Sie sind auf Seite 1von 156

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Aleppo, SPIEGEL GESCHICHTE, KulturSPIEGEL

V or einem Jahr scheiterten


die Verhandlungen über ein
Assoziierungsabkommen der
Europäischen Union mit der
Ukraine, das beim „Gipfel der
Östlichen Partnerschaft“ in Vil-
nius unterzeichnet werden soll-
te. Zur gleichen Zeit begannen
die Demonstrationen am Mai-
dan. Es war der Moment, der
einen neuen Kalten Krieg zwi-
Füle, Schult in Prag
schen Russland und dem Wes-
ten auslöste. Drei Monate lang
hat ein SPIEGEL-Team um Christiane Hoffmann und Marc Hujer die Ursachen
des Scheiterns der Verhandlungen rekonstruiert. Sie sprachen mit Politikern,
Beamten, Verhandlungsführern. Die SPIEGEL-Redakteure Christoph Schult und
Gregor Peter Schmitz recherchierten in Warschau, Brüssel und Wien, Ralf Neu-
kirch war in Berlin, Kiew, London und Washington, Matthias Schepp in Moskau.
In Prag traf Schult einen der intimsten Kenner des Geschehens, den ehemaligen
EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Entstanden ist so das Protokoll „eines
diplomatischen Versagens, von Großmannssucht, verletzten Eitelkeiten, Ignoranz
und schicksalhaften Missverständnissen“, wie Hoffmann sagt. Seite 26

D ie Kinder auf dem letzten Spielplatz von Salahuddin, einem Stadtviertel


der verwüsteten syrischen Stadt Aleppo, spielen gleichsam im Auge des
Sturms: in der Mitte des großen Sterbens, in Schussweite der Front, aber gerade
deswegen geschützt vor den ungenauen Fassbomben. Sie rutschen, schaukeln,
spielen als Rebellen und Solda-
ten den Krieg nach, der sie um-
gibt. Weil dies ein verhältnis-
mäßig sicherer Ort ist, wird der
Spielplatz zugleich zum Fried-
hof, Opfer des Krieges werden
hier beerdigt. Und so spielen
dann Kinder neben den Grä-
bern ihrer Verwandten. SPIEGEL-
Reporter Christoph Reuter war Reuter (3. v. r.) in Aleppo
dort. Seite 104
FOTOS: JAWAD QURABI / DER SPIEGEL (U.); WERNER SCHÜRING/DER SPIEGEL (O.)

I n der neuen Ausgabe „Die Bibel – Das mächtigste Buch der Welt“ geht
SPIEGEL GESCHICHTE auf Erkundungsreise in die antike Welt der Israeliten
und der frühen Christen. Die Autoren beschreiben zudem die Macht der Bibel
im Mittelalter und das epochale Übersetzungswerk Martin Luthers. Und sie
folgen Textforschern und Archäologen, die letzte Ge-
heimnisse der Bibel zu enträtseln versuchen. Das Heft,
auch digital, ist ab Dienstag im Handel.
Der KulturSPIEGEL, der nur der Inlandsauflage des
SPIEGEL beiliegt, widmet sich einem neuen kulinarischen
Trend: Slow Fast Food. Es sind vor allem junge Ausstei-
ger, die in Buden und Foodtrucks anspruchsvolles „Essen
auf die Hand“ kochen: handgemachte Käsespätzle, Pasty
aus England, vegane Whoopies. Die Redaktion hat den
Koch und Food-Blogger Stevan Paul zu diesem Phäno-
men befragt. Und sie hat 24 Schnellgerichte getestet.

DER SPIEGEL 48 / 2014 5


Tödliches
Missverständnis
Außenpolitik Vor einem Jahr
scheiterte beim Gipfel von Vil-
nius der Versuch der EU, die

FOTOS V.L.N.R.: ARTURAS MOROZOVAS / ARTURAS MOROZOVAS/EST&OST; THOMAS KERN / DER SPIEGEL; CHRIS BUCK / DER SPIEGEL; SCOTT MCDERMOTT / CORBIS OUTLINE; BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL; KLAUS FREVERT/BOXFOTOGRAF.DE; ALEX KRAUS/LAIF
Ukraine enger an den Westen
zu binden. Die Europäer hatten
den Willen Putins unterschätzt,
seine Macht über den Nach-
barn mit allen Mitteln zu vertei-
digen. Das löste eine Kettenre-
aktion aus, die die europäische
Ordnung zerstörte. Seite 26

Der Preis
eines Traums
Boxen Der Stuttgarter Alexan-
der Mengis wollte unbedingt
Profiboxer werden, reich und
berühmt. Bei seinem fünften
Kampf, im Mai 2013, ging er
schwer k.o. Heute ist Mengis
ein Pflegefall. Seine Geschichte
zeigt, wie gnadenlos es dort
zugeht, wo junge Männer
für eine Handvoll Euro alles
riskieren. Seite 112

Knechtschaft im
21. Jahrhundert
Arbeitsmarkt Seit 2008 hat
sich in Deutschland die
Zahl der Beschäftigten im
untersten Lohnsegment
drastisch erhöht. 1,7 Millio-
nen Menschen arbeiten für
Auf großer Fahrt ins Gestern
weniger als fünf Euro pro Freizeit Sie hieß „Stockholm“, „Völkerfreundschaft“, „Italia“. Un-
Stunde. Skrupellose Arbeit- ter DDR-Flagge durchbrach sie die Kuba-Blockade, sie versenkte
geber setzen auf die Hunger- die „Andrea Doria“ im Atlantik – und befährt seit 70 Jahren als
löhne – und können auch stolzes Kreuzfahrtschiff die Meere. „Azores“ heißt sie heute, und
den Mindestlohn problemlos wer mit ihr auf Reisen geht, bekommt zwar kein Captain’s Din-
umgehen. Seite 74 ner mehr, aber ein Gefühl für den Gang der Geschichte. Seite 50

6 Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Fotos Jens Knappe / 360-Berlin, Edgar Su / Reuters, DPA, Itar-Tass / Bilderberg
In diesem Heft

Titel Medien
22 Europa Der Konflikt mit Russland zeigt die 85 Putin-Interviewer Hubert Seipel über
Risse in der Berliner Regierung seine umstrittene Fragetechnik / Frisch-
24 Russland-Krise Außenminister Frank-Walter zellenkur für den „Musikantenstadl“
Steinmeier verteidigt seinen Kurs 86 Internet Das französische Start-up Qwant
26 Außenpolitik Wie diplomatisches Versagen greift den US-Giganten Google in dessen
zum Krieg in der Ukraine führte Kerngeschäft an
34 Zeitgeschichte Gorbatschows jüngste Volte
in der Frage der Nato-Osterweiterung Ausland
90 Neue IS-Allianz in Pakistan / Occupy-
Deutschland Central-Gründer Benny Tai
über die Proteste in Hongkong
16 Leitartikel Fracking für das Zeitalter
92 Migration Wie Schlepper dank der
des Ökostroms gescheiterten EU-Flüchtlingspolitik
18 Russland kauft Spionin frei / Gabriel Milliarden verdienen Nawal Soufi,
legt sich mit Kraftwerksbetreibern an / 98 Essay Die unvermeidliche Eskalation
Komplettumbau beim ADAC / Kolumne: zwischen Israelis und Palästinensern Flüchtlingshelferin in Italien,
Im Zweifel links hat sich der Sache der
100 Europäische Union Der polnische
36 Geheimdienste SPD-Fraktionschef Ex-Premier Donald Tusk übernimmt Syrer verschrieben. Die
Thomas Oppermann beklagt im SPIEGEL- als erster Osteuropäer ein Spitzenamt 26-jährige Studentin kämpft
Gespräch das kollektive Versagen in Brüssel
der deutschen Sicherheitsbehörden gegen die Menschenhändler,
104 Syrien Der Kinderspielplatz von Aleppo die das milliardenschwere
39 Reformen Vizekanzler Gabriel 110 Global Village Ein Imbiss in Pittsburgh
plant ein gemeinsames Projekt mit Fluchthilfe-Business steuern.
serviert Gerichte aus Staaten, die mit den
den Sozialisten in Paris USA im Konflikt stehen Seite 92
40 Kommentar Der Niedergang der einstigen
Volkspartei SPD Sport
42 Justiz Das intransparente Geschacher
um die Richter-Jobs 111 Der Fotograf Pawel Wolkow über seine
44 Asyl Erpresst die muslimische Glaubens-
Erfahrungen mit russischen Hooligans /
gemeinschaft Ahmadiyya Flüchtlinge? Lässt Qatar Airways Sponsoren-
verhandlungen mit der Fifa platzen?
46 Kinderpornografie Die Anklage gegen den
112 Boxen K.o., Koma, Pflegefall – die
Ex-SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy tragische Geschichte des Alexander Mengis
47 Wohlfahrt Es gibt zu viele Kleiderspenden
in Deutschland
Kultur
Gesellschaft 118 Wie hässlich war Mozart? / Schlingensief-
Witwe über das Operndorf in Burkina
48 Sechserpack: Der deutsche Fernseher wird Faso / Kolumne: Besser weiß ich es nicht
museal / Alle müssen raus bei Kaufland 120 Autoren SPIEGEL-Gespräch mit dem
49 Eine Meldung und ihre Geschichte Wie Adolf US-Schriftsteller Jonathan Franzen über Jonathan Franzen,
Hitler auf die Schweizer Kaffeesahne kam die deutschen Wurzeln seiner Literatur
50 Freizeit Das alte Kreuzfahrtschiff „Azores“ 124 Geschichte Zwei Historiker erzählen vom gefeierter US-Schriftsteller,
erzählt wilde Geschichten von der Kuba- Anfang und vom Ende des Ostblocks empfing in seiner New Yorker
Krise und dem Sinken der „Andrea Doria“ 127 Restitution Gurlitts Sammlung geht in Wohnung zum SPIEGEL-Ge-
56 Hauptstadt Berlins Bürgermeister Klaus die Schweiz spräch: „Durch deutschspra-
Wowereit im SPIEGEL-Gespräch über 130 Kino Ein Dokumentarfilm über den
seinen nahenden Abschied aus der Politik chige Autoren konnte ich erst
Sohn eines Hamas-Führers, der zum
59 Homestory In Guangdong haben Verräter wurde zu dem Schriftsteller werden,
chinesische Baumeister das Alpendorf 134 Pop Alterserkenntnisse des Sängers der ich bin.“ Seite 120
Hallstatt nachgebaut Bryan Ferry
137 Musikkritik Frauenliebling, Leidensmann –
Wirtschaft das neue Album des Iren Damien Rice
60 Politiker verteidigen Negativzinsen /
Mehr Ausnahmen beim Mindestlohn? / Wissenschaft
KfW setzt umstrittene Finanzierung 138 Überdiagnose schadet Kindern / Im Inter-
von Kohlekraftwerken fort net boomt der Handel mit bedrohten Arten
62 Konzerne Siemens-Chef Joe Kaeser 140 Seuchen Im Kampf gegen Ebola sollen
muss seine Macht mit Belegschafts- und schon bald erste Impfstoffe und
Gewerkschaftsvertretern teilen Medikamente zum Einsatz kommen
66 Handel Wie sich ein kleiner Importeur 144 Verkehr SPIEGEL-Gespräch mit dem
gegen die Methoden von Amazon wehrt Tesla-Chef Elon Musk über selbst-
68 Kriminalität Betrügerbanden hacken sich fahrende Autos und Ökowagen für den
in den E-Mail-Verkehr von Firmen ein Massenmarkt
70 Biolebensmittel Ein Hühnerbaron 147 Bildung Wie sich Schüler für Informatik
beschäftigt Ermittler und Kontrolleure begeistern lassen Mosab Hassan Yousef,
72 Europa Interview mit EU-Kommissarin 149 Evolution Die Waffen der Tiere – warum Sohn eines Palästinenser-
Margrethe Vestager über den Wettbewerb gibt es so monströse Hörner und Geweihe?
Führers, arbeitete als Agent
auf dem Telekommunikationsmarkt für den israelischen Geheim-
74 Arbeitsmarkt Wie die Beschäftigung 10 Briefe
133 Bestseller dienst und führte jahrelang
von Hungerlöhnern die deutsche Wirt-
schaft stützt 150 Impressum / Leserservice ein Doppelleben. Doch er
Wegweiser für
82 Nahrungsmittel Ölpanscher und Betrüger 151 Nachrufe Informanten:
sieht sich nicht als Verräter,
profitieren von der schlechten Olivenernte 152 Personalien www.spiegel.de/ sondern als Vorkämpfer der
in Italien 154 Hohlspiegel / Rückspiegel briefkasten Versöhnung. Seite 130

Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 48 / 2014 7
Briefe

„Der Islam gehöre zu Deutschland, sagte einmal


Christian Wulff, aber keine Toleranz den Intoleranten,
hätte er besser ergänzen sollen.“
Rüdiger Lüttge, Gielsdorf Stadt Altlandsberg (Brandenburg)

Ein Leben im Abseits Wie entsteht Feindseligkeit? Diese Frage


wird nicht beantwortet. Feindseligkeit
Die Häme spricht Bände
Nr. 47/2014 Der Dschihad-Kult: Warum deutsche dient der Identitätsbildung. Während „ich“ Nr. 46/2014 Jakob-Augstein-Kolumne: Zerrissenes Land
Jugendliche in den „heiligen Krieg“ ziehen
und „wir“ der Unterscheidung von „an- Eigentlich sollten Sie, Herr Augstein, als
Auffallend ist, dass auf allen ersichtlichen deren“ bedarf, lässt sich beides durch 1967 Geborener, in einem sehr politischen
Bildern über den Terror „im Namen Al- „Feinde“ noch ins Rauschhafte steigern. Haushalt informationsprivilegiert Aufge-
lahs“ ausschließlich Männer zu sehen sind. Dr. Jens Lipski, München wachsener, eher Rührung darüber empfin-
Testosteron kann in die falschen Kanäle den, dass da ein alter Mensch spricht, der
geleitet werden, weil Langeweile und Per- Ein Leben ohne Heimat ist ein Leben ohne nie gebrochen wurde und noch immer an
spektivlosigkeit eine vielversprechende Zugehörigkeitsgefühl – ein Leben im Ab- die Wahrheit, die nur allzu schnell abhan-
Aussicht bekommen: Die Chance, doch seits mit immerwährendem Drang, dieses denkommt, erinnert. Beleidigen Sie bitte
noch ein Held zu werden, wird jenseits Unwohlsein abzustellen. Ausgrenzung und nicht diesen Menschen, der daran erinnert,
von Ballerspielen in eine realistische Nähe Beschneidung persönlicher Entfaltung ver- welch hohen Preis Abertausende Men-
gerückt. hindern echte Heimatgefühle und sind, wie schen für ihren Kampf um Freiheit und
Sabine Krüger, Essen sich jetzt durch IS zeigt, leider mehr als Gerechtigkeit bezahlt haben. Die Linke
nur eine Misere der Kinder von Migranten. muss mit der Geschichte leben und umge-
Was Jugendliche zu Islamisten werden Rüdiger Reupke, Isenbüttel (Nieders.) hen, sie hat nie bei null angefangen.
lässt, ist eine bundesdeutsche Gesellschaft, Heyke Feigl, Nürnberg
die allzu permissiv Koran-Verteilaktionen,
nächtliche Scharia-Fußstreifen, Moschee-
Der Nektar des anderen Herr Augstein, Sie erweisen den Opfern
bau und Christenhass hinnimmt. Dieselbe Nr. 46/2014 Staatsoberhaupt: Wie Joachim Gauck die der DDR-Diktatur keinen guten Dienst, in-
Macht der Kanzlerin zementiert
übrigens, die jede noch so leise Kritik am dem Sie sich über ihre Kritiker erheben.
Auftreten der deutschen Islamisten-Schi- Vielleicht sollte Gauck sehen, dass es nicht Ernst Josef Lauscher, Berlin
ckeria sofort als Rassismus, Ausländer- reicht, über Freiheit zu predigen, sondern
feindlichkeit und Islamhass abstempelt. diesen Begriff auch mal akzeptieren. Die Unseren Bundespräsidenten derartig an-
Tim Schreiber, Göttingen Entscheidung in Thüringen wurde von den zugreifen, wie Augstein es tut, ist unver-
Wählern in einem demokratischen Akt ge- schämt und falsch.
Der Titel ist sehr informativ und versucht troffen. Selbstverständlich kann unser Prä- Dr. Elmar Habenicht, Wittenberge
mit Fallbeispielen zu betonen, dass es nicht sident als Privatperson sich zu allem äu-
den typischen Islamisten gibt, sondern ßern. Herr Gauck, ich möchte mit einem Ich danke Augstein für die klaren Worte
Menschen aus allen sozialen Milieus von Ihrer eigenen Zitate, abgewandelt, antwor- zu Gauck und Biermann. Wie verblendet
Anhängern des IS rekrutiert werden kön- ten: „Wir respektieren Sie, aber wir kön- muss man sein, um sich solche Beschimp-
nen. Ebenso wichtig ist es aber zu betonen, nen Sie nicht richtig erkennen.“ fungen des mündigen Bürgers zu erlauben.
dass sich die überwältigende Mehrheit der Arno Schimmel, Berlin Die Häme aus dem konservativen Spek-
Muslime deutlich von IS und anderen isla- trum spricht Bände und lässt die weiterhin
mistischen Strömungen distanziert. Facetten- und nuancenreich ausgeleuchtet, bestehende Teilung des Landes – nicht nur
Lisa Fey, Kleinmachnow (Brandenb.) dieses symbiotische Verhältnis von Kanz- zwischen Ost und West, sondern zwischen
lerin und Präsident. Das Bild vom Gehilfen konservativ und sozialliberal/sozialistisch
Diese jugendlich-naiven Möchtegern-Dschi- insinuiert allerdings nur einseitig den be- – offenkundig werden.
hadisten werden vermutlich erst zur Besin- kannten politischen Pragmatismus der Wolfgang Sievers, Karlsruhe
nung kommen, wenn sie eingeklemmt un- Kanzlerin. Indes: Sie saugen beide den
ter einem zusammengebombten Haus nach Nektar des anderen, wohl auch noch über Hätte Augstein die Erfahrungen der beiden
ihrer Mutter schreien und ihnen niemand diese Amtszeit hinaus. sammeln können, hätte er geschwiegen
mehr hilft! Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) und die Inschrift „dem deutschen Volke“
Werner Drinhausen, Nümbrecht (NRW) als Wunsch für eine gute Zukunft und
Dass Herr Gauck so toll bei den Deutschen nicht als Recht einiger auf Rückschritt in
Man kann nicht sämtliche Probleme, die ankommt, ist befremdlich. Ein Mensch, der eine DDR-Vergangenheit interpretiert.
Migranten, speziell Muslime, in dieser Ge- Pazifisten und damit zugleich die gesamte Prof. Dr. Nicolaus Reifart, Königstein (Hessen)
sellschaft haben, mit mangelnder Toleranz Anti-Atom-Bewegung (sie sind aus einem
der abweisenden Mehrheitsgesellschaft er- Holz geschnitzt) diskreditiert und ihnen Ich stimme Augsteins Ausführungen voll
klären. Die Ursachen dazu liegen leider, auch noch Antiamerikanismus fast als Ver- zu. Was bildet sich Biermann ein? Er ist
und das ist auch die Ansicht vieler Exper- gehen unterstellt, hat ein Problem – mit ein Opportunist und hat die Gelegenheit
ten, in der muslimischen Gesellschaft seiner eigenen Vergangenheit. für seine eigene, eitle Abrechnung genutzt.
selbst. Solange die sich nicht emanzipiert, Gerd Weißmann, Regesbostel (Nieders.) Sind die Wähler der Linkspartei – immer-
solange der Islam nicht eine ähnliche Ent- hin einige Millionen – alles Verbrecher?
wicklung vollzieht wie das Christentum Es ist ja irre: Von der Kanzlerin hört man Hass und Ressentiments aufzuwärmen und
im Rahmen der Reformation, wird sämtli- über die Verhandlungen in Thüringen neu zu schüren – wie Biermann es getan
che Toleranz, sämtliches Entgegenkom- kaum was, während der Präsident munter hat – gehört nicht in eine Feierstunde im
men nichts bringen. daherredet. Es müsste umgekehrt sein. Bundestag.
Stephan Maier, Schwalmstadt (Hessen) Dr. Diethard Hennig, Langensendelbach (Bayern) Günter Killermann, Obermeitingen (Bayern)

10 DER SPIEGEL 48 / 2014


Briefe

Weg mit Juncker! schaften abgeschlossen, um die Macht von


IG Metall und IG Chemie zu brechen.
Nr. 46/2014 Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Peter Pielmeier, Alsbach-Hähnlein (Hessen)
wird von den Luxemburger Steuertricks eingeholt
Es ist immer wieder erstaunlich, wie un- Leider hetzt auch der SPIEGEL auf populis-
glaublich kurzsichtig „große“ Politiker Ent- tische Weise gegen Gewerkschaftsführer
scheidungen treffen. So etwa Frau Merkel, Claus Weselsky und seine GDL – obwohl
als sie zustimmte, dass Juncker Spitzen- zwei Gerichte den letzten Streik als „ver-
kandidat der Konservativen für die Euro- hältnismäßig“ und „rechtens“ beurteilt
pawahl wurde, während die Sozialisten haben. Und sieht denn niemand das Ge-
(und das Parlament!) längst propagierten, schmäckle in der Tatsache, dass wegen des
dass der erfolgreiche Spitzenkandidat Streiks im Staatsunternehmen die Regie-
Kommissionspräsident werde. Dass diese rung Änderungen im Tarifvertragsgesetz
Steuersparmodelle ruchbar würden, war per Tarifeinheitsgesetz beschlossen hat?
angesichts der großen Zahl von Mitwissern Karl Spickernagel, Berlin
(und Neidern) nur eine Frage der Zeit.
„Was würde Klein Fritzchen sagen, wenn
er wüsste, dass die große Politik genauso
Mit Samthandschuhen
gemacht wird, wie Klein Fritzchen sich das Nr. 46/2014 Der ehemalige US-Außenminister
Henry Kissinger im SPIEGEL-Gespräch
vorstellt?“
Eberhard Blaum, Oberried (Bad.-Württ.) Erstaunlich, dass sich der SPIEGEL herab-
lässt, mit einem der größten Verbrecher des
Man muss sich nur vorstellen, was man 20. Jahrhunderts ein Interview abzudru-
mit dem Geld, das durch die Steuerakro- cken. Sein Buch „Weltordnung“ – schade
batik der großen Firmen in Luxemburg bei um jeden Cent! Sein Leben in der Politik
uns fehlt, hätte machen können: Investi- bestand aus Lug und Trug, erwarten Sie
tionen in Umwelt, in Infrastruktur, für Bil- jetzt plötzlich die geschriebene Wahrheit?
dung, Unterstützung der Pflegebedürftigen Peter Zwahlen, Oberwangen (Schweiz)
oder Alleinerziehenden mit Kindern.
Alexander Daniels, Hamburg Sie haben angenehme und unangenehme
Fragen gestellt. Es freut, dass auch Kissin-
Weg mit Juncker! Bringen wir es hinter ger realisiert hat, dass man nicht gegen
uns. Er ist nicht zu halten. Er hat sich oft den „Lauf der Geschichte“ gehen kann.
heuchlerisch verhalten. Je schneller er ver- Salim Samai, Berlin
schwindet, desto besser.
Frank Becher, Koblenz Es ist schier unerträglich, wie Sie Kissinger
mit Samthandschuhen anfassen. Ihm war
Jammern und heucheln in seiner aktiven Zeit jedes Mittel recht, um
vermeintliche US-amerikanische Interessen
Nr. 46/2014 Tarifpolitik: Der Streik der Lokomotiv- auf der Welt zu wahren oder durchzuset-
führer schadet vor allem ihrer eigenen Gewerkschaft
zen. Die schäbige Rolle, die er bei der tür-
Schade, dass bei Ihnen Entgegenkommen kischen Invasion auf Zypern 1974 gespielt
als Falle bezeichnet wird. Das Chaos hät- hat, ist nur eines von vielen Ruhmesblät-
ten wir uns erspart, wenn die Öffentlich- tern, von denen er nichts mehr wissen will.
keit genauso reagiert hätte, als die Arbeits- Efstathios Triantafillidis, Neu-Isenburg (Hessen)
bedingungen der Lokführer demontiert
wurden. Unsere Lokführer waren Beamte,
um die uns ganz Europa beneidet hat,
Schamlos
wenn in den anderen Ländern die Räder Nr. 46/2014 Jugendgewalt: „Mehr Spiele,
weniger Gewalt“
stillstanden. Warum wird das Verhalten
der Verantwortlichen im Bahn-Vorstand Christopher Ferguson versucht seit Jahren
nicht kritisch betrachtet und recherchiert? mit dubiosen Untersuchungen Zweifel zu
Ludwig Gäng, Berlin streuen: Videogewaltspiele hätten keine
Wirkungen. Er diskreditiert schamlos die
Mit einer derartig naiv-einseitigen Bericht- eindeutigen Ergebnisse der Medienwir-
erstattung zum Bahnstreik, welche sowohl kungsforschung. Die Krone ist seine Be-
die überaus weitreichenden wirtschaft- hauptung, je mehr „brutale Computerspie-
lichen als auch die damit verbundenen so- le genutzt werden“, desto weniger Jugend-
zialen Folgen vollkommen außer Acht gewalt. Gewaltprävention in Schulen,
lässt, disqualifizieren Sie sich selbst. „Null Toleranz“ der Polizei et cetera gibt
Martin Kvych, Mödling (Österreich) es in Fergusons Ideologie nicht.
Prof. i. R. Dr. Günter Huber, Dr. Werner H. Hopf, München
Das Jammern der Arbeitgeber über die Verein Mediengewalt – Internationale Forsch. u. Beratung
Mini-Gewerkschaften ist heuchlerisch. In
den Siebziger- und Achtzigerjahren haben Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-
viele Arbeitgeberverbände gern Discount- kürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen:
Tarifverträge mit marginalen Gewerk- leserbriefe@spiegel.de

14 DER SPIEGEL 48 / 2014


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Fracking für den guten Zweck


Das umstrittene Fördern von Schiefergas könnte bei der Energiewende helfen.

S
chon das Wort: Fracking. Das hört sich an nach Knochen, ten Kohlemeiler auf Hochtouren. Mit der Folge, dass der hie-
die brechen, oder nach Gläsern, die zersplittern. Un- sige CO²-Ausstoß des Stromsektors von 294 Millionen Tonnen
heimliche Wortkreationen lassen sich daraus bilden, so im Jahr 2009 auf 316 Millionen Tonnen im Jahr 2013 hochge-
wie Abfracken. Da denkt jeder gleich an Autofriedhöfe. schnellt ist. Und das, obwohl die Stromkunden mit jährlich
Kein Wunder also, dass Umweltorganisationen dieses Wort rund 20 Milliarden Euro Betrieb und Ausbau der erneuerbaren
dankbar aufgegriffen haben. Seit Monaten schicken sie ihre Energien bezahlen.
Aktivisten mit Schutzanzügen und gigantischen Spritzen Dies ist das Paradox der deutschen Energiewende, das von
vor die Parlamente, weil Fracking der Natur schade. So den Protagonisten gern verschwiegen wird. Genauso wie die
haben sie es geschafft, das Volk gegen die neue Technologie Tatsache, dass die USA mit billigem Frack-Gas den Ausstoß
aufzubringen. Die Ablehnung geht quer durch alle sozialen von Kohlendioxid bei der Energieerzeugung auf das Niveau
und intellektuellen Schichten, durch alle Parteien und Ver- von 1994 reduziert haben, obwohl die Wirtschaft im gleichen
bände. Zeitraum um fast 60 Prozent gewachsen ist.
Nicht minder dogmatisch argumentieren die Freunde des Fra- Warum also ziehen grüne Ideologen in einen Kreuzzug
ckings: Es schaffe Arbeit und senke die Preise für die Produktion gegen das Fracken? Und warum verschrecken Industrie-Ideo-
von Plastik, Chemie und allen anderen Stoffen, aus denen sich logen die ökologisch aufgeklärten Bürger weiter mit ihrem
noch mehr Waren für die schöne Argument vom Immer-mehr und
Wohlstandswelt herstellen lassen. Immer-billiger? Und worum geht
So prallten vergangene Woche es wirklich?
zwei stramme Ideologien auf- Es geht darum, dass die Ener-
einander, als der Gesetzentwurf giewende billiges Gas braucht,
der Bundesregierung zum soge- damit sie Industrie und Verbrau-
nannten unkonventionellen Fra- cher nicht übermäßig belastet.
cking publik wurde. Dabei wird Die Frack-Gas-Vorkommen
eine Mischung aus Wasser, Sand sind nicht riesig, aber auch nicht
und Chemikalien ein paar Tau- so klein wie oft behauptet.
send Meter unter die Erde ge- Deutschland könnte laut einer
pumpt. Die Flüssigkeit bricht das Studie bis zum Jahr 2030 rund
Schiefergestein auf und setzt das 25 Prozent des derzeitigen Gas-
darin gespeicherte Erdgas frei. verbrauchs mithilfe der neuen
Den Industrielobbyisten geht Fördertechnik decken. Das ent-
der Entwurf, der unter anderem spricht der Menge, die wir aus
eine Wissenschaftlerkommission Norwegen importieren. Ab Mit-
vorsieht, die maßgeblich über te der 2030er-Jahre könnten es
Probebohrungen entscheidet, sogar 35 Prozent sein. Deutsch-
nicht weit genug. Grüne und land könnte unabhängiger von
Umweltschützer hingegen gei- russischem Gas werden. Es wäre
ßeln die Regelung als zu löch- Fracking-Bohrstelle in den USA zudem möglich, niedrigere Gas-
rig. Durch die Hintertür werde preise mit den Lieferländern aus-
Fracking möglich. Dabei gibt es zuhandeln.
ein ökologisches Argument, das dafür spricht, diese Förder- Dabei müssen vor allem vier Bedingungen gelten: Der
technik zu erproben und – wenn sie sich als beherrschbar Staat sollte das Fracken von Öl nicht unterstützen, weil dies
herausstellt – kommerziell zu betreiben. Es ist die Energiewen- das ungesunde fossile Zeitalter verlängern würde. Das Gas-
de, dieser einzigartige Großversuch, den die Deutschen gerade Fracking muss ohne Chemikalien auskommen, die das Grund-
durchexerzieren, stellvertretend für eine wachsende Welt- wasser gefährden. Der giftige Rückfluss aus den Lagerstätten
bevölkerung, die immer stärker nach Energie lechzt. muss unschädlich zu beseitigen sein. Und die Förderung darf
Die Grünstromfreunde behaupten bis heute, dass Gaskraft- die Bürger nur in zumutbarem Maße belasten.
werke die beste Stromreserve seien für den Übergang aus Der Fortschritt in der Fördertechnik lässt hoffen, dass diese
dem fossilen Zeitalter hinein in jenes, in dem uns Wind und Bedingungen erfüllbar sind. Das neue Gesetz steckt den
Sonne sauber und kostenarm Energie liefern. Gaskraftwerke rechtlichen Rahmen ab, um Fracking erforschen zu können.
sind flexibel und können dann laufen, wenn es trüb ist und So werden sich in wenigen Jahren Risiken und Chancen rich-
windstill. Zudem stoßen sie nur halb so viel klimaschädliches tig abschätzen lassen.
FOTO: NOAH ADDIS/CORBIS

Kohlendioxid und noch viel weniger Schwefeldioxid und Wem es gelingt, Wohlstand auf erneuerbaren Energien auf-
Stickoxide aus wie Kohlemeiler. zubauen, der hat das (Über-)Lebensmodell für Milliarden von
Gaskraftwerke haben nur einen großen Nachteil. Sie sind Menschen gefunden. Dieses Ziel sollte wertvoll genug sein,
derzeit zu teuer. Deshalb drehen in Deutschland die dreckigs- um alles zu erkunden, was auf diesem Weg helfen kann.

16 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kohlekraftwerk
Jänschwalde

Geheimdienste
Russische Spionin
offenbar freigekauft
Die größte deutsch-russische
Spionageaffäre seit dem
Mauerfall nimmt eine spekta-
kuläre Wendung: Heidrun
Anschlag, wegen Agenten-
tätigkeit im Auftrag Moskaus
im Sommer 2013 zu fünfein-
halb Jahren Gefängnis verur-
teilt, ist auf freiem Fuß und
in ihre Heimat zurückge-
kehrt. Sie wurde vorvergan-
gene Woche aus der Haft ent-
lassen und ausgewiesen. Da- Kohleausstieg
bei dürfte die Agentin des
russischen Auslandsgeheim- Ärger mit Stromkonzernen
dienstes SWR Hilfe aus Mos-
kau erfahren haben: Um frei- Die deutschen Energiekonzerne fühlen sich „mit mindestens 22 Millionen Tonnen CO2“
zukommen, musste sie unge- von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Ga- zum Ziel der Bundesregierung beitragen
fähr eine halbe Million Euro briel (SPD) brüskiert. Noch vor wenigen müssen, schädliche Klimagase einzusparen.
bezahlen. Das hatte das Ober- Tagen hatte Gabriel öffentlich erklärt, ein Wie sie die Minderung erzielen, bleibt den
landesgericht Stuttgart ihr gleichzeitiger Ausstieg aus der Atom- und Versorgern zwar freigestellt. Praktisch läuft
und ihrem ebenfalls verurteil- aus der Kohleenergie sei nicht möglich. die Vorgabe aber darauf hinaus, Kohle-
ten Mann gesamtschuldne- Nun hat der Minister die deutschen Ener- meiler abzuschalten. Gleichzeitig sollten ei-
risch auferlegt. Die Summe gieversorger für diesen Montag nach Berlin nige Kraftwerke als sogenannte „Kapazi-
entspricht dem geschätzten geladen, um über die Abschaltung von tätsreserve“ einsatzbereit gehalten werden.
Agentenlohn der beiden. Hin- Kohlekraftwerken zu verhandeln. Mit ei- Für diese Leistung würden die Unterneh-
zu kommen Prozesskosten. nem Gesetz will Gabriel dafür sorgen, dass men Geld von den Stromkunden bekom-
In Sicherheitskreisen hieß es, die fossilen Kraftwerke ihre CO2-Emissio- men. Gabriel will in Absprache mit Kon-
es sei „nicht anders vorstell- nen um jährlich mindestens 4,4 Millionen zernen und Gewerkschaften dafür sorgen,
bar“, als dass Moskau das Tonnen von 2016 bis 2020 reduzieren. So dass „der Strukturwandel sozialverträglich
Geld zur Verfügung gestellt steht es in der Einladung, die am vergange- gestaltet wird“. Die Chefs der Energiekon-
habe. Dass die Anschlags ihr nen Montag an die Konzerne RWE, E.on, zerne drohen mit Milliardenklagen, falls
Privatvermögen dafür einge- Vattenfall, Steag, EnBW und Thüga erging. sie gezwungen würden, Kraftwerke ohne
setzt haben, wird als unwahr- Den Konzernen rechnet er vor, dass sie Entschädigung zu schließen. fdo, gt, kn
scheinlich angesehen. An-
dreas und Heidrun Anschlag
hatten über 20 Jahre in der
Bundesrepublik spioniert. kommissarische ADAC-Präsi- die nicht für die reguläre Ver- die einflussreichen Regional-
Die Frau konnte nun ausge- dent August Markl soll ein einsarbeit benötigt werden. klubs auf der Hauptversamm-
wiesen werden, da sie über Modell favorisieren, das eine Mit dem Geld sollen vor al- lung am 6. Dezember noch zu-
die Hälfte ihrer Freiheitsstra- weitreichende Kontrolle lem Forschungsprojekte finan- stimmen. Die ADAC-Spitze
fe verbüßt hat. Ihr Mann, durch Externe vorsieht. Ge- ziert werden, die im Interesse hofft damit auch, ein positives
der zu sechseinhalb Jahren plant ist demnach die Um- der Allgemeinheit liegen, Signal für das Amtsgericht

FOTOS: KARL-JOSEF HILDENBRAND / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); MICHAEL URBAN / DAPD (O.)
Haft verurteilt wurde, sitzt wandlung der bestehenden etwa zur Verkehrssicherheit München zu setzen. Das Ge-
noch im Gefängnis. fis ADAC-Firmenholding BuW oder zu neuen Mobilitätskon- richt prüft seit Monaten, ob
in eine Aktiengesellschaft. zepten. Der Reform müssen der ADAC noch die Voraus-
Der Verein ADAC wird daran setzung für den Vereinsstatus
ADAC nur noch 74,9 Prozent der erfüllt oder als milliarden-
Kompletter Umbau Anteile besitzen und nicht schwerer Wirtschaftskonzern
mehr 100 Prozent wie derzeit zu betrachten ist, mit ange-
Der ADAC, Europas größter an der BuW. Minderheitsge- schlossenem Automobilklub.
und einflussreichster Auto- sellschafterin der AG mit Ein ADAC-Sprecher will die
mobilklub, steht nach diver- Sperrminorität, einem aktien- Umbaupläne im Detail nicht
sen Skandalen offenbar vor rechtlichen Vetorecht, soll kommentieren. Es seien „ver-
tiefgreifenden Veränderun- eine neu zu gründende schiedene Modellentwürfe
gen. Um den steuerbegünstig- ADAC-Stiftung werden, in entwickelt“ worden. Sie soll-
ten Vereinsstatus zu retten, deren fünfköpfigem Stiftungs- ten „dem neuen Leitbild des
plant der ADAC, sein ver- rat mindestens zwei externe ADAC bezüglich einer erfor-
schachteltes Unternehmens- Mitglieder sitzen sollen. In derlichen und sinnvolleren
imperium komplett umzu- die Stiftung würden künftig Trennung zwischen Vereins-
bauen und von der Vereins- auch die Überschüsse aus den und Wirtschaftsaktivitäten
tätigkeit zu trennen. Der Mitgliedsbeiträgen fließen, besser Rechnung tragen“. was

18 DER SPIEGEL 48 / 2014 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
AfD der Anstaltsleitung deshalb Jakob Augstein Im Zweifel links
Kritik an Lucke
Führende Politiker der Anti-
an, sämtliche an jenem Wo-
chenende arbeitenden Beam-
ten „als Zeugen zu verneh-
Kapitalismus kaputt
Euro-Partei Alternative für men“. Mögliche Missstände Die Commerzbank hat be-
Deutschland (AfD) wollen die in Bruchsal sind brisant, weil kannt gegeben, dass sie bei
Dominanz ihres heimlichen dort im August der afrikani- „einzelnen großen Firmen-
Parteichefs Bernd Lucke bre- sche Häftling Rasmane Koala kunden mit hohen Guthaben
chen. „Es ist wichtig, dass an nach Monaten ungenehmig- sowie bei Großkonzernen
der Spitze einer Partei unter- ter Einzelhaft verhungerte. und institutionellen Anlegern“
schiedliche Führungsstile ver- Am Montag muss sich Stickel- eine „Guthabengebühr“ be-
treten sind“, sagt Bundesspre- berger dazu vor einem Aus- rechnen will. Was damit ge-
cherin Frauke Petry. „Die schuss des Stuttgarter Land- meint ist: negative Zinsen.
AfD darf keine One-Man- tags erklären. fri Geld bringt kein Geld mehr.
Show sein.“ Zuvor hatte Bun- Geld kostet Geld. Das ist die
desvorstand Alexander Gau- Implosion des Kapitalismus.
land harsche Kritik an Luckes Terroristen Mit den Zinsen fing alles
Führungsstil geübt. Der Hoch- Sorge wegen an. Und vielleicht endet alles
schullehrer sei ein „Kontroll-
freak“. Geführt wird die AfD Daheimgebliebenen mit den Zinsen. Sie sind das A und O des Kapitalismus.
„Liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür
offiziell von drei „Bundes- Sicherheitsbehörden machen zu bekommen hofft“, so heißt es bei Lukas. Gegen das
sprechern“, Lucke wird aber sich Sorgen wegen jener Is- Zinswesen, das älter ist als die Bibel, half das freilich nicht.
oft als alleiniger Chef wahrge- lamisten, die für die Terror- Ausnahmen gab es ja immer. Bei Mose stand schon: „Von
nommen und will diesen Sta- gruppe „Islamischer Staat“ dem Ausländer darfst du Zinsen nehmen.“ Eine Stelle mit
tus in einer neuen Satzung (IS) kämpfen wollen, aber verheerender Wirkung – das war ein Vorwand für die Feind-
verankern. „Es tut keiner Or- von der Polizei an der Ausrei- schaft gegen Juden.
ganisation auf die Dauer gut, se gehindert wurden. „Wir Worum geht es beim Zins? Verzicht wird belohnt. Aber
wenn alles auf eine Person müssen auch die Islamisten Buße soll tun, wer heute schon ausgeben will, was er erst
ausgerichtet ist“, sagt Petry, weiter in unseren Fokus neh- morgen hat. Das Problem ist: In einer alternden Gesellschaft
die den sächsischen AfD-Ver- men, die im Ausland kämp- kippt das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage
band führt. Bisher habe sie fen wollen, aber ihr Ziel nach Geld. Früher liehen sich junge Leute Geld, das sie
sich im Bundesvorstand eher nicht erreicht haben“, sagt später zurückzahlten. Heute sparen alte Leute für ihr län-
zurückgehalten. „Sollte die der Leiter des Hamburger geres Leben. Die Folge ist das, was Ökonomen „säkulare
AfD künftig eine Doppelspit- Landesamts für Verfassungs- Stagnation“ nennen: Auf den Konten verstaubt das Geld,
ze haben, werde ich auf jeden schutz, Torsten Voß. Wer ent- ungenutzt.
Fall kandidieren und eine ak- schlossen sei, könnte versu- Wie zwingt man die Leute dazu, von ihrer Sparsucht zu
tive Rolle spielen.“ ama chen, die Ziele des IS auf lassen? Negativzinsen. Die Europäische Zentralbank hat
deutschem Boden zu unter- sich schon vor Monaten auf diesen Weg begeben, die
stützen, wie Beispiele aus Ka- Geschäftsbanken folgen jetzt langsam nach.
Justizvollzug nada und Australien zeigten. Für Vertreter der reinen Lehre ist das Teufelszeug: „Ein
Bizarre Rollenspiele Das Thema wird deshalb auf negativer Marktzins ist ein Frontalangriff auf die Markt-
der Tagesordnung der Innen- wirtschaft“, hat der Volkswirt Thorsten Polleit geschrieben:
Im Gefängnis Bruchsal ist es ministerkonferenz am 12. De- „Die Idee, den Zins abzuschaffen, hatten schon die Marxis-
wiederholt zu bizarren Rol- zember in Köln stehen. aul ten und Nationalsozialisten. Ein negativer Marktzins würde
lenspielen unter Beamten ge- das ,antikapitalistische‘ Zerstörungswerk perfektionieren.“
kommen. Am Wochenende Das wäre natürlich furchtbar. Wir warten jetzt darauf,
des 23. und 24. November Bundeswehr was geschieht, wenn das Beispiel der Commerzbank den
2013 fesselte ein Beamter in Teure Kampagne Privatkunden trifft. Die Deutschen werden sich das Sparen
Uniform einen als Häftling nicht nehmen lassen. Sie werden einen guten Teil jener fan-
verkleideten Kollegen zwei- Verteidigungsministerin Ursu- tastischen zwei Billionen Euro, die sie bei den Banken
mal „mit Hand- und/oder la von der Leyen schraubt den deponiert haben, von ihren Konten abheben, in 500-Euro-
Fußschließe“. Das geht aus Werbeetat der Bundeswehr Scheine wechseln und nachts im Garten vergraben.
ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

der Antwort des baden-würt- deutlich nach oben. Im Früh- Und dann kommt die Stunde neuer, revolutionärer Ideen:
tembergischen Justizminis- jahr soll in einer internationa- Neue Scheine und Münzen sind denkbar, die ein ablaufen-
ters Rainer Stickelberger len Ausschreibung entschie- des Haltbarkeitsdatum haben wie der Joghurt im Kühl-
(SPD) auf einen Brief des den werden, wer die millio- schrank. Der Gesellschaftsreformer Silvio Gesell hat das
CDU-Abgeordneten Bern- nenschwere Image-Offensive schon vor hundert Jahren vorgeschlagen. Oder man schafft
hard Lasotta hervor. Bisher umsetzen darf. Für Personal- das Bargeld gleich ganz ab, eine Idee des Amerikaners
war lediglich ein solcher Fall werbung ist ab dem kommen- Kenneth Rogoff. Der ist immerhin Professor in Harvard
bekannt (SPIEGEL 44/2014). den Jahr ein Etat von 35,3 und war mal Chefökonom beim Währungsfonds.
Beide Beamte hätten die Millionen Euro vorgesehen, Es bleibt aber die feine Ironie, dass es nun ausgerechnet
Dienstvergehen eingeräumt. eine Steigerung von rund 18 die schwäbische Hausfrau ist, die den Kapitalismus derart
Allerdings habe es im Ge- Prozent im Vergleich zu 2014. in die Bredouille bringt.
fängnis „eine zum Teil gerin- Ziel ist es, die Bundeswehr
ge Aussagebereitschaft“ gege- für junge Menschen wieder at- An dieser Stelle schreiben zwei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
ben. Das Ministerium drohte traktiver zu machen. gor Jan Fleischhauer an der Reihe.

DER SPIEGEL 48 / 2014 19


Deutschland Reding

Familienplanung
Mehr Rechte für
Unverheiratete
Nach dem Willen der Bun-
desfamilienministerin Ma-
nuela Schwesig (SPD) sollen
Krankenkassen die Kosten
für künstliche Befruchtungen
auch bei unverheirateten anderen Ländern inländi-
Paaren übernehmen. „Es ist schen Anbietern gleichge-
nicht mehr zeitgemäß, diese stellt werden. Internationale
Paare anders zu behandeln Investoren sind begeistert,
als Verheiratete“, sagt sie. Gemeinden, Gewerkschaften
DHL-Drohne Man könne nicht einerseits und Verbraucherschützer
beklagen, dass so wenige alarmiert. „Kommunen
Kinder geboren würden, und könnten in Zukunft keine
Der Augenzeuge andererseits Versuche mit Vorschriften mehr machen
künstlicher Befruchtung an dürfen, wo ein Supermarkt
„50 Meter über dem Watt“ Geld scheitern lassen, argu-
mentiert Schwesig. Sie will
gebaut wird und wo Wiesen
bestehen bleiben dürfen“,
Erich Hrdina, 64, betreibt die „Seehund-Apo- außerdem erreichen, dass die befürchtet Franziska Keller,
theke“ auf der Nordseeinsel Juist. Seit Sep- Kassen künstliche Befruch- Vizechefin der Grünen im
tember bekommt er Medikamente auf einem tungen wieder voll bezahlen. Europaparlament. „Selbst
besonderen Weg geliefert: Eine ferngesteu- Das Bundessozialgericht hat- Krankenwagen könnten
erte Drohne („Paketkopter“) fliegt die zwölf te vergangene Woche ent- durch transnationale Unter-
Kilometer über das Wattenmeer und bringt schieden, dass die Kassen nehmen betrieben werden“,
Arzneimittel. Der Pilotversuch läuft noch bis nach aktueller Rechtslage so Keller. Reding sorgt sich
Ende des Jahres. nicht einmal einen Teil der vor allem um den Daten-
Kosten erstatten dürfen, schutz. Sie hatte als Justiz-
„Unsere Insel ist schwer zu erreichen. Im Gegensatz zu wenn die Antragsteller nicht kommissarin dafür gesorgt,
Borkum oder Norderney sind wir tideabhängig, die Fähre verheiratet sind. Um das zu dass eine Vereinheitlichung
kann nur einmal täglich anlegen. Stürmt es sehr, fällt die ändern, müsste das Sozialge- dieses Bereichs aus dem Frei-
Überfahrt aus. Dazu gibt es zwar ein kleines Flugzeug, setzbuch reformiert werden. handelsabkommen TTIP he-
das mehrmals täglich die Insel anfliegt – aber auch das Bundesgesundheitsminister rausgehalten wird. Jetzt woll-
muss bei Sturm am Boden bleiben. Und sobald es dunkel Hermann Gröhe (CDU), der ten die USA, so Reding,
wird, fliegt es auch nicht mehr. Wir sind dann abgeschnit- für den Bereich zuständig ist, „Tisa als Hintertür nutzen,
ten vom Festland. Der Paketkopter jedoch kann bislang will sich nicht äußern, solan- um europäische Standards
bis Windstärke 10 fliegen und soll noch weiterentwickelt ge die schriftliche Urteilsbe- wie den Datenschutz zu ver-
werden, sodass auch ein Transport bei Orkan möglich sein gründung nicht vorliegt. Die wässern“. csc, pau
kann. Speziell in Notfällen ist das hilfreich. Am häufigsten Gesundheitsexperten der
suchen Touristen die Apotheke auf, die ihre Medikamente Union sind bislang skeptisch
zu Hause vergessen haben. An einem Wochenendabend gegenüber einer Neurege- Erziehung
kam kürzlich eine 92 Jahre alte Dame zu uns, sie brauchte lung. akm, cos Kita-Streik droht
dringend Herzmedikamente und Blutdrucksenker. Da ich
in der Apotheke wohne, bin ich immer erreichbar. Ohne Ver.di und die Gewerkschaft
den Paketkopter hätte sie zwei Tage auf die Tabletten war- Europa Erziehung und Wissenschaft
ten müssen, doch dank der Drohne hatte sie die Medika- „Tickende Bombe“ (GEW) bereiten sich für
mente schon drei Stunden später. Es hat sie nicht mehr ge- Anfang nächsten Jahres auf
kostet, da das Projekt bislang ein Versuch der DHL und Nach dem geplanten Freihan- einen bundesweiten Kita-
der Technischen Hochschule Aachen ist. Die DHL will delsabkommen TTIP gerät Streik vor. Sollten die Tarif-
den Kopter in einem schwer erreichbaren Gelände testen – nun auch eine Vereinbarung verhandlungen, die ab Janu-
da eignet sich Juist sehr gut. Hier stürmt es oft, gerade im zur Liberalisierung von ar mit den kommunalen Ar-
Winter haben wir oft Küstennebel, es wird früh dunkel. Dienstleistungen (Tisa) in die beitgebern stattfinden, nicht
FOTOS: INGO WAGNER / DPA (O.L.); FREDERICK FLORIN / AFP (O.R.)

Aber der Kopter kann immer fliegen. Er startet an der Kritik. Davon gehe die wah- erfolgreich sein, müsse man
Wattkante bei Norddeich, dort belädt ihn ein DHL-Bote re Bedrohung für europäi- sie entsprechend begleiten,
mit den Medikamenten. Dann fliegt er in 50 Meter Höhe sche Verbraucherrechte aus, heißt es bei den Gewerk-
über das Wattenmeer. Zu einer Kollision mit Flugzeugen warnt die zuständige Bericht- schaften. „Das Erzieherinnen-
kann es nicht kommen, die fliegen mindestens in 150 Me- erstatterin im Europaparla- gehalt muss deutlich angeho-
ter Höhe. Dazu fliegt er so langsam, dass Vögel auswei- ment, Viviane Reding. „Hier ben werden“, sagt GEW-Vor-
chen können. Er landet schließlich auf einer Wattwiese tickt eine Bombe, nur, keiner stand Norbert Hocke, dafür
am Rand von Juist. Dort wartet ein weiterer DHL-Bote hat sie bemerkt“, sagt Re- müsse zur Not gestreikt wer-
und bringt das Paket mit seinem Fahrrad zu mir. Denn das ding. Seit über zwei Jahren den; ein Drittel der mehr
ist das nächste Problem: Juist ist eine autofreie Insel. Da beraten EU, USA und 22 wei- als 50 000 Kindertagesstätten
dauert alles etwas länger.“ tere Staaten im Geheimen in Deutschland könnte
Aufgezeichnet von Christopher Piltz darüber, wie Anbieter aus davon betroffen sein. akm

20 DER SPIEGEL 48 / 2014


Titel

Am Nullpunkt
Europa Im Konflikt mit Russland scheint eine politische
Lösung weiter entfernt denn je. Bundesregierung und EU
haben ihre Diplomatie ausgereizt. Die Fassade einer
geschlossenen Haltung der Bundesregierung bricht auf.

P
hilip Breedlove ist umringt von Ge- gängig zu machen. Nicht die Annexion der
sprächspartnern, er schaut umher, er Krim, nicht die drohende Abspaltung der
braucht einen Stift. Sein Berater Ostukraine. „Alle sind irgendwie erst ein-
reicht ihm einen, der Kugelschreiber ver- mal am Ende ihres Lateins“, heißt es in
schwindet fast ganz zwischen den breiten Berliner Regierungskreisen.
Fingern des amerikanischen Vier-Sterne- Der Nullpunkt ist also erreicht, und das
Generals. Dann malt er in flinken Strichen, ist ein gefährlicher Moment.
vermutlich nicht zum ersten Mal, die Um- In der Europäischen Union gehen die
risse der Ukraine auf die Rückseite einer Interessen der 28 Mitgliedstaaten immer
weißen Menükarte. Darin dann die jener deutlicher auseinander. Den Südländern
Gebiete, die unter Kontrolle der prorussi- ist eine harte Haltung gegenüber Russland
schen Separatisten im Osten des Landes tendenziell weniger wichtig als den Ost-
stehen. europäern, bislang bildete die Bundesre-
Das ist die Gegenwart. Danach kommt gierung die Brücke zwischen beiden La-
die Zukunft. gern. Aber in Berlin zeigen sich erstmals
Breedlove, Oberbefehlshaber der Nato nennenswerte Unterschiede in der Lage-
in Europa (Saceur), sagt an diesem Montag beurteilung, Dienstag beim Koalitionsaus-
in Berlin, was er später auch in einem In- schuss dürften sie weiter aufbrechen. Die
terview mit der FAZ erklären wird: Die Union steht gegen die SPD, CSU-Chef
von Russland unterstützen Kräfte wollen Horst Seehofer und Kanzlerin Merkel ge-
„aus den jetzt beherrschten Gegenden ein gen Außenminister Frank-Walter Stein-
stärker zusammenhängendes, ein genauer meier und SPD-Chef Sigmar Gabriel.
umrissenes Gebiet machen“. Was fehlt, ist „Die größte Gefahr ist, das wir uns aus-
der Flughafen bei Donezk und der Land- einanderdividieren lassen“, sagte die Kanz-
zugang zur Krim über die ukrainische Ha- lerin am vergangenen Montag in Sydney.
fenstadt Mariupol. Beide sind noch in der Wahr ist: So groß war die Gefahr noch nie,
Hand der ukrainischen Regierung. seitdem die Krise begann. Ist es das, wo-
Was wird die Antwort der Europäer und rauf der russische Präsident gewartet hat?
der Nato sein? Gibt es überhaupt eine? Wie die russische Strategie funktioniert,
„Warten Sie es ab“, sagt der General. erlebte Steinmeier am vergangenen Diens-
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach tag. Der Außenminister stand in Moskau
einem gescheiterten EU-Gipfel zur öst- neben seinem russischen Kollegen Sergej
lichen Partnerschaft (siehe Seite 26) ist in Lawrow, der die engen Beziehungen pries:
Europa nur noch wenig, wie es war. Aus „Es ist gut, lieber Frank-Walter, dass du
dem Partner Russland wurde ein Gegner, trotz der zahlreichen Gerüchte der letzten
Grenzen sind verschoben, Soldaten in Tage an unserem persönlichen Kontakt
Marsch gesetzt, Unschuldige wurden getö- festhältst.“ Steinmeier revanchierte sich,
tet. Viel ist geschehen, von dem man glaub- indem er strittige Themen wie die russi-
te, es würde nie wieder geschehen. Nie schen Waffenlieferungen an die ukraini-
wieder zumindest auf einem Kontinent, schen Separatisten nicht öffentlich kriti-
der wie kein zweiter das Blut von Millio- sierte. Anschließend empfing ihn Wladimir
nen vergossen hat. Der seine Lektion ge- Putin, eine seltene Ehre.
lernt haben sollte. Der deutsche Außenminister ist Profi
Angela Merkel spricht öffentlich davon, genug, um sich über die russischen Nettig-
dass das „internationale Recht mit Füßen keiten nicht zu wundern. Während die
getreten“ werde. Gedacht haben mag sie Kanzlerin Putin bei einem Auftritt in Syd-
das schon öfter, für ein weltweites Publi- ney scharf attackierte und sagte, der Wes-
kum ausgesprochen hat sie es noch nie. Es ten dürfe „nicht zu friedfertig“ sein, schlug
ist eine Kampfansage, eine Zäsur und da- Steinmeier am selben Tag in Brüssel weit-
mit auch der vorläufige Strich unter ein aus sanftere Töne an. Ohne Merkel zu er-
Jahr diplomatischer Bemühungen. Die wa- wähnen, mahnte Steinmeier zur verbalen
ren gewiss nicht wertlos, aber sie scheinen Mäßigung: Der Westen müsse aufpassen,
jetzt ausgereizt. Es gibt kaum noch Hoff- „dass wir auch in der Benutzung unserer Kanzlerin Merkel am 17. November in Sydney
nung, das, was seither geschehen ist, rück- öffentlichen Sprache uns nicht die Mög-
22 DER SPIEGEL 48 / 2014
Präsident Putin am 16. November bei der
Abreise vom G-20-Gipfel in Brisbane

DER SPIEGEL 48 / 2014 23


Moskau
Einfluss-
WEISSRUSSLAND R U S S L A N D gebiete
Russlands werden, dürfte sich am Dienstag beim Ko-
alitionsausschuss im Kanzleramt zeigen.
Kiew „VOLKS- „Ich will dann Klarheit von Sigmar Ga-
UKRAINE REPUBLIKEN 400 km briel: Unterstützt die SPD die Bemühun-
DONEZK UND gen unserer Kanzlerin oder nicht?“, sagt
MOLDAU TRANSNISTRIEN LUHANSK“ CSU-Chef Horst Seehofer. Der Westen
Chişinău
müsse zusammenstehen, mahnt er. Und
RUMÄNIEN KRIM erst recht gelte das für die Bundesregie-
ABCHASIEN SÜD-
OSSETIEN rung. Auch in seiner Partei gebe es allzu
BULGARIEN S c h wa r z
e s Me e r
russlandfreundliche Strömungen, die er in
GEORGIEN Tiflis
Schach halten müsse. „Die sagen sonst:
TÜRKEI Warum gestatten wir der SPD diese russ-
landfreundliche Haltung, den eigenen Leu-
lichkeit verbauen, zur Entspannung und Dahinter steckt die Sorge, die prorussi- ten innerhalb der CSU aber nicht?“ Von
Entschärfung des Konflikts beizutragen.“ schen Separatisten könnten die Ostukraine Außenminister Steinmeier will Seehofer
Der Außenminister wusste zu diesem dauerhaft abspalten und der Westen müss- fordern, die harte Linie der Kanzlerin nicht
Zeitpunkt, dass Putin ihn möglicherweise te sich damit abfinden. In diesem Fall hätte zu verlassen. „Ich kenne Herrn Steinmeier
empfangen würde. Man könnte seine Ein- sich zum dritten Mal seit dem Ende der als besonnenen Diplomaten. Und wir

FOTOS S. 22/23: JACK TRAN / NEWSPIX / ACTION PRESS; NIKKI SHORT / AFP (R.U.)
lassungen also auch als Versuch lesen, den Sowjetunion die russische Strategie durch- brauchen auch den Dialog mit Russland“,
Termin im Kreml nicht zu gefährden. gesetzt. Vom Staatsgebiet Georgiens sind sagt Seehofer. „Doch wenn Herr Stein-
Es war das erste Mal seit Ausbruch der die Regionen Südossetien und Abchasien meier eine eigene Diplomatie neben der
Krise, dass Risse in der gemeinsamen Hal- unter russischer Kontrolle, in Moldawien Bundeskanzlerin betriebe, so wäre das
tung von Merkel und Steinmeier sichtbar ist es die Region Transnistrien. Die Folge: brandgefährlich.“
wurden. In der Bewertung des russischen Keines der Länder kann in diesem Zustand Am vergangenen Mittwoch nahm die
Vorgehens sind sie sich einig. Unterschied- der Nato beitreten, weil eine Grundbedin- Kanzlerin den Außenminister am Rande
liche Ansichten haben sie darüber, wie gung dafür ist, Grenzstreitigkeiten mit der Kabinettssitzung zur Seite. Sie über-
man den Russen in den nächsten Wochen Nachbarn zuvor beigelegt zu haben. zeugte ihn davon, das für diese Woche ge-
am besten begegnen soll. Das aber ist in- Steinmeier will vermeiden, die Russen plante Treffen des Petersburger Dialogs zu
zwischen die alles entscheidende Frage. zu provozieren. Er fürchtet, das zwinge verschieben. Steinmeier stimmte zu, die
Merkel hält es für wichtig, Putin nun Moskau stärker in eine Verteidigungshal- enge Verbindung des Dialogs mit dem
auch öffentlich darauf hinzuweisen, wie tung und mache eine Zusammenarbeit in Deutsch-Russischen Forum zu trennen, das
seine Haltung im Westen gesehen wird und anderen Bereichen, etwa bei den Atomver- von seinem Vertrauten Matthias Platzeck
was auf dem Spiel steht. Sie glaubt, dass handlungen mit Iran, noch schwieriger. Wie geleitet wird. Der hatte in einem Interview
der russische Präsident nur auf klare An- ernst die Differenzen zwischen Kanzlerin angeregt, die Annektierung der Krim völ-
sagen reagiert – wenn er es überhaupt tut. und Außenminister inzwischen genommen kerrechtlich zu regeln – und damit anzu-

„Rhetorische Eskalation“
Russland-Krise Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die
Einigkeit der Bundesregierung und seine Eindrücke aus dem Kreml
SPIEGEL: Ihre Mahnung zu verbaler Steinmeier: Noch einmal: Unsere Haltung
Mäßigung gegenüber Russland ist als ist klar. Unsere Politik, und damit auch
Kritik an Kanzlerin Merkel verstanden Sanktionsentscheidungen, folgen unse-
worden. Mit welchen Passagen ihrer rer Bewertung der Lageentwicklung. Da-
Rede in Sydney sind Sie nicht einver- bei bleibt es. Wir haben am Montag im
standen? Kreis der EU-Außenminister in Brüssel
Steinmeier: Das ist doch an den Haaren den Auftrag erteilt, Verantwortliche der
herbeigezogen! Es wird weder der Ernst- Separatisten in der Ostukraine zu identi-
haftigkeit der Krise noch den berechtig- fizieren, die gelistet werden sollen, weil
ten Fragen an Gipfelveranstaltungen wie sie die territoriale Integrität der Ukraine
Brisbane gerecht, wenn daraus ein Pro- mit Füßen treten. Das ist das, was jetzt
blem innerhalb der Bundesregierung ge- notwendig war, es ist vor allem die ge- Außenminister Steinmeier, Lawrow
macht werden soll. Was ich unklug fin- meinsame Haltung der Bundesregierung. „Ich nehme Russland beim Wort“
de, ist, wenn Gipfel wie diese, wo letzte SPIEGEL: In Deutschland und in der EU
Möglichkeiten zum direkten, vielleicht wird so kontrovers über den Umgang darin eine Schwäche zu sehen. In der EU
vertraulichen Gespräch bestehen, als mit Putin diskutiert wie noch nie. Sehen kommen 28 Länder mit ganz unter-
öffentliches Forum inszeniert werden. Sie die Einheit des Westens in Gefahr? schiedlichen historischen Erfahrungen,
SPIEGEL: Aber Sie haben sich in der Ton- Steinmeier: Auch der SPIEGEL sollte keine damit verbundenen Perzeptionen und
lage klar von Merkel abgesetzt, und die Angst davor haben, dass in Demokratien objektiv unterschiedlichen Graden an
Kanzlerin ist bereit, die Sanktionen kontrovers diskutiert wird. Es ist doch Betroffenheit zusammen. Trotzdem ist
gegen Putin zu verschärfen. Sie auch? gerade ein Fehlurteil autoritärer Regime, es uns am Ende immer gelungen, eine

24 DER SPIEGEL 48 / 2014


Titel

erkennen. „Der Klügere“ müsse auch mal schen Kanzleramt und Außenministerium.
nachgeben, hatte Platzeck hinzugefügt. Im Allen ist klar, „dass nur Berlin mit den
Kanzleramt hat man sich über diesen Satz Russen auf Augenhöhe verhandeln kann“,
besonders geärgert. Steinmeier tut sich drückt es der Botschafter eines großen EU-
schwer damit, sich von seinem Freund zu Partners aus. Die baltischen Länder und
distanzieren (siehe Interview). Polen sorgen sich, dass Steinmeier die kla-
Merkel hat sich auf die Seite einer Grup- re Linie Berlins in der Ukrainefrage ver-
pe von Moskau-Kritikern geschlagen, die lassen könnte.
den Petersburger Dialog, der eigentlich Beim Treffen der Außenminister am
das Gespräch zwischen den Zivilgesell- vergangenen Montag erhielten solche Sor-
schaften fördern soll, grundlegend um- gen Nahrung. Die Außenbeauftragte der
bauen wollen. Dazu zählen der stellver- EU, Federica Mogherini, schlug vor, wei-
tretende Unionsfraktionschef Andreas tere Russen auf die rote Sanktionsliste der
Schockenhoff, die Grünen-Bundestagsab- EU zu setzen. Doch Steinmeier machte
geordnete Marieluise Beck und Vertreter sich überraschend für eine Formulierung
von mehreren Nichtregierungsorganisatio- stark, die sich nur auf die Separatisten in
nen. Sie fordern in einem Eckpunktepapier der Ukraine bezog. Zur Begründung führte
unter anderem, dass Stiftungen und andere er laut Teilnehmern an, beim G-20-Gipfel
gesellschaftliche Gruppen stärker am Pe- im australischen Brisbane hätten sich
terburger Dialog beteiligt werden. Außer- „neue Kanäle“ nach Moskau aufgetan, die
dem wollen sie einen neuen Vorstand. man nicht gleich wieder zuschütten solle.
Damit dürfte die Zeit des letzten DDR- Nicht nur der litauische Außenminister
Ministerpräsidenten Lothar de Maizière rieb sich die Augen und widersprach hef-
an der Spitze des deutschen Lenkungsaus- tig. Auch Polen und Esten waren gegen
schusses vorüber sein. Er gilt im Kanzler- eine Schonung der Russen; sie hatten die
amt als zu unkritisch gegenüber Russland. Gespräche in Brisbane ganz anders wahr-
Auch Platzeck, der sich Hoffnung auf die genommen, als klare Verhärtung der Fron-
Nachfolge gemacht hatte, kommt nach sei- ten. Russland habe keinen positiven Schritt
nen jüngsten Äußerungen nicht mehr unternommen, der eine Geste der EU
infrage. „Wer Völkerrechtsbruch und mi- rechtfertigen würde, hieß es in den Reihen
FOTO: XINHUA / SIPA PRESS

litärische Aggression legalisieren will, dem der Moskau-Kritiker am Tisch.


fehlt die kritische Distanz gegenüber den Frank-Walter Steinmeier setzte sich am
russischen Partnern“, sagt Schockenhoff. Ende durch.
In den anderen EU-Hauptstädten ist Nikolaus Blome, Peter Müller, Christian Neef,
man besorgt über die Differenzen zwi- Ralf Neukirch, Christoph Schult

geschlossene Haltung einzunehmen, denten Poroschenko und Putin an den


und das dann auch durchzuhalten. Ich Minsker Vereinbarungen festhalten wol-
werde dafür streiten, dass das so bleibt. len. Das ist angesichts der schwierigen
SPIEGEL: Ihr SPD-Kollege Matthias Konfliktlage vor Ort nicht viel und
Platzeck forderte, die Annexion der auch nicht genug, aber es ist eine Basis,
Krim „nachträglich völkerrechtlich“ zu auf der wir weiterarbeiten können.
regeln. Teilen Sie das? SPIEGEL: Gehen Sie davon aus, dass sich
Steinmeier: Dazu ist doch alles gesagt. die territoriale Integrität der Ukraine in
Das russische Vorgehen auf der Krim absehbarer Zukunft wiederherstellen
ist ein grober Verstoß gegen das Völker- lässt, oder sind Krim und Ostukraine
recht und die Grundsätze der europäi- für Kiew dauerhaft verloren?
schen Friedensordnung. Deshalb kön- Steinmeier: Ich kann keinerlei Bereit-
nen und dürfen wir nicht ignorieren schaft Russlands erkennen, die Krim
oder übergehen, was geschehen ist. wieder aufzugeben. Wir müssen leider
SPIEGEL: Sie sind in der vergangenen damit rechnen, dass die völkerrechts-
Woche in Moskau mit Präsident Putin widrige Annexion der Krim auf abseh-
zusammengetroffen. Haben Sie hinter- bare Zeit als Konflikt zwischen uns und
her mehr Hoffnung als vorher? Russland stehen wird. In der Ostukrai-
Steinmeier: Ich hatte das Gefühl, dass es ne sind die Dinge hoffentlich nicht ent-
notwendig war, in einer bedrohlichen schieden. Ich nehme Russland beim
Lage in Kiew und in Moskau das Ge- Wort, dass es die Einheit der Ukraine
spräch mit den politisch Verantwort- nicht zerstören will. Die Realität
lichen zu führen. Die rhetorische Eska- spricht noch eine andere Sprache. Aber
lation zwischen den Hauptstädten war gerade wenn das Ende offen ist, darf
über das Wochenende des G-20-Gipfels man sich doch nicht entmutigen lassen.
und danach gefährlich angeschwollen. Untätigkeit oder Selbstaufgabe der Au-
Ich bin aus Kiew und Moskau mit dem ßenpolitik wäre die falsche Antwort.
Eindruck zurückgekehrt, dass die Präsi- Interview: Christiane Hoffmann

DER SPIEGEL 48 / 2014 25


Gipfel des Scheiterns
Außenpolitik Vor einem Jahr platzten die Verhandlungen über
eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union.
Ein neuer Kalter Krieg begann. Es war ein historisches Versagen –
auch der deutschen Kanzlerin.

Proteste auf dem Maidan im Februar

S
ie sitzen sich gegenüber, an einem liarden Euro“, sagte Janukowytsch. Nun reisen absolviert, gegenseitige Beteuerun-
festlich geschmückten Karree im Rit- will die Bundeskanzlerin etwas sagen. gen ausgetauscht. Und nun, am Abend des
tersaal des ehemaligen Palastes der Merkel schaut in die Runde der 28 28. November 2013, im Alten Schloss von
Großfürsten von Litauen. Sechs Meter lie- Staats- und Regierungschefs der Europäi- Vilnius, wird zur Gewissheit, dass alles um-
gen zwischen ihnen, aber in Wahrheit tren- schen Union, die sich an diesem Abend in sonst gewesen ist. Es ist eine Zäsur.
nen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vilnius versammelt haben. Dann sagt sie Allen ist klar, dass die Bemühungen für
den ukrainischen Präsidenten Wiktor Ja- einen Satz voller Missbilligung und küh- eine Anbindung der Ukraine an die EU
nukowytsch in diesem Moment Welten. lem Sarkasmus, der direkt an den ukraini- vorerst gescheitert sind. Aber niemandem
Eben hat Janukowytsch gesprochen. Er schen Präsidenten gerichtet ist. „Ich kom- ist die Tragweite dieses Abends bewusst.
hat in gewundenen Sätzen zu erklären ver- me mir wie auf einer Hochzeit vor, auf Niemand ahnt, dass sich aus diesem Schei-
sucht, warum dieser Gipfel der Östlichen der der Bräutigam in der letzten Minute tern von Vilnius eine der größten Weltkri-
Partnerschaft der EU in Vilnius nicht so neue Bedingungen stellt.“ sen seit dem Ende des Kalten Krieges ent-
sinnlos ist, wie er jetzt scheint. Und warum Viele Jahre haben die EU und die Ukrai- wickeln wird, dass dies der Abend ist, der
es sich lohne weiterzuverhandeln und er ne über ein Assoziierungsabkommen ver- neue Grenzen in Europa entstehen lässt
genauso engagiert wie bisher für eine ge- handelt. Sie haben Absichtserklärungen und den Kontinent an den Rand eines Krie-
meinsame Zukunft einstehe. „Wir benöti- unterschrieben, Kabinetts- und Parlaments- ges bringt. Es ist der Moment, in dem
gen sehr schnell Hilfen von mehreren Mil- beschlüsse erwirkt, unzählige Delegations- Europa Russland verloren hat.
26 DER SPIEGEL 48 / 2014
Titel

man in Europa lange nicht zur Kenntnis päer ist das Papier ein Vertrauensvor-
nehmen wollte. schuss.
Die Vorgeschichte von Vilnius ist eine In der „Matrix“ haben sie aufgelistet,
Geschichte von Fehleinschätzungen und was es für Janukowytsch bedeutet, wenn
Missverständnissen, von Versäumnissen er sich mit der EU einlässt. Links stehen
und blinden Flecken. Sie ist die Chronik die Bedingungen, die er erfüllen muss, da
eines außenpolitischen Versagens. Auf al- geht es etwa um die EU-Standards oder
len Seiten. Russland hat den Willen der die Forderungen des IWF, rechts das Geld,
Ukrainer unterschätzt, ihr Land an die EU das er dann bekommt.
heranzuführen, und zu sehr auf seine Janukowytsch interessiert die rechte
machtpolitischen Hebel vertraut. Spalte, das Geld. Er nimmt es, wenn es
Die EU hat ein Vertragswerk von rund sein muss, von jedem, von seinem Volk,
tausend Seiten ausgehandelt, doch die von der Russischen Föderation und natür-
machtpolitischen Realitäten hat Brüssel lich auch von der EU. Schon als Minister-
ignoriert. Auch in Berlin hat man lange präsident hat er seine Macht vor allem
nicht wahrhaben wollen, wie sehr Russ- dazu genutzt, seinem eigenen Klan lukra-
land sich durch das Vordringen von Nato tive Posten zu sichern. Aus den Zeiten der
und EU nach Osten bedroht sieht. Dass Bandenkriege in seiner Heimat, dem Koh-
Moskau bereit sein könnte, eine weitere lebecken Donbass, genießt er einen zwei-
Ausdehnung der westlichen Einflusssphäre felhaften Ruf. Um westliche Werte ging es
gewaltsam zu verhindern, hatte man nicht ihm nie, auch wenn er immer wieder das
auf dem Schirm. Gegenteil beteuerte. Aber macht Januko-
Deutschland ist seiner Verantwortung wytsch nicht alles für Geld?
in Europa nicht gerecht geworden. Die Der Präsident bedankt sich für die „Ma-
Kanzlerin hat Warnsignale ignoriert. Da- trix“, den „Vertrauensvorschuss“, den er
bei gilt Außenpolitik als ihre große Stärke, sich eigentlich nicht verdient hat. Er hat
ihre Königsdisziplin. Merkel hat sich als die Europäer als naive Weltverbesserer er-
Moderatorin bewährt, die Spannungen ent- lebt, die dauernd über Werte und Men-
schärfen und konkrete Lösungen erarbei- schenrechte reden, gutgläubige Trottel mit
ten kann. Aber Krisenmanagement allein Geld. Er verspricht seinen beiden Gästen,
macht noch keine gute Außenpolitik. Was dass ihn seine erste Reise nach Brüssel füh-
in dieser Krise fehlte, war Weitsicht, die ren werde. Sie verstehen das als Zeichen.
Fähigkeit, einen aufziehenden Konflikt zu Es sollte das erste von vielen Missverständ-
erkennen. Stattdessen stellte man sich in nissen werden.
Berlin auf den Standpunkt, dass nicht sein
kann, was nicht sein darf. Kiew, 10. Januar 2011
Es sei Aufgabe Deutschlands und der Erweiterungskommissar Füle ist erneut in
EU, sagt Merkel auf dem Gipfel, „stärker die Ukraine gekommen, um Janukowytsch
mit Russland zu reden“. Doch die Einsicht zu warnen. Er solle jetzt keinen Fehler ma-
kommt zu spät. chen. Füle ist ernsthaft besorgt.
Am 20. Dezember 2010 hat die ukraini-
Kiew, Präsidentenpalast, 25. Februar 2010 sche Staatsanwaltschaft Anklage gegen die
Soeben ist Wiktor Janukowytsch in der ehemalige Premierministerin Julija Tymo-
Werchowna Rada, dem ukrainischen Par- schenko erhoben. Ihr wird vorgeworfen,
lament, zum Präsidenten vereidigt worden. Staatsgelder veruntreut zu haben. Es sieht
Die ersten Gäste, die er in seinem Amtssitz so aus, als wolle Janukowytsch seine ehe-
empfängt, sind die Europapolitiker Cathe- malige politische Gegnerin aus dem Weg
rine Ashton und Stefan Füle. räumen, ein fatales Signal. Warum macht
Ist das ein Zeichen? er das?
In seiner Antrittsrede hat Janukowytsch „Tun sie es nicht!“, fleht Füle.
Für die Ukraine wird das Scheitern von der eindeutigen Westorientierung seines Füle glaubt an Europa, an das große Ver-
Vilnius zur Katastrophe. Seit seiner Unab- Vorgängers Wiktor Juschtschenko gerade sprechen der Freiheit, er glaubt an west-
hängigkeit 1991 ringt das Land darum, sich eine Absage erteilt. Die Ukraine solle viel- liche Werte, an Transparenz, an Rechts-
in Richtung EU zu orientieren, ohne die mehr zur „Brücke“ zwischen Ost und West staatlichkeit, an die Softpower der EU.
Beziehungen zu Moskau zu beschädigen. werden. Als „europäischer blockfreier Staat“ Füle kann sich gar nicht vorstellen, dass
FOTO: RAFAEL YAGHOBZADEH / ABACA PRESS / ACTION PRESS

Die Wahl zwischen West und Ost, vor die schwebt ihm die künftige Ukraine vor. jemand Nein sagen könnte, wenn er die
Brüssel und Moskau das Land stellen, hat Nun sitzt er vor Ashton und Füle in sei- Chance hat, zu Europa dazuzugehören.
fatale Folgen für den fragilen Staat. nem Präsidentenpalast. Sie haben ihm ein „Herr Präsident“, warnt Füle, „Sie be-
Doch die Folgen von Vilnius gehen weit Blatt Papier mitgebracht, auf dem sie die wegen sich auf sehr dünnem Eis.“ Der Prä-
über die Ukraine hinaus. 25 Jahre nach sogenannte Matrix präsentieren, Januko- sident und der Kommissar sind allein. Der
dem Mauerfall – und fast 70 Jahre nach wytschs Optionen. Es ist ihre eigene, sehr Tscheche hat in den Achtzigerjahren am
dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ist bürokratische Art, den Weg der Ukraine Moskauer „Staatlichen Institut für Inter-
Europa wieder geteilt. Die Entfremdung in eine europäische Zukunft zu beschrei- nationale Beziehungen“ studiert, einer
zwischen Russen und Europäern wächst. ben. Sie reichen ihm diese „Matrix“, als sowjetischen Kaderschmiede. Er spricht
Moskau und der Westen stehen sich feind- wäre es ein Geschenk. fließend Russisch, einen Dolmetscher
seliger gegenüber als in der Spätphase des „Das haben wir noch mit niemandem so brauchen die beiden nicht. Er erinnert
Kalten Krieges. Es ist eine Realität, die gemacht“, sagt Füle. Für die beiden Euro- Janukowytsch an sein Versprechen, das
DER SPIEGEL 48 / 2014 27
Titel

ukrainische Justizsystem zu reformieren.


„Selektive Justiz“ nennen sie bei der EU
die Willkür, die im ukrainischen Rechts-
wesen herrscht. Füle muss schließlich allen
EU-Mitgliedstaaten verkaufen, warum die
Ukraine nach Europa gehört.
Muss man die europäische Öffentlichkeit
jetzt unbedingt darauf stoßen, wie weit die
Ukraine noch von einem westlichen
Rechtsstaat entfernt ist? Tymoschenkos Ge-
sicht ist eines der wenigen, das im Westen
fast alle kennen. Sie ist die Ikone der Oran-
gen Revolution, die trotz ihrer Verfeh-
lungen als Ministerpräsidentin im Westen
wenig von ihrem revolutionären Glanz ein-
gebüßt hat. Nun ist die Frau mit dem Äh-
renzopf dabei, zur Märtyrerin zu werden.
„Sie müssen 100 Prozent sicherstellen,
dass daraus kein politisch motivierter Pro- Politikerin Tymoschenko: Symbol für Willkürjustiz
zess wird“, sagt Füle. Janukowytsch lä-
chelt. „Ich versichere Ihnen, dass unsere te fest. Tymoschenko könne im Gefängnis In der Ukrainefrage hat sie vor allem
Justiz unabhängig ist“, sagt er. nicht behandelt werden. Es ist eine medizi- Russland nicht im Visier. Pintschuk will
nische Diagnose – und zugleich ein politi- Füle die gute Laune nicht verderben, aber
Kiew, Präsidentenpalast, sches Verdikt. „Wir waren als Ärzte unter- er hat das Gefühl, dass der Kommissar
12. Dezember 2011 wegs und nicht als Politiker“, sagt Einhäupl, unterschätzt, wie groß die Gefahr ist, dass
Es ist so gekommen, wie Füle befürchtet „aber das ist nur die halbe Wahrheit.“ Russland nicht tatenlos zusehen wird, wie
hat. Im Mai hat die Staatsanwaltschaft zum Brüssel die Ukraine an sich bindet. Er
zweiten Mal Anklage erhoben, seit drei Brüssel, Restaurant L’Ecailler du Palais warnt den Kommissar.
Monaten sitzt Tymoschenko in Untersu- Royal, 30. Mai 2012, 19 Uhr Doch Füle geht davon aus, dass Russ-
chungshaft. Es sieht alles nach einer Ver- Füle hat zwei gute Bekannte ins L’Ecailler land keine Einwände gegen das Abkom-
urteilung aus. Füle fragt, ob er Tymoschen- du Palais Royal eingeladen, eines der bes- men erheben wird. „Russland hatte nie ein
ko im Gefängnis besuchen kann. seren Restaurants am Place du Grand Sa- Problem mit der EU“, heißt es in Brüssel.
Janukowytsch geht zu seinem Schreib- blon: den ehemaligen polnischen Präsiden- „Wenn die Ukraine der EU beitreten will,
tisch, auf dem ein Telefonschaltpult aus Sow- ten Aleksander Kwaśniewski, der gerade können wir das nur begrüßen“, hatte Putin
jetzeiten steht. Er drückt einen Knopf, und zum EU-Unterhändler für die Freilassung 2004 in Spanien gesagt.
sofort meldet sich der ukrainische General- Tymoschenkos ernannt wurde, und den Doch das ist lange her. Seither haben
staatsanwalt. „Ich habe hier den Kommissar ukrainischen Oligarchen Wiktor Pintschuk. sich die Beziehungen verschlechtert. Wen-
bei mir“, sagt Janukowytsch, „er möchte Sie sitzen oben, im ersten Stock, damit sie depunkt war nicht zufällig ein Ereignis in
gern die Dame im Gefängnis besuchen.“ ein bisschen mehr Ruhe haben. Er hat ei- der Ukraine: Die Orange Revolution, die
nen guten Wein bestellt für diesen Abend, Ende 2004 die Wahl des proeuropäischen
Charkiw, Frauengefängnis, an dem er auf die europäische Zukunft Präsidenten Wiktor Juschtschenko durch-
14. Februar 2012 der Ukraine anstoßen will. setzte. Seither versuchen beide, Brüssel
Es ist bitterkalt an diesem Morgen, als „Auf Europa“, sagt Füle. und Moskau, die Staaten im Zwischen-
sich die Tore des Frauengefängnisses von Vor zwei Monaten haben die Europäi- raum zwischen Russland und der EU mög-
Katschaniwska für den Bus mit deutschen sche Union und die Ukraine das Assoziie- lichst eng an sich zu binden. „Integra-
Ärzten öffnen. Vor dem Tor skandiert ein rungsabkommen offiziell abgesegnet. Vier tionskonkurrenz“ heißt das im Westen.
Grüppchen von Demonstranten „Julija, Ju- Jahre zuvor hat Brüssel die „Östliche Part- Als Kampf um Einflusssphären versteht
lija!“. Nun drängt sich die Delegation unter nerschaft“ auf den Weg gebracht. Sie sieht man das in Moskau.
Führung des Neurologen Karl Max Ein- eine enge politische und wirtschaftliche „Sie müssen eine Lösung finden, die
häupl, dem Leiter der Berliner Charité, in Anbindung der sechs ehemaligen Sowjet- auch für Putin akzeptabel ist“, warnt
die Zelle von Julija Tymoschenko, ein republiken in Osteuropa und aus dem Kau- Pintschuk den Kommissar. „Mit den Rus-
Raum mit einem kleinen Gitterfenster un- kasus an die EU vor. Eigentlich ist sie ein sen kann es schwierig werden.“ Doch
ter der Decke. Ihr Anwalt ist dabei, zwei Trostpreis für die Länder, denen eine Mit- Füle glaubt, dass er die Russen gut kennt.
Wachleute, zwei deutsche, drei kanadische gliedschaft in der EU dauerhaft versagt „Mit den Russen ist es immer schwierig“,
und ein ukrainischer Arzt. Tymoschenko bleiben wird. sagt er.
liegt auf einem Bett. Sie ist frisiert, ge- Wie vieles in der EU ist die Östliche
schminkt und schick zurechtgemacht. Sie Partnerschaft ein Kompromiss. Die Ost- Berlin, Bundeskanzleramt, Frühjahr 2012
dreht sich zu ihren Besuchern, vor Schmer- europäer, allen voran die Polen, hätten die Auch die Bundeskanzlerin sorgt sich nicht
zen kann sie sich kaum bewegen. Ukraine am liebsten ganz in die EU auf- um Russland, sie sorgt sich um Julija
FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICHENKO / AP

Die EU hat Tymoschenko zum Symbol genommen. Zumindest wollten sie einen Tymoschenko. Sie erreicht den ukraini-
für die Europatauglichkeit der Ukraine ge- Puffer zwischen sich und Moskau. Auf der schen Präsidenten in Jalta auf der Krim.
macht. Kommt sie frei, erhält Kiew das anderen Seite stehen die Süd- und West- Es ist kurz vor der Fußball-EM in der
Gütesiegel der Rechtsstaatlichkeit. Bleibt europäer, die nichts weniger wollten als Ukraine und Polen. Schon im April hat
sie in Haft, behält die Ukraine den Makel eine neue Erweiterungsrunde der EU. Es Bundespräsident Joachim Gauck seine Teil-
der Willkürjustiz. ist kompliziert in der EU. Manchmal ist nahme an einem Präsidententreffen auf
Einen verschleppten Bandscheibenvorfall sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die der Krim abgesagt. Nun ruft Merkel an,
mit chronischen Schmerzen stellen die Ärz- Politik verliert dabei den Überblick. um Janukowytsch doch noch zur Frei-
28 DER SPIEGEL 48 / 2014
„Montblanc“-Pralinen und ukrainische
Milchschokolade verhängt hat, weil sie an-
geblich Qualitäts- und Sicherheitsmängel
aufweisen. Die Süßwaren stammen aus Fa-
briken von Petro Poroschenko, dem Oli-
garchen und späteren Präsidenten der
Ukraine. Dessen Fernsehkanal tritt für die
europäische Integration der Ukraine ein.
Kurz darauf werden weitere Maßnahmen
getroffen. Internationale Medien sprechen
von einem „Schokoladenkrieg“ zwischen
Moskau und Kiew. Es klingt niedlich. Aber
es ist nicht nett gemeint.
Spätestens jetzt hätte man in Berlin er-
kennen müssen, dass Putin mit harten Ban-
dagen um die Ukraine kämpfen wird.
Berlin, Büro der Deutschen
Präsidenten Janukowytsch, Putin 2013: Der Anfang des „Schokoladenkrieges“ Beratergruppe, 20. September 2013
Zwei Wochen lang haben drei Berliner
lassung Tymoschenkos zu bewegen. Am Weg es einschlagen wolle. Es ist eine klare Ökonomen Berechnungen angestellt, und
Anfang versucht es der ukrainische Präsi- Ansage: entweder – oder. nun haben sie endlich die entscheidende
dent mit Small Talk. „Sie sprechen doch Zahl, auf die Janukowytschs Regierung ge-
so gut Russisch, lassen Sie uns ohne Über- Kiew, Hotel Premier Palace, wartet hat. Ricardo Giucci, der Leiter der
setzer reden“, schlägt er vor. Doch Merkel 27. Juli 2013 Deutschen Beratergruppe bei der ukraini-
blockt ab. Sie spricht mit dem ukrainischen Sein Name steht nicht im Programm. Nie- schen Regierung, hat schon mehrere un-
Präsidenten wie mit einem Kind. „Ich will mand scheint zu wissen, dass er kommt. geduldige E-Mails von Mitarbeitern des
Ihnen helfen“, sagt sie, „aber Sie müssen Nicht einmal die russische Botschaft in ukrainischen Vizepremierministers Serhij
Julija Tymoschenko freilassen.“ Kiew war darüber informiert, dass Wladi- Arbusow in seiner Inbox, als er auf den
mir Putin, der russische Präsident, im Pre- Sendeknopf klickt. Er schickt 18 Seiten
Brüssel, EU-Ratsgebäude, mier Palace auf einer Konferenz seiner Gutachten mit dem Titel „Effekt-Ein-
25. Februar 2013 ukrainischen Anhänger auftritt. schätzung eines möglichen Wandels in der
Beim EU-Ukraine-Gipfel kündigt Janu- „Wir werden die Richtungsentscheidung Handelspolitik Russlands vis-à-vis der
kowytsch an, dass er mit Putins Zollunion der Ukraine respektieren“, sagt er. „Aber Ukraine“.
in Zukunft enger zusammenarbeiten will. es gibt Fakten, die für sich selbst sprechen.“ Die Frage ist, was es die Ukraine kosten
Um den wachsenden Einfluss Brüssels Es sind keine freundlichen Sätze. Für die wird, wenn Moskau seine Handelserleich-
zu kontern, baut Moskau diese Ge- Zuhörer im Saal klingen sie wie eine Ver- terungen für Kiew kappt. Das Dokument
meinschaft auf: die Eurasische Wirtschafts- heißung, für die ukrainische Regierung enthält Schaubilder, Balkendiagramme,
union. Sie soll ehemalige Sowjetrepubli- sind sie eine Ohrfeige und eine Drohung. Erklärungen zur Zollunion, aber am Ende
ken zu einem einheitlichen Wirtschafts- Eine knappe Stunde hat Putin zuvor im interessiert nur, was auf Seite zwei unter
raum zusammenschließen. Herzstück ist Präsidentenpalast mit Janukowytsch gere- „Zusammenfassung“ steht: „Ukrainische
die Ukraine. det und ihn dann verärgert stehen lassen. Exporte nach Russland würden jährlich
Für Putin ist die Eurasische Union der Das Gespräch wird die russische Haltung um drei Milliarden Dollar sinken.“ Es ist
Kern seiner Außenpolitik, mit der er Mos- zu Kiew grundlegend verändern. Bisher die Zahl, eine seriöse deutsche Zahl, auf
kaus traditionelle Einflusszone wahren hatte Moskau nämlich nicht daran ge- die die ukrainische Regierung nun ihre
und verlorenes Terrain zurückgewinnen glaubt, dass das Assoziierungsabkommen Hoffnung setzt, der mathematische Be-
möchte. Wie immer aber geht es in der mit Brüssel tatsächlich zustande kommen weis für das Opfer, das sie für ein gemein-
russischen Außenpolitik auch um Status- könnte. Die EU würde auf der Freilassung sames Europa bringen muss. Sollten sie
fragen. Zwar hat Brüssel auch Moskau Ele- Tymoschenkos bestehen und Januko- dafür nicht eine Kompensation von der
mente einer Assoziierung angeboten. Aber wytsch würde niemals all die unbequemen EU bekommen? Oder einen Kredit vom
Russland, die einstige Weltmacht, will Reformen durchführen, die Brüssel ver- IWF?
nicht in derselben Schlange wie die Repu- langte. So lautete die Einschätzung Mos-
blik Moldau und Armenien in Brüssel an- kaus. Washington, IWF-Hauptquartier,
stehen. Moskau will Großmacht sein. Es Doch jetzt ahnt Putin, dass Januko- 14. Oktober 2013
will Augenhöhe. wytsch tatsächlich erwägt, das Abkommen Vor Arbusows Delegation sitzt David Lip-
Der Kreml schlägt Brüssel Verhandlun- zu unterschreiben. Wird er jetzt handeln? ton, die Nummer zwei des Internationalen
gen zwischen EU und Eurasischer Union Währungsfonds, ein Mann, der schon seit
vor, sozusagen von Unionszentrum zu Uni- Moskau, Nachrichtenagentur Interfax, 2011 den Titel „Deputy Managing Di-
onszentrum. Doch José Manuel Barroso 29. Juli 2013, 9.24 Uhr rector“ trägt, die rechte Hand von Chris-
weigert sich, die Führung der Eurasischen Die Kreml-nahe Nachrichtenagentur Inter- tine Lagarde. Er ist freundlich, finden die
Union zu treffen. Er versteht die Gemein- fax schickt eine Eilmeldung, in der russi- Ukrainer, jedenfalls wenn man ihn mit den
schaft als Konkurrenzorganisation. sche Verbraucher vor dem Verzehr ukrai- IWF-Ökonomen vergleicht, die mit starren
„Man kann nicht gleichzeitig in einer nischer Bonbons und Schokolade gewarnt Gesichtern neben Lipton sitzen und in de-
Freihandelsunion mit der EU und in einer werden. Sie zitiert Gennadij Onischtschen- nen die Ukrainer nur Verachtung und Ab-
Zollunion mit Russland sein“, sagt der ko, den Leiter der russischen Verbraucher- lehnung erkennen können.
FOTO: AFP

Kommissionspräsident am 25. Februar. schutzbehörde, der soeben ein Verkaufs- Es ist die zweite Reise von Arbusow
Kiew müsse sich entscheiden, welchen verbot für Bonbons der Marke Variete, für nach Washington innerhalb von zwei Wo-
DER SPIEGEL 48 / 2014 29
Titel

chen. Inzwischen ist aus ukrainischer Sicht sie die Sache auf sich beruhen. Mit Janu- Vor allem Haber zeigt sich wenig kom-
klar, dass es ein Abkommen mit der EU kowytsch telefoniert Merkel in diesen Mo- promissbereit. Als der Botschafter die
nur geben wird, wenn die Ukraine einen naten nicht. ukrainische Position erläutern will, fällt
Milliardenkredit vom IWF bekommt. ihm Haber ins Wort: „Exzellenz, wir ken-
Am 3. Oktober, bei ihrer ersten Reise, Brüssel, Büro des EU-Erweiterungs- nen alle Ihre Argumente.“ Solange Tymo-
wollten sie um Unterstützung bei der ame- kommissars, 17. Oktober 2013 schenko im Gefängnis sei, bauche man da-
rikanischen Regierung für bessere Kondi- Die Ukraine steht kurz vor der Zahlungs- rüber nicht zu reden. Jelissejew appelliert
tionen eines möglichen IWF-Kredits wer- unfähigkeit. Zugleich setzen die Russen an Haber, sich nicht an den Fall Tymo-
ben. Der IWF hatte ihnen im Frühjahr Be- Kiew massiv unter Druck. Obwohl die schenko zu klammern. Doch ohne Erfolg.
dingungen genannt, die sie für untragbar russischen Sanktionen längst eine andere Je näher der Gipfel rückt, desto größer
hielten: Die subventionierten Gaspreise Sprache sprechen, nehmen Berlin und wird in der EU der Druck auf die Deut-
sollten um 40 Prozent angehoben, die Brüssel die ukrainischen Bedenken, die schen, dem Fall Tymoschenko nicht so gro-
Hrywnja, die ukrainische Währung, um Angst vor Russland nicht ernst. Die ße Bedeutung zu geben. Vor allem die
25 Prozent abgewertet werden. Für Janu- Ukrainer, so denken sie, wollen nur den Polen drängen, das Assoziierungsabkom-
kowytsch, der sich 2015 zur Wiederwahl Preis für ihre Unterschrift in die Höhe men nicht daran scheitern zu lassen. „Wir
stellen muss, wäre das politischer Selbst- treiben. wollen nie wieder eine gemeinsame Gren-
mord. Aber die Ukrainer hatten den Ein- Arbusow reist kurz nach seinem Besuch ze mit Russland haben“, sagt Präsident
druck, dass der IWF verhandlungsbereit beim IWF nach Brüssel, um Erweiterungs- Bronisław Komorowski in einem vertrau-
sei, zumal Viktoria Nuland, die Europabe- kommissar Füle die Zahlen zu übergeben, lichen Gespräch. Deutschland beginnt, sei-
auftragte der amerikanischen Regierung, die die Deutsche Beratergruppe berechnet ne Position zu überdenken. Doch dafür ist
ihnen zusicherte, dass Washington hinter hat. Er glaubt, die Zahlen sprächen für es reichlich spät.
einem IWF-Kredit stehe. sich. Aber Füle nimmt ihn nicht ernst. „Ha- Gerade in der Außenpolitik ist Merkel
Nun legen die Ukrainer Lipton ihren ben Sie auch berechnen lassen“, fragt er oft für ihren Pragmatismus gelobt worden.
Gegenvorschlag vor. Er bleibt weit hinter ihn süffisant, „was mit der ukrainischen Er gilt als besondere Stärke der Kanzlerin,
den Forderungen des IWF zurück. Für die Wirtschaft passieren würde, wenn morgen ihre Art, ein politisches Problem auf den
Verhandlungen um das EU-Abkommen ein Meteorit einschlüge?“ einzelnen lösbaren Fall zu reduzieren, um
wird es eng. sich dann ganz konkret für dessen Lösung
Berlin, Auswärtiges Amt, 17. Oktober 2013 einzusetzen. Doch der grenzenlose Prag-
Berlin, Bundeskanzleramt, Alle reden vom Geld. Deutschland redet matismus stößt in diesem Fall an Grenzen.
16. Oktober 2013 weiter über Tymoschenko. Wer sich zu sehr auf die Lösung einer De-
In Deutschland scheint man davon nichts Der ukrainische Botschafter in Brüssel, tailfrage konzentriert, verliert schnell den
zu ahnen. Knapp einen Monat nach der Konstjantyn Jelissejew, begibt sich auf eine Überblick. In der Ukrainefrage sollte dies
Bundestagswahl telefoniert Kanzlerin Mer- „special mission“ durch die EU, um dieje- Merkel zum Verhängnis werden. Während
kel seit Langem einmal wieder mit dem nigen zu bearbeiten, die die Ukrainer un- sich Berlin unablässig für Tymoschenko en-
russischen Präsidenten. Wladimir Putin ter sich „die problematischen Hauptstädte“ gagiert, bleibt die eigentliche Gefahr für
gratuliert ihr zu ihrem Wahlerfolg. Sie ver- nennen. Er will erreichen, dass die Euro- Kiews EU-Assoziierung unbeachtet: der
abreden, so bald wie möglich Regierungs- päer angesichts der zugespitzten Lage ihre Machtanspruch der Russischen Föderation.
konsultationen abzuhalten. Die haben bis Forderung nach Tymoschenkos Freilassung
heute nicht stattgefunden. aufgeben. Moskau, Militärflughafen,
Außerdem übermittelt die Bundeskanz- Seine Tour führt Jelissejew nach Den 9. November 2013
lerin Präsident Putin ihre Sorge „über die Haag und Kopenhagen, nach Rom, Madrid, Es kommt selten vor, dass Wladimir Putin
Inhaftierung der Besatzung des in Russland Paris und London. Die letzte Station ist den Kreml oder seine Residenz vor den
festgehaltenen Greenpeace-Bootes“, wie Berlin. Es ist die schwierigste der Reise. Toren Moskaus für ein Treffen verlässt.
es in der Pressemitteilung zu dem Telefonat Zuerst trifft Jelissejew im Kanzleramt Mer-
heißt. Die Ukraine kommt darin nicht vor. kels außenpolitischen Berater Christoph

X IN H UA / G A MMA / L AIF
Im Telefonat streift Merkel das Thema, Heusgen, dann geht es ins Auswärtige Amt
aber als Putin nicht darauf eingeht, lässt zu Staatssekretärin Emily Haber.
S ERG EI S U PI N S KY / A FP

Orange Revolution auf


dem Maidan in Kiew
Weg in die Krise

Unabhängigkeit Präsidentenwahl
In einem Referendum bestätigen Wiktor Janukowytsch
92 Prozent der Wähler den gewinnt in einer Stichwahl Wiktor Janukowytsch
Parlamentsentscheid zum gegen Ministerpräsidentin bei seiner Vereidigung
zum Präsidenten
Austritt aus der Sowjetunion. Julija Tymoschenko.

1991 2004 2009 2010 2011

Orange Revolution Boykott Östliche Partnerschaft Tymoschenko in Haft


Nach wochenlangen friedlichen Protesten gegen Im Januar stoppt Im Mai bietet die Ein Gericht verurteilt die frühere
Wahlfälschung gewinnt Wiktor Juschtschenko Moskau alle EU der Ukraine Regierungschefin wegen Amts-
die wiederholte Präsidentenwahl gegen Gaslieferungen eine engere missbrauchs bei einem Gasgeschäft
den moskautreuen Wiktor Janukowytsch. in die Ukraine. Zusammenarbeit an. mit Russland zu sieben Jahren Haft.

30 DER SPIEGEL 48 / 2014


„Die Länder entscheiden allein über ihre
zukünftige Ausrichtung“, sagt Merkel. Das
habe sie auch in ihren Gesprächen mit Wla-
dimir Putin immer wieder thematisiert.
Doch mit der Realität hat das wenig zu
tun. Kiew kann längst keine Entscheidun-
gen mehr unabhängig von Moskau treffen.
Doch Merkel besteht weiter auf dem
„symbolhaften Fall Tymoschenko“, auf
„Demokratie, Rechtsstaat und Bürgerfrei-
heiten“.
Washington, IWF-Hauptquartier,
19. November 2013
Reza Moghadam schreibt einen Brief an
Arbusow, den Ersten Vizepremierminister
der Ukraine. Es ist die Antwort auf den
ukrainischen Vorschlag, den Arbusow ei-
Ex-Kommissar Füle in Prag: „Ihr könnt weder nach Osten noch nach Westen gehen“ nen Monat zuvor überbracht hat.
Seit 21 Jahren ist Moghadam beim IWF,
Doch an diesem Samstagabend lässt er sich Im Oktober reist er dreimal zu Janu- geboren im Westen Irans. Der Leiter der
unerwartet zu einem vertraulichen Tête-à- kowytsch. Weil die EU nur eine englische Europaabteilung des IWF hat Erfahrung
Tête auf einem Militärflughafen in der Version des Abkommens nach Kiew ge- mit Ländern, die glauben, mit dem IWF
Nähe der russischen Hauptstadt bringen. schickt hat, bringt Glasjew dem Ukrainer, könne man verhandeln wie auf dem Basar.
Dort wartet Janukowytsch. der kein Englisch versteht, die tausend Sei- „Lieber Mr Arbuzov“, schreibt Mogha-
Es ist das zweite Gespräch der beiden ten in russischer Übersetzung mit. dam mit kaum verhohlener Herablassung,
Präsidenten innerhalb weniger Wochen, Putin lockt Janukowytsch in Sotschi und „vielen Dank für Ihren jüngsten Vorschlag
zuletzt haben sie sich am 27. Oktober im Moskau mit Subventionen und Wirtschafts- für eine Politik, die durch eine mögliche
Schwarzmeerkurort Sotschi getroffen. vorteilen von rund einem Dutzend Mil- Vereinbarung mit dem IWF unterstützt
Putin verachtet Janukowytsch. Er ver- liarden Dollar jährlich, mit günstigeren werden könnte.“ Erfreut nehme man zur
abscheut sein ewiges Lavieren. Mehrmals Gas- und Ölpreisen. Er droht mit einem Kenntnis, so Moghadam süffisant, dass die
lässt der Kreml-Herr ihn stundenlang wie Handelskrieg, der die ohnehin lahmende ukrainische Regierung die Notwendigkeit
einen Bittsteller warten. ukrainische Wirtschaft in den Ruin treiben einer Kurskorrektur anerkenne.
Der Kreml weiß auch, dass auf Janu- würde. Möglicherweise, so spekulieren die Moghadam braucht nur einen einzigen
kowytsch kein Verlass ist. Der Mann aus Experten in Brüssel, lässt er ihn auch wis- Satz, um Kiews Gegenvorschlag in seine
der Ostukraine ist weniger europafreund- sen, was Moskau über seine Machenschaf- Einzelteile zu zerlegen: „Aus unserer Sicht
lich als seine Vorgänger. Doch den Wün- ten in der Hand hat. „Kompromat“ heißt genügen Ihre Vorschläge noch immer nicht
schen aus Moskau verweigert er sich noch das auf Russisch. für einen entscheidenden und umfassen-
immer hartnäckig. Janukowytschs Stimmung hat sich nach den Politikwechsel und das Ziel, die ma-
Seit Putin verstanden hat, dass Janu- diesen Treffen radikal verändert. Er ist kroökonomischen Ungleichgewichte der
kowytsch das Assoziierungsabkommen tat- schweigsamer, die üblichen endlosen Mo- Ukraine zu reduzieren“, schreibt er.
FOTO: SVEN DÖRING / AG FOCUS / DER SPIEGEL

sächlich unterschreiben könnte, schickt er nologe bleiben aus. „Wiktor, was ist los?“,
regelmäßig Sergej Glasjew nach Kiew, um fragen ihn seine Brüsseler Gesprächspart- Kiew, Präsidentenpalast,
den Ukrainern die Folterwerkzeuge zu zei- ner. Er weicht aus, verliert sich in Andeu- 19. November 2013, nachmittags
gen. Der Putin-Berater für die wirtschaft- tungen. Über die Russen will er nicht wirk- Auf Bitten Barrosos ist Füle in die Ukraine
liche Integration im postsowjetischen Raum lich reden. gereist, um Janukowytsch erneut zu tref-
ist in der Ukraine geboren. Er droht Kiew, fen. Dieser kommt direkt zur Sache. Es
Vergünstigungen zu streichen, und malt den Berlin, Bundestag, 18. November 2013
Ukrainern in düstersten Farben die Konse- Zehn Tage vor ihrer Abreise nach Vilnius P H OTO MI G / DPA

quenzen aus. „Das Assoziierungsabkommen gibt Merkel im Bundestag eine Regierungs- Ukrainische Anti-Putin-Demonstration in Mariupol
ist für die Ukraine Selbstmord“, sagt er. erklärung zum bevorstehenden Gipfel ab.

Euro-Maidan Krimkrise Annexion


Seit Ende November protestieren Das Oberhaus des russischen In einem Referendum sprechen
Hunderttausende auf dem Maidan Parlaments stimmt Putins sich 97% für einen Anschluss an
in Kiew gegen die Entscheidung der Antrag zur Entsendung von Russland aus. Zwei Tage später
Regierung, das Assoziierungsabkommen Truppen auf die Krim zu. annektiert Putin die Halbinsel.
mit der EU nicht zu unterzeichnen.

2013 2014

Eskalation Vermittlungsversuch Flugzeugabschuss Annäherung


Die Auseinandersetzungen Die Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands Abschuss einer mit Zivi- Die Konfliktparteien unterzeichnen in
zwischen Demonstranten vermitteln zur Beendung des Konflikts vergebens. listen besetzten Boeing 777 Minsk einen Waffenstillstand, der in
und der Polizei fordern Janukowytsch flüchtet und wird daraufhin abgesetzt. der Malaysia Airlines über den kommenden Wochen
mehr als 80 Tote. Bildung einer Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk. der Ostukraine wiederholt gebrochen wird.

DER SPIEGEL 48 / 2014 31


Titel

habe Gespräche mit Putin gegeben, sagt


er. Der habe erklärt, wie tief die russische
und die ukrainische Wirtschaft miteinan-
der verbunden seien. „Das hat mich wirk-
lich überrascht.“ Füle will nicht glauben,
was er hört: „Aber Herr Präsident, Sie wa-
ren Premierminister, Sie sind seit einigen
Jahren Staatsoberhaupt. Sie sind doch der
Letzte, dem man etwas über die gegensei-
tige Abhängigkeit zwischen der ukraini-
schen und der russischen Wirtschaft erzäh-
len muss. Im Übrigen hat das Assoziie-
rungsabkommen gar keinen Einfluss da-
rauf.“
„Aber die Kosten, die unsere Experten
berechnet haben“, entgegnet Janukowytsch.
„Welche Experten?“, fragt Füle. Der Ukra-
iner erläutert seinem verblüfften Gast die
Größenordnung der Verluste, die der Ukra- Kanzlerin Merkel beim EU-Gipfel in Vilnius 2013: Auf der Hochzeit sitzengelassen
ine nach der Unterschrift unter das Abkom-
men mit der EU angeblich drohen. Staatspräsidenten François Hollande, da den wirtschaftlichen Schaden einer EU-
Später taucht die Zahl 160 Milliarden klingelt sein Mobiltelefon. Assoziierung zu bemessen. Am Flughafen
Dollar in der Presse auf, das ist mehr als Es ist Aleksander Kwaśniewski, der ehe- drückt er Kljujew das Dokument in die
50-mal so viel wie die drei Milliarden Dol- malige Präsident Polens. Kwaśniewski ist Hand. Er soll schnell zurück zum Minis-
lar der Deutschen Beratergruppe. Die 160 aufgebracht. Auch er kommt gerade von terkabinett fahren, um in letzter Minute
Milliarden Dollar stammen aus einer Stu- einem Gespräch mit Janukowytsch im Prä- noch die Tagesordnung zu ändern. Es wird
die des Instituts für Wirtschaft und Pro- sidentenpalast. „Er hat uns ausgetrickst!“, das Ende der Verhandlungen über das As-
gnose der Nationalen Akademie der Wis- ruft Kwaśniewski. „Janukowytsch wird soziierungsabkommen von Vilnius besie-
senschaften der Ukraine. Es ist die Zahl, nicht unterschreiben. Er ist ein Trickser, geln, die endgültige Absage an die EU.
mit der Janukowytsch von nun an argu- ein notorischer Lügner.“
mentieren wird. Wien, Präsidentensuite im Hotel Sacher,
„Stefan, wenn wir unterschreiben, helft Kiew, Residenz des Vizepremierministers, 21. November 2013, 19.30 Uhr
ihr uns dann?“, fragt Janukowytsch. Füle 20. November 2013 Janukowytsch sitzt an einem Tisch aus der
ist sprachlos. „Sorry, wir sind nicht der Vizepremier Arbusow und seine Berater Rokoko-Zeit, ein „Riesen-Lackel“, wie sei-
IWF. Wo kommen diese Zahlen her?“, beugen sich über den Brief des IWF. In ne österreichischen Gastgeber sagen wür-
fragt er schließlich. „Ich höre sie zum ers- diesem Moment ist ihnen klar, dass die den, und wartet darauf, dass die Gläser ge-
ten Mal.“ Das seien geheime Zahlen, sagt Verhandlungen scheitern werden. Mona- füllt werden. „Herr Präsident“, sagt Janu-
Janukowytsch: „Können Sie sich vorstel- telang hatte sich Arbusow innerhalb der kowytsch. „Es freut mich, dass Sie sich
len, was passieren würde, wenn unsere Regierung gegen die prorussische Fraktion Zeit genommen haben. Was heute passiert
Leute von diesen Zahlen erfahren, wenn um Ministerpräsident Mykola Asarow für ist, hätte ich Ihnen nicht zwischen Tür und
sie herausfänden, was die Annäherung an Europa eingesetzt, nun steht er wie ein Angel erklären können.“
die EU unser Land kostet?“ Trottel da. Jeder Satz, den er liest, ist eine Vor ihm sitzt Heinz Fischer, Österreichs
Demütigung für ihn. Noch nicht einmal Bundespräsident. Er ist noch immer ver-
Brüssel, Residenz des EU-Botschafters der mit seinem offiziellen Titel hat der Abtei- wirrt von jenem Moment, als sich die bei-
Ukraine, 19. November 2013, 22.15 Uhr lungsleiter den Vizepremier angesprochen. den Staatsoberhäupter wenige Stunden
Konstjantyn Jelissejew hat sich in seine Arbusow weiß, dass seine Gegner in der zuvor, beim Mittagessen in der Hofburg,
Residenz zurückgezogen, um Fußball zu nächsten Kabinettsitzung über ihn herfal- gegenübersaßen. Ihnen wurde gerade ein
schauen, Ukraine gegen Frankreich, die len werden. Kaffee zum Dessert serviert, als ihnen zeit-
Qualifikation für die Weltmeisterschaft in gleich von ihren Beratern ein Zettel gereicht
Brasilien. Das Hinspiel hatte die Ukraine Kiew, auf dem Weg zum Flughafen, wird. Auf Fischers Zettel steht: „Ukraine
vor vier Tagen in Kiew mit 2:0 gewonnen. 21. November 2013 stoppt Vorbereitung für Abkommen mit der
Nun steht das Rückspiel in Paris an. Es ist Janukowytsch ist auf dem Weg zum Re- EU“; es ist eine Eilmeldung der österrei-
die 75. Minute. Frankreich hat gerade ein gierungsterminal des Flughafens Boryspil chischen Nachrichtenagentur APA.
Tor geschossen. Es führt 3:0. am östlichen Stadtrand von Kiew, um zum Fischer beugt sich zu Janukowytsch, ehr-
Jelissejews Mobiltelefon klingelt. Füle Staatsbesuch nach Wien zu fliegen, als er lich verblüfft, weil die Eilmeldung alles,
ist dran. Er kommt gerade von Januko- sich die Rechtsverordnung Nr. 905-r vor- was sie bis zu diesem Zeitpunkt bespro-
wytsch. Füle ist aufgebracht: „Pass auf“, nimmt. Es ist die Anweisung an seine Re- chen hatten, über den Haufen wirft. „Jetzt
sagt er zu Jelissejew, „ich habe jetzt das gierung, das Assoziierungsabkommen mit kenne ich mich eigentlich gar nicht mehr
Gefühl, dass ihr das Abkommen in Vilnius der EU aus Gründen der „nationalen Si- aus“, raunt Fischer Janukowytsch zu, „ist
nicht unterzeichnen werdet.“ cherheit der Ukraine“ zu stoppen. Neben das mit Ihrem Wissen erfolgt?“
ihm im Mercedes S 600, seiner Staats- „Es war eine unausweichliche Entschei-
FOTO: JANEK SKARZYNSKI / AFP

Paris, Stade de France, Ehrentribüne, limousine, sitzt der Sekretär seines Natio- dung“, sagt Janukowytsch am Abend im
19. November 2013, 22.45 Uhr nalen Sicherheitsrats Andrij Kljujew. Sacher, alternativlos. Sie sind jetzt allein,
Das Spiel ist aus. Frankreich hat gewonnen, Janukowytsch macht einige kleinere zwei Präsidenten und ein Dolmetscher, in
und die Ukraine ist draußen. Sie darf nicht Korrekturen. Er will, dass eine trilaterale der schönsten Suite, die das österreichische
zur WM. Wiktor Pintschuk steht auf der Kommission mit Vertretern der Ukraine, Präsidialamt an diesem Nachmittag noch
Ehrentribüne nicht weit vom französischen der EU und Russlands gegründet wird, um so kurzfristig buchen konnte. Es ist ein
32 DER SPIEGEL 48 / 2014
Positionen aus, aber das Treffen ist nur
noch eine Farce. In einer der bedeutends-
ten Fragen der europäischen Außenpolitik
hat Deutschland versagt.
Auch Putin hat sich verrechnet. Noch
in der Nacht versammeln sich Tausende
Demonstranten auf dem Maidan. Drei
Monate später flieht Janukowytsch. Putin
annektiert die Krim. Bis heute hat der Kon-
flikt mehr als 4000 Tote gefordert, im Os-
ten der Ukraine tobt ein Krieg.
Man habe, sagt Außenminister Frank-
Walter Steinmeier bei seiner Antrittsrede
in Berlin im vergangenen Dezember, viel-
leicht unterschätzt, „dass es dieses Land
überfordert, wenn es sich zwischen Europa
und Russland entscheiden muss“. Auch Füle
ist überzeugt, dass die EU die Ukraine vor
Politiker Barroso (4. v. l.), Janukowytsch*: Kein Verständnis, warum man zu Europa Nein sagen kann eine unmögliche Wahl gestellt hat. „,Tut
uns leid für eure geografische Lage‘, haben
letzter verzweifelter Versuch, Nähe zu kon- nach Vilnius genommen. Sie könnten so- wir ihnen gesagt, ,aber ihr könnt weder
struieren, die es längst nicht mehr gibt. fort unterzeichnet werden. nach Osten noch nach Westen gehen.‘“
„Bitte verstehen Sie mich doch, ich kann Ein paar Minuten später kommt Janu- Vor allem haben die Europäer Moskau
das jetzt nicht unterschreiben“, sagt Janu- kowytsch mit einem Dolmetscher, dem unterschätzt und seine Entschlossenheit,
kowytsch, „ich musste mich per SOS nach ukrainischen EU-Botschafter und einigen eine klare Westbindung der Ukraine zu
Moskau wenden, aber ich will die Türe nach Mitarbeitern. Das ist ungewöhnlich, die verhindern. Sie haben russische Einwände
Europa offenhalten. Bitte interpretieren Sie wichtigen Gespräche hat er bisher immer und ukrainische Warnungen nicht ernst ge-
das nicht als eine Absage an Europa.“ allein geführt. Die Begrüßung ist kurz, die nommen oder ignoriert, weil sie nicht in
Vier Stunden und 15 Minuten sitzen die Rollen sind vertauscht. Diesmal ist die EU das eigene Weltbild passten. Berlin hat
beiden Präsidenten zusammen, bis eine der Bittsteller. Sie will unbedingt, dass Ja- eine von Prinzipien geleitete Außenpolitik
Viertelstunde vor Mitternacht. Und eigent- nukowytsch unterschreibt. betrieben, die es geradezu zum Tabu mach-
lich redet nur Janukowytsch. Im Amtsver- Barroso ist die Nervosität anzumerken. te, mit Russland über die Ukraine zu spre-
merk des österreichischen Präsidialamts Die Wirtschaft der Ukraine werde langfris- chen. „Unsere ehrgeizige Politik der Öst-
wird später über Janukowytschs elegische tig vom EU-Beitritt profitieren. „Polen und lichen Partnerschaft wurde nicht von einer
Erläuterungen stehen: „Seine Ausführun- die Ukraine hatten etwa das gleiche Brut- ehrgeizigen und einvernehmlichen Russ-
gen wurden immer wieder durch sehr lan- toinlandsprodukt, als die Berliner Mauer landpolitik begleitet“, sagt Füle. „Wir ha-
ge und detaillierte Detailbemerkungen der fiel. Jetzt ist das von Polen dreimal so ben keine Politik gefunden, um uns ange-
historischen und politischen Entwicklun- hoch“, sagt er. Dann kommt, was man den messen auf Russland einzulassen.“
gen der letzten 20 Jahre ergänzt oder un- Ukrainern als „mutigen Schachzug“ ange- Russland und Europa haben aneinander
terbrochen.“ kündigt hatte: Barroso gibt zu verstehen, vorbeigeredet und sich missverstanden. In
dass Brüssel die Forderung nach der Frei- Ost und West trafen zwei außenpolitische
Vilnius, Vertretung der Europäischen lassung Tymoschenkos fallenlassen wird. Kulturen aufeinander, eine westliche Poli-
Union, 28. November 2013, mittags Sie reden noch immer von Tymoschenko? tik, die sich über Verträge und Paragrafen
Für einen Moment glaubt Serhij Arbusow, Janukowytsch ist entgeistert. Versteht definiert – und eine östliche, in der es viel
dass es noch Hoffnung gibt. Der Unter- Brüssel nicht, dass es längst um ganz an- mehr um Status und Symbole geht.
händler Janukowytschs ist in die litauische dere Themen geht? Das Gespräch wird hit- Vier Monate nach dem Gipfel von Vil-
EU-Vertretung gefahren, um mit Füle und zig. Van Rompuy, nicht bekannt für über- nius wird der politische Teil des Assoziie-
seinen Beamten einen letzten Einigungs- bordendes Temperament, kann nicht mehr rungsabkommens zwischen Brüssel und
versuch zu starten. „Wir werden heute ei- an sich halten: „Sie handeln kurzsichtig“, Kiew doch noch unterzeichnet, weitere
nen mutigen Schachzug machen“, sagt ei- herrscht er Janukowytsch an. „Die Ukrai- drei Monate später der wirtschaftliche Teil.
ner von Füles Leuten. Mehr will er nicht ne hat sieben Jahre verhandelt, weil sie Der Preis, den die Ukraine in der Zwi-
verraten. Haben die Europäer vielleicht dachten, es nutzt ihr. Wieso soll es jetzt schenzeit gezahlt hat, ist gigantisch. Dieses
doch noch Geld lockergemacht? nicht mehr nutzen?“ Mal bekommt Russland ein Mitsprache-
Draußen hat der Empfang für die Staats- recht. 2370 Fragen müssen erst mal mit
Vilnius, Hotel Kempinski, 28. November und Regierungschefs längst begonnen. Die Moskau geklärt werden, bevor das Abkom-
2013, 18.30 bis 20.30 Uhr EU-Unterhändler verstehen, dass sie Janu- men in Kraft treten kann. Ein Prozess von
Sie warten auf Janukowytsch. Es ist das kowytsch nicht mehr umstimmen werden. Jahren. Es ist das letzte gemeinsame The-
letzte Mal, dass sie den ukrainischen Prä- Nach zwei Stunden sagt Barroso: „Wir ma, über das Moskau und die EU noch
sidenten treffen, um ihn doch noch zur müssen gehen.“ Van Rompuy und er schüt- miteinander sprechen.
Unterschrift zu bewegen, ein eigentlich teln Janukowytsch kurz die Hand, dann Christiane Hoffmann, Marc Hujer,
aussichtsloser Versuch. Aber Barroso und schließt sich die Tür hinter ihnen. Ralf Neukirch, Matthias Schepp,
EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy Gregor Peter Schmitz, Christoph Schult
FOTO: ANDRIUS UFARTAS

haben sich vorgenommen, das Unmögliche


zu versuchen. Van Rompuy hat zwei Exem-
plare des Assoziierungsabkommens mit
A ls die deutsche Delegation unter Füh-
rung der Kanzlerin am nächsten Mor-
gen Janukowytsch zu einer letzten Bespre-
Animation: Wie die Ukraine
zum Krisenland wurde
chung trifft, ist längst alles entschieden. spiegel.de/sp482014ukraine
* Beim EU-Gipfel in Vilnius am 28. November 2013. Sie tauschen noch einmal die bekannten oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 48 / 2014 33


Titel

Held des Rückzugs


Zeitgeschichte Michail Gorbatschow war bislang Kronzeuge dafür, dass der Westen mit der Nato-
Osterweiterung Zusagen von 1990 brach. Nun hat der Ex-Kreml-Chef widerrufen. Zu Recht?

E
s wird vermutlich der Widerruf des
Jahres. Vielfach hatte der ehemalige
Kreml-Chef Michail Gorbatschow in
der Vergangenheit behauptet, der Westen
habe Russland mit der Nato-Osterweite-
rung betrogen. Kanzler Helmut Kohl und
die Amerikaner hätten ihm 1990 verspro-
chen, „dass die Nato sich keinen Zentime-
ter nach Osten bewegen würde“. Vielleicht
würden sie sich die Hände reiben, ätzte
Gorbatschow etwa in der Bild-Zeitung,
„wie toll man die Russen über den Tisch
gezogen“ habe.
Gorbatschow, das Opfer.
Fragt sich nur, wessen.
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls voll-
zog der einst gläubige Kommunist jeden-
falls eine überraschende Kehrtwendung
und erklärte in der regierungsnahen russi-
schen Zeitung Russia Beyond the Head-
lines, über eine Ausdehnung der Nato sei
„überhaupt nicht gesprochen“ worden.
Die erstaunliche Äußerung des „Helden
des Rückzugs“ (Hans Magnus Enzensber-
ger) beflügelt eine Debatte, die seit Jahren
tobt. Der Streit um angebliche oder tat-
sächliche Zusagen Bonns oder Washing-
tons in den Verhandlungen zur deutschen
Einheit hat wie kein anderes geschichts-
politisches Thema dazu beigetragen, das
Klima zwischen Russland und dem Westen
zu vergiften.
Wer auch immer wissen will, wie es zu
dem neuen Kalten Krieg 2014 kommen
konnte, muss der Frage nachgehen: Was
war los, als deutsche, amerikanische, fran-
zösische und britische Politiker sowie Di-
plomaten vor einem Vierteljahrhundert
Ehemaliger Staatspräsident Gorbatschow am 9. November in Berlin mit ihren sowjetischen Kollegen über die
Einheit Deutschlands verhandelten?
An Dokumenten und Zeugenaussagen
Nato-Osterweiterung ESTLAND herrscht kein Mangel. Doch noch immer
alte Nato-Mitglieder kommt Neues hinzu, nicht nur von Gor-
LETTLAND
batschow.
neue Nato-Mitglieder
LITAUEN So zitierte kürzlich der US-Politologe
1999 2004 2009 RUSSLAND Joshua Shifrinson Akten des State Depart-
WEISS-
RUSSLAND ment in der Onlineausgabe von Foreign
POLEN
Affairs. Auch dem SPIEGEL liegen Do-
kumente vor, die aus dem Auswärtigen
TSCHECHIEN UKRAINE
Amt (AA) stammen. Und fast zeitgleich
SLOWAKEI mit Gorbatschows Widerruf erklärte Ro-
MOLDAU
UNGARN land Dumas, 1990 französischer Außen-
FOTO: ADAM BERRY / GETTY IMAGES

SLOWENIEN
RUMÄNIEN Krim minister, das Gegenteil: Selbstverständ-
GEORGIEN lich sei Moskau versprochen worden, die
KROATIEN
Nato-Truppen nicht „näher an das Ter-
BULGARIEN
ritorium der ehemaligen Sowjetunion
ALBANIEN heranzurücken“.
Die Situation damals war unübersicht-
lich. Die DDR stand vor dem Kollaps, in
34 DER SPIEGEL 48 / 2014
Moskau drohte eine Rebellion Ewigges- biet der DDR. Er glaube „allen Worten“
triger gegen Gorbatschow. Die Zukunft des Besuchers, entgegnete Schewardnadse
Deutschlands, der Nato, des Warschauer (SPIEGEL 46/2009).
Pakts, der Sowjetunion – alles ungewiss. Genscher war in jener Woche nicht der
In solchen Zeiten gehören Versuchsbal- einzige Kreml-Besucher. Am Tag zuvor
lons zum diplomatischen Handwerk. Si- weilte Baker dort, und wie die US-Akten
cher ist: Vier westliche Staatsmänner wa- zeigen, hatte sich der Amerikaner die Idee
ren nach Aktenlage bereit, den Sowjets ei- des Deutschen zu eigen gemacht. Er ver-
nen Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung sprach den Gastgebern „eiserne Garan-
anzubieten: Frankreichs Präsident François tien“, dass „weder die Jurisdiktion noch
Mitterrand, US-Außenminister James die Streitkräfte der Nato ostwärts verscho-
Baker, Londons Chefdiplomat Douglas Minister Genscher, Schewardnadse 1990 ben würden“. Als Gorbatschow erklärte,
Hurd – und Deutschlands Außenminister Allen Worten geglaubt eine Vergrößerung der Nato-Zone sei
Hans-Dietrich Genscher. „unakzeptabel“, antwortete Baker: „Dem
Zumindest Baker und Genscher haben vereinten Deutschland –Red.) ziehen wol- stimmen wir zu.“
eine solche Zusicherung gegenüber Gor- le, um ihr Gebiet auszudehnen.“ Gelten solche Wortwechsel als Verein-
batschow und seinem Außenminister Edu- Auch Londons Außenminister Hurd ließ barung, die Vertrauensschutz genießt?
ard Schewardnadse auch ausgesprochen. sich von Genschers Argumenten beeindru- Vermutlich verzichteten die Sowjets auf
Möglicherweise Kanzler Kohl ebenfalls, al- cken. Beide waren sich einig. Eine „Erklä- eine bindende Regelung, weil sie ihre
lerdings stimmen das russische und das rung“ sei notwendig, „dass die Nato nicht Position überschätzten und noch glaubten,
deutsche Gesprächsprotokoll in dieser Fra- beabsichtige, ihr Territorium nach Osten ein neutrales Gesamtdeutschland durch-
ge nicht überein. auszudehnen“. Und US-Kollege James Ba- setzen zu können. Statt Nato-Osterweite-
Erstaunlicherweise griffen die Sowjet- ker, ein pragmatischer Texaner, zeigte sich rung also Nato-Westverkleinerung. Als
politiker die Offerte nicht auf. Noch Jahre zwar „nicht gerade beglückt“ von Gen- Genscher und Schewardnadse am 22. März
später wunderte sich Genscher darüber, schers Formel, aber sah darin „die beste, erneut berieten, erklärte Moskaus Außen-
dass Moskau diese Chance verspielte. Und die im Augenblick vorliegt“. minister, es gebe ja „noch die Idee des BM
trotzdem hielt der Westen seine Zusiche- Der Genscher-Vorschlag meinte aller- (Bundesministers, also Genschers –Red.),
rung zunächst ein. dings zweierlei: Er zielte mittelfristig auf dass die Nato ihr Gebiet nicht ausdehne.
Die Geschichte des Streits um die Nato- Osteuropa, unmittelbar jedoch auf die Er halte diesen Gedanken gegenwärtig
Osterweiterung begann mit einer Rede DDR. Der Bonner Außenminister wollte nicht für eine aussichtsreiche Überlegung“.
Genschers am 31. Januar 1990 in Tutzing. deren Gebiet auch nach einer Wiederver- Das war eine Absage. Wohlgemerkt:
Moskau träumte von einem neutralen Ge- einigung außerhalb der Nato belassen. von sowjetischer Seite.
samtdeutschland, was weder Bonn noch Bis heute nutzen westliche Politiker die Den letzten Vorstoß unternahm ein
Washington wollten. Doch wie sollte man Mehrdeutigkeit der Genscher-Formel und hochrangiger Beamter des Auswärtigen
deren Idee, ein wiedervereinigtes Deutsch- behaupten – wie etwa Baker –, dass nur Ost- Amts am 9. April 1990 in Moskau. Er warb
land in der Nato zu verankern, den So- deutschland gemeint gewesen sei, wenn sie damit, es gebe eine „Zustimmung aller
wjets schmackhaft machen? von einer Nichtausdehnung Richtung „Os- Nato-Partner“ zum Satz: „keine ‚Grenz-
Zwischen Kanzleramt und Kreml ten“ sprachen. Wer möchte schon zugeben, verschiebung‘ der Nato nach Osten“. Die
herrschte damals Funkstille. Die Sowjets damals einen Deal mit Moskau auf Kosten sowjetische Seite blieb bei ihrer Haltung.
waren noch empört über Kanzler Kohls der Polen oder Ungarn erwogen zu haben? Zu diesem Zeitpunkt waren die Ameri-
Zehn-Punkte-Plan zur Einheit. Genscher Und Gorbatschow sagt, die Vorstellung, kaner und Kohl bereits auf Distanz zu Gen-
hatte bei einem Besuch in Moskau Anfang Mitglieder des damals noch existierenden schers Plan gegangen. Sie boten nur noch
Dezember den Ärger abbekommen: Kohl Warschauer Pakts könnten zur Nato über- einen „Sonderstatus“ für das DDR-Gebiet
betreibe „waschechten Revanchismus“, wechseln, habe seinerzeit „vollkommen innerhalb des Bündnisses an, um Moskau
schimpfte Gorbatschow, „nicht einmal Hit- absurd“ geklungen. Wirklich? zu besänftigen. Von Osteuropa redete bald
ler“ habe sich so etwas geleistet, blaffte Der SPIEGEL, aber auch die New York niemand mehr.
Schewardnadse. Times oder das Wall Street Journal berich- Und da Moskau nicht insistierte, wurde
Genscher wollte eine Brücke bauen und teten schon ab Februar 1990 über das heik- aus dem großen Versprechen am Ende ein
erklärte in Tutzing, es sei „Sache der le Thema. Schließlich hatte Ungarns da- kleines Zugeständnis: Der Zwei-plus-vier-
Nato“, eine Erklärung abzugeben: „Was maliger Außenminister Gyula Horn offen Vertrag schreibt fest, dass keine ausländi-
immer im Warschauer Pakt geschieht, eine erklärt, sein Land strebe in die politischen schen Nato-Streitkräfte in den neuen Bun-
Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Gremien der Nato. Und auch die Akten- desländern stationiert werden. Und selbst
Osten, das heißt näher an die Grenzen der lage ist eindeutig. Er habe mit seinem Vor- dieses Zugeständnis entwertete der Wes-
Sowjetunion heran, wird es nicht geben.“ schlag, die Nato zu begrenzen, „außer der ten noch durch die Nato-Osterweiterung.
Noch fürchtete der Außenminister, die DDR auch andere Staaten gemeint“, sagte Bleibt zu klären, warum das westliche
Sowjets könnten in alte Muster zurückfal- Genscher laut britischem Protokoll. Mos- Bündnis den osteuropäischen Staaten erst
len. Er hatte 1956 den Ungarn-Aufstand kau müsse Gewissheit haben, dass War- 1994 eine Beitrittsperspektive eröffnete,
verfolgt; als ein Teil der Rebellen verkün- schau nicht „von einem Tag auf den ande- wenn die Zusicherungen aus dem Einheits-
dete, man wolle der Nato beitreten, schlug ren“ das Bündnis wechseln könne. jahr unverbindlich waren.
die Sowjetarmee die Rebellion blutig nie- Und so trug der deutsche Außenminister Antwort Dieter Kastrups, Chefunterhänd-
der. Das sollte sich nicht wiederholen. am 10. Februar 1990 im prunkvollen Ka- ler bei den Zwei-plus-vier-Verhandlungen
Die Alliierten waren von dem Vorschlag tharinensaal in Moskau seine Idee vor. Der 1990 und danach AA-Staatssekretär: „Das
angetan. Frankreichs Mitterrand stimmte deutsche Vermerk gibt Genscher mit den wäre in jedem Fall unsere Haltung gewe-
bei einem Abendessen mit Kohl zu, wie Worten wieder: „Für uns stehe fest: Die sen, um auf russische Empfindlichkeiten
FOTO: REUTERS

ein Beamter festhielt: „Man müsse feierlich Nato werde sich nicht nach Osten ausdeh- Rücksicht zu nehmen.“
erklären, dass die Nato keinen Vorteil hie- nen.“ Das gelte „ganz generell“ – also So etwas nennt man Realpolitik.
raus (aus einer Nato-Mitgliedschaft des auch für Osteuropa, nicht nur für das Ge- Klaus Wiegrefe

DER SPIEGEL 48 / 2014 35


Deutschland

„Kollektiv versagt“
SPIEGEL-Gespräch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, 60, über die Geheimdienste als
Gegner, die Fehler deutscher Fahnder und ein mögliches Asyl für Edward Snowden

SPIEGEL: Herr Oppermann, Sie waren fünf


Jahre lang Chef des Parlamentarischen
Kontrollgremiums, das die Geheimdienste
überwacht. Die sind gerade vollauf mit der
Beobachtung von Salafisten, Dschihad-Rei-
senden und Syrien-Heimkehrern beschäf-
tigt. Ist in dieser Situation Kritik an den
Diensten überhaupt erlaubt?
Oppermann: Natürlich, berechtigte Kritik ist
immer erlaubt.
SPIEGEL: Man hat den Eindruck, die Diskus-
sion über Islamisten und IS droht die De-
batte über die nötige Reform der Sicher-
heitsbehörden abzuwürgen.
Oppermann: Dazu darf es nicht kommen.
Auch mir macht es Sorgen, dass Hunderte
Deutsche im Irak und in Syrien kämpfen
und als mögliche Attentäter nach Deutsch-
land zurückkehren. Und natürlich brauchen
wir gerade in einer solchen Situation Diens-
te, die das schon im Vorfeld aufklären. Den- „Das ist eine der
noch dürfen deshalb die Fehler der Vergan-
genheit nicht kaschiert werden. Und ich größten Niederlagen
glaube, dass unsere Dienste auch bereit der deutschen
Sicherheitsbehörden.“
sind, sich der Kritik zu stellen. Wir werden
darauf drängen, dass die Rechtsgrundlagen
der Dienste grundlegend revidiert werden.
SPIEGEL: Welche Fehler meinen Sie?
Oppermann: Nehmen Sie das Ermittlungsde-
bakel rund um den Nationalsozialistischen
Untergrund: Wenn die Dienste die Infor-
mationen über den NSU richtig verarbeitet
und ausgetauscht hätten, hätte eine in der
deutschen Nachkriegszeit beispiellose Ver-
brechensserie wohl verhindert werden kön-
nen. Das ist eine der größten Niederlagen
der deutschen Sicherheitsbehörden. Die
Verfassungsschutzämter von Bund und
Ländern haben kollektiv versagt.
SPIEGEL: Schon beim Oktoberfest-Attentat
in München 1980 wurde schlampig ermit-
telt, wie wir heute wissen. Das neue rechte
Bündnis aus Neonazis und Hooligans hatte
lange niemand auf dem Schirm. Es scheint,
als sei der Linksextremismus von den Er-
mittlungsbehörden stets wachsamer beglei-
tet worden als der Rechtsextremismus.
Oppermann: Leider wurde der Rechtsextre-
mismus über viele Jahre systematisch un-
terschätzt. Hinzu kamen viele einzelne
Fehlentscheidungen. Die Behörden haben
den brisanten Moment, als der Rechtsex-
tremismus von der offenen Gewalt gegen
Ausländer und Flüchtlinge über „national
befreite Zonen“ in den terroristischen Un-
tergrund gegangen ist, schlicht verpasst.
SPIEGEL: Könnte das noch mal passieren?
Oppermann: Das darf nicht noch mal passie-
ren. Deshalb brauchen wir eine neue Sen-
36 DER SPIEGEL 48 / 2014
sibilität für die rassistische Dimension von lich: Von den meisten Skandalen hat das
Straftaten. Dass die noch fehlt, zeigt der Kontrollgremium aus den Medien erfahren
bizarre Streit um die Kriminalstatistik, in und nicht von der Bundesregierung, die
der viele Gewalttaten gegen Flüchtlinge eigentlich dazu verpflichtet ist, jedes be-
als Wirtshausschlägereien abgetan wurden sondere Vorkommnis zu melden.
und der rassistische Hintergrund verkannt SPIEGEL: Wie soll die systematische Kontrol-
worden ist. le aussehen?
SPIEGEL: Im Abschlussbericht des NSU- Oppermann: Jeder Mitarbeiter der Dienste
Untersuchungsausschusses im Thüringer muss wissen, dass seine Arbeit von heute
Landtag wird bestritten, dass es nur die auf morgen kontrolliert werden kann. In
Pannen und Fehler der Behörden waren, diesem Bewusstsein arbeitet dort heute
die ins Desaster führten. Da wird Kumpa- niemand. Nur bei Untersuchungsausschüs-
nei mit Neonazis unterstellt. sen kommen Akten zum Vorschein – wenn
Oppermann: Von gezielter politischer Kum- sie nicht vorher geschwärzt oder geschred-
panei würde ich nicht sprechen. Aber eine dert wurden. Wir brauchen etwas, das man
strukturelle Sehbehinderung der Sicher- im Basketball full court press nennt – dau-
heitsbehörden halte ich für erwiesen. ernden Druck ausüben auf dem gesamten
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das? Spielfeld.
Oppermann: Einige Ämter haben ein Eigen- SPIEGEL: Und die technische Überwachung?
leben geführt. V-Leute wurden als Exis- Oppermann: Das vom Verfassungsgericht
tenzberechtigung der eigenen Arbeit be- entwickelte Grundrecht zum Schutz der
trachtet. Erkenntnisse wurden gehütet, Vertraulichkeit und Integrität von IT-Sys-
aber nicht weitergegeben, weil man fürch- temen läuft ohne technische Vorkehrungen
tete, bei einem Zugriff der Polizei könnte ins Leere. Die Frage, ob das Fernmelde-
die Quelle auffliegen. Das ist eine Menta- geheimnis oder der Schutz der Privatsphä-
lität, die völlig inakzeptabel ist. re gewahrt wird, hängt nicht selten davon
SPIEGEL: Trauen Sie den Diensten noch? ab, welche Filter und welche Software ein-
Oppermann: Das fällt vielen schwer. Einen gesetzt werden. Dafür brauchen wir – auch
Vertrauensvorschuss kann es nach alldem im Sinne eines technischen Grundrechts-
nicht geben. Das darf aber nicht zu einem schutzes – ein permanentes Monitoring für
undifferenzierten permanenten Misstrauen alle Instrumente, die die Dienste einsetzen.
auf allen Ebenen führen. Die Arbeit der SPIEGEL: Blickt der einzelne Abgeordnete
Dienste ist für unsere Sicherheit unerläss- angesichts der technischen Komplexität
lich. Worauf es ankommt, ist, dass sie ef- überhaupt noch durch, was er da eigentlich
fektiv kontrolliert werden. kontrollieren soll?
SPIEGEL: Im Moment kontrollieren neun Par- Oppermann: Klar ist, dass wir im Zuge des
lamentarier mit einer Handvoll Mitarbeiter NSA-Untersuchungsausschusses zu einer
6500 Bedienstete des BND, 2800 des Bun- Revision der Rechtsgrundlagen kommen
desamts für Verfassungsschutz und 1100 müssen. Das BND-Gesetz und das Artikel-
des Militärischen Abschirmdienstes. Sie 10-Gesetz müssen grundlegend überarbei-
sollen die NSU-Aufklärung, den NSA-Ab- tet und die Befugnisse der Dienste klar
hörskandal und viele weitere Themen im normiert werden. Das wird dann auch hel-
Auge behalten. Wie soll das gehen bei der fen, die Kontrolle zu schärfen.
Flut von Informationen? SPIEGEL: Der BND beruft sich im Ausland
Oppermann: Das ist ein absolutes Missver- auf den „offenen Himmel“ und ist der An-
hältnis. In den USA haben die zuständigen sicht, überwachen zu dürfen, wen er will,
Ausschüsse des Senats und des Repräsen- solange es keine deutschen Staatsbürger
tantenhauses jeweils rund 60 Mitarbeiter trifft. Juristen vermissen eine Rechtsgrund-
für die Kontrolle der Geheimdienste zur lage dafür.
Verfügung. Dort sind die Dienste natürlich Oppermann: Hoheitliches Handeln ist nie-
auch größer. Wir haben zwar die Rechte mals frei, es ist immer an den Grundsatz
unseres Kontrollgremiums schon in der der Verhältnismäßigkeit gebunden. Des-
letzten Großen Koalition umfassend ge- halb ist es in der Tat fraglich, ob die allge-
stärkt. Aber Sie haben recht: Die parla- meine Aufgabenzuweisung aus dem BND-
mentarische Kontrolle muss weiter aus- Gesetz als Rechtsgrundlage heute noch
und umgebaut werden. Sie befindet sich ausreicht. Es darf nicht der Eindruck von
in ihren Strukturen zum Teil noch immer Narrenfreiheit entstehen.
im analogen Zeitalter, als die Mittel der SPIEGEL: Wenn sich BND-Mitarbeiter mit
Dienste aus Observieren von Verdächtigen, Hinweisen an das Kontrollgremium wen-
FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Abhören von Telefonen und dem Öffnen den, wird automatisch die BND-Leitung
von Briefen bestanden. Die Strukturen des informiert. Ist das nicht widersinnig?
digitalen Zeitalters erfordern aber mehr. Oppermann: Immerhin ermöglicht diese Vor-
SPIEGEL: Was soll sich ändern? schrift, die 2009 gegen Widerstände aus
Oppermann: Wir müssen weg vom skandal- der Bundesregierung durchgesetzt wurde,
getriebenen Einzelfall, von der reaktiven es den Mitarbeitern überhaupt, bei den
hin zu einer systematischen Kontrolle. Die parlamentarischen Kontrolleuren Missstän-
hat es bisher nicht gegeben. Seien wir ehr- de anzuzeigen.
DER SPIEGEL 48 / 2014 37
Deutschland

SPIEGEL: Wer soll sich melden, wenn die Oppermann: In Deutschland setzt das Recht ten Zugriff der Nachrichtendienste ausge-
Meldung zuerst beim Chef landet? die Schranken, nicht das Budget und nicht setzt sind. Gleichzeitig wollen wir funktio-
Oppermann: Jeder Mitarbeiter, der sich of- der Stand der Technik. In den USA hat sich nierende Dienste, die Informationen sam-
fenbart, ist vor strafrechtlicher Verfolgung nach 2001 die Philosophie durchgesetzt: Al- meln, um Anschläge auf unser Gemeinwe-
geschützt. Das Kontrollgremium wird zu- les, was technisch möglich sei, müsse man sen abwehren zu können.
dem streng darauf achten, dass dem Mit- auch machen. Das läuft auf Totalüberwa- SPIEGEL: Aber richtig bleibt, dass Sie seit
arbeiter keine Nachteile entstehen. chung hinaus. Wir haben andere gesetzliche dem Wahltag verbal massiv abgerüstet ha-
SPIEGEL: Tatsächlich? Die Fälle Edward Aufgabenbeschreibungen vorgenommen. ben. Sie bezichtigten Angela Merkel der
Snowden und Chelsea Manning haben Und die halte ich für angemessen. „Heuchelei“ und nannten die Ausspähung
doch gezeigt, dass Whistleblower, wenn SPIEGEL: Sie haben im Sommer 2013 gesagt, von Daten in Deutschland „eine Straftat“.
es ernst wird, allein stehen. die Snowden-Enthüllungen müssten zu ei- Oppermann: In der Tonlage habe ich viel-
Oppermann: Bei direktem Whistleblowing nem politischen Wendepunkt führen. Hat leicht abgerüstet, in der Sache keineswegs.
ohne Information der Amtsleitung müss- es den gegeben? Ich habe mich vor und nach dem Wahltag
ten wir das Gremium in seinem Charakter Oppermann: Nein, leider gab es keinen wirk- für den NSA-Untersuchungsausschuss
verändern. Wir sitzen dort ja mit den lichen Wendepunkt in den USA. Immerhin starkgemacht. Die SPD hat ihn mehr als
Diensten zusammen, die müssten wir dann gibt es Nachdenklichkeit. Die Amerikaner alle anderen vorangetrieben.
im entscheidenden Moment rausschicken. akzeptieren jetzt – übrigens im Gegensatz SPIEGEL: Im Ausschuss stimmt die SPD stets
SPIEGEL: Wäre das so schlimm? zu den Briten – ein Konsultationsverfahren mit der CDU gegen die Opposition, etwa
Oppermann: Ich halte es für problematisch, in der Frage, ob und welche bilateralen als es um die Snowden-Vernehmung ging.
Mitarbeitern der Dienste zu erlauben, Par- Dokumente für den NSA-Untersuchungs- Warum zeigen Sie nicht klarer Kante?
lamentariern ohne Wissen der Bundes- ausschuss freigegeben werden können Oppermann: Die SPD hat im Ausschuss ein
regierung Geheimnisse vorzutragen. Da- SPIEGEL: Und das ist ein Erfolg? Der Aus- starkes Interesse an einer vollständigen
mit würde die operative Verantwortung schuss wird mit Akten bombardiert, aber Aufklärung. Deswegen ist der Regelfall üb-
auf die Kontrolleure übergehen. relevante Dokumente werden seitenweise rigens, dass die Beschlüsse dort einstimmig
SPIEGEL: Vernünftige Informationen über geschwärzt. Und dann erzählt man den gefasst werden. Nur bei Snowden hat die
Verfehlungen erhalten Sie so nicht. Abgeordneten noch: Wir müssen erst un- Koalition gegen die Opposition gestimmt.
Oppermann: Das müssen wir abwarten. sere Freunde in den USA fragen, ob wir Natürlich ist Snowden ein interessanter
Früher konnte sich der Betroffene im euch das zeigen dürfen. Absurd! Zeuge. Leider hat der Ausschuss mit ihm
Rahmen des Beamtenrechts höchstens an und seinem Anwalt bisher keinen Weg ge-
seinen Präsidenten wenden. Jetzt kann funden, wie er vor dem Ausschuss aussa-
er sich auch direkt bei uns melden. Und gen kann. Schaufensteranträge allerdings
wir können diesen Beamten dann auch unterstützen wir nicht. Der Ausschuss darf
schützen. sich nicht im US-Bashing erschöpfen.
SPIEGEL: Auf dem Papier. In der Praxis kann SPIEGEL: Schaufensterantrag? Was spricht
sich jeder Mitarbeiter, der bei Ihnen vor- dagegen, Snowden in Deutschland zu ver-
spricht, seine Beförderung abschminken. nehmen, wo er frei sprechen könnte?
Oppermann: Wenn sich Edward Snowden Oppermann: Der Ausschuss hat Edward
von schlechten Beförderungsaussichten Snowden mehrere Gesprächsangebote ge-
hätte abschrecken lassen, wäre es nie zur macht, die er alle abgelehnt hat. Eine Ver-
NSA-Affäre gekommen. Für mich sind Oppermann beim SPIEGEL-Gespräch* nehmung in Deutschland würde komplizier-
Hinweise auf gravierende Missstände eher „Weg vom skandalgetriebenen Einzelfall“ te rechtliche Fragen aufwerfen und darüber
ein Grund für Beförderungen. hinaus Edward Snowden auch persönlichen
SPIEGEL: Für Personalchefs in der Regel Oppermann: Das mag manchem so erschei- Risiken aussetzen. Die Zukunft von Edward
nicht. Aber was spricht gegen ein Whistle- nen. Aber wollen Sie im Ernst die Koope- Snowden wird nicht in Deutschland entschie-
blower-Gesetz, das Informanten schützt? ration aufkündigen? Die Welt ist ja nicht den – und das sieht er wohl auch selbst so.
Oppermann: Der Informant wird ja ge- sicherer geworden mit dem „Islamischen Er hat unbestreitbare Verdienste. Er hat auf
schützt, wenn er sich an das Gremium wen- Staat“, den Vorgängen in der Ukraine oder Missstände aufmerksam gemacht, die wir
det. Sollte sich die aktuelle Regelung nicht Ebola. Auf eine Zusammenarbeit in Sicher- sonst so nicht kennen würden. Aber er hat
bewähren, gehen wir da noch mal ran. Im heitsfragen würde ich gerade in diesen Ta- vermutlich das Gesetz in den USA gebro-
Übrigen sind unsere Dienste mit denen gen ungern verzichten. Daran müssen wir chen, und dafür muss er – auch als Whistle-
der USA nicht vergleichbar. festhalten, und gleichzeitig müssen wir Dif- blower – die Verantwortung übernehmen.
SPIEGEL: Aber auch die sind nimmersatt und ferenzen aushalten und aufarbeiten. Ich trete ein für eine humanitäre Lösung.
rüsten gerade technisch und personell auf, SPIEGEL: Der Oppositionspolitiker Thomas SPIEGEL: Und wie sähe die aus?
um Amerikanern und Briten künftig auf Oppermann klang einst forscher. Der woll- Oppermann: Die müsste in Absprache mit
Augenhöhe begegnen zu können. te massiven Druck auf die Amerikaner aus- den USA so gefunden werden, dass er sich
Oppermann: Der BND hat zweifellos ein völ- üben. Seit Sie Fraktionschef sind, hört man unter bestimmten Zusagen den Behörden
lig anderes Selbstverständnis und eine an- dazu nichts mehr, obwohl zahllose Fragen in den USA stellt.
dere Kultur als die NSA. Er hat auch ein offen sind. Macht die Macht zahmer? SPIEGEL: Verhandlungen darüber sind offen-
anderes Budget. Ziel ist nicht der totale Oppermann: Ich bin weiterhin davon über- bar gescheitert.
FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Zugriff auf alle Kommunikation dieser zeugt, dass die amerikanische Praxis dem Oppermann: Die können wieder aufgenom-
Welt; der BND definiert Krisengebiete und westlichen Demokratiemodell schadet. men werden. Da müssen sich auch die
arbeitet dort zielgerichtet. Wir wollen eine freiheitliche Demokratie USA bewegen. Er müsste ein faires Ver-
SPIEGEL: BND-Chef Gerhard Schindler hat mit einer geschützten Privatsphäre, in der fahren zugesichert bekommen. Das würde
gerade eine umfangreiche Wunschliste vor- die politische, private und geschäftliche den Konflikt entschärfen und allen Betei-
gelegt, auf der sich etwa mit dem Einkauf Kommunikation nicht dem unbeschränk- ligten helfen, gute Lösungen zu finden.
von Software-Schwachstellen sehr fragwür- SPIEGEL: Herr Oppermann, wir danken Ih-
dige Positionen finden. * Mit den Redakteuren Jörg Schindler und Horand Knaup. nen für dieses Gespräch.

38 DER SPIEGEL 48 / 2014


Hart, aber
herzlich
Reformen Wirtschaftsminister
Gabriel und sein französischer
Kollege Macron haben ein
Reformpaket erarbeitet. Doch
wie ernst ist es gemeint?

D
er Minister verbat sich jede Scho-
nung. „So hart wie möglich“ solle
man seinem Land die Leviten le-
sen, wünschte sich Frankreichs Wirtschafts-
minister Emmanuel Macron. Ein Weckruf
sei schließlich überfällig: Bislang hätten
die Franzosen ja nur „Scheinreformen“
durchgeführt, klagte der Sozialist.
Adressaten von Macrons unverblümter
Ansage: Henrik Enderlein, Chef des
Jacques Delors Instituts in Berlin, sowie
Jean Pisani-Ferry, oberster Wirtschaftsstra-
tege des französischen Premiers. Die bei-
den Wissenschaftler haben in den vergan-
genen Wochen im Auftrag Macrons einen
Reformplan für das Krisenland Frankreich
erarbeitet. Am Donnerstag will dieser das Minister Macron, Gabriel
Papier bei einem Festakt in Paris gemein-
sam mit seinem deutschen Amtskollegen
Sigmar Gabriel (SPD) vorstellen – als Fahr- ßen – auch aus Frust über den französi- in die marode deutsche Infrastruktur pum-
plan für eine Reform Frankreichs. schen Reformstau. Der SPD-Chef weiß pen. Bislang hat Schäuble dafür in den Jah-
Die rund 30 Seiten lange Bestandsauf- um die Gemütslage der französischen So- ren 2016 bis 2018 lediglich zehn Milliarden
nahme fällt so hart aus wie von Macron zialisten. Deshalb hat er dafür gesorgt, Euro zusätzlich eingeplant. Enderlein und
gewünscht: Frankreich, dem eine Milliar- dass der Ton gegenüber dem Nachbarland Pisani-Ferry wünschen sich etwa einen
denstrafe der EU-Kommission wegen des nicht nur hart ausfällt, sondern zugleich doppelt so hohen Betrag.
eklatanten Haushaltsdefizits droht, müsse herzlich. Zwar will auch EU-Kommissionspräsi-
sich grundlegend neu aufstellen, heißt es Schon der Arbeitsauftrag an die beiden dent Jean-Claude Juncker diese Woche
darin. Forscher betonte die Augenhöhe zwischen sein lang erwartetes Investitionspaket
Das Land sei derzeit schlicht wenig wett- Deutschland und Frankreich: „Die aktuelle vorstellen. Aber Junckers Vorschlag dürf-
bewerbsfähig, vor allem wegen seines ver- Lage birgt das Risiko eines verlorenen te – entgegen seinen Wahlkampfverspre-
krusteten Arbeitsmarktes. „Frankreichs Jahrzehnts in Europa mit niedrigem Wirt- chungen – weitgehend auf Taschenspieler-
Arbeitszeitflexibilität muss sich entspre- schaftswachstum, hohen Schulden und Ar- tricks wie Umwidmungen im EU-Haushalt
chend der ökonomischen Bedingungen er- beitslosigkeit“, heißt es darin. „Als die bei- beruhen. Kein Wunder, dass seine Berater
höhen“, schreiben die Forscher – und schla- den größten Volkswirtschaften in Europa den Reformpakt zwischen Paris und Berlin
gen vor, durch eine Neugestaltung der fran- tragen Frankreich und Deutschland eine ausdrücklich unterstützen. „Das ist der
zösischen Tarifverträge die Zwangsjacke besondere Verantwortung, um starkes und Anstoß, den wir jetzt brauchen“, heißt es
der staatlich verordneten 35-Stunden-Wo- nachhaltiges Wirtschaftswachstum sicher- in Brüssel.
che in vielen Sektoren zu lockern. zustellen.“ Doch wird die Bundesregierung Appelle
Auch die Lohnstückkosten müssten sin- Zudem hat Gabriel dafür gesorgt, dass für teure neue Investitionen in Deutsch-
ken. Verdienststeigerungen sollten sich Enderlein und Pisani-Ferry dem prosperie- land wirklich ernst nehmen? Finanzminis-
künftig „an der Produktivität, nicht mehr renden Deutschland ebenfalls Reformen ter Schäuble will sich für einen ausgegli-
automatisch am durchschnittlichen Lohn- abverlangen. „Kurzfristiges Wirtschafts- chenen Haushalt feiern lassen, das lässt
anstieg in Frankreich orientieren“, raten wachstum und die positive Arbeitsmarkt- ihm wenig Spielraum.
die Forscher – und fordern eine dreijährige lage lenken dort von den strukturellen Im Bundeskanzleramt hofft man zwar
FOTO: HANS CHRISTIAN PLAMBECK/LAIF

Gehalts-Nullrunde, um französische Unter- Herausforderungen ab“, schreiben die seit Langem auf eine verlässliche Reform-
nehmen wieder wettbewerbsfähiger wer- Akademiker. Dabei müsse die rasant al- vereinbarung mit den Franzosen, aber soll
den zu lassen. ternde Bundesrepublik dringend ihre Ein- man deswegen gleich dieses ambitionierte
Sollte Macron das Programm in prakti- wanderungspolitik überarbeiten und etwa Projekt des Sozialisten Macron und des
sche Politik umsetzen, wäre es für Frank- mehr Anreize für den Berufseinstieg von Sozialdemokraten Gabriel öffentlich un-
reich eine Revolution. Vizekanzler Ga- Frauen bieten. terstützen? „Angela Merkel wartet erst
briel würde Macron gern beistehen, er Und: Bundesfinanzminister Wolfgang mal ab“, heißt es in Berlin.
hat die vergleichende Studie mit angesto- Schäuble (CDU) soll endlich frisches Geld Gregor Peter Schmitz

DER SPIEGEL 48 / 2014 39


Deutschland

Helden des Niedergangs


Kommentar Der SPD fehlt zur Volkspartei das Entscheidende. Den Anspruch erhält sie
dennoch aufrecht. Ist das heroisch oder verrückt? Von Nikolaus Blome

A
ls sich Guido Westerwelle im Jahr 2002 zum Kanzlerkan- gung ihrer eigenen Ansprüche. Was für die thüringische Landes-
didaten der FDP ausrief, lachten Teile der Republik laut- SPD die ersehnte Flucht aus einer Großen Koalition sein mag,
hals auf. Im damaligen Bundestagswahlkampf wurde das bedeutet aus Sicht der Bundes-SPD die nunmehr dritte Variante,
als bübischer Spaß verbucht, ganz so wie sein Wahlkampfgefährt bei einer Regierungsbildung auf die Führung zu verzichten. So
namens Guidomobil oder die 18 Prozent, die der FDP-Chef faust- entwöhnt die Partei auch treue Wähler von der Vorstellung, sie
groß und gelb auf seine Schuhsohle kleben ließ. regiere in der Regel als Chef einer Koalition. Man nennt das
Wenn die SPD einen Kanzlerkandidaten aufs Schild hebt, lacht Selbstverzwergung. Diesen Eindruck darf eine Partei nicht zu-
hingegen niemand. Aber warum eigentlich nicht? Die Lage der lassen, die Volkspartei sein und den Kanzler stellen will.
Partei wäre ja danach. Doch auch damit ist die Tristesse der Sozialdemokraten noch
Unter dem Tutorium der Kanzlerin dürfen die SPD-Minister immer nicht voll vermessen.
beweisen, dass sie zu solidem Regierungshandwerk und dem Lei- Mit der AfD drängt eine rechte Partei in den Bundestag, die
ten größerer Beamtenapparate in der Lage sind. Das soll die aus der Sicht der Union zwar nicht koalitionsfähig ist, deren Stel-
Wähler davon überzeugen, es in absehbarer Zeit wieder einmal lung rechnerisch dennoch festigt: Eine rot-rot-grüne Mehrheit
mit einem SPD-Kanzler zu versuchen. Hofft wird noch unwahrscheinlicher, würden sich
Sigmar Gabriel. Es ist sein ganzer Plan. zu den Sitzen der Schwarzen noch jene der
Doch die Sozialdemokraten schwanken in Populisten addieren; von einem möglichen
der „Sonntagsfrage“ klar unterhalb von 30 Comeback der FDP gar nicht zu reden. Und
Prozent, und der Union wird in vielen Berei- um das Maß für die SPD voll zu machen, sind
chen mehr Sachverstand zugetraut als der da noch die still voranschreitenden Vorberei-
SPD. tungen der Union für eine Berliner Regie-
Ein Jahr geht das jetzt so. Nun begehrt die rungskoalition mit den Grünen.
Parteilinke auf, und der Parteichef zeigt Ner-

S
ven. In einer ARD-Sendung rempelte Gabriel igmar Gabriel hat nichts mehr zu fürch-
mehrmals den SPIEGEL an, weil ihm ein Arti- ten als das. Wenn Schwarz-Grün zusam-
kel nicht gefiel. Aber was in der SPD gärt, ist menfindet, wird damit eine weitere
natürlich etwas anderes, sehr Grundsätzliches. Schranke zwischen den Lagern niedergelegt,
Es ist die Angst, nicht mehr Volkspartei zu denen bislang je eine Volkspartei vorstand.
sein. Es ist die Angst, eines Tages ausgelacht Dann hätten CDU/CSU in alle politischen
zu werden wie Guido Westerwelle. Diese Himmelsrichtungen Anschlussfähigkeit herge-
Angst ist begründet. stellt, und die SPD wäre nurmehr einer unter
Über manches Kriterium, das eine Volkspar- mehreren denkbaren Juniorpartnern. Damit
tei definiert, lässt sich streiten, über eines nicht: schließt Angela Merkel in ihrer Partei eine
das der sogenannten Machtperspektive im umfassende Modernisierung ab, um nicht zu
Bund. Die beiden letzten Kanzlerkandidaten sagen: Sozialdemokratisierung. Sie wird weit-
der SPD haben es erlebt; Frank-Walter Stein- aus länger nachwirken als ihr Regierungshan-
meier und Peer Steinbrück scheiterten gerade SPD-Parteitagsbühne deln. Gut 150 Jahre nach der Parteigründung
auch an der nicht aus der Welt zu schaffenden hätten die politischen Verhältnisse, die zu ver-
Wahrnehmung weiter Teile des Publikums, ändern die SPD so erfolgreich war, sie end-
dass es für eine rot-grüne Mehrheit unter kei- gültig verschluckt.
nen denkbaren Umständen reichen werde, dass ihr Anspruch auf Wenn es für Rot-Grün wegen der Schwäche der SPD nicht
das Kanzleramt also nur pflichtschuldiges Ritual sei und ohne reicht und für Rot-Rot-Grün nicht wegen der Eigenarten der
glaubhafte Perspektive. Linkspartei, dann gibt es sie nicht, jene Machtperspektive, ohne
Die naheliegende Antwort auf dieses Problem ist die Öffnung die es nicht geht. Dann ist Sigmar Gabriel vor allem dafür zu lo-
zur Partei Die Linke. Die SPD, das muss man Gabriel lassen, hat ben, dass er morgens überhaupt noch ins Büro kommt. Das hat,
ihren Teil getan. Anders als früher schließen die Sozialdemokra- ganz ohne Spott, etwas Heroisches. Es ist der Versuch, jene Ver-
ten eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene nicht mehr gangenheit festzuhalten, in der Union und SPD als zwei gleich-
aus, der Wähler soll es entscheiden. Ein Vierteljahrhundert nach rangige Volksparteien miteinander rangen und sich der etwas
dem Fall der Mauer ist das legitim, doch der Rest wirkt wie War- Größere, oder der Geschicktere, die FDP zum Partner nahm.
ten auf Godot. Denn die Linke ist die einzige Partei im Bundestag, Büßt die SPD in der breiten Wahrnehmung diesen Rang ein, ist
FOTO: THOMAS TRUTSCHEL/PHOTOTHEK.NET

deren Selbstverständnis durch zwischenzeitliches Regieren stär- das zugleich das letzte Stück Abschied von der Bonner Republik.
ker beschädigt werden könnte als durch ewiges Opponieren. Zu- Die Bereitschaft, sich dagegenzustemmen und als Kanzler-
mindest sieht es eine hinreichend große Gruppe in dieser Partei kandidat der SPD anzutreten, lässt bei Sigmar Gabriel die cha-
so, und vermutlich hat sie recht. Rot-Rot-Grün im Bundestag rakterliche Härte zutage treten, die ein Spitzenpolitiker mit hö-
scheint so weit entfernt wie sehr lange nicht. heren Zielen braucht: auch ein weithin aussichtsloses Unterfangen
In Thüringen ist die SPD dabei, die falschen Schlüsse daraus erst einmal nicht aufzugeben und darauf zu warten, dass etwas
zu ziehen. Sie will sich als Juniorpartner bei einem Ministerprä- Unerwartetes die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Als glücklichen
sidenten der Linkspartei verdingen, doch sie verwechselt die Ab- Menschen muss man sich den Vorsitzenden der SPD nicht vor-
lösung der dortigen CDU-Ministerpräsidentin mit der Befriedi- stellen. Was er macht, ist alternativlos. Würde Merkel sagen. I
40 DER SPIEGEL 48 / 2014
gelehnt hat, der ist für den Richterwahl-
ausschuss nach einer eisernen Regel auch
nicht wählbar.
Not, weiß der Volksmund, kennt kein
Gebot – es fragt sich nur, ob das Maas zu
einem tragischen Helden macht oder zu
einem Bundesjustizminister, der rechtliche
Bindungen mit Füßen tritt. Ein tieferer Ein-
blick in die Akten zeigt jedenfalls, wie
sachfremd mitunter um die Posten ge-
feilscht wird. Und befeuert eine grundsätz-
liche Debatte: ob das ganze Verfahren
nicht dringend reformiert werden müsste.
Eine vorentscheidende Rolle hat dabei
der Präsidialrat des BGH, dem der Präsi-
dent oder die Präsidentin, der Vize und
fünf weitere gewählte Richter angehören.
Ihnen obliegt es, zu den Kandidaten für
ein Richteramt Stellung zu nehmen.
Erik G., einen hohen Beamten des Bun-
desverfassungsgerichts, der bis 1999 als
Vorsitzender Richter an einem Landgericht
tätig war, hielt das Gremium bei seiner ers-
ten Bewerbung 2006 lediglich für „geeig-
net“ – angesichts von Zeugnissen mit „sehr
gut“ und „hervorragend“, die G. vorlegen
Bundesjustizminister Maas konnte, ein sehr zurückhaltendes Votum.
Der Bewerber habe keine Erfahrung als
Richter eines Oberlandesgerichts gesam-

Klüngel in
Ernennungen für erhebliche Unruhe ge- melt, hieß es in der Begründung des Präsi-
sorgt. Und die verzögerte Information dialrats, die der SPIEGEL einsehen konnte.
kann als Versuch gedeutet werden, die Per- Zwar hat mancher renommierte BGH-

Karlsruhe
sonalien möglichst lange geheim zu hal- Richter diese Karrierestation auch nicht
ten – vor der Öffentlichkeit und besonders oder allenfalls nur kurz absolviert; doch
vor einem unterlegenen Mitbewerber. Bewerbern, die man womöglich aus ande-
Für Insider liegt der Grund auf der ren Gründen nicht haben will, wird so et-
Justiz Mit der Ernennung von Hand: Bundesjustizminister Heiko Maas, was immer wieder vorgehalten.
der im Auftrag des Bundespräsidenten für Erik G., vorgeschlagen aus der CDU
sechs Bundesrichtern verletzt die Ernennung von Bundesrichtern zustän- und bekennender Anhänger seiner Partei,
Minister Maas höchstrichterliche dig ist, hätte den sechs Neuen ihre Urkun- stellte sich 2013 erneut dem üblichen
den noch gar nicht aushändigen lassen dür- Schaulaufen im BGH-Palais: 20 Minuten
Vorgaben. Der Vorgang beleuch- fen. Denn Ende September hat ein Mitbe- Vorgespräch, eine Stunde mit einem Prä-
tet ein fragwürdiges Geschacher. werber beim Verwaltungsgericht Karlsruhe sidialratsmitglied, 10 Minuten im Plenum.
beantragt, die Ernennung seiner Konkur- Diesmal wurde G. als „nicht geeignet“ ein-

W
enn der Bundesgerichtshof renten per einstweiliger Anordnung zu un- gestuft. Begründung: In einem früheren
(BGH) neue Richterinnen oder terbinden. In so einem Fall entspricht es Zeugnis habe es einen Hinweis „auf das
Richter bekommt, ist das eine nicht nur guter Sitte, sondern auch der Fehlen der langjährigen Erfahrung“ gege-
gute Nachricht – die meist am selben Tag Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- ben, die man üblicherweise in der Funk-
per Pressemitteilung verkündet wird. gerichts, den oder die ausgewählten Rich- tion eines beisitzenden Richters erwirbt.
Nicht so vorvergangenen Freitag: Da er- ter erst zu ernennen, „wenn feststeht, dass Tatsächlich war G., der sich zu Beginn
hielten eine Richterin und ein Richter in der Antrag auf Erlass einer einstweiligen der Neunzigerjahre als einer der ersten
Berlin ihre Ernennungsurkunden, ohne Anordnung keinen Erfolg hat“. westdeutschen Richter am Aufbau der Jus-
dass der BGH dies öffentlich bekannt gab. Dass ausgerechnet Maas sich über den tiz in den neuen Ländern beteiligte, am
Bis vorigen Mittwoch folgten ihnen vier verfassungsrechtlich verbürgten Schutz ei- Landgericht Stendal gleich Vorsitzender
weitere Kollegen, die auch umgehend ih- nes Mitbewerbers hinweggesetzt hat, ist geworden. Das hatte man ihm aber in Sten-
ren Dienst antraten – und wieder wurde einem Dilemma geschuldet, aus dem der dal nicht als Defizit vorgehalten – vielmehr
das wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Sozialdemokrat offenkundig keinen ele- wurde er gelobt, im Vorsitzenden-Amt
Erst nach einer Anfrage des SPIEGEL gab ganten Ausweg gefunden hat. Hätte er die auch ohne Beisitzer-Erfahrung „Maßstäbe
der BGH am Donnerstag eine entsprechen- Richter nicht ernannt, hätte dem BGH für andere gesetzt“ zu haben; folgerichtig
de Mitteilung heraus. Das hohe Gericht er- über Monate eine personelle Blockade ge- erhielt G. in dem fast 20 Jahre zurücklie-
klärte das mit praktischen Gründen: Da sich droht: Sechs unbesetzte Stellen sind beim genden Zeugnis ein „mindestens sehr gut“.
der Dienstantritt „in sehr kurzer zeitlicher BGH mehr als eine ganze Richterbank – Diese Würdigung indes nahm der BGH-
FOTO: JESCO DENZEL / BPA

Folge“ zugetragen habe, habe man „von und es wären bald noch weitere hinzuge- Präsidialrat zum Anlass, den Bewerber
mehreren unmittelbar aufeinanderfolgen- kommen. Dem klagenden Bewerber Erik schließlich auf „nicht geeignet“ herabzu-
den Einzel-Pressemitteilungen abgesehen“. G. doch noch zum Amt zu verhelfen war stufen. Und das, obwohl Andreas Voßkuh-
Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. für Maas auch keine Option: Wen der Prä- le, der Präsident des Bundesverfassungs-
Denn hinter den Kulissen haben die sechs sidialrat des BGH als „nicht geeignet“ ab- gerichts, seinen aktuellen Mitarbeiter G.
42 DER SPIEGEL 48 / 2014
Deutschland

ausdrücklich für „hervorragend geeignet“


für den Job eines BGH-Richters hält.
Was also sprach wirklich gegen G.? Dass
er mit seinen nunmehr 58 Jahren wohl kei-
ne weiteren Karrierepläne mehr hat – und
sich damit Unterwerfungsgesten gegen-
über Senatsvorsitzenden sparen kann?
Dass er als CDU-Mann einem überwie-
gend mit als SPD-nah geltenden Richtern
besetzten Präsidialrat ohnehin nicht ge-
nehm war? Oder gab es andere Gründe,
die man nicht nennen kann oder will?
Es dränge sich immer wieder der Ein-
druck auf, sagt ein hoher Jurist, der Ein-
blick in die Auswahlverfahren hat, „dass
bestimmte Personen nicht gewollt sind, de-
ren Ablehnung aber nicht offen erklärt
wird“. Die Top-Jobs in Karlsruhe hängen
viel zu oft an einem intransparenten Ge-
schacher – bei dem der Klüngel der Hie-
rarchen einen Durchschnittskandidaten
nach oben befördern und in einem andern
Fall die Zugehörigkeit zur falschen Seil-
schaft zum Karrierekiller werden kann.
Der ehemalige BGH-Richter Wolfgang
Nešković beobachtet, dass nun „auch an
den Bundesgerichten Konkurrentenklagen
üblich werden“. Was früher als unschick-
lich galt, sehen Männer wie Erik G. als
Ultima Ratio: Mit Ende fünfzig ist seine
aktuelle Bewerbung auch seine letzte
Chance.
Sein Frankfurter Anwalt Hans Hermann
Bowitz, einst selbst Büroleiter im Bundes-
präsidialamt von Roman Herzog, hält die
Ernennung der sechs für zusätzlich be-
denklich, weil der Bundespräsident die Ur-
kunden vorab unterschreibt: „Und zwar
im Vertrauen darauf, dass der Justizminis-
ter korrekt damit umgeht.“
In der Union ist man über Maas’ Vorge-
hen zwar „irritiert“, hält sich mit Kritik
aber zurück. Die rechtspolitische Spreche-
rin der Union, Elisabeth Winkelmeier-
Becker, hält nichts davon, dass Verwal-
tungsgerichte bei der Wahl von Bundes-
richtern das letzte Wort haben sollen.
Beurteilungen seien zwar ein wichtiges
Kriterium; wenn die Herabstufung des
Kandidaten „schlicht nicht plausibel sei“,
müsse der Richterwahlausschuss sich aber
auch mal über das Votum eines Präsidial-
rats hinwegsetzen können.
Für die Vorsitzende des Rechtsausschus-
ses, Renate Künast, ist der Fall ein weiterer
Anlass, das ganze System der Bundesrich-
terwahl einer Reform zu unterziehen:
„Wer stört oder aus welchen Gründen auch
immer nicht geliebt wird, wird nicht ge-
wählt“, kritisiert die Grüne die gegenwär-
tige Praxis. „Es kann nicht sein, dass bis
in höchste Richterämter hinein die Karrie-
ren über die Benotung gesteuert werden.“
Künast will, dass der Justizminister um-
gehend im Rechtsausschuss Stellung be-
zieht: „Maas wird sich erklären müssen.“
Dietmar Hipp

DER SPIEGEL 48 / 2014 43


Deutschland

Spenden für
sie häufig Asyl. Die Gläubigen müssen je- dere islamische Verbände sprechen ihr das
doch zuvor dokumentieren, dass sie reli- ab. „Die Politik hat die Ahmadiyya zu ih-
giös sind. Behörden und Gerichte stützen rem Partner erklärt und bei vielen Verfeh-

Deutschland
sich in ihrem Urteil unter anderem auf die lungen einfach weggesehen“, kritisiert die
Einschätzung der Gemeinde: Wer von der SPD-Politikerin Lale Akgün.
AMJ-Zentrale in Frankfurt ein vorbildli- Ein Insider, der angibt, dabei zu helfen,
ches Engagement bestätigt bekommt, kann das Geschäft mit den Flüchtlingen für die
Asyl Die Ahmadiyya gilt als davon ausgehen, als Flüchtling anerkannt Ahmadiyya abzuwickeln, sagt, die Zahlun-
zu werden. Eine durchschnittliche Bewer- gen von Asylbewerbern seien eine wichti-
islamische Vorzeige-Gemeinde. tung hingegen kann die Chancen mindern. ge Einnahmequelle der Gemeinde. Perso-
Ihre Funktionäre jedoch Tarar sagt, er bekenne sich zu der Glau- nen aus dem Umfeld der Ahmadiyya wür-
bensgemeinschaft und habe sich ehrenamt- den in Pakistan für die Ausreise nach
sollen seit Jahren Flüchtlinge lich für die Ahmadiyya in Wiesbaden ein- Deutschland werben. 15 000 bis 20 000 Euro
um Geld erpressen. gesetzt, sei jede Woche in die Moschee koste die Schleusung nach Europa. Das
gegangen. Trotzdem stellt ihm die Frank- Auswärtige Amt berichtet in einem ver-

E
r hatte sein Erspartes zusammenge- furter Zentrale ein durchschnittliches Zeug- traulichen Papier von einer zunehmenden
kratzt. Selbst den Goldschmuck sei- nis aus. Als ihn der Richter im Asylver- Zahl Pakistaner, die vortäuschten, zur Ah-
ner Verwandtschaft hatte Luqman fahren fragte, warum die Bewertung der madiyya konvertiert zu sein, um Asyl zu
Ahmad Tarar verpfändet. Das Geld reichte Gemeinde derart verhalten ausfalle, ant- erhalten.
indes immer noch nicht aus. Etwa 2100 wortete Tarar, er habe die vereinbarte Die Flüchtlinge würden in Moscheen der
Euro hatte er an seine Gemeinde, die Ah- Spende nicht zusammenbekommen. Gemeinschaft versteckt, während Juristen
madiyya Muslim Jamaat (AMJ) in Deutsch- Funktionäre der Ahmadiyya haben nach die Asylanträge vorbereiteten, berichtet
land, gespendet. Doch das waren 900 Euro Informationen von SPIEGEL und dem ARD- der Insider. Beinahe jeden Tag würden
weniger als angeblich vereinbart. Die Glau- Magazin „Report Mainz“ aus der Not der neue Bescheinigungen ausgestellt: „Wir ar-
bensgemeinschaft bescheinigte dem Pakis- Asylbewerber offensichtlich ein Geschäft beiten wie eine Fabrik.“ Ein hochrangiger
taner lediglich durchschnittliches religiöses gemacht. Berichte von Insidern und Aus- Ahmadiyya-Aussteiger erzählt, die Flücht-
Engagement. steigern sowie Aussagen wie die von Tarar linge würden erpresst: „Mit Religion hat
Für Tarar ist der Bescheid eine Katastro- weisen darauf hin, dass die Gemeinschaft das nichts zu tun.“
phe: Der Ingenieur war vor mehr als zehn Flüchtlinge ausbeutet. Wer nicht zahle, Die Ahmadiyya-Gemeinde weist die
Jahren als Flüchtling nach Deutschland ge- dem drohe eine schlechte Bescheinigung. Vorwürfe zurück. Die Spenden seien frei-
kommen. Sein Asylverfahren läuft noch Die AMJ nimmt unter den muslimi- willig und zögen keine Konsequenzen für
immer. Und der Ausgang hängt auch da- schen Gemeinden in Deutschland eine he- die Bescheinigung nach sich, heißt es
von ab, ob er glaubhaft nachweisen kann, rausragende Stellung ein. Zwar verfügt sie schriftlich. Einzelne Nachforschungen
ein aktives Mitglied der Ahmadiyya zu bundesweit nur über rund 36 000 Mitglie- durch das Auswärtige Amt hätten sich be-
sein, einer muslimischen Sondergemein- der, Hessen hat sie im vergangenen Jahr reits als inkorrekt erwiesen.
schaft, deren Angehörige insbesondere in jedoch als erste islamische Gemeinschaft Die Staatsanwaltschaft Darmstadt leite-
Pakistan verfolgt werden. rechtlich mit christlichen Kirchen gleich- te 2011 Ermittlungen gegen vier Personen
Schutzsuchende wie Tarar sind auf das gestellt. Die Ahmadiyya darf von Mitglie- aus dem Umfeld der Ahmadiyya ein. Sie
Wohlwollen der deutschen AMJ angewie- dern Steuern erheben und eigene Fried- warf den Beschuldigten vor, Migranten
sen. Der Bundesregierung ist bekannt, dass höfe anlegen. Sie redet beim islamischen nach Deutschland eingeschleust zu haben.
Ahmadiyya-Anhänger in Pakistan Repres- Religionsunterricht in Hessen mit. Die Das Verfahren wurde gegen eine Geldzah-
sionen ausgesetzt sind. Deshalb erhalten AMJ sieht sich als Reformbewegung, an- lung eingestellt. Die Ahmadiyya teilt dazu
mit, die Beschuldigten hätten lediglich ih-
ren Familienangehörigen geholfen und da-
raus keine materiellen Vorteile gezogen.
Der Staat erleichtert das vermeintliche
Geschäft mit den Asylbewerbern. Eine
Sprecherin des Bundesamts für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) sagt, der Behörde
seien die Vorwürfe bekannt, wonach die
Ahmadiyya angeblich Flüchtlinge nach
Deutschland schleuse und zweifelhafte Be-
scheinigungen ausstelle. Mitarbeiter des
BAMF seien sensibilisiert, Verfolgungs-
gründe von Ahmadiyya-Anhängern beson-
ders sorgfältig zu prüfen.
Behörden und Gerichte folgen dennoch
immer wieder der Einschätzung der Ge-
meinde. Die Bescheinigung der AMJ bei
der Beurteilung eines Falls heranzuziehen,
bekennt ein Richter aus Hessen, sei eine
FOTO: MARKUS SCHREIBER / AP

„einfache Lösung“. In einem internen Ver-


merk des hessischen Landkreises Groß-
Gerau heißt es, das Monopol der AMJ-Zen-
trale bei der Bestätigung der Religiosität sei
Ahmadiyya-Moschee in Berlin letztlich eine „Lizenz zum Gelddrucken“.
Maximilian Popp

44 DER SPIEGEL 48 / 2014


Deutschland

Zehn Tage im
der Pädophilenszene offenbar üblich sind;
einer der Begriffe war mit dem Zusatz
„childporn“ versehen. Strafbar ist aller-

November
dings nicht die bloße Google-Suche, aber
spätestens das Streamen oder Herunter-
laden der Dateien.
Die Ermittler stießen an Grenzen. Zwar
Kinderpornografie Wie tief rekonstruierten sie die Inhalte und zeich-
neten den Weg des Materials nach. Doch
tauchte Sebastian Edathy wasserdichte Beweise auf dem Rechner
in die Pädophilen-Szene ein? des Abgeordneten fanden sie nicht. Der
Dienst-Laptop, auf dem Edathy das kom-
Anklage und Akten deuten auf promittierende Material gespeichert haben
einen Getriebenen hin. soll, ist verschwunden. Er sei ihm auf einer
Zugfahrt nach Amsterdam gestohlen wor-

A
m 1. November 2013 loggt sich der den, teilte Edathy Anfang des Jahres mit.
SPD-Abgeordnete Sebastian Eda- Auch in einem kleinen Büro in Edathys
thy im Intranet des Deutschen Bun- niedersächsischem Wohnort Rehburg-Loc-
destags ein. Sein Rechner ist passwortge- cum wurden indes Belege sichergestellt:
schützt, so wird es später eine Mitarbeiterin die CD „movies2“ sowie drei Bildmagazi-
des Politikers zu Protokoll geben. Niemand ne. Die CD und die Fotosammlung „Boys
außer Edathy habe Zugang zu dem Laptop in ihrer Freizeit“ enthalten laut Anklage
gehabt, „er trug ihn immer bei sich“. strafbares jugendpornografisches Material.
Um 12.59 Uhr besucht Edathy erstmals Edathy bestreitet die Vorwürfe. Er ist
an diesem Tag die russische Domain seit Monaten abgetaucht, sein Bundestags-
Pics.ru. Kurz danach wieder. Und dann mandat und alle Ämter hat er niedergelegt.
noch mal. Zehn Besuche registriert das Als die Entscheidung des Gerichts, die An-
Bundestagssystem an diesem Tag. Wenn klage zuzulassen, gerade publik geworden
es stimmt, was die Staatsanwaltschaft Han- war, kündigte er auf seiner Facebookseite
nover ermittelt hat, handelt es sich bei an, sich am 18. Dezember in einer Presse-
Pics.ru und Fastpic.ru um zwei russische konferenz zu erklären. Offen ließ er, ob
Internetadressen, auf denen Edathy Kin- er danach im Bundestagsuntersuchungs-
derpornos fand und sie dann herunterlud. ausschuss aussagen wird, den sein Fall
Vom „Kinder- und Jugendakt“ in der nach sich zog.
Kunstgeschichte hatte Edathy, 45, im SPIE- „Herr Edathy hat sich leider in eine Op-
GEL-Gespräch geredet, und er hatte den ferrolle begeben, die angesichts der An-
Eindruck erweckt, nur harmlose Bilder an- klageschrift zumindest unangemessen
gesehen zu haben (SPIEGEL 12/2014). Laut scheint“, kritisiert der Linken-Obmann im
der Anklage aber hat er Video- und Bild- Ausschuss Frank Tempel. Er hoffe, dass
dateien heruntergeladen, die „sexuellen Edathy trotz seines Aussageverweigerungs-
Missbrauch von unter 14 Jahre alten Jun- rechts reden werde. Der Opposition geht
gen durch Erwachsene beziehungsweise es unter anderem um Aufklärung darüber,
sexuelle Handlungen von Kindern unter- ob jemand Edathy vor den Fahndern ge-
einander beziehungsweise an sich selbst“ warnt hat.
betreffen. Beschuldigter Edathy Den Anstoß zu den Ermittlungen hatte
Akteninhalte und die siebenseitige An- „Zielgerichtet Ausschau gehalten“ die kanadische Operation „Spade“ gelie-
klageschrift vom Juli fügen sich zu einem fert. Edathy hatte beim Internetanbieter
anderen Bild als jenem, das Edathy in der lichen Fauxpas. Ohne das Wissen der meis- Azovfilms 31 Videos und Fotosets bestellt;
Öffentlichkeit zeichnete: Sie scheinen ei- ten Parlamentarier speicherte die Verwal- in der Anklage tauchen sie nicht auf, weil
nen Getriebenen zu zeigen. Ob die Fälle tung des Deutschen Bundestags Daten. die Staatsanwaltschaft sie einem Graube-
strafrechtlich relevant und zu ahnden sind, Jede Aktion der Volksvertreter im Inter- reich zurechnete, der strafrechtlich schwer
wird das Landgericht Verden entscheiden. net – von den Google-Suchbegriffen über zu bewerten ist. Als der damalige Bundes-
Der Prozess soll am 23. Februar beginnen. Online-Einkäufe bis zu E-Mails – wurde innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU)
Brisant sind vor allem die ersten zehn auf den Festplatten der Bundestagsverwal- von den Ermittlungen erfuhr, informierte
Tage im November 2013. Um die Mittags- tung festgehalten, in der Regel drei Monate er SPD-Chef Sigmar Gabriel über den Fall.
zeit oder am frühen Abend besuchte Eda- lang. Die Verwaltung änderte die Praxis Friedrich kostete das sein Amt als Agrar-
FOTO: AXEL SCHMIDT / DDP IMAGES / COMMONLENS

thy die russischen Seiten. Um zu vermei- erst, als diese im Zuge der Ermittlungen minister.
den, dass Vorschaubilder auf seinem gegen Edathy bekannt wurde. Ob Edathy gewarnt wurde, lässt sich wo-
Computer landen, soll er ein Programm Im Fall Edathy konnten die Ermittler möglich nicht mehr klären. Vielleicht reich-
verwendet haben, das Daten komprimiert, die Daten von November bis Februar aus- te schon eine Pressekonferenz der kanadi-
verpackt und später wieder auspackt. An- werten. Alles davor ist unwiederbringlich schen Polizei aus, um den Innenexperten
geblich an sechs Tagen lud er einschlägige gelöscht. Laut Anklage landete Edathy zu alarmieren. Zwei Tage später, am 16.
Bilder und Filme auf seinen Rechner. Die nicht zufällig auf den russischen Schmud- November 2013, begab er sich laut einem
Anklage wirft ihm insgesamt sieben Fälle delseiten, sondern „hielt zielgerichtet nach Ermittlervermerk zum letzten Mal im In-
mit kinderpornografischen Inhalten vor. kinderpornografischen Seiten Ausschau“. ternet auf die Suche. Danach rief er über
Die Staatsanwälte verdanken ihre Er- In den gespeicherten Logdateien stießen den Bundestagszugang nie wieder eine Sei-
kenntnisse auch einem datenschutzrecht- die Fahnder auf zwei Suchbegriffe, die in te von Pics.ru auf. Hubert Gude

46 DER SPIEGEL 48 / 2014


Hosen bis an
die Decke
Wohlfahrt Die Deutschen spenden
mehr Güter für Flüchtlinge, als
gebraucht werden. Hilfsorganisa-
tionen müssen Geld aufwenden, Kleiderkammer in Fürstenfeldbruck
um die Sachen zu entsorgen.

U
nmöglich!“, schimpft die Frau. Da gehabt. Der von der Stadt ergangene Auf- „Nur das an eine Kleiderkammer geben,
hat sie die heimischen Schränke ruf, dem „Strohhalm“ viel Kleidung zu was man selber eigentlich noch anziehen
ausgemistet und ist mit 40 Teilen bringen, wäre daher „gar nicht nötig ge- könnte.“ Hilfsbereitschaft ist nötig, doch
zur Caritas-Kleiderkammer für Flüchtlinge wesen“, sagt Josef Troidl, Vorsitzender des einige verstehen die Aufrufe offenbar als
nach Fürstenfeldbruck gefahren – und was Trägervereins. Jetzt sitzen er und die an- willkommene Einladung, alles loszuwer-
widerfährt ihr dort? Abgewiesen wird sie! deren Helfer auf zehn Tonnen Altkleidern. den, was zu Hause Platz wegnimmt.
Weil die Einrichtung im Süden Bayerns Ähnliche Mengen kamen auch in Fürs- Wohlfahrtsverbände kennen das Phäno-
einen vorübergehenden Annahmestopp tenfeldbruck zusammen, wo Parteien und men: Nach dem verheerenden Tsunami im
verhängt hat, schiebt die Mutter zweier etliche andere Organisationen um Unter- Jahr 2004 spendeten die Deutschen nicht
Kinder die Plastikkisten mit Pullovern, stützung der Kleiderkammer baten. „Da nur viel Geld, sondern auch Sachgüter –
Hosen und zwei flauschigen Bademänteln, wollten alle ihre Hilfsbereitschaft unter tonnenweise Winterklamotten beispiels-
die sie und ihr Mann „praktisch nie ge- Beweis stellen und irgendwie dabei sein weise, die im tropischen Südostasien nie
tragen“ haben, wieder in den Kofferraum bei der Aktion“, berichtet Caritas-Mit- gebraucht werden. Dazu alte Autoreifen
ihres Opel-Astra-Kombis. Dann sagt sie arbeiterin Ulrike Bienemann. Dann führt und Gartenmöbel. Viele der „Spenden“
„Tschüs“ – und fährt verärgert davon. sie hinein in die Dreifachgarage, in der die waren den Organisationen damals einfach
Szenen wie diese spielen sich derzeit Gaben für Flüchtlinge lagern. vor die Tür gestellt worden. Nichts davon
an zahlreichen Orten der Republik ab. In einer Ecke liegt ein mannshoher wurde jemals Richtung Katastrophenge-
Nach Aufrufen von Wohlfahrtsverbänden Haufen mit blauen Plastiksäcken, deren biet verschifft.
und Privatinitiativen haben in den vergan- Inhalt noch sortiert werden muss. Daneben „Es ist für uns sehr schwierig und auch
genen Wochen so viele Menschen Kleider, stehen zwei Kisten mit Kuscheltieren und teuer, so etwas logistisch abzuwickeln“,
Möbel und Haushaltsgüter für in Deutsch- Spielzeug, zwei Fahrräder, etliche Koffer sagt Monika Huber, Leiterin der Abteilung
land angekommene Flüchtlinge gespendet, und Kleinmöbel. Über allem erstreckt sich Kommunikation und Sozialmarketing bei
dass Kleiderkammern und Sozialkaufhäu- eine etwa sechs Meter lange Holzlatte der Caritas in München und Freising. Hilfs-
ser mittlerweile überfordert sind: Viele Ein- durch den Raum: Sie dient als Kleiderstan- organisationen müssten daher einen Teil
richtungen haben wegen Platznot die ge und biegt sich unter dem Gewicht von ihrer Geldspenden nutzen, um unbrauch-
Sammlung eingestellt – oder nehmen nur Blousons, Lederjacken und zwei Loden- bare Sachspenden zu entsorgen – so wie
noch warme Wintersachen an. mänteln, die aus dem Nachlass eines älte- nach dem Hochwasser im vergangenen
„Wir stoßen an unsere Kapazitätsgren- ren Herrn stammen. Jahr, als ausrangierte Möbel, Kleidung und
zen“, teilte etwa das Bayerische Rote Kreuz Es wird unmöglich sein, all das zu ver- altes Spielzeug abgegeben wurden. „Statt
in Würzburg mit. „Wir bitten Sie dringend, teilen, was unter anderem daran liegt, dass Teddybären hätten wir aber eher Trock-
bei der Spendenabgabe eine Pause einzu- in Fürstenfeldbruck sehr viele junge Män- nungsgeräte gebraucht“, sagt Huber.
legen“, hieß es fast verzweifelt von der In- ner aus Eritrea angelandet seien – die hät- Auch die von Verbänden betriebenen
neren Mission in München. Auch in Essen, ten in der Regel Schuhgröße 40 und Ho- Sozialkaufhäuser leiden unter der schlech-
Ibbenbüren und Detmold kämpfen Ehren- sengröße 28 oder 30, sagt die Caritas-Mit- ten Angewohnheit, Müllentsorgung als
amtliche mit den Kleiderbergen. Eine Grup- arbeiterin. Bayerns Männer tendierten da- Hilfsbereitschaft zu tarnen. Im „Prozent-
pe in Stuttgart-Plieningen hat innerhalb gegen eher zu XXL. Man werde abwarten, Markt“ in Garmisch-Partenkirchen, der
weniger Tage etwa 10 000 Kleidungsstücke ob noch beleibtere Asylbewerber nach unter anderem von der Caritas und dem
gesammelt – für nur 150 Flüchtlinge, die Fürstenfeldbruck kämen – wenn nicht, Sozialdienst katholischer Frauen getragen
im Stadtbezirk untergebracht werden. würden die großen Größen an ein städti- wird, droht Geschäftsführer German Kögl
Die Sachspendenflut ist nichts Neues für sches Sozialkaufhaus weiterverschenkt, in seit einiger Zeit allen „Spendern“ mit ei-
Hilfsorganisationen. Wenn es um finan- dem sich Hartz-IV-Empfänger und andere ner Anzeige, die außerhalb der Öffnungs-
zielle Unterstützung Notleidender geht, Bedürftige eindecken können. zeiten etwas abliefern. Im vergangenen
sind die Deutschen laut „World Giving In- Das Größenproblem sei aber nicht das Jahr musste er trotzdem wieder 20 000
dex“, der von der britischen „Charities einzige Vermittlungshindernis. Anders als Euro investieren, um Überschüssiges zu
Aid Foundation“ in Auftrag gegeben wird, einige Spender offenbar annähmen, besä- entsorgen, das ihm schon mal mitten in
FOTO: ENNO KAPITZA / DER SPIEGEL

zurückhaltender als Amerikaner oder Bri- ßen auch arme Flüchtlinge Geschmack und der Nacht vor die Tür gestellt wurde.
ten. Bei Kleidern und anderen Gütern zei- Modebewusstsein, sagt Bienemann – an Guido Kleinhubbert
gen sie sich aber durchaus freigebig. Klamotten aus den frühen Achtzigern hät-
In Regensburg etwa hätte die Kleider- ten sie kein Interesse, wie sich bei der Aus- Video: Wohin mit
kammer der Begegnungsstätte „Stroh- gabe gezeigt habe. 80 Tonnen Altkleidern?
halm“ auch ohne zusätzliche Sammlung Bienemann empfiehlt potenziellen spiegel.de/sp482014kleider
genügend Sachen zum Anziehen vorrätig Spendern, folgende Regel einzuhalten: oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 48 / 2014 47


1 2 3

4 5 6

Sechserpack Fernseher made in Germany gehörten stets zum Stolz der deutschen Industrie, aber das Sterben großer Marken
geht weiter. Nun musste die Firma Metz Insolvenz anmelden, ihr „Talio 32“ von 2006 (6) ist reif fürs Museum. Dort stehen
bereits: das Grundig-Modell 210 von 1953 (1), der Blaupunkt „Java“, Baujahr 1965 (2), ein „Spectra Dimension 5“ von Nordmende
aus dem WM-Jahr 1974 (3). Klassisch und in Stereo ein Loewe-Gerät von 1984 (4). Kühn der „Wegavision 3000 L“ von 1966 (5).

Arbeit Die meisten von uns haben Scholz: Schüler, Hausfrauen, Scholz: Weil man sich das ja
„Warum wurden Prospekte ausgetragen, deren einzige Arbeit das war. durchrechnen kann: 3,50 Euro
Sie entlassen, samstags, den TIP der Woche,
das ist eine kleine Zeitung.
Rentner, die das schon seit
20 Jahren gemacht haben.
mehr für mehrere Tausend
Mitarbeiter, und das pro
Frau Scholz?“ SPIEGEL: Was war Ihr Job? SPIEGEL: Was verdienten die? Stunde.
Scholz: Ich war Gebietsbe- Scholz: 17 Euro für 200 Ausga- SPIEGEL: Ist ein Mindestlohn
Peggy Scholz, 50, erlebte als treuerin und habe die Austrä- ben, ungefähr, je nach Wohn- nicht eigentlich etwas Gutes?
FOTOS: ANDREAS GEBERT / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.); WOLFGANG MARIA WEBER (O./6)
Minijobberin in Berlin die laut ger für Berlin-Köpenick ein- gebiet. Aber man kann sa- Scholz: Das sollte er sein. Es
Ver.di wohl größte Massen- gestellt und Urlaubspläne ge- gen, 5 Euro in der Stunde. gibt große Arbeitgeber, die
entlassung in der Geschichte schrieben, für 13 Leute. SPIEGEL: Ab Januar gilt in sollten einen Mindestlohn
der Bundesrepublik. SPIEGEL: Wer sind die Leute? Deutschland ein gesetzlicher auch zahlen. Aber für kleine-
Mindestlohn. Den re Unternehmen ist das
SPIEGEL: Sie sind gerade vor Zustellern, bis auf schwieriger. Trotzdem zahle
Gericht gezogen und haben Schüler, würden sogar ich meinen Fahrern im
gegen den TIP-Werbeverlag dann 8,50 Euro Getränkeladen 8,50 Euro –
geklagt, der zur Kaufland- pro Stunde zuste- schon jetzt.
Gruppe gehört. Wieso? hen. Kaufland SPIEGEL: Kaufland sagt, exter-
Scholz: Mir ist zum 31. Okto- streitet ab, dass ne Dienstleister würden ab
ber gekündigt worden, es die Kündigungen jetzt den TIP austragen, jeder
ging um eine Abfindung, die mit dem Mindest- könne sich neu bewerben.
mir auch zugesprochen wur- lohn zusammen- Scholz: Ja, das habe ich auch
de, 350 Euro für vier Jahre hängen. getan und dann nichts mehr
Arbeit als Minijobberin mit Scholz: Das sehe ich gehört. Dafür lag der TIP
450 Euro im Monat. Ich bin anders. auch ohne uns am Samstag in
aber nur ein Fall von 55 000. SPIEGEL: Wieso? den Briefkästen. bha

48 DER SPIEGEL 48 / 2014


Gesellschaft
Das Kaffeerahmdeckelisammeln erlebte seinen Höhepunkt
in den Neunzigerjahren. Das Land war im Fieber. Bis zu 60 000
Schweizer sammelten die Aluscheibchen, 0,04 Millimeter dick,
Hitlerli 3,8 Zentimeter Durchmesser. Sie klebten sie in Alben und ver-
suchten, jede Bilderserie komplett zu kriegen, ganz so wie die
Eine Meldung und ihre Geschichte Sammler von Panini-Bildern. Firmen wurden gegründet, die
nicht mehr an Restaurants oder Supermärkte lieferten, sondern
Wie über eine kuriose Schweizer nur noch an Sammler, Firmen wie die Karo GmbH von Peter
Sammlerszene die braune Gefahr hereinbrach Wälchli. Es kamen Hilfsmittel in den Handel wie „Deckeli
Clean“, um die Deckel zu reinigen. Handroller, um sie zu glätten.
Pinzetten, um sie ins Album zu legen. Es waren gute Jahre.

E
in Kaffeerahmdeckeli ist nur dann ein Kaffeerahmdeckeli, Doch die Begeisterung verblasste, die Sammler wurden we-
wenn es einmal ein Kaffeerähmli abgedeckt hat. So erklärt niger. Übrig geblieben ist heute eine einzige Firma, die von
es Peter Wälchli. Sonst, sagt er, „ist es für den Sammler Peter Wälchli.
wertlos“. Dann, am 21. Oktober dieses Jahres, kaufte ein Mann in der
In dieser Geschichte kommt alles irgendwie im Diminutiv da- Kleinstadt Baden im Aargau einen Becher Kaffee, griff nach ei-
her. Rähmli, Deckeli, Wälchli. Und dann Adolf Hitler. Aber den nem Sahnetöpfchen und erschrak. War das tatsächlich Adolf
gibt’s eigentlich nicht in Verniedlichungsform. Hitler macht im- Hitler auf seinem Kaffeeaufheller? Der Mann machte ein Foto
mer noch alles kaputt, womit er in davon und schickte es der Gratiszei-
Berührung kommt, sogar Kaffee- tung 20 Minuten. Schnell ging die
sahnedeckel von kleinen Kaffee- Geschichte um die Welt. Selbst die
sahnebechern aus Plastik, wie man New York Times berichtete vom
sie im Café auf der Untertasse fin- „Hitler Creamer“. Die Migros, größ-
det. Hitler. Seinetwegen hat Wälch- ter Schweizer Einzelhandelskon-
li, ein Schweizer Kaffeesahnedeckel- zern, deren Tochterfirma Elsa-Mi-
hersteller, jetzt ein Problem. froma die Hitler-Sahne abgefüllt
Wälchli, 50, steht in seiner Firma, und vertrieben hatte, bezeichnete
Karo-Versand GmbH in Grosshöch- den Vorfall als „unverzeihliche Fehl-
stetten bei Bern, ein unscheinbarer leistung“.
Herr mit rundem Gesicht und er- Wälchli sitzt in seinem Büro und
grauendem Haar. Rollenweise la- kann die ganze Sache noch immer
gert hier Alufolie, Hunderte Lauf- nicht fassen. Seine Diktatoren-
meter, die Wälchli mit Motiven be- deckel waren doch exklusiv für
drucken lässt, wie man sie später Sammler bestimmt, niemals hätten
auf Kaffeesahnedeckeln findet. Flag- sie an Gastrobetriebe geliefert wer-
gen, Schlittenhunde, Militärflugzeu- Folienbogen mit Hitler-Porträt den sollen, ein Versehen der Migros-
ge, Wildpflanzen. In der Schweiz Molkerei. Weil aber Wälchli mit
gibt es Leute, die diese Deckel sam- dem Satz zitiert worden war, er hal-
meln. Ein Hobby, so schön und te das Hitler-Motiv, immer im Kon-
nutzlos wie die meisten Hobbys. text der Banderolenserie, für „pro-
Das aber vielleicht keine Zukunft blemlos“, beendete die Migros ent-
hat. Wegen Hitler. rüstet die Zusammenarbeit. Wälchli
„Unglaublich ist das alles“, sagt sagt: „Es gibt keinen anderen Ab-
Wälchli. füller, der so kleine Mengen produ-
Sein Geschäftsmodell geht so: Er ziert, wie wir sie brauchen.“ Sein
lässt von einer Industriemolkerei Geschäftsmodell ist futsch. Wahr-
Sahneportionen abfüllen und diese scheinlich muss er alle drei Mitar-
mit seiner Folie verschweißen. beiter entlassen.
Dann kommen die Töpfchen zu ihm Wer ist schuld? Die Medien, fin-
zurück, und er zieht Deckel für De- det Wälchli. Bei sich selbst kann er
ckel wieder ab. Wäscht sie. Lässt Aus dem Berliner Kurier kein Fehlverhalten feststellen. Alle
sie trocknen. Glättet sie. Und ver- hätten sie von einem Hitler-Bild
kauft sie dann an die rund 5000 Sammler in seiner Kundenkartei. geschrieben. Dabei sei auf seinen Deckeli doch bloß das Bild
Die Sahne endet als Schweinefutter. einer Zigarrenbanderole zu sehen gewesen, quasi nur ein Bild
Es gibt kein aktuelles Kaffeerahmdeckelisujet, das Wälchli von einem Hitler-Bild. Aber das will ja wieder keiner verstehen.
nicht liefern könnte. Seit 18 Jahren gestaltet seine Firma viele Und zu spät ist es eh.
davon. Jedes Jahr bringt Karo-Versand rund 30 Serien mit 30 Bil- „Etliche Sammler riefen mich an, einige weinten“, sagt Wälch-
dern heraus, und der Chef ist ständig auf Motivsuche. Auf einem li. In der Regalwand hinter ihm stehen vier Reihen mit je 20 blau-
Flohmarkt fand Wälchli vor Jahren ein Buch mit Abbildungen en Ordnern, darin sind so gut wie alle Kaffeerahmdeckelimotive
alter Zigarrenbanderolen. Manche waren mit dem Konterfei abgelegt, die es je gab. Die größten Kostbarkeiten sind dabei.
toter Staatsmänner geschmückt, die Auswahl eher unzimperlich, Die „Bundesräte“ von 1993. Die „Playgirls von damals“, 1994.
FOTO: BEAT MATHYS / BZ

US-Präsidenten waren dabei, Napoleon, aber auch Mussolini. Die „Päpste“ von 2003. Neue wird er nicht mehr produzieren.
Und Hitler. Wälchli diskutierte mit Mitarbeitern, ob man das Zwar könnte er weiterhin und nach Belieben Alufolie mit seinen
machen könne. „Wir fanden alle, ja, kann man. Im Zusammen- Motiven bedrucken. Aber ein Kaffeesahnedeckel ist eben nur
hang der ganzen Serie geht das.“ Wälchli druckte 30 der Sujets dann ein Kaffeesahnedeckel, wenn er einmal Kaffeesahne ab-
auf seine Deckel. gedeckt hat. Dominik Galliker

DER SPIEGEL 48 / 2014 49


Kreuzfahrt ins Gestern
Freizeit Die „Azores“, als „Stockholm“ gebaut, versenkte die „Andrea Doria“,
durchbrach die Kuba-Blockade, diente als Asyl – und war das Traumschiff der DDR.
Eine Geschichte vom Durchhalten. Von Hauke Goos und Bernhard Riedmann (Fotos)

D
er Prospekt lag seit einem halben wegen, das „Land der Trolle und Fjorde“, to“ war das damals, sagt sie. Sie legten in
Jahrhundert in einer Schublade in so stand es im Katalog, von Bremerhaven Jalta, Sotschi und Suchumi an, durch Bos-
Erika Strauß’ Vertiko, kein Knick, würde es über Bergen, Geiranger, Flåm, porus und Mittelmeer ging es zurück nach
die Farben kaum verblichen: Urlauber- Stavanger und Kristianssand zurück nach Warnemünde.
schiff MS „Völkerfreundschaft“. Auf dem Bremerhaven gehen. Für Erika Strauß Die „Völkerfreundschaft“ sollte ein Bot-
Deckblatt ein schlankes weißes Schiff un- würde es ein besonderer Ausflug werden: schafter der DDR sein, sie sollte „von der
ter hohem Himmel, am Schornstein das eine zweite Reise, um die erste vor 50 Jah- Friedensliebe unseres Volkes, dem prole-
blau-rot-blaue Band der VEB Deutsche ren zu überprüfen, zu ergänzen, komplett tarischen Internationalismus und dem Wil-
Seereederei. Im Heft ein Satz über das zu machen. Den Prospekt würde sie mit- len nach Freundschaft mit allen Völkern
Sonnendeck, der für DDR-Bürger wie ein nehmen. Und nachsehen, was von ihren künden“, schrieb damals ein begeisterter
Versprechen klang und auf den zweiten Träumen übrig war. FDGB-Funktionär. An den meisten Län-
FOTO: BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

Blick ein wenig nach Hohn: „Weit kann Im November 1964 durften LPG-Bauern dern fuhr das Schiff jedoch vorbei, weil
hier der Blick über den Ozean schweifen auf der „Völkerfreundschaft“ fahren, sie die Verantwortlichen Angst hatten, Passa-
und nahe Küsten betrachten.“ hatten gerade die Kartoffelernte einge- giere und Besatzung könnten den Kontakt
Als Erika Strauß hörte, dass die „Völker- bracht, die Reise war eine Auszeichnung. mit der Welt zur Flucht nutzen.
freundschaft“ unter dem Namen „Azores“ Zwei Plätze waren frei geblieben. Und weil In der Straße von Messina, sagt Erika
noch heute fährt, buchte sie sofort eine sie jemanden im Reisebüro kannten, flo- Strauß, wollten damals sechs Passagiere über
Außenkabine, Nummer 404 auf der Steu- gen Erika Strauß und ihr Mann von Ber- Bord springen, fünf Männer und eine Frau.
erbordseite, für 1700 Euro, Einzelbele- lin-Schönefeld nach Constanţa ans „Es war ein schöner Tag. Wir waren oben
gungszuschlag inklusive. Sieben Tage Nor- Schwarze Meer. „Wie ein Sechser im Lot- an der Reling. Wir haben gesehen, wie die
50 DER SPIEGEL 48 / 2014
Gesellschaft

wäre sie, alten Menschen ähnlich, im Laufe fieren. Später, auf der echten „Azores“,
ihres langen Lebens zusammengeschnurrt. werden sie ihr Porträt vor der gemalten
„Azores“, das klingt nach Atlantik, nach „Azores“ kaufen. Es ist ein Bild, das ge-
Ferne, besonders, wenn man es portugie- macht wurde, bevor irgendjemand irgend-
sisch ausspricht: Assoresch. Namen sind etwas erleben konnte auf dieser Reise,
wichtig im Kreuzfahrtgeschäft. Der Name aber das spielt keine Rolle. Das Foto soll
steht für einen Stil, für einen Anspruch. nicht an Erlebnisse erinnern, sondern eine
Für eine Vorstellung davon, wie wir gern Erwartung illustrieren.
wären. Und für das Versprechen, uns für Was erwarten Menschen, die eine Kreuz-
die Dauer einer Reise zu verzaubern: von fahrt buchen? Was erwarten Menschen,
jenen, die wir sind, in jene, die wir sein die eine Kreuzfahrt auf der „Azores“ bu-
könnten – Geschmack und ein wenig Geld chen? Und was erwartet sie?
vorausgesetzt. Früher trugen Schiffe ihren Das Motto des ersten Tages, so steht es
Namen oft jahrzehntelang, so lange, bis im Bordprogramm, lautet: „Ich möchte
Name und Versprechen verschmolzen. Weltenbürger sein, überall zu Hause und
Bevor die „Azores“ „Azores“ hieß, fuhr überall unterwegs.“ Als die „Azores“ in
sie unter dem Namen „Athena“. Davor Bremerhaven ablegt, ertönt aus den Laut-
hieß sie „Caribe“, davor „Valtur Prima“, sprechern ein Medley von Käpt’n Alfred,
davor „Italia Prima“, davor „Italia I“, da- in dem die schöne Zeile vorkommt: „Wir
vor „Fridtjof Nansen“, davor „Volker“. Die fahr’n gen Osten / Wir fahr’n gen Westen /
„Volker“ war die ehemalige „Völkerfreund- doch in der Heimat / da ist’s am besten.“
schaft“, der Stolz der DDR-Passagierschiff- Cocktail des Tages ist der „Portuscale“,
fahrt, die „Völkerfreundschaft“ wiederum ein knallblauer Mix aus Wodka, Blue Cu-
war die ehemalige „Stockholm“. raçao, White Cacao und Seven Up, 3,50
Bevor die neuen Gäste in Bremerhaven Euro. Auf Flaschenweine gewährt der Ver-
an Bord gehen, müssen sie an einer Papp- anstalter 20 Prozent Rabatt. Diese Reise
tafel vorbei, die gleich hinter der Sicher- ist auch eine Art Lagerräumung.
heitsschleuse an der Wand lehnt. Die Als die Passagiere am zweiten Tag in
„Azores“ ist darauf zu erkennen, der den Frühstücksraum kommen, ist die
schwarze Rumpf, der leuchtend gelbe „Azores“ bereits auf der Nordsee. Die Son-
Schornstein, hinter dem Schiff spannt sich ne scheint. Cocktail des Tages ist der „Sun
ein Regenbogen. Fast alle Passagiere stel- Lover Punch“, der Spruch des Tages lautet:
Frühstücksraum an Bord der „Azores“ len sich vor die Pappe und lassen sich von „Eine Reise von tausend Meilen beginnt
einem jungen Mann in Uniform fotogra- mit dem ersten Schritt.“
8.30 Uhr: Frühsport mit Birgit am Pool.
11 Uhr: Shuffleboard mit Birgit am Pool.
Männer runtersprangen.“ Die fünf wurden 11.45 Uhr: Aperitifspiele mit Birgit am
Stationen des Passagierschiffs „Azores“*
von der italienischen Küstenwache gerettet Pool. 15 bis 16 Uhr: „Lernen Sie Roulette
und nach Frankfurt am Main ausgeflogen, mit Katharina im Casino.“
Besatzungsmitglieder hielten die Frau fest. In der Kreuzfahrtbranche gilt die
Erika Strauß ist mittlerweile 92, sie sieht „Azores“, Eigner ist eine portugiesische
nicht mehr sehr gut, am Tag der Abreise Reederei, mit einer Länge von 160 Metern
lässt sie sich zu Hause abholen, mitten in als kleines Schiff, in der Katalogsprache
der Nacht, in Jonsdorf, im östlichen Zipfel heißt das „familiär“. Sie hat acht Decks,
Sachsens, um rechtzeitig in Bremerhaven die „Pacific“ oder „Atlantic“ oder „Prome-
zu sein, nach nächtlichen Stationen in nade“ heißen; sechs Runden auf Deck 4
Dresden und Leipzig. („Mediterranean“) um die Aufbauten he-
Die „Azores“ wirkt klein, wie sie da in rum ergeben etwa eine Meile, 1,6 Kilometer.
Bremerhaven am Kai liegt, überraschend Den rund 500 Passagieren bietet sie
FOTOS: VEB DEFA KOPIERWERKE BERLIN (O.); WWW.SSMARITIME.COM/STOCKHOLM (U.)

klein – selbst für ein Schiff, das damit Kabinen in zehn Kategorien: Kabinen mit
wirbt, nicht groß zu sein. Ein kühler Spät- oder ohne Sichtbehinderung, mit Bull-
sommertag, graue Wolken über der Weser, augen oder Panoramafenstern. Die Kabi-
von der Nordsee weht ein kräftiger Wind. nen der teuersten Kategorie haben einen
Die „Azores“ wartet auf die letzte Reise eigenen, nicht einsehbaren Balkon.
dieser Saison. Es ist die vorerst letzte Reise Das Schiff hat auf Deck 3 das Restaurant
von einem deutschen Hafen aus, vielleicht Olissipo, auf Deck 4A gibt es ein Kasino,
die letzte Reise überhaupt, wer weiß. Ihr einen Raucherraum und ein paar Bou-
Rumpf liegt hinter der Kaimauer verbor- tiquen, auf Deck 5 ein kleines Kino und
gen, die weißen Aufbauten werden von auf Deck 6 die Aeolos Bar. Auf Deck 7,
der Passagierbrücke verdeckt; sie ist so
klein, dass man sie leicht übersieht. Ver-
Cocktail des Tages „Observation Deck“ genannt, kostet ein
Haarschnitt 27 Euro „for Ladies“ und 24
glichen mit den Containerschiffen, die ist der „Portuscale“, ein Euro „for Men“. Für 20 Minuten Binde-
nebenan entladen werden, scheint es, als
knallblauer Mix mit gewebsmassage sind 30 Euro zu zahlen.
Auf dem „Calypso“-Deck gibt es hinten
* Oben: als „Völkerfreundschaft“ um 1975 am Kai in Curaçao zu 3,50 Euro. ein Schwimmbad mit Meerwasser. Was es
Warnemünde; unten: als „Stockholm“ nach der Kollision nicht gibt: Surfsimulatoren, eine Kletter-
mit der „Andrea Doria“ 1956 vor New York. wand, eine Eislaufbahn, einen Golfsimu-
DER SPIEGEL 48 / 2014 51
Gesellschaft

lator, Tauchkurse – all das, womit andere Axel Schmidt, der Vertriebsleiter von das Galadinner an. Und liest dann die
Schiffe heutzutage werben. Ambiente Kreuzfahrten, dem Veranstalter, Speisekarte der „Völkerfreundschaft“ vor,
Menschen, die auf Kreuzfahrten gehen, hat sich über die Frage, was Menschen auf vom 25. Juni 1975: Zum Abendessen, sagt
unterscheiden zwei Gruppen von Schiffen: ein Schiff wie die „Azores“ zieht, viele er, gebe es „Gemischte Wurstplatte zum
jene, die einen zu interessanten Zielen Gedanken gemacht. Er hat versucht, das Rollmops“. Nicht alle lachen.
bringen – und jene, die selbst das Ziel der Schiff zu verstehen, seine Geschichte, sei- „Wir arbeiten mit den weichen Fakto-
Reise sind. Bei der „Azores“ ging es von ne Vergangenheit, er hat sich bemüht, für ren“, sagt Schmidt. Er hat sich den Slogan
Anfang an nicht um den Weg, sondern all das Begriffe zu finden. Ambiente Kreuz- „maritim & persönlich“ ausgedacht. „Ma-
ums Ankommen. Im April 1945 für die fahrten ist ein Tochterunternehmen der ritim“, sagt Schmidt, versuche, mit dem
Schweden-Amerika-Linie auf Kiel gelegt, SPD, vielleicht haben die ein besonderes Schiff zu punkten. „Die Botschaft ist: Ich
sollte sie im Transatlantik-Dienst Göteborg Gespür dafür, wie wichtig Tradition ist. fahre auf einem Schiff, nicht auf einem
und New York verbinden – und Menschen Schmidt vermarktet das Schiff als Hochhaus.“ Persönlich, auf der anderen
aufs Schiff locken, die lieber fliegen wür- „gehobene Mittelklasse“, im Kreuzfahrt- Seite, soll den Charakter beschreiben, die
den. Die „Stockholm“ sollte intimer als geschäft ist das untere Kategorie. Das Cap- Software, so nennt Schmidt das. Gastlich-
ihre Vorgänger sein, sie sollte weniger Lu- tain’s Dinner habe man abgeschafft, sagt keit, Gemütlichkeit, die legere Atmosphä-
xus bieten und mehr Atmosphäre. Schmidt, weil zweimal sechs Glückliche, re, „das Reisen mit persönlicher Note“.
Als sie im September 1946 vom Stapel die mit dem Kapitän speisen dürfen, 400 Die „Azores“ ist ein unmögliches Schiff.
lief, lobten Fachleute ihren elegant geneig- Neidische erzeugten. Die Kleiderordnung Sie ist zu alt, um gegen die zahlreichen
ten Bug und das geschwungene Heck – ist leger, alle Vorgaben sind Empfehlungen, Neubauten konkurrieren zu können; an-
die „Stockholm“ war eher eine große Jacht ohne Verbindlichkeit. Es gibt manchen in dererseits ist sie zu oft renoviert worden,
als ein kleiner Ozean-Liner. Heute, 68 Jah- der Besatzung, der so viel Lässigkeit be- um glaubhaft mit ihrem Alter zu werben.
re später, ist der Bug ersetzt und das dauert. Der sich wünscht, dass die Passa- Sie ist zu klein, um mit günstigen Preisen
Heck durch ein „duck tail“ verkleidet. Die giere sich für ein Galadinner fein machen. gegen die großen Konkurrenzschiffe be-
„Azores“ ist eine Überlebende, das hat sie Weil Müßiggang etwas Besonderes ist, et- stehen zu können, und zu groß, um Ex-
mit vielen ihrer Passagiere gemeinsam. was, das sich vom Alltag abhebt. Und weil klusivität als Luxus zu verkaufen. Sie ist
Am Nachmittag wird im Bordkino ein Feinmachen eine Haltung ausdrückt. Zum ein kleines Hotel, mit dem Komfort einer
Film über die „Völkerfreundschaft“ gezeigt. Schiff. Zu den anderen Passagieren. Zum großen Pension.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren Leben. Zu sich selbst. Am Abend gibt es panierte Wildfleisch-
konnten die Urlauber auf dem Brücken- Einmal, am Anfang der Reise, stellt Kroketten im Kartoffelnest, gebratene
deck mit dem Luftgewehr schießen (fünf Schmidt sich vor die Gäste und kündigt Lammkeule mit Minzsoße und den Salat
Schuss eine Mark), im Veranda-Café gab Chicago. Motto des dritten Tages: „Ein Le-
die Bordkapelle ein Solidaritätswunsch- ben ohne Freude ist wie eine weite Reise
konzert unter dem Motto „Dem Frieden ohne Gasthaus.“ Cocktail des Tages: „Sin-
Kreuzfahrerin Strauß 1964, heute
die Freiheit“. gapore Sling“ – Gin, Cherry Heering, Zi-
Am 27. Oktober 1962, die Amerikaner tronensaft und Sodawasser.
testeten in Cape Canaveral gerade die Erika Strauß hat das Schiff, das sie kann-
neue Interkontinentalrakete „Titan II“, te, mit dem Schiff verglichen, auf dem sie
ignorierte die „Völkerfreundschaft“ die nun fährt, sie hat den Prospekt von 1964
Kuba-Blockade der Amerikaner; Präsident gegen die Wirklichkeit von heute gehalten.
Kennedy selber verhinderte, dass das Es ist ein wenig so, als würde man seiner
Schiff aufgebracht wurde. Unter dem Jubel Jugendliebe wiederbegegnen. Wer ist bes-
der Kubaner lief die „Völkerfreundschaft“ ser über die Runden gekommen?
in Havanna ein. Zweimal am Tag, vormittags und nach-
Im Film ist zu sehen, wie ein junges Paar mittags, läuft ein Matrose durch die Gänge
dem Kapitän zum Geburtstag ein paar Blu- des Schiffs und wischt die Fingerabdrücke
men in die Hand drückt („überreichen ei- von den glänzenden Handläufen: Agus,
nen nie welkenden Chrysanthemenstrauß Vater einer kleinen Tochter, die zu Hause
und die Verpflichtung ihrer Kollegen vom in Jakarta lebt. „Überall Messing“, sagt
VEB Kunstblume Sebnitz, für 100 000 Mark Erika Strauß anerkennend, „sehr, sehr ge-
mehr Exportgüter zu produzieren“). schmackvoll. Das ist schön. Das ist noch
Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Walter der alte Stil.“
Ulbricht auf Ägyptenreise (eigens für ihn Erika Strauß war 34 Jahre alt, als die
wurde eine der Einheitskabinen zu einer damalige „Stockholm“ vor der amerika-
Luxuskabine umgebaut), kurz darauf be- nischen Atlantikküste, in der Nähe des
gegnet das Schiff, so heißt es im Film, „ei- Feuerschiffs „Nantucket“, mit dem italie-
nem Teil der 6. amerikanischen Kriegsflot- nischen Passagierschiff „Andrea Doria“
te, berüchtigt durch den Überfall auf den zusammenstieß, am 25. Juli 1956. 51 Men-
Libanon – der Friede begegnet dem Krieg“. schen starben damals.
Als die „Azores“ am Morgen des dritten An Bord der „Andrea Doria“: 1134 Pas-
Tages in Bergen einläuft, steht die Sonne
bereits über dem Schiff. An der Pier ge-
„Ich war auf der sagiere, 572 Mann Besatzung, 401 Tonnen
Fracht, 522 Gepäckstücke, 1754 Postsäcke
genüber hat die „AIDAluna“ festgemacht, ‚Andrea Doria‘“, sagte und 9 Automobile, darunter ein Chrysler
2008 gebaut, 250 Meter lang, sie bietet
Platz für 2000 Passagiere. Kaum jemand das Mädchen, Norseman, ein von den Turiner Designern
Ghia gefertigtes Einzelstück.
an Bord würde gern auf die „AIDAluna“ „wo bin ich jetzt?“ Beide Schiffe waren in dichtem Nebel
wechseln, das versichern sich alle immer mit viel zu hoher Geschwindigkeit unter-
wieder. Aber warum eigentlich nicht? wegs. Um 23.09 Uhr bohrte sich der Bug
52 DER SPIEGEL 48 / 2014
Landgang in Norwegen: Gemischte Wurstplatte mit Rollmops

der „Stockholm“ wie eine Axt in den Sunrise“. Am fünften Tag steht Helene ernst genommen werden. Wir sind alle
Rumpf der „Andrea Doria“, unterhalb des Mierscheid auf der Bühne in der „Show nicht mehr schön, das ist das Motto, unter
Erste-Klasse-Ballsaals. Fast zehn Meter tief Lounge Calypso“ auf Deck 4A und macht dem sich alle versammeln. Aber wir fahren
drang das Vorschiff der „Stockholm“ in einen Witz über den Berliner Flughafen. zusammen in den Urlaub.“
den Rumpf der „Andrea Doria“ ein; das Draußen liegt die Südküste Norwegens. Motto des Tages: „Reisen ist in jedem
Loch, das die Form eines auf der Spitze Die meisten Gäste sind um die siebzig, so Augenblick geboren werden und sterben.“
stehenden Dreiecks hatte, war oben rund alt wie das Schiff, auf dem sie unterwegs Cocktail des Tages: „BBC“, ein Mix aus
zwölf Meter breit. sind. Unter Walter Ulbricht, sagt Mier- Baileys Irish Creme, frischen Bananen,
Ein Matrose, der auf der „Stockholm“ scheid, wäre das nicht passiert. „Wenn Ul- Ananassaft und Kokosnusscreme. Die bei-
die Mannschaftsquartiere sauber machte, bricht gesagt hätte: Niemand hat die Ab- den häufigsten Sätze: Wetter kann gar
hörte kurz nach dem Zusammenstoß die sicht, einen Flughafen zu bauen – zwei nicht besser sein. Man sieht sich.
Stimme eines Mädchens: „Wo ist Mama?“ Tage später wäre er fertig gewesen.“ Auf Deck 5 wartet DJ Lutz jeden Abend
In den Trümmern am Bug fand er die 14- Mierscheid hat früher mal in der Politik darauf, die Passagiere mit flotten Rhyth-
jährige Linda Morgan, in einem zerrisse- gearbeitet. Auf der „Azores“ ist sie als men zu unterhalten. DJ Lutz heißt eigent-
nen Schlafanzug. Der Name stand nicht Entertainerin gebucht, Kabarett, Comedy, lich Lutz Scheffler, er hat ein freundliches
auf der Passagierliste der „Stockholm“. solche Sachen. Der Katalog der „Azores“ Gesicht, bemerkenswert schwarze Haare
„Ich war auf der ‚Andrea Doria‘“, sagte versammelt unter dem Stichwort „Enter- und ein leicht melancholisches Lächeln,
das Mädchen. „Wo bin ich jetzt?“ tainment“ die Adjektive niveauvoll, ab- das eine Zahnlücke freilegt. Bei der Arbeit
Der Vorsteven der „Stockholm“ hatte wechslungsreich, renommiert, kurzweilig, trägt er am liebsten eine schmale weiße
sich in die Kabine 52 geschoben, in der nett, flott. Krawatte zum schwarzen Hemd. An Land
Linda und ihre Schwester Joan schliefen. Vor ihrem Auftritt hat Mierscheid auf betreibt Scheffler die Firma Fetensound,
Joan wurde von den Stahlmassen zer- jeden Stuhl einen Zettel legen lassen, die man kann ihn engagieren für Hochzeiten,
malmt, Linda wurde mit der Matratze aus Gäste sollen ihre Sorgen notieren und den Vereinsfeiern, Autopräsentationen. Einmal
ihrem Bett geschleudert – sie landete auf Zettel dann in eine Box werfen. „Trauma- im Jahr macht er auf einem Kreuzfahrt-
der „Stockholm“, rund 25 Meter hinter der bewältigung“ nennt sie das. schiff Musik. Scheffler bittet darum, sein
FOTOS: BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

Bugspitze. Auf der „Azores“, sagt Mierscheid, be- Alter nicht zu nennen. Er befürchtet, dass
Als die „Stockholm“ zwei Tage später kommen die Gäste ein Gesicht. Und eine er sonst von Diskotheken nicht mehr ge-
mit langsamer Fahrt in den Hafen von New Geschichte. „Auf dem Schiff fahren Men- bucht wird.
York einlief, fehlten 21 Meter vom Vor- schen, die wahrgenommen werden wol- In der DDR hat Scheffler eine Ausbil-
schiff – vom Namen waren nur noch die len.“ Vielleicht haben sie Angst, auf einem dung zum SPU abgeschlossen, zum „Schall-
Buchstaben „STOCKHO“ sichtbar. Hotelschiff wie der „AIDAluna“ verloren plattenunterhalter“. Drei Fragen, sagt er,
Es ist der vierte Tag, Motto: „Nur Reisen zu gehen. „Die ,Azores‘ ist eine ältere sind das Geheimnis für einen gelungenen
ist Leben, wie umgekehrt das Leben Rei- Dame, ein bisschen aufgetakelt, ein biss- Abend. Was habe ich für Gäste? Worauf
sen ist.“ Cocktail des Tages ist der „Tequila chen zu viel Schmuck – aber sie möchte reagieren sie? Was läuft aktuell? Was die
DER SPIEGEL 48 / 2014 53
Sonnenbad am Schiffspool: „Sprechen Sie Deutsch?“

Altersstruktur auf der „Azores“ angehe, für die schöne Saison und für die Zusam- Ende der Achtzigerjahre wäre das Schiff
sagt Scheffler, laute die Antwort eindeutig: menarbeit, manche haben Tränen in den beinahe verschrottet worden. Es hatte
deutscher Schlager. Stimmung macht er Augen. „Jede Kultur ist anders, aber nie- mehrere Monate lang beschäftigungslos
am wirkungsvollsten mit Helene Fischer mals falsch“, lautet das Tagesmotto. Cock- aufgelegen, eine Zeit lang diente es Flücht-
(„Atemlos“) oder DJ Ötzi („Ein Stern, der tail des Tages ist der „Ambiente“: Wodka, lingen im Hafen von Oslo als Unterkunft.
deinen Namen trägt“), Erholung bringen Apricot Brandy mit Bananencreme, Ana- Das Schiff wurde dann nach Italien ver-
Walzer oder Foxtrott. Dazu Oldies, „was nassaft und Erdbeersirup. Zum Galadinner kauft und noch einmal modernisiert. Der
sie aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren (Kleidungsvorschlag: festlich) wird Ente Besitzer ließ die Aufbauten erneuern,
kennen, die Leutchen“. oder Filet vom Rind serviert. „Sprechen Sie größere Kabinen einrichten, einen neuen
Insgesamt steht DJ Lutz vor einer ähn- Deutsch?“, will jemand von einer ukraini- Schornstein aufsetzen. In den Jahren da-
lichen Herausforderung wie die Betreiber schen Kellnerin wissen. Die junge Frau ant- nach fuhr die „Italia Prima“ für Necker-
von Kreuzfahrtschiffen überhaupt: ein wortet lächelnd auf Deutsch, mit einem klei- mann Seereisen.
Publikum zu amüsieren, dessen Vergnügen nen Gedicht. „Hüben und drüben / hübsche Was aus den Andenken wird, wenn er
darin besteht, vom Immergleichen über- Büsche mit üppigen Blüten.“ das Schiff verlässt? „Ich lasse die Sachen
rascht zu sein. „Das Schiff hat eine Seele“, sagt Kapi- an Bord“, sagt Kapitän Sousa. „Sie gehö-
Kreuzfahrer sind das Gegenteil von Ent- tän Filipe Sousa, ein Portugiese. Er zieht ren zum Schiff.“
deckungsreisenden. Sie wollen sehen, was in seiner Bürokabine einen Ordner aus Ein Schiff, 70 Jahre alt, es hieß „Athe-
sie schon kennen. Fjorde, Stabkirchen und dem Regal, in Klarsichthüllen hat er ab- na“, „Valtur Prima“, „Italia I“, „Völker-
Wasserfälle werden so lange fotografiert, geheftet, was Passagiere ihm an Erinne- freundschaft“, „Stockholm“. Es durchfährt
bis sie aussehen wie im Katalog. Und die rungsstücken von früher geschenkt haben: die Ozeane, es fährt durch die Zeit. Die
Fremde ist ein Landausflug. Geschlafen Fotos der „Völkerfreundschaft“, Aufnah- Menschen kommen an Bord mit Erwartun-
wird in der Geborgenheit der Kabine. men der Kabinen, der Speiseräume, Post- gen, sie verlassen das Schiff mit Erinne-
Motto des Tages: „Der kürzeste Weg zu karten. Manche haben ihm einen Brief ge- rungen. Das letzte Tagesmotto der vorerst
sich selbst führt um die Welt herum.“ schrieben, einer überreichte drei bunte letzten Reise der „Azores“ lautet: „Die
Cocktail des Tages: „Mexican Colada“. Wimpel aus Kuba. beiden schönsten Dinge sind die Heimat,
FOTO: BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

Am Abend des siebten Tages verabschie- Sousa stammt aus Lissabon, er ist noch aus der wir stammen, und die Heimat,
den sich Crew und die Leute der Veranstal- nicht lange auf der „Azores“, nach dieser nach der wir wandern.“
terfirma Ambiente von den Passagieren. Reise wird er ein anderes Schiff überneh- Gegen Mittag läuft das Schiff wieder in
Ambiente war mit einem Team auf jeder men. Die „Azores“ sei „angenehm“, sagt Bremerhaven ein.
Reise dabei, Kreuzfahrtdirektor, Animateu- er höflich, sie sei aber vor allem alt, sie
rin, Reiseleiter, ihre Fotos hängen gegenüber habe „ihre Eigenarten“. Manchmal, wenn Videoporträt: Der Schallplatten-
der Rezeption an der Wand, jedes steckt in der Wind von vorn bläst, zittert das Schiff. unterhalter Lutz Scheffler
einem kleinen Rahmen. Es gibt Sekt, Am- „Man muss es wie einen Oldtimer be- spiegel.de/sp482014dj
biente-Vertriebsleiter Axel Schmidt dankt handeln.“ oder in der App DER SPIEGEL

54 DER SPIEGEL 48 / 2014


„Ich war immer auch ein Exot“
SPIEGEL-Gespräch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, 61, über seinen nahenden
Abschied aus der Politik und die Frage, warum er auf Partys nicht mehr tanzen mag

SPIEGEL: Herr Regierender Bürgermeister, Sie als Kumpeltyp gelten – dies aber in SPIEGEL: Es heißt, dass Sie durchaus Ver-
Sie sind seit 2001 im Amt und haben sich Wahrheit gar nicht sind? gnügen dabei empfinden können, Kolle-
so lange an der Macht gehalten wie nur Wowereit: Ich bin sicherlich in der Lage, gen bloßzustellen.
wenige Ministerpräsidenten in der Ge- auf Leute zuzugehen und sie auch sehr Wowereit: Falsch. Es geht darum, in Vorla-
schichte der Bundesrepublik. Wie lautet vertraut zu behandeln. Das heißt aber gen die Schwachpunkte herauszufinden
Ihr Rat an junge Regierungschefs, die es nicht, dass ich zur Kumpanei neige. und dazu die richtigen Fragen zu stellen.
Ihnen gleichtun wollen? SPIEGEL: Willy Brandt galt als großer Cha- Ich erwarte dann, dass die Fachleute Ant-
Wowereit: Mein Prinzip war: heitere Ge- rismatiker. Aber ihm richtig nahekommen worten geben können. Und wenn das nicht
lassenheit. konnte man nicht, das sagen viele seiner passiert, sehen sie nun mal blöd aus.
SPIEGEL: Und was sollte man unbedingt Begleiter. Würden Sie sich in dieser Be- SPIEGEL: Aktenstudium, pingelige Fragen –
vermeiden? schreibung wiedererkennen? man kann nicht sagen, dass dieses Verhal-
Wowereit: In meinem Fall vielleicht be- Wowereit: Bei Brandt kam ein starker Zug ten Ihr öffentliches Bild geprägt hätte.
stimmte Fotos, die mich die ganze Zeit zur Melancholie hinzu. Das finden Sie bei Wowereit: Nein. Stattdessen wurde ich als
hindurch begleitet haben. Aber gut, das mir nicht. Aber auch bei mir gibt es na- Berlins Regierender Partymeister beschrie-
ist eine Petitesse. Schlimmer ist so ein Be- türlich einige Grenzen, die ich nicht über- ben. Dieses Klischee hat zwar nicht direkt
streben, gefällig zu sein. Dem sollte man treten würde. geschadet – ansonsten wäre ich ja nicht
nicht erliegen. SPIEGEL: Über Sie hat ein enger Mitarbeiter wiedergewählt worden. Aber es ist natür-
SPIEGEL: Was ist das größte Missverständnis gesagt, Sie seien ein jovialer Menschenfeind, lich Quatsch, egal wie lange es sich gehal-
in Bezug auf Ihre Person? Sie hätten einen harten Blick auf Menschen. ten hat. Der Arbeitstag eines Regierenden
Wowereit: Mich wundert bis heute, wie we- Wowereit: Ein anonymes Zitat, im SPIEGEL Bürgermeisters fängt nicht um 20 Uhr bei
nig Journalisten, die uns Politiker täglich mal verwendet. Inhaltlich ist es falsch, ich der Bambi-Verleihung an. Sondern um
FOTO: WERNER SCHÜRING/DER SPIEGEL

beobachten, davon verstehen, wie Politik mag Menschen. sechs Uhr früh. Aber das nimmt ja keiner
funktioniert. Im politischen Betrieb ist es SPIEGEL: Solange sie nicht Senatoren in wahr. Ich bin Preuße durch und durch.
anscheinend immer noch möglich, sich so Ihrer Regierung sind. Harte Arbeit ist für mich Pflichterfüllung.
geheimnisvoll zu verhalten, dass Beobach- Wowereit: Als Senatsmitglieder sind sie SPIEGEL: Manche Schriftsteller sagen, sie
ter von außen schwer durchdringen. dazu da, dass sie professionelle Arbeit ab- läsen jede Rezension, und es mache sie
SPIEGEL: Dann helfen Sie doch mal bei der liefern. Und wenn ich den Eindruck habe, fertig. Andere ignorieren angeblich alles,
Aufklärung. Könnte ein Missverständnis das tun sie nicht, müssen sie auch mit weil sie ansonsten nicht arbeiten können.
über Klaus Wowereit darin bestehen, dass meiner Kritik leben. Wie ist das bei Ihnen?
56 DER SPIEGEL 48 / 2014
Gesellschaft

Wowereit: Wenn ich morgens meine zehn ner Flughafenbroschüre nicht aufgetaucht
Tageszeitungen gelesen habe, sind die war. Danach war er immer ganz zufrieden,
größten Aufreger adrenalinmäßig für mich wenn da nur Berlin stand. Obwohl der
abgehandelt. Und sicher gibt es dann auch Flughafen in Brandenburg liegt.
mal Journalisten, mit denen man lange SPIEGEL: Hätten Sie in der Öffentlichkeit
abgeschlossen hat. mehr Verständnis erwartet?
SPIEGEL: Sie sind nicht mehr so leicht zu Wowereit: Bei einem Vorgang dieser Größe
kränken wie früher? wird Rechenschaft verlangt, das ist normal.
Wowereit: Es gibt sicherlich noch Knöpfe, Dass die Kritik ein bisschen gerechter hätte
die man bei mir besser nicht drücken soll- verteilt werden können, ist eine andere
te. Welche das sind, verschweige ich aber Frage. Der Flughafen ist jetzt zu 98 Pro-
lieber. zent fertig, aber die restlichen 2 Prozent
SPIEGEL: Politik besteht ja auch in der sind die schwierigsten. Versuchen Sie mal,
Kunst, das eigene Bild in der Öffentlichkeit das öffentlich zu vermitteln.
zu kontrollieren. Selbst bei Ihrer Rück- SPIEGEL: Haben Sie den Unmut auch auf
trittserklärung kam kaum ein Bericht ohne der Straße gespürt? In Umfragen waren
jenes Foto aus, auf dem Sie anscheinend Sie zuletzt abgestürzt.
Champagner aus einem Damenschuh trin- Wowereit: Die Leute waren nicht unfreund-
ken wollen. lich zu mir. Das war eine positive Diskre-
Wowereit: Na ja, gut. Dieses Foto ist seit panz zu den Umfragen. Und immer diese
13 Jahren in der Welt. Hinweise, die ganze Welt lache über uns:
SPIEGEL: Nach so langer Zeit könnte es Das habe ich auch nicht festgestellt. Das
längst in Vergessenheit geraten sein. stimmte nicht.
Wowereit: Das zeigt die Macht der Bilder, SPIEGEL: Dafür wurden die Leute in Ihrer
dagegen lässt sich schwer etwas machen. Partei immer unruhiger.
Ich bereue nichts. Die Dame, die mir den Wowereit: Ja, gut, nichts ist so erfolgreich
Schuh reichte, wollte sich mit mir bekannt wie der Erfolg. Das ist eine alte Binsen-
machen; da war nichts Böses. Inzwischen weisheit. Wenn die Kollegen schlechte
bin ich vorsichtiger geworden. Heute wür- Umfragen sehen, werden sie nervös.
de ich den Schuh sofort fallen lassen. Ich SPIEGEL: Monatelang wurden Sie von Ihrem
tanze auch nirgendwo mehr öffentlich, ob- eigenen Landesparteichef gepiesackt. Zum
wohl mir das immer Freude gemacht hat. Schluss sägten selbst kleine Bezirkspoliti-
Aber wenn überall die Fotografen lauern ker an Ihrem Stuhl. Hat es Sie da nie ge-
und einen noch nachts um zwei Uhr ver- reizt, einmal zuzulangen?
folgen, verliert man die Lust. Wowereit: Wenn die eigenen Leute Angst
SPIEGEL: Haben Sie nie versucht, Ihr Image um ihren Job haben, weil der Frontmann,
zu ändern? also ich, vermeintlich nicht mehr funktio-
Wowereit: Irgendwann folgt auf dem roten niert – dann hätten sie auch die Konse-
Teppich doch der Nächste, der mehr Auf- quenzen ziehen müssen. Das haben sie
merksamkeit erzielt. Ich wurde mit sich aber nicht getraut.
der Zeit anders wahrgenommen. Unterm SPIEGEL: Verglichen mit dem jungen Klaus
Strich, finde ich, hat das alles nicht den Wowereit ist die Ihnen nachfolgende Ge-
Riesenschaden angerichtet. neration relativ zahm.
SPIEGEL: In der Flughafenaffäre möglicher- Wowereit: Finden Sie?
weise doch. Sie ist ausschließlich an Ihnen SPIEGEL: Als Sie damals ins Rote Rathaus
hängen geblieben – und nicht am Minis- eingezogen sind, hatte es vorher kein sorg-
terpräsidenten von Brandenburg, der ja sam inszeniertes Mitgliedervotum gege-
genauso verantwortlich ist. ben. Sie haben sich noch ganz altmodisch
Wowereit: Oder beim Bund, dem dritten an die Macht geputscht.
Gesellschafter des Flughafens. Wowereit: Was heißt hier altmodisch? Um
SPIEGEL: Gerecht oder nicht: Ihr langjähri- ins Amt zu kommen, musste man den al-
ger Kollege in Potsdam, Matthias Platzeck, ten Bürgermeister abwählen. Das ist nun
zog sich jedenfalls ziemlich unbeschadet einmal von der Verfassung vorgegeben.
aus der Affäre. Vielleicht weil er – anders Da ist nichts geputscht.
als Sie – nicht das Image „Bruder Leicht- SPIEGEL: Wir dürfen erinnern: Sie waren
fuß“ mit sich trug? SPD-Fraktionschef in einer Großen Koali-
Wowereit: Das glaube ich nicht. Der ent- tion mit der CDU und haben mit den Stim-
scheidende Punkt meiner Bilanz ist doch: men der Grünen und der PDS Ihren Part-
Wie ist Berlin in diesen 13 Jahren voran- ner, den Regierenden Bürgermeister Eber-
gekommen? Da ist viel erreicht. Wirt- hard Diepgen, einfach abgeräumt.
schaftlich, aber auch kulturell. Aber na- Wowereit: Wir haben eine Sache beendet,
türlich wurde schnell wieder personalisiert. die beendet werden musste. Dazu habe
Bald war nur vom Flughafen Berlin die ich auch immer gestanden: Härte muss
Rede und nicht vom Flughafen Berlin- sein, sonst erreicht man nichts.
Brandenburg, wie er in Wahrheit heißt. SPIEGEL: So viel Entschlossenheit haben
Ich weiß noch, wie sich Platzeck vor Jah- Ihre potenziellen Kronprinzen nie aufge-
ren aufgeregt hat, weil Brandenburg in ei- bracht.
DER SPIEGEL 48 / 2014 57
Gesellschaft

Wowereit: Für die ist es eine ganz andere jemand, der in Berlin schon fast jede
Situation. Damals ging es gegen jemanden denkbare Koalition angeführt hat: Was
außerhalb der eigenen Partei. Aber na- raten Sie der SPD, damit sie wieder
türlich braucht es auch ein gutes Nerven- eine Chance auf das Kanzleramt be-
kostüm. Wer da wankt, hat schon verlo- kommt?
ren. Wowereit: In Deutschland gibt es unverän-
SPIEGEL: Sie haben in Ihrer Amtszeit 44 Mi- dert zwei etwa gleich große Lager, das
nisterpräsidenten erlebt. Früher gab es konservative und das linke. Für die SPD
Charakterköpfe wie Roland Koch oder besteht die Tragik darin, dass sich neben
Kurt Biedenkopf. Heute fällt es oft schwer, ihr im linken Spektrum zwei weitere Par-
die Länderchefs zwischen Dresden und teien fest etabliert haben, ohne dass dieses
Wiesbaden mit Namen zu nennen. Woran Lager gewachsen wäre. Nun hoffen viele
liegt das eigentlich? Genossen, dass sie von den Konservativen
Wowereit: Die polarisierenden Persönlich- etwas herüberziehen können. Das ist der
keiten sterben aus, so wird es allgemein berühmte Kampf um die Mitte. Ich finde,
beschrieben. Das ist eine Tendenz, die von wir müssen vor allem die Wähler der Lin-
unten nach oben durchwächst. Mein Ver- Partygast Wowereit* ken und der Grünen wieder zu uns holen.
dacht ist, Leute mit solchem Profil gehen „Die Dame wollte sich mit mir bekannt machen“ Dass die SPD Wirtschaft kann, hat sie be-
gar nicht mehr in die Politik. wiesen. Wahltaktisch wichtiger ist ihr so-
SPIEGEL: Warum? SPIEGEL: Waren Sie zu feige? ziales Profil.
Wowereit: Weil Politik heute ein sehr Wowereit: Nein. Ich hätte wahrscheinlich SPIEGEL: Durch Ihr Outing hatten Sie gleich
schlechtes Image hat. Und weil man in auch Chancen gehabt. Es war eine persön- zu Beginn einen großen Auftritt. Fühlten
anderen Lebensbereichen Karriere ma- liche Entscheidung. Ich hätte mich auf die Sie sich danach eigentlich von der Presse
chen kann, ohne derart im Fokus der Bundesebene konzentrieren müssen, und verfolgt?
Öffentlichkeit zu stehen und alle Nach- das wollte ich nicht. Wowereit: Ich fand es jedenfalls völlig da-
teile durchleben zu müssen. Allerdings: SPIEGEL: An Ihrer Stelle ist es dann Sigmar neben, wenn es in meinem privaten Um-
Als die Nachkriegsgeneration abtrat, hieß Gabriel geworden. Sie beide sind ein biss- feld Recherchen wegen irgendwelcher halt-
es auch schon, jetzt komme nur noch chen wesensverwandt, oder? loser Gerüchte gab. Es ist einfach unange-
Mittelmaß. Und heute trauert man Wowereit: Das ist eine raffinierte Frage! Uns nehm, wenn Freunde und Familie belästigt
schon Figuren wie Koch oder Stoiber hin- eint das Ziel der sozialen Gerechtigkeit. werden. Das ist völlig gaga.
terher. SPIEGEL: Wir meinten: vom Typ her. Auch SPIEGEL: Für die Springer-Presse waren Sie
SPIEGEL: Haben Sie sich in Ihrer Karriere mal einen Haken zu schlagen, eine Volte, der Feind: ein Schwuler, der die Kommu-
oft als Einzelgänger empfunden? auf die andere nicht gekommen wären, nisten ins Rathaus holt und einen konser-
Wowereit: Jedenfalls habe ich immer Wert irgendeine Schlitzohrigkeit. vativen Bürgermeister vertreibt.
darauf gelegt, meinen eigenen Kopf zu Wowereit: Jetzt wollen Sie mich aufs Glatt- Wowereit: Das korrespondierte allerdings
haben. Irgendwelchen Seilschaften habe eis führen. nicht mit den Verhaltensweisen von Herrn
ich mich nie angeschlossen. Ich war für SPIEGEL: Wieso? Darf man über einen Poli- Döpfner und Frau Springer. Auf unseren
manche auch immer ein Exot. Wenn man tiker nicht mehr sagen, dass er ein bisschen vielen Treffen waren wir immer ganz lieb
auf mich zurückgriff, musste schon Not schlitzohrig ist? zueinander.
am Mann sein. Wowereit: Doch, doch, das darf man. Ich SPIEGEL: Genutzt hat Ihnen das gute Ver-
SPIEGEL: Hat es deshalb für den SPD-Vor- würde es nur nicht auf Gabriel oder mich hältnis zur Erbin und zum Chef von Sprin-
sitz bei Ihnen nie gereicht? beziehen. Ich will es so sagen: Gabriel hat ger nicht.
Wowereit: 2009 gab es durchaus die Über- unendliche Talente, er kann die Leute Wowereit: Als Verlegerin hat man doch
legung, ob ich antrete. Etliche haben mich begeistern, er ist ein sehr kluger Vorsit- nichts mit dem Verlag zu tun.
damals dazu ermuntert. zender. Ab und zu schießt er so weit nach SPIEGEL: Man hat das Gefühl, dass Sie zum
vorn, dass manche nicht so schnell mit- Abschied noch einmal viel Zuspruch ge-
* Oben: bei der Bambi-Verleihung 2001 in Berlin; unten:
kommen. nießen. Hat sich die Lokalpresse wieder
mit den Redakteuren Frank Hornig, Jan Fleischhauer SPIEGEL: Sigmar Gabriel hat, anders als mit Ihnen versöhnt?
und Klaus Brinkbäumer in seinem Berliner Büro. Sie, noch nie eine Wahl gewonnen. Als Wowereit: Na ja, geht so. Die Schauspiele-
rin Anna Thalbach hat mir beim Festakt
zum Mauerfall 50 Euro zugesteckt, weil
sie 1989 das Begrüßungsgeld zu Unrecht
FOTOS: WERNER SCHÜRING/DER SPIEGEL (L.); ADOLPH PRESS / REETZ (O.)

doppelt kassiert hatte. Ich habe das Geld


direkt an Bürgerrechtler für ihre Arbeit
weitergegeben. Aber natürlich kam es,
wie es kommen musste: Am Tag nach
unserem großen Jubiläum, das weltweit
gepriesen wurde, gab es für Springers B. Z.
und den Rest der Boulevardpresse nur
ein Thema: Was hat Wowereit mit den
50 Euro gemacht?
SPIEGEL: Was werden Sie künftig nicht ver-
missen?
Wowereit: Dass ich mich für jeden Quatsch
rechtfertigen muss.
SPIEGEL: Herr Regierender Bürgermeister,
Wowereit beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ich bereue nichts“ wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
58 DER SPIEGEL 48 / 2014
Gesellschaft

Zunächst fand ich nicht viel. Das Wirtshaus vorn am Markt-


platz, die Blumenkästen, die Spalierbaum-Leitern, die K.-u.-k.-
Briefmarken in einer Auslage – alles stimmte. Sogar der alte
Hallstatt-Mensch Granitbrunnen stand an der richtigen Stelle.
Und doch war alles falsch. Dieses Hallstatt war genau sei-
Homestory Zu Besuch in einem kopierten tenverkehrt nachgebaut – ein Trick womöglich, um eine Pa-
tentschutzklage auszuschließen? Die Sicherheitsleute trugen
Alpendorf mitten in China kanadische Rangerhüte, und zwischen den Häusern haben sie
Zimt- statt unserer Zwetschgenbäume angepflanzt. Den einzi-
gen Nadelbaum fand ich auf dem inzwischen dicht bewachse-

W
enn mich im Ausland jemand fragt, woher genau aus nen Sandhaufen hinter dem Dorf. Und der erwies sich auf den
Österreich ich komme, gebe ich ungefähre Antworten. zweiten Blick als getarnter Handymast.
Mein Dorf ist einfach zu klein und unbekannt. Bei Dann betrat ich die Kirche. Drei junge Chinesinnen begrüß-
Amerikanern fange ich mit Salzburg an, bei Deutschen mit ten mich im Dirndl: „Herzlich willkommen in unserem Immo-
Sankt Gilgen und bei Arabern mit Zell am See. Bei Russen bilienbüro.“ Es füge sich, sagten sie, dass gerade eine Delega-
und Japanern komme ich oft mit Bad Ischl weiter. In Ischl lern- tion aus dem Hauptquartier in Peking da sei. Ob ich nicht bei
ten sich Franz Joseph und Sissi kennen. einer Tasse grünem Tee auf die Herren warten wolle.
Seit zwei Jahren lebe ich in China, und hier fand ich eine Das „Hallstatt-Projekt“, sagte Marketingdirektor Duan Min-
Antwort, die nur mehr ein paar Kilometer von der Wahrheit gang, als er mich in der Sakristei empfing, sei nur eine Verkaufs-
entfernt ist: „Wo shi Hashitate ren.“ Ich bin ein Hallstatt- idee. Seine Firma baue in ganz China große Wohnanlagen, man-
Mensch. „Nin zhidao, Guangdongde aodili xiaozhen.“ Sie wis- che in schottischem, andere in britischem Landhausstil. „Der
sen schon, das österreichische Dorf in der Provinz Guangdong. Wettbewerb ist hart, man muss sich etwas einfallen lassen.“
Es war vor drei Jahren, als im Salzkammergut zum ersten Im Übrigen seien die Chinesen nicht heimlich mit dem Maß-
Mal das Gerücht umging, die Chinesen seien dabei, unser herr- band durch Hallstatt gelaufen, „wir haben uns auch nicht ver-
liches Hallstatt zu kopieren, die Weltkulturgemeinde, nach der steckt. Wir waren sogar im Supermarkt und haben mit unserem
die Frühe Eisenzeit benannt ist. Heimlich hätten sie sich einge- Pensionswirt Rührei gebraten“. So sprach Herr Duan und ent-
schlichen, hätten Maß genommen – und das Dorf dann in China ließ mich in den brütend heißen Nachmittag. Auf dem Markt-
nachgebaut. Kein Respekt vor unseren Ahnen! platz standen zwei Dutzend Brautpaare mit ihren Fotografen.
Auch ich war irritiert. Mein Urgroßvater war Wassermeister Vermögende Chinesen reisen um die halbe Welt für ein
im Hallstätter Salzbergwerk, mein Vater, mein Bruder, mein Hochzeitsfoto vor exotischer Kulisse. Weniger vermögende,
Neffe gingen in Hallstatt zur Schule. Kaum hatte ich meine Frau das fiel mir in Hashitate-Hallstatt auf, tragen dazu sehr unbe-
kennengelernt, führte ich sie auf den Salzberg; kaum waren sie queme Polyesteranzüge, die Männer werden genauso aufwen-
groß genug, mussten auch unsere Kinder hinauf. Ich rede bis dig geschminkt wie ihre Braut. Ich verstand sofort, was ihnen
heute unseren Dialekt und trage unsere Tracht, wenn ich da der Schatten eines österreichischen Kirchturms bedeutet.
bin. Meine Mutter schickt mir alle zwei Wochen die Lokalzeitung Mein Unbehagen blieb trotzdem. Wenn etwas so Altes und
nach Peking und jedes Jahr einen Salzkammergut-Kalender. Besonderes wie ein halbes Alpendorf so schnell und täuschend
Ich hänge an diesen Dingen, und ich vertrage nicht viel echt übertragen werden kann (wenn auch seitenverkehrt) –
Ironie im Umgang mit ihnen. Je tiefer aus den Bergen wir kom- was ist dann überhaupt noch alt und besonders? Woran soll
men, desto genauer nehmen wir es offenbar mit den äußeren man seine feierliche Heimatliebe dann noch hängen?
Zeichen unserer Identität. Der Dichter Thomas Bernhard hat Neulich hatte ich Gelegenheit, den chinesischen Künstler Ai
sich nicht leichtfertig über unsere Lederhosen lustig gemacht. Weiwei zu fragen, wie ihm Venedig gefalle. Er lachte: „Venedig?
Er lebte selbst im Salzkammergut, er trug sie selber gern, er Sehr schöne Stadt, wie ein wertvoller alter Teppich. Aber wo
wusste sehr genau, was er beleidigte. hängt man sich so etwas hin?“
Die ersten Bilder aus dem chinesischen Neu-Hallstatt waren So geht es Chinesen oft. Sie fahren nach Europa und finden
fürchterlich: ein Baggerteich statt des Hallstättersees, ein nack- das Alte, das uns so stolz macht, gar nicht so beeindruckend,
ter Sandhaufen statt der Rudolfshöhe, tropischer Smog statt aber doch sehr putzig, eben so wie mein Hallstatt. Es ist im
unseres Ostalpenhimmels. Und zwischen den Kränen und Ge- fernen China nur ein schiefes Zitat, aus einer Quelle, die hier
rüsten der Turm der Hallstätter evangelischen Kirche. Die Chi- niemand kennt. Bernhard Zand
nesen wollten uns kopieren. Sie waren aber dabei, uns lächer-
lich zu machen.
Vor ein paar Wochen fuhr ich schließlich nach Guangdong.
Hallstatt, in Österreich seit dem Neolithikum besiedelt, brauch-
te in China anderthalb Jahre bis zur Fertigstellung. Der Im-
mobilienzweig eines Pekinger Bergbaukonzerns hat nur den
Ortskern des Dorfes nachgebaut, den aber so akkurat, dass
ich mich herausgefordert fühlte. Ich machte mich auf die Su-
che nach Fehlern. Baumängeln, gewissermaßen.
ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

DER SPIEGEL 48 / 2014 59


Wirtschaft
Gewerkschaftsbund. „Kurz land ein, seit die deutschen
Produktion von vor seiner Einführung könnten Geflügelhalter im Februar
Brötchen jetzt auch weitere Branchen aus der gentechnikfreien Füt-
auf Ausnahmen pochen.“ Tat- terung ausgestiegen sind.
sächlich versucht das Bäcker- Mehr noch: Anfang Novem-
handwerk, über den Land- ber führte Edeka das Label
wirtschaftsausschuss des Bun- „Ohne Gentechnik“ ein,
destags eine ähnliche Aus- Rewe hat solche Produkte
nahme zu erwirken. In einem schon länger im Sortiment. In
Brief bat der Verband die einer „dringenden Anfrage“
Ausschussmitglieder Ende an Bundeslandwirtschafts-
Oktober, „sich kurzfristig für minister Christian Schmidt
eine befristete gesetzliche (CSU) bezichtigt der ZDG
Übergangsregelung einzuset- Edeka und Rewe der „massi-
zen“. Durch die Einführung ven Verbrauchertäuschung“
des Mindestlohns von 8,50 und verweist auf Studien, die
Euro in einem Schritt würden eine Verunreinigung von
sich die Personalkosten der Non-Gen-Soja mit Gensoja
Betriebe stark erhöhen. Ohne belegten. Deshalb könne
eine Übergangsregelung müs- Gentechnikfreiheit gar nicht
se „damit gerechnet werden, garantiert werden. „Die Atta-
dass es insbesondere in struk- cke des ZDG ist wenig fun-
turschwachen Regionen zu diert und unverschämt“, ur-
Mindestlohn schon eine Mindestlohn-Aus- Entlassungen und Betriebs- teilt Alexander Hissting vom
Noch mehr nahme: Der Lohn kann in schließungen kommt“, droht Verband Lebensmittel ohne
Ausnahmen? zwei Schritten bis 2017 auf
8,50 Euro angehoben werden.
der Verband. mad Gentechnik VLOG. Hissting
schrieb dem Ministerium,
Auf Druck der Zeitungsverla- Allerdings gilt das nur für dass die Einhaltung des Stan-
ge will die Große Koalition Vertriebe, die ausschließlich Lebensmittel dards ständig verifiziert wer-
die Ausnahmeregelung für Presseprodukte ausliefern. Attacke der de. Mit dem Ausstieg aus der
Zeitungsausträger beim Min-
destlohn ausweiten. Darüber
Viele Zustellbetriebe vertei-
len jedoch auch Prospekte Geflügel-Lobbyisten Gentechnikfreiheit Ende Fe-
bruar habe sich die Branche
verhandeln die Fraktions- oder Post – nun soll die Aus- Der Zentralverband der „gehörig verzockt“. Selbst die
chefs von Union und SPD im nahme auch für sie gelten. Deutschen Geflügelwirtschaft Deutsche Frühstücksei, eines
Bundestag, Volker Kauder „Damit wird die Büchse der (ZDG) attackiert die Lebens- der größten ZDG-Mitglieder,
(CDU) und Thomas Opper- Pandora geöffnet“, sagt mittelhändler Rewe und Ede- ist empört über den eigenen
mann (SPD). Für Zeitungs- Stefan Körzell, zuständiger ka. Die nämlich decken sich Verband: Der Brief sei „nicht
austräger gilt ab Januar 2015 Vorstand beim Deutschen mit Produkten aus dem Aus- akzeptabel“. msc

Korruption Auftrag aus Griechenland an die Münchner gehe. Angeblich


Ermittler durchsuchen KMW-Partner um Gegengeschäfte, sogenannte Offsets, zu organisieren. Lia-
kounakos’ Firma sollte, ausweislich eines zweiten Kontrakts,
In der Affäre um den Verkauf von Panzern an Griechenland die Gelder an eine Briefkastenfirma auf den British Virgin Is-
kommt Krauss-Maffei Wegmann (KMW) weiter unter Druck. lands weiterleiten. Wem diese Firma gehört, ist unbekannt.
Griechische Ermittler durchsuchten vorvergangene Woche Pri- Ermittler vermuten, dass es sich bei den geplanten Zahlungen
vaträume des bekannten Athener Geschäftsmanns und KMW- um Schmiergelder für griechische Politiker gehandelt haben
FOTOS: PETER STEFFEN / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); M. ROSENFELD/HELGA LADE (O.)
Partners Thomas Liakounakos sowie dessen Firma. Nahezu könnte. Aus Akten der Athener Staatsanwaltschaft geht her-
zeitgleich waren Münchner Staatsanwälte in der KMW-Zentra- vor, dass Liakounakos griechischen Entscheidern angeboten
le eingerückt und nahmen Dokumente über die Modernisie- haben soll, Bestechungszahlungen über Monaco abzuwickeln.
rung des „Leopard 1“ sowie den Verkauf von 170 „Leopard 2“- Im Zuge ihrer jetzigen Durchsuchung sollen die Fahnder auch
Panzern an Athen mit. Liakounakos auf Kontobelege aus dem Fürsten-
steht laut einer Aussage im Ver- tum gestoßen sein. Bei KMW heißt
dacht, im Jahr 2001 einen Rüstungs- es, man habe niemals Schmiergeld-
direktor im griechischen Verteidi- zahlungen veranlasst. Der Vertrag
gungsministerium mit 600 000 Euro mit der Firma von Liakounakos sei
geschmiert zu haben, um Wider- noch vor irgendwelchen Zahlungen
stände gegen das „Leopard“-Projekt beendet worden. Liakounakos sagt,
zu brechen. Liakounakos soll auch weder er noch seine Firmen seien
wirtschaftlich Berechtigter einer in je in illegale Zahlungen verwickelt
Monaco ansässigen Briefkasten- gewesen. Um Licht in die Affäre zu
firma sein, die laut einem 1999 auf- bringen, wollen Münchner Staats-
gesetzten Vertrag rund 60 Millio- anwälte nun Anfang Dezember zu
nen Euro von KMW bekommen Kampfpanzer „Leopard 2“ einem kollegialen Austausch nach
sollte, falls der 1,7-Milliarden-Euro- Griechenland reisen. js

60 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kohlemeiler in Indien

Die bundeseigene Ban-


kengruppe KfW wird
auch weiterhin Kredite
für Kohlekraftwerksbau-
ten im Ausland vergeben.
Die beiden KfW-Institute
IPEX und DEG sollen
die umstrittene Finanzie-
rung etwa von Meilern
und Förderanlagen in
Chile oder Indien fortset-
zen. Lediglich die KfW
Entwicklungsbank wird
sich wohl aus diesem Ge-
schäft zurückziehen. Da-
mit könnte das Kredit-
institut zumindest sym-
bolisch der Kritik von
Ökoverbänden, aber auch Regionalverkehr
Energie
Schäuble soll zahlen
Kredite für Kohlekraftwerke
von Bundesumweltminis-
terin Barbara Hendricks
(SPD) ein wenig entge- Im Finanzgeschacher mit den
genkommen, die auf Ländern muss Bundesfinanz-
dem Uno-Klimagipfel in minister Wolfgang Schäuble
New York im September (CDU) eine empfindliche Nie-
DEUTSCHLAND Bürgschaften und Kredi- derlage einstecken, die für
SERBIEN te für Kohlekraft im ihn teuer werden dürfte: Ein
GRIECHENLAND Ausland kritisiert hatte. Gutachten im Auftrag der
MAZEDONIEN
„Selbst US-Präsident Bundesregierung verlangt
Wo die KfW ISRAEL THAILAND Obama sowie der franzö- von Schäuble, den Bundes-
Kohlekraftprojekte sische Präsident Hollan- ländern künftig deutlich
finanziert hat de haben sich gegen die mehr Geld zur Verfügung zu
2006 bis 2013 INDIEN Finanzierung von klima- stellen, um den boomenden
schädlichen Kohlekraft- Regionalverkehr finanzieren
werken im Ausland aus- zu können. Die Experten be-
gesprochen“, sagt ziffern den jährlichen Bedarf
Quelle: Bundestags-
Grünen-Energieexperte an den sogenannten Regiona-
fraktion B’90/Die Grünen CHILE SÜDAFRIKA AUSTRALIEN Oliver Krischer. gt lisierungsmitteln ab 2015 auf
7,7 Milliarden Euro. Darüber
hinaus fordern sie, die Leis-
tungen bis 2029 jedes Jahr
Negativzinsen gen, die von Unternehmen Bei einer Inflationsrate von um 2,7 Prozent zu erhöhen,
Politik verteidigt nicht als Kredite nachgefragt einem Prozent und einer Ge- um Preissteigerungen und ge-
Commerzbank werden. Wir brauchen eine
deutlich höhere Investitions-
bühr von 0,2 Prozent mache
der Sparer ebenso Verlust
plante Ausweitungen des An-
gebots abzufedern. Schäuble
Politiker von Koalition und quote, um der drohenden Ne- wie früher bei einer Inflation überweist den 16 Ländern in
Opposition nehmen die Com- gativspirale zu entkommen.“ von zwei Prozent und diesem Jahr nur 7,3 Milliar-
merzbank für ihre Entschei- Der finanzpolitische Sprecher 0,8 Prozent Zinsen. ase, böl den Euro, außerdem weigert
dung in Schutz, für Guthaben der Grünen, Gerhard Schick, er sich bislang, 2015 mehr
von Großkunden künftig eine sagt: „Die Negativzinsen zei- Europäische Geld zu zahlen. In den ver-
Gebühr zu erheben. „Nega- gen, dass wir uns noch immer Zentralbank gangenen Jahren gab es zu-
tivzinsen sind ein schlechtes in einem schwierigen ökono- mindest eine Dynamisierung
FOTOS: HAHN/LAIF (O.); HC PLAMBECK (R.); BORIS ROESSLER / DPA (U.)

Signal, aber die logische Kon- mischen Anpassungsprozess von 1,5 Prozent pro Jahr. Ein
sequenz der Maßnahmen, mit befinden. Wir sollten weniger Gutachten im Auftrag der
denen die Europäische Zen- über negative Realzinsen Länder hatte den jährlichen
tralbank versucht, wirt- diskutieren und mehr über Finanzbedarf für den Regio-
schaftspolitische Impulse zu die viel zu niedrige Inflations- nalverkehr jüngst sogar auf
setzen“, sagt der Vizevorsit- rate.“ Der Geschäftsführer rund 8,5 Milliarden Euro ta-
zende der Unions-Bundes- des Bankenverbands, Michael xiert. „Jetzt ist der Finanz-
tagsfraktion Ralph Brinkhaus. Kemmer, sorgt sich zwar um minister am Zug“, sagt der
Sein SPD-Kollege Carsten die psychologische Wirkung stellvertretende Vorsitzende
Schneider argumentiert: „Der von Negativzinsen. Er ver- der SPD-Bundestagsfraktion
Schritt zeigt, dass es für In- weist aber darauf, dass es sol- Sören Bartol. „Als ersten
vestoren in Deutschland ei- che Zeiten schon gegeben Schritt erwarte ich, dass die
nen Anlagenotstand gibt. habe: „Das ist nur weniger Mittel für das kommende
Banken schwimmen in Einla- Menschen aufgefallen.“ Jahr dynamisiert werden.“ böl

DER SPIEGEL 48 / 2014 61


Wirtschaft

Geteilte Macht
Konzerne In der Öffentlichkeit gilt Siemens-Chef Joe Kaeser als einer der stärksten
Industrieführer der Republik. Tatsächlich aber wächst der Einfluss der
IG Metall. Sie strebt eine ähnliche Rolle wie bei VW an: Dort läuft ohne sie gar nichts.

62 DER SPIEGEL 48 / 2014


kŋťćŭǿǽǾ!"Ǿ#
72,4 DšĚ$

I
n manchen Situationen zeigt selbst Joe Die neue Siemens-Geschäftsaufteilung DĴŭćšĒğĴŭğš
Kaeser Nerven. Ein Manager, der ge- kŋťČŭğĚğš0ōĚųťŭšĴğĒğšğĴĔığǿǽǾ!"Ǿ#ĴōDšĚ$ (ğſĴōō
meinhin als ziemlich cool gilt. Zum Bei- 357000 5,5 DšĚ$
spiel Anfang Juni: Da platzte dem meist so
besonnenen Siemens-Chef der Kragen, und Energie erzeugen und übertragen Energie effizient anwenden Healthcare
er ließ sich das auch deutlich anmerken.
Unter dem Schlagwort „Vision 2020“ hat-  Energieerzeugung, Öl- und VšœğťťćųŭœŋćŭĴťĴğšųōĬ Eigenständig
te Kaeser, 57, gerade erst sein Konzept zur Gasförderung und -transport 12,7  ōŭšĴğĒťťťŭğŋğ 9,6 geführte
Neuordnung des Konzerns mit gut 70 Mil- ōğšĬĴğ DćōćĬğŋğōŭ Fğŭğ 10,7 ĴĬĴŭćŅğVšœĚųłŭĴœō 9,2 Gesundheits-
liarden Euro Umsatz und knapp 360 000 sparte 11,7
Beschäftigten vorgestellt. Der Arbeitstitel šōğųğšĒćšğōğšĬĴğō 5,5 DœĒĴŅĴŭČŭų. ćvğšłğıšťŭğĔıōĴł 7,3
war an ein ähnliches, schon seit gut einem <šćĨŭſğšłť ĴğōťŭŅğĴťŭųōĬğō*  (ğĒČųĚğŭğĔıōĴł 5,7 Quelle:
* kŋťćŭĴōćōĚğšğō(ğťĔıČĨŭťĒğšğĴĔığōćųťĬğſĴğťğō kōŭğšōğıŋğōťćōĬćĒğō
Jahr laufendes Programm der IG Metall
angelehnt.
Doch statt den Siemens-Chef zu loben, Wahr ist allerdings auch: Wohl selten ten – weg von der traditionellen Appa-
hatten Gewerkschaft und Gesamtbetriebs- zuvor klaffte zwischen der öffentlichen ratemedizin, hin zur Untersuchung der
rat einen Aktionstag veranstaltet, an dem Wahrnehmung eines Dax-Vorstandschefs Erbsubstanz und darin angelegter Krank-
sie Kaeser Jobabbau vorwarfen und ihn und der Realität eine so große Kluft wie heitsrisiken. In einem solchen Fall soll der
auf einem Flugblatt in einer Karikatur am bei Kaeser. Freunde und Vertraute preisen Ableger sich allein die nötigen Mittel für
Steuer einer Dampfwalze zeigten. seine Macht und Durchsetzungsstärke. Die teure Zukäufe am Markt beschaffen kön-
Das sei unfair, beschwerte sich der Sie- Börsen-Zeitung kürte den Aufsteiger sogar nen und nicht mehr dem Mutterkonzern
mens-Chef – und es sei kontraproduktiv. zum „Kaiser von Siemens“. auf der Tasche liegen.
Schließlich hätten auch die Arbeitnehmer- Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu Kerner und seine Kollegen befürchten
vertreter im Aufsichtsrat das Vorhaben an- tun. Kaeser kann nicht einfach durchregie- dagegen, Kaeser könne die Medizintech-
standslos abgenickt. ren, der Siemens-Chef muss seine Macht nik bald abstoßen oder an die Börse brin-
Erst kürzlich hatte Kaeser erneut Anlass, teilen – mit Belegschafts- und Gewerk- gen und langfristig die Jobs an deutschen
sich aufzuregen. Die IG Metall argwöhnte schaftsvertretern wie der neuen Chefin des Standorten wie Erlangen, Forchheim oder
in einem internen Rundbrief, er könnte Gesamtbetriebsrats Birgit Steinborn, 54, im thüringischen Rudolstadt gefährden. Sie
die Medizintechnik-Sparte im Rahmen sei- oder dem IG-Metall-Vorstandsmitglied Jür- verweisen dabei auf Beispiele anderer frü-
nes Programms vom Konzern abspalten gen Kerner, 45. Beide sitzen auch im Kon- herer Konzernteile wie Osram oder Infi-
und als eigenständiges Unternehmen an trollgremium des Konzerns. neon, wo nach dem Ausstieg von Siemens
die Börse bringen. Der Siemens-Chef be- Aufgrund der Mitbestimmung haben die in großem Stil Arbeitsplätze wegfielen.
streitet das und wirft einigen Funktionären Arbeitnehmer in deutschen Konzernen oh- Das Ziel der IG Metall ist klar: Sie will
„fortgesetzten Populismus“ vor. nehin großen Einfluss. Steinborn und Ker- ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen
Kaesers Scharmützel mit Betriebsräten ner arbeiten gemeinsam daran, diesen bei und nebenbei neue Mitglieder werben.
und Gewerkschaftern passen so gar nicht Siemens noch beträchtlich auszubauen. „Wir betreiben keine reine Konfliktstrate-
zum Bild des großen Versöhners, das Im 20-köpfigen Aufsichtsrat des Kon- gie, sondern machen selbst konkrete
sich die Öffentlichkeit vom Siemens-Chef zerns bilden die neun IG-Metall-Mitglieder Verbesserungsvorschläge“, erläutert IG-
macht und das er selbst gern pflegt. Un- zusammen mit dem Vertreter der leitenden Metall-Kontrolleur Kerner die Politik.
vermittelt gewährt er tiefe Einblicke in das Angestellten eine eindrucksvolle Truppe. Mittelfristig möchten er und seine Kol-
Innenleben von Deutschlands fünftgröß- Wenn es in ihr Kalkül passt, unterstützen legen bei Siemens eine ähnlich starke Rolle
tem Industriekonzern – und in sein eigenes. sie Kaeser. Das war bei der gescheiterten spielen, wie die IG Metall sie schon heute
Seit der Niederbayer vor gut einem Jahr Übernahme des französischen Wettbewer- im VW-Konzern einnimmt. Dort geht
an die Konzernspitze rückte, wird er in bers Alstom der Fall. Auch den geplanten, gegen die Zustimmung des Arbeitnehmer-
der Bevölkerung, aber auch in der eigenen sechs Milliarden Euro teuren Kauf des US- lagers so gut wie gar nichts. Dessen füh-
Belegschaft gefeiert wie ein Heilsbringer. Fracking-Spezialisten Dresser Rand trugen rende Vertreter sehen sich selbst als Ko-
Bei Stippvisiten in der großen weiten die Belegschaftsabgesandten mit – obwohl Manager – und werden von der Konzern-
Siemens-Welt, konstatierte das manager der Boom dort wegen des fallenden Erdöl- führung auch so behandelt.
magazin, schlage ihm „meist Wohlwollen preises schon wieder nachlässt. Bei Siemens ist die Gewerkschaft noch
entgegen, manchmal gar Begeisterung“. Sie geben dem obersten Chef aber auch nicht so weit. Aber sie arbeitet daran.
Kaeser hat in seiner bisherigen Amtszeit gern Kontra wie aktuell in der Diskussion Kaesers Zukunftsprogramm für den
tatsächlich schon einiges bewirkt. Er straff- um die Zukunft der Medizintechnik. Diese Konzern ähnelt bereits in vielen Punkten
te den Vertrieb, schaffte eine komplette Sparte, in der unter anderem Computer- verblüffend den Vorstellungen der IG Me-
Managementebene ab, trennte sich von tomografen oder Ultraschallgeräte herge- tall. Siemens, heißt es in deren Infoblättern
Beteiligungen und gab dem Konzern eine stellt werden, setzt rund zwölf Milliarden und Rundschreiben, müsse Bürokratie ab-
neue Führungs- und Organisationsstruktur. Euro pro Jahr um – und macht seit Jahren bauen und den Mitarbeitern mehr Eigen-
Ziel ist es, den Konzern zu fokussieren gute Gewinne. Seit der frühere Siemens- initiative zugestehen. Dass Kaeser den
und rund um das Thema Elektrifizierung Chef Heinrich von Pierer sich Mitte der Vorschlag aufgegriffen habe, sei „ein ge-
neu zu gruppieren. Neunzigerjahre gegen einen Verkauf ent- schickter Schachzug“ gewesen, lobt Sie-
Noch ist nicht klar, ob sein Plan aufgeht. schied und den Bereich sanierte, gilt dieser mens-Betriebsratschefin Steinborn den
Aber immerhin hat der langjährige Ex- als eindrucksvoller Beleg dafür, dass der Konzernchef gönnerhaft.
FOTO: WOLFGANG STAHR/LAIF

finanzchef erst mal Ruhe in das Unterneh- Konzern Geschäfte auch selbst in Ordnung In der Medizintechnik ist die Hand-
men gebracht. Das war dringend nötig bringen kann – wenn er nur will. schrift der Arbeitnehmerseite ebenfalls er-
nach den Turbulenzen um Kaesers Bestel- Kaeser möchte die Siemens-Division kennbar. Als Gegenleistung für die geplan-
lung und die Ablösung seines glücklosen trotzdem in eine selbstständige Einheit te Verselbstständigung des Bereichs musste
Vorgängers Peter Löscher Ende Juli 2013 überführen, um sie für einen möglichen Kaeser unter anderem zusichern, wenn
(SPIEGEL 32/2013). Paradigmenwechsel in der Branche zu rüs- möglich auch künftig die Mehrheit der An-
DER SPIEGEL 48 / 2014 63
Wirtschaft

teile zu halten, keine Kündigungen auszu- rund 6000 Mitarbeiter mit Aktien des Kon- demonstrativ zur Schau gestellte Selbstbe-
sprechen, die Zentrale in Deutschland zu zerns, darunter auch viele leitende Ange- wusstsein der Arbeitnehmerseite kommt.
belassen und nicht aus der Tarifbindung stellte. Als letzte verbliebene Fundamen- Ihre Vorgänger wurden von früheren Vor-
zu flüchten. Potenzielle Investoren, vor al- talopposition im Unternehmen nervt sie stands- und Aufsichtsratschefs immer wie-
lem aus dem angelsächsischen Raum, dürf- Vorstand und Aufsichtsrat auf der Haupt- der ausgebremst, ja zuweilen sogar regel-
ten solche Auflagen wohl nur widerwillig versammlung seit Jahren mit hartnäckigen recht kujoniert.
schlucken. Fragen und massiver Kritik – und das oft Mit der unternehmerfreundlichen Be-
Die Verkehrstechnik haben die Arbeit- zu Recht. triebsräteorganisation AUB wurde zeitwei-
nehmervertreter als neuestes Experimen- Demnächst wollen Kerner und seine se sogar eine Art Gegenmacht zur IG Me-
tierfeld ausgeguckt. Zusammen mit exter- Mitstreiter noch weitere Tätigkeitsfelder tall aufgebaut und vom Konzern finanziert.
nen Experten arbeiten sie zurzeit an einem beackern. Der IG-Metall-Finanzchef und Doch das ist lange her. Heute kommt an
Konzept für die vor allem von chinesi- Kollegen in der Frankfurter Hauptverwal- Kerner und seinen Truppen kaum jemand
schen Wettbewerbern heftig bedrängte tung planen unter anderem einen Kongress vorbei.
Sparte. Sie sollte im Zuge der avisierten zur digitalen Produktion unter dem Schlag- Die tiefere Ursache für den gewachse-
Alstom-Übernahme eigentlich an die Fran- wort 4.0. Das Thema galt bislang eigentlich nen Machtanspruch der Belegschaftsver-
zosen gehen, bleibt nun aber im Konzern, als Kaesers Domäne. Doch von PR-Arbeit treter lässt sich an einem konkreten Ereig-
zumindest vorerst. verstehen die Betriebsräte und IG-Metall- nis festmachen. Es liegt gut ein Jahr zu-
Zu Details ihres ehrgeizigen Projekts Funktionäre inzwischen mindestens genau- rück, wirkt aber immer noch nach.
dürfen die IG-Metall-Emissäre auch Mana- so viel wie die Siemens-Manager. In einer Hauruckaktion hatte Aufsichts-
ger des Bereichs befragen. Die Führungs- Ihre Vertrauensleute im Konzern ließen ratschef Gerhard Cromme damals ver-
kräfte müssen den Abgesandten der Arbeit- erst kürzlich die Qualität der eigenen Kom- sucht, Kaesers glücklosen Vorgänger Peter
nehmer auf Wunsch Rede und Antwort munikationsarbeit von einer professionel- Löscher abzusetzen. Doch Aufsichtsrats-
stehen. Verfügt hat das der angebliche Al- len PR-Agentur untersuchen. Ergebnis: Bei größen wie Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef
leinherrscher Kaeser. Siemens sollten Botschaften innerhalb des Ackermann oder Allianz-Boss Michael
Um ihre Macht im Konzern weiter zu Arbeitnehmerlagers künftig bevorzugt in Diekmann verweigerten zunächst ihre
stärken, wollen Gesamtbetriebsrat und IG Guerilla-Manier verbreitet werden – also Zustimmung. Cromme musste sich die
Metall sogar mit dem Verein der Beleg- abseits der offiziellen Verlautbarungs- Mehrheit zum Sturz Löschers und zur
schaftsaktionäre in der Siemens AG ko- kanäle. Das erhöhe die Glaubwürdigkeit. Inthronisierung Kaesers mithilfe der Ar-
operieren, böse Zungen behaupten: ihn Außenstehende, aber auch langjährige beitnehmerbank im Kontrollgremium si-
unterwandern. Die Organisation vertritt Siemensianer wundern sich, woher das chern – und bekam sie auch.
Zur Belohnung durften sich die Abge- hauseigenen Prüfer nur fest: Kein Organ-
sandten der Mitarbeiter etwas wünschen: vertreter der Siemens AG habe eine
unter anderem die Verabschiedung der ih- Pflichtverletzung begangen. Die entschei-
nen nicht genehmen Personalchefin Brigit- dende Frage, ob womöglich Dritte gegen
te Ederer. Kurz darauf verließ die Öster- interne Verhaltensregeln oder gar gegen
reicherin tatsächlich den Konzern, obwohl Strafvorschriften verstoßen hatten, ging
Kaeser sie nach eigenen Aussagen gern ge- im Feiertagstrubel unter.
halten hätte. Steinborn, Kerner und ihre Adler verabschiedete sich bald darauf
Mitstreiter jubilierten – und konnten sich in den Ruhestand. Die Zweifel, ob alles mit
fortan als Ko-Manager fühlen. rechten Dingen zugegangen war, blieben.
Die erste Chance, den Durchmarsch der Kaeser setzte sich großzügig darüber
Arbeitnehmertruppe im Konzern zu stop- hinweg. Er würdigte den Arbeitnehmer-
pen, ergab sich für den Siemens-Chef Bau eines Siemens-Kernspintomografen vertreter zum Abschied sogar noch mit eu-
schon bald darauf. Doch Kaeser ließ sie Weg von der traditionellen Apparatemedizin phorischen Worten. „Ich wünsche mir,
ungenutzt verstreichen. Er wollte es sich dass es mehr Männer und Frauen gibt von
offenbar nicht gleich zu Beginn mit jenen Der Posten steht bei Siemens eigentlich der Sorte wie Lothar Adler“, pries er den
Leuten verderben, die ihn gerade erst auf traditionell dem Anführer des Gesamtbe- scheidenden Gesamtbetriebsratschef, „für
den Schild gehoben hatten. triebsrats zu. Trotzdem übernahm 2009 (ihn) gilt: ein Mann, ein Wort – auch wenn
Anlass waren Querelen um Steinborns ausnahmsweise der damalige IG-Metall- die Kugeln von vorne kommen und der
Vorgänger, den früheren Gesamtbetriebs- Chef Berthold Huber als erster externer Wind sich einmal dreht“.
ratschef Lothar Adler. Kurz nach dem Aus- Gewerkschaftsvertreter das Amt. Alle Be- Das Bekenntnis hatten Kollegen Adlers,
scheiden der umstrittenen Personalchefin teiligten bestreiten bis heute entschieden, darunter vor allem Angehörige der IG Me-
war bekannt geworden, dass der ehemali- dass Adler das Aufgeld womöglich als Ge- tall, Kaeser abgerungen. Sie wollten dem
ge Fernsehtechniker nach seinem Amtsan- genleistung für seinen Verzicht bekommen verdienten Kollegen trotz aller Turbulen-
tritt Ende 2008 eine Gehaltserhöhung von haben könnte. zen noch einen halbwegs honorigen Ab-
100 000 Euro bekommen hatte. Im Herbst Kaeser ließ den Vorgang zwar intern un- gang bereiten.
2013 machten Gerüchte die Runde, Adler tersuchen, eine wirklich unabhängige Auf- So mächtig ist Siemens-Chef Joe Kaeser
habe den Betrag bekommen, weil er auf klärung des Vorgangs und umfassende In- dann offenbar doch nicht, dass er einen
das Amt des stellvertretenden Aufsichts- formation der Öffentlichkeit fand nie statt. solchen Wunsch abschlagen könnte.
ratsvorsitzenden verzichtet hatte. Kurz vor Weihnachten 2013 stellten die Dinah Deckstein
Wirtschaft

Bis aufs
kein Problem, erklärt Romanowski, „nur sondern wird nur unter Schwarzlicht sicht-
ich als Importeur will mich nicht in eine bar. Mit Kennziffer und Datum notierte
direkte Abhängigkeit zu Amazon bege- Romanowski auf der Verpackung, wann

Messer
ben“. Er kenne zu viele Geschäftsleute, und an wen er genau dieses Produkt ver-
die sich auf den Internetriesen eingelassen kauft hatte.
haben und sich dann am Ende die Preise Es dauerte nicht lange, da bot Amazon
diktieren lassen mussten. Menschen wie wieder ein besonders beliebtes Produkt
Handel Ein Importeur weigerte Romanowski passen offenbar nicht in aus Romanowskis Palette an. Die Klinge
Amazons Weltbild. unter dem Artikelnamen „Chroma Type
sich, seine exklusive Ware Amazon selbst hat den besten Über- 301 Design by F. A. Porsche“ ist ein teures
an Amazon zu liefern. Da wurde blick, welche Artikel sich gut verkaufen Werkzeug für Profis. Als Romanowski das
und schnell „drehen“, wie es im Fachjar- Produkt bestellte und unter die UV-Lampe
der größte Onlinehändler der gon heißt. Romanowskis Messer gehören hielt, traute er seinen Augen nicht. Er hatte
Welt erfinderisch. dazu. Die Kunden bleiben einer solchen ohne Zweifel eines „seiner“ Messer in der
Marke lange treu. Hand, die Markierung war deutlich zu er-

A
uf den ersten Blick ist es nur ein Obwohl Romanowski Amazon seine kennen. Und sie führte in diesem Fall zu
Küchenmesser, 17,5 Zentimeter ja- Ware verweigerte, tauchten auf der Web- einem Werbemittelhändler, der bei ihm
panische Santoku-Klinge aus rost- site Stücke aus seiner Kollektion auf, de- gleich 200 Porsche-Messer auf einen Schlag
freiem Stahl. Auf den zweiten Blick jedoch ren Herkunft er sich nicht erklären konnte. geordert hatte. Von einer Kooperation mit
ist es einer der kuriosesten Artikel, den Waren es Auslandsimporte? Betrog ihn Amazon hatte der Mann allerdings nie ge-
das Onlinekaufhaus Amazon derzeit auf ein Zulieferer? Oder steckte einer seiner sprochen. Angebliche Bestimmung der
seiner deutschen Seite anbietet. Händler mit Amazon unter einer Decke? Sammelbestellung: ein Prämienkatalog der
Denn bei dem Messer namens „Jeff, das Christian Romanowski wusste letztlich Sparkasse.
Messer“ handelt es sich eigentlich um keinen anderen Rat mehr, als zu einer Ein weiterer Testkauf via Amazon
einen Angriff auf den Amazon-Chef Jeff kleinen List zu greifen. Das war im Herbst brachte ebenfalls Merkwürdiges ans Licht:
Bezos. Die Verpackung ziert eine Karika- 2013. Ein Fachhändler, der seit vielen Jahren
tur des Amerikaners, der mit Dollarzei- Mehrere Monate lang kennzeichnete der bei Amazon Ware von Romanowski ver-
chen jongliert; „schneidet gnadenlos al- Händler jedes Messer, das sein Haus ver- kauft, hatte auffällig hohe „Verlust“-Zah-
les“, verspricht die Produktbeschreibung. ließ, mit einem UV-Stift. Die Markierung len bei den beliebten Designmessern zu
Letzteres spielt auf Bezos’ Geschäftsidee ist für das normale Auge nicht erkennbar, beklagen. Diese mussten irgendwo in den
und -gebaren gleichermaßen an. Relent- Weiten der riesigen Amazon-Lager verlo-
less.com, auf Deutsch „gnadenlos“, wollte ren gegangen sein. „Der Warenwert wur-
der Onlinemilliardär einst seine Verkaufs- de stillschweigend ersetzt“, erzählt der
plattform nennen. Noch heute führt diese Fachhändler, der seinen Namen nicht ge-
Internetadresse direkt auf die Amazon- druckt lesen will, aus Angst vor Folgen
Homepage. für sein Geschäft, „aber das kam uns ir-
Erfunden hat das Messer der Händler gendwie spanisch vor.“ Als Amazon dann
Christian Romanowski. Es ist sein Schwert plötzlich die gleichen Messer im Angebot
im Kampf gegen die Onlinekrake Amazon. hatte und Romanowski eine Bestellung or-
Und seine Geschichte ist die Neuauflage derte, erhielt er genau das Messer, das
einer alten: David gegen Goliath, ein klei- sein Fachhändler zeitgleich von Amazon
ner deutscher Kaufmann gegen das größte erstattet bekommen hatte. Nachprüfbar
Onlinekaufhaus der Welt. wieder durch die UV-Markierung.
Der Kern des Konflikts: Amazon will Eine Sprecherin von Amazon erklärte
diverse Messer aus Romanowskis Sorti- hierzu: „Der beschriebene Vorfall sollte
ment verkaufen. Aber der möchte Ama- sich so nicht ereignen.“ Den einzelnen Vor-
zon nicht direkt beliefern. „Seitdem ver- gang könnte man jedoch nur überprüfen,
stehen Bezos’ Leute keinen Spaß mehr“, wenn der betroffene Händler bereit sei,
sagt Romanowski, „also haben wir mit Hu- seinen Namen offenzulegen.
mor geantwortet.“ Zusammen mit einem Romanowski jedenfalls hatte „die Nase
Freund, dem Kommunikationsberater Pa- voll“, wie er sagt, „so leicht wollten wir
trick Neumann, entwickelte er besagtes uns nicht geschlagen geben“. In Anleh-
Küchenwerkzeug und stellte die Home- nung an den Schurken Mackie Messer aus
page Jeff-das-messer.de ins Netz. Unter Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ ent-
anderem mit einem offenen Brief an Ama- wickelte der Unternehmer das Jeff-Messer.
zon-Gründer Jeff Bezos. „Es ist das einzige Messer, das wir direkt
Christian Romanowski ist seit 30 Jahren über Amazon verkaufen“, sagt Roma-
im Geschäft, seine Kunden sind Sterne- nowski und kann sich ein Grinsen nicht
und ambitionierte Hobbyköche. Der 55- verkneifen. „Damit auch Amazon auf
jährige Berliner vertreibt nur exklusive seine Kosten kommt und uns hoffentlich
Messermarken und setzt dabei vor allem endlich in Ruhe lässt.“
auf Fachhändler. „Bei unseren Produkten Seit ein paar Wochen ist das Produkt
stehen Beratung und Kundenbindung im jetzt online erhältlich. Über eine der ersten
FOTO: FLORIAN BOLK

Vordergrund“, so seine Begründung. Bestellungen freute sich Romanowski be-


Manche von Romanowskis Partnern sonders. Der Auftrag kam direkt aus der
bringen ihre Ware auch via Amazon-Mar- Messerhändler Romanowski Rechtsabteilung von Amazon.
ketplace an den Kunden. Damit habe er „Mit Humor geantwortet“ Simone Salden

66 DER SPIEGEL 48 / 2014


Die Dotcom-
Räuber
Kriminalität Hackerbanden
klinken sich in den Mailverkehr
zwischen Firmen und Lieferanten
ein und lenken Zahlungen um.
Ermittler schauen machtlos zu.

Z
u den großen Verdiensten – und Ver-
dienstquellen – der Firma Engelbert
Strauss gehört es, den deutschen
Handwerker nach Jahrzehnten des unauf-
fälligen Handwerkens endlich aus seinem Werbung für Engelbert-Strauss-Kollektion: „Keinerlei Aktivitäten der Staatsanwaltschaft“
Blaumann befreit zu haben. Die Softshell-
Jacke „Roughtough“ zum Beispiel, angeb- Der Berliner IT-Strafrechtler Daniel verkehr hineingemogelt und die Fake-
lich der ultimative Sauwetterschutz für die Gutman spricht von der „zweiten Welle“ Adresse mit dem Extra-s angelegt hatten.
ganz harten Jungs unter den Baggerfah- des Internetbetrugs; die erste, mit billig Zwar waren die Mails der Bande in
rern, Baumfällern, Betonbauern, gibt es gemachten Bettelmails, oft in schlechtem schlechtem Englisch geschrieben, mit
nun auch in den modischen Farben Thy- Englisch, bringe immer weniger Erfolg. Schreib- und Grammatikfehlern; allerdings
mian, Titan und Rubin. Alles zu kaufen im „Deshalb investieren die Täter zunehmend hatten auch die echten libanesischen Lie-
Internet sowie in drei – nein, bewahre, nicht in die Qualität.“ Und der Angriff auf feranten bislang nicht mit makellosem Ox-
Läden, sondern „Workwearstores“. Strauss sei sicher einer der professionells- ford-Englisch aufgewartet – gut möglich
Die Marke hat es mit Dreitagebart- ten gewesen. also, dass selbst die Fehler in den fingierten
Models, jeder Menge Rough-Tough-Eng- Das Vehikel für den Betrug ist im aktu- Mails nicht zufällig waren. Fest steht je-
lisch und der Bandenwerbung bei Spielen ellen Katalog auf Seite 411 zu sehen: sechs denfalls, dass sich die Täter mit dem
der deutschen Nationalelf geschafft, sich Ledergürtel, passend zum Strauss-An- Schreibstil in der Geschäftsbeziehung zwi-
in den Hipster-Händler unter den Arbeits- spruch, lifestylebewusste Schwerstarbeiter schen Samo Belt und Strauss gut auskann-
kleidungsherstellern zu verwandeln. Einen auch am Feierabend nicht nackt dastehen ten, offenbar hatten sie schon länger mit-
dreistelligen Millionenumsatz macht das zu lassen. Geliefert hatte die Riemen die gelesen. Und so fing am 9. Dezember eine
Unternehmen im Jahr, beschäftigt 1000 Firma Samo Belt aus Beirut im Libanon, Mail der Täter mit denselben Worten
Mitarbeiter. Ohne den weißen Strauß auf 27 960 Stück für 199 455 Dollar. Die Ge- „Please check the attached file“ an, „Prü-
rotem Grund geht der stilsichere Malocher schäftskorrespondenz zwischen Bieber- fen Sie den Anhang“, mit der auch die
heute nicht mehr zum Schweißvergießen. gemünd und Beirut lief per Mail, bei den echte Samo Belt Tage vorher noch eine
Man kann sagen, dass die Firma aus dem Libanesen, langjährigen Geschäftspartnern Mail eingeleitet hatte.
hessischen Biebergemünd in den vergan- von Strauss, ging die Post unter der Mail- Mit dieser neuen Mail ließen die Betrü-
genen Jahren nicht viel falsch gemacht hat. adresse info@samobelt.com ein. ger die Strauss-Leute nun wissen, dass
Aber das eine dann doch: diese Überwei- Im Dezember 2013 kam die Ware wie Samo Belt kurzfristig die Kontoverbindung
sung nach Jakarta im Dezember 2013. Aus- vereinbart in Deutschland an. Strauss re- geändert habe – angeblich, weil die Über-
gerechnet die angesagten, ausgeschlafenen klamierte bei ein paar Gürteln die Länge, weisungskosten bei der alten Bank zu hoch
Marketingprofis sind auf eine neue Cyber- keine große Sache, die mit 650 Dollar Nach- gewesen seien, außerdem aus ein paar an-
crime-Masche hereingefallen. Eine, die lass aus der Welt geschafft werden sollte. deren Gründen, über die sich der Versen-
exemplarisch für den Trend steht, den Er- Ansonsten war alles, wie es sein sollte, und der der Mail nicht ganz klar ausließ. Das
mittler seit einiger Zeit beobachten – hin damit klar, dass Strauss nun zahlen würde. Geld – selbstverständlich abzüglich
zu immer raffinierteren, aufwendigeren Am Nikolaustag erhielt Strauss daraufhin 650 Dollar „Compensation“ – solle des-
Attacken. erst mal eine Mail, angeblich aus Beirut, halb nun an die United Overseas Bank in
Eine Hackerbande hatte sich in den Mail- dass Samo Belt mit dem Nachlass einver- Jakarta, Indonesien, gehen; jede weitere
verkehr zwischen Strauss und einem Lie- standen sei – man solle doch die 650 Dollar Zahlung auf das frühere Konto könne lei-
feranten eingeklinkt, hatte sich mit Inhalt einfach von der Rechnung abziehen. Kein der nicht verbucht werden.
und Stil der Korrespondenz vertraut ge- Grund also für den zuständigen Strauss-Ein- Um ihre Glaubwürdigkeit zu untermau-
macht, um dann mit echt wirkenden, bes- käufer, argwöhnisch zu werden. Und selbst ern, schickten die Täter eine Rechnung
tens getimten Mails knapp 200 000 Dollar wenn das Schreiben sein Misstrauen ge- über die gelieferten Gürtel mit; sie enthielt
auf ein eigenes Konto umzuleiten. Anders weckt hätte: Vermutlich hätte er auch dann die Namen der Modelle, die Stückpreise.
als bei den E-Mail-Massenabwürfen, bei kaum gemerkt, dass diese Mail nicht von Offenbar hatten sich die Gauner die Zah-
denen die Täter hoffen, dass unter Millio- „info@samobelt.com“ gekommen war, son- len und Angaben von einem Rechner be-
nen Empfängern schon 20, 30 Dumme sein dern von „info@samobelts.com“, mit einem sorgt. Für Strauss wirkte das alles plausi-
werden, die an das Märchen vom Erbonkel s hinter „-belt“. Also drückte der Strauss- bel. Nachdem die Hintermänner von
in Nigeria glauben, zielte die Attacke nur Mann wie immer auf den Antwort-Button – „Samo Belts“ auch noch geschrieben hat-
auf ein Opfer. Dafür bastelten die Hacker und schickte seine Mails damit, ohne es zu ten, sie brauchten das Geld jetzt wirklich
Mails, die genau für diesen Betrug taug- ahnen, nicht mehr an die Firma in Beirut, dringend, man sei gerade knapp bei Kasse,
ten. sondern an Hacker, die sich in den Mail- überwies Strauss Mitte Dezember.
68 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wirtschaft

Erst als der echte Lieferant nachfragte, angezeigt werden. Zu groß ist die Angst Anwalt der Firma, wie die Täter vorgegan-
wann denn mal das Geld ankomme, die von Firmen, sie könnten auf dem Markt gen waren und dass sie, kurz bevor das
Ware sei doch längst geliefert, merkten die als unzuverlässig gelten, infiziert, schlecht Geld von Strauss auf dem Konto in Indo-
Hessen, dass sie Betrügern aufgesessen wa- geschützt. Und damit nicht mehr als ver- nesien landete, auch noch ein Konto in
ren. Der Versuch, die Überweisung nach trauenswürdig. Häufig sind sie der Auf- Großbritannien angegeben hatten. Das
Asien rückgängig zu machen, lief ins Lee- fassung, eine Anzeige bringe ohnehin schien ein Ermittlungsansatz zu sein,
re; das Geld war weg. nichts. Fakt ist: Computerbetrügereien er- Rechtshilfeersuchen an die Briten sind Ta-
Dass Computerkriminalität weiter zu- fordern in der Regel Ermittlungen im Aus- gesgeschäft. Aber „wir konnten keinerlei
nimmt, steht schon im Lagebild des Bun- land, und das kann dauern – nicht nur we- Aktivitäten der Staatsanwaltschaft feststel-
deskriminalamts für 2013. Der Fall Strauss gen der nötigen Rechtshilfeersuchen. „Die len“, sagt Engelbert-Strauss-Einkaufschef
bestätigt nun auch den Trend, dass die Tä- Spuren verlaufen oft im Sand“, gibt ein Christoph Piecha enttäuscht.
ter professioneller vorgehen. „Die Angriffe Cybercrime-Experte zu, egal ob man der Was zu tun war, klärten die Strafverfol-
erfolgen zunehmend zielgerichtet und sind Spur der Computerserver oder der Spur ger in nur 20 Tagen: nämlich nichts. Sie
technologisch immer ausgereifter und des Geldes folge. teilten mit, dass „weitere Nachforschungen
komplexer“, heißt es dazu in einem Ge- Das war auch im Fall Engelbert Strauss zurzeit keinen Erfolg versprechen“. „Zur-
setzentwurf der Bundesregierung für ein so. Als die Firma den Betrug bemerkte, er- zeit keinen“ – das kann man in solchen
IT-Sicherheitsgesetz, das Anfang 2015 be- stattete sie Strafanzeige bei der Staatsan- Fällen auch anders sagen: nie.
schlossen werden soll. waltschaft Hanau. Detailliert beschrieb der Jürgen Dahlkamp, Jörg Schmitt
Auch ein Kaufmann aus dem Rheinland
fiel auf diese Masche herein. Er hatte
8000 Euro verloren, weil er das Geld auf
ein neues Konto überwiesen hatte, das ihm
scheinbar sein chinesischer Geschäftspart-
ner genannt hatte – in Wahrheit hatte eine
Hackergruppe die Zahlung auf ihr Konto
umgelenkt.
Der Trick, bei Experten als „Bank-
mandatsbetrug“ bekannt, erfordert beides:
Vorarbeit und Vorsicht. Und selbst wenn
die Täter sich Mühe geben, steigt mit jeder
verschickten Mail das Risiko aufzufliegen.
Sind sie erfolgreich, winkt am Ende der
große Preis, und den vermuten sie vor-
nehmlich bei Unternehmen. „Firmen an-
zugreifen kommt immer mehr in Mode,
weil dort meist mehr zu holen ist als bei
Privatleuten“, sagt Florian Oelmaier von
der Beratungsfirma Corporate Trust.
Dabei gilt grundsätzlich, dass „jede Fir-
ma gehackt werden kann, es ist nur eine
Frage des Aufwands“, wie Jan Wolter sagt,
Geschäftsführer des ASW-Bundesverbands
Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft.
Das ist zwar im Grunde keine Neuigkeit;
früher aber kam das große Instrumenten-
besteck meist nur dann zum Einsatz, wenn
es um eine besonders wertvolle Beute
ging, um Firmengeheimnisse. Heute nut-
zen es Betrüger dagegen auch schon für
den schnöden Geldklau.
Die Täter sitzen oft in Asien oder in
Russland. Gerade Russland hat ein Heer
gut ausgebildeter, aber schlecht bezahlter
IT-Spezialisten, die sich leicht von der or-
ganisierten Kriminalität ködern lassen. Sie
kennen sich mit dem Hacken aus und wis-
sen, wie man solche Attacken verschleiert.
So laufen 75 Prozent aller Angriffe auf
Servern, die nur für einen Tag im Internet
stehen, klagt ASW-Mann Wolter.
Kein Wunder also, dass die Fahnder sich
schwertun, die Täter zu erwischen.
Vorausgesetzt, dass die Ermittler über-
haupt etwas von den Fällen erfahren,
denn eine Untersuchung des Landeskri-
minalamts Niedersachsen zeigt, dass nur
neun Prozent aller Cybercrime-Angriffe
DER SPIEGEL 48 / 2014 69
Wirtschaft

winkt – das zumindest vermutet die Staats-


anwaltschaft. Es gebe Anhaltspunkte, so
die Ermittler aus Rostock, dass der Fürsten-
hof-Komplex nicht genau genug geprüft
wurde. Ausläufe seien quasi nie richtig ver-
messen, Bestände nie gezählt worden. Ei-
nen Vorsatz werde man Behrens so kaum
nachweisen können.
Mecklenburg-Vorpommerns Landwirt-
schaftsminister Till Backhaus (SPD) schob
die Verantwortung auf den für Fürstenhof
zuständigen Fachverein Öko-Kontrolle ab.
Die Prüfer wurden bereits Anfang des Jah-
res vom Landesamt für Landwirtschaft, Le-
bensmittelsicherheit und Fischerei (LALLF)
durchleuchtet, ihr Chef musste zurücktre-
ten. Vom LALLF, lässt Backhaus wissen,
„wird keine Überbelegung geduldet“. Ko-
misch nur, dass die Kontrolleure des Lan-
desamtes den Prüfern des Fachvereins teil-
weise bei den Prüfterminen über die Schul-
ter schauen.
Gegenüber Behrens ist Backhaus auffäl-
lig milde. Zwar ging sein Ministerium im
vergangenen Jahr mit dem Ökoeier-
Schwindel an die Öffentlichkeit. Namen
der mit einem Vermarktungsverbot beleg-
ten Firmen – allesamt Fürstenhof-Betrie-
be – nannte Backhaus allerdings erst, als
ein Gericht das Ministerium dazu zwang.
Behrens hat unterdessen noch viel
Küken in einer Brüterei Größeres vor: Er will den Markt für Bio-
küken beherrschen. Zusammen mit seiner
Tochter und einem Partner gründete er

Tod im
Fürstenhof-Chef Behrens hat Besuch deswegen eine Biobrüterei. In der Öko-
offenbar nicht so gern, wofür es Gründe branche gilt dies als kleine Sensation: Bio-
gibt: In manchen seiner Ställe scheinen küken gab es bisher kaum, die Aufzucht

Schredder
sich mehr Legehennen zu befinden als er- von ökologisch gehaltenen Elterntieren
laubt. gilt als kompliziert. Die Branche durfte
Seit einigen Monaten ermittelt deswe- deshalb auf konventionelle Küken zurück-
gen die Staatsanwaltschaft Rostock gegen greifen.
Biolebensmittel Hühnerbaron vier Fürstenhof-Betriebe und den Hühner- Nun soll sich das ändern: Vor einigen
baron wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Wochen wurden die ersten paar Tausend
Friedrich Behrens hat nicht nur Der Verdacht: Längst nicht alle der Tiere Eier von Behrens’ neuen Bio-Elterntieren
Ärger mit der Staatsanwalt- hätten den in der Ökoverordnung vorge- in Niedersachsen ausgebrütet. Pro Jahr
will die Brüterei bis zu 2,5 Millionen Öko-
schaft. Nun gibt es auch Probleme schriebenen Auslauf von vier Quadratme-
tern pro Tier. Ihre Eier wären also keine küken liefern – zwei Drittel des deutschen
mit seiner Ökokükenzucht. Ökoeier – die etwa 15 Cent, die jedes Bioei Bedarfs an jungen Legehennen. „Kaum
teurer ist, hätte Behrens zu Unrecht kas-
Aktueller Anteil Eierproduktion

F
riedrich Behrens ist ein miss- siert. Für einen gängigen Stall mit 24 000 am Privatverbrauch
trauischer Mensch. Er lebt in dem Hühnern (eine Biohenne legt etwa 270 Eier der Biobranche
Glauben, dass Journalisten und Tier- pro Jahr) würde eine solche Trickserei ei- in Deutschland,
schützer „schon mit Hubschraubern über nen illegalen Gewinn von knapp einer Mil- Käfig/
Bio Stückzahl in Millionen
unseren Hallen kreisen“. Dies zumindest lion Euro bedeuten. Kleingruppen 2% 9 % 2012
berichtet Buchautor Clemens Arvay von Behrens wollte sich zu diesen Punkten
Freiland 25% 891
einem Treffen mit Behrens. Der Hühner- wie zu anderen Fragen nicht äußern. Es
halter, so Arvay, habe dabei einen schlag- ist jedenfalls nicht das erste Mal, dass die
kräftigen Stock in der Hand gehabt. Staatsanwaltschaft ihn wegen Biobetrüge- Bodenhaltung 64%
Arvay hatte sich für eine Recherche da- reien im Visier hat: Bereits im vergangenen
mals unfreiwillig in Gefahr begeben: Er woll- Jahr war er in einen Schwindel mit Öko-
te sich die Produktion von Ökoeiern anse- eiern verwickelt (SPIEGEL 13/2014), wobei
FOTO: FRIEDER BLICKLE / LAIF

hen, ausgerechnet in Mecklenburg. Und aus- Behrens damals betonte, nichts falsch ge-
gerechnet beim Erzeugerzusammenschluss macht zu haben. Viel mehr als ein paar
Fürstenhof. Der ist mit über einem Dutzend kurze Vermarktungsverbote und Geldbu- 2002
Farmen, gut 80 Millionen Eiern im Jahr ßen kamen dabei auch nicht heraus. Der 120
und Kunden wie Rewe und Alnatura einer Grund: Der Schmu wurde offenbar über Quellen:
BMEL, ZMP, Statista
der größten Bioerzeuger Deutschlands. Jahre von den Kontrolleuren durchge-
70 DER SPIEGEL 48 / 2014
ein Bioeierproduzent käme noch an Beh-
rens vorbei“, sagt ein Kontrollstellenleiter.
Auf der Website der Brüterei heißt es,
der Verbraucher habe ein Recht auf eine
konsequente, transparente Erzeugung von
Bioeiern.
So konsequent biologisch, wie Behrens
tut, lebt sein Federvieh jedoch längst nicht:
Statt des für Legehennen vorgeschriebenen
Grün-Auslaufs von vier Quadratmetern pro
Henne haben seine Elterntiere nur spär-
liche zehn Quadratzentimeter pro Tier –
in einer Art unbegrüntem Unterstand.
Doch auch hier drückt Backhaus beide
Augen zu: Ein Erlass vom September er-
laubt den beengten Auslauf – angeblich aus
Hygienegründen. Studien zur besonderen
Anfälligkeit von Elterntieren kann das Mi-
nisterium auf Nachfrage allerdings nicht lie-
fern. „Tatsächlich geht es nur ums Geld“,
sagt eine Mitarbeiterin von Niedersachsens
Landwirtschaftsminister Christian Meyer
(Grüne): „Elterntiere sind mehr wert und
können nicht einfach zugekauft werden.“
Die wachsende Skepsis gegenüber in-
dustrieller Bioerzeugung könnte für Beh-
rens zum Problem werden – gerade in Nie-
dersachsen: Seine Biobrüterei lässt die in
Mecklenburg gelegten Eier schließlich in
Lohne bei Vechta ausbrüten. Meyers staat-
liche Kontrolleure vom Landesamt für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit
(LAVES) sind längst nicht so nachsichtig
wie ihre Kollegen in Mecklenburg. Öko
sei das nicht, ist aus dem LAVES zu hören.
Es gehe um das „industrielle Gängigma-

„Enge Grenzen
chen“ einer Akkordzucht. parteiisch und mit Strenge überwacht
Der mangelnde Auslauf in Mecklenburg, wird.
so das Ministerium in Hannover, werde SPIEGEL: Aber Sie sitzen als Wettbewerbs-

für Fusionen“
nur bis zum Herbst 2015 geduldet. Auf Beh- kommissarin, anders als bisher üblich,
rens könnte aber noch ein weiteres Pro- auch in zahlreichen Gremien, die für mehr
blem zukommen: die Revision der EU- Wachstum in Europa sorgen sollen.
Ökoverordnung. Wenn der Hühnerzüchter Vestager: Das ist richtig. Ich kann meine
irgendwann 2,5 Millionen Öko-Legehuhn- Europa Wettbewerbskommissarin Kollegen bei den großen Projekten dieser
küken pro Jahr liefert, dann hat er etwa EU-Kommission unterstützen, der Arbeit
genauso viele männliche Küken, mit denen Margrethe Vestager will an einer Energieunion oder an einem di-
er nichts anfangen kann: Eier legen sie amerikanische Verhältnisse auf gitalen Binnenmarkt für Europa. In der
nicht, und als Mastvieh taugen sie kaum, dem europäischen Telekom- Wettbewerbskommission gibt es ein reich-
obwohl Behrens ein paar Prozent von ih- haltiges Wissen, wie Märkte und Ge-
nen in einer Art Wohltätigkeitsprojekt munikationsmarkt verhindern. schäftsmodelle funktionen. Manchmal ist
überleben lässt. die politische Sprache von Sprüchen und
Für diese Küken endet das Leben, bevor Vestager, 46, ist seit drei Wochen Wettbe- Abstraktionen durchzogen. Unsere Kennt-
es richtig beginnt – im Schredder oder in werbskommissarin im Kabinett des neuen nis darüber, was tatsächlich auf den Märk-
einer mit CO begasten Tonne. Das grund- Kommissionspräsidenten Jean-Claude Jun- ten passiert, kann dem Prozess mehr Sub-
²
FOTO: FREYA INGRID MORALES/BLOOMBERG VIA GETTY IMAGES

lose Töten ist bisher auch in der Bio- cker. Die studierte Ökonomin zählte in Däne- stanz geben.
branche die Regel. Eine Neufassung der mark viele Jahre zu den einflussreichsten Poli- SPIEGEL: Ihr Chef, der EU-Kommissions-
Ökorichtlinie könnte die Produzenten tikern des Landes und gilt als Vorbild für die präsident Jean-Claude Juncker, hat einen
zwingen, endlich auf Zweinutzungsrassen Hauptperson der Fernsehserie „Borgen“. neuen „kontinentalen Geist“ in der Wett-
umzusteigen – auf Rassen, die Eier legen bewerbspolitik verlangt. Was soll sich
und trotzdem gemästet werden können. SPIEGEL: Frau Vestager, die EU-Kommis- ändern?
Das würde männlichen Küken den Tod im sion will ein neues Wachstumsprogramm Vestager: Zunächst bleibt es wichtig, dass
Häcksler ersparen, den eigentlich bereits für Europa vorstellen. Wird es auch eine der Wettbewerb in Europa funktioniert.
das Tierschutzgesetz untersagt. neue Wettbewerbspolitik geben? Wenn ein Unternehmen bei uns in weiche
Doch auch da haben die Behörden bis- Vestager: Die Aufgaben für meine Wett- Kissen gebettet wird, wird es auf dem Welt-
her weggesehen. Als Rechtfertigung reich- bewerbskommission werden auf jeden markt nur ein oder zwei Tage durchhalten.
te die absurde Ausrede, die Küken würden Fall bleiben. Ich muss dafür sorgen, dass Wenn zu Hause die Konkurrenz groß ist,
in Zoos verfüttert. Nils Klawitter der Wettbewerb in Europa neutral, un- wird es auch auf dem Weltmarkt überleben.
72 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wirtschaft

SPIEGEL: Die Telekommunikationsindustrie öffentliche und private Investitionen ko- reits ins fünfte Jahr. Der Einzige, der von
gibt Ihren Wettbewerbshütern die Schuld, existieren können. Da ist es sinnvoll, dass so einer langen Verfahrensdauer profitiert,
dass keine global konkurrenzfähigen Kon- ich als Wettbewerbskommissarin mit am ist der Internetriese, der seine Marktmacht
zerne in Europa entstehen. Hier gibt es Tisch sitze. Denn es wird auch um die Be- auch in benachbarten Bereichen wie digi-
noch rund 200 Netzbetreiber, in den USA handlung der Staatsbeihilfen oder mögli- talen Kartendiensten ausbaut.
nur 3 oder 4. cherweise um Unternehmenszusammen- Vestager: Ich bin erst drei Wochen im Amt.
Vestager: Weil wir in Europa keinen ge- schlüsse gehen. Aber sicherlich wollte keiner hier die Er-
meinsamen digitalen Binnenmarkt haben, SPIEGEL: Industriepolitiker argumentieren mittlungen verzögern. Es braucht nun ein-
sind die Telekommunikationsmärkte wei- häufig, dass es in manchen Märkten euro- mal eine solide Basis für eine Entschei-
terhin sehr national geprägt. Dort gibt es päische Champions brauche, die mit ihren dung. Es reicht nicht aus, dass Google eine
enge Grenzen, bis zu denen wir Fusionen amerikanischen und chinesischen Rivalen große Firma ist. Sie müssen auch nachwei-
erlauben können. Sonst müssen das die mithalten können. Was halten Sie von dem sen, dass sie ihre Marktmacht missbraucht.
Konsumenten mit höheren Preisen und Konzept? SPIEGEL: Wie viel Zeit benötigen Sie? Viele
weniger Auswahl büßen. Vestager: Natürlich sollten wir auch global Beweise liegen schon lange auf dem Tisch
SPIEGEL: Aber Juncker hat der Wettbe- wettbewerbsfähig sein. Aber ich glaube der EU-Kommission.
werbspolitik explizit die Rolle zugewiesen,
die nationalen Bunker aufzubrechen. „Ich glaube nicht, dass wir global wettbewerbsfähig werden,
Vestager: Sie müssen die Reihenfolge be-
achten. Es ist eine unserer großen Priori-
indem wir in Europa den Wettbewerb abschaffen.“
täten in der neuen EU-Kommission, mit nicht daran, dass wir das erreichen, indem Vestager: Es wird dauern. Zunächst muss
gemeinsamen Regeln in Europa einen wir in Europa den Wettbewerb abschaffen. ich entscheiden, ob es nötig ist, die Unter-
wirklichen digitalen Binnenmarkt zu schaf- SPIEGEL: Vor allem in der digitalen Wirt- suchung wegen der neuen Vorwürfe aus-
fen. Erst dann können die Grenzen zwi- schaft ist Europa ins Hintertreffen geraten. zuweiten. Aber das hat den Nachteil, dass
schen den nationalen Märkten kleiner wer- US-Wettbewerber wie Google, Amazon, wir einen immer größeren Fall vor uns her-
den oder ganz verschwinden. Das wird Ebay, Apple oder Microsoft profitieren schieben.
auch die Chancen einer Reihe von Tele- von ihrem großen Heimatmarkt und sind SPIEGEL: Werden Sie wie Ihr Vorgänger
kom-Unternehmen erhöhen, bei uns wei- manchmal nicht zimperlich, wenn es um Joaquín Almunia auch Google-Chef Eric
terzuwachsen. Wir brauchen eine euro- die Eroberung der Weltmärkte geht. Wie Schmidt treffen?
päische Telekom-Industrie, keine ameri- können Sie da einen fairen Wettbewerb Vestager: Das ist wahrscheinlich. Aber ich
kanischen Verhältnisse. Sonst zahlen die sicherstellen? werde auch die Chefs der klagenden Un-
Verbraucher die Zeche. Vestager: Indem ich mir die Beschwerden ternehmen sehen.
SPIEGEL: Sie sind auch Mitglied des Projekt- der europäischen Konkurrenten genau an- SPIEGEL: Almunia kämpfte für eine eher
teams Energieunion in der EU-Kommis- schaue und mir ein Bild davon mache, ob sanfte Lösung, die dem Internetriesen
sion, das eine gemeinsame Energiepolitik sie berechtigt sind. Gegen Google sind wei- kaum wehgetan hätte. Er wurde von den
für Europa herbeizaubern soll. Welche tere Informationen und Einwände bei der anderen EU-Kommissaren gestoppt. Sie
Rolle spielen Sie dort? EU-Kommission eingegangen. Ich muss haben das Image einer hart zupackenden
Vestager: Wir brauchen hohe Investitionen, mir einen Überblick über die Einwände Frau.
um eine leistungsfähige, grenzüberschrei- verschaffen, die gegen den Einigungsvor- Vestager: Das müssen wir sehen. Es ist
tende Infrastruktur beispielsweise für Elek- schlag der alten Kommission mit Google nicht wichtig, etwas anderes als sein
trizität oder Gas aufzubauen. Das wird gemacht wurden. Vorgänger zu machen, sondern man
nicht immer ohne staatliche Beihilfen funk- SPIEGEL: Die Ermittlungen der Wettbe- muss das Richtige tun.
tionieren. Hier stellt sich die Frage, wie werbskommission gegen Google gehen be- Interview: Christoph Pauly
Ausbeutung ist Alltag
Arbeitsmarkt Fast zwei Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für weniger
als fünf Euro pro Stunde. Daran wird auch der Mindestlohn
nur wenig ändern. Denn Hungerlöhner stützen die deutsche Wirtschaft.

F
ür einen Moment schien alles gut. Er könne sofort anfangen, hieß es im dachte, das sei ein Missverständnis, und
Nach einem Jahr auf dem Hambur- Büro des schmucken Backsteinhauses hin- sagte, dass ich in Hamburg arbeiten wolle.
ger Arbeitsstrich, nach Nächten in term Elbdeich. Doch als Kacala einen Sie antworteten, das würde ich auch, und
Parks und Obdachlosenheimen hatte Mi- Blick auf seinen Arbeitsvertrag warf, den legten mir einen zweiten Vertrag vor; der
roslaw Kacala endlich eine feste Stelle in ihm die Sekretärin und ein Vorarbeiter war dann tatsächlich mit VMB.“
Aussicht. Ein Landsmann vermittelte den zur Unterschrift vorlegten, war das keiner Ein „befristeter Arbeitsvertrag ohne
49-jährigen Polen Ende Dezember 2013 mit der VMB, sondern mit einer Firma na- Sachgrund“ – mit dehnbaren Formulierun-
an ein Familienunternehmen mit 250 Mit- mens ADL Lebno. Die residiert in einem gen: Die regelmäßige Wochenarbeitszeit
arbeitern, einem funkgesteuerten Fuhr- polnischen Dorf nordwestlich von Danzig. beträgt im Jahresdurchschnitt 12,5 Stun-
park und besten Referenzen. Kacala staunte noch mehr, als er las, den. Allerdings könne die „regelmäßige
Die Vierlande Meisterbetriebe (VMB) dass es für ihn nur eine „halbe Stelle“ gab betriebliche Wochenarbeitszeit unter-
Johannsen GmbH erledigen Gartenarbei- – mit der Möglichkeit, „bis zu zehn Stun- oder überschritten werden, und zwar so,
ten und Winterdienste für Konzerne wie den zusätzlich“ zu leisten. „Leichte Gar- dass die regelmäßige Wochenarbeitszeit
Esso, Beiersdorf und Ikea, für Behörden tenarbeiten in Polen“, wie es im Vertrag im Durchschnitt eines Kalenderjahres wie-
und die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. hieß. Für 800 Zloty, rund 190 Euro. „Ich der erreicht wird“.
74 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wirtschaft

seien und alle Mitarbeiter in dieser Zeit


Urlaub nehmen müssten. Sollten jedoch
Räumdienste wegen Schneefall erforder-
lich werden, seien diese trotz Urlaub zu
erledigen. Wer nicht komme, dem werde
gekündigt. Für viele Polen hieß dies: Weih-
nachten in der Massenunterkunft verbrin-
gen oder nach Hause fahren und gegebe-
nenfalls den Job verlieren.
Einen Job, der Kacala mit zwei Verträ-
gen 645 Euro brutto gebracht hatte. Da
habe er sich dann doch beschwert und ei-
nen regulären deutschen Vollzeit-Arbeits-
vertrag gefordert, sagt Kacala.
Die VMB Johannsen GmbH kündigte
ihm im Januar 2014 – „während der Pro-
bezeit fristgerecht“ – und wünschte ihrem
Lohnsklaven für den „weiteren beruf-
lichen Werdegang alles Gute“.
VMB-Chef Werner Johannsen weist
sämtliche Vorwürfe seines Exmitarbeiters
zurück. Niemand dürfe bei ihm ohne
Schulung an die Kettensäge, und Strafen
für nicht geleerte Aschenbecher und un-
gemachte Betten gebe es in seinem Be-
trieb nicht. „Hintergrund der Kündigung“
sei „die nicht ausreichende Leistung“ Ka-
calas gewesen. Nur weil der Gefeuerte
„zunächst nicht mehr erreichbar war“,
habe es „Verzögerungen mit der Lohnab-
rechnung“ gegeben, die „inzwischen in
vollem Umfang vorgenommen worden“
sei. Dass Kacala zwei Verträge für dieselbe
Arbeit hatte, verteidigte Johannsen Ende
Mai gegenüber dem SPIEGEL als „vollkom-
men normal“. Er biete polnischen Arbei-
tern in der Regel sogar einen dritten Ver-
trag an: „eine geringfügige Beschäftigung
auf Aushilfsbasis mit einer anderen Firma
im Unternehmensverband“.
Dies sei auch bei Kacala ähnlich gewe-
sen, der „einvernehmlich mehr als 31,5
Stunden für drei Unternehmen“ gearbei-
tet habe. So könnten die „polnischen Mit-
arbeiter“ auf einen „Gesamtlohn von 1000
bis 1500 Euro netto monatlich“ kommen.
So unglaublich der Fall anmuten mag,
Ausbeutung ist Alltag auf dem deutschen
Rumänische Wanderarbeiter in ihrer Unterkunft in Frankfurt am Main Arbeitsmarkt. Ob im Gartenbau, auf
Großmärkten, in der Fleischindustrie oder
auf dem Bau – überall arbeiten Menschen
für Hungerlöhne von weniger als fünf
Im Klartext: Es können mal 40 und auch störte es ihn auch nicht, dass er in einem Euro pro Stunde. 1,7 Millionen, so die Aus-
mal 2 Stunden pro Woche sein, „je nach Haus auf dem Firmengelände wohnte, in wertung einer Erhebung durch das Institut
betrieblichen Erfordernissen“. Und das al- dem er sich mit vier Männern Zimmer, für Arbeit und Qualifikation an der Uni-
les für einen „Gesamtlohn in Höhe von Dusche und Toilette teilte – für 150 Euro versität Duisburg-Essen, sind in diesem
455,00 Euro monatlich“. pro Mann und Monat. Wenn einer ver- untersten Lohnsegment beschäftigt. Seit
Gleich in der ersten Woche, so Kacala, gessen habe, sein Bett zu machen oder 2008 hat sich die Zahl drastisch erhöht. In
habe er rund 50 Stunden gearbeitet, und den Aschenbecher zu leeren, hätten alle kaum einem anderen Euroland ist der
die im polnischen Vertrag beschriebenen Strafe zahlen müssen, je nach Vergehen Niedriglohnsektor so groß wie in Deutsch-
„leichten Gartenarbeiten“ hätten sich als bis zu 50 Euro pro Mann, so Kacala. land. Nur in der Slowakei und Irland ist
FOTO: THOMAS LOHNES / EPD

verdammt schwer erwiesen. So habe er Dass er sich in eine Art Leibeigenschaft der Anteil der Billiglöhner noch höher.
mit einer Kettensäge auf einer Hebebühne begeben hatte, wurde dem Polen erst kurz 19,2 Prozent aller Beschäftigten in Be-
Bäume beschneiden müssen, ohne zuvor vor Weihnachten richtig klar, als sein Vor- trieben arbeiten für weniger als 8,50 Euro
dafür geschult worden zu sein. arbeiter ihm ein Blatt Papier in die Hand die Stunde. Eine Entwicklung, die offen-
Kacala blieb, weil sein Sohn in Polen drückte. Darauf stand, dass vom 23. De- bar politisch gewollt war. Schon 2005 lobte
auf Geld fürs Studium wartete. Deshalb zember bis zum 1. Januar Betriebsferien der damalige Bundeskanzler Gerhard
DER SPIEGEL 48 / 2014 75
Kreuzfahrtschiff auf der Meyer Werft, Arbeiterunterkunft nach der Brandkatastrophe in Papenburg im Sommer 2013: Blick auf

Schröder (SPD) sich und seine rot-grüne Billigarbeitern in der Fleischindustrie ge- terhues, Vorsitzende des Osnabrücker
Regierung auf dem Weltwirtschaftsforum sehen, in denen 100 Euro „Pfand“ pro Mo- Katholikenrats, sprach von einem „Sumpf
in Davos: „Wir haben einen funktionie- nat für die Bereitstellung von Messern und mafiöser Subunternehmen“, Peter Kossen,
renden Niedriglohnsektor aufgebaut.“ anderen Werkzeugen erhoben wurden. Prälat von Vechta, von einem „diaboli-
Dabei ist die Schattenwirtschaft, etwa Oder 40 Euro für Arbeitskleidung und de- schen System moderner Sklaverei“.
all jene Menschen, die unangemeldet in ren Reinigung. Zu den Maßnahmen, mit denen die nie-
Haushalten putzen oder Senioren pflegen, Dass die Branche so auf die neue Ge- dersächsische Landesregierung nach dem
noch gar nicht mitgerechnet. Denn setzeslage reagiert, habe in der NGG nie- Brand in Papenburg die Bedingungen für
Deutschland bietet für viele Formen der manden überrascht: „Mindestlohn allein Werkvertragsarbeiter und andere Billig-
Knechtschaft im 21. Jahrhundert legale nützt nichts.“ Wie der Alltag von Schein- löhner verbessern wollte, gehörte auch
Fassaden, meist sind es Werkverträge und selbstständigen und Werkvertragsarbei- die Einrichtung von zwei Beratungsstellen
Gewerbescheine für Selbstständige. Werk- tern hierzulande aussieht, erfährt die Öf- für mobile Beschäftigte in Niedersachsen.
verträge haben für Unternehmen den Vor- fentlichkeit nur selten. Mitunter geben Im Oktober entdeckte die Beraterin Da-
teil, dass die Arbeitskräfte nach den in kleine Katastrophen den Blick auf das ver- niela Reim, dass sich nicht allzu viel geän-
ihrem Heimatland geltenden Lohn- und borgene Elend frei – wie im Sommer 2013. dert und auch die öffentliche Hand offen-
Sozialstandards entlohnt werden dürfen – Damals waren zwei rumänische Arbei- bar wenig Hemmungen hat, wenn es ums
und deutsche Behörden bei der Überprü- ter der Meyer Werft im niedersächsischen Kostendrücken geht. Auf der Baustelle ei-
fung von Firmen in Polen, Rumänien oder Papenburg bei einem Brand in ihrer Un- ner Berufsschule in Oldenburg schufteten
Bulgarien schnell an Grenzen stoßen. terkunft erstickt. Kurz darauf wurde be- 18 rumänische Arbeiter zehn Stunden pro
Selbstständige mit Gewerbeschein un- kannt: In dem heruntergekommenen Ein- Tag, sechs Tage die Woche, für einen Mo-
terliegen keinem Tarifvertrag und sind – familienhaus waren 33 rumänische Mey- natslohn von rund 1200 Euro.
zynisch gesagt – so frei, dass sie ihre Ar- er-Arbeiter gemeldet. Auf dem Papier waren sie selbstständige
beit auch für Stundenlöhne unter fünf Wenige Tage nach dem Brand schlossen Gewerbetreibende im Dienste einer
Euro anbieten können. Daran wird auch die Behörden eine Massenunterkunft von Münchner Firma. Die Arbeiter hatten, wie
der von der Großen Koalition mit gewal- Werkvertragskräften der Werft in Stapel- Reim herausfand, einen Vertrag unter-
FOTOS: INGO WAGNER / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); MICHAEL SCHÜTTE (R.)

tigem Brimborium beschlossene Mindest- moor. In dem einstöckigen Haus hatten schrieben, dessen Bedeutung sie nicht
lohn von 8,50 Euro pro Stunde nicht viel die Kontrolleure 43 Betten entdeckt, teils verstanden hatten – und waren von dem
ändern. Denn in 16 Branchen, darunter in Räumen ohne Fenster und Rettungswe- Münchner Unternehmen als Selbstständi-
Bau- und Reinigungsgewerbe, gibt es ge. Menschen hätten dort nie einziehen ge angemeldet worden. Untergebracht wa-
schon seit geraumer Zeit Mindestlöhne – dürfen. Für das Gebäude gab es nur eine ren die Rumänen in einem umgebauten
und tausend Tricks, sie zu unterlaufen. Genehmigung als Schlachterei. Stall, in dem zehn Euro pro Bett und Tag
Mit falschen Stundenzetteln etwa, auf Eilig anberaumte Kontrollen zeigten, fällig waren. Aus Brandschutzgründen, so
denen 30 Arbeitsstunden stehen, obwohl dass es in anderen Landkreisen ähnlich Reim, hätte das Quartier eigentlich umge-
tatsächlich 40 bis 50 Stunden geleistet wur- aussah. Der Kreis Cloppenburg, eine hend geschlossen werden müssen. Doch
den. Oder indem man Arbeitnehmer mit Hochburg der Fleischindustrie, wo zwei das Ordnungsamt in Berne interessierte
Mindestlohn und freier Unterkunft lockt, Drittel der Belegschaft Werkvertragsarbei- sich nur mäßig für Reims Schilderungen.
ihnen dann aber 300 Euro pro Monat für ter aus Osteuropa sind, ließ 26 Wohnun- Erst nachdem sie den Fall in der Lokal-
ein Bett in einer Massenbleibe abzieht. gen sofort räumen, in 54 fanden die Be- presse publik gemacht hatte, wurde das
Matthias Brümmer, Geschäftsführer der hörden „gröbste Mängel“. Stall-Wohnheim von der Bauaufsicht des
Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststät- Vertreter der katholischen Kirche fan- Kreises geschlossen. Die Rumänen seien
ten (NGG) in Oldenburg, hat Verträge von den damals scharfe Worte. Agnes Hol- von der Baustelle verschwunden und ar-
76 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wirtschaft

brennt.“ Dem Verdacht, dass die ADL osteuropäische Arbeiter in Niedriglohn-


eine Scheinfirma sei, widerspricht der An- jobs ausgebeutet würden.
walt von VMB-Chef Johannsen, Volker Dabei sind Niedrigst- und Niedriglöhne
Heinsen. Sein Mandant wolle in Polen sowie illegale Beschäftigung nicht nur ein
„ein Unternehmen im Garten- und Land- fester Bestandteil der deutschen Wirt-
schaftsbau“ aufbauen. „Der eigentliche schaft, sie sind sogar eine ihrer Stützen.
Betriebsbeginn vor Ort ist für 2015 ge- Auf 13,4 bis 14,6 Prozent des Brutto-
plant.“ Es treffe jedoch zu, dass die ADL inlandsprodukts schätzt die Bundesregie-
Lebno bereits jetzt „polnische Praktikan- rung den Umfang der Schattenwirtschaft
ten in die Vierlande Meisterbetriebe ent- in ihrem im vergangenen September ver-
sendet, zwecks Schulung im Garten- und öffentlichten „Zwölften Bericht über die
Landschaftsbau“. Diese blieben „in der Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämp-
Regel sechs Monate“ und bekämen – bei fung der illegalen Beschäftigung“. Dies
guten Leistungen – einen „Festvertrag mit entspricht, für den Berichtszeitraum der
der Firma Johannsen GmbH in Vollzeit“. Jahre 2009 bis 2012, einer Summe zwi-
Was die Formel „in der Regel“ wert ist, schen 343 und 352 Milliarden Euro, wie
zeigt der Fall des Praktikanten Pawel Experten des Instituts für Angewandte
Michna. Seine „Schulung“ bei ADL Leb- Wirtschaftsforschung in Tübingen errech-
no dauerte fast eineinhalb Jahre, angeb- net haben. Die im selben Zeitraum ver-
lich weil seine Arbeitsleistung nie wirklich hängten „Geldstrafen aus Urteilen und
überzeugte. Von Oktober 2012 bis Februar Strafbefehlen“ betrugen 121 Millionen
2014 arbeitete er bei Johannsen, mit den Euro.
üblichen Nebenverträgen. Dann bekam Dabei ist etwa die Ausbeutung osteuro-
er einen Vollzeitvertrag. Kurz danach flog päischer Billigkräfte kein neues Phäno-
das verborgene Elend er raus. Michna sagt, weil er von Johann- men. Mitte der Neunzigerjahre schloss die
sen Papiere verlangt habe, mit denen er Bundesregierung Verträge mit mehreren
beiteten nun, so Reim, in Süddeutschland. beim Arbeitsamt nachweisen wollte, dass osteuropäischen Ländern über die Über-
Die Stadt Oldenburg als Bauherr wollte er schon mehr als ein Jahr lang in Deutsch- lassung von Werkvertragsarbeitnehmern,
zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen. land gearbeitet hatte. damals deklariert als eine Art Entwick-
Sie würden derzeit „geprüft“. „Ich wusste, dass ich ausgebeutet werde, lungshilfe für deren Wirtschaft.
Kein Zweifel, das zweite Wirtschaftswun- aber ich wusste auch, dass ich nach einem Fast 20 Jahre sind seitdem vergangen –
der, um das die Welt Deutschland beneidet, Jahr Anspruch habe auf Hilfe des Arbeits- genügend Zeit, um sich auf diese Form
wird auch von Lohnsklaven erarbeitet, die amts bei der Suche nach einer anderen des Lohndumpings und seine Bekämpfung
im schmutzigen Keller dieser Wirtschaft Stelle. Dafür brauchte ich die Papiere.“ einzustellen, wenn man es wirklich ge-
für Minimalbeträge schuften. Weil sie für Als der SPIEGEL Johannsen, im Beisein wollt hätte. Voriges Jahr scheiterten im
Hungerlöhne arbeiten, ist nicht nur das seines Anwalts, mit dem Fall Michna kon- Bundestag drei Anläufe von Linkspartei,
Hackfleisch hierzulande billig, sondern frontiert, antwortet der Firmenchef zur Grünen und SPD, mit Gesetzentwürfen
auch andere Nahrungsmittel, Dienstleistun- Überraschung seines Rechtsbeistands, er und Beschlussanträgen den Missbrauch
gen und Produkte des täglichen Bedarfs. habe Michna rausgeworfen, nachdem die- von Werkverträgen zu bekämpfen, am
Die Ausbeutung hilft, unsere Lebenshal- ser im Betriebswohnheim Mitbewohner Widerstand von CDU und FDP – obwohl
tungskosten niedrig zu halten, ganz legal. mit einem Messer attackiert habe. „der qualitative und quantitative Umfang
Wie so ein System funktioniert, zeigt Auf die Frage, welche Polizeidienststelle des Geschehens neu“ sei, wie es im Antrag
das Beispiel der Vierlande Meisterbetrie- wegen der Messerattacke alarmiert wor- der SPD-Fraktion heißt.
Und so blüht die moderne Form der
Voriges Jahr scheiterten im Bundestag drei Änläufe, den Knechtschaft auch dort, wo die deutsche
Missbrauch von Werkverträgen zu bekämpfen. Gesellschaft glänzen und glitzern will: im
Europaviertel der Bankenstadt Frankfurt
be. Um mit einem Werkvertrag rechtlich den sei, antwortet Johannsen: „Keine.“ zum Beispiel, wo Investoren mit viel Geld
auf der sicheren Seite zu stehen, müssten Die Frage, ob er denn gegen Michna Straf- einen neuen „Boulevard“ mit Einkaufs-
deren Billiggärtner bei einem in Polen anzeige erstattet habe, beantwortet er mit zentren, Nobelapartments und Büros aus
existierenden und operativ tätigen Gar- einer wegwerfenden Handbewegung. Mit dem Boden stampfen.
tenbaubetrieb angestellt sein und von die- dem Rauswurf habe sich das Ganze für Mittendrin stehen vor einigen Monaten
sem nach Deutschland entsandt werden. ihn erledigt. Ende der Diskussion. 50 Arbeiter aus Osteuropa, die kein Geld
Doch die ADL Lebno, bei der Miroslaw Vergleichbar gleichgültig reagiert die haben, um Essen zu kaufen, obwohl sie
Kacala offiziell angestellt war, ist eine Bundesregierung auf Kritik europäischer dort wochenlang Verschalungen gebaut
merkwürdige Firma. An der Firmenadresse, Nachbarn. Belgiens Regierung hat im und Beton gegossen haben. „Das ist wie
Wejherowska Straße 19 in Lebno, gibt es März 2013 Beschwerde bei der EU-Kom- eine Mafia“, sagt Stavaru Cornel. Anfang
nämlich keinen Gartenbaubetrieb. Die Ge- mission gegen Deutschland eingereicht – Januar hatte der 50-Jährige als Kranführer
bäude, ein blassgelbes Wohnhaus mit rotem wegen mutmaßlichen Sozialdumpings in bei einer Firma namens K&T Construct
Dach und angrenzender Lagerhalle, stehen der Fleischindustrie, aber auch in der Germarom angeheuert. Das Büro des an-
nahezu leer. Nur in einem Zimmer gibt es Landwirtschaft und im Gartenbau. Dieser geblichen Bauunternehmens lag in einer
einen Tisch, Stühle und ein TV-Gerät. unlautere Wettbewerb, so Arbeitsminis- Kleinstadt nordöstlich von Bukarest.
Dem Nachbarn sagt der Firmenname terin Monica de Coninck und Wirtschafts- Er habe nur eine Passkopie und einen
ADL nichts. „Ich weiß nur, dass das Haus minister Johan Vande Lanotte in ihrem Kranführer-Nachweis faxen müssen. Ei-
von einem Deutschen gekauft wurde“, Brief an die Kommission, führe dazu, dass nen Tag später habe er schon im Bus
sagt er, „und dass dort meist ein Wächter Betriebe von Belgien nach Deutschland auf dem Weg in die Mainmetropole geses-
ist, weil nachts in einem Zimmer Licht verlagert würden, weil dort insbesondere sen. Das 100-Euro-Ticket habe er selbst
DER SPIEGEL 48 / 2014 77
gezahlt. Der Familienvater wähnte sich
trotzdem im Glück. 1400 Euro Monatslohn
hatte er mit K&T ausgehandelt. Im Bus
traf er weitere K&T-Arbeiter. Die waren
keine Kranführer und sollten 1200 Euro
Monatslohn bekommen – für 220 Arbeits-
stunden, sprich: 55 Stunden pro Woche.
Damit kommt man auf einen Stunden-
lohn von knapp 5,50 Euro, also nicht ein-
mal die Hälfte des vorgeschriebenen Min-
destlohns beim Bau. Aber immer noch ein
Vielfaches dessen, was die Männer in Ru-
mänien verdienen können, wenn es dort
überhaupt Arbeit für sie gibt.
So gesehen – und auch das gehört zur
Wahrheit der Sklaverei im 21. Jahrhundert
– haben auch die Rumänen ihren Vorteil
davon. Zumindest so lange, wie in Europa
ein Wohlstandsgefälle herrscht; so lange,
wie Menschen ein Leben in Massenunter-
künften der Armut in ihrer Heimat vor- Ex-VMB-Arbeiter Kacala: Weihnachten in der Massenunterkunft oder den Job verlieren
ziehen. Und so lange, wie ihre Ausbeuter
die versprochenen Löhne zahlen. dann nur einen Bruchteil bezahlt. Der Ge- nungen zu unterschreiben, mit dem Argu-
Für die Rumänen im Frankfurter Euro- neralunternehmer hieß damals nicht Bögl, ment, dass sie andernfalls gleich ihre
paviertel ist diese Gleichung nicht aufge- der Subunternehmer nicht K&T. „Ansons- Sachen packen könnten. „Das sind meist
gangen. Gleich nach ihrer Ankunft lernten ten gleichen sich die Abläufe der Ereig- Menschen, die kein Deutsch können, die
sie, dass ihr Arbeitgeber K&T auf der Bau- nisse derart, dass man von einem gängigen sich noch nicht einmal in ihrem heimi-
stelle nichts zu melden hatte. Verantwort- Muster sprechen kann“, so Harald Fiedler, schen Rechtssystem auskennen, geschwei-
lich war die bayerische Baufirma Max DGB-Regionsvorsitzender in Frankfurt ge denn im deutschen. Die haben Angst,
Bögl; K&T war Subunternehmer. Nachts am Main. und die wird gnadenlos ausgenutzt.“
schliefen die Rumänen in einer Baucon- Zuerst sei der Generalunternehmer Im Falle Bögl und K&T hätte es nach
tainer-Siedlung am Rande der Nachbar- angeblich ahnungslos, dann nicht zu- Helwerths Ansicht Jahre gedauert, bis
stadt Hanau. Je ein Container für drei ständig, aber pflichtschuldigst erschüttert eine Entscheidung durch mehrere Gerichts-
Mann; drei Klos und eine Münzwasch- über die Ruchlosigkeit seines Subunter- instanzen gefallen wäre. Die Menschen
maschine für alle, Verpflegung mussten nehmers. Dessen Lohnzahlungen will er brauchten aber eine schnelle Lösung. Des-
sie extra bezahlen. zwar nicht übernehmen, bietet aber den halb ist Helwerth zufrieden mit dem er-
Anfangs erhielten sie noch Geld von Geprellten eine kostenlose Heimreise und zielten Kompromiss: 50 rumänische Arbei-
K&T: manche 100, manche 150 Euro, als eine kleine Entschädigung an. ter bekamen insgesamt 100 000 Euro Cash.
Vorschuss. Doch als sie nach wochenlan- Arbeiter weg, Problem gelöst. Bis zum „Die rumänischen Kollegen waren glück-
ger Arbeit ihren kompletten Lohn haben nächsten Mal. lich, als sie das Geld in den Händen hatten.
wollten, war der Mann von K&T weg. Dabei ist die Rechtslage klar. Laut Ar- Sonst wären sie mit gerade mal 100 Euro
Die Gewerkschafter von der IG Bau beitnehmer-Entsendegesetz haftet ein Ge- zu ihren Familien gefahren.“ Dennoch: Sie
rechneten den ausstehenden Bruttolohn neralunternehmer auch für Fehler und wurden abgefunden mit 2000 Euro pro
für die Rumänen auf rund 176 000 Euro
hoch und wandten sich an den General- Er war ein Unsichtbarer, wie die Mitglieder der untersten
unternehmer. Der habe schließlich die Ver-
antwortung für seine Subunternehmer.
Kaste auf dem Arbeitsmarkt genannt werden. Freiwild.
Doch die Firma Bögl zeigte sich zu- Versäumnisse seiner Nach- und Subunter- Mann, für zwölf 55-Stunden-Wochen, also
nächst wenig beeindruckt, und die Rumä- nehmer. Im Klartext: Er muss gegebenen- einem Monatslohn von rund 670 Euro.
nen lernten, was ein Werkvertrag im Not- falls die Nettomindestlöhne und Sozial- Was für ein Land, in dem so ein Ergebnis
fall wert ist: so gut wie nichts. Man könne kassenbeträge bezahlen, die seine Sub- schon als Glück im Unglück gilt.
für jeden 100 Euro bezahlen und einen unternehmer schuldig geblieben sind. Längst sind es nicht mehr nur Gewerk-
kostenlosen Rücktransport nach Rumä- Doch so eindeutig der Gesetzestext schafter, die sich über die Erosion zivili-
nien organisieren, so das Bauunterneh- klingt, in der Wildwest-Welt der Billiglöh- satorischer Mindeststandards auf dem Ar-
men. Der Vertrag mit K&T sei gekündigt. ner hilft er nicht viel. „Vor Gericht gibt es beitsmarkt beklagen. Stefan Rehberg ist
Im Übrigen habe sich Bögl nichts vorzu- zunächst einmal immer zwei Wahrheiten“, Geschäftsführer eines alteingesessenen
werfen, so ein Unternehmenssprecher. Die sagt Ralf Helwerth, Gewerkschaftssekretär Handwerksbetriebs, Obermeister der Flie-
von K&T vorgelegten Papiere seien in der IG Bau in Hessen, der einige solcher senlegerinnung in Hannover und Diplom-
Ordnung gewesen. Verfahren begleitet hat. Schon die Frage betriebswirt. Ganz gleich, wie scharf er
FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

Für Mihai Balan vom Beratungsbüro zu klären, wie viele Stunden die Arbeiter kalkuliert: Die Zeiten, in denen seine
„Faire Mobilität“, in dem sich Leute vom geleistet haben, kann dauern. mehr als 20 Mann starke Truppe öffent-
Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) um Die Arbeiter präsentieren ihre Stunden- liche Schwimmbäder und andere Groß-
Arbeitsmigranten kümmern, ist der Fall zettel, der Subunternehmer legt seine vor, projekte stemmte, sind vorbei. Nicht zu-
ein Déjà-vu. Bereits im Herbst 2012 hatten auf denen nur ein Drittel bis die Hälfte letzt, weil Rehberg Tariflöhne zahlt.
Rumänen auf einer Baustelle im Europa- der tatsächlich geleisteten Stunden stehen. 13,95 verdienen seine Gesellen in der
viertel gestreikt. Auch ihnen hatte man Schon häufig hat Helwerth erlebt, dass Stunde. Bei Aufträgen oberhalb eines Vo-
1200 Euro Monatslohn versprochen und Arbeiter genötigt wurden, falsche Abrech- lumens von 500 000 Euro ist er damit nicht
78 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wirtschaft

mehr konkurrenzfähig. Seit Ende der mer für die TAG Immobilien AG in Salz- betreut und mit TAG-Vertretern verhan-
Neunzigerjahre, so Rehberg, gehe es für gitter modernisiert die Firma Wohnungen. delt hat, findet die Mär vom ahnungslosen
viele Handwerker bergab. Erst hätten ost- 645 Euro Festpreis zahlte Warner seinen Wohnungsbaukonzern „schwer nachvoll-
deutsche Fliesenleger den Markt mit Dum- Subunternehmern, etwa der polnischen ziehbar“. Die TAG habe sogar gegen die
pingpreisen erschüttert, dann seien die Ich- Firma Puchala, für die Sanierung einer Arbeiter Stimmung gemacht und Geschä-
AGs der Ära Schröder gekommen – und Dreizimmerwohnung. digte als Trittbrettfahrer diffamiert, die
nach der EU-Osterweiterung die Polen, Dafür mussten deren Arbeiter Tapeten nie auf TAG-Baustellen gearbeitet hätten.
Rumänen und Bulgaren, die oft gar keine entfernen, Wände spachteln und streichen Hinzu kommt, dass es auch 2014 bei der
Ausbildung als Fliesenleger hätten. – insgesamt 160 Quadratmeter. Ebenfalls TAG „diverse Auffälligkeiten gab“, wie
Fatal ausgewirkt habe sich auch, dass im Preis enthalten: 55 Quadratmeter La- das Ordnungsamt der Stadt Salzgitter auf
im Rahmen der EU-Liberalisierungspoli- minat verlegen, zwei Fenster lackieren so- SPIEGEL-Anfrage bestätigte. Firmen, die
tik die Meisterpflicht gestrichen worden wie „Kleinarbeiten und Grundreinigung“. für die TAG renovierten, hätten wegen
sei. „Das hat die Strukturen in unserem Dennoch findet Baufirmenchef Sven Verstößen gegen das Schwarzarbeitsbe-
Handwerk zerstört“, sagt Rehberg. Zwi- Warner, dass seine Nachunternehmer ihre kämpfungsgesetz Bußgelder zahlen müs-
schen 2004 und 2013 ist die Zahl der Arbeiter „ordentlich“ bezahlen können. sen. TAG-Sprecher Ott: „Uns sind die Ver-
Fliesenlegerunternehmen rasant gestie- „Ich sag mal so, wer schnell ist, verdient fahren nicht bekannt geworden.“
gen – von 12 000 auf rund 68 000. Geld; wer langsam ist, verdient kein Viel Zwielicht für einen Konzern, an dem
Rehberg kennt bulgarische und rumäni- Geld.“ Auch für ihn bleibe „nicht viel üb- die Versorgungsanstalt des Bundes und der
sche Subunternehmer, deren Arbeiter für rig“, denn Wohnungsbaugesellschaften Länder seit Ende 2013 mit zehn Prozent
fünf Euro Stundenlohn schuften. „Dage- zahlten nun einmal wenig – er habe von beteiligt ist. Eine öffentlich-rechtliche Ver-
gen kommt man nur an, wenn man die der TAG Festpreislisten bekommen. sorgungskasse für die Betriebsrenten von
Einhaltung gesetzlicher Lohnvorgaben im Das Unternehmen bestreitet dies. Als Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst
Vergaberecht zwingend vorschreibt.“ „Horror, unüblich und nicht gewollt“ be- profitiert von der Ausbeutung polnischer
Doch danach sieht es im Moment nicht zeichnet Günter Ott, Sprecher der TAG, Billiglöhner – was für eine Konstellation.
aus. Im Gegenteil. Das niedersächsische die Festpreise, die Warner seinem Sub- Wie das System der Ausbeutung mittel-
Internetportal Handwerk.com und die unternehmen gezahlt hatte. Von Warners und langfristig auch jene schädigt, die zu-
von mehreren Handwerkskammern he- Dumpinglisten habe die TAG erst erfah- nächst von ihm profitieren, zeigt das Bei-
rausgegebene Zeitung Norddeutsches ren, als Arbeiter, die seit Monaten auf spiel Essen in Oldenburg. Vor eineinhalb
Handwerk haben im vorigen Jahr den ihren Lohn warteten, die Gewerkschaft Jahrzehnten war der Landstrich mit seinen
„Horror der Normalität“ am deutschen eingeschaltet hätten. Tiermastfabriken und Großschlachthöfen
Bau dokumentiert. Im Mittelpunkt: War- Jochen Empen, Mitarbeiter des DGB- Vorreiter des Billiglohnlands Deutschland.
ner Bau aus Herne. Als Generalunterneh- Projekts „Faire Mobilität“, der die Polen Gut zwei Drittel der Beschäftigten in der

Werkvertragsarbeiter in Fleischfabrik Arbeiterunterkunft in Lohne (Oldenburg)


FOTOS: MATTHIAS NIEHUES/ADVANTAGE-PHOTO.DE (O./U.R.); JOANNA NOTTEBROCK (U.L.)

SPD-Ratsherr Kolde in Essen (Oldenburg) Dreibettzimmer in Arbeiterwohnung

Fleischindustrie-Region Oldenburger Land: Schwein sein oder arm sein

DER SPIEGEL 48 / 2014 79


schen Bauunternehmer, der anständiger
schien als die anderen. Florin konnte jetzt
regelmäßig arbeiten, knapp 500 Euro im
Monat waren der Lohn. Zwölf Stunden
dauerte die Schicht, fast jeden Tag.
Florin war so zufrieden, dass er seine
Familie nach Berlin holte. Seine Frau, ihre
sechsjährige Tochter, das Baby, die
Schwester seiner Frau und deren Freund.
Auch die Eltern sind nachgereist. 1,5 Zim-
mer, acht Personen. Im Frühjahr 2013 sag-
te sein Chef zu ihm, es werde Zeit, dass
Florin auch Chef werde, weil er immer
fleißig, schnell und pünktlich sei. Er be-
gleitete Florin zur Behörde, sie meldeten
eine Firma an, Baugewerbe.
Bus mit Tagelöhnern in Berlin: Woche für Woche bringt er dem Serben Rumänen Florin ahnt nicht, dass der Serbe diesen
Weg gewählt hat, damit es nicht ihn er-
südniedersächsischen Fleischindustrie sind malige Bäckerei; Lange Straße, ehemali- wischt, wenn seine Bauarbeiter bei behörd-
Lohnsklaven aus Osteuropa. ges Fotogeschäft. lichen Kontrollen geschnappt werden. Und
Der Ortskern von Essen gleicht heute Es handelt sich dabei um Häuser, deren so fährt Florin Woche für Woche durch den
einer Geisterstadt. Heruntergekommene Besitzer aufgrund der schlechten Wirt- Wedding, spricht junge Rumänen an. Wo-
Häuser säumen die Bundesstraße 68, die schaftslage ihre Geschäfte aufgeben muss- che für Woche bringt er dem Serben rumä-
Fenster sind mit Laken verhängt. In Gärten ten. Die Eigentümer können ihre Häuser nische Tagelöhner. Dafür bekommt er von
und Hinterhöfen türmen sich Sperrmüll nur unter Wert verkaufen oder eben seinem Chef 1000 Euro im Monat. Florin
und Unrat. Das Sonnenstudio, die Physio- vermieten. Den größten Mietgewinn er- sagt: „Mein Chef ist nett.“
therapeutenpraxis, die Bäckerei und das zielt man mit der Vermietung an die Weil die Männer, die für ihn arbeiten,
Textilgeschäft – alle haben dichtgemacht. Schlachterarbeiter.“ offiziell gar nicht arbeiten dürfen, braucht
Die alten Geschäftshäuser dienen nun Schwein sein oder arm sein – Koldes Florin jetzt immer Rechnungen von Fir-
als Massenunterkünfte für Schlachter, Protokolle des Niedergangs einer Region men, die er dem Finanzamt geben kann.
Knochensäger und Kotelettschneider aus lassen ahnen, welchen Preis das Billig- Rechnungen von Firmen, die keine sind
Polen, Rumänien oder Ungarn. lohnland Deutschland dafür zahlt, dass oder nur auf dem Papier existieren.
Die alteingesessenen Essener hätten Verbraucher ein Kilogramm Schnitzel- Damit kann auch Florin Verantwortung
ihre Kleinstadt nicht freiwillig geräumt, fleisch für 3,99 Euro kaufen können. abwälzen, wenn er Ärger mit den Behör-
sagt SPD-Gemeinderat Detlef Kolde: Immerhin: Mehrere Kreise und die Lan- den bekommen sollte. „Abdeckrech-
„Wohnraum zum Mieten ist hier nur desregierung haben neue Regeln für Mas- nung“, sagt Florin. Er kann kein Deutsch
schwer zu bekommen, weil die Werkver- senunterkünfte erlassen. So dürfen sich und hat sich das Wort auf einen Zettel ge-
tragsfirmen die Preise kaputt machen.“ Et- nicht mehr als acht Personen eine Toilette schrieben. Wo er diese Rechnungen be-
liche Häuser seien von diesen Unterneh- und eine Dusche teilen. In den Schlafräu- kommt, hat sein Chef ihm gezeigt.
men aufgekauft worden. „Die packen 20 men müssen nun pro Mann mindestens Inzwischen geht Florin jeden Monat in
Leute in ein Einfamilienhaus und knöpfen sechs Quadratmeter zur Verfügung stehen. eine Teestube in Berlin-Neukölln. Drinnen
jedem 150 Euro pro Monat ab. Das ist ein Für Hunde mit einer Widerristhöhe sitzen rauchende Männer und Alte, die Kar-
Bombengeschäft.“ über 65 Zentimeter sind zehn Quadratme- ten spielen. Ein Türke und drei Serben sind
3000 Euro Miete pro Monat – das kann ter benutzbare Bodenfläche in einem Florins Geschäftspartner, der diesmal eine
keine Normalverdienerfamilie in Essen Zwinger amtlich vorgeschrieben. Abdeckrechnung über 10 000 Euro braucht.
zahlen. „Bei 36 000 Euro im So viel Platz hatte der 31- „Zehn Prozent zahlst du, kapiert?“, sagt ei-
Jahr an Mieteinnahmen von Niedriglöhner * jährige Rumäne Florin sel- ner der Männer. „Komm in zwei Stunden,
in Prozent der 2012
ihren Arbeitern sind die ten für sich; 2007 nicht, als bring 1000 Euro mit.“ Florin wird später
Immobilien in zwei bis drei abhängig Be- 24,3 er mit 24 Landsleuten in ei- die Rechnung abholen, er wird sie seinem
Jahren abgeschrieben“, so schäftigten nem für neun Personen zu- Steuerberater bringen, der macht damit ir-
Kolde. 1995 gelassenen Mercedes Vito gendwas, schickt Papiere ans Finanzamt,
Seit einiger Zeit führt der 18,8 nach Deutschland kam; und Florin versteht es nicht. Er hört einfach auf
Kommunalpolitiker darüber auch danach nicht, als er seinen Chef.
Buch, wie und wo das platte sich mit seinen Mitreisenden Die Männer in der Teestube sind Stroh-
Land verelendet: „Ehema-
liger Sanitär- und Heizungs- + 5,5 eine marode Dreizimmer-
altbauwohnung in Berlin-
männer. Sie melden Firmen an, um Schein-
rechnungen ausstellen zu können. Sie
Prozentpunkte
betrieb, Beverner Straße in Wedding teilte. erklären ihre Insolvenz, bevor irgendein
Essen, komplett an auslän- Er war ein Unsichtbarer, Finanzamt dahinterkommt und Steuern
dische Schlachter vermietet. wie die Mitglieder der un- verlangt. Der Steuerberater hat versucht,
FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Im Objekt sollen katastro- tersten Kaste auf dem deut- Florin die Sache zu erklären. Er hat es
phale Zustände herrschen. schen Arbeitsmarkt genannt nicht verstanden. Florin sieht nur die
Ehemaliges Hotel ,Zum wei- werden; ein illegaler Tage- 1000 Euro im Monat, so viel hatte er noch
ßen Ross‘ in Cloppenburg, löhner. Freiwild. nie. Er ist zufrieden. Und hat Hoffnung,
Hotelzimmer 4x4 Meter mit *bundeseinheitliche Ein Jahr lang schuftete er dass sein Leben noch besser wird, als es
fünf Personen belegt. Bad Niedriglohnschwelle: auf Berliner Baustellen, die ohnehin schon ist. Matthias Bartsch,
befindet sich auf dem Flur. 2012 bei 9,30 Euro Auftraggeber zahlten selten. Manfred Fischer, Michael Fröhlingsdorf,
Quelle: IAQ-Report
Wilhelmstraße in Essen, ehe- Dann traf er einen serbi- Özlem Gezer, Gunther Latsch, Maximilian Popp

80 DER SPIEGEL 48 / 2014


Und „IGP“, die geschützte geografische
Angabe (deutsch g. g. A.) für italienisches
Öl aus renommierten Regionen, klingt

Gepanschtes
zwar gut, besagt aber nur, dass wenigstens
ein Arbeitsschritt in dieser Region statt-
fand, etwa das Pressen. Wo die Oliven her-

Gold
kommen, ist völlig egal.
Aber das lässt sich ohnehin kaum nach-
prüfen – zumal in Italien, dem Drehkreuz
des internationalen Ölhandels. Und der
Nahrungsmittel Italienisches wird nicht von kleinen Produzenten, son-
dern von großen Konzernen und der Mafia
Olivenöl wird knapp – schlecht kontrolliert.
für Verbraucher, gut für Italien ist nach Spanien der zweitgrößte
Produzent (464 000 Tonnen) und zugleich
Betrüger. Und für Leute, die den der größte Importeur (481 000 Tonnen) von
Spielraum der Gesetze ausloten. Olivenernte in Ligurien Olivenöl weltweit. Beim Hin und Her von
Schiffen und Tanklastern werden gewaltige
Importmengen aus Griechenland, Spanien

D
er Winter lau, der Sommer nass, Fliegengenerationen, von denen im heißen oder Tunesien zu großen Teilen italieni-
Hagel im September: Marco und Sommer die meisten Mitglieder absterben. siert und dann gern wieder exportiert.
Massimo Verniani beklagen „die Weil der heiße Sommer ausfiel, brachten Oder sie verschwinden in den strategi-
schlechteste Ernte aller Zeiten“. 9000 Liter es die winzigen Olivenfresser auf fünf und schen Lagern der Ölmultis, bis zum richti-
feinstes Olivenöl produzieren sie auf ihrem in manchen Gebieten noch mehr Genera- gen Moment. Wie jetzt.
Hof in Tatti, in der südlichen Toskana, tionen. Und was diese Larven nicht fraßen, Bereits in normalen Zeiten sorgt die Ein-
handgeerntet und kaltgepresst natürlich. zerschmetterten später ausgiebige Hagel- bürgerung von Fremdöl für hohe Gewin-
Normalerweise. Dieses Jahr sind es nicht schauer. ne – in Zeiten wie diesen garantiert sie
einmal 200 Liter geworden. Um mindestens ein Drittel ist die italie- Wahnsinnsprofite. Mitte Oktober kostete
„Das bisschen Öl“ brauchen ihre großen nische Olivenernte eingebrochen. Die klas- italienisches „Extra Vergine“-Öl auf den
Familien selbst. „Zu verkaufen haben wir sischen Regionen für Spitzenöle traf es nationalen Rohstoffmärkten etwa vier
nichts!“ noch heftiger. In Umbrien etwa liegt der Euro pro Kilo. Jetzt liegt der Preis bei sie-
„Zum ersten Mal seit 1874“, sagt Pietro Ernteausfall bei mindestens 45 Prozent, in ben bis neun Euro. Und er wird wohl wei-
Clarici aus dem umbrischen Foligno, habe der Toskana sogar bei durchschnittlich ter nach oben gehen. Damit hat sich der
sein Betrieb kein Öl in den riesigen Tanks. 70 Prozent. In manchen Gegenden, und Wert der Lagerbestände binnen weniger
Die Ernte der 25 000 Bäume bringt sonst vor allem im biologischen Anbau, gibt es Wochen schon mal verdoppelt.
mehr als 200 000 Liter biologisches Öl der so gut wie gar nichts zu ernten. Aber auch der Neueinkauf im Ausland
höchsten Güteklasse „Olio Extra Vergine Ein Desaster für die Betroffenen – mit lohnt weiterhin. Denn Öl dieser Qualität
di Oliva“, was dem deutschen Begriff „Na- lukrativen Aussichten für Betrüger. Und aus Spanien oder Griechenland ist für ein
tives Olivenöl Extra“ entspricht. In diesem für Leute, die Gesetze großzügig zum ei- Drittel der italienischen Preise zu haben.
Jahr sei „die Menge lächerlich gering, die genen Vorteil auslegen. Denn das Geschäft Tunesien liefert noch billiger. Man muss
Qualität mies“, sagt der Landwirt. „Wir mit dem „grünen Gold“, wie die Italiener es nur auf Flaschen mit dem richtigen Eti-
machen gar kein Öl.“ sagen, bietet schon regelkonform viel kett ziehen.
Er werde versuchen, andernorts in Ita- Spielraum, die Verbraucher reinzulegen. „Noch mehr kannst du mit Beimischun-
lien ordentliche Ware zu besorgen, schrieb Wo, zum Beispiel, schlicht „Olivenöl“ gen verdienen“, sagt Olivenbauer Verniani,
er vor ein paar Tagen seinen Stammkun- auf dem Etikett steht, soll eine Mischung „in denen kein Tropfen von einer Olive
den, um sie nicht ganz auf dem Trockenen aus naturbelassenem und raffiniertem Öl stammt.“ Davon muss es viele geben.
sitzen zu lassen. Aber so leicht wird das in der Flasche sein. Naturbelassen freilich Die italienische Ernte mitsamt dem Im-
nicht. Denn gutes Öl ist derzeit überall in ist davon kaum mehr als ein Prozent. Das port reicht selbst in normalen Jahren nicht
Italien knapp. reicht nach dem Gesetz. Der Rest ist „raf- aus, um auch nur die heimische Olivenöl-
Schuld ist nicht nur das extrem nasse finiert“, aus einer Brühe, die mit chemisch- nachfrage (etwa eine Million Tonnen) zu
Wetter, sondern auch ein kleines Insekt, physikalischer Raffinesse aus angefaulten decken. Geschweige denn, über die Hälfte
die Olivenfruchtfliege (Bactrocera oleae). oder fermentierten, oft vom Boden aufge- davon auch noch zu exportieren. Des Rät-
Der Schädling mag es warm und feucht. sammelten Oliven stammt. sels Lösung liefern Soja-, Raps- und andere
Er legt seine Eier in die Olive, die daraus Ähnlich locker geht es durch alle Quali- Pflanzenöle, die mit Karotin oder Chloro-
schlüpfenden Larven fressen sich dann tätsstufen. Selbst beim Spitzenöl „Nativ phyll eingefärbt und mit halbwegs echtem
durch das Fruchtfleisch. Normalerweise Extra“ sind Beimischungen billigerer Sor- Olivenöl verschnitten werden. Die Menge
reicht die Zeit für zwei, maximal drei ten erlaubt. dieser Designer-Öle wird in diesem Jahr
wohl noch einmal enorm wachsen.
FOTOS: F1ONLINE (U.); RIEDMILLER / CARO (O.)

Olivenöl: weltweite Hauptexporteure und Herkunft deutscher Importe Und dann gibt es ja auch noch hydrierte
Ausfuhr 2011, in Tonnen deutsche Einfuhr 2011, in Tonnen oder teilhydrierte Pflanzenöle, etwa aus
Spanien 846137 205249 Italien
Brasilien, die unter großer Hitze chemisch
umgewandelt werden. Sie sind lange halt-
Italien 363564 30716 Griechenland bar und spottbillig, wenn auch manchmal
Tunesien 100294 24154 Spanien gesundheitlich nicht ganz unbedenklich.
Griechenland 86807 7748 Frankreich
Bis zu 20 Prozent davon darf einfaches
italienisches Olivenöl enthalten – und das
Portugal 64941 Quelle: Faostat 1549 Türkei ganz legal. Hans-Jürgen Schlamp

82 DER SPIEGEL 48 / 2014


Medien
Politikjournalismus
„Hübsches Totschlagwort“
Hubert Seipel, 64, über sein kritisiertes Putin-Interview bei
„Günther Jauch“

SPIEGEL: Ihr Interview mit Seipel: So ein Einwurf hätte


dem russischen Präsidenten dem Zuschauer wenig ge-
war ein journalistischer nutzt. Er hätte bloß meinen
Scoop. Allerdings wurden journalistischen Narzissmus
Sie von Kollegen und befriedigt. Putin hätte aus-
Zuschauern dafür geprügelt, geholt, und wir hätten uns in
dass sie nicht kritisch nach- eine kleinteilige Diskussion
gefragt haben. verstrickt. Innerhalb des vor-
Seipel: Der Vorwurf kam vor- gegebenen Zeitrahmens von
rangig von einigen der lieben 30 Minuten wäre das Ver-
Kollegen, weniger von den schwendung gewesen.
fünf Millionen Zuschauern, SPIEGEL: Sie ließen ihn ein-
und ich finde ihn absurd. Es fach reden.
geht doch nicht darum, wie Seipel: Ich stelle Fragen und
ich mich darstelle. Es geht lasse dann reden. Das ist
darum, wie Putin sich dar- eine alte Technik von mir.
stellt. Was hat der Zuschauer Ob ich nun Josef Ackermann
davon, wenn ich mich als interviewe oder Wladimir Seipel, Putin
journalistisches Alphamänn- Putin: Je mehr sie ins Reden
chen aufbaue und eine kommen, desto mehr sagen
Wunschliste der Political Cor- sie tatsächlich, bewusst oder kommt man nur, wenn man und es nicht autorisieren
rectness abarbeite? Ich bin unbewusst. eine halbwegs vernünftige lassen. Er hat das sofort
weder bei Amnesty Interna- SPIEGEL: Sie haben Putin für Beziehung aufbaut. Das ist abgenickt. Sein Pressechef
tional und auch nicht der die ARD porträtiert und ei- so in Berlin wie in Moskau, war wenig glücklich.
Vorposten des Westens, der nen Zugang zu ihm wie kein ob man nun mit Merkel um- SPIEGEL: Als Sie Anfang des
als Kämpfer für Freiheit und zweiter westlicher Journalist. geht oder mit Putin. Die ent- Jahres Edward Snowden
Gerechtigkeit aufzutreten Sind Sie darüber zum Putin- scheidende Frage ist, ob aus exklusiv für die ARD inter-
hat. Ich bin gelernter Doku- Versteher geworden? Nähe Vereinnahmung wird. viewten, wurde zuerst bei
mentarist. Mich interessiert, Seipel: Hübsches Totschlag- SPIEGEL: Gab es bei Putin den Jauch diskutiert, das eigentli-
das Interesse des anderen zu wort. Die Dokumentation Punkt, an dem Vereinnah- che Interview danach in der
dokumentieren – und das wurde damals von den meis- mung drohte? Nacht ausgestrahlt. Was hat
kriege ich nicht heraus, wenn ten Kritikern hoch gelobt. Seipel: Das war die Frage der die ARD bewogen, es nun
ich den Bad Guy spiele. Aber eines stimmt ja daran: Autorisierung. Ich hatte andersherum zu versuchen?
SPIEGEL: Wenn Sie gefragt Ich will Putins Interessen ver- wenig Interesse, mit der Pres- Seipel: Das negative Echo,
hätten, welche Beweise er stehen. Das geht aber nur, sestelle des Kreml in stun- das sie bekommen hat. Und
etwa für die Behauptung hat, wenn ich möglichst viel von denlangem Hickhack über auch ARD-Obere sind lern-
in der Ukraine seien faschis- ihm erfahre. Die Währung Streichungen zu diskutieren. fähig: Der Grundsatz, dass
tische Gruppen am Werk – zwischen Politikern und Deshalb habe ich direkt nach man ein Buch erst liest, bevor
dann wären Sie schon ein Journalisten ist nun einmal der Aufzeichnung zu Putin man es diskutiert, ist logisch
Bad Guy gewesen? die Information, und die be- gesagt, ich will das schneiden schwer zu widerlegen. bra

TV-Shows ARD. Ob die Show überhaupt eine Chance hat, über 2015
Letzte Rettung für den „Musikantenstadl“ verlängert zu werden, sei „auch offen“. Einerseits will das
Erste ältere Zuschauer nicht vergrätzen – andererseits ist
FOTOS: ANTONI JOKEKIC / BABIRAD PICTURE (R.); KNUT SODEMANN / DPA (O.)

68 Jahre alt ist der durchschnittliche Zuschauer des „Musi- deren Zahl seit Borgs erster Sendung von über sechs Millio-
kantenstadl“. Soll die Eurovisions-Show überleben, muss nen auf zuletzt vier Millionen gesunken. Zudem ist man-
diese Jahrgangsmarke deutlich nach unten cher Intendant genervt, sich vom Feuille-
korrigiert werden – zumindest ins Vorruhe- ton ständig für die Schunkelshow ver-
standsalter. Das ist jedenfalls die Idee des albern zu lassen. Fürsprecher des ORF ist
österreichischen ORF, mit der er die Volks- nun ausgerechnet Ulrich Wilhelm, Chef
musiksause retten will. In einem Brief an die des in der ARD für den „Stadl“ zuständi-
ARD-Intendanten schlug ORF-Boss Alexan- gen Bayerischen Rundfunks und sonst
der Wrabetz deshalb jetzt vor, das Konzept eher ein Vorkämpfer für journalistische
für die Sendung zu modernisieren. Ob das Inhalte statt für Tralala. Er plädiere dafür,
mit Moderator Andy Borg möglich ist, der das Konzept des ORF, zu dem man eine
noch am 30. Oktober in einem offenen Brief langjährige gute Beziehung habe, abzu-
schrieb, er sei „stolz“ auf das Alter seiner warten, bevor man über den „Stadl“ den
Zuschauer, ist „offen“, heißt es dazu in der Borg Stab breche, heißt es in der ARD. bra

DER SPIEGEL 48 / 2014 85


Der Suchmotor
Internet Das französische Start-up Qwant verfolgt einen verrückten Plan:
Es will Google in dessen Kerngeschäft angreifen, der Suche.
Der Gigant aus den USA nimmt den Neuling durchaus als Konkurrenten wahr.

S
ie haben sich für einen passenden Ort der berühmte Feldherr legen sie sich dafür im Gegenteil. Er hätte den Start gern mit
entschieden, um ihren Plan zu erklä- mit einer Großmacht an. noch mehr Pathos aufgeladen. Dafür hatte
ren. Es ist ein vermessenes Vorhaben, Léandri und Rozan wollen Google atta- er sich von dem griechischen Komponisten
um nicht zu sagen: völlig verrückt. ckieren und den Amerikanern Markt- Vangelis die Erlaubnis eingeholt, dessen
Das Café liegt gegenüber dem Pariser anteile abjagen. Und zwar nicht einer Hymne „Die Stunde des Siegers“ („Cha-
Armeemuseum und dem Invalidendom, in der zahllosen Sparten von selbst fahrenden riots of Fire“) zu spielen. Zu diesem Sound-
dem Napoleons Überreste ruhen. An den Autos bis zu intelligenten Kontaktlinsen, track hatte Steve Jobs 1984 den ersten
Tischen sitzen fast nur Uniformträger, jun- in denen der US-Multi inzwischen auch Apple Macintosh vorgestellt. Die eigenen
ge Männer mit Kurzhaarfrisur, die Café zu Hause ist, sondern in dessen Kern- PR-Berater rieten dringend davon ab: Das
crème für sieben Euro schlürfen. Massive angebot, das ihn zum globalen Giganten sei too much, zu viel des Guten.
Kanonenrohre dienen als Wanddekoration. hat aufsteigen lassen: der Internetsuche. Vielleicht braucht es einen wie Léandri,
Die militärischen Andenken an die gro- Mit dieser Ambition ging Qwant am um das scheinbar Unmögliche zu versu-
ßen Schlachten der Grande Nation passen 4. Juli 2013 online, am Jahrestag der ame- chen. Der Mann ist gebürtiger Korse, er
zu dem, was Eric Léandri und Jean-Ma- rikanischen Unabhängigkeitserklärung. redet schnell, leidenschaftlich, sein Akku
nuel Rozan vorhaben – sie wollen etwas Ein Zufall? Eric Léandri wirft den Kopf scheint bis zum Anschlag aufgeladen. An-
angreifen und etwas verteidigen. Und wie nach hinten und lacht kurz auf: von wegen, fangs trug er seine Haare noch lang und
86 DER SPIEGEL 48 / 2014
Medien

sind Rozan und Léandri aber alles andere algorithmen und ließen währenddessen
als typische Vertreter der internationalen Programme das Netz indexieren – allein
Start-up-Szene, schon ihres Alters wegen. vier Milliarden deutschsprachige Websites.
Rozan ist 60, er hat 30 Jahre Erfahrung Sie mussten technisch nicht bei null anfan-
und einen Namen als Investor in der fran- gen – mit im Team ist Patrick Constant,
zösischen Finanzwelt. Der Reitsportfan und der mit seiner Firma Pertimm seit Jahren
Buchautor („Le Fric“) baute eine Telekom- Suchlösungen für die Netzangebote großer
munikationsfirma mit auf und verkaufte sie französischer Firmen entwickelt.
an Vivendi. Er beriet diverse Hedgefonds, Vier Wochen vor dem Starttermin im
und fast wäre ihm mit einem seiner Netz- Sommer 2013 begannen Snowdens Enthül-
Engagements schon einmal der Durchbruch lungen. Seither ist die digitale Dominanz
gelungen. Rozan war ein Finanzier hinter von Google & Co. mit Macht auf die politi-
dem sozialen Netzwerk „A Small World“, schen Agenden in Berlin, Brüssel und Paris
das eine exklusivere Variante von Facebook gerutscht. Die Vertrauenskrise macht selbst
sein wollte – und im selben Jahr startete die Giganten aus dem Silicon Valley nervös,
wie Zuckerbergs späterer Welterfolg: 2004. zumal sie einhergeht mit einer genaueren
Die „kleine Welt“ blieb hingegen etwas Analyse ihrer Marktmacht und ihrer Steuer-
zu überschaubar. Der damalige geschäfts- vermeidungstaktiken.
führende Gründer habe das mit der Exklu- Auch deshalb gab sich Google-Chairman
sivität vielleicht zu wörtlich genommen, Eric Schmidt bei einer Beschwichtigungs-
„Wir wollen Informa- sagt Rozan heute schmunzelnd. tour in Berlin jüngst allergrößte Mühe,
tionskapitalisten sein, Auch Léandri ist mit seinen 44 Jahren Google klein und die Alternativen mög-
schon so etwas wie ein Veteran der Digi- lichst groß zu reden. Nicht Bing, sondern
keine Überwachungs- talbranche; er arbeitete unter anderem in Amazon sei längst der schärfste Konkurrent
kapitalisten. Für mich verantwortlicher Position für die Mehr- in Sachen Suche. Im Wirtschaftsministe-
länder-Börse Euronext und bei einem IT- rium, bei einer Diskussion mit Vizekanzler
ist Tracking so etwas Sicherheitsanbieter namens TrustMission. Sigmar Gabriel, passierte es dann. Für die
wie Stalking.“ Eigentlich spricht alles gegen Qwant. Die Suche könne man auch Qwant ansteuern,
Franzosen erwarten in diesem Jahr nach ei- sagte Schmidt da doch tatsächlich.
Eric Léandri genen Angaben insgesamt 1,3 bis 1,4 Milliar- Die beiden Qwant-Gründer feixen ein
den Suchanfragen. Google vermeldet mehr wenig, als sie von dem Schmidt-Zitat er-
als 100 Milliarden – im Monat. Googles zählen. Es scheint, als wäre die beiläufige
Marktanteil liegt in Deutschland bei rund Erwähnung für sie so etwas wie der Beweis
95 Prozent, in Frankreich bei 94. Von rund der eigenen Relevanz. Man nimmt sie also
1,6 Millionen Euro Umsatz ist bei Qwant wahr bei Google. Immerhin.
die Rede, die Company aus Übersee kam Dass das so ist, hat auch mit ihrem
voriges Jahr auf gut neun Milliarden Euro. Deutschlandstart im März zu tun. Kurz da-
Gewinn, nicht Umsatz. nach habe er eine knappe Mail von einem
An dieser Übermacht sind schon andere Digitalverantwortlichen bei Axel Springer
leicht verwegen. Mittlerweile hat er die Fri- gescheitert. Microsoft beispielsweise kommt erhalten, erzählt Rozan. Ob man sich nicht
sur dem Ernst der Aufgabe angepasst, um mit Bing in Deutschland fünf Jahre nach unterhalten könne. Vier Tage später saß der
ein paar Zentimeter zumindest. Unter all der Einführung auf Marktanteile um die Absender samt Vorstandschef Mathias Döpf-
den Uniformierten wirkt er dennoch wie fünf Prozent. Das 2008 von Ex-Google- ner bei ihnen auf dem Sofa. Im Juni gab
ein Lebemann, den man sich mindestens Leuten gestartete Cuil überlebte nur zwei der deutsche Medienkonzern bekannt, sich
so gut am Strand vorstellen kann wie bei Jahre, trotz 33 Millionen Dollar Anschub- an Qwant zu beteiligen. Den genauen Preis
Investorengesprächen; tatsächlich arbeiten finanzierung. Von dem von Deutschland für die 20 Prozent will Rozan nicht nennen
die meisten der bislang rund 40 Qwant-Mit- und Frankreich staatlicherseits angeschobe- – er lag zwischen 5 und 8 Millionen Euro.
arbeiter in Nizza und nicht in der kleinen nen Quaero ganz zu schweigen. Ende vori- Der Springer-Konzern und Döpfner per-
dunklen Büroniederlassung in Paris, wo die gen Jahres haben die Franzosen das Projekt sönlich gehören zu den vernehmlichsten
Gründer ungern Besucher empfangen. endgültig beerdigt, die deutsche Seite hatte Google-Kritikern. Mit seiner Minderheits-
Sein Kompagnon Jean-Manuel Rozan sich schon Jahre zuvor zurückgezogen. beteiligung wird Springer vom Warner und
wirkt dagegen still, soigniert, abgeklärt. Er Muss man Qwant also ernst nehmen? Kritiker nun auch zum Wettbewerber, ein
ist der Mann, der das Startkapital für das Kann es sich dauerhaft etablieren, so wie bisschen zumindest. „Der Suchmaschinen-
eingesammelt hat, was auch einige seiner andere Nischenalternativen wie MetaGer markt kann mehr Ideen vertragen“, be-
Freunde als ökonomisches Himmelfahrts- aus Hannover, Ixquick oder DuckDuckGo? gründet Ulrich Schmitz, der bei Axel Sprin-
kommando betrachtet haben. Rund eine Neben dem unaufgeregten Geschäftssinn ger für Frühphasen-Investments verant-
Million Euro seines eigenen Vermögens von Rozan und der Leidenschaft von Léan- wortlich ist, das Konzerninteresse. „Qwant
FOTO: GWENN DUBOURTHOUMIEU / DER SPIEGEL

hat er in diese Wette gesteckt; zweieinhalb dri gibt es zwei Gründe, die dafür sprechen: hat eine ganze Menge davon, die zum Teil
weitere erhielt er von jenen Freunden und Edward Snowden und Mathias Döpfner. noch nicht sichtbar sind.“
Bekannten, die nicht kopfschüttelnd das Snowden verschaffte der jungen Such- Doch in was hat Springer da eigentlich
Weite suchten – darunter der ehemalige maschine, die ihren Nutzern unter ande- investiert? Wer Qwant in einer der bisher
AOL-Mann Bob Pittman, der einen sechs- rem mehr Datenschutz verspricht, mit sei- 16 verfügbaren Sprachversionen ansteuert,
stelligen Betrag beisteuerte. nen Enthüllungen ideale Startbedingun- kann den Eindruck bekommen, die Fran-
Sie geben ein ungleiches Paar ab, die gen. Im Mai 2011 hatten die Gründer das zosen versuchten vor allem eines: nämlich
Macher hinter dem neuen „moteur de re- Unternehmen offiziell angemeldet. Zwei anders zu sein. Statt eines superschlicht ge-
cherche“. Alle Welt redet von Maschine, Jahre lang bastelten die ersten sechs haltenen Suchschlitzes bietet Qwant schon
die Franzosen von „Suchmotor“. Vor allem Mitarbeiter in aller Stille an den Such- auf der Startseite ein Wimmelbild. Unter
DER SPIEGEL 48 / 2014 87
Medien

dem Eingabeschlitz werden aktuelle Such- könnte die zielgerichtete Werbung, die da-
trends angezeigt, nicht als magere Links, mit möglich wird, äußerst segensreich sein,
sondern als Mosaikkacheln. Die Suchergeb- wie Googles Geschäftszahlen zeigen.
nisse werden auf einer noch wuseligeren Léandri und Rozan setzen auf andere
Seite präsentiert, sortiert nach Rubriken Einnahmequellen. Sie kassieren eine Pro-
wie „Netz“ und „Einkaufen“, in fünf ne- vision, wenn der Nutzer über die eigene
beneinander angeordneten Kolonnen. „Einkaufen“-Spalte ein Produkt findet und
Und siehe da: Qwant sucht nicht nur, es über den entsprechenden Link dann auch
findet auch, und zwar relevante Treffer. kauft – immerhin vier Prozent der Besu-
Aber reicht das? Immerhin wird Google cher kämen bislang, um einzukaufen, sagt
zwar viel gescholten – für seine Unterneh- Léandri. Zudem wollen sie ihre Such-
menspolitik, seine Marktmacht, seinen Um- technologien anderen Firmen zum Erwerb
gang mit Daten. Kaum jemand kritisiert anbieten.
aber die Qualität seiner Suche, oder? O Noch bleibt viel zu tun, wie die deutsch-
doch, ruft Léandri energisch, wir tun das, sprachige Ausgabe zeigt. Schon auf der
darum geht es doch: „Google zeigt Ihnen Startseite holpert es grammatikalisch sehr,
nur noch einen Teil der Realität. Wir pro- sogar Werbetexte wirken zuweilen wie mit
duzieren ein besseres, vollständigeres Bild.“ Google-Translate übersetzt. Naheliegende
Hektisch sucht er nach einer Präsenta- Synergien mit dem deutschen Investor wer-
tion. Als er sie gefunden hat, beginnt er ei- den bislang offenbar nicht genutzt. Es
nen Vortrag, den man so zusammenfassen heißt dort sogar immer noch: „Qwant ist
kann: Google vernachlässige sein Kernge- ein 100 Prozent französischer Service.“
schäft seit Jahren, die Suche basiere noch Die Macher wissen um die Macken.
immer wesentlich auf dem „Page Rank“- „Wenn wir versucht hätten, mit einem per-
Verfahren, an dem Larry Page und Sergey fekten Produkt zu starten, wären wir nie
Brin in ihrer Uni-Zeit forschten. Riesige online gegangen“, sagt Rozan. Gerade be-
Teile der Netzwelt würden in den Treffer- komme ihr „moteur“ allerdings eine Men-
listen praktisch ignoriert, aktuelle Posts in ge zusätzlicher PS. Die Zahl der Server
sozialen Netzwerken, wenn überhaupt, wurde von 100 auf 500 erhöht, momentan
dann unter ferner liefen gezeigt. Das gelte sondieren sie den Start in neuen Märkten
kurioserweise sogar für die Kommentare wie Polen und Brasilien. Jüngst hat Léan-
der Google-eigenen Videoplattform You- dri in der Inselhauptstadt Bastia die korsi-
Tube. Qwant hingegen wolle einen „360 sche Sprachversion vorgestellt. Sie wollen
Grad“-Überblick bieten und Brücken schla- eben nicht nur angreifen, sondern auch et-
gen in die Internetinseln von Facebook, was verteidigen, die kulturelle und sprach-
Twitter & Co. liche Vielfalt Europas beispielsweise.
Google habe vor allem aus kommerziel- Wirklich keine Angst, dass es ihnen mit
len Gründen aufgehört, das gesamte Bild Qwant ergeht wie Quaero, der letzten
zu liefern, und pushe stattdessen Ergebnisse, deutsch-französischen Suchkooperative?
die sich am besten durch Werbung vermark- Dass es ihr Waterloo werden könnte?
ten ließen, sagt Léandri. Das ist ein Vorwurf, Qwant sei „nicht so riskant, wie es viel-
dem man dort entschieden widerspricht. leicht scheint“, sagt Rozan. „Wir haben
Vermarktung und Algorithmenentwickler schon im ersten Jahr Gewinn gemacht, die
arbeiteten streng getrennt, sagte der Technologie funktioniert, jetzt kommt es
Google-Suchguru Ben Gomes bei seinem nur noch darauf an, wie gut wir sind.“ Er
letzten Berlinbesuch im Sommer. Zudem habe bis 2018 „ultrakonservativ“ geplant,
betont der Konzern, er habe allein 2013 in bis dahin wolle man auf 25 Millionen Such-
seiner Suche 890 Verbesserungen eingebaut. anfragen täglich kommen – das habe auch
Das zweite Versprechen der Qwant-Ma- die Springer-Leute überzeugt.
cher ist ein sparsamerer Umgang mit Daten: Den Google-Gründern sind die Qwant-
keine Speicherung von Suchhistorien, keine Macher noch nie begegnet. Bei einem
Profilbildung, mehr Privatsphäre. Den an- Medien-Event in Potsdam trafen Léandri
fänglichen Claim, gar keine Cookies zu ver- und Rozan aber auf Vertreter des deut-
wenden, mussten sie relativieren. Immerhin schen Google-Teams, es lag ein Knistern
werden die eingesetzten Datensammler in der Luft. Als ein Google-Mann vortrug,
transparent gemacht, samt Bezeichnung und die Daten der Nutzer an sich seien nichts
Verweildauer. Eine Nutzerverfolgung („Tra- wert, platzte es Léandri förmlich heraus:
cking“) soll es nicht geben. Sie sorgt dafür, „Warum sammelt ihr sie dann?“
dass man plötzlich auf einer Website eine Léandri und Rozan hoffen, spätestens
Anzeige mit Produkten sieht, nach denen im Frühjahr einen Sprung nach vorn zu
man zuvor bei Google gesucht hat. „Wir machen, bis dahin will Qwant mit Neue-
wollen Informationskapitalisten sein, keine rungen aufwarten. Nutzer werden die Zahl
Überwachungskapitalisten“, sagt Léandri. der angezeigten Ergebnisse reduzieren
„Für mich ist Tracking wie Stalking, eine und ganze Kolumnen wegklicken kön-
Suchmaschine braucht diese Daten nicht.“ nen, sogar die Shopping-Kolumne. Qwant
Für die Suchergebnisse mag das gelten. will übersichtlicher werden. Ein bisschen
Für die Unternehmensergebnisse hingegen googliger, irgendwie. Marcel Rosenbach

88 DER SPIEGEL 48 / 2014


Verbotenes Ritual
Angehörige des Pokot-Volkes in Kenia stützen eine junge Frau nach dem Ritual
der Genitalbeschneidung. Der Brauch markiert den Übergang zum Frausein und ist
Voraussetzung für eine Hochzeit. Die abgeschieden lebenden Pokot halten an ihm
fest, obgleich Beschneidungen von der Regierung in Nairobi 2011 verboten wurden.
Im Oktober kündigte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon,
eine Kampagne an, um dem lebensgefährlichen Eingriff bei Mädchen innerhalb
einer Generation endlich weltweit ein Ende zu setzen. suk

China SPIEGEL: Sie wollen sich nun Tai: Ich glaube nicht, dass Pe-
„Recht brechen, um der Polizei stellen, um ein king mit drastischen Mitteln
es zu verbessern“ Gerichtsverfahren zu provo-
zieren. Warum?
eingreifen wird, also etwa die
Volksbefreiungsarmee ein-
FOTOS: BOBBY YIP / REUTERS (L.); SIEGFRIED MODOLA / REUTERS (O.)

Benny Tai, 50, Gründer der Pro- Tai: Das Konzept des zivilen setzt. Präsident Xi Jinping
testbewegung Occupy Central, Ungehorsams ist ein Wider- wird das internationale An-
über Wege aus dem Patt zwi- spruch in sich: Man bricht das sehen, das er in den vergan-
schen Regierung und Demons- Recht, um es zu verbessern. genen Wochen aufgebaut hat,
tranten in Hongkong Ein Gerichtsverfahren gibt nicht aufs Spiel setzen.
uns die Möglichkeit, unser SPIEGEL: Er hat die Demons-
SPIEGEL: Die Polizei fängt an, Anliegen erneut vorzutragen trationen immerhin als „ille-
Camps zu räumen, Ihr Rück- und den Ball wieder ins Rol- gal“ bezeichnet.
halt in der Bevölkerung sinkt. len zu bringen. Tai: Das räumen wir ja ein.
Wie geht es weiter? SPIEGEL: Wie lange wird Pe- Doch man muss genau hin-
Tai: Die Regierung hat Legiti- king diesem Ringen zwischen hören: Xi sprach nicht von
mität verloren. Wenn sie die Regierung und Demonstran- „Randalen“ oder einem „Auf-
eine Straße räumt, besetzen ten in Hongkong noch zu- Tai stand“. Das wäre beunruhi-
Demonstranten eine andere. sehen? gend. bza

90 DER SPIEGEL 48 / 2014


Ausland
Pakistan habe sich mit Vertretern der schüre „Fatah“ („Sieg“) wirbt
IS-Allianz mit den militanten Kampfgruppe Jun- IS in Pakistan in der Landes-
Taliban dullah in der Provinz Belu-
tschistan getroffen, um eine
sprache Paschtu bei der Be-
völkerung um Unterstützung
Die im Irak und Syrien ope- gemeinsame Strategie zu er- für ihren Kampf. Die Pro-
rierende Terrorgruppe „Isla- arbeiten. Bereits im Oktober vinzregierung von Belutschis-
mischer Staat“ (IS) baut ge- bekannten sich sechs TTP- tan ist höchst alarmiert über
zielt Kontakte nach Pakistan Kommandeure aus dem Nord- die neue Allianz. Nach Er-
auf. Ein Sprecher der extre- westen des Landes in einer kenntnissen der dortigen Si-
mistischen Tehrik-i-Taliban Videobotschaft zur Koopera- cherheitsbehörden planen IS
Pakistan (TTP), der sich Fa- tion mit dem IS. Dabei akzep- und lokale Gruppen gemein-
had Marwat nennt, erklärte tierten sie auch den selbst er- same Angriffe auf Militär-
vorvergangene Woche, eine nannten Kalifen Ibrahim als anlagen des atomar bewaffne-
dreiköpfige IS-Delegation ihren Führer. Mit der Bro- ten Landes. suk

Kommentar
Die Angst der weißen Männer

N ach der Nacht der Midterm-Wahlen vor


fast drei Wochen, die zu einem Desaster
für die Demokraten geriet, traf US-Präsident
fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt
einer Nation, die seit je ein Einwanderungs-
land ist.
Barack Obama eine folgenschwere Entschei- Im 17. Jahrhundert siedelte die erste Gene-
dung: keine Kompromisse mehr. Er ging nicht ration von Europäern über, später folgten
auf die Republikaner zu, er hörte nicht auf Asiaten. Seit einiger Zeit nun sind es Fami-
seine Berater, die mehr Geschmeidigkeit an- lien aus Lateinamerika.
mahnten. Obama will als Präsident Prinzi- Wenn die Republikaner so tun, als ginge
pientreu in die Geschichte eingehen. Er will damit das christliche Amerika der Gründervä-
nun tun, was er für richtig hält. Und dazu ge- ter unter, dann ist dies vor allem ein Aufstand
hört für ihn, Millionen Einwanderern ein vor- wohlhabender weißer Männer, die verzwei-
läufiges Bleiberecht zu garantieren. felt um ihre Privilegien kämpfen. Diese wei-
Obamas Entscheidung, den Unterprivile- ßen Männer haben Obamas Dekret zu Recht
gierten in der Schattenökonomie der Schwarz- als Kampfansage empfunden. Obama handelt
arbeit einen offiziellen Status zu geben, ist immer dort stark und überzeugend, wo er für
für die amerikanische Gesellschaft ein Glücks- Minderheiten und Schwächere eintritt; in sei-
fall. Rund fünf Millionen illegale Einwanderer, nem Herzen ist er der Sozialarbeiter geblie-
die überwiegend aus Lateinamerika stammen ben, der er einst in Chicago war. Seine Politik
und seit über fünf Jahren in den USA leben, stellt die Machtfrage in einer Gesellschaft, in
dürfen jetzt auf Bleiberecht hoffen. der die weiße Mittelklasse schrumpft, wäh-
In vielen amerikanischen Städten wären rend die Zahl der Einwanderer wächst. Die
Gärten verwildert, Teller in Restaurants un- Reform ist deswegen mehr als ein humanitä-
gespült und Kleinkinder unbetreut ohne die rer Akt. Sie ist eine Richtungsentscheidung,
Hilfe der Zuwanderer. Sie werden nun nicht wie das Amerika von morgen aussehen soll.
länger kriminalisiert, sondern integriert. Das Holger Stark

Fußnote

1 Mio.
Neugeborene sterben
jedes Jahr an ihrem
ersten Lebenstag,
2,8 Millionen Babys
sogar in den ersten vier
FOTO: BRENDAN SMIALOWSKI / AFP

Wochen. Die Sterberate


von Kindern bis zum
fünften Lebensjahr hin-
gegen konnte seit
1990 laut aktuellem
Unicef-Report halbiert Obama, Personenschützer
werden. suk

DER SPIEGEL 48 / 2014 91


Ausland

Der Preis der Hoffnung


Migration Mehr als 150000 Flüchtlinge landeten dieses Jahr an den Küsten Italiens;
die meisten zog es weiter nach Norden. Während die EU um eine neue Strategie
ringt, machen Schlepper mit den Illegalen ein Milliardengeschäft. Von Walter Mayr

H
inter der Bar La Grotta ist Schluss ben, politisches Asyl im Ankunftsland be- der Uno angeforderten 3,74 Milliarden Dol-
mit Italien: Confine di Stato, Staats- antragen. lar seien bereitgestellt worden. EU-Europa
grenze. Weiter, nach Frankreich Ende September kam es zum Kurswech- setzt stattdessen auf Abschottung: Am 11.
hinüber, führt eine schmale Straße zwi- sel. In einem vertraulichen Schreiben, das Dezember sollen die Ergebnisse der jüngsten
schen Felswand und Meer – ein Nadelöhr dem SPIEGEL vorliegt, ordnete Innenminis- europaweiten Polizeioperation „Mos Maio-
für Illegale und Schleuser. ter Angelino Alfano an, die Identifizierung rum“ vorgestellt werden. Sie diente vorran-
Verdeckt von Agavenstauden, den Blick der Migranten per Fingerabdruck sei fortan gig dem Ziel, Herkunft, Hintergrund und
auf die Grenze gerichtet, kauern im Steil- „immer“ umzusetzen; diverse EU-Staaten Fluchtwege der Illegalen zu durchleuchten.
hang drei junge Männer aus Mali. Ein paar hätten „mit wachsendem Nachdruck“ be- Der Traum von einem besseren Leben
Meter weiter, gestrandet vor dem La Grot- klagt, dass die Einwanderer nach ihrer An- in Europa ernährt derweil eine ganze
ta wie Pilger auf Herbergssuche, lagern kunft in Italien unbehelligt „die Reise in Branche Krimineller: die Menschenhänd-
die Syrer: Männer mit Marschgepäck, Frau- nordeuropäische Länder“ fortsetzten. ler. Denn nur wenige Syrer, Eritreer oder
en mit Kopftuch, ein kleiner Junge. Bevorzugte Reiseziele sind Schweden, Schwarzafrikaner wagen die Flucht nach
Ahmad, so will er genannt werden, der Deutschland und die Schweiz, wo soziale Europa auf eigene Faust. Die Mehrheit
graubärtige Wortführer der Illegalen, war Sicherung sowie eine Chance auf politi- nimmt fremde Hilfe in Anspruch. Mehrere
Softwareentwickler in Damaskus. Frau sches Asyl winken. Italien hingegen, so ur- Hundert Millionen Euro, hochgerechnet
und Kinder hat er in der Heimat zurück- teilte der Europäische Gerichtshof für Men- nach gängigen Marktpreisen, verdienten
gelassen. Ein zerknitterter Zettel, den er schenrechte am 4. November, könne nicht die Schlepper allein 2014 mit den an Ita-
aus der Jackentasche zieht, bescheinigt einmal die angemessene Unterbringung liens Küsten Angelandeten; je höher die
ihm amtlich, in Italien angekommen zu der Asylbewerber gewährleisten. Das Dub- Hürden auf dem Weg nach Norden, desto
sein – als Flüchtling Nummer 13 962. lin-System verkommt so zur Farce: Nur größer der Profit der Menschenhändler.
Die Zahl gibt nur die Statistik des Poli- knapp sechs Prozent aller in Deutschland Im Sog der Flüchtlingsströme aber ist
zeipräsidiums in Crotone, Kalabrien, wie- Asylsuchenden werden in jenes EU-Land gleichzeitig noch eine zweite Organisation
der. Landesweit landeten seit Januar über zurückgeschickt, das sie zuerst betraten. unterwegs: „la rete“ – das Netz –, ein in-
150 000 Flüchtlinge in Italien. Fast die Hälf- In der Festung Europa wird derzeit um formeller Zusammenschluss von Bloggern,
te davon, mehr als 60 000 Männer, Frauen eine neue Strategie im Umgang mit dem Menschenrechtlern, Aktivisten. Auch sie
und Kinder, sind in der EU-Datenbank Massenandrang aus Afrika und dem Na- begleiten die Migranten auf ihrem lebens-
Eurodac nie registriert worden – und längst hen Osten gerungen. Italien hat die Ope- gefährlichen Weg von den Küsten des Na-
in Richtung Rest-Europa entschwunden. ration „Mare Nostrum“ zum 1. November hen Ostens oder Anatoliens übers Mittel-
Seit der Tragödie vor Lampedusa am eingestellt, um Kosten zu verringern und meer bis nach Europa. Nur anders: mit
3. Oktober 2013, als 366 Menschen er- eine europaweite Lösung voranzutreiben. den Mitteln des 21. Jahrhunderts.
tranken, galt eine ungeschriebene Regel: Seither patrouillieren im Rahmen der EU- „Das Netz“ betreibt ein straffes Früh-
Rom schickt im Rahmen der Rettungsak- Mission „Triton“ Schiffe vor Italiens Küste. warn- und Kontrollsystem via Facebook,
tion „Mare Nostrum“ zwar Schiffe der Den Auftrag, Flüchtlinge auf hoher See zu Mail, Satellitentelefon und Skype. Kein
Kriegsmarine und Küstenwache durchs retten, haben sie nicht. Flüchtling soll lautlos vom Radar ver-
Mittelmeer, entlässt aber das Gros der auf- Die reichen Länder hätten angesichts der schwinden, kein mit Hunderten Migranten
gelesenen Flüchtlinge umstandslos in Rich- schlimmsten Flüchtlingskatastrophe seit beladener Fischkutter vor der libyschen
tung Norden – damit sie nicht, wie ge- Jahrzehnten „kläglich versagt“, urteilt Am- Küste unbemerkt bleiben. Die digitalen
mäß Dublin-II-Abkommen vorgeschrie- nesty International. Nur die Hälfte der von Aktivisten sind 24 Stunden täglich auf Pos-
ten – und zwar, anders als die kriminellen
Ahmads Fluchtweg nach Europa Schleuser, ohne Entgelt.
EU-Staaten Ein weiterer wesentlicher Unterschied:
Route Im Netzwerk der Menschenhändler haben
die Männer das Sagen; im Netzwerk der
Menschenrechtler sind es die Frauen.

DEUTSCH-
Essen LAND A ssalamu alaikum“, ruft Fatima und steu-
ert ihren Fiat in die Parkbucht vor der
Bar La Grotta beim Grenzübergang von
FOTO: THOMAS KERN / DER SPIEGEL

Mailand Menton, kaum dass sie Ahmad, den Soft-


wareentwickler aus Damaskus, und seine
Ventimiglia ITALIEN Schwarzes Meer
Begleiter entdeckt hat. Die Syrer hatten es
Istanbul
in der Nacht zuvor nach Frankreich ge-
TÜRKEI schafft, aber sie wurden geschnappt und ab-
Capo Cimiti Izmir
geschoben. Nun sitzen sie hier, auf der ita-
Mitt SYRIEN
lienischen Seite, und wissen nicht wei-
el m e e r

92 DER SPIEGEL 48 / 2014


Damaskus
Die Margen beim Menschenhandel werden mittlerweile
nur noch von denen beim Drogenhandel übertroffen.

Flüchtlinge im Mailänder Hauptbahnhof


Ausland

ter. Fatima, 24 Jahre, geboren in Marokko Autokennzeichen nach zu urteilen befan- boote bis hin zur Luxusjacht unter US-
und von Beruf Köchin, betreut im Netz den sie sich nun in der südostanatolischen Flagge. Buchbar seien außerdem, statt
der Aktivisten die Nordwestflanke Italiens. Provinz Kilis. Per Bus brachte man sie ins nächtlicher Landung an einer verlassenen
Sie pendelt bevorzugt zwischen der fran- 1200 Kilometer entfernte Istanbul. süditalienischen Küste, auch Linienflüge
zösischen Mittelmeerstadt Menton, wo sie „Dort blieben wir zwei Wochen, die nach Milano-Malpensa samt vorheriger
wohnt, und dem italienischen Grenzort Hälfte der Zeit in Hotels“, sagt Ahmad: Anlieferung gefälschter Ausweise.
Ventimiglia. Am dortigen Bahnhof sam- „Die 500 Dollar, die ich noch hatte, waren Verstärkte Kontrollen an einer Stelle zie-
meln sich, seit die Nordroute über den bereits verbraucht, als es weiter in die hen verstärkten Verkehr auf anderen
Brennerpass verstärkt kontrolliert wird, Nähe von Izmir ging. Zuerst mussten wir Routen nach sich. Betrieb herrscht neuer-
immer mehr Fluchtwillige. acht Stunden lang marschieren. Gegen 21 dings sogar auf der Strecke von der Türkei
Meist hat Fatima Essen im Gepäck, und Uhr erreichten wir einen verborgenen Ha- übers Schwarze Meer ins EU-Land Rumä-
immer guten Rat. „Praktische Hilfe ist Teil fen. Unser Boot war gut 20 Meter lang; es nien. Im September bereits war ein Boot
unserer Religion, des Islam“, sagt sie. Da- lief unter amerikanischer Flagge.“ mit 82 Syrern und Afghanen an Bord nörd-
mit pfuscht sie den tunesischen Schleusern Mit Ahmad gingen 126 weitere Flücht- lich von Istanbul aufgebracht worden. An-
ins Geschäft, die beim Bahnhof von Venti- linge an Bord. „Wir hatten Glück und ei- fang November starben am Bosporus 25
miglia auf zahlungskräftige, hilflose Flücht- nen PS-starken Motor“, sagt der Syrer, Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Rumänien.
linge lauern. Die Rechnung dafür sieht so „vier Tage später erreichten wir Italien.“ Der Nachschub an Kundschaft für die
aus: zerkratzter Lack an Fatimas Fiat. Menschenhändler scheint schier uner-
Wer illegale Einwanderung in Italien be-
günstigt, riskiert jahrelange Haft. Aber, D ass ihr Skipper, ein 28 Jahre alter Tür- schöpflich: mehr als zwei Millionen Syrer
ke namens Koç Can, sich nach der leben derzeit allein in türkischen und liba-
macht sich schon strafbar, wer Flüchtlinge Landung in Capo Cimiti an der kalabresi- nesischen Flüchtlingslagern.
im Wagen mitnimmt? Fatima zaudert. Si- schen Küste als taubstummer Flüchtling
cher ist nur: Ahmad und die Seinen müs- durchzuschummeln versucht, bekommen
sen, vor dem nächsten Fluchtversuch in Ahmad und die anderen mit. Doch wer S ie wird als „Engel der Syrer“ verehrt:
Nawal Soufi, in Marokko geboren, im
Richtung Norden, erst einmal raus aus dem die Drahtzieher ihrer Reise sind, wer den sizilianischen Catania aufgewachsen. Die
Grenzgebiet. So marschieren die erschöpf- Erlös von mindestens 800 000 Euro ein- Facebook-Seiten der 26 Jahre alten Stu-
ten Syrer samt vierjährigem Buben zu Fuß steckt, das wissen sie nicht. dentin sind zentrale Anlaufstellen im Netz
los durch die Nacht – bis ein Taxifahrer ge- Längst ist Istanbul unter Fahndern als der nicht kommerziellen Flüchtlingshilfe.
funden ist, der sie nach Ventimiglia bringt. Drehscheibe im internationalen Menschen- Nawal ist rund um die Uhr auf Empfang,
Dort, auf dem schäbigen Bahnhofsvor- handel berüchtigt. Mehr als 9000 Schleuser viel unterwegs, und postet im Stundentakt,
platz mit eigens für die Flüchtlinge aufge- im Land hätten allein im Jahr 2011 Gewin- was sie erlebt. Ihre Telefonnummer gilt
stellten Dixi-Klos, leistet Fatima dann Bei- ne von 303 Millionen Dollar angehäuft, unter Flüchtlingen als Lebensversicherung.
stand bis tief in die Nacht. Denn der nächs- heißt es in einem Bericht des Internatio- Wer in Seenot ist, ruft Nawal – sie alar-
te Zug zurück nach Mailand, von wo aus nalen Terrorismus-Zentrums der Türki- miert die Küstenwache.
Ahmad und die Seinen mit einem anderen schen Polizeiakademie. Ein Wächter etwa, „Hallo?“ – „Assalamu alaikum.“ – „Wie
Schleuser über Frankreich nach Deutsch- der in Istanbul den Flüchtlingen an die Sei- viele seid ihr da draußen?“ – „300.“ – „Wie
land aufbrechen wollen, verlässt Venti- te gegeben wird, kassiert 30 Dollar. Boots- viele Frauen und Kinder? Ist euer Schiff
miglia erst früh um 04.37 Uhr. verleiher stellen mindestens 3000 Dollar aus Holz oder Eisen?“ – Schweigen. Mee-
Gelegenheit also für Ahmad, zu erzäh- je Woche in Rechnung; der Kapitän einer resrauschen. – „Wie lautet eure Position?“
len – von seinem Weg aus dem zer- Expedition an die italienische Küste – „Ich weiß es nicht.“
bombten Damaskus heraus bis an die ita- schließlich nimmt bis zu 10 000 Dollar. Mehr als 3300 Flüchtlinge ertranken seit
lienisch-französische Grenze. Zu Reichtum hat es im Schleuser-Ge- Jahresbeginn. Über 150 000 wurden geret-
schäft der derzeit untergetauchte Muam- tet, nicht zuletzt dank Nawal und ihren

M ein erster Kontakt“, sagt der Syrer, mer Küçük gebracht – so schildern es in Unterstützern. Doch die Rettungsopera-
„lief über einen Mittelsmann in Da- ihrem Buch „Geständnisse eines Men- tion „Mare Nostrum“ ist nun beendet –
maskus, sein Name war Abu Jafir.“ Dessen schenhändlers“ der Trentiner Kriminologe auch weil immer lauter beklagt wurde, Ita-
Bedingung: Der Gesamtbetrag für die Rei- Andrea Di Nicola und sein Co-Autor Gi- liens Marine ermutige mit ihrer Präsenz
se nach Italien musste im Voraus bezahlt ampaolo Musumeci. Allein 2010 habe der nahe der nahöstlichen Küsten kriminelle
werden – 7000 Euro pro Kopf. mehrfach vorbestrafte Küçük 77 Schiffe Schlepper dazu, Menschenfracht auf im-
Den Betrag, der mindestens zwei durch- vor den Küsten Italiens verloren: eine enor- mer schäbigere Boote zu verladen.
schnittlichen Jahresgehältern im Vorkriegs- me Zahl, die Rückschlüsse auf das gesamte Von einem „Pull-Faktor“ sprachen Wis-
Syrien entspricht, kommentiert Ahmad Geschäftsvolumen erlaube. senschaftler und Politiker. Von Lebensret-
nicht. Er schildert seine Odyssee nüchtern. Die Margen beim Menschenhandel, so tung sprechen die Menschenrechtler.
So, als rolle er einen langen Film rückwärts die Autoren, würden mittlerweile nur noch Nawal und ihr Netzwerk wissen früher
auf. Millimeter für Millimeter. von denen beim Drogenhandel übertroffen: als Küstenwache und Marine, wann ein
„Mit einem Bus wurden wir aus meinem „Hinter jedem Fall ungeregelter Einwande- Schiff ausläuft. Fluchtwillige oder deren
Viertel, das von regierungstreuen Truppen rung, hinter den Zehntausenden Migranten, Angehörige melden es. Ist der Skipper erst
kontrolliert wird, in die Gegend des Flug- die jedes Jahr nach Europa kommen, steckt in See gestochen, reicht meistens ein Not-
hafens gebracht. Von dort ging es weiter eine Industrie, die aus kleinen, bisweilen ruf, und die italienische Marine eilt zu Hil-
Richtung Aleppo, und in Kleintranspor- armseligen Gaunern besteht, aber auch und fe – so zumindest war es bisher. Die neue
FOTOS: THOMAS KERN / DER SPIEGEL

tern zur türkischen Grenze: Die Schleuser vor allem aus großen Berufskriminellen“ – EU-Mission „Triton“ hingegen sieht vor,
wechselten ständig“, sagt Ahmad. Das solchen, die pro Flüchtling Preise von bis dass nur noch bis 30 Seemeilen vor Italiens
Geschäft der Menschenhändler gleiche „ei- zu 10 000 Euro aufrufen. Küste patrouilliert werden soll.
ner endlosen Kette, die keiner durch- „Das größte und grausamste Reisebüro Die Aktivistin Nawal, unverändert stolz
schaut“. der Welt“ biete für jeden Geldbeutel maß- auf jeden, der es heil übers Mittelmeer
Durch Erdtunnel kriechend erreichten geschneiderte Lösungen: vom rostigen schafft, sieht sich an diesem Nachmittag
die Flüchtlinge türkischen Boden. Den Fischkutter über superschnelle Schlauch- mit Freunden um im Hafen von Catania.
94 DER SPIEGEL 48 / 2014
Dort, wo rostige ägyptische Fischkutter
vor Anker liegen, auf denen einst Hunder-
te zusammengepfercht waren. Schuld am
Geschäft mit den Migranten, so Nawal, trü-
gen nicht nur die „Mafia-Banden, die Mil-
lionen Dollar für ihre tödlichen Reisen“
scheffeln, sondern auch Europas Politiker:
Die Abschottung der EU befördere den
Menschenschmuggel.
Eine Anzeige hat die Studentin schon
kassiert: wegen Begünstigung illegaler Im-
migration. Zugutekommt ihr, dass arabi-
sche Kommentare im Netz von vielen
nicht verstanden werden – „denjenigen,
der sie übersetzt, bring ich um“, scherzt
Nawal auf Facebook. Sie weiß, dass sie auf
juristisch heiklem Terrain zugange ist. Bei-
spielsweise mit Posts wie diesem: „Wer
kann in Ventimiglia zwei syrische Bur-
schen für eine Nacht beherbergen?“
Bei Nawal, die wie die meisten anderen
Aktivisten der syrischen Anti-Assad-Be-
wegung nahesteht, kommt zur Nächsten-
liebe auch Pathos. Klagt ein Anrufer über
die Behandlung im Auffanglager Isola
Capo Rizzuto, dann klingt das in der via
Facebook verbreiteten Version der Akti-
vistin nach dem Hilferuf eines Gefolterten:
„Wir sind in Guantanamo gelandet“, und:
„Bringt uns nach Syrien zurück“.
Ahmad, der Softwareentwickler aus Da-
maskus, der nach seiner Landung, am 10.
Oktober abends, in dem besagten Lager
untergebracht wurde, schildert die Verhält-
Flüchtlingshelferin Nawal Soufi nisse nüchterner. Aber ja, gegen die vor-
geschriebene Registrierung per Fingerab-
druck sei protestiert worden, weil alle
wussten: Selbst wer es nun noch nach
„Natürlich machen wir etwas Illegales, aber eigentlich Deutschland oder Schweden schafft, darf
nach Italien zurückgeschickt werden.
tun wir nur unsere Pflicht.“ Aber Ahmad, der ahnte, dass Wider-
stand zwecklos ist, und der hoffte, die
Deutschen würden später gnädig sein mit
ihm, wehrte sich nicht an diesem Abend.
Er ließ seine zehn Fingerabdrücke scannen.
Vier Tage später setzte er sich still-
schweigend ab aus dem Lager. Und war
20 Stunden später in Mailand.

D as Tor nach Europa ist breit und am


oberen Ende mit geflügelten Pferden
bestückt – durch das gewaltige Portal des
Hauptbahnhofs betreten und verlassen die
Migranten Mailand, jene Stadt, die zum
italienischen Dreh- und Angelpunkt im
Schleusergeschäft geworden ist.
Am Hauptbahnhof, wo Ahmad erste
Kontakte knüpft, verteilen auf Marmor-
bänken Helfer bis Mitternacht Wasser, Brot
und gute Worte. Wer nicht gleich den erst-
besten Zug nach München besteigt, findet
im Erdgeschoss Arabisch sprechende Mit-
telsmänner. Und an der Wand eine Euro-
pakarte, über die so viele Finger fuhren,
dass mittendrin nun zwei große Löcher
klaffen: auf Höhe Mailands, und in der Mit-
Obdachloser Flüchtling in Catania te Deutschlands. Flüchtling ist hier nicht
DER SPIEGEL 48 / 2014 95
Neuankömmlinge im Mailänder Hauptbahnhof: Für 4000 Euro pro Person im Kleintransporter nach München

gleich Flüchtling. Bettelarme Eritreer, die oder von eingeschleusten Agenten in den der grundsätzlichen Notwendigkeit ab,
schon auf der Meerespassage ins Unterdeck Auffanglagern rekrutiert. Wer acht Perso- eine neue europäische Einwanderungsge-
mussten, wo die Überlebenschance im nen im Kleintransporter von Mailand nach setzgebung zu schaffen. „Je mehr Europa
Ernstfall am geringsten ist, sitzen nun in München bringt, berechnet als Entgelt in Mauern, Zäune, Überwachung und Pa-
Mailand gestrandet vor dem Bahnhof und 4000 Euro – zahlbar je zur Hälfte vor der trouillen“ investiere, desto besser gedeihe
trinken Weißwein aus dem Karton; die mit Abfahrt und nach geglückter Ankunft. Ge- das Geschäft der Schleuser.“
Smartphones und modischer Kleidung aus- startet wird gegen 18 Uhr, und am Steuer
gerüsteten Syrer hingegen sind erkennbar
auf dem Sprung. Im Schnitt vier Tage blei-
ben sie in der lombardischen Metropole.
sitzen dabei, wie die Araber spotten, „Ita-
liener aus kontrolliertem Anbau“ – das D en Mann, der ihn außer Landes brin-
gen sollte, hatte der Syrer Ahmad im
heißt: mit ordentlichem EU-Reisepass. Am Mailänder Auffanglager an der Via Aldini
Von über 44 000 Migranten, die seit Jah- frühen Morgen kehren die Busse zurück. kennengelernt – einen ägyptischen Schleu-
resbeginn in Mailand Station machten, ha- „Manchmal aber auch schon nach einer ser. Versprochen hatte der, seine Kund-
ben nur 47 einen Asylantrag in Italien ge- Stunde – wenn sie ihre Kunden, die oft schaft im Wagen bis tief hinein nach Frank-
stellt. Gleichwohl sei die Grenze der Be- keine lateinische Schrift lesen können, in reich zu bringen und dort in einen Zug
lastbarkeit erreicht, sagt der zuständige Como oder Bozen auf die Straße setzen“, nach Deutschland zu setzen.
Stadtrat Pierfrancesco Majorino. Italiens sagt Tytty Cherasien. Sie ist, wie Nawal in Doch am Ende hielt der Ägypter nicht
Regierung müsse mehr Druck auf Deutsch- Catania und Fatima an der französischen Wort. Er setzte Ahmad und die anderen,
land ausüben: „Die Flüchtlinge brauchen Grenze, Teil des Helfernetzwerks – am zusammen mit weiteren Syrern und Suda-
eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung Knotenpunkt Mailand. Das Schicksal von nesen, schon weit vor Nizza aus – und fol-
mit Bewegungsfreiheit in ganz Europa. So, Ahmad, dem Syrer, und seinen Begleitern gerichtig ging die Sache schief. Einheiten
wie es jetzt ist, ernährt das Versagen der verfolgt sie seit deren Ankunft in Italien. der französischen Polizei schickten die
EU-Politik nur die Menschenhändler – ein „Natürlich machen wir streng genom- Gruppe zurück über die Grenze.
kriminelles Netzwerk wird unterstützt.“ men etwas Illegales, wir helfen Flüchtlin- Nun soll, nun muss der zweite Anlauf
Was Majorino meint, ist nachzulesen gen bei der Weiterreise, aber eigentlich gelingen. Ahmad zieht, zurück in Mailand,
beispielsweise unter Aktenzeichen 52228/ tun wir nur das, was unsere Pflicht als Bür- ein frisches Bündel 50-Euro-Scheine aus
13 in einem Haftbefehl der Staatsanwalt- ger ist“, sagt Tytty. Sie selbst hat inzwi- der Hosentasche – die Verwandtschaft in
schaft Mailand, der dem SPIEGEL vorliegt. schen sogar ihr Auto verkauft – um das Syrien hat noch einmal Geld geschickt.
Er stützt sich auf Ergebnisse der Operation Begräbnis für einen Buben zu bezahlen, „Sobald ich in Deutschland bin und die Fa-
„Schakal“ vom vergangenen November, den Schlepper kurzerhand in Sizilien aus milie nachgeholt habe“, sagt der Syrer zum
als Spezialeinheiten der Polizei einen dem Auto warfen; das leukämiekranke Abschied, „melde ich mich.“
Schleuserring zerschlugen. An dessen Spit- Kind verstarb daraufhin kurz vor der ge- Wenig später ist er über italienischen
ze stand, ausgerechnet, ein Syrer. planten, lebensnotwendigen Operation. Mobilfunk schon nicht mehr zu erreichen:
Die Protokolle der Telefonüberwachung Bis heute fehlen die von Politikern wie „Die Nummer, die Sie gewählt haben, gibt
leuchten das Innenleben einer Szene aus, Menschenrechtlern geforderten humanitä- es nicht“, verkündet eine Computerstim-
in der kleinkriminelle Italiener Hilfsdienste ren Korridore, über die Flüchtlinge auf ge- me. Dafür erscheint am 23. Oktober im
FOTO: THOMAS KERN / DER SPIEGEL

leisten für ihre ägyptischen, syrischen, regelte Weise Aufnahme in Europa bean- Facebook-Profil des Mannes aus Damas-
maghrebinischen Auftraggeber. Bevorzug- tragen könnten. Die Medien berichteten kus ein veränderter Eintrag.
te konspirative Treffpunkte in Mailand zwar in „frömmlerischem Ton“ über ein- „Aktueller Wohnort“: Essen, Deutsch-
sind das McDonald’s vor dem Hauptbahn- zelne Schicksale, schreiben die Autoren land.
hof, der Burger King an der Piazza Lima des Buchs „Geständnisse eines Menschen- Wären da nicht die Fingerabdrücke im
und die U-Bahn-Station Molino Dorino. händlers“ in einem offenen Brief an Pre- EU-Datenspeicher, Ahmad hätte sein Ziel
Fluchtwillige werden direkt am Bahnhof mier Matteo Renzi. Doch dies lenke von nun endlich erreicht. I

96 DER SPIEGEL 48 / 2014


Alles nur Taktik
Essay Warum die jüngste Eskalation im Nahost-Konflikt unvermeidlich war
Von Julia Amalia Heyer

D
er alte Mann sitzt zusammengesunken in seinem Stuhl, Bereits in den vergangenen Wochen häuften sich die Anschläge
er trägt eine Brille und weinrote Hosenträger über dem palästinensischer Einzeltäter, zum ersten Mal seit Jahren. Anders
kurzärmeligen Hemd. als während der zweiten Intifada von 2000 bis 2005 handelt es
„Keine Strategie“, sagt er langsam, den Blick gesenkt. Dann sich diesmal nicht um minutiös geplante Bombenanschläge. Die
hebt er den Kopf, spricht direkt in die Kamera: „Nur Taktiken.“ Waffen der neuen Generation von Attentätern, von denen die
Avraham Shalom sagt diesen Satz in Dror Morehs oscarnomi- meisten nicht aus den besetzten Gebieten, sondern aus dem an-
nierter Dokumentation „The Gatekeepers“. Shalom ist einer von nektierten Ostjerusalem stammen, sind Bagger, Autos, Messer.
sechs israelischen Geheimdienstchefs, die für diesen Film öffent- Es sind die Waffen derer, die nichts mehr haben: nichts mehr zu
lich Zeugnis über ihre Arbeit ablegen, zum ersten Mal überhaupt. hoffen und damit nichts mehr zu verlieren.
Sechs Jahre lang, von 1980 bis 1986,  war Shalom Chef des Nach dem Massaker in der Synagoge schwor Premierminister
Schin Bet. Sein Leben ist verflochten mit der Geschichte seines Netanyahu die Bevölkerung auf einen „Kampf um Jerusalem“
Landes: Vor der Staatsgründung kämpfte er im Palmach, einer ein und verkündete, einmal mehr, die Verschärfung der Sicher-
paramilitärischen Organisation, die später in der israelischen Ar- heitsvorkehrungen. Der nationalreligiöse Wirtschaftsminister
mee aufging. Er gehörte zu der Gruppe Agenten, die Adolf Eich- Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei „Jüdisches Heim“, for-
mann 1960 aus Argentinien nach Israel entführte, um ihn in Je- derte einen Militäreinsatz im arabischen Ostteil der Stadt.
rusalem vor Gericht zu stellen. Die sogenannte neue Dimension des Hasses gleicht der alten

FOTO: ABBAS MOMANI / AFP


Keine Strategie, nur Taktiken – damit kritisiert Avraham Sha- auf traurige Weise. Genau wie die Reaktionen darauf. Auch nach
lom die Politik seiner damaligen Regierung unter Premierminister dem Massaker von Hebron im Jahr 1994, als ein Siedler 29 Paläs-
Yitzhak Shamir. Er verdammt ihre Kurzsichtigkeit im Umgang tinenser in einer Moschee erschoss, wurden die Sicherheitsvor-
mit den Palästinensern; ihr Vorgehen im Kampf gegen den Terror kehrungen verschärft. Die Innenstadt von Hebron, der größten
und für die Sicherheit des israelischen Staates.  Stadt im Westjordanland, wurde zur militärischen Sperrzone er-
Sein Satz passt auf das Handlungsmuster der meisten israeli-
schen Regierungen der letzten Jahre, doch auf keine so präzise
wie auf die jetzige von Premierminister Benjamin Netan-
yahu. Auch deshalb ist die Lage in Israel im Augenblick so brand-
gefährlich wie lange nicht mehr. Wer in den vergangenen Jahren Randalierer am 18. November bei Ramallah
die Politik der Regierungen verfolgte, konnte verzweifeln über
die Unausweichlichkeit, mit der sich die gegenwärtige Eskalation
anbahnte.
Natürlich sind auch die palästinensischen Extremisten für die
immer schneller rotierende Spirale aus Gewalt und Gegengewalt
verantwortlich. Doch die Regierung in Jerusalem, so nationalreli-
giös wie keine vor ihr, hat sich von der Vorstellung eines friedlichen
Nebeneinanders endgültig verabschiedet. Der Regierungschef heizt
die hasserfüllte Atmosphäre an, statt die Gemüter zu beruhigen.
Weil es ihm nur darum geht, die bestehenden Macht- und Kräfte-
verhältnisse zu erhalten, taktiert er. Die Folgen dieses Handelns
treten jetzt zutage.
Alle sechs Geheimdienstchefs, die Moreh in seinem Film in-
terviewt, sind derselben Ansicht. Israel begreife nicht, sagt einer,
dass es „jeden Kampf gewinnt, aber den Krieg verliert“. Diese
Männer haben sich jahrzehntelang in der Schaltzentrale des Kon-
flikts befunden, sie sind keine Pazifisten. Und alle sagen sie, dass
Frieden sich nicht mit militärischen Mitteln schaffen lässt und Is-
rael letztlich aus den palästinensischen Gebieten abziehen muss.
Die Zukunft des Landes sei düster, sagt Avraham Shalom, der
Älteste von ihnen, in Morehs Film. Doch es könnte sich bei der
Zukunft, von der er spricht, um die Gegenwart handeln. 
Vergangene Woche stürmten zwei junge Palästinenser aus Ost-
jerusalem – bewaffnet mit Äxten und Messern – in eine Synagoge
im Westteil der Stadt und ermordeten vier ultraorthodoxe Männer
beim Morgengebet sowie einen Polizisten. Die beiden Attentäter
wurden noch am Tatort erschossen. Nie zuvor hatte es einen sol-
chen tödlichen Anschlag in einer Synagoge gegeben. Ist dies der
Beginn einer neuen Dimension religiösen Hasses? Wenn der Kon-
flikt, der sich bisher vor allem um Land drehte, zum Religionskrieg
würde, wäre er kaum noch zu lösen.
98 DER SPIEGEL 48 / 2014
Ausland

klärt, sie gleicht immer noch einer Geisterstadt. Die palästinen- das sein Volk mehr und mehr beherrscht. Er, dessen Mandat
sischen Männer, die im Juni drei jüdische Jugendliche entführt längst abgelaufen ist, steht der sklerotischen Autonomiebehörde
und getötet haben, stammten aus Hebron. vor, an die keiner mehr glaubt und die nur noch dem Selbstzweck
Natürlich gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Versorgung ihrer Mitglieder dient.
Besatzung und Mordtaten. Aber es gibt einen zwischen Besat- Doch die Israelis haben die Ruhe der vergangenen Jahre vor
zung und Hoffnungslosigkeit. Diese Wahrheit wird in der israe- allem Abbas zu verdanken. Er hat die Zusammenarbeit seiner
lischen Öffentlichkeit kaum noch diskutiert. Die Fähigkeit, auch Behörde mit dem Geheimdienst Schin Bet massiv vorangetrieben.
das Leiden der anderen Seite wahrzunehmen, hat sich nach 47 Zum Dank hat ihn Netanyahu gnadenlos demontiert und in im-
Jahren als Besatzungsmacht stark verringert. mer neuen rhetorischen Volten als Urheber der palästinensischen
Seit fast einem halben Jahrhundert leben Millionen Palästi- Feindseligkeiten gebrandmarkt.
nenser unter israelischer Militärherrschaft; ihr Leben wird be-

E
stimmt durch Checkpoints, Personenkontrollen, Hausdurch- rst war Abbas für ihn kein Partner für Friedensverhand-
suchungen. In Ostjerusalem fühlt sich die palästinensische Be- lungen, weil er im Gaza-Streifen, kontrolliert von der isla-
völkerung fremd in der eigenen Stadt; dagegen hat sich die Zahl mistischen Hamas, keine Macht habe. Als Abbas im Früh-
der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten seit dem Osloer sommer versuchte, eine palästinensische Einheitsregierung von
Friedensprozess in den Neunzigerjahren verdreifacht. Fatah und Hamas unter seiner Obhut zu schaffen, schimpfte Ne-
Erst im September zogen 25 Siedlerfamilien unter dem Applaus tanyahu ihn einen Handlanger des Terrors.
des israelischen Establishments in den Ostjerusalemer Stadtteil Dabei ist es Netanyahu selbst, der die Hauptschuld daran trägt,
Silwan. In den Zeitungen erschien eine Anzeige, in der den Sied- dass jeder neue Versuch, über ein friedliches Nebeneinander zu
lern gedankt wurde. Unterzeichnet haben zum Beispiel der Frie- verhandeln, zur Farce verkommt. Sein Lippenbekenntnis zu ei-
densnobelpreisträger Elie Wiesel und der frühere Regierungs- nem souveränen palästinensischen Staat nimmt ihm spätestens
berater Amos Yadlin, mittlerweile Chef eines Thinktanks.  seit der jüngsten Gesprächsrunde niemand mehr ab, in der US-
Nie war die israelische Landnahme raumgreifender als im ver- Außenminister John Kerry neun Monate lang eine Niederlage
gangenen Jahr, nie wurden mehr jüdische Bauvorhaben auf paläs- nach der anderen einstecken musste.
tinensischem Boden verwirklicht. Und fast wöchentlich kündigt die Was genau Kerry dazu verleitete, mit dieser extrem rechten
Jerusalemer Regierung neue an. Sie weiß, dass sie damit eine poli- Regierung den Friedensprozess wiederbeleben zu wollen, bleibt
tische Lösung zunehmend unmöglich macht, und auch ansonsten wohl sein Geheimnis. Noch nie saßen in Regierung und Parlament
erweckt sie den Eindruck, lieber zündeln als verhandeln zu wollen. so viele Siedler und übten so großen Einfluss aus. Ausgerechnet
Selbst Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas wird nun von der langjährige Siedlerführer Uri Ariel wurde von Netanyahu
israelischen Regierungsmitgliedern als „Kriegstreiber“ beschimpft. zum Wohnungsbauminister ernannt.
Abbas trägt sicherlich Mitschuld am Gefühl der Ausweglosigkeit, Hardlinern wie Ariel oder seinem Parteiführer Bennett gilt so-
gar Netanyahu als verweichlichter Linker; sie wollen Israel grund-
legend verändern: Der jüdische Charakter des Staates ist ihnen
wichtiger als seine demokratische Verfasstheit. Vor Kurzem mach-
te Netanyahu den Entwurf eines neuen Grundgesetzes zur Chef-
sache. Darin wird Israel ausschließlich zum „Nationalstaat des
jüdischen Volkes“ erklärt, die 1,6 Millionen palästinensischen
Bürger würden damit ignoriert und das Arabische, bisher neben
dem Hebräischen offizielle Landessprache, zur Sprache „mit spe-
ziellem Status“ deklassiert.
Wenn Jerusalem der Zankapfel des Nahost-Konflikts ist, ist
der Tempelberg mit Felsendom und al-Aksa-Moschee das Kern-
gehäuse. Als ihn der spätere Premier Ariel Sharon im Jahr 2000
Netanyahu bestieg, löste das die zweite Intifada aus. Juden ist der Besuch,
vor allem aber das Beten auf dem Areal verboten – auch von
heizt die den eigenen Rabbinern. Dennoch stieg in den vergangenen Mo-
naten die Zahl der jüdischen Besucher weiter an. Es gibt einen
hasserfüllte regelrechten Pilgertourismus nationalreligiöser Juden, und seither
Atmosphäre kommt es rund um den Tempelberg zu heftigen Ausschreitungen.
Manchmal eskortiert die israelische Polizei schwer bewaffnet die
weiter an, Besucher, statt sie am Eingang abzuweisen. Einer der Pilgerführer,
der extremistische Rabbiner Yehuda Glick, wurde vor wenigen
statt die Wochen von einem Palästinenser angeschossen.
Gemüter zu Dies war das Vorspiel zur explosiven Situation, die das Land
nun beherrscht, und alles deutet darauf hin, dass sie weiter eska-
beruhigen. lieren wird. Auch weil auf israelischer Seite kaum jemand den
Mut hat, die Radikalen zu stoppen und die Logik der Vergeltung
zu durchbrechen. Während des Gaza-Kriegs im Sommer wurden
Teilnehmer an Friedensdemonstrationen von rechten Mobs gejagt
und verprügelt. Selten war die Hoffnung auf eine Einigung so
gering wie heute und der Pessimismus so erdrückend, und das
will etwas heißen.
Als Avraham Shalom, der frühere Schin-Bet-Chef, der vor ei-
nigen Monaten gestorben ist, in Morehs Film darüber nachdenkt,
was über 40 Jahre Besatzung aus seinem Land gemacht haben,
zögert er lange. Er traue sich gar nicht, es auszusprechen. „Wir
sind grausam geworden“, sagt er dann. I

DER SPIEGEL 48 / 2014 99


Warschauer Polityka, ganz Osteuropa wer-
de geadelt, schwärmte die Gazeta Wy-
borcza. Der Populist Janusz Palikot zog
sogar einen Vergleich, den viele seiner
Landsleute beinahe als Blasphemie emp-
finden: den zwischen der Berufung Tusks
und der Wahl Papst Johannes Pauls II.
Als Karol Wojtyla, ein bescheidener
Priester aus Polens Süden, im Herbst 1978
Papst wurde, ermutigte dies die Bevölke-
rung in ihrem Widerstand gegen das kom-
munistische Regime und damit auch gegen
die sowjetische Vorherrschaft.
Im Herbst 2014 fühlt sich Polen wieder
bedroht, es sieht sich als letzte Bastion des
Westens gegen das russische Expansions-
streben. Und genau jetzt tritt wieder ein
Pole ein Amt von Weltbedeutung an: Do-
nald Tusk, ein bescheidener Danziger.
Doch was kann Tusk in dieser Rolle aus-
richten? „Das Amt des EU-Ratspräsiden-
ten gewinnt seine Macht durch das Ge-
schick desjenigen, der es ausübt“, sagt Jan
Krzysztof Bielecki. Er war selbst einmal
polnischer Premier und ist einer der wich-
tigsten Berater Donald Tusks. Es gehe
darum, die widerstreitenden Interessen der
28 europäischen Staats- und Regierungs-
chefs zu moderieren – um im richtigen
Moment den richtigen Kompromissvor-
schlag auf den Tisch im Brüsseler Justus-
Lipsius-Gebäude zu legen.
Diese Rolle passt zu Tusks politischem
Premier Tusk im Warschauer Parlamentsgebäude Stil, gehört er doch zum gleichen Politi-
kertypus wie Angela Merkel: proeuropä-
isch, pragmatisch, konsensorientiert, mit

Radikal
nicht schlecht, aber seine Landsleute fin- einem feinen Gespür für mögliche Mehr-
den: verbesserungswürdig. Für eine Reise heiten und politische Machbarkeit. Seine
fehlte allerdings die Zeit, und so kam ein Biografie hat ihn Skepsis vor den großen

pragmatisch
Englischlehrer in die Regierungsvilla in der Ideologien gelehrt – und genau das macht
Warschauer Parkstraße. Dort stapelten ihn zu einem guten Moderator.
sich die Bücherkartons in den vergangenen Sein Zuhause verlässt Tusk nach all den
Wochen immer höher. Tusk packte und Jahren nicht etwa abgekämpft, sondern
Europäische Union Mit dem Polen mistete seinen Kleiderschrank aus. Für das als Sieger: Er hat sein Land vor den Aus-
neue Amt ließ er eigens seine Anzüge rei- wirkungen der Finanzkrise bewahrt. Die
Donald Tusk wird erstmals ein nigen. Wann genau er in Richtung Brüssel polnische Wirtschaft wuchs auch dann
Osteuropäer EU-Ratspräsident. abreist, halten die Behörden geheim. noch, als der Rest Europas sich in tiefer
Mit Donald Tusk übernimmt erstmals Rezession befand. Tusk hat Polen von ei-
Im Umgang mit russischem Groß- ein Politiker aus dem ehemaligen Ostblock nem Außenseiter zu einem respektierten
machtstreben hat er Erfahrung. ein EU-Spitzenamt. Die Europäische Uni- Partner in der EU gemacht. Unter seinen
on habe die „osteuropäische Perspektive nationalistischen Vorgängern galt War-

D
onald Tusk sucht eine Wohnung. dringend nötig“, hatte Tusk in Brüssel nach schau in Brüssel als Störenfried. Noch vor
Eine hat er bereits besichtigt, im seiner Nominierung gesagt. Er wolle dafür dem EU-Beitritt verlangte es Sonderrege-
Diplomatenviertel von Brüssel. Die sorgen, dass Europa auf die russischen Pro- lungen für die Bauern und ein besonders
Aussichten, dass er etwas Nettes findet, vokationen mit einer Stimme antwortet. hohes Stimmgewicht bei Ratsbeschlüssen.
stehen ganz gut. Die EU hilft ihm mit mo- Auch wegen seiner Herkunft scheint Tusk dagegen trat in Brüssel zurückhal-
natlich 3800 Euro Wohngeld. Tusk für die neue Aufgabe der richtige tend und berechenbar auf. Als die EU vor
In wenigen Wochen wird sich Tusk, 57, Mann zu sein. Und anders als sein Amts- drei Jahren das sogenannte Sixpack ver-
als EU-Ratspräsident um die Eurokrise und vorgänger, der Flame Herman van Rompuy, abschiedete, ein Paket von Stabilitätsmaß-
den Krieg in der Ukraine kümmern. Doch der bei seiner Wahl noch nicht mal ein Jahr nahmen für die Euroländer, gehörte Tusk
im Moment beschäftigen den Mann, der lang Premier in Belgien gewesen war, hat zu den Fürsprechern. Dabei wird in Polen
bis vor Kurzem polnischer Premierminister Tusk fast zwei volle Amtszeiten lang das immer noch mit dem Zloty bezahlt. Tusk
war, noch die kleineren Probleme, die so 39-Millionen-Volk der Polen regiert. wollte unter Beweis stellen, dass sein Land
FOTO: IMAGO / FORUM

ein Wechsel mit sich bringt. Seine Berufung erfüllt viele Polen mit ein verantwortungsvolles EU-Mitglied ist –
Vor seinem Amtsantritt am 1. Dezember Stolz und Genugtuung darüber, endlich und es glückte ihm.
wollte Tusk ursprünglich einen Sprachkurs eine wichtige Rolle in Europa zu spielen. Ein weiterer Grund für seinen außen-
auf Malta absolvieren. Sein Englisch ist „Ein großer Erfolg Polens“, schrieb die politischen Erfolg ist das gute Verhältnis
100 DER SPIEGEL 48 / 2014
Europapolitiker Tusk mit Partnern Hollande, Cameron, Merkel, Renzi in Brüssel: „Unfähig, sauer auf Angela zu sein“

zu den Deutschen. Gleich zu Beginn seiner die dem Regime Ende der Achtzigerjahre sensibel“, sagt sein Berater Bielecki. Doch
Amtszeit hat Tusk die historischen Span- am runden Tisch den Machtübergang ab- Tusk werde sich als Ratspräsident nicht
nungen entschärft. handelte. Dialog lohnt sich – das ist die zum Sprecher einer antirussischen Hard-
Mit Angela Merkel traf er dabei auf sei- Lehre, die Tusk daraus gezogen haben liner-Fraktion aus Osteuropa machen.
ne Geistesverwandte. „Ich bin unfähig, dürfte. Am vorvergangenen Sonntag, im Ost-
sauer auf Angela Merkel zu sein“, sagte Nach der Wende gehörte Tusk zu den seebad Sopot, hatte Donald Tusk einen
Tusk einst im SPIEGEL-Online-Interview. Vordenkern des „Danziger Liberalismus“. seiner selten gewordenen öffentlichen Auf-
Die beiden eint, im Sozialismus aufgewach- Nur der freie Markt könne die marode pol- tritte: Bei den Kommunalwahlen gingen
sen zu sein. Merkel kennt Polen aus ihrer nische Staatswirtschaft retten, glaubten er Tusk, seine Frau Malgorzata und Tochter
Jugend, sie kann sogar „Es gibt keine Eier“ und seine Mitstreiter. Doch auch diese Katarzyna, die bekannteste Modeblogge-
auf Polnisch sagen, und Tusk spricht pas- Ideologie erledigte sich vor den Augen rin Polens, in der Grundschule Nr. 8 an
sabel Deutsch. Beide gehören dem liberal- Tusks: Die Privatisierung führte zu gewal- die Urnen. An diesem Tag verloren Tusks
konservativen Lager an. tigen politischen Zerwürfnissen und zu ei- Liberale deutlich gegen Kaczyńskis Natio-
Ähnlich wie Merkel trifft Tusk Entschei- ner Arbeitslosenquote von zeitweilig fast nalkonservative.
dungen erst, wenn er eine Mehrheit hinter 20 Prozent. Die verkauften Betriebe gerie- Dazu wird der Ex-Premier vor dem
sich weiß – ein Politikstil, der im neuen ten oftmals nicht in die Hände von Unter- Wahllokal aber kaum mehr befragt, er ist
Amt gefragt ist. Janusz Reiter, einst Bot- nehmern, sondern wurden zur Beute kor- jetzt Polens Mann für die Weltpolitik.
schafter in Deutschland, kennt den künf- rupter Apparatschiks. Tusk sagt, er sei froh, dass Putin auf dem
tigen Ratspräsidenten seit Jahrzehnten. Die Profiteure dieser Missstände waren Gipfel in Brisbane erfahren habe, wie sehr
„Merkel und Tusk sind sich ähnlich darin, Tusks innenpolitische Gegenspieler: Die die Welt seine Umtriebe in der Ukraine
dass sie sich nicht von großen Visionen Zwillinge Lech und Jaroslaw Kaczyński missbillige. Die Situation mit Russland
leiten lassen“, sagt er. Das Warschauer hingen einem konservativen Nationalis- habe sich dramatisch verschlechtert. Die
Magazin Polityka nennt Tusk sogar einen mus an, und sie predigten, die Polen müss- Krise werde eines der „Schlüsselthemen“
„radikalen Pragmatiker“. ten gegen die Verwerfungen der Moderne in seiner Brüsseler Amtszeit und auf dem
Warum er nichts von Ideologien hält, zusammenstehen – als Katholiken und ersten EU-Gipfel unter seiner Leitung im
lässt sich aus seiner Biografie heraus er- als Schicksalsgemeinschaft mit einer tra- Dezember sein: „Umso mehr, als wir es
klären. Tusk hat miterlebt, wie sich in sei- gischen, aber heldenhaften Geschichte. mit einer neuen Welle von Invasionen in
nem Land nacheinander Sozialismus, Neo- Doch ihr Buhlen um eine Sonderrolle der Ukraine zu tun haben, mit einem of-
liberalismus und Nationalismus unmöglich Polens in Europa machte das Land zum fenen Krieg.“
gemacht haben. Außenseiter in der EU. Sein wichtigstes Projekt ist der Plan für
Politisch erwachsen wurde er in den 2007 gewann Tusk die Wahl gegen die eine „Energie-Nato“: Die Europäische
Siebzigerjahren. Damals streikten die Ar- Gebrüder Kaczyński. Das Land sehnte sich Union und andere Staaten sollen gemein-
beiter in den Industriezentren des Landes nach Ruhe und war den dramatischen Ton- sam eine Gas-Einkaufsgemeinschaft bilden
gegen die kommunistische Staatsmacht, fall der Zwillinge gründlich leid. Dieses und sich gegenseitig aushelfen. So könne
die in ihren Augen keine „polnische“ war, Harmoniebedürfnis bediente Tusk instinkt- Moskau die Gemeinschaft nicht länger
sondern eine Art sowjetische Fremdherr- sicher. Er bolzte im Wahlkampf in kurzen spalten, indem es einigen Ländern den
schaft. Das Regime schlug hart zurück, Hosen auf Dorfsportplätzen, er gab sich Hahn abdreht.
zum Beispiel 1970 in Tusks Heimatstadt freundlich und defensiv. „Ohne Solidarität gibt es keine Freiheit“,
Danzig. Er war gerade 13 Jahre alt, ein „Politik der Liebe“ tauften Warschauer sagt Tusks Berater Bielecki: „Das haben
Gymnasiast aus einfachen Verhältnissen, Medien seinen Stil. Er ist ihr treu geblie- wir in Polen gelernt.“ Jan Puhl
FOTO: YVES HERMAN / DPA

als die Armee eine Demonstration von ben, selbst im Angesicht von Putins Hege-
Werftarbeitern zusammenschoss, 41 star- monialstreben verkneift er sich polemische Animation: Die Karriere
ben, 1200 wurden verletzt. Attacken. des Donald Tusk
Tusk schloss sich der Studentenorgani- „Natürlich sind wir Osteuropäer auf- spiegel.de/sp482012tusk
sation der Gewerkschaft Solidarność an, grund unserer Vergangenheit besonders oder in der App DER SPIEGEL

102 DER SPIEGEL 48 / 2014


Spielplatz im Stadtviertel
Salahuddin in Aleppo

Die Rutsche neben den Gräbern


Syrien Auf einem der letzten Spielplätze in Aleppo treffen sich jeden Tag die Kinder
des Viertels. Sie spielen Krieg und Revolution, sind für einige Stunden Soldaten oder Rebellen.
Und vergessen nicht die Toten in der Erde unter ihnen. Von Christoph Reuter

M
ajid, was tust du? „Ich gehe Mama den, an deren Rand ein paar Steine das nen richtigen Grabstein oder auch nur
gießen.“ Über das verdorrte Gras Grab markieren sollen. Eine alte Pinie eine Umrandung. Sie sei „wegen des Her-
schleppt Majid einen großen, blau- spendet etwas Schatten, aber noch regt zens“ gestorben, sagt Majid, „mit Mitte
FOTO: JAWAD QURABI / DER SPIEGEL

en Eimer, so voll, dass er ihn kaum tragen sich kein Grün an der Stelle, an der Majids dreißig“, genauer weiß er es nicht. Keiner
kann. Aber warum gießt du deine Mutter? Mutter begraben ist. „Ich muss sie gießen, fragt mehr in Aleppo, warum jemand tot
Der 13-Jährige schaut verständnislos, als dann wächst bestimmt etwas“, erklärt er ist. Aber Majid schleppt noch einen dritten
wäre dies eine dumme Frage, die nur Frem- mit fester Stimme, während er losgeht, den Eimer heran. Als könnte er wiedergutma-
de stellen können. Eimer abermals zu füllen. chen, wofür er keine Schuld trägt, einen
„Na, weil sie hier ist“, sagt er und schüt- Majids Mutter starb im Sommer, aber winzigen Sieg erringen gegen das große
tet das Wasser auf eine Erhebung im Bo- niemand in der Familie hatte Geld für ei- Sterben.
104 DER SPIEGEL 48 / 2014
Ausland

nau. „Mörser“, kommentiert der elfjährige schaft gingen sie nicht. „Das hat Mama
Emad den dumpfen Knall, „Panzer klingen verboten!“, räumt er ein.
anders.“ Irgendwie seien die höher im Ton. Seine Eltern könnten den Spielplatz gut
Die Kinder von Aleppo haben ein feines sehen, ihre Wohnung habe Panoramablick,
Gehör für die Begleitgeräusche des Todes, seitdem sie zerbombt wurde, „die Mauer
und die Kinder auf dem letzten Spielplatz mit den Fenstern ist ja jetzt weg“. Und es
von Salahuddin erst recht. Denn der liegt gehe fair zu beim Spiel: „Mal gewinnen
direkt an der Front. Die nächste Straße die einen, mal die anderen – je nachdem,
liegt bereits im Schussfeld der Scharfschüt- wer den besseren Hinterhalt hat!“ Eine
zen des Regimes, weshalb an der Kreuzung richtige Spielzeug-Kalaschnikow hat nur
neben dem Spielplatz ein Wall aufgeschich- einer in der Gruppe, die anderen behelfen
tet wurde. Die Mauer des Spielplatzes zu sich mit Stöcken, Kordeln und Plastikteilen.
dieser Seite der Stadt kommt einer Linie Tausende Menschen in Aleppo sind zer-
zwischen Leben und Tod gleich. In der fetzt, erschossen, von Trümmern ihrer ein-
Nähe hängt manchmal Leichengeruch in stürzenden Häuser erschlagen worden, da-
der Luft. runter auch viele Kinder. Aber die, die
Es gibt mittlerweile seltsame Regeln des noch leben und deren bisheriges Leben
Überlebens in Syrien. Eine davon lautet, mittlerweile zu einem Drittel, einem Vier-
je näher man an der Front ist, desto siche- tel aus Krieg besteht, sie machen und spie-
rer ist man vor „Fassbomben“, jenen bis len einfach weiter, möblieren selbst noch
zu eine Tonne schweren Stahlbehältern das Inferno mit Selbstverständlichkeit.
voller Sprengstoff und Eisenkugeln. Denn Hier jedenfalls.
diese Bomben werden von Hubschraubern Nur der Platz zum Spielen wird jede
aus mehreren Kilometer Höhe abgeworfen, Woche ein bisschen kleiner. Der einst idyl-
vom Wind mal in diese, mal in jene Rich- lische Park mit den alten Pinien ist eine
tung geweht. Dort, wo nur etwa hundert der letzten Freiflächen der Gegend, und
Meter zwischen dem Feind und den eige- irgendwo musste man ja hin mit den Toten.
nen Truppen liegen, bleiben die Hub- Nun liegen sie hier, und wenn Ahmed und
schrauber weg. Und so nah wie hier, nur die anderen nicht spielen, wässern sie die
einen Häuserblock entfernt von der ande- Gräber, die oft ohne Namensschild, aber
ren Seite, schlagen nicht einmal Panzer- fein sortiert über den Platz verteilt liegen.
granaten ein. Direkt am Eingang: die der Märtyrer, der
Überall sonst im Ostteil der einstigen gefallenen Rebellen oder umgekommenen
Millionenmetropole stürzt der Tod im tau- Bewohner des Viertels. Weiter hinten links,
melnden Fall noch öfter als zuvor vom an der Mauer zur Scharfschützenschneise:
Himmel, haben sich die Abwürfe von Fass- Soldaten des Regimes und „Schabiha“, die
bomben seit Oktober verdoppelt, in ande- Milizionäre, die sich meist aus den Klein-
ren Orten Nordsyriens verdreifacht. Die kriminellen der Stadtviertel rekrutierten.
syrische Armee steht wieder einmal kurz Unter dem Sandhaufen, auf dem die
davor, die Rebellen in Aleppo einzukreisen. Kleinen spielen, liegen die Reste dreier
Auf dem Spielplatz aber ist es auf eigen- Dschihadisten, die sich Anfang Januar in
tümliche Weise normal. Im Angesicht des der Nachbarschaft in die Luft sprengten.
Krieges wird gerutscht, gewippt, geschau- „Vielleicht sind es auch vier, es waren so
kelt, und eines der häufigsten Wörter der viele Teile, man wusste es nicht genau“,
Kinder ist „adi“, normal. Dass sie direkt sagt Emad. „Da haben die von der Revo-
neben der Einschussschneise der Scharf- lution dann Sand draufgeschüttet.“ Die
schützen spielen – „adi“. Dass rundherum Langbärtigen seien sowieso doof gewesen,
die Gräberfelder näher rücken – „adi“. ergänzen die anderen, „die haben uns ge-
Dann geht er zurück zu den anderen Dass viele Väter, Brüder, Cousins ver- hauen und immer in die Moschee scheu-
Kindern, die nebenan im Sand spielen. schwunden sind oder tot – „adi“. Dass sie chen wollen zum Beten. Aber wir wollten
Eine Schaukel, eine Wippe, eine Rutsche, Tote gesehen haben, viele – „adi“. spielen“.
ein kleiner Sandhügel: Das ist der letzte Emad, Majid und ihr Freund Ahmed, 13, Der Hügel und der Sand, der nun durch
Spielplatz des Viertels Salahuddin, tief im spielen nicht mehr im Sand. Das sei doch die Flaschen rinnt und sich so gut zum
Herzen von Aleppo. Jeden Tag kommen für Babys, sagen sie. „Wir Spielen eignet – es gibt sie
sie hierher, mal ein Dutzend, mal 15 Kin- spielen Assad-Armee und Gefechtslinie R EG I M E - nur, weil die Fanatiker
der der Nachbarschaft. Die Kleinen füllen Rebellen“, verkündet Ah- am 5. November T RU P P E N vom „Islamischen Staat“
den Sand auf dem Hügel in abgeschnittene med in heller Tonlage, er sich lieber in die Luft jagen
Plastikflaschen, „Wir kochen!“, kräht die hat den Stimmbruch noch REBELLEN denn fliehen wollten, als
fünfjährige Juju. Die Großen spielen Krieg, vor sich: „Wir kämpfen, die syrischen Rebellen sie
gemeinsam rutschen und hangeln sie sich greifen aus dem Hinterhalt Anfang des Jahres aus der
durchs Schaukelgerüst. an und nehmen Gefange-
A l e p p o Stadt vertrieben. Und weil
In der Nähe sind Schüsse zu hören, mal ne!“ Mal kämen sie hinter man dann nicht wusste,
einzelne, mal Salven. Dann wieder ein dem Schuppen hervor, mal welcher Arm zu welchem
Knall, eine Detonation, ein Scheppern. Ma- im Schutz der Mauer, aber Bein gehörte, folglich kein
jid, Juju und die anderen hören nicht einmal stets blieben sie auf dem Spielplatz in Grab ausgehoben wurde.
hin. Was nicht daran liegt, dass sie die Ge- Gelände des Spielplatzes. Salahuddin 5 km Und weil die bluttriefen-
fahr unterschätzten, sie kennen sie sehr ge- In die Ruinen der Nachbar- den Teile erst in Sand ge-
DER SPIEGEL 48 / 2014 105
Ausland

Kriegskinder Ahmed und Emad, Waise Majid am Grab seiner Mutter: „Ich muss doch das Wasser bringen für Mama“

bettet, anschließend mit noch mehr Sand tot.“ Hassan hört es, wird wütend, hebt gen zu rühren. Auch die Schule, das sei
bedeckt wurden. Bis der kleine Hügel sich kurz die kleine Faust, lässt sie resignierend lange her. Am Anfang, vor unendlich fer-
erhob. wieder sinken: „Ich will einfach nur, dass nen zweieinhalb Jahren, da sei der Unter-
„Aber wir gießen nur die Märtyrer!“ Papa wiederkommt.“ richt noch weitergegangen, trotz der
Das ist ihnen wichtig, Emad wiederholt es Während die Gräberfelder von zwei Sei- Kämpfe, erinnert er sich: „Dann kamen
mehrfach. So wie Majid Eimer um Eimer ten Meter um Meter des Spielplatzes ver- die Raketen, und wir sind umgezogen,
zum Grab seiner Mutter trägt, pflegen sie schlucken, wuchert von der dritten Seite von der einen Schule zur nächsten, in den
die Gräber der Ihren. Als gäbe es ihnen ein üppiger Gemüsegarten heran. Einer Keller.“
Halt inmitten der Auflösung aller Dinge: der Nachbarn hat ihn im Frühjahr angelegt, Aber irgendwann seien immer weniger
„Gieß nicht die falschen Blumen!“ Es ist das wiederum gab Ärger mit der örtlichen Kinder gekommen, ihre Familien geflohen,
nicht ihr Krieg. Aber es sind ihre Väter, Rebellenführung, die den ganzen Platz tot, oder sie hatten einfach zu viel Angst,
Brüder, Cousins, ihre Mütter, die sterben. zum Friedhof deklariert hat. ihr Kind noch aus dem Haus gehen zu las-
Die hier liegen, einen Kieselwurf von je- „Die wollen, dass ich weggehe“, klagt sen. Die Schule vermisse er. Aber viel
nen entfernt, die aufseiten der Mörder Bakri Mahsoum, „aber ich gieße hier doch mehr vermisse er die beiden 16- und 17-
standen. Die kriegen kein Wasser von den schon seit Jahren den Park, pflege den jährigen Schwestern Nur und Riim, die ih-
Kindern. Garten jeden Tag, und die Zucchini, To- nen hier auf dem Spielplatz Lesen, Schrei-
Ahmeds großer Bruder ging Brot su- maten, Okra, Auberginen sind für alle im ben und Englisch beibrachten: „Die waren
chen, als die Bäckerei in der Nachbarschaft Viertel.“ Dass er seinem Garten vor einer nett zu uns!“
keines mehr backen konnte. Das war vor Weile auch noch zwei Gräber einverleibt Nun liegen die beiden Schwestern unter
zwei Jahren. Er kam nie wieder. Ahmeds hat, über deren Stelen sich nun Zucchini- ihnen, im schönsten Grab auf dem Spiel-
Cousin wollte sich die Haare schneiden Pflanzen ranken, macht die Sache nicht platz, unter Marmorplatten, auf denen alle
lassen. Auch er verschwand, ebenso wie leichter. Namen jener Familienmitglieder eingra-
Emads Bruder. Man hätte nach ihnen su- Tod und Garten, Gräber und Zucchini, viert wurden, die eine Bombe im Frühjahr
chen können, es gibt sogar ein Zentrum Sandkastenspiele über Leichenteilen, auf auslöschte. Die Mutter der Schwestern
in Aleppo mit Bildern anonymer Leichen. kleinstem Raum trifft sich hier, was Alep- kommt jeden Tag hierher, manchmal zu-
Ein pensionierter Kriminalpolizist ver- po seit Monaten ausmacht: unfassbarer sammen mit einer Freundin, so auch an
wahrt dort in kleinen Beuteln deren Hab- Wahnsinn und ein dünner Firnis der Nor- diesem Tag. Die beiden unterhalten sich
seligkeiten, notiert Ort und Datum des Auf- malität. darüber, was schlimmer sei: ihre Kinder
findens in einer Kladde. Aber so eine Su- Als eine Katze aufs Dach des zerschos- zu verlieren, so wie sie – oder den Mann,
che kostet Zeit, Energie, Geld, kostbare senen Schuppens nahe der gefährlichen Sei- so wie die Freundin. Sie sind sich nicht ei-
Ressourcen, die die meisten nur fürs Über- te klettert und ein Junge, der hier neu ist, nig, als sie gehen und den Marmor wieder
leben aufwenden. ihr hinterhersteigen will, fällt ein Schuss. den Kindern überlassen. Die sitzen gern
Ob er noch daran glaube, dass sein Bru- Er war ins Sichtfeld der anderen Seite ge- dort in der Nachmittagswärme des nach-
der zurückkomme? Ein Schnalzen, kurzes kommen. Niemand wird getroffen, die Kat- lassenden Herbstes.
Hochschnellen des Kopfes: nein. Emad ze springt herunter, der Gärtner brüllt zwi- Wohin geht ihr, wenn hier nur noch Grä-
schaut still, räuspert sich: „Mein Bruder schen seinen Stauden, sie sollten da nicht ber sind oder ihr fliehen müsst vor Assads
ist weggegangen und nicht zurückgekom- raufklettern, das sei doch gefährlich. Truppen?
men. Das ist die ganze Geschichte.“ Keine Minute später ist es vergessen, „Dann gehen wir woanders spielen!“,
Es ist kein Tabu, darüber zu sprechen. Ahmed erzählt, dass am Vortag ihr rufen sie fast wie im Chor. Nur manchmal
Es ist nur hoffnungslos, nach einer Ant- Freund Samir am Arm getroffen worden müssten sie doch zurückkommen, wirft
wort zu suchen. Majids Vater ist verhaftet sei, als er seinem Vater helfen wollte. Der Majid ein, und die anderen nicken, als
worden und nie zurückgekehrt, auch die wiederum war gerade dabei, einen ange- wäre ihnen schlagartig eingefallen, was sie
Väter zweier anderer Kinder wurden an schossenen Nachbarn aus dem Schussfeld für kurze Zeit vergessen hatten: „Ich muss
FOTOS: JAWAD QURABI / DER SPIEGEL

Kontrollposten einfach so verschleppt. zu ziehen. Früher, so sagen sie, da seien doch das Wasser bringen für Mama“, sagt
Nur der fünfjährige Hassan mag nicht sie mit ihren Familien am Freitag unter- Majid.
sagen, warum sie seinen Vater mitgenom- wegs gewesen, aufs Land zu den Großel-
men haben oder dass er überhaupt fort ist. tern gefahren oder auch einfach nur ein Video:
Er schweigt, bei der zweiten Nachfrage ist Eis essen gegangen. „Ja, das war schön“, Spielen an der Front
er den Tränen nahe. Ein anderer Junge Majid spricht leise, flüstert fast, als wäre spiegel.de/sp482014aleppo
sagt leise: „Aber der ist doch längst schon es irgendwie riskant, an all die Erinnerun- oder in der App DER SPIEGEL

106 DER SPIEGEL 48 / 2014


Ausland

PITTSBURGH Besonders beliebt ist an diesem minusgradkalten Tag in Pitts-


burgh „Maftoul“, Hühnchen mit Couscous, aber auch Falafel,
Schawarma und Baklava werden gut verkauft. Die palästinen-
sische Küche liege ihm, sagt Küchenchef Sayre, der aus Pitts-
burgh stammt. Die Nordkorea-Wochen seien dagegen eine
Herausforderung gewesen. Irgendwie gelang es ihm sogar, ein

Die Weltküche Kochbuch aufzutreiben, das von der Kommunistischen Partei


aufgelegt worden war. Auf den Fotos wimmelte es jedoch von
Fleischgerichten, was ein eher unrealistisches Bild der real exis-
Global Village Ein Imbiss verkauft tierenden Nahrungssituation in Nordkoreas Diktatur zeichnete.
Auf der Speisekarte der „Conflict Kitchen“ fand sich vor allem
ausschließlich Gerichte aus Ländern, mit Vegetarisches wieder.
denen die USA im Konflikt stehen. Für die Gerichte aus Palästina hingegen konnten Dawn We-
leski, Jon Rubin und Robert Sayre viele Zutaten vor Ort er-
werben. Bevor sie ihren Imbiss einem neuen Land widmen,

I
n Pittsburgh werden auch an diesem Tag wieder unzählige bereisen sie es. In den Palästinensergebieten etwa kochten sie
Hühner im Dienste der Völkerverständigung, wenn nicht mit Einheimischen an acht Tagen 15 verschiedene Gerichte.
gar des Weltfriedens gerupft. Gegen zwölf liegen bereits Sie begleiteten sie auf den Markt und kochten in ihren Häusern.
Dutzende weiße Schenkel vor Robert Sayre, dem Chefkoch. Währenddessen stellten sie Fragen über den Alltag: wie sie
Neben ihm dampft es aus silbernen Töpfen. leben, lieben, arbeiten. Die Antworten sind in einem Flyer
Sayre kocht in der „Conflict Kitchen“, einem Imbiss, der festgehalten, der jetzt auf dem Tresen des Imbisses liegt.
ausschließlich Gerichte aus Ländern anbietet, mit denen sich „In den Interviews haben wir uns auf die einfachsten Fragen
die US-Regierung im Konflikt befindet – egal ob militärisch konzentriert“, sagt Weleski. „Etwa: Wo haben Sie Ihren Partner
oder nur diplomatisch. Alle paar Wochen
kommt ein anderer Konfliktherd an die
Reihe. Nach Afghanistan, Nordkorea,
Kuba, Iran und Venezuela steht gerade Pa-
lästina auf dem Speiseplan. Aus Lautspre-
chern dudelt Musik aus dem Westjordan-
land, die Fassade des Imbisses ist in den
Farben der palästinensischen Flagge ge-
schmückt.
Die Konflikt-Küche ist eine Erfindung
des Kunstdozenten Jon Rubin und seiner
früheren Studentin Dawn Weleski, eine
öffentliche Kunstaktion, die sich als Res-
taurant tarnt. „Wir glauben zwar nicht,
dass wir den eigentlichen politischen Kon-
flikt lösen können“, sagt Weleski. „Aber
wir wollen Verständnis für die Menschen
in diesen Ländern und für ihre Kultur we-
cken. Wir wollen die Ignoranz unserer
Landsleute überwinden.“
Die Idee ist ebenso hübsch wie subver-
siv. Man ködert die Amerikaner mit etwas,
was sie nachgewiesenermaßen gern tun: Koch Sayre: „Wir wollen die Ignoranz unserer Landsleute überwinden“
essen. Und um ihnen etwas unterzujubeln,
was sie bislang nicht ganz so gut beherrschten: Wissen über kennengelernt? Wir wollten niemanden überfordern.“ An die-
andere Länder und Kulturen. „Wir wollen die Leute verführen“, sem Mittag lassen einige Kunden tatsächlich für ein paar
sagt Weleski. „Die Gerichte sind unser Lockmittel.“ Essen Minuten ihr iPhone in der Tasche und beschäftigen sich mit
funktioniere nicht über den Kopf, es spreche direkt die Sinne dem Alltag in den Palästinensergebieten.
an. Das sei in diesem Fall von Vorteil.  Als nächstes Land würde Weleski nun gern ein afrikanisches
Die Palästina-Wochen aber bereiten den Betreibern bislang nehmen. „Viele Amerikaner wissen gar nicht, dass Afrika aus
unbekannte Probleme. Von den bisherigen Ländern wie Kuba vielen Staaten besteht“, sagt sie. „Die glauben, das sei alles
oder Afghanistan hätten die meisten Kunden immerhin mal eins – ein Land mit ein und derselben Kultur.“
gehört, sagt Weleski. Von Palästina hingegen nicht. „Klar, Pa- Solange die USA in weiten Teilen der Welt verhasst sind,
kistan, kenn ich doch“, hätten etliche Kunden versichert. kann Robert Sayre immer weiterkochen. Das ist eine ziemlich
Zudem haben sich die Betreiber mit ihrer jüngsten Aktion solide Geschäftsgrundlage. Als Faustregel gilt: Je unbeliebter
den verfahrensten Konflikt der Welt ins 9600 Kilometer ent- die USA draußen in der Welt sind, desto mehr Länder und
fernte Pittsburgh geholt. Jüdische Gruppen werfen ihnen vor, Gerichte stehen ihm zur Auswahl. George W. Bush hat für
FOTO: SCOTT GOLDSMITH / DER SPIEGEL

mit der Wahl Palästinas einseitig Stellung bezogen zu haben. Koch Sayre viele Möglichkeiten geschaffen. Und Barack Obama
Selbst B’nai B’rith äußerte sich, eine der größten jüdischen hat sie trotz großer Ankündigungen nicht wirklich reduziert.
Organisationen weltweit: Hier würden antiisraelische Gefüh- Gewiss werden früher oder später auch Russland und China
le angesprochen. Vor zwei Wochen musste der Imbiss so- an die Reihe kommen. Und je nachdem, wie sich die NSA
gar vorübergehend wegen einer anonymen Morddrohung künftig benimmt, ist selbst Deutschland nicht ausgeschlossen.
schließen. Vieles ist möglich. Markus Feldenkirchen

110 DER SPIEGEL 48 / 2014


Sport

Hooligans in Russland

Fußball SPIEGEL: Sie begleiteten die Hooligans zwei Jahre lang mit

„Feinde für den Moment“ der Kamera und fotografierten auch die Prügeleien zwischen
den Gruppen. Wie läuft so ein Kampf ab?
Der Fotograf Pawel Wolkow, 27, über seine Erfahrungen mit Wolkow: Es wird meistens nach den Spielen gekämpft, in In-
russischen Hooligans dustriegebieten oder im Wald. Es gibt feste Regeln: keine
Waffen, Wegrennen ist verboten. Wer verletzt wird, darf spä-
SPIEGEL: Wie viele Hooligan-Gruppen gibt es in Russland? ter nicht zur Polizei, um eine Anzeige aufzugeben. Die
Wolkow: In jeder größeren Stadt findet man Gangs. In Kämpfe dauern zwischen 30 Sekunden und vier Minuten. Es
St. Petersburg sind es rund 15 Gruppen, in Moskau wird so lange zugeschlagen, bis alle Gegner am Boden liegen.
fast 50. Ich schätze, dass sich in den russischen Fußball- SPIEGEL: Und danach gehen alle zufrieden nach Hause?
stadien zehn Prozent der Zuschauer als Hooligans Wolkow: Die Gangs sind Feinde für den Moment des Kampfes.
definieren. Nach den Schlägereien hilft man sich gegenseitig auf die Bei-
SPIEGEL: Was sind das für Leute? ne. Einmal gingen die Gruppenführer zusammen in eine Bar.
Wolkow: Die Mitglieder der Gangs sind zwischen 17 und SPIEGEL: 2018 wird in Russland die Fußball-Weltmeisterschaft
30 Jahre alt, es sind Rechtsradikale darunter, Geschäftsleute, ausgetragen. Ist das in der Szene ein Thema?
Architekten, Designer und Fabrikarbeiter. Die einen haben Wolkow: Natürlich, die Hooligans denken bereits über Kämpfe
studiert, andere haben die Schule abgebrochen. Es gibt nur gegen Gangs aus dem Ausland nach. Sie diskutieren, wie sie
eines, was sie alle verbindet: die Unterstützung für ein Fuß- die Polizei austricksen können. Die Kämpfe sind illegal, und
ballteam. die Zahl der Sicherheitskräfte wird bei der WM enorm sein. le

Fifa-Sponsoren die für das Unternehmen an schlechten Image der Fifa Jahre überwies. Widerstand
Platzt ein Deal mit den Gesprächen mit der Fifa (SPIEGEL 45/2014). Grund kommt vor allem vonseiten
Qatar Airways? beteiligt waren. Qatar Air-
ways könnte den Platz ein-
für das massiv abflauende In-
teresse von Qatar Airways
des Präsidenten Joseph Blat-
ter, der sich immer deutli-
Bei der Fluggesellschaft Qa- nehmen, den die Fluggesell- ist auch ein Richtungsstreit cher als Gegner der Fußball-
tar Airways schwindet die schaft Emirates, seit 2007 ei- innerhalb der Fifa-Spitze. WM 2022 in Katar erweist.
Bereitschaft, als einer der ner der Fifa-Hauptsponsoren, Generalsekretär Jérôme Blatter lehnt Qatar Airways
sechs Hauptsponsoren der frei macht. Emirates wird Valcke gilt als Befürworter als einen der Hauptsponso-
Fußball-Weltmeisterschaften seine Ende dieses Jahres aus- des Deals, nach seinem Kal- ren kategorisch ab. Bei der
2018 in Russland und 2022 in laufende Sponsorship nicht kül soll Qatar Airways sogar Fifa hieß es auf Nachfrage,
Katar einzusteigen. So ist es verlängern, die Fluggesell- bereit sein, mehr als die man kommentiere laufende
aus Kreisen katarischer Ver- schaft aus Dubai begründete 200 Millionen Dollar zu zah- Verhandlungen mit poten-
handlungsführer zu hören, ihren Rückzug auch mit dem len, die Emirates für acht ziellen Sponsoren nicht. wul

DER SPIEGEL 48 / 2014 111


Durch die Wand
Boxen Alexander Mengis träumte davon, als Profi reich und berühmt zu werden.
Bei seinem fünften Kampf, im Mai 2013, ging er in Berlin schwer k.o. Heute
ist er ein Pflegefall. Eine Reise in die Abgründe des Boxens. Von Maik Großekathöfer

Boxer Mengis um 2005: Er liebte seinen Körper und war unerbittlich mit sich selbst

112 DER SPIEGEL 48 / 2014


Sport

I
m Sport gibt es wohl keine schmutzige- nach oben möchte, der davon träumt, dass keine finanziellen Interessen.“ Es ist ihm
re Art, Geld zu verdienen, als Boxen, man ihn bewundert. wichtig, darauf hinzuweisen.
denn Boxen ist ein skrupelloses und ge- Mengis brach sein Ingenieurstudium ab, In seinem ersten Profikampf, am 14. Juli
fährliches Geschäft. Diese Geschichte er- und er stritt sich oft mit seinen Eltern, die 2012, besiegte Mengis einen Italiener, im
zählt vom schwersten Unfall eines Profi- aus Eritrea stammen und Wert darauf le- zweiten einen Armenier, aber es war eng.
boxers in Deutschland seit 1968. Damals gen, dass es ihre Kinder später besser ha- Mengis hätte es ruhig angehen lassen, hätte
fiel Jupp Elze in Köln nach einem Knock- ben würden als sie. Er jobbte im Club M1 aus der Deckung kommen sollen, stattdes-
out in der 15. Runde ins Koma, acht Tage an der Bar, trainierte dreimal am Tag, sen kämpfte er offen und kassierte in den
später war er tot. manchmal auch nachts. ersten beiden Runden einen Konterschlag
Alexander Mengis lebt, aber er wird sein Wenn er morgens um sechs wieder auf- nach dem anderen.
Leben, so wie er es kannte, nie zurück- stand, schlug er fünf, sechs Eier in ein Glas Mengis wollte mit dem Kopf durch die
bekommen. Um seinen Fall zu rekonstruie- und trank sie. Wie Rocky Balboa im Film. Wand, sagt Robert Rolle. „Er war schreck-
ren, kann man mit Leuten sprechen, die Dann lief er zwei Stunden durch den Wald, lich ungeduldig. Alex hat immer Druck ge-
ihn kennen, und mit solchen, die bei dem im grauen Kapuzenpullover. macht. Er wollte von Anfang an gegen rich-
Kampf dabei waren, der für ihn alles ver- Weil Mengis ihn drängte, organisierte tig gute Leute boxen. Ich musste ihn brem-
ändert hat: mit seinem Trainer, dem Geg- Paladino einen Termin bei einem Box- sen. Ich habe oft gesagt: Bleib mal locker.“
ner, dem Ringarzt. Es ist eine Spurensuche, manager aus Koblenz; eine Talentsichtung, Boxen ist Politik, man bildet eine Allianz,
bei der nur Verlierer vorkommen. die Chance auf eine Profilizenz. Mengis um zum richtigen Zeitpunkt auf den richti-
Vincenzo Paladino sitzt im Stuttgarter kämpfte, überzeugte aber nicht. Der Ma- gen Gegner zu treffen. Am 18. November
Heusteigviertel am Küchentisch, breites nager sagte: Geh wieder zur Uni, Junge. 2012, ein halbes Jahr vor dem Unfall, kämpf-
Kreuz, gepflegter Vollbart. Er ist Immobi- Mengis fuhr wütend nach Hause, und Pa- te Mengis um die Internationale Deutsche
lienmakler, abends trainiert er Boxer, und ladino versuchte, ihn zur Vernunft zu brin- Meisterschaft der GBA, der German Boxing
Mengis war einer seiner Schüler: Paladino gen, er sagte: Du wirst in Deutschland kein Association. Der Titel war gerade frei.
trug Pratzen, Mengis schlug hinein. Eine Geld mit Boxen verdienen. Sätze waren Mengis musste sich wenig Sorgen ma-
Zeit lang haben sie im selben Haus ge- das, die Mengis nicht hören wollte. Er woll- chen, er schlug Mazen Girke, einen Jour-
wohnt. Paladino sagt: „Eine Tragödie. Ich te Rocky werden, sonst nichts. neyman: Das ist ein Boxer, der von Kampf
meine, das, was Alexander passiert ist.“ Und dann war er plötzlich fort aus Stutt- zu Kampf reist, um sich für kleines Geld
Viel ist es nicht, was er anderthalb Jahre gart. Ohne irgendwem etwas zu sagen. Pa- verprügeln zu lassen. Girke hatte die letz-
nach dem Kampf über das Schicksal seines ladino hatte keine Ahnung, wohin Mengis ten 20 Kämpfe verloren.
ehemaligen Weggefährten weiß: Nieder- verschwunden war. Als Mengis sechs Monate später seinen
schlag, Notoperation, Koma. So knapp Am 18. November 2011 erhielt Robert Titel gegen Stefan Worth verteidigen sollte,
stand es auch in den Zeitungen. Paladino Rolle in Berlin eine E-Mail: „Ich heiße Ale- in seinem fünften Kampf als Profi, sagte
hat ein Blog ins Netz gestellt, weil er an xander Mengis, lebe in Neukölln und bin Mengis: Die Steffi hat keine Chance.
Alexander Mengis erinnern will. Und weil momentan auf Trainersuche. Würde mich Stefan Worth kämpfte als Amateur in
er sich Hinweise erhofft. Wie geht es ihm? gern bei Ihnen vorstellen.“ der zweiten Bundesliga, vor fünf Jahren
Wo steckt er? Robert Rolle sagt: „So hat alles angefan- debütierte er als Profi, 15 Siege, ein Unent-
Anscheinend wird Mengis im Raum gen.“ Er sitzt im Wohnzimmer seiner Mut- schieden, zwei Niederlagen. Er boxte schon
Stuttgart betreut, genauer lässt sich das
nicht sagen. Ein Moritz hat auf der Seite Wenn er morgens um sechs aufstand, schlug er fünf, sechs
einen Kommentar hinterlassen, ein Mike.
„Ich hoffe, dass er sich wieder, so gut es
Eier in ein Glas und trank sie. Wie Rocky Balboa im Film.
eben geht, erholt!!!“ ter Eva, die Deutschlands erste Boxpro- im Vorprogramm von Vitali Klitschko. Kein
„Ich stöber regelmäßig im Web in der moterin war. Weiße Lederstühle mit gol- Journeyman, kein Fallobst.
Hoffnung etwas neues/gutes zu lesen.“ denen Beinen, Kunstrosen, Porzellanfigu- Ein Boxer muss sich starkreden, Angst
Paladino ist einer von vier Freunden, ren. Rolle war Profiboxer, jetzt ist er Trai- würde ihn lähmen. Es ist die Aufgabe des
die sich zuweilen treffen und überlegen, ner und Manager. Er trägt Jogginghose und Trainers, ihn zu schützen. Rolle richtet sich
was sie tun können, um an Neuigkeiten T-Shirt und erinnert sich. „Das erste Spar- im Sessel auf, er sagt: „Meine Devise hieß:
zu gelangen. Sie haben versucht, die Eltern ring war nicht besonders gut, aber Alex Safety first! Aber dann hat Alex ständig
und die Schwestern von Mengis zu errei- hat sich in kurzer Zeit enorm verbessert.“ die Scheißhände runtergenommen.“
chen, aber über Facebook meldete sich Mengis liebte seinen Körper und war un- Am 23. Mai 2013 boxte Alexander Men-
niemand zurück, und wenn sie anrufen, erbittlich mit sich selbst. Auf dem Laufband gis gegen Stefan Worth, die GBA verlangte
wird sofort aufgelegt. Die Adresse haben lief er 18 Stundenkilometer schnell. „Alex für den Kampf eine Gebühr von 350 Euro.
sie nicht, weil die Familie umgezogen ist. kannte keine halben Sachen“, sagt Rolle. Mengis und Worth kämpften im Hotel
Manchmal verrutschen ihnen aus Ver- Die beiden freundeten sich an, Rolle be- Moa, Stephanstraße, in Berlin-Moabit. Der
zweiflung die Maßstäbe. Eine ehemalige sorgte ihm einen Job als Fahrer, sie gingen Kampf sollte der Höhepunkt eines Dinner-
Nachbarin spielt mit dem Gedanken, sich zusammen essen, guckten sich stunden- Boxens sein; 360 geladene Gäste, die sich
in ein Reha-Zentrum zu schleichen, in dem lang Boxkämpfe auf Film an, und Mengis zwischendurch am Buffet bedienten. Bis
sie Mengis vermutet. schob den Kinderwagen mit Rolles Sohn zum Charité Campus Virchow-Klinikum
Paladino sitzt am Küchentisch und fragt: durch den Zoo. „Er liebte den Kleinen. Ich sind es tausend Meter.
„Wie konnte es nur so weit kommen?“ musste Alex förmlich von der Karre weg- Der Ring stand in der Lobby des Hotels,
Alexander Mengis, geboren am 16. Juli treten“, sagt Rolle. „Alex hatte immer gute er hatte einen weißen Boden und weiße
1981, boxte als Amateur für den SV Böb- Laune. Er ist respektvoll.“ Seile. Mengis lief zu dem Lied „Spirit Horse
lingen, als Paladino ihn kennenlernte. Sein Er hatte, er ist: Wenn Rolle erzählt, fällt of the Cherokee“ ein. Robert Rolle sagt:
Startausweis verzeichnet 18 Kämpfe, da- er von der Vergangenheit ins Präsenz und „Angst und Zweifel waren Alex völlig un-
von 11 Siege, ein Unentschieden, 6 Nie- wieder zurück. bekannt, für ihn war dieser Song passend.“
derlagen. Keine eindrucksvolle Bilanz für Rolle arrangierte Kämpfe für Mengis, er An der Treppe zum Ring saß der Ring-
einen Boxer, der Profi werden will, der wurde sein Matchmaker. „Ich hatte aber arzt Ulfhard Manthei, Bürstenschnitt und
DER SPIEGEL 48 / 2014 113
reit, das schreibt der Geschäftsführer in ei-
ner E-Mail. Der Wagen stand vor dem Ho-
tel und war ausgestattet nach DIN 1789.
„Mit so einem Wagen lasse ich Oma ins
Krankenhaus bringen, wenn sie sich das
Bein gebrochen hat“, sagt Walter Wagner,
Chefarzt am Klinikum Bayreuth. Der Un-
fallchirurg ist Verbandsarzt des Bundes
Deutscher Berufsboxer, an neun Abenden
stand er dieses Jahr am Ring.
Wagner hat sich die Videos angesehen,
und er sagt: „Man hätte bei Mengis einen
Schmerzreiz setzen sollen. Man hätte ihm
die Brustwarzen umdrehen können.“ Wer
darauf nicht reagiert, ist tief bewusstlos.
Mengis-K.-o. am 23. Mai 2013 in Berlin: Rechte Gerade, linker Kopfhaken Wagner meint, so wie Mengis auf dem Bo-
den gelegen habe, hätte der Ringarzt eine
randlose Brille. Manthei ist ein Allgemein- liegt ja immer noch da. Es war das letzte Narkose einleiten, intubieren und Mengis
mediziner mit Praxis in Berlin-Schöneberg. Mal, dass er ihn sah. künstlich beatmen müssen. Wenn das Ge-
Und zwischen den Boxern stand Mickey Als Mengis in stabiler Seitenlage im hirn nicht genügend Sauerstoff bekommt,
Vann, der Ringrichter; schwarze Hose, wei- Ring lag, versuchte Ringarzt Ulfhard Man- nimmt es nach drei Minuten Schaden.
ßes Hemd, schwarze Fliege. Der Kampf thei, ihm den Zahnschutz aus dem Mund „Intubieren kann aber nicht jeder“, sagt
war angesetzt auf zehn Runden. zu nehmen. Er zerrte daran wie an einem Wagner. Dafür benötige man im Notfall Er-
Beide, Mengis und Worth, boxten in Knochen, den ein Hund im Maul hält. Men- fahrung in der Anästhesie oder Chirurgie.
Linksauslage, den linken Fuß und die linke gis atmete schwer. „Ruhig“, sagte Manthei. Ulfhard Manthei war der falsche Ring-
Hand hatten sie vorn. In der zweiten Run- Er gab ihm einige Klapse auf die Wange. arzt zur falschen Zeit am falschen Ort; vor-
de ließ Mengis zum ersten Mal die Schlag- „Guck mich an! Mach die Augen auf!“, rief werfen kann man ihm das nicht.
hand fallen, die Rechte. Der Kopf war nun er. Keine Reaktion. Die Mediziner in der Bei der Siegerehrung, keine fünf Minu-
auf der rechten Seite ungeschützt, und aus Klinik werden später einen generalisierten ten nach dem Niederschlag, hielt sich Ste-
der Ecke rief Rolle: „Hände oben lassen!“ tonisch-klonischen Anfall diagnostizieren. fan Worth einen Finger vor den Mund, nie-
Zu sehen und zu hören ist das auf zwei Einen schweren epileptischen Anfall. mand sollte ihm applaudieren. Der Ring-
Videos, die zufällig aufgenommen wurden. Zwei Minuten nach dem Knock-out ka- sprecher sagte: „Das Urteil lautet: K. o.“
Das Fernsehen überträgt solche Kämpfe men zwei Sanitäter an den Ring und legten Etwa 20 Minuten nach dem Knock-out
nicht, dies war der Bodensatz des Boxens. Mengis auf eine Trage. „Ab nach hinten“, traf der Notarzt ein und kümmerte sich
In Runde fünf rief Rolle: „Alex, Hände sagte Manthei, „und einen NAW.“ Einen um Mengis. Noch einmal 20 Minuten spä-
oben lassen! Lass die Hände hoch!“ Worths Notarztwagen. Jemand wählte die 112. ter war er auf dem Weg ins Krankenhaus.
Trainer schrie: „Noch eine Rechte rein – In den Regeln der GBA steht nichts von Robert Rolle brachte zuerst seine Kinder
ja!“ 15 Sekunden vor dem Gong: Ein rech- einem Notarzt, der während eines Kamp- nach Hause. Er ging zu dem Zeitpunkt
ter Haken, Mengis ging zu Boden, stand fes anwesend sein muss. Auch kein Wort noch davon aus, dass ihn Mengis anlächeln
aber schnell wieder auf. Der Ringrichter von einem Rettungswagen, der nötig ist, würde, wenn er später in die Klinik käme.
zählte ihn an, eins … zwei … drei … bis um einen Menschen zu versorgen, der in Mengis lächelte ihn nicht an. Er lag auf
acht, dann gab er den Kampf frei. einem kritischen Zustand ist. Andere Ver- der Intensivstation.
In der siebten Runde bewegte sich Men- bände sind in der Beziehung strenger. Bei Treffern am Kopf wird der Schädel
gis nicht mehr flüssig, er schlug Luftlöcher. Oder vernünftiger, ganz wie man will. zurückgeschleudert, und weil sich zwi-
„Der wackelt!“, rief Worths Trainer. Den Kampf zwischen Mengis und Worth schen Schädeldecke und Gehirn noch Flüs-
Runde acht. Robert Rolle schrie: „Hände sicherte die Krankentransport Hinz GmbH sigkeit befindet, schlägt das Gehirn mit
hoch, Alex!“ Mengis hielt die Hände oft ab. Sie stellte an dem Abend nur einen leichter Verzögerung gegen den Knochen.
nur noch auf Brusthöhe. Worth erwischte „konzessionierten Krankenkraftwagen“ be- Es kann passieren, dass Blutgefäße reißen.
ihn mit einer Rechten am Kopf, und einen Die Ärzte im Virchow-Klinikum stellten FOTOS: JAN PHILIP WELCHERING/DER SPIEGEL (L.); KLAUS FREVERT/BOXFOTOGRAF.DE (O.)
Augenblick später, nach zwei Minuten in bei Mengis ein Hämatom auf der linken
dieser Runde, traf er ihn mit einer Kombi- Schädelseite fest: Der Bluterguss drückte
nation: rechte Gerade, linker Kopfhaken. Teile des Gehirns um einen Zentimeter
Alexander Mengis fiel um wie ein Baum, nach rechts. So steht es in der Krankenakte.
er prallte mit dem Hinterkopf auf den Das MRT legte auch den Verdacht auf eine
Boden, rutschte unter die Seile und blieb hypoxische Enzephalopathie nahe, einen
regungslos liegen. Sofort brachte Mickey Hirnschaden durch Sauerstoffmangel.
Vann ihn in die stabile Seitenlage. Dann Am übernächsten Morgen öffnete ein
beugte sich der Ringarzt über Mengis. Chirurg den Schädel, er schuf Platz für die
Nach dem Knock-out schrie Worth vor Schwellung und entfernte das Hämatom.
Freude und kletterte auf die Ringseile, um Damit das Gehirn Ruhe finden konnte, ver-
sich feiern zu lassen. Er stieg wieder herun- setzte man Mengis ins künstliche Koma.
ter, umarmte seinen Trainer, und erst dann Rolle besorgte sich die Telefonnummer
registrierte er, dass Mengis noch auf dem der Familie Mengis, zu der Alexander den
Boden lag. Worth wischte sich mit einem Kontakt abgebrochen hatte. Rolle rief an,
Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht, die Eltern und die beiden Schwestern ka-
küsste seine Freundin, guckte noch ein- Trainer Rolle, Mutter Eva men nach Berlin, wo sie ins Hotel Moa zo-
mal zu Mengis. Und dachte: Krass, der „Ich musste ihn bremsen“ gen, ausgerechnet. Rolle besuchte Mengis
114 DER SPIEGEL 48 / 2014
jeden Tag im Krankenhaus, er brachte
Fotos von seinen Kindern mit, redete mit
ihm, hielt seine Hand.
Mengis lag im Krankenbett, angeschlos-
sen an Maschinen, er wurde künstlich er-
nährt. „Alexander bewegte sich gar nicht“,
sagt Rolle, dann bricht ihm die Stimme weg.
Er schickt seine Mutter aus dem Wohnzim-
mer, in seinen Augen stehen Tränen.
„Die Familie war glücklich, wenn Alex
gezuckt hat“, sagt er. „Aber das ist wie
bei der ,Mona Lisa‘: Wenn man sich die
lange genug anschaut, denkt man auch, sie
bewege sich. Da war nichts.“
Die Ärzte schrieben am 7. Juni 2013:
„Patient mit apallischem Syndrom“. Wach-
koma. Rolle machte sich Gedanken, was
er auf der Beerdigung sagen würde, und
ging zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder
in die Kirche. Rolle sagt, die Angehörigen
hätten ihm dann von einem Tag auf den
anderen verboten, Mengis zu sehen. Er
wisse bis heute nicht, warum. Er vermutet,
dass sie ihm in ihrer Ohnmacht die Schuld
an allem geben. Rolle sagt, niemand habe
mit ihm sprechen wollen, er habe keine
Informationen mehr bekommen, bei den
Arztgesprächen sei er unerwünscht gewe-
sen, man habe ihn noch nicht mal gegrüßt.
„Ich weiß nicht, wann Alex die Klinik
verlassen hat. Ich weiß nicht, wo man ihn
hingebracht hat. Ich weiß nicht mal, ob er
überhaupt noch lebt.“ Er versinkt im Ses-
sel, ein Haufen Elend in Jogginghose. Rolle
sagt, er habe noch ein paarmal versucht,
Kontakt zur Familie herzustellen; verge-
bens. Er hat im Internet nach Nachrichten
gesucht, aber nichts gefunden.
Rolle grübelt und grübelt wieder. Hätte
er Mengis retten können? Wie soll er sich
verhalten, wenn er wieder als Trainer am
Ring steht? Aufgeben, sobald es eng wird?
„Wenn ich das Handtuch werfe, denken
die Leute: Der Rolle hat eine Klatsche.“
Er wünscht sich, dass er das Rad zurück-
drehen könnte, aber es läuft vorwärts.
Auf den linken Unterarm hat Rolle sich
eine Herzschlaglinie tätowieren lassen. Die
erste Amplitude ist ein stilisiertes A. Für
Alexander. „Es soll mich daran erinnern,
wie wertvoll das Leben ist.“
Die Kurze Rippe ist ein Boxklub im Köl-
ner Mauritius-Viertel, ein enges Gym, in
dem es nach Schweiß riecht. Neun Sand-
säcke hängen von der Decke, hinten in der
Ecke steht der Boxring, an den Wänden
kleben Poster von Mike Tyson. Neun Wo-
chen hat Stefan Worth sich hier auf den
Kampf gegen Mengis vorbereitet.
Jetzt steht er vor seinem Spind, rotwangig
und mit wachen Augen. Seit dem 23. Mai
2013, als er Alexander Mengis in der achten
Runde niederschlug, hat er nicht mehr ge-
boxt. Hirnblutung, Not-OP – das ist sein
Stand. Er hat Robert Rolle angerufen, aber
der hat auch nicht mehr erzählt. Worth sagt:
„Stell dir vor, so was geschieht dir. Hor-
DER SPIEGEL 48 / 2014 115
Beim nächsten Telefonat erzählt Man-
thei, der Anwalt der Familie Mengis habe
ihn um eine Sachstandsauskunft gebeten.
„Dieser Aufforderung bin ich nachgekom-
men, natürlich. Mehr sage ich nicht.“
Anruf bei Jörg Milcke, dem Präsidenten
der German Boxing Association. Er ist Chef
einer Gebäudereinigung in Berlin. Das Büro
der GBA befindet sich bei ihm zu Hause
im Keller, ein Raum mit Tisch und Compu-
ter, Aktenordner. Die Bitte, seine Sicht der
Dinge darzulegen, weist er ab.
„Das Thema ist zu heiß“, sagt er. „Die
Familie will herausfinden, ob etwas schief-
gelaufen ist. Ihr Anwalt hat dem Verband
Gegner Worth: „Stell dir vor, so was geschieht dir – Horror“ geschrieben, dem Notarzt, den Kranken-
häusern, allen.“ Er verweist auf die Kampf-
ror. Und ich habe jemanden in diese Situa- mich wirkte Mengis noch fit. Er hätte doch verträge der GBA, dann legt er auf.
tion gebracht.“ Er spricht tonlos, mutlos. gewinnen können!“ In Paragraf zwei des Muster-Kampfver-
Worth weiß, dass es sinnlos ist, sich Vor- Zwei Punktrichter hatten unentschieden trages heißt es: „Der unterzeichnende Bo-
würfe zu machen. „Ich habe mir nie gesagt: gewertet bis zum Niederschlag, beim drit- xer kämpft auf eigene Gefahr und ist ver-
Ich bin schuld. Doch ich mache mir jeden ten Punktrichter lag Mengis vorn, 67:66. pflichtet, unter den im Vertrag angegebe-
Tag Gedanken darüber, was mit ihm los ist.“ Vann ist ein Mann mit tiefen Stirnfalten nen Bedingungen zu kämpfen.“
Wenn er sich heute an den Kampf erin- und drahtigem Körper, er wird im Dezem- Einfach ausgedrückt: Falls etwas passiert
nert, kommen ihm manche Dinge seltsam ber 71 Jahre alt. Er hat 177 Weltmeister- – selber schuld.
vor. „Mengis wirkte auf mich wie besessen. schaften geleitet, und sein Stil hat ihn be- Für den Anwalt der Familie Mengis könn-
Er hat heftige Dinger kassiert, aber weiter rühmt gemacht: Flink und elegant wie ein te ein Tag 48 Stunden haben: Heiko Striegel
Gas gegeben. Er hat mich angeschaut, als Tänzer gleitet er um die Boxer herum. führt eine Kanzlei in Bietigheim-Bissingen,
hätte er Tollwut.“ Worth sagt, er selbst sei Mickey Vann ist alte Schule. Er meint, er ist stellvertretender ärztlicher Direktor
kurz davor gewesen, k. o. zu gehen. dass die Kämpfer heute nicht mehr so zäh an der Universitätsklinik Tübingen und
Er wundert sich darüber, dass Mengis seien wie in den Siebzigern. „Die zwei auch noch Mannschaftsarzt des VfB Stutt-
Beine hatte wie Streichhölzer und einen wichtigsten Dinge, die ein Boxer braucht: gart. Ein Mann mit langem Atem, Mara-
Oberkörper wie ein Fass. „Das passt ein ordentliches Paar Eier und reichlich thonläufer. Seine Recherchen im Fall Men-
doch nicht zusammen. Wie hat er das ge- Herz. Das haben aber nicht mehr viele.“ gis sind fast abgeschlossen.
macht?“ Am Tag vor dem Kampf hätte An Alexander Mengis kann er sich noch „Wir werden versuchen, die Personen in
ein Arzt beide Kämpfer untersuchen müs- gut erinnern. Weil es das erste Mal war, Regress zu nehmen, von denen wir den-
sen, Blutdruck und Puls messen, Blick in dass bei einem seiner Kämpfe ein Boxer ken, dass sie möglicherweise Fehler ge-
die Augen, Blick in den Rachen. Warum ins Krankenhaus musste. Als der Rettungs- macht haben“, sagt er. „Wir reden nicht
ist das nicht geschehen? „Vielleicht hätte wagen losfuhr, stand Vann auf der Straße; von 5000 Euro Schadenersatz, sondern von
man etwas bemerkt. Vielleicht hätte ihn er brauchte frische Luft. „Es war ein Schlag ganz anderen Summen.“
das gerettet.“ aus dem Nichts. Unvorhersehbar.“ Sein Die Eltern und Schwestern von Alexan-
Stefan Worth weiß nicht, ob er je wieder Gewissen ist rein. der Mengis wollen sich nicht äußern, Strie-
in den Ring steigen wird. Ist es das Risiko In den Tagen danach wollte er herausfin- gel spricht für sie, und er antwortet knapp:
wert? Je mehr er darüber nachdenkt, desto den, wie es Mengis geht; er schrieb eine „Die Familie möchte gemeinsam mit dem
klarer wird ihm, dass Boxen heuchlerisch E-Mail an Robert Rolle, erfuhr aber so gut Sohn, mit dem Bruder ihre Ruhe haben.“
ist. „Die Veranstalter sind nicht immer ge- wie nichts. Mickey Vann glaubt, dass Men- Wie geht es Alexander Mengis?
rade. Der sportliche Gedanke geht flöten. gis wieder auf den Beinen steht. „Oder „Den Umständen entsprechend, um im
Die Manager verkaufen dich.“ Nur auf vier nicht?“ Er fragt in der trügerischen Hoff- Michael-Schumacher-Jargon zu reden. Er
oder fünf seiner Kämpfe ist er stolz. nung, dass es so schlimm nicht gewesen ist gut aufgehoben, man kümmert sich gut
Worth arbeitet inzwischen als Personal sein werde. um ihn.“
Trainer. Er hat sich in ein Sportstudio ein- 78 Tage nach dem Niederschlag wurde Ist er kontaktfähig?
gemietet und gibt Training in der Kurzen Alexander Mengis nach Spandau verlegt. „Dazu sage ich nichts.“
Rippe. Er würde Mengis gern besuchen, Zu diesem Zeitpunkt war er spastisch ge- Ein Mensch, der nur noch minimales Be-
hat aber keine Ahnung, wo. Andererseits lähmt an beiden Armen und Beinen, und wusstsein besitzt, kann gelegentlich auf
fürchtet er sich auch vor einer Begegnung. er befand sich im Minimalen Bewusstseins- Ansprache reagieren, kann lachen oder
„Ich weiß nicht, wie stark mich das belas- zustand, der dem Wachkoma ähnelt. In weinen. So ein Mensch ist ein Pflegefall.
ten würde: wenn er vor mir im Rollstuhl seinem Schädel fehlte immer noch die Plat- Stefan Worth hat für den Kampf 600
säße und sich nicht bewegen könnte.“ te. Die neue Klinik verfügt über ein neu- Euro bekommen, so hoch war seine Börse.
Nicht nur Stefan Worth stellt sich Fra- rologisches Reha-Zentrum und ein Zen- 500 Euro gab es noch am Abend bar auf
FOTO: DOMINIK ASBACH/DER SPIEGEL

gen, auch der Ringrichter tut es. An einem trum für Schwerst-Schädel-Hirn-Verletzte. die Hand, der Rest ging auf sein Konto.
Nachmittag im Oktober, 17 Monate nach Dann verliert sich seine Spur. Alexander Mengis hätte im Fall eines Sie-
dem Kampf, sitzt Mickey Vann in seinem Anruf bei Ulfhard Manthei, dem Ring- ges nichts verdient. Seine Börse: null Euro.
Haus in Leeds, im Norden Englands, und arzt. Das erste Gespräch dauert nur Se-
denkt nach: „Hätte ich abbrechen müssen? kunden. Ein Treffen lehnt er ab. „Ich habe Video:
Oder etwas anders machen sollen?“ keinen Bedarf, über diese Sache zu reden“, Der Kampf
Er schweigt. Und sagt dann: „Nein, hätte sagt er. „Mir ist da etwas ins Haus geflat- spiegel.de/sp482014boxer
ich nicht. Der Kampf war hart, aber auf tert. Ein Brief vom Anwalt.“ oder in der App DER SPIEGEL

116 DER SPIEGEL 48 / 2014


Hässliches Genie
Hübsch und adrett, die weiß gepuderte Perücke auf
dem Kopf, lächelt das Genie auf Stanniol gedruckt je-
des Jahr auf Millionen Konfektkugeln. Der Kern ist aus
Pistazienmarzipan, umhüllt von Nussnugat. Doch so
seriös-anziehend wie auf den Mozartkugeln suggeriert
hat Wolfgang Amadeus Mozart (1756 bis 1791) nie
ausgesehen. Er war, so Mozart-Biografin Eva Gesine
Baur („Genius und Eros. Eine Biographie“), zeitlebens
„alles andere als attraktiv“, außerdem ein „Verleumder
und Intrigant“. Baur beauftragte nun die Münchner
Grafikerin Daniela Gattinger, aus Zeitzeugenberichten
und den wenigen als authentisch anzusehenden
Mozart-Porträts eine Darstellung des Komponisten an-
zufertigen, die ihn, lebensecht, in seinem Sterbejahr
zeigen soll: Der kleine Mann (höchstens 1,56 Meter)
schielt auf einem Auge, hat Pockennarben und trägt
sein aschblondes Haar ungepflegt offen. Sein unvorteil-
haftes Äußeres kann, so Baur, als Erklärung für seine
Rekonstruiertes Mozart-Porträt „Überkompensation in vielerlei Hinsicht“ gesehen wer-
den – sozial und musikalisch. kro

Theater ich habe den Eindruck, dass wehrt haben, sich per Geset- dazu auf, keine Gewalt aus-
„Aufbruch im die Stimmung insgesamt posi- zesänderung an die Macht zu zuüben und keine Plünderun-
Operndorf“ tiv ist. Alle hoffen auf einen
Aufbruch.
klammern.
SPIEGEL: Welche Künstler mei-
gen zuzulassen, und sie ha-
ben damit bisher Erfolg. Das

FOTOS V.L.N.R.: DANIELA GATTINGER / VERLAG C.H. BECK; ULLSTEIN BILD; MARIE KOEHLER; JULIAN KUTZIM / PICTURE ALLIANCE / DPA
Aino Laberenz, SPIEGEL: Fürchten Sie, dass es nen Sie? ist eine Menge in einem
33, Bühnen- Instabilität und Gewalt gibt, Laberenz: Zum Beispiel Etien- Land, in dem fast die Hälfte
bildnerin und wenn die Macht nun neu ge- ne Minoungou, der das Thea- der Menschen in ärmlichsten
Witwe des ordnet wird? terfestival in Ougadougou Verhältnissen lebt.
Regisseurs Laberenz: Bisher findet der leitet und trotz der Umwäl- SPIEGEL: Wie soll es im Opern-
Christoph Umbruch zum Glück weitge- zung im Land und einer Aus- dorf weitergehen?
Schlingensief, hend friedlich statt. Es freut gangssperre seine Künstler Laberenz: Im Dezember oder
über die poli- mich, dass nicht nur das Volk weiterspielen ließ. Oder den Anfang nächsten Jahres fahre
tischen Unru- seine Stimme nutzt, sondern Rapper Smockey, der mit sei- ich dorthin, um ein Residenz-
hen in Burkina Faso und deren gerade die Künstler sich so ner Musik auf die Straße programm zu entwickeln.
Auswirkungen auf das nach entschieden gegen den Ver- geht und viele Menschen er- Die Künstler sollen im Opern-
Schlingensiefs Plänen entste- such des alten Präsidenten ge- reicht. Sie rufen jeden Tag dorf Zeit verbringen und
hende Operndorf- Projekt den Austausch, den Chris-
toph Schlingensief wollte,
SPIEGEL: Frau Laberenz, was Realität werden lassen.
bedeutet der Umbruch in Die Schule und die Kranken-
Burkina Faso, wo der bisheri- station sollen selbstständiger
ge Präsident Blaise Compao- werden.
ré vor einigen Wochen unter SPIEGEL: Wann wird das Herz
dem Druck der Straße nach des Operndorfs, das Bühnen-
27 Jahren Dauerherrschaft haus, eröffnet werden?
zurückgetreten ist, für Ihre Laberenz: Dafür gibt es keinen
Arbeit im Land? festen Termin. Außerdem
Laberenz: Natürlich ist die ist Kunst nicht an ein Haus
Aufregung bei den Menschen, gebunden. Wichtig ist, dass
die mit uns im Operndorf Tanzkurs im Operndorf wir auf Spenden angewiesen
arbeiten, ziemlich groß. Aber sind. höb

118 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kultur
Film (James McAvoy) vorgefallen Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Fragmente der Liebe ist. Benson hatte über die Be-

Einst waren Eleanor und


ziehung ursprünglich zwei ei-
gene Filme gedreht, einen
Problem und Souverän
Connor ein Paar, von vielen aus der Sicht von Eleanor, ei-
bewundert, nun gehen sie nen zweiten aus der von Con- In satten, demokratischen Gesell-
einander aus dem Weg. Ned nor. Der Regisseur entschloss schaften gilt: Wer das Problem
Bensons Melodram „Das Ver- sich aus Vermarktungsgrün- definiert, ist der Souverän. Denn
schwinden der Eleanor Rig- den jedoch, die Geschichten das Problem ist der vitale Ausnah-
by“ ist ein Film über die Lie- zu vereinigen. Wenn das Paar mezustand des Zeitgenossen, der
be, die manchmal unter eben- nun wehmütig durch New denkt: Er oder sie sieht weiter als
so rätselhaften Umständen York geht, vorbei an Orten seine/ihre Umgebung, fühlt tiefer,
zerbrechen kann, wie sie gemeinsam erlebten Glücks, spürt schärfer, nimmt Leid und
entstanden ist. Dieses Myste- gibt gerade der ständige Per- Erkenntnis auf sich. Wenn ich die
rium sollen die Zuschauer spektivwechsel diesen Sze- vielen Ratgeber für Paare richtig
ergründen, nach und nach er- nen Tiefe. Der Zuschauer verstehe, liegt hier die nervige Alltagskluft zwischen
fahren sie in Fragmenten, wird zum Teilhaber einer Lie- Frau und Mann. Die Frau spürt die Probleme und artiku-
was zwischen Eleanor (Jessi- be, deren wahre Größe sich liert sie, während der Mann sich hinter der Harmlosig-
ca Chastain) und Connor erst am Ende enthüllt. lob keit verschanzt: Ist doch eigentlich alles okay. Und in der
Tat: Wo wären all die Beziehungsprobleme, wenn man
sie nicht bespräche? Immer noch da?
Die meisten kennen vermutlich die fast schon organi-
sche Einsicht, dass auf dem gefühlten Höhepunkt der
Krise – in der Tiefe der Nacht, nach dem dritten Glas
Wein oder auf dem langen Weg nach Hause vom runden
Geburtstag eines fremd gewordenen Freundes – eigent-
lich nicht der richtige Zeitpunkt ist, den Sprenggürtel
um die Herzgegend zu zünden. Und zugleich lodert und
lockt das imperative Feuer: Wann, wenn nicht jetzt?
Gerade jetzt, wenn die Hitze da ist, muss doch endlich
mal ausgesprochen werden, was lange schon glimmt und
glüht, um der ultimativen Wahrheit willen!
So verhält sich die Sache privat.
Konfus genug, aber noch zu überblicken.
Schwieriger ist es mit Institutionen und Unternehmen.
Szene aus „Das Verschwinden der Eleanor Rigby“ Sie haben, anders als Paare, neben der inneren Realität
noch eine äußere, die es zu meistern gilt. Sie müssen
Recht sprechen, Schüler ausbilden oder verkäufliche
Zeitungen machen. In normalen Zeiten bedeutet das
Entlastung, das Beziehungsgespräch wird erst mal ver-
Fälschungen schoben, weil man am nächsten Morgen früh aufstehen
Hilfe von Interpol muss. Und damit erledigt sich das Problem oft von
selbst. Erst wenn das allgemeine Unbehagen die Arbeits-
Das Auktionshaus Christie’s zieht ein Werk zurück, das diese abläufe stört, durch Apathie oder leerlaufende Diskurse
Woche in Amsterdam versteigert werden sollte. Es handelt sich an der Kaffeemaschine, stellt sich die Frage: Wird mit
um ein Porträt, das Kaiser Karl V. darstellt. Man hatte im Kata- der Diskussion über das, was intern partout nicht funk-
log vermerkt, es sei im Umfeld des Malers Lucas Cranach des tionieren will, Vertrauen zerstört oder gewonnen? Wer
Jüngeren, also im 16. Jahrhundert, entstanden. Doch das Bayeri- darf offen reden über das, was nicht stimmt? Und wer
sche Landeskriminalamt hat den Verdacht, es handle sich bei der entscheidet das?
FOTO: PROKINO; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

bemalten Holztafel um eine „Sagen, was ist.“ So lautet ein Augstein-Leitsatz des
Fälschung, hergestellt von ei- SPIEGEL, ein anderer: „Im Zweifel links.“ Wie alle
nem Maler und Restaurator Sentenzen haben auch diese die größte Kraft, wenn
nahe Passau (SPIEGEL 47/2014). man sie nicht bedenkt. Mit etwas Ruhe besehen,
Die Ermittler hatten vorsorg- sind beide nicht einfach, denn heißt „Im Zweifel links“
lich sogar Interpol darum gebe- nicht auch, dass es zweifellos rechts laufen soll?
ten zu intervenieren. Denn zu- Und kann, „was ist“, nicht eigentlich nur verstanden
erst reagierte Christie’s wohl werden, wenn man die Erfahrungen aller zu Wort
zögerlich auf die Warnungen kommen lässt?
aus Bayern. Nun wird das Bild Männlich geprägte Institutionen neigen in Krisen
zum möglichen Beweisstück. zu der quasimilitärischen Devise „Augen zu und durch“,
Bei Christie’s hieß es, man ver- die allerdings, wenn überhaupt, nur in höchster Not
zichte auf die Versteigerung, geboten ist. Aber ist das nicht ohnehin eine Parole für
weil man alle Zweifel an der Situationen, in denen der Frontverlauf außen liegt?
Authentizität von Werken
Mutmaßlich gefälschtes ernst nehme und die Ermitt- An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
Porträt Karls V. lungen unterstützen wolle. uk Dirk Kurbjuweit an der Reihe, danach Claudia Voigt.

DER SPIEGEL 48 / 2014 119


„Irgendetwas ist da mit euch“
SPIEGEL-Gespräch Jonathan Franzen ist zurzeit der bedeutendste
US-amerikanische Autor. Er sagt, dass er das der deutschen Literatur verdanke.

120 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kultur

Franzen-Vorbilder Kraus 1928, Rilke 1906, Mann 1910, Döblin um 1933


„Als ich jung war, war ich Karl Kraus viel ähnlicher“

E
r hat ein Haus in Kalifornien, in der Originaltexte von Kraus, in Fußnoten kom- mung meines Romans „Die Korrekturen“
Einsamkeit, er kann dort Vögel be- mentiert Franzen diese Texte mal wissen- gearbeitet, fast ein Jahr lang. Der Pilotfilm
obachten, das macht er gern. Seine schaftlich, mal zeitkritisch, mal autobio- war eine Enttäuschung für alle, nicht zu-
Schreibwohnung liegt in New York, in grafisch. Er nimmt auch Anregungen des letzt für die Leute von HBO, und ich war
Manhattan, wo wenig Vögel und viele Germanisten Paul Reitter und des Schrift- glücklich, als wir die Sache absagten. Ich
Menschen leben. Und dann gibt es noch stellers Daniel Kehlmann auf. hatte dermaßen genug von dieser TV-Welt,
ein Apartment, das er mit seiner Freundin Wegen der vielen Textebenen kann die- dass ich etwas Ernsthaftes machen wollte.
teilt, auch in Manhattan. Dort empfängt ses Buch nicht den Sog eines Romans ent- Sie kennen das Gefühl doch sicher: Man
er zum Interview. falten, aber wenn die Leser einmal durch- muss in einen Apfel beißen, nachdem man
Upper East Side, einmal den Central gekommen sind, werden sie Franzen gut zu viel Schokolade gegessen hat.
Park halb durch bis zum Metropolitan Mu- kennengelernt haben. SPIEGEL: Aber warum Kraus? Sie sind Ro-
seum, vorbei an einem Geschäft, das „eu- In den Fußnoten erinnert er sich an die manautor, Kraus hat nie Romane geschrie-
ropäische Kindermode“ verkauft, den Stil Achtzigerjahre, in denen er in Deutschland ben. Kraus war ein Rechthaber, der sich
FOTOS: CHRIS BUCK / DER SPIEGEL (L.); OBEN V.L.N.R.: WIENER STADT- UND LANDESBIBLIOTHEK / SÜDDEUTSCHER VERLAG; ULLSTEIN BILD; ATELIER ELISABETH / KEYSTONE; ULLSTEIN BILD

der vorletzten Jahrhundertwende: Duffle- studiert hat, er hat sich schon damals mit über den Zustand der Welt erhoben und
coats, Pelzkragen, Tutus. Im zehnten Stock Karl Kraus beschäftigt und sich mit dessen nicht gerade zur Selbstkritik geneigt hat.
öffnet Jonathan Franzen die Tür, er läuft Zorn identifiziert. Kraus hat gespottet und Sie schreiben mitfühlend, haben ambiva-
auf Socken durch die Wohnung. geschimpft über das Zusammenspiel von lente Charaktere erschaffen, die darauf
Franzen ist, nachdem Philip Roth das Technik, Kapitalismus und Massenmedien, schließen lassen, dass Sie einen ganz guten
Schreiben aufgegeben hat und John Up- das zu seiner Zeit begann. Franzen greift Blick auf sich selbst haben.
dike gestorben ist, der zurzeit bedeu- diese Gedanken auf, überträgt sie auf die Franzen: Als ich jung war, war ich Kraus
tendste US-amerikanische Schriftsteller, heutige Zeit, wundert sich über Google, viel ähnlicher, als ich es heute bin. Ich habe
gefeiert für seine Romane „Die Korrektu- Twitter, Facebook und über die Sorglosig- harsch über andere geurteilt, habe die Welt
ren“ (2001) und „Freiheit“ (2010). In sei- keit der Menschen, die sich von diesen schwarz und weiß gesehen. Richtig, inzwi-
nem neuen Buch „Das Kraus-Projekt“ be- Unternehmen ausnutzen ließen. schen habe ich eine Distanz zu Kraus und
schreibt er seine Leidenschaft für die zu mir selbst als jungem Mann entwickelt.
deutschsprachige Literatur der Moderne*. Ein Autor von Romanen kann sich nicht
Er schätzt auch Johann Wolfgang von Goe- SPIEGEL: Herr Franzen, Sie haben Familien- in harschen Urteilen ergehen. Aber ich
the und Gotthold Ephraim Lessing, aber romane geschrieben, nun kommt ein Buch, wollte den großartigen Seiten von Karl
vor allem eben Rainer Maria Rilke, Franz in dem Sie Texte von Karl Kraus in Fuß- Kraus gerecht werden – denn die gibt es.
Kafka, Alfred Döblin, Thomas Mann, Ro- noten kommentieren – als wären Sie wie- Seine Kritik an den Massenmedien war zu
bert Walser und Karl Kraus. der Student. Warum Fußnoten? seiner Zeit berechtigt, und sie ist es immer
Jonathan Franzen, 55 Jahre alt, aufge- Franzen: Na ja, die Fußnoten sind doch noch, gerade in dem Moment, in dem wir
wachsen in einem Vorort im Mittleren gar nicht so akademisch. Aber es stimmt jetzt leben.
Westen der USA, versteht sich als Literat schon: Ich war mal Germanistikstudent, SPIEGEL: Sie greifen diese Kritik auf und
deutscher Prägung. Man könnte auch sa- und durch die Lektüre deutschsprachiger schimpfen über das Internet, mokieren sich
gen: Franzen ist der weltweit bekannteste Autoren konnte ich erst zu dem Schrift- über Ihren Schriftstellerkollegen Salman
Schriftsteller deutscher Literaturtradition. steller werden, der ich bin. Also könnte Rushdie, weil der Twitter nutzt.
„Das Kraus-Projekt“ ist ein komplizier- man sagen, dass ich mit diesem Buch den Franzen: Ich schimpfe nicht über das Inter-
tes Werk, eine Wiederauflage zweier Auf- Bogen zurück in meine Jugend schlage – net, ich spotte darüber. Ich nutze es jeden
sätze des Wiener Essayisten und Polemi- zu dem deutschsprachigen Schriftsteller, Tag und freue mich, dass es das gibt. Ich
kers Karl Kraus (1874 bis 1936): ein Aufsatz der mich besonders beeindruckt hat. habe nichts gegen das Internet als meinen
über den Dichter Heinrich Heine, ein an- SPIEGEL: Das neue Buch ist originell und Diener, aber ich will es nicht als meinen
derer über den Dramatiker Johann Nes- gedankenreich, aber nicht so leicht zu le- Meister haben. Kraus hat das alles schon
troy. In der amerikanischen Ausgabe ver- sen. Eigentlich sind Sie doch ein Erzähler, erkannt: Wenn man Geld, Technologie
öffentlicht Franzen seine eigene Über- der ein großes Publikum will. und Medien zusammenbringt und ein biss-
setzung. Die deutsche Ausgabe, die am Franzen: Als Autor von Romanen schließe chen Ideologie dazutut, erschafft man
Freitag dieser Woche erscheint, bringt die ich nicht gern Leser aus – ich schreibe so- etwas, was seiner inneren Logik nach un-
wohl für die gewöhnlichen als auch für li- gesund ist. Ein Teufelswerk, das sich selbst
* Jonathan Franzen: „Das Kraus-Projekt“. Aus dem ame-
terarisch anspruchsvolle Leser. Aber bevor perpetuiert. Hier in Amerika regen sich
rikanischen Englisch von Bettina Abarbanell. Rowohlt ich mit dem Buch begann, hatte ich mit einige auf über meine doch eigentlich ganz
Verlag, Reinbek; 304 Seiten; 19,95 Euro. dem Fernsehsender HBO an der Verfil- ausgewogene Kritik. Hätte ich Zweifel
DER SPIEGEL 48 / 2014 121
Kultur

Franzen-Idole Walser um 1906, Goethe 1826, Lessing 1767/68, Kafka 1923


„Die deutsche Sprache hat eine solche Kraft“

gehabt, ob ich mit dieser Kritik richtigliege, SPIEGEL: Warum geben Sie heute zu, früher ich ließ sie veröffentlichen, um sie gegen
hätten die Reaktionen darauf jeden Zwei- so unschön geurteilt zu haben? die Fassung des Broadway-Musicals zu stel-
fel sofort zerstreut. Franzen: „Das Kraus-Projekt“ ist doch vor len. Ich wollte kleine Theater ermutigen,
SPIEGEL: Das Internet ist nicht wegzuden- allem ein Buch, das man auf Englisch ein originalgetreue Übersetzungen des Thea-
ken. Und es ist nicht automatisch das Ge- „memoir“ nennt. Ich schaue auf mich terstücks auf die Bühne zu bringen.
genteil von Kunst und Literatur. Tweets selbst als jungen Mann, der seinerseits auf SPIEGEL: Hat sich das Deutsche Ihrer Spra-
können kleine Kunstwerke sein. Autoren schaut, die älter und erfolgreicher che eingeprägt?
Franzen: Betonung auf kleine! Wenn Leute sind. Ich wollte mich beim Erwachsenwer- Franzen: Jeder, der schreibt, sollte auch über-
ihr Leben damit vergeuden wollen, die den beobachten. setzen. Man muss sich über alle Wörter Re-
Tweets von Lady Gaga zu lesen, ist mir SPIEGEL: Wie kam es in Ihren jungen Jahren chenschaft ablegen. Etwas Schlechtes zu
das egal. Was mir auf die Nerven geht, ist zur Faszination für das Deutsche? übersetzen ist grauenvoll, aber wenn man
vielmehr, dass das Internet den Eindruck Franzen: Ich wollte ursprünglich Naturwis- etwas Gutes vor sich hat, erkennt man: Die-
erweckt, die Probleme der Gegenwart zu senschaftler werden. Deutsch ist da eine ses Wort steht da, weil es da stehen muss.
lösen. Ich kann nicht erkennen, dass be- wichtige Sprache, also habe ich es an der Die deutsche Syntax unterscheidet sich sehr
sonders viele solcher Probleme gelöst wer- Highschool belegt, drei Jahre lang. Als ich von der englischen, und als ich sah, was
den. Stattdessen sehe ich ein Verzweifeln aufs College ging, wusste ich eigentlich Kraus damit tun konnte, habe ich genauer
an der Politik, ich sehe Hass auf die staat- schon, dass ich Schriftsteller werden wollte, erkannt, was ich selbst mit meinen Sätzen
lichen Organe und auf jedwede Form der meinen Eltern aber wollte ich das nicht sa- tue und dass in Sprache mehr Möglichkeiten
Regulierung – und dieser Hass entspringt gen, sie hätten es nicht verstanden. Ich war stecken, als ich angenommen hatte. Man
in erster Linie dem Silicon Valley. Wenn ja darauf angewiesen, dass sie mir das Col- kann zwar im Englischen nicht genau das
du jung bist und morgens den Google-Bus lege finanzierten. Als ich damit aufhörte, machen, was Kraus mit seinen Sätzen macht,
zur Arbeit nimmst oder dein Start-up-Un- so zu tun, als wollte ich Naturwissenschaft- aber man kann ein bisschen herumprobieren.
ternehmen für Millionen Dollar verkaufst, ler werden, gelang es mir, sie davon zu SPIEGEL: Die frühe Moderne war eine gute

FOTOS OBEN V.L.N.R.: ULLSTEIN BILD; BPK; CONSTANTIN BEYER/ARTOTHEK; CULTURE CLUB / GETTY IMAGES; CHRIS BUCK / DER SPIEGEL (U.)
brauchst du keine Regierung: Technologie überzeugen, dass ein Germanistikstudium Zeit für die Literatur, aber die Frauenfigu-
kann all deine Probleme lösen. Aber für für den Arbeitsmarkt auch nützlich sei. ren waren Klischees, entweder zerbrechlich
alle anderen ist sie ein leeres Versprechen. SPIEGEL: Sie haben übersetzt. Nicht nur und todgeweiht oder frivol. Sie gelten als
SPIEGEL: Karl Kraus hat nicht nur über die Kraus, sondern auch Frank Wedekinds Erschaffer vielschichtiger Frauenfiguren.
Medienwelt, sondern auch über Schrift- „Frühlings Erwachen“. Von Thomas Mann können Sie das nicht
steller harte Urteile gefällt. Das tun Sie Franzen: Ich habe damit Geld verdient, es gelernt haben.
ihm ebenfalls nach und legen offen, was waren nur 50 oder 100 Dollar für acht Wo- Franzen: Stimmt, na ja, Tony Buddenbrook
Sie früher über Ihre Kollegen John Updike chen Arbeit, aber es hat mir Spaß gemacht. ist doch gelungen. Aber die zeitgenössi-
und Philip Roth gedacht haben. Updikes Die Übersetzung lag 20 Jahre lang in einer sche amerikanische Literatur, die ich als
Texte seien „affektiert“ und „analfixiert“, Schublade. Dann gab es von „Frühlings Student in den Achtzigern gelesen habe,
Roth informiere in seiner Prosa „über- Erwachen“ ein großes Broadway-Musical, war nicht besser. Thomas Pynchon! Män-
deutlich“. und die Bearbeitung war so schlecht, dass ner, Männer, Männer und Frauen als Sex-
Franzen: Ich wollte zeigen, wie schnell lite- es fast wehgetan hat. Eine Travestie! We- objekte. Ich wollte es besser machen. Nicht
rarische Urteile zu moralischen Urteilen dekind hätte alles daran gehasst. Ich wuss- dass Sie mich falsch verstehen, aber als
werden. Bei Kraus wird jedes Urteil zu te, dass meine Übersetzung gut war, und Schriftsteller will man ja irgendwie die
einem moralischen Urteil. Heinrich Heine Welt erfassen, und da es nun mal um die
war für ihn nicht nur ein schwacher Autor, Hälfte der Menschheit geht, sollte man sich
sondern auch noch ein schlechter Charak- schon etwas anstrengen, deren Sichtweise
ter. Ich weiß es doch von mir selbst: Als nachzuempfinden. Und ich hatte viel Er-
junger Schriftsteller geriet ich ständig in fahrung. Meine Mutter war eine starke
einen inneren Streit mit Autoren, die er- Frau, mit der ich viel Zeit verbracht habe,
folgreicher waren als ich. Ich wollte mit und mit einer ebenso starken Frau bin ich
meinen Urteilen Updike und Roth als Men- mit 23 eine Ehe eingegangen, die hielt, bis
schen treffen. Für mich ist es inzwischen ich 35 war. In meinen ersten drei Lebens-
ein Zeichen von Schwäche – von „Skla- jahrzehnten habe ich mehr Zeit mit Frauen
ven“-Mentalität, wie Friedrich Nietzsche verbracht als mit Jungen und Männern.
das nannte –, wenn man über Menschen, Franzen, SPIEGEL-Redakteurin*
die man beneidet, moralische Urteile fällt. „Es gab ein geheimes Ich“ * Susanne Beyer in Franzens New Yorker Wohnung.

122 DER SPIEGEL 48 / 2014


SPIEGEL: Auch Ihre Männerfiguren zer- SPIEGEL: Und doch haben diese Leute
reißt es fast. Warum ist die Ambivalenz heute Jobs, dem Land geht es gut. Nach
zu einem so deutlichen Motiv Ihrer Li- einer aktuellen Umfrage der BBC ge-
teratur geworden? nießt Deutschland das höchste Ansehen
Franzen: Ich komme aus einer Familie, in der Welt – deutlich vor den USA.
in der es starke Spannungen gab. Ich Wenn es an Fleiß gefehlt hat, wie haben
war ein Nachzügler, alle mochten mich, die Deutschen das dann geschafft?
ich sah es als meine Aufgabe, die Span- Franzen: Es ist erstaunlich. Eine pazifis-
nungen auszugleichen. Nur ich war in tische Nation, in Sorge über jeden Krieg
der Lage, mir beide Seiten anzuhören, in der Welt, über Jahrzehnte geteilt,
nur ich konnte einen Mittelweg finden. dann wiedervereint, was bedeutet, dass
Gegensätze wahrzunehmen, zu über- Milliarden Euro von einem Landesteil
brücken, das ist tief in mir verankert. in den anderen fließen müssen – dieses
SPIEGEL: Kann es sein, dass Ihre Flucht Land, das keine guten Voraussetzungen
nach Deutschland und in die Lektüre hat und gar nicht stark sein will, führt
auch eine Flucht vor Ihrem Zuhause war? auf einmal Europa. Verrückt! Fantas-
Franzen: Auch, ja. Es gab ein geheimes tisch!
Ich. Wie eine Figur von Thomas Mann SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung?
habe ich mich an Orte begeben, von de- Franzen: Dieses Land ist außergewöhn-
nen meine Eltern nichts wussten. Orte lich in allem. Irgendetwas ist da mit
der Psyche, der Kunst. Meine Eltern hat- euch. Eure Sprache hat eine solche
ten nie die Möglichkeiten, die ich gehabt Kraft – und es ist ja immer die Frage,
habe. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ob es die Sprache ist, die die Menschen
ich schon mehr Bücher gelesen als meine Titelbild des US-Magazins Time 2010 prägt, oder umgekehrt. Jedenfalls ent-
Mutter in ihrem ganzen Leben. Ich floh „Ich wollte es besser machen“ faltet die Art und Weise, wie ihr denkt
vor ihrem Zugriff in den Untergrund, der und sprecht, eine enorme Wirkung.
die Lektüre war. Meine Mutter hatte einen fanden sich in einem schlechten Zustand, SPIEGEL: Nun kennen Sie die Deutschen
liebenden Zugriff, natürlich, aber eben es gab diese leeren Flächen, ein bisschen gut genug, um zu wissen, dass sie Lob
einen starken Zugriff, dem ich mich nur wie im südlichen Chicago. Ich habe mich nicht gern hören. Der Holocaust war die
durch Heimlichkeiten entziehen konnte. von der dunklen Seite Chicagos immer Zäsur im deutschen Selbstverständnis.
SPIEGEL: Sie mochten nicht mal die Stadt angezogen gefühlt, eben weil es so anders Franzen: Natürlich weiß ich, was diese Zä-
München, in der Sie studiert haben, weil war als mein Zuhause, dieser Vorort von sur bedeutet, und es ist bemerkenswert,
sie Ihren Eltern gefiel. St. Louis. Ich dachte auch, es sei in Ord- dass da zum ersten Mal in der Geschichte
Franzen: Stimmt. München war ordentlich, nung, an einem so sonderbaren Ort wie ein Land ist, das sich entschieden hat, die
arbeitsam, ein bisschen kitschig. Meine El- Berlin so sonderbar zu sein, wie ich es war. Vergangenheit in die Gegenwart zu holen.
tern hatten zwar keine deutschen Vorfah- SPIEGEL: Sonderbar? Reue und Scham sind Teil des deutschen
ren, aber sie waren für mich Bayern. Sie Franzen: Ja, das war ich. Da meine Eltern Selbstbildes geworden.
hatten keinen ausgeprägten Geschmack, nicht wollten, dass ich Schriftsteller werde, SPIEGEL: Aber das wirkt sich auch auf
und als sie mich dort besucht haben, haben habe ich mich unter Erfolgsdruck gesetzt, das Verhältnis der Deutschen zu den
sie sich über alles gefreut: Seht mal, die denn das Einzige, was sie hätte überzeugen Schriftstellern aus. Goethe wird gemocht,
Straßen so sauber! Seht doch nur, die Lo- können, wäre ein früher Erfolg gewesen. auch weil er weit vor den Nazis lebte,
denmäntel! Und wenn man 20 ist und die Also habe ich mich in dem Souterrainzim- Thomas Mann lebte lang genug, um eine
Eltern alles schön finden, was einen um- mer im Bezirk Reinickendorf, das ich ge- Gegenfigur zu den Nazis zu werden.
gibt, dann ist es ja nur logisch, wenn man mietet hatte, morgens hingesetzt und zwölf Ein Autor wie Karl Kraus aber, der 1936
genau das ablehnt. Stunden gearbeitet, habe mich von Ziga- starb und sich dann noch als Jude anti-
SPIEGEL: Wenn Ihnen München so gar nicht retten, Kaffee und Schokolade ernährt und semitisch geäußert hat, gerät da in den
gefallen hat, warum haben Sie sich um ein kaum Leute getroffen. Hintergrund.
weiteres Studienjahr in Deutschland be- SPIEGEL: Berliner Studenten waren zu der Franzen: Es wäre schade, Kraus dafür zu
worben? Zeit oft antiamerikanisch. Haben Sie auch bestrafen, dass er zu früh starb. Natürlich
Franzen: Ja, ich war unglücklich dort, und deswegen keine Freunde gefunden? ist es heute schwer zu verstehen, warum
weil das so war, habe ich viel gelesen – Goe- Franzen: Man ist nicht gerade auf Ameri- ein Jude Antisemit sein konnte, doch das
thes „Faust“! Ich halte den „Faust“ für eines kaner zugegangen, das stimmt. Aber es heißt ja nicht, dass Kraus je für die Nazis
der besten Werke, die je geschrieben wor- wäre auch nicht mit meinem Arbeitspen- gewesen ist. Im Gegenteil, er hat in „Die
den sind, auch wenn das altmodisch klingt. sum zu vereinbaren gewesen, die Nächte dritte Walpurgisnacht“ beschrieben, was
Und das weitere Studienjahr in Deutsch- in Bars zu verbringen. Im Übrigen hätte den Juden droht. Ich hoffe, dass ein paar
land? Tja, ich wollte ein Fulbright-Stipen- ich das auch nicht bezahlen können, schon Leser ihn für sich wiederentdecken, denn
dium. Um in einem durchfinanzierten Jahr die Miete war ja so teuer. Und nach Frauen bei allem, was gegen ihn einzuwenden ist:
mit einem Roman beginnen zu können. umsehen durfte ich mich ja auch nicht – Er war wunderbar – so komisch und ein
SPIEGEL: Sie kamen nach Berlin. Damals ich war verlobt. Und dann waren die Stu- unglaublich guter Stilist. Sich mit ihm zu
eine hässliche Stadt, umgeben von einer denten so anders, als ich es von meinem beschäftigen lohnt sich.
Mauer. Auch eine Enttäuschung? amerikanischen College her kannte. Ich SPIEGEL: Herr Franzen, wir danken Ihnen
Franzen: Überhaupt nicht. Berlin war okay.
FOTO: TIME MAGAZINE / DPA

kam von einem guten College, auf dem für dieses Gespräch.
Es war die große Zeit der Punk-Ästhetik, ich hart gearbeitet und wirklich etwas ge-
von der ich mich angezogen fühlte. Und lernt hatte, und in meinen Seminaren in Video:
Berlin war amerikanischen Städten viel Berlin haben die Studenten es schon als Franzens Sprache
ähnlicher als München. München war wie Zumutung empfunden, pro Woche zwölf spiegel.de/sp482014franzen
Disneyland, die Häuser in Berlin aber be- Seiten lesen zu müssen. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 48 / 2014 123


Kultur

Die große Unordnung


Geschichte Europa vor dem Kalten Krieg und danach: Zwei Historiker
erzählen die jüngste Geschichte des Kontinents aufregend neu.

Zivilisten bei der Plünderung eines deutschen Rangierbahnhofs 1945


Keine Banken, kein Geld, keine Nahrung

124 DER SPIEGEL 48 / 2014


E
ine Woche nach Ende des Zweiten der Öffnung der Archive in Osteuropa seit verhinderten, herrschte das Gesetz des
Weltkriegs forderte eine kleine, aber 1989 ist vieles zum Vorschein gekommen, Stärkeren. Man gab „uns eine Zeit lang
entschlossene Gruppe litauischer was bis dahin nur als Gerücht, als Legende freie Hand, damit wir Rache nehmen konn-
Partisanen die Armee der Sowjetunion oder in  Familiengeschichten mehr oder ten“, zitiert Lowe einen befreiten Häftling
heraus. Ein halbes Jahr hatten die Unter- minder nah an den Tatsachen in der Er- aus Bergen-Belsen, aber „nach einer ge-
grundkämpfer in den Wäldern gelebt, Mit- innerung bewahrt worden war. wissen Zeit sagten sie, genug ist genug“.
streiter rekrutiert und mit Überfällen auf Auch in den westlichen Ländern, in Vor allem die Frauen und Mädchen wa-
Sowjets und deren Kollaborateure für Un- Griechenland, Italien, Frankreich oder ren Opfer von Vergewaltigung, Ernie-
ruhe gesorgt. Deutschland, kam Wesentliches aus diesen drigung und Mord. In Frankreich wurden
Am 16. Mai 1945 brach ein Großverband Jahren erst nach und nach ans Licht: Die besonders unverheiratete Frauen für se-
sowjetischer Truppen zum Wald von Kal- Foibe-Massaker der Vierzigerjahre etwa, xuelle Kontakte zu Deutschen von ihren
niškės auf und griff die Partisanen an. Als bei denen Tausende Slawen und Italiener, Landsleuten bestraft: Ihr „Ehebruch“ be-
den Umzingelten die Munition ausging, darunter viele Frauen und Kinder, in Karst- traf nicht ihre Männer, sondern die Nation,
durchbrachen sie den feindlichen Kordon; höhlen (italienisch: foiba) den Tod fanden, und ihre öffentliche Demütigung wirkte
etwa zwei Dutzend flohen in die nahe gerieten erst spät ins allgemeine Bewusst- wie ein Ventil. „In den ersten Wochen
gelegenen Sümpfe von Zuvintas. Zurück sein. Antisemitische Pogrome, die Miss- nach der Befreiung führte der Anblick kahl
blieben die Leichen von 44 Partisanen, handlung von tatsächlichen oder angeb- geschorener Frauen auf dem Marktplatz
darunter auch die der Ehefrau des Anfüh- lichen Kollaborateuren, die Ächtung von oftmals zu einer spürbaren Verringerung
rers Jonas Neifalta, die mit einem Maschi- Kindern, die aus Beziehungen mit Besat- lokaler Spannungen und einem Rückgang
nengewehr in der Hand gestorben war. Im zungssoldaten entstanden: In jedem Land blutiger Rache an anderen Kollabora-
November desselben Jahres wurden Nei- Europas gab es Vorkommnisse, die nicht teuren.“
falta und seine Kameraden in einem abge- zur nationalen Geschichte, sei es als Opfer Neben den vielen Schrecklichkeiten von
legenen Gehöft erneut umstellt; diesmal oder als Sieger, passten und deshalb über Brutalität, die Lowe zitiert, stehen ebenso
entkamen sie nicht. Jahrzehnte vertuscht, verdreht oder ver- eindrückliche Berichte eines moralischen
Objektiv betrachtet, hatten sie keine drängt wurden.  Neu ist also nicht unbe- Zerfalls. So notierte der britische Soldat
Chance. Die schätzungsweise 100 000 li- dingt das Einzelne, von dem Lowe berich- Lewis von seiner Ankunft in Neapel in sei-
tauischen Frauen und Männer, die erst ge- tet. Neu und überwältigend ist die Gesamt- nem Tagebuch eine Szene, in der respekta-
gen die Nazis und die Sowjets, dann nur schau, die er vorlegt, und ungewöhnlich ble Hausfrauen in einem Raum in einer Rei-
noch gegen die Sowjets kämpften, waren der Ton. he saßen, „als warteten sie im Laden. Ne-
den regulären Armeen in beinahe jeder „Versuchen Sie sich eine Welt vorzustel- ben jeder von ihnen stand ein kleiner Stapel
Hinsicht unterlegen – so wie die Wider- len“, so beginnt er seine Expedition in die Dosen, und wie sich herausstellte, konnte
ständler in Lettland und Estland. Sie muss- Finsternis, „in der es keine Institutionen man an diesem öffentlichen Ort Sex mit
ten konspirativ agieren, konnten sich gibt. Menschen durchstreifen das grenzen- diesen Frauen haben, wenn man eine wei-
kaum vernetzen, ihre Waffendepots waren lose Land auf der Suche nach Gemein- tere Dose auf ihren Stapel stellte“. Einige
begrenzt. Aber ihr Kampf setzte sich fort schaften, die nicht mehr existieren. Es gibt Soldaten hatten sich mit ihren Dosen nach
bis weit in die Fünfzigerjahre. Noch im keine Verwaltungen mehr, weder nationale vorn gedrängt, „aber angesichts dieser
September 1978 starb der estnische Parti- noch lokale. Es gibt keine Schulen und gleichmütigen Mütter, die von den leeren
san August Sabbe auf der Flucht vor KGB- Universitäten, keine Bibliotheken und Ar- Mägen ihrer Familien hierher getrieben
Offizieren. Und im Jahr 2005 lehnten die chive. Die Menschen haben keinerlei Zu- worden waren, verloren sie offenbar den
Präsidenten von Litauen und Estland eine gang mehr zu Informationen. Das Radio Mut“.
Einladung nach Moskau ab, wo der 60. Jah-
restag des Kriegsendes gefeiert werden soll- Das „kollektive Gedächtnis“, aus Legenden entstanden,
te. Ihre Länder, so ihre Begründung, seien
erst nach 1989 befreit worden.
wirkt bis heute nach.
Der Krieg im Frieden ist das Thema der funktioniert gelegentlich, aber das Signal Obwohl Lowe das Gemüt der Leser auf
Studie des britischen Historikers Keith ist schwach und die Sendungen, die man eine harte Probe stellt, ist sein Thema nicht
Lowe, die gerade erschienen ist*. Sie räumt hören kann, sind fast immer in einer frem- der Mensch als des Menschen Wolf. Viele
mit der Vorstellung auf, dass mit dem Sieg den Sprache. Eine Zeitung hat seit Wochen Opfer, die Gelegenheit hatten, Rache zu
über Hitler-Deutschland der Kontinent sein niemand mehr in der Hand gehabt. Es gibt üben, verzichteten darauf. Die große Mehr-
neues, ziviles Leben begann – auferstanden keine Banken mehr, was jedoch keine Rol- heit der Vertriebenen, Entwurzelten und
aus Ruinen, erschöpft von Verheerung und le spielt, da das Geld ohnehin wertlos ist. Traumatisierten richtete ihre Energie
Krieg, einer friedlichen Zukunft zugewandt. Es gibt keine Läden, denn niemand hat ir- darauf, einen schützenden Ort zu finden
Stattdessen versank Europa, so zeigt er in gendetwas zu verkaufen. Es wird nichts und das Überleben zu sichern. 
seinem Panorama der Jahre 1943 bis 1950,in mehr produziert: Die großen Fabriken und Stattdessen drängt Lowes Darstellung
weiten Teilen in Anarchie. Bürgerkriege, Unternehmen wurden alle zerstört oder neue Einsichten auf: Die unmittelbare
Vertreibungen und Partisanenkämpfe sorg- stillgelegt, und auch die meisten anderen Nachkriegszeit war politisch komplexer,
ten für immer neue Opfer von Gewalt. Ra- Gebäude stehen nicht mehr. Es gibt keine als unsere immer noch vom Kalten Krieg
chegelüste und  moralische Apathie be- Werkzeuge außer denen, die man im geprägte Sicht auf Europa suggeriert.
herrschten den Alltag. Der Frieden war Schutt findet. Es gibt keine Nahrung.“ Der Trupp von Partisanen zum Beispiel,
nominell, die Erfahrung von Ohnmacht, Was klingt wie ein Apokalypse-Block- der in den baltischen Staaten gegen die
Angst und Brutalität war real. buster aus Hollywood, war Realität für Nazis und die Sowjetunion kämpfte, war
FOTO: US NATIONAL ARCHIVES

In der Nationalgeschichte der Länder ist Abermillionen Menschen in Europa. Weite in seinen Motiven heterogen – so wie es
diese Einsicht nicht völlig neu. Doch mit Gebiete waren regierungsfrei. Wo nicht auch der Widerstand in der Ukraine, in
die Vereinten Nationen oder das Rote Polen und im späteren Jugoslawien war.
* Keith Lowe: „Der wilde Kontinent. Europa in den
Kreuz mit ihrer moralischen Autorität und Demokraten, Nationalisten, Sozialisten, sä-
Jahren der Anarchie 1943–1950“. Verlag Klett-Cotta, ihren materiellen Mitteln für rudimentäre kulare und religiöse Kräfte schlossen sich
Stuttgart; 526 Seiten; 26,95 Euro. Versorgung aufkamen und Gewaltexzesse vorübergehend zusammen. Motive wie
DER SPIEGEL 48 / 2014 125
Freiheitsbedürfnis und persön- Das machten sie nun wieder,
liche Rache wie auch strategi- die Netzwerke waren da. In
sche Überlegungen konnten zu Berlin, Wien und vielen an-
ähnlichen Taten und Untaten deren Städten entstanden die
führen. In der Nachkriegsge- berühmten Polenmärkte. Der
schichte vor allem der östlichen neue polnische Kapitalismus
Länder wurde die Historie bis entstand nicht nur in privati-
zur Absurdität verdreht und in- sierten Staatsbetrieben, son-
strumentalisiert. Mit diesem dern auch auf der Graswurze-
kollektiven „Gedächtnis“, das lebene des Kleinhandels. Und
aus kalkulierten Legenden ent- als die reformierten Kommunis-
stand, haben wir heute auch zu ten Mitte der Neunziger wieder
tun, wenn die ukrainische an die Macht kamen, fingen sie
Freiheitsbewegung in Russland die schlimmsten sozialen Fol-
als faschistisch gebrandmarkt gen der Reformen ein, ohne
wird und wir unsererseits müh- sich von ihnen zu verab-
sam sortieren, welche Bewe- schieden.
gungen und Parteien Bei- Im Russland der Jelzin-Jahre
stand verdienen.  funktionierten weder Staat
Zum anderen führt die noch Wirtschaft. Als die Regie-
Lektüre von Lowes Panorama rung 1992 Coupons auf das
zu jener Einsicht, die auch Boom-Stadt Warschau: Das Wunder nach der Schocktherapie Volksvermögen an die Bevölke-
in der internationalen Ent- rung ausgab, führte das nicht
wicklungshilfe zu wachsen beginnt: dass berungen überlebt, Genossen begraben zum Volkskapitalismus, sondern dazu, dass
nicht primär die ökonomischen Ressourcen und Freunde verloren, Macht und Stabi- ein paar Oligarchen in kürzester Zeit viele
das Schicksal der Länder entscheiden, son- lität waren für sie die höchsten Güter. Milliarden verdienten und ins Ausland
dern funktionierende Institutionen. Doch den demonstrierenden Bürgern transferierten. Demokratische Institutionen
Davon handelt auch das andere bedeu- konnten sie genauso wenig entgegenset- konnten sich nicht ausbilden. Nur der Ge-
tende Geschichtsbuch des Herbstes, „Die zen wie den scheinbar unwiderstehlichen heimdienst funktionierte. Der wurde die
neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ Ideen des Neoliberalismus. Heute mögen Basis des Erfolgs von Wladimir Putin.
des österreichischen Historikers Philipp diese Ideen ihre Strahlkraft verloren ha- Kaum ein Begriff in der aktuellen poli-
Ther, das sich liest wie eine Fortsetzung ben. Damals schien die Vorstellung, dass tischen Debatte ist aufgeladen wie der des
von Lowes Nachkriegspanorama*. Es geht die Märkte es immer besser wissen als der Neoliberalismus. Mit der Distanz des His-
um dieselben Länder, obgleich der Schwer- Staat, dass die Steuern gesenkt, der Han- torikers sagt Ther: Er kann einem Land
punkt stark auf Deutschland und den Län- del liberalisiert und Staatsaufgaben priva- Wohlstand bringen, aber nur, wenn er brei-
dern des ehemaligen Ostblocks liegt. Ther tisiert werden müssten, die logische Kon- te Bevölkerungsschichten teilhaben lässt –
widmet sich den Jahrzehnten nach dem sequenz des Scheiterns der Planwirt- und wenn es verlässliche Institutionen und
Ende des Kalten Krieges, unserer unmit- schaft.  Vertrauen in die Zukunft des Landes gibt.
telbaren Vergangenheit, der Zeit nach dem Nirgends wird das so deutlich wie in der Wie in Polen, Tschechien oder der Slowa-
Mauerfall. Und das Buch ist ähnlich er- Geschichte des „polnischen Wirtschafts- kei. Bratislava und Warschau haben inzwi-
staunlich, auch wenn es im Einzelnen we- wunders“, dem Aufstieg Polens vom he- schen eine größere Wirtschaftsleistung pro
nig Neues erzählt. runtergerockten Ostblockstaat zum euro- Einwohner als Berlin.
Ther versucht, dieses Zeitalter zu histo- päischen Tigerland, einem Land, das An- Fehlt all dies, bekommt ein Land die
risieren. Nicht die schlechteste Idee, fang der Achtziger seine Lebensmittel Probleme der Ukraine: einen Oligarchen-
kommt das europäische System doch nach rationieren musste und heute Wachstums- Kapitalismus, der die Unterschiede zwi-
einem Vierteljahrhundert des Wachstums raten erreicht, die an das Deutschland schen Arm und Reich immer größer wer-
sichtbar an seine Grenzen, angesichts der der Fünfziger erinnern. „Schocktherapie“ den und die Ressourcen der Gesellschaft
schier unlösbaren wirtschaftlichen Schwie- nannte sich das Programm, mit dem die verkommen lässt – trotz einer friedlichen
rigkeiten der südlichen Länder. Und mit erste halbwegs frei gewählte Regierung zivilen Opposition, die genau dagegen auf
dem wiedererstarkten Russland steht der 1989 das Land kurieren wollte: Die Staats- dem Maidan protestiert hat.
Europäischen Union zum ersten Mal ein betriebe gingen pleite, die Arbeitslosigkeit Legt man Lowes und Thers Buch ne-
Herausforderer gegenüber, der auch zu schnellte in eisige Höhen, das Einkommen beneinander, ergibt sich ein neues Bild
kriegerischen Mitteln greift. Einen Namen der Bevölkerung sank, die Wirtschaft von Europa. Die Jahre der Teilung, die im
hat die Epoche noch nicht, vielleicht wird brach ein. Westen noch immer die Selbstwahrneh-
sie ja wirklich einmal das neoliberale Doch der Einbruch in Polen war längst mung dominieren, verblassen. Es er-
Zeitalter sein, wie Ther es im Untertitel nicht so hart wie der Zusammenbruch der scheint das Panorama eines Kontinents,
nahelegt. russischen Wirtschaft. Thers These heißt, der in zwei Weltkriegen und einer chaoti-
Tatsächlich dürfte das größte historische dass neoliberale Reformen nur funktionie- schen Nachkriegszeit seine ethnische, re-
Verdienst der sozialistischen Regime die ren, wenn sie sich auf starke Institutionen ligiöse und sprachliche Vielfalt zerstörte.
weitgehende Gewaltlosigkeit sein, mit der und eine funktionierende Zivilgesellschaft Eines Kontinents, der in ethnisch reinen
sie 1989/90 innerhalb weniger Monate zu- stützen können. Der Runde Tisch war eine Nationalstaaten – von wenigen Ausnah-
sammensackten. All diese alten Männer polnische Erfindung. Ihre Zeit im Unter- men abgesehen – seinen Frieden fand.
FOTO: PETER HIRTH/LAIF

hatten die Nazis und die stalinschen Säu- grund hatten die Solidarność-Funktionäre Und der sich nun langsam wieder vernetzt,
genutzt, um politisch zu reifen. Und in der in einer neuen Kleinstaaterei. Aber in ei-
* Philipp Ther: „Die neue Ordnung auf dem alten Kon-
Mangelwirtschaft der frühen Achtziger ner Föderation, die beispiellos ist in ihren
hatten sich bereits Hunderttausende Polen Möglichkeiten zum Guten.
FOTOS:

tinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“. Suhr-


kamp Verlag, Berlin; 432 Seiten; 26,95 Euro. unternehmerisch betätigt. Tobias Rapp, Elke Schmitter

126 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kultur

Erben
eingesetzte Taskforce führt die Provenienz- zielen. Einen Vorteil könnte die Vereinba-
forschung fort. Bilder mit geklärter Raub- rung für die Schweizer zusätzlich haben:
kunstherkunft werden dann an die Eigen- Die Abmachung über die fällige Erbschaft-

ohne Risiko
tümer restituiert. Der Bund übernimmt die steuer werde, so heißt es, das Museum in
Kosten der Restitution, auch etwaige Pro- Bern nicht allzu sehr belasten.
zesskosten. Bleibt bis Ende des Jahres 2020 Nicht alle Unwägbarkeiten konnten von
die Herkunft von Bildern ungeklärt oder der Bundesregierung abgefangen werden.
Restitution Die Gurlitt- werden bis dahin die Eigentümer nicht So hatten einige Verwandte Gurlitts bei ei-
identifiziert, gibt das Schweizer Museum nem Psychiater ein privates Gutachten in
Sammlung soll nun in die den Anspruch auf diese Bilder auf. Auftrag gegeben. Danach sei Gurlitt nicht
Schweiz gehen – nur die Aber wie viele Bilder aus dem vermeint- testierfähig gewesen, als er im Januar 2014
lichen Raubkunstteil könnten nun direkt seinen Letzten Willen unterzeichnet habe,
lieben Verwandten stören. in die Schweiz kommen? Nicht viele. Bis- das Testament somit ungültig. Gurlitt habe
lang hat die Taskforce angeblich nur ein- an einer leichten Demenz, an einer schi-

R
und ein Jahr nach den Enthüllungen zelne Werke als unbedenklich erklärt. zoiden Persönlichkeitsstörung und an einer
um den Münchner Kunstsammler Für einen Teil von Gurlitts Sammlung, wahnhaften Störung gelitten.
Cornelius Gurlitt und ein halbes der erst im Februar 2014 in dessen verlot- Gurlitt stand in seinen letzten Lebens-
Jahr nach dessen Tod im Mai könnte nun tertem Haus in Salzburg gefunden wurde, monaten unter gesetzlicher Betreuung; das
endlich das Schicksal der insgesamt mehr soll Ähnliches gelten: Die knapp 300 Wer- zuständige Gericht hatte damals, zeitnah
als 1500 Kunstwerke seiner Sammlung ke, darunter etwa 40 Gemälde, gehen aus zur Testamentsunterschrift, zwar auch ein
geklärt sein. Das Kunstmuseum Bern will, Österreich, wo die beschädigten Bilder not- Gutachten anfertigen lassen, das aber nun
so heißt es, das Erbe annehmen. Die Über- dürftig gesäubert wurden, direkt in die die Verwandten in wichtigen Punkten in-
raschung dabei: Viele der umstrittenen Schweiz. Eine eigene erste Provenienzfor- frage stellen. Ein Nachlassgericht kann die-
Bilder würden erst einmal in Deutsch- schung des Berner Museums soll klären, sem neuen Verdacht nur nachgehen, wenn
land bleiben. welche Bilder unter Raubkunstverdacht eine der dazu berechtigten Parteien einen
Gurlitt hatte seine vom Vater Hildebrand stehen. Diese sollen zur weiteren Her- Erbschein beantragt.
Gurlitt, einem Nazi-Kunsthändler, geerbten kunftserforschung nach Deutschland ge- Am Freitag der vergangenen Woche hat
Bilder in einem Testament dem Museum schickt werden. die betagte Cousine von Cornelius Gurlitt,
in der Schweiz vermacht. Nach komplizier- Das dürfte ein großer Teil der Salzbur- Uta Werner, dieses Dokument beantragt.
ten Verhandlungen zwischen dem Nach- ger Bilder sein, viele von ihnen sind wohl Unterstützt wird sie von ihren Kindern
lassverwalter, dem Bundesland Bayern, während des Zweiten Weltkriegs in Frank- und einigen Nachkommen ihres Bruders
Kulturstaatsministerin Monika Grütters reich von Vater Gurlitt erworben worden. Dietrich Gurlitt. Ihr Bruder selbst hatte
und den Berner Museumsleuten soll nun Entscheidet Bern, Bilder nicht nach sich von solchen Aktivitäten distanziert.
nach SPIEGEL-Informationen eine umfas- Deutschland zu senden, müssten die Auch Gurlitts Schwager Nikolaus Fräßle,
sende Vereinbarung getroffen worden sein. Schweizer selbst für eventuell später ent- zu dem der Kunstbesitzer noch den meis-
Eine Vereinbarung, die den Schweizer stehende Restitutionskosten aufkommen. ten Kontakt hatte, sprach sich gegenüber
Erben erst einmal jedes Risiko nähme. Nur Das Warten auf die Salzburger Bilder dem SPIEGEL dafür aus, dass das Erbe nach
muss das Museum, was die wichtigen und würde sich lohnen: Gemälde von Auguste Bern gehen solle.
wertvollen Werke der Sammlung betrifft, Renoir, Claude Monet, Paul Cézanne, Paul Nun muss ein Richter über den Antrag
ein wenig Geduld haben. Gauguin oder Gustave Courbet würden entscheiden und die Gutachten prüfen.
Der einfache Teil der Vereinbarung sieht auch den Louvre zieren und heute auf dem Das kann schnell gehen. Oder auch nicht.
vor, dass neben den bislang unumstrit- Markt zweistellige Millionenbeträge er- Lothar Gorris, Ulrike Knöfel
tenen 281 Kunstwerken aus dem Fami-
lienbesitz der Gurlitts (Landschaftsbilder
FOTOS: LOST ART KOORDINIERUNGSSTELLE MAGDEBURG (L.); GORAN GAJANIN / PARIS MATCH / BESTIMAGE (R.)

von Verwandten und Ähnliches) auch die


438 Kunstwerke der sogenannten entar-
teten Kunst in die Schweiz gehen. Vater
Gurlitt hatte diese Werke in den Drei-
ßigerjahren von deutschen Museen er-
worben. Das meiste davon sind Drucke
oder Zeichnungen. Sie sollen zusammen
mit den wenigen Gemälden, so die Verein-
barung, bevorzugt als Leihgaben an jene
deutsche Museen gegeben werden, aus
denen sie stammen.
Was aber soll mit den 492 Werken pas-
sieren, die unter Raubkunstverdacht ste-
hen und die ihrem neuen Besitzer eine
Menge Ärger hätten bereiten können? Die
Herkunft der meisten Bilder ist weiterhin
unklar, die Recherche kompliziert. Ronald
S. Lauder, Präsident des Jüdischen Welt-
kongresses, hatte den Schweizern mit einer
Prozesslawine gedroht. Die Vereinbarung
soll nun vorsehen, dass diese Bilder zum
allergrößten Teil erst einmal in Deutsch-
land bleiben. Die von der Bundesregierung Chagall-Gemälde „Allegorische Szene“, Sammler Gurlitt in München 2013: Bedenkliche Bilder

DER SPIEGEL 48 / 2014 127


Kultur

Geschöpf des Irrsinns


Kino Mosab Hassan Yousef ist Sohn eines Hamas-Führers. Weil er für den israelischen Geheimdienst arbei-
tete, geriet er auf islamistische Todeslisten. Die Dokumentation „The Green Prince“ beschreibt sein Leben.

D
en Großteil seiner Kindheit ver- im Sommer 1996 nach Megiddo in der
brachte Mosab Hassan Yousef auf Nähe von Haifa und brachte ihn in einer
einem Friedhof. Der junge Palästi- Sektion des Gefängnisses unter, in der die
nenser, der bei Ramallah aufgewachsen ist, Israelis der Hamas weitgehend die Kon-
traf sich dort oft mit seinen Freunden, trolle über die Insassen überließen. Yousef
denn es gab kaum Gräber und sehr viel bekam mit, wie mutmaßlichen Kollabora-
freien Platz. Mosab und die anderen Jungs teuren Stecknadeln unter die Nägel getrie-
spielten dort Fußball. ben und Plastiktabletts auf dem Körper ge-
Irgendwann wurde das Spielfeld kleiner, schmolzen wurden.
der Platz schwand nach und nach, denn „Ich bin nicht sicher, ob das ein Schlüs-
die Gräber begannen sich zu füllen. Das selerlebnis war“, sagt er heute und schüt-
war Ende der Achtzigerjahre. Die erste In- telt zweifelnd den Kopf. „Es war eher ein
tifada hatte begonnen, der Aufstand der Prozess, eine schrittweise Evolution, die
Palästinenser gegen die israelische Besat- mich dazu brachte, für den Schin Bet zu
zung, der sich vom Gazastreifen über das arbeiten. Aber natürlich habe ich mir da-
Westjordanland bis nach Jerusalem ausbrei- mals die Frage gestellt: Ist das, was uns
tete. Mehr als tausend Menschen starben. die Israelis antun, wirklich so viel schlim-
Yousef sah nun ständig Trauerzüge, wei- mer als das, was wir einander antun? Wie
nende Menschen, Leichen. Der Tod war kann mein Vater all das dulden?“
so dreist, ihm seinen Spielplatz wegzuneh- Ben Yitzhak gab Yousef das Gefühl, die
men. Eines Tages stellte sich Yousef in ein Dinge ändern und den Kreislauf der Ge-
leeres Grab, um den Tod besser kennen- walt durchbrechen zu können. Yitzhak war
zulernen. Er wollte wissen, wie es sich an- Filmheld Yousef bei den Folterungen nicht dabei, erzählt
fühlt, unter der Erde zu sein. Heute, sagt „Eine verrückte Transformation“ Yousef, sondern kam erst später hinzu.
er und lächelt dabei, könne ihm der Tod „Du musst einen Mann dazu bringen, Din-
keine Angst mehr machen. schäftigt, in den besetzten Gebieten eine ge zu tun, die er normalerweise niemals
Yousef ist ein Experte des Todes und ein neue Palästinenser-Organisation aufzubau- tun würde, zu deinem eigenen Nutzen“,
Überlebenskünstler. Der 1978 geborene en: die Hamas. erklärt Yitzhak im Film.
Sohn des Hamas-Führers Scheich Hassan 1989 wurde der Vater Scheich Hassan Er habe bei Yitzhak Herzenswärme ge-
Yousef soll auf mehreren Todeslisten Yousef erstmals von den Israelis verhaftet. spürt, erzählt Yousef heute, eine Bereit-
islamistischer Terrorgruppen stehen. Von Die Hamas hatte zur Vernichtung Israels schaft zur Vergebung. Tatsächlich wurde
1997 an arbeitete er jahrelang für den is- aufgerufen. „Warte hier, dein Vater kommt der sieben Jahre ältere Geheimdienstmann
raelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet, bald wieder“, sagte ein israelischer Soldat zu seiner Leitfigur. Yitzhak spürte, dass
er bespitzelte seinen Vater und half, Ter- zu Yousef. Es dauerte 18 Monate, bis der Yousef mehr sein wollte als der Spross
rorverdächtige zu fassen. Vater entlassen wurde. „Ich war voller eines Vaters, der ihm immer fremder wur-
Nun sitzt er in der Lobby eines Londo- Hass“, sagt Yousef. de. „Ich durchlief eine verrückte Transfor-
ner Hotels und wirkt wie ein Mann, der 1996 wurde er selbst verhaftet. Er hatte mation“, sagt Yousef. Der Film „The Green
den Tod schon hinter sich wähnt, weil er sich Waffen besorgt, um in den Kampf ge- Prince“ zeigt den etwa 20-jährigen Yousef
sich wiedergeboren fühlt, als ein besserer, gen Israel zu ziehen. Er kam ins Mosko- auch als vermeintlich folgsamen Sohn, be-
friedvoller Mensch. Wenn er davon redet, biyeh-Untersuchungsgefängnis in Jerusa- brillt, vorgeschobenes Kinn, wie ein Rie-
eine „höhere Ebene des Bewusstseins“ er- lem. „Willkommen im Schlachthaus!“, be- senbaby trottet er neben seinem Vater her
langt zu haben, breitet er die Arme wie grüßte ihn ein Wachmann. Wochenlang und versucht, mit ihm Schritt zu halten.
ein Messias aus. In großen Worten erzählt wurde Yousef dort gefoltert. „Es war eher Da arbeitete er schon für die Israelis.
er seine Version der Geschichte. psychische Folter“, sagt er heute, „was sie Der Mittdreißiger Yousef, der heute in
Diese Woche kommt die Dokumentati- aber nicht weniger wirkungsvoll macht. Kalifornien lebt, strotzt vor Selbstbewusst-
on „The Green Prince“ von Nadav Schir- Ich will sie nicht entschuldigen, aber ich sein, bewegt sich zügig und federnd, un-
man in die deutschen Kinos. Sie beschreibt, kann sie aus heutiger Sicht verstehen.“ ablässig fixiert er sein Gegenüber mit sei-
wie Yousef vom Schin Bet angeworben Schlafentzug, Musikbeschallung, Leo- nen riesigen braunen Augen, die mal sehr
und eingesetzt wurde. Es ist auch ein Lie- nard Cohens „First We Take Manhattan“ fröhlich und dann wieder wild entschlos-
besfilm über Yousef und seinen israeli- als Endlosschleife, die ständigen Schreie sen wirken können. Yousef ist ein völlig
FOTO: SCOTT MCDERMOTT / CORBIS OUTLINE

schen Führungsoffizier Gonen Ben Yitz- anderer Gefangener – irgendwann war anderer Mensch geworden.
hak, der ihn dazu verführte, Volk und Fa- Yousef mürbe. Als ihm ein Mann vom Natürlich habe er sich damals wichtig ge-
milie zu verraten. Schin Bet vorschlug, die Seiten zu wech- fühlt, wenn sich sein Vater mit anderen Pa-
Der grüne Prinz – das war sein Deckna- seln, gab er nach, auch um dieser Hölle zu lästinenser-Führern traf. Einmal küsste ihn
me beim Schin Bet. Yousef war als Thron- entrinnen. Aber es war wie bei Dante: You- Arafat auf die Wange, erzählt er. Danach
folger zur Welt gekommen, als erstgebo- sef kam nur in den nächsten Kreis der Höl- habe er sich sofort das Gesicht abgewischt.
rener Sohn und ältestes von neun Kindern le, der noch heißer brannte. Ja, das war auch ein großes Abenteuer,
wuchs er in die Rolle des Familienober- Um ihn zu tarnen, verlegte der Geheim- im Zentrum der Ereignisse zu sein, Geschich-
haupts hinein. Sein Vater war damit be- dienst Schin Bet seinen neuen Mitarbeiter te schreiben zu können. Yousef, den jeder
130 DER SPIEGEL 48 / 2014
die Bibel zu lesen, heute ist sie sein
Manifest. Wenn er von Jesus schwärmt,
könnte man ihn für einen Prediger im
amerikanischen „Bible Belt“ halten. Er ist
ein Fanatiker der Versöhnung. Vielleicht
aber war der christliche Glaube und die
Bewunderung für Jesus in diesem ganzen
Irrsinn, diesem grenzenlosen Hass zwi-
schen Juden und Muslimen, Yousefs einzi-
ger Fluchtweg. „Ich konnte mit nieman-
dem von meiner Familie oder meinen
Freunden darüber reden, was in mir vor-
ging, nur mit Gott.“
Womöglich überstand Yousef diese Jah-
re, in denen er lügen und betrügen musste
und zum Verräter wurde, nur deshalb, weil
er die Hoffnung hatte, dass es so etwas
wie eine bedingungslose, allumfassende
Liebe geben kann.
„Ja, wirklich“, sagt Yousef, „ich wollte
die Welt zu einem besseren Ort machen.
Ich weiß, das klingt kitschig. Aber ist es
deshalb falsch? Ich wollte Leben retten,
das ist das einzige Ziel, dessen Sinn man
nicht hinterfragen kann. Dafür bin ich all
die Risiken eingegangen.“
Doch Yousef war schon viel zu sehr ver-
strickt in einen Konflikt, in dem keine
Moral lange überlebt. Yousef ließ sich vom
Schin Bet überreden, an der Liquidierung
von Mohammed Abu Halawa mitzuwir-
ken, einem Fatah-Kommandanten, der Ex-
tremisten mit Waffen belieferte. Yousef
verriet dem Schin Bet den Aufenthaltsort
Halawas, die Israelis griffen mit Raketen
an. Yousefs Auto, das einige Hundert Me-
ter vom Ort des Einschlags entfernt stand,
erbebte von den Detonationen. Doch Ha-
lawa überlebte. Als Yousef ihn im Kran-
kenhaus besuchte, war sein Gesicht so
schwer verbrannt, „dass ich ihn nicht ein-
mal anschauen konnte“.
Dies sei die einzige Tötungsaktion des
Schin Bet gewesen, an der er beteiligt ge-
wesen sei, erzählt er. Er habe es freiwillig
getan, niemand habe ihn dazu zwingen
müssen. Er habe keine andere Lösung ge-
sehen. Der Mann sei ein Mörder gewesen,
der noch viel mehr Menschen töten wollte.
Wenige Monate später starb Halawa bei
einem zweiten Raketenangriff.
Szenen aus „The Green Prince“*: „Willkommen im Schlachthaus!“ Je mehr Hamas-Führer die Israelis töte-
ten, desto klarer wurde Yousef, dass sein
für einen willigen Vollstrecker seines Vaters Im September 2000 begann die zweite Vater der nächste sein könnte. „Solange
FOTOS: ©2014.A-LIST FILMS, PASSION PICTURES, RED BOX FILMS

hielt, zog auf einmal selbst an den Strippen Intifada, palästinensische Terroristen be- ich in seiner Nähe war und über ihn an In-
und genoss den Thrill, den „Tanz auf Mes- gingen nun viele schwere Anschläge in formationen über die Hamas kam, war das
sers Schneide“, wie er sagt. „Ich habe oft israelischen Städten. Wann immer Yousef sehr unwahrscheinlich. Aber eine Garantie
mit Selbstmordattentätern in einem Raum Informationen über geplante Attentate hat- war es nicht.“ Weil die Selbstmordanschlä-
gesessen und dabei zugesehen, wie sie an te, gab er sie sofort an den Schin Bet wei- ge nicht aufhörten, wuchs in Israel der
ihren Sprengstoffgürteln herumgefummelt ter. Auf diese Weise habe er viele Leben Wunsch nach Vergeltung.
haben“, erzählt er. „Du denkst nicht an die gerettet, sagt er. Wären die Palästinenser „Ohne mich wäre mein Vater schon
Gefahr. Du darfst es nicht. Wenn dir die im Besitz der Atombombe gewesen, hätte zehnmal tot“, glaubt Yousef. Einmal hat
anderen was anmerken, bist du erledigt.“ sein Vater nicht gezögert, sie über Israel er ihm einen anonymen Brief geschrieben,
abzuwerfen, ist er überzeugt. um ihn zu warnen. Ein anderes Mal hat er
* Oben: Mosab Hassan Yousef (l.), Vater Scheich Hassan
Die Front dieses blutigen und erbitterten den Schin Bet überzeugt, ihn zu verhaften
Yousef (M.); Mitte: israelische Soldaten bei Festnahme; Krieges verlief mitten durch Yousefs und für einige Zeit ins Gefängnis zu
unten: Schin-Bet-Agent Yitzhak. Leben. In seiner Zeit als Agent fing er an, stecken, um ihn aus der Schusslinie zu brin-
DER SPIEGEL 48 / 2014 131
Kultur

gen. Yousef redet über seinen Vater, der


inzwischen 59 Jahre alt ist und in Ramallah
lebt, wie über einen missratenen Sohn.
Plötzlich blickt er auf, schaut in die Lob-
by und sagt: „Ah, ein besonderer Gast.“
Ein Mann, untersetzt, geschorene Haare,
tritt an den Tisch: Gonen Ben Yitzhak.
„The Green Prince“ wird auf dem Jewish
Film Festival gezeigt. Yitzhak, inzwischen
Anwalt in Tel Aviv und Familienvater, ist
deshalb nach London gereist. Er setzt sich
neben Yousef auf die Couch, sie wirken
wie ein altes Ehepaar.
Spätestens als Yitzhak 2006 vom Schin
Bet abgezogen wurde und Yousef einen
neuen Führungsoffizier zugewiesen be-
kam, spürte er, dass er sein Doppelleben
nicht weiterführen konnte. Er war zwar
immer noch fast „süchtig“ nach der Arbeit
beim Geheimdienst, doch er fühlte sich
wie eine Ratte im Labyrinth. „Wir führen
einen Krieg, der nicht mit Verhaftungen,
Verhören und Hinrichtungen zu gewinnen
ist“, teilte er Yitzhak damals mit.
Yousef erhielt eine Ausreisegenehmi-
gung und übersiedelte 2007 in die Verei-
nigten Staaten. 2010 veröffentlichte er ein
Buch über seine Tätigkeit als Agent, „Sohn
der Hamas“. Es wurde ein Bestseller. Als
die Amerikaner ihn trotzdem ausweisen
wollten, weil sie ihn für einen Terroristen
hielten, setzte sich Yitzhak persönlich für
ihn ein und sorgte dafür, dass Yousef ein
Bleiberecht bekam. In den USA lebt er
nicht mit einer Tarnidentität, sondern un-
ter seinem richtigen Namen. Personen-
schutz hat er nur selten, in London jeden-
falls sind keine Sicherheitsvorkehrungen
erkennbar.
Die zwei treffen sich ein paarmal im
Jahr, telefonieren oft. Yitzhak schaut
ständig auf sein Smartphone. „Seit heute
Morgen kann ich mich von dem Ding nicht
mehr lösen“, sagt er. „Ich muss wissen,
was in Jerusalem passiert.“ Vergangenen
Dienstagmorgen sind zwei palästinen-
sische Attentäter in eine Synagoge im
Jerusalemer Stadtteil Har Nof eingedrun-
gen und haben vier Betende ermordet.
„Ich habe diese Dinge nicht unter Kon-
trolle“, sagt Yousef, „deshalb habe ich
mich ein Stück weit emotional frei davon
gemacht. Sehen Sie, Gonen und ich haben
ein Zeichen der Versöhnung gesetzt, es
kann für viele Menschen ein Vorbild sein.
Viel mehr können wir nicht tun.“
Seit Jahren hat Yousef keinen Kontakt
mehr zu seinen Eltern. Nach dem Erschei-
nen seines Buches verstieß ihn sein Vater.
Bis dahin stand er nach wie vor unter dem
Schutz des Hamas-Führers. Nun ist er
vogelfrei. Lars-Olav Beier

Video: Ausschnitte aus


„The Green Prince“
spiegel.de/sp482014prince
oder in der App DER SPIEGEL

132 DER SPIEGEL 48 / 2014


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere
Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Sebastian Fitzek 1 (3) Heribert Schwan / Tilman Jens


Passagier 23 Droemer; 19,99 Euro Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle
Heyne; 19,99 Euro
2 (2) Nele Neuhaus
Die Lebenden und die Toten 2 (1) Hape Kerkeling
Ullstein; 19,99 Euro Der Junge muss an die frische Luft
Piper; 19,99 Euro
3 (3) Ken Follett
Kinder der Freiheit 3 (–) Guido Maria Kretschmer
Bastei Lübbe; 29,99 Euro Eine Bluse macht
noch keinen Sommer
4 (4) Lutz Seiler Edel Books; 17,95 Euro
Kruso Suhrkamp; 22,95 Euro

5 (5) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt Lesespaß vom Modepapst


über kleine Tricks, große
Das Mädchen, das verstummte Wünsche, die schlimmsten
Wunderlich; 19,95 Euro Ausrutscher und Fehlkäufe
6 (6) Volker Kutscher 4 (2) Peter Scholl-Latour
Märzgefallene Der Fluch der bösen Tat
Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Propyläen; 24,99 Euro
7 (–) Jo Nesbø 5 (4) Wilhelm Schmid
Der Sohn Gelassenheit – Was wir gewinnen,
Ullstein; 22,99 Euro wenn wir älter werden Insel; 8 Euro

6 (5) Udo Ulfkotte


Gekaufte Journalisten Kopp; 22,95 Euro
Ein Häftling flieht aus dem
Hochsicherheitsgefängnis in 7 (6) Thomas Piketty
Oslo, um die Ehre seines ver- Das Kapital im 21. Jahrhundert
storbenen Vaters zu retten C. H. Beck; 29,95 Euro

8 (7) Volker Klüpfel / Michael Kobr 8 (7) The Bodleian Library (Hg.)
Grimmbart Droemer; 19,99 Euro
Leitfaden für britische Soldaten
in Deutschland 1944
9 (8) Paulo Coelho Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro
Untreue Diogenes; 19,90 Euro
9 (10) Giovanni di Lorenzo
10 (10) Dave Eggers Vom Aufstieg und anderen Niederlagen
Der Circle Kiepenheuer & Witsch; 18,99 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 22,99 Euro 10 (9)Ferdinand von Schirach
11 (–) Patrick Modiano Die Würde ist antastbar Piper; 16,99 Euro
Gräser der Nacht Hanser; 18,90 Euro 11 (8) Charlotte Link
12 (14) Jan Weiler Sechs Jahre – Der Abschied von
Das Pubertier Kindler; 12 Euro
meiner Schwester Blanvalet; 19,99 Euro

12 (–) Henry A. Kissinger


13 (9) P. C. Cast / Kristin Cast Weltordnung C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Erlöst – House of Night 12
FJB; 16,99 Euro 13 (17) Norbert Blüm
Einspruch! – Wider die Willkür an
14 (–) Trudi Canavan deutschen Gerichten Westend; 19,99 Euro
Die Magie der tausend Welten –
Die Begabte Penhaligon; 19,99 Euro 14 (12) Margot Käßmann
Das Zeitliche segnen Adeo; 17,99 Euro
15 (11) Thomas Hettche
Pfaueninsel 15 (15) Peter Hahne Rettet das
Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro
Zigeuner-Schnitzel! Quadriga; 10 Euro

16 (15) Wolfgang Herrndorf 16 (19) Karen Duve Warum die Sache


Bilder deiner großen Liebe schiefgeht Galiani; 12 Euro

Rowohlt Berlin; 16,95 Euro 17 (14) Jaron Lanier


Wem gehört die Zukunft?
17 (12) Robert Seethaler Hoffmann und Campe; 24,99 Euro
Ein ganzes Leben Hanser Berlin; 17,90 Euro
18 (16) Matthias Weik / Marc Friedrich
18 (13) Simsion Graeme Der Crash ist die Lösung
Der Rosie-Effekt Fischer Krüger; 18,99 Euro Eichborn; 19,99 Euro

19 (20) Patrick Modiano 19 (–)Guido Maria Kretschmer


Der Horizont Hanser; 17,90 Euro Anziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro

20 (18) James Frey 20 (11) Heinz Buschkowsky


Endgame – Die Auserwählten Die andere Gesellschaft
Oetinger; 19,99 Euro Ullstein; 19,99 Euro

DER SPIEGEL 48 / 2014 133


Dandy Ferry mit
Backgroundsängerinnen
1975 in London

„Das Ende ist


immer tragisch“
Pop Im Alter von fast 70 Jahren
erlebt Bryan Ferry einen neuen
Karriere-Frühling. Er spricht
immer noch gern über Frauen, Anzüge
und die Soul-Musik seiner Jugend.

134 DER SPIEGEL 48 / 2014


Kultur

Kensington ist eines der Londoner Viertel, in Sohn Isaac ist DJ. Er hat den Song „Johnny
denen Hedgefonds-Millionäre aus aller Welt & Mary“ auf dem neuen Album arrangiert.
gern leben. Bryan Ferrys Studio liegt hier, ein SPIEGEL: War es nicht auch ein wenig lang-
alter Industrieziegelbau, aufwendig restau- weilig?
riert. Ferry kam vor den Hedgefonds-Millio- Ferry: So würde ich es nicht nennen. Das
nären, er ist schon etwas länger im Geschäft, Landleben ist Erholung, aber das leiste ich
seit 1971, als er seine Band Roxy Music grün- mir nicht mehr sehr oft. Das Anwesen
dete. In den vergangenen Jahrzehnten haben habe ich seit 40 Jahren, heute verbringe
sich die Immobilienpreise in Kensington ver- ich vielleicht noch 50 Tage im Jahr dort.
zehnfacht. Auch seine Investition in seine Ich bin wieder sehr, sehr beschäftigt.
Laufbahn als Musiker hat sich gelohnt. Als So- SPIEGEL: Mit Ende sechzig noch einmal rich-
lokünstler ist Ferry, der nächstes Jahr 70 wird, tig Gas geben in der Welt des Pop, einem
weltweit gebucht. Im Gang hängt auf einer Geschäft, das eigentlich der Jugend gehört,
Kleiderstange seine Bühnengarderobe, darun- klingt ein wenig eigenartig.
ter diverse Smokings in Weiß. Ferry ist gerade Ferry: Ich versuche, die Zeit, die mir ver-
von einer USA-Tournee zurückgekehrt. Er trägt loren gegangen ist, nachzuholen. Und ich
einen dunkelblauen Pullover, Krawatte, Jeans möchte nicht, wie einige Kollegen, altes Ma-
und senfgelbe Strümpfe. Er hat einen leichten terial einfach wieder veröffentlichen. Alle
Schnupfen, die First Class scheint auch nicht zwei Jahre ein Album mit frischen Songs.
mehr das zu sein, was sie mal war. Ferry dreht Man muss neue Dinge tun im Leben.
die Heizung hoch und reißt gleichzeitig das SPIEGEL: Auf Ihrem Album singen Sie vom
Fenster auf. Zum Teufel mit Niedrigenergie- „One Night Stand“, stilisieren sich als „Bot- Musiker Ferry
häusern und Dämmungshysterie. schafter des Schmerzes“, als „Soldat des „Es war ein Image, das uns Spaß machte“
Schicksals“. Sollte man nicht annehmen,
SPIEGEL: Mr Ferry, das Cover Ihres neuen dass sich eine solche Rastlosigkeit mit den ähnliche Dinge, spricht die gleiche Sprache.
Albums „Avonmore“ zeigt ein Foto von Ih- Jahren legt? Wir alle sind am Ende nichts anderes als
nen, das rund 30 Jahre alt ist. Sind Sie mit Ferry: Sollte man, ja. Aber man kann immer die Summe der kleinen Dinge, für die wir
dem Gesicht, das Sie heute jeden Morgen noch über dieses Thema schreiben. Liebes- uns einmal entschieden haben.
im Spiegel sehen, nicht mehr zufrieden? lieder interessieren mich immer noch am SPIEGEL: Schon mit Ihrer Band Roxy Music
Ferry: So schlimm ist es nicht. Es gibt auch meisten – als Fan und als Protagonisten. pflegten Sie einen mondänen Stil, was in
heute gute Fotos von mir, ab und zu. SPIEGEL: Es gibt zwei Arten von Frauenhel- der Hippiewelt der frühen Siebzigerjahre
SPIEGEL: Kommt es im Pop nicht immer den: hedonistische Playboys und leidende mit großem Befremden wahrgenommen
darauf an, dass man zeigt, wie großartig Eroberer wie Casanova. Was liegt Ihnen wurde. War das auch eine Kampfansage?
man die Gegenwart im Griff hat? näher? Ferry: Das waren viele Dinge gleichzeitig.
Ferry: Ich war in Amerika auf Tournee. Es Ferry: Casanova. Das hat etwas Vornehmes, Einmal der Schritt zurück in die Welt der
herrschte große Eile, und ich fand, dass geradezu Literarisches. Jetset, große Autos, Fünfzigerjahre und zugleich der Sprung
das Foto der nachdenklichen Stimmung viel Geld zerstören die Romantik. nach vorn in die Science-Fiction-Welt des
des Albums entspricht. Ich reiße mich SPIEGEL: Casanova endete gnadenhalber Weltraumzeitalters. Und dass da am Ende
nicht darum, fotografiert zu werden. als Bibliothekar auf einem Schloss und eine Aura der Exklusivität entstand, hat
SPIEGEL: Es ist nicht lange her, da haben verbrachte seine Zeit vor allem damit, sich möglicherweise damit zu tun, dass wir mit
Sie zusammen mit einem Ihrer Söhne welt- zu beschweren. Über den Kaffee, die Mak- sehr guten Designern und Schneidern wie
weit für H & M geworben. Vergessen Sie karoni und das Personal, das nicht stan- Antony Price zusammenarbeiteten.
bei solchen Gelegenheiten das Alter? desgemäß grüßte. SPIEGEL: Möglicherweise? Sie sollten es wis-
Ferry: Das Alter ist eine seltsame Sache. Ferry: Das Ende ist immer tragisch. Am sen. Sie waren Kopf und Regisseur der Band.
Das Beste daran ist, Erfahrungen gesam- Tod gibt es nichts Gutes. Wie man es auch Ferry: Ich hatte vor allem Glück, dass ich
melt zu haben und noch am Leben zu sein. anstellt, eine Flucht davor ist unmöglich. so viele ungewöhnliche Persönlichkeiten
SPIEGEL: In Amerika verkünden Optimis- SPIEGEL: Sie haben einmal selbstironisch für diese Band gefunden hatte. Andy
ten, dass 70 die neuen 50 seien. über Ihren Hit „Dance Away“ gesagt, die Mackay war wie ich zur Universität gegan-
Ferry: Wenn man 40 wird, fühlt es sich an, Friseure der Welt würden dazu mit ihren gen. Wir haben uns viel mit Kunst beschäf-
als wäre man noch 30. Ähnliches gilt für die Scheren klappern. Warum waren Ihnen Stil, tigt. Dasselbe gilt für Brian Eno, der sehr
50. Mal sehen, was nächstes Jahr passiert. Aussehen und Inszenierung so wichtig? clever war. Das waren außergewöhnliche
FOTOS: MICHAEL PUTLAND / GETTY IMAGES (L.); MAURICE HAAS / 13 PHOTO (R.)

Ich kann immer noch tun, wozu ich Lust Ferry: Ich habe musikalisch stets Inspiration Männer, und deswegen war Roxy Music
habe. Konzerte, Alben, wie es mir gefällt. bei sehr stilbetonten Menschen gefunden: eben ein wenig anders.
SPIEGEL: In den Neunzigerjahren hatten Sie Charlie Parker, Miles Davis, Jimi Hendrix, SPIEGEL: Die Aura des Luxus erklärt das
sich schon fast aus dem Musikgeschäft zu- Otis Redding. Alles Künstler mit einer nicht.
rückgezogen. Sie lebten das Leben eines unglaublichen Persönlichkeit. Figuren, die Ferry: Es war ein Image, das uns Spaß mach-
englischen Landadligen mit einem großen ihren eigenen Weg gingen. Oder Fred te. Der weiße Smoking zum Beispiel war
Anwesen, einer Oldtimer-Sammlung und Astaire: bewunderungswürdig, stilsicher, eine Hommage an „Casablanca“ und
vier Söhnen. Warum wollten Sie damals, supersmart. Cary Grant: der vielleicht voll- Humphrey Bogart: Deckenventilatoren,
in Ihren besten Jahren, von Musik nicht kommenste Filmstar aller Zeiten. Mein Zigarettenrauch, Gefahr, schöne Frauen.
mehr viel wissen ? Leben besteht darin, auszuwählen. Hier SPIEGEL: Sie sind in einem Minenarbeiter-
Ferry: Bei vier Söhnen ist es ganz natürlich, ein wenig, dort etwas, und am Ende kommt ort im Norden Englands aufgewachsen. Ihr
etwas kürzerzutreten. Ich hatte mehr Zeit, dabei heraus, was man Geschmack nennt. Vater kümmerte sich um die Ponys, die
mich dem zuzuwenden, was man gemein- Jeder hat seinen eigenen, gewiss, aber bei unter Tage eingesetzt wurden. Fühlten Sie
hin das „echte Leben“ nennt. Aber jetzt meiner Geschmacksbildung waren Men- sich als Heranwachsender arm?
sind sie erwachsen. Mein Sohn Tara spielt schen mit Stil eben nicht unwichtig. Daraus Ferry: Möglicherweise ja. Wir hatten keinen
auf dem neuen Album Schlagzeug, mein sind Freundschaften entstanden. Man mag Kühlschrank, kein Telefon, kein Auto.
DER SPIEGEL 48 / 2014 135
Kultur

SPIEGEL: Litten Sie unter der Armut, oder von Sam & Dave und Otis Redding zu
waren Sie stolz darauf, zur Arbeiterklasse sehen.
zu gehören? Ferry: Fantastisch war das, das Beste über-
Ferry: Ich war sehr, sehr stolz, und je älter haupt. Booker T. & the M. G.’s hielten als
ich werde, desto größer wird mein Stolz. Band alles zusammen, Sam & Dave, Otis
Es wird mir immer klarer, wie fürsorglich Redding und auch Eddie Floyd sangen. Ei-
meine Eltern waren – sehr solide und lie- ner nach dem anderen. Alle in extrem gut
bevoll, keine Scheidung, ein Leben lang geschnittenen Mohair-Anzügen. Otis Red-
zusammen, ich habe wirklich Glück ge- ding trug einen roten, Sam & Dave kamen
habt. in Kanariengelb. Das Publikum ist kom-
SPIEGEL: Ihre Mutter kochte Tee für den plett durchgedreht – und das in London.
Vorführer des einzigen Kinos im Ort? SPIEGEL: Bald darauf zogen Sie nach Lon-
Ferry: Ein ganz kleines Haus mit Holz- don. Die ersten Nächte verbrachten Sie im
bänken. Ich durfte mich an der Seite mei- Haus des Künstlers David Hockney.
ner Mutter in die Vorstellungen schleichen Ferry: David war in Amerika, aber ein ge-
und sah eine andere Welt. Eine, die meine meinsamer Freund, der 15 Jahre für den
Fantasie beflügelte. Als Teenager waren Maler Jasper Johns gearbeitet hatte, brach-
Künstler wie Picasso und Jackson Pollock te mich da unter. Ich liebe die Arbeiten
für mich der Gipfel des Glamours. Und von Hockney aus den Sechzigern, damals
dann gab es natürlich das Radfahren: Al- hatte ich kein Geld, heute sind mir seine
lein die Farben der Räder und der Trikots, Bilder zu teuer.
Eddy Merckx war eines meiner Idole, ich SPIEGEL: Sie waren auch gut mit Künstlern
war im Radsportverein, fuhr Rennen, ich wie Francis Bacon bekannt und mit dem
hielt Radfahren für das Coolste überhaupt. legendären Fotografen Peter Beard.
Nach drei Jahren musste ich meine Räder Ferry: Francis lebte in Paris, ich in London,
verkaufen. Meine Mutter wollte das so. Ich er wollte mich porträtieren, aber dazu kam
sollte die Nachmittage nicht mehr auf dem es nie. Man musste sehr früh aufstehen,
Rad verbringen. Ich sollte der Erste in mei- um ihm Modell zu sitzen. Und Peter ist
ner Familie sein, der auf die Universität ziemlich verrückt, er war ein Freund der
geht. Schriftstellerin Tania Blixen. Wir sind in
SPIEGEL: Wann kauften Sie sich Ihren ersten den späten Siebzigerjahren, als wir mit
Anzug? Roxy Music in New York aufnahmen, viel
Ferry: Mit 15. Ich arbeitete bei einem Schnei- ausgegangen.
der und bekam Rabatt. Der Anlass war SPIEGEL: Peter Beard war zu dieser Zeit vor
meine erste Reise ins Ausland, nach Köln. allem dafür bekannt, sich auf der Damen-
Meine große Schwester besuchte ihre Brief- toilette des Studios 54 aufzuhalten. Er
freundin, und ich durfte sie begleiten. Die schwärmte für diesen Ort: „Dort wurden
Brieffreundin hieß Renate, und sie schrei- Geschäfte abgeschlossen, Kokslinien gezo-
ben sich immer noch, obwohl Renate jetzt gen und es wurde Sex gemacht.“
in Südamerika lebt. Ferry: Eben ein Freund der Frauen, eine
SPIEGEL: Heute lassen Sie Ihre Anzüge in große Persönlichkeit.
der Savile Row in London anfertigen. Was SPIEGEL: Und Sie standen brav daneben?
machen die Männer in der Savile Row bes- Ferry: Darüber wird nicht gesprochen.
ser als andere Schneider? SPIEGEL: Ihr Vermögen wird auf 30 Millio-
Ferry: Es wird wohl auch in Deutschland nen Pfund geschätzt. Gehören Sie noch
gute Schneider geben, aber in der Savile zur britischen Arbeiterklasse?
Row ließen Leute wie Frank Sinatra, Fred Ferry: Möglicherweise, ich arbeite immer
Astaire und Cary Grant Maß nehmen. Ein noch hart. Fast jeden Tag. Ich liebe meine
guter Anzug hilft im Leben. Besser einen Arbeit.
guten Anzug besitzen als drei schlechte. SPIEGEL: Politisch stehen Sie auf der ande-
SPIEGEL: Rennräder, Kunst, Anzüge – hal- ren Seite.
ten Sie sich jetzt, im Alter von fast 70 Jah- Ferry: Kann man so sagen. Ich wurde ein
ren, eigentlich immer noch für cool? paar Monate nach dem Zweiten Weltkrieg
Ferry: Ich habe ein eher südländisches Tem- geboren. Alles war rationiert, keine Milch,
perament. Meine Sinne sind schnell erreg- keine Butter. Meine Generation hat so vie-
bar. Das ist eines der paradoxen Dinge an le Veränderungen wie kaum eine andere
England. Die Menschen im Norden wer- mitgemacht. Da kann es vorkommen, dass
den gern mal laut, ohne es böse zu meinen. man ein paar Dinge konservieren möchte.
Sie zeigen einfach nur ihre Freude. Persönlichen Kontakt zum Beispiel oder
SPIEGEL: Sie hatten eine Leidenschaft für Telefongespräche auf dem Festnetz – ich
Soul-Musik aus den USA. würde diese Dinge sehr vermissen.
Ferry: Der Norden mit seiner Schwerindus- Interview: Thomas Hüetlin
trie und seinen Arbeitern fühlte sich immer
viel ärmer an als der Süden. Deshalb traf Video:
die Musik der Schwarzen dort einen Nerv. So klingt Bryan Ferry
SPIEGEL: Sie sind mehr als 400 Kilometer spiegel.de/sp482014ferry
nach London getrampt, um ein Konzert oder in der App DER SPIEGEL

136 DER SPIEGEL 48 / 2014


wegs gewesen, flüchtete erst nach Island und reiste von dort
aus in alle Welt. Schließlich traf er in den USA auf Rick Rubin.
Rubin ist die effektivste Reha-Institution des zeitgenössischen
Musikgeschäfts. Der rauschebärtige Musikproduzent hat unter
anderem Johnny Cash zu einem großartigen Alterswerk ver-
holfen und eher neurotische Popkünstler wie Eminem oder
Rasender auf Raststation Black Sabbath zu disziplinierter Studioarbeit abgerichtet.
„Er hat mir das Laufen neu beigebracht“, sagt Rice. „Als ich
ihn traf, war ich in einem Zustand, als hätte ich mit knapper Not
Popkritik Der Ire Damien Rice, einen Autounfall überstanden. Ich konnte nicht mal die großen
Leidensmann und Frauenliebling, Zehen rühren. Nur dank Rick kam ich wieder auf die Beine.“
meldet sich zurück. Tatsächlich ist „My Favourite Faded Fantasy“ nun eine sou-
veräne, von Rubin streng um alle Schrillheiten bereinigte Rück-
kehr in die Popwelt. Rice singt immer noch von den nieder-

D
ie Begegnung zweier ehemaliger Geliebter ist selten schmetterndsten Augenblicken des Lebens, von Abschieden
ein Freudenfest, bei Damien Rice ist sie stets eine Top- und vergeigten Lebensträumen. Aber er tut es mit der Abge-
gelegenheit, giftige Worte abzufeuern. Ob sie je mit klärtheit eines 40-Jährigen, der seine Kraft aus der Zuversicht
ihrem neuen Lover gemeinsam zum Orgasmus komme, fragt bezieht, er habe den Hass auf sich selbst und auf andere jetzt
er in einem seiner bekanntesten Songs die Exfreundin: „Putzt ein für alle Mal hinter sich gelassen. Hier singt einer, wie es
du dir die Zähne, bevor du ihn küsst?“ In einem neuen Lied schon der Titelsong des Albums verkündet, von den drängends-
erkundigt Rice sich im Schmeichelton: „Bin ich das größte ten seiner verblassten Erinnerungen, von geschlagenen Schlach-
Scheusal, das du kennst? / Derjenige, dem du so wehgetan ten; und er tut es mit herzerwärmender Lässigkeit. Als Rice
hast, dass du es nicht erträgst?“ beim abendlichen Konzert in der Hotellobby seine neuen Songs
Mit Intimitäten und Gefühlsausbrüchen, wie sie selbst in der vorträgt, steif am Klavier sitzend oder zur Gitarre, singt er die
hysterievernarrten Musikwelt nur selten vorkommen, ist der meisten dieser Songs mit geschlossenen Augen.
Ire Damien Rice bekannt geworden. Das
war vor einem Jahrzehnt, seine Songs da-
mals hießen „Cannonball“, „The Blower’s
Daughter“ oder „Cold Water“. Sie waren
die Begleitmusik, als Julia Roberts, Natalie
Portman und Jude Law im Film „Hautnah“
(2004) elegisch übereinander herfielen, und
sie markierten die Schluchzmomente in
Fernsehserien wie „O. C., California“ und
„Dr. House“. Auch im deutschen Regiethea-
ter werden Rices Oden voller Verzweif-
lungsgebrüll, wütendem Klavierspiel und
sattem Geigenschmalz fleißig gespielt.
„Die Idee der romantischen Liebe ist eine
Droge“, sagt der Musiker Rice heute, jedes
Wort abwägend, als wartete er für seine
Sätze auf die Einflüsterungen himmlischer
Ratgeber. „Im Grunde ist sie wie Heroin.
Viele Menschen sind süchtig nach diesem
Ideal. Ich nicht mehr. Ich habe einen Alb-
traum durchlebt.“
Rice, 40, ist in Berlin, um bei zwei Kon-
zertterminen sein neues Album „My Fa-
vourite Faded Fantasy“ vorzustellen. Es ist
überhaupt erst sein drittes – und das eines Musiker Rice: Kampf mit Dämonen und der Erinnerung an krasses Liebesleid
Mannes, der Fans und Musikjournalisten
als Verschollener galt. Acht Jahre ist es her, dass Rice sein Allerdings gibt es auf dem neuen Album immer noch diesen
letztes Werk veröffentlicht hat, in den vergangenen sieben einen herausragenden Song, der eindeutig den Showdown mit
Jahren ist er nur selten auf Konzertbühnen aufgetreten. Irische einer Exgeliebten zum Thema hat. In „The Greatest Bastard“
und britische Klatschblätter berichteten ausführlich, dass er geißelt sich der Sänger als Scheusal und feiert den Schmerz,
die Sängerin Lisa Hannigan, die einst seine Band- und Le- der ihm zugefügt wurde.
benspartnerin gewesen war, öffentlich anbettelte, doch bitte Was immer die Kritiker von seiner Arbeit hielten, behauptet
FOTO: JELMER DE HAAS / SUNSHINE / ACTION PRESS

zu ihm zurückzukehren. Und sie jagten ihn, als er mit der Rice, ihn könne deren Urteil weder anspornen noch enttäu-
noch schöneren Schauspielerin Mélanie Laurent, einer nun in schen. „Ich habe mir Tonnen von Songs ausgedacht und sie
Hollywood arbeitenden Französin, für eine Weile eine neue hinterher auf den Müll geworfen.“ Die acht, die auf seinem
Gefährtin fand. Album zu hören sind, seien übrig geblieben. „Trotzdem könnte
Rice sagt, der Ruhm und die Paparazzi hätten ihn in Panik ich jederzeit Argumente gegen diese acht Songs finden, die
versetzt. „In meinem Inneren brannte ein Feuer, das sich vom gemeiner sind als alles, was meinen Kritikern je einfällt.“
Hass auf mich selbst und vom Zorn auf andere nährte.“ Der Vielleicht ist der Frieden, den Damien Rice mit seinen
Sänger, aufgewachsen in einer Kleinstadt in der Nähe von Dub- Dämonen geschlossen hat, doch nur ein Waffenstillstand.
lin und in jungen Jahren als Straßenmusiker in Italien unter- Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL 48 / 2014 137


Wissenschaft+Technik
Genanalyse von Resistenzen. Erst mit
„Wir schaffen das unserem neuen Programm
an einem Tag“ können wir so große Daten-
mengen bewältigen.
Um das Erbgut SPIEGEL: Hat „Diamond“ Sie
von Lebewesen reich gemacht?
zu analysieren, Huson: Wahrscheinlich hätten
müssen For- wir auch den wirtschaftlichen
scher riesige Aspekt des Programms be-
Datenmengen rücksichtigen können. Aber es
bewältigen – ist uns um den wissenschaftli-
das kostet Zeit. chen Erfolg gegangen: Mit der
Dem Tübinger Veröffentlichung in der Fach-
Professor für zeitschrift Nature Methods
Algorithmen der Bioinformatik haben wir „Diamond“ als
Daniel Huson, 54, ist es jetzt Open-Source-Programm frei
gelungen, das Verfahren drama- verfügbar veröffentlicht. ku
tisch zu beschleunigen.

27
SPIEGEL: DNA-Daten zu ent- Fußnote
schlüsseln dauert oft lange.
Wie viel schneller schaffen
Sie es?
Huson: Für den Abgleich von
drei Milliarden DNA-Proben Darmbakterien - mal
würde das bisherige Pro- mehr Bakterien als
gramm „BlastX“, wenn es Papierhandtuchspender
nur auf einem Computer lie- mit bekannten Protein- Ende einfach zwei sortierte verteilen Jet-Air-Hände-
fe, 29 Jahre benötigen. Wir sequenzen. Das kann man Listen miteinander. trockner in ihrer Um-
schaffen das an einem Tag – sich vorstellen wie das SPIEGEL: Wozu kann das Pro- gebung. Das ist das Er-
20 000-mal schneller. Nachschlagen in einem riesi- gramm verwendet werden? gebnis einer Studie
SPIEGEL: Was macht Ihr Pro- gen Wörterbuch. Da die Huson: Wir haben bisher vor der University of Leeds.
gramm „Diamond“, das Sie DNA-Daten aber ungeordnet allem die DNA von Mikro- In einem Versuch konnten
zusammen mit ihrem Studen- sind, wird beim Nachschla- ben bestimmt, die im Men- die Testbakterien noch
ten Benjamin Buchfink ent- gen sehr ineffizient hin schen vorkommen: im Darm, 15 Minuten nach dem
wickelt haben, anders? und her gesprungen. Das im Mund oder auf der Haut. Händetrocknen in der Luft
Huson: Die bisherigen Pro- kostet Zeit. Wir hingegen Wir erforschen gerade bei- nachgewiesen werden.

FOTOS V.L.N.R.: JÖRG ABENDROTH / MA; EYE OF SCIENCE / AGENTUR FOCUS; RUSSELL SAVORY / BARCROFT MEDIA; CHARLES PLATIAU / REUTERS
gramme arbeiten alle nach sortieren zunächst alle spielsweise den Effekt von Und das in einem Abstand
dem gleichen Prinzip: Sie vorkommenden Teilsequen- Antibiotika auf die Darm- von bis zu zwei Metern
vergleichen die DNA-Daten zen und vergleichen am flora und die Entwicklung vom Trockner.

Kommentar

Warum Überdiagnose unseren Kindern schadet


D as „Syndrom der Kindheit“ hat als Erster ein gewisser Jor-
dan Smoller beschrieben. Das unter „kurzen, lauten Kreatu-
ren“ verbreitete Leiden sei angeboren und gehe mit Unreife,
beziehen. Den von Smoller erwähnten Kreaturen werden näm-
lich tatsächlich allerlei Leiden, Störungen und Auffälligkeiten be-
scheinigt, die in Wahrheit keinerlei Einfluss auf ihre Gesundheit
Wissenslücken sowie einem Ekel vor Gemüse („Legume anore- haben.
xia“) einher. Die Satire des amerikanischen Psychiaters wird all- Sodbrennen etwa tritt bei sechs Monate alten Babys häufig auf
mählich von der Realität eingeholt: 30 Prozent der Grundschüler und ist im Alter von einem Jahr fast immer verschwunden – ganz
in Deutschland befinden sich gerade in Behandlung, weil sie als gleich, ob therapiert wird oder nicht. Einer Studie zufolge hatte
krank gelten. Eine Empfehlung aus den USA sieht vor, den Cho- die Hälfte der Kinder mit Gallensteinen keinerlei Beschwerden,
lesterinwert aller Mädchen und Jungen mindestens einmal im Al- die meisten bekamen auch später keine und mussten nicht behan-
ter von neun bis elf zu bestimmen. Wenn es so weitergeht, gibt delt werden. Wie in einer Untersuchung gezeigt werden konnte,
es bald keine gesunden Kinder mehr. schlafen fast 50 Prozent aller jungen Menschen mit Schlafapnoe-
Vier Kinderärzte geben jetzt im renommierten Fachblatt Pedia- Syndrom bald wieder völlig normal. Und auch die unter Mädchen
trics eine ebenso kluge wie beruhigende Antwort. Sie räumen und Jungen so in Mode gekommenen Lebensmittelunverträglich-
auf mit dem populären Irrtum, je genauer man einen Menschen keiten beruhen häufig auf Überdiagnosen: Viele Kinder erschei-
untersuche, desto besser sei das für ihn. „Überdiagnostizierte Pa- nen in einschlägigen Tests zwar sensibel, aber nur ein Bruchteil
tienten haben leider nicht nur keinen Nutzen durch ihre Diagno- von ihnen hat eine klinisch manifeste Allergie. All diese Beispiele
se, sondern ihnen kann auch Schaden zugefügt werden“, schrei- sollten niemanden davon abhalten, im Zweifelsfall mit dem Nach-
ben sie. Diese Erkenntnis gilt generell in der Medizin; aber es ist wuchs zum Arzt zu gehen. Dennoch: Mehr diagnostische Zurück-
gut, dass die Autoren sie endlich auch auf die Kinderheilkunde haltung kann nicht schaden, sondern auch nutzen. Jörg Blech

138 DER SPIEGEL 48 / 2014


Artenschutz
Mit einem Klick zum
Elfenbein
Der Handel mit bedrohten
und geschützten Wildtieren
und Wildtierprodukten im
Internet hat stark zugenom-
men. Das ergab eine Studie
des Internationalen Tier-
schutz-Fonds (IFAW). Der
IFAW untersuchte sechs Wo-
chen lang 280 Onlinemarkt-
plätze, die für jedermann of-
fen und zugänglich sind. In
16 Ländern stießen die Akti-
visten dabei auf 33 006 Ange-
bote an bedrohten Wildtie-
ren oder Produkten, die aus
ihnen hergestellt waren. In
54 Prozent der Anzeigen
sollten lebende Tiere ver-
kauft werden, bei über 32
Prozent handelte es sich um
Elfenbein. Der Gesamtwert
der Angebote belief sich auf
etwa 7,8 Millionen Euro.
„Der Onlinehandel mit Wild-
tieren und Wildtierproduk-
ten erhöht die Bedrohung
ohnehin gefährdeter Arten
und ermöglicht es Kriminel-
len, unauffällig und anonym
ihrem blutigen Geschäft

Im Anflug
Auf dem Gelände eines
ehemaligen Militärflug-
platzes im britischen
Essex macht heute dieser
Steinkauz seine Starts
und Landungen. Als Le-
bensraum bevorzugt der
Vogel offene Landschaf-
ten. Der stillgelegte
Fliegerhorst ist daher ein
ideales Jagdgebiet.
Zollfahnder in Paris mit
beschlagnahmtem Elfenbein

nachzugehen“, klagt Robert


Kless, Kampagnenleiter für
Wildtierhandel beim IFAW
Deutschland. Seine Forde-
rung: „Zum Schutz bedroh-
ter Arten müssen Betreiber
von Onlinemarktplätzen mit
Polizei und Zoll zusammen-
arbeiten.“ ku

DER SPIEGEL 48 / 2014 139


Ebola-Testimpfung
in Mali

Schutz durch Affenviren


Seuchen Unter Hochdruck testen Mediziner an Freiwilligen derzeit Medikamente und
Impfstoffe gegen den Ebola-Erreger. Die Experimente verlaufen erfolgreich.
Schon in wenigen Wochen könnten in Westafrika die ersten Patienten behandelt werden.

P
rofessor Blaise Genton ist immer Der Wissenschaftler hatte sofort zuge- gen richten sich deshalb auf Mediziner wie
noch erstaunt darüber, was plötzlich sagt, als ihn die WHO-Experten fragten, Blaise Genton in Lausanne oder Marylyn
alles möglich ist. Auf Rückrufe wich- ob er eine der weltweit größten Studien Addo, die für das Deutsche Zentrum für
tiger Behörden wartet er nicht mehr Wo- für einen Ebola-Impfstoff leiten wolle – Infektionsforschung in Hamburg einen wei-
chen, sondern nur noch Stunden. Nerven- obwohl dem sechsfachen Vater klar war, teren und ebenfalls vielversprechenden
aufreibende Genehmigungsverfahren sind dass er während der Testphase nicht mehr Wirkstoff zur Immunisierung testet.
in Rekordzeit erledigt. Und die erforder- viel Privatleben haben würde. An man- Noch in diesem Monat sollen die ersten
lichen 1,5 Millionen Euro? Die muss seine chen Tagen, erzählt er, würden er und sei- aussagekräftigen Ergebnisse der Impfstu-
Klinik zwar erst einmal vorstrecken. Aber ne Leute kaum mehr als vier oder fünf dien an gesunden Freiwilligen vorliegen.
der Chef der Abteilung für Infektions- Stunden schlafen. In den kommenden Wochen könnte sich
krankheiten am Uni-Klinikum in Lausanne Nach offiziellen Zählungen sind in West- damit entscheiden, wie das Drama weiter-
ist sich sicher: Auch die wird die Schweizer afrika bereits mehr als 5400 Kranke an geht. Viele Experten glauben, dass sich die
Regierung bald für ihn auftreiben. Ebola gestorben, über 15 000 Menschen in Epidemie nur noch durch Einsatz von
„Wir haben eine Ausnahmesituation und Liberia, Sierra Leone und Guinea haben Impfstoffen und Medikamenten stoppen
deshalb außergewöhnlich gute Arbeits- sich infiziert. Und obwohl endlich interna- lässt.
bedingungen“, sagt der Forscher, der zu tionale Hilfe in großem Stil angeleiert wur- Ein Ausbruch mit Tausenden Infizierten
den wichtigsten Akteuren im weltweiten de, ist die Seuche noch längst nicht unter in mehreren Ländern gleichzeitig sei mit
Kampf gegen Ebola gehört. „Allerdings Kontrolle. klassischen Quarantänemaßnahmen „ex-
soll uns auch innerhalb von Monaten ge- In Sierra Leone und Guinea gibt es kei- trem schwer zu kontrollieren“, sagt etwa
lingen, was normalerweise Jahre dauert.“ ne Entwarnung. Erste Fälle werden nun Jeremy Farrar, Direktor des Wellcome
Genton, 58, ein schlanker Mann in Jeans auch aus dem politisch instabilen Mali ge- Trust. Die gemeinnützige Stiftung mit ei-
FOTO: ALEX DUVAL SMITH / DPA

und bunt gemustertem Hemd, hastet über meldet. Lediglich in Liberia verlangsamt nem Vermögen von 21 Milliarden Euro fi-
den blauen Linoleumflur des Uni-Klini- sich die Ausbreitung laut WHO. nanziert einen Teil der Impfstudien. Ent-
kums zu einer Teambesprechung. Seitdem Es ist durchaus möglich, dass die Helfer, sprechend ehrgeizig ist der Zeitplan, den
er Anfang September einen Anruf von der die in ihren gelben Schutzanzügen vor Ort die WHO bis zum flächendeckenden Ein-
Weltgesundheitsorganisation (WHO) be- die Todkranken betreuen, den Ausbruch satz von Impfstoffen und Medikamenten
kam, sind er und sein Team im Dauerstress. allein nicht stoppen können. Die Hoffnun- vorgegeben hat.
140 DER SPIEGEL 48 / 2014
Wissenschaft

Die derzeit laufenden Studien mit ver- ford, bei den US-amerikanischen „Natio- wird alles gut“, ist in die Kladde einge-
gleichsweise wenigen Teilnehmern sollen nal Institutes of Health“ (NIH) in Bethesda stanzt.
zunächst nur zeigen, ob die Impfstoffe und in Mali derzeit die Sicherheit und Ver- Wie lange wird es noch dauern, bis die
verträglich und in welcher Dosierung sie träglichkeit des Wirkstoffs. Während die- Seuche besiegt ist? Die UKE-Forscherin
zu verabreichen sind (Phase 1). Anschlie- ser ersten klinischen Testphase tauschen dämpft die Erwartungen: „Man kann nicht
ßend muss im Großversuch vor Ort unter- sie laufend Daten aus, etwa über die rich- unbedingt davon ausgehen, dass der Impf-
sucht werden, ob die Impfstoffe auch tat- tige Dosierung. stoff einen dramatischen Einfluss auf den
sächlich vor den Viren schützen und wel- Am schlimmsten sei es gewesen, das Verlauf der aktuellen Epidemie haben
che Nebenwirkungen sie haben (Phasen 2 Pflaster an der Einstichstelle abzureißen, wird.“
und 3). berichtete Brian Shepard, ein Proband Ähnlich sieht das auch ihr Kollege Gen-
Spätestens im Januar, möglichst aber aus Bethesda. Am Tag nach der Impfung ton. „Ich rechne eher damit, dass die Epi-
früher, soll die Wirksamkeit der zwei aus- habe er leichtes Fieber gehabt. Das sei demie ausklingen wird, bevor die Vakzine
sichtsreichsten Impfstoffe an Tausenden aber schnell vorbeigegangen, so Shepard. einsetzbar wird“, sagt der Forscher aus
Freiwilligen in Liberia und Sierra Leone Der Wissenschaftler am NIH hat sich aus Lausanne. „Sollte sich das Virus allerdings
getestet werden. Wenn die Impfungen Neugier für die Tests gemeldet, wie die auf Nachbarländer ausbreiten, könnten
funktionieren, so der Plan, werden Phar- meisten anderen auch. Außerdem erhält Impfungen am Ende doch noch eine ent-
mafirmen bis Anfang Juni Hunderttausen- jeder Proband eine Aufwandsentschädi- scheidende Rolle spielen.“
de Impfstoffdosen produzieren. Dann gung. Bisher verlaufen die Studien wie erhofft.
könnte der Masseneinsatz beginnen. Probleme, Freiwillige für ihre Experi- „Der Impfstoff wird von den Probanden
Ähnlich schnell sollen auch Medikamen- mente zu finden, hatte auch Marylyn Addo gut vertragen“, verrät Ripley Ballou, Leiter
te in Experimenten erprobt werden. Noch nicht. Gleich nachdem bekannt geworden der Ebola-Impfstoffentwicklung bei Gla-
im Dezember wollen Mediziner von „Ärz- war, dass es am Universitätsklinikum Ham- xoSmithKline, „und die wenigen Daten,
te ohne Grenzen“ in ihren Behandlungs- burg-Eppendorf (UKE) eine Studie geben die wir schon zur Wirkung auf das Immun-
zentren Studien mit drei verschiedenen würde, erhielt die Forscherin die ersten system haben, sehen auch vielverspre-
Mitteln starten. Mails von Interessenten. chend aus.“
Fast jeder zweite der 120 freiwilligen Stu- Ähnlich wie ihre Kollegen in Genf, Ga- Eigentlich ist Ballou seit Jahrzehnten ei-
dienteilnehmer in Lausanne hat mittler- bun und Kenia testen die Hamburger For- nem Malariaimpfstoff auf der Spur. Als
weile den Impfstoff namens cAd3-ZEBOV scher den zweiten, rVSV-ZEBOV genann- junger Arzt bei der US-Army infizierte er
in die Schulter gespritzt bekommen. Er ba- ten Ebola-Impfstoff. Entwickelt hat ihn die sich sogar einmal absichtlich mit dem
siert auf einem von Schimpansen stammen- kanadische Public Health Agency in Win- Erreger, um einen Impfstoff – der sich
den Erkältungsvirus, dem gentechnisch ein nipeg. Der Lebend-Impfstoff enthält ein am Ende als unwirksam herausstellte – zu
Ebola-Protein zugefügt wurde. Das Ade- Virus aus der Nutztierhaltung, das gentech- testen.
novirus macht Menschen nicht krank, soll nisch verändert worden ist. Auch sein Pharmakonzern will spätes-
aber das Immunsystem für den Erreger sen- „Es besteht keinerlei Gefahr, dass sich tens Mitte Januar in Liberia und Sierra
sibilisieren. jemand durch die Impfung mit Ebola infi- Leone mit Massenversuchen starten. We-
Die vom US-Pharmariesen GlaxoSmith- zieren kann“, versichert UKE-Forscherin gen der Unsicherheiten in den Krisenlän-
Kline (GSK) produzierte Vakzine gilt als Addo. Die schwarzen, lockigen Haare hat dern wolle man zwei Studien durchführen,
eine der zwei aussichtsreichsten. Außer sie hochgesteckt, vor ihr auf dem Tisch erklärt Ballou. „Es wäre sehr enttäuschend,
Genton testen auch Wissenschaftler in Ox- liegt ein weißes Notizbuch. „Am Ende wenn wir am Ende der Epidemie immer

Jenseits von Afrika


Behandlung von einzelnen Ebola-Kranken mit experimentellen Wirkstoffen O Z Oslo
in Europa und den USA
OX Hamburg

Z London O Leipzig

15 351
O O X
Z/S Omaha
OFX Frankfurt

O
T/S Omaha OO
X F Paris
OZ Genf
O
B/S Omaha
OS New York
Menschen sind weltweit
an Ebola erkrankt.* OX Madrid

O Bethesda O
5459
S Z Madrid

O
B Dallas OZ Atlanta O
F/S Madrid

OZ Atlanta
OS Atlanta Tote wurden bisher gemeldet.**

O
Stand: 21. November
X Atlanta Quellen: WHO; ECDC
* bestätigte und Verdachtsfälle
** kumulativ
MALI
Zustand des Patienten Behandlung mit …
SENEGAL
B Brincidofovir Virostatikum T TKM-Ebola RNA-Wirkstoff
O gestorben
F Favipiravir Virostatikum Z ZMapp monoklonalen Antikörpern
O noch in Behandlung GUINEA NIGERIA
FX FX06 Mittel gegen Gefäßschäden X Behandlungsmethode unbekannt oder
O geheilt S Blutserum von Überlebenden keine experimentellen Ebola-Medikamente
SIERRA LEONE
LIBERIA
Wissenschaft

noch nicht wüssten, ob der Impfstoff wirk-


lich schützt.“
Am wenigsten Sorgen macht ihm dabei
noch, dass der Impfstoff durchgehend auf
minus 80 Grad Celsius gekühlt werden
muss. „Es könnte sein, dass auch deutlich
weniger reicht“, sagt Ballou. Die Impfun-
gen selbst seien ebenfalls leicht zu verab-
reichen. Schwierig jedoch könnte es wer-
den, die Probanden in unübersichtlichen
Großstädten wie Monrovia mehrere Wo-
chen lang lückenlos zu beobachten.
Auch bei der weiteren Finanzierung gibt
es noch Klärungsbedarf. „Natürlich ist das
ein riesiges Thema“, sagt Seth Berkley, Ge-
schäftsführer der Allianz für Impfstoffe
(Gavi) in Genf. Es sei noch unklar, wer
eine Aufstockung der Dosen bezahlen soll,
ihre Lagerung oder die Impfung der Men-
schen in Afrika.
Die durch Regierungsgelder und Privat-
spenden finanzierte Organisation Gavi
sorgt dafür, dass sich auch arme Länder Tropenmedizinerin Addo
lebensrettende Impfstoffe leisten können Mails von Freiwilligen
– etwa gegen Masern oder Polio. Jetzt soll
sie sich auch um Ebola kümmern. „Wir überleben, ist das der Hauptgewinn, und
verhandeln derzeit mit Geldgebern und wir werden die Studie schnell auf weitere
der Pharmaindustrie“, sagt Berkley. Zentren ausweiten.“
Für Liberia ist eine sogenannte placebo- Erprobt werden sollen die Anti-Viren-
kontrollierte Impfstudie geplant. Nach dem Mittel Brincidofovir und Favipiravir sowie
Zufallsprinzip bekommen die Freiwilligen die Behandlung mit dem antikörperhalti-
entweder einen der beiden Impfstoffe ge- gen Blutserum, das von Überlebenden
spritzt oder aber (ohne es zu wissen) ein stammt. „Ärzte ohne Grenzen“ hat diese
Placebo. Am Ende werden die Ergebnisse drei Therapien sorgfältig ausgesucht. „Wir
miteinander verglichen. „Wenn alles opti- wollten Wirkstoffe, die die Viren direkt
mal läuft, wissen wir innerhalb von acht bis angreifen und möglichst schnell in großen
zwölf Wochen, ob unser Impfstoff tatsäch- Mengen verfügbar sein können“, erklärt
lich vor den Viren schützt“, erklärt Ballou. Antierens.
Im Fall von Ebola ist diese wissenschaft- Die Gunst der Stunde nutzen aber nicht
lich korrekte Form der Studie allerdings nur seriöse Schulmediziner; auch deutsche
umstritten. Für „Ärzte ohne Grenzen“ – Homöopathen sehen in der Seuche die
die nicht Impfstoffe, sondern Medikamen- Chance, ihre unbewiesenen Methoden un-
te erproben wollen – wäre es undenkbar, ter Beweis zu stellen. So schickte der Welt-
in ihren Behandlungszentren eine Thera- verband Liga Medicorum Homoeopathica
pie nur vorzutäuschen. Internationalis nach eigenen Angaben eine
„Unsere Ärzte würden sich wahrschein- ganze Delegation homöopathischer Ärzte
lich weigern, den Kranken Scheintabletten ins Katastrophengebiet nach Liberia, um
zu geben“, sagt Annick Antierens, die die Infizierte mit Globuli zu behandeln.
Studien bei der Hilfsorganisation koordi- „Wir sind gesegnet mit 110 Mitteln in
niert. „Stellen Sie sich mal vor, wie das drei- bis vierfacher Potenz“, teilte Delega-
ist, einen todkranken Menschen, der sich tionsleiterin Ortrud Lindemann per Mail
ständig übergibt, nur mit Placebo-Pillen aus der Hauptstadt Monrovia mit. „Wir
zu versorgen – für mich wäre das unvor- sind dazu bestimmt, dem Volk Liberias zu
stellbar.“ helfen im Kampf gegen Ebola mit homöo-
Die Skrupel der Ärzte sind nachvollzieh- pathischen Mitteln.“
bar. Sie haben sich deshalb für ein anderes Regierungsmitarbeiter in Liberia konn-
Studiendesign entschieden – das allerdings ten die Begeisterung der deutschen Heiler
den Nachteil hat, keine eindeutigen Ergeb- allerdings nicht teilen – und untersagten
nisse liefern zu können. den Homöopathen, Ebola-Kranke zu be-
FOTO: CHRISTIAN O. BRUCH / DER SPIEGEL

„Derzeit überlebt bei uns etwa jeder handeln.


zweite Patient, wenn mit dem Medika- Entmutigen lassen wollen sich die Heiler
ment zwei von drei Patienten überleben, davon nicht. Die Unterstützer der Mission
werten wir dies als Zeichen des Erfolgs. erwägen bereits, ein zweites Homöopa-
Dann wird das Medikament in einer deut- thenteam nach Westafrika zu schicken –
lich größeren Studie weiter erprobt“, er- auch diese wieder mit allerhand Kügelchen
klärt Antierens die Strategie. „Wenn mit im Gepäck.
der Therapie sogar vier von fünf Patienten Katrin Elger, Markus Grill, Veronika Hackenbroch

142 DER SPIEGEL 48 / 2014


Technik

„Niemand will ein Mistauto“


SPIEGEL-Gespräch Tesla-Chef Elon Musk rechtfertigt
den Bau von Ökoautos, die beschleunigen wie Rennwagen,
beschwört seine Vision vom autonomen Fahrzeug
und erklärt, warum mehr Tunnel gebaut werden müssen.

E
ine abgesperrte Straße im Süden von zyklus betrachtet, ist die Ökobilanz eines
Berlin, rot-weiße Fähnchen markie- normalen Diesels derzeit besser als die ei-
ren links und rechts die Fahrbahn. nes Elektroautos, weil noch immer ein gro-
Hier führt Elon Musk, 43, Chef des ameri- ßer Teil des benötigten Stroms aus der Ver-
kanischen Elektroautoherstellers Tesla, ein brennung von Kohle stammt.
neues Modell vor. Anschnallen, Gurte Musk: Das stimmt nicht.
straffen, Kopf an die Kopfstütze lehnen. SPIEGEL: Das ist das Ergebnis von wissen-
Und los geht’s: Die Beschleunigung des schaftlichen Studien, zum Beispiel des Hei-
691-PS-Geschosses Tesla Model S P85D delberger Instituts für Energie- und Um-
ist atemberaubend. Das Tempo passt zu weltforschung.
Musk, dem Unternehmerstar aus dem Sili- Musk: Ich sehe nicht, wie diese Rechnung
con Valley, der einst das Onlinebezahlsys- einen Sinn ergeben könnte.
tem Paypal mitentwickelte. Seitdem hat SPIEGEL: Wollen Sie bestreiten, dass etwa
der gebürtige Südafrikaner ein Zukunfts- in Deutschland noch immer fast die Hälfte
projekt nach dem anderen gestartet: Er des Stroms in Kohlekraftwerken erzeugt
will Menschen zum Mars schießen, eine wird und Elektroautos zumindest hierzu-
Hochgeschwindigkeitsbahn von San Fran- lande nicht sehr umweltfreundlich sind?
cisco nach Los Angeles bauen und das Musk: Aber es besteht doch Einigkeit, dass
Elektroauto zum Massenprodukt machen. sich der Energiemix ändern muss. Wenn wir
eine nachhaltige Zukunft wollen, brauchen
SPIEGEL: Herr Musk, Sie haben kürzlich das wir eine nachhaltige Energieproduktion,
Tesla Model S aufgerüstet. Nun beschleu- etwa mithilfe von Solarmodulen. Dieser
nigt Ihr Elektroauto von 0 auf 100 in 3,4 Strom lässt sich dann in Batterien zwischen-
Sekunden … speichern. Und wenn wir so ein System
Musk: … Gerade ist der Wagen sogar noch haben, ist es doch ganz offensichtlich, was SPIEGEL: In den Batterien ist kein Kobalt
ein paar Zehntelsekunden schneller ge- für Autos wir brauchen: Elektroautos. enthalten?
stoppt worden. SPIEGEL: Beschert uns eine Zukunft, in der Musk: Doch. Etwa zehn Prozent. Aber es
SPIEGEL: Warum braucht die Welt ein sol- wir vor allem auf Batterien als Energiespei- kommt nicht aus dem Kongo. In unserer
ches PS-Monster? cher setzen, nicht neue Umweltprobleme? neuen Gigafactory werden wir Kobalt aus
Musk: Weil es die negative Wahrnehmung Der Abbau der in Batterien enthaltenen Kanada verwenden.
von Elektroautos bricht. Niemand will ein Metalle verschlingt Unmengen an Ressour- SPIEGEL: Die Gigafactory ist eine riesige
Mistauto haben. Wenn die Leute Elektro- cen, einige kommen aus politisch instabilen Batteriefabrik, die Sie für fünf Milliarden
autos mit Golfcarts gleichsetzen, wenn sie Ländern wie der Demokratischen Republik Dollar in der Wüste von Nevada errichten
glauben, Elektroautos hätten keine Reich- Kongo, wo sie unter unmenschlichen Be- wollen. Sind Sie sicher, dass Sie die gewal-
weite und eine armselige Beschleunigung, dingungen abgebaut werden. tigen Kapazitäten auch benötigen werden?
wird dann irgendjemand jemals so ein Musk: In unseren Fahrzeugen verwenden Musk: Wir müssen den Preis der Batterien
Auto kaufen? Natürlich nicht! Aber wenn wir keine Seltenen Erden aus zweifelhaf- senken, und das funktioniert nur mit ho-
wir zeigen, dass ein Elektroauto besser ten Ländern. Unser Motor besteht vor al- hen Stückzahlen. Unser Mittelklasseauto
sein kann als ein Benziner, dass es weit lem aus Kupfer und Stahl. Und unsere Bat- Model 3 zielt auf den Massenmarkt, es soll
fahren und sexy sein kann, dann wird es terien enthalten lediglich Stoffe wie syn- in etwa drei Jahren herauskommen.
attraktiv. Mit unserem Wagen können Sie thetischen Grafit oder Nickel. SPIEGEL: In der Gigafactory wollen Sie her-
fast jedem anderen Auto auf dem Markt kömmliche Lithium-Ionen-Batterien her-
die Rücklichter zeigen. Das ist wichtig, es stellen. Wissenschaftler experimentieren be-
schafft einen Präzedenzfall. Es zeigt, dass reits mit Lithium-Schwefel- oder Lithium-
die Technologie unwiderstehlich ist. Damit Luft-Akkumulatoren. Setzen Sie überhaupt
ebnen wir den Weg für Elektroautos, die noch auf die richtige Technologie?
auch im Massenmarkt funktionieren. Musk: Es wird unheimlich viel Schwachsinn
FOTO: WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Gleichzeitig machen Sie mit einer in der Batterie-Industrie erzählt. Ich sehe
Ökobotschaft Werbung: „Keine Emissio- im Moment nichts Besseres am Horizont
nen, keine Kompromisse“. Aber ist ein Tes- als die Lithium-Ionen-Technologie. Wenn
la wirklich so umweltfreundlich, wie Sie jemand glaubt, etwas Besseres zu haben,
behaupten? Über den gesamten Lebens- soll er uns bitte eine funktionierende Bat-
terie zum Testen zusenden, nicht nur eine
Das Gespräch führten die Redakteure Philip Bethge und Unternehmer Musk Powerpoint-Präsentation. Im Labor er-
Alexander Jung in Berlin. „Es wird unheimlich viel Schwachsinn erzählt“ scheint vieles möglich. Doch eine Technik
144 DER SPIEGEL 48 / 2014
Präsentation des Tesla
Model S P85D am
9. Oktober in Kalifornien

„Mit unserem Wagen können Sie


fast jedem anderen Auto auf dem
Markt die Rücklichter zeigen.“

im Industriemaßstab zu realisieren ist eine muss sich niemand. Die Nachfrage nach SPIEGEL: Halten Sie das batteriebetriebene
ganz andere Sache. Vom Labor bis zur unseren Autos ist sehr groß. Elektroauto selbst bei sinkenden Öl- und
Massenproduktion dauert es im besten Fall SPIEGEL: Hat Ihnen Daimler-Chef Dieter Benzinpreisen immer noch für wettbe-
sechs Jahre. Zetsche gesagt, warum er die Anteile an werbsfähig?
SPIEGEL: Wäre es schlau, auch in Deutsch- Tesla verkauft hat? Musk: Ich denke nie über den Ölpreis nach.
land eine Batteriefabrik zu bauen? Musk: Er hat mich nicht angerufen. Aber Er hat nur einen kleinen Effekt auf das
Musk: Ich gehe davon aus, dass Tesla auf Daimler und Toyota wollten wohl einfach Geschäft mit Elektroautos. Aber ich glaube
lange Sicht eine Batteriefabrik in Deutsch- Gewinne realisieren. Der Börsenmarkt ist nicht, dass er noch viel weiter sinken wird.
land errichten wird. Nach meiner Schät- stark im Moment. Ich glaube, Daimler hat SPIEGEL: Welche Rolle spielen Subventio-
zung in fünf, sechs Jahren. 700 Millionen Dollar an uns verdient oder nen? In Norwegen und den Niederlanden
SPIEGEL: Der Daimler-Konzern hat gerade irgend so etwas Verrücktes. Unsere Zusam- fördert der Staat den Kauf von Elektro-
angekündigt, die einzige deutsche Batte- menarbeit setzt sich übrigens fort. Wir lie- autos, dort ist Ihr Marktanteil bereits höher
riezellenfabrik für Elektroautos zu schlie- fern Daimler die Batterien und die An- als in Deutschland.
ßen. Ein Fehler? triebseinheiten für die elektrische B-Klasse. Musk: Subventionen sind Katalysatoren.
Musk: Die deutsche Autoindustrie sollte SPIEGEL: Sie sprechen auch mit BMW. Sie beschleunigen die Dinge. Zum Über-
viel mehr Energie in die Entwicklung von Musk: Ja, wir reden darüber, ob wir bei leben braucht Tesla sie jedoch nicht. Wol-
Batterien stecken. Sie hat beste Vorausset- der Batterietechnik oder den Ladestatio- len wir, dass der Wandel hin zu nachhalti-
zungen. Deutschland hat verdammt gute nen zusammenarbeiten können. Außer- gem Verkehr schneller geht? Dann sind
Ingenieure. dem hat BMW eine relativ kostengünstige Subventionen sinnvoll. Im Moment fährt
SPIEGEL: Daimler hat vor Kurzem auch Karbonfaserproduktion. Das könnte für weniger als ein Prozent aller Autos elek-
noch seinen vierprozentigen Anteil an Tes- unsere Karosseriebauer interessant sein. trisch.
FOTO: KEVORK DJANSEZIAN / GETTY IMAGES (O.)

la verkauft, Toyota hat die Kooperation SPIEGEL: BMW wird zugleich als Ihr größter SPIEGEL: Vielleicht ist Ihre Vision des reinen
ebenfalls beendet. Auch Teslas Geschäfts- Wettbewerber um die Vormacht im Elek- Elektroautos einfach zu radikal. Viele Her-
zahlen haben die Erwartungen vieler An- troautomarkt gesehen. Mit dem i3 hat die steller setzen lieber auf Plug-in-Hybride,
leger zuletzt nicht erfüllt. Offenbar teilt Firma bereits einen Kleinwagen auf dem also Elektroautos, die nach wie vor auch
nicht jeder Ihren Optimismus. Markt, mit dem i8 ein Hybrid-Luxusmo- mit einem Verbrennungsmotor ausgestat-
Musk: Gut, wir haben im Moment Proble- dell. Sehen Sie BMW als Konkurrenz? tet sind. Warum lehnen Sie das ab?
me, die Produktion zu erhöhen. Damit die Musk: Teslas Produktion ist so klein, dass Musk: Bei einem Plug-in-Hybrid haben Sie
Herstellung des Autos nicht mehr so kom- wir kaum ein Konkurrent sein können. quasi zwei Autos in einem. Sie haben zwei
plex ist, haben wir die Ausstattungsmög- BMW produziert zwei Millionen Autos pro Antriebseinheiten, zwei Energiespeicher
lichkeiten verringert. Aber Sorgen machen Jahr, wir 30 000. und eine Menge komplexer Verbindungen
DER SPIEGEL 48 / 2014 145
Technik

ZDF ZEIT
DIENSTAG, 25. 11., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF
zwischen beiden Systemen. Das ist wie ein lich, dass bald fahrerlose Autos über unse-
Wie viele Ausländer verträgt Amphibienfahrzeug, nicht ideal im Wasser re Straßen rollen werden?
Deutschland? – Der Streit und nicht ideal an Land. Wir dagegen kon- Musk: Jedes unserer Autos, das in den
um Zuwanderung und Asyl zentrieren uns auf eine Sache und machen vergangenen zwei Monaten produziert
Die Bundesrepublik ist das belieb- ein großartiges Elektroauto. Das genügt. wurde, ist mit Autopilottechnik ausgestat-
teste Einwanderungsland in Europa. SPIEGEL: Viele Verbraucher scheinen sich tet. Schon damit lassen sich 90 Prozent al-
Mehr als eine Million Männer, Frau- aber sicherer zu fühlen, wenn noch ein ler Kilometer autonom fahren, etwa von
en und Kinder sind im vergangenen Verbrennungsmotor an Bord ist, der sie der Auffahrt auf die Autobahn bis zur Ab-
Jahr in die Bundesrepublik gezogen, notfalls nach Hause bringt. fahrt oder ganz langsame Fahrten unter
der höchste Wert seit 17 Jahren. Musk: Wenn die Reichweite eines Elektro- zehn Stundenkilometern, zum Beispiel
Wie geht unsere Gesellschaft damit autos groß genug ist und es ein Netz von im Stau. Schwierigkeiten bereiten noch
um? Und wie sähe eigentlich Schnellladestationen gibt, besteht absolut Straßen in Wohnvierteln, die nicht mar-
Deutschland ohne Ausländer aus? kein Grund mehr für einen zusätzlichen kiert sind und auf denen Kinder spielen.
Antrieb. Wir werden nächsten Monat ein Ich schätze, dass wir in drei Jahren so weit
Software-Update herausgeben, mit dem sind.
ARTE DOKU unser Auto selbstständig erkennt, wann es SPIEGEL: Aber werden sich viele Autofahrer
SAMSTAG, 29. 11., 20.15 – 21.45 UHR | ARTE außer Reichweite der nächstgelegenen La- trauen, die Kontrolle über ihr Fahrzeug
destation gerät. Es wird den Fahrer warnen abzugeben?
Polar Sea – Die Eroberung und automatisch den Weg zum nächsten Musk: Sie können ja jederzeit wieder das
der Nordwestpassage Supercharger weisen … Kommando übernehmen. Ich glaube aller-
Seit Jahrhunderten ist die Nordwest- SPIEGEL: … Sie meinen damit Teslas Schnell- dings, dass die Leute selten davon Ge-
passage, die nördliche Verbindung ladestationen, die Sie inzwischen auch in brauch machen werden. In Zukunft wird
zwischen Atlantik und Pazifik, eine Deutschland aufstellen lassen. Zurzeit gibt niemand mehr ein Auto ohne Autopilot
Herausforderung für Mensch und es bundesweit 21 davon. Von einem dichten kaufen wollen. Das wird sehr schnell ganz
Technik. Viele Entdecker haben den Netz sind Sie noch weit entfernt. normal werden.
Versuch, die legendäre Passage zu Musk: Für die meisten Fahrten können Sie SPIEGEL: Sie sollen auch mit Apple-Chef
durchqueren, mit dem Leben be- Ihr Auto über Nacht in der heimischen Ga- Tim Cook sprechen. Worum geht es?
zahlt. Heute tummeln sich auf dem rage aufladen. Die Supercharger brauchen Musk: Apple ist sehr interessiert am Auto-
Seeweg Touristen, Abenteurer und Sie nur für die wenigen Langstreckenfahr- geschäft, das stimmt. Mehr kann ich nicht
Freizeitkapitäne. Der Klimawandel ten. Wir installieren unsere Stationen an sagen. Nur so viel, dass Tesla nicht kurz
hat dazu geführt, dass die Passage verkehrsgünstigen Stellen. Für unsere Kun- davor steht, von Apple gekauft zu werden,
leichter zu durchqueren ist. Die den ist der Strom übrigens kostenlos. Und wie immer wieder zu lesen ist. Und es ist
Dokumentation nimmt die ökologi- das Netz wächst ständig. Im Moment wird ebenso unwahrscheinlich, dass wir Apple
schen und technologischen Entwick- alle 20 Stunden irgendwo auf der Welt ein kaufen (lacht).
lungen unter die Lupe. neuer Supercharger eingerichtet. SPIEGEL: Wäre es nicht sinnvoller, die öf-
SPIEGEL: Der größte Autohersteller der fentlichen Verkehrssysteme mit Bussen
Welt geht einen anderen Weg. Toyota setzt und Bahnen auszubauen, die noch ökolo-
SPIEGEL TV MAGAZIN zwar auch auf Elektrofahrzeuge, will den gischer sind als Elektroautos?
SONNTAG, 30. 11., 23.45 – 0.30 UHR | RTL Strom jedoch zukünftig nicht aus Batterien, Musk: Wie wäre es mit individualisiertem
sondern aus Brennstoffzellen ziehen. Massentransport? Es will sich einfach nicht
Multiples Behördenversagen – Der tra- Musk: Das hat überhaupt keinen Sinn. jeder in U-Bahn-Waggons quetschen. Das
gische Todesfall der dreijährigen Brennstoffzellen sind lächerlich. macht keinen Spaß. Es riecht dort meistens
Yagmur; Aus einer anderen Welt – Ein SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. schlecht, es ist unpraktisch, weil alle an
Indianerstamm ohne Kontakt zur Musk: Der Energieträger von Brennstoff- einem festgelegten Ort ein- und an einem
Zivilisation; Vom Gangsta-Rapper zum zellen ist Wasserstoff. Wo bekommen Sie anderen festgelegten Ort wieder ausstei-
Gotteskrieger – Denis Cusperts Weg den her? Entweder Sie wandeln Kohlen- gen müssen. Aber wie wäre es denn, wenn
in den Dschihad. wasserstoffe um, also wieder fossile Ener- wir kleine, autonome Pods hätten, die die
gieträger wie Öl oder Gas. Oder Sie spal- Leute überall aufsammeln und automa-
ten Wasser. Das aber ist extrem ineffizient tisch an ihre Ziele bringen? Solche Robo-
und verbraucht sehr viel Energie. Anschlie- tertaxis erscheinen mir als eine mögliche
ßend müssen Sie den Wasserstoff auch Lösung. Und wissen Sie, was wir vor allem
noch komprimieren, was ebenfalls Energie brauchen? Tunnel!
kostet. Pro gefahrene Meile verbraucht ein SPIEGEL: Tunnel?
mit Brennstoffzellen angetriebenes Elek- Musk: Ja, Löcher im Boden aus Beton. Wir
troauto unterm Strich dreimal mehr Ener- brauchen viel mehr Tunnel. Der Effekt
gie als eines, das mit Batterien angetrieben wäre enorm. Wir leben in diesen drei-
wird. Außerdem ist Wasserstoff als Ener- dimensionalen Häusern mit sehr vielen
gieträger eine schreckliche Wahl, weil er Stockwerken, haben aber nur zweidimen-
hochentzündlich ist. Bei einem Leck sam- sionale Straßen. Da gibt es ein offensicht-
melt sich das Gas unter der Garagendecke. liches Problem, das entweder mit Tunneln
FOTO: RUEDIGER GAERTNER / RUEGA

Dann steckt sich jemand eine Zigarette an, oder mit fliegenden Autos gelöst werden
und alles explodiert. kann. Fliegende Autos sind laut. Und sie
SPIEGEL: Sie wollen nicht nur den Antrieb können einem auf den Kopf fallen. Bei
von Autos revolutionieren, sondern auch Tunneln dagegen gibt es diese Gefahr
die Fahrt selbst. Ihre neuen Modelle sind nicht. Und leiser ist es auch.
mit Hardware ausgerüstet, die autonomes SPIEGEL: Herr Musk, wir danken Ihnen für
Misshandlungsopfer Yagmur Fahren ermöglichen soll. Glauben Sie wirk- dieses Gespräch.
146 DER SPIEGEL 48 / 2014
„Hackidemia“-
Gründerin
Druga, Schülerin
bei IT-Kurs

Dino aus
neuen Generation von Bildungs-Start-ups, xus, das Potenzial dieser Generation zu
die Kindern den Spaß an moderner Tech- verschleudern.“
nik vermitteln. Die Namen der Projekte Dass Deutschland den digitalen Wandel

dem Drucker
sind so bunt wie ihre Inhalte: „Fablab“, verschläft, beklagt auch Udo Beckmann,
„Hacker School“, „Lego League“, „Chaos Bundesvorsitzender der Bildungsgewerk-
macht Schule“, „KidsHackathon“, „Makey schaft VBE. An vielen Schulen müssten
Makey“. Die Initiatoren bieten im Internet Pädagogen sich die Kenntnisse in ihrer
Bildung Deutsche Schulen bieten Programmierkurse an, sie experimentieren Freizeit aneignen, Lehrerfortbildung im
mit Kleinstrechnern namens Arduino und Fach Informatik gebe es praktisch nicht.
beim Informatikunterricht Raspberry Pi oder benutzen das Compu- „Computerkompetenzen lassen sich nun
nur Mittelmaß. Private Initiativen terspiel „Minecraft“, um Chemieinhalte zu mal nicht mit dem Faustkeil vermitteln“,
versuchen, die Kinder für vermitteln. sagt Beckmann. „Die digitale Schule wird
Um Druga herum entfaltet sich eine vom Dienstherrn als Privatangelegenheit
moderne Technik zu begeistern. anarchische Kreativität. Zehnjährige füt- auf die Lehrer abgeschoben.“
tern einen Lasercutter mit Bauplänen für Die Versäumnisse drängten bereits zur

D
er Einstieg in die Welt der Compu- eine Dinofigur, unter der Decke kreist eine Wirtschaft durch, warnt Stephan Pfisterer
ter beginnt mit einer Banane. Ein Drohne, bedient von einem Achtjährigen, vom Branchenverband Bitkom: „Über
Sonnabendnachmittag in einer neben der Kaffeemaschine warten Kinder 40 000 Stellen können derzeit nicht besetzt
Loftetage im Zentrum Berlins. Stefania auf Spielzeuge aus dem 3-D-Drucker. werden, weil Informatiker fehlen.“
Druga verzaubert die Kinder. „Ihr könnt Die digitale Graswurzelbewegung er- Erst langsam entdeckt auch die große
die Spielfigur steuern, indem ihr die Ba- fährt gerade viel Zulauf; denn die privaten Politik das Thema. Kanzlerin Angela
nane anfasst“, erzählt sie im Stil einer Mär- Initiativen versuchen, die Lücken der staat- Merkel orakelte in ihrem Podcast kürzlich:
chentante. lichen Schulen zu füllen. Die „Kenntnisse über Computer“ seien
Eines der Kinder greift die verkabelte Wie schlecht Deutschland im internatio- die „hauptsächliche Herausforderung“ an
Frucht, die sich sodann in einen Joystick nalen Vergleich dasteht, zeigte sich vorige Schulen. Und Wirtschaftsminister Sigmar
verwandelt. Denn aufgrund der Berührung Woche bei der Präsentation der ICILS-Stu- Gabriel (SPD) forderte, „Computerspra-
wird ein Stromkreis geschlossen, worauf- die. Das englisch ausgesprochene Kürzel chen als zweite Fremdsprache in Schulen
hin die Spielfigur auf dem Bildschirm he- steht für eine Art Computerkompetenz- anzubieten“.
rumhüpft. Die Kleinen kreischen vor Be- Pisa, 20 Länder stellten sich dem Vergleich. Doch Schulbildung ist Ländersache. Bis-
geisterung. Unterm Strich landete Deutschland nur im lang haben nur Bayern, Sachsen und Meck-
„Kinder lieben Informatik, wenn man es Mittelfeld, beim mindestens wöchentlichen lenburg-Vorpommern zumindest für einige
richtig anstellt“, sagt Druga, die Gründerin Medieneinsatz im Unterricht von Acht- Klassenstufen Informatik als Pflichtfach
des Projekts „Hackidemia“, das private klässlern sogar auf dem letzten Platz. eingeführt, mit ein bis zwei Wochenstun-
Technikkurse organisiert. „Die Schulen sind Birgit Eickelmann von der Universität den ab der fünften Klasse. Die meisten an-
zu träge, sie brauchen Disruption“, sagt Paderborn war an der ICILS-Studie betei- deren Länder wursteln vor sich hin mit
Druga, die früher für Google gearbeitet hat. ligt. „Rund ein Drittel der Schülerinnen Projektarbeit, Wahlpflichtfächern, Leucht-
FOTO: HACKIDEMIA

Die Ingenieurin stammt aus Transsilva- und Schüler verlieren den Anschluss und turmprojekten. Vieles ist dem privaten En-
nien, ihr Englisch ist leicht rumänisch ein- können mit neuen Technologien nicht sinn- gagement einzelner Lehrer überlassen, die
gefärbt, ihr Vater war Ingenieur, ihre Mut- voll umgehen“, warnte die Bildungsfor- oft widersprüchliche Konzepte verfolgen:
ter Lehrerin. Ihre Initiative gehört zu einer scherin. „Deutschland leistet sich den Lu- Die einen wollen vor allem programmie-
DER SPIEGEL 48 / 2014 147
ren lehren, die anderen den richtigen Um- Aschenbrenner. Hauptberuflich baut die
gang mit der Software und dem Internet. Endzwanzigerin am Zentrum für Telema-
Guter Informatikunterricht, darin sind tik bei Würzburg Roboter, nebenher ist sie
sich die Fachleute einig, vermittelt grund- netzpolitische Sprecherin der bayerischen
legende Kulturtechniken: Wie funktionie- SPD. „Wenn wir mehr Mädchen für Com-
ren E-Mails, Tauschbörsen, Cloudrechner? puter begeistern, könnte die Industrie lo-
Einzelne Computersprachen oder Textver- cker alle Stellen besetzen.“ Ihre Wochen-
arbeitungsprogramme spielen dabei nur enden verbringt Aschenbrenner oft in der
eine untergeordnete Rolle – ähnlich wie Tüftlerwerkstatt „Fablab“ und an Schulen,
Ziegelsteine für Architekten. um zusammen mit Kindern zu werkeln,
Besonders erbittert wird derzeit in Ham- zu löten und zu träumen.
burg über den richtigen Weg gestritten. Seit Das Problem der privaten Initiativen:
Jahren wehrt sich Schulsenator Ties Rabe Sie erreichen oft nur Kinder, die ohnehin
(SPD) gegen die Wünsche von Norbert motiviert sind – und verschärfen damit die
Breier, einem Pionier der Computerdidak- digitale Kluft zwischen Jungen und Mäd-
tik. Der Hamburger Professor hat eine gan- chen. Nur Schulen erreichen alle. An der
ze Reihe von Informatiklehrern ausge- Uni Erlangen-Nürnberg zum Beispiel ver-
bildet, doch im eigenen Bundesland findet doppelte sich der Anteil der weiblichen
er kein Gehör für seine Forderung nach Erstsemester in Informatik in den vergan-
einem Pflichtfach Informatik. Der Pionier genen zwei Jahren auf 18 Prozent – wohl
sieht darin typische Rückzugsgefechte, wie auch, weil Informatik in den dortigen Schu-
sie in der Bildungsgeschichte immer wieder len als Pflichtfach zählt.
vorgekommen seien: „Vor hundert Jahren „Wir sollten alle Schülerinnen und Schü-
gab es auch massive Widerstände in den ler mit einem Tabletrechner ausstatten“,
altsprachlichen Gymnasien gegen den Ma-
the- und Biologieunterricht.“ Computernutzung
Vor einem Vierteljahrhundert immerhin durch Lehrer im Unterricht von Achtklässlern,
galt Deutschland noch als führend in Schul- in Prozent
informatik. „Doch in den Neunzigerjahren täglich/mindestens wöchentlich
verlor die Politik das Interesse“, sagt Re- seltener als monatlich/nie
nate Schulz-Zander von der Technischen
Universität Dortmund. Für die Bildungs- Australien 89,5 2,9
forscherin geht es um fundamentale demo-
kratische Werte wie Chancengerechtigkeit: Russland 75,9 11,3
„Leider sind heute immer noch die meisten
Informatikstudenten männlich.“ Thailand 49,6 31,1
Dies zeigt auch eine aktuelle Studie im
Auftrag der Vodafone-Stiftung („Schule,
und dann?“). Vor allem bei Schülerinnen Türkei 47,4 30,6
geht das Interesse an Berufen in der Com-
puter- und der IT-Branche gegen null. Von Deutschland 34,4 36,4
8,3
den Schülern, die zumindest eine ungefähre
berufliche Vorstellung hatten, bekundeten zum Vergleich: teilnehmende Länder der ...
rund 6 Prozent Interesse an IT-Berufen; bei ... EU 58,8 21,3
den Schülerinnen waren es hingegen weni- ... OECD 64,6 16,7
ger als 0,5 Prozent. Weitaus beliebter bei an 100 Prozent fehlende: mindestens
den Mädchen: medizinische und soziale Tä- einmal monatlich, aber nicht jede Woche Quelle: ICILS 2013
tigkeiten (je rund 20 Prozent). Auch Tiere
kommen besser an als Computer, Tierärztin sagt Thomas Jarzombek, internetpoliti-
oder Tierpflegerin wurde weit häufiger als scher Sprecher der CDU/CSU-Bundestags-
Wunschberuf genannt (7 Prozent). fraktion, dies habe die Enquetekommis-
„Die beruflichen Pläne von Jungen und sion „Internet und digitale Gesellschaft“
Mädchen unterscheiden sich erheblich und schon 2011 empfohlen: „Die Dinger kosten
entsprechen weitgehend tradierten Rollen- doch nur noch hundert Euro.“
mustern“, konstatiert die Stiftung. Für die Aschenbrenner hält jedoch die Vorstel-
Studie befragte das Institut für Demosko- lung für naiv, die Ausstattung mit Laptops
pie Allensbach Schüler der letzten drei und Smartboards allein würde die Proble-
Klassen an allgemeinbildenden weiterfüh- me lösen. „Netz und Geräte brauchen viel
renden Schulen. Wartung, und diese Zeit fehlt dann den
Das Ungleichgewicht ließe sich wohl nur Lehrern. Ich kenne Schulen, die haben ihre
ändern, wenn man Informatik für alle Smartboards wieder ausgetauscht gegen
Schülerinnen und Schüler verpflichtend Kreidetafeln.“
einführen würde, zumindest für ein paar Die Netzpolitikerin findet das auch gar
Wochenstunden. nicht tragisch. Denn Informatikunterricht
„Als ich Informatik studiert habe, war komme notfalls mit einfachsten Mitteln
ich eine Exotin, wir hatten einen Frauen- aus – mit Begeisterung und einem Bana-
anteil von fünf Prozent“, sagt Doris nenjoystick. Hilmar Schmundt

148 DER SPIEGEL 48 / 2014


Wissenschaft

Wettrüsten
zuvor um die seltene Chance konkur-
riert, ihr Erbgut weiterzugeben. Erfolg
haben durchweg die größten Bullen mit

der Dungkäfer
den längsten Stoßzähnen.
Aber noch von zwei weiteren Fakto-
ren hängt es ab, ob es zum biologischen
Hochrüsten kommt: Nahrung und Balz-
Evolution Ein Biologe hat plätze müssen sowohl knapp als auch
leicht zu verteidigen sein – und zwar
die Waffen der Tiere erforscht – im Kampf Männchen gegen Männchen.
und erklärt, wie monströse Wie entscheidend diese Rahmenbe-
dingungen sind, zeigt sich ein-
Hörner, Zähne und Geweihe drucksvoll bei den Dungkäfern.
entstehen. Bei einigen Arten formen
die Männchen aus Kothau-

W
ohl nur wenige Men- fen Kügelchen, die sie so-
schen wären bei die- dann von den Rivalen
sem Fund in Entzü- wegrollen. Mit etwas
cken geraten. Für Douglas Glück klammert sich
Emlen aber war der frische ein Weibchen an die
Elefantenkot, der mitten auf Kugel, so können sie
einer Straße in Tansania dampfte, ein Ge- ihre künftige Gefähr-
schenk. „Wir hatten das Tier offenbar tin ohne Kampf mit-
knapp verpasst“, erinnert er sich. Der nehmen. Bei ande-
Amerikaner sprang vom Pick-up, schau- ren Arten dagegen graben die Weib-
felte den Haufen in eine Tupperbox und chen Tunnel ins Erdreich und zerren
eilte zurück zum Camp. Kotbröckchen hinein.
Emlen ist Insektenforscher an der Uni- Dungkäfer Die Kugelformer müssen vor allem
versity of Montana, sein Spezialgebiet sind Kotkugelroller oder flink sein, die Tunnelbewohner hinge-
Dungkäfer. In Afrika leben davon beson- Tunnelbauer? gen stark: Nur das Männchen, das die
ders viele Arten, und der Elefantendung Herrschaft über einen Tunnel erringt,
war der perfekte Köder. Zehntausende Kä- vermag das darin lebende Weibchen zu
fer stürzten sich in dieser Nacht darauf: begatten. Und so kommt es, dass bei den
„Sie fielen vom Himmel wie Regen“, sagt tunnelgrabenden Dungkäferarten die
Emlen. Männchen meist eindrucksvolle Hörner
Und sie trugen Hörner in allen Größen haben, bei den Ballrollern hingegen meist
und Formen. Manche waren zwischen den einander verwandt sind, unterscheiden gar keine.
Augen verankert, andere weiter vorn am sich ihre Hörner enorm. „Warum leistet Und ob bei Dungkäfer, Hirsch oder Ele-
Kopf oder am Brustpanzer; manche waren sich die Natur diese unglaubliche Viel- fant – das Kräftemessen der Rivalen erfolgt
verzweigt wie Hirschgeweihe, andere ge- falt?“, fragte sich Emlen. stets als Duell. Bei einer Massenrangelei
schwungen wie die Hörner von Stein- Mehr als 15 Jahre lang erforschte er wäre ein großes Geweih eher hinderlich.
böcken oder gekrümmt wie Kleiderhaken. Käferhörner und enträtselte schließlich die Auch das Ende einer Rüstungsspirale
Manche Käfer waren zweifach, andere so- biologischen Mechanismen, die ihrem folgt Gesetzmäßigkeiten. Wer extreme
gar siebenfach hornbewehrt. Wachstum zugrunde liegen. Später be- Waffen ausformt, muss mitunter einen ho-
Seit er denken kann, ist der Evolutions- schäftigte sich Emlen auch mit den Waffen hen Preis zahlen: Dungkäfer mit Riesen-
biologe fasziniert von Stoßzähnen, Hör- von anderen Insekten, Fischen oder Säuge- hörnern haben häufig verkümmerte Au-
nern und Geweihen, vor allem interessiert tieren – und stieß auf ein Muster: Jene Fak- gen, mickrige Flügel oder geschrumpfte
er sich dabei für jene, die so massiv aus- toren, die zusammenkommen müssen, Genitalien. Hirsche wiederum staksen
sehen, als müssten ihre Träger unter ihrem damit die Evolution Hörner, Mundwerk- nicht selten auf morschen Knochen in die
Gewicht zusammenbrechen. Rund 3000 zeuge und Stoßzähne von teils aberwitzi- Brunftzeit, denn ihre Kampfwerkzeuge
Spezies sind mit solch überdimensionalen ger Größe hervorbringt, sind vergleichbar. ziehen so viel Phosphat und Kalzium aus
Kampfwerkzeugen ausgestattet – darunter „Die Biologie extremer Waffen ist immer ihrem Skelett ab, dass die Tiere unter sai-
Fliegen, Käfer und Ohrwürmer ebenso dieselbe“, sagt der Wissenschaftler. In ei- sonaler Osteoporose leiden.
FOTO: LAWRENCE LAWRY / SCIENCE PHOTO LIBRARY / AGENTUR FOCUS

wie Antilopen und Damwild, Walrosse nem soeben erschienenen Buch beschreibt Irgendwann sind die Nachteile so groß,
und Nashörner. er deren Evolution im Detail*. dass sich die massive Bewaffnung nicht
Am besten aber, so stellte sich heraus, Das Wettrüsten beginnt damit, dass mehr lohnt. „Während der Evolution sind
ließ sich das Phänomen im Reich der Dung- männliche Tiere um eine begrenzte An- extreme Waffen immer wieder verschwun-
käfer studieren. „Erst war ich nicht begeis- zahl empfängnisbereiter Weibchen kon- den“, sagt Emlen.
tert davon, ausgerechnet mit diesen Tieren kurrieren. Gerade mal fünf Tage dauert Auch List und Tücke können Waffen
zu arbeiten – an den Gestank gewöhnt zum Beispiel die fruchtbare Phase Afrika- wirkungslos machen. So beobachtete Em-
man sich nie“, sagt Emlen, „doch sie sind nischer Elefantenkühe, dann investieren len, dass unterlegene Dungkäfer-Männ-
ideal für alles, was mich interessierte.“ sie vier Jahre in Tragzeit und Aufzucht chen eigene Tunnel graben – und sich
Es gibt Tausende Arten der krabbelnden ihrer Jungtiere. Dutzende Bullen haben gleichsam durch die Hintertür zum Weib-
Kotfresser. Man kann sie im Labor ver- chen mogeln, während der Sieger mit sei-
mehren und gezielt züchten, etwa Exem- * Douglas J. Emlen: „Animal Weapons – The Evolution nem stattlichen Kopfschmuck nichts ah-
plare mit besonders großen Kampfwerk- of Battle“. Henry Holt and Company, New York; 288 nend am Haupteingang Wache schiebt.
zeugen. Und obwohl die Spezies eng mit- Seiten; 30 Dollar. Julia Koch

DER SPIEGEL 48 / 2014 149


Impressum Service
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de
Fax: 040 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
Hinweise für Informanten
HERAUSGEBER Rudolf Augstein S P O RT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael MOSKAU Matthias Schepp, Glasowskij Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
(1923 – 2002) Wulzinger. Redaktion: Rafael Buschmann, Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, tionen zukommen lassen wollen, finden Sie unter der Web-
Lukas Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Tel. +7 495 22849-61, Fax 22849-62 adresse www.spiegel.de/briefkasten Hinweise, wie Sie die
CHEFREDAKTEUR Wolfgang Büchner Hacke, Jörg Kramer
NEW YORK 10 E 40th Street, Suite 3400, Redaktion erreichen und sich schützen. Wollen Sie wegen
(V. i. S. d. P.) SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, New York, NY 10016, Tel. +1 212 2217583, vertraulicher Informationen direkt Kontakt zum SPIEGEL
Annette Großbongardt (stellv.). Redaktion: Fax 3026258 aufnehmen, stehen Ihnen folgende Wege zur Verfügung:
ST ELLV. CHEFREDAKTEURE Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe
Klaus Brinkbäumer, Clemens Höges Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, PA RIS Julia Amalia Heyer, 12 Rue de Post: DER SPIEGEL, c/o Briefkasten, Ericusspitze 1,
Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Castiglione, 75001 Paris, Tel. +33 1 20457 Hamburg
MITGLIED DER CHEFREDAKTION Schnurr, Autorin: Dr. Susanne Weingarten 58625120, Fax 42960822 PGP-verschlüsselte Mail: briefkasten@spiegel.de
Nikolaus Blome MULT IMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, (den entsprechenden PGP-Schlüssel finden Sie unter
(Leiter des Hauptstadtbüros) Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, www.spiegel.de/briefkasten)
Riedmann Fax 65325453 Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Briefkasten“
ART DIRECT ION Uwe C. Beyer CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa
Jensen (stellv.), Katharina Lüken (stellv.) Postal 56071, AC Urca, Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche
GESCHÄF TS FÜHRENDER REDA KT EUR Telefon: 040 3007-2687 Fax: 040 3007-2966
S C H LU S S R E DA KT I O N Christian Albrecht, 22290-970 Rio de Janeiro-RJ,
Rüdiger Ditz
Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Tel. +55 21 2275-1204, Fax 2543-9011 E-Mail: artikel@spiegel.de
Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula
Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, 00187 Nachdruckgenehmigungen für Texte, Fotos, Grafiken
Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, Rom, Tel. +39 06 6797522, Fax 6797768 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher
DEUTSCHE POLITIK · HAUPTSTA DT BÜRO
Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz, Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme
Stellvertretende Leitung: Christiane Hoff- Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels
mann, René Pfister. Redaktion Politik: P.O. Box 330119, San Francisco, CA 94133, in elektronische Datenbanken und Mailboxen sowie für
Dr. Melanie Amann, Horand Knaup, Ann- P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane Tel. +1 212 2217583 Vervielfältigungen auf CD-Rom.
Katrin Müller, Peter Müller, Ralf Neukirch, Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Deutschland, Österreich, Schweiz:
Gordon Repinski. Autor: Marc Hujer Petra Gronau, Martina Treumann TEL AVIV Nicola Abé, P.O. Box 8387,
Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel. +972 3 6810998, Telefon: 040 3007-2869 Fax: 040 3007-2966
Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus BILDREDA KT ION Michaela Herold (Ltg.), Fax 6810999 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de
Dettmer, Cornelia Schmergal, Anne Seith, Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt;
Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thors- TOKIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya übriges Ausland:
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter:
Alexander Neubacher, Christian Reier- ten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, New York Times News Service/Syndicate
mann, Marcel Rosenbach Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 E-Mail: nytsyn-paris@nytimes.com Tel.: +33 1 41439757
Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz
Meinung: Dr. Gerhard Spörl E-Mail: bildred@spiegel.de
WA RS C H AU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
26, 03-912 Warschau, Tel. +48 22 6179295, wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
D E U TS C H L A N D Leitung: Alfred Weinzierl, SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Fax 6179365
Tel. +1 212 3075948 WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versandkos-
Cordula Meyer (stellv.), Dr. Markus Ver- WAS H I N GTO N Markus Feldenkirchen,
beet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldun- GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt
tenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Holger Stark, 1202 National Press Building,
gen). Redaktion: Michael Fröhlingsdorf, (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Washington, D.C. 20045, Tel. +1 202 Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Hubert Gude, Carsten Holm, Charlotte Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena 3475222, Fax 3473194
Klein, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Lud- Pfauter, Julia Saur, André Stephan, DOKUMENTAT ION Dr. Hauke Janssen, Cor- Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
wig, Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann- Michael Walter delia Freiwald (stellv.), Axel Pult (stellv.),
Schmidt, Antje Windmann. Autoren, Re- Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens,
Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
L AYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
porter: Jürgen Dahlkamp, Gisela Friedrich- Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich
Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke,
sen, Julia Jüttner, Beate Lakotta, Bruno
Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Booms, Viola Broecker, Dr. Heiko Busch- Telefon: 069 955124
Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe ke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltz-
Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer,
schig, Johannes Erasmus, Klaus Falken- Abonnementspreise
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara
Rödiger, Doris Wilhelm berg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich, Inland: 52 Ausgaben € 218,40
Redaktion: Sven Becker, Markus Degge-
rich, Maximilian Popp, Sven Röbel, Jörg Sonderhefte: Rainer Sennewald
Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Studenten Inland: 52 Ausgaben € 153,40 inkl.
Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, sechsmal UNISPIEGEL
Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt
TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris
Wassermann, Peter Wensierski. Autoren:
Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Stefan Berg, Jan Fleischhauer, Konstantin Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 202,80
von Hammerstein REDA KT IONSVERT RE TUNGEN Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac,
D E U TS C H L A N D
(der Anteil für das E-Paper beträgt € 171,60)
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-
BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Wiesner, Michael Lindner, Dr. Petra Lud-
Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Michael Sauga (Berlin), Susanne Amann Deutsche Politik, Wirtschaft
(stellv.), Markus Brauck (stellv.). Redak- Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111;
wig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Kundenservice Persönlich erreichbar
Nadine Markwaldt-Buchhorn, Dr. Andreas
tion: Isabell Hülsen, Alexander Jung, Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moor-
Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Gesellschaft Tel. 030 886688-200, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Müller, Ann-Kathrin Nezik, Jörg Schmitt. mann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola


Fax 886688-222 Naber, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar
Hawranek, Michaela Schießl DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopou- E-Mail: aboservice@spiegel.de
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, los, Tordis Pohlmann, Ulrike Preuß, Axel
AUS L A N D Leitung: Britta Sandberg, Fax 26620-20 Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauer-
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu bier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow,
DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek,
von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bed- Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße Abonnementsbestellung
narz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schu- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. Fax 86679-11
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Ralf mann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Hoppe, Susanne Koelbl, Dr. Christian FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Staudhammer, Tuisko Steinhoff, oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Neef (Moskau), Christoph Reuter Martin Hesse, Simone Salden, An der Wel- Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer
le 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 Szimm, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Ich bestelle den SPIEGEL
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: 9712680, Fax 97126820 Wetter, Kirsten Wiedner, Holger Wilkop, ❏ für € 4,20 pro gedruckte Ausgabe
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße Malte Zeller ❏ für € 3,90 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, E-Paper beträgt € 3,30)
Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Fax 9204449 LESER-SERVICE Catherine Stockinger
Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar
❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Anna N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa,
Schmundt, Matthias Schulz, Frank Tha- Kistner, Conny Neumann, Rosental 10, beträgt € 0,48) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Eilboten-
Los Angeles Times / Washington Post,
deusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech 80331 München, Tel. 089 4545950, New York Times, Reuters, sid zustellung auf Anfrage. Jederzeit zum Monatsende kündbar
Fax 45459525 mit Rückerstattung des Geldes für bezahlte, aber noch nicht
KULT UR Leitung: Lothar Gorris, Susanne SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
Beyer (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, ST U T TGA RT Jan Friedmann, Büchsen- gelieferte Hefte. Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das An-
GMBH & CO. KG
Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp straße 8/10, 70173 Stuttgart,
Oehmke, Tobias Rapp, Katharina Stegel- Tel. 0711 664749-20, Fax 664749-22 Verantwortlich für Anzeigen: Norbert gebot gilt nur in Deutschland. Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
mann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Auto- Facklam
REDA KT IONSVERT RE TUNGEN AUSL AND
ren, Reporter: Georg Diez, Dr. Martin
BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 68 vom
Doerry, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin,
02138 Cambridge, Massachusetts, 1. Januar 2014 Name, Vorname des neuen Abonnenten
Dr. Joachim Kronsbein, Elke Schmitter,
Tel. +1 617 9452531 Mediaunterlagen und Tarife:
KULTURSPIEGEL: Marianne Wellershoff BRÜSSEL Christoph Pauly, Christoph Tel. 040 3007-2540, www.spiegel-qc.de
(verantwortlich). Tobias Becker, Anke Schult, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel,
Dürr, Maren Keller, Daniel Sander Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass Straße, Hausnummer oder Postfach
Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436
GESELLSCHAF T Leitung: Ullrich Fichtner, K A P STA DT Bartholomäus Grill, Herstellung: Silke Kassuba
Matthias Geyer, Barbara Supp (stellv.). P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, PLZ, Ort
Redaktion: Fiona Ehlers, Özlem Gezer, Tel. +27 21 4261191 Druck: Prinovis,
Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ans- Ahrensburg /
LON DON Christoph Scheuermann, Prinovis, Dresden
bert Kneip, Katrin Kuntz, Dialika Neufeld,
26 Hanbury Street, London E1 6QR, Tel. E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Bettina Stiekel, Jonathan Stock. Reporter: VERL AGSLEITUNG Matthias Schmolz,
+44 203 4180610, Fax +44 207 0929055
Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Guido Rolf-Dieter Schulz
Mingels, Alexander Osang, Cordt Schnib- MADRID Apartado Postal Número 100 64,
ben, Alexander Smoltczyk 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RUN G Ove Saffe
Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS No. 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Subscrip-
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog tion price for USA is $ 370 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP14-001, SD14-006
TWIT TER @derspiegel Englewood, NJ 07631. Periodicals postage is paid at Paramus, NJ 07652. Postmaster: Send SD14-008 (Upgrade)
FACEBOOK facebook.com/derspiegel address changes to: DER SPIEGEL, GLP, P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631.

150 DER SPIEGEL 48 / 2014


Nachrufe
CAYETANA FITZ-JAMES STUART den 22 Jahren seines Schaffens
Y SILVA, 88 die Skeptiker eines Besseren.
Auf ihrer dritten und letzten Der allem Neuen gegenüber
Hochzeit vor drei Jahren zeig- stets offene Musikologe setzte
te sie noch einmal ihre Füße auf eine Öffnung für ein brei-
her – und lieferte so ein Sinn- teres Publikum. Doch er blieb
bild ihres Lebens: Die Duque- auch der Avantgardist, der
sa de Alba, unglaublich reich rund 400 Kompositionen in
an Geld, Immobilien und Auftrag gab und das Zusam-
Adelstiteln, ließ es sich nicht
nehmen, nach vollzogener
Trauung mit einem 25 Jahre
jüngeren Verwaltungsange-
stellten auf der Straße eine
Sevillana zu tanzen – barfuß,
mit pflasterbeklebten und al-
tersentsprechend verformten
Damenfüßen. Das Spektakel
MIKE NICHOLS, 83 gehörte zu den letzten, von
„Der Scheiß ist mir am Anfang passiert“ – so hat er einst der spanischen Presse stets
sein Leben beschrieben, als er längst ein großer Regis- gierig verbreiteten, „rebelli-
seur war, gefeiert am Theater und in Hollywood, preisge- schen Akten“ der Herzogin, menspiel mit elektronischen
krönt für Filmklassiker wie „Die Reifeprüfung“. Der An- die sich um Sitte und Standes- Ausdrucksformen suchte. Ar-
fang, damit meinte er seine Kindheit und Jugend: Gebo- wahrung selten geschert hat- min Köhler starb am 15. No-
ren 1931 in Berlin – damals hieß er noch Michael Igor te. Die Jahre des Bürgerkriegs vember in Baden-Baden. kle
Peschkowsky, sein Vater war ein russisch-jüdischer hatte sie in London und Paris
Arzt –, gelangte er im Frühjahr 1939 mit einem Flücht- GLEN A. LARSON, 77
lingsschiff nach New York. „Es war, im Nachhinein be- Er war eines der großen Mul-
trachtet, ziemlich knapp“, sagte Nichols. Anfangs sprach titalente der US-Unterhal-
er kaum Englisch, und nach einer missglückten Impfung tungsindustrie. Schon in den
fielen ihm auf Dauer die Haare aus, ein Makel, den er Fünfzigern bekam er als Sän-
fortan mit einer Perücke kaschierte. Ein Außenseiter ger der Band The Four Preps
also, „der perfekte Standpunkt für einen Künstler“, wie mehrere Goldene Schallplat-
er 2008 dem SPIEGEL sagte. In den Fünfzigerjahren wur- ten. Doch Larson wollte un-
de Nichols als Stand-up-Comedian berühmt, in den bedingt zu einem damals
Sechzigerjahren begann seine Karriere als Regisseur. noch jungen Medium, dem
Nachdem er am Broadway Hits wie „Barfuß im Park“ in- Fernsehen. Dort arbeitete er
szeniert hatte, wurde Hollywood auf ihn aufmerksam: als Komponist, Drehbuch-
Nichols drehte 1966 das Ehedrama „Wer hat Angst vor autor und Produzent. 1966
FOTOS: PATRICK SEEGER / DPA (R.); JUANJO MARTIN / DPA (M.); ARCHIVE PHOTOS / GETTY IMAGES (O.L.); ROCCO CESELIN / AP / DPA (O.R.)

Virginia Woolf?“ mit Elizabeth Taylor und Richard Bur- schrieb er eine Folge der
ton. Ein Jahr später folgte die Tragikomödie „Die Reife- legendären TV-Serie „Auf
prüfung“, vielleicht der wichtigste Film jener Epoche, verbracht, schon 1947 feierte der Flucht“, später kompo-
für den er einen Oscar gewann. Dustin Hoffman verkör- die spätere Mutter von sechs nierte er die Titelmelodie der
pert darin einen komplexbeladenen jungen Mann auf Kindern aber ihre erste Hoch- Science-Fiction-Saga „Kampf-
Sinnsuche; Ähnlichkeiten mit Nichols’ Leben waren na- zeit in Sevilla. Konventionen stern Galactica“ und entwi-
türlich kein Zufall. Spätestens seit den Achtzigern galt brach sie erstmals mit ihrem ckelte mit dem Privatdetektiv
der Regisseur als Meister, der alle Genres beherrschte: zweiten Ehemann, einem
Thriller wie „Silkwood“ (mit Meryl Streep, 1983), Kla- abtrünnigen Priester. Auch
mauk wie „The Birdcage“ (mit Robin Williams, 1996), recht unadelig war ihre Sym-
zuletzt die Polit-Satire „Der Krieg des Charlie Wilson“ pathie für den Sozialisten
(mit Tom Hanks und Julia Roberts, 2007), immer perfekt Felipe González. Cayetana
inszeniert, aber ohne den hintergründigen Charme der Fitz-James Stuart starb am
„Reifeprüfung“. Seit Nichols 1988 in vierter Ehe die Fern- 20. November in Sevilla. nul
sehjournalistin Diane Sawyer geheiratet hatte, war er of-
fenbar auch privat glücklich. Er kümmerte sich um seine ARMIN KÖHLER, 62
Pferdezucht, arbeitete fürs Fernsehen („Angels in Ameri- Ein Ostdeutscher, zudem zu-
ca“) und immer wieder am Theater. Seine letzte Insze- rückhaltend und kaum ein ei-
nierung, „Betrogen“ von Harold Pinter, hatte 2013 am genes Profil, an der Spitze des
Broadway Premiere; Daniel Craig und Rachel Weisz weltweit ältesten Festivals für Thomas Magnum eine der
spielten die Hauptrollen. Mike Nichols war, seit dem Neue Musik – würde das gut populärsten Figuren der TV-
Tod von Billy Wilder, der letzte große Regisseur Ameri- gehen? Das fragten sich 1992 Geschichte. Zudem schuf er
kas, der in Deutschland geprägt worden war. Seine Mut- viele, als der aus Sachsen so erfolgreiche Serien wie
tersprache hatte er allerdings verlernt. Eines der weni- stammende Posaunist die Lei- „Quincy“, „Ein Colt für alle
gen deutschen Wörter, die er auch nach Jahrzehnten in tung der Donaueschinger Mu- Fälle“ oder „Knight Rider“.
den USA noch kannte, war „Judenschule“, der Scheiß siktage übernahm. Doch Köh- Glen Larson starb am 14. No-
vom Anfang. Mike Nichols starb am 19. November in ler, der bei einem Musikverlag vember in Santa Monica, Ka-
New York. mwo gearbeitet hatte, belehrte in lifornien. lob
DER SPIEGEL 48 / 2014 151
Stressiger Sträfling
Der norwegische Massenmör-
der Anders Behring Breivik, 35,
treibt seine Bewacher im Ge-
fängnis zur Verzweiflung. Er
zeige weder Einsicht noch
Reue, und das sei für die Voll-
zugsbeamten „strapazierend“
und „ermattend“, berichtet
die Osloer Tageszeitung
Verdens Gang (der Lauf der
Welt). Außerdem versuche der
Rechtsextremist und Islam-
feind, der 2011 in Oslo und
auf der Insel Utøya insgesamt
77 Menschen ermordete und
dafür zu 21 Jahren Haft ver-
urteilt wurde, ständig die Ge-
fängnisbediensteten von sei-

FOTOS V.L.N.R.: GETTY IMAGES; STOYAN NENOV / REUTERS; REX FEATURES / ACTION PRESS; GUILLAUME HORCAJUELO / PICTURE ALLIANCE / DPA; BRUNO KLEIN
nen kruden Theorien zu über-
Dezent permanent die Schauspielerin gegenüber tätowierten Waden zur Schau zeugen, in deren Mittelpunkt
dem Lifestyle-Magazin Ob- stellten. Bei Frauen hingegen eine antimultikulturelle Welt-
Die Grande Dame des fran- session. Sie trage schon seit seien Tattoos schon „ziemlich anschauung steht. Ein weiterer
zösischen Kinos, Catherine De- langer Zeit eine Tätowierung erotisch“. Darum habe sie Stressfaktor: Die Justizange-
neuve, 71, wird für Stilsicher- am Nacken, die sie meist un- sich kürzlich auch noch ein hörigen müssen Breiviks enor-
heit und Eleganz bewundert. ter ihrem Haar versteckt. Der weiteres machen lassen, dies- men Schriftverkehr aus Kon-
Weniger bekannt ist ihr permanente Körperschmuck mal auf dem Spann des lin- trollgründen durchlesen. Sogar
Faible für Tätowierungen, die müsse aber dezent sein. Rich- ken Fußes, so klein, dass man sein Anwalt Geir Lippestad be-
sie früher als jüngere Stars tig „ekelhaft“ finde sie so genau hinschauen muss. Die
wie Angelina Jolie für sich manche Tattoos bei Männern, Deneuve ließ sich auf Tahiti
entdeckte: „Ich habe das im- die im Sommer mit Shorts tätowieren: Da gebe es die
mer schon geliebt“, gestand herumliefen und dabei ihre besten Meister. pe

Von Sohn zu Sohn wolle die Homosexuellen-


Ehe und die Möglichkeit der
Der passionierte Kochschüler Adoption für gleichge-
Léonard Trierweiler, 17, teilt mit schlechtliche Paare in Frank- zeichnet ihn als „anspruchsvol-
seiner Mutter Valérie Trierwei- reich wieder abschaffen, len Gefangenen“. Laut norwe-
ler, 49, eine Vorliebe für Twit- wandte sich Léonard an des- gischen Presseberichten wurde
ter: Der Sohn der ehemaligen sen Sohn Louis: „Du solltest Breivik seit seiner Verurtei-
Première Dame Frankreichs ihn zur Vernunft bringen.“ lung im Jahr 2012 denn auch
und Exlebenspartnerin von Mit Louis liefert sich Léonard nicht nur aus Sicherheitsgrün-
Präsident François Hollande seit Monaten regelrechte den mehrfach zwischen den
veröffentlicht gern Fotos von Gefechte; die französische Hochsicherheitstrakten der
Gerichten wie Schweine- Presse hat die Auseinander- südnorwegischen Gefängnisse
rücken oder Seebarschfilet. Staatschef Nicolas Sarkozy, setzung „le Tweetclash“ ge- in Ila und in Skien hin- und
Außerdem stichelt er gegen der gerade sein politisches tauft. Louis, ebenfalls 17 Jah- herverschoben, sondern auch,
Politiker, allen voran gegen Comeback vorbereitet. Als re alt, besucht in den USA um die jeweiligen Vollzugsbe-
den rechten ehemaligen der kürzlich ankündigte, er eine Militärschule. pe amten nervlich zu schonen. red

Justin Bieber, 20, kanadischer Popsänger, muss dem- Tiger Woods, 38, amerikanischer Profigolfspieler mit
nächst auf Besuche im Haus seiner Kindertage ver- einem Imageproblem, versteht keinen Spaß. In der
zichten: Seine Großeltern mütterlicherseits, bei denen Zeitschrift Golf Digest ist unter der Überschrift „Mein
er viele Jahre gemeinsam mit seiner Mutter lebte, (ausgedachtes) Interview mit Tiger“ ein satirischer
haben ihr Haus in Ontario zum Verkauf angeboten. Für Text erschienen. Auf die Frage, was der Golfer aus sei-
das Gebäude mit drei Schlafzimmern verlangen sie nen Sexeskapaden gelernt habe, die zur Scheidung
279 900 kanadische Dollar. Biebers Jugendzimmer ist führten, sagt der fiktionale Tiger: „Lass dich nicht er-
offenbar vollständig erhalten: inklusive Tapete mit dem wischen.“ Der millionenschwere Sportler reagierte in
Emblem seiner Lieblings-Eishockeymannschaft Toronto einem offenen Brief mit der Überschrift „Nicht wahr,
Maple Leafs. Der Popstar residiert zurzeit in einem nicht lustig“. Unter anderem schrieb er: „Dieses Mach-
Luxusappartement in Beverly Hills. red werk geht unter die Gürtellinie.“ ks

152 DER SPIEGEL 48 / 2014


Personalien
Besetzt
Der amerikanische Schauspieler Bill Murray, 64, besitzt ein Handy. Das
ist insofern eine Nachricht, als Murray, Hollywoods großer Exzentriker
(„Lost in Translation“), bisher auch dafür berühmt war, dass selbst
Freunde und Regisseure ihn nur kontaktieren konnten, indem sie eine
gebührenfreie Telefonnummer wählten und Nachrichten auf einem
Anrufbeantworter hinterließen. Wenn Murray Lust hatte, rief er zurück.
Häufig hatte er keine Lust, und da er keinen
Agenten und keinen Manager beschäftigt,
wusste oft niemand, wo er gerade steckte.
Doch um mit seinen Kindern zu kommunizie-
ren – Murray hat sechs Söhne aus zwei
geschiedenen Ehen –, hat er sich mitt-
lerweile einen alten BlackBerry ange-
schafft, wie er jetzt in einem Inter-
view mit Variety verriet. Zu den
wenigen Kollegen, die die Handy-
nummer kennen, gehören
George Clooney, der mit ihm
„Monuments Men“ drehte, so-
wie Naomi Watts, seine Partne-
rin in seinem neuen Film, der
Tragikomödie „St. Vincent“.
Watts wird nun manchmal
von Produzenten gebeten,
Drehbücher an Murray
weiterzuleiten. Bisher
hat sie abgelehnt. mwo
FOTOS V.L.N.R.: MARTIN SCHOELLER / AUGUST

Alastair Bruce, 54, Ehrengardist von Queen Elizabeth II. Jake Browne, 31, Betreiber eines Versands von Hanf-
und historischer Berater der TV-Produktionsfirma von produkten, ist der erste Marihuana-Kritiker für die
„Downton Abbey“, hat eine Ungenauigkeit in der Aus- Tageszeitung The Denver Post. Seit Januar ist im US-
stattung eingeräumt. Eigentlich, so Bruce, müssten die Staat Colorado, wo Browne schon lange lebt, der
Diener in der Serie manchmal Strumpfhosen tragen. Konsum von Marihuana legal. Er testet verschiedene
Gewisse Anlässe bedingten strenge Kleiderregeln. Er Grassorten und beschreibt Textur, Geschmack („zart
habe darauf hingewiesen. Doch die Beinkleider seien zitronig“) und vor allem die Wirkung der Substanzen:
als zu unattraktiv befunden worden. Bruce kennt sich „Knallt voll in die Birne.“ Auch nennt er Herkunft,
nicht nur theoretisch mit dem Thema aus: „Als Diener Preise und Händleradressen. Die Denver Post sucht
der Queen muss ich bei Staatsempfängen schwarze nach weiteren Grasexperten, einer soll sich mit dem
Seidenstrumpfhosen tragen, das stört mich nicht.“ ks Thema Kiffen und Sex befassen. ks

DER SPIEGEL 48 / 2014 153


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Russlands Außenminister Sergej Lawrow
in der Regierungsfragestunde vor dem rus-
sischen Parlament am 19. November:
Aus der Schwäbischen Zeitung
Selbstverständlich konnte und kann Russ-
land nicht teilnahmslos beobachten, was
Aus der Badischen Zeitung: „Der im benachbarten Bruderland passiert. Wie
Wahlkampf stößt auf ein starkes Interesse der frühere Außenminister der USA, H.
bei den Bürgern, in den großen Sälen Kissinger, in einem Interview mit der deut-
des Landes geben sich die Kandidaten schen Wochenzeitschrift DER SPIEGEL kürz-
förmlich die Klinge in die Hand. lich bemerkte, ich zitiere: „Die Ukraine
hatte schon immer eine besondere Bedeu-
tung für Russland, und das nicht zu ver-
stehen war ein fataler Fehler.“

Das „Hamburger Abendblatt“ zum SPIE-


GEL-Bericht „Rauchende Schlote“ über
Aus dem TV-Programm von Hoerzu.de die Klimaschutzziele der Bundesregierung
(Nr. 47/2014):

Aus einem Interview in der Mainzer Das ist irgendwie dumm gelaufen für Sig-
Allgemeinen Zeitung auf die Frage an den mar Gabriel. Da sitzt die Kanzlerin in Aus-
GDL-Chef Claus Weselsky „Schwindet Ihr tralien beim G-20-Gipfel und verspricht
Rückhalt?“: „An einem Streiktag sind vollen Einsatz für den in einem Jahr ge-
mehr als 3000 Mitglieder unterwegs. Wenn planten Weltklimavertrag. Und in Berlin
wir drei Tage streiken, sind das 9000.“ wird Gabriel vom Nachrichten-Magazin
SPIEGEL mit den Worten zitiert: „Ist doch
klar, dass das Ziel nicht zu halten ist.“ Ge-
meint ist das von ihm und Angela Merkel
in der letzten Großen Koalition geborene
Ziel von 40 Prozent weniger Emissionen
in Deutschland bis zum Jahr 2020. Flugs
dementiert Gabriel öffentlich die angeb-
liche Aussage.

Die „Tageszeitung“ zur Erklärung des


Künstlers Jonathan Meese über seinen
Rausschmiss bei den Wagner-Festspielen
in Bayreuth (Nr. 47/2014):

Meeses Empörung im SPIEGEL zu lesen ist


Aus einem Aushang übrigens lustig, weil er von sich selbst in
in einem Real-Supermarkt der dritten Person redet und zur Autorität
erhebt: „Meese ist wie Richard Wagner
nur der Kunst verpflichtet und lässt sich
Aus dem Weidaer Amtsblatt: „Die Stadt nicht verbiegen. Meese ist Künstler, kein
Weida ist deshalb gezwungen, die Handlanger kulturpolitischen Opportuni-
notwendigen Reparaturen am Straßen- tätsdenkens. Wer Meese einlädt, bekommt
rand und an den Ausweichstellen auch Meese, fertig.“
aus Sicherheitsgründen zu beheben.“
Ausgezeichnet
Aus der Siegener Zeitung: „Wenn Für seinen Bericht aus der Ukraine „Die
Bückendorf allerdings jemanden neu Wächter von Ilitschiwsk“ (SPIEGEL 11/2014)
kennenlernt und sagt, dass er Bestatter ist SPIEGEL-Mitarbeiter Takis Würger mit
ist, ,dann fällt erst einmal die Kinnlade dem Journalistenpreis „Writing for CEE
runter‘, sagt er. Das gebe sich dann aber 2014“ ausgezeichnet worden. Die mit 5000
schnell, wenn klar ist, dass er nicht Euro dotierte Ehrung, vergeben von der
nur die Toten unter die Erde bringt.“ österreichischen Presseagentur APA und
der UniCredit Bank Austria, würdigt Bei-
träge, die Zentral- und Osteuropa (englisch
abgekürzt: CEE) zum Thema haben. In
der Laudatio hieß es, Würger habe einen
„in Aufbau, Stil und Sprache perfekten
Aus der Südostbayerischen Rundschau Text abgeliefert“.
154 DER SPIEGEL 48 / 2014

Das könnte Ihnen auch gefallen