Hausmitteilung
27. September 2010 Betr.: Titel, SPIEGEL GESCHICHTE, SPIEGEL-Buch
R egierungen in aller Welt geben interne Schriftstücke und Protokolle nur ungern
preis. Umso bemerkenswerter war, dass das Auswärtige Amt dem Antrag des
SPIEGEL entsprach, bislang geheim gehaltene Dokumente über die Verhandlungen
zur deutschen Einheit freizugeben. SPIEGEL-Autor Klaus Wiegrefe, 45, sichtete
Tausende Papiere aus den Jahren 1989 und 1990, darunter Vermerke über die
Gespräche, die der damalige
Außenminister Hans-Dietrich
Genscher, heute 83, führte, und
Berichte der deutschen Bot-
schaften. Sein Fazit: „Um die
Einheit wurde deutlich härter
gerungen als bisher öffentlich
M
it großer Wucht betrat der Islam vor 1400 Jahren die
Bühne der Weltgeschichte – verkündet vom kämpferi-
schen Propheten Mohammed und verbreitet von Gläubigen,
die rasch ein riesiges Reich eroberten. Wenn heute vom
Islam die Rede ist, warnen manche vor dem Heiligen Krieg
der Muslime gegen Ungläubige, während sich andere über
eine wachsende Islamophobie empören. Nicht viele aber
kennen die Geschichte dieser Religion, die während ihres
„Goldenen Zeitalters“ die christliche Welt kulturell und wis-
senschaftlich weit in den Schatten gestellt hatte. Einen gründ-
lichen Überblick über die spirituellen Quellen, die glanzvolle
Vergangenheit und die konfliktreiche Gegenwart bietet die neue Ausgabe von
SPIEGEL GESCHICHTE, die unter dem Titel „Der Islam“ am Dienstag für 7,50
Euro in den Handel kommt.
Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 5
In diesem Heft
Titel
Wurde die D-Mark der Einheit geopfert? ............. 34
Der Kampf der Diplomaten um
die Wiedervereinigung ....................................... 39 Hartz IV: Was hilft den Kindern? Seite 94
SPIEGEL-Gespräch mit der ehemaligen Armut trifft die
US-Außenministerin Condoleezza Rice über Jüngsten am härtes-
das Jahr 1989/90 .................................................. 53
ten. Wie Hartz-IV-
Deutschland Kindern zu helfen
Panorama: Brüssel hält an harten Auflagen für ist, darüber berät
deutsche Landesbanken fest / Union und FDP diese Woche die
auf Konfrontationskurs in der Sicherheitspolitik / Bundesregierung.
Millionen-Desaster am Nürburgring ................... 15 Doch es gehört zu
Grüne: Gute Umfragewerte machen aus dem den großen Lebens-
ewigen Juniorpartner eine gefühlte Volkspartei ... 20
Bundeskanzlerin: Angela Merkel nimmt
lügen des deutschen
den Kampf gegen die Bürger auf ........................ 24 Sozialsystems, dass
Geld alle Probleme
BAZIZ CHIBANE / SIPA (L.); LEIF R. JANSSON / SCANPIX / AP (M.); SUNSHINE / ACTION PRESS (R.)
Sport
Szene: Ein Film über Kolumbiens Fußball
im Griff der Drogenbosse / Gipfelschwindel
des Bergsteigers Christian Stangl am K2 .......... 141
Tennis: SPIEGEL-Gespräch mit Andrea Petkovic
über ihren Erfolg in der Weltspitze ................. 142
Fußball: Den Aufstieg in Spaniens erste Liga
hat sich Hércules Alicante wohl erkauft .......... 146
Wissenschaft · Technik
Prisma: Massenkastration für streunende
Das Europa der Islam-Feinde Seite 116 Hunde / Gute Noten für Biokraftstoff ............. 149
Frühgeschichte: Berliner Forscher kartieren
das alte Germanien ......................................... 152
Marine Le Pen in Frankreich, Jimmie Åkesson in Schweden, Geert Firmengründer: Immer mehr Rentner machen
Wilders in den Niederlanden – mit bürgerlicher Attitüde und einem sich selbständig ............................................... 158
neuen Feindbild stoßen junge Rechtspopulisten in die Mitte vor: Umwelt: Schadstoffe wirken schon auf
Sie beschwören die Bedrohung des Abendlands durch die Muslime. Ungeborene im Mutterleib .............................. 160
Computersicherheit: Wer steckt hinter
dem neuen Schadprogramm? .......................... 163
Verkehr: Russlands neue Eismeer-Flotte .......... 164
Le Pen Åkesson Wilders
Kultur
Szene: Hamburgs Sparkurs bei der Kultur / Die
Quadrate des Malers Ad Reinhardt in Bottrop ... 166
Kunstmarkt: Die Witwe und ein unehelicher
Sohn streiten um den Immendorff-Nachlass ..... 168
Umweltgifte im Mutterleib Seite 160 Kino: Regisseur Luc Besson baut im Pariser
Umland eines der größten Filmstudios Europas ... 172
Schadstoffe aus der Luft dringen bis ins Blut von Ungeborenen und können Debatte: Philosoph Richard David Precht über
das Unbehagen der bürgerlichen Mittelschicht ... 176
dort das Erbgut verändern. Eine internationale Studie warnt: Umweltgifte Autoren: Bret Easton Ellis legt Fortsetzung des
im Mutterleib schaden der geistigen Entwicklung. Achtziger-Jahre-Klassikers „Unter Null“ vor .... 178
Bestseller ......................................................... 182
Einheit: SPIEGEL-Redakteur Stefan Berg
über sein Leben in Ost und West ...................... 184
Buchkritik: Yann Martels Roman „Ein Hemd
Machtkampf bei WikiLeaks Seite 190
des 20. Jahrhunderts“ ....................................... 187
Medien
Der wichtigste Mitarbeiter von WikiLeaks-Gründer Julian Assange geht im Trends: Sibel Kekilli verbietet Verbreitung
Streit. Die Enthüllungsplattform sei „überfordert“, sagt der Deutsche Daniel alter Pornofilmausschnitte / „Zeit“-Chefredakteur
Schmitt im Interview: „Wir müssten dringend transparenter werden.“ Giovanni di Lorenzo über seine Pläne mit dem
„Rheinischen Merkur“ ...................................... 189
Online: Interview mit dem deutschen WikiLeaks-
Sprecher Daniel Schmitt über seinen Bruch mit
WikiLeaks-Gründer Julian Assange .................. 190
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Briefe
Die zwei Drittel des Tages, die dann im drei großen Religionen benennt. Der Is-
Dunkeln verbracht werden müssten, wür- lam, von der glorreichen Epoche des Ka-
den wahrscheinlich sehr zur Schärfung des lifats von Córdoba herabgesunken zu
Bewusstseins für die Realität beitragen. einer Religionsgemeinschaft, deren Ange-
GERA (THÜR.) PETER TRÄGNER hörige zwar wütend gegen die Zeichnun-
Biogasanlage in Bottrop gen eines Karikaturisten protestieren, je-
Dem SPIEGEL gebührt das Verdienst, eine Heilige Kuh geschlachtet doch kaum öffentlich Worte gegen die Per-
heilige Kuh geschlachtet zu haben: die Fol- version von angeblich Gläubigen finden,
gekosten der sauberen Energien! Kein Traum, sondern bittere Realität ist die sich inmitten ihrer Glaubensbrüder in
SYKE (NIEDERS.) DIPL.-ING. ECKHARD KUHLA es, dass wir es bald geschafft haben wer- die Luft sprengen.
den, die Erde für unsere Nachkommen HAMBURG RAINER TECHENTIN
Zu Recht stellen Sie fest, dass die Kosten unbewohnbar zu machen. Haben Sie die-
für die hundertprozentige Energiewende se Kosten mal zusammengerechnet? Das Interview ist ein hervorragendes Lehr-
„gewaltig“ sein werden. Erneuerbare Ener- BERLIN MARTIN HELLWIG stück – auch für Politiker – für den unauf-
gien kosten – das ist wahr. Aber was kostet geregten Umgang mit unseren Zeitfragen.
es, wenn wir die erneuerbaren Energien Sie tun so, als ob es eine Alternative zu Es hat mich aus meiner intellektuellen
und die Energieeffizienz nicht fördern? der Vollversorgung Deutschlands mit er- Hilflosigkeit herausgeführt und Mut ge-
Die Zukunft! Noch haben wir die Wahl. neuerbaren Energien gäbe; dies ist nicht macht, die Welt so zu sehen, wie sie ist.
BADEN-BADEN DR. FRANZ ALT der Fall. Es wäre interessant gewesen, wenn WUPPERTAL HANS KNOER
In meiner Zeit als Vorstand habe ich das In dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich im Mittelbund
Projekt in jeder Beziehung gefördert, und ein achtseitiger Beihefter der Firma SUBARU, Friedberg.
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Panorama Deutschland
Schlechtes Zeugnis aus die Zahlen in allen drei Fällen insgesamt nicht zu überzeu-
gen“, schreiben die Eurokraten. „Eine nachhaltige Steige-
rung der Erträge im Kreditgeschäft können wir in keinem
Brüssel Fall erkennen.“ Insbesondere bei der WestLB sehen die Be-
amten „derzeit im Hinblick auf einen möglichen Verkauf
wenig Anlass zu besonderem Optimismus“. Dem Wunsch
Nürburgring Beck
Die katholische Kirche will ihre Missbrauchsopfer finanziell nicht durch eine
pauschale Summe entschädigen, sondern individuell je nach Schwere des Falls.
Diesen Vorschlag wollen die deutschen Bischöfe an diesem Donnerstag beim Runden
dass Nahrstedt die-
se Äußerung zu-
rücknimmt und
Anschlagsopfer Trittin*: „Nicht durch eine Debatte über die Volkspartei aus dem Konzept bringen lassen“
PA R T E I E N
Gefühlte Größe
Die Grünen sind die kleinste Oppositionskraft im Bundestag, doch der Aufwärtstrend
in den Umfragen verändert den Blick auf die Partei. Die Union sieht
ihre Mehrheitsfähigkeit bedroht, die SPD ihre Führungsrolle im linken Lager.
A
m Dienstagnachmittag ging die Ein paar Stunden später landete eine Roth. „Wir liegen damit erstmals bundes-
Zahl als Gerücht durch die Partei, dringende E-Mail des Bundesvorstands weit gleichauf mit der SPD.“
am Mittwochmorgen gab es das in den elektronischen Postkästen Hunder- Das zweiseitige Schreiben schwankt
erste Krisengespräch. Die Vorsitzenden ter Abgeordneter, Kreisvorsitzender und zwischen Verschwörungstheorien und Mo-
und die Geschäftsführer von Partei und Arbeitsgruppenmitglieder im ganzen tivationsrhetorik: Die „Regierungspartei-
Fraktion berieten in einer spontanen Land. Schon die Betreffzeile in Großbuch- en und etliche Medien“ würden jetzt „mit
Schaltkonferenz am Telefon, wie sie mit staben klang wie eine Warnung: „UM- dem Hinweis auf den Gleichstand von
der neuen Lage umgehen sollten. Die FRAGEWERTE“. SPD und Grünen eine kontroverse Debat-
Grünen müssten sich auf Angriffe einrich- Für diesen Wirbel hatte eine Agentur- te innerhalb der Opposition anzuzetteln
ten, hieß es, man beschwor den Zusam- meldung gesorgt: Das Meinungsfor- versuchen“. Zudem solle dieses „Manö-
menhalt und war sich rasch einig: Wir schungsinstitut Forsa attestierte den Grü- ver“ die Grünen „durch eine Debatte, ob
müssen handeln. nen bundesweit eine Zustimmung von 24 wir uns zu einer neuen Volkspartei ent-
Prozent der Befragten. „Ein neues Re- wickeln, aus dem Konzept“ bringen.
* Bei einer Diskussion mit Atomkraftgegnern in Han- kordhoch“ sei das, schrieben die Partei- Gegen so viel Bosheit helfe nur eine
nover am 22. September. vorsitzenden Cem Özdemir und Claudia kompakte Defensive, so die Parteispitze:
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nicht abheben, nicht nervös werden, Dreck unter den Fingernägeln von der
nichts ändern: „Wir sind programmatisch Arbeit kommen.“
gut aufgestellt und führen keine Selbst- Thomas Oppermann, Parlamentari-
verständnisdebatten.“ scher Geschäftsführer der SPD-Bundes-
Politiker warnen gern davor, Umfragen tagsfraktion, nennt die Grünen eine
allzu ernst zu nehmen; und tatsächlich „Wohlfühlpartei“ und erklärt die Umfra-
gehen Wahlen oft anders aus als von den gewerte so: „Man parkt mal eben bei den
Meinungsforschern vorhergesagt. Gerade Grünen, weil man dort keinerlei Unbill
Forsa hat einen schlechten Ruf in Politi- hinnehmen muss.“ Die Grünen seien „po-
kerkreisen. Die „24“ hat daher wenig mit litisch in fast allen Feldern unscharf, aber
der Wirklichkeit der nächsten Wahlen zu sehr kantig und wahrnehmbar bei ihren
tun, und trotzdem verändert diese Zahl Kernthemen Umwelt und Anti-Atom“,
eine Menge. Da auch andere Meinungs- sagt Oppermann. „Sie sind eine gefällige
forscher die Grünen bei fast 20 Prozent politische Erscheinung ohne Schrammen
sehen, entsteht der Eindruck, hier wachse und Kratzer. Aber ob sie für das harte
eine neue Volkspartei heran. Und dieses Regierungsgeschäft taugen, diesen Beweis
Wort wirkt sofort. SPD und Union fühlen müssen sie noch erbringen.“
sich bedrängt, und die Grünen schauen Der Grüne Robert Habeck wertet das
mit anderen Augen auf sich selbst. Aus als Ausweis von „Anspannung und Rat-
einem virtuellen Wert wird reale Politik. losigkeit“ bei der SPD. Deren Parteivor-
Plötzlich tauchen Fragen auf, die nie sitzender Sigmar Gabriel schwanke „zwi-
einer gestellt hat: Was ist, wenn die Grü- schen Umarmung und Attacke“. Jürgen
nen nicht mehr nur Beiwerk einer Regie- Trittin rät den Genossen sogar, sie sollten
rung sind, sondern Hauptsache, wenn sie sich einfach an den Grünen ein Beispiel
den Kurs bestimmen, wenn ein Jürgen nehmen. „Bei Mindestlöhnen und Rente
Trittin Bundeskanzler wäre? Wie grün haben wir heute schon Positionen, die
würde dann Deutschland? die SPD früher oder später auch einneh-
Nicht nur für die Grünen selbst wirkt men wird“, behauptet er.
die kleinste Oppositionspartei im Bundes- Im Frühsommer, nach der Wahl in
tag plötzlich riesengroß. Die Kanzlerin Nordrhein-Westfalen, sah es noch so aus,
riere gemacht hätte. Auch in einigen Län- chen weiter öffnen, sie würde das Heil
dern überstrahlen ihre Frontleute oft die der Wirtschaft stärker in der Ökologie
Konkurrenz von der SPD, obwohl diese suchen und eher die Polizei als die Bun-
nominell stärker ist. Die Fraktionschefs deswehr ins Ausland schicken.
Tarek Al-Wazir in Hessen und Robert Ha- Manches wäre anders als jetzt, aber
beck in Schleswig-Holstein haben ihren auch nicht so richtig. Die Grünen sind
SPD-Kollegen längst den Rang als Oppo- pragmatischer geworden und haben sich
sitionsführer abgelaufen. In Nordrhein- den Volksparteien ein bisschen an-
Westfalen war es die grüne Spitzenkan- verwandelt. Je stärker sie in den Um-
didatin Sylvia Löhrmann, die SPD-Chefin fragen stiegen, desto vorsichtiger wurden
Hannelore Kraft zum Wagnis einer Min- sie. Die Parteispitze gab den Kurs vor, in
derheitsregierung nötigte. der Mitte möglichst viele Stimmen zu
Doch noch sind die Grünen weit davon sammeln. Diese bürgerlichen Wähler will
entfernt, solche Kraft im ganzen Land zu man nicht mit Vorschlägen für höhere
entfalten. Im Osten Deutschlands sind sie Steuern oder weniger Subventionen ver-
immer noch Splitterpartei, und auch im prellen.
Westen sind sie nicht flächendeckend Die Beschlüsse der Grünen-Bundes-
stark. Bislang kommen sie nicht darüber tagsfraktion bei ihrer Klausurtagung An-
hinaus, eine urbane Partei zu sein, sie er- fang September lesen sich wie ein unver-
blühen erst in Städten mit mehr als 50 000 bindliches Sammelsurium von Ideen, de-
Einwohnern, die möglichst eine Univer- nen aber jede Konkretion fehlt. Das lässt
sität beherbergen sollten. auch Insider zweifeln: „Wie ambitionierte
Bei den über 60-Jährigen kommen die ökologische und soziale Investitionen un-
Grünen auf fünf Prozent der Wähler- ter den Vorzeichen der Schuldenbremse
stimmen, bei Arbeitern
sieht es ähnlich schlecht
aus. Ihre Wähler sind
überdurchschnittlich ge-
bildet und verdienen
oft sehr gut. Grünsein
muss man sich leisten
können, gegen diesen
Vorwurf wehren sich
die Grünen bis heute.
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Deutschland
A
ngela Merkel hat „Leidenschaft“ um, geht weiter. Die Touristen bleiben käufer. Sie hatte Angst vor den Ängst-
gesagt. Am vorvergangenen Sonn- auf Distanz, die Leibwächter schrecken lichen, vor einer Stimmung, die ihre
tag ist es passiert, gegen 20 Uhr, sie ab. „Hallo Frau Merkel.“ Sie hört dem Wiederwahl gefährden könnte. Umfragen
rund 10 000 Meter über dem Meeresspie- Vortrag noch intensiver zu. „Wir sind bestimmten ihr Handeln.
gel, bei Tempo 900. Sie war an Bord der aus Berlin.“ Merkel verschwindet in der Das Volk war machtvoller Mitregent,
Regierungsmaschine, Flug GAF 802 von nächsten Kirche. Merkel saß dem Kabinett der 80 Millio-
Berlin nach New York, gute Sicht, keine Schließlich, vor dem Schwarzhäupter- nen vor. Doch dann passierte etwas Selt-
Turbulenzen. Na gut, in Wahrheit hat die haus, wendet sie sich doch noch ihren sames. Merkel, die Volksregierte, zeigte
Bundeskanzlerin „ein bisschen Leiden- Deutschen zu, schüttelt ein paar Hände, sich als entschiedene Gegnerin der Volks-
schaft“ gesagt, aber immerhin, das Wort
ist gefallen. Zeugen: 20.
Gesprochen hat die Frau, die im Wahl-
kampf 2009 als führende Anästhesistin
des Landes auftrat und noch die letzten
Politikbegeisterten einschläferte. Gespro-
chen hat die Frau, die auch sonst Tempe-
rament nicht gerade zu ihrem Markenzei-
chen gemacht hat.
Und jetzt: Leidenschaft. Wer konnte
dieses Wort aus Merkel herauslocken? Es
waren jene Bürger, die gegen das Bahn-
hofsprojekt „Stuttgart 21“ protestieren.
Denen will Merkel leidenschaftlich ent-
gegentreten.
Bislang hat sie vor allem dafür gesorgt,
dass sich die Deutschen nicht aufregen
müssen, nicht über ihre Lebenslage, nicht
über ihre Regierungschefin. Nun zeigt
Merkel erstmals, dass ihr Volk sie auch
nerven kann.
Denn dieses Volk stellt gerade die Kom-
petenz der Politik massiv in Frage, mit
Protesten gegen „Stuttgart 21“, gegen die
Atompolitik der Bundesregierung, gegen
Windräder und Kraftwerke. Niemandem
geht das so an die Berufsehre wie Angela
Merkel. Ihr, dem Superprofi der Politik,
sollen die Amateure nicht reinpfuschen.
Es kriselt in einer der wichtigsten und Bundeskanzlerin Merkel: Führende Anästhesistin
heikelsten Beziehungen dieses Landes:
Bundeskanzlerin und Bürger, Regierende sagt „ah“, „schön“, „na dann viel Freu- regierung. Das war im Juni 2008, die Eu-
und Regierte. Aber es gibt da keine schar- de“. Fünf Minuten, dann ist es vorbei. ropäische Union steckte in einer Krise,
fe Trennung, es geht immer auch um die Die Bundeskanzlerin ist keine, die weil die Iren in einer Volksabstimmung
Frage, wie stark die Regierten mitregie- herzt oder mit Worten mühelos anban- den Vertrag von Lissabon abgelehnt hat-
ren dürfen. Dieser Verteilungskampf delt. Begegnungen zwischen Bürgern und ten und damit eine Reform blockierten.
flammt gerade neu auf. Politikern dauern meist nur Sekunden Merkel war auf einem Gipfel in Brüssel
Da kommen sie, die Bürger, sie eilen, oder Minuten, und Merkel ist sozial eher und kam nach Mitternacht zu einem Hin-
sie rennen. Sie haben Merkel erblickt, langsam. Beim Speed-Dating mit dem tergrundgespräch mit Journalisten in ein
und nun wollen sie ihre Hand schütteln. Volk bleibt sie eckig und mundfaul. Sie Hotel. Ihre Laune war gut, Deutschland
Dies ist Riga, die Hauptstadt Lettlands, sieht die Bürger lieber aus der Ferne als hatte Portugal bei der Europameister-
Dienstag vor drei Wochen. Merkel lässt aus der Nähe. Gleichwohl schätzen die schaft geschlagen, und sie hatte eben
sich durch die Altstadt führen, hat eben meisten Deutschen ihre Bundeskanzlerin. noch mit ihrem Lieblingsbürger telefo-
eine Kirche besichtigt, hört unterwegs ei- Die Zustimmung liegt bei 52 Prozent, An- niert, Bastian Schweinsteiger.
nen Vortrag zur Geschichte der Stadt. fang 2006 waren es allerdings 85 Prozent. Dann wurde sie gefragt, ob nicht eine
Ein Rudel Deutscher hastet ihr nach, Aber mag auch die Bundeskanzlerin Volksabstimmung auch in Deutschland
rüstige Rentner, Turnschuhe, Windjacken. ihr Volk? Wenn man ihr über viele Jahre sinnvoll sei. Merkel fixierte den Frager
„Frau Merkel, hallo.“ Sie sieht sich kurz zugehört hat, ergibt sich folgendes Bild: und rastete aus, sie hielt einen furiosen
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Vortrag über die repräsentative Demo- Uno-Generalsekretär. Auch das ist Speed- Doch da pocht Merkel auf die Kompe-
kratie und die Vorzüge der Berufspolitik. Dating, aber man braucht hier nicht Wär- tenz der Politiker. Eine Volksabstimmung
Sie beschäftige sich tagein, tagaus 14 Stun- me, man braucht geistige Schnelligkeit, will sie nicht. Das Verfahren sei abge-
den lang mit politischen Fragen, sagte Elastizität, Wissen. Hier ist Merkel zu schlossen, die Entscheidung politisch le-
Merkel, da wisse sie schon, was zu tun Hause. gitimiert. Wenn legitime Entscheidungen
sei und was nicht. Es fiel das Wort „Lei- Ihr Leben ist die Politik, und sie hofft noch einmal legitimiert werden müssten,
denschaft“. Zeugen: 30. nicht auf ein anderes. Das hatte sie schon, würde das langsame Deutschland noch
Es war einer ihrer besten Auftritte. Sie als Physikerin in der DDR. langsamer. Die Landtagswahl im März
war scharf, klug, entschieden und, ja, tat- Ein Physiker würde sich nicht gern von 2011, sagte sie in ihrer Haushaltsrede,
sächlich, leidenschaftlich. Sie war nicht einem Laien erklären lassen, wie man werde „die Befragung der Bürger über
die öffentliche Merkel, nicht Deutsch- ein physikalisches Problem löst. Und die Zukunft Baden-Württembergs, über
lands regierende Eingeschlafenheit, da Merkel sieht sich jetzt als Spezialistin ‚Stuttgart 21‘ und viele andere Projekte
saß eine hellwache Kanzlerin. fürs Regieren, fürs Allgemeinwohl. Lei- sein, die für die Zukunft dieses Landes
Nun ist das Thema Volksabstimmung der hat sie das oft selbst vergessen, zu- gelten“. Damit hat sie diese Wahl zu ihrer
wieder aufgerufen. Unter dem Druck der letzt in den Monaten vor der Wahl in gemacht. Wird man sie also bald auf
Proteste will die SPD die Bürger Stutt- Nordrhein-Westfalen, als sie aus Angst Marktplätzen richtig kämpfen sehen, ge-
garts zum neuen Bahnhof befragen las- vor den Bürgern dort das Regieren un- gen die Protestbürger? Das wäre ja mal
sen. Und Merkel hat Leidenschaft immer- terließ. Bloß niemanden mit Entschei- was, eine neue Merkel.
hin schon mal angekündigt. Offenbar dungen verschrecken. Das Paradoxe an einer Demokratie ist,
bringt dieses Thema eine Saite in ihr zum Nun hat sie sich entschieden, für „Stutt- dass vor allem der Politiker Respekt ein-
Klingen. gart 21“. In der Haushaltsdebatte vorletz- heimst, der sich gegen starken Protest
TOBIAS SCHWARZ / REUTERS (L.); PHOTOWEB / ACTION PRESS (R.)
Wohl niemand in Deutschland ist so te Woche bekannte sie sich zum Wider- durchsetzt, also gegen einen größeren
konsequent Berufspolitiker wie Angela stand gegen den Widerstand der Bürger. Teil des Volkes regiert. Bei Willy Brandt
Merkel. Sie hat ihr Privatleben auf ein Sie sagt, dass es um Deutschlands „Zu- war es die Ostpolitik, bei Helmut Schmidt
Minimum reduziert, sie redet nie über kunftsfähigkeit“ gehe. Den Fall Stuttgart die Nachrüstung, bei Helmut Kohl der
die Wonnen eines anderen Daseins, sie sieht sie als Symbol für allgemeinen Trotz Euro, bei Gerhard Schröder die Agenda
redet nie über Rücktrittsgedanken wie gegenüber Neubauten im Verkehrs- und 2010.
zuletzt angeblich Guido Westerwelle. Energiebereich. „Stuttgart 21“ ist da zwei Nummern
Merkel genießt Politik, so wie vergan- Merkel sieht es so: Die Bürger lebten kleiner. Aber man wird eine Ahnung da-
gene Woche in New York. Im Rahmen vor allem im Jetzt und sähen die Unan- von bekommen, welches Format diese
des Uno-Millenniumstreffens gab sie ei- nehmlichkeiten einer Baustelle, eines Kanzlerin wirklich hat.
nen Empfang im Hotel Palace. Ein ovaler Windparks, eines Kraftwerks für das ei- Die Pointe für Merkel ist, dass sie den
Saal, große Idyllen an den Wänden, 200 gene Leben. Die Politikprofis dagegen neuen Bahnhof gut findet, weil Stuttgart
Leute, es ist laut, eng, warm. Merkel wird lebten halb im Morgen und müssten die damit an die Magistrale Paris–Bratislava
belagert, Merkel trifft Afrika, Merkel trifft Zukunft für alle sichern. Wobei die Geg- angeschlossen würde. Als sie in der DDR
Asien, Merkel trifft Amerika, Merkel trifft ner von „Stuttgart 21“ bestreiten würden, lebte, fuhr sie jedes Jahr einmal nach Bra-
Europa, Merkel trifft die Welt, schnelle dass der neue Bahnhof einen Beitrag zur tislava. Wenn sie irgendwo nicht mehr
Dialoge mit Regierungschefs oder dem Zukunft leisten könne. hin muss, dann nach Bratislava.
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Deutschland
Nachwuchspolitiker Lindner
„Mein Ehrgeiz ist gestillt“
„Wir wollen einen Lindner: Gilt das auch für die Erhöhung
des Kindergelds? Oder für benachteiligte
Kinder, die wir besser fördern? Die Hotel-
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Parteifreunde Platzeck, Speer
Eine Art Familienbetrieb
Landesvater und die Verkäufer für das belastende Material sehen, ob und, wenn ja, was sie über das
verlangt haben sollen. Irgendwann kam Wissen des heutigen Regierungschefs aus-
es in die Hände der Medien. Inzwischen sagen würde.
Landeskind liegen die Mails auf DVD auch Fahndern Die Regierungsarbeit ist ohnehin be-
vor – ein Anonymus hat sie verschickt. lastet. Denn Platzeck ohne Speer, das
Die Beamten halten das Material für echt. schien bislang undenkbar. Ohne seinen
Es belastet Speer und dessen Ex-Geliebte, Vertrauten wäre seine Polit-Karriere wohl
Nach dem Rücktritt von
sie womöglich juristisch, ihn zumindest kaum so glatt verlaufen. 2002 hatte Speer
Innenminister Rainer Speer ist die politisch. für ihn diskret den Machtwechsel orga-
Zukunft von Ministerpräsident Mit seinem Rücktritt wolle er Schaden nisiert. Auf seinem Laptop gab es dazu
Matthias Platzeck (SPD) ungewiss. vom Land und seiner Partei abwenden, eine Datei. Titel: „Wachwechsel“. Kein
Gibt er vorzeitig die Macht ab? sagte Speer. Doch dafür ist es wohl längst Wort über den geplanten Rücktritt von
zu spät. Die Untersuchungen laufen auf Manfred Stolpe (SPD) drang damals an
A
m Dienstagabend der vergange- Hochtouren und könnten weitere Über- die Öffentlichkeit.
nen Woche kamen die Durch- raschungen bringen – für Speer, die SPD Machtmensch Speer stand bis zuletzt
halteparolen vom Fußballplatz. und die Landesregierung. In der politi- fest an Platzecks Seite. Er kannte dessen
Während Drittligist SV Babelsberg 03 im schen Debatte rückt der- Krisen, gesundheitliche
Potsdamer Karl-Liebknecht-Stadion die weil Ministerpräsident Probleme, auch seine
zweite Mannschaft von Werder Bremen Platzeck in den Mittel- Sehnsucht nach einem
mit 2:0 überzeugend schlug, demonstrier- punkt. Was wusste er Leben ohne Termin-
te auch der Vereinsvorsitzende Rainer wann über die unschöne druck. In diesem Jahr ist
Speer seinen unbedingten Siegeswillen. Geschichte? Gibt es auch Platzeck fast 20 Jahre
Nein, er habe sich nichts vorzuwerfen, Belastendes gegen ihn im Brandenburger Kabi-
JULIA ZIMMERMANN / LAIF
beteuerte der Sozialdemokrat, im Haupt- auf dem Laptop? Und: nett. Ein richtiger Zeit-
beruf Innenminister von Brandenburg. Er Wie lange hält er noch punkt, um aufzuhören?
stehe das durch, und aus dem Amt lasse durch? Solche Gedankenspiele
er sich schon gar nicht schießen. Auf dem Spiel steht alarmierten Speer, der
Zwei Tage später hatte er ausgespielt. sein Image als fürsorgli- nichts dem Zufall über-
Am Donnerstag musste der engste Ver- cher Landesvater. Denn Brandenburger Politiker Steinmeier lassen wollte. Er selbst
traute von Ministerpräsident Matthias das Drama um die Vater- Kandidat fürs Spitzenamt? sei wohl nicht der Typ
Platzeck zurücktreten – nicht ohne hin- schaft spielte sich in sei- für Reihe eins, ließ er ge-
zuzufügen, dass dies kein Schuldeinge- nem engsten Umfeld ab. 1997 wurde legentlich durchblicken. Landesvater, das
ständnis sei. Am gleichen Tag erschienen Platzeck, damals Brandenburger Umwelt- wäre nicht seine Rolle.
Polizisten im Potsdamer Wirtschaftsmi- minister, bundesweit als „Deichgraf“ be- Vieles spricht dafür, dass Speer in aller
nisterium. Sie durchsuchten den Arbeits- kannt, der beim Oderhochwasser optimis- Stille bereits am nächsten Wachwechsel
platz einer Beamtin, die verdächtigt wird, tisch über Sandsäcke sprang. Seinen Inti- bastelte. Ein Name fiel im engsten Kreis
zur Vaterschaft ihres Kindes eine falsche mus und Staatssekretär Speer hingegen immer wieder: Frank-Walter Steinmeier,
eidesstattliche Versicherung abgegeben kannten nur Eingeweihte. Ex-Außenminister, gescheiterter Kanzler-
zu haben. Der richtige Vater heißt wo- Der sensible Chef und sein politischer kandidat mit Wahlkreis in Brandenburg.
möglich Rainer Speer. Bulldozer mit dem Machtinstinkt vertrau- Das sei doch ein Mann für das Spitzenamt.
Es war der vorläufige Höhepunkt einer ten sich so gut wie blind. Beide saßen Steinmeier und Platzeck schätzen einan-
bizarren Affäre. Der Stoff dieses Polit- gern beim Rotwein zusammen, Speer ist der, beide sind politische Pragmatiker.
Krimis stammt offenbar von einem Lap- ein guter Koch, Spezialität Lammbraten, Vor kurzem erst hat Platzeck beteuert,
top, der dem Minister im Oktober 2009 gemeinsam heckten sie dann wichtige er wolle bis zum Ende der Legislatur re-
abhandenkam. Sein Inhalt landete Ende Entscheidungen der Landesregierung aus. gieren. „Das ist jedenfalls mein Plan“, er-
Juni 2010 bei Rockern am Treffpunkt Ihr Ministerium war in den neunziger klärte er. Aber der ist nun durcheinan-
„Alte Tankstelle“ in Potsdam. Es war hei- Jahren eine Art Familienbetrieb, man dergeraten. STEFAN BERG
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Deutschland
W
enn Ralph W. in Berlin-Adlers- Fachleute wie Ralph W. zum Beispiel. ren konnten. Sogar BND-Befehle an die
hof zu seinem Arbeitsplatz geht, Am 1. September 1982 hatte der promo- Untergrundtruppe „Gladio“, die im Ernst-
kommt er jeden Morgen an sei- vierte Mathematiker seine Verpflichtungs- fall unter feindlicher Besetzung operie-
ner eigenen Vergangenheit vorbei. Der erklärung unterzeichnet, zuletzt zahlte ren sollte, kamen in Ost-Berlin im Klar-
kleine Museumsraum im Erdgeschoss ihm das Ministerium für Staatssicherheit text an.
wirkt wie die Kommandozentrale des 22 550 Ostmark jährlich für seine Dienste. So ein Fachpersonal durfte keinesfalls
Klassenfeindes in alten James-Bond-Fil- Bei seiner Beförderung zum Hauptmann auf den freien Markt kommen, das war
men. Dort stehen Verschlüsselungsgeräte im Juni 1987 urteilte sein Vorgesetzter, W. die Direktive aus Bonn. Die Vorstellung,
aus mehreren Jahrzehnten, ein grünes gehöre zu den „leistungsfähigsten Genos- dass Spezialisten, die sich über Jahrzehn-
Blechungetüm in der Größe eines Kühl- sen des Kollektivs“. Seine Stasi-Abteilung te mit bundesdeutschen Chiffriertechni-
schranks etwa, die T-310, mit
der DDR-Behörden ihre Fern-
schreiben verschlüsselten.
Das Gerät war der Stolz
der Stasi, für die W. einst ge-
arbeitet hat. Heute ist W.
Kryptologe bei der Rohde &
Schwarz SIT GmbH (SIT). Er
und seine Kollegen beschäf-
tigen sich damit, sensible In-
formationen so zu verschlüs-
seln, dass nur Befugte sie
JENS RAED / NVA MUSEUM HARNEKOP
Firmensitz der Rohde & Schwarz SIT GmbH, Kryptologe Leiberich, Handy-Nutzerin Merkel: Ein Bundesverdienstkreuz zum Dank
Bundesgesetz das neue „Bundesamt für Der Unternehmer ließ sich schließlich mens, mittlerweile arbeiten rund 150 Ma-
Sicherheit in der Informationstechnik“ doch noch überzeugen, wobei auch die thematiker, Ingenieure und Informatiker
(BSI) ausgegründet worden. Leiberich Aussicht auf zusätzliche Forschungs- und an drei Standorten für die Firma, die sich
wurde der erste Präsident, seine Mann- Bundesaufträge geholfen haben dürfte, stolz „bevorzugter Lieferant von Hoch-
schaft bestand zum Großteil aus ehema- die dann auch in Fülle eintrafen. sicherheits-Kryptografie“ für die Nato
ligen Geheimdienstkollegen. Die Frage, wer in die Tarnfirma über- nennt und Geräte bis zur höchsten
Staatssekretär Neusel verwarf die Idee nommen werden sollte, entschieden am Geheimhaltungsstufe „Cosmic Top Se-
als zu heikel. Zum einen hatte die Regie- Ende BSI-Präsident Leiberich und eine cret“ im Sortiment hat. Die SIT-Lösung
rung beschlossen, belastete Funktionäre Oberregierungsrätin aus dem Bundes- Elcrodat ist Nato-Standardausrüstung in
der Staatssicherheit nicht in den Beamten- innenministerium. Der ehemalige MfS- U-Booten, Fregatten und Militärhub-
apparat der Bundesrepublik zu überneh- Abteilungsleiter Horst M. wechselte naht- schraubern und sichert dem Unterneh-
men. Zum anderen galt für die Geheim- los zu SIT in die Marktwirtschaft, seine men seit Jahren Millionenaufträge. Rohde
dienste ein „heiliger Grundsatz“, wie sich Frau fing als Sekretärin an. Ralph W., & Schwarz möchte sich zu diesem, dem
ein Beteiligter erinnert: „Kein Mann vom damals in seinen Dreißigern und acht unbekannten Teil seiner Unternehmens-
MfS in die westdeutschen Geheimdienste.“ Jahre bei der „Firma“, passte genauso geschichte nicht äußern.
Zu groß war die Angst vor Verrätern. in dieses Wunschprofil, wie seine alten Die Bundesregierung zeigte sich für die
Es half auch nichts, dass das Zentral- und neuen Kollegen Wolfgang K. und Unterstützung bei der Operation nicht
organ für Chiffrierwesen formal noch Volker S. Insgesamt bekamen rund ein nur mit Aufträgen erkenntlich. Werthe-
schnell ins Innenministerium der DDR Dutzend ehemalige Stasi-Kollegen die bach verlieh dem früheren Geschäftsfüh-
ausgegliedert worden war. Das Bundes- Chance auf eine zweite Krypto-Karriere rer von SIT, einem leitenden Angestellten
kabinett hatte entschieden, auch keine in der Bundesrepublik, vorwiegend Ma- von Rohde & Schwarz aus dem Westen,
Innenministerialen der DDR in Bundes- thematiker. für seinen Einsatz in einer feierlichen
behörden zu übernehmen. Der Bund half, wo er konnte, nur un- Zeremonie in der Villa Hammerschmidt
Aber die freie Wirtschaft hatte keinen auffällig sollte es sein. Den Unterneh- das Bundesverdienstkreuz.
solchen Beschluss, eine kreative Lösung menssitz hatte SIT einst in Grünheide in MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 31
Deutschland
ten und nicht kurzfristig ans Bundes- Auch der brandenburgische Landtags-
S TA S I
archiv anzuschließen. Außerdem soll der abgeordnete Dieter Dombrowski, 59,
K
ulturstaatsminister Bernd Neu- östliche Dissidentendickicht; eine Welt, unberechenbare Größe.
mann (CDU) liebt seinen Job. 68 die nur in einem Punkt der Film- und Im harten Kern der Dissidentenszene
Jahre ist er nun schon alt, und Fernsehschickeria ähnelt. Sie ist voll wiederum wird auf stillen Wegen für Ro-
dennoch mag der einstige Vertraute Hel- Tratsch und Eifersucht. land Jahn, 57, geworben, einer der mu-
mut Kohls nicht ans Aufhören denken. Staunend registriert Neumann, wer al- tigsten Regimegegner überhaupt. Jahn
Besonders gern fährt er zu Filmfest- les mit wem über Kreuz ist: Was hat nur, stammt aus Jena, wurde mehrfach inhaf-
spielen, Küsschen hier, Sternchen da wundert er sich, der CDU-Mann Arnold tiert und am Ende abgeschoben, von den
und er mitten drin im Scheinwerferlicht. Vaatz aus Sachsen gegen Frau Birthler? Schergen einfach in einen Zug gen Bun-
desrepublik gesetzt. Von
dort aus unterstützte er
tapfer weiter jenen Prozess
in der DDR, in dem die
Staatssicherheit die „Kon-
terrevolution“ sah. Heute
arbeitet er als ARD-Jour-
nalist. Diskret wurde sein
Name im Kanzleramt hin-
terlegt. Aber reichen Mut
und Tapferkeit, um eine
Behörde zu leiten, in der
es gelegentlich drunter und
drüber geht?
Deshalb ist nicht aus-
geschlossen, dass am Ende
TIM BRAKEMEIER / PICTURE ALLIANCE / DPA
David Gill, 44, das Rennen
macht. 1990 war er Sprecher
des Bürgerkomitees zur Sta-
si-Auflösung, später Presse-
chef von Behörden-Leiter
Gauck, danach studierte er
CHRISTIAN THIEL
D
ie Männer vom Geheimdienst Für das Verfahren gegen die einstige
trafen Verena Becker mal inkogni- Untergrundkämpferin, die heute als Heil-
to im Knast, mal verlegten sie die praktikerin und Frührentnerin in Berlin
RAF-Frau in eine konspirative Wohnung, lebt, sind die beiden Geheimvermerke
um in aller Ruhe reden zu können. Die dennoch Gift. Sie verstärken nicht nur
Terroristin und die Geheimen – das sollte die Verschwörungstheorie des Buback-
kein Schließer und kein Mitgefangener Sohns Michael, der als Nebenkläger auf-
mitbekommen. „Zauber“ taufte das Bun- tritt und vermutet, dass Becker seinen Va-
desamt für Verfassungsschutz die Opera- ter erschossen hat und bis heute vom Ver-
tion, offenkundig überwältigt vom eige- fassungsschutz gedeckt wird.
getaucht, die die Zweifel daran verstär- Doch als das zuständige Bundesinnen-
ken, dass die Angeklagte direkt an dem ministerium für den Prozess nur die 227
Anschlag beteiligt war. Die Dokumente und 82 Seiten starken Zusammenfassun-
stammen aus der frühen Phase von „Zau- gen der „Zauber“-Vermerke entsperrte,
ber“ und beziehen sich auf die ersten Ge- Tatort des Buback-Attentats 1977 schwiegen die Bundesanwälte und behiel-
sprächsrunden zwischen der damals psy- Exklusives Wissen ten das exklusive Wissen über die weite-
chisch angeschlagenen Gefangenen und ren Papiere für sich.
den Beamten aus Köln. War Verena Becker also nicht in Hätte der Verfassungsschutz in diesem
In den Vermerken vom 8. Oktober Deutschland, als die tödlichen Schüsse Sommer auf Antrag des Gerichts nicht
1981 und vom 16. November 1981 geht es am 7. April 1977 fielen? noch einmal sämtliche Akten durchgese-
um die internen Diskussionen in der RAF Die Behauptung in dem Verfassungs- hen, wäre das Material wohl auf ewig un-
Anfang 1977. Becker zufolge soll Brigitte schutzpapier steht in eklatantem Wider- ter Verschluss geblieben. So fiel den Ge-
Mohnhaupt für eigenständige Anschläge spruch zu der Version des Tathergangs, wie heimdienstlern die Brisanz auf, und sie
in Deutschland plädiert haben, während sie von der Bundesanwaltschaft in der An- entschieden, dass die beiden Vermerke
Stefan Wisniewski und Günter Sonnen- klageschrift geschildert wird. Danach soll von 1981 für die Wahrheitsfindung unver-
berg dazu die Nähe zu palästinensischen Becker am 6. April – einen Tag vor den zichtbar seien. Die Verteidiger von Be-
Gruppen suchten. Mohnhaupt habe sich Schüssen – entweder den Tatort ausgespäht cker wollen jetzt erfahren, welche Papie-
gefügt und der zwischen ihr und Becker oder aber zwei andere RAF-Mitglieder dort re es sonst noch gibt – und was die Bun-
ausgetragene Streit sei begraben worden, mit einem Auto abgeholt haben. Bagdad desanwälte noch alles wissen.
heißt es in dem bis heute als geheime oder Baden-Württemberg? Nur eine der Die historische Wahrheit kennt am bes-
Verschlusssache eingestuften Dokument amtlichen Versionen kann stimmen. ten Verena Becker, aber für das Gericht
vom 16. November 1981. Und weiter: Be- Welche die richtige ist, müssen nun die wird sie wohl keine Hilfe sein. Im April
cker und Mohnhaupt, die sich unterei- Richter klären. Der Verfassungsschutz hat 2007, 30 Jahre nach dem Attentat, fuhr
nander mit den Namen „Ratte“ und „Gei- dem Gericht Ende August neben den Do- sie nach Mannheim, um mit früheren Ge-
er“ angeredet hätten, seien „im April kumenten auch seine eigenen Zweifel sinnungsgenossen eine gemeinsame Linie
1977 (zum Zeitpunkt des Buback-An- übermittelt. Aus dem Vermerk von 1981 festzulegen. An der Zusammenkunft
schlags waren sie abwesend)“ nach Bag- gehe nicht hervor, unter welchen Umstän- nahm auch Brigitte Mohnhaupt teil, und
dad geflogen. Dort habe man Mohnhaupt den die Bagdad-Story aktenkundig wur- für einen Moment war es wie 1977: „Rat-
unter ihrem Kampfnamen „Hinda“ ge- de, und ob es Belege für die Reise in den te“ und „Geier“ einigten sich – zu schwei-
kannt. Irak gebe. Andere Zeugenaussagen deu- gen. JÜRGEN DAHLKAMP, HOLGER STARK
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 33
Titel
SPIEGEL TV
Berliner Grenzposten am 9. November 1989: Die Teilung schien betoniert für die Ewigkeit
S
echs Wochen vor dem Fall der Mau- tikerin und ist nun britische Premiermi- Was die zwei Politiker biografisch eint,
er sitzen im Kreml zwei Menschen nisterin. ist die Erinnerung an den Krieg der Deut-
zusammen, die das Leben kennen. Ihr Gastgeber Michail Gorbatschow, schen. Knapp zwei Dutzend Mal bombar-
Die 63-jährige Margaret Thatcher, Toch- knapp sechs Jahre jünger, kommt aus einer dierte die Luftwaffe Thatchers Heimat-
ter eines Kolonialwarenhändlers aus südrussischen Bauernfamilie. Er hat einst stadt, und während die Sirenen heulten,
dem mittelenglischen Grantham, zählte als Mähdreschermechaniker gearbeitet, verkroch sich das Mädchen mit den Haus-
einst als junge Chemikerin zu jener Trup- sich politisch engagiert und ist peu à peu aufgaben unter dem Esstisch. Auch Gor-
pe, die das Softeis erfand. Nach ihrer in der Kommunistischen Partei aufgestie- batschow hat das Grauen nie vergessen,
Hochzeit studierte sie Jura, wurde Poli- gen. Jetzt herrscht er als Chef im Kreml. das Verhör der Großmutter durch die Be-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 39
Titel
satzer, die Gerüchte von Massenerschie- likaten Angelegenheit“ kennen würden. Deutschland einig Vaterland? Frühes-
ßungen, den Viehverschlag, in dem er Er wolle die deutsche Einheit „genauso tens 1995, eher später, wenn überhaupt.
sich versteckte. wenig wie die Briten“. Und wie soll das überhaupt gehen?
In diesem Herbst 1989 ziehen zwei Zeit- Deutlicher geht es nicht. Es ist eine Al- Bundesrepublik und DDR sind die wich-
zonen weiter westlich jeden Montag Tau- lianz gegen Deutschland. tigsten Frontstaaten von Nato und War-
sende Menschen durch die Leipziger In- Je weiter der Zusammenbruch der schauer Pakt im Kalten Krieg. Rund 1,5
nenstadt, während in Prag und Warschau DDR in den folgenden Wochen fortschrei- Millionen Soldaten aus neun Ländern ste-
über 6000 DDR-Bürger in den Botschaf- tet, desto mehr scheint sich das Bündnis hen hier einander gegenüber, ausgerüstet
ten der Bundesrepublik campieren, um der Wiedervereinigungsgegner zu festi- mit Atomwaffen.
so die Ausreise in den Westen zu erzwin- gen. Politiker wie Diplomaten, und nicht Der Zweite Weltkrieg ist offiziell nicht
gen. Die Bilder gehen um die Welt, und nur jene der vier Siegermächte des Zwei- wirklich beendet, es fehlt ein Friedens-
so ist auch den Staatslenkern Thatcher ten Weltkriegs, beunruhigt das Gesche- vertrag, und die Uno-Charta erlaubt je-
und Gorbatschow klar, dass die beiden hen an der Nahtstelle einer in Ost und dem Mitglied der Vereinten Nationen,
Deutschlands vor einem Umbruch stehen. West geteilten Welt. zwischen Rhein und Oder einzumarschie-
Doch wer von beiden hat als Erster das Nur selten geschieht das in der Öffent- ren, sollten die Deutschen eine „aggres-
heikle Thema deutsche Einheit angespro- lichkeit wie im Fall des israelischen Mi- sive Politik“ verfolgen.
chen? Darüber werden sich ihre Mitar- nisterpräsidenten Jizchak Schamir, der Die Deutschen in Ost und West dürfen
nicht ohne Zustimmung der vier Sieger-
mächte über ihre Grenzen entscheiden,
nicht gegen alliierten Willen einen ein-
heitlichen Staat begründen, nicht ohne
Placet der Sieger Berlin zur Hauptstadt
machen. Die Sowjets behalten sich sogar
das Recht vor, bei Bedarf die Vertretung
der DDR sowohl international als auch
gegenüber der Bundesrepublik zu über-
nehmen. Wie bei einem Vasallen.
Und will ein Bundeskanzler einem
amerikanischen Präsidenten das geteilte
Berlin zeigen, kann er gern mit dem US-
Staatsoberhaupt in den Westteil reisen –
aber als Gast des Amerikaners. Und na-
türlich fliegen Westdeutsche nur in Flug-
zeugen der Westmächte, also mit Pan Am,
British Airways und Air France. Die Al-
liierten verbieten der Lufthansa, von Ham-
AP / SUEDDEUTSCHER VERLAG
sung, dass allein die SED das Sagen Die Stimmung ist schlecht, denn gut Im großen Deutschland-Spiel bringt
hat, noch fordern Demonstranten eine ein Jahr vor den Bundestagswahlen sind Kohls Vorstoß allerdings nur Ärger, und
Reform der DDR – und nicht ihre Ab- die Umfrageergebnisse im Keller. Da zwar mit fast allen Spielern. Gerade ein-
schaffung. schlägt Teltschik mit Verweis auf Portu- mal drei Wochen liegt der Mauerfall zu-
Portugalow behauptet später, es sei dar- galow vor, der Kanzler möge mit einem rück. Hatte der Kanzler nicht danach ver-
um gegangen, „den unvermeidlichen Pro- Deutschland-Plan „die Meinungsführer- sichert, Stabilität sei oberste Politiker-
zess zu unseren Gunsten zu kanalisieren“. schaft im Hinblick auf die Wiederverei- pflicht, nie werde Bonn einen Alleingang
Vielleicht will er auch nur in bester KGB- nigung“ übernehmen. wagen?
Tradition ein wenig Zwietracht im Wes- Eine gute Idee, findet Kohl. Von wegen. Keiner wird konsultiert,
ten säen. So lesen sich zumindest seine Teltschik erzählt später seinem briti- keiner rechtzeitig informiert.
Aufzeichnungen, und Portugalow steht schen Kollegen, dass es vor allem darum Die Deutschen benähmen sich „mit
als Offizier im besonderen Einsatz auf ging, Genscher auszustechen. Kohl und wachsender Arroganz“, schimpft Frank-
der Gehaltsliste des KGB. Genscher, beides 1,90-Meter-Männer, du- reichs Außenminister Roland Dumas, des-
Die Bundesregierung habe ja eine zen sich und galten einmal als Freunde. sen Vater den Widerstand gegen die Na-
„sehr langfristige Planung zur Lösung der Inzwischen belauern sie einander, und zis einst mit dem Tode bezahlte.
deutschen Frage“, da möge sie doch über Kohl fürchtet, der beliebte Genscher kön- Anfang Dezember sitzen die europäi-
einen Austritt aus der Nato nachdenken, ne ihn beim Kampf um den Platz in den schen Staats- und Regierungschefs beim
am liebsten öffentlich. Und natürlich Geschichtsbüchern abhängen, wenn jetzt EG-Gipfel im Straßburger Kongresspalast
müssten alle westlichen Atomwaffen aus das Thema Einheit Fahrt aufnimmt. zusammen, einem Betonkasten aus den
der Bundesrepublik abgezogen werden. Der Außenminister wird denn auch siebziger Jahren, und wie Kohl in seinen
Sonst sei eine „wie immer geartete deut- nicht informiert, als Kohl am Wochenen- Erinnerungen berichtet, habe er diesen
sche Konföderation“ nicht drin. de aus diversen Vorlagen den berühmten Kreis nie zuvor oder danach in „einer so
Pech für Portugalow, dass Horst Telt- Zehn-Punkte-Plan zur „Wiedergewin- angespannten und unfreundlichen Atmo-
schik den Besuch fehldeutet. Kohls au- nung der staatlichen Einheit Deutsch- sphäre“ erlebt.
ßenpolitischer Berater ist „elektrisiert“ lands“ zusammendiktiert. Ehefrau Han- Eine bemerkenswerte Runde: mit An-
und glaubt, gut zwei Wochen nach dem nelore tippt den Text auf ihrer Olympia- dreotti, dessen Verbindungen zur Mafia
Mauerfall denke die sowjetische Führung Reiseschreibmaschine, auf der sie schon ungeklärt sind, mit Lubbers, der später
schon über die Einheit nach. So erzählt die Doktorarbeit des Gatten geschrieben nach Vorwürfen sexueller Belästigung
es Teltschik auch dem Kanzler. hat. Kohl will den Plan im Bundestag vor-
44 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
1. Juli Deutschlands“, der die bundesdeutsche
Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion tritt Rechtsordnung auf das Beitrittsgebiet
in Kraft, die D-Mark wird Zahlungsmittel in der überträgt.
WO L F G A N G KU M M / P I CT U R E - A L L I A N C E / D PA
DDR. Infolgedessen bricht die Industrieprodukti- 12. September
on ein. Die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter
übersteigt bald die Zwei-Millionen-Grenze. Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-
Vertrags in Moskau. Da er erst nach
22./23. August Ratifizierung durch alle Beteiligten in
Die Volkskammer beschließt in einer Nacht- Kraft tritt, suspendieren die Siegermäch-
sitzung den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik te ihre Rechte, so dass Deutschland be-
zum 3. Oktober. reits am 3. Oktober souverän ist.
31. August 3. Oktober
Unterzeichnung des Einheitsvertrags:
Bonns Innenminister Wolfgang Schäuble und Ost- Innenminister Schäuble (BRD) und Staatssekretär Krause (DDR) „Tag der Deutschen Einheit“
Berlins Staatssekretär Günther Krause unterzeich-
nen den „Vertrag über die Herstellung der Einheit
aus der Uno ausscheidet, mit dem un- Kommuniqué. Dabei wird deutlich, dass Park in West-Berlin. Bis der Kalte Krieg
durchsichtigen Mitterrand, der politische Kohl die erste Runde verloren hat. Bonn die Alliierten auseinandertrieb, tagte hier
Gegner vom Geheimdienst bespitzeln steht allein. der Alliierte Kontrollrat, der 1945 die
lässt. Thatcher und Mitterrand treffen sich oberste Regierungsgewalt in Deutschland
Natürlich fürchten sie alle eine Wieder- in Straßburg sogar heimlich. Es geht um übernahm.
kehr der Geschichte. Aber sie sorgen sich die Deutschen, ein Volk, dem der fran- Am 11. Dezember 1989 kommen Briten,
auch um die Wirtschaftskraft eines geein- zösische Staatspräsident bescheinigt, es Franzosen, Sowjets und Amerikaner nun
ten Deutschlands, weil sie wie viele Be- habe „niemals seine wahren Grenzen ge- wieder zusammen, zwar nur auf Botschaf-
obachter glauben, die ostdeutsche Wirt- funden“. Thatcher zieht aus ihrer schwar- terebene, und angeblich wollen sie nur
schaft sei ein Rohdiamant, der bei west- zen Ferragamo-Handtasche eine Land- die Lage in Berlin besprechen. Natürlich
licher Pflege bald hell strahlen werde. karte, auf der die deutschen Grenzen im geht das Foto der vier Männer um die
Gleich in der ersten Sitzung startet Laufe der Jahrhunderte eingezeichnet Welt, und alle verstehen: Die Hitler-Be-
Thatcher die Attacke. „Zweimal haben sind. sieger können auch anders.
wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind Die beiden sind sich einig: „Es ist Zeit, Verärgert stellt Genscher wenige Tage
sie wieder da!“, faucht sie. etwas zu unternehmen.“ später die westlichen Kollegen zur Rede.
Zwar hatten Bonns westliche Verbün- Aber was? Ist die DDR überhaupt zu Über Berlin-Probleme könnten sie gern
dete über Jahrzehnte hinweg erklärt, sie retten? Können Mitterrand und Thatcher mit den Russen diskutieren, aber nicht
würden eine Wiedervereinigung begrü- den Lauf der Geschichte aufhalten oder über die Einheit: „Eine solche Entwick-
ßen. Das habe man aber nur getan, argu- zumindest verzögern? lung werden wir auf keinen Fall akzep-
mentiert Thatcher, weil man geglaubt In Ost-Berlin regiert inzwischen Hans tieren.“
habe, dazu werde es nie kommen. Diese Modrow, ein Reformer, dessen SED frei- US-Kollege Baker legt Genscher die
Position ist nicht zu halten. lich die Mitglieder davonlaufen. Denn Hand auf den Arm: „Hans-Dietrich, wir
Allerdings hat sich auch Kohl angreif- die Ostdeutschen entdecken nach und haben dich verstanden.“
bar gemacht. Er will die Vertriebenen- nach die Wahrheit: Dass die SED-Greise Wirklich?
Lobby nicht verprellen und hat im Zehn- kargen Sozialismus predigten und selbst Kurz vor Weihnachten vereinbart Kohl
Punkte-Plan das Thema deutsche Ost- im Westen Miele-Waschmaschinen or- mit Modrow den Ausbau des deutsch-
grenze ausgeklammert. Thatcher verlangt derten; dass die Stasi vor keiner Skrupel- deutschen Flugverkehrs. Da interveniert
– unterstützt von den anderen – ein Be- losigkeit haltmachte, dass die Kassen leer ein US-Gesandter offiziell im Kanzleramt;
kenntnis Bonns zu den bestehenden sind. innerdeutscher Luftverkehr sei Sache der
Grenzen, und Kohl vermutet zu Recht, Ende November 1989 demonstrieren Alliierten. Der gescholtene deutsche Be-
dass sie damit auch die Mauer meint. die Ersten für die Einheit („Wir sind ein amte notiert, die Ansprache des großen
„Nein, ich garantiere nichts, ich erkenne Volk“). Bruders sei „quite tough“, also ziemlich
die gegenwärtigen Grenzen nicht an“, gif- Da wollen die Siegermächte auch de- hart gewesen: „Rüge wegen fehlender
tet er nach dem Abendessen. monstrieren – und zwar ihre Macht. Konsultationen“.
Die ganze Nacht feilschen Genscher Am besten geht das im Kammergericht Wenig später knallt es dann richtig.
und Dumas um Formulierungen für ein im romantischen Heinrich-von-Kleist- In Washington treffen sich hohe Beamte
12. bis 14. Februar 30. Mai bis 3. Juni 15./16. Juli 14. November
Am Rande einer Konferenz in Ottawa Bei einem Besuch in Washington Beim deutsch-sowjetischen Gipfel Der deutsch-polnische Grenz-
akzeptieren die vier Siegermächte erklärt Gorbatschow, die in Moskau und im Kaukasus sagt vertrag schreibt die
den Vorstoß von Bundesrepublik und Deutschen könnten ihr Bündnis Gorbatschow einen baldigen Abzug Oder-Neiße-Linie fest.
DDR, die äußeren Aspekte der Ein- selbst wählen. der sowjetischen Truppen aus der
heit zu sechst zu verhandeln. Andere DDR zu.
Teilnehmerstaaten sind empört. 5./6. Juli
Nato-Gipfel in London: 9. und 12. Oktober
4. Mai Das Bündnis kündigt eine Revision Zwei Verträge mit der Sowjetunion
Der sowjetische Außenminister seiner Militärstrategie an und regeln den Abzug der sowjetischen
Schewardnadse bittet erstmals Bonn schlägt umfangreiche Abrüstungs- Truppen aus der DDR und die Über-
um Kreditbürgschaften – der Sowjet- verhandlungen vor. nahme der Kosten durch Bonn.
union droht die Zahlungsunfähigkeit.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 45
Titel
der Außenministerien von Bonn, Paris, der SED hervorgehende Linkspartei kön- gar gefechtsbereit, als Demonstranten we-
Washington und London. Von deutscher ne die DDR retten. nige Kilometer entfernt die Stasi-Zentrale
Seite nimmt der Westfale Dieter Kastrup So steht es also Anfang 1990: Die Eu- stürmen.
teil. ropäer sind dagegen, die Amerikaner ver- Doch niemand von ihnen schießt, nie-
Der Karrierediplomat empört sich noch langen (beinahe) Unmögliches, die So- mand baut Barrikaden, niemand wirft ei-
heute über die „erheblichen Tendenzen“ wjets blockieren. nen Stein. Kommen die Volkspolizisten,
der Siegermächte, ohne die Deutschen „Wir haben damals pausenlos überlegt, rufen die Demonstranten: „Keine Ge-
über die Deutschen zu sprechen. mit welchen Maßnahmen, Vorschlägen walt.“ Und ein bisschen drängeln wird
Kastrup verfasst nach dem Treffen ei- wir Gorbatschow über die Hürden brin- man ja wohl dürfen.
nen Vermerk, der „geheim“ gestempelt gen können“, sagt Teltschik heute. Die Bessere Verbündete als die friedferti-
wird. Dem Papier zufolge plädiert der Suche nach Kompromissen gestaltet sich gen Ostdeutschen können sich Kohl und
US-Vertreter genauso wie Briten und auch deshalb schwierig, weil der sowjeti- Genscher nicht wünschen. Es sind die
Franzosen „für Erhaltung der Vier-Mäch- sche Generalsekretär Kohl dessen Zehn- kleinen Leute aus Cottbus, Güstrow oder
te-Verantwortung“, denn man wisse nicht, Punkte-Plan übelnimmt. Leipzig, die die Mächtigen dieser Welt
was in der DDR passiere, und da sei der Ausgerechnet Genscher bekommt den unter Druck setzen.
Vier-Mächte-Mechanismus „potentiell po- Ärger zu spüren, bei einem Moskau-Be- Ende Januar 1990 verlassen täglich
litisch nützlich“. such noch im Dezember 1989. Kohl be- 2000 Ostdeutsche den Arbeiter-und-Bau-
Kastrup hält dagegen: „Es ern-Staat, vor allem die Jun-
geht nicht an, dass im Jahr gen, die Klugen, die Leis-
1990 die Alliierten sich zu- tungsstarken. Sie haben ge-
sammensetzen und für uns nug von den halbherzigen
entscheiden. Wir besitzen Reformen Modrows, seinem
ein legitimes Recht, am Spiel Gekungel mit der Stasi, dem
teilzunehmen.“ Getrickse, um der zur SED-
Immerhin sind den Ame- PDS gewandelten ehemali-
rikanern die historisch be- gen Staatspartei zumindest
dingten Ängste der euro- Teile der Macht zu sichern.
päischen Nachbarn fremd. Und da in der Planwirt-
US-Präsident Bush gilt als schaft auch sonst niemand
Pragmatiker und sagt selbst, mehr macht, was geplant ist,
er habe damals keinen festen sondern alle, was sie wollen,
Standpunkt gehabt, sondern droht der DDR der Kollaps.
sei seinen Beratern gefolgt. Ein willkommener Trumpf
Nato-Caucus, wie der Kreis der Nato-Ver- und manche in der CDU/CSU verbreiten schik damals vorenthaltenen und jetzt
treter genannt wird. den Verdacht. Sogar Kohl überkommen zugänglichen Papiere belegen, deutet
Die Verbündeten haben brav auf der nach Angaben eines engen Mitarbeiters Genscher gegenüber Schewardnadse im-
Konferenz herumgesessen und erfahren Zweifel. mer wieder Kompromissbereitschaft an,
nun, dass hinter ihrem Rücken Zwei-plus- Die US-Dienste haben den 1952 aus auch in der Architektur der Nato. Die
Vier-Verhandlungen beschlossen worden Halle geflohenen Genscher schon länger Bündnisse könnten „unter Umständen in
sind. Sie sind außer sich. im Visier, weil dieser seine Heimat be- neuen Strukturen aufgehen“, lockt Gen-
Vorneweg der niederländische Au- suchte, obwohl er einst als Innenminister scher.
ßenminister Hans van den Broek, dann für den Verfassungsschutz zuständig war. Ist die Mitgliedschaft eines geeinten
auch die Italiener, die Belgier, die Lu- Genscher sei der einzige Sicherheitsmi- Deutschlands in der Nato für die Sowjets
xemburger. nister aus dem Westen gewesen, der re- unannehmbar? Dann müsse man darauf
Man kann sie verstehen. Das Nato-Ge- gelmäßig privat in den Osten fuhr, be- verzichten, die „Nato auf das Territorium
biet, das zu schützen sich die Allianz-Mit- gründet ein ehemaliger US-Geheim- der DDR“ auszudehnen.
glieder verpflichtet haben, wird mögli- dienstchef das Misstrauen. Ist die Bundeswehr trotz geplanter
cherweise infolge der Einheit größer, aber Und so richtig verdächtig finden man- Reduzierungen zu groß? Dann gehen
niemand fragt sie um ihre Meinung. Die che Amerikaner die teils stundenlangen eben einige zehntausend Soldaten zu-
Spanier behaupten später sogar, es sei Treffen Genschers mit Schewardnadse im sätzlich in Pension.
eine Zustimmung der ande- Im Rückblick wird deut-
ren Nato-Mitglieder zur Er- lich, dass Genscher die Härte
weiterung des Nato-Territo- Gorbatschows in den Ver-
riums erforderlich. handlungen überschätzt; am
Zudem wissen alle: Ist Ende gibt Moskau in wesent-
Deutschland erst geeint, ver- lichen Fragen nach. Und
lieren sie an Bedeutung. ganz sicher hätte sich der
Italiens Gianni De Miche- FDP-Mann in keiner dieser
lis, ein fülliger Venezianer, Fragen gegen Kohl durchset-
der später wegen Korruption zen können.
verurteilt wird, mosert: Es Von Gekungel mit dem
„geht um die Sicherheit Osten oder gar Verrat ist das
Deutschlands und Europas, weit entfernt.
und das sind Fragen, die in Das Spiel wird eben auch
der Allianz behandelt wer- mit schmutzigen Tricks ge-
den müssen“. Dem Vermerk führt, und Rufmord gehört
zufolge behauptet er sogar, dazu. Diplomatie gilt nicht
Italiens Sicherheit werde be- umsonst als die Kunst, dem
bet vor. Die drei sowjetischen Delegierten als zwei Drittel der Stimmen erhielten, sident Bush und die britische Premier-
nehmen Platz zwischen ihren Kollegen sitzen dort ausreichend Abgeordnete, die ministerin Thatcher wollen kein Geld in
aus F wie Frankreich und V wie Vereinig- den Beitritt anstreben. Es laufen bereits die marode Sowjetwirtschaft stecken, und
te Staaten. Kleine Nettigkeiten, die große vorbereitende Verhandlungen mit Bonn; die Franzosen sind finanziell zu schwach.
Gegensätze mildern sollen. Anfang Juli wird in der DDR die D-Mark Bleibt nur Bonn als Finanzier.
Die Sowjets wollen über vieles pala- eingeführt, danach starten Gespräche zur Gorbatschow lässt Kohl ausrichten, das
vern, nicht nur über Grenzen oder Vier- Übernahme der westdeutschen Rechts- Kremlreich befinde sich in einer „Phase
mächte-Status, sondern auch über das ordnung. der Krankheit“ und brauche „Sauerstoff“,
Verbot von Neonazis oder die Entschädi- Moskau kann das Spiel nicht ewig auf- so etwa 20 Milliarden Mark.
gung sowjetischer Zwangsarbeiter. Julij halten. Kohl und Genscher ermöglichen den
Kwizinski ist der führende Kopf auf Sei- Ein hoher US-Diplomat erörtert mit ei- Kredit, wenn auch nur ein Viertel des Ge-
ten Moskaus. „Ein in der Wolle gefärbter nem Bonner Kollegen die Lage. Blockie- wünschten. Und natürlich geben sie das
Kommunist, ein absoluter Überzeugungs- ren die Sowjets über den DDR-Beitritt Geld nicht umsonst.
täter“, sagt Kastrup heute über sein da- hinaus, könnten die Westmächte ihre Sie- Die Deutschen wollten die Wiederver-
maliges Gegenüber. gerrechte einseitig aufgeben. Das ist so- einigung, die Sowjets wollten ihre wirt-
Kastrup und US-Verhandlungsfüh- zusagen der Plan für den Notfall. Die schaftlichen Reformen, sagt Genscher zu
rer Zoellick drücken hingegen aufs Tem- Sowjetunion wäre dann im geeinten Schewardnadse, daraus ergebe sich eine
po: kurze Tagesordnung, Lage, in der man sich helfen
schnelle Gespräche, rasche oder einander Schwierigkei-
Einheit. ten bereiten könne.
Laut Verhandlungsproto- Allerdings sucht man den
koll versucht Moskau immer Eindruck eines Deals zu ver-
wieder, einen (rangniederen) bergen, was misslingt. Bitter
Sonderstatus für das geeinte klagt Schewardnadse, die
Deutschlands festzuschrei- Öffentlichkeit glaube, „die
ben. Etwa als die Runde Sowjetunion werde gegen ei-
über einen Verzicht von nen großen Kredit ja zur
Atomwaffen spricht. In der Mitgliedschaft des vereinig-
Sache ist dieser Verzicht un- ten Deutschlands in der
umstritten. Nato sagen“. Genscher heu-
Nur: Erfolgt er als souve- chelt Erstaunen: „Dies ist un-
räner Akt der Deutschen, glaublich und unerhört. Es
die das dann öffentlich erklä- gibt eben unverantwortliche
ren? Oder soll es eine ge- Schwätzer, denen der Mund
meinsame Stellungnahme gestopft gehört.“
aller Verhandlungspartner Intern sprechen beide Sei-
geben, aus der sich ein Mit- ten Klartext. Mit Krediten
spracherecht der Alliierten wolle man „die sowjetische
ableiten lässt? Zustimmung (zur Nato-Mit-
GETTY IMAGES
wiederholt Bush am Telefon die Nach- auf 8, Gorbatschow zeigt sich empört. Er Genscher ist bester Laune und diniert
richt vom Durchbruch, doch der Kanzler komme sich vor, als sei er „in eine Falle mit seinem Kollegen Douglas Hurd in der
lässt sich in seinem Redeschwall über den geraten“. Kohl entgegnet, „so könne Residenz des deutschen Botschafters. Der
Stand der sowjetischen Wirtschaft nicht und wolle man nicht miteinander reden“. Diplomat lässt Kaviar servieren, denn
bremsen. Sie wollen beide nachdenken. Drei Thatchers Außenminister erklärt sich be-
Bush schickt schließlich einen Brief. Tage später bietet Kohl maximal 12 Mil- reit, ein letztes Problem aus der Welt zu
Sechs Wochen später klären Kohl und liarden. Gorbatschow droht, dann „müs- schaffen. Die Briten wollen unbedingt für
Genscher während eines Besuchs bei Gor- se praktisch alles noch einmal von An- die Westmächte das Recht festschreiben,
batschow die anderen großen Fragen: fang an erörtert werden“. Da legt Kohl in der ehemaligen DDR Manöver abzu-
Wann wird Deutschland souverän? Zeit- einen zinslosen Kredit über 3 Milliarden halten, die Sowjets wollen das unbedingt
gleich mit der Einheit. Wann ziehen die Mark obendrauf, und Gorbatschow verhindern. Ein absurder Streit.
sowjetischen Truppen ab? In maximal stimmt zu. Man werde keine Schwierigkeiten ma-
vier Jahren. Welchen militärischen Status Der Moralist weiß, dass dies keine chen, erklärt nun Hurd und instruiert ei-
bekommen die neuen Bundesländer? Glanzstunde ist. Er sei „kein Händler und nen Mitarbeiter, die britische Verhand-
Normales Nato-Gebiet, nur dürfen dort schon gar kein Erpresser“, sucht er sich lungsdelegtion anzurufen.
keine ausländischen Nato-Truppen und gegenüber Genscher zu rechtfertigen, wie Glücklich fährt Genscher kurz vor Mit-
keine Atomwaffen stationiert werden. ein deutscher Diplomat protokolliert. ternacht zurück ins Hotel. Da kommt ihm
Im Gegenzug verzichtet auf dem Flur Kastrup entge-
Bonn mit viel Tamtam auf gen. „Ihre Fröhlichkeit wird
Dinge, an denen den meisten Ihnen gleich vergehen“, sagt
Deutschen in Ost und West er, die Briten seien trotz
nichts liegt. Bundeswehr und Hurds Zusage hart geblieben,
Nationale Volksarmee sind und soeben hätten die So-
viel zu groß, da fällt die Ver- wjets die Vertragsunterzeich-
pflichtung leicht, die Streit- nung für den nächsten Tag
kräfte des geeinten Deutsch- abgesagt. Hat Thatcher von
lands zu reduzieren. Gern London aus eingegriffen?
sagt Kohl zu, auf ABC-Waf- Unglaublich. Deutschland
fen zu verzichten. Die Oder- wird nicht souverän, weil die
Neiße-Linie akzeptiert er öf- Tommys bei Magdeburg Pan-
fentlich als Ostgrenze, ob- zerfahren üben wollen.
wohl manche Vertriebene Genscher erbleicht und
murren. verlangt sofort, Baker zu
Und selbstverständlich set- sprechen. Der Amerikaner
zen sich die Deutschen be- soll die Briten zur Ordnung
sonders dafür ein, dass die rufen, doch der US-Minister
Nato ihre Militärstrategie re- hat eine Schlaftablette ge-
PAUL LANGROCK / ZENIT
vidiert und vom Kalten nommen, und seine Leute
Krieg Abschied nimmt. weigern sich, ihn zu stören.
Da ein Teil der Verhand- Genscher lässt ausrichten, er
lungen in Gorbatschows Hei- werde sich jetzt auf den Weg
mat stattfinden, verbreiten machen und notfalls persön-
Kohls Helfer hinterher die et- Einheitsfeier vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990 lich Baker wecken.
was übertriebene Version In einem Taxi fährt der in-
vom „Wunder im Kaukasus“. Der 40 Jahre lang unbeachtete Artikel 23 des zwischen wieder von Herz-
Die Zwei-plus-Vier-Ver- Grundgesetzes erweist sich als großer Joker. beschwerden geplagte Deut-
handler kommen nach die- sche morgens um ein Uhr
sen Durchbrüchen allerdings ganz schnell Alle Finanzleistungen an die Sowjet- mit Elbe und Kastrup ins Hotel der Ame-
voran. union, die im Zuge der Wiedervereini- rikaner. Der übermüdete Texaner emp-
Bleibt die Frage des Geldes. Erstaunli- gung anfallen, belaufen sich zusammen fängt im graubraunen Bademantel aus
cherweise tritt Gorbatschow ständig in auf rund 55 Milliarden Mark, dafür müs- Hotelbeständen. Zum Glück versteht er
Vorleistung, auch wenn er keinen Zweifel sen die Westdeutschen 1990 gerade ein- sofort.
daran lässt, dass es bei dem ersten Kredit mal acht Tage arbeiten. Am nächsten Morgen rudern die Briten
nicht bleiben kann. Die letzte Stunde im Deutschland-Spiel zurück.
Vielleicht ist ihm die Situation peinlich. gehört den Briten. Um 12.45 Uhr Moskauer Zeit ist es
Wohl nie in der Geschichte haben Besat- Sie waren gegen die Einheit, als die dann so weit. Wie ursprünglich vorgese-
zer von Besetzten verlangt, die Unter- Mauer noch stand, und sie sind es immer hen, unterzeichnen die Außenminister
künfte für die Truppen der Okkupations- noch, als die Sowjets bereits zugestimmt der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs
armee in deren Heimat zu bezahlen, weil haben. sowie Genscher und DDR-Ministerpräsi-
sie dazu selbst nicht in der Lage sind. Am 11. September 1990 scheint zu- dent de Maizière, der zugleich als Außen-
Dazu die Kosten für den Abtransport und nächst noch alles auf gutem Wege. Die minister amtiert, den „Vertrag über die
eine Umschulung der Militärs. Volkskammer hat den Beitritt gemäß Ar- abschließende Regelung in Bezug auf
Im August beginnt das Zocken. Die tikel 23 für den 3. Oktober beschlossen. Deutschland“.
Russen verlangen über 36 Milliarden Vorher soll in Moskau der Zwei-plus-Vier- Die Zeremonie ist denkbar nüchtern.
Mark, die Deutschen bieten 3. Beim Vertrag über die äußere Einheit unter- Sie findet in einem schmucklosen Neben-
Stand von 18,5 Milliarden Mark Forde- zeichnet werden. Die Außenminister der raum des Hotels Oktober statt. Nicht ein-
rung zu 6 Milliarden Angebot schalten sechs Staaten sind schon angereist oder mal Blumen hat man aufgestellt.
sich die Chefs ein. Am 7. September te- auf dem Weg in die sowjetische Haupt- Wozu auch. Außer den Deutschen hat
lefonieren sie miteinander: Kohl erhöht stadt. sich ja niemand gefreut. KLAUS WIEGREFE
52 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
SPI EGEL-GESPRÄCH
SPIEGEL: Aber Amerika hatte eine Bedin- rikanischen Interesse, dass ein vereinigtes sich jedes Land seine Verbündeten selbst
gung: Das vereinte Deutschland musste Deutschland Teil der Nato sein würde. aussuchen könne. Kaum hatte er es gesagt,
volles Nato-Mitglied werden. Damals SPIEGEL: Nationale Interessen sind also schoben wir Berater eine Notiz zu Präsi-
glaubte kaum jemand, dass der Präsident wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht dent Bush. Darauf stand: Lassen Sie es ihn
der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der Völker? noch einmal sagen. Also sagte Bush – und
das akzeptieren würde. War das nicht in- Rice: Nein. Wenn die Deutschen gesagt ich zitiere aus meiner Erinnerung: „Nur
direkt ein Versuch der USA, die Einheit hätten: Wir wollen kein Nato-Mitglied um sicherzugehen, dass wir uns richtig ver-
auf die lange Bank zu schieben? sein, hätten wir das natürlich akzeptieren stehen. Sie haben gerade gesagt, dass nach
Rice: Nein. Aber in der Endphase des müssen. der Schlussakte von Helsinki Länder selbst
Kalten Krieges konnten wir uns keinen SPIEGEL: Und was wäre dann passiert? über ihre Allianzen bestimmen können.“
Fehltritt leisten. Deutschland aus der Nato Rice: Zum Glück ist das nicht eingetreten. Und Gorbatschow sagte wieder ja.
zu reißen wäre ein schwerwiegender Feh- SPIEGEL: Aber Sie müssen doch einen Plan SPIEGEL: Woher kam der Sinneswandel?
ler gewesen. Es hätte das Ende der Allianz B gehabt haben. Rice: Für mich ist das immer noch ein Rät-
bedeutet, des wichtigsten Vehikels für Rice: Es gab keinen Plan B. Plan B war, sel. Wir waren uns nicht sicher, ob Gor-
amerikanischen Einfluss in Europa. Plan A zum Erfolg zu führen. Wir sahen batschow auf die Helsinki-Diskussion
SPIEGEL: Doch für die Russen war den auch als einen Weg, um britische und nicht vorbereitet war und ihm nicht klar
die Nato-Mitgliedschaft des vereinten französische Bedenken gegen die Einheit war, was seine Bemerkung für die deut-
Deutschlands ein rotes sche Frage bedeutete. Oder
Tuch. ob er eingesehen hatte, dass
Rice: Selbst US-Außenpoli- er den Prozess ohnehin nicht
tiker spielten zu der Zeit aufhalten konnte. Selbst sei-
alle möglichen Alternativen ne Berater waren perplex.
durch – bis hin zur gleichzei- SPIEGEL: Hatten Sie Angst, er
tigen Auflösung des War- würde seinen Satz wieder zu-
schauer Pakts und der Nato. rücknehmen?
Aber uns im Weißen Haus Rice: Und ob. Abends habe
war immer klar, dass ein ver- ich zum sowjetischen Bot-
eintes Deutschland Nato-Mit- schafter in Washington ge-
glied sein muss. Alles andere sagt: „Morgen früh wird Prä-
wäre einer Kapitulation sident Bush in der Pressekon-
Amerikas gleichgekommen – ferenz sagen, er und Präsi-
ausgerechnet in einer Phase, dent Gorbatschow stimmten
da sonst alles für uns zu lau- überein, dass Länder selbst
WHITE HOUSE
Tempo Angst? chert.
Rice: Nein. Eigentlich dachte SPIEGEL: Hätte man die Bezie-
ich schon seit dem Mauerfall, hung zu den Russen anders
dass alles so schnell wie mög- Politiker Kohl, Bush, Baker 1990 in Camp David gestalten können? 20 Jahre
lich laufen muss. Das Zeit- nach der Wiedervereinigung
fenster war so eng – die Rus- „Wir wollten auf jeden Fall, scheint Moskau die Folgen
sen mussten stark genug sein, dass Kohl gewinnt.“ immer noch nicht verdaut zu
um ihre Rechte abtreten zu haben.
können. Aber sie durften auch nicht so merhin ging es um den historischen Rice: Dieser Frust hat mehr mit dem
stark sein, dass sie den Prozess aufhalten Jackpot – die deutsche Einheit. Da sollte Kollaps der Sowjetunion zu tun als mit
konnten. Ob das alles ein Jahr später nicht auf einmal etwas schieflaufen, der deutschen Wiedervereinigung. Die
möglich gewesen wäre, als die Sowjet- weil ein neuer deutscher Kanzler ent- wilde Privatisierung unter Boris Jelzin
union bröckelte? Wohl nicht. scheidet, dass die Vereinigung langsamer Anfang der neunziger Jahre haben
SPIEGEL: Trotzdem: Sie waren sauer, dass ablaufen soll. Die Details waren wichtig. viele Russen als chaotisch und demüti-
Kohl im November 1989 seinen Zehn- Deutsche Nato-Mitgliedschaft war wich- gend empfunden. Heute ist Russland ein
Punkte-Plan ohne jede Absprache im tig. Dass es schnell geht, war wichtig. Land mit vielen Problemen – seine post-
Bundestag präsentierte. SPIEGEL: Und unter einem Kanzler Lafon- imperiale Rolle hat es noch nicht ge-
Rice: Wir hatten keine Ahnung, dass der taine wäre all das in Gefahr gewesen. funden.
Plan kommen würde. Rice: Es ist unvorstellbar, dass ein deut- SPIEGEL: Als Sicherheitsberaterin von
SPIEGEL: Nicht einmal Präsident Bush? scher Kanzler sagt: „Ich will die deutsche George W. Bush waren Sie frustriert, dass
Rice: Niemand wusste etwas. Einheit nicht.“ Aber es wäre vorstellbar Kanzler Gerhard Schröder gegen den
SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert, als Sie gewesen, dass es eine lange Übergangs- Irak-Krieg mobilmachte. Fanden Sie die
von Kohls Plan erfuhren? phase gibt. Oder dass am Ende nicht nur Deutschen da undankbar?
Rice: Der Inhalt störte mich nicht beson- ein Staat nach westdeutschem Zuschnitt Rice: Partner können auch mal verschie-
ders. Aber darüber, dass wir nicht infor- übrig bleibt, wie wir uns die Einheit dener Meinung sein. Mich hat enttäuscht,
miert worden waren, waren wir nicht vorstellten. Ähnliche Bedenken hatten den Kanzler neben dem französischen
glücklich. wir über die Pläne von Bundesaußen- und dem russischen Präsidenten gegen
SPIEGEL: Rief das Weiße Haus den Kanzler minister Hans-Dietrich Genscher. Dem den Krieg protestieren zu sehen. Die
danach zur Räson? schwebte wohl auch eine Art Zusammen- Deutschen mögen anderer Meinung sein,
Rice: Ich glaube, dass Bushs Sicherheits- schluss der beiden deutschen Staaten vor. aber sie sollten aufgrund unserer Ge-
berater Brent Scowcroft seinen deutschen Ich sah die Einheit eher wie eine Über- schichte in so einer Situation nicht neben
Amtskollegen Horst Teltschik anrief und nahme. dem russischen Präsidenten stehen.
sagte: „Wie konnte das publik werden, SPIEGEL: Hielten Sie Helmut Kohl damals SPIEGEL: Madam Secretary, wir danken Ih-
ohne dass wir was davon wussten?“ Die für einen schwachen Kanzler? nen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 55
Deutschland
E
s ist schon wieder einer dieser Tage, Zahlenreihen wie diese kennen fast alle Die begnügen sich mit weniger Wasser,
an denen der Nachschub stunden- deutschen Wasserversorger. Im Jahr 2000 pusten dafür aber wie ein Föhn mehr Luft
lang vom Himmel fällt. Friedrich leitete das Werk noch etwa 110 Millionen durch die Brause. Der deutsche Verbrau-
Reh, 48, Chef des Wasserwerks Haltern, Kubikmeter ins Netz. Voriges Jahr waren cher, der auf Druck der EU gerade Ab-
sitzt in seinem Büro und fährt den Com- es nur noch 90 Millionen, Tendenz weiter schied von der alten Glühbirne nehmen
puter hoch. Draußen prasselt der Regen sinkend. Die Industrie setzt zunehmend muss, wird sich womöglich bald auf das
in schrägen Strichen auf den benachbar- auf Wasseraufbereitung, Städte verlieren morgendliche Duschen mit schwachem
ten Stausee, läuft über die abschüssigen Einwohner, die Landwirtschaft wird meist Strahl einstellen müssen.
Wege vor dem Verwaltungsgebäude, vom Regen verwöhnt. Doch auch die pri- Ließe sich dabei gespartes Wasser nach
pitscht auf die Rohre, durch die jeden Tag vaten Kunden fragen weniger Wasser nach. Spanien oder Portugal transportieren,
250 Millionen Liter Trinkwasser in die Die Deutschen scheiterten in den ver- würde sich eine derartige Reform im Bad
Städte und Gemeinden des nördlichen gangenen 20 Jahren daran, alle Einspar- vielleicht noch auszahlen. Doch eine lan-
Ruhrgebiets gepumpt werden. möglichkeiten für Sprit und Strom zu nut- ge Reise durchs Rohr nach Andalusien
Reh und sein Arbeitgeber Gelsenwas- zen. Beim Wasser waren sie dafür umso oder an die Algarve ist weder geplant,
ser könnten in diesem feuchten Spätsom- gründlicher. Sie statteten ihre Klos mit noch würde es das Wasser vertragen; spä-
mer, in dem es in Haltern so viel regnet Spartasten fürs kleine Geschäft aus, trenn- testens im Elsass wäre es so toxisch, dass
wie noch nie seit Beginn der Wetterauf- ten sich von verbrauchsintensiven Wasch- man es teuer aufbereiten müsste.
zeichnung, mehr und besseres Wasser ver- maschinen, bauten sich Regenwasser- Wer den Deutschen wassersparende
kaufen als jemals zuvor. Es sickert fast zisternen in den Garten. Viele dieser mitt- Brausen aufzwingen will, könnte nach der
70 Meter tief durch sandige Filterböden lerweile weit über eine Million Anlagen gleichen absurden Logik auch den Süd-
auf dem Werksgelände und wird im La- werden sich nie amortisieren, weil mit spaniern vorschreiben, nachmittags im In-
bor jeden Tag von Mitarbeitern mit dem eingefangenen Wasser oft nur ein teresse Nordfinnlands kein Sonnenlicht
Mundschutz auf Sauberkeit und Optik paar Stiefmütterchen gegossen werden. mehr ins Haus zu lassen. „Solche Pläne
kontrolliert. Vor einigen Wochen setzte Doch beim Wassersparen verzichten viele machen für Deutschland also keinen
es sich bei einem Geschmackstest sogar Bürger auf Kosten-Nutzen-Rechnungen. Sinn“, sagt VKU-Hauptgeschäftsführer
gegen teure Flaschen-Konkurrenz aus Ka- So schafften es die Deutschen, ihren Hans-Joachim Reck, ehemals Bundesge-
nada und Italien durch. Dennoch schei- Pro-Kopf-Verbrauch seit 1990 von 147 auf schäftsführer der CDU. „Vorschriften die-
nen die etwa eine Million Kunden mit 122 Liter zu senken. Sie waren damit spar- ser Art sind für die Deutschen teuer und
dem Wasser aus Haltern zu hadern. samer als fast alle anderen Europäer. für die Umwelt sinnlos“, sekundiert Gun-
Der Werksleiter öffnet eine Datei mit Doch waren sie sparsam genug? Die EU- da Röstel, ehemaliges Mitglied des grünen
den Statistiken der vergangenen Jahre. Kommission hat da offenbar Zweifel. We- Bundesvorstands und jetzige kaufmän-
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Deutschland
147
Ebbe beim Verbrauch
Personenbezogener Wasser-
140 konsum pro Einwohner
in Deutschland, in Litern pro Tag
130 129
122
120 WASSERRESSOURCEN
in Deutschland 2007
188 Mrd.
110
Kubikmeter davon 14,5%
nichtöffentliche
Wasserversorgung
GERALD HAENEL / LAIF
davon
100 2,7 % öffentliche Quelle:
Wasserversorgung BDEW
1990 2000 09
Wasserwerk am Bodensee: Fauliger Gestank aus der Kanalisation
nische Chefin der Dresdner Stadtentwäs- zent der sich jährlich erneuernden Was- gar nichts anderes übrig, als die alten di-
serung. Eigentlich, sagt Martin Weyand servorkommen verbraucht. cken Rohre durch neue, dünnere zu er-
aus der Hauptgeschäftsführung des Bun- Dennoch lernen deutschen Schulkinder setzen und dadurch die Fließgeschwindig-
desverbandes der Energie- und Wasser- noch immer im Unterricht, dass Wasser- keit zu erhöhen. Wenn der Verbrauch
wirtschaft, müsste man den Spieß umdre- sparen auch hierzulande eine Art Überle- noch einmal um 25 Prozent sinkt, müsste
hen. „Eigentlich wäre es nämlich besser, bensfrage ist. Außerdem helfe man dür- allein Gelsenwasser nach eigenen Anga-
die Deutschen würden etwas mehr statt regeplagten afrikanischen Hirsebauern, ben noch einmal etwa 400 Millionen Euro
weniger Wasser verbrauchen.“ wenn man der Mama zu Hause das wö- investieren, um die Infrastruktur der sin-
Das Verhältnis der Deutschen zu ihrem chentliche Vollbad ausrede. Organisatio- kenden Nachfrage anzupassen.
Wasser ist ein Verhältnis voller Missver- nen wie der Bund für Umwelt und Natur- Das alles hat VKU-Hauptgeschäftsfüh-
ständnisse. Seit Jahren glauben viele Ver- schutz (BUND) halten dem Verbraucher rer Reck kürzlich Vertretern der EU-Kom-
braucher, es diene langfristig ihrem Porte- vor, dass er Tag für Tag den Inhalt von mission in Brüssel erzählt. „Die scheinen
monnaie, beim Zähneputzen das Wasser umgerechnet dreieinhalb Putzeimern ein- dort aber bisher noch nicht zu verstehen,
auszustellen. Die Fixkosten der Versorger fach so das Klo hinunterspüle. Er putze dass man zum Beispiel Spanien nicht mit
für Werke, Rohre und Kanäle liegen al- sein Gemüse unter fließendem Wasser und Deutschland vergleichen kann“, glaubt
lerdings bei weit über 80 Prozent. Sin- stecke Kleidung in die Maschine, obwohl Reck. Joe Hennon, Sprecher des EU-Um-
kende Nachfrage kontern sie daher regel- sie eigentlich nur gelüftet werden müsse. weltkommissars Janez Potocnik, lässt mit-
mäßig mit höheren Kubikmeterpreisen. Der Deutsche Verbraucher, suggeriert teilen, dass die Überlegungen in Sachen
Wie groß die Informationsdefizite deut- der BUND auf einer Internetseite, müsse Duschkopf ja auch noch am Anfang stün-
scher Wasser-Kunden sind, merkt Jörg sich mehr anstrengen, wenn er sich öko- den. Man überprüfe zurzeit mit Hilfe
Rechenberg vom Umweltbundesamt in logisch korrekt verhalten wolle. Dabei mehrerer Studien, was die richtige Was-
Dessau besonders im Hochsommer. ginge es auch einfacher: mehr Leitungs- sersparstrategie für Europa sei.
Wenn die Temperaturen auf über 40 Grad wasser trinken. Das tun die Deutschen UBA-Mitarbeiter Rechenberg hat da
klettern, klingelt in seinem Büro regel- weniger als andere Europäer. Stattdessen schon einige Ideen. Statt irgendeinen
mäßig das Telefon, und ein besorgter Bür- kaufen sie lieber Wässer in Flaschen, die „Duschkopf-Pipifax“ zu befördern, könn-
ger ist dran. Ob man noch sorglos du- über Tausende Kilometer mit Lkw ins ten die Brüsseler Bürokraten überlegen,
schen könne? Ob man den Kindern das Land transportiert werden. Diese Wässer wie sinnvoll der Gemüseanbau in kno-
Planschbecken vollmachen dürfe? Re- haben eine katastrophale CO2-Bilanz, chentrockenen Landstrichen wie Anda-
chenberg, zuständig für das Thema Was- sind bis zu 500-mal so teuer und keines- lusien ist. Sie könnten den Bau von durs-
serwirtschaft, mahnt dann immer zu wegs von besserer Qualität. tigen Golfplätzen in wüstenähnlichen ibe-
mehr Gelassenheit. „Duschen Sie“, sagt Weil die Deutschen ihr Wasser ver- rischen Landstrichen hinterfragen. Sie
er, „planschen Sie, Sie brauchen dabei schmähen, rücken zum Beispiel Gelsen- könnten auch nachschauen, was in Spa-
kein schlechtes Gewissen bekommen.“ wasser-Mitarbeiter jeden Tag in ihren niens, Italiens oder Bulgariens Unterwelt
Im Flur vor Rechenbergs Büro hängt weiß-blauen Bullis aus, um einen unge- vor sich geht, schlägt Rechenberg vor.
eine Deutschlandkarte, die er den Anru- wöhnlichen Job zu erledigen: Sie steuern Während im deutschen Versorgungs-
fern dann gern zeigen würde. Sie ist fast Hydranten in Gelsenkirchen und Umge- system nur etwa acht Prozent des Trink-
vollständig blau. Sie zeigt ein Land, in bung an und lassen dabei etwa 800 000 Li- wassers auf dem Weg zum Kunden verlo-
dem es von Flüssen, Bächen und Kanälen ter Trinkwasser ab. Das provoziert zwar rengeht, gleichen die Rohre vieler euro-
nur so wimmelt. Ein Land, in dem es so regelmäßig Proteststürme von Spaziergän- päischer Nachbarn einem Schweizer
viele Seen und Grundwasservorkommen gern, doch nur so kann Gelsenwasser die Käse. Was aus den Wasserwerken heraus-
gibt, dass seine Bewohner gar nicht dage- Trinkwasserqualität garantieren. gepumpt wird, kommt manchmal nur zu
gen anprassen könnten. Was aus deut- Fließt nicht genügend durch die Rohre, etwa 60 Prozent beim Kunden an. Der
schen Hähnen gezapft wird, regnet allein droht das Wasser zu verkeimen; außer- Rest dringt durch Löcher und Risse und
fünffach wieder herunter. So wurden im dem lagern sich Kupfer, Nickel und Blei versickert einfach im Erdreich.
vergangenen Jahr gerade einmal 2,7 Pro- ab. So bleibt den Versorgern mancherorts GUIDO KLEINHUBBERT
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Szene Gesellschaft
Was war da los,
Frau Robertson?
Die Amerikanerin Sammi Robertson, 17, über ihren
Einsatz für krebskranke Kinder
„Zweieinhalb Jahre habe ich meine Haare wachsen
lassen. Fast bis zur Taille. Und fünf Minuten hat’s
gedauert, bis mein Kopf kahlrasiert war. Es war auf-
regend, das Surren des Rasierers, das Adrenalin in
meinem Blut. Und fast 50 andere Frauen, die sich
eine Glatze scheren lassen – aus Solidarität mit den
Kindern, die keine Wahl haben. Ich selbst war zehn
Jahre alt, als Ärzte einen Gehirntumor entdeckten.
Sie haben mich 38-mal operiert – und die Ärzte
konnten den Tumor entfernen. Ich habe es damals
nicht begriffen, aber heute weiß ich: Die Lage war
ernst. Deshalb unterstütze ich zusammen mit mei-
ner Mutter die Aktion ,46 Mommas‘. Das sind Müt-
FOTOBÄNDE absolut präzise zu planen und den- ka entstehen, sind mir zu laut, zu
noch zu improvisieren. Zum Beispiel platt, Explosionskino, eine Computer-
„Ich bin der Typ, die Sache mit der Katze …
SPIEGEL: Katze?
Animation folgt der nächsten.
SPIEGEL: Warum ist das so?
der weint“ Schapiro: Beim ersten Teil vom „Paten“
gibt es diese Szene, in der Marlon Bran-
Schapiro: Weiß ich nicht, angeblich ist
die Aufmerksamkeitsspanne so ge-
SPIEGEL: Herr Schapiro, do als Vito Corleone in seinem Büro schrumpft. Wenn nicht alle fünf Se-
Ihre Ausstellung mit sitzt. Das drehte Francis, und irgendwie kunden eine Riesenwelle kommt, hat
Aufnahmen aus dem war eine Katze ständig am Set, schlich der Film keine Chance, heißt es.
Film „Der Pate“ haben da herum, vielleicht war sie auf Mäuse- SPIEGEL: Sie gehen aber noch ins Kino?
Sie soeben in Stock- jagd, jedenfalls sagte jemand halblaut: Schapiro: Klar! Aber wissen Sie, früher
holm eröffnet, ein Buch „Scheuch mal einer dieses verflixte ging ich ins Kino, weil ich mich berüh-
mit Bildern aus „Taxi Viech weg!“, und Francis hörte das – er ren lassen wollte von der Story, ich
Schapiro Driver“ erscheint in ließ sich die Katze bringen und gab sie bin der Typ, der im dunklen Saal
diesen Tagen – Sie wa- Marlon Brando, und die Szene, in der weint. Heute passiert das seltener.
ren oft als „Special Photographer“ bei der mächtige Don Vito die Katze strei-
Dreharbeiten zugegen, als berühmte chelt, während er sein Reich regiert, Steve Schapiro, Paul Duncan (Hg.): „The Godfather
Filme entstanden. Wie ist es, wenn war viel intensiver. Zu solchen Beob- Family Album“. Taschen-Verlag, Köln; 528 Seiten;
49,99 Euro. Steve Schapiro, Paul Duncan (Hg.):
solch ein Meisterwerk entsteht? achtungen hatte ich Zeit, ich durfte ja „Taxi Driver“. Taschen-Verlag, Köln; 328 Seiten;
Schapiro: Man spürt eine eigenartige nur zu gewissen Zeiten knipsen. limitierte und signierte Ausgabe, 500 Euro.
Konzentration und Intensität. Wissen SPIEGEL: Wie viele Bilder
Sie, ein Film ist Zusammenarbeit, und machten Sie von einem
irgendwie wurden alle davon ange- Film?
steckt, für mich war das eine tolle Er- Schapiro: Ich drückte wäh-
fahrung, eine Ehre. rend der Dreharbeiten
FOTOS: STEVE SCHAPIRO © 2008 PARAMOUNT PICTURES
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE durfte genau drei Jahre zur Gujarati
Primary School, Prahlad Jani lernte
A
ls Mr. Gupta erfuhr, dass der konferenz erfuhr, war er entsetzt. Der nehmen, dass er sich Beistand herbei-
heilige Mann in der Stadt sei, Fall habe durchaus nationale Bedeu- phantasierte. Jedenfalls habe er an
war er erst erschrocken, dann tung, so hatten es die Ärzte zu Proto- seinem 16. Geburtstag göttlichen Be-
aber war er wütend und entschlossen, koll gegeben – wenn man nämlich das such bekommen, so seine Legende.
gegen ihn zu kämpfen. Er griff zum Geheimnis lüfte, wie ein Mensch ohne Die indische Götterwelt ist, bei al-
Telefon. Er würde Mitstreiter brau- Flüssigkeit und Nahrung überleben lem Respekt, unübersichtlich. 330 Mil-
chen. könne, jahrelang, könne man wahr- lionen Gottheiten, Semi-Götter, Ex-
Sunil Gupta, 47 Jahre alt, ist zentriker, Dämonen, Avatare,
Geschäftsmann, in Ahmedabad, Büffel, Ratten, Elefanten, Zau-
einer Millionenstadt im Nordwes- bertränke, kosmische Tänze. Die
ten Indiens. Er ist ein Gentleman, Theologie ist ein Supermarkt der
sanftmütig, er hat gern einen Ku- Mythen, und man weiß nicht,
gelschreiber in der Hemdtasche wer Verkäufer ist, Kunde, Ware.
und Prinzipien in seinem Leben. Die Göttin Durga erschien
Die Gurus seiner Heimat, ihre Le- Prahlad Jani in einem weißen
genden, der Aberglaube, den sie Licht und berührte seine Zunge.
verbreiten – das alles findet er wi- Von da an habe er keinen Hunger
derlich, rückständig. Gupta, Ver- mehr verspürt. Bald gründete er
nunftmensch, kämpft für ein mo- seine Sekte, holte die Familie ins
dernes Indien, für Wissenschaft Geschäft; Jahrzehnte später ist
und Wahrheit, ja, sie haben sogar daraus ein florierendes Unterneh-
einen Verein, die Gujarat Mumbai men geworden. Er spendet als
Rationalist Association, deren Guru Segen, Kranke und Bedürf-
Ortspräsident er ist. tige kommen und zahlen; es gibt
Gupta recherchierte: Der heili- inzwischen einen Tempel mit viel
ge Mann, Prahlad Jani, war gegen Marmor, Goldfarbe, Klimaanlage.
neun Uhr morgens eingetroffen, Für Gupta ist klar, warum Prahlad
seine Anhänger hatten gemeint, Jani solch eine Story erfand: Der
er werde sich aus einer leuchten- Mann wurde reich und berühmt.
den Wolke materialisieren, aber Die Ärzte kamen zu dem Er-
das stimmte nicht, er kam mit gebnis, dass Prahlad Jani 14 Tage
dem Auto. Vorm Haupteingang und Nächte hindurch nichts zu
des Sterling-Krankenhauses war- sich genommen, nicht uriniert
teten seine Anhänger, hysterisch- habe. Gupta und seine Mitstreiter
verzückt, eine Delegation der von der Association schlugen vor,
AFP
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Gesellschaft
MUSIK
Silly-Sängerin Loos in Schwerin am 18. September: Sie haben sich entschieden, keine Ost-Rock-Konzerte mehr zu spielen
68 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wahrscheinlich ist es genau gehen und zwei neue Songs zu spielen. Die Frage ist, ob der Westen schon
dieser Septemberabend in Super, Mensch!“ weich genug ist. Ein durchlässiges, erober-
Berlin-Wuhlheide, an dem Uwe Hassbecker, der Silly-Gitarrist, bares Gebiet für eine Band mit Vergan-
sich die Band endgültig sagt später, dass man mit dem MDR über genheit.
JAHRE aus der Vergangenheit löst. die neuen Songs verhandeln musste. Der Vor ein paar Tagen saßen Silly bei Ste-
Wahrscheinlich passiert es in MDR zeichnet den Abend auf, irgend- fan Raab im Studio. Sie stellten ihre neue
einem kurzen Moment zwischen zwei wann wird er im Fernsehen laufen, es Single vor, mit der sie Anfang Oktober
Songs, nach „Mont Klamott“ von 1983 wird wohl auch eine DVD geben, und der auch beim Bundesvision Song Contest
und „Warum ich?“ von 2010. MDR hätte lieber drei alte Songs gehabt, antreten werden, den Raab organisiert.
„Mont Klamott / auf’m Dach von Ber- DDR-Liedgut. Weil es besser zur Ziel- „Was war denn euer erfolgreichster
lin. Mont Klamott / sind die Wiesen so gruppe passe. „Wir haben dann gesagt, Song vor der Wende?“, fragte Raab jetzt.
grün“, hatte Anna Loos gerade gesungen, wir spielen nur einen alten und zwei neue „Das, was jeder kennt im Osten? So wie
die Leute vor der Bühne hatten die Hän- Songs. Oder wir spielen gar nicht“, sagt ,Alt wie ein Baum‘ von den Puhdys?“
de gereckt und waren in der Zeit zurück- Hassbecker. Ritchie Barton, der Silly-Keyboarder,
geflogen. Zurück ins morsche Ost-Berlin Die Band kann es sich leisten. Wieder lächelte. Es war, als moderiere Dagmar
mit seinen Kohleöfen und Zweitaktmo- leisten, muss man sagen. Silly haben ein Frederic noch den „Kessel Buntes“ im
toren, hinauf auf den Mont Klamott, den neues Album draußen, das auf Platz drei DDR-Fernsehen und würde Marius Mül-
alten Trümmerberg in Friedrichshain. in die Charts schoss und sich auch im ler-Westernhagen plötzlich fragen: Sag
„Dort hängen wir zum Weekend die Lun- Westen gut verkauft. Vor ein paar Wo- mal, was ist denn eigentlich dein größter
gen in den Wind / bis ihre schlappen Flü- chen bekam die Band eine „Goldene Hit da drüben? „Na ja“, sagte Barton
gel so richtig durchgelüftet sind.“ Schallplatte“ überreicht für über 100 000 jetzt. „Unser Ost-Hit, sozusagen, war ,Ba-
Es war immer noch ein guter Song, und verkaufte Alben. Eine Marke, die keine taillon d’amour‘.“
er passte gut hierher, zu „Ostrock in Klas- der alten Ost-Bands in den vergangenen „O-ho-ho!“, sagte Raab, als hätte Bar-
sik“ am 11. September, einer Art All- 20 Jahren erreicht hat. Nicht mit einem ton einen schweinischen Witz erzählt.
Stars-Konzert. Ein paar alte Bands treten „Das war erlaubt? Ein französisches, ka-
auf, singen zwei, drei Songs, ummalt vom pitalistisches Wort?“
Babelsberger Filmorchester. Das ist, mehr „Offensichtlich“, sagte Barton und starr-
oder weniger, das Konzept. Vor allem te durch Raab hindurch.
aber geht es um eine Art Deal: Die Leute Silly gibt es seit 1978. Von der Urbe-
im Publikum können einen Abend lang setzung ist heute niemand mehr dabei,
durch ihre ostdeutsche musikalische Ver- aber Ritchie Barton, Uwe Hassbecker und
gangenheit spazieren wie durch eine Wes- Jäcki Reznicek, der Bassist, spielen seit
ternkulisse. Die alten Bands auf der Büh- den achtziger Jahren in der Band. Die
ne sind noch einmal gefeierte Helden. Sängerin hieß Tamara Danz, und sie sang
Man wärmt sich aneinander, man hält lakonisch, herb, teils ordinär, oft kühl,
sich aneinander fest, man belügt sich ein aber was sie sang, schien irgendwie zu
UTE MAHLER / OSTKREUZ
bisschen. Dann geht man nach Hause. stimmen. Die Texte schrieb ihr der Rock-
Aber jetzt steht Anna Loos am Büh- Dichter Werner Karma auf den Leib.
nenrand, das Mikro zwischen den Fin- Silly und andere DDR-Bands hatten es
gern, und erklärt dem Publikum, dass nicht leicht im Osten, weil sie genauso
Silly den Deal platzen lassen. „Wir leben, am Westen gemessen wurden wie Jeans,
wie ihr ja auch, im Hier und Heute. Im Silly-Sängerin Danz 1985 Kassettenrecorder oder Kaffee. Es gab
Jahr 2010. Deshalb spielen wir jetzt zwei „So einen Scheiß singe ich nicht“ noch keinen „Ost-Rock“ damals. Der Be-
neue Songs von unserem neuen Album“, griff entstand erst nach der Wende. Man
sagt sie und schaut ins Publikum. Die Leu- neuen Album. Es war, wenn man so will, sagte „Ost-Musik“, und es war nicht nett
ten wirken nicht unzufrieden. Eher über- ein musikhistorischer deutsch-deutscher gemeint.
rascht. Es sind die einzigen neuen Songs, Moment. Ost-Musik spielte ein Discjockey besser
die an diesem Abend in Berlin gespielt Vor allem aber haben sich Silly ent- nicht in einem Jugendclub in Ost-Berlin
werden. Sie schwimmen wie frisches schieden, zukünftig keine Ost-Rock-Kon- Mitte der achtziger Jahre, wenn er Ärger
Fleisch in einem Kessel kalter Suppe. zerte mehr zu spielen. Dieser Abend in vermeiden wollte. Nicht Karat, die nach
Anschließend gehen Silly von der Büh- Berlin ist ihre Abschiedsvorstellung. Sie Schlager klangen, nach den siebziger Jah-
ne, beifallumtost. Vorbei an Dieter „Ma- machen noch mal mit aus alter Verbun- ren. Und auch nicht die Puhdys, damals
schine“ Birr, dem Sänger der Puhdys, der denheit und wahrscheinlich auch, damit schon alt, mit dem grauhaarigen Peter
immer mehr aussieht wie ein altgewor- nicht der Eindruck entsteht, die Band Meyer an den Keyboards, der aussah wie
dener Berliner Taxifahrer, vorbei an Jür- würde vergessen, woher sie kommt. Wur- ein Schulhausmeister. Aber es gab eine
gen Karney, dem Moderator des Abends, zeln sind wichtig, der Osten ist wichtig, Handvoll Bands, die es in die jungen Her-
der früher im DDR-Fernsehen durch die aber Silly setzen gerade an zum Sprung zen schafften. Pankow waren darunter
Schlagersendung „Bong“ führte, vorbei über die alte Zonengrenze. Sie wollen und eben auch Silly. Sie wirkten nicht
an André Herzberg, dem Sänger der schaffen, was die Puhdys, Karat oder „ostig“ – ein größeres Kompliment konn-
Band Pankow, einer der besten, die es im City zuvor nicht schafften. Silly wollen te eine DDR-Band nicht bekommen.
Osten gab. gesamtdeutsch sein. Oder einfach nur Die Szene war klein, überschaubar, so
Backstage, in der engen Band-Gardero- deutsch. Eine Band jedenfalls, an der wie das Land. Im Jahr erschienen in der
be, steht dann die Zukunft. Sie heißt Mi- nicht ständig das Wort „Ost“ klebt wie DDR vielleicht zehn Rock-Alben. Die
chael Schacke, kommt aus Braunschweig altes Papier. Bands tourten von Rostock bis nach Suhl
und zieht jeden aus der Gruppe erst mal „Ost-Band“. „Ost-Rock“. „Ost-Stars“. und wieder zurück. So verdienten sie
an seine Brust. Schacke ist ein junger, an- „Ost-Hit“. Geld. An den eigenen Plattenumsätzen
genehmer Typ und seit gut einem Jahr „Es gibt eine Riesenchance für uns“, waren nur die wenigsten Bands beteiligt.
einer der Manager von Silly. „Super!“, sagt Hassbecker. „Die Zeichen stehen bes- Der größte Mangel, den es in der DDR
sagt Schacke. „So rotzfrech. Da rauszu- ser als je zuvor.“ gab, wenn man jung war, waren nicht die
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Gesellschaft
West-Reisen. Es war der Mangel an Enter- sie ließen uns machen. Nur bei der Plat- Herz. Aber man machte auch nicht wei-
tainment. tenfirma war man unzufrieden. Sie sag- ter. Die Band ruhte.
Am Ende wurden Silly zur erfolgreichs- ten, unsere Texte würde in Deutschland „Alles lief auseinander“, sagt Hassbe-
ten DDR-Band der achtziger Jahre. Drei- niemand verstehen. Gemeint war natür- cker. Er und Ritchie Barton starteten ei-
mal „LP des Jahres“, rund 1,25 Millionen lich Westdeutschland. Deutschland war ne Karriere als Produzenten und Studio-
verkaufte Platten, und die Cover für den Westdeutschland. Ich meine, die saßen musiker, Jäcki Reznicek spielte eine Zeit-
Westen fotografierte Jim Rakete. dort in München, der Osten, der war so lang Bass bei einem Soloprojekt des Ärz-
Als die DDR verschwand, verschwan- weit weg für die. Tamara hat dann bei te-Sängers Farin Urlaub und kümmerte
den auch erst mal die Bands. Im Westen der BMG angerufen und gesagt: ,Okay, sich um seine Dozentur an der Musik-
kannte sie niemand. Im Osten wollte sie dann schickt uns doch mal ein paar Texte.‘ hochschule Dresden. Manchmal spielten
niemand. „Im Osten lief gar nichts mehr“, Na ja, die Texte, die kamen, waren dann sie noch alle drei zusammen in der Live-
sagt Gitarrist Hassbecker. „Die Auftritts- grausam, ganz furchtbares Zeugs. Schla- Band von Joachim Witt.
möglichkeiten, die Veranstalter, die Ver- gertexte. Damit hätten wir die letzten ver- 14 Jahre lang erschien kein neues Al-
anstaltungsorte, wir spielten oft in Kreis- bliebenen Silly-Fans auch noch verprellt. bum. Silly lagen eingefroren unter dem
kulturhäusern – alles verschwand. Und Tamara sagte nur: ,So einen Scheiß singe ewigen Eis wie ein ostdeutscher Mam-
auch das Publikum. Die Leute liefen los, mutknochen. Dort würde die
um sich Tina Turner anzuschauen oder Im Westen kannte sie niemand, Band vermutlich auch immer
Genesis oder die Stones.“ noch liegen, gäbe es nicht
Silly fuhren für ein paar Konzerte nach im Osten wollte sie niemand. Anna Loos, die neue Sängerin.
Dänemark und in die USA, die Verträge Das neue Herz. Sie ist schön,
waren zu DDR-Zeiten geschlossen wor- ich nicht.‘ Und das war’s dann mit dem talentiert und, was vielleicht noch wich-
den, vielleicht noch gedacht als sozialis- Plattenvertrag.“ tiger ist für die Zukunft, in einer Weise
tisch-kapitalistischer Musikaustausch, wer Das nächste Silly-Album erschien 1993, ostdeutsch, die man im Westen kaum be-
weiß? 1990 saß die Band dann im Produk- beim Label Deutsche Schallplatten Berlin, merkt.
tionsstudio von Peter Maffay am ruhigen dem Nachfolger des alten DDR-Musik- Anna Loos steht backstage am Fenster
Starnberger See, um neue Songs aufzu- verlags. Das Album verkaufte sich nicht der Garderobe und raucht. Von draußen
nehmen. Die Plattenfirma BMG hatte ih- schlecht, aber auch nicht gut. Mit dem fliegen Musikfetzen herein, das „Ostrock“-
nen zwei Produzenten aus der Band von nächsten Album, „Paradies“, wollte die Publikum summt, Dirk Michaelis singt
Udo Lindenberg zur Seite gestellt. Es lief Band durchstarten. Aber im Juli 1996, „Als ich fortging“, auch ein großer DDR-
auch ganz gut. „Die Produzenten waren kurz nach der Veröffentlichung, starb Ta- Hit, den man manchmal noch in Wende-
völlig in Ordnung, wir verstanden uns so- mara Danz an Krebs; mit 43 Jahren. Ta- Dokumentationen im Fernsehen hört,
fort“, sagt Ritchie Barton. „Später haben mara Danz war nicht nur die Sängerin. weil der Titel so gut zu passen scheint in
sie uns dann erzählt, dass sie uns eigent- Sie war das Gesicht von Silly. Der Motor, den Herbst 89.
lich in eine glattere, poppigere Richtung die Frontfrau, das Herz. Tamara Danz Es muss seltsam sein, wenn man wie
lenken sollten. Vielleicht wie Pur. Aber war vielleicht der einzige Rockstar, den Anna Loos von außen kommt und plötz-
die DDR je hervorgebracht hat. lich diese Welt betritt, in der die Bands
* Vor dem „Ostrock in Klassik“-Konzert in Berlin am Die Band löste sich anschließend nicht vor allem als Ausstellungsstücke funktio-
11. September. auf. Das brachten die Männer nicht übers nieren. Als tourendes Wandermuseum
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Gesellschaft
für DDR-Musik. Karat haben auch eine nichts. Zu Hause legte ich die Platte auf, sind jetzt so als Edelkomparsen mit da-
neue Platte draußen, aber sie spielen heu- und es haute mich völlig um.“ bei“, sagt Bassist Reznicek.
te keine neuen Songs, sondern nur die Die Platte hieß „Bataillon d’Amour“. Wahrscheinlich ist das der einzige Weg.
guten alten. Sie sitzen in der Ost-Rock- Die Band hieß Silly. Gut 20 Jahre später Das Loch in der Mauer.
Welt wie in einem Indianerreservat. ist Anna Loos vom Fan zur Frontfrau auf- Jochen Schuster, der Plattenboss, der
Ost-Rock ist eine Marke, ein fester Be- gestiegen. Die Band hatte Anna Loos eine die Band für zwei Alben zu Universal
griff, aber weder Anna Loos noch Ritchie Weile beobachtet, getestet. Barton, Hass- holte, dem größten Musikkonzern der
Barton oder die anderen aus der Band becker und Reznicek, alle herausragende Welt, glaubt, „dass der Act irgendwann
können genau erklären, woher der Be- Live-Musiker, waren erst misstrauisch und wiedervereinigt sein wird“.
griff eigentlich stammt. Wer ihn erfunden dann überzeugt. Es ist jetzt eigentlich Michael Schacke, der junge Band-Mana-
hat. Uwe Hassbecker glaubt, es waren genauso wie in dem Film „Rock Star“, in ger aus Braunschweig, glaubt, dass Silly
Journalisten. Gehässige Ost-Journalisten, dem Mark Wahlberg den Fan einer Me- im Westen noch „drei, vier Jahre“ brau-
um genau zu sein. tal-Band spielt, deren Sänger er plötzlich chen werden. „Nur damit erst mal allen
Man muss sich Ost-Rock wie einen wird. Eine Hollywood-Geschichte. klar ist: Die gibt es. Allein dieser Transfer.“
Sack vorstellen, in den alles gestopft wird, Anders als Mark Wahlberg in „Rock Er kannte die Band selbst kaum, als er das
was musikalisch und stilistisch eigent- Star“ kann Anna Loos aber nicht nur Management übernahm. „Ich hatte sie nach
lich nicht zusammengehört. Es geht bei singen. Sie kann auch Türen öffnen. Sie der Wende zufällig bei einem Konzert in
Ost-Rock auch gar nicht um die Musik. kann Silly in Fernsehshows, Radiosender, der Lüneburger Heide gesehen. Fand ich
Es geht um die Herkunft. in die wichtigen Magazine und Zeitungen beeindruckend damals, die waren so düs-
An diesem Abend in Berlin spielen die schleusen, die der Band ansonsten ver- ter-atmosphärisch und dabei progressiv.“
Puhdys, Electra, Silly, City, Rockhaus, schlossen blieben, weil sie dort niemand Axel Horn, der zweite Band-Manager,
Günther Fischer, Angelika Mann, Pan- kennt. Kein Chefredakteur, kein Mode- auch aus Braunschweig, kannte von Silly
kow, Renft und auch Michael Hirte, das rator, kein West-Publikum. Silly sind im nur den Namen und schloss sich erst mal
„Supertalent 2008“ vielleicht, weil Hirte Osten eine Legende. Im Westen sind sie für ein Wochenende zu Hause ein, um
aus der Lausitz kommt. Das ist Silly-Platten zu hören, DVDs
ungefähr so, als würden im zu sehen, in die Band-Ge-
Westen Kraftwerk, BAP, Trio, schichte einzutauchen. Als er
Boney M., die Fantastischen das Zimmer wieder verließ,
Vier, Heinz Rudolf Kunze und war er überzeugt, einen ver-
Hansi Hinterseer zusammen sunkenen Schatz gefunden zu
Konzerte geben, weil sie West- haben. „Die Band ist ja Kul-
Rock sind. turgeschichte. Zumindest in ei-
Anna Loos hat, als sie bei nem Teil des Landes.“ Später
Silly einstieg, klargemacht, ist Axel Horn dann aufgefal-
dass sie etwas anderes will. len, dass er der Band viel näher
Neue Songs, neue Zeiten. Sie war als angenommen. „Das
riss so lange die Fenster auf, Basslehrbuch, dass ich im Wes-
bis die Band ordentlich durch- ten hatte und mit dem ich ab
gelüftet schien und bereit für und zu übte, hatte Jäcki Rez-
eine zweite Karriere. nicek geschrieben. Ich wusste
PRO 7
Anna Loos ist eigentlich nur lange nicht, wer das ist.“
Schauspielerin. Sie spielte im Rock-Band Silly in Raabs Sendung „TV-total“: „Das war erlaubt?“ Der Plan von Schacke und
„Tatort“, in Fernseh- und Ki- Horn sieht jetzt so aus, dass
nofilmen, im Moment ist sie in der ARD- fast noch No-Names. Eine späte New- sie die Identität der Band bewahren und
Fernsehserie „Weissensee“ zu sehen, wo comer-Band mit drei Männern zwischen gleichzeitig das Neue wagen wollen. Ein
sie die alkoholkranke Frau eines Stasi-Of- 49 und 56 Jahren an den Instrumenten. Spagat also. Ein Bein im Osten. Eins im
fiziers spielt. Dabei lag der Osten bereits Hassbecker sagt: „Im Westen sind alle un- Westen. Aber warum sollte sich der Wes-
weit hinter ihr. Sie verließ die DDR 1988, sere Songs neu. Auch die alten.“ ten plötzlich, nach 20 Jahren, für Silly in-
floh über die Tschechoslowakei und Un- Besser kann man es nicht formulieren. teressieren?
garn in die Bundesrepublik. Sie spricht Im SPIEGEL wurde die Band in den Jochen Schuster, der Plattenboss, sieht
nicht über die Umstände der Flucht, weil vergangenen 20 Jahren nur ein paar Mal für Silly einen Platz zwischen den Grup-
sie ihre Geschichte nicht herausstellen kurz erwähnt: etwa in der Meldung über pen Silbermond, Ich+Ich, Klee und Ro-
möchte und vermutlich auch, weil sie den Tod von Tamara Danz und in einem senstolz. Michael Schacke sagt: „Silly ist
weiß, wie schnell daraus Folklore werden Artikel über das Soloprogramm des Schau- eine musikalische Alternative. Biokost
kann. Wie aus so vielen Wende-Geschich- spielers Jan Josef Liefers, das „Soundtrack sozusagen. Sehr gute Musiker machen
ten. Am Ende sitzt man in irgendeiner meiner Kindheit“ heißt und in dem er glaubwürdige Kunst, mit relevanten Tex-
Jubiläumssendung. Als Ost-Beispiel, als Songs von DDR-Bands spielt. Liefers ten. Deshalb war auch die Rückkehr von
Ost-Farbe. wuchs in Dresden auf und ist der Ehe- Werner Karma so wichtig. Eine große
Anna Loos wuchs auf in der Stadt Bran- mann von Anna Loos. Sie sind beide Ost- Band muss was zu sagen haben. Sie
denburg. „Dort gab es in den achtziger und-West-Stars, sie bewegen sich spielend braucht eine Botschaft.“
Jahren in der Hauptstraße einen Platten- zwischen den Welten, und wenn Anna Werner Karma hat eine kleine Schreib-
laden, und vor dem Plattenladen standen Loos heute in eine Talkshow geht, dann wohnung in einem viergeschossigen Neu-
eines Tages Leute an. Also stellte ich mich meist nur unter der Bedingung, dass sie bau in Berlin-Adlershof, nicht weit ent-
dazu, schwänzte die Schule, weil ich auch die Band mitbringen kann. So schaff- fernt von den alten Studios des DDR-
dachte, sie verkaufen dort eine Lizenz- ten es Silly zu Giovanni di Lorenzo in die Fernsehens. Er sitzt auf der Couch, er
platte aus dem Westen. Aber es gab dann „3 nach 9“-Talkshow, zum „Quiz der Deut- trägt Hausschuhe, es ist still hier, es gibt
nur eine Ost-Platte, und ich war total schen“ im Ersten und auch zum Mode- viele Bücher, Nietzsche, Volker Braun,
enttäuscht. Nur das Cover gefiel mir. Shooting der „Brigitte“. „Eigentlich woll- Bukowski, Heiner Müller, Puschkin, und
Ein Frauengesicht war vorn drauf, sonst ten sie das mit Anna machen. Aber wir man kann sich vorstellen, wie Karma je-
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Gesellschaft
den Tag ein paar Stunden in den Büchern aber das Silly-Comeback ist natürlich leicht klang das in den Ohren der Uni-
versinkt, um einen Gedanken zu finden, auch sein eigenes. versal-Leute so, als stünden die Russen
der sich in einen Song-Text gießen lässt. „Komischerweise fahren plötzlich viele in 15 Minuten am Kurfürstendamm.
Karma ist 58 Jahre alt und vermutlich Westler auf Silly und die Texte ab.“ Im Flur von Karmas Schreibwohnung
der bekannteste Rock-Dichter der DDR. Wegen der Botschaft? hängt die „Goldene Schallplatte“, die er
In den achtziger Jahren schrieb er fast Vielleicht, sagt Karma. für „Alles Rot“ bekam. Wie eine Trophäe,
alle Silly-Texte. Er beschrieb die Enge, Als Utopie, als Idee habe er an der die Karma dem Westen entrissen hat.
die Tristesse, die Ausbrüche, die Sehn- DDR gehangen, sagt Karma. Wahrschein- In Berlin-Wuhlheide, beim „Ostrock“,
süchte. „Die Ferne ist ein schöner Ort / lich werde er das auch nie ablegen kön- singen die Puhdys ihren letzten Song. Es
Doch wenn ich da bin, ist sie fort / Die nen. Und er wolle das auch gar nicht. „Ichist fast Mitternacht, Geisterstunde. Die
Ferne ist, wo ich nicht bin / Ich geh und habe mein Wertesystem, und ich glaube, Leute klatschen noch mal im Takt des
geh und komm nicht hin.“ das schimmert in meinen Texten überall Rock’n’Roll. Das Konzert war nicht aus-
Es ging immer nur um die Texte im durch.“ Karma reibt sich jetzt nicht mehr verkauft wie in den Jahren zuvor. Nicht
Rock-Land DDR. Den Fans wie der Zensur. an der DDR. Er reibt sich an Deutschland. mal fast ausverkauft. Womöglich stirbt
Ende der achtziger Jahre zerstritt sich Das eine Land war klein. Das andere ist der Ost-Rock auch im Osten.
Karma mit Silly. Oder die Band mit Kar- In die enge Garderobe von
ma. Erst Anna Loos holte ihn zurück. Sie wirkten nicht „ostig“ – ein Silly drängen sich die alten
Werner Karma ist jetzt zuständig für Weggefährten wie in einer
die Botschaft von Silly. Die Frage ist, was größeres Kompliment gab es nicht. Wärmestube, die neues Leben
die Botschaft sein könnte? schenkt. Jürgen Ehle von Pan-
Karma lehnt sich zurück in die Couch groß. Aber die Problemlagen scheinen kow, Thomas „Monster“ Schoppe von
und überlegt. „Ich mach eigentlich das ähnlich zu sein. Systemübergreifend, so- Renft und Toni Krahl, der City-Sänger.
Gleiche wie in der DDR“, sagt er schließ- zusagen. City haben den Hit „Am Fenster“ ge-
lich. „Ich benenne die Defizite.“ „Ich hatte mir im Osten mal einen Ci- schrieben, einen der erfolgreichsten Pop-
Karma hat nach der Wende Texte für troën gekauft“, sagt Karma. „Schickes Songs der DDR-Geschichte neben „Über
Veronika Fischer, Edo Zanki, Joachim Auto. Brauchte ich gar nicht, aber ich sieben Brücken musst du geh’n“ von Ka-
Witt und City geschrieben. Sein Schreib- wollte wohl sehen, was mit mir passiert.“ rat, von dem im Westen immer noch alle
geschäft lief weiter, aber es war auch Und, was passierte? denken, es sei ein Peter-Maffay-Song.
so, dass ihn der Westen genauso wenig „Na ja, nichts. Es hat mich auch nicht Krahl sagt, dass er mit City kaum im Wes-
zu brauchen schien wie Silly, Karmas glücklicher gemacht.“ ten spielt. Vielleicht zwei, drei Shows im
alte Liebe. Udo Lindenberg ließ sich ein Womöglich ist das ja die Botschaft. Jahr. „Im Westen läuft es nur als Ost-
paar Mal Texte schicken, aber am Ende Das neue Silly-Album heißt „Alles Paket. Puhdys, Karat und City zusam-
hat er nie einen genommen. „Udo sagte: Rot“, so wie der erste Song auf der CD, men. Na ja, is’ eben so“, sagt Krahl.
,Super Texte, Werner. Aber wir sind ge- deren Text Werner Karma geschrieben Einen Moment lang steht er neben
rade auf einem anderen Trip. Vielleicht hat. Bei Universal gab es Diskussionen, Uwe Hassbecker und Ritchie Barton. Je-
auf der nächsten Platte.‘“ ob man das Album wirklich so nennen mand schießt ein Erinnerungsfoto. So als
Ähnlich lief es mit Purple Schulz und sollte. Alles Rot – ausgerechnet für das gingen die einen auf eine weite Reise.
einigen anderen. Karma sagt es nicht so, Comeback einer alten DDR-Band. Viel- Und der andere bleibt zurück.
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Gesellschaft
Zuständigkeitsbezirk über-
B Ü R O K R AT I E
haupt gibt. An genaue Zahlen
E
in Fall für die Behörde war Sabine Waffenbesitz angehe, tappe es
R. schon lange. Die Amtsleute der „total im Dunkeln“.
Unteren Waffenbehörde im Lörra- Dass sie sich selbst auf das
cher Landratsamt wussten, dass die 41- spärliche Wissen der Waffen-
Jährige eine Walther-Sportpistole, zwei behörden nicht verlassen kön-
Repetierbüchsen und eine Doppelflinte nen, merken deutsche Polizis-
besaß. 2009 wurde sie zuletzt schriftlich ten regelmäßig nach 17 Uhr.
aufgefordert, die sichere Aufbewahrung Bevor sie zu gemeldeten Ehe-
ihrer Waffen nachzuweisen. Man habe streitigkeiten ausrücken, die
„keine Beanstandungen“ gehabt, teilt das oft eskalieren, würden sie
Amt nun mit. gern klären, ob sich eine Pis-
Das Interesse an Frau R. war allerdings tole im Haus befindet. Doch
nicht groß genug, um ihr auch die ganz häufig erreichen die Beamten
einfachen Fragen zu stellen: Gehen Sie in der Waffenbehörde dann
eigentlich noch auf den Schießplatz? nur den Anrufbeantworter,
Brauchen Sie Ihre Waffen also noch? der ihnen mitteilt, sie riefen
Dann wäre womöglich herausgekom- außerhalb der Dienstzeiten an
men, dass Sabine R. schon seit Jahren und sollten es morgen wieder
keinen aktiven Schießsport mehr betrieb versuchen.
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Pipeline-Verlegung in Brandenburg
„Nicht offen für Neues, Unbekanntes“
Einmarsch der uckermärkisch, könnte die Leitfrage hei- nicht wie sonst in der Region Deutsch, lang-
ßen, müssen Italiener sein, selbst wenn sam und wenig. Viele von ihnen decken
sie nur ein paar Monate bleiben? sich als Selbstversorger mit Pasta und Moz-
Italiener Die Einheimischen sehen die Entwick- zarella ein, weil sie der Brandenburger Kost
lungshilfe von jenseits der Alpen mit ge- nicht trauen, sie ist ihnen zu schwer.
mischten Gefühlen. Einerseits sind sie Womöglich hat die Distanz zueinander
froh über den Aufschwung durch die vie- auch mit der Rollenverteilung im Arbeits-
Rund tausend Gastarbeiter bauen
len Gastarbeiter, fast alle Ferienunter- alltag zu tun. Die qualifizierten Jobs wer-
seit Monaten eine Pipeline künfte sind ausgebucht. „Für die Region den von Italienern besetzt. Sie dirigieren
entlang der Oder. Doch von Völker- ist es ein kleiner Hauptgewinn“, sagt Ra- die 18 Meter langen Rohre, fügen sie mit
verständigung keine Spur: mona Fischer von der Kreisverwaltung. speziellen Schweißautomaten zu mehre-
Der Uckermärker wahrt Distanz. Andererseits wollen die Fremden nicht ren hundert Meter langen Leitungen zu-
so recht zur uckermärkischen Leitkultur sammen, die dann drei Meter tief in der
Z
u Beginn war sich Elke Knie nicht passen, die zu nahezu 100 Prozent von Erde versenkt werden. Die Uckermärker
sicher, ob sie das überhaupt ma- deutschen Einwohnern geprägt ist. stellen oft nur ein paar Hilfskräfte. Ein-
chen sollte. Bekannte hatten abge- Disanto, einer der Mieter von Elke heimische Facharbeiter sind rar, eine Ent-
raten. Ihre schönen Ferienwohnungen an Knie, stammt aus der süditalienischen wicklung, die Demografen mittelfristig in
Fremde vergeben, an Ausländer? Mitten Hafenstadt Bari und kam im vergangenen ganz Deutschland erwarten.
in ihrer schönen Uckermark? Nur zö- Herbst als einer der ersten So bleiben die Italiener auch
gernd unterschrieb die Bauersfrau den Pipeline-Verleger ins Land. Er nach Feierabend unter sich, tref-
Mietvertrag, Laufzeit: eineinhalb Jahre. hat ein wenig Deutsch gelernt, Wie ucker- fen sich in ihren Unterkünften,
Nun wohnen die drei Italiener schon aber so richtig warm ist der märkisch oft auf dem Bauernhof von Fa-
seit sechs Monaten in Knies Unterkünften 31-Jährige mit der Region und müssen milie Knie. Dann sitzen sie zu-
und sorgen noch immer für Aufsehen in ihren Bewohnern nicht gewor- Italiener sein, sammen und diskutieren über
Kerkow, einem Angerdorf am Rande der den. „Wie kann man in einem selbst wenn die Deutschen.
Schorfheide. Denn Antonio Disanto und Ort leben, wo die Menschen Im Westen, in Kaiserslautern
seine beiden Kollegen kamen nicht zur nur zu Hause hocken und selbst
sie nur kurz etwa, sei alles anders, sagt Epi-
Erholung in die Hügel der Uckermark, im Sommer abends um sieben bleiben? fania, 53, er hat dort schon ein-
von Tourismuswerbern auch als „Toskana niemand mehr auf der Straße mal vor 20 Jahren gearbeitet.
des Ostens“ vermarktet. Sondern um zu ist?“, fragt er und gestikuliert wild mit „Das war viel offener und lebendiger als
arbeiten und so ein bisschen Aufschwung seinen Händen. in der Uckermark.“ Allerdings seien Ita-
in die Region zu bringen. Auch Kontakt zu Einheimischen zu fin- liener und Türken dort schon seit fast ei-
So wie Kerkow ergeht es derzeit etli- den sei schwierig. Sie seien freundlich, nem halben Jahrhundert heimisch.
chen der entlegenen, schwach besiedelten aber distanziert, dazu komme die Sprach- „Hier sind die Menschen einfach nicht
Landstriche im Osten, die normalerweise barriere. „Hat hier eigentlich keiner, auch an Ausländer gewöhnt“, sagt sein Kollege
mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen von den Jüngeren, richtig Englisch ge- Stefano de Franceschi. Vielleicht liege das
haben. Knapp tausend Italiener bauen lernt?“, fragt sich Disanto. an der „kommunistischen Vergangen-
hier für den Rohrbauer Ghizzoni aus der Und was ist mit der Arbeitsmoral der heit“. In der DDR seien die Bürger „wohl
Nähe von Parma eine Erdgasleitung, von Landbevölkerung? Wieso reden hier alle immer unter sich geblieben“.
Greifswald an der Küste bis an die Süd- so oft von „Artze Vvvierrr“? Ist dieses Es ist ein milder Abend, auf dem Hof
grenze Sachsens, die Verlängerung der Hartz IV wirklich besser als ein Job? sitzen, keine 20 Meter entfernt, Elke Knie,
Ostsee-Pipeline auf dem Lande. Ab Dabei wurde das Integrationsexpe- ihr Mann und ein Freund aus dem Ort.
Herbst 2011 soll sie Gas aus Sibirien bis riment in der Uckermark sogar von Vor ihnen steht ein Grill, es gibt Bratwurst.
nach Tschechien pumpen. staatlichen Hilfen flankiert. Mit einer „Ita- Kontakt zu ihren Mietern habe sie kaum,
In der Uckermark und Umgebung gibt lienischen Woche“ versuchte die Volks- sagt die Bäuerin, die seien „doch sehr zu-
es deshalb jetzt ein kleines Wirtschafts- hochschule Templin Ende März, den Ein- rückgezogen“. ANDREAS WASSERMANN
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Gesellschaft
Die Schnitzelsteuer
Ortstermin: Im ostdeutschen Hammerbrücke eskaliert der Streit
zwischen Volk und Staat.
G
erhard Kaltscheuer will nicht von lich mehr Steuern, als der Wirt abgeführt noch das karierte Hemd, das Megafon hat
Hartz IV leben, er will Schnitzel hatte. 38 000 Euro soll Kaltscheuer nun er von einem Freund geliehen. Er verliest
verkaufen. Er balanciert zwei Por- nachzahlen. die Liste mit den Verboten, die Polizei
tionen aus der Küche, die Schnitzel, groß Der Wirt ist der Herr über die Speisen. hat sie ihm gegeben, keine Schuss- oder
wie Teller, riechen, dampfen und triefen In der freien Marktwirtschaft bestimmt Stichwaffen, kein Alkohol, keine Hunde.
vor Fett. er die Größe des Schnitzels und nicht das „Wir haben hart gearbeitet für unser Geld“,
„Es ist reichhaltig“, sagen die Gäste. Sie Finanzamt, findet Kaltscheuer. In der sagt er ins Megafon, „immer müssen die
kommen, weil ihnen die Schnitzel schme- Planwirtschaft war das Sache des Staates, Kleinen bezahlen.“ Und dann weiß er
cken und sie viel Fleisch bekommen für aber jetzt immer noch? Der Wirt verlang- nicht mehr recht, was er sagen soll.
ihr Geld. In Hammerbrücke bei Chemnitz te einem Termin bei der Behörde in Plau- Doch die Leute klatschen. Sie haben
muss jeder rechnen, wenn er essen geht. en, doch die Beamten wollten nicht mit Plakate gemalt, „Finanzamt Plauen = Will-
„Wer hier überleben will, muss den ihm reden. Er schrieb Briefe, an den Fi- küramt“ steht da oder auch „Die Würde
Leuten was bieten“, sagt Kaltscheuer. nanzminister von Sachsen, an die Bun- des Menschen ist unantastbar“. Die Größe
Von einer Schnitzelnorm hatte er nie ge- desregierung, die CDU, die FDP und an des Schnitzels auch. Selbständige sind hier
hört. Bis zu der Betriebsprüfung im Juli. die vogtländische Presse. und solche, die es mal waren, die Getränke-
165 Gramm, hatte Herr D. marktfrau, die jetzt wieder
vom Finanzamt in Plauen be- bei der Post arbeitet, und
rechnet, dürfe so ein Schnit- der Bäckermeister Auers-
zel wiegen. Schnitzel Hawaii, wald aus Zwönitz, er soll
das wäre dann zuzüglich ei- 200 000 Euro nachzahlen,
ner Scheibe Ananas, kein sagt er. Und dann sind da
Käse. „Meine Schnitzel wie- einige, die wahrscheinlich
gen 200 bis 230 Gramm, ha- keine Steuern bezahlen,
ben zwei Scheiben Ananas aber viel Zeit haben. Ju-
und sind mit Käse überba- gendliche mit buntem Haar,
cken“, korrigierte Kaltscheu- die gegen Porschefahrer
er. Doch der Beamte ließ sind, und ältere Herren, die
FOTOS: SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS
sich nicht beeindrucken. Für sind gegen linke Gewerk-
die Nudeln mit Jagdwurst schafter. Und alle sind ge-
veranschlagte er 200 Gramm gen Banker. Und jeder darf
Nudeln und 50 Gramm mal ans Megafon. Ihre
Wurst. „Bei mir gibt’s 350 Stimmen zittern immer ein
Gramm Nudeln und 180 wenig beim ersten Satz.
Gramm Jagdwurst“, meint Einer brüllt: „Wir wol-
der Wirt. len Schnitzel.“ Die Leute
„Wagen Sie es nicht, gegen Schnitzelesser in Hammerbrücke: „Schon andere Gaststätten vernichtet“ brüllen zurück: „Wir wol-
meine Rechnung vorzuge- len Schnitzel.“
hen“, soll Herr D. gesagt haben, erzählt An diesem Montag steht er seit kurz Kaltscheuer wettert jetzt gegen die
der Wirt, „ich habe schon andere Gast- vor sechs am Herd, er trägt ein kariertes Banker: „Wir sollen zahlen, nur weil die
stätten im Vogtland vernichtet.“ Hemd, das Haar kurz und grau. Um zehn ihre Boni brauchen? Leute, wir müssen
Gleich nach der Wende war Kaltscheu- kommen die Forstarbeiter, da muss die was tun.“ Um die Futterstube zu retten,
er in den Osten gezogen, war geblieben, Gulaschsuppe fertig sein. sagt er, würde er sogar vor den Europäi-
wegen Regina. Zusammen hatten sie die Kaltscheuer hat beschlossen zu de- schen Gerichtshof ziehen.
„Futterstube“ eröffnet, ihr Unternehmen monstrieren gegen die „Diktatur des Fi- Es sei, meint eine alte Dame, ein wenig
gegründet in einem alten Konsum-Markt. nanzamts“. Für die freie Marktwirtschaft, wie 89, als auf dem Altmarkt in Plauen
Sie hatten die Wände tapeziert, ockerfar- für das XXL-Schnitzel. Er rechnet mit die ersten Demonstrationen stattfanden,
ben, und die Toiletten gefliest. Kaltscheu- 200 Leuten. was nur keiner gewusst habe, weil das
er war nicht bereit, das alles aufzugeben. Kamerateams drängen sich in der Fut- Fernsehen damals nicht da war. Heute
Doch der Bescheid des Finanzamts kam terstube, ZDF, MDR, Sat.1. Dem Liefe- seien zwar nur ein paar Dutzend Leute
schnell: Steuerhinterziehung. Kaltscheuer ranten ist das zu viel Aufregung, er macht da, aber die Entschlossenheit sei ähnlich
habe, nach den Schätzungen des Beamten, auf dem Absatz kehrt. groß. Wir sind das Volk, wir wollen
mehr Portionen verkauft als angegeben. Die Gäste wollen bloß essen, heiße Schnitzel.
Das Finanzamt nahm die eingekaufte Gulaschsuppe, demonstrieren wollen sie Sie geht auf Kaltscheuer zu, nimmt sei-
Fleischmenge, teilte sie durch die unter- nicht. „Wir arbeiten für einen Staatsbe- ne Hand, drückt sie und sagt: „Ich gratu-
stellte Schnitzelgröße von 165 Gramm, trieb“, sagt einer. Seinen Namen möchte liere Ihnen zu Ihrem Mut.“
nicht durch die von Kaltscheuer angege- er lieber nicht nennen. Einen Termin beim Finanzamt hat Kalt-
benen 200 Gramm, kam auf einen höheren Nachmittags um vier Uhr auf dem Alt- scheuer immer noch nicht bekommen.
Umsatz und Gewinn und damit auf deut- markt in Plauen, Kaltscheuer trägt immer NICOLA ABÉ
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 85
Trends
Robustes Wachstum Plus von nur 1,4 Prozent vorausgesagt. Ursache für die er-
freuliche Entwicklung ist neben dem Exporterfolg deutscher
Unternehmen auch die anziehende Binnennachfrage. Die
GESUNDHEIT tion heißt es fast identisch: Der G-BA ENE RGI E KONZE PT
„darf den Nutzen eines Arzneimittels
Weiterer Erfolg der nicht abweichend von der Beurteilung
der Zulassungsbehörde bewerten“.
500 Millionen für
Pharmalobby Die geplante Änderung ist gravierend.
„Das heißt im Umkehrschluss, dass der
Gebäudesanierung
I n einem Änderungsantrag der Regie-
rungskoalition zum neuen Arznei-
gesetz wird erneut eine Forderung der
Nutzen eines Präparats künftig schon
durch die Zulassung bewiesen sein
soll. Das ist der Wahnsinn!“, so Wolf-
D as Programm der Förderbank
KfW für klimafreundliches Bauen
und Sanieren wird fortgesetzt – aller-
Pharmakonzerne übernommen. So gang Kaesbach, Leiter der Abteilung dings mit geringerem Volumen. Im
soll der Gemeinsame Bundesausschuss Arzneimittel beim Spitzenverband der Zeitraum von 2012 bis 2021 sollen ins-
(G-BA), das höchste Entscheidungsgre- Krankenkassen. „Dem VfA ist es gran- gesamt 500 Millionen Euro bereit-
mium für Kassenpatienten, künftig ein dios gelungen, die Politik einzulei- gestellt werden – das ist deutlich we-
neues Medikament nur noch ablehnen men.“ Auch das Institut für Qualität niger als in früheren Jahren. Das Geld
können, wenn er dessen Unzweckmä- und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits- stammt aus dem Energie- und Klima-
ßigkeit beweisen kann. Damit soll die wesen kritisiert die geplante Änderung fonds, der ab nächstem Jahr unter an-
Beweislast umgekehrt werden. Bisher als „großen Nachteil für Patienten“. derem von den vier großen deutschen
reichte es, wenn der G-BA feststellte, Energieunternehmen finanziert wird.
dass der Nutzen eines Medikaments Darauf hat sich eine Spitzenrunde im
nicht belegt ist. Dann mussten die Kas- Kanzleramt am Donnerstag vergange-
sen es auch nicht bezahlen. Grundlage ner Woche verständigt. Bislang war
der geplanten Gesetzesänderung ist geplant, die Gelder des Fonds allein
offenbar ein Gutachten der Anwalts- für Forschung und Entwicklung erneu-
kanzlei Clifford Chance im Auftrag erbarer Energien einzusetzen. Das
BAYER HEALTHCARE / DPA
FINANZMÄRKTE
H
ightech allein macht auch nicht Hedgefonds kommen gemeinsam nur auf nur die Schnellsten und oft auch die Smar-
glücklich: Die vielleicht wichtigste einen Anteil von 15 Prozent. testen. Banken, Hedgefonds und viele an-
Anzeige im Hauptquartier des Der Aufstieg der Hochgeschwindig- dere Finanzfirmen arbeiten mit ähnlichen
Börsenmaklers Lime Brokerage in Man- keitshändler zeigt, wie radikal sich die automatischen Handelsprogrammen.
hattan ist denn auch keine der bunt flim- globalen Börsen durch den Computerhan- Nach Schätzungen werden bereits rund
mernden Monitor-Grafiken, sondern ein del verändern. Zunehmend werden die 70 Prozent aller Transaktionen auf den
schlichtes Zählwerk für die täglich hier Börsenmakler und Händler auf dem Par- US-Kapitalmärkten durch Algorithmen –
gehandelten Wertpapiere. Die Zahlen ras- kett von Algorithmen ersetzt, also von kurz: Algos – ausgelöst. Aufgrund einer
seln in atemberaubendem Tempo vorbei. Computerprogrammen, die Wertpapier- Vielzahl immer neuer Daten, die sich die
Stand mittags um 13 Uhr: 63 Millionen geschäfte und Handelsstrategien selbstän- Computer letztlich selbst besorgen, er-
Aktien. „Es ist ein sehr langsamer Tag“, dig ohne menschliches Zutun durchfüh- rechnen sie den erfolgversprechendsten
sagt John Jacobs, Director of Operations Weg durch das Börsendickicht.
der Firma. „An anderen Tagen haben wir An der Wall Street ist deshalb vom
schon die Milliardengrenze überschritten.“ Risikoreiches Tempo „Rise of the Machines“ die Rede, dem
Es sind Zahlen, die selbst für Banken- Hochgeschwindigkeitshandel (HFT) Aufstieg der Maschinen, in Anspielung
riesen wie Goldman Sachs oder Morgan an den Börsen 11000
auf den Untertitel des Terminator-Films
Stanley mit ihren Heeren von Händlern mit Arnold Schwarzenegger, in dem com-
unerreichbar sind. Lime dagegen beschäf- 10 800 putergesteuerte Maschinen die Mensch-
tigt nicht mal 90 Mitarbeiter, ist allenfalls Am 6. Mai bricht der 10 600 heit unterjochen wollen.
Fachleuten bekannt und verantwortet Dow Jones aus bislang 10 400 Bei Lime überwachen nur noch drei
trotzdem bis zu fünf Prozent des täg- ungeklärter Ursache Händler die Millionen täglich von den
lichen Aktienhandels in den USA. 10 200 Computersystemen erledigten Aktienge-
um fast 10 Prozent ein.
Das New Yorker Unternehmen ist eine Verdacht: HFT 10 000 schäfte. „Früher hätte es dafür 100 Makler
Maklerfirma für sogenannte High-Fre- 9800 gebraucht“, sagt Jacobs. Zugleich wächst
quency-Trader (HFT): Hochgeschwindig- 10 Uhr 11 12 13 14 15 16 das Handelsvolumen durch die rasend
keits-Wertpapierhändler. Für die einen schnell agierenden Systeme drastisch.
sind das die schnellsten Surfer auf den 2005, als der Handel an der New Yorker
Wellen der globalen Finanzmärkte, für
HFT in Prozent 61 Börse noch hauptsächlich manuell lief,
des gesamten 56*
die anderen die größte künftige Bedro- 52 brachten es die Händler auf dem Parkett
Aktienhandels
hung des gesamten Systems. auf täglich 2,9 Millionen Aktiengeschäfte.
High-Frequency-Trader nutzen ultra- 38* Im Jahr 2006 dann wurde der Zugang auf
schnelle Computersysteme, die Wert- 35 vollautomatische Computersysteme um-
USA 29
papiergeschäfte in Millionstelsekunden 26 gestellt. Die Zahl der täglichen Trans-
21 21
abwickeln. Jeden Tag kaufen sie mitunter aktionen schoss auf 22,1 Millionen im vo-
Hunderte Millionen Aktien, stoßen sie rigen Jahr in die Höhe. „Die Natur des
Europa 9
aber oft schon Sekundenbruchteile später 5 Handels hat sich komplett verändert“, ur-
wieder ab, zufrieden mit Profiten von 1 teilt die US-Börsenaufsicht SEC in einem
Quelle: Tabb Group; * geschätzt
Zehntel-Cents pro Aktie. Über die schie- Anfang des Jahres veröffentlichten Papier.
re Masse summieren sich gewaltige Pro- 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Aber selbst die Kontrolleure können der
fite, wenn es gut läuft. Genauso können technischen Entwicklung kaum folgen.
während eines Lidschlags Miese in Mil- Moderne Algos durchstöbern oft ein
lionenhöhe anfallen. ren können. Algorithmen sind, verein- Dutzend Finanzmärkte gleichzeitig nach
Die Firmen, die dieses Geschäft betrei- facht beschrieben, Handlungsvorschrif- Anomalien, dressiert auf Ineffizienzen
ben, sind bislang klein, verschwiegen und ten: Anweisungen, um Probleme zu lösen. und winzige Handelsschwankungen, aus-
bevorzugen meist die Anonymität. Bei Will etwa ein Investor 10 000 Aktien kau- gestattet mit der Macht, eigenständig zu
der Finanzaufsicht sind sie oft gar nicht fen, dann sorgt der Algorithmus dafür, kaufen und zu verkaufen. Manche der
registriert. Kontrolliert werden sie kaum. dass beim Unterschreiten bestimmter Programme sind so gewieft, dass sie an-
Bis vor wenigen Monaten waren HFT Preislimits automatisch die Aktien ge- dere, einfachere Algorithmen bei ihrer
selbst in Teilen der Finanzwelt eine un- kauft werden. Im Prinzip handelt es sich Arbeit in den Märkten erkennen, deren
bekannte Größe. So blieb weitgehend um dieselbe Strategie wie im traditionel- Reaktion voraussehen – und übertölpeln.
verborgen, welchen Einfluss deren Händ- len Aktienhandel, nur viel, viel schneller. Vor allem kleinere Pensionsfonds ar-
ler in kürzester Zeit gewonnen haben. Und nie gestört durch menschliches Zö- beiten oft mit simplen Algorithmen, die
Mittlerweile verantworten sie 56 Pro- gern oder Nachdenken. relativ leicht erkennbare Kaufstrategien
zent des gesamten US-Aktienhandels. HFT sind bei weitem nicht die Einzi- nutzen. Zumindest manche HFT nutzen
Selbst die Vielzahl der umtriebigen gen, die Algorithmen einsetzen – sie sind ihre klügeren und schnelleren Program-
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STEVEN AVIANO
Händlerraum bei Lime Brokerage in New York: „Es ist ein wildes Wettrüsten im Gange“
Parkett der New Yorker Börse: „Die Natur des Handels hat sich komplett verändert“
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 89
Wirtschaft
me dann, um zu erkennen, welche Aktien Der 6. Mai ist nicht nur Kritikern noch putern der Branchenführer Getco und
ein Fonds als Nächstes kaufen will, um in lebhafter Erinnerung. Damals stürzte Tradebot werden täglich über eine Mil-
früher loszuschlagen und ihnen die ge- der US-Leitindex Dow Jones in weniger liarde Wertpapiere umgeschlagen. Einig
wünschte Aktie dann sofort zu einem als 20 Minuten um fast 1000 Punkte ab, sind sie alle sich nur in einem Credo: Ge-
leicht höheren Preis weiterzuverkaufen. so schnell und tief wie nie zuvor. schwindigkeit ist alles.
Es ist pure Mathematik, gepaart mit In Sekunden verloren Hunderte Aktien Transaktionen werden in Mikrosekun-
Tempo. An der Wall Street wird deshalb einen Großteil ihres Wertes. Zeitweilig den gemessen, Millionstelsekunden. Lime
längst nicht mehr nur um die besten Uni- wurden durch den „Flash Crash“ bis zu bietet seinen über hundert Kunden der-
Abgänger mit Finanzausbildung gekämpft, eine Billion Dollar vernichtet. Manche zeit das wohl schnellste System der Welt.
sondern um die besten Mathematiker und Aktienkurse spielten verrückt. Apple Es vollzieht ein Wertpapiergeschäft in-
Physiker. Lime hat eigens eine Filiale in wurde für einen Moment bei 100 000 Dol- klusive Risikoüberprüfung in weniger
der Nähe der Elite-Universität MIT bei lar notiert, Accenture bei einem Cent. als zehn Mikrosekunden. Bald schon sol-
Boston gegründet. „Wir suchen ständig Panik brach aus. Auch wenn der Spuk len es Billionstelsekunden sein. „Es ist
nach den größten Talenten direkt von den nach einer halben Stunden vorbei war, ein wildes Wettrüsten im Gange“, sagt
besten Technik-Unis“, sagt Lime-Chef Jef- verursachte der Flash Crash doch ein ge- Wecker.
frey Wecker, der den elektronischen Han- waltiges Chaos. Bis heute ist nicht geklärt, Solche Geschwindigkeiten sind aller-
del bei Lehman Brothers dirigiert hat – be- worin genau die Ursachen lagen. Für vie- dings nur möglich, weil immer mehr Han-
vor die Investmentbank pleiteging. le Profis tragen die Hochgeschwindig- delsplätze den HFT ermöglichen, ihre
Eigentlich ist ein Algorithmus nichts keitshändler zumindest eine Mitschuld. Computersysteme direkt neben den Bör-
anderes als ein Kochrezept. Doch um die Der schärfste Vorwurf: Ihr Geschäfts- sen-Servern zu installieren. Die physische
komplexen Rechenoperationen in den Fi- modell habe fast keinen volkswirtschaft- Nähe reduziert die Übertragungszeit.
nanzmärkten durchführen zu Jeder Meter ist bares Geld wert.
können, sind exakte mathema- ANZEIGE Deswegen bezahlen die Händler
tische Anweisungen notwendig. die Börsen gut dafür, ihre Syste-
Für jede Strategie gibt es heute me am gleichen Ort betreiben zu
die adäquate Software. dürfen. Vor einigen Wochen etwa
Tempo-Trader wie bei Lime eröffnete die New Yorker Börse
brauchen vor allem Algos, die ein neues Datenzentrum in New
nach jenen minimalen Preisdif- Jersey. Viele Finanzfirmen zogen
ferenzen fahnden, die es manch- gleich mit ein. Als im Februar die
mal für einige Millisekunden an brasilianische Börse Plätze in ih-
verschiedenen Handelsplätzen rem Datenzentrum anbot, waren
gibt. Der HFT-Algo kauft dann sie sofort ausverkauft.
zum Beispiel 10 000 Microsoft- Kritiker halten auch solche
Aktien, die an der New Yorker Geschäfte für unfair, weil einige
Börse bei 24,47 stehen, und ver- wenige Akteure dadurch die ak-
kauft sie fast im gleichen Augen- tuellen Marktdaten der Han-
blick auf einer anderen Börsen- delsplätze vor allen anderen be-
plattform für 24,48 weiter. Die kommen. HFT beziehen die
Macht hat der Rechner. Kritiker Marktdaten ohne Umwege di-
sehen die Finanzwelt deshalb rekt von den Handelsplätzen,
schon wildgewordenen Compu- können früher agieren als ande-
terprogrammen ausgesetzt, die re Marktteilnehmer.
Chaos verbreiten und die Märk- Die SEC prüft nun, ob die Re-
te durcheinanderbringen. geln der Finanzmärkte „mit den
„Obwohl es schon durch Al- technologischen Veränderun-
gorithmen verursachte Fehler gen mitgehalten haben“. Auch
im Handel gab, haben wir wohl noch nicht lichen Nutzen, sondern verwandle die Fi- die EU hat eine Untersuchung angekün-
das ganze mögliche Ausmaß erlebt. Zu- nanzmärkte erst recht in ein Hightech- digt. Der zuständige Kommissar Michel
dem könnten viele Fehler der Öffentlich- Casino. Anfang September forderte der Barnier erklärte vorige Woche, er werde
keit verborgen bleiben“, warnte schon im einflussreiche US-Senator Charles Schu- den Hochgeschwindigkeitshandel „sehr,
Frühjahr die Federal Reserve Bank of Chi- mer die Finanzaufsicht SEC auf, eine for- sehr genau unter die Lupe nehmen“.
cago. Erst im vergangenen Monat erteilte male Untersuchung über die Rolle der SEC-Chefin Mary Schapiro hat bereits
die Börse von Osaka der Deutschen Bank HFT in den Finanzmärkten zu starten – mit neuen Kontrollen gedroht. So sollten
eine Abmahnung, weil sie „keine ausrei- insbesondere während des Flash Crash. sich HFT-Firmen, die mehr als zwei Mil-
chende Kontrolle“ über einen ihrer Algos Lime-Vorstandschef Wecker hält die lionen Aktien täglich handeln, künftig re-
gehabt habe. Anfang des Jahres wurde Kritik für eine „Hexenjagd“. Viele der gistrieren lassen. Selbst über Geschwin-
die Credit Suisse von der New Yorker Bör- Vorwürfe entsprängen vor allem der Un- digkeitsbegrenzungen im Aktienhandel
se zu einer Strafe von 150 000 Dollar ver- kenntnis. Dank Firmen wie seiner eige- wird neuerdings nachgedacht.
urteilt. Sie habe es nicht geschafft, „den nen seien die Finanzmärkte weitaus effi- Lime-Chef Wecker glaubt nicht, dass
Einsatz und den Betrieb eines Algorith- zienter und vor allem liquider geworden, die Beschränkungen den Siegeszug der Al-
mus ordentlich zu beaufsichtigen“. betont Wecker: „Wir müssen allerdings gos aufhalten werden. Im Gegenteil: Bald
Durch die Schnelligkeit und Schlag- noch viel Aufklärungsarbeit leisten.“ würden sie nicht mehr nur von Spezialis-
kraft der Handelsprogramme könnten Das ist auch deshalb schwierig, weil ten genutzt. Schon jetzt zählen alle mög-
schon winzige Eingabefehler eine Kata- die HFT-Branche extrem heterogen ist: lichen Investoren wie Hedge- und Pen-
strophe in Gang setzen, warnt der US- Unter den aktuell rund 400 Hochge- sionsfonds zu seinen Kunden. Wecker ist
Finanzprofessor Bernard Donefer in schwindigkeitshändlern gibt es winzige sicher: „Wer heute in der Finanzwelt wett-
seiner Studie „Algos Gone Wild“ (zu Zwei-Mann-Firmen, aber auch führende bewerbsfähig bleiben will, muss die Tech-
Deutsch etwa: „Durchgeknallte Algos“). Hedgefonds wie Citadel. Von den Com- nologie dazu haben.“ THOMAS SCHULZ
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JULIEN BEHAL / PICTURE ALLIANCE / EMPICS (L.); CATHAL MCNAUGHTON / REUTERS (R.)
Demonstranten vor der Anglo Irish Bank in Dublin, Premierminister Cowen: Der Boom war auf Pump finanziert
S
ean FitzPatrick, 62, konnte sich ein oben, die Europäische Zentralbank muss- det. Und das liegt vor allem an Männern
Grinsen nicht verkneifen, als er am te irische Staatspapiere kaufen. Schließ- wie Sean FitzPatrick und seinen Hinter-
Mittwoch vergangener Woche im lich waren alle froh, als es dem irischen lassenschaften.
High Court von Dublin vor den Richter Staat gelang, Anleihen in Höhe von 1,5 Wie ein Mahnmal steht ein riesiges
trat. Bereits im Sommer hatte Irlands be- Milliarden Euro zu platzieren – allerdings achtstöckiges Betonskelett in den Dock-
rühmtester Banker persönliche Insolvenz mit einem extrem hohen Aufschlag. lands von Dublin, nicht weit von den glit-
angemeldet, weil er Schulden von etwa Der Internationale Währungsfonds und zernden Bürohäusern des Internationalen
145 Millionen Euro angehäuft hatte. die Europäische Union dementierten, Finanzzentrums. Hier sollte die neue Kon-
Seine monatlichen Einnahmen lägen dass Irland mit Hilfsgeldern gerettet wer- zernzentrale der Anglo Irish Bank entste-
zurzeit bei 188 Euro, ließ FitzPatrick das den müsse. Aber plötzlich war die Angst hen, die FitzPatrick aus kleinen Anfängen
Gericht wissen. Ein armer Mann wird er vor einem zweiten Griechenland und zu einer großen Immobilienbank ausge-
allerdings nur, wenn ihn seine Frau Ca- einem neuen Aufflackern der Euro-Krise baut hatte. Fast zwei Drittel ihrer Kredite
triona verlässt. Die sechs Häuser und die wieder da. Denn die schwelt weiter, ob- steckten in Hotels, Büros und Einkaufs-
Anrechte aus einem millionenschweren wohl die Euro-Staaten im Frühjahr ei- zentren, die derzeit keiner braucht.
Pensionsfonds gehören teilweise ihr und In der Bauruine tropft das Regenwasser
können nicht so einfach von den Gläubi-
gern gepfändet werden. Zinsaufschlag durch die Stockwerke. Vier leuchtend
rote Kräne bewachen das Skelett. Offen-
Die größte Summe schuldet FitzPatrick gegenüber deutschen Staatsanleihen bar hat die Kräne auch noch kein Bau-
der Anglo Irish Bank, deren Verwaltungs- mit zehnjähriger Laufzeit, unternehmer vermisst, weil ohnehin
ratsvorsitzender er bis Ende 2008 war. in Prozentpunkten Quelle: Thomson Reuters Datastream kaum mehr gebaut wird in Irland. Auf
„Die Bank hat ihm, seinen Verwandten dem Nachbargrundstück wurde nur noch
und Freunden schon sehr seltsame Kre- GRIECHENLAND die Baugrube ausgehoben.
8
dite gegeben“, sagt ein Bankaufseher. Sei- IRLAND Es ist ein atemberaubender Absturz.
ne Freunde in der Regierung ließen ihn PORTUGAL
Vor kurzem wurde das Land wegen sei-
gewähren. Kurz nach seinem Ausschei- 6 ner hohen Wachstumsraten noch als kel-
SPANIEN
den musste die Bank verstaatlicht werden. tischer Tiger apostrophiert. Dank niedri-
Weil die irische Regierung immer noch ITALIEN ger Steuern eröffneten US-Konzerne wie
4
nicht weiß, wie viele Milliarden Euro die Ebay, Facebook und Google hier ihre
Rettung dieser Bank kostet, kalkulierten Europazentralen, viele gutbezahlte Ar-
die Finanzmärkte in den vergangenen 2 beitsplätze entstanden.
Tagen schon mal eine Staatspleite Irlands Doch der Boom war auf Pump finan-
durch. Die Versicherungsprämien für iri- 0 2010 ziert. „Zwischen 2003 und 2007 impor-
sche Schulden schossen sprunghaft nach J F M A M J J A S tierte das irische Banksystem Gelder, die
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Wirtschaft
mehr als der Hälfte des Bruttoinlandspro- nicht mehr verkaufen konnte. „Das ist auch weil die Regierung bei den Ausgaben
dukts entsprachen, um in die Immobilien- eine Geisterstadt“, sagt der Unternehmer, brutal abbauen musste. Löhne und Gehäl-
blase zu investieren“, sagt der irische Zen- der mit dem Verkauf von Fliesen und ter im öffentlichen Sektor wurden um bis
tralbankchef Patrick Honohan. Toiletten zu Geld kam. zu 15 Prozent gekürzt. Gut 3 Milliarden
Den Iren wurde das billige Geld gera- Auch ihn schmerzen die Hypotheken- Euro wurden eingespart.
dezu aufgedrängt. Banker rieten ihren zinsen. Wie so viele in der irischen Mittel- Aber was sind 3 Milliarden gegen 20,
Kunden, überteuerte Apartments zu 120 schicht hofft Byrne, dass es irgendwie 30 oder gar 40 Milliarden Euro, die eine
Prozent zu finanzieren – mit dem Rest weitergeht. Aber die Wirtschaft schrumpft, einzige Bank den Staat kostet? In diesem
sollten sie in Urlaub fahren und sich ein Jahr wird das Staatsdefizit auf weit über
neues Auto kaufen. Die Finanzkrise setz- 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
te dem Treiben ein Ende, von einem Tag steigen, viel höher als in Griechenland.
auf den anderen kam der Boom zum Er- Und da sind die Ausgaben für die Bank
liegen. Zuerst wurden die deutschen Ar- bisher nur zu einem kleinen Teil berück-
chitekten und die polnischen Bauarbeiter sichtigt. Anfang Oktober will die Regie-
nach Hause geschickt. Mittlerweile sind rung endlich offenlegen, wie hoch die
auch fast 14 Prozent der Iren arbeitslos. Rechnung für die Anglo Irish Bank tat-
Jetzt wissen viele nicht, wie sie die Zin- sächlich wird.
sen für ihre Hypotheken tragen sollen. Bisher wurden die Reformen akzeptiert.
Und die Banken haben Unmengen von Das könnte sich ändern. Im Dezember, bei
Darlehen in ihren Büchern, die nicht der Aufstellung des Haushalts für das kom-
mehr bedient werden. mende Jahr, muss die Regierung ähnlich
„Jeder kämpft mit den Banken“, sagt radikale Maßnahmen wie in Griechenland
Installateur Alan Byrne grimmig. Er steht ergreifen, um auf dem internationalen Ka-
mit zurückgegeltem braunem Haar und pitalmarkt weiter Kredite zu bekommen.
grünem „Ireland“-T-Shirt vor seinem Es kann gut sein, dass die Preise für
DIMITRI MESSINIS / AP
Haus in einem der Außenbezirke von Immobilien und die Löhne der Iren noch
Dublin und schaut auf die gegenüberlie- viel stärker sinken müssen. „Wir müssen
gende Straßenseite, wo mehrere Häuser noch 20 Jahre für die Dummheiten der
nie bezogen wurden. Vom Schlafzimmer Banker zahlen“, weiß Byrne mittlerweile.
aus blickt Byrne auf Bodenplatten aus Es kann aber auch sein, dass selbst das
Beton und Ziegelmauern halbfertiger Parlamentsgebäude in Athen nicht ausreicht – und der Euro-Rettungs-
Häuser, die die Immobiliengesellschaft „Jeder kämpft mit den Banken“ fonds helfen muss. CHRISTOPH PAULY
S
chärfere Kontrollen müssen her! stärker als bisher darauf achten, dass
Das zumindest glaubt EU-Wäh- die Mitgliedstaaten ihren Schulden-
rungskommissar Olli Rehn. Um stand energisch in Richtung der zuläs-
der schlingernden Währungsunion wie- Währungskommissar Rehn sigen Obergrenze von 60 Prozent vom
der Halt zu geben, will er die Wirt- Schuldenbremse für alle BIP zurückfahren. Verstößt ein Land
schafts- und Finanzpolitik der EU-Staa- ständig gegen dieses Limit oder hat es
ten, vor allem aber der Euro-Länder, gestellt werden. Bei anhaltender Schief- über Jahre ein Haushaltsdefizit von
künftig deutlich genauer beaufsichti- lage in der Leistungsbilanz bekommen mehr als drei Prozent, muss es von
gen. Wer auffällig wird, muss mit Sank- sie von der Kommission politische Emp- Beginn des dann fälligen Defizitver-
tionen rechnen. fehlungen für die Finanz- und Wirt- fahrens an ein unverzinsliches Straf-
Staaten mit chronischen Überschüs- schaftspolitik, aber auch für die Lohn- pfand in Höhe von 0,2 Prozent des BIP
sen oder Defiziten in ihrer Leistungs- entwicklung und strukturelle Reformen. hinterlegen.
bilanz sollen danach eine jährliche Alle EU-Staaten müssen nach Rehns Bekommt es seinen Etat in den
Strafe von 0,1 Prozent ihrer Jahreswirt- Plänen in Zukunft bindende finanz- Griff, erhält es sein Geld zurück. Ver-
schaftsleistung (BIP) zahlen, weil sie politische Regeln nach dem Vorbild der sagt die Regierung, behält die Kom-
die Stabilität der Euro-Zone gefährden. deutschen Schuldenbremse und der mission das Pfand als Strafzahlung ein.
Das geht aus einem Verordnungsent- mittelfristigen Finanzplanung installie- Die Mitgliedstaaten wurden über die
wurf aus Rehns Behörde hervor. ren. Die Vorgaben des Stabilitäts- und Pläne bereits unterrichtet, an diesem
Länder mit Ungleichgewichten sollen Wachstumspakts müssten „in nationa- Mittwoch will Rehn die Öffentlichkeit
frühzeitig verwarnt und an den Pranger les Recht übernommen werden“. informieren. CHRISTIAN REIERMANN
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Nachweis, dass solche Gerüchte damals
überhaupt kursierten. Wenn, dann waren
sie jedenfalls falsch. Es gab keine FBI-Er-
mittlung wegen Kinderpornografie.
So nahm eine mutmaßliche Intrige ih-
ren Lauf, und als ein Team der HSH
schließlich bei der Razzia einschlägige Fo-
tos fand, die Roland K. offenbar kurz zu-
vor untergeschoben wurden, kam das der
Bank womöglich gerade recht. So ent-
schlossen man dort laut WilmerHale auch
vorher schon gewesen sein mag, Roland
K. loszuwerden, so schwierig war die Sa-
che nämlich juristisch.
Zwar behauptet HSH-Chefjustitiar Göß-
mann, den die Bank inzwischen freige-
Munition fürs vent – für die Rademacher allem An- erstellten Gutachten der Wirtschaftsprüfer
schein nach nicht nur die Pressearbeit von PWC, das angebliche Spesenbetrüge-
machte. Nonnenmacher, Gößmann, der reien und den vermeintlich zu sorglosen
Rollkommando Prevent-Mann: Sie sollen, so der Verdacht, Umgang mit internen E-Mails aufklären
daran mitgewirkt haben, eine falsche Kin- sollte – alles von Roland K. energisch be-
derporno-Spur zu legen; ein Vorwurf, den stritten. Von Indizien ist bei PWC die Rede,
sie entschieden bestreiten. Hinweisen, „möglichen Verletzungen in-
In die Kinderporno-Affäre ist ein
Wie die Bank auf die Idee kam, im Sep- terner Richtlinien“. Aber: Es gebe keiner-
Ex-Regierungssprecher verwickelt. tember 2009 das Büro von Roland K. bei lei Beweise, weder für das eine noch für
Er lieferte die üblen Gerüchte einer Razzia nach Schmuddelkram zu das andere.
über einen Manager, den Bankchef durchsuchen, steht in einem Geheimbe- Bei den Arbeitsrechtlern von Latham
Nonnenmacher feuern wollte. richt der Anwaltskanzlei WilmerHale für & Watkins heißt es denn auch nur vorsich-
die HSH. Demnach hatte sich Bankchef tig, es scheine so, als ob die Informationen
D
er Mann hat einen Namen in der Nonnenmacher schon im Juni mit Pre- für eine Kündigung ausreichten – nach
Branche: Ludwig Rademacher. vent-Mann Thorsten Mehles getroffen, in Stand der Dinge. Angebliche Sex-Eskapa-
Früher mal der Sprecher des Ham- dessen Büro in Hamburg. Non- den machten den Fall auch nicht
burger Senats, unter SPD-Bürgermeister nenmacher will damals erfah- härter: „Nach unserem Urteil ist
Ortwin Runde. Heute selbständig, von ren haben, dass gegen Roland So entschlos- der vorliegende Bericht nicht
Beruf das, was man einen „Krisenmana- K. in Amerika ein Ermittlungs- sen die Bank ausreichend klar, um daraus
ger“ nennt. Einer also, der dafür bezahlt verfahren laufe, sogar beim FBI. gewesen sein rechtlich den Schluss zu ziehen,
wird, dass er eine Krise auflöst. Nicht dass Der Verdacht: Kinderpornogra- mag, K. loszu- dass Herr K. in sexuelle oder an-
er eine Krise auslöst. fie. Als WilmerHale kürzlich werden, so dere illegale Arten von Belästi-
Doch viel spricht dafür: Genau das hat
Rademacher getan. Der Kommunikations-
bei Mehles nachhakte, woher
er das denn gewusst haben
schwierig war gung verwickelt war.“
So sahen das dann, laut Wil-
profi spielt eine unrühmliche Rolle in der wollte, nannte der einen Na- es juristisch. merHale, auch zwei der vier
Daueraffäre um die HSH Nordbank, der men, der im Bericht nur ver- HSH-Vorstände, die Nonnen-
krisengeschüttelten Landesbank von schlüsselt auftaucht. Doch inzwischen ist macher am 17. September 2009 zusam-
Hamburg und Schleswig-Holstein. Denn das Rätsel gelöst: Der Anonymus heißt mengetrommelt hatte, um den Raus-
die Arbeit des Ex-Senatssprechers, so Rademacher. schmiss zu besiegeln. Peter Rieck und
sieht es nun aus, hat offenbar entschei- Tatsächlich gibt Rademacher zu, dass Bernhard Visker sträubten sich demnach:
dend zum schmutzigsten der vielen Skan- die Information über die angebliche US- zu wenig Handfestes für eine fristlose
dale in der Bank beigetragen. Seine „Re- Ermittlung von ihm stammte. Er habe sich Kündigung aus wichtigem Grund. Doch
chercheresultate“ (Rademacher) waren da aber allenfalls vage geäußert und le- glaubt man WilmerHale, wurde der Wi-
es, die dazu führten, dass der Leiter der diglich Hinweise weitergegeben. Doch fest derstand schnell eliminiert. Die beiden
New Yorker HSH-Filiale unter Kinderpor- steht: Er tat es später auch noch einmal seien wegen ihrer Zusammenarbeit mit
no-Verdacht geriet – ein haltloser Vorwurf, schriftlich, im August 2009, in einem Be- K. möglicherweise befangen, so ein Hin-
wie dort die Staatsanwaltschaft heute richt an Prevent-Mann Mehles, wie der weis von Latham & Watkins. Damit wur-
überzeugt ist. bestätigt. Und woher rührte nun Radema- de aus dem 2:2-Patt ein glattes 2:0 für Non-
Sie ermittelt seit Monaten gegen HSH- chers Insider-Wissen über Ermittlungen nenmacher. Vorstand Jochen Friedrich
Chef Dirk Jens Nonnenmacher, der Filial- im fernen New York? Zu WilmerHale sag- hatte mit ihm gestimmt. Gleich danach
chef Roland K. 2009 möglichst ohne Ab- te er: aus Journalistenkreisen. Namen rückte in New York das Rollkommando
findung feuern lassen wollte. Außerdem blieb Rademacher im Gespräch mit den zur Razzia an. JÜRGEN DAHLKAMP,
gegen Wolfgang Gößmann, den Justitiar, Anwälten aber schuldig, genauso den GUNTHER LATSCH, JÖRG SCHMITT
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Kinder beim Besuch des Schulzahnarztes in Monheim am Rhein: „Die Leistung muss beim Kind ankommen“
SOZIALPOLITIK
D
er Tag fängt schlecht an für die an zu bluten. Sechs Zähne sind von Ka- vorlegen. Mehr als 40 Milliarden Euro
Kinder an der Hermann-Gmeiner- ries zerfressen. sollen künftig auf gerechtere Weise ver-
Grundschule in Monheim am Sven zuckt zurück, als sich die Ärztin teilt werden, die vor allem den 1,7 Mil-
Rhein – die Schulzahnärztin ist da. Antje mit dem Mundspiegel über ihn beugt. Bei lionen betroffenen Kindern nutzt. Es geht
Krayer kommt vom Kreisgesundheitsamt der letzten Schuluntersuchung im März um viel Geld. Und um Gefühle.
Mettmann und hat eine blaue Tüte mit hat er einen gelben Zettel für seine Eltern Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt,
Zahnbürsten, Mundspiegeln und Fluorid- mitbekommen. Darauf stand der Hin- sie rechne mit einer emotionalen Diskus-
Gel-Tuben mitgebracht. 20 Mädchen und weis, dass er dringend zum Arzt müsse. sion. Die Mehrheit der Deutschen hält
Jungen aus der 2a haben sich schnell die Adresse und Telefonnummer der Zahn- die bestehenden Gesetze für ungerecht.
Zähne geputzt. klinik waren gleich daneben notiert. Hartz IV ist für viele zur Chiffre für Bü-
Die Gmeiner-Grundschule liegt in ei- Warum er nicht beim Arzt war? Sven rokratie und Sozialabbau geworden. Ur-
ner Hochhaussiedlung; die meisten Fa- schüttelt den Kopf. Was die Mama dazu sula von der Leyen versucht, den Namen
milien leben hier von Hartz IV. Für das sagt? Der Junge schweigt. Papa? Welcher „Hartz“ in der Öffentlichkeit möglichst
Gesundheitsamt ist dieser Teil von Mon- Papa? nicht laut auszusprechen. Sie würde lie-
heim Katastrophengebiet. Letztlich geht es um das bedrückendste ber von „Basisgeld“ sprechen, aber das
Sven*, 7, ist an der Reihe. Krayer ahnt, Problem der deutschen Sozialpolitik: Ab ist nur eine Etikettenfrage.
was kommt. Schon beim Zähneputzen ist diesem Montag berät die Bundesregie- Seit Wochen sorgt das Thema für Que-
ihr aufgefallen, wie ungelenk der Junge rung darüber, wie Problemkindern wie relen zwischen CDU, CSU und FDP. Ver-
die Bürste mit der Faust umklammert. Und Sven geholfen werden kann. Bundes- treter der von der SPD mitregierten
jetzt fängt auch noch sein Zahnfleisch sozialministerin Ursula von der Leyen Bundesländer lehnten die Reform bereits
will die entscheidenden Details ihres Re- zu einem Zeitpunkt ab, als noch kein ein-
* Name von der Redaktion geändert. formentwurfs für das Hartz-IV-System ziges Detail auf dem Tisch lag. Funktio-
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Wirtschaft
chen, sondern stabilisieren“, warnt Heinz mehr Frauen aus materieller Not zur Pro- Hauptgeschäftsführer des Paritätischen
Buschkowsky, SPD-Bürgermeister im Ber- stitution gezwungen seien, und zwar, an- Wohlfahrtsverbandes, halbironisch in
liner Stadtteil Neukölln. ders als anhand der EU-Statistik zu ver- seinem neuen Buch. Das freilich wäre
„Die Leistung muss beim Kind ankom- muten wäre, auf seiner Seite der Grenze. für die Statistik ein Segen: Wenn keiner
men“, sagt Ministerin von der Leyen. Ei- Dass sich die Armutsdaten so schlecht was hat, beträgt die Armutsgefährdungs-
nige ihrer Vorschläge gehen deshalb in mit der Wirklichkeit in Einklang bringen quote null.
die richtige Richtung, etwa der Plan für lassen, liegt am Verfahren, mit dem die Doch die Armut ist in der Statistik in-
eine kostenlose Schulspeisung. Doch ge- Armut gemessen wird. Ob ein Mensch zwischen so fest verankert, dass sie un-
messen an ihrem Anspruch ist der Ge- genug zu essen und zu trinken hat sowie besiegbar ist. Der Sozialstaat kann noch
setzentwurf eine Enttäuschung. über dem Kopf ein wärmendes Dach, ist so viel Geld verteilen. Die Zahl der Kin-
Zusätzliche Milliarden sollen in den unerheblich. Die Armut, von der vergan- der unter sieben Jahren, die von staat-
nächsten Jahren in ein Fürsorgesystem gene Woche beim Millenniumsgipfel der lichen Transfers leben, hat sich seit 1965
gepumpt werden, das den bedürftigen Vereinten Nationen in New York die verzehnfacht. Die Lebensverhältnisse ei-
Kindern keinen Nutzen bringt. Es sieht Rede war, spielt keine Rolle. nes heutigen Hartz-IV-Empfängers sind
so aus, als würde Schwarz-Gelb die vom Den EU-Zahlen liegt ein relativer Ar- freilich nicht schlechter als der Standard
Bundesverfassungsgericht erzwungene mutsbegriff zugrunde. Von Armut be- eines normalen Arbeitnehmerhaushalts
Gelegenheit für eine echte Reform ver- droht ist demnach, wer weniger als 60 in den sechziger Jahren.
schenken. Prozent des mittleren Einkommens in sei- Wenn der Historiker Paul Nolte von
nem Land vorweisen kann. seiner Kindheit in den siebziger Jahren
urteile über die Unterschicht leider alle Die Turnstunde der Klasse 1/2 f ist Teil Kaffee angeboten. Wenn es gutlief, durfte
zutreffen. eines Experiments. Seit Beginn des neuen er seine Trainer für eine AG am Nach-
Babyschwimmen und Kinderturnen Schuljahres haben die Kinder schon vor- mittag vorbeischicken, aber dann waren
kommen eher selten vor. Frühkindliche mittags dreimal pro Woche Sport. Dabei viele Kinder schon nach Hause gegangen.
Musikerziehung: wenig Interesse. Sonsti- werden sie nicht nur von ihrer Lehrerin Die Gesundbrunnen-Grundschule ist
ge Eltern-Kind-Gruppen: finden weitge- angeleitet, sondern auch von einer Ver- bislang die einzige Schule, in welcher der
hend ohne die Unterschicht statt. Bei den einstrainerin vom Basketballverein Alba zusätzliche Sport Teil des Stundenplans
älteren Kindern und Jugendlichen setzt Berlin. Wie revolutionär das Konzept ist, ist. „Die Kinder müssen nicht aus ihrer
sich dieser Trend fort. Außerhalb der wird klar, wenn man es mit den sonstigen Playstation-Hölle herausgelockt werden“,
Schule ist die Unterschicht bei praktisch Berliner Verhältnissen vergleicht. Dem- sagt Harnisch. „Sie sind einfach da und
jedem Hobby, ob Sport, Musik oder Ju- nach fällt der Sportunterricht an den machen mit.“
gendfeuerwehr, unterrepräsentiert. Ledig- Grundschulen schon deshalb häufig aus,
lich Jugendzentren stehen vergleichswei-
se hoch im Kurs. Doch dann haben die
DIW-Forscher eine erstaunliche Entde-
weil es zu wenig Lehrer gibt.
Das Versuchsprojekt an der Gesund-
brunnen-Grundschule geht auf eine be-
A m Freitag dieser Woche hat Bundes-
familienministerin Kristina Schröder
einen wichtigen Termin. Im Max-Lieber-
ckung gemacht. sonders engagierte Schulleiterin und den mann-Haus am Brandenburger Tor will
Bei Freizeitaktivitäten, die gleich nach Basketballverein zurück. Alba hat vor ei- sie 50 Berliner Kindern ein Märchen vor-
dem Unterricht in der Schule stattfinden, niger Zeit die Hoffnung aufgegeben, dass lesen. Es soll ein Buch von Astrid Lind-
schließt sich plötzlich die Schere. Laut Kinder aus Hartz-IV-Familien von allein gren sein; die Ministerin hat sich eigens
Studie beteiligen sich Kinder aus einkom- zum Probetraining erscheinen, obwohl vom Deutschen Zentrum für Märchen-
mensschwachen Familien genauso häufig sie nicht mal einen Mitgliedsbeitrag be- kultur beraten lassen. Da gibt es das Mär-
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Wirtschaft
chen vom bitterarmen Mädchen, das sich man regelmäßig Spitzenplätze. Auch der
nichts sehnlicher wünscht als eine Puppe, Wirtschaft geht es gut.
mit der es spielen kann. Der Wunsch Mehr Betreuungsangebote sind der
bleibt unerfüllt, bis ein geheimnisvoller beste Weg, um Unterschichtskindern zu
Unbekannter auftaucht. Er schenkt dem helfen, darin sind sich Experten einig.
Mädchen ein Samenkorn, das es ein- Der Kriminologe Christian Pfeiffer etwa
pflanzen und täglich gießen soll. Aus hat in einer Studie belegt, dass sich die
dem Korn wächst Mirabell, die tollste Aufstiegschancen von Migrantenkindern
Puppe, die man sich vorstellen kann. Sie stark verbessern, wenn sie einen Ganz-
trägt einen roten Hut, und wenn kein tagskindergarten besuchen. Ohne Kita
Erwachsener mithört, kann sie sogar schafften es später nur neun Prozent auf
sprechen. ein Gymnasium, mit Kita 39 Prozent.
Schröder hat den Auftritt gut vorberei- Investitionen in die Infrastruktur sind
tet, um in dieser wichtigen Woche den einem Gutschein-System überlegen, weil
Medien ein Bild der Fürsorglichkeit zu sie unmittelbar bei den Kindern ansetzen.
liefern. Sie würde gern ihr Image verbes- Sie stigmatisieren die Betroffenen nicht,
sern. Zu ihrem Bedauern gilt sie als allzu im Gegensatz zu einer Bedürftigenkarte
zahlenfixierte Ministerin, was freilich ein wie dem Berlinpass, der bei Jugendlichen
absurder Vorwurf ist, wenn man bedenkt, unter der Bezeichnung „Asi-Card“ fir-
wie leichtfertig das Geld um sie herum miert.
verplempert wird. Die Politik in Deutschland müsste dar-
Laut Bundesregierung kostet die Fami- aus den Schluss ziehen, möglichst jeden
lienpolitik etwa 115 Milliarden Euro im verfügbaren Euro in Kitas und Schulen
Jahr, das entspricht gut einem Drittel des zu stecken. Damit wenigstens jedes dritte
Bundesetats. Es gibt ungefähr 150 ver- Kind in eine Betreuungseinrichtung ge-
schiedene Leistungen. Die Kommunen hen kann, müssten in den alten Bundes-
sind für die Kinder- und Jugendhilfe zu- ländern zusätzlich 320 000 Kita-Plätze ent-
ständig, die Länder für die Schulpolitik, stehen. Doch der von der Großen Koali-
der Bund für das Elterngeld. Ob das Geld
sinnvoll ausgegeben wird, weiß niemand. Die Familienpolitik der
Aus einer genauen Kosten-Nutzen-Be-
wertung, die Schröders Amtsvorgängerin Bundesregierung steckt voller
von der Leyen vor vier Jahren ankündig- Widersprüche.
te, ist bis heute nichts geworden.
Die OECD hat ermittelt, dass Deutsch- tion beschlossene Ausbau ist wegen der
land vergleichsweise wenig Geld für Kin- schlechten Haushaltslage bei Kommunen
derbetreuung ausgibt. Überdurchschnitt- und Ländern ins Stocken geraten. Schles-
lich viel fließt direkt an die Eltern, vor wig-Holstein hat das bislang kostenfreie
allem durchs Kindergeld. Schwarz-Gelb letzte Kindergartenjahr vor der Einschu-
hat den Satz erst vor neun Monaten auf lung soeben abgeschafft – die schwarz-
184 Euro kräftig erhöht. Dazu könnte gelbe Landesregierung will sparen. Ham-
man sich in Nachbarländern einiges ab- burg kürzt derweil bei den Kinderzähnen.
schauen. Der schulzahnärztliche Dienst muss ab
sofort mit 370 000 Euro im Jahr weniger
SPI EGEL-GESPRÄCH
te als Produktionschef und Vorstandschef Marke wirbt mit dem Slogan „Vorsprung
bei Porsche hervorragende Arbeit geleis- durch Technik“. Doch damit verbinden
tet. Porsche ist in den USA in Qualitäts- immer mehr Menschen BMW. Die
Rankings die Nummer eins … Münchner gelten als führend in Sachen
SPIEGEL: … während Volkswagen und Spritspar-Technik. Warum geriet Audi auf
Audi abgeschlagen auf den hinteren Rän- diesem wichtigen Feld in Rückstand?
gen liegen … Winterkorn: Sie müssen Image und Fakten
Winterkorn: … ja, und darüber bin ich auch trennen. BMW hat es offenbar geschickt
sehr verärgert. Unter anderem deshalb Ehepaar Ursula und Ferdinand Piëch verstanden, bei Ihnen und anderen das
haben wir ja Herrn Macht als Produk- „Kritische Fragen“ Image zu erwerben, die eigenen Modelle
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PETER TREBITSCH / PICTURE ALLIANCE / DPA
Porsche-918er-Präsentation auf der Autoshow in Peking 2010: „Wir kaufen ja nicht die Katze im Sack“
seien besonders umweltfreundlich. Aber nisch hochwertigen, aber billigeren Mo- türlich habe ich das mit dem Aufsichts-
Sie lesen doch auch die Testberichte, nach dellen Konkurrenz. Bentley hat einen ratschef diskutiert. Ein Vorstandsvorsit-
denen ein Audi mit V6-Dieselmotor we- Verlust von 200 Millionen Euro eingefah- zender ist stets in der Gefahr, dass es zu
niger Treibstoff verbraucht als ein Hy- ren. Zugleich müssen Sie die Lastwagen- viele Jasager gibt. Deshalb bin ich froh,
bridmodell von BMW. firmen des Konzerns, MAN und Scania, dass ich in Herrn Piëch einen Gesprächs-
SPIEGEL: Dennoch stellen viele Unterneh- dazu bringen, endlich zu kooperieren. partner habe, der das Automobilgeschäft
men ihren Top-Managern nur noch Kommt es Ihnen manchmal selbst so vor, wie kein Zweiter versteht und kritische
Dienstwagen mit Hybridantrieb zur Ver- als jonglierten Sie mit zwölf Bällen und Fragen stellt.
fügung. Die S-Klasse von Mercedes-Benz ständig drohten einige runterzufallen? SPIEGEL: Piëch hat sein Erbe geregelt. Er
und den 7er von BMW gibt es mit Hy- Winterkorn: Das Ganze ist natürlich ein hat es in Stiftungen eingebracht, die es
bridantrieb, den Audi A8 noch nicht. Kraftakt. Wir haben auch aus diesem seinen Kindern fast unmöglich machen
Winterkorn: Es wird ihn demnächst auch Grund den Vorstand erweitert, zusätz- werden, die Anteile zu verkaufen. Aber
als Hybridfahrzeug geben, wie übrigens liche Top-Manager verpflichtet und man- die große Mehrheit der Anteile hält die
den neuen A6 ebenfalls. Die ganze Auf- che Stelle neu besetzt. Škoda hat einen Familie Porsche. Was ist, wenn deren
regung um den Hybrid wird sich legen, neuen Chef und den Kurs schon korri- Nachkommen die VW-Aktien beispiels-
wenn man erkennt, dass dies eine Brü- giert. Ein Vorstand kümmert sich jetzt weise an chinesische Konkurrenten ver-
ckentechnologie ist. Der nächste große nur darum, dass die Lastwagenmarken kaufen wollen?
Sprung ist das Elektroauto. enger zusammenarbeiten. Sie sehen, wir Winterkorn: Ich bin sicher, dass die Familie
SPIEGEL: Damit Elektrofahrzeuge eine aus- gehen die Themen an. Porsche ebenso wie die Familie Piëch
reichende Reichweite haben, müssen die SPIEGEL: Und dann haben Sie mit Ferdi- Vorsorge treffen wird. Sie wird sicher ver-
Karosserien leichter werden. Aber auch nand Piëch auch noch einen sehr aktiven hindern wollen, dass der VW-Konzern
beim Leichtbau, jahrelang eine Domäne Aufsichtsratschef. Wie ist die Arbeitstei- abhängig wird von den Gefühlsregungen
von Audi, setzt sich BMW an die Spitze. lung zwischen Ihnen: Piëch entscheidet, einzelner Familienmitglieder. Für mich
Die Münchner entwickeln Modelle mit und Sie setzen dann um? ist Bosch ein Vorbild dafür, wie ein Fa-
Kohlefaserkarosserie, die deutlich weni- Winterkorn: Das ist ein altes Vorurteil, milienunternehmen solide aufgestellt
ger wiegen als Audis Aluminiumautos. mehr nicht. Ich nenne Ihnen mal ein Bei- werden kann für die Zukunft. Bosch ge-
Winterkorn: Audi setzt schon lange Teile spiel, wie es wirklich läuft. Eine so wich- hört einer Stiftung und ist eines der best-
aus Kohlefasern ein, beim A8 beispiels- tige Entscheidung wie die Beteiligung an geführten Unternehmen der Welt.
weise. Lamborghini hat eine komplette Suzuki fälle ich nicht im Alleingang. Na- SPIEGEL: Sie selbst sind jetzt 63 Jahre alt.
Karosserie aus Kohlefasern. Diese Tech- Ihr Vertrag läuft noch bis Ende 2011. Ge-
nik beherrschen wir. Von unserem Wett- hen Sie dann in Rente, oder werden Sie
bewerber gibt es bislang Ankündigungen. weitermachen, wenn der Aufsichtsrat den
Die Kollegen müssen den Beweis erst Vertrag noch mal verlängert?
noch erbringen, dass sie ein Auto für den Winterkorn: Es macht mir Spaß, ich fühle
Massenmarkt mit Kohlefaserkarosserie zu mich fit und wäre deshalb nicht abgeneigt,
vertretbaren Kosten herstellen können. weiterzuarbeiten, wenn der Aufsichtsrat
ARNE WEYCHARDT
SPIEGEL: Sie müssen sich auch noch um das wünscht. Nicht nur, weil ich den Job
Probleme bei Škoda und Bentley küm- gerne mache, sondern auch, weil es viele
mern. Škoda macht Volkswagen mit tech- Themen gibt, bei denen Kontinuität in
der Spitze hilfreich ist.
* Mit Armin Mahler und Dietmar Hawranek in der Winterkorn, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Winterkorn, wir danken Ih-
Wolfsburger Konzernzentrale. „Aus dem tiefen Tal herausfahren“ nen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 111
Wirtschaft
V
erkehrsminister Peter Ramsauer zum eingesetzten Kapital soll der Gewinn Milliarde Euro abführen, um Löcher im
(CSU) und Bahn-Chef Rüdiger von 3,3 auf 6,2 Prozent steigen. Bundeshaushalt zu stopfen. Der Bund hat
Grube geben sich gern wie Win- Das ehrgeizige Unternehmensziel ist also jedes Interesse an einem guten Kon-
netou und Old Shatterhand: als Blutsbrü- politisch riskant: Ramsauer müsste die zernergebnis – auch wenn es zu Lasten
der, so wie jüngst auf der Berliner Bahn- Trassenpreise eigentlich so niedrig wie des Schienen-Wettbewerbs geht.
Messe Innotrans. Gerade hat Zwar lässt Verkehrsminister
Ramsauer dort vor dem Nachbau Ramsauer derzeit prüfen, ob Netz-
der altehrwürdigen Dampflok sparte und Bahn-Holding nicht
Adler einen Förderbescheid in doch stärker getrennt werden kön-
Millionenhöhe für moderne Die- nen, wie im Koalitionsvertrag vor-
selhybrid-Antriebe überreicht, gesehen. Doch Ergebnisse werden
da bedankt sich Grube schon mit frühestens Ende Oktober erwar-
überschwänglichem Lob. tet. Große Änderungen, so ist zu
„Kongenial“ sei das mit Ram- hören, sind nicht geplant.
sauer. „Wir ticken gleich“, sagt Auch ein Versuch der Regie-
Grube und lässt die Hand seines rungsfraktionen, eine stärkere
Gönners nicht mehr los. Trennung im Rahmen des Ener-
Der Bahn-Chef weiß, was ein giekonzepts zu verankern, schei-
gutes Verhältnis zum Verkehrs- terte. Am vergangenen Donners-
minister wert sein kann. Der tag strich Kanzleramtschef Ro-
CSU-Mann ist sein wichtigster nald Pofalla (CDU) den Passus
Garant, dass er Wettbewerb kurzerhand. Der Vorschlag ge-
kaum fürchten muss und auch fährde die Dividende des Bun-
künftig dicke Monopolgewinne des, so seine Begründung.
einstreichen kann. Damit droht der nächste Koa-
Dafür sorgt die heutige Struk- litionskrach, denn die FDP be-
tur der Bahn, der „integrierte steht darauf, den Beherrschungs-
Konzern“ aus Schienennetz und und Gewinnabführungsvertrag zu
Zugverkehr. Zwar sind die bei- kappen. „Die Finanzierungsver-
ODD ANDERSEN / AFP (GR.); HANS-CHRISTIAN PLAMBECK (KL.)
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„Job-Speed-Date“ in Wolfsburg
Schneller Check und weg
STEFAN SOBOTTA
Speed-Date-Termin mit allem Drum und
Dran nur 50 000 Euro gekostet.
Graus Vermittlungsquote lag deutlich
über dem Normalwert. Allerdings hatte
und Argen in ganz Deutschland ihre Hoff- er beim ersten Mal „die Unabhängigen,
ARBEITSMARKT
nung setzen. Mal stellen sich in Chemnitz Motivierten“ eingeladen – nicht die
S
abine Eßmann ist 50 und hat nicht berg. Manche Agenturen testen noch, an- erst in die Hand gehustet und damit dann
viel Erfahrung mit Speed-Dating. dere bieten die Aktionen schon öfter an. die des Chefs schütteln wollen. „Die ha-
Entsprechend nervös läuft sie am Die Job-Shows liegen einerseits im ben wir gleich aussortiert“, sagt Akdere.
Donnerstag vergangener Woche in der Trend – und widersprechen zugleich ei- Gute Manieren seien im Hotelgeschäft
VIP-Lounge des Wolfsburger Fußball- nem anderen: Denn während in einem schließlich besonders wichtig.
stadions auf. Es geht sofort zur Sache: Modellversuch einige Konzerne wie Am Ende profitieren beim Speed-Date
Woher? Wie alt? Was läuft so? Es muss die Deutsche Telekom oder Procter & jene, die sich selbst gut verkaufen. „Wer
schnell gehen. Die Fragen stellt eine junge Gamble Bewerbungen derzeit nur noch das nicht kann, fällt durch die Maschen“,
Blondine, aber die sucht auch keinen Part- völlig anonymisiert zulassen, um nicht in sagt Johannes Jakob, Arbeitsmarktexper-
ner fürs Leben, sondern neue Mitarbeiter den Ruch der Diskriminierung zu geraten, te beim Deutschen Gewerkschaftsbund.
für ihr Ingenieurbüro. weist das Job-Dating in die andere Rich- Doch er sieht auch Chancen: Der persön-
Innerhalb von sechs Stunden lernen tung: Dort zählen gnadenlos Augenschein liche Eindruck könne Schwächen in den
etwa 600 Jobsuchende 45 Firmen ken- und direkter Kontakt. Bewerbungsmappen „korrigieren“. Vor
nen – und umgekehrt. Privatsphäre gibt’s In wenigen Minuten wird auch am „einer Art Schaulaufen“ warnt dagegen
hier nicht. Am Nachbartisch hört man vergangenen Donnerstag in Wolfsburg Ver.di-Kollegin Elke Hannack. „Der hohe
den Konkurrenten erzählen. Nach jeweils das Gröbste geklärt: Der erste Eindruck Konkurrenzdruck vor Ort kann bei Ar-
zehn Minuten ist der Nächste dran. Dann entscheidet. Zwar gibt es vor Ort keine beitslosen schnell zu Frustration führen.“
dröhnt die Hymne des VfL Wolfsburg fertigen Verträge, aber wenn der Erstkon- Sabine Eßmann hatte bei ihrem ersten
durch den stickigen Raum, und es wird takt erfolgreich ist, folgen oft weitere Date-Abenteuer keinen Erfolg. Die ge-
gewechselt. So sieht das aus, wenn Ar- Gespräche, Aushilfsjobs und schließlich lernte Apothekenhelferin war zuletzt in
beitsagenturen „Neuland betreten“, wie dauerhafte Beschäftigungen. der Kundenbetreuung aktiv. Seit zwei
der zuständige Behördenleiter Gerald So konnte die Arbeitsgemeinschaft für Jahren ist sie ohne Job und lebt von Hartz
Witt aus Helmstedt es nennt. Beschäftigung München (Arge) rund um IV. Am Ende geht sie nur mit ein paar
Der Kurzzeit-Kontakthof ist der zur- das erste lokale Speed-Dating von knapp neuen Bewerbungsideen nach Hause,
zeit wohl ungewöhnlichste Versuch mo- 1300 Arbeitssuchenden fast die Hälfte ver- nimmt es aber gelassen. Beim normalen
derner deutscher Arbeitsvermittlung. mitteln – wenn auch erst „im Umfeld der Speed-Dating wird ja auch nicht gleich
Und es ist einer, in den Arbeitsagenturen Veranstaltung“, wie Arge-Mann Jakob geheiratet. KIRSTEN KRUMREY
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 113
Panorama
ARGENTINIEN
Geknebelte Presse
K urz vor ihrer Reise nach Deutsch-
land, wo sie Argentinien als Gast-
land der Frankfurter Buchmesse präsen-
tieren will, knebelt Präsidentin Cristina
Fernández de Kirchner zu Hause die
Presse. Der jüngste Trick der Peronistin,
die Blätter „Clarín“ und „La Nación“
zum Schweigen zu bringen: eine Klage
gegen deren Eigentümer wegen „Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit“ – in ei-
nem Fall, der Jahrzehnte zurückliegt.
Kirchner beschuldigt die Zeitungsverle-
ger, sie hätten in den siebziger Jahren
die einzige Papierfabrik des Landes un-
rechtmäßig und mit Hilfe der damaligen
Militärjunta erworben. Doch selbst der
Bruder eines der Vorbesitzer der Fabrik
bescheinigt, der Verkauf sei „zu den bes-
ten Bedingungen und in Freiheit“ er-
folgt. „Clarín“, die größte spanischspra-
chige Tageszeitung in Lateinamerika,
und „La Nación“ waren beim Ehepaar
Kirchner in Ungnade gefallen, als sie vor
zwei Jahren deren Agrarpolitik kritisier-
ten. Heute haben nur noch 36 Prozent
der befragten Argentinier eine gute Mei-
Akbar Salehi, 61, über starten wir im Frühjahr mit dem Bau Verfehlungen hin als sein Vorgänger, der
den Streit mit dem einer Anlage. Wenn es so weit ist, wer- Ägypter Mohammed ElBaradei.
Chef der internationa- den wir das Projekt bekanntgeben. Salehi: Amano wärmt nur alte Vorwür-
len Nuklearaufsicht SPIEGEL: Aber im Streit um die Anrei- fe wieder auf. Und wenn wir zwei In-
cherung von Uran zu zivilen Zwecken spektoren ablehnen, was unser Recht
SPIEGEL: Erneut haben Exil-Oppositio- lenken Sie weiterhin nicht ein? ist, stellt er das als mangelnde Koope-
nelle eine geheime Anlage zur Uran- Salehi: Wir wollen keinen Konflikt pro- ration dar. Diesen Ton lassen wir uns
anreicherung öffentlich gemacht. Sind vozieren. Ich bin zur Generalkonfe- nicht gefallen.
Sie nach Wien gekommen, um der renz der IAEA gekommen, um Iran als SPIEGEL: Klingt da die Drohung an, die
Internationalen Atomenergiebehörde engagiertes Mitglied zu vertreten, Kooperation aufzukündigen?
(IAEA) die Arbeit an weiteren unter- trotz der offensichtlichen Voreinge- Salehi: Das ist nur eine freundliche,
irdischen Anlagen zu gestehen? nommenheit des neuen Generaldirek- aber ernste Ermahnung, sich nicht
Salehi: Diese Anschuldigung ist eine tors Yukiya Amano. politisch missbrauchen zu lassen. Wir
Unverschämtheit. SPIEGEL: Was werfen Sie Amano vor? fragen uns: Will Herr Amano irgend-
SPIEGEL: Aber Sie suchen doch schon Salehi: Mit seiner Bewerbung für diesen wem einen Vorwand liefern für einen
nach weiteren Orten, die sich für den Posten war Amano mehrfach geschei- Angriff auf uns? ElBaradei hat für sei-
Bau tief verborgener Labors eignen. tert, obwohl er als Japaner eine mächti- ne sachliche Haltung den Friedensno-
Salehi: Wir prüfen, wo wir Anlagen er- ge Nation vertritt. Viele Staaten hatten belpreis erhalten. Will Amano seinen
richten könnten, die gegen jegliche Be- befürchtet, er werde sich dem Druck Namen mit einem Krieg verbinden?
drohung immun sind. Verteilt über das von außen beugen. Mit knapper Mehr- Will Amano eine Katastrophe?
114 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Ausland
afghanischen Parlamentswahlen am 18. September musste
vier Stunden vor dem geplanten Beginn abgesagt werden –
GAMBARINI / DPA
die inländischen Armeeangehörigen waren nicht angetreten.
Bei der Operation „Weißer Adler“ sollten die gemischten
Streitkräfte in einer von den Taliban beherrschten Gegend
Deutsche Soldaten bei Kunduz westlich des deutschen Camps bei Kunduz mögliche Verste-
cke von Aufständischen finden und Anschläge am Wahltag
A F G H A N I S TA N verhindern. Erst Tage später erfuhr die Bundeswehr, dass
das Verteidigungsministerium in Kabul seinen Einheiten die
„Partnering“ ohne Partner Teilnahme an dem Einsatz verboten hatte. Im Sommer muss-
te bereits die südlich von Kunduz gemeinsam mit der afgha-
INDIEN
IRAK
Große Landnahme
W ie China und die Golfstaaten
versucht auch das Schwellenland
Späte Enthüllungen
Indien, sich in Afrika Ackerflächen zu
sichern. Sai Ramakrishna Karuturi,
der weltgrößte Produzent von Schnitt-
rosen, lässt in Äthiopien bereits 10 000
Hektar Land bewirtschaften. Das Land
hat er von der Regierung in Addis
Abeba gepachtet. Auf über 300 000
Hektar soll die Ackerfläche in den
kommenden Jahren anwachsen, Reis,
Mais und Zuckerrohr sollen angebaut
werden. Karuturi beteuert, er wolle
INA / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); AP (R.)
pakistanische Journalist Hamid Mir, der Bin Laden persönlich traf, erinnert
sich an noch deutlichere Worte. So habe Bin Laden den Iraker als „Schänder
der arabischen Welt“ bezeichnet.
Karuturi
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 115
Ausland
Parteichef Wilders mit Leibwächtern in Rotterdam: Ein Politiker, wie es ihn in Deutschland bisher noch nicht gibt
E U R O PA
E
r ist ein Politiker, der von sich sagt, Art Volksaufstand gegen den Islam, an- Der Mann, der Wilders für Samstag
er habe nichts gegen Muslime, er geführt von rechten Politikern und Publi- dieser Woche nach Berlin eingeladen hat,
hasse nur den Islam. Er ist ein cha- zisten in ganz Europa. Sie stellen sich dar wäre selbst gern ein Wilders. René Stadt-
rismatischer Mann mit wasserstoffblon- als jene, die aussprechen, was sich sonst kewitz, 45, Anzug, Bürstenschnitt, wurde
dem Haar, elegant, eloquent, und man angeblich keiner zu sagen traut: dass die vor kurzem aus der Berliner CDU ausge-
kann sagen, dass er genau der Typ von Muslime Europa unterwanderten und das schlossen, für die er jahrelang als Hinter-
Politiker ist, vor dem die etablierten deut- Abendland gerettet werden müsse. Und bänkler im Abgeordnetenhaus saß, und
schen Parteien sich in diesen Wochen sie sind erfolgreich. er hat eine neue Partei gegründet. Sie
fürchten. heißt „Die Freiheit“ wie die Partei von
Geert Wilders aus den Niederlanden Geert Wilders, den er als Geburtshelfer
ist ein Politiker, wie es ihn in Deutschland geladen hat. Wer sich den prominenten
bisher noch nicht gibt: ein Populist, der Gast anschauen will, muss sich im Inter-
gegen den Islam hetzt und gegen das net anmelden und vorher Eintrittsgeld
Establishment und der den traditionellen überweisen. Dann erst erfährt er, in wel-
Parteien in seiner Heimat viele Stimmen chem Berliner Hotel die Veranstaltung
abgenommen hat. So viele, dass sie kaum stattfinden wird. Aus Sicherheitsgründen.
eine Regierung bilden können, wenn sie Dass „der Geert“ in Holland eine Kopf-
ihn nicht an der Macht beteiligen. tuchsteuer gefordert habe, sei wirklich
Er ist der Star einer Bewegung, die in eine gute Idee, sagt Stadtkewitz, als er in
Europa seit Jahren ihre Gefolgschaft ver- der Cafeteria des Abgeordnetenhauses
größert, die in Parlamente und Regierun- marokkanisches Couscous isst. 12 000
gen einzieht, die dafür gesorgt hat, dass Euro musste er für Wilders’ Besuch aus-
in der Schweiz Minarette verboten wur- Rechtspopulisten Marine Le Pen, Åkesson legen. Er glaubt, es sei eine Investition,
den und in Belgien Burkas. Es ist eine Gemeinsames Feindbild Islam die sich auszahlt. „Der Islam“, sagt er,
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Islamisches Freitagsgebet in Paris: Widerstand gegen die zunehmende Sichtbarkeit des Islam in Europa
„mag ja auch eine Religion sein. Aber in oder Finnland. Jean-Marie Le Pens Front gegen die europäischen Werte – wenn
erster Linie ist er eine Ideologie, die alles National hat bei den französischen Regio- etwa Frauen unter dem Vorwand der Re-
bekämpft, was uns wichtig ist“. Dann nalwahlen im Frühjahr mit einer gezielt ligion unter Burkas gezwungen, Schwule
muss er los, er will ein holländisches Fern- antiislamischen Kampagne neun Prozent verfolgt und Ehebrecher gesteinigt wer-
sehteam im Privat-BMW durch Berlin der Wählerstimmen gewonnen. Die Lega den. Zweifellos gibt es in vielen Ländern
führen, um ihm die muslimische Parallel- Nord hat im März die italienischen Regio- Integrationsprobleme. Doch das allein er-
gesellschaft zu zeigen, die in Deutschland nen Venetien und Piemont unter anderem klärt das Unbehagen nicht. Es rührt daher,
angeblich totgeschwiegen wird. damit erobert, dass ihre Anhänger im dass die etablierten Parteien es versäumt
Seit der SPD-Politiker Thilo Sarrazin Wahlkampf Seife verteilten – zu benutzen haben, ihren Wählern das Gefühl zu ver-
ein Buch geschrieben hat, in dem musli- „nach Berührung eines Einwanderers“. mitteln, sie würden sich um diese Fragen
mische Zuwanderer als existentielle Be- Das Neue ist nicht der Rechtspopulis- kümmern. Die Wirtschaftskrise der ver-
drohung für Deutschland erscheinen, und mus an sich. Der ist in vielen Ländern gangenen Jahre hat auch die Mittelschicht
seit Sarrazin dafür auch Zuspruch erfah- Europas zum Teil seit rund 30 Jahren eine verunsichert. Europa altert, und andere,
ren hat, fragen sich viele Leitartikler, For- feste Größe, mal mehr, mal weniger er- jüngere Weltregionen holen auf. Viele
NIJHUIS / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF (L.); MICHEL EULER / AP (R.); BAZIZ CHIBANE / SIPA (U. L.); GETTY IMAGES (U. R.)
scher, Politiker, ob Deutschland ein Son- folgreich. Das Neue ist, dass die Rechts- Menschen sorgen sich um die Zukunft in
derfall bleiben wird. Es ist bisher fast das populisten ein Thema gefunden haben, einer globalisierten Welt, in der die Ge-
einzige Land in Westeuropa, in dem noch das viel besser zieht als die Wut auf Aus- wichte sich verschieben.
keine rechtspopulistische Partei den länder und die politische Klasse. Sie ha- Vor allem in den nordeuropäischen
Volkszorn auf den Islam und das Esta- ben eine neue Energiequelle gefunden im Ländern geht der Aufstieg der Populisten
blishment bündelt. Widerstand gegen die zunehmende Sicht- mit dem Machtverlust der traditionellen
Allein seit Jahresmitte haben in drei barkeit des Islam in Europa. Sie gebärden Sozialdemokratie einher. Das liegt daran,
EU-Staaten rechtspopulistische Parteien sich als Verteidiger der europäischen Wer- dass in Wohlfahrtsstaaten auch Einwan-
eine Regierungsmehrheit vereitelt: in Bel- te. Dass manche dieser Werte, zum Bei- derer für Sozialmissbrauch anfällig sind –
gien, den Niederlanden und zuletzt sogar spiel die Religionsfreiheit, in diesem aber auch daran, dass die traditionellen
in Schweden. Dort erreichten sie zwar Kampf unter die Räder geraten, stört sie Parteien feststecken im Klein-Klein der
nur 5,7 Prozent der Stimmen – aber ge- so wenig wie ihre Wähler. Integrationspolitik.
nug, um die Regierungsbildung zu er- Bis tief in die Mitte der Gesellschaft Sie haben Integrationsbeauftragte ge-
schweren. Alle drei Länder waren lange reicht die Angst, dass muslimische Zu- schaffen, Migrationsämter, Integrations-
bekannt für ihre Liberalität. Nun gewin- wanderer den Charakter der europäi- konferenzen, aber sie haben die Sorgen
nen dort Parteien Einfluss, die im Islam schen Gesellschaft verändern könnten. der Bürger aus den Augen verloren. Und
„die größte Bedrohung Europas seit dem Etwa drei Viertel der Befragten äußern weil sie gleichzeitig für Meinungsfreiheit,
Zweiten Weltkrieg“ sehen – so drückt es sich in deutschen Umfragen besorgt über Feminismus und Säkularismus sind, wis-
Jimmie Åkesson aus, der 31-jährige Chef den Einfluss des Islam, in anderen euro- sen sie sich nicht zu wehren gegen
der „Schwedendemokraten“. päischen Ländern sieht es ähnlich aus – Rechtspopulisten, die ihren Kampf gegen
Seit Jahren schon regieren rechtspopu- obwohl die Einwanderung nach Europa Kopftücher, Minarette und Moscheen ge-
listische Parteien in Italien und der seit Jahren rückläufig ist. nau wie sie mit Meinungsfreiheit, Femi-
Schweiz mit, sie sitzen in den Parlamen- Zweifellos verstoßen barbarische Prak- nismus und Säkularismus begründen.
ten von Dänemark, Österreich, Norwegen tiken in manchen islamischen Ländern Nur dass sie dabei lauter sind und alles
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Ausland
so lange vereinfachen, bis es logisch in den siebziger und achtziger Jahren gegen tüm und verteilt während ihrer Wahlkampf-
klingt. Muslime Stimmung machte: Jean-Marie Le auftritte auf den Märkten im Großraum
Die Schwedendemokraten, die aus der Pen, der Gründer des französischen Front Paris Küsschen. „Ich will alle Franzosen
extremen Rechten kommen, haben von National. Seine Zielscheibe waren die Ein- vereinen“, sagt sie. Gleichzeitig wettert sie
modernen Rechtspopulisten wie Wilders wanderer aus den früheren nordafrikani- gegen Burka und Islamisierung, ganz wie
und der Dänischen Volkspartei mit ihrer schen Kolonien. Le Pen machte Karriere Wilders. Auch sie hat erkannt, dass gezielte
Vorsitzenden Pia Kjaersgaard gelernt: Sie als wütender Außenseiter, war brachial und Islamophobie mehr Erfolg verspricht als
warben mit einem Fernsehspot, in dem unmodern, offen rassistisch und antisemi- der althergebrachte Ausländerhass.
eine Seniorin, die sich mit einem Rollator tisch, dennoch schaffte er es, die politische Marine Le Pen ist eine Gefahr für Sar-
abmüht, von Frauen in Burka mit ihren Landschaft umzupflügen: 2002 schob er kozy, und wie ernst er sie nimmt, zeigt
Kinderwagen fast überrannt wird. Sie sich bei den Präsidentenwahlen vor den So- sein eigener Rechtsruck in diesem Jahr.
stürmen auf einen Schreibtisch zu, auf zialisten Lionel Jospin. Es war ein Schock Er hat Frankreich eine Debatte über „na-
dem „Staatshaushalt“ steht. „Am 19. Sep- für die französischen Eliten. tionale Identität“ verordnet, die sich ein-
tember können Sie die Einwanderungs- In Frankreich geschah, was seither in deutig gegen Muslime richtete – und be-
bremse ziehen – und nicht die Renten- vielen Ländern geschieht, in denen die gann eine Kampagne zur Abschiebung
bremse“, sagt eine Stimme. traditionellen Parteien versuchten, die der Roma. In den Umfragen hat es Sar-
Einwanderer gegen Rentner auszuspie- Rechten auszukontern: Die Politiker der kozy bislang nicht genützt.
len – das ist das Wilders-Prinzip. Er ver- Mitte bewegten sich selbst nach rechts. Die Wandlung des Front National ist
eint rechte und linke Politik, Islamopho- So auch in Dänemark, wo die Dänische nur ein Beispiel für den neuen antiisla-
mischen Mainstream unter
Westeuropas rechtspopulisti-
Rechtes Europa Anteil der Sitze im jeweiligen Parlament, in Prozent
schen Parteien. Es ist dieses
Rechtspopulisten in den nationalen PARTEI % PARTEI % Thema, das sie alle verbindet,
Abgeordnetenhäusern SCHWEDEN UNGARN sie tauschen sogar europa-
SD 5,7 Jobbik 12,2 weit ihre Marketing-Einfälle
in der Regierung
Norwegen Schweden NORWEGEN BULGARIEN aus: So kopierte die österrei-
in Koalitionsverhandlungen FrP 22,9 Ataka 10,1 chische FPÖ ein Spiel von
Finnland FINNLAND GRIECHENLAND der Web-Seite der Schweizer
FRANKREICH:
Front national nicht PS 4,1 Laos 5,6 SVP, in dem man Minarette
im Parlament, aber be- LETTLAND DÄNEMARK abschießen musste, die sich
deutende politische Kraft Estland Tevzemei un DVP* 13,9 in die vertraute Landschaft
Lettland Brivibai/ LNNK 5,0 SCHWEIZ bohren – nur dass man in der
Großbritannien Dänemark Litauen LITAUEN SVP 31,0 FPÖ-Version auch auf die
TT 12,7 ITALIEN Muezzins schießen durfte.
Irland
Niederlande BELGIEN Lega Nord 8,3 Das ist neu, und es darf
Belgien Deutschland
Polen Vlaams Belang 7,8 NIEDERLANDE nicht darüber hinwegtäu-
ÖSTERREICH PVV 15,5 schen, dass die Parteien, die
Luxemburg Tschechien Slowakei
FPÖ 17,5 unter dem Begriff Rechts-
Frankreich Österreich
Liechtenstein Ungarn BZÖ 9,2 populisten zusammengefasst
Schweiz Rumänien werden, immer noch vieles
Slowenien SLOWAKEI
SNS 5,1 unterscheidet. Es stimmt
Bulgarien SLOWENIEN zwar, dass die meisten schon
Italien SNS 5,4 *duldet Minderheitsregierung immer gegen Einwanderer
Portugal Spanien
kämpften, sich als Underdogs
gegen die politische Elite
Griechenland Volkspartei seit positionierten, über charismatische An-
Malta
Zypern 2001 eine rechtslibera- führer verfügten und in Ländern beson-
le Minderheitsregierung ders gut gediehen, in denen die etablier-
bie und Angst vor der Ausbeutung des toleriert – und obwohl die Populisten ten Parteien eine Konsenskultur pflegen.
Sozialstaats. „Es ist einer unserer großen nicht mit in der Regierung sitzen, ver- Doch ein bäuerlicher Neoliberaler wie
Erfolge, diese Kombination, einerseits schärfte Dänemark seine Ausländergeset- der Schweizer Christoph Blocher hatte
kulturell konservativ zu sein und gleich- ze massiv. mit dem französischen Demagogen Le
zeitig in anderen Dingen links“, sagt Wil- Als Nicolas Sarkozy 2007 zum Präsi- Pen nie viel am Hut. Zu unterschiedlich
ders selbst. Er ist einer, der gegen Ein- dentschaftswahlkampf antrat, war er in ist ihre Herkunft, und oft auch ihre Politik
wanderung ist, aber ein „warmes Herz manchen seiner Zitate von Le Pen kaum im Detail.
für die Schwachen und die Alten“ hat. zu unterscheiden. Wer „Hammel in der Es ist das gemeinsame Feindbild Islam,
Geert Wilders ist einer der Ersten, die Badewanne schlachtet“, habe in Frank- das sie nun zu ideologischen Verbündeten
den Islam so konsequent als Thema nut- reich nichts verloren, sagte er etwa und macht. Dennoch ist auch für die Zukunft
zen, und viele sind ihm gefolgt. Es ist be- siegte, weil er die Stimmen aus dem rech- nicht anzunehmen, dass die Parteien über
zeichnend, dass die Bewegung, die sich ten Lager bündelte. Nun sieht sich Sar- Grenzen hinweg kooperieren werden.
gegen den Islam richtet, nicht direkt nach kozy wohl bald mit einem neuen Front Geert Wilders träumt trotzdem davon,
dem 11. September 2001 in Gang kam, ob- National konfrontiert, einer weichgespül- und er versucht, sich in Europa an die
wohl die Verunsicherung und die Angst ten, womöglich gefährlicheren Version. Spitze einer Bewegung zu setzen. Im Juli
vor islamistischen Terroristen dort ihren Marine Le Pen, die Tochter des Partei- hat er eine „Internationale Freiheits-Al-
Ursprung hat, sondern erst jetzt, Jahre gründers, will sich im Januar zur Chefin lianz“ gegründet, mit zwei Zielen: „Ver-
später, ihren Höhepunkt erreicht. wählen lassen und eine Partei schaffen, teidigung der Freiheit“ und „Stopp den
Diese neue Rechte hat äußerlich nicht die auch für die Mitte wählbar ist. Islam“. Er wolle die vorhandenen Kräfte
mehr viel zu tun mit der alten, auch wenn Marine Le Pen gibt sich undogmatisch gegen den Islam bündeln, in Deutschland,
schon der erste europäische Rechtsaußen und intellektuell, sie trägt ein Businesskos- Frankreich, Großbritannien, Kanada und
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den USA, sagt er in einem Video, es ist
bisher der einzige Inhalt auf der Internet-
seite der Allianz.
Auf Wilders’ Initiative angesprochen,
sagte Marine Le Pen dem SPIEGEL:
„Ohne eine gemeinsame Auflehnung ist
unsere Zivilisation letztendlich dem Un-
tergang geweiht.“ Das ist zwar ein Be-
kenntnis zu gemeinsamen Zielen, nach
einer Beitrittserklärung klingt es nicht.
Im Ausland ist Wilders bisher erst bei
Amerikas rechten Islam-Hassern erfolg-
reich. Seit Jahren reist er auf ihre Einla-
dung durch die USA, sammelt Preise für
seinen angeblichen Kampf für die Rede-
freiheit, hält Vorträge vor begeisterten
Fans – und verdient ganz gut dabei.
Der Millionär, Islam-Feind und Inter-
netpublizist David Horowitz („Frontpage
Magazine“) zahlt Wilders für seine
Vorträge 20 000 Dollar, das sagte er dem
niederländischen Fernsehsender Avro.
Horowitz sieht Wilders als „Winston
Churchill in diesem Krieg“ gegen den
Islam. Zum neunten Jahrestag der An-
schläge von 2001 trat Wilders in New
York am Ground Zero auf und sprach
sich auf einer Kundgebung gegen das
islamische Gemeindezentrum aus, das
zwei Straßenzüge davon entfernt gebaut
werden soll.
Wenn Wilders vor sein amerikanisches
Publikum tritt, wird er gefeiert wie nir-
IMAGO
S
Am kommenden Wochenende wird elbst die Rosi, die singende Promi- cher Russen wie am 6. Januar, als sie im
Wilders in Berlin stehen, als Repräsentant Wirtin der Sonnbergstubn über Kitz- Kitzbüheler Sportpark unter den gezack-
einer Politik, für die es vielleicht auch in bühel, ist ratlos. „Den Luschkow“, ten Gipfeln des Wilden Kaisers orthodoxe
Deutschland einen Markt gibt, mit Sicher- sagt sie, „habe ich diese Woche noch gar Weihnacht feierten.
heit aber noch keinen Verkäufer. nicht gesehen. Sonst ist er immer gekom- Fürchtet Luschkow auch 2000 Kilome-
Ein Publikum wird es wohl geben, men mit seinem Bodyguard.“ ter fern der Heimat noch den Bannstrahl
wenn der ehemalige CDU-Politiker René Luschkow, Jurij Michailowitsch, ist seit des Kreml, der ihn seit Wochen mit einer
Stadtkewitz Wilders in Berlin begrüßen 1992 Oberbürgermeister von Moskau und Medienkampagne verfolgt? In mehreren
wird. Die polemische Internetseite Politi- mit seiner milliardenschweren Gattin Je- „Enthüllungssendungen“ hatte ihn das
cally Incorrect wirbt kräftig für den Auf- lena Baturina Stammgast in Kitzbühel. staatlich kontrollierte Fernsehen aller er-
tritt – dort treffen sich seit Jahren schärfs- Lüftlmalerei und das Geweih eines Acht- denklicher Untaten bezichtigt: Der Bür-
te Islam-Gegner. Im Shop der Seite kann enders zieren die Residenz der beiden im germeister habe historische Moskauer
man Fan-T-Shirts bestellen mit dem Nobelvorort Aurach. Doch das Haus Bauten verschandelt oder sie einfach ab-
Schriftzug „Geert Wilders – Berlin – 2. Ok- wirkt Ende vergangener Woche verlassen, reißen lassen, seine Frau Ländereien
tober 2010“, in 19 Farbvarianten, für 19,90 die Garage, für zehn Limousinen berech- zweckentfremdet, dieser oder jener sei-
Euro. net, steht leer. Die Feier zu Luschkows ner Stadtbeamten sich der Umleitung öf-
Stadtkewitz-Shirts gibt es keine zu kau- 74. Geburtstag im familieneigenen Luxus- fentlicher Gelder schuldig gemacht.
fen. Dafür welche mit der Aufschrift hotel Grand Tirolia soll diskret vonstat- Die Vorwürfe, der Moskauer Stadtobe-
„Danke Thilo Sarrazin“. tengegangen sein. Kein Massenauflauf rei- re betreibe Misswirtschaft und sei korrupt,
MARKUS DEGGERICH, MANFRED ERTEL, waren nicht wirklich neu, die pausenlos
JULIANE VON MITTELSTAEDT, MATHIEU VON ROHR, auf den Bürgermeister herniederprasseln-
* Mit seiner Frau Swetlana (M.) und Mehriban Alijew,
HANS-JÜRGEN SCHLAMP, STEFAN SIMONS
der Gattin von Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew. den Artilleriesalven schon. Die Russen
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Ausland
verstanden sehr wohl: Da solle einer um- wohl nur, weil es den Machthabern poli- binett nach Jaroslawl eingeladen hatte,
gehend gefeuert werden. tisch gerade nützlich ist. beraumte der Premier kurzfristig eine Re-
Luschkow klagte bitter über die von Jeder zweite Russe wies in derselben gierungssitzung an: Die Minister mussten
„oben bestellte Verleumdung“ und droh- Befragung denn auch darauf hin, dass es zunächst in Moskau bleiben.
te gerichtliche Schritte an, seine Gattin in Russlands obersten Machtorganen „ge- Deutlich wurden auch politische Diffe-
fühlte sich gar an die Stalin-Zeit erinnert, nauso viel Diebstahl“ wie in der Moskau- renzen. Demokratie in Russland hält Putin
als Millionen Sowjetbürger ebenso „an- er Führung gibt. Medwedews Kampagne allenfalls für möglich, wenn die Moderni-
onym“ denunziert worden seien. drohte zum Bumerang zu werden. sierung des Riesenreichs irgendwann ein-
Aber geht es bei den Angriffen auf Der Präsident hatte mit der Aktion aber mal erfolgreich beendet ist. Medwedew
den ewigen Oberbürgermeister mit der nicht nur die Glaubwürdigkeit des Kreml, dagegen versteht sie als „Grundvorausset-
proletarischen Schiebermütze wirklich sondern auch sein eigenes Ansehen aufs zung“ für eine konkurrenzfähige Wirt-
um Korruption? Dass Luschkow in der Spiel gesetzt. Der Mann, der vielen immer schaft. „Nur freie Menschen können die
10,5-Millionen-Stadt nach Gutsherrenart noch als Nummer zwei im Duo mit Putin Modernisierung vorantreiben“, rief er in
herrschte, dass er die Verteilung von Bau- gilt, als einer, dessen Beine nicht einmal Jaroslawl in den Saal. „Die Demokratie,
grundstücken, Märkten und anderen lu- bis zu den Pedalen des Tandems reichen, die wir heute haben, ist besser als die vor
krativen Geschäftsmöglichkeiten nach sei- muss in der Affäre Luschkow seine Durch- fünf Jahren.“ Vor fünf Jahren hatte Putin
nem Gusto lenkte und sich dabei vom setzungsfähigkeit beweisen. im Kreml gesessen.
Kreml nicht hineinreden ließ – alles wahr. Beide, der Staatschef wie der Premier, Außenpolitisch setzt Medwedew auf
Die Kreml-Kampagne offenbarte aber wollen Luschkow seit langem loswerden. den Ausgleich mit Amerika, Putin aber
etwas ganz anderes: In einem Land, in Aber die Auseinandersetzung um dessen ließ in Sotschi seiner Verbitterung über
dem eine informelle Kaste regiert, wich- Nachfolge wurde nun zur Kraftprobe zwi- den Westen, der in Moskaus Einflusszo-
tige Entscheidungen also zwischen den schen dem eher liberalen Lager des Prä- nen vordringe, wieder einmal freien Lauf.
Interessenkartellen in Hinterzimmern sidenten und den Gefolgsleuten des Re- Bei der schrittweisen Entmachtung
ausgekungelt werden müssen, lassen sich gierungschefs. Politologen sprachen von Luschkows jedoch zogen Medwedew und
Personalfragen besonders schwer lösen. einer Vorentscheidung für die Präsiden- Putin zunächst an einem Strang, sie be-
Wie zum Beispiel wird man einen tenkandidatur in anderthalb Jahren. gann bereits vergangenes Jahr. Da setzte
selbstherrlichen Oberbürgermeister los, Ein Medwedew-Mann an der Spitze der der Präsident Moskaus Polizeichef ab,
der die wichtigste Stadt des Landes führt Hauptstadt – das würde dem jungen Prä- den der Bürgermeister für „langjährige
und immer wieder Ambitionen auf noch sidenten den Zugriff auf Luschkows Arbeit ohne Tadel“ mit einem Orden be-
höhere politische Ämter spüren lässt? Die Machtbasis bescheren: auf wichtige Me- dacht hatte. Medwedew, der aus einer
Wahl der Gouverneure durchs Volk hatte dien, sieben Millionen Wähler und einige Professorenfamilie stammt, kann den
der letzte Präsident, Wladimir Putin, ab- Oligarchen, die mit Putin unzufrieden grobschlächtigen Populisten Luschkow
geschafft. Luschkow direkt abzusetzen, sind. Der Kreml-Chef könnte sich von sei- nicht ausstehen. Putin wiederum hat dem
was durchaus möglich wäre, traute sich nem politischen Ziehvater emanzipieren. Stadtvorderen nie verziehen, dass der ge-
Putins Nachfolger Dmitrij Medwedew je- Die Gegensätze zwischen dem Präsi- gen ihn gelästert hatte, als er im Jahr 2000
doch nicht – weil der Bürgermeister über dentenlager und dem des Regierungs- als Präsidentschaftskandidat antrat.
eine starke Anhängerschaft verfügt. Um chefs waren in den vergangenen Wochen Als zweiten Schritt brachte der Kreml
die erst einmal aufzuspalten, setzte der offener zutage getreten. Putin hatte sei- enge Verbündete Luschkows in Schwierig-
Kreml die Waffe Fernsehen ein. nen politischen Kurs Anfang September keiten, die dessen Präsidentenambitionen
Mit Erfolg. Das „Lewada“-Forschungs- in Sotschi vor Russland-Experten aus al- finanziell unterfüttert hatten. Vorige Wo-
zentrum ermittelte vorige Woche, 54 Pro- ler Welt dargelegt. Medwedew zog beim che stellte ein Gericht sogar das Verbot
zent der Befragten würden zu Luschkow „Global Policy Forum“ in Jaroslawl nach – der jährlichen Moskauer Schwulen-Parade
kein Vertrauen mehr haben. Gleichzeitig mit ausländischen Staatsführern war es durch Luschkow in Frage – ein Zeichen
aber wunderten sich viele Russen, warum hochkarätiger besetzt als das Treffen in für dessen Machtverfall. Auch Putin hatte
die Korruption in Moskau für den Kreml Sotschi, Putin aber offenbar nicht frei von das Gebaren des Bürgermeisters zuneh-
erst jetzt zum Thema geworden ist. Doch Eifersucht. Weil Medwedew das halbe Ka- mend gestört. Während der Kampagne des
Kreml hielt er sich aber auffällig zurück.
Am Freitag vergangener Woche schien
die Entlassung Luschkows beschlossen.
Putin und Medwedew, so hieß es, hätten
sich auf eine Doppelspitze als Nachfolge
geeinigt: Der Chef der Regierungskanzlei,
Sergej Sobjanin, soll Oberbürgermeister
werden; der Provinzgouverneur von
Nischni Nowgorod, Walerij Schanzew, bis
2005 einer der Stellvertreter Luschkows,
Moskaus Verwaltungschef. Sobjanin, ein
farbloser Bürokrat, gilt als einer der we-
nigen Spitzenpolitiker, die ihre Ämter
VITTORIO ZUNINO CELOTTO / GETTY IMAGES
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Ausland
Autor Mastrogiacomo in Rom, als Entführungsopfer (M.) mit Dolmetscher Naqshbandi und Fahrer Agha 2007: „Tötung vor Ablauf der Frist“
Tage der Angst getauscht, der Afghane nicht. Ist ein Af-
ghane weniger wert als ein Ausländer?,
fragten die Zeitungen in Kabul.
Über den Augenblick, als er mitten im
Drei Jahre nach seiner Entführung in Afghanistan legt der Kriegs- Freudentaumel über seine Befreiung Ge-
reporter Daniele Mastrogiacomo ein Buch über seine Geisel- wissheit über Naqshbandis Tod erhielt,
haft vor. Es ist ein einzigartiger Blick auf den Alltag der Taliban. schreibt Mastrogiacomo in seinem Buch
„Tage der Angst“*: „Es war eine dieser
D
a war die Stimme wieder, die er ge Haft in der südafghanischen Provinz Inszenierungen der Taliban, die wir schon
drei Jahre lang nur in seinem Helmand überlebt. Sein Fahrer und sein während unserer Haft immer wieder er-
Kopf gehört hatte. Plötzlich, am Dolmetscher wurden ermordet. lebt hatten. Aus einem Fest wird ein Dra-
frühen Morgen, war sie da, in seiner Woh- Als er zurückkam, war er ein anderer. ma, dann kommt die Angst und schließ-
nung, einfach am Telefon, 4700 Kilometer Nachts warf er sich hin und her, weil er lich die Trauer.“
entfernt von dem Ort, an dem sich alles sich im Traum noch immer an Händen „Fühlen Sie sich schuldig?“, fragen
zugetragen hatte. „Kennst du mich noch, und Füßen gefesselt fühlte, im Restaurant Journalisten Mastrogiacomo heute noch.
Daniele?“, sagte die Stimme, „wir waren achtete er auf jede Bewegung, die ihm Das schmerzt den Überlebenden.
doch zwei Wochen zusammen in Hel- verdächtig vorkam, manchmal verließ er Seine Erinnerungen schrieb er gleich
mand.“ wochenlang das Haus nicht. nach der Rückkehr in nur drei Wochen
Daniele Mastrogiacomo, Kriegsrepor- Mastrogiacomo ist heute 56, blond, äu- nieder, wie eine Intensivtherapie sei das
ter der italienischen Tageszeitung „La Re- ßerlich ein bulliger Mann mit einer gro- gewesen, sagt er. Entstanden ist ein Buch,
pubblica“, erkannte das schlechte Eng- ßen Nase und kantigen Wangenknochen, das dem Leser den Atem raubt. Mastro-
lisch sofort wieder. Es war Luthar, ein er trägt Jeans, Polohemd und ein ausge- giacomo schildert, wie er und seine Be-
junger Talib, kaum 20 Jahre alt. Luthar, beultes Sakko. Er schreibt wieder, vor gleiter in die Falle gerieten, wie er mit
der die Videos gedreht hatte, in denen allem über Afrika, nur nicht mehr über seinen Peinigern 15-mal das Versteck
Mastrogiacomo die italienische Regierung Afghanistan. wechseln musste, dreckige Schafställe
anflehte, sein Leben und das seiner bei- Es ist vor allem eine Geschichte von und Erdlöcher zumeist, aber auch, wie
den afghanischen Kollegen zu retten. damals, die ihn bis heute aufwühlt, die das Verhältnis zwischen Opfern und Tä-
Luthar, der auch dann noch seelenruhig Geschichte seines Freundes und Dolmet- tern wechselte zwischen Phasen kumpel-
weiterdrehte, als sein Komplize den af- schers Ajmal Naqshbandi, erst mit Ma- hafter Vertrautheit und solchen unfassba-
ghanischen Fahrer des Journalisten mit strogiacomo freigelassen und dann erneut rer Brutalität.
einem Messer köpfte. gefangen genommen und am Ende, wie Derselbe Mann, der seinem Fahrer
Irgendwie hatte Mastrogiacomos Ent- zuvor der Fahrer, enthauptet. Die Taliban Sayed Agha vor laufender Kamera die
führer die Nummer des italienischen Re- wollten noch weitere Kämpfer aus dem Kehle durchschnitt, forderte den Italiener
porters ausfindig gemacht, und nun tat Gefängnis freipressen. „In Wahrheit lie- am Morgen danach lächelnd zum gemein-
er, als verbinde die beiden ein Abenteuer, ßen uns die Entführer gar keine Zeit, über samen Sport auf. Die Entführer, die mit
eine gemeinsame Gipfelbesteigung etwa, Naqshbandi zu verhandeln“, sagt der da- ihren Geiseln gerade noch über religiöse
nicht aber eines der blutigsten Geiseldra- malige Außenminister und heutige Sicher-
men seit dem Einmarsch der westlichen heitsberater von Präsident Hamid Karzai, * Daniele Mastrogiacomo: „Tage der Angst. Entführt
Truppen in Afghanistan. Als Einziger hat Rangin Dadfar Spanta, „sie töteten ihn von den Taliban“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 200 Sei-
Mastrogiacomo im März 2007 die 15-tägi- noch vor Ablauf der Frist, er wusste zu ten; 17,95 Euro.
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Fragen und kulturelle Unterschiede bei am Leben sei, müssten sie jetzt sofort schiedenen Protest der Amerikaner, der
Ehe und Erbrecht debattierten, peitschten handeln. Briten und seines eigenen Außenminis-
sie Minuten später mit Gummischläuchen. Wie weit aber darf sich ein Staat er- ters. „Man rettet ein, vielleicht zwei Men-
Mastrogiacomos Buch ist ein einmali- pressen lassen? Gefordert hatten die Ta- schen und setzt danach eine endlose Ket-
ges Zeugnis über den Alltag der Taliban- liban zunächst den Rückzug des italieni- te von Entführungen in Gang“, beharrt
Kämpfer. Ihre Guerilla-Trupps sind rastlos schen Militärs aus dem Isaf-Einsatz in Af- Spanta bis heute.
unterwegs, ein Leben unter Daueranspan- ghanistan, danach den Austausch von Die direkten Verhandlungen mit den
nung, trotzdem lachen die jungen Kämp- fünf besonders gefährlichen Taliban aus Taliban führte schließlich der ehemalige
fer viel, sie ahnen, dass sie jeden Augen- dem berüchtigten Gefängnis Pol-i-Chark- Leiter des Notfallkrankenhauses in
blick sterben können, scheinen aber frei hi bei Kabul. Lashkar Gah: Rahmatullah Hanefi gehör-
von Todesangst. Ihre Gewaltexzesse sind Als zwei Jahre zuvor im Irak die italie- te in den neunziger Jahren selbst zu den
für sie kein Widerspruch zu ihrer Religio- nische Journalistin Giuliana Sgrena ent- Taliban, saß danach aber auch in einem
sität. Die fanatische Ablehnung von ihrer Gefängnisse, weil er angeblich zu
Nichtmuslimen, die sie als „unrein“ be- „Man rettet ein Leben und liberale Auffassungen vertrat – keine un-
trachten, ist ein wesentlicher Bestandteil gewöhnliche Karriere in Afghanistan. Er
dieses Selbstverständnisses. Klar wird aus setzt eine endlose Kette holte den Freigelassenen schließlich aus
Mastrogiacomos Bericht auch, wie unmit- von Entführungen in Gang.“ der Wüste ab.
telbar die Taliban den Anweisungen ihrer Heute sitzt Daniele Mastrogiacomo auf
Führer folgen, die selbst kleinste Gruppen führt worden war, hatte der Chefredak- der Terrasse des Caffè dell’Arte in Rom
direkt über Mobiltelefon steuern. teur geschrieben: „Es gibt eine Grenze, unter einem großen Sonnenschirm, es ist
Doch die Hintergründe von Mastrogia- über die Verhandlungen nicht hinausge- heiß, er nippt an seinem Espresso. Er sagt,
comos Freilassung, die in Europa damals hen dürfen, wenn die Forderung der Er- er sei damals sicher gewesen, dass er ster-
schwere Kontroversen auslösten, sind bis presser die Demokratie und Sicherheit ben müsse. Er habe es sich bildhaft vor-
heute kaum bekannt und werden auch einer Nation untergräbt.“ Das Gleiche gestellt.
im Buch weitgehend ausgespart. schrieb er nun, mit schwerem Herzen, Er zeigt auf seine rechte Hand und er-
Wenige Tage vor seiner Befreiung hatte über die Entführung seines eigenen Re- zählt, wie ihm die Taliban Ausweise und
die Chefin des Krisenstabs des italieni- dakteurs. Wertsachen abnahmen, am Ende gar den
schen Außenamts Mastrogiacomos Chef- Premierminister Romano Prodi rief in goldenen Ehering vom Finger zogen. Dar-
redakteur Ezio Mauro zum Gespräch am Kabul bei Präsident Hamid Karzai an, die unter aber fanden sie eine Tätowierung,
Rande eines Treffens gebeten. Nach ihren beiden unterhielten ein besonders herz- „ein Blutband“, wie er es nennt, das
Erkenntnissen hätten die Taliban seinen liches Verhältnis. Karzai prüfte die Na- ihn und seine Frau seit über 20 Jahren
Reporter gerade getötet oder seien nun men der Gefangenen und stimmte dem verbindet: „Das konnten sie mir nicht
entschlossen, das zu tun. Falls er noch Austausch schließlich zu – gegen den ent- nehmen.“ SUSANNE KOELBL
SVEN CREUTZMANN
Vater dos Santos, Foto des ermordeten Sohns Hermínio: „Nichts konnte ihn aufhalten“
S
ie hatten ihn gewarnt. Lebensgefähr- „Travessia“ auf, der illegalen Einreise in hatte er genug Geld für einen eigenen
lich sei es, die Grenze zwischen Me- die USA. Hermínio war schon mal mit Lastwagen angespart. Er verdiente gut,
xiko und den USA auf eigene Faust einem falschen Pass in Italien gewesen, doch dann begann die Krise, die Aufträge
zu überqueren, hatten seine Freunde ihm er hatte schwarz auf dem Bau gearbeitet, blieben aus. Schließlich erwischte ihn die
gesagt. Der Trip lohne sich auch gar nicht bis sie ihn erwischten und wieder nach US-Einwanderungspolizei.
mehr, sagten ihm Bekannte, die gerade Hause schickten. Ein Großteil der jun- Vor einem Jahr kehrte er nach Valada-
zurückgekehrt waren. Der Dollar sei gen Männer von Governador Valadares res zurück, mit den 250 000 Dollar, die er
nichts mehr wert. „Bleib in Brasilien, ha- strebt in das vermeintliche Paradies im angespart hatte, baut er sich jetzt ein neu-
ben sie ihn bedrängt“, erzählt sein Vater Norden. es Leben auf. Er kaufte ein Haus und ei-
Alírio Aires, 66. „Hier hast du eine Zu- Wohl aus keiner anderen Stadt Brasi- nen Lkw, in die USA zieht ihn nichts
kunft.“ liens haben sich so viele Menschen illegal mehr zurück: „In Brasilien verdiene ich
Aber Juliard Aires Fernandes, 19 Jahre in die USA abgesetzt. Die meisten der genauso viel.“ Die Rückkehr der Migran-
alt, geboren und aufgewachsen im Dorf knapp 300 000 Einwohner ten markiert das Ende einer
Sardoá bei Governador Valadares im bra- von Valadares haben Ver- BRASILIEN Epoche für Governador Va-
silianischen Bundesstaat Minas Gerais, wandte in den USA. Die hei- ladares. Und sie ist ein Lehr-
Governador Valadares
schlug alle Warnungen in den Wind. Die ße, staubige Stadt am Fuße stück über die Globalisie-
USA waren sein Traum, erinnert sich sein des Ibituruna-Bergmassivs Sardoá rung – über die Chancen,
Vater. „Nichts konnte ihn aufhalten.“ lebt seit über 40 Jahren im die sie auftut, und die Tra-
Vor acht Monaten war Juliards Mutter Zyklus des Dollarstroms. Río de Janeiro gödien, in die sie führt.
an einem Herzinfarkt gestorben, zwei sei- Doch jetzt kommen die Der Traum vom
ner Brüder leben in der Nähe von Boston. Auswanderer zurück: Die schnellen Geld im kal-
Sein Vater ist Maurer, er verdient 15 Real USA gehen durch die 500 km ten Norden begann in
am Tag, rund 6,50 Euro. Juliard war ein schwerste Krise seit der Gro- SÜ DA M ER IKA den vierziger Jahren, als
fröhlicher, kräftiger Junge, Gitarrist, Mo- ßen Depression der dreißiger die Minenbaugesell-
torradfahrer. Er wollte seinem Vater ein Jahre, gleichzeitig boomt die Wirtschaft schaft Vale do Rio Doce
neues Haus bauen und sich selbst einen in Brasilien. Kaum eine Währung hat in mit amerikanischer Hil-
Wunsch erfüllen: ein Auto. den letzten Jahren so stark zugelegt wie fe eine Eisenbahnlinie
Deshalb brach er mit seinem Freund der Real. Über 400 000 brasilianische an die Küste baute. Die
Hermínio Cardoso dos Santos, 24, zur Wanderarbeiter sind in den vergangenen US-Ingenieure errichte-
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ten ihre Häuser im amerikanischen Stil, Doch die Lula-Angst war unbegründet, nem illegalen Reisevermittler hinterlegte
führten Kühlschränke und Stereoanlagen unter dem Arbeiterpräsidenten, dessen Hermínio 13 000 Dollar für Flugtickets,
ein und bezahlten ihre Hausangestellten Amtszeit drei Monate nach der Wahl am Schmiergelder für mexikanische Polizis-
in Dollar. kommenden Sonntag zu Ende geht, ist ten und die Gebühr für den „Coyote“,
Die Söhne der Farmer und Geschäfts- das Land aufgeblüht. Während der Real den Schlepper, der sie über die Grenze
leute von Valadares bewunderten den rasch an Wert gewann, krachte in den schleusen sollte. Sie versprachen anzuru-
American Way of Life. Als die Amerika- USA das Finanzsystem zusammen. Viele fen, sobald sie US-amerikanischen Boden
ner gingen, folgten ihnen viele in die Einwanderer verloren ihr Haus, der Zins- betreten würden.
USA, später holten sie ihre Familien nach. anstieg erwischte sie unvorbereitet, sie Am 3. August verabschiedeten sich die
Wer zurückkam, schwärmte vom Wirt- konnten die Raten nicht mehr zahlen. Oft Jungen von der Familie. Hermínio sagte
schaftswunderland, wo sich in einem Jahr reichte das Ersparte nicht mal mehr für zu seiner Mutter: „Ich komme erst zurück,
so viel verdienen ließ wie in Brasilien in ein Rückflugticket. Viele Familien schi- wenn ich dir ein Haus bauen kann.“ Die
zehn. cken jetzt Geld in die USA, um ihren Ver- beiden wollten nach Boston. Juliard hatte
In den achtziger Jahren waren es Hun- wandten zu helfen. „Die meisten Migran- eine Tasche mit drei Hosen und Hemden
derttausende, die vor Hyperinflation und ten kehren ohne einen Cent in der Tasche dabei; am Tag der Abreise trug er Turn-
Wirtschaftskrise in die USA flohen. Go- zurück“, sagt Sueli Siqueira. schuhe, Jeans und ein schwarzes T-Shirt,
vernador Valadares wurde zur Haupt- Inzwischen geht es Brasilien gut und in der Unterhose hatte er den Pass und
stadt der Neureichen und der Dokumen- den aus Valadares Ausgewanderten 600 Real.
tenfälscher. In den Hinterstuben der Rei- schlecht. Das Drama der Rückkehrer hat Von São Paulo flogen die beiden Freun-
sebüros kopierten Gauner Pässe, Visa und die einstige Boomtown zur Krisenregion de nach Guatemala. Mexiko hat auf
Geburtsurkunden. Wer aus Valadares gemacht. Weil die Remessas ausbleiben, Druck der Amerikaner Visumzwang für
kam, galt bei den US-Konsulaten auto- ist das Wirtschaftsaufkommen der Stadt Brasilianer eingeführt, für Guatemala
matisch als verdächtig. um 40 Prozent geschrumpft. Während der reicht der Reisepass. Ein Coyote brachte
sie nach Mexiko.
Sie durchquerten das ganze Land,
Ende August erreichten sie San Fernando
nahe der Grenze zu den USA und schlos-
sen sich einer Gruppe anderer mittel- und
südamerikanischer Migranten an. Ein wei-
terer Coyote, diesmal ein Mexikaner, soll-
te die Illegalen nach Texas führen.
Doch dazu kam es nicht. Stattdessen
geriet die Gruppe in die Fänge eines Dro-
genkartells, das sie auf einer Farm in der
Nähe der Grenze zusammentrieb und vor
die Wahl stellte: Entweder nehmen sie
Kokain mit in die USA – oder es wird
SVEN CREUTZMANN
126 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Ausland
T
om Blue und die Drumatical sind Alawami ist das schöne Gesicht der An den noch immer satten Ölpreisen
weit herumgekommen in ihrer Kar- Opec, in Schicksalen wie ihrem spiegelt gemessen, ist es ein schlichter Rahmen,
riere, sie durften schon beim sich das Bündnis nur zu gern: als Soli- in dem die Vertreter von 75 Prozent der
Scheich von Dubai und beim Emir von darpakt der Erdölländer, der seinen – der- weltweiten Erdölreserven und von gut 40
Katar aufspielen. Nun steht die Trom- zeit zwölf – Mitgliedern nur den gerech- Prozent der internationalen Ölproduk-
meltruppe im Wiener Kursalon vor „ei- ten Gewinn aus ihrem Öl sichert, zum tion ein halbes Jahrhundert Preisabspra-
nem der Höhepunkte unserer Show-Kar- Wohle ihrer Bevölkerung. „Stabilität stüt- che begehen. Kein Scheich, kein Emir
riere“. Für Tom Blue ein Heimspiel. Er zen, Fortschritt fördern“ lautet das Motto gibt sich die Ehre. Kein Rolls-Royce fährt
ist Österreicher und heißt eigentlich Tho- des Jubiläums. vor. Auf jedem Dermatologenkongress
mas Achleitner. Der Rest der Welt sieht in der Orga- werden mehr Rolex getragen.
Die Combo, die rhythmisch auf Ölfäs- nisation eher ein machtvolles Kartell, ei- Mit herzlicher Routine besucht Gene-
ser eindrischt, spielt heute – wie passend – nen undurchschaubaren, unberechenba- ralsekretär Abdalla Salem El-Badri, ein
vor den Vertretern der erdölexportieren- ren Club von Scheichs und Despoten, die Libyer, die Stände der Mitgliedstaaten im
den Länder. An einem Ort, an dem schon den Westen mit willkürlichen Preisab- Foyer. An ihnen sollen in den nächsten
Johann Strauß Konzerte gab, feiert die sprachen und horrenden Forderungen er- Tagen Wiener Schüler unter Führung von
Opec den 50. Jahrestag ihrer Siham Alawami erfahren,
Gründung. Die Drumatical dass die Opec-Länder mehr
gehören zur Ouvertüre einer zu bieten haben als Öl. Ecua-
„Ausstellung mit Kunst, Mu- dor etwa exportiert auch
sik, Tanz & Kulinarik von Kakao. Die große Schale mit
den Mitgliedstaaten“, wie es 70-prozentiger Schokolade
auf der Einladungsbroschüre ist schon leer, bevor El-Badri
etwas holprig heißt. in seinem Grußwort „den
Auf diesen Tag hat die Willen, die Entschlossenheit
Opec-Frau Siham Alawami, und den dauerhaften Erfolg“
52, seit Wochen hingearbei- seiner Organisation gepriesen
tet, so wie alle 150 Mitarbei- hat.
ter aus der Zentrale des Kar- Die Honoratioren sind
tells in der Helferstorfer Stra- nicht nur geübte Bruderkuss-
ße. Nach 45 Jahren in der Verteiler und Softdrink-
österreichischen Hauptstadt Schlürfer, sondern auch ge-
hat sich die Opec in eine duldige Grußwort-Weghörer.
Melange aus Orient und Tapfer ertragen sie das Eng-
Okzident verwandelt. Kaum lisch („it gives me great plea-
jemand verkörpert sie so sures“) von Österreichs Au-
wie die Zeremonienmeiste- ßenminister Michael Spin-
rin aus Katar, die auch gern Trommelkünstler, Organisatorin Alawami: Opernball am Persischen Golf delegger. Nur leicht ziehen
„Prinzessin“ genannt wird, sie die Brauen hoch, als eine
obwohl sie ganz und gar bürgerlichen pressen. Dass ihre reichsten Mitglieder, Vertreterin der Stadt ihnen vorschlägt,
Standes ist. allen voran Saudi-Arabien, nach den Sie- doch mal einen Rundgang durch die Wie-
Alawami selbst bezeichnet sich als „Be- gen Israels über die Araber 1967 und 1973 ner Kanalisation zu machen. Da sei näm-
duinentochter, eine Blume der Wüste“. ihr Öl als politische Waffe gegen die Un- lich einst der „Dritte Mann“ mit Orson
Doch Wien, das auf provinzielle Weise terstützer des „zionistischen Regimes“ Welles gedreht worden. Ach, Austria.
Größe atmet, ist mit Titeln schnell zur einsetzten, ist auch Jahrzehnte später un- Weil es um Kulturaustausch geht, gibt
Hand. Aus jedem Lehrer macht man hier vergessen. es nun Musik, endlich. Ein Konzertgitarrist
einen „Herrn Professor“. Eine rührige Die Zeit der Kraftmeierei und Protze- aus Venezuela spielt Folklore auf seiner
Kulturbotschafterin, die mehr als 30 Wie- rei ist passé. Fehlentscheidungen bei der Cuatro. Österreichs Beitrag ist ein Ope-
ner Opernbälle in Dubai, Abu Dhabi und Preispolitik, interne Rivalitäten zwischen retten-Potpourri („Meine Lippen, sie küs-
Oman organisiert hat, wird da im Sisi- Hardlinern wie Venezuela und Iran auf sen so heiß“). Das Oberteil einer Sopra-
Land schnell zur Prinzessin erhoben. der einen Seite und Bündnispartnern des nistin ist so offenherzig, dass die iranische
Seit 31 Jahren arbeitet die PR-Frau nun Westens wie Saudi-Arabien, Kuwait oder Delegation ganz unruhig wird. Oder?
schon für die Opec und führt in Wien das den Vereinigten Arabischen Emiraten auf Dann sind endlich die coolen Jungs von
freie Leben einer modernen Frau. Ihre Mut- der anderen haben zum Niedergang bei- Drumatical dran. Mit ihren fünf schim-
ter sei noch „neben einem Kamel geboren“ getragen. 1980, als die Öl-Potentaten zu mernden Tonnen bringen sie doch noch
worden, sie hingegen sei in einem moder- ihrem 20. Jahrestag bitten wollten, muss- ein wenig Glanz in die Veranstaltung.
nen Hospital zur Welt gekommen, erzählt ten sie kurzfristig absagen: Der Irak hatte Und ihre Beats zeigen den Förderquoten-
Alawami. Sie durfte studieren, konnte ins seinen Opec-Partner Iran angegriffen. Fetischisten, dass man mit Ölfässern nicht
Ausland gehen, den Petro-Dollars und der Doch wohl keine internationale Organi- nur Geld, sondern auch Musik machen
Großzügigkeit des Emirs sei Dank. sation schaffte so viele Comebacks. kann. DIETER BEDNARZ
128 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Serie
ZENTRALASIEN (1) Der Pamir, der Hindukusch und rikanische Präsidentenberater Zbigniew Brzezin-
das Tianshangebirge, die Ströme Syr-Darja und ski den Konfliktherd genannt – für den US-Politi-
Amu-Darja begrenzen ein Gebiet, in dem die ker eine der strategisch wichtigsten Weltregionen.
Weltreligionen Islam und Christentum aufeinan- Für die großen Mächte geht es jetzt in diesem Ge-
derprallten, die Astronomie blühte, hervorragen- biet um Militärbasen im Krieg gegen die Taliban,
de Ärzte lehrten. Zentralasien ist einer der ewi- um Öl- und Gas-Pipelines, um Rauschgiftpräven-
gen Brennpunkte der Weltgeschichte: Dareios I. tion – einige der wichtigsten Routen für Heroin
und Alexander der Große, Dschingis Khan und liegen dort, von Islamisten kontrolliert.
Tamerlan hinterließen hier Deshalb erlebt die Welt jetzt
ihre Spuren. Herrscher, auf 1 KIRGISIEN 2 KASACHSTAN 3 USBEKISTAN eine Neuauflage des Großen
die später die britischen und 4 TADSCHIKISTAN 5 TURKMENISTAN Spiels, mit den früheren Ak-
russischen Kolonialmächte RUSSLAND teuren Russland und Groß-
folgten, angetreten zum britannien sowie den neuen
2
„Great Game“, dem erbitter- Spielern USA, China, Iran.
ten Kampf um Bodenschätze Keines der Länder, die in
und strategische Basen. Kaspi- 3 ihrem Blickfeld liegen, ist
1
sches 5
Das Große Spiel wurde zu Meer 4
CHINA stabil, fast überall herrschen
Beginn des 20. Jahrhunderts exzentrische Diktatoren, die
AFGHANISTAN
vertagt. Aber bald drückte IRAN Korruption blüht, jeder liegt
der Region ein noch brutale- PAKISTAN INDIEN mit dem Nachbarn im Streit:
500 km
rer Diktator den Stempel Kirgisien ist nach mehreren
auf: Josef Stalin zeichnete Staatsstreichen und ethni-
nach 1920 die Grenzen Zentralasiens neu. Er schen Unruhen führungslos, das rohstoffreiche
schuf fünf Sowjetrepubliken, zerschnitt traditio- Kasachstan fühlt sich von China bedrängt, in Ta-
nelle Handelsräume und Siedlungsgebiete. Sein dschikistan haben Islamisten ihren Kampf gegen
Ziel war es, die muslimischen Völker zu schwä- das Regime wieder aufgenommen, und in der
chen und gegeneinander aufzuwiegeln, damit sie Baumwollrepublik Usbekistan wird die Opposi-
Moskau nicht gefährlich werden. tion grausam verfolgt.
Die Saat des Hasses war gelegt, mit der Auflö- In einer neuen Serie wird der SPIEGEL die be-
sung des Weltreichs brach er sich Bahn. Aus den sorgniserregende Situation in Zentralasien be-
sowjetischen Teilrepubliken wurden unabhängige schreiben. Dort „könnte ein gewaltiges Unwetter
Staaten, zerrissen von unnatürlichen Grenzen. Ei- heraufziehen“, fürchtet der amerikanische Histo-
nen „eurasischen Balkan“ hat der ehemalige ame- riker Kenneth Weisbrode.
KIRGISIEN
D
ie Sonne steht hoch über Osch, di- Orientalische Idylle? nahen Usbekistan, 13 Leichen gebracht,
rekt über dem That-i-Suleiman, An diesem Morgen haben sie in einer ein Kinderarzt war darunter. Auch diese
dem riesigen Felsen mitten in der der Moscheen von Osch, im Keller, mitten Toten stammten aus Osch; sie waren, an
Stadt, auf dem einst der biblische König im Schutt, vier tote Mädchen gefunden. den Händen gefesselt und ebenfalls
Salomon gepredigt haben soll. Sie strahlt Ihre Körper waren vollständig verbrannt, furchtbar verstümmelt, den Fluss Ak-
so unbarmherzig, dass die schneebedeck- bei einigen die Köpfe abgetrennt. Die Lei- Bura hinab über die Grenze getrieben.
ten Berge des Tianshan hinter einem Vor- chen waren in Teppiche gewickelt. Kirgi- Alle 13 – Kirgisen aus Osch.
hang aus flimmernder Hitze verschwun- sische Mädchen. Aus Osch. Wenig später Für die Männer und Frauen, die sich in
den sind. Irgendwo ruft ein Muezzin. wurden aus Andischan, einer Stadt im dem Zeltstädtchen neben dem mächtigen
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D. DALTON BENNETT / AP
Vor den Pogromen geflüchtete Usbeken aus Osch am 12. Juni: „Bei der Polizei nahmen sie nicht mal den Hörer ab“
weißen Gebäude der Gebietsverwaltung Über 370 Menschen sind laut offiziel- Weg nach Indien am That-i-Suleiman Sta-
versammelt haben, ist der Fall klar: „Die len Angaben bei den Pogromen ums Le- tion gemacht haben.
Mörder waren Usbeken“, sagt Gumira Aly- ben gekommen, als die Kirgisen Usbeken Seit Juni aber ist diese Stadt mit ihren
kulowa, eine 35-jährige Kirgisin. Jene eth- jagten und die Usbeken Kirgisen. Es wa- 250 000 Einwohnern nur noch ein Schat-
nische Minderheit also, die in Osch die ren aber wohl mindestens 2000. Über ten ihrer selbst. Der Vier-Tage-Krieg hat
Mehrheit stellt. Der die meisten Märkte, 75 000 Menschen flüchteten nach Usbe- eine breite Spur aus Asche hinterlassen.
Restaurants oder Ackerflächen gehören und kistan. Die Welt war schockiert. Magistralen wie die Kirgisien-Straße sind
die die Kirgisen, so glauben die aufgebrach- Was ist in Osch passiert? Warum ant- verwüstet, alle Geschäfte auf der rechten
ten Leute, von hier verdrängen möchte. worten weder Bürgermeister, Provinz-, Seite, Cafés, Restaurants, eine muslimi-
Die kleine Zeltstadt ist seit den viertä- Polizei- noch Geheimdienstchef auf die sche Klinik niedergebrannt. Die linke Sei-
gigen blutigen Unruhen vom Juni dieses Frage, wie das Morden begann? Warum te ist unversehrt, dort wohnen Kirgisen.
Jahres eine der Nachrichtenbörsen der meiden die Zeitungen dieses Thema? Eine Version der Ereignisse geht so: Us-
Stadt. Eine kirgisische allerdings. Wer die Das Schweigen, das sich nach den so- beken haben ein Wohnheim der Univer-
andere Seite der Wahrheit hören will, genannten Ereignissen über Osch gelegt sität von Osch überfallen und kirgisische
muss zwei Kilometer weiter in usbekische hat, macht den Menschen Angst – Be- Studentinnen vergewaltigt. Das hat die
Wohnviertel wie Schark fahren. wohnern einer Stadt, die jahrhunderte- Rache der Kirgisen ausgelöst.
Schark sieht aus, als hätten feindliche lang weltoffen war, ein Ort friedlichen Eine andere lautet: Die Vergewaltigun-
Flieger einen Bombenteppich gelegt. Das Handels, Kreuzungspunkt an der legen- gen hat es nie gegeben, die Unruhen sind
Viertel ist komplett niedergebrannt, selbst dären Seidenstraße. gezielt provoziert worden.
von den Schulen stehen nur noch rauch- 3000 Jahre alt ist Osch, älter als Rom. Osch ist jetzt eine Stadt im rechtsfreien
geschwärzte Grundmauern. Das waren Karawanen aus China zogen hier durch, Raum. Jede Nacht, wenn die Straßen in
die Kirgisen, sagen die Usbeken dort. auch Alexander der Große soll auf dem pechschwarzer Dunkelheit liegen, regie-
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XINHUA / ACTION PRESS
Nächtliches Stadtzentrum von Bischkek: „Wir sind Viehzüchter, die zu anderen Weiden ziehen, wenn die alte leergefressen ist“
ren Männer in Camouflage-Uniformen Regierung im benachbarten Tadschikistan Das schöne Bild vom demokratischen
ohne Schulterstücke, es sind Stunden der kämpfen, sammeln sich hier ebenso wie Gemeinwesen im Herzen Asiens geht auf
Rache und der Willkür. 3000 Usbeken sol- uigurische Aktivisten aus der chinesi- den Physiker Askar Akajew zurück, der
len verhaftet worden sein, andere wurden schen Unruhe-Provinz Xinjiang. Drogen- Kirgisien nach dem Zerfall der Sowjet-
entführt oder sind untergetaucht. Alle Us- händler wiederum nutzen Kirgisien als union führte – ein aufgeklärter Mann, der,
beken wurden aus staatlichen Funktionen wichtige Rauschgifttrasse – sie verläuft anders als die Herrscher in Kasachstan,
entlassen. von Afghanistan direkt über Osch. Für Turkmenistan und Usbekistan, nicht vor-
Es ist kein Provinzdrama, das sich hier die Großmächte ist dieses Land die ge- her schon kommunistischer Parteichef ge-
abspielt. Osch ist zum Menetekel gewor- fährlichste Weichstelle der Region. wesen war. Er regierte mit einem Parla-
den. Für ein ganzes Land, aber vielleicht Aber auch sie brauchen das kleine Kir- ment, das seinen Namen halbwegs ver-
auch für eine ganze Region. gisien. China will hier einen Teil seines diente, mit Opposition und freier Presse.
Die Pogrome waren eine Folge des Rohstoffhungers stillen. Moskau benötigt Seine Amtskollegen dagegen herrschten
jüngsten Machtwechsels in der Haupt- das Gebiet als Pufferzone gegen das Vor- von Anfang an autoritär – in der Über-
stadt Bischkek: Im April hatten Demon- dringen des fundamentalistischen Islam, zeugung, ihre über Nacht entstandenen
stranten nach blutigen Protesten den und Amerika benutzt es als Nachschub- Länder, in denen turk- und persischspra-
korrupten Staatschef Kurmanbek Baki- basis für seinen Krieg gegen al-Qaida und chige Völker, Russen, Koreaner und Chi-
jew außer Landes gejagt. Die Regierung, die Taliban. Chaos und Anarchie in Kir- nesen auf engstem Raum nebeneinander
die danach ins Amt gelangte, gibt es eben- gisien sind das Letzte, was Amerikaner, leben, ließen sich anders nicht regieren.
falls schon nicht mehr; Übergangspräsi- Russen und Chinesen brauchen. Ausge- Doch auch Akajew schnitt sich später
dentin Rosa Otunbajewa, früher Außen- rechnet dieses Land soll vor kurzem noch die Verfassung zurecht und ließ zu, dass
ministerin, dann Oppositionelle, lenkt das „die Schweiz Zentralasiens“ gewesen sein, sich sein Familienclan bereicherte. Der är-
Land mit Dekreten. Sie will am 10. Okto- von der der Westen so gern schrieb? mere Süden erhob sich gegen den reiche-
ber ein Parlament wählen lassen, aber ren Norden, 2005 wurde Akajew gestürzt.
schon wird in Bischkek wieder demon- Nachfolger Bakijew machte dieselben Feh-
striert, wieder geht die Polizei mit Trä- USBEKISTAN Bischkek ler, er hielt sich nur fünf Jahre.
nengas vor, wieder werden Andersden- Nach dem Umsturz vom April sollte
kende verhaftet.
KIRGISIEN nun alles anders werden. Die provisori-
Kirgisien, die muslimische Bergrepu- Dschalal-Abad sche Regierung entwarf ein Grundgesetz
Andischan
blik mit ihren gerade 5,3 Millionen Ein- Bevölkerungs- nach deutschem Vorbild und ließ es sich
Osch gruppen in Kirgisien
wohnern, ist unregierbar geworden. Das per Referendum bestätigen. Die Rechte
wäre eine Fußnote der Weltgeschichte, 14,5 % des Präsidenten wurden beschnitten, kein
wenn dieses Land, in dem die Orte Toru- Usbeken Amtsmissbrauch und keine Clanwirt-
Aigyr oder Kurkurëu heißen und die Ein- 70 % 8% schaft mehr, lautete die Parole. Nach der
wohner Momun oder Oroskul, nicht das Kirgisen Russen Wahl im Oktober wäre Kirgisien Zentral-
Herz einer Region wäre, die den Mächti- 100 km 7,5% asiens erste parlamentarische Republik.
gen der Welt erhebliche Sorgen macht. Sonstige Aber da geschah der Massenmord von
Es ist ein Abstieg von historischem Aus- Osch. Seither ist Kirgisien paralysiert.
maß, denn die Kirgisen waren im frühen Ist ein bitterarmes Land, das alle paar
Mittelalter die größte Macht Zentralasiens. Jahre als Trophäe an einen anderen feu-
Dann fiel Dschingis Khan über sie her, die dalen Familienclan weitergereicht wird,
Chinesen kamen, 1876 die Russen. Stalin reif für eine parlamentarische Demokra-
zog die Grenzen der späteren Sowjetrepu- tie? Kaum, sagen politische Beobachter.
CHRISTIAN NEEF / DER SPIEGEL
blik quer durch die Siedlungsgebiete von Ein Kirgisien, das nach westlichem Mus-
Kirgisen und Usbeken. Heute ist Kirgisien ter funktioniert, würde zur Gefahr für sie
ein armes Land. Es exportiert Gold und selbst, sagen auch die Nachbarn und bau-
Uran, aber das Durchschnittseinkommen en vorsorglich ihre Grenzen aus.
liegt bei etwa 60 Euro monatlich. Russlands Präsident Dmitrij Medwe-
Ein Staat ohne Führung ist ein idealer dew sieht das kaum anders – ähnlich wie
Rückzugsort für Extremisten und Krimi- Aitmatow-Kinder Eldar, Schirin sein amerikanischer Kollege Barack Oba-
nelle. Fundamentalisten, die gegen die „Im Sinne des Vaters handeln“ ma. Er befürchtet, die Wahl im Oktober
132 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Serie
werde „Radikale“ an die Macht bringen, renden traute er zum Schluss nicht mehr,
„auf absolut legalem Wege. Dann bekom- in seine Bücher zog tiefer Pessimismus
men wir ein Kirgisien, das sich nach ein – Aitmatow war auf der Suche nach
afghanischem Muster der Taliban-Zeit einer „vernünftigen Religion“, die den
entwickeln wird – und das wäre extrem Menschen neuen moralischen Halt zu ge-
gefährlich für unser Land und Zentral- ben vermag.
asien“. „Als es 1990 hier in Osch schon einmal
Noch könne die Situation gerettet wer- wegen eines Streits um Ländereien zu
den, glaubt Medwedew: wenn die kirgisi- blutigen Auseinandersetzungen zwischen
sche Führung „Mut und Taktgefühl“ zei- Usbeken und Kirgisen kam, mit mehr als
ge und das Gespräch mit den anderen tausend Toten“, sagt Eldar, „da flog unser
ethnischen Gemeinschaften suche. Vater sofort hierher. Er trat vor die erreg-
Tut sie das? Warum spricht die im Wes- ten Menschen und beruhigte sie. Kein Po-
ten hoch gelobte Übergangspräsidentin litiker hat sich das damals getraut.“
nur von „dunklen Kräften“, die das Blut- Eldar, ein wortkarger junger Mann mit
vergießen in Osch verschuldet hätten? Brille und pockennarbigem Gesicht, ist
Warum nennt sie Ross und Reiter nicht, vom Vater als Alleinerbe eingesetzt wor-
warum lässt sie es zu, dass ihre Umge- den, er leitet jetzt in Bischkek die Inter-
bung den Einsatz einer internationalen nationale Aitmatow-Stiftung. „Wir muss-
Polizeitruppe im Krisengebiet torpediert? ten in seinem Sinne etwas tun“, sagt er.
Vier Menschen versuchen seit Wochen, Als im Juni die Unruhen ausbrachen,
die Wahrheit über die Vorgänge in Osch sind die Geschwister durch Bischkek ge-
herauszufinden: die Kinder eines weltbe- fahren, sie haben zusammen mit Freun-
kannten Schriftstellers, eine couragierte den Medikamente, Lebensmittel, Klei-
Juristin und ein früherer Vizegouverneur. dung und Zelte gesammelt, die Spenden
zum Flughafen gebracht und dort eine
Tödliches Spiel co-Trainer Francisco Maturana coachte parallel die „Los Ca-
feteros“ um Kapitän Carlos Valderrama und den exzentri-
schen Torwart René Higuita. Soldaten einer Eliteeinheit er-
D er unerwartete Aufstieg der kolumbianischen Fußball- schossen Pablo Escobar 1993. Ein halbes Jahr später reiste
Nationalmannschaft Anfang der neunziger Jahre war die Nationalmannschaft als Geheimfavorit zur WM in die
eine Folge des „Narco-Soccer“, einer Verstrickung aus Sport, USA. Das Team verstand sich als Botschafter, es wollte der
Drogen, Gewalt und Politik. In ihrer packenden Dokumen- Welt zeigen, dass Kolumbien mehr ist als Mord und Drogen.
tation „The Two Escobars“ erzählen die US-amerikanischen Doch nach der Auftaktniederlage gegen Rumänien wurde in
Filmemacher Michael und Jeff Zimbalist die Geschichte von der Heimat der Bruder eines Spielers getötet, und unmittelbar
Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, und Andrés vor der zweiten Partie gegen die USA erhielt die Mannschaft
Escobar, Verteidiger im damaligen Nationalteam: Die beiden Morddrohungen. Andrés Escobar schoss ein Eigentor, Ko-
sind nicht verwandt, ihr Leben und Sterben aber ist untrenn- lumbien verlor 1:2 und schied aus. Zehn Tage später richteten
bar miteinander verbunden. Der Drogenbaron Pablo Escobar ihn zwei Drogenhändler in Medellín mit sechs Schüssen hin.
wusch in den Achtzigern wie andere kolumbianische Kokain- Die Stärke des Films ist seine Intensität: Die Brutalität der
händler auch sein illegal verdientes Geld über einen Fußball- Mafia, die Angst und Resignation der Spieler werden durch
club. So war es den Vereinen plötzlich möglich, gute Spieler die Erzählungen der Beteiligten und die Originalaufnahmen
in Kolumbien zu halten und aus dem Ausland zu verpflichten. deutlicher, als es in einem Spielfilm möglich wäre. Am Freitag
Pablo Escobar investierte in Atlético Nacional Medellín, wo feiert „The Two Escobars“ Deutschland-Premiere beim Nürn-
Andrés in der Abwehr spielte. Das Team gewann 1989 die berger Filmfestival der Menschenrechte.
MIKE GROLL / AP
Tennisprofi Petkovic bei den US Open im September
SPI EGEL-GESPRÄCH
SPIEGEL: Frau Petkovic, ist es eine Ehre Dazu gehört, die Menschen auch abseits te, in der Oberstufe bis 17 Uhr. Ich habe
oder eine Belastung für Sie, in einer Rei- des Platzes miteinzubeziehen. Wenn ein deswegen Spiele verloren, die ich eigent-
he zu stehen mit Steffi Graf? Kind sagt: Die Andrea ist cool, wegen lich hätte gewinnen müssen. Diesen
Petkovic: Sie meinen als beste deutsche der fange ich mit Tennis an, dann ist Zusammenhang habe ich damals nicht
Tennisspielerin? Eine Ehre, würde ich sa- schon viel gewonnen. erkannt, ich habe gedacht, ich sei einfach
gen. Mir ist das aber nicht wichtig. Steffi SPIEGEL: Sie haben auf dem Gymnasium zu schlecht.
Graf war ein Ausnahmetalent, was sie ge- die elfte Klasse übersprungen und Ihr SPIEGEL: Ihnen war nicht klar, dass Sie das
schafft hat, ist sehr schwer zu wiederho- Abitur mit der Note 1,2 bestanden. Sie Zeug zum Profi haben?
len. Das ist auch überhaupt nicht mein sind erst seit Anfang 2007 Profi, studieren Petkovic: In dieser Phase nicht. Auch wenn
Ziel. Mir geht es nicht allein um Leistung. nebenher Politik und stehen aktuell auf ich es zwischendurch gespürt habe. Im
Für mich ist Tennis viel mehr. Platz 35 der Weltrangliste. Haben Sie je- Januar 2003, da war ich 15 Jahre alt, bin
SPIEGEL: Was denn? mals damit gerechnet, Deutschlands Spit- ich bei den Australian Open der Junio-
Petkovic: Ich begreife mich in erster Linie zenspielerin zu sein? rinnen bis ins Achtelfinale gekommen
als Entertainerin, nicht als Sportlerin. Der Petkovic: Nein, ich war ja als Jugendliche und habe auf dem Weg dorthin Ana Iva-
Tennisplatz ist meine Bühne. Die Leute in meinem Jahrgang auch nie die Beste, nović geschlagen, die spätere Nummer
bezahlen, um unterhalten zu werden. Der weil die Schule für mich immer Priorität eins der Weltrangliste. Ich war total eu-
Profizirkus ist oft eindimensional, ich hatte. Ich habe meistens nur in den Fe- phorisiert und dachte, ich bin der kom-
möchte für ein paar Farbtupfer sorgen. rien Turniere gespielt, und je älter ich mende Superstar. Fast wäre ich in diese
wurde, desto weniger konnte ich trainie- Falle getappt.
Das Gespräch führte Redakteur Maik Großekathöfer. ren, weil ich immer länger Unterricht hat- SPIEGEL: In welche Falle?
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MARKUS HINTZEN
Studentin Petkovic
Petkovic: Ich wurde zum ersten Mal mit gen. Und weil ich vermeiden wollte, im das stetig erwärmt wird, und ich kann
den Oberflächlichkeiten der Szene kon- Tennis im Durchschnitt zu versinken. Es mir vorstellen, wie es ist, wenn es kocht.
frontiert. Es kamen die Sponsoren und gibt zu viele Frauen, die jahrelang um SPIEGEL: Wie ist es denn?
Manager, die meinten, ich hätte sicher Platz 80 oder 90 herumgurken, die stän- Petkovic: Der Druck ist riesig. Sie müssen
Potential für die Top Ten. Mit 15 kannst dig hoffen, den Durchbruch zu schaffen – mal drei Tage vor einem Grand-Slam-Tur-
du nicht wissen, dass die nur Geld mit wie Sänger, die nicht aufhören zu glau- nier anreisen und das Training beobach-
dir verdienen wollen, egal wie. Ich habe ben, irgendwann den einen Hit zu landen. ten: Da wird geflucht, werden Schläger
überlegt, die Schule abzubrechen. Mit der Dieses Schicksal wollte ich mir ersparen. geschmissen, das ist Wahnsinn. In der
Zeit wuchs aber die Erkenntnis, dass es SPIEGEL: Wie haben die anderen Spiele- Umkleide redet man nicht miteinander,
mir wichtiger war, zunächst einen ver- rinnen Sie auf der Tour empfangen? und wenn mal jemand lacht, dann ist es
nünftigen Abschluss zu machen. Petkovic: Die gucken dich genau an: Wie so ein hysterisches Lachen. Je länger das
SPIEGEL: Warum war Ihnen die Schule so spielt sie? Kann sie mir gefährlich werden? Turnier dauert, je leerer die Umkleide
wichtig? Sieht sie gut aus? Was hat sie für ein Markt- wird, desto größer wird der Druck. Bei
Petkovic: Ich wollte immer eine gute Schü- potential? Es ist ein seltsames Gewerbe, den Männern geht es lockerer zu, ich
lerin sein, und ich habe immer gern ge- schwer zu verstehen, aber faszinierend. weiß aus verlässlicher Quelle, dass die
lernt. Es gibt in meinem Leben viele Din- SPIEGEL: Was genau meinen Sie damit? häufig nackt in der Kabine rumlaufen.
ge, die ich besser kann als Tennis spielen. Petkovic: Es ist erstaunlich, wie knallhart SPIEGEL: Klingt, als seien Tennisprofis spe-
SPIEGEL: Warum sind Sie trotzdem Profi die guten Mädels sind, wie erbarmungslos zielle Typen.
geworden? die ihren Weg gehen. Serena Williams Petkovic: Viele leben jenseits der Realität.
Petkovic: Ich liebe diesen Sport. In einem etwa ist überzeugt, die beste Spielerin zu Ich habe mal gesehen, wie jemand an der
Match empfinde ich Wut, Freude, Trauer, sein, und wenn sie mal verliert, dann Kasse des Spielerzentrums sein Steak un-
Stolz. Andere Menschen springen mit dem denkt sie das immer noch. Oder Marija ter dem Reis versteckt hat, damit er nur
Fallschirm, nehmen Drogen, um Extreme Scharapowa: Die trennt zwischen Privat- den Reis bezahlen muss. Es gibt Profis,
zu leben. Ich spiele Tennis. Mich mit der leben und Arbeitswelt, die macht ihren die regen sich über Kleinigkeiten auf, da-
Gegnerin zu messen gibt mir einen Kick. Job und heuchelt keine Freundschaften bei werden sie verwöhnt ohne Ende. Da
SPIEGEL: Als Sie anfingen, haben Sie sich vor. Ihr Selbstbewusstsein kommt aller- scheidet man in der dritten Runde aus
geschworen: Wenn ich es nicht innerhalb dings nicht von innen, das ist auch nicht und kriegt als Trostpflaster ein iPad ge-
von zwei Jahren unter die besten 50 der anerzogen, sondern antrainiert. schenkt, zusätzlich zum Preisgeld. Das
Weltrangliste schaffe, höre ich auf. Wieso SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, sich in die- ist völlig absurd.
dieses Ultimatum? sem Milieu zu arrangieren? SPIEGEL: Warum werden Tennisspieler so
Petkovic: Meine Eltern wollten, dass ich Petkovic: Es hilft mir, dass ich die Rangliste verhätschelt?
Jura oder Medizin studiere. Ich habe mir nicht hochgeschossen, sondern langsam Petkovic: Um sie bei Laune zu halten. Das
das Ultimatum gestellt, um sie zu beruhi- hochgeklettert bin. Ich bin wie Wasser, Verrückte ist: Je besser du bist, je mehr
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 143
Sport
du also schon hast, desto mehr bekommst SPIEGEL: Da nennen Sie sich Petkorazzi Mal gepackt und kräftig durchgeschüttelt
du. Wertvollere Präsente, größere Hotel- und berichten über Skurriles aus der Ten- hätte.
zimmer. Das ist der Matthäus-Effekt: niswelt. Wie kam es dazu? SPIEGEL: Weshalb?
„Denn wer da hat, dem wird gegeben Petkovic: Ich versuche, das moderne Petkovic: Er fühlt sich offenbar nur wohl,
werden, und er wird die Fülle haben.“ Deutschland zu repräsentieren, und die wenn er mit Menschen zusammen ist, die
Statt denen unter die Arme zu greifen, junge Generation ist nun mal im Internet aus seinem Universum kommen. Wenn
die es gebrauchen können, den Qualifi- bei MySpace und Facebook unterwegs. er sich mit einem Vertreter der IG Metall
kanten zum Beispiel. Es ist eine verkehr- Ich wollte den Leuten etwas bieten, das trifft, ist er souverän und rhetorisch sen-
te Welt. andere nicht haben, und Facetten meiner sationell. Aber wenn er ein Altenheim
SPIEGEL: Sprechen Sie da aus Erfahrung? Persönlichkeit zeigen. Zunächst habe ich besucht, weiß er nicht, wie er sich ver-
Petkovic: Wenn du im Hauptfeld stehst, die Videos nur auf Deutsch gemacht, aber halten soll. Da hätte ich ihm am liebsten
wird dir das Hotel in der Regel spendiert, es gab so viele Anfragen, dass ich sie nun gesagt: Rolli, sei doch mal locker!
als Qualifikantin musst du es bezahlen. auch auf Englisch anbiete. SPIEGEL: Fühlen Sie sich der CDU nahe?
Einmal, bei den German Open in Berlin, SPIEGEL: In einer Folge berichten Sie von Petkovic: Nicht wirklich. Es gibt keine Par-
war es ein Fünf-Sterne-Haus, das konnte einer Spielerparty in Dubai. Da amüsie- tei, in die ich eintreten möchte, darum
ich mir nicht leisten, aber der kann ich mir vorstellen, nach
Fahrdienst zur Anlage ging nur der Tenniskarriere eine eigene
von dort aus. Also habe ich zu gründen. Ich meine das
mich bei einer Kollegin als blin- ernst. Was fehlt, ist eine Partei,
de Passagierin eingenistet. eher links angesiedelt und für
SPIEGEL: Wie gut muss man Leute zwischen 25 und 40. Die
sein, damit man vom Tennis le- kommen in unserer Gesell-
ben kann? schaft zu kurz.
Petkovic: Wenn du unter den SPIEGEL: Sie sind mit Ihren El-
ersten 100 der Weltrangliste tern vor 22 Jahren aus Jugosla-
bist, hast du keine Sorgen, aber wien nach Deutschland einge-
es bleibt für später nichts übrig. wandert. Wie bewerten Sie die
Um das zu schaffen, musst du Thesen von Thilo Sarrazin?
mindestens fünf, sechs Jahre Petkovic: Ich möchte dazu
unter den besten 50 stehen. nichts Neunmalkluges sagen,
SPIEGEL: Warum haben Sie ei- ich kann nur als Deutsche mit
Weltmeisters ganz nach oben gelangen Ortiz: „Das letzte Spiel, das wir hier
FUSSBALL
und mithalten kann. Mit Schmiergeld. gewonnen haben … Ich habe ihm 100 000
D
er kleine Verein Hércules Club de Ortiz ist der größte Bauunternehmer der offenbar wissen, warum.
Fútbol aus Alicante wirkte immer Provinz und Mehrheitseigner bei Hércu- „Was ist los, Alter?“, fragt Ortiz den
ein wenig wie die spanische Aus- les. In Alicante besitzt er 25 Prozent des Kapitän.
gabe von Arminia Bielefeld. Eine dieser städtischen Bodens, nimmt man seine vie- Da erklärt Tote dem Clubeigentümer,
netten Fahrstuhlmannschaften, die nur len Beteiligungen hinzu, sind es rund dass die Gegner von Hércules offenbar
für ein paar Jahre in der höchsten Spiel- 70 Prozent. von weiteren Aufstiegskandidaten Geld
klasse auftauchen, ein paar gute, viele Seit einiger Zeit wird gegen Ortiz er- geboten bekommen, damit sie sich gegen
schlechte Auftritte hinlegen, bevor sie mittelt, der seine Unschuld beteuert. Es Hércules mächtig ins Zeug legen. „Damit
wieder in der Versenkung verschwinden, geht um den Verdacht der Korruption, du nicht sagst, dass die anderen keine
Kohle springen lassen. Das hier
ist ein Monsterkrieg“, sagt der
Kapitän laut dem Protokoll.
Der Skandal ist nun zwar in
der Welt, doch Folgen für die
mutmaßlichen Manipulateure hat
er keine. Denn Spanien ist ein
Rechtsstaat.
Unlängst entschied das Beru-
MANUEL LORENZO / MARCAMEDIA / PIXATHLON (L.); VI IMAGES / IMAGO (R.)
BIOMECHANIK
„Effektives Schlagwerkzeug“
Der Physiker Erich Schuller, handhaben – das macht ihn zu einem mit Gehirnerschütterung – während der
62, vom Institut für Rechts- effektiven Schlagwerkzeug. Krug zersplitterte.
medizin der Ludwig-Maxi- SPIEGEL: Wie gefährlich ist das? Schuller: Erstaunlicherweise gab es in den
milians-Universität München Schuller: Wir haben das jetzt erstmals im vergangenen Jahren acht Fälle auf der
über Kopfverletzungen durch Labor untersucht, indem wir fabrikneue Wiesn, in denen jeweils der Krug nach-
Maßkrugschlägereien Maßkrüge auf Menschenschädel schlu- gab. Vermutlich waren diese Krüge ge-
gen: Die Knochen brachen oft, die Krüge braucht und hatten dadurch eine deutlich
SPIEGEL: Auf dem Oktoberfest in Mün- haben wir nie kaputtgekriegt. Beim hef- verringerte Festigkeit. Allerdings kann
chen wurde einem 29-Jährigen ein glä- tigen Schlag mit dem Krug entsteht eine ein Täter das vorher nicht beurteilen, und
serner Maßkrug über den Kopf geschla- Kraft von mehr als 8500 Newton – der jeder Schlag ist potentiell lebensgefähr-
gen. Kommt so etwas häufig vor? menschliche Kopf bricht im Scheitelbe- lich. Wir haben in unserem Institut be-
Schuller: Zur Wiesn-Zeit leider immer reich aber schon bei etwa 4000 Newton. reits einmal einen Toten obduziert, der
wieder. So ein Krug wiegt ohne Inhalt SPIEGEL: Im Fall des 29-Jährigen war es einen Maßkrug auf den Kopf bekom-
1,3 Kilo und ist dank des Henkels gut zu umgekehrt. Er überstand die Attacke men hatte.
TIERE
Aktion gegen
Streunerhunde
D urch Massenkastration will die Tierschutzorganisa-
tion „Vier Pfoten“ die immense Zahl der streunen-
den Hunde in Bukarest eindämmen: Auf 40 000 wird
die Zahl der herrenlosen Tiere geschätzt, die Rumäniens
Hauptstadt als scheue Einzelgänger, aber auch als selbst-
bewusste, mitunter angriffslustige Rudel bevölkern: In
Gruppen, angeführt von einem Alphatier, durchstreifen
sie vor allem die ruhigeren Randbezirke, wo sie von
den Anwohnern gefürchtet sind. Täglich 70 Streuner
werden nun eingefangen, entwurmt, geimpft und auf
eine neue Arznei entwickelt, kostet das Doch woher rührt die Gründungsfreu-
FIRMENGRÜNDER
oft über 500 Millionen Euro. Kösters Me- de der Senioren? Ist sie Ausdruck beson-
D
ie Palmen, der Strand, das Meer: mensgründer im Rentenalter genannt beiten“, sagt er und fügt hinzu: „Aber
Es war ja nicht so, dass Hubert werden. Und die sind gar nicht so selten. erst, wenn ich 90 bin.“
Köster den Urlaub auf Sri Lanka Der Anteil der über 50-jährigen Fir- Die Zahl der Grauhaarigen unter
nicht genossen hätte. Der grauhaarige mengründer hat sich hierzulande seit 1995 Deutschlands Unternehmern dürfte noch
Professor hatte allen Grund, zufrieden fast verdoppelt auf 18 Prozent. Wer sich weiter wachsen. „Im Jahr 2020 rech-
auf ein erfülltes Leben zurückzublicken: im Hightech-Bereich selbständig macht, nen wir mit über vier Millionen ,Silver
erwachsene Kinder, über 80 Patente, ist im Durchschnitt 41 Jahre alt. „Vom Entrepreneurs‘“, prognostiziert Jeanette
mehr als 120 Aufsätze in Wissenschafts- Klischee des Start-up, der direkt nach Huber vom Zukunftsinstitut in Kelkheim.
journalen. Was wollte er noch mehr? dem Studium seine Firma gründet, müs- „Das sind sozusagen Aussteiger in um-
Vor ihm lag ein ruhiger Lebensabend. sen wir uns verabschieden“, sagt Georg gekehrter Richtung – Aussteiger aus dem
Als Pensionär würde er endlich wieder Metzger vom Zentrum für Europäische Rentnerdasein.“
mehr Bach hören können, Geige spielen, Wirtschaftsforschung in Mannheim. Bei Köster war es anders, er hatte be-
vielleicht auch ein Buch schreiben. Doch Auch im Ausland regt sich offenbar der reits Erfahrung im Unternehmengründen.
dann kam ihm eine seiner Ideen in die Unternehmensgeist der Alten. Fast 40 Pro- Als junger Mann suchte er erst lange ver-
Quere. Kaum zurück aus dem Urlaub, zent der 46- bis 65-jährigen Briten planen gebens nach Startkapital. Mit 41 Jahren
gründete er ein Start-up-Unternehmen: weiterzuarbeiten, statt in Rente zu gehen, gründete er dann neben dem Uni-Job sei-
Caprotec. Köster war damals 66. stellte eine Umfrage des Versicherers Stan- ne erste Firma, 1987 kam dann die nächs-
„Ich hoffe, dass wir in ein paar Jahren dard Life fest – vor einer Generation lag te, 1994 eine dritte in den USA.
an die Börse gehen“, sagt Köster beiläu- diese Quote weniger als halb so hoch. „Meine Erfahrungen sind sehr hilf-
fig, während er durch das Labor seiner In den USA sieht es ähnlich aus: reich“, sagt Köster, „man ist einfach ru-
Firma im Berliner Wissenschaftspark Ad- Verblüffend viele Firmengründer sind higer und weiß besser, wie alles funktio-
lershof führt: 15 Mitarbeiter in Laborkit- zwischen 55 und 64 Jahre alt, hat der niert und worauf es ankommt.“
teln grübeln vor Monitoren oder schieben Wirtschaftsprofessor Robert Fairlie fest- Was er heute dem Postdoktoranden
bunte Flüssigkeiten in das Massenspek- gestellt. Diese Altersgruppe ist deutlich Köster raten würde, der damals erstmals
trometer. häufiger an Unternehmensgründungen auf eigenen Beinen stand? „Wozu irgend-
Kösters Ziel: Er will die Entwicklung beteiligt als Leute zwischen 20 und 34, welche Tipps geben?“, sagt Köster. „So
neuer Medikamente schneller und siche- bestätigt auch ein Report der Kauffman wie ich mich kenne, hätte ich die ja doch
rer machen. Wenn ein Pharmakonzern Foundation. nicht befolgt.“ HILMAR SCHMUNDT
158 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wissenschaft
L E N N A RT N I L S S O N / A L B E RT B O N N I E R S
Hormonstörungen und Stoffwechselerkrankungen
Phthalate (z. B. Phthalsäureester)
‣ Kunststoffherstellung (Weichmacher)
‣ Aufnahme u. a. durch Lebensmittel mit Kunststoffver-
packung; allergische Reaktionen, Nervenschädigung,
Hormonstörungen
U M W E LT
möglicherweise zur Entstehung von
Asthma, Stoffwechselerkrankungen und
A
ls Frederica Perera zum ersten Zwar hält die Plazenta viele schädliche schädlichsten“, so die deutsche Toxiko-
Mal in einer New Yorker Geburts- Umwelteinflüsse von dem Ungeborenen login, „denn je früher man mit krebs-
klinik Nabelschnüre und Plazen- fern – vollständig abschirmen jedoch erregenden Stoffen in Berührung kommt,
ten einsammelte, da war sie auf der Suche kann sie den Fötus nicht. Einige der Gifte, desto länger hat der Krebs Zeit zu ent-
nach reinem, makellosem Blut. Die Epi- welche die Schwangeren in den Straßen stehen.“ Die Kinder seien heute nicht
demiologin von der New Yorker Colum- der Großstadt eingeatmet hatten, waren besser vor Schadstoffen geschützt als vor
bia University wollte das fötale Blut mit offensichtlich bis zur DNA der Kinder 20 Jahren: „Früher waren es Schwerme-
demjenigen von Lungenkrebspatienten vorgedrungen. talle, heute sind es zunehmend hormon-
vergleichen. Das – so ihr Verdacht – wer- Was aber bedeutete dies für deren Ge- ähnliche Chemikalien in Plastikproduk-
de krankhaft verändert sein. sundheit? Perera war neugierig geworden ten, Biozide und Flammschutzmittel.“
Die Forscherin hatte richtig vermutet: und verglich nun systematisch das Blut Besonders die Vielfalt der Substanzen
Im Blut der Krebspatienten war das Erb- Neugeborener mit dem ihrer Mütter. Zu beunruhigt die Experten. So wurden bei
gut der weißen Blutkörperchen beschä- ihrer Überraschung fand sie bei beiden einer Untersuchung im Auftrag der US-
digt; an das Erbmolekül DNA hatten sich Gruppen etwa gleich viele PAK. Regierung in Blut und Urin von Erwach-
polyzyklische aromatische Kohlenwas- Wie konnte das sein? „Eigentlich filtert senen 212 Chemikalien gefunden. Man-
serstoffe (PAK) angelagert, eine Gruppe die Plazenta neun Zehntel der Gifte aus che davon stören im Tierversuch die
von Luftschadstoffen, die aus Auspuffen dem Blut heraus“, erklärt Perera. Ihre Hirnentwicklung, andere bringen den
und Kraftwerksschloten dringen – aber Schlussfolgerung: Die geringen Mengen, Hormonhaushalt durcheinander, vermin-
auch aus brennenden Zigaretten. die bis in den Fötus gelangen, reichern dern die Fruchtbarkeit oder lösen Krebs-
Womit Perera allerdings nicht gerech- sich dort an, weil dem unreifen Organis- geschwüre aus. Und Pereras Erkenntnis,
net hatte: Auch in einigen der vermeint- mus die nötigen Enzyme fehlen, um die dass viele dieser Substanzen von Schwan-
lich sauberen Blutproben aus der Geburts- Substanzen abzubauen. geren auf ihre ungeborenen Kinder über-
klinik war das Erbgut durch die krebs- Gerade Ungeborene und kleine Kinder tragen werden, wurde mittlerweile in
erregenden PAK verändert. „Das war ein aber seien am stärksten gefährdet durch zahlreichen Studien belegt.
Schock für mich, ein Schlüsselerlebnis“, die Umweltverschmutzung, sagt die Epi- Noch ist unklar, was all die Stoffe, ein-
sagt Perera. „Ich hatte eindeutig zu viel demiologin. „Denn bestimmte Schadstof- zeln und miteinander kombiniert, im
Vertrauen in den biologischen Schutz des fe können ihre geistige und motorische Laufe eines Lebens im menschlichen
Embryos im Mutterleib gehabt.“ Entwicklung beeinträchtigen und später Körper bewirken können. Sind sie mit-
160 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wissenschaft
verantwortlich dafür, dass Volkskrank- burt am meisten Luftschadstoffe einge- versity zuvor bereits zu ähnlichen Ergeb-
heiten wie Asthma, Diabetes und Krebs atmet hatten, kamen im Schnitt mit deut- nissen gelangt. Den eindrucksvollsten
weltweit auf dem Vormarsch sind? Führt lich geringerem Gewicht und einem klei- Beleg für direkte Auswirkungen von Luft-
das allgegenwärtige Chemikalien-Gebräu neren Kopf auf die Welt. Mit drei Jahren schadstoffen auf Kinder fand Perera je-
bei Kindern tatsächlich zu einer „stillen hinkten sie in der Entwicklung hinterher. doch in der chinesischen Stadt Chong-
Pandemie“ neurologischer Störungen, Als Fünfjährige waren sie öfter hibbelig qing.
wie der Umweltmediziner Philippe und unkonzentriert und hatten einen im Um den Smog in der Industriemetro-
Grandjean von der Harvard University Schnitt um knapp fünf Punkte niedrige- pole am Yangtze zu bekämpfen, hatte die
befürchtet? Und wie lassen sich aus all ren IQ – und dies auch, nachdem die For- Regierung beschlossen, das alte Kohle-
den Schadstoffen und über 100 000 kom- scher Faktoren wie die Intelligenz der kraftwerk abzuschalten, das dort die gan-
merziell produzierten Chemika- ze Umgebung in Rauchschwaden
lien die schädlichen herausfil- hüllte – die Forscherin aus New
tern? „Ich hatte schon immer York erkannte darin eine einma-
einen Hang zu komplizierten lige Chance. Vor und nach der
Fragen“, sagt Perera. Stilllegung untersuchte sie wer-
Das Columbia Center for Chil- dende Mütter und deren Kinder
dren’s Environmental Health im näheren Umkreis des Kraft-
befindet sich im 25. Stock eines werks.
Bürogebäudes nahe der 171. Das Ergebnis: Die Kinder, die
Straße. Aus ihrem Fenster blickt zwei Jahre vor der Stilllegung
die Direktorin auf den Hudson zur Welt kamen, hatten einen et-
River, ein paar Segelboote und was kleineren Kopf, entwickel-
die endlose Kolonne von Autos ten sich langsamer und lernten
und Lastwagen, die sich zu jeder schlechter als jene, die im Jahr
Tageszeit über die George Wa- danach geboren wurden.
shington Bridge nach Manhattan Im Land der Ein-Kind-Politik
hineinwälzt. Hier hat Perera in haben diese Ergebnisse für er-
den letzten Jahrzehnten eine der heblichen Aufruhr gesorgt. Viele
größten internationalen Lang- Eltern fragen sich nun, ob die
JÜRGEN FRANK
zeitstudien aufgebaut, um die schlechte Luft die Gesundheit
komplizierten Fragen zu klä- des einzigen Kindes bedroht, das
ren – gemeinsam mit rund 50 zu bekommen die Regierung
Mitarbeitern und mittlerweile Epidemiologin Perera: „Hang zu komplizierten Fragen“ ihnen gestattet. Perera mag sich
über 2000 Müttern und deren derzeit nicht zum Thema äu-
Kindern in New York, Polen und ßern – sie fürchtet um die Zu-
China. kunft ihres Projekts in China.
In Washington Heights, Har- In den USA untersucht das
lem und der Bronx, drei der Forscherteam derweil im Rah-
ärmsten Wohngegenden New men eines 30-Millionen-Dollar-
Yorks, haben die Columbia- Projekts auch einen umstrittenen
Forscher in regelmäßigen Ab- Stoff, der weltweit in einer Fülle
ständen Blut und Urin von über von Alltagsgegenständen wie
750 nichtrauchenden Schwange- Babyflaschen, Lebensmittelver-
ren und ab der Geburt auch von packungen, Brillengläsern, CDs
deren Kindern gesammelt, dazu und Kassenzetteln vorkommt:
Staubproben aus den Wohnun- Bisphenol A.
gen und Informationen über Le- Die Chemikalie lässt sich bei
bensbedingungen, Ernährung, praktisch allen Menschen im
Passivrauchen sowie Schadstoff- Körper nachweisen. Weil sie dem
quellen in der Umgebung wie Hormon Östrogen chemisch äh-
Fabriken, stark befahrene Stra- nelt, steht sie im Verdacht, zu
ßen, Tankstellen oder Bushalte- Übergewicht, Diabetes, Brust-
PETER LUEDERS
162 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Technik
S
abotage, Spionage, Säbelrasseln – Volksdorf, von dort aus berät er Firmen, etwa der „I Love You“-Virus. Pro USB-
oder gar Krieg? Ein winziges Stück wie sie sich vor Hackerangriffen schützen Stick war der neue Schädling ursprüng-
Software, kleiner als ein MP3-Song, können. Seit seinem Vortrag über die lich auf drei Infektionen beschränkt –
lässt Sicherheitsexperten in aller Welt rät- mögliche Iran-Connection bemüht er sich vermutlich, um weniger aufzufallen.
seln. „Stuxnet“ heißt der digitale Schäd- nun, bei diesem Thema zurückzurudern: Diese Eigenschaften machen Stuxnet
ling, der sich gezielt in Steuersysteme der „Ich sage ja nicht, dass es so gewesen sein zum idealen Spekulationsobjekt für Ver-
Firma Siemens einnistet. Im Jahr 2009 muss. Es ist nur ein plausibles Szenario.“ schwörungstheoretiker. Denn wer wenn
tummelte er sich schon im Netz. Im Som- Tatsächlich gibt es bislang keine Bewei- nicht der Mossad oder der amerikanische
mer 2010 tauchte ein neues, noch tücki- se, sondern nur Indizien. Stuxnet, darin Geheimdienst NSA sollte eine solche Soft-
scheres Update auf. sind sich alle einig, ist anders als die meis- ware schreiben können?
So weit, so normal. Sekunde für Se- ten Schadprogramme: Der Schädling ist Denkbar wäre aber auch, dass es nicht
kunde hagelt ein Sturm bösartiger Soft- ungewöhnlich raffiniert komponiert. Er zuletzt ums Geld geht. Der Erfolg der Si-
ware auf jeden Server ein, der mit dem zeugt von viel Insiderkenntnis und nutzt cherheitsbranche hängt schließlich maß-
Internet verbunden ist; Millionen Schad- geklaute Sicherheitszertifikate. geblich von der gefühlten Bedrohung ab.
programme sind bekannt. Auch in Deutschland seien Anlagen in- Und derzeit laufen in den USA Beratun-
Doch diesmal scheint vieles anders. fiziert worden, wenn auch ohne größere gen zum Thema Computersicherheit.
„Der digitale Erstschlag ist erfolgt“, trom- Schäden, heißt es beim Bundesamt für Am vergangenen Donnerstag forderte
petete die „FAZ“; „Krieg im Cyberspace“ Sicherheit in der Informationstechnik Keith Alexander, Chef der NSA und des
und „Neue Viren, so gefährlich wie Pan- neuen Cyber Command, vor dem zustän-
zer“ lauteten andere Schlagzeilen. digen Ausschuss des US-Repräsentanten-
Noch allerdings ist völlig unklar: Wer hauses den Aufbau eines sicheren Daten-
sind die Opfer, wer die Angreifer, was ist netzes für Kraftwerke und andere kriti-
der Schaden – und was das Ziel? Noch sche Infrastrukturen. Der zeitgleiche
gleicht Stuxnet einem Mord ohne Leiche. Hype um den „Erstschlag“ kam den Mi-
Der Mann, der den größten Wirbel um litärs dabei vermutlich nicht ungelegen.
den Virus ausgelöst hat, hält sich müde Der Berliner Sicherheitsspezialist San-
an seiner Kaffeetasse fest: Ralph Langner dro Gaycken, dessen Buch mit dem Titel
MANUEL BALCE CENETA / AP
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 163
Eisbrecher, Tankschiff im arktischen Meer
Den weißen Fleck der Seefahrt erobern
S
ie hatten mit Packeis gerechnet, mit Autor der wohl umfassendsten Studie über ser als ungünstige Strömungsform. Die
Eisbergen und Stürmen. Ein russi- die neuen arktischen Seerouten. Phoenix-Reederei in Leer hat deshalb
scher Eisbrecher sollte den Frachter Am ehrgeizigsten sind die Russen. eine neuartige Bugform entwickeln lassen.
„MV Nordic Barents“ vor den Gewalten Stolz präsentierten sie in der vergange- Getestet wurde sie im Eiskanal der Ham-
des arktischen Ozeans schützen. nen Woche auf der Arktis-Konferenz in burgischen Schiffbau-Versuchsanstalt
Am Ende trieben nur zweimal ein paar (HSVA). „Die Effizienz ist beeindru-
lose Eisschollen vorbei. „Der Atomeis- ckend“, sagt Joachim Schwarz.
brecher diente mehr der Dekoration“, be- Eisfrei nach Asien? Der langjährige Forschungsleiter der
richtet Felix Tschudi, der Reeder des mit Mögliche Abkürzungen des See- HSVA will künftig zusammen mit russi-
Eisenerz beladenen Frachters. In dieser transports durch das Nordpolarmeer schen Forschungsinstituten Kapitänen
Woche wird das Schiff nach einer 5700 den Weg durchs Eismeer weisen. „Auf
Kilometer langen Passage durchs Eismeer Tokio Basis von Satellitendaten gibt es ständig
im chinesischen Lianyungang einlaufen. Prognosen für die beste Fahrrinne“, er-
„Und wir mussten keinmal anhalten“, klärt Schwarz. Interessant ist das nicht
sagt Tschudi zufrieden. Nord- zuletzt im Frühjahr und im Herbst, wenn
Teils mit viel Hoffnung, teils mit Arg- westpassage Kälte und Wind überraschend Eisbarrie-
wohn haben Reeder, Politiker und Um- 14 000 km ren aufbauen.
weltschützer verfolgt, wie weit sich das Wegen ebendieser Unberechenbarkeit
Meereis in diesem Jahr Richtung Nordpol warnen Experten wie Brigham vor zu viel
zurückgezogen hat. Stellt das Schrump- Euphorie. Er glaubt nicht daran, dass in
fen der Eiskappe schon bald die globalen Panama- Zukunft massenhaft Schiffe von Rotter-
Schiffsrouten auf den Kopf? kanal-Route dam nach Tokio über die nördliche Tran-
Vor wenigen Wochen hatte bereits der 18 200 km sitroute fahren werden. „Was hingegen
russische Tanker „Baltika“ 70 000 Tonnen wirklich zunehmen wird, ist der Abtrans-
Gaskondensat vom russischen Murmansk New York port der riesigen Rohstoffmengen aus der
durch die Arktis ins chinesische Ningbo Arktis“, prophezeit er. Dringend benötigt
geschippert, ebenfalls ohne Probleme. würden deshalb Seenotkreuzer und Ab-
Der Transport über die Polarroute wird Nordostpassage saugschiffe, die havarierten Tankern rasch
langsam zur Normalität. Asien ist Europa 13 000 km zu Hilfe kommen können.
damit näher gerückt: Die Fahrtstrecke der Wie ernst diese Gefahr ist, zeigte sich
„MV Nordic Barents“ vom norwegischen Hamburg im Juli vor den Neusibirischen Inseln.
Kirkenes nach China etwa hat sich auf Zwei Tanker, im Verband mit einem Eis-
rund die Hälfte verkürzt. „Das hat uns Tokio brecher unterwegs, krachten ineinander,
15 Tage auf See erspart“, sagt Tschudi. als das vorausfahrende Schiff wegen Eis-
Verwandelt sich das achte Weltmeer gang bremsen musste.
damit tatsächlich in einen „transarkti- Beide Tanker hatten 13 300 Tonnen Die-
schen Panamakanal“, wie der isländische sel geladen. Der Eigner, die Murmansk
Präsident Ólafur Ragnar Grímsson froh- Shipping Company, spielte die Sache zum
lockt? Denn der Klimawandel legt nicht Rempler mit etwas Blechschaden herun-
nur die Nordost-, sondern auch die Nord- Suezkanal-Route ter: Es sei „kein Notfall“ gewesen, lediglich
westpassage mitten durch die kanadische 21000 km eine ganz normale „Betriebssituation“.
Arktis frei. In den hundert Jahren von CHRISTOPH SEIDLER, GERALD TRAUFETTER
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Szene
L I T E R AT U R
166 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Kultur
ESTATE OF AD REINHARDT, COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK PHOTOGRAPH BY ELLEN PAGE WILSON, COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK; VG BILD-KUNST, BONN 2010 (R.)
COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK BILL JACOBSON STUDIO, NEW YORK; VG BILD-KUNST, BONN 2010 (L.)
Reinhardt-Gemälde „Abstract Painting“ 1940, „Abstract Painting (Green)“ 1952
AU S ST E L LU N GE N Nun zeigt das Josef Albers Museum in Bottrop auf einer Einzel-
ausstellung „Letzte Bilder“ (bis 9. Januar 2011). Wirklich mo-
Das schwarze Quadrat nochrom sind selbst die Werke aus der späten „schwarzen“
Phase nicht, in der Reinhardt nur noch quadratische Bilder in
DISSIDENTEN
tur mit dem Land, in dem ich jetzt für
„Das Gefängnis war mein Lehrmeister“ sechs Wochen bin.
SPIEGEL: Sie sind ein Kind politisch ver-
Der chinesische Autor Liao kann das wirklich wissen? femter Eltern, Sie waren inhaftiert und
Yiwu, 52, ist Gast des Inter- Ich könnte mir vorstellen, wurden gefoltert. Was gibt Ihnen die
nationalen Literaturfesti- dass Angela Merkels Initia- Kraft, immer weiterzumachen?
vals Berlin. Seine Porträts tive damit zu tun hat. Liao: Wir Chinesen haben einen tiefen
ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES
von Leichenwäschern, Pro- SPIEGEL: Die Bundeskanzle- Glauben an eine elementare Bestim-
stituierten, Dorfschulleh- rin hat sich für Ihre Aus- mung. Ohne meine Gefängniserfah-
rern und politischen Akti- reise eingesetzt. Wie kam rung, ohne den Weg in die untersten
visten erschienen 2009: es dazu? Schichten der Gesellschaft wäre ich
„Fräulein Hallo und der Liao: Ich habe ihr im letzten sicher ein anderer Autor geworden.
Bauernkaiser. Chinas Jahr eine Raubkopie des Der Hunger, die Obdachlosigkeit und
Gesellschaft von unten“. Films „Das Leben der An- das Gefängnis waren meine Lehr-
deren“ geschickt, mit einem meister.
SPIEGEL: Herr Liao, nach 15 Jahren persönlichen Brief: Vergiss diesen Teil SPIEGEL: Was geschieht, wenn Sie im
durften Sie erstmals nach Europa Deines Lebens nicht! Geheimdienste November nicht zurückdürfen?
kommen: Zeigt das eine Kehrtwende folgen offenbar überall auf der Welt Liao: Darüber denke ich nach, wenn es
in der chinesischen Kulturpolitik? denselben Gesetzen. Und ein Teil der so weit ist. Ich bin ein zäher Charak-
Liao: Auch Zensoren haben Gefühle, deutschen Bevölkerung kann sicher ter. Wenn ich nicht zurückdarf, versu-
aber was den Ausschlag gab, mich aus- nachvollziehen, was wir in China erle- che ich es wieder 15 Jahre lang. Hier
reisen zu lassen und nicht wie im ben. Die Ausdauer, der Trotz, das Be- hätte ich vermutlich ein komfortables
März anlässlich der lit.Cologne wieder harren auf einem freien Leben – das Leben – aber als chinesischer Autor
aus dem Flugzeug zu holen – wer alles verbindet unsere Dissidentenkul- wäre ich arbeitslos.
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Kultur
KUNSTMARKT
E
s war ein Pfingstmontag, als der
Sohn von Marie-Josephine Lynen
im Radio hörte, dass sein Vater ge-
storben war. Der Junge hatte ihn nur drei-
mal gesehen. Er weinte trotzdem.
Der Vater hieß Jörg Immendorff, er
starb 2007. Sein Sohn ist heute zwölf Jah-
re alt, er besucht ein Düsseldorfer Gym-
nasium. Von seinem Taschengeld kauft
er sich Bücher über seinen berühmten Va-
ter, die Regale in der Wohnung seiner
Mutter stehen voller Bildbände und Aus-
stellungskataloge. In seinem Kinderzim-
mer hat er zwei Fotos seines Vaters und
eine von Immendorff illustrierte Bibel.
Der Junge sammelt alles über ihn, nur
nicht dessen Bilder, denn die sind ziem-
lich teuer, und geschenkt hat ihm Immen-
dorff kein einziges. In seinen Testamen-
ten, es gibt mehrere, wird der Sohn mit
keinem Wort erwähnt.
Jörg Immendorff war einer der be-
rühmtesten und weltweit erfolgreichsten
deutschen Maler und Bildhauer der Nach-
kriegszeit, bekannt nicht nur für seine
Kunst, sondern auch für sein wildes Le-
ben, ein großer Darsteller seiner selbst,
bis zum qualvollen Ende.
Immendorff, Jahrgang 1945, war in den
sechziger Jahren Student von Joseph
Beuys an der Düsseldorfer Kunstakade-
mie, in den Siebzigern Schöpfer von mo-
numentalen Gemälden wie der Serie
„Café Deutschland“ und Anhänger der
maoistischen KPD/AO, in den Achtzigern
Betreiber der Kneipe La Paloma nahe der
Hamburger Reeperbahn, in den Neun-
zigern Kunstprofessor, im neuen Jahr-
tausend eine Art Staatskünstler, der mit
Gerhard Schröder im Kanzler-Jet nach
China reiste – und ein Fall für den Staats-
anwalt, als 2003 nach einer Sex-Party in
einem Düsseldorfer Hotel 21,6 Gramm
Kokain bei ihm gefunden wurden. Kurz
vor seinem Tod stellte Immendorff noch
das offizielle Schröder-Porträt für die Ga-
lerie im Kanzleramt vor, ein Herrscher-
gesicht in Gold.
Immendorff starb, nach jahrelangem
Siechtum, am 28. Mai 2007 an Amyotro-
pher Lateralsklerose (ALS), einer unheil-
baren Nervenkrankheit. Seine Asche wur-
de im Mittelmeer verstreut.
Der Maler hinterließ eine Witwe, zwei
Kinder und ein Erbe, das viele Rätsel auf- Künstler Immendorff, Ehefrau Oda Jaune mit Tochter Ida 2002: „Jörg konnte nicht so schnell
168 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
gibt. Es geht dabei um viel Geld, um Im- dorffs Beziehung zu Marie-Josephine von Immendorffs Tochter Ida, heute neun
mobilien und vor allem um Immendorffs Lynen, 35, einer gelernten Dekorateurin, Jahre alt.
Bilder, deren Wert sehr umstritten ist. Es von der sich Immendorff Ende der neun- Immendorffs letztes Testament wurde
ist ein Erbschaftsstreit um ein wichtiges ziger Jahre getrennt hatte. Immendorff am 7. Mai 2007, nur drei Wochen vor dem
Kapitel deutscher Kunstgeschichte. hatte lange bestritten, überhaupt der Er- Tod des Künstlers, von einem Düsseldor-
Vieles ist ungeklärt: Wie viele Bilder zeuger des Jungen zu sein, bis das Amts- fer Notar beurkundet. Immendorff sei
gehörten Immendorff, als er starb – und gericht Düsseldorf 1999 die Vaterschaft schwer erkrankt, schreibt der Notar in ei-
was waren sie wert? Wo sind diese Bilder feststellte. ner Vorbemerkung, geistig jedoch „noch
heute? Und wie lässt sich ihr Wert be- Auf der anderen Seite steht Immen- voll präsent und in der Lage, seinen Wil-
stimmen? dorffs Witwe Oda Jaune, geboren 1979 len frei zu bilden und auszudrücken“.
Seit dem Tod des Malers wird über des- als Susan Michaela Warsteit in Sofia, Das Testament ist ein Dokument des
sen Nachlass gerungen. Auf der einen Bulgarien, einst Immendorffs Studentin, Sinneswandels. In der ursprünglichen Fas-
Seite steht dabei der Sohn aus Immen- mittlerweile selbst Künstlerin, die Mutter sung hatte Immendorff darin seine Toch-
ter Ida als Alleinerbin eingesetzt. Nun
wurde „Tochter Ida“ im Text durchgestri-
chen; handschriftlich wurde Immendorffs
Ehefrau Oda Jaune als Alleinerbin einge-
setzt. Diese Fassung des Testaments ist
gültig. Seinen Sohn zog Immendorff of-
fenbar nie als Erben in Erwägung.
Doch nach deutschem Erbrecht kann
man seine Kinder nur in seltenen Aus-
nahmefällen komplett enterben. Immen-
dorffs Sohn steht ein Pflichtteil zu, ein
Achtel von Immendorffs Vermögen. Nur:
Wie viel ist das?
Der Anwalt des Jungen, Lothar Böhm,
versucht seit Immendorffs Tod, den Fall
aufzuklären. Erst verhandelte er mit Oda
Jaunes Anwälten, letztlich ohne Erfolg.
Im Januar dieses Jahres reichte er vor
dem Landgericht Düsseldorf Klage ein,
eine sogenannte Zwei-Stufen-Klage: In
der ersten Stufe fordert er im Namen sei-
nes Mandanten Auskunft über den Wert
des Immendorff-Nachlasses, in der zwei-
ten die Auszahlung von einem Achtel die-
ser Summe. Noch ist unklar, wie das Ver-
fahren ausgeht.
Mitten in diese Auseinandersetzung
um das Erbe fällt auch die Veröffentli-
chung der ersten Immendorff-Biografie.
Geschrieben hat sie Hans Peter Riegel,
ein Weggefährte Immendorffs. Am Diens-
tag dieser Woche wird das Buch in der
Kunsthalle Düsseldorf vorgestellt*.
Riegel und Immendorff lernten sich
1979 kennen, sie tranken zusammen Ko-
kosnussmilch auf den Bahamas, sie feier-
ten im La Paloma auf St. Pauli, sie fuhren
1982 gemeinsam zur Documenta nach
Kassel. Es existiert ein Foto aus jenen Jah-
ren, auf dem beide schwarze, schwere
Bikerstiefel tragen, Riegel einen Schnau-
zer wie ein Fußballprofi, Immendorff
schwarze Lederkluft. Sie entwickelten
Projekte, bis Mitte der achtziger Jahre ar-
beitete Riegel als persönlicher Assistent
für Immendorff. „Ich habe Jörg immer
gesagt, dass ich eines Tages eine Biografie
über ihn schreiben werde“, sagt Riegel.
Und Immendorff habe immer Angst da-
STEPHAN PICK / ROBA PRESS
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 169
Kultur
habe Immendorff als einen Menschen Werner, 71, ist eine Institution des spielen will, die den künstlerischen Nach-
gesehen, der seinem Erfolgsstreben alles Kunstmarkts, seine Galerien in Köln und lass pflegt und so dessen Wert erhält. Sie
Private und Persönliche nachordnete“, New York handeln mit den großen Mar- verkaufte nach Immendorffs Tod nur eine
schreibt Riegel. Immendorffs Selbstin- kennamen der deutschen Nachkriegs- Handvoll seiner Bilder, zog nach Paris,
szenierung, die „permanente und für ihn kunst: Georg Baselitz, Markus Lüpertz, äußert sich seitdem nicht mehr zu ihrem
unerlässliche Selbstbespiegelung“, war A.R. Penck, Sigmar Polke und eben auch verstorbenen Gatten, stattdessen kon-
„in ganz besonderer Weise Teil seines Immendorff. In den achtziger Jahren zentriert sie sich auf ihre eigene Karriere
Werkes“. machte Werner mit Immendorff-Gemäl- als Malerin. „Witwen sind immer ein
Riegel beschreibt Immendorffs Auf- den einen Millionenumsatz. Pain in the neck“, sagt Galerist Werner,
stieg zum populären Künstler, er erzählt Werner ist Geschäftsmann, er kann was übersetzt so viel wie Nervensäge
von Personen in dessen Umfeld, die ihm nüchtern kalkulieren, was der Tod eines heißt. Oda Jaune sei „ein kleines Mäd-
bei der Karriere halfen, er schildert die Malers wie Immendorff bedeutet. „Das chen“, das allerdings „beinhart“ verhan-
Mechanismen des Kunstmarkts, der Bil- Ableben ist eine Bremse“, sagt Werner. deln könne.
der in erster Linie als Ware handelt. „Wenn der Künstler stirbt, geht der Pri- Doch Werner ist nicht nur Galerist, er
Die Biografie hat schon vor Erscheinen märmarkt baden“ – der Nachschub bleibt ist auch Immendorffs Testamentsvollstre-
für Aufregung gesorgt, vor allem bei den- aus. Dazu komme: „Die Preise gehen cker, der auf Wunsch des Erblassers, also
jenigen, die darin auftauchen, aber keine runter, weil nach dem Tod des Künstlers Immendorffs, von Amts wegen beauftragt
Vorabexemplare lesen durften. Der Ver- Chaos entsteht. Der Künstler macht keine ist, den Nachlass des Verstorbenen zu er-
fassen und gemäß den Vorgaben im Tes-
tament zu verteilen. „Eine Belastung“,
sagt Werner, „ich hätte das nie gemacht,
wenn der Jörg das nicht in sein Testament
geschrieben hätte.“
Das alles ist ziemlich kompliziert. Nie-
mand weiß derzeit genau, wie viel Im-
mendorff in seinem Leben produziert hat,
aber es dürften mehr als 1800 Werke sein.
Ein Teil davon ist ganz offiziell über die
Galerie an Museen und Sammler verkauft
worden. Ein anderer Teil lagert wohl
noch in Immendorffs Düsseldorfer Ate-
lier, in Werners Galerie, bei anderen
Kunsthändlern.
Als Testamentsvollstrecker muss Wer-
ner den Wert der vorhandenen Immen-
dorff-Arbeiten bestimmen. Je höher er
den Wert des Nachlasses ansetzt, desto
größer wird auch der Wert des Pflichtteils,
den Immendorffs Witwe am Ende mögli-
cherweise an seinen Sohn zahlen muss.
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS
E
Anwalt Böhm, sein zwölfjähriger Man- in Mann stapft durch eine Baustel- rund um die Uhr“, sagt Besson. „Nur
dant und dessen Mutter überlegen nun, len-Wüste, Sand weht ihm ins Ge- dann bist du in der Lage, aus dem Nichts
inwieweit sie das Nachlassverzeichnis sicht. Hinter ihm ragen Reste eines Welten zu erschaffen.“
überhaupt anerkennen sollen. Denn Fabrikgebäudes in den Himmel, nur die Kaum ein anderer Filmemacher hat in
Böhm glaubt nicht nur, dass der Wert vie- Grundmauern stehen noch. Luc Besson den vergangenen Jahren so viele Welten
ler Kunstwerke zu niedrig angesetzt ist, trägt eine schwarze Lederjacke, einen erschaffen. 13 Filme hat er inszeniert, dar-
er hat auch den Verdacht, dass etliche weißen Schutzhelm und olivfarbene unter das Taucher-Epos „Im Rausch der
Bilder auf der Liste fehlen. Böhm besitzt Gummistiefel. Er bleibt stehen, sieht sich Tiefe“ (1988) und das Science-Fiction-
inzwischen viele Immendorff-Bücher und um. Für einen kurzen Moment wirkt er Abenteuer „Das fünfte Element“ (1997).
-Kataloge, er klamüsert im Detail ausein- wie der letzte Mensch auf Erden. Besson hat an rund 40 Drehbüchern mit-
ander, wo Werke von Immendorff in Aus- „Ich habe oft hier gedreht im Lauf der geschrieben und fast hundert Filme pro-
stellungen gezeigt wurden und in wessen Jahre“, sagt Besson, 51. „Wir haben hier duziert. Seine neue Regiearbeit, die Co-
Besitz sie damals waren. viele Bilder gefunden, Bilder von Zerstö- mic-Adaption „Adèle und das Geheimnis
Eine komplizierte Arbeit, nicht nur für rungen, Endzeitbilder.“ Nun wird er hier, des Pharaos“, läuft diese Woche an.
einen Anwalt: undurchsichtig, weil das auf dem Gelände eines ehemaligen Kraft- Er hat vier Töchter und einen Sohn,
Œuvre viele Kunstwerke und vier Jahr- werks in Saint-Denis, einem Teil der Pa- mit drei verschiedenen Frauen, nicht
zehnte umspannt, erschwert auch durch riser Banlieue, etwas aufbauen: die Cité zuletzt für sie schrieb er die Kinderbuch-
Immendorffs Praxis, wohl jenseits der du cinéma, eine Stadt des Kinos. serie „Arthur“. Er verkaufte drei Millio-
offiziellen Buchführung selbst Werke zu Den größten Studiokomplex Frank-
verkaufen. Es existieren dubiose Quit- reichs lässt er errichten, auf einer Fläche
tungen mit handschriftlichen Vermerken von gut 60 000 Quadratmetern. Er wird
wie beispielsweise „Hälfte black“ oder neun Hallen umfassen, eine Filmhoch-
„50 000 so“. „Der Jörg hat immer viel schule, ein Kino mit 450 Plätzen, eine
selbst umgesetzt aus seinem Atelier“, sagt Kantine für 1000 Personen. Die Kosten
Werner, „er war sehr anfällig für nicht von 160 Millionen Euro bringt eine Grup-
so seriöse Händler.“ pe von Investoren auf, unter anderem
Und Oda Jaune, die Witwe? Sie möch- eine Bank, ein Bau- und Immobilienkon-
te sich auch weiterhin nicht über ihren zern und Besson selbst.
verstorbenen Mann äußern, lässt sie über „Dahinten ist der Haupteingang“, sagt
eine PR-Agentur mitteilen. Man könne Besson. „Wir stehen hier in einer licht-
aber gern mit ihr über ihre eigenen Wer- durchfluteten Halle, einer Avenue zum
ke sprechen. Flanieren! Sehen Sie?“ Es ist nichts zu
Die Künstlerin Oda Jaune wird von ei- sehen, nur leere Fläche, ein paar Bauar-
ner Pariser Galerie vertreten, ihre Bilder beiter. Vor Bessons geistigem Auge steht
kosten mittlerweile 30 000 Euro. alles schon da. „Die Phantasie ist ein
NORA REINHARDT, MARTIN WOLF Muskel, den du ständig trainieren musst, Modell für den Studiokomplex Cité du cinéma in
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Kultur
nen Bücher und verfilmte sie. Der dritte „Als Kind hatte ich kaum Freunde“, umgekehrt.“ Besson lacht, als freue er
Teil der Verfilmung kommt im Oktober erzählt er. „Ich bin mit meinen Eltern sich darauf, dass sie bald alle zu ihm
in die französischen Kinos. „Le Monde“ von Land zu Land gereist, hatte nichts rausfahren müssen, die Granden des
nannte Besson schon vor Jahren den „Im- zum Spielen. Es gab Steine, ein Stück französischen Kinos und die amerika-
perator des französischen Kinos“. Heute Holz, daraus musste ich meine Welten nischen Finanziers, voller Angst, ihre di-
ist er der einzige Film-Tycoon Europas, bauen. So hat sich meine Phantasie ent- cken Limousinen könnten ihnen von ma-
und die Cité du cinéma ist so etwas wie wickelt. Würde ich aus einer reichen Fa- rodierenden Jugendlichen abgefackelt
das Denkmal, das er sich setzt. milie stammen, hätte ich es nie so weit werden.
Das Publikum liebt den Overkill seiner gebracht.“ Besson stapft durch den bröseligen Be-
Filme, die grotesken Schießereien und Die Geschichte, die er hier erzählt, ist ton, noch etwas breitbeinig; er ist gerade
Verfolgungsjagden, die naiven, jungen- die des Schmuddelkinds, mit dem nie vom Motorrad gestiegen, mit dem er aus
haften Helden, die nicht erwachsen wer- jemand spielen wollte und das sich des- Paris zu seiner Baustelle gefahren ist. Er
den wollen, die wilden, starken Frauen, halb die tollsten Spielzeuge selbst baute. blickt zur Seine, die direkt am zukünfti-
die sich bei ihm austoben dürfen, ob im Die meisten dieser Spielzeuge sind Fil- gen Studiogelände vorbeifließt. „Ich weiß
Frankreich des Mittelalters, im Venedig me über Schmuddelkinder. In seinem ers- auch nicht, aber ich habe immerfort Ein-
von heute oder im New York der Zukunft. ten Erfolg „Subway“ (1985) erzählt er von fälle“, sagt er, und es klingt so, als redete
Er mache Filme wie ein Chefkoch, sagt Obdachlosen, Menschen, die in der Pari- er über eine Krankheit, mit der er im Lau-
Besson. „Ich gehe auf den Markt, kaufe ser Metro leben. Einer von ihnen, Fred, fe der Jahre zu leben gelernt hat.
die Zutaten, rieche am Fisch, stehe am ein blondierter Punk (Christopher Lam- Die Baustelle ist sein größtes Projekt,
Herd. Dann kommt ein Gast und sagt: ,Ich bert), verliebt sich in die Gattin eines rei- und es ist der wohl härteste Kampf, den
mag keinen Fisch.‘ Und ich bin schon in chen Mannes, Helena (Isabelle Adjani). Besson bisher gegen das bürgerliche
aller Herrgottsfrühe rumgerannt, um den Fred zieht sie zu sich herab in die Unter- Establishment ausgetragen hat. Es passt,
besten Fisch zu finden! Was soll’s, er ist welt, macht sie sich gleich, bis sie gegen dass er, der Großkapitalist des französi-
dein Gast. Koch etwas, was ihm schmeckt.“ ihren Mann rebelliert. schen Kinos, ausgerechnet im kommunis-
In der elitären Welt des französischen Der Regisseur nahm sich seine Figur tischen Bürgermeister von Saint-Denis
Films, in der ungern über Geld und gern Fred, den coolen Asozialen, zum Vorbild. einen wichtigen Mitstreiter fand.
über Kunst gesprochen wird, in der man Er färbte sich die Haare blond, bürstete Er habe sich festgebissen in diesem Pro-
sich im Edelrestaurant Fouquet’s an den sie gen Himmel, ließ seinen Bart wuchern, jekt, sagt Besson, und den Biss nicht mehr
Champs-Elysées trifft, gelten Bessons Fil- bevor er nach Cannes fuhr, um sich unter gelockert, bis sie alle gespürt hätten, die
me als Fast Food. Das Pariser Kino-Bil- die Stars des Weltkinos zu mischen. Er Politiker, die Behörden und die Banken,
dungsbürgertum sah in Besson stets einen trug Smoking mit Fliege wie Fred in „Sub- dass es ihm Ernst ist mit seinem Traum,
Emporkömmling ohne Kultur, einen Ba- way“, doch mit einer Attitüde, die sagte: hier das „kreative Zentrum“ der franzö-
nausen, der sich an der „septième art“, Hey, wenn ich euch wirklich mögen wür- sischen Filmindustrie zu schaffen.
der siebten Kunst, verging. de, hätte ich jetzt einen Taucheranzug an. Es ist die Vision einer egalitären Kino-
Seine Eltern waren Tauchlehrer, die Seine Helena fand er in dem Model fabrik, die sich von den französischen
mit ihm jahrelang um das Mittelmeer zo- Milla Jovovich, er machte sie zum Film- Filmkunst-Manufakturen ebenso unter-
gen. Eines Tages wagte er trotz Erkältung star und zur Geliebten, er steckte sie 1997 scheiden soll wie von den amerikanischen
einen Tauchgang. Beim Hochkommen er- in Cannes in ein wildes Outfit mit einem Großstudios. Besson sieht sich nicht als
blindete er kurzfristig. Und lernte, dem metallenen Büstenhalter, und als sie über Fabrikant, sondern als Vorarbeiter, der
geistigen Auge zu vertrauen. den roten Teppich liefen, sahen sie fast allen zeigt, wie man Filme am Fließband
„Ich habe mit 13 angefangen, Geschich- aus wie das Paar in „Subway“. produziert, Filme, die schmecken.
ten zu schreiben. Mit 20 hatte ich 25 Dreh- Besson gefällt sich darin, ein Paria zu Natürlich geht ihm alles viel zu lang-
bücher in der Schublade, einige habe ich sein. Seine Cité du cinéma wird ausge- sam. „Wir sind in Frankreich, hier ent-
dann später verfilmt.“ Das Schreiben sei rechnet im Départment Seine-Saint-De- scheidet man nicht, hier streitet man!“
für ihn eine Flucht gewesen, sagt er. Es nis gebaut, dort, wo im Herbst 2005 blu- Für ihn ist das alles nur ein großer, zäher
gebe andere Fluchtwege, Alkohol oder tige Kämpfe zwischen Jugendlichen und Stau, und er ist der Einzige, der daran
Drogen, aber die seien ungesünder. „Ich der Polizei tobten. Besson hat schon in vorbeifährt, sich hindurchschlängelt auf
bin in meinen Kopf geflohen.“ Vielleicht den achtziger Jahren hier gedreht und seiner Honda, der immer eine Abkürzung
haben all diese Fluchtwege, Tauchen und sich mittlerweile auch sozial engagiert. findet. Wann ist das Studio fertig, Mon-
Trinken, Fixen und Filmen, am Ende das „Alle träumen davon, Büros an den sieur Besson? – „In zwei Wochen!“, ruft
gleiche Ziel: den Rausch. Champs-Elysées zu haben. Wir machen’s er und lacht. LARS-OLAV BEIER GERARD MONICO / CIT'IMAGES
Saint-Denis: Die Vision einer egalitären Filmfabrik, in der Besson der erste Vorarbeiter ist
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D E B AT T E
S O Z I A LE KR I EGE
VOM UN BE HAGE N DE R B Ü RGE R LICH E N MIT T ELSCH ICH T
VON R I CH A R D DAV I D P R E CH T
T
hilo Sarrazin braucht kein Mitleid. Er könnte auch lich durchmischten Milieus. Ein deutscher Dissozialer, der sich
schlecht damit umgehen. Und es geht schon gar nicht zur bürgerlichen Wertegemeinschaft nicht zugehörig fühlt, ist
darum, ihm recht zu geben, in was auch immer. Fürs für unsere Gesellschaft ebenso gefährlich wie ein türkischer.
Rechtgeben sind seine Ansichten viel zu durchwachsen und Bedrohlich ist nicht der religiöse Fundamentalismus, sondern
zu missverständlich, mit Ausnahme vielleicht all des Unver- die Moralferne der Halbintegrierten, die Melange von religiö-
standenen und Unverständlichen aus der Genetik. Hier ist er sem Machismo und Gangsta-Kult, islamistischem Chauvinismus
eindeutig – und zwar eindeutig ohne Sachkenntnis. und westlichem. Was die Kinder von Allah und 50 Cent ge-
Und auch die Frage, ob Sarrazin weiter als Sozialdemokrat fährlich macht für unseren sozialen Konsens, sind nicht Gene
betrachtet werden darf oder nicht, ist eine langweilige. Kein oder Glaube. Gewalttätige Migranten sind nicht in erster Linie
Sozialdemokrat zu sein und trotzdem in der SPD zu bleiben von religiösen Wahnvorstellungen unheilvoll beseelt, sondern
ist kein Widerspruch. Ehemalige Bundeskanzler haben es weit häufiger von Drogen. In diesem Punkt unterscheiden sie
vorgelebt. Die weit spannendere Frage ist: Wieso kann ein höl- sich nicht von Deutschen.
zerner Finanzmann mit seinen Vorurteilen, seinen turmhoch Der weitaus größere Teil der Bevölkerung in Deutschland
gestapelten Statistiken und seinen biologischen Nachschlage- nimmt dies auch so wahr. Der türkische Gemüsehändler an
werken eine solche Aufregung verursachen? Weil er ein Tabu der Ecke wird geschätzt, auch wenn seine Töchter Kopftücher
gebrochen hat? Weil er der schweigenden Mehrheit eine nä- tragen. Er ist ein Bürger wie wir mit ähnlichen Werten von
selnde Stimme gibt? Weil den Massenmedien langweilig war? Fairness und Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Ar-
Oder doch: weil er ins Schwarze traf, als er ins Braune redete? beitsmoral und Anstand. Wenn der Streit um Kopftücher, Ka-
Es gibt Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland, rikaturen und Koran-Verbrennungen solche Aufregung verur-
es gibt einen Moralverlust in allen sozialen Schichten, einen sacht, dann deshalb, weil solche Symbole beiden Seiten helfen,
Sittlichkeitsverfall im öffentlichen Umgang, eine Enthemmung die Welt kurzfristig einfacher zu machen, als sie ist. Die gene-
bei Sex und Gewalt, eine soziale Erosion der Mittelschicht und relle Ausländerfeindlichkeit in Deutschland hingegen hat über
vor allem: Desorientierung. Das Schwarze, in das Sarrazin die vergangenen Jahrzehnte stark abgenommen. Ein kurzer
trifft, ist jener Satz, auf den sich Sarrazin-Freunde wie -Gegner Blick zurück auf die „Kümmeltürken“- und „Spaghettifresser“-
einigen können: So geht es nicht weiter! Aversionen der siebziger Jahre belehrt darüber. Deutschland
Wirklich begriffen wird dieses Problem allerdings nur jenseits hat viel dazugelernt. Idioten gibt es immer und überall. Aber
aller Sarrazinaden um gefährdete Deutsche und gefährliche Mi- flächendeckender Rassismus ist (noch) nicht unser Problem.
granten. Es stehen sich keine Völker gegenüber und keine Eth- Dafür gibt es ein anderes. Es ist die Angst vor einem Sozial-
nien, sondern zwei moralische Kulturen. Diese beiden Kulturen krieg. Es gibt viele Deutsche und Migranten, die sich zu dieser
sind nicht das Christentum und der Islam, kein „Kampf der Kul- Wertegemeinschaft nicht mehr zugehörig fühlen. Die Schere
turen“ im Sinne Samuel Huntingtons. Es ist das Ethos des So- zwischen Arm und Reich geht auseinander, die Milieus ohne
zialen und das Ethos des Dissozialen. Die Grenze verläuft nicht Tugenden werden vermutlich wachsen: Eure Werte, euer so-
zwischen Volksgruppen oder Religionen, sondern zwischen reich- zialer Friede und eure Moral sind uns scheißegal!
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Kultur
Der Moralverlust durchwirkt in je eigener Ausprägung alle Eine neue Idee von Wachstum zu entwickeln wäre die wich-
Gesellschaftsschichten. Kriminelle Banker, die auf Staatskosten tigste Aufgabe unserer Wirtschaftspolitik. Aber dies wird nicht
Milliarden verzocken und Millionen-Abfindungen bekommen, diskutiert. Stattdessen ergreift die bürgerlichen Mittelschichten
Kleinbetrügereien bei der Steuererklärung, tagtägliche Egois- ein fühlbares Unbehagen. Soll man sich mitfreuen, wenn sich
men im Straßenverkehr. „Unterm Strich zähl ich“, wie die Ban- der Wirtschaftsminister über den Aufschwung nach der Finanz-
kenwerbung uns indoktriniert. Auch die Dissozialen unserer krise freut? Hurra, wir dürfen weiter unreflektiert den gleichen
Gesellschaft werden weniger durch muslimische Propaganda Mist machen wie vorher?
aufgeheizt als durch kapitalistische: durch Gangsta-Rap, Kil-
W
lerspiele und Pornografie. ir dürfen nicht mit immer neuen Schulden den Egois-
Unsere Gesellschaft, unser Wirtschaftssystem, züchtet den mus züchten. Wir müssen eine Vernunft der Weitsicht
Egoismus an allen Fronten. Das Problem dahinter ist nicht neu, in die Politik implementieren und nicht weiterhin mit
es ist der Konflikt zwischen Liberalismus und Demokratie. Die einer kurzsichtigen Vernunft zwischen vermeintlichen Sach-
Idee des Liberalismus ist der Freiheit verpflichtet, die Idee der zwängen vermitteln.
Demokratie einer weitreichenden Gleichheit. Je freiheitlicher Es geht dabei nicht um billige Politikschelte, wie der aufge-
eine Gesellschaft, umso gefährdeter der gesellschaftliche Kon- brachte SPD-Parlamentarier Hans-Peter Bartels mir unlängst
sens. Niemand sah dies so scharf wie die Denker der „Freibur- im SPIEGEL (37/2010) unterstellte. Es geht darum, dass unsere
ger Schule“, die Väter der „sozialen Marktwirtschaft“. Wirt- politische Klasse, je näher sie der Macht ist, umso stärker die
schaftspolitik war für sie auch ein moralisches Erziehungspro- großen Probleme unseres Landes verdrängt. Was sich als „Ver-
gramm, um die Werte der Freiheit mit den Werten von Fürsorge nunft“ tarnt, ist in Wahrheit Klüngelei, Verzagtheit und Vi-
und Anstand zu versöhnen. sionslosigkeit. Es geht darum, die Grenzen unserer Parteien-
Leicht ist das nicht. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis in demokratie im gegenwärtigen Zustand zu erkennen. Es geht,
diesem Zusammenhang formulierte Wilhelm Röpke: Die markt- ganz ohne Romantik, um mehr Demokratie. Soll man dafür
wirtschaftliche Ordnung beruht auf Voraussetzungen, die sie tatsächlich in Parteien eintreten? Wer in den vergangenen
nicht selbst erzeugen kann. Wer gewinnorientiert und zweck- Wochen verfolgen durfte, wie der demokratisch vereinbarte
rational handelt, verhält sich zwar ökonomisch schlau, aber er Atomausstieg unterlaufen wurde, der sieht, dass Parteien nicht
erzeugt damit keine Moral. Ganz im Gegenteil verbraucht er per se Garanten dafür sind, dass es demokratisch zugeht. Und
ein großes Kontingent an Moral, das er in der Gesellschaft wer im Namen des Volkes gegen das Volk in Stuttgart den
vorfindet. Er nutzt die Regeln der Fairness. Hauptbahnhof tiefer legt, der versteht nicht
Er fordert Vertrauen ein und vertraut. Er die Zeichen der Zeit. Es geht um die Selbst-
geht von der Wahrhaftigkeit seiner Ge- Je freiheitlicher eine behauptung des gefährdeten Bürgertums an
schäftspartner aus, davon, dass sie ihre Gesellschaft, umso beiden Fronten: gegen das Dissoziale von
Waren tatsächlich liefern und ihre Kredite oben und von unten, gegen die Oligarchie
zurückzahlen. Doch all dies wird nicht vom gefährdeter der gesell- der Mächtigen und gegen die Anarchie der
Markt selbst geschaffen, sondern bereits schaftliche Konsens. Ohnmächtigen.
vorausgesetzt, damit der Markt funktio- Die Kunst, kein Egoist zu sein, muss wie-
nieren kann. Aber: Je zweckrationaler die der neu eingeübt, das Gute am Bürger-
Menschen ihren Nutzen kalkulieren, umso ungesünder wird lichen neu belebt werden. Vermutlich bedarf es dafür eines
das gesellschaftliche Klima. Der Markt ist ein „Moralzehrer“, Ausstiegs aus dem materialistischen Wachstumswahn. Der
der unsere moralisch-sittlichen Reserven verbraucht. Umbau-Katalog beginnt bei mehr direkter Demokratie durch
Bereits Anfang der siebziger Jahre diagnostizierte der ame- Plebiszite auf allen Ebenen. Er führt über eine Föderalismus-
rikanische Soziologe Daniel Bell das Wertedilemma der west- reform mit dem Ziel, die Einflusssphären der Länder zu schwä-
lichen Gesellschaften. Der westliche Mensch zerfalle heute in chen und die finanziell halbtoten Kommunen zu stärken. Und
zwei Teile, die nicht mehr zusammenpassen. Die Wirtschaft er endet in der Forderung nach einem Bildungssystem, das
benötige einen egoistischen Hedonisten und unersättlichen sich aller Kinder aller Schichten früh und verantwortungsvoll
Konsumenten, der nie zufrieden ist, disziplinlos in seiner Gier annimmt. Dazu freilich müssen die Bürger selbst Verantwor-
nach mehr. Die Gesellschaft dagegen brauche einen beschei- tung übernehmen. Dissoziale Milieus zu verkleinern kann
denen Mitbürger, hilfsbereit und zufrieden. Wie soll man bei niemals allein die Aufgabe des Staats sein. Nicht zuletzt die
solchen Voraussetzungen seine Kinder erziehen? Wie soll man Bürger der goldenen Generation, die Rentner und Pensionäre,
ein klares und überzeugendes Ideal formulieren? Was sind un- tragen heute die Bringschuld, ihren Wohlstand in Allgemein-
ter diesen Umständen die Leitwerte? Und was ist noch das wohlstand zu überführen. Was hindert einen Pensionär, Mi-
Bürgerliche? Zu viel Freiheit macht unsicher. Wir sind zu gut granten-Kindern Lesen und Werte beizubringen? Auch Sarra-
informiert, um uns noch zu klaren Weltanschauungen zu be- zin hätte dazu nun Zeit.
kennen, zu liberal, um Wertehierarchien zu formulieren, zu Die Quintessenz der Sarrazin-Debatte besteht nicht in einer
konsumorientiert, um Bescheidenheit zu predigen. allerorten unterstellten neuen Ausländerfeindlichkeit. Tiefer
liegend macht sie einer breiten Unzufriedenheit Luft. Von Men-
D
ie Wirtschaft hat sich seit den siebziger Jahren globali- schen, die sich nicht verstanden und gehört fühlen. Von Men-
siert. Das Internet hat internationale Geschäfte abstrak- schen mit Angst, denen Sarrazin ein falsches Ziel liefert. Von
ter und verantwortungsloser gemacht: Wenn Millionen- Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit der Politik. Dieses
beträge nur durch einen Tastendruck am Computer ihren Be- Potential darf nicht von rechts fehlgeleitet
sitzer wechseln, findet der ehrbare Kaufmann keinen Sitzplatz werden, aber auch nicht verpuffen in
mehr. Geschäfte, wie sie heute in der Finanzwelt üblich sind, Frustration. Verunsicherte Bürger, die wir
kennen keine Zeit zum Abwägen und keine Gesichter. fast alle sind, müssen wir stattdessen, wie
HORST GALUSCHKA / ACTION PRESS
Unsere Volkswirtschaft wächst immer weiter und spekuliert Axel Honneth schreibt, das „Ich im Wir“
auf fortwährendes Wachstum. Der Ausverkauf der Moral wird wiederfinden und damit das „Wir im Ich“.
beschleunigt, und dennoch fühlt sich die Bevölkerung, viele
Umfragen bestätigen dies, seit Ende der sechziger Jahre nicht Richard David Precht, 45, ist Philosoph
mehr glücklicher. Wir verbrauchen immer mehr Ressourcen, und Bestsellerautor. Sein neues Buch
plündern die Umwelt und unterspülen die Fundamente der „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ (Gold-
Moral, und am Ende sind wir nicht zufriedener als vorher. mann Verlag) erscheint am 11. Oktober.
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Kultur
AU TO R E N
ROBERT GALLAGHER
Erzähler Ellis in Los Angeles: „Wir können nun das Interview mit dem Schriftsteller beginnen“
A
ls wäre man hier schon einmal ge- rial Bedrooms“*. Und Clay ist auch jene den und eingelassenen Lampen, gerade
wesen, so kommt es einem vor in moralisch bankrotte Romanfigur aus Ellis’ mal 110 Quadratmeter groß – ein Schlaf-
der Art-déco-Eingangshalle des Roman „Unter Null“, mit dem der Schrift- zimmer, ein Arbeitszimmer, ein ansehn-
Doheny Plaza, eines Appartement-Hauses steller vor 25 Jahren berühmt wurde. liches Wohnzimmer, das sich zu einer
an der Grenze zwischen West Hollywood Oben, im elften Geschoss des Doheny futuristischen, blitzblanken Küche hin
und Beverly Hills. Der Portier hat soeben Plaza, öffnet er die Tür. Er ist barfuß. öffnet.“ So steht es in dem Buch, und ge-
oben in der Wohnung den Besuch ange- Sein Gesicht sieht runtergewohnt aus, die nauso sieht es hier bei Ellis aus. Der Be-
kündigt. „Mr. Ellis“, sagt er, als er den Hö- Haare unecht. Im Hintergrund huscht ein sucher betritt nicht die Wohnung des
rer auflegt, „braucht noch ein paar Minu- junger Mann nur in einem Unterhemd Schriftstellers. Er betritt den Roman.
ten. Sie können dort vorne Platz nehmen.“ durchs Bild, hinein ins Schlafzimmer, wo Die Wohnung ist auf 15 Grad herun-
Dann fällt es einem ein. Doheny Plaza, die Jalousien heruntergelassen sind. Ellis tergekühlt, es summt die Klimaanlage,
von diesem Haus und sogar von der Ein- scheint aus dem Bett zu kommen. der kalte Rauch seiner Marlboro Gold
gangshalle hatte man doch gerade noch „Betont schlicht gehalten, in weichen steht in den Räumen. Ellis geht zum Kühl-
gelesen. Hier wohnt nämlich nicht nur Beige- und Grautönen, mit Hartholzbö- schrank in der „futuristischen, blitzblan-
Bret Easton Ellis, der umstrittene, legen- ken Küche“ und holt eine Cola heraus,
däre, immer etwas merkwürdige Schrift- * Bret Easton Ellis: „Imperial Bedrooms“. Aus dem ame-
bietet sie an. Neben der großen Ange-
steller. Hier wohnt auch Clay. Clay ist rikanischen Englisch von Sabine Hedinger. Verlag Kie- bercouch lehnt eine Gitarre, Ellis schlägt
der Held in Ellis’ neuem Roman „Impe- penheuer & Witsch, Köln; 224 Seiten; 18,95 Euro. vor, ins Arbeitszimmer zu gehen.
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Kultur
Interessanterweise haben zwei andere siebziger Jahren nur als Kampfansage in Deutschland für einen ganzen Kultur-
Journalisten, die Ellis in den Wochen zu- verstanden werden. Plötzlich war da eine zweig mit Romanen wie „Faserland“ von
vor besucht hatten, exakt das Gleiche Literatur, die mit beiden Beinen im Prä- Christian Kracht und all seinen Epigonen
erlebt, das Warten beim Portier, die nack- sens stand, die Widersprüche nicht über- sowie Zeitschriften wie „Tempo“, die El-
ten Füße, die Cola-Dose, die Gitarre ne- decken, schwer Erträgliches nicht beschö- lis’ eiskalten Blick auf die Welt übernah-
ben dem Sofa, die Kälte in dem Appar- nigen wollte und die so frei von literari- men. „Unter Null“ wurde in den Kanon
tement, sogar den Jungen im Unterhemd, schem Ornament war, dass sie keinen der großen Zeitgeistromane einsortiert,
der ins Schlafzimmer huscht. Spielraum für Interpretationen ließ – ob- „Der große Gatsby“ für die zwanziger
Es scheint, als baute Bret Easton Ellis wohl natürlich diese Literatur für die Jahre, „Der Fänger im Roggen“ für die
hier eine Art Geisterbahn für die Jour- meisten Leser nur erträglich wurde, wenn fünfziger, Ellis für die achtziger.
nalisten auf, eine Kulisse, die in Wahrheit man sie interpretierte. Wenn man sie als Nun, in „Imperial Bedrooms“, tauchen
genauso eine Fiktion ist wie sein Roman. Gesellschaftskritik las, die sie nicht war. die von Ellis vor über 25 Jahren erfunde-
„Wir können nun das nen Figuren wieder auf, der Erzähler
Interview mit dem Schrift- Clay, die hübsche Blair, der verzweifelte
steller beginnen“, sagt El- Julian und der Drogendealer Rip, der
lis in seinem Arbeits- aber, wie wir bald erfahren, inzwischen
zimmer. Er sitzt hinter sei- nach einigen Schönheitsoperationen aus-
nem Apple-Rechner, schaut sieht, „als wäre er kurz in ein Säurebad
YouTube-Videos und be- getaucht worden“.
tont das „mit dem Schrift- Sie sind alle 25 Jahre älter geworden,
steller“ fast höhnisch. nicht unbedingt schöner, nicht unbedingt
Seit dem Erscheinen von erwachsener, eher ruchloser, und so ge-
„Unter Null“, Ellis’ Debüt langt „Imperial Bedrooms“ zwangsläufig
von 1985, stellt sich ja bei zu einer moralischen Frage: Können Men-
CINETEXT BILDARCHIV
Ellis die Frage, wie wirk- schen sich ändern? Kann jemand, dem
lichkeitsnah seine erschüt- wie Clay in einer der erschütterndsten
ternden Bücher eigentlich Passagen von „Unter Null“ angesichts der
sind: ob sie als Zeugnis ei- Vergewaltigung einer Zwölfjährigen nicht
ner verrückt gewordenen, Darsteller Downey Jr.*: „Ich habe alle diese Dinge getan“ mehr einfällt, als dass das irgendwie nicht
kranken Zeit zu lesen sind. „recht ist“, sich ändern? Kann er, der sich
Oder ob sie gar das Produkt immer stärker entgrenzte und entfremde-
eines sehr gestörten Ge- te, mit 45 zurückfinden in funktionierende
hirns waren, das sich mühe- menschliche Beziehungen, oder bleibt so
los in einen Psychopathen jemand lebenslang ein Zombie?
hineinversetzt und viel- In „Imperial Bedrooms“ ist der ehema-
leicht sogar gemeingefähr- lige Collegestudent Clay nun ein erfolg-
lich sein könnte. So war es reicher Drehbuchschreiber, er kommt, wie
bei „American Psycho“, als sein Erfinder Ellis, inzwischen selbst 46
Ellis aus der Perspektive und ebenfalls Drehbuchautor, nach eini-
des Wall-Street-Investment- gen düsteren Jahren in New York zurück
bankers und Serienmörders nach Los Angeles. Nach und nach trifft
Patrick Bateman ein in der er, widerwillig, die alten Freunde aus „Un-
Literatur bis dahin unerhör- ter Null“. Keiner hat sich verändert, ab-
tes Maß an gleichermaßen gesehen von ihren operierten Gesichtern.
gleichgültig wie detailge- Clay gönnt sich immer noch zu viele
EVERETT COLLECTION
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom es von hier aus sehen, in dem Hochhaus
Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
in Century City, habe der Vater gewohnt,
nachdem er die Familie mit seiner Wut
Belletristik Sachbücher und seinem Alkoholismus jahrelang ge-
quält und schließlich verlassen hatte. Er
1 (–) Cornelia Funke 1 (1) Thilo Sarrazin erzählt eine Episode von einem Journa-
Reckless – Deutschland schafft sich ab
Steinernes DVA; 22,99 Euro
listen, der ihn in Berlin auf der Toilette
Fleisch sexuell befriedigen wollte, und davon,
2 (3) Natascha Kampusch
Dressler; 19,95 Euro wie er Raymond Chandler las, als er nach
3096 Tage
List; 19,95 Euro
Los Angeles zurückzog, und davon Ver-
Im ersten Band der folgungswahn bekam.
3 (2) Kirsten Heisig
neuen Fantasy-Reihe Das Ende der Geduld Ob irgendetwas davon stimmt? Es ist
landen zwei Jungen Herder; 14,95 Euro nicht auszumachen, Ellis hat seinen Roman
per Zauberspiegel in in die Wirklichkeit hinein verlängert. Wenn
einer Parallelwelt 4 (5) Roger Willemsen
Die Enden der Welt bisher die Frage an Literatur lautete, wie
2 (1) Jussi Adler-Olsen S. Fischer; 22,95 Euro viel wirklich Erlebtes in der Fiktion steckt,
Schändung 5 (4) Stephen Hawking / Leonard hat Ellis den Datenstrom nun in die andere
dtv; 14,90 Euro Mlodinow Der große Entwurf Richtung geöffnet: Wie viel Fiktion steckt
3 (3) Jussi Adler-Olsen Rowohlt; 24,95 Euro in dieser Welt, die wie hier vor uns sehen?
Erbarmen 6 (6) Ulrich Detrois Höllenritt – Zur Verabschiedung sagt der Schrift-
dtv; 14,90 Euro Ein deutscher Hells Angel steller, am nächsten Abend sei vielleicht
4 (2) Jonathan Franzen packt aus Econ; 18 Euro eine gute Party in den Hollywood Hills.
Freiheit 7 (9) Thilo Bode Ob man dahin wolle, er könne das arran-
Rowohlt; 24,95 Euro Die Essensfälscher gieren. Er selbst gehe eigentlich nicht
5 (4) Ildikó von Kürthy S. Fischer; 14,95 Euro
mehr auf Partys. „Ich nehme auch keine
Endlich! 8 (7) Jonathan Safran Foer
Wunderlich; 17,95 Euro
Drogen mehr. Obwohl neulich in London
Tiere essen habe ich wieder ein bisschen …“, doch
6 (5) Tommy Jaud Kiepenheuer & Witsch; 19,95 Euro
Hummeldumm da ist man schon im Fahrstuhl.
9 (8) Margot Käßmann Am nächsten Abend meldet sich tat-
Scherz; 13,95 Euro In der Mitte des Lebens
7 (–) Derek Landy Herder; 16,95 Euro sächlich eine Halbjapanerin „im Auftrag
Skulduggery Pleasant – 10 (10) Eckart von Hirschhausen
von Bret Ellis“, wie sie sagt, und schickt
Sabotage im Sanktuarium Glück kommt selten allein … eine Adresse: Blue Jay Way heißt die
Loewe; 16,90 Euro Rowohlt; 18,90 Euro Straße. Auch diese Adresse kommt einem
8 (6) Ferdinand von Schirach 11 (–) Peer Steinbrück bekannt vor. George Harrison hat vor
Schuld Piper; 17,95 Euro Unterm Strich über 40 Jahren dort einige Zeit verbracht
9 (7) Bernhard Schlink Hoffmann und Campe; und ein Lied der Beatles nach dieser Stra-
Sommerlügen 23 Euro ße benannt, sie ist kaum zu finden, eng,
Diogenes; 19,90 Euro kurz und verschlängelt liegt sie in den
10 (10) Isabel Allende Hügeln von Hollywood.
Die Insel unter dem Meer Man muss klingeln, vor der Tür ist es
Suhrkamp; 24,90 Euro Der Ex-Finanzminister
über die dramatischen
dunkel. Das Haus ist ein U-förmiger Bun-
11 (11) Janne Teller galow mit Swimmingpool, die offene
Nichts – Was im Leben wichtig ist Tage der Bankenkrise
Hanser; 12,90 Euro
und die Fehler der SPD Seite gewährt den Blick über die ver-
schwommenen Lichter von Los Angeles.
12 (–) Joy Fielding 12 (12) Richard David Precht
Das Verhängnis Wer bin ich – und wenn ja, Es ist tatsächlich das Haus, in dem George
Goldmann; 19,99 Euro wie viele? Goldmann; 14,95 Euro Harrison „Blue Jay Way“ geschrieben
13 (9) Karin Slaughter 13 (20) Claude Lanzmann hat, heute gehört es angeblich der Schau-
Entsetzen Der patagonische Hase spielerin Charlize Theron.
Blanvalet; 19,99 Euro Rowohlt; 24,95 Euro Er hüte ein, sagt der Gastgeber, ein gut-
14 (13) Justin Cronin 14 (14) Roman Maria Koidl Scheißkerle aufgepumpter, gutgebräunter, gutbetrun-
Der Übergang Hoffmann und Campe; 17 Euro kener Mann Ende zwanzig. Gerade sind
Goldmann; 22,95 Euro
15 (11) Michael Mittermeier ein paar Russinnen einmarschiert. Ellis ist
15 (16) Stephenie Meyer Achtung Baby! nicht da, obwohl er eigentlich mitnotieren
Bis(s) zum Ende der Nacht Kiepenheuer & Witsch; 14,95 Euro müsste, was diese Amerikaner hier, die
Carlsen; 24,90 Euro
16 (13) Julia Heilmann / Thomas meisten Mitte zwanzig, großgeworden auf
16 (15) Stephenie Meyer Lindemann Kinderkacke – Internaten in Gstaad und seitdem in Lan-
Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl Das ehrliche Elternbuch geweile erstarrt, so alles sagen. Bret wolle
Carlsen; 15,90 Euro Hoffmann und Campe; 15 Euro
ja noch kommen, sagt der Gastgeber.
17 (20) John Grisham 17 (–) Hannes Jaenicke Ein Nebel liege über Los Angeles, heißt
Das Gesetz Wut allein reicht nicht es in dem Beatles-Song, den Harrison hier
Heyne; 19,99 Euro Gütersloher Verlagshaus; 22,95 Euro
oben geschrieben hat, und die Freunde,
18 (19) Leonie Swann 18 (19) Manfred Lütz die er erwartet, sie haben sich verirrt in
Garou – Ein Schaf-Thriller Irre! Wir behandeln die Falschen
Goldmann; 19,95 Euro Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro den Bergen und im Nebel, und irgend-
wann im Laufe des Abends, im Nebel
19 (8) Ferdinand von Schirach 19 (17) Barbara Pachl-Eberhart
Verbrechen Vier minus drei und in den Bergen, ist es für Harrison
Piper; 16,95 Euro Integral; 19,95 Euro nicht mehr auszumachen, was noch wirk-
20 (–) Herman Koch 20 (18) Helmut Schmidt / Fritz Stern lich ist und was ausgedacht.
Angerichtet Unser Jahrhundert Bret Easton Ellis ist natürlich nicht ge-
Kiepenheuer & Witsch; 19,95 Euro C. H. Beck; 21,95 Euro kommen. PHILIPP OEHMKE
182 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
STEPHANE DUROY / AGENCE VU / LAIF
Grenzöffnung am Potsdamer Platz am 12. November 1989
gerade überwunden, hatte ich das Gefühl, Geschäftsessen waren für mich ein Hor-
die nächste sei im Anmarsch. Ich hatte das ror. Mein erstes wichtiges Geschäftsessen
Gefühl, etwas verteidigen zu müssen. Ich fand in Hamburg statt. Es ging um mei-
hatte nie ja zu diesem Land gesagt, aber nen ersten Vertrag bei einem West-Blatt,
jetzt tat ich es trotzig und vergebens. dem „Deutschen Allgemeinen Sonntags-
Der Westen bekam nun ein ganz ande- blatt“. Das Problem begann mit der Fra-
res Gesicht. Er war nicht mehr der nette ge, ob ich eine bestimmte Küche bevor-
Onkel, der abends wieder geht. Der Wes- zuge. Warme, lautete die Antwort. Hei-
ten richtete sich ein bei uns. Kohl war terkeit. Wie süß, der Wilde. Die Herren
nicht anders als der Besucher mit dem wurden in dem Lokal, das sie längst aus-
Fünf-DM-Stück. Im Sommer 1990, als alle gesucht hatten, mit Namen begrüßt. Ich
durch die Welt reisten, verkroch ich mich sei aus dem Osten, wurde einem Kellner
in den östlichsten Teil des Ostens, in ein erklärt. Ich wusste nicht wohin mit mei-
Haus an der Oder, und war gespannt, ob nen Händen in dem Lokal, ich wusste
es die West-Mark auch in den letzten Win- nicht, was ich bestellen sollte. Ich wusste
kel der DDR schaffen würde. Sie schaffte nicht, wie viel man so verdient. Alle
es. Die West-Mark traf Versuche, West-Kolle-
ein, DDR-Produkte wan- gen die Höhe ihres Ge-
derten in den Müll, über- halts zu entlocken, wa-
all klebten O-Frische- ren gescheitert, auch
Bohne-Aufkleber. Unser wenn ich ihnen vorher
Wirt stand vor der leeren sagte, wie viel ich in der
Schenke. Er hatte den So- DDR verdient hatte.
zialismus überlebt, aber Ich musste Stunden
jetzt mutierten seine durchhalten und mir
Alkis zu Heimtrinkern, Fragen anhören, die nur
sie tranken Büchsenbier einen Schluss zuließen:
und nicht sein teures Ge- Die wussten nix von uns.
zapftes. Mit der D-Mark Ich hatte immer gen Wes-
erreichten uns neue Wör- ten geblickt, die leider
ter, die wir nicht kann- auch. Ich hatte das Ge-
ten, Ungetüme wie „Ar- fühl, ihnen beweisen zu
beitsamt“, „Kurzarbeit müssen, dass ich Dusch-
null“, „Rechtsnachfol- 1974: Kind Stefan mit West- von Telefonzellen unter-
ger“, „Buschzulage“. Wir Onkel und Mutter in Ost-Berlin scheiden kann. In der
saßen da und überlegten, Straße, in der ich über-
woran wir uns noch zu nachtete, standen teure
gewöhnen hatten. Autos. Mit meinem Lada
Freiheit und Fremd- stand ich zwischen Por-
heit waren ein Bündnis sche und Mercedes. Mein
eingegangen. Die Frei- Auto war laut und stank.
heit hatten wir uns ein- Die Leute schauten, als
facher vorgestellt. Wir wären die Russen ein-
dachten an freies Reisen marschiert. Die Fahrt hat-
und freies Reden. Aber te sich dennoch gelohnt.
wir hatten nicht damit 4100 DM. Im Monat. Das
gerechnet, dass so vieles war unfassbar.
anders werden würde. Ein ganz normaler
Unser Leben verkompli- Kollege sein, das ging
zierte sich. nicht. Ich wurde befragt
Besuche in Gaststät- zur Spezies der Ost-
ROL F ZOE LLN ER
D
as Scheitern ist der Beginn. Henry, rischen Wissen brauchen wir auch das Schrecken erzählt werden kann, der ihres-
ein sehr erfolgreicher Schriftstel- Verständnis, das die Kunst liefert. Ge- gleichen zugestoßen ist. Von gewisserma-
ler, hat fünf Jahre an seinem drit- schichten bieten Identifikation, sie halten ßen willkürlicher Quälerei, von industriel-
ten Romanprojekt laboriert, und nun tau- Gruppen zusammen, sie geben einer Sa- ler Schlachtung, von Ausbeutung, von bei-
melt er durch den Hyde Park: In einem che Bedeutung.“ läufiger wie planmäßiger Ausrottung.
Londoner Nobelrestaurant wurde ihm Die tatsächlichen Opfer, von wenigen Die Dialoge der Tiere sind Martels in
gerade unmissverständlich bedeutet, dass Ausnahmen abgesehen, sind ohnehin jedem Sinne fabelhafte Antwort auf die
sein tolles neues Manuskript niemanden sprachlos geworden; das Trauma hat sie von ihm aufgeworfene Frage, wie das
überzeugt, weder die geladenen Gäste überwältigt. Sind dann nicht gerade Au- künstlerische Tabu zu umgehen sei, das
und erst recht nicht seine Verleger. Die toren wie er, Henry, berufen, dieses Tabu auf dem Thema Holocaust liegt – in
Vorkoster spucken zurück. zu brechen? Gerade weil er nicht einmal Deutschland heftig diskutiert anlässlich
Der Kanadier Yann Martel, 2002 be- Jude ist, gerade weil er nicht traumatisiert, Roberto Begninis Film „Das Leben ist
rühmt geworden durch seine Parabel sondern seelisch lebendig ist und sich so schön“ und des Comics „Maus“ von Art
„Schiffbruch mit Tiger“, er- Spiegelman. Verbietet die
zählt seinen neuen Roman, Würde der Opfer, wie bei-
als wäre er ihm selber gesche- spielsweise der Filmemacher
hen: leicht und unprätentiös, („Shoah“) und Autor Claude
direkt und gewissermaßen Lanzmann meint, eine fiktio-
von Herz zu Herz. Und er nale Bearbeitung des Ge-
hält sich auch in „Ein Hemd schehens, eine – horribile
des 20. Jahrhunderts“ (im Ori- dictu – nachträgliche „Emo-
ginal: „Beatrice and Virgil“) tionalisierung“ des Absolu-
an mindestens zwei weitere ten? Oder sind Unterneh-
seiner Erfolgsrezepte. An das men wie die Fernsehserie
Gesetz der glücklichen Fabel, „Holocaust“ nicht einfach
PAUL HACKETT / EYEVINE / PICTURE PRESS
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Trends Medien
S TA R S
ter Tamm (Axel-Springer-Verlagschef) schen Merkur“ im „Zeit“-De- uns darum, den Beweis anzu-
oder Claus Larass („Bild“-Chefredak- sign – gegen einen geringen treten, dass für die Stärken, die
teur). Wann genau Kilz nach 14 Jahren Aufpreis von ein paar Euro das Blatt hat, noch Platz ist
die „Süddeutsche“ verlässt, steht noch im Jahr. Die Beilage wird das und der Geist des „Rheinischen
nicht fest. Beste aus der Tradition des Di Lorenzo Merkur“ überleben kann.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 189
Medien
INTERNET
sind. Wegen des hohen Drucks, den wir 77 000 geheimen Meldungen
seit der Veröffentlichung der amerikani- des US-Militärs aus dem Afgha-
schen Militärdokumente haben, sind wir nistan-Krieg zusammen mit dem
nicht dazu gekommen, die Organisation SPIEGEL, dem „Guardian“ und
entsprechend umzubauen. Das führt Domscheit-Berg alias Schmitt der „New York Times“.
dazu, dass nicht alle Arbeiten richtig er-
ledigt werden. Das alles überfordert das
Projekt. Schmitt: Wir alle hatten in den letzten Mo- aber offenbar als Angriff auf seine Rolle
SPIEGEL: Ist das Ihre Auffassung, oder se- naten wahnsinnigen Stress. Es sind Fehler gesehen.
hen das alle Beteiligten so? passiert, was in Ordnung ist, solange man SPIEGEL: Wie geht es nun weiter?
Schmitt: Das ist einer der internen Streit- daraus lernt. Dafür muss man sie sich Schmitt: Ich habe an WikiLeaks gearbei-
punkte, aber es gibt weitere. WikiLeaks aber eingestehen. Vor allem scheint das tet, weil ich die Idee für richtig und wich-
war beispielsweise immer diskriminie- Vertrauen verlorengegangen zu sein, dass tig halte. Wir haben mehrfach versucht,
rungsfrei. Wir haben kleinere Einsendun- wir an einem Strang ziehen. mit Julian über all die angesprochenen
gen, die nur lokal wichtig waren, immer SPIEGEL: Assange selbst sagt, Sie hätten Fragen zu reden, ohne Erfolg. Ich habe
genauso bearbeitet und veröffentlicht wie die Machtfrage gestellt und die Führung mehr als hundert Interviews für Medien
umfangreiche Dokumente, die national von WikiLeaks übernehmen wollen. in aller Welt gegeben, die Finanzen in
oder sogar international wichtig sind. Schmitt: Aus meiner Sicht war es kein Deutschland koordiniert und an Veröf-
SPIEGEL: Warum machen Sie nicht beides? Machtkampf, es ging nicht um persönli- fentlichungen mitgearbeitet. Jetzt ziehe
Schmitt: Das hätten wir gern getan, aber che Interessen, sondern um unsere Orga- ich mich aus dem Projekt zurück und
leider sind wir in einer Sackgasse. Ich nisation und deren Weiterentwicklung. übergebe meine Aufgaben – an wen auch
habe mehrfach versucht, das anzustoßen, Warum er das anders sieht, weiß nur er immer.
aber Julian Assange hat auf jede Kritik selbst. SPIEGEL: Wen meinen Sie, wenn Sie von
mit dem Vorwurf reagiert, ich würde ihm SPIEGEL: Immerhin haben Sie ihm dazu „wir“ reden?
den Gehorsam verweigern und dem geraten, sich wegen der Vergewaltigungs- Schmitt: Eine Handvoll der Leute aus dem
Projekt gegenüber illoyal sein. Vor vier vorwürfe, die gegen ihn in Schweden er- Kernteam, die die Dinge ähnlich sehen
Wochen hat er mich suspendiert – als An- hoben werden, zeitweise aus der Öffent- wie ich, aber nicht öffentlich in Erschei-
kläger, Richter und Henker in einer Per- lichkeit zurückzuziehen. nung treten wollen. Ein Großteil der Ar-
son. Seither habe ich beispielsweise kei- Schmitt: Die Ermittlungen gegen Julian beit wird von Menschen gemacht, die un-
nen Zugriff mehr auf meine WikiLeaks- in Schweden sind aus meiner Sicht ein genannt bleiben möchten. Da gibt es eine
Mail. Damit bleibt viel Arbeit liegen, persönlicher Angriff auf ihn, aber sie ha- Menge Unmut, und einige werden wie
andere Helfer werden blockiert. Ich weiß, ben nichts mit WikiLeaks direkt zu tun. ich aussteigen.
dass niemand aus unserem Kernteam da- Das alles kostet ihn Zeit und Energie und SPIEGEL: Sie verlassen das Projekt in einer
mit einverstanden war. Aber das scheint setzt ihm zu. Aus meiner Sicht wäre es kritischen Phase. Müssen Sie nicht be-
keine Rolle zu spielen. WikiLeaks hat ein das Beste gewesen, er hätte sich ein Stück fürchten, dass Ihnen viele Internetakti-
strukturelles Problem. Für mich ist das zurückgenommen, um diese privaten visten Verrat an der Sache vorwerfen
nicht länger zu verantworten, deshalb Probleme in Ruhe zu klären. Es hätte werden?
verlasse ich das Projekt. nichts dagegen gesprochen, wenn er im Schmitt: Das ist mir bewusst, und Sie kön-
SPIEGEL: Warum ist Ihr Streit mit Assange Hintergrund normal weitergearbeitet nen davon ausgehen, dass ich mir den
so eskaliert? hätte. Er hat meinen internen Vorschlag Schritt lange und gut überlegt habe. Im-
190 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
REX FEATURES / ACTION PRESS
WikiLeaks-Gründer Assange*: „Er hat meinen Vorschlag als Angriff auf seine Rolle gesehen“
merhin habe ich in den letzten Jahren nistan-Berichte, auch durch den SPIE- ten sind, und ich bin zuversichtlich, dass
sehr viel Zeit, Geld und Energie in Wiki- GEL, haben Sie sich mit der Weltmacht es überlebt.
Leaks gesteckt. Aber ich muss das, wofür USA angelegt. Washington droht Ihnen SPIEGEL: Müssen Ihre Informanten um ihr
ich öffentlich einstehe, auch vertreten mit einer Strafverfolgung wegen Spiona- Material bangen, wenn nun ein Teil der
können. Deshalb bleibt mir momentan ge, WikiLeaks-Unterstützer sind vom FBI WikiLeaks-Mannschaft aussteigt?
nur der geordnete Rückzug. vernommen worden. Bradley Manning, Schmitt: Aus meiner Sicht sollten Material
SPIEGEL: Was genau wollen Sie nicht mehr einer Ihrer angeblichen Informanten, sitzt und alle Spendengelder bei WikiLeaks
vertreten? im Gefängnis. Fürchten Sie den großen bleiben, denn beides ist explizit diesem
Schmitt: Wir versprechen beispielsweise öffentlichen Druck? Projekt zugeflossen. Es gibt da intern
allen unseren Quellen, ihr Material zu Schmitt: Nein, externer Druck gehört auch andere Meinungen, etwa bei unse-
publizieren. Zuletzt haben wir uns aller- dazu. Aber diese eindimensionale Kon- ren Technikern. Wir werden aber auf je-
dings nur auf die großen Themen kon- frontation mit den USA ist nicht das, wo- den Fall sicherstellen, dass eine saubere
zentriert und praktisch alle Ressourcen für wir angetreten sind. Es ging uns im- Übergabe stattfindet.
darauf verwendet, zum Beispiel auf die mer darum, Korruption und Missbrauch SPIEGEL: Sie haben für WikiLeaks Ihren
Afghanistan-Dokumente der US-Armee von Macht aufzudecken, wo auch immer Job geschmissen. Wie geht es für Sie
Ende Juli. Das Video des Luftangriffs in sie stattfinden, im Kleinen wie im Gro- weiter?
Bagdad aus dem Jahr 2007, „Collateral ßen, auf der ganzen Welt. Schmitt: Ich werde weiter meinen Teil
Murder“, war ein extremer Kraftakt für SPIEGEL: Was bedeutet es für die Organi- dazu beitragen, dass die Idee einer de-
uns. In derselben Zeit hätten wir Dutzen- sation, wenn sich das nach Assange be- zentralen Enthüllungsplattform nicht
de anderer Dokumente ver- kannteste Gesicht auf diese untergeht. Daran werde ich jetzt arbeiten.
öffentlichen können. Und Weise verabschiedet? Ist die Es enspricht im Übrigen einer unserer
durch unsere gestiegene Be- Zukunft von WikiLeaks ge- früheren gemeinsamen Überzeugungen:
kanntheit ist im letzten hal- fährdet? Am Ende muss es tausend WikiLeaks
ben Jahr noch einmal sehr Schmitt: Das hoffe ich nicht. geben.
viel Material hinzugekom- Dafür ist WikiLeaks eine zu SPIEGEL: Sie haben sich als Sprecher von
men, das dringend bearbeitet wichtige Idee. Es gibt eine WikiLeaks immer „Daniel Schmitt“ ge-
und publiziert werden müsste. ganze Reihe neuer Leute in nannt. Wie heißen Sie wirklich?
SPIEGEL: Durch die Veröffent- Schweden und Großbritan- Schmitt: Es ist wohl an der Zeit, auch da-
lichung der geheimen Afgha- nien, und ich hoffe, dass sie mit aufzuhören und öffentlich mit mei-
alle an etwas Sinnvollem ar- nem Namen zu meiner Meinung zu ste-
* Am 26. Juli in London nach der Veröf- beiten. Ich glaube an dieses hen. Ich heiße Daniel Domscheit-Berg.
fentlichung der Afghanistan-Dokumente. SPIEGEL 30/2010 Konzept, für das wir angetre- INTERVIEW: MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 191
Impressum Service
Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg
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Fax 97126820 die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mail-
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