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Hausmitteilung

3. Februar 2014 Betr.: Titel, Pakistan, Tierethik

G esundheitsminister Hermann Gröhe setzte Anfang des Jahres das Thema


Sterbehilfe auf die Tagesordnung, und in der SPIEGEL-Redaktion begann eine
heftige Diskussion. Man war sich einig: Das ist wichtig. Aber eine Titelgeschichte
über einen so düsteren Stoff? In den Gesprächen mit Kollegen stellte SPIEGEL-
Redakteurin Christiane Hoffmann fest, wie viele von ihnen sich mit dem vermeint-
lichen Tabuthema bereits intensiv beschäftigt hatten. Fast jeder hatte die Debatte
um ein gutes Sterben bei Verwandten oder Freunden schon erlebt. Und viele
hatten aus dem Mund von Großeltern oder Eltern bereits den Satz gehört: „Wenn
ich pflegebedürftig werde, bringe ich mich um.“ Der Text, den Hoffmann gemein-
sam mit einem Team von SPIEGEL-Redakteuren recherchiert und geschrieben
hat, handelt deshalb nicht nur vom Umgang mit Sterbenden. Er stellt auch die
Frage nach den Ängsten älterer Menschen in einer Gesellschaft, in der, wer nicht
mehr arbeitet, schnell als nutzlos gilt. Sehen sie sich tatsächlich unter Druck, früh-
zeitig aus dem Leben zu scheiden, um Angehörigen oder der Gesellschaft nicht
zur Last zu fallen? Hoffmanns Fazit: „Die Ängste sind real“ (Seite 30).

I
n Pakistan werden Christen verfolgt
und ermordet. Die Allerheiligen-
kirche in Peschawar war im September
DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

2013 Schauplatz des schlimmsten An-


schlags auf Christen in der Geschichte
des Landes, es gab mehr als 120 Todes-
opfer. Der Kirchhof ist übersät mit
Stahlkugeln, die die beiden Selbstmord-
attentäter in ihren Sprengstoffwesten
getragen hatten. Dort erzählten die
Kazim (l.) Geistlichen dem SPIEGEL-ONLINE-
Korrespondenten Hasnain Kazim, dass
der Konflikt so alt sei wie ihr Gotteshaus. Beim Bau des Gebäudes, 1883, hätten
die Einheimischen nicht geahnt, dass eine christliche Kirche entsteht. Erst als ein
Kreuz auf dem Dach montiert wurde, brach Unruhe aus, aufgebrachte Muslime
griffen zu den Waffen, neun Menschen starben. 130 Jahre später scheinen die
Extremisten den Kampf zu gewinnen. „Seit dem jüngsten Anschlag“, so Kazim,
„denken mehr Christen denn je darüber nach, das Land zu verlassen“ (Seite 92).

A
ls die Publizistin Hilal Sezgin vor sieben Jahren aus Frankfurt am Main in die
Lüneburger Heide zog, war Jakob schon da. Das Vierhornschaf gehörte zu
einem Hof, den Sezgin bezog, um in Ruhe ihre Essays über Integration, Demokratie
und das Landleben zu schreiben – vor allem über das Leben mit Tieren. „Am An-
fang war Jakob mir feindlich gesinnt und griff mich
mehrfach an“, sagt Sezgin, die über Tiere spricht wie
über Persönlichkeiten, „doch inzwischen konnte ich
sein Vertrauen gewinnen.“ Wie soll der Mensch mit
YVONNE SCHMEDEMANN / DER SPIEGEL

Tieren umgehen? Darf er sie töten und essen? Warum


ihre Antwort nein lautet, darüber sprach Sezgin mit
den SPIEGEL-Redakteuren Elke Schmitter und Ro-
main Leick. Sezgin geht mit konsequentem Beispiel
voran: Sie verzichtet auf den Konsum und den Ge-
brauch aller Produkte, die von Tieren stammen, wie
Milch und Eier, Daunenbett oder Schuhe aus Leder
(Seite 108). Schmitter, Leick, Sezgin

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 5
In diesem Heft
Titel
Eine Initiative der Union befördert
die Debatte um das Sterben auf Verlangen .... 30
Ethikrat-Chefin Christiane Woopen über ihre
Erfahrung mit lebensmüden Patienten ........... 36
Deutschland
Panorama: Regierung bürgt für Rüstungsdeal
mit Saudi-Arabien / Schwarz-Grün
gegen Rente mit 63 / Alice Schwarzer beichtet
Steuergeheimnis ............................................. 13
Bundesregierung: Schäubles neuer
Rettungsplan für Griechenland ....................... 18
Verteidigung: Wie Ursula von der Leyen ihre
Parteifreunde erneut vor den Kopf stößt ........ 21
CDU: Unions-Fraktionschef Volker Kauder
plädiert für eine besonnene Außenpolitik ...... 22
Karrieren: Geschasst, aber glücklich –
Ex-Innenminister Friedrichs neuer Job ........... 24
Strafjustiz: Der Prozess gegen Christian Wulff
hätte nicht stattfinden dürfen ......................... 26
Integration: Die Große Koalition ringt um Griechischer Anti-EU-Protest
die Frage, wer Deutscher sein darf ................. 28
Europawahlen: Der wahrscheinliche EVP-Kandidat

Noch ein Rettungspaket für Athen


Jean-Claude Juncker und seine Schwächen ...... 38
Bildung: Eltern und Lehrer klagen über
Gehirnwäsche in Schulen, die der
Seite 18
WALKER / FACE TO FACE

Gülen-Bewegung zugerechnet werden ........... 40 Finanzminister Schäuble will Griechenland noch vor der Europawahl ein
Raubkunst: Cornelius Gurlitt verspricht neues Rettungspaket in Aussicht stellen. Es soll an strenge Bedingungen
faire Lösungen – will aber geknüpft sein, zugleich aber die europafreundlichen Kräfte im Land stärken.
zuerst seine Sammlung zurück ....................... 42
Finanzen: Filmproduzent Artur Brauner soll
Schwarzgeld in der Schweiz versteckt haben ... 44
Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit dem

ADAC: Versicherte klagen an


Historiker Martin Sabrow über politisch frag-
würdige Straßennamen in deutschen Städten 46
Umwelt: Werden Wölfe zur Gefahr? .............. 49
Seite 126
Gesellschaft Der ADAC muss sich neuen Vorwürfen stellen: Versicherte beklagen,
Szene: Als Batman durch die Favelas von Rio /
die Luftrettung habe sie nicht oder nur sehr spät ausgeflogen, als sie im
Warum so viele Deutsche „Quizduell“ spielen 52 Ausland schwer erkrankten.
Eine Meldung und ihre Geschichte –
wie die Begegnung mit dem Papst das Leben
eines schwerkranken Italieners veränderte .... 53
Expeditionen: Deutsche Touristikunternehmer
entdecken die Schönheit Nordkoreas ............. 54
Ortstermin: Eine Zugfahrt
zum Jubiläumsfestakt der Bahn AG ............... 58
Milliarden-Klage gegen Piëch Seite 68
Das kann teuer werden: Ein Hedgefonds verklagt Ferdinand Piëch und Wolf-
Serie gang Porsche auf 1,8 Milliarden Euro Schadensersatz. Die beiden sollen bei
Der Erste Weltkrieg (VI): Wie die Siegermächte der Übernahmeschlacht zwischen Porsche und VW Anleger getäuscht haben.
nach 1918 und nach 1945 über die Zukunft
Deutschlands entschieden .............................. 60
Seit der Hyperinflation von 1923 fürchten
die Deutschen um ihr Geld ............................ 64
Wirtschaft
Trends: Probleme bei Strenesse / Deutsch-
Das Gesicht
französischer Steuerstreit / Rentenpaket der
Koalition teurer .............................................. 66 Olympias S. 134, 138
Konzerne: Hedgefonds wollen Milliarden Eiskunstlauf-Star Jewgenij
von Porsche und VW einklagen ..................... 68
Daimler: Die fatale Personalpolitik
Pljuschtschenko verkörpert
des Betriebsratschefs Klemm .......................... 71 wie kein Zweiter die Sehn-
Soziales: Wegen der Mütterrente sucht der Russen nach den
könnten Tausende Scheidungsverfahren magischen Momenten, die
neu aufgerollt werden .................................... 72 ein Großereignis wie Olym-
Europa: EU-Kommissar Almunia setzt die pia überdauern – er soll das
YURI KOZYREV / NOOR / DER SPIEGEL

deutsche Industrie unter Druck ...................... 73 Gesicht von Sotschi werden.


Immobilien: Warum Großstädte Für Deutschlands beste
Modernisierungen verbieten .......................... 74
Konsumgüter: Wie ein thüringischer
Wintersportler geht es auch
Mittelständler die Rasierklingen-Multis um die Zukunft – je mehr
Gillette und Wilkinson angreifen will ............ 76 Medaillen sie gewinnen, des-
Internet: Deutsche IT-Firmen erwarten to mehr Geld bekommt der
nach NSA-Affäre bessere Geschäfte .............. 78 deutsche Sport vom Staat.
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Ausland
Panorama: Will Sarkozy wieder Präsident
werden? / Amanda Knox droht nach dem
Schuldspruch die Auslieferung nach Italien .... 80
Schwellenländer: Die Vielgelobten straucheln 82
Italien: Der sozialdemokratische Rabauke
Matteo Renzi irritiert Freund und Feind .......... 85
Syrien: Sprengte sich ein deutscher Dschihadist
bei einem Selbstmordattentat in die Luft? ..... 86
Vereinte Nationen: Generalsekretär Ban Ki
Moon über den Alptraum Syrien und deutsche
Soldaten für die Konfliktherde der Welt ........ 90
Pakistan: Wie Islamisten die christliche
Minderheit terrorisieren ................................. 92
Global Village: Ein Bankier machte Chinas
Schrift weltweit lesbar .................................... 96
Kultur
Szene: Schauspielerin Hanna Schygulla
als Kurzfilmregisseurin / Giacometti-Fälscher
Robert Driessen versucht sich als Künstler ..... 98
Berlinale: George Clooneys Film
über Amerikaner im Kriegseinsatz
gegen Nazi-Kunsträuber ............................... 100

Aus Solingen in den Krieg


David O. Russells sensationelle Komödie
Seite 86 „American Hustle“ ....................................... 105
Tierschutz: SPIEGEL-Gespräch mit
Robert B. stammt aus dem Rheinland und starb wohl im Januar in Syrien. der Publizistin Hilal Sezgin über ihre Ethik
Der 26-Jährige war zum Islam konvertiert und in den Dschihad gezogen – für Tiere ........................................................ 108
hat er als Selbstmordattentäter weitere Menschen in den Tod gerissen? Bestseller ...................................................... 111
Theater: Burgtheater-Chef Matthias Hartmann
hat seinen Etat überzogen ............................ 112
Buchkritik: Die Briefe des amerikanischen
Bürgerschrecks William S. Burroughs ........... 114

Ein deutsches Internet? Seite 78


Medien
Trends: Datenklau im Bundestag / Zweifel
an Musik-Charts ........................................... 115
Deutsche IT-Unternehmen hoffen auf den Snowden-Effekt: Weil viele Fernsehen: RTL-Chef Hoffmann über seine
Kunden den US-Firmen misstrauen, profitieren heimische Anbieter. geplante Programmoffensive ........................ 116
Die Regierung verschläft den Trend – und streitet nur über Zuständigkeiten.
Wissenschaft · Technik
Prisma: Kinder glauben an ein Leben
vor der Geburt / Ist die Menschenhaut ein
Erbe der Neandertaler? ................................ 120

Öko-Katastrophe durch Vulkanismus


Geologie: Ausbruch der Megavulkane –
Seite 122 warum es zum größten
Artensterben der Erdgeschichte kam ............ 122
Schon einmal setzten Ozonloch, globale Erwärmung und saurer Regen dem Umwelt: Naturschützer wollen den Offshore-
Leben zu: Geologen haben rekonstruiert, wie Vulkane in Sibirien vor gut Windpark vor Sylt verhindern ...................... 125
250 Millionen Jahren das größte Artensterben der Erdgeschichte auslösten. Affären: Versicherte werfen der ADAC-
Luftrettung schweres Versagen vor ............... 126
ADAC-Pannenhelfer heilen
heimlich kaputte Autobatterien .................... 128
Physik: Wunder in der Wüste –

Hollywood in wie Forscher aus Israel und Iran gemeinsam


einen Teilchenbeschleuniger bauen .............. 130

Berlin S. 100, 105


Sport
Szene: Adidas-Werbestars dürfen keine
Scientology-Mitglieder sein / Sauber-Teamleiter
In dieser Woche beginnen in Otmar Bärtsch über die Handarbeit an der
Berlin die 64. Internationalen neuen Generation von Formel-1-Rennwagen 133
Filmfestspiele. Zu den Höhe- Olympische Spiele: Mann fürs Drama –
FRANCOIS DUHAMEL / ANNAPURNA PRODUCTIONS LLC

punkten des Festivals zählen der Eiskunstläufer Jewgenij Pljuschtschenko


zwei US-Produktionen, die ist Russlands Star in Sotschi ......................... 134
auf wahren Begebenheiten Warum Deutschlands Wintersportler sich trotz
ihrer Erfolge kaum vermarkten lassen ......... 138
beruhen: die Betrüger-
Komödie „American Hustle“ Briefe ............................................................... 8
und das Weltkriegsdrama Impressum, Leserservice .............................. 142
„Monuments Men“. George Register ........................................................ 143
Clooney porträtiert darin Personalien ................................................... 144
eine Spezialeinheit der Alli- Amy Adams in Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 146
ierten, die wertvolle Kunst- „American Hustle“
Titelbild: Foto Clemens Zahn / laif
werke vor den Nazis rettete. Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten

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Briefe

Die Erwartungen an Franziskus können


wegen der Macht der Kurie nicht in den
„Wann immer meine katholischen Himmel wachsen. Statt nach dem Abgang
Freunde auf das Thema zu von Benedikt XVI. Erzbischof Gerhard
Ludwig Müller sofort vom Amt des obers-
sprechen kommen, sehen die das ten Glaubens- und Sittenwächters als Prä-
fekt der Glaubenskongregation zu ent-
Problem genau umgekehrt binden, befördert ihn Franziskus zum
Kardinal. Diese Fehlentscheidung hätte
als Ihr Titel, nämlich: „Der Sex er korrigieren können. Wo bleiben da
und der verdammte Papst“. Reformwille und Reformkraft?
MANFRED J. MÜLLER, ULM

UWE ALGNER, LEHRTE (NIEDERS.) Ich interpretiere den Gesichtsausdruck


SPIEGEL-Titel 5/2014 des Papstes so: „Du lieber Gott, habt ihr
keine anderen Sorgen?“
MARTINA LENZEN, MÜNCHEN
Nr. 5/2014, Der Papst und der verdammte darf es auch in evangelischen Gemeinden
Sex – Vatikan-Umfrage zur eines kräftigen Anstoßes. Alle Kirchen Die christliche Botschaft ist ein wunder-
Kluft zwischen Kirche und Gläubigen haben eine große Reformation nötig! Von barer Mythos, der immer noch vielen
unten wird sie wachsen, die weltweite Menschen Halt und Trost gibt. Wenn ins-
Du lieber Gott Ökumene des Lebens.
DR. THEOL. ULRICH KUSCHE, GÖTTINGEN
besondere die katholische Kirche sich
nicht durch die Zufälligkeiten des Zeit-
Ein aufschlussreicher Artikel. Die Tatsa- geistes irritieren lässt, ist dies zu akzep-
che, dass jedem Glauben das nachweisli- Das Einzige, das Hoffnung macht, ist die tieren, meine ich als katholischer Atheist.
che Wissen über Gottes Existenz fehlt, Tatsache, dass sich das Problem dieses Die Reduzierung der Glaubensproblema-
bedeutet im Umkehrschluss, dass die Altherrenclubs biologisch lösen wird. Mö- tik auf die Sexualität zeugt hingegen von
kirchlichen Lehren mit ihren Verhaltens- gen die nachwachsenden Priester dann ungeheurer Oberflächlichkeit.
vorschriften, den Ge- und Verboten nicht liberaler werden! KLAUS MÜLLER, ESSEN
den Willen Gottes wiedergeben – den nie- DR. JEAN-ARNO TOPP, MÜNCHEN
mand kennt –, sondern geistige Produkte Herausgefordert sind wir, die getreuen
fehlerhafter Menschen sind. Warum also sonntäglichen katholischen Kirchgänger.
sollte man ihnen einen Wert beimessen, Wem hat wohl der Papst Fragebögen zu-
der ihnen nicht zukommt, und warum gestellt? Mir sicher nicht! Wann werden
sollte man danach leben? Mit dieser Ent- die Gläubigen von Bischöfen und Pries-
fremdung zur Kirche geht oft die Einsicht tern als mündige Menschen wahrgenom-
einher, dass man seinen Glauben an Gott men? Ihr Artikel klärt auf: Danke!
auch ohne Kirche leben kann. ALFONS LOCH, BONN
DAPD / DDP IMAGES

HEINRICH BUCHHOLZ, OBERHAUSEN


Endlich kommt der unerträgliche Mief
Der Artikel steht für sich und den SPIE- ans Licht, der abscheuliche Hass der ka-
GEL: polemisch, auch fundiert, interes- tholischen Kirche auf die Geschiedenen.
sant für Nichtkatholiken. Ein solch un- Versammlung deutscher Bischöfe in Fulda Eine Scheidung ist nie leicht, doch oft
demokratisches System wie diese Kirche sind es gerade die mutigeren Menschen,
sollte in Deutschland bestenfalls als ein Es wird höchste Zeit, den Katechismus die eine Kurskorrektur in ihrem Leben
gemeinnütziger Verein akzeptiert wer- an die Lebenswirklichkeit anzupassen, vornehmen. Davor hat die Kirche Angst,
den. Die meisten Bischöfe sind offensicht- ohne dabei jeden beliebigen Zeitgeist zu sie beutet die Angst der Menschen aus,
lich nicht die Anwälte einer Mehrheit der berücksichtigen. vom Liebsten verlassen zu werden.
Gläubigen, die Mehrheit braucht sie HORST WINKLER, HERNE (NRW) ARNO FIMIAN, ZOLLIKERBERG (SCHWEIZ)
nicht. Eher braucht sie wohl einen Martin
Luther, einen des 21. Jahrhunderts. Die „weltweite Umfrage unter Gläubigen“ Die katholische Kirche ist ein globales
PETER GEHRKE, FORCHHEIM (BAYERN) mit „vernichtendem Ergebnis“ schrumpft Unternehmen, das wie jedes andere um
auf knapp neun Seiten auf die Ansichten den Erhalt seiner Marktanteile kämpft.
Es war eine großartige Idee des SPIEGEL, eines einzigen, gegenüber der gesamten Das Interesse an ihren Produkten wird
den Papst schon vor der offiziellen Wei- Welt doch nur sehr kleinen Landes zu- aber weiter sinken, denn ein neuer An-
tergabe der Ergebnisse auf den Titel zu sammen. Man sucht vergeblich nach Aus- strich ist nicht genug. Es wird aber noch
heben. So dürfte die herausfordernde sagen von gläubigen Katholiken, beispiels- einige Vorstandsmitglieder – Päpste –
Botschaft den Vatikan ungefiltert errei- weise aus Südamerika oder Afrika. Aber mehr dauern, bis das Geschäft endgültig
chen. Wenn sich noch mehr basisnahe ob sich die Menschen dort, in ihrer Le- einbricht.
Priester, Diakone und Gemeindereferen- benssituation, Gedanken über Sexual- FRAUKE WARNER, WIEN
tinnen auch hierzulande so mutig zusam- moral, wiederverheiratete Geschiedene,
menschließen wie die österreichische ein Zusammenleben „ad experimentum“ An den drei wesentlichen Kennzeichen
Pfarrer-Initiative mit ihrem Aufruf zum oder den Zölibat machen und einen Fra- des gegenwärtigen Katholizismus wird
Ungehorsam und die Schweizer Pfarrei- gebogen des Vatikans ausfüllen? Kaum sich auch unter Franziskus nichts ändern:
Initiative mit ihrer Grundsatzerklärung, vorstellbar. Deutschland ist nicht der Na- Dieser ist argumentenresistent, revisions-
kann es zu einem verheißungsvollen Auf- bel der Welt, aber wir sind Papst und resistent und extrem reformresistent. Das
bruch ins Freie kommen. Zur Erhaltung Europa, zahlen Kirchensteuer, und alle zeigt sich im Festhalten am Ablass und
der Ortsgemeinden auch ohne Pfarrer Welt hat ein Recht auf unsere Meinung. am Insistieren auf „Humanae vitae“.
und für die Freigabe des Abendmahls be- JOHANNA JUNG, MANNHEIM DR. ALFRED KRÖNER, OBERASBACH (BAYERN)

8 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Briefe

Nr. 4/2014, Panorama: Teilzeit Auch wenn jeder Bürger ein Recht auf
und Herrschaft selbstschädigende Unvernunft besitzt, bin
ich erst mal sprachlos über die Fortset-
Asterix jährlich lesen zung der Unvernunft angesichts der Tra-
gik des folgenschweren Radunfalls.
Die Asterix-Analogie, die Dirk Kurbju- SIEGFRIED WAGNER, RATZEBURG (SCHL.-HOLST.)
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO

weit als Aufhänger wählte, trifft so nicht


zu. Denn im Original sind es die putzigen
und liebenswert schrulligen Eingeborenen, Nr. 4/2014, SPIEGEL-Gespräch mit dem
die sich weigern, zur Teatime oder zum Kunsthistoriker Horst Bredekamp über den
Weekend zu kämpfen – und das wären in größten Irrtum seines Forscherlebens
diesem Fall die Taliban, die ja so gar nichts
Finanzpolitiker Weidmann Putziges, Liebenswertes verkörpern. Und
die Römer haben die Kämpfe nicht – wie
Aus Galilei Halligalli
Nr. 4/2014, Der sture sich Kurbjuweit nach 40 Jahren erinnert – Tief in Professor Bredekamps Erklärun-
Währungswächter Weidmann eingestellt, sondern „Cäsar, der große gen spüre ich seinen Wunsch, Nick Wil-
Stratege, legte daher die Kampfzeiten auf ding hätte die Fälschung nie entlarvt. Da
Phalanx von Nehmerländern fünf Uhr nachmittags und die freien Tage
der Briten …“ – mit dem Ergebnis der
steht er nun mit seinen „alternativlosen
Methoden“. Seine Erklärungen werfen
Für die einfühlsame Darstellung herzli- Notwendigkeit des Eingreifens von Aste- ein schlechtes Licht auf seine Arbeitswei-
chen Dank! Nur zwei Vergleiche stören: rix und Obelix samt Zaubertrank. Lieber se. Jeder gute Buchrestaurator hätte ihm
Ein „Geisterfahrer“ kann nicht sein, wem Dirk Kurbjuweit – Asterix nicht alle 40 sagen können, dass es sich bei „seinem
argumentationsmäßig zahllose Stimmen Jahre, sondern mindestens jährlich lesen! Original“ nicht um 400 Jahre altes Papier
aus Wissenschaft, Finanz- und Wirtschafts- RAINER WAGNER, ZWEIBRÜCKEN (RHLD.-PF.) handeln kann. Das sensorische und emo-
welt beipflichten; und das „lichterloh bren- tionale Verständnis fehlt, oder es ist viel
nende Nachbarhaus“ ist ja nicht durch Na- zu stark überlagert von reinem Wissen.
turgewalt in Brand geraten, sondern durch Nr. 4/2014, Sollen Radfahrer nach einem Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel
bewusste Täuschung und blindes Ausnut- Unfall weniger Schadensersatz erhalten, die Fachleute über die Kunstwerke wis-
zen der niedrigen Zinsen zum Aufblähen wenn sie keinen Helm getragen haben? sen, spüre aber sehr oft, dass sie sie nicht
der Immobilienblase. begriffen und verstanden haben. So ent-
JOACHIM MÜLLER, BONN
Milchmädchenrechnung steht das Terrain der Fälscher. Der Fäl-
scher arbeitet mit Gefühl – ähnlich wie
Als „Herr Nein“ verspottet zu werden, Als Fachberater für Verkehrserziehung ein Stimmenimitator.
hat Jens Weidmann nicht verdient. Leute durfte bei mir kein Kind an der Radfahr- WILLI KEMPER, BIELEFELD
seines Schlages gibt es leider zu wenig. ausbildung auf dem Schulhof teilnehmen, BILDENDER KÜNSTLER
Man muss als Hintergrund die gravieren- das keinen Helm trug. Ziel ist es, die Kin-
de Fehlentscheidung erwähnen, die bei der ans Tragen der Helme zu gewöhnen. Wenn hochbezahlte Spezialisten nicht
der Gründung der EZB getroffen wurde: Bei Jugendlichen ist es sehr schwierig, sie mehr zwischen Original und Fälschung un-
Der Rat, der die Richtlinien der Geldpoli- zum Tragen des Helms zu bewegen, da terscheiden können, wer dann? Erschre-
tik und die Leitzinsen festlegt, trifft die sie es uncool finden. Es wird von keiner ckend ist, dass Bredekamp behauptete,
Entscheidungen mit einfacher Mehrheit, Seite bestritten, dass das Tragen eines Galilei habe den Mond gemalt, als der
wobei jedes Mitglied nur eine Stimme Helms im Falle eines Unfalls schützt. Von Schwindel schon längst aufgeflogen war.
hat. Weidmann als Präsident der Bundes- daher hätte ich aus pädagogischer Sicht FRANK KEIM, ULM
bank, die für 18 Prozent der Anteile der von Ihnen eine andere Stellungnahme
EZB geradesteht, hat nicht mehr Einfluss erwartet.
auf die Entscheidungen als der Präsident KARL SCHEUERMANN, ALTENGLAN (RHLD.-PF.)
der Maltesischen Staatsbank, die 0,06 Pro-

GORDONWELTERS.COM / DER SPIEGEL


zent vertritt. Als Vertreter eines stabilitäts- Ein Helm hätte die Verletzungen von
orientierten „Geberlandes“ sieht Weid- Frau Lühr-Tanck gewiss nicht zu 100 Pro-
mann sich einer Phalanx von „Nehmer- zent verhindert, aber die Schäden deut-
ländern“ gegenüber. lich begrenzter gehalten. Die Vergleiche,
ALFRED NAHRMANN, BREMEN die Sie in Ihrem Artikel anführen, sind
einfach nur haarsträubend, und die Lo-
Es ehrt Weidmann und liegt in der Sache gik, dass eine Helmpflicht schädlich sei,
begründet, wenn die Minderheit im EZB- grenzt an Milchmädchenrechnungen.
Rat, wie Sie schreiben, „manchmal nur Denn gerade bei Mofafahrern zeigt sich Titelseite der gefälschten Galileo-Abhandlung
noch aus ihm besteht“. Dadurch, dass in doch, dass eine Helmpflicht Schäden vor-
der EZB das Stimmengewicht so absurd beugt. Die Zahl der Verletzten und Toten Kollege Bredekamp ist der Suggestion des
verteilt ist, wird sie zum Selbstbedienungs- ist seitdem gesunken. Bildes erlegen und damit der Faszination
laden der Schuldner und Problemländer. CHRISTOPH HOHLFELD, LANGEN (HESSEN) des Forschers an der eigenen Forschung.
RÜDIGER VEHOF, ERFURT Ein Opfer zugleich seiner Theorie, die das
LANDESBANKDIR. I. R. Vor Denkfehlern schützt auch die ange- Denken in Bildern als objektive Denk-
dachte Helmpflicht nicht: In Australien form behauptet. So wurde aus Bildung
Ihnen kommen offensichtlich Zweifel, auf haben nach Einführung der Helmpflicht Einbildung und aus Galilei Halligalli.
welche Seite Sie sich schlagen sollen. Für viele der regelmäßig Fahrradfahrenden PROF. MARTIN OSWALD, WEINGARTEN (BAD.-WÜRTT.)
Europa und den Euro sind Verträge ge- aufgegeben. Sie sattelten aufs Auto um
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
schlossen worden, die einzuhalten sind. und gefährdeten so noch mehr die ver- Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
Nichts anderes verlangt Weidmann. bliebenen Radfahrer. tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
ALFRED SCHMITZ, AICHACH (BAYERN) HANS SCHOLZ, BAD NEUENAHR-AHRWEILER leserbriefe@spiegel.de

10 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Panorama Deutschland

HERO LANG / DDP IMAGES


Lürssen-Werft in Bremen

RÜSTUNGSEXPORTE

Regierung fördert Deal mit Saudi-Arabien


Die Bundesregierung will mit einer Hermes-Bürgschaft ei- Verhandlungen noch liefen und mit Konkurrenz aus ande-
nen milliardenschweren Rüstungsexport nach Saudi-Arabien ren Ländern zu rechnen sei. Das Vorhaben wäre der erste
absichern. Dies geht aus einem vertraulichen Schreiben vom umstrittene Rüstungsexport der neuen Bundesregierung
21. Januar hervor, das Finanzstaatssekretär Steffen Kampe- in die Golfregion. In der vergangenen Legislaturperiode hat-
ter an den Haushaltsausschuss des Bundestags gerichtet hat. te der Bundessicherheitsrat eine Voranfrage positiv beschie-
Demnach will die Bundesregierung beim geplanten Export den. Der jetzige SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann hat-
von mehr als hundert Patrouillen- und Grenzüberwachungs- te im vorigen Jahr Meldungen über das sich damals erst
booten an das Innenministerium des Golfstaats mit insge- anbahnende Geschäft mit den Worten kritisiert, die schwarz-
samt rund 1,4 Milliarden Euro bürgen. Kampeter betont in gelbe Bundesregierung wolle Saudi-Arabien „total hochrüs-
seinem Schreiben, die „hohe beschäftigungspolitische Be- ten“. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel hatte jüngst in einem
deutung“ des Deals, an dem die Bremer Lürssen-Werft betei- Interview angekündigt, Rüstungsexporte in Zukunft „restrik-
ligt sein soll. Im Namen der Werft bittet der CDU-Politiker tiv“ zu handhaben und autoritären Regimen keine Unterdrü-
um „vertrauliche Behandlung der Geschäftsdaten“, da die ckungsinstrumente liefern zu wollen.

PA R L A M E N T
gesetze die von der SPD durchgesetzte
Rente mit 63 ablehnen, sofern es keine

Schwarz-Grün gegen Änderungen am Gesetzentwurf gibt.


Das jedenfalls erwartet der CDU-Ab-

Rente mit 63 geordnete Christian von Stetten, Chef


des Parlamentskreises Mittelstand
und offener Gegner des niedrigeren
Aus Unmut über das umstrittene Ren- Rentenalters. „Dass die Zeiten von
tenpaket der Großen Koalition suchen Arbeitslosengeld I jetzt genauso be-
Abgeordnete des CDU-Wirtschafts- rücksichtigt werden sollen wie die Ar-
flügels Unterstützung bei den Grünen beitszeiten der Bevölkerung, können
HC PLAMBECK

im Bundestag. Deren Fraktionsvizin wir nicht akzeptieren“, sagt er. In der


Kerstin Andreae will erreichen, dass Initiative Andreaes sieht Stetten einen
„die einzelnen Elemente des Pakets Ausweg aus der Bredouille der Unions-
getrennt abgestimmt werden“. Formal Andreae (M.) kritiker. Sie könnten der Mütterrente,
begründet Andreae den Vorstoß damit, einer alten Unionsforderung, zustim-
dass die Grünen dann Verbesserungen licher Hintergrund der Initiative ist men, bei der Rente mit 63 aber nein
bei den Reha-Leistungen unterstützen aber ein anderer. Etwa 50 Abgeord- sagen. Auch für die Grünen liegt der
könnten, obwohl sie die Rente mit 63 nete der Union würden bei einer Nutzen auf der Hand: Sie hätten einen
und die Mütterrente ablehnen. Eigent- getrennten Abstimmung der Einzel- Spalt in die Große Koalition getrieben.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 13
Panorama

LINKE B U N D E S TA G

Kampf um Europa Krawattenzwang

MICHAEL REICHEL / PICTURE ALLIANCE / DPA


Der Linken drohen auf ihrem Europa-
parteitag Mitte Februar in Hamburg
abgeschafft
heftige Auseinandersetzungen um das Gleich zu Beginn der neuen Legis-
Wahlprogramm und die Kandidatenlis- laturperiode hat sich die Bundestags-
te. Vergangene Woche wurde ein von führung auf eine Lockerung der Klei-
150 zum Teil hochrangigen Funktionä- derordnung verständigt. Auf Antrag
ren und Mitgliedern unterzeichneter der Präsidiumsmitglieder Claudia Roth
Änderungsantrag für die Präambel des Ramelow (Grüne) und Petra Pau (Die Linke) be-
Wahlprogramms beim Vorstand ein- schloss das Gremium, den Krawatten-
gereicht. Im bisherigen Leitantrag des ren mehrere Bundestagsabgeordnete, zwang für Schriftführer abzuschaffen.
Vorstands hat die Formulierung, die Vorstände der östlichen Landesverbän- In den vergangenen Jahren war es im-
EU sei eine „neoliberale, militaristi- de, aber auch Linke aus dem Westen. mer wieder zum Streit über die Pflicht
sche und weithin undemokratische Für Konflikte dürfte auch die Aufstel- zum Binder gekommen. Vor allem die
Macht“, für heftige öffentliche Diskus- lung der Kandidatenliste zur Europa- Fraktionen von Grünen und Linken
sionen gesorgt. In dem Änderungsan- wahl im Mai sorgen. Zwar hat sich der hatten zunehmend Schwierigkeiten,
trag ist diese Formulierung gestrichen. Bundesausschuss der Partei bereits auf männliche Abgeordnete als Schriftfüh-
Zu den Initiatoren gehören der Berli- Personalvorschläge für die aussichts- rer für das Präsidium zu stellen, da
ner Landesvorsitzende Klaus Lederer, reichsten vorderen Plätze geeinigt. In viele sich weigerten, einen Schlips an-
der Thüringer Fraktionschef Bodo Ra- einer geheimen Nebenabsprache, die zulegen. Dieser Grund entfällt nun.
melow und die Vorsitzende der Links- ein Landesvorsitzender dem SPIEGEL „Mit der Abschaffung des Krawatten-
fraktion im Europaparlament, Gabi bestätigte, haben sich die ostdeutschen zwangs haben wir die Fenster im
Zimmer. Die „Neuformulierung“ der Landeschefs jedoch auf ein anderes Bundestag ein gutes Stück weiter auf-
Präambel werde „breit aus allen Tei- Personaltableau mit mehr Realo-Politi- gestoßen und viel Muff entweichen
len der Partei getragen“, betont Domi- kern verständigt. Damit drohen der lassen“, freut sich Claudia Roth
nic Heilig, Mitglied des Bundesvor- Linken auf dem Parteitag Kampfab- über ihren ersten Erfolg als neues
stands. Zu den Unterzeichnern gehö- stimmungen. Präsidiumsmitglied.

E
s gibt Themen, bei denen ich leider nicht mehr Rentner, die ihre Zeit bevorzugt auf dem Golfplatz
durchblicke. Am stärksten überfordern mich derzeit verbringen. Auch darauf sollte die Politik reagieren. Denk-
die Eigenkapitalbestimmungen Basel I, Basel II und bar wäre zudem die Einführung einer Kurt-Beck-Ge-
Basel III, die Eigentumsverhältnisse des Suhrkamp-Verlags dächtnisrente für Männer, die vor 1992 Dachdecker wurden.
und das Thema Rente. Am Donnerstag las ich auf der ersten Es ließe sich viel machen. Die Rente könnte noch indi-
Seite des „Tagesspiegels“, was sich aufgrund des jüngsten vidueller, noch passgenauer und somit immer gerechter
„Rentenpakets“ alles ändern wird: „Es sieht die Erhöhung werden.
der sogenannten Mütterrente, die Einführung einer ab- Etwas blöd ist nur, dass all diese passgenauen Gerech-
schlagsfreien Rente mit 63 bei 45 Versicherungsjahren sowie tigkeitsrenten finanziert werden müssen. Die Große Ko-
Verbesserungen für Erwerbsminderungsrent- alition unternimmt bislang größte Anstren-
ner vor.“ Unter Mütterrentnern konnte ich gungen, um dieses Problem zu verschleiern.
mir grob etwas vorstellen, bei abschlagsfrei-
TREIBHAUS BERLIN Sie stiftet gezielt sprachliche Verwirrung
en Rentnern und Erwerbsminderungsrent- und denkt sich immer seltsamere Begriffe
nern wurde es schon schwieriger. Immerhin
stehen Erwerbsminderungsrentnern nun Ver-
Unter Garten- rund um die Rente aus – in der Hoffnung,
dass jüngere Beitragszahler nicht mehr
besserungen ins Haus, und die können ja
nicht schlecht sein.
zwergen durchblicken und auch weiter brav bezah-
len. „Es bleibt ja die Rente mit 67 bestehen“,
Das Rentnerdasein wird offenkundig im- erklärt uns etwa Angela Merkel. „Die Rente
mer vielfältiger. Es gibt immer neue Typen, mit 63 wächst auf 65 Jahre in den nächsten
immer neue Namen: Rentner mit 67, Rentner Jahren für Menschen, die 45 Jahre ein-
mit 65, abschlagsfreie Rentner mit 63 oder gezahlt haben.“ Rentenministerin Andrea
61, dazu Rentnerinnen, die vor, nach und im Nahles betont derweil, „dass man mit
Jahr 1992 ein Kind bekommen haben. 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen
Früher war es übersichtlicher, auch der kann, wenn man langjährige Beiträge auch
Rentner selbst war berechenbarer. Meist saß gezahlt hat“.
er zufrieden auf seiner Eckbank und spielte Rommé. Man Was mit jenen geschieht, die statt in den langen nur in den
sprach deshalb vom Eckrentner. Der moderne Rentner kurzen Jahren Beiträge gezahlt haben, bleibt vorerst offen.
wandert jetzt lieber durch die Wüste Negev und nimmt „Ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein
an Online-Petitionen teil. Nebenbei studiert er Romanistik. Gartenzwerg“, sang vor langen Jahren die Gruppe Element
Der unaufhaltsame Prozess der Individualisierung hat of Crime. Früher fand man Gartenzwerge vor allem in den
inzwischen auch den deutschen Rentner erfasst. Neben Gärten von Rentnern. Auch das ist heute anders.
den abschlagsfreien gibt es längst auch die abschlagenden Markus Feldenkirchen

14 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

HEIMKINDER

Im Regen
stehengelassen
Die Entschädigungszahlungen an ehe-
malige Heimkinder drohen entgegen
bisherigen politischen Versprechen
im Osten Deutschlands erschwert zu
werden. Das geht aus einer internen
Vorlage für eine Konferenz der Finanz-

JOHANNES ARLT / LAIF


minister der neuen Bundesländer
mit dem Bundesfamilienministerium
von Manuela Schwesig (SPD) hervor.
Diese hatte zwar erst kürzlich betont,
Bundeswehrsoldat mit Dolmetscher „die Betroffenen nicht im Regen ste-
hen“ zu lassen, da sich die bisher ge-
A F G H A N I S TA N
sehen erregte im November der Fall des währten 40 Millionen Euro als nicht
ehemaligen Bundeswehr-Dolmetschers ausreichend erwiesen haben. Doch

Schleppende Ausreise Dschawad Wafa, der in Kunduz ermor-


det aufgefunden wurde. Die Bundes-
regierung bleibt bei ihrer Darstellung,
in der gemeinsamen Beschlussvorlage
der Jugend- und Finanzministerien
sind neue Restriktionen vorgesehen.
Nur knapp ein Zehntel der als gefährdet dass Wafa nicht aufgrund seiner Tätig- Die Betroffenen sollen etwa nur noch
eingestuften afghanischen Helfer der keit für die Deutschen getötet worden drei Monate Zeit haben, ihre Forde-
Bundeswehr ist bisher nach Deutsch- sei. Es handle sich „um eine kriminell rungen anzumelden, um ohne Nach-
land ausgereist. Eine Zusage für die motivierte oder auf das familiär-soziale weis pauschal 3000 Euro zu erhalten.
Aufnahme erhielten laut Bundesinnen- Umfeld des Getöteten zurückzuführen- „Angesichts der großen Zahl der Be-
ministerium 243 dieser sogenannten de Tat, die nicht durch regierungsfeind- troffenen werden aber nicht nur mehr
Ortskräfte. Nur 22 von ihnen sind tat- liche Kräfte verübt wurde“, heißt es in Mittel benötigt, sondern auch mehr
sächlich in Deutschland. „Die Bundes- der Antwort auf eine Anfrage Amts- Berater, um denjenigen zu helfen, die
regierung darf nicht zögern, sondern bergs. Die Grünen-Politikerin fordert in DDR-Kinderheimen Unrecht erlit-
muss alles unternehmen, um die Betrof- die Bundesregierung auf, die Hinter- ten und bis heute schwer traumatisiert
fenen schnell nach Deutschland zu brin- gründe des Mordes gemeinsam mit den sind“, fordert der Ombudsmann deut-
gen“, sagte die flüchtlingspolitische afghanischen Behörden erneut zu prü- scher Heimkinder, Peter Schruth. Vie-
Sprecherin der Grünen, Luise Amts- fen. „Die afghanische Polizei geht von le müssten bis zu eineinhalb Jahren
berg. „Für sie zählt jeder Tag!“ Auf- einer Tat der Taliban aus“, so Amtsberg. auf ein Beratungsgespräch warten.

BILDUNG
santerweise auch Kritik aus der Wirt- Option aufrechterhalten möchten. Wir
schaft, denn viele Betriebe hadern mit lassen gerade prüfen, ob beide Wege

„Druck und Stress“ der manchmal unübersehbaren fehlen-


den Reife ganz junger Abiturienten.
SPIEGEL: Welche Auswirkungen hat das
parallel angeboten werden können
und ob es eine Möglichkeit gibt, den
Alltag an unseren Gymnasien auf der
Niedersachsens Minis- Turbo-Abitur im Schulalltag? Basis von G8 zu entschlacken.
terpräsident Stephan Weil: Nach den Berichten, die ich höre, SPIEGEL: Wie ließe sich der Stress für
Weil, 55 (SPD), kriti- kann man es mit einem Wort zusam- Schüler und Lehrer mindern?
FRANK OSSENBRINK

siert die achtjährige menfassen: Stress. Das gilt für Schüler, Weil: Ein Beispiel: In Niedersachsen
Gymnasialzeit und stellt Lehrer und Eltern offenbar gleicher- gibt es fünf Prüfungsfächer. In ande-
für sein Bundesland G9- maßen. Dieser Druck reicht übrigens ren Bundesländern nur vier. Dort
Optionen in Aussicht. weit über die Schulstunden hinaus, scheint man das Abitur aber auch gut
denn danach sind ja noch die Haus- machen zu können.
SPIEGEL: Herr Weil, war es richtig, die aufgaben zu machen. Dass die Kinder SPIEGEL: Falls Niedersachsen künftig
Gymnasialzeit in den westdeutschen bisweilen längere Arbeitszeiten als G9-Alternativen anbieten sollte:
Bundesländern von neun auf acht Jah- ihre Eltern haben, empfinde ich als Fürchten Sie nicht, dass die Gesamt-
re zu verkürzen? hochproblematisch. schulen dann durch verstärkten Zulauf
Weil: Ich habe daran von Anfang an er- SPIEGEL: Befürworten Sie eine Rück- an die Gymnasien ausbluten?
hebliche Zweifel gehabt. Diese Zweifel kehr zum neunjährigen Gymnasium in Weil: Das ist mir zu sehr um die Ecke
sind im Laufe der Zeit nicht weniger Niedersachsen? gedacht. Für die Eltern und Schüler
geworden. Viele betroffene Jugendli- Weil: Wir haben eine Expertenkommis- soll es ein gutes Schulangebot ihrer
che klagen über viel zu wenig Zeit für sion gebeten, uns Vorschläge für eine Wahl geben. Das gilt für Gymnasien
ein Leben jenseits der Schule. Eltern Reform des G8 zu machen. Manches und Gesamtschulen gleichermaßen.
weisen uns auf den Druck und den spricht für eine Rückkehr zur Neun- Ich lehne es ab, eine Schulform künst-
Stress hin, unter dem ihre Familien lei- jährigkeit, es gibt aber auch gewichti- lich schlechter zu behandeln, um die
den. Und insbesondere gibt es interes- ge Stimmen, die G8 mindestens als andere zu fördern.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 15
Deutschland Panorama

AT O M AU S S T I E G Z U WA N D E R U N G
Atomkraftwerk Biblis

Bouffiers Büro Unerlaubter


wusste mehr Aufenthalt
In die rechtswidrige Stilllegung des Bei der illegalen Migration registriert
Atomkraftwerks Biblis nach der Reak- die Bundespolizei einen „erheblichen
torkatastrophe von Fukushima war Anstieg“. Behördenintern wird bereits
die hessische Staatskanzlei von Minis- darüber diskutiert, wie der Entwick-
terpräsident Volker Bouffier (CDU) lung begegnet werden soll. Über die
stärker involviert als bisher bekannt. Zahlen informierte Bundespolizeipräsi-

BORIS ROESSLER / DPA


So wurde Bouffiers Büro vom Wies- dent Dieter Romann unlängst das
badener Umweltministerium vorab Kanzleramt.
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
die dreimonatige Stilllegung ohne Anstieg der illegalen Migration
vorherige Anhörung des Kraftwerkbe- Veränderung 1. Halbjahr 2013 gegenüber
treibers RWE angeordnet werden soll. dem Vorjahreszeitraum
Das ergibt sich aus Ministeriumsakten, der Verzicht auf eine Anhörung pro- unerlaubte Einreise
die der SPD-Landtagsabgeordnete blematisch sein könne. Fast gleichzei- 16909
Norbert Schmitt einsehen konnte. tig hatte die Ministerin ihren Anord-
+ 20 %
Den Verzicht auf die Anhörung des nungsentwurf aber auch an Bouffiers darunter aus:
Unternehmens haben der Hessische Büro geschickt – mit einem ausdrück- Russland 2534
Verwaltungsgerichtshof und das Bun- lichen Hinweis auf die Passage, in der
desverwaltungsgericht später als „be- eine Anhörung von RWE als unnötig Afghanistan 1233
achtlichen Verfahrensfehler“ bewertet. bezeichnet wurde. In der Rückmel- Syrien 933
RWE bereitet nun eine voraussichtlich dung aus der Staatskanzlei blieb diese
millionenschwere Schadensersatzklage Passage unbeanstandet. Bouffier hatte Kosovo 794
gegen das Land Hessen vor. Die Ver- lediglich eine Änderung verlangt,
unerlaubter Aufenthalt
antwortung für die unzulässige Anord- durch die deutlich werden sollte, dass
nung wurde in Wiesbaden bisher der die Abschaltung von der Bundesregie- 10 164 +12%
damaligen hessischen Umweltministe- rung gefordert worden sei. Die Landes-
geschleuste Personen
rin Lucia Puttrich (CDU) angelastet. regierung hält eine Schadensersatz-
Wie sich aus den von Schmitt eingese- klage für unbegründet. Bouffiers Spre- 3920 +48%
henen Akten ergibt, war Puttrich vom cher sagte am Freitag, schließlich festgenommene Schleuser
hessischen Justizministerium darauf hätten auch die anderen Bundesländer
aufmerksam gemacht worden, dass auf eine Anhörung verzichtet. 833 +78% Quelle: Bundespolizei

PROMINENTE
sichtshalber zahlen, damit die Selbst-
anzeige nicht wegen einer möglicher-

Schwarzers weise falschen Berechnung der Steuer-


schuld unwirksam wird. Tatsächlich

Steuergeheimnis deutet alles darauf hin, dass Schwarzer


im Gegensatz zu Hoeneß keine verun-
glückte Selbstanzeige unterlaufen ist,
Während Bayern-Präsident Uli Hoe- die zur Unwirksamkeit hätte führen
neß im März wegen des Verdachts können. So entfällt bei ihr wegen täti-
der Steuerhinterziehung vor Gericht ger Reue der Schuldvorwurf der unter-
IPON / IMAGO

kommt, hat eine andere Prominente bliebenen Steuerzahlung. Nach Ex-


offenbar rechtzeitig eine Selbstanzeige „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer, der
erstattet und muss damit keine Straf- gerade wegen Steuerhinterziehung zu
verfolgung mehr fürchten. Alice Schwarzer einer Bewährungsstrafe verurteilt wur-
Schwarzer, Herausgeberin der Frauen- de, wird zum zweiten Mal in kurzer
zeitschrift „Emma“ und streitbare richte über neue Steuer-CDs und Zeit eine moralische Instanz der deut-
Feministin, hat den Steuerbehörden Schwarzgeldkonten im Ausland gege- schen Presse wegen einer Steuerange-
gegenüber aufgedeckt, dass sie über ben hatte. Dadurch waren auch zahl- legenheit auffällig. Schwarzer hatte
viele Jahre eine erhebliche Summe in reiche Anleger mit Konten in der sich in der Vergangenheit wiederholt
der Schweiz gebunkert und die dort Schweiz aufgeschreckt worden. Wie es kritisch zum deutschen Steuersystem
angefallenen Zinsen nicht, wie vorge- heißt, soll Schwarzer nun eine sechs- geäußert, weil das Ehegattensplitting
schrieben, dem deutschen Fiskus zur stellige Summe nachgezahlt haben, Frauen in die Unselbständigkeit drän-
Besteuerung angegeben hatte. Schwar- um ihre Steuerpflicht zu erfüllen. Dar- ge und den Fiskus gleichzeitig jedes
zer erstattete die Selbstanzeige dem in enthalten soll auch ein Sicherheits- Jahr Milliarden koste. Schwarzers An-
Vernehmen nach im vergangenen Jahr, puffer gewesen sein, den Steuersünder walt wollte sich auf Anfrage zu dem
in dem es immer wieder Medienbe- in solchen Fällen in der Regel vor- Sachverhalt nicht äußern.
16 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Finanzminister Schäuble in Brüssel

BUNDESREGIERUNG

Stolz und Vorurteil


Angesichts erster Erfolge verlangt die griechische Regierung neue Hilfen von ihren
Partnern. Doch Wolfgang Schäuble will hart bleiben: Erst soll die Athener
Regierung die geplanten Reformen umsetzen, dann kann es weiteres Geld geben.

G
leichgültig, wo Vertreter der schaftswachstum, die Exporte zögen an, Partnerländer neues Geld für Griechen-
griechischen Regierung in diesen der Tourismus boome. Vor allem aber sei- land lockermachten.
Tagen auftauchen: Sie verbreiten en die Staatsfinanzen auf dem Weg der Stolz traf auf Vorurteil. Bei keinem an-
Feierlaune. Anfang vergangener Woche Gesundung. deren europäischen Krisenstaat klaffen
bekam die Euro-Gruppe, die Versamm- Mit einem Anflug von Triumph in der Selbstbild und Fremdwahrnehmung der-
lung der Finanzminister aus dem Wäh- Stimme berichtete Stournaras, dass er im zeit so weit auseinander wie bei Grie-
rungsraum, Stolz und Selbstbewusstsein vergangenen Jahr einen Überschuss in chenland. Stournaras und sein Premier-
ihres griechischen Kollegen zu spüren. der Nähe von einer Milliarde Euro erwirt- minister Antonis Samaras sehen ihren
Sein Land befinde sich auf dem steti- schaftet habe; jedenfalls wenn man die Staat, was Reformen angeht, auf Augen-
gen Weg der Besserung, berichtete Gian- Zinsausgaben außen vor lasse. Dann kam, höhe mit den Erfolgsmodellen Irland und
nis Stournaras der Runde. Erstmals seit was kommen musste: Sein Land habe Spanien. Europas Finanzminister dage-
Jahren zeigten sich Anzeichen von Wirt- geliefert, jetzt sei es an der Zeit, dass die gen zeichnen ein ganz anderes Bild: Wäh-
18 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

chenen Reformen, hielten sie Stournaras ranghoher deutscher Beamter. Tatsäch-


vor, hätte er bislang nur einen geringen lich ist Schäuble noch zu viel weitrei-
Anteil umgesetzt. Weniger als 50 Prozent. chenderen Konzessionen bereit. Laut
Die Euro-Retter suchen nun nach einer dem Positionspapier aus seinem Ministe-
neuen Strategie, wie sie mit ihrem größ- rium stellt er sich auf ein drittes Rettungs-
ten Problemfall umgehen sollen; und es paket für Griechenland ein.
sieht so aus, als wolle Finanzminister Bislang hatte er zwar ein weiteres Pro-
Wolfgang Schäuble (CDU) aufs Tempo gramm für 2015 und danach nicht generell
drücken. In einem fünfseitigen internen ausgeschlossen, aber stets darauf verwie-
Vermerk seiner Behörde mit dem Titel sen, dass eine Entscheidung darüber erst
„Positionspapier Griechenland“ wird die Ende des Jahres anstehe. Doch nun
Strategie des Förderns und Forderns mit scheint er sich damit abzufinden – und
neuen Inhalten gefüllt: Griechenland darf es soll den Griechen schon in ein paar
langfristig auf neue Hilfen seiner Geldge- Wochen angeboten werden.
ber hoffen, aber nur, wenn die Regierung Zu groß ist die Schuldenlast Griechen-
zu weiteren Reformen bereit ist. lands, als dass Athen mit seinem Kredit-
Denn die Defizite des Pleitestaats sind bedarf an die Finanzmärkte zurückkeh-
gewaltig, wie Schäubles Beamte scho- ren könnte. Obwohl die Privatgläubiger
nungslos auflisten. So seien noch immer des Landes bereits auf einen großen Teil
grundlegende Probleme in der öffentli- ihrer Forderungen verzichtet haben, steht
chen Verwaltung nicht beseitigt. Die Steu- die Schuldenquote, also die Summe der
erbehörden arbeiteten unzuverlässig, der Verbindlichkeiten im Verhältnis zum
Aufbau eines landesweiten Katasters sto- Bruttoinlandsprodukt, bei 176 Prozent. In
cke, und die Privatisierung komme nicht absoluten Zahlen: 322 Milliarden Euro.
voran. Auch der Arbeitsmarkt sei noch Schäuble macht nun Druck. Erwähnt
längst nicht so flexibel wie gewünscht. wird in dem Papier ein weiterer Schulden-
Kurzum, die Reformen in Griechenland schnitt, der dieses Mal aber vor allem
dauerten zu lang und reichten nicht aus. öffentliche Gläubiger treffen würde. Als
Hinzu kommt, dass die Athener Regie- weitere Möglichkeit nennt die Vorlage ein
rung in diesem Jahr mehr als zwei Mil- sogenanntes begrenztes Anschlusspro-
liarden Euro auftreiben muss, um die Etat- gramm, also neue Hilfszahlungen der Part-
vorgaben des zweiten Rettungspakets zu nerländer. Bereitstellen könnte die Mittel
erfüllen. Davon ist sie weit entfernt. Weil der europäische Rettungsschirm ESM, der
THIERRY MONASSE / POLARIS / LAIF

die versprochenen Schritte ausbleiben, noch über erhebliche Reserven verfügt.


verweigern die Partnerländer die Auszah- Der IWF will sich nicht mehr beteiligen.
lung zweier Tranchen aus dem Rettungs- Ergänzt werden könnte diese Maßnah-
paket, insgesamt 8,3 Milliarden Euro. me durch eine weitere Geldquelle, schla-
Die Griechen brauchen das Geld spä- gen die Schäuble-Beamten vor. Die grie-
testens im Mai. Dann werden Zahlungs- chische Regierung soll versuchen, sich in
verpflichtungen von knapp über zehn beschränktem Umfang wieder selbst Geld
Milliarden Euro fällig. Deswegen hoffen an den Märkten zu besorgen. Ausge-
rend Spanien und Irland nicht mehr auf Schäuble und die Seinen darauf, dass sich schlossen scheint dies nicht. Die Zinsen
die Hilfe der europäischen Rettungsschir- die klamme Regierung sputet, um den auf Staatsanleihen des Landes sind in den
me angewiesen sind, ist es bei den Grie- Rückstand aufzuholen. Und deshalb baut vergangenen Monaten erheblich gesun-
chen genau umgekehrt. Aus viel zu ge- er zusammen mit seinen europäischen ken, weil die Gefahr einer Pleite als über-
ringen Erfolgen leiten sie das Recht ab, Kollegen eine Drohkulisse schaubar gilt. Die neuen
die Hand weiter aufzuhalten. auf. Das ausstehende Geld Hilfsmaßnahmen Schulden würden für die
Entsprechend gering war die Neigung
der Ressortchefs, ihrem griechischen Kol-
gibt es nur, wenn die Grie-
chen weiter reformieren. für Griechenland griechische bezahlbar.
Regierung also

legen entgegenzukommen. Die Fortschrit- Ob die Mischung aus Dennoch liegen die Ren-
te fanden sie zwar erfreulich, aber bei Zuckerbrot und Peitsche diten weit über dem europäi-
dem Treffen stimmten alle dem Urteil ih- funktioniert, bleibt fraglich. Erstes schen Schnitt. Es könnten
res Vorsitzenden zu. „Das dauert alles zu Schäuble ist bewusst, dass Rettungspaket sich also durchaus wieder
lange“, befand der niederländische Fi- die Griechen wissen, dass Euro-Zone/IWF Anleger finden, die bereit
nanzminister Jeroen Dijsselbloem. die Geberländer es sich sind, griechische Staatstitel
Seine Sparanstrengungen seien aller kaum leisten können, die 73 Mrd. € zu kaufen. Zugleich müssen
Ehren wert, beschied die Runde Stour- Tranchen zu verweigern. die privaten Gläubiger nicht
naras. Doch bevor er daraus Ansprüche Würde Griechenland zah- fürchten, dass ihre Papiere
ableite, wollte sie doch lieber die amt- lungsunfähig, könnte die sofort wieder entwertet wer-
lichen Angaben von Eurostat abwarten. Euro-Krise rasch wiederauf- Zweites den. Ein Schuldenschnitt für
Die kommen Ende April, und bis dahin flammen. Deswegen wollen Rettungspaket Privatgläubiger wie 2012
habe die griechische Regierung ja wohl die Finanzminister durch- EFSF und IWF würde das Vertrauen in die
noch einige Hausaufgaben zu erledigen. aus Entgegenkommen zei- griechischen Staatsfinanzen
Besonders die Vertreter von EU-Kom- gen – nur noch nicht jetzt. 163,7 Mrd. € und die europäische Ret-
mission, Europäischer Zentralbank und „Das Schlimmste wäre, ausgezahlt: 142,0 Mrd. € tungspolitik endgültig ver-
Internationalem Währungsfonds (IWF), wenn sich die Griechen auf nichten. Und deshalb wird
die sogenannte Troika, beklagten am ihren Erfolgen ausruhen er nicht kommen.
Montag vergangener Woche die Saum- und die Reformmüdigkeit noch verfügbar: 21,7 Mrd. € Schäubles Beamte war-
seligkeit der Griechen. Von den verspro- wiederauflebt“, sagt ein Quelle: BMF; Stand 31. Dez. 2013 nen davor, in Athen zur Un-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 19
zeit Erwartungen für eine weitreichende
Rettung zu wecken. Das könnte sich als
„kontraproduktiv“ erweisen. Eine vorzei-
tig angekündigte Entscheidung, ein neues
Anpassungsprogramm aufzulegen, könne
den Reformeifer der Griechen dämpfen.
Dennoch dürften die Helfer nicht allzu
lang damit warten, mahnen die Beamten.
Sie regen an, Deutschland und seine eu-
ropäischen Partner sollten rechtzeitig vor
der Europawahl ihre Bereitschaft signali-
sieren, Griechenland unter klaren Bedin-
gungen weiter zu unterstützen.
Ihr Kalkül: Die Euro-freundlichen Kräf-
te würden unterstützt. Je nach Ausgestal-
tung und Bedarf könnte das Hilfspaket
ein Volumen von 10 bis 20 Milliarden
Euro umfassen, heißt es im Finanzminis-
terium. Die Regierung in Berlin will ihre
Hilfe aber nicht allein auf Geld beschrän-
ken. Sie strebt ein neues Aufbaupro-
gramm an, um Staat und Verwaltung des
Balkanstaates an die Standards des 21.
Jahrhunderts heranzuführen. Mitwirken
sollen dabei alle Ressorts.
So wird etwa das Arbeitsministerium
gebeten, Vorschläge für eine bessere be-
rufliche Bildung in Griechenland beizu-
steuern. Das Finanzministerium will bei
der Organisation der Steuerverwaltung
helfen. Ähnliches hat es schon einmal ge-
geben, dennoch wollen es die Deutschen
noch einmal versuchen, nicht zuletzt als
Zeichen guten Willens. In den kommen-
den Wochen wird das Außenamt von Mi-
nister Frank-Walter Steinmeier die Vor-
schläge einsammeln. Außerdem, so die
Überlegungen, könnten sich auch andere
Geberstaaten an dem Projekt beteiligen.
Darüber hinaus sollen die Griechen
dazu gedrängt werden, Weltbank und
Osteuropabank um Hilfe zu bitten. Beide
kennen sich nach Einschätzung der Deut-
schen bestens damit aus, darniederliegen-
den Volkswirtschaften auf die Sprünge
zu helfen. Zypern habe diesen Schritt
nicht gescheut und profitiere nun davon.
Überhaupt weckt die ebenfalls ange-
schlagene Inselrepublik derzeit mächti-
gen Retterstolz in Berlin, weil sich
Schäuble und seine Leute im Nachhinein
bestätigt fühlen. Für sie stellt Zypern ein
Modell dafür dar, wie Reformpolitik künf-
tig zu funktionieren hat: harte Schnitte
am Anfang und anschließend Geduld.
„Wir haben das Geschäftsmodell von
Zypern auf den Kopf gestellt, Banken
abgewickelt und dabei private Gläubiger
beteiligt“, sagt ein Schäuble-Vertrauter.
Schon nach wenigen Monaten zeige sich
nun Erfolg. Niemand rede mehr von Zy-
pern als Krisenherd. Die Inselrepublik
mache in allen Bereichen deutliche
Fortschritte. Im Falle Griechenlands hät-
ten sich die Retter zunächst vor har-
schen Schnitten gedrückt. Stattdessen
hätten sie immer wieder nachbessern
müssen, ohne bislang einen Durchbruch
zu erzielen. CHRISTIAN REIERMANN

20 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

der Partei das hässliche Wort „Erpres- in kleiner Runde besprochen wurde, war
VERTEIDIGUNG sung“ die Runde. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller

Das knallt
Nun hat die Ministerin, kaum sechs (CSU) nicht eingeladen. Nicht nur Müller
Wochen im Amt, die Konservativen mit selbst empfand das als unfreundlichen Akt,
einer neuen Offensive vor den Kopf ge- sondern auch CSU-Chef Horst Seehofer.
stoßen. Normalerweise gehört es zu den Die Bayern werden den Einsatz in Afri-
Ursula von der Leyen will mehr Gepflogenheiten des Berliner Betriebs, ka nicht verhindern. Aber sie wollen sich
deutschen Einsatz in der Welt, dass ein neuer Minister seine Ideen zuerst nicht noch einmal überrumpeln lassen.
das bringt ihr viel Rampenlicht – den Verteidigungspolitikern in der eige- Mehr als dem Einsatz eines Lazarett-Flug-
nen Partei skizziert und im Verteidigungs- zeugs und ein paar Transporten in Zen-
und manchen neuen Neider. ausschuss des Bundestags bespricht. Im- tralafrika will die CSU keinesfalls zustim-
merhin: Im Ausschuss war von der Leyen men. „Wenn Frau von der Leyen über lo-

K
awumm. Aus der Kanone des vergangene Woche, doch die sensiblen gistische Hilfe hinausgehen will, müsste
„Leopard“-Panzers steigt eine Fraktionskollegen hat sie noch nicht be- sie mit dem Widerstand der CSU rech-
graue Wolke Pulverdampf auf. Aufsucht. Stattdessen lancierte sie in Inter- nen“, sagt Seehofer.
Ursula von der Leyens Gesicht ist keine views ihre Vorstöße für mehr Familien- Der CSU-Chef ist sauer, weil Mitte
Regung zu erkennen. Die Verteidigungs- freundlichkeit in der Truppe und ein stär- März in Bayern wichtige Kommunalwah-
ministerin blickt auf das Kampfgetümmel, keres Engagement der Bundeswehr. len anstehen und er weiß, wie wenig sei-
aus ihrer Miene spricht die Konzentration Doch nicht nur die Verteidigungspoliti- ne Wähler Schlagzeilen schätzen, in de-
einer Oberbefehlshaberin, die mit stren- ker sind beleidigt, vor allem die CSU ist nen von neuen Auslandseinsätzen der
gem Blick den Angriff ihrer Truppe über- verschnupft. Die Parteispitze fürchtet um Bundeswehr die Rede ist. Die CSU will
wacht. ihr außenpolitisches Mitspracherecht. Sie deshalb unbedingt den Eindruck vermei-
Kawumm. Von hinten feuert ein zwei- hätte gern von der Ministerin persönlich den, dass nach dem Einsatz in Afghani-
ter „Leopard“. Von der Leyen bleibt wie- erfahren, dass sie bereit ist, die Bundes- stan Afrika zum neuen Aufmarschgebiet
der ganz ruhig, sie blickt noch für ein wehr zu einem Einsatz nach Zentralafrika deutscher Soldaten wird.
paar Sekunden mit bloßem Auge auf das zu schicken. Aber als die Sache vor drei Doch auf der Münchner Sicherheits-
Schlachtfeld. Dann steigt sie von ihrem Wochen am Rande der Kabinettssitzung konferenz erhielt von der Leyen am ver-
Hochstand aus Beton herunter. gangenen Freitag Rückende-
Die Fotografen darum sind sehr ckung von höchster Stelle. Bun-
zufrieden. Eine Verteidigungs- despräsident Joachim Gauck
ministerin, die eine Infanterie- forderte in seiner Rede ein
übung abnimmt – so ein Motiv Ende der deutschen „Bequem-
hat es in der Geschichte der lichkeit“. Er sei zutiefst über-
Bundesrepublik noch nicht ge- zeugt: „Deutschland, der Welt
geben. Am nächsten Tag berich- stärker zugewandt, wird ein
ten die Medien. noch besserer Freund und Alli-
So gesehen war das Manöver ierter sein.“ Von der Leyen
in der Altmark am vergange- nutzte die Sicherheitskonferenz
nen Dienstag ein Erfolg für von ebenfalls zu einem Appell für
der Leyen, aber nicht alle konn- mehr deutsches Engagement in
ten sich daran erfreuen. Der der Welt.
Wehrbeauftragte des Bundes- Ein weiterer Auftritt blieb
tags zum Beispiel stellte zeit- ihr jedoch verwehrt. Mitarbei-
gleich dazu seinen jährlichen ter der Ministerin hatten vor
Bericht in Berlin vor, und zu einiger Zeit mit dem Organisa-
seinem Verdruss musste Hell- tor der Konferenz, Wolfgang
mut Königshaus (FDP) feststel- Ischinger, die Idee getestet,
len, dass es viele Korrespon- ob von der Leyen auch auf
denten vorgezogen hatten, der dem Empfang des bayerischen
Ministerin in die Provinz zu fol- Ministerpräsidenten am Ran-
gen, statt seiner Kritik am Zu- de der Tagung reden könne.
stand der Truppe zu lauschen. Dies würde doch gut passen,
Es war kein absichtlicher Feh- schließlich würde bei dem fei-
ler der CDU-Frau, im Verteidi- erlichen Dinner auch Helmut
gungsministerium ist den Beam- Schmidt geehrt, der sei auch
ten der Termin durchgerutscht. mal Verteidigungsminister ge-
Das Verhältnis zu dem Libera- wesen. So jedenfalls erzählt
len Königshaus wird darunter man sich die Geschichte in
nicht leiden. München.
Größere Schwierigkeiten bah- Als Seehofer von dem Ansin-
nen sich im Umgang mit dem nen der Ministerin hörte, dach-
konservativen Lager an. Von te er gar nicht daran, der Kolle-
der Leyen hat schon öfter die gin aus Berlin die Bühne im
eigenen Leute verstört, zuletzt, Kaisersaal der Münchner Resi-
HC PLAMBECK / LAIF

als sie sich beim Thema Frauen- denz frei zu machen. Die Ant-
quote mit der Opposition ver- wort aus der Staatskanzlei fiel
bündete und am Ende die gan- denkbar knapp aus: Nein.
ze Union zu einem Kurswech- NICOLA ABÉ, PETER MÜLLER,
sel zwang. Damals machte in Ministerin von der Leyen: Rückendeckung von höchster Stelle GORDON REPINSKI

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 21
Rettungsflugzeug MedEvac
„Man sollte es nutzen“

Kauder: Die Verbesserung bei der Mütter-


rente ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Wir alle stehen auf den Schultern frühe-
rer Generationen und profitieren davon,
was unsere Eltern und Großeltern erar-
beitet haben. Die Mütterrente ist ein Zei-
chen der Anerkennung an jene Frauen,
die Kinder in einer Zeit großgezogen ha-
ben, als es noch nicht so viele Kitas gab
und man Familie und Beruf noch nicht
so gut vereinbaren konnte wie heute. Die-

MAIK BOENISCH / DEMOTIX / CORBIS


se Frauen haben oft auf einiges verzich-
ten müssen, was heute völlig zu Recht
selbstverständlich ist. Die Kosten für die
Mütterrente können wir gut schultern, so-
lange die Wirtschaft brummt.
SPIEGEL: Wo sind die CDU-Projekte in die-
ser Regierung? Innenminister Thomas de
Maizière muss dafür sorgen, dass Zuwan-
derer bald leichter zwei Pässe bekommen.
CDU Das ist kein Thema, das die Herzen Ihrer

„Wir müssen Gas geben“


konservativen Parteifreunde erwärmt.
Kauder: Warum nicht? Wir freuen uns
über jeden, der in Deutschland geboren
ist und bei uns bleiben möchte. Diese
Bürger können dann auch zwei Staatsan-
Unionsfraktionschef Volker Kauder (64) über den gehörigkeiten haben. Das akzeptieren
ambitionslosen Start der Kanzlerin in die Große Koalition und wir, wenn sie tatsächlich hier aufgewach-
sen sind. Die Frage ist nur, welchen Nach-
seine Skepsis gegenüber Bundeswehreinsätzen im Ausland weis ein junger Mensch dafür erbringen
muss. Ich kann mir vorstellen, dass der
SPIEGEL: Herr Kauder, wenige Wochen SPIEGEL: Das Kabinett hat in dieser Woche kontinuierliche Schulbesuch über einige
nach dem Start der Großen Koalition die Rentenpläne von Frau Nahles be- Jahre hinweg das richtige Kriterium ist.
sieht es so aus, als arbeite nur die SPD. schlossen. Jetzt stellt sich heraus, dass Kann der Betroffene den nachweisen,
Wo steckt eigentlich die Union? mit einem Trick massenweise Frühver- kann er die deutsche Staatsbürgerschaft
Kauder: Die Regierung hat jetzt mit Rente rentungen schon ab 61 Jahren möglich behalten, auch wenn er noch einen türki-
und Energie zwei Themen angeschoben, werden könnten. Hat Frau Nahles ge- schen Pass hat.
für die nun einmal zwei SPD-Minister zu- schlampt? SPIEGEL: Die SPD möchte den Options-
ständig sind. Mit den Vorschlägen werden Kauder: Nein, ihr ist die Gefahr ja auch zwang aber komplett abschaffen.
übrigens viele Unionsforderungen umge- aufgefallen. Wir werden im parlamenta- Kauder: Das wollen wir nicht. Die Men-
setzt, denken Sie nur an die Mütterrente. rischen Verfahren dem Trick, wie Sie sa- schen, die eine deutsche Staatsangehörig-
SPIEGEL: SPD-Chef Gabriel sagt, die sechs gen, einen Riegel vorschieben. keit behalten sollen, müssen Teil der Ge-
SPD-Minister seien „die Motoren der Bun- SPIEGEL: Wie wollen Sie eine Welle von sellschaft sein. Auch heute passiert es
desregierung“, nun müsse auch die Union Frühverrentungen verhindern? noch, dass in Deutschland geborene tür-
mal arbeiten. Fühlen Sie oder die Kanz- Kauder: Ich könnte mir vorstellen, dass kische Mädchen mit zehn, elf Jahren zu-
lerin sich da ertappt? die Zeiten der Arbeitslosigkeit nur bis zu rück in ihre Heimat geschickt werden.
Kauder: Die Kanzlerin hat trotz der einem bestimmten Stichtag – zum Bei- Dort werden sie dann verheiratet, kom-
Schmerzen wegen ihres Skiunfalls ihre spiel bis zum 1. Juli 2014 – auf die 45 Bei- men mitunter erst nach Jahren nach
Regierungserklärung gehalten. Ich glaube tragsjahre angerechnet werden, die zum Deutschland zurück und wollen aber den-
nicht, dass die Bürger den Eindruck ha- Bezug der Rente mit 63 be- noch Deutsche bleiben.
ben, dass sie nicht arbeitet. Und unsere rechtigen. So könnte man Ich möchte, dass türkische
Minister sind ebenso aktiv, wie man im verhindern, dass Arbeit- Mädchen die Chance be-
Bundestag vergangene Woche gesehen nehmer mit Anfang 60 kommen, so aufzuwachsen
hat. Ein Auto fährt auch nicht nur, weil ihren Job aufgeben kön- wie ihre deutschen Klas-
es einen Motor hat. Es muss auch jemand nen und die Zeit bis zur senkameradinnen. Deswe-
Gas geben. Dann geht es vorwärts. Und Rente mit dem Arbeitslo- gen sollten wir ihnen den
so ist es auch in der neuen Regierung. sengeld I überbrücken. deutschen Pass nur dann
SPIEGEL: Ist Sigmar Gabriel ein Schatten- SPIEGEL: Jüngere in der Uni- für alle Zukunft geben,
kanzler? on kritisieren nicht nur wenn sie als Jugendliche
Kauder: Sigmar Gabriel ist ein selbst- die Rente mit 63, sondern auch einige Jahre in unse-
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

bewusster Minister, und er tritt in seiner auch Ihr Lieblingskind, die rem Land die Schule be-
Funktion als Vizekanzler entsprechend Mütterrente. Warum star- sucht haben.
auf. Aber ich bin mir sicher: Die Wahlen tet die Große Koalition mit SPIEGEL: Vor ein paar Wo-
2017 werden nicht danach entschieden, einem Projekt, das vor al- chen haben Sie noch kriti-
wie wer heute auftritt. Die Menschen lem auf Kosten der jetzi- Kauder siert, die Regierung streite
wollen, dass jetzt vernünftig regiert wird. gen Arbeitnehmer geht? zu viel. Jetzt streitet vor
22 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

allem die Union – zum Beispiel über die bezeichnen. Die Nato hat mit deutscher richtige Instrument unserer Hilfe ist, was
Pläne von Ursula von der Leyen, die Bun- Beteiligung einen Völkermord mit Verge- sie auch nicht meint. Es ist richtig, gerade
deswehr stärker in Afrika einzusetzen. waltigung als systematisches Kriegsmittel in Afrika mehr Verantwortung zu über-
Kauder: Streit sehe ich nicht. Die Ministe- gestoppt und die Region stabilisiert. In- nehmen. Aber wir brauchen gerade dort
rin hat die außenpolitischen Herausfor- zwischen sind viele dieser Länder, auch auch eine Gesamtstrategie, und zwar
derungen und Erwartungen an Deutsch- Serbien, auf dem Weg in die Europäische schnell. Entwicklungshilfe, insbesondere
land schon richtig analysiert. Sie weiß Union. Das ist ein Erfolg. Hilfe zum Aufbau staatlicher Strukturen,
auch – und hat es auch dem SPIEGEL ge- SPIEGEL: Und Afghanistan? und militärische Unterstützung müssen
sagt: Letztlich entscheidet das Parlament Kauder: Da fällt das Urteil schwerer. Der Hand in Hand gehen.
immer über die Einsätze der Bundeswehr. Einsatz in Afghanistan war kein Fehler. SPIEGEL: Sollte Deutschland sich stärker
Das müssen auch unsere Verbündeten Zunächst haben die internationalen in Afrika engagieren?
immer wissen. Im Bundestag werden wir Streitkräfte die Menschen dort vom Joch Kauder: Ja, aber nicht nur militärisch. Die
uns genau ansehen, welche Argumente der Taliban befreit und den Terrorismus Unionsfraktion wird Horst Köhler bitten,
es für die jeweilige Mission gibt. Es geht zurückgedrängt, auch zum Schutz unse- uns bei der Ausarbeitung einer Afrika-
ja auch immer um das Leben von Solda- rer Bevölkerung. Daher war es richtig, Strategie zu unterstützen. Unser ehema-
ten. Im Laufe der Jahre sind meine Zwei- nach Afghanistan zu gehen. Aber den- liger Bundespräsident kennt Afrika wie
fel an rein militärischen Operationen noch tue ich mich schwer damit, von ei- kein Zweiter. Ich glaube an Afrika, aber
übrigens eher gewachsen, auch wenn sie nem Erfolg zu sprechen. Viele Hoffnun- die Lage gibt nicht Grund für großen Op-
von Europäern getragen wurden. Wir gen, die wir hatten, haben sich nicht timismus. Tunesien macht uns Hoffnung.
müssen uns über das Verhältnis von Di- erfüllt. Es gibt keine dauerhafte Konflikt- Dagegen ist die Zukunft Ägyptens völlig
plomatie, Hilfen und militärischem Ein- lösung in Afghanistan, keine Demokratie offen. Und in Zentralafrika liefern sich
satz grundsätzlich Gedanken machen und in unserem Sinne. Und ich sehe mit gro- Christen und Muslime Gemetzel.
zu einer einheitlichen Linie in Europa ßer Sorge, dass die Regierung Karzai das SPIEGEL: Frau von der Leyen bietet schon
kommen. Ich kann zum Beispiel nicht er- Erreichte aufs Spiel setzt. mal einen MedEvac-Airbus für Zentral-
kennen, dass die Militäraktion Frank- SPIEGEL: Das spricht nicht für ein verstärk- afrika an.
reichs und Großbritanniens gegen Libyen tes Engagement in Mali oder Zentralafrika, Kauder: Wir sind in Europa wohl die Ein-
ein Erfolg war. wie Ministerin von der Leyen es fordert. zigen, die so ein Flugzeug zur Evakuie-
SPIEGEL: Wie bewerten Sie die Einsätze Kauder: Ich bin mit Ursula von der Leyen rung Verwundeter haben. Dann sollten
der deutschen Armee bislang? einig: Man kann nicht mehr nur im Wohn- wir es auch nutzen. Klar ist: Deutsche
Kauder: Höchst unterschiedlich. Die Solda- zimmersessel Fernsehbilder aus Afrika Kampftruppen aber werden in Zentral-
ten haben immer einen guten Dienst ge- zur Kenntnis nehmen und sagen, Gott sei afrika nicht zum Einsatz kommen. Das
macht. Als erfolgreich würde ich vor allem Dank, das ist weit weg. Das heißt aber will niemand in der Koalition.
die Missionen im ehemaligen Jugoslawien nicht, dass die Bundeswehr immer das INTERVIEW: MELANIE AMANN, PETER MÜLLER
Deutschland

Minister Friedrich*
„Mir geht es saugut“

Friedrich hat Macht gegen Freiheit ge-


tauscht und lebt gut mit dem Deal. Gleich
am ersten Tag im neuen Amt hat er sich
von seinen Leibwächtern verabschiedet,
die ihm als Innenminister nicht von der
Seite gewichen waren. Der CSU-Mann
hat drei Kinder, die jüngste Tochter hat
unlängst Abitur gemacht, sie kannten die
Beamten beim Vornamen. „Das sind alles
tolle Burschen“, sagt er, „aber Sie glau-
ben gar nicht, wie ich mich freue, wieder
allein in den Urlaub fahren zu können.“
Auch über die kleinen Dinge freut er
sich. Zum Beispiel wenn er in seinem
Kalender einen Eintrag wie diesen findet:
„Ministerium – Reichstag, zu Fuß“. Die
gepanzerte Limousine des Innenministers
empfand er als rollendes Gefängnis.

WOLFGANG KUMM / DPA


Der Job im Innenressort war ihm 2011
von CSU-Chef Seehofer aufgezwungen
worden. Mehrere Kandidaten hatten mit
fadenscheinigen Gründen abgewinkt,
Friedrich wurde Minister, weil er zu we-
nig Widerstand leistete.
zen – vorm rechten Terror des NSU und Die Bürde war ihm anzusehen. Nach-
KARRI EREN vor dem Abhörwahn der NSA. Gepanzer- richtendienste, Vorratsdatenspeicherung,

Die neue
te Limousinen, BKA-Personenschützer, Terrorismus – all diese bleischweren The-
abhörsichere Räume, Krypto-Telefone, men lasteten auf dem gemütlichen Ober-
das waren die Insignien seiner Macht. Ein- franken. Wenn er in der NSA-Affäre mit

Landlust
mal in der Woche trugen die Chefs der den Amerikanern sprach, wirkte er wie
Sicherheitsbehörden ihre Erkenntnisse ein Praktikant, der um einen Platz am
zur Gefährdungslage vor, 30 000 Bundes- Tisch des Büroleiters bittet. „Was bin ich
polizisten hörten auf seinen Befehl. froh, dass ich mich nicht mehr mit der
Hans-Peter Friedrich ist vom Doch bei der Regierungsbildung hat Islam-Konferenz rumschlagen muss“, sag-
Chef des mächtigen Innenressorts ihn CSU-Boss Horst Seehofer ziemlich te er kürzlich im kleinen Kreis.
zum Agrarminister geschrumpft. schnöde abserviert. Heute tingelt Fried- Jetzt hat der Bauernminister die Art
rich als Agrarminister durch Kuhställe, Macht, mit der er etwas anfangen kann.
Doch der CSU-Mann lebt erstaun- und die Landwirtschaftsmesse Grüne Friedrich begann als Regierungsrat im
lich gut mit seiner Degradierung. Woche im Januar ist sein Highlight im Wirtschaftsministerium, es ist eine Art
Jahreskalender. Heimkehr für ihn. „Wissen Sie“, sagt er,

D
ie Falle ist gestellt. Hans-Peter Im Innenministerium folgte er auf „seit ich vor 15 Jahren in den Bundestag
Friedrich ist bei seinem Rundgang Männer wie Wolfgang Schäuble und den kam, habe ich mir gewünscht, Wirt-
über die Grüne Woche an der legendären Friedrich Zimmermann, jetzt schaftspolitik zu machen. Jetzt bin ich
Käsetheke angelangt. „Nehmen Sie bitte wandelt er auf Ignaz Kiechles Spuren. Wirtschaftsminister – für den ländlichen
was“, ruft einer der Fotografen. Sie sind Sein neues Ressort spielt im Industrieland Raum.“
bereit zum Abschuss. Deutschland eher eine folkloristische Rol- Er verteilt nun die Brüsseler Zuschüsse
Es gibt wenige Fotos, die Politiker mehr le, noch dazu hat die SPD dem Haus die an die deutschen Bauern. Er entscheidet
fürchten als solche, die sie beim Essen Zuständigkeit für den populären Verbrau- mit, ob Genmais in Deutschland ange-
zeigen. Selten sieht ein Mensch so blöd cherschutz teilweise entzogen. baut werden darf. Auch die Düngever-
aus wie mit herausgestreckter Zunge, Doch Friedrich klagt nicht. Im Gegen- ordnung muss erst mal über seinen
vollen Backen oder verklebten Zahn- teil: Der Mann ist bester Laune, ehrlich. Schreibtisch. Und er schwärmt von einer
zwischenräumen. Gerhard Schröder ging „Mir geht es saugut“, sagt Friedrich über neuen Generation junger deutscher Bau-
bisweilen persönlich auf Fotografen los, Friedrich. Mit breitem Grinsen versinkt ern, mit denen er Essen aus Deutschland
die ihn knipsen wollten, als er sich ein er in einem Ledersofa in der Lobby des zum internationalen Markenartikel ma-
Häppchen zuführte. Reichstags, es ist Donnerstagabend, eben chen will, wie Autos oder Maschinen.
Friedrich greift nach einem Käsespieß. hat er seine erste Rede als Agrarminister Für Alphamännchen wie Schröder
Mehrmals schiebt er ihn in den weitge- gehalten. oder Seehofer klingt das furchtbar lang-
öffneten Mund und wieder raus, so lange, Glück gibt es nur im Aufstieg, lautet weilig. Friedrich dagegen, so scheint es,
bis alle Objektive scharf gestellt sind. Er eine unumstößliche Regel im Berliner ist bei sich selbst angekommen. Er gibt
tapst in die Falle, doch es stört ihn nicht Politikbetrieb. Bei Friedrich scheint sich voll und ganz der Landlust hin.
im Geringsten. Voller Mund, na und? sie außer Kraft gesetzt. Der CSU-Mann Deutschland, findet Friedrich, wäre ein
Kann man sich Hans-Peter Friedrich als weigert sich beharrlich, seinen Wechsel besseres Land, wenn es weniger von sei-
glücklichen Menschen vorstellen? Bis zum ins Agrarressort als Degradierung zu nen Städten und mehr vom Land geprägt
Dezember war der CSU-Politiker einer begreifen. wäre. „Weitblick“, sagt er, „kommt aus
der wichtigsten Männer der Bundesregie- ländlichen Räumen.“ RALF BESTE,
rung. Friedrich sollte Deutschland schüt- * Im Januar auf der Grünen Woche in Berlin. PETER MÜLLER

24 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
NIGEL TREBLIN / GETTY IMAGES
Angeklagter Wulff, Zeuge Glaeseker: Wechselbad zwischen Hoffen und Bangen

in der Bundesrepublik bisher einmaligen


STRAFJUSTIZ – und durch ihn selbst verschuldeten –

Ergebnis null
Antrag auf Aufhebung der Immunität des
ersten Mannes im Staat zu rechtfertigen.
In der Folge aber ließen sich auch die
Richter vom Erfolgszwang treiben.
Das Gericht schraubte den Furor der
Enorme Kosten, viel Spekulation, kaum Konkretes: Ankläger in seinem Eröffnungsbeschluss
Der Strafprozess gegen Christian Wulff hätte zwar von Bestechung/Bestechlichkeit
auf Vorteilsannahme/-gewährung zurück.
gar nicht eröffnet werden dürfen. Von Gisela Friedrichsen „Nach alldem ist davon auszugehen,
dass sich die von der Anklage angenom-

G
espart wurde an nichts. Millionen nand Piëch oder Wolfgang Porsche und mene konkrete (mündliche) Unrechts-
Euro haben die Ermittlungen ge- andere eingewirkt, damit diese gegenüber vereinbarung zwischen den Angeklagten
kostet. 93 Zeugen wurden ver- den Ermittlungsbehörden wahrheitswid- in der Hauptverhandlung nicht wird
nommen, Dateien in einem Volumen von rig bestätigten, ihm Bargeld geliehen zu nachweisen lassen, so dass auch nicht mit
fünf Terabyte ausgewertet. Die Ermittler haben. Denn er habe den Fahndern damit einer Verurteilung der Angeklagten we-
stellten Hunderte Aktenordner sicher, eine finanzielle Liquidität vorspiegeln gen Bestechung bzw. Bestechlichkeit zu
durchleuchteten Bankkonten und Tele- wollen, die bei ihm nicht bestand. Die rechnen ist“, heißt es im Eröffnungsbe-
fonanschlüsse, lasen E-Mails und Kurz- Ermittler nahmen jede Absurdität ernst. schluss.
mitteilungen, durchsuchten Wohnungen Seit dem 14. November findet vor der Zur Annahme eines hinreichenden
und Geschäftsräume und baten drei aus- 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Tatverdachts, wie er zur Eröffnung eines
ländische Staaten um Rechtshilfe. Als Hannover nun der Strafprozess gegen den Strafverfahrens notwendig ist, dient als
wenn Christian Wulff im Keller kleine Ex-Bundespräsidenten und den mit ihm Maßstab üblicherweise die sogenannte
Kinder geschlachtet hätte. befreundeten Filmproduzenten David überwiegende Verurteilungswahrschein-
Für einen derartigen Aufwand bedurfte Groenewold statt. Gemessen an dem „Er- lichkeit. Beim Vorwurf der Vorteilsannah-
es einer 24 Mann starken Ermittlungs- mittlungsexzess“, wie ihn die Verteidiger me/-gewährung aber griffen die Hanno-
gruppe des Landeskriminalamts und vier Wulffs, Michael Nagel und Bernd Müssig, veraner Richter zu einer anderen Mess-
Staatsanwälten. Selbst den absurdesten nennen, tendiert das bisherige Ergebnis ge- latte. Hier reichte ihnen die Feststellung,
anonymen Hinweisen, bei denen es auf gen null. Je länger der Prozess dauert, umso es liege „ein Grenzfall ungefähr gleicher
der Hand lag, dass sie von Wichtigtuern mehr kommen Zweifel auf, warum das Ge- Verurteilungs- und Nichtverurteilungs-
stammten, rannten sie nach. Wulff, so richt die Anklage überhaupt zugelassen hat. wahrscheinlichkeit“ vor. Eine Klärung
wurde zum Beispiel kolportiert, habe auf Das Ermittlungsverfahren mag noch in der Hauptverhandlung sei nötig, be-
finanziell potente Industrielle wie Ferdi- geprägt gewesen sein vom Bemühen, den schloss die Kammer.
26 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

Dazu gibt es in der Rechtsprechung und seiner Familie auf dem Oktoberfest dass Groenewold von dem Bittbrief an
Beispiele. Solche Grenzfälle sind die 2008 hinter dessen Rücken einen Teil der Löscher ohnehin keinen Vorteil zu erwar-
Ausnahme, etwa bei einer „besonderen Hotelkosten des damaligen niedersäch- ten hatte, weder einen finanziellen noch
Beweiskonstellation“, wenn Aussage sischen Ministerpräsidenten beglichen: einen ideellen. Was juckt es die Ankläger.
gegen Aussage steht oder Unklarheit 400 Euro Logis plus Kindermädchen. Und Die Verteidiger Groenewolds, Bernd
herrscht, welches Gericht zuständig ist. er hat im Käfer-Festzelt die Zeche bezahlt, Schneider und Friedrich Schultehinrichs,
Beides trifft auf den Fall Wulff/Groene- nicht nur für Wulff, sondern für viele an- hatten, wie sie sagen, der Staatsanwalt-
wold nicht zu. Die Richter legten unter- dere Gäste auch. schaft wiederholt angeboten, sich von ih-
schiedliche Maßstäbe an ein und densel- Hotelangestellte bestätigten vor Ge- rem Mandanten – einst ein Tausendsassa
ben Sachverhalt, um gegen Wulff über- richt die Darstellung der Angeklagten, von legendärer Großzügigkeit, heute ein
haupt einen Prozess in Gang zu bringen. dass bei der Bezahlung am Hoteltresen Mann, der nur noch sarkastisch über
Man wollte das Verfahren offenbar um nicht über die Aufsplittung der Rechnun- seine Lebensumstände spricht – einen
jeden Preis. gen gesprochen worden sei. Mehr hatten Eindruck zu verschaffen. Vergebens. Wo
Lag es am öffentlichen Druck? An der auch die Beamten des Landeskriminal- blieb sein Anspruch auf rechtliches Ge-
Erwartung der Medien, die sich mit amts nicht feststellen können. hör, das jedem Bürger im Rechtsstaat zu-
Wulffs politischen Fehlern beschäftigten? „Es bleibt aber möglich, dass eine sol- steht? Das Bild von der Korruption an
Schließlich hatte er in Fülle Anlass gebo- che Absprache im Vorfeld stattgefunden der Spitze des Staates und der Wehrhaf-
ten zu Zweifeln, ob er der richtige Mann hat“, mutmaßten die Ermittler. Den Ho- tigkeit furchtloser Fahnder war zu schön.
an der Spitze des Staates war. Am 19. Dezember bilan-
Die Justiz aber hat andere zierte das Gericht, der Be-
Aufgaben. stechungsvorwurf lasse sich
Im Ermittlungsverfahren weiterhin nicht aufrechter-
rief Oberstaatsanwalt Cle- halten. Außerdem: Wenn
mens Eimterbäumer die Be- Wulff nicht gewusst haben
amten des Landeskriminal- NIGEL TREBLIN / GETTY IMAGES / DDP IMAGES
sollte, dass Groenewold ihm
amts Niedersachsen mehrfach am Hoteltresen heimlich ei-

ALEXANDER KÖRNER / ACTION PRESS


zur Räson. Die Staatsmacht nen „Vorteil“ gewährte – wo
sei an „einer anlasslosen Aus- bleibt dann die „Vorteilsan-
forschung ihrer Bürger, sofern nahme“? Der Vorsitzende
keine zureichenden tatsäch- Frank Rosenow, der stets er-
lichen Anhaltspunkte für kennen lässt, was er denkt,
verfolgbares Strafunrecht vor- wollte zum Ende kommen.
liegt“, gehindert. An anderer Oberstaatsanwalt Eimter-
Stelle schrieb Eimterbäumer Richter Rosenow, Ankläger Eimterbäumer: Die Revision vor Augen bäumer bewegte sich nicht,
übereifrigen Ermittlern ins es ging weiter. Dafür pflegt
Stammbuch, „bloße Vermutungen ohne telbediensteten unterstellten sie, die Un- nun der Generalstaatsanwalt das laufende
ausreichend tragfähige Tatsachengrundla- wahrheit gesagt zu haben. Weil „aus hie- Verfahren in den Medien zu kommentie-
gen“ verböten sich in einem rechtsstaatlich siger Sicht“ deren Angaben nicht nach- ren. So etwas gab es noch nicht einmal
fair geführten Verfahren. vollziehbar seien. bei Kachelmann.
Daran gehalten haben sich die Beam- Ein Indiz, dass eine solche Absprache Wulff, der sich durch die Anklage in
ten nicht. In den Akten finden sich zahl- tatsächlich nicht stattgefunden hat, ist, der Ehre gekränkt fühlt, hat weiterhin
reiche Beispiele waghalsiger Verdachts- dass Groenewold sogar die Rechnung ein Wechselbad zwischen Hoffen und
konstruktionen – ausschließlich zu Lasten eines der Personenschützer Wulffs begli- Bangen hinzunehmen. Es werden Zeu-
der Beschuldigten. chen hatte. Wer sollte davon einen Vorteil gen über Zeugen aufgeboten: Ermittler,
Als Beispiel mag eine Ferienwohnung gehabt haben? Der Mann war perplex, als die Stimmung machen, oder Olaf Glae-
auf Sylt dienen, die Freunden Groenewolds er 2012 im Zug der Ermittlungen davon seker, der frühere Intimus Wulffs, der
gehört. Das Ehepaar Wulff verbrachte im erfuhr, denn er hätte die Kosten abrech- selbst angeklagt ist und sich entspre-
August 2008 acht Tage dort. Die Miete, sagt nen können. Wie übrigens auch Wulff. chend zurückhaltend gab. Bettina Wulff,
Wulff, habe er Groenewold zur Weiterlei- Hinweise auf Korruption? Ja!, jubelten Noch-Ehefrau. War von ihr etwa zu er-
tung an die ihm unbekannten Vermieter die Ankläger. Wulff habe sich doch für warten, dass sie ihren Ex als korrupten
übergeben; das Geld habe seine Frau zu das Filmprojekt „John Rabe“ beim Sie- Strolch darstellt?
Weihnachten von ihrer Mutter bekommen. mens-Vorstandsvorsitzenden Peter Lö- Das Ehepaar Burda-Furtwängler. Maria
Ist das lebensfremd? „Zwar hätte rechne- scher verwendet! Zeitnah zu jener Furtwängler bat vor Gericht, eine Frage
risch die Möglichkeit bestanden“, sinnier- „Wiesn-Sause“ Ende September, zu der stellen zu dürfen, es war die beste des
ten die Ermittler, „von Frau Wulffs gesam- Groenewold einlud. Prozesses überhaupt: „Was könnte meine
tem Weihnachtsgeld 2007 die während des Der Brief Wulffs an Löscher stammt Aussage im allerbesten Fall eigentlich zur
Aufenthalts auf Sylt anfallenden Minimal- vom 15. Dezember 2008. Geschrieben Klärung beitragen?“ Vielleicht, dass man
kosten zu bestreiten, doch ist es bei lebens- wurde er im Anschluss an eine Reise des nicht zum Vergnügen auf die Wiesn geht,
naher Betrachtung wenig glaubhaft, dass damaligen Ministerpräsidenten mit einer sondern nur notgedrungen. Wenn einer
der gesamte Betrag siebeneinhalb Monate Wirtschaftsdelegation nach China. Dabei wie Wulff kommt zum Beispiel.
unangetastet aufbewahrt wird.“ war, auch gegenüber dem chinesischen Der Vorsitzende, von einer ungewohnt
Diese „lebensnahe Betrachtung“ durch Vizepremier Zhang, mehrfach die Rede großen Medienöffentlichkeit belauert, ist
Kriminalbeamte prägt auch die Hauptver- von jenem Siemens-Mitarbeiter Rabe, der übervorsichtig geworden. Das Revisions-
handlung. Anhaltspunkte für eine Kor- in den dreißiger Jahren Hunderttausende risiko vor Augen, gibt die Kammer den
ruptionsstraftat fanden und finden sich Chinesen vor den nachrückenden Japa- Anträgen der Staatsanwaltschaft so weit
nicht. Doch „Raum für Spekulationen“, nern gerettet hatte. wie möglich statt. Sollte es zu Freisprü-
wie ein Ermittler sagte, ist allemal. Nicht zu widerlegen ist, dass Wulff den chen kommen, wird es heißen, der Rechts-
David Groenewold hat, so seine Dar- Brief aufgrund eigener Überzeugung staat habe gesiegt. Es wäre ein beschä-
stellung, anlässlich des Besuchs von Wulff schrieb, zumal sich herausgestellt hat, mender Sieg. 
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 27
Deutschland

Nicht nur in der türkischen Community tern“ mit den Partnern von der Union
I N T E G R AT I O N würde es als Affront verstanden, sollten „erörtern“.

Deutsch unter
Behörden künftig die Schulabschlüsse Doch gerade die halten sich nicht zu-
von Migrantenkindern prüfen, bevor sie rück und präzisieren ihre Forderungen:
ihnen einen Doppelpass gewähren. Für Der Schulbesuch „soll die gelungene In-

Vorbehalt
die SPD wäre es ein herber Rückschlag tegration in die Lebensverhältnisse in
in ihrer Integrationspolitik. Deutschland zeigen“, sagt CDU-Innenex-
Im Bundestagswahlkampf hat die Par- perte Wolfgang Bosbach. „Der Nachweis
tei um die Stimmen der Migranten mit des regelmäßigen Schulbesuchs ist zudem
Union und SPD streiten ums einem Versprechen geworben: Einwan- gut machbar, zum Beispiel durch Zeug-
Staatsbürgerrecht: Sollen derer sollten trotz Einbürgerung ihre alte nisse.“ CSU-Chef Horst Seehofer sieht
Migrantenkinder den Doppelpass Staatsbürgerschaft behalten dürfen. das ähnlich. „Für mich ist der Besuch ei-
Nach der Wahl und Verhandlungen mit ner Schule das zentrale Kriterium.“
nur behalten dürfen, wenn sie der Union sollte dieser Anspruch nur für Der Kompromiss im Koalitionsvertrag
hier zur Schule gegangen sind? die in Deutschland geborenen Kinder von wackelt. Das muss auch Özoguz erken-
nen. Die Staatsministerin will die

A
ydan Özoguz hat es weit Optionspflicht komplett abschaf-
gebracht. Als neue Staats- fen. Vom Vorstoß ihres Koali-
ministerin belegt die So- tionspartners hält sie entspre-
zialdemokratin mit ihren Beam- chend wenig: „Keiner kann ein
ten mehrere Büros im Kanzler- Interesse daran haben, dass die
amt. Ihr Arbeitsgebiet, Integration, Kommunen einen kaum zu
gehört zu den Schlüsselthemen bewältigenden Verwaltungsauf-
der neuen Regierung. wand zugeschoben bekommen,
„Wir haben ein Tabu gebro- der noch mehr Kosten verur-
chen“, jubelte SPD-Chef Sigmar sacht, Personal bindet und kei-
Gabriel, als die Koalition einen nen zusätzlichen Integrationsnut-
Kompromiss zum Doppelpass zen beinhaltet.“
für Migranten gefunden hatte. Ähnlich wird im Schreiben
Stolz war er aber auch, weil er der SPD-Fraktion argumentiert.
Özoguz im direkten Umfeld An- „Wir wollen keine Hürden auf-
gela Merkels platzieren konnte – bauen, die nicht praktikabel oder
sozusagen als Brückenkopf der zu bürokratisch sind“, heißt es
SPD im Kanzleramt. darin. Eine Abfrage bei Melde-
Nun zeigt sich: Die gefeierte registern im In- und Ausland, um
Einigung im Staatsbürgerrecht ist die Aufenthaltsdauer zu ermit-
nicht so viel wert, wie es schien. teln, sei praktisch kaum umsetz-
Sobald es ans Kleingedruckte bar. Das aufwendige Prüfverfah-
geht, fallen die Vorstellungen der ren würde eine Staatsbürger-
Koalitionspartner auseinander. schaft unter Vorbehalt schaffen.
Und damit kommt auch auf Özo- Doch die Union scheint zur
MIRIAM MAY / ACTION PRESS

guz die erste große Herausforde- Härte entschlossen. „Die Men-


rung zu. Eigentlich hatten sich schen, die eine deutsche Staats-
SPD und Union auf die Abschaf- angehörigkeit erhalten, müssen
fung der sogenannten Options- Teil der Gesellschaft sein“, sagt
pflicht geeinigt. In Zukunft sollten Fraktionschef Volker Kauder (sie-
sich in Deutschland geborene und he Interview Seite 22) – und si-
aufgewachsene Kinder von Mi- Staatsministerin Özoguz: Keine Hürden aufbauen gnalisiert, dass es den Doppelpass
granten nicht mehr entscheiden nicht ohne Prüfung geben soll.
müssen, welche der beiden Staatsangehö- Einwanderern gelten. „Der Beschluss im Auch Angela Merkel hat die räumliche
rigkeiten sie behalten wollen. Doch inzwi- Koalitionsvertrag war bereits ein Mini- Nähe zu ihrer neuen Staatsministerin bis-
schen versuchen Unionspolitiker, neue malkonsens“, sagt Ali Dogan, der stell- lang nicht für eine Annäherung beider
Hürden für den Doppelpass zu schaffen. vertretende Bundesvorsitzende der Ar- Positionen genutzt. Kaum hatte Özoguz
Im von der Union geführten Bundes- beitsgemeinschaft Migration und Vielfalt ein komplettes Ende der Optionspflicht
innenministerium existiert bereits ein ers- der SPD. „Wir können es uns nicht leis- gefordert, betonte die Kanzlerin in der
ter Gesetzentwurf. Demnach müssen Kin- ten, weitere Abstriche zu machen.“ Fraktionssitzung, sie sehe keinen Grund,
der von Einwanderern mindestens zwölf Entsprechend groß ist die Verunsiche- von der Vereinbarung im Koalitionsver-
Jahre in Deutschland gelebt und hier rung seiner Parteifreunde, dass die CDU trag abzuweichen. Für sie bedeutet das:
einen wichtigen Teil ihrer Pubertät ver- munter weitere Bedingungen stellt. Wer Nur wer in Deutschland aufwächst, hat
bracht haben, um den Doppelpass zu er- Berliner Sozialdemokraten in diesen Ta- einen Anspruch auf den Doppelpass.
halten. Jungen Erwachsenen, die einen gen nach dem Doppelpass fragt, stößt auf Während Union und SPD streiten, lau-
deutschen Schulabschluss vorweisen kön- Schweigen. Kaum ein Genosse möchte fen bundesweit Fristen ab. Junge Men-
nen, soll die Mehrstaatlichkeit ebenfalls sich zu Fragen der doppelten Staatsange- schen, die sich derzeit vor ihrem 23. Ge-
zuerkannt werden. Im Koalitionsvertrag hörigkeit äußern. burtstag für einen Pass entscheiden müs-
dagegen heißt es lediglich, einen Doppel- So steht es auch in einem internen Pa- sen, verlieren das Recht auf eine doppelte
pass solle behalten, wer in Deutschland pier der SPD-Fraktion: Die Abgeordne- Staatsbürgerschaft, obwohl es ihnen im
„geboren und aufgewachsen“ sei. ten sollten bei diesem Thema bloß keine Koalitionsvertrag versprochen wurde.
An diesem Merkmal droht sich nun die „Konfrontationen in der Öffentlichkeit ÖZLEM GEZER, PETER MÜLLER,
Integrationsdebatte neu zu entzünden. aufbauen“, sondern Probleme lieber „in- MAXIMILIAN POPP, JÖRG SCHINDLER

28 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Selbsthilfe-Set der Suizid-Organisation Exit
ULLSTEIN BILD

30 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Titel

Der moderne Tod


Jeder zweite Deutsche kann sich einen Selbstmord vorstellen, wenn er zum Pflegefall wird.
Nun entbrennt eine Debatte um Sterbehilfe. Doch die Forderung nach einem selbst-
bestimmten Tod birgt die Gefahr, dass sich alte Menschen aus dem Leben gedrängt fühlen.

D
ie alte Dame sieht zufrieden aus. Frau nicht sterben dürfen, wenn das ihr gemein anerkannt. Wer will, darf sich um-
Das Video im Internet zeigt sie Wunsch ist?“, argumentieren die einen. bringen. Seit dem 19. Jahrhundert ist der
aufrecht in ihrem schwarzen Le- „Wehret den Anfängen!“, die anderen. Suizidversuch in Deutschland nicht mehr
dersessel. Sie trägt ein kurzärmliges ge- Auch in Deutschland wird wieder über strafbar. In der Schweiz formulierte 2006
blümtes Nachthemd, auf der Brust liegt Sterbehilfe diskutiert, seit führende Uni- das Bundesgericht in Lausanne sogar ein
ein kariertes Taschentuch. In den dürren, onsvertreter einen neuen Anlauf unter- Menschenrecht auf Suizid. Zum Selbst-
von Altersflecken übersäten Händen hält nehmen, die organisierte Beihilfe zum bestimmungsrecht im Sinne der Europäi-
sie eine Schale mit Joghurt. Sie löffelt. Suizid zu verbieten. Die Debatte geht schen Menschenrechtskonvention gehöre
Ihr feines Gesicht unter dem schlohwei- weit über die Politik hinaus. Sie zielt ins „auch das Recht, über Art und Zeitpunkt
ßen Haar ist ruhig und entspannt. Sie Zentrum menschlicher Existenz, wie alle der Beendigung des eigenen Lebens zu
senkt die Joghurtschale, spricht ein paar Fragen, die mit Beginn und Ende des entscheiden“.
Sätze, jetzt wirkt sie fast heiter. Dann löf- Lebens zu tun haben. Was ist ein guter Der Tod ist Privatsache, er ist das Al-
felt sie weiter. Tod? Wie wollen wir sterben? Wie begeg- lerpersönlichste. Aber er betrifft Staat
Am folgenden Morgen ist Maria Herin- net die Gesellschaft denen, die nicht mehr und Gesellschaft. Denn die meisten Men-
ga tot. Im Herbst vergangenen Jahres leben wollen? Was ist ein würdevoller schen wollen, wenn sie sich das Leben
stand ihr Stiefsohn Albert in den Nieder- Tod, was ein lebenswertes Leben? Es gibt nehmen, von einem Arzt begleitet oder
landen vor Gericht. 125 Pillen hatte er in keine moralische Verbindlichkeit mehr, unterstützt werden können. Sie wollen
den Joghurt gerührt, Schlafmittel, Brech- keine gültigen Normen, die diese Fragen selbstbestimmt sterben, aber die Hilfe an-
mittel, dazu Malaria-Medikamente von ei- für den Einzelnen oder die Gesellschaft derer annehmen dürfen. In Umfragen
nem Afrika-Aufenthalt. Es war, das belegt beantworten. spricht sich eine Mehrheit der Befragten
das Video, der ausdrückliche Wunsch der
99-Jährigen zu sterben. Maria Heringa Seit der Aufklärung wird das religiöse Verbot
war nicht krank, sie war geistig klar, sie
litt nicht unter unerträglichen Schmerzen. der Selbsttötung nicht mehr allgemein
Sie war nicht einmal bettlägerig, sondern
einfach nur alt. Ihre Hausärztin hatte sich anerkannt. Wer will, darf sich umbringen.
deshalb geweigert, Sterbehilfe zu leisten.
Doch der Stiefsohn erfüllte ihren Willen. Immer weniger Menschen hierzulande für eine Legalisierung der aktiven Ster-
Der Fall von Maria Heringa hat in den sehen den Tod als ein Lebensende, das behilfe durch Ärzte aus.
Niederlanden eine neue Debatte über von Gott oder vom Schicksal bestimmt „Wenn ich ein Pflegefall werde, bringe
Sterbehilfe ausgelöst. Die einen sehen in wird. Im Zeitalter von Reanimation, ich mich um“ – viele haben diesen oder
ihrem Sterben den idealen Tod, das schö- künstlicher Beatmung und Peg-Sonde ist ähnliche Sätze schon aus dem Mund ihrer
ne Ende, selbstbestimmt und ohne nicht mehr eindeutig, was es heißt, eines Eltern oder Großeltern gehört. Oft ist er
Schmerzen. Vor Gericht äußerte sogar natürlichen Todes zu sterben. Der medi- ein Hilferuf, aber die Ängste, die dahinter-
der Staatsanwalt Verständnis für den an- zinische Fortschritt ist Segen und Fluch stehen, sind real: der Horror vor einem
geklagten Heringa. Die Richter blieben zugleich. Der Tod geschieht nicht mehr. Pflegeheim, die Angst, ausgeliefert und
mit ihrem Urteil noch unter der ohnehin Er verlangt Entscheidungen, deren ethi- hilflos zu sein, angewiesen auf die Hilfe
milden Bewährungsstrafe, die die Ankla- sche Tragweite nicht abzusehen ist. anderer. Es ist die Vorstellung, nicht mehr
ge gefordert hatte. Sie sprachen Heringa Der eigene Tod ist die größte narzissti- Herr seiner Sinne zu sein, jahrelang vor
zwar schuldig – etwas anderes hätte die sche Kränkung. Auch deshalb entsteht der sich hinzudämmern, auch die Angst vor
Rechtslage nicht erlaubt –, verhängten Wunsch, zumindest den Zeitpunkt selbst Krankheit und Schmerzen. Nach einer ak-
aber keine Strafe. zu bestimmen. Wenn er schon unaus- tuellen Umfrage von TNS Forschung für
Die Sterbehilfe-Gegner sehen ihre weichlich ist, wollen wir zumindest über den SPIEGEL können sich 55 Prozent der
schlimmsten Befürchtungen bestätigt: wann, wo und wie entscheiden. Wir be- Befragten vorstellen, im Alter aufgrund
Wenn man einmal beginnt, das Tötungs- stimmen, ob, wann und wie wir uns fort- von Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder
verbot zu lockern, werden sich die Gren- pflanzen, wir stimmen den Termin für Demenz ihrem Leben ein Ende zu setzen.
zen immer weiter verschieben. Am Ende eine Kaiserschnittgeburt mit unserer Etwas mehr als die Hälfte der Befrag-
steht eine Gesellschaft, in der jeder jeden Agenda ab. Wir bestimmen unser Ausse- ten war zudem der Meinung, dass sich äl-
umbringen darf, der irgendwann einen hen, lassen uns Nasen kleiner und Brüste tere Menschen mehr als bislang gedrängt
Sterbewunsch äußert. In der es zur Nor- größer operieren. Warum sollten wir nicht fühlen, den Freitod zu wählen, um ande-
malität wird, der Großmutter, dem Bru- den Zeitpunkt selbst bestimmen wollen? ren nicht zur Last zu fallen, wenn Sterbe-
der, der Freundin ins Jenseits zu helfen. Seit der Aufklärung wird das religiöse hilfe durch Ärzte prinzipiell erlaubt
„Warum sollte eine lebenssatte, uralte Verbot der Selbsttötung nicht mehr all- würde. „Mich treibt eine große Sorge um:
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 31
Seniorin Heringa bei Suizid, 2010: Sie war nicht krank, nicht bettlägerig, sie hatte keine Schmerzen, sie wollte einfach sterben

Wenn es einen so einfachen Weg zur chen; oder die brutale Reanimation von die ist aus guten Grund in Deutschland
Selbsttötung gibt, entsteht Druck auf Todkranken. „Auch der Tod braucht sei- nicht erlaubt.“ Putz will den Patienten
schwerstkranke Menschen, ihren Ange- nen Raum“, sagt Wiedmann heute. die Möglichkeit zum begleiteten Suizid
hörigen am Ende des Lebens nicht zur Wiedmann betreut seine Patienten oft nicht nehmen, spricht sich aber gegen
Last zu fallen“, warnt Ärztekammerprä- seit Jahrzehnten. Er kennt ihre Lebensge- eine auf Profit angelegte Sterbehilfe aus.
sident Frank Ulrich Montgomery. „Es schichten, ihre Sorgen und ihre Familien. Der Berliner Arzt Uwe-Christian Ar-
darf nicht sein, dass Selbsttötung gleich- Sie haben ihm anvertraut, unter welchen nold ist eines der prominentesten Gesich-
sam als Behandlungsvariante neben an- Umständen sie Schluss machen wollen. ter der Pro-Sterbehilfe-Bewegung und
deren angeboten wird“, fordert Gesund- Wenn die Menschen dann unter Schmer- seit Jahren aktiv beim assistierten Suizid.
heitsminister Hermann Gröhe (CDU). zen und kaum bei Bewusstsein vor ihm Ob er daran verdient? „Ich frage nie nach
Sterbehilfe ist weit verbreitet in liegen, der baldige Tod ohnehin unab- Geld“, sagt er. Gleichwohl wird es ihm
Deutschland. Verzweifelte Angehörige, wendbar, will er ihnen helfen. „Und ich angeboten – und es fließt auch Geld.
die Medikamente überdosieren oder weg-
lassen, Pfleger und Ärzte, die dem Ster- Die Vorstellung, von anderen Hilfe annehmen
bewunsch ihrer Patienten nachgeben. Es
gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele zu müssen, gilt in der heutigen
Menschen in Deutschland mit Unterstüt-
zung anderer den Tod suchen und finden, Zeit als furchtbares Zeichen der Schwäche.
auch weil viele Fälle unentdeckt bleiben
– etwa weil in stillem Einverständnis zwi- weiß ja, ich kann sie von ihrem Leid erlö- Arnold kann aufreizend lässig über
schen Ärzten und Angehörigen geschwie- sen“, sagt Wiedmann. „Man spritzt dann sein Lebensthema reden, das ihm schon
gen wird. ein starkes Opiat und nimmt in Kauf, dass Anfang der siebziger Jahre während sei-
Ernst Wiedmann, der seinen richtigen es zum Atemstillstand kommt.“ ner Ausbildung begegnete. Da sagte ihm
Namen nicht im SPIEGEL lesen will, ist Wiedmann ist bei weitem nicht der ein- ein Oberarzt nach einer gescheiterten
Hausarzt in einer bayerischen Kleinstadt. zige Arzt, der unter der Hand nicht nur Operation, er erwarte, dass der Patient
„Als Arzt bin ich erst mal darauf geeicht, das Leben, sondern auch den Tod beför- am Mittag nicht mehr lebe. „Wie soll ich
Leben zu retten. Ich möchte heilen“, sagt dert. „Unter Hausärzten ist das durchaus das verstehen?“, fragte Arnold. Die Ant-
Wiedmann. Der Tod bedeute Versagen. stark verbreitet“, sagt der Anwalt für Me- wort: „Fragen Sie die Oberschwester, die
Doch im Laufe der Zeit sei er in Situatio- dizinrecht Wolfgang Putz aus München. weiß Bescheid.“ Um den erhöhten Mor-
nen gekommen, die seine Sichtweise ver- Bei Pflegekräften gebe es aus Mitleid so- phiumverbrauch zu erklären, wurden
ändert hätten. Er habe Menschen erlebt, gar eine gefährliche Tendenz zu solchem dann schon mal Ampullen einem anderen
die im Pflegeheim jahrelang dahinsie- Handeln. „Das ist aktive Sterbehilfe, und Patienten zugeschrieben.
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Titel

Arnold redet selten dar- sie in Belgien und den Nie- sank dafür zwar anfangs die Selbstmord-
über, wie vielen Menschen Deutsche Regeln derlanden legal ist, war in rate. Seit 2003 ist sie jedoch weitgehend
er in den vergangenen 15 Aktive Sterbehilfe Deutschland bisher aus his- konstant, während die Zahl der Fälle von
Jahren beim Freitod gehol- Absichtliche und aktive torischen Gründen tabu. assistiertem Suizid von damals 187 auf
fen hat. Nicht jeder ist am Herbeiführung des Todes Das Grauen vor der Eutha- 431 im Jahr 2011 anstieg.
Ende noch in der Lage, den verboten nasie der Nationalsozialis- In welche Richtung die Entwicklung
letzten Schritt selbst zu ge- ten wirkte nach. Doch in- gehen kann, wenn der Lebensschutz auf-
hen. Es waren mehr als 200, Assistierter Suizid/ zwischen – das ergaben geweicht wird, zeigt das Thema Spät-
und er hat ungefähr tau- Beihilfe zur Selbsttötung jüngste Umfragen – befür- abtreibungen. Seit die Abtreibung behin-
send Anfragen. „Sehr viel z. B. durch Beschaffung worten zwei Drittel der derter Föten straffrei gestellt wurde, wer-
mehr melden sich bei mir, eines tödlichen Mittels Deutschen aktive Sterbe- den Schätzungen zufolge 90 Prozent der
die es dann doch nicht in straflos; für Ärzte laut hilfe. Zugleich verschiebt vorgeburtlich diagnostizierten Kinder mit
Anspruch nehmen“, sagt er. Musterberufsordnung sich die Grenze, aus wel- Down-Syndrom nie geboren. „So was
Denn das sei die verschwie- untersagt chen Gründen Beihilfe zur muss es doch heutzutage nicht mehr ge-
gene Kehrseite der Sterbe- Selbsttötung akzeptiert ben“, bekommen Eltern mit behinderten
Indirekte aktive Sterbehilfe
hilfe. Viele wollten nur das wird: Der Verein Sterbe- Kindern zu hören. Sie haben den Ein-
Gefühl haben, Hilfe in An- Linderung durch Schmerzmittel, hilfe Deutschland des ehe- druck, dass behinderte Kinder uner-
spruch nehmen zu können. bei der eine Lebensverkürzung maligen Hamburger Innen- wünscht sind. Dass die Gesellschaft die
Arnolds ältester Kunde wird in Kauf genommen wird senators Roger Kusch unter- Tötung der Föten unterstützt – und zwar
seit 13 Jahren von ihm be- straflos stützt etwa auch seelisch nicht nur, weil sie behinderte Kinder für
treut, ein Mann mit Multi- Passive Sterbehilfe/ Kranke bei der Selbsttö- eine Belastung für deren Familie hält. Es
pler Sklerose. Sterbenlassen tung. Wie solle man auch geht auch um die Kosten, die der Gesell-
Wenn Arnold vom Ster- Verzicht auf lebens- begründen, dass ein Ma- schaft entstehen.
ben spricht, klingt das wie verlängernde Maßnahmen nisch-Depressiver weniger Auch bei der Sterbehilfe spielt die Hal-
ein Rendezvous mit dem straflos bei entsprechendem leidet als ein Krebskranker? tung der Gesellschaft eine Rolle. Gerade
Tod unter medizinischer Patientenwillen Wenn man anfange, akti- weil es beim Sterben kein objektives Rich-
Aufsicht. Wie bei der Frau ve Sterbehilfe und assistier- tig oder Falsch gibt, kann die Haltung
mit dem Unterleibskrebs in ten Suizid zu diskutieren, des Einzelnen beeinflusst oder manipu-
Hamburg. Am Schluss lud sie ihre Schwes- warnt Lukas Radbruch, Leiter der Klinik liert, der Lebenswille gestärkt oder ge-
ter und die vier besten Freundinnen ein. und Poliklinik für Palliativmedizin des Uni- schwächt werden. Wie aufrichtig ist ein
Sie tranken zusammen Rioja, es gab ein versitätsklinikums Bonn, „dann kommt es Todeswunsch, wie endgültig, wie unum-
Tapas-Buffet, ihre geliebte Musik von immer zu einer schleichenden Aufwei- stößlich?
Dean Martin. Arnold mixte die Medika- chung.“ Wenn man Sterbehilfe erst einmal „Herr Doktor, können Sie mir nicht
mente und stellte sie bereit. Die Freunde für die Extremfälle für akzeptabel halte, eine Spritze geben, damit ich morgen
hielten ihren Kopf und ihre Hand, als sie werde sie früher oder später auch in ande- nicht mehr aufwachen muss?“ Diese und
im Sessel sitzend den tödlichen Cocktail ren Fällen gemacht oder zumindest disku- ähnliche Sätze klingen eindeutig – und
trank. Arnold musste gehen, schon aus tiert. „Die jüngsten Ereignisse in Belgien doch sind sie nicht mit einem tatsäch-
juristischen Gründen, die Angehörigen und Holland zeigen, dass genau das dort lichen Sterbewunsch gleichzusetzen. Das
riefen dann, nachdem sie aufgehört hatte passiert“, so Radbruch. „Es gibt eine deut- haben Palliativmediziner in Interviews
zu atmen, den Notarzt. „Schöner“, be- liche Aufweichung der Indikation, es wird mit Sterbenden herausgefunden. Wer
schreibt er diese Sterbehilfe, „geht’s nicht.“ über Dinge diskutiert, die früher nicht in sagt, er wolle sterben, der will nicht un-
„Beim Sterben kann man so viel falsch Frage gekommen wären.“ bedingt unmittelbar sterben – fanden die
machen“, sagt er und hält es für ein me- Beispiele dafür lassen sich finden. Da Forscher heraus. „Schwerkranke Men-
dizinisches Gebot, sich schon in der Aus- ist nicht nur Maria Heringa. In Belgien schen, die den Wunsch zu sterben äu-
bildung damit zu befassen. Diese Haltung ließ sich im vergangenen Jahr ein Mann ßern, wünschen sich nicht zwingend den
hat ihm einen Spitznamen eingebracht: töten, weil er mit seiner Geschlechtsum- sofortigen Tod, sondern oftmals das Ende
„Facharzt fürs Töten“. Sein Ziel ist es, wandlung nicht zufrieden war. Derselbe einer unerträglichen Situation“, schrei-
den Widerstand der Berliner Ärztekam- Arzt hatte zuvor einem 43-jährigen, tau-
mer zu brechen, die ihn mehrfach ver- ben Zwillingspaar Suizidhilfe geleistet,
klagt hat. Bis heute hat er alle Prozesse das blind zu werden drohte. Eine Frau
gewonnen. Er will, dass sich alle an einem von Mitte vierzig ließ sich töten, als sie
Runden Tisch über das Grenzthema aus- nach einem Schlaganfall pflegebedürftig
tauschen. geworden war.
Dafür provoziert er, immer wieder, mit In Belgien und den Niederlanden ist
gutdosierten öffentlichen Auftritten. Da- die aktive Sterbehilfe für Ärzte erlaubt,
nach steht dann sein Telefon nicht mehr in beiden Ländern wurde sie in jüngster
still. Todkranke melden sich bei ihm, Ärz- Zeit ausgeweitet. So dürfen Ärzte in den
te, Pfleger, auch Politiker. Der schwer- Niederlanden seit dem vergangenen Jahr
kranke Schweizer Theologe Hans Küng auch todkranke Babys töten, wie die
gratulierte ihm nach seinem Auftritt bei Ärzteorganisation festlegte. In Belgien
FALK HELLER / ARGUM / DER SPIEGEL

Günther Jauch und kündigte an, sein hat der Senat Mitte Dezember einen Ge-
Arzt werde sich mit ihm in Verbindung setzentwurf vorgelegt, der Sterbehilfe auf
setzen. Minderjährige ausweiten will.
Suizidbeihilfe ist in Deutschland bisher Die Zahl der Fälle, in denen aktive
nur in engen Grenzen gesellschaftlich ak- Sterbehilfe in Anspruch genommen wird,
zeptiert: wenn der Sterbewillige unheil- ist seit der Legalisierung in Belgien ge-
bar krank ist, unter starken Schmerzen stiegen. 2004 waren es noch 349 Fälle,
leidet und nur noch kurze Zeit zu leben 2012 dagegen 1432. In der Schweiz, wo Pflegerin Wiegand
hat. Aktive Sterbehilfe durch Ärzte, wie Sterbehilfevereine besonders aktiv sind, Gefühl der Einsamkeit nehmen
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Titel

ben die Palliativmediziner Friedemann ben. In seiner Antwort wehrt sich Mün- tas“ oder „Sterbehilfe Deutschland“. Die
Nauck, Christoph Ostgathe und Lukas tefering gegen die Heroisierung der Selbsttötung dürfe nicht verklärt werden,
Radbruch im „Deutschen Ärzteblatt“. Selbsttötung und den Missbrauch des findet der bekennende Protestant Gröhe.
Schätzungsweise zehn Prozent der Würde-Begriffs: „Die Würde des Men- „Das stellt die Schutzwürdigkeit des
Deutschen haben eine Patientenverfü- schen hat nichts damit zu tun, ob er sich Lebens in Frage und tangiert damit un-
gung, die aufzeigt, welche Behandlungen selbst den Hintern abputzen kann.“ sere Werteordnung insgesamt.“
sie am Ende nicht mehr wollen. Die Ärzte Kurz danach, in einem seiner ersten Die Union ist sich bei dem Thema weit-
müssen dann herausfinden, aus welchen Interviews im neuen Amt, forderte Ge- gehend einig. Unterstützt wird Gröhe von
Gründen ein Mensch nach Sterbehilfe ver- sundheitsminister Gröhe, „dass wir jede Fraktionschef Volker Kauder, der eine
langt. Aus Angst vor Schmerzen? Oder geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung breite öffentliche Debatte anstrebt. „Das
aus Angst, anderen zur Last zu fallen? unter Strafe stellen“. Der Vorstoß richtet Thema Sterbehilfe bewegt die Menschen
Die Vorstellung, Hilfe annehmen zu müs- sich gegen Sterbehilfevereine wie „Digni- sehr“, sagt er. „Viele sind hin- und herge-
sen, gelte in der heutigen Zeit als furcht- rissen, weil sie Angst vor einem qualvol-
bares Zeichen von Schwäche, sagt der SPIEGEL-UMFRAGE len Tod haben und nicht jeder über die
Palliativmediziner Radbruch. „Ich bin Möglichkeiten der Palliativmedizin Be-
doch nur eine Last“ oder „ich möchte mei- Freitod scheid weiß. Die Menschen spüren aber
nen Angehörigen nicht zur Last fallen“ auch, welche Gefahren von einer organi-
sei einer der am häufigsten genannten „Können Sie sich vorstellen, im Alter auf- sierten Sterbehilfe für den Schutz des Le-
Gründe für den Sterbewunsch, erzählt er. grund von schwerer Krankheit, langer bens ausgehen.“ Michael Brand koordi-
„Ich finde, das ist ein lausiger Grund, um Pflegebedürftigkeit oder Demenz Ihrem niert das Thema für die Unionsfraktion.
dann eine Handlung daraus abzuleiten.“ Leben selbst ein Ende zu setzen?“ „Uns geht es darum, statt Hilfe zum Ster-
Angehörige und Verwandte zeigten in ben die Hilfe zum Leben zu stärken“, sagt
der schwierigen Situation oft viel mehr
Nein Ja er. Ähnlich sieht das CDU-Generalsekre-
Stärke, als der sterbende Mensch sich vor- 41% 55% tär Peter Tauber. „Wir dürfen nicht so
zustellen mag. „Sie sind belastet und emp- weit kommen, dass manche Leute den
Nach Altersgruppen
finden das auch so, aber sie nehmen das Tod der Oma nach der eigenen Urlaubs-
in Kauf. Es fällt Menschen offensichtlich 36 18 bis 29 64 planung ausrichten. Solche Fälle in ande-
leichter, Hilfe zu leisten, als sie anzuneh- ren Ländern sind belegt“, warnt er.
men“, sagt Radbruch. Der Ruf nach akti- 39 30 bis 44 57 Doch hinter der Ankündigung Gröhes
ver Sterbehilfe sei häufig in Wahrheit ein 38 45 bis 59 57 könnte auch strategisches Kalkül stehen.
Hilfeschrei. „Der Patient will, dass man Für die Union ist es ein Identitätsthema,
ihn ernst nimmt, aber er will durchaus hö- 47 60 + 48 mit dem sie ihre konservative Klientel
ren, welche Alternativen es zur Sterbehil- binden kann, die sich in der Merkel-CDU
Nach Parteipräferenzen
fe gibt, etwa eine gute Symptomkontrolle sonst kaum noch heimisch fühlt.
und eine Sedierung am Lebensende.“ 49 Union 48 Schon bei den Koaltionsverhandlungen
In solchen Gesprächen zeigt Radbruch war Sterbehilfe nach Angaben von SPD-
andere Möglichkeiten auf: Aktive Sterbe- 43 SPD 55 Fraktionschef Thomas Oppermann „ein
hilfe sei zwar nicht möglich, aber man 37 Grüne 61 Riesenthema für die Union“. Im Koali-
könne auf alle Therapiemaßnahmen ver- tionsvertrag verständigte man sich nur
zichten. „Dann sage ich: Wir können da- 33 Linke 60 auf einen Satz: „Zu einer humanen Ge-
mit anfangen, dass wir die Infusion, die sellschaft gehört das Sterben in Würde.“
da bei Ihnen am Bett hängt, jetzt abma- Aber die Koalitionspartner kamen
„Glauben Sie, bei einer prinzipiellen
chen“, berichtet Radbruch. „Und dann überein, das Thema im Bundestag nicht
Freigabe der Sterbehilfe durch Ärzte
ist mir mehr als einmal passiert, dass der parteipolitisch zu behandeln. Für die ge-
könnten sich Schwerkranke, Pflege-
Patient sagt: ,Nö, die lassen Sie mal ruhig bedürftige oder ältere Menschen mehr
plante Abstimmung soll der Fraktions-
laufen.‘“ als bisher zum Freitod gedrängt fühlen, zwang aufgehoben werden, jeder Abge-
Dass jetzt in Deutschland wieder über um anderen nicht zur Last zu fallen?“ ordnete soll nach seinem Gewissen ent-
Sterbehilfe diskutiert wird, ist auch Franz scheiden können. „Wir wollen eine klare
Müntefering zu verdanken. Der SPD- Nein Ja Mehrheit im Bundestag erreichen, über
Politiker hat das Thema Pflege und Alter die Union hinaus“, sagt Julia Klöckner,
zu seinem zentralen Anliegen gemacht. 45% 52% die stellvertretende CDU-Vorsitzende.
Zu Jahresbeginn veröffentlichte er in der Nach Altersgruppen Doch das könnte schwierig werden.
„Süddeutschen Zeitung“ ein flammendes Denn in der SPD rechnet man damit, dass
Plädoyer gegen Sterbehilfe: „Zu helfen 42 18 bis 29 56 es drei oder sogar vier verschiedene An-
und sich helfen zu lassen, darum geht’s. 54 30 bis 44 46 träge im Bundestag geben wird. „Es wird
Nicht um die eleganteste Abschiedszere- mehr als drei Positionen geben“, ver-
monie auf Knopfdruck.“ Der Artikel ist 38 45 bis 59 58 mutet der Mediziner und Fraktionsvize
eine empörte Replik auf die Forderung Karl Lauterbach, der zusammen mit Eva
des ehemaligen MDR-Intendanten Udo 47 60 + 47 Högl und Carola Reimann das Thema für
Reiter, aktive Sterbehilfe zu legalisieren. Nach Parteipräferenzen die Sozialdemokraten koordiniert. Dass
„Ich möchte nicht als Pflegefall enden, dann ausgerechnet der konservativste
der von anderen gewaschen, frisiert und 51 Union 45 eine Mehrheit bekommt, ist nicht wahr-
abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den 38 SPD 59 scheinlich.
Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfül- Die Spanne reiche von einem grund-
len und die Exkremente mit Gummihand- 38 Grüne 59 sätzlichen Verbot bis hin zur Legalisie-
schuhen unten wieder herausholen lassen. rung von organisierter Sterbehilfe. Frak-
Ich möchte nicht vertrotteln und als 54 Linke 42 tionschef Oppermann etwa tendiert
freundlicher oder bösartiger Idiot vor TNS Forschung vom 22. bis 23. Januar; 1000 Befragte ab 18 Jahren;
grundsätzlich zu einer eher liberalen Hal-
mich hindämmern“, hatte Reiter geschrie- Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“/ keine Angabe tung. „Das ist eine höchstpersönliche Ent-
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„Wir können
„Es darf nicht sein, nur regeln, was
dass Selbsttötung nicht sein darf –
gleichsam als nämlich aggressive
Behandlungsvariante „Zu helfen und sich helfen zu
STEFAN THOMAS KROEGER / LAIF

lassen, darum geht’s. Nicht um Werbung und


neben anderen Kommerzialisierung.“

JENS GYARMATY / VISUM


angeboten wird.“ die eleganteste Abschieds-
zeremonie auf Knopfdruck.“ Thomas Oppermann

GETTY IMAGES
Hermann Gröhe
Franz Müntefering

scheidung“, sagt er. Mit Gesetzen und Pa- letzten Jahren bereits wichtige Fortschrit- der an Krankenhäuser angeschlossenen
ragrafen, so glaubt er, sei die finale Phase te gemacht, etwa im Hinblick auf die Palliativstationen kletterte von 95 auf 231.
des Lebens nur schwer zu regeln. „Ge- finanzielle Situation der Hospize, den Und zwischen Flensburger Förde und Bo-
setzlich können wir nur regeln, was nicht Einsatz von Schmerzmitteln und die me- densee kümmern sich inzwischen auch
sein darf – nämlich aggressive Werbung dizinische Ausbildung in der Palliativ- Ehrenamtliche in rund 1500 ambulanten
und Kommerzialisierung.“ medizin.“ Hospizdiensten um die Sterbenden.
Die Bundesärztekammer, oberste Stan- Die professionelle und liebevolle Be- Rita Wiegand begleitet als Palliative-
desorganisation der Mediziner in Deutsch- gleitung der Sterbenden hat sich in Care-Fachkraft schwerstkranke Menschen
land, unterstützt Gröhes Vorstoß. „Wir Deutschland erst langsam entwickelt. auf dem letzten Weg. Die 60-Jährige ist
begrüßen es, dass der Bundesgesundheits- „Die Deutschen haben immer auf Maxi- zusätzlich ehrenamtlich im Vorstand des
minister die organisierte Sterbehilfe ver- malmedizin und Hightech gesetzt, da sind Hospizkreises Haar im Umland von Mün-
bieten will“, sagt Ärztepräsident Mont- wir führend“, sagt Ärztepräsident Mont- chen aktiv und arbeitet wöchentlich an
gomery. Den Sterbehilfe-Vereinen, die für gomery. „Es fällt uns schwer, von dieser drei Tagen als „Beauftragte für Palliative
ihre Dienstleistung sogar Werbung trie- Apparatemedizin auf adäquate Mensch- Care und Ethik“ in einem Seniorenheim.
ben, müsse „das Handwerk gelegt wer- lichkeit umzuschalten, wenn das Leben Wiegand unterstützt ihre Patienten beim
den“. Für die Mediziner selbst würde sich eines Patienten wirklich unweigerlich zu Ausfüllen von Patientenverfügungen,
durch den Vorstoß der Union vermutlich Ende geht.“ überprüft die Schmerzmedikation Tod-
wenig ändern. Sie arbeiten in einem Erst in den achtziger Jahren erreichte kranker und gibt im Notfall Rat per
Raum juristischer Dialektik: Nach dem die Hospizbewegung auch Deutschland – Handy an verzweifelte Angehörige.
Strafgesetzbuch ist die ärztliche Beihilfe und wurde argwöhnisch beäugt. „Damals „Als ich vor 13 Jahren mit der Hospiz-
zum Suizid nicht verboten. Das Berufs- gab es das eigentlich nicht nachvollzieh- arbeit begann, war vieles noch anders.
recht indes droht mit Berufsverbot. Aller- bare Vorurteil, dass Hospize Häuser seien, Damals wäre es undenkbar gewesen, of-
dings spielt das in der Praxis keine Rolle. in die die Sterbenden abgeschoben wür- fen zu sagen: Die künstliche Ernährung
Montgomery kann sich an keinen Fall er- den“, sagt Benno Bolze, Geschäftsführer unterlassen wir, weil wir das Leiden nur
innern, in dem es in den vergangenen Jah- des Deutschen Hospiz- und Palliativver- verlängern würden. Heute können wir
ren zum Entzug der Approbation gekom- bands. „Heute wissen viele Menschen, das“, sagt Wiegand. Zu Beginn einer Be-
men wäre. dass es Häuser für das Leben sind – nur gleitung führt Wiegand Gespräche mit
Der Ausbau der Palliativmedizin und eben für das Leben am Ende des Weges.“ den Betroffenen oder deren Angehörigen,
des Hospizwesens erscheint vielen Geg- Inzwischen gibt es Wartelisten, und die wenn die Kranken selbst dazu nicht mehr
nern der Sterbehilfe als Ausweg, um Palliativmedizin ist zum Pflichtfach des in der Lage sind. Eine Frage lautet: „Gibt
Schwerstkranken eine Alternative aufzu- Medizinstudiums aufgestiegen. es Situationen, in denen Sie sagen wür-
zeigen. Mit Schmerztherapie, sagt Mont- Längst kennt das Gesundheitssystem den, dann möchte ich nicht mehr leben?“
gomery, könne die Medizin heute für ein auch für das Sterben Paragrafen und Ab- Nicht selten hört Wiegand dann: „Ja, die
menschenwürdiges Lebensende sorgen – rechnungskennziffern. Seit 1997 zahlen jetzige.“ Viele alte Menschen kommen
und auch die Angst vor dem Ersticken die gesetzlichen Krankenkassen für die sich nutzlos vor. Das Gefühl der eigenen
nehmen, die viele Sterbende quäle, so professionelle Begleitung in den letzten Wertlosigkeit, hat Wiegand festgestellt,
Montgomery. Lebenstagen. Die Förderung verdoppelte gehe so weit, dass mancher Pflegebedürf-
„Wir müssen die Palliativversorgung die Zahl der stationären Hospize in tige klagt, er wolle den Kindern nicht auf
und die Hospizarbeit weiter ausbauen“, Deutschland annähernd: In den vergan- der Tasche liegen.
sagt Gröhe. Da sei er als Gesundheits- genen zehn Jahren stieg sie von 111 (im Rita Wiegand versucht mit ihrem En-
minister gefragt: „Wir haben in den Jahr 2004) auf inzwischen 200. Die Zahl gagement den kranken, oft alleingelasse-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 35
nen Menschen, das Gefühl der Einsam-
keit zu nehmen. „Es reicht nicht, aktive
Sterbehilfe zu verbieten“, sagt sie. Die
Konsequenz aus einem Verbot der akti-
ven Sterbehilfe müsse sein, dass sich die
Gesellschaft stärker um ihre Alten und
Kranken kümmert.

In der vergangenen Woche fand in Sit-
zungszimmer N207 im Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales in Berlin
eine lange geplante Sitzung zum Thema
Sterbehilfe statt. Die Teilnehmer hatte
man im Vorfeld um strikte Vertraulichkeit
gebeten. Es ging um „heikle Fragen“.
Als Erstes ergriff Abteilungsleiter Bert
Persson das Wort, Leiter der Projekt-
gruppe des Ministeriums, die sich mit der
sozialpolitischen Dimension des letzten
Lebensabschnitts beschäftigt. Persson
holte weit aus, sprach über das demo-
grafische Problem, die Belastungen für
die junge Generation, die explodieren-
den Pflegekosten. „Wir müssen“, sagte
Persson, „die Probleme zusammen mit
den Alten lösen, nicht gegen sie.“ Dann
stellte er die Vorschläge seiner Projekt-
gruppe vor.
Sie will vor allem an den Gemein-
schaftssinn der älteren Generation appel-
lieren. Den Senioren müsse klargemacht
werden, welche Opfer sie der Gesellschaft
abverlangen. Man müsse, forderte Pers-
son, die Einstellung zum Tod verändern.
Natürlich nicht sofort nach der Pensionie-
rung, sondern erst, „wenn die Kräfte ab-
DIRK KRÜLL / LAIF

nehmen und die Alterskrankheiten ein- Medizinerin Woopen


setzen“.
Unterstützt wurde Persson von Caspar
Storm, Professor am Institut für medizi-

„Kultur des Lebens pflegen“


nische Ethik. Er forderte in seinem kur-
zen Vortrag eine „neue Lebens- und
Todesethik“. Widerspruch gab es nach
Angaben von Teilnehmern kaum. Man
beschloss zu prüfen, wie eine Telefon-
Hotline eingerichtet werden kann, die
Sterbewillige an entsprechende Organi-
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Christiane Woopen,
sationen vermittelt. Perssons Fazit ist 51, über ihre Erfahrung mit lebensmüden Patienten und
eindeutig: „Wir brauchen schnell mehr die Frage, ob der Mensch seinen Tod selbst bestimmen darf
Tote.“
Das Treffen im Berliner Arbeitsminis-
terium hat es nie gegeben. Tatort war SPIEGEL: Frau Woopen, Sie haben als Ärz- muss herausfinden, warum der Patient die-
eine Theaterbühne. Das 1978 erschienene tin in der Gynäkologie gearbeitet. Hat sen Todeswunsch hat. Wovor hat er Angst?
Buch „Der moderne Tod“ des schwedi- Sie jemals eine kranke Patientin mit dem SPIEGEL: Sie sind gläubige Katholikin und
schen Autors Carl-Henning Wijkmark Wunsch konfrontiert, ihr beim Sterben haben auch Philosophie studiert. Hat der
hatte vor neun Jahren Hans Magnus En- zu helfen? Sterbenswunsch dieser Patientin Ihr Wer-
zensberger neu entdeckt. Er nannte es Woopen: Ich hatte eine Patientin mit Eier- tegerüst in Frage gestellt?
eine „skandalöse Prognose über die Zu- stockkrebs. Sie wurde lange chemothera- Woopen: Es hat mich vor allem als Mensch
kunft der sogenannten Sterbehilfe“. peutisch behandelt. Irgendwann war klar, berührt, mit Philosophie oder Glauben
NICOLA ABÉ, JÖRG BLECH, dass sie sterben würde. Sie bat mich dann, hatte das weniger zu tun. Es erschreckt,
MARKUS DEGGERICH, CHRISTIANE HOFFMANN, ihr zum Tod zu verhelfen. wenn man so explizit mit einem Todes-
ANNA KISTNER, HORAND KNAUP,
SPIEGEL: Hatte die Frau eine konkrete Vor- wunsch konfrontiert wird. Das ist ein ar-
PETER MÜLLER, CORNELIA SCHMERGAL
stellung, wie sie sterben wollte? chaisches Erschrecken vor der existentiel-
Woopen: Es changierte. Mal sprach sie von len Endgültigkeit.
Video: Palliativmediziner Lukas Giftspritze, mal davon, dass ich ihr etwas SPIEGEL: Wie ging es weiter mit Ihnen und
Radbruch über Sterbehilfe hinstellen solle, das sie schlucken könne. der Patientin?
spiegel.de/app62014sterbehilfe Das zeigt auch schon, welche Ambivalenz Woopen: Ich habe sehr genau hingehört,
oder in der App DER SPIEGEL in einer solchen Situation steckt. Der Arzt was sie bewegt. So entstand ein inniges
36 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Titel

Vertrauensverhältnis. Schließlich konnte halte sie für das falsche Signal, denn da- frei von Leid zu sein hat und ansonsten
ich herausfinden, wovor sie eigentlich mit wird der Suizid zu einem Normalfall, nicht lebenswert ist?
Angst hatte: nicht vor Schmerzen oder zu einem Angebot neben anderen. Woopen: In jedem Zeitalter wollten die
vor einem qualvollen Tod. Sie wollte als SPIEGEL: Wie Pizzabestellen? Menschen Leid vermeiden. Heute haben
schöne Frau sterben. Ihre kleine Tochter Woopen: Nun ja, aber eben zu einer von sie nur mehr Möglichkeiten dazu. Aber
sollte sie in schöner Erinnerung behalten. der Gesellschaft als normal betrachteten es wird immer Leid im Leben geben, see-
Ich habe ihr zugesichert, dass sie in Möglichkeit. Wir haben es hier jedoch lischer oder körperlicher Art. Wir sind
den letzten Monaten ohne Leiden, ohne mit einer existentiellen Ausnahmesitua- Wesen, die Einschränkungen bewältigen
schmerzverzerrtes Gesicht sein würde, tion zu tun. Deshalb fände ich es richtig, müssen.
dass wir sie hübsch anziehen, dass sie sich wenn der Gesetzgeber entgeltliche und SPIEGEL: Ist der Wunsch, sein Leben un-
schminken kann. Am Ende hielt sie es unentgeltliche Dienstleistungsangebote bedingt selbst beenden zu können, nicht
auch für die bessere Lösung. für Suizidbegleitung verbieten würde. typisch für unsere Zeit, in der es dem auf-
SPIEGEL: Würden Sie aufgrund Ihrer Er- SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, allein geklärten Menschen immer schwerer fällt,
fahrung sagen: Es ist in jedem Fall mög- durch die Existenz solcher Vereine würde sich dem Zufall oder dem Schicksal aus-
lich, einen Patienten mit Sterbewunsch Suizid zur Selbstverständlichkeit? zuliefern?
durch intensive Beschäftigung von die- Woopen: Ja, die Gefahr sehe ich, weil es Woopen: Wir sind es gewohnt, Dinge im
sem Wunsch abzubringen? ganz normale Vereine wären, wie der Griff zu haben. Wenn uns etwas nicht
Woopen: Das würde ich mir nicht anma- Fußballclub. Man kann eintreten und er- passt, versuchen wir, es zu ändern. Das
ßen. Ich halte es für möglich, dass trotz hält Leistungen. ist oft ein guter Impuls. Der Tod jedoch
intensiver Begleitung, idealer palliativ- SPIEGEL: Hat der Mensch denn generell gibt uns ein Gefühl von Machtlosigkeit.
medizinischer Betreuung und hervorra- ein Recht, über Zeitpunkt und Art des ei- Viele empfinden das als Beleidigung der
gender psychologischer Begleitung Men- genen Todes selbst zu bestimmen? Selbstbestimmung. Der Tod ist die ulti-
schen zu der Überzeugung kommen, dass mative Widerfahrnis. Ich glaube nur, dass
das für sie der richtige Weg ist. „Es ist gut, den Prozess es eine Illusion von Selbstbestimmtheit
SPIEGEL: Und dann sollen sie ihn auch ge- ist, ihm durch Selbsttötung zuvorzukom-
hen können? des Loslassens men, aber es ist eine Frage der Selbst-
Woopen: Ja. bestimmung, den Weg des Sterbens zu
SPIEGEL: Mit Hilfe ihres Arztes? am Lebensende sehr gestalten.
Woopen: Wenn der Arzt es mit seinem Ge- SPIEGEL: Aus Ihrer Erfahrung: Denken Pa-
wissen vereinbaren kann: ja. Dazu gehört bewusst zu erleben.“ tienten auch an die Kosten, die ihr Wei-
zuvor, dass es in einer langen Beziehung terleben verursachen würde?
zum Patienten intensive Gespräche gibt, Woopen: Man kann sich, solange die Kräf- Woopen: Ich habe von einem Patienten ge-
in denen der Arzt zusammen mit einem te dazu reichen, selbst umbringen, wie hört, der nicht wollte, dass sein Erbe für
Psychologen oder einem Seelsorger sehr es etwa der Schriftsteller Wolfgang Herrn- die Pflege draufgeht. Er hatte sein Leben
achtsam hinhört, wie man die Hoffnungs- dorf getan hat. Man kann per Patienten- lang geschuftet, um seinen Kindern etwas
losigkeit überwinden und dem Todes- verfügung bestimmen, medizinische Maß- zu hinterlassen. Und das sollten sie auch
wunsch begegnen kann. nahmen abzulehnen. Oder erklären, dass bekommen.
SPIEGEL: Die organisierte Ärzteschaft sieht man nicht künstlich ernährt werden SPIEGEL: Hat er sich durchgesetzt?
das bislang anders. Ihre Berufsordnung möchte. Bei der Suizidbeihilfe aber geht Woopen: Soweit ich weiß, hat er sich selbst
verbietet es Ärzten, Patienten beim Sui- es darum, dass ein anderer mir etwas zur getötet.
zid zu helfen. Verfügung stellen soll. Kein Mensch kann SPIEGEL: Viele alte und kranke Menschen
Woopen: Beihilfe zur Selbsttötung ist keine aufgrund der Selbstbestimmung eines an- haben Angst, anderen zur Last zu fallen.
ärztliche Aufgabe. Aber der Arzt kennt deren dazu gezwungen werden. Woopen: Umso mehr müssen wir ver-
den Patienten und seine Situation am bes- SPIEGEL: Was ist falsch an der Parole: hindern, dass Menschen den Eindruck
ten. Deshalb sollte der Arzt als Ansprech- „Mein Tod gehört mir“? bekommen, es sei normal, sich umzu-
partner zur Verfügung stehen und nicht Woopen: Diese Parole ist nicht hilfreich, bringen.
irgendein Verein, der es sich zur Aufgabe weil sie der Auseinandersetzung mit den SPIEGEL: Ist es denn unethisch, wenn eine
gemacht hat, zum Tod zu verhelfen. Um eigentlichen Fragen im Wege steht. „Ge- Gesellschaft mit begrenzten finanziellen
den Arzt zu stärken, müsste die Ärzte- hören“ beschreibt ein Besitzverhältnis – Ressourcen diskutiert, welchen Bereich
schaft aber die ärztliche Gewissensent- man besitzt den Tod aber nicht. Sterben der medizinischen Versorgung sie sich
scheidung unter bestimmten Vorausset- hat etwas mit Loslassen zu tun, nicht mit leisten will und welchen nicht?
zungen ausdrücklich anerkennen. Bislang Besitzergreifen. Ich sehe im Prozess des Woopen: Die Debatte, wie man knappe
heißt es in der Musterberufsordnung: Die Loslassens am Ende des Lebens einen Ressourcen im Gesundheitswesen verteilt,
Ärzte „dürfen keine Hilfe zur Selbsttö- Wert. Man setzt sich auseinander und ist sogar ethisch geboten. Es geht um so-
tung leisten.“ Das halte ich für zu strikt. überantwortet sich, sei es Gott, sei es dem lidarisch aufgebrachte Mittel, die müssen
SPIEGEL: 77 Prozent der Deutschen spra- Nichts. Es ist gut, diesen Prozess, am bes- verantwortungsvoll eingesetzt werden.
chen sich für die Möglichkeit einer ärzt- ten in liebevoller Begleitung, sehr be- Wir müssen klären, wie viel es uns wert
lichen Freitodbegleitung aus. Können die wusst zu durchleben. ist, die Palliativmedizin gut auszustatten
Ärzte diesen Wunsch weiter ignorieren? SPIEGEL: Gibt es eine Pflicht zu leben, und Menschen am Lebensende achtsam
Woopen: Solche Stimmungsbilder sind auch wenn man schwer leidet? zu begleiten. Das würde sehr viel Geld
sehr ernst zu nehmen. Vor allem müssen Woopen: Eine solche Pflicht lässt sich ohne kosten. Statistiken zeigen, dass von jenen
wir zunächst die Suizidprävention, die religiösen Hintergrund kaum begründen. Patienten, die eine solche Begleitung
Palliativmedizin und die Hospize stärken. Aber für eine Gesellschaft ist es gut, eine brauchten, bislang noch nicht einmal je-
Wir müssen auch die vielen verschiede- Kultur des Lebens zu pflegen, in der zum der Fünfte sie in angemessener Weise er-
nen Fälle auseinanderhalten: Lebensmü- Leben ermutigt wird, in der alles ange- hält. Ich persönlich wünsche mir eine Ge-
digkeit, Demenz, psychische Erkrankun- boten wird, um ja zum Leben sagen zu sellschaft, die das Geld dort einsetzt. Die
gen oder Krebs. Und dann müssen wir können. Antwort auf Leid darf nicht die Banali-
diskutieren, ob wir wirklich eine organi- SPIEGEL: Gibt es eine wachsende An- sierung des Suizids sein.
sierte Form von Suizidbeihilfe wollen. Ich spruchshaltung, dass ein Leben gefälligst INTERVIEW: MARKUS FELDENKIRCHEN

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 37
WONG MAYE-E / AP
Europapolitiker Juncker

und getrunken werden dürfe, antwortete


E U R O PAWA H L E N Dijsselbloem: „Das war schon immer ver-

Achtung, Alkoholkontrolle!
boten. Nur der ehemalige Vorsitzende
hat sich nicht daran gehalten.“ Juncker
sei eben „ein verstockter Raucher und
Trinker“.
Damit war das heikle Thema auf dem
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker hat beste Chancen, Markt, und die Antwort aus Luxemburg
Spitzenkandidat der Konservativen für die Europawahl zu werden. kam zwei Tage später. Er habe nicht vor,
auf Äußerungen zu reagieren, „die in ei-
Doch ist er einem Spitzenamt in Brüssel wirklich gewachsen? ner humoristischen Sendung im nieder-
ländischen Fernsehen gemacht wurden“,

A
m vorvergangenen Samstag führ- Doch je öfter Junckers Name fällt, des- sagte Juncker und versicherte: „Ich habe
te der Österreichische Rundfunk to mehr stellt sich die Frage, ob er den kein Alkoholproblem.“
ein 15-minütiges Interview mit Belastungen des Amts des Kommissions- Doch das sehen viele, die ihn in Brüssel
Jean-Claude Juncker. Gleich am Anfang präsidenten gewachsen wäre. Langjährige über Jahre beobachtet und begleitet
wurde er gefragt, ob es hart sei, nach 19 Wegbegleiter berichten von menschlichen haben, deutlich anders. Teilnehmer der
Jahren als Luxemburger Premierminister Schwächen, die einer breiten Öffentlich- Euro-Gruppen-Besprechungen erinnern
in die Opposition verbannt zu sein. keit nahezu unbekannt sind – aber in sich an Sitzungen, die Juncker „etwas er-
„Überhaupt nicht“, konterte der 59-Jäh- einem erstmals mit wirklich harten Ban- ratisch“ geleitet habe, andere wollen eine
rige. „Wenn ich durch Luxemburg gehe, dagen geführten Europawahlkampf eine Alkoholfahne gerochen haben. In Luxem-
habe ich den Eindruck, ich wäre noch nie erhebliche Rolle spielen könnten, ganz burg zucken politische Weggefährten bei
so populär gewesen wie im Moment.“ wie in nationalen Wahlkämpfen auch. diesem Thema nur die Achseln – die
Da war sie wieder, die junckersche Juncker droht so etwas wie eine poli- Trinkfreude ihres fast zwei Dekaden lang
Mischung aus Chuzpe und Charme, der tische Alkoholkontrolle. amtierenden Regierungschefs sei „ein of-
Politiker und Bürger in ganz Europa er- Den Anstoß gab der neue Chef der fenes Geheimnis“. Der Journalist Pascal
legen sind. Kein Wunder, dass Juncker Euro-Gruppe, der Niederländer Jeroen Steinwachs schrieb im „Lëtzebuerger
derzeit beste Chancen hat, Anfang März Dijsselbloem, Junckers Nachfolger. An- Journal“, schelmische Zungen behaupte-
zum Spitzenkandidaten der Europäischen fang des Jahres erzählte Dijsselbloem in ten, Juncker habe tatsächlich kein Pro-
Volkspartei (EVP) gekürt zu werden: der niederländischen TV-Talkshow „Kne- blem mit Alkohol, nur ohne.
Ernsthafte Gegenkandidaten sind nicht vel & Van den Brink“, dass die Sitzungen In EVP- wie CDU-Kreisen wird beteu-
in Sicht, und kürzlich stellte auch Angela der mächtigen Euro-Gruppe unter seiner ert, das Thema habe bei Gesprächen über
Merkel im CDU-Präsidium klar, dass sie Leitung „calvinistischer“ abliefen als zu die Spitzenkandidatur bislang nie eine
nichts gegen die Kandidatur des langjäh- Junckers Zeiten. Auf die Frage eines Rolle gespielt. Bewusst scheint es aber so
rigen „Mister Euro“ einzuwenden habe. Moderators, ob also nicht mehr geraucht gut wie allen zu sein, auch dem Berliner
38 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

Kanzleramt. Denn sogar enge politische Spitzenmann Martin Schulz im anstehen- Geheimdienst ein bizarres Eigenleben
Freunde bestätigen, dass Juncker seit Jah- den Wahlkampf Paroli bieten kann. Fast und hörte illegal Personen ab – einschließ-
ren zu viel trinke. Schon zum Mittagessen zwei Jahrzehnte lang saß der Luxembur- lich Juncker selbst. Vor einem Monat ge-
genehmige er sich mitunter zwei Gin ger im Europäischen Rat, als Euro-Grup- langte schließlich der Bericht eines Ex-
Tonic und ein Bier. Das habe ihn aber in pen-Vorsitzender hat er geholfen, die Geheimdienstagenten in die Presse: In
seiner Amtsführung bislang nicht beein- Währungsunion einigermaßen glimpflich dem 14-seitigen Gedächtnisprotokoll be-
trächtigt, schieben die Weggefährten durch die Schuldenkrise zu manövrieren. schreibt der Agent André Kemmer, wie
schnell hinterher. Ebenso spricht für ihn, dass er Zuhörer Juncker in einem allerdings Jahre zurück-
Tatsächlich sind bislang keine gravie- wie nur wenige für Europa zu begeistern liegenden Streit mit dem damaligen
renden Ausfälle bekanntgeworden, die vermag. „Wenn Juncker kommt, ist auch Geheimdienst-Chef Marco Mille die Kon-
man Junckers Alkoholkonsum zuschrei- in Deutschland der Saal voll“, schwärmt trolle verloren habe: „Juncker war stock-
ben könnte. Es sind vielmehr zahlreiche ein CDU-Präsidiumsmitglied. Mit ihm als betrunken“, heißt es wörtlich. „Ohne ein-
Begebenheiten überliefert, bei denen er Spitzenkandidaten könnte es sogar erst- leitende Worte fing er an, Mille zu belei-
trotz erhöhten Alkoholpegels ein straffes mals in der Geschichte der Europawahlen digen.“ Juncker habe Mille gegenüber
Arbeitspensum absolvierte. Er funktio- ein Fernsehduell zwischen zwei Deutsch mehrmals das Wort „ficken“ gebraucht.
nierte so lange, wie er musste, bis die of- sprechenden Europapolitikern geben. Juncker bestritt im Gespräch mit dem
fiziellen Termine vorbei waren und sich Schulz gegen Juncker, so würde die sper- SPIEGEL alle Vorhaltungen. Dass der
die Türen hinter ihm schlossen. rige europäische Demokratie TV-taug- Agentenbericht den Medien zugespielt
Sich von Zeit zu Zeit zurückzuziehen lich – aber der Wahlkampf auch entspre- wurde, sei Teil eines „Destabilisierungs-
wäre Juncker in seinem neuen Spitzen- chend härter. manövers, das seit Jahren läuft“. Im
amt in Brüssel aber nicht mehr möglich. Und Juncker hat noch eine offene Übrigen gebrauche er das F-Wort nicht,
Der Tag eines EU-Kommissionspräsi- Flanke, eine in Luxemburg weiter schwe- so Juncker. Was die Zweifel an seinem
denten ist streng durchgetaktet: Kabi- lende Geheimdienst-Diskussion, ausgelöst Gesundheitszustand betreffe, sagt der
nettsbesprechungen, öffentliche Auftritte, durch die sogenannte Bombenleger-Affä- 59-Jährige: „Ich glaube schon, dass ich
Empfänge für Staats- und Regierungs- re. Die Serie von 18 Sprengstoffanschlä- dem Job des Kommissionspräsidenten ge-
chefs aus der ganzen Welt. In Luxemburg gen in den achtziger Jahren beschäftigt wachsen bin.“ Er habe nichts dagegen,
empfing Juncker Journalisten meist in die Justiz des Großherzogtums bis heute. dass die Spitzenkandidaten für die Euro-
vertraulichen Runden, in Brüssel würde Ein Untersuchungsausschuss kam 2013 pawahl von den Medien genau unter die
ihn die Weltpresse auf Schritt und Tritt zu dem Schluss, dass Premierminister Lupe genommen würden. „Aber ich wür-
beobachten. Juncker, der für die Kontrolle des Ge- de gern über Politik befragt werden – und
Trotzdem setzt die EVP-Spitze weiter heimdienstes SREL verantwortlich ist, nicht über mein Alkoholproblem, das ich
auf Juncker. Sie braucht dringend einen seine Pflicht sträflich vernachlässigt hatte. nicht habe.“ MELANIE AMANN,
prominenten Kandidaten, der dem SPD- Unter Junckers Ägide entwickelte der CHRISTOPH SCHULT
MARIJAN MURAT / PICTURE ALLIANCE / DPA
Mädchen auf einer Feier der BiL-Schule in Stuttgart

welche Einrichtung sie führen sollte. In


BILDUNG einem Brief an die Eltern schrieb sie dann:

„Soldaten des Lichts“


Sie könne es nicht verantworten, eine
Schule der Gülen-Bewegung zu leiten.
Der Geschäftsführer der Gauß-Schule,
Hakan Cakar, weist alle Vorwürfe zurück,
Mitarbeiter der Schule hätten die Vorfälle
Anhänger des Predigers Fethullah Gülen betreiben in Deutschland nicht bestätigen können. Seine Einrich-
Hunderte Nachhilfezentren und Schulen. Nun klagen Eltern tung fördere die „Akzeptanz von Anders-
denkenden“. Die Gülen-Bewegung spiele
und Lehrer über Gehirnwäsche und Gewalt in den Einrichtungen. zudem weder im Schulalltag noch im
pädagogischen Konzept eine Rolle, auch

K
atrin Petersen meldete ihre Toch- Bekannte aus dem Umfeld der Schule wenn er als Privatmann einige Werte
ter 2012 mit den besten Absichten hätten sie gedrängt, Religionskurse der Gülens teile.
an der Ludwigsburger Carl-Fried- Gülen-Bewegung zu besuchen, außerhalb Wenige islamische Gruppierungen in
rich-Gauß-Schule an: Türkische Migran- des Unterrichts. „Die Bewegung wollte Europa sind so einflussreich wie die Ge-
ten hatten die Privatschule gegründet. Kontrolle über mein Kind“, sagt die Mut- meinde des Predigers Fethullah Gülen –
Die meisten Schüler sind Kinder von ter, die aus Angst vor Repressalien ano- und so umstritten. Unterstützer sehen die
Einwanderern. Petersen gefiel der multi- nym bleiben will. Bewegung als lose Initiative, interessiert
kulturelle Hintergrund der Schule: „Ich Offiziell unterhält die Gauß-Schule kei- an Bildung und dem Weltfrieden. In der
wollte, dass meine Tochter Migranten ge- ne Verbindung zu Gülen. Viele der Leh- Türkei jedoch ist die Gemeinde in einen
genüber unvoreingenommen aufwächst.“ rer erfuhren erst nach ihrer Einstellung Machtkampf mit der Regierung verstrickt.
Nun aber erhebt die Polizistin schwere durch Gespräche im Lehrerzimmer von Premier Erdogan wirft Gülen-Kadern vor,
Vorwürfe. Ihre Tochter sei aufgrund ihres der mutmaßlichen Nähe des Gymnasiums einen „Staat im Staate“ errichten zu wol-
modernen Lebensstils von Mitschülern zu dem muslimischen Prediger. Im Sekre- len. Aussteiger beschreiben die Gemein-
ausgegrenzt und geschlagen worden. Die tariat lag angeblich die türkische Tages- de als islamistischen Geheimbund mit sek-
Schulleitung habe auf Beschwerden nicht zeitung „Zaman“ aus, ein Leitmedium tenähnlichen Strukturen.
reagiert. Zudem sei das Mädchen von der Gülen-Bewegung. Am Tag der offe- Gülen lebt in den USA, im Bundesstaat
Lehrern aufgefordert worden, Türkisch nen Tür sei Schülern ein Lehrfilm der Gü- Pennsylvania. Aus der Türkei floh er 1999,
zu lernen, um an der Deutsch-Türkischen len-Gemeinde vorgeführt worden, erzählt die Regierung warf ihm vor, einen isla-
Kulturolympiade teilzunehmen, einem eine Lehrerin, die die Schule inzwischen mistischen Umsturz vorzubereiten. Seine
Talentwettbewerb der Gemeinde des tür- verlassen hat. „Die Gauß-Schule behaup- rund acht Millionen Anhänger haben eine
kischen Predigers Fethullah Gülen. tet, überkonfessionell zu sein“, sagt die Bank, eine Versicherung, Medienhäuser,
Eltern anderer Schüler klagen eben- Pädagogin. „In Wahrheit aber ist der Kliniken sowie Schulen in mehr als 140
falls, ihre Kinder seien gemobbt worden. Islam allgegenwärtig.“ Ländern gegründet – allein in Deutsch-
Eine türkische Mutter erzählt, ihre elf 2012 gab die Rektorin des Gymnasiums land betreiben Angehörige der Gemeinde
Jahre alte Tochter sei an der Schule ge- ihr Amt auf. Auch sie hatte ihren Job etwa 300 Nachhilfezentren und Schulen,
nötigt worden, ein Kopftuch zu tragen. offenbar angetreten, ohne zu wissen, zum Teil mit staatlicher Unterstützung.
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Deutschland

Nun jedoch häufen sich Vorwürfe ge- nical University in Ankara 2007 in einem gung von Mann und Frau mitunter nicht
gen Bildungsprojekte von Gülen-Anhän- Aufsatz. „Die Gemeinde bestimmt über in Einklang zu bringen, heißt es im Papier
gern in Deutschland. Nach gemeinsamen die Karriere der Schüler, über intimste des Verfassungsschutzes.
Recherchen von SPIEGEL und „Report Belange wie Ehe und Freundschaft.“ Die Eine Schulrektorin aus Süddeutschland,
Mainz“ existieren Parallelstrukturen an Bewegung, so berichteten Insider, rekru- die an einer Gülen-Schule arbeitete, be-
zahlreichen Schulen und Nachhilfezen- tiere in ihren Schulen und Nachhilfezen- richtet, der Geschäftsführer der Schule
tren, deren Betreiber der Bewegung nahe- tren neue Anhänger, um sie in den Licht- habe ein Buch von Charles Darwin aus
stehen sollen; nach außen präsentieren häusern zu Kämpfern ihrer Ideologie der Bibliothek entfernt, da Gülen die Evo-
sich die Bildungsstätten als säkular und auszubilden, zu „Soldaten des Lichts“ lutionslehre ablehne. Er habe außerdem
liberal, in Wahrheit jedoch werde Schü- (SPIEGEL 2/2014). gegenüber Lehrern behauptet, Homo-
lern ein reaktionärer Islam vermittelt, Auch Ahmet Selçuk besuchte die Kurse sexualität sei die Strafe für Mörder und
berichten Insider. Betroffene klagen über in den Lichthäusern. Er betete dort ge- Kinderschänder.
Gehirnwäsche, Mobbing und Gewalt. meinsam mit den Bewohnern, las Texte Eine ehemalige Lehrkraft des Stuttgar-
Inzwischen warnt auch der baden-würt- Gülens, der Leiter der Nachhilfeschule ter BiL-Gymnasiums, das Gülen nahe-
tembergische Verfassungsschutz vor der vermittelte Teilnehmern angeblich die stehen soll, erzählt von Klassenfahrten,
Gülen-Bewegung, wie im Umfeld des Ideologie der Cemaat. Selçuk ist Muslim. bei denen der Geschäftsführer darauf ge-
Innenministeriums bekanntwurde. In ei- Gülens Lehre lehnt er jedoch ab. „Viele achtet habe, dass Jungen und Mädchen
nem internen Papier heißt es, Gülens Ge- Eltern werden mit dem Versprechen auf im Bus getrennt voneinander sitzen. Eine
dankengut stehe in mancherlei Hinsicht bessere Bildung geködert“, sagt er. „Sie Reise der Oberstufe nach Istanbul sei ab-
im Widerspruch zur freiheitlichen demo- ahnen bei der Anmeldung zur Nachhilfe gesagt worden, da sich dort keine Jugend-
kratischen Grundordnung. Die Bewegung nicht, dass sie ihre Kinder einer islamisti- herberge mit separaten Etagen für Jungen
verfolge einen türkischen Nationalismus schen Gemeinde anvertrauen.“ Selçuk und Mädchen gefunden habe. Verantwort-
in „seriösem Gewand“ mit „islamisti- blieb den Kursen bald fern, in dem Nach- liche der BiL-Schule widersprechen dieser
schen Komponenten“. Gülen selbst strebe hilfeinstitut wurde er daraufhin ausge- Darstellung. Die Entscheidung gegen die
einen islamischen Staat an. grenzt. Schließlich kündigte er den Job. Istanbul-Reise sei auf Wunsch von Eltern
Der Student Ahmet Selçuk, der seinen Die Gülen-Bewegung hat keine Adres- gefällt worden. Schüler könnten im Bus
wahren Namen nicht öffentlich machen se, ist in keinem Vereinsregister eingetra- ihren Platz frei wählen. Auch sei die Gü-
will, hat erlebt, welch unheilvollen Ein- gen. Fethullah Gülen bestimmt Kurs und len-Bewegung im Schulalltag kein Thema,
fluss die Gülen-Gemeinde auf Kinder und Ausrichtung. Vertraute des Predigers, so- lediglich einige Träger der Schule seien
Jugendliche ausübt. Er heuerte vor etwa genannte Brüder, kontrollieren die Un- von den Ideen Gülens „inspiriert“.
vier Jahren in einem Nachhilfezentrum ternehmen der Cemaat. Gülen-Anhänger Eltern in Rüsselsheim klagen, ihr Kind
in Rheinland-Pfalz an. Selçuk wusste zu- verüben keine Bombenanschläge und sei während der Betreuung im Rahmen
nächst nicht, dass es dem schließen sich auch nicht eines Integrationskurses des Förderkrei-
Gülen-Netzwerk zugerech- den Taliban an. Doch die ses Rhein Main, der ebenfalls Teil des Gü-
net wird. Er wunderte reaktionäre Ideologie der len-Netzwerks sein soll, heftig geschlagen
sich nur, warum an dem Gemeinde und ihre un- worden. Eine Sprecherin des zuständigen
Zentrum, das sich weltlich durchsichtige Struktur be- Bundesamtes für Migration und Flücht-
gab, Schüler und Lehrer hinderten die Teilhabe jun- linge (BAMF) sagt, eine Betreuerin dort
nach dem Unterricht bete- ger Muslime an der Gesell- habe eingeräumt, einem Kind einen
ten. Etliche Schüler seien schaft und schadeten der „leichten Klaps“ gegeben zu haben. Der
von Lehrern unter Druck Demokratie, glaubt Sedat Verein erklärt, sie habe versucht, einen
gesetzt worden, an „Füh- Cakir, Integrationsbeauf- Streit zu deeskalieren. Man habe sich von
rungs“-Kursen teilzuneh- tragter des Kreises Groß- ihr getrennt. Laut BAMF soll zudem ein
men, einem religiösen Pa- Gerau in Hessen. anderes Kind während des Kurses in sei-
rallelunterricht außerhalb Gülen selbst lehnt indi- nem Buggy „festgeschnallt“ worden sein.
viduelle Lebensentwürfe Der Förderkreis Rhein Main darf inzwi-
SELAHATTIN SEVI / AFP

der Schule – in Wohnge-


meinschaften der Gülen- ab, nur wer sich der Ce- schen auch aus anderen Gründen keine
Bewegung. maat bedingungslos unter- Integrationskurse mehr anbieten.
Die Wohngemeinschaf- Prediger Gülen ordne, finde zum wahren Deutsche Politiker haben sich bislang
ten, sogenannte Lichthäu- Glauben. Gülen verteidigt wenig kritisch gegenüber Projekten der Gü-
ser, sind das Fundament die Vorschrift des Korans, len-Bewegung gezeigt. Bundesbildungs-
der Gülen-Gemeinde (Tür- Gülen-Schulen nach der die Aussage einer ministerin Johanna Wanka (CDU) hat für
kisch: „Cemaat“). Allein Experten rechnen der Gülen- Frau vor Gericht nur halb 2014 die Schirmherrschaft des Pangea-Ma-
in Berlin sollen Anhänger Bewegung bundesweit mindestens so viel gelten solle wie die thematikwettbewerbs übernommen, des-
der Bewegung nach An- 16 Schulen zu eines Mannes. Wer dem sen Veranstalter Anhänger der Gülen-Be-
sicht von Wissenschaftlern Islam abschwöre, verdiene wegung sein sollen. Dem Ministerium lä-
zwei Dutzend Lichthäuser Hamburg den Tod, sagte er einmal. gen keine Anhaltspunkte für eine Nähe des
unterhalten. Die Bewe- Niedersachsen „Fethullah Gülen stellt Wettbewerbs zur Gülen-Gemeinde vor, so
gung bietet Schülern und Nordrhein- Berlin die Scharia über das ein Sprecher. Baden-Württembergs Minis-
Studenten oft kostenlos Westfalen Grundgesetz“, sagt Fried- terpräsident Winfried Kretschmann nahm
ein Zuhause und fordert mann Eißler von der Evan- vergangenes Jahr an der Eröffnung eines
als Gegenleistung, dass Hessen
gelischen Zentralstelle für Neubaus der Stuttgarter BiL-Schule teil.
diese sich den Regeln der Weltanschauungsfragen in Der außenpolitische Sprecher der Grü-
Cemaat unterordnen. Berlin. Gedanken Gülens nen, Omid Nouripour, saß gar mehrere
Die Bewohner stünden seien mit dem Prinzip der Jahre lang im Beirat eines Frankfurter
dort unter „ständiger Be- Baden- Bayern Gewaltenteilung, der Reli- Vereins, dessen Ehrenvorsitzender Fet-
obachtung“ schrieb der Württemberg gionsfreiheit, der Freiheit hullah Gülen ist. Ohne Angabe von Grün-
Soziologe Mustafa Şen von Wissenschaft und Leh- den verkündete Nouripour vor wenigen
von der Middle East Tech- re und der Gleichberechti- Tagen seinen Austritt. MAXIMILIAN POPP

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 41
Deutschland

RAU B KU N ST

Die Ruhe vor dem Sturm


Cornelius Gurlitt verspricht, sich um faire und gerechte Lösungen
zu bemühen. Doch am Ende dürfte das nur wenige
Bilder betreffen – er will selbst über seine Sammlung verfügen.

DER SPIEGEL
C
ornelius Gurlitt konnte es nicht fas- chen im „Dritten Reich“ und nicht hart-
sen. „Was wollen diese Menschen herzig gegenüber jenen, die hoffen, frü-
nur von mir? Ich bin doch etwas heren Besitz ihrer Familien wiederzu- Kunstliebhaber Gurlitt: Seit Wochen befindet er
ganz Stilles.“ erlangen oder wenigstens für den Verlust
Jahrzehntelang hatte er – selbst von entschädigt zu werden. Dortmunder Anwalt Tido Park, der Gur-
Kunstexperten unbemerkt – in seiner Sein für Restitutionsfragen zuständiger litt in strafrechtlichen Belangen vertritt,
Münchner Wohnung Hunderte Gemälde, Anwalt Hannes Hartung aus München ver- bot folgende Erklärung an: Gurlitts
Zeichnungen und Druckgrafiken aufbe- breitete daher die versöhnlich klingende damalige Aussage „bezog sich eher auf
wahrt. Ein Großteil davon Werke, die sein Nachricht, sein Mandant wolle geltend ge- Ermittlungsbehörden und staatliche Stel-
Vater, der Kunsthändler Hildebrand Gur- machte Ansprüche prüfen und „faire und len“; Gurlitt habe wohl versäumt, deut-
litt, in den Wirren des „Dritten Reichs“ gerechte Lösungen“ finden, ohne sich auf lich zu machen, dass er „berechtigte pri-
erworben hatte: gekauft, wohl teils weit „formale Rechtspositionen“ wie Verjäh- vate Ansprüche damit nicht gemeint hat“.
unter Wert, in Verwahrung genommen, rung zu berufen. Das könne von der Be- Bevor es aber Lösungen geben kann,
manches möglicherweise erschlichen. teiligung an einem Verkaufserlös über eine bestenfalls faire und gerechte, stellt Gur-
Als die Nachricht vom „Schwabinger Entschädigung bis zu Situationen reichen, litt nun eine weitreichende Forderung an
Kunstfund“ in die Welt kam, war es mit „wo eine Rückgabe nicht zu verneinen ist“. den Staat: Er besteht darauf, dass nur er
der Stille um den heute 81-jährigen Sohn Doch eine Lösung der vielen Probleme das Recht hat, über die Sammlung zu ver-
vorbei. Die Welt diskutierte, aber Gurlitt ist keinesfalls in greifbarer Nähe. Zahl- fügen. Nicht nur über jene rund 300 Wer-
entzog sich weitgehend. Noch immer ist reiche praktische wie rechtliche Schwie- ke, die nach bisheriger Auffassung der
er nur für wenige Menschen zu sprechen. rigkeiten zeichnen sich ab. Wie verwir- Staatsanwaltschaft Augsburg unzweifel-
Seit Wochen befindet er sich in einem rend und verworren die Lage ist, zeigt haft zum Familienbesitz der Gurlitts ge-
Krankenhaus. Es gehe ihm einigermaßen schon die Debatte darüber, was Gurlitt hören – sondern auch über die umstritte-
gut, sagt ein Vertrauter des verschlosse- in eigener Sache zunächst dem SPIEGEL nen, knapp 1000 anderen. Der Zivilrecht-
nen, eigenbrötlerischen Seniors. gegenüber gesagt hatte. Im November ler Hartung soll die Ansprüche prüfen,
Gurlitt hat neuerdings Helfer, fachkun- hatte er einer Reporterin erklärt, dass er die geltend gemacht wurden. „Am Ende“,
dige Anwälte, vermittelt von Verwandten, freiwillig nichts zurückgebe; Anwalt Har- sagt Hartung „trifft Herr Gurlitt die Ent-
beauftragt sowohl von ihm als auch sei- tung unterstellte in der vorigen Woche, scheidung.“
nem vorläufig eingesetzten Betreuer. Und dass sein Mandant vom SPIEGEL „falsch Dass der Sammler einen Großteil der
mit ihrer Unterstützung mischt sich Gur- und verzerrend zitiert“ worden sei. umstrittenen Bilder hergibt, ist wohl nicht
litt nun in den Streit um die Bilder ein, Dieser Vorwurf ist, wie Videoaufnah- zu erwarten. Das betrifft vor allem jene
die der Staat beschlagnahmt hat. men belegen, falsch. Hartung erhebt ihn Bilder, die als „entartete Kunst“ aufgrund
Ihm gehe es vor allem um eine Bot- auch nicht mehr. Er habe nur zum Schut- staatlicher Enteignung den Besitzer
schaft, heißt es aus seinem Umfeld: dass ze seines Mandanten klarstellen wollen, wechselten. Diese Kunstwerke bilden
er kein Unmensch sei, kein Antisemit, dass dieser gegenüber Anspruchstellern den „kunsthistorischen Schwerpunkt
nicht gleichgültig angesichts der Verbre- „zu jeder Zeit gesprächsbereit war“. Der der Sammlung Gurlitt“, wie Hartung
schwärmt. 290 der 380 als „entartete
Kunst“ eingeordneten Werke der Samm-
lung stammten eindeutig „aus öffent-
lichem Eigentum“, also vornehmlich Mu-
seen, sagt Hartung; in diesen Fällen habe
Hildebrand Gurlitt, als er die Bilder kauf-
te, „ganz unproblematisch Eigentum er-
worben“ – und damit gehörten sie heute
unzweifelhaft seinem Sohn.
Die Museen, die damals Bilder abge-
ben mussten, dürften deshalb „nicht mit
einem Herausgabeanspruch“ kommen,
warnt Hartung und gibt sich kampfbereit:
„Klagen auf Rückgaben von entarteter
Kunst räume ich keine Chancen ein.“
CHRISTOF STACHE / AFP

Dass das Saarlandmuseum dagegen nun


um Rückkauf bat, sei „die richtige Her-
angehensweise“, so Hartung.

* Mit dem bayerischen Generalstaatsanwalt Christoph


Staatsanwalt Nemetz (l.), Task-Force-Leiterin Berggreen-Merkel*: Heikle Mission Strötz am 27. November 2013 in München.

42 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
sich im Krankenhaus

Auch bei den etwa 590 Bildern, die als aus Augsburg wissen, welche Tatvorwürfe um mögliche Eigentumsrechte Dritter zu
mögliche Raubkunst eingestuft wurden, er Gurlitt macht und wie der Ermittlungs- schützen. Beobachter werten dies als Zei-
kommt nach Auffassung Hartungs nur ein stand ist. „Wir wollen uns nicht in lau- chen dafür, dass selbst die Staatsanwälte
sehr geringer Teil für ein Entgegenkom- fende Ermittlungen einmischen, doch an der Tragfähigkeit der Beschlagnahme-
men in Betracht. Es gebe erst „sechs An- schulden die deutschen Behörden es den begründung zweifelten.
spruchsteller“ – obwohl mittlerweile 458 Opfern des NS-Kunstraubs, diese Fälle Vor diesem Hintergrund liegt nahe,
Werke in der Raubkunstdatei „Lost Art“ zügig zu lösen“, sagt Marinello. Die Fa- dass Gurlitts Anwälte den Beschlagnah-
öffentlich katalogisiert sind. Am Ende milie Rosenberg beharre darauf, dass der mebeschluss mit einer Beschwerde an-
werde man „vielleicht bei 40 oder 50 Bil- Matisse und andere geraubte Werke ohne greifen. Hätten die Anwälte damit Erfolg,
dern über solche Ansprüche reden“. weitere Verzögerung restituiert werden. müsste der Staat die Bilder wohl zurück
Wie diese Gespräche verlaufen könn- „Wir erwarten von den deutschen Behör- in Gurlitts Verfügungsgewalt geben – und
ten, lässt die Kontroverse um die 13 Bil- den, dass sie das ermöglichen.“ stünde dann vor einer Blamage.
der aus der Sammlung des jüdischen Doch das könnte diesen schwerfallen. Eine Task-Force um Ingeborg Berg-
Rechtsanwalts Fritz Glaser ahnen. „Erst Die Augsburger Staatsanwaltschaft be- green-Merkel, eine ehemalige Spitzen-
einmal spricht nichts für einen erzwun- wegte sich auf dünnem Eis, als sie Gurlitts beamtin des Kanzleramts, soll die Her-
genen Verkauf“, behauptet Hartung. Hil- Wohnung leer räumte. Die Durchsuchung kunft der Bilder erforschen. Dieser Auf-
debrand Gurlitt habe mit Glaser in einer und Beschlagnahme stützte sich Ermitt- gabe kann sie nur so lange problemlos
„freundschaftlichen Geschäftsbeziehung“ lern zufolge allein auf den Vorwurf, Gur- nachgehen, wie die Sammlung in staatli-
gestanden. Es sei „nicht auszuschließen, litt habe in einer noch offenen Zahl von chem Gewahrsam ist. Hätte Gurlitt wie-
dass die Verkäufe noch vor der Macht- Fällen sogenannte Einfuhrumsatzsteuer der die Verfügungsgewalt, dürfte die wei-
übernahme freihändig stattgefunden ha- hinterzogen. Das mutet schon deshalb bi- tere Tätigkeit der Task-Force von seiner
ben“; und solange dies nicht geklärt sei, Zustimmung abhängig sein. Anwalt Har-
könne man nicht unterstellen, dass es sich tung hat schon jetzt gegenüber Lost Art
um Raubkunst handele. Die Deutschen möchten erklärt, die Veröffentlichung dort verlet-
Die Dresdner Anwältin Sabine Ru- nicht als Räuber dastehen, ze die Eigentumsrechte seines Mandan-
dolph hält für die Glaser-Erben dagegen: ten, und mit weiteren Schritten gedroht.
„Fritz Glaser hat nach bisherigem For- die keine Kunstwerke Ein Sturm internationaler Entrüstung
schungsstand nichts freiwillig verkauft; wäre gewiss.
jede uns bekannte Veräußerung fand zurückgeben wollen. Hinter den Kulissen ist Berggreen-Mer-
nach dem Januar 1933 statt und stand im kel in heikler diplomatischer Mission un-
Zusammenhang mit der Verfolgung durch zarr an, weil die Ermittlungen durch eine terwegs: Die Deutschen möchten nicht als
die Nationalsozialisten.“ Das entspreche Zollkontrolle ausgelöst wurden. Es war Räuber dastehen, die jüdischen Bürgern
offenbar auch „dem Ermittlungsstand der aufgefallen, dass Gurlitt mit 9000 Euro in abgepresste Kunstwerke nicht zurück-
Staatsanwaltschaft, denn die stellte die bar aus der Schweiz nach München fuhr; geben wollen – und den Besitz solcher
Bilder nicht grundlos bei Lost Art ein“. das Geld stammte nach seinen Angaben Kunstwerke auch noch verheimlichen.
Relativ stichhaltig ist für Hartung im- aus dem Verkauf von Kunstgegenstän- Berggreen-Merkel musste den israelischen
merhin der Anspruch im Fall des Matis- den. Einfuhrumsatzsteuer wird freilich Boschafter besänftigen, der ebenso wie
se-Gemäldes „Sitzende Frau“, das 1941 fällig, wenn man Ware in die EU ein- US-Diplomaten die umgehende Rückgabe
von Nazi-Schergen aus einem Banktresor führt – nicht, wenn man welche im Aus- von Raubkunst anmahnte.
in Frankreich entwendet worden war. land verkauft. Anwalt Park will sich zu Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die
„Unklar“, so Hartung, seien aber noch den Vorwürfen und dem Strafverfahren Task-Force international besetzt, 14 Fach-
„die genauen Umstände des Erwerbs die- derzeit nicht äußern. leute aus sechs Staaten gehören ihr an.
ses Gemäldes durch Hildebrand Gurlitt“. Doch bezeichnenderweise wandte sich Unklar indes ist, wie diese Experten ne-
Die Erben des Pariser Kunsthändlers Paul die Staatsanwaltschaft Augsburg mit ben ihren eigentlichen Jobs die kompli-
Rosenberg, darunter die bekannte fran- Schreiben vom 6. November 2013, gut zierten Wege von Hunderten Bildern
zösische Journalistin Anne Sinclair, ver- zwei Jahre nach der Razzia, aber wenige Gurlitts aufklären sollen. Berggreen-Mer-
langen die Rückgabe. Tage nachdem der Fund öffentlich gewor- kel geht davon aus, dass bis Ende dieses
Hartung und der Restitutionsanwalt den war, an das bayerische Landeskrimi- Jahres die wichtigsten Verdachtsfälle auf-
Chris Marinello, der die Rosenberg-Erben nalamt. Die Ermittler baten darum, die gearbeitet sind – wenn juristisch nichts
vertritt, haben sich in London getroffen. Gurlitt-Sammlung nunmehr auch auf dazwischenkommt.
Marinello aber würde lieber vom Leiten- polizeirechtlicher Grundlage sicherzustel- DIETMAR HIPP, ULRIKE KNÖFEL,
CONNY NEUMANN, MICHAEL SONTHEIMER
den Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz len: zur sogenannten Gefahrenabwehr,
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 43
Deutschland

daran, Existenzen zu zerstören, wie es in


der Nazi-Zeit der Fall war“, sagte er.
Wollte Brauner das Immobilienreich
seiner Familie nicht verlieren, musste er
die Finanziers austauschen. Und hier half
die Zürcher Leumi. Das Geldinstitut löste
bis 2008 Kredite deutscher Banken an
Brauner ab, die mit Immobilien im Wert
von über 200 Millionen Euro besichert
waren. So schien es zumindest.
Die Steuerfahnder hegen offenbar ei-
nen anderen Verdacht. Sollte die Um-
schuldung womöglich nur verschleiern,
dass Brauner die Kredite mit seinem ei-
genen Geld aus Leumi-Depots bezahlte,
ohne dabei in Erscheinung zu treten?
Nahrung für diesen Verdacht lieferte
der ehemalige Leumi-Manager – und
Berliner Partygast – Alessandro Orlando.

MARKO GREITSCHUS / AGENCY PEOPLE IMAGE


Der Privatbanker gab bereits im April
2012 in einem anderen Verfahren vor ei-
nem Schweizer Bezirksgericht zu Proto-
koll, dass Brauner ein Hauptkonto mit di-
versen Unterkonten bei Leumi unterhielt.
Orlando erklärte auch, dass Leumi
Brauner keine Immobilienkredite ge-
Produzent Brauner mit Familie währt habe. Der Filmproduzent habe
lediglich einen eher kurzfristigen Kredit
erhalten. Als dessen Rückzahlung an-
Alessandro Orlando, damals leitender stand, so der Ex-Leumi-Mann weiter,
FINANZEN Manager bei der Zürcher Niederlassung habe Brauner „einfach die Mittel benutzt,

Sündige Grenze
der Bank Leumi aus Israel. Für Brauner die er bei uns zur Verfügung hatte“.
war der Banker in jener Zeit ein diskreter, Brauner bestätigt, Leumi-Kredite mit
aber wichtiger Finanzpartner. seinen Schweizer Depots besichert zu
Jetzt wird die Leumi-Liaison zum Pro- haben. Er habe dafür „sämtliche Werte
Bis heute ist Artur Brauner, 95, blem für den Filmproduzenten. Seit kur- direkt an die Bank Leumi übertragen und
als Filmproduzent aktiv. Nun zem haben Steuerfahnder die Bank im verpfändet“. Rund 90 Prozent der Sicher-
nehmen ihn Steuerfahnder in den Visier. Die nordrhein-westfälischen Finanz- heiten stammten aus Filmlizenzeinnah-
behörden hatten eine Schweizer CD ange- men, die „sofort an Leumi überwiesen
Fokus, die ihm Schwarzgeld in kauft, die Leumi-Konten auflistet, die un- wurden“. Um unversteuertes Geld handle
der Schweiz nachweisen wollen. ter Schwarzgeldverdacht stehen. Auf dem es sich nicht, die Vorwürfe der Steuer-
Datenträger fand sich auch der Name von fahnder seien „falsch“, sagt Brauner, und

A
lle waren sie gekommen ins Herz Brauner. Es soll sich in seinem Fall um Ver- basierten auf „völlig aus dem Zusammen-
des alten West-Berlin, internatio- mögen im hohen zweistelligen Millionen- hang gerissenen Angaben“. Mit der Bank
nale Filmemacher, Kinostars von bereich handeln. Inzwischen ermittelt die Leumi sei er „seit vielen Jahrzehnten ver-
einst und heute. TV-Bellheim Mario Staatsanwaltschaft Köln gegen ihn wegen bunden“, das sei auch den Berliner Fi-
Adorf, Winnetou-Darsteller Pierre Brice, des Verdachts der Steuerhinterziehung. nanzbehörden „seit langem bekannt, da
„Mephisto“-Mime Klaus Maria Brandauer Vor Weihnachten hatten Steuerfahnder in den Bilanzen enthalten“.
und auch Alt-Playboy Rolf Eden feierten mit richterlichem Durchsuchungsbeschluss Dass Brauner Geld in der Schweiz
im September 2008 einen der Ihren mit Brauner bereits einen Besuch abgestattet. hatte, ist pikant für die Berliner Finanz-
einer Überraschungsparty. Ihr Interesse gilt insbesondere Brauners verwaltung, denn laut Erkenntnissen der
Artur Brauner, schillernder Doyen der Immobilienvermögen, das in den vergan- Ermittler aus Nordrhein-Westfalen ver-
deutschen Nachkriegsfilmwirtschaft, war genen Jahrzehnten beachtlich gewachsen zichtete die Stadt bisher bei Brauner auf
gerade 90 Jahre alt geworden und konnte war; allein am West-Berliner Kurfürsten- Steuern in zweistelliger Millionenhöhe.
auf ein bewegtes Leben zurückblicken. damm erwarb seine Familie fünf Häuser- Der Berliner Finanzsenat will sich dazu
Der im polnischen Łódź geborene Brau- blocks. Die Banken gaben bereitwillig nicht äußern.
ner verlor 49 Verwandte im Holocaust, Kredite, die Münchner HypoVereinsbank Brauner bestätigt den Sachverhalt, ver-
er selbst überlebte in der Sowjetunion. beispielsweise war mit weit über hundert weist aber darauf, dass „die Forderungen
Nach dem Krieg produzierte Brauner in Millionen Euro engagiert. der Berliner Finanzverwaltung“ lediglich
Berlin mehr als 300 Filme, darunter Stof- Doch die Immobilien-Investments liefen „auf Schätzungen“ basierten. Mindestens
fe, die ihm wichtig waren („Hitlerjunge nicht so gut wie das Filmgeschäft. Bereits sieben Jahre, so Brauner, „waren wir
Salomon“). Vor allem aber kommerziell 2005 musste eine der zahlreichen Grund- nicht in der Lage – nicht durch eigenes
erfolgreiche Unterhaltung: vom Kassen- stücksgesellschaften Insolvenz anmelden, Verschulden –, korrekte Bilanzen zu er-
schlager „Old Shatterhand“ bis zu Wer- weil sie Kredite nicht bedienen konnte. stellen und demzufolge daraus resultie-
ken wie „Sündige Grenze“ oder „Das Wenig später hatten die Banken 16 weite- rende effektiv fällige Steuern zu entrich-
Geheimnis der Schwarzen Koffer“. re Immobilien unter Zwangsverwaltung ten“. Er verhandle aber derzeit mit dem
Unter den Partygästen befand sich an gestellt. Brauner fühlte sich von seinen Finanzamt über Rückzahlungen und habe
jenem Tag auch ein unscheinbarer Herr Finanziers im Stich gelassen. „Machthung- bereits erste Beträge überwiesen.
fortgeschrittenen Alters aus der Schweiz: rige Bankmitarbeiter empfinden Freude BARBARA SCHMID, ANDREAS WASSERMANN

44 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Historischer Exorzismus“
Geschichtswissenschaftler Martin Sabrow über Redlichkeit im Nationalsozialismus, Gerechtig-
keit gegenüber Antisemiten und Debatten über Straßennamen in deutschen Städten

SPIEGEL: Professor Sabrow, in Niedersach-


sen streiten Politiker und Historiker über
Hinrich Wilhelm Kopf, den langjährigen
Ministerpräsidenten und Mitbegründer
der Bundesrepublik. Was ist Kopf vorzu-
werfen?
Sabrow: Der Sozialdemokrat und ehema-
lige Landrat Kopf wurde in der NS-Zeit
zwangspensioniert. Er gründete darauf-
hin eine Firma für Vermögensverwaltung
in Berlin, die an Arisierungen beteiligt
war. Ab 1939 arbeitete er dann für die
Verwaltung der Stadt Königshütte im be-
setzten Polen und erfasste Wohnraum. Es
ging dabei auch um die Wohnungen ver-
triebener und später ermordeter Juden,
an denen sich das Deutsche Reich berei-
cherte. Schließlich wurde Kopf Angestell-
ter der Haupttreuhandstelle Ost, der größ-
ten Räuberagentur im besetzten Polen.
Kopf wirkte als Rädchen im System der
Verfolgung und der Zerschlagung Polens
mit. Aus ungeklärten Gründen zog er sich
1943 auf ein oberschlesisches Gut zurück.
Das ist ein Bild mit ziemlich dunklen
Schatten.
SPIEGEL: Würden Sie Kopf als Mittäter
beim Holocaust bezeichnen?
Sabrow: Ich tue mich schwer damit, ihn
so pauschal zu verurteilen. Der Begriff
des Täters setzt Absicht voraus, und Kopf
JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

wollte ganz sicher nicht die europäische


Judenheit umbringen.
SPIEGEL: War er also nur Mitläufer?
Sabrow: Der SPIEGEL schrieb 1955, Kopfs
Verhalten in der Nazi-Zeit sei „etwas frag-
würdig“ gewesen. Natürlich war es mehr
als das. Es gibt aber nicht nur die morali-
sche Betrachtungsweise, sondern auch die
Historiker Sabrow historische. Zunächst einmal ist Kopf
selbst Opfer der Nazis geworden. Später
hat er wohl versucht, nationalsozialisti-

D
er Sozialdemokrat Hinrich Wil- Grünen wollen nun den Hinrich-Wilhelm- sche Ansprüche abzuschwächen, im Ein-
helm Kopf (1893 bis 1961) zählt zu Kopf-Platz vor dem Landtag in Hannover zelfall zu verhindern. Es liegen zahlreiche
den Gründerfiguren der Bundes- umbenennen. Die Historische Kommis- Zeugnisse von Menschen vor, die selbst
republik. Er wurde 1946 erster Minister- sion für Niedersachsen und Bremen sieht ausgeplündert wurden und die Kopfs An-
präsident Niedersachsens und bekleidete dafür keine Notwendigkeit. Der zustän- ständigkeit beteuern. Man sieht dabei, wie
dieses Amt insgesamt elf Jahre. Vor we- dige Stadtbezirksrat von Hannover-Mitte erfolgreich das NS-Regime auch über die
nigen Monaten behauptete die Politolo- soll in Kürze im Fall Kopf entscheiden. Anständigen funktionierte. Wenn eine
gin Teresa Nentwig, Kopf habe mit dem Über diesen Konflikt spricht Martin Frau einen Teil ihrer vom deutschen Staat
NS-Regime zusammengearbeitet. Sie lös- Sabrow, 59, Direktor des renommierten geraubten Möbel dank Kopfs Intervention
te damit in Niedersachsen eine Debatte Zentrums für Zeithistorische Forschung zurückbekommt, damit sie angebliche
über die Standards für die Benennung in Potsdam und Professor für Neueste Ge- Steuerschulden begleichen und dann aus-
von Schulen, Straßen und Plätzen aus. schichte und Zeitgeschichte an der Hum- reisen kann, dankt sie Kopf auf Knien –
Die Fraktionen von SPD, CDU, FDP und boldt-Universität zu Berlin. und verliert gleichzeitig ihr Eigentum.
46 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Also noch im Versuch, redlich zu sein, ist ben, so zu bleiben. Wenn wir das akzep- undemokratischen Wertevorstellungen
Kopf Teil des Systems gewesen. tieren, kommen wir zu einer Vorstellung umzingelt zu werden. Allerdings macht
SPIEGEL: Ministerpräsident Stephan Weil von einer Erinnerungskultur, die in der es für mich einen Unterschied, ob man
wirft Kopf heute vor, den Landtag belo- Lage ist, mit Brüchen umzugehen und sich wie in den siebziger Jahren für die
gen zu haben, weil Kopf 1948 erklärt hat- diese nicht glattzubügeln. Umbenennung von Kasernen einer Bun-
te, er sei „niemals Treuhänder polnischer SPIEGEL: Im Augenblick ist das Gegenteil deswehr engagierte, die ungerührt an der
und jüdischer Güter gewesen“. zu beobachten. Kopf ist kein Einzelfall. Ehrwürdigkeit von Weltkriegsgenerälen
Sabrow: Kopfs Aussage war falsch, aber Überall in der Republik werden Straßen festhielt, oder heute gegen Straßennamen
er ist damit durchgekommen. Es gab da- umbenannt und Personen aus dem öf- angeht, die niemandem mehr Programm
mals ein polnisches Auslieferungsersu- fentlichen Gedächtnis getilgt. Allein Han- sind. Diese Befreiung durch Reinigung
chen, und Kopf kam auf die Kriegsver- nover will rund 400 Namen überprüfen. hat etwas Billiges.
brecherliste der Vereinten Nationen. Die Sabrow: Wir erleben seit längerem eine SPIEGEL: Aber es gibt doch Grenzen, oder
Anschuldigungen der Polen gegen ihn Veränderung der Mentalität in unserer würden Sie eine Adolf-Hitler-Straße hin-
waren jedoch hanebüchen und wurden Gesellschaft: das Ende der Heroisierung nehmen?
zurückgewiesen. Was er wirklich getan und den Übergang zu einer opferorien- Sabrow: Da hilft die von dem Juristen
hatte, wurde durch die falsche Anklage tierten Gesamtsicht. Sie können heute Gustav Radbruch entwickelte Formel:
verdeckt. jede geschichtspolitische Maßnahme da- Das geltende Recht ist zu akzeptieren, es
SPIEGEL: Die Historikerkommis- sei denn, es tritt in einen him-
sion argumentiert, Kopf habe melschreienden Gegensatz zur
nach dem Krieg das neugegrün- empfundenen Gerechtigkeit.
dete Bundesland Niedersachsen Ein Beispiel: Berlin-Friedrichs-
auf einen demokratischen Weg hain hieß in der NS-Zeit Horst-
geführt. Das sei „tätige Reue“. Wessel-Stadt, benannt nach
Die Fraktionen im Landtag er- dem SA-Mann Wessel. Nieman-
klären hingegen, eine Abwä- dem wäre zuzumuten, dort zu
gung zwischen Kopfs Schuld wohnen. Eine Anstößigkeit,
und seinen Verdiensten sei nicht die als so fundamental empfun-

HORST E. SCHULZE / BPK


möglich. Wie sehen Sie das? den wird, dass kein Stadtfriede
Sabrow: Ich glaube auch, dass einkehrt, zwingt zu einer Um-
es nach heutigen Maßstäben benennung.
eine Relativierung von Schuld SPIEGEL: Was ist mit den vielen
im Sinne einer Wiedergut- Straßen, die Paul von Hinden-
machung nicht geben kann. Politiker Kopf (r.), Konrad Adenauer (M.)*: „Mittlerer Charakter“ burgs Namen tragen, der 1933
Die Frage ist nur, ob wir uns Hitler zum Kanzler ernannte?
nicht dazu bekennen sollten, Sabrow: Ist die historische
dass fast alle Menschen, die in Schuld Hindenburgs so groß,
Epochenwechseln gelebt ha- dass wir seinen Namen tilgen
ben, in der Regel – um mit Les- müssen, weil davon andernfalls
sing zu sprechen – mittlere eine negative Kraft ausgeht?
Charaktere waren. Helden fin- Nein, müssen wir nicht, weil
den wir selten. wir als demokratisches Ge-
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA

SPIEGEL: Niemand hat Kopf ge- meinwesen stark genug sind,


zwungen, sich an Arisierungen das auszuhalten. Wenn hinge-
zu beteiligen. gen jetzt eine Hindenburg-Par-
Sabrow: In einem gewissen tei käme und eine Straße nach
Maße stimmt das, in einem an- ihm benennen wollte, wäre das
deren auch wieder nicht. Die natürlich etwas anderes.
Menschen sind nicht völlig frei Straßenschild in Hannover: „Billige Reinigung“ SPIEGEL: Kiel hat im Januar
in ihren Entscheidungen. Wie entschieden, dem dortigen
sagte Karl Marx: „Die Menschen machen mit rechtfertigen, dass andernfalls die Op- Hindenburgufer einen neuen Namen zu
ihre eigene Geschichte, aber sie machen fer verhöhnt würden. Das ist die derzeit geben.
sie nicht aus freien Stücken unter selbst- dominante politische Kultur. Und dazu Sabrow: In der Tat ist es nicht dasselbe,
gewählten Umständen.“ Und das gilt gehört die Überzeugung, man müsse ob ein Platz in den zwanziger Jahren
auch für Kopf. Er hat nach seiner Abset- Stadtbilder reinigen. nach Hindenburg benannt wurde, als
zung eine Vermögensverwaltung gegrün- SPIEGEL: Was Sie nicht richtig finden? Hindenburg Reichspräsident war, oder
det, heute würde man sagen, unglück- Sabrow: Ich finde es interessanter und ob – wie in Kiel – das Hindenburgufer
seligerweise, aber er hat es getan – ohne auch ehrlicher, sich mit den Traditions- auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1933
zu wissen, was dadurch auf ihn zukom- beständen auseinanderzusetzen, als diese zurückgeht.
men würde. Er hätte später Widerstand zu tilgen. Wir betrieben historischen Ex- SPIEGEL: Was ist mit Straßen oder Plätzen,
leisten müssen, um sich nicht mitschuldig orzismus, wenn wir uns der öffentlichen die nach Antisemiten benannt sind?
zu machen, und dazu war er nicht bereit. Erinnerung an alle Personen entledigten, Sabrow: Nehmen wir die Treitschkestraße
SPIEGEL: Es gibt doch nicht nur mittlere die wir als Belastung des Gemeinwesens in Berlin-Steglitz. Die ist nach dem Tod
Charaktere in dieser Zeit. Was ist mit und unserer Werte begreifen. des Historikers 1896 so benannt worden
Willy Brandt oder Claus Schenk Graf von SPIEGEL: Müssen wir also die Namen von und hat jetzt über hundert Jahre hinweg
Stauffenberg? Nazis im Stadtbild ertragen? Patina angesetzt. Heinrich von Treitschke
Sabrow: Stauffenberg und Brandt verdie- Sabrow: Natürlich hat unser Gemeinwesen schrieb seinen berüchtigten Satz „Die
nen natürlich größten Respekt. Aber auch Anspruch darauf, im Stadtbild nicht von Juden sind unser Unglück“ ohne Wissen
der reine Charakter kann ein Charakter des Holocaust. Treitschke wollte, dass die
sein, dem erst die Umstände erlaubt ha- * Mit Vertriebenenminister Theodor Oberländer 1959. Juden komplett in der christlichen Ge-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 47
Zum Gedenken
Die 50 häufigsten Straßennamen nach historischen Persönlichkeiten
Quelle: strassenkatalog.de; in der Rangliste wurden Bachstraße und Steinstraße nicht berücksichtigt, da die Zuordnung nicht eindeutig ist

Politiker Denker, Philosophen Literaten, Musiker Entdecker, Wissenschaftler, Erfinder sonstige historische Persönlichkeiten
HÄUFIGKEIT
1. Schillerstraße 2231 11. Friedrich-Ebert-Str. 686 21. Mörikestraße 538 31. Robert-Bosch-Str. 434 41. Brahmsstraße 355
2. Goethestraße 2145 12. Kantstraße 663 22. Gerh.-Hauptmann-Str. 530 32. Hermann-Löns-Str. 422 42. Rudolf-Diesel-Str. 348
3. Jahnstraße 1913 13. Pestalozzistraße 660 23. August-Bebel-Str. 528 33. Karl-Marx-Straße 412 43. Adalbert-Stifter-Str. 344
4. Mozartstraße 1443 14. Richard-Wagner-Str. 656 24. Bismarckstraße 520 34. Martin-Luther-Str. 411 44. Otto-Hahn-Straße 344
5. Beethovenstraße 1283 15. Robert-Koch-Str. 626 25. Siemensstraße 502 35. Händelstraße 401 45. Kleiststraße 342
6. Lessingstraße 1173 16. Heinrich-Heine-Str. 611 26. Hölderlinstraße 498 36. Ernst-Thälmann-Str. 395 46. Hindenburgstraße 325
7. Uhlandstraße 1119 17. Gutenbergstraße 601 27. Geschw.-Scholl-Str. 473 37. Röntgenstraße 395 47. Wilhelm-Busch-Str. 308
8. Eichendorffstraße 817 18. Albert-Schweitzer-Str. 578 28. Dieselstraße 448 38. Herderstraße 391 48. Fritz-Reuter-Straße 302
9. Schubertstraße 809 19. Zeppelinstraße 546 29. Daimlerstraße 444 39. Theodor-Heuss-Str. 369 49. Rud.-Breitscheid-Str. 290
10. Kolpingstraße 708 20. Haydnstraße 541 30. Max-Planck-Straße 440 40. Humboldtstraße 366 50. Lortzingstraße 290

sellschaft aufgehen und ihre Kultur auf- eignet hat: Warum sollen wir nicht histo- auf den Weg, der zu uns geführt hat, lasse
geben – was furchtbar genug ist. Aber er rische Figuren daran messen? alles andere weg. Und darin scheint mir
wollte sie nicht umbringen. Das alles fällt Sabrow: Ich bin nicht der Meinung, dass eine Verharmlosung von historischen
weg, wenn wir heute nur auf diesen Satz unsere Wertungen von den Maßstäben Kämpfen zu liegen. Erst die Komplexität
schauen. der jeweiligen Zeit abhängig sein sollten. der Vergangenheit lässt uns ermessen,
SPIEGEL: Immerhin wird Treitschke mit Aber wenn wir den Schatten unseres was es heißt, zu dem zu kommen, was
dem Straßennamen geehrt. Denkens immer schon in die Gegenstän- wir heute sind.
Sabrow: Ich begreife Straßennamen nicht de hineinwerfen, die wir untersuchen SPIEGEL: Und es würden im Stadtbild nur
als heldische Accessoires, sondern sehe wollen, bekommen wir deren Eigenlogik noch Helden abgebildet?
in ihnen vielmehr eine Art Gedächtnis- nicht zu fassen. Sabrow: Oder Opfer. Jedenfalls nur posi-
speicher, der auch Irritationen provozie- SPIEGEL: Es kommt ja nicht nur zu Umbe- tive Figuren oder allenfalls Figuren mit
ren darf. wertungen, weil sich Maßstäbe wandeln, einem Schatten, der so hell ist, dass man
SPIEGEL: Gilt das auch für die Namen von sondern oft liegen neue Informationen ihn auch leicht erträgt.
Schulen? vor. SPIEGEL: Überschätzen Sie nicht die meis-
Sabrow: Auch für Schüler ist es doch inter- Sabrow: Die entscheidende Frage lautet ten Zeitgenossen? Oft wissen die Bewoh-
essanter, die Komplexität der Vergangen- dann: Sind die neuen Informationen so ner einer Straße nur wenig über den
heit am Beispiel des Namenspatrons zu gewichtig, dass sie eine Streichung aus Namensgeber.
diskutieren. Wir erreichen dann mehr, als dem Stadtgedächtnis erfordern? In Berlin Sabrow: Richtig. Geschichte interessiert
wenn wir die Vergangenheit in einen haben wir die Einemstraße, da ist ein nicht jeden, aber sie betrifft alle. Es ist
Spiegel der Gegenwart verwandeln. Schwulenstrich. Sie ist benannt nach ei- im Übrigen seltsam, dass wir hier über
Müssten wir dann nicht auch gegen Mar- nem General des Kaiserreichs, der 1907 Straßennamen sprechen und nicht über
tin-Luther-Krankenhäuser und Theodor- die gesellschaftliche Vernichtung der Gebäude. Überlegen Sie einmal, wie vie-
Fontane-Schulen angehen? Was für eine Homosexuellen gefordert hat. Das war le kontaminierte NS-Gebäude in jeder
Galerie von Antisemiten! bis vor kurzem unbekannt. Jetzt, da es Stadt stehen. Wir haben einen breiten
SPIEGEL: Sind Reinigungskampagnen nicht bekanntgeworden ist, lässt sich dem Bestand an gebauter nationalsozialisti-
legitim? Wunsch des Bezirks nach einer Namens- scher Ideologie, und niemand kommt
Sabrow: Reinigungskampagnen haben änderung nichts entgegensetzen. zum Glück auf die Idee, das abzureißen,
höhere Legitimität, wenn sie nach histo- SPIEGEL: Es ist aus Ihrer Sicht legitim, aber obwohl die Wirkung …
rischen Umbrüchen erfolgen wie etwa Sie würden es trotzdem nicht tun, weil SPIEGEL: ... Sie meinen die Inszenierung
nach 1945 oder 1989. Zäsuren machen da unser historisches Gedächtnis verlo- der Übermacht und die Erniedrigung des
Symbole anstößig, die es vorher nicht rengeht? Einzelnen …
waren. Sabrow: Ja. Wenn ich die Vergangenheit Sabrow: ... Genau, obwohl die Wirkung
SPIEGEL: Wer entscheidet darüber, was an- in ihrer Vielschichtigkeit in eine Spiege- unendlich viel stärker ist als die der Buch-
stößig ist? Wissenschaftler wie Sie? lung unserer Gegenwartsmaßstäbe ver- staben eines Straßennamens. Oder neh-
Sabrow: Nein, das entscheidet die Gesell- wandle, betreibe ich Teleologie. Das men Sie die Reichsautobahnen. Die Fas-
schaft. Als Historiker will ich die Erinne- heißt: Ich reduziere die Vergangenheit zination der grauen Bänder hält bis heute
rungskultur nicht normieren, sondern an. In den vor 1933 entworfenen Bau-
verstehen, was mit uns geschieht, wenn plänen sollten Autobahnen nur die Orte
JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

solche Reinigungskampagnen mitten in A und B auf kürzeste Weise verbinden.


einer Epoche und ohne vorausgehende Das hat man in der NS-Zeit als „jüdische
Zäsur auftreten. Hast“ denunziert und die neuen Strecken
SPIEGEL: Rechtsstaat, Demokratie oder so geplant, dass sie Natur und Landschaft
auch die Bürger- und Menschenrechte besonders intensiv erfahrbar machen.
sind keine Erfindungen der Nachkriegs- Niemand würde heute die Autobahn des-
zeit, nicht einmal des 20. Jahrhunderts. halb in ihrem Lauf verändern wollen, weil
Auch wenn sich in früheren Zeiten meist wir natürlich zu Recht bezweifeln, dass
nur eine Minderheit diese Normen ange- dies uns heute noch mit NS-Propaganda
tränkt.
* Mit den Redakteuren Klaus Wiegrefe und Martin Sabrow (l.) beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Professor Sabrow, wir danken
Doerry in Hamburg. „Helden finden wir selten“ Ihnen für dieses Gespräch.
48 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Deutschland

immer weit mehr Tiere pro Quadratkilo- bruch hatte der Besitzer die teuren Tra-
U M W E LT meter gibt. Elf Wolfspaare oder Rudel mit kehner mit Hilfe der Polizei bereits ein-

Kot in der
bis zu neun Tieren leben nach aktuellen gefangen, als sie erneut scheuten.
Schätzungen im Freistaat, in ganz Deutsch- Der Pferdeexperte Hans-Joachim
land sind es 26. Vor allem Landwirte sind Schwark findet diese Version nachvoll-
mit den Folgen der Einwanderung des ziehbar. Der emeritierte Leipziger Pro-

Kühltruhe grauen Räubers konfrontiert. Seit 2002 ris- fessor für Tierzucht sagt, ein Fluchttier
sen Wölfe in Sachsen 409 Schafe, 20 Zie- reagiere „hochgradig sensibel“ auf einen
gen, 12 Stück Wild in Gehegen, ein Rind Wolf, selbst wenn das Leittier wie in die-
und einen Hund. sem Fall von einer erfahrenen Polizei-
Haben Wölfe einen schweren
Der Pferdeunfall mit den Schwerverletz- reiterin geführt werde.
Unfall in Sachsen verursacht? Die ten verlagert das Problem nun auf die Stra- Bewiesen ist bislang nichts. Gerhards
grauen Räuber, so klagen Jäger, ße. Und als Mitte Januar auch noch der will sein Gutachten nicht an die Behörden
verbreiteten Angst und Schrecken. Verdacht aufkam, ein Wolf könnte einen geben. Er fürchtet, die wolfsfreundlichen
Schäferhund namens Udo in einer Tier- Politiker wollten „das Thema wieder tot-

D
ie Unfallstelle auf der Bundesstra- pension in der Lausitz gemeuchelt haben, reden“. Offizielle Stellen wiederum ha-
ße 6 glich einer Szene aus einem eskalierte der Streit. Die „Mitteldeutsche ben keine Gutachter geschickt. Die Wolfs-
Horrorfilm: überall Glassplitter Zeitung“ berichtete ausführlich, der Um- expertin Gesa Kluth, die ein Wildbiolo-
und Autoteile, dazwischen aufgerissene, weltminister nahm in der „Sächsischen gisches Büro in der Lausitz betreibt, sagt,
blutverschmierte Tierleiber. Die Helfer Zeitung“ die Wölfe in Schutz. Gerhards sei ihr als Experte noch nie be-
vor Ort zählten sieben tote Pferde. Zwei Das vom Gesetz streng geschützte Tier gegnet. Wolfsspuren würden aber leicht
schwerverletzte Autofahrer kamen ins hat vor allem den Menschen zu fürchten. mit denen von Hunden verwechselt. „Der-
Krankenhaus. Die beiden Unfallwagen 30 Tiere starben seit 2000 in Sachsen zeit gibt es keine belastbaren Belege, dass
waren reif für die Schrottpresse. bei Verkehrsunfällen. Fünf Wölfe wurden der Wolf tatsächlich in der Unfallregion
Der Crash, der im Dezember die
Hauptverkehrsader zwischen Meißen und
Riesa blockierte, schockierte nicht nur
die Hilfskräfte vor Ort. Jäger sind über-
zeugt, dass es Wölfe waren, die die Pferde
in Panik versetzten. Die Tiere waren von
einer Koppel geflüchtet und standen dicht
gedrängt auf der B 6, als aus beiden Rich-
tungen Autos mit hoher Geschwindigkeit
in die Herde rasten.
Seit sich vor mehr als zehn Jahren erst-
mals wieder Wölfe in Sachsen ansiedel-
ten, streiten Naturschützer mit Jägern

BAYERISCHES LANDESAMT FÜR UMWELT / DPA


und Bauern: Die einen freuen sich, dass
ein von Mythen umranktes Wildtier in
Deutschland erneut heimisch geworden
ist, die anderen halten die Wolfsfreunde
für Spinner und fürchten, dass das Raub-
tier zuhauf Schafe und Rehe reißt. Weil
Canis lupus inzwischen nicht nur in der
dünnbesiedelten Lausitz unterwegs ist,
sondern sich den Städten nähert, entzün-
det sich der Konflikt um die Tiere neu. Fotofallen-Bild eines Wolfs im fränkischen Fichtelgebirge: Gehetzt und überfahren
Der Innenminister bekam bereits Post
vom Kreisjagdverband Meißen. „Brand- illegal getötet. Bei Driewitz in der Lausitz unterwegs ist“, sagt Kluth. Ausschließen
brief“ steht über dem Papier. Die Jäger hetzten Unbekannte einen Wolf auf könne sie es aber auch nicht.
beklagen darin, dass Sachsen „weltweit einem eingezäunten Waldweg mit dem Der Naturschutzverband WWF hat
die größte Wolfsdichte“ habe – „Tendenz Auto und überfuhren ihn dann. Am 10 000 Euro Belohnung für die Ergreifung
steigend“. Nun sei ihnen bange, nicht nur 13. Dezember 2013, drei Tage nach dem des Welpenwilderers von Lohsa ausge-
wegen der öffentlichen Sicherheit: Im Unfall auf der B 6, sank ein Welpe bei setzt und fordert Sondereinheiten zur Auf-
Raum Meißen lauerten neuerdings „nie Lohsa mit 31 Schrotkugeln im Leib zu klärung des Verbrechens. Normale Polizei-
zuvor dagewesene Großrotten“ von bis Boden. dienststellen seien damit überfordert.
zu 40 Wildschweinen. Der Unfall bietet den Wolfsgegnern Immerhin konnten Labors in Gelnhau-
Die Tiere würden sich aus Angst vor neue Argumente. Ihr Kronzeuge ist sen und Berlin inzwischen mit geneti-
Wölfen zusammenschließen und dann Wernher Gerhards, ein Mann, der sich schen Untersuchungen den Tod von Schä-
riesige Schäden anrichten. Gleichzeitig selbst als Wissenschaftsjournalist bezeich- ferhund Udo aufklären. Nicht der Isegrim
verschwänden einheimische Rebhühner, net. Er hat ein „Beweissicherungsgutach- hatte sich offenbar in die Pension geschli-
Fasane, Feldhasen, Wildkaninchen, Wald- ten“ zu dem Unglück verfasst. Er glaubt, chen, sondern der Hund von nebenan.
ohreulen und selbst die Feldlerche – Wölfe hätten die Pferde von der Koppel Udo wurde wohl von der Dogge „Honey“
verspeist von Wölfen und anderen Raub- auf die Straße getrieben. An drei Stellen ins Jenseits befördert. STEFFEN WINTER
tieren. Es müsse etwas passieren, warnen will er Wolfsspuren gefunden haben, zu-
die Waidmänner, sonst werde die Angst dem Wolfskot, der eingefroren in seiner Video: Die Angst
„zum ungewollten Lebensalltag“. Kühltruhe lagert. Nach seiner Theorie vor dem Wolf
Tatsächlich ist Sachsen heute Wolfsland, sind die Pferde zweimal vom Wolf aufge- spiegel.de/app62014wolfsstreit
auch wenn es in Polen oder den USA noch schreckt worden. Nach dem ersten Aus- oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 49
Szene

Was war da los,


Herr Morais?
Eron Morais de Melo, 32, Zahntechniker
in Brasilien, über Superkräfte: „Wenn ich
als Eron Morais auf eine Demonstra-
tion gehe, nimmt mich keiner wahr –
deshalb verkleide ich mich als Bat-
man. So kann ich viel wirkungsvoller
Korruption und Misswirtschaft an-
prangern. Als ich an diesem Tag in
die Favela do Metrô kam, applaudier-
ten die Leute, die Kinder waren na-
türlich besonders begeistert. Für sie
verkörpere ich Hoffnung. Batman
kann die Probleme Brasiliens nicht lö-
sen, aber Aufmerksamkeit erregen,
das Bewusstsein der Leute stärken
und sie zum Demonstrieren bewegen.
Normalerweise stelle ich Kronen und
künstliche Gebisse her. Letzten Som-
mer, während der ersten großen Demo
gegen Korruption und Misswirtschaft
bei der Fußball-WM, bin ich zum ers-
ten Mal verkleidet aufgetreten. Ich
habe Batman ausgewählt, weil er ein
GETTY IMAGES

Mensch ist, er hat keine Superkräfte.


Und er gibt nie auf, das ist auch eine
Eigenschaft der Brasilianer.“ Morais

Warum lieben die Deutschen „Quizduell“, Herr Willstedt?


Robert Willstedt, 31, ehemaliger Lehrer sechs Runden mit drei Fragen aus 20 ver- Funktion beschimpfen. Durch das di-
aus Schweden, entwickelte mit schiedenen Kategorien. Wer die meisten rekte Messen mit einem unsichtbaren,
seinem Bruder und zwei Freunden das richtig beantwortet, gewinnt. Das ist ja virtuellen Gegner wird der Ehrgeiz ex-
zurzeit erfolgreichste Quizspiel der jetzt nicht gerade sehr originell. trem angestachelt. Die Dynamik funk-
Welt. Die App hat 15 Millionen Nutzer. Willstedt: Wir haben das Spiel absicht- tioniert wie bei einem Shitstorm im
lich sehr einfach gehalten. Wir wollten Internet – nur zum Positiven gewendet.
SPIEGEL: Herr Willstedt, wo befindet nicht mit unnötigem Firlefanz davon SPIEGEL: Ihr Spiel ist in 13 Ländern
sich der Musculus rhomboideus major? ablenken, worum es beim Spielen verfügbar und im deutschsprachigen
Willstedt: Im Arm. eigentlich geht – dem Gegner zu zeigen, Raum mit rund neun Millionen
SPIEGEL: Nein. was man draufhat. Nutzern am erfolgreichsten. Wieso?
Willstedt: Im Rücken! SPIEGEL: Erfolgreiche Com- Willstedt: Ich glaube, bei Ihnen wohnen
SPIEGEL: Haben Sie jetzt puterspiele sind in der einfach die meisten Klugscheißer.
nachgeschaut? Regel sehr komplex. Seh- SPIEGEL: Wenn man einmal mit Ihrem
Willstedt: Auf keinen Fall. nen wir uns zurück nach Spiel begonnen hat, möchte man
Ich habe ja 5000 unserer dem Niveau von Quiz- natürlich immer besser werden. Haben
25 000 Fragen selbst ge- sendungen aus den achtzi- Sie einen Tipp?
schrieben und die verrück- ger Jahren? Willstedt: Schauen Sie sich den Avatar
testen Bücher zu allen Willstedt: Wir waren von des Gegners an, und versuchen Sie,
möglichen Themen gelesen. dem Erfolg selbst über- sich eine Person dahinter vorzustellen.
Auch die Fragen meiner rascht. Das Spiel ist Ist sie alt oder jung? Frau oder Mann?
Kollegen und jene, die uns schnell, unmittelbar und in- Überlegen Sie sich, in welchem
die Nutzer schicken, habe telligent. Es passt sich un- Bereich diese Person keine Ahnung
ich zumindest gesehen. seren neuen sozialen Reali- haben könnte. Schaffen Sie sich einen
SPIEGEL: Bei „Quizduell“ täten an. Man kann mit Avatar, der ganz anders ist als
kann man seine Gegner mit jedem spielen, der Internet- Sie selbst. Legen Sie sich einen Bart
dem Smartphone herausfor- zugang hat, und sich zu, wenn Sie eine junge Frau
dern. Jedes Duell besteht aus gleichzeitig über eine Chat- sind. Bleiben Sie unberechenbar.
52 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Gesellschaft

Vinicio, der Aussätzige


EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Wie der Papst einen schwerkranken Italiener glücklich machte

S
ie standen sich gegenüber an ei- zu jenem Tag im November, als Riva Rivas Wohnzimmerschrank steht es vor
nem wolkenlosen Mittwoch im Franziskus begegnete, wurde ihm das fast allen anderen: Auf diesem Foto legt Fran-
November, zwei Männer vor dem immer verwehrt. ziskus seine Hände in Rivas Nacken, dort-
Petersdom in Rom: ein Hirte und sein Die meiste Zeit versteckte er sich, er hin, wo so viele Warzen wachsen, dass sie
Jünger. mied die Menschen, weil er davon über- Falten werfen. Ein wenig sieht es aus, als
Der eine in weißer Soutane, an den Fü- zeugt war, dass sie ihn meiden wollen. würde der Papst Riva kraulen. „Er konnte
ßen derbe Straßenschuhe. Gerade war er Selbst sein Vater fand nie die Kraft, ihn nicht wissen, dass meine Krankheit gene-
vom Papamobil herabgestiegen, in das in den Arm zu nehmen. tisch ist und nicht ansteckend“, sagt Riva,
sie ihm Kinder gereicht hatten, damit er An diesem Mittwoch ging Papst Fran- und seine Stimme bricht noch heute, wenn
sie küsste. ziskus auf den Mann im Rollstuhl zu. er von diesem Moment erzählt. „Dieser
Der andere saß im Rollstuhl, Papst liebt die Menschen, er hat
er ermüdet leicht. Helfer hatten einfach keine Berührungsängste.“
ihn in die erste Reihe geschoben, Im Neuen Testament gibt es
gleich würde die wöchentliche eine Stelle, an die Rivas Ge-
Generalaudienz des Papstes be- schichte erinnert: Jesus Christus
ginnen. Sein Herz schlug schnel- begegnet einem Aussätzigen, je-
ler jetzt. Er spürte, wie ihn die mandem, der außerhalb der Ge-
anderen Pilger anstarrten. Alle meinschaft lebt, und berührt ihn,
Menschen, die diesem Mann be- so beschreibt es der Evangelist
gegnen, starren ihn an. Und das, Markus: Und es jammerte Jesus,
seit er 14 Jahre alt war. und er streckte seine Hand aus,
Vinicio Riva, inzwischen 53, rührte ihn an. Und sogleich wich
ist der Warzenmann aus Vicenza. der Aussatz von ihm, und der
Sein Gesicht ist über und über Mann wurde rein.
CHRIS WARDE-JONES

mit Wucherungen bedeckt, aus Die Geste des Papstes, sagt


denen dunkle, borstige Haar- Riva, habe für ihn alles verän-
büschel sprießen. Bis auf den Na- dert. Sein Leben sei jetzt anders
senrücken und die linke Schläfe als zuvor. Riva sitzt im sonnen-
gibt es keinen Körperteil, der Riva mit Tante Caterina durchfluteten Wohnzimmer in
nicht befallen ist. Und es vergeht einem Dorf bei Vicenza in der
keine Nacht, in der Riva nicht Po-Ebene, seit der Rom-Reise
die juckenden Geschwülste auf- sind zwei Monate vergangen.
kratzt und im blutigen Bettlaken Seine Tante Caterina sitzt ne-
erwacht. Früher nannte man Men- ben ihm, sie hatte ihn in den Va-
schen wie ihn Aussätzige. tikan begleitet. Sie sollten nicht
Riva wurde mit der unheilba- wie sonst auf Wallfahrt nach
ren Erbkrankheit Neurofibroma- Lourdes fahren, hatte sie gesagt,
tose geboren, nach ihrem deut- sondern den neuen Papst in Rom
schen Entdecker auch Morbus besuchen. „Alle loben seine
Recklinghausen genannt. Barmherzigkeit“, sagt Caterina,
Riva hat die Krankheit von Aus der „B. Z.“ 86, eine rundliche, herzensgute
seiner Mutter geerbt, wie auch Frau mit rotlackierten Finger-
seine Schwester, eine stattliche nägeln. „Wir wollten das über-
Frau mit Dutt und strenger Bril- prüfen.“ Riva sagt: „Dieser Mo-
le. Bei ihr kamen die Warzen mit den Wusste er, dass Riva auf ihn wartete? Ihre ment war wie fliegen. So stelle ich mir
Wechseljahren. Begegnung war keine Inszenierung, ver- das Paradies vor.“ Seine Stimme ist krat-
Bei Vinicio Riva begann die Krankheit sichert Riva; er selbst habe am Morgen zig und rau, er wurde oft operiert, zuletzt
mit der Pubertät. Eine Freundin hatte er nicht gewusst, ob er es auf den Peters- an der Speiseröhre. Er reicht den Parme-
nie. Mit dreißig wurden ihm ein paar der platz schaffen würde. sankäse. Seine Schwester hat Pasta mit
hartnäckigsten Geschwüre, die nach innen Dann ging alles schnell. „Sua Sanità“ Pilzen gekocht, seit seiner Rom-Reise ha-
gewuchert waren, entfernt. Die Operation wollte Riva sagen, Eure Heiligkeit, aber ben sie plötzlich viel Besuch.
dauerte mehrere Stunden, keiner der Ärzte dazu kam er nicht. Auch der Papst sprach Vinicio Riva ist in die Gemeinschaft
glaubte, dass Riva überleben würde. kein Wort. Er beugte sich hinunter, suchte der Menschen zurückgekehrt. Er lächelt
Riva hat irgendwann gelernt, mit den Rivas Augen im Warzengesicht, fand sie, stolz. Im Altersheim, wo er jobbt, gebe
Warzen zu leben. Er nennt die Geschwü- nickte kurz, zog dann Rivas Kopf an seine es eine Schwester, sagt er, mit der er oft
re „meine Gnocchi“, nach seiner Lieb- Brust und wiegte ihn minutenlang. schäkere. Weihnachten hat er seinen Va-
lingsspeise. Wie alle Menschen sehnt er Es gibt ein Foto von dieser Geste, Zei- ter gesehen. Sie haben geredet. Und dann
sich nach Berührung und Zärtlichkeit. Bis tungen in aller Welt druckten es nach, in hat ihn sein Vater umarmt. FIONA EHLERS
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 53
Gesellschaft

Statuen von Kim Il Sung, Kim Jong Il in Pjöngjang


DAVID GUTTENFELDER / DPA

EXPEDITIONEN

Kein schöner Land


Der Hamburger Jochen Szech will deutsche Touristen nach Nordkorea bringen.
Gemeinsam mit einer Gruppe von Reiseunternehmern hat er sich in der letzten
stalinistischen Diktatur nach Ausflugsmöglichkeiten umgesehen. Von Guido Mingels

J
ochen Szech ist der Chef, und er sagt: Um Szech herum, müde auf ihre Koffer ob man den „dunklen Stern Asiens“
„Die Kunden wollen jetzt Nordkorea gestützt, sind ein Dutzend Leute versam- (Lonely Planet) künftig ins Programm auf-
sehen, solange es noch existiert.“ Ein- melt, Szechs Verbündete auf diesem Völ- nehmen kann. Ob man geschäftliche Ban-
mal noch dem Monster begegnen. Szech kerverständigungstrip, deutsche Touris- de knüpfen soll nach Pjöngjang.
hat die Sowjetunion gesehen, er hat die musunternehmer, wie er selbst. Da ist Sigi Nicht alle in der Gruppe sind Touristi-
DDR gesehen, er hat Kuba gesehen, „als Müller, Chef von „Kiwi Tours“, München, ker. Es gibt eine mitgereiste Ehefrau, es
es noch Kuba war“. Er steht am Flughafen und Sebastian Plötzgen, „Iteru Travel“, gibt einen Kameramann, der nach Bil-
von Peking, eine Mütze mit der Aufschrift spezialisiert auf den Nahen Osten und dern sucht, es gibt einen Hotelbesitzer
„Tirol“ auf dem Kopf. Szech, 51, mit blass- Ägypten. Da ist Sabine Roehrs von „Chili aus Celle, der mal was anderes erleben
blauen Augen und von konsequenter Reisen – Entdecke die Welt“ und Elisa- will. Und es gibt einen schlechtgetarnten
Fröhlichkeit, ist überzeugt, dass das Nord- beth Heidrich von „Lernidee Erlebnisrei- SPIEGEL-Reporter, der die Gelegenheit
korea, wie wir es kennen, verschwinden sen“, Berlin. Szech, Geschäftsführer des nutzt, das verschlossene Land mit den
wird. Er illustriert das, indem er Luft in Hamburger Reisebüros „Go East“ und Augen von Reiseveranstaltern zu sehen.
seine Backen bläst und diese plötzlich Vizepräsident der deutschen „Allianz
entweichen lässt. Plopp. Nicht morgen, selbständiger Reiseunternehmen“, hat in Ihr Reiseprogramm. Tag 1: Ankunft Pjöng-
nicht übermorgen, aber irgendwann, bald. Branchenblättern zu einer Erkundungs- jang 17.00 Air Koryo JS 252 – Treffen mit
Auf der Anzeigetafel, bei den Abflü- tour in die Demokratische Volksrepublik den Guides – Fahrt zum Thermalbad
gen, steht: Pjöngjang, 14.05 Uhr. Korea aufgerufen. Man will herausfinden, Ryonggang – Übernachtung
54 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Das Flugzeug, „eine Tupolew Tu-204“, auf, viele barfuß. Selbst wenn sie Autos Tourismus, der „auf Dauer jedes Regime
wie der Reiseprofi Szech sofort feststellt, hätten, dürften sie die Autobahn nicht be- aufweicht“, wie er sagt. Er denkt an Bur-
ist ausgebucht und voller gutgelaunter nutzen, Nordkoreaner brauchen Passier- ma. Er denkt an Kuba, wo die badenden
Touristen. Nur zu dieser Zeit ist an drei scheine, um die eigene Stadt zu verlassen. Pauschaltouristen in Varadero womöglich
Abenden pro Woche die Massengymnas- Sie dürfen nicht reisen, auch nicht im ei- dem Kapitalismus eine Bresche schlugen.
tikschau Arirang zu sehen, ein Spektakel genen Land. So betrachtet wären die touristischen Son-
mit 100 000 Darstellern. Eine Militärpara- Die Gruppe wird in einem Thermal- derzonen, die Nordkorea schaffen will,
de zur Feier des 65. Jahrestages der hotel untergebracht, in dem es keinen die Keimzellen seiner Selbstauflösung. In
Staatsgründung steht bevor. Etwa 6000 Pool gibt. Verstreute Häuser in einem Bir- Szechs Kopf gibt es die Idee, eine Drei-
westliche Touristen kommen derzeit pro kenwald. Eine Kröte hüpft in die Lobby. Diktaturen-Tour zu vermarkten, eine ge-
Jahr nach Nordkorea, dazu etwa zehnmal führte Gruppenreise durch Russland,
so viele Chinesen. In Deutschland geht Tag 2: Besuch des imposanten Westsee- Nordkorea und China, gern per Sonder-
das Jahr 2013 seinem Ende entgegen, in Staudamms – Mineralwasserfabrik Kang- zug. Er würde das „Diktatour“ nennen.
Nordkorea schreibt man das Jahr Juche so – Chongsanri-Bauernkooperative – Bald sehen Szech und seine Leute
102, nach einem Kalender, der einsetzt Unterkunft im Hotel Yanggakdo Nordkorea zum ersten Mal bei Tageslicht.
mit der Geburt des Großen Führers Kim Die Fachleute am Frühstückstisch sind Schriftzüge stehen auf Steintafeln in der
Il Sung, Vater des Geliebten Führers Kim sich einig: Das Land hat Potential. Wenn Landschaft, „Wir gehorchen der Partei“,
Jong Il, Großvater des Obersten Führers auch nur als Nische, natürlich. Die Runde „Unsere Methode ist eine gute Methode“.
Kim Jong Un. Das ist der Junge, der Bas- besteht aus Vertretern kleiner, auf Grup- „Ermunterungen“ für das Volk nennt das
ketball und Atombomben liebt. pen- und Studienreisen spezialisierter Frau Ri. Zu Hunderten ziehen Arbeite-
„Meine lieben deutschen Freunde, will- Anbieter, davon gibt es Hunderte in rinnen und Arbeiter über die braunen
kommen in der Demokratischen Volks- Deutschland. Sie organisieren Trips nach Felder. Keine einzige Landmaschine ist
republik Korea.“ Frau Ri, die Reiseleiterin Turkmenistan oder Bhutan, sie chartern zu sehen, Agrarwirtschaft aus dem
der Reiseleiter, nimmt die Gruppe in Sonderzüge nach Sibirien, sie sind Erobe- 19. Jahrhundert. Bei den Hungersnöten
Empfang. Sie spricht ein strenges, nahezu rer, die dem Tourismus neues Terrain er- in den Neunzigern kamen viele hundert-
perfektes Deutsch. Die wenigen Fehler, tausend Nordkoreaner ums Leben.
die sie macht, haben Charme. „Darf ich Man darf fotografieren, das ist neu, lan-
Sie zur Toilette verführen?“, wird sie spä- ge Zeit fuhren Touristenbusse mit ge-
ter einmal fragen. Nordkorea kann man schlossenen Vorhängen übers Land. Doch
nur in geführten Gruppen besuchen. Frau weil Touristen nur Ausschnitte vorgeführt
Ri wird die Aufpasserin sein, wird das werden, die dem Regime genehm sind,
Gesicht und die Stimme Nordkoreas für ist die erblickte Realität nie repräsentativ.
die Deutschen sein. Man kann unter Jochen Szechs Leuten
Im Reisebus, der durch die Nacht fährt, zwei Arten der Wahrnehmung unter-
spricht Frau Ri ins Mikrofon, dass die scheiden, zwei Arten, aus dem Busfenster
ANDREAS TAUBERT / DER SPIEGEL

Partei der Arbeit unter dem Vorsitz ihres zu schauen. Einige haben diesen konstan-
Ersten Sekretärs Kim Jong Un beschlos- ten Röntgenblick, der immer enttarnen
sen habe, den Tourismus im Land tatkräf- will, was sich ihm darbietet, der stets nur
tig auszubauen. Laut nordkoreanischer das Böse sehen will. Andere wiederum,
Theorie ist dieses Land, mit seinen 24 Mil- vielleicht aus professioneller Höflichkeit,
lionen Einwohnern, das schönste und bes- zeigen eine erstaunlich hohe Bereitschaft,
te der Welt. Der Bus fährt an einem Tri- den errichteten Fassaden Glauben zu
umphbogen vorbei, der, so Frau Ri, „elf Reiseanbieter Szech schenken, auf das Gute zu vertrauen. Bei-
Meter höher“ sei als der in Paris. Idee einer Drei-Diktaturen-Tour des endet in Blindheit.
100 000 Betten will Nordkorea in den Acht Kilometer lang, sagt Frau Ri, sei
kommenden Jahren für Urlauber bereit- schließen. „Es gibt erstaunlich viele Län- der Staudamm, über den der Bus gerade
stellen. Vier Ausflugsregionen sollen als dersammler“, sagt Jochen Szech, „die fahre, und er trenne die Mündung des
Sonderzonen ausgebaut werden, visafrei wollen einfach überall gewesen sein.“ Taedong-Flusses vom offenen Meer,
für Touristen: das Kumgang-Gebirge an Der Mythos vom abgeschotteten Nord- 30 000 Soldaten hätten an dem Bau mit-
der Grenze zu Südkorea, die Hafenstadt korea ziehe viele an. Nicht unbedingt gewirkt. Frau Ri mag Zahlen, solange sie
Wonsan im Osten, der Vulkan Paektusan Abenteurer, auch keine Backpacker, für nichts aussagen. Es gibt auch Zahlen, die
im Norden und die Chilbo-Berge im Nord- die ist es zu teuer. Eher die Bildungshung- sie nicht nennt. 15 bis 40: Um ungefähr
osten. Skigebiete und Beachresorts sind rigen, Vielgereisten, An-Land-und-Ge- diesen Faktor liegt das Pro-Kopf-Einkom-
im Bau oder geplant. In zehn Jahren schichte-Interessierten. men in Südkorea höher als im Norden.
möchte Nordkorea drei Millionen Touris- Szech, in Flensburg aufgewachsen, 20 Prozent: So viel beträgt der Anteil an
ten pro Jahr empfangen. machte sich mit 20 per Anhalter auf nach nordkoreanischen Männern zwischen 17
Die Autobahn ist acht Spuren breit und Asien. Ein halbes Jahr lang abenteuerte und 54 Jahren, die der Armee dienen und
vollkommen leer. Frau Ri sagt, sie sei für er in den frühen Achtzigern durch die das Land zum wohl höchstmilitarisierten
die Zukunft gebaut. Welche Zukunft? Türkei der Militärdiktatur, durch den Iran der Welt machen. 80 000 bis 130 000: Das
Wird das Regime noch auf Jahrzehnte be- Chomeinis, durch Pakistan, Indien, er ver- ist die Spanne der Schätzungen zur Zahl
stehen? Kann eine Wiedervereinigung fiel dem Osten. Erst jobbte er für TUI als der nordkoreanischen Insassen von
mit dem Süden je glücken? Wird das Reiseleiter im Polen des Generals Jaru- Zwangsarbeits- und Umerziehungslagern,
Land den Weg Chinas gehen, sich nach zelski, dann ging er mitten im Kalten die offiziell nicht existieren.
und nach öffnen für eine kommunistische Krieg zum Russischstudium nach Moskau Als wir über die Chongsanri-Bauern-
Marktwirtschaft? Oder kommt es zum und gründete 1989, am Vorabend der kooperative schlendern, einen Muster-
Aufstand, zum Krieg, der auf andere Staa- Wende, das Reisebüro Go East. Slogan: betrieb mit tausend Bewohnern, hat
ten übergreift? Im Osten geht die Sonne auf. Jochen Szech ein paar Ideen. „Hier könnte
Auf der Gegenfahrbahn tauchen Fuß- Szech glaubt an die heilbringende, zi- man wunderbar ein Bauernfrühstück für
gänger oder Radfahrer aus dem Dunkel vilisierende, gleichmacherische Kraft des Reisegruppen veranstalten“, sagt er. „Lasst
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 55
Gesellschaft

doch die Besucher bei der Obsternte mit- Pjöngjang wirkt nicht wie eine reale Aber es ist tatsächlich Revolution in
machen, das geht in israelischen Kibbuzim Stadt, eher wie das überdimensionale Ägypten. Und der nordkoreanische Gu-
auch.“ Frau Ri sagt, sie werde diese Vor- Modell einer Stadt, wie ein exzentrischer lag existiert wirklich. Die „Washington
schläge an ihre Vorgesetzten weiterleiten. Vorschlag bei einem Architekturwett- Post“ stellte unlängst einen historischen
Was es bereits gibt, sind geführte Fahrrad- bewerb, entworfen von einem Wahnsinni- Vergleich an. Es gehöre zu den großen
touren über Land. Und einen Wasserver- gen und nur irrtümlich verwirklicht. Fragen des Zweiten Weltkriegs, so der
gnügungspark in Pjöngjang. Hunderte graue, riesige, gleichartige, qua- Autor, warum die Alliierten so lange von
Auf dem Spielplatz der Grundschule derförmige Wohnblöcke. Rechtwinklig Auschwitz wussten, ohne etwas dagegen
der Kooperative steht eine Panzerattrap- zueinander stehend in die Ebene gesetzt zu tun. „Historiker der Zukunft werden
pe als Klettergerät. In seinem Buch „The wie Legosteine auf ein Steckbrett. Dazwi- sich“ – bezüglich Nordkorea – „erneut
Real North Korea“ gibt Andrei Lankov, schengestreut große freie Plätze und ein wundern, wie die Welt so viel wissen
russischer Nordkorea-Experte an der gutes Dutzend gigantische Monumente konnte und so wenig tat.“
Kookmin-Universität in Seoul, ein Bei- zu Ehren des Systems. Sigi Müller sagt: Und Touristen müssen sich fragen: Darf
spiel für eine Rechenaufgabe aus einem „Die mögen hier gern große Sachen.“ man so viel wissen über Nordkorea und
nordkoreanischen Schulbuch. „Während Pjöngjang ist ein einziges Denkmal, „bitte trotzdem hinfahren? Andrei Lankov, der
des Vaterländischen Befreiungskrieges tö- nicht anfassen“, sagt Frau Ri oft, und die Nordkorea-Experte in Seoul, hat eine ein-
teten die tapferen Soldaten der Koreani- Bewohner, zweieinhalb Millionen, wir- deutige Antwort: ja. Wer aus moralischen
schen Volksarmee in einer Schlacht 374 ken immer irgendwie störend. Die Stadt Gründen nicht nach Nordkorea reisen
imperialistische amerikanische Bastarde. ist nicht für sie gemacht. wolle, so Lankov, „müsste sich konse-
Die Anzahl der Gefangenen war um 133 Sie anzuschauen, die Menschen von quenterweise von einer ganzen Reihe von
höher als die Zahl getöteter amerikani- Nordkorea, ist die Hauptbeschäftigung Ländern fernhalten, etwa China, Russ-
scher Imperialisten-Schweine. Wie viele des Touristen. Man beobachtet ihr Ver- land, Ägypten, Vietnam oder Thailand“.
Bastarde wurden gefangen genommen?“ halten, als führe man durch einen Men- Lankov hält jeden Touristen in Nordkorea
Sigi Müller, Gründer von Kiwi Tours, schenzoo. Chinesische Touristen sind in „für einen Teil der Lösung, nicht für einen
ist mit 18 Jahren allein aus der DDR ab- Nordkorea durch ihre Neigung aufgefal- Teil des Problems“.
gehauen. Eine jüngere Teilnehmerin der len, kleinen Kindern ungefragt Süßigkei- Dann ragen aus dem Boden zwei riesi-
Reise ist ebenfalls in Ostdeutschland auf- ten hinzuwerfen. Wie beim Entenfüttern. ge goldene Zwerge. Szech und seine Leu-
gewachsen. Wenn die anderen, die West- Überall sieht man die Zeichen des Auf- te stehen vor dem Großmonument Man-
deutschen im Reisebus, die ungläubig auf bruchs, der Öffnung, der wachsenden In- sudae, das an den koreanischen Partisa-
die sozialistischen Szenen vor den Fens- dividualität. Die Nordkoreaner gehen zu nenkampf gegen die japanischen Besatzer
tern starren, auf die baufälligen Platten- Hunderten auf den breiten Gehsteigen erinnert. Kim Il Sung und Kim Jong Il, in
bauten und die uniformierten Pioniere und tragen erstaunlich variantenreiche, Bronze gegossen, wirken trotz 20 Meter
im Gänsemarsch, wenn die sie also fragen, bunte Kleidung, billig aus China impor- Höhe seltsam klein und gedrungen. Tou-
„sag mal, war das bei euch im Osten auch tiert. Viele sprechen und tippen in ihre risten, die hierhin geführt werden, also
so?“ – das kann sie nicht leiden. Viel- Handys, mit denen sie allerdings nicht alle, werden von ihren Reiseleitern auf-
leicht, weil alles ganz anders war. Viel- ins Ausland telefonieren können. Sie be- gefordert, sich vor den beiden Diktatoren
leicht, weil vieles ganz ähnlich war. treiben kleine Shops an Straßenecken, zu verbeugen, und die meisten, leicht er-
Die Korean International Travel Com- wo es Brot, Getränke und Zigaretten gibt. ziehbar, tun das auch tatsächlich. Auch
pany hat ein Mittagessen vorbereitet am Viele Frauen haben Kurzhaarfrisuren, Szechs Truppe. Unter den westlichen Be-
Fuß des Berges Ryongak. Hier ist ein nach dem Vorbild der Gattin des Führers. suchern Nordkoreas ist ein erstaunliches
Park, durch den sich ein steinerner Dra- Der Tourist weiß zwar, dass er nicht die Maß an Biegsamkeit zu beobachten. Man
che windet. Gruppen von Nordkoreanern Wahrheit sieht, dass Pjöngjang der Wohn- lässt sich protestlos abends im Hotel ein-
sitzen um Feuerstellen, manche haben ort der Privilegierten dieser Gesellschaft sperren, lässt sich herumkommandieren,
Lautsprecher und Mikrofon mitgebracht ist, dass es auf dem Lande, dort, wo man hält sich an die Regeln, zeigt sich gefügig.
und singen Karaoke. Sie lachen den Be- als Tourist nicht hinkommt, ganz anders Eine Reise nach Nordkorea bringt den
suchern zu, diesen ganz und gar Fremden, aussieht. Nordkoreaner in jedem hervor.
und wenn die Deutschen jetzt Koreanisch
sprächen oder die Einheimischen Eng- Chinesen werfen kleinen Kindern ungefragt
lisch, dann könnten sie miteinander re-
den, die Nordkoreaner könnten erzählen Süßigkeiten hin. Wie beim Entenfüttern.
von ihrem wunschlosen Unglück.
Es gibt Hühnchen und Schwein, dazu Dennoch. Es ist wieder so ein Moment, Tag 4: Kumsusan-Palast – Fahrt nach Kae-
Ginkgo mit Datteln und leider auch Kim- da Zweifel aufkommen bei den Touristi- song – Souvenirladen (Briefmarken kau-
chi: fermentierten Kohl. Eine Handorgel- kern. Zweifel daran, dass die Horrormel- fen) – Königsgrab von Wanggon – Ge-
spielerin und eine Sängerin erscheinen dungen über Nordkorea, die ihnen zu meinsames Reisfladenschlagen
und spielen koreanisches Liedgut, alle Hause in den Medien geboten werden, Pjöngjang hat keine Sehenswürdigkeiten
müssen tanzen. Bald intoniert das Duo wahr sein können: Armut, Arbeitslager, im Wortsinn, nichts, was es hier gibt,
die Internationale, das Kampflied aller Folter, Exekutionen. Vor den Fenstern muss man gesehen haben, alles ist nur
Sozialisten. Völker, hört die Signale, auf zieht ein funktionierendes, sattes Pjöng- pompös und banal. Der Reiz dieses Orts
zum letzten Gefecht, die Internationale jang vorbei, und Jochen Szech sagt den für den westlichen Touristen entspringt
erkämpft das Menschenrecht. Für eine Satz: „Da seht ihr, dass man nicht alles den Dingen, die fehlen. Keine Marktwirt-
Minute fühlt es sich an, als gäbe es für glauben darf, was in der Zeitung steht.“ schaft – keine Reklame. Keine Plakate,
alle ein gemeinsames Ziel. Sie sind Tourismusunternehmer, sie keine blinkenden Neonschriften. Die
mögen keine geschäftsschädigende Be- Abwesenheit des kapitalistischen Markt-
Tag 3: Monument Mansudae – Kim-Il- richterstattung. Nach Ägypten, wo angeb- geschreis führt zu einer großen, dunklen,
Sung-Platz – Pjöngjang Metro – Daesong lich Revolution ist, wolle kaum mehr je- verführerischen Ruhe. Hinzu kommt die
Oberschule „9. Juni“, Schülerkonzert – mand hinfahren, sagt einer, „dabei zeigen erzwungene Pause vom digitalen Leben:
Massengymnastik Arirang im Stadion die doch im Fernsehen immer dasselbe kein Internet, keine E-Mails, keine Tele-
„1. Mai“ – Hotel Yanggakdo brennende Auto in Kairo“. fonanrufe, herrlich. „Das werden die
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DAVID GUTTENFELDER / AP
Polizistinnen in Pjöngjang: Eine Reise nach Nordkorea bringt den Nordkoreaner in jedem hervor

Gäste lieben“, sagt Jochen Szech. Du hast Waffenstillstandsabkommen mehr, offi- die man Touristen erlaubt, ist ein stalinis-
keine Wahl. Du musst nicht entscheiden, ziell sind Nord- und Südkorea im Krieg. tischer Themenpark.
in welches Restaurant du heute gehst, es Oder glaubt das hier in Wahrheit längst
gibt kaum Restaurants, und Frau Ri hat keiner mehr? Ist auch das alles nur Staf- Tag 6: Abflug 9.00 Air Koryo JS 151
es schon ausgesucht. fage, Teil jener Drohkulisse, die Kim Jong Also: hinreisen? Auch wenn das Geld, das
Keinen Raum für den eigenen Willen, Un um seine Bombe herum aufgebaut man ausgibt, dem Regime zufließt?
keine Freiheit: Das ist der Fluch für die, hat, im Wissen darum, dass sie ihn und Hinreisen, sagt Jochen Szech. Auch
die hier leben. Es ist gleichzeitig vielleicht sein System zerstört, wenn er sie zündet? Wochen später, nachdem Nordkorea wie-
das größte Luxusgut, das Nordkorea west- Was ist hier Wahrheit, was List? der einmal besonders üble Schlagzeilen
lichen Besuchern bieten kann: ein paar Auch Hauptmann Kang Myang Son, verursachte, weil Kim Jong Un seinen
Tage Urlaub vom Multioptionsdasein. der der Gruppe auf einer Schautafel die Onkel, den Vier-Sterne-General Chang
Danach allerdings, so glauben die Tou- Gefechtslage im Grenzgebiet erklärt, be- Song Taek, hinrichten ließ, bleibt Szechs
rismusunternehmer, braucht der Kunde nimmt sich wie ein Schauspieler. Erst sagt Glaube an die touristischen Segnungen
Erholung. Ein paar Tage Strand nach der er in bebendem Bariton seinen Text auf, für das Land unerschütterlich. Es handelt
Reisearbeit. Das chinesische Hainan wäre verdammt die Amerikaner, lobt die sich seiner Meinung nach um „vorüber-
eine Option, „das ist das Mallorca Asiens“, Atombombe, erzählt von seinen Solda- gehende Turbulenzen, wie sie nun mal
sagt Szech. ten, „von denen jeder Einzelne hundert vorkommen in Diktaturen“.
Gegner töten kann“. Sein Antiamerika- Abschied. Gleich verlassen Jochen
Tag 5: Panmunjom – Pjöngjang – Militär- nismus stößt auf Sympathie in der Reise- Szech und seine Leute den anderen Zu-
parade – Massentanz beim Parteimonu- gruppe, „die USA sind das einzige Land, stand und fliegen zurück in die Welt, aus
ment – Abschiedsdinner in das ich aus politischen Gründen nicht der sie stammen. Wichtigste Erkenntnis:
An der Demarkationslinie, in der demili- mehr einreise“, sagt einer der Deutschen. Nordkorea liegt auf der Erde. Es ist kein
tarisierten Zone in Panmunjom, die seit Dann, als der Hauptmann seinen Part be- anderer Planet. Man kommt als Tourist
dem Ende des Korea-Kriegs 1953 den Sü- endet hat, erschlaffen seine strengen ziemlich leicht hinein, man ist dort sicher,
den vom Norden trennt, kann man den Züge, macht er draußen Witze, raucht man kommt wieder raus. Ja, es ist der
Südkoreanern auf der anderen Seite in die eine Zigarette mit den Besuchern, posiert Spielplatz eines irren Geists. Ja, es darf
Gewehrmündung blicken. Auf dem Mo- grinsend für Fotos. und wird nicht bleiben, wie es ist.
biltelefon, in Reichweite südkoreanischer Es sind die eigenen Klischees, die Nord- Frau Ri, die inzwischen bemerkt hat,
Netze, trifft eine Nachricht aus der ande- korea den Touristen verkauft. Die militä- dass ein Journalist in der Gruppe ist, oder
ren Welt ein: „Welcome to South Korea“. rische Stärke, der Führerkult, die dres- die das von Anfang an wusste, wirkt am
Lässt irgendeine Armee, die es ernst sierten Massen im Stadion. Das ist der- Ende beinahe ein wenig traurig, doch das
meint, Touristen an ihre Frontstellungen? selbe touristische Mechanismus, gemäß kann täuschen. Am Flughafen umarmt
Ein dritter Weltkrieg, wenn es ihn gäbe, dem Bayern mit Lederhosen für sich sie jeden einzeln, und mir spricht sie ins
würde am ehesten an diesem Ort ausbre- wirbt. Oder Brasilien mit Samba-Tänze- Ohr: „Sagen Sie den Lesern, sie sollen
chen. Seit März 2013 gibt es kein gültiges rinnen. Nordkorea, aus der Perspektive, uns besuchen.“ 
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 57
Gesellschaft

BERLIN
Kleine Lok, wohin fährst du?
ORTSTERMIN: Auf der Strecke zum Festakt „20 Jahre erfolgreiche Bahnreform“

D
er Bahnhof von Bremerhaven- Tja. Im Zweifel nach vorn, wo der Fort- sammengestellt von einem Fernsehkoch.
Lehe liegt exakt 446 Strecken- schritt ist. Fahrkarten lassen sich jetzt aufs Die Speisekarte hat 9, das Beiheft „Zuta-
kilometer entfernt vom Marriott- Handy laden. Dann erscheint ein mosaik- ten und Allergene“ 15 Seiten.
Hotel am Potsdamer Platz in Berlin. Es artiger QR-Code. Darüber sollte aller- „Noch Fahrgäste zugestiegen?“ Ge-
ist 13.31 Uhr. Im Marriott warten die Gäs- dings nicht stehen: „Batterie fast leer“. stoppte 4,5 Sekunden dauert es, einen
te jetzt vermutlich aufs Catering für den Ohne Akku kein Code und ohne Code normalen Fahrschein zu kontrollieren,
Festakt. In Bremerhaven-Lehe warten sie kein Ticket, ohne Ticket Zugverweis. Was beim Online-Ticket des nächsten Reisen-
auf den „NWB RS2“. nun? „Ja, da muss man eben büschen frü- den sind es 17,4 Sekunden. Der über-
„10 Min. Verspätung“, eilt die Leucht- her dran denken“, gibt die „Bahn-Infor- nächste, offensichtlich nicht bahnrefor-
schrift der Fahrgastinformation. Der Bahn- mation“ Auskunft. Ladestationen gibt es mierte Fahrgast schüttelt sein Handy,
hof ist ein Backsteinbau. Vorn trägt er im Nahverkehr ebenso wenig wie im Bre- weil das QR-Mosaik nicht erscheinen will.
noch Splitternarben des letzten Kriegs mer Hauptbahnhof. Und der Wartesaal – Absturz, Neustart, Netzsuche. „Passiert
und als Relief einen nackten Jüngling jetzt „DB-Lounge“ – steht nur Erstklass- mir drei-, viermal pro Strecke“, sagt der
mit Schaffnerkelle. Daneben Zugbegleiter und tippt, hin-
das geflügelte Rad der Bahn. und herschaukelnd, die 16
Im Bahnhofsgebäude ha- Kreditkartenzahlen in sein
ben eine Schuldnerhilfe und Gerät. Der Magnetstreifen
ein Schornsteinfeger ihre Bü- war unlesbar. Es dauert.
ros. Ansonsten besteht „Bre- Niemand schreit.
merhaven-Lehe“ aus zwei Kurz vor Berlin kommt
Fahrschein- und einem Kau- die Durchsage: „Wir haben
gummiautomaten. Personal die Verspätung wieder voll
ist nicht zu sehen, weder aufgeholt.“ Die Stimme des
nackt noch in Uniform. Aber Zugbegleiters wirkt ein we-
es gibt einen behinderten- nig außer Atem. „Und wer-
gerechten Aufzug und Rad- den so Berlin-Spandau um
parkplätze, weswegen es 18.58 Uhr erreichen.“ Es
sich um einen „Zukunfts- klingt ein wenig Stolz durch,
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

bahnhof“ handelt. So heißen alter deutscher Schaffner-


Bahnhöfe, die das Stahlbad stolz. Warum klatscht jetzt
aus 20 Jahren Rückbau, keiner?
Börsentauglichkeit, Markt- Vor dem Marriott stehen
öffnung und Visionen über- die Limousinen der Festred-
lebt haben. ner und ein Hinweisschild:
Das erklärt auch die zwei Jubiläumsfeier der Bahn in Berlin: „Wieder voll aufgeholt“ „20 Jahre erfolgreiche Bahn-
Fahrscheinautomaten. Je ei- reform“. Es ist ein Abend,
nen für die beiden Privat- an dem die Vokabeln
betreiber. Das Kartellamt „Mainz“, „Eschede“, „Bör-
kann zufrieden sein. „NWB RS2 wird lern offen und „bahn comfort“-Kunden. sengang“ oder „Kartellverfahren“ eher
heute mit zehn Minuten Verspätung ein- „Na, geben Se mal her“, sagt die Schal- nicht verwendet werden.
fahren. Grund dafür ist eine Verzögerung terdame und steckt das Handy in die Auf dem Podium sitzen Heinz Dürr, Jo-
im Betriebsablauf.“ Tautologien haben Dienstdose, nicht ohne vorher ein Blatt hannes Ludewig, Matthias Wissmann,
etwas Beruhigendes. Zumal die Frauen- Papier untergelegt zu haben. Wie hieß es Hartmut Mehdorn, Vorstände und Minis-
stimme im Lautsprecher warm ist und im Kinderbuch: „Überall trifft die kleine ter aus der Pionierzeit der Bahn, Titanen
sanft. Ob sie Uniform trägt? Lok Menschen und Tiere, die ihr auf ihrer der Schienenverwaltung, keine Kleingeis-
Kaum ist NWB RS2 eingerollt, poltert spannenden Reise helfen.“ ter und Miesmacher wie jene aus dem
ein Kerl mit Signalweste und Wollkappe Im Hauptbahnhof Hannover heißt der Kartellamt, die das Große nicht sehen
durchs Abteil und verschwindet in der Sushi-Meister „Tokio“ und das Spielcasino wollen.
Fahrerkabine. Das muss Privatisierung „Terminus“ statt „Moneymaker“. Sonst ist Kleine Lok, wohin fährst du? In dieser
sein. Die erste Station auf der Reise zum alles wie in Bremen. Der ICE nach Berlin Runde hat man es immer schon gewusst
Festakt in Berlin ist Bremens Hauptbahn- trägt den Namen „Saalfeld (Saale)“ und und klopft sich versöhnt auf die Schultern:
hof, auch er durchreformiert. Aus dem hat fünf Minuten Verspätung. Kaum öffnet „Das war die größte Leistung nach der
Klo ist ein „erfrischend anderes WC“ ge- sich die Tür, stürmen einige Businessleute Wiedervereinigung“, sagt Ludewig, „ein-
worden, man sieht einen Sushi-Meister auf der Jagd nach dem Anschluss heraus zigartig in Europa“, ergänzt Mehdorn und
bei der Arbeit, Bier-Lounges, Snackbars und verschwinden im Lärm ihrer Rollkof- würdigt namentlich seinen Anteil daran.
und ein Teekontor. In der Auslage des fer. Eine Szene wie beim Pferderennen. Alles ist gut.
Presseshops fragt schüchtern ein Kinder- Das Bordrestaurant bietet vegetari- Solange nichts passiert.
buch: „Kleine Lok, wo fährst du hin?“ sches Essen aus der Mikrowelle an, zu- ALEXANDER SMOLTCZYK

58 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Unterzeichnung des Friedensvertrags in Versailles 1919
ULLSTEIN BILD

Der dreißigjährige Krieg


Zweimal muss die Welt entscheiden, was mit Deutschland geschehen soll: 1918 und 1945.
Nachdem der erste Frieden in einen weiteren Krieg mündete, erwägen die Sieger beim
zweiten Anlauf, das besiegte Land ins Mittelalter zurückzuversetzen. Von Jan Fleischhauer

Hitler erlitt offenbar eine schwere Bin- ge als sein politisches Bekehrungserlebnis
1914 DER KRIEG dehaut- und Augenlidentzündung, die ihn ausgegeben. Das Kapitel, in dem er seine
UND DAS HEUTE 2014 um sein Augenlicht fürchten ließ. Er Kriegserfahrungen und den Schock über
selbst sprach in einem Brief an einen Arzt den Friedensschluss zu Lasten Deutsch-
In diesem Teil befasst sich der SPIEGEL von einer „Erblindung“, die aber seiner lands beschreibt, endet mit dem später
mit den Lehren aus dem Ersten Weltkrieg, Schilderung nach bald wieder wich. vielzitierten Satz: „Ich aber beschloss,
die in Deutschland und im Umgang mit Am 10. November eröffnete der Laza- Politiker zu werden.“
Deutschland gezogen wurden. rett-Geistliche den Verwundeten, dass der Der Erste Weltkrieg war, wie der Name
Krieg vorbei sei. Das Haus Hohenzollern sagt, der erste wirklich globale Konflikt,

D
as Ende des Ersten Weltkriegs er- sei gestürzt, in Berlin habe man die Re- von dessen Auswirkungen nur wenige
lebte der Gefreite Adolf Hitler in publik ausgerufen, der Waffenstillstand Nationen verschont blieben – was die Er-
einem Lazarett nahe der Ostsee. müsse nun „im Vertrauen auf den Groß- innerungspraxis angeht, trennt er bis heu-
In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober mut“ der Gegner angenommen werden. te die Beteiligten. Wenn in diesem Jahr
1918 war er mit seinem Regiment in einen Hitler reagierte auf die Nachricht mit in Frankreich und Großbritannien an den
britischen Gasangriff geraten. Die Englän- einem hysterischen Anfall. „Während es Krieg erinnert wird, dann als ein singu-
der hatten beim Vorrücken auf die deut- mir um die Augen wieder schwarz ward, läres Ereignis, dessen Bedeutung für das
schen Stellungen im belgischen Comines tastete und taumelte ich zum Schlafsaal Selbstverständnis der beiden Nationen
mehrere Tonnen „Lost“ verschossen, un- zurück, warf mich auf mein Lager und schon in der Bezeichnung als „Grande
ter Soldaten wegen seines eigentümlichen grub den Kopf in Decke und Kissen“, be- Guerre“ beziehungsweise „Great War“
Geruchs auch Senfgas genannt. schrieb er später den Moment, als er er- deutlich wird.
Lost gehörte zu den gefürchtetsten kannte, dass „also alles umsonst gewesen“ In der Bundesrepublik hingegen hat
Waffen des Krieges. Beim Kontakt mit sei. Zum ersten Mal seit dem Tag am sich nie eine eigene Erinnerungskultur
der Haut führt es zu Verbrennungen und Grab seiner Mutter habe er wieder hem- etabliert. An vielen Orten finden sich
Verätzungen, überall bilden sich Blasen. mungslos geweint. zwar Kriegerdenkmäler, die an die Ge-
Werden die Dämpfe eingeatmet, zerstö- In seinem Bekenntnisbuch „Mein fallenen erinnern. Doch im kollektiven
ren sie die Bronchien. Kampf“ hat Hitler den Tag der Niederla- Gedächtnis haben sich allenfalls die Na-
60 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Der falsche Frieden Serie (VI)

men einiger besonders blutiger Auseinan-


dersetzungen gehalten, Verdun natürlich,
die Schlacht an der Somme, dazu Galli-
poli, Tannenberg und das Skagerrak.
Einer der Gründe für die unterschied-
liche Gedenkkultur ist sicher die Opfer-
bilanz. Im Ersten Weltkrieg entrichteten
die Deutschen den höchsten Blutzoll.
Zwei Millionen Soldaten bleiben tot zu-
rück, aber der nächste Krieg sollte selbst
diese Zahl mehr als verdoppeln. Bei den
Gegnern im Westen ist es genau umge-
kehrt: Auf den Schlachtfeldern starben
mehr als zweimal so viele Briten und vier-
mal so viele Franzosen wie im Zweiten
Weltkrieg. Die Zahl der Opfer ist in der
Rückschau nicht nur Ausdruck von Leid,
sondern immer auch Zeichen für den
Heroismus einer Nation, ohne die keine
Mythologisierung des Kriegsgeschehens
auskommt.
Mehr noch als das Totengedenken
trennt die Erfahrung von Sieg oder Nie-
derlage. Es ist schwer zu sagen, wie viele
deutsche Soldaten wie Hitler bereits den
Waffenstillstand als Schock empfanden;

AKG
aber spätestens mit dem Friedensvertrag
von Versailles wird der Traum von einer Alliierte Churchill, Roosevelt, Stalin in Jalta 1945
Revision der erlittenen Demütigung zur Überlebensfrage für die Menschheit
Obsession. Ein Grund, weshalb zwischen
den beiden Weltkriegen nicht nur ein tem- Frankreich und Russland könnten die auf- Material und Menschen fehlt, machen sie
porärer, sondern auch ein kausaler Zu- strebende Mittelmacht in die Zange neh- durch Innovation in der Kriegführung
sammenhang besteht. men – das ist der Ausgangspunkt für alles wett.
Für viele Historiker zieht sich eine Weitere. Tatsächlich steht Frankreich im Som-
Linie von Verdun nach Stalingrad. Einige Der Friedensvertrag von Versailles mer 1917 am Rande des Zusammen-
sprechen deshalb von einem „dreißig- scheint alle Befürchtungen zu bestätigen. bruchs. Die Zahl der Gefallenen hat die
jährigen Krieg“, um die Kontinuität der Dass Frankreich auf der Rückgabe von Millionengrenze erreicht. Auch wenn der
Gewalt zu betonen. In dieser Sicht ver- Elsass-Lothringen besteht, das das Land Generalstab versucht, durch einen stän-
schmelzen die Jahre 1914 bis 1945 zu ei- im Vorgängerkrieg 1870/71 an Deutsch- digen Austausch der kämpfenden Truppe
nem einzigen, durch einen längeren Waf- land verloren hat, war abzusehen. Auch die Verluste über das Land zu verteilen
fenstillstand unterbrochenen Konflikt. mit finanziellen Entschädigungen war und damit für die einzelnen Provinzen
Ohne den Angriff auf Belgien im Au- zu rechnen. Aber das reicht dem fran- erträglicher zu machen, kommt Verzweif-
gust 1914 kein Überfall auf Polen 25 Jahre zösischen Ministerpräsidenten Georges lung auf. Während eine deutsche Familie
später? Was sich so einfach anhört, führt Clemenceau nicht. im Schnitt drei bis vier Kinder produziert,
auf geschichtspolitisch vermintes Gelän- In Artikel 231 wird Deutschland zu ist man in Frankreich bei zwei Kindern
de. Wenn man die beiden Kriege zusam- dem Eingeständnis gezwungen, allein angekommen. Damit wiegt jeder Verlust
men denkt, stellt sich auch die Frage nach am Krieg schuld zu sein – ein Kniefall, psychologisch noch schwerer. Wo es in
den Ursachen anders. aus dem die Siegermächte den Anspruch einer Familie nur Söhne gibt, sind viele
Jeder gute Friedens- auf weitreichende Repa- Eltern plötzlich wieder kinderlos.
schluss sollte ja nicht nur rationen ableiten. Tatsäch- Auch unter den Soldaten greift Fata-
einen Zustand beseitigen, lich geht es Clemenceau lismus um sich. Nach einer verheerend
der zuvor zu Unfrieden nicht nur um Wiedergutma- verlaufenen Offensive an der Aisne, bei
geführt hat, sondern nach chung. Er will Deutschland der die Franzosen binnen weniger Tage
Möglichkeit dafür sorgen, kleinhalten, indem er es 130 000 Mann verlieren, treten große Teile
HEINRICH HOFFMANN / BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK

dass sich der Vorgang nicht dauerhaft schwächt. des Heeres in den Kampfstreik. General
wiederholt. Dafür muss das Es ist reizvoll, darüber Philippe Pétain stellt seinen Soldaten
Ungleichgewicht aufgelöst nachzudenken, was gesche- nach einer Flut von Kriegsgerichtsverfah-
werden, das ursächlich war hen wäre, wenn der ame- ren den Verzicht auf weitere Großoffen-
für die Aufnahme kriegeri- rikanische Präsident Woo- siven in Aussicht. Damit aber ist seine
scher Handlungen. drow Wilson bei seinem Armee nur noch begrenzt einsatzfähig.
Im Fall von Deutschland ursprünglichen Vorsatz ge- Es spricht vieles dafür, dass die Fran-
wird dieses Friedensziel blieben wäre, die USA aus zosen ohne Hoffnung auf eine Verbesse-
spektakulär verfehlt. Am dem Krieg herauszuhalten. rung der Situation zu einem Separatfrie-
Anfang des ersten Krieges Fast den gesamten Kriegs- den mit dem Deutschen Reich gefunden
stand auch die Angst vor verlauf über sind die Deut- hätten. Der Zusammenbruch der Entente
der Einkreisung. Die deut- Gefreiter Hitler um 1915 schen ihren Gegnern tak- wäre nahe gewesen, da auch Russland
sche Politik argwöhnte, Hemmungslos geweint tisch voraus. Was ihnen an bereits am Abgrund stand. Obwohl der
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 61
Serie (VI) Der falsche Frieden

Kampfgeist bei den Briten nach drei USA, deren politische Elite darüber strei- Was zunächst vor allem ein psycholo-
Kriegsjahren mit horrenden Verlusten er- tet, wie sie die Rolle als neue Weltmacht gisches Problem ist, wird mit Ausbruch
staunlich intakt ist, hätte das Königreich ausfüllen soll. So kommt ein Friede her- der Wirtschaftskrise zu einem existentiel-
ohne seine Verbündeten auf dem Konti- aus, dessen Auflagen einerseits nicht len. Bis 1929 hat sich die deutsche Wirt-
nent wohl kaum weitergekämpft. drakonisch genug sind, um das Deutsche schaft auch dank amerikanischer Investi-
Es sind die USA, die das Kriegsglück Reich langfristig zu schwächen – ande- tionen einigermaßen halten können. Nun
wenden. Ab Frühjahr 1918 steht Deutsch- rerseits aber zu hart, um bei den Unter- ziehen die Gläubiger in Übersee das Geld
lands Gegnern ein fast unbegrenzter legenen nicht den Wunsch freizusetzen, ab, womit das Reich unmittelbar in den
Strom ausgeruhter Einheiten zur Verfü- ihn bei nächster Gelegenheit rückgängig Strudel der Depression gerät. Die Defla-
gung; 1,3 Millionen Mann werden bis Au- zu machen. tionspolitik von Reichskanzler Heinrich
gust aus Amerika nach Europa verschifft. Die Forderungen der Sieger sind aus Brüning treibt die Zahl der Arbeitslosen
„Die deutsche Armee hatte länger durch- deutscher Sicht nicht nur maßlos, sie sind auf mehr als sechs Millionen.
gehalten als die anderen, ihre Soldaten eine konstante Erinnerung an die Nie- Trotz der Niederlage 1918 ist der Stolz
waren im Durchschnitt größeren Belas- derlage. Auf 132 Milliarden Goldmark be- des deutschen Offizierskorps intakt: Dass
tungen ausgesetzt gewesen, und sie hat- läuft sich die unter massiven Drohungen die Franzosen aus eigener Kraft nie den
ten eine höhere Kampfeffektivität ent- durchgesetzte Reparationssumme, zahl- Sieg errungen hätten, ist vom Generalstab
wickelt – aber jetzt war die Truppe am bar in 66 Jahresraten. Hinzu kommen abwärts Common Sense. Wenn ein Sieger
Ende“, bilanziert der Politikwissenschaft- 26 Prozent des Werts aller Exporte. Noch aber nur ein Sieger durch fremde Gnade
ler Herfried Münkler in seiner heraus- die Bundesrepublik hat an den Folgen zu ist, weckt das Begehrlichkeiten. Zumin-
ragenden Studie „Der Große Krieg“ die
Lage.
Als die Alliierten am 27. September die
Siegfried-Linie durchbrechen, die letzte
Verteidigungsstellung der deutschen Ar-
mee nach Westen, weiß auch die Oberste
Heeresleitung um Erich Ludendorff, dass
dieser Krieg verloren ist. Der General-
quartiermeister erleidet einen Nervenzu-
sammenbruch. Am nächsten Tag bittet er
seinen Kaiser, Waffenstillstandsverhand-
lungen aufnehmen zu lassen – so viel zum
Dolchstoß, den angeblich die Politiker an
der Heimatfront dem tapferen Heer ver-
setzt haben.
Versailles gilt heute als Kardinalfehler,
mit den Franzosen in der Rolle des rach-
süchtigen Siegers. Aber es sind in Wahr-
heit die USA, die ihrer Verantwortung
nicht gerecht werden.
Wilson entwirft eine neue Weltord-

AKG
nung, in der allen Völkern ein Selbstbe-
stimmungsrecht zugestanden wird. Doch Deutsche Reparationslieferungen nach Frankreich, um 1920
als es darum geht, der neuen Rolle als 132 Milliarden Goldmark, zahlbar in 66 Jahresraten
Hegemon gerecht zu werden, zieht ihm
der Kongress die Beine weg, indem er tragen, erst 2010, mit der Begleichung der dest Hitler war sich seiner Sache sicher.
den Präsidenten auf eine strikte Nicht- letzten Zinsforderungen, ist die Schuld Warum nicht in einem zweiten Anlauf
einmischungspolitik verpflichtet. Die vollständig getilgt. Es ist vor allem die korrigieren, was im ersten misslang?
Europäer sind wieder auf sich gestellt, Dauer, die quält. Als es 1940 zum Angriff auf Frankreich
nur diesmal in einer ganz anderen Kon- Kaum jemand weiß besser über den kommt, hat die Wehrmacht auch aus den
stellation als vor Ausbruch des Krieges. schwelenden Groll seiner Landsleute Fehlern gelernt. Die Deutschen waren bei
Die Briten, die als die Gläubiger der Bescheid (und wie man ihn sich zunutze ihren Offensiven immer wieder an dem
Welt in den Krieg hineingingen, haben machen kann) als der Gefreite aus Mün- taktischen Problem gescheitert, wie man
ihn als Schuldner der USA verlassen. Die chen. Innerhalb von drei Jahren wird aus Artillerie und Infanterie so schnell nach-
Franzosen sind zwar Siegermacht, aber dem unbekannten Veteranen Adolf Hitler führt, dass den Stoßtruppen der Angriffs-
in Wirklichkeit keine militärische Groß- der „König von München“, der mit seinen schwung erhalten bleibt. Nun verbindet
macht mehr. Aus Angst vor dem Nach- Auftritten die größten Säle der Stadt füllt. man die Panzerwaffe mit den Sturz-
barn graben sie sich in einem über tau- Die von den Alliierten erzwungene kampfbombern, die als fliegende Artil-
send Kilometer langen Bunkersystem Unterschrift unter den Versailler Vertrag lerie fungieren. Das verleiht dem Vorstoß
ein – mehr ein psychologisches Bollwerk ist ein zentrales Thema von Hitlers Reden. eine bis dahin für unmöglich gehaltene
als ein tatsächlicher Schutz, wie sich 1940 Keine Kundgebung kommt ohne die Er- Geschwindigkeit. In zwei Tagen stehen
dann zeigen wird. Die einzige Macht, die innerung an den „Schand- und Schmach- deutsche Truppen an der Maas, nach
einen neuen Waffengang wagt, ist para- frieden“ aus, der Deutschland auf unab- sechs Wochen muss Frankreich kapitu-
doxerweise Deutschland, das der Vertrag sehbare Zeit der „Knechtschaft“ ausliefe- lieren. Es ist die größte Niederlage einer
von Versailles ja gerade von dieser Idee re. Die Demütigung durch die Sieger ist stolzen Nation in der Militärgeschichte:
abbringen sollte. ein kollektives Trauma, das die Menschen Als die Franzosen die Waffen strecken,
Schon in den Friedensverhandlungen weit über den Kreis der Anhänger der auf- ist die Hälfte der Soldaten noch nicht ein-
zeigt sich die Unentschlossenheit der strebenden Nazi-Partei hinaus verbindet. mal im Kampfgebiet angekommen.
62 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Für das Gros des Offizierskorps ist der Die Deutschen dürften nie wieder Bei einem Treffen zwischen Roosevelt
Sieg über Frankreich die Genugtuung, die etwas herstellen können, das „tödlicher und dem britischen Premierminister Win-
es ersehnt hat – für seinen Oberbefehls- ist als ein Toaster, ein Staubsauger ston Churchill im September 1944 in Qué-
haber ist der Westfeldzug nur eine Etappe oder ein Lockenstab“, heißt es in der bec scheint sich Morgenthau durchzuset-
in einem viel weiter reichenden Erobe- Langfassung seines „Plans für Deutsch- zen. Zwar hat Churchill anfangs starke Ein-
rungskrieg. So verwandelt sich die Welt land“, den Morgenthau nach Kriegs- wände gegen den Plan und blafft Morgen-
ein zweites Mal in eine Hölle auf Erden, ende auch als Buch veröffentlicht. „Sie thau an, er werde sich nicht an ein „totes
und was als Revanchekrieg beginnt, endet werden auf etliche Jahre Maschinen Deutschland“ ketten lassen. Aber dann
im Vernichtungskrieg noch entgrenzter, gegen ihre Hände eintauschen müssen, gibt das Geld den Ausschlag: Churchill
totaler als das Massenschlachten davor. um das Beste aus ihrem Boden zu ma- braucht unbedingt einen neuen Kredit der
Was tun mit Deutschland? Diese Frage chen.“ USA – woraufhin die beiden Kriegsherren
stellt sich den Alliierten im Sommer 1944 Morgenthau hat einflussreiche Gegner: ihre Initialen unter ein Dokument setzen,
zum zweiten Mal. Spätestens nach der Sowohl das amerikanische Außenminis- mit dem die Umwandlung Deutschlands in
Landung der Amerikaner in der Nor- terium als auch die Militärs vor Ort sind ein „Land mit vorwiegend ländlichem und
mandie ist jedem klar, dass die Tage des strikt dagegen, Deutschland ins Mittel- pastoralem Charakter“ beschlossen wird.
„Dritten Reichs“ gezählt sind. Damit steht alter zurückzuversetzen. Sie rechnen in Dass den Deutschen am Ende dieses
man aber vor dem gleichen Problem wie so einem Fall mit Millionen Hungertoten, Schicksal erspart bleibt, verdanken sie
ein Vierteljahrhundert zuvor: Wie lässt da Deutschland nach ihrer Einschätzung dem Aufschrei der US-Öffentlichkeit und
sich verhindern, dass die Deutschen nach gar nicht in der Lage wäre, sich ohne Ex- der Angst vor den Russen.
Träumte Roosevelt von einer langfris-
tigen Allianz mit der Sowjetunion, so
hegt sein Nachfolger Harry S. Truman
keine Illusionen über den Charakter des
russischen Diktators Stalin. Auch Chur-
chill muss von dessen Bösartigkeit nicht
überzeugt werden. „Wir sollten Deutsch-
land nicht zu sehr schwächen, wir brau-
chen es möglicherweise noch gegen Russ-
land“, hatte Churchill seinem Außen-
minister Anthony Eden schon 1943 zuge-
raunt. „Ich möchte nicht derjenige sein,
der in Europa mit dem Bären allein
bleibt.“
So entscheiden sich die Westmächte,
anders als 1918, für Großzügigkeit. Wer
in den westlichen Besatzungszonen lebt,
profitiert von dem Aufbauplan, den die
GAMMA / STUDIO X

USA in Versailles durchzusetzen ver-


säumten. Wer das Pech hat, das Kriegs-
ende im Osten zu erleben, trägt die
Kriegslast, die eigentlich das ganze Land
Deutsche Truppen auf den Champs-Elysées in Paris 1940 hätte tragen müssen. Bis diese Ungerech-
Kapitulation nach sechs Wochen tigkeit beseitigt ist, müssen noch einmal
44 Jahre vergehen.
einer Niederlage schon bald den nächsten portgüter allein zu ernähren. Aber der Die Pazifizierung der Deutschen durch
Krieg planen? Finanzminister besitzt neben der Stärke wohlwollende Umerziehung ist ein Expe-
Einer der Männer, die sich bereits seiner Überzeugung das Ohr von Präsi- riment, wie es so noch nie unternommen
länger mit dieser Frage beschäftigen, ist dent Roosevelt. Die Frauen sind eng be- wurde, und es gelingt für alle Beteiligten
US-Finanzminister Henry Morgenthau. freundet, man verbringt auch privat viel überraschend erfolgreich. Ausgerechnet
Für ihn sind die Deutschen ein Volk, des- Zeit miteinander. die Nation, die den Kontinent zweimal
sen Kriegslust unheilbar ist. Weil es nach Hinzu kommt, dass Roosevelt für die mit Krieg überzogen hat, wandelt sich
einem dritten Anlauf, die Weltherrschaft „Hunnen“ nicht viel übrig hat. Er hatte zum demokratischen Vorzeigestaat und
zu erreichen, niemanden mehr geben seinen herzkranken Vater als Kind mehr- einer europäischen Integrationskraft.
wird, der sich ihnen in den Weg stellen fach zu Behandlungen nach Bad Nau- Alles macht man diesmal anders. Statt
kann, lautet die Aufgabe, wie man sie heim begleitet und dabei eine deutliche den Besiegten das Ausmaß der Niederla-
daran hindert – eine Überlebensfrage Abneigung gegen Land und Leute ent- ge durch die Erzwingung von Demutsges-
nicht nur für Europa, sondern für die wickelt. Zu seinen Standard-Anekdoten ten vor Augen zu führen, führen die USA
Menschheit. gehört die Geschichte, wie er an einem das in jeder Hinsicht zerstörte Land vor-
Im September 1944 unterbreitet Mor- einzigen Tag viermal verhaftet wurde, un- sichtig in die Völkerfamilie zurück. Nach-
genthau dem Präsidenten einen Plan, in ter anderem wegen Kirschkernspuckens. sichtig verfahren die Sieger auch bei der
dem er eine weitgehende Zerschlagung „Wir müssen die Deutschen hart anfas- juristischen Aufarbeitung: Sie beschrän-
der deutschen Schwerindustrie vorschlägt. sen“, vertraut Roosevelt seinem Finanz- ken sich auf die Verfolgung einiger weni-
Alles, was zur Waffenproduktion taugt, minister an: „Entweder kastrieren wir sie, ger Großtäter. Die Mehrheit kommt mit
soll zerstört, enteignet oder unter inter- oder wir sorgen auf andere Weise dafür, einer formalen Befragung davon, womit
nationale Aufsicht gestellt werden. Das dass sie nicht einfach weiter Leute der Entnazifizierung Genüge getan ist.
heißt: keine Chemieindustrie mehr, keine produzieren, die so weitermachen wie Erst im Abstand von zwei Jahrzehnten
Stahlindustrie, keine Elektroindustrie. bisher.“ setzt ab 1963 mit den Auschwitz-Prozes-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 63
Serie (VI) Der falsche Frieden

Noch heute kursieren in Familien er-

Im Delirium der Milliarden schütternde Berichte darüber, was einst


den Großeltern und Urgroßeltern wider-
fahren ist. Ein Schicksal wie das des Ber-
Die aktuelle Schuldenkrise weckt Erinnerungen an die Hyper- liner Schriftstellers Maximilian Bern be-
schreibt den Grad der Verzweiflung.
inflation von 1923. Seither fürchten die Deutschen um ihr Geld. Bern hob 1923 seine Ersparnisse ab,
mehr als 100 000 Mark. Aber was sind

E
s gibt eine Zahl, die besser als je- tung der zwanziger Jahre ebenso wie 100 000 Mark, wenn sich Ende Oktober
de andere die brutale Dynamik die Währungsreform 1948, bei der 2,5 Trillionen Mark in Umlauf befanden.
der Hyperinflation von 1923 ver- Reichsmark-Ersparnisse im Verhältnis Jahre zuvor hätte Bern damit seinen
anschaulicht. Diese Zahl lautet vier. Im von 100 zu 6,50 in Mark umgetauscht Lebensabend finanzieren können, jetzt
Schnitt verdoppelten sich damals im wurden, als „historisch einzigartige Er- reichte die Summe für ein letztes U-Bahn-
Herbst fast alle vier Tage die Preise in eignisse“. Beide Begebenheiten seien Ticket. Bern fuhr nach Hause, verschloss
Deutschland. vor allem eine Folge der Kriegsfinanzie- die Tür und verhungerte.
Groteske Preisschübe hat es zu an- rung durch die Notenpresse gewesen. Ärzte, Lehrer, Professoren: Sie alle
deren Zeiten auch in anderen Ländern Und sie zeigten die Risiken auf, so Weid- hatten nicht nur ihren Besitz verloren,
gegeben, in Griechenland (1944) etwa, mann, „wenn eine Notenbank das Ziel sondern auch das Vertrauen in den
in China (1949) oder in Simbabwe (2008). der Geldwertsicherung der Solvenzsiche- Staat. Viele waren 1914 begeistert in den
Doch nirgendwo hinterließ eine Hyper- rung des Staates unterordnet“. Krieg gezogen, sie kauften Anleihen, in
inflation tiefere Narben als der Regel verzinst mit fünf
in Deutschland. Drei Genera- Prozent. 98 Milliarden Mark
tionen nach dem Kollaps der nahm der Staat ein – keinen
Mark ist die Angst so präsent Pfennig zahlte er zurück.
wie selten zuvor. Die Menschen fühlten sich
Die globale Geldschwem- betrogen, um den Sieg im Fel-
me infolge der Finanzkrise de und um ihr Geld auf der
hat leidvolle Erinnerungen Bank. Nur eine Generation
an die große Inflation wach- später wiederholte sich diese
gerufen, die mit dem Kriegs- bittere Erfahrung, als das
eintritt 1914 begann und 1923 „Dritte Reich“ unterging.
im Chaos endete. Mit jeder Dieser doppelte Vertrau-
Nachricht über den Milliar- ensverlust prägte die bürger-
denbedarf von Krisenländern liche Gesellschaft der Nach-
entflammt die Sorge um die kriegszeit. Ihre Mitglieder
Stabilität des Geldes aufs sehnten sich nach Stabilität
Neue. Laut einer Allensbach- und Ordnung: Bloß keine Ex-
ULLSTEIN BILD

Umfrage fürchten die Deut- perimente, lautete das Motto,


schen die Inflation sogar schon gar nicht mit ihrem
mehr noch als lebensbedroh- Geld. Dieses Bedürfnis nach
liche Krankheiten wie Krebs. Wertlose Banknoten 1923 Sicherheit – anders gesagt:
Besorgte Bürger flüchten „Historisch einzigartige Ereignisse“ ihre Risikoscheu – ist bis heu-
in Sachwerte, sie kaufen te beinahe sprichwörtlich.
Gold- und Silberbarren, Häuser und Größere Bedeutung hat für den Bun- Ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken
Wohnungen – oder zumindest Bücher desbank-Chef eine spätere Phase der in Geldfragen bestimmt auch das Han-
mit düsteren Titeln wie „Der Staatsbank- Wirtschaftsgeschichte. „Für uns heute deln der Unternehmerschaft. Insbeson-
rott kommt!“ Das Paradoxe an der Infla- sind die Lehren der siebziger und frühen dere Firmen aus Schlüsselbranchen wie
tionsdebatte: Inflationär sind bislang nur achtziger Jahre viel wichtiger, als es der Maschinen- und Anlagenbau haben
die Mahnungen. Der Euro hat sich als unabhängigen Bundesbank besser als größtes Interesse an einer stabilen Wäh-
stabiler erwiesen, als es die Mark je war. anderen Notenbanken gelungen war, die rung, denn sie müssen langfristig kalku-
Eher schon fürchten sich Ökonomen von den Ölpreisschocks ausgelöste Infla- lieren können. Zwischen Auftrag und
davor, dass die Preise auf breiter Front tion in Schach zu halten.“ Warum also Auslieferung vergehen oft Jahre.
fallen und die Volkswirtschaft erlahmt. reagieren die Bürger dann noch immer „Für unsere Art der Produktion brau-
Es sei Unsinn, heute Schreckensbilder so empfindlich, um nicht zu sagen: hys- chen wir geduldiges Kapital“, sagt der
von 1923 an die Wand zu malen, sagt terisch, wenn es um 1923 geht? Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner
der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Es mag vor allem daran liegen, dass Abelshauser. Daher stecke bei deutschen
Voth: „Eine Wiederholung ist undenk- damals die Mittelschicht am schlimmsten Unternehmern die Inflationsangst „noch
bar.“ Die Deutschen litten unter einer betroffen war: Angestellte, Beamte und tief drin“. Südeuropäische Volkswirt-
Art „kollektiver Psychose“, diagnosti- Freiberufler, fleißige Sparer also, die völ- schaften seien eher handelsorientiert, sie
ziert der Wissenschaftler, der in Barce- lig verarmt ins „Delirium der Milliarden“ hätten kürzere Umschlagzeiten und sei-
lona lehrt. abgedriftet waren, wie der spätere Au- en daher weniger inflationssensibel.
Auch Bundesbank-Präsident Jens ßenminister Walter Rathenau den Aus- Den wohl größten Einfluss aber hat
Weidmann betrachtet die Geldentwer- nahmezustand umschrieb. die Erfahrung von 1923 auf die deutsche

64 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Geldpolitik ausgeübt, auch wenn Bun-
desbank-Chef Weidmann dies heute
relativiert. Schon die Bank deutscher
Länder, die Vorläuferin der Bundes-
bank, setzte klare Prioritäten: Die Sta-
bilität der Währung stand über allem;
Konjunkturförderung oder die Be-

WOLFGANG RATTAY / DPA


kämpfung von Arbeitslosigkeit waren
nachrangig. Diesen Kurs verfolgte der
erste Bundesbank-Präsident Wilhelm
Vocke geradezu obsessiv.
Vocke war 1919, erst 33 Jahre alt,
Reichsbank-Direktor geworden. Mit Einheitsfeier am Brandenburger Tor in Berlin 2009
Entsetzen beobachtete er, wie die Zen- Misstrauen gegen sich selbst
tralbank-Führung 1923 ihre Energie auf
den reibungslosen Betrieb der Dru- sen eine wirkliche Aufklärung der Ver- wurde. Berücksichtigt man nur die Net-
ckerpressen konzentrierte; und wie die brechen ein. Wer sich die Lebensläufe tobeiträge zum Budget der Europäischen
Ausgabenpolitik im „Dritten Reich“ von Leuten wie Kurt Franz, dem letzten Gemeinschaft, so zahlte Deutschland zwi-
„geradewegs zur Inflation“ führte. Lagerkommandanten von Treblinka, an- schen 1958 und 1992 mehr als 163 Milliar-
Darauf musste Vocke die Reichsbank sieht, muss feststellen, dass man als Nazi- den D-Mark an den Rest Europas. Hinzu
verlassen. Beste Voraussetzungen also, Scherge und Massenmörder noch bis An- kamen 379,8 Milliarden an „Transferzah-
um nach dem Krieg zum Geburtshelfer fang der sechziger Jahre unbehelligt in lungen ohne Gegenleistungen“, wie Fer-
der neuen Währung zu werden. Deutschland leben konnte. guson ausgerechnet hat.
Die Alliierten hatten 1948 verfügt, Die Deutschen haben ihre Lektion ge- Die Lust der Deutschen, über Transfer-
dass die Bank deutscher Länder „nicht lernt. Dass man ihnen nie wieder eine zahlungen zum Frieden in Europa beizu-
den Anweisungen irgendwelcher poli- Waffe in die Hand geben dürfe, ist eine tragen, ist im Zuge der Euro-Krise erkenn-
tischer Körperschaften oder öffent- Meinung, die sich die glücklich Entwaff- bar gesunken. Aber wie stark die Erinne-
licher Stellen mit Ausnahme der Ge- neten über die Jahre ganz und gar zu ei- rung an die beiden Weltkriege nachwirkt,
richte unterworfen“ sei. Damit konnte gen machen. Spätestens mit dem Auf- zeigt auch der Umstand, dass es eine
sich Bundeskanzler Konrad Adenauer kommen der Friedensbewegung ist der eindeutig europakritische Partei bislang
nie abfinden. Beharrlich versuchte er, Pazifismus Staatsräson. Schon ein Rekru- nicht in den Bundestag geschafft hat.
Druck auf Vocke auszuüben, im Mai tengelöbnis im Fackelschein gibt Anlass Morgenthau hielt bis zu seinem Tod
1956 zum Beispiel, als die Bundesbank zu Unmut. 1967 an seiner Überzeugung fest, dass
die Zügel anzog, da die Konjunktur Wenn sich die Deutschen etwas vor- man die Deutschen nicht pazifizieren
zu überhitzen drohte. Vocke, ähnlich nehmen, dann machen sie es gründlich. könne. „Sie sind zu jung, um beurteilen
selbstbewusst wie der Kanzler, blieb In einer merkwürdigen Rollenumkehr zu können, ob der Morgenthau-Plan
unbeeindruckt. „Auf diesem schwieri- finden sie sich in die Rolle des geläuter- ein Fehler war“, antwortete er seinem
gen Gebiet“ sei der Kanzler „ein völ- ten Straftäters ein, der die anderen be- Biografen, als der ihn zum Eingeständnis
liger Laie“, spottete der Zentralbanker lehrt, wie man auch ohne Waffen Frieden bewegen wollte, er habe sich mit seinem
später: „Ich ließ ihn reden.“ Die Un- schaffen kann. Noch 1989 glauben nicht Plan geirrt. „Ich wette, dass Sie, bevor
abhängigkeit der Bundesbank förderte wenige, an der Teilung festhalten zu müs- Sie sterben, wieder gegen die Deutschen
das Vertrauen in die Währung derart, sen, um die Geister der Vergangenheit kämpfen müssen.“
dass ausgerechnet die inflationsver- in Schach zu halten. „Nie wieder Der ehemalige US-Finanzminister sah
ängstigten Deutschen zu einer Nation Deutschland“ flattert im Westen gleich- den Ersten Weltkrieg wie viele Historiker
von Sparern wurden. berechtigt neben der Ostlosung „Wir sind als Beginn – allerdings nicht zu einem
„Unabhängigkeit und das klare ein Volk“. dreißigjährigen, sondern zu einem hun-
Mandat, für Preisstabilität zu sorgen, Das Misstrauen gegen sich selbst hat dertjährigen Krieg.
bleiben die Voraussetzungen für den sich bis heute nicht ganz gelegt. In der
Erfolg einer Notenbank“, sagt Jens Europadebatte ist der Verdacht, es könnte
Weidmann: „Das gilt auch und gerade alles wieder ganz anders kommen, ein WEITER ZUM THEMA
für das Euro-System.“ Damit freilich unterschwelliges, aber deutlich wahr- Im nächsten Heft: Als Abschluss der Serie
gehört er im EZB-Rat einer Minderheit nehmbares Motiv. Kaum ein Appell an lesen Sie vom Streit der Historiker über die
an, da die Zentralbank die Märkte mit die europäische Solidarität kommt ohne deutsche Schuld an den Weltkriegen.
billigem Geld regelrecht flutet, zur Not Verweis auf den Krieg und die sich aus
auch „unbegrenzt“, wie EZB-Präsi- ihm ergebende Friedenspflicht aus. Die In SPIEGEL GESCHICHTE: Eine vertiefende
dent Mario Draghi versichert hat. Einbindung in Europa gilt als eine Art Lektüre zum Ersten Weltkrieg bietet das
Das ist die Ironie der Geschichte: Selbstfesselung des deutschen Giganten, Heft „Der Erste Weltkrieg“ von SPIEGEL
Einst haben Washington und Paris, die die den Nachbarn die Angst vor seiner GESCHICHTE. Es ist für 7,80 Euro über
westlichen Kriegsalliierten, der Bun- Größe und Wirtschaftskraft nehmen soll. spiegel.de erhältlich.
desbank völlige Unabhängigkeit und Der britische Wirtschaftshistoriker
strikte Haushaltsdisziplin verordnet – Niall Ferguson hat darauf hingewiesen, Im SPIEGEL E-Book: Alle sechs Teile der
jetzt brechen die Lehrmeister selbst dass die Leistungen Deutschlands im SPIEGEL-Serie erscheinen in Kürze auch
die Prinzipien. ALEXANDER JUNG Zuge der europäischen Integration in als E-Book. „1914 – 1918. Die unheimliche
etwa dem entsprechen, was dem Land Aktualität des Ersten Weltkriegs“ ist
mit dem Versailler Vertrag aufgebürdet über amazon.de für 2,49 Euro erhältlich.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 65
Trends

STEUERPOLITIK

Zoff um Zockergeschäfte
MODE

Bundesfinanzminister Wolfgang Strenesse in


Schwierigkeiten
Schäuble (CDU) und sein französi-
scher Amtskollege Pierre Moscovici
streiten über die Finanztransaktion-
steuer, die elf Mitgliedstaaten der
Währungsunion schon seit längerem Die finanzielle Lage von Strenesse spitzt sich
planen. Die Franzosen wollen neuer- offenbar dramatisch zu: Am vergangenen Frei-
dings große Teile des Derivate- tag veröffentlichte der Nördlinger Modeherstel-
geschäfts ausklammern, also Wetten ler eine Einladung zur Gläubigerversammlung
auf steigende oder fallende Kurse von für den 20. Februar. Auf der Veranstaltung will
Wertpapieren. Besonders Spekula- der Vorstand um Unternehmenschef Luca
tionsgeschäfte auf Aktien sollen von Strehle seine Geldgeber bewegen, den Termin
der neuen Steuer verschont bleiben. für die Rückzahlung einer demnächst fälligen
So sah es ein französisches Positions- Unternehmensanleihe um drei Jahre auf den
papier für den deutsch-französischen 15. März 2017 zu verlängern. Grund sei, dass
Finanz- und Wirtschaftsrat vor, der Bemühungen des Unternehmens um eine Re-
vergangene Woche in Paris stattfand. finanzierung der Anleihe zum 15. März 2014
Die dort vorgeschlagenen Einschrän- nicht erfolgreich waren, heißt es in der Einla-
kungen gingen der deutschen Seite dung. Der Konzern, der seit Jahren mit schlech-
allerdings zu weit. Sie plädiert für ten Zahlen und internen Querelen kämpft, hat-
eine möglichst breite Einbeziehung al- te vergangenes Jahr eine Mittelstandsanleihe
ler Transaktionen. Schäuble und seine über zwölf Millionen Euro ausgegeben. Weil
Beamten hegen den Verdacht, dass die Laufzeit nur ein Jahr betrug, muss sie bis
Moscovici seine heimischen Banken spätestens Mitte März abgelöst werden. Offen-
schonen will, weil die mit Derivaten bar fehlt dem Unternehmen das Geld. Auf der
auf Aktien gute Geschäfte machen. Versammlung will Strehle ein Restrukturie-
Sie wären allenfalls dazu bereit, die rungskonzept vorstellen. Sollten die Gläubiger
neue Steuer schrittweise einzuführen. einer Verlängerung nicht zustimmen, droht
Bis Mitte Februar wollen Fachleute dem schwäbischen Konzern die Insolvenz. Ver-
beider Länder und Ministerien nun gangenen Freitag sackte der Anleihekurs dra- Strenesse-
einen gemeinsamen Vorschlag aus- matisch ab und verlor über 35 Prozent. Models
arbeiten.

P. verbirgt. Der Grieche hatte für die


Vermittlung des Geschäfts rund 4,7
Millionen Euro Provision erhalten.
Am 28.März 2002 überwies P. rund
100 000 Euro auf ein Konto des deut-
schen Rüstungsmanagers bei der
HSBC Bank in der Schweiz. Im Juni
und November 2002 floss jeweils noch
einmal die gleiche Summe. Gegenüber
A F FÄ R E N der Athener Staatsanwaltschaft sagte
P. aus, er habe dem KMW-Mann dar-
Kick-backs an Krauss- über hinaus auch Bargeld gegeben und
ihm gesagt, dass er Teile seiner Provi-
Maffei-Manager sion zur Bestechung verwende. Nach
Erkenntnis der griechischen Ermittler
GERBEN VAN ES / DPA

war das bei einem Spitzenbeamten


des Verteidigungsministeriums der
Fall. Antonios Kantas, einst Rüstungs-
direktor der Behörde und inzwischen
eine Art Kronzeuge der Staatsanwalt-
Beim Verkauf von 24 Haubitzen der Deal Kick-backs in sechsstelliger Höhe schaft, erklärte in seiner Vernehmung,
Münchner Waffenschmiede Krauss- erhalten haben. Das geht aus Konten- er habe von P. insgesamt 750 000 Euro
Maffei Wegmann (KMW) an Athen unterlagen hervor, die dem SPIEGEL erhalten. KMW erklärt, man habe we-
sind offenbar nicht nur Schmiergelder vorliegen. Die Bankverbindung gehört der Bestechungsgelder gezahlt noch
an griechische Entscheider geflossen. einer Firma namens Oxylos Consul- zahlen lassen und unabhängige Exper-
Auch ein hochrangiger Manager der tants Ltd., hinter der sich der damalige ten mit der Klärung des Sachverhalts
Firma soll bei dem 196-Millionen-Euro- Athener KMW-Repräsentant Dimitris beauftragt.
66 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Wirtschaft

LUFTVERKEHR 2013*

Mehr Rechte für


Sonstige Reise-
14,0 zentrum
19,3
Passagiere 12,5
11,3
31,6

Das Europäische Parlament will am


2007*
Mittwoch dieser Woche deutlich ver-
besserte Rechte für Flugpassagiere be- 19,6
schließen. Bei Verspätungen von über
drei Stunden auf Flugstrecken von bis 25,0 Automat
zu 2500 Kilometern sollen die Flug- Internet 28,3
gesellschaften künftig 300 Euro Scha-
densersatz zahlen – 50 Euro mehr als 28,2 Agentur-
vertrieb
bislang. Auf der Langstrecke ab 6000 10,2
Kilometern gibt es bereits nach sieben
Stunden (zuvor zwölf) einen Betrag
von 600 Euro als Entschädigung.
Gelingt es Lufthansa & Co. nicht, den
Fluggast innerhalb von zwölf Stunden Ticketverkauf
weiterzutransportieren, kann er mit der Deutschen Bahn nach Vertriebswegen,
einer anderen Linie fliegen – zu Anteil der Einnahmen
Lasten der ursprünglich gebuchten Air- in Prozent Quelle: DB; *jeweils Dezember
line. Höhere Gewalt dürfen die Firmen
künftig nur noch in engbegrenzten
Fällen geltend machen, um Ansprüche RENTENREFORM
abzuwehren. „Die Fluggesellschaften

Teure Versprechen
SOEREN STACHE / PICTURE ALLIANCE / DPA

dürfen die Kunden nicht mehr syste-


matisch hinters Licht führen“, sagt der
SPD-Abgeordnete im Europaparla-
ment Knut Fleckenstein. Damit ge- Das vergangene Woche verabschiede-
strandete Passagiere ihre Rechte auch te Rentenpaket der Bundesregierung
tatsächlich durchsetzen können, sollen dürfte Beitrags- und Steuerzahler um
die Airlines künftig verstärkt Kunden- einiges teurer zu stehen kommen als
berater an den Flughäfen einsetzen, von der Regierung bislang behauptet.
die den Verbrauchern beistehen. Nach einer Studie des Finanzwissen-
schaftlers Reinhold Schnabel von der
Universität Duisburg-Essen könnten
zusätzliche Leistungen wie die Mütter-
BUNDESLIGA
rente und die abschlagsfreie Rente mit
63 bis 2030 insgesamt 233 Milliarden

Investoren setzen auf Hertha-Nachwuchs Euro kosten. Die Bundesregierung


rechnet in ihrem Gesetzentwurf da-
gegen bislang nur mit direkten Mehr-
Der Finanzinvestor KKR macht den wirtschaftlichen Erfolg seines gut 61 Millionen kosten in Höhe von rund 160 Milliar-
Euro teuren Investments beim Bundesliga-Club Hertha BSC nicht von einem Ein- den Euro. Schnabel macht eine ande-
stieg des Vereins in die Champions League abhängig. Es sei unrealistisch zu erwar- re Kalkulation auf: Er geht aufgrund
ten, dass Hertha BSC alsbald in der lukrativen Königsklasse spiele, heißt es intern. der Erfahrungen früherer Jahre davon
KKR hat den Firmenwert von Hertha BSC mit gut 200 Millionen Euro angesetzt. aus, dass deutlich mehr Anspruchs-
Für eine Steigerung soll neben zusätzlichen Sponsoring-Erlösen auch die hauseigene berechtigte von der Rente mit 63 Ge-
Nachwuchsförderung sorgen. Bei der Wertprüfung widmeten die Investoren nach brauch machen könnten als von der
Club-Beobachtern der Jugendakademie besondere Aufmerksamkeit. Sie gilt als Politik erwartet. Das allein treibe die
eine der besten in der Liga. Der KKR-Einstieg direkten Mehrausgaben für die Alters-
ermöglicht Hertha auch den Rückkauf von kasse auf 190 Millionen Euro. Anders
Vermarktungsrechten. Dadurch kann der Club als die Bundesregierung berücksich-
jährlich mit zusätzlich knapp zehn Millionen tigt der Finanzexperte zudem, dass
BORIS STREUBEL / BONGARTS / GETTY IMAGES

Euro rechnen – und seine Verhandlungsposition dem Staat in erheblichem Maße


bei Spielertransfers verbessern. Obwohl der Her- Steuern und Sozialbeiträge dadurch
tha-Deal für den 90 Milliarden Dollar schweren verlorengehen, dass künftig mehr
Investor kaum ins Gewicht fällt, hat er sogar das Menschen in den vorgezogenen Ruhe-
Interesse des Top-Managements in den USA stand wechseln werden. Diese Ein-
geweckt: Die Firmengründer Henry Kravis und nahmeausfälle kalkuliert der Ökonom
George Roberts schickten zum Vertragsabschluss mit weiteren 43 Milliarden Euro.
eine E-Mail an das Hertha-Management und Erstellt wurde die Studie im Auftrag
bestellten zwei Trikots mit ihren Namen, jeweils der arbeitgeberfinanzierten Initiative
Spieler von Hertha BSC mit der Rückennummer 10 und in Größe M. Neue Soziale Marktwirtschaft.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 67
Wirtschaft

KONZE RNE

Angriff der Piranhas


Bei der Übernahmeschlacht zwischen Porsche und VW haben Hedgefonds
viel Geld verloren. Nun wollen sie es zurück: US-Investoren verklagen Ferdinand
Piëch und Wolfgang Porsche persönlich auf Schadensersatz in Milliardenhöhe.

BRENDAN MCDERMID / REUTERS


US-Spekulant Singer

W
er das Lebenswerk Ferdinand seien Unterlagen geschreddert worden. fällt, weil er dies nach den Ankündigun-
Piëchs beurteilen will, hat die Man habe „nicht registrierte Mobiltelefo- gen der Porsche-Führung erwartet hatte.
Wahl zwischen zwei Versionen: ne“ verwendet und eine „sonst nur Re- Die Chefs hatten lange abgestritten, ein-
Die einen sehen in ihm den langjährigen gierungen zugängliche Verschlüsselungs- mal bis zu 75 Prozent der Stammaktien
Vorstands- und Aufsichtsratschef des technologie“. von VW erwerben zu wollen. Nachdem
Volkswagen-Konzerns, der das Unterneh- Paul E. Singer gilt als einer der härtes- Porsche dieses Ziel dann aber am 26. Ok-
men zu einem der führenden Hersteller ten Vertreter in der Branche der Hedge- tober 2008 bekanntgegeben hatte, schoss
der Welt gemacht hat und dafür am ver- fonds, die ohnehin nicht gerade für ihre der VW-Kurs in die Höhe. Anleger, die wie
gangenen Dienstag zum Ehrenbürger der sanfte Vorgehensweise bekannt ist. Singer auf sinkende Notierungen ge-
Stadt Braunschweig ernannt wurde. Anleger haben Singer mehr als wettet hatten, verloren viel Geld.
„Sie haben Deutschland stärker ge- 21 Milliarden Dollar anver- Und dieses Geld will Singer
macht“, lobte Ex-Kanzler Gerhard Schrö-
der den VW-Patriarchen bei der Feier. „In
der Automobilbranche gibt es keinen
Zweiten, der Vergleichbares geleistet hat.“
Andere dagegen halten Piëch für einen
traut. Er selbst soll über ein
Vermögen von mehr als ei-
ner Milliarde Dollar verfü-
gen. Und wenn Singer die
Chance wittert, es zu ver-
5,7
Milliarden Euro fordern
nun mit einer Schadensersatz-
klage wieder hereinholen.
Vor dem Landgericht
Frankfurt verklagt seine El-
liott Associates LP Ferdi-
Trickser und Betrüger, der für seine Ge- mehren, schreckt er vor Hedgefonds und nand Piëch und Wolfgang
schäfte mitunter zu Methoden greift, wie nichts zurück, nicht einmal Privatanleger von Porsche persönlich auf Scha-
man sie sonst nur „aus dem Bereich der vor den Regierungen mäch- densersatz in Höhe von ins-
Geheimdienste und der Organisierten Kri- tiger Staaten. So ließ er 2012 ein
Porsche. gesamt 1 807 891 123 Euro.
minalität“ kennt. So steht es in einer Kla- Schiff der argentinischen Marine Die 1,8-Milliarden-Klage ist die
ge, die US-Investor Paul E. Singer beim pfänden, nachdem das Land Schuld- jüngste Eskalationsstufe im Streit dar-
Landgericht Frankfurt eingereicht hat. verschreibungen, die er erworben hatte, über, ob bei der Übernahmeschlacht zwi-
Gemeinsam mit seinem Cousin Wolf- nicht vollständig begleichen wollte. schen Porsche und VW alles mit rechten
gang Porsche habe Piëch die Übernahme Im Fall Piëch geht es Singer um die Dingen zuging. Verschiedene Hedgefonds
des VW-Konzerns heimlich vorbereitet Aufarbeitung eines der spannendsten Ka- und Privatanleger fordern von der Por-
und die übrigen Aktionäre dabei ge- pitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte: sche Automobil Holding SE insgesamt 5,7
täuscht, heißt es da. Entwicklung und der Übernahmeschlacht zwischen Por- Milliarden Euro Schadensersatz. Mit der
Ausführung des Plans seien über ein „ge- sche und dem VW-Konzern vor sechs Jah- Klage gegen Ferdinand Piëch und Wolf-
heimes Logistikzentrum in Österreich er- ren. Sein Hedgefonds hatte viel Geld dar- gang Porsche wollen sie den Druck nun
folgt“. Um keine Spuren zu hinterlassen, auf gesetzt, dass der Aktienkurs von VW offenbar erhöhen. Bislang sind Privat-
68 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
anleger und Profi-Spekulanten nicht
weit gekommen mit ihren Klagen, weder
in den USA noch in Deutschland. Aber
in diesem Jahr wird sich entscheiden, ob
Porsche doch noch Milliardenzahlungen
drohen. Am 30. April beginnt ein Ver-
fahren in Braunschweig und am 10. Fe-
bruar eines am Landgericht Stuttgart.
Die Klagen sind komplex. Es geht um
„cash gesettelte Put- und Call-Optionen“,
um „Swap-Geschäfte“ und vor allem dar-
um, was ein Unternehmen wie Porsche
wann bekanntgeben muss, wenn es ei-
nen Konzern wie Volkswagen überneh-
men will. Die Akten zeigen, mit welch
harten Bandagen Hedgefonds kämpfen.
Und sie gewähren zugleich einen einma-
ligen Einblick in die Arbeit jener Inves-
toren, die ihr Geschäft gern im Verbor-
genen betreiben und am liebsten über
Steueroasen abwickeln.
Einer von ihnen ist Charles P. Cole-
man III. Der Finanzmanager entstammt
der Stuyvesant-Familie, er wuchs auf
Long Island, New York, auf. Coleman
war befreundet mit dem Sohn von Julian
Robertson, der als einer der Begründer
der Hedgefonds gilt. Als Robertson sei-
nen Fonds im Jahr 2000 schloss, übertrug
er mehreren jungen Managern die Auf-
gabe, Teile des Vermögens zu verwalten.
Coleman sollte 25 Millionen Dollar an-
legen, und der gerade 25-Jährige war da-
bei äußerst erfolgreich.
Er vervielfachte das Vermögen, zum
Teil dadurch, dass er in Internetfirmen
investierte, bevor diese an der Börse no-
tiert wurden. Und mit nun 38 Jahren ma-
nagt Coleman einen der erfolgreichsten
Hedgefonds der USA. Im sogenannten
Tiger Global hält Coleman Aktien und
Firmenbeteiligungen, deren Wert von
Experten auf über elf Milliarden Dollar
geschätzt werden, sein Privatvermögen
taxierte „Forbes“ bereits im Jahr 2012
auf 1,5 Milliarden Dollar.
Für Coleman begann die Übernahme-
schlacht Porsche/Volkswagen am 17. Juli
des Jahres 2008. Um 11.07 Uhr erhält er
eine E-Mail von seinem Analysten Neeraj
Chandra. Er habe sich, schreibt Chandra,
die Sache mit Volkswagen nun „genauer
angesehen“. Die VW-Aktie nähere sich
ihrem „Allzeithoch.“ Die „Massenferti-
gung von Pkw“ sei „ein mittelmäßiges
bis schlechtes Geschäft“ und „Volkswa-
gen extrem abhängig von einem schwä-
chelnden Europa“. Die jüngsten Kursge-
winne seien nur erklärbar, weil Porsche
seinen Anteil an VW auf 51 Prozent er-
höhen wolle und sich schon Optionen ge-
HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF

sichert habe. Eine noch höhere Betei-


ligung aber sei nicht geplant, und so wer-
de die Überbewertung der VW-Aktie
„bald kollabieren“. Er empfehle deshalb
einen „sofortigen short von $ 30 Millio-
nen in Volkswagen-Stammaktien“.
Ein „short“ ist eine Spekulation auf VW-Aufsichtsrat Piëch
fallende Kurse. Dabei verpflichtet sich
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 69
Wirtschaft

ein Anleger, Aktien zu einem späteren Um 17.40 Uhr schaltet sich auch der aktien im freien Handel. Anleger, die
Zeitpunkt zu einem festen Kurs zu ver- bei Viking für die Autobranche zuständi- „short“ gegangen sind, sitzen in der Falle.
kaufen – beispielsweise VW-Aktien in ei- ge Analyst Andrew Immerman in den Sie haben sich verpflichtet, VW-Aktien zu
nem halben Jahr für 300 Euro. Fällt der Dialog ein: „Ich stimme zu, dies sieht einem niedrigen Kurs an ihre Vertragspart-
Kurs auf 200, kann man die Aktien billig nach einer großartigen Short-Gelegenheit ner zu liefern; doch nun steigen die Notie-
erwerben und für 300 verkaufen. Die Dif- aus.“ Er behalte „die Sache im Auge, um rungen, und niemand weiß, wie lange die
ferenz ist der Gewinn. sicherzustellen, dass uns nichts entgeht“. Rekordjagd anhält. Ist der Höchststand bei
Um 11.25 Uhr antwortet Hedgefonds- Die Hedgefonds-Manager haben Wit- 1000 Euro erreicht – oder erst bei 2000
Chef Coleman seinem Analysten: „War- terung aufgenommen. Colemans Tiger- oder 3000 Euro? Egal, sie müssen jetzt so
um shorten wir nicht mehr als 30 Millio- Fonds und Halvorsens Viking-Fonds set- viele Aktien wie möglich erwerben, um
nen?“ Chandra antwortet: „Ich bin auf zen auf einen fallenden VW-Kurs. Alles ihre Verluste beim späteren Verkauf we-
jeden Fall dafür.“ läuft prächtig, doch dann, im September nigstens etwas begrenzen zu können.
2010, geschieht das Unerwartete: Die VW- Am Ende fahren die Fonds von Cole-
Aktien steigen, von 200 auf 300 Euro. man mit ihrem VW-Engagement laut Kla-
Für Porsche sind die Risiken Am 18. September, um 7.10 Uhr, fragt geschrift einen Verlust von 330,7 Millio-
erheblich. Hedgefonds Coleman seinen Analysten Chandra: nen Euro ein, die Viking-Fonds von Hal-
„Was passiert mit den Volkswagen- vorsen 336,8 Millionen. Das ist, sollte
können sich die besten Stammaktien?“ man meinen, das ganz normale Ge-
Chandra ist ratlos. „Meines Wissens schäftsrisiko von großen Spekulanten.
Anwaltskanzleien sichern. hat sich an der fundamentalen Perspekti- Doch davon wollen die US-Fonds nichts
ve nichts geändert“, mailt er seinem Boss wissen. Sie fühlen sich von Porsche be-
Bei einem „short“ kann man auch ver- um 7.41 Uhr. „Meine einzige Sorge ist, trogen.
lieren. Wenn der Kurs steigt, statt wie er- dass sie bei Porsche irrational werden und Der Sportwagenhersteller, behaupten
wartet zu fallen, muss man die Aktien beschließen, dass sie mehr als 51 Prozent sie, habe bereits im Februar 2008 den
beispielsweise zu 400 oder 500 Euro kau- (an VW) wollen“. Porsche habe „gesagt, Plan gefasst, eine 75-Prozent-Mehrheit
fen und am Stichtag zu 300 weiterver- dass sie das nicht wollen“. an VW zu übernehmen. In diversen In-
kaufen. Es entsteht ein Verlust, der im Am 26. Oktober schließlich teilt Por- terviews und Presseerklärungen hätten
Extremfall ein Vielfaches des Einsatzes sche das mit, was an den Börsen ein Be- Porsche-Manager einen solchen Plan aber
betragen kann. ben auslöst: Mit eigenen Aktien und Op- stets abgestritten und über Monate ver-
Menschen wie Coleman wissen um die- tionen kontrolliere Porsche inzwischen kündet, dass man nicht mehr als 50 Pro-
ses Risiko. Sie leben davon, dass sie häu- 74,1 Prozent der VW-Stammaktien. Noch zent an dem Wolfsburger Unternehmen
figer gewinnen als verlieren. Und sie sind im Laufe des Jahres 2009 solle der Anteil erwerben wolle. Damit wollte Porsche
stets auf der Suche nach neuen Wetten. am Wolfsburger Autokonzern auf 75 Pro- den Preis für VW-Aktien „möglichst güns-
Der im Jahr 2008 auffällig hohe VW-Kurs zent aufgestockt werden. tig“ halten, behaupten die US-Kläger.
zog Hedgefonds an, als hätte jemand ei- Das Risiko, das die Hedgefonds zuvor Hätte Porsche im Sommer 2008 infor-
nen blutigen Kalbskopf in ein Piranha- zwar gesehen, dessen Eintreten sie aber miert, dass man im Hintergrund bereits
Becken geworfen. für nahezu ausgeschlossen gehalten hatten, dabei war, sich einen 75-Prozent-Anteil
Andreas Halvorsen gilt wie Coleman ist plötzlich Realität. Der VW-Kurs wird zu sichern, hätten die Fonds nie „auf ei-
als Ziehsohn von Julian Robertson, dem weiter steigen. Neben den von Porsche nen fallenden Kurs“ gesetzt.
Vater der Hedgefonds. Halvorsen ist in kontrollierten 74 Prozent liegt ein 20-Pro- Für die Porsche-Anwälte aus der Kanz-
Norwegen geboren, ließ sich an der Ma- zent-Aktienpaket beim Land Niedersach- lei Hengeler Mueller ist all das nicht
rineakademie ausbilden und leitete ein sen. Damit sind zu diesem Zeitpunkt nur nachvollziehbar. Die Kläger, erwidern sie,
Seal-Team, eine militärische Spezialein- noch gut fünf Prozent der VW-Stamm- seien „Spekulanten“. Sie hätten „ihre
heit. Später studierte er in Stan- Kurswetten in voller Kenntnis
ford und gründete 1999 den Vi- der Risiken eingegangen“ und
king Global Investors-Fonds. Schuss nach oben 28. Oktober versuchten nun den Eindruck zu
Halvorsen verwaltet mittlerwei- VW-Aktie 2008, in Euro Zwischen- erwecken, als wäre dies „auf der
zeitlicher
le über 16 Milliarden Dollar und Quelle: Thomson Reuters Datastream Höchststand:
Basis der Lektüre von Pressemit-
gilt als einer der bestverdienen- teilungen“ geschehen.
den Hedgefonds-Manager der 800 1005 Zudem habe Porsche zu kei-
Welt. Sein Jahreseinkommen ner Zeit etwas Falsches gesagt.
wird auf 200 Millionen Dollar Alle Aussagen und Erklärungen
geschätzt. hätten der jeweiligen Beschluss-
Am 10. Juni 2008 um 17.32 lage entsprochen. Es komme
Uhr mailt ihm sein Analyst Tho- 600 nicht darauf an, was einzelne
mas Purcell: „Die Bewertungs- Manager sagen oder denken,
multiplikatoren für VW sind ver- 10. März sondern was Vorstand und Auf-
rückt.“ Der Marktwert von VW Porsche dementiert sichtsrat entscheiden. Und einen
sei gestiegen, obwohl die „euro- 400 die Absicht, seinen Beschluss, den Anteil an VW
Anteil an VW-Aktien
päischen Autobauer als Gruppe auf 75% zu erhöhen.
auf 75 Prozent aufzustocken,
35 Prozent eingebüßt“ hätten. habe es bis zum 26. Oktober
„Früher oder später bricht so et- nicht gegeben. Bis dahin sei bei-
was zusammen.“ 200
spielsweise völlig unklar gewe-
Sieben Minuten später 153 sen, ob Ferdinand Piëch, einer
schreibt Halvorsen: „Meines Er- 26. Oktober der Hauptaktionäre von Por-
Porsche erklärt, seinen Anteil sche, einem solchen Schritt über-
achtens haben wir eine großar-
auf 75% aufstocken zu wollen.
tige Gelegenheit für Leerverkäu- haupt zustimmen würde.
fe. Ich sehe nicht, wie die Aktie 0 Den vermeintlichen Geheim-
noch nachhaltig zulegen kann.“ Jan. März Okt. Dez. plan zur Übernahme von VW,
70 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
argumentieren die Porsche-Anwälte, hät-
ten die Fonds-Manager nicht ansatzweise
bewiesen. Die Porsche-Anwälte fordern
deshalb vom Landgericht Stuttgart, die
Klage der Fonds, die zu einem großen
Teil „Briefkastenfirmen“ in Steueroasen
seien, abzuweisen.
Die Fronten sind klar, nächste Woche
treffen die Kontrahenten in Stuttgart erst-
mals aufeinander. Die Anwälte der
Hedgefonds wehren sich vorab schon mal
dagegen, dass Porsche versuche, sie „als
Finanzinvestoren zweifelhaften Rufs dar-
zustellen“. Es gehe hier „nicht um einen

SASCHA SCHUERMANN / DAPD


Beliebtheitswettbewerb“.
Am ersten Verhandlungstag wird der
Richter die beiden Parteien fragen, ob sie
sich nicht lieber außergerichtlich einigen
wollen. Porsche wird ablehnen, denn das Betriebsratschef Klemm
Unternehmen hat Zeit. Bis ein rechtskräf-
tiges Urteil ergeht, wird es nach Einschät-
zung von Verfahrensbeobachtern mindes- zern vor Jahrzehnten erfolgreich war. So
tens fünf Jahre dauern. DA I M L E R entwickelt Mercedes-Benz beispielsweise

Der Bremser
Doch auch für Porsche sind die Risiken seine Getriebe noch selbst und investiert
erheblich. Hedgefonds verfügen über ge- dafür mehrere hundert Millionen Euro.
nügend Geld, um sich die besten Anwalts- Diese Aufträge an Lieferanten zu verge-
kanzleien zu sichern. Und wie Gerichte ben kommt für den Betriebsrat nicht in
die komplexen Geschäfte einschätzen, ist Betriebsrat Klemm ist einer der Frage. BMW dagegen kauft Getriebe bei
schwer vorhersehbar. mächtigsten Männer bei Daimler. einem Zulieferer und kann mehr Geld
Investor Singer jedenfalls verschärft die Sein Einfluss ist nicht immer für die Konstruktion von Elektro- und
Gangart, indem er nun auch von den Pri- Hybridfahrzeugen ausgeben.
vatpersonen Ferdinand Piëch und Wolf- segensreich. Jüngstes Opfer: Kron- Betriebsräte modernen Typs wie Man-
gang Porsche Schadensersatz verlangt. Er prinz Renschler, der zu VW geht. fred Schoch (BMW) und Bernd Osterloh
verklagt sie wegen Verstoßes gegen Para- (VW) mischen sich in die Modellpolitik

E
graf 826 BGB wegen sittenwidriger und rich Klemm wird am 25. April 60 Jah- ein und setzen die Entwicklung zusätz-
vorsätzlicher Schädigung. re alt. Der Betriebsratsvorsitzende licher Fahrzeuge durch, mit deren Pro-
„Die Beklagten sind österreichische von Daimler geht dann in Alters- duktion Arbeitsplätze gesichert werden.
Milliardäre, deren Privatvermögen sich teilzeit. Das ist wahrscheinlich gut so für Klemm leistet Widerstand, wenn Mana-
maßgeblich auch aufgrund der schädigen- Klemm, der ein stressreiches Arbeits- ger etwas verändern wollen, wie zum Bei-
den Handlungen in kurzer Zeit mehr als leben hinter sich hat. Die Vorfreude auf spiel der Produktionsvorstand Wolfgang
verdoppelt hat“, heißt es in der Klage, diesen Tag ist aber auch im Management Bernhard. Der Sanierer wollte die Ferti-
die wohl auch den Druck auf die Betei- verbreitet. Klemm gilt als Bremser. gung verschlanken, um Kosten zu sparen.
ligten erhöhen soll, doch noch einer au- Der gelernte Maschinenschlosser ist ei- Klemm stellte sich quer und forderte, Bern-
ßergerichtlichen Einigung zuzustimmen. ner der mächtigsten Männer bei Daimler. hard von seinem Posten abzuziehen. Er
Ein paar hundert Millionen sofort wären Klemm ist seit knapp 15 Jahren stellver- sollte die Position mit Renschler tauschen,
Hedgefonds wohl mehr wert als die vage tretender Vorsitzender des Aufsichtsrats. der bis dahin allein verantwortlich für das
Aussicht auf eine Milliarde in einigen In dieser Zeit fiel keine wesentliche Ent- Geschäft mit Lkw war, das 31 Milliarden
Jahren. scheidung ohne seine Zustimmung. Euro Umsatz erwirtschaftet.
Ein Porsche-Sprecher weist die Vorwür- Entsprechend mitverantwortlich war Aufsichtsratschef Manfred Bischoff er-
fe zurück. Die Mutmaßungen der Kläger Klemm, als der einstige Konzernchef Jür- füllte den Wunsch des Betriebsrats, und
seien durchweg unzutreffend. gen Schrempp beim Versuch, eine Welt Renschler fühlte sich degradiert. Statt den
Bei Ferdinand Piëch zeigen die Vor- AG zu formen, Milliarden verschwendete. weltweit führenden Lkw-Hersteller mit
würfe keine Wirkung. Was andere von Klemm sorgte dafür, dass Schrempps Ver- gut 80 000 Beschäftigten zu führen, sollte
ihm halten, war ihm schon immer relativ trag mehrfach verlängert wurde und der er nur noch die Produktion in den Pkw-
gleich. Das gilt für Kritik ebenso wie für Manager viel zu lange im Amt bleiben Fabriken steuern. Er sah nur zwei Mög-
Lob. konnte. Das Problem: Schrempp ging die lichkeiten: Entweder er bekommt in ab-
Dies bewies er am vergangenen Diens- Rationalisierung der deutschen Fabriken, sehbarer Zeit die komplette Führung des
tag, nachdem ihn Ex-Kanzler Schröder die damals überfällig war, nicht an. Pkw-Geschäfts, oder er geht. Ein Ange-
bei der Feier in Braunschweig über- Der Betriebsratsboss hat auch zu ver- bot von VW hatte er schon lange. Aber
schwenglich gepriesen und mit Steve Jobs antworten, dass mit Vorstand Andreas Klemm und Bischoff reagierten nicht.
und Bill Gates verglichen hatte. Renschler nun derjenige Manager den Und Konzernchef Zetsche will den Pos-
„Sehr geehrter Herr Schröder“, antwor- Konzern verlässt, der auch bei den Ver- ten als Mercedes-Boss, den er in Perso-
tete Piëch, es habe in der Rede „zu viele tretern der Arbeitnehmer als geeignetster nalunion ausübt, nicht abgeben.
lobende Worte“ gegeben. Schließlich Kandidat für die Nachfolge von Daimler- Also geht Renschler. Damit ist ein Kan-
habe er sein Leben lang nichts anderes Chef Dieter Zetsche galt. didat der Arbeitnehmer für den Chefpos-
getan, als seinem Hobby nachzugehen, Klemm ist das Musterbeispiel eines Ar- ten im Konzern nun weg und Sanierer
„die richtigen Autos für unsere Kunden beitnehmervertreters der alten Schule. Es Bernhard weiter im Rennen: Schlimmer
weltweit zu bauen“. FRANK DOHMEN, geht ihm ums Bewahren, ums Verteidigen konnte es für Klemm nicht kommen.
DIETMAR HAWRANEK von Strukturen, mit denen der Autokon- DIETMAR HAWRANEK

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 71
Wirtschaft

Die Zielgruppe Ex-Ehemänner hatten Fällen muss der Mann dabei am Ende An-
SOZIALES die Frauenbünde von CDU und CSU ge- sprüche an die Ex-Gattin abtreten.

Für eine
wiss nicht im Blick, als sie den Erzie- Da die Mütterrente aber die Altersver-
hungszuschlag im Wahlkampf zum ul- sorgung vieler längst geschiedener Frauen
timativen Gerechtigkeitsthema erkoren: erhöht, könnten ihre Ex-Männer bei den

Kiste Pils
Mütter und Väter, deren Kinder vor 1992 Familiengerichten nun beantragen, den
zur Welt kamen, sollen künftig ein wenig Versorgungsausgleich neu aufzurollen.
besser behandelt werden. Weil viele von „Das ist eine logische Konsequenz der
ihnen für die Erziehung der Sprösslinge Mütterrente“, sagt Heinrich Schürmann,
Die Mütterrente hat einen un- im Job aussetzten, sollen sie für diese stellvertretender Vorsitzender des Deut-
erwünschten Nebeneffekt: Tausende Zeit künftig höhere Rentenansprüche schen Familiengerichtstags. „Bei einem
erwerben. Damit wollte die Union vor Rentenplus von 28 Euro pro Kind können
Scheidungsverfahren könnten neu allem die traditionelle Hausfrau um- die Männer damit rechnen, an der Hälfte
aufgerollt werden. Die Familien- schmeicheln, und die SPD fügte sich wi- der Erhöhung beteiligt zu werden.“
gerichte befürchten einen Ansturm. derwillig. Ein monatliches Plus im Gegenwert
Mit Kosten von 6,7 Milliarden pro Jahr von einer Kiste Pils: Es soll Männer ge-

S
eine Scheidungsurkunde bewahrt hält die Mütterrente nun den Rekord als ben, die schon für bescheidenere Sum-
Hans-Joachim Buchholz stets griff- teuerstes Sozialprojekt der neuen Regie- men vor Gericht zogen – vor allem, wenn
bereit in einem Ordner auf. Drei rung – und als das umstrittenste. Ihre Geg- es gegen die Ex ging.
Kinder haben er und seine Ex-Frau groß- ner haben jetzt ein neues Argument: Vom Dabei war das Problem der Regierung
gezogen, mehr als drei Jahrzehnte unter sogenannten Versorgungsausgleich nach bekannt. Schon im Herbst hatte die Bun-
einem Dach gelebt. Vor 19 Jahren lösten dem Ende einer Ehe profitiert nun auch desvereinigung Deutscher Arbeitgeber-
sie ihre Ehe auf. „Im Namen verbände in einem Papier
des Volkes“, so steht es im „Hunderttausende neuer Ver-
Urteil des Amtsgerichts. fahren“ vorhergesagt. Im Ja-
In den Unterlagen hatte nuar warnte auch die Deut-
Buchholz lange nicht geblät- sche Rentenversicherung das
tert. Die finanziellen An- Sozialministerium schriftlich
sprüche der Eheleute waren vor „zusätzlichen Belastun-
geklärt, die Trennungswun- gen der Familiengerichte“.
den verheilten. Doch dann Die Mahnung war nicht ganz
beschloss die Union, mit uneigennützig: Beschließt
dem Versprechen höherer ein Gericht einen neuen Aus-
Mütterrenten in den Bundes- gleich zwischen Geschiede-
tagswahlkampf zu ziehen – nen, muss die Rentenkasse
und Buchholz holte seinen die Versichertenkonten an-
Ordner aus dem Regal. passen. Schon 2012 stöhnten
Noch im November, als ihre Sachbearbeiter über
Union und Sozialdemokra- 261 000 solcher Kontoände-
ten über ihr Regierungspro- rungen – ganz ohne Mütter-
gramm verhandelten, schick- rente.
te er einen Brief an SPD- Auch das Justizministeri-
DANIEL NAUPOLD / DPA

Chef Sigmar Gabriel. Wenn um griff nicht ein. Nachträg-


seine Ex-Frau künftig pro liche Änderungen der Ren-
Kind monatlich 28 Euro tenanrechte seien „nichts
mehr an Rente erwarten dür- Ungewöhnliches im Versor-
fe, „dann hätte ich davon gungsausgleich“, heißt es
gern die Hälfte“, notierte Sozialministerin Nahles: Väter als Gewinner dort. Da die Beamten des
Buchholz. Rechtsressorts keine Ände-
Er rechne damit, dass über eine Million jene Vätergeneration, die an der Betreu- rungswünsche äußerten, sah sich das So-
geschiedener Väter in einer ähnlichen ung ihres Nachwuchses in der Regel nur zialministerium auf der sicheren Seite.
Situation steckten – und nun darüber einen überschaubaren Anteil hatte. „Vor Hans-Joachim Buchholz hat jedenfalls
nachdächten, die Familiengerichte einzu- allem geschiedene Männer, die lange ver- schon einmal nachgerechnet: Bei drei er-
schalten. „Freiwillig wird meine Ex-Frau heiratet waren und in traditionellen Ehen wachsenen Kindern erhöht sich die Müt-
keinen Cent herausrücken“, schrieb Buch- gelebt haben, könnten profitieren“, sagt terrente seiner Ex-Frau künftig um insge-
holz an den angehenden Vizekanzler. Anke Voss, Vizepräsidentin des Bundes- samt 84 Euro. Gäbe das Familiengericht
Inzwischen hat die Regierung Fakten verbandes der Rentenberater. einem Antrag recht, die Summe aufzutei-
geschaffen, das konnte der Rentner im Trennt sich ein Ehepaar, dann muss es len, dann könnte seine Rente um 42 Euro
Fernsehen erfahren. Am Mittwoch ver- sich nicht nur über das Reihenhaus, das steigen. Pro Monat, versteht sich.
gangener Woche segnete das Bundes- Tafelsilber und die Wochenenden mit den Nur findet Buchholz es etwas lästig, Pa-
kabinett den Gesetzentwurf der zustän- Kindern einigen. Der Zwang zum Teilen piere auszufüllen und Gerichtskosten zu
digen Sozialministerin Andrea Nahles ab, gilt auch für die Ansprüche an die gesetz- produzieren. Da sei es doch viel prakti-
im Juli soll die verbesserte Mütterrente liche Rentenkasse: Die Noch-Partner glei- scher, „automatisch eine getrennte Auf-
kommen. Buchholz will seinen Anteil chen ihre Rentenpunkte aus, die sie in den teilung“ der Mütterrente zwischen Mutter
nun vor Gericht einfordern. Und tatsäch- gemeinsamen Jahren erworben haben. und Vater vorzunehmen. Auch das hat
lich dürfte Justitia auf seiner Seite stehen: Wer sich zu Hause um die Kinder geküm- er in seinem Brief an Sigmar Gabriel ge-
Das komplizierte Trennungsrecht macht mert hat, soll sich später nicht schlechter schrieben.
geschiedene Väter zu heimlichen Nutz- stellen als derjenige Partner, der einer be- Eine Antwort hat er nie erhalten.
nießern der Mütterrente. zahlten Arbeit nachging. In den meisten CORNELIA SCHMERGAL

72 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Das gilt nicht nur für Deutschland, son-
dern für alle EU-Länder.
SPIEGEL: Wie weit sind Sie und Herr Ga-
briel bei einer Reform des EEG noch von-
einander entfernt?
Almunia: Wir sprechen nicht nur mit ihm,
sondern mit allen 28 Mitgliedstaaten dar-
über, wie wir eine grenzüberschreitende
Infrastruktur stärken, Energieeffizienz
verbessern und erneuerbare Energien un-
terstützen. Dies muss aber nach Markt-
prinzipien funktionieren, deshalb müssen
die Fördersätze an die Entwicklung an-
gepasst werden. Nehmen Sie Windkraft
an Land. Dort sind die Kosten beträcht-
lich gesunken. Das muss berücksichtigt
werden, wenn das deutsche Fördersystem
reformiert werden soll.
SPIEGEL: Sie klingen ziemlich entschlossen.
Sind Sie überhaupt zu einem Kompro-

WIKTOR DABKOWSKI / DER SPIEGEL


miss mit der Bundesregierung bereit?
Almunia: Vergangene Woche traf ich Bun-
desfinanzminister Wolfgang Schäuble,
den ich gut kenne, in Davos. Er sagte mir,
dass er seinen Kollegen in der Bundes-
Wettbewerbshüter Almunia regierung versichert habe, dass ich flexi-
bel bin. Das kann ich bestätigen; aber es
gibt noch einen anderen Punkt, in dem
ich mit Schäuble übereinstimme: Es ist
E U R O PA wichtig, dass wir die in Europa verabre-

„Jetzt oder nie mehr“


deten Regeln einhalten.
SPIEGEL: Das sieht nicht nur die Bundes-
regierung anders. Auch der französische
Industrieminister Arnaud Montebourg
hat Ihre Beihilfepolitik scharf kritisiert
EU-Kommissar Joaquín Almunia, 65, über seinen Angriff auf das und mehr nationalen Spielraum für Sub-
deutsche Ökostrom-Gesetz, das Kartell der Autozulieferer ventionen gefordert. Stimmen Sie zu?
Almunia: Montebourg liegt komplett falsch.
und darüber, warum seine Geduld mit Google erschöpft ist Seine Kritik war wahrscheinlich innen-
politisch motiviert. Dabei ist gerade
SPIEGEL: Herr Kommissar, als Europas Deutschland, wenn sie die vollen Grün- Frankreich auf einen starken innereuro-
oberster Wettbewerbshüter legen Sie sich strom-Kosten tragen müssten. päischen Binnenmarkt angewiesen. In ei-
mit den größten Unternehmen der Welt Almunia: Nun mal langsam. Zunächst ein- ner globalisierten Welt hilft es nicht, in
an, von Microsoft bis Google. Aber die mal erleben wir in den USA gerade eine nationalen Kategorien zu denken.
härteste Kritik an Ihnen kommt derzeit industrielle Revolution durch die Förde- SPIEGEL: Andere Wirtschaftsmächte wie
ausgerechnet von der Bundesregierung rung von Schiefergasen. Das drückt den China seien da weit weniger zurückhal-
im Streit um die deutsche Energiewende. Strompreis weit unter das europäische tend als die Europäer, sagt der Minister.
Fühlen Sie sich gerecht behandelt? Niveau. Damit nicht genug: Die Energie- Almunia: China ist ein kommunistisches
Almunia: Wir untersuchen die Ausnahmen preise in Frankreich, Deutschland oder Land. Wollen Sie in einem Land leben,
im Erneuerbare Energien Gesetz, von de- Spanien sind höchst unterschiedlich, weil in dem die Regierung in jede wirtschaft-
nen die energieintensiven Unternehmen wir keinen europäischen Strommarkt liche Entscheidung eingreifen kann?
profitieren. Wir hegen ernsthaft Zweifel haben. Das verzerrt den Wettbewerb. SPIEGEL: Es geht nicht um das politische
daran, ob diese Beihilfen mit den Wett- Wir wissen, dass manche energieinten- System, sondern um die Frage, wie Euro-
bewerbsregeln der EU vereinbar sind. sive Branche Schwierigkeiten hat, kon- pa gegenüber China konkurrenzfähig
SPIEGEL: Sigmar Gabriel, der neue Ener- kurrenzfähig zu bleiben. Wir werden bis bleiben kann.
gieminister, wirft Ihnen vor, das Wettbe- Ende April neue Regeln haben, unter Almunia: Gerade Deutschland ist sehr wett-
werbsrecht trickreich auszunutzen, um welchen Bedingungen diese Unter- bewerbsfähig gegenüber China. Wir Eu-
die nationale Energiepolitik zu beeinflus- nehmen staatliche Beihilfen bekommen ropäer investieren viel mehr in China als
sen. Ist da etwas dran? können. die Chinesen bei uns. Wir sollten darauf
Almunia: Nein. Nachdem er das gesagt hat- SPIEGEL: Wenn Sie mit Ihrer Klage Erfolg hinarbeiten, dass auch die Chinesen
te, habe ich eine freundliche Diskussion haben, müssten aber viele deutsche Un- schnell zu einer wirklichen Marktwirt-
mit ihm geführt. Gabriel weiß genau, wel- ternehmen ihre Förderbeträge aus den schaft werden.
che Aufgaben die EU-Kommission hat. vergangenen Jahren sogar zurückzahlen. SPIEGEL: Zurzeit ermitteln Ihre Beamten
Solange die Deutschen gemäß der EU- Geht das nicht ein bisschen weit? gegen Autozulieferer wie Bosch, Faurecia,
Verträge handeln, werden wir uns auch Almunia: Zunächst analysieren wir die Ar- Schaeffler und Valeo, weil sie die Preise
nicht einmischen. gumente Deutschlands. Es gehört zu un- manipuliert haben sollen. Stimmt das?
SPIEGEL: Bei den Ausnahmen für energie- seren Prinzipien, dass Mitgliedsländer Almunia: Es ist unglaublich, was in der Au-
intensive Unternehmen geht es immerhin Subventionen, die mit den EU-Regeln in- toindustrie läuft. Vor ein paar Monaten
um den Erhalt des industriellen Kerns in kompatibel sind, zurückerstatten müssen. haben wir das erste Urteil gegen Zuliefe-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 73
Wirtschaft

rer verkündet, letzte Woche hatten wir


einen zweiten Fall, in dem es um Schaum-
stoff in Autositzen ging. Wir ermitteln IMMOBILIEN

Das Luxus-Problem
gegen mehr als 70 weitere Unternehmen,
betroffen sind über hundert verschiedene
Autoteile. Wenn Sie die alle rot markie-
ren würden, hätten Sie ein rotes Auto.
SPIEGEL: Wie viel mehr kosten Autos
durch die Preisabsprachen? Um die Mieten stabil zu halten, untersagen die Behörden in den
Almunia: Das kann ich bis zum Ende unse- In-Vierteln großer Städte den Einbau von Doppelwaschbecken,
rer Untersuchungen nicht beantworten.
Aber die Autoindustrie, die ein so wich- Zweit-WCs oder Balkonen. Das Verbot trifft auf Widerstand.
tiger Wirtschaftszweig in Deutschland ist,

W
musste wohl höhere Preise für fast jedes enn Wohnungsbesitzer in Berlin ße Ausstattung hinaus, ist also unnötiger
Autoteil zahlen. Es ist sehr wahrschein- ihre vier Wände ein wenig ver- Komfort und geeignet, die Mietpreise
lich, dass diese höheren Kosten an den ändern wollen – etwa ein Gäs- hochzutreiben.
Verbraucher weitergereicht wurden. Da te-WC einbauen oder den Balkon vergrö- Das benachbarte Pankow hat seine Lu-
geht es auch um die Wettbewerbsfähig- ßern –, dann scheitert das Vorhaben sel- xusliste mittlerweile zwar „entschlackt“,
keit der europäischen Industrie. ten an der Statik oder den Kosten. Es wie der dortige Stadtentwicklungschef
SPIEGEL: Müssen die Hersteller von Kugel- sind die Behörden, die ihnen mitunter Jens-Holger Kirchner bemerkt; tatsäch-
lagern und Autositzen schon bald mit ei- einen Strich durch die Rechnung machen. lich wurde vor zwei Jahren noch das
ner Kartellstrafe rechnen? Tilo Krause kann ein Lied davon singen. wandhängende WC als Luxus eingestuft.
Almunia: Die Frage müsste eigentlich an- Krause ist Rechtsanwalt mit Spezial- Nach wie vor aber verweigert die Behör-
dersherum gestellt werden. Welche Teile gebiet Immobilienrecht, seine Kanzlei de unter anderem den Einbau einer Fuß-
eines Autos sind nicht von den Kartell- befindet sich am Prenzlauer Berg. Fast bodenheizung, eines Innenkamins oder
untersuchungen betroffen? Aber ich kann täglich hat er mit der Genehmigung von jeglicher Wärmedämmung, die das ge-
Sie beruhigen: Einige Verfahren werden Bauanträgen zu tun – und mit deren setzliche Mindestmaß übertrifft.
schon in den nächsten Monaten abge- Ablehnung. Nichts darf sich verändern, alles muss
schlossen sein. Kürzlich habe er einem Mandanten er- beim Alten bleiben, lautet die Devise. Da-
SPIEGEL: Schon vor drei Jahren zum Bei- klären müssen, warum ihm der Bezirk bei spielt es nicht einmal eine Rolle, ob
spiel haben Sie ein Verfahren gegen Friedrichshain-Kreuzberg keine Balkone der Eigentümer die Immobilie vermietet
Google eingeleitet, weil es seine domi- an seinem Mehrfamilienhaus gestatten hat oder selbst darin wohnt: Auch dann
nante Stellung ausgenutzt habe. Hoffen wollte. Mit den geplanten 6,5 Quadrat- darf er nicht frei darüber entscheiden,
Sie noch auf Zugeständnisse der Firma? metern werde der Wohnwert unangemes- wie er seine eigene Wohnung ausstatten
Almunia: Es liegt in beider Interesse, sich sen erhöht, mehr als vier Quadratmeter mag. Die Logik dahinter: Schon morgen
zu einigen. Ich habe im Dezember gesagt, seien nicht erlaubt. „Der Mann verstand könnte er sie ja vermieten.
dass die zweite Runde von Vorschlägen die Welt nicht mehr“, erzählt Krause. Hergeleitet werden solche Eingriffe in
durch Google nicht ausreichend war. Ein anderer Mandant wollte zwei Woh- das Eigentumsrecht aus dem Baugesetz-
SPIEGEL: Google hatte angeboten, die ei- nungen von 60 und 70 Quadratmetern zu- buch, Paragraf 172. Danach dürfen Ge-
genen Produkte besser zu kennzeichnen. sammenlegen, damit seine Familie mit meinden „zur Erhaltung der Zusammen-
Was passiert, wenn der Konzern nicht zu den zwei Kindern mehr Platz hat. Auch setzung der Wohnbevölkerung“ die Mo-
größeren Zugeständnissen bereit ist? hier wies der Anwalt ihn darauf hin, dass dernisierung von Altbauten
Almunia: Wenn sie das Problem, das wir das Amt die Grundrissänderung höchst-
erkannt haben, nicht ausreichend angehen, wahrscheinlich nicht genehmigen werde.
dann muss es ein formelles Wettbewerbs- Die Behörden berufen sich auf den so- Milieuschutzgebiete
verfahren geben. Das hat zwei Nachteile: genannten Milieuschutz, ein machtvolles in Berlin*
Es dauert im Durchschnitt etwa zwei wei- Instrument der Wohnungspolitik, von Pankow
tere Jahre bis zu einer Entscheidung dieser dem deutsche Großstädte zunehmend
Art. Und wir können so keine adäquaten Gebrauch machen. Angesichts spürbar
Richtlinien für die Zukunft aufstellen. steigender Mieten wollen Metropolen Prenzlauer
SPIEGEL: Google soll Ihnen nun ein drittes wie Berlin, Hamburg, München, Stutt- Berg
Angebot geschickt haben? gart oder Frankfurt am Main damit ver- Friedrichshain/
Spre Kreuzberg
Almunia: Wir sind nun im entscheidenden hindern, dass zahlungskräftige Zuzügler e
Moment und in ständigem Kontakt zu die alteingesessene Bevölkerung aus den
Google. Es gilt: jetzt oder nie mehr. beliebten Altbauquartieren verdrängen.
SPIEGEL: Der SPIEGEL berichtete, dass Die Ämter versuchen, die Aufwertung
2 km
2009 Ihr Telefon vom britischen Geheim- in den In-Vierteln zu bremsen – und
*einschließlich Erhaltungsgebiete
dienst angezapft wurde. Sind Sie sicher, greifen zuweilen tief in die Rechte der
dass Sie nicht mehr abgehört werden? Eigentümer ein.
Almunia: Nein, leider nicht. Wir haben ge- Die Stadtentwickler in Friedrichshain- Mietsteigerungen
lernt, dass jeder ausspioniert werden Kreuzberg haben haarklein aufgelistet, gegenüber 2007, in Prozent*
kann. Die Bundeskanzlerin, ein Kommis- was sie als luxuriös erachten und deshalb München ........................................ 33,7
sar in Brüssel, jeder Mensch in der Welt. ablehnen: Dazu gehört der Einbau einer Hamburg ........................................ 27,9
Das ist nicht akzeptabel und verstößt ge- Gästetoilette oder die Vermietung der Frankfurt a. M. ........................................ 22,2
gen all unsere demokratischen Prinzipien. Wohnung als Ferienapartment. Ebenfalls Berlin ........................................ 20,5
Die Politiker in der demokratischen Welt auf dem Index stehen der zweite Balkon
Köln ........................................ 15,6
müssen einen Weg finden, diesen unhalt- und das Doppelwaschbecken. Sogar die
baren Zuständen ein Ende zu bereiten. Einbauküche ist tabu. All dies geht nach * Nettokaltmieten in Euro/m², gesamter Bestand ab 1949,
mittlerer Wohnwert; Quellen: IVD, Destatis
INTERVIEW: CHRISTOPH PAULY, GERALD TRAUFETTER Ansicht der Behörde über eine zeitgemä-
74 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Angesichts der behördlichen Offensive
sind Eigentümer und Investoren in Sor-
ge – wie werden sie reagieren? Gut vor-
stellbar, dass manche nun klammheimlich
das Doppelwaschbecken einbauen lassen
oder die Wohnung an Touristen vermie-
ten in der Hoffnung, dass die Behörden
mit der Kontrolle überfordert sind. Ver-
stöße kann das Amt mit einem Bußgeld
von bis zu 25 000 Euro ahnden.
Viele aber werden Scherereien aus dem
Weg gehen und auf Modernisierung ver-
zichten. Das Ganze wirke kontraproduk-
tiv, kritisiert Jacopo Mingazzini, Vorstand
des Immobilienunternehmens Estavis, die
Politik habe „ein bürokratisches Monster“
geschaffen: „Investoren machen einen
Bogen um Milieuschutzgebiete.“
Am Ende bleibt die Frage, ob das Instru-
ment überhaupt dazu taugt, seine Absicht
zu erreichen, nämlich Mieterhöhungen

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF


und soziale Verdrängung zu verhindern.
Der Deutsche Mieterbund hält den Milieu-
schutz zwar für sinnvoll, etwa wenn er die
Umwandlung von Miet- in Eigentumswoh-
Altbauviertel in Berlin nungen bremse. Man dürfe aber nicht er-
warten, dass dadurch der Umzug in attrak-
tive Gegenden zum Erliegen komme.
steuern. Die Städte handhaben dies aller- Derzeit sei die Genehmigung von Zweit- Der Regensburger Immobilienökonom
dings ganz unterschiedlich. balkonen besonders umstritten: Da Tobias Just ist noch skeptischer. Wenn Mie-
In München gibt es bereits seit 1987 Wohnungen oft nur einen kleinen Austritt ten steigen, sei dafür in erster Linie die
eine entsprechende Satzung, rund 193 000 zur Straße hätten, beantragten die Eigen- Knappheit an Wohnraum verantwortlich,
Bürger leben in Milieuschutzzonen. Die tümer einen zusätzlichen Balkon zum argumentiert der Professor. Deshalb sollte
Behörden dort wenden eine spezielle Tak- Hof. die Politik besser den Wohnungsbau an-
tik an: Wenn Häuser modernisiert oder Am häufigsten beschäftigt Dyroff aber kurbeln oder durch Hilfen wie Wohngeld
Miet- in Eigentumswohnungen umgewan- der Wunsch von Eigentümern nach einer die Miete für Bedürftige bezahlbar machen,
delt werden sollen, drohen die Ämter zu- Grundrissänderung, um größere, familien- statt Eigentümern vorzuschreiben, bis zu
weilen mit einem Vorkaufsrecht. So ver- gerechte Wohnungen zu schaffen. „Das welcher Raumhöhe Badfliesen geklebt
suchen sie, den Eigentümern die Zusage wird momentan gar nicht mehr geneh- werden dürfen. „Milieuschutz bedeutet im-
moderater Mieten abzuringen. migt“, ist seine Erfahrung. mer Konservieren“, kritisiert Just.
Hamburg favorisiert eine andere Vari- Der Pankower Stadtentwicklungschef Und er läuft ohnehin ins Leere bei Mie-
ante. Dort lehnen die Behörden in der Kirchner fährt hier einen knallharten tern, die noch in Wohnungen leben mit
Regel die Umwandlung von Miet- in Ei- Kurs. In seinem Bezirk seien in zwei Jahr- Einfachverglasung oder Stromleitungen,
gentumswohnungen ab – allerdings mit zehnten rund 4800 Kleinwohnungen die über Putz verlegt sind, also weit ent-
einer wichtigen Ausnahme: Wenn sich verschwunden, sagt er, und gleichzeitig fernt vom Durchschnittsniveau. Wenn in
der Eigentümer verpflichtet, innerhalb zahllose Familien mit Kindern zugezo- solchen Häusern einmal grundsaniert
von sieben Jahren die Immobilie aus- gen. Nun seien genug da, findet Kirchner. wird, ist die Wohnung für sie schnell
schließlich dem Mieter zum Kauf anzu- „Wir haben keinen Platz mehr.“ Man unbezahlbar. Das genau sei das Kernpro-
bieten, wird das Vorhaben erlaubt. Die müsse verhindern, dass eine Monokultur blem am Milieuschutz, sagt Carsten
Zahl der umgewandelten Wohnungen ist entstehe. Brückner vom Eigentümerverband Haus
seitdem erheblich gesunken. Der Grünen-Politiker räumt unumwun- & Grund: Was Standard ist, unterliege
In Hamburg und München haben sich den ein, dass ihn nicht nur die Sorge vor einem ständigen Wandel.
die Eigentümer mit dieser Genehmigungs- dem Verdrängungsdruck dazu gebracht Brückner erzählt dazu die Geschichte
praxis arrangiert. In Berlin dagegen birgt habe, die Zusammenlegung von Wohnun- seines eigenen Mehrfamilienhauses in
der Milieuschutz erheblichen Konflikt- gen zu stoppen. Er fürchtet auch die Fol- Berlin-Neukölln, es ist seit Generationen
stoff. Immer wieder landen strittige Fälle gekosten, die mehr Kindergärten, Schu- in Familienbesitz. Die Großeltern hätten,
vor dem Verwaltungsgericht. len und Spielplätze nach sich ziehen: eine als es noch nicht üblich war, die Wohnun-
Die Richter haben darüber zu befinden, „immense Herausforderung an die kom- gen mit Toilette und Bad ausgestattet und
was als mietrechtlicher Standard zu gel- munale Infrastruktur“, so Kirchner. die Gemeinschaftsklos im Treppenhaus
ten hat und wo der unerwünschte Kom- Noch gleicht die Karte der Milieu- geschlossen. Seine Eltern wiederum ris-
fort beginnt. Vor einigen Jahren noch gal- schutzgebiete in Pankow einem Flicken- sen später die Kohleöfen ab und bauten
ten Strukturheizkörper für Handtücher teppich. Im Frühjahr aber will der Bezirk Gasetagenheizungen ein, ebenfalls bevor
als Luxus, ebenso Badfliesen, die bis an die Zone erheblich ausweiten, dann wird es gang und gäbe war.
die Decke reichen. Heute bewerten die auch der gesamte Prenzlauer Berg dazu- Brückners Schlussfolgerung: Hätten
Richter solches Mobiliar als zeitgemäß. gehören; dort allein sind rund 45 000 Woh- die Politiker bereits zu Zeiten seiner
Der Berliner Anwalt Axel Dyroff hat nungen betroffen. Kirchner hat es eilig, Großeltern einen Milieuschutz verord-
einige solcher Verfahren durchgefochten. denn fast 25 Jahre nach dem Mauerfall net, „dann würden wir heute noch
Die Ämter prüften heute „wesentlich sieht er eine zweite Sanierungswelle auf das Gemeinschafts-WC im Treppenhaus
strenger als früher“, ist sein Eindruck. seinen Kiez zurollen. nutzen“. ALEXANDER JUNG

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 75
Wirtschaft

Millionen Dollar haben ihre Geldgeber, stoffschicht überzogen, anschließend


KONSUMGÜ TE R verschiedene US-Investmentfirmen, die montieren schrankgroße Maschinen Ra-

Scharfe
Feintechnik GmbH am Rande des Thü- sierblätter und Kunststoffteile zu Schneid-
ringer Walds gekauft. Seit Januar gehört köpfen mit zwei bis fünf Klingen.
die 94 Jahre alte Firma nun dem US-Start- Becker kann die Herstellung bis auf

Attacke
up Harry’s, das vor nicht mal einem Jahr Molekularebene erklären. Wer ihm zu-
ins Internetgeschäft mit Rasierern einge- hört, gewinnt den Eindruck, als sei die
stiegen ist. Rasierklingenforschung mindestens so
Die junge Firma will die Marktführer komplex wie Teilchenphysik. Vor Jahren
Ein New Yorker Start-up will über den Preis angreifen. Weil Gillette brachte Gillette einen Rasierer mit einem
die großen Nassrasierer- und Wilkinson ihre Produkte mit Hilfe Schliff heraus, der unter dem Mikroskop
riesiger Werbebudgets zu milliarden- an den Bogen eines gotischen Kirchen-
Marken Gillette und Wilkinson schweren Marken aufgepumpt haben, ver- fensters erinnert. Die Feintechnikent-
angreifen – mit Hilfe einer kaufen sie insbesondere Ersatzklingen zu wickler brauchten sieben Jahre, um ihn
Rasierklingenfabrik in Thüringen. überzogenen Preisen, behaupten die bei- nachahmen zu können. Mit enormem
den US-Unternehmer. Das Versprechen Aufwand liefern sich die Hersteller ein

A
n einem kalten Wintertag im Ja- ihrer Neugründung: Da sie auf teure Wer- stetiges Wettrüsten um die noch gründ-
nuar 2012 fahren zwei junge Ame- bung verzichten und die Klingen übers lichere, noch angenehmere Rasur – die
rikaner vor der Rasiererfabrik Internet vertreiben anstatt über den Ein- die hohen Produktpreise rechtfertigt.
Feintechnik in Eisfeld vor. Sie tragen zelhandel, kosten sie nur halb so viel wie Nach ihrem ersten Besuch in Eisfeld
Jeans und Pulli, sind um die dreißig und bei der Konkurrenz. Qualitativ aber seien vor zwei Jahren war den Harry’s-Grün-
haben daheim ein paar Jahre für eine Un- sie genauso gut, der Fabrik aus Deutsch- dern deshalb klar: Das Know-how einer
ternehmensberatung gearbeitet. Firmen- land sei Dank. eigenen Produktion zu besitzen und die
chef Heinz Dieter Becker, 62 Jahre alt, Die hat eine lange Tradition, mehrere komplette Wertschöpfungskette zu kon-
Anzug und Krawatte, wartet schon. Er Besitzer- und Systemwechsel eingeschlos- trollieren – das wären zwei entscheidende
führt sie durch die Produktionshallen in sen: 1920 gegründet, wurde sie nach dem Strategievorteile, vor allem gegenüber
anderen Internetanbietern
wie Dollar Shave Club oder
Shave Lab, die ebenfalls Ra-
sierklingen über das Netz ver-
kaufen.
Zudem wäre es unmöglich,
aus dem Nichts eine eigene
Rasiererfabrik aufzubauen, al-
lein die Maschinen in den
Werkshallen von Feintech-
nik sind 50 Millionen Euro
wert.
Als Kunden haben die US-
Gründer junge, urbane Män-
MICHAEL REICHEL / PICTURE ALLIANCE / DPA

ner im Blick, die gleicherma-


ßen preis- wie stilbewusst
sind. Während die Rasierer
der Konkurrenz so wind-
schnittig aussehen wie For-
mel-1-Boliden, setzt Harry’s
auf Retro-Chic. Auf Wunsch
schickt das Start-up seinen
Kunden den Klingennach-
Rasierklingenproduktion in Eisfeld: Mindestens so komplex wie Teilchenphysik schub aus Thüringen auch re-
gelmäßig nach Hause.
der thüringischen Kleinstadt, die beiden Zweiten Weltkrieg zum Volkseigenen Be- Ob die deutsch-amerikanische Kombi-
stellen viele Fragen: Warum sind Rasierer trieb, später übernahmen sie zwei Be- nation ein Erfolg wird, ist offen. Feintech-
mit fünf Klingen so schwer herzustellen? teiligungsgesellschaften aus Österreich nik-Geschäftsführer Heinz Dieter Becker
Und, was zum Teufel, ist ein gotischer und der Schweiz. Heute macht das Un- spricht von einem Experiment. Noch ent-
Bogenschliff? ternehmen als Lieferant für Einzelhänd- fallen gerade einmal zwei Prozent der
Die Welt der Nassrasierer ist damals ler und Drogeriemarktketten zwar nur Gesamtproduktion von Feintechnik auf
recht übersichtlich. Auf der einen Seite einen bescheidenen Umsatz von rund 50 seinen neuen Eigentümer. Gelingt es dem
stehen die Weltmarken Gillette und Wil- Millionen Euro, ist aber nach eigenen Start-up nicht, seine Verkäufe wesentlich
kinson, die rund 80 Prozent der globalen Angaben einer der wenigen unabhängi- zu steigern, wird es sich kaum gegen die
Umsätze erwirtschaften; auf der anderen gen Rasiererhersteller weltweit. Nahezu Marktmacht der Rasierer-Multis durch-
Seite kleinere Hersteller sowie die Eigen- alle anderen Fabriken gehören den setzen können.
marken von Drogeriemarktketten und Marktführern. Derzeit sollte den Jungunternehmern
Discountern. Geschäftsführer Becker, ein Mann von aber noch eine andere Entwicklung Sor-
Die US-Jungunternehmer Jeffrey Rai- bärenhafter Statur, im Gesicht ein grau- gen machen. Die Absätze in Westeuropa
der und Andy Katz-Mayfield wollen den melierter Dreitagebart, läuft durch eine und Nordamerika schwächeln, der Mode
Markt aufmischen – mit einer kuriosen Halle, in der Schleifkörper ein feines wegen: Nichts gilt momentan als größerer
Kombination aus US-Gründergeist und Stahlband bearbeiten. Eine Etage darüber Ausweis männlicher Coolness als der
deutscher Ingenieurskunst. Für hundert werden die Schneiden mit einer Hart- Vollbart. ANN-KATHRIN NEZIK

76 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Wirtschaft

der lokalen Cloud in Rechenzentren in


den Niederlanden und Irland ist zwar
INTERNET schon heute möglich, doch wissen das

Digitale Souveränität
kaum Kunden.
Kritiker warnen vor einer „Balkanisie-
rung des Internets“ und bezweifeln zu-
dem, dass allein das lokale Speichern der
Daten vor dem Zugriff amerikanischer
Die deutsche IT-Branche will vom verlorengegangenen Vertrauen Geheimdienste schütze. Unterliegt doch
in US-Internetkonzerne profitieren. Doch Kritiker warnen: die Firmenzentrale in Redmond weiter
den US-Gesetzen und muss im Zweifels-
Zu viel Nationalismus könnte die Offenheit des Netzes gefährden. fall vertrauliche Daten herausgeben.
Firmen wie die Telekom fordern des-

W
er wissen will, was Bundesin- eine eigene, von den USA unabhängigere halb, Daten wenn möglich innerhalb
nenminister Thomas de Maiziè- Infrastruktur bekommen. Europas zu verarbeiten, um das Ver-
re über das Internet denkt, kann So oder ähnlich könnte die Einleitung trauen zu stärken. Was als „Schengen-
auf einer wenig bekannten Website fündig für die „Digitale Agenda“ aussehen, die Routing“ diskutiert wird, sorgt bei der
werden: bevoelkerungsschutz-portal.de. die Bundesregierung noch im ersten zuständigen EU-Kommissarin Neelie
Dort findet man Informationen für den Quartal dieses Jahres formulieren will. Kroes allerdings für Skepsis: „Es ist nicht
Katastrophenfall: Massenepidemien, Ter- Und wäre die Ausgangslage nicht so realistisch, dass wir Daten innerhalb
roranschläge, Sturmfluten. Dort wurde schlecht, könnte die Affäre um Snowden Europas behalten können, und der Ver-
vergangene Woche das Video einer Kon- tatsächlich so etwas wie ein Wendepunkt such könnte die Offenheit des Internets
ferenz veröffentlicht, auf der de Maizière werden. gefährden“, sagte sie dem SPIEGEL.
mit der digitalen Elite des Landes debat- Denn durch die Enthüllungen geraten Die Niederländerin setzt deshalb auf
tiert, was die Politik zum sicheren Ausbau auch amerikanische Internet- und IT- die Entwicklung von Qualitätssiegeln für
des Internets tun sollte. Giganten unter Druck. Die Konzerne, bis Datenschutz im Rahmen der European
Von einer „verheerenden Vertrauens- vor kurzem vor Kraft und Arroganz Cloud Partnership. Außerdem fordert sie
krise“ spricht der CDU-Minister da und strotzend, fürchten, dass ihnen die Nutzer eine „gesetzliche Meldepflicht für alle in
traut sich nicht, das Übel beim Namen im Ausland davonlaufen könnten. Bis zu Europa tätigen Firmen, denen Daten
zu nennen. Statt vom amerikanischen Ge- 180 Milliarden Dollar Umsatzeinbußen abhandengekommen sind – sei Jan. 2014:
heimdienst NSA und dem Whistleblower drohen US-amerikanischen Firmen durch es durch Hacker oder durch 5,0
Edward Snowden redet er lieber von misstrauische Kunden bis 2016, schätzt Geheimdienste“. Was jen-
„den Vorkommnissen der letzten Zeit“ der Marktforscher James Staten von For- seits des Atlantiks
und von „denen, die Daten sammeln“. rester Research, vorsichtigere Schätzun-
Nun gehe es darum, das Vertrauen wieder gen gehen von 35 Milliarden aus.
aufzubauen, befindet der Behördenchef. Erste Anzeichen dafür finden sich in
Das Internet, ein Fall für den Katastro- den Bilanzen der Big Player: Beim Com-
phenschutz? Ein bisschen ist es so in puterkonzern IBM und dem Netzwerk-
Deutschland. Denn die Enthüllungen des ausrüster Cisco brach das Auslands-
ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters geschäft massiv ein, vor allem in China.
führten der ganzen Nation vor, wie leicht Google und Facebook wiederum beknien eine Bedrohung wäre,
sie auszuspähen ist, wie schlecht aufge- die Regierung in Washington, die Ge- könnte so in Deutschland zur
stellt die Behörden, wie ahnungslos die heimdienste stärker an die Kette zu großen Chance werden: „Un-
Nutzer sind. legen – damit ihnen die User nicht die ser bester Marketing-Mitar-
Deshalb verspricht die Regierung nun Gefolgschaft verweigern. beiter ist Edward Snowden“,
die große digitale Offensive. In welche Auch Microsoft sorgte für Schlagzeilen, scherzt man deshalb bereits in
Lebensbereiche das globale Netz auch als der Konzern am Rande des Weltwirt- der deutschen IT-Wirtschaft.
immer dringt, es soll sicher, bürgerfreund- schaftsforums in Davos verkündete, dass Tatsächlich keimt in der Bran-
lich und leistungsstark werden. Die Bür- ausländische Kunden ihre Daten in Zu- che Hoffnung. „Die Große Koali-
ger sollen digitale Souveränität erlangen kunft in lokalen Microsoft-Datencentern tion hat eine einmalige Chance,
und selbstbewusst durch die vernetzte vor Ort speichern können. Die Nutzung den deutschen Wirtschaftsstandort
Welt wandeln. Auch das Land selbst soll nach vorn zu bringen“, frohlockt
digitale Unabhängigkeit erreichen und Philipp Otto vom Informationspor-
Juni 2013: tal iRights Cloud. „Der Snowden-Ef-
22,8 2,7 fekt ist real“, sagt auch Ali Jelveh aus
Hamburg, Mitgründer der Firma Proto-
net: „Viele mittelständische Firmen, die
bislang ihre Kommunikation über Cloud-
Unsichtbar googeln Dienste gemacht haben, wollen nun ihre
Umsatzverluste Datensouveränität zurückerlangen.“
Suchanfragen bei den
amerikanischer Jelveh hat eine Antwort auf diese Wün-
anonymen Suchmaschinen
Cloud-Computing- sche: eine elegante Metallbox in Orange,
Ixquick/StartPage,
Firmen durch die ein Internetrechner mit gigantischem
in Millionen pro Tag
Enthüllungen Speicherplatz, eine Art „persönliche
über die NSA, 8,5 Cloud“. „Der einfachste Server der Welt“,
in Mrd. Dollar Edward Snowdens Enthüllungen wirbt die Firma.
Jan. 2012: Der Firmenchef wurde in Iran geboren,
über die Spionageprogramme
0,9 3,8 der NSA werden veröffentlicht. Revolution und Krieg zerrissen seine Fami-
Schätzung: ITIF 2014 2015 2016 lie, er misstraut staatlichen Sicherheitsver-
78 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
sprechen. Weil es in Deutschland schwer Bis dahin aber ist es ein weiter Weg, Agenda – allerdings überwiegt in seinem
ist, an Risikokapital zu kommen, bat er im zumal die Aufgabenverteilung in der Ressort der Gedanke, das Netz auf die
Internet über das Finanzierungsportal Seed- neuen Bundesregierung nicht einfacher terroristischen und kriminellen Gefahren
match um Unterstützung – und brach alle geworden ist. Mit dem Verkehrsministe- zu kontrollieren.
Rekorde. Die notwendigen 200 000 Euro rium und seinem durchaus machtbewuss- Und auch auf parlamentarischer Seite
hatte er nach nur 48 Minuten zusammen. ten Chef Alexander Dobrindt ist eine geht es munter durcheinander: Waren bis-
Bald will er in die USA expandieren. weitere Bundesbehörde in die staatliche lang der Wirtschafts- oder der Verbrau-
Das kleine Start-up Protonet ist in man- Verantwortung für das Internet gekom- cherschutzausschuss für die digitalen The-
cherlei Hinsicht typisch für die deutsche men. Dem selbsternannten „Internet- men zuständig, gibt es auch hier Zuwachs:
Internetwirtschaft, deren Firmennamen minister“ wurde in den letzten Stunden den Ausschuss „Digitale Agenda“.
weitestgehend unbekannt sind. Secunet der Koalitionsverhandlungen noch der Die bislang zuständigen Ausschüsse
heißen sie, G-Data, Boxcryptor oder Se- Aufbau der digitalen Infrastruktur zuge- wollen die Kompetenz fürs Internet
comba. Ein Newcomer der vergangenen schanzt – zum Ärger der bisher zuständi- natürlich ungern abgeben, insbesondere
Jahre ist Posteo aus Berlin. Der Betrieb gen Kollegen. nicht die für Gesetzgebungsverfahren.
mit neun Mitarbeitern bietet etwa einen Die sitzen unter anderem im Bundes- Und als wäre das alles noch nicht
verschlüsselten E-Mail-Service an, der im wirtschaftsministerium, wo gleich Anfang genug der Verwirrung, sollen jetzt auch
Gegensatz zu vielen abschreckend kom- des Jahres ein Brief Dobrindts eintraf, in noch Expertengremien gebildet werden.
plizierten Angeboten leicht zu bedienen dem er ankündigte, die ganze im Wirt- Am liebsten hätte jeder Minister ein
ist und Bestnoten von Testern bekommt. schaftsministerium zuständige Abteilung eigenes.
Seit den Snowden-Enthüllungen hat sich VI in sein eigenes Ministerium umziehen Die Internetgemeinde fürchtet deshalb
hier die Zahl der Postfächer vervierfacht. lassen zu wollen. bereits, dass lauter Papiertiger entstehen.

Solch zarte Geschöpfe aber könnten Damit aber provozierte Dobrindt er- „Die Politik verhakelt sich gerade wieder
vom Staat gehegt werden, um groß zu wartungsgemäß Bundeswirtschaftsminis- in Eifersüchteleien“, beobachtet Holger
werden. Genau das aber ist in Deutsch- ter und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel Mühlbauer vom Bundesverband IT-
land schwierig: Noch immer greifen Be- (SPD). Der sperrte sich gegen die Begehr- Sicherheit.
hörden bei Ausschreibungen für ihre ei- lichkeiten des ehemaligen CSU-General- Der SPD-Sprecher des Ausschusses
gene Sicherheits-IT zu wenig auf kleine sekretärs und wollte lediglich zwei Refe- Digitale Agenda, Lars Klingbeil, versucht
deutsche Firmen zurück, sondern lieber rate abtreten: die für den Ausbau des dagegen zu beruhigen: „Wir begreifen uns
auf große, oft amerikanische Anbieter. Breitbandnetzes und des Mobilfunknet- als ein koordinierendes Organ“, sagt er,
Zudem mangelt es an Wagniskapital. zes zuständigen Referate. Die Beamten und ruft alle Sektierer zur Ordnung:
Das soll jetzt alles besser werden, ge- waren in Aufruhr, Gabriel musste sie „Netzpolitik muss endlich erwachsen wer-
lobt die Politik: Brigitte Zypries (SPD), vorvergangenen Freitag auf einer Mitar- den, und das geschieht nur, wenn wir an
seit ein paar Wochen als Parlamentarische beiterversammlung mit der Aufforderung einem Strang ziehen.“
Staatssekretärin im Bundeswirtschafts- beruhigen, sich nicht „im Zuständigkeits- Die erste Chance, den IT-Standort
ministerium für die digitale Wirtschaft zu- gerangel“ zu verlieren: „Es gibt genug Deutschlands zu stärken, hat die Regie-
ständig, verspricht „Leuchtturmprojekte“ Arbeit für jeden.“ rung vorvergangene Woche allerdings be-
für das Internet in allen Ministerien, auch Und während Gabriel und Dobrindt reits glanzlos verstreichen lassen. Beim
in ihrem. „Neben Crowdfunding wollen mit sich selbst beschäftigt waren, trat als Treffen der europäischen Innen- und Jus-
wir prüfen, ob ein neues Marktsegment lachender Dritter Innenminister de Mai- tizminister in Athen blockierte die Regie-
an der Börse aufgesetzt werden kann, da- zière mit seiner Internetkonferenz auf rung eine neue Datenschutzverordnung
mit sich Internetfirmen leichter Risiko- den Plan. Er hat das Thema seit seiner der EU. HILMAR SCHMUNDT,
kapital besorgen können.“ ersten Amtszeit als Innenminister auf der GERALD TRAUFETTER

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 79
Panorama

CH INA M A L AW I

Oliver Stones Entzauberung einer Ikone


neue Liebe Präsidentin Joyce Banda wollte immer
ein Vorbild sein: Die ehemalige Markt-
das für 15 Millionen Dollar verkaufte
Flugzeug weiterhin nutzen, angeblich
Er blieb nur kurz, doch die Zeit reich- frau hatte nach ihrem Amtsantritt 2012 kostenlos. Mindestens drei ihrer letz-
te US-Regisseur Oliver Stone, um sich Luxusdienstwagen abgeschafft und ten Dienstreisen absolvierte die Staats-
in Peking viele Freunde zu machen. den Jet ihres Vorgängers verkauft. Mit chefin in der Dassault Falcon 900EX.
Und in Washington viele Feinde. Denn den Erlösen wollte sie den Hunger be- Erworben wurde der Jet von der süd-
der Filmemacher erklärte in der Pe- kämpfen und bekam dafür weltweit afrikanischen Paramount Group, dem
kinger Staatszeitung „Global Times“: Applaus. Vorige Woche begann zudem größten privaten Rüstungs- und Luft-
Die von Präsident Barack Obama ver- ein Korruptionsprozess, angeklagt sind fahrtunternehmen auf dem Kontinent,
kündete „Hinwendung nach Asien“ 68 hohe Beamte und Geschäftsleute, das gerade lukrative Staatsaufträge in
gleiche der US-Eindämmungspolitik die sich mehr als 100 Millionen Dollar Malawi erhalten hat. Außerdem finan-
gegenüber der Sowjetunion zu Zeiten aus der Staatskasse gegriffen haben zieren die Paramount-Chefs die ak-
des Kalten Krieges. Amerika habe sollen. Doch nun sind die Anhänger tuelle Imagekampagne von Banda, die
„enorme“ Fähigkeiten, in Asien „Un- der Reformerin irritiert: Banda soll im Mai wiedergewählt werden will.
frieden zu stiften“, etwa indem es

FRANKREICH

Ewiger Sarkozy
Meisterhaft inszeniert der ehemalige können – und direkt zum Kandidaten
Präsident Nicolas Sarkozy eine er- gekürt zu werden. Tatsächlich ist der
neute Präsidentschaftskandidatur. Nach einst so unbeliebte Sarkozy heute un-
seiner Wahlniederlage hatte er das ter französischen Konservativen wie-
zwar ausgeschlossen, doch mittler- der die mit Abstand populärste Figur.
weile zweifelt kaum jemand mehr am Ihm wird als Einzigem zugetraut,
Willen Sarkozys, bei den Wahlen in das zersplitterte konservative Lager zu
gut drei Jahren Revanche an François einen. Allerdings belasten Sarkozy
Hollande zu nehmen. Sarkozy liebt noch etliche ungeklärte Vorwürfe aus
die Andeutungen: „Wo das Meer der Vergangenheit. So versucht das
schon einmal hingekommen ist, dahin Rechercheportal Mediapart nachzuwei-
kehrt es auch zurück“, dichtete er sen, dass Sarkozy sich seinen Wahl-
vorige Woche bei einem Auftritt an kampf 2007 teilweise vom damaligen
der Atlantikküste. Zugleich füttern libyschen Machthaber Muammar al-
seine Vertrauten die Medien mit Gaddafi finanzieren ließ. Vergangene
Absichtserklärungen. So verriet Berna- Woche veröffentlichte ein Fernseh-
dette Chirac, die Frau des früheren sender zudem ein Video von März
ALY SONG / REUTERS

Präsidenten, Sarkozy habe ihr gesagt, 2011, in dem Gaddafi sagt: „Wir haben
dass er wieder antreten werde. Mit Sarkozy die Mittel gegeben, die ihm
dieser Strategie der Uneindeutigkeit erlaubten zu siegen.“ Beweise dafür
hofft Sarkozy offenbar, einen partei- gibt es bislang nicht, doch die Untersu-
Stone internen Wahlkampf vermeiden zu chungsrichter ermitteln.

die japanische Regierung bestärke, de-


ren nationalistische Politik gegenüber
China „gefährlich“ sei. China dagegen
sei ein „gesundes Land“: „Chinesen
arbeiten hart. Sie integrieren sich in
Gesellschaften, sie spalten sie nicht.“
Der Beifall chinesischer Nationalisten
war ihm sicher, diese klagen gern
über Amerika und seine „streunenden
Hunde“ im westlichen Pazifik – ge-
meint sind Japan und die Philippinen.
Mit dem Verkauf seiner kritischen
Doku-Serie über die „Unerzählte Ge-
IMAGO / PANORAMIC

schichte der Vereinigten Staaten“ nach


China hatte Stone trotzdem wenig
Glück: In Peking wird sie schon seit Sarkozy
Wochen als Raubkopie verkauft.
80 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Ausland

NATI SHOHAT / FLASH90


Fromme Akrobatik Normalerweise gehen Juden zum Capoeira begeistern. Die jungen Männer unterrichten schon an
Beten an die Klagemauer in Jerusalem. Doch Miki und Jehuda die 200 Schüler im ersten Capoeira-Studio für Strengreligiö-
Hajat, 24 und 20, führen am heiligsten Ort des Judentums se. Auch wenn das Bibelstudium vorgeht, verboten ist Sport
Salti und Trittkombinationen vor. Sie wollen ihre ultraortho- für Ultraorthodoxe nicht. Manche Rabbis rufen sogar dazu
doxen Glaubensbrüder für den brasilianischen Kampftanz auf. Denn den Körper gesund zu halten sei in Gottes Sinne.

VERBRECHEN

Amanda Knox vor der Auslieferung?


Der US-Amerikanerin Amanda Knox, Auslieferung möglicherweise verwei-
wegen Mordes von einem Berufungs- gert werden, weil Amanda Knox
gericht in Florenz in einem erneuten bereits einmal von demselben Tatvor-
Verfahren zu 28 Jahren und sechs Mo- wurf freigesprochen wurde. Der re-
naten Haft verurteilt, droht die Auslie- nommierte Harvard-Jurist Alan Der-
ferung an Italien. Sollte das Urteil ge- showitz kommt indes zu dem Schluss:
gen die inzwischen in Seattle ansässige Triftige Gründe, Knox zu verschonen,
26-Jährige auch vor dem Obersten Ge- lägen nicht vor. Und wer, wie die
richt in Rom Bestand haben, könnte USA, versuche, den Whistleblower
sich die italienische Justiz auf ein bila- Edward Snowden ausliefern zu lassen,
terales Abkommen von 1984 berufen. könne schwerlich begründen, dass
IDA MAE ASTUTE / ABC / DPA

Es beinhaltet ausdrücklich auch eine Knox verschont werden solle. „Unab-


Auslieferung von US-Staatsbürgern hängig davon, wie die komplexen
nach Italien. Ausnahmen, so der Mai- rechtlichen Fragen beantwortet wer-
länder Strafverteidiger Stefano Tonio- den“, sagt der Kölner Strafrechts-
lo, seien etwa in Fällen mit politi- experte Nikolaos Gazeas, „wird
schem oder militärischem Hintergrund die Frage der Auslieferung eine poli-
vorgesehen. Allerdings könnte die Knox tische Entscheidung sein.“
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 81
Ausland

SCHWELLENLÄNDER

Die zweite Welle


China, Indien, Brasilien: Noch vor kurzem galten die aufstrebenden Nationen,
Heimat für knapp 40 Prozent der Menschheit, als Motor der Welt-
wirtschaft. Jetzt geraten sie in Schwierigkeiten – die Chance für eine neue Politik?

G
ut zwölf Jahre ist es jetzt her, da te es zwar noch, um den Westen zu über- Schon geht ein neues griffiges Wort um,
hatte Jim O’Neill eine geniale runden. Aber zugleich halbierte sich die diesmal geprägt von James Lord, einem
Idee. Der Investmentbanker von Wachstumsrate der Bric-Staaten, gemes- Währungsexperten der Großbank Mor-
Goldman Sachs war nach den Terror- sen an den ehemaligen Höchstständen; gan Stanley: „fragile fünf“. Gedacht ist
anschlägen von New York und Arlington in China von rund 14 auf knapp 8 Pro- es als Warnung vor den nun brüchig
zu der Überzeugung gekommen, dass die zent; in Indien von 10 auf weniger als 5, erscheinenden Staaten Brasilien, Indien,
USA und Europa wirtschaftlich zum Ab- in Brasilien von 6 auf knapp 3 Prozent. Südafrika sowie den besonders vom
stieg verdammt seien. Aber die Schwel- Werte, immer noch besser als die der EU, Absturz bedrohten Ländern Indonesien
lenländer China, Indien, Brasilien und aber längst nicht mehr so eindrucksvoll. und Türkei.
Russland, glaubte er, könnten ver-
stärkt von der Globalisierung pro-
fitieren und die Weltwirtschaft
als neue Lokomotive ziehen.
O’Neill wollte seinen Kun-
den raten, ihr Geld auf die Vielverspre-
chenden zu setzen. Was ihm noch fehlte,
war ein zündender Gedanke. Ein griffiger
Name.
Wie alles Geniale war es einfach: Er
nahm die Anfangsbuchstaben der Staa-
tengruppe, schüttelte sie durch und kam
auf Bric, was im Englischen wie das Wort Riesige Mitte Türkei
für „Ziegel“ klingt. Baustein für ein Ver- Zuordnung der Volkswirtschaften
mögen, Baustein für die Zukunft. auf Basis ihrer jährlichen Pro-Kopf-
O’Neill, der „Rockstar“ der Branche Wirtschaftsleistung nach
(„Businessweek“), feierte einen Triumph den Kriterien der Weltbank
auf ganzer Linie: Von 2001 bis 2013 stieg
Quelle: Weltbank
die Wirtschaftsleistung dieser Staaten-
gruppe von etwa 3 Billionen auf 15 Billio-
nen Dollar. Ohne die Brics, ergänzt durch
Südafrika zu einem Club der fabelhaften
fünf, wäre unser aller Wohlstand viel-
leicht sogar gefährdet gewesen. Investo- Brasilien
ren verdienten sich eine goldene Nase, Oberes Mittelfeld
und nebenbei entstand aus dem Kunstge- Schwellenländer
bilde des Londoner Bankers auch eine 4086 bis 12615 US-$
reale politische Kraft: Inzwischen treffen
sich die Staatschefs regelmäßig, sie bilden,
bei aller Unterschiedlichkeit, auch poli- Reiche Länder
12616 US-$
tisch öfter ein Gegengewicht zum Westen. oder mehr
„Der Aufstieg des Südens vollzog sich 2391
in beispielloser Geschwindigkeit und in Mio.
einem nie zuvor erlebten Ausmaß“, hieß
es im „Bericht über die menschliche Ent-
wicklung“ der Vereinten Nationen noch
1302
Mio.
vor wenigen Monaten. „500 Jahre lang
Einwohner
war die Geschichte der Welt im Wesent-
lichen die Geschichte der westlichen Vor-
herrschaft“, schrieb der britische Histori-
ker Niall Ferguson. Damit sei es nun vor-
bei. Eine epochale Wende.
Doch jetzt hat die Entzauberung der
Erfolgsverwöhnten begonnen. 2013 reich-
82 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Was ist passiert – sind die Aufsteiger in Anleihen der Schwellenländer geflos- türkische Lira und der südafrikanische
ausgebremst, oder erleben sie nur eine sen waren, weil in den etablierten Märk- Rand um bis zu einem Viertel ab.
Delle? Wird, was einst vielleicht schön- ten des Westens die Gewinne vergleichs- Für die betroffenen Staaten ist das
gemalt wurde, nun übertrieben schlecht- weise mager blieben, reichten im ver- brandgefährlich, vor allem, wenn sie
geredet? Was heißt das für die Weltwirt- gangenen Mai dann wenige Worte des mehr importieren als ausführen, wie etwa
schaft und für die Menschen in jenen amerikanischen Notenbankchefs Ben Ber- Indien und Brasilien. Denn dann müssten
Ländern, denen der wirtschaftliche Auf- nanke, um die Geldströme umzudrehen. sie die Lücke eigentlich mit ausländi-
schwung auch zumindest ansatzweise Bernanke hatte angedeutet, es könne sein, schem Geld füllen.
mehr politische Freiheit und ein neues dass seine Zentralbank bald etwas weni- Und so warb die brasilianische Präsi-
Selbstbewusstsein gegeben hat? ger Geld in das Finanzsystem pumpe, soll- dentin Dilma Rousseff beim Weltwirt-
Die schlechten Nachrichten für sie kom- te sich die Erholung der US-Wirtschaft schaftsforum Mitte Januar in Davos un-
men derzeit Schlag auf Schlag. Am Diens- fortsetzen. Eine erste Fluchtwelle der verblümt um internationale Anleger.
tag vergangener Woche zog Indiens Zen- Investoren aus Schwellenländern folgte. „Wir Schwellenländer bieten die größten
tralbank die Zügel der Geldpolitik über- Es dauerte rund ein halbes Jahr, bis Investitionschancen“, rief sie den Ban-
raschend an, um die massive Inflation zu Bernanke ernst machte. Jetzt, da die Fed kern und Bossen zu, als befände sie sich
bändigen. In der Nacht zum Mittwoch tatsächlich die Politik des ganz lockeren auf einer Roadshow für einen Börsen-
erhöhte die türkische Zentralbank ihren Geldes etwas zurückschraubt, läuft die gang. In ihrem Land seien die Währungs-
Leitzins radikal, auf zehn Prozent. Kurz zweite Welle, und sie hat fast schon die reserven ausreichend, und das Finanz-
darauf folgte Südafrika mit einer Erhö- Ausmaße eines Tsunamis. Wer an einen system sei stabil genug, um die aktuellen
hung. Unruhe hat die Schwellenländer er- Aufschwung in den USA mit steigenden Stürme auszuhalten. „Man darf nicht den
fasst. Sie stemmen sich mit Macht gegen Aktienkursen und höheren Zinsen glaubt, Fehler machen, zu sehr auf kurzfristige
die Flucht von Investoren und den Kurs- muss sein Geld nicht mehr in vermeint- Entwicklungen zu schauen. Es ist absolut
verfall ihrer Währungen. lich unsicheren Märkten anlegen, so das notwendig, die langfristigen Perspektiven
Ball paradox im globalen Geld-All: Kalkül der Spekulanten. Seit Bernankes zu sehen!“
Nachdem jahrelang Hunderte Milliarden Ankündigung sackten Brasiliens Real, die Aber es sind nicht nur die nackten Zah-
len, die den Regierenden der Schwellen-
Wertverlust der Währungen länder Sorgen bereiten. Die Menschen
von Schwellenländern zum von Peking über Neu-Delhi bis Rio und
Dollar seit der Ankündigung Istanbul haben durch den Aufschwung
einer strikteren Geldpolitik in davor ein neues Selbstbewusstsein be-
den USA im Mai 2013, kommen, es entstand eine Volksbewe-
in Prozent gung im wahrsten Sinn des Wortes. Über-
all in den Schwellenländern hat sich in
Brasilianischer Real den vergangenen Jahren eine eindrucks-
volle neue Mittelklasse herausgebildet.
0 2013 14 Sie fordert Wohlstand, höhere Löhne,
5 aber auch „good governance“: mehr Ver-
antwortlichkeit von den Herrschenden,
10 und damit auch mehr politische Mitspra-
cherechte. Der ökonomische Fortschritt
15
wurde zum Katalysator für politische For-
Indien derungen, der Boom teilweise schon zum
Bumerang für die Mächtigen. Sollte der
Traum nun enden, könnte das die neuen
Bürgerbewegungen bremsen – oder die
Türkische Lira
Emotionen gefährlich hochkochen lassen.
0 2013 14 Besonders deutlich zeigt sich das in
Brasilien, einem Staat, der in den vergan-
5 genen Jahren auch sozial große Fortschrit-
Unteres Mittelfeld 10 te gemacht hat. Die Arbeitslosigkeit ist
1036 bis 4085 US-$ im Boom gesunken, die Unterstützungs-
15 programme für die Ärmsten funktionie-
20
ren bislang weitgehend. Anders als in
vielen anderen Ländern der Welt schließt
sich die Kluft zwischen Arm und Reich –
wenngleich nur ganz langsam. Aber die
2507 Ärmste Länder Menschen wollen mehr. Sie sehen die
Mio. Indische Rupie Korruption der Führungsschicht, sie be-
unter 1036 US-$
0 2013 14 obachten empört die Geldverschwendung
für Prunkbauten wie jetzt zur Fußball-
5 weltmeisterschaft.
846 10
Und sie demonstrieren trotz ihrer
Mio. Sportbegeisterung gegen die WM in die-
15 sem Sommer und die Olympischen Spiele
2016, weil sie erkannt haben, dass es
20 Wichtigeres gibt als protzige Stadien: bes-
sere Schulen für ihre Kinder, eine ordent-
Quelle: Thomson liche, bezahlbare Krankenversicherung.
Reuters Datastream
Und die Sozialdemokratin Rousseff kann
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 83
allem fordern: Die Löhne steigen, zudem
muss der Staat für Krankenversicherung
und Pensionen sorgen. Chinas Wirt-
schaftsmodell, sein autoritärer Staats-
kapitalismus, stößt da an seine Grenzen.
Die KP brauchte eine Neuorientierung,
rechtsstaatliche Mechanismen, um die
nächste, schwierigere Entwicklungsstufe
zu erreichen.
Der unausgesprochene Deal zwischen
Regierenden und Regierten steht auf der
Kippe: Wir sorgen für einen besseren Le-
bensstandard, solange ihr euch nicht allzu
aufsässig in die Politik einmischt. Eine
deutliche Abschwächung der Konjunktur
in den Brics-Staaten würde nicht nur
knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung
in Unruhe versetzen, sie würde außerdem
den Westen empfindlich treffen – Firmen
wie BASF und Siemens machen inzwi-

LEO CORRIA / AUSTRAL FOTO / ARCHIVOLATINO / LAIF


schen einen erheblichen Teil ihrer Gewin-
ne in Fernost, Volkswagen verkauft mehr
Autos in China als in Deutschland.
Trotz aller Probleme mit maroden Ban-
ken und hohen Schulden der Kommunen:
Peking hat 3,8 Billionen Dollar in der Hin-
terhand, die höchsten Devisenreserven
irgendeines Landes. Damit kann Peking
zumindest einiges abfedern – und mögli-
cherweise nach dem Einbruch wieder zur
Lokomotive der Weltwirtschaft werden.
Anti-Regierungs-Demonstration in Rio de Janeiro: Lieber Schulen als protzige Stadien Brics-Erfinder O’Neill ist derweil zu
neuen Ufern aufgebrochen. Der Mann,
gar nicht anders, als diese Proteste, so sie wurde ihm die Einreise in die USA ver- der zwischendurch bei Goldman Sachs
denn friedlich bleiben, zähneknirschend wehrt. Kundengelder in Höhe von 800 Milliar-
gutzuheißen, Abhilfe zu versprechen. Wie blank die Nerven in Neu-Delhi lie- den Dollar verwaltete, gab im April ver-
Aber das geht natürlich nur, wenn die gen, zeigt jetzt Zentralbankchef Raghu- gangenen Jahres seinen Job bei der In-
Wirtschaft jetzt nicht einbricht. ram Rajan. Er beschuldigt die USA und vestmentbank auf. Er hat eine Auszeit
Schlimmer ist die Lage in Indien. Die Europa des kurzsichtigen ökonomischen genommen, dreht jetzt Länderporträts
Vetternwirtschaft hat endemische Aus- Eigennutzes: Die Industriestaaten hätten für die BBC und wirbt privat für Investi-
maße angenommen, ein Teil der führen- die Verpflichtung, mit den Schwellen- tionen in Staaten wie Mexiko und Nige-
den Klasse ist kriminell – gegen etwa ein ländern stärker in Währungsfragen zu ko- ria. Der 56-Jährige ist sich, wie er dem
Drittel aller Parlamentarier laufen Straf- operieren – auch schon deshalb, weil ja SPIEGEL sagte, immer schon als „Außen-
verfahren. Das Land zerfällt in Städte 2008 Indien, China & Co. der Welt gehol- seiter in meinem Beruf“ vorgekommen.
mit Top-Universitäten und Weltklasse- fen hätten, die Finanzkrise einzudämmen. Und er hat ein neues Phänomen als The-
firmen auf der einen Seite und rückstän- „Sie können jetzt nicht einfach ihre Hän- ma seiner Filme entdeckt – das Soziale.
dige Dorfgemeinschaften auf der ande- de in Unschuld waschen und sagen, wir O’Neill sieht die Weltwirtschaft an ei-
ren. Zahlreiche Vergewaltigungen zeigen, machen das, was wir brauchen, und ihr ner Art Wasserscheide. Die verläuft sei-
wie sehr Frauen immer noch als Men- kümmert euch mal um eure Anpassung.“ ner Meinung nach nicht so sehr zwischen
schen zweiter Klasse angesehen werden, Was die anderen Brics-Staaten und Industrie- und Schwellenländern, sondern
zudem verstärken sich die regionalen Un- auch Politiker im Westen aber am meisten eher zwischen Arm und Reich weltweit.
terschiede. fürchten, wäre ein Wirtschaftseinbruch Er spricht von den Schlagzeilen, die der
Aber auch in Indien ist die Zivilgesell- in Peking. Papst, aber auch New Yorks neuer Bür-
schaft durch den Boom gestärkt worden, Die Volksrepublik China ist seit ver- germeister mit ihren Reden über die Un-
Massendemonstrationen haben die Re- gangenem Jahr die größte Handelsmacht gleichheit der Einkommen, das wachsen-
gierung zum Handeln gezwungen. Noch der Welt, ihre Gesamtwirtschaftsleistung de Auseinanderklaffen der Gesellschaft
wirkt die Wirtschaft nicht gelähmt. Viele wird wohl in spätestens fünf Jahren die machen. „Ich frage mich, ob wir uns ge-
Geschäftsleute hoffen darauf, dass es der USA übertreffen. Doch auch in China rade in einem sehr frühen Stadium der
nach der Wahl im Frühjahr, die wahr- geht es um die nächste, schwierigere Ent- Neuverteilung von Wohlstand befinden“,
scheinlich die Opposition gewinnen wird, wicklungsstufe, die KP musste feststellen: sagt der ehemals als knallharter Gewinn-
wieder bergauf geht: Der Spitzenkan- Der Weg von der ökonomischen Unter- maximierer Gefürchtete: „Weg vom
didat der hindunationalistischen BJP, klasse zu einem mittleren Einkommens- Großkapital, hin zu einem gesteigerten
Narendra Modi, gilt als effizient und rang ist wohl leichter als der von der Mitte Einkommen der kleinen Leute, herbei-
businessfreundlich. Allerdings auch als zur Spitze. geführt durch Steuern oder Förderung
unsensibel gegenüber Minderheiten – Die Billigarbeitskräfte aus der Land- von Mindestlöhnen.“
weil er 2002 bei blutigen Ausschreitungen wirtschaft, lange ein Vorteil für die Öko- Und dann setzt O’Neill hinzu: „Das
gegen Muslime als zuständiger Chef- nomie, werden zunehmend im Industrie- müssen wir offensichtlich als Investoren
minister in seinem Bundesstaat Gujarat sektor absorbiert – und sie werden zur bedenken. Vor allem aber als Mitmen-
laut Kritikern keine Hand gerührt hat, Belastung, weil auch sie nun mehr von schen.“ ERICH FOLLATH, MARTIN HESSE

84 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Ausland

lächeln, der sich durch mangelnden Re- nicht. Sein Plan liest sich in groben Zügen
I TA L I E N spekt vor Althergebrachtem den Bei- so: Mit dem neuen Wahlrecht soll sich

Einer wie
namen „Verschrotter“ redlich verdient. künftig die Zahl der im Parlament ver-
Kaum acht Wochen im Amt, hat er den tretenen Parteien verringern und die
ehemals kommunistischen linken Flügel Schlagkraft der Legislative zunehmen.

Schröder
seiner Partei bereits gezähmt. Durch Entmachtung des Senats, der zwei-
Renzis Verhältnis zur Restwelt gleicht ten Kammer, könnte dann die Basis für
dem von Chilischote und Tomatensugo: eine Trendwende verbreitert werden.
Er bringt Feuer ins Spiel. Selbst Silvio Wie aber kommt der starke linke Flügel
Matteo Renzi, der neue Star der Berlusconi musste das in den letzten der Sozialdemokraten mit dem als „rechts“
Sozialdemokraten, hält sich nicht Wochen erleben: Renzi, neuer Star der verrufenen Jungspund Renzi klar? Mit ei-
an die politischen Frontlinien – sozialdemokratischen PD, scheute sich nem, den viele als politischen Wiedergän-
nicht, gegen lautstarke Kritik aus den ger Berlusconis bezeichnen – nur knapp
und düpiert seine eigenen Leute. eigenen Reihen am vergangenen Mitt- vierzig Jahre jünger?
woch mit dem vierfachen Ex-Premier und Auch sie habe noch im vergangenen

D
er Transatlantico ist das Prunk- Chef der rechten Forza Italia den Entwurf Jahr Renzis linken Vorgänger Pier Luigi
stück im Parlamentsgebäude von für eine Reform des Wahlrechts zu be- Bersani unterstützt, sagt die PD-Abge-
Rom: ein gewaltiger Wandelgang, schließen. ordnete Laura Garavini, Mitglied des
mit Marmor und Tropenholz aufgeputzt Berlusconi, wegen Steuerbetrugs rechts- Fraktionsvorstands. Inzwischen aber sei
wie der Salon eines Überseedampfers aus kräftig verurteilt und mit einem Verfah- sie überzeugt: „Italien braucht jetzt einen
der Zwischenkriegszeit. ren wegen sexuellen Missbrauchs Minder- Typ wie Gerhard Schröder; einen, der
Im Transatlantico, auf dem Laufsteg jähriger am Hals, gilt altgedienten Linken auch mal basta sagt und unpopuläre, mög-
der italienischen Volksvertreter, ist großes als Inbegriff dessen, was Italien dring- lichst nicht unsoziale Entscheidungen
Theater garantiert. Darsteller sind die lichst überwinden sollte. Der junge Renzi trifft.“ Die Krise erzwinge Konsens: „Un-
Abgeordneten, gestenreich in Grüppchen aber empfing den Vorbestraften freund- ser Land kann es sich gar nicht mehr leis-
schlendernd, sinnierend in Couchgarni- lich unter einem Foto von Che Guevara ten, in Lagern zu denken.“
turen verschanzt oder in ihre Telefonini und verkündete, ohne Berlusconis Mit- Was Renzi in die Hände spielt: Italiens
tuschelnd. Dass bereits 63 Regierungen wirkung gebe es keine Reformen. Journalisten sind ihm ergeben. Und das,
im Nachkriegs-Italien das Zeitliche seg- Italien hat seit 2008 ein Viertel seiner obwohl das Wohlwollen der Berichterstat-
neten, hat wesentlich mit dem wechsel- Industrieproduktion eingebüßt und dazu ter für den forschen Florentiner auf ge-
haften Treiben im Transatlantico zu tun. geschätzte neun Prozent der Privatver- ringe Gegenliebe stößt: „Die Qualität der
Aktuell wird im Wandelgang gewettet, mögen. Die Zahl der Beschäftigten geht Antworten hängt häufig von der Qualität
wie viel Zukunft das jetzige Kabinett weiter zurück. Und das Bel Paese hat der Fragen ab“, zürnt Renzi Presseleuten,
Nummer 64, angeführt vom Sozialdemo- nach Griechenland den zweithöchsten wenn ihm langweilig wird.
kraten Enrico Letta, hat. Wo doch der Schuldenstand innerhalb der EU. Bevorzugt verkündet er seine Meinung
Premier am vergangenen Mittwoch in Erste zaghafte Anzeichen konjunktu- via Facebook, dazu twittert er eifrig und
Brüssel noch für sein Land mit den Wor- reller Erholung reichen einem wie Renzi zeigt sich so gut wie täglich im Fernsehen.
ten warb, die EU-Ratspräsident- Anders als sein Parteifreund, der
schaft ab Juli werde zeigen, dass vornehme Letta, gebietet Renzi
Italien „in der Lage ist, Europa gut über ein respektables Arsenal von
zu führen“ – während es in Wahr- Tonlagen, das er der Lage entspre-
heit zu Hause in Rom schon drun- chend einzusetzen versteht.
ter und drüber ging. Will er, was häufig vorkommt,
Die Nachrichten, die an jenem seiner Geringschätzung für die
Mittwoch aus der Heimat kamen, herrschende politische Klasse Aus-
klangen zu Lettas Leidwesen so: druck verleihen, dann kennt er
Italiens Parlamentspräsidentin keine Freunde mehr, auch keine
verbarrikadierte sich aus Angst Parteifreunde. Dann sagt er übers
vor aufgebrachten Mandatsträ- Kabinett, in dem die Seinen den
gern in ihrem Büro; eine Abge- Ton angeben: „Wenn Letta sich
ordnete bekam eine Faust ab, und verschleißt, dann deshalb, weil er
im Plenum ertönten nacheinan- schlecht regiert.“
der der bei Faschisten beliebte Doch Premier Letta, dessen
Spruch „Ein Schwein, wer auf- Amtszeit offiziell noch bis 2018
gibt“ und die Partisanenhymne läuft, keilt kaum zurück. Er hat ja
„Bella Ciao“; dem Staatspräsiden- auch noch andere Sorgen. Mit sei-
ten wurde ein Amtsenthebungs- ner zerbrechlichen Koalition muss
verfahren wegen Verfassungs- er die Reformen angehen, die das
FABIO FRUSTACI / PICTURE PRESS / CAMERA PRESS

bruchs in Aussicht gestellt. Land langfristig braucht. Gleich-


Das politische System im kri- zeitig muss er für das gewappnet
sengebeutelten Italien ist, einmal sein, was kurzfristig ansteht.
mehr, ziemlich aus den Fugen. Am 27. März etwa reist US-Prä-
Wer mag, versteht das als Chance. sident Barack Obama nach Rom.
Zum Beispiel Matteo Renzi. Und am 1. Juli geht feierlich die
Der Bürgermeister von Florenz EU-Ratspräsidentschaft auf Italien
und neue Vorsitzende der Sozial- über. Letta, nicht Renzi, wird bei-
demokraten ist 39 Jahre jung, de Male im Rampenlicht stehen.
frech und hungrig. Ein hemdsärm- Sofern bis dahin nicht noch was
liger Politiker mit Lausbuben- Parteichef Renzi: Beiname „Verschrotter“ passiert. WALTER MAYR

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 85
Islamist Robert B. im Mai 2012, Moschee in einem Hinterhof in Solingen, Moschee-Besucher B. um 2010: „Er war ein Mitläufer, ein schüchterner,

Marlies B. Und an diesen Satz: „Ich wür-


SYRIEN de niemals einen Menschen umbringen.“

„Mach dir keine Sorgen“


Im Juli 2011 nimmt er die Fähre nach
Dover, gemeinsam mit seinem Freund
Christian E., einem weiteren Konvertiten
aus Solingen. Auf Festplatten, die sie mit
sich führen, entdecken Zollbeamte meh-
Robert B., 26 Jahre alt, deutscher Dschihadist: Er wuchs in rere verdächtige Dokumente. „Baue eine
Solingen auf, konvertierte zum Islam, dann zog er in den Bombe in der Küche deiner Mutter“,
heißt eines. Ein anderes: „39 Wege, um
Krieg. Jetzt ist er offenbar tot – starb er als Selbstmordattentäter? den Dschihad zu unterstützen“. Robert
B. sitzt sechs Monate lang in einem briti-

D
ie Wortwahl war salbungsvoll, die Behörden unbedingt mehr wissen; schen Hochsicherheitsgefängnis, die wei-
der Inhalt schrecklich. „Gott auch deshalb suchen sie nach weiteren, teren sechs Monate aus dem Urteil wer-
empfängt Uthman al-Almani, den gesicherten Informationen. den zur Bewährung ausgesetzt.
Soldaten des islamischen Staates, der Seine Mutter hat die Hoffnung schon Auf einer Website berichtet Robert B.
eine Märtyreroperation im Dorf Kafat aufgegeben, beinahe jedenfalls. „Ich bin über die Haftbedingungen, er gibt sich
in Homs durchgeführt hat“, so war es bei mir sicher, dass er tot ist“, sagt sie. Infor- unbeeindruckt: „Man kann Fitness ma-
Twitter zu lesen. Die besondere Leistung mationen habe sie nicht, aber ein Gefühl, chen und islamische Klassen besuchen,
des angeblichen Märtyrers fand lobende seit einigen Wochen schon. Und sie habe Freitagsgebet gibt’s auch.“ Die Haft sei
Erwähnung: Er habe 50 Milizionäre der mit nichts anderem gerechnet – seit sie „nicht schlimm“, die Anklage „ein Witz“.
Ungläubigen mit in den Tod gerissen. gehört hat, dass sich ihr Robert nach Sy- Und nichts davon kann ihn offenbar noch
Wenn alles stimmt, was dort steht, dann rien abgesetzt hat. von seinem Weg abbringen.
empfängt Gott gerade einen Deutschen: Ro- Marlies B. scheut sich nicht, zu erzäh- Zurück in Deutschland sucht er wieder
bert B., einen Konvertiten aus dem Rhein- len, wie Robert ihr entglitten ist, wie er die Nähe von Ibrahim Abou Nagie, dem
land, der vor 26 Jahren in Solingen geboren sich ihr entzogen hat. Er ist das jüngere radikalen Prediger, und dessen Organi-
wurde und im Januar in Syrien starb. Uth- ihrer beiden Kinder, eine Halbwaise seit sation „Die wahre Religion“. Als sein Ge-
man al-Almani ist sein Kampfname. seinem 13. Lebensjahr, da stirbt sein Vater fährte Christian E. aus der Haft entlassen
Die Twitter-Meldung erreichte auch die an Lungenkrebs. ist, verteilen sie in Wuppertal und Iser-
deutschen Sicherheitsbehörden. Die sind Der Junge verlässt nach der neunten lohn kostenlose Koran-Ausgaben. In ei-
skeptisch, ob Robert B. so viele Menschen Klasse die Schule, geht zur Bundeswehr. nem Video werben sie: „Das ist eine Sa-
umgebracht hat. Dass er selbst nicht mehr Doch dort sitzt er nicht im Panzer, wie che, die auf jeden Fall genutzt werden
lebt, halten sie hingegen aufgrund ver- er es sich erträumt hat, sondern in der sollte. Möge Allah dieses Projekt seg-
schiedener Indizien für wahrscheinlich. Schreibstube. Robert verbreitet Neonazi- nen.“
„Derzeit gehen wir von seinem Tod aus“, Parolen und hängt sich Hitler-Bilder Am 1. Mai 2012 gehen Salafisten in
sagt ein ranghoher Behördenvertreter. übers Bett, bei der Bundeswehr kann er Solingen auf Polizisten los, Robert B. be-
Ein Sprecher des Bundeskriminalamts nicht bleiben. teiligt sich wohl nicht an diesen Attacken.
sagt: „Wir haben Erkenntnisse von einem Der nächste Versuch: Realschulab- „Er hat in der Moschee gesessen und ab-
Anschlag, an dem ein Deutscher beteiligt schluss, Lehre als Fachlagerist, doch nach gewartet“, sagt ein Polizist, der ihn lange
gewesen sein soll.“ dem Abschluss wird er nicht übernom- begleitete. „Er war ein Mitläufer, ein
Rund 270 Männer, meist junge, sollen men. Da hat er sich schon einen anderen schüchterner, introvertierter Junge, dem
aus der Bundesrepublik nach Syrien Namen gegeben, Abdul Hakim. Er lernt ich Gewalt nie zugetraut hätte.“
gereist sein, um im Namen Allahs zu Arabisch und lebt in einer Moschee, die Im Oktober 2012 bemerkt die Polizei,
kämpfen – fast alle Söhne von Migranten. in einem Solinger Hinterhof zu finden dass Robert B. weg ist. In seine Wohnung
Zwischen 15 und 20 von ihnen haben dies ist. in der Innenstadt von Solingen ist einge-
vermutlich mit dem Leben bezahlt. Doch „Diese Menschen dort sind die einzi- brochen worden, Nachbarn haben die de-
keiner von ihnen hat, soweit bekannt, ein gen, die ins Paradies kommen“, „Die molierte Tür gesehen. Als Beamte den
Selbstmordattentat begangen. Und Ro- Frauen von heute sind Flittchen“, „Mutti, Mieter der Wohnung ausfindig zu ma-
bert B. wäre wohl der erste ohne Migra- du musst dir keine Sorgen machen“ – an chen versuchen, stellen sie fest, dass Ro-
tionshintergrund. Auch deshalb wollen solche Sätze ihres Sohnes erinnert sich bert B. das Land verlassen hat.
86 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
SPIEGEL TV (R.)
introvertierter Junge, dem ich nie Gewalt zugetraut hätte“

Mittlerweile haben die Behörden seinen ansonsten nutzte die Gruppe die Situa- Almani“ rühmte, ist besonders seltsam:
Weg nachgezeichnet. Im Herbst 2012 fliegt tion, um die Orte im Hinterland der Re- Er verlegt Kafat, den Ort des Anschlags,
er nach Ägypten. Anfang Dezember des- bellen unter ihre Kontrolle zu bringen. in eine andere Provinz und schreibt von
selben Jahres greift ihn eine Patrouille an Wie viele Kämpfer sie hatte, war schwer 50 getöteten Alawiten, Angehörigen der
der Grenze zu Libyen auf – und lässt ihn zu ermitteln. Halbwegs verlässlich dürfte Glaubensgruppe des herrschenden Re-
schließlich passieren. Er reist weiter nach eine Zahl zwischen 5000 und 6000 sein – gimes von Baschar al-Assad.
Syrien, möglicherweise gemeinsam mit weit weniger als die syrischen Rebellen, In dem Dorf Kafat leben Ismailis, An-
seinem Freund Christian E. Viel mehr ist die dennoch lange Zeit nichts mehr scheu- hänger einer kleinen Sekte, aber keine
den Behörden nicht bekannt. ten als einen Zweifrontenkrieg. Alawiten. Die Zahl der Toten ist unklar,
In Syrien war seit Spätsommer 2012 Der begann zu Jahresbeginn dennoch. das syrische Staatsfernsehen sprach an-
eine merkwürdige Szene ausländischer Die Rebellen vertrieben Isis aus mehreren fangs von 17, von denen nur 10 nament-
Dschihadisten entstanden. Zu- lich bekannt sind. Von 50
nächst kamen vor allem Nord- schrieb niemand. Weder die
afrikaner, Türken, Saudi-Ara- Regime- noch die Oppositions-
ber. Viele der Ausländer hatten medien berichteten von einem
weder Militärerfahrung noch Selbstmordanschlag, nur von
die erkennbare Absicht zu einer Autobombe. Auch ein
kämpfen. Sie trafen sich in den Arzt aus der nahe gelegenen
Restaurants oder stolzierten in Stadt Salamija, der Verletzte
importierter afghanisch-pakis- im Krankenhaus behandelte
tanischer Kluft mit umgehäng- und anonym bleiben möchte,
ter Kalaschnikow durch die sagte gegenüber dem SPIE-
Straßen. GEL, dass keine der Sicher-
Die ersten Auslandskämpfer heitskräfte von einem Selbst-
hatten sich der Nusra-Front mordattentäter gesprochen
oder kleineren Gruppen ange- habe: „Es ging stets nur um
YAZAN HOMSY / REUTERS

schlossen, die zwar radikal auf- eine Bombe, die ferngezündet


traten, aber sich nicht einmisch- worden sei.“
ten in die lokale Selbstverwal- So warten alle auf weitere
tung der syrischen Opposition. Informationen, was wirklich
Doch ein Machtkampf inner- mit Robert B. passiert ist: die
halb von al-Qaida im Frühjahr Zerstörter Straßenzug in Homs: Faustischer Pakt Behörden und seine Mutter.
2013 änderte das Bild. Die meis- Marlies B. hat um ihren Sohn
ten Ausländer wechselten zu Abu Bakr Provinzen, doch gänzlich geschlagen ist gekämpft. Sie informierte früh den Staats-
al-Baghdadi, dem Anführer der iraki- die Gruppe nicht: Die Dschihadisten er- schutz, sie stellte Islamisten in Solingen
schen Qaida, der den „Islamischen Staat oberten mehrere Orte nördlich von Rak- zur Rede, sie suchte den Kontakt zu
im Irak und Syrien“, Isis, deklarierte. ka zurück und haben sich dort festgesetzt. ihrem Kind. Aber wenn die Sicherheits-
Waren die eingereisten Radikalen von Das Hauptziel ihres Kampfes seien die behörden mit ihren Vermutungen nicht
den Syrern bis dato als etwas seltsame, „ungläubigen“ Rebellen, erklärt Isis der- falschliegen, dann wird Robert, der ver-
aber mangels anderer Hilfe willkommene zeit stetig und attackiert deren Orte mit lorene Sohn, wohl nicht zurückkommen.
Mitkämpfer betrachtet worden, verbreitete Autobomben, Selbstmordattentätern, Im Herbst 2012 hat er sie noch einmal
Isis Angst und Schrecken. Rigide verlang- Panzern und verkleideten Truppen. besucht. „Wir sprachen nur über Beiläu-
ten die meist maskierten Kämpfer Unter- Hat Robert B. in diesem Kampf sein figes. Ich hatte aufgehört, ihm den Islam
werfung, sie entführten oder töteten, wer Leben verloren? Und hat er tatsächlich auszureden“, sagt die Mutter. „Er hatte
sich ihnen entgegenstellte: andere Rebellen, das Leben weiterer 50 Menschen zer- verstanden, dass er mir damit nicht zu
Zivilaktivisten, Stadträte, lokale Journalis- stört? Akkurate Informationen gehören kommen brauchte.“ Nach einer halben
ten ebenso wie westliche Korrespondenten. nicht zu den Kernkompetenzen von al- Stunde sei Robert gegangen.
Es war ein faustischer Pakt, gelegent- Qaida. Und jener Tweet, mit dem ein ge- JÖRG DIEHL, HUBERT GUDE,
lich schickte Isis Selbstmordattentäter ge- wisser Abu Hafs Amr al-Farisi am 12. Ja- JULIA JÜTTNER, CHRISTOPH REUTER,
FIDELIUS SCHMID, HOLGER STARK
gen die Checkpoints der Regimetruppen, nuar seinen Kampfbruder „Uthman al-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 87
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL
Chefdiplomat Ban vorige Woche in Berlin: „Druck ist wichtig“

SPIEGEL: Doch währenddessen bombar-


V E R E I N T E N AT I O N E N diert das Regime Rebellengebiete und

„Wir sind eher hilflos“


hungert Zivilisten aus. Haben Sie keine
Angst, dass Assad nur Zeit schinden will,
dass er ein Spiel mit Ihnen spielt?
Ban: Natürlich habe ich die Sorge, dass
das nur eine Hinhaltetaktik ist. Dass sie
Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon über die Verhandlungen mit reden, während sie gegen die Opposition
Damaskus, die Lähmung der Weltgemeinschaft – und über vorgehen. Deswegen wollten wir mit ei-
ner vertrauensbildenden Maßnahme be-
seine Forderung, dass die Deutschen sich mehr engagieren müssen ginnen und haben einen begrenzten Waf-
fenstillstand in Gebieten wie Homs und

B
an, 69, ist seit sieben Jahren Gene- SPIEGEL: Herr Generalsekretär, sprechen Aleppo vorgeschlagen. Doch leider hat
ralsekretär der Vereinten Nationen, Sie eigentlich noch mit Baschar al-Assad? selbst das nicht funktioniert.
im Dezember 2016 endet seine Ban: Zu Anfang habe ich das getan, aber SPIEGEL: Wie können Sie da noch auf eine
zweite Amtszeit. Er wollte die Uno schlag- jetzt schon lange nicht mehr. Aber ich Übergangsregierung ohne Assad hoffen,
kräftiger machen, doch jetzt muss er fürch- habe den syrischen Außenminister Walid die ja das ausdrückliche Ziel der Uno ist?
ten, dass Syrien sein Ruanda wird – ein al-Muallim vorvorige Woche in Montreux Ban: Die Kluft zwischen Regime und Op-
Gemetzel, dem er nur tatenlos zusehen getroffen. Wir hatten ein gutes Treffen, position ist groß, besonders was die Frage
kann. Der Südkoreaner wird gern Mr. Un- aber er war sehr schwer zu überzeugen. einer Übergangsregierung angeht. Aber
sichtbar genannt, aber zuletzt war er so SPIEGEL: Wir haben das gemerkt. Glauben das Wichtige ist: Beide Seiten reden mit-
präsent wie selten: Er vermittelte zwi- Sie denn, es hat keinen Sinn mehr, mit einander. Und das, obwohl die syrische
schen syrischer Regierung und Opposition Assad direkt zu reden? Regierungsdelegation sehr unwillig ist,
in Montreux, sprach beim Weltwirtschafts- Ban: Das sind sehr schwierige Verhand- Details zu diskutieren. Wir müssen ge-
forum in Davos und bei der Münchner lungen, aber der Sondergesandte der Uno duldig sein.
Sicherheitskonferenz. Dazwischen traf er und der Arabischen Liga, Lakhdar Bra- SPIEGEL: Sie wollen also keinen Druck auf
Fidel Castro in Havanna und die Bundes- himi, ist ein hervorragender Vermittler. Assad und sein Regime ausüben?
kanzlerin in Berlin. Pünktlich kommt ein Die Gespräche haben bisher keine ent- Ban: Oh, Druck ist immer wichtig. Aber
höflicher Herr Ban zum Gespräch, das scheidenden Fortschritte gebracht, aber ich bin der Meinung, dass wir auf beide
Auffälligste an ihm ist ein Kristall am Re- beide Parteien haben sich gegenüber- Seiten Druck ausüben sollten, dass beide
vers. Er ist vorsichtig und diplomatisch gesessen und miteinander gesprochen. Seiten Flexibilität zeigen müssen.
wie immer, nach genau 27 Minuten steht Und die Gespräche gehen weiter, das ist SPIEGEL: Das einzige bescheidene Ergebnis
er auf. Der nächste Termin wartet. positiv. der Konferenz war die Zusage des Re-
90 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Ausland

gimes, einen Hilfskonvoi in die Altstadt line eingehalten wird oder nicht – ent- SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, Blau-
von Homs zu lassen, wo Tausende Zivi- weder weil die syrische Regierung uns helme nach Syrien zu schicken?
listen seit über einem Jahr eingeschlossen hinhält oder wegen der nicht steuerbaren Ban: Momentan gibt es keinen Frieden,
sind. Aber selbst das ist nicht geschehen. Umstände im Land. Erst dann können den man erhalten könnte. Aber wenn erst
Ban: Das Misstrauen auf beiden Seiten ist wir über Konsequenzen reden. einmal eine politische Lösung gefunden
riesig. Diese Zivilisten aus Homs zu eva- SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert, als Sie ist und die Feindseligkeiten aufgehört
kuieren, das hätte Vertrauen geschaffen. die Fotos von rund 11 000 Toten aus As- haben, dann könnten wir eine friedens-
Ich bin sehr enttäuscht, dass das bisher sads Foltergefängnissen gesehen haben? erhaltende Mission entsenden, natürlich
blockiert wurde. Aber wir werden weiter Ban: Das ist abscheulich, absolut inakzep- nur mit Zustimmung des Sicherheitsrats.
darauf drängen. tabel, wenn es denn bestätigt wird … SPIEGEL: Ist die Weltgemeinschaft eher in
SPIEGEL: Könnte die Verweigerung von SPIEGEL: Sie zweifeln an der Echtheit? der Lage, sich zu einigen, wenn es um
Hilfslieferungen am Ende auch Russland Ban: Wir warten auf die Einschätzung der Interventionen in Afrika geht, etwa in
bewegen, Sanktionen gegen Syrien nicht Untersuchungskommission, die vom Uno- der Zentralafrikanischen Republik?
länger im Sicherheitsrat zu blockieren? Menschenrechtsrat eingesetzt worden ist. Ban: Wir unterstützen die von der Afri-
Ban: Wir müssen pragmatisch und realis- Ihr Bericht kommt Ende Februar heraus. kanischen Union angeführte Mission,
tisch sein. Russland wird einer Sanktions- SPIEGEL: Wollen Sie den Internationalen aber leider ist es bisher nicht gelungen,
resolution zu Syrien zu diesem Zeitpunkt Strafgerichtshof auffordern, wegen Kriegs- die Zentralafrikanische Republik zu stabi-
wohl kaum zustimmen. Aber ich hoffe, verbrechen gegen Assad zu ermitteln? lisieren. Es herrscht noch immer Gesetz-
in den nächsten Tagen mit dem russischen losigkeit, es gibt Massaker und Morde.
Außenminister über Syrien diskutieren Deswegen begrüße ich das Engagement
zu können. „Ich habe die Bundes- der Franzosen und der Europäischen
SPIEGEL: Ohne Russland kann es keine Union. Ich habe auch Bundeskanzlerin
Lösung geben. Und ohne Iran?
kanzlerin gebeten zu Merkel und Außenminister Steinmeier
Ban: Es wäre besser gewesen, wenn die unternehmen, was möglich um tatkräftige Hilfe gebeten.
Iraner an den Gesprächen in Montreux SPIEGEL: Wie haben die beiden reagiert?
teilgenommen hätten. Iran ist ein ein- ist – auch mit Truppen.“ Ban: Das müssen Sie sie selbst fragen, aber
flussreicher regionaler Akteur, das Land sie sind beide eindeutig tatkräftig!
wird eine wichtige Rolle bei der Umset- Ban: Syrien hat das Statut des Gerichts- SPIEGEL: Die deutsche Bevölkerung hat
zung eines Abkommens zwischen Regie- hofs nie unterzeichnet, der Sicherheitsrat mehrheitlich Vorbehalte dagegen, größe-
rung und Opposition spielen. Deshalb müsste den Fall also nach Den Haag über- re Verantwortung in der Welt zu über-
hatte ich Iran auch eingeladen. Nur leider weisen – und ich kann mir nicht vor- nehmen. Halten Sie das für zeitgemäß?
musste ich diese Einladung zurückziehen. stellen, dass Russland das im Moment Ban: Ich heiße die Diskussion darüber aus-
SPIEGEL: War die Einladung ein Fehler – unterstützen würde. Aber natürlich ist es drücklich willkommen. Das ist ganz nor-
die Iraner sind ja bekennende Gegner ei- wichtig, dass kein Täter seiner Strafe ent- mal. Deutschland ist einer der Staaten,
ner Übergangsregierung ohne Assad? kommt. die die Vereinten Nationen finanziell und
Ban: In meinem Einladungsbrief stand SPIEGEL: Wären über hunderttausend Tote politisch stark unterstützen, und wir
ausdrücklich, dass unser Ziel eine Über- und Millionen Flüchtlinge zu verhindern schätzen Deutschland als aktiven Vertre-
gangsregierung ist. Aber die Iraner woll- gewesen, wenn die Weltgemeinschaft ter für die Menschenrechte. Es ist also
ten sich diesem Ziel nicht verpflichten. rechtzeitig eingegriffen hätte, mit Waf- durchaus verständlich, dass wir einen
SPIEGEL: Ihr einziger echter Erfolg bisher fenlieferungen an die Opposition oder deutschen Beitrag erwarten.
ist, dass Assad auf seine Chemiewaffen der Einrichtung einer Flugverbotszone? SPIEGEL: Sollte Deutschland sich im Zwei-
verzichtet. Doch noch sind nur unter fünf Ban: Die internationale Gemeinschaft ist felsfall auch militärisch mehr engagieren?
Prozent außer Landes gebracht – es sieht gespalten, deswegen gibt es noch immer Ban: Ich weiß, dass es hier gerade eine
so aus, als wolle das Regime in Damaskus keine Lösung für diesen Konflikt. Und Debatte über Deutschlands Rolle in der
Sie auch da hinhalten. auch die Syrer sind gespalten. Ebenso der Welt gibt. Sie haben die Einsätze in Af-
Ban: Die Syrer sind kooperativ, aber der Sicherheitsrat. Und einige der Hauptak- ghanistan und Mali unterstützt, zudem
Abtransport muss schneller gehen. Si- teure in der Region. Meine Botschaft war die Marinemission vor dem Libanon. Das
cherlich gibt es Probleme bei Sicherheit daher stets, dass es keine militärische sind wichtige Beiträge. Als Generalsekre-
und Logistik, aber dies darf nicht zu grö- Lösung gibt. Ich habe all die Länder, die tär der Vereinten Nationen wünschte ich
ßeren Verzögerungen führen. Waffen und Ausrüstung liefern, gedrängt, mir, dass alle Mitgliedstaaten, die dazu
SPIEGEL: Damaskus blockiert also doch? damit aufzuhören. Damit es endlich eine in der Lage sind, sich an der Stabilisie-
Ban: Außenminister Muallim hat mir ver- politische Lösung geben kann. rung von Konfliktregionen wie der Zen-
sprochen, vollauf zu kooperieren und sich SPIEGEL: Aber es gab, zumindest anfangs, tralafrikanischen Republik beteiligen –
um einen schnellen Abtransport zu be- eine militärische Option. In Libyen, im bevor sie nicht mehr kontrollierbar sind.
mühen. Wir sprechen jetzt auch mit den Irak und in Afghanistan hat die Uno Die internationale Gemeinschaft muss in
Russen, in der Erwartung, dass diese den Militäroperationen unterstützt. Warum der Zentralafrikanischen Republik ein-
Prozess beschleunigen können. nicht in Syrien? greifen. Das habe ich auch der Bundes-
SPIEGEL: Ist es überhaupt noch machbar, Ban: Natürlich sollte es ein Mandat geben, kanzlerin gesagt und sie gebeten, alles zu
bis zum 30. Juni alle Chemiewaffen aus die Zivilbevölkerung zu schützen. Aber unternehmen, was möglich ist: finanziell,
dem Land zu schaffen? uns fehlt dafür die Zustimmung des Si- logistisch – oder auch mit Truppen. Aber
Ban: Das ist unsere Deadline, und obwohl cherheitsrats, das ist das Problem. Nur was genau, diese Entscheidung liegt nun
sie zugegebenermaßen eng ist, heißt das der Sicherheitsrat kann ein solches Man- bei der deutschen Regierung.
nicht, dass sie nicht erfüllt werden kann. dat verabschieden. Und weil das Misstrau- INTERVIEW: NIKOLAUS BLOME,
Bis zum 30. Juni muss das Material aus en der Konfliktparteien so hoch ist, kön- JULIANE VON MITTELSTAEDT
Syrien entfernt sein. nen wir nur begrenzt Nothilfe leisten, un-
SPIEGEL: Und wenn Assad danach noch sere Konvois kommen nicht immer in die Animation:
Giftgas hat, drohen dann Sanktionen? belagerten Gebiete. Wir sind da eher hilf- Was macht die Uno?
Ban: Es ist noch zu früh, darüber zu reden. los, obwohl wir alles tun, um der Bevöl- spiegel.de/app62014un
Wir müssen zunächst sehen, ob die Dead- kerung zu helfen. Aber es ist nicht genug. oder in der App DER SPIEGEL

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PA K I S TA N

Die Unsichtbaren
Muslimische Extremisten werden stärker, und Ziel ihres Terrors sind auch
die etwa drei Millionen Christen im Land. Manche von ihnen
versuchen, ins Ausland zu fliehen. Andere müssen sich verstecken.

P
olizisten mit Maschinenpistolen ste- „Unsere Kirche war eine Insel des Frie- Gill legt sich die Soutane um, zieht vor
hen auf den Dächern, sie tragen Helm dens“, sagt Pfarrer Ijaz Gill. „Jetzt ist sie dem Spiegel den Scheitel nach, dann liest
und kugelsichere Weste, mit Fernglä- eine Festung. Wir haben alle Angst.“ Im er sich seine handgeschriebenen Zettel
sern kontrollieren sie die Umgebung. Die September gab es hier nach dem Gottes- noch einmal durch. Von Mut will er in
Mauer wurde mit Sandsäcken und Stachel- dienst einen Bombenanschlag, mehr als seiner Predigt reden, davon, dass es selbst
draht verstärkt. Bewaffnete Gemeindemit- 120 Menschen starben, etwa 170 wurden in der dunkelsten Stunde noch Hoffnung
glieder beobachten, wer zum Eingang geht. verletzt. Seitdem trauen sich nur noch gebe. Glaubt er selbst daran? „Diese Kir-
Mit einem Nicken signalisieren sie den Poli- wenige in die Kirche. che soll ein Ort der Hoffnung bleiben.
zisten, wenn sie einen Besucher erkennen. Der Pfarrer ist ein hagerer Mann mit Aber ich bin auch nur ein Mensch. Es
Und auch der wird dann noch abgetastet. schmalem Schnurrbart und getönter Bril- gibt Zeiten, in denen die Zweifel über-
So sieht es aus, wenn die Christen von le. Seine weiße Soutane hängt in einem wiegen.“
Peschawar zum Gottesdienst in die Al- Schrank in der Sakristei. „Die trage ich Der Priester geht zum Altar, nur weni-
lerheiligenkirche gehen. draußen nicht mehr“, sagt er. ge Gläubige sind da, vielleicht 100. Früher
92 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Ausland

Allerheiligenkirche „Geh nach vorn, geh nach vorn, schau dern will. Nach Australien oder England,
in Peschawar nicht zurück.“ Hauptsache, weit weg. Seine Stimme ist
Lange lebten die Christen hier glück- leise und monoton. Er sagt, er habe noch
lich, obwohl Peschawar eine muslimische nicht richtig weinen können seit dem An-
Stadt ist, nur rund 50 Kilometer entfernt schlag. Er habe es versucht, aber er könne
von der Grenze zu Afghanistan. Terroris- es einfach nicht.
ten brüten hier Anschläge aus, es gibt Zu der Tat hat sich eine Gruppe na-
muslimische Hassprediger, die Frauen in mens Jundullah, „Soldaten Allahs“, be-
der Stadt tragen Burka und die Männer kannt – eine von rund 30 Gruppierungen,
einen langen Bart. die Verbindungen zu den pakistanischen
Christen waren schon immer eine Min- Taliban haben. Bisher kämpften sie gegen
derheit im Land, etwa 3 Millionen von die schiitische Minderheit, nun auch ge-
über 165 Millionen Pakistanern. Doch jetzt gen Christen. Man werde die „Angriffe
wird ihre Lage gefährlicher. Muslimische auf Ungläubige auf pakistanischem Bo-
Extremisten gewinnen an Stärke, seit An- den fortsetzen, solange die Amerikaner
fang Januar hat es mehr als 40 schwere ihre Drohnenangriffe in unserem Land
Anschläge gegeben. Die Regierung ist nicht beenden“, so ein Sprecher der Ter-
weitgehend machtlos, sie versucht, mit rorgruppe kurz nach dem Anschlag.
den Taliban zu verhandeln – und denkt „Wo leben wir nur?“, fragt Shalums
zugleich über Militäroffensiven nach. Großvater Nasir Masih, 72. Er sitzt im

„Es ist, als hätte sich etwas Düsteres über


unsere Gesellschaft gelegt.“
Unter dem Terror leiden die Muslime Nachbarzimmer, unrasiert und verzwei-
und die Christen. Wer von den Christen felt. „Ich wäre schon dankbar, wenn Sha-
kann, der flieht ins Ausland. Wer dablei- lum ins Ausland gehen könnte, irgendwo-
ben muss, lebt im Alltag unauffällig. hin, wo man Englisch spricht.“ Aber die
Denn auch die etablierten Parteien über- beiden haben kein Geld, Masihs Erspar-
nehmen oft Slogans der Islamisten. Ra- nisse reichen nicht mehr lange; er weiß
dikale Muslime fühlen sich so bestätigt noch nicht einmal, wovon sie hier in Pa-
und greifen die christliche Minderheit an. kistan nun weiter leben sollen, ein alter
Die Fassade der Allerheiligenkirche ist Mann und ein Junge ohne Arbeit.
seit dem September-Attentat übersät mit Fürchtet er die Taliban?
den Einschlaglöchern von Bombensplit- „Die Kirche ist jetzt geschützt. Aber
tern. Eine der beiden Uhren im Kirchen- hierher, in unser Viertel, in unser Haus,
schiff ist nach der Explosion stehenge- können sie jederzeit kommen. Die Regie-
blieben: 11.44 Uhr. rung sagt, sie beschütze uns. Aber in
Der Junge Shalum ist einer von denen, Wahrheit beschützt uns niemand. Wir
die überlebt haben, ein 15-Jähriger mit sind in diesem Land nicht mehr sicher.“
Oberlippenbart und Brille. Er wohnt ein Vor ein paar Jahren noch, sagt Masih,
paar hundert Meter von der Kirche ent- habe er keine Angst gehabt. Er habe sich
fernt in einem Armenviertel. Überwie- in die muslimischen Viertel von Pescha-
gend Christen leben hier, vor der Haustür war getraut. „Es gab zwar auch früher
fließt der Unrat durch einen offenen Ka- keine Ehen zwischen Muslimen und
DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

nal. Drinnen sitzt Shalum auf seinem Bett, Christen, aber immerhin redete man mit-
er weiß noch genau, was passierte. einander, war befreundet, lebte in ge-
Die Messe war gerade zu Ende, nie- mischten Vierteln.“ Heute meidet er Mus-
mand achtete auf die beiden Männer, die, lime, hält sich in Gesprächen zurück. „Es
wie sich jetzt manche erinnern, fremd ist, als hätte sich etwas Schweres, Düste-
wirkten auf dem Kirchhof. Mitten in der res über unsere Gesellschaft gelegt, etwas,
Menschenmenge zündeten sie ihre das einem die Luft zum Atmen nimmt.“
Sprengstoffwesten. Das Düstere dehnt sich aus, es ist nicht
Als die beiden Bomben explodierten, mehr nur in Peschawar zu spüren, son-
war Shalum noch in der Kirche. „Ich hör- dern auch in Lahore, einer der liberalsten
waren es meist 600 oder 700, die kamen, te plötzlich einen hohen Ton und dachte: Städte des Landes, wo die meisten pakis-
um die Predigt zu hören, zu singen, zu Irgendetwas stimmt mit meinen Ohren tanischen Christen leben.
beten, zu lachen und sich mit Freunden nicht.“ Er lief nach draußen und sah diese „Unsere Lage war schon immer schwie-
zu treffen. Etwa 1000 Familien gehören Bilder, die er nun nicht mehr loswird: rig, aber wir hatten Hoffnung“, sagt Sebas-
zur Gemeinde. Menschen mit verzerrten Gesichtern, auf tian Francis Shaw, 56, der Erzbischof von
Die Besucher haben ihre Schuhe am dem Boden Körper, manche bewegten Lahore. „Doch die Hoffnung wird immer
Eingang ausgezogen, die Frauen bede- sich, andere nicht. Er fand seine Mutter, kleiner.“ Er sitzt in seinem Büro neben der
cken den Kopf mit einem Tuch; die Män- die wenig später im Krankenhaus starb. Sacred-Heart-Kathedrale, einem einst weit
ner sitzen links, die Frauen rechts. Das Er fand seinen Vater, seine Schwester, sei- sichtbaren Gotteshaus im römisch-byzan-
Christentum ist hier vom Islam gefärbt, nen Onkel, sie waren alle tot. Dann wur- tinischen Stil. Doch jetzt versperren hier
auch das weißverputzte Gebäude sieht de er ohnmächtig. ebenfalls hohe Mauern den Blick.
von außen aus wie eine Moschee. Ein In den Händen hält er nun ein Bild sei- Seit Jahrhunderten leben Christen in
paar Kinder singen, der Refrain lautet: ner Eltern und erzählt, dass er auswan- Pakistan, sie stammen von Muslimen ab,
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 93
Ausland

die während der britischen Kolonialherr- Leben zur Hölle zu machen. Im Fall der
schaft von Missionaren bekehrt wurden. Christin Suraiya war diese Kleinigkeit
Einige sind auch die Nachfahren von Hin- eine Plastikplane.
dus aus den unteren Kasten, die sich tau- Freunde hatten ihr die Plastikplane ge-
fen ließen – in der Hoffnung, so dem oft- schenkt, als Überdachung für die Toilette,
mals starren Kastenwesen zu entkom- die hinter ihrem in einem Armenviertel
men. Gebracht hat ihnen das nicht viel, in Lahore gelegenen Haus steht. Eines
denn die Christen gehören zu den Ärms- Tages bekam die Frau Streit mit einer
ten in Pakistan, sie leben oft in Slums Nachbarin. Und dann behauptete die,
und arbeiten als Straßenkehrer oder Rei- Suraiya habe eine mit Koranversen be-
nigungskräfte. Vielen Muslimen gelten schriftete Plane über ihre Toilette ge-
sie als unrein. Der Henker von Pakistan hängt. Der örtliche Mullah erfuhr davon
zum Beispiel ist ein Christ – ein Beruf und eiferte, die Christin beschmutze Al-
für Unreine. lah. „Eines Tages kam ich von der Arbeit
Als der Staat vor gut 66 Jahren ge- und sah eine Menschenmenge vor unse-
gründet wurde, waren knapp 80 Prozent rem Haus“, erzählt Suraiya. „Da bin ich
der Bevölkerung Muslime. Im Laufe der geflüchtet.“
Jahre sind aber immer mehr Anders- Seit nunmehr drei Jahren haust Su-
gläubige ausgewandert oder zum Islam raiya, 50, in einer winzigen Wohnung, ge-
konvertiert. Inzwischen verehren nach meinsam mit einer Tochter, die anderen

„Wir haben jetzt Bürgerwehren gegründet.


Ich befürchte, das ist nötig.“
offiziellen Angaben 97 Prozent der Pa- beiden Kinder sind schon aus dem Haus.
kistaner Allah. Dabei hatte Staatsgrün- Ihr Mann ist vor einigen Wochen an ei-
der Mohammed Ali Jinnah sich einst nem Herzinfarkt gestorben. Freunde ha-
einen säkularen Staat gewünscht, eine ben ihr erzählt, dass ihr altes Haus ge-
Heimat für Muslime, aber auch für Chris- plündert worden sei. „Ich weiß, dass ich
ten oder Hindus. nie wieder zurückkann. Man würde mei-
Doch sein Wunsch nach einem friedli- ne Tochter und mich umbringen.“ Nur
chen Miteinander ging nicht in Erfüllung. die Familie und enge Freunde kennen ihr
Vor allem seit Ende der siebziger Jahre, Versteck. Ein christlicher Hilfsverein
als der Militärdiktator Zia ul-Haq an die schickt über Mittelsmänner gelegentlich
Macht kam, habe sich die Lage der Chris- etwas Geld.
ten verschlechtert, sagt der Erzbischof. „Es gibt hier eine Atmosphäre des Has-
Der General trieb die Islamisierung des ses gegenüber allen, die nicht zur Mehr-
Landes voran. heit gehören“, sagt sie. Die angebliche
„In der pakistanischen Verfassung steht Koranschändung habe die Nachbarin er-
zum Beispiel, dass nur ein Muslim Staats- funden. „Da stand irgendetwas in arabi- des Blasphemieparagrafen. Beide wurden
präsident werden kann“, sagt Bischof scher Schrift. Ich glaube, das war Wer- Anfang 2011 in Islamabad erschossen: der
Shaw. „Da fing es an.“ Aber inzwischen bung.“ Aber sie weiß: Ihr, einer Christin, eine, der Gouverneur der Provinz Punjab,
gehe es für die Christen ja gar nicht mehr glauben die Menschen weniger als der Salman Taseer, von seinem eigenen Leib-
um Gleichberechtigung, sondern ums Nachbarin, einer Muslimin. wächter; der andere, der christliche
Überleben: Sie verschwinden aus der Diktator Zia ul-Haq hatte 1986 den Minderheitenminister Shahbaz Bhatti,
Öffentlichkeit, sie schrauben Kreuze von Paragrafen 295-C ins Strafgesetzbuch von unbekannten Tätern.
Gebäuden ab, entfernen Marien- und schreiben lassen: Auf die Beleidigung des Taseers Mörder begründet seine Tat da-
Jesusbilder aus Büros und Geschäften, Propheten Mohammed steht seither die mit, der Gouverneur habe sich ebenfalls
bauen hohe Mauern um Kirchen. Sie ver- Todesstrafe. Wer einen Christen ein- der Gotteslästerung schuldig gemacht,
suchen, unsichtbar zu werden. Nur nach schüchtern will, muss ihm also nur mit weil er Bibi zur Seite stand. Der Mörder
dem Attentat von Peschawar wagten sie einer Anzeige drohen. wurde zum Tode verurteilt, aber für viele
es für eine kurze Zeit, in mehreren Städ- Die Feldarbeiterin Asia Bibi etwa wur- Pakistaner ist er ein Held.
ten zu demonstrieren. de im November 2010 zum Tode verur- Bhatti hatte wenige Tage vor seinem
„Unsere Regierung weiß teilt. Die Christin war mit Tod dem SPIEGEL erzählt, er werde be-
um die Probleme von Kolleginnen in Streit ge- droht, weil er gegen das Blasphemie-
Minderheiten“, sagt Shaw. raten, dabei soll sie – so gesetz kämpfe. Dabei sei der Paragraf nur
„Aber sie ist hilflos und Peschawar Islamabad die Kolleginnen – den ein Instrument, „um Feinde ans Messer
fürchtet sich vor den Tali- Propheten beleidigt ha- zu liefern“.
ban.“ Die Regierung hat A F G H A N I S TA N ben. Bibi bestreitet das, Und so sind Christen im Land zu Frei-
die Gemeinden aufgefor- Lahore aber seit mehr als drei wild geworden. Die 17-jährige Christin
dert, ihre Kirchen selbst Jahren wartet sie im Ge- Alisha aus Lahore etwa wurde von einem
zu schützen. „Wir haben fängnis darauf, dass sich Muslim entführt, zwangskonvertiert und
P A K I S TA N
jetzt Bürgerwehren ge- ein höheres Gericht ihren von mehreren Männern vergewaltigt,
gründet. Ich befürchte, INDIEN Fall vornimmt. zwei Tage lang. Erst dann gelang ihr die
das ist nötig in diesen Zei- Zwei pakistanische Spit- Flucht. Der Entführer war der Bruder ih-
ten“, sagt der Erzbischof. Karatschi 300 km zenpolitiker setzten sich rer Nählehrerin. „Jetzt bedrohen sie mich,
Eine Kleinigkeit reicht, für Asia Bibi ein und ver-
um einem Christen das langten eine Änderung * Unten: in Islamabad im September 2013.

94 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
weil ich zu meiner Familie zurückgekehrt
bin“, erzählt sie. Fremde, aber auch Nach-
barn werfen ihr nun vor, sie sei vom Glau-
ben abgefallen – dabei sei sie nie zum
Islam konvertiert. Die Muslime „haben
mir gedroht, dass sie mich umbringen,
wenn sie mich erwischen“. Gemeinsam
mit ihrer Familie ist sie untergetaucht.
Auch der Techniker Tariq, 51, hält sich
versteckt. Jeden Morgen, wenn die Rufe
des Muezzins über den Ort hallen, schaut
er vorsichtig aus dem Fenster, ob sich Ver-
dächtige dem Haus nähern. Erst dann
nickt Tariq seiner Frau, den drei Töchtern,
dem Sohn und dem Schwiegersohn zu,
die hinten im Zimmer warten. Danach
trauen sie sich an den Frühstückstisch
nahe beim Fenster.
Tariq war bis vor zwei Jahren Muslim,
zumindest offiziell. Er lebte in Peschawar,
hatte einen Job bei der staatlichen Öl-
gesellschaft, es ging der Familie gut. Aber
vor vielen Jahren hatten christliche Mis-
sionare ihm eine Bibel geschenkt. Tariq
las darin, verglich die Bibel mit dem Ko-
ran. „Mir wurde klar, dass das, was die
Bibel sagt, mir näher ist als das, was im
Koran steht“, sagt er.
Jahrelang behielt Tariq seine Überzeu-
gung für sich. Bis er sicher war, dass er
Protestant werden wollte. Er weihte seine
Frau und die Kinder ein, vor zwei Jahren
ließ sich die ganze Familie taufen. Eine
Tat, die nach Ansicht vieler Mullahs mit
dem Tod bestraft werden sollte.
Zunächst bemerkte niemand den Über-
tritt der Familie zum Christentum: Sie
mied Kirchen und betete nur zu Hause,
hinter vorgezogenen Vorhängen. Doch
dann heiratete die älteste Tochter Ma-
riyam einen Christen. „Da wussten die
Nachbarn, dass wir keine Muslime mehr
sind“, sagt Tariq.
Wenige Wochen später wurde er von
Mitgliedern einer lokalen Talibangruppe
entführt. Zwei Tage lang hielten sie ihn
in einem Keller gefangen und redeten auf
ihn ein, er und seine Familie sollten zum
Islam zurückkehren. „Sie sagten mir, das
nächste Mal würden sie mich umbringen,
wenn wir nicht auf sie hören.“
Aber Tariq, die Frau und die Kinder
blieben Christen, allen Drohungen zum
Trotz; sie wären auch in Peschawar ge-
blieben. Dann explodierten am 22. Sep-
tember die Bomben vor der Allerheili-
genkirche. Da wurde Tariq klar: Die Ter-
roristen meinen es ernst mit ihrem Kampf
FOTOS: DIEGO IBARRA SÁNCHEZ / DER SPIEGEL

gegen all jene, die ihren Glauben nicht


teilen. Die Familie tauchte unter.
Hoffnung, so Tariq, habe er kaum noch.
Irgendwann werde jemand vor der Tür
stehen, mit einer Waffe in der Hand.
HASNAIN KAZIM

Video-Reportage:
Jagd auf Christen
spiegel.de/app62014pakistan
Anschlag-Überlebender Shalum, demonstrierende Christen*: „Die Hoffnung wird kleiner“ oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 95
Ausland

PEKING
Töne verbinden
Wie ein gelernter Banker die Weltsprache Chinesisch
GLOBAL VILLAGE:
für Nichtchinesen lesbar machte

D
ie Gasse, in der er wohnt, heißt Spracherwerb. Mao hörte von Zhous Namen Pinyin – wörtlich: „Töne verbin-
Houguaibang Hutong. So steht der Buch und schickte seinen Sekretär nach den“ – wurde sie von Chinas Parlament
Name unten am Straßenschild, so Shanghai. 80 Prozent der Chinesen waren beschlossen und 1982 von der Internatio-
steht er im Stadtplan von Peking, so auch zu der Zeit Analphabeten – die Idee einer nalen Organisation für Normung aner-
auf Google Earth. Und nur so ist die simplen Schrift für alle interessierte Mao. kannt. Seither steht fest, wie chinesische
Adresse für Menschen zu lesen, die keine Jahrhundertelang hatten sich Gelehrte Wörter in westlicher Schrift zu buchsta-
chinesischen Schriftzeichen entziffern den Kopf zerbrochen, wie das Chine- bieren sind. Und anders als beim Arabi-
können. Der Mann hat sich durchgesetzt. sische mit seiner komplizierten Schrift, schen oder beim Russischen halten sich
Zhou Youguang ist 108 Jahre alle daran, Amerikaner, Deut-
alt und schwerhörig, er sitzt zu- sche, Briten, selbst die sonst so
sammengesunken an einem klei- eigenwilligen Franzosen.
nen Schreibtisch in seiner Woh- Noch tiefgreifender hat Zhou
nung in Peking. Sein Sohn Xiao- Youguang das Leben der Chine-
ping, 79, stellt ihm eine Tasse sen selbst verändert. Seit Jahr-
Tee hin. Zhou schiebt sie weg. zehnten lernen chinesische Kin-
„Wir hatten in den fünfziger der nun seine Umschrift, bevor
Jahren drei Dinge vor“, sagt er. sie anfangen, die Schriftzeichen
„Erstens eine Standardsprache zu zu pauken. „Inzwischen dürften
schaffen, damit sich alle Chine- es gut über eine Milliarde Men-
sen verständigen können, zwei- schen sein, die mit Pinyin begon-
tens die alten Schriftzeichen zu nen haben“, sagt Zhou. Die An-
vereinfachen – und drittens eine alphabetenrate ist so auf unter
alphabetische Umschrift des Chi- fünf Prozent gesunken.
nesischen zu entwickeln. Mit die- Und seit fast alle Chinesen
ser Aufgabe wurde ich betraut.“ Handys besitzen, tippen sie so
Warum Mao Zedong und die lange lateinische Buchstaben
anderen Führer der Kommunis- ein, bis ihnen das Gerät das
tischen Partei gerade auf ihn ge- gewünschte chinesische Schrift-
KATHARINA HESSE / DER SPIEGEL

kommen waren, ist ihm bis heu- zeichen anbietet. „Mein Vater
te nicht ganz klar. Er sei ein macht es auch so“, sagt Zhou
Amateur, sagte er ihnen damals. Xiaoping. „Auf dem größeren
„Sie sagten mir: ,Wir sind alle iPad tut er sich allerdings
Amateure.‘“ leichter. Er sieht ja nicht mehr
So wurde Zhou Youguang so gut.“
zum Schriftreformer Chinas. So Dem Staat ist der alte Mann
fing er an, den Alltag der Chine- Schriftreformer Zhou: „Mao hat Mist gebaut“ indes suspekt geworden, mit Eh-
sen zu verändern und die Welt- rungen hielt man sich zurück.
sprache Chinesisch für andere Das hängt mit Zhous politischer
Kulturen zu öffnen. Haltung zusammen: „Ich bedau-
Zhou war fast 50 Jahre alt, als ihn der seinen vier unterschiedlichen Betonun- re nur eines in meinem Leben“, sagt er.
Auftrag ereilte. Doch anders als Mao Ze- gen und seiner Mehrdeutigkeit in Buch- „Dass die Kommunisten ihr Wort gebro-
dong hatte Zhou die Welt gesehen: 1906 staben zu fassen sei. Viele der gut 400 Sil- chen haben und China noch immer keine
als Spross einer wohlhabenden Familie ben des Chinesischen sind mit Dutzenden Demokratie ist.“ Wie die meisten Intel-
im kaiserlichen China geboren, studierte Bedeutungen befrachtet. lektuellen wurde er während der Kultur-
er in Shanghai und Japan Wirtschaft und Welches Alphabet aber sollte man neh- revolution in den sechziger Jahren aufs
Linguistik und wurde Banker. 1946 ging men? In den fünfziger Jahren drängte sich Land geschickt.
er für die Xinhua-Bank nach New York. das kyrillische des sozialistischen Bruder- Er würdige den Fortschritt, den das
Kurz vor der Gründung der Volksrepu- staates Sowjetunion auf. Der US-Rück- Land seither gemacht habe, sagt Zhou –
blik 1949 kam er zurück. „Wie die meisten kehrer Zhou hielt das für Unsinn. Er plä- doch so stark und so gebildet, wie China
Intellektuellen war ich damals für die dierte für das lateinische Alphabet – auch sein könnte, sei es noch lange nicht. „Die
Kommunisten“, sagt er. „Sie hatten uns um die Sprache für den Westen zugäng- Fehler sind in den Jahren zuvor gemacht
schließlich versprochen, eine Demokratie licher zu machen. worden. Inzwischen bin ich alt genug, um
zu errichten.“ Wieder schiebt ihm sein „Magst du den Tee nicht trinken?“, die Wahrheit auszusprechen: Mao Ze-
Sohn die Teetasse hin, wieder schiebt fragt ihn sein Sohn. Zhou schaut genervt. dong hat Mist gebaut.“
Zhou sie weg. „Ich hatte 4000 Briefe von Professoren Zum vierten Mal stellt ihm sein Sohn
Er wurde Wirtschaftsprofessor in im In- und Ausland zu beantworten, be- die Teetasse hin, zum vierten Mal schiebt
Shanghai und schrieb ein Buch über die vor ich sie überzeugte“, sagt er. 1958 war Zhou sie weg. Er hat sich wieder durch-
Vorteile von Buchstabenschriften beim seine Umschrift dann fertig. Unter dem gesetzt. BERNHARD ZAND

96 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Szene

L I T E R AT U R

Matratzenmärchen
Es sei hart, „auf einer Matratze festge-
nagelt zu sein, wenn alle Welt auf den
Beinen ist“, hat der Schriftsteller Hein-
rich Heine einst auf seinem französi-
schen Krankenlager geschrieben. Der
Schweizer Autor Tim Krohn beschreibt
eine hochkomfortable Federkernma-
tratze allerdings nicht als vermaledei-
ten Verbannungsort, sondern als Reise-
vehikel durch Zeit und Raum. Krohn, Kurzfilmszenen aus „Traumprotokolle“, 1979/2005
Jahrgang 1965, ist bekannt für spiele-
risch-verträumte Bücher wie „Quatem-
berkinder“ (1998), und in „Aus dem LEGENDEN
Leben einer Matratze bester Machart“

„Eigentlich sollte ich Dagmar heißen“


erzählt er nun in acht Geschichten den
Schelmenroman einer Schlafunterlage.
Die Storys spielen zwischen 1935 und
1992, und zu Beginn verliebt sich ein
junger Berliner Jude namens Imma-
nuel Wassermann im Schweiz-Urlaub Hanna Schygulla, 70, Schygulla: Oh, lustig, dass Sie das fragen.
in eine junge Sizilianerin namens Schauspielerin, Künst- Ein sehr intimer Traum, ausgelöst durch
Gioia, heiratet sie Hals über Kopf und lerin und Fassbinder- jemanden, der mich gestern auf eine
verbringt seine Hochzeitsnacht (schon Muse, über ihre Aus- frühere Liebe angesprochen hat. Das
auf der Rückreise) in einem Landhotel stellung „Traumproto- hat etwas in mir hochgebracht. Darüber
bei Stuttgart, wo er und seine Gattin kolle“ in der Berliner möchte ich aber nicht sprechen.
sich auf einer „Wundermatratze“ küs- Akademie der Künste SPIEGEL: Sie sind Schauspielerin. Wie ka-
sen und lieben, die sich durch aller- men Sie zum Drehen von Kurzfilmen?
hand „bahnbrechende Innovationen“ SPIEGEL: Frau Schygulla, wovon haben Schygulla: Fassbinder wollte 1979 mit mir
auszeichnet. Es folgen Zeitsprünge in Sie heute Nacht geträumt? einen Film über die schizophrene Künst-
spätere Jahre: Mal dient die Matratze
in einem Luft-
schutzkeller auf der
schweizerischen KINO IN KÜRZE spielt den Schwulenhasser Ron Woodroof,
Rheinseite Kindern der im Angesicht des nahen Aids-Todes zum
zum Versteckspie- „Dallas Buyers Club“. Die Oscar-Nomi- Jäger auf illegale Medikamente und zum
len, mal wird sie nierung in der Kategorie „Bestes Make-up Kumpel vieler homosexueller Mitpatienten
von einem unglei- und beste Frisuren“ hat sich dieser Film wird. Ähnlich wie der reale, 1992 gestorbe-
chen Hippiepärchen über einen aidskranken Rodeohelfer im ne Woodroof besorgt der Held Pillencock-
über einen ver- Texas der achtziger Jahre satt verdient. tails in Mexiko, die gegen viele Aids-Sym-
schneiten Alpen- Schlimme Schnauzer und flusige Haarmat- ptome wirksam, aber in den USA nicht zuge-
Tim Krohn pass befördert, mal ten tragen hier fast alle, auch der Schau- lassen sind. Um die Medizin unter die Leute
Aus dem Leben ist sie unter einer spieler Matthew McConaughey, der sich für zu bringen, gründet er mit einem umwer-
einer Matratze Brücke in Rom ein diese Rolle bis auf seine kantigen Brust- fend charmanten Transsexuellen (Jared
bester Machart Zufluchtsort für Ge- korbknochen heruntergehungert hat. Er Leto) einen Verein, den titelgebenden „Dal-
Galiani Verlag strandete. Krohns
Berlin; 120 Seiten; Buch ist ein sym-
16,99 Euro. pathisch wackeliges
Ab 13. Februar im
Handel. Kabinettstück. Es
schildert die Le-
bensgeschichte
eines Alltagsgegenstands als melan-
cholische und komische Reise durch
Diktaturen und Schreckenszeiten,
Lifestyle-Moden und Schicksale.
Und wenn diese Odyssee einer
Schlafstatt nach beinahe sechs Jahr-
zehnten zu einem erstaunlichen Ende
kommt, dann schließt sich auf sehr
ASCOT ELITE

vergnügliche Weise ein Kreis. Dieses


Matratzenmärchen dürfte vielen
Bettlesern einen seligen Schlummer Leto, Jennifer Garner in „Dallas Buyers Club“
bescheren.
98 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Kultur

KUNST

Echtes vom Fälscher


Robert Driessen ist in sein ursprüng-

HANNA SCHYGULLA (3): ANDREJ GLUSGOLD (U.)


liches Metier zurückgekehrt: Er macht
wieder Kunst. Der Fälscher aus den
Niederlanden hatte neben zahlreichen
Gemälden rund 1300 Skulpturen ge-
fälscht, die von dem Schweizer Bild-
hauer Alberto Giacometti stammen
sollten; ein Teil von ihnen verkauften
deutsche Kunsthändler für über acht
Millionen Euro an ahnungslose Rei-
che. Zwei von Driessens Komplizen
wurden deshalb in Deutschland zu
lerin Unica Zürn machen. Der kam nicht me Dichtungen in Extremsprache sind, Gefängnisstrafen verurteilt, er selbst,
zustande. Stattdessen habe ich selbst zur ohne Logik. gegen den in Europa ein Haftbefehl
Kamera gegriffen und meine eigenen SPIEGEL: Ihre Filme kommen ganz ohne vorliegt, betreibt in Thailand ein
Träume performancemäßig nacherlebt. Sinn aus? Restaurant (SPIEGEL 15/2013). Der
Ich war wie im Fieber. Danach habe ich Schygulla: Die frühen Arbeiten, ja. Aber Künstler sagt, er habe „wieder großen
die Filme mehr als 25 Jahre liegen lassen nach 2005 habe ich wieder angefangen zu Spaß an der Arbeit“. Nach sechs Jah-
und sie erst im Jahr 2005 für eine drehen, auf der Suche nach neuen Erzähl- ren Pause fertigt er Skulpturen aus
Retrospektive im Museum of Modern formen, und diese Filme sind weniger as- Bronze, die den Werken Giacomettis
Art in New York wieder rausgeholt und soziativ. „Hanna Hannah“ beispielsweise auffallend ähneln. Allerdings meidet
editiert. thematisiert meine eigenen Erfahrungen der einstige Fälscher es tunlichst, den
SPIEGEL: Haben Sie sich wiedererkannt? mit dem Holocaust. Ich sollte eigentlich Figuren die Signatur Giacomettis
Schygulla: Ja, wiedererkannt in der Be- Dagmar heißen, ganz nordisch, dann hat einzuritzen. Driessen signiert nur
fremdung, die die Filme damals in mir meine Mutter mich kurzfristig Hanna noch mit seinem eigenen Namen und
ausgelöst haben. Ich wollte mich damals genannt, nach einem jüdischen Mädchen bietet sogar Provenienzbescheinigun-
anders sehen, als die Regisseure es woll- aus unserem Dorf, das verschwunden gen an. Verkauft werden seine Skulp-
ten. Unkontrolliert. Da war ich durch war. Da vereinigt sich das persönliche turen und Zeichnungen via Internet
das Thema Traum sehr frei. Weil Träu- Motiv mit einem kollektiven Erlebnis. (www.driessenart.com).

las Buyers Club“. Der kanadische Regisseur


Jean-Marc Vallée („C.R.A.Z.Y.“) beschwört POP
mit zittriger Kamera die Atmosphäre eines
verschwitzten, mit Schminke zugespachtel-
ten Jahrzehnts – und feiert seinen Star
McConaughey als schief grinsenden Lei-
Dreckige Disco
densmann, der als bester Hauptdarsteller Brian Burton galt als großer
für einen Oscar nominiert ist. Erneuerer des Pop, vor zehn
Jahren, als er unter dem Na-
men DJ Danger Mouse sein
„Vaterfreuden“ sind Felix (Matthias „Grey Album“ veröffentlich-
Schweighöfer) versagt, nachdem ihn ein te. Die Platte war ein Mix
Frettchen während eines missglückten aus dem „White Album“ der
Sexspiels entmannt hat. So lustig wie die- Beatles und dem „Black Al-
ser Einfall ist der ganze Film. Vor seinem bum“ des Rappers Jay-Z und
Unfall hat Felix einer Samenbank Spermien trug ihm neben juristischen
verkauft, nun will der Zeugungsunfähige Auseinandersetzungen vor
wissen, was aus ihnen geworden ist. Er allem hochdotierte Angebote
glaubt, dass die TV-Moderatorin Maren ein. Als er kurz danach mit
dem Duo Gnarls Barkley den
SONY MUSIC

(Isabell Polak) mit seinen Samen befruch-


tet worden ist und sein Kind austrägt. Der Welthit „Crazy“ veröffent-
Film, den Schweighöfer mitproduziert und lichte, stand er da wie der
bei dem er Regie geführt hat, hat wenige Quentin Tarantino des Pop: Burton, Mercer alias Broken Bells
amüsante Momente, über die wahrschein- schlau, cool, überdreht.
lich nur junge Eltern lachen Dummerweise brachte er nie wieder so etwas durchschlagend Großartiges zustande.
können. Ansonsten ist die Ge- Der ganz große Hit fehlt auch auf dem neuen Album „After the Disco“ des Pro-
schichte beschämend vorher- jekts Broken Bells, das er mit dem Indiepop-Sänger James Mercer von den Shins
sehbar und so sinnlich wie betreibt. Dafür klingen die elf Songs herzergreifend nach den Bee Gees. Nur drecki-
eine künstliche Insemination. ger, das Video zum Stück „Angel and the Fool“ endet in einem räudigen rosa
Raumschiff. Den Pop muss wohl ein anderer erneuern.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 99
Schauspieler Clooney (M.) als Monuments Man Stout: Gerechter Kampf gegen die Barbarei der Nazis

BERLINALE

Auch eine Art, Krieg zu führen


In Berlin feiert George Clooneys Film über den Einsatz der
„Monuments Men“ im Zweiten Weltkrieg Premiere. Kunstfreunde in Uniform fanden
in den Wirren des Kriegsendes Millionen Kunstgüter, die Nazis geraubt hatten.

D
ie Sessel im Wohnzimmer von Ettlinger wohnt in Rockaway in New „Kennet Sie des Faschingslied ‚Brusler
Harry Ettlinger sind seit Jahren Jersey. Er hat als Ingenieur gearbeitet Dorscht‘? Des hat mein Großvater ge-
nicht verrückt worden. Ihr Ab- bei einer Rüstungsfirma, die Leitsysteme schrieben.“
druck hat sich tief eingegraben in den für Atomraketen entwickelte, und ist Es ist ein Satz aus einer Zeit, als Harry
elfenbeinfarbenen Teppichboden. Harry seit 70 Jahren amerikanischer Staats- Ettlinger noch Heinz Ludwig Chaim Ett-
Ettlinger ist jetzt 88 Jahre alt, er lebt bürger, seine drei Kinder sind in den linger hieß und Amerika für ihn nur ein
allein. Seine Frau Mimi starb vor zehn USA groß geworden, aber dann fragt er Kontinent im Schulatlas war. Dann kam
Jahren. beim Small Talk in altem Badisch: Hitler an die Macht.
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Kultur

Kampf führten gegen die Barbarei der


Nazis.
Elf Tage vor der Landung seiner Trup-
pen in der Normandie hatte General
Dwight D. Eisenhower, der Oberbefehls-
haber der alliierten Streitkräfte, folgenden
Befehl erlassen: „In Kürze werden wir auf
dem europäischen Kontinent vorrücken
in unserem Kampf, der dem Schutz unse-
rer Zivilisation dient. Unvermeidlicher-
weise werden wir auf unserem Vormarsch
auch auf historische Monumente und Kul-
turgüter stoßen, die gegenüber der Welt
all das symbolisieren, was wir zu bewah-

20TH CENTURY FOX FILM (L.); WALKER HANCOCK COLLECTION (O.); NATIONAL ARCHIVES AND RECORDS ADMINISTRATION, COLLEGE PARK, MD (U.)
ren suchen. Es ist die Pflicht jedes Trup-
penkommandanten, diese Symbole zu re-
spektieren und möglichst zu schützen.“
Während des Vormarschs in Frankreich
Monuments Man Stout (l.) im thüringischen Bernterode 1945 wurde die Mission der Monuments Men
erweitert. Spuren und Indizien verdich-
teten sich, dass die Deutschen Kunst in
Monuments Man Ettlinger (r.) in Heilbronn 1946 großen Mengen entwendet, beschlag-
nahmt oder abtransportiert hatten. Wo-
hin, davon hatten die Alliierten keine Ah-
nung. Aber die Monuments Men, anfangs
eine Truppe von nur acht Amerikanern
und sieben Briten, sollten es herausfin-
den. Am Ende waren ihre Entdeckungen
dafür verantwortlich, dass über fünf Mil-
lionen Kulturgüter, viele von den Nazis
gestohlen, nach dem Krieg an die ur-
sprünglichen Besitzer zurückgegeben
werden konnten.
George Clooney hat die Geschichte die-
ser kleinen Truppe verfilmt. „Monuments
Men – Ungewöhnliche Helden“ heißt sein
Film, und er wird einer der Höhepunkte
der diesjährigen Berlinale sein. Ausge-
rechnet in der ehemaligen Hauptstadt des
Bösen wird nun ein Film seine Welt-
premiere haben, in dem der gerechte
Krieg der Alliierten noch einmal gefeiert
wird – diesmal jedoch ohne Schlachten-
geballer und Bäche von Blut, sondern auf
„Es war für mich und meine Freunde „Monuments, Fine Arts and Archives“ eine lakonische, fast andächtige Art.
bald keine Frage mehr, ob wir Deutsch- berichtete. Die Mission der Monuments Men, so
land verlassen werden“, sagt Ettlinger, Die Kunstexperten in Uniform hätten scheint es, adressiert Clooney weniger an
„sondern nur, wann und wohin.“ Einen sicher Verwendung für einen deutschen die vom Nazitum wohl zum größten Teil
Tag nach seiner Bar Mizwa in Karlsruhe Muttersprachler wie ihn. Was habe er geläuterten Deutschen. Sein Film wirkt
am 25. September 1938 war es so weit. schon zu verlieren, dachte der junge Sol- eher wie eine nostalgische Ansichtskarte
Über die Schweiz, Paris, Brüssel erreichte dat und marschierte am nächsten Morgen an das Amerika von heute – ein Land,
die Familie Rotterdam. Mit dem Schiff in das Büro von Captain James Rorimer. das sich in den vergangenen Jahrzehnten
setzte sie über nach New York. Am 7. Mai, dem Tag vor der deutschen eher durch schmutzige Kriege von Viet-
Die Ettlingers ließen alles zurück. Das Kapitulation, wurde Harry Ettlinger der nam bis Irak hervorgetan hat.
feine Damenmodengeschäft, die große jüngste Monuments Man. Im Gegensatz zu Napalm, Drohnen
Stadtwohnung, die Skier für die Ausflüge Er gehörte nun zu einer Truppe, wie und Massakern an Zivilisten sind die Mo-
in den Schwarzwald. Sie haben die es noch keine gegeben hatte in der Ge- numents Men ein Denkmal des Anstands:
Heimat hinter sich gelassen. Geblieben schichte des Krieges. Männer der Armee, ein Trupp von Kunstliebhabern, die
sind ihm noch ein paar Worte auf Badisch deren Aufgabe im Feindesland nicht das glaubten, die Kultur schützen zu müssen,
und das Faschingslied vom „Brusler Zerstören war, sondern das Erhalten. In weil diese Stein oder Bild gewordenen
Dorscht“, vom Bruchsaler Durst. der Befehlskette rangierten sie ganz un- Sternstunden der Menschheit die Ge-
Ettlinger wurde in den USA sechs ten. Sie durften Ratschläge erteilen, keine schichte und das Selbstverständnis eines
Jahre nach seiner Immigration eingezo- Befehle. Sie durften darauf hinweisen, Volkes, eines Landes und der Zivilisation
gen. Die Nummer auf seiner Erkennungs- welche Bauwerke auf dem Feldzug der an sich repräsentieren.
marke: 42 186 158. Anfang 1945 wurde er Alliierten Richtung Berlin geschützt wer- Ausdrücklich ging es auch darum, die
mit einem Truppentransporter nach den sollten. Hinweise, nicht mehr, aber Kulturgüter des Feindes zu schützen. Die
Europa gebracht, gegen Kriegsende war allein dass es eine solche Truppe gab, Funde ausgelagerter Museumsstücke aus
er in München stationiert, als ihm ein war eine mächtige Botschaft: Es waren Berlin, Köln, Bonn, Karlsruhe und vielen
Kamerad von einer Truppe namens zivilisierte Völker, die einen gerechten anderen deutschen Städten gaben die
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Filmszene, Soldaten bei der Bergung von Beutestücken im Mai 1945: „Sie haben den größten Kunstraub der Geschichte aufgedeckt“

Amerikaner, Engländer und Franzosen Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Raubkunst“ erschien 2009, und es ist
den Deutschen zurück und verschleppten Geschichte dieser Kunst-Soldaten zu erfor- scharf kritisiert worden, weil es nicht
sie nicht als Beute wie die Sowjetsoldaten schen. Aber die Stiftung kümmert sich wissenschaftlichen Standards entspricht.
Richtung Osten. auch darum, dass Kulturgüter, die während Edsel hat Dialoge der Monuments Men
„Durch den Schutz dieser Kulturgüter des Zweiten Weltkriegs verschwanden, nachempfunden, „Transitional Dialogues“
bezeugen wir Respekt vor dem Glauben wieder zurückgegeben werden. nennt er das. Sie sollen helfen, den Leser
und den Bräuchen dieser Menschen und In den vergangenen Jahren hat die Stif- emotional in der Story zu halten.
zeigen, dass sie nicht nur einem bestimm- tung beispielsweise Fotoalben mit Raub- Edsel hat aber auch Briefe und Tage-
ten Volk, sondern zum Erbe der gesamten kunst der Nazis, unter anderem angelegt bücher der Männer von damals zutage ge-
Menschheit gehören“, schrieb der Restau- von Hitlers oberstem Kunsträuber Alfred fördert, sein Buch hat einen wahren histo-
rator und Museumsmann George Stout, Rosenberg, aus Veteranenbeständen er- rischen Kern. George Clooney jedenfalls
Initiator und Anführer der Monuments worben und an das Nationalarchiv in erwarb vor zwei Jahren die Filmrechte.
Men, bereits 1942. Washington und an das Deutsche Histo- „Es waren nur eine Handvoll Männer,
Große Worte, ein humanistisches Ideal, rische Museum in Berlin weitergereicht. und sie haben den größten Kunstraub der
von dem ausgerechnet die USA in ihren „In den nächsten fünf Jahren“, sagt Ed- Geschichte aufgedeckt“, sagt Edsel. „Der
modernen Kriegen nichts mehr wissen sel, „werden viele Veteranen des Zweiten Anführer George Stout hat bis zu seinem
wollen. Als amerikanische Truppen nach Weltkriegs sterben. Eine Menge Dinge Tod 1978 nie groß darüber gesprochen.
wochenlangem Bombardement 2003 in werden auf Dachböden, in Kellern und Wenn ihn seine Zeitgenossen fragten, was
Bagdad einmarschierten, war von Re- Schließfächern gefunden werden. Der er denn im Zweiten Weltkrieg so getan
spekt vor der Kultur nichts zu spüren. Ta- Aufruf muss also lauten: Wenn ihr etwas habe, sagte Stout nur: ‚Meine Pflicht.‘“
tenlos sah die Supermacht zu, wie das vom Zweiten Weltkrieg dort entdeckt, Damals, nach der Landung in Frank-
Nationalmuseum des Irak, des Landes lasst uns versuchen, es dorthin zurückzu- reich, galten die Monuments Men inner-
zwischen Euphrat und Tigris, der Wiege geben, wo es hingehört.“ halb der alliierten Streitkräfte als seltsa-
der Menschheit, geplündert wurde. Edsel hat jahrelang die Geschichte der mer Haufen. Ein paar Männer der schö-
Aber auch für das moderne Deutsch- Monuments Men recherchiert. Sein Buch nen Künste, Restauratoren, Kuratoren,
land stellen sich nach dem Fund der Kunst- „Monuments Men. Die Jagd nach Hitlers Architekten, die meisten Familienväter
sammlung Gurlitt in München Fra- um die vierzig, sollten hier in die-
gen: Warum sind nach über 70 Jah- sem blutigen Kampf um die Zu-
ren des vielleicht größten Kunst- kunft der westlichen Welt genau

20TH CENTURY FOX FILM (L.); LYNN NICHOLAS COLLECTION, COURTESY OF THE WALTER HANCOCK FAMILY (R.)
diebstahls der Geschichte noch was tun? Das Schöne vor der Zer-
immer so viele Fälle ungeklärt? störung retten?
Warum hängen in deutschen und „Ich erinnere mich an einen
österreichischen Museen und Her- ruppigen, alten Oberst, mit dem
renhäusern noch immer Bilder, ich vor einigen Wochen in Frank-
die, beschlagnahmt oder zu nied- reich ein paar Unterredungen hat-
rigsten Preisen jüdischen Mitbür- te“, schrieb Stout beispielsweise
gern abgepresst, nie ihren Weg zu- 1944 an einen Kollegen. „Er
rückfanden zu den Familien der schaute mich ungläubig an, sein
ursprünglichen Besitzer? Gesicht sah aus, als hätte man es
„Keine Zeit der Welt kann die- mit einem Fleischklopfer bearbei-
sen Diebstahl relativieren. Wenn tet, und er fragte: ‚Was zum Teu-
etwas während des Zweiten Welt- fel soll das?‘“ Den Versuch, eine
kriegs gestohlen wurde, ist es Kapelle zu retten, bezeichnete ein
auch heute noch als gestohlen zu amerikanischer Offizier als „ver-
SARAH GIRNER / DER SPIEGEL

betrachten“, sagt Robert Edsel. dammt bescheuerte Art, einen


Edsel, 58, ist ein Öl-Millionär Krieg zu führen“.
aus Texas. Er war früher ein erfolg- Anfangs waren es nur Bauwer-
reicher Tennisspieler und entdeck- ke in der Normandie, die die Mo-
te vor einigen Jahren die Kunst. numents Men schützten. Aber
Edsel ist heute Präsident der Mo- Stout und seine Männer wussten,
numents Men Foundation – einer Zeitzeuge Ettlinger: 1938 verließ er Deutschland dass sich die Nazis wertvolle
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Filmfigur Göring, Minister Göring mit Adolf Hitler 1938: „Ich gedenke, ausgiebig zu plündern“

Kunst in den eroberten Gebieten ange- len Uferzeile an der Donau, breiten Bou- In einem Kalibergwerk nahe dem thü-
eignet hatten. In Polen beispielsweise hat- levards, Parks, einem Opernhaus und als ringischen Ort Merkers fanden die Mo-
ten die Deutschen systematisch Museen, Mittelpunkt und Höhepunkt einem Füh- numents Men Robert Posey und Lincoln
Sammlungen, Schlösser und Kirchen ge- rermuseum, das die größte Gemälde- Kirstein am 8. April große Teile der Gold-
plündert. Sie beschlagnahmten den Kra- sammlung der Welt beherbergen sollte. bestände der Reichsbank – 8198 Goldbar-
kauer Altar des Bildhauers Veit Stoß. Sie Göring selbst hatte andere Interessen. ren, 711 Beutel mit 20-Dollar-Goldmün-
konfiszierten die Sammlung Czartoryski, Zwanzigmal besuchte er bis zum Herbst zen, 1300 Beutel mit anderen Goldmün-
darunter Gemälde von Leonardo da Vin- 1942 den Jeu de Paume, ein Gebäude zen sowie 2,76 Milliarden Reichsmark.
ci, Raffael und Rembrandt. Sie räumten nahe dem Louvre, in dem der ERR die Außerdem befanden sich im Schacht von
das Warschauer Königsschloss leer und wertvollsten Beutestücke ausgestellt hat- Merkers Tausende Kunstwerke, die meis-
sprengten es 1944 in die Luft. te. Champagner trinkend wählte er aus. ten, wie sich herausstellte, Auslagerungen
Auch im Westen gingen die Deutschen Der Abtransport erfolgte in einem seiner Berliner Museen.
auf Raubzüge. Alfred Rosenberg sagte Sonderzüge. Vorzugsweise nach Carin- Ein gigantischer Fund. Die amerikani-
1941: „Der Waffenstillstand mit dem fran- hall, einem Jagdgut in der brandenburgi- sche Presse stürzte sich auf die „Schatz-
zösischen Staat und Volk wurde nicht ge- schen Schorfheide, benannt nach Görings kammer der Nazis“, die Generäle Eisen-
schlossen mit den Juden in Frankreich.“ erster, verstorbener Ehefrau Carin. Gö- hower, Bradley und Patton ließen sich
Unter den Beschlagnahmungsbefehl des ring hatte so viele Bilder zusammenge- mit dem Gold fotografieren. Auf einmal
von ihm dirigierten Einsatzstabs Reichs- rafft, dass an manchen Wänden zwei, drei wurden diese Männer um George Stout,
leiter Rosenberg (ERR) fielen „Kultur- Bilder übereinanderhingen. lange Zeit belächelt als seltsame Bremser
güter, die im Besitz oder Eigentum von Es war ein Puzzle mit vielen unbekann- auf dem siegreichen Vormarsch ihrer
Juden, herrenlos oder nicht einwandfrei ten Teilen, an dem die Monuments Men Armee, als Helden gefeiert.
zu klärender Herkunft sind“. sich abmühten. Auf ihrem Weg nach Die Truppen erreichten Neuschwan-
Auf diese Weise plünderte der ERR im Deutschland erreichten sie neue Meldun- stein am 28. April, München am 30. April,
Großen wie im Kleinen. Er raffte die wert- gen über Diebstähle der Nazis, der Gen- Berchtesgaden am 4. Mai, schließlich
vollen Sammlungen der Rothschilds, Se- ter Altar beispielsweise oder die Madon- Altaussee am 8. Mai.
ligmanns, Bernheim-Jeunes, Weil-Picards, na von Michelangelo in Brügge. Aus Monuments Man Rorimer beschrieb
Wildensteins, Levy-Benzions und David- Kunstschützern wurden Kunstdetektive. Neuschwanstein später in seinen Erinne-
Weills an sich. Allein in Paris wurden Im März 1945 stießen die Monuments rungen als „pittoreske, romantische und
38 000 Wohnungen von den Nazis inven- Men auf mehrere Spuren, die ihnen klare entlegene Kulisse für eine Verbrecherban-
tarisiert und versiegelt. Hinweise gaben, wo die Nazis die geraub- de, die von hier aus ihre Kunstraubzüge
Was die Männer um George Stout nicht te Kunst versteckten. durchführte“. Das Schloss war von den
wussten, war, wohin die geraubte Kunst In Paris übergab eine Frau namens Deutschen verlassen, aber in den Räumen
gebracht worden war. Vor allem, wer An- Rose Valland dem Monuments Man herrschte deutsche Ordnung. Die Gemäl-
spruch erhob auf die besten Stücke der James Rorimer ihre Aufzeichnungen, die de in Regalen aneinandergereiht, hinter
Beute. sie als Mitarbeiterin im Jeu de Paume in einer Stahltür die rothschildsche Juwe-
„Früher schien mir die Sache doch ver- den vier Jahren unter Rosenberg ange- lensammlung, das Silber der David-Weills.
hältnismäßig einfacher zu sein. Da nannte fertigt hatte. Es waren Listen von Kunst- Harry Ettlinger, der später Rorimers
20TH CENTURY FOX FILM (L.); CENTRAL PRESS / GETTY IMAGES (R.)

man das Plündern. Das stand dem Betref- gegenständen, manchmal sogar Fotos, Dolmetscher wurde, bekam hier erstmals
fenden zu, das wegzunehmen, was man Quittungen, Fahrpläne. Valland ist auch eine Ahnung vom Ausmaß des systema-
eroberte. Nun, die Formen sind humaner das Vorbild für die Rolle von Cate tischen Diebstahls. „In Neuschwanstein“,
geworden. Ich gedenke trotzdem zu plün- Blanchett in dem Clooney-Film, Clooney sagt Ettlinger, „habe ich angefangen zu
dern, und zwar ausgiebig“, hatte Reichs- selbst spielt George Stout. Valland verriet verstehen, was hinter dem Wort Holo-
marschall Hermann Göring in einer Rede außerdem die vermeintlichen Bestim- caust wirklich steckte.“
vor den Reichskommissaren im August mungsorte der Nazi-Beute. Depots in Rorimer versiegelte Neuschwanstein
1942 gesagt. Er, die Nummer zwei der Heilbronn, Buxheim, Neuschwanstein. fürs Erste. Er wollte weiter – Richtung
Diktatur, hatte nur einen Konkurrenten. Bald hatte Stout mehrere hundert mög- Osten, wo sich zwischen dem Schliersee
Die Nummer eins. Hitler. liche Depots auf seinen Karten verzeich- in Oberbayern und Altaussee im Salz-
Bereits im Frühjahr 1938 hatte Hitler net. Es war eine Schatzsuche in der Hölle. kammergut das Endspiel der Nazi-Gier
den Plan gefasst, aus dem eher proleta- Draußen das zerbombte Land, drinnen vollzog.
risch-schmucklosen Linz das deutsche Flo- in Bergwerken, Schlössern und Klöstern Am 4. Mai wurde in Neuhaus am
renz zu machen. Mit einer monumenta- die Kostbarkeiten der Zivilisation. Schliersee der ehemalige Generalgouver-
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SD13-107
Kultur
Der digitale neur von Polen, Hans Frank, in seinem le, 954 Grafiken, 137 Plastiken, 128 Waf-
Privathaus verhaftet. Gefunden wurden fen, 79 Körbe mit Kunstgewerbe, 484 Kis-

SPIEGEL sechs weltberühmte Gemälde, darunter ten verschiedenen Inhalts, 78 Möbel, 122
aus der Sammlung Czartoryski Leonar- Tapisserien und rund 1500 Bücherkisten
dos „Dame mit dem Hermelin“ und Rem- registriert. In Lammfellmäntel gewickelt,
brandts „Landschaft mit dem barmherzi- kamen die Kunstgegenstände nach Mün-
gen Samariter“. Was so gar nicht passt chen, in eine neue Einrichtung namens
zu Frank, der sich oft mit seinen Massen- Central Collecting Point – den ehema-
erschießungen gebrüstet hatte. ligen Führerbau am Königsplatz.
Ebenfalls war per Privatzug die Im August 1945 kehrte George Stout
Sammlung Görings ins letzte Rückzugs- nach Amerika zurück. Über fünf Millio-
gebiet der Nazi-Größen, die sogenannte nen Kunstgüter hatte seine Einheit gefun-
Alpenfestung, gebracht worden. Mehrere den, Zehntausende waren durch seine
Waggons standen in einem Hände gegangen. Als Anden-
Tunnel bei Berchtesgaden, ken behielt Stout zwei Lamm-
weitere wurden in einen neu- fellmäntel.
errichteten, feuchten Luft- Ettlinger blieb ein Jahr län-
schutzbunker entladen, die ger. Zusammen mit Rorimer
Kunstwerke dann eingemau- barg er in einer Saline bei
ert. Göring wurde am 7. Mai Heilbronn 40 000 Kisten, die
in der Nähe von Schloss die Nazis eingelagert hatten.
Fischhorn verhaftet. Er trug Darunter die Fenster des

20TH CENTURY FOX FILM


Paradeuniform und wünsch- Straßburger Münsters und
te, mit General Eisenhower ein Selbstporträt Rembrandts
zu sprechen, von Kriegsherr aus dem Museum in Karls-
zu Kriegsherr. Sein Wunsch ruhe.
wurde abgelehnt. In Rockaway, New Jersey,
Am 12. Mai schließlich er- Darstellerin Blanchett, ist es spät geworden. Harry
reichten Kirstein und Posey Vorbild Valland um 1944 Ettlinger steht noch einmal
Altaussee im Salzkammergut, Nützliche Hinweise auf aus seinem tiefen Sessel.
wo in einem Salzbergwerk, Etwas gebückt geht der
80 Kilometer südöstlich von 88-Jährige zu einem Wand-
Salzburg, die Werke des schrank zwischen Schlaf- und
„Sonderauftrags“ gelagert Badezimmer. Von der Decke
wurden, die Hitler im Linzer baumelt eine nackte Glüh-
Führermuseum hatte zeigen birne, auf der Kleiderstange
In dieser Ausgabe:

ARCHIVES DES MUSÉES NATIONAUX


wollen. Die Soldaten drangen hängen leere Bügel. In einer
tief in den Stollen ein, bis Ecke türmt sich ein Stapel
Tod auf Wunsch eine Wand aus frisch ge- verschlissener Künstlermap-
Video über Sterbehilfe sprengtem Geröll ihnen den pen aus grauem Karton.
Weg versperrte. Harry Ettlinger, der
Glaubenskrieg Was Kirstein und Posey zu Schatzsucher im Dienste
Video-Reportage über verfolgte Christen diesem Zeitpunkt nicht wis- der Amerikaner, hatte im
in Pakistan sen konnten: Als sich die November 1945 noch eine
Niederlage Hitlers abzeichnete, hatte er persönliche Sache zu erledigen. Kurz vor
Die grauen Jäger im Frühjahr den Befehl erlassen, neben der Flucht der Familie hatte sein Groß-
Brücken und Industrieanlagen eben auch vater Otto Oppenheimer eine Sammlung
Video über Wölfe in Deutschland die Sammlung des „Sonderauftrags Linz“ von Kunstdrucken in einer Halle bei
zu zerstören. Daraufhin ließ der zu- Baden-Baden versteckt. Der Enkel fand
ständige Gauleiter August Eigruber im die Halle. „Es war alles, wie Opa Oppen-
April Fliegerbomben in das Bergwerk heimer notiert hatte, sogar die Zahlen-
schaffen. Bedenken wies der Gauleiter kombination für das Schloss stimmte
zurück: „Die Hauptsache bleibt die noch“, sagt Ettlinger.
Die neue Art zu lesen. Vernichtung. Wir bleiben stur wie die Er greift in den Schrank, löst die Schlei-
Böcke.“ Doch Bergleute und wohl auch fen. Die ersten dünnen Drucke segeln zu
Mit zusätzlichen Hintergrundseiten. der Minenbetreiber trugen die Flieger- Boden. Kein Monument und kein Rem-
bomben aus dem Bergwerk und blo- brandt. Stattdessen kleine Ex-Libris-Gra-
Mit exklusiv produzierten Videos. ckierten mit gezielten Sprengungen die fiken.
Zugänge. Ein kleiner persönlicher Schatz. Ge-
Mit 360°-Panoramafotos, interaktiven Kirstein und Posey entdeckten schließ- nauso wie die paar Sätze auf Badisch und
Grafiken und 3-D-Modellen. lich im Bergwerk van Eycks „Jungfrau das Faschingslied sind es die einzigen
Maria“ und den Genter Altar. An ande- Erinnerungen an ein Land, das den Ett-
Alles immer schon ab Sonntag, 8 Uhr! ren Stellen fanden sie auf einer braun- lingers alles genommen hatte.
weiß gestreiften Matratze verpackt die THOMAS HÜETLIN, SIMONE SALDEN
„Brügger Madonna“ von Michelangelo
und den „Astronomen“, einen Vermeer Video: Ausschnitte aus
aus dem Besitz der Familie Rothschild. „Monuments Men“
Insgesamt wurden in Altaussee 6577 spiegel.de/app62014monumentsmen
Einfach scannen (z.B.
mit der kostenlosen Gemälde, 230 Zeichnungen und Aquarel- oder in der App DER SPIEGEL
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TOBIS FILM
Oscar-Preisträger Bale in „American Hustle“: Man muss dreimal hinsehen, um ihn zu erkennen

Betrüger wie wir


Der Regisseur David O. Russell feiert in seinem Spielfilm „American Hustle“
die Kunst der Täuschung. Sein eigener Trick: Der Film, nominiert
für zehn Oscars, wirkt auf den ersten Blick wie eine harmlose Komödie.

E
s gibt keine zweite Chance, einen ßer Schwindel ist, dann hat es zumindest wicht, Perücke und Bart, sieht Bale jetzt
ersten Eindruck zu hinterlassen, nicht an der Frisur gelegen. so fertig aus, dass sein Kollege Robert De
vorzugsweise einen guten. Und des- Wer diesen Aufwand gleich zu Beginn Niro bei den Dreharbeiten den Regisseur
halb streicht der Mann an diesem Tag, des Spielfilms „American Hustle“ lächer- fragte: „Wer ist das?“
kurz vor einem brisanten Geschäftster- lich findet, ist schon in die Falle getappt. Irving Rosenfeld ist ein Lebenskünstler
min, den Klebstoff so sorgfältig mit einem Denn die falsche Frisur erzählt viel über und Trickbetrüger mit einem Sinn für Iro-
Pinsel auf seine Glatze, als malte er gera- Rosenfeld, einen Mann, den man leicht nie: In New York betreibt er ein paar Tex-
de ein Bild. Dann fixiert er falsche Haar- unterschätzen kann – ebenso wie dieser tilreinigungen, quasi als Metapher. Die
teile neben seinem eigenen echten Rest- Film leicht unterschätzt werden könnte, Reinigungen dienen als weiße Weste für
haar, eine entwürdigende Prozedur, aber als irgendeine Komödie mit peinlichen seine nicht ganz so sauberen Nebenge-
das sieht zum Glück ja niemand. Gestalten. schäfte. Rosenfelds großes Talent besteht
Am Ende versiegelt der Mann das Ge- Der Rosenfeld-Darsteller – man muss darin, dass er andere Menschen dazu brin-
samtkunstwerk auf seinem Kopf mit dreimal hinsehen, um ihn zu erkennen – gen kann, ihm grenzenlos zu vertrauen.
Haarspray. Noch ein letzter Blick in den ist der britische Oscar-Preisträger Chris- „Die Leute glauben, was sie glauben wol-
Spiegel: perfekt. Der Mann, er heißt Ir- tian Bale, weltberühmt geworden als len“, sagt Rosenfeld; im Zweifel hilft er
ving Rosenfeld, ist zufrieden. Falls gleich athletischer Batman in „The Dark ein bisschen nach.
seine Tarnung auffliegen sollte, wenn also Knight“. Als Irving Rosenfeld in „Ameri- Die Leute glauben zum Beispiel, dass
jemand merkt, dass das Geschäft ein gro- can Hustle“, mit 25 Kilogramm Überge- das Ölgemälde, das er ihnen gerade an-
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Kultur

bietet, total günstig sei für einen alten (neben Christian Bale noch Amy Adams, ein Meister der Anpassung und vorge-
Meister – und selbstverständlich echt. Bradley Cooper und Jennifer Lawrence). täuschten Harmlosigkeit. Bei Verhand-
Oder dass Rosenfeld so gute Verbindun- Nur die Künstler, die für Frisuren, Perü- lungen trug er mitunter bewusst Freizeit-
gen zu Banken hat, um sogar hochver- cken und das Make-up des Films verant- klamotten, „weil ein Anzug die Ge-
schuldeten armen Schluckern, denen wortlich waren, wurden bei den Nomi- sprächspartner sofort in Habtachtstellung
sonst niemand mehr Geld leihen will, nierungen erstaunlicherweise übergan- versetzt“. Immer unterschätzt zu werden,
einen neuen Kredit vermitteln zu können. gen. Vielleicht wollte man zur Oscar-Gala das war sein Erfolgsrezept. Angela Mer-
Zwar gegen eine kleine Provision, 5000 einfach nicht so viele Friseusen einladen: kel, die einst für ihre Ostzonenfrisur
Dollar, sofort fällig, keine Rückerstattung, Im Abspann stehen in dieser Rubrik 22 verhöhnt wurde, dürfte einiges bekannt
aber was soll man machen? Namen. vorkommen.
Den Kredit bekommen die Opfer na- „American Hustle“ balanciert elegant Als überhebliche Dilettanten bei Ab-
türlich nie, aber Rosenfeld hat seinen zwischen Komödie und Krimi, mit deut- scam erwiesen sich einige FBI-Agenten,
Schnitt gemacht. „Con artists“ nennen licher Schlagseite zur Komik, aber ohne etwa jener Beamte, der den Scheich ver-
die Amerikaner solche Betrüger, Beschiss in den Klamauk abzustürzen. Dabei zeigt körperte. FBI-Abdul trug einen Turban
als Kunstform, und es schwingt eine Men- Russell FBI-Agenten, die Lockenwickler vom Kostümverleih und sprach kein Wort
ge Bewunderung mit in diesem Begriff. tragen und sich trotzdem für unwidersteh- Arabisch. Beim ersten Treffen mit einer
„American Hustle“, der amerikanische lich halten. Er zeigt Frauen, die nie!, nie!, Zielperson fing er an zu lachen.
Schwindel, wird diese Woche auf der Ber- nie! den Mund halten können und sich In einem der vielen Prozesse zur Ab-
linale präsentiert und startet am 13. Fe- für besonders clever halten, wenn sie mit scam-Affäre stellte ein Staatsanwalt „em-
bruar in den deutschen Kinos. In den Mafiosi flirten. pörendes Fehlverhalten der Behörden“
USA wird das Werk als einer der besten Der Kern der Story ist ein Kapitel reale fest. Es ging um Spesenrechnungen über
Filme des Jahres gefeiert, ein Triumph Kriminalgeschichte aus den späten sieb- Privatflugzeuge und Hotelsuiten, um
für den Regisseur und Drehbuchautor ziger und frühen achtziger Jahren, der amerikanische Sicherheitsorgane, die –
David O. Russell, nur ein Jahr nach dem sogenannte Abscam-Skandal. Abscam, schon damals – völlig außer Kontrolle ge-
Erfolg von „Silver Linings“. Tatsächlich das war die Kurzformel für Arab Scam, raten waren und so hartnäckig Geldkoffer
ist „American Hustle“ ein großartiger Araber-Beschiss, später aus Gründen der anboten, bis sie jemand nahm. Allein
Film, witzig, rasant und wahrhaftig, ob- politischen Korrektheit als Abdul Scam 150 000 Dollar soll der Betrüger Weinberg
wohl es dauernd um echte Toupets und tituliert. Damals versuchte die Bundes- für seine Dienste kassiert haben.
frisierte Kontoauszüge geht, um Verfüh- polizei FBI, Kongressabgeordnete und Der Politiker Michael „Ozzie“ Myers
rung und Korruption sowie Verführung Senatoren der Bestechlichkeit zu über- aus Philadelphia, der später verurteilt
zur Korruption, außerdem um Liebe und führen und nebenbei die Casino-Deals wurde, weil er gegen Schmiergeld dem
einen Orgasmus, beides möglicherweise einiger Mafia-Größen aufzudecken. Als falschen Scheich eine echte Aufenthalts-
vorgetäuscht. Die Leute glauben, was sie Lockvogel diente ein vermeintlicher ara- genehmigung verschaffen wollte, erklärte
glauben wollen. bischer Scheich, Deckname Abdul, der das System in einem seltenen Augenblick
Wahr ist: „American Hustle“ wurde seine Investitionen in den USA mit der Wahrheit so: „Money talks in this
für zehn Oscars nominiert, darunter als Schmiergeld beschleunigen wollte. business“, sagte er in einem abgehörten
bester Film, für das beste Drehbuch und Der wichtigste Helfer der Ermittler war Gespräch, „and bullshit walks.“ Geld
die beste Regie; auch vier Schauspieler ein vorbestrafter Betrüger namens Melvin regiert die Welt, und Versprechen allein
aus dem Ensemble sind im Oscar-Rennen Weinberg, aufgewachsen in der Bronx, bedeuten gar nichts.

TOBIS FILM

Schauspielerin Lawrence, Regisseur Russell bei den Dreharbeiten: Inspiriert durch eine echte Kriminalgeschichte

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„American Hustle“ geht sehr neu bestimmen: Darf ein Mann
frei mit den historischen Ereignis- Ehefrau und Kind verlassen, weil
sen um. „Einiges hiervon ist tat- sie ihn nerven? Soll eine Frau mit
sächlich passiert“, heißt es im einem Polizisten schlafen, der sie
Vorspann, als könnten die Filme- vor dem Knast bewahren könnte?
macher ihr Glück über die Story Darf man mit Schmiergeldern die
selbst kaum fassen. Die Ähnlich- Wirtschaft ankurbeln? Ist man ein
keiten zwischen dem echten Mel- Idiot, wenn man als Einziger Re-
vin Weinberg und dem fiktiven geln und Gesetze befolgt?
Irving Rosenfeld sind jedenfalls Eindeutige Antworten gibt es
unverkennbar, bis hin zu den Pro- nicht. Alle wurschteln sich irgend-
blemen mit Frisuren und Frauen. wie so durch. Jederzeit können sie
Rosenfeld lernt auf einer Party die scheitern, und sie wissen es, wir
schöne Sydney Prosser (Amy wissen es. Auch Trickbetrüger, das
Adams) kennen, eine ehemalige ist die Botschaft, haben ein Herz.
Stripperin, klug und von dem Ehr- Darin unterscheidet sich „Ame-
geiz beseelt, „jemand anderes zu rican Hustle“ radikal von Martin
werden, als ich bin“. Scorseses Börsenmakler-Film „The
Es ist offenbar Liebe auf den Wolf of Wall Street“, dem anderen
ersten Blick. Um Sydney zu be- großen Betrügerporträt in dieser
eindrucken, bricht Rosenfeld so- Kinosaison. Scorsese ist ein sehr
gar seinen Grundsatz, niemals katholischer Filmemacher, Sünde
einer Frau die ganze Wahrheit zu und Vergebung sind seit über 40
erzählen. In Ermangelung einer Jahren sein Leitmotiv. In „The
Briefmarkensammlung zeigt er ihr Wolf of Wall Street“ ist er end-
Abendkleider in einer seiner Rei- gültig in der Hölle angekommen.
nigungen. Dann weiht er sie in sei- Die Sünder, eine Bande unsympa-
ne Betrugsmethode ein, die leeren thischer Egomanen, haben für ihre
Kreditversprechungen, die hohe Opfer nur Verachtung übrig; Selbst-

FOTOS: TOBIS FILM


Kunst des Bescheißens. zweifel, Reue kennen sie nicht, mit
Sydney ist ein Naturtalent, sie dem Ergebnis, dass ihnen auch kei-
wird Rosenfelds Geliebte und ne Vergebung gewährt wird. Man
Komplizin. Sie nennt sich jetzt ist froh, wenn diese Wall-Street-
Lady Edith, die Aura des Namens Darsteller Adams, Lawrence, Cooper Orgie endlich zu Ende ist.
verheißt beste Kontakte zu Ban- Echte Toupets, frisierte Kontoauszüge „American Hustle“-Regisseur
ken in London. Mit Ausschnitten Russell, stilistisch erkennbar von
bis zum Bauchnabel und einem britischen seiner Geliebten Sydney gibt es noch eine Scorsese beeinflusst, aber offenbar ohne
Upper-Class-Akzent bringt sie ihre Kun- Ehefrau, Rosalyn (Jennifer Lawrence), die dessen Schuldkomplex, ist der bessere
den – und auch so manchen Zuschauer – mit ihrem kleinen Sohn in einem Vorort Gastgeber. Niemand kann im zeitgenös-
beinahe um den Verstand. Die Bewerber wartet. Rosalyn hat den tiefen Teller nicht sischen Hollywood-Kino so wunderbare
für Kredite laufen ihr nach. erfunden, aber sie ist schön blond, eine Partyszenen inszenieren wie er. Man
Auch Richie DiMaso (Bradley Cooper), Drama-Queen, „der Picasso des passiv- sieht gern dabei zu, man wäre sogar gern
ein vorlauter Kerl mit Dauerwelle, erliegt aggressiven Karate“, wie Rosenfeld sagt. selbst dabei, wie Rosenfeld, seine Freun-
scheinbar ihrem Charme. Doch DiMaso Wenn Rosalyn mal wieder sauer auf ihn din, seine Frau, das FBI und korrupte Po-
ist in Wahrheit FBI-Agent, er will kein ist, tanzt sie in Putzhandschuhen zu „Live litiker gemeinsam trinken, lachen, manch-
Geld leihen, sondern das Gaunerpaar and Let Die“ von Paul McCartney durch mal sogar singen. Popsongs der siebziger
überführen. Rosenfeld und seine Kompli- die Wohnung. Rosenfeld ist ihren Launen Jahre bestimmen den Soundtrack, die
zin, so sein Angebot, kommen nur straf- hilflos ausgeliefert. Sie wird ihn damit in leicht vulgären Klassiker von Elton John,
los davon, wenn sie mit ihm zusammen- Lebensgefahr bringen. Electric Light Orchestra, den Bee Gees
arbeiten und dem FBI dabei helfen, die Je absurder die Wendungen, desto oder Donna Summer. Haben alle Spaß
ganz großen Verbrecher zu ködern: Poli- wahrscheinlicher ist, dass sich das Ganze dabei? Oder tun sie nur so, weil es von
tiker, die sich kaufen lassen. Operation tatsächlich so abgespielt hat. Einmal ihnen erwartet wird? Die Leute glauben,
Abdul beginnt. bringt Rosenfeld ein neues Luxusobjekt was sie glauben wollen.
Sofort gibt es Komplikationen. DiMasos mit nach Hause, eine Mikrowelle, irgend- Der echte Betrüger, Melvin Weinberg,
Vorgesetzte, FBI-Bürokraten, die über- wo vom Lastwagen gefallen, ein Ge- hat sich irgendwann entschieden, die Par-
haupt nicht einsehen wollen, warum ein schenk eines, nun ja, befreundeten Poli- ty zu verlassen. Er ist mittlerweile 89 und
falscher Scheich unbedingt in einer ech- tikers. Anders als im Film war Rosenfelds lebt in einem Altersheim in Florida; sein
ten Luxussuite des Plaza-Hotels residie- Alter Ego Weinberg allerdings so schlau, Sohn ist von Beruf Polizist. Wenn Wein-
ren soll. FBI-Mann DiMaso selbst, der die Seriennummer am Gerät zu entfer- berg senior etwas bereuen sollte, dann
sich nicht entscheiden kann, ob er Lady nen, damit die Herkunft nicht ermittelt behält er es für sich. Den Filmemachern
Edith nun liebt oder sie nur verführen werden konnte. verkaufte er die Rechte an seiner Lebens-
will. Von Amts wegen hält er sich für sehr Regisseur Russell, 55, erzählt die Ge- geschichte für 250 000 Dollar.
clever, aber er merkt nicht einmal, dass schichte mit der gebotenen Lässigkeit. Dieses Geld, das darf man sagen, hat
sie gar keine echte Engländerin ist. Ob 35 Jahre danach dient der echte Korrup- er sich ehrlich verdient. MARTIN WOLF
so ein Typ einen vorgetäuschten Orgas- tionsfall vor allem als eine Abfolge von
mus erkennt? Prüfungen für die Figuren, Betrüger wie Video: Ausschnitte aus
Und Irving Rosenfeld, der Strippenzie- wir. Vereint im Streben nach Glück, muss „American Hustle“
her mit dem lichten Haar, hat auch noch jeder das für ihn vertretbare Maß an Lü- spiegel.de/app62014americanhustle
Ärger an der Heimatfront. Denn neben gen und Selbsttäuschung immer wieder oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 107
Kultur

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Tiere sind ein Zweck an sich“


Haben wir das Recht, Tiere für unsere Bedürfnisse zu nutzen und
zu töten? Die Autorin und Philosophin Hilal Sezgin hält ein radikales Plädoyer
gegen eine Sonderstellung der menschlichen Spezies.

Sezgin, 43, hat Philosophie in Frankfurt falsch, dieses Konzept anzuwenden. In Sezgin: Natürlich müssen wir uns von ir-
am Main studiert. Seit 2007 lebt die freie ihm steckt eine Anmaßung des Men- gendetwas ernähren und haben auch das
Autorin in einem kleinen Dorf in der schen. Recht dazu. Ich glaube nicht, dass wir uns
Lüneburger Heide, wo sie einen Gnaden- SPIEGEL: Jedes Lebewesen ist für seine Er- in Heilige verwandeln können und in der
hof mit Hühnern, Ziegen und 40 Schafen nährung und damit auch für seine Fort- Umwelt oder im Leben überhaupt nichts
betreut. In ihrem neuen Buch „Artgerecht pflanzung auf die Mittel der Natur ange- mehr zerstören werden. Wir brauchen im-
ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere wiesen, die es vorfindet oder sich schafft. mer natürliche Ressourcen, gewiss. Aber
oder Warum wir umdenken müssen“ Was hat das mit Moral zu tun? wir haben eben auch die Möglichkeit zu
(C. H. Beck Verlag, München; 302 Seiten; Sezgin: Nutztiere, Nutzpflanzen, Schäd- entscheiden, wie viele und welche Ressour-
16,95 Euro) setzt sie sich für die Anerken- linge, Unkraut – der Mensch definiert, cen in welcher Form wir verwenden. Und
nung von Tieren als Individuen mit was für ihn praktisch und was unpraktisch beim Fleischessen verbrauchen wir unnötig
eigenen Rechten ein. Ihre Vision viele Ressourcen, übrigens auch
ist ein einträchtiges, gewaltfreies anderer Länder und Kontinente.
Zusammenleben von Menschen SPIEGEL: Einverstanden, doch das
und Tieren. ist eine Frage der angewandten
Ökologie, nicht eine moralische
SPIEGEL: Frau Sezgin, ist es unmo- Grundsatzentscheidung.
ralisch, Fleisch zu essen? Sezgin: Ja, aber in der Moral stellt
Sezgin: Ich denke in der Tat, dass sich die Frage, wozu ich berechtigt
es moralisch nicht richtig ist, bin und was ich bleibenlassen soll.
Tiere zu töten, es sei denn, man Wir sind zweifellos berechtigt, die-
befindet sich in einer Notlage se Erde zu nutzen, ein gutes eige-
oder in einer Notwehrsituation. nes Leben zu haben. Wir dürfen
Das sind wir als Fleischkonsu- deswegen aber nicht über Leichen
menten nicht. Wir haben in den gehen, uns über das Lebensrecht
hochentwickelten westlichen In- anderer Individuen hinwegsetzen
dustriegesellschaften viele an- und allen alles antun, nur weil
dere Möglichkeiten, uns zu er- es uns praktisch und angenehm
ALAMY / MAURITIUS IMAGES

nähren. erscheint. Wir sind in der Lage,


SPIEGEL: Sie meinen, anders als Lö- uns als moralische Wesen gegen
wen und Wölfe können wir uns bestimmte Möglichkeiten zu ent-
freiwillig entscheiden, vegetarisch scheiden. Im menschlichen Um-
zu leben. gang miteinander ist es das Glei-
Sezgin: Kein Tier opfert sein Le- che: Wir können nicht vermeiden,
ben freiwillig. Eine artgerechte, Fleischvitrine im Restaurant: „Organisierte Massentötung“ mal einem anderen weh zu tun.
eine humane Schlachtung gibt es Aber ihn absichtlich zu verprügeln,
nicht. Der Mensch verübt einen Gewalt- ist. Ich frage mich, woher er diesen Ho- ihn zu versklaven oder planmäßig auszu-
akt gegen den Willen des Tieres, das sich heitsanspruch ableitet. beuten, das können wir uns versagen.
instinktiv und meistens auch für uns er- SPIEGEL: Aus seinen Fähigkeiten. Er baut SPIEGEL: Ist der Verzicht auf Fleisch die
kennbar wehrt. Insofern ist es moralisch Pflanzen an und züchtet Tiere, von denen Entscheidung gegen eine bestimmte Le-
falsch, Tiere zu töten. Wer ihr Fleisch isst, es viele sonst gar nicht gäbe. bensweise, oder handelt es sich um ein
unterstützt ein System organisierter Mas- Sezgin: Jedes Tier, zumindest jedes emp- moralisches Gebot – Lifestyle oder Sit-
sentötung. findungsfähige Tier, ist dennoch ein Indi- tengesetz? Wenn Letzteres zuträfe, müss-
SPIEGEL: Seit die Jäger und Sammler vor viduum. Es wird nicht geboren, es wird ten Sie das Ende der Toleranz gegenüber
10 000 Jahren zu Agrargesellschaften über- nicht von Gott auf die Welt gesetzt, damit Fleischessern verkünden.
gegangen sind, hält der Mensch Nutztiere. wir es essen. Es gibt keine übergeordnete Sezgin: Auch wenn ich fest davon über-
Sie sind Teil seiner natürlichen Lebens- Metaphysik, nach der irgendein Tier dazu zeugt bin, dass es moralisch falsch ist, Tie-
grundlage. bestimmt ist, vom Menschen verspeist zu re so für unsere Zwecke zu benutzen, wie
Sezgin: Ich habe schon mit diesem Begriff werden. Oder irgendeine Spezies dazu die meisten Menschen es tun, wäre es
Schwierigkeiten. Tiere sind nicht von sich da ist, einer anderen zu dienen. doch anmaßend, diese Überzeugung al-
aus Nutztiere. Deshalb scheint es mir SPIEGEL: Es gibt aber eine Nahrungskette. len in jeder Situation aufzudrängen, also
Jede Spezies steht im Konkurrenzkampf. zum Beispiel ungebeten im Rahmen einer
Das Gespräch führten die Redakteure Romain Leick Warum sollten die Menschen nicht ihre privaten Essenseinladung die Fleischfrage
und Elke Schmitter. überlegenen Möglichkeiten nutzen? durchdiskutieren zu wollen. Das tun die
108 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
YVONNE SCHMEDEMANN / DER SPIEGEL
Tierrechtlerin Sezgin auf ihrem Hof: „Eine artgerechte, eine humane Schlachtung gibt es nicht“

meisten Vegetarier und Veganer gar nicht. gemeint, aber als Gesellschaft insgesamt Sezgin: Aber Bewusstsein und Selbst-
Ich kämpfe dafür, dass wir Tiere respek- sind wir zu Tieren extrem grausam. bewusstsein sind eben nicht dasselbe! Tiere
tieren. Dogmatisch in dem Sinne, dass SPIEGEL: Wenn Sie dogmatisch oder moral- haben bewusste Empfindungen wie Angst,
ich an Überzeugungen festhalte, bin ich fundamentalistisch argumentieren, kön- Trauer, Freude. Sie haben wohl kein Selbst-
sehr wohl. Aber ich kann mir nicht ein- nen Sie eigentlich keine Ausnahmen gel- bewusstsein in dem Sinn, dass sie eine Vor-
bilden, eine Diktatur des Veganismus pro- ten lassen. Was heißt es, wenn Sie Tiere stellung von sich als einzigartigen, unver-
klamieren zu können. Wir leben in einer als Subjekte bezeichnen? wechselbaren Individuen entwickeln. Aber
pluralistischen Gesellschaft, und ich weiß, Sezgin: Neulich hat mich jemand gefragt, diese Art von Selbstbewusstsein haben
ich muss die anderen mit Argumenten ob ich Sauerteigbrot essen würde. Wegen Säuglinge ebenfalls nicht. Und alte, demen-
gewinnen und überzeugen. Die Toleranz der Bakterien. Der wusste nicht, dass te Menschen können es teilweise wieder
gibt sozusagen die Tonart vor. Bakterien keine Tiere sind. Der Tierethik verlieren; dadurch verlieren sie aber nicht
SPIEGEL: Aber Sie halten es für ausge- geht es um Tiere mit Bewusstsein, also ihre Rechte! Die Frage stellt sich also, was
schlossen, dass Sie sich irren? mit einem zentralen Nervensystem, das alles an diesem Selbstbewusstsein hängt.
Sezgin: Sie wollen mich provozieren, gut, sind mindestens schon mal die Wirbel- SPIEGEL: Wir meinen, dass da der entschei-
das ist Ihre Aufgabe. In einem demokra- tiere. Darüber hinaus gibt es wohl auch dende Unterschied zwischen Mensch und
tischen Diskurs, auch in einem philosophi- einige Tierarten, etwa Delphine und Men- Tier liegt. Kants Begriff des mündigen
schen Dialog, bleibt man immer belehrbar. schenaffen, die so etwas Ähnliches haben Subjekts lässt sich nur auf Menschen an-
Ich glaube allerdings, dass die Wahrheit wie ein personales Verständnis ihrer wenden. Tiere schmieden keine Zukunfts-
hier ganz auf meiner Seite ist. Und ich selbst, aber das ist für die ethische Be- pläne, sie leben nicht in der Zeit wie wir.
glaube ebenso, dass ich Menschen, die rücksichtigung nicht zwingende Voraus- Sezgin: Und darauf wollen Sie das Recht
Fleisch essen oder mit Tieren unachtsam setzung. Am anderen Ende die Insekten: gründen, Tieren das Leben zu nehmen,
umgehen, von meiner Haltung überzeu- Haben sie kein Bewusstsein, sind sie da- weil sie angeblich keine Zukunft haben?
gen kann. Es gibt kaum jemanden, der her ganz „draußen“? Ich bin mir nicht Okay, Tiere machen keine Lebensentwürfe.
sagt, Tiere seien ihm völlig wurscht, man sicher. Das können sie nicht und brauchen sie
dürfe Tiere einfach so treten oder gegen SPIEGEL: Liegt der Fehler nicht schon darin, nicht, deswegen brauchen sie auch die da-
die Wand schmeißen. dass Sie den philosophischen Begriff des mit verbundenen Rechte nicht. Aber sie
SPIEGEL: Fleischesser lassen sich nicht als Bewusstseins, also des personalen Selbst- wollen am Leben sein. Wenn es darauf an-
Sadisten oder Tierquäler schmähen. bewusstseins, auf Tiere übertragen? Tiere kommt, rennen oder kämpfen sie um ihr
Sezgin: Das tue ich nicht! Auf der indivi- sind doch keine autonomen, rationalen Leben. Ich fordere nicht ein Bildungsrecht
duellen Ebene ist es sicher selten böse Subjekte wie menschliche Individuen. für Tiere. Selbstverwirklichung, Selbst-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 109
Kultur

optimierung sind keine Kategorien, die auf beuten, wie wir es tun. Wir verfügen über Tiere haben ein eigenes Wollen. Damit ver-
sie zutreffen. Aber so zentrale Bedingun- diesen Luxus. Stattdessen haben wir die menschliche ich sie nicht. Tiere sind als
gen des Lebens wie keine Schmerzen zu- Industrialisierung, die technische Ent- Zweck an sich zu behandeln. Das sagt die
gefügt zu bekommen, in der Gruppe oder wicklung eingesetzt, um die Gewalt ge- angesehene amerikanische Neokantianerin
mit der Familie zusammenzuleben, sich gen Tiere zu multiplizieren. Christine Korsgaard. Ein Tier ist kein
bewegen zu können, überhaupt das Leben SPIEGEL: Das Gewalt- und Tötungsverbot Mensch, aber in Bezug auf die Moral ist
zu behalten – das haben wir mit den Tieren gilt gegenüber Menschen immer unein- das einfach nicht das Knockout-Kriterium.
gemeinsam. Da muss man doch gar keine geschränkter als gegenüber Tieren. Wir SPIEGEL: Sie heben die Gattungsgrenze
komplizierten Überlegungen anstellen. könnten auch in der schlimmsten Not- zwischen Mensch und Tier auf.
Wir treffen hier eigentlich den Kern der situation nicht rechtfertigen, Kinder zu Sezgin: Nein, aber Sie vertreten unter dem
Moral: Als höheres, geistiges Wesen hat töten, um sie zu essen, oder alte Men- Deckmantel der Differenzierung schlicht
man mehr Verantwortung und nicht weni- schen umzubringen, um die Zahl der Speziesismus.
ger. Das finde ich so irre: Wieso verwenden hungrigen Münder zu verringern. SPIEGEL: Klingt wohl nicht von ungefähr
wir unsere größeren geistigen Fähigkeiten, Sezgin: Was wollen Sie damit sagen? ein bisschen wie Rassismus.
unsere vielfältigeren Handlungsmöglich- SPIEGEL: Menschenrechte sind universell, Sezgin: Als Mensch bin ich verpflichtet,
keiten, zu Lasten der anderen Lebewesen? die Menschenwürde ist unantastbar. Im mich moralisch zu verhalten. Ich erwarte
SPIEGEL: Die Suche nach moralisch unbe- Umgang mit anderen, nichtgeistigen We- nicht, dass die Tiere sich ebenfalls mora-
denklichen Alternativen ist ein Luxus, zu sen könnte es zulässig sein, die mora- lisch verhalten. Es sind auch nicht alle
dem uns erst die Freiheit von Not verhilft. lischen Kriterien zu differenzieren. Menschen zu moralischem Verhalten in
Sezgin: Nach Kant wissen wir, dass das Sezgin: Der Mensch darf den anderen der Lage.
Sollen das Können voraussetzt. Notlagen Menschen, wieder nach Kant, nicht als SPIEGEL: Doch, im Prinzip schon.
Sezgin: Wir sind bedürftig, wir sind fragil,
es gibt im Leben Phasen der Verwirrung,
der Angewiesenheit, der Beeinträchti-
gung des moralischen Urteilsvermögens.
SPIEGEL: Das nimmt dem Menschen nicht
den Status eines moralischen Subjekts.
Sonst würden uns auch Abtreibung und
Euthanasie nicht mit ethischen Proble-
men konfrontieren.
Sezgin: Auch Wesen, die nicht selbst mo-
ralfähig sind, müssen moralisch berück-
sichtigt werden. Die Moralphilosophie un-
YVONNE SCHMEDEMANN / DER SPIEGEL terscheidet hierfür zwischen moralischen
Subjekten und moralischen Objekten.
Alle Menschen, die moralisch handeln
und reflektieren können, sind demnach
moralische Subjekte. Der Kreis der
moralischen Objekte ist unendlich viel
größer. Dazu gehören auch menschliche
Wesen, die selbst nicht moralfähig sind,
Babys genauso wie verwirrte Greise.
Schafe aus Sezgins Herde: „Moralische Objekte“ SPIEGEL: Tiere sind doch nicht in gleichem
Maße Objekte unserer Fürsorge.
geben grundsätzlich wenig Hinweise, wie Mittel zum Zweck benutzen. Ich setze Sezgin: Ich sehe einfach nicht den philo-
wir uns in moralischen Standardsituatio- hinzu: ein Tier auch nicht. Dass es ein sophischen Grund, warum der mensch-
nen verhalten sollen. Es kann mir aber Nutztier sein soll, haben Menschen ihm liche Chromosomensatz die entscheiden-
niemand erzählen, dass er sich jeden Tag doch erst aufgezwungen. Ich habe die Vi- de Grenze zwischen verschiedenen We-
eine Currywurst reinzieht, nur weil es sion einer Menschheit, die sich diese Erde sen mit einem Lebenswillen, eigenem
legitim wäre, in der Not eventuell ein Tier mit anderen Tieren teilen kann und will. Empfinden, eigener subjektiver Wahrneh-
zu essen. Gedankenlosigkeit, Gewohnheit Die Vorstellung des Nutztiers, des Tiers mung markieren soll. Ich unterscheide
und Bequemlichkeit entschuldigen nicht als Ware, widerspricht der moralischen zwar zwischen dem Menschen als zentra-
den Verzicht auf Moral. Das historische Grundidee im Kern. Denn besitzen und lem Subjekt und seinem moralischen Ge-
Argument trägt ebenso wenig: Ich orien- benutzen heißt, dass die Interessen des genüber als dem Objekt seines Handelns.
tiere mich heute nicht an dem, was Men- anderen Lebewesens immer den meini- Aber dass man nicht umgebracht wird,
schen vor Hunderten oder Tausenden gen untergeordnet sind. dass einem nicht die Kinder weggenom-
Jahren machen mussten. SPIEGEL: Wollen Sie die Tiere wirklich men werden, dass man nicht eingesperrt
SPIEGEL: Moralische Werte und Gesetze gleichberechtigt neben die Menschen set- wird, diese Rechte gelten für alle Lebe-
verändern sich mit der Zeit? zen? Wir sind es doch erst als geistige, wesen, die physisch und psychisch darun-
Sezgin: Mit der Entwicklung der Zivilisa- moralische Gattung, die anderen Tieren ter leiden können. Das Wohlbefinden von
tion. Auch für Kannibalismus, Menschen- überhaupt Rechte zusprechen. Der Bär, körperlichen Wesen, die als solche ver-
opfer, Versklavung und Vergewaltigung der einen Lachs fängt, macht sich keine letzlich sind, darf ich nicht zerstören.
lassen sich Beispiele und Gründe in der Gedanken. SPIEGEL: Frau Sezgin, wir danken Ihnen
Vergangenheit finden, rituelle, ökonomi- Sezgin: Sie können nicht den Tieren Rechte für dieses Gespräch.
sche, ethnische und andere. Ich rede für verleihen und entziehen, wie es Ihnen ge-
eine Moral unseres gegenwärtigen Zivili- fällt. Es wäre ein Missverständnis anzuneh- Video: Auf dem Gnadenhof
sationszeitalters. Seit 150 Jahren, mindes- men, dass die kantschen Grundideen, näm- von Hilal Sezgin
tens, brauchen wir Tiere nicht mehr in lich die Anerkennung eines Lebewesens spiegel.de/app62014sezgin
dem Maße zu töten, zu benutzen, auszu- als Zweck an sich, nur für Menschen gelten. oder in der App DER SPIEGEL

110 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
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3 (3) Graeme Simsion 3 (3) Christine Westermann
Das Rosie-Projekt Da geht noch was
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5 (6) Khaled Hosseini 5 (5) Herfried Münkler


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SOS Kinderseele
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Krimi des deutschen 20 (14) Rüdiger Safranski
Autors, der seine Leser Goethe – Kunstwerk des Lebens
aufs Glatteis führt Hanser; 27,90 Euro

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 111
Szene aus „Winterreise“*
„Nicht mit gesundem Menschenverstand“

Entscheidungen seiner Finanzchefin ab-


genickt oder abnicken lassen und viele
Dokumente mit ihr unterschrieben.
Seit die Kündigung Stantejskys bekannt
ist, wird in der Wiener Theaterwelt um
die Finanzen und die Kontrollmechanis-
men im Burgtheater gestritten. Publik
wurde zum Beispiel, dass Stantejsky, die
von vielen im Haus Beschäftigten als schil-
lernd beschrieben wird, als chaotische und
umtriebige, immer hilfsbereite „Seele des
Betriebs“, offenbar Schauspielerhonorare
in bar und in Briefumschlägen übergab,
ROBERT JAEGER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

wofür sie zumindest in einem Fall erst


von ihrem Privatkonto Geld abhob und
sich dann die Beträge aus dem Burg-Bud-
get zurücküberweisen ließ.
Bekannt wurde aber auch, dass im Burg-
theater-Budget ein riesiges Loch klafft. Die
Rede ist mal von 4, mal von 10, mal von
13 Millionen Euro. Wie groß genau das De-
fizit ist, soll Ende Februar bekanntgegeben
werden, wenn die derzeit über den Thea-
T H E AT E R terbilanzen brütenden Prüfer der Firma

Kunst und Handwerk


KPMG ihre Arbeit abgeschlossen haben.
Das Burgtheater ist ein stolzes Haus.
Hier sollen, so das Wiener Selbstverständ-
nis, die besten Schauspieler und die bes-
ten Regiekünstler arbeiten, dafür werden
Dem Burgtheater, der wichtigsten deutschsprachigen Bühne, sie traditionell besser bezahlt als in fast
droht Finanzchaos, im Budget klafft ein Millionenloch. allen anderen Theatern. So hat Andrea
Breth vor vier Monaten einen luxuriösen,
Intendant Matthias Hartmann beteuert, er könne nichts dafür. finsteren Sechs-Stunden-„Hamlet“ mit
August Diehl in der Rolle des Titelhelden

A
uf sein Talent, für volle Häuser und tung des Burgtheaters festgestellt, für die abgeliefert. Peter Stein präsentierte zu
für volle Kassen zu sorgen, ist der die 58-jährige Vizechefin Stantejsky zwi- Weihnachten den „König Lear“ mit Klaus
Theatermacher Matthias Hartmann schen 2008 und 2013 als kaufmännische Maria Brandauer als pompöses Ritter-
stolz. „Shakespeare und Molière hätten Direktorin des Hauses zuständig gewesen spiel. Die Britin Katie Mitchell arbeitet
sich nie damit getröstet, große Künstler zu war. Er habe „keine andere Wahl gehabt“ hier, der Kölner Intendant Stefan Bach-
sein, wenn ihre Säle halbleer gewesen wä- und betrachte die Geschasste trotz Kün- mann, der Jungregisseur Antú Romero
ren“, hat er mal über zwei seiner eigenen digung als „Freundin“, so Hartmann vor Nunes und der Berliner Punk-Oldie
Bedeutung angemessene Große des Ge- den Schauspielern des Burgtheater- Frank Castorf. Castorf wird im März „Die
werbes gesagt. „Wenn ein Theaterabend Ensembles. Die Künstler bekannten sich Krönung Richards III.“ von Hans Henny
zu Ende war, konnten sie auf die Münze zur „Solidarität“ mit Stantejsky und Jahnn herausbringen, mit Gaststars wie
beißen und wussten, was sie wert waren.“ nannten sie ein „Bauernopfer“. Sophie Rois und Marc Hosemann und
Seine Managerqualitäten betont Hart- Ein Bauernopfer anstelle welcher Martin Wuttke in der Titelrolle. Da wird
mann, 50, auch gern in Wien, wo er seit mächtigeren Figur? Tatsache ist: Der viel geprobt und viel kreuz und quer
2009 das weithin berühmte Burgtheater Theaterchef Hartmann hat jahrelang die durch Europa geflogen, die Gagen sind
leitet. Über die Städte, in denen er vorher üppig, die Kunst ist es aber auch.
Intendant war, hat er jüngst verkündet: Die Regiestars kommen, weil sie in
„Ich habe in Bochum und Zürich zwei Sa- Wien unter besten Bedingungen arbeiten
nierungsfälle als Theater geerbt, beide sa- können. Wie hoch ihre Gagen sind, will
niert und in einer hervorragenden Situa- Hartmann nicht verraten. Nur, dass einer
tion zurückgelassen.“ Dafür gab es aus wie Castorf rund doppelt so viel bekom-
beiden Städten erregten Widerspruch. me wie er selbst, wenn er am eigenen
ROBERT JAEGER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

In seinem Job als Burgtheater-Direktor Haus inszeniere, sagt der Intendant. Hart-
blickt Hartmann in diesen Wochen auf mann inszeniert häufig im Burgtheater,
ein ernsteres Management-Desaster. An- selten bekommt er dafür das Lob der Kri-
fang Januar hat der Intendant in einer tiker. Immerhin holte er zuletzt für das
Ensembleversammlung bekanntgemacht, Zeitgeschichte-Projekt „Die letzten Zeu-
dass er seine Stellvertreterin Silvia Stan- gen“ gemeinsam mit dem Schriftsteller
tejsky entlassen hatte – bereits knapp sie- Doron Rabinovici Wiener Überlebende
ben Wochen zuvor, am 18. November. des Holocaust auf die Bühne und ließ
Wirtschaftsprüfer, so Hartmann, hätten Intendant Hartmann
„Unregelmäßigkeiten“ in der Buchhal- Von Unregelmäßigkeiten nichts geahnt? * Inszenierung von Stefan Bachmann am Burgtheater.

112 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Kultur

deren Lebensgeschichten von Schauspie- Schulden auf Bachler abzuwälzen, son- Fehler zu übernehmen und bis zur Klä-
lern erzählen – ein politisch kluger, an- dern noch mehr seine Äußerungen zur rung der „Unregelmäßigkeiten“ sein Amt
rührender Theaterabend. Entlassung der Frau, die jahrelang an sei- als Theaterchef ruhen zu lassen? „Es wäre
Umstritten sind im Moment ohnehin ner Seite die Geschäfte des Hauses führte. nicht richtig gewesen, mich in so einer
nicht Hartmanns Regiekünste, sondern „Leider dürfen wir nicht mit dem gesun- Lage aus dem Haus zu stehlen.“ Außer-
seine Managerqualitäten. Seit bekannt den Menschenverstand arbeiten, sondern dem sagt Hartmann, dass er sich als künst-
wurde, dass im Burgtheater-Budget Mil- müssen juristisch formal richtig vorge- lerischer Direktor auf seine kaufmänni-
lionen fehlen, beteuert er, er habe schon hen“, sagte er. Er selbst habe vom Buch- sche Leitung verlassen können müsse.
früh Alarm geschlagen. Tatsächlich hielt haltungschaos nichts geahnt. Vergangene Der Theaterleiter Jürgen Flimm, der-
Hartmann im Oktober zum 125-jährigen Woche setzte sich Stantejsky, die gegen zeit Opernintendant in Berlin und zuvor
Bestehen des Burgtheaters eine Brand- ihre Entlassung klagt, in einem Rundfunk- Chef bei den Salzburger Festspielen, sagt:
rede, in der er den Zuhörern, darunter interview zur Wehr: Sie habe alle Zustän- „Mir ist völlig schleierhaft, wie man so
dem österreichischen Bundespräsidenten argumentieren kann. Das geht schon
Heinz Fischer, berichtete, das Burgtheater juristisch nicht.“ Theaterhäuser seien Be-
könne „so nicht existieren“. 1999 erhielt „Sie haben das Beste triebe, in denen „jede Reisekostenabrech-
das Burgtheater 43,8 Millionen Euro öf- gewollt. Sie haben das nung zweimal umgedreht wird. Ich treffe
fentliche Subvention, derzeit sind es 46,4 mich wöchentlich mindestens einmal mit
Millionen Euro. In derselben Zeit stiegen Beste verdient. Und unserem kaufmännischen Geschäftsfüh-
die Personalkosten um 43 Prozent. rer. So macht das jeder verantwortungs-
Hartmann lässt vorrechnen, seit seinem das kriegen Sie auch.“ bewusste Theaterleiter. Das gehört zum
Amtsantritt habe man den Erlös aus Kar- Handwerk eines Intendanten.“
tenverkäufen um mehr als 30 Prozent auf digen stets über „sämtliche buchhalteri- Als Hartmann sich den Wienern als
7,5 Millionen Euro erhöht, er habe das sche Entscheidungen informiert“. Burgtheater-Intendant vorstellte, ver-
Burgtheater-Ensemble von zuvor über Hartmann, für seinen autoritären Füh- sprach er: „Sie haben das Beste gewollt.
hundert Schauspielern auf jetzt 81 ver- rungsstil („Ich sehe mich als freundlichen Sie haben das Beste verdient. Und das
kleinert. Sein Vorgänger Nikolaus Bach- Menschen“) berüchtigt, sagte vorige Wo- kriegen Sie auch.“
ler, heute Chef der Münchner Staatsoper, che dem SPIEGEL, er wolle sich zu allen Flimm macht sich Sorgen um den Ruf
habe ihm „Verbindlichkeiten von 15,3 Mil- Finanzfragen vorläufig gar nicht mehr öf- der Theatermacher und Schauspieler:
lionen Euro“ ins Nest gelegt, behauptete fentlich äußern; zumindest bis Ende Fe- „Alle Künstler, die mit den ihnen anver-
Hartmann. Bachler nannte das „infam“. bruar, wenn der Prüferbericht vorliegen trauten öffentlichen Geldern sorgfältig
Hartmann ruderte öffentlich zurück. soll. Seine Unschuld hält er für erwiesen. umgehen, werden nun mit denen, die das
Panisch verunglückt wirkten nicht bloß Hat er je daran gedacht, gemeinsam mit nicht tun, in einen Topf geworfen. Das ist
Hartmanns Versuche, die Schuld an den Stantejsky die Verantwortung für deren falsch und schädlich.“ WOLFGANG HÖBEL
Kultur

Gifthauch der Perversion


Zum 100. Geburtstag von William Burroughs erscheinen Briefe
BUCHKRITIK:
des Bürgerschrecks aus den Jahren 1959 bis 1974.

E
s geht um Wahn und Kontrolle in Das ist der Burroughs, den man, viel- zieller Seite entzogen. Viel Spaß mit
seinem Werk, um Paranoia und leicht, kennt: der Autor von „Naked Ihrem schmutzigen Geld. Etwas anderes
Wahrheit, darum, was Widerstand, Lunch“, sein Meisterwerk aus dem Jahr werden Sie nie mehr haben.“
Lust und Freiheit miteinander zu tun ha- 1959, ein Schlüsselroman der literarischen Capote, das war der Grund für den
ben – aber wer in William Burroughs im- Postmoderne – oder, wie es ein Richter Wutanfall von Burroughs, habe sich mit
mer noch vor allem den Junkie sieht, den sagte, der das Buch 1966 verbieten woll- seinem Buch „Kaltblütig“ für die Todes-
Spinner, den Mann, der seine Frau im te: „ein widerlicher Gifthauch ununter- strafe starkgemacht und sich damit den
Rausch erschossen hat: Der hat natürlich brochener Perversion, literarischer Ab- „Interessengruppen zur Verfügung ge-
nicht unrecht. schaum“. stellt die Amerika in einen Polizeistaat
Vielleicht sollte er aber wenigstens die Dann gibt es aber auch noch diesen verwandeln“ – in seinem „Revised Boy
Briefe des großen amerikanischen Schrift- Burroughs, der erahnte, was heute vielen Scouts Manual“ hatte sich Burroughs
stellers lesen, der ein schon mal Gedanken ge-
Staatsfeind war und ein macht, wie man mit sol-
Patriot, der schwul war chen Leuten umgehen
und Waffen liebte, der sollte, es war eine „er-
aus dem Mittleren Wes- schöpfende Abhandlung
ten in die Welt drängte über Kunst und Metho-
und im Alter zurückkehr- de der Revolution unter
te, nach Kansas, of all besonderer Berücksich-
places. tigung von Mordanschlä-
100 Jahre wäre er am gen“: Listen sollte es ge-
5. Februar geworden, ben und Zufallsmorde,
und es ist bei allem, was Angst und Schrecken,
er sein Leben lang einge- verbreitet durch „schlan-
worfen hat, sowieso ein ke elegante Boys in blau-
Wunder, dass er es bis ins en Uniformen“.
EAN LOUIS ATLAN / SYGMA / CORBIS

Jahr 1997 geschafft hat, Fiktion, natürlich –


83 war er, als er starb – „alles ist erlaubt, weil
dabei hatte er all die nichts wahr ist“, das war
Jahrzehnte davor schon einer seiner Schlüsselsät-
ausgesehen wie ein dunk- ze. „Auf dem Umschlag
ler Engel des Todes, sei- ein hübscher sommer-
ne Flügel schienen ver- sprossiger Pfadfinder,
sengt, sein Atem schien Schriftsteller Burroughs 1991 der die amerikanische
Asche, immer die Not Flagge in einem Laub-
mit dem Geld, immer auf haufen verbrennt“, so
der Suche nach Sex mit stellte sich Burroughs
schönen Jungs, immer im Streit mit der Realität scheint: „In meinen Augen“, das Buch vor. Außerdem, „alter SA-
Sucht. schreibt er am 3. November 1969, „be- Song“, sollte dort noch stehen: „zur jeden
„Einige abgedrehte Erfahrungen mit steht die wahre Bedrohung der Freiheit massen mord stehen wir bereit“. Was
diesem schrecklichen Prestonia“, schreibt in computergestützter Gedankenkontrol- man so schreibt, wenn man der Schre-
er am 8. April 1961 an seinen Freund le und nicht in etwas so Bizarrem und cken der Bourgeoisie sein will.
Brion Gysin über seine Erfahrungen mit Altmodischem wie SA-Männern.“ „Wie Mao Tse Tung sagt, der Krieg fin-
dieser giftigen Blütenpflanze. „Das völli- Und diesen Burroughs gibt es auch det in unserem eigenen Schädel statt“,
ge Alptraum-Halluzinogen. Eine Reise in noch, der tat, was er tun musste, weil er schrieb er am 11. August 1969 an Brion
Die Öfen wie weißglühende Bienen durch eine Mission hatte: „Die Sprache“, Gysin – ein Brief, der leider in der deut-
Fleisch und Knochen und alles, aber ich schreibt er am 4. Januar 1970, sei „wie schen Ausgabe nicht zu finden ist: Aus et-
war nur dreißig Sekunden in den Öfen, eine Landkarte der inneren Ruhe, die sich was unerfindlichen Gründen wurde die
für einen Goi ziemlich gut sagten sie und mit jeder Erschließung neuer Bereiche gute englischsprachige Ausgabe noch mal
führten mich auf einem sehr kleinen Pla- verändert. So eine Sprache könnte die deutlich gekürzt, wodurch einige beson-
neten herum und dieser rothaarige jüdi- Waffe einer totalen Revolution sein“. ders schöne Sätze und Passagen verloren-
sche Agent von Hassan Sabbah, du weißt Oder diesen Burroughs, der hart sein gegangen sind, etwa die Anweisung an
schon, war mein Führer. Und das alles konnte, wenn er Feinde erkannte, am 23. Brion Gysin, wie ein richtiger Brief ge-
im Kampf mit der Grünen Krake –“. Juli 1970 in einem Brief an Truman schrieben werden sollte: den Schreibtisch
Capote: „Sie haben Ihre Begabung, die frei räumen, wenn möglich ein Bild des
William S. Burroughs: „Radiert die Worte aus. Briefe Ihnen von dieser Dienststelle verliehen Adressaten auf dem Tisch, die alten Briefe
1959 – 1974“. Aus dem amerikanischen Englisch von
Michael Kellner. Verlag Nagel & Kimche, Zürich; 304 worden war, verraten und verkauft. Diese noch mal durchschauen und immer „zwi-
Seiten; 19,90 Euro. Begabung wird Ihnen hiermit von offi- schen den Zeilen lesen“. GEORG DIEZ

114 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Trends

ZEITGESCHICHTE

Sensationsfund ohne
Sensation
1982 verkündete der israelische Maler,
Kunstsammler und frühere Diplomat
Chaim Rosenthal gegenüber Journalis-
ten und im Fernsehen, er besitze unbe-
kannte Unterlagen und Fotos von SS-
Chef Heinrich Himmler. Darunter seien
Mikrofilmrollen mit rund 700 Briefen
des Holocaust-Organisators an dessen
Frau, deren Tagebücher sowie ein Tage-
buch von Tochter Gudrun. Die Tages-

JESSICA KASSNER / AGENCY PEOPLE IMAGE


zeitung „Welt“ spottete damals über
die Aufzeichnungen: Aus den „Schnul-
zen“ lasse sich „recht gut eine Illustrier-
ten-Story mixen“. Gewiss werde schon
bald eine Zeitschrift ihren Lesern „eine
‚Stern‘-Stunde über den ,wahren Himm-
ler‘ bescheren“. Gut 30 Jahre später hat
das Springer-Blatt seine Einschätzung Fischer
revidiert und eine Serie über die Himm-
ler-Papiere veröffentlicht: ein „spekta-
kulärer Fund“, nun in Tel Aviv „ent- MUSIKINDUSTRIE

Teuer gewinnt
deckt“. Einige Historiker, Archivare
und Journalisten hatten das Material in
den vergangenen Jahrzehnten gesehen,
weil Rosenthal es verkaufen wollte.
Das aber war ihm erst im Jahr 2007 ge-
lungen. In einer Aufzeichnung, die dem Als sich in der vergangenen Woche die Berg oder der Deutschrocker Herbert
SPIEGEL vorliegt, behauptete er, ein Meldung verbreitete, die Schlagersän- Grönemeyer haben deutlich mehr Ton-
belgischer Waffensammler habe ihm gerin Helene Fischer, 29, habe mit ihrer träger unter die Leute gebracht. Schon
1976 einen Brief von Himmler an Gud- „Best of“-Platte „das erfolgreichste länger wird in der Musikbranche kriti-
run gezeigt und erzählt, es gebe noch deutsche Album aller Zeiten“ (PR des siert, dass sich Charts nicht allein aus
eine ganze Reihe weiterer Schriftstücke. Marktforschers Media Control) auf den Verkaufszahlen der Künstler be-
Daraufhin habe er mit der Suche be- dem Markt, klang das nach einem rechnen, sondern auch aus deren Um-
gonnen und Sammler sowie den israeli- beeindruckenden Rekord. Doch wer an- sätzen. Fischer bekam den Marketing-
schen Geheimdienst Mossad um Hilfe nimmt, sie habe auch die meisten Al- Titel auch deshalb verpasst, weil ihr
gebeten. In den USA sei er fündig ge- ben verkauft, irrt. Andere Künstler wie Album besonders häufig auf Spitzen-
worden. etwa Schlager-Konkurrentin Andrea positionen in den Charts stand.

INTERNET
auch mit dem Hinweis, es habe zunächst
eine aufwendige Website program-

Auch Ministerien vom Passwortklau betroffen mieren und Datenschutzfragen klären


müssen. Die Website, auf der Internet-
nutzer prüfen können, ob sie vom
Von der millionenfachen Ausforschung Die zugehörigen Passwörter waren of- Datenklau betroffen sind, war wegen
von E-Mail-Passwörtern durch un- fenbar von osteuropäischen Cyber- der millionenfachen Abrufe zeitweise
bekannte Cyberkriminelle waren nicht Kriminellen ausgespäht und gesammelt nicht mehr erreichbar gewesen.
nur private Nutzer, sondern auch der worden. Die IT-Sicherheitsbeauftrag-
Deutsche Bundestag und alle Bundes- ten des Bundestags und der Ministerien
ministerien betroffen. Das Bundes- wurden deswegen aufgefordert, die be-
kriminalamt hatte das Bundesamt für troffenen Nutzer umgehend zu war-
Sicherheit in der Informationstechnik nen. Wie sich herausstellte, waren die
(BSI) bereits im August 2013 darüber ausgeforschten Adressen des Bundes-
informiert. Bei den Ermittlungen der tags meist für private Zwecke genutzt
Staatsanwaltschaft Verden waren auch worden. Die Öffentlichkeit wurde über
ARMIN WEIGEL / DPA

rund 600 E-Mail-Adressen aus der den Hackerangriff erst vor zwei Wo-
Bundesverwaltung, etwa aus allen Mi- chen informiert, was teilweise scharfe
nisterien, und 17 Adressen des Bundes- Kritik hervorrief. Das BSI begründete
tags in einer Datenbank aufgefallen. seine späte Öffentlichkeitsoffensive
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 115
Medien

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Das ist
Bildungsfernsehen“
RTL-Programmchef Frank Hoffmann, 47, über
die Quotenprobleme des Senders,
den unerwarteten Erfolg des Dschungelcamps
und die Frage, ob Hitler zu RTL passt

Dschungelcamp-Teilnehmerin Marolt

SPIEGEL: Herr Hoffmann, es gibt eine hüb- zur Arbeit. Aber an Dr. Thomas violetten SPIEGEL: Dafür sind Sie hinter ARD und
sche Anekdote, die zeigt, wie wichtig Porsche erinnere ich mich gut. Ein Zwei- ZDF zurückgefallen. RTL hat die Markt-
RTL einmal war: Der erste Senderchef sitzer mit Chauffeur, das war schon spe- führerschaft eingebüßt und war 2013 nach
Helmut Thoma hatte von der Stadt Köln ziell. Ich habe mich manchmal gefragt, Einschaltquoten nur noch Dritter.
die Sondergenehmigung, sein Auto prak- ob es für die Farbe einen Rabatt gab. Hoffmann: Relevant sind für uns die 14-
tisch überall parken zu dürfen, wo er woll- SPIEGEL: Sie sind seit einem Jahr RTL- bis 59-Jährigen. Bei denen liegen wir
te. Welche Privilegien genießen Sie? Chef. Gibt es etwas, worum Sie den Grün- vorn.
Hoffmann: Keine, ich muss Sie enttäuschen. dungs-Chef Thoma beneiden? SPIEGEL: Haben wir das richtig verstanden:
SPIEGEL: Was sagt uns das über RTL Hoffmann: Nein, das war einfach eine an- Es ist Ihnen egal, dass mehr Leute ARD
heute? dere Zeit. Als RTL im Januar vor 30 Jah- und ZDF schauen als RTL?
Hoffmann: Wir brauchen keine Privilegien, ren loslegte, war die Autobahn frei, um Hoffmann: Ein Privatsender muss bei der
das entspricht nicht unserer Mentalität. mal in dem Bild mit dem Porsche zu Altersgruppe gut ankommen, die vom
Auf Parkplätze bin ich ohnehin nicht so bleiben. Da konnten wir Gas geben. Heu- Werbemarkt umworben wird. Daran wer-
scharf, ich fahre gern auch mit dem Rad te sind alle Spuren voll, Überholmanöver den wir gemessen, damit verdienen wir
sind schwieriger. Umso beachtlicher finde Geld, und wirtschaftlich stehen wir her-
Das Gespräch führten die Redakteure Isabell Hülsen ich es, dass wir die private Konkurrenz vorragend da. Der Vergleich mit ARD
und Alexander Kühn in Köln. meistens im Rückspiegel betrachten. und ZDF bleibt ein Schönheitswettbe-
116 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
SPIEGEL: Müssen Sie ausbaden, was Ihre Blick. Wir verlieren die Zuschauer nicht
Vorgängerin Anke Schäferkordt versäumt primär am Abend, wo wir maßgeblich
hat? unser Geld verdienen, sondern vor allem
Hoffmann: Ganz und gar nicht. Anke Schä- am Nachmittag. Dort leben wir seit Jah-
ferkordt selbst war diejenige, die in den ren von Sendungen der gleichen Machart,
Rekordjahren 2010 und 2011 öffentlich die mehrere Programmstunden tragen.
angekündigt hatte, dass wir das hohe Ni- Anfangs liefen nachmittags nur Talk-
veau nicht werden halten können ange- shows, dann kamen die Gerichtsshows,
sichts immer neuer Sender. Genau das ist und jetzt sind es eben gescriptete Dokus
eingetreten. Für diesen Ausblick bin ich wie „Familien im Brennpunkt“. Wenn
ihr heute ziemlich dankbar. Denn Quo- eine solch lange Programmstrecke brö-
tenrekorde wie beim Dschungelcamp ckelt, sinken die Marktanteile mehr, als
sind zunehmend schwerer zu erreichen. es einem lieb ist. Wir hatten vergleichbare
SPIEGEL: Hat Sie der Erfolg des Dschun- Situationen schon öfters und haben sie
gelcamps überrascht? bisher immer gemeistert.
Hoffmann: In dem Ausmaß ja. SPIEGEL: Sie haben im vergangenen Jahr
SPIEGEL: Die Teilnehmerin Larissa Marolt eine Informationsoffensive angekündigt.
hat die Show fast im Alleingang getragen. Warum merkt man davon nichts?
Werden Sie ihr eine Prämie für ihre schau- Hofmann: Genau das war nicht meine
spielerische Leistung als Nervensäge der Wortwahl. Gemeint war, dass wir dem
Nation zukommen lassen? erkennbaren Wunsch der Zuschauer nach
Hoffmann: War das Schauspielerei? Nie- mehr Relevanz im Programm folgen
mand schafft es, 24 Stunden Tag für Tag möchten. Ein Beispiel ist „Mario Barth
in einer Rolle zu bleiben. Ich glaube, sie deckt auf“. In der Sendung hat er auf
ist wirklich so. Und im Laufe der Staffel seine Art die Steuerverschwendung in
hat sie erheblich an Sympathie gewonnen. Deutschland angeprangert und aus dem
Aber lassen Sie mich lieber das RTL- Stand heraus mehr als 20 Prozent Markt-
Team loben, das Marken wie das Dschun- anteil erreicht. Das ist authentisches, re-
gelcamp zusammen mit den Produzenten levantes Fernsehen. In diesem Jahr strah-
über einen so langen Zeitraum gepflegt len wir auch die Reihe „Reset“ aus. Dafür
und weiterentwickelt hat. Journalisten haben wir ein Jahr lang Menschen ge-
rufen gern nach Innovationen. Dabei ist coacht, die inkomplett querschnittsge-
es eine ebenso große Kunst, erfolgreiche lähmt sind und eine geringe Chance
Sendungen immer wieder neu aufzula- haben, wieder laufen zu können. Unser
den. Ich bin meinen Vorgängern dankbar,
dass sie am Dschungelcamp festgehalten
haben, obwohl der Druck durch die Pres-
se anfangs ziemlich groß und das Interes-
se der Werbeindustrie zunächst begrenzt
war. Manchmal wirkt die Kritik schon ein
bisschen überzogen.
SPIEGEL: Sie wirken gerade wie ein geprü-

JÖRG CARSTENSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA


gelter Hund.
Hoffmann: So fühle ich mich nicht, denn
wir befinden uns in guter Gesellschaft.
Anlässlich des Deutschen Herbstsalons
1913 wurde über die Werke der Künstler-
gruppe Blauer Reiter geschrieben, das sei
die „Gemäldegalerie eines Irrenhauses“. Fernsehmacher
SPIEGEL: Zu der Gruppe zählten Maler wie Hoffmann
RTL

Wassily Kandinsky und Franz Marc, die


den Expressionismus in Deutschland mit-
werb. Ein ungleicher noch dazu, ange- begründet haben. Wollen Sie RTL mit de- Reporter Markus Holubek, der selbst im
sichts der Milliarden an Gebührengeldern. nen vergleichen? Rollstuhl gesessen hat, will ihnen im
SPIEGEL: Aber auch bei den von Ihnen um- Hofmann: Nein, ich will nur sagen, dass wahrsten Sinne des Wortes wieder auf
garnten jüngeren Zuschauern haben Sie Kritiker schon immer mit spitzer Feder die Beine helfen. Und Steffen Henssler
enorm verloren. Noch vor wenigen Jah- gerichtet haben. hat Strafgefangenen das Kochen beige-
ren erreichte RTL dort 18 Prozent Markt- SPIEGEL: Aber solange Ihre Freunde von bracht, denen dadurch nach ihrer Entlas-
anteil, voriges Jahr nur noch 14,5 Prozent. „Bild“ das Dschungelcamp positiv beglei- sung eine Wiedereingliederung in die Ge-
So schlecht lief es für RTL zuletzt zur ten, kann es Ihnen doch egal sein, was sellschaft hoffentlich leichterfällt.
Wendezeit. Was machen Sie falsch? die seriöse Presse schreibt. SPIEGEL: Entschuldigung, aber Ihr Wort-
Hoffmann: Vergleiche mit der Vergangen- Hoffmann: Mir geht es darum, dass bei aller laut war damals, Sie wollten RTL „noch
heit sind eher etwas für Nostalgiker. Seit Kritik am Programm anerkannt wird, was stärker journalistisch positionieren“.
damals ist die Anzahl der Sender explo- unsere Mitarbeiter leisten. Hoffmann: Genau das tun wir. Zum Bei-
diert, auch im Internet ist neue Konkur- SPIEGEL: Trotzdem: Das Dschungelcamp spiel mit den Selbstversuchen im „Jenke
renz entstanden. Wir arbeiten intensiv allein wird Ihre Marktanteile auf Dauer Experiment“ oder den Undercover-Re-
am Programm. Dabei machen wir hof- nicht retten. cherchen vom „Team Wallraff“.
fentlich nur wenig falsch, aber bestimmt Hoffmann: Marktanteile werden gern pau- SPIEGEL: Günter Wallraff war zuletzt im
auch nicht alles richtig. schal interpretiert. Da lohnt der genauere Sommer bei Ihnen zu sehen.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 117
Medien

Hoffmann: Er wird noch in diesem Jahr 2016 ausstrahlen werden. Darin werden
wiederkommen. Investigative Recher- wir unter anderem die zwanziger Jahre
chen brauchen eben Zeit. beleuchten und zeigen, dass es in Hitlers
SPIEGEL: Ist Wallraff das journalistische Leben eine Kontinuität der Lüge gab. Die-
Feigenblatt im RTL-Programm? se Idee geht auf die Hitler-Biografie von
Hofmann: Wir brauchen kein Feigenblatt. Dr. Thomas Weber zurück, er ist einer
Wir haben Peter Kloeppel, Wolfram Kons, der Historiker, die das Projekt begleiten.
Ilka Eßmöller und Steffen Hallaschka, SPIEGEL: Hitler auf RTL, kann das gutgehen?
Birgit Schrowange, Katja Burkard oder Hoffmann: Hitler kann man nur sehr akku-
Frauke Ludowig … rat und nah an der historischen Wahrheit
SPIEGEL: … aha … erzählen. Das werden wir tun.
Hoffmann: … und wir haben „Guten Mor- SPIEGEL: Wollen Sie RTL damit einen öf-
gen Deutschland“, das wir sogar auf zwei- fentlich-rechtlichen Anstrich verpassen?
einhalb Stunden ausgedehnt haben. Hoffmann: Schreiben Sie das bloß nicht!
SPIEGEL: Heute Morgen haben wir mal in Wir wollen Geschichten erzählen, die
die Sendung reingeschaut: Es ging um stark in Deutschland verwurzelt sind.
Blitzeis, einen PR-Termin der Obamas, Nächstes Jahr strahlen wir „Die Witwen-
den Tag der Jogginghose und das Dschun- macher“ aus, einen Film über die „Star-
gelcamp. Wo war da die Relevanz? fighter“-Affäre, den Michael Souvignier
Hoffmann: Das sind Themen, über die produziert. Außerdem entwickeln wir mit
Deutschland spricht. Außerdem gibt es der UFA die Serie „Deutschland“, die in
in der „Guten Morgen“-Sendung auch der Zeit des Nato-Doppelbeschlusses spielt,
Nachrichten, mit denen wir unsere Chro- die für meine Generation prägend war.
nistenpflicht voll abdecken. Ein anderes SPIEGEL: Bislang gehörte Zeitgeschichte
Beispiel ist „Wer wird Millionär?“, das ist aber nicht zum Markenkern von RTL.
auch eine Art Bildungsfernsehen … Hoffmann: Die Idee war nicht: Wir machen
SPIEGEL: … es ist ein Quiz! jetzt politisches Fernsehen. Wir wollen
Hoffmann: Nennen Sie es, wie Sie wollen. verstärkt deutsche Themen aufgreifen. So
gehen wir auch dem Vergleich mit US-
Serien aus dem Weg.
„Wir wollen deutsche SPIEGEL: Weil Sie da sowieso nicht mithal-
Themen aufgreifen. So ten können?
Hoffmann: Was die Budgets angeht, ja: In
gehen wir dem Vergleich mit den USA werden schon in eine Pilotfolge
drei Millionen Dollar investiert, das kann
US-Serien aus dem Weg.“ in Deutschland niemand refinanzieren.
Allerdings hilft eine zu Recht hochgelobte
SPIEGEL: Haben Sie sich inzwischen damit Serie wie „House of Cards“ auch nicht
abgefunden, dass Günther Jauch in der weiter, wenn sie im Fernsehen zu wenig
ARD den seriösen Talker gibt und bei Zuschauer findet, wie unsere Kollegen
Ihnen nur den Quiz-Onkel? von Sat.1 das gerade erleben mussten.
Hoffmann: Seien Sie doch nicht immer so SPIEGEL: Im Herbst zeigen Sie sogar ein ur-
gehässig! Wir freuen uns, ihn regelmäßig deutsches Schauspiel: „Götz von Berlichin-
im Programm zu haben. Er macht das gen“, frei nach Goethe. Käme „Fack ju Göh-
ganz hervorragend, auch zusammen mit te“ beim RTL-Publikum nicht besser an?
Thomas Gottschalk in „Die 2“. Hoffmann: Unser „Götz“ ist Popcorn-Kino
SPIEGEL: Warum setzen Sie nicht auf fri- fürs Fernsehen.
sche Gesichter, sondern haben den 63- SPIEGEL: Wir sehen schon den Dichterfürs-
jährigen Gottschalk engagiert? ten im Grab rotieren.
Hoffmann: Weil ich ihn großartig finde und Hoffmann: Ich glaube eher, dass Götz von
er auch bei jüngeren Zuschauern sehr gut Berlichingen aus dem Grab wiederauf-
ankommt. Gleichzeitig suchen wir junge erstehen wird, weil Henning Baum ihn
Talente. Wir testen demnächst eine Co- so unglaublich überzeugend spielt.
medy-Sendung mit Jan Böhmermann SPIEGEL: Gilt für das RTL-Programm und
und Palina Rojinski. Außerdem entwi- seine Macher denn noch das Bonmot von
ckeln wir eine wochenaktuelle Comedy Helmut Thoma: „Der Wurm muss dem
mit Kaya Yanar und eine weitere mit jun- Fisch schmecken, nicht dem Angler“?
gen Comedians, die an den Erfolg von Hoffmann: So lässt sich unser Programm
„RTL Samstag Nacht“ anknüpfen soll. längst nicht mehr charakterisieren. Mit
SPIEGEL: Wann wird man denn Ihre Hand- dieser Haltung ließen sich zum Beispiel
schrift im Programm erkennen? keine guten Nachrichtensendungen ma-
Hoffmann: Es geht nicht um meine Hand- chen, in denen es immer wieder Beiträge
schrift, sondern darum, die Erfolgsstory gibt, die nicht jedem schmecken. Mir ge-
von RTL fortzuschreiben. Wir arbeiten fällt da eher, was Günther Jauch einmal
in allen Genres an vielversprechenden gesagt hat: „RTL trägt den Rock ein biss-
Ideen. In der Fiction etwa haben wir bei chen kürzer.“ Heute, finde ich, sind wir
den Produzenten Nico Hofmann und Jan für jeden Anlass passend gekleidet.
Mojto eine Miniserie über Adolf Hitler SPIEGEL: Herr Hoffmann, wir danken Ih-
in Auftrag gegeben, die wir vermutlich nen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 119
Prisma

EVOLUTION
Das ist auch plausibel. Der Neander-
taler, der schon lange in Europa lebte,
Stammzellen „Wie Pferd und Esel” war vielleicht besser an das ungemüt-
liche Klima angepasst als der moderne
Mensch, der aus Afrika einwanderte.
selber machen Der Biologe Svan-
te Pääbo, 58, über
SPIEGEL: Die Eingeborenen verhalfen
den Zuzüglern zu hellerer Haut und
KOMMENTAR

FRANK VINKEN
die Spuren des dichterem Haarkleid?
Von Jörg Blech Neandertalers in Pääbo: Möglich, aber darüber können
unserem Erbgut wir nur spekulieren.
Stammzellforschern scheint ein SPIEGEL: Wie viel vom Neandertaler
Durchbruch gelungen – wieder ein- SPIEGEL: Gleich zwei Forscherteams ha- steckt noch in uns?
mal. In der aktuellen Ausgabe von ben enthüllt, dass wir noch viele Gene Pääbo: Bei Ihnen ist das vielleicht ein
„Nature“ beschreiben Haruko Obo- des längst ausgestorbenen Neanderta- Prozent, bei mir auch eines. Aber die-
kata und Kollegen einen verblüffend lers in uns tragen. An einer der beiden se Teilstücke sitzen an jeweils anderen
einfachen Trick: Sie haben gewöhn- Studien waren Sie beteiligt. Wie über- Orten im Genom. Insgesamt sind wohl
liche weiße Blutzellen (der Maus) in raschend sind die Befunde? 20 bis gut 30 Prozent vom Erbgut des
ein saures Bad getaucht – das wie Pääbo: Wir wissen ja erst seit 2010, Neandertalers bei uns noch in Umlauf,
ein Jungbrunnen wirkte. So verwan- dass der Neandertaler sich überhaupt vermutlich sogar mehr – nur eben ver-
delten sich Blutzellen in Stammzel- mit dem modernen Menschen gepaart streut über viele Menschen.
len. Diese können zu allen Gewebe- hat. Erstaunlich fanden wir nun, was SPIEGEL: Und welche seiner Beiträge
arten heranreifen und nähren die sich alles im Erbgut bis heute erhalten zum Genom haben sich nicht so gut
Hoffnung auf eine phantastische hat – und was nicht. erhalten?
neue Medizin: Ganz gleich, ob das SPIEGEL: Was haben wir denn geerbt Pääbo: Die wenigsten Spuren fanden
Knie schmerzt, das Herz schwächelt von unseren Ahnen? wir in den Bereichen der Gene, die in
oder das Gehirn abbaut – werden Pääbo: Die meisten Spuren fanden wir den Hoden aktiv sind. Das war für
marode Körperteile schon bald mit in den Bereichen des Genoms, die mit mich eine Überraschung. Was die
jeweils passenden Zellen repariert? Haut und Haaren zu tun haben. Diese männliche Fortpflanzungsfähigkeit an-
Doch aus dem Labor wird diese Anlagen haben sich wohl in der weite- geht, konnte sich das Erbgut des Nean-
Medizin so bald nicht kommen. Es ren Evolution als nützlich erwiesen. dertalers nicht so gut durchsetzen. Das
ist ein gewaltiger Unterschied, ob ist übrigens häufig so, wenn sich bio-
man ein spektakuläres Experiment logisch verwandte Arten – etwa Pferd
macht oder eine verträgliche Thera- und Esel – kreuzen: Die männlichen
pie entwickelt. Als es Biologen vor Nachkommen sind dann oft nicht be-
WOLFGANG RUNGE / PICTURE ALLIANCE / DPA

einigen Jahren gelang, Körperzellen sonders fruchtbar.


mit eingeschleusten Genen zu ver- SPIEGEL: Ausgerechnet die Fruchtbar-
jüngen, war die Aufregung ähnlich keitsgene passten nicht zusammen?
groß wie heute. Inzwischen ist die Klingt nach einer riskanten Affäre.
Euphorie verflogen. Die sogenann- Pääbo: So ist es. Ich hatte immer ver-
ten induzierten pluripotenten mutet, moderner Mensch und Nean-
Stammzellen sind womöglich gar dertaler seien einander nahe genug ge-
nicht so wandelbar wie erhofft. wesen, um sich uneingeschränkt zu
Dass neue Erkenntnisse der Stamm- mischen. Aber das war wohl nicht der
zellbiologie regelmäßig als Durch- Neandertaler-Rekonstruktion Fall.
bruch gefeiert werden, mag auch an
der Sehnsucht der Menschen nach
Allheilmitteln liegen. Allerdings
sollte sich niemand falschen Hoff- INTERNET Nutzung des ... Menschen
nungen hingeben – und darüber ver-

38,5 %
Internets durch ...
gessen, was er selbst für seine Ge-
sundheit tun kann.
Das ist die eigentliche Botschaft der
Künstliche Surfer
zum Vergleich 2012: 49%
neuen Experimente. Im sauren Bad Das Internet wird längst mehr
waren die Blutzellen offenbar derart von sogenannten Bots benutzt
gestresst, dass sie sich verjüngten, als von Menschen. Die kleinen
um zu überleben. Dazu schalteten Computerprogramme spähen
sie bestimmte Gene ein. Die Umwelt meist Internetseiten aus. Gute Quelle:
wirkt also auf die Gene – das ist im Bots katalogisieren etwa im Incapsula,
2013
Körper des Menschen nicht anders: Auftrag von Suchmaschinen
Regelmäßige körperliche Bewegung wie Google das unüberschau-
etwa schmiert das Kniegelenk, regt bare Angebot der Netzwelt.
das Entstehen von Blutgefäßen im Böse Bots dagegen legen In-
Herz an und lässt Neuronen im ternetseiten lahm, versuchen, ... gute Bots ... schlechte Bots
Gehirn sprießen. Wer das beherzigt,
braucht nicht auf den nächsten
Stammzelldurchbruch zu warten.
Schad-Software zu installieren
oder sammeln E-Mail-Adressen
ein (Scraper), um sie später mit
Spam einzudecken.
31,0 %
zum Vergleich 2012: 20 %
30,5 %
zum Vergleich 2012: 31 %

120 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Wissenschaft · Technik

Gletschermühle Ein
Forscher seilt sich ab in
die Tiefen des Gorner-
gletschers in den Walli-
ser Alpen. Durch solche
Schächte stürzt das
Schmelzwasser von der
Oberfläche der Glet-
scher hinab – kreiselnd
wie durch einen Bade-
wannenabfluss. Mitge-
führtes Geröll schleift

ROBBIE SHONE / AURORA PHOTOS / CORBIS


die Wände rund; daher
der Name Gletscher-
mühle. Die Wissenschaft
nutzt die Riesengullys,
um das von Höhlen
durchzogene Innere der
Gletscher zu erkunden.

PSYCHOLOGI E
Zeit dachten, bevor sie in Mamas den Elf- und Zwölfjährigen hängt ihm
Bauch entstanden. Konnten sie da noch die Hälfte an. Eine Vergleichs-

Leben vor der Geburt schon etwas hören? Schlug ihr Herz?
Konnten sie glücklich sein? Den meis-
ten Kindern war klar, dass sie zu dieser
studie bei Eingeborenen in den Regen-
wäldern des Amazonasbeckens ergab
ähnliche Resultate; sie gelten also wohl
Kinder glauben intuitiv, sie seien vor Zeit biologisch noch nicht existierten. unabhängig von der Kultur. Frühere
der Geburt schon da gewesen – als kör- Aber Gefühle, so glaubten sie, hatten Studien hatten bereits gezeigt, dass Kin-
perlose Wesen, mal glücklich, mal sie bereits – und erst recht Wünsche: dern ein Weiterleben der Seele nach
traurig, mal beseelt von der Vorfreude dass die Mutter schwanger wird, dass dem Tod plausibel vorkommt. Dass sie
auf das Erdenleben. Das haben die sie die Mutter kennenlernen. Die For- nun auch vor der Geburt schon exis-
Psychologinnen Natalie Emmons und scherinnen haben für ihre Studie Stadt- tiert haben wollen, spricht für eine an-
Deborah Kelemen von der Boston kinder in Ecuador befragt. Unter ihnen geborene Neigung. Am religiösen Um-
University herausgefunden. Mit ge- ist der Glaube an die körperlose Seele feld kann es nicht liegen – dort spielt
schickten Fragen entlockten sie ihren im Alter von sieben bis acht Jahren am die vorgeburtliche Seele keine Rolle,
kleinen Probanden, wie diese über die weitesten verbreitet. Aber selbst von Nachplappern scheidet also aus.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 121
Wissenschaft

GEOLOGIE

Armageddon auf Erden


In Sibirien haben Forscher das Rätsel gelöst, warum es vor 250 Millionen Jahren zum
größten Artensterben der Erdgeschichte kam: Vulkane verwandelten den
Planeten in eine saure Strahlenwüste – eine Parallele zu heutigen Öko-Katastrophen?

S
eth Burgess verstaute Zelt und Der Geologe des Massachusetts Insti- den Meeren ragten üppig besiedelte
Schlafsäcke im Rucksack. Dann lie- tute of Technology (MIT) hielt damit ein Riffs Hunderte Meter vom Ozeanboden
ßen er und ein Kollege den Rest des Beweisstück in Händen, das helfen könn- empor. Dicht an dicht filterten mu-
Expeditionsteams am Fluss zurück und te, eines der großen Rätsel der Erd- schelartige Armfüßer eine reichhalti-
stapften hinaus in die unermessliche Tai- geschichte aufzulösen: Vor gut 250 Mil- ge Kost von Schwebteilchen aus dem
ga. Den Weg wies ihnen eine alte geolo- lionen Jahren verschwanden plötzlich 90, Wasser. Darüber wogten die gefieder-
gische Karte, die noch aus Sowjetzeiten nach einigen Schätzungen sogar 95 Pro- ten Äste der Haarsterne und Seelilien.
stammte. zent aller Arten auf der Erde. Eine fürch- Und Kopffüßer mit prachtvollen Gehäu-
Irgendwann, auf einer kleinen Anhöhe, terliche Katastrophe muss den Planeten sen glitten durch diesen Unterwasser-
trat der felsige Untergrund zutage. Bur- heimgesucht haben. Und in Sibirien Dschungel.
gess’ Begleiter las einen Brocken vom Bo- glaubt Burgess jetzt den Auslöser des gro- An Land watschelten meterlange
den auf und fragte: „Ist es das, wonach ßen Sterbens dingfest gemacht zu haben – Panzerlurche durch ausgedehn-
wir suchen?“ Rund 20 Minuten lang gru- den Täter im spannendsten Kriminalfall te Farn- und Nadelwälder.
ben, hämmerten und klopften die beiden der Geologie. Echsen mit mächtigen Rü-
Wissenschaftler, dann hatten sie, was Bur- Der fossilen Hinterlassenschaft zufol- ckensegeln machten
gess brauchte: ein Stück silikatreiches, ge war die Welt kurz vor dem myste- Jagd auf kleineres
grobgekörntes Vulkangestein. riösen Desaster noch in Ordnung: In Getier. Und mög-

Verlorene Welt Lebewesen des späten Perm

Insekten wurden zum


ersten und einzigen Mal in
der Evolutionsgeschichte
stark dezimiert.

Peltobatrachus
gepanzertes Amphibium, Länge: 70 cm

Palaeoniscum Diplocaulus
Länge: 30 cm Amphibium,
Länge: 1 m

Bactriten*
und andere
gehäusebildende
Kopffüßer verschwanden Trilobiten*
ebenso wie viele Hovasaurus Von diesen weltweit verbreiteten Glieder-
Muscheln und Korallen. Länge: 50 cm füßern überlebte keine einzige Art.
licherweise setzten sie dabei auch den am MIT Plastikschälchen mit grauem Pul- Coelurosauravus
Schaben nach, die zu Abertausenden am ver: feingemahlenes Vulkangestein aus gleitfliegendes Reptil
Boden wimmelten. Sibirien. Länge: 40 cm
Krass unterscheidet sich diese überbor- „Der Großteil der Proben ist für mich
dende Vielfalt von der Ödnis der Trias, allerdings wertlos“, meint der Forscher.
die danach anbrach. Frühe Trias-Gesteine Denn Burgess suchte nach Spuren von
zeugen von trostloser Monotonie auf Er- Uran, das eine Altersbestimmung mög-
den: Da und dort findet sich eine Schne- lich macht. Nur in einigen wenigen Mit-
cke oder eine Muschel, ansonsten wirkte bringseln aus Sibirien gelang es ihm, win-
die Landschaft vielerorts wie ausgestor- zige, charakteristisch zugespitzte Zirkon- Auf diese Weise gelang es Burgess, die
ben. Nur die Pilze erlebten eine beispiel- nadeln aufzuspüren. von Vulkanausbrüchen stammenden Ba-
lose Blüte: Weltweit finden sich Spuren Dabei handelt es sich um Kristalle, in salte aus Sibirien mit einer Genauigkeit
ihrer Sporen im Sedimentgestein. Fast denen sich im Zuge ihrer Entstehung ra- zu datieren, die noch vor wenigen Jahren
scheint es, als wäre der ganze Planet ver- dioaktives Uran einlagert, welches sich im unvorstellbar gewesen wäre. „Der Stein,
schimmelt. Laufe der Jahrmillionen langsam in Blei den wir auf dem Marsch durch die Taiga
Was ist da passiert? Was war der Grund verwandelt. Der Zerfall dient den Geo- aufgelesen haben, fällt genau in das Zeit-
für dieses Armageddon auf Erden? forschern als eine Art Uhr, auf der sie das fenster des Massenaussterbens“, sagt er.
Mit Mikroskop und Pinzette versucht Alter von Gesteinen ablesen können. Auf einen Zeitraum von nur 60 000 Jah-
der Geochronologe Burgess diesen Fra- Unter dem Mikroskop sortiert Burgess ren – in die Zeit von vor 251 940 000 bis
gen auf den Grund zu gehen. Sorgsam mit der Pinzette die nur ein Zehntel Mil- vor 251 880 000 Jahren – konnte er das
etikettiert, stapeln sich in seinem Büro limeter langen Kristallnadeln aus dem Desaster inzwischen eingrenzen.
Pulver heraus. Im Sicherheitslabor löst er So verblüffend nahe liegen die Daten
sodann jede einzelne von ihnen mit star- von Vulkanismus und Artentod beieinan-
ken Säuren auf. Er muss dazu Schutz- der, dass die Forscher nicht länger an ei-
kleidung tragen, denn selbst die kleins- nen Zufall glauben mögen. Der Schuldige
te Verunreinigung durch Blei – etwa an der Katastrophe, so glauben sie, ist
durch abgeschilferte Hautzellen, feine überführt.
Härchen oder Staub – kann das Er- „Der große Mordprozess ist damit al-
gebnis verfälschen. lerdings gerade erst eröffnet“, sagt Linda

Moschops Scutosaurus
(„Kalbsgesicht“), („Schildechse“),
Länge: bis zu 5 m Länge: 2,50 m

Titanosuchus

I L LU ST RAT I O N : M AC M I L L A N LO N D O N L I M I T E D, LU D G E R B O L L E N / D E R S P I EG E L
Länge: 2,50 m

Lycaenops („Wolfsgesicht“)
Länge: 1 m

*marin (Salz- Elginia


wasser-Bewohner) Länge: 60 cm
Wissenschaft

Elkins-Tanton, die Leiterin der Sibirien- ‣ Etwa gleichzeitig mit dem Artensterben zu verstehen, brauchen wir ganz neue Er-
Expeditionen. Denn jetzt gehe es darum stiegen die Temperaturen um bis zu klärungsmodelle.“
herauszufinden, wie genau der Vulkanis- zehn Grad an. Die Forscher gehen da- Bowring denkt dabei an Ideen, wie
mus in Sibirien zum weltweiten Siechtum von aus, dass der Ausstoß gewaltiger sie gerade sein Kollege Daniel Rothman
führen konnte. Mengen des Treibhausgases Kohlen- ersonnen hat. Dessen Theorie zufolge
Viermal brachen die Geologin aus dioxid durch die Vulkane in Sibirien wurde die Erde seinerzeit von einer
Washington und ihre Kollegen ins un- den Klimaschock verursacht hat. Art planetaren Infektion befallen: Bak-
wirtliche Sibirien auf, um Proben des ‣ Am schlimmsten vom Artentod be- terien hätten in der von den Vulkanen
gewaltigen Basaltpanzers östlich des Ural- troffen waren anfangs die im Meer verwüsteten Welt die Herrschaft über-
gebirges zu nehmen. Insgesamt rund lebenden Schalentiere. Die Wissen- nommen.
30 Forscher aus acht Ländern waren be- schaftler deuten dies als Hinweis auf Unter Verdacht hat Rothman vor allem
teiligt. Nun legen sie ihre Ergebnisse vor – eine Versauerung der Ozeane: Das Methanosarcina: einen Organismus, des-
und in groben Zügen zeichnet sich ab, Kohlendioxid habe sich als Kohlensäu- sen Stoffwechsel von Nickel abhängig ist.
wie der Niedergang des Lebens am Ende re in den Meeren gelöst, was die Bil- Durch die hohe Konzentration dieses
des Perms abgelaufen sein könnte. dung von Kalkschalen massiv behin- Schwermetalls in den Sedimenten des
Das heutige Sibirien, so viel ist gewiss, derte. Perm-Trias-Übergangs könnte es Roth-
war damals ein einziger brodelnder Mag- ‣ Neben Kohlendioxid fanden sich in den man zufolge zu einer explosiven Vermeh-
makessel. Magnetitreiche Schlote zeugen Einschlüssen auch beträchtliche Men- rung dieser Mikroben gekommen sein,
noch heute davon, dass die Erde aus Hun- gen von Schwefelgasen. In Simulatio- die dann massenhaft Methan produzier-
derten Vulkanen Lava spie. Am Ende war nen testeten die Forscher, welche Fol-
ein Areal groß wie Australien bedeckt gen deren Ausgasen gehabt haben
mit einem bis zu sechs Kilometer dicken muss – und kamen zu dem Schluss, „Wenn wir irgendwann
Panzer.
Auf der Suche nach neuen Rohstoff-
dass nach den Eruptionen weltweit Re-
gen niederging, der so sauer war wie
merken sollten, dass es
vorkommen zogen einst Heerscharen Zitronensaft. wieder so weit ist,
sowjetischer Geologen ins Reich der er- ‣ In der Übergangsphase tauchen in den
loschenen Vulkane, um die Gesteine in Sedimentschichten plötzlich vermehrt wird es zu spät sein.“
den unwirtlichen Weiten Sibiriens zu verkrüppelte und missgebildete Pollen
kartieren. Bis zu einer Million Menschen auf. Offensichtlich, so argumentieren ten und dadurch den Super-Treibhaus-
halfen mit beim größten geologischen die Forscher, litten die Pflanzen unter effekt weiter anfeuerten.
Prospektionsprojekt der Menschheits- massivem Stress. Verantwortlich ma- Expeditionsleiterin Elkins-Tanton da-
geschichte. chen sie nicht nur die aggressive Säure- gegen hält wenig von solchen Spekula-
Heute dienen die alten dusche, sondern auch tionen. Im Gegenteil: Sie findet die Vor-
Karten Elkins-Tanton und vor Mio. Jahren das Bombardement durch stellung beängstigend, dass genau jene
ihren Mitstreitern als 0 Quartär Zeitabschnitte UV-Strahlung. Denn den Vorgänge zum Öko-Kollaps geführt zu
Wegweiser durch die Öd- Neogen Computersimulationen haben scheinen, die sich nun unter dem
nis. Mächtige russische Aussterberate: zufolge entwichen bei Einfluss des Menschen wiederholen:
Transporthubschrauber 50 Paläogen den Vulkanausbrüchen Treibhauseffekt, saurer Regen, Ozonloch
setzten die Forscher aus, 75 % toxische Fluor-, Chlor- und Versauerung der Meere – all das sei
aller
dann ging es weiter auf Arten und Bromgase bis in die aus den Umweltdebatten der vergange-
aufblasbaren Flößen. 100 Untergang Stratosphäre, wo sie die nen Jahre nur zu gut bekannt. „Das Ende
„In einem Ozean aus Kreide der Dinosaurier Ozonschicht zerstörten. des Perms ist der Gegenwart viel ähn-
Bäumen ist es schwer, Das Leben war damit licher, als es mir lieb wäre“, meint sie.
Steine zu finden“, sagt einem infernalischen Mix Zwar erreicht der Mensch mit seinem
Elkins-Tanton. „Die bes- von Widrigkeiten ausge- Wirken bei weitem nicht das Ausmaß der
ten Chancen haben Sie Jura setzt. Kreaturen, die dem damaligen Zerstörung. Selbst die pessimis-
dort, wo Flüsse sich ins Klimaschock noch zu trot- tischsten Klimamodelle sagen keinen Tem-
Grundgebirge gefräst ha-
200 80 % zen vermochten, wurden peratursprung um acht oder gar zehn Grad
ben.“ Trias von toxischem Regen und voraus. Und selbst in den schlimmsten Zei-
Auf der Suche nach todbringender Strahlung ten ungefilterter Braunkohleverfeuerung
Spuren explosiven Vulka- 95 % weiter geschwächt. Ir- ging nirgends zitronensaurer Regen nieder.
nismus sammelten die Perm gendwann brach das Öko- „Dennoch sollten wir das große Massen-
Forscher an den Abbruch- Quelle: „Nature“ System zusammen. aussterben jener Zeit als Warnung begrei-
kanten der Flussufer Stei- 300 Einige Forscher glau- fen“, meint Elkins-Tanton. „Wenn wir ir-
ne. Daheim im Labor ver- ben indes, dass selbst Er- gendwann merken sollten, dass es wieder
suchten sie dann, ihnen Karbon wärmung, zitronensaurer so weit ist, wird es zu spät sein.“
ihre Geheimnisse zu ent- Regen und Ozonschicht- Und noch eine Lehre zieht die Forsche-
reißen. Einige Geologen, 75 % zerstörung nicht aus- rin aus der Urzeit-Katastrophe: Das Le-
wie Burgess, isolierten reichen, um das ganze ben sei nicht totzukriegen. Stets werde
winzige Zirkonkristalle, 400 Devon Ausmaß des Artenster- es Überlebende geben, sagt sie: „Selbst
andere fahndeten nach bens zu erklären. Zu kei- wenn wir es wollten, würde es uns nie
Einschlüssen von Gasen, Silur nem anderen Zeitpunkt gelingen, die Erde zu sterilisieren.“
die einst in Magma gelöst 85 % der Erdgeschichte sei das Zu den Opfern des Massensterbens da-
waren. vielzellige Leben so dicht gegen hätten vor allem die hochspezia-
Die Analysen geben Ordovizium an der Auslöschung vor- lisierten Arten gezählt: „Und das bedeu-
eine Ahnung von der glo- Artensterben beigeschrammt, meint tet: Sollte sich so etwas je wiederholen,
balen Krankheit, die in 500 Die fünf etwa Samuel Bowring, dann zählt zu den gefährdeten Spezies
der Urzeit den Planeten Kambrium verheerendsten der Leiter des Datierungs- insbesondere eine – der Mensch.“
Erde befallen hat: Ereignisse labors am MIT. „Um das JOHANN GROLLE

124 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
migte das für die Zulassung und Über- Jedes Jahr ab Ende März versammeln
U M W E LT wachung von Offshore-Windparks zu- sich die Meeressäuger im „Sylter Außen-

Sündenfall
ständige Bundesamt für Seeschifffahrt riff“, um dort zu kalben und den Sommer
und Hydrographie (BSH) die Anlage. Na- über ihre Jungen aufzuziehen. Die Mee-
turschützer waren von Anfang an dage- resregion gilt als wichtigste Kinderstube

im Meer
gen. Doch der damalige grüne Bundes- der Tiere in der südlichen Nordsee. Min-
umweltminister Jürgen Trittin drückte dern die Bauarbeiten die Reproduktions-
die Genehmigung für das Prestigeprojekt rate der Wale? „Eine Prüfung dieses Sach-
durch. verhalts erfolgte nicht“, heißt es in dem
Naturschützer drohen damit, Nun zeigen sich die Mängel des Vor- neuen Gutachten.
gegen den Bau des Windparks habens. Einwände des Bundesamts für Oder die Seevögel: Das Vogelschutz-
„Butendiek“ in der Nordsee Naturschutz etwa seien nur dann berück- gebiet „Östliche Deutsche Bucht“ gilt als
sichtigt worden, wenn diese dem Bau des wichtigster Lebensraum für Stern- und
zu klagen. Kann das Milliarden- Windparks nicht entgegenstünden, kriti- Prachttaucher in der gesamten Nordsee.
projekt noch scheitern? sieren die Gutachter. Zudem seien beste- Diese Vögel sind äußerst störungsempfind-
lich. Näher als zwei Kilometer wa-

B
ei guter Sicht wäre der Wind- gen sie sich nicht an Windparks her-
park von Sylt aus am Hori- an. Wenn „Butendiek“ gebaut wür-
zont zu erkennen. 80 Wind- de, kämen den Vögeln mit einem
räder sollen 32 Kilometer vor der Schlag etwa drei Prozent ihres ge-
Küste errichtet werden, Strom- schützten Areals abhanden. Inter-
giganten mit 120 Meter messenden nationale Abkommen jedoch legen
Rotoren und einer Leistung von fest, dass in Vogelschutzgebieten
jeweils 3,6 Megawatt. allenfalls ein Lebensraumverlust
Die Investitionen für den Wind- von einem Prozent akzeptabel ist.
park „Butendiek“ liegen bei 1,3 Das BSH und die „Butendiek“-
Milliarden Euro. Im April sollen Betreibergesellschaft WPD weisen
die ersten Fundamente der Off- die Vorwürfe zurück. Um den Lärm
shore-Anlage mit Getöse in den zu minimieren, würden die Wind-
Meeresgrund des Seegebiets „Syl- parkbauer doppelwandige Stahl-
ter Außenriff“ gerammt werden. rohre mit eingeschlossenen Luft-
Doch wird es so weit kommen? bläschen verwenden; dieser „Bla-
Ein Gutachten des Instituts für senschleier“ reduziere den Lärm.
Naturschutz und Naturschutzrecht Zudem sollen unter Wasser Spe-
Tübingen stellt jetzt die Recht- ziallautsprecher aufgestellt werden,
mäßigkeit des Windparks in Frage. die regelmäßig akustische Signale
„Butendiek“ hätte aus naturschutz- aussenden, um Schweinswale und
rechtlichen Gründen „nicht geneh- Robben auf Abstand zu halten.
migt werden dürfen“, befinden die „Eine Gefährdung der Umwelt
Juristen. Auch die Zulassungen für kann ausgeschlossen werden“,
drei weitere Windparks – „Dan meint deshalb WPD-Geschäftsfüh-
Tysk“, „Amrumbank West“ und rer Achim Berge Olsen. Das Bau-
„Borkum Riffgrund 2“ – seien nicht vorhaben zu verschieben sei auch
rechtens. gar nicht mehr möglich, „da Schiffe
„,Butendiek‘ ist ein Sündenfall und Installationsgeräte verbindlich
TIMOTHY FADEK / POLARIS / LAIF

der Offshore-Windkraft“, kritisiert gebucht sind“.


Kim Detloff vom Naturschutzbund Den Nabu überzeugen diese Ar-
Deutschland (Nabu), der das gumente nicht. Der Verband
Rechtsgutachten in Auftrag gege- drängt darauf, „Butendiek“ neu zu
ben hat. Das Areal liegt direkt im bewerten. „Nach heutiger Rechts-
EU-Vogelschutzgebiet „Östliche lage dürfte der Windpark nicht ge-
Deutsche Bucht“ sowie im „Sylter Windkraftrotoren: Mit Getöse in den Meeresgrund baut werden“, sagt Detloff. Die Na-
Außenriff“, einem nach der euro- turschützer fordern, den Bau zu-
päischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie hende Wissenslücken stets zugunsten des mindest in der sensiblen Aufzuchtszeit
geschützten Gebiet. Windparkbaus ausgelegt worden – ein der Schweinswale zu unterbrechen und
Die Naturschützer befürchten „ekla- Verstoß gegen EU-Naturschutzrecht. den Schallschutz deutlich zu verbessern.
tante Risiken für die Meeresumwelt“. We- Noch nicht geklärt war bei der Geneh- Vielleicht kommt der Widerstand der
nige Wochen vor Baubeginn wollen sie migung beispielsweise, wie stark die Naturschützer sogar den Plänen von SPD-
das Projekt deshalb noch stoppen – oder Rammarbeiten in 20 Meter Wassertiefe Chef Sigmar Gabriel entgegen. Der neue
zumindest strengere Auflagen durchset- die Kommunikation der Schweinswale Bundeswirtschaftsminister will den Aus-
zen. „Auch wir sind für den naturverträg- stört. Das BSH schreibt vor, dass der bau der Offshore-Windkraft auf 6,5 Giga-
lichen Ausbau der Windkraft auf See“, Lärm in 750 Meter Entfernung von der watt bis 2020 begrenzen. Doch allein in
sagt Detloff. Besonders kritische Vorha- Baustelle höchstens 160 Dezibel betragen der Nordsee sind bereits 28 Windparks
ben müssten jedoch auf den Prüfstand. darf. Biologen haben inzwischen heraus- mit einer Gesamtleistung von rund neun
„Wenn es hart auf hart kommt, sind wir gefunden, dass die empfindlichen Sinnes- Gigawatt genehmigt.
bereit, gegen ,Butendiek‘ zu klagen“, kün- organe der Kleinwale bei diesem Schall- „,Butendiek‘ bringt die gesamte Off-
digt der Naturschützer an. druck bereits Schaden nehmen. Schon shore-Windkraft in Misskredit“, sagt Det-
„Butendiek“ ist eine Art Altlast der bei Lärm über 136 Dezibel ergreifen die loff: „Es wird Zeit, dass wir den Wild-
Windenergiebranche. Schon 2002 geneh- Tiere die Flucht. wuchs eindämmen.“ PHILIP BETHGE

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 125
INTERNATIONALE FLUG-AMBULANZ E.V.
Patient Lohmeyer im Ambulanzflieger 2009: Erst ein Konkurrenzunternehmen brachte den Todkranken nach Hause

Nun erheben Versicherte viel schwere-


A F FÄ R E N re Vorwürfe: Im Notfall, für den sie ja

Rückholung, später
ihre Policen abgeschlossen hatten, seien
sie vom ADAC alleingelassen worden.
Der Club habe sich bei der Rückholung
verletzter oder kranker Urlauber sehr
zögerlich gezeigt.
Die interne Aufklärung des ADAC über Versäumnisse stockt. „Hätte sich meine Familie auf den
Nun werfen Versicherte dem Club vor, er habe sie ADAC verlassen, dann wäre ich heute
nicht mehr auf der Welt“, sagt ein 65-jäh-
schlecht behandelt, als sie im Ausland schwer erkrankten. riger Unternehmer aus Hessen. Während
eines Urlaubs auf Gran Canaria 2009 fühl-

A
ls die Hamburger Familie Loh- sind nicht mehr gut auf den ADAC zu te er sich schlapp und elend. Im Kranken-
meyer in größter Not war, ver- sprechen. haus vermuteten die Ärzte ein Virus.
traute sie auf die Hilfe der Gelben Es gibt wenige Institutionen, die in so Der Mann wurde immer schwächer,
Engel – der Flieger des ADAC. Schließ- kurzer Zeit im öffentlichen Ansehen so war zeitweise nicht mehr ansprechbar.
lich war Gunther Lohmeyer seit rund abgestürzt sind wie der ADAC. Seit Wo- Seine Frau rief ihren Bruder in Deutsch-
40 Jahren Mitglied im Automobilclub. chen kommen immer neue Unsauberkei- land an, der den ADAC alarmierte, bei
Nun lag der 71-Jährige todkrank in einem ten ans Licht, die deutlich machen, dass dem der Kranke versichert war. Der
Krankenhaus auf der griechischen Insel der Automobilclub ein Herrenverein ist, Schwager schilderte dem Arzt in der
Euböa. Der ehemalige Heizungsmonteur in dem Selbstzufriedenheit und Selbstbe- Münchner Notrufzentrale die Symptome.
hatte Wasser in der Lunge, es ging ihm dienung zur Tagesordnung gehörten. Erst Der Arzt versprach, auf Gran Canaria
von Tag zu Tag schlechter. Seine Ehefrau war es nur eine geschönte Auto-Hitpara- anzurufen. Nach sechs Stunden habe er
Brigitte sowie sein Sohn und sein Enkel de. Dann waren es die Rettungshubschrau- zurückgerufen, so der Schwager: Der
versuchten, ihn mit dem ADAC-Flieger ber, die ADAC-Chefs zweckentfremdeten, Patient werde gut versorgt, eine schnelle
nach Hause zu holen. um angenehmer zu reisen. Auch Präsident Rückholung sei nicht nötig.
Das Auto, mit dem das Ehepaar Loh- Peter Meyer und Sportpräsident Hermann Aber die verzweifelte Familie wollte
meyer im Sommer 2009 nach Griechen- Tomczyk ließen sich so umherfliegen. nicht mehr warten. Sie schaltete auch
land gekommen war, holte der ADAC eine andere Flugrettung ein, bei der sie
schnell ab. Aber Gunther Lohmeyer lag noch versichert war. Drei Stunden später
auch am zehnten Tag noch im Kranken- waren Notarzt und Flieger auf dem Weg.
bett. „Der ADAC hat uns hingehalten“, Sie fanden den Patienten mit einer Blut-
sagt Brigitte Lohmeyer, „er verlangte vergiftung und beginnendem Organver-
immer weitere Arztbriefe, wir wussten sagen vor, er lag im Koma. Das Flugzeug
nicht, wie wir die besorgen sollten.“ brachte ihn in eine süddeutsche Klinik.
Schließlich rief der Enkel bei einem Einen Tag später, so sagt der behandelnde
JAN-PHILIPP STROBEL / DPA

Konkurrenzunternehmen des ADAC an. Arzt, wäre der Mann tot gewesen.
Innerhalb eines Tages brachte die Firma Natürlich können bei einem Unter-
Lohmeyer in die Universitätsklinik Ham- nehmen, das jedes Jahr 50 000 Patienten
burg-Eppendorf. Flug und Fahrt zum betreut, Fehler passieren, auch schwere.
Flughafen kosteten knapp 20 000 Euro. Doch Betroffene schildern, dass sie vom
Einige Wochen später war Gunther ADAC-Präsident Meyer ADAC wie Bittsteller behandelt worden
Lohmeyer tot – seine Hinterbliebenen Bis zu 30 Rettungsflüge zweckentfremdet seien, man habe Beschwerden bagatelli-
126 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Technik

nikzentrum gefahren, hätten um eine

Sanierung unerwünscht
Generalempfehlung für den Pulser ge-
beten – und seien immer an einer Per-
son gescheitert.
Der Batterieexperte des ADAC
Wie der ADAC eine Technik zur Batterieerhaltung boykottiert heißt Helmut Schmaler. Er betreut das
Pulser-Thema seit der ersten Stunde.

D
as störanfälligste Teil im Auto- Technischen Universität Wien bereits „Uns liegen keine neuen, belastbaren
mobil ist älter als der Ottomo- vor 13 Jahren eine Versuchsreihe durch und von einer neutralen Institution
tor: Erlahmte Starterbatterien mit rund 80 ausrangierten, teilweise durchgeführten Testergebnisse vor“,
sind laut ADAC-Statistik die Pannen- extrem sulfatierten Batterien. Nach erklärt er auf Anfrage. Doch was soll
ursache Nummer eins. In jedem drit- 15-tägiger Bepulsung stellte Versuchs- noch neutraler und belastbarer sein
ten Notfall leisten die „Gelben Engel“ leiter Martin Wieger fest, „dass bei als die Testergebnisse der TU Wien?
Starthilfe – oder ersetzen die Batterie. sämtlichen bepulsten Altbatterien … In einem Büro am Rand von Saar-
Mindestens einmal im Autoleben, die Ladefähigkeit zurückgewonnen brücken sitzt der Mann, der an Schma-
gewöhnlich etwa alle fünf Jahre, er- wird“. Mehr als drei Viertel „könnten ler gescheitert ist: Klaus Krüger, einst
mattet der Stromspeicher. Die Blei- uneingeschränkt wieder im Kfz ein- Top-Manager der Batteriebranche,
platten sind mit kristallinen Schwefel- gesetzt werden“. gründete 1985 die Novitec GmbH und
verbindungen bedeckt, die Batterie Der ADAC präsentierte später eine setzte später auf ein Produkt – den
nimmt keine oder kaum noch Ladung Stellungnahme und gab darin „keine Pulser. Er nennt ihn Megapulse.
auf. Der Pannenhelfer empfiehlt dann pauschale Empfehlung“ für die Gerä- Es wurde kein Mega-Geschäft. Sein
oft den Austausch, oder er tauscht den te. „Das Verfahren aus dem Labor eig- Unternehmen hat in mehr als zehn
Akku gleich selbst, falls er einen pas- net sich nicht für die Praxis“, lautete Jahren gerade mal 100 000 Pulser ver-
senden dabeihat. Über 150 000 neue die Begründung. Zudem seien „die kauft. Krüger ist im Dezember 78 Jah-
Batterien verkauft der Club jährlich – Kosten für so eine Regenerierungs- re alt geworden und sagt, dass seine
ein Millionengeschäft. Wie das NDR- technik nicht wirtschaftlich“. Firma gerade so überlebe. Doch seine
Magazin „Panorama“ Ende voriger Dieses Urteil, an dem der Club bis begeisterten Kunden berichten von
Woche enthüllte, zahlt der ADAC sei- heute festhält, nennt der ADAC-Meis- 15 Jahren ohne Batteriewechsel und
nen Pannenhelfern sogar eine Prämie ter, der nicht namentlich genannt wer- erfolgreichen Wiederbelebungen tot-
für jeden ausgewechselten Akku. den will, „grundfalsch und leicht zu geglaubter Akkus.
Einige Pannenhelfer geben ihren widerlegen“. Der Pulser, erklärt er, Wieso empfiehlt der ADAC eine sol-
Kunden jedoch heimlich einen anderen sei im Handumdrehen installiert, kos- che Technik nicht seinen Mitgliedern?
Rat: „Die allermeisten Batterien kön- te weniger als die meisten gängigen Schmaler lässt durchblicken, dass auch
nen saniert werden, und zwar ganz ein- Batterien, mache sich also schon nach persönliche Dissonanzen den Vorgang
fach“, erklärt ein ADAC-Meister. Er der Verdopplung der Lebensdauer begleitet hätten. Vor 15 Jahren, sagt
rät zu einem etwa 70 Euro teuren Ge- eines einzigen Akkus bezahlt, die er er, habe der ADAC die Geräte im La-
rät, etwas größer als eine Zigaretten- spielend herbeiführe. bor und in Fahrzeugen getestet, doch
schachtel, das beim Wiederaufladen Hinzu komme der Umweltaspekt. „noch vor dem Start hat Herr Krüger
und danach am besten dauerhaft an Ein enormer Entsorgungsaufwand dann unsere Kompetenz angezwei-
die Batterie angeschlossen wird. Das würde sich erübrigen. „Eine gepulste felt“. Die späteren Untersuchungen,
Wunderding nennt sich Pulser und sen- Batterie kann ohne weiteres ein Auto- so Schmaler, hätten „keine eindeuti-
det hochfrequente Mini-Stromstöße in leben lang halten.“ Die Akkus seiner gen Erkenntnisse“ gebracht.
den Akku, die die Bleisulfatkristalle Privatfahrzeuge, sagt der ADAC- Die Zweifel waren offenbar berech-
von den Platten rütteln (siehe Grafik). Experte, funktionierten dank Pulser tigt. Die ADAC-Techniker testeten die
Die Technik wurde ursprünglich für bereits zehn Jahre und länger. Wirkung des Pulsers an neuen Batte-
die Raumfahrt entwickelt und hat ihre Zwischen der ADAC-Zentrale und rien, die noch gar nicht sulfatiert waren.
Funktionstüchtigkeit längst in unab- ihren Pannenhelfern kam es in der Sa- Ebenso gut könnte ein Arzt ein neues
hängigen Labors bewiesen. So führte che schon zu handfesten Konflikten. Medikament an einem Gesunden aus-
das Institut für Industrielle Elektronik Kollegen, erklärt der ADAC-Meister, probieren und dann kritisieren, dass
und Materialwissenschaften an der seien persönlich ins Landsberger Tech- keine Heilung eintritt. CHRISTIAN WÜST

Rütteln im Stromtank Ein Verfahren gegen den Verschleiß von Starterbatterien


ENTLADEN AUFLADEN PULSEN

1 Autobatterien enthalten Elektroden 2 Bei der Aufladung 3 Bei längeren Stromentleerungen 4 Ein Pulser wird an die Batteriepole
aus Blei und Bleidioxid. Den Ionenfluss verwandeln sich die verbinden sich die Bleisulfat-Teilchen angeschlossen: Ständige hochfrequente
ermöglicht verdünnte Schwefelsäure. Bleisulfat-Moleküle zu- zu größeren Kristallen, die die Elektro- Stromstöße lösen die Kristallstruktur auf
Fließt Strom, bildet sich an den rück in Blei, Bleidioxid den blockieren. Die Batterie nimmt und befreien die Elektroden.
Elektroden Bleisulfat. und Schwefelsäure. kaum noch Strom auf. Die Batterie wird wieder ladefähig.

128 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
siert. Auch die Unternehmergattin Anna Die ADAC-Ambulanzflotte Es ist eines der Probleme des Automo-
T. hatte jahrzehntelang die Auslandskran- bilclubs, dass es offenbar nur wenige klare
kenversicherung des ADAC bezahlt. Im Neben den 51 Hubschraubern der Luftrettung Grenzen gab zwischen gemeinnützigem
Oktober 2013 stürzte die 75-Jährige auf unterhält der ADAC auch vier Flugzeuge für Verein und geschäftlichem Betrieb, zwi-
dem Marmorboden der Abflughalle im Rückholungsdienste. schen Privatvergnügen und Repräsenta-
chinesischen Xi’an und brach sich das Be- tion. Das zeigte sich etwa 2008, als Meyer
cken. Die wartende Maschine der Finnair mit seiner Ehefrau und dem Vorstandsvor-
nach Frankfurt über Helsinki lehnte ihren sitzenden der ADAC Autoversicherung
Transport ab, sie kam in ein chinesisches AG, Josef Halbig, zu den Olympischen
Krankenhaus. Spielen in Peking fuhr. Eine Verschwen-

Z)ekZk^
Der mitreisenden Schwiegertochter dung von Clubmitteln? Meyer habe die
war schnell klar, dass „das ein Fall für Reise privat bezahlt, sagt der ADAC. Die
den Rücktransport durch den ADAC Zwei Dornier-328-300-Jets Olympischen Spiele habe er „als Teil der
war“. Eine Operation vor Ort schied ĒĴťųǾǾVćŭĴğōŭğō ZğĴĔıſğĴŭğ&ǽǽłŋ &ǽłŋh * Zurich Delegation in der Funktion eines
aus: „Es gab weder Toilettenpapier noch ^ŭğııŘığĴōĚğš<ćĒĴōğğšŋŘĬŅĴĔıŭĒğťťğšğ Aufsichtsratsmitglieds der Versicherung“
Seife oder Desinfektionsmittel“, sagt die VćŭĴğōŭğōžğšťœšĬųōĬ#<ćĒĴōğōĚšųĔłćōŝćťťĒćš besucht. Halbigs Reise sei eine Dienstreise
Schwiegertochter. Mehrmals habe sie ćōĚğō'ųťŭćōĚĚğšVćŭĴğōŭğō gewesen, übernommen von der Zurich AG.
per Handy in der ADAC Notrufstelle in Mit jedem Detail, das aus dem ADAC-
München angerufen, ständig seien andere Reich nach außen dringt, werden neue
Bearbeiter zuständig gewesen, sie habe Mängel in der Struktur des Clubs of-
bis zu 20 Minuten in der Warteschleife fenbar, der ein Milliardenunternehmen

e-LD^*ZL^^LF
gehangen. Bitten um Rückrufe seien erst geworden ist, aber noch immer wie ein
nach Stunden erledigt worden. Kegelclub organisiert ist. Verkehrsminis-
Erst nachdem sich in Deutschland ein- ter Alexander Dobrindt fordert nun: „Der
flussreiche Bekannte beim ADAC für die ADAC muss einen anderen Kurs einschla-
Frau eingesetzt hätten, sei der Rücktrans- Ein Bombardier-Learjet 60 gen und sich von innen heraus erneuern.
port zustande gekommen. Der ADAC ŋćĴŋćŅǿVćŭĴğōŭğōųōĚǿōĬğıŘšĴĬğ  Das bedeutet: sich den eigentlichen Kern-
ZğĴĔıſğĴŭğ !ǽłŋ  "ǽłŋh *
habe ein Transportflugzeug nach Shang- ĴĚğćŅĨŸšDĴŭŭğŅťŭšğĔłğō#ťĔıōğŅŅųōĚīğĴĒğŅ aufgaben widmen und sich um die tat-
hai gestellt. Von dort ging es mit der Luft- sächlichen Interessen der Mitglieder küm-
hansa nach Hause. mern. Die Gelben Engel leisten großarti-
Der ADAC verspricht die Rückholung, ge Arbeit. Dieses Renommee darf nicht
„wenn es medizinisch sinnvoll und ver- vollends aufs Spiel gesetzt werden.“
tretbar sowie die Transportfähigkeit ge- Doch das Vertrauen in die derzeitige
geben ist“. Aber wann diese Bedingun- Führung schwindet, weil von einem ernst-
gen erfüllt sind, entscheiden ADAC-Ärz- haften Aufklärungswillen im Club wenig
te. Versicherte glauben, dass dabei nicht zu spüren ist und immer neue Trickse-
nur medizinische, sondern auch finanziel- Eine Beechcraft Super King Air 350 reien bekannt werden.
le Erwägungen eine Rolle spielen. ŋćǿVćŭĴğōŭğō ZğĴĔıſğĴŭğǿǽǽłŋ ǽłŋh * Nach der Pkw-Pannenstatistik bieten
Die Mainburgerin Michaela Wittmann ĴĚğćŅćųĨłųšğō^ŭćšŭĒćıōğōųōĚćųĨ(šćťŝĴťŭğō nun auch die Zahlen des ADAC Truck-
ist immer noch wütend auf den Club, der *ŋćĴŋćŅğZğĴťğĬğťĔıſĴōĚĴĬłğĴŭ Quelle: ADAC service Anlass zum Zweifel: Von 105 000
es im August 2008 abgelehnt haben soll, Lkw-Pannen fließen nur 13 000 in die Sta-
ihren Vater nach einem Unfall in der ka- Jahren hätten ADAC-Vorstände Rettungs- tistik ein. Es sind lediglich Pannen von
nadischen Wildnis nach Hause zu trans- flieger für dienstliche Zwecke genutzt, Fahrzeugen, bei denen kein eigener Ser-
portieren. Erich Wittmann war mit Freun- räumte Präsident Meyer ein. Bis heute vicevertrag mit einem Lkw-Hersteller be-
den zu einer Wandertour aufgebrochen, gibt der ADAC aber nicht bekannt, zu steht, häufig bei älteren Lastern. 92 000
als er stürzte und sich vier Rippen brach. welchen dienstlichen Einsätzen die Heli- Fälle dagegen bearbeitet der ADAC als
Knochenteile bohrten sich in die Lunge kopter eingesetzt wurden. Dienstleister für seine „Industriepartner“,
des damals 75-Jährigen. Laut eigener Darstellung ist die ADAC etwa Mercedes-Benz.
Die Lunge kollabierte, einer seiner mit- Luftrettung gGmbH eine gemeinnützige In den Verträgen mit den Herstellern,
reisenden Freunde war Arzt und musste Gesellschaft zur „Förderung der öffent- gibt der ADAC zu, habe man sich ver-
ihn vor Ort wiederbeleben. Ein Helikop- lichen Gesundheitspflege“ und „der Ret- pflichtet, diese Pannen nicht in Statistiken
ter brachte den Schwerverletzten in ein tung aus Lebensgefahr“. Die Luftrettung einfließen zu lassen. Deshalb hat sich der
kanadisches Provinzkrankenhaus. Von dürfe eine wirtschaftliche Tätigkeit unter- ADAC wohl entschlossen, die Zahlen erst
dort riefen die Freunde seine Tochter an. halten, sagt der ADAC, so laste die Ver- gar nicht nach Herstellern auszuwerten,
Diese informierte sofort den ADAC – ihr charterung von Reserve-Hubschraubern sondern nur nach wenig aussagekräftigen
Vater war jahrzehntelang Mitglied und die Fluggeräte aus, reduziere Kosten und Schadensarten. Der häufigste Pannen-
besaß die goldene Vereinskarte. stelle die gemeinnützige Aufgabe sicher. grund für Laster auf deutschen Straßen
Bei der Notrufzentrale des ADAC sei Nur: Diente es der Gemeinnützigkeit, ist demnach der Plattfuß.
ihr Notruf indes auf wenig Mitgefühl als ADAC-Sportchef Tomczyk den Tross „Die Aussagekraft dieser Statistik ist
gestoßen. „Man hat mir gesagt, es lohne der Deutschland-Rallye 2011 mit dem Heli mehr als fraglich“, sagt Stefan Bratzel,
sich nicht, wegen eines Verletzten die wei- begleitete, um stets an Start und Ziel prä- Professor für Automobilwirtschaft in Ber-
te Strecke zu fliegen. Da müssten schon sent sein? Eine Maschine aus der Reserve gisch Gladbach. Wenn der ADAC die Pan-
drei oder vier Patienten zusammenkom- sei „für die Organisation der Rallye ein- nen mitzählen würde, die er für die Her-
men“, sagt die Tochter, die deshalb eine gesetzt gewesen, um die Strecken- und steller übernimmt, würde die Statistik an-
andere Versicherung für den Ambulanz- Zuschauersicherheit zu kontrollieren und ders aussehen: „Dann würde es viel mehr
flug in Anspruch nahm. Gesamtkosten: den Verkehr zu steuern“, erklärt der um das Versagen der ganzen Elektrik ge-
mehr als 35 000 Euro. ADAC. Der Einsatz der Hubschrauber hen als um platte Pneus.“ SVEN BÖLL,
In eigener Sache waren die ADAC-Leu- sei ordnungsgemäß abgerechnet und be- JÜRGEN DAHLKAMP, NILS KLAWITTER,
UDO LUDWIG, BARBARA SCHMID
te weniger restriktiv. Rund 30-mal in zehn zahlt worden.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 129
Wissenschaft

ßen“, sagt Rabinovici lächelnd, „schließ-


lich ist es die teuerste Taxifahrt der Welt.“
PHYSIK Große Namen unterstützen Sesame,

Sesame öffnet sich


darunter Sir Christopher Llewellyn Smith,
Physiker und ehemaliger Generaldirektor
des internationalen Teilchenforschungs-
zentrums Cern bei Genf, das den For-
schern im Nahen Osten als Vorbild dient.
Forscher aus Israel und Iran versuchen das scheinbar Unmögliche: „Allerdings wurde das Cern erst nach
Gemeinsam bauen sie den ersten Teilchenbeschleuniger dem Krieg gegründet, das machte die Sa-
che einfacher“, sagt Rabinovici trocken.
im Nahen Osten. Das Herzstück der Anlage stammt aus Berlin. Neuerlicher Fahrzeugwechsel am jor-
danischen Checkpoint. Ein drittes Taxi

E
in lauer Winterabend in Jerusalem. bringt Rabinovici zum Tagungshotel am
Eliezer Rabinovici sitzt im Taxi Toten Meer. Drei Stunden hat er für die
nach Jordanien, um etwas Unmög- 50 Kilometer messende Weltreise ge-
liches zu schaffen. „Was wir vorhaben, braucht. Am anderen Ufer funkeln die
ist wie ein Märchen aus Tausendundeiner Lichter eines Kibbuz, zum Greifen nah,
Nacht“, sagt der Professor für Hochener- doch unerreichbar. Dort drüben wurden
giephysik an der Hebrew University. einst die ältesten Bibelschriften gefunden,
Kirchenglocken läuten, Muezzine ru- die berühmten Qumran-Rollen; Teile da-
fen, Juden mit Schläfenlocken hasten von sollen ebenfalls mit Hilfe von Sesame
zum Gebet. In weitem Bogen fährt das durchleuchtet werden.

HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL


Taxi um die Stadtmauer von Jerusalem In der Hotellobby begrüßen sich Paläs-
herum, diesem bezaubernden Zankapfel tinenser, Israelis, Iraner wie alte Freunde,
der Kulturen, dann geht es fast tausend fragen nach Familie und Forschungs-
Meter steil bergab zum Toten Meer. Und anträgen. Wissenschaftler aus der Türkei
der israelische Forscher beginnt zu erzäh- und Zypern schütteln sich die Hände,
len von „Sesame“, einem der kühnsten Chemikerin Elmi aus Iran dazu Pakistaner, Ägypter sowie Delegier-
Physikexperimente des Planeten. te vom Cern, von der Unesco und von
„Wir konstruieren eine Art Paralleluni- der Atombehörde IAEA in Wien. Ein fast
versum“, sagt der Theoretische Physiker, surreales Gipfeltreffen am tiefsten Punkt
während draußen die Spuren der Jahr- der Erdoberfläche, rund 400 Meter unter
tausende vorbeiwischen. „Auch wenn dem Meeresspiegel.
unsere Länder teilweise verfeindet sind, Die Physiker ohne Grenzen fiebern der
wollen wir Forscher gemeinsam den Inbetriebnahme des Synchrotrons im
ersten Teilchenbeschleuniger im Nahen kommenden Jahr entgegen, aber der End-
Osten aufbauen.“ spurt ist ein Hürdenlauf. Über 50 Dele-
Sesame ist ein sogenanntes Synchro- gierte und Beobachter palavern in dem
tron, eine Art gigantisches Röntgengerät, Tagungshotel über Gigaelektronenvolt
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL

weitaus leistungsfähiger als die Durch- und fehlende Millionen. Rund 50 Millio-
leuchtungsgeräte, wie sie in der Medizin nen Dollar wurden bereits in die Anlage
zum Einsatz kommen. Über 40 Synchro- investiert, rund 8 Millionen fehlen noch.
tron-Anlagen laufen weltweit; sie funk- Der Betrieb selbst soll dann weniger als
tionieren wie Super-Mikroskope, die 6 Millionen pro Jahr kosten. „Das sind
dazu dienen, Flugzeugflügel oder uralte Physiker Rabinovici aus Israel doch Peanuts für Länder wie Deutsch-
Pergamente zu durchleuchten. land“, sagt ein palästinensischer Gesand-
Rabinovici ist designierter Vizepräsi- „Sesame“-Wissenschaftler ter. Er findet, Europa engagiere sich nicht
dent des Sesame-Projekts (das er englisch Wiederauferstehung in der Wüste genug für das Sesame-Projekt.
ausspricht: Sesämii). Die unabhängige Zudem führt jeder politische Schluck-
Forschungsorganisation, die den Be- begingen eine gemeinsame Schweigemi- auf in der Region zu einer existentiellen
schleuniger aufbauen und betreuen soll, nute. Sie klingt mir heute noch in den Krise: In Ägypten hat die Regierung
steht unter der Schirmherrschaft der Ohren.“ Kurz darauf bebte in der Wüste schon wieder gewechselt, das Geld für
Unesco. Das Geld und die Forscher kom- auch noch die Erde, niemand wurde ver- Sesame ist eingefroren. Auch Iran kann
men vor allem von den offiziellen Mit- letzt. Rabinovici: „Es fing schwierig an – nicht zahlen, weil das Wirtschaftsembar-
gliedern, neben Israel sind das unter an- und so blieb es.“ go bislang Banküberweisungen behindert.
derem Jordanien, die Türkei, Zypern, Pa- Die Luft wird drückend, Straßensper- Vereint hoffen die Physiker auf eine bal-
kistan, Ägypten – und Iran. ren und Wachtürme kündigen den Grenz- dige Lockerung im Zuge des Genfer
Es klingt unglaublich, und doch ist es übergang über den Jordan an. Um der Atom-Kompromisses.
wahr: Physiker aus Israel und Iran bauen stundenlangen Wartezeit zu entgehen, Ursprünglich sollte Sesame schon vor
zusammen eine Teilchenkanone. Auch kauft Rabinovici für den Grenzübertritt über zehn Jahren fertig werden. Geldnot
der Anfang des Experiments klingt fast ein VIP-Visum inklusive einer kurzen führte immer wieder zu Verzögerungen,
märchenhaft: Es war einmal im Jahr 1995, Autofahrt über die Grenze zum Preis von und die wiederum kosteten noch mehr
Forscher aus Israel und Palästina trafen umgerechnet gut 120 Euro. Geld. All das ist nicht ungwöhnlich bei
sich in einem Beduinenzelt in Ägypten In letzter Zeit musste der Physiker häu- einem so großen Forschungsvorhaben.
und begannen die Planungen am Nahost- fig die mühsame Anfahrt auf sich neh- Ein wenig erinnert Sesame an das West-
Synchrotron. Wenige Wochen zuvor war men. Jerusalem kommt als Tagungsort Östliche-Diwan-Orchester des Dirigenten
der israelische Premier Jizchak Rabin er- nicht in Frage: Iran verbietet den Besuch Daniel Barenboim, in dem palästinensi-
mordet worden, erzählt Rabinovici: „Wir in Israel. „Ich versuche das hier zu genie- sche und israelische Musiker das Zusam-
130 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
menspiel einüben. „Barenboim hat es ein- die Außenverkleidung des Beschleuniger- Sesame ist für sie ein Tor zur Welt. Sie
fach im Vergleich“, sagt Rabinovici. „Er rings. Fast mit Lichtgeschwindigkeit sol- ist Chemiedozentin in Babolsar, einer
verbindet vor allem zwei Kulturen, wir len die Elektronen darin, von starken kleinen Hafenstadt am Kaspischen Meer,
dagegen ein Dutzend.“ Magneten geleitet, im Kreis umherrasen. rund 200 Kilometer nordöstlich von
Nicht jeder findet gut, wofür sich Se- „Das Herzstück des Beschleunigers läuft Teheran gelegen. Bei der Aufnahme-
same-Öffner Rabinovici engagiert. Selbst bereits“, sagt Erhard Huttel, ein sorgenvoll prüfung an einer iranischen Elite-Univer-
seine Familie ist gespalten. Kritiker wer- wirkender Ingenieur aus Karlsruhe, der sität wurde sie 2002 Jahrgangsbeste, zwei
fen ihm naive Symbolpolitik vor. die Hälfte des Jahres in Amman verbringt. Jahre später bekam sie ein Sesame-Sti-
2010 wurden zwei Sesame-Physiker in Huttel werkelt am Mikrotron in einem klei- pendium, um sich in Taiwan auf die
Teheran durch Bombenanschläge getötet. neren Betonring innerhalb des großen. Arbeit am Synchrotron vorzubereiten.
Es gab Gerüchte, dass die beiden am mut- „Vorsicht, Lebensgefahr!“ steht auf gelben Danach kamen Forschungsaufenthalte in
maßlichen iranischen Atombombenpro- Warnschildern auf Deutsch an der zentra- Norwegen und Frankreich. Sesame hat
gramm beteiligt gewesen seien. Wieder len Elektronenpumpe: Sie ist eine Spende ihr Leben verändert. Es gibt nicht viele
gab es Schweigeminuten bei Sesame. aus Berlin. Als in den neunziger Jahren Iraner, die das Land derart oft verlassen
Immer wenn es politisch brenzlig wird, das dortige Synchrotron Bessy aufgerüstet können.
ziehen sich die Physiker in ihren Mikro- wurde, sollte die alte Anlage eigentlich Elmi war die erste Forscherin, die die
kosmos zurück: Quanten sind unangreif- auf den Schrott. Nun wird sie in der Wüste Auswertungscomputer und Labors von
bar für Scharfmacher und Hassprediger. wiederauferstehen. Sesame getestet hat: Sie analysierte Zell-
Wer Elektronen beschleunigen will, tut Derzeit wird der Speicherring mit sei- proben, die von Brustkrebspatienten
das am besten im Vakuum – auch poli- nen Magneten aufgebaut, in dem die stammten und in einem französischen
tisch gesehen. Elektronen dann auf ihre Endgeschwin- Synchrotron durchleuchtet worden wa-
Zusammengebaut wird der Beschleu- digkeit gebracht werden sollen; die Kabel ren. Mit mädchenhaft-leiser Stimme sagt
niger in einer Industriehalle an einem be- sind bereits verlegt. Als es im Dezember sie die Liste ihrer Labors und Kollegen
waldeten Berghang rund 35 Kilometer in Jordanien überraschend schneite, auf, mit denen sie schon an über einem
nordwestlich der jordanischen Hauptstadt knickte das Dach unter dem Gewicht der Dutzend Fachveröffentlichungen gearbei-
Amman. Der Eingangsbereich hat den Schneelast ein, die Reparatur verzögert tet hat. Ihre trockene Sachlichkeit ka-
Charme eines griechischen Tempels im das Projekt wieder einmal. Im Sommer schiert die eigentliche Sensation: Dass sie
Las-Vegas-Stil. Langsam öffnet Sesame soll der Schaden repariert sein. gemeinsam mit israelischen Kollegen
seine Automatiktüren. Wie auch die anderen beteiligten For- forscht, wäre noch vor wenigen Jahren
Aufgeregt wuselt eine Gruppe Wissen- scher wird Fatemeh Elmi langsam unge- unvorstellbar gewesen.
schaftler auf der Baustelle herum. Ein ira- duldig. Die Iranerin ist eine der Galions- Ist ihre Arbeit nicht ein Affront gegen
nischer Professor macht mit seinem iPad figuren von Sesame. Züchtig zupft sie im- die Mullahs? Lächelnd steht sie im lee-
Fotos. Dischdaschas, Saris und Kopftücher mer wieder ihr buntes Kopftuch über die ren Zentrum des Teilchenbeschleunigers,
flattern im Wind der Klimaanlage. Stirn, lächelt verlegen und klammert sich schwärmt von Magnetresonanzspektro-
Er wolle Nanopartikel untersuchen, an ihre Handtasche. In ihrer Freizeit hört skopie und spricht das Sesame-Mantra:
sagt ein Ägypter. Sie wolle hier Haut- sie gern Musik und macht Aerobic. So „Ich habe mit Politik nichts zu tun,
krebs untersuchen, sagt eine Jordanierin. schüchtern sie auch wirken mag, es wäre ich will einfach nur gute Forschung ma-
Ihm gehe es darum, biblische Dokumente falsch, sie zu unterschätzen. chen.“ HILMAR SCHMUNDT
wie die Qumran-Rollen zu durchleuchten,
erzählt ein Forscher aus Jerusalem. Als
sie die Halle betreten, empfängt sie zu- Gebäudegrundriss
nächst eine große Leere. Ein kreisförmi-
ger Tunnelgang aus Betonplatten bildet 3
Halle

Gigantisches Röntgengerät 1
Aufbau des Teilchenbeschleunigers „Sesame“*

Eingangs-
Die Mitglieder bereich

TÜRKEI 2
ZYPERN
ISRAEL JORDANIEN IRAN PAKISTAN

SESAME
4
* Synchrotron-light ÄGYPTEN BAHRAIN
for Experimental
Science and
Applications in PALÄSTINENSISCHE
the Middle East AUTONOMIEBEHÖRDE
5

1 Quelle 2 Beschleunigung 3 Speicherring 4 Strahlrohr 5 Experiment


Das Mikrotron feuert Im kleinen Ring, dem Booster, Im großen Ring (Umfang: 133 Meter) Synchrotron-Licht Die Strahlen
Elektronen in den Booster- werden die Elektronen weiter kreisen die Elektronen stundenlang verlässt den Ring und treffen auf
Beschleuniger mit 22 Mega- beschleunigt und verlassen fast mit Lichtgeschwindigkeit und gelangt in die Experi- Forschungs-
elektronenvolt (MeV). ihn mit 800 MeV. einer Energie von 2500 MeV. mentierkammern. objekte.

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 131
Szene Sport

MOTORSPORT

„400 Volt“
Der Schweizer Otmar
SAUBER MOTORSPORT AG

Bärtsch, 30, Betriebsleiter


des Sauber-Teams an der
Rennstrecke, über die
Handarbeit an den neuen
Formel-1-Autos

SPIEGEL: Die Ingenieure beklagen, dass


die Antriebstechnik für die kommende
Saison sehr komplex geworden sei.

HANNES MAGERSTAEDT / PICTURE ALLIANCE / DPA


Stöhnen die Mechaniker auch?
Bärtsch: Auch für sie ist vieles neu, vor
allem bei der Elektronik. Sie lernen
gerade, mit der sehr aufwendigen Hy-
bridtechnik umzugehen.
SPIEGEL: In den Rennautos stecken
jetzt: Verbrennungsmotor, Turbolader,
Energierückgewinnungssysteme …
Bärtsch: Und das alles separat. Motor, Profis des FC Bayern bei einem PR-Auftritt für Adidas
Batterien, Generatoren, Steuergeräte
werden einzeln eingebaut und verka-
belt. Und die neue Technik benötigt VERTRÄGE
mehr Platz, dadurch geht es im Heck

Adidas gegen Scientology


extrem eng zu. Das macht das Arbei-
ten schwieriger. Diesmal wird es län-
ger dauern, bis die Handgriffe sitzen.
SPIEGEL: Wie lange brauchen die Me-
chaniker derzeit, um den Antrieb mit Fußballstars, die für Adidas werben, aus sonstigem Anlass in Sportkleidung
allen Komponenten auszutauschen? dürfen nicht Mitglied von Scientology oder sportbetonter Freizeitkleidung in
Bärtsch: Es würde etwa vier Stunden sein und das Gedankengut ihres Grün- der Öffentlichkeit zeigt“, Adidas-Klei-
dauern, bis das Auto wieder losfahren ders L. Ron Hubbard verbreiten. Dies dung tragen – bei Autogrammstunden,
könnte. Wir wollen es im Laufe der geht aus einem „Ausrüstungsvertrag“ Interviews oder TV-Aufnahmen. Dafür
Saison in eineinhalb Stunden schaffen. hervor, den der Sportartikelkonzern kassierte der Bayern-Star allein in der
2008 mit einem heutigen Nationalspie- Saison 2011/2012 exakt 400 000 Euro.
ler des FC Bayern München geschlos- Das Unternehmen teilte auf Nachfrage
sen hat und der dem SPIEGEL vorliegt. mit: „Vielfältigkeit und Toleranz zäh-
Demnach musste der Profi versichern, len zu den Grundwerten der Adidas-
„keiner Organisation oder Vereinigung Gruppe. Scientology, aber auch andere
anzugehören, die die Grundsätze von verfassungsfeindliche Organisationen
PETER FOX / GETTY IMAGES

L. Ron Hubbard vertritt oder entspre- und Vereinigungen, sind damit nicht
chende Techniken anwendet oder ver- zu vereinbaren. Dieser Passus steht so
breitet“. Im selben Absatz machte Adi- oder so ähnlich grundsätzlich und
das es auch zur Bedingung, dass der unterschiedslos als Standardklausel in
Spieler „keiner Organisation oder Ver- unseren Verträgen. Es geht nicht um
Formel-1-Mechaniker, Rennwagen einigung angehört, die vom Verfas- einzelne Sportler.“
sungsschutz überwacht wird“. Andern-
SPIEGEL: Bei den ersten Testfahrten in falls behielt Adidas sich das Recht vor,
der vorigen Woche fiel auf, dass alle den bis 30. Juni 2012 ausgehandelten
Mechaniker die Autos bei Boxen- Kontrakt umgehend aufzuheben. Der ZAHL DER WOCHE
stopps zunächst nur mit Gummihand- Vertrag war für Adidas auch fristlos
schuhen anfassen. Warum? kündbar, sollte der Spieler des Dopings
Bärtsch: Eine Vorsichtsmaßnahme, da-
mit niemand bei einem Kurzschluss
oder Batteriefehler einen Stromschlag
überführt oder „vor einem staatlichen
Gericht wegen Drogenbesitzes, Dro-
genkonsums oder Drogenhandels ver-
803 084
Exemplare
bekommt. Schließlich haben wir es mit urteilt“ werden. Der Nationalspieler
einer Spannung von 400 Volt zu tun. wiederum verpflichtete sich, dem Un- des im vorigen Oktober erschiene-
SPIEGEL: Kann man mit diesen dicken ternehmen aus Herzogenaurach, das nen Buchs „My Autobiography“
Handschuhen überhaupt arbeiten? auch einer der Anteilseigner des von Sir Alex Ferguson, dem früheren
Bärtsch: Es ist gewöhnungsbedürftig. FC Bayern München ist, maximal Trainer von Manchester United,
Aber wenn wir sicher sind, dass vom sechs Tage pro Jahr für PR-Termine wurden bis Ende 2013 allein in Eng-
Strom keine Gefahr mehr ausgeht, zur Verfügung zu stehen. Zudem muss- land verkauft.
ziehen wir die Dinger wieder aus. te der Profi „immer dann, wenn er sich
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 133
E I S KU N ST LAU F

König und Mätresse


Jewgenij Pljuschtschenko ist Russlands Star bei den Olympischen Spielen.
Obwohl er seinen Körper ruiniert hat, wagt er einen
letzten großen Auftritt. Ehrgeiziger als er ist nur seine Ehefrau.

J
ewgenij Pljuschtschenko stützt sich getunten Sportwagen, das Jackett seines wo schon Kleinkinder das Schlittschuh-
mit einer Hand auf die Motorhaube Smokings flattert. „Ein echter Profi“, sagt laufen lernen, stieg er zur Ikone auf.
der Limousine. Er presst die Lippen die Fotografin. Pljuschtschenko soll das Gesicht Olym-
aufeinander, verengt die Augen und Hinter ihr sammeln sich Besucher der pias werden, sein Land braucht ihn. In
schaut in die Kamera. „Ja, der Raubtier- Verkaufshalle, sie haben Pljuschtschenko den Diskussionen um Terrorgefahr, Ho-
blick, wunderbar“, ruft die Fotografin. entdeckt. „Wir lieben dich, Schenja“, ruft mosexuellenrechte und Bausünden ver-
Sie drückt den Auslöser, die Kamera ein Mann in einem Armani-Anzug. körpert der Eisstar die Sehnsucht der Rus-
klickt im Stakkato. Schenja, das ist Pljuschtschenkos Kose- sen nach Glamour, Show und den beson-
Es ist ein Nachmittag Ende Dezember, name. So nennt ihn das ganze Land. deren Momenten, die ein Großereignis
Pljuschtschenko, 31, hat einen Werbe- Jewgenij Pljuschtschenko ist einer der wie Olympia überdauern.
termin in Moskau. Er posiert bei einem berühmtesten Eiskunstläufer der Welt, er Alle erwarten ein Happy End von ihm,
Fotoshooting in einem Verkaufssalon von gewann drei Weltmeisterschaften, sieben einen letzten Sieg, eine letzte Goldme-
Mercedes-Benz, seinem Sponsor. Plju- Europameisterschaften und 2006 die daille. Wobei nicht ganz klar ist, wie das
schtschenko dreht eine Pirouette vor dem Goldmedaille bei Olympia. In Russland, eigentlich gehen soll. Pljuschtschenkos
134 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Sport

Doch Olympia in Russland ohne den selbst gehört zur Moskauer High Society,
populärsten Wintersportler des Landes? ihre Autobiografie wurde in Russland
Das trauten sich die Verbandsfunktionäre zum Bestseller. Der Titel des Buches:
nicht. Sie ließen Pljuschtschenko zu ei- „Geständnisse einer Mätresse“.
nem Leistungstest antreten, hinter ver- 2007 lernten sich Rudkowskaja und
schlossenen Türen musste er Vierfach- Pljuschtschenko kennen, ein Jahr zuvor
sprünge vorführen. Er bestand die Prü- war der Eiskunstläufer Olympiasieger ge-
fung und wurde für Sotschi nominiert. worden. Er wollte seine Karriere ausklin-
„Viele dachten, ich sei am Ende. Sie gen lassen. „Ich erklärte Schenja: Ich hei-
dachten, es gebe einen neuen König. rate dich nur, wenn du wieder mit dem
Aber den gibt es nicht. Ich bin noch da“, Sport anfängst“, sagt Rudkowskaja, „es
sagt Pljuschtschenko, „was zählt, ist die waren die Worte einer Frau, die ihn liebt,
Liebe des Volkes. Und die habe ich. Viele die aber auch das Geschäft versteht.“
haben doch nur meinetwegen Olympia- Kurze Zeit später heirateten sie, die
Tickets gekauft.“ Rechte an der Berichterstattung über die
Wettkämpfe sind für Pljuschtschenko Hochzeit verkaufte Rudkowskaja an ein
zu einem Martyrium geworden. Zwölf Klatschblatt.
Operationen musste er schon über sich Nach Pljuschtschenkos Rückenope-
ergehen lassen. Die vielen Landungen ration vor einem Jahr waren die Ärzte
auf dem harten Eis haben seine Knie- skeptisch, ob er jemals wieder Sport trei-
gelenke zerstört, seine Leisten und den ben könnte. Sie rieten ihm, frühestens im
Rücken. Das letzte Mal wurde er im Ja- September mit dem Training zu begin-
nuar 2013 operiert, die Ärzte nen. Pljuschtschenko pro-
ersetzten eine abgenutzte bierte es schon im Juni wie-
Bandscheibe. Jetzt wird sein der, in einem Trainingslager
Rücken von einem Kunst- in Italien. Doch er schaffte
stoffteil und vier Schrauben nicht mal Zweifachsprünge.
zusammengehalten. Er hatte Angst, dass die Kon-
„Sport ohne Schmerzen, das geht struktion in seinem Rücken auseinander-
nicht“, sagt Pljuschtschenko, „ich muss brechen könnte.
meinen Weg zu Ende gehen, auch wenn „Warum soll ich als Behinderter en-
es weh tut.“ Er macht eine kurze Pause, den?“, schrie Pljuschtschenko und warf
überlegt. „Meine Frau und mein Trainer seine Trinkflasche auf das Eis.
haben das Ziel Olympia gesetzt. Und ir- Rudkowskaja schluckt, als sie diese Ge-
gendwo auch ich.“ schichte in ihrem Büro erzählt. Sie habe
Um Pljuschtschenko ist eine kleine Fir- ihren Mann dann doch überredet, die Sa-
ma entstanden, mit einem Choreografen, che mit Olympia zu versuchen. Im Juli
mit Arzt, Koch, Fahrer und Buchhalter, stand Pljuschtschenko wieder einen drei-
zehn Mitarbeitern insgesamt. Die Chefin fachen Axel. Rudkowskaja veröffentlichte
heißt Jana Rudkowskaja, sie ist seine Frau. das Video des Trainingssprungs auf seiner
Das Büro von Rudkowskaja liegt im Facebook-Seite.
Zentrum von Moskau. Auf dem Boden „Er zeigt übermenschliche Bemühun-
stehen Kartons, die vollgestopft sind mit gen“, sagt die Managerin, „die Leute wol-
Nippes für Pljuschtschenko-Fans: Schlüs- len Heldengeschichten.“ Sie braucht den
selanhängern, Armbändern und T-Shirts, Olympiasieg ihres Mannes womöglich
die mit Glitzersteinen bestickt sind. Rud- mehr als er selbst. „Schenja wird in Sot-
kowskaja sitzt hinter einem Schreibtisch, schi etwas Einzigartiges zeigen, für mich
YURI KOZYREV / NOOR / DER SPIEGEL

sie trägt ein schwarzes Kleid und hoch- ist es ein Sieg, dass er dabei ist“, sagt sie,
hackige Schuhe. Sie schaltet ihre drei „die Leute lieben mich dafür, dass ich ihn
Smartphones aus. 160 Anfragen bekom- zurückgeholt habe auf das Eis.“
me sie jeden Tag wegen ihres Mannes, Rudkowskaja hat in den vergangenen
Nationalheld Pljuschtschenko sagt sie, „die ganze Welt ist scharf auf Jahren eine gut geschmierte Vermark-
Pljuschtschenko“. tungsmaschine angeworfen. Pljuschtsch-
Rudkowskaja, 39, hat Medizin studiert, enko hat acht Sponsoren, er wirbt für
Fachgebiet Hautkrankheiten. Ende der deutsche Autos, Schweizer Uhren und ei-
Körper ist eine Großbaustelle, niemand neunziger Jahre eröffnete sie eine Bou- nen russischen Staatskonzern. „Das ist
weiß, ob er noch in der Lage ist, Olympi- tique in Sotschi, nach fünf Jahren besaß auch Arbeit“, sagt er, „ich sehe das als
sche Spiele zu überstehen. sie dort auch drei Schönheitssalons. Rei- Imagepflege, das ist Teil meines Jobs.“
Der Werbetermin in Moskau ist vorbei, che Russen reisten im Privatjet zu Rud- Früher, in der Sowjetunion, wurden
Pljuschtschenko hat sich einen Wollpull- kowskaja, sie spritzte ihnen Botox gegen Spitzenathleten angetrieben vom Glau-
over angezogen und lässt sich in ein Le- die Falten und machte damit Millionen. ben an ihr Land, vom Patriotismus.
dersofa fallen. Bei den russischen Meis- Später stieg sie ins Musikgeschäft ein, Pljuschtschenko gehört zur neuen Gene-
terschaften im Dezember wurde er nur sie wurde die Managerin von Dima Bilan, ration russischer Sportler. Sie haben Lust
Zweiter, zum ersten Mal seit 15 Jahren. einem der bekanntesten Popsänger des am Geldverdienen, an der Kommerziali-
Er verlor gegen Maxim Kowtun, einen Landes. Daneben gründete sie eine Firma sierung.
18-jährigen Jungen mit Pickeln. Der Ver- namens Stars. Die Beratungsagentur hat Die Tennisspielern Marija Scharapowa
band konnte nur einen Läufer für Olym- 80 Angestellte. Rudkowskaja sagt, sie ist die bestbezahlte Sportlerin der Welt,
pia nominieren, Pljuschtschenkos Traum würden jungen Sängern und Schauspie- Eishockeyprofi Alexander Owetschkin
schien geplatzt. lern „den Weg nach oben zeigen“. Sie unterschrieb in den USA den höchstdo-
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 135
Sport

tierten Vertrag in der Geschichte seines habe die letzten Schrittfolgen sogar mit mütze auf dem Kopf. An einem Nach-
Sports. Pljuschtschenkos Einkommen einem Lächeln im Gesicht geschafft.“ mittag im Dezember kommt er aus dem
wird auf 2,5 Millionen US-Dollar jährlich Und die Schmerzen? Es gehe schon, sagte Jubileiny-Sportkomplex in St. Petersburg,
geschätzt. Er zählt zu den zehn meistver- er. Er habe heute vier Spritzen in den setzt sich in sein Auto und fährt los.
dienenden Sportlern Russlands. Rücken bekommen. Das Training lief nicht besonders gut.
Der Eiskunstläufer wuchs in Wolgograd Pljuschtschenko braucht inzwischen Nach einem Sprung verlor Pljuschtschen-
auf. Schon als Elfjähriger beherrschte er ein paar Wochen, um sich nach Wett- ko bei der Landung das Gleichgewicht,
Dreifachsprünge und zog nach St. Peters- kämpfen zu regenerieren. Es wird für ihn er fiel hart auf sein Gesäß, schimpfte
burg, ohne seine Eltern. Dort schloss er immer schwieriger, mit der Weltspitze und rotzte frustriert auf das Eis. Mischin
sich Alexej Mischin an, der ihn bis heute mitzuhalten. Patrick Chan, ein 23-jäh- massierte ihm die Schultern. Die beiden
trainiert. Pljuschtschenko hob seinen riger Kanadier, ist der überragende trainieren seit 20 Jahren zusammen, sie
Sport auf ein neues Niveau. Keiner vor Läufer der vergangenen Jahre. Kürzlich brauchen keine Worte mehr.
ihm schaffte es, Vierfach- Auf der Autofahrt nach
sprünge so sicher zu stehen. Hause bessert sich Mischins
Er sucht das Risiko, das Spek- Laune, dann klingelt sein
takel. Als der US-Amerikaner Handy. Eine russische Repor-
Evan Lysacek 2010 bei den terin. Sie fragt, welche Sprün-
Olympischen Spielen ohne ge Pljuschtschenko zurzeit
Vierfachsprung Gold gewann, trainiere. „Das verrate ich
verspottete Pljuschtschenko nicht“, sagt Mischin. Die Re-
ihn als Eistänzer. Er selbst war porterin hakt nach. Mischin
nur Zweiter geworden. platzt der Kragen: „Hör auf,
Die Experten bewundern Milch aus meinen Titten zu
seine Sprungkraft, die Fans lie- saugen“, schreit er, „ich habe

YURI KOZYREV / NOOR / DER SPIEGEL


ben seine kitschigen Auftritte, keine Titten, ich kann dir
seinen Beckenschwung, seine nichts geben.“ Das Telefonat
Macho-Attitüde. ist beendet.
Ein paar Wochen vor den Zu Hause macht es sich Mi-
Olympischen Spielen testete schin auf seinem Sofa mit ei-
Pljuschtschenko seine Form, nem Glas Cognac gemütlich.
in einem Eisstadion mit Well- Er hat schon drei Eiskunstläu-
blechdach und Holzbänken in Pljuschtschenko-Gattin Rudkowskaja: „Den Weg nach oben zeigen“ fer zu Olympiasiegern ge-
Riga. Fans aus ganz Europa macht. Es gehe immer auch
waren angereist, sie hatten darum, sagt Mischin, „das
Banner gemalt. Auf einem Ganze nicht so wichtig zu
stand: „Wir glauben an einen nehmen“. Und überhaupt, er
Traum.“ wolle jetzt keine „verdamm-
Auf der Tribüne saß auch ten Fragen“ mehr hören.
Ari Sakarjan. Er war früher Sein Mobiltelefon klingelt
selbst Eiskunstläufer, heute ist wieder, diesmal ist Plju-
er Pljuschtschenkos Berater. schtschenkos Frau dran. Sie
„Vor dem Lauf ist Jewgenij möchte wissen, ob sich Schenja
wie ein Löwe, der darauf war- im Training gut angestellt habe.
tet, jagen zu dürfen“, sagte „Ja, ja, alles in Ordnung“,
Sakarjan, „andere Läufer füh- brummt Mischin. Es klingt, als
len sich vor 20 000 Menschen wünschte er sich, dass Olympia
verloren und unsicher. Jewge- endlich vorbeigeht.
nij hat dann erst richtig Spaß, Nach der letzten Kür in Sot-
FELIX JUNG

er ist ein Showman.“ schi will Pljuschtschenko erst


Pljuschtschenko schwebte mal umziehen. Er will raus
aufs Eis, in der Arena wurde Werbestar Pljuschtschenko: „Was zählt, ist die Liebe des Volkes“ aufs Land. An einem Fluss in
es still. Er trug ein schwarzes Karelien, 200 Kilometer von
Hemd mit Pailletten, er glitzerte wie ein stellte er einen neuen Punkte-Weltrekord St. Petersburg entfernt, baut er gerade
Weihnachtsbaum. Aus dem V-Ausschnitt auf: 295,27. ein Haus. Er will jagen und fischen. „Das
seines hautengen Oberteils quoll Brust- In Sotschi will Pljuschtschenko zwei Stadtleben hängt mir zum Hals raus“,
haar. Seine Kür nennt er Best of Plju- Vierfachsprünge zeigen, sie müssen ihm sagt er. Doch er wird die Einöde wohl
schtschenko, sie besteht aus seinen Lieb- perfekt gelingen, damit er Chancen auf nicht lange genießen können. Seine Frau
lingssprüngen. Es ist das Programm, das eine Medaille hat. Es ist Jahre her, seit er und sein Berater basteln an einem Pro-
er auch in Sotschi zeigen will. Er tippelte zwei dieser anspruchsvollen Elemente zu- gramm. Pljuschtschenko soll Produzent
wie ein Stepptänzer auf dem Eis, ein vier- letzt in einem Programm zeigte. Er ris- und Hauptfigur einer neuen Eislauf-Show
facher Toeloop, dann ein dreifacher Axel. kiert, sich in Sotschi zu blamieren. werden, bald soll er auf Tour gehen.
Alles gelang. 263,25 Punkte, er gewann „Olympia gewinnst du nicht nur mit Jana Rudkowskaja hat den Namen
mit großem Abstand. den Beinen“, sagt Alexej Mischin, Plju- Pljuschtschenko bereits als Marke schüt-
Nach der Kür formte Pljuschtschenko schtschenkos Trainer, „sondern vor allem zen lassen. LUKAS EBERLE, MATTHIAS SCHEPP
mit den Händen ein Herz und zeigte auf mit dem Ruf, den du in deinem Sportler-
das Publikum. Rosen und Plüschbärchen leben erworben hast.“ Das Team Plju- Video: Jewgenij
flogen ihm entgegen. Vor der Umkleide- schtschenko muss sich Mut machen. Pljuschtschenko auf dem Eis
kabine warteten Dutzende Reporter. „Ein Mischin, 72, ist ein kleiner, runder spiegel.de/app62014pljuschtschenko
guter Tag“, sagte Pljuschtschenko, „ich Mann mit rotem Gesicht und Schieber- oder in der App DER SPIEGEL

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Sport

DEUTSCHE MANNSCHAFT

Die Abrechnung
Das Innenministerium hat den Wintersport seit 2010 mit fast
30 Millionen Euro gefördert. In Sotschi müssen
die Athleten nun ihren Teil des Deals erfüllen: Medaillen gewinnen.

D
er Rodler Felix Loch aus Schönau Deutschlands Kaderathleten verdienen Manchmal sieht er seine Freundin und
am Königssee hat bereits erlebt, mit ihrem Sport im Schnitt 538 Euro netto seinen sechs Jahre alten Sohn nur an
wovon jeder deutsche Athlet pro Monat; Start- und Preisgeld machen einem Wochenende im Monat. „Wenn ich
träumt, der nach Sotschi zu den Olympi- nur zehn Prozent ihrer Einnahmen aus. am Telefon höre, dass mein Sohn sein
schen Spielen fährt: Loch hat eine Gold- Damit die deutschen Wintersportler kon- erstes Tor im Fußballverein geschossen
medaille gewonnen. kurrenzfähig sind, förderte das Innen- hat, und ich war nicht dabei, dann über-
Vor vier Jahren, bei den Winterspielen ministerium ihre Verbände in den ver- lege ich schon, ob das alles Sinn macht.“
in Vancouver, holte er Gold im Einsitzer, gangenen vier Jahren mit 28,5 Millionen Aber die Chance, Olympiasieger zu wer-
dieser Erfolg machte ihn zum jüngsten Euro. So gesehen kostet eine Olympia- den, gebe es halt nur alle vier Jahre.
Olympiasieger in der Geschichte des medaille rund 950 000 Euro. Jetzt ist es Frenzel ist Sportsoldat bei der Bundes-
Rodelsports. Zwei Tage lang stand Loch an den Athleten, ihren Teil der Verein- wehr, dort verdient er 1700 Euro pro Mo-
im Licht der Scheinwerfer, die Zeitungen barung zu erfüllen. Sie müssen liefern. nat, hinzu kommen 800 Euro von der
feierten ihn als „Turbo-Felix“. Für einen Das gilt nicht nur für Loch, das gilt ge- Deutschen Sporthilfe. Das reicht nicht.
Moment war Rodeln ein Sport für alle nauso für den Kombinierer Eric Frenzel Frenzel benötigt ständig neue Ausrüs-
Deutschen. Dann war der Rausch vorbei und die Skicrosserin Heidi Zacher, auch tung, in einer Saison kommt er auf
und Loch wieder so unwichtig wie vorher. für das Eistanzpaar Tanja Kolbe und Ste- 15 Paar Langlaufski, und er braucht fast
Er sitzt bei einer Apfelschorle im fano Caruso. Vier Jahre lang hat es kaum genauso viele Skisprunganzüge. Ohne
Dorint-Hotel in Winterberg. Nach seinem jemanden interessiert, ob sie gewinnen seine beiden Sponsoren könnte er seinen
Olympiasieg, sagt Loch, ha- oder verlieren. Sie alle üben Sport nicht ausüben.
be sich niemand bei ihm ge- einen Randsport aus, sie trai- Er hätte gern mehr Werbepartner, aber
meldet, der ihn unterstützen nieren wie Profis, obwohl es die Kombination ist kein fernsehtaug-
wollte. Kein Kühlschrank- sich nicht lohnt für sie. Zu- licher Sport, weil sich der Wettkampf
Produzent, kein Fitnessge- mindest nicht finanziell. Sie über den ganzen Tag zieht. Und nur wer
tränke-Hersteller, nicht mal machen das, weil es Olympi- häufig im Fernsehen zu sehen ist, kann
der Metzger aus dem Nachbardorf. „Es sche Spiele gibt. Sie halten das System sich gut verkaufen.
gab nichts in der Richtung.“ am Laufen. „Der Markt ist brutal geworden“, sagt
Loch ist nicht verbittert, er versteht das Eric Frenzel ist ein schmächtiger Mann, Stephan Peplies, Chef einer Unterneh-
ja. Er ist Rodler, und Rodeln klingt nach mit seinen Geheimratsecken sieht er älter mensberatung in Amöneburg bei Mar-
Weißwurst und kräftigen Oberschenkeln. aus als 25. Das Training am Bundesstütz- burg. Er vermarktet Wintersportler, bis
Loch sagt, Rodeln laufe zu selten im Fern- punkt in Oberwiesenthal ist gerade zu 2010 zählte die Biathletin Magdalena
sehen, und es gebe auch kaum Werbeflä- Ende, Frenzel steckt in einer Hose mit Neuner zu seinen Kunden. Peplies sagt,
chen. Leben kann er vom Rodeln nicht. der Aufschrift „Wir dienen Deutschland“. in den neunziger Jahren hätten Firmen
Wenn er ein Weltcup-Rennen gewinnt, Er sagt, er müsse ab und zu erklären, dass noch Verträge mit Sportlern abgeschlos-
bekommt er 1300 Euro Preisgeld. Brutto. die Nordische Kombination eine Sportart sen, weil sie die Athleten „einfach sym-
Loch ist Polizeimeister bei der Bundes- ist, die aus Skispringen und Langlauf pathisch“ fanden. Mittlerweile zähle für
polizei, seit drei Jahren für den Sport frei- besteht. Manche Leute würden an eine sie nur noch der Bekanntheitsgrad.
gestellt. „Ich bin Staatsamateur“, sagt er. Hunderasse denken. Die Skifahrerin Maria Höfl-Riesch ken-
Seine Rodelkarriere hat er den Steuer- Frenzel ist in der Form seines Lebens, nen 77 Prozent der Deutschen, sie ver-
zahlern zu verdanken, die sein Gehalt fi- in Sotschi ist er der Favorit auf Gold. Als dient mit Werbung über eine Million Euro
nanzieren. Anders funktioniert es nicht. er voriges Jahr nach seinem Sieg bei der jährlich. Sportler mit einem Popularitäts-
Bei den Olympischen Spielen in Sotschi, Weltmeisterschaft in seine sächsische Hei- wert von unter 60 Prozent engagiert nie-
die am Freitag eröffnet werden, starten matstadt Geyer zurückkehrte, empfing ihn mand für einen Fernsehspot.
153 deutsche Sportler, und wenn es nach der Bürgermeister auf dem Marktplatz. „Eine Goldmedaille bei Olympia reicht
den Funktionären des Deutschen Olym- Frenzel ist ein Provinzheld. Und der nicht, um den Bekanntheitswert über die-
pischen Sportbunds (DOSB) geht, kehren Prototyp des deutschen Wintersportlers. se Grenze zu heben“, sagt Peplies. Wer
sie mit 30 Medaillen aus Russland zurück. Als Sechsjähriger begann er mit dem keinen Sport wie Biathlon betreibe, der
Ein Sieg von Felix Loch ist fest eingeplant, Skispringen, mit 13 Jahren wechselte er ständig live gezeigt werde, müsse zehn
er ist achtfacher Weltmeister, er hat in die- auf das Sportinternat nach Oberwiesen- Jahre lang zu den besten 15 der Welt ge-
sem Winter zum dritten Mal in Serie den thal. Noch heute wohnt er unter der Wo- hören, um interessant genug für Firmen
Gesamt-Weltcup gewonnen. che in dem Leistungszentrum am Fich- zu sein. Biathleten gelten in der Werbe-
Felix Loch ist aber auch zum Siegen telberg, das früher eine Schmiede des branche als „High Potentials“: Um vorne
verdammt. Denn nur wenn die Zahl der DDR-Wintersports war. auf den Mützen der besten Biathleten
Medaillen stimmt, bekommt der deutsche Seit April bereitet sich Frenzel auf die werben zu können, zahlen Sponsoren
Sport weiter Geld vom Staat. Olympiasaison vor, täglich fünf Stunden. über 100 000 Euro pro Saison.
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Skicrosserin Zacher Rodler Loch

IMAGO / GEPA PICTURES (L.); RAUCHENSTEINER / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.)


GETTY IMAGES (L.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (R.)

Kombinierer Frenzel Eistänzer Caruso, Kolbe

Heidi Zacher aus Lenggries wäre froh, Doch die Zeit, in der Skicross im Fern- bildung durfte sie auf vier Jahre strecken,
wenn ihr jemand 5000 Euro geben würde, sehen zu sehen ist, geht gegen null. Heidi und ihr Arbeitgeber stellt sie für Lehrgän-
„aber da kann ich lange warten“. Dabei wer? ge und Wettkämpfe frei.
bringt sie alles mit. Heidi Zacher ist Heidi Zacher kommt in die Lobby eines Seit April arbeitet sie Teilzeit, 25 Stun-
25 Jahre alt, sympathisch, fröhlich, die Hotels in Fulpmes, Österreich; am Nach- den die Woche. Sie hat reduziert, um
beste Deutsche in ihrem Sport. Beim Ski- mittag hat sie auf dem Stubaier Gletscher sich besser auf Sotschi vorbereiten zu
cross brettern vier Fahrer gleichzeitig trainiert. Zacher führt ein Doppelleben, können. Das ging aber nur, weil die
über eine Piste aus Rampen, Steilkurven sie ist Leistungssportlerin und betreut als Sporthilfe entschieden hatte, sie zu un-
und Wellen. Skicrosser sind die Rallye- Bankfachwirtin bei der Raiffeisenbank terstützen. Weil sie Chancen auf eine
fahrer des Wintersports. Tölzer Land die Firmenkunden. Die Aus- Medaille hat, nahm man sie in das För-
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derprogramm „ElitePlus“ auf. Das ist die den tanzen seit vier Jahren zusammen, überweist, dem schicken sie eine Post-
höchste Förderstufe, 1500 Euro brutto im sie haben sich über eine Website gefun- karte aus Sotschi. Wer 250 Euro zahlt,
Monat. „Ich bin auf das Geld angewie- den, die Eiskunstläufern einen Partner dem zeigen sie Berlin.
sen“, sagt Heidi Zacher. vermittelt. Schon nach dem ersten Tref- 2200 Euro sind bislang zusammenge-
Damit sie über die Runden kommt, hat fen auf dem Eis war den beiden klar, dass kommen. So viel kostet allein das mit
sie sich ein „lokales Netz“ geknüpft. Das sie es weit bringen könnten. Kolbe lernte Swarovski-Steinen besetzte Kleid von
Rad, auf dem sie im Sommer Kondition Italienisch, Caruso nahm Deutschstun- Tanja Kolbe, das sie bei Olympia trägt.
bolzt, hat sie im Sportladen zum Ein- den, die beiden richteten ihr Leben auf- Sie schicken alle Rechnungen zur Deut-
kaufspreis bekommen. „Ein bisschen was einander aus. schen Eislauf-Union, in der Hoffnung, et-
geht immer.“ Weil das Paar für den deutschen Ver- was erstattet zu bekommen. Doch dem
In Deutschland gibt es 150 Skicrosser, band starten wollte, beantragte Caruso Verband geht es nicht besser als den Ath-
20 davon fahren für den Skiverband. Die die deutsche Staatsbürgerschaft. Beim leten. Er kann nur rund 20 Prozent der
Grundförderung eines Nationalteams Einbürgerungstest beantwortete er 30 von Kosten übernehmen.
kostet eine halbe Million Euro, seit zwei 33 Fragen richtig. Er kannte die Besat- Manchmal sei sie frustriert, sagt Kolbe.
Jahren gibt es einen Sponsor, der die Flä- zungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg Vor zwei Jahren hatte sie schon hin-
che auf den Helmen gebucht hat, die Prä- und wusste, wo man als Barkeeper eine geschmissen, sie wollte lieber studieren,
mien werden nach dem Leistungsprinzip Lizenz beantragen muss. Seit September aber die Trainer konnten sie überzeugen
ausgeschüttet. Besser als nichts. hat er den Pass. Jetzt fährt er mit seiner weiterzumachen. Heute sagt sie: „Wenn
Vor den Olympischen Spielen in Van- Partnerin nach Sotschi. wir gut laufen, können wir die Herzen
couver musste Zacher noch jeden Flug, Sieben Stunden verbringen sie täglich der Zuschauer berühren. Manchmal sa-
jedes Mittagessen, jedes Ticket für den auf dem Eis, dazu kommt das Konditions- gen die Leute: Ich hatte eine Gänsehaut.
Skilift aus eigener Tasche zah- Das Kompliment entschädigt
len. 10 000 Euro gab sie pro für vieles.“
Saison aus. Es gibt Möglichkeiten, sich
„Es wäre finanziell klüger, die Dinge schöner zu reden, als
von montags bis freitags zur sie sind. Felix Loch sagt, er
Arbeit zu gehen“, sagt sie, brauche kein Leben als Sport-
„aber die Olympischen Spiele star. „Mir wäre es unange-
sind ein Kindheitstraum von nehm, wenn mich ständig je-
mir.“ mand ansprechen und um ein
Vor jedem Olympiazyklus Autogramm bitten würde.“
verhandelt der DOSB mit sei- Nach dem Training steht er fast
nen Verbänden darüber, wer jeden Abend bis elf Uhr in der
ein großes Stück vom Kuchen Werkstatt und bastelt an sei-
abbekommt und für wen nur nem Schlitten herum.
die Krümel übrig bleiben. Die Training in Winterberg: 18
Summe, mit der die einzelnen Rodler fahren an diesem Vor-
Verbände unterstützt werden, mittag durch den Kanal. Kühl-
ERICH SCHLEGEL / DDP IMAGES
ergibt sich aus einem Grund- aggregate sorgen für 65000 Qua-
betrag und einer Projektför- dratmeter Kunsteis in der Rin-
derung. Die Höhe hängt we- ne, 25 Kameras laufen, Video-
niger von der Zahl der Mit- wände zeigen jeden Durch-
glieder ab, die ein Verband gang, Flutlicht brennt. Für 18
hat. Entscheidend sind Plat- Rodler. Die Bobbahn macht
zierungen bei Olympischen Skirennfahrerin Höfl-Riesch: Bekanntheitsgrad von 77 Prozent jährlich bei den Betriebskosten
Spielen. 800 000 Euro Defizit.
Die deutschen Eisschnellläufer gelten training, zweimal in der Woche gehen sie Vier Eiskanäle gibt es in Deutschland,
als zuverlässige Medaillensammler. Ob- zum Balletttraining bei einer Primaballe- außer in Winterberg noch in Oberhof, in
wohl der Verband nur 1600 Mitglieder rina. Eistänzer machen keine Sprünge, Altenberg und in Königssee. Zu den Bah-
zählt, bekommt er jährlich 1,8 Millionen keine Würfe. Die Herausforderung liegt nen gehört jeweils ein Bundesstützpunkt,
Euro vom Innenministerium. Im Eis- in den Schrittfolgen, die Tänzer erzählen an jedem Ort sind drei bis sieben Trainer
hockey-Bund sind 27 000 Menschen orga- in ihrer Kür eine Geschichte, es geht um und Sportwissenschaftler beschäftigt. Von
nisiert, er kriegt aber weniger als eine hal- Eleganz, um Verführung. den 53 Mitgliedsländern im Internationa-
be Million Euro. Die Olympiabilanz der Was sich im Wintersport gut verkaufen len Rennrodelverband ist keine andere
Eishockeyspieler ist miserabel, die letzte lässt, sind rasante Abfahrten, spannende Nation so üppig ausgestattet. Das ist der
Medaille hat eine deutsche Mannschaft Duelle. Romantik nicht. Im Eistanz gibt Grund für die Dominanz der Deutschen
1976 in Innsbruck geholt. Für Sotschi hat es keine Sponsoren, keine Manager, keine in diesem Sport.
sich das Männerteam nicht qualifiziert. Vermarkter. Tanja Kolbe und Stefano Ca- Felix Loch startet am kommenden
Ein Morgen im Dezember, kurz nach ruso haben trotzdem einen Weg gefun- Samstag in Sotschi, am Tag nach der Er-
neun Uhr, in einer Halle in Berlin-Wed- den, an ein bisschen Geld zu gelangen: öffnungsfeier. Er könnte der erste Deut-
ding ertönen Geigen, und Tanja Kolbe Sie sammeln Spenden im Internet. sche sein, der eine Medaille gewinnt.
und Stefano Caruso gleiten über das Eis. Seit November kann man sie auf einer Wenn alles passt, wenn Felix Loch auf
Sie werfen Kusshände Richtung Tribüne, Crowdfunding-Plattform unterstützen. den Punkt funktioniert, wird sich wieder
obwohl dort niemand sitzt. Nur ihre Trai- Athleten und Vereine stellen dort Pro- für kurze Zeit alles um ihn drehen, erst
nerin steht hinter der Bande. Sie ruft: jekte vor, die sie aus eigener Tasche nicht Fernsehen, dann Deutsches Haus, dann
„Schieb sie, und jetzt zieh! Kinder, ihr bezahlen können. Die Eistänzer haben wieder Fernsehen. Und immer wieder
seid nicht synchron!“ einen Image-Film gedreht und ihren Auf- stellen sich die Funktionäre mit ihm ins
Tanja Kolbe, 23, kommt aus Berlin, ruf ins Englische, Italienische und Japa- Bild. Soll erfüllt. LUKAS EBERLE,
Stefano Caruso, 26, aus Mailand. Die bei- nische übersetzen lassen. Wer 30 Euro MAIK GROSSEKATHÖFER

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142 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Register
GESTORBEN Priester vertraten sei-
ner Ansicht nach
Pete Seeger, 94. Es dürfte keinen Mu- „Irrlehren“. Er wetter- MONTAG, 3. 2., 23.00 – 23.30 UHR | SAT.1

VOTAVA / PICTURE-ALLIANCE / DPA


siker geben, der so sehr Verkörperung te gegen die Pille, SPIEGEL TV REPORTAGE
seines Genres war wie er. Pete Seeger den Islam, Abtreibung
war Folk. Nicht nur, weil er mit „Where und Scheidung. Of- Immer wieder sonntags –
Have All the Flowers Gone“ einen der fen warb Krenn um Der Hauptbahnhof-Supermarkt
bekanntesten Folksongs des 20. Jahrhun- Sympathien für den Der Supermarkt im Hamburger
derts schrieb. Er verband die beiden Be- Rechtspopulisten Jörg Hauptbahnhof ist sonntags ein belieb-
wegungen, die zur Entstehung der Folk- Haider, gegenüber ter Einkaufsort. Mehr als 8000 Kun-
music führten: den Wunsch nach einer Missbrauchsverdächti- den holen dann auf nur 475 Quadrat-
einfachen, im Alltag der normalen Men- gen wie dem Wiener Kardinal Groër war
schen verankerten Musiksprache. Und die er nachsichtig. Aufgebrachte Katholiken
Verwurzelung dieser Musik in den Vor- warfen sich 1987 vor den Eingang des
stellungen der politischen Linken. Seeger Stephansdoms, als er dort von Groër zum
wuchs in New York auf, sein Vater war Bischof geweiht wurde. Über 10 000 De-
Musikwissenschaftler. Nach einem abge- monstranten forderten 1993 seine Ab-
brochenen Soziologiestudium in Harvard berufung, doch Papst Johannes Paul II.
arbeitete Seeger eine Weile für den legen- hielt am konservativen Bruder fest. 2004
dären Folksong-Sammler Alan Lomax, erlebte Krenn als Chef des Priestersemi-
nars St. Pölten, wie Polizisten Tausende
Sodomie- und Kinderpornobilder auf den
Computern des Seminars sicherstellten.
Der Geistliche, der 1936 in ein „national Edeka-Markt im Hamburger Hauptbahnhof
ANDREW SULLIVAN / THE NEW YORK TIMES

gesinntes“ (Krenn) Elternhaus hinein-


geboren worden war, spielte den Fund meter Verkaufsfläche nach, was sie in
als „Bubendummheiten“ herunter, muss- der Woche verpasst haben. SPIEGEL-
te dann aber zurücktreten, sein Priester- TV-Autorin Christina Pohl dokumen-
seminar wurde geschlossen. Kurt Krenn tiert das Einkaufschaos.
starb am 25. Januar bei St. Pölten.

Franziska Steiof, 51. Ihr Thema war die SONNTAG, 9. 2., 23.05 – 23.50 UHR | RTL
verzweifelte Suche nach der Freiheit, über SPIEGEL TV MAGAZIN
das eigene Leben bestimmen zu können –
bevor er selbst anfing zu singen. Er war wie ein roter Faden zieht es sich durch Raubkunst der Nazis – Gurlitt, Clooney
Mitbegründer der einflussreichen Grup- die Stücke der in Offenbach geborenen und die Monuments Men; Krankes
pen The Almanac Singers (1940 bis 1943) Regisseurin und Theaterautorin. Über das Griechenland – Der Kollaps des
und The Weavers (1948 bis 1952 sowie Studium der Erziehungswissenschaft, das Gesundheitssystems; Der Buddha und
1955 bis 1964), er rief die erste US-Volks- sie zusätzlich zu Jura wählte, kam sie die Moorleichen – Das Geheimnis der
musikorganisation People’s Songs ins zur Theaterpädagogik – und entdeckte Mumien.
Leben und wirkte an dem Folk-Magazin dabei ihre Leidenschaft für die Bühne.
„Sing Out!“ mit. Populär wurde die Mu- Nach Jahren freier Regiearbeit, vor allem
sik Anfang der Sechziger, ein Vorbeben in Hannover und FREITAG, 7. 2. 2014, 16.00 UHR,
der Studentenproteste. Als Bob Dylan in Düsseldorf, fand BIS MONTAG, 10. 2. 2014, 10.00 UHR
beim legendären Newport Festival 1965 Steiof im Jahr 2000 KINO@SPIEGEL.TV
mit elektrischer Gitarre auftrat, versuchte am Berliner Grips-
Seeger allerdings, ihm den Strom abzu- Theater eine künst- Eine Perle des deutschen Kinofilms
drehen. Auch wenn sein musikalischer lerische Heimat. Dort im Netz ansehen? Legal, egal wann
Einfluss nachließ, blieb Seeger eine Insti- konnte sie, die selbst und auch noch kostenlos? Das gibt es
ANDREA SCHÖNROCK

tution, engagierte sich für Frieden, Bür- eine schwierige Kind- jetzt bei Kino@SPIEGEL.TV, dem
gerrechte und Umweltschutz. Und er in- heit hatte, ihr – vor neuen Angebot unseres Web-TV-
spirierte fast jede Generation amerikani- allem jugendliches – Senders. Kommendes Wochenende
scher Musiker, zuletzt Bruce Springsteen, Publikum begeistern: sehen Sie den Film „Die Boxerin“
der 2006 seine „Seeger Sessions“ ver- mit politischem Thea- (2005) mit Katharina Wackernagel,
öffentlichte. Pete Seeger starb am 27. Ja- ter wie der gemeinsam mit Volker Ludwig Devid Striesow, Fanny Staffa und
nuar in New York. inszenierten Rosa-Luxemburg-Biografie anderen.
(„Rosa“) oder mit einem Stück über das
Kurt Krenn, 77. Er war der wohl umstrit- Sterben einer jungen Rocksängerin („Nel-
tenste Bischof der Katholiken in Öster- lie Goodbye“). Neben ihrer Bühnenarbeit
reich. Der Geistliche war bis zu seinem entwickelte die Künstlerin mit der freien
Ruhestand 2004 immer wieder Hauptfigur Gruppe DeichArt in Kiel skurrile Kult-
von Skandalen, die die katholische Kirche abende, schrieb auch für kleine Kinder
der Alpenrepublik nachhaltig erschütter- („Noah und der große Regen“) und war
ten und viele Kirchenaustritte zur Folge als Coach für Unternehmen tätig. Für das
hatten. Ob Auftritte in Talkshows oder Hamburger Schauspielhaus bereitete sie
auf der Kanzel, stets polterte Krenn gerade die Premiere des Theaterstücks
gegen alles los, was ihm als Abweichung „Würmer“ vor. Franziska Steiof nahm
von der reinen Lehre erschien. Liberale sich am 23. Januar in Hamburg das Leben. Darstellerin Wackernagel in „Die Boxerin“

D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 143
Personalien

Mann am Brett
Er gilt als Schachgenie, und vor zwei Wochen de-
monstrierte der Norweger Magnus Carlsen, 23,
dem Microsoft-Erfinder Bill Gates, warum das so
ist. Der junge Schachweltmeister und der 58-jähri-
ge Computer-Milliardär trafen sich zu einer Partie
bei einer norwegisch-schwedischen Talkshow, die
in London aufgezeichnet wurde. Die Blitzschach-
partie dauerte insgesamt nur 71 Sekunden, dann
war Gates matt. Carlsen fand aufmunternde
Worte für den Besiegten: „Er ist auf einen billigen
Trick reingefallen, aber bis dahin waren seine
Beamter im Glück Züge ganz vernünftig.“ Eine Woche zuvor hatte
Carlsen schon Facebook-Gründer Mark Zucker-
Privat scheint ihn nicht zu kümmern, berg im amerikanischen Silicon Valley vom Brett
wofür er sich beruflich einsetzen muss: gefegt. Sein Resümee: „Bill Gates spielt besser,

FRED JONNY
Udo Wedekind, Leiter der Zentralabtei- obwohl auch Zuckerberg ein großes Talent für
lung des Thüringer Umwelt- und Na- Schach hat.“
turschutzministeriums, das auch für
Artenschutz zuständig ist, war im De-
zember in Botswana und erlegte einen
Elefanten. Offenbar frei von Gewis- gen. Um das Anwesen
senskonflikten berichtete der hohe mit Hanglage ließ er
Landesbeamte in einer Mail an seine einen teilweise vier
FRANCOIS NEL / GETTY IMAGES

„sehr geehrten Kollegen“ stolz von Meter hohen Wall aus


„‚meinem‘ Elefanten“, dessen Gewicht Betonblöcken ziehen.
und Schulterhöhe sowie der „Länge Ob das Monstrum als

ANDREAS LODE
der Stoßzähne außerhalb des Kör- Sichtschutz oder als
pers“. Sehr anstrengend sei die Jagd Stützwand dienen soll,
gewesen, endete aber mit dem „unab- ist bislang ungeklärt.
dingbar notwendigen Jagdglück“, Gemeinderäte sprachen
schrieb er und dokumentierte dies mit Schutz und Stütze entrüstet von einem „Bollwerk“ und
vier Fotos, die das tote Tier und den verglichen die Wand mit der Berliner
glücklichen Jäger zeigen. Gegenüber Der Trainer des Bundesligisten Ein- Mauer. Die Gemeinde entschied nun,
dem SPIEGEL wollte sich Wedekind tracht Frankfurt hat Ärger mit dem Veh müsse zumindest den oberen Teil
nicht äußern. Seit dem 1. Januar gilt Bauamt. Armin Veh, 52, ist kürzlich in der Betonwand wieder entfernen. Das
übrigens in Botswana ein Verbot der eine neue Villa in der kleinen bayeri- letzte Wort hat in der Sache die Bau-
Elefantenjagd für Touristen. schen Gemeinde Bonstetten eingezo- juristin des Landratsamts Augsburg.

Aus den Vollen


Die Sopranistin Danielle de Niese,
34, sorgt sich um das Image ihrer
Branche. Zu weit verbreitet sei das
Vorurteil, eine Operndiva sei nur
wirklich gut bei Stimme, wenn sie
Körperfülle mitbringe. Noch vor
einem Jahr hatte genau das eine
Kollegin behauptet: Die Neuseelän-
derin Kiri Te Kanawa erklärte, dass
Opernsänger „etwas auf den Rippen
haben müssen“. Das sei einfach
Unsinn, so de Niese: „Man benötigt
Technik und Zwerchfellarbeit, sonst
THE TIMES / NEWS INTERNATIONAL / BULLSPRESS

kann man nicht singen. Der Körper-


umfang ist nebensächlich.“ Die ge-
bürtige Australierin glaubt, dass das
Klischee von der dicken Dame, die
in altmodischen Klamotten auf der
Bühne herumsteht und trällert, ein
jüngeres Publikum vom Opernbe-
such abschrecke. Das sei „irgendwie
traurig“, sagt die Sängerin, und ent-
spreche nicht der Realität.
144 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4
Lutz Müller, 53, Bremer Polizeipräsi-
dent, hat sich das Porträt eines Polizei-
opfers in sein Büro gehängt. Die
Zeichnung zeigt einen mutmaßlichen
Kokain-Kleindealer, der 2005 einen
polizeilichen Brechmitteleinsatz in
Bremen nicht überlebt hatte und des-
sen Fall bundesweit publik wurde. Das
Strafverfahren gegen den verantwort-
lichen Polizeiauftragsarzt wurde im
November 2013 nach langem Hin und
Her eingestellt, gegen 20 000 Euro
Geldauflage. Müller, erst seit 2012
Polizeichef, übernahm die moralische
Verantwortung und entschuldigte sich
öffentlich. Mit dem Porträt des Opfers,
das er von einer Gerichtszeichnerin
anfertigen ließ, und mit einer kürzlich
veröffentlichten Dokumentation über
den Fall will er seine Untergebenen zu
Zivilcourage auffordern: Notfalls
sollten sie eigentlich legale Einsätze
abbrechen, wenn sie zu eskalieren
drohen.

Silvio Berlusconi, 77, ehemaliger italie-


nischer Ministerpräsident, versucht zu
erklären, warum er Frauen, die an sei-
nen Bunga-Bunga-Partys teilnahmen,
bis zu 2000 Euro monatlich zahlte. Der
„Sunday Times“ sagte Berlusconi, die
Mädchen hätten ihm leidgetan. Ihr Le-
ben sei „zerstört“ worden durch die
große öffentliche Aufmerksamkeit im
Zuge der Ermittlungen gegen ihn we-
gen Amtsmissbrauchs und Sex mit ei-
ner Minderjährigen. „Sie können kei-

JENS KOCH / PICTURE PRESS


nen vernünftigen Freund finden, kei-
nen Job, sie finden keine Wohnung,
sie sind verzweifelt.“ Die Zahlungen
aus Gutmütigkeit sollen Ende letzten
Jahres eingestellt worden sein. Die
Staatsanwaltschaft will nun prüfen, ob
Berlusconi Zeugen „gekauft“ habe.
Berlusconi bestreitet alle Vorwürfe. „Zwei Welten“ Hildmann: Vielleicht leiden die unter
einem fortgeschrittenen Vitamin-B12-
Isabel Allende, 71, chilenische Schrift- SPIEGEL: Herr Hildmann, Sie schreiben Mangel, das kann bei Veganern vor-
stellerin, kann auch nach 60 Millionen Bestseller-Kochbücher für Veganer, kommen. Da soll man sowieso leicht
verkauften Büchern nur an einem be- nun hat das Online-Satiremagazin gereizt sein.
stimmten Tag die Arbeit an einem „Neue Rheinpresse“ eine gefälschte SPIEGEL: Im Ernst, sogenannte Weltver-
neuen Werk beginnen: am 8. Januar. McDonald’s-Werbung für einen vega- besserer-Veganer sind nicht gut auf Sie
Der Tag ist ihr heilig, weil sie am 8. Ja- nen „McHildi“ mit Ihrem Konterfei zu sprechen, oder?
nuar 1981 einen Brief an ihren sterben- im Internet veröffentlicht. Wie finden Hildmann: Vielleicht ist das so, weil ich
den Großvater begann und aus diesem Sie das? mir auch mal etwas gönne und versuche,
Brief das Manuskript zu ihrem Debüt- Hildmann: Ganz witzig, einige Reak- zwei Welten zusammenzubringen, die
roman „Das Geisterhaus“ entstand. tionen haben mich allerdings auch viele als Gegensatz sehen: die der gesun-
Das Buch machte sie weltberühmt. erschreckt. den veganen Ernährung und die des Ge-
Vor knapp vier Wochen, es war ein SPIEGEL: Was ist passiert? nusses. Das provoziert manche Leute.
Mittwoch, zog Allende sich wieder in Hildmann: Auf meiner Facebook-Seite SPIEGEL: Ihnen wird auch vorgeworfen,
ihr Haus in Nordkalifornien zurück, und in anderen Foren brach eine Welle dass Sie damit viel Geld verdienen.
zündete eine Kerze an, hielt innere der Entrüstung los. Einige Veganer Hildmann: Wenn es nur ums Geld ginge,
Zwiesprache mit ihrer verstorbenen haben die Satire ernst genommen und hätte ich locker das Doppelte verdienen
Tochter und bat um Unterstützung für mich als Opportunisten beschimpft. können, ich habe 13 Jahre Arbeit in
ihr Projekt. Bis zur Fertigstellung müs- SPIEGEL: Auch Ihr Weihnachtsgeschenk meine Rezepte gesteckt und erreiche
sen ihre Fans mit dem Thriller „Aman- an Sie selbst, ein Porsche, hat ein paar viele Menschen. Aber bekanntlich
das Suche“ vorliebnehmen, der im Au- Leute ziemlich wütend gemacht. ist Neid ja die höchste Form der An-
gust auf Deutsch erscheint. Warum? erkennung.
D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4 145
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Meininger Tageblatt“: „Gleich Zitate


mit vier Zugaben bedankte sich das Pu-
blikum in der Meininger Stadtkirche bei Die „Süddeutsche Zeitung“ über Späh-
Ludwig Güttler und Friedrich Kircheis für Aktionen des US-Geheimdienstes NSA
ein Ausnahmekonzert.“ gegen das Handy von Bundeskanzlerin
Angela Merkel:

Nur wenige Indizien hat die Bundesan-


waltschaft im Fall des Handys bisher zu-
sammentragen können. Darunter soll sich
die Abschrift einer Kopie einer NSA-Un-
Aus dem Bonner „General-Anzeiger“ terlage aus dem Bestand von Edward
Snowden befinden. Der SPIEGEL hatte
das Dokument der Bundesregierung über-
Aus den „Lübecker Nachrichten“: „Nach geben, die es nach Karlsruhe weiterreich-
Angaben von Bahnsprecherin Sabine te. Da ist die Abschrift einer gewundenen
Brunkhorst konnte der Lokführer den Erklärung des Sprechers des Weißen Hau-
Zug schließlich doch noch aus eigener ses zu dem Verdacht. Und da sind noch
Kraft bis in den Eutiner Bahnhof bewe- Angaben des Europa-Parlamentariers El-
gen, wo er um 7.40 Uhr eintraf.“ mar Brok. Der will bei einem Gespräch
mit dem heutigen NSA-Chef Keith Alex-
ander gehört haben, die Kanzlerin werde
„nicht mehr abgehört“. Nachfragen der
Bundesanwaltschaft bei den deutschen
Nachrichtendiensten blieben erfolglos.
Das Dokument von Snowden, die gewun-
denen Erklärungen der Amerikaner, der
Anruf Obamas bei der Kanzlerin – das al-
les deutet darauf hin, dass da was war.

Die „Mitteldeutsche Zeitung“ über eine


angeblich vom SPIEGEL falsch zitierte
Aussage des Kunstsammlers Cornelius
Gurlitt:

Mit der Veröffentlichung eines Videos hat


das Nachrichten-Magazin Der SPIEGEL
Verkehrsschild in München auf Vorwürfe des Anwalts von Corne-
lius Gurlitt reagiert, den Kunstsammler
falsch zitiert zu haben. Unter der Über-
Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: schrift „In eigener Sache“ zeigte SPIEGEL
„Den Soldaten war es einerlei, dass der ONLINE gestern das Video mit einem In-
logische Zusammenhang zwischen ihren terview, das Gurlitt der SPIEGEL-Autorin
biometrischen Beteuerungen und dem Özlem Gezer gegeben hatte. Gurlitts An-
Sieg am 8. Mai an fremden Schamhaaren walt Hannes Hartung hatte dem SPIEGEL
herbeigezogen war.“ vorgeworfen, das von dem Magazin ver-
breitete Zitat „Freiwillig gebe ich nichts
zurück“ sei falsch und sein Mandant sei
Aus dem „Schwarzwälder Boten“: „Das stets gesprächsbereit gewesen. In dem
Mädchen besuchte vier Jahre lang den Video sagt Gurlitt allerdings: „Das mache
körperbehinderten Kindergarten in He- ich nicht. Ich geb nichts freiwillig zurück“,
chingen.“ oder „Das mache ich auf keinen Fall.“

Der SPIEGEL berichtete …


… in Nummer 36/2013 „Die Franchise-
Aus der „Ostsee-Zeitung“ Falle“ über das riskante Geschäft mit der
Selbständigkeit:

Aus der Coesfelder „Allgemeinen Zei- Das Mode-Unternehmen Tom Tailor


tung“: „Patienten mit ausgeprägtem Han- muss einem ehemaligen Franchiseneh-
dicap könnten nun einmal nicht auf weit mer einen Schadensersatz in Höhe von
entfernt gelegene Parkplätze ausweichen. 156 000 Euro zahlen. Das Hamburger
Sie seien auf Stellplätze nahe der Klinik Landgericht sah es als erwiesen an, dass
dringend angewiesen. Das gelte nicht nur Tom Tailor den Franchisenehmer mit ei-
für Dialyse-Patienten, sondern auch für ner mangelhaften vorvertraglichen Auf-
diejenigen, die noch unter Narkose ste- klärung zur Eröffnung eines unrentablen
hen würden.“ Stores in Worms verleitet hat.
146 D E R S P I E G E L 6 / 2 0 1 4

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