bisher nahezu Stimmung mit Blumen zu retten. Doch und mit den bloßen Händen die Scheibe
ausschließlich Männer an das Büro ge- wenn er die falschen brachte, bekam er an der Tür eingeschlagen. Die Polizei rück-
wandt, die Opfer häuslicher Gewalt ge- die Vase an den Kopf geworfen. Einmal te an. Die Hölle ging weiter. Er schlief bei
worden seien. Das Problem, klagt Staats- habe er mit dem Auto fliehen wollen, Arbeitskollegen im Garten, übernachtete
sekretärin Anette Langner im Kieler einem riesigen Pick-up. Da habe sie sich im Auto. Maik hätte sich einen Schutz-
Sozialministerium, werde „nach wie vor in den Weg gestellt und einen schweren raum gewünscht, wo ihn niemand so ein-
zu wenig wahrgenommen“. Der geschla- Stein auf die Motorhaube gewuchtet: „Der fach finden kann.
gene Mann ist noch immer ein Tabu in der nächste geht an deinen Kopf.“ Maik sagt, Den gibt es jetzt, in einem Dresdner
Gesellschaft. von dem Moment an habe er um sein Plattenbaugebiet. Drei Schlafzimmer, Kü-
Das Sächsische Landeskriminalamt hat Leben gefürchtet. che, Bad. Ikea-Charme mit ahnungsloser
ein Lagebild zu häuslicher Gewalt im Frei- Zusammen hätten sie 11 000 Euro ver- Nachbarschaft, als Gästewohnung getarnt.
staat erstellt. Die Beamten zählten fast dient, doch das habe ihr nie gereicht. Er Es ist die erste Männerschutzwohnung in
4000 Angriffe auf Frauen – und 1700 auf habe Kredite aufgenommen, sogar in die Sachsen. Bis zu drei Männer können hier
Männer ab 21 Jahren. Teils mit schweren mit ihren Kindern unterkommen, für drei
Folgen: 35 Männer mussten stationär be-
handelt werden, zwei trugen bleibende
Maiks Eltern kennen Monate, die Adresse ist wie bei Frauen-
häusern geschützt. Die Betroffenen wer-
Schäden davon, drei starben. seine Leidensgeschichte den betreut, ihr Leben wird neu geordnet.
Maiks Leben änderte sich, als seine In-
ternetbekanntschaft die Scheidung von
bis heute nicht. 65 000 Euro zahlt das Sozialministerium
für zwei Wohnungen in Dresden und Leip-
ihrem Mann vollzog: „Mit einem Mal hat Seine Scham ist zu groß. zig jährlich. „Moderne Gleichstellungs-
sich die Stimmung komplett gedreht.“ Zu- politik“, sagt Ministerin Petra Köpping
nächst habe sie psychisch Druck gemacht: Firmenkasse gegriffen. Doch sie habe ihn (SPD), „richtet sich an beide Geschlechter.“
Seine Freunde schlechtgeredet, die Fa- angespuckt, ihm das Knie in den Unterleib Torsten Siegemund vom Männernetz-
milie ausgeschlossen. Sie lebten in einem gerammt, ihn die Treppe hinabgestoßen. werk Dresden betreut eine der Wohnun-
abgelegenen Haus, das ihr gehörte. Er Maik brach sich das Knie. Von der Leiter gen. Er bekam als Erstes einen Anruf von
empfand zunehmende Abhängigkeit und gefallen, sagte er in der Firma. Er zeigt Maik, der begeistert war, dass es endlich
Isolation. Narben an seinem Knie. Zweimal habe er eine Anlaufstelle gibt. „Bisher konnten
Geld wurde das neue, bestimmende versucht, sich umzubringen. Er stieg auf wir die Männer nur beraten, ihnen sagen,
Thema der Beziehung. Seine Frau wollte einen Telefonmast und wollte springen. sie sollen bei Freunden oder Verwandten
das Haus sanieren und teure Dinge Ein Freund konnte ihn unter Tränen dazu untertauchen. Oder sich ein teures Zimmer
anschaffen, Maik war dagegen. „Sie ver- bewegen herunterzukommen. Seine Frau nehmen“, so Siegemund.
trug keine Widerworte. Sie schrie und habe sich lustig gemacht: „Wenn dir weiter Maik wohnt heute zurückgezogen im
schrie, wie ein bockiges Kind.“ Er sei nichts einfällt, du feige Sau.“ Vogtland, er bekam Hilfe von seiner
wahlweise die Lusche oder der Nichtsnutz Dass er viele Leidensgenossen haben Rechtsanwältin. Er hat jetzt ein Postfach,
gewesen. Dann begannen die Schläge. könnte, kam Maik nie in den Sinn. seine Meldeadresse ist beim Amt gesperrt.
Benutzt habe sie dazu, was sie gerade Das BKA beklagt, dass es seit Jahren Ein Klinikaufenthalt und eine Therapie
greifen konnte: das Telefon, eine Blumen- deutschlandweit keine repräsentativen brachten ihn wieder ins Gleichgewicht. Er
vase, eine Pfanne. Opferbefragungen bei Männern gegeben sei noch immer misstrauisch gegenüber
Zu Beginn, sagt Maik, habe er sie ange- habe. Vorhandene Erhebungen legten aber Frauen, sagt er. Seine Eltern kennen seine
brüllt, sie solle aufhören. Doch dann habe nahe, dass Männer etwa gleich häufig wie Leidensgeschichte bis heute nicht. Seine
er sich in eine Ecke gesetzt und es einfach Frauen zumindest einmal von ihrem Part- Scham ist zu groß. Streit geht Maik instink-
über sich ergehen lassen. „Irgendwann tat ner angegriffen wurden. Eine internatio- tiv aus dem Weg: „Wenn es laut wird, ver-
es gar nicht mehr weh.“ Danach ging er nale Gesundheitsstudie von 2014 in sechs lasse ich den Raum.“
aus dem Haus, kam wieder und räumte europäischen Städten kam zu dem Ergeb- Maik sitzt in seiner 26 Quadratmeter
auf. „Ich dachte, damit kann ich sie be- nis, dass 3,5 Prozent der Frauen angaben, kleinen Wohnung an seiner Doktorarbeit.
sänftigen.“ Und immer habe er geglaubt: im Jahr zuvor Opfer eines körperlichen Ein Bett, eine kleine Couch, eine Orgel.
Heute war es bestimmt das letzte Mal. Ge- Angriffs geworden zu sein. Bei den Män- Er wolle gar nicht mehr Platz, sagt er: „Da
wehrt hat er sich nie. nern waren es 4,1 Prozent. kann ich schnell alles zusammenpacken,
Der Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Die Annahme, dass Frauen genauso ge- falls ich plötzlich wegmuss.“ Unter dem
Lenz beschrieb das Phänomen des still lei- walttätig sind wie Männer, will die Polizei Heizkörper schaut ein schwarzes Fellbün-
denden Mannes in seinem Buch über Män- aber unter Hinweis auf Forschungsergeb- del hervor. Eine Katze aus dem Tierheim.
ner als Opfer so: Im traditionellen Rollen- nisse so nicht stehen lassen. Der Unter- Maik hat sich zielgerichtet die ausgesucht,
verständnis werde vom Mann erwartet, schied liege vor allem in der Schwere der die nie vermittelt werden konnte.
„dass er aktiv und überlegen ist, mit seinen Misshandlungen: Frauen erlebten weltweit Steffen Winter

DER SPIEGEL 16 / 2017 47


Deutschland

„Die alte Türkei ist tot“


Referendum Der deutsch-türkische Sozialarbeiter Ercan Yaşaroğlu fürchtet die Allmachtspläne von
Recep Tayyip Erdoğan, sein Schwager hingegen verehrt den Präsidenten. Ein Streitgespräch.

E
s ist ein grauer, kalter Tag in Berlin. halt für seine Pläne. Glaubst du wirklich, zur Schule gegangen. Damals waren wir
Im Café Kotti ist viel los. Ein paar dass sich so viele Leute in der Türkei irren? beide links.
Studenten sitzen auf klapprigen Yaşaroğlu: Ehrlich gesagt, ja. Irgendwie hat Uçak: Es gab die AKP zu dieser Zeit ja noch
Holzstühlen und trinken Kaffee. Auch der 15. Juli, der Tag, an dem der Putschver- gar nicht. Ich finde mich übrigens noch
viele arabische und türkische Männer such war, die Türken verändert. Plötzlich immer links. Aber deshalb kann ich trotz-
vertreiben sich an diesem Freitagnach- schwingen überall nationalistische Töne mit. dem für die Verfassungsänderung sein.
mittag dort die Zeit. Rauchschwaden hän- Uçak: Dein Blick auf die Türkei ist sehr Yaşaroğlu: Hast du denn keine Angst, dass
gen in der Luft. Ercan Yaşaroğlu, 57, hat europäisch. Er blendet komplett aus, was die Türkei auf einen Bürgerkrieg zusteu-
sich mit dem Laptop in eine ruhigere Erdoğan für das Land geleistet hat. Schau ert? Dieser starke und neu aufkeimende
Ecke auf ein Sofa zurückgezo- Nationalismus bedroht die
gen, um mit seinem Schwager Völkervielfalt in der Türkei.
zu sprechen. Seit den Acht- Schau doch mal, welche Span-
zigerjahren lebt Yaşaroğlu in nungen es in der kurdischen
Deutschland, er floh damals Frage wieder gibt. Die Türkei
vor dem türkischen Militär- war außerdem einmal eine
regime. Vor acht Jahren hat Brücke zwischen Ost und
der Streetworker sein Café am West. Jetzt sind wir eine Au-
Kottbusser Tor eröffnet, heute tokratie von vielen im Nahen
eine Multikulti-Institution. Osten. Es fehlt nur noch, dass
Yaşaroğlu hofft, dass die Erdoğan das arabische Alpha-
Türken sich an diesem Sonn- bet in der Türkei wieder ein-
tag gegen eine Verfassungs- führt.
änderung und damit auch ge- Uçak: Tayyip Erdoğan nutzt
gen einen Machtzuwachs für diesen Nationalismus nur, um
Staatspräsident Recep Tayyip Stimmen vor dem Referendum
Erdoğan entscheiden. Seine zu gewinnen. Danach wird es
Neinstimme hat er im türki- wieder ruhiger werden.
schen Konsulat bereits abge- Yaşaroğlu: Mit dieser Strategie
geben. richtet er aber enormen Scha-
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Die Skype-Verbindung steht: den an. Auch was die außen-


Auf dem Computerbildschirm politischen Beziehungen be-
winkt ihm sein Schwager Re- trifft. Es gibt Probleme mit
cep Uçak, 57, zu. Der sitzt an allen. Mit Deutschland, mit
der türkischen Ägäisküste im den Niederlanden, mit den
Garten seiner Pension in Ay- USA.
vacık, die er gemeinsam mit Erdoğan-Kritiker Yaşaroğlu in Berlin: „Er richtet enormen Schaden an“ Uçak: Ich habe auch das Ge-
seiner Frau Esma betreibt. fühl, dass es kaum noch Län-
Die Sonne scheint, Fischerboote schau- dir doch mal an, wie modern zum Beispiel der gibt, die der Türkei wohlgesinnt sind.
keln im Meer. Uçak teilt nicht nur den die Krankenhäuser mittlerweile sind. Frag Ich ziehe daraus aber einen anderen
Vornamen mit dem türkischen Staatsprä- mal die Leute, zu welcher Zeit es ihnen Schluss: Für mich ist das ein weiterer Beleg
sidenten, sondern auch die politischen besser ging: vor Erdoğan oder während dafür, dass wir einen starken Mann an der
Überzeugungen. seiner Regierungszeit. Keiner kann abstrei- Spitze brauchen. Außerdem finde ich es
ten, wie erfolgreich dieser Mann ist. falsch, immer nur der Türkei die Schuld
Yaşaroğlu: Recep, mir fällt es aus der Fer- Yaşaroğlu: Es kann aber auch keiner ab- in die Schuhe schieben zu wollen.
ne sehr, sehr schwer nachzuvollziehen, streiten, dass in letzter Zeit vieles schlecht Deutschland und Holland haben ihren An-
warum du am Sonntag mit Ja stimmen läuft. teil dazu beigetragen, dass die Situation
willst. SPIEGEL: Streiten Sie sich in der Familie jetzt so ist, wie sie ist.
Uçak: Ach komm, so schwierig ist das doch häufig über Politik? Yaşaroğlu: Tayyip Erdoğan hat diese di-
gar nicht. Die Türkei erlebt innenpolitisch Uçak: Eigentlich nicht. Aber im Moment plomatischen Krisen doch bewusst pro-
wie auch außenpolitisch gerade drama- ist das ja eine ganz besondere Situation. voziert. Er hat übertrieben mit seinen
tische Zeiten. Damit das Land das durch- Die Positionen in unserer Familie sind sehr Nazivergleichen und so weiter. Aber auch
steht, brauchen wir einen starken und gemischt. Meine Frau zum Beispiel wird das war natürlich Wahlkampftaktik. Er
charismatischen Führer, der in den wich- mit Nein stimmen, meine Mutter auch. wollte die Türken im Ausland mobili-
tigen Situationen schnell entscheiden Aber ich bin ein echter Demokrat. Ich fin- sieren.
kann. Tayyip Erdoğan hat mehr als 40 Mil- de ihre Ansichten bedauerlich, aber ich SPIEGEL: Was für ein Land wird die Türkei
lionen Anhänger und einen großen Rück- respektiere sie auch. Genauso wie ich dei- nach dem Referendum sein? Was ist Ihre
ne Meinung toleriere, Ercan. Prognose?
Das Gespräch moderierten die Redakteure Katrin Elger Yaşaroğlu: Wir sind ja auch schon sehr lan- Yaşaroğlu: Ich wage nicht, mir das auszu-
und Maximilian Popp. ge befreundet. Wir sind sogar zusammen malen.
48 DER SPIEGEL 16/ 2017
Uçak: Ich denke, dass sich Tayyip Erdoğan Uçak: Selbstverständlich. Es war zum Bei- SPIEGEL: Hat sich Ihr Blick auf Deutschland
durchsetzen wird. Und dann wird es leich- spiel falsch, dass Erdoğan lange Zeit mit durch die Debatten der vergangenen Wo-
ter für ihn sein, das Land zu regieren. Fethullah Gülen zusammengearbeitet hat. chen und Monate verändert?
Yaşaroğlu: Ja, dann kann er tun, was er Ich behaupte nicht, dass die Türkei perfekt Uçak: Nein. Ich halte Deutschland nach wie
will. Was glaubst du, wie lange der Aus- ist. Im Gegenteil: Wir haben eine Menge vor für ein großartiges Land. Ihr Deut-
nahmezustand, den Tayyip Erdoğan ver- Probleme. Unserer Wirtschaft könnte es schen müsst nur anerkennen, dass die Tür-
hängt hat, noch andauern wird? besser gehen, auch der Tourismus entwi- kei ihren eigenen Willen hat. Wir lassen
Uçak: Mindestens noch ein weiteres Jahr. ckelt sich nicht so, wie wir uns das vor- uns nicht länger vom Ausland vorschrei-
Es geht nicht anders. Die Gülenisten stellen. Aber das Präsidialsystem wird uns ben, was wir zu tun, wen wir zu wählen
haben den gesamten Staatsapparat er- dabei helfen, diese Probleme hinter uns haben.
obert. Sie sitzen überall, in der Justiz, in zu lassen. Yaşaroğlu: Erdoğans Hetze gegen die Bun-
der Polizei. Sie können großen Schaden SPIEGEL: Erdoğans harter Kurs schreckt desregierung, die Bespitzelung von Op-
anrichten, wie wir am 15. Juli gesehen jetzt schon viele Besucher ab. Wie nehmen positionellen in Deutschland durch den
haben. Es ist wichtig, dass wir sie loswer- Sie die Berichterstattung der ausländischen türkischen Staat, der Fall Yücel – all das
den. Und deshalb braucht Erdoğan die Medien über die Türkei wahr? hat türkischen Migranten das Leben in
entsprechende Macht. Ihm ist nach dem Uçak: Viele Journalisten sind mir zu par- Deutschland schwerer gemacht. Die Vor-
Putschversuch gar nichts anderes übrig teiisch. Sie geben sich nicht damit zu- urteile, die wir alle nur allzu gut kennen,
geblieben, als schnell zu han- sind wieder da. Plötzlich heißt
deln. es wieder, die Integration sei
Yaşaroğlu: Aber in den Gefäng- gescheitert, der Doppelpass
nissen sitzen doch nicht nur sei ein Problem, der Islam sei
Gülenisten. Es sind auch viele gefährlich. Rassisten nehmen
Menschen, die nur ihrer Ar- Erdoğan als Vorwand, um ih-
beit nachgegangen sind: Jour- ren Hass gegen Einwanderer
nalisten, Anwälte, Lehrer. auszuleben. Das macht mich
Uçak: Woher willst du das denn traurig.
wissen? Man kann in die Köpfe SPIEGEL: Wie erklären Sie
der Leute doch nicht rein- sich die Begeisterung unter
schauen. Sie müssen sich jetzt Deutschtürken für Erdoğan?
verantworten – und wer un- Yaşaroğlu: Die naheliegende
schuldig ist, kommt auch wie- Erklärung ist, dass sich viele
der auf freien Fuß. Ich habe Türken in Deutschland immer
gerade erst wieder darüber ge- noch wie Fremde, wie Bürger
lesen, dass zwei Dutzend Men- zweiter Klasse fühlen – ob-
schen freigelassen wurden. wohl sie seit Jahren oder Jahr-
SPIEGEL: Aber Zehntausende EMIN OZMEN / LEJOURNAL / DER SPIEGEL
zehnten hier leben. Erdoğan
sind noch in Haft. vermittelt ihnen jene Aner-
Yaşaroğlu: Das mit den Frei- kennung, die sie hierzulande
lassungen habe ich nicht mit- oft vermissen.
bekommen. SPIEGEL: Was muss geschehen,
Uçak: Eben. Das ist ja Teil des damit Deutschland und die
Problems, dass du immer nur Türkei wieder zueinander-
Ausschnitte siehst. Die Journa- finden?
listen haben übrigens nicht nur Erdoğan-Anhänger Uçak in Ayvacık: „Er ist ein charismatischer Führer“ Yaşaroğlu: Die gegenseitigen
ihre Arbeit gemacht. Jedenfalls Beschimpfungen müssen auf-
soweit wir das wissen. Sie haben sich eines frieden, darüber zu berichten, was in der hören. Unsere Regierungen müssen einen
Verbrechens schuldig gemacht, und dafür Türkei geschieht. Sie wollen selbst Politik Weg finden, anständig miteinander zu re-
müssen sie sich jetzt verantworten. So ist machen. In Deutschland haben Zeitungen den. Und Erdoğan soll sich bei der Bun-
das in einem Rechtsstaat nun mal. Wähler dazu aufgefordert, beim Referen- desregierung für seine Nazivergleiche
SPIEGEL: Woher wollen Sie wissen, dass die dum mit Nein zu stimmen. entschuldigen.
Journalisten Verbrechen begangen haben? SPIEGEL: Wo haben Sie das gesehen? Uçak: Die Freundschaft zwischen Deut-
Denken Sie auch so über den deutsch-tür- Uçak: Die „Bild“-Zeitung hat getitelt: schen und Türken ist über Jahrzehnte hin-
kischen Journalisten Deniz Yücel, der seit „Atatürk hätte ‚Nein‘ zum Präsidialsystem weg gewachsen. Sie kann nicht innerhalb
Wochen in der Türkei in Untersuchungs- gesagt“. Das haben dann auch türkische weniger Monate zerstört werden.
haft sitzt? Medien aufgegriffen. Yaşaroğlu: Mir wäre trotzdem sehr viel
Uçak: Ich weiß über den Fall Yücel zu we- Yaşaroğlu: Ich vermisse in Berichten Respekt wohler dabei, wenn Erdoğan sich bei dem
nig. Aber unsere Justiz arbeitet gewissen- gegenüber den Menschen in der Türkei. Referendum nicht durchsetzen würde.
haft, das können Sie mir glauben. Journalisten sollen kritisch schreiben, dafür Recep, willst du nicht doch lieber mit Nein
Yaşaroğlu: Erdoğan hat die Meinungs- und sind sie da. Aber ich stoße in großen deut- stimmen?
Pressefreiheit abgeschafft. Jeder, der ihn schen Zeitungen immer wieder auf Artikel, Uçak: Ganz bestimmt nicht!
kritisiert, ist in Gefahr: türkische Journa- die bewusst beleidigend und verletzend sind. SPIEGEL: Herr Yaşaroğlu, Herr Uçak, wir
listen, deutsche Journalisten, deutsch-tür- SPIEGEL: Können Sie dafür ein Beispiel danken Ihnen für dieses Gespräch.
kische Journalisten. Früher gab es eine nennen?
Türkei, in der die Menschen miteinander Yaşaroğlu: Wenn Erdoğan in Berichten als Video: Warum ist Erdoğan
diskutierten. Diese Türkei ist tot. „Irrer vom Bosporus“ beschrieben wird, furchtbar, Herr Yaşaroğlu?
SPIEGEL: Herr Uçak, gibt es in Ihren Augen dann ist das nicht nur falsch, sondern es spiegel.de/sp162017erdogan
auch Fehler, die Erdoğan gemacht hat? hilft ihm auch im Wahlkampf. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 16/ 2017 49


Gesellschaft

Q UELLE: STI F TER V ER BA N D FÜR DI E DEUTSCH E WI SSEN SCH A F T


Früher war alles schlechter
Nº 68: Zahl der Vereine

1960 gab es in Deutschland 86 000 Vereine 2015 waren es 598000

Es gibt kein Vereinssterben. Kürzlich war in der „Sächsischen eine, wovon mehr als ein Viertel bereits vor dem Zweiten
Zeitung“ unter der Überschrift „Gegen das Vereinssterben“ Weltkrieg gegründet wurde. Neu gegründete Vereine widmen
zu lesen, dass der Rassekaninchenzüchterverein Radebeul sich vor allem der Umwelt und dem Naturschutz, der Bildung
über „nur noch drei aktive Mitglieder“ verfüge. Die Jugend und Erziehung. Im Gegensatz zum klassischen Kegel- oder
habe kein Interesse mehr an der Kaninchenzucht. Das ist be- Gesangsverein sind Fördervereine, deren Zahl stetig steigt,
dauerlich. Insgesamt jedoch gilt: Vereine kommen und gehen, weniger gemeinschaftsbildend, sondern eher Zweckgemein-
aber es kommen viel mehr als gehen. Seit 1970 hat sich die schaften zur finanziellen Unterstützung etwa von Schulen
Zahl der Vereine in Deutschland verfünffacht. Derzeit sind oder Kinderorchestern. Bei rund einem Drittel aller Vereine
rund 36 Millionen Jugendliche und Erwachsene Mitglied in wächst die Mitgliederzahl, bei knapp jedem vierten geht sie
mindestens einem Verein – fast jeder Zweite also. 2014 wurde zurück. „Ein Vereinssterben gibt es nicht“, sagt Holger Krim-
der bisherige Höchststand erreicht: 630 143 im Amtsregister mer vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der
eingetragene Vereine. Etwa 15 Prozent davon sind Sportver- diese Daten gesammelt hat. maik.grossekathoefer@spiegel.de

Floristik nen das heimelige Gefühl SPIEGEL: Wie man das jetzt es nichts zu diskutieren. Der
Wie schwierig überkommt, man schaue in genau macht, das ist doch Ausdruck, die Bewegung, die
einen verwilderten Garten auch ein bisschen Ge- Linienform, die Farbe, die
ist der Frühling, hinein und entdecke dort am schmackssache. Stiellänge, die Saison: Das al-
Herr Herold? Boden die Blüten einer alten, Herold: Nein, nicht bei der les muss passen. Zu orange-
Jürgen Herold, 34, war deut- vergessenen Tulpenzwiebel. Technik des klassischen deut- farbenen Tulpen und warm-
scher Meister im Blumen- SPIEGEL: Verstehe. schen, rund gebundenen, gelben Ranunkeln brauche ich
sträußebinden, lehrt in Peking Herold: Das Anspruchsvollste durchgestaffelten Straußes aus kein Violett. Aber diese Aura
und gilt als einer der besten ist die Technik des Aufsprei- mindestens fünf Werkstoffen. von Ländlichkeit, Urwüchsig-
Floristen der Welt. zens. Der Strauß muss sich Die Bindestelle muss sauber keit, Natürlichkeit, die gerade
um 180 Grad aufklappen las- sein, spiral angelegt. Da gibt beliebt ist, das kann sich na-
SPIEGEL: Herr Herold, Sie be- sen, ohne dass man es be- türlich ändern. Vielleicht wer-
schäftigen sich seit 18 Jahren merkt oder sieht, es muss den wir in Zukunft opulenter,
mit der Kunst, den perfekten trotzdem natürlich wirken. nicht so kleinlaut, still, es darf
Blumenstrauß zu binden. Das unwillkürlich aussehen auch mal wieder schreien.
Was ist so schwer daran? zu lassen verlangt die größte SPIEGEL: Was macht Sie wü-
Herold: Ein Blumenstrauß Willkür. Das ist das Maß der tend?
YVES SUCKSDORFF

muss eine transparente Wol- Dinge, das Meisterschul- Herold: Blau gefärbte Rosen
ke aus Blumen sein, die bis in niveau. Wenn es einem über regen mich auf. Oder ge-
die Tiefe hinein gestaltet ist, Stunden in der Hand ganz schnittene Orchideen, auf
sodass man nicht nur die Um- langsam gelingt, dann ist das Plastikunterflächen geklebt,
risse wahrnimmt, sondern ei- sehr befriedigend. Herold da wird mir übel. jst

50 DER SPIEGEL 16 / 2017


Gesellschaft

sie den Schein hatten, das ist ein Schnitt von 35. Rekord-
Gib’s auf halter ist ein Mann aus Liverpool mit 39 Anläufen.
Irgendwann verlor Whiteley-Mason dann doch die Lust
am Verlieren. „Ich hatte die Nase wirklich voll davon, ich
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum habe keinen Sinn mehr darin gesehen, den Führerschein
zu machen“, sagt er. Wird ja wohl auch gehen, dachte er.
ein Brite 25 Jahre brauchte, Das Problem, wenn man es so nennen will, war aber,
um den Führerschein zu machen dass er im Beruf mehr Erfolg hatte als auf der Straße. Er
stieg auf, wurde Geschäftsführer eines Pflegeheims, er

C
hristian Whiteley-Mason hat neuerdings eine musste öfter mal reisen oder wurde zu Notfällen gerufen.
Pressesprecherin, die wissen möchte, wie viel man Das war mit dem Bus nicht zu machen, und er wollte
denn für ein Interview mit ihrem Klienten zu zah- nicht ständig mit dem Taxi fahren oder seinen Lebens-
len bereit sei. Whiteley-Mason wohnt in Barnsley, einer gefährten bitten, ihn hinzubringen.
Stadt in der Nähe von Sheffield, er ist 42 Jahre alt und Also fing er wieder an mit den Fahrstunden, bis er im
leitet ein Altenpflegeheim mit 35 Zimmern, ein groß- Januar dieses Jahres und 14 Jahre nach dem 32. Versuch
flächig tätowierter Mann, dessen wesentliche Leistung zum 33. Mal antrat. „Alle haben mich ausgelacht“, sagt
darin besteht, am Steuer ein Ver- Whiteley-Mason. „Ich wollte es
sager zu sein. ihnen zeigen.“
25 Jahre und 33 Versuche hat Er lernte seinen 14. Fahrlehrer
Whiteley-Mason gebraucht, um kennen, einen Mann namens Wayne,
den britischen Führerschein zu ma- offenbar ein großer Könner seines
chen. Erst im Februar dieses Jahres Fachs. Ihm gelang es, seinem Fahr-
hat es endlich geklappt. Gekostet schüler die Aufregung zu nehmen.
hat ihn die ganze Sache am Ende Er übte jetzt mit einem Automa-
10 000 Pfund, etwa 12 000 Euro. Ein tikwagen. Weil er nicht mehr schal-
kleines Vermögen, darum kann er ten musste, konnte er sich besser
wohl jedes Honorar gebrauchen. auf den Verkehr konzentrieren.
Weil er aber ein netter Mensch ist In der Theorieprüfung musste
und durchaus stolz auf seinen späten Whiteley-Mason mindestens 43
Erfolg, erzählt er seine Geschichte von 50 Multiple-Choice-Fragen in
dann auch ohne Geld, am Telefon. 57 Minuten richtig lösen. Er kam
„Meine erste Fahrstunde habe auf 47 – souverän. Dann musste er
ich 1992 genommen“, sagt er. Da Whiteley-Mason sich an einem Bildschirm etliche
war er 17. Bill Clinton wurde zum Filmclips mit Verkehrsszenen an-
US-Präsidenten gewählt, Hans- sehen und eine Taste drücken,
Dietrich Genscher trat als Deutsch- wenn er eine gefährliche Situation
lands Außenminister zurück, und entdeckte, 44 von 75 möglichen
in Barnsley flog der untalentierte Punkten waren das Minimum. Er
Mr. Whiteley-Mason durch die schaffte 55 – schon knapper. Wür-
Fahrprüfung. de er doch wieder nervös werden?
Bei seinem ersten Fahrlehrer Von der Website Bild.de Vor der praktischen Prüfung be-
nahm er volle 56 Stunden Unter- tete Christian Whiteley-Mason aus
richt. „Er meinte, ich solle aufgeben, ich würde es nie Barnsley: „Lieber Gott, mach, dass mich nicht wieder die-
schaffen“, sagt Whiteley-Mason. Aber aufgeben kann der se strenge Frau prüft, die mich immer durchfallen ließ.“
Mann offenbar genauso schlecht wie Auto fahren. Dann kam der 21. Februar, ein Dienstag. Die Prüfung be-
Er sei nun mal ein nervöser Typ, sagt er. Immer schon gann morgens um acht, Whiteley-Mason fühlte sich gut,
gewesen. Sobald er im Auto saß, wurde er nervös, und so- auch seine Gebete wurden erhört: Am Fahrschulzentrum
bald der erste Fehler gemacht war, noch nervöser. Seine wartete eine Prüferin auf ihn, die er noch nicht kannte,
Beine zitterten, er verlor den Überblick und das Gefühl die Dame hieß Sue. Sie ging mit ihm zum Auto und stellte
für den Verkehr. Die Fehler, die er so machte, waren keine ein paar Fragen. Die erste lautete: „Wie wechselt man
Kleinigkeiten. Als er rückwärts um die Kurve fahren sollte, einen Reifen?“ Whiteley-Mason antwortete: „Ich rufe bei
kam er auf den Gehweg und rammte ein Auto. Er übersah Green Flag an.“ Green Flag ist ein Pannenservice. Sue
ein Stoppschild. Ein paarmal wechselte er die Fahrschule, lachte, und Whiteley-Mason dachte: Heute klappt es!
aber das änderte nichts am Resultat. Als die Testfahrt vorbei war, hatte Sue auf dem Prü-
Die Jahre vergingen. Der Eurotunnel wurde eröffnet, fungsbogen nur drei kleine Patzer notiert: Er war zögerlich
1994, und Whiteley-Mason flog durch die Fahrprüfung. in einen Kreisverkehr gefahren, er hat an einer Kreuzung
Lady Di starb, 1997, er flog durch die Fahrprüfung. In etwas spät gebremst und hatte beim rückwärts Einparken
London feierte der erste „Harry Potter“-Film Weltpremiere, korrigieren müssen. 15 solcher Schnitzer wären erlaubt
2001, er flog durch die Fahrprüfung. Bis 2003 war er gewesen. Sue gratulierte ihm, er fiel ihr um den Hals.
32-mal durchgefallen. 32-mal in gut zehn Jahren, macht Gleich am nächsten Tag kaufte er sich einen gebrauch-
einen Fehlversuch etwa alle vier Monate. ten Smart, gelb mit schwarzem Dach. Jeden Tag fährt er
Die Niederlagen waren ihm offenbar zur Gewohnheit nun damit zur Arbeit und zum Einkaufen, und er macht
geworden. Dass er sich inzwischen auf einen Spitzenplatz Spritztouren durch die Stadt. „Es fühlt sich einfach groß-
in dieser Statistik des Scheiterns emporgearbeitet hatte, artig an“, sagt Christian Whiteley-Mason. In all der Zeit
war ihm nicht bewusst. Die 20 schlechtesten Fahrschüler hat er viel über Autos gelernt und noch mehr über sich.
Englands haben zusammen 700 Versuche gebraucht, bis Maik Großekathöfer

DER SPIEGEL 16 / 2017 51


Frau Schultz reist in den Krieg
Schicksale Renate Schultz aus Berlin liebte einen deutschen Kurden. Letztes Jahr starb er
im Kampf gegen den IS. Nun fuhr sie in den Irak, weil sie wissen wollte, warum ihr Mann starb,
wie er starb – und wer er eigentlich war. Von Takis Würger und Christian Werner (Fotos)

A
n einem kalten Berliner Winter- richt ihres Mannes bekommen. Er schrieb Schultz und ihr Partner waren ein unglei-
morgen packt Renate Schultz, 63 ihr: ches Paar. Dort ihr Mann, Said Cürükkaya,
Jahre alt, ihren Rollkoffer, nimmt „Hallo Rena, hier ist schwierig.“ bei seinem Tod 49 Jahre alt, ein Kurde mit
ein Taxi nach Tegel, steigt in eine Maschi- „Das hast du befürchtet“, antwortete deutschem Pass, der so etwas wie ein Dop-
ne der Lufthansa und fliegt in den Krieg. Schultz, „bleibt es bei deinem Entschluss pelleben führte. Er war Besitzer einer Wä-
Sie will nach Mossul reisen, an die Grenze zurückzukehren?“ scherei, der „RWS Textilpflege“, gelegen in
des „Islamischen Staats“. „Ja, auf jeden Fall.“ einem Einkaufszentrum. In seinem Leben
Im Oktober des vergangenen Jahres „Küss dich“, schrieb Schultz. davor war er ein Mann, der getötet hat, der
hatte Schultz von dort eine Kurznach- Drei Tage später war ihr Mann tot. eine Waffe bedienen und eine Tretmine le-
52 DER SPIEGEL 16 / 2017
Gesellschaft
Witwe Schultz im Irak
Eine Frau, die nur Frieden kennt

sterben?“ und „Wer hat Schuld am Tod Saids Muttersprache ist Zazaki, eine
meines Mannes?“ Sprache der Kurden. Die Türken hatten
Sie hat in Kurdistan ein paar Freunde Zazaki verboten. Said gehörte zu einem
Saids angerufen und gesagt, sie würde Volk, das sich nicht regieren durfte, dem
kommen. Einen konkreten Reiseplan gibt an manchen Orten der Zugang zum Was-
es nicht, das sei schwierig mit Kurden, sagt ser und das Land gestohlen wurden.
Renate Schultz. Schultz hatte viele kurdische Mandan-
Als sie am Ausgang des Flughafens in ten und wusste, wie dieses Volk litt. Wie
Arbil einen alten Freund ihres Mannes er- die Türken die Felder der Kurden abbrann-
blickt, der sie abholt, steigen ihr die Trä- ten, damit die Schafherden verhungerten,
nen in die Augen. Schultz ist eine elegante wie türkische Polizisten arbeiteten.
Frau, sie trägt einen schwarzen Mantel ei- Die Polizei nahm Said zum ersten Mal
nes japanischen Designers und setzt sich fest, als er Medizin studierte. In Saids Hei-
eine Sonnenbrille auf, als sie das Flugha- matdorf hatte jemand „Faschismus ist
fengebäude verlässt. Vor ihr erstreckt sich Mord“ an eine Wand gemalt. Said war es
die Wüste bis zum Horizont. Der Fahrer nicht gewesen, sagte er, aber die türkischen
des Jeeps trägt Uniform, hat dicke Mus- Polizisten sperrten ihn zwei Wochen lang
keln, einen Schnurrbart und lacht nie. ein und schlugen ihn, damit er gestehe. Er
In einem Hotel im christlichen Viertel erzählte Renate Schultz nie genau, wie er
Arbils trifft Renate Schultz einen Scheich, gefoltert wurde, aber er sagte, dass ein Au-
der die Hälfte des Jahres in Bottrop lebt toreifen dafür eingesetzt wurde.
und in der anderen Hälfte im Irak mit sei- Bis zu seiner Festnahme war Said ein
ner Kalaschnikow Terroristen tötet, wie er unpolitischer Mann gewesen.
sagt. Der Scheich sagt, er sei einer der bes- Er erhielt seine Ausbildung zum Gueril-
ten Freunde Saids gewesen. Als Said ster- lero in Syrien. Ein halbes Jahr lang lernte
bend im Krankenhaus gelegen habe, habe er, wie man schießt und Bomben baut. Er
er neben dem Bett gesessen. wurde ein Kämpfer der PKK, der kurdi-
Er stellt eine Flasche Johnnie Walker auf schen Terrororganisation.
den Tisch, schenkt sich ein und lässt von Said erzählte Schultz, wie die PKK alles
einem Pagen Pistazien rösten, die er heiß kontrollierte, was er tat, wie sich die Kämp-
verzehrt. Schultz fragt, was passiert sei am fer gegenseitig bespitzelten, dass es in der
26. Oktober des vergangenen Jahres. PKK keine Freiheit gab.
„Said hat gesagt, wenn wir nicht kämp- Zehn Jahre lang lebte Said mit der Waf-
fen, nimmt der IS Rom ein“, sagt der fe in der Hand in den türkischen Bergen.
Scheich. Es ist keine Antwort. Dann fällt Er ließ türkische Güterzüge entgleisen, er
der Strom aus, und alles liegt im Dunkeln. stürmte Polizeistationen und tötete Poli-
Schultz fragt weiter in die Finsternis hi- zisten. Einen Winter lang hungerte er und
nein, sie lächelt dazu, aber das Lächeln ernährte sich von Grashalmen. Einmal
verschwindet langsam, als sie auf keine schlich er nachts in das Dorf seiner Eltern,
Frage eine Antwort bekommt. Sie fängt um seiner Mutter einen Kuss zu geben.
an zu rauchen, „American Spirit“, eine Schultz mochte diesen Mann, der Frei-
nach der anderen. Der Scheich redet vor heit zum Prinzip seines Lebens erklärt hat-
sich hin, er gibt Antworten auf Fragen, die te. Sie mochte, dass ihm ein wenig Brot
niemand stellt. Zwischendurch ruft er im- und Käse reichten, um den ganzen Abend
mer wieder Menschen in Deutschland an, lachend zu verbringen. Sie mochte es, dass
die dann ein paar Sätze sagen, bevor der seine braunen Augen weich wurden, wenn
Scheich auflegt. Einer dieser Männer am sie zu zweit waren, und dass diese Augen
gen konnte. Dieses Leben war eigentlich Telefon sagt: „Said war ein Symbol.“ in Sekunden kalt werden konnten.
vorbei, aber er war nie ganz davon losge- Für Schultz war Said kein Symbol, son- Irgendwann verließ Renate Schultz ihren
kommen. Hier Renate Schultz, eine ehema- dern der Mann, mit dem sie 15 Jahre ihres ersten Mann. Er war ein Staranwalt, präzi-
lige Fabrikarbeiterin, die über den zweiten Lebens teilte. se, klug, erfolgreich, wohlhabend, aber er
Bildungsweg Jura studiert hatte, während Sie sah ihn zum ersten Mal, als er mit ab- hatte nie in den Bergen gelebt. Schultz ent-
sie ihre drei Kinder großzog. Eine erfolgrei- gelatschten Schuhen in ihre Kanzlei spazier- schied sich für Said Cürükkaya, einen
che Anwältin aus Berlin. Eine Frau, die klei- te, ein kleiner Mann mit Olivenaugen, der Mann, der eine Zeit lang mit internationa-
ne Hundeaufkleber auf ihre Zigaretten- lächelte. Er war mit gefälschten Papieren lem Haftbefehl gesucht worden war.
schachteln klebt, weil ihr die Bilder der Ge- nach Deutschland gereist. Schultz arbeitete Sie heirateten nie, das brauchten sie
schwüre zu hart sind. Es gab vieles, was Said für eine Kanzlei, die spezialisiert war auf nicht, um zu wissen, dass sie zusammenge-
und Schultz trennte, die Sprache, die Kultur, Asylanträge. Said wurde ihr Mandant. hören. Nachts schliefen sie Hand in Hand.
aber er mochte ihre Stärke, und sie mochte, Er erzählte ihr, wie er in einem Bergdorf Sie brachte ihm bei, wie man Fahrrad
dass er anders war als andere, sagt sie. Ihre in der Türkei aufgewachsen war, wie er fährt, und lief neben ihm her, damit sie
Liebe war stärker als der Zweifel, ob so eine unter einem Dach mit Ziegen gelebt hatte. ihn auffangen konnte, falls er stürzte. Er
Partnerschaft funktionieren könne. Nun ist Wie die Eltern Paprika pflanzten und Brot wollte ihr für den gemeinsamen Urlaub
die Hälfte dieser Liebe gestorben, und ein aus selbst gedroschenem Weizen buken. im Irak eine Pistole schenken, damit sie
Raum hat sich geöffnet für die Frage, ob Was er erzählte, klang nach einer schö- sich verteidigen könne.
Schultz ihren Mann richtig verstanden hat. nen Kindheit. Aber Schultz fragte sich, wie Said lernte Deutsch im Goethe-Institut,
Sie sagt, sie mache diese Reise, weil sie schön eine Kindheit sein kann, wenn Kin- er studierte Sozialpädagogik, danach er-
Antworten suche: „Warum musste Said der ihre Sprache nur flüstern dürfen. öffnete er einen Dönerimbiss und einen

DER SPIEGEL 16 / 2017 53


Gesellschaft

Kämpfer Mohamad vor Mossul, entschärfte Sprengfallen der Terroristen, Fahne mit Gesicht des Verstorbenen Cürükkaya: Seine Haut roch

Kiosk. Er half anderen Kurden bei der schlecht zurecht. Und umgekehrt. Hier war Said habe am Tag davor gesagt: „Die
Flucht. Schultz sagt, am Ende kannte Said nun eine Frau, die nur Frieden kannte und haben die Taktik geändert. Die Minen sind
das Asylgesetz besser als sie. Er aß am sich einen Mann suchte, dessen Geschäft nicht mehr wie früher.“
liebsten Spaghetti aglio e olio, bekam ein der Krieg war. Und hier war ein Mann, der Mohamads Cousin, der vor Said gegan-
Bäuchlein und spielte gern Computer. Er den Krieg kannte und der sich eine Frau gen war, um Minen zu räumen, lag tot da,
wurde Deutscher. Das war die eine Hälfte. des Friedens suchte. Vielleicht funktionier- Schrapnelle steckten in seinem Hals. Said
In Arbil fährt Renate Schultz zu einem te diese Beziehung nicht trotz, sondern ge- lag auf dem Bauch. Er atmete. Sein Blut
Haus, das den Peschmerga gehört, der Mi- rade wegen dieser Spannung. floss in den Staub. Mohamad drehte ihn
liz der Kurden. Im Keller des Hauses be- Im Keller an Saids Schreibtisch streicht um und legte Saids Kopf in seinen Schoß.
findet sich ein Raum, in dem noch Saids ein junger Mann über die Zünder. Er trägt „Lass mich nicht allein“, sagte Said.
Schreibtisch steht. Darauf liegen Kneifzan- eine Uniform in Flecktarn. Es ist Mohamad Eins seiner Augen fehlte, im anderen
gen, eine Plastikschale mit Zündern, ein Bukar, 30, Saids Meisterschüler im Um- steckten Splitter.
Schraubendreher und ein paar entschärfte gang mit Minen. „Ich hätte für ihn mein „Bitte nicht reden“, sagte Mohamad.
Minen. Said hat sie entschärft. Das war Augenlicht gegeben“, sagt Mohamad. Ein Hubschrauber brachte Said nach
die andere Hälfte dieses Mannes. Arbil. Am Abend fuhr Mohamad ins Kran-
Als er in Deutschland lebte, versteckte
Said seine Vergangenheit vor Fremden hin-
Sie versteckten kenhaus. Er erinnert sich, dass seine
Haut nach Schwarzpulver roch und nach
ter seinem Lächeln. Minen in Teddybären, in Blut.
Wenn er schlief, wusste Schultz, dass sie
ihn nur aus der Entfernung wecken durfte,
goldenen Uhren, in Niemand hat ihn danach gefragt, aber
Mohamad sagt zu Schultz: „Der Unter-
weil er sonst vor Schreck um sich schlug. einem Spielzeugauto. schied zwischen dir und mir ist, dass du
Wenn er Blut sah, ging Said aus dem Zim- ein Land hast und dass ich keins habe.“
mer, weil er, wie er sagte, so viele Freunde Mohamad und Said entschärften zusam- Renate Schultz nickt, als würde sie ver-
gesehen hatte, die in ihrem Blut gestorben men. Die IS-Kämpfer versteckten Minen stehen, was das bedeutet, aber vielleicht
waren. Einmal war Said mit Renate auf in Teddybären, in goldenen Uhren, in ei- ist das unmöglich, wenn man aus Deutsch-
den Jahrmarkt gegangen, um Autoscooter nem Spielzeugauto. Keine andere Waffe land kommt.
zu fahren. Er erzählte ihr, dass ihm ein bringt in diesem Krieg mehr Menschen um. Saids Heimat Kurdistan hat keine festen
Freund, mit dem er in den Bergen gewesen Als Said verletzt wurde, stand Moha- Grenzen. Es liegt in den Ländern Türkei,
war, immer erzählt hatte, dass er so gern mad mit der Waffe im Anschlag ein paar Syrien, Irak und Iran. Es gibt auf der Welt
mal auf den Jahrmarkt wolle. Der Freund Meter entfernt und sicherte die Peripherie, circa 30 Millionen Kurden. Sie sind gespal-
sei dann im Krieg gestorben, und jetzt, sag- so erzählt er es. Sie waren in Baschika, ei- ten in verschiedene Gruppen, manche sind
te Said, wolle er ihm diesen Wunsch stell- nem Ort vor Mossul. Mohamad hörte ei- Jesiden, manche Muslime, manche Kom-
vertretend erfüllen. nen Knall und spürte die Druckwelle, er munisten, manche Terroristen, manche be-
Krieg und Frieden passen nicht zusam- wusste, dass jeder Stein vermint sein könn- kämpfen sich gegenseitig, aber sie haben
men, eigentlich. Menschen, die lang im te, aber in diesem Moment, so erzählt er gemeinsam, dass sie sich einen souveränen
Krieg gelebt haben, kommen im Frieden es, rannte er einfach zu seinem Freund. Nationalstaat wünschen.

54 DER SPIEGEL 16 / 2017


nach Schwarzpulver und Blut

Schultz sagt, Said sei von diesem Wunsch Als die Terroristen des IS im Jahr 2014 derte sich bei dieser Reise, wie müde ihr
getrieben gewesen, auch wenn er alles Sindschar einnahmen, waren Schultz und Mann wirkte. Er hatte kein Geld, kein
Mögliche andere machte. Er vernetzte sich Said im Urlaub auf Mallorca. Sechs Tage Auto, keine Wohnung. Sie begriff die Be-
mit Kurden in ganz Deutschland und blieb lang saß Said auf einem Hocker im Flur, fehlsstrukturen nicht, in die er eingebun-
nie lang an einem Ort, er studierte in Bre- weil das drahtlose Internet dort am besten den war, aber sie ahnte, da stimmte etwas
men, hielt Vorträge in Bottrop, besuchte war, und las Nachrichten aus Kurdistan. nicht. Sie stellte keine Fragen.
kurdische Aktivisten in Köln. Schultz und Am Ende des Urlaubs sagte er: „Ich gehe Vor dem Abschied fragte Said: „Rena,
er sahen sich an den Wochenenden, beide da hin.“ soll ich dir den Schlüssel zurückgeben?“
brauchten die Zeit dazwischen für sich, „Was willst du da machen?“, fragte Er meinte den Schlüssel für die gemeinsa-
sagt Schultz. Schultz. me Wohnung in Berlin.
Ein paar Jahre vor seinem Tod eröffnete „Ausbilden und kämpfen“, sagte Said. „Das ist ein schlechtes Omen, der bleibt
Said in Hamburg-Harburg eine Wäscherei. Die kommenden zwei Jahre pendelte er bei dir“, sagte Schultz.
Sie liegt heute noch im Phoenix-Einkaufs- zwischen Berlin und Kurdistan. In einem weißen Jeep, geschützt durch
zentrum, neben dem Bekleidungsgeschäft Renate Schultz wusste nichts von Minen, Soldaten mit Sturmgewehren, fährt
New Yorker. Das Einkaufszentrum ist hell sie dachte, Said sei vor allem Ausbilder. Schultz Richtung Mossul. Mohamad, der
wie eine Zahnarztpraxis. Im Fußboden Er mochte es nicht, wenn sie ihm Fragen Minensucher, sitzt neben ihr. 30 Kilometer
kann man sich spiegeln. Said hatte ge- stellte, das war immer so gewesen. Wenn von der Front entfernt rollt der Jeep in ein
kämpft, gehungert und gefroren für seine er nach Hause kam und sie ihn fragte, wo Lager der Peschmerga. Davor weht an ei-
Ideale, nun wusch er hier für 1,60 Euro er gewesen sei oder mit wem er telefoniert nem Mast eine Fahne in den Farben Kur-
Hemden für Menschen, von denen die we- habe, fühlte er sich an die Bespitzelung distans, auf der Saids Gesicht abgebildet
nigsten auf einer Landkarte zeigen konn- der PKK erinnert. Sie hatte akzeptiert, ist. Es ist so unwirklich, dass man mehr-
ten, wo Kurdistan liegen könnte. Wahr- dass dieser Mann anders war. Sie stellte mals hinschauen muss, aber da weht im
scheinlich war ihm seine Wäscherei fremd, keine Fragen mehr. Wüstenwind tatsächlich eine Fahne mit
ein Mittel nur, um irgendwie Geld zu ver- Mit jeder Stunde, die Schultz im Irak dem Gesicht von Said Cürükkaya.
dienen; jedenfalls stand er selten selbst in verbringt, mit jedem Glas süßem Tee, das Schultz weiß, dass manche Kurden ihren
seinem Geschäft, er tauchte ab und zu auf, sie trinkt, und mit jeder Frage, die sie jetzt toten Mann für einen Märtyrer halten,
um zu prüfen, ob das Geld in der Kasse stellt, wird klar, dass diese Reise auch eine aber das hier ist mehr. Hier vor Mossul
stimmte, und war dann wieder weg. ist, bei der es um die Frage geht, wer der auf der Fahne schaut er in die Welt wie
Said hatte ein Diplom, eine Frau, einen Mann war, den sie liebte. ein kurdischer Che Guevara. Schultz blickt
deutschen Pass, aber nachts, wenn er dach- Im Herbst vergangenen Jahres besuchte kurz auf die Fahne und dann wieder weg.
te, dass Schultz schlief, schaute er sich auf Schultz ihn im Irak. Sie aßen Hammel mit In einem Zelt empfängt sie ein General,
dem Computer Waffen an, sagt sie. Sie den Peschmerga, spielten mit den wilden der einen Patronengurt um die Hüfte trägt.
wusste, dass er als Kommandeur der Gue- Hunden vor dem Camp, Said erzählte Am Sofa lehnen Gewehre voller Kratzer.
rilla Hunderte Soldaten befehligt hatte, Schultz, er hoffe, für seine Dienste ein klei- Der General trägt Badelatschen.
und fragte sich, ob er sich in Deutschland nes Haus als Dank zu erhalten, in das sie „Waren Sie der verantwortliche Gene-
manchmal nutzlos fühlte. zusammen einziehen könnten. Sie wun- ral?“, fragt Schultz.

DER SPIEGEL 16 / 2017 55


IN DER SPIEGEL-APP
Gesellschaft

„Ja.“ Schultz steht in den Trümmern Baschi-


„Von wem hat Said die Anweisungen be- kas wie eine Erscheinung, gehüllt in ihren
kommen?“ schwarzen Mantel, um den Hals trägt sie
„Er hat alles für sich allein entschieden.“ ein violettes Tuch. Sie gehört hier nicht
Saids Einheit hieß „Feuereinheit“. Mo- her. Um sie herum stehen die Kämpfer der
hamad sagt, dass sie aus freiwilligen Zivi- Peschmerga mit geladenen Sturmgeweh-
listen bestand, die nicht zuschauen wollten, ren, mit Gesichtern voller Schatten, in de-
wie die Terroristen morden. Man kann es ren Falten sich der Staub sammelt. Said
mutig nennen, als Zivilist in den Krieg zu war einer dieser Männer. Es gibt Fotos von
gehen, oder tollkühn oder dumm. ihm, die ihn im Krieg zeigen, auf manchen
Schultz steigt in den Jeep und fährt wei- trägt er in der Hand ein russisches Scharf-
ter Richtung Front. Baschika, der Ort, an schützengewehr. Wer sich die Fotos an-
dem Said gestorben ist, wurde von Kurden schaut und Saids Lächeln darauf sieht,
erobert, aber er ist durchzogen mit Tun- weiß, wo der Mann hingehörte.
neln, die ins Innere von Mossul führen, Am Horizont ist Mossul zu sehen, man
und er ist voll mit Minen, Sprengfallen, hört das Geräusch einschlagender Raketen.
dem Tod. Schultz ist in den Krieg gefahren auf der
Die letzten Meter dieser Reise geht Suche nach Antworten. Aber die Antwor-
Schultz nur in Begleitung von Mohamad ten, die sie findet, geben ihr keine Ruhe.
und dem Fotografen des SPIEGEL, er do- Wer gab Said die Befehle?
kumentiert, was sie tut und sagt. Niemand.
Baschika galt vor dem Krieg als die Warum musste er sterben?
Stadt der Oliven. Der Jeep mit Renate Er musste nicht sterben. Er trug keinen
Schultz auf dem Rücksitz rollt vorbei an Helm, seine Weste hatte keine Keramik-
Straßenhändlern, die dicke schwarze Oli- platten, ein Mann vor ihm trat auf eine
ven anbieten, aber kaum Kunden haben. Mine.
Die Stadt liegt in Trümmern. Schwarzer
Rauch steigt aus einigen Häusern. Die Luft
riecht nach Zementstaub und Sprengpul-
Sie schaut auf zerrissene
ver. Schwer bewaffnete Peschmerga beglei- Häuser, verkohlte
ten Frau Schultz aus Berlin. Sie schaut auf
zerrissene Häuser, auf zerbrochene Möbel,
Olivenhaine, die Reste
auf verkohlte Olivenhaine, auf die Reste einer Stadt.
dessen, was mal eine Stadt war.
Der Jeep hält vor einem Haus, von dem Warum musste er sterben?
nur noch zwei Wände stehen. Schultz Weil es Krieg ist.
K.o. nach steigt aus, unter den Sohlen ihrer Turn-
schuhe knirschen zerborstene Glasschei-
Ein paar Wochen nach ihrer Reise, als
Schultz wieder in ihrer hellen Wohnung
14 Sekunden ben. Auf dem Boden liegen Steinbrocken
und Splitter, ein verbogenes Bettgestell,
in Berlin sitzt, vor sich ein Glas Weißwein,
sagt sie, sie verstehe jetzt, dass niemand
Narben, Blut, verstümmelte Ohren – die eine Decke, ein Blechteller, eine Gefrier- die Verantwortung trage am Tod ihres Part-
truhe. Überall hier, sagt Mohamad, verste- ners außer ihm selbst. Sie habe diese Reise
brutale Kampfsportart Mixed Martial Arts
cken sich Minen. gemacht, um Abschied zu nehmen von ei-
ist in Tschetschenien und Dagestan ein Schultz folgt ihm neben die Ruine des nem Land und ihren Freunden. Ihre Er-
echter Breitensport. Schon kleine Kinder Hauses. Dort klafft ein vielleicht 40 Zenti- kenntnis sei, dass Said so starb, wie er leb-
steigen dort in den Ring, um sich als echte meter tiefes Loch in der Erde, das die Mine te. Das deutsche Leben, das sie mit ihm
Männer zu beweisen. Der Fotograf Maxim sprengte, die Said das Leben nahm. teilte, war keine Lüge, da ist sie sich sicher,
Babenko verbrachte mehrere Monate Mohamad steht neben dem Loch und aber es war nur die halbe Wahrheit.
in der von Krisen gebeutelten Region und erzählt Renate Schultz, wie es war. Sein Said Cürükkaya wurde am 28. Oktober
sagt: Eigentlich wollen dort alle so sein Cousin habe die Mine ausgelöst. Es war des vergangenen Jahres von Arbil ins Mi-
eine Antifahrzeugmine, die die Kraft hatte, litärkrankenhaus in Koblenz geflogen und
wie die Kämpfer im Ring: stark, respektiert
Panzerstahl zu spalten. Said trug keinen starb dort.
und unabhängig. Helm und keine Platten in der Splitter- Zur Trauerfeier in Deutschland kamen
schutzweste. Beim Gespräch im Peschmer- viele Menschen und schwenkten die kur-
Sehen Sie die Visual Story im digitalen ga-Camp hatte der General gesagt, dass er dische Fahne. Die Wäscherei in Harburg
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. Said verboten habe, die Minen in Baschika führt Saids Geschäftspartner allein weiter.
zu räumen. „Said hat das getan, was er Im Hinterzimmer hängt ein Foto von Said
wollte, im Leben und im Krieg“, sagte er. an der Wand, in das jemand mit Photoshop
Schultz weint am Erdloch. Sie spricht ein paar Flügel auf seinen Rücken montiert
zu ihrem toten Mann und sagt: „Was hat. Schultz überlegt, ob sie in Zukunft
machst du denn schon wieder für Sachen?“ für eine Hilfsorganisation arbeiten will, die
Sie hat ihn nie eingeschränkt in seiner sich in Kurdistan engagiert.
Freiheit. Sie wusste, er ist ein Wolf, sagt Saids Leiche wurde in die Türkei ausge-
sie, und Wölfe lassen sich nicht festhalten. flogen. Er wurde in dem Bergdorf beerdigt,
Einmal, so erzählt sie es, sagte er zu ihr: in dem er aufwuchs.
„Rena, seit ich dich kenne, weiß ich, was Seine letzte Nachricht an Renate Schultz
J E TZ T DI G I TAL L E S E N Liebe ist.“ hieß: „Ich vergesse dich nicht.“

56 DER SPIEGEL 16 / 2017


Ich habe kürzlich mit dem Psychoanalytiker Hans-
Joachim Maaz geredet, bei dem praktisch die gesamte
ostdeutsche Wendegesellschaft auf der Couch lag. Maaz
gestand mir, dass er sich ein Leben lang für einen Links-
liberalen gehalten habe, jetzt aber plötzlich rechts sei.
Er hat das mit den Grünen, Angela Merkel und der AfD
Che und Schulz begründet, es ist zu kompliziert, um es hier abzuhandeln.
Auf jeden Fall sagt Maaz irgendwann: Die 68er haben
sich, weil die eigenen Väter zu belastet waren, Ersatz-
Leitkultur Alexander Osang versteht in väter gesucht. Unter anderem Che Guevara und Ho Chi
Minh.
Bolivien, wie die SPD tickt. Diese Helden sterben weg, und auf Dauer kann sich
niemand mit der Verteufelung der AfD und des US-ame-

I
ch stand vor einem Geysir irgendwo in der Mitte eines rikanischen Imperialismus allein bei Laune halten. Eine
bolivianischen Nationalparks, als ich zum ersten Mal Zeit lang sah es so aus, als könnten Daniel Ortega und
die Begeisterung der deutschen Sozialdemokratie für Hugo Chávez die Lücke füllen, aber Chávez hat sein Land
ihren Spitzenkandidaten nachvollziehen konnte. Der Him- ins Verderben gestürzt, bevor er starb, und Ortega hätte
mel war winterblau, es gab nur ein paar Wolken, die kurz den Mann, der er geworden ist, vor 30 Jahren erschossen.
über unseren Köpfen hingen, denn wir standen in 4800 Me- Bleibt der bolivianische Chef, Evo Morales. Morales be-
ter Höhe. Die letzten Tage waren traumhaft gewesen, wir schenkt die Schulen mit Laptops, doch auf jedem klebt
waren mit ein paar Geländewagen über riesige Salzseen ein Morales-Gesicht. Er hat La Paz mit einem Netz von
gefahren, hatten Flamingos in rosafarbenen Gewässern be- modernen Seilbahnen überspannt, aber alle Kabinentüren
obachtet und Lamas auf dunkelgrünen Wiesen. Ab und zu tragen Morales-Aufkleber. Das ist kein gutes Zeichen. An
hielten wir an und fotografierten uns in der Landschaft. vielen Hauswänden von Santa Cruz, wohin Che einst den
Manchmal fragten die Guides, Sozialismus exportieren wollte,
woher wir kommen. Es waren Eng- steht: „EVO NO“.
länder dabei, Holländer, ein paar Ehe ich nach Vallegrande fah-
Amerikaner, Chilenen und Japa- ren konnte, habe ich in einem Trö-
ner, in der Mehrzahl aber waren delladen in Santa Cruz eine kleine
es Deutsche. Seltsamerweise spra- Heiligenstatue von San Martín de
chen die meisten Deutschen Eng- Porres gekauft. San Martín ist
lisch, auch miteinander. Man er- schwarz, er war ein Ordensbruder
kannte sie trotzdem. Sie hatten die aus Lima, der später heiliggespro-
besten Rucksäcke, die besten Wan- chen wurde. San Martín wurde
derschuhe, und die meisten von ih- vor allem durch sein soziales En-
nen hatten auch schon einen Alpa- gagement für die Schwachen, die
ka-Pullover an, den sie auf irgend- Kranken und die Armen bekannt.
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

einem Markt in La Paz, Sucre oder Außerdem aß er kein Fleisch,


Cuzco gekauft hatten. Viele waren konnte mit Tieren sprechen und
seit Wochen in Südamerika unter- vollbrachte kleinere Wunder. Er
wegs, manche fingen in Rio an, schwebte und brachte es fertig, an
dann Uruguay, Argentinien, rüber mehreren Plätzen zugleich zu sein.
nach Chile und hoch nach Bolivien. Er hat es allerdings nie geschafft,
Manche machten es umgekehrt. Priester zu werden.
Ich habe in Santa Cruz, Boli- Hauswand in Santa Cruz, Bolivien Moment mal, dachte ich. Kein
vien, begonnen und fahre nach Priester, aber ein Mann, der an
Norden. Kurz nachdem ich in Santa Cruz angekommen mehreren Orten zu gleicher Zeit sein kann. Vielleicht lag
war, bekam ich eine SMS von einem Freund. Unbedingt es an der dünnen Luft hier oben. Aber schlagartig wurden
nach Vallegrande fahren. Venceremos! mir die Parallelen klar. Man muss nur Priester durch Abi-
In Vallegrande war Che Guevara begraben. Ich wollte tur ersetzen. Ich stand am Geysir, neben mir Julia aus Er-
ihm meinen Respekt zollen, es lag auf dem Weg. Ich mag langen, die einen grauweißen Anden-Pullover trug und
Che, aber er war nie der Held meiner Ostberliner Jugend, Englisch mit britischem Akzent sprach.
denn ich lebte ja bereits im Weltkommunismus. Mein bester Als ich Martin Schulz das erste Mal bei Anne Will sah,
Freund und Trauzeuge trug jahrelang das Bild des jungen konnte er nicht mal die Frage beantworten, ob er mit den
Muammar al-Gaddafi in seiner Brieftasche. Das schien ihm Linken koalieren würde, und vollbrachte dennoch das
in den Achtzigern eine Möglichkeit, systemkonform und Wunder, als Neuanfang zu gelten. Dass ein Mann mit die-
aufmüpfig zugleich zu sein. Kann man sich nur noch schwer ser Vergangenheit, diesem Aussehen, diesem Alter als
vorstellen. Ich verehrte Teófilo Stevenson, einen kubani- Hoffnungsträger gilt, ist an sich ein Wunder. Bestimmt
scher Schwergewichtsboxer. Stevenson verweigerte eine kann er mit Tieren sprechen. Klar, es ist ein weiter Weg
Millionengage für einen Kampf gegen Muhammad Ali, den von Che zu Schulz, aber auch die SPD hat sich verändert.
er – davon war ich überzeugt – gewonnen hätte. Er boxe Und welchen Sozialdemokraten könnte man sich am bes-
nicht für Geld, sagte er. Er boxe nur für sein Volk. Jahre ten in einem Alpaka-Pullover in lustigen Farben vorstel-
später habe ich ihn in Kuba besucht, ein älterer, großer len? Nicht Steinmeier, nicht Schmidt und schon gar nicht
Herr, der seltsam schief lief und nur unter der Bedingung Steinbrück. Wer würde mit Poncho und einer Panflöte in
mit mir reden wollte, dass ich ihm 200 Dollar gebe. Das der Fußgängerzone am wenigsten auffallen?
hat mein Heldenkonzept ins Wanken gebracht. Richtig. San Martin. El Schulzo.

DER SPIEGEL 16 / 2017 57


THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET
ICE 4 der Deutschen Bahn

Milliardendeal

Bahn setzt auf extralange ICE-Züge


Bis 2030 will der Konzern den Fernverkehr stark ausbauen.
Die Deutsche Bahn (DB) hat bei Siemens deutlich mehr zern pro Jahr rund 50 Millionen Fahrgäste mehr transpor-
Langversionen des ICE 4 bestellt als ursprünglich geplant. tieren als derzeit. Bereits in der jüngeren Vergangenheit
Wie aus dem Umfeld des Konzerns verlautete, soll Siemens boomte das Geschäft mit ICE und IC – unter anderem weil
nun 100 zwölfteilige und 19 siebenteilige ICE liefern. Bis- die DB viele Billigtickets auf den Markt warf. 2016 erzielte
lang war vorgesehen, dass die DB nur 85 zwölfteilige Züge das Unternehmen im Fernverkehr einen Fahrgastrekord.
erhält, dafür aber 45 siebenteilige. Die Änderungen haben Bislang sind zwei ICE 4 im Probebetrieb zwischen Ham-
keine Auswirkungen auf den Umfang des Geschäfts: Der burg und München unterwegs. Ab dem Fahrplanwechsel
Finanzrahmen bleibt bei 5,3 Milliarden Euro. Es ist der Ende des Jahres sollen die Züge regulär eingesetzt werden.
größte Auftrag in der Bahn-Geschichte. Die langen ICE 4 Nach und nach sollen die ICE 4 vor allem die veralteten
bieten 830 Menschen Platz und sind fast 350 Meter lang. Intercity-Züge ersetzen. Langfristig könnte die DB bis
Mit der neuen Konfiguration reagiert die DB auch auf den zu 300 Züge bei Siemens bestellen und damit einen Groß-
geplanten Ausbau des Fernverkehrs. Bis 2030 will der Kon- teil der heutigen Flotte erneuern. böl

Karrieren als Lobbyvertretung, sondern maligen EU-Kommissarin


Kai Diekmann als einen „internen Feedback- Neelie Kroes. Uber kann
kanal“, heißt es bei Uber. Berater gut gebrauchen: In
berät Uber Einmal im Jahr treffen sich vielen Ländern debattieren
Der ehemalige „Bild“-Heraus- die Mitglieder in San Francis- Politik und Öffentlichkeit
geber Kai Diekmann wird co, der Einsatz für das mit kontrovers über den aggres-
Berater des amerikanischen mehr als 60 Milliarden Dollar siven Ansatz des Taxikonkur-
Transportdienstes Uber. Als bewertete Start-up wurde bis- renten, bei dem die Vermitt-
DANIEL BISKUP / LAIF

Mitglied im „Public policy her mit Unternehmensantei- lung direkt zwischen Kunden
advisory board“ soll er Spar- len kompensiert. Die promi- und Fahrer stattfindet. In
ringspartner und Ratgeber in nente Runde reicht von Ray Deutschland sind Teile des
politischen Fragen sein. Man LaHood, dem früheren US- Angebots von Uber seit 2015
betrachte das Gremium nicht Diekmann Verkehrsminister, bis zur ehe- verboten. mum

58 DER SPIEGEL 16 / 2017


Wirtschaft
Nachhaltigkeit ben, die sie noch nie oder sel-
„Spotify für Mode“ ten getragen haben.
Budde: Deshalb wäre ein Abo
Ina Budde, 28, Lehrbeauftragte für Trendklamotten nicht nur
für Nachhaltiges Design an der besser für die Umwelt, son-
Modehochschule Esmod in dern auch finanziell attraktiv
Berlin, über volle Kleiderschrän- für Leute, die sich gern mo-
ke und Abonnements für disch kleiden. Im Schnitt
Trend- und Outdoorklamotten wird ein Teil nur siebenmal
getragen. Wenn man einen

JOCHEN ZICK / ACTION PRESS


SPIEGEL: Junge Start-ups wie „price per use“, also die Kos-
Kilenda, Kindoo oder Kleide- ten pro Tragezeit, berechnet,
rei bieten Mode zum Mieten kommt einen manches
an. Findet da ein Umdenken Schnäppchen teuer zu stehen.
in der Branche statt? SPIEGEL: Zum Beispiel?
Budde: Wir leihen Bücher, Budde: In Skandinavien gibt
streamen Videos, mieten Au- es Verleihangebote für Sport- Hochregallager bei Hermes
tos – warum nicht also auch und Outdoorkleidung. Solche
ein Spotify für Mode? Vor Spezialkleidung ist teuer, Onlinehandel ckeln sich zu einer eigenen
allem bei Kinderkleidern ist sehr strapazierfähig, wird in Boom der Investmentklasse“, sagt
das ein naheliegender An- der Regel aber nur sehr sel- Savills-Deutschland-Chef
satz: Die Kids wachsen ten getragen. Und zu Hause Warenlager Marcus Lemli. Der Anteil des
schnell aus den Sachen he- nimmt sie auch noch unnötig Der florierende Onlinehandel Onlinegeschäfts am Einzel-
raus, Mütter haben schon Platz weg. treibt das Geschäft mit Lo- handelsmarkt liegt in Deutsch-
immer privat gebrauchte SPIEGEL: Was hat die Industrie gistikimmobilien in nie zuvor land bereits bei 13 Prozent,
Klamotten untereinander davon? erreichte Höhen. Im ersten entsprechend steigt der Be-
weitergegeben. Gerade diese Budde: Sie kann Kunden auf Quartal dieses Jahres wech- darf von Amazon, Zalando
Zielgruppe macht sich aber Dauer an sich binden und an selten in Deutschland Verteil- und Co. nach weiteren Logis-
auch Gedanken über die einem Kleidungsstück mehr- zentren und Lagerhallen im tikzentren. 2016 wurde mit
Folgen ihres Konsums. fach verdienen, am Ende viel- Wert von 1,7 Milliarden Euro rund 4,7 Millionen Quadrat-
Hier professionalisiert sich leicht sogar am Recycling. den Eigentümer, eine Steige- metern mehr als doppelt so
gerade ein gesell- Das soll Fast-Fa- rung von 136 Prozent gegen- viel Logistikfläche fertig-
schaftlich erfolgrei- shion-Unterneh- über dem Vorjahresquartal. gestellt wie fünf Jahre zuvor.
ches Kleidertausch- men wie H&M In den Top-sieben-Regionen – „Das Wachstum des E-Com-
modell. oder Zara nicht Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, merce ist noch lange nicht
SPIEGEL: Einer davon entbinden, Hamburg, Köln, München, vorbei“, sagt Lemli. Die
Greenpeace-Studie nachhaltiger zu Stuttgart – hat sich das Trans- Nachfrage nach Flächen im
zufolge geben produzieren, aber aktionsvolumen sogar ver- stationären Einzelhandel ver-
95 Prozent der es könnte ein neu- dreifacht. Das geht aus Be- liert dagegen an Schwung,
Deutschen an, dass es, zusätzliches rechnungen des Immobilien- der Umsatz ist im ersten
YFS

sie Kleider in Vertriebskonzept dienstleisters Savills hervor. Quartal nur um acht Prozent
ihrem Schrank ha- Budde sein. one „Logistikimmobilien entwi- gestiegen. aju

Kommentar

Die falschen Alternativen der SPD


Warum die Abgabenlast der Mittelschicht gesenkt werden muss
Er will der Anwalt der „hart arbeitenden Mitte“ sein. Doch von dem nach einer Studie des Zentrums für Europäische
geht es um ihre Steuern, sieht SPD-Chef Martin Schulz keinen Wirtschaftsforschung wohlhabendere Kreise stärker profitie-
Handlungsbedarf. Diejenigen, die entlastet werden müssten, ren als die Mittelschicht.
zahlten „keine Lohnsteuer“, sagt er. Stattdessen müsse der Ein zielgenaues Konzept für die „hart arbeitende Mitte“
Staat mehr für Familien tun und die Kita-Gebühren streichen. bestünde deshalb aus einem steuer- und familienpolitischen
Doch damit bietet Schulz falsche Alternativen an. Er hängt Zwei-Punkte-Programm. Erstens: ein Umbau der Familien-
der irrigen Vorstellung an, dass Normal- und Niedrigverdiener förderung, bei dem Besserverdienerleistungen wie das
nur wenig zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen, Ehegattensplitting zugunsten von mehr staatlicher Kita-Finan-
aber in besonderer Weise von seinen Leistungen profitieren. zierung eingeschränkt werden. Zweitens: eine Reform des
Doch das stimmt so nicht. Zum einen müssen Arbeitneh- Abgabensystems, die vor allem unteren und mittleren Ein-
mer hierzulande mehr an Staat und Sozialkassen abführen als kommensschichten zugutekommt.
in fast allen anderen Industrieländern, so bestätigte vergange- Die Blaupause für eine entsprechende Reform hat übrigens
ne Woche einmal mehr die OECD. Zum anderen ist die deut- schon vor Jahren eine Institution vorgelegt, die für Sozial-
sche Familienpolitik ein 200 Milliarden Euro teures Chaos, das demokraten denkbar unverdächtig ist: der Deutsche Gewerk-
mal die kinderlose Ehe und mal die Großfamilie fördert und schaftsbund. Michael Sauga

DER SPIEGEL 16 / 2017 59


Der König von Heilbronn
Unternehmer Lidl-Gründer Dieter Schwarz ist einer der reichsten Deutschen
und ein Phantom. Mit seinem Geld kauft er sich seine Heimatstadt.
Kindergärten, Kirchengemeinden oder Hochschulen – alle sind von ihm abhängig.

I
n den ersten Tagen dieses Jahres, vor die Augen eines Kleinkinds wurden einge- gilt, sobald die Queen den Tisch verlässt.
aller Augen, geschah etwas, das zum blendet sowie besagter entblößter Senior. Schwarz ist der König von Heilbronn.
Schlimmsten zählt, was Heilbronner Manche der vorwiegend älteren Zuschauer Jeder Deutsche kennt Lidl. Doch außer-
Bürger sich vorstellen können: Dieter waren so verstört, dass sie den Abend nur halb von Heilbronn kennt kaum einer Die-
Schwarz war verärgert. Mitschuldig war noch mit geschlossenen Augen über sich ter Schwarz, den Gründer und Alleininha-
ein nackter alter Mann im Schnee. ergehen ließen. ber. Den scheuen Mann hinter dem Welt-
Der Vorfall ereignete sich in der Fest- Besonders pikiert war das Ehepaar in Discounter aus Baden-Württemberg, dem
halle Harmonie, beim Neujahrskonzert des Reihe 5, Mitte, Franziska und Dieter man sein Geld gibt, wenn man Freeway-
Württembergischen Kammerorchesters. Schwarz. In der Pause marschierten sie zur Cola oder Crusti-Croc-Chips kauft.
Serviert wurde Erbauliches und Gefälliges; Intendantin und bekundeten so deutlich Schwarz, 77, zählt zu den reichsten
Brahms, Johann Strauss. Doch Madeleine ihr Missfallen, dass jeder es mitbekam. Deutschen. Geschätztes Vermögen: 19 Mil-
Landlinger, seit September 2015 Intendan- Die versammelten Bildungsbürger rea- liarden Euro.
tin des Orchesters, zu kurz, um vorausei- gierten empört, weil die Intendantin den Das Einzige, was ihn wirklich plagt, ist
lenden Gehorsam als Grundhaltung zu ver- wichtigen Sponsor des Orchesters ver- die Frage: Was tun mit all dem Geld? Wohin
innerlichen, hatte es darauf angelegt, dem grätzt hatte. Zugleich aber fühlten sie sich es bisher floss, ist in der 117 000-Einwohner-
Publikum etwas zuzumuten: moderne Vi- nun von höchster Stelle autorisiert, die Stadt Heilbronn zu sehen – allerdings nicht
deokunst. Darbietung doof zu finden: „Dem Dieter in Schwarz’ direktem Umfeld. Sein Wohn-
Über mehrere Leinwände huschten Fa- Schwarz hat’s au net g’falle.“ Fast wie am haus ist die Stein gewordene Spießigkeit, mit
belwesen, Jäger und Hasen. Blitze zuckten, Englischen Hof, wo das Mahl als beendet Rüschengardinen und immergrünen Kugel-
60 DER SPIEGEL 16 / 2017
JÜRGEN POLLAK / DER SPIEGEL
Lidl-Filiale in Heilbronn: „Vertrauen ist ein schwieriges Thema in diesem Unternehmen“

bäumen im Vorgarten. Schwarz’ Anzüge hat er versprochen, dass fast ausschließlich er aussieht. Wer mit Journalisten über
und Krawatten sind schon sichtbar lange in Heilbronn davon profitieren soll. Doch die Schwarz plaudert, gilt als Nestbeschmutzer.
Betrieb. Schwäbisches Understatement? Almosen schaffen Abhängigkeiten. „Das Ebenso jeder, der dessen Wirken hinter-
Nein, Schwarz denkt einfach größer. ist wie bei einem Drogendealer“, sagt ei- fragt. Die Lokalzeitung „Heilbronner Stim-
Was ihn interessiert, sind Macht und Ein- ner, der geschäftlich mit ihm zu tun hat. me“ überlässt das deshalb lieber den Kol-
fluss. Um sich beides zu sichern, leistet er Die Bürger danken Schwarz die Gaben, legen von der „Stuttgarter Zeitung“. Auch
sich ein teures Spielzeug: Schwarz kauft indem sie ihn schützen. Sie schenken ihm der Oberbürgermeister fällt nicht gerade
sich eine Stadt. Er kauft sich Heilbronn, die Anonymität, die er verlangt. Sie foto- als Kritiker auf. Schließlich hat Schwarz
wo er geboren wurde und bis heute lebt. grafieren ihn nicht, sprechen ihn nicht an. sich im Wahlkampf für ihn starkgemacht.
Wer hier aufwächst, kann sich Schwarz Selbst in Heilbronn wissen viele nicht, wie „Der Geheimnis-Krämer“. „Das Phan-
nicht entziehen, selbst wenn er ihn per- tom“. „Der Pate“. Die Presse hat über die
sönlich nie zu Gesicht bekommt. Jahrzehnte viele Namen für Schwarz er-
Schwarz ist einer der größten Arbeitgeber sonnen. Es gibt viele Geschichten über ihn,
der Region, einer der wichtigsten Steuerzah- manche sind auch nur gut erfunden. Wie
ler der Stadt. Er spendete Geld für die Reno- jene, dass er gelegentlich in Kirchen pre-
vierung eines Kirchturms, stiftete Kunst und dige. Wenn Schwarz das in Artikeln lese,
einen Brunnen für den Marktplatz. Er be- lache er auf, heißt es in seinem Umfeld.
zahlt Reisen des Kammerorchesters. Er lässt Schließlich ist er schon vor Jahren aus der
Lehrer und Erzieher fortbilden und auch mal Kirche ausgetreten – um Geld zu sparen.
eine Turnhalle streichen. Er zahlt die Sprach- Schwarz lässt das auf Anfrage wie folgt er-
förderung für alle Kinder der Stadt. Sogar klären: „Der gesamte Unternehmensge-
einen Hochschulcampus hat er für Heilbronn winn wurde zur Kirchensteuer herangezo-
gebaut. Derzeit investiert er in einen „Zu- gen. Einer abweichenden Regelung wollte
kunftsfonds“, der Start-ups fördert. die Kirche nicht zustimmen. Konsequenz:
WIRTSCHAFTSWOCHE

Seine Milliarden hat er in einer gemein- Austritt.“ Was mit seinem Vermögen pas-
nützigen Stiftung angelegt. Ein schönes siert, soll nur einer bestimmen: er selbst.
Steuersparmodell, das nur funktioniert, so- Von Schwarz kursieren lediglich zwei
lange er die Gewinne, die sein Unterneh- Fotos. Eine jahrzehntealte Schwarz-Weiß-
men in die Schwarz-Stiftung pumpt, in Milliardär Schwarz Aufnahme, die gescheitelten Haare sind
Wohltätigkeiten verwandelt. Vor Jahren Wohin mit all dem Geld? noch dunkel. Und ein farbiges, von einem
DER SPIEGEL 16 / 2017 61
Wirtschaft

Paparazzo geschossen, mit grauem Haar. nastikraum trifft. Unter Anleitung machen rum entkamen ihren Kidnappern dank ei-
Es zeigt Schwarz vor seinem Haus, die ge- die alten Herren Seitschritt oder Kniebeu- ner Lösegeldzahlung in Millionenhöhe.
streifte Krawatte in die Hose gesteckt. gen, gern zur Musik von Abba. Schwarz’ Töchter Regine und Monika wa-
Das Bundesverdienstkreuz soll Schwarz Schwarz’ Büro liegt im oberen Stock- ren in den Siebzigerjahren offenbar eben-
wegen des Foto-Pflicht-Termins abgelehnt werk des Kaufland-Markts in Neckarsulm. falls von Entführungen bedroht.
haben. Und als Heilbronn den „großzügi- Der internen Zählweise der Filialen fol- Während die Albrecht-Erben nach dem
gen Mäzen und allseits geschätzten Mitbür- gend wird diese „der Dreihunderter“ ge- Tod der Patriarchen einander öffentlich mit
ger“ 2007 zum Ehrenbürger ernannte, wur- nannt. Schwarz hängt an ihr, sie war das Schlamm bewerfen und Anton Schlecker,
de zwar fotografiert, doch das Bildmaterial erste Kaufland überhaupt. dessen Reich längst versunken ist, sich ge-
schlummert seither im Stadtarchiv und soll Auf der Etage sitzen weitere einstige rade in einer öffentlichen Verhandlung we-
dort bleiben, solange Schwarz lebt. In seiner Topmanager des Unternehmens, darunter gen Insolenzverschleppung verantworten
Heimatstadt tut man ihm solche Gefallen. Richard Lohmiller senior. Der ehemalige muss, wahrt Schwarz weiterhin Diskretion.
Schwarz’ Vater war ein Kaufmann klas- Metzgermeister war der erste Kaufland- Er zeigt so wenig wie möglich von seinem
sischen Schlags: Josef Schwarz handelte Mitarbeiter, er nennt sich selbstironisch Reichtum. Und von sich. In vielen Lidl-
mit Bananen und Ananas, 1930 trat er als „Dieter Schwarz’ erster Knecht“. Lohmiller Filialen kann er unbemerkt einkaufen, da
Komplementär in die Heilbronner Süd- senior trägt gern Schweinchenschlipse, sein selbst die Kassiererinnen ihn nicht erken-
früchte Großhandlung Lidl & Co. ein. Der Sohn ist heute Deutschland-Chef von Kauf- nen. Interviewanfragen lehnt er konse-
Senior war ein typischer Vertreter seiner land, seine Schwiegertochter ist Geschäfts- quent ab. Wenn man ihn persönlich in ei-
Generation. Ein harter Mann, der von führerin der Schwarz-Stiftung. Alle Vete- ner Konzertpause trifft, sagt er: „Ich spre-
Selbstverwirklichung wenig hielt. Etwa ranen auf dem Stockwerk sind an die acht- che doch nicht mit Journalisten.“
von der Idee des Sohnes, Mathematik zu zig, die sogenannte „Schwarz-Geriatrie“. Menschen, die mit ihm privat verkehren,
studieren. bezeichnen ihn als freundlich – aber auch
Der Vater bestand auf einer kaufmänni- Schwarz-Firmengruppe als uncharismatisch, wenig empathisch.
schen Ausbildung in seinem Betrieb, Die- Anteile und Stimmrechte Echte Freunde hat er wenige, aber die
ter Schwarz fügte sich. Zu dem Zeitpunkt schon lange. Sie sind sein Schutzwall.
hatte er jedoch bereits ein Jahr als Aus- Dieter Schwarz Schwarz Wenn sie über ihn reden, dann nur gut.
tauschschüler in den USA verbracht, wo Stiftung gGmbH Unternehmens- Und in Plattitüden. So wie die Herren des
er die ersten Cash&Carry-Märkte für treuhand KG Heilbronner Lions Clubs, die über ihr pro-
Großkunden entdeckte. Mehr als ein hal- Kapital.......... 99,9% Kapital............. 0,1% minentes Mitglied sagen: „Er ist Mensch
bes Jahrhundert später kehrt er mit seinem Stimmrechte ......0 % Stimmrechte ..100% geblieben.“
Geschäft nun dorthin zurück: Im Sommer Einblick in Schwarz’ Welt erhält man,
dieses Jahres will Lidl die ersten Filialen wenn etwas schiefgeht. Man könnte auch
in Amerika eröffnen. Schwarz’ Weg nach sagen: Wenn einmal nicht alle nach seiner
Schwarz Beteiligungs KG Pfeife tanzen. Denn Schwarz hat gern das
Westen war lang.
operatives Geschäft
1963 wurde er persönlich haftender Ge- letzte Wort. Selbst dann, wenn er Geschen-
sellschafter der Lidl & Schwarz KG. 1968 100% 100% ke macht.
öffnete der erste „Handelshof“-Groß- Vor Jahren stiftete er anonym eine
markt. Schwarz setzte auf den Erfolg der Bronzeskulptur für den Marktplatz. Das
Selbstbedienungsläden, wo Mehl und Zu- Werk ist nicht sonderlich schön, es erinnert
cker ohne Beratung direkt aus dem Karton stark an mannshohe zusammengebundene
verkauft wurden. Er optimierte die Logis- Spargel – oder andere Phallussymbole.
tik, investierte in regionale Lager, sparte In der Stadt löste die Skulptur damals
an allem, was der Kunde nicht sah oder heftige Debatten aus, die Schwarz so per-
bezahlen wollte. Schick oder gemütlich Ausschüttungen sönlich genommen haben soll, dass er nie
waren seine Läden nie. mehr Kunst im öffentlichen Raum stiftete.
1970 setzte das Unternehmen bereits 100 Die Einrichtung soll sich seit den Sieb- Stattdessen zahlte er rund 500 000 Euro
Millionen Mark um, zehn Jahre später zigerjahren nicht verändert haben. Die für die Erneuerung des Turms der Kilians-
mehr als eine Milliarde. Heute gibt es welt- Wände holzvertäfelt, die Besprechungs- kirche. Nach der Restaurierung war noch
weit mehr als 11 000 Lidl-Filialen, hinzu stühle dick gepolstert, auf dem Boden bil- Geld übrig. Das sollte in neue Kirchenfens-
kommen gut 1200 Kaufland-Märkte. Für liger Kurzflor. An den Wänden vergilbte ter gehen. Das Problem war, dass die von
die Schwarz-Gruppe arbeiten mehr als Collagen, die Mitarbeiter zu einem Firmen- der Gemeinde und einer unabhängigen
375 000 Menschen. jubiläum gebastelt haben. Den Filterkaffee Jury favorisierten Entwürfe Schwarz zu
Schwarz zog sich aus dem operativen Ge- servieren Damen in Kittelschürzen, wie es modern waren. Was er jedoch nicht direkt
schäft bereits 1999 zurück. Sein Statthalter sie wohl nur noch auf oberschwäbischen äußerte, sondern über sein Sprachrohr,
im Konzern ist seither Klaus Gehrig, auch Krämermärkten zu kaufen gibt. den örtlichen Pflanzenhändler Klaus Kölle,
schon 69. Gehrig ist der Chef der Schwarz- Bei Lidl zählte lange Zeit nur eines: dass damals Mitglied des Kirchengemeinderats.
Gruppe, der Mann, der sich die Hände die Waren möglichst billig waren. Es ist Die Fenster wurden nie eingebaut.
schmutzig macht, damit die von Schwarz dasselbe Geschäftsmodell, nach dem die Schwarz’ größtes Geschenk an die Stadt
sauber bleiben. Mitarbeiter nennen ihn den Brüder Albrecht den Discounter Aldi be- wurde zuletzt sein größtes Ärgernis: der Bil-
„Killerwal“ (siehe Interview Seite 65). trieben und Anton Schlecker seine Droge- dungscampus, auf dem sich heute fünf pri-
Trotzdem kommt Schwarz noch jeden riekette. Dass die Gründer und ihre Fami- vate Hochschulen befinden. Die Gebäude
Tag in die Firma, lange Zeit in einem alten lien die Öffentlichkeit mieden, war eine gehören der Schwarz-Gruppe oder der Stif-
weißen Mercedes, wegen seiner Kasten- Folge realer Bedrohung. tung, sie stellen sie kostenlos zur Verfügung.
form im Umfeld „der Kühlschrank“ ge- Aldi-Gründer Theo Albrecht wurde Bei der Einweihung des zweiten Teils
nannt. Seine Arbeitskraft erhält er sich, in- in den Siebzigerjahren entführt und für 2015 pries Ministerpräsident Winfried
dem er sich montags und donnerstags mit zwölf Tage in einem Kleiderschrank gefan- Kretschmann Schwarz’ Einsatz als „Mäze-
einem Dutzend Freunde in einem Gym- gen gehalten. Die Schlecker-Kinder wiede- natentum der allerfeinsten Sorte“. Der Ge-
62 DER SPIEGEL 16 / 2017
lobte drückte sich derweil, nur von weni-
gen wahrgenommen, in den hinteren Rei-
hen herum und genoss still. Ein für ihn
typischer Auftritt.
Auf Schwarz’ Drängen war 2014 auch die
Duale Hochschule Baden-Württemberg
(DHBW) auf den Campus gezogen; die größ-
te Hochschule des Bundeslands hatte bis da-
hin im nahe gelegenen Mosbach ihren Sitz.
Und da alles irgendwie Schwarz gehört,
wird auf eine Trennung der Welten erst
gar kein Wert gelegt. Das Büro der
Schwarz-Stiftung befindet sich auf dem
Campus. Als deren Pressesprecher fungier-
te eine Zeit lang ein DHBW-Professor.
Misslich wurde die Personalie Reinhold
Geilsdörfer. Der frühere DHBW-Präsident
wechselte nach seinem Eintritt in den Ru-
hestand 2016 nahtlos zur Schwarz-Stiftung,
die er seither als Vollzeitjob mitleitet. Ein
Professor zeigte ihn daraufhin wegen Vor-
teilsannahme an: Der Verdacht lag nahe,
dass Geilsdörfer bereits als Präsident Ent-

JÜRGEN POLLAK / DER SPIEGEL


scheidungen in Schwarz’ Sinne getroffen
Kilianskirche, Skulp- haben könnte. Womöglich war darin gar
tur auf dem Markt- Geilsdörfers Einsatz für den Standort Heil-
platz in Heilbronn bronn begründet.
„Mäzenatentum der Eine Razzia in Geilsdörfers Haus förder-
allerfeinsten Sorte“ te weitere Ungereimtheiten zutage. Noch
Uni-Präsident mit Beamtenstatus, hatte er
für Schwarz zunächst als Berater gearbei-
tet, für 3000 Euro im Monat, dann sogar
als Geschäftsführer der Schwarz-Stiftung,
was ihm monatlich 12 500 Euro einbrachte.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen
Korruption. Auch Schwarz wurde verhört.
Unter anderem ging es darum, wann Geils-
dörfer das Angebot zum Wechsel bekom-
men habe. 2014, behauptet er. Vielleicht
schon 2012, sagte seine Referentin aus. In-
zwischen hat die Staatsanwaltschaft die
Ermittlungen eingestellt. Der Verdacht
JÜRGEN POLLAK / DER SPIEGEL

habe sich nicht erhärten lassen.


Restaurant der Im Stuttgarter Wissenschaftsministerium
Schwarz-Gruppe in war man höchst befremdet. Im Umfeld der
Neckarsulm Schwarz-Stiftung heißt es, Geilsdörfer hät-
Um das eigene te den Vertrag niemals unterschreiben dür-
Image besorgt fen. Er selbst will sich nicht mehr zu der
Affäre äußern.
Interessenskonflikte erleben Professo-
ren der DHBW immer wieder. Sie fragen
sich: Wie sehr sind wir der Wissenschaft
verpflichtet – und wie sehr dem Mäzen?
Ein Professor sagt: „Viele denken schon
immer im Voraus: Was könnte Lidl oder
Kaufland missfallen?“
Von den rund 2000 Heilbronner DHBW-
Studenten kommen zwar nur gut 20 Pro-
zent von Lidl und Kaufland. Die jedoch
würden bevorzugt, heißt es unter den Wis-
senschaftlern.
JÜRGEN POLLAK / DER SPIEGEL

Ein Professor, der eine Lidl-Studentin


durchfallen ließ, soll von einem Kollegen
Bildungscampus bedrängt worden sein, sie bestehen zu las-
Heilbronn sen. Ein andermal soll die Exmatrikulation
Größtes Geschenk einer Lidl-Studentin von höherer Instanz
an die Stadt rückgängig gemacht worden sein. Ein der-
DER SPIEGEL 16 / 2017 63
Selbstverständlichkeit und Betriebsräte für
Teufelszeug halte. Fortschrittlicher zu den-
ken wagten wenige.
Müssig spricht von einem „militärisch-
hierarchischen“ Führungsstil, der bei Lidl
und Kaufland noch immer gepflegt werde.
Befehle sollen befolgt, nicht hinterfragt
werden. So war es unter Schwarz. So ist
es heute. „Vertrauen ist ein schwieriges
Thema in diesem Unternehmen.“ Daran
ändere auch das im vorigen Jahr für alle
eingeführte Duzen nichts oder der neuer-

A. CHUDOWSKI / WIRTSCHAFTSWOCHE
dings legere Kleidungsstil. Ein ehemaliger
Mitarbeiter der Schwarz-Gruppe sagt:
„Die Generation der Stalinisten sitzt noch
immer fest im Sattel – zumindest solange
Dieter Schwarz mitredet.“
Schwarz bekommt, was er will. Nicht
nur in seinem Unternehmen, sondern auch
in seiner Stadt. Wo er sich breitmachen
Lidl-Filiale in Essen-Kettwig: Die Angst vor Kontrollverlust ist groß will, darf er das. Selbst am schönen Ne-
ckar, selbst wenn da eigentlich schon seit
artiger Fall sei nicht bekannt, heißt es von schikaniert, gedemütigt und kontrolliert Jahrzehnten jemand anders sitzt.
der DHBW. Alle Studierenden würden werden (SPIEGEL 34/2016). Diese Erfahrung macht derzeit der Heil-
gleich behandelt. Dieter Schwarz hat dieses System nicht bronner Ruderklub. Grundstück und
Wenn mit jungen Leuten schlecht um- nur toleriert, sondern etabliert. Es hat ihn Bootshaus der „Ruderschwaben“ grenzen
gegangen werden soll, erledigen Lidl oder groß und reich gemacht. Schon unter ihm an die Kaufland-Zentrale, Schwarz will
Kaufland das lieber selbst. Das will auch galt der Grundsatz: Wir ändern uns nur, hier anbauen. Also wurde der Verein ge-
eine DHBW-Studentin erlebt haben, die wenn es gar nicht anders geht. Wenn es fragt, ob er nicht umziehen wolle. „Wir
in einer Kaufland-Filiale in Neckarsulm schädlich wird fürs Geschäft. sehen das erst mal als Chance“, sagt der
ausgebildet wurde. Ständig habe sie Ärger Um das eigene Image ist man bei Lidl Vorsitzende. Noch sei aber „nichts in tro-
mit ihrem Chef gehabt, erzählt sie. Er habe erst besorgt, seit die Konkurrenz immer ckenen Tüchern“, und vorher möchte er
geschimpft, als sie krank war. Habe sie we- stärker wird. Und besonders, seit die Kette über keine Details sprechen, auch nicht
gen ihrer Konfektionsgröße beleidigt. Ein vor einigen Jahren in die Schlagzeilen ge- mit den Mitgliedern. Die müssten am Ende
angemessenes Zeugnis soll er ihr erst aus- raten war, weil Mitarbeiter mit Kameras über die offenbar sehr großzügige fi-
gestellt haben, nachdem sie einen Anwalt überwacht und geheime Krankenakten an- nanzielle Offerte der Schwarz-Gruppe ab-
eingeschaltet hatte. legt wurden. Als Reaktion holte der Kon- stimmen. Das städtische Schwimmbad
Es war nicht irgendein Kaufland-Markt. zern öffentlichkeitswirksam den ehemali- könnte ein passendes Uferstück an den
Sondern der, in dem auch Dieter Schwarz gen Bundesbeauftragten für Datenschutz Ruderklub abtreten. Die Stadtverwaltung
einkauft. Schon in ihren ersten Tagen stellte ins Haus. Danach mussten Pressesprecher würde da wahrscheinlich mitspielen. Am
er sich der Studentin zufolge den neuen Worst-Case-Szenarien für alle möglichen Ende dürfte Schwarz’ Angebot – wie so
Mitarbeiterinnen vor, untersagte ihnen, ihn Angriffe von außen entwerfen. Die Angst oft in den vergangenen Jahren – zu gut
jemals mit Namen anzusprechen, bot sich vor Kontrollverlust ist groß. Wenn etwas sein, um abgelehnt zu werden. Neofeuda-
jedoch als Gesprächspartner an für den Fall, schiefgeht, ist das schon peinlich. Unvor- lismus der reinen Sorte.
dass sie mal ein Anliegen hätten. stellbar jedoch, Dieter Schwarz müsste da- Solche Geschichten, die Schwarz berech-
Als die Studentin sich ein Herz fasste von in der Zeitung lesen. nend aussehen lassen, werden vermutlich
und ihn auf den rüden Umgang im Laden Die erste große Imagekampagne in der keinen Eingang in die große Lidl-Chronik
ansprach, soll Schwarz nur geantwortet ha- Firmengeschichte soll 2015 einen zwei- finden, die derzeit von einem ehemaligen
ben: So etwas traue er dem Filialleiter stelligen Millionenbetrag verschlungen Redakteur der „Heilbronner Stimme“ er-
nicht zu. Damit war das Problem für ihn haben. In TV-Spots waren zu Klavierge- stellt wird. Zwei Bände à 180 Seiten sind
offenbar aus der Welt. Schwarz lässt aus- klimper lachende Kinder zu sehen und bereits geschrieben, sie umfassen die Zeit
richten, er könne sich an diesen Vorgang verliebte Pärchen. Einer war den Mitar- von 1790 bis 1930. Die Chronik darf erst
nicht erinnern. Kaufland will den Fall nicht beitern gewidmet, für die „gut nie gut ge- veröffentlicht werden, wenn Schwarz nicht
kommentieren. nug“ und denen „ein faires Miteinander mehr am Leben ist.
Der Handel ist ein raues Pflaster. Der wichtig ist“. Dass die Lesart der Firmenhistorie in
deutsche Lebensmittelmarkt ist umkämpft, Wie der Alltag von Lidl-Mitarbeitern seinem Sinne ist, dürfte gewährleistet sein.
die Filialdichte ist mit am höchsten in wirklich aussieht, kann Thomas Müssig er- Der Chronist hat einen Mitarbeiter, mit
Europa. Der Wettbewerb ist gnadenlos. zählen. Der 35-Jährige ist Gewerkschafts- dem er sich seit neun Jahren immer wieder
Wer wachsen will, kann das nur zulasten sekretär bei Ver.di, Schwerpunkt Handel, zum Austausch trifft und der ihm erklärt,
anderer: auf Kosten der Konkurrenz, der Einsatzort Heilbronn. Mitarbeiter aus dem wie alles wirklich war. Sein Name: Dieter
eigenen Mitarbeiter oder der unterbezahl- Schwarz-Reich gehören zu seiner Stamm- Schwarz. Alexander Kühn, Simone Salden
ten Näherinnen in Bangladesch. klientel, denn Anspruch und Wirklichkeit Mail: simone.salden@spiegel.de
Im Discount mit seinen niedrigen Ge- liegen dort weit auseinander.
winnmargen geht es um Zehntelwerte, „Viele Werte werden leider nur für die Video:
um jeden Zentimeter Regalfläche. Aus- Außenwelt formuliert“, sagt Müssig. Jeder Das Lidl-Imperium
steiger schildern immer wieder, wie Ange- im Konzern wisse, wie Schwarz ticke. Dass spiegel.de/sp162017lidl
stellte und Führungskräfte systematisch er Überstunden und Stechuhren für eine oder in der App DER SPIEGEL

64 DER SPIEGEL 16 / 2017


Wirtschaft

„Der Killerwal ist ein


Gehrig: Nein, das streben wir nicht an. Wir
wollen uns mit denen gar nicht verglei-
chen.

hoch soziales Wesen“


SPIEGEL: Aber das wird angeblich bei Ihnen
im Haus diskutiert.
Gehrig: Ja, aber das sind Ideen von Mitar-
beitern, die man wieder einfangen muss.
Wir sind ein Handelsunternehmen, und da
Handel Klaus Gehrig, oberster Chef von Lidl und Kaufland, über brauche ich am Ende Menschen, die gerne
Härte im Discount, fleißige Schwaben und sein größtes Problem: H-Milch, Zucker, Mehl, Butter und Obst
verkaufen wollen.
einen Nachfolger zu finden, der so gut ist wie er selbst SPIEGEL: Ist es heute schwer für Sie, guten
Nachwuchs zu finden?
Gehrig, 69, ist gelernter Kaufmann. Seine Lauf- Gehrig: Eine Wertschätzung. Gehrig: Nein, aber der Anteil der Menschen,
bahn begann er bei Aldi-Süd. Seit 1976 arbei- SPIEGEL: Wenn ein Unternehmen seinen die von ihrer Persönlichkeitsstruktur her
tet er für Dieter Schwarz. 2004 übernahm Mitarbeitern Lockerheit verordnen muss zu uns passen, ist kleiner geworden. Die
Gehrig die Leitung der Schwarz-Gruppe, zu – ist das nicht eher ein Zeichen für große Jobs bei uns erfordern mitunter auch eine
der die Handelsketten Lidl und Kaufland ge- Unlockerheit? gewisse Konsequenz und Härte.
hören. Konzernsitz ist Neckarsulm. Gehrig: Nein, die Menschen verändern sich SPIEGEL: Wo sind Sie selbst Ihren Mitarbei-
einfach. Viele ältere Führungskräfte haben tern ein Vorbild?
SPIEGEL: Herr Gehrig, Sie tragen einen flau- großen Wert auf Distanz gelegt, aber das Gehrig: In meinem Stil, wie ich mit Men-
schigen dunkelblauen Pullover und eine brauchen eigentlich nur die, die nicht rich- schen umgehe. Ich komme eigentlich mit
legere Stoffhose. Ist das jetzt die neue Klei- tig führen können. jedem zurecht. Und ich bin mit mir und
derordnung bei Lidl? SPIEGEL: Wir haben gehört, dass ausgerech- mit dem, was ich tue, zufrieden, das ist
Gehrig: Ja. Wir haben auch untersagt, dass net Lidl in fünf Jahren der beliebteste Ar- ganz wichtig.
unsere Manager, wenn sie die Filialen be- beitgeber der Welt sein will – noch vor SPIEGEL: Trotzdem haben Sie sich selbst als
suchen, im dunklen Anzug auftreten und Apple oder Google. Im Ernst jetzt? „Auslaufmodell“ bezeichnet. Wieso das?
somit auf Distanz zu den Mitar- Gehrig: Ein Typ wie ich ist doch
beitern gehen. gar nicht mehr gefragt. Wir
SPIEGEL: In Ihrem Intranet heißt brauchen heute eine andere In-
es zu dieser neuen Kleiderregel: ternationalität. Meine Stärke
„Mit diesem Schritt sollen Hie- war und ist das operative Ge-
rarchiegrenzen durchlässiger und schäft, ich bin immer noch viel
die Zusammenarbeit einfacher draußen an der Front.
gemacht werden.“ Kann man ein- SPIEGEL: An der Front? Führen
facher mit Ihnen zusammenar- Sie Krieg?
beiten, seit Sie keine Krawatte Gehrig: Nein, damit meine ich
mehr tragen? die Basis – unsere Filialen. Ich
Gehrig: Mit mir konnte man nehme mir auch die Zeit, um
schon immer einfach zusam- mit Filialleitern oder Kassiere-
menarbeiten! Wir reden da ja rinnen zu reden. So bekommt
nicht von mir. man am Ende vieles mit. Und
SPIEGEL: Letztes Jahr haben Sie wenn ich von jemandem über-
auch eingeführt, dass sich alle zeugt bin, dann kriegt er oder
in der Schwarz-Gruppe duzen: sie eine bestimmte Aufgabe. Lö-
Wirkt das? sen sie diese Aufgabe zuverläs-
Gehrig: Ja, das wirkt. sig, kriegen sie eine neue. Dann
SPIEGEL: Inwiefern? schicke ich sie ein Jahr durchs
Gehrig: Man ist vertraulicher mit- Unternehmen – und dann weiß
einander unterwegs. Die jungen ich: Der oder die ist wirklich ge-
Leute in unserem Unternehmen eignet.
haben sich viel geduzt, wir woll- SPIEGEL: Sie waren irgendwann
ten da einheitliche, moderne Re- auch einmal sehr von dem letz-
geln schaffen. ten Lidl-Chef Sven Seidel über-
SPIEGEL: Wird jetzt auch Lidl- zeugt, der im Februar seinen
Gründer Dieter Schwarz geduzt? Stuhl räumen musste.
Gehrig: Ja. Gehrig: Ich spreche grundsätzlich
SPIEGEL: Von allen? nicht über Personalentscheidun-
Gehrig: Nein. Nur von uns. gen, auch nicht in diesem Fall.
SPIEGEL: Also vom Vorstand? Alle derartigen Entscheidungen
Gehrig: Nein, von mir und mei- werden im Interesse des Unter-
ner Frau. Er hat uns vor etwa nehmens getroffen.
einem halben Jahr das Du an- SPIEGEL: Sie haben in 18 Jahren
MARKUS HINTZEN

geboten, kurz nach meinem acht Lidl-Chefs verschlissen.


40. Dienstjubiläum. Hatten die alle denselben Feh-
SPIEGEL: Ein großer Moment für ler: Sie waren nicht so gut wie
Sie? Konzernleiter Gehrig 2015: „Ein Typ wie ich ist nicht mehr gefragt“ Klaus Gehrig?
DER SPIEGEL 16 / 2017 65
Wirtschaft

Gehrig: Ja, das scheint so zu sein!


SPIEGEL: So machen Sie immer wieder deut-
lich: Sie sind unersetzbar in diesem Laden.
Gehrig: Ganz im Gegenteil: Jeder ist er-
SPIEGEL-Gespräche live setzbar.
SPIEGEL: Was muss ein Lidl-Chef mitbrin-
gen?
im Thalia Theater – Gehrig: Neben der fachlichen Qualifikation
vor allem Bodenhaftung und Empathie.
Große Feste, aufwendige Reisen, ein
Planet Deutschland Champagnerfrühstück auf dem Eiffelturm,
das passt nicht zu uns.
SPIEGEL: Letzteres soll ja Herrn Seidels Idee
gewesen sein …

Melanie Grande
René Fietzek

Markus Hintzen

Christian O. Bruch
Gehrig: Wir sind ein mittelständisch gepräg-
tes Unternehmen, und dazu gehört eine
gewisse Bescheidenheit. Manche haben
das in der Vergangenheit mitunter verges-
sen. Fehler passieren. Aber ich erwarte,
dass die Mitarbeiter zu ihren Fehlern ste-
hen und mich informieren.
SPIEGEL: Wo hätten Sie sich mehr Beschei-
denheit gewünscht?
Gehrig: Schauen Sie sich die Lidl-Filialen
Olga Grjasnowa Nino Haratischwili Feridun Zaimoglu Volker Weidermann
an, die wir im letzten Jahr gebaut haben,
zum Beispiel in Osteuropa. Das sind teil-
Autoren nichtdeutscher Herkunft über Populismus, weise riesige Glaspaläste. Aber diese über-
zogene Bauweise befremdet die Menschen
Heimat und die Schönheit der Sprache: dort. Außerdem passt sie nicht zu uns, und
die Umsätze stehen in keiner Relation zum
Sie kamen als Kinder in die Bundesrepublik, eroberten Aufwand. Hier brauchen wir wieder mehr
sich eine neue Heimat und eine neue Sprache, in der sie Kostenbewusstsein.
SPIEGEL: Worauf achten Sie denn in einer
heute Geschichten schreiben. Was erzählt uns ihre Literatur Filiale?
über Deutschland? Kann ihre Perspektive auf die Bundes- Gehrig: Ich bin jetzt seit 46 Jahren in der
Branche, ich spüre sofort: Stimmt es, oder
republik helfen, dieses Land besser zu verstehen, das nur stimmt es nicht. Wenn ich zum Beispiel
auf dem Papier kein Einwanderungsland ist? diese großen Eingangshallen in manchen
unserer neuen Märkte sehe, das ist doch
Diese und weitere Fragen wird der Literaturkritiker des Platzverschwendung. Bei uns zählt jeder
Quadratzentimeter Regalfläche. Natürlich
SPIEGEL, Volker Weidermann, mit den Schriftstellern muss man die Filialen aufhübschen. Aber
Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und Feridun Zaimoglu man muss nicht einen Fußboden rausrei-
ßen, der gerade einmal sieben Jahre alt
diskutieren. ist, und dann einen neuen verlegen lassen,
der nur ein paar Nuancen heller ist. Jetzt
muss viel öfter sauber gemacht werden,
weil der helle Boden schneller Schmutz
Sonntag, 23. April 2017, 20 Uhr annimmt. Darüber hätte man vorher nach-
denken müssen.
Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg SPIEGEL: Sie gelten ja als harter Hund …
Gehrig: Nein, ich trage meine Vorstellungen
nur engagiert vor. Und ich bin konsequent.
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de. Das ist ein Unterschied.
Eintritt: 9 bis 18 Euro. Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. SPIEGEL: Sie werden firmenintern „der Kil-
lerwal“ genannt.
Gehrig: Das habe ich noch nie gehört. Aber
ich bin jemand, der die Dinge positiv sieht.
Und der Killerwal ist ja ein hoch soziales
Wesen, das im Team arbeitet …
SPIEGEL: … um kleine Robben zu töten.
Gehrig: Am Ende ernährt sich jeder irgend-
wie.
SPIEGEL: Können Sie einmal Ihre weiche
Seite beschreiben?
Gehrig: Ich habe viel Mitgefühl. Besonders
wenn ich mich von Mitarbeitern trennen
66 DER SPIEGEL 16 / 2017
FOTOSAMMLUNG STADTARCHIV HEILBRONN
Erstes Lidl-Geschäft in Heilbronn um 1905: „Eine gewisse Bescheidenheit“
r,
muss. Aber es gibt Grenzen. Man kann so ich, weil ich nicht ohne Arbeit sein kann? Siche ,
ch
einfa
einen Job nicht machen, wenn man alle Ehrlicherweise: ja.
Probleme dieser Welt lösen will. Wir agie- SPIEGEL: Wann wollen Sie denn gehen?
t:
ren in einem harten Wettbewerbsumfeld, Gehrig: Wenn der Inhaber sagt: Jetzt ist
direk kt.
da kann ich nur sagen: Entweder wir be- es an der Zeit! Ich entscheide das ja
ire
haupten uns, oder wir sind weg vom nicht. Wenn er morgen sagt: Lieber Klaus, payd
Markt. Und glauben Sie mir, ich will ja das ist es jetzt gewesen. Dann sage ich: Vie-
auch, dass die Näherinnen in Bangladesch len Dank, wir haben gerne, vertrauensvoll
mehr verdienen. und erfolgreich zusammengearbeitet. Und
SPIEGEL: Aber Sie profitieren doch von den dann bin ich morgen eben nicht mehr da.
niedrigen Löhnen dort. SPIEGEL: Wäre ein freiwilliger Rückzug
Gehrig: Wenn ich morgen einen Euro mehr nicht ehrenhafter?
für ein T-Shirt verlange oder sogar nur 30 Gehrig: Was heißt ehrenhaft? Ich habe dem Jeder Mensch hat etwas,
oder 50 Cent, dann kauft der Kunde das Unternehmen noch viel zu geben. Und
nicht mehr bei uns, sondern bei der Kon- ich habe von meinem Inhaber die Aufgabe das ihn antreibt.
kurrenz. Sie können Bangladesch nicht mit bekommen, dass ich die nächsten zwei,
Deutschland vergleichen. Das Gehaltsge- drei Jahre meinen Nachfolger einarbeiten
füge stimmt nicht. Es kann nicht sein, dass soll. Wir machen den Weg frei.
eine Näherin dort so viel verdient wie ein SPIEGEL: Wer ist denn ihr Kronprinz?
mittlerer Beamter. Oder Rumänien: Dort Gehrig: Es ist keiner benannt. Aber wir ha-
bekommt ein Lidl-Filialleiter so viel wie ben immer noch ein Ass im Ärmel. Wir
ein Bürgermeister. haben hervorragende Leute. Ich beobachte
SPIEGEL: Macht Ihnen das alles kein schlech- verschiedene Menschen auf verschiedenen
tes Gewissen? Positionen und biete ihnen die Chance,
Gehrig: Nein. Wenn ich ein schlechtes Ge- sich zu bewähren. Mal sehen, wohin das
wissen hätte, könnte ich diesen Job nicht führt.
machen. Wir können nur bedingt zu mehr SPIEGEL: Herr Schwarz ist jetzt auch schon
Gerechtigkeit auf der Welt beitragen. 77. Kommt er noch täglich ins Büro?
SPIEGEL: Aber wir in Deutschland leben da- Gehrig: Ja, klar. Sicher online bezahlen
durch auf Kosten anderer. SPIEGEL: Was macht er den ganzen Tag? Profitieren Sie von paydirekt, dem
Gehrig: Das stimmt! Allerdings sind wir Gehrig: Der ist gut beschäftigt, von morgens
sicheren Online-Bezahlverfahren made
Deutschen vielleicht ein bisschen fleißiger bis abends, glauben Sie mir.
unterwegs als andere. Sie können nicht SPIEGEL: Wir oft sprechen Sie miteinander? in Germany. Registrieren Sie sich jetzt im
aus jedem Menschen einen Schwaben Gehrig: Wir haben etwa alle drei Wochen Online-Banking-Bereich oder informieren
machen. einen festen Termin. Und wir telefonieren, Sie sich auf vr.de/paydirekt
SPIEGEL: Sie werden nächstes Jahr 70 Jahre wenn es notwendig ist.
alt. Macht Ihnen der Gedanke an den Ru- SPIEGEL: Hat er noch immer bei allem das
hestand Angst? letzte Wort?
Gehrig: Nein, ich gehe ja nicht in Ruhestand. Gehrig: Selbstverständlich. Er ist der Inha-
Aber ich stelle mir oft die Frage: Arbeite ber. Interview: Alexander Kühn, Simone Salden

DER SPIEGEL 16 / 2017 67


Wirtschaft

Revolution ohne Garantie


Betriebsrenten Die geplante Reform soll schaffen, was Riester nicht gelang: die sinkenden
gesetzlichen Altersbezüge auszugleichen. Doch sie macht alles noch viel komplizierter.

W
ie viel Rente er einmal haben rund 18 Prozent. Das gibt es bei kaum ei- und die Renten später aus dem laufenden
wird? Kann Andreas Marek, 57, ner anderen Form der Vorsorge. Geschäft zu zahlen. Dann trägt man als
nicht so genau sagen. Obwohl er Trotzdem soll die staatlich geförderte Arbeitgeber aber ein erhebliches Risiko.
sich als Kaufmann mit Zahlen auskennt – Betriebsrente – die sogenannte Entgeltum- Daneben bieten Pensionskassen und Pen-
und bei der Altersvorsorge eigentlich alles wandlung – jetzt das deutsche Rentensys- sionsfonds an, die Organisation der Be-
richtig gemacht hat. tem retten und erreichen, was die Riester- triebsrente zu übernehmen. Oder man
Schon früh steckte Marek Teile seines Rente nie geschafft hat: die sinkenden ge- schließt einfach bei einem Lebensversiche-
Gehalts in eine Betriebsrente, als Ergän- setzlichen Altersbezüge auszugleichen. rer einen Vertrag für den Mitarbeiter ab
zung zu seiner gesetzlichen Rente. Das Der Bundestag soll dafür noch in dieser (siehe Grafik).
Problem ist nur: Mareks Lebenslauf ist so Legislaturperiode ein Reformgesetz verab- Vor allem kleine Firmen greifen oft auf
bunt wie der vieler Arbeitnehmer. Er ar- schieden, damit die Betriebsrente auch in diese sogenannte Direktversicherung zu-
beitete an einer Uni, bei einem Elektro- kleinen Firmen endlich zum Standard wird. rück, doch als Ahl mit verschiedenen Ver-
unternehmen, wechselte zur spanischen Doch selbst Koalitionsabgeordnete haben sicherungsmaklern sprach, waren für ihn
Handelskammer und ist heute Geschäfts- ihre Zweifel, ob der aktuelle Vorschlag die- „vor allem die Kosten nur sehr schwer zu
führer bei einem Wirtschaftsverband. ses Ziel erreichen kann. durchschauen“. Man müsse sich schon in
Jeder Arbeitgeber hatte sein eigenes Be- Dabei sind sich fast alle Fachleute einig, das Thema „reinfuchsen“, lautet Ahls Fa-
triebsrentensystem, bei jedem Jobwechsel dass die Idee der Entgeltumwandlung gut zit, der jetzt einen unabhängigen Experten
musste Marek umsteigen. Jetzt hat er zig ist: Arbeitnehmer können einen bestimm- engagiert hat.
Verträge in der Schublade, mit jeweils an- ten Teil des Einkommens in eine Alters- So geht es vielen Kleinunternehmern,
deren Konditionen, „das ist ziemlich an- vorsorge stecken, dann fallen Steuern und und nicht jeder hat die Kapazitäten, sich
strengend zu verwalten“, sagt er. Und loh- Sozialabgaben auf den Beitrag weg, auch so intensiv mit dem Thema zu beschäfti-
nen wird sich das Ganze kaum. Das hat für den Arbeitgeber. gen wie Ahl. „Ein Dachdeckermeister, der
ihm kürzlich Brigitte Mayer von der Ver- „Eigentlich finde ich die Betriebsrente abends noch die Buchhaltung mit seiner
braucherzentrale Hessen vorgerechnet. prima, weil sie auch ein super Argument Frau erledigt, hat dafür weder Geld noch
„Als Faustregel gilt: Wer zweimal mit bei der Suche nach neuen Mitarbeitern Zeit“, sagt Detlef Lülsdorf, der Firmen in
einer Betriebsrente den Job wechselt, der ist“, sagt Moritz Ahl. Er ist 33 und Chef Fragen der Betriebsrente berät.
macht wahrscheinlich eine negative Ren- von Constructiva Solutions, einer Inter- Doch anstatt dieses Problem zu lösen
dite“, erklärt die Beraterin. Heißt: Am netagentur mit fünf fest angestellten Mit- und das System grundlegend zu vereinfa-
Ende kommt unter Umständen sogar we- arbeitern. chen, fügt das geplante „Gesetz zur Stär-
niger raus, als man eingezahlt hat. Denn Als Ahl sich kürzlich entschloss, das kung der betrieblichen Altersversorgung“
oft werden für neue Verträge hohe Gebüh- Thema anzugehen, stellte er ziemlich dem Durcheinander noch eine weitere
ren fällig. Noch dazu drückt auf die Ren- schnell fest: Das deutsche Betriebsrenten- Variante hinzu: das sogenannte Sozialpart-
dite, dass Betriebsrentner auf die Auszah- system ist reichlich unübersichtlich. Da nermodell. Es sieht vor, dass Arbeitgeber-
lungen im Alter noch den vollen Kranken- gibt es die Möglichkeit, die Vorsorgebei- verbände und Gewerkschaften künftig ge-
kassenbeitrag zahlen müssen – derzeit träge in den eigenen Betrieb zu stecken meinsam Betriebsrenten für ihre Branche
aushandeln und entsprechende Tarifver-
träge abschließen.
Der Gedanke dahinter: Die Verbände
können effizientere Betriebsrentenlösun-
gen finden als der Chef eines einzelnen
Unternehmens. Und damit werden die
Tarifverträge auch für kleine, nicht tarif-
gebundene Unternehmen attraktiv.
Natürlich wird die Betriebsrente schon
heute in vielen Tarifverträgen thematisiert
– allerdings schafft das Gesetz ganz neue
Möglichkeiten. So soll der Arbeitgeber in
der schönen neuen Betriebsrentenwelt ver-
pflichtet werden, die eingesparten Sozial-
abgaben auf die Beiträge größtenteils wie-
der zur Betriebsrente zuzuschießen. Au-
CHRISTOPH PAPSCH / DER SPIEGEL

ßerdem soll die sogenannte Opt-out-Regel


beschlossen werden, heißt: Jeder Arbeit-
nehmer, der nicht ausdrücklich Nein sagt,
ist dabei.
Vor allem aber sollen beim neuen So-
zialpartnermodell nur noch unverbindliche
„Zielrenten“ vereinbart werden – und kei-
Unternehmenschef Ahl: „Sehr schwer zu durchschauen“ nerlei garantierte Mindestzusagen mehr

68 DER SPIEGEL 16 / 2017


möglich sein. Das ist eine kleine Revolu-
tion, bedenkt man, dass der deutsche Spa- Betriebsrente
rer vor allem beim Thema Altersvorsorge bisherige und alternative Entgeltumwandlung
als besonders sicherheitsbedürftig gilt.
Und genau diese Revolution sorgt gera- § §
de für mächtig Ärger, auch wenn sie durch- GELTENDES RECHT SOZIALPARTNERMODELL
aus Vorteile hat. Denn das sogenannte Ga-
rantieverbot bedeutet, dass Arbeitgeber Arbeitgeber zahlen einen Teil des Arbeitnehmergehalts
nicht mehr wie bisher für die Renten ihrer für eine Altersvorsorge ein. Auf die Beiträge
ehemaligen Mitarbeiter haften müssen, fallen keine Steuern und keine Sozialabgaben an.
wenn etwa die Pensionskasse oder der Ver-
sicherer ausfällt, mit dem man zusammen- DURCHFÜHRUNGSWEGE NEUERUNGEN
arbeitet. Obwohl diese Gefahr in den meis-
ten Fällen eher theoretischer Natur ist, sei Direktzusage Gewerkschaften und Arbeit-
sie bisher „ein wesentlicher Hemmschuh“ Arbeitgeber zahlt im Alter an geberverbände vereinbaren
Arbeitnehmer eine monatliche ein branchenweites Betriebs-
für die betriebliche Altersvorsorge gewe- Betriebsrente. rentenmodell. Versorgungs-
sen, glaubt Bundesarbeitsministerin An-
träger sind Pensionskassen
drea Nahles (SPD). Unterstützungskasse
oder Pensionsfonds.
Die Angestellten wiederum hätten bei Zumeist in der Rechtsform
dem Zielrentenmodell größere Chancen eines eingetragenen Vereins. Statt Garantierenten gibt es nur
auf Rendite. Denn Garantien schmälern Direktversicherung eine unverbindliche „Zielrente“.
die Renditechancen, weil der Garantiege- Arbeitgeber schließt für
ber das Geld ja zu großen Teilen vorhalten Arbeitgeber müssen 15 Prozent-
Arbeitnehmer eine Lebens-
muss und nicht frei investieren kann. punkte der eingesparten Sozial-
versicherung ab.
Trotzdem bedeuten höhere Chancen in abgaben zur Betriebsrente zuschießen.
der Geldanlage eben auch immer höhere Pensionskasse
Wird von einer oder Opt-out-Modell
Risiken. Peter Schwark vom Gesamtver- Arbeitnehmer, die keine Entgelt-
mehreren Firmen getragen.
band der Deutschen Versicherungswirt- umwandlung wollen, müssen
schaft (GDV), dem Lobbyverband der Ver- Pensionsfonds das ausdrücklich sagen.
sicherungsindustrie, wird derzeit nicht Flexibler als herkömmliche
müde, an diese Binsenweisheit zu erinnern. Modelle betrieblicher Alters- Arbeitgeber haften nicht für
„Nach der jetzigen Gesetzesvorlage kön- versorgung. Mitarbeiterrenten – „pay and forget“!
nen die Renten sogar in der Auszahlphase (Mindest-)Leistungen werden
jederzeit gekürzt werden“, sagt er. „Dabei in der Regel garantiert.
sind die Menschen in der Rentenphase be- torischer Schritt“, wie Arbeitsministerin
sonders verletzlich.“ Fällt der Versorgungs- Nahles findet. Schließlich gilt die volle
Ganz uneigennützig ist diese Fürsorge träger aus, haftet Anrechnung auf die Grundsicherung als
natürlich nicht: Würde das Garantieverbot der Arbeitgeber! wichtiger Grund für das Scheitern der
aufgeweicht, hätten die Versicherer einen Riester-Rente.
entscheidenden Wettbewerbsvorteil in der Der CDU-Abgeordnete Peter Weiß, der
neuen Betriebsrentenwelt. Pensionskassen derzeit mit seinen Koalitionskollegen noch
nämlich erfüllen nicht die nötigen Eigen- Arbeitnehmer die letzten Verhandlungen zur Vorlage
kapitalvorschriften, um irgendeine Form führt, will außerdem noch einige Elemente
von Garantie anzubieten, ohne dass am aus dem Sozialpartnermodell auf das ge-
Ende der Arbeitgeber haftet. Dabei sollte das neue Sozialpartnermo- samte System übertragen. „Das Opt-out-
Allerdings hat Schwark wohl nicht ganz dell doch eigentlich für alle attraktiv sein, Modell sollte für beide Welten gelten“, sagt
unrecht, wenn er feststellt: „Die Deutschen sogar für nicht tarifgebundene Betriebe. er, „genau wie die Pflicht der Arbeitgeber,
wollen eine bestimmte Sicherheit bei der Doch auch da regen sich Zweifel, ob kleine die durch die Entgeltumwandlung einge-
Altersvorsorge haben.“ Der Anteil der bis- Firmen reihenweise etwaige Renten-Tarif- sparten Sozialabgaben in Teilen zu der
her verkauften privaten Altersvorsorge- verträge übernehmen werden, die sie we- Vorsorge zuzuschießen. Das würde tatsäch-
produkte ohne jede Garantie mache in sei- der verstehen noch beeinflussen können. lich den Durchbruch für die betriebliche
ner Branche derzeit nur einen niedrigen „Wir machen eine Tür auf, aber wie viele Altersvorsorge bedeuten.“
einstelligen Prozentsatz am Gesamtvolu- durchgehen werden, weiß ich nicht“, sagt Allerdings bleibt das Problem, dass eine
men aus, fügt er hinzu. ein Abgeordneter. Betriebsrente bei häufigem Jobwechsel
Diese Zahl hat offenbar auch Vertreter Deshalb hat die Regierung zur Vorsicht schnell unrentabel wird, wohl auch in Zu-
der CSU in letzter Minute nachdenklich in dem Gesetz auch an der alten Welt kunft bestehen. Die Frage der Kranken-
gestimmt, weshalb der Termin für die Ver- der Betriebsrenten etwas herumgebastelt. kassenbeiträge in der Rentenzeit wird mit
abschiedung im Parlament jetzt erst einmal Quer über alle Systeme hinweg soll etwa dem Gesetz ebenfalls kaum verbessert –
verschoben wurde. Am liebsten würden gelten, dass Arbeitgeber, die die Betriebs- weil den gesetzlichen Krankenkassen sonst
die Bayern das Garantieverbot zumindest renten von Geringverdienern mit 20 bis jährlich mehrere Milliarden fehlen würden.
für die Rentenphase lockern. Weil das aber 40 Euro im Monat bezuschussen, 30 Pro- „Arbeitnehmer müssen auch in Zukunft
wahrscheinlich rechtlich schwierig wird, zent davon über die Steuer zurückbekom- Betriebsrentenangebote genau prüfen und
soll es tarifgebundenen Firmen wenigstens men. Darüber hinaus soll eine mögliche im Zweifel Nein sagen“, warnt die Ver-
ermöglicht werden, beim Thema Betriebs- Betriebsrente nicht mehr vollständig auf braucherschützerin Mayer deshalb. „In vie-
rente aus dem Tarifvertrag auszuscheren, die Grundsicherung im Alter angerech- len Fällen kann eine andere Geldanlage
wenn Arbeitgeber und Betriebsrat dem net werden. Ein Freibetrag von immerhin schlicht besser sein.“ Anne Seith
zustimmen. 100 bis 200 Euro ist vorgesehen – ein „his- Mail: anne.seith@spiegel.de

DER SPIEGEL 16 / 2017 69


Wirtschaft

Mach mal
Strecken mehr Plätze in den Verkauf gege- Lufthansa hingegen wird ab dem 361. Tag
ben, als tatsächlich vorhanden sind. Das vor Abflug ständig die Auslastung prognos-
hat auch einen Vorteil für die Kunden: tiziert; je näher das Flugdatum rückt, desto

den Abflug
Selbst komplett ausgebuchte Verbindungen genauer werden die Vorhersagen. Die Über-
können noch gekauft werden. buchungsrate liegt im Schnitt bei fünf Pro-
Geschäftsreisende mit flexiblen Tickets zent, drei Millionen gebuchte Lufthansa-
erscheinen häufiger nicht als Urlauber mit Passagiere erschienen 2016 nicht.
Luftfahrt Nach dem Rauswurf einem restriktiven Ticket. Mancher Reisen- Für den Lufthansa-Flug von Frankfurt
de will nur eine Strecke fliegen, bucht aber nach Orlando am vergangenen Montag
eines United-Airlines-Passagiers Hin- und Rückflug, weil das billiger ist – zeigt das nur für Mitarbeiter zugängliche
wird die Praxis der Überbuchun- ohne Überbuchung ein leerer Platz. Gibt System 281 gebuchte Passagiere in der Eco-
viele Verbindungen, wie zwischen Ham- nomyclass an. Es gibt in der Boeing 747-
gen kritisiert. Manche Passagiere es burg und Frankfurt, ist die Wahrscheinlich- 400 aber nur 272 Sitzplätze. Auch in der
profitieren jedoch davon. keit groß, dass ein Gast sich spontan für Premium-Economy-Class reichte der Platz
einen anderen Flug entscheidet. nicht aus: 34 Buchungen kamen auf 32 Sitz-

E
s dauerte nur Minuten, dann bran- Dienstags und mittwochs ist im Luftver- plätze. Weil aber nur 51 Gäste Businessclass
dete eine Welle der Empörung kehr am wenigsten los, kritisch wird es oft gebucht hatten, ging die Rechnung auf:
durchs Netz. Ein Passagier war aus an Freitagen und Sonntagen. Auch die Des- Dort waren 67 Sitzplätze verfügbar, und
einer Maschine von United Airlines ge- tinationen spielen eine Rolle: Auf Japan- Lufthansa konnte einige Kunden mit einem
zerrt worden. Er schrie, als ihn Flughafen- oder Südkorea-Strecken bleiben gebuchte Upgrade auf einen Liegesitz überraschen.
Offizielle martialisch über die Auslegeware Gäste kaum fern. Reisende aus Lateiname- Die wahren Probleme beginnen erst,
der Maschine schleiften, Blut lief über sein rika gelten dagegen als „landestypisch un- wenn mehr Passagiere mitfliegen wollen,
Gesicht. zuverlässig“, wie es ein Lufthanseat for- als Plätze im gesamten Flugzeug vorhanden
Seit diesem Vorfall vom vergangenen muliert – auf diesen Strecken wird folglich sind. Als Faustformel gilt: Wer wenig für
Wochenende hat eine der größten US-Flug- mehr überbucht. ein Ticket bezahlt hat und kein Vielflieger
linien ein handfestes PR-Problem. Experten Billigairlines verkaufen seltener mehr Ti- mit Statuskarte ist, wird häufiger am Boden
bescheinigten der Airline ein miserables ckets, als sie Plätze haben. Ihre Tickets ver- gelassen. Auch ein später Check-in macht
Krisenmanagement, Kunden riefen zum fallen meist, wenn ein Gast die Reise nicht es wahrscheinlicher, nicht mitzukommen.
Boykott auf und forderten die Entlassung antritt, weshalb es unwahrscheinlich ist, Einzelreisende ziehen häufiger den Kür-
des United-Chefs Oscar Munoz. Mancher dass ein gebuchter Platz leer bleibt. Bei zeren als Familien. Doch die Zahl dieser
Beobachter (t)witterte gar, die Flug- Fälle ist insgesamt gering. Nur 6 von
linie werde sich von diesem Image- 100000 Passagieren mussten 2016 ge-
schaden nie mehr erholen. gen ihren Willen am Boden bleiben,
Denn das Opfer des rabiaten Zu- so die offizielle Statistik für US-Flug-
griffs hatte sich nichts zuschulden linien.
kommen lassen. Der Mann besaß Manchmal sind dafür auch Kun-
ein gültiges Ticket von Chicago nach den verantwortlich, welche die Air-
Louisville. Weil aber vier United- line für wichtiger als andere hält. Bei
Crewmitglieder mit an Bord muss- Lufthansa haben Vielflieger im Top-
ten, suchte die Airline nach Freiwil- status eines HON Circle das Recht,
ligen, die das Flugzeug verlassen. 24 Stunden vor Abflug jeden Flug
Trotz einer 1000-Dollar-Prämie mel- buchen zu dürfen. Ist der voll, muss
dete sich niemand. United wählte ein anderer Passagier dableiben.
deshalb vier Passagiere aus, die ge- Eine kleine Gruppe von Reisen-
hen mussten. den legt es sogar darauf an, nicht
Personal auf dem Weg zum Ar- mitgenommen zu werden. Denn
beitseinsatz hat Vorrang, dieser schnell kann die Entschädigung den
Grundsatz gilt bei vielen Fluglinien. Flugpreis übersteigen. Die EU-Ver-
„Sonst fällt womöglich ein ganzer ordnung sieht 600 Euro für denjeni-
Flug aus und der wirtschaftliche gen vor, der auf einem Langstre-
Schaden wäre viel größer“, sagt ein ckenflug nicht mitgenommen wird.
Airline-Manager. Normalerweise Hinzu kommt das Ticket für einen
werden die überzähligen Passagiere Ersatzflug. Um einen emotionalen
aber, anders als im United-Fall, gar Kassensturz bei Passagieren zu ver-
nicht erst an Bord gelassen. meiden, zahlen Airlines manchmal
Dass Passagiere zurückbleiben noch großzügiger, wenn sich ein Pas-
müssen, passiert regelmäßig. Selten sagier freiwillig für einen anderen
sind reisende Mitarbeiter dafür ver- Flug entscheidet. Mit Verhandlungs-
antwortlich, vielmehr überbuchen geschick ist auch ein Business-Up-
Airlines ihre Flüge. Das Kalkül da- grade drin.
hinter: Erst ab einer bestimmten „Man darf sich niemals sofort mel-
Auslastung ist ein Flug profitabel, den, wenn Freiwillige gesucht wer-
die genaue Zahl hängt vor allem mit den. Beim dritten Aufruf fängt es
QUELLE YOUTUBE

den erlösten Ticketeinnahmen zu- an, lukrativ zu werden“, rät ein Air-
sammen. Weil aber immer wieder line-Manager. Martin U. Müller
Reisende trotz gültiger Buchung Mail: martin.mueller@spiegel.de,
nicht erscheinen, werden auf vielen Szene an Bord des United-Flugs 3441: Handfestes PR-Problem Twitter: @MartinUMueller

70 DER SPIEGEL 16 / 2017


Sport
Durch nationale Regelungen geschützte TV-Übertragungen
DÄNEMARK FINNLAND
Sportübertragungen* im europäischen Free-TV
*Deutschland komplett, restliches Europa Auswahl • Handball-EM und -WM der • Eishockeyweltmeister- Ein Herz für
Frauen und Männer (alle Spiele
mit dänischer Beteiligung, Halb-
schaft der Männer
• Nordische Skiwelt-
Pferde
GROSSBRITANNIEN meisterschaften
• Grand National
finale, Finale) Mit der Neuregelung
(Pferdehindernisrennen) der Übertragungsrechte
• Derby (Pferderennen) DEUTSCHLAND könnten ab der über-
• Tennis-Finale Wimbledon • Olympische Sommer- und Winterspiele nächsten Saison die
• Finale der Rugby- • Länderspiele der Fußball-Nationalmannschaft
Weltmeisterschaft • Fußball-EM und -WM (alle Spiele mit
Spiele der Fußball-
deutscher Beteiligung, Eröffnungsspiel, Champions-League kom-
Halbfinale, Finale) plett im Pay-TV ver-
• Halbfinale und Finale des DFB-Pokals schwinden. Laut dem
IRLAND • Finale Europa und Champions League
• Finale der Gaelic-Football mit deutscher Beteiligung Rundfunkstaatsvertrag
und Hurlingmeisterschaften muss nur ein Endspiel
• Irish Grand National und Irish mit deutscher Beteili-
Derby (Pferderennen) ÖSTERREICH
• Nations Cup (Springreiten) • Alpine Skiweltmeisterschaften gung im frei empfangba-
• Nordische Skiweltmeisterschaften ren Fernsehen übertra-
gen werden. Immer
FRANKREICH KROATIEN wieder wird diskutiert,
• Halbfinale und Finale der
• Finalspiele Wasserball-EM und -WM welche Sportarten in
und Spiele mit kroatischer Beteiligung Deutschland geschützt
Rugby-Weltmeisterschaft
• Finale Damen- und Herren- werden sollen. In eini-
einzel des Tennisturniers gen Ländern ist die Liste
Roland-Garros in Paris BELGIEN
• Tour de France und Paris― • Straßenrad-WM BULGARIEN sehr lang. In Großbritan-
Roubaix (Radrennen) • Davis und Fed Cup (Tennis) ITALIEN • WM im Ringen nien etwa müssen man-
• Finale Basketball-EM und -WM Finalspiele mit belgischer • Giro d’Italia (Radrennen) • Länderspiele der Volley- che Pferderennen jedem
der Frauen und Männer mit Beteiligung • Großer Preis von Italien ball-Nationalmannschaft
französischer Beteiligung TV-Zuschauer ohne
(Formel 1) der Männer
Geld zugänglich sein.
PICTURE ALLIANCE DPA

Magische Momente
„Keine weichen Typen“
Olaf Thon, 50, Schalke-Idol und Fußballweltmeister, über den Uefa-Cup-Gewinn 1997

SPIEGEL: Die Spiele in der ganz spezielle Gabe. Ingo er als Schütze nicht vorge- ich morgens um halb fünf
Europa League gegen Ajax Anderbrügge hatte den bes- sehen war – und zwei Meter zu meinen Schwiegereltern,
Amsterdam wecken bei ten Schuss, Marc Wilmots neben das Tor schoss. die auf unsere Töchter
Schalke 04 Erinnerungen an und Mike Büskens waren die SPIEGEL: Wie wurde nach aufgepasst hatten, wir brach-
den Triumph im Uefa-Cup besten Fighter, Yves Eigen- dem Triumph von Mailand ten Brötchen mit. Dann
vor 20 Jahren. Welchen Stel- rauch war der Schnellste, gefeiert? haben wir die Kleine in den
lenwert hat er für Sie? Jens Lehmann der beste Tor- Thon: Wir flogen nachts Kindergarten gebracht, die
Thon: Dieser Siegeszug der so- wart von allen. Und alles noch zurück nach Köln. Von Größere in die Schule und
genannten Eurofighter hat keine weichen Typen. dort fuhren meine Frau und uns kurz schlafen gelegt.
Schalke 04 wieder salonfähig SPIEGEL: Sie waren der Kapi- Und schon ging es
gemacht. Es waren ja die tän und eine Art Libero weiter mit dem
ersten internationalen Spiele vor der Abwehr. Heute sind Eintrag ins Goldene
nach 19 Jahren. In meiner Sie Leiter der Abteilung Buch der Stadt Gel-
Karriere war es die tollste Sai- Traditionself bei Schalke 04 senkirchen.
sonleistung einer Mannschaft. und TV-Experte bei Sport 1. SPIEGEL: Auf den
Die Weltmeisterschaft 1990 Wie würden Sie Ihre damali- Fotos von der Eh-
war mein wichtigster Erfolg, ge Rolle beschreiben? rung in Mailand
DANIEL DAL ZENNARO / ANSA / PICTURE ALLIANCE

das 6:6 als 18-Jähriger gegen Thon: In einem Team mit sieht man Sie mit ei-
Bayern München im Pokal starken Charakteren musste nem viel zu großen
mein größtes Spiel. Aber 1997 ich ausgleichend sein und Siegershirt.
war etwas ganz Spezielles. dämpfend wirken. Wie ein Thon: Ich mochte im-
SPIEGEL: Weil es ein Triumph Meniskus, habe ich früher mer schon lieber Sa-
der Leidenschaft war, mit gesagt, wenn es mal Span- chen, die zu groß
dem Außenseitersieg im Elf- nungen gab. Zum Beispiel sind. Aber haben Sie
meterschießen bei Inter Mai- als unser Abwehrmann gesehen, wie ich den
land als Höhepunkt? Johan de Kock im Halbfinale riesigen, sperrigen
Thon: So schlecht waren wir bei CD Teneriffa einfach Pokal stemme? Mit
gar nicht. Jeder hatte eine zum Elfmeter antrat, obwohl Thon 1997 einer Hand. kra

DER SPIEGEL 16 / 2017 71


BULLS / BARCROFT MEDIA

Fußballprofi Ronaldo im Juni 2009 im Urlaub in Las Vegas

72 DER SPIEGEL 16 / 2017


Sport

Gefangene einer Nacht


Fußball Eine Amerikanerin geht in Las Vegas zur Polizei. Sie behauptet, von einem
Sportler vergewaltigt worden zu sein: Cristiano Ronaldo. Ob das wirklich
geschah, wird nie aufgeklärt. Rechtsanwälte regeln den Fall, der Real-Star zahlt.

G
ott sei immer an seiner Seite. Er aber wahr sein kann, muss sie erzählt wer- mehreren Juristen. Cristiano Ronaldo un-
könne das fühlen, sagt Cristiano den. Denn sie wirft ein Schlaglicht auf eine terzeichnete nicht persönlich. Für ihn
Ronaldo. „Da ist jemand, der mich Gesellschaft, in der sich manche Menschen zeichnete sein portugiesischer Anwalt
lenkt.“ offenbar fast alles leisten können. Sie be- Carlos Osório de Castro, der seit Jahren
Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, richtet von einem bislang unbekannten Teil das Rechtliche um den Fußballer herum
32, geboren in Funchal auf Madeira, ge- der großen Cristiano-Ronaldo-Story. Einer regelt.
tauft in der Kirche Santo António, geseg- Heldensaga, die düsterer zu sein scheint, Die Auseinandersetzung um die Vor-
net mit Talent. Der Weltfußballer von Real als viele seiner Fans denken. gänge in Appartement 57306 im Palms
Madrid bekreuzigt sich oft nach einem Es gibt noch ein weiteres Dokument, Place Hotel sollten mit diesem Schrift-
wichtigen Tor oder schickt mit einer Geste das sich mit dem, was in den frühen Mor- stück ausgelöscht, aus der Welt geschafft
Grüße in den Himmel. genstunden des 13. Juni 2009 in Apparte- werden. Was vom 12. auf den 13. Juni in
Eine Zeit lang trug er zum Zeichen sei- ment 57306 vorgefallen sein soll, beschäf- Las Vegas geschah, sollte für Cristiano
ner Gläubigkeit auch einen Rosenkranz tigt. Es handelt sich um ein „Settlement Ronaldo keine Rolle mehr spielen. Es soll-
um den Hals. Es gibt Fotos von Ronaldo, Memorialization“, eine außergerichtliche te die Nacht im Leben des berühmten Fuß-
auf denen die Gebetskette zu sehen ist. Sie Einigung zwischen Susan K. und Ronaldo. ballers sein, die es nie gegeben hat. Die
ist weiß. Die Farbe der Unschuld. Sie wurde Monate nach der Nacht in Las es nicht geben darf.
Der weiße Rosenkranz blieb auch einer Vegas ausgearbeitet. Es waren mindestens Es ist die Frage, ob es klug ist, dass Strei-
jungen Frau in Erinnerung, die Ronaldo neun Anwälte daran beteiligt. tigkeiten und Anschuldigungen dieses
am 12. Juni 2009 in Las Vegas getroffen Laut dieser Vereinbarung, die elf Klau- Ausmaßes nicht vor Gericht geklärt wer-
hat. Er machte dort Urlaub mit seinem seln enthält, verpflichtet sich Susan K., den. Kann es gut ausgehen, wenn die Jus-
Schwager und einem Cousin. Die Ameri- über das, was in dem Schlafzimmer pas- tiz übergangen wird und sich Beteiligte
kanerin war die Zufallsbekanntschaft einer siert ist, für immer zu schweigen. Sie ver- durch eine Geldzahlung aus der Affäre
langen Partynacht. Ein Flirt. Irgendwann pflichtet sich, alle Tatvorwürfe fallenzu- ziehen?
landeten die hübsche Frau und der be- lassen. Ronaldo muss ihr 375 000 Dollar In Deutschland müssen mutmaßliche
rühmte Kicker im Schlafzimmer einer bezahlen. Verbrechen, wenn sie einmal bei der
Suite im Palms Place Hotel. Polizei aktenkundig wurden, aufgeklärt
Laut einem Polizeiprotokoll soll es da
schon früh am Morgen gewesen sein.
Kann es gut ausgehen, werden. Zumindest haben die Behörden
es zu versuchen. Je weiter man sich von
Was in jener Nacht und in diesem Schlaf- wenn die Justiz übergan- diesem Grundsatz entfernt, desto stärker
zimmer geschehen sein soll, beschreibt Su-
san K. in einem Brief an Ronaldo, den sie
gen wird, sich Beteiligte werden Vorbehalte, dass die Wohlhaben-
den sich nicht nur Topanwälte leisten, son-
über ein Jahr nach der Begegnung verfass- aus der Affäre ziehen? dern auch Verfehlungen einfach wegver-
te. Er ist verstörend. Ein langer, gellender handeln können.
Aufschrei. In dem Dokument hat Susan K. das Kür- Der SPIEGEL hat versucht, mit Susan
K. behauptet darin, von Ronaldo verge- zel „Ms. P“, Ronaldo ist „Mr. D“. In Klau- K., ihrer Familie, mit ihren Freunden und
waltigt worden zu sein. Der weiße Rosen- sel Nummer acht heißt es: „Ms. P willigt mit ihrer Anwältin zu sprechen. Kaum je-
kranz, „the white rosary“, taucht ungefähr ein, Mr. D die Vornamen aller Personen mand wollte sich äußern, niemand will
in der Mitte des Briefes auf. „Du sprangst zur Verfügung zu stellen, denen sie vom sich zitieren lassen. Es gibt gute Gründe
von hinten auf mich“, schreibt Susan K., Vorwurf der Vergewaltigung erzählt hat dafür: die Angst vor Schlagzeilen. Dass al-
„mit einem weißen Rosenkranz um deinen und denen sie die Identität von Mr. D preis- les wieder aufbricht. Und natürlich das Ab-
Hals!!“ Es folgen zwei Fragesätze, die sie gegeben hat … Außerdem erklärt sie, dass kommen, das vor sieben Jahren getroffen
mit Ausrufezeichen beendet: es keine weiteren Personen gibt, denen sie wurde. Es wirkt wie eine Mauer.
„Was würde Gott darüber denken!!! von den Vorgängen erzählt hat.“ Susan K., deren Name geändert ist,
Was würde Gott über Dich denken!!!“ In Klausel Nummer elf heißt es: „Ms. P wohnt in Las Vegas in einer Apartment-
Der Brief von Susan K. an Ronaldo liegt wird versichern, dass sie sämtliche elek- anlage mit gesicherter Ein- und Ausfahrt.
dem SPIEGEL vor. Er gehört zu einer Do- tronischen und schriftlichen Aufzeich- Sie ist Mitte dreißig, arbeitet mit Kindern.
kumentensammlung, die das Enthüllungs- nungen, die infolge des angeblichen Vor- K. stammt aus der gehobenen Mittel-
portal Football Leaks dem Nachrichten- gangs entstanden sind, unwiderruflich schicht. Das Haus der Eltern liegt in einer
Magazin überlassen hat. Das Schreiben, zerstört hat.“ der besseren Gegenden von Las Vegas, ge-
fast sechs Seiten lang, ist eine wütende An- Wenn sie gegen die Vereinbarungen ver- pflegter Vorgarten, große Garage, weiter
klage. Aber entsprechen die Schilderungen stößt, muss sie das Geld zurückzahlen. Blick über die Stadt.
K.s auch der Wahrheit? Sollte Ronaldo aus einer Indiskretion Scha- Im Juni 2009 war K. verheiratet. Welche
Der Inhalt dieses Schreibens ist heikel, den entstehen, müsste sie auch dafür auf- Rolle ihr Ehemann, von dem sie inzwi-
er kann den Ruf eines Mannes beschädigen, kommen. schen geschieden ist, damals in ihrem Le-
der zu den größten Stars des Weltsports Die Vereinbarung wurde am 12. Januar ben spielte, ist unklar. Er wird in den Do-
gehört. Weil die Geschichte der Susan K. 2010 unterschrieben. Von Susan K., von kumenten und den zahlreichen E-Mails,
DER SPIEGEL 16 / 2017 73
ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL
Suite im Palms Place Hotel mit Blick über Las Vegas: Kingsize-Betten und Luxusbäder

die dem SPIEGEL vorliegen, an keiner Stel- studio nutzten Stars wie Whitney Houston, gelegt. Sie habe versucht, sich mit beiden
le erwähnt. Lady Gaga und Usher. Händen zu schützen. „Ich habe immer wie-
Als der SPIEGEL Ende März K. zunächst Das Appartement 57306, jenes, in dem der Nein, Nein, Nein, Nein geschrien und
telefonisch kontaktiert, mit ihr über den Ronaldo logierte, kostet heute rund 1000 Dich angefleht, aufzuhören. Ich hatte noch
Brief und die Vereinbarung mit Ronaldo Dollar die Nacht. Zur Ausstattung gehören nie so eine Angst in meinem Leben“,
sprechen will, zittert ihre Stimme. „Kein eine Küche, ein großes Wohnzimmer, zwei schreibt K. in dem Brief.
Kommentar, kein Kommentar“, sagt sie Schlafzimmer mit Kingsize-Betten und an- Als es vorbei war, soll sich Ronaldo noch
und legt auf. grenzenden Luxusbädern. Der Clou ist ein an sie gewandt haben. Er sei zu 99 Prozent
Ein paar Tage später, bei einer Begeg- Jacuzzi auf dem Balkon, von dem aus man kein schlechter Kerl, soll er gesagt haben,
nung vor ihrem Wohnhaus, rennt K. fast über die Skyline der Stadt blicken kann. das eine Prozent könne er sich nicht er-
panisch davon. Ronaldo bewohnte die glamouröse Suite klären. So schreibt es K. in ihrem Brief.
In der Vereinbarung mit Ronaldo ist in für mehrere Tage. Es war der Sommer, in Ronaldos Anwalt weist den Vorwurf ei-
Klausel Nummer vier festgelegt, was sie dem er von Manchester United zu Real ner Vergewaltigung aufs Schärfste zurück.
zu tun hat, wenn sie von Dritten auf die Madrid wechselte, für die damalige Re- Es sei eine haltlose Unterstellung.
Vorgänge im Juni 2009 angesprochen wird. kordsumme von 94 Millionen Euro. Wer ist Cristiano Ronaldo?
Sie habe darauf „nichts zu erwidern“. Soll- Am Abend des 12. Juni, einem Freitag, Es gibt keinen zweiten prominenten
te man sie auf der Straße ansprechen, habe geht Ronaldo in Las Vegas mit seinen Be- Fußballer, der ein so klares Selbstbild von
sie „weiterzugehen“. gleitern aus. Sie feiern in einem nahe ge- sich zeichnet wie der Weltstar aus Portugal.
Es ist eine unsichtbare Regie, die ihr Le- legenen Nachtklub. In einem abgetrennten Wenn er nach Toren breitbeinig, mit em-
ben bestimmt. VIP-Bereich trifft Ronaldo Susan K. porgerecktem Kinn und funkelnden Augen
Das Palms Place Hotel liegt in Down- Den weiteren Verlauf der Partynacht vor dem jubelnden Publikum posiert, die
town Las Vegas, nur wenige Blocks vom schildert K. in dem Brief, den sie an Ro- Arme in die Hüften gestemmt, alle Mus-
Strip entfernt. Es hat 58 Stockwerke, ganz naldo geschrieben hat: Sie habe ihm ihre keln angespannt, dann ist das die Insze-
oben befinden sich vier Etagen mit edlen Nummer gegeben. Er habe sie später an- nierung eines Mannes, der sich als Über-
Penthäusern. Die Lobby dominieren Gold, gerufen und zu einer Feier eingeladen. Da- mensch fühlt. Perfekt, omnipotent, uner-
Marmor und Loungemöbel im Metallic- nach gingen sie in sein Penthouse. Als K. reicht. Gottähnlich.
Look. Aus den Luxuswagen, die vorfahren, mit einer Freundin dort ankam, sollen Ro- In ihrem Brief an Ronaldo schreibt Su-
steigen Gäste mit teuren Sonnenbrillen naldo und seine Freunde in den Jacuzzi san K.: „Ich wünschte, ich hätte der Welt
und Designerschuhen. gestiegen sein. Er habe ihr Badesachen an- erzählen können, wer Du wirklich bist.“
2009 war der Hotel- und Kasinokomplex geboten. Als sie sich umzog, sei er ihr ge- Die Welt kennt nur den Fußballer Ro-
des Palms die In-Adresse schlechthin in folgt. Sie hätten sich geküsst. Ronaldo, so naldo. Seine Tore, seine Dribblings, seine
Las Vegas. Michael Jackson hat hier ge- schreibt es K., sei das nicht genug gewesen. Selbstsucht. Man weiß, dass er bei Real
wohnt, die MTV Video Music Awards wur- Sie habe aber zu den anderen zurückge- Madrid fast 40 Millionen Euro im Jahr ver-
den hier verliehen, das hauseigene Ton- wollt. Er habe sie gepackt und aufs Bett dient. Dass er Kinder gern hat. Dass er

74 DER SPIEGEL 16 / 2017


Sport

seine Mutter verehrt. Man hat ihn wei- Sie hat ihre Version in dem Brief nie- Settlement zwischen K. und Ronaldo wie-
nend erlebt, als er voriges Jahr im Finale dergeschrieben. Der SPIEGEL hat Ronaldo derfindet.
bei der Europameisterschaft in Frankreich um eine Stellungnahme gebeten. Er lässt Im CAD-Report ist in der Rubrik „Type“
verletzt vom Platz musste. Man erlebte seinen Münchner Anwalt Johannes Kreile der Anlass des Anrufs verzeichnet: 426.
ihn erfüllt von Glückseligkeit, nachdem antworten. „Die Anschuldigungen, die Ihre Der Code für ein gemeldetes Sexualdelikt.
Portugal das Endspiel auch ohne ihn ge- Fragen nahelegen, sind aufs Schärfste als Der Polizist, der mit K. spricht, notiert,
wonnen hatte. unzutreffend zurückzuweisen“, schreibt dass die Anruferin aufgelöst sei, weine und
Ronaldo ist mehr als nur ein guter der Anwalt. Sein Mandant werde „gegen nicht den Namen des mutmaßlichen Täters
Kicker. Er ist das Idol einer Jugendgenera- jede unwahre Tatsachenbehauptung sowie angeben wolle. Es handle sich um eine „öf-
tion, die jede seiner Posen, jeden seiner gegen jede Verletzung seiner Persönlich- fentliche Figur“, einen „Athleten“. Der Be-
Tricks und jeden seiner Haarschnitte ko- keitsrechte vorgehen“. Der Anwalt fordert amte vermerkt, dass sich K. nicht gewa-
piert. Er ist eine Werbeikone. In Ronaldos den SPIEGEL auf, „eine Berichterstattung schen habe.
Heimat auf Madeira ist ein Flughafen nach zu dem Komplex zu unterlassen“. Um kurz nach halb drei fährt eine Strei-
ihm benannt, es gibt auch ein Ronaldo- In den Dokumenten, die der SPIEGEL fe bei K. vor. Die Polizisten melden sich
Museum auf der Insel. Davor steht eine ausgewertet hat, findet sich auch ein Ver- mehrfach per Funk in der Zentrale. Dort
überlebensgroße Statue des Idols. Sie zeigt merk, aus dem hervorgeht, wie sich der notiert ein Beamter, das mutmaßliche Op-
ihn in Fußballerhose – und mit absurd be- Fußballer möglicherweise gegenüber sei- fer wolle ins Krankenhaus, um sich einem
tonter Männlichkeit. nem Anwalt Osório de Castro über die „rape-kit“ zu unterziehen. Damit ist eine
Ronaldo ist ein Sexsymbol. Bei der Welt- spezielle Untersuchung von Opfern sexu-
fußballer-Gala im Januar in Zürich kreisch-
ten die weiblichen Fans auf, als er vorfuhr.
Noch am Tag des angeb- eller Gewalt gemeint, bei der Spuren ge-
sichert und Verletzungen fotografiert
Es gibt unzählige Fotoaufnahmen, die den lichen Übergriffs, werden.
Fußballer nur in Unterwäsche zeigen. Er
liebt seinen Körper, den er im Fitnessstu-
um 14.16 Uhr, meldet sich Um kurz vor 16 Uhr bringen die Polizis-
ten K. ins University Medical Center. Die
dio modelliert und für den er auch von Susan K. bei der Polizei. Fahrt dauert 26 Minuten. Um 17.15 Uhr
vielen Männern bewundert wird. wird im CAD-Report festgehalten, dass K.
Welche Rolle Frauen in seinem Leben Nacht in Las Vegas geäußert haben soll. nun doch vage Angaben zum mutmaß-
spielen, ist schwer zu sagen. Er hatte Be- Demnach habe Ronaldo Sex mit K. gehabt. lichen Tatort gemacht habe. Es handle sich
ziehungen, Affären. Derzeit ist Ronaldo Er sei anschließend zu Bett gegangen. Sie um ein Hotel „in der Nähe“ der Flamingo
liiert. Er hat einen sechsjährigen Sohn, sei zurück zum Jacuzzi gegangen. Es habe Road.
Cristiano junior. Die Mutter ist unbekannt. keine Anzeichen dafür gegeben, dass es Das Palms Place Hotel liegt an der Fla-
Der Kleine ist, so oft es geht, an seiner ihr nicht gut ginge. mingo Road.
Seite. War es einvernehmlicher Sex? Spielte Die Behandlung im University Medical
2005 wurde Ronaldo schon einmal von K. später ein falsches Spiel? Und zwar so Center kostete 2976,52 Dollar. Wofür ge-
einer Frau der Vergewaltigung beschuldigt. gut, dass Ronaldos Anwälte entschieden, nau, wird aus den Dokumenten, die der
Der damals 20-jährige Stürmer von Man- sie nicht vor Gericht zu bringen, sondern SPIEGEL eingesehen hat, nicht klar. In dem
chester United wurde von der Polizei be- zu zahlen? Brief an Ronaldo schreibt K., er habe ihr
fragt. Er bestritt die Vorwürfe. Anklage Fest steht, dass sich K. noch am Tag des in der Nacht Verletzungen am Rektum zu-
wurde nie erhoben. angeblichen Übergriffs, um 14.16 Uhr, bei gefügt.
Es kommt immer wieder vor, dass Pro- der Polizei meldete. Es gibt ein Protokoll, Es ist nicht bekannt, ob K. nach der Un-
minente Opfer einer Erpressung werden. das den Anruf beim Las Vegas Metropo- tersuchung im Krankenhaus Anzeige er-
Letztlich wissen nur Susan K. und Ronal- litan Police Department festhält. Es liegt stattet hat. Aus den Dokumenten geht her-
do, was sich in den frühen Morgenstunden dem SPIEGEL als Ausdruck vor. In dem vor, dass sie womöglich davon Abstand
in seinem Penthouse in Las Vegas zuge- sogenannten CAD-Report hat der Fall ein nahm, aus Angst vor den Konsequenzen.
tragen hat. Aktenzeichen, das sich später auch im Ein Prozess gegen einen Weltstar bedeutet

Ausriss aus der Vereinbarung zwischen Susan K. und Ronaldo: Für immer Schweigen

DER SPIEGEL 16 / 2017 75


GLOBALIMAGENS / IMAGO SPORT

Enthüllung der Ronaldo-Statue auf Madeira 2014: Absurd betonte Männlichkeit

Kamerateams vor der Tür. Es werden viele Es wird ein Katalog mit 274 Fragen an Die Fragen der Anwälte an Ronaldo dre-
Behauptungen aufgestellt, der Ausgang ist Ronaldo erstellt. Er soll sie mündlich, hen sich sehr oft um eine blonde Frau, die
ungewiss, die Schlagzeilen hallen ein Le- nicht schriftlich beantworten. Susan K. be- K. in jener Nacht, auch ins Appartement
ben lang nach. kommt in dem Manuskript das Kürzel 57306, begleitet hat. Sie ist eine wichtige
Vielleicht wollte K. sich und ihrer Fami- „Ms. C“. Zeugin. Der SPIEGEL kontaktierte sie
lie das nicht antun. Frage 60: „Wie waren die Umstände der ebenfalls, doch wie Susan K. hat sie Angst
Dennoch mochte K. die Sache offenbar ersten Begegnung mit Ms. C?“ zu reden.
nicht auf sich beruhen lassen. Sie nahm Frage 80: „Nahm Ms. C früher am Im Herbst 2009 beginnen erste Verhand-
sich eine Anwältin. Die Juristin Mary S., Abend Drogen?“ lungen über eine außergerichtliche Eini-
Name geändert, hatte damals eine kleine Frage 141: „Welcher Art war der erste gung. In den USA werden Fälle sexueller
Kanzlei in einem Bürokomplex im südli- körperliche Kontakt zwischen Ihnen und Gewalt oft durch sogenannte Settlements
chen Teil von Las Vegas. Das Gebäude ist Ms. C, nachdem Sie den Jacuzzi-Bereich beigelegt, bei denen sich Opfer und Täter
umgeben von Wohnhäusern und einem Al- verlassen hatten?“ einigen, ohne dass es zu einem Prozess
tersheim. Der Vorgang, den ihr die Man- Frage 152: „Kam es zu einer sexuellen kommt.
dantin schilderte, wird sie in den nächsten Penetration?“ Nach Mord ist Vergewaltigung im US-
Monaten an ihre Grenzen bringen. Frage 158: „Gab es irgendeine Rohheit Bundesstaat Nevada das schwerste Verbre-
Mitte Juli meldet sich S. bei einem An- in Ihrem sexuellen Verhalten?“ chen. Wird man verurteilt, droht lebens-
walt von Ronaldo in England. Sie vertrete Frage 163: „Hat Ms. C gerufen oder ge- lange Haft. Für eine Verurteilung muss die
einen Kläger in Las Vegas in einer Sache schrien?“ Schuld allerdings mit an Sicherheit gren-
gegen den Fußballer. Der Jurist leitet die Frage 165: „Hat Ms. C Wörter wie ‚stopp‘ zender Wahrscheinlichkeit feststehen – und
Mail weiter an den Ronaldo-Anwalt Carlos oder ‚nein‘ oder ‚nicht‘ oder Ähnliches das ist gerade bei Sexualdelikten schwierig.
Osório de Castro in Portugal. gesagt?“ Oft steht Aussage gegen Aussage.
„Um was könnte es hier gehen?“ Es folgt eine fett gedruckte Notiz der Viele Opfer entscheiden sich dafür, statt
Osório antwortet: „No idea.“ Anwälte. „Ms. Cs Anwältin erzählte uns, eines Strafverfahrens ein Zivilverfahren
Ende Juli ist klar, dass es sich um etwas dass ihre Klientin gesagt habe, Sie hätten anzustrengen. Dabei geht es nicht darum,
Brisantes handelt. Inzwischen sind mehrere sich nach dem Sex vielmals bei ihr ent- den mutmaßlichen Täter zu verurteilen,
Anwälte mit dem Fall befasst, darunter einer schuldigt.“ sondern das Opfer finanziell so zu entschä-
aus Kalifornien, der schon viele Prominente Frage 190: „Haben Sie sich bei ihr ent- digen. Die Beweislast ist in so einem Pro-
vor Gericht vertreten hat. Die Anwälte Ro- schuldigt oder ihr gesagt, dass es Ihnen zess deutlich geringer. Es muss nur zu
naldos tauschen sich aus, wie am besten vor- leidtue, nachdem Sie Geschlechtsverkehr mehr als 50 Prozent wahrscheinlich sein,
zugehen sei. Einer schreibt in einer Mail, hatten?“ dass der mutmaßliche Täter die Tat began-
man müsse die Suite im Palms Place Hotel Frage 270: „In welcher körperlichen und gen hat.
in Augenschein nehmen, um sich ein Bild mentalen Verfassung verließ Ms. C das Ein Zivilverfahren hat aber auch Nach-
vom vermeintlichen Tatort zu machen. Hotelzimmer?“ teile. Zwar kann das Opfer beantragen,
76 DER SPIEGEL 16 / 2017
Sport

Endlich einmal gute


dass der Fall unter Pseudonym verhandelt
wird, dennoch ist er öffentlich, und natür-
lich gibt es dann keine Sicherheit, dass die
Nachrichten:
Anonymität gewahrt bleibt.
Gerade deshalb entscheiden sich viele
Opfer dafür, den Fall außergerichtlich zu
klären, zum Beispiel im Rahmen einer Me-
diation, bei der eine neutrale Person ver-
WARUM ES DER
mittelt. Am Ende steht eine Vergleichsver-
einbarung, ein Settlement.
Ein solches Prozedere kann vorteilhaft
sein, für beide Seiten. So können die Iden-
WELT
titäten mutmaßlicher Täter und Opfer ge-
schützt werden. Das Ganze währt nicht so
IMMER BESSER
lang wie ein Prozess. Die belastenden De-
tails der Vergewaltigung müssen nicht
zwingend vorgetragen werden.
Im Fall K. versus Ronaldo dauert es lan-
ge, bis es zu einem Mediationstermin
GEHT
kommt. Im Dezember 2009 wird Osório
de Castro darüber informiert, dass Susan
K. plane, sich mit einem Polizisten zu tref-
fen – und dieser Ermittler wolle auch ihre
Freundin, die Zeugin, sprechen.
Osório de Castro drängt seine US-Kol-
legen: „Die Uhr tickt, wir müssen entschei-
den, wie wir weiter vorgehen. Und wir
müssen uns auf eine Schlacht vorbereiten,
so oder so.“
Am 12. Januar 2010 kommt es zu einem
Treffen der Parteien. Auch der Mediator
ist anwesend. Ronaldo nicht. Susan K. soll
darüber bestürzt gewesen sein.
Nach „einem langen Verhandlungstag“,
wie einer der Juristen später notiert, eini-
gen sich die Parteien dann auf das Settle-
ment. Die Summe, die Ronaldo an K. be-

Susan K. schreibt: „Ich


mache mir nichts aus
Deinem Geld. Ich wollte
Gerechtigkeit.“ 128 Seiten mit Abbildungen
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zahlen soll, wird in der Settlement Memo-
rialization eingetragen: 375 000 Dollar. So
viel verdiente Ronaldo damals bei Real
Madrid in einer Woche.
Bis in die Sommermonate hinein verfei- Sterben heute mehr Menschen durch Terror und Krankheiten
nern die Anwälte die Einigung, sie feil- als früher? Stürzen mehr Flugzeuge ab? Steigt die Kriminalität,
schen um Absätze, Klauseln und Formu- oder sinkt sie? Und müssen wir wirklich immer mehr arbeiten?
lierungen. Es geht zum Beispiel darum,
wie sich K. in ihrer Therapie zu verhalten Unser Gefühl sagt oft, dass die Welt sich zum Schlechteren verändert,
habe. Die Ronaldo-Anwälte drängen da- doch dabei übersehen wir, dass vieles seit langem immer besser wird.
rauf, dass sie nicht an Gruppensitzungen SPIEGEL-Autor Guido Mingels zeigt anhand von 52 Grafiken,
teilnehmen und ihrem Therapeuten nicht
den Namen Ronaldos offenbaren dürfe. dass wir allen Grund haben, optimistisch zu sein. Denn früher war
Nicht einmal schimpfen, so fordern es die tatsächlich alles schlechter.
US-Anwälte, dürfe K. über Ronaldo. Und
sie solle auch nicht im Kreis ihrer Familie
über ihn sprechen. „Dem Ärger Luft zu
machen und zu lästern“, schreibt einer der
Anwälte in einer Mail, würde eine schwer
zu kontrollierende Stimmung erzeugen.
Ronaldos Truppe ist darauf bedacht,
jede Möglichkeit des Geheimnisverrats aus-
DER SPIEGEL 16 / 2017 77 www.dva.de
DER SPIEGEL digital: zuschließen. So geht es zum Beispiel auch

Probemonat gratis! um die Frage, wie K. die Einigungssumme


versteuern könnte. Falls sie es nämlich
nicht tun würde, fürchten die Juristen,
könnte sich die US-Steuerbehörde für die
Geldsumme auf ihrem Konto interessieren,
und K. müsste erklären, wofür sie das Geld
erhalten habe.
Ronaldos Anwälte diskutieren, die
375 000 Dollar über eine Firma fließen zu
lassen, die normalerweise die Werberechte
für Ronaldo verkauft: Multisports & Image
Management, registriert in der europäi-
schen Steueroase Irland.
Am 31. Juli gibt Osório de Castro schließ-
lich grünes Licht zu der Einigung, die von
den US-Anwälten ausgehandelt wurde.
Der Fall Las Vegas war für Cristiano Ro-
Inklusive naldo damit erledigt. Er startete mit Real
E-Books in die nächste Fußballsaison.
Der SPIEGEL hat Osório de Castro um
Stellungnahme gebeten. Er antwortete, es
sei Geschäftspolitik seiner Kanzlei, keine
Angelegenheit seiner Klienten öffentlich
zu kommentieren – und man solle keine
Rückschlüsse daraus ziehen, dass man je-
den Kommentar ablehne.
Was kostet die Wahrheit? Welchen Preis
hat eine Lüge?
Der Brief, den Susan K. an Ronaldo ver-
fasst hat, ist ebenfalls ein Bestandteil der
außergerichtlichen Einigung. In Klausel 10
heißt es, das Schreiben müsse Ronaldo von
seinem Anwalt Osório de Castro vorgele-
sen werden.
Susan K. schreibt: „Ich mache mir nichts
aus Deinem Geld. Ich wollte Gerechtigkeit.
Aber da ist keine Gerechtigkeit in dieser
Sache.“ Sie erwähnt „Medical Records“,
ärztliche Unterlagen, in denen die Verlet-
zungen aufgeführt seien, die ihr Ronaldo
Die Vorteile: zugefügt haben soll.
Die Geschichte der Susan K. ist die einer
Noch vor Erscheinen der Print- Mit vielen multimedialen Inhalten traumatisierten Frau. Sie schreibt: „Ich bin
Ausgabe. Schon ab freitags 18 Uhr. und zusätzlicher Visual Story. nicht mehr die Person, die ich mal war.“
Wäre es nicht besser gewesen, die An-
gelegenheit zwischen ihnen von einem Ge-
Ausgaben auch offline lesen Exklusiv: Mit der SPIEGEL-ID jede richt klären zu lassen?
oder als PDF speichern. Ausgabe auf bis zu 5 Geräten lesen. Für den Rechtsstaat, weil solche Verein-
barungen Zweifel nähren?
Für Ronaldo, weil der Verdacht einer
Vergewaltigung für immer an ihm kleben
bleiben könnte?
Und für das Seelenleben der Susan K.?
Ihr Brief an Ronaldo endet mit einem PS.

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Sie bedauere es, sich auf die Einigung ein-
gelassen zu haben, schreibt sie in gefetteten
Buchstaben: „Heute würde ich meine Ent-
scheidung zurücknehmen!! Es ist ein Jahr
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Die letzten beiden Sätze klingen wie
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78 DER SPIEGEL 16 / 2017


Sport

Eskapaden in
ser Affäre, deren Spur damit bis hoch ins soll, wie der Rest der Ladung, ans Sport-
DFB-Präsidium reicht. hotel Kamen-Kaiserau gegangen sein.
Jetzt kommt heraus: Die Belästigungs- CJN ließ ausrichten, er „habe zu keinem

Kaiserau
vorwürfe waren nur der halbe Skandal. Zeitpunkt Weine aus Lieferungen des Ver-
Der Mann, dem der DFB die Prüfung sei- bandes unentgeltlich zu privaten Zwecken
ner Fördermittelvergabe an die Landesver- verwendet“.
bände übertrug, soll den FLVW als Selbst- Wie CJN in seiner 13-jährigen Amtszeit
Affären Neue Vorwürfe gegen bedienungsladen genutzt haben. zum König von Kaiserau wurde, zeigt auch
Diesen Verdacht legt ein Bericht nahe, das Facility-Management der Immobilien
den Exdirektor des westfälischen den die Unternehmensberatung audalis des Verbandes. Dies liegt seit 2007 in den
Fußballverbands. Prüfer gehen Ende November vorgelegt hat. Anschlie- Händen der DN Haus- und Grundstücks-
ßend flöhten Verbandsfunktionäre die Ak- verwaltung. Und die gehört der Ehefrau
Hinweisen auf Bereicherung und ten und wurden offenbar fündig. Seit An- von CJN. Wer der Direktorengattin den
Vetternwirtschaft nach. fang April sind Wirtschaftsprüfer und Job, der zuvor von einem Mitarbeiter des
Rechtsanwälte mit einer Unterschlagungs- Verbandes miterledigt worden war, zuge-

N
ach zehn Minuten war alles vorbei. prüfung beauftragt, die sich „mit den Ak- schanzt hat, weiß heute im Verband an-
Mitarbeiterversammlung des Fuß- tivitäten von Herrn J. auseinandersetzt“. geblich keiner mehr. „Die näheren Um-
ball- und Leichtathletik-Verbandes Dabei geht es auch um die Frage, ob „Er- stände des Vertragsabschlusses“ seien
Westfalen (FLVW) am vergangenen Mon- kenntnisse mit strafrechtlicher Relevanz“ „nicht bekannt“. CJN behauptet, er habe
tag: Von 11.30 bis 11.40 Uhr leierte Vize- vorliegen, wie die FLVW-Führung dem an seine Frau keine Aufträge vergeben.
präsident Manfred Schnieders – sichtlich SPIEGEL bestätigte. Unstrittig ist, dass seine Gattin 2016 zur
verkrampft – herunter, was der Verband Schon in der ersten „Strukturprüfung“ Geschäftsführerin der FLVW-Service
schon tags zuvor auf der Website vermel- hatten die Revisoren eine Reihe von Ver- GmbH avancierte – einer Tochterfirma des
det hatte: dass FLVW-Präsident Gundolf dachtsmomenten gegen CJN aufgelistet. Verbands, die Sponsorengelder einwerben
Walaschewski sein Amt ruhen lasse und Darunter: mögliche Zahlungen von privat und Events organisieren sollte. Was die ge-
man von nun an „keine Verletzung der verursachten Rechnungen durch den Ver- lernte Bauzeichnerin für diesen Job quali-
Würde unserer Mitarbeiterinnen und Mit- fizierte, bleibt das Geheimnis des Exdirek-
arbeiter dulden“ werde. Eigentlich eine tors und seiner Verbandsvasallen. Für den
Selbstverständlichkeit, die im Verband FLVW war „die Beschäftigung von Frau
über Jahre hinweg offenbar alles andere N. lediglich eine Übergangslösung“.
als selbstverständlich war. Laut Firmenprospekt machte die DN
Am Freitag vergangener Woche hatte Haus- und Grundstücksverwaltung ihre
der SPIEGEL enthüllt, dass Carsten J., Geschäfte nahezu ausschließlich mit dem
der ehemalige Direktor der Sportschule FLVW. Nur zwei Projekte auf der Refe-
Kaiserau, Mitarbeiterinnen über Jahre renzliste des Unternehmens haben nichts
sexuell belästigt, genötigt und gedemütigt mit dem Verband zu tun, sondern mit Be-
BERND THISSEN / DER SPIEGEL

haben soll – gestützt und geschützt durch hinderteneinrichtungen in Gütersloh. De-


eine Männerkameradschaft, die bis in ren langjähriger Geschäftsführer zählt zu
die Spitze des Deutschen Fußball-Bundes den treuesten Förderern von CJN: Her-
reicht. mann Korfmacher.
Hermann Korfmacher, bis 2016 Präsi- Von 2007 bis 2013 war er als Vizepräsi-
dent des FLVW, soll frühe Hilferufe von dent des DFB zuständig für Amateure. An
Opfern ignoriert haben, was er bestreitet. Sportschule Kaiserau in Kamen der Spitze des FLVW stand er bis zum
Sein Nachfolger Walaschewski reagierte Als Selbstbedienungsladen genutzt? Sommer 2016 – und in Treue fest zu CJN.
erst, als eine der Frauen mit anwaltlicher Noch im März machte er sich für seinen
Hilfe gegen den Verband vorging – und band, Auftragsvergaben an Firmen, die Schützling beim Bayerischen Fußball-Ver-
verabschiedete seinen Männerfreund mit von Freunden oder Verwandten geführt band (BFV) stark. Dort hatte sich CJN auf
einem goldenen Handschlag, anstatt ihn wurden, und Umgehung von Genehmi- die Stelle des Geschäftsführers der Sport-
fristlos zu feuern. 120 000 Euro Abfindung gungsverfahren durch Rechnungssplitting. schule Oberhaching beworben. Als BFV-
soll der Verbandspräsident seinem Kumpel Allzu tief müssen die Prüfer allem An- Funktionäre bei Korfmacher und Walasche-
Carsten J., genannt CJN, per Auflösungs- schein nach nicht graben. Die Eskapaden ski nach den „Gründen des Ausscheidens“
vertrag zugeschustert haben. Wofür, ist des Direktors waren in Kaiserau ein belieb- von CJN in Kaiserau fragten, sahen beide
eine Frage, die im Westfalen-Verband un- tes Thema – wie die Geschichte von der Irr- „keine Hindernisse, dass er für andere Ar-
beantwortet ist und bleibt. fahrt eines Lieferanten. Sie begann mit ei- beitgeber nicht unbelastet beginnen könne“.
Schließlich hatte Walaschewski selbst nem Anruf in der Küche des Sporthotels. Gemeinsam mit den Kollegen des Baye-
bereits im Oktober 2016 im Präsidium von Am anderen Ende der Leitung: Der Fahrer rischen Landes-Sportverbandes votierten
„schwerwiegenden Gründen“ gesprochen, eines Lkw der Großhandelskette Metro frag- sie einstimmig für CJN als Chef in Ober-
wegen derer man sich von CJN trennen te verwirrt, wie er denn an der Baustelle haching. Nach den SPIEGEL-Enthüllungen
müsse. Wenig später informierte er am vorbeikommen solle, vor der er stehe. am vorigen Wochenende hat sich der Wind
Rande eines Länderspiels in Hamburg „Welche Baustelle?“, fragte der Mann in gedreht. Eine Beschäftigung von CJN „als
DFB-Präsident Reinhard Grindel über die der Küche. „Ich sehe hier weit und breit Geschäftsführer der Sportschule Oberha-
wahren Gründe des Ausscheidens von keine.“ Antwort: „Na, die hier, im H…weg.“ ching“ komme „nicht in Betracht“. Unab-
CJN. Warum also eine Abfindung? Falsche Adresse? Mitnichten. Zwar liegt hängig davon, ob die Vorwürfe zuträfen
Dass der mutmaßliche Grapscher von die Sportschule einen Kilometer entfernt, oder nicht, „halten beide Verbände einen
Kaiserau kurz danach in einem wichtigen aber im H…weg steht das Privathaus von unbelasteten Start nicht für möglich“, wie
DFB-Projekt unterkam, der Sportschule CJN, wohin der Metro-Mann diverse Wein- ein BFV-Sprecher mitteilte.
Oberhaching, ist ein weiteres Rätsel in die- kisten offenbar gekarrt hat. Die Rechnung Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt

DER SPIEGEL 16 / 2017 79


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Ausland
Burkina Faso besetzten die Islamisten fast
Neues Terrorziel die Hälfte des Landes, nur
eine französische Eingreif-
Das westafrikanische Land truppe konnte sie aus den
galt bisher eher als Stabilitäts- Städten Timbuktu, Kidal und
anker in der unruhigen Sahel- Gao vertreiben. Doch aus
zone. Doch zuletzt häuften dem Untergrund heraus stif-
sich in Burkina Faso die Ter- ten die Terroristen nun im
Trumps Woche roranschläge. Seit April 2015
kam es zu mehr als 20 isla-
Nachbarland Unfrieden. Iyad
Ag Ghali, einer ihrer berüch-
Syrien, China, Nordkorea – mistischen Angriffen mit tigten Anführer, ließ unlängst
Donald Trump merkte plötz- rund 70 Toten, verantwort- verlauten, seine Organisation
lich, dass das Leben als mäch- lich sind Ableger von al-Qai- konzentriere sich künftig auf
tigster Mann der Welt ziem- da im Maghreb. Die Terror- Burkina Faso. Das Land soll
lich anstrengend ist. Vor al- organisation hatte schon 2012 destabilisiert werden – mit
lem, wenn man sich um alles das benachbarte Mali ins dem Ziel, daraus ein zweites
selbst kümmern muss. Denn Chaos gestürzt. Zeitweise Mali zu machen. jpu
531 der 553 wichtigsten Re-
gierungspositionen sind noch
immer unbesetzt, für die
meisten gibt es nicht mal Iran 2016 zum Verwalter des Hei-
einen Kandidaten. Da war es Konkurrenz für ligtums in der Pilgerstadt
eine schöne Belohnung, dass Maschhad ernannte, wurde
am Montag wenigstens sein Präsident Rohani über einen weiteren Aufstieg
Kandidat für den Obersten Bis vor Kurzem konnte Irans Raisis spekuliert. Sogar als
Gerichtshof vereidigt wurde. Präsident Hassan Rohani hof- möglicher Erbe Khameneis
Immer noch bester Laune fen, am 19. Mai wiederge- wird er gehandelt.
griff Trump am Dienstag zum wählt zu werden. Schließlich Diese Kalkulation gefähr-
Telefon und gab mehrere In- hatte er nicht nur den Atom- det nun aber ausgerechnet ei-
terviews. Die „New York konflikt mit dem Westen ge- ner, der dem Revolutionsfüh-
Post“ beschrieb ihn als löst, sondern auch die Infla- rer früher öffentlich die Hand
„freundlich, fokussiert und tion eingedämmt. Der erhoff- küsste, bis er wegen seiner
voller Energie“. Der Angriff te Aufschwung blieb jedoch Eigenwilligkeit in Ungnade
mit den 59 Tomahawks sei aus, ebenso wie die von fiel: Expräsident Mahmoud
ein „Akt der Humanität“ ge- Rohani versprochene ge- Ahmadinedschad hat sich am
wesen, sagte er. Mit Russland sellschaftliche Öffnung. Vor Mittwoch ebenfalls als Kandi-
sei er nicht mehr so „auf ei- allem scheint Rohani aber dat für die Wahl registriert.
ner Wellenlänge“, mit Chinas das Vertrauen von Ajatollah Unklar ist, ob er nur provo-
Staatschef Xi Jinping dafür Ali Khamenei verloren zu zieren oder tatsächlich das
umso mehr. „Die Chemie haben. konservative Lager spalten
zwischen uns war nicht ein- Der Revolutionsführer will. Der Wächterrat könnte
fach nur gut, sondern groß- setzt nun offenbar auf den allerdings Ahmadinedschads
artig. Ich mochte ihn, und er hohen Geistlichen Ebrahim Kandidatur noch verhindern.
mochte mich sehr.“ Nachdem Raisi, der am Wochenende Damit würden sich Raisis

6-mal
er am Mittwoch den Nato-Ge- seine Kandidatur erklärte. Chancen als Rohanis Nachfol- Fußnote
neralsekretär getroffen hatte, Bereits als Khamenei ihn ger erhöhen. dbe
fand er dann auch, die Nato
sei „nicht länger obsolet“.
Man könnte fast von einer
Woche der Vernunft reden, mehr Menschen sterben
hätte nicht Pressesprecher in Indien an den
Sean Spicer gesagt, dass As- Folgen der Liebe als durch
sad schlimmer sei als Hitler, Terror. Zwischen 2001
der ja keine Chemiewaffen und 2015 wurden 38 585
eingesetzt habe. Das verur- Menschen getötet, meist
sachte ziemlichen Wirbel. weil sie sich in einen
Der Skandal der Woche ging Mann oder eine Frau einer
da unter: Nämlich dass Carter anderen Kaste verliebt
Page, Trumps Berater im hatten. Hinzu kommen
Wahlkampf, vom FBI abge- fast 80 000 Inder, die aus
hört wurde, das ihn verdäch- ähnlichen Gründen
EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL

tigte, ein russischer Agent zu Suizid begangen haben.


POLARIS / LAIF

sein. Wie gut für Trump, dass Im selben Zeitraum fielen


Wladimir Putin gerade nicht 20 000 Zivilisten und
sein bester Freund ist. Das Sicherheitskräfte
sähe irgendwie komisch aus. Politiker Ahmadinedschad bei der Anmeldung als Kandidat Anschlägen zum Opfer.

82 DER SPIEGEL 16 / 2017


Zum Geburtstag Hass
Mit blanker Waffe, wenn auch nur einer Attrappe, zieht dieser Demonstrant
durch die Straßen von Pretoria, der Hauptstadt Südafrikas. Die Wut auf
Präsident Jacob Zuma ist groß, sogar zu seinem 75. Geburtstag am Mittwoch
forderten Zehntausende bei Protesten seinen Rücktritt. Zuma werden
Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen; seine Partei, der von Nelson
Mandela gegründete Afrikanische Nationalkongress, ist tief zerstritten.

MARCO LONGARI / AFP


Analyse

Strohfeuer des Widerstands


Können die Demonstranten in Budapest Viktor Orbán gefährlich werden?
Der Widerstand gegen Premier Viktor Orbán wird immer grö- gesetz lässt nun viele junge Ungarn um ihre Freiheit fürchten.
ßer. Am Sonntag gingen bis zu 80 000 Demonstranten in der Ist Orbáns Macht also gefährdet? Wahrscheinlicher ist, dass
Hauptstadt auf die Straße, am Mittwoch kamen noch einmal die Proteste am Ende nur ein Strohfeuer sind. Es handelt sich
Zehntausende. Sogar Mitglieder von Orbáns nationalkonser- um eine außerparlamentarische Bewegung ohne Strukturen.
vativer Partei Fidesz sind darunter. Sie protestierten gegen Mit der erprobten Wahlkampfmaschine von Fidesz können es
eine Gesetzesänderung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die die Demonstranten nicht aufnehmen.
Schließung der Central European University in Budapest zur Auch die Opposition im Parlament wird nicht in der Lage
Folge hat. Orbán hält die von dem US-Milliardär George So- sein, Orbán bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr
ros gegründete und finanzierte Hochschule für das Zentrum wirklich gefährlich zu werden. Die größte Oppositionspartei
einer internationalen Verschwörung gegen seine Regierung. Jobbik ist rechtsradikal, die zweitgrößte Oppositionspartei,
Schon 2014 hatten die Ungarn erfolgreich gegen Orbáns Ver- die Sozialisten, Nachfolger der Kommunisten, gelten als kor-
such protestiert, eine Internetsteuer einzuführen. Auch schaff- rupt, elitär und kaum glaubwürdig. Die kleineren Parteien
ten es Bürgerinitiativen unlängst, die eitlen Olympiapläne des sind zerstritten. Bei den Protesten auf der Straße spielt keine
Regierungschefs per Unterschriftensammlung auszubremsen. von ihnen eine Rolle, auch schaffen sie es nicht, den Wider-
Dagegen hat seine rigide Ausländerpolitik noch keine Protes- stand ins Parlament zu tragen. Viktor Orbán dürfte noch län-
te dieser Größenordnung ausgelöst. Doch das neue Hochschul- ger regieren. Jan Puhl

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Ausland

G
rob ins Deutsche übersetzt, fühlt tum der Briten und vor der Wahl Donald cher das Land im Kleinen und im Großen
sich Frankreichs politische Lage ge- Trumps in den USA. spalten wollen. Nicht nur, dass notwendige
rade so an: Frauke Petry liegt mit Während es wochenlang relativ stabile Reformen des Renten-, Sozial- und Steu-
der AfD eine Woche vor den Wahlen in Tendenzen für den Ausgang der ersten ersystems, anstehende Umbauten des Ar-
Umfragen als stärkste Kraft bei ungefähr Runde am 23. April gab, bei der sich elf beitsmarkts teils seit Jahrzehnten liegen
25 Prozent, dicht gefolgt von, sagen wir, Kandidaten bewerben, sind die Zahlen mit geblieben sind und dass das Bildungssys-
Jens Spahn, der die CDU verlassen und dem Näherrücken des Wahltags ins Rut- tem noch immer die Ideale des 19. Jahr-
einen eigenen Wahlverein gegründet hat. schen geraten. Es gibt keine klare Progno- hunderts fortschreibt.
Für die Linke erlebt Oskar Lafontaine ei- se mehr, auch nicht für den Ausgang der Nicht nur, dass ein Elitensystem an sein
nen späten Höhenflug und schiebt sich in zweiten Runde am 7. Mai, bei der die zwei Ende kommt, das für heutige und künftige
Umfragen glatt vor die CDU/CSU. bestplatzierten Bewerber aus Runde eins Herausforderungen nicht mehr geeignet
Die Union schickt, nachdem Angela Mer- zur Stichwahl antreten. scheint – es wirkt jetzt auch manchmal so,
kel auf eine Kandidatur verzichtet hat, nach Demoskopen rechnen vor, dass 40 Pro- als sei eine andere, grundlegende Sorge
einem spektakulären Mitgliederentscheid zent der Stimmberechtigten noch immer noch vordringlicher: nämlich die, ob der
nicht Wolfgang Schäuble, sondern völlig unentschieden sind, weshalb für den Mo- Politikbetrieb in Frankreich überhaupt
überraschend Christian Wulff ins Rennen, ment alle möglichen Konstellationen wahr- noch in der Lage ist, die ihm übertragenen
der allerdings bald in einen Strudel aus Af- scheinlich und selbst Albträume nicht aus- Aufgaben zu erledigen.
fären gerät, mit Frau und Kindern tagelang zuschließen sind: Wird es zu einem Duell Das ist eine bange Frage, wie sie sich in
von der Justiz verhört und angeklagt wird, zwischen dem Linksradikalen Jean-Luc hoch entwickelten Demokratien bis vor
aber trotzdem Kandidat bleibt. Und die Mélenchon und der Rechtsextremen Marine Kurzem kaum je gestellt hat. Aber sie geht
SPD? Holt, wenn sie Glück hat, jetzt um, ausgerechnet in den
vielleicht neun Prozent. großen, alten Demokratien, in

Außer Atem
Was nach einer wilden Paro- Großbritannien, in den USA,
die klingt, ist in Frankreich im und nun ist Frankreich an der
April 2017 aufregende Gegen- Reihe. Dort wird in Leitartikeln
wart: Die handelnden Figuren und Talkshows darüber disku-
heißen natürlich nicht Petry tiert, ob sich die Institutionen
und Spahn, sondern Marine Le des Landes durch die fortge-
Pen und Emmanuel Macron. setzte Unfähigkeit der Amts-
Sie heißen nicht Lafontaine,
Frankreich Eine Woche vor Beginn träger in eine vorrevolutionäre
sondern Jean-Luc Mélenchon, der Präsidentschaftswahlen wird Lage manövriert haben. Ob
nicht Merkel, sondern François das, was heute noch Staat heißt,
Hollande, nicht Schäuble, son-
das Land von einer Systemkrise schon an die Welt der Könige
dern Alain Juppé, nicht Wulff, beherrscht. Es ist nicht erinnert, an das morsche An-
sondern François Fillon. cien Régime kurz vor der Fran-
Die Vergleiche mögen alle
mehr auszuschließen, dass zösischen Revolution.
ein wenig hinken, aber das Ge- ein linksradikaler Europafeind oder Das mag überzogen sein,
dankenspiel veranschaulicht aber klar ist, dass das französi-
die Dramatik der Lage, es un- eine Rechtspopulistin in sche Wahlvolk seiner politi-
terstreicht, dass in Frankreich den Élysée einzieht. schen Klasse nichts mehr zu-
dieser Tage der Totalschaden traut. Dass an die Stelle einer
der etablierten Politik verhan- Von Ullrich Fichtner und vorsichtigen Kompetenzvermu-
delt wird. Julia Amalia Heyer tung der Verdacht allgemeiner
Die sogenannten Volkspartei- Inkompetenz getreten ist.
en, die auch jenseits des Rheins Es herrscht auch ein beunru-
das jahrzehntelang gültige Links- higend grundsätzlicher Zweifel
rechts-Schema nach ihrem Geschmack möb- Le Pen kommen? Machen beide die Präsi- an der moralischen Integrität gewählter
lieren durften, stehen ausgelaugt im 21. Jahr- dentschaft unter sich aus? Zwei Politiker, oder vom Staat bestellter Repräsentanten.
hundert herum. Populisten von rechts au- die die europäische Einigung für eine Plage Es wirkt nun manchmal so, als läge die
ßen wie von links außen erhalten Zulauf, halten? Die beide in Deutschland eine Ge- Politikverdrossenheit bereits hinter vielen
weil sie der Gesellschaft die Illusionen kol- fahr sehen? Deren Programme wie weih- Franzosen, als wären sie angekommen in
lektiven Aussteigertums anbieten: raus aus nachtliche Wunschlisten wirken? einer neuen Welt des Politikekels. Das Be-
Europa, raus aus der Nato, raus aus der Glo- Und: Wie ist es überhaupt möglich, dass kenntnis zum Nichtwählertum und die be-
balisierung, raus aus „dem System“, gern sich solche Fragen ernsthaft stellen? Wie wusste Enthaltung sind tägliches Thema.
auch: raus mit den Ausländern. sind aus Extremisten Favoriten geworden, Dies alles gehört nicht zuletzt zur bitte-
Zählte man die Umfragewerte der Kan- aus Außenseitern Kandidaten? Wo sind ren Bilanz von fünf Jahren François Hol-
didaten zusammen, die derlei in unter- die Kräfte des Ausgleichs, der politischen lande und von fünf Jahren Nicolas Sarkozy
schiedlicher Kombination und Ausprägung Mitte? Wer Antworten sucht, tut gut daran, zuvor: Beide haben im Amt des Präsiden-
fordern, käme unter dem Strich wohl be- vom rasenden Karussell dieses Wahl- ten das Spiel mit den falschen Verspre-
reits eine gesellschaftliche Mehrheit dabei kampfs abzusteigen. chungen und enttäuschten Hoffnungen so
heraus, eine Große Koalition des vollen- Das vorherrschende Gefühl in Frank- weit getrieben, und beide haben im Priva-
deten Überdrusses. reich ist seit Längerem das einer tief grei- ten wie im Öffentlichen moralisch derart
So wird aus den Präsidentschaftswahlen fenden Krise. Nicht nur, dass sich die Ter- versagt, dass Frankreichs politisches Sys-
in Frankreich schon wieder ein neues End- rorgefahr wie ein feiner Nebel im Alltag tem als in seinen Grundfesten erschüttert
spiel um die politische Zukunft Europas. Frankreichs so breitgemacht hat wie kaum zu gelten hat.
Die Umfragewerte flackern dieser Tage irgendwo sonst in Europa, nicht nur, dass Es gibt bei dieser Wahl nicht zufällig
auf ähnliche Weise wie vor dem Brexit-Vo- muslimische und rechtsextreme Scharfma- gleich mehrere Kandidaten, die die Ab-
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Front-National-Kandidatin Le Pen: Es ist etwas faul im Staate Frankreich

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Ausland

schaffung der Republik in ihrer jetzigen Mélenchon ist ein roter Populist, ein ge- Angela Merkel ihren eigenen Mann zum
Form und eine neue Verfassung für Frank- übtes Großmaul, politisch nicht minder ge- Schein als ihren Parlamentsassistenten be-
reich fordern. Der Ruf wurde wieder laut, fährlich als Le Pen. Er eifert Vorbildern schäftigen könnte, um sich die dafür vor-
als vergangene Woche alle elf Kandidaten wie dem einstigen venezolanischen Revo- gesehene Vergütung in die eigene Tasche
in einer quälend langen und zerfahrenen lutionsführer Hugo Chávez nach und be- zu stecken, kommt einem völlig abwegig
Fernsehdebatte noch einmal vernommen wundert Russland noch immer, auch für vor, und doch besteht ein solcher Verdacht
wurden. Und wie stets war es der alte seine sowjetische Vergangenheit. Er kann gegen den ehemaligen Premierminister
Trotzkist Jean-Luc Mélenchon, der die For- Journalisten rüde beschimpfen und politi- Fillon.
derung nach einer neuen Republik am elo- sche Gegner übel beleidigen, sein jetziger Der langjährige Abgeordnete René Do-
quentesten vortrug und sagte, was er als Erfolg erklärt sich damit, dass er seit eini- sière, der sich einen Ruf als „Meister Pro-
guter Volkstribun immer sagt: dass er nur ger Zeit Kreide frisst, um seine Aggressi- per“ erwarb, weil er den Kampf gegen die
Präsident werden wolle, um das Amt des vität zu verstecken. Korruption im Parlament anführte, erzähl-
Präsidenten, diese ganze „Präsidialmonar- Man könnte über ihn den Kopf schüt- te jüngst in einem Interview von seiner
chie“ Frankreichs abzuschaffen. teln, wenn es nicht in Frankreich eine gro- Ankunft in der Nationalversammlung im
Die Fernsehdebatte war auch ansonsten ße Wählergruppe quer zu allen sozialen Jahr 1988. Damals, sagte Dosière, sei der
ein Jahrmarkt kruder, abseitiger und ex- Schichtungen gäbe, die sich mit linksradi- gesamte Bereich der Parteien- und Wahl-
tremer Ideen. Vor allem die chancenlosen kaler Rhetorik und kommunistischer Folk- kampffinanzierung völlig ungeregelt ge-
Kleinkandidaten suchten sich in ihrer lore immer wieder abholen lässt. Mélen- wesen. Dass sich Abgeordnete bereicher-
Europa- und/oder Kapitalismusskepsis ge- chon hat ein „Momentum“, seine Sprünge ten, indem sie zum Schein Leute bei sich
genseitig zu übertreffen. Es hagelte hane- in den Umfragen erinnern an Trumps spä- beschäftigten, habe zu den selbstverständ-
büchene Behauptungen, es kursierten exo- te Aufholjagd vor dem Wahltag in den lichen Praktiken gehört. Die Ministerien
tische Theorien, falsche Rechnungen, und USA. Der Linksradikale liegt in Sondie- hatten geheime Kassen, aus denen sie fi-
wenn alle an diesem Abend gegebenen rungen schon bei 18, 19 Prozent, jedenfalls nanzierten, was dem Minister in den Sinn
Wahlversprechen in Erfüllung gingen, vor dem Konservativen François Fillon, kam, und das gesamte Budget des Élysée-
dann arbeiteten die Franzosen bald gar und es wirkt so, als glaubten immer mehr Palasts sei noch zu Zeiten Jacques Chiracs
nicht mehr, hätten aber viel Urlaub, viel Wähler an die Möglichkeit seines Sieges „ein einziges schwarzes Loch“ gewesen.
Rente und überhaupt viel Geld vom Staat. und schlössen sich ihm an. Die erstaunli- Damit, sagte Dosière allerdings auch,
Nun ist es aber so: Frankreich ist che Stärke von einem wie Mélenchon sei mittlerweile Schluss. Die heutige Politik
Europas zweitgrößte Volkswirtschaft, ein nährt sich aus der erbärmlichen Schwäche sei auch in Frankreich einer rigiden Kon-
G-7-Staat, eine außenpolitische Weltmacht der alten Volksparteien. Sie haben in trolle unterworfen, und niemand habe
mit atomarer Bewaffnung, ein ständiges Frankreich den Kontakt zu Volk und Ge- mehr das Recht, von einem einzigen
Mitglied im Uno-Sicherheitsrat, und wenn Sumpf zu reden – nur ist das eben noch
so ein Land nicht mehr oder nur noch mit
Ach und Krach in der Lage ist, für die Wahl
Diese Wahlkampagne nicht ausreichend durchgedrungen. Wenn
heute ein neuer Skandal auftaucht – und
eines neuen Präsidenten ein seriöses Kan- ist ein Jahrmarkt es gibt immer wieder neue –, trifft die Wut
didatenfeld hervorzubringen, dann ist et-
was faul im Staate. Und die Folgen könn-
kruder, abseitiger und weiterhin den gesamten Politikbetrieb,
nicht den Einzelfall, und die Populisten
ten verheerend sein. extremer Ideen. jedweder Couleur haben leichtes Spiel,
Wenn sich bewahrheitet, was bislang den Vorfall für sich auszuschlachten.
alle Umfragen vorhergesagt haben, dann sellschaft verloren und auch den Willen Man muss aber kein Populist sein, um
darf die Rechtspopulistin Marine Le Pen zur Gestaltung. Das ist die Lage, seit Lan- sich über das Gebaren des konservativen
für die Stichwahl als gesetzt gelten. Käme gem schon. Kandidaten Fillon zu empören, der offen-
mit ihr, was seit ein paar Tagen denkbar Man hat letztlich die freie Auswahl, den kundig keinerlei Gespür für heutige ge-
geworden ist, auch noch Jean-Luc Mélen- Beginn eines Niedergangs zu datieren. In sellschaftliche Empfindlichkeiten besitzt.
chon in die zweite Runde, dann wäre es einem Abriss über die politische Dekadenz Die Frage nach geschenkten Anzügen be-
mit einem Donnerschlag ganz schnell vor- in Frankreich dürfte weder François Mit- antwortete er in einer Radiosendung mit
bei mit der Europäischen Union. Le Pen terrand fehlen, der dank der präsidialen der hochmütigen Gegenfrage: „Na und?“
will ohne Wenn und Aber raus aus der EU Machtfülle eine komplette Zweitfamilie Die Silhouette seines privaten Märchen-
und auch aus dem Euro; Mélenchon möch- vor der Welt versteckte, noch Valéry Gis- schlosses an der Sarthe kennt mittlerweile
te eine völlig neue Union, und für den Fall, card d’Estaing, der sich und seiner viel- jedes Kind in Frankreich. Dass er sich als
dass Brüssel und die Partner seine uner- köpfigen Familie eigens exklusive Schlaf- Opfer staatlicher Verfolgung inszeniert
füllbaren Forderungen nicht erfüllen, ver- kabinen in Air-France-Flugzeuge einbauen und die Institutionen des Landes, auch die
spricht er ebenfalls den „Frexit“. ließ. Die Anekdoten über derart höfisches Justiz, deren oberster Hüter er als Präsi-
Mit seiner ganz auf ihn zugeschnittenen und hochfahrendes Gebaren sind reich, dent wäre, nach Kräften in den Dreck zu
Bewegung „La France insoumise“ („Auf- und sie sind keineswegs nur historisch. ziehen sucht, ist ungeheuerlich.
sässiges Frankreich“) wirbt Mélenchon Der aktuelle Tumult um François Fillons Dass Fillon in Umfragen dennoch eine
für ein schuldenfinanziertes 100-Milliar- Lebensstil, zu dem ganz selbstverständlich gewisse Außenseiterchance wahrt, liegt an
den-Konjunkturprogramm, die Wiederver- gehört, dass sich Spitzenpolitiker wie er einem Profil, das er im Kandidatenreigen
staatlichung von Flughäfen und Autobah- Maßanzüge und Schweizer Uhren für Zehn- letztlich allein bedient. Konservative, ka-
nen und dergleichen. Er verspricht absurd tausende Euro schenken lassen, kommt tholische, bürgerliche Wählermilieus, die
hohe Mindestlöhne, unglaublich hohe letztlich aus der gleichen Wurzel wie die in Frankreich noch immer größer sind, als
Rentenansprüche und ebensolche Steuern, Verfehlungen der Altvorderen. man vermuten mag, haben bei Licht be-
genauer gesagt Enteignungen: Ab einer Frankreich hat erst spät, im Grunde erst trachtet keine gute Alternative zu Fillon.
Obergrenze von 400 000 Euro im Jahr wür- seit wenigen Jahren, eine rigorose Ethik Der Kandidat der „Republikaner“, beken-
de jeder zusätzlich verdiente Euro mit von seiner politischen Klasse eingefordert, nender Christ, mag ein übler Pharisäer sein,
90 Prozent besteuert, wenn es nach ihm wie sie in Deutschland schon seit Langem aber seine Kernaussagen, sein beinhart neo-
ginge. selbstverständlich ist. Die Vorstellung, dass liberales Wirtschaftsprogramm ziehen viele
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Unabhängiger Kandidat Macron: Es fehlt der eine, griffige Slogan

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Ausland

Wähler an. Hunderttausende Stellen im öf- wählst von denen, es regiert am Ende im- Le Pen macht die Wahl zum nationalen
fentlichen Dienst zu streichen, die Wirt- mer dasselbe System. So wurde bei ihr aus Schicksalstag und warnt vor Untergang
schaft zu „befreien“, den Staat zum Nacht- der UMP Sarkozys und dem PS Hollandes und Chaos für den Fall, dass sie nicht den
wächter zu machen, den Sozialstaat zu stut- kurzerhand die „UMPS“, und dieses Spiel Sieg davonträgt. „Es geht um die Existenz
zen – auch das holt Leute ab in einem Land, funktioniert heute fast noch besser. Seit Frankreichs“, ruft sie von Podien im gan-
das politisch immer weiter zerfasert. sich die Konservativen „Les Républicains“, zen Land. Oder sie steht, wie einmal im
Fillon, Mélenchon – wenn beide von also LR nennen, verhöhnt Le Pen die Februar, in der gleißenden Sonne am
Frankreich reden, hat man nicht den Ein- „LRPS“, was nicht nur im Französischen Wahrzeichen des Mont-Saint-Michel und
druck, es gehe in ihren Erzählungen um endgültig nach Herpes klingt. beschwört die französische „Zivilisation“,
dasselbe Land. Und es gibt noch weitere Unter Marine Le Pen hat sich die Mit- das immaterielle Erbe Frankreichs, die
gute Geschichten. gliederzahl des Front National vervier- „exception culturelle“.
Marine Le Pen erzählt Jetzt, in der Endphase
die ihre, sie möchte der Kampagne, greift sie
Frankreichs erste Präsi- in ihren Reden wieder
dentin werden, und sie ist öfter zurück auf das alte
dem Élysée-Palast wirk- Instrumentarium des
lich sehr nahegekom- Front National. Vor we-
men. Ein weiter Weg nigen Tagen erst wärmte
liegt hinter ihr, der eigene sie die giftige Debatte da-
Vater Jean-Marie musste rüber auf, ob Frankreich
politisch ins Gras beißen, unter deutscher Besat-
weil er den Macht- zung an der Verschlep-
anspruch der Tochter pung und Ermordung
störte – und sie unter- von Juden beteiligt war,
schätzte. Aber anders als eine von Historikern
der Alte, der in seiner fa- längst geklärte und auch
schistoiden Nische nie vom französischen Staat
wirklich daran geglaubt längst bejahte Tatsache.
hatte, die Macht im Staat Wie einst der Vater han-
erobern zu können, ar- tiert sie wieder mit der
beitet Marine Le Pen seit Angst, mit apokalypti-
Langem daran, den Front schen Visionen, Über-
National zur großen po- fremdungsfantasien.
litischen Kraft umzubau- Ansonsten hat Le Pen
en, wie sie es in ihrer ein programmatisches
2006 erschienenen Auto- Wunderhorn gefüllt, das
biografie bereits skizziert manche ihrer Gegner an
hatte. kommunistische Flug-
Hinter Le Pen liegt blätter aus den Achtzi-
eine beeindruckende Er- gerjahren erinnert, er-
folgsgeschichte. Sie hat weitert um fremden-
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den ranzigen Faschoklub feindlichen Firlefanz wie


des Vaters zur modern eine Zusatzsteuer bei
agierenden Partei umge- Anstellung von Auslän-
staltet. Und sie hat ge- dern. Die Zahl der Ein-
schafft, was vor ihr nie- wanderer will sie auf
mandem gelungen ist, 10 000 pro Jahr begren-
auch nicht den vielen zen, den Familiennach-
Zentristen, die immer zug erschweren, die
wieder Anlauf nahmen: Grenzen dichter machen
Le Pen hat das starre und so weiter.
Zweilagersystem Frank- Vor allem aber will sie
reichs aufgebrochen und Konservativer Kandidat Fillon: Höfisches, hochfahrendes Gebaren Europa ans Leder. Die
faktisch in ein Dreipar- „Unabhängigkeit Frank-
teiensystem verwandelt, mit dem Front facht; die Partei stellt heute Bürgermeister reichs“ ist in ihrem Programm noch immer
National als letztlich stabilster, stärkster in elf Städten, und seit 2014 sitzen im Eu- das erste und damit prominenteste von 144
politischer Kraft. ropaparlament, man stelle sich vor, mehr Wahlversprechen. Sie will den Frexit. Aber
Le Pen ist somit die Treiberin und die FN-Abgeordnete als französische Sozialis- diese Festlegungen, auch die propagierte
größte Nutznießerin der politischen Sys- ten. Wesentlich für diese Erfolge ist der Rückkehr zum Franc, sind mittlerweile die
temkrise, und sie hat vom chronischen Abschied von der Partei und die Hinwen- größten Hindernisse auf ihrem Weg zu ei-
Versagen der etablierten Parteien zweifel- dung zur Führungsfigur Le Pen. Bei Licht nem möglichen Sieg.
los am meisten profitiert. Sie hat auch die betrachtet, ist der Front National nur noch Die Feindschaft gegen Europa ist auch
griffigen populistischen Formeln dafür ge- ein Organisationsschema, aber ansonsten in Frankreich einer freudlosen, aber sta-
funden: Schon vor Jahren hat sie die Akro- von der Bildfläche verschwunden. Der jet- bilen Zustimmung gewichen. Es lassen sich
nyme der beiden Altparteien zu einem zige Wahlkampf ist voll auf die Kandidatin heute klare Mehrheiten für einen Verbleib
einzigen Buchstabengebilde zusammen- ausgerichtet, nicht einmal mehr das Par- des Landes in der EU finden, erst im März
gezogen, um zu zeigen: Egal, wen du teilogo ist auf den Plakaten zu sehen. sprachen sich 72 Prozent der Franzosen in

88 DER SPIEGEL 16 / 2017


einer Umfrage des Instituts Elabe gegen mit 39 ist er der große Favorit der bevor- den er stolz sei, betont er immer wieder.
die Abkehr vom Euro aus. stehenden Wahlen. Eine sagenhafte Kar- Wenn seine Gegner versuchen, ihm mit
Als Le Pen vor Kurzem in einer Wahl- riere. Hinweisen auf seine Vergangenheit zu
sendung gefragt wurde, was sie tun würde, Zieht Macron mit Le Pen ins Finale ein, schaden, vor allem auf seine Zeit als Hol-
wenn sich die Franzosen – bei einem von was Demoskopen bislang für das wahr- lande-Berater, weist Macron das zurück.
ihr angekündigten Referendum – für einen scheinlichste Szenario gehalten haben, gli- Er sagt über seine Zeit als Minister: „Ich
Verbleib in der EU aussprächen, schaute che der Zweikampf einem Duell der Wel- habe die Leere des politischen Betriebs ge-
sie, sonst um keine Antwort verlegen, ei- ten. Es träten zwei Politiker gegeneinander sehen“, und eben deshalb kann er glaub-
nen langen Augenblick ratlos drein. Dann an, die beide eine Systemkrise konstatie- haft erläutern, wie die Leere zu füllen sei.
antwortete sie: „Ich würde wieder abtre- ren und jeweils etwas völlig anderes damit Macron klingt nicht selten wie ein Mann
ten.“ Als sie daraufhin von den Modera- meinen. Aber Le Pen, Macron, Mélenchon des „Dritten Wegs“, den einst der Brite
toren gefragt wurde, was Tony Blair einschlug,
für einen Sinn dann ein und den auf seine Weise
Referendum habe, wenn auch Gerhard Schröder
sie den Ausgang von verfolgte. Nicht mehr
vornherein festlegen links, nicht mehr rechts,
wolle, wurde sie wütend sondern gut und richtig
und wechselte rasch zu soll künftig alles sein.
ihrem Lieblingsthema: Im Gespräch mit dem
die bösen Attacken der SPIEGEL sagte er vor
Medien auf sie und ihre Kurzem, er habe früh ge-
Partei. wusst, „dass das politi-
Aber die Rolle des Op- sche System, wie wir es
fers steht ihr nicht. Le kennen, am Ende ist“.
Pen hat, im Gegenteil, Seiner Bewegung, aus-
tatkräftig die französi- gerufen erst vor einem
sche Politik aufgemischt Jahr in Macrons Heimat-
und darf sich über Feind- stadt Amiens, haben sich
schaften nicht beschwe- mittlerweile eine Viertel-
ren. Um aber zu gewin- million Franzosen ange-
nen, auch eine mögliche schlossen. Die Initiative
Stichwahl, muss sie auf wurde monatelang von
einen Brexit- oder der alten politischen
Trump-Effekt hoffen, auf Klasse als eine Art Bür-
die ganz große Überra- gerbewegung für Über-
schung am Schluss. Und motivierte und Naive be-
weil dieser Tage in der lächelt. Mit Fragebögen
französischen Politik von Tür zu Tür zu ziehen
selbst das nicht mehr und aus den Antworten
ausgeschlossen scheint, anschließend ein Pro-
herrscht wirklich Unruhe gramm zu basteln, das
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über die Wahlaussichten passte nicht zum Selbst-


von Marine Le Pen. bild der herrschenden Po-
Die Hoffnung der ge- litikerkaste. Nun ist ihr
mäßigten, auf Ausgleich das Lächeln vergangen.
und Vernunft setzenden Bei seinen Wahl-
Wähler in Frankreich kampfauftritten versam-
ruht auf Emmanuel Ma- melt Macron die Massen
cron, dem 39-jährigen in den größten Hallen
Shootingstar, dessen Ta- des Landes. Er wäre der
lent unstrittig ist, dessen jüngste Präsident in der
Fähigkeiten aber noch Geschichte Frankreichs,
nicht zweifelsfrei bestä- Linksextremist Mélenchon: 90 Prozent Steuern und der erste parteiunab-
tigt sind: EM. hängige.
Diese Initialen stehen auch für: „En – alle sind sie Profiteure des Niedergangs Er ist der Einzige, dessen Programm
Marche!“, Macrons Bewegung, was so viel der etablierten Politik. pragmatisch zu nennen wäre, er bemüht
wie „Vorwärts!“ oder „Auf geht’s!“ oder Macron stammt selbst aus dem angeb- sich um Realismus, um Evolution, nicht
eben: „In Bewegung!“ heißt. Neue Unter- lich überlebten System, er hat den in um Revolution. Macron wirbt für Europa,
stützer folgen Emmanuel Macron in Scha- Frankreich klassischen Königsweg beschrit- damit steht er fast allein, er lädt ein
ren, von der Rechten, von der Linken, Mi- ten, war auf den besten Schulen, ein Arzt- zum Traum von einem „New Deal für
nister sind darunter, auch Kollegen, die sohn aus dem nordfranzösischen Amiens, Europa“. Angela Merkels Flüchtlingspoli-
ihn nie ausstehen konnten, weil er ihnen ein Énarque natürlich, wie die Absolven- tik verteidigte er gegen die öffentliche
viel zu ehrgeizig war. Mit 34 wurde Ma- ten der Straßburger Elitehochschule Ena Meinung in Frankreich mit den Worten,
cron ökonomischer Berater von Präsident gerufen werden. Bevor Hollande ihn als die Kanzlerin habe die Würde der Euro-
Hollande, mit 36 Wirtschaftsminister, mit Berater in den Élysée-Palast holte, hatte päer gerettet.
38 verließ er die Regierung, um die eigene er als Bankier bei Rothschild gearbeitet. Der Präsident Macron will alle großen
Präsidentschaftskandidatur vorzubereiten, Er habe dort „einen Beruf gelernt“, auf Baustellen angehen, den Reformstau be-
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Ausland

enden, die Sozialsysteme, den Arbeits- Jahr lang bei der Arbeit zu begleiten. Stän- daran, dass er als erster Präsident in die
markt modernisieren, er will moderat spa- dig redete er mit Journalisten, schrieb sich französische Geschichte eingeht, dessen
ren, und wer ihm zu wenig Ehrgeiz vor- mit ihnen Mails und SMS, er wirkte stets Umfrageergebnisse so miserabel waren,
wirft, bekommt zur Antwort, dass es ge- wie eine falsche, müde Besetzung. dass er sich gar nicht erst um eine zweite
nug leere Versprechungen in den vergan- Frankreichs Präsident hat bemerkens- Amtszeit bewarb. Auch der entschlossene
genen Jahrzehnten gegeben habe. werte Möglichkeiten der Gestaltung, eine Außenpolitiker, der Hollande durchaus
Ist er der Heilsbringer, als der er sich gewaltige Machtfülle, aber Hollande mach- war, mit militärischen Einsätzen weltweit,
inszeniert? Oder nur ein schlauer Ziehsohn te nichts daraus, oder viel zu wenig. Die darunter Luftangriffe in Syrien, konnte ihn
des gescheiterten Präsidenten Hollande? Arbeitslosigkeit, deren Bekämpfung er an- nicht aus dem Umfragetief erlösen.
Seine Bewerbung um das höchste Amt fangs zu seiner Hauptaufgabe erklärte, ist Vor seiner Wahl hatte er als Kandidat
geht in diesen Tagen offenkundig durch ebenso hoch wie bei seinem Amtsantritt, versprochen: „Moi, président, ich als Prä-
eine heikle Phase. Neue prominente Un- er hat sich viel Ärger mit Reformgesetzen sident werde Sorge tragen, dass mein Ver-
terstützer mögen sich ihm anschließen, eingehandelt, die den erwünschten Erfolg halten in jedem Moment mustergültig ist.“
aber seine Umfragewerte stecken bei etwa anschließend gar nicht brachten. Die Wirt- Das war, nach der an Affären und Liebes-
25 Prozent fest, oder sie sinken sogar. Ihm schaft, die Hollande mit einem „Werkzeug- dramen nicht armen Amtszeit seines Vor-
fehlt der eine, griffige Slogan. gängers und Gegners Sarko-
Ihm fehlt, vielleicht doch, ein zy, eine wichtige Botschaft,
wenig Substanz. und vor allem eine, die man
Solch kleine Sorgen wür-
Kopf-an-Kopf-Rennen ihm, dem Mauerblümchen
den sich die Sozialisten wün- Jean-Luc Mélenchons Aufholjagd zur ersten Runde aus der Provinz von Tulle,
schen. Die Partei ist ein sin- der Präsidentschaftswahlen durchaus abnehmen wollte.
kender Tanker, und am Ru- Durchschnittswerte von Umfragen, Auswertung der Huffington Post Dann aber erschienen Fo-
der steht mit Benoît Hamon tos, die sich in Frankreich ein-
ein Spitzenkandidat, der vie- Marine Le Pen 26,3 gebrannt haben: Schnapp-
Front National 24,9 24,2
le gute linke Taten verspricht, schüsse des Präsidenten mit
aber mit keiner Rede mehr öf- 23,6 Motorradhelm auf dem Kopf
fentlich durchdringt. Das ist 23,0 bei amourösen nächtlichen
nicht allein seine Schuld, sei- Ausfahrten zu seiner heimli-
ne Schwäche spiegelt letztlich Emmanuel Macron chen Geliebten, ein politi-
En Marche! 20,9
nur den Zustand der Sozialis- 19,8 scher Hanswurst. Diese Bil-
tischen Partei, die zu klaren der haben viel, sehr viel ka-
François Fillon 19,3 19,3
Politikentwürfen nicht in der Republikaner 18,7 putt gemacht.
Lage und von der allgemei- Hollande, der angetreten
nen Systemkrise besonders war, um als Präsident „zu ei-
stark angefressen ist, einer Benoît Hamon 16,5 nen und zu besänftigen“,
Krise, die beide großen poli- Sozialisten schürte die Wut und die Spal-
tischen Familien im Griff hat 14,2 tung im Land wie zuvor nur
und den schwachen Regie- Nicolas Sarkozy. Er ver-
rungsbilanzen beider geschul- schärfte die ohnehin längst
det ist. Jean-Luc gewucherte Politikverdros-
Mélenchon 12,0
Die zweite Amtszeit von La France senheit im Land, er ver-
Jacques Chirac, die übrigens insoumise 11,6 scherzte es sich mit Polizis-
mit einem überwältigenden ten, mit Lehrern, mit der
Sieg gegen Jean-Marie Le Stammwählerschaft der So-
Pen in der zweiten Runde der 8,4 zialisten, er brachte Ärzte ge-
Wahlen von 2002 begann, ist 1. Februar 1. März 12. April gen sich auf, Bauern, Katho-
zum Inbegriff einer bleiernen liken. Und wo Sarkozy mit
Zeit geworden, einer Phase Gefuchtel nervte, erzürnte
politischer Stille. Was danach kam, ab kasten“ in Schwung bringen wollte, düm- Hollande mit seinem Phlegma, seiner Ent-
2007, war die nicht minder leere Hyper- pelte weiter, und wenn sie hier und da flo- scheidungsschwäche, die er sich als Net-
aktivität des Präsidenten Sarkozy, der ge- rierte, dann trotz und nicht wegen Hollan- tigkeit auslegte.
meinsam mit Fillon nicht das Land refor- des Politik. Mit den meisten der Kandidaten, die in
mierte, aber den Ton der politischen De- Gesellschaftlich hat er wider Willen eine diesem Jahr meinen, für die Präsident-
batte in Frankreich vergiftete. katholisch-konservative Bewegung wach- schaft antreten zu müssen, ist kein Staat
Ihn löste endlich der „Président normal“ geküsst und der Sache homosexueller Paa- zu machen, geschweige denn eine Atom-
ab, François Hollande, der ebenfalls die re womöglich mehr geschadet als gedient. macht oder Europas zweitgrößte Volks-
Statur nicht hatte, das Präsidentenamt zum Sein schlimmster Fehltritt, der die Glaub- wirtschaft. Wenn es stimmt, dass ein Volk
Wohle des Landes zu gestalten oder als würdigkeit der Sozialisten schwer beschä- immer nur die politischen Anführer hat,
Mensch auszufüllen, und der ganz neben- digt hat, war die kernige Forderung nach die es verdient, dann steht es nicht gut um
bei die Sozialistische Partei ruiniert hat. dem Entzug der Staatsbürgerschaft für ver- Frankreich. Dann gibt es Grund zur Sorge
Kein französischer Politiker ist in den urteilte Terroristen, eine Maßnahme, wie nicht nur im Land selbst, sondern auch bei
vergangenen Jahren bösartiger abgefertigt sie vielleicht Diktaturen gut zu Gesicht den Nachbarn ringsum.
worden als Hollande, und er selbst wirkte steht, aber nicht dem Land, das als die Ge-
nach Kräften an der eigenen Demontage burtsstätte der Menschenrechte gilt. Video: Wie ein Le-Pen-Jünger
mit. Er ließ sich ein auf für ihn peinliche Hollande machte, wenn es darum ging, zum Islam fand
Dokumentarfilme, er stimmte zu, wenn Terroropfer zu beklagen, eine ordentliche spiegel.de/sp162017frankreich
Comiczeichner anklopften, um ihn ein Figur, immerhin. Aber das änderte nichts oder in der App DER SPIEGEL

90 DER SPIEGEL 16 / 2017


Ausland

Zurück zum Mainstream


Analyse Was hat Donald Trumps Wende in der Außenpolitik zu bedeuten?

D
ie Volten, die Präsident Donald Trump in seiner Donald Trump war in seinem wilden Wahlkampf gegen
Außenpolitik vollführt, können schwindlig machen. das außenpolitische Establishment Washingtons angetre-
Allein am Mittwoch geschah Folgendes: Die Nato, ten. Amerika sollte nicht mehr Weltpolizist sein und sich
die Trump im Wahlkampf für „obsolet“ erklärt hatte, ist mit Russland verbünden. Dafür feierte man ihn auch in
nun offiziell „nicht mehr obsolet“. China will der Präsi- Europa an den linken und rechten Rändern. Wie lässt sich
dent nicht mehr als „Währungsmanipulator“ brandmarken, nun die abrupte Wende erklären? Es gibt wohl mehrere
obwohl er genau das versprochen hatte. Und der Besuch Gründe: Erstens hat Trump sich von radikalen Mitarbei-
von US-Außenminister Rex Tillerson in Moskau zeigte, tern wie Mike Flynn getrennt. Das Sagen haben jetzt of-
dass das Verhältnis zu Russland auf einem Tiefpunkt ist. fenbar alte Profis wie der neue Nationale Sicherheitsbe-
Dabei hatte Trump „eine großartige Beziehung“ zu Wla- rater Herbert Raymond McMaster. Auch Trumps Schwie-
dimir Putin versprochen. gersohn Jared Kushner (siehe Seite 98), der sich angeblich
Der US-Präsident hat in den vergangenen zehn Tagen von Henry Kissinger beraten lässt, wirkt auf ihn ein.
zentrale außenpolitische Positionen widerrufen, quasi im Zweitens spielt wohl auch Trumps Narzissmus eine Rol-
Vorübergehen. Es begann mit dem schnellen Vergeltungs- le: seine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung. Der Rich-
schlag nach dem Chemiewaffenangriff des Assad-Regimes tungswechsel in der Syrienpolitik brachte ihm den Zu-
auf Zivilisten – eine Instinkthandlung des Präsidenten, mit spruch jener Experten, Staatsmänner und TV-Kom-
der sich auch seine bisherige mentatoren, den er so sehr
Syrienpolitik auflöste. Danach will. Drittens scheint Trump
konnte die Welt live beobach- manchmal hinzuzulernen. In
ten, wie Trump und seine Re- einem Fernsehinterview er-
gierung in chaotischer Weise zählte er in rührender Offen-
und tastend zu einer neuen heit, wie ihm der chinesische
Haltung fanden. Präsident Xi Jinping zehn Mi-
Aber was bedeutete der nuten lang die Beziehung zwi-
Luftangriff wirklich? Hat Au- schen Peking und Pjöngjang
ßenminister Tillerson recht, erklärt habe. Erst da sei ihm
der sagte, die Bekämpfung klar geworden, dass China das
des „Islamischen Staats“ habe Problem der nordkoreani-
US / REX / SHUTTERSTOCK

weiterhin Priorität? Sprach schen Atomwaffen nicht so


Uno-Botschafterin Nikki Ha- einfach lösen könne, wie er
ley für den Präsidenten, als sie geglaubt habe. Auch mit An-
sagte, es könne mit Assad nie- gela Merkel sucht Trump das
mals Frieden geben? Werden Gespräch. Er hat seit ihrem
die USA Fassbombenangriffe US-Kriegsschiffe im Pazifik Washington-Besuch bereits
bald ähnlich bestrafen wie den zweimal mit ihr zu Russland,
Einsatz von Chemiewaffen, wie Regierungssprecher Sean Syrien und Nordkorea telefoniert. Nordkorea ist sein
Spicer behauptete? Außenminister Tillerson schien gar nächster großer Test. Je nachdem wie er auf die Provoka-
massiven Interventionismus anzukündigen: „Wir widmen tionen der Nuklearmacht reagiert, kann er eine globale
uns wieder der Aufgabe, jeden und alle zur Rechenschaft Krise auslösen. Doch bisher scheint Trump das Problem
zu ziehen, die irgendwo auf der Welt Verbrechen gegen mit China zusammen angehen zu wollen.
Unschuldige begehen.“ Wirklich? Wie nachhaltig Trumps Wende zum Mainstream ist, ist
Am Ende der Woche lässt sich sagen: Die jüngste Hal- ohnehin zweifelhaft. Er hatte nie feste Glaubensgrund-
tung der USA gleicht der alten unter Barack Obama. Der sätze, seine Ansichten ändert er nach Stimmungslage. Sei-
Militärschlag gegen das Regime war vor allem symboli- ne Außenpolitik wird unberechenbar bleiben, ein
scher Art. Die USA verurteilen Assad mit harten Worten, Schwenk in jede Richtung ist vorstellbar. Am Donnerstag
wollen ihn aber nicht gewaltsam absetzen. Sie wünschen ließ er über IS-Tunneln in Afghanistan erstmals die größte
sich die Hilfe Russlands, um eine Verhandlungslösung zu nicht nukleare Bombe im US-Arsenal abwerfen – man
erreichen. Daran hat Moskau aber immer noch kein Inte- kann sich vorstellen, dass Trump sie allein deswegen ein-
resse. Es steht mit Assad im Schützengraben, verbreitet setzte, weil „die größte Bombe“ so gut klingt.
Verschwörungstheorien über den Chemiewaffenangriff Seine Ahnungslosigkeit ist noch immer alarmierend. In
und ist international isoliert – wie nach dem Abschuss einem Fernsehinterview erinnerte er sich diese Woche
des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine. Auch die sehr genau an das wunderbare Schokoladendessert, das
Beziehungen der USA zu Moskau sind wieder wie unter aufgetischt wurde, als er dem chinesischen Präsidenten
Obama: angespannt, von gegenseitigem Misstrauen ge- Xi erzählte, dass er gerade Marschflugkörper abfeuern
prägt und im Falle Russlands auch von Enttäuschung. Aus- ließ. Nur in welches Land er sie geschickt hatte, fiel ihm
gerechnet Trump, den man einst gefeiert hatte, schickte im Interview nicht mehr ein. Er sagte „Irak“ statt Syrien.
jene Marschflugkörper los, die Obama nie abfeuern ließ. Mathieu von Rohr

DER SPIEGEL 16 / 2017 91


Ausland

„Der Kreml blockiert


jede Alternative zu Putin“
SPIEGEL-Gespräch Russlands Oppositionsführer Alexej
Nawalny über die Proteste gegen Korruption, die Politisierung
einer neuen Generation und Putins Außenpolitik

Ende März rief Russlands bekanntester Op- gab eine Diskussion mit einer Schuldirek-
positioneller Nawalny, 40, zu landesweiten torin darüber, die mitgeschnitten und mil-
Protesten gegen Korruption auf. Zehntausen- lionenfach angeschaut wurde. Russland hat
de gingen auf die Straße. Danach wurde er seit den Neunzigerjahren eine Studenten-
für 15 Tage inhaftiert, es war für ihn nicht das bewegung gefehlt, so wie es sie in Ost- und
erste Mal. Seit Montag ist er wieder frei, einen Westeuropa gab. Bei uns gab es eine solche
Tag später empfängt er den SPIEGEL zum Ge- Bewegung zuletzt zur Zarenzeit.
spräch im Büro seiner „Stiftung zur Bekämp- SPIEGEL: Aus welchen Gründen sind diese
fung der Korruption“ in einem Moskauer Busi- jungen Menschen auf die Straße gegangen?
nesscenter. Nawalny ist gut gelaunt und gibt Nawalny: Die Armut! Das ist jedenfalls ein
sich kämpferisch. Kurz darauf wird er wieder wichtiger Faktor. Seit fünf Jahren schon
durch die Provinz reisen, um für seine Kandi- sinkt der Lebensstandard.
datur bei der Präsidentschaftswahl 2018 zu SPIEGEL: Davon merkt man in Moskau
werben. Für den 12. Juni hat er erneut zu lan- wenig.
desweiten Kundgebungen aufgerufen. Nawalny: In Tomsk habe ich die jungen Leu-
te gefragt, wer weniger als 20 000 Rubel ver-
SPIEGEL: Herr Nawalny, Sie sind gerade aus dient, das sind 330 Euro. Wir alle, haben
der Haft entlassen worden. Wie haben Sie sie geantwortet. Und das in einer Universi-
die Zeit dort erlebt? tätsstadt, die früher vom Öl lebte! Es heißt
Nawalny: Man muss sich das Gefängnis vor- oft, ich würde die Besserverdiener vertre-
stellen wie ein schmutziges Wohnheim, wo ten. Sicher, wer gut ausgebildet und wohl-
man nichts anderes tut als schlafen und habend ist, der unterstützt eher mich als
lesen. Wir waren zu viert in der Zelle. Die Wladimir Putin. Aber das heißt nicht auto-
anderen waren gewöhnliche Leute – einer matisch, dass die anderen gegen mich sind.
hatte sich mit dem Nachbarn geprügelt, SPIEGEL: Was unterscheidet die Demons-
ein anderer einen Polizisten beleidigt. Kei- tranten von heute von jenen, die 2011 ge-
ne politischen Häftlinge wie ich, die wer- gen die Fälschung der Parlamentswahlen
den sorgfältig voneinander getrennt, selbst auf die Straße gingen?
beim Hofgang. Nawalny: Der Hauptunterschied ist die Geo-
SPIEGEL: Haben Sie mit den anderen Häft- grafie: Jetzt wird an Orten demonstriert,
lingen trotzdem über Politik diskutiert? wo das zuvor nie der Fall war, in Dagestan,
Nawalny: Tagelang. Alle hatten von mir ge- in Tatarstan und Baschkirien. Ansonsten
hört, alle wollten reden. Schon die Polizis- gibt es nicht viele Unterschiede. Die so- Kreml-Kritiker Nawalny
ten, mit denen ich nach meiner Festnahme zialen Medien, die uns als Einziges geblie-
im Bus saß, hatten meinen Film über Pre- ben sind, um miteinander zu kommunizie-
mier Dmitrij Medwedew gesehen. Sie frag- ren und unsere Kritik zu artikulieren, ha- Alischer Usmanow tun, dem Sie vorwer-
ten, was alle immer fragen: Warum man ben ein jüngeres Publikum, das ist alles. fen, er habe Dmitrij Medwedew eine Re-
mich nicht umgebracht habe, und warum SPIEGEL: Ihr Film über die angeblichen sidenz im Wert von fünf Milliarden Rubel
ich nicht längst in Haft säße. Reichtümer von Medwedew wurde auf geschenkt.
SPIEGEL: Sehr viele junge Leute haben sich YouTube 18 Millionen Mal angeschaut. Nawalny: Das tut Usmanow sicherlich nicht
Ende März den Kundgebungen angeschlos- Medwedew hat den Film „Blödsinn“ ge- aus freien Stücken. Offenbar hat man ihn
sen, zu denen Sie aufgerufen hatten. Viele nannt und mit einem „Kompott“ aus al- gebeten, mich zu verklagen.
hat das überrascht – man hielt diese Gene- lerlei Vorwürfen verglichen. SPIEGEL: Offiziell tut der Kreml so, als be-
ration für unpolitisch. Nawalny: Was für ein kläglicher Auftritt. Ei- kämpfe er die Korruption. Gerade wurde
Nawalny: Mich hat das überhaupt nicht nen Monat hat er gewartet, und alles, was der fünfte Gouverneur in Folge verhaftet.
überrascht! Erstens habe ich schon vorab ihm einfiel, war das Wort „Kompott“! Nawalny: Die Gouverneure werden verhaf-
auf Vkontakte gesehen … SPIEGEL: Werden die Vorwürfe für Medwe- tet, um mir etwas entgegnen zu können.
SPIEGEL: … einer Art russisches Facebook … dew Konsequenzen haben? Außerdem muss Putin die eigene Elite ter-
Nawalny: … wie jung die Leute sind, die zu Nawalny: Seine politischen Perspektiven rorisieren. Er fürchtet seine Umgebung
den Demos kommen wollten. Und zwei- sind nun beschädigt. Angeblich soll er erst mehr als irgendwelche Proteste; es gibt da
tens war mir klar, dass der politische Druck mal eine Woche lang gesoffen haben, und Leute, die sind mindestens so kritisch wie
auf Schüler und Studenten das Gegenteil so sah er auch aus. ich, weil sie aus der Nähe sehen, dass das
bewirkt. In Brjansk wurden Schüler ge- SPIEGEL: Medwedew hat Sie nicht verklagt System nicht funktioniert. Die will er zum
warnt, an den Demos teilzunehmen, es – aber dafür will das jetzt der Milliardär Schweigen bringen.
92 DER SPIEGEL 16 / 2017
dieselben Namen drauf wie heute. KP-Füh-
rer Sjuganow, der Liberale Jawlinski, der
Rechtspopulist Schirinowski. Nur Boris Jel-
zin wurde durch Putin ersetzt. Kein Oppo-
sitioneller hat je die Verantwortung für sei-
ne Wahlniederlagen übernommen.
SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm fordern
Sie eine Sonderabgabe für Oligarchen, die
Verdoppelung der Gesundheitsausgaben,
einen Mindestlohn von 25 000 Rubeln. Das
klingt so, als wären Sie nach links gerückt.
Nawalny: Sagen wir: Es klingt nicht so, wie
man es von unseren liberalen Oppositionel-
len gewohnt ist. Da erwartet man leider ei-
nen manischen Libertären, der Oligarchen
toll findet, sich nicht für die Probleme der
Rentner interessiert und meint, die unsicht-
bare Hand des Marktes werde alles regeln.
SPIEGEL: Sehr konkret ist Ihr Programm
nicht. Wie wollen Sie all das finanzieren?
Nawalny: Russland hat gigantische, sinnlose
Ausgaben für Armee und Polizei. Wir be-
legen einen der ersten Plätze in der Welt,
was die Zahl der Polizisten angeht – aber
bei der Zahl der Morde gehören wir auch
zu den Ersten. Außerdem sind fast 30 Pro-
zent des Haushalts geheim! Niemand weiß,
was mit diesen Geldern passiert. Bei staat-
lichen Ausschreibungen werden jedes Jahr
1500 Milliarden Rubel geklaut. Der Kampf
gegen die Korruption würde also gewaltige
Summen freisetzen.
SPIEGEL: Noch vor sechs Jahren waren Sie
in nationalistischen Kreisen aktiv. Sogar
viele Ihrer Anhänger finden es unappetit-
lich, mit wem Sie sich damals verbündet
haben. War das Taktik oder Überzeugung?
Nawalny: Ich habe zwischen 2005 und 2011
viel getan, um den liberalen und den na-
tionalistischen Flügel der Protestbewegung
zusammenzubringen. Das stimmt. Und ja,
DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL

ich bin weiterhin gegen die visafreie Ein-


reise aus Zentralasien nach Russland.
SPIEGEL: Warum sind die Proteste von
2011/2012 eigentlich gescheitert? Was hat
die Opposition damals falsch gemacht?
Nawalny: Es gibt kein Rezept, mit dem man
das Regime in ein paar Monaten stürzen
SPIEGEL: Wird Präsident Putin bei der Wahl gegen meine Kandidatur sind. Die sagen: könnte. Das ist ein historischer Prozess,
2018 erneut kandidieren? Weiß der Teufel, wie das Wahlergebnis den wir nicht steuern können. Meine beste
Nawalny: Natürlich! Putin will der Zar sein wird, wir haben uns ja schon einmal ge- Kundgebung im Jahr 2010 hatte 1500 Teil-
in diesem neuen Russischen Reich, das er täuscht. Außerdem haben sie Angst vor nehmer. Heute gilt eine Kundgebung von
wieder errichtet. Ich glaube, er ist wirklich dem, was ich alles sagen könnte, wenn man weniger als 30 000 Menschen als Fehlschlag.
besessen von dieser Idee. mich antreten lässt. Seit 17 Jahren verlaufen Da hat sich etwas entwickelt, trotz aller
SPIEGEL: Wird man Sie zur Wahl zulassen? Wahlen in Russland nach demselben Mus- Rückschläge. Aber der wichtigste Grund
Nawalny: Wir wollen sie zwingen, mich zu ter: Niemand kritisiert Putin, niemand führt für das Scheitern war die gewaltsame Zer-
registrieren, so wie 2013 bei der Moskauer eine echte Wahlkampagne, alles geht still schlagung der Proteste. Wenn wir das Re-
Bürgermeisterwahl. Damals haben wir mit in zwei Monaten über die Bühne. Der gime von 2012 vergleichen mit dem von
einem Boykott gedroht. Und dann war der Kreml blockiert jede Alternative zu Putin. 2017, dann kommt es einem so vor, als wür-
Kreml der Meinung, besser lässt man Na- Er will keinen Kandidaten, der durchs Land de man über zwei unterschiedliche Länder
walny teilnehmen – der bekommt ja höchs- reist und Russlands Probleme laut anspricht. reden. Wir leben jetzt in einem Land mit
tens acht oder neun Prozent. SPIEGEL: Warum hat denn die Opposition tausend politischen Häftlingen. Einem
SPIEGEL: Stattdessen haben Sie beachtliche bei diesem Spiel so lange mitgemacht? Land, in dem es jede Woche neue Prozesse
27 Prozent erreicht, und fast wäre es zu ei- Nawalny: Waren Sie mal im neuen Jelzin- gibt, in dem Leute in Haft kommen, weil
ner Stichwahl gekommen. Zentrum in Jekaterinburg? Da hängt in der sie irgendwas im Internet gelikt haben.
Nawalny: Soviel ich weiß, haben im Kreml Ausstellung ein Stimmzettel der Präsiden- SPIEGEL: Einige der Menschen, die mit Ih-
deshalb mittlerweile jene die Oberhand, die tenwahl von 1996 – und da stehen genau nen zusammen an der Großkundgebung
DER SPIEGEL 16 / 2017 93
Ausland

im Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz teil- ne Anwaltszulassung entzogen, aber ein obwohl fast alle russischen Muslime Sun-
nahmen, sitzen noch immer im Lager. paar Mandaten sind mir geblieben. niten sind. Um Baschar al-Assad zu helfen,
Trotzdem haben Sie im März zu einer SPIEGEL: Wer lässt sich denn von einem pro- handelt Putin uns große Probleme ein.
nicht genehmigten Demonstration aufge- minenten Kreml-Feind beraten? SPIEGEL: Dabei sah es zunächst so aus, als
rufen. Können Sie das verantworten? Nawalny: Als Jurist bringe ich meinen Man- hätte Putin in Donald Trump einen Unter-
Nawalny: Mir ist bewusst, dass ich Verant- danten eher Nachteile. Aber die, die mich stützer seiner Syrienpolitik gefunden.
wortung trage – für meinen Bruder, der weiter engagieren, tun das auch, weil sie Nawalny: Ich habe nach Trumps Wahlsieg
im Gefängnis ist, und für die Inhaftierten mich unterstützen. in einem Video erklärt, warum es mit
von Mai 2012. Das ist kein schöner Ge- SPIEGEL: Befürchten Sie nicht, dass Sie be- Trump keine Freundschaft geben wird. Die
danke. Aber über meinen Bruder haben nutzt werden könnten? Widersprüche der Systeme sind zu groß.
immerhin die Zeitungen auf ihren Titel- Nawalny: Mich benutzt keiner. Aber natür- Und Putin braucht einen Feind. Er will der
seiten berichtet. Wenn heute irgendein lich wird das benutzt, was ich tue. Wenn Führer der antiamerikanischen, antieuro-
Blogger in der Provinz in Haft kommt, ich Igor Setschin angreife … päischen Welt sein. Da kann er nicht mit
dann besuchen ihn keine Journalisten, SPIEGEL: … den Chef des staatlichen Ölkon- ihren Staats- und Regierungschefs befreun-
Anwälte oder Menschenrechtler, weil es zerns Rosneft und Gegner Medwedews … det sein, er muss stattdessen Skandale und
inzwischen zu viele solcher Fälle gibt. Nawalny: … dann hilft das jemand anderem. Widerstand erzeugen.
Wenn wir das verhindern wollen, müssen Und wenn ich Medwedew angreife, gibt SPIEGEL: Mit Angela Merkel bleibt ihm min-
wir weiter für politische Veränderungen es gleich einen Haufen Leute, die das toll destens eine Gegnerin. Ohne sie gäbe es
kämpfen. finden. Wobei ich leider nicht mal weiß, die EU-Sanktionen gegen Russland nicht.
SPIEGEL: Viele fragen sich, warum Sie selbst Wie sollte sich Russland dazu verhalten?
in einem so repressiven System noch frei
herumlaufen und sogar teure Wahlkam-
„Die Leute sagen: Nawalny: Wir sollten die Minsker Verein-
barungen erfüllen. Der Hauptgrund für die
pagnen führen können. Wer finanziert Nawalny, immer nur Sanktionen ist, dass Russland ein Tabu ver-
Sie?
Nawalny: Wir legen alles offen. Meine „Stif-
Nawalny, wir wollen letzt hat: Es hat einen Krieg in Europa los-
getreten. Die Krim ist ein Problem, aber
tung zur Bekämpfung der Korruption“ ist jemand Neues sehen.“ der schmerzlichste Teil der Sanktionen ist
nach russischen Maßstäben gut ausgestat- mit dem Krieg im Donbass verbunden. So-
tet, mit umgerechnet 750 000 Euro Jahres- ob ich ihn schwäche oder stärke! Vielleicht bald Russland reale Schritte unternimmt,
etat. Aber die Einzelspenden liegen im wollte Putin vor einem Monat Medwedew damit dort nicht mehr geschossen wird,
Schnitt bei nur bei 11,50 Euro. entlassen, aber wie soll er das nach mei- wird dieser Teil der Sanktionen entfallen.
SPIEGEL: Persönlich verdienen Sie gut, wie nem Film noch tun? In einem undurchsich- SPIEGEL: Bei Ihren Auftritten sagen Sie:
man an Ihrer Einkommenserklärung sieht. tigen System kann alles irgendwie benutzt Meine Außenpolitik besteht darin, dass
Der russische Staat musste Ihnen 2016 rund werden. Das kann ich nicht ändern. endlich bessere Straßen gebaut und höhere
50 000 Euro Entschädigung zahlen, dazu SPIEGEL: Während Sie im Gefängnis saßen, Löhne gezahlt werden. Das klingt so, als
hatte ihn der Europäische Gerichtshof für sind Russland und die USA wegen Syrien wollten Sie dem Thema ausweichen.
Menschenrechte verurteilt. Wo kamen die auf Konfrontationskurs gegangen. Was hal- Nawalny: Ich weiche nicht aus. Aber ich fin-
restlichen 90 000 Euro her? ten Sie von Putins Syrienpolitik? de, und darin unterscheide ich mich von
Nawalny: Das sind Einnahmen aus meiner Nawalny: Russland sollte sich der Interna- Putin, dass Russland sich nicht isolieren
juristischen Praxis. Man hat mir zwar mei tionalen Koalition gegen den „Islamischen sollte. Alles, was in unserem Land ge-
Staat“ anschließen. Es ist absurd, dass wir schieht, wird mit Syrien oder der Ukraine
* Christian Esch und Christian Neef im Moskauer Büro in einem Krieg zwischen Sunniten und begründet. Aber wenn die eigenen Bürger
von Nawalnys Stiftung. Schiiten aufseiten der Schiiten eingreifen, nur 300 Dollar verdienen, dann wird das
nichts mit der außenpolitischen Macht.
Fangen wir doch mal an, unser eigenes
Land zu kolonisieren. Wenn ich meinen
Bruder im Gefängnis besuche, fahre ich
durch den am dichtesten besiedelten Teil
des europäischen Russlands – und sehe Ki-
lometer um Kilometer keinen Menschen.
Das wäre doch mal eine tolle Möglichkeit,
seine Kräfte einzusetzen.
SPIEGEL: Sie sind das bei Weitem bekann-
teste Gesicht der Opposition, Ihre jungen
Mitstreiter schauen zu Ihnen auf. Steigt Ih-
nen diese Rolle manchmal zu Kopf?
Nawalny: Ich ermuntere alle meine Mitar-
beiter, selbst zu kandidieren. Aber es ist
in diesem System extrem schwierig gewor-
den, ein prominenter Oppositionspolitiker
zu werden. Ich habe gar keine Rivalen
DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL

mehr, mit denen ich debattieren könnte.


Dabei brauche ich Konkurrenz. Und die
Leute werden auch bald genug von mir ha-
ben. Die sagen: Nawalny, immer nur Na-
walny, wir wollen jemand Neues sehen.
SPIEGEL: Herr Nawalny, wir danken Ihnen
Nawalny, SPIEGEL-Redakteure*: „Wir legen alles offen“ für dieses Gespräch.
94 DER SPIEGEL 16 / 2017
Ausland

„Wir wären verhungert“


„Ein Kilo Reis kostet auf dem Schwarz-
markt zwei Euro“, sagt Márquez. „Mein
Monatslohn war nach fünf oder sechs Ta-
gen aufgebraucht.“ Fleisch und Fisch hat
Venezuela In dem einst reichen Land ist die Nahrung knapp. er seit Monaten nicht gegessen, zuletzt
wurde auch Brot knapp.
Wer kann, flieht über die Grenze nach Brasilien. Präsident Maduro Ausgerechnet der Ölstaat Venezuela,
errichtet eine Diktatur. einst eines der reichsten Länder Latein-
amerikas, kann seine Bürger nicht mehr
ernähren. Die Versorgungskrise hat eine

J
osé Márquez hat seine Jeans mit einer fernt. Ihre Plastiksandalen sind durchgelau- humanitäre Katastrophe ausgelöst, in den
Kordel zusammengebunden, damit sie fen, die Habseligkeiten haben sie in Ruck- vergangenen Monaten sind Zehntausende
nicht rutscht. Über 30 Kilogramm habe säcken verstaut. Jetzt betteln sie um Essen Venezolaner nach Kolumbien und Brasi-
er in drei Monaten abgenommen, sagt der und Geld für die Fahrt in die 200 Kilometer lien geflüchtet. Und es werden immer
Lastwagenfahrer aus Maracay, einer Groß- entfernte Provinzhauptstadt Boa Vista. mehr, die ihre Heimat verlassen.
stadt südwestlich von Caracas. Der 53-Jäh- „In Venezuela wären wir verhungert“, Bislang waren es vorwiegend Angehö-
rige war einst ein stattlicher Mann, jetzt ist sagt José Márquez. Dabei war keiner von rige der Ober- und Mittelschicht, die we-
sein Gesicht eingefallen, sein Körper ausge- ihnen arbeitslos. Er und sein Cousin waren gen Misswirtschaft, Gewalt und politischer
mergelt. Zusammen mit seinen Angehöri- Lastwagenfahrer, seine Schwägerin hat als Verfolgung ins Ausland gingen. Sie setzten
gen hockt Márquez am Straßenrand in dem Putzfrau gearbeitet. Aber das Geld reichte sich per Flugzeug in die USA, nach Spa-
brasilianischen Grenzort Pacaraima, über nicht zum Überleben; der monatliche Min- nien und Panama ab, die meisten hatten
1400 Kilometer von seiner Heimatstadt ent- destlohn beträgt umgerechnet etwa 13 Euro. ihr Geld vorher in Sicherheit gebracht.
Nun folgen die Habenichtse auf dem Land-
weg: Arbeiter, Fischer, Bauern und Indi-
gene, die ihren Job verloren haben oder
so wenig verdienen, dass es nicht mehr
zum Überleben reicht.
Für das Regime von Präsident Nicolás
Maduro kommt der Exodus der Armen
einer politischen Bankrotterklärung gleich:
Leute wie die Familie Márquez waren es,
die vor über 18 Jahren seinen Vorgänger
Hugo Chávez an die Macht gewählt hatten.
José Márquez trägt eine Baseballkappe
des von Chávez begründeten Fernsehsen-
ders Telesur, er verehrt den 2013 verstor-
GUTIERREZ / EPA / REX / SHUTTERSTOCK

benen Volkstribun wie einen Heiligen.


„Chávez hätte diese Krise nicht zugelas-
sen“, sagt er. „Maduro hat uns verraten.“
Der Nachfolger kämpft um sein politi-
sches Überleben, mit immer verzweifelte-
ren Mitteln. Vor zwei Wochen entmachtete
der regierungstreue Oberste Gerichtshof
das von der Opposition beherrschte Parla-
Straßenkämpfer in Caracas*: Weg für demokratischen Machtwechsel blockiert ment. Zwar nahmen die Richter ihre Ent-
scheidung nach massiver Kritik aus dem
Ausland zurück. Doch das Regime hat alle
Wege für einen demokratischen Macht-
wechsel blockiert. Denn Maduro und seine
Handlanger fürchten, dass sie wegen Dro-
genhandels und Korruption zur Rechen-
schaft gezogen werden könnten. Sie ver-
wandeln die einstige Demokratie daher
zügig in eine Diktatur.
Über hundert Regierungsgegner sitzen
im Gefängnis; vor einer Woche verbot ein
Gericht dem Oppositionsführer Henrique
Capriles für 15 Jahre die Ausübung politi-
scher Ämter. „Maduro hat eine Diktatur
von Gangstern errichtet“, sagt der Flücht-
ling Márquez.
In Wirklichkeit begann das Drama be-
AGENCIA EFE / IMAGO

reits unter Chávez: Der als linker Heils-


bringer gefeierte Präsident ließ Privat-
betriebe enteignen und zerstörte so die

Flüchtlinge aus Venezuela in Pacaraima: Brasilien ist auf den Ansturm nicht vorbereitet * Am vergangenen Montag.

96 DER SPIEGEL 16 / 2017


SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 15. 4., 20.15 – 21.00 UHR | SKY
Produktionsbasis des Landes. Maduro hielt gen von Unfällen mit den „rollenden Bom-
an diesem Kurs fest – und steuerte das ben“, wie die Autos genannt wurden. Sex, Sünde & Schafott –
Land damit immer tiefer ins Verderben. Auch der Schmuggel von Lebensmitteln Die Frauen von Heinrich VIII.
Solange der Ölpreis stabil war, blieb die war ein einträgliches Geschäft: Brasiliani- In seiner 38 Jahre währenden Re-
Verstaatlichung für die Armen folgenlos: sche Firmen verkauften Reis und Fleisch gentschaft heiratete König Heinrich
Die Regierung importierte 80 Prozent aller nach Venezuela. Oft landete jedoch die VIII. von England sechsmal. Jede
Lebensmittel und verkaufte sie zu subven- Ware, die dort zu subventionierten Preisen seiner Ehefrauen beeinflusste den
tionierten Preisen, ihre Devisenkasse war an die Armen verkauft werden sollte, bei Mann, der sich vom edlen Prinzen
dank der Ölexporte gut gefüllt. Banden, die sie zurück ins Ausland schleus- zu einem wahren Monster wandelte.
Doch dann fiel der Ölpreis von über ten. Seit die Regierung in Caracas weniger
100 Dollar pro Barrel auf weniger als die Lebensmittel importiert, ist der Schwarz-
Hälfte, dem Land gingen die Devisen aus. handel zurückgegangen. Nur das Geschäft SPIEGEL TV MAGAZIN
Die Regierung druckte neues Geld, doch mit Seife, Putzmitteln, Deodorant und Klo- Die Sendung entfällt.
damit heizte sie die Inflation an, die Rate papier blüht. Flüchtlinge bringen Pakete
liegt heute wohl bei über 1000 Prozent. mit subventioniertem Waschmittel über die
Unter den Folgen leiden vor allem die Grenze und verkaufen es in Pacaraima. SPIEGEL TV WISSEN
Armen. Treibstoff wird in diesen Tagen kaum MONTAG, 17. 4., 20.15 – 21.00 UHR | PAY-TV
Sie strömen nun in den Grenzort Paca- noch geschmuggelt, denn der geht Vene- BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
raima, die erste Station für die Migranten. zuela aus. Die Förderanlagen und Raf-
Über 2000 Venezolaner schlafen in Haus- finerien der staatlichen Ölgesellschaft Airbnb – Traum oder Albtraum?
eingängen, unter Markisen oder auf den PDVSA sind mangels Wartung weitgehend Alle zwei Sekunden wird über den
Straßen; sie kampieren neben dem Bus- verfallen, die Regierung importiert Benzin Community-Marktplatz im Internet
bahnhof und kochen auf Holzfeuern. Ihre aus den USA. Die wenigen funktionieren- eine private Wohnung vermietet.
Wäsche waschen sie in den Abwasser- den Tankstellen werden vom Militär be- Doch nicht immer läuft alles glatt.
kanälen, die Kinder spielen im Dreck. Dro- wacht; Autofahrer müssen in langen Touristen und Wohnungsbesitzer
genhandel und Prostitution blühen. Schlangen anstehen. Das Wirtschaftsleben beklagen Betrug und Vandalismus.
Viele Flüchtlinge leiden unter Krankhei- ist praktisch zum Erliegen gekommen.
ten, die in Venezuela nicht behandelt wer- Sogar Ureinwohner des fruchtbaren Tro-
den konnten. Die Kliniken im Krisenland penlandes, die früher vom Fischen und Ja- 37 GRAD
sind kaum funktionstüchtig, Ärzte fehlen, gen lebten, hungern. „Zuerst wurde die DIENSTAG, 18. 4., 22.15 – 22.45 UHR | ZDF
Medikamente und Desinfektionsmittel Milch knapp, dann Mehl und Reis“, erzählt Drogenmissbrauch, Gewalt und se-
sind knapp. Die Säuglingssterblichkeit ist Aníbal Pérez, ein Familienoberhaupt der xuelle Übergriffe – die Mitarbeiter
in vier Jahren um 50 Prozent gestiegen; Warao, der zweitgrößten indigenen Bevöl- des Hamburger Kinder- und Jugend-
und Seuchen, die eigentlich als ausgerottet kerungsgruppe Venezuelas. Seine Kinder
galten, verbreiten sich wieder. schickte er hungrig ins Bett. Als dann sein
Die Flüchtlinge suchen jetzt Hilfe in der Außenbordmotor kaputtging, konnte er
Gesundheitsstation von Pacaraima. Dort nicht mehr fischen; Ersatzteile gab es kei-
wartet der Krankenpfleger Augusto Alfre- ne. Da nahm er Frau und Kinder und
do Pereira da Silva auf sie. „Vor allem die machte sich auf ins 500 Kilometer entfern-
Kinder sind oft unterernährt“, sagt er. te Brasilien. Mit dem Bus fuhren sie zur
Etwa zwanzig Patienten sitzen auf dem Grenze, das letzte Stück gingen sie zu Fuß.
Gang der Krankenstation. Eine alte Frau Seit Ende vergangenen Jahres haust Pé-
ist da, deren Bein von Leishmaniose ent- rez gemeinsam mit 140 weiteren Venezo-
stellt ist, einer Tropenkrankheit. „In Ve- lanern in einer Sporthalle am Stadtrand
nezuela gibt es keine Medikamente“, sagt von Boa Vista, die zur Flüchtlingsunter-
sie. Und auch die Ärzte seien rar, denn kunft umfunktioniert wurde. Er schläft auf
die kubanischen Mediziner, die unter Chá- einer Decke, Anwohner haben Pappkar-
vez in die Armenviertel geschickt wurden, tons, Matratzen und Kleidung gespendet. KJND-Mitarbeiterin
seien abgezogen worden oder geflüchtet. Die Flüchtlinge teilen sich sechs Duschen
Ana López, eine junge Frau aus Barinas, und zwei Toiletten. Nonnen kümmern sich notdienstes (KJND) leisten Hilfe
der Heimatprovinz von Chávez, schickt je- um die Migranten; Neuankömmlinge müs- in akuten Krisensituationen.
den Monat Medikamente in die Heimat, sen sie allerdings abweisen: kein Platz. SPIEGEL TV hat die Helfer bei ihren
für ihren Vater, der ein Magengeschwür Brasiliens Behörden sind auf den An- nächtlichen Einsätzen begleitet.
hat. Mit ihrer zwölfjährigen Tochter hockt sturm nicht vorbereitet, das Land steckt
sie in Pacaraima am Straßenrand. Sie selbst in einer tiefen Wirtschaftskrise. „Un-
schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, sere Regierung ignoriert das Flüchtlings- SPIEGEL TV REPORTAGE
gerade hat sie für umgerechnet 60 Cent problem“, klagt Sozialarbeiterin Telma DIENSTAG, 18. 4., 23.45 – 0.40 UHR | SAT.1
den Gehsteig vor einem Laden gefegt. An- Lage. Die Stadtverwaltung von Boa Vista
dere Jobs gibt es in Pacaraima kaum. kommt nur für das Frühstück auf. Kindeskinder – Wenn Teenager
Früher lebte der Grenzort vor allem Supermärkte und örtliche Händler brin- Mütter werden
vom Benzinschmuggel: Ein Liter kostet in gen gelegentlich übrig gebliebenes Gemü- Liza ist 14, als sie ihren ersten Sohn
Venezuela nicht einmal zehn Cent. In um- se und Obst vorbei. Aber auch das reicht zur Welt bringt, Vanessa hat mit
gebauten Autos mit Extratanks brachten nicht. Gerade wurden die ersten Flüchtlin- 19 Jahren bereits zwei Kinder, und
Schmuggler den Treibstoff über die Gren- ge auf der städtischen Müllkippe gesichtet. Alicia ist 16 und schwanger. Mütter,
ze und verkauften ihn in der Provinzhaupt- Sie suchten nach Essensresten. die selbst noch halbe Kinder sind.
stadt Boa Vista für ein Vielfaches. Ausge- Jens Glüsing In Flensburg finden sie Zuflucht im
brannte Autowracks am Straßenrand zeu- Mail: jens.gluesing@spiegel.de Haus Regenbogen.
DER SPIEGEL 16 / 2017 97
Ausland

Die Prinzlinge
USA Ivanka Trump steht mit ihrem Mann Jared Kushner im Zenit
der Macht. Das Paar wirkt angeblich mäßigend auf Donald Trump
und ist für ihn unentbehrlich. Wie konnte es dazu kommen?

Z
u den Geschichten, die Ivanka Kurz nach dem US-Angriff auf eine sy-
Trump gern erzählt, um die Bezie- rische Luftwaffenbasis schrieb Ivanka auf
hung zu ihrem Vater zu illustrieren, Twitter: „Stolz auf meinen Vater, dass er
gehört die von der Kreditkarte, die sie für diese grauenvollen Verbrechen gegen die
ihre Halbschwester Tiffany organisierte. Menschheit nicht akzeptiert.“ Es klang fast
Es war, wie sie sich erinnert, kurz vor wie: Seht her, was ich bewirken kann.
Weihnachten 2008, als sich Tiffany mit ei- Das Irritierende ist, dass bei Ivanka Re-
nem „Dilemma“ an sie wandte: Sie brauch- gierungsaufgaben und Privatleben über-
te mehr Taschengeld, wusste aber nicht, gangslos ineinanderfließen. Auf ihrem
wie sie das ihrem Vater beibringen sollte. Instagram-Account folgen Fotos von Kin-
Donald Trump mag es nicht, wenn ihn je- dergeburtstagen auf Bilder, die sie neben
mand einfach mal so zwischendurch um dem chinesischen Präsidentenpaar zeigen.
mehr Geld bittet, egal wer. Bei ihr gibt es keine Grenze zwischen Fa-
Es gab aber durchaus gute Gründe, ihn milie und Weltpolitik, alles ist eins, sie be-
um Geld zu bitten, fand Ivanka. Anders dient den Voyeurismus der amerikani-
als sie und ihre Geschwister lebte Tiffany schen Öffentlichkeit so geschickt wie die
nicht in New York, sondern mit ihrer Mut- Tochter eines europäischen Königshauses.
ter in Kalifornien, profitierte deshalb auch Zusammen mit ihrem Mann Jared, einem
nicht von den „schönen Geschenken ohne 36-jährigen Immobilienmagnaten mit Milch-
erkennbaren Grund“, die Donald Trump gesicht und Waschbrettbauch, hat sie sich in
seinen Kindern gewährte. Ein Nachteil, der den vergangenen Monaten schrittweise bis
ausgeglichen werden musste. in den inneren Zirkel der Macht vorgearbei-
Ivanka beschloss, es sei am besten, wenn tet, in das Herz der immer noch chaotischen
sie sich der Sache annehme. „Ich bin zu Regierung Trump. Ivanka hat seit gut zwei
unserem Vater gegangen“, schreibt Ivanka Wochen einen offiziellen, unbezahlten Job
Trump in ihren Erinnerungen, „und habe als Beraterin ihres Vaters im Weißen Haus.
ihm vorgeschlagen, dass er Tiffany zu Gleichzeitig erscheint ihr Mann zunehmend
Weihnachten mit einer Kreditkarte mit als der wichtigste Berater des Präsidenten.
einem kleinen Ausgabenrahmen überra- Jared Kushner verfügt über ein Portfolio,
schen könnte. Und tatsächlich, das hat er das eigentlich nur ein Übermensch bewäl-
dann auch gemacht.“ tigen kann. „SuperJared“ nannte ihn die
Im Grunde hat sich seitdem nicht sehr „New York Times“. Er reist als eine Art
viel geändert. Zwar hat Ivanka als Mana- Schattenaußenminister durch die Welt,
gerin und Modedesignerin Karriere ge- trifft sich im Irak mit dem Premier und
macht, lebt mit ihren drei Kindern und lässt sich mit einer kugelsicheren Weste
ihrem Mann Jared inzwischen in Washing- über dem eng geschnittenen Jackett mit
ton und hat vor Kurzem ein Büro im Wei- US-Soldaten im Kampf gegen den IS ab-
ßen Haus bezogen. Aber sie ist trotzdem lichten. Er hat den Besuch des chinesischen
POLARIS / LAIF

Daddy’s Girl geblieben. Mit dem winzigen Präsidenten Xi Jinping in den USA vorbe-
Unterschied, dass Daddy jetzt Präsident reitet und den Auftrag erhalten, für Frie-
der Vereinigten Staaten ist. Die 35-jährige den zwischen Israelis und Palästinensern
Ivanka ist die derzeit mächtigste Tochter zu sorgen. Außerdem soll er die Strafjustiz
der Welt, womöglich die einflussreichste reformieren, die Verwaltung umbauen,
First Daughter der US-Geschichte. sich um die Betreuung der Veteranen küm- nen von ihrer Machtposition mittelfristig
Und sie hat offenbar sogar die Macht, mern und nebenbei die Opioid-Epidemie auch geschäftlich profitieren.
ihren Vater zum Krieg zu bewegen. Ihr in diversen Bundesstaaten bekämpfen. Es ist nicht nur anstößig, sondern auch
Bruder Eric Trump sagte dem britischen Es ist eine Ämterhäufung im Familien- verfassungsmäßig fragwürdig, dass die bei-
„Independent“, sein Vater habe nach dem kreis, wie man sie eher aus autokratischen den im Weißen Haus plötzlich so viel Ein-
Chemiewaffenangriff in Syrien auch des- Regimen in Zentralasien kennt. Ein Ehe- fluss besitzen. Der Aufstieg des Ehepaars
halb einen Vergeltungsschlag gegen das paar, das sich bisher vor allem mit Immo- Trump/Kushner muss Zweifel daran we-
Assad-Regime angeordnet, weil Ivanka bilien und New Yorker Societypartys aus- cken, ob die demokratischen Kontrollen
„voller Wut und mit gebrochenem Herzen“ kannte, hat jetzt eine zentrale Position in richtig funktionieren. Zugleich bringt das
auf diese Ungeheuerlichkeit reagiert habe. der Regierung. Ivanka Trump und Jared Paar die Kritiker des Präsidenten in eine
„Ivanka ist die Mutter dreier Kinder, und Kushner wurden in kein Amt gewählt, ge- komplizierte Lage: Sollen sie den beiden
sie hat Einfluss“, sagte Eric. „Ich bin mir hören keiner Partei an und sind im politi- etwa gar dankbar sein, dass sie von Vet-
sicher, sie sagte: ,Hör zu, das ist eine grau- schen Alltagsgeschäft unerfahren, wenn ternwirtschaft profitieren, weil sie mäßi-
enhafte Sache.‘“ man höflich sein möchte. Und beide kön- gend auf Trump einwirken? Und wo war
98 DER SPIEGEL 16 / 2017
Ehepaar Kushner/Trump beim Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi*: „Daddy, Daddy, wir müssen das unbedingt machen“

dann dieser angebliche „positive Einfluss“ Ivanka Trump auf und stellte ein Parfum liebe. Sie soll die gute Trump sein, die Frau,
beim Einreiseverbot des Präsidenten für namens „Complicit“ vor, auf Deutsch: mit- die Daddy zur Räson bringt. Der verrückte
Bürger muslimischer Staaten oder bei des- schuldig. Beleidigt sagte Ivanka Trump da- absolute Herrscher, der nur von seiner gü-
sen Versuch, Millionen Amerikanern ihre raufhin in einem Interview, sie wolle doch tigen Tochter im Zaum gehalten werden
Krankenversicherung zu entziehen? nur „eine Kraft für das Gute sein und einen kann. Klingt fast wie in einem Märchen.
Das Ehepaar Ivanka und Jared stammt positiven Einfluss ausüben“. Sie schalte Doch ein Teil der Amerikaner schaut auf
aus einem Milieu, das den Demokraten sich bei Fragen ein, die ihr wichtig seien. das Ehepaar in der Hoffnung, dass doch
nahesteht und das in den beiden deshalb Die Botschaft war: Vertraut mir. alles nicht so schlimm kommt wie befürch-
Verräter sieht – und dem sie umgekehrt Einer von Ivankas Freunden erzählte der tet. Dieser Anschein von Zivilisiertheit und
signalisieren wollen, dass sie doch eigent- Zeitschrift „Vogue“, dass jene Hälfte Ame- Ordnung ist genau das, was Trump im Au-
lich zu den Guten gehören. rikas, die Donald Trump hasse, Ivanka genblick braucht.
In einem brutalen Sketch der Comedy- Abgesehen von einigen freundlichen
Sendung „Saturday Night Live“ trat Scar- * Mit US-Präsident Donald Trump in dessen Ferien- Kommentaren nach dem Syrien-Einsatz
lett Johansson vor einigen Wochen als domizil Mar-a-Lago in Florida am 7. April. reiht sich eine Katastrophenwoche an die
DER SPIEGEL 16 / 2017 99
Ausland

nächste. Die gescheiterte Gesundheits- chinesischen Präsidenten beim Essen am Marke, und damit macht sie sich vermeint-
reform, die Untersuchungen zu den Russ- nächsten saß, war übrigens Jared Kushner. lich so unentbehrlich.
land-Verbindungen seines Wahlkampf- Xi hingegen muss dessen Funktion sehr Es ist nicht das erste Mal in der Ge-
teams, all die Rücktritte, Rausschmisse und bekannt vorgekommen sein: In China hei- schichte der Vereinigten Staaten, dass der
Eklats – es vergeht kaum ein Tag ohne ßen Leute wie er „Prinzlinge“, sie sind die Tochter eines Präsidenten mehr als nur
neue Horrormeldungen aus Washington. Kinder der Mächtigen und genießen Pri- eine repräsentative Rolle zukommt. Alice
Mit dem Aufstieg von Ivanka und Jared vilegien, die Normalsterbliche nicht haben. Lee Roosevelt Longworth, die älteste
in den letzten Wochen ist auch der Abstieg Trump hat seine Tochter gern in seiner Tochter Theodore Roosevelts, heiratete ei-
der rechten Eiferer verbunden. Zu den De- Nähe, vor allem in triumphalen Momen- nen Parlamentarier und späteren Sprecher
montierten oder Ruhiggestellten zählen ten. Sie darf neben ihm stehen, dort, wo des Repräsentantenhauses. Schon deshalb
Trumps rechter Chefstratege Stephen Ban- bei anderen Politikern die Ehefrauen zu hatte sie eine herausgehobenere Position
non, der frühere Sicherheitsberater Mi- finden sind. Bei großen Reden, am Abend als andere Präsidententöchter. Alice stand
chael Flynn und die Sprecherin Kellyanne seiner Wahl, in der Ballnacht seiner Amts- nicht nur neben ihrem Vater, wenn er
Conway, die zuletzt behauptet hatte, Oba- einführung. Wenn die Nähe Ivankas zu etwa an Thanksgiving einen Truthahn be-
ma habe Trump mithilfe von Mikrowel- ihrem Vater bei Auftritten ein Maß für gnadigte, wie es Tradition ist. Sie ging für
lenöfen überwachen lassen können. Bedeutung ist, dann ist sie die wahre First ihn auch auf Auslandsreisen und führte
Zwischen Jared Kushner und Stephen Lady, nicht Melania. diplomatische Missionen an, nach China,
Bannon herrscht seit Wochen offener Ivanka gelingt das Kunststück, ihren Va- Korea, Japan sowie auf die Philippinen.
Streit. Es ist mehr als nur ein Krieg unter ter als Idol darzustellen, sich gleichzeitig Sie repräsentierte nicht nur, sie machte
Alphatieren, es geht um die großen Fra- aber als unabhängige Person zu definieren, Politik.
gen, es geht um die Ausrichtung von
Trumps Präsidentschaft. Bannon gilt als
der Architekt jener „America First“-Stra-
tegie, die Trump den Sieg brachte und die
sich vor allem an die frustrierten Weißen
richtete: gegen Einwanderung, für wirt-
schaftlichen Protektionismus, gegen die
Globalisierung, gegen militärische Einmi-
schung im Rest der Welt. Der Zirkel um
Ivanka und Jared dagegen glaubt nicht an
Isolation, er ist nicht dagegen, sich in der
Welt zu engagieren, und steht dem Frei-
handel offener gegenüber. Sie gelten dem
Bannon-Lager als „Globalisierer“, die
Trumps Wähler verraten wollen.

DOMINIQUE A. PINEIRO / ZUMA / DDP IMAGES


Die Anzeichen dafür, dass der Kushner-
Flügel bald den Bannon-Flügel erledigt ha-
ben könnte, mehren sich. Zunächst wurde
der Chefstratege aus dem Leitungsgremi-
um des Nationalen Sicherheitsrates wieder
entfernt. Auch der Militärschlag gegen As-
sad war eine Niederlage für ihn. Am
Dienstag sagte der Präsident in einem In-
terview mit der „New York Post“, er möge
„Steve“ ja, aber der sei in Wahrheit auch Trump-Schwiegersohn Kushner im Irak: „Ich denke, er kann hilfreich sein“
erst sehr spät im Wahlkampf zum Team
hinzugestoßen. Es klang nicht nach enthu- in Abgrenzung zu ihm, und ihn dennoch Auch Julie, eine Tochter Richard Nixons,
siastischer Unterstützung. zu loben. Ihr Vater sei, sagte sie voriges war mehr als nur die Statistin einer per-
In Trumps Rangliste seiner persönlichen Jahr zur Überraschung aller, ein Feminist. fekten Familie. Am Ende von Nixons
Werte steht Familie auf Platz eins, auf Sie sprach von dem Mann, der sich regel- Amtszeit, während des Watergate-Skan-
Platz zwei: Loyalität. Trump hat eine Nei- mäßig abfällig über sein weibliches Umfeld dals, verteidigte sie ihren Vater gegen Vor-
gung, jene Leute zu belohnen, die immer äußert, der mehrfach wegen sexueller Be- würfe, er sei ein Lügner. Sie war die Frau
zu ihm gehalten haben. Aber die Familie lästigung angezeigt wurde und damit prahlt, an seiner Seite, die ihn bis zuletzt vor dem
steht immer über allem. Frauen in den Schritt zu fassen, einfach so. Rücktritt zu bewahren versuchte.
Die Familie war es auch, die am vergan- Der „Grab them by the pussy“-Trump. Aber vermutlich nahm keine Tochter so
genen Wochenende einen großen Auftritt Ivanka verurteilte diese Entgleisungen unverhohlen und fröhlich Einfluss auf den
hatte, als Trump seinen chinesischen Amts- ihres Vaters zwar als „eindeutig unange- Präsidenten wie Ivanka Trump. Während
kollegen Xi in seinem Golfklub in Florida messen und beleidigend“. Gleichzeitig des Wahlkampfs bat sie ihren Vater, sich
zu Gast hatte. Trumps Enkel Arabella und stellt sie sich aber vor ihn, indem sie er- für mehr Kinderbetreuung und Elternzeit
Joseph, die Kinder von Ivanka und Jared, klärt: „Den größten Trost finde ich darin, einzusetzen. „Daddy, Daddy, wir müssen
durften wie auf einem Familienjubiläum dass ich weiß, wie mein Vater wirklich ist.“ das unbedingt machen“, flehte sie. Trump
auftreten. Beide Kinder hatten die Ehre, Sie betreibt ein geschicktes Doppelspiel. gab seiner Tochter nach, auch wenn das
dem chinesischen Präsidenten ein chinesi- Einerseits beteuert sie volle Loyalität dem nicht mit Trumps Plan in Einklang zu brin-
sches Gedicht vorzutragen und ein Volks- Patriarchen gegenüber. Andererseits ge- gen war, den Staat zurückzudrängen und
lied vorzusingen. Xi wiederum wurde ge- steht sie seine Schwächen ein, die in seiner Steuern zu kürzen.
nötigt zu klatschen. Es war ein Moment Persönlichkeit, aber auch die in seiner Ivanka und Jared geben sich Mühe, trotz
zum Fremdschämen. Der Berater, der dem Politik. Das macht sie zu einer eigenen ihres Reichtums wie eine relativ normale
100 DER SPIEGEL 16 / 2017
Familie auszusehen, mit relativ normalen
Problemen. Ivanka zählt gern auf, in wel-
chen Ländern sie in ihrem jungen Leben
schon war und wo sie nicht nur Geschäfte
gemacht hat, sondern auch gern in Restau-
rants geht, die keine amerikanischen Gerich-
DER SPIEGEL
te servieren. Sie sei da anders als ihr Vater,
schreibt sie, eher wie Trumps zweite Ehefrau
Ivana, ihre Mutter, mit der sie die halbe Welt
bereist haben will. So begriff sie, dass die
im Gespräch mit
Wickert, Augstein,
Welt „voller interessanter, passionierter und
unglaublich dynamischer Menschen war“.
Menschen vor allem, die noch nie in einem
der Gebäude ihres Vaters gewesen waren.
„Mein Vater ist eher ein Stubenhocker“,
schreibt Ivanka Trump. Ginge es nach ihm,
würde er New York nur selten verlassen.
„Seine Vorstellung eines perfekten Abends
Himmelreich: live
ist, in seinem Penthouse Football zu schau-
en.“ Selbst auf Reisen bevorzugt er ein

P. Schimweg

Gudrun Senger

Grey Hutton/VICE
kontrolliertes Umfeld, weshalb er am liebs-
ten in seinen eigenen Hotels wohnt, im
Mar-a-Lago in Palm Beach oder den Golf-
Ressorts in New York und New Jersey.
Wenn Trump isst, dann Steak mit Pommes
frites, dazu eine Cola light mit Eiswürfeln.
Es ist nicht ganz klar, was Donald Trump
über seinen Schwiegersohn Jared Kushner
denkt, der so ganz anders ist als er. Aber
er hat ihn offensichtlich akzeptiert. Trump
sieht in Jared weniger einen Konkurrenten
als einen ambitionierten Jüngling, der ver-
sucht, dem Großmeister, also ihm, im Im-
mobiliengeschäft nachzueifern. Zwar hat Journalismus – drei Generationen, eine Bestandsaufnahme:
Kushner mehr für sein Hochhaus auf der
Fifth Avenue bezahlt als sein Schwieger- 70 Jahre nach Gründung des SPIEGEL ist die Pressefreiheit in
vater für den Trump Tower. Dafür ist Jareds den Demokratien des Westens nicht mehr selbstverständlich.
Wolkenkratzer niedriger, um 55,20 Meter.
„Jared ist ein smarter Junge, ein guter
Wie funktioniert Journalismus in Zeiten von Fake News und
Junge“, sagt Trump. „Die Leute, die ihn Propaganda? Welche Chancen bieten Digitalisierung und soziale
kennen, wissen, dass er viele Qualitäten Medien? Und was wollen die Leser? Über diese Fragen diskutieren
hat. Ich denke, er kann sehr hilfreich sein.“
Kushner wacht mit darüber, wer zum der ehemalige Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert, SPIEGEL-
Präsidenten vorgelassen wird, wer ange- Kolumnist Jakob Augstein und die Chefredakteurin von
hört wird und wer nicht. Halb Washington
versucht gerade, seine Aufmerksamkeit zu VICE.com Laura Himmelreich. Moderation: Christiane Hoffmann,
gewinnen, das verleiht ihm beispiellose stellvertretende Leiterin des SPIEGEL-Hauptstadtbüros
Macht. Seine Geschichte ist die Erzählung
eines jungen Mannes, der sich dauernd ge-
gen Widerstände behaupten muss, um
oben zu bleiben.
Drei traumatische Erfahrungen prägten
ihn: der Gefängnisaufenthalt seines Vaters,
Dienstag, 2. Mai 2017, 20.00 Uhr, Spiegelsaal,
die Finanzkrise und die Begegnung mit Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin
Donald Trump.
Kushner wurde als Sohn eines Immobi-
lienunternehmers in New Jersey geboren.
Die Familie war insofern politisch, als dass Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.
sie hohe Summen an Kandidaten der Eintritt: 15,30 Euro, ermäßigt 12 Euro. Einlass ab 19 Uhr.
Demokraten gab. Kushners Vater Charlie Änderungen vorbehalten.
spendete mindestens anderthalb Millio-
nen Dollar an die Partei, auch an Hillary
Clinton, und war kurz davor, selbst in die
Politik zu wechseln. Dann stolperte er
aber über eine Finanzaffäre.
Charlies älterer Bruder warf Charlie
Missmanagement vor, das war Anfang der
DER SPIEGEL 16 / 2017 101
Ausland

Nullerjahre. Gleichzeitig zeigte ihn ein frü- lary Clintons Tochter Chelsea und deren reden. Er baute im Verborgenen, über Mo-
herer Buchhalter an, weil die Spenden Mann. nate hinweg Brücken zu den vermeintlichen
nicht vom Privatvermögen der Kushners In Trumps Wahlkampf, der zu Beginn Gegnern. Zu den Chinesen, zum Außenmi-
stammten, sondern vom Firmenkonto. vollkommen plan- und kopflos war, entwi- nister von Mexiko. Lobbyisten, ausländi-
Charlie vermutete, dass seine Schwester ckelte Kushner Ideen für eine Steuerreform sche Botschafter, Premierminister und Un-
mit den Ermittlern kooperierte. Aus Rache und bessere Handelsabkommen. Nach und ternehmer wissen, dass er der Kanal ins
setzte er eine Prostituierte auf ihren Mann nach arbeitete er sich nach oben, bis er Weiße Haus ist. Er ist der Stoßdämpfer der
an und schickte die kompromittierenden schließlich ein großes Datencenter mit 100 Regierung, der Diplomat, der stille Strip-
Bilder seiner Schwester. Die „Sopranos“ Mitarbeitern leitete, wo Facebook-Kampa- penzieher. Kushners Aufgabe, mit einem
waren weniger intrigant. Am Ende wurde gnen geplant, Videos produziert und Helfer neuen „Amt für amerikanische Innovation“
Charlie zu zwei Jahren Haft verurteilt. rekrutiert wurden. Kushner wurde zum die Verwaltung aufzubrechen, gibt ihm in
Jared hielt die ganze Zeit zu seinem Va- Hirn der Kampagne. „Ich habe mich ge- Ministerien enorm viel Macht. Trump hat
ter. Die Episode hatte die Familie zusam- fragt: Wie kann ich Trumps Botschaft für angekündigt, die Budgets wichtiger Res-
mengeschweißt, die Kushners sahen sich einen möglichst niedrigen Preis an die Ver- sorts zu kappen, Kushner soll den Staat
als Opfer. Das war die erste Lektion für braucher bringen?“, erzählte Kushner. umbauen, indem er ihn verkleinert und
Jared: Die Familie kommt zuerst. Die zwei- Seit dem Wahlsieg lebt er mit Ivanka und effizienter macht. Staatssekretäre und Ab-
te Lektion, nach der Finanzkrise, lautete: den Kindern in Washington, im Reichen- teilungsleiter klopfen jetzt bei dem Schwie-
Arbeite hart, dann steigst du wieder auf. viertel Kalorama, unweit von Barack und gersohn des Präsidenten an und versuchen,
Er hatte nie Geldsorgen, schon während Michelle Obama. Doch in der Hauptstadt die brutalsten Kürzungen abzuwenden.
der Zeit in Harvard machte er Millionen wird plötzlich Kushners Vergangenheit be- Außerdem hat er Kontakte zu den
Managern großer Unternehmen geknüpft,
darunter Tim Cook von Apple, Ginni Ro-
metty von IBM und dem Tesla-Chef Elon
Musk. Sie sollen helfen, den großen Um-
bau mit eigenen Ideen voranzutreiben.
Noch hat Kushner wenige Fehler gemacht,
die Reaktionen aus der Wirtschaft sind bis-
lang überwiegend positiv.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel auf
Donald Trump traf, saß sie am Kabinetts-
tisch neben Ivanka Trump. Auf den Fotos,
die dabei entstanden, sah Merkel nicht be-
sonders glücklich aus über diese Sitzord-
PATRICK SEMANSKY / AP PHOTO / PICTURE ALLIANCE

nung. Doch in Hintergrundgesprächen ver-


breiteten Mitarbeiter Merkels anschließend,
Ivanka habe konzentrierter und besser vor-
bereitet gewirkt als der Präsident.
Man kann sich vorstellen, dass sie und
Jared diese Präsidentschaft mitprägen, als
Prinzenpaar. Es ist möglich, dass sie helfen
können, die Marke Trump zu entgiften.
Aber der Präsident, das sind nicht sie, das
ist der Alte. Das ist der Mann, der als Mus-
limfeind, Mauerbauer und krankhafter
Glamour-Paar Trump/Kushner: Die Familie kommt immer zuerst Lügner durchs Land zog und der die Res-
sentiments und den Rassismus der Wäh-
mit Immobiliendeals. Kommilitonen be- leuchtet. Es stellt sich heraus, dass chinesi- lerschaft bediente. Darüber kann das Gla-
schreiben ihn als netten, aber etwas hüft- sche Investoren an seinem Wolkenkratzer mourpaar nicht hinwegtäuschen.
steifen Kerl, der lieber Anzughemden als interessiert waren. Wenn Kushner gleich- Und zumindest im Moment sind auch
T-Shirts trug und Partys mied. Nach dem zeitig mit chinesischen Diplomaten über die Ideologen noch da, Stephen Bannon
Studium zog er nach New York. den Besuch des chinesischen Präsidenten hat noch ein Büro im Weißen Haus. Die
Kushner wollte nach oben, nicht zu den verhandelt, überlappen sich wirtschaftliche Männer mit den dunklen Ideen kämpfen
Reichen, sondern zu den Schönen und Interessen gefährlich stark mit der Politik. um ihren Platz am Hof. Bannon sagte kürz-
Schlauen, es war der Wunsch des Bau- Die Verflechtungen von Geschäft und lich, er liebe eine ordentliche Schießerei.
unternehmers nach sozialer Anerkennung. Politik könnten zu einem Problem für ihn Der Streit zwischen den beiden Lagern
Schon damals war es herrlich altmodisch, werden. Außerdem werden Kushners Kon- ist in den vergangenen Wochen derart aus-
dass sich Jared, um sein Ziel zu erreichen, takte nach Russland untersucht. Im De- geartet, dass Trump Bannon und Kushner
für zehn Millionen Dollar eine Zeitung zember traf er sich mit dem russischen Bot- öffentlich ermahnte, miteinander auszu-
kaufte: den angesehenen, verschrobenen, schafter und dem Chef der staatlichen rus- kommen. Doch wenn sie das nicht schaf-
leicht dandyhaften „New York Observer“. sischen Bank für Außenwirtschaft, die fen, kann in Wahrheit nur einer der beiden
Ivanka lernte er über einen Bekannten Sanktionen unterliegt. Der Geheimdienst- Streithähne entlassen werden. Denn der
kennen. Nach einem holprigen Start und ausschuss des Senats, der die Beeinflus- andere gehört zur Familie.
einer kurzen Trennung überzeugte er sie, sung der US-Wahl durch Russland unter- Marc Hujer, Christoph Scheuermann
zum Judentum zu konvertieren und ihn sucht, will Kushner deshalb anhören.
zu heiraten. Zu ihren Freunden zählen All das konnte seinen Machtzuwachs bis- Lesen Sie auch auf Seite 118
der Medienmogul Rupert Murdoch und lang nicht stoppen. Wer heute in der Regie- Amerikas Intellektuelle und ihr Verhältnis
dessen Exfrau Wendi Deng, aber auch Hil- rung etwas bewegen will, muss mit Kushner zu Donald Trump

102 DER SPIEGEL 16 / 2017


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Medizin paar Wochen von ganz allein, Schweitzer: Mit Sicherheit.
„Nicht gleich zum Atemwegsinfektionen gern Die Menschen sitzen ja nicht
noch viel früher. Da braucht stundenlang im Wartezim-
Arzt rennen“ es keine Spritzen oder Anti- mer, damit der Arzt ihnen
Die Medizinerin biotika, die haben nur poten- sagt: Wir warten erst mal ab.
Ragnhild zielle Nebenwirkungen. Es ist Viele fühlen sich erst dann
Schweitzer, 44, oft viel gesünder, nicht gleich gut versorgt, wenn der Doktor
über aktionisti- zum Arzt zu rennen. sie mit moderner Technik
sche Mediziner, SPIEGEL: Die Mediziner sind untersucht und eine Therapie
schädliche Sprit- doch nicht verpflichtet, angeordnet hat. Mein Mann
zen und Patien- Apparate anzuwerfen und und ich machen da keine Aus-
ten, die unbe- Therapien anzuordnen. nahme: Wir haben auch oft
Schweitzer: Natürlich nicht. direkt losgelegt, wenn es um
EVA HÄBERLE

dingt behandelt
werden wollen – Aber Ärzte haben einfach die Gesundheit unserer
egal wie mehr Gründe, etwas zu tun, Kinder ging – obwohl wir es
als etwas nicht zu tun. Sie eigentlich besser wussten.
SPIEGEL: Sie sind Ärztin, raten verdienen kaum Geld, wenn Unser Sohn ist wegen dieses
in Ihrem Buch „Fragen Sie sie nur mit dem Patienten re- Aktionismus sogar einmal
weder Arzt noch Apotheker“ den und auf eine Behandlung operiert worden!
aber davon ab, bei Beschwer- verzichten – und viele haben SPIEGEL: Und was soll man
den sofort einen Doktor zu Angst davor, etwas zu überse- tun, wenn man an einen
konsultieren. Warum? hen und dann verklagt zu aktionistischen Arzt gerät?
Schweitzer: Weil der Schaden werden. Also lassen sie etwa Schweitzer: Ein guter Trick ist
medizinischer Maßnahmen bei Rückenschmerzen ein es, ihn Folgendes zu fragen:
häufig größer ist als ihr Nut- Röntgenbild anfertigen, ob- Was passiert eigentlich, wenn
zen. Und weil der Körper vie- wohl das fast immer mehr wir gar nichts tun und erst
les gut in den Griff bekommt, schadet als nutzt, wie Studien mal abwarten? Das wird ihn
ohne dass es dazu der Hilfe zeigen. sicher zum Nachdenken
eines Arztes bedarf. Akute SPIEGEL: Lassen sich die Ärzte bringen. Und vielleicht hilft
Schmerzen im Kreuz etwa auch von der Erwartungshal- es, sich vor Schaden zu be-
verschwinden meist nach ein tung der Patienten treiben? wahren. gk

Astronomie punkt der Annäherung um schlagen, wären Sorgen durch-


Passage eines 14.24 Uhr deutscher Sommer- aus berechtigt. „2014 JO25“
zeit in 1,8 Millionen Kilome- ist im Durchmesser immerhin
Trumms ter Entfernung am Planeten gut 30-mal so groß wie der
Am Mittwoch wird ein unge- vorbeiziehen. Wer ein Ama- Meteor von Tscheljabinsk,
wöhnlich großer Asteroid un- teurteleskop hat, wird „2014 der am 15. Februar 2013 über
gewöhnlich nahe an die Erde JO25“ womöglich sehen kön- dem russischen Ural nieder-
herankommen. Das Objekt nen, denn der Asteroid leuch- ging und fast 1500 Menschen
„2014 JO25“, eingestuft als tet besonders hell. Wer ihn verletzte. Die nächste Passage
„potenziell gefährlich“, hat ei- verpasst, muss indes lange eines Himmelskörpers ähn-
Fußnote

8
nen Durchmesser von rund warten: So nahe kommt er in licher Größe wird für August
650 Metern und ist wohl Mil- den nächsten 500 Jahren 2027 erwartet. „1999 AN10“
lionen Tonnen schwer. Nach nicht vorbei. wird in 380 000 Kilometer
Berechnung von Nasa-Astro- Hätte der Koloss einen Nähe an der Erde vorbeisau-
nomen wird es zum Höhe- leicht anderen Kurs einge- sen, so nah wie der Mond. me
Prozent
der US-Raucher rauchen
gern, hat eine neue Studie
der Georgia State Uni-
versity ermittelt. 21 Pro-
zent sind unsicher, ob
ihnen der Tabak wirklich
zusagt. 71 Prozent der
Konsumenten empfinden
jedoch Reue, überhaupt
je mit dem Rauchen begon-
nen zu haben. Offenbar
ist kein anderes Produkt
der Industriegeschichte
selbst bei seinen regel-
mäßigen Nutzern der-
maßen unbeliebt – ein
AP

Meteor kurz vor dem Einschlag bei Tscheljabinsk 2013 trauriger Rekord.

104 DER SPIEGEL 16 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Endlich Regen
Kaliforniens ewige Dürre ist vorbei. Milliarden Samen von
Wildblumen haben über Jahre auf Wasser gewartet, jetzt legen
sie los: Ein spektakulärer „Super Bloom“ hat ein ödes,

ROBYN BECK / AFP


trockenes Tal nordöstlich von Los Angeles für eine kurze Weile
in ein Blütenparadies verwandelt.

Kommentar

Peitschen verboten
„No Sex Please, We’re British“ – das gilt jetzt auch im Internet. Und es ist eine Schande.
Muss man Pornografie mögen? Sicher nicht. Aber jeder sollte behörde. Eine ganze Reihe eher willkürlich ausgesuchter
sie verteidigen. „Pornografie ist der Kanarienvogel in der Sexualpraktiken darf in Großbritannien nicht mehr gezeigt
Kohlenmine der Meinungsfreiheit“, sagt der aufs Obszöne werden. Verboten ist es, wenn Darsteller aufeinander urinieren,
spezialisierte britische Anwalt Myles Jackman. „Wird dieser sich große Gegenstände oder mehr als vier Finger in Körper-
Angriff auf Bürgerrechte hingenommen, dann fallen in der öffnungen einführen, hart schlagen oder peitschen (lassen).
Folge weitere Freiheiten.“ Pornodarstellerinnen dürfen sich auch nicht mehr ganz auf das
Der Mann hat recht. Erst Brexit, dann dies: Ein neues Gesicht eines Mannes setzen („face-sitting“) oder sich bei der
britisches Gesetz fordert demnächst von jedem, der im Netz weiblichen Ejakulation („squirting“) filmen lassen, soweit die-
Pornografie sehen will, einen eindeutigen Altersnachweis. se auf einen anderen Körper erfolgt. Besonders bizarr: Jede
Was zunächst nicht unvernünftig klingt, kann allzu leicht zu dieser Praktiken ist legal unter einvernehmlich handelnden
staatlichen Registern aller Schmutzfinken samt ihrer Vorlie- Partnern – nur Abbildungen davon, die sind plötzlich illegal.
ben führen. Es dürfte nicht lange dauern, bis solch ein System Für die Mehrheitsgesellschaft mag all das verzichtbar sein,
gehackt wird und als digitaler Schandpfahl missbraucht wird. für viele sexuelle Minderheiten aber nicht: Sie sehen sich dis-
Noch bedenklicher: Was britische Pornografiefreunde zu kriminiert. Wegen „widernatürlicher Unzucht“ wurde einst
Gesicht bekommen, das bestimmt nicht länger ihr eigener Ge- auch in Deutschland Analverkehr unter Männern unter Strafe
schmack, so seltsam er auch sein mag, sondern eine Zensur- gestellt. Kehren solche Zeiten nun zurück? Marco Evers

DER SPIEGEL 16 / 2017 105


Technik

H für Hohn
Verkehr Immer mehr Altautos gelten als Oldtimer. Doch verdienen die
Massenprodukte der Achtzigerjahre wirklich die Aufwertung zum Klassiker?
Kritiker fürchten eine Inflation des mobilen Kulturguts.

D
er „Bergdoktor“ Martin Gruber die Zahl der amtlichen Oldtimer um weit Als die Modelle gebaut wurden, die heu-
zählt zu den nachhaltigsten Bild- mehr als 100 Prozent. te zur Oldtimersegnung anstehen, hatte das
schirmpräsenzen der Republik. Seit 380 000 Personenwagen haben inzwi- Kraftfahrzeug seinen Wandel vom Faszi-
neun Jahren strahlt das ZDF unverdrossen schen das H-Kennzeichen, also eins von nosum zum selbstverständlichen Transport-
neue Folgen aus. Hauptdarsteller Hans Sigl 120 Autos; doch wenn es so weitergeht, mittel längst vollzogen. Chromblitzende,
hält sich in der alpinen Arztschnulze als kommt bald auf 30 Kfz-Zulassungen ein individuelle Autogesichter waren einem
ebenso robuster Sympathieträger wie sein artgeschützter Klassiker. Nach VDA-Schät- aerodynamisch optimierten Einheitsdesign
tanngrüner Dienstwagen: ein Mercedes zung werden im Jahr 2030 etwa 1,7 Millio- gewichen. Und vom benzinseligen PS-Kult
der Baureihe W 123. nen H-Kennzeichen vergeben sein, wenn war nach zwei Ölkrisen und dem ersten
Das Modell ist ein Urahn der heutigen nicht eine Revision der Zulassungsordnung ökologischen Großalarm des Waldsterbens
E-Klasse; es wurde von 1975 bis 1986 her- dem Treiben zuvorkommt. Der Verband, nicht viel übrig.
gestellt, und das in einer Solidität, die den der die Geister einst rief, ist nahe dran, zu Doch Autos überleben inzwischen auch
Daimler-Konzern womöglich ruiniert hätte, einer solchen zu raten. „Die ursprüngliche ohne Liebe. Sie sind zwar nicht mehr schön,
wäre sie beibehalten worden. Mehr als Zielsetzung, technisches Kulturgut zu dafür aber verzinkt und versiegelt. „Karos-
17 000 Exemplare fahren noch heute allein schützen“, sagt Röhrig, „ist irgendwann serien rosten nicht mehr weg, sie halten na-
in Deutschland mit dem Oldtimerprädikat nicht mehr vermittelbar.“ hezu ewig“, sagt Marius Brune, Geschäfts-
des H-Kennzeichens, das 30-jährigen Au- Hinzu kommt ein Problem, das sich leiter der Classic Data Marktbeobachtung
tos nach einer kurzen Zustandsprüfung nicht nur bei Autos stellt: Wie soll in Wür- GmbH, Deutschlands traditionellem Kom-
verliehen wird. Der Alt-Mercedes ist der de alt werden, was nie in Würde jung war? petenzzentrum für Bewertungen histori-
zweitbeliebteste Klassiker der Repu- scher Fahrzeuge. „Da kommen Autos
blik, gleich nach dem VW Käfer.
Solche Fakten führen zur gleichen
Zähes Leben ins Oldtimeralter, die im Auge ihrer
Besitzer nicht mehr sind als schäbige
Frage, die das Gefährt des Tiroler TV- Pkw mit historischem Kennzeichen Gebrauchtwagen.“ Eine seiner Be-
Medikus aufwirft: Sind diese Fahr- in Deutschland erhält kannten fahre einen fast 30 Jahre al-
zeuge tatsächlich in Liebhaberhand, in Millionen H-Kennzeichen ten VW Polo – als Winterauto. „Die
oder stehen sie im Dienst von Eig- ab 2017 Prognose 2030 Oldtimergeschichte“, sagt Brune,
Ford Mondeo 1 ,6 „lässt sich so nicht fortschreiben.“
nern, die sich einfach nur freuen, dass 3. Generation
ihre Kaleschen nicht krepieren? Der Altautomarkt ist eine janus-
Einer Zulassungsbehörde könnte köpfige Erlebniswelt geworden, in
das gleichgültig sein, wäre da nicht eine der sich schwer ausmachen lässt, wel-
ernste politische Mission, unter der die ches Antlitz nun das befremdlichere
amtliche Beglaubigung von Oldtimer- ist: am einen Ende ein Massenmarkt
fahrzeugen vollzogen wird: Das Num- ebenso billiger wie zählebiger Nutz-
mernschild mit dem H für „historisch“ 1 ,2 fahrzeuge, die unversehens zum Kul-
am Ende der Zahlenfolge kennzeich- turgut werden, und am anderen die
net erhaltenswertes Kulturgut, be- 2026 Spekulationsblase der echten Samm-
schert dem Fahrzeughalter einen pau- Nissan Primera lerstücke. Gefragte Klassiker wie der
2. Generation
schalen Ministeuersatz von knapp 192 Porsche 911 der Siebzigerjahre oder
Euro jährlich und die Generalerlaubnis, die Pagoden-SL von Mercedes haben
in jede Umweltzone zu karriolen, auch inzwischen Höchstpreise erreicht, zu
wenn der Schadstoffausstoß seines mo- 0,8 denen man drei neue Ferraris be-
bilen Museumsstücks dem eines Fisch- kommt.
kutters nahekommt. Auf der jüngsten Techno-Classica,
FLICKR / WIKIMEDIA , RUDOLF STRICKER / WIKIMEDIA

Die Inflation von Kfz-Klassikern zu der Leitmesse der Szene, stand in die-
übersehen gelingt auch dem Verband sem Jahr in Essen ein Alt-911er für
der Automobilindustrie (VDA) nicht 2020 über 800 000 Euro. Mercedes-Tuner
mehr, der einst intensive Lobbyarbeit BMW, Brabus, bekannt für Restaurierungen
3er E36
für die Einführung der Oldtimerprivi- 0,4 auf einen Zustand oberhalb des
legien betrieb. Stefan Röhrig, Fachbe- einstigen Neuwagenniveaus, bietet
reichsleiter für historische Fahrzeuge einen SL-Flügeltürer für knapp zwei
im VDA, sieht sich mit Statistiken kon- Millionen.
frontiert, die „einer sorgfältigen Be- Doch Altautoexperte Brune gibt
obachtung“ bedürfen: Während der gerade diesem Sektor keine gute
Pkw-Bestand in Deutschland seit 2008 Quellen: VDA, KBA
Prognose. Denn nur die Autos kön-
um 11 Prozent auf knapp 46 Millionen nen unsterblich sein, die Liebhaber
zugelassene Fahrzeuge wuchs, stieg 2000 2010 2020 2030 nicht. Brune sieht zunehmend ganze
106 DER SPIEGEL 16 / 2017
Sammlungen auf den Markt kommen, weil
die Nachkommen des verblichenen Enthu-
siasten nichts am Hut haben mit dem ehr-
baren Alteisen: „Bei Vorkriegsautos be-
ginnt ein enormer Preisverfall. Die wiegen
zwei Tonnen und haben 80 PS. Wer will
denn damit fahren?“
Und auch die Preziosen der Fünfziger-
und Sechzigerjahre könnten bald zu ähn-
lich ungeliebtem Nachlass werden. Junge
Hipster, deren Technikaffinität selten über
Flachbildschirme hinausgeht, müssten im
Erbschaftsfall sicher erst mal zusammen-
googeln, was es mit dem Zauber eines
Volvo Amazon auf sich hat. Viele haben
gar keinen Führerschein mehr.
Brune sieht die mobile Gesellschaft an
der Schwelle eines Bewusstseinswandels,
der auch den Klassikermarkt hart treffen
wird. Es gebe bereits zarte Anzeichen, sagt
er. Die Zahl der Umschreibungen, also der
Besitzerwechsel von Oldtimerautos, sei im
vergangenen Jahr erstmals leicht rückläu-
fig gewesen.
Die letzte Generation junger Menschen,

SWNS / ACTION PRESS


die sich noch annähernd für Autos interes-
sierte, ist heute über 40 und hat um die
Jahrtausendwende einen schrägen Kult na-
mens „Motorave“ zelebriert. Zwanghaft
progressive Werbemanager tauchten plötz-
Oldtimersammlung auf Auktion*: Wie soll in Würde alt werden … lich mit zerschrammten Ford Granadas auf,
um zu zeigen, dass ihre Coolness sich
durch keine Geschmacklosigkeit erschüt-
tern lässt. Das waren keine Autoliebhaber,
eher apokalyptische Reiter einer sterben-
den Weltreligion ums heilige Blech.
Die Autohersteller spüren längst, wie ih-
rem Produkt die Magie entweicht, und hal-
ten nach Kräften gegen. Auf der Techno-
Classica errichten sie inzwischen Stände,
als wären sie auf der IAA. Ganz vorn im
Rampenlicht stehen oft die Produkte der
Neunzigerjahre – und dokumentieren das
Elend auch noch.
Stefan Behr, Museumssprecher der
BMW Group, führt mit smarter Eloquenz
an den Exponaten entlang. Er nennt die
Autos beim Werkskürzel. Die zweite Ge-
neration der Dreier-Baureihe (1982 bis 94)
heißt E30 und ist laut Behr „als Klassiker
vollständig akzeptiert“. Tatsächlich hatte
das Modell mit seinem kantigen Aufbau
schon eine museale Aura, als es noch als
Neuwagen erhältlich war.
Der Münchner Hersteller ist Sponsor
der Rallye „Creme 21“, einer jährlich statt-
findenden Spätsommerausfahrt und
Hauptattraktion der jungen Klassikerszene.
Sie war anfangs als Kultforum für Autos
der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre
gedacht, aus denen auch das zitierte Kos-
metikprodukt stammt, und sollte einen läs-
sigen Kontrapunkt zur Ernsthaftigkeit der
PS-Veteranenszene setzen. Cheforganisa-
RETO KLAR

* Oben: Jaguar E-Type, Baujahr 1972; unten: Opel Com-


… was nie in Würde jung war?: Neuere Auto-Klassiker* modore B, Baujahr 1975.

DER SPIEGEL 16 / 2017 107


Technik

tor Alexander Mrozek hatte sie als Twen


ins Leben gerufen. Nun ist er 42 und damit
einer der Jüngsten im Veranstalterteam.
„Es kommt kaum noch Nachwuchs“, sagt er.
Inzwischen fahren schon Autos der
Neunzigerjahre im Feld mit. Mrozek attes-
tiert ihnen „klassische Gene“, was auch
dem Sponsor entgegenkommt. BMW-Ku-
rator Behr möchte Modell E36, den Nach-
folger von E30, gern auf die Oldtimer-
weihe vorbereiten, eine leidlich geglättete
Polyurethanverwachsung, die bei etwas
Fantasie auch als Mitsubishi durchgehen
könnte. Etwa 900 000 Exemplare, schätzt
Behr, seien weltweit noch unterwegs.
Muss sie also eingedämmt werden, die
Flut von Altautos, bei denen das H im
Kennzeichen allenfalls noch für Hohn
stehen kann? In anderen Ländern sind ver-
gleichbare Privilegien teils unüblich, teils
wurden sie aufgeweicht. So hat die Regie-
rung der Niederlande das Zulassungsalter
für das Oldtimerprädikat inzwischen von

Das Nachrichten-Magazin 25 auf 40 Jahre hochgesetzt.


Im Deutschen Bundestag gibt es einen
Parlamentskreis zum Thema „Automobi-
les Kulturgut“; den Vorsitz führt der CDU-

für Kinder. Abgeordnete Carsten Müller. Er sieht der-


zeit keinen Handlungsbedarf, die Zulas-
sungskriterien zu verschärfen: „Wir haben
keine Oldtimerschwemme“, sagt er; und
er erwarte auch keine, denn die Fahrzeuge
stürben heute „einen anderen Tod“ – den
Totalschaden durch Versagen der komple-
xen Elektronik.
Jetzt testen: Die Hoffnung auf den Kollaps der Plati-
„Dein SPIEGEL“ digital nen erscheint als einziges politisches Pro-
gramm gegen die Schwemme historischer
Mehr Infos unter Autozombies nicht wirklich zuverlässig.
www.deinspiegel.de/info
Doch der Christdemokrat, selbst Eigner
anerkannter Prachtmobile wie Facel-Vega
und Monteverdi, steht fest im Glauben an
den schnellen Tod der Hässlichkeit. Als
Beispiel nennt er die italienische Marke
Alfa Romeo, deren unfassbar schöne Old-
timer aus den Sechzigern in großer Menge
erhalten sind, während die in jüngeren
Jahrzehnten produzierten Verirrungen
rasch wieder aus dem Straßenbild ver-
schwanden.
Den Tiefpunkt aller Alfa-Abgründe mar-
kiert das Modell „Arna“, eine Kooperation
mit Nissan. Es vereinigte die Pannenträch-
tigkeit des italienischen Herstellers mit
dem öden Design des japanischen Partners
und nahm einen der kürzesten Wege vom
Montageband zum Schrottplatz der Auto-
geschichte. Die Produktion endete 1987
nach knapp vier Jahren.
„Wenn Sie noch einen finden, dann kau-
fen Sie ihn am besten gleich“, sagt Müller.
„Es könnte der Letzte sein.“ Christian Wüst
Video-Testfahrt: Das soll
ein Oldtimer sein?
spiegel.de/sp162017omega
oder in der App DER SPIEGEL

108 DER SPIEGEL 16 / 2017


Wissenschaft

Haltet den Lügner!


Essay Zum Marsch für die Wissenschaft: Wahrheit ist wichtig, aber nicht alles.
Von Peter Strohschneider

E
s versteht sich von selbst: Man muss gegen die Lüge Diese für Freiheit, Frieden und Wohlstand entscheiden-
sein. Und das ist ja nicht schwierig. Wer wäre denn de Entkoppelung von Wahrheit und demokratischer Macht
schon für sie? Nicht einmal Donald Trump. Wenn er negieren jene Populisten und Autokraten, die in (zu) vie-
mit zustechendem Finger Journalisten aus dem Pressekorps len Ländern die Institutionen von Politik, Medien oder
des Weißen Hauses herauspickt und ihnen den Mund ver- Justiz zu kapern im Begriff sind. Dagegen muss gestritten
bietet, weil ihre Zeitung Fake News verbreite, dann stellt werden; und deswegen marschieren am 22. April, beim
er einerseits bloß seine Machttechnik aus. Sie folgt dem „March for Science“, auch in Deutschland viele Bürger
schlichten Muster, dass der Dieb von seinem Diebstahl ab- für die Wissenschaft und ihre Freiheit.
lenkt, indem er, auf andere zeigend, am lautesten „Haltet Dieser Streit wäre allerdings verloren, bevor er auch nur
den Dieb!“ ruft. Andererseits: Vier der fünf Finger seiner begonnen hat, hinge legitime Machtausübung umgekehrt
Hand weisen auf den Rufer zurück. So wenig seine Ablen- von Wahrheit ab. Und dies gilt hinsichtlich religiös oder
kungsstrategie den Diebstahl selbst rechtfertigen kann, so wissenschaftlich begründeter Wahrheiten gleichermaßen.
wenig beseitigt Trumps „war against the media“ die Un- Moderne Forschung ist pluralistisch. Sie erzeugt keine Ge-
terscheidung von Wahrheit und Lüge. Er setzt sie im Ge- wissheiten, sondern methodisch verlässliches Wissen. Sie
genteil gerade voraus. Die Rede vom Postfaktizismus ver- sagt, was der Fall ist, woraus allerdings keineswegs zwingend
fehlt also die Sachlage. Und sie folgt, was alternativlos der Fall sein
verstellt den Blick darauf, dass die sollte. Sosehr demokratische Poli-
Denunziation von seriösem Jour- tik wissenschaftlich begründeter

BRIAN WILLIAM WADDELL / PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS.COM


nalismus als „Lügenpresse“ eine Information bedarf, so wenig ist
Verschiebung versucht. sie bloß die administrative Exeku-
An die Stelle eines Sachver- tion von Forschungsergebnissen.
haltsbezuges tritt der Machtbe- Der Einspruch gegen autokrati-
zug: Wer sich Trumps Macht un- sche Wissenschaftsfeindlichkeit ist
terwirft, sage die Wahrheit. Hin- notwendig. Zugleich profiliert sich
gegen lüge, wer ihr widerstreitet. derzeit in mancher Stellungnah-
Für den amerikanischen Präsiden- me, aus der Wissenschaft und in
ten wie die anderen Autokraten den Medien, allerdings eine Auf-
oder Möchtegern-Autokraten ei- fassung, die ihrerseits die Prinzi-
nes neuen, illiberalen Cäsarismus pien moderner Wissenschaft un-
in der Türkei, in Polen, Ungarn, terläuft – und damit diejenigen
Russland, in Frankreich, den Nie- von pluralistischer Gesellschaft
derlanden oder hierzulande ist Anti-Trump-Demonstranten in New York City und demokratischem Verfassungs-
Wahrheit abhängig von Macht. staat. Sie liefe auf Szientokratie
Neben allem anderen kassiert diese Verknüpfung von hinaus, auf ein Zusammenleben nach ausschließlich wis-
Macht und Wahrheit eine, ja die entscheidende zivilisa- senschaftlichen Kriterien. So verwechselt sie unzweideutige
torische Errungenschaft unserer Geschichte seit der Frühen wissenschaftliche Fakten mit den aus ihnen zu ziehenden
Neuzeit. Im Horror der religiösen Bürgerkriege des 16. und alternativen, ja oft ambivalenten gesellschaftlichen und
17. Jahrhunderts haben die europäischen Gesellschaften politischen Folgerungen. Sie verkennt, dass keineswegs
gelernt, dass es – mit einer Formel des Staatsrechtlers Ernst- für alle dasselbe evident ist. Sie sieht politische Macht
Wolfgang Böckenförde gesagt – nicht allein auf das „Leben durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung le-
in der Wahrheit“ ankommt, sondern auch auf das Leben gitimiert. Und gleich den Autokraten und Populisten, gegen
in Frieden miteinander. Und man hat auf so windungs- die sie sich wenden will, ist sie antipluralistisch.
wie rückschlagsreichen und blutigen Wegen verstanden, Für die pluralistische Gesellschaft also muss die Wis-
diese Einsicht zur Grundlage pluralistischer Gesellschaften senschaft streiten, auch beim „March for Science“, und
und demokratisch-konstitutioneller Staatlichkeit zu ma- gegen vulgäre Forschungsfeinde wie autokratische Kritik-
chen. Hier ist den Bürgern gerade nicht abverlangt, sie verachtung. Sie ist nicht Inhaberin der Wahrheit, sondern
müssten sich zu Wahrheiten „bekennen“, denn derer gibt Instanz der rational aufgeklärten, methodisch verlässlichen
es stets zu viele. Vielmehr genügt der Gesetzesgehorsam. Suche danach. Als solche Instanz weiß sie, dass ihr Wissen
Unser Zusammenleben beruht hierauf: Wahrheitssuche, nie endgültig ist und dass sie informieren, aber kollektiv
auch die der Wissenschaften, muss von Machtzwängen bindende Entscheidungen nicht selbst treffen kann. Und
freigesetzt sein. Umgekehrt ist staatliche Machtausübung allein wenn sie sich in dieser Weise ernst nimmt, kann sie
gerade nicht an Wahrheitsbesitz gebunden, sondern an dazu beitragen, dass die Unterscheidung von Wahrheit
Mehrheit und Verfassung. Im demokratischen Entschei- und Lüge auch in Zukunft auf Sachfragen bezogen wird
dungsprozess sind die jeweils Unterlegenen nicht als An- und nicht auf Machtfragen.
dersdenkende aus-, sondern vielmehr als jene Minderheit
eingeschlossen, welche bei einer nächsten Entscheidung Strohschneider, 61, ist Mediävist und Präsident der Deutschen
ihrerseits die Mehrheit stellen mag. Forschungsgemeinschaft.

DER SPIEGEL 16 / 2017 109


LUKE THOMPSON / CHISHOLM LAB AND NIKKI WATSON / WHITEHEAD / MIT

KEN RICHARDSON
Prochlorococcus-Zellen*, Mikrobiologin Chisholm: Es war, als hätte sich die Wüste als Grasland erwiesen

Die Weltverbesserer
Meeresbiologie Eine US-Forscherin untersucht eines der kleinsten Geschöpfe der Erde. Und stellt
dabei fest: Kein Lebewesen hatte einen größeren Einfluss auf das irdische Ökosystem.

D
amit sich die Mikroben im Labor ein Minimalwesen, das nur das Nötigste 40. Grad nördlicher und südlicher Breite
von Penny Chisholm wohlfühlen, zum Leben besitzt, und zugleich ein sie fortan nach ihnen suchte, fand sie die
ordert die Forscherin eigens Was- Hungerkünstler, der von fast nichts als Winzlinge im Wasser – in jedem Milliliter
ser aus der Sargassosee. „Das mögen sie Licht zu existieren vermag. schwammen durchschnittlich 100 000 von
am liebsten“, sagt sie. Vor allem aber: Wohl kein anderes Le- ihnen.
Niemand kennt den kleinen Meeres- bewesen hat einen so großen Einfluss auf Prochlorococcus beherrscht selbst jene
organismus namens Prochlorococcus so das Ökosystem Erde. ausgedehnten Meeresregionen, die bis da-
gut wie Chisholm. Alles in den Kulturkam- Gerade hat Chisholms Mitarbeiter Ro- hin als weitgehend unbelebte Ödnis galten.
mern ihres Labors am Massachusetts Insti- gier Braakman Forschungsergebnisse ver- Fernab der Küsten, so hatten die Forscher
tute of Technology (MIT) ist darauf ausge- öffentlicht, denen zufolge der biologische gedacht, sei der Ozean zu nährstoffarm,
richtet, es dieser Mikrobe bequem zu ma- Reichtum der Meere maßgeblich auf dieser als dass Leben gut darin gedeihen könnte.
chen. Die Temperatur halten die Forscher Mikrobe beruht. „Prochlorococcus hat sei- Chisholms Entdeckung änderte das radikal:
auf subtropischen 23 Grad konstant; mit ne Umwelt, den Ozean, maßgeblich mit- Es war, als hätte sich die Wüste als Gras-
feinen Drahtnetzen kontrollieren sie, wie gestaltet“, sagt er. land erwiesen.
viel Licht in die Teströhrchen fällt. So winzig und so unscheinbar ist dieses Inzwischen weiß man, dass Prochloro-
Der Aufwand hat seinen Grund. Denn Bakterium, dass es lange Zeit unbemerkt coccus so weit verbreitet ist wie kein an-
Prochlorococcus, ein sogenanntes Cyano- blieb. Erst im Jahr 1988 analysierte Chisholm derer fotosynthetisierender Organismus.
bakterium, zählt nicht zu den gewöhnli- Ozeanwasser mithilfe eines sogenannten Die Gesamtzahl dieser Einzeller wird auf
chen seiner Art. Zu klein, als dass es unter Durchflusszytometers und stellte fest, dass 3 000 000 000 000 000 000 000 000 000 ge-
dem Lichtmikroskop zu sehen wäre, ist es darin Fotosynthese betreibende Einzeller schätzt – drei Quadrilliarden. Rund fünf
wimmelten. Ob vor Hawaii, Galápagos Prozent allen Sauerstoffs, den wir atmen,
* Elektronenmikroskopische Aufnahme. oder Bermuda – wo immer zwischen dem wurde von ihnen erzeugt.
110 DER SPIEGEL 16 / 2017
Wissenschaft

Buch-
Fragen Sie Ihren
Es dauerte, bis es Chisholm und ihren noch weiter geht: Die Meeresmikrobe
Mitarbeitern am MIT gelang, die heim- habe möglicherweise die wohl spektaku-
neuen
händler nach der
lichen Regenten der Meere auch im Labor lärste Entwicklung in der Geschichte tieri-
zu züchten. Inzwischen gedeihen ihre grün- schen Lebens in Gang gesetzt.
e!
lich schimmernden Prochlorococcus-Kultu- Vor rund 540 Millionen Jahren explo-
ren. Chisholm hat studiert, wie sie sich er- dierte binnen eines erdgeschichtlichen Au- Frühjahrsausgab
nähren, vermehren und woran sie sterben. genblicks die Formenvielfalt der Meeres-
Und sie hat das Erbgut Dutzender Stämme bewohner. Während zuvor wenig mobile
entziffern lassen. Fast immer erlebte sie Weichkörpertiere dominierten, tauchten
dabei Überraschungen. nun unvermittelt Kreaturen mit Beinen,
Jeder Typ von Prochlorococcus, so Augen, Zähnen, Stacheln und Kiemen auf.
scheint es, ist gewappnet, mit einer ande- All das geschah ungefähr zu der Zeit, als
ren Art von Notlage fertig zu werden. Ei- Prochlorococcus und seine Verwandtschaft
nige sind darauf spezialisiert, das trübe in den Meeren zu blühen begannen. Braak-
Dämmerlicht in 150 Meter Tiefe auszunut- man mag das nicht für einen Zufall halten.
zen, andere sind Meister in der Minimie- Seiner Theorie zufolge wurde das evo-
rung ihres Phosphorbedarfs, oder sie gedei- lutionäre Feuerwerk von dem Sauerstoff
hen auch bei akutem Eisenmangel. Gemein entfacht, der von den Winzlingen der Mee-
ist ihnen allen die Fähigkeit zu darben: re gebildet wurde. Zwar seien diese nicht
Prochlorococcus ist ein Meister im Haus- die Ersten gewesen, die Sauerstoff durch
halten mit knappen Ressourcen. Fotosynthese herstellen konnten. Doch
Insofern zählt diese Mikrobe zu den Ex- habe sich dieses Gas nie in größeren Men-
tremformen des Lebens, nur dass sie sich gen in der Atmosphäre anreichern können,
nicht, wie andere Extremisten, in entlege- weil die fotosynthetisierenden Bakterien
ne Winkel, etwa Schwefel- sich selbst eines Stoffes be-
quellen, Salz- oder Asphalt- Prochlorococcus raubten, den sie zum Leben
seen, zurückgezogen hat. brauchten: Eisen.
Die Nische von Prochloro-
coccus ist die unermessliche
3 Quadrilliarden chlorococcus, Bis zur Ankunft von Pro-
sagt Braak-
dieser Einzeller leben in
Weite des Ozeans. warmen Meeresregionen. man, sei die Flora der Meere
Chisholms Mitarbeiter in einer Art Teufelskreis ge-
Braakman hat sich nun den fangen gewesen. Denn die
Stammbaum dieser Mikro- Das sind Fotosynthese funktioniert
ben genauer angesehen und
ihm eine faszinierende Ge-
über 100 Mio. nur, wenn Eisen im Wasser
vorhanden ist. Sobald aber
Exemplare pro Liter.
schichte entlockt – eine Ge- der Sauerstoffgehalt einen

NLOSl
schichte, die nicht nur vom gewissen Schwellenwert
Werdegang dieser Bakterien Sie sind Erzeuger von überschritten hatte, reagierte
S T E
erzählt, sondern auch davon, 5% dieser mit dem im Ozean ge- KO chhande
wie sie den Planeten verän-
derten.
des atmosphärischen lösten Eisen und ließ es als
eine Art Rost auf den Mee-
im Bu
Vor gut 500 Millionen Jah-
Sauerstoffs. resboden rieseln. Die Foto-
ren entstanden die Urahnen, synthese kam zum Stillstand.
die das Geschlecht von Prochlorococcus Prochlorococcus änderte das: Sein Turbo-
begründeten. Durch Vergleich der heute stoffwechsel brachte genug organische
lebenden Stämme konnte Braakman nach- Moleküle hervor, um das Eisen zu binden
vollziehen, wie diese Bakterien die Ozea- und so fürs Leben weiterhin verfügbar zu
Die Frühjahrsausgabe
ne erobert und dabei ihre asketische Le- halten. Das Gas, das für die Explosion tie- jetzt bei Ihrem Buchhändler!
bensweise über Jahrmillionen hin perfek- rischer Vielfalt notwendig war, konnte sich
tioniert haben. Ihr Erbgut schrumpfte auf so in Luft und Wasser anreichern.
ein Mindestmaß zusammen. Alles in der Als Nächstes will MIT-Biologin Chisholm Wie vielfältig das Leben sein kann,
molekularen Maschinerie war nun nur das Zusammenspiel von Prochlorococcus zeigt das aktuelle Magazin mit vie-
noch einem Ziel gewidmet: möglichst viel mit den anderen Mikroben der Meere
Licht zu ernten, unter Verwendung von genauer untersuchen. Das, sagt sie, sei len Lesetipps rund um die Themen
möglichst geringen Nährstoffmengen. entscheidend, um die ökologischen Rollen Gesundheit und Ernährung, Familie,
In der Folge steigerten die Heerscharen ganz zu verstehen. Vor allem zu einem
von Prochlorococcus ihren Energieumsatz Bakterium namens SAR11 scheint Pro- Partnerschaft und Erziehung sowie
immer weiter und wandelten dabei immer chlorococcus ein inniges Verhältnis zu Achtsamkeit und Regeneration.
größere Mengen von Kohlendioxid in or- pflegen.
Tanken Sie auf für einen bunten
ganische Materie um, die dann in tiefere Das zeigt sich auch bei den züchteri-
Wasserschichten hinabregnete. Die Winz- schen Bemühungen im Labor. Lange Zeit Frühling – mit lebenswert.
linge im Oberflächenwasser kurbelten so hielt Chisholm nur Monokulturen in ihren
die Produktivität der Ozeane an, so konnte Brutschränken. Jetzt zeigt sich zuneh-
die Biomasse wachsen und das immer kom- mend, dass Prochlorococcus in Gegenwart
plexere Ökosystem der Weltmeere nähren. von SAR11 viel besser gedeiht: „Wirklich Das Magazin lebenswert erscheint in der
Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien
Braakman glaubt, dass die evolutionäre wohl fühlen sie sich nur miteinander“, sagt
GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund
Bedeutung von Prochlorococcus sogar Chisholm. Johann Grolle

DER SPIEGEL 16 / 2017 111 www.buchaktuell.de


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Technik

Die Tücken
teams für den Koblenzer Fahrradhersteller er sich einen tiefen Schnitt am Schienbein
Canyon und plädiert für die rasche Ein- zu. Als Verursacher verdächtigte er die hin-
führung von Scheibenbremsen. Auch er- tere Bremsscheibe des Unfallgegners. Wie

der Backen
fahrene Fahrradkonstrukteure stimmen zu: eine Wurstschneidemaschine sei der Edel-
„Die Vorteile der Scheibenbremse sind stahldiskus bei der Kollision ins Fleisch des
erwiesen“, sagt Bernhard Johanni, Chef- Athleten gedrungen.
entwickler am Schweinfurter Standort des Es gab medizinische Untersuchungen,
Sportgeräte Das Rennrad, Komponentenanbieters Sram. Einziger aber keine eindeutigen Ergebnisse. All-
Nachteil sei ein höheres Gewicht von etwa gemein kursiert die Überzeugung, dass
Ikone einer Boomindustrie, fährt 400 Gramm; dieses lasse sich jedoch mit Kettenblätter mit ihren Zähnen weit
mit gestriger Technik. Jetzt soll anderen Leichtbaumaßnahmen kompen- gefährlichere Objekte sind und ein solches
es moderne Bremsen bekommen sieren, da Profiräder mindestens 6,8 Kilo- Blatt auch Ventosos Verletzung hervor-
gramm wiegen müssen. gerufen haben könnte. Für weitere Tests
– Athleten sind dagegen. Doch was hilft die Einigkeit der Experten, schrieb die UCI Scheiben mit abgestumpf-
wenn viele Fahrer und Sportfunktionäre ten Rändern vor, hob aber den generellen

M
it dem Rennrad einen Alpenpass das anders sehen? Noch bis vor Kurzem Bann auf.
zu erklimmen mag schweißtrei- untersagte der internationale Radsportver- Zum ersten Mal in der Geschichte des
bend sein. Die nachfolgende Tal- band UCI den Einsatz von Scheibenbrem- Radsports dürfen daher in diesem Jahr
fahrt aber ist mitunter lebensgefährlich. sen bei Straßenrennen – aus Sicherheits- Rennräder mit Scheibenbremsen an den
Profis erreichen bergab Ge- Großereignissen Giro d’Italia
schwindigkeiten von mehr als und Tour de France teilnehmen –
80 Kilometern pro Stunde – mit wenngleich Hunderte Fahrer,
Reifen, so dünn wie Wiener vertreten durch die Sportler-
Würstchen, und mit Bremsen, gewerkschaft CPA, noch immer
deren schlichtes Funktionsprin- gegen den Einsatz protestieren.
zip sich seit Jahrzehnten kaum Hauptkritikpunkt ist nun die Un-
verändert hat: Zangenartig drü- gleichheit im gemischten Feld:
cken sie ihre Backen gegen die Es müsse erst Testläufe geben,
Flanken der Felge. zu denen alle Athleten mit der
Gewöhnlichen Fahrradnut- gleichen Bremstechnik antreten.
zern könnte die Effizienz solch Canyon-Entwickler Michael
musealer Mechanik genügen. Adomeit plädiert dennoch für
Doch ironischerweise sind gera- die Einführung der Scheiben-
de diese längst mit modernerer bremse im gemischten Feld.
Technik unterwegs als die Profis „Bei Autos im Straßenverkehr“,
auf der Tour de France: Die hy- sagt er, „hätte man ja sonst nie-
draulische Scheibenbremse, ent- mals eine Innovation der Brems-
liehen aus dem Automobil- und technik einführen dürfen.“ Bald
Motorradbau, ist in der Fahrrad- erledige sich das Problem ohne-
produktion zum Massenartikel hin, allein dadurch, dass das bes-
geworden und allen herkömm- sere System sich rasch durch-
lichen Systemen weit überlegen. setze – „im Rennsport und auf
Sie arbeitet zuverlässig bei allen dem Amateurmarkt“.
Witterungen, lässt sich besser Hier wie dort lässt der tech-
dosieren und überträgt weit hö- nologische Durchbruch aller-
here Kräfte. dings seit zwei Jahrzehnten auf
Bei der antiquierten Ausrüs- sich warten. Bereits 1996 hatte
THOMAS FREY / DER SPIEGEL

tung der Profis kommt noch als der oberbayerische Technikpio-


Problem hinzu, dass die Felgen nier Corratec ein erstes Rennrad
aus Kohlefaserwerkstoff beste- mit Scheibenbremsen präsen-
hen, und der ist bei Nässe glatt tiert. „Es ist die überlegene
wie Eis. Im Regen tut sich zu- Technik, das ist schon ewig
nächst also fast nichts, dafür klar“, sagt Firmenchef Konrad
steigt die Bremswirkung nach Scheibenbremse am Rennrad: Schnitt ins Beinfleisch? Irlbacher. Doch auch in seinem
zehn Sekunden Trockenwischen Programm bleibt das bessere
abrupt und gewaltig. Mit solchen Tücken bedenken. Im Vordergrund standen nicht Modell ein Exot: Corratec hat zwölf Stra-
rückständiger Technik muss dann ausge- etwa Zweifel an der Funktionstüchtigkeit ßenrenner im Angebot; nur einer verfügt
rechnet ein Athlet zurechtkommen, der der Bremsen selbst. Es ging um mögliche über Scheibenbremsen.
kurz zuvor mit rasendem Puls den Pass er- Kollateralschäden. Irlbacher selbst fährt ein Modell mit
klommen hat. Fachleute sehen hier eine Im vergangenen Frühjahr, die UCI hatte maßgefertigtem Carbonrahmen und klas-
ernste Gefahr. gerade erst den testweisen Renneinsatz der sischer Felgenbremse. „Es schaut einfach
„Die schlechte Beherrschbarkeit der Scheibenbremsen genehmigt, zog sie kurz besser aus“, sagt er. Christian Wüst
Bremse ist immer wieder Ursache von nach Saisonstart die Freigabe wieder zu-
Stürzen“, sagt Andreas Walzer, ehemaliger rück. Anlass war eine merkwürdige Ver- Video:
Rennfahrer und Olympiasieger. Es gelte letzung des spanischen Fahrers Francisco Eine Frage der Bremse
im Fahrerkreis jedoch als ehrenrührig, das Ventoso bei der Wettfahrt Paris–Roubaix. spiegel.de/sp162017rennrad
zuzugeben. Walzer betreut heute Renn- Als er auf einen Vordermann prallte, zog oder in der App DER SPIEGEL

114 DER SPIEGEL 16 / 2017


Die Preview-Aktion wird am Dienstag,
dem 18.04.2017, stattfinden. Sie
können zwei kostenlose Kinokarten

Die exklusive Kino-Preview! – solange der Vorrat reicht – von


Samstag, den 15.04.2017, 12 Uhr, bis
Dienstag, den 18.04.2017, 18 Uhr,
unter den angegebenen Telefon-
nummern reservieren.
Achtung: Die Tickets sind nicht
übertragbar. Missbrauch wird
zur Anzeige gebracht.
Wählen Sie die Hotline eines der
aufgeführten Kinos. Sie erhalten
eine vierstellige Eintrittsnummer
und können Ihre Karten bis kurz vor
Beginn der Vorführung abholen. Bei
einer ausgebuchten Veranstaltung
in Ihrer Stadt erhalten Sie eine
entsprechende kurze Ansage.
Berlin
Filmtheater am Friedrichshain
Bötzowstraße 1 – 5
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 00*
Düsseldorf
atelier-Kino im Savoy-Theater
Graf-Adolf-Straße 47
April
Preview am 18. . April
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 01*
Kinostart am 20 Frankfurt am Main
Harmonie Kinos
Dreieichstraße 54
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 02*
Präsentiert von Hamburg Passage Kino
Jetzt zwei kostenlose Karten reservieren. Mönckebergstraße 17
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 03*
UNI SPIEGEL – das Magazin für Studierende.
Hannover Kino am Raschplatz
Raschplatz 5
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 04*
Köln Residenz
Kaiser-Wilhelm-Ring 30 – 32
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 05*
THE FOUNDER Leipzig Passage Kinos
Der Vertreter für Milchshake-Mixer Ray Kroc (Michael Keaton) hat Anfang der Hainstraße 19a
1950er-Jahre nur äußerst mäßige Erfolge vorzuweisen. Trotzdem gibt der charisma- Beginn: 20.00 Uhr
tische Vollblutverkäufer nicht auf und träumt den amerikanischen Traum. Als er Hotline 0900 324 20 40 – 06*
zufällig von einem revolutionären Schnellrestaurant im kalifornischen San Bernar-
dino hört, wittert er die Chance seines Lebens. Trotz anfänglichem Widerstand der
München Rio Filmpalast
Rosenheimer Straße 46
Betreiber, der Brüder Mac (John Carroll Lynch) und Dick McDonald (Nick Beginn: 20.00 Uhr
Offerman), gelingt es Ray durch Hartnäckigkeit und Raffinesse, die Franchise- Hotline 0900 324 20 40 – 07*
Rechte zu erwerben. Doch bis daraus ein erfolgreiches Fast-Food-Imperium werden
kann, muss Ray noch unzählige Hindernisse aus dem Weg räumen und unliebsame Nürnberg Cinecittà
Entscheidungen treffen … Gewerbemuseumsplatz 3
Beginn: 20.00 Uhr
THE FOUNDER schildert die kontroverse Erfolgsgeschichte von Ray Hotline 0900 324 20 40 – 08*
Kroc, der die McDonald’s Corporation gründete und als „Hamburger
King“ in die Geschichte einging. Das „Time Magazine“ kürte ihn zu Stuttgart Delphi Arthouse Kino
Tübinger Straße 6
einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts. Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 20 40 – 09*
QR-Code scannen * Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem
www.TheFounder-Film.de /TheFounder-Film und Trailer ansehen. dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
PROKINO FILMVERLEIH
„Ein Dorf sieht schwarz“-Darsteller Zinga (hinten)

Kino Guy (Cyril Lecomte) abgewiesene Flüchtlinge nach Brazza-


Klamauk mit Flüchtlingen ville oder Kabul, nun sollen sie einen besonders schlitzohrigen
Kerl (Medi Sadoun), der sich als Algerier ausgibt, nach Afgha-
Mit grundsätzlich verdienstvollem Willen zur Komik erzählen nistan bringen – und landen nach einigen Turbulenzen über-
zwei neue französische Spielfilme vom Umgang mit Fremden raschend auf Malta. Regisseur de Chauveron, dem mit „Mon-
und Flüchtlingen. Der Regisseur Julien Rambaldi schildert sieur Claude und seine Töchter“ ein Millionenhit gelang, setzt
nach einer wahren Geschichte in dem ruhigen Lehrstück Ein hier auf den Trottelhumor amerikanischer Klassiker wie
Dorf sieht schwarz, wie im Jahr 1975 ein Arzt aus dem Kongo „Police Academy“ und zelebriert eine märchenhafte Völker-
(Marc Zinga) in einem französischen Kaff auf lustige Ängste verständigung. Drei herzlich doofe Männer jagen einander
und gehässige Ablehnung stößt. Sehr viel schriller zeigt der durch Hotelanlagen und Stripteasekneipen und finden sich ge-
Komödienspezialist Philippe de Chauveron in dem Klamauk- genseitig dufte. So derb und dreist dieser Film Unfug treibt
film Alles unter Kontrolle! zwei Abschiebepolizisten bei der mit der Gier von Schleppern, männlichem Sexualnotstand und
Arbeit. Regelmäßig begleiten der von spanischen Einwande- der Not unfreiwilliger Rückkehrer, so entschieden ist seine
rern abstammende José (Ary Abittan) und sein Kollege Botschaft: Europas Flüchtlingspolitik ist ein böser Witz. höb

NS-Vergleiche Was würden Sie ihm entgeg- SPIEGEL: In welchem Ausmaß bergehenden Blindheit nach
„Hitler hätte Giftgas nen? besaß die Wehrmacht chemi- einem Gasangriff zum Nar-
Wirsching: Dass Hitler nicht sche Waffen? rativ von der Geburtsstunde
eingesetzt“ die geringsten Skrupel gehabt Wirsching: Es gab große Men- des Politikers Adolf Hitler.
Andreas Wirsching, hätte, Giftgas einzusetzen – gen von einsatzfähigem Gift- SPIEGEL: Wie kam es zum
MATTHIAS BALK / DPA

57, Direktor des wie der Holocaust gezeigt gas, die IG Farben hatte zu- Giftgaseinsatz bei Euthanasie
Instituts für hat. An der Front hat er nur dem neue Gase für den Krieg und Judenvernichtung?
Zeitgeschichte in aus taktischen Gründen da- entwickelt. Wirsching: Das Team von Ärz-
München, über rauf verzichtet. SPIEGEL: Es heißt immer wie- ten und NS-Funktionären,
den verunglückten SPIEGEL: Was heißt das genau? der, Hitler habe aus eigenen das mit dem Projekt T4 be-
Auftritt des Trump-Sprechers Wirsching: Anders als der Erfahrungen im Ersten Welt- fasst war, also der Tötung
Sean Spicer in Washington Erste Weltkrieg war der krieg gelernt und deshalb auf von Behinderten, entschied
Zweite ein Bewegungskrieg. den Giftgaseinsatz verzichtet. sich erstmals für diese Me-
SPIEGEL: Spicer hat Assad mit Da war das Risiko, dass Wirsching: Das halte ich für thode, später wurde sie dann
Hitler verglichen und be- auch die eigenen Truppen eine Legende, die aus seiner auch in den Vernichtungs-
hauptet, nicht einmal Hitler beim Einsatz von Giftgas Selbstdarstellung in „Mein lagern eingesetzt. Der Ver-
sei so tief gesunken, che- gefährdet worden wären, viel Kampf“ stammt. Dort gehört gleich Assads mit Hitler ver-
mische Waffen einzusetzen. zu groß. die Schilderung seiner vorü- harmlost den Holocaust. dy

116 DER SPIEGEL 16 / 2017


Kultur
Serien Die Serie Big Little Lies spielt Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Eiskalt lächeln
Hochgerüstet erscheinen die
in einer Welt, die vielen als
Traumwelt gilt. Doch von der
ersten Szene an wird das im
Krokantes Glück
Mütter zum ersten Schultag Sonnenlicht funkelnde Leben Der Weihnachtsmann spielt in meiner
ihrer Kinder, bewaffnet mit als eiskaltes Arrangement Erinnerung keine glückliche Rolle. Ein
teuren Handtaschen, auf entlarvt. Dahinter lauert Ge- apfelbäckiger, korpulenter älterer
Stilettos balancierend und in walt. Männer, die ihre Frauen Herr in einem roten Bademantel mit
Designermäntel gekleidet. schlagen; Frauen, die sich flauschigen Revers in der Farbe sei-
Der Wettkampf ist eröffnet, rücksichtslos rächen. Dass ein nes Bartes auf einer Kutsche, die von
es gilt, die eigenen Kinder Mord geschieht, erscheint nur Rentieren durch den Schnee gezogen
lächelnd für die Schulkarriere folgerichtig. Hauptdarstelle- wird, von Sternschnuppen wie Engeln
in Stellung zu bringen. Da- rin Nicole Kidman ist so gut begleitet und mit Geschenken beladen:
mit sie später einmal so erfolg- wie ewig nicht mehr, auch Das war entschieden zu viel Durcheinander für meinen
reich werden wie die eige- Reese Witherspoon und Lau- kindlichen Kopf. Zumal es ja auch noch das Christkind
nen Eltern. Die wohnen an ra Dern liefern furchterregen- gab, das mit ihm in Konkurrenz stand und ebenso unent-
der Küste Kaliforniens in de Mutterfiguren ab. „Big schieden dargestellt wurde – mal märchenhaft reich in be-
Häusern mit Panoramafens- Little Lies“ läuft in Deutsch- stickten Gewändern, dann wieder sterntalerhaft dürftig
tern zum Pazifik und Küchen, land beim Pay-TV-Sender bekleidet, mal von dieser Welt, dann wieder eher Putto,
so groß, dass man rufen Sky und ist als Video-on-De- irgendwie auch mit dem Jesuskinde verwandt, aber von
muss, um sich miteinander mand bei vielen Anbietern mäanderndem Geschlecht: ein symbolisches Überange-
unterhalten zu können. erhältlich. clv bot, das Bindung doch ziemlich erschwert. Zumal die El-
tern ja ohnehin die Agenten der Vermittlung blieben, als
Wunschzettel-Moderatoren, die mit der höheren Macht
offenbar in Verbindung standen und ziemlich genau wuss-
Hollywood zeitig für die Vorwahlen der ten, was die zur Heiligen Nacht noch organisieren könnte.
Mickymaus Demokraten zur Verfügung Ostern hingegen: welch Übersicht und Freude! Sicher,
stehen. Iger, von Barack Oba- auch eine Vermählung christlicher und heidnischer Tradi-
gegen Donald? ma 2010 in ein Beratergremi- tionen, genealogisch also ein Hybrid, und in der figürli-
Seit vielen Jahren unterstüt- um berufen, sagte dem Bran- chen Besetzung (Jesus, Osterhase, Lamm und Hahn) ver-
zen weite Teile der amerika- chenmagazin „Hollywood wirrend. Im Ablauf aber ein Familienfest, das eher an ein
nischen Filmindustrie die De- Reporter“ vor Kurzem, in Picknick im Freundeskreis erinnert als an eine rituelle
mokratische Partei. Doch Hollywood würden ihn viele Veranstaltung, bei der in geschlossenen, sauerstoffarmen
nachdem die Wahlkampfhilfe „bedrängen“, sich um die Räumen zu rätselhaftem Liedgut – entsprungen ist nicht
von Schauspielern und Regis- Präsidentschaft zu bewerben. ein Roß, sondern aus einer Wurzel namens Jesse ein Reis
seuren wie George Clooney Politisches und strategisches namens Maria, aus der ein Blümelein (Jesus) sprosst –
oder Steven Spielberg für Hil- Geschick zeigte Iger schon schon bei den Buddenbrooks mehr gegessen und getrun-
lary Clinton nicht zum Erfolg als Disney-Chef, indem er vie- ken wurde, als der christliche Magen verträgt (nicht ku-
geführt hat, scheint Holly- le Tochterunternehmen unter riert, aber doch sanft begleitet von der geheimnisvollen
wood für die Präsidentschafts- einem Dach vereinte und im- hausärztlichen Diätempfehlung „Taube und Franzbrot“).
wahlen im Jahr 2020 einen mer wieder zu neuen Rekord- Vor allem aber entspannend zu Ostern: kein Diskurs
Kandidaten aus den eigenen gewinnen führte. Donald über Gerechtigkeit. Und keine enttäuschten Wünsche.
Reihen küren zu wollen: Bob Trump könnte Iger auf dem Nichts also von alldem, was in der erwachsenen Welt an-
Iger, Chef der Disney Compa- Weg nach Washington sogar lässlich von Steueroasen, Managerboni und Erbschafts-
ny. Seit 2005 leitet der 66-Jäh- helfen. Er hat bewiesen, novellen immer wieder reexerziert werden muss: dass das
rige den Unterhaltungskon- dass man ins Weiße Haus ge- Zukurzkommen des einen der Überfluss des anderen
zern und hat seinen Vertrag wählt werden kann, ohne ist, dass man nie kriegt, was man wirklich will (und wenn,
gerade bis Juli 2019 verlän- je ein politisches Amt beklei- dann ist es aus Plastik und geht nach zwei Tagen kaputt),
gert. Damit könnte er recht- det zu haben. lob und dass auf Erden, solange der Kapitalismus unwider-
sprochen regiert, Zufriedenheit eine Sünde ist wider den
Möglichkeitssinn. Stattdessen ein Ausflug in die All-
Iger mende, das bukolische und moralische Paradies: Alle Eier,
die je versteckt, werden auch sicher gefunden, von Jagd-
glück und Jubel begleitet, und dann kann friedlicher
Tauschhandel walten, das Gepunktete und das Gestreifte,
das Marzipane und das Krokante wechseln die Besitzer
und werden gemeinsam verspeist. Hier herrscht kollekti-
ver Überfluss, der festlich und einträchtig vernichtet wird,
hier gibt es keinen Verpackungsmüll zu entsorgen, und
hier lernt das Kind, was der Adulte vergisst. Erstens: Un-
ter freiem Himmel ist das Leben schöner und der Mensch
in aller Regel friedlicher. Zweitens: Verzehr ist seliger
VCG / GETTY IMAGES

denn Besitz. Drittens: Die Orgie, wenn sie gelingen soll,


bedarf der offenen Geselligkeit.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 16 / 2017 117


Kultur

Geschichte
wird gemacht

SIPA PRESS / ACTION PRESS


Zeitgeist Ist in den USA die Demokratie in Gefahr? Das
kulturelle Establishment des Landes schwankt zwischen
Gelassenheit und Alarmismus. Ein Besuch bei Schriftstellern
und Intellektuellen der Ostküste. Von Lothar Gorris

E
r heiße Don, sagt er. Vielleicht ein Schussweste, den Zaun bewachen, aber es
kleiner Scherz, Don wie Donald, viel- wirkt so, als achteten sie eher auf die Tou-
leicht nicht. Morgens oder abends, risten. Entweder verbirgt der faschistische
manchmal in zwei Schichten, sitzt er mitten Repressionsapparat seine hässliche Fratze,
auf der ziemlich breiten, in diesem Ab- oder sie halten Don, den Tramp, den Land-
schnitt für Autos gesperrten Pennsylvania streicher, für nicht so richtig gefährlich.
Avenue in Washington, wo sich die Touris- Auch nur so eine verlorene Seele. Einer,
ten vor dem Weißen Haus fotografieren, der den Hippietraum von der Freiheit viel-
und demonstriert gegen den Präsidenten leicht zu wörtlich genommen hat und den
der Vereinigten Staaten. Neben ihm ein Weg zurück ins bürgerliche Leben nicht
Karren mit einem nicht allzu großen Ruck- mehr schafft. Aber wie Don da auf der
sack. Am Karren lehnt ein Schild: „No!“, Pennsylvania Avenue bester Laune vor
steht dort, „Stop Trump/Pence“ und „No sich hin trommelt, ist er die Speerspitze
Fascist USA“. des Volkes gegen diesen Präsidenten, ein
Vor ihm auf dem Pflaster eine Art Sche- Widerstand, von dem man nicht genau
mel oder Eimer aus schwarzem Plastik, auf weiß, ob die revolutionären Massen nur
dem er mit zwei Stangen trommelt. Ein, noch auf ein Zeichen Dons warten für den
zwei Stunden lang am Tag, seit dem 13. Ja- Sturm auf das Weiße Haus. Zurzeit macht
nuar, eine Woche vor der Inauguration. Bis Don einen eher einsamen Eindruck.
zum Weißen Haus sind es nur hundert Me- Das „No!“-Plakat kommt von einer Or-
ter, Dons Trommel ist laut, man hört ihn ganisation namens RefuseFascism, einer
ziemlich weit entfernt. „Ich habe schon das Truppe versprengter Maoisten, vermutlich
Gefühl, dass das etwas bringt“, sagt Don. war in ihren Augen sogar Barack Obama
JÜRGEN FRANK / DER SPIEGEL

„Er ist immer öfter nicht im Weißen Haus.“ ein Agent der weltweiten faschistischen
Er sagt auch, dass er 67 Jahre alt sei. Ein Verschwörung.
Vollbart verdeckt die Spuren eines Lebens Mit dem Faschismus ist das so eine Sa-
auf der Straße, die Stimme aber klingt che. In den Demokratien des Westens ist
frisch und gut gelaunt. Die Nächte ver- der Vorwurf in den vergangenen Jahrzehn-
bringt er irgendwo in der Vorstadt oder ten ein paarmal zu oft benutzt worden, als
im Schatten des Weltbank-Gebäudes, nur dass man ihn noch hätte ernst nehmen kön- Autoren Grisham, Wolfe (r.), Snyder:
zwei Blocks vom Weißen Haus entfernt. nen. Andererseits: Wäre er erst mal da,
Manchmal scherzt er mit den Beamten der Faschismus, hätte man kaum eine

O
vom Secret Service, die, mit Gewehr und Chance mehr, dann wäre es zu spät. der ist es Zeit für Gelassenheit? Im
Es gibt Stimmen unter Amerikas Intel- 14. Stock in der 79. Straße in Man-
lektuellen, die ernsthaft vor einer Auto- hattan, der Blick hinaus auf den
WIE RETTET MAN DIE DEMOKRATIE? kratie oder dem beginnenden Faschismus Central Park, fühlen sich Leben und Wirk-
warnen. Linksliberale wie der Schriftstel- lichkeit und Donald Trump ein wenig an-
ler Dave Eggers oder der Filmemacher Mi- ders an. Feinste Upper Eastside, das
LEKTION 1
chael Moore, aber auch Konservative wie Metropolitan Museum of Art um die Ecke,
LEISTE KEINEN der Politologe Robert Kagan, Anfang der
Nullerjahre einer der Chefideologen der
nebenan bewohnt der ehemalige Bürger-
meister und Milliardär Michael Bloomberg
VORAUSEILENDEN Neocons, oder der Publizist David Frum, zwei Townhouses, gegenüber hat die
der als Redenschreiber für George W. Bush School of Practical Philosophy ihren Sitz,
GEHORSAM! den Begriff von der „Achse des Bösen“ ge- die den wohlhabenden, aber etwas gelang-
Aus Timothy Snyders Buch „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen prägt hat. Was also, wenn Don the Tramp weilten Menschen dieser Gegend mit Pla-
für den Widerstand“ (C. H. Beck; 128 Seiten; 10 Euro) gar nicht so verwirrt ist, sondern das Rich- ton, Buddha und indischen Meistern zu
tige tut? Glück und Freiheit verhelfen will.
118 DER SPIEGEL 16 / 2017
MARCO GROB / DER SPIEGEL

„Irgendwie gibt Trump der Sache einen anderen Dreh“

Der Schriftsteller Tom Wolfe lebt hier er später sagen, „nicht politisch. War ich Kurz vor den Wahlen im vergangenen
seit den Neunzigerjahren. Er ist jetzt 86 nie. Politisch werde ich erst, wenn die Hun- Jahr hat er nach längerer Zeit ein neues
Jahre alt. Ein Meister der Gelassenheit und nen zwei Blocks entfernt stehen.“ Der Satz Buch veröffentlicht. Diesmal ist es kein Ro-
des Spotts, der die Welt als Spektakel be- gehört zum Standardrepertoire von Tom man, sondern ein Sachbuch. Es liest sich
trachtet. Eine verrückte Welt, in der sich Wolfe wie der weiße Anzug zu seinem wie aus einer Zeit, als der Witz mit den
jeder um sich selbst kümmert. Um das Südstaaten-Dandytum. Hunnen noch ein Witz war.
kämpft und fürchtet, was er erreicht hat, Der Trump Tower steht 22 Blocks weiter „Das Königreich der Sprache“ beschäf-
und um das, was er noch will. Statuskämp- südlich. Er war lange nur ein ziemlich häss- tigt sich mit der nicht sonderlich drängen-
fe, das sei es, was diese Welt antreibe, es liches Symbol neureicher Protzerei, nun den Frage, was Sprache ist und was Men-
ist der Stoff für Wolfes Bücher. Sie haben ist er so etwas wie das Zentrum der dunk- schen dazu befähigt, sprechen zu können*.
ihn berühmt und wohlhabend gemacht, len Macht. Sollten sich die Hunnen hier Wolfe selbst hat auch keine Antwort, aber
und er zeigt gern, was er hat. Im 14. Stock verstecken, brauchten sie nur einen klei- das ist egal. Ihm ging es immer darum, sich
öffnet sich der Aufzug in den Flur der Woh- nen Spaziergang die Fifth Avenue hoch zu
nung, wo Tom Wolfe, wie immer als Tom machen, und Tom Wolfe müsste endlich * Tom Wolfe: „Das Königreich der Sprache“. Blessing;
Wolfe verkleidet, wartet. „Ich bin“, wird politisch werden. Gott bewahre. 224 Seiten; 19,99 Euro.

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Kultur

über die Säulenheiligen der modernen Hinterwäldlers auf diese Klasse von Schrift- greifen. Noch glaubt er an die Stabilität
Welt lustig zu machen. In diesem Fall über stellern, Denkern, Intellektuellen. des Landes. Aber Zweifel gibt es, auch Sor-
Charles Darwin, der die Theorie der Evo- Für eine seiner berühmtesten Geschich- gen, darum, was so passieren könnte. Ko-
lution begründete, und über Noam Choms- ten hatte er sich 1970 auf eine Party von rea. Russland. Syrien. „Aber jetzt gleich
ky, den weltberühmten Linguisten. Um es Leonard Bernstein zu Ehren der Black Pan- Faschismus? Geht es nicht ein bisschen
kurz zu sagen: beides Blender für Wolfe. thers eingeschlichen. In „Radical Chic“ be- kleiner?“
Die Theorie Darwins, dass der Mensch ein schreibt er diese Mischung aus Schuld- Seit Längerem sammelt er Material für
Produkt der Evolution sei, die Theorie ein neues Buch. Einen Titel hat es bereits:
Chomskys, dass es ein Sprachorgan im „Joy of Anger“, Freude an der Wut. Ei-
Hirn gebe und allen Menschen eine uni- LEKTION 3 gentlich ein Buch über politische Korrekt-
verselle Grammatik innewohne, alles nur
wilde Thesen. Es gab ziemlich Ärger, als HÜTE DICH VOR heit, über die Sitten und Gebräuche im
modernen Akademia. Über Statuskämpfe,
das Buch erschien, die Verkäufe sind
schwach.
DEM EINPARTEIEN- Rassismus und weiße Schuldgefühle, über
trigger warnings und safe spaces, über Re-
Für Wolfe ist vor allem Chomsky eine STAAT! defreiheit und Tugendterror. Eigentlich ein
Art Prototyp des modernen, linken Intel- Tom-Wolfe-Buch wie immer. Aber jetzt?
lektuellen, kein Wissenschaftler, sondern Außenseiter sein, immer, jederzeit, aber
ein politischer Agitator. Intellektuelle, sagt bewusstsein der weißen, liberalen Ober- sich auf die ganz falsche Seite schlagen,
Wolfe, zeichneten sich dadurch aus, dass schicht und Selbsterhebung über jeden und auf die Seite der Trumps und Bannons?
sie vor allem über Dinge sprechen, von de- alles. Die Wohnung Bernsteins, in der „Irgendwie“, sagt er, „gibt Trump der Sa-
nen sie keine Ahnung haben. Über Politik die Party stattfand, liegt übrigens in der- che einen anderen Dreh.“
beispielsweise. Sie entrüsteten sich, so hat selben Straße, in der Wolfe heute lebt, kei-

A
er es mal in einem Essay beschrieben, stän- ne 150 Meter entfernt. So weit hat Wolfe uch John Grisham hatte am Wahl-
dig über diese „puritanische“ oder „repres- es gebracht. Allerdings ist er näher dran abend Freunde zu sich nach Hause
sive“ oder „faschistische“ Nation, für die am Central Park. Klarer Statussieg. eingeladen, auf seine Plantage in
inzwischen verstorbene New Yorker Groß- In Wolfes Roman „Ein ganzer Kerl“ be- der Nähe von Charlottesville in Virginia.
denkerin Susan Sontag sei sogar „die weiße schreibt er den Niedergang des pleitege- Thomas Jefferson hat hier, keine halbe
Rasse das Krebsgeschwür der Menschheits- henden Immobilienmoguls Charlie Croker, Autostunde entfernt, vor mehr als 200 Jah-
geschichte“. Totaler Schwachsinn, schlim- der seinen Namen an die von ihm errich- ren auf seinem Anwesen Monticello die
mer aber noch sei ihr Prosastil, auf dem teten Hochhäuser anbringen lässt, sich mit Unabhängigkeitserklärung verfasst und
eine gültige Behindertenplakette klebe. einer jungen weiblichen Trophäe schmückt den Mythos Amerikas als Heimat der Frei-
Moralische Entrüstung, zitiert Wolfe den und in seinem Königreich Witze über heit erfunden.
von ihm bewunderten Medientheoretiker Schwule, Frauen und Schwarze macht, wie Eine Siegesparty sollte es werden. „A
Marshall McLuhan, sei die Würde der es ihm gefällt. Ein Glücksritter, der seinen landslide win“, ein Erdrutschsieg für Clin-
Idioten. Aufstieg seinen Tricks und Deals verdankt ton, natürlich. Aber bald schon wackelten
Als das Buch erschien, hatte Trump die und trotz allen Besitzes und aller Berühmt- die Swing States, und auch Virginia wa-
Wahl noch nicht gewonnen, auch Wolfe heit immer noch nach Anerkennung lechzt ckelte. „Niemand von uns hat das voraus-
rechnete nicht mit seinem Sieg, obwohl und nur darauf schaut, was andere von gesehen. Wir dachten, wir leben hier, wir
er von Hillary Clinton genauso wenig ihm halten. Ein Megalomaniker, ein Grö- dachten, wir wissen, was hier los ist.“
ßenwahnsinniger, der an etwas glaubt, was Im Frühjahr noch hatte Grisham gehofft,
unvereinbar ist mit überprüfbarer Realität. dass die Republikaner Trump nominieren,
LEKTION 2 Aber Donald Trump ist keine Roman- weil das den Sieg Clintons garantieren wür-
VERTEIDIGE DIE figur von Tom Wolfe, obwohl man durch- de. Nun fiel ihnen, sagt Grisham, der Him-
aus den Eindruck haben könnte. Die Wirk- mel auf den Kopf. Das Ende der Welt. „Ich
INSTITUTIONEN! lichkeit ist zu groß und zu kompliziert, um war deprimiert. Und ich war wütend, auf
sie zu erfinden, wenn überhaupt, ist es Bekannte und Verwandte, die für die Re-
eher umgekehrt. Die Wirklichkeit selbst publikaner gestimmt haben. Sie haben ver-
hielt. Sie sei, sagt er, längst nicht so char- funktioniert längst wie eine Realityshow, sagt. Wissen Sie, Amerikaner sprechen pri-
mant wie ihr Ehemann, und Humor gehö- intrigant, böse, chaotisch, ein Kampf jeder vat niemals über Politik, und wahrschein-
re auch nicht zu ihren Stärken. „Eine gegen jeden, Wirklichkeit wird produziert, lich ist das richtig so. Weil es toxisch ist.
ziemlich zwielichtige und abstoßende Fi- auch wenn es nur Fiktionen sind. Ihre Hel- Und weil jetzt alles eskalieren würde. Also
gur.“ Am Wahlabend dann lud Wolfe den sind grob und aggressiv, Amateure, reden wir über etwas anderes.“
sechs Freunde ein. Als Clintons Nieder- die zur Karikatur ihrer selbst werden. Hei- Grisham ist 62 Jahre alt und auf interes-
lage feststand, glaubten die Freunde, dies di Klum immerhin hat bislang nicht vor, sante Weise ein zugleich angenehmer, de-
wäre das Ende der Welt. „Sie meinten das Kanzlerin zu werden. mutsvoller Mensch, der aktiv in einer libe-
wirklich ernst.“ „Ich habe schon immer gesagt, dass die ralen Baptistengemeinde ist, aber durchaus
Tom Wolfe hat sich öffentlich bekannt, Fiktion der Wirklichkeit unterlegen ist. den Furor der Aufklärung in sich trägt.
George W. Bush die Stimme gegeben zu Was alles möglich ist, was alles passieren Wahrscheinlich braucht man den, um aus
haben. Als Student in Yale beschäftigte er kann, was Menschen sich einfallen lassen, einem leeren, weißen Blatt Papier in 30
sich mit dem Einfluss der Kommunistischen was sie sagen, was sie tun. Das alles ist Jahren eine Gesamtauflage von fast 300
Partei auf Amerikas Schriftsteller der Drei- nur selten langweilig. Donald Trump kann Millionen Büchern zu machen. Lange
ßiger- und Vierzigerjahre. Für Intellektuelle man sich nicht einfallen lassen. Er ist eine schon gehört er zum demokratischen
wie John Updike und Norman Mailer war fantastische Figur.“ Establishment, spendet Millionen für die
er ein Rechter. Wolfes Spiel war es, der Au- Noch sind die Hunnen erst in der 57. Stra- Opfer des Wirbelsturms Katrina, unter-
ßenseiter zu sein. Die Welt mit anderen ße. Noch hat Wolfe keinen Grund, den stützt den Wahlkampf demokratischer
Augen zu sehen als alle anderen, das ist 14. Stock am Central Park zu verlassen Kandidaten. Genau zu dem Establishment,
ein guter Trick. Es war die Perspektive des und die Welt nicht mehr als Satire zu be- das nicht so richtig mitbekommen hat, wie

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CHRISTIAN PETERSEN / AFP
Kunstplakat in Phoenix, Arizona: Der Himmel fiel ihnen auf den Kopf

groß die Wut und der Hass sind und wie macht. Wir haben kurz mit Bill und Hillary kämpfe von Interessengruppen und Kon-
verheerend die Armut in Teilen des Lan- gesprochen. Das war es.“ zernen in unbeschränkter Höhe unterstützt
des ist. In diesen Tagen ist ein neuer Justizthril- werden und die deswegen nicht denen ver-
Bill Clinton und er, beide in Arkansas ler von Grisham in Deutschland erschie- pflichtet sind, die sie gewählt haben, son-
geboren, sind entfernte Cousins. Im März nen: „Bestechung“*. Diesmal geht es um
vergangenen Jahres veranstaltete Grisham eine korrupte Richterin in Florida, wo Bür-
auf seiner Plantage ein Spendendinner für ger sogar ihre Richter wählen. Den Wahl- LEKTION 7
Hillary Clinton. Jeder Gast musste 2700
Dollar bezahlen, als Mitgastgeber waren
kampf hat sie sich von einer Bande krimi-
neller Immobilienentwickler finanzieren
SEI BEDÄCHTIG,
es 27 000 Dollar. Hillary Clinton sei tat- lassen, denen sie nun dienen muss und da- WENN DU
sächlich eine warmherzige, lustige Frau, für ein Leben führen kann, das ihr Gehalt
aber sobald sie auf einer Bühne stehe, wer- als Richterin nie decken könnte. Und na- EINE WAFFE TRAGEN
de sie steif und unnahbar. Wie viel Abnei-
gung sie aber hervorgerufen habe, das sei
türlich geht es um Leben und Tod. 24 Jus-
tizthriller hat Grisham seit 1988 veröffent- DARFST!
überraschend gewesen. licht. Seine Frau fragt ihn manchmal, ob
er nicht endlich aufhören wolle mit dem dern jenen, die sie finanzieren. Eine Demo-
Predigen. Der amerikanische Rechtsstaat kratie, die die größte Gefängnispopulation
LEKTION 4 in Grishams Version? Korrupte Richter, der Welt hat, ihre Gefängnisse privatisiert,
ÜBERNIMM VER- selbst in den Supreme Courts, Kleingano-
ven als Anwälte, mafiotische Großkanzlei-
in denen die meisten wegen geringfügiger
Drogendelikte einsitzen, ihre Bürgerrechte
ANTWORTUNG en, Justiz und Polizei rassistisch, Konzerne verlieren, in einigen Bundesstaaten auch
und CIA/FBI als Strippenzieher, Präsiden- nach der Entlassung, und die zum allergröß-
FÜR DAS ANTLITZ ten und Senatoren ihre Marionetten. Und ten Teil Schwarze sind.
DER WELT! am Ende siegt oft das Böse. Wer nur ein
paar seiner Thriller gelesen hat, muss den
Ein frommer Radikaler. Sein Leben, hat
Grisham einmal gesagt, basiere auf Glau-
amerikanischen Rechtsstaat für einen Un- ben und Moral. „Trump ist ein schlechter
Kurz vor Weihnachten hatte Clinton rechtsstaat halten. Mensch, und ich habe nichts gesehen in
Grisham und seine Ehefrau Renée zu ih- Grisham sagt, dass eine Demokratie kor- den vergangenen Wochen, das mir Hoff-
rem Abschiedsdinner für 200 Unterstützer rupt sei, in der die Hälfte der Bevölkerung nung gibt. Er wird, wenn es erst zur einer
im New Yorker Plaza Hotel am Central nicht wählt und die andere Hälfte sich nur echten Krise kommt, nicht das Richtige
Park eingeladen. „Es war“, sagt Grisham, für Politiker entscheiden kann, deren Wahl- tun. Davon bin ich überzeugt.“
„eine Beerdigung. Mal im Ernst, wer geht Als junger Mann saß Grisham sieben
da gern hin? Der Trump Tower um die * John Grisham: „Bestechung“. Aus dem Englischen
Jahre lang als Abgeordneter für die Demo-
Ecke, die Wahl verloren, aber meine Frau von Kristina Dorn-Ruhl, Bea Reiter, Imke Walsh-Araya. kraten im Repräsentantenhaus von Mis-
wollte unbedingt. Spaß hat das nicht ge- Heyne; 448 Seiten; 22,99 Euro. sissippi. Sein Wahlkampf: 5000 Dollar für
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OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL
Landstreicher Don in Washington: Speerspitze des Widerstands

T-Shirts, Poster, Gartenschilder. Und dann Sache, und nun erweist sich der Präsident Es muss das Paradies sein, hier studieren
von Tür zu Tür. Hallo, ich bin John Grisham. als Amateur, als failing president. Die Lü- zu dürfen oder Professor zu sein.
Als er schließlich in Jackson, Mississippi, gen und die Tweets, der Travel Ban und Snyders Institut für Osteuropäische Ge-
im Capitol saß, als blutiger Anfänger, fern Obamacare, mal gegen China und für Russ- schichte ist in einer Großbürgervilla aus
seiner Familie, mochte er es vom ersten land, mal für China und gegen Russland, dem 19. Jahrhundert untergebracht. Die Bi-
Tag an nicht. Nach sieben Jahren hörte er mal isolationistisch, mal interventionis- bliothek und der Sitzungssaal aus dunklem
vorzeitig auf. Die Demokraten in Mississip- tisch, Drohungen an Nordkorea, IS, Assad. Holz, im Flur eine gendermäßig nicht fest-
pi hatten wie in vielen anderen Südstaaten Bomben auf Syrien als Vergeltungsshow, gelegte Unisex-Toilette. Snyder ist in der
nicht unbedingt revolutionäres Potenzial. auf Twitter erklärt. Politik nach Tagesstim- Nacht zuvor aus Washington zurückgekehrt
Vor zwei Jahren wurde er von den De- mung. Unberechenbar, so nennt Russland und legt sich erst mal auf die Ledercouch
mokraten gefragt, ob er nicht für den Senat diesen Präsidenten, und mag von dort oft in seinem Eckzimmer im ersten Stock.
kandidieren wolle. Man sei, sagt Grisham, Falsches kommen, dies ist es nicht. Er ist ein wenig am Limit. In Washington
ganz offensichtlich auf der Suche nach je- hat er sein neues Buch vorgestellt, das wagt,
mandem mit großem Namen gewesen, der was ein Professor normalerweise nicht tut.
seinen Wahlkampf selbst finanziert. „Ich LEKTION 10 Das Pamphlet eines politischen Aktivisten:
sagte: ‚Come on, lass uns hier keine Zeit
vergeuden. Mein Leben ist viel zu gut. Wa-
GLAUBE AN DIE „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für
den Widerstand“. Es beginnt mit dem Satz:
rum sollte ich es in Washington ruinieren?‘ WAHRHEIT! „Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir
Wir haben dann gemeinsam einen Drink können aus ihr lernen.“ Die letzte Lektion
genommen und gelacht. Das war es.“ lautet: „Sei so mutig wie möglich. Wenn
Daran hat sich auch nach der Niederlage Andererseits: Die Demokratie funktio- niemand von uns bereit ist, für die Freiheit
Clintons nichts geändert. Beängstigende Zei- niert. Die Gerichte agieren unabhängig. zu sterben, dann werden wir alle unter der
ten, sagt Grisham. Bislang aber sei so viel Die vierte Gewalt, so lange geschmäht, Tyrannei umkommen.“
nicht geschehen. „Die Wahl Trumps ist eine blüht. Die Demokraten wehren sich, sogar Junge, Junge. „Leiste keinen vorauseilen-
Tragödie. Der Sturm wird Schaden anrichten, einige Republikaner, und ausgerechnet FBI den Gehorsam.“ „Übernimm Verantwor-
aber er wird dieses Land nicht verwüsten.“ und NSA, die Schurken schlechthin und tung für das Antlitz der Welt.“ „Nimm
Und so vertraut Grisham erst mal den nun im Widerspruch zum Präsidenten, er- Blickkontakt auf, und unterhalte dich mit
Institutionen, die er in seinen Thrillern weisen sich als Helden des von Rechten so anderen.“ „Engagiere dich für einen guten
längst vernichtet hat. verhassten, widerstandsfähigen deep state. Zweck.“ „Lerne von Gleichgesinnten in an-
Timothy Snyder ist Professor für Ost- deren Ländern.“ Oder auch: „Achte auf ge-

S
eit drei Monaten sitzt Donald Trump europäische Geschichte in Yale, einer der fährliche Wörter.“ So heißen ein paar von
im Weißen Haus. Man kann nicht sa- berühmtesten Universitäten des Landes. Snyders Lektionen, sie klingen, als stamm-
gen, dass nun Profis das Land führ- Der Campus sieht aus wie ein „Harry Pot- ten sie aus irgendeinem Antifa-Handbuch,
ten, aber so war es gewollt von seinen ter“-Film, die Gediegenheit Englands und das Jugendliche mit verfilzten Rastalocken
Wählern. Demokratie ist eine komplizierte der Ostküste, Wohlstand, Bildung, Kultur. und abgerockten Turnschuhen in der Fuß-
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Kultur

gängerzone einer Kleinstadt mit sich herum- sagt, nicht auch gleichzeitig „Attentat“ schung: Nichts ist unmöglich. Nichts ist
tragen wie einen Ausweis ihrer richtigen und „Tyrannenmord“ sagen? „Wenn“, so ewig. Der Preis der Freiheit ist ewige
Gesinnung und zum Schrecken der Spießer. Snyder, weiterhin auf der Couch liegend, Wachsamkeit. Jede Demokratie kann
Spätpubertierende dürfen alarmistisch, „nur eine Seite bereit ist, Gewalt anzuwen- scheitern, auch die amerikanische. Nie-
hysterisch sein, müssen es sogar. Aber ein den, und die andere überzeugt davon ist, mand sollte sich auf amerikanische Frei-
Professor in Yale? Snyder ist Jahrgang 1969, dass sie moralisch versagt, wenn sie Ge- heitstugenden verlassen und auch nicht
er kommt aus dem Südwesten Ohios, pro- walt anwendet, dann wird sie sicherlich auf die demokratischen Institutionen: „Die
moviert in Oxford, Stipendiat in Paris, verlieren.“ Und dann erwähnt er einen Be- amerikanische Demokratie muss vor Ame-
richt in der „Washington Post“ über den rikanern geschützt werden wie die deut-
steigenden Anteil von Frauen und Minder- sche vor den Deutschen.“
LEKTION 13 heiten unter den Waffenkäufern. Radikal und überdreht, durchaus, aber
PRAKTIZIERE „Ich bin“, sagt er, „linker und radikaler
als die meisten Amerikaner. Aber wissen
es wäre falsch, ihn einfach abzutun. Wenn
Wirklichkeit sich ändert, merken das die
PHYSISCHE POLITIK! Sie, das Leben und die Wirklichkeit sind meisten erst zu spät.
noch viel radikaler. Für mich ist dieses Im Epilog des Buches skizziert er eine
Land eine Demokratie mit oligarchischen westliche Welt, die in der falschen Zeit
Harvard, Warschau, er spricht Französisch, Zügen auf dem Weg in eine Oligarchie mit lebt, bestimmt von zwei falschen, ahistori-
Deutsch, Polnisch und Ukrainisch, versteht demokratischen Zügen.“ schen Wahrnehmungen. Snyder nennt die
Hebräisch, Russisch, Tschechisch und noch Faschismus und Tyrannei, sagt Snyder, eine die Politik der Unausweichlichkeit.
einiges mehr. Er hat in Krakau geheiratet müssten nicht heißen: Hakenkreuze, sechs Sie basiert auf der westlich demokrati-
und fast zehn Jahre lang in Europa gelebt. Millionen ermordete Juden. „Trump und schen Annahme, dass das 20. Jahrhundert
Seine beiden bekanntesten Bücher, diese Leute sind nicht so weit, dass man trotz aller Tragödien ein Jahrhundert ge-
„Bloodlands“ über die Verwüstungen des sie Faschisten nennen kann. Aber sie wol- wesen sei, in dem die Demokratie gesiegt
Stalinismus und des Nationalsozialismus len einen Regime-Change. Insofern muss habe: 1918 der Sieg über die Monarchie,
in Osteuropa und „Black Earth“ über den man jetzt friedliche Mittel nutzen, um den
Holocaust in Osteuropa, wurden weltweit Regimewechsel zu verhindern: Demons-
veröffentlicht. trationen, Klagen, Öffentlichkeit.“ LEKTION 20
Am Wahlabend war Snyder noch nicht Unter Kollegen, vor allem in Europa,
mal in den USA, sondern in Schweden. gilt Professor Snyder als jemand, der die
SEI SO MUTIG WIE
Auf dem Rückflug in die USA fragte er Geschichte zu sehr aus der Gegenwart MÖGLICH!
sich, was jetzt zu tun sei. Am 16. Novem- heraus beschreibt, zu leicht und feuilleto-
ber, acht Tage nach der Wahl, postete er nistisch. „Mir wurde nun vorgeworfen,
auf Facebook bereits 20 Lektionen aus der dass ich übertreibe, aber manchmal muss 1945 über den Faschismus, 1989 über den
Geschichte des 20. Jahrhunderts, die er man etwas riskieren, auch auf die Gefahr Kommunismus. Die nach dem Zweiten
nun ausführlich erläutert als Buch veröf- hin, dass ich falschliege. Hätte ich gewartet, Weltkrieg Geborenen des Westens kennen
fentlicht hat. Amerikaner, schrieb er, seien bis ich mir absolut sicher bin, hätte ich es nichts anderes als Frieden, Wohlstand und
nicht klüger als die Europäer, die ja erlebt nie geschrieben. Und sollte ich mich irren, Demokratie und nehmen dies als gegeben.
hätten, wie Demokratien sich Faschismus, dann sind die Lektionen, die dieses Buch Und sie glaubten, die Geschichte selbst be-
Nationalsozialismus und Kommunismus empfiehlt, immer noch sinnvoll.“ wege sich zwangsläufig hin zu einem End-
ergaben. Nun sei es an der Zeit, aus den Professor Snyder ist ein Mann, der auf zustand, zu Frieden und Wohlstand, zu
Erfahrungen Europas zu lernen. hohen Touren läuft. Alarmistisch, obsessiv. Freiheit und Demokratie, zu mehr Globa-
Ein paar Tage später veröffentlichte er Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich lisierung und mehr Vernunft.
im Onlinemagazin Slate einen Artikel. Der mit der Geschichte Europas, hat gelesen Das sei, sagt Snyder, naiv. Wer glaubt,
Text beschreibt eine Überraschungswahl und gedacht und geschrieben wie ein Ost- dass Fortschritt unausweichlich ist, entwi-
im November eines ungenannten Jahres: europäer. Seine Lektionen nun seien eine ckelt Apathie. Wer plötzlich erwacht aus
die Stimmenmehrheit der Linken, die Ko- Art von „Homecoming“, von „Amerika- Apathie und der Naivität, dass am Ende
alition aus alten und neuen Rechten, den nisierung“. Beeinflusst von seinen „Leh- alles gut wird, sei relativ schnell davon zu
Glauben der Eliten, dass die Institutionen rern“, wie er es nennt, Philosophen, überzeugen, dass nichts gut wird, und da-
der Demokratie und der Rechtsstaat sie Schriftstellern, Politikern, die in autoritä- mit empfänglich für Zynismus.
schützen werden. Die Rhetorik des charis- Die zweite falsche Wahrnehmung nennt
matischen Herrschers, der die Nation als Snyder Politik der Ewigkeit, verkörpert
Opfer einer Verschwörung sieht und sich LEKTION 17 durch Populisten in Westeuropa und in
als Stimme des Volkes und weiß, wie man
Massenmedien nutzt, um Wahrheit durch
ACHTE AUF GEFÄHR- den USA, genauso wie von den Autokra-
ten in Russland und der Türkei. Sie sei
Lügen zu ersetzen. Nach einem Terroran- LICHE WÖRTER! eine rückwärtsgewandte Antwort auf die
schlag, dessen Urheberschaft ungeklärt Globalisierung.
bleibt, ruft er den Ausnahmezustand aus, Die Politik der Ewigkeit beschäftigt sich
ohne ihn je wieder aufzuheben. Das Land ren Regimes gelebt haben wie unter Toten fast ausschließlich mit der Vergangenheit,
zieht bald in einen Krieg, Millionen un- und die, so sagt er es, „wissen, wann es einer Vergangenheit, die es aber so nie ge-
schuldiger Zivilisten werden ermordet. Zeit ist, sich politisch zu engagieren“. Ge- geben hat. Der Brexit beispielsweise sei
Der Text erwähnt keine Namen, nicht prägt auch von einer jüngeren Generation, der Traum von einem Nationalstaat, dem
das Land, nicht die Zeit, in der das alles die den Kommunismus nicht mehr erlebt das britische Königreich der Neuzeit nie
geschieht. Aber es ist klar, dass es ein Text hat, in Russland, in Polen, in der Ukraine, entsprochen habe. Erst war das United
genauso über Hitler ist wie über Donald und schließlich erfahren musste, wie de- Kingdom ein weltweites Empire, und da-
Trump und was aus ihm werden könnte. mokratische Systeme geschwächt und die nach wurde es ein Teil der Europäischen
Junge, Junge. Snyder meint das ernst. Zeit zurückgedreht werden kann. Seine Union, eines postnationalen Projekts. Der
Aber muss, wer „Hitler“ und „Tyrann“ Erkenntnis aus seinem Wissen, seiner For- Rückgriff Putins auf das russische Groß-

DER SPIEGEL 16 / 2017 123


reich? Verarmung, Verelendung im Zaris-
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
mus und Kommunismus, umgedeutet zu
einer mythischen Vergangenheit. Trumps
Belletristik Sachbuch „America first“? Ein Rückgriff auf die Drei-
ßigerjahre, eine Zeit amerikanischen Iso-
1 (1) Jussi Adler-Olsen 1 (2) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive lationismus und einer Depression, einer
Selfies dtv; 23 Euro Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro
Zeit des Chaos und der Unruhe. Und: Wer
die Vergangenheit mythisiert, kann kaum
2 (2) Carlos Ruiz Zafón Das Labyrinth 2 (1) Robin Alexander über die Zukunft nachdenken. Politik wird
der Lichter S. Fischer; 25 Euro Die Getriebenen Siedler; 19,99 Euro allein zur Diskussion über Gut oder Böse,
aber nicht darüber, wie Probleme zu lösen
3 (4) Natascha Wodin 3 (3) Andrea Wulf Alexander von Humboldt sind. Äußere Feinde müssen gefunden wer-
Sie kam aus Mariupol Rowohlt; 19,95 Euro Humboldt und die Erfindung der Natur den und lassen sich auch im Innern finden.
C. Bertelsmann; 24,99 Euro Im Deutschland der Dreißigerjahre genau-
4 (5) Elena Ferrante Meine geniale so wie im Amerika von heute.
Freundin 4 (4) Katrin Weber
Suhrkamp; 22 Euro
Sie werden lachen Aufbau; 18,95 Euro
Geschichte wiederholt sich nicht. Sie ist
kein handelndes Subjekt. Sie passiert nicht.
5 (10) Maja Lunde Die Geschichte 5 (6) Eckart von Hirschhausen Wunder Sie ist zu beeinflussen. Demokratien können
der Bienen btb; 20 Euro
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro zerfallen, moralische Werte kollabieren, bra-
ve Bürger mit gezückten Pistolen an ausge-
6 (6) Martin Suter 6 (5) Yuval Noah Harari hobenen Gruben stehen. Lektion 1 von Sny-
Elefant Diogenes; 24 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro der: Leiste keinen vorauseilenden Gehor-
7 (3) Nicholas Sparks 7 (8) Peter Wohlleben Das geheime Leben sam, tue nicht das, wovon du glaubst, die
Seit du bei mir bist Heyne; 19,99 Euro der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Herrschenden erwarteten es von dir. Lektion
2: Verteidige die Institutionen, die Gerichte,
8 (7) Elena Ferrante Die Geschichte 8 (7) Roger Willemsen die Zeitungen, die Gesetzgeber, die Gewerk-
eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro schaften. Lektion 10: Glaube an die Wahr-
heit, Fakten preisgeben heißt Freiheit preis-
9 (9) Julian Barnes Der Lärm 9 (9) Leonhard Horowski Das Europa geben. Lektion 18: Ruhig bleiben, wenn das
der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro der Könige Rowohlt; 39,95 Euro Undenkbare, ein Terroranschlag, eintrifft.
Lektion 19: Sei Patriot, diene deinem Land.
10 Hanya Yanagihara 10 (–) J. D. Vance
(8)
Hillbilly-Elegie Es gibt keine Garantie auf Freiheit, kei-
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro ne Garantie auf Demokratie. Das kann
Ullstein; 22 Euro
man lernen aus der Geschichte des
11 (11) Zsuzsa Bánk Schlafen werden Eines der wichtigsten Bücher
über die USA der 20. Jahrhunderts, die für Snyder auch eine
wir später S. Fischer; 24 Euro
Gegenwart: Der Autor erklärt, Geschichte des Verfalls von Demokratien
was Amerikas weiße ist. Geschichte, das ist die eigentliche Lek-
12 (13) Sabine Ebert Schwert und Krone. Unterschicht bewegt
Meister der Täuschung Knaur; 19,99 Euro
tion aus Snyders Buch, Geschichte wird
11 (10) Dieter Nuhr Die Rettung gemacht. Die Frage ist nur, von wem.
13 (12) Sebastian Fitzek der Welt Lübbe; 18 Euro

A
Das Paket Droemer; 19,99 Euro nders als in den Sechzigerjahren
12 (16) Christian Nürnberger / Petra Gerster ist der Campus von Yale heute kein
14 (–) Olivier Bourdeaut Der rebellische Mönch, die entlaufene Ort des Aufruhrs und des Wider-
Warten auf Bojangles Nonne und der größte Bestseller aller stands. Keine Flugblätter, keine Plakate,
Piper; 18 Euro
Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro keine Aufrufe. Politik ist privat geworden,
13 (15) Peter Wohlleben Das Seelenleben Unisex-Toiletten gelten als revolutionäre
Ein poetisch-trauriger der Tiere Ludwig; 19,99 Euro Errungenschaft. Die jungen Studenten sind
Familienroman aus Frank- groß geworden wie in einem Paradies, ge-
reich, benannt nach
dem Song „Mr. Bojangles“ 14 (12) Jean Ziegler Der schmale Grat führt von einem schwarzen Präsidenten,
der Hoffnung C. Bertelsmann; 19,99 Euro dem ersten in der Geschichte, und der
15 (–) John Grisham Krieg als Mittel der Politik ablehnte. Die
Bestechung Heyne; 22,99 Euro 15 (18) Zana Ramadani Die verschleierte einzige Sorge, die sie sich machten, war,
Gefahr Europa; 18,90 Euro
ob Obama zu wenig links sei oder zu we-
16 (16) Joanne K. Rowling / John Tiffany / nig gegen den Klimawandel tue.
Jack Thorne Harry Potter und das 16 (–) Michael Quetting
Plötzlich Gänsevater Ludwig; 19,99 Euro
Snyders Lektion Nummer 13: Praktiziere
verwunschene Kind Carlsen; 19,99 Euro physische Politik. Geh raus aus dem Internet
17 (14) Elizabeth Blackburn / Elissa Epel und hinein in die analoge Welt. Und wäh-
17 (15) Paul Auster
Die Entschlüsselung des Alterns rend sich die Abgänger in Yale höchstens
4321 Rowohlt; 29,95 Euro
Mosaik; 24 Euro fragen, ob es okay sei, einen Job in der Re-
18 (14) Heinz Strunk gierung anzunehmen, sitzt Don, der Land-
18 (–) Sahra Wagenknecht streicher, vor dem Weißen Haus und trom-
Jürgen Rowohlt; 19,95 Euro Reichtum ohne Gier Campus; 19,95 Euro
melt. Woher er kommt, was schieflief in sei-
19 (18) Christoph Hein 19 (17) Heinz Schilling nem Leben, das bleibt seine Sache. Er mag
Trutz Suhrkamp; 25 Euro 1517 C.H. Beck; 24,95 Euro
verwirrt sein oder auch nicht, aber er tut et-
was, bringt seinen Körper auf die Straße.
20 (19) Takis Würger 20 (20) Kester Schlenz Don, wie lange willst du das eigentlich
Der Club Kein & Aber; 22 Euro Mutti baut ab Mosaik; 12 Euro machen? „Till he’s gone“. Bis er weg ist. I
124 DER SPIEGEL 16 / 2017
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p 040 3007-2700 (Aktionsnummer: SP17-035/SD17-031)
Kultur

Die Anstalt
Kunst An Luthers Wirkungsort Wittenberg soll eine Ausstellung das Reformationsjubiläum
überhöhen – sie gerät zum Gipfeltreffen großer Egos.

M
arkus Lüpertz steht im ehemali- Trotzdem würde er am liebsten ein Lu- Diekmann, sagte Smerling einmal in einem
gen Gefängnis von Wittenberg, ei- ther-Denkmal schaffen, nicht nur eine Vor- Interview, „gäbe es die Popularisierung
nem Bau aus den Jahren des Kai- stufe aus Gips wie für diese Schau. Der des Feuilletons vielleicht gar nicht. Mit sol-
serreichs. Heruntergekommen und staubig Sockel wäre viel höher als die Figur selbst, chen Freunden arbeiten zu können, macht
ist der, wirkt aber fast romantisch. Lüpertz so hat er es auch an die Wand seines Rau- einfach Spaß!“.
bringt Kunstweltglamour an diesen Ort – mes im Gefängnis skizziert, und später Smerlings Verein ist nach eigenen Anga-
wenn er selbst auch findet, „das Gefängnis beim Essen wird er es auf eine Serviette ben sogar der Betreiber eines Museums,
ist der Star, wir Künstler sind nur die Pe- zeichnen. Denkmäler, Sockel, die ganze des Duisburger Privatmuseums Küppers-
tersilie“. Überhöhung, das ist sein Thema. Er er- mühle. Über diese Institution regierte zu-
Lüpertz, 75, Maler und Bildhauer, ver- wähnt seinen Freund Peter Sloterdijk, den erst ein Baulöwe, der Smerlings Urteil
körpert deutsche Kunstgeschichte, in der Philosophen. Und er macht einen Scherz, schätzte, doch er zog sich zurück, verkaufte
ehemaligen Haftanstalt hält er sich auf, weil der so zu verstehen ist, dass er, Lüpertz, einen Großteil seiner Kunst an Sylvia Strö-
dort die Ausstellung „Luther und die Avant- sich für nicht dumm genug hält, um Philo- her und ihren Ehemann. Sie sicherten sich
garde“ vorbereitet wird. Es ist fast schade, soph zu sein. Auf Sloterdijks bevorstehen- das Museum als Schauplatz für ihre Kol-
dass dem Publikum diese Momente des Ent- den 70. Geburtstag freut er sich. „Bist du lektion. Smerling bringt diese zur Geltung.
stehens verborgen bleiben. Vielleicht wür- auch dabei?“, fragt er den Kurator. Vorfahren Sylvia Ströhers gründeten
den die Besucher mehr über die Kunstwelt Seit Jahrzehnten fühlt sich Lüpertz – so den Konzern Wella, das Vermögen der
lernen als auf einer fertigen Documenta. etwa sagt er es – wie im Krieg mit den Familie ist wegen Machenschaften in der
In das 1909 eröffnete Gefängnis sperrten Medien, nicht aber mit der „Bild“-Zeitung. NS-Zeit nicht unbelastet. Im Kunstbestand
die Beamten Diebe, Betrunkene, Randalie- Eine Dame von einer Berliner PR-Agentur, der heutigen Ströhers finden sich viele
rer ein; 1912 zudem zwei bettelnde Bären- die beauftragt wurde, die Medien für die Werke von Lüpertz, auch welche vom Bild-
führer, auch die Bären brachte man dort Wittenberger Ausstellung zu erwärmen, hauer Stephan Balkenhol, von dem nun
unter. Seit 1965 wird das Gefängnis nicht kommt mit dem Handy zu ihm, sagt, je- in Wittenberg ebenfalls eine Skulptur zu
mehr als solches genutzt. Jetzt, 2017, ver- mand von der „Bild“ wolle ihn sprechen, besichtigen ist. Sammler mögen es, wenn
wandelt es sich zum Setzkasten der Gegen- es gehe um die „Luther-Bild“. Das sei eine ihre Künstler gewürdigt werden, das lässt
wartskunst, die Verteilung der Zellen war Sonderausgabe, die der Springer-Verlag im ihren Kunstgeschmack relevanter, kostba-
nicht immer einfach, und es gab wohl auch jetzigen Reformationsjahr herausbringen rer erscheinen.
mal Streit. Aber das sind Kleinigkeiten. Gro- wolle, Lüpertz ist offenbar involviert. Smerling schickt schon einmal einen
ße, klingende Namen sind auf der Liste der Vielleicht ist es das, was diese Ausstel- Text, den er verfasst hat und der veröf-
geladenen Künstler zu finden. Isa Genzken lung so gut veranschaulicht. Der Kunst- fentlicht werden soll. Darin dankt er dem
etwa, Olafur Eliasson, Ai Weiwei. betrieb festigt Freundschaften, ist über- Finanzmanager Alexander Dibelius für
Zu Lüpertz muss man einige Stufen eine Anschubfinanzierung des Wittenber-
erklimmen. Am Ende eines langen Flures,
in einem ehemaligen Wärterzimmer, thront
Die Kunst stört heute ger Vorhabens, auch dem Springer-Vor-
stand Mathias Döpfner, obwohl der an-
eine von ihm erschaffene Gestalt aus Gips, kaum noch. Sie ist scheinend nichts gezahlt hat, zumindest
ihr Titel: „Junger Eiferer“. Allerdings hat
ein anderer Künstler, Jonathan Meese, eine
Teil eines modernen ist das nicht erwähnt, er dankt dem ehe-
maligen RWE-Chef Jürgen Großmann, der
Pappfigur auf dem Gang positioniert, und Ablasshandels. sei ein „ständiger Berater, Motivator und
die beeinträchtigt den Fernblick auf den Unterstützer“ gewesen. Er nennt diese
Eiferer. Über die Kunst des Kollegen will haupt eine Ansammlung von Netzwerken, Leute noch vor der Evangelischen Kirche,
sich Lüpertz nicht äußern. Es klingt, als von Stammtischen sozusagen – und die die doch immerhin die Auftraggeberin der
würde er seufzen. Kunst tatsächlich nur die Petersilie. Ausstellung ist und das alles zu einem be-
Sein Eiferer ist nackt bis auf die Kapuze, Walter Smerling ist ein alter Bekannter achtlichen Teil finanziert, unter anderem
er hat nur einen Arm. Einarmig sei er des- von Lüpertz und der Mann, der die Idee mit Einnahmen aus Kirchensteuern.
halb nicht. Lüpertz zum Kurator: „Von ei- zu diesem Wittenberger Projekt hatte. Der Etat liegt bei etwa vier Millionen
ner antiken Skulptur sagst du doch auch Früher war er Fernsehjournalist, dann Euro. Und nicht nur die Kunst kostet, auch
nicht, sie sei einarmig.“ „Gut, fragmenta- wurde er Produzent von Kunstereignis- die Öffentlichkeitsarbeit. Etwa 150 000
risch“, sagt der Kurator. sen, nicht alle waren erfolgreich. Gegen Euro betrage das Gesamthonorar für die
Lüpertz selbst meint, das Werk „ist voll das Kunstmagazin „Art“ ging er juristisch Kuratoren. Das sind Smerling und fünf wei-
geil“, das möge man aber bitte nicht auf- vor, weil er sich unvorteilhaft charakteri- tere Fachleute, darunter ein Museumsdi-
schreiben. Es klingt, als solle man es un- siert fand. rekor aus Karlsruhe und ein Experte von
bedingt notieren. Der „Junge Eiferer“ hält Vor vielen Jahren gründete er den Ver- der Eremitage in Sankt Petersburg. Da sind
ein Pamphlet in der Hand, wer will, kann ein Stiftung für Kunst und Kultur e. V., und aber auch noch einige Prozent Verwal-
in ihm Martin Luther erkennen. Lüpertz über den läuft auch die Organisation der tungskosten, die Smerlings Verein in Rech-
selbst ist vom Protestantismus zum Katho- Wittenberger Ausstellung. Dem Vorstand nung stellen wird.
lizismus konvertiert, die Katholiken, sagt des gemeinnützigen Vereins gehört ein Doch schließlich ist die Kunstschau auch
er, hätten mehr Sinn fürs Visuelle. Doch Steuerexperte aus Mallorca ebenso an wie Teil der „Weltausstellung Reformation“,
fehle der Welt seit Luther insgesamt das Kai Diekmann, der langjährige, nun ehe- die im Mai in Wittenberg beginnen soll.
Mysterium. malige Chef der „Bild“-Zeitung. Ohne Und offenbar wollte die Kirche im Jahr

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SVEN DÖRING / DER SPIEGEL

SVEN DÖRING / DER SPIEGEL


Künstler Lüpertz, Migliora: Kniefall vor den Tresoren

dieses bedeutenden Jubiläums keine Kir- Heimat aber auch nicht. Sein Werk traf kann, doch die Kuratoren neigen wo-
chentagskunst. Sie wollte, sagt ein zustän- aus Peking ein. möglich zur Überinterpretation. Im Ent-
diger Mitarbeiter, „ein Highlight“. Die Aus- Die Ausstellung ist keine Werbefläche wurf zum Katalog heißt es: „Kraft, Mut,
stellung, so sagen die Organisatoren, solle der Konzeptkunst, sie will emotional sein, unbedingter Wille, Durchsetzungskraft,
eine „Bestandsaufnahme der internationa- kurzweilig, verständlich, das Stichwort Widerstand. Sich durchboxen, nicht auf-
len Gegenwartskunst“ sein. Avantgarde soll man wohl nicht zu wört- geben, mentale Grenzen durchbrechen.
Es nehmen gleich acht Künstler aus Chi- lich nehmen. Sie hat ihre gewitzten Mo- Aber auch Respekt, Fairness, Geradlinig-
na teil (und beispielsweise nur einer aus mente. Im Keller zum Beispiel hat die Ita- keit, Aufrichtigkeit. Derlei Eigenschaften
Afrika und einer aus den USA). Das liegt lienerin Marzia Migliora einen Raum zur benötigt nicht nur der Boxer, sondern
womöglich daran, dass Smerling beson- Kapelle verwandelt, es gibt eine mit Samt auch der Künstler, um überleben zu kön-
dere Verbindungen zur chinesischen Kunst- bezogene Vorrichtung für den Kniefall – nen. Ebenso gut könnten sie einer Cha-
szene pflegt. Er war etwa der Organisator und Banksafes. Migliora sagt, sie habe die- rakterisierung des Reformators Martin
der deutschen Großausstellung „China 8“, se Schließfächer von einem insolventen Luther entstammen.“
die sich 2015 auf acht nordrhein-westfä- Finanzinstitut in Modena erworben. Drau- Vielleicht hat Lüpertz recht, vielleicht
lische Städte verteilte. In diesem Jahr will ßen, zwischen Gefängnis und Amtsgericht, ist das Gefängnis der Star, es überstrahlt
Smerling eine Nachfolgeschau in China hat ein anderer Künstler ein großflächiges jegliche Banalisierung. Es lässt sogar ver-
selbst veranstalten, diese mit deutscher Mosaik aus Bodenplatten ausgebreitet. gessen, dass Kunst, obwohl hier im Namen
Kunst. Auch Lüpertz soll teilnehmen. Erst mithilfe von Satellitenaufnahmen des Störenfrieds Luthers ausgestellt, heute
Ai Weiwei war übrigens bei „China 8“ wird es als Pixelporträt von Edward kaum noch stört. Sie ist Teil eines moder-
nicht dabei. Aber vielleicht passt er besser Snowden erkennbar. nen Ablasshandels.
an den Wirkungsort des deutschen Refor- Vom Österreicher Erwin Wurm stammt Man kauft sich nicht aus der Hölle frei,
mators. Im vergangenen Jahr hat er, der die auffälligste Skulptur, und die wird an sondern aus der Bedeutungslosigkeit. Wer
mittlerweile in Berlin lebt, das Gefängnis diesem Tag und in Abwesenheit des viel sich mit Kunst umgibt, hebt das Ansehen,
in Wittenberg besichtigt und womöglich beschäftigten Künstlers im Hof montiert: wer sie erwirbt, verfügt über eine Anlage.
an seine eigene Haft in China gedacht. Es ist ein überdimensionaler, neonorange- Mit der Hilfe von Freunden und manchmal
Im Gegensatz zu Luther hat er sein Land farbener Boxhandschuh. Ein cooles Sym- mit dem Beistand von oben lässt sich der
verlassen, gebrochen hat er mit seiner bol, in das man einiges hineindeuten Wert noch steigern. Ulrike Knöfel

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Schockierende Härte E
in kleines, aber ungewöhnlich schwe-
res Päckchen aus dem Konzentra-
tionslager Auschwitz erregte im
Herbst 1943 die Aufmerksamkeit der deut-
Nationalsozialismus Der SS-Richter Konrad Morgen ließ korrupte schen Zollfahndung. Die Beamten öffne-
ten den Karton und entdeckten darin drei
KZ-Kommandanten hinrichten und wollte sogar Adolf große Klumpen aus reinem Zahngold. Der
Eichmann vor Gericht stellen. Aber kämpfte er auch gegen die Absender, ein Sanitäter des Lagers, hatte
die kostbare Fracht an seine Frau adres-
Judenvernichtung, wie eine neue Biografie behauptet? siert. Da der Mann der SS-Gerichtsbarkeit
unterstand, übernahm ein Richter der na-
tionalsozialistischen Elitetruppe den Fall:
Konrad Morgen.
Der damals 34-jährige Jurist galt als Ex-
perte für alle Formen der Kriminalität im
europaweiten Lagersystem der Nazis.
Aber dieser Fund überraschte auch ihn, in
Auschwitz war er noch nie gewesen, nach
ersten Berechnungen musste es sich um
das Zahngold von vielen Tausend Men-
schen gehandelt haben. „Eine natürliche
Todesursache“, so erklärte Morgen 1964
als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Pro-
zess, „konnte hier ja nicht obwalten, son-
dern die Menschen, die mussten hier er-
mordet worden sein.“
Ihm sei schlagartig klar geworden, dass
„dieses damals kaum bekannte Auschwitz
... eine der größten Menschenvernichtungs-
stätten sein musste, die überhaupt die Welt
gesehen hatte“, ein „erschütternder Ge-
danke“, wie er gestand. Von nun an habe
er nur noch daran gedacht, „was dagegen
unternommen werden könnte“ – so jeden-
falls stellte es Morgen nach dem Krieg dar.
Die Wandlung des Juristen vom Saulus
zum Paulus, vom überzeugten SS-Offizier
zum Gegner der Massenvernichtung, steht
im Mittelpunkt der ersten großen Biografie
Konrad Morgens, verfasst von der Wiener
Philosophieprofessorin Herlinde Pauer-Stu-
der und ihrem New Yorker Kollegen J. Da-
vid Velleman*. Die Autoren interessieren
sich vor allem für das moralische Dilemma
ihres Helden, der in ein zutiefst ungerech-
tes System verstrickt war, aber bis zuletzt
für Gerechtigkeit zu kämpfen glaubte.
Ebenso leidenschaftlich verteidigte er al-
lerdings die „moralische Reinheit“ der SS –
ein Ideal, das SS-Chef Heinrich Himmler
stets beschwor, wenn seine Truppe wieder
einmal durch neue Brutalitäten auffällig ge-
ARCHIV DES FRITZ BAUER INSTITUTS, NACHLASS KONRAD MORGEN

worden war. Morgen, so urteilen Pauer-Stu-


der und Velleman, war „naiv und blind,
was die verbrecherische Rolle“ der SS be-
traf, ein Idealist also, der der verschwurbel-
ten Vision eines guten und gerechten Na-
tionalsozialismus anhing. Der Jurist teilte
diesen Irrtum mit vielen Intellektuellen sei-
ner Generation – das allein schon macht
diese Biografie so spannend und lesenswert.
Der Sohn eines Lokomotivführers war
bereits im März 1933 als Jurastudent der

* Herlinde Pauer-Studer, J. David Velleman: „,Weil ich


NS-Jurist Morgen 1938: „Moralische Reinheit“ der SS verteidigt nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin‘. Der Fall des SS-
Richters Konrad Morgen“. Suhrkamp; 349 Seiten; 26 Euro.

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Kultur

SS beigetreten; den Nazis galt die „Schutz- von Häftlingen unterschlagen. Eine erste moralischen Niedergangs seiner Truppe zu
staffel“ als elitäre Speerspitze der Bewe- Untersuchung war von Himmler gestoppt sein, Sodom und Gomorrha schlechthin.
gung. 1939 ließ Himmler eine eigene Ge- worden, weil es keine Zeugen mehr gab; Doch welche Konsequenz zog Morgen
richtsbarkeit für seine Truppe einrichten, Koch hatte sie töten lassen. Morgen recher- aus seinem Besuch in Auschwitz? Er habe,
um sie vor dem Zugriff der Wehrmachts- chierte trotzdem weiter und stellte fest, so behauptete er nach dem Krieg, zunächst
justiz, etwa im Falle von Kriegsverbrechen, dass der KZ-Chef auch in Majdanek, seiner über eine Flucht ins Exil nachgedacht oder
zu schützen. Die SS-Richter sollten zwar nächsten Station, schwere Verbrechen be- über ein Attentat auf Hitler. Schließlich
nach dem geltenden Militärstrafrecht ur- gangen hatte. Schließlich wurde Koch fest- habe er sich aber entschieden, den Juden-
teilen, aber das besondere Wertesystem genommen und wenige Wochen vor Kriegs- mord auf legalem Wege zu bekämpfen.
der Organisation („Treue, Anständigkeit, ende hingerichtet. Die beiden Autoren der Biografie neh-
Ehrlichkeit“) im Blick behalten. Im Zuge der Ermittlungen fuhr der SS- men ihm diese Wandlung ab, Morgens Er-
Was Himmler darunter verstand, erklär- Richter im November 1943 nach Majdanek. innerungen seien „zum größten Teil wahr-
te er in seiner berüchtigten Posener Rede Dort waren bei der Aktion „Erntefest“ in heitsgemäß“. Sie zitieren Zeugen aus der
vor SS-Gruppenführern. Die SS, so argu- zwei Tagen etwa 40 000 Juden erschossen Nachkriegszeit, die ihm eine regimekriti-
mentierte er, habe zum Beispiel das gute worden. Morgen inspizierte die Massen- sche Gesinnung bescheinigten. Und sie füh-
Recht, Juden zu töten, „wir haben aber gräber vor Ort und war erschüttert. ren jene Ermittlungen auf, die der SS-Rich-
nicht das Recht, uns auch nur mit einem Aber noch mehr verstörte ihn dann sein ter in den letzten Kriegsjahren gegen pro-
Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder erster Besuch in Auschwitz, wo er den Fall minente NS-Täter anstrengte.
mit einer Zigarette oder mit sonst etwas der drei Goldklumpen aufklären musste. So klagte Morgen gegen den Gestapo-
zu bereichern“. Man führte ihn durch die Gaskammern Chef von Auschwitz wegen willkürlicher
Morgen trat am 1. Januar Erschießungen im Lager; er
1941 eine Stelle als Hilfs- ermittelte gegen den Ausch-
richter am SS- und Polizei- witz-Kommandanten Ru-
gericht Krakau an. Sein dolf Höß wegen dessen Af-
erster großer Fall war der färe mit einer tschechischen
Prozess gegen den Chef Häftlingsfrau; und er ver-
des Truppenwirtschafts- suchte sogar, den Organi-
lagers der Waffen-SS in sator des Holocaust, Adolf
Warschau, Georg von Sau- Eichmann, vor Gericht zu
berzweig. Der Offizier hat- bringen – wegen der Unter-
te in großem Stil konfiszier- schlagung wertvoller Dia-
te Waren auf dem Schwarz- manten. Bestraft wurde da-
markt verkauft. Morgen mals keiner der drei.
verurteilte ihn dafür zum War Morgen also wirk-
Tode, Sauberzweig sowie lich zu einem entschiede-
einige Mittäter wurden hin- nen Gegner des Holocaust
gerichtet. „Morgen konnte USHMM / AKG-IMAGES
geworden? Einige Indizien
als Richter von schockie- sprechen für einen Gesin-
render Härte sein“, schrei- nungswandel, viele andere
ben die Autoren der Bio- dagegen. Der Jurist hatte
grafie. Allerdings seien KZ-Arzt Josef Mengele, Ex-KZ-Kommandant Höß, SS-Offiziere 1944 bei Auschwitz sich zwar mächtige Feinde
Todesurteile für Delikte Kartoffelpuffer mit Zucker in der SS-Führung gemacht,
dieser Art in der „SS- und immer wieder wurden seine
Polizeigerichtsbarkeit keine Seltenheit“ und Krematorien. Am Ende seines Rund- Anklagen kassiert, und doch ließ man ihn
gewesen. gangs kam er in eine Wachstube, in der bis zum Kriegsende gewähren. „Von Kon-
Unter Morgens Regie wurden mehr als ihn eine Gruppe alkoholisierter SS-Leute, rad Morgen“, so schrieb der Schweizer His-
700 Fälle von Korruption, Unterschlagung malerisch auf mehrere Sofas verteilt, er- toriker Raphael Gross in einer älteren Stu-
und Mord aufgegriffen. Der Jurist scheute wartete: „Statt eines Schreibtisches stand die über den SS-Richter, „finden wir aus
auch vor großen Namen nicht zurück, ein riesiger Hotelherd da, und auf diesem der NS-Zeit keinerlei Zeugnisse, die auf
musste allerdings bald feststellen, dass er buken vier, fünf junge Mädchen Kartoffel- so etwas wie Widerstand schließen lassen.“
dabei immer öfter von der SS-Führung aus- puffer“, so berichtete Morgen als Zeuge Auch sein Auftritt im Auschwitz-Prozess
gebremst wurde. Morgen bat schließlich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses. „Es sei nicht ehrlich gewesen, meinte Gross:
um seine Versetzung ins ruhige Norwegen. waren offensichtlich Jüdinnen, sehr schö- „Während die Empörung über die Verfeh-
Beinahe hätte man ihn wegen dieser Un- ne, orientalische Schönheiten, vollbusig, lungen der Wachmannschaften und ande-
botmäßigkeit selbst ins KZ gesteckt. Statt- feurige Augen, trugen auch keine Häft- rer SS-Offiziere bei Morgen echt wirkt,
dessen musste Morgen als Soldat an die lingskleider, sondern normales, ganz ko- scheint seine Empörung über die Ermor-
Ostfront. Schon nach einem halben Jahr, kettes Zivil. Und die brachten nun ihren dung der Juden viel schwächer, vielleicht
im Mai 1943, holte ihn Himmler allerdings Paschas, die auf den Couchen da rumlagen sogar nachträglich vorgespielt zu sein.“
zurück in die SS-Justiz, man brauchte ihn und dösten, die Kartoffelpuffer und fragten Nach dem Krieg geriet Morgen in ame-
für die Aufklärung krimineller Netzwerke besorgt, ob auch genügend Zucker darauf rikanische Gefangenschaft. Er sagte als
in den Konzentrationslagern. war.“ Morgen konnte kaum glauben, was Zeuge in weiteren NS-Prozessen aus, und
Wenig später heftete sich Morgen an die er da sah, einer seiner Begleiter erklärte die Spruchkammer entnazifizierte ihn
Fersen von Karl Otto Koch, dem ehemali- nur: „Die Männer haben eine schwere 1948 – jenen Konrad Morgen, der noch im
gen KZ-Kommandanten von Buchenwald. Nacht hinter sich. Sie hatten einige Trans- Januar 1945 in einem Brief an seine Ver-
Koch hatte zusammen mit anderen SS-Leu- porte abzufertigen.“ lobte geschrieben hatte, Heinrich Himmler
ten in Buchenwald große Mengen an Gold Für den überzeugten SS-Offizier Mor- sei ein „großer Mensch mit warmempfin-
und anderen Wertsachen aus dem Besitz gen schien diese Szene ein Sinnbild des dendem Herzen“. Martin Doerry

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Kultur

der Fernsehwerbung. Kroc scheint den Spot für seine Kir-


che des Konsums bereits vor Augen zu haben.
Der Film erzählt, wie Kroc die beiden Besitzer des Im-
bisses, die Brüder Richard und Maurice McDonald, über-
zeugt, eine Kette zu gründen, wie er die Kontrolle über
das rasch wachsende Unternehmen an sich zieht und die
Demokratie geht Brüder schließlich entmachtet. Es ist das packende Protokoll
einer feindlichen Übernahme. Keaton spielt Kroc als Tau-
durch den Magen sendsassa, dessen Tatendrang kaum zu bremsen ist. Der
Film schreibt die Mythen des amerikanischen Traums fort
und bekräftigt die Idee, dass sich jeder jederzeit neu erfin-
Filmkritik „The Founder“ erzählt vom den kann. Zugleich aber zeigt er, dass die Eigenschaften,
McDonald’s-Gründer Ray Kroc. die Amerika groß machen, es auch gierig machen können.
Einmal steht Kroc verloren auf einem staubigen Grund-
Kinostart: 20. April stück, auf dem er eine Filiale bauen will. Er geht in die
Hocke, greift mit der Hand in die Erde und wirkt wie ein

S
eit Jahren fährt Ray Kroc übers Land, um Dinge zu Pionier. Doch aus der Eröffnung der Filiale, bei der Kroc
verkaufen, die kein Mensch braucht. Ein klobiges mit breiter Brust durch eine Gruppe Cheerleader schreitet
Milchmixgerät etwa, das den halben Kofferraum füllt. und nach allen Seiten Hände schüttelt, macht der Film
Viele Male am Tag schleppt er es zu potenziellen Käufern einen grotesk überzeichneten Triumphmarsch.
und erntet immer wieder Kopfschütteln. Krocs spitzbübisches Grinsen ist anfangs charmant,
Der Film „The Founder“ stellt uns seinen Helden als doch es wirkt zunehmend gefährlicher. In einer großarti-
gescheiterten Geschäftsmann vor, zermürbt von den gen Szene zeigt ihm die Frau eines Geschäftspartners (Lin-
Meilen, die er gefressen hat, von den Fehlschlägen, die da Cardellini), wie man Milchshakes günstiger herstellen
er erlitten hat. Ein Bruder von Willy Loman, dem Protago- kann, nämlich ohne Milch. Sie schüttet Instantpulver in
nisten in Arthur Millers Stück „Tod eines Handlungs- ein mit Wasser gefülltes Glas und rührt langsam um. Kroc
reisenden“, der vom Glücksversprechen des amerikani- stiert auf das Glas und auf das Dekolleté der Frau dahinter,
schen Traums besessen ist und daran
zerbricht.
Doch Kroc, im Film von Michael Kea-
ton gespielt, begeht nicht Selbstmord
wie Loman. Er baut ein globales Impe-
rium auf, die Fast-Food-Kette McDo-
nald’s. „The Founder“ ist die Geschichte
eines Mannes, der sich mit über fünfzig
aus dem Hamsterrad des Kapitalismus
befreit. Fortan steht er daneben und
lässt seine Angestellten darin noch
schneller laufen.
Kroc eröffnete 1955 sein erstes
Schnellrestaurant. Als er 1984 starb,
war er einer der reichsten Männer der
Welt. Der Film beschreibt ihn als eine
Koryphäe des Scheiterns. Kroc weiß so
gut wie kaum jemand sonst, wofür es
keinen Bedarf gibt. Gerade deshalb ist
SPLENDID FILM
er in der Lage, eine echte Marktlücke
zu erkennen.
Als eines Tages jemand bei Kroc
Mixer bestellt, und zwar gleich acht Hauptdarsteller Keaton in „The Founder“: Kirche des Konsums
Stück, fährt er ins kalifornische San Ber-
nardino, um sich den Kunden und dessen Restaurant etwas staunend wie ein Kind, geil wie ein Bock. Sein Blick verrät:
genauer anzusehen. Regisseur John Lee Hancock macht Er will das Pulver, den Profit und die Frau. Er kriegt alles.
aus dieser Reise ein ebenso rührendes wie amüsantes Er- Letztlich handelt der Film davon, wie man anderen et-
weckungserlebnis. was wegnimmt, um selbst erfolgreich zu sein, ohne wirk-
Das Restaurant ist ein Imbiss. „Wo soll ich essen?“, fragt lich zu klauen. Das hat eine gewisse Grandezza und eine
Kroc, als ihm der Verkäufer einen Burger in die Hand gewisse Niedertracht. Einige Kritiker bezeichneten „The
drückt. „Im Auto, im Park, zu Hause?“, kommt es zurück. Founder“ als ersten Film der Trump-Ära. Der Zuschauer
„Wo immer Sie wollen.“ Kroc setzt sich auf eine Bank sieht dabei zu, wie ein Mann mehr und mehr an Selbstbe-
und erblickt Menschen, junge und alte, weiße und schwar- wusstsein gewinnt, bis hin zum Größenwahn.
ze, die es genießen, unter freiem Himmel zu essen. In der letzten Szene bereitet Kroc eine Rede vor, die er
Demokratie, die durch den Magen geht, eine neue ame- vor Ronald Reagan halten soll. Er benutzt die gleichen
rikanische Kirche ohne Rassen- und Klassenschranken, Phrasen über Beharrlichkeit und Erfolg wie rund 30 Jahre
das ist die Vision, die Kroc in diesem Moment entwickelt. zuvor, als er noch ein belächelter Handlungsreisender war.
Sein Blick fällt auf eine blonde Frau. Als sie genussvoll in Er hat sie mit Leben gefüllt, auf beeindruckende und
ihren Burger beißt, setzt Zeitlupe ein – ein Bild wie in furchterregende Weise. Lars-Olav Beier

130 DER SPIEGEL 16 / 2017


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132 DER SPIEGEL 16 / 2017


Nachrufe
CARME CHACÓN, 46 NORBERT JÄGER, 71
Die Bilder von der hoch- Er war Mitbegründer der Stern-

CHR. STIEFLER / BABIRAD PICTURE


schwangeren Juristin, die zu Combo Meißen, in der fünf
ihrem Amtsantritt als Vertei- langhaarige Männer in ihrer
digungsministerin die Ehren- Gründungsphase nach 1964
formation abschritt, gingen Rock nachspielten und damit
2008 um die Welt: Zum ersten durch die DDR tingelten. Be-
Mal gebot ausgerechnet in kannt wurde die Combo erst,
dem Land, das fast 40 Jahre als ihr Sound an den von Pink
lang von General Franco Floyd oder Tangerine Dream
MICHAEL BALLHAUS, 81 beherrscht worden war, eine erinnerte. Jäger gab diesen Ton
Der in Berlin geborene Kameramann prägte die Filme, Frau, noch dazu Sozialistin vor, am Keyboard, als Sänger
die er in Szene setzte, obwohl er ihnen in erster Linie die- und aus Katalonien, über die oder als Percussionist. Dieser
nen wollte. Ein schönes Bild war für ihn wertlos, wenn eher weiche Klang überraschte,
es nichts erzählte. Dreimal wurde Ballhaus für den Oscar besonders die gelungene Adap-
nominiert; dass er ihn nicht gewann, stellt ihn an die tion von Antonio Vivaldis
Seite von Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder David „Der Frühling“ aus den „Vier
Fincher. In den Fünfzigerjahren fing er beim Fernsehen Jahreszeiten“. Rock-Classics
an, lernte dort sein Handwerk und verfeinerte es in ins- hieß ein Projekt von Stern-
gesamt 15 Filmen, die er zusammen mit Rainer Werner Combo Meißen nach 1990, die

SUSANA VERA / REUTERS


Fassbinder drehte. Das hochemotionale und zugleich intel- Gruppe arbeitete dabei mit
lektuelle Kino des Regisseurs brachte Ballhaus dazu, im- dem Kammermusikensemble
mer wieder durchdachte Bilder für große Gefühle zu fin- Dresden zusammen. Vor zwei
den, etwa in dem Nachkriegsmelodram „Die Ehe der Jahren nahm sich die Band
Maria Braun“ (1979) mit Hanna Schygulla. Da Fassbinder Mussorgskis Klavierzyklus
ein frenetischer Arbeiter war, lernte Ballhaus, auch dem „Bilder einer Ausstellung“ an.
größten Produktionsdruck standzuhalten – seine Schnellig- Berufsarmee. Die Pazifistin Da hatte sich Jäger bereits aus
keit und Effizienz waren eine Empfehlung für Hollywood. modernisierte die spanischen gesundheitlichen Gründen zu-
Ballhaus drehte Mitte der Achtzigerjahre seinen ersten Streitkräfte, indem sie beson- rückgezogen. Norbert Jäger
Film mit Martin Scorsese und formte aus der unbändigen ders auf Frauen setzte. Beim starb am 7. April in Meißen. stb
Energie des New Yorker Regisseurs visuelle Meisterwerke Versuch, ihrem Förderer,
wie den Gangsterfilm „Good Fellas“ (1990) und das dem ehemaligen Ministerprä- DIETER KOTTYSCH, 73
Historienepos „Zeit der Unschuld“ (1993). Ballhaus machte sidenten José Luis Rodríguez Nach seinem 250. Kampf trat
Bilder, die man riechen und anfassen zu können glaubte, Zapatero, als Generalsekretä- er vom Boxsport zurück, es
mal unerträglich hart, mal betörend zärtlich. Wer aus rin der Sozialisten nachzufol- war der Fight seines Lebens
dem Kino kam, hatte die Welt mit anderen Augen gesehen. gen, unterlag sie 2012. Carme gewesen. Im olympischen Fi-
Michael Ballhaus starb in der Nacht vom 11. auf den Chacón, zuletzt Gastprofesso- nale 1972 in München besiegte
12. April in Berlin. lob rin in Miami, starb am 9. April der Hamburger Rechtsausleger
in Madrid infolge ihres an- im Halbmittelgewicht seinen
geborenen Herzfehlers. hzu Freund, den Polen Wiesław
BERNDT HEYDEMANN, 87 Rudkowski. Die Goldmedaille
Er wollte zeigen, was der CARLO RIVA, 95 machte ihn nicht reich. An-
Mensch alles von der Natur Natürlich hatten Brigitte Bardot gebote, zum Profiboxen zu
lernen kann. Dieses Lebensziel und Gunter Sachs ein Riva- wechseln, lehnte der im ober-
verfolgte der studierte Bio- Boot, genauso wie Jean-Paul schlesischen Gleiwitz, heute
CHRISTIAN KAISER / LAIF

loge fast missionarisch. Dabei Belmondo, Richard Burton oder Gliwice, geborene Kottysch
verscherzte es sich der als Elizabeth Taylor, Sean Con- ab. Er war ein Naturtalent,
einerseits genial, andererseits nery oder Sophia Loren. Der
als unbequem und besessen internationale Jetset ließ sich
geltende Ökologe auch mit gern in den aus Holz hergestell-
ihm wohlgesinnten Mitstrei- ten Motorbooten sehen und fo-
tern. 1988 ernannte der schleswig-holsteinische Ministerprä- tografieren, die der italienische
WILFRIEDWITTERS / WITTERS

sident Björn Engholm den parteilosen Professor zum ersten Ingenieur Carlo Riva seit den
Umweltminister des Landes. Heide Simonis, Engholms Fünfzigerjahren auf der Fami-
Nachfolgerin, war von den Vorträgen Heydemanns über lienwerft in Sarnico am Iseosee
„Häschen und Gräschen“, wie sie es nannte, jedoch eher ge- entwarf und baute. Bald schon
nervt und ging zuweilen auf Distanz. So trat er 1993 als wurden die nach dem Vorbild
Minister zurück, nicht ohne dass vorher noch das erste Lan- der amerikanischen Runabouts
desnaturschutzgesetz von Schleswig-Holstein verabschiedet gebauten Boote zum Rolls-
wurde. Danach lehrte Heydemann wieder an der Kieler Royce der Meere verklärt: Ihre stand mit 16 Jahren zum
Universität und hatte fünf Jahre später endlich genug Geld tiefrote Mahagonibeplankung, ersten Mal im Ring. Nach der
aufgetrieben, um sich in Mecklenburg-Vorpommern seinen der starke Innenborder, viel Boxkarriere arbeitete er bei
Traum zu erfüllen: einen Ökologiepark einzurichten. Das Chrom und weiße Ledersessel den Stadtwerken in Buchholz.
Projekt erwies sich aber als unwirtschaftlich und musste standen für hochwertige Quali- Als er im Lotto gewann,
Insolvenz anmelden. Heydemann setzte unverdrossen tät und Luxus. 1969 verkaufte leistete er sich einen Merce-
all seine Kräfte dafür ein, den Park fortzuführen. Berndt Riva die Werft. Carlo Riva starb des. Dieter Kottysch starb
Heydemann starb am 6. April. kle am 10. April in Sarnico. kle am 9. April in Hamburg. kra
DER SPIEGEL 16 / 2017 133
Schätze im Keller
Ein Jahr nach seinem überraschen-
den Tod am 21. April 2016 im Alter
von 57 Jahren bleibt der Popstar
Prince noch immer ein Mysterium.
Es sei unklar, wie er an das Schmerz-
mittel Fentanyl kam, an dessen
Überdosis er starb, berichtet die
„New York Times“. Auch die Frage,
wie Prince seine offensichtliche
Abhängigkeit verbergen konnte –
Fentanyl, ein Opioid, wirkt bis
zu 50-fach intensiver als Heroin –,
ist offen. Selbst der Wert seines Ver-
mögens ist nicht geklärt. Was vor
allem daran liegt, dass nicht be-
kannt ist, was denn nun wirklich im
geheimnisvollen Archiv der Paisley
Park Studios bei Minneapolis lagert.
Prince selbst hatte zahlreiche Ge-
rüchte über den sogenannten Tresor
gestreut, seine beste Musik habe er
nicht veröffentlicht, sagte er, sie
liege im Keller. Hunderte Stunden
Musik sollten es sein, unter ande-
rem eine Aufnahmesession mit dem
Jazztrompeter Miles Davis. Der
Musikkonzern Universal hat im Fe-
bruar 35 Millionen Dollar für Ver-
wertungsrechte der unveröffentlich-
ten Musik aus dem Archiv bezahlt –
was wiederum nicht viel ist, wenn
wirklich Schätze zu heben wären.
Seine Asche wenigstens, so viel ist
PATRICK KOVARIK / AFP

klar, befindet sich in einer juwelen-


besetzten Urne und steht im
2014 Atrium seines Anwesens bei Minnea-
polis. rap

Wohnen wie näre. Haus Nummer eins Weinberge und Olivenhaine selbst? Zurzeit meistens im
steht in Malibu, Kalifornien, mit historischer Villa und fünf Hotel: Er ist gerade auf Welt-
ein Rockstar bietet 516 Quadratmeter Gästehäusern – Mietpreis auf tournee, im Sommer kommt
Multimillionär zu werden ist Wohnfläche, einen Swim- Anfrage. Und wo wohnt Sting er für fünf Konzerte erneut
nicht wirklich schwer, wenn mingpool mit Wasserfall so- nach Deutschland, nach Mön-
man seit vier Jahrzehnten wie einen privaten Zugang chengladbach, Dresden, Re-
im Musikgeschäft so erfolg- zum Strand. Sting und seine gensburg, Künzelsau und Uel-
reich ist wie der britische Frau Trudie Styler hatten zen. Schließlich muss er noch
Rockstar Gordon Matthew die Villa vor 20 Jahren für 5,4 ein paar weitere Immobilien
Sumner alias Sting, mittlerwei- Millionen Dollar dem Schau- finanzieren. Sting besitzt
le 65. Aber wie bleibt man spieler Larry Hagman („Dal- auch einen Wohnsitz im Lon-
reich? Zusätzliche Einnahmen las“) abgekauft. Jetzt verlangt doner Stadtteil Highgate, ein
können helfen. Und deshalb der Musiker dafür 200 000 Herrenhaus aus dem 16. Jahr-
JORDAN STRAUSS / AP

bietet Sting nun gleich zwei Dollar Miete – pro Monat. hundert in der englischen
seiner Immobilien für solven- Anwesen Nummer zwei liegt Grafschaft Wiltshire sowie ein
te Kurzzeitmieter an – eine in der Toskana, ein Landsitz 500 Quadratmeter großes Ap-
Art Airbnb für andere Millio- namens Il Palagio, 360 Hektar partement in New York. mwo

134 DER SPIEGEL 16 / 2017


Personalien
Masse und Macht (in einer Miniserie über die
Nürnberger Prozesse). Jetzt
Er hat schon den antiken verkörpert der schottische
Heerführer Agamemnon ge- Schauspieler Brian Cox, 70,
spielt (in Wolfgang Petersens den größten britischen Staats-
„Troja“) und den NS-Kriegs- mann des 20. Jahrhunderts:
verbrecher Hermann Göring Winston Churchill, Premier-
minister während des Zwei-
ten Weltkriegs. Für „Chur-

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


chill“, einen neuen Spielfilm
(Kinostart: 25. Mai), nahm der
Künstler zehn Kilo zu: „Man
muss die Masse spüren. Chur-
chill war nicht groß, aber
schwer.“ Für den berühmtes-
ten Churchill-Bewunderer der
Gegenwart, Außenminister
SQUARE ONE / UNIVERSUM FILM

Boris Johnson, Verfasser Die Augenzeugin


einer Churchill-Biografie, hat
Cox jedoch nicht viel übrig:
„Johnson kann herumblöken
„An dunklen Ufern“
wie er will, er ist kein Wins- Vor zwei Jahren reiste die Unternehmensberaterin Nora
ton Churchill.“ mwo Azzaoui, 29, auf die griechische Insel Chios. Als sie dort die
zerstörten Schlauchboote am Strand sah, hatte sie eine
Idee: daraus Rucksäcke zu machen. Für ihr Projekt wird sie
nun vom Deutschen Integrationspreis gefördert.
Heldin am Broadway ich“, sagte Clinton. Nicht zur
Sprache kamen ihre Hobbys. „Als ich erfuhr, dass wir finanzielle Förderung erhalten,
Was macht eigentlich Hillary Clinton liebt die Theater am war ich gerade wieder mal dort, wo alles begonnen hatte:
Clinton, 69? Hat die Politikerin New Yorker Broadway. In in Griechenland. Das erste Mal war ich im Dezember
das Ergebnis der Präsident- den vergangenen Monaten be- 2015 auf die Insel Chios gereist. Eine Freundin von mir
schaftswahlen im November suchte sie Musicals wie „Die war schon dort, und auch ich wollte helfen. Wir mieteten
mittlerweile verarbeitet? Am Farbe Lila“ oder „War Paint“. ein Auto, fuhren die Küste ab und suchten nach Stellen,
6. April, nur ein paar Stunden Als andere Zuschauer sie an denen Flüchtlinge ankamen. Sie steuerten ihre Boote
vor dem Luftschlag der USA kurz vor einer Aufführung nicht in die Häfen, sondern an die dunklen Ufer. Wenn
gegen Syrien, gab sie ihr ers- von „Sunset Boulevard“ im wir ein Boot entdeckten, liefen wir zu den Männern,
tes Interview nach der Nieder- Saal entdeckten, gab es Ap- Frauen und Kindern. Wir gaben ihnen Wasser und Ho-
lage. „Als Mensch geht es mir plaus für Clinton, auch die sen, Pullover und Socken. Die Menschen gingen weiter,
gut, aber als Amerikanerin Hauptdarstellerin, Glenn Close, ihre Boote blieben zurück.
bin ich ziemlich besorgt“, sag- 70, reagierte erfreut. Ein Thea- In Deutschland musste ich die Eindrücke erst einmal
te sie im New Yorker Lincoln terkritiker schlug Clinton be- verarbeiten. Irgendwann dachte ich an die Boote – und
Center bei einem Gespräch reits für ein Ehrenamt vor: dass man aus ihnen etwas machen könnte. Vier Monate
vor Publikum. Dass sie noch als Laudatorin bei den Tony später reiste ich wieder nach Chios. Die EU hatte mit der
einmal für ein politisches Awards, der Theaterpreis- Türkei den Flüchtlingsdeal geschlossen, und Nacht für
Amt kandidieren wird – zum Gala im Juni. Sie sei schließ- Nacht kamen weniger Menschen an. Also begannen wir,
Beispiel für den Chefposten lich „der größte Star des die Boote aus den Felsen zu ziehen oder aus dem Sand zu
bei der Kinderhilfsorgani- Broadway, dessen Name nicht graben. Ein Bekannter schnitt die Bootreste zu, verpackte
sation Unicef –, „bezweifele auf einem Plakat steht“. mwo alles und schickte es nach Deutschland. In meiner Berliner
Wohnung stapelten sich 400 Kilogramm Gummimaterial
in vielen Farben, blau, rot oder gelb. An dem Material
hängt viel Schweiß und Hoffnung. In einem Workshop hat
ein Geflüchteter später gesagt: ,Ihr rettet Geschichte.‘
Mit einer Designerin begannen wir zu experimentie-
ren. Wir beschlossen, aus den Resten Rucksäcke und
Taschen zu machen. Ein Jahr später starteten wir eine
Crowdfunding-Kampagne unter dem Namen Mimycri:
Wir suchten im Internet nach Geldgebern und erreichten
BRUCE GLIKAS / FILMMAGIC / GETTY IMAGES

unser Ziel, 15 000 Euro, nach zwei Wochen. Inzwischen


schneidern wir die ersten Rucksäcke. Dabei helfen uns
zwei Geflüchtete aus Syrien und Pakistan. Ich träume
davon, dass wir sie an unserem Projekt wirtschaftlich be-
teiligen können, aber bisher haben wir kein Geld ein-
genommen. Spätestens im Oktober wollen wir die ersten
Rucksäcke verschicken. Bis dahin werde ich vor und
nach meinem Job dafür arbeiten. Die Nächte sind kurz.“
Aufgezeichnet von Nico Schmidt

DER SPIEGEL 16 / 2017 135


„,Der Bürger ist entsetzlich dumm‘, zitieren Sie Adenauer. Da hat
der Alte ganz recht, sonst hätte er ihn ja nie gewählt.“
Harald Sörensen, Bad Breisig (Rhld.-Pf.)

Das Denkmal ist beschädigt Bei allem gebührenden Respekt vor der
Persönlichkeit von Adenauer ist Gustav
„Bildet die Menschen“
Nr. 15/2017 Geheimakte Adenauer – Machtmissbrauch, Heinemann dessen autoritärem Regie- Nr. 14/2017 SPIEGEL-Gespräch mit dem US-Politologen
Bestechung und Spähangriffe gegen Willy Brandt Jason Brennan
rungsstil stets entschieden entgegengetre-
Mit diesem Titel findet endlich die über- ten. So auch in der Begründung seines Brennans Ideen halte ich für gefährlich.
fällige Entzauberung dieses „Heiligen“ der Rücktritts als Bundesinnenminister 1950: Das Prinzip, nur die informierten Leute
CDU und des „Entnazifizierungskanzlers“ „Wir werden unser Volk nur dann demo- wählen zu lassen, schafft das demokrati-
einen Weg in die Öffentlichkeit. kratisch machen, wenn wir Demokratie sche Prinzip ab. Wenn ein Land zu 60 Pro-
Gottfried Hontheim, Lichtenborn-Stalbach (Rhld.-Pf.) riskieren.“ Dafür wurde er jahrelang – wie zent aus Analphabeten, also ungebildeten,
später auch Willy Brandt – auf das Übelste
Bisher hat noch niemand behauptet, dass diffamiert. Er wurde bespitzelt und geheim-
Adenauer ein Gutmensch war – bei allen dienstlich durchleuchtet. Aber außer einer
Verdiensten war er eher ein Schlitzohr! weißen Weste konnte man nichts finden.
Dr. Eberhard Keller, Mülheim/Ruhr Dr. Peter Heinemann, Essen

Adenauer und Walter Ulbricht zeigen eine Der alte Fuchs war wirklich kein Engel, aber

ODD ANDERSEN / AFP


erstaunliche Ähnlichkeit. Ulbricht gab die wer will schon einen Engel als Kanzler? Für
Order aus: Wir müssen alles in der Hand die Nachkriegszeit war er der Richtige. Ein
haben, aber es muss demokratisch aussehen. Glücksfall für Deutschland. Winston Chur-
Das entsprach auch dem Regierungssystem chill sagte einmal: „Entweder geht der Deut-
Adenauer. Ein wesentlicher Unterschied: sche einem an die Kehle, oder er leckt einem Pegida-Demonstration in Dresden
Fast niemand glaubte Ulbricht – hingegen die Stiefel.“ Adenauer und Helmut Schmidt
hielt der überwiegende Teil der Öffentlich- waren die Einzigen, die nicht leckten. in der Regel auch uninformierten Men-
keit den Kanzler für glaubwürdig im demo- Wolfgang Speckmann, München schen, besteht, dann wäre die Ansicht die-
kratischen und rechtsstaatlichen Sinne. ser Mehrheit egal. Absurd! Das ist elitärer
Volker-Joachim Stern, Bremen Es ist gut, Adenauers Geheimnisse zu lüften, Unsinn, der die Gesellschaften spaltet,
bevor seine Nachfolgerin anhebt, den Ver- selbst wenn man – wiederum elitär – nur
leumder als großen Staatsmann zu preisen. die westlichen Demokratien im Blick hat.
Wolfgang Reuter, OB a. D., Offenbach/Main Demokratien müssen mit dem Geschrei de-
rer umgehen können, die die Ungebildeten
In einer 1955 verfassten Gesprächsnotiz des ansprechen und sie inspirieren sollen, ra-
damaligen Staatssekretärs im britischen Au- dikalen, scheinbar einfachen Lösungen zu-
ßenministerium Ivone Kirkpatrick heißt es: zustimmen. Die Antwort auf Wahlen wie
„Dr. Adenauer hatte kein Vertrauen in die in den USA kann nicht heißen: „Lasst die
Deutschen. Er war äußerst besorgt darüber, Dummen nicht wählen!“, sondern sie muss
dass eine zukünftige deutsche Regierung heißen: „Bildet die Menschen!“
einen Handel mit Russland auf Kosten des Michael Süßner, Berlin
deutschen Volkes eingehen würde. Konse-
SZ PHOTO

quenterweise war ihm deshalb die Integra- Anstatt nur gebildete Bürger wählen zu
tion Westdeutschlands mit dem Westen lassen – eine erschreckende Idee –, gäbe
CDU-Vorsitzender Adenauer 1949 wichtiger als die Wiedervereinigung.“ es verschiedene Möglichkeiten, etwas für
Hans Peter Schmidt, Saarlouis die allgemeine politische Bildung zu tun.
Das Denkmal Adenauer hat durch diese Sehr selten sind interessante und im besten
Enthüllungen Schaden genommen. Die Jetzt ist es amtlich, dieser Mann war niemals Sinne populär aufbereitete Dokus über die
Lehre, die der dumme Bürger aus diesem ein Säulenheiliger. Aber – das Janusköpfige EU oder das politische System der Bun-
Enthüllungsbericht zu ziehen hat, lautet: bei ihm war die Plattform und womöglich desrepublik und die Bedeutung von Wah-
Nichts ist so, wie es scheint. Vor allem die Voraussetzung einer beispiellosen poli- len im Fernsehen zu sehen. Da könnte man
nicht in der Politik. Um diese und andere tischen Ernte. Das moralische Profil eines im medialen Angebot etwas ändern.
Volksverarschungen aufzudecken und an- autokratisch geprägten Kanzlers und seine Corinna Mahrenholtz, Oldenburg
zuprangern, ist der SPIEGEL da! Dafür ein übergesetzlichen Ambitionen muss man
dickes Dankeschön. gesamthistorisch sehen. In der Folge von Bitte informieren Sie den Politologen Bren-
Erich Eickenroth, Mittenwalde (Brandenb.) Adenauers Beharrlichkeit gelang es einem nan doch darüber, dass es ein legitimeres
demoralisierten Land, den Glauben an seine Mittel gäbe, inkompetente Wähler wie in-
Nach heutigen Maßstäben ist das Vorgehen originäre Stärke wiederzuerlangen. Der kompetente Kandidaten auszuschalten, als
Adenauers natürlich skandalös. Wie ist das Kurs dieses Nachkriegskanzlers stellte die sein zynisch-elitärer Vorschlag vorsieht,
Ganze aber aus Sicht des damals schon Weichen dafür, dass die über zwölf Jahre nur „informierte“ Bürger wählen zu lassen:
sehr erfahrenen Adenauer zu bewerten? missbrauchte, verschüttete DNA des Phä- bereichsspezifische Wahlen (gleich Sach-
Die Frage bleibt für mich unbeantwortet. notypus der Deutschen in der Welt wieder abstimmungen) im Sinne einer systemisch
Das Ergebnis stimmt jedenfalls. mit Respekt wahrgenommen wird. gegliederten Wertedemokratie.
Uwe Fischbeck, Weiterstadt (Hessen) Peter Hülcker, Norderstedt (Schl.-Holst.) Johannes Heinrichs, Prof. f. Philosophie a. D., Duisburg

136 DER SPIEGEL 16 / 2017


Briefe

Lassen wir doch jeden Deutschen, der wäh- Mit welchem Recht finanziert die BA Schulz offenbart sich hier als Freund und
len möchte, jenen Einbürgerungstest absol- Deutschkurse für Flüchtlinge aus der Kasse Kenner der Literatur – was bei einem deut-
vieren, den Ausländer bestehen müssen, der Arbeitslosenversicherung? Sind allein schen Politiker eher die Ausnahme ist. Viel-
wenn sie als Neugermanen an die Urne wol- die in diese Versicherung Einzahlenden für leicht ist Politik für die meisten etwas furcht-
len. Mangels Wissens wären die Befürwor- die Ausbildung und Integration dieser Men- bar Ernstes und Realistisches, da es mit
ter der Alternative für Dumme ruck, zuck schen zuständig und verantwortlich? Es hat Machtausübung zu tun hat, während die
vom aktiven Wahlgang ausgeschlossen. sich inzwischen eingebürgert, dass Geld für Schriftstellerei den Ruch von Realitätsferne
Ulrich Abendroth, Frankfurt am Main alle möglichen Ausgaben aus den Sozial- und zügelloser Fantasie nicht loswird. Auch
kassen entnommen wird, obwohl diese ge- der SPIEGEL hält mit diesem sehr gelunge-
Nicht die Wähler, die Politiker müssten samtgesellschaftliche Aufgaben sind. nen Interview jedenfalls intern noch an al-
sich einem Qualifikationstest unterziehen. Dieter Kutzer, Birenbach (Bad.-Württ.) ten Gewohnheiten fest – hier Politik, da Kul-
Peter Hautzinger, Bocholt tur. Schulz gewährt uns als dritte Dimension

Manchmal bemühen sich die informierten


Wer hat uns verraten? noch die Tiefe seiner Bildung – und zwar
ohne zu protzen oder elitär zu wirken.
Bürger sogar um die vermeintlich Dum- Nr. 14/2017 SPIEGEL-Gespräch mit Altkanzler Klaus Reisdorf, Wolfsburg
Gerhard Schröder
men. Ich denke da an die Vorbereitung der
Europäischen Währungsunion, als ich mit- Offensichtlich will der Genosse der Bosse „Hitler – Eine Studie über Tyrannei“ von
gewirkt habe, das skeptische Volk von den nicht verstehen, dass er mit seiner Agenda Alan Bullock und „Hitler“ von Joachim
Vorteilen zu überzeugen. Die Leute haben 2010 einen großen Schaden für seine Partei Fest – beide mit ihren zusammen 2000 Sei-
unsere Argumente hingenommen, geglaubt angerichtet hat. Ist es sozialdemokratisch, ten und beinahe ebenso vielen Anmerkun-
haben sie uns nicht. Über allen Veranstal- wenn Arbeitssuchende bei den Jobcentern gen lesen und dann auch noch verstehen
tungen lag eine große Traurigkeit. Seitdem geschurigelt und unter den Generalverdacht zu können ist allein schon für einen stu-
halte ich es mit Tucholsky: „Das Volk ver- des Abhängens in der sozialen Hängematte dierten Historiker eine Mammutaufgabe.
steht das meiste falsch; aber es fühlt das gestellt werden? Er ist dafür mitverantwort-
meiste richtig.“ Auf die „Weisheit der Mas- lich, dass die Schere zwischen Arm und
se“ kann die Demokratie nicht verzichten. Reich weiter auseinanderklafft. Auch ohne
Dr. Hans-Peter Basler, Frankfurt am Main Einschnitte wie Leiharbeit, Ausweitung des
Niedriglohnsektors und Absenkung des

VOLKER WEIDERMANN / DER SPIEGEL


In Weiterbildung gebracht Rentenniveaus kann sich die Wirtschaft ent-
wickeln. Ich glaube, sogar noch besser.
Nr. 14/2017 Der neue Chef der Bundesagentur für Mathias Lamprecht, Dersekow (Meckl.-Vorp.)
Arbeit (BA), Detlef Scheele, im SPIEGEL-Gespräch
Die Behauptung Scheeles, „ohne die Agen- Es ist eine Unverschämtheit und eines ver-
da 2010 hätte kein Sozialhilfeempfänger antwortlichen Politikers unwürdig, wenn er
von damals Zugang zu Weiterbildung, die durch Beleidigungen von seiner eigenen de-
gab es nach altem Recht nämlich nicht“, solaten Politik ablenkt. Kinder- und Alters- Schulz-Bücherregal in Berlin
ist schlicht falsch. Als ehemaliger Arbeits- armut, Tafeln, Dumpinglöhne, prekäre
berater der BA habe ich vor 2005 mehr als Arbeitsverhältnisse – all diese durch die Poli- Für Schulz offenbar nicht, denn er habe
tik von Schröder existierenden Realitäten sich Bullock bereits mit 14/15 einverleibt,
scheinen in seiner Gedankenwelt nicht vor- kurz darauf die „Schwarte“ von Fest mit
zukommen. Wer hat uns verraten? Genau. knapp 1200 Seiten. Bullocks Studie sei kei-
John Osmani, Nideggen (NRW) ne isolierte Lebensbeschreibung, vielmehr
habe der Autor Hitler als Teil eines Mecha-
Hier Politik, da Kultur nismus dargestellt. Dazu Bullock im Vor-
MICHELE TANTUSSI / DAVIDS

wort 1953: ,,Ich beschloss, den Verlauf von


Nr. 14/2017 SPD-Kanzlerkandidat Hitlers Leben so getreu wie möglich zu re-
Martin Schulz beschreibt im SPIEGEL-Gespräch
konstruieren. Das Buch hat die Form einer
seine literarischen Vorlieben
historischen Erzählung erhalten.“ Genauso
Ich vermisse in Schulz’ besprochener Bü- falsch liegt Schulz bei seinem Urteil über
cherliste Thomas Straubhaars „Radikal ge- Fests „Hitler“, den der nach seiner Mei-
Ausbildungsplatzbörse in Berlin recht“, mit dem der Ökonom darlegt, wie nung weniger als Teil des Systems sieht.
das Steuersystem zu vereinfachen und die Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)
einmal Sozialhilfeempfänger in berufliche Sozialhilfe abzuschaffen ist. Das Buch kann
Umschulung oder Weiterbildung gebracht. als Antwort zur wiederholt aufgezogenen Wenn Schulz gesagt hätte, er habe Raul Hil-
Nach Abstimmung mit dem Sozialamt Gerechtigkeitsflagge der SPD verstanden berg voller Bewunderung und Schauer ge-
wurde die Sozialhilfe während der Schu- werden. Bislang führte deren Regierungs- lesen, wäre das ein beeindruckender As-
lungszeit weitergezahlt. Die Lehrgangskos- beteiligung im Ergebnis zu höheren Steuern pekt. Niemand erwartet, dass der mögliche
ten einschließlich Fahrkosten übernahm und zum Ausbau der Bürokratie. Für mich Kanzler ein Kulturwissenschaftler ist, aber
die BA. Auf diese Weise wurden auch Be- ist die Partei wählbar, die das Gerechtig- er sollte nicht versuchen, sich eine Kultur
rufsabschlüsse erreicht. keitskonzept Straubhaars umsetzen will. anzueignen, die er zumindest hier nicht un-
Dieter Hoffmann, Gladbeck Dr. Wolfgang Pittrich, Dresden ter Beweis stellen kann.
Reiner Girstl, Berlin

Korrektur Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe


(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
zu Heft 15/2017, Seite 135: „Das Auge von Mubasha“ sowie digital zu veröffentlichen und unter
Korrekt heißt es „Mugasha“. www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 16 / 2017 137


Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Top Magazin Bonn“: Zitate


„Ist der Todesfall erst einmal
eingetreten, ist der Gestaltungsspielraum Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL-
deutlich eingeschränkter.“ Titel über Konrad Adenauer (Nr. 15/2017):

Er ist nicht nur der beliebteste Bundes-


Jetzt im kanzler der Deutschen, er ist der belieb-
teste Deutsche der Bundesbürger. Vor Lu-
ther und Goethe. Bislang … An diesem
Handel Wochenende jedoch veröffentlichte der
SPIEGEL brisante Details aus bislang ge-
heimen Akten von Bundesregierung und
Bundesnachrichtendienst, die den Blick
der Deutschen auf ihren Gründungskanz-
ler zurechtrücken sollten. … So setzte
Aus der „Süddeutschen Zeitung“ er den Geheimdienst routinemäßig nach
eigenem Gusto zur Bespitzelung poli-
tischer Konkurrenz ein … Die Akten lie-
Aus der „Westdeutschen Allgemeinen fern auch neue Details über Adenauers
Zeitung“: „Als es (ein verirrtes Machthunger – der schon Zeitgenossen
Kaninchen –Red.) dann aus der geöff- spätestens aufgefallen war, als der „Alte“
neten Motorhaube ins Gebüsch sich weigerte, einem Nachfolger Platz
fliehen wollte, sprang ein Polizist zu machen. Dahinter steckte eine Selbst-
hinterher und fing es. wahrnehmung, die an Trump erinnert.
Nun wird seine Familie gesucht.“
Der Adenauer-Enkel Konrad Adenauer
im Deutschlandfunk zum selben Thema:

Natürlich hat er als Kanzler die Möglich-


keiten genutzt, die er als Chef der Geheim-
dienste eben hatte. Jeder nutzt das natür-
lich auch für sich und seine Zwecke, sonst
kann er sich nicht an der Macht halten.
Aus der „Ellwanger Stadtinfo“
Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-
Artikel über Missbrauchsvorwürfe beim
Aus der „Rhein-Zeitung“: FC Tauberbischofsheim (Nr. 15/2017):
„Mit dem Jagdflugzeug war ein
19-jähriger Bundeswehrsoldat Die Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe
aus Neusorg in der Oberpfalz im am Fechtzentrum in Tauberbischofsheim
Zweiten Weltkrieg abgestürzt.“ durch einen Trainer haben am Wochen-
ende den nationalen Fachverband in
Atem gehalten. Der Deutsche Fechter-
Bund verurteilt jede Form von sexualisier-
ter Gewalt auf das Schärfste, teilte der
DFeB mit. Verbandschefin Claudia Bokel
mahnte … dass alle Beteiligten … in der
Film, Design, Kunst Pflicht sind, zu einer schnellen und saube-
ren Aufklärung des Falls beizutragen. Für
Aus dem „Hamburger Klönschnack“
Die Welt der Sportdirektor Sven Ressel würden Belege
für die Anschuldigungen einen Schlag für
Von der Website Aerzteblatt.de: Fünfzigerjahre den Fechtsport bedeuten. Nach einem Be-
„5915 Menschen erkrankten 2016 in richt des SPIEGEL sollen zwischen 2003
Deutschland an Tuberkulose und 2016 mehrere Sportlerinnen in Tau-
(2015: 5852). Die Stagnation der Neu- berbischofsheim von einem Trainer sexu-
erkrankungen wird teilweise Gründungskanzler ell belästigt worden sein; darunter seien
auf die Migration zurückgeführt.“ auch WM- und Olympia-Teilnehmerinnen.
Adenauers Demokratur
Der „Mannheimer Morgen“ zum selben
Thema:

Vertriebene Die Staatsanwaltschaft Mosbach will sich


die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs
Die mühsame am Fecht-Olympiastützpunkt genau anse-
hen. „Wir prüfen von Amts wegen, ob ein
Aus der Anzeige eines Bad Nauheimer Integration Straftatbestand verwirklicht sein könnte“,
Schuhgeschäfts in der „Dill-Post“ sagte Erster Staatsanwalt Hansjörg Bopp.
138 DER SPIEGEL 16 / 2017
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BADEN WÜRT TEMBERG
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MAX EHLERT / DER SPIEGEL


Der erste Regent
Reinhold Maier führte die
Regierung des 1952 gebilde-
ten Bundeslandes an – die
Geschichte einer Vereinigung.
Seite VI

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL


Wenige deutsche Städte sind derart von einem Unternehmen
Eine Stadt und geprägt wie Walldorf vom Softwarehersteller SAP. Er sorgt für hohe
ihr Wohltäter Steuereinnahmen, fördert Bildungsstätten, Sportanlagen und
Seniorenheime. Walldorfs Bürgermeisterin sieht aber auch die
Seite X Risiken dieser Abhängigkeit: Was, wenn SAP in eine Krise gerät?
Die Schnellmacher
Ein Karlsruher Start-up mit
„Hidden-Champion-Potenzial“:
GoSilico will die Pharmaka-
Entwicklung beschleunigen.
Seite XVI
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

ENGELHORN GASTRO GMBH

Abgas-Gipfel Rechtsausleger Der Perfektionist


Schlechte Luft in etlichen Städten des Landes Innerhalb der AfD-Fraktion im Stuttgarter Land- Zwei Sterne für ein Restaurant
hat die Politik sensibilisiert. Ministerpräsident tag hat sich der rechte Flügel durchgesetzt. in einem Kaufhaus? In
Kretschmann erklärte das Thema Autoabgase Sogar der Abgeordnete Wolfgang Gedeon findet Mannheim geht das: die unge-
zur Chefsache: Am 19. Mai trifft er sich mit Daim- in der Fraktion, die er wegen antisemitischer wöhnliche Karriere des
ler, Audi, Porsche und Bosch zu einem Gipfel. Äußerungen verlassen hatte, wieder Verbündete. Küchenchefs Tristan Brandt.
Seite II Seite IX Seite XIV

DER SPIEGEL BW 16 / 2017 I


BADEN WÜRTTEMBERG

Schadstoffmessgeräte an einer Bundesstraße in Stuttgart

Stuttgarter Luft
Verkehr Umweltklagen und Abgasmauscheleien haben den Diesel
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

in eine existenzielle Krise gestürzt. Sie weckt Zweifel


an der Zukunftsfähigkeit des Autolandes Baden-Württemberg.

II DER SPIEGEL BW 16 / 2017


E
ine Limousine mit einem gelben Kas- befahrene Magistralen zerschneiden die
ten am Heck saust über die Teststre- Stadt, darunter die sechsspurige B 14.
cke. Dann kommt der Wagen in ei- Auf dieser Straße, am Neckartor, wer-
nem Hangar zum Stehen, wo Kameras und den regelmäßig die höchsten Werte für
Journalisten warten. Es entsteigen Minis- Feinstaub und Stickoxid in ganz Deutsch-
terpräsident Winfried Kretschmann und land gemessen, höher als die europäischen
Ola Källenius, Vorstand bei Daimler. Vorgaben es erlauben. Deshalb sieht sich
Der Politiker, grün gestreifte Krawatte, Stuttgart mit drei Verfahren konfrontiert,
und der Autoboss, keine Krawatte, plat- sollten die Werte nicht sinken: Ein Ver-
zieren sich an einem Stehtisch neben dem tragsverletzungsverfahren der EU-Kom-
Modell eines Dieselmotors: Es ist der OM mission gegen Deutschland, eine Klage der
654, dessen Emissionen während der Fahrt Deutschen Umwelthilfe (DUH) und die
in dem Kasten gemessen wurden. „Das ist Fortführung einer Klage von Anwohnern.
die neueste Technik, sie hält die Grenz- Im Modekaufhaus Breuninger an der B 14
werte ein“, sagt Källenius. Kretschmann gingen schon Fragen aus dem Ausland ein,
sekundiert: „Es gibt den sauberen Diesel.“ ob man sich in Stuttgart noch ohne Atem-

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL


Der werde für den Übergang gebraucht. schutzmaske bewegen könne.
„Die Industrie hat eine Bringschuld und Asiatische Verhältnisse herrschen in der
muss ihre Hausaufgaben machen.“ Landeshauptstadt zwar nicht, doch warnen
Es ist klar, was der gemeinsame Auftritt Mediziner vor zu viel Feinstaub und Stick-
Anfang April im Stuttgarter Daimler-Werk oxid: Die winzigen Partikel des Feinstaubs
soll: Der Spitzenmanager will demonstrie- setzen sich in den Bronchien fest. Stickoxid
ren, dass sein Unternehmen noch auf der reizt oder schädigt die Atemwege und
Höhe der Zeit sei. Und der Landesvater, Grüner Kretschmann mit Ausstellungsmotor kann Allergien verstärken, besonders bei
dass er der Industrie auf die Finger schaut, „Die Industrie hat eine Bringschuld“ Kindern. Das Umweltbundesamt geht von
ohne ihr wirtschaftlich schaden zu wollen. Zehntausenden frühzeitigen Todesfällen
Dieselfahrzeuge haben derzeit einen die Ministerpräsidenten der anderen Bun- pro Jahr in Deutschland allein aufgrund
schlechten Ruf. Stadtbewohner und Um- desländer mit viel Autoindustrie, nach von Feinstaub aus.
weltorganisationen protestieren gegen die Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hes- Die Umwelthilfe will das nicht hinneh-
von den Verbrennungsmotoren mitverur- sen und Bayern: Man möge die Lage be- men und lässt in Stuttgart an neuralgischen
sachte schlechte Luft. Die sonst so allmäch- sprechen. Am 19. Mai trifft sich der Grüne Punkten messen. „Damit wollen wir zei-
tigen Konzerne stehen als Trickser da, deren mit Vertretern von Daimler, Audi, Porsche gen, dass ausgerechnet Krankenhäuser,
Autos Grenzwerte nur auf dem Papier ein- und Bosch zu einem Autogipfel. Das sau- Schulen und selbst Kindertagesstätten dem
halten. Und die Politiker als blauäugig, weil bere Auto wird wohl zum zentralen An- Dieselabgasgift NO ungeschützt ausge-
²
sie den Autokonzernen einfach glaubten. liegen seiner zweiten Amtszeit werden. setzt werden“, sagt DUH-Geschäftsführer
Die Spannungen sind im Autobauerland In Stuttgart ist der Leidensdruck beson- Jürgen Resch. In Schulen fragen bereits
Baden-Württemberg deutlich zu spüren. ders groß. Ein paar Tage vor dem Ausflug Eltern nach, ob ihre Kinder in der Pause
Denn einerseits hängt das wirtschaftliche Kretschmanns auf die Teststrecke demons- überhaupt auf den Hof dürfen.
Wohl des Bundeslands am Automobil, fast trierten Umweltverbände und Bürgerini- Das bringt auch die Bürger einer Stadt
jeder Zehnte verdient in der Branche sein tiativen in der Innenstadt. Fußgänger und ins Nachdenken, die sich seit Jahrzehnten
Geld. Andererseits möchten auch die Bür- Radfahrer blockierten die Bundesstraße über das Automobil definiert. Das Stutt-
ger Baden-Württembergs saubere Luft at- B 14. Auf ihren Transparenten war zu garter Mercedes-Benz Museum ist das
men. Doch neben Stuttgart haben Messun- lesen: „Daimler, Bosch: Notorische Abgas- populärste im Bundesland, im Jahr kom-
gen beispielsweise in Mannheim, Reutlin- betrüger“ oder „Atemlos durch die Stadt“. men mehr als 700 000 Besucher, welche die
gen, Freiburg und Tübingen überhöhte Untermalt vom wütenden Hupen der Erzeugnisse südwestdeutscher Ingenieurs-
Schadstoffkonzentrationen ergeben. wartenden Autofahrer skandierte ein kunst bewundern. Ein Nachbau des Benz-
Die Politik ist verantwortlich dafür, dass Mann: „Autos raus aus Stuttgart“. Die De- Patent-Motorwagens Nummer 1 etwa: Im
Richtlinien zur Luftreinhaltung befolgt monstranten zertrümmerten sogar einen ersten Auto mit Verbrennungsmotor dreh-
werden. Wenn nicht, drohen Strafen und mitgebrachten abgemeldeten Kleinwagen te Carl Benz 1886 seine Probefahrt durch
Gerichtsverfahren. Daher hat die Landes- auf der Straßenkreuzung – im autoverses- Mannheim. Zu sehen sind auch die Fahr-
regierung beschlossen, dass an Tagen mit senen Schwaben ein Sakrileg, auch wenn zeuge, die Gottlieb Daimler und Wilhelm
überhöhten Feinstaubwerten keine älteren es nur ein alter Opel Corsa war. Maybach später im Stuttgarter Stadtteil
Dieselfahrzeuge mehr in die Stuttgarter Stuttgart, Amtssitz eines grünen Minis- Bad Cannstatt zusammenbauten.
Innenstadt einfahren dürfen – eine Maß- terpräsidenten, eines grünen Verkehrs- Nebenan hat Mercedes-Benz eine Ver-
nahme, die Källenius und andere Manager ministers und eines grünen Oberbürger- kaufsniederlassung eingerichtet, einige
ablehnen. meisters, hält Rekorde, über die niemand Meter entfernt fahren Autos über die Test-
Dabei ist nicht klar, ob solche partiellen froh ist: Stauhauptstadt Deutschlands etwa, strecke. Vor der Porsche-Zentrale im Stadt-
Fahrverbote überhaupt ausreichen. Kretsch- auch wenn der Titel immer mal wieder an teil Zuffenhausen sind drei weiße 911er so
mann wünscht sich „einen historischen eine andere Metropole geht. Über 200 000 auf Stelen montiert, als starteten sie wie
Wandel“ des Autos. Um die Grenzwerte Autos fahren jeden Tag in den dicht be- Raketen himmelwärts. Die Autohäuser
einzuhalten, müssten betagte Diesel schnell bauten Talkessel, in dem das Zentrum liegt, entlang der Stuttgarter Ausfallstraßen sind
ausgetauscht werden, am besten gegen rund 800 000 Fahrzeuge passieren täglich an Sonntagen voll mit Kunden, die die
Elektroautos. Doch die stolze Autobranche die Stadtgrenze. neuesten Modelle ausprobieren.
im Südwesten hängt bei der Elektromobi- Die Planer der Nachkriegszeit kamen Die Dieselkrise hat bislang nicht auf die
lität hinterher. in Stuttgart dem Ideal der autogerechten Verkaufszahlen durchgeschlagen. Merce-
Kretschmann hat das Thema zur Chef- Stadt nahe, Radfahrer und Fußgänger müs- des verkauft wieder mehr Neuwagen als
sache erklärt. Er schickte einen Brief an sen schauen, wo sie bleiben. Mehrere stark die bayerische Konkurrenz von BMW, so

DER SPIEGEL BW 16 / 2017 III


BADEN WÜRTTEMBERG

etwas zählt in der vergleichsorientierten mit Hybridantrieb als Dienstauto. In Re-


Autowelt. Der Absatz liegt auf Rekord- den erzählt er von den Rekordinvestitio-
niveau. Porsche hat seinen Angestellten ei- nen für Forschung und Entwicklung im
nen Rekordbonus von 9111 Euro zugesagt – Ländle, woran die Autoindustrie einen gro-
angelehnt an den Klassiker, den 911er. ßen Anteil hat. Zetsche wiederum sprach
Doch bürgen die glamouröse Vergangen- in Jeans und Turnschuhen auf dem Grü-
heit und die komfortable Gegenwart dafür, nen-Bundesparteitag, auf Einladung des
dass Autos made in Baden-Württemberg Schwaben Cem Özdemir.
auch in Zukunft spitze sein werden? Nur wenige Politiker erinnern daran,
Die Diskussion um die Selbstzünder- dass die Industrie einst auch das bleifreie
technik trifft die ansässigen Autobauer be- Benzin und den Katalysator abgelehnt hat-
sonders, weil ihre Premiummodelle oft te, später dann strengere Abgaswerte.
mit Dieselmotoren ausgestattet sind. Für „Der Verband der Automobilindustrie hat
das Versprechen, dass die Triebwerke zu- die Einführung der Euronorm 6 für Die-
gleich sparsam und sauber seien, konnten selmotoren durch seine Lobbyarbeit um
die Hersteller Premiumpreise verlangen. mindestens zehn Jahre verzögert“, sagte
Und viele Arbeiter beschäftigen. Der mo- Uwe Lahl, Ministerialdirektor im Verkehrs-

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL


derne Diesel ist komplex und aufwendig ministerium, der „Stuttgarter Zeitung“.
zu produzieren. Allein der Antriebsstrang Angesichts der Klagen von Umweltver-
aus Motor und Getriebe besteht aus etwa bänden und Anrainern schwindet nun der
1400 Teilen. Beim Elektroauto sind es nur Spielraum der Politik. Die CDU, Junior-
rund 200. partner der Grünen, hat die Fahrverbote
Der Vorsitzende des Verbands der ba- bei Feinstaubalarm mitbeschlossen, ob-
den-württembergischen Industrie warnt wohl sie sich traditionell als Autofahrer-
vor zu ehrgeizigen klimapolitischen Zielen, Verkaufsniederlassung in Stuttgart partei sieht. Nun wirbt sie dafür, Diesel
es drohe gar eine De-Industrialisierung. Absatz auf Rekordniveau umzurüsten und so die Verbote zu ver-
210 000 Menschen sind im Südwesten im meiden. Kretschmann zeigte sich offen für
Fahrzeugbau beschäftigt, dazu weitere den, sagt Bargende. „Mit Euro 6c ist das Umrüstungen. Sollten aber im Januar die
130 000 bei den Zulieferern. Thema Schadstoffe gegessen, weil auch Grenzwerte am Neckartor weiter über-
„Baden-Württemberg ist sehr stark von erstmalig Straßentests vorgeschrieben sind, schritten werden, könnte der Streit zwi-
der Automobiltechnologie abhängig“, sagt was bislang nicht der Fall war“, sagt er. schen Politik und Industrie eskalieren.
Martin Schwarz-Kocher, Leiter des IMU Bis vor Kurzem war es im Ländle un- Denn die Strafen bezahlen müssten nicht
Instituts. Es berät Betriebsräte bei Um- vorstellbar, dass die Hersteller so unter die Konzerne, sondern die Steuerzahler.
strukturierungen und forscht für die öffent- Rechtfertigungszwang geraten könnten. Umweltschützer denken schon weiter.
liche Hand. Vor allem bei den Zulieferern Die Autobauer genießen den Status wie Gerhard Bronner, der Vorsitzende des Lan-
drohten bei einer Abkehr vom Diesel Ar- zeitweise die Finanzindustrie in der angel- desnaturschutzverbands, kritisiert „die
beitsplätze zu verschwinden oder ins Aus- sächsischen Welt, die Masters of the Uni- Hochtempo- und Beschleunigungsfixie-
land verlagert zu werden. verse. Ihre Zulieferer, zum Teil ebenfalls rung“ der Autofahrer. Sie hätten nur allzu
Selbst wenn künftig alle Elektromotoren Weltfirmen, verteilen sich bis in die hin- gern geglaubt, was ihnen die Autowerbung
im Land gefertigt würden, kämen nicht an- tersten Winkel des Bundeslands. vorspielte: Es sei möglich, sportlich, spar-
nähernd so viele Arbeitsplätze zusammen, Die Probleme kommen zuerst am unte- sam und zugleich umweltschonend zu fah-
wie mit dem Verbrennungsmotor verloren ren Ende der automobilen Futterpyramide ren. „Wer es wissen sollte, der konnte wis-
gehen, rechnet Schwarz-Kocher vor. an. Die Preise für Fahrzeuge ohne Euro-6- sen, dass der Diesel nicht sauber ist“, sagt
„Die Elektromobilität ist bis vor einem Norm seien bereits um fünf bis zehn Pro- Bronner. Nun müsse man an „Fahrleistung,
Jahr in den Betrieben nicht wirklich ange- zent gefallen, schätzen Gebrauchtwagen- Fahrzeuggewicht und die Geschwindig-
kommen“, kritisiert der Experte. Nun herr- händler. „Die Autokäufer und wir sind die keit“ herangehen, also kleinere, langsame-
sche eine „gewisse Verunsicherung“ und Gelackmeierten“, sagt Torsten Treiber, der re Autos bauen.
„strategische Hektik“. Schwarz-Kocher Obermeister der Innung des Kraftfahrzeug- Solche radikalen Schritte sind im Auto-
hält trotzdem nichts davon, die Grenzwer- gewerbes in der Region Stuttgart, der rund land Baden-Württemberg nicht absehbar.
te zu lockern, um den Autobauern zu hel- tausend Autohäuser und Kfz-Betriebe an- Zunächst stehen die Hersteller vor der
fen. „Die Politik glaubt den technischen gehören. „Die Autohersteller haben uns Aufgabe, schnell neue Elektromodelle zu
Argumenten der Automobilindustrie nicht eine Suppe eingebrockt, die nur schwer aus- produzieren. Denn derzeit geht es poten-
mehr unbesehen“, sagt der Forscher. Er zulöffeln ist.“ Treiber wünscht sich realisti- ziellen Käufern so wie der Stadt Stuttgart,
fordert: „Sie sollte an den anspruchsvollen sche Angaben bei Verbrauch und Ausstoß, die ihren Fuhrpark erneuert. Bis zu 45
Vorgaben festhalten, sofern diese in der um das Vertrauen der Kunden wiederzuge- neue Autos und Transporter mit Elektro-
Umsetzung technisch machbar sind.“ winnen. „Bei den Abgaswerten kann man antrieb sollen künftig durch die Landes-
Michael Bargende, Leiter des For- die Prospekte in die Tonne treten.“ hauptstadt rollen, der Umwelt zuliebe.
schungsinstituts für Kraftfahrwesen und Diese Erkenntnis belastet derzeit auch Noch bis Mai läuft die europaweite Aus-
Fahrzeugmotoren, klagt dagegen über die das Verhältnis zwischen grünen Realos und schreibung, die Stadtoberen wünschten
aktuelle Kritik am Verbrennungsmotor. der Autobranche. „Weniger Autos sind na- sich Angebote der heimischen Autobauer.
„Jeder, der sich berufen fühlt, darf etwas türlich besser als mehr“, hatte Kretsch- Doch die signalisierten bereits, dass sie
gegen die Autoindustrie sagen.“ Die Lage mann kurz nach seinem Wahlsieg 2011 in keine geeigneten Modelle im Programm
sei doch eigentlich ganz gut: Mit jeder einem Interview gesagt. Der Satz flog ihm hätten oder nicht rechtzeitig liefern könn-
Emissionsgrenzwertstufe zwischen Euro 2 um die Ohren. Daimler-Chef Dieter Zet- ten. So werden wohl bald Elektroautos aus
und Euro 6 sei die Abgasnachbehandlungs- sche beschwerte sich bei Kretschmann. Fernost oder aus Frankreich schwäbisches
technik im Rahmen der gesetzlichen An- Inzwischen hat der Ministerpräsident Umweltbewusstsein repräsentieren.
forderungen sehr deutlich verbessert wor- dazugelernt. Er fährt eine grüne S-Klasse Jan Friedmann

IV DER SPIEGEL BW 16 / 2017


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BADEN WÜRTTEMBERG

Ein Stamm, zwei Kronen


Jubiläen Wieso tun sich Badener und Schwaben auch nach 65 Jahren „Südweststaat“
so schwer miteinander? Eine Spurensuche. Von Jan Friedmann und Dietmar Hipp

D
er Karlsruher SC spielt gegen den SC Freiburg. Im Grundgesetz blieb offen, wie im Südwesten die von
Zwei badische Fußballmannschaften im Wettstreit, den Westalliierten geforderte Neugliederung aussehen
trotz diverser Auf- und Abstiege kommt das immer sollte: entlang der alten Grenzen oder als fusioniertes Ge-
wieder vor. Auf den Rängen zelebrieren die Fans zunächst bilde. Eine Volksabstimmung sollte entscheiden.
Einigkeit: Gemeinsam singen sie das „Badnerlied“, die Um deren Modus rangen die Regierungschefs der drei
beliebte Landeshymne, in einer Version mit Abfälligkeiten Länder hart. Vor allem der badische Staatspräsident Leo
gegenüber den schwäbischen Nachbarn. Wohleb warnte, das „imperialistische“ Württemberg drohe
Dass etwa der Neckar, „die alte Schwabensau“, sich in Baden zu übernehmen. Grundlos war Wohlebs Verdacht
den blauen Rhein ergieße, ist zu hören, und im Chorus: nicht, wie die weitere Entwicklung bewies.
„Der Schwab’ muss raus, raus aus dem Badnerland.“ Aber Eine Gruppe südwürttembergischer CDU-Bundes-
auch das ganze Spiel über attackiert das Publikum, einem tagsabgeordneter um den späteren Bundeskanzler Kurt
Ritual folgend, die Schwaben. Einmal ruft ein Karlsruher Georg Kiesinger setzte sich erfolgreich für einen Modus
Block den Freiburgern zu: „Ihr spielt scheiße wie der VfB.“ ein, der den Befürwortern eines Südweststaats entge-
Das geht selbst manchen Nordbadenern zu weit – für Süd- genkam: In vier zu bildenden Abstimmungsbezirken
badener ist es die schlimmste Beleidigung, mit Stuttgartern sollten die Bürger getrennt wählen: Nord- und Südwürt-
gleichgesetzt zu werden, erst recht mit dem VfB. temberg, Nord- und Südbaden. Für eine Fusion sollte eine
Seit 65 Jahren leben Badener und Mehrheit in drei der vier Regionen
Schwaben politisch unter einem genügen.
Dach. In den kommenden Wochen Südwestdeutschland Am 9. Dezember 1951 votierten
wird oft daran erinnert werden, wie Aufteilung nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Mehrheit der Würt-
1952 Baden-Württemberg entstand. bis 1952 temberger sowie 57 Prozent der
Deshalb stellt sich die Frage, wieso Nordbadener für den Südweststaat.
sich viele Bürger mit dieser Einig- Amerikanische 62 Prozent der Südbadener stimm-
keit so schwertun – und warum es Besatzungszone ten aber für die Wiederherstellung
bis heute im Ländle einen „Nächs- Württemberg- Badens – vergebens. Im März 1952
tenhass“ gibt, wie der aus Kiel stam- Karlsruhe Baden wählten 4,3 Millionen Bürger die
mende Tübinger Politologe Theodor verfassungsgebende Versammlung
Eschenburg das badisch-schwäbi- Stuttgart Baden-Württembergs. Sieben Wo-
sche Verhältnis einmal nannte. chen später bestimmte diese den
Die beiden Landesteile im Süd- ersten Ministerpräsidenten des neu-
weststaat pflegen ihre Rivalität je- Tübingen en Gebildes: Reinhold Maier von
ein

denfalls ganz unterschiedlich: Der Baden den Liberalen (DVP/FDP).


Rh

Schwabenhass prägt die Badener – Französische Die badischen Vereinigungsgeg-


Schwaben stehen den Badenern da- Besatzungszone Württemberg- ner mochten sich damit nicht ab-
gegen eher desinteressiert oder so- Freiburg Hohenzollern finden. Sie klagten vor dem Bun-
gar wohlwollend gegenüber. Der desverfassungsgericht, das ihnen
„Sauschwob’“ ist in Baden immer 1956 zugestand, in einer erneuten
noch viel geläufiger als in Württem- Abstimmung über den Verbleib im
berg der „Gelbfüßler“ oder der „ba- Bodensee neuen Bundesland zu entscheiden.
dische Windbeutel“. Und wenn Durchgeführt wurde dieser Volks-
Schwaben von den „Badensern“ sprechen, ist ihnen oft entscheid aber erst 1970 – da hatten sich die Menschen
nicht mal bewusst, dass das in den Ohren der Gemeinten längst mit den Verhältnissen arrangiert. 81,9 Prozent der
abwertend klingt. badischen Wähler stimmten für Baden-Württemberg. Zu
Diese Differenz hat viele historische Ursachen. Eine offensichtlich waren die administrativen und wirtschaft-
davon ist gerade die Gründungsgeschichte des Südwest- lichen Vorteile der Einheit.
staats, die unter Badenern bis heute vielfach als feindliche Ulrich Wildermuth, der frühere Chefredakteur der Ul-
Übernahme durch die Württemberger angesehen wird. mer „Südwest Presse“, wertete die Vereinigung als „eine
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Amerikaner und große staatspolitische Leistung, eine Leistung der politi-
Franzosen als Besatzungsmächte die damaligen Länder schen Vernunft, kein selbstverständliches Ergebnis stür-
Baden, Württemberg sowie die preußische Enklave Ho- mischer Liebe“. Doch bis heute sind es nicht „zwei Wur-
henzollern unter sich aufgeteilt – in Ost-West-Richtung, zeln und ein Baum“, wie es Wildermuth metaphorisch
quer zu den historischen Grenzen. Aus dem nördlichen beschrieb, sondern eher ein Stamm und zwei Kronen.
amerikanischen Sektor ging mit der Gründung der Bun- Der Landesname spiegelt diese Zweiteilung wider. Als
desrepublik das Bundesland „Württemberg-Baden“ (Haupt- Alternativen standen bei der Gründung des Südweststaats
stadt: Stuttgart) hervor, aus dem südlichen französischen auch Rheinschwaben, Zollern, Staufen, Wübaho (unter
Sektor die beiden Länder „Baden“ (Hauptstadt: Freiburg) Würdigung der Enklave Hohenzollern), Deutsch-Südwest,
und „Württemberg-Hohenzollern“ (Hauptstadt: Tübingen). Alemannien oder schlicht Schwaben zur Debatte. Die

VI DER SPIEGEL BW 16 / 2017


BADEN WÜRTTEMBERG

Letzteren wären jenseits der Annexionsangst zumindest Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Im Narrativ der Ab-
historisch naheliegende Optionen gewesen. grenzung gilt Baden als der lebenswertere Landstrich, mit
Denn die Geschichte von Baden und Württemberg geht gut besonnten Studenten, filigran kombinierenden Fuß-
auf eine gemeinsame Wurzel zurück, die Alemannen, ger- ballern und einem florierenden Fremdenverkehr, während
manische Stammesgruppen aus den nördlichen Elbgebie- in den schwäbischen Fabriken das Geld verdient wird.
ten. Mit Beginn des 3. Jahrhunderts nach Christus zogen Die schwäbische Hausfrau wird von der Berliner Politik
diese Germanen, die später auch als Sueben bezeichnet gern als Ideal fiskaler Strenge bemüht – im vom Boomland
wurden, bis ins heutige Süddeutschland. Im Grunde waren Ba-Wü profitierenden Baden beruft man sich gern auf das
Badener wie Schwaben also ursprünglich Norddeutsche. französische Savoir-vivre.
Im Mittelalter bildete sich im Südwesten das Herzogtum Und wäre der Flowtex-Gründer Manfred Schmider, der
Alemannien, später setzte sich dafür der Begriff Herzog- den Banken Bohrmaschinen, die es in dieser Fülle nicht
tum Schwaben durch. Es umfasste Teile des heutigen Bay- gab, als Sicherheiten unterjubelte, ein Schwabe, und An-
ern, der Schweiz und das Elsass – und auch den histori- ton Schlecker, dessen Drogeriemarktkette durch seinen
schen Kern Badens um den heutigen Kurort Baden-Baden. Geiz erst groß wurde, dann aber daran zugrunde ging,
ein Badener – man hätte sich gewundert, im Ländle und

D
ie letzten richtigen Herzöge von Schwaben waren außerhalb. Es ist aber umgekehrt.
die Staufer. Nach ihrem Untergang zerfiel das Her- Doch es gibt auch positive Beispiele: das Fußballtrai-
zogtum, den Herzogtitel „Schwaben“ beanspruch- nerduo aus dem Schwaben Jürgen Klinsmann und dem
ten die Habsburger, ohne ihn nutzen zu können. Davon Südbadener Joachim Löw. Der Schwabe setzte nach Jahren
profitierten im Neckarraum beson- des Rumpelfußballs einen Neustart
ders die Grafen von Württemberg – durch, der Südbadener vollendete
von denen der östliche Landesteil Baden und Württemberg das Projekt mit dem Weltmeister-
seinen Namen ableitet. Gebiete des Königreichs Württemberg titel. Den Weltkonzern, der auf den
Noch ungeordneter war die Situa- und des Großherzogtums Baden Schwaben Gottlieb Daimler und den
tion am Rhein: Selbst nach seinem 1806 Badener Carl Benz zurückgeht (die
Aufstieg zum Großherzogtum um- freilich nie zusammenarbeiteten,
fasste Baden um 1800 nur einige sondern voneinander unabhängig
Landkreise. Der Breisgau gehörte bis Großherzogtum tüftelten). Oder die im ganzen Süd-
1805 zu Habsburg, daneben gab es Baden westen beliebten Spätzle: Die Bade-
Grafschaften, Bistümer oder die Kur- Karlsruhe Königreich ner nehmen zwar weit mehr Eier,
pfalz um Heidelberg. Erst Napoleon Württemberg die Schwaben haben dafür die tolls-
brachte Ordnung in den Flickentep- Stuttgart ten Apparaturen erfunden – ideal ist
pich des Alten Reichs, die souverä- Fürstentum es, wenn beides zusammentrifft.
nen Staaten Württemberg und Ba- von der Leyen Tübingen In Berlin gilt ohnehin jeder, der
den entstanden. Es war die Zeit, in aus dem Ländle stammt, als Schwa-
ein

der, angeregt durch den Dichter Jo- be. Auch sprachlich stehen sich
Rh

hann Peter Hebel, der Begriff des Fürstentümer Schwaben und Badener näher, als
„Alemannischen“ wieder auflebte –
Freiburg Hohenzollern
es vor allem Letzteren lieb ist: Wenn
aber nur für die Bevölkerung am der Badener Wolfgang Schäuble mal
Oberrhein und in der Schweiz. für einen Schwaben gehalten wird,
Baden blieb kleiner als der würt- liegt das auch daran, dass der Teil
tembergische Bruderstaat – fühlte Bodensee des Schwarzwalds, in dem Schäuble
sich aber, gestützt auf einen ausge- aufgewachsen ist, am Übergang
prägten Lokalpatriotismus, stets als vom Oberrhein-Alemannischen zum
etwas Besseres. Die badische Aversion gegen alles Schwä- Westschwäbischen liegt. Sprachwissenschaftlich ist das
bische speist sich aus diesem latenten Gefühl machtpoliti- Schwäbische ohnehin nur eine Form des Alemannischen.
scher Unterlegenheit bei gleichzeitiger kultureller Über- Die Dialekte in Nordbaden gehören hingegen nicht zu
legenheit. dieser Sprachfamilie, wie es überhaupt Landstriche in Ba-
Dass Baden in Fragen der Demokratie und Bürgerrechte den-Württemberg gibt, in denen man mit dem Gegensatz
Württemberg immer mehrere Schritte voraus war, wie bei Schwaben–Baden eher wenig anfangen kann. In Ober-
der badischen Revolution von 1848, dass im Badischen schwaben ist Bayern nahe, am Bodensee die Schweiz, in
die französische Freiheit zu spüren war, dass die badische Hohenlohe Franken. Um Karlsruhe herum spricht man
Küche zwar nicht gänzlich verschieden von der schwäbi- Südfränkisch, um Mannheim Kurpfälzisch. Die preisge-
schen, aber doch immer feiner und vielfältiger war, dass krönte Sympathiekampagne des Landes mit dem Motto
es schon aufgrund der Geografie und der Temperaturen „Wir können alles – außer Hochdeutsch“ passt deshalb
in Baden den besseren Wein und die schöneren Weinorte auf alle Teile des Südwestens.
gab, das alles trug zum badischen Stolz bei – und zu dem Und insofern könnte doch Einigkeit bestehen, von Lör-
Gefühl, diese Eigenart erhalten und verteidigen zu müssen. rach über Calw bis Tauberbischofsheim, von Mannheim
Dass es „Badische und Unsymbadische“ gebe, dass über über Reutlingen bis Ravensburg: Die Stärke, die in der
Baden die Sonne lache, „über Schwaben die ganze Welt“ – Gemeinschaft liegt, das ist trotz aller Unterschiede ein
diese Sprüche kennen Schwaben bis zum Überdruss. Und Grund zum Feiern von 65 Jahren Südweststaat.
während das Badnerlied zum badischen Bildungskanon
gehört, ist die Hymne Württembergs weithin unbekannt. Die beiden Autoren führen ein landsmannschaftliches Doppel-
In Baden dominiert Stolz auf die eigene Kultur und Li- leben: Jan Friedmann, 43, geboren im badischen Offenburg,
beralität, im Schwäbischen äußert sich der Patriotismus lebt in Stuttgart. Dietmar Hipp, 48, geboren im schwäbischen
subtiler. Tüftelei und Arbeitsethik gehören dazu, auch die Tübingen, lebt in Karlsruhe.

VIII DER SPIEGEL BW 16 / 2017


BADEN WÜRTTEMBERG

Ordnungsruf gegeben. Zuletzt flog der Ab-


geordnete Stefan Räpple aus dem Plenar-
saal, weil er, so das Protokoll, einen CDU-
Politiker mit den Worten „Komm, wein
doch!“ angepöbelt und dann den stellver-
tretenden Landtagspräsidenten angegan-
gen hatte. Räpple bezeichnete auch schon
mal Parlamentarier als „Volksverräter“.
Vom einstigen Profil einer konservativ-
liberalen Professorenpartei ist außer ein
paar akademischen Titeln nicht mehr viel
übrig geblieben, die AfD ist weit nach
rechts gerückt. Meuthen stellt sich hinter
den Rechtsaußen-Frontmann Höcke und
paktiert mit Alexander Gauland gegen Pe-
try. Mit Höcke und Gauland trat er beim

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL


Kyffhäusertreffen auf, zu dem sich die
Rechtsausleger des Flügels an dem Denk-
mal in Thüringen versammeln.
Im Duktus von Höcke, der das Holo-
caust-Mahnmal als „Denkmal der Schan-
de“ bezeichnet hatte, forderte die Stutt-
garter AfD, das deutsche Geschichtsbild
AfD-Politker im Landtag von Baden-Württemberg: „Kalkulierte Tabubrüche“ positiver zu gestalten. In einem AfD-An-
trag im Parlament hieß es: „Eine einseitige

Extremes Klima
Konzentration auf zwölf Jahre national-
sozialistisches Unrecht ist abzulehnen.“
Die Fraktion verlangte, die Landesför-
derung von 120 000 Euro pro Jahr für die
Parlamente Ein Jahr nach der Wahl verlieren in der Gedenkstätte Gurs in Frankreich zu strei-
chen. Dorthin hatten die Nationalsozialis-
Stuttgarter AfD-Fraktion die gemäßigten Abgeordneten an ten viele Juden aus Baden-Württemberg
Einfluss, NS-Verbrechen werden verharmlost. verschleppt, viele wurden dann nach
Auschwitz deportiert. „Wozu deutscher Er-

D
ie AfD-Spitzenkandidatin stellt der abgeschossen“, warf Weidel ihm vor; der innerungstourismus in den Pyrenäen?“,
Landespresse in Stuttgart ihre Plä- neue Landessprecher ist Meuthens ehema- schrieb die Fraktion über die Pressemittei-
ne vor. „Wir fordern eine Rückkehr liger Büroleiter. lung. Kurz darauf zog sie den Antrag zu-
zur Rechts- und Regeltreue innerhalb der Die Demontage der Spitzenkandidatin rück, Meuthen sprach von einem Irrtum.
EU und Deutschlands“, sagt Alice Weidel. steht stellvertretend für die desolate Per- „Die AfD-Politiker aus Baden-Württem-
Flüchtlinge müssten systematisch regis- formance der AfD im Südwesten. Ein Jahr berg nähern sich immer stärker extremen,
triert werden, die Geldschwemme der Zen- nach ihrem Triumph bei der Landtagswahl rechtsextremistischen Positionen an“, kri-
tralbank müsse enden. zerfällt die Partei in Grüppchen und Lager, tisiert die Landesarbeitsgemeinschaft der
Weidel, 38, führt die AfD-Liste zur Bun- die einander bekämpfen. Gedenkstätten. Durch „kalkulierte Tabu-
destagswahl an. Mit ihrem wirtschaftslibe- Schon als die AfD im Mai 2016 als dritt- brüche“ wende sich die Partei „gegen den
ralen Profil soll die Volkswirtin neue Wäh- stärkste Fraktion in den Stuttgarter Land- erreichten Stand der Erinnerungskultur“.
ler anziehen. Sie ist in Berlin gut vernetzt tag einzog, stritt sie erst einmal über den Sie übernehme „ungehemmt und öffent-
und gilt als Vertraute von AfD-Chefin Umgang mit den Radikalen in den eigenen lich Positionen der NPD“ und wolle Nazi-
Frauke Petry. An diesem Märztag ist Wei- Reihen. Die Fraktion spaltete sich bei verbrechen verharmlosen.
del zuversichtlich, dass sie bald auch Lan- der Frage, ob der Abgeordnete Wolfgang Auch im Umgang mit der Presse verletz-
dessprecherin ihrer Partei sein wird. „Wir Gedeon wegen seiner antisemitischen Äu- te die AfD den demokratischen Konsens.
haben keine Flügel“, sagt sie. ßerungen auszuschließen sei. Gedeon ver- Von zwei Landesparteitagen waren Jour-
Drei Tage später ist dieser Satz wider- ließ die Fraktion dann von sich aus. Müh- nalisten ausgeschlossen – die Parteistrate-
legt. Auf dem Landesparteitag unterliegt sam verbanden sich die Lager wieder, mit gen fürchteten negative Berichterstattung.
sie ihrem Gegenkandidaten Ralf Özkara. einer Präambel, die Antisemitismus ab- Der Antisemit Gedeon gilt inzwischen
Der „Flügel“, eine nationalkonservative lehnt. bei vielen Parteifreunden als rehabilitiert.
Gruppe in der AfD unter Führung Björn Doch inzwischen sind es die gemäßigte- Auf seiner Website kündigt der Fraktions-
Höckes, jubelt. ren Abgeordneten, die unter Druck gera- lose an, am AfD-Bundesparteitag kom-
Vielen AfD-Mitgliedern ist die Unter- ten. Claudia Martin verließ aus Protest mende Woche teilzunehmen, vorab veröf-
nehmensberaterin, die mit einer Frau zu- gegen den Rechtskurs die Fraktion. Ihr fentlichte er ein „strategisches Papier zur
sammenlebt, offenbar zu liberal. Die Ab- Kollege Heinrich Fiechtner, der einen Be- Situation vor der Bundestagswahl“.
stimmungsniederlage bescherte ihr aber schluss kritisiert hatte, Landeszuschüsse Wähler, so Gedeon, gewinne man nur
vor allem einer: Jörg Meuthen, der Frak- für eine NS-Gedenkstätte zu streichen, er- durch „Klartext und Zuspitzung“. Über ei-
tionsvorsitzende im Landtag und neben hielt von der Fraktion Redeverbot. nen emotionalen Ausbruch der AfD-Spre-
Petry Bundessprecher der AfD. Zu Beginn Das Klima ist rauer geworden, vier Rü- cherin Petry spottet er: Kein Wunder, dass
des Parteitags hatte er sich dagegen aus- gen hat der Landtag AfD-Politikern schon man bei so vielen Parteiausschlussverfah-
gesprochen, dass Bundestagskandidaten erteilt, dazu eine an Gedeon. In den fünf ren „irgendwann fürchterlich in Tränen
Parteiämter übernehmen. „Du hast mich Jahren zuvor hatte es insgesamt nur einen ausbricht“. Jan Friedmann

DER SPIEGEL BW 16 / 2017 IX


BADEN WÜRTTEMBERG

Die Rundum-sorglos-Stadt
Kommunen Walldorf lebt von SAP – und das nicht schlecht. Der Softwarekonzern und seine
Gründer prägen das Leben in einer der reichsten Gemeinden des Landes.

D
ie Brücke, die in die neue Welt noch an die Zeit erinnern, in der das Werk bei der „Schnellpresse“ arbeitet, bekommt
führt, wirkt wie eine Hommage an der Heidelberger Druckmaschinen AG den gutes Geld, Bankkredite und Respekt.
die alte. Wie ein Kohleförderturm Wohlstand des badischen Städtchens si- Heute heißt das Industriegebiet „Ar-
ragt ein Metallgestell in den Himmel über cherte und den Steuersäckel prall füllte. beitsstadt“ und die Neurottstraße „Diet-
Walldorf. An ihm sind stählerne Seile be- Seit 1957 werden hier die besten Druck- mar-Hopp-Allee“, nach dem Mitbegründer
festigt, die einen Bogen Beton über der maschinen der Welt gefertigt. In guten Zei- der Softwarefirma SAP, die hier seit 1977
viel befahrenen Landstraße halten. Fuß- ten radelten jeden Morgen Tausende Blau- ihren Hauptsitz hat.
gänger und Fahrradfahrer können auf die- männer über die Neurottstraße zu den Wo früher Spargel angebaut wurde, bil-
sem Weg vom Zentrum der badischen Werkhallen. Es roch nach Eisen, Öl und den nun drei sternförmige Gebäude aus
Kleinstadt in ihr Industriegebiet gelangen. Motoren. Die höheren Herren fuhren im Glas und Stahl das Zentrum eines giganti-
Industriegebiet, das sagen nur noch die Firmenwagen in die Verwaltung nach Hei- schen Bürokomplexes. Dazwischen liegt,
alteingesessenen Walldörfer. Die, die sich delberg. Viele Jahrzehnte lang galt: Wer wie in den Hightech-Tempeln des Silicon
Valley, ein begrünter Campus mit Teichen,
Bänken, Rasenflächen und Sportplätzen.
Überall wuseln Menschen aus aller Welt,
die meisten in Freizeitlook oder Hoodie-
Nerd-Outfit. Der Dialekt, der auf der an-
deren Seite der Brücke im Ort vorherrscht,
ist hier tabu. Man spricht Englisch.
Geld, Kredite und Respekt bekommt
heute, wer bei SAP arbeitet. Einen Fir-
menwagen kann jeder Mitarbeiter haben.
Es sind rund 13 000 in der Walldorfer Zen-
trale, weltweit über 84 000. Vergangenes
Jahr setzte der Hersteller von Betriebs-
software 22,1 Milliarden Euro um. SAP
ist das viertgrößte Softwareunternehmen
der Welt.
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

Fragt sich nur: Warum verschlägt es ein


Hightech-Unternehmen in die badische
Provinz? Ein Grund: Walldorf ist eine Art
Steueroase. Die Gewerbesteuer ist mit
einem Hebesatz von 265 Punkten die
niedrigste in Baden-Württemberg. Dazu
kommt die Lage am Autobahnkreuz, die
1981 schon Ikea nach Walldorf gelockt hat.
Für Bürgermeisterin Christiane Staab
wird die Anziehungskraft ihrer Stadt lang-
sam zur Bürde. „Wir erhalten ständig An-
fragen von Firmen, aber ich kann nichts
mehr ansiedeln. Wir haben einfach keinen
Platz mehr.“ Mit Mühe ist es jüngst gelun-
gen, neue Flächen nahe dem Hochholzer
Wald auszuweisen, für ein neues SAP-
Rechenzentrum. Es soll die Heimat ihrer
europäischen Cloud-Dienste werden.
Dazu ein Blockheizkraftwerk.
Ein Hauch von Weltpolitik weht durch
die badische Provinz, wenn die Bürger-
meisterin sagt: „Die Datensicherheit in
Deutschland ist ein wichtiger Standortfak-
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

tor, gerade nach den US-Abhörskandalen.“


Eigentlich hätte die Stadt die Baufläche
ein Jahr lang auf ihren ökologischen Wert
hin prüfen, Flora und Fauna beobachten
müssen, doch dafür ist in der schnelllebi-
gen Softwarebranche keine Zeit. Lieber
wird nach einer kurzfristigen Analyse der
Walldorfer Neubaugebiet, Bürgermeisterin Staab, SAP-Zentrale: Geld ist kein Problem maximale Ausgleich gezahlt, auch wenn

X DER SPIEGEL BW 16 / 2017


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Was als Tüftelei zweier begabter Ingenieure begann, ist heute eine 60 Jahre währende Erfolgsgeschichte.
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BADEN WÜRTTEMBERG

es gar keine seltenen Zauneidechsen oder Einnahmen von 181 Millionen Euro, wo- le Welt. Unsere Schüler kommen früh in
Feldhamster umzusiedeln gibt. von sie allerdings fast 70 Prozent als Um- Kontakt mit Berufen und Betrieben.“ Be-
Christiane Staab war Stadträtin in Karls- lagen abgeben muss. Zur Sicherheit liegen rührungsängste mit der Wirtschaft kennt
ruhe, bevor sie 2011 begann, die Stadt mit 400 Millionen Euro auf der hohen Kante. man hier nicht. Für Schüler mit speziellen
16 000 Einwohnern, 19 000 Arbeitsplätzen Auf den ersten Blick lässt sich die Ge- Begabungen hat Hibschenberger soge-
und 20 000 Autos zu führen. Dass sie ge- meinde ihren Wohlstand nicht anmerken. nannte Meisterklassen eingerichtet, dort
wählt wurde – als Auswärtige, als erste Frau, Außer einer winzigen Altstadt gibt es we- dürfen sie Projekte ausarbeiten und in ent-
als Mutter von vier Kindern – lässt erahnen, nig Pittoreskes. Ein- und Zweifamilienhäu- sprechenden Partnerfirmen realisieren.
dass es Zeit war, jemanden von außerhalb ser säumen die Straßen, die Bebauung ist „Die Unternehmen merken schnell, dass
der Walldorfer Ursuppe ans Ruder zu lassen. dicht, und die Einfahrten zu den ehema- man unsere Schüler gut gebrauchen kann.“
Doch auch die 48-jährige Juristin hat ligen Bauernhäusern sind so eng, dass die Hibschenberger ist glücklich, wenn seine
schnell erkannt, dass die Uhren in der jetzigen Bewohner ihre dicken SUVs nur Schützlinge am Ende ihrer Schulzeit viele
Stadt nach SAP-Zeit ticken. Was dann so mit Mühe hineinmanövriert bekommen. gute Jobangebote erhalten.
klingt: „Als Standortgemeinde für Global In der kleinen Fußgängerzone zwischen Eltern, die vermuten, ein hochbegabtes
Player schnüren wir für unsere Bürger den Kirchen halten sich nur wenige Ein- Kind großzuziehen, sind in der Schiller-
Rundum-sorglos-Pakete.“ Die Stadt sieht zelhändler. Die Weinstuben und Restau- schule gut aufgehoben. Die Grundschule
sich als Dienstleister für die Bedürfnisse rants leben vor allem von SAP-Gästen, die macht mit bei den Hector-Kinderakade-
ihres anspruchsvollen Klientels. Neubau- zu Ausbildungskursen anreisen. mien, einer Stiftung des SAP-Mitbegrün-
gebiete wurden ausgewiesen, bürokrati- Was der Stadt an Schönheit mangelt, ders Hans-Werner Hector. Es ist ein Pro-
sche Hürden gesenkt und vor allem flexi- gleicht sie mit Angeboten aus. Bildung ist gramm zur Begabtenförderung. In Wall-
ble Kitaplätze geschaffen. ein entscheidender Teil des Rundum-sorg- dorf wird kein Genie übersehen.
15 Euro im Monat kostet ein Regelkin- los-Pakets, gerade wurden 25,5 Millionen Für die Freizeit gibt es weit über hun-
dergartenplatz in Walldorf. Ein Ganz- Euro für Neubauten am Schulzentrum be- dert Vereine mit vielfältigen Angeboten.
tagsplatz mit zehn Stunden Betreuung ist willigt. Über 1000 Gymnasiasten und 911 Die Sportanlagen würden jede Großstadt
für 170 Euro zu haben. „Wir haben sehr Realschüler werden dort unterrichtet. schmücken.
hohe Personalkosten“, sagt Staab. „Ich könnte noch viel mehr annehmen“, Dank Dietmar Hopp. Das ist der wohl
Aber Geld ist schließlich kein Problem. sagt Realschuldirektor Helmut Hibschen- meist ausgesprochene Satz in Walldorf.
Die Steuereinnahmen machen Walldorf zu berger. Er ist stolz auf den guten Ruf seiner Der sportbegeisterte Milliardär hat für
einer der reichsten Gemeinden Baden- Schule, denn der ist selbst gemacht. „Wir ein Leichtathletik- und ein Fußballstadion
Württembergs. 2017 plant die Stadt mit legen Wert auf das Wörtchen real, wie rea- gesorgt. Im Dietmar-Hopp-Sportpark ist

Hirschstraße 29
Stuttgart-Mitte
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Alltagshelden
seine Initiative „Anpfiff fürs Leben“ unter- Doch der Mäzen des Bundesligaklubs der ehemalige Grundschuldirektor Hans
gebracht, die junge Talente fördert. Zwei TSG Hoffenheim hat nicht nur Sport im Klemm hat sie 2008 gegründet. Dutzende
Hopp-Stifte im Stadtzentrum bieten Le- Kopf. Ihn treibt um, was er die „Gerech- Ehrenamtliche helfen mit, holen Produkte,
bensraum für altersgerechtes und betreutes tigkeitskrise“ nennt. „Die Null-Zins-Poli- deren Haltbarkeitsdatum abläuft, aus Su-
Wohnen, im benachbarten Wiesloch spen- tik lässt die Leute verarmen“, sagt er. Nur permärkten ab und verteilen sie im Tafel-
dete Hopp das Gebäude für ein Hospiz. wer sich Immobilien leisten könne, profi- laden in der Albrecht-Dürer-Straße. Rund
Walldorf und Umgebung ist kaum noch tiere von deren Wertzuwachs. „Auf diese 170 Abholer erscheinen pro Ausgabetag,
vorstellbar ohne den großzügigen Mäzen, Art können sich die Reichen immer mehr viele Großfamilien und Rentner. „Früher
der über seine Privatstiftung seit 1995 mehr nehmen.“ Die Schere gehe immer schnel- war ich gegen den Mindestlohn. Jetzt bin
als 550 Millionen Euro gegeben hat, für ler auseinander. Hopp versteht nicht, wa- ich dafür“, sagt Klemm. „Es darf nicht sein,
gemeinnützige Projekte in Sachen Sport, rum die Reichen nicht stärker besteuert dass Menschen zu wenig Lohn zum Leben
Medizin, Soziales und Bildung, vorwie- werden. Und er unterstützt die Idee eines bekommen.“ Die Stadt zahlt die Miete für
gend im Rhein-Neckar-Gebiet. garantierten Grundeinkommens für alle. den Laden. Und auch hier gibt es einen
Seine Großzügigkeit lässt auch bei Rück- „Die Leute werden immer verzweifelter, Sponsor aus den Reihen von SAP.
schlägen nicht nach. Etwa als sein Plan, und wer verzweifelt ist, ist unberechen- Manchmal macht sich Bürgermeisterin
einen Golfplatz in Walldorf zu bauen, an bar.“ Er sieht den sozialen Frieden in Staab Sorgen über die Abhängigkeit von
der Geldgier eines Bauern scheiterte. Gefahr. SAP. Der Niedergang von Heideldruck hat
Heute empfängt die Nachbargemeinde Das gilt sogar für das reiche Walldorf. gezeigt, wie schnell eine Steuerquelle aus-
Sankt Leon-Rot die Weltelite auf dem Vor allem weil Wohnraum knapp und trocknen kann, als die Digitalisierung die
international gerühmten Grün. Ätsch. teuer geworden ist. Für Familien mit mitt- einst stolze Firma fast in die Pleite trieb.
„Walldorf ist meine Heimat“, sagt Diet- lerem Einkommen ist der Traum vom Ei- Was, wenn SAP in die Krise gerät? Sich ei-
mar Hopp, „ich bin der Stadt dankbar.“ genheim schwer zu erfüllen. „Ich kann nen anderen Hauptsitz sucht? Was, wenn
Durch sie habe SAP eine Identität bekom- mit Interessenten die Wand tapezieren“, US-Präsident Donald Trump seinen pro-
men. Er hat Freude daran zurückzugeben. sagt Makler Ernst-Werner Bruder. Grund- tektionistischen Kurs durchzieht?
Besonderes Vergnügen bereiten ihm die stücke kosten zwischen 450 und 1100 Euro „Wir sind auch abhängig von der geo-
„Alla-Hopp“-Bewegungsparks, die er in 19 pro Quadratmeter, die neuen schicken politischen Weltlage“, sagt Staab. Und für
Orten der Region errichten ließ und der Townhouse-Hälften im Neubaugebiet einen Moment sieht die Frau mit dem blon-
Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Alla schon mal 650 000 Euro. den Kurzhaarschnitt aus, als trüge sie die
Hopp bedeutet auf Kurpfälzisch so viel Trotz allen Wohlstands: Auch in Wall- Last der Erde auf ihren Schultern.
wie: Los geht’s. Das passt zu ihm. dorf gibt es eine Tafel für Bedürftige, Michaela Schießl
BADEN WÜRTTEMBERG

„Es geht nicht ums Sattwerden“


Haute Cuisine Sternekoch Tristan Brandt über das Streben nach Perfektion und den Ehrgeiz,
jeden Abend seine Gäste zu begeistern

Brandt, 32, leitet als Geschäftsführer alle Gas- SPIEGEL: Wie kamen Sie zum Kochen? ne Mappe hat er gar nicht angeschaut, son-
trobetriebe des Modehauses Engelhorn in Brandt: Als ich so acht Jahre alt war, habe dern nur gesagt: „Sie sind auf Empfehlung
Mannheim. Für seine Leistung als Küchenchef ich immer meiner Mutter in den Topf ge- eines geschätzten Kollegen hier, wann wol-
im Restaurant Opus V erhielt er im vergange- schaut und sie gefragt, wie sie alles zube- len Sie anfangen?“ Und dann hat er gefragt,
nen Dezember vom Guide Michelin einen zwei- reitet. Und wenn sie ihre Freundinnen zu was ich verdienen wolle. Ich habe geant-
ten Stern. Gast hatte, durfte ich ihr in der Küche hel- wortet, dass das für mich zweitrangig sei.
fen. Daraus hat es sich dann ergeben, dass In erster Linie wolle ich bei ihm arbeiten
SPIEGEL: Herr Brandt, wie wird man in so ich nach und nach ganze Mahlzeiten ge- und von ihm lernen. Das fand er gut.
jungen Jahren Sternekoch? kocht habe. Als in der Schule das berufs- SPIEGEL: Und was haben Sie gelernt?
Brandt: Man braucht, wenn man in diesem bezogene Praktikum anstand, ging ich in Brandt: Ich hatte mir vorgenommen, einmal
Beruf etwas erreichen will, natürlich Ehr- eine Küche. Ich bekam dann von der Ver- in meinem Leben in einer Drei-Sterne-Kü-
geiz. Und jemanden, der einen un- che zu arbeiten. Ich glaubte, es sei
terstützt. Bei mir war es Richard En- mir auf Dauer zu anstrengend. Dann
gelhorn, der hier in Mannheim ein aber, bei der Arbeit dort, habe ich
großes Modekaufhaus besitzt. Er gemerkt, dass es genau das ist, was
wollte unbedingt Spitzengastrono- ich will: dieses Kochen auf hohem
mie im Haus haben. Er suchte einen Niveau, diese Perfektion und die
Koch dafür und hat mich, nach einer Möglichkeit, die Gäste jeden Abend
Empfehlung von Harald Wohlfahrt, zu begeistern.
angesprochen – obwohl ich noch SPIEGEL: Was ist ein typisches Brandt-
nie ein eigenes Restaurant geführt Gericht?
hatte. Brandt: Hamachi mit Rettich und Te-
SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert? riyaki.
Brandt: Skeptisch. Mein erster Ge- SPIEGEL: Und das geht wie?
danke: Was soll ich in einem Kauf- Brandt: Hamachi ist eine Gelbflos-
haus? Ich dachte an typische Kauf- sen-Makrele, der Rücken wird bei
hausgerichte, etwa Schnitzel mit uns in Salzlake gebeizt. Der Bauch
Pommes. Ich fuhr aber hin – und wird abgeflämmt mit einer Soja-Ma-
Herr Engelhorn und ich hatten ein rinade, sodass der Zucker aus der
sehr gutes Gespräch. Marinade karamellisiert. Dazu Ret-
SPIEGEL: Und dann hat er Ihnen an- tich-Ravioli mit Avocadocreme und
geboten, ein Spitzenrestaurant für eine Teriyaki-Vinaigrette. Das steht
Sie zu bauen? eine Weile auf der Karte, und dann
Brandt: Herr Engelhorn hat mir in ist es weg und wird vielleicht nie
Aussicht gestellt, ein eigenes Restau- wieder bei uns gekocht.
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL

rant zu schaffen, ganz nach meinen SPIEGEL: Sie haben keine Klassiker
Vorstellungen. Zuerst sind wir ge- auf der Karte?
meinsam mit den Architekten 2013 Brandt: Doch, Froschschenkel mit
nach Kopenhagen ins Noma gefah- Spinat und schwarzem Knoblauch,
ren, eines der besten Restaurants der das könnten wir immer auf die Karte
Welt. Wir wollten uns inspirieren setzen. Die Gäste lieben das.
lassen. Das war am 1. August, mei- SPIEGEL: Haben Sie plötzliche Einge-
nem ersten Arbeitstag bei Engel- Küchenchef Brandt im Restaurant Opus V bungen, oder tüfteln Sie Ihre kuli-
horn. Uns hat im Noma das Schlich- „Zettel und Stift auf dem Nachttisch“ narischen Kreationen nach einer Art
te und Zurückhaltende gefallen. Un- Formel aus?
sere Architekten wollten im Januar mit wandtschaft Kochbücher geschenkt. Ich Brandt: Ich bin der Typ, der einen Zettel
dem Bau anfangen. Herr Engelhorn be- wollte einfach nur ein guter Koch werden. und einen Stift auf dem Nachttisch hat und
stand darauf, dass alles schon im Novem- SPIEGEL: Sie hatten dennoch früh Kontakt nachts aufwacht und die Ideen aufschreibt.
ber fertig war. Er wollte seinen Geburtstag zur Haute Cuisine. Da stehen dann die Hauptbestandteile
im neuen Restaurant in seinem Kaufhaus Brandt: Das war in Heidelberg, zwei Jahre drauf. Unsere Gäste bekommen ja auf der
feiern. lang bei Manfred Schwarz. Auf der Suche Karte relativ wenige Informationen, nur
SPIEGEL: Und ein Jahr später, im November nach neuen Erfahrungen bat ich ihn um drei Komponenten eines Gerichts; wir wol-
2014, bekamen Sie für Ihre Küche im Opus Rat. Er meinte, ich solle entweder zu Tho- len sie vorsichtig dazu erziehen, sich bei
V den ersten Stern. mas Bühner oder zu Harald Wohlfahrt nach uns überraschen zu lassen. In der Sterne-
Brandt: Und vorigen Dezember den zwei- Baiersbronn gehen. Ich war gerade mal 20 küche geht es ja nicht vorrangig darum,
ten. Unser Ziel war es immer, zumindest und dachte, ich kann doch nicht zur Num- dass die Leute satt werden. Sie sollen un-
einen Stern zu bekommen. Als wir ihn hat- mer eins in Deutschland gehen. Ich hab sere Gerichte so gut und überraschend fin-
ten, war die Frage, ob wir uns noch ver- dann doch angerufen, Wohlfahrt hat mich den, dass sie unbedingt wiederkommen
bessern können. Der Ehrgeiz war geweckt. zum Vorstellungsgespräch eingeladen, mei- wollen. Interview: Joachim Kronsbein

XIV DER SPIEGEL BW 16 / 2017


www.porsche.de

Echte Sportler tragen ihre Heimat


eben gerne auf der Brust.

Porsche gratuliert Baden-Württemberg zum 65. Geburtstag.


BADEN WÜRTTEMBERG

Büro in der Karlsruher Innenstadt um. An


der Decke hängen Lampen von Ikea, die
einzige Dekoration sind zwei Topfpflanzen
auf der Fensterbank. Aber die drei sind
ohnehin nicht oft da. Sie reisen zu Konfe-
renzen und halten Vorträge, um Kunden
von ihrem Programm zu überzeugen.
Die Pharmariesen der Welt, Unterneh-
men wie Roche oder Pfizer, stecken ihre
Forschungsbudgets vor allem in Medika-
mente für den Massenmarkt. Grundlegen-
de Innovationen gehen vielfach von klei-
nen, unabhängigen Firmen aus. Besonders
die Biotechnologie gilt als Zukunftsbran-
che, denn sie verspricht neuartige und in-
dividuelle Therapien gegen Krankheiten

TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL


wie Krebs oder Alzheimer.
Gleichzeitig gilt sie als extrem schwieri-
ges Feld. Immer wieder scheitern Biotech-
Start-ups, teils nach Jahren und kurz vor
der Zulassung durch die Arzneimittelbe-
hörden. SAP-Gründer Dietmar Hopp, ei-
ner der größten Finanziers der Branche,
GoSilico-Gründer Hahn, Beck, Huuk: „Das können nur eine Handvoll Leute“ hat mehr als eine Milliarde Euro in Bio-
technologiefirmen investiert, aber auch

Das Labor im Rechner


schon eine Reihe Fehlschläge verkraften
müssen. Es regiert das Prinzip „top oder
Flop“: Entweder eine Idee funktioniert.
Oder sie funktioniert nicht.
Innovationen Ein Karlsruher Start-up-Unternehmen will Der Ansatz von GoSilico ist ein anderer:
Das Unternehmen will keinen neuen Wirk-
die Entwicklung von Medikamenten gegen Krebs stoff finden, es will die Herstellung neu
und Alzheimer beschleunigen – mithilfe der Mathematik. aufziehen, mithilfe der Intelligenz und
Rechenleistung von Computern. Ob das

W
enn Teresa Beck erklären will, Geld sparen, hoffen sie. „Unser Ziel ist es, gelingt, hängt davon ab, ob die Behörden
woran sie arbeitet, holt sie die in den nächsten ein oder zwei Jahren ge- die Methode anerkennen und Computer-
Tüte mit den Gummibärchen aus meinsam mit einem Pharmakonzern einen simulationen zum Standard erklären.
dem Schrank. Sie legt rote, grüne, gelbe Wirkstoff zur Marktzulassung zu bringen, Das Interesse der Pharmaindustrie sei
und weiße Gummibärchen auf den Tisch dessen Herstellungsprozess durch unsere jedenfalls groß, sagen die Gründer. Man
und sagt: „Wir wollen nur die roten. Wie Methode entwickelt wurde“, sagt Beck. habe schon jetzt, rund ein Jahr nach dem
schaffen wir es, sie von den anderen zu Die 28-Jährige hat einen Doktor in Ma- Start, Lizenzen des Programms an mehre-
trennen?“ thematik. Hahn und Huuk haben am Karls- re große Biopharmakonzerne in Europa
Was simpel klingt, ist in der Biotechno- ruher Institut für Technologie (KIT) in Bio- und den USA verkauft und schreibe
logie eine komplizierte Aufgabe. Die Teil- technologie promoviert. Währenddessen schwarze Zahlen. Einen Investor, ohne den
chen, um die es geht, sind in Wirklichkeit ersannen die beiden Männer das Compu- die meisten Jungunternehmen die ersten
nämlich keine Gummibärchen, sondern terprogramm. Um es an die Pharmaindus- Jahre nicht überleben können, brauche
Antikörper und andere Proteine – und trie zu verkaufen, gründeten sie Anfang GoSilico deshalb momentan nicht.
eine Grundlage für die Entwicklung neuer 2016 zu dritt das Start-up GoSilico. Nicht nur das unterscheidet die Badener
Medikamente. Sie bezogen Räume im Karlsruher Grün- von vielen Start-ups der Berliner Gründer-
Weil nur manche Antikörper, die in derzentrum CyberLab im Osten der Stadt, szene. Diese sind zwar schillernd, verfol-
den Forschungslabors der Pharmaindustrie das von Forschungsinstituten der Univer- gen aber häufig vergleichsweise einfache
produziert werden, brauchbar sind, müs- sität und Softwareunternehmen umringt Ideen. „Das, was wir machen, können nur
sen sie vom nutzlosen Rest getrennt wer- ist. 1972 entstand nicht weit entfernt die eine Handvoll Leute“, sagt Hahn. Einen
den. Bislang sind dazu Hunderte Labor- erste Informatikfakultät des Landes. Seit Konkurrenten gebe es seines Wissens nir-
experimente nötig. Es vergehen Monate, den Achtzigerjahren ist Karlsruhe ein Zen- gendwo auf der Welt.
bis ein zuverlässiges Verfahren steht. trum der deutschen IT-Industrie. Für Go- Hat GoSilico also das Potenzial, zu ei-
Teresa Beck und ihre beiden Mitstreiter Silico ist die Nähe zur Universität wichtig. nem neuen Hidden Champion heranzu-
Tobias Hahn, 32, und Thiemo Huuk, 29, Sie verschafft dem Unternehmen Zugang reifen? Zu einem jener versteckten, vor
wollen einen Weg gefunden haben, den zu Doktoranden und Programmierern, mit allem in Süddeutschland ansässigen Un-
Prozess deutlich zu verkürzen, und der denen es seine Idee vorantreiben kann. ternehmen, die in ihrer Nische höchst er-
liegt außerhalb der Biologie, in der Mathe- Es sei schön, in der schwerfälligen Phar- folgreich sind?
matik. mabranche etwas zu bewegen, „aber reich Ob die Firma das Zeug zum Champion
Sie wollen die Laborexperimente teil- werden war nie ein Thema für uns“, sagt habe, wisse er nicht, sagt Hahn. Noch sei
weise durch Computersimulationen erset- Mitgründer Tobias Hahn, wie die beiden sie dafür deutlich zu klein. „Aber das mit
zen und damit die Art, wie Biopharma- anderen eher nüchtern, Typ Naturwissen- dem ,hidden‘ stimmt schon mal, weil wir
zeutika hergestellt werden, verändern. Das schaftler. Vor ein paar Wochen zog das um uns nicht so ein Theater machen.“
könnte nicht nur Zeit, sondern auch viel Unternehmen in ein 120-Quadratmeter- Ann-Kathrin Nezik

XVI DER SPIEGEL BW 16 / 2017

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